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Full text of "Naturwissenschaftliche Wochenschrift"

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STAV  FISCHER 


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Naturwissenschaftliche 
Wochenschrift 


BEGRÜNDET  VON   H.  POTONIE 

HERAUSGEGEBEN 

VON 

Prof  Dr  H.  MIEHE 

IN  LEIPZIG 


NEUE  FOLGE.    13.  BAND 

(DER  GANZEN  REIHE  19.  BAND) 

JANUAR  —  DEZEMBER  1914 

MIT  118  ABBILDUNGEN  IM  TEXT 


JENA 

VERLAG  VON  GUSTAV  FISCHER 

1914 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Register. 


I.  Größere  Originalartikel 
und  Sammelreferate. 

Andree,  K.,  Die  pelrographische  Me- 
thode der  Paläographie.      145. 

B  a  b  a  k ,  E.,  Zur  Frage  der  Atemregulation 
in  der  Tierreihe.      374. 

Bach  mann,    H. ,    Das    Nannoplankton. 

389- 

Bagl  ioni ,  S.,  Der  lCinllul3  äußerer  Schall- 
empfindungen auf  die  Tonhöhe  der 
menschlichen  Sprache.     481. 

Baich  in  ,  O.,  Die  Temperaturverhältnisse 
der  Polargebiete.     737- 

Baur,     E, ,    Die   Quelle   der  Muskelkraft. 

273- 

Bilguer,  v.,  Die  afrikanische  Wasser- 
frage.    673. 

Brandt,  A.  v. ,  Über  Geschlechtswand- 
lungen.     I. 

Bräuer,  E. ,  Resonanzstrahlung.  Ein 
Sammclreferat.     246. 

Bräu  er,    Stoßionisation  (Sammelrefcrat). 

599- 

Braß,  A. ,  Lage  und  Beziehung  der  ita- 
lienischen Vulkangebiete  zu  gleichzeiti- 
gen Meeren  oder  Binnengewässern.  610. 

Breuer,   C,    Chromalpapiere.      261. 

Brockmeier,  H.,  Kniische  Betrachtun- 
gen über  den  Löß.     534. 

Bugge,  G.,  Künstliche  Seide  aus  Zellu- 
lose.    1S3. 

Bugge,  G.,  Die  Chemie  des  Chlorophylls. 
27b. 

Bürger,  O.,  Das  Wesen  der  Enzym- 
wirkung.     211. 

Bürger,  O.,  Ammoniaksynthesen.     518. 

Buttel-Re  e  pen  ,  H.  v. ,  Das  Problem 
der  Elberfelder  Pferde  und  die  Tele- 
pathie.    193. 

Czepa,  A.,  Schutzfärbung  und  Mimikry. 
49,  65,  81. 

Eckardt,  W.  R.,  Einbürgerungsversuche 
als  Möglichkeiten  zur  Erforschung  des 
Vogelzuges.     148. 

Eckardt,  Wilh.  R.,  Neues  zur  Psycho- 
logie und  Ethologie  der  Männchenpaare 
der  Anatiden,  besonders  von  Schwänen 
und   Gänsen.    662. 

Fehlinger,  H.,  Über  Variation.     819. 

Frank,  M. ,  Die  Bedeutung  der  Astro- 
photographie.     677. 

Franke,  C.,  Die  Bedeutung  der  diluvi- 
alen Menschenskelette  für  die  Sprach- 
wissenschaft.     776. 

Frey,  A.,  Die  Ursachen  der  Eiszeiten. 
209. 

Gothan,  W.,  Das  geologische  Alter  der 
Angiospermen.      497. 

Guenther,R.,  Physiognomik  der  Tropen- 
landschaft.    561. 

Guenther,  K. ,  Verschiebungen  in  der 
Tierwelt  durch  den  Menschen.     705. 


Greinach  er,  H. ,  Neue  Vakuumröhren 
für  Demonstrationszwecke  u.  technische 
Verwendung.      326. 

Halb  faß,  W.,  Vom  Wasserhaushalt  der 
Erde.    593. 

Hansen,  A.,  Goethe's  naturwissenschaft- 
liche Sammlungen  im  Neubau  des  Goethe- 
hauses zu  Weimar.  578  (vgl.  auch  die 
Druckfehlerberichtigung.     67^). 

Heide,  F.,  Neuere  Meteoritenfunde  in 
Europa   (Sammelreferat).      310. 

Hansel,  S.,  Begriff  und  Wesen  der  Meta- 
morphose der  Insekten.      241. 

H  e  i  n  e  k  e  ,  Über  die  biologische  Wirkung 
der  Radiumstrahlen,  insbesondere  über 
die  Strahlenbehandlung  von  bösartigen 
Geschwülsten.     305. 

Hennig,  Edw.,  Die  deutschen  Ausgra- 
bungen von  Dinosauriern  im  letzten 
Jahrfünft.     417. 

Hennig,  Edw.,  Die  Grenzen  des  Indi- 
viduums und  das  Problem  des  Abster- 
bens.      817. 

Heß,  W.  R.,  Direkt  wirkende  Stereoskop- 
bilder.    646. 

Hohenstein,  V.,  Neues  aus  der  Geo- 
logie (Sammelreferat).     6. 

Hornig,  G. ,  Die  Groflfaltung  der  Erd- 
rinde (Sammelreferat).     657. 

Hundt,  R. ,  Das  älteste  Leben  Ost- 
thüringens.     129. 

Kafka,  G.,  Neuere  Untersuchungen  über 
den   Farbensinn   der  F'ische.     465. 

Kanngießer,  Fr.,  Die  Flora  des  Homer. 
167.   • 

Kathariner,  L. ,  Das  Fußskelett  des 
Tapirs.     422. 

Kathariner,  ly. ,  Die  Ursache  der 
Pellagrakrankheit.     707. 

Keyl,  Fr.,  Methoden  zur  Untersuchung 
des  ,, Sehens"  der  Tiere.     369. 

Knauer,  Fr.,  Neue  Ergebnisse  des  Ring- 
versuches.    225. 

Koch,  A.,  Die  modernen  wissenschaft- 
lichen Forschungen  über  die  Entstehung 
und  willkürliche  Bestimmung  des  Ge- 
schlechts.     177. 

Kfizeneky,  J. ,  Das  Hungern  als  för- 
dernder Faktor  der  organischen  Ent- 
wicklung.    549. 

Krumbhaar,  Physikalisches  von  unse- 
ren Feuerwaffen.     801. 

Küchler,  C. ,  Die  Spalteneruption  der 
Hekla  im  Jahre   1913.     315. 

Lehmann,   Über  Keimverzug.     385. 

Lenk,  F..,  Tierische  Farbstoffe.     545. 

Mayer,  Ad.,  Über  die  Bewohnbarkeit 
der  Sterne.     257. 

Mayer,  Ad.,  Die  Entstehung  der  Erstar- 
rungsgesteine.    499. 

Mayer,  J.  R.,  Eine  Tour  durch  den  Ur- 
wald von  Sumatra.     113. 

Mecklenburg,    W. ,    Die    neuere  Ent- 


wicklung der  Lehre  von  der  chemischen 
Affinität.     401. 

Meli,  R.,  Die  Chinesen  und  der  Schmetter- 
ling-    25,  33. 

Meli,  R.,  Die  Ente,  ihre  Nutzung  und 
Wertung  in  China.     641. 

Mengel,  H.,  Über  den  Chemismus  der 
alkoholischen   Gärung.     506. 

Mötefindt,  H. ,  Zerealienfunde  vorge- 
schiclitlicher  Zeit  aus  den  thüringisch- 
sächsischen Ländern.     294. 

Mötefindt,  H. ,  Diluviale  menschliche 
Skelettreste  aus  den  thüringisch-sächsi- 
schen  Ländern.      787. 

Nachtsheim,  H. ,  Die  Bedeutung  der 
Konjugation    bei    den   Infusorien.      229. 

Nachtsheim,  H. ,  Sind  die  Mitochon- 
drien   Vererbungsträger?      580. 

Nachts  heim,  H.,  Das  Verhalten  der 
Bienenkönigin  und  anderer  Hymeno- 
pterenweibchen  bei  der  Eiablage.   452. 

Neger,  F.  W. ,  Neuere  Ergebnisse  und 
Streitfragen  der  Rauchschadenforschung 
(Sammelreferat).      529. 

Ra  u  t  e  r  ,  G.,  Zur  Kombinationslehre.    164. 

Richters,  F.,  Steinwerkzeuge  aus  dem 
nordischen  Gletschermergcl.     486. 

Robitsch,  M. ,  F'.inige  bemerkenswerte 
Registrierungen  und  Beobachtungen  vom 
deutschen  Spitzbergen  -  Observatorium 
1912  —  13.     513. 

Schmidtsdorf,  F.,  Die  Methode  ,,of 
trial  and  error"  (des  Versuchs  und 
Irrtums)  und  ihre  psychologische  Be- 
deutung.     289. 

Schoy,  C,  Grundzüge  einer  vergleichen- 
den Geo-  und  Aphrodiiographie  (Erd- 
und  Abendsternkunde).     450, 

Schröder,  Chr.,  Eine  Kritik  der  Leistun- 
gen der ,, Elberfelder  denkenden  Pferde". 

321,  337- 

Schröder,  Chr.,  Auf  den  Höhen  des 
Kilimandscharo.     753. 

Schutt,  K.,  Reflexion  und  spektrale 
Zerlegung  der  Röntgenstrahlen  (Sammel- 
referat).    437. 

Schutt,  K.,  Lummer:  Verflüssigung  der 
Kohle  und  Herstellung  der  Sonnen- 
temperatur.    812. 

Schwangart,  F.,  Die  Reformbewegung 
in  der  angewandten  Entomologie.    133. 

Stellwaag,  F.,  Neuere  Untersuchungen 
über  den  Farbensinn  der  Insekten.     161. 

Stellwaag,  F.,  Welche  Bedeutung  haben 
die  Deckflugel  der  Käfer.  97  (vgl.  dazu 
die  Berichtigung.  608). 

Storch,  O. ,  Die  modernen  Herings- 
forschungen.    625. 

Stromer,  E.,  Funde  fossiler  Wirbeltiere 
in  den  deutschen  Schutzgebieten  in 
Afrika.      760. 

Trojan,  E.,  Das  Leuchten  und  der  Far- 
bensinn der  F'ische.     785. 


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Register. 


Valentiner,  S. ,  Probleme  der  Gas- 
theorie.     721. 

Valentiner,  S.,  Das  Prinzip  der  Rela- 
tivität.    769. 

Vogler,  P.,  Vererbung  bei  vegetativer 
Vermehrung.     433. 

Völker,  H,  Zur  Stammesgeschichte  des 
ScbilJkrötenpanzers.      196. 

Wagner,  W.,  Die  Erdöl-  und  Asphalt- 
lagerstättea  im  Unterelsaß.     694. 

Wenzel,  A.,  Kristallstruktur  u.  Röntgen- 
strahlen   (Saramelreferat).      70. 

W  e  r  t  h  ,  E.,  Die  Mammuthflora  von  Borna. 
689. 

Wulff,  B.,  Heilkraft  der  Natur  und  Heil- 
kunst.    17. 

Wolf,   K.,  Duften  und  Riechen.     583. 

Wurm,  A.,  Die  ältesten  Dokumente  palä- 
ontologischer   Überlieferung.     353. 


II.  Einzelberichte. 


A.  Zoologie,  Anatomie. 

Alluaud  u.  Jeannel:  Raupen  einer 
biologisch  merkwürdigen  Lycaenidenart. 
617. 

Alverdes,  Fr.,  Perlen  und  Perlbildung. 
299. 

Amantea,  Anzahl  der  Spermatozoen 
beim  Coitus  der  Hunde.     361. 

Baker,  E.  St.,  Farbe  und  Zeichnung 
der  Kuckuckseier.     299. 

Baltzer,  F.,  Geschlechtsbestimmung  bei 
Bonelüa.     555. 

Bieder mann-Imhoof,  R.,  Spätbrutcn 
der   Ringeltaube.     3 17. 

B 1  u  n  c  k ,  Geschlechtsleben  von  Dytiscus 
marginalis  L.     59. 

Boveri,  Th.  u.  Herbst,  C,  Die  Be- 
deutung der  Mengenverhältnisse  mütter- 
licher und  väterlicher  Substanzen  für 
die  Vererbung.     5S5. 

Bretscher,  K. ,  Vogelzug  über  die 
schweizerischen  Alpenpässe.     2S2. 

Bryandt,  H.  Ch.,  Nutzen  und  Schaden 
der  westlichen  Wiesenlerche.     444. 

Caesar,  C.  J.,  Stirnaugen  der  Ameisen. 

557- 

Combault,  A.,  .Atmung  und  Kreislauf 
des  Regenwurms.     632. 

D  rink  wat  er  ,  H.,   Kurzfingrigkeit.    344. 

Eckmann,  S.,  Problem  des  Vogelzuges. 
37S. 

Ekman,  Marine  Relikte  der  nordeuro- 
päischen Binnengewässer.     92. 

Eycleshymer,  C,  Amphibienlarven 
ohne  Kopf.     489. 

Forbes,  A.,  Der  horizontale  Gleitflug 
der  Möven.     317. 

Geyer,  Sekundäre  Geschlechtscharaktere. 
n8. 

Geyer  zu  Seh  wepp  enburg,  IL,  In- 
halt von  Schreiadler-Gewöllen.     266. 

Grimm,  K.,  Vorkommen  des  Rinder- 
bandwurms beim  Säugling.     708. 

Grub  er,  G.  B. ,  Toxinwirkungen,  durch 
Trichinen  bedingt.     456. 

Hertwig,  G.,  Einwirkung  von  Radium 
auf  die  Kortpflanzungszellen  von  Wirbel- 
tieren.     119. 

Hesse,  E.,  Form  des  Einflugloches  des 
Schwarzspechts.     267. 

J  oll  OS,  V.,  ..Dauermodifikationen"  bei 
Mikroorganismen.     360. 


Keyl,  Ein  fremder  Ansiedler  der  Warm- 
häuser.    521. 

Kowarzik,    R.,    Der  Schafochse.      119. 

Krizenecky,  Die  beschleunigende 
Wirkung  des  Hungerns  auf  die  Meta- 
morphose.    220. 

Loeb,  J.,  Umkehrbarkeit  in  der  Ent- 
wicklung des  Seeigeleies.     171. 

Lowe,  R.  P.,  Biologie  der  Hokkohühner. 

317- 

Marc  band,  F.,  Epigastrius  parasiticus. 
603. 

Merkwürdige  Bewohner  der  Sporangien 
von   Pilobolus.      746. 

Metalnikov,  Nahrungswahl  bei  Infu- 
sorien.     523. 

Picado,  C.,  Bromelieufauna  von  Costa 
Rica.     569. 

Regen,  J.,  Sitz  des  Gehörsinns  bei 
niederen  Insekten.     221. 

Regen,  Die  Anlockung  des  Weibchens 
von  Gryllus  campestris  L.  durch  tele- 
phonisch übertragene  Stridulationslaute 
des  Männchens.     221. 

Rudolph,  O.,  Verhältnis  der  Schädel- 
kapazität zum  Gehirn.     394. 

Rüdiger,  W. ,  Schellente  in  künstlicher 
Nisthöhle.     299. 

Seh  arf  enberg,  U.  v. ,  Experimentelle 
Beeinflussung  der  Dauereibildung  und 
des  Geschlechts    bei  Cladoceren.     395. 

Schlegel,  R. ,  Leistungsfähigkeit  des 
Haussperlings  im  Eierlegen.     282. 

Schmidt,  Katalepsie  der  Phasmiden.  59. 

S  h  u  1 1 1  Lebensfähigkeit  der  Dauereier  von 
Hydatina  senta  und  die  Vererbung  dieser 
Eigenschaft.     281. 

St  ei  nach,  Feminierung  von  Männchen 
und   Maskulierung  von  Weibchen.     188. 

Stingelin,  Neue  tropische  Plankton- 
organismen.    396. 

Surbeck,  G.,  Zahl  der  Eier  einiger 
Süßwasserfische.     7S1. 

Surbeck,  G.,  Geschlechtsverteilung  bei 
den  Fischen.     791. 

Tandler,  J.  u.  Groß,  S.,  Biologische 
Grundlagen  der  sekundären  Geschlechts- 
charaktere.    631. 

Thilo,  Das  Schnellen  der  Springkäfer. 
280. 

Thienemann,  A.,  Sauerstoft'gehalt  und 
Fauna  des  Tiefenwa'sers  unserer  Seen, 
loi. 

Traunsteiner,  M.,  Dinoflagellatcn  als 
Ursache  des  roten  Schnees.     618. 

Uttendörfer,  O.,  Verhältnis  der  Raub- 
vögel zur  übrigen  Vogelwelt.     252. 

Wohlgemuth,  R.,  Fortpflanzung  der 
Süßwasserostrakoden.     424. 

Woltereck,  R.,  Schwebefortsätze  pela- 
gischer  Cladoceren.     154. 

Woodruff,  L  L.,  Kopulation  von  Pro- 
tozoen.    317. 

Woodruff,  Konjugierende  und  nicht- 
konjugierende  Rassen  von  Paramaecium. 

503- 
Zander,    Geruchsvermögen    der    Bienen. 
102. 

B.  Physiologie, 
Vererbungslehre. 

Adler,  L.,  Entfernung  der  Thymus  und 
Epiphyse  bei  der  Froschlarve.     709. 

van  Alstyne  und  Beebe,  EinfluiS  der 
Ernährung  auf  das  Wachstum  der  Ge- 
schwülste.    650.  I 


Aurcnche,  H.  und  Loncheux,  M.  G., 
Abweichungen  des  Stoffwechsels  von 
der  Norm  bei  übermäßiger  Muskelarbeit. 
378. 

Baunacke,  Die  Statocysten.     822. 

Bayeux  und  Chevallier,  Zunahme 
der  Zahl  der  Blutkörperchen  mit  der 
Höhe.     6t8. 

Chauffard,  Larosche  u.  Grigaud, 
Cholesteringehalt  der  Nebennieren- 
kapseln.    490. 

Decker,  Kißkalt,  Tierisches  oder 
pflanzliches   Eiweiß?    710. 

Droge,  K.,  Einfluß  der  Milzexstirpation 
auf  die  chemische  Konstitution  des 
Tierkörpers.     750. 

Edinger,  L.  und  Fischer,  B.,  Mensch 
ohne  Grol3hirn.     187. 

Funk,  C,  Ein  unentbehrlicher  Bestand- 
teil unserer  Nahrung.      264. 

V.  Gulat- Wellen  bürg,  Ein  außer- 
ordentlicher Fall  von  menschlichem 
Wiederkauen.      253. 

Haempel,  O.  und  Kolmer,  B.,  Ab- 
hängigkeit der  Hautfarbe  von  der 
Färbung  der  Umgebung  besonders  des 
Untergrundes  bei  Fischen.     793. 

Heß,  C,  Lichtsinn  mariner  Würmer  und 
Krebse.     266. 

Heß,  C,  F'arbensinn  ist  bei  Mensch  und 
Tier  verschieden.     299. 

Heß,  C,    Gesichtssinn  der  Fische.     300, 

Heß,  C,  Farbensinn  fehlt  den  Krebsen. 
301. 

Hinderer,  Th.,  Die  Verschiebung  der 
Vererbungsrichtung  unter  dem  Einfluß 
der  Kohlensäure.     219. 

Küster,  Cohendy,  Wollmann, 
Baktcrienfreie  Tiere.     633. 

Lecaillon,  Rudimentäre  natürliche 
Parthenogenese.     603. 

Lloyd,  D.J.  und  Loeb,  J.,  Künstliche 
Parthenogenese.      233. 

Mayer,  A.  und  Schaefer,  G.,  Lipoide. 
709. 

Mauriac,  P.  und  Strymbau,  M., 
Cholesteringehalt  des  Blutes.     456. 

Miramond  de  Laroquette,  Das 
Verhältnis  der  nötigen  Nahrungsmenge 
zur  Außentemperatur.     411. 

Modena,  G.,  Totales  Fehlen  des  Ge- 
hirns und   Rückenmarks.      188. 

M  u  r  i  s  i  e  r ,  .Abhängigkeit  der  Hautfärbung 
von  äußeren  Faktoren  bei  Am]>hibien.5o6. 

Newman,  Vererbung  bei  Kreuzung  von 
Knochenfischen.     523. 

Nußbaum  und  Oxner,  Merkwürdige 
Doppelbildungen  bei  Nemertinen.     425. 

Osowski,  Hirss-Elia,  Die  Beweg- 
lichkeit von  Körperzellen.      3 16. 

Pezard,  A. ,  Sekundäre  Geschlechts- 
merkmale.    412. 

Phisalix,  M.,  Verhalten  der  Kaltblüter 
gegen  das  Tolhvulgift.     650. 

Pogonoska,  Einfluß  chemischer  Fak- 
toren auf  die  Farbveränderung  des 
Feuersalamanders.     507. 

Przibram,  H.,  Grüne  tierische  Farb- 
stoffe.    253. 

Sabatani,  Kolloidaler  Kohlenstoff  als 
Gegenmittel  bei  Vergiftungen.     651. 

Secerov,  S. ,  Die  Wirkung  der  ultra- 
violetten Strahlen  auf  die  Haarfarbe 
des  Kaninchens  und  Meerschweinchens. 
616. 

Terroine,  E.  F.,  Gehalt  des  Körpers 
an  Fettsäuren  und  Cholesterin.     749. 


Register. 


m 


Volz,  Baumeister,  Harms,  Das 
Auge  von  Periophthalmus,  Boleophthal- 
mus  und  Anablcps.      362. 


C.   Botanik,    Bakteriologie, 
Bodenkunde. 

Hassali  k,   Zersetzung  der  Oxalsäure.  39. 

Boysen-Jensen,  P. ,  Reizleitung  im 
pliotolropen  Keimling.     249. 

Buder,  J. ,  Ein  merkwürdiger  Mikro- 
organismus.    413. 

D  '  Angrem  ond  ,  A.,  Parthenokarpie  der 
Eßbananen.     493. 

Darwin,  Fr.,  Einfluß  der  Luftfeuchtig- 
keit und  des  Lichtes  auf  die  Transpi- 
ration der  Pflanzen.     714. 

Uuggar  und  Cooley,  Einfluß  der 
Bordeauxbrühe    auf    die    Transpiration. 

715- 
Ehrenberg,      P. ,      Gasvergiftung      bei 

Slraßenbäumen.     359. 
Ernst,  Parthenogenesis  von  Balanophora. 

74- 

Frimmcl,  Fr.  v.,  Antike  Samen  aus  dem 
Orient.     6S0. 

Guillermond  und  C  o  m  b  e  s ,  Vom 
Anthocyan.      171. 

Haberlandt,  G.,  Barymorphose  und 
Statolithentheorie.     394. 

Hansteen,  B.,  Giftwirkung  von  Metall- 
ionen und  der  Lipoidgehalt  der  Zell- 
membranen.    357. 

Heilbronn,  A.,  Zustand  des  Plasmas 
und  Reizbarkeit.     744- 

Hesse,  Haben  polare  Tiere  einen  sterilen 
Darm  ?     203. 

Hook  er,  H.  D. ,  Können  die  Pflanzen- 
wurzeln Temperaturunterschiede  wahr- 
nehmen ?     521. 

Hoyt,  W.  D.,  Einwirkung  kolloidaler 
Metalle    auf  Zellen.      379. 

Jacobacci,  V.,  Zeugnis  zugunsten  der 
Statolithentheorie.     584. 

Koch,  A. ,  Ungünstige  Wirkung  des 
Nadelhumus.     619. 

Kniep,  H.,  Assimilation  und  Atmung 
der  Mceresalgcn.     647. 

Knoll,  F.,  Ausgleiten  der  Insektenbeine 
an  wachsbedeckten  Pflanzenteilen.  745. 

Kruis,  Bakterienkerne.     40. 

Kylin,  H.,  Enzymregulation  bei  Schim- 
melpilzen.    703. 

Lakon,  G. ,  Protoplasmaströmung  in 
Pflanzenzellen.     635. 

Lipmann,  C.  B.  und  Burgess,  F.  S., 
Einfluß  der  Schwermelallsalze  auf 
Aramonifizierung  und  Nitrifizierung  im 
Boden.     602. 

L  i  p  m  an  ,  Ch.  B.,  Antagonismus  der  Salze 
und  seine  Bedeutung  für  den  Pflanzen- 
bau.    601. 

Magnus,  P. ,  Der  Eichenmehltau  auf 
amerikanischen  Eichen.      185. 

Magnus  und  Baccarini,  P.,  Daedalea 
unicolor   als  Baumschadiger.      222. 

Neeff,  Fr.,  Zellumlageruugen  unter  pola- 
rem  Richtungsreiz.      552. 

Noack,  Lichtrichtung  und  phototropische 
Erregung.     99. 

Peirce,  Einfluß  des  Lichtes  auf  das 
Wachstum.     40. 

Petrucci,  G.  B.,  Entstehung  der  Terra 
di  Siena  durch  Bakterienwirkung.      S7I. 

Rasdorsky,  W. ,  Die  mechanischen 
Eigenschaften  der  Pflanzengewebe.    502. 


Rieh  et,  Gh.,  Erbliche  Gewöhnung  nie- 
derer Organismen  an  Gifte.     329. 

Schley,  E.  ü.,  Säuregehalt  und  geolro- 
pische   Reaktion.      139. 

Sierp,  Körpergröße  und  Zellengröße.  39. 

Söhngen,  N.  L.  und  Fol,  J.  G. ,  Zer- 
setzung von   Kautschuk.     2 16. 

Stoklasa,  J.  und  Zdobnicky,  V., 
Einfluß  der  radioaktiven  Emanation  auf 
die  Entwicklung    der  Pflanzen.      171. 

Wächter,  W.,  Hydronastische  Bewegun- 
gen.     153. 

Wolff,  J.,  Eisen  und  Pflanzenwachstum. 
140. 

Z  a  e  p  f  e  1 1 ,  E. ,  Beziehungen  zwischen 
Spaltöftnungen  u.  heliotrop.  Empfind- 
lichkeit.    616. 


bleme  der  meteorologischen  Forschung 

in  der  Antarktis.      445. 
Penck,A.,  .antarktische  Probleme.    250. 
Reinhard,  A.  v.,  Eiszeit  und  Kaukasus. 

779- 
Sapper,  K.,  Abtragungsvorgänge  in  den 

regenfeuchten  Tropen  und  ihre  morpho- 
logischen Wirkungen.     426. 
Shitkow,     Neues    Land    im    Nordpol- 

beckcn.     343. 
Thoroddsen,  Th. ,  Polygonboden  und 

thufur  auf  Island.     214. 
Volz,   W.,   Der  malayische  Archipel,   sein 

Bau  und  sein  Zusammenhang  mit  Asien. 

121. 
Waibel,  L.,  Der  Mensch  im  Wald  und 

Grasland  von  Kamerun.     554. 


D.  Völkerkunde,  Anthropologie.       F-   Geologie,  Paläontologie. 


Boas,  Fr.  u.  M. ,  Regionale  Variations- 
breite der  Kopfform  der  Bevölkerung 
Italiens.     747. 

Büchner,  L.  W.  S. ,  Tasmaniermisch- 
linge.     734. 

Fehlinger,  Zur  Anthropologie  Groß- 
britanniens.    794- 

Frobenius,  Probleme  der  afrikanischen 
Völkerpsychologie.     89. 

Heape,  Eine  neue  Erklärung  von  Exo- 
gamie  und  Totenüsmus.     89. 

Klaatsch,  H.,  Anfänge  von  Kunst  und 
Religion  in  der  Urmenschheit.     441. 

Kuhn,  Ph. ,    Pygmäen    am   Sanga.     668. 

Luschan,  F.  v..  Anthropologische  Unter- 
suchungen auf  der  Insel  Kreta.      186. 

Reitzenstein,  R.  v.,  Kreuzung  von 
Menschenrassen.     279. 

Spencer,  B.,  Die  Stämme  des  Nord- 
Territoriums  von  Australien.     763. 

Stefan  ss  o  n,  V.,  Die  „blonden  Eskimo". 
409. 

Thurnwald,  Erforschung  des  geistigen 
Kulturbesitzes  der  Völker.     40. 

Thurnwald,  Kulturbesilz  der  Papua- 
Melanesier.      75. 

Tillinghast,  B.,  Vermehrung  und  fort- 
schreitende Bastardierung  der  Neger- 
bevölkerung der  Vereinigten  Staaten. 
711. 

E.  Geographie,  Meteorologie. 

Behrmann,  Oberflüchengestaltung  des 
Harzes.      lO}. 

Behrmann,  W.,  Geographische  Ergeb- 
nisse der  Kaiserin-Augusta-Fluß-Expe- 
dilion.      489. 

Gehne,  Heim,Mawson,  Forschungs- 
reisen.    604. 

Hettner,  Die  Abhängigkeit  der  Form 
und  Landoberflüche  vom  inneren  Bau. 
43- 

Hettner,  Rumpfflächen  und  Pseudo- 
rumpfflächen.      103. 

Koch  und  We  gener,  Durchquerung 
Grönlands   1912/13.      2S3. 

Lautensach,  Stand  unserer  Kenntnisse 
vom  präglazialen  Aussehen  unserer 
Alpen.     58. 

I^ucerna,  Die  Flächengliederung  der 
Montblancgruppe.     5Ö. 

Martinez,  Meteorologisches  von  der 
Osterinsel.     360. 

Maurer,  Ursache  der  Gletscherschwan- 
kungen.    252. 

Meinardus,    W.,    Aufgaben    und    Pro- 


C  a  B 1  e  r ,  R.  S.,  Platte  mit  C  r  i  n  o  i  d  e  e  n. 
213. 

Beyschlag,  F.,  Preußische  Geologische 
Landesanstait ,  40Jähr.  Jubiläum.      504. 

Bill,  Ph.  C.,  Crustacecn  aus  dem  Volt- 
ziensandstein  des  Elsasses.     679. 

Dahms,  P.,  Verwitterungsvorgänge  am 
Bernstein.     666. 

Dambergis,  A.  und  Komnenos,  T., 
Lößregen   537. 

Hundt,  R.,  Neue  Cyrtograptenfunde  im 
Mittel-  und  Obersilur  Ostthüringens 
(Sammelbericht).      701. 

Karmin,  W.,  Ursachen  der  vulkanischen 
Ausbrüche.     587. 

Keilhack,  K.,  Tropische  und  subtro- 
pische Flach-  und  Hochmoore  auf 
Ceylon.     634. 

Keßler,  P.,  Entstehung  von  Schwarz- 
wald und  Vogesen.     602. 

Koenigsberger,  J.,  Die  Wärmeleitung 
der  Gesteine  und  die  Temperatur  in 
der  Tiefe.     2 14. 

Kranz,   W.,  Militärgeologie.     792. 

Nopcsa,  Fr.,  Lebensbedingungen  der 
Dinosaurier.     821. 

Philipp,  H. ,  Untersuchungen  über 
Gletscherstruktur.      667. 

Quiring,  H. ,  Niederschlesische  Gold- 
vorkommen.    490. 

Reck,  H.,  Fossiler  Menschenfund  in 
Deutsch-Ostafrika.      254. 

Stromer,  R.,  Saurierfunde  in  Deutsch- 
Südwestafrika.     74S. 

G.    Chemie,  Mineralogie. 

.Anschütz,  R-,  Die  Entwicklung  der 
graphischen  chemischen  Formeln.     732. 

Asahina,  Y.,  Anemonin.     393. 

Bechhold,  Kolloidale  Lösungen  des 
Mononatriumurats.      525. 

Beckmann,  Chemische  Verbindung  von 
Jod   und  Selen   121. 

Bellucci,  J.  und  Corelli,  R.,  Ver- 
bindungen des  einwertigen  Nickels.    298. 

Brandt,  R.,  Absorption  des  Stickstoffs 
durch   Calcium.      793- 

Chick,  H.  und  Martin,  C.  J.,  Hitze- 
koagulation   von    Eiweißkörpern.      572. 

Dafert,  F.  W.,  u.  Miklanz,  R.,  Neue 
Verbindungen  von  Stickstoff  und  Wasser- 
stoff   mit    den   Erdalkalimetallen.      282. 

Di  eis.  Ein  neues  Kohlenoxyd.     i88. 

Dziewönski,  K.,  und  Leyko,  Z., 
Neue  hochmolekulare  Kohlenwasser- 
stoffe.    762. 

Eberhardt,  G.,  Das  Scandium.     732. 


IV 


Register. 


Faust,  Wieland  u.  Weil,  Bufotalin, 
das  Gift  der  Kröten.     38. 

Fenner,  Cl.  N.,  Stabililätsbeziehungen 
der  Kieselsäuremineralien.     491. 

Fischer,  E.,  Depside,  Flechtenstoffe  und 
Gerbstoffe.     55. 

Freundlich,  H.  u.  Elissafoff,  G.  v., 
Wertigkeitsbestimmung  des  Radiums. 
151. 

Gooch,  F.  A.  und  Kuzirian,  S.  B., 
Einwirkung  von  geschmolzenem  Natrium- 
parawolframat  auf  die  Salze  flüchtiger 
Säuren.     262. 

Halle,  W.  u.  Pfibram,  E.,  Neue  Bei- 
träge zur  Chemie  des  Tabaks.     457. 

H  edvall,  J.  A.,  Rinman's  Giün  und 
Kobaltmagnesiumrot.      713- 

Henglein,   M.,   Ein  neues  Mineral.    297. 

Hofmann,  K.  A.  u.  H  ö s cli  e  1  e ,  K., 
Wasserfreies    Magnesiumchlorid.       235. 

Joannis,  Kaliumcarbonyl.      475. 

Kanolt,  C.  W.,  Die  Schmelzpunkte 
einiger  refraktärer  Oxyde.      199. 

Knoevenagel,  E.,  Neue  Forschungen 
über  Acetylcellulose.     699. 

Koh  1  sc  hü  tter,  V.,  Über  die  Erschei- 
nungsformen de$  elementaren  Silbers. 
149. 

Lummer,  Versuche  über  VerilüssigUDg 
und   Sieden  von  Kohle.     37. 

iVIarcusson,    Hydrolyse  der  Fette.     38. 

Mecklenburg,  W.  und  Rosen- 
kränzer,  F.,  Kolorimetrische  Bestim- 
mung des  Schwefel wasserstofles  in  Form 
des  Methylenblaus.    413. 

Michel,  H.,  Unterschied  zwischen 
Birma-  und  Siamrubinen.     455. 

Ost,  Zellulose,  Zucker,  Alkohol.      120. 

Palache,  C.  und  Seh  all  er,  W.  T., 
Neue  Mineralien.      474. 

R  i  e  s  e  n  f  e  1  d  ,  E.  H.  u.  M  i  1  c  h  s  a  c  k  ,  C, 
Bestimmung  des  Hydralionsgrades  von 
Salzen    in    konzentr.    wässr.    Lösungen. 

537- 

Rosenkränzer,  Die  Reaktionsgeschwin- 
digkeit in   heterogenen  Systemen.     747. 

Ruf f  und  Tschirch,  Fluoride  des  Os- 
miums.    72. 

Skrabal,  A.  u.  Weberitsch,  S.  R., 
Ein  einfacher  Fall  von  Abnahme  der 
Reaktionsgeschwindigkeit  mit  steigender 
Temperatur.      219. 

Stock,  A.  u.  Prätorius,  P.  u.  Willf- 
roth,  E.,  Darstellung  und  Eigen- 
schaften von  Selenscliwefelkohlenstoff 
und  Tellurschwefelkohlenstoft".     235. 

Strutt,  R.  J.,  Über  eine  chemiseh-aktive 
Modifikation  des  Stickstoffs.      102. 

The  Svedberg,  Die  Ergebnisse  der 
KoUoidforschung.     216. 

Traetta  M  osca,  E.,  Chemie  des  Ta- 
baks.    457. 

U  m  p  1  e  b  y ,  J.  B.,  S  c  h  a  1 1  e  r ,  W.  T.  u. 
Larsen,  E.   G.,  Custerit.     443. 

Wahl,  W.,  Über  die  optischen  Eigen- 
schatten von  kristallisiertem  Wasserstoff, 
Sauerstoff,   Argon  u.  a.  Stoffen.      137. 

Wienhaus,  H.,  Ester  der  Chromsäure. 
254. 

Wieland,  H.  u.  Üffenbacher,  M., 
Neues  organisches  Radikal  mit  vier- 
wertigem  Stickstoff.     793. 

Will,  W.,  Nitroverbindungen  aus  Toluol 
und   Benzol.      263. 

Will,  W.,  Hexanitroäthan.     457. 

Willstätter,  R.  u.  Page,  H.  J.,  Pig- 
mente der  Braunalgen.     7S1. 


Willstätter  u.  Everest,  Die  Farb- 
stoffe der  Kornblume.     254. 

Wood,  R.  W.,  Eine  einfache  Methode 
zur  Erzeugung  einer  sehr  intensiven 
Natriumtlamme.      316. 

Katalytischc  Wirkung  des  Rutheniums. 
713- 

H.  Physik. 

Barkla,  Ch.,  Charakteristische  Röntgen- 
strahlen.    152. 

Becker,  A.  und  Ramsauer,  C,  Radio- 
aktive Meßmethoden  und  Einheiten.  700. 

Behnken,  H.,  Lichtelektrische  Zelle  als 
Empfangsinstrument  für  drahtlose  Tele- 
graphie.     633. 

Broglic,  M.  de,  Methode,  die  Spektra 
der  Röntgenstrahlen  zu  photographieren. 
152. 

Brunert,  L.,  Beeinflußbarkeit  der  Zer- 
fallsgcschwindigkeit  von  Radiumemana- 
tion.    262. 

Buchwald,  E.,  Beugung  des  Lichtes  an 
Raumgittern.     377. 

Dessauer,  F.,  Radiumiihnliche  X-Strah- 
lung.     762. 

Elster  und  G  eitel,  Verwendung  licht- 
elektrischer Zellen  zur  Photometrie  der 
ultravioletten  Sonnenstrahlung.      100. 

Elster  und  Geitel,  Radioaktivität  der 
.Atmosphäre.     37. 

Eucken,  A. ,  Adsorptionserscheinungen. 
423- 

Kolhörster,  W.,  Messungen  der  durch- 
dringenden Strahlungen.     649. 

Frank,  J.  und  Hertz,  G. ,  Zusammen- 
stöße zwischen  Elektronen  und  den 
Molekülen  des  C,)uecksilbcrdampfcs  und 
der  Jonisicrungsspannung  derselben.  648. 

Grotian  u.   Runge,  Cyanbanden.  507. 

Hallwachs,  Wiedma  un,  Freden- 
hagen, Neues  von  der  Lichtelektrizilät. 

343- 

Kalähne,  A. ,  Akustisches  Verfahren 
zur  Dichtemessung  von  Gasen  und 
Flüssigkeiten.     330. 

Kahler,  K.,  Emanationsgehalt  der  Boden- 
luft.    170. 

Kerschbaum,  F.,  Röntgenrohr  nach 
Coolidge.     571. 

Langevin,  Energieträgheit.     201. 

Lindemann,  F.  A.,  Die  Grundlagen 
der  Atommodelle.     359. 

Partington,  J.  R. ,  Bestimmung  des 
Verhältnisses  der  spezifischen  Wärmen 
des  Chlors.     525. 

Planck,  M.,  Dynamische  und  statistische 
Gesetzmäßigkeiten.     S25. 

Planck,  W.,  Optische  Konstanten  dünner 
Kupferschichten.     525. 

Reich,  Energiemessungen  an  Empfangs- 
.antennen.     39. 

R  o  h  m  a  n  n  ,  H.,  Röntgenspektroskop.  490. 

Schönborn,  H. ,  Sammelbericht  über 
die  gegenwärtigen  Kenntnisse  über  die 
(5-Strahlen.     440. 

Seemann,  H. ,  Röntgenspektrum  des 
Platins.     791. 

Stark,   Darstellung  von  Argon.      92. 

Uspenski,  N.,  Lochkamera  für  Röntgen- 
strahlen.    617. 

Wien,  Die  magnetische  Beeinflussung 
der  Wasserstoft'kanalstrahlen.     202. 

Wien,  M  ,  Programm  der  radiotelegra- 
phischen  Ausbreitungsversuche  bei  Ge- 
legenheit der  Sonnenfinsternis  am  21. 
Aug.    1914.      649. 


Wieselsberger,  C. ,  Luftwiderstand 
eines  Freiballonmodells.     537. 

Wright,  J.  R.  und  Smith,  O.  F.,  Ra- 
diumemanation.    170. 

Wulf,  Th.,    Einfadenelektrometer.      s86. 

Zenneck,  J,,  Demonstration  und  Photo- 
graphie von  Strommengen  im  Innern 
einer  Flüssigkeit.     680. 

I.  Astronomie. 

Belopolski,  Spektrallinicn.      14I. 

Borelli,  Veränderlichkeit  der  Nebel. 
154- 

Chevalier,  Photographie  der  Photo- 
sphäre.    222. 

D  a  n  j  o  n ,  Umdrehungszeit  der  Venus.  666. 

Dcnning,  Meteore.     474. 

Evershed,  Druck  in  der  umkehrenden 
Schicht  der  Sonne.     474. 

Fath,  Nebelflecken.     343. 

Fessenkoff,  Ursprung  des  Zodiakal- 
lichts.     763. 

Fournier,  Comas  Sola,  Vorgänge 
auf  dem  Mars.     331. 

Furuhjelm,  Begleiter  zur  CapcUa.   342. 

Guthnick,  Veränderlichkeit  der  Satel- 
liten des  Jupiter  und  Saturn.     619. 

Hayn,   Bestimmung  des  Moudortes.     172. 

Hnatek,  Durchmesser  und  Temperatur 
der  Sterne.     423. 

Hofmeister,  Sternschnuppen.     445. 

King,  Lichtabsorbierendes  Medium  im 
Räume.     342. 

Lampland,  Komet  1910a.     233. 

La  place,  Stabilität  unseres  Planeten- 
systems.    233. 

Lau,  Planeten  jenseits  des  Neptuns.    763. 

Le  Morvan,  Photographischer  .Mlas  des 
Mondes.     703. 

Lowell,  Umdrehungszeit  des  Mars.  331, 
666. 

Luizet,  Die  veränderlichen  Sterne  vom 
Typus  S  Cephei.     140. 

Lunt,   Vergleichsspcktrum.      714. 

Müller  u.  Krön,  Spektralphotometrische 
Messungen  zur  Bestimmung  der  .Aus- 
löschung des  Lichtes  in  der  Atmosphäre 
und  der  Energieverteilung  im  Sonnen- 
spektrum.    331. 

Nashan,  Beziehungen  zwischen  Farbe, 
Spektrum    und  Parallaxe  der  Fi.xsterne. 

444- 
Ol  live,  Elemente  der  bekannten  Monde. 

378. 
Picke  ring,    Veränderungen    am   Mond- 
krater Eimmart.     378. 
Roß,  Tierkreislicht.     331. 
Shapley,  H.,  Doppelsterne.     141. 
Shaw,  Kn.,    Die  dunklen  Stellen  in  der 

Milchstraße.     412. 
Slipher,  Umdrehung  eines  Spiralnebels. 

666. 
Stürmer     und     Birkeland,     Studium 

des  Nordlichtes.      185. 
60  zölliges  Spiegelteleskop.     266. 
Immer  engere  Doppelsternpaare.     413. 
Kometenfamilie  des  Neptun.     456. 
Sterne    mit    auffallend    großer   Bewegung 

in  der  Gesichtslinie.     713. 

III.    Kleinere  Mitteilungen. 

a.    Physik,    Technik, 
Chemische  Industrie. 

Radioaktivität  und  Atomtheorie.      I08. 
Mesothorium.      123. 


Register. 


Technische  Neuerungen  der  feinkerami- 
schea  Industrie  (Bürger).     827. 

Zellulose,  Zucker,  Alkohol  (nach  Will- 
stätter).    45. 

Neuere  Verwendungsarten  von  Karbid  und 
Azetylen  und  deren  Rückwirkung  auf 
die  Entwicklung  anderer  Industrien  (n. 
Fraenkel).     46. 

Dynamit  im  Dienst  der  Landwirtschaft. 
60. 

Zur  Geschichte  der  Zündhölzer.     61. 

Schlagwetteranzeige  und  die  Haber'sche 
Schlagwcltcrpfeifc.      77. 

Die  Nitra-Lampe.      107. 

Die  BilliterKerze.      I42. 

Quarzgut.      155. 

Geschichtliche  Notizen  zur  allmählichen 
Vervollkommnung  der  Tinte  (n.  P. 
Mar  teil).     190. 

Die  Verwendung  des  Kupfers.     384. 

A.-E.-G.-Zweidecker.     527. 

Aluminiumlöt-  und  Schweifimethoden  (n. 
Heraus).     "Jib. 

Etwas    von    der  Zelluloidindustrie.       795. 

Zusammensetzung  der  zur  Einbalsamie- 
rung dienenden  Harze  (n.  Reutter). 
236. 

Über  die  Entfernung  von  Druck  und 
Schriftzeichen  aus  bedrucktem  Papier 
(n.  Kurtz-H  ähnle).     716. 

Aufnahme  von  kleinen  Naturobjekten  usw. 
(Or.,   Frank).      735. 

Stickstoffquellen. 

Ein  neues  Verfahren  zur  Gewinnung  von 
Zellulose  aus  Holz  und  Gespinstfasern 
und  zur  Beseitigung  der  abfallenden 
Laugen (n.  König  u.  H  äsen  bäumer). 
267. 

Ein  neues  Verfahren  von  Unschädlich- 
machung und  Wiedergewinnung  von 
Abfalllauge  (n.  L o ch nerwe rk e).  735. 

Chemisches  Mittel  gegen  Schädlinge  der 
Kulturpflanzen  (n.  Molz).      106. 

Menhadenindustrie  (n.Turr en tine).  125. 

b.    Nahrungsmittelchemie. 

Heil-  und  Nahrungsmittelreste  in  alt- 
ägyptischen Leichen    (n.  Netoltzky). 

Bestimmung  des  Methylalkohols  in  Spiri- 
tuosen (n.  H  et  per).     93. 

Giftigkeit  des  Methylalkohols  (n.  Kroe- 
ber).     174. 

c.  Zoologie,  Botanik. 

Walloneneiclien  in  ihrer  Pflanzen-  und 
wirtschaftgeographischen  Bedeutung  (n. 
K.  Burk).      172. 

70  proz.  Alkohol  zeigt  die  größte  des- 
infizierende Wirkung  (n.  Tijmstra). 
237. 

Der  Einfluß  des  letzten  nassen  Sommers 
auf  malakozoologischera  Gebiet  (Or., 
R.  Schmitt)      267. 

Fischfang  mit  Draclien  (Or.,  Mi  ehe).  284. 

Postmortale  Veränderungen  beim  Wild- 
pret  (n.  W  e  i  s  c  h  e  r  u.  M  ö  1 1  e  r),    349. 

Wendehals  und  Sperber  (Or.,  Brock- 
meier). 

Drohende  Ausrottung  von  Fischotter  und 
Fischreiher?  (Or.,  Thienemann). 

Mit  dem  Hochwasser  wandernde  Schmetter- 
linge (Or.,  Brockmeier). 

Einige  auffallende  Beispiele  von  Mimikry 
bei  tropischen  Insekten  (Or.,  Mi  ehe). 
651. 


Fremdkörper  in  Vogeleiern  (Or.,  Rei- 
neck).    574. 

Delphine  in  der  Gefangenschaft  (n. 
T  o  w  n  s  e  n  d).     'J\6. 

Einseitige  Schädigung  von  Bäumen  durch 
Rauchgase  (Gr.,  W.  Wenz).     795. 

d.  Geologie,  Urgeschichte. 

Ein  wichtiger  Fund  aus  der  Ancyluszeit 
(Or.,  Philippsen).     236. 

Eine  Austernbank  aus  der  Litorinazeit 
(Or.,  Philippsen). 

Weitere  Zerealienfunde  vorgeschichtlicher 
Zeit  aus  den  sächsich  -  thüringischen 
Ländern  (Or.,  Mötetindt).     463. 

Über  angebliche  Hebungen  und  Senkungen 
an  Pommerns  Küsten  nach  der  Litorina- 
zeit (Or.,   Kranz).      669. 

Zwei  lehrreiche  Profile  aus  dem  Franken- 
wald. Zwei  Natururkunden  (Or.,  Hund  t). 
680. 

e.  Meteorologie,  Astronomie. 

Nebel  von  Schutt.     78. 

Eine    Beobachtung    des    grünen    Strahles 

(Or.,  Riera).     636. 
Wie  dick    sind  die  Wolken?    (n.  Kann). 

f.    Medizin,    Tierheilkunde. 

Mittel  gegen  Schlaflosigkeit  (n.  Ebstein) 
350. 

Eugenik  (n.  Seilheim).     682. 

Über  Geisteskrankheiten  und  andere  Ent- 
artungszeichen im  Indischen  Reich.    717, 

Echinorbynchen  im  Darm  des  Wasser- 
geflügels (n.  Zschoke  und  Feuer- 
eissen).      109. 

Sarkosporidien  bei  den  Haustieren  (n. 
Bergmann).     126. 

Stollbeule  der  Pferde  (n.  Sustmann  u. 
Magnussen).     156. 

Tuberkulose  und  Milch  (n.  v.  Oster  tag) 

383- 

Was  ist  Schweinepest?  (n.  Sehern  u. 
Stange).     508. 

Kriegschirurgische  Verletzungen  im  Balkan- 
kriege (n.  Hertels).      127. 

Tuberkulosebehandlung  (n.  F  r  i  e  d  m  a  n  n). 
142. 

Schlafkrankheit  in  Uganda  (n.  S  c  h  i  1 1  i  n  g). 

155- 

Tollwut  (n.   Koch).      173. 

Der  heutige  Stand  der  Organtransplan- 
tationen (n.  Stich).      191. 

Wärmeapplikation  (n.  D  r  e  e  s  e  n ,  B  u  s  s  e). 

2^7- 
Wiederanheilung     einer    fast    vollständig 

abgeschnittenen   Hand   (n.   Schloess- 

mann).     588. 
Linsenstar    des    Auges    (n.    F.    Schanz). 

715- 

g.  Verschiedenes. 

Weltwirtschaftliche  Probleme  Ostasiens  (n. 

v.  W  ies  e  u.  K  ais  er  s  wal  d  au).    156. 
Steigerung  des  Fettgehaltes  der  Milch  (n. 

Grumme).     527. 


IV.  Bücherbesprechungen. 

Abderhalden,     E.,      Abwehrfermente 
des  tierischen  Organismus  usw.     459. 


Abel,  O.,  Die  Tiere  der  Vorwelt.     317. 

Andree,  K.,  Über  die  Bedingungen  der 
Gebirgsbildung.     45S. 

Annual  Report  of  the  Bureau  of  American 
Ethnology.     28,  416. 

Arber,  A.,  Herbais,  their  origin  and 
evolution.     63. 

.Auwers,  K.  v.  u.  Boennecke,  A., 
Tabellen  zur  Berechnung  der  „theore- 
tischen" MolrefraUtionen  organischer 
Verbindungen.     364. 

Auerbach,  F.,  Die  Weltberrin  und  ihr 
Schatten.     539. 

Banse,  E.,  Illustrierte  Länderkunde.  382. 

Barthel,  E.,  Die  Erde  als  Totalebene. 
460. 

B  a  V  i  n  k ,  .Mlgemeine  Ergebnisse  und  Pro- 
bleme  der  Naturwissenschaft.     494. 

Bateson,    W. ,    Problems    of    Genetics. 

495- 

Bat  es,  O. ,    The  Eastern  Libyans.     76Ö. 

Bauer,  H.,  Geschichte  der  Chemie  I. 
527. 

Bauer,  H.,  Analytische  Chemie  des 
Methylalkohols.      12S. 

Bardeleben,  K.  v..  Die  Anatomie  des 
Menschen.     302. 

Benussi,  V.,  Psychologie  der  Zeitauf- 
fassung.     192. 

Ben  dt,  Fr.,  Grundzüge  der  Differential- 
und   Integralrechnung.     30I. 

Berg,  L.,  Das  Problem  der  Klimaände- 
rung in  geschichtlicher  Zeit.     751. 

Berg,  A.,    Geographisches    Wanderbuch, 

346- 

Bergius,  Fr.,  Die  Anwendung  hoher 
Drucke  bei  chemischen  Vorgängen  und 
eine  Nachbildung  des  Eatstehungs- 
prozesses  der  Steinkohle.     346. 

Bernoulli,  J. ,  Auswahl  aus  seinen 
mathematischen  Vorlesungen.     576. 

Bjerrum,  N. ,  Die  Theorie  der  alkali- 
metrischen und  azidimetrischen  Titrie- 
rungen.    590. 

Bluntschli,  H. ,  Über  die  individuelle 
Variation  im  menschlichen  Körperbau 
usw.     416. 

Boas,  J.  E.  V.,  Lehrbuch  der  Zoologie. 
271. 

Bolk,  L.,  Die  Ontogenie  der  Primaten- 
zähne.    540. 

Bortkiewicz,  L.  v..  Die  radioaktive 
Strahlung  als  Gegenstand  wahrschein- 
lichkeitstheoretischer Untersuchungen. 
622. 

Boveri,  Th.,  Zur  Frage  der  Entstehung 
maligner  Tumoren.     637. 

Bragg,  Durchgang  der  «-,  /J-,  ;'-  und 
Röntgenstrahlen   durch  Materie.     463. 

Brandt,  B. ,  Studien  zur  Talgeschichte 
der  Großen  Wiese  im  Schwarzwald.  510. 

Brehm's    Tierleben.      Säugetiere.      2.  Bd. 

830- 

Birkeland,  Kr.,  Über  die  Ursachen 
der  erdmagnetischen  Stürme.     209. 

Brohmer,  P.,  Fauna  von  Deutschland. 
Ein  Bestimmungsbuch.     6S4. 

Bronsart  v.  Schellendorf,  Fr., 
Novellen  aus  der  afrikanischen  Tier- 
welt.    415. 

Brunswig,  H.,  Die  E.Nplosivstoffe.    686. 

Brücke,  E.  Th.  v. ,  Über  die  Grund- 
lagen und  Methoden  der  Großhirn- 
physiologie.    575. 

Brückmann,  R.,  Palmnicken,  Beobach- 
tung über  Strandverschiebung  an  der 
Küste  des  Samlands  lU.     363 


VI 


Register. 


Bryk,    Kurzes    Repetitoriuin.      II.    Orga- 
nische Chemie.     475. 
Chodat,    P.,    Monographie    d'algues    en 

culture  pure.     332. 
Church,    G.    E. ,    Aborigines    of   South 

America.      7S1. 
Clements,    F.   u.   E. ,    Rocky    Mountain 

Flowers.     718. 
Clifford,  W.  K.,    Der  Sinn   der  e.xakten 

Wissenschaft.     204. 
Cresson,  A.,    L'espuce  et  son  serviteur. 

205. 
Da  hl,     Fr.,      Vergleichende     Physiologie 

und  Morphologie  der  Siiinnentiere  usw. 

95- 

DeHaas-Lorentz,  G.  L.,  Die  Brown- 
sche  Bewegung  usw.     192. 

Der  Mensch  aller  Zeiten.      750. 

Diapositive  zu  H.  Potonie's  Entstehung 
der  Steinkohle.     6S3. 

Die  Ansiedlung  von  Europäern  in  den 
Tropen.     687. 

Dittrich,  O.,  Die  Probleme  der  Sprach- 
psychologie.    347. 

Doliarius,  Alle  Jahreskalendcr  auf 
einem   Blatt.     460. 

Drude,  O.,  Die  Ökologie  der  Pflanzen. 
128. 

Dugmore,  A.  R.,  Wild -Wald -Steppe. 
270. 

Eckard  t,  W.  R. ,  Praktischer  Vogel- 
schutz.    575. 

Egge  1  in g,  H. ,  Physiognomie  und 
Schädel.     415. 

Ehrlich ,  P. ,  Eine  Darstellung  seines 
wissenschaftlichen  Wirkens.     620. 

Einstein,  A.  und  Groß  mann,  M., 
Entwurf  einer  verallgemeinerten  Rela- 
tivitätstheorie und  einer  Theorie  der 
Gravitation.     52S. 

Eisenlohr,  P. ,  Die  Spektralchemie 
organischer  Verbindungen  usw.     540. 

Estreicher,  Tad. ,  Über  die  Kalori- 
metrie  der  niederen  Temperaturen.    429. 

Fester,  G.,  Die  chemische  Technologie 
des  Vanadins.     576. 

Festschrift  für  Karl  SudhofT.      159. 

Findlay,  AI.,    Der    osmotische    Druck. 

479- 

Fischer,  J.,  Das  Problem  der  Brütung. 
416. 

Flaskämper,  P. ,  Die  Wissenschaft 
vom  Leben.     223. 

Forel,  A.,  Die  sexuelle  Frage.     447. 

Fortschritte  der  Mineralogie,  Kristallo- 
graphie und  Petrographie.     557. 

Franke,  H.,  Dre  Umrisse  der  Kristall- 
flächen und  die  Anfertigung  von  Kristall- 
modellen.    590. 

Frech,  F.,  Allgemeine   Geologie.     718. 

Freundlich,  H.,  Kapillarchemie  und 
Phy.siologie.     478. 

Friedländer,  J.,  Beiträge  zur  Kennt- 
nis der  Kapverdischen  Inseln.     493. 

Fuchs,  C.  \V.  C.,  Anleitung  zur  Bestim- 
mung der  Mineralien.     5 89. 

Gebhardt,  P.,  Mit  der  Kamera  auf 
Reisen.     590. 

G eitel,  M.,  Schöpfungen  der  Ingenieur- 
tecbnik  der  Neuzeit.     640. 

Geologisch-agronomische  Karte  usw.  Lie- 
ferung   164.     591. 

Geologische  Karte  von  Preußen  und  be- 
nachbarter Bundesstaaten.     606. 

Gesellschaft  für  Linde's  Eismaschinen 
Abteilung  für  Gasverflüssigung.  Tech- 
nik der  tiefen  Temperaturen.     459. 


Geyer,  Fr.  X.,  Durch  Sand,  Sumpf  und 
Wald.     671. 

Goeldi,  E.  A.,  Die  Tierwelt  der  Schweiz. 
1.  Bd.     830. 

Gohlke,  K.,  Die  Brauchbarkeit  der 
Serumdiagnostik  für  den  Nachweis 
zweifelhafter  Verwandtschaftsverhält- 
nisse im  Pflanzenreich.     332. 

Goldbeck,  Das  edle  französische  Pferd. 
III. 

Goldhammer,  A.,  Dispersion  und  Ab- 
sorption des  Lichtes.     475. 

Goßner,  B. ,  Kristallberechnung  und 
Kristallzeichnung.     47S. 

Gradmann,  R.,  Das  ländliche  Siede- 
lungswesen  des  Königreichs  Württem- 
berg.    2S5. 

Großmann,  H.,  Die  Bestiramungs- 
methoden  des  Nickels  und  Kobalts  usw. 

345- 

Groos,  K.,  Das  Seelenleben  des  Kindes. 
174. 

Grünvogel,  Edw.,  Geologische  Unter- 
suchungen auf  der  HohenzoUernalb. 
736. 

Haberlandt,     L. ,     Das    Ilerzflimmern. 

591. 
Haeckel,  W.,   Ernst  Ilacckel  im  Bilde. 

334- 

Haenlein,  Das  Alter  der  Erde.     479. 

Hägglund,  E. ,  Hefe  und  Gärung  in 
ihrer  Abhängigkeit  von  Wasserstoff-  und 
Hydro.iylionen.     686. 

Hahne,  Fr. ,  Leitfaden  der  Filmphoto- 
graphie.     7°4' 

Handbuch  der  naturgeschichtlichen  Tech- 
nik für  Lehrer  und  Studierende  der 
Naturw.     510. 

Handbuch    der   Tropenkranklieiten.      26S. 

Hann,  J.,  Lehrbuch  der  Meteorologie. 
3.  Aufl.     365,  816. 

Hansen,  A.,  Repetitorium  der  Botanik 
usw.     79^' 

Hartmann,  N.,  Philosophische  Grund- 
fragen der  Biologie.     203. 

Haub  er  risser,  G.,  Herstellung  photo- 
graphischer Vergrößerungen.     719. 

Hausschwammforschungen.     29. 

Hay,  O.  P.,  The  extinct  Bisons  of  North- 
America.     477. 

Hegg,  E.,  Das  Ewige  im  Zeitlichen.    704. 

Hegi,  G,  Aus  den  Schweizerlanden.  543. 

Heilborn,  A.,  Entwicklungsgeschichte 
des  Menschen.     302. 

Herpetologia  europaea  28. 

Hesse,  R.  und  Doflein,  Fr.,  Tierbau 
und  Tierleben,  111.  Band.     655. 

Himmelbauer,  A.,  Mineralogie  und 
Petrographie  usw.     127. 

Hirt,  W.,  Das  Leben  der  anorganischen 
Welt.      381. 

Hoffmann,  C,  Ältere  und  neuere  An- 
sichten über  das  Erdinnere.     47S. 

Hoffmann- Giesenhagen,  Alpen- 
flora.    685. 

Hönigswald,  R-,  Die  Skepsis  in  Philo- 
sophie und  Wissenschaft.     765. 

Hörn,  C,  Goethe  als  Energetiker.     42g. 

Hughes,  A.  L.,  Photo-Electricity.     446. 

Hundt,  R. ,  Geologische  Wanderungen 
im  mittleren  Eislertale.     509. 

Jacob i,  A.,  Mimikry  und  verwandte  Er- 
scheinungen.    15. 

Jahrbuch  der  Deutschen  Mikrologischen 
Gesellschaft.     319. 

Janson,  O.,  Das  Meer  und  seine  Er- 
forschung.    683. 


Jentsch,  Ernst  Robert  Mayer,  seine 
Krankheitsgeschichte  usw.     381. 

Jezek,  B.,  Aus  dem  Reiche  der  Edel- 
steine.    6S6. 

Johannsen,  W.,  Elemente  der  exakten 
Erblichkeitslehre.     319. 

Jost,  L. ,  Vorlesungen  über  Pflanzen- 
physiologie.     127. 

Kafka,  G,  Einführung  in  die  Tier- 
psychologie usw.  366  (vgl.  Berichti- 
_  gung.     704). 

Kalähne,  A.,  Grundzüge  der  mathe- 
matisch-physikalischen Akustik.     459. 

Kammerer,  P.,  Genossenschaften  von 
Lebewesen  auf  Grund  gegenseitiger 
Vorteile.     28. 

Karny,  H. ,  Tabellen  zur  Bestimmung 
einheimischer  Insekten.     I.     285. 

Karte  der  nutzbaren  Lagerstätten  Deutsch- 
lands.    143. 

Kassowitz,  M. ,  Gesammelte  Abhand- 
lungen.    639. 

Keller,  O.,    Die    antike  Tierwelt.     Iio. 

K  er  n  er  V.  Marilaun  ,  A.,  Pflanzenleben. 
268. 

Kerschensteiner,  G.,  Wesen  und 
Wert  des  naturwissenschaftlichen  Unter- 
richts.    348. 

Klein,  F.  u.  Sommerfeld,  A. ,  Über 
die  Theorie  des  Kreisels.     654. 

Klunzinger,  C.  B.,  Die  Rundkrabben 
des  roten  Meeres.     205. 

Knauer,  Fr,,  Der  Zoologische  Garten. 
684. 

Kochalsky,  A.,  Das  Leben  und  die 
Lehre  Epikurs.     782. 

Kolk  witz,  R.,  Pflanzenphysiologie.  238. 

Kryptogamenflora  für  Anfänger  Band  IV. 

7«3- 

Kultur  der  Gegenwart,  3.  Teil,  4.  Abtei- 
lung, 4.  Band,   476. 

Lanessan,  J.  L.  de,  Transformisme  et 
Creationisme.     349. 

Laue,  M.,  Das  Relativitätsprinzip.     528. 

Leifl,  C.  und  Schneiderhöhn,  H., 
Apparate  und  Arbeitsmethoden  zur 
mikroskopischen  Untersuchung  kristalli- 
sierter Körper       76=;. 

Lenz,  Fr.,  Über  die  krankhaften  Erb- 
anlagen des  Mannes  und  die  Bestimmung 
des  Geschlechts  beim  Menschen.     509. 

Lerch,  L.,  Geologische  Wanderungen 
in  der  Umgegend  von  Hannover.    380. 

Lorscheid,  J. ,  Lehrbuch  der  anor- 
ganischen Chemie.     397. 

Löwenheim,  L.,  Die  Wissenschaft 
Demokrits  usw.     237. 

Ludowici,  A.,  Das  genetische  Prinzip. 
766. 

Lundegardh,  II.,  Grundzüge  einer 
chemisch -physikalischen  Theorie  des 
Lebens.     495. 

Lux,  H. ,  Das  moderne  Belenchtungs- 
wesen.    366. 

Magnus,  W. ,  Die  Entstehung  der 
Pflanzengallen.     475. 

Mangold,  E.,  Die  Erregungsleitung  im 
Wirbeltierherzen.     718. 

Martin,  Die  sogenannte  Blutsverwand- 
schaft zwischen  Mensch  und  Affe.     29. 

Maurer,  Fr.,  Haeckel  und  die  Biologie. 

335- 
van    Megeren,    St.    G. ,     Ausgewählte 

Kapitel  aus  der  Geologie.     718. 

Meyer,    W.    Th.,    Tintenfische    mit   bes. 

Berücksichtigung   von  Sepia  und  Octo- 

pus.     109. 


Register. 


VII 


Mi  not,  Ch.  S.,  Die  Methode  der  Wissen- 
schaft 205. 
Mitchell,   r.  C,  Die  Kindheit  der  Tiere. 

494- 

Mull,  A. ,  Handbuch  der  Sexualwissen- 
schaften     736. 

Morgan,  C.  L.,   Instinkt  und  Erfahrung. 

'75- 
Mofi,    G.    F..,    The    Cambridge    British 

Flora.      527. 

Münch,   F.,   Erlebnis  und  Geltung.    365. 

Naturwissenschaftliche  Jugendliteratur.  137. 

Neger,  F.  W.,  Die  Laubhölzer.     382. 

Neophilosophos  Tis,  Der  Mensch 
und  seine  Kultur.     509. 

Nernst,  \V.  und  Schoen  flies,  A., 
Einführung  in  die  mathematische  Be- 
handlung der  Naturwissenschaften.?.  Aufl. 
158. 

Newcomb  -  Engel  mann,  Populäre 
Astronomie.      237. 

Nußbaum,  M.,  Karsten,  G.,  Weber, 
M. ,  Lelirbuch  der  Biologie  für  Hoch- 
schulen.    621. 

Offner,  M.,  Das  Gedächtnis.     159. 

Oppel,  A.,  Leitfaden  für  das  embryo- 
logische Praktikum  usw.     302. 

Ostwald,  VV.,  Moderne  Naturphilosophie. 
797- 

Pal  lad  in  ,  W.  J.,  Pflanzenanatomie.   815. 

Perrin,  J.,  Die  Atome.     344. 

Philip,  J.  C. ,  Physical  chemisiry,  its 
bearing  ou  biology  and  medicine.     175. 

Philippson,  -X.,  Das  Mittelmeergebiet 
usw.     364. 

Planck,  M.,  Das  Prinzip  der  Erhaltung 
der  Energie.      47. 

Planck,  M. ,  Neue  Bahnen  der  physi- 
kalischen Erkenntnis.     414. 

Plassmann,  Po  hie,  K  reich  gauer, 
Waagen,  Himmel  und  Erde.     640. 

Pohl,  R.  und  Pringsheim,  P. ,  Die 
hchtelektrischen  Erscheinungen.     558. 

Poincare,  H. ,  Wissenschaft  und  Me- 
thode.    541. 

Pole,  J.  C,  Die  Quarzlampe,  ihre  Ent- 
wicklung und  ihr  heutiger  Stand.     447. 

Predinger,  O,  Die  Photographie,  ihre 
Grundlage  und   Anwendung.     287. 

Preul3,  K.  Th.,  Die  geistige  Kultur  der 
Naturvölker.      656. 

Preyer,  A.  Th.,  Lebensänderungen.  302. 

Procter,  H.  R.,  Taschenbuch  für 
Gerbereichemiker  und  Lederfabrikanten. 
362. 

Rädl,  E.,  Geschichte  der  biologischen 
Theorien  in  der  Neuzeit.     397. 

Ramsay,  W.,  Moderne  Chemie  II.    685. 

Reitz,  .'\.,  Apparate  und  Arbeitsmethoden 
der  Bakteriologie.     Bd.  I.     318. 

Reicheno  w,  A.,   Die  Vögel,  Bd.  I.  415. 

Remsen,  I.,  Einleitung  in  das  Studium 
der  Chemie.     558. 

Reuter,  O.  M. ,  Lebensgewohnheiten 
und   Instinkte    der    Insekten  usw.      175. 

Rignano,  E.,  L'evolution  du  raisonne- 
ment.      204.- 

Rinne,  F.,  Gesteinskunde.     590. 

Rothe,  R.,  Darstellende  Geometrie  des 
Geländes.     415. 

Rothe,  K.  C,  Vorlesungen  über  allge- 
meine Methodik  des  Naturgeschichts- 
unterrichts.    205. 

Rosenthal,  W. ,  Tierische  Immunität. 
239- 

Röseler,  P.  und  Lamprecht,  H., 
Handbuch  für  Biologische  Übungen.  287. 


Rusch,  Fr.,  Winke  für  die  Beobachtung 
des  Himmels  mit  einfachen  Instrumenten. 
656. 

Rüst,  E. ,  Grundlehren  der  Chemie  und 
Wege  zur  künstlichen  Herstellung  von 
Naturstoffen.      590. 

Schaefcr,  Cl,  Einführung  in  die  theo- 
retische Physik.     683. 

Scheffer,  W.,  Das  Mikroskop.     654. 

Scheid,  K.,  Chemisches  Experimentier- 
buch,    n.  Teil.     286. 

Scheiner,  I.,  Der  Bau  des  Weltalls.  671. 

Schlechter,  R.,    Die  Orchideen.     831. 

Schlenker,  Lebensbilder  aus  deutschen 
Mooren.      47. 

Seh  midiin,    J.,    Das    Triphenylmethyl. 

364- 

Schmidt,  II.  W.,  Deutschlands  Raub- 
vögel.     29. 

Schmidt,  H. ,  Was  wir  Ernst  Haeckel 
verdanken.      621. 

Schmidt,  R.  R,,  Der  Sirgenstein  und 
die  diluvialen  Kulturstätten  Württem- 
bergs.    428. 

Schoenichen,  W. ,  Methodik  und 
Technik  des  naturwissenschaftlichen 
Unterrichts.     303. 

Scholz,  E.  J.  R.,  Bienen  und  Wespen  usw. 

143- 

Schrenck-Notzing,  Freiherr  v.,  Der 
Kampf  um  die  Materialisationsphäno- 
mene.    380. 

Schrenck-Notzing,  Freiherr  von, 
Materialisationsphänomene.      206. 

Schröder,  Chr.,  Handbuch  der  Ento- 
mologie.    239. 

Schumacher,  S.  v.,  Die  Individualität 
der  Zelle.     589. 

Sieberg,  A.,  Einführung  in  die  Erd- 
beben- und  Vulkankunde  Süditaliens. 
207. 

S  laden,    F.   W.  L.,    The    Humble-Bee. 

751- 
Steinmann,  P.  und  Breßlau,E.,  Die 

Strudelwürmer.      109. 
Stelz,  L.,    Entstehung   und  Entwicklung 

des  Menschen  bis  zur  Geburt  usw.     80. 
StendeU,  W.,  Die  Hypophysis  cerebri. 

8.  Teil   von  Oppels,    Lehrb.  der  vergl. 

mikr.  .Anatomie    der    Wirbeltiere.     462. 
Stern,    L.,    Über    den  Mechanismus  der 

Oxydationsvorgänge  im  Tierorganismus. 

766. 
Stickers,  J.,  Was  ist  Energie.     222. 
Stratz,     C.    H.,     Die    Darstellung     des 

menschlichen  Körpers  in  der  Kunst.  428. 
Streißler,    A.,    Öldruck,     Bromöldruck 

und   verwandte   Verfahren.     286. 
Study,   E.,    Die    realistische   Weltansicht 

und   die  Lehre   vom   Räume.      364. 
Süßwasserflora    Deutschlands,    Österreichs 

und   der  Schweiz.      363. 
Swart,  N.,    Die    Stoffwanderung    in    ab- 
lebenden Blättern.      460.  » 
Thomas,    Fr.    A.    W. ,    Das    Elisabeth- 

Linne-Phänomen  (sog.  Blitzen  der  Blüten) 

und  seine  Deutungen.     431. 
T  ornquis  t ,  A.,   Die  Wirkung  der  Sturm- 
flut vom  9. — 10.  Januar  1914  auf  Sam- 

land  und  Nehrung.     574. 

Ulm  er,  G.,  Aus  Seen  und  Bächen.    539. 

Urbain,  Einführung  in  die  Spektro- 
chemie.     540. 

Verworn,M,Die  Mechanik  des  Geistes- 
lebens.    751. 

Verworn,  M.,  Erregung  und  Lähmung. 
460. 


Voigt,  A.,  Die  Riviera.     23S. 
Voigtländer's   Qucllenbücher.      752. 
Voigtländers  Tierkalender  1914.     239. 
Vol terra,    V.,    Drei    Vorlesungen    über 

neuere  Fortschritte  der  mathematischen 

Physik.     637. 
Vorträge  über  die  kinetische  Theorie  der 

Materie  und  der  Elektrizität.     605. 
War  bürg,  O.,  Die  Pflanzenwelt.    Bd.  I. 

332- 

Wedekind,  E.,  Stereochemie.     399. 

Wegner,  Th.,  Geologie  Westfalens  usw. 
207. 

W  e  i  m  a  r  n ,  P.P.  v.,  Zur  Lehre  von  den 
Zuständen  der  Materie.      509. 

Weinberg,  W.,  Die  Kinder  der  Tuber- 
kulösen.    684. 

Weinschenk,  E. ,  Bodenmais- Passau. 
Petrographische  Exkursionen  im  Bay- 
rischen  Wald.     719. 

Weinschenk,  E. ,  Grundzüge  der  Ge- 
steinslehre I.  Teil.     591. 

Weinschenk,  E. ,  Petrographisches 
Vademekum.     478. 

Werner,  A.,  Über  die  Konstitution  und 
Kontiguration  der  Verbindungen  höherer 
Ordnung.      365. 

Wien,  W.,  Vorlesungen  über  neuere 
Probleme  der  theoretischen  Physik.    143. 

Wohlgemuth,  J. ,  Grundriß  der  Fer- 
mentmethoden.    204. 

Wölbling,  H. ,  Die  Bestimmungs- 
methoden des  Arsens,  Antimons  und 
Zinns.      446. 

Zeeman,  P.,  Magnetooptische  Unter- 
suchungen usw.  671. 

Zenetli,  P.,  Die  Entstehung  der  schwä- 
bisch-bayrischen Hochebene.     685. 

Zernecke,  E.,  Leitfaden  für  Aquarien- 
und  Terrarienfreunde.      159. 

Ziehen,  Th.,  Zum  gegenwärtigen  Stand 
der  Erkenntnistheorie.     239. 

Zimmermann,  A  ,  Der  Manihot-Kaut- 
schuk.    48. 

Zsc  himmer,  E.,  Philosophie  der  Tech- 
nik.    427. 

V.  Anregungen  und  Antworten. 

Absolute,  Begriff.     175. 

Akademische  Ferienkurse,  Hamburg.   288. 

Aplitische   Injektion.     366. 

Aquarienkunde,  Literatur.     96. 

Auster,  Ansiedlung  derselben.     400. 

Banane,  Fruchtstand.     496. 

Beeren,  Schädlichkeit  einiger.     512. 

Bestimmungstabellen  für  das  Tierreich.  496. 

Blitzen  der  Blüten,  Kritische  Bemerkungen 
dazu.     558. 

Calcium-  und  Aluminiumverbindung  mit 
Silicium,  Bor  usw.     368. 

Chinesische  Kenntnisse  von  der  Verwand- 
lung der  Schmetterlinge.     272. 

Comite  de  Bibliographie  et  d'Ktudes  astro- 
nomiques,   Aufruf.      160. 

Diatomeen,  Literatur.     256. 

Dynamit  in  der  Landwirtschaft ,  Entgeg- 
nung.    287. 

Eiweißstoffe,  Molekulargewicht.     799- 

Entgegnung  (A.  Heilborn).      496. 

Falltachiskop.     31. 

Foraminiferen,  marine.     400. 

— ,  karbonische,  Literatur.     431. 

Gasbläschen,  Bewegung  der  in  Flüssig- 
keit.    239. 

Gehen ,  weshalb  strengt  langsames  mehr 
an  als  rasches?     96. 


VIII 


Register. 


Geologischer  Führer  für  Helgoland, 
Kieler  Bucht  usw.     367. 

Gewitter  in  der  Pfalz  am  21.  Februar 
1914.     304. 

Grüner  Strahl,  Kritische  Bemerkung.    799. 

Harnfarbstoffe,  zufällige.      800. 

Hasenscharte  und  Wolfsrachen.     384. 

Haut-   und  Zweiflügler,  Literatur.      367. 

Hühnereier,  im  Innern  bakterienfrei?   384. 

Institut  für  Gärungsgewerbe,  .Adresse.    112. 

Käfer,  schmutzige  aufzupräparieren.    367. 

Käfer  in  schimmligen   Hölzern.      688. 

Karbide,  Löslichkeit,  Literatur.     544. 

Kepler's  opera  omnia.      96. 

Kinematograph  als  Anschauungsmittel.    96. 

Kugelblitze.      192. 

Küchen-  und  Haushaltschemie,  Literatur. 
799. 

Lindenblatt,  tütenförmiges.     48. 

Lispeln.     192. 

Maulwurf,  sein  Nutzen  und  Schaden.    272. 

Mechanische  Erklärung  der  elektrischen 
Erscheinungen,   Literatur,      320. 

Mistel,  Keimen  derselben.     544. 

Nußbaum  im  deutschen  Volksglauben.  48. 

Okular,   Funktion   desselben.      240. 

Ovarium ,  Verschiedenheit  der  Eier  im 
rechten  und   linken.      367. 

Phänologie,   Literatur.     368. 

Photometrische  Gesetze,  Korrektur  der- 
selben?    Kritische  Bemerkung.     624. 

Polreagenzpapier.      160. 

Relativitätsprinzip,  Literatur.      176. 

Replilieneier.     272. 

Reptdien,  fossile,  Literatur.     464. 

Reliefs,  geologische,  ihre  Herstellung.  6SS. 

Rheinlande,  Geologie  der,   Literatur.  544. 

Roßhaare  in   Vogelciern.      704,   768. 

Sauerstoffgehalt  des  Wassers,  maßanatyti- 
srhe  Methode.     336. 

Schiffe,  die  vor  der  Ausreise  einen  Kreis 
beschreiben.     80,   160. 

Schifl'e,  Bewegung  flußabwärts  treibender. 
So,   160. 

Segelflug,   Höhengewinu  dabei.     495. 

SelbstenizUndung  von   Heu.      719. 

Si.\-Maximum-Minimum-Thermometer.  160. 

Spezifisches  Gewicht,  Berechnung  dessel- 
ben a.   d.  Atomgewichte.     512. 

Symbiose   von   Pflanzen   mit  Pflanzen.    48. 

Sympathisches  Nervensystem.      223. 

Stachelschweine,  afrikanische.     320. 

Strandflora,  Literatur.      367. 

Thermostaten.     64. 

Torf  als  Heizungsmalerial.     112. 

Trommel,  weshalb  hört  man  die  große 
aus  der  Ferne  lauter?     239,  336. 

Tuberkulose,  Übertragung  durch  Sing- 
vögel ?     288. 

Virginia-Zigarren,  die  Halme  (Durchzugs- 
stroh) darin.      112. 

Welken  von  Blumen.     544. 

Wurzelknöllchen.      112. 

Zechsteinsalze,  Versteinerungen  darin.   240. 

Zellwachsium ,  Beobachtung  desselben 
unter  dem   Mikroskop.      783. 

Zyklonen  in  Varesi.     240. 


VI.   Nachrichten  aus  der 
wissenschaftlichen  Welt. 

Otto  Vahlbruch-Stiftung.     351. 

86.  Versammlung  Deutscher  Naturforscher 
und   Ärzte.      Programm.      3^1,    ^92. 

Preisausschreiben  der  Berliner  Gesellsch. 
für  Rassenhygiene.     351. 

Ferienkurse  in  Jena.     351. 

Kurse  für  Meeresforschung.     351. 

V.  Reinach-Preis  für  Paläontologie,     351. 

Das  Treub-Laboratorium  in  Buitenzorg 
auf  Java.     572. 

Preisausschreiben  der  Rheinischen  Gesell- 
schaft für  wissenschaftliche  Forschung. 
720. 


VII.  Wetter-Monatsübersichten. 


Dezember 

91.S. 

62. 

Januar  1914.     I 

43- 

Februar    19 

14. 

223. 

März    19 14. 

271 

April    1914 

35 

r. 

Mai    1914. 

431- 

Juni    1914. 

479 

Juli    1914. 

.S.S9. 

August   191 

4.     6 

23- 

September 

1914 

687. 

Oktober   19 

14. 

767. 

November 

914. 

832. 

Verzeichnis 
der  Abbildungen. 

Acer  platanoides,  angegriffen  vonDaedalea 
unicolor.     222. 

Ahornsprosse,  welkende,  mit  und  ohne 
SOj-Behandlung.      :;33. 

Alpines  Deckengebirge,  Bewegungsrich- 
tungen.     659. 

Ameisen,  Füße.      745. 

Ameisen,  auf  berußter  Glasplatte.     746. 

Anadonta,  frei  an  Fäden  aufgehängt.    825. 

Arion,  Verhalten  in   Wasser.      S23. 

Aurignacmenschen,  Skulpturen  und  Zeich- 
nungen.    442. 

Befruchtungsvorgang  zwischen  homogamet. 
und  heterogamet.  Elter,   Schema.      182. 

Billaea  pectinata,  Endoskelett.     242. 

Calliphora  erythrocephala ,  Querschnitt 
durch  den  Darm  einer  Larve.     245. 

Callisia   repens,  in  normaler  und  Reizlage. 

153- 
Carea    sublilis,    Raupe,    einen    Loranthus- 

keiifiling  nachahmend.      653. 
Chelonia,   Panzer.      198. 
Chloronium  mirabile.     413. 
Doppelmißbildung.     604. 


Drynaria  quercifolia.     285. 

Ebeltofthafen  mit  Föhnmauer.     518. 

Elodea  canadensis,  in  schwefliger  Säure. 
532- 

Erdkugel,  Hypothetischer  Schnitt.     657. 

Eskimos.     409,  410. 

Euthalia  spec,  Raupe,  Blattnervatur  nach- 
ahmend.    652. 

Fischauge,  Schema  der  Kontrastwirkungen 
in  ihm.     468. 

Fischfang  mit  Drachen.     285. 

Galastocoris  occulatus,  Spermatozoenent- 
wicklung.     180. 

Geröllstrandwälle.      669,   670. 

Goethes  Herbarium.      577,   578,   579. 

Hand ,  Wiederanheilung  einer  fast  ab- 
geschnittenen.     58S. 

Heterochromosomen,  verschiedene  Formen. 
179. 

Hering,  Fanggebiet.     626. 

Hering,  Schuppen.     627,  62S. 

Kautschukzersetzende  Mikroorganismen 
auf  Platte.     216. 

Kabremädchen.     91. 

Kabre,  Terrassenfarmbau  der.     91. 

Kieselschiefer,  gefaltete.     681. 

Klift"  am  Schwedenufer.     670. 

Kurzfingrigkeit,    Röntgenaufnahme.      344. 

Landschildkröte,   Panzer.      198. 

Lederschildkröte,  Ansichten  des  Panzers. 
197. 

Lunularia  cruciata,  Initialzellen  der  Rhi- 
zoiden.     394. 

Mammutfundstelle,   Profil.     693. 

Mesosaurus.     761. 

Mimikry  bei  Insekten.     653. 

Mombajünglinge.     90. 

Nadelholzzweige,  mit  H2SO4  und  SOj  be- 
handelt.    531. 

Papilio  spec.   Raupen  mit  ,, Augen".    652 

653- 

Platygaster  sp.,   Larvenform.     243. 

Polymorphismus  von  Larven.     243. 

Polcnlilla  aurea,   Frucht.     690. 

Puppe,  ein  Blatt  nachahmend.     653. 

Radium ,  seine  Wirkungen  auf  Kresse- 
keimlinge.    306. 

Radium,  seine  Wirkungen  auf  die  Milz 
des  Meerschweinchens.     307. 

Rauchbeschädigung  bei  einem  Baume.   795. 

Rhomboidichthys  podas,  auf  verschiedenem 
Untergrunde.     467,  469. 

Sattelbildung.      681. 

Sali.x  polaris,   herbacea,   Blatt.     690. 

Schildkrötenahnen,   Panzer.      198. 

Schneekristalle.     516. 

Springkäfer,  Semiotus ,  auf  dem  Rücken 
liegend.     281. 

Springkäfer,  Model  eines.     281. 

Statocyste  von  Pterotrachea.     823. 

Steinwerkzeuge.     4S7,  488. 

Tapir,  Fußskelett.     422. 

Tasmanietmischlinge.      734. 

Unufest  in   Buin.      76. 

Vakuumröhren  nach  Greinacher.  326 — 329. 

VVegschnecken,  Verhalten  im  Wasser.  823. 

Wegichnecken,  in  Selbstwendung.     824. 


G.   P.Htz'sche  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,   Nauiriluirg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue   Folge   13,    t'aml  ; 
der  ganzea   Reihe   29.  Band, 


Sonntag,  den  4.  Januar  1914. 


Nummer  1. 


Die  durch  den  Tod  Potonie's  verwaiste  Redaktion  der  Naturwissenschaftlichen  Wochenschrift 
übernimmt  mit  dem  neuen  Jahrgange  Prof.  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig. 

Die  Ziele  der  Wochenschrift  sollen  die  gleichen  bleiben,  wie  sie  ihrem  Begründer  und  lang- 
jährigen Herausgeber  vorschwebten  und  die  er  mit  großer  Hingabe  zu  erreichen  bestrebt  war.  Auch 
weiterhin  soll  die  Wochenschrift  den  naturwissenschaftlich  interessierten  Leser  von  den  Hauptereig- 
nissen auf  dem  gesamten  Gebiet  der  Naturwissenschaften  planmäßig  und  zuverlässig  unterrichten,  in- 
dem sie  in  wissenschaftlich-kritischer  aber  verständlicher  und  in  diesem  Sinne  populärer  Form  neben 
fortlaufenden  Berichten  über  die  wichtigsten  Ergebnisse  der  Einzelforschung  zusammenfassende  Dar- 
stellungen besonders  bedeutender  Entdeckungen,  Probleme,  Ideen  bringen  soll.  Insbesondere  hofft 
dabei  der  Herausgeber  auf  die  Mitarbeit  der  Forscher  selber.  Dazu  kommen,  wie  bisher,  kleinere 
Notizen  über  allgemeiner  interessierende  Tatsachen,  Beobachtungen  usw.,  sorgfältige  Besprechung 
neuer  Werke,  Kongreßberichte,  Anregungen,  Fragen  usw. 

Möge  auch  in  Zukunft  das  Bestreben  der  Wochenschrift,  den  guten  naturwissenschaftlichen 
Interessen  zu  dienen,  tätige  Unterstützung  und  Anerkennung  finden! 

Dr.  HugoMiehe,  GustavFischer, 

a.  o.   Professor  der  Botanik  an  der  Universität  Leipzig.  Verlagsbuchhandlung  in  Jena. 


Über 


Geschlechtswandelungen. 


Unter  den  bösen  Omina,  welche  dem  Einbruch 
Hannibal's  in  Italien  vorausgingen,  gehörte,  laut 
Titus  Livius,  die  Verwandelung  einer  Henne  in 
einen  Hahn  und  umgekehrt  eines  Hahns  in  eine 
Henne.  Ähnliche  Geschlechtsmetamorphosen  galten 
im  Mittelalter  allgemein  als  Teufelsspuk  und  gelten 
als  solcher  noch  heute  manchem  mitten  im  Aber- 
glauben steckenden  Bauersmann:  ein  hahnenfedrig 
gewordenes  Huhn  muß  ihm  sofort  ans  Messer, 
jedoch  bei  Leibe  nicht  um  von  einem  gläubigen 
Christenmenschen  verspeist  zu  werden ,  das 
könnte  ihm  schaden.  Und  dabei  handelt  es  sich 
doch  durchaus  nicht  um  eine  besonders  seltene 
Naturerscheinung:  dieselbe  ist  vielmehr  jedem 
Geflügelzüchter  wohlbekannt  und  war  es  auch 
lange  vor  den  Zeiten  Hannibal's,  da  bereits 
Aristoteles  sie  beachtet  hat.  Die  exakte 
Wissenschaft  befaßt  sich  mit  ähnlichen  Geschlechts- 
wandelungen schon  seit  ein  paar  Jahrhunderten 
und  besonders  intensiv  in  der  neuesten  Zeit,  wo- 
bei sich  ihrer  auch  die  nunmehr  im  Zeichen  des 
Experiments  befindliche  Biologie  aufs  eifrigste 
bemächtigte.  Auch  das  Interesse  weiterer  Kreise 
wurde  geweckt,  so  durch  eine  kürzlich  im  ,, Kos- 
mos" erschienene  Mitteilung  unter  dem  sensatio- 
nellen Titel  „Wie  man  ein  Männchen  zu  einem 
Weibchen  machen  kann". 

Das  Interesse,  welches  ich  mir  von  jungen 
Jahren  her  ^)  für  dergleichen  Fragen  bewahrt 
habe,  veranlaßt  mich,  der  bekannten  Regel  „On 
revient  toujours  ä  ses  premiersamours"  gehorchend, 


in  einer  kurzen  populären  Skizze  die  Frage  nach 
den  Geschlechtswandelungen  zu  beleuchten. 

Hierbei  dürfte  es  zunächst  geboten  sein,  den 
Begriff  der  Geschlechtsmerkmale  festzustellen.  In 
Bausch  und  Bogen,  mit  wenigen  Worten  läßt  sich 
dies  nicht  abmachen,  da  sich  ganze  drei  Grade, 
Stufen  oder  Kategorien  von  Geschlechtsmerkmalen 
unterscheiden  lassen. 

Die  erste  und  wichtigste,  ja  einzig  und  allein 
wesentliche,  Stufe  kommt  ausschließlich  den  Ge- 
schlechtsdrüsen zu,  ob  es  Eierstöcke  sind,  diese 
Bildungsorgane  der  Eizellen,  ob  Hoden,  diese 
Bildungsorgane  der  Samenzellen,  vulgo  Samen- 
fäden oder  gar  Samentierchen ,  wie  die  ersten 
Mikroskopiker  sie  nannten.  Als  zweite  Stufe 
der  Geschlechtsmerkmale  sind  die  Leitungswege 
für  die  Geschlechtsprodukte,  Eier  und  Samen,  an- 
zuerkennen, als  da  sind:  die  Samenleiter  und  das 
Glied  beim  Männchen,  die  Eileiter,  die  Gebär- 
mutter und  die  Scheide  beim  Weibchen;  alles 
Gebilde,  deren  akzessorisclier  Charakter  schon 
durcli  ihr  Fehlen  bei  überaus  vielen  Repräsen- 
tanten des  Tierreichs  bewiesen  wird.  Es  folgt 
schließlich  die  dritte  Stufe  oder  Kategorie  von 
Geschlechtsmerkmalen,  weichein  ihrer  Verbreitung 
noch    viel    eingeschränkter    ist    und    in    keinerlei 


^)  Brandt,  A.,  Anatomisches  und  Allgemeines  über  die 
sog.  Hahnenfedrigkeit  und  anderweitige  Geschlechtsanomalien 
bei  Vögeln.  Zeitschr.  für  wiss.  Zool.  XLVIII,  18S9,  p.  101 
bis   190,  Taf.  IX— XI. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   I 


direkten  Beziehung  zum  Fortpflanzungsgeschäft 
steht.  Hierher  rangieren:  beim  Manne  der  Bart 
mit  seinen  Unterabteilungen  Kinn-,  Backen-  und 
Oberlippenbart,  beim  Weibe  die  stark  entwickelten 
Brüste,  welche,  den  Hautdrüsen  angehörend, 
übrigens  dank  ihrer  reichlichen  Absonderung  zur 
Ernährung  des  Neugeborenen  dienstbar  gemacht 
sind  und  mithin  einen  Platz  auch  auf  der  zweiten 
Stufe  der  Geschlechtsmerkmale  beanspruchen 
könnten.  Innerhalb  der  Säugetierklasse  sind  als 
sehr  bekannte  männliche  Abzeichen  die  Geweihe 
der  Hirsche  zu  nennen.  Die  bei  Pferden  dem 
Hengst  allein  zukommenden  Eckzähne  mögen  als 
weiteres  Beispiel  genannt  werden.  Für  die  Vögel 
mag  an  das  schmucke  Gefieder,  den  großen 
Kamm,  die  Sporen  des  Hahns,  an  den  Pracht- 
schwanz des  männlichen  Pfaus  erinnert  werden. 
Männchen  vieler  anderer  Vogelarten  tragen  ihr 
Schmuckgefieder  nur  als  Hochzeitskleid.  Auch 
bei  kaltblütigen  Wirbeltieren,  bei  Kriechtieren, 
Lurchen  und  P'ischen,  ist  das  Männchen,  wenn 
auch  seltener,  durch  diese  oder  jene  Merkmale  in 
Gestalt  und  Färbung  ausgezeichnet.  Unter  den 
Insekten ,  so  bei  vielen  Käfern  und  Schmetter- 
lingen ,  steigern  sich  die  nebensächlichen  Ge- 
schlechtsunterschiede, wie  dies  namentlich  an  der 
Körpergröße,  der  Form  der  Fühler  und  am 
Farbenschmuck  ersichtlich,  bis  zu  einem  Grade, 
welcher  es  gestattet  von  Geschlechtsdimorphismus 
zu  reden. 

Bei  aller  Weite  des  angeschnittenen  Themas 
der  Geschlechtswandelungen  dürfte  es  hier  genügen 
für  die  einzelnen  der  drei  Stufen  oder  Kategorien 
nur  wenige  markante  Beispiele  heranzuziehen.  Es 
soll  dies  aus  praktischen  Rücksichten  in  umge- 
kehrter Reihenfolge  der  Stufenleiter  geschehen. 

Da  wäre  zunächst  die  schon  erwähnte  Hahnen- 
fedrigkeit  der  Hühner.  In  den  meisten  Fällen 
sind  es  unfruchtbar  gewordene  alte  oder  auch 
kastrierte  Hennen  (Pularden),  welche  nach  jeder 
Mauser  im  Gefieder  einem  Hahne  ähnlicher  werden, 
einen  vergrößerten  Kamm  erhalten,  dabei  zu  krähen 
anfangen  und  Versuche  machen,  Hennen  zu  treten. 
Doch  sind  bei  Hühnern  sowohl,  als  auch  bei 
anderen  Vögeln  nicht  gar  selten  Weibchen  beob- 
achtet worden,  welche  bereits  in  der  Jugend 
männchenähnlich  wurden  und  dabei  dem  Geschäft 
des  Eierlegens  und  Brütens  in  normaler  Weise 
oblagen.  Es  ist  also  nicht  ausschließlich  und  not- 
gedrungen die  Keimdrüse  das  die  tertiären  Ge- 
schlechtsmerkmale Bedingende.  Die  tertiären 
Geschlechtsmerkmale  gehören  nämlich  zu  den 
Rasse-  oder  Artmerkmalen,  und  zwar  sind  es 
solche,  die  im  steten  Fluß  der  natürlichen  Ge- 
staltenwandlung normaliter  bisher  nur  vom  über- 
haupt rascher  vorwärtsstrebenden  Männchen  er- 
reicht wurden :  das  Weibchen  humpelt  da  gleich- 
sam hinterdrein,  wobei  einzelne  bevorzugte  weib- 
liche Individuen  über  eine  männliche  Entwick- 
lungskraft verfügen.  Wir  können  uns  hierbei 
nicht    lange    aufhalten :    nur    ein    Schattenriß    der 


zugehörigen  Argumentation  sei  gegeben.  Die 
Vorfahren  der  Vögel  haben  wir  uns  samt  und 
sonders,  gleich  den  heutigen  Nestlingen,  als 
schmucklos  vorzustellen.  Eine  bunte  Färbung  ist 
ein  späterer  Erwerb,  und  dieser  wird  zunächst 
von  den  Männchen  gemacht.  Als  Beispiel  eine 
kleine  Stufenleiter.  Die  Nachtigall  zeigt  in  beiden 
Geschlechtern  ein  braungraues,  unscheinbares  Kleid, 
das  Sperlingsweibchen,  im  ganzen  dem  Männchen 
ähnlich,  entbehrt  nur  des  schwarzen  Brustlatzes, 
das  Gimpelweibchen  hat  in  der  Pracht  des  Ge- 
fieders das  Männchen  beinahe  eingeholt :  nur  die 
Brust  des  Weibchens  zeigt  noch  nicht  das  richtige 
reine  Rot.  Bei  der  Mandelkrähe,  diesem  Meister- 
stück unserer  Ornis,  trägt  das  Weibchen  bereits 
vollständig  die  schmucke  blaue  Uniform  des 
Männchens.  Abnorme  Hahnenfedrigkeit  kommt 
somit  nur  bei  solchen  Vogelarten  vor,  bei  denen 
die  Männchen  irgendwelchen  Schmuck  oder 
Waffen  vor  den  Weibchen  voraus  haben :  es  ist 
eine  prophetische,  auf  die  Zukunft  deutende 
Anomalie.  Ein  abnormes  Männchen  mit  weib- 
lichem Gefieder  ist  im  Gegensatz  hierzu  ein 
regressives,  atavistisches  Erzeugnis  der  Natur. 

Ähnliches  gilt  für  die  Säugetiere.  Schritt  für 
Schritt  ist  die  Paläontologie  bis  auf  die  ältesten 
Vorfahren  der  Hirschfamilie  zurückgegangen  und 
hat  sie  als  stark  bezahnte,  aber  noch  geweihlose 
Tiere  erkannt.  Es  ließ  sich  durch  die  Reihen- 
folge geologischer  Perioden  verfolgen,  wie  nach 
Maßgabe  der  Rückbildung  des  Gebisses  ein  Ersatz 
dafür  im  Geweih  gefunden  wurde.  Ursprünglich 
nur  als  einfaclie  Spieße  beim  Männchen  auftretend, 
komplizierten  sich  die  Geweihe  bei  den  meisten 
Arten,  und  zwar  mit  jedem  Lebensjahre.  Hierbei 
sind  es  immer  nur  die  Männchen,  die  der  Stirn- 
waffen teilhaftig  wurden.  Eine  ganz  isoliert  da- 
stehende Ausnahme  bildet  das  Rentier,  dessen 
Weibchen  es  gleichfalls  zu  einem,  wenn  auch 
natürlich  schwächeren  Geweih  gebracht  hat.  Es 
dürfte  aber  eine  prophetische  Form  darstellen,  in- 
sofern es  ein  Bestreben  sämtlicher  Hirscharten 
verwirklicht,  nach  Jahrtausenden  auch  dem  Weib- 
chen die  Stirnwaffe  zu  erwerben.  Besonders  pro- 
gressiv veranlagte  Weibchen  erreichen  schon  in 
der  Jetztzeit  bei  den  verschiedensten  Hirscharten 
diese  Gleichstellung  mit  den  Rentierweibchen.  Sie 
können  sonst  ganz  normale,  sich  begattende  und 
Kitzen  setzende  Individuen  darstellen.  Als  Gegen- 
stück hierzu  kommen  männliche  Hirsche  vor, 
welche  zeitlebens  kein  Geweih  aufsetzen,  also  in 
diesem  Geschlechtsmerkmal  dritten  Grades  den 
weiblichen  Typus  innehalten ,  dabei  aber  sonst 
ganz  gesunde,  normale  Männchen  sein  können. 
—  Allerdings  ist  nicht  zu  leugnen  —  schon 
Aristoteles  war  dies  bekannt  — ,  daß  Kastration 
die  Geweihbildung  in  regressivem  Sinne  beeinflußt, 
ja  sie  ganz  sistiert.  Und  doch  hat  man  es  hier 
wohl  mehr  mit  einer  bedingungsweisen  Beein- 
flussung der  Geweihbildung  durch  die  innere 
Sekretion  von  Hodenzellen  zu  tun,  denn  auch 
anderweitige  Schwächungen  des  Organismus,  z.  B. 


N.  F.  XIII.  Nr.   I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


eine  Schußwunde  ins  Schulterblatt,  sah  man  den- 
selben Einfluß  auf  die  Geweihbildung  äußern. 

Und  nun  zum  Menschen !  Hier  gilt  als  Ge- 
schlechtsmerkmal dritten  Grades  die  Körper- 
behaarung und  vor  allem  der  Bartwuchs.  (Das  in 
beiden  Geschlechtern  mit  gleicher  VVachstums- 
encrgie  bedachte  Scheitelhaar  kommt  nicht  in 
Betracht.)  Die  Behaarung  eines  ausgebildeten 
Weibes  entspricht  ungefähr  der  eines  15 — 16 jäh- 
rigen Jünglings.  Letzterer  marschiert  weiter  auf 
dem  Entwicklungspfade  und  erwirbt  mit  Stolz 
seinen  Schnurr-,  Backen-  und  Kinnbart.  Bringt 
er  es  nur  mangelhaft  oder,  in  allerdings  recht 
seltenen  Fällen,  zu  gar  keinem  Bartwuchs,  so  ist 
er  ein  thelyides,  weibchenähnliches  Subjekt,  ein 
Rückschritiler,  ein  Atavist;  gleichzeitig  auch  ein 
Subjekt,  welches  auf  einer  Stufe  mit  so  manchen 
exotischen  Stämmen  steht.  Ein  Weib  hingegen, 
welches  sich  nach  Erlangung  der  Pubertät  einen 
schmucken  Schnurrbart  und  einen  stattlichen 
Backen-  und  Kinnbart  anlegt,  nennen  wir  ein 
Mannweib,  eine  Virago.  Ein  solches  arrhenoides 
(männchenähnliches)  Subjekt  kann  in  allen  übrigen 
Sexualverhältnissen  ganz  normal  sein,  ein  halbes 
Dutzend  Kinder  in  die  Welt  setzen  und  sie  mit 
ihren  Brüsten  nähren.  Es  erscheint  mir  vom  bio- 
logischen Standpunkte,  den  manche  sonst  aufge- 
klärte Damen  durchaus  nicht  verzeihen  wollten, 
ein  progressives,  ein  prophetisches  Individuum.^) 
Das  Bestreben  der  Frau,  es  dem  Manne  im  Haar- 
schmuck gleich  zu  tun,  ihn  einzuholen,  ist  übri- 
gens eine  viel  verbreitetere  Erscheinung,  als  man 
meist  glauben  möchte.  Gewöhnlich  geht  es  hier- 
mit recht  langsam,  so  daß  erst  nach  der  Klimax 
und  in  noch  höherem  Alter  etwas  Nennenswertes 
erzielt  wird ;  doch  gibt  es  genug  junge  Frauen 
und  Mädchen  mit  niedlichem  Schnurbärtchen,  und 
noch  viel  mehr  solcher,  welche  daran  zupfen,  zu 
Depilatoren,  Rasierzeug,  galvanischer  Punktion 
und,  neuerdings,  zu  Röntgenstrahlen  ihre  Zuflucht 
nehmen. 

Hier  dürften  wir  am  passenden  Markstein  an- 
gelangt sein,  um  uns  den  Geschlechtswandlungen 
am  Menschen  und  an  Säugetieren  zuzuwenden, 
wie  sie  durch  fanatische  oder  grausame  Verstüm- 
melungen einerseits  und  methodische  Versuche 
andererseits  erzielt  werden. 

Zunächst  mögen  die  Skopzen  hier  kurz  heran- 
gezogen werden.  Zu  einer  Zeit,  als  man  die  Ge- 
schlechtsdrüsen als  jene  einzigen  Stempel  betrach- 
tete, welche  jedem  Individuum  das  betreffende, 
männliche  oder  weibliche,  Gepräge  aufdrücken, 
hielt  man  dafür,  daß  Entfernung  der  Hoden  den 
Mann  zum  Weibe,  Entfernung  der  Eierstöcke,  das 
Weib  zum  Manne  umpräge  :  selbstverständlich  nur 

')  Man  vergleiche,  außer  der  bereits  oben  zitierten  (p.  iSo) 
noch  meine  folgenden  Publiliationen :  Über  Variabilität  der 
Tiere.  Wien  und  Leipzig  1892/98.  (In  Kommission  bei 
Bernh.  Liebisch,  Leipzig);  Über  Variationsriclilungen  im  Tier- 
reich. Vorträge  von  Virchow  und  Wattenbach.  N.  F.  X.  Ser. 
Hamburg  1895;  Eine  Virago.  Virchow's  Arch.  Bd.  146,  1896; 
Über  den  Bart  der  Mannweiber  (Viragines).  Biol.  Centralbl. 
Bd.  XVII,   1897,  P-  226- 


in  bezug  auf  die  untergeordneten  Geschlechts- 
merkmale. Es  kommt  diese  Deutung  namentlich 
auch  (durch  W.  O.  M  i  e  r  ze  j  e  wsk  i)  in  einer  be- 
kannten Monographie  russischer  Skopzen  der 
sechziger  Jahre  ')  zum  Ausdruck.  Ich  glaube  (1.  c.) 
als  Erster  diese  Ansicht  kritisch  widerlegt  und  für 
die  männlichen  Skopzen  (weibliche  gibt  es  nicht!) 
nachgewiesen  zu  haben,  daß  es  sich  keineswegs 
um  ein  Umschlagen  des  Organismus  ins  andere, 
weibliche  Geschlecht  handelt,  daß  wir  es  vielinehr 
zu  tun  haben  mit  einer  Hemmung  der  qualitativen 
männlichen  Weiterbildung  des  Organismus.  Dieser 
bleibt  auf  der  jeweiligen  Entwicklungsstufe  mor- 
phologisch stehen,  nimmt  jedoch  in  seinen  Dimen- 
sionen zu,  schießt  so  zu  sagen  ins  Kraut.  Die 
scheinbaren  Weiberähnlichkeiten  der  Skopzen  im 
mangelhaften  Haarwuchs,  in  der  Stimme  usw.  sind 
infantile,  bzw.  juvenile  Hemmungsbildungen. 

In  der  medizinischen  Literatur  findet  sich  ein 
Fall  (von  Gaillet)  berichtet,  in  welchem  bei 
einem  Manne,  nach  operativer  Entfernung  der 
Hoden,  sich  die  beim  Manne  normaliter  rudimen- 
tären Milchdrüsen  zu  richtigen  Brüsten  unter  Ab- 
sonderung von  Bestmilch  vergrößerten.  Und 
Ha  m  m  o  n  d  erwähnt  der  sog.  Mujaderes,  abnormer 
männlicher  Individuen,  welche  die  Pueblo  Indianer 
von  Neumexiko,  angeblich  Nachkommen  der  alten 
Azteken,  hei  vorbringen.  Es  geschieht  dies  übrigens 
nicht  etwa  durch  Kastration ,  sondern  durch  Er- 
zeugung einer  paralytischen  Impotenz.  Die  Muja- 
deres halten  sich  zu  den  Weibern,  deren  Kleidung, 
Wesen  und  Beschäftigungen  sie  teilen.  Ihre  äuße- 
ren Genitalien  werden  als  verkümmert,  dafür  die 
Brüste  als  gleich  denen  eines  schwangeren  Weibes 
vergrößert  angegeben.  Ein  Mujadero  versicherte, 
er  habe  schon  mehrere  Kinder,  deren  Mütter  ge- 
storben, gesäugt.  (Zitiert  nach  Kamm  er  er.)-) 
Eines  Indianers,  welcher  nach  dem  Tode  seiner 
Frau  für  dieselbe  als  Amme  einsprang,  erwähnt 
bereits  A.  v.  H  u  m  b  o  1  d.  Übrigens  ist  die  sog. 
Gynaecomastie  eine  für  Tiere  und  Menschen, 
welche  weder  kastriert  noch  sonst  impotent  sind, 
bekannte  Erscheinung,  und  zwar  Gynaecomasiie 
sowohl  ohne  als  auch  mit  Milchabsonderung. 
Schon  Lieb  ig  veröffentlichte  eine  chemische 
Analyse  der  Milch  eines  Ziegenbockes.  Fälle  von 
milchenden  Männchen  und  Männern  stehen,  als 
eine  Form  der  Weibchenähnlichkeit,  der  Thelyidie, 
zwar  vereinzelt  da,  doch  ist  diese  Vereinzelung 
im  Grunde  nur  quantitativen,  nicht  qualitativen 
Charakters;  denn  Spuren  von  Milch  lassen  sich 
aus  den  Milchwarzen  überaus  zahlreicher  auch 
männlicher  Individuen  vom  frühesten  Kindesalter 
an  pressen.  Die  Milchdrüsen  sind  lediglich  über- 
bildete, er.st  später  in  den  Dienst  des  Fortpflan- 
zungsgeschäfts getretene  Hautdrüsen.  Daher  ihr 
gelegentliches    Vorkommen     auch     an    abnormen 


')  Pelikan,  E.,  Gerichtlich-medizinische  Untersuchungen 
über  d.  Skopzensekte.     St.  Petersburg.     4. 

^'j  Kammerer,  P.,  Ursprung  d.  Geschlechtsunterschiede. 
In  Fortschritte  d.  naturw.  Forschung,  herausgeg.  von  Abder- 
halden-Halle.     Bd.  V,   1912. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   I 


Stellen  der  Körperoberfläche.  Ihr  lediglich  be- 
dingungsweiser Zusammenhang  mit  der  Pflege 
des  Kindes  wird  durch  Fälle  von  Milchabsonderung 
bei  durchaus  jungfräulichen  menschlichen  Indivi- 
duen bewiesen ;  ja,  man  weiß  von  Kälbern  zu 
berichten,  welche  es  sich  verlohnte  regelmäßig  zu 
melken.  Als  qualitativ  normale,  dominierende 
projektive  Erscheinung  verbleibt  eine  Beeinflussung 
der  Milchdrüsen  durch  die  Zeugung.  (Im  Spe- 
ziellen werden  dabei  verantwortlich  gemacht: 
innere  irritierend  wirkende  Ausscheidungsprodukte 
des  Eierstocks,  insbesondere  des  gelben  Körpers, 
ferner  des  Mutterkuchens,  der  Frucht  selber  und, 
nach  dem  Geburtsakt,  die  Zusammenziehung  der 
vergrößerten,  blutstrotzenden  Gebärmutter  und 
die  damit  verbundene  Umverteilung  der  frei  ge- 
wordenen Blutmasse.) 

Nunmehr  dürften  wir  über  genügendes  Material 
zur  Beurteilung  der  neuesten,  auch  von  der  popu- 
lären Presse  an  die  große  Glocke  gehängten 
systematischen  Versuche  von  Steinach  ^)  über 
,,Feminierung"  männlicher  Säugetiere  verfügen. 
Dieser  kastrierte  junge  männliche  Ratten  und 
Meerschweinchen  und  versah  sie,  statt  der  Hoden, 
mit  von  weiblichen  Individuen  entlehnten  Eier- 
stöcken. Letztere  wurden  dem  damit  zu  pfropfen- 
den kastrierten  jungen  Männchen  entweder  unter 
die  Haut  oder  in  die  Bauchhöhle  geschoben,  wo 
sie  vortrefflich  anwuchsen  und  gediehen. 

Das  Ergebnis  waren  ausgewachsene  Tiere  mit 
ausgesprochen  weiblichen  somatischen  und  psychi- 
schen Anklängen.  Im  Wuchs  blieben  sie  gegen 
die  normalen  Männchen  zurück,  besaßen  einen 
grazileren,  mehr  weiblichen  Knochenbau,  ein 
feineres  Fell,  wie  es  den  Weibchen  zukommt, 
eine  stärkere  Neigung  zum  F'ettansatz  und  ver- 
größerte Milchdrüsen.  [Wie  ein  Zeitungstelegramm 
meldet,  soll  Steinach  auf  der  jüngsten  Versamm- 
lung deutscher  Naturforscher  und  Arzte  in  Wien 
feminierte  Kaninchenmännchen  vorgeführt  haben, 
welche  Junge  säugten.] 

Noch  eigentümlicher:  die  feminierten  Männchen 
bewiesen  durch  ihr  Verhalten  einen  Annäherungs- 
trieb nicht  zu  Weibchen,  sondern  zu  Männchen 
und  leiteten  ihrerseits  normale  Männchen  irre, 
welche  sich  mit  ihnen  —  selbstredend,  vergeblich 
—  zu  paaren  trachteten.  Eine  gewisse  sexuelle 
Umstimmung  in  der  Psyche  und  gleichzeitig  auch 
wohl  in  der  Körperausdünstung  und  im  Habitus, 
sind  hier  also  nicht  zu  leugnen,  und  doch  sind, 
wie  schon  Kammerer  bemerkt,  die  erzielten 
anatomischen  Abweichungen  nur  quantitativer, 
nicht  essentieller  Art.  Trotzdem  ist  die  Arbeit 
von  Steinach  immerhin  von  hervorragendem 
Interesse,  mag  auch  der  Forscher  bereits  Vor- 
gänger gehabt  haben. 


')  Steinach,  E.,  Willkürliche  Umwandlung  von  Säuge- 
tiermännchen in  Tiere  mit  ausgeprägt  weiblichen  Geschlechts- 
charakteren und  weiblicher  Psyche.  Pflüger's  Arch.  f.  d.  ges. 
Physiol.  Bd.   144,   1911,  S.   "i — loS. 


Geschlechtswandlungen  zweiten  Grades, 
d.  h.  solche,  die  sich  auf  die  Leitungsapparate, 
wie  Samen-  und  Eileiter,  Regattungsglied,  Gebär- 
mutter und  Scheide  beziehen,  werden  nicht  gar 
selten  von  der  Natur  selbst  vorgenommen.  Knüpfen 
wir  an  ein  konkretes  Beispiel  an.  Vor  einigen 
Jahren  hatte  der  bekannte  Warschauer  Frauenarzt 
Franz  Neugebauer  die  Freundlichkeit,  mir  in 
dem  von  ihm  geleiteten  Evangelischen  Hospital 
ein  junges  menschliches  Wesen  zu  demonstrieren, 
welches  sich  in  der  Frauenabteilung  befand,  als 
Mädchen  gekleidet  und  frisiert,  auch  als  solches 
in  Paß  und  Taufschein  eingetragen  war.  In  Wirk- 
lichkeit handelte  es  sich  aber  um  einen  verkappten 
Mann,  der  seine  Pollutionen  hatte.  Wie  bei  einem 
Manne  waren  die  Brüste  unentwickelt,  die  äußeren 
Genitalien  hingegen  auf  einer  früheren,  dem 
vollendeten  weiblichen  Typus  nahen  Entwick- 
hmgsstufe  stehen  geblieben ;  die  Hoden  waren 
nicht  aus  der  Leibeshöhle  hervorgetreten,  das 
Glied,  wie  beim  normalen  Weibe  rudimentär. 
Essentiell  ein  Mann,  eignet  sich  ein  solches  Sub- 
jekt für  den  Geschlechtsakt  immerhin  besser  in 
der  Rolle  des  Weibes.  Nicht  lange  vorher  erhielt 
Dr.  Neugebauer  zur  Begutachtung  ein  ähnliches 
Subjekt.  Es  war  gleichfalls  als  Mädchen  aufge- 
wachsen. Bei  seinem  dringenden  Anraten,  sich 
als  Mann  umschreiben  zu  lassen,  stieß  Dr.  Neu- 
gebauer bei  dem  soi-disant  Mädchen  auf  energi- 
schen Widerstand,  denn  dasselbe  wollte  einen 
jungen  Mann  heiraten.  Es  blieb  dabei;  das  junge 
Ehepaar  wanderte  nach  Amerika  aus  und  sandte 
von  dort  einen  Brief,  aus  welchem  ich  mich 
mit  eigenen  Augen  überzeugen  konnte,  daß  es 
überaus  glücklich  geworden.  Geben  wir  nolens- 
volens  dem  homosexuellen  Paar  unsern  Segen, 
denn  immerhin  ist's  so  wenigstens  besser,  als  ab- 
wechselnd bald  unter  der  einen,  bald  unter  der 
anderen  Flagge  zu  segeln,  wie  es  der  in  der  Ge- 
schichte der  Teratologie  bekannten  sog.  Katharina 
Hohmann  ergangen,  welche  bei  ihren  wieder- 
holentlichen  Metamorphosen  u.  a.  auch  das  Emploi 
einer  Dirne  bekleidete,  um  das  Leben  als  Anatomie- 
diener zu  beschließen. 

Man  unterstellt  derartige  Subjekte  der  weiten 
Kategorie  der  Hermaphroditen;  doch  handelt  es 
sich  fast  ausnahmslos  um  falschen  Hermaphrodi- 
tismus, der  nur  die  Leitungswege,  nicht  die  allein 
wesentlichen  Geschlechtsdrüsen  betrifft.  Nun  sind 
aber  diese  Leitungswege  samt  und  sonders  bei 
allen  Embryonen  ursprünglich  gleichförmig  an- 
gelegt, und  zwar  in  der  Zahl  zweier  Paare  von 
Kanälen.  Beim  angehenden  Männchen  metamor- 
phosiert  sich  das  eine  zu  den  Samenleitern,  beim 
angehenden  Weibchen  das  andere  zu  Eileitern, 
Gebärmutter  und  Scheide.  Das  jeweilig  über- 
flüssige Paar  der  Kanäle  verkümmert.  Mehr  oder 
weniger  deutliche  Überreste  desselben  finden  sich 
aber  stets  zeitlebens,  und  manche  Tiere,  so  der 
männliche  Biber,  besitzen  zum  Gedächtnis  an  eine 
indifferente  oder,  wenn  man  will,  hermaphroditische 
Anlage  eine  recht  stattliche  Gebärmutter. 


N.  F.  XIII.  Nr.   I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


5 


Auch  die  äußeren  Genitalien  sind  ursprünglich 
in  beiden  Geschlechtern  gleichförmig,  übereinstim- 
mend, und  zwar  nach  weiblichem  Typus  ange- 
legt. Wir  ersehen  hieraus,  daß  unter  diesen  Um- 
ständen ein  sexueller  Umschlag  kein  Umschlag 
in  ein  Extrem  bedeutet,  sondern  eher  eine  em- 
bryonal vorgesehene  qualitative  Umstimmung. 

Und  nun  zum  Schluß  zu  den  essentiellen 
Geschlechtsmerkmalen,  zur  ersten  Stufe  der 
Geschlechtsunterschiede,  um  zu  konstatieren  ob 
auch  hier  Geschlechtswandlungen   möglich  seien? 

Wohl  den  verblüffendsten  Fall  von  individueller 
Geschlechtswandelung  am  erwachsenen  Tier  kennen 
wir  für  die  Krabben.  An  der  Unterfläche  dieser 
Tiere,  bedeckt  vom  untergeklappten  Schwanz  — 
richtiger  Hinterleib  —  ist  nicht  selten  ein  Parasit, 
ein  Sacktier,  eine  Sacculina,  angewachsen.  Ob- 
gleich, wie  das  frei  schwimmende  Jugendstadium 
beweist,  gleichfalls  ein,  wenn  auch  niederer,  Re- 
präsentant der  Krebsklasse,  tritt  uns  die  parasitäre 
vollendete  P'orm  als  weiches  rundliches  Säckchen 
entgegen,  etwa  von  der  Größe  einer  Erbse  oder 
Haselnuß.  Der  Parasit  ist  mundlos  und  ernährt 
sich,  gleich  einer  Pflanze,  durch  Wurzelausläufer. 
Letztere  durchsetzen  als  überaus  reichlich  ver- 
zweigtes dichtes  Netzwerk  die  Eingeweide  und 
entziehen  ihnen  Saft  und  Kraft.  Dieses  gilt  auch 
ganz  besonders  für  die  Geschlechtsdrüsen,  welche 
schließlich  aufgesaugt  werden.  Der  Parasitenwirt 
erweist  sich  somit  geradezu  als  kastriert.  Eine 
Reihe  von  Forschern  (Giard.G.  Smith,  Potts) 
stellten  bei  einer  Anzahl  von  Krabbenarten  eine 
auf  die  Kastration  folgende  verschiedengradige 
Beeinflussung  der  Sexualcharaktere  auf.  Die  präg- 
nanteste wurde  an  den  Dreieckkrabben  (Inochus) 
männlichen  Geschlechtes  beobachtet.  Diese  er- 
warben zunächst  äußere  weibliche  Merkmale,  d.  h. 
einen  verbreiterten,  zum  Schutz  des  Eierklumpens 
bestimmten  (umgeklappten)  Schwanz  und  ver- 
längerte dem  Weibchen  zur  Befestigung  dieses 
Eierklumpens  dienende  Hinterleibsfüßchen.  Darauf 
aber  entstand,  an  Stelle  des  abhanden  gekommenen 
Hodens,  ein  richtiger,  offenbar  aus  heterogenem, 
nicht  sexuellem  Zellmaterial  aufgebauter  Eier- 
stock. Es  dürfte  dies  das  eklatanteste  Beispiel 
einer  richtigen  essentiellen  Geschlechtswande- 
lung beim  ausgewachsenen  Tiere  sein. 

In  den  vorliegenden  Fällen  haben  wir  es  mit 
einer  gewaltsamen  Beeinflussung  der  Sexualität  zu 
tun.  Die  an  sich  unumstößliche  Tatsache,  daß 
zwischen  pathologisch  und  normal  keine  strenge 
Grenze  gezogen  werden  kann,  gehört  aber  zu  den 
noch  nicht  so  recht  allgemein  zur  Geltung  ge- 
kommenen Wahrheiten.  Schon  aus  diesem  Grunde 
seien  hier  noch  ein  Paar  Beispiele,  und  zwar  unter 
normalen  Verhältnissen  vor  sich  gehender  Ge- 
schlechtswandelungen essentieller  Natur  vorge- 
bracht. Da  wäre  unser  gemeiner  Süßwasser-  oder 
Armpolyp,  welcher,  trotz  seiner  Winzigkeit  den 
Grauen  erweckenden  systematischen  Namen  Hydra 
trägt.  Im  kontrahierten  Zustande  an  Gestalt  und 
Größe   ein  Stecknadelköpfchen   an  einer  Wasser- 


pflanze, kann  sich  das  Tierchen  zu  einem  faden- 
dünnen Schlauche  von  einem  Zentimeter  Länge 
ausdehnen,  dessen  frei  ins  Wasser  vorragendes 
Mundende  mit  einem  zierlichen  Kranz  von  langen 
F'angarmen  umstellt  ist.  Von  den  im  Hochsommer 
so  zahlreich  auftretenden  Individuen  läßt  sich  wohl 
schwerlich  behaupten ,  sie  wären  so  oder  anders 
geschlechtlich  prädisponiert,  denn  sie  pflanzen  sich 
nicht  viele  Generationen  hindurch  nur  auf  unge- 
schlechtlichem Wege,  durch  Sprossen  fort,  welche 
sich  als  neue  selbständige  Wesen  vom  Elterntier 
abschnüren.  Unter  Umständen  macht  diese  un- 
geschlechtliche Fortpflanzung  einer  geschlecht- 
lichen Platz.  Es  treten  an  gewissen  Stellen  der 
Körperoberfläche  entweder  weibliche  Geschlechts- 
produkte oder  männliche  auf,  oder  wohl  auch  an 
ein  und  demselben  Individuum  diese  und  jene 
zugleich  oder  nacheinander.  Hierbei  erweist  es 
sich,  daß  reichlichere  Kost  und  größere  Wärme 
die  Hydra  zum  Eier  erzeugenden  Weibchen,  ge- 
ringe Wärme  und  schmale  Kost  zum  Samen  er- 
zeugenden Männchen  stempelt. 

Nur  im  frühen  Jugendstadium,  als  Larve, 
durchsegelt  die  Auster  auf  Nahrungssuche  die 
Meeresfluten.  Später  wächst  sie  mit  ihrer  linken 
Schale  am  Meeresgrunde  fest  und  verharrt  von 
nun  an  zeitlebens  als  richtiger  Faulenzer  im  per- 
manenten Symposion  mit  unzähligen  Seinesgleichen 
auf  der  Austerbank,  mit  geöffnetem  Maule  Nah- 
rungspartikel aufnehmend,  welche  ihr  reichlich 
und  mühelos,  gleich  gebratenen  Tauben  des 
Schlaraffenlands,  zuströmen.  Wie  im  Nahrungs- 
erwerb, so  zeigt  sich  die  Auster  auch  im  Ge- 
schlechtsleben durchaus  indolent.  Ihre  gereiften 
Geschlechtsprodukte  entleeren  sich  passiv  ins  um- 
gebende Wasser.  Hier  treffen  sich  Eier  und 
Samen  der  vergesellschaftet  angesiedelten  Tiere 
und  geht  die  Befruchtung  vor  sich.  Augenlos, 
wie  sie  ist,  hat  die  Auster  nicht  einmal  das  Zu- 
sehen bei  diesen  Geschlechtsvorgängen ;  und  doch 
könnte  sie  bei  einer  anderen  Organisation,  gleich 
dem  mythologischen  Hermaphroditen,  abwechselnd 
als  Mann  und  Weib  empfinden.  Ihr  Hermaphrodi- 
tismus ist  aber  ein  durchaus  eigenartiger:  in  ver- 
schiedenen Lebensperioden  erzeugen  die  Ge- 
schlechtsdrüsen ein  und  desselben  Tieres  entweder 
Samen  oder  Eier.  So  wechselt  ein  Individuum 
sein  Geschlecht,  indem  es  zuerst  Männchen,  dann 
Weibchen  ist.  ^) 

Wie  aber  ist  dergleichen  überhaupt  mit  unse- 


')  Nur  der  größeren  Anschaulichkeit  halber  wurde  hier 
bloß  ein  l^onkretes  Beispiel  aus  dem  Kreis  der  Weichtiere 
herangezogen.  In  Wirklichkeit  haben  wir  es  mit  einer  für  die 
hermaphroditischen  Gruppen  sehr  verbreiteten  Erscheinung  zu 
tun.  In  diesem  Tierkreis  finden  sich  alle  erdenklichen  For- 
men und  Kombinationen  von  Sonderung  und  Vereinigung  der 
Geschlechter.  Zu  diesen  gehören  auch  verschiedenerlei  Er- 
scheinungen von  homochroner  und  heterochroner  Reifung  von 
beiderlei  Geschlechtsprodukten.  Protandrie  dürfte  die  Regel 
sein ;  ein  Beispiel  von  Protogynie  bieten  die  Limaeiden.  Auf 
dem  Wendepunkt  der  Sexualität  ist  die  Zwitterdruse  auch 
physiologisch  eine  solche,  indem  sich  Eiej  und  Spermien  in 
ein  und   denselben  DrüsenfoUikeln  nebeneinander  entwickeln. 


6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   I 


ren  landläufigen  Vorstellungen  von  weiblicher  und 
männlicher  Sexualität  vereinbar? 

Es  bleibt  uns  nichts  weiter  übrig-,  als  die  Vor- 
stellung abzulegen,  Weiblich  und  Männlich  wären 
Gegensätze  wie  Schwarz  und  Weiß,  Plus  und 
Minus,  Ormuzd  und  Ahriman.  Tatsächlich  sind 
Weiblich  und  Männlich  nur  Modifikationen  ein 
und  desselben  Seins.    In  gemeinsamen  indifferenten 


Urvvesen  wurzelnd,  prinzipiell  identisch,  gehen  die 
Einzelindividuen  später  im  Namen  einer  Arbeits- 
teilung auseinander,  jedoch  ohne  jemals  ihre  prin- 
zipielle Identität  zu  verleugnen. 

Von    einer   weiteren    Begründung   dieser  Vor- 
stellung heißt  es  für  diesmal  Abstand  nehmen. 

Prof.  A.  v.  Brandt-Dorpat. 


Neues  aus  der  Geologie. 


Einen  schätzenswerten  Beitrag  zur  Kenntnis 
des  Grundgebirges  des  Schwarzwaldes  gab  Hans 
Schwenke!  in  seiner  musterhaft  ausgestatteten 
Arbeit:  ,, Die  Eruptivgneise  des  Schwarzwaldes  und 
ihr  Verhältnis  zum  Granit",  die  Ende  igi2  bei 
Alfred  Holder,  Wien  erschien. 

In  den  einleitenden  Bemerkungen  betont 
Schwenkel,  daß  der  Begriff  „Gneis"  ini  Schwarz- 
wald durchaus  geologisch  gefaßt  wird:  ,,Man 
nennt  alle  Gesteine  Gneise,  die  älter  sind  als  der 
Granit  und  vollkristalline  Beschaffenheit  haben. 
Man  subtrahiert  von  den  Komponenten  des  Grund- 
gebirges die  Granite,  die  Kieselschiefer  des  Kulm 
und  das  sog.  Übergangsgebirge,  dann  bleiben  als 
Rest  die  Gneise  übrig".  Der  Granit  enthält  Varie- 
täten, die  allein  petrographisch  betrachtet  Gneise 
sind  und  der  Gneis  wiederum  Varietäten,  die  als 
Granite  anzusehen  wären.  Um  eine  geologische 
Trennung  zu  ermöglichen,  wird  auf  eine  rein 
petrographische  Begriffsbestimmung  verzichtet.  Es 
erscheint  deshalb  am  zweckmäßigsten,  der  Gneis- 
formation die  Gran  i  t  form  ation  gegenüber- 
zustellen. 

Zur  weiteren  Orientierung  ist  vorauszuschicken» 
daß  nach  L.  van  Werveke  Schwarzvvald,  Vogesen 
Haardt  und  Odenwald  Teile  einer  infolge  seithchen 
Druckes  erfolgten  Emporwölbung  sind.  Die  Ur- 
sache dieser  Faltung  ist  dieselbe  wie  die  der 
Alpen.  Durch  weitere  tektonische  Vorgänge  wurde 
dieses  einheitliche  Gewölbe  zerteilt.  Der  Schwarz- 
wald verdankt  seine  heutige  Gestalt  dem  tertiären 
Rheintaleinbruch.  In  der  Tertiärzeit  erfolgte  ein 
gewaltiger  Abtrag  der  hauptsächlich  aus  Jura  und 
l'rias  bestehenden  Sedimentdecke,  wodurch  das 
Grundgebirge  freigelegt  wurde.  Dieses  stellt  den 
Rest  des  alten  variskischen  Gebirges  oder  der 
karbonischen  Alpen  dar,  die  sich  vom  zentralen 
Frankreich  nach  NO  bis  in  die  Gegend  der  Kar- 
pathen  erstreckten  und  denen  die  Vogesen,  die 
Ardennen ,  das  rheinische  Schiefergebirge,  der 
Harz,  der  Thüringerwald,  das  Firhtelgebirge,  das 
Erzgebirge,  der  bayrisch-böhmische  Wald  usw.  zu- 
zurechnen sind.  Die  von  SVV  nach  XO  streichende 
variskische  Richtung  ist  im  Schwarzwald  ver- 
schiedentlich von  Bedeutung  und  kann  als  die 
tektonische  Hauptlinie  des  Schwarzwaldes  be- 
zeichnet werden.  Die  Oberflächengrenzen  der 
Granitmassive,    die  zahlreichen  Eruptivgänge,    die 


Quetschzonen  und  Gleitflächen  verlaufen  in  dieser 
Richtung.  Manche  Täler  sind  durch  diese  Rich- 
tung beeinflußt.  Die  Auffaltung  des  variskischen 
Gebirges  fand  im  Unterkarbon  statt  und  bereits 
im  Oberkarbon  war  es  stark  abgetragen.  Im 
Anschluß  an  die  karbonische  Faltung  erfolgte  die 
Granitintrusion. 

Das  Grundgebirge  ist  im  Schwarzwald  stark 
vertreten.  Die  Granite  nehmen  4  große  Massive 
ein : 

1 .  das     Nordschwarzwälder     Massiv 
mit   dem  Vorkommen    von   Baden-Baden, 

2.  dasTribergerMassiv  mit  den  3  Zungen 
von  Schapbach.Wittichen  und  Schenkenzeil, 

3.  das  Schluchsee  Massiv, 

4.  das  Blau  en  Mas si  v.  Dazu  kommen  noch 

5.  der  Turmalingranit  von  Nordrach, 

6.  der     Eisenbac'her      Zweiglimmer- 
granit. 

Die  Gneise  nehmen  den  Raum  ein,  aus  dem 
sie  nicht  von  den  Graniten  verdrängt  wurden. 
Ein  großer  zusammenhängender  Gneiskomplex 
erstreckt  sich  vom  Feldberg  und  Schauinsland 
über  das  Höllental,  Elz-  und  Kinzigtal  zum  Rench- 
tal  und  unter  der  Sedimentdecke  zwischen  Kniebis 
und  Hornisgrinde  durch  zum  Murgtal.  Zahlreiche 
kleine  und  größere  Gneisschollen  finden  sich 
außerdem  im  südlichen  und  nördlichen  Schwarz- 
wald. Die  Gneise  lassen  sich  natürlich  in  folgende 
3  Gebiete  gliedern : 

1.  die  Kinzigtälermasse, 

2.  die  Kandelmasse, 

3.  die  Schauinsland-Feldberg masse. 
Der  Gneiskomplex. 

Längere  Zeit  stand  man  der  Gneisformation 
ziemlich  ratlos  gegenüber.  Erst  die  reichen  Er- 
fahrungen, die  man  in  Kontakthöfen  und  in  jüngeren 
F"altengebirgen  sammelte,  wirkten  umgestaltend 
auf  die  alte  Ansicht  über  das  Grundgebirge,  wo- 
nach dasselbe  die  erste  Erstarrungskruste  der 
Erde  bilde.  Verschiedentlich  wurde  der  Beweis 
erbracht,  daß  in  ihm  sedimentäres  Material  auf- 
gearbeitet sei.  Für  den  Schwarzwald  waren  die 
grundlegenden  Arbeiten  von  A.  Sauer  im  Erz- 
gebirge  bahnbrechend.  A.  Sauer  konnte  sodann 
im  Schwarzwald  wie  im  Erzgebirge  2  große 
Gruppen  von  Gneisen  aufstellen,  deren  Ausgang;s- 
material  vermutlich  verschieden  war,  nämlich  für 
die  eine  eruptiv,  für  die  andere  sedimentär. 


N.  F.  XIII.  Nr.   I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Im  Schwarzwald  bedient  man  sich  jeweils 
folgender  Bezeichnung: 

Sedimentgneis  =  Renchgneis 

=  (Para  =  Körnelgneis). 

Eruptivgneis  =  Schapbachgneis 

=  (Ortho  =  Granulitgneis). 

Entsprechend  ihrer  Entstehung  sind  die  Gneise 
verschieden  ausgebildet.  Die  Eruptivgneise 
sind  körnige  Gesteine  von  gleichartiger  Beschafifen- 
heit  mit  einem  mäßigen  konstanten  Glimmer- 
gehalt und  reich  an  Feldspat.  Die  Sediment- 
gneise sind  reicher  an  Glimmer  (Biotit)  und 
Quarz,  glimmerschieferähnlich,  arm  an  Feldspat; 
sie  sind  von  rasch  wechselnder  Zusammensetzung, 
ausgezeichnet  durch  Einlagerungen  von  Quarzit 
und  Graphitridschiefern  (konkordant  sich  mehr- 
mals wiederholend)  und  gehen  manchmal  in 
graphitführende  Gesteine  über. 

Eme  scharfe  Trennung  der  Eruptivgneise  und 
Sedimentgneise  ist  nicht  immer  durchführbar.  In 
den  Randzonen  verwischen  sich  die  charakteristi- 
schen Merkmale  und  es  entstehen  schwer  zu  ent- 
zififernde  Mischgneise.  Schwenkel  führt  eine  Reihe 
von  Merkmalen  an,  die  zur  Unterscheidung  von 
Eruptivgneis  und  Sedimentgneis  im  Gelände  dienen. 

Sofort  in  die  Augen  springend  ist  die  sehr 
gleichmäßige  Ausbildung  der  Eruptivgneise  und 
die  rasch  wechselnde  der  Sedimentgneise,  von 
denen  sich  oft  im  engsten  Räume  die  verschieden- 
artigsten Abänderungen  finden.  Bereits  bei  der 
Verwitterung  zeigen  sich  scharfe  Unterschiede. 
Der  Eruptivgneis  verhält  sich  ganz  ähnlich  wie 
der  Granit,  ist  meist  frisch  erhalten  und  bildet 
Blockhalden  und  Blockmeere.  Der  Sedimentgneis 
dagegen  ist  in  der  Regel  verwittert,  indem  ein 
Zerfall  nach  den  Glimmerlagen  erfolgt.  Dieses 
verschiedene  Verhalten  von  Eruptiv-  und  Sedi- 
mentgneis hat  seinen  Grund  in  der  verschiedenen 
Zusammensetzung,  Struktur  und  Textur. 

In  den  Hauptgemengteilen  unterscheiden  sich 
beide  Gneisarten  nur  durch  verschiedene  Mengen- 
verhältnisse, wogegen  sich  die  Nebengemengteile 
mehr  oder  weniger  auf  die  eine  oder  andere  Art 
beschränken.  Granit  ist  im  Eruptivgneis  weit 
verbreitet,  während  Cordierit  im  Sedimentgneis 
reichlicher  auftritt.  Orthit  ist  allein  typisch  für 
den  Eruptivgneis.  Charakteristisch  für  den  Sedi- 
mentgneis ist  der  Reichtum  an  kalkführenden 
Silikaten  den  sog.  Kalksilikatfelsen  wie  auch  an 
reinem  körnigem  Kalk.  Die  abweichende  mine- 
ralische Zusammensetzung  beider  Gneise  hat  ihren 
Grund  in  der  Entstehung,  welche  auch  auf  die 
Anordnung  der  Gemengteile  von  Bedeutung  war. 

Beim  Sedimentgneis  sind  die  Gemengteile 
deutlich  in  Lagen  getrennt,  indem  eine  Sonderung 
in  Biotitlagen  und  Quarz-Feldspatlagen  eingetreten 
ist,  während  beim  Eruptivgneis  die  gleichmäßige 
richtungslose  Verteilung  von  Quarz,  Feldspat  und 
Glimmer  charakteristisch  ist.  Deshalb  zeigt  der 
Sedimentgneis  echte  Schichtflächen,  die  beim 
Eruptivgneis  fehlen. 

Zusammenfassend    läßt    sich    über    die    Eigen- 


schaften der  beiden  Gneisarten  sagen,  daß  die 
Eruptivgneise  eine  einheitlich  homogene  Ausbil- 
dung zeigen,  die  wir  bei  den  Sedimentgneisen 
vermissen,  welche  ein  unruhiges  Gepräge  auf  dem 
engsten  Räume  besitzen. 

Die  Eruptivgneise  des  Schwarzwaldes  bestehen 
aus  Glimmergneisen  und  Granuliten.  Sicher  er- 
wiesen ist,  daß  manche  Granulite  saure  Nach- 
schübe aus  dem  Magmaherd  des  Eruptivgneises 
darstellen.  Eine  große  Anzahl  von  Pegmatiten 
und  Apliten  sind  als  Spaltungsgesteine  des  Erup- 
tivgneises zu  betrachten.  Die  Gesteine  der  Erup- 
tivgneisformation haben  ihre  chemischen  Äqui- 
valente in  der  Familie  der  Alkalikalkgranite.  Der 
Mineralbestand  und  die  Struktur  ist  beim  Erup- 
tivgneis wie  beim  Granit  auffallend  ähnlich. 

Die  Tektonik  des  Gneiskomplexes  ist  außer- 
ordentlich schwierig  infolge  der  Vielheit  der  Er- 
scheinungen. Das  Gneisgebirge  des  Schwarzwaldes 
ist  sehr  wahrscheinlich  der  uralte  präkambrische 
Zentralkern  der  karbonischen  Alpen.  Wohlge- 
baute symmetrische  Falten  können  nicht  nachge- 
wiesen werden.  Der  vielfältige  rasche  und  un- 
regelmäßige Wechsel  von  Eruptiv-  und  Sediment- 
gneis ist  auf  die  Intrusion  eines  Magmas  von 
granitischer  Zusammensetzung  in  die  Schichtfugen 
aufgefalteter  Sedimente  zurückzuführen,  deren 
Falten  hierbei  ihren  gesetzmäßigen  Bau  verloren 
haben.  Diese  alten  Faltenzüge  scheinen  durch  die 
karbonische  Faltung  nicht  wesentlich  verändert 
worden  zu  sein.  Dieselbe  löste  sich  vorwiegend 
mechanisch  aus  und  bildete  Quetschzonen  und 
Risse,  die  meist  senkrecht  einfallen  und  variskisch 
(SW-NO)  streichen;  auf  ihnen  stiegen  die  Granite 
zur  Zeit  des  Karbons  auf.  Im  Kinziggebiet  be- 
steht der  Gneiskomplex  aus  zahlreichen  schmalen 
parallelen  Zonen  von  Eruptiv-  und  Sediment- 
gneisen, die  im  großen  Ganzen  variskisch  orien- 
tiert sind. 

Untergeordnete  Einlagerungen  von  länglichen 
Schollen  oder  Linsen  des  .Sedimentgneises  kommen 
im  PIruptivgneis  vor  und  sind  besonders  in  Form 
sedimentärer  Amphibolite  leicht  zu  erkennen. 
Der  Eruptivgneis  sendet  viele  Ausläufer  in  den 
Sedimentgneis  hinein.  Besonders  dessen  saure 
Abspaltungen,  die  Schizolithe,  haben  eine  hohe 
Injektionstendenz,  die  sich  in  Form  feinster  Adern 
äußert. 

Entstehung  der  Gneise.  Der  Mineral- 
bestand wie  die  Struktur  lassen  auf  eine  Ent- 
stehung in  großer  Tiefe,  also  unter  den  Bedingungen 
der  Regional  metamorph  ose  (hohe  Tem- 
peratur und  hoher  Druck)  schließen.  Dies  ist 
aber  nicht  die  Ursache  der  Gneisbil- 
dung, sondern  erst  die  Intrusion  des 
Magmas  der  Eruptivgneise  in  die  Schicht- 
fugen eines  alten  (präkambrischen?)  auf- 
gefalteten Schieferkomplexes  führte  zu 
einer  mannigfaltigen  Aufblätterung  und 
Aufspaltung  desselben.  Unter  der  Kon- 
taktwirkung des  Eruptivgneismagmas 
ging  aus  dem  klastischen  (präkambrischen?) 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  I 


Sediment  der  Sedimentgneis,  aus  dem 
flüssigen  Magma  der  Eruptivgneis  her- 
vor. Die  Eruptivgneise  zeigen  eine  normale 
Eruptivstruktur  und  kein  kristalloblastisches  Ge- 
füge. Die  Paralleltextur  ist  nicht  durch  Kristalli- 
sationsschieferung  entstanden,  sondern  sie  ist  eine 
primäre  und  als  Fluidalerscheinung  aufzufassen. 
Von  großer  Wichtigkeit  ist  noch  die  Beobachtung 
von  Schwenkel,  daß  der  Eruptivgneis  Nachschübe 
von  saurer  (aplitischer)  Zusammensetzung  gebildet 
hat.  Wenn  diese  Gesteine  in  größerer  Mächtig- 
keit auftreten,  ist  ihre  Textur  eine  umlaufende. 
Nach  zahlreichen  Beobachtungen  müssen  diese 
Gesteine  den  Gneis  bereits  parallelstruiert  ange- 
troffen haben.  Demnach  scheiden  die  karbonische 
Faltung  und  der  Granit  von  vornherein  als  Fak- 
toren der  Metamorphose  aus. 

Die  Schwarzwaldgranite  und  ihr  Ver- 
hältnis zum  Eruptivgneis. 

Die  Schwarzwaldgranite  treten  in  mehreren 
Massiven  und  sie  begleitenden  Gangschwärmen 
auf.  Nie  ziehen  sie  sich  in  die  Gneisfalten  hinein 
oder  bilden  Lakkolithe.  Ihre  Grenzen  stehen 
meistens  seiger  und  schneiden  die  Gneise,  soweit 
sie  nicht  auch  seiger  stehen,  schief  oder  quer, 
also  diskordant  ab.  Das  Streichen  der  Gang- 
granite und  Massivgrenzen  ist  in  der  Regel 
variskisch  (SW-NO).  Die  Gneiszonen  sind ,  wie 
bereits  erwähnt,  ähnlich  orientiert.  Da  das 
Streichen  und  Fallen  von  Gneis-  und  Granit- 
grenzen diskordant  ist,  so  können  die  langhin 
von  SW  nach  NO  sich  erstreckenden  Faltenzüge 
von  Gneis  und  Granit  ihren  Grund  nicht  in  der- 
selben Ursache  haben.  Für  den  Granit  des 
Seh  war  z  Waldes  muß  ein  unterkarbonisches 
Alter  angenommen  werden.  Der  Schluchsee- 
granit  drang  in  die  Langkircher  Kulmschiefer 
(Unterkarbon)  ein  und  veränderte  sie  kontakt- 
metamorph  (Schluchsee,  Herzogenhorn),  er  ist  also 
jünger  als  sie.  Gerolle  von  Granit  fanden  sich 
im  Oberkarbon  von  Berghaupten  und  Diersburg. 
Die  Intrusion  fällt  also  wohl  in  die  Unterkarbon- 
zeit. Die  Spalten  und  Risse,  nach  denen  die 
Granite  aufgestiegen  sind,  entstanden  im  Anschluß 
an  die  unterkarbonischen  Faltungsvorgänge.  Für 
die  Gneise  muß  angenommen  werden,  daß  die 
präkambrischen  Faltenzüge  schon  vor  der  karboni- 
schen Faltung  ungefähr  in  der  Richtung  SW-NO 
orientiert  waren.  Das  alte  präkambrische  Falten- 
gebirge war  also  ähnlich  orientiert  wie  das  viel 
jüngere  Faltengebirge  der  Karbonzeit. 

Die  Kontaktwirkung  des  Granits  gegen  den 
Gneis  ist  verhältnismäßig  geringfügig.  Die  Sedi- 
mentgneise wurden  beträchtlicher  verändert  als 
die  Eruptivgneise.  Die  vom  Granit  ausgehenden 
Injektionen  sind  immer  lokal  beschränkt  und  an 
den  Kontakt  geknüpft.  Eigentliche  Mischgesteine 
kommen  nicht  zustande.  Giößere  oder  kleinere 
Gneisfragmente,  die  noch  als  Eruptiv-  oder  Sedi- 
mentgneis zu  erkennen  sind,  sind  häufig  in  den 
Granit  eingeschlossen  und  mehr  oder  weniger  am 


Rand  umkristallisiert,    selten  eingeschmolzen  oder 
resorbiert. 

Nach  alledem  muß  also  der  Granit  sowohl 
Eruptiv-  wie  Sedimentgneise  in  dem- 
selben Zustand  angetroffen  haben,  in 
dem  sie  heute  noch  vorliegen.  Wenn 
auch  von  verschiedener  Seite  behauptet  wird,  daß 
die  Granite  mit  den  Gneisen  vollständig  ver- 
schmelzen, ja  sogar  die  Gneise  geschaffen  haben 
sollen,  so  tritt  Schwenkel  dieser  Auffassung  scharf 
entgegen.  Die  Granite  des  Schwarzwaldes 
sind  in  hohem  Maße  selbständig  und 
abgegrenzt;  ihr  Alter  kann  mit  größter 
Sicherheit  als  unterkarbonisch  ange- 
geben werden.  Die  Gne  ise  dagegen  sind 
älter,  wohl  präkambrischen  Alters. 


Die  bei  der  Gebirgsbildung  sich  äußernden 
gewaltigen  Druckkräfte  haben  den  Gesteinen  mehr 
oder  weniger  ihren  Stempel  aufgedrückt.  Plasti- 
sche Tonschiefer  konnten  dem  Druck  leicht  nach- 
geben, wobei  ihre  kleinsten  Teilchen  glattgequetscht 
wurden  und  sich  dabei  senkrecht  zur  Druckrich- 
tung ordneten.  Harte  dünne  Bänkchen,  die  keine 
Ausquetschung  zuließen,  erlitten  nicht  selten  eine 
faltige  Zusammenschiebung.  Im  h'ichtelgebirge, 
bayrischen  Wald  wie  auch  in  Schottland,  Skandi- 
navien usw.  kommen  in  kristallinen  Schie- 
fern intensiv  gefaltete  Adern  graniti- 
scher Gesteine  vor,  die  bis  vor  kurzem  in 
ganz  ähnlicher  Weise  erklärt  wurden.  Neuerdings 
ist  verschiedentlich  betont  worden,  daß  die  Faltung 
in  irgendeinem  Zusammenhang  mit  dem  Eindringen 
des  Granits  in  den  Schiefer  stehen  müsse.  In 
einer  beachtenswerten  Arbeit :  „Über  ptygmatische 
Faltungen"^)  tritt  J.  J.  Sederholm  dieser  Frage 
näher  und  bezeichnet  die  in  Rede  stehende  Fal- 
tung, wenn  sie  in  Arteriten,  d.  h.  von  Granit- 
adern durchzogenen  Gesteinen  (meist  kristalline 
Schiefer)  vorkommt,  als  ptygmatisch  (nach 
jTTL'yua  das  ,, Gefaltete"). 

Es  gibt  wohl  keine  andere  Erklärung  als  die, 
daß  die  überaus  starke  F'altung  mit  dem  Ein- 
dringen des  Granits  und  einer  wahrscheinlich  da- 
durch verursachten  Erweichung  des  Schiefers  im 
Zusammenhang  stand.  Die  Faltung  hat  vor 
der  vollständigen  Erstarrung  des  Gra- 
nits stattgefunden,  da  selbst  an  stark  um- 
gebogenen Stellen  eine  deutliche  Druckschieferung 
und  sonstige  Kataklaserscheinungen  nicht  zu  be- 
achten sind.  Der  Feldspat  zeigt  keine  stärkeren 
Druckerscheinungen,  der  Quarz  ist  etwas  zerdrückt, 
aber  nicht  stärker  als  bei  Graniten  entsprechend 
hohen  Alters.  Alle  diese  Tatsachen  zwingen  zu 
der  Annahme,  daß  die  Kristallisation  des  Adern- 
materials erst  nach  der  Faltung  stattgefunden  hat. 
Dies  ist  nur  in  zweierlei  Weise  erklärlich.  Ent- 
weder hat  eine  Umkristallisation  nach  der  Faltung 


^}  Neues  Jahrbuch   für  Mineralogie,    Geologie    und    Palä- 
ontologie XXXVI.  Beil.-Bd.,  H.  2,  S.  491—512,   1913. 


N.  F.  XIII.  Nr.   I 


NatLirwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


staltgefunden  oder  auch  wurden  die  Adern  im 
Magmazustande  vor  der  Erstarrung  gefaltet.  Da 
keinerlei  Anzeichen  für  eine  Umkristallisation  vor- 
liegen, indem  der  Feldspat  große  einheitliche 
Individuen  bildet,  die  mit  dem  Quarz  pegmatitisch 
verwachsen  sind,  so  kann  nur  eine  Faltung  im 
Magmazustand  in  Betracht  kommen.  Von 
besonderer  Bedeutung  ist  die  Permeabilität  des 
Schiefers  für  Gase  und  Säfte  des  Granitmagmas. 
Das  granitische  Magma  befand  sich  unter  hohem 
Druck  und  erkaltete  relativ  langsam.  Bei  sehr 
heftigen  Bewegungen  konnten  auch  im  granit- 
durchtränkien,  fast  völlig  flüssigen  Gestein  (Schiefer) 
Risse  entstehen,  längs  welchen  reines,  relativ 
leichtflüssiges  aplitisches  Magma  eindrang.  Wenn 
nun  später  die  ganze  Gesteinsmasse  in 
wallende  Bewegung  geriet,  bewegten 
sich  diese  so  entstandenen  Adern  hin 
und  her  und  wurden  dabei  gefaltet.  Die 
Hauptbedingung  für  die  Entstehung  der  jihygma- 
tischen  Faltung  ist  also  neben  der  Permeabilität 
auch  noch  eine  große  Plastizität  des  Nebengesteins 
in  unmittelbarer  Nähe  der  Falten.  Ist  dieses 
Nebengestein  völlig  starr,  so  geschehen  die  Be- 
wegungen vorwiegend  längs  den  Gangspalten. 
Auch  die  Bewegungen  in  den  halbflüssigen  Ge- 
steinsmassen geschahen  wohl  in  vielen  Fällen  un- 
gefähr parallel  zum  allgemeinen  Streichen  der- 
selben. Wenn  nun  aber  ein  solches  Hin-  und 
Hervvallen  der  Gesteinsmassen  vor  sich  ging, 
mußte  es  zu  einer  Faltung  der  ungefähr  parallel  dem 
Streichen  verlaufenden  Adern  führen,  wie  man  es 
tatsächlich  häufig  beobachtet.  Nicht  selten  ist 
eine  verschwommene  Begrenzung  gewisser  Teile 
der  gefalteten  Adern.  Auch  in  diesen  verschwom- 
men begrenzten  Teilen ,  wo  der  Aplit  die  Um- 
gegend gleichsam  durchtränkt  hat,  sieht  man  noch 
undeutlich  erhaltene  Reste  der  gefalteten  Adern. 
Die  Faltung  geschah  somit  früher,  als  die  Grenzen 
zwischen  Adern  und  umgebendem  Gestein  ver- 
wischt wurden.  Man  muß  also  annehmen,  daß 
auch  nach  der  Faltung  das  Magma  in  den  gefal- 
teten Adern  zirkulieren  und  sich  über  die  an- 
liegenden Gesteine  ausbreiten  konnte.  An  vielen 
Stellen  war  zu  beobachten,  daß  die  gefalteten 
Adern  von  anderen  durchschnitten  werden ,  die 
ganz  geradlinig  verlaufen  und  dennoch  im  End- 
stadium derselben  Granitisationsperiode  entstanden 
sind,  denn  die  Mineralien  sind  beidemal  einander 
vollständig  ähnlich. 

Nach  Ansicht  von  Sederholm  scheinen  recht 
große  Verschiedenheiten  zu  bestehen  zwischen 
fluidalen  Bewegungen  in  einem  an  der  Erdober- 
fläche freifließenden  Magma  und  den  fraglichen 
Bewegungen  hier.  Nichts  spricht  dafür,  daß  ein 
stetiges  Fließen  in  irgendeiner  bestimmten  Rich- 
tung stattgefunden  hat,  sondern  es  wird  wohl  eher 
eine  hin-  und  herschwankende  Bewegung  anzu- 
nehmen sein.  Sederholm  bezeichnet  die  sehr  ver- 
breiteten adergneisartigen  (arteritischen)  Gesteine, 
für  welche  diese  Faltung  das  charakteristische 
Merkmal   bildet,   als  Ptygmatite    oder    ptyg- 


matische  Arterite  (bzw.  ptygmatische  Mig- 
matik).  Die  ptygmatische  Faltung  muß  streng 
von  der  durch  rein  mechanische  Ursachen  beding- 
ten Faltung  von  Adern  unterschieden  werden. 


In  Sedimentkomplexen  beobachtet  man  bis- 
weilen eine  gefaltete  Bank  inmitten  völlig  unge- 
falteter Umgebung.  Die  Ursache  der  Faltung  ist 
hier  natürlicherweise  ganz  anders  als  im  vorher- 
gehenden Fall.  Auch  nicht  ein  Zusammenschub 
durch  gebirgsbildende  Vorgänge  kann  die  Ursache 
sein,  da  ein  seitlicher  oder  senkrechter  Druck  im 
allgemeinen  nichts  verschont  und  nur  schwächer 
oder  stärker  wirken  kann.  Die  Ursache  ist  viel- 
mehr in  Gleitungsvorgängen  unter  dem 
Einfluß  der  Schwerkraft  zu  erblicken. 
Lockere  unter  Wasser  abgelagerte  Schichten  kön- 
nen, wenn  sie  auf  einem  schrägen  Gang  abge- 
lagert sind,  allmählich  ins  Gleiten  geraten  und 
sich  faltig  zusammenschieben.  Eine  interessante 
Darstellung  subaquatischerGangbewegun- 
gen  und  ihrer  Unterscheidungsmöglichkeit  von 
ähnlichen  Deformationsvorkommen  gibt  F".  F. 
Hahn  in  einer  im  Neuen  Jahrbuch  für  Mineralogie, 
Geologie  usw.  191 3,  Beil.  Bd.  XXXVI,  H.  i,  S.  i 
bis  41  erschienenen  Arbeit:  Untermeerische  Glei- 
tung  bei  Trenton  Falls'  (Nordamerika)  und  ihr 
Verhältnis  zu  ähnlichen  Störungsbildern. 

Der  Trentonkalk  ist  eines  der  versteinerungs- 
reichsten Glieder  des  amerikanischen  Untersilurs. 
Ohne  Zweifel  bildet  er  die  Ablagerung  eines 
flachen  epikontinentalen  Ingressionsmeeres.  Bei 
Trenton  Falls  (Staat  New  York)  sind  die  Trenton- 
kalke  vermutlich  im  ziemlicher  Ufernähe  abge- 
lagert. Alle  Beobachtungen  weisen  auf  ein  Flach- 
wassersediment. Größtenteils  liegen  organogene 
Kalksande  in  unregelmäßiger  Aufbereitung  vor: 
Kreuzbettung,  Wellenfurchen,  Andeutung  von 
Trocknungsrissen.  Im  Verlauf  einer  oberflächig 
abgelagerten  Schichtfolge  tritt  plötzlich  ein  uner- 
wartet heftiges  Störungsbild  bis  zu  4  m  Mächtig- 
keit auf:  Scharf  verbogene  Sättel  und  Mulden 
wechseln  mit  Streifen  wirrer  Zertrümmerung,  um 
dann  auszukeilen  und  zu  weniger  gestörten  Bänken 
seitlich  überzuleiten.  Zwischen  die  Fossiltrümmer 
treten  tonige  Häute  und  Fladen  derart,  daß  man 
unwillkürlich  an  eine  Bewegung  der  organischen 
Fragmente  innerhalb  zähflüssigen  Schlicks  denken 
muß.  Zu  verschiedenen  Erklärungen  haben  diese 
Bildungen  Veranlassung  gegeben  (Belastungsdruck 
der  überlagernden  Schichtmassen,  seitlicher  Kon- 
gression usw.).  Die  Deformationsbilder  ähneln 
zwar  den  tektonisch  erregten ,  umso  auffallender 
ist  jedoch  der  Unterschied  in  den  wesentlichen 
Begleitcharakteren.  Keine  gestriemten  Ruschel- 
flächen,  keine  Streckungs-  und  Zerrungsphänomene, 
keine  klare  Schleifbahn  liegt  vor,  vielmehr  ist 
normaler  Übergang  in  die  auflagernde  Sediment- 
reihe, allmählicher  Ausgleich  gar  oft  nicht  zu  ver- 
kennen.   Weder  im  liegenden  noch  im  hangenden 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   I 


Gesteinskörper  zeigt  sich,  wie  man  das  bei  einer 
angenommenen  Schubkraft  aufs  bestimmteste  er- 
warten sollte,  irgendwelche  Beeinflussung.  Nach 
alledem  kann  die  cndostratische  Störung  von 
Trenton  Falls  als  eindeutiges  Beispiel  für  submarine 
Rutschung  betrachtet  werden.  Weitere  Vorkom- 
men von  Unterwassergleitung  sind  sowohl  aus 
der  Gegenwart  wie  aus  der  geologischen  Ver- 
gangenheit bekannt.  A.  Heim  berichtet  über 
neuzeitliche  Vorkommen  von  subaquati- 
scher  Gleitung  (Zug  im  Jahre  1887,  Horgen  am 
Zürichersee  1875),  wobei  er  ein  rückwärtiges 
Nachgreifen  des  Gehängefließens,  die  Geringfügig- 
keit des  notwendigen  Anstoßes,  die  erstaunliche 
Kleinheit  des  erforderlichen  Böschungswinkels 
(4 — 6"),  eine  Verbreitung  bis  zu  125  m  Seetiefe 
bzw.  1020  m  Störungsweite  klarlegen  koimte. 
Subaquatische  Rutschungsvorgänge  sowohl  wie 
allmähliches  Gehängefließen  sind  in  größeren 
Seen  unter  dem  Klima  der  gemäßigten  Breiten 
mit  ihrem  kräftigen,  jahreszeitlichen  Wechsel  von 
terrigener  Materialzufuhr  als  Regel  anzusehen. 
Nach  A.  Heim  haben  wir  ähnliche  Vorgänge  auch 
im  marinen  Ablagerungsbereich  zu  erwarten;  diese 
knüpfen  sich  in  erster  Linie  an  den  unmittelbaren 
Küstensaum  und  besonders  wieder  an  die  Vor- 
schüttungsränder  der  Deltas,  dann  auch  an  unter- 
meerische  Klippen  und  Barren.  Längs  des  Küsten- 
schelfs \on  Westeuropa  beziffert  sich  der  mittlere 
Böschungswinkel  auf  13 — 14",  im  Maximum  sogar 
auf  2,0".  Unter  besonders  günstigen  Umständen 
ist  auch  in  größeren  Tiefen  eine  Gleitverfrachtung 
denkbar.  Das  Bodenrelief  ist  nicht  selten  recht 
kräftig.  Zusammenfassend  läßt  sich  sagen,  daß 
wir  subaquatische  Rutschungen  zunächst  nur  in 
der  Küstenzone  über  dem  Kontinentalsockel  als 
häufigen  Vorgang  erwarten  können.  Dagegen 
wird  dies  unterhalb  des  Küstenschelfs ,  besonders  in 
größeren  Tiefen  dabei  nur  in  Ausnahmefällen  an- 
zutreffen sein,  da  in  erster  Linie  die  rasche  und 
unsortierte  Materialzufuhr,  erst  in  zweiter  die 
Böschungsneigung  hierbei  in  Frage  kommen  muß. 
Zunehmender  Wasserdruck  wird  sogar  dem  Gang- 
abfließen ein  Ziel  setzen.  Transport  von  Massen- 
teilchen wird  dann  nur  mehr  in  suspendierter 
Form  durch  die  Bodensole  möglich  sein. 

Sind  in  einer  Formation  echte  Rutsch- 
und Staukeile  häufig,  so  wird  man  gewöhn- 
lich auf  ein  echt  litorales  Becken  schließen 
dürfen. 

In  auffälligem  Gegensatz  zu  der  scheinbaren 
Dürftigkeit  der  rezenten  Vorkommen,  denen  man 
bei  Hafen-  und  Uferschutzbauten,  Kabelreparaturen 
begegnet,  steht  die  reiche  Fülle  von  Stauchungs- 
phänomenen, die  aus  diluvialen  und  tertiären 
Schichten  bekannt  gemacht  wurden.  Insbesondere 
in  den  Gebieten  ehemaliger  Vergletscherung  sind 
sie  häufig.  Wenn  auch  ein  großer  Teil  dieser 
Fälle  durch  den  Druck  des  Eises  entstanden  ge- 
deutet wird,  so  muß  doch  ein  gewisser  Teil  sub- 
aquatischen  Rutschungen  zugeschrieben  werden. 
Auch    bei    der    Verlandung    der    weitverbreiteten 


jungtertiären  Binnenseen  Mitteleuropas  entstanden 
recht  günstige  Bedingungen  für  subaquatische 
Rutschungen. 

Aus  mesozoischen  und  paläozoischen 
Ablagerungen  von  litoraler  Flachwassersedimen- 
tation sind  Vorkommnisse  echter  submariner  Rut- 
schung bekannt;  so  aus  den  Solnhofener 
Plattenkalken  (Falten  innerhalb  der  i — 1,5  m 
dicken  Störungszone  bis  zu  5  m  Länge),  aus  dem 
Oberen,  Mittleren  und  Unteren  Muschel- 
kalk Schwabens  und  Frankens,  aus  dem 
Unterdevon  Ostkanadas,  den  bereits  er- 
wähnten Trentonkalken  des  Untersilurs 
von  Nordamerika  und  sogar  aus  dem  Kam- 
brium. 

F.F.  Hahn  versteht  unter  subaquatischer 
Gleit  ung  nur  jenen  Bewegungsvorgang 
unter  Wasser,  der  durch  irgendeinen 
akut  wirkenden  Anlaß  ausgelöst,  einen 
zusammenhängenden  Sedimentstreifen 
den  Gesetzen  des  Hangabtriebs  unter- 
wirft. Abwärtsbewegungen  von  mehr  oder 
weniger  unverfestigten  Massen  werden  als  sub- 
aquatisches  (sublakristres  bzw.  submarines) 
Hanggekrieche,  solche  in  halbsuspendiertem 
Zustand,  somit  irgendwelcher  Deformationstextur 
entbehrend,  als  Gefließe  zu  bezeichnen  sein. 
Nur  der  erste  der  beiden  letzten  Fälle  wird  in 
einem  Profil  noch  identifiziert  werden  können. 
Das  Äußere  der  bewegten  Masse  wird  je  nach 
ihrer  Konsistenz  von  schichtungslosem  Brei 
zu  Pseudobrandungsbreccien,  richtiger  Gleit- 
fragmenten wechseln.  Die  Gleitbewegung 
kommt  durch  entgegenstehende  Hindernisse  oder 
nach  Aufzehrung  der  lebendigen  Kraft  durch  Rei- 
bung und  Wasserdruck  zur  Ruhe,  wobei  aus  dem 
Gleitstreif  ein  Staukeil  hervorgeht.  An  der  Stirn 
des  Staukeils  finden  sich  vorgeneigte, 
dicht  gedrängte,  an  seinem  sich  verdün- 
nenden Ende  zögernde  seichte  Stau- 
falten. 

Um  aus  der  Ruhe  in  Bewegung  gesetzt  zu 
werden,  bedarf  jedes  Teilchen  eines  auch  noch  so 
kleinen  Impulses.  Diese  auslösenden  Faktoren 
lassen  sich  in  zwei  große  Gruppen  zerlegen : 

1.  solche,  die  in  der  Eigenart  des  Sedimenta- 
tionsortes und  der  Sedimentationsart  begründet 
sind, 

2.  solche,  die  fremde  Eingriffe  bedeuten. 

Zur  ersten  Gruppe  gehören  der  ganz  allmählich 
sich  sammelnde  Überlastungsdruck  an  dem  Ver- 
schüttungsrande  von  Deltas  usw.,  einschneidende 
Änderung  der  Strömungsstärken,  des  Wasser- 
drucks, der  Temperatur,  des  Eisdruckes  wie  auch 
der  Richtung  von  Strömungen  und  Bodensolen. 
Je  ruhiger  diese  Faktoren  eingreifen ,  desto  un- 
scheinbarer ist  die  Bewegung  (Gekrieche  und  Ge- 
fließe), je  stärker  und  rascher  der  Impuls,  desto 
energischer  das  Gleitphänomen  (echte  Rutschung 
bis  zu  rapider  Förderung  von  Gleitfragmenten). 

Der  zweiten  Gruppe  sind  besonders  die  durch 
tektonische  Ereignisse   bedingten  Störungen  zuzu- 


N.  F.  XIII.  Nr.   I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


1 1 


weisen  (unterseeische  Eruptionen,  Nah-  und  Fern- 
wirkungen von  Seebeben,  deren  verheerende  Kraft 
aus  dem  Karibischen  Meere  und  der  Südsee  be- 
kannt sind).  Selbst  in  Süßwasserseen  vermögen 
Erdbeben  nicht  unbeträchtliche  Bodenbewegungen 
auszulösen  (Erdbeben  vom  i6.  November  191 1 
im  Bodenseegebiet). 

Da  die  subaquatischen  Gleitungen    noch  Ana- 
loga in  ähnlichen  Deformationen  zeigen,  so  mögen 
diese   noch    kurz    besprochen    werden.      Gegen- 
.stücke  aufdem  Lande  sind  Hangbewegungen 
seitens  von   Lawinen,    Murgängen,    Steinströmen, 
Böschungsverrutschungen.     Bei  täuschender  Ähn- 
lichkeit   muß    die    letzte  Entscheidung,    ob    sub- 
aquatisch    oder   terrestrisch ,    stets   auf  Grund  der 
Fazies  des  bergenden  Sediments  erfolgen.    Schwie- 
rig   ist    es    auch,    Eisdruckphänomene    von 
Glcitfaltcn    auseinander    zu     halten.       Neben    der 
Untersuchung  des  ganzen   in  Betracht  kommenden 
Sedimentverbandes    dürfte    das    verlässigste  Krite- 
rium in  der  Art  der  die  Bewegung  veranlassenden 
Kraft  gegeben  sein.     Das  Eis  drückt  auf  die  ent- 
gegenstehende   Scholle.      Die    erste    und    stärkste 
Deformation    bildet   sich    auf  der  dem  Druck  zu- 
nächst liegenden,    der  Stauungsrichtung  aber  ent- 
gegengesetzten Seite  ;  bei  subaquatischen  Störungen 
liegt  Ausgang  und  Konzentration  der  Störung  an 
der  Stirn  des  Staukeils  in  der  Bewegungsrichtung. 
Der    Gleitfahung  äußerst  ähnlich   sind  auch  tek- 
tonische  Gegenstücke.     Ganze  Formations- 
pakete können  als  freie  Gleitbretter   bewegt  wer- 
den und  ihre  plastischeren  Komponenten    mögen 
dann    alle    Arten    sekundärer  Stauchungsdeforma- 
tionen   zeigen.       Auch    können    einzelne    leichter 
deformierten  Glieder  eines  einzigen  großen  Druck- 
verbandes die  Faltung  mehr  oder  weniger  absor- 
bieren.   Als  Unterscheidungskriterium  im  Vergleich 
mit  subaquatischen  Störungsformen  muß  beachtet 
werden,  daß  jede  tektonische  Faltungsdeformation 
fast  ausschließlich    ein  Druckphänomen    unter  er- 
heblicher Hangendbelastung  ist.     Gleitflächen  mit 
Streifung    eines    gesetzmäßigen   Bewegungssinnes, 
die  mehr  oder    minder    intensive  Mitbeeinflussung 
des    ganzen    die    Störungslage    umhüllenden    Ver- 
bandes, vor  allem  die  allgemeine  örtliche  Situation 
muß  die  Entscheidung  ermöglichen.    Eine  weitere 
große  Gruppe  von  Störungsphänomenen,  die  mit 
jenen    der    subaquatischen    Gangbewegungen    ver- 
wechselt wurden,  hat  F.  Hahn  unter  dem  Begriff: 
Diagenetische  Deformationen  zusammen- 
gefaßt.      Die    auffälligsten    Vorkommen     sind    in 
leicht  löslichen  Gesteinen ,    wie    sie  vor  allem  im 
Gips-   und  Salzgebirge  vorliegen,  zu  erwarten.    Die 
innerhalb    der    Gips-    und    Salzmassen    vor    sich 
gehenden  Umlagerungen  vermögen  sekundär  ober- 
flächliche pseudotektonische  Fältelung  und  Rreccien- 
bildung  zu  erzeugen.     Trotz  der  fast  horizontalen 
Lagerung  werden  immer  wieder  tektonische  Kräfte 
zu  Erklärungen  herangezogen.      Eine   weitere  Be- 
obachtung   knüpft    sich    an  die  Untersuchung  des 
mitteleuropäischen    Muschelkalks.       Die    Flächen- 
wirkung kleinstzelliger  organischer  und    anorgani- 


scher   Strukturen    vermag    bei    der    Verwitterung 

ähnliche    Bilder   zu    erzeugen.      Als  Kriterium  für 

die  diagenetischen  Deformationen    muß    in    erster 

Linie  das  Bild   selbst  gelten.     Ty])isch   multi-  bis 

apolare  Deformationen  werden  nur  hier  als  Regel 

auftreten. 

*  * 

* 

Viel  umstritten  ist  immer  noch  die  Frage  nach 
den  Ursachen  des  Vulkanismus.  Auf  der  einen 
Seite  suchen  die  Tektoniker  die  Hauptursache  der 
vulkanischen  Erscheinungen  in  tektonischen 
Störungen,  während  auf  der  anderen  Seite  die 
Physiker  diese  in  physikalischen  Vorgängen  im 
Erdinnern  erblicken.  Beiden  Ansichten  gerecht 
werdend,  meint  Doelter:  „Die  Hauptursache  des 
Vulkanismus  liegt  in  der  Gasimprägnation  des 
tiefen  Magmas,  welche  durch  Druckverminderung 
explosiv  wirkt.  Die  Druckverminderung  wird 
durch  tektonische  Vorgänge  hervorgebracht." 
Vielfach  wird  die  Ursache  zum  Aufsteigen  des 
Magmas  in  der  Spannkraft  der  im  Magma  ent- 
haltenen Gase,  besonders  des  Wasserdampfes  ge- 
sucht. Zahlreiche  Geologen  nehmen  an,  daß  der 
Wasserdampf  als  Urbestandteil  im  Magma  ent- 
halten sei,  während  wieder  andere  ein  Eindringen 
von  Wasser  auf  Spalten  von  der  EIrdoberfläche 
her  annehmen.  Da  heutzutage  die  überwiegende 
Mehrzahl  der  Vulkane  am  Meere  liegt,  so  glauben 
letztere  ihre  Ansicht  darin  bestärkt,  daß  gelegent- 
lich Wassereinbrüche  erfolgen  und  durch  ein  Auf- 
brodeln die  Eruption  bedingen.  Demgegenüber 
ist  zu  betonen,  daß  manche  Vulkane  fernab  (bis 
zu  Soo — 1000  km)  vom  Meere  liegen.  Ihre  häufige 
Lage  am  Meere  d.  h.  den  Festlandrändern  ist 
durch  die  gemeinsame  Tektonik  bedingt.  Immer- 
hin zeigt  der  Vulkanismus  eine  große  Bevorzugung 
der  Küsten  und  so  war  es  von  Interesse  festzu- 
stellen, ob  in  der  Vergangenheit  gleiche  Verhält- 
nisse herrschten.  In  einer  lesenswerten  Arbeit: 
Lage  und  Beziehungen  einiger  tertiärer  Vulkan- 
gebiete Mitteleuro ()as  zu  gleichzeitigen  Meeren 
oder    großen  Seen    nimmt  Antonie   Täuber*) 

an  Hand  eines  Überblicks  über  die  ungarischen, 
böhmischen,  französischen  und  deutschen  'ehe- 
maligen Vulkane  zu  dieser  interessanten  FVage 
Stellung. 

An  Größe  und  Zahl  sind  die  ungarischen 
tertiären  Vulkane  allen  anderen  europäischen 
weit  überlegen.  Die  vulkanische  Zone  durchzieht 
das  ungarisch-steirische  Neogenbecken  vom  Süd- 
abhang der  Karpathen  bis  zum  Ostrand  der  Alpen. 
Es  gibt  unter  den  ungarischen  Vulkantypen  solche 
mit  nur  einmaligem  Ausbruch  (hierzu  gehören  die 
basaltischen) ;  die  große  Mehrzahl  warf  ihre  Pro- 
dukte jedoch  durch  lange  Zeiten  hindurch  aus. 
Die  Ergußgesteine  sind  Rhyolithe,  Trachyte, 
Andesite  und  Basalte.  Die  jüngeren  Andesite 
überwiegen    an    Masse    bedeutend    die    Trachyte. 

')  Neues  Jahrbuch  für  Mineralogie,  Geologie  U5w.  Beil. 
Bd.  XXXVI,   H.   2,  S.  413—490. 


12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   I 


Basalte  sind  verhältnismäßig  selten.  Die  Aus- 
brüche beginnen  bereits  im  Eozän  und  setzen  sich 
fort  durch  das  Oligozän  und  Miozän  bis  ins  Plio- 
zän, vielleicht  noch  ins  Pleistozän.  Nach  Uhlig 
scheint  sich  „eine  Art  zeitlichen  und  örtlichen 
Wanderns  der  vulkanischen  Tätigkeit  und  in  Ver- 
bindung damit  eine  Modifikation  der  Eruptions- 
folge zu  vollziehen,  deren  Wesen  und  Gesetz- 
mäßigkeit sich  heute  noch  nicht  in  vollem  Um- 
fange beurteilen  lassen". 

Was  die  Beziehungen  zwischen  den  ungarischen 
Vulkanen  und  dem  ungarischen  Meere  betrifft, 
so  scheint  keinerlei  Zusammenhang  der  Eruptionen 
mit  dem  Meere  vorhanden  zu  sein.  Der  Vulka- 
nismus wird  vielfach  als  Begleit-  oder  Ergänzungs- 
erscheinung der  Faltung  der  Karpatlien  angesehen. 
Der  zeitliche  und  kausale  Zusammenhang  zwischen 
den  bedeutenderen  jüngeren  Krustenbewegungen 
und  den  wichtigsten  Eruptionen  ist  von  Sawicki 
jüngst  nachgewiesen  worden.  Das  Ausmaß  der 
Bewegungen  war  nicht  überall  gleich ;  im  W.  zur 
Miozänzeit ,  im  O  dagegen  zur  Pliozänzeit  am 
stärksten.  Je  weiter  wir  gegen  Osten  gehen,  desto 
stärker  und  auch  jünger  ist  die  ganze  Bewegung. 
Dem  Wandern  der  Krustenbewegungen  entspricht 
ein  solches  der  Eruptionen;  zur  Mittelmiozänzeit 
im  ungarischen  Mittelgebirge,  im  Obermiozän 
weiter  im  O  und  im  Pliozän  in  Südsiebenbürgen. 
Die  Eruptionen  fanden  meist  längs  des  Strandes 
oder  auf  Inseln,  also  an  den  Rändern  des  Senkungs- 
feldes und  der  stehengebliebenen  Horste  statt. 
Die  ungarischen  Vulkane  erweisen  sich 
demnach  abhängig  von  Bodenbewegun- 
gen, besonders  Bodensenkungen  und 
dieses  erklärt  ihre  Lage  am  Meere,  das 
von  den  gleichen  Erscheinungen  ab- 
hängigist, da  es  jede  zugängliche  Senke 
erfüllt. 

Die  böhmischen  V^ulkane,  welche  vom 
Oberoligozän  bis  zum  Pliozän  tätig  waren,  liegen 
zumeist  in  der  Senke,  die  im  N.  vom  Erzgebirgs- 
rande  begrenzt  wird.  Die  Ausbruchsstellen  sind 
jedoch  auch  weit  über  die  Grenzen  der  Senke 
hin  verstreut.  Zahlreiche  Basaltkuppen  sind  den 
flachen  Wellen  des  Erzgebirges  aufgesetzt.  Gleich- 
zeitige Meeresablagerungen  treten  im  böhmischen 
Vulkangebiet  nicht  auf.  Die  zunächst  gelegene 
Meeresgrenze  war  150  km  davon  entfernt.  Einige 
kleinere  Vorkommen  lagen  dem  Meere  näher, 
z.  T.  wohl  auch  an  der  Küste,  denn  bei  Ostrau 
fanden  sich  basaltische  Tuffe  mit  großen  Meeres- 
konchylien.  Größere  und  kleinere  Süßwasser  haben 
die  nordböhmische  Senke  zur  Zeit  der  ersten 
Eruptionen  erfüllt.  Doch  dauerten  die  Ausbrüche 
noch  an,  als  die  Seen  längst  aufgeschüttet  waren. 
Das  Gebiet  des  böhmischen  ^Mittelgebirges  und 
seiner  Umgebung  war  seit  alter  geologischer  Zeit 
der  Schauplatz  vulkanischer  Tätigkeit.  Während 
des  Tertiärs  senkte  sich  der  Norden  Böhmens  und 
brach  vom  Erzgebirge  ab  (Gesamtsprunghöhe 
stellenweise  looo  m).  Dicht  am  Rande  des  Erz- 
gebirgsabbruchs,   also    an    der  schwächsten  Stelle 


der  Zerrüttungszone,  wurde  die  Hauptmasse  des 
Magmas  herausgepreßt.  Periphere  Ausbrüche 
fanden  sowohl  im  gesenkten  Gebiet  als  auch  auf 
den  Horsten  in  großer  Zahl  statt.  Der  Vulka- 
nismus hängt  also  auch  hier  mit  der 
Tektonik  zusammen. 

Die  Vulkane  des  französischen  Zen- 
tralplateaus bilden  eine  Reihe  von  Gebirgen, 
die  sich  über  eine  Länge  von  150  km  erstrecken 
und  eine  Oberfläche  von  8000  qkm  einnehmen. 
Sie  sind  einer  weiten  geneigten  Ebene  aufgesetzt, 
deren  höherer  von  den  Cevennen  gebildeter  Rand 
steil  gegen  das  Rhonetal  abfällt,  während  sie  sich 
sanft  zu  den  Ebenen  der  Loire  und  Garonne 
senkt.  Die  Krustenbewegungen  wie  die  vulkani- 
schen Ausbrüche  dauerten  vom  Miozän  durch  das 
ganze  Pliozän  bis  zu  einem  großen  Teil  des 
Quartär.  Das  Magma  brach  entweder  an  ver- 
einzelten Punkten  oder  längs  Brüchen  aus;  manch- 
mal drang  es  an  derselben  Stelle  oder  an  dicht 
benachbarten  Punkten  längere  Zeit  aus  und  häufte 
hohe  Berge  an.  Die  bedeutendsten  Cantal  und 
Mont-Dore  müssen  bis  3000  m  hoch  gewesen 
sein,  während  sie  jetzt  nicht  2000  m  erreichen. 
Die  mittleren  Entfernungen  der  Vulkangebiete 
vom  Meere  betrugen  ca.  200  km.  Die  Vulkane 
lagen  während  der  ganzen  Zeit  ihrer  Tätigkeit 
auf  dem  Festland.  Das  Wasser  umliegender  Seen 
kann  keine  wesentliche  Bedeutung  für  den  Vulka- 
nismus geliabt  haben.  Als  Ursache  für  die 
vulkanischen  Erscheinungen  des  Zen- 
tralplateaus werden  jetzt  fast  allge- 
mein   die  alpinen  Störungen   angesehen. 

Süd-  und  Mitteldeutschland  war  haupt- 
sächlich zur  Miozänzeit  der  Schauplatz  reger,  weim 
auch  nicht  heftiger  vulkanischer  Tätigkeit.  Im 
süddeutschen  Inseljura  sind  3  Stellen  von  Bedeu- 
tung. Nahe  dem  südwestlichen  Ende  der  Alb 
drangen  im  Hegau  basische  Schmelzmassen  herauf, 
die  heute  als  Basalt-  und  Phonolithkegel  z.  T.  aus 
ihrem  Tuffmantel  heraussehen.  Im  Gebiete  von 
Urach  finden  sich  zahlreiche  Ausbruchskanäle,  die 
z.  T.  mit  vulkanischem  Tuff  erfüllt  sind.  Das 
Nördlinger  Ries  zeigt  einen  vulkanischen  Kessel, 
an  und  in  dem  liparitische  Gesteine  auftreten. 
Die  Eruptionen  fanden  im  Obermiozän  statt.  Zu 
dieser  Zeit  war  das  Meer  mehr  als  400  km  von 
der  Alb  entfernt.  Im  Vergleich  mit  den  bereits 
beschriebenen  Vorkommen  sind  die  geförderten 
Auswurfsmassen  verschwindend.  Ein  eigentliches 
Ausbruchszentrum  fehlt  und  nur  winzige  Vor- 
kommen, die  vielleicht  den  kleinen  peripheren 
\'orkommen  der  bisher  besprochenen  Vulkan- 
gebiete entsprechen,  sind  über  eine  weite  Fläche 
verteilt.  Danach  könnte  man  schließen,  daß  die 
tektonischen  Störungen  im  Gebiete  des  Inseljuras 
nicht  so  bedeutend  sind  wie  in  Ungarn,  Böhmen 
und  F'rankreicli,  was  auch  tatsächlich  der  Fall  ist. 
Von  süddeutschen  Vorkommen  sind  weiterhin 
noch  zu  erwähnen  der  Kaiserstuhl  (miozän)  im 
Rheintalgraben  wie  die  geringen  Eruptionserschei- 
nungen  im  Odenwald. 


N.  F.  XIII.  Nr.  I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


13 


Durch  zahlreiche  Ergüsse  von  Lavamassen, 
deren  Überreste  z.  T.  auch  heute  noch  stattliche 
Vulkangebirg-e  darstellen,  ist  die  mitteldeutsche 
Gebirgsch  welle  ausgezeichnet.  Es  sind  haupt- 
sächlich zu  erwähnen  im  Rheingebiet:  Eifel,  Sieben- 
gebirge, Westerwald,  in  der  Hessischen  Senke  und 
deren  Rändern:  Knüllgebirge  und  Habichtswald, 
daran  anschließend  weiter  nach  N:  Die  Eruptionen 
der  Bergländer  zu  beiden  Seiten  der  Weser,  im 
O  nahe  der  Werra:  der  isolierte  Tafelberg  des 
Meißner,  im  hessigen  Waldgebirge:  die  Rhön  und 
südwestlich  davon  die  Basaltgänge  des  Grabfeld- 
gaus. Im  Wetteraugebiet  werden  ca.  2500  qkm 
von  den  Laven  des  Vogelsberg,  der  größten  deut- 
schen Vulkanruine,  bedeckt.  Viele  übereinander- 
geflossene  Lavaströme  wechseln  mit  Tuffen  und 
tertiären  Konglomeraten.  Das  ausgeflossene  Ma- 
terial blieb  nicht  immer  gleich.  Zuerst  begann 
die  eruptive  Tätigkeit  mit  Ergüssen  von  Phono- 
lithen  und  phonolithoiden  Trachyten.  Dann  folgten 
abwechselnd  in  der  Eruptionsfolge  verschiedene 
Basalte  mit  Trappe.  Mit  geringen  Ausnahmen 
sind  die  mitteldeutschen  Vulkane  nicht  älter  als 
das  Miozän.  Die  Entfernung  der  Meeresküste  von 
den  Vulkanen  betrug  im  Mittelmiozän  durch- 
schnittlich 100—240  km,  im  Unter-  und  Ober- 
miozän wie  im  Pliozän  noch  mehr.  Es  erscheint 
deshalb  im  ganzen  Miozän  der  Einfluß  des  Meer- 
wassers ausgeschlossen.  In  das  Mittelmiozän  ver- 
legt man  die  starke  Zerstückelung  in  Schollen, 
welche  alle  deutschen  Mittelgebirge  aufweisen. 
Die  tek tonischen  Bewegungen  galten 
als  Ursache  des  gleichzeitig  tätigen 
Vulkanismus. 

Von  den  besprochenen  Gebieten  mit  erlosche- 
nen Vulkanen  lag  seinerzeit  nur  Ungarn,  aller- 
dings das  größte  direkt  am  Meere.  Die  mittlere 
Entfernung  des  Vulkangebiets  vom  Meere  betrug 
in  Böhmen  1 50  km ,  in  Frankreich  200  km ,  im 
Albgebiet  ca.  400  km,  in  Mitteldeutschland  100 
bis  240  km.  Demnach  kann,  abgesehen  von  Un- 
garn ,  das  Eindringen  des  Meerwassers 
als  Ursache  für  die  vulkanischen  Er- 
scheinungen nicht    in  Betracht  kommen. 

Süß  Wasserablagerungen  finden  sich 
in  allen  diesen  meeresfernen  Gebieten. 
In  Nordböhmen  bestand  anscheinend  ein  größeres 
Becken  zu  Beginn  der  Eruptionen ,  ebenso  am 
Knüllgebirge.  Der  Vogelsberg  lag  dicht  am 
Mainzer  Becken.  Infolge  des  humiden  tropischen 
oder  subtropischen  Klimas  stagnierte  das  Wasser 
vielfach    auf  einer   stark  abgetragenen  Fastebene. 

Den  besprochenen  Vulkanen  gemein- 
sam ist  das  Auftreten  in  Zerrüttungs- 
zonen. Die  Mehrzahl  von  ihnen  liegt  am  Rande 
oder  innerhalb  von  Senkungsfeldern.  Wahrschein- 
lich entsprechen  Zeiten  stärkerer  tektonischer 
Störung  solche  vulkanischer  Tätigkeit.! 

Nicht  zu  verkennen  ist  eine  gewisse  A  b  - 
hängigkeit  der  Größe  der  geförderten 
vulkanischen  Massen  von  der  Tektonik. 
Je  stärker  das  Ausmaß  der  tektonischen  Störungen, 


desto  größer  auch  die  Förderung.  Die  geförder- 
ten Lavamassen  sind  am  größten  in  Ungarn,  dann 
folgen  Frankreich,  Böhmen  und  Mitteldeutschland; 
am  geringsten  sind  sie  im    Tafeljura. 

Eruptionszentren  und  eruptive 
Haupttätigkeit  lagen  in  Ungarn,  Böhmen 
und  Frankreich  an  den  Bruch  randzonen, 
von  denen  die  Senkungsfelder  absanken.  Kleinere 
Ausbruchstellen  verteilen  sich  über  die  stehen 
gebliebenen  Horste  wie  über  die  gesunkenen 
Schollen.  Im  Tafeljura  weisen  die  Eruptionen 
kein  Zentrum  auf;  sie  entsprechen  etwa  den  peri- 
pheren Ausbruchsstellen  der  größeren  Vulkan- 
gebiete. 

Das  Auftreten  der  Vulkane  an  und 
in  Senku  ngsfe  Idern  erklärt  ihre  häufige 
Lage  am  Meere,  denn  dieses  erobert  ihm  zu- 
gängliche Senken.  Dies  trifft  von  den  unter- 
suchten Gebieten  nur  für  Ungarn  zu.  Der  Zu- 
sammenhang zwischen  Meer  und  Vulkan  ist  nur 
der  einer  gemeinsamen  Abhängigkeit  von  der 
Tektonik.  Für  sämtliche  hier  besproche- 
nen tertiären  Vulkangebiete  ist  wohl 
die  Tektonik  als  alleinige  Ursache  des 
Vulkanismus  anzusehen. 


Das  Wesergebirge  zwischen  Porta-  und  Süntel- 

gebiet  von  F.  Löwe.     Neues  Jahrbuch  für  Mine- 

mlogie  usw.     Beil.  Bd.  XXXVI,  H.  i,  S.  113— 213, 

1913- 

Der   zwischen    der    Porta  westfalica   und    dem 

Süntelgebiet  liegende  Abschnitt  der  Weserkette 
ist  im  allgemeinen  der  höchste,  breiteste  und  oro- 
graphisch  am  meisten  ausgebildete  Teil  des  ganzen 
Höhenzuges.  Sowohl  in  Höhe  als  Breite  fand  von 
VV  gegen  O  eine  Zunahme  statt  (Jacobsberg  bei 
Minden  176  m,  Paschenburg  oberhalb  der  Schaum- 
burg unweit  Hessisch-Oldendorf  336  m,  Hohen- 
stein  nordöstl.  Oldendorf  332  m).  Die  Scheitel- 
linie der  Kette  ist  durch  zahlreiche  in  das  Weser- 
tal sich  hinziehende  kleine  Ouertäler  zerschnitten. 
Der  der  Weser  zugekehrte  südliche  Abhang 
ist  der  steilere,  der  nördliche  der  flachere.  An 
vielen  Punkten  fällt  der  obere  Teil  des  südlichen 
Abhanges  mauerartig  ab,  wie  namentlich  an  den 
Felsen  der  Luhdener  Klippe,  der  Paschenburg  und 
des  Hohensteins.  Gewöhnlich  tritt  im  übrigen 
Teil  des  Abhanges  ein  mehr  oder  minder  vor- 
springender Rücken  oder  eine  Stufe  hervor.  Der 
Hauptrücken  ist  nördlich  wie  südlich  von  einer 
Kette  langgezogener  Vorberge  begleitet.  Auf 
einem  derartigen  Vorberg  steht  die  alte  Schaum- 
burg. Die  Entwässerung  des  Gebiets  erfolgt  auf 
dem  südlichen  Hang  durch  zahlreiche  kleine  Bäche, 
die  schon  nach  kurzem  Lauf  der  Weser  zueilen, 
auf  dem  nördlichen  Hange  vor  allem  durch  die 
bei  Südhagen  entspringende  Aue,  die  erst  bei 
Petershagen  die  Weser  erreicht.  Das  so  darge- 
stellte Gebiet  ist  ca.  20  km  lang  und  im  W 
4 — 5  km,  im  O  ca.   18  km  breit. 


14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   I 


Als  eine  markante  Gebirgsschwelle  nimmt  sich 
die  Weserkette  im  Liegenden  der  Schaumburg- 
Lippeschen  Kreidemulde  und  im  Hangenden  der 
südlich  liegenden  Triashöhen  aus,  ist  also  kein 
tektonisch  selbständiger  Gebirgszug.  Die  Hebungs- 
linie schließt  sich  der  NW — NO-Richtung  aufs 
engste  an.  Die  Tektonik  ist  im  allgemeinen  ruhig 
wie  im  Portagebiet.  Am  östlichen  Ende  macht 
sich  jedoch  die  Nachbarschaft  des  durch  unruhigere 
Lagerungsverhältnisse  ausgezeichneten  Süntel- 
gebiets  geltend.  Das  Streichen  der  Schichten  ist 
der  Erstreckung  des  Gebirgszuges  entsprechend 
(WNW  20"  OSO).  Das  Einfallen  der  Schichten 
verflacht  sich  allmählich  von  W  gegen  O  (im  W 
17",  in  der  Gegend  von  Bernsen  13",  in  der 
Wattendorfer  Gegend   5"). 

Außer  dem  Diluvium  und  Alluvium  sind  in 
unserem  Gebiete  Schichten  vom  Mittleren  Keuper 
bis  zum  Oberen  Jura  vertreten. 

Trias  form  ation. 

Mittlerer  Keuper. 

Schilfsandstein.  50  m  mächtige,  schmutzig 
weiße  bis  graue  Sandsteine  mit  schlecht  erhaltenen 
Pflanzenresten  (Equiseten).    Flachwasserbildung. 

Die  Berggipsschichten  sind  nicht  mit 
Sicherheit  nachgewiesen. 

Der  Steinmergelkeuper  zeigt  zu  unterst 
hellgrüne  oder  grüne  Mergel  mit  faustgroßen  Kalk- 
knollen. Ein  früherer  Gipsgehalt  ist  ausgelaugt. 
Gegen  oben  stellen  sich  mehr  oder  weniger  mäch- 
tige Bänke  von  Steinmergeln  ein. 

Oberer  Keuper. 

Rhät.  Zu  unterst  graue  oder  braungelbe 
quarzitische  Sandsteine  mit  schlecht  erhaltenen 
Pflanzenresten,  als  Terrainkante  deutlich  zu  ver- 
folgen. Darüber  folgt  das  Protokardienrhät  mit 
kieseligen,  dünnplattigen  Sandsteinen  und  der 
typischen  Rhätfauna. 

Die  nun  darüber  lagernde 

Juraformation 

ist  hauptsächlich  an  der  Zusammensetzung  der 
eigentlichen  Weserbette  beteiligt. 

Der  Lias  tritt  als  breiter  Keil  zwischen  dem 
Braunjuraband  des  südöstl.  Teils  des  Wesergebirges 
resp.  Süntels  und  dem  Großen  Finnenberg- 
Holtenser  Triasgebiet  zutage.  Zumeist  sind  es 
Tone  oder  Schiefertone,  seltener  Kalk,  die  nach 
süddeutscher  Bezeichnungsweise  in  die  Quenstedt- 
schen  Stufen  cx  —  'C  gegliedert  werden. 

Im  Braunen  Jura  (Dogger)  herrscht  die 
tonige  Facies  vor  und  nur  im  oberen  Teile  stellt 
sich  ein  Sandsteinkomplex  ein.  Er  besteht  aus 
mächtigen,  sterilen,  feinsandigen  und  glimmer- 
haltigen  dunklen  Schiefertonen  mit  Bänken  von 
Toneisensteingraden,  in  denen  die  relativ  seltenen 
Fossilien,  gewöhnlich  verkiest,  auftreten.  Land- 
schaftlich ist  er  durch  ein  sehr  charakteristisches 
Gelände  welliger  niedriger  Hügelterrassen  aus- 
gezeichnet. Löwe  gliedert  den  Braunen  Jura  nach 
der  französischen  Bezeichnung  in : 


Bajocien     (Schichten     mit    Lioceras    opalinum. 
Seh.  mit  Inoceramus   polyplocus,    Coronaten 
Seh.,  Subfurcaten  Seh.,  Parkinsonien  Seh.). 
Bathonien  (Württembergicus  Seh.,  Arbustigerus 

Seh.,  Aspidoides  Seh.)  und 
Callovien  (Makrocephalen  Seh.,  Ornatentone). 

Die  Arbustigerus  Seh.  bedingen  die  besonders 
deutlich    markierte    Vorkette,     aus    welcher     die 
Erosion  langgezogene  Kuppen  und  Köpfe  heraus- 
modelliert hat.     Die  Arnatentone  wie  die  Makro- 
cephalen Seh.  sind  stark  wasserführend  und  geben 
oft  Veranlassung  zu  umfangreichen  Gebirgsstürzen. 
Der    Weiße    Jura    (Malm)    unseres    Gebiets 
schließt  sich  mehr  an  den  englischen  und  französi- 
schen Jura  als  an  den  süddeutschen  Jura  an.    Kalke 
oder  kalkige  Sandsteine  herrschen  vor. 
Unteres  Oxford ien:  entspricht  den  Heersumer 
Seh.     Kalkige   Sandsteine,    im    oberen    Teil 
mit  einem  Ouarzithorizont. 
Oberes  Oxfordien:   entspricht  dem  Korallen- 
orlith  (oberes  Coralxag). 
Besonders  widerstandsfähige  Gesteine  (sandige, 
orlithische  Kalke  mit  Eisenflözen),  die  dem  Weser- 
gebirgszug sein  Hauptgepräge  verleihen  und  häufig 
groteske  Felspartien  bilden  (Papenbrink,  Luhdener 
Klippe,  Paschenburg,  Amelungsberg,    Hohenstein). 
Zahlreiche    Steinbrüche    und    bergmännische   Auf- 
schlüsse   (Klippenflöz    bei    Nammen    bis   1890  ab- 
gebaut ;  Wohlverwahrtflöz  bei  Kleinbremen)  zeugen 
von  seiner  technischen  Bedeutung. 
Unteres  Kimmeridgien:  Kalke,  seltener  Tone, 
Mergel    oder    Sandsteine.       35   m    mächtig. 
Ablagerungen     eines     flachen     küstennahen 
Wassers. 
Mittleres  Kimmeridgien:  Dichte  oder  orli- 
thische Kalke,  Mergel  und  Tone ;  80  m  mächtig. 
Mit    der    Eintönigkeit    der  Schichten    steht  im 
engsten  Zusammenhang   die  Gleichförmigkeit  der 
einschließenden    Fauna.       Von    besonderer    strati- 
graphischer    Bedeutung    ist    das    für  Norddeutsch- 
land sehr  bemerkenswerte  Auftreten  von  Aulaco- 
stephanen,    das    auf  faunistische  Beziehungen  zum 
Weißen  Jura  Frankreichs  hinweist. 
Oberes    Kimmeridgien:    Tone,   Mergel    und 
knollige    dichte  Kalke;    20—30  m    mächtig. 
Portlandien:  blaue  sandige  Kalke  und  merge- 
lige Tone;  ca.  30  m  mächtig. 
Oberster  Weißer  Jura. 
Entspricht    den    in    Nordwestdeutschland     als 
Einbeckhäuser  Plattenkalke,    Münder  Mergel    und 
Serpulit    bezeichneten     Ablagerungen,       Purbeck- 
Schichten  aus  NW-Deutschland  mit  Sicherheit  nur 
aus  der  Gilsmulde  bekannt,  sowie  Serpulit  wurden 
nicht  anstehend  beobachtet. 

Nach  der  Zeit  des  unteren  Portlandien  wurde 
das  nordwestdeutsche  Meeresbecken  immer  flacher 
und  ist  schließlich  ganz  vom  offenen  Meere  abge- 
trennt worden.  Nur  eine  ganz  ärmliche  Fauna 
konnte  hier  noch  vegetieren.  Da  wohlerhaltene 
Pflanzenreste  nicht  selten  sind,  wird  in  allernächster 
Nähe  Land  gelegen  haben. 


N.  F.  XIII.  Nr.   I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


15 


Diluvium.  Am  Nord-  wie  am  Südhang  be- 
decken nordische  wie  einheimische  diluviale  Ab- 
lagerungen   große   Flächen.     Wo    eine   Lücke  im 


Gebirgszug  war,  haben  die  Gletscher  ihre  Massen 


hindurchgeschoben. 


Victor  Hohenstein. 


Bücherbesprechungen. 

A.  Jacobi,  Mimikry  und  verwandte  Er- 
scheinungen. (Die  Wissenschaften,  Bd.  47.) 
2158.  8".  Braunschweig  1913,  Vieweg  &  Sohn. 
—  Preis  8,80  Mk. 

Die  Mimikrytheorie  ist  zurzeit  eins  der  meist 
umstrittenen  Gebiete  der  Biologie.  Nach  einer 
etwas  schrankenlosen  Verallgemeinerung  der  von 
den  ersten  Beobachtern  —  Wallace,  Bates,  Fr. 
Müller  —  begründeten  Lehre  hat  eine  starke  Re- 
aktion eingesetzt,  die,  nun  wiederum  über  das 
Ziel  hinausschießend,  bereits  „das  Ende  der  Mimikry- 
theorie" verkündete.  Mit  der  vorliegenden  Schrift, 
die  in  kritisch  sichtender  Weise  dem  Leser  ein 
Bild  von  dem  derzeitigen  Stande  der  Frage 
geben,  vor  allem  aber  zu  erneuten  Beobachtungen 
anregen  will,  hat  der  Verfasser  sich  um  so  mehr 
ein  Verdienst  erworben,  als  eine  Reihe  der  ein- 
schlägigen Arbeiten  und  Mitteilungen  in  nicht 
überall  leicht  zugänglichen  Zeitschriften  zerstreut 
sind.  Ein  Literaturverzeichnis  gibt  dem  Leser, 
der  sich  gründlicher  zu  unterrichten  wünscht,  die 
erforderliche  Auskunft. 

Mit  vollem  Recht  betont  Jacobi,  daß  der  Name 
Mimikry  —  im  Sinne  seiner  Urheber  —  nur  auf 
die  Ähnlichkeit  eines  Tieres  mit  einem  anderen, 
nicht  der  gleichen  Art  angehörigen  Tier  ange- 
wandt werden  dürfe,  nicht  aber  auf  jede  beliebige 
Schutzfärbung  oder  Schutzanpassung.  Da  jedoch 
bei  der  Erörterung  der  Frage  nach  der  Entstehung 
mimetischer  Ähnlichkeiten  ganz  ähnliche  Erwägun- 
gen auftauchen,  wie  bei  anderen  Schutzfärbungen, 
so  hat  Jacobi  diesen  einige  einleitende  Kapitel 
gewidmet.  Dabei  werden  die  Schutzfärbungen 
von  der  in  der  Gestalt  des  Körpers  oder  einzel- 
ner Teile  begründeten  schützenden  Ähnlich- 
keit unterschieden. 

Der  größte  Teil  des  Buches  aber  behandelt 
die  Fälle  der  echten  Mimikry  und  zwar  bespricht 
der  Verfasser  in  systematischer  Folge  eine  Anzahl 
von  Beispielen.  Naturgemäß  fällt  der  Hauptanteil 
auf  die  Insekten ,  die  über  die  Hälfte  des  Buches 
einnehmen,  und  unter  denen  wieder  die  Mimikry 
zwischen  verschiedenen  Schmetterlingen  den  größ- 
ten Raum  in  Anspruch  nimmt,  während  die  mi- 
metische Ähnlichkeit  verschiedener  Insekten  mit 
Stechimmen  (Sphecoidie),  Ameisen  (Myrmecoidie) 
und  Käfern  in  besonders  kurzen  Abschnitten  er- 
örtert wird.  Eine  Anzahl  der  besprochenen  Bei- 
spiele, namentlich  von  Schmetterlingen,  sind  durch 
Abbildungen  veranschaulicht,  deren  einige  farbig 
sind.  Zwischen  den  Kapiteln,  die  in  kritischer 
Auswahl  über  die  wichtigsten  Fälle  von  Schutz- 
anpassung und  Mimikry  referieren ,  sind  andere 
eingeschaltet,  in  denen  die  mutmaßliche  Entstehung 


und  Entwicklung  dieser  Anpassungen  erörtert 
bzw.  die  verschiedenen  Hypothesen  besprochen 
werden.  Die  namentlich  von  Vosseier  auf  Grund 
seiner  Beobachtungen  an  algerischen  Heuschrecken 
vertretene  Auffassung,  daß  es  sich  bei  diesen 
Fällen  von  Schutzfärbung  um  eine  Art  von 
„Farbenphotographie"  der  Umgebung  handle,  be- 
darf einstweilen  noch  einer  direkten  experimen- 
tellen Bestätigung,  die  leider  in  diesem  Falle,  wie 
Vosseier  selbst  schon  früher  ausgeführt  hat,  auf 
zurzeit  unüberwindliche  Schwierigkeiten  stößt.  In 
der  von  Eimer  und  seinen  Anhängern  vertretenen 
Anschauung,  daß  Schutzfärbung  und  auch  Mimikry 
das  Ergebnis  bestimmter ,  nach  organischer  Ge- 
setzmäßigkeit verlaufender  Entwicklung  (Ortho- 
genesis)  seien,  die,  ursprünglich  ohne  jede  Be- 
ziehung zu  einer  Schutzwirkung,  erst  später  („zu- 
fällig") den  Charakter  einer  schützenden  Anpassung 
angenommen  hätten,  sieht  Jacobi  einen  brauch- 
baren Gedanken,  insoweit  dadurch  die  Schwierig- 
keit vermieden  wird,  die  ersten,  an  sich  noch 
nicht  schützenden  Stadien  der  Umbildung  auch 
schon  selektiv  zu  erklären.  Nur  ist,  wie  der  Ver- 
fasser mit  Recht  betont,  die  Reihenfolge  der  Um- 
bildungen bei  dem  Fehlen  und  der  großenteils 
vorhandenen  Unmöglichkeit  direkter  Beobachtung 
immer  zweifelhaft.  Wenig  befriedigend  erscheinen 
dem  Verfasser  auch  die  Versuche,  die  Färbungen 
durch  Einwirkung  äußerer  Faktoren  (Licht,  Tem- 
peratur, Feuchtigkeit)  zu  erklären,  besonders  da 
unter  äußerlich  anscheinend  ganz  gleichen  Be- 
dingungen (z.  B.  in  den  Polarländern)  viele  Tiere 
weiß,  andere  dunkel  gefärbt  seien,  ja,  daß  ein 
und  dieselbe  Art  (Raupen  des  Lindenschwärmers, 
Junischwärmers)  Stücke  von  verschiedener  Fär- 
bung unter  gleichen  Lebensbedingungen  aufweisen 
kann.  Hier  muß  allerdings  die  Möglichkeit  spe- 
zifisch oder  individuell  verschiedener  Reaktions- 
fähigkeit gegenüber  gleichen  äußeren  Einflüssen 
im  Äuge  behalten  werden.  Vom  Standpunkt  der 
nützlichen  Anpassung  aus  ist  ebensowenig  die 
weiße  Farbe  der  in  wärmeren  Ländern  lebenden 
Möwen,  Reiher  und  Kakadus  zu  erklären,  wie  die 
weiße  Färbung  eines  so  wehrhaften  Tieres  wie 
der  Eisbär  und  die  dunkle  Färbung  der  von  ihm 
verfolgten  Robben.  Wenn  Werner  andererseits 
hervorhebt,  daß  die  häufigsten  sog.  Schutzfärbun- 
gen, nämlich  die  braunen  und  grauen,  nicht  wegen 
ihrer  Schutzwirkung  so  häufig  seien,  sondern  weil 
sie  chemisch  den  einfachsten  und  verbreitetsten 
Pigmenten  nahestehen,  daß  es  also  zu  ihrer  Er- 
haltung keiner  Selektion  bedürfe,  und  daß  das 
Grün  sich  in  dieser  Beziehung  ähnlich  verhalte, 
so  fordert  Jacobi  auch  hier  eine  experimentelle 
Nachprüfung.  Die  Erklärung  durch  eine  psychische 
Reaktion    der  Tiere,    „durch    eine    Art  Sehnsucht, 


i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift, 


N.  F.  XIII.  Nr.  I 


ihrer  Umgebung  ähnlich  zu  werden",  weist  der 
Verfasser  für  die  Insekten,  deren  Färbung  beim 
erwachsenen  Tier  durch  psychische  oder  nervöse 
Einflüsse  nicht  zu  beeinflussen  sei,  zurück,  und 
kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  jedenfalls  bei  der 
weiteren  Ent  wicklungder  mimetischen  Anpassungen 
der  Selektion  eine  wichtige  Rolle  zugefallen  sei. 
Daß  Schutzfärbung  und  Schutzähnlichkeit  in  der 
Tat  in  vielen  Fällen  vorliegt,  dafür  spricht  die 
Tatsache,  daß  es  meist  wehrlose,  der  Verfolgung 
durch  andere  Arten  ausgesetzte,  wenig  beweg- 
liche —  namentlich  während  der  Tagesstunden 
ruhende  —  Tiere  sind,  die  solche  Färbungen 
zeigen;  inwieweit  eine  Schutzwirkung  wirklich 
erreicht  wird,  dafür  fehlt  es  leider  noch  an  einer 
hinlänglichen  Zahl  guter  Beobachtungen,  nament- 
lich an  freilebenden  Tieren,  doch  kann  auch  die 
entgegengesetzte  Ansicht  sich  nicht  auf  ein  ge- 
nügendes Beobachtungsmaterial  stützen. 

Ähnlich  wie  mit  der  Schutzfärbung  steht  es 
mit  den  Warn-  und  Schreckfärbungen,  den  „apo- 
sematischen  Färbungen",  wie  Poulton  sie  nennt. 
Auch  hier  bedarf  es  in  vielen  Fällen  noch  sicherer 
Beobachtungen,  um  die  Fälle  wirklicher,  wirksamer 
Warnfärbung  festzustellen. 

Ganz  entsprechende  Erwägungen  sind  nun  für 
die  Entscheidung  der  Mimikryfrage  maßgebend. 
Der  Verfasser  geht  hierauf  in  den  einzelnen  Ab- 
schnitten der  systematischen  Übersicht  mehrfach 
ein,  erörtert  aber  die  ganze  Frage  am  Schluß  be- 
sonders eingehend  mit  Rücksicht  auf  die  Mimikry 
der  Schmetterlinge.  Unter  Hinweis  auf  die  in  der 
einschlägigen  Literatur  bekannt  gegebenen  Beob- 
achtungen hebt  Jacobi  hervor,  daß  die  nachahmen- 
den Formen  in  ihrer  Färbung,  oft  auch  in  ihrer 
Gestalt  (Flügelform)  von  ihren  Artverwandten 
wesentlich  abweichen ;  daß  ihre  Ähnlichkeit  mit 
geschützten,  artfremden  Formen  keine  völlige  ist, 
sondern  sich  nur  auf  auffällige,  eine  Verwechslung 
leicht  herbeiführende  Züge  erstreckt;  daß  örtlichen 
Abänderungen  der  nachgeahmten  Art  auch  ähn- 
liche Abänderungen  der  nachahmenden  Art  ent- 
sprechen, daß  beide  Formen  örtlich  und  zeitlich 
zusammen  vorkommen,  aber  in  ihrer  Lebensweise 
(Bewegungsart)  nicht  immer  miteinander  überein- 
stimmen. Ferner  ist  es  bemerkenswert,  daß  die 
weiblichen  F"alter  häufiger  mimetische  Anpassung 
zeigen,  als  die  männlichen.  All  diese  Befunde 
lassen  sich  im  Licht  der  Mimikrytheorie  verstehen 
und  können,  wie  immer  ihre  erste  Anlage  bedingt 
sein  mag,  durch  Selektion  gefördert  sein.  Von 
den  Einwänden,  die  gegen  die  ganze  Lehre  er- 
hoben wurden,  beruhen  einige  auf  einem  Mißver- 
ständnis dessen,  was  die  Theorie  überhaupt  er- 
klären will.  Es  fehlt  aber  auch  nicht  an  sach- 
lichen   P_inwänden,    denen    wohl    in   vielen    Fällen 


eine  Berechtigung  nicht  abzusprechen  sein  dürfte. 
Inwieweit  z.  B.  die  uns  auffallenden  Ähnlichkeiten 
auch  zur  Irreführung  der  verfolgenden  Tiere  — 
im  vorliegenden  Fall  meist  Vögel  —  geeignet 
sind,  bedarf,  trotz  der  prinzipiellen  Ähnlichkeit  im 
Bau  des  Menschen-  und  \^ogelauges,  noch  näherer 
Prüfung,  namentlich  wenn  wir  die  neueren  Unter- 
suchungen über  das  Farbensehen  der  Vögel  in 
Betracht  ziehen,  auf  die  der  Verfasser  hier  nicht 
eingeht.  Wieweit  hierbei  auch  die,  schon  oben 
erwähnte,  , .Oberflächlichkeit"  der  Ähnlichkeit  eine 
Rolle  spielt,  mag  auch  weiterer  Prüfung  unter- 
liegen, wenngleich  die  vom  Verfasser  angeführten 
Angaben  verschiedener  Beobachter,  daß  einige 
Schmetterlingsmännchen  die  Nachahmer  oder  auch 
die  Modelle  ihrer  Weibchen  umwerben,  also  selbst 
offenbar  der  Täuschung  unterliegen,  sicher  von 
Bedeutung  sind.  Daß  die  Orthogenesis  und  die 
Plinwirkung  äußerer  Faktoren  die  Bedeutung  der 
Selektion  für  die  Ausbildung  mimetischer  An- 
passungen zwar  einzuschränken,  aber  nicht  aus- 
zuschließen vermag,  wurde  schon  bei  der  Dis- 
kussion der  Schutzfärbungen  erwähnt.  Endlich 
ist  aber  auch  der  letzte  sachliche  Einwand,  der 
sich  darauf  stützt,  daß  Schmetterlinge  von  Vögeln 
so  gut  wie  gar  nicht  verfolgt  werden,  durch  sichere 
Beobachtungen,  namentlich  durch  die  von  Doflein 
in  seiner  „Ostasienfahrt"  mitgeteilten,  widerlegt 
worden.  Referent  möchte  hier  auch  auf  die  schon 
vor  Jahren  von  Kathariner  und  v.  Kennel  (Biol. 
Centralbl.,  XVIII)  mitgeteilten  Beobachtungen  hin- 
weisen, die  die  genannten  Autoren  allerdings  nicht 
von  einer  ausschlaggebenden  Bedeutung  der  Farben 
zu  überzeugen  vermochten.  Jacobi  veröffentlicht 
hier  eine  ganze  Anzahl  von  .Abbildungen  von  den 
Flügeln  verletzter  Schmetterlinge,  die  ganz  den 
von  Doflein  auf  Ceylon  gesammelten  entsprechen 
und  daher  wohl  auch  in  ähnlicher  Weise  ent- 
standen sein  können. 

Aus  dem  Vorhergehenden  dürfte  erhellen,  daß 
der  Verfasser  zwar  im  allgemeinen  auf  dem  Boden 
der  Mimikrytheorie  steht,  daß  er  sich  aber  den 
Bedenken,  denen  namentlich  eine  kritiklose  Aus- 
delmung  dieser  Lehre  auf  alle  möglichen,  nicht 
durch  einwandfreie  Beobachtungen  des  lebenden 
Tieres  gestützten  Museumsbefunde  begegnet, 
durchaus  nicht  anschließt.  Es  schließt  die  kleine, 
inhaltreiche  und  lesenswerte  Schrift  mit  den 
Worten:  „Jedenfalls  möchte  ich  nochmals  hervor- 
heben, daß  die  Weiterführung  von  Versuchen 
durchaus  nötig  ist,  um  zu  einem  annehmbaren 
Endurteil  über  das  Problem  der  Schmetterlings- 
mimikry zu  gelangen,  und  möchte  gleichzeitig 
allen,  die  schon  dazu  ablehnende  Stellung  einge- 
nommen haben,  ein  vorurteilsfreies  Abwarten 
nahe  legen".  R.  v.  Hanstein. 


Inhalt:    Prof.  .X.  v.   Brandt:    Über  Geschlechtswandelungen.     —     Victor  Hohenstein:    Neues  aus  der  Geologie.     — 
Bücherbesprechungen:   .A.   Jacobi:   Mimikry  und   verwandte  Erscheinungen. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Herrn   Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstraße    IIa,   erbeten. 

Verlag  von   Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.    I5.ind ; 
der  ganzen  Reihe  29    Hand 


Sonntag,  den  ii.  Januar  1914. 


Nummer  ä. 


Heilkraft  der  Natur  und  Heilkunst.') 

(Nachdruck  verboten.]  Von  Pfivatdozent  Dr.   Bruno   Wolff,  Assistent  am  Institut. 

Aus  dem  pathologischen  Institut  der  Universität  Rostock  (Direktor:   Prof.  Dr.   E.  Schwalbe). 


Ein  Blick  auf  die  Geschichte  der  Medizin  läßt 
unschwer  erkennen ,  in  einem  wie  engen  Zusam- 
menhange mit  den  allgemeinen  kulturellen,  ethi- 
schen, religiösen,  vor  allem  aber  naturwissenschaft- 
lichen Anschauungen  der  Zeiten  sich  die  Medizin 
entwickelt  hat. 

Im  besonderen  sind  für  uns  hier  die  Beziehun- 
gen der  Medizin  zur  Naturwissenschaft  von  Inter- 
esse. Man  darf  wohl  behaupten,  daß  die  moderne 
Medizin  —  als  Wissenschaft  betrachtet  —  heute 
im  wahren  Sinne  des  Wortes  zu  einer  Natur- 
wissenschaft -)  geworden  ist ;  denn,  wenn  auch  die 
Ausübung  der  Heilkunst  dem  Arzte  eine  Reihe 
praktischer  Aufgaben  besonderer  Art  stellt,  so 
bleibt  doch  die  Tatsache  bestehen,  daß  allein  von 
allgemein  naturwissenschaftlichen  Gesichtspunkten 
aus  die  physiologischen  und  pathologischen  Vor- 
gänge und  Zustände  im  pflanzlichen ,  tierischen 
und  menschlichen  Organismus  zu  ergründen  und 
zu  beurteilen  sind. 

„Das  schönste  Glück  des  denkenden  Menschen 
ist",  sagt  Goethe,'')  „das  Erforschliche  erforscht 
zu  haben  und  das  Unerforschliche  ruhig  zu  ver- 
ehren." 

So  müssen  wir  uns  allerdings  bewußt  sein, 
daß  die  Naturwissenschaft  uns  nur  bis  eben  an  die 
Grenze  der  letzten  Rätselfragen  des  Seins,  die 
das  Gemüt  wie  den  Geist  seit  Urzeit  beschäftigen, 
zu  führen  vermag.  Was  jenseits  jener  Grenzen 
liegt,  das  Unerforschliche,  gehört  in  den  Bereich 
unseres  Empfindens,  den  nach  dem  Drange  des 
Herzens  auszugestalten ,  sich  dem  Menschen  un- 
endlicher Raum  bietet.*) 

Der  Naturwissenschaft  aber  bleibt  die  Aufgabe, 
„der  unverrückbaren  Grenzen"  eingedenk,  die  dem 
objektiven  Erkennen  nun  einmal  gesetzt  sind  (E. 
du  Bois-Reymond),^)  das  Erforschliche  in 
immer  weiterem  Umfange  zu  erforschen.  Die 
Naturwissenschaft  muß  dabei  nicht  nur  voraus- 
setzen, daß  die  Ordnung  der  Vorgänge  in  der 
Welt  auf  unabänderlichen  Gesetzen  beruht ,  son- 
dern es  ist  ihr  auch  mehr  und  mehr  gelungen, 
in  dem  ewigen  Getriebe  der  Natur  solche  Gesetze 
zu  ermitteln  und  sie  vielfach  sogar  in  die  schlichte 
Form  einer  mathematischen  Gleichung  überzu- 
führen. 

Gesetze  regeln  den  Gang  der  Fixsterne  und 
Planeten  im  Weltall  nicht  anders,  als  das  Fallen 
des  kleinsten  Steines  auf  der  Erde. 

Gesetze  und  Ordnung  beherrschen  nicht  nur 
die  anorganische  Natur,  sondern  auch  die  organi- 
sche Entwicklung    hat  sich  —  darauf  deuten  alle 


Erfahrungen  hin  —  nach  nicht  minder  strengen, 
wenn  auch,  wie  es  scheint,  außerordentlich  viel 
komplizierteren  Regeln  vollzogen. 

Wie  aber  nach  natürlichen  Gesetzen  im  Ver- 
laufe unermeßlicher  Zeiträume  die  Entwicklung 
des  ganzen  Stammes  der  Pflanzen  und  Tiere  vor 
sich  gegangen  ist,  so  geschieht  nach  bestimmten 
Gesetzen  auch  die  Entwicklung  der  zahllosen 
Einzelwesen,  die  heutigen  Tages  die  Erde  be- 
wohnen. 

Und  nicht  nur  der  normale  Verlauf  ihrer  Ent- 
wicklung ist  —  teils  durch  die  inneren  Anlagen 
der  Individuen,  teils  durch  von  außen  wirkende 
Faktoren  —  im  naturwissenschaftlichen  Sinne  ge- 
setzmäßig bestimmt,  sondern  ähnlich  auch  der 
Eintritt  und  Ablauf  derjenigen  Prozesse,  die  den 
gewöhnlichen  Gang  des  Lebens  hemmen  oder 
ungünstig  beeinflussen  und  die  von  uns  als  Ent- 
wicklungsstörungen oder  als  Krankheiten  bezeich- 
net werden. 

Diese  Tatsache  mag  manchem  vielleicht  selbst- 
verständlich erscheinen ;  es  muß  aber  betont  wer- 
den, daß  die  Wissenschaft  sich  zu  dieser  Erkennt- 
nis erst  spät  und  nach  vielen  Kämpfen  durchge- 
rungen hat.  „Erst  spät",  sagt  der  Physiologe 
Justus  Gaule,  ^)  hat  die  Wissenschaft  gewagt, 
„auch  in  dem  Leben  des  Menschen  nach  Gesetzen 
zu  fragen.  Es  ist  ein  wunderbarer  Schritt,  sich 
selbst  nicht  bloß  als  Subjekt,  sondern  als  Objekt, 
als  zu  erforschenden  Teil   der  Natur  aufzufassen." 

Es  ist  auch  zu  betonen ,  daß  gerade  in  der 
Vorstellung  des  gesetzmäßigen  Ablaufes  der 
Krankheiten  vielleicht  die  wesentlichste  Kluft  liegt, 
die  die  wissenschaftliche  Medizin  nicht  nur  von 
dem  sog.  „Dämonismus"  und  Hexenglauben  ver- 
gangener Zeiten  trennt,  sondern  auch  von  manchen 
abergläubischen  Strömungen    der  heutigen  Zeit. ") 

Als  eine  spezielle  Aufgabe  des  Arztes  können 
wir  es  danach  bezeichnen,    die    naturwissenschaft- 


1)  Nach    einem    am    I.   Dezember   1913    in    der  Aula    der 
Universität  Rostock   gehaltenen  Vortrage. 

*)  Siehe  hierzu  ErnstSchwalbe,  Vorles.  üb.  Geschichte 
der    Medizin.     2.  Aufl.      1909.     Seite  8.      Es    bedurfte    langer 
Zeit,  sagt  E.  Seh  walbe,  „um  die  Medizin  zu  dem  zumachen, 
was  sie  heute  ist,  zu  einer  Naturwissenschaft'*. 
Goethe:  In  „Sprüche  in  Prosa". 

Vgl.  u.  a.  August  VVeismann's  schöne  Ausführungen 
am  Schlüsse  seines  Werkes :  Vorträge  über  Deszendenztheorie. 
Jena   1902. 

^)  E.  du  Bois-Reymond:    Darwin  versus    Galiani.   — 
In   ,, Reden''.      I.   Folge.      Leipzig    1886. 

")  Justus  Gaule:  Die  Stellung  des  Forschers  gegenüber 
dem  Problem   des   Lebens.      Leipzig.      Veit  u.  Co.      1887. 

■>)  Vgl.  Ernst  Schwalbe;  1.  c.  (Geschichte  der  Medizin). 


i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


liehen  Gesetze  zu  erkennen ,  nach  denen  Krank- 
heiten einsetzen  und  verlaufen.  Es  ist  weiterhin 
eine  seiner  Aufgaben,  die  in  der  Natur  und  durch 
die  Natur  gegebenen  Mittel  zu  finden,  in  ihrer 
Wirkungsweise  zu  verstehen  und  anzuwenden,  die 
imstande  sind,  Krankheiten  vorzubeugen  oder  sie 
zu  heilen. 

Diese  Heilmittel  lassen  sich  zwanglos  in  zwei 
große  Gruppen  einteilen: 

Die  einen  sind  in  der  Naturaniage  des  kranken 
Geschöpfes  —  sei  es  ein  Tier  oder  ein  Mensch 
—  selbst  begründet.  Es  sind  Kräfte ,  die  die 
Natur  in  das  Geschöpf  gelegt  hat  und  die  dem 
Organismus  zum  Schutz  dienen,  wenn  unter  ge- 
wissen Umständen  seiner  Gesundheit  oder  seiner 
normalen  Entwicklung  Gefahren  drohen.  Der 
Arzt  hat  häufig  nichts  anderes  zu  tun,  als  der 
Wirkung  dieser  Kräfte,  die  er  nach  Möglichkeit 
zu  kennen  bestrebt  sein  muß,  ihren  Lauf  zu  lassen, 
damit  der  Kranke  die  Gefahr  überwindet,  besser 
vielleicht  überwindet,  als  wenn  irgendein  von 
außen  herbeigezogenes  Mittel  angewendet  werden 
würde.  Man  kann  in  diesem  Sinne  wohl  von 
einer  „Heilkraft  der  Natur"  sprechen. 

Auch  die  zweite  Gruppe  von  Heilmitteln  wird 
uns  selbstverständlich  von  der  Natur  dargeboten 
oder  ihre  Anwendungsweise  von  der  Natur  er- 
möglicht. Es  handelt  sich  aber,  im  Gegensatz  zu 
den  Schutzkräften,  die  im  Körper  des  Kranken 
von  selbst  in  Tätigkeit  treten,  um  künstlich  her- 
beizuziehende Heilkräfte,  oder  um  besondere  zur 
Heilung  des  Kranken  vorzunehmende  Maßnahmen. 
Diese  Mittel  können  verschiedenster  Art  sein ;  sie 
können  in  Medikamenten,  in  physikalischen  Ein- 
wirkungen, wie  Wärme  und  Kälte,  oder  —  um 
das  jüngste  Kind  der  Therapie  zu  nennen  —  in 
Radiumstrahlen,  oder  in  dem  alten  radikalen  Mittel 
des  Chirurgen,  dem  Messer,  bestehen.  Auch  der 
psychische  Einfluß,  den  der  Arzt  durch  seine 
Persönlichkeit,  durch  Beruhigung  des  Kranken  u.  a. 
auszuüben  vermag,  muß  in  die  Gruppe  dieser 
letzteren  Heilmittel  gerechnet  werden. 

Ob  der  Arzt  nun  in  dem  einen  Falle  zielbe- 
wußt lediglich  die  inneren  Kräfte  des  Kranken 
ihre  Wirksamkeit  entfalten  läßt,  oder  ob  er  im 
anderen  notwendige  Hilfsmittel  von  außen  herbei- 
zieht, beide  Male  übt  er  selbstverständlich  in  dem 
gleichen  Maße  „Heilkunst"  aus. 

Immerhin  möchte  ich  hier  —  im  Gegensatze 
zur  „Heilkraft  der  Natur"  —  von  „Heilkunst"  speziell 
im  Sinne  der  Herbeiziehung  außerhalb  des  Kör- 
pers liegender  Heilkräfte  sprechen. 

Wenden  wir  uns  nun  einer  Erörterung  der 
Heilkraft  der  Natur  und  der  Heilkunst  in  Einzel- 
heiten zu,  so  muß  ich  mich  allerdings  bei  einem 
Thema,  das  seinem  Wesen  nach  so  unerschöpflich 
ist  wie  die  Medizin  selbst,  darauf  beschränken, 
Heilkraft  der  Natur  und  Heilkunst  in  ihrem  Gegen- 
satz und  in  ihren  engen  Beziehungen  zueinander 
nur  durch  einige  Beispiele  zu  erläutern: 

„Tagtäglich  beobachten  wir,  wie  Krankheiten 
oftmals  in  vollendetster  Weise  ohne  das  Eingreifen 


irgendwelcher  Kunsthilfe  sich  zurückbilden";  i)  wir 
sehen  außerdem,  daß  in  Fällen,  wo  eine  Krank- 
heit eine  dauernde  Veränderung  des  Körpers  oder 
eines  seiner  Organe  bewirkt  hat,  die  gestörte 
Funktion  dieses  Organes  durch  andere  Teile  er- 
setzt wird  und  daß  vielfach  dabei  auch  sekundäre 
Formveränderungen  eintreten,  durch  die  der  er- 
littene Schaden  mehr  oder  weniger  ausgeglichen 
wird. 

Kaum  ein  Tier  und  wenige  Menschen  würden 
wohl  ein  höheres  Alter  erreichen,  wenn  nicht  oft 
eine  solche  spontane  Heilung  eintreten  könnte, 
wenn  nicht  z.  B.  in  blutenden  Hautwunden  die 
Blutung  häufig  von  selbst  zum  Stehen  käme 
und  die  Wunde  ohne  Behandlung,  durch  Ver- 
klebung oder  Uberhäutung  zum  Verschwinden 
gebracht  würde. 

Wird  ein  Blutgefäß  im  Körper  verschlossen, 
so  braucht  der  Teil,  der  dadurch  vom  Blut  ab- 
gesperrt wurde,  nicht  dauernd  außer  Ernährung 
zu  bleiben  und  abzusterben.  Vielmehr  kommt 
es  in  vielen  Fällen  zur  Ausbildung  eines  sog. 
Collateralkreislaufes;  d.  h.  es  erweitern  sich  Ge- 
fäße, die  für  die  Ernährung  des  betreffenden  Teiles 
physiologischerweise  nur  eine  untergeordnete  Be- 
deutung hatten ;  allmählich  bilden  sich  diese  Ge- 
fäße mächtiger  aus,  ihre  Wand  verstärkt  sich  und 
auf  diese  Weise  wird  das  von  seinem  ursprüng- 
lichen Hauptgefäße  abgetrennte  Organ  für  die 
Dauer  hinreichend  mit  Blut  versorgt  und  am 
Leben  erhalten.  Viele  chirurgische  Operationen, 
bei  denen  große  blutende  Gefäße  unterbunden 
werden  müssen,  werden  nur  dadurch  ermöglicht, 
daß  der  Körper  eine  genügende  Blutversorgung 
der  durch  die  Unterbindung  gefährdeten  Teile  auf 
dem  Wege  des  Collateralkreislaufes  vorzunehmen 
vermag. 

Ist  im  Körper  ein  Knochen  gebrochen,  so  tritt 
nicht  nur  an  der  Bruchstelle  eine  Verklebung  der 
Knochenstücke  ein,  sondern  durch  eine  weit- 
gehende Umwandlung  im  Knochenbau  kann  die 
Tragfähigkeit  des  Skeletteiles  selbst  dann  wieder- 
hergestellt werden,  wenn  die  Knochenenden  — 
z.  B.  des  Oberschenkels  —  nicht  in  gerader  Rich- 
tung, sondern  schief  miteinander  in  Verbindung 
getreten  sind. 

Gewisse  Veränderungen  an  den  Nieren  sowie 
solche  am  Herzen  beantwortet  das  Herz  mit  einer 
sog.  Hypertrophie,  mit  einer  Verstärkung  seiner 
Muskulatur  und  einer  dadurch  erhöhten  Herzkraft. 
Die  vermehrte  Herzkraft  vermag  die  durch  den 
Herzfehler  beeinträchtigte  Blutzirkulation  oder  die 
durch  die  Nierenkrankheit  erschwerte  Ausscheidung 
von  Harn  mehr  oder  weniger  auf  das  normale 
Maß  zurückzuführen.  Man  spricht  in  einem  solchen 
Falle  von  einer  „Arbeitshypertrophie". 

Ist  eine  der  beiden  Nieren  durch  eine  Er- 
krankung vollständig  außer  Funktion  geraten  oder 


')  Zitiert  nach  Nothnagel:  Die  Anpassung  des  Orga- 
nismus bei  pathologischen  Veränderungen.  Wiener  medizin. 
Presse.      1894. 


N.  F;  Xlir.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


»9 


mußte  sie  vom  Chirurgen  entfernt  werden,  wie 
dies  heutzutage  z.  B.  bei  einer  tuberkulösen  Er- 
krankung der  Niere  nicht  selten  geschieht,  so 
pflegt  die  andere,  gesunde  Niere  sich  zu  ver- 
größern und  so  stark  zu  funktionieren,  daß  der 
Ausfall  des  Schwesterorgans  vollkommen  gedeckt 
wird;  sie  tritt,  wie  man  sagt,  vikariierend  für  die 
andere  Niere  ein.  Das  gleiche  oder  ähnliches  gilt 
auch  für  viele  sonstigen  Organe,  so  für  die  Lunge 
und  für  Teile  der  Leber.  Selbst  der  Ausfall  der 
ganzen  Milz  wird  ertragen ,  dadurch  daß  —  wie 
wir  annehmen  müssen  —  die  für  das  Blutsystem 
wichtige  Funktion  der  Milz  von  anderen  Apparaten 
des  Körpers  übernommen  wird. 

Von  ganz  besonderem  Interesse  ist  die  Fähig- 
keit des  Organismus,  vieler  Infektionskrankheiten 
selbständig  Herr  zu  werden.  Wir  werden  auf 
diese  Erfahrung  noch  eii;mal  zurückkommen  und 
werden  sehen ,  daß  in  solchen  Fällen  gewisser- 
maßen ein  Kampf  im  Körper  des  Kranken  zwischen 
diesem  und  den  feindlichen  Krankheitserregern, 
den  Parasiten,  sich  abspielen  kann,  ein  Kampf,  in 
dem  zwar  nicht  immer,  aber  oft,  auch  ohne 
Medikamente  oder  ärztliche  Eingriffe  der  Kranke 
schließlich  den  Sieg  davonträgt. 

Diese  wenigen  Beispiele  mögen  zunächst  ge- 
nügen, um  die  Heilkraft  der  Natur  durch  leicht 
erkennbare  Tatsachen  zu  beweisen. 

Viel  schwieriger  ist  es,  eine  Erklärung  dafür 
zu  geben,  durch  welche  Mittel  die  Natur  die 
Heilung  bewirkt,  und  es  muß  ohne  weiteres  zu- 
gegeben werden,  daß  man  auf  diesem  Gebiete 
über  vieles  noch  im  ungewissen  ist.  Andererseits 
aber  haben  doch  die  Fortschritte  der  Medizin  und 
Biologie,  besonders  in  der  zweiten  Hälfte  des  19. 
und  im  20.  Jahrhundert,  manche  tiefe  Einsicht  in 
das  geheimnisvolle  Wirken  der  Natur  im  kranken 
Körper  gestattet. 

Wollen  wir  hier  wenigstens  einen  kurzen  Blick 
in  dieses  Geschehen  tun,  so  müssen  wir  uns  wohl 
in  erster  Linie  einem  Vorgange  zuwenden,  der 
für  die  Heilung  und  ihr  Verständnis  von  grund- 
legender Bedeutung  ist,    der   sog.  Regeneration.  ^) 

Unter  Regeneration  versteht  man  ,,die  Wieder- 
erzeugung verloren  gegangener  Körperteile"  (Bar- 
furth). ')  Man  unterscheidet  eine  physiologische 
Regeneration,  wie  sie  sich  „an  sog.  Verbrauchs- 
oder Wechselgeweben"  (Borst),-)  z.  B.  an  der 
Haut,  an  Haaren  und  Schleimhäuten  abspielt,  und 
eine  pathologische  oder  „traumatische"  (Bar- 
furt h)')  Regeneration,  die  zum  Ersatz  krank- 
hafter Defekte  führt.  Die  pathologische  Regene- 
ration ist  für  uns  hier  von  speziellem  Interesse; 
die  Grundvorgänge  aber  sind  bei  der  pathologi- 
schen   Regeneration    die    gleichen    wie    bei    der 


physiologischen  und  wie  überhaupt  beim  normalen 
Wachstum  (W.  Roux). ') 

Selbst  die  einfachsten  Organismen  hätten  ohne 
die  Fähigkeit  der  Regeneration  '^)  nicht  entstehen 
und  bestehen  können,  da  Verlagerungen  und  Ver- 
letzungen ihrer  Teile  während  des  Lebens  unver- 
meidlich sind  und  durch  selbsttätige  Mechanismen 
repariert  werden  müssen,  wofern  eine  Dauerfähig- 
keit der  Lebewesen    überhaupt    möglich  sein  soll. 

In  der  Tat  zeigt  sich,  daß  Regenerationsfähig- 
keit im  ganzen  Tierreich  von  den  niedrigsten 
Tieren  an  bis  hinauf  zu  den  höchsten  vorhanden 
ist  und  daß  die  Geschöpfe  diese  Fähigkeit  schon 
von  ihrer  Entwicklung  im  Ei  an  besitzen.  Ja 
man  darf,  mit  Bar f u rt  h,  ^)  wohl  behaupten,  daß 
,, Regeneration  und  Entwicklung  einem  gemein- 
samen Urquell,  der  Produktionsfähigkeit  der  Orga- 
nismen, entspringen"  und  daß  die  Regeneration 
„so  alt  und  ursprünglich  ist,  wie  die  Entwicklung". 

Als  eine  allgemeine  Regel  kann  es  gelten,  daß 
die  Fähigkeit  zur  Regeneration  in  der  Jugend 
größer  ist  als  im  Alter  und  daß,  in  Parallele 
hierzu,  niedriger  stehende  Tiere  leichter  regene- 
rieren als  höhere. 

Es  sei  gestattet,  diese  allgemeine  Regel  etwas 
näher  zu  erläutern: 

Jedes  höhere  tierische  Lebewesen  entwickelt  sich 
aus  einem  Ei.  Das  Ei  entspricht  einer  einzigen  Zelle, 
die  die  Fähigkeit  besitzt,  beim  Vorhandensein  ge- 
wisser notwendiger  Bedingungen  die  ganze  weitere 
Entwicklung  aus  sich  hervorgehen  zu  lassen.  Bei 
seinem  Entwicklungsgang  teilt  sich  die  Eizelle 
zunächst  in  2,  dann  in  4,  8  usw.  Zellen.  Man 
nennt  die  ersten  Teilungszellen  des  Eies  auch 
Furchungszellen  oder  Blastomeren. 

Wenn  nun  von  den  beiden  ersten  Furchungs- 
zellen des  Eies  die  eine  zerstört  wird  —  wie  dies 
bei  den  Eiern  gewisser  niederer  Tiere  experimentell 
geschehen  kann  —  so  sollte  man  erwarten,  daß 
dadurch  die  weitere  Entwicklung  entweder  ganz 
gehemmt  wird  oder  daß  vielleicht  nur  ein  halber 
Embryo  entstände,  da  ja  die  volle  Hälfte  seiner 
Anlage  im  Keime  vernichtet  wurde. 

In  der  Tat  gelingt  es,  bei  den  Eiern  mancher 
Tiere  auf  diese  Weise  halbe  oder  Viertelembryonen 
zu    erzielen    (W.    R  o  u  x).  *)      Es   gibt    aber    auch 


')  Siehe  hierzu  die  Arbeiten  von  D.  Barfurth  über 
Regeneration;  vgl.  speziell  Barfurth;  „Regeneration  und 
Transplantation  in  der  Medizin".  Samml.  anat.  u.  physiolog. 
Vorträge  und  Aufsätze,  herausgegeben  v.  Gaupp  u.  Nagel. 
10.  Heft.     Jena   1910. 

^)  Borst:  Das  pathologische  Wachstum.  In  Aschoff's 
Patholog.  Anatomie.     3.  Auflage.     Bd.   i.     Jena  1913. 


')  W.  Roux  sagt:  ,,Die  Grundlagen  bei  der  Postgene- 
ration,  der  Regeneration  und  der  normalen  Entwicklung  sind 
dieselben."    [Zitiert  nach   Barfurth)   1.  c.).] 

^)  ,,Selbstregulalion"  sagt  W.  Roux  (zitiert  nach  Bar- 
furth) in  allgemeinerem  Sinne.  —  ,, Gestaltende  Selbstregulation" 
eines  Lebewesens  ist  nach  W.  Roux  ,,die  Regulation  der 
gestörten  Organisation  desselben  durch  in  dem  Lebe- 
wesen selber  gelegene  , determinierende',  wenn  auch  zum 
Teil  erst  durch  die  Störung  selber  eingeführte  physische  und 
psychische  Faktoren."  (W.  Roux:  Terminologie  der  Ent- 
wicklungsmechanik der  Tiere  und  Pflanzen.    Leipzig   191 2.) 

ä)  D.  Barfurth;  1.  c. 

■*)  ,,Nach  Besiegung  von  allerhand  Schwierigkeiten  gelang 
es"  W.  Roux  ,,bei  einer  größeren  Anzahl  von  Eiern  eine 
der  beiden  ersten  Furchungszellen  ganz  und  für  längere  Zeit 
oder  dauernd  von  der  Entwicklung  auszuschalten.  Trotzdem 
entwickelte  sich  die  überlebende  andere  Eihälfte  weiter  — 
und    lieferte    deutlich    rechte    und    linke    halbe    Embryonen". 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


Tiere,  bei  deren  Eiern  aus  isolierten  Furchungs- 
zellen  keine  Teilbildungen  entstehen ,  sondern 
normale  ganze  Embryonen,  allerdings  von  ge- 
ringerer Größe.  *) 

Diese  merkwürdige  Erscheinung  hat  man  wohl 
mit  Recht  damit  zu  erklären  versucht,  daß  schon 
nach  Störungen,  wie  sie  hier  in  der  allerfrühesten 
Zeit  der  Entwicklung  stattgefunden  haben,  eine 
Regeneration  möglich  ist  und  zum  Ersatz  der 
ganzen  verloren  gegangenen  Hälfte  des  Materials, 
aus  dem  der  Embryo  physiologischerweise  hervor- 
geht, führen  kann.  -) 

Auch  weiterhin  ist  auf  den  frühen  Entwick- 
lungsstufen niederer  Tiere  die  Regenerationsfähig- 
keit sehr  groß. 

Wie  sehr  sie  aber  mit  zunehmendem  Alter 
allmählich  abnimmt,  zeigt  z.  B.  die  von  Bar- 
furth'')  festgestellte  Tatsache,  daß  junge  Frosch- 
larven die  abgeschnittene  Anlage  der  hinteren 
Extremität  vollständig  regenerieren  können, 
während  ältere  Larven  und  ausgebildete  Frösche 
dazu  nicht  mehr  imstande  sind. 

Von  anderen  in  das  Gebiet  der  Regeneration 
gehörigen  Beobachtungen  aus  dem  Tierreich  sei 
kurz  noch  folgendes  erwähnt: 

Krebstiere  regenerieren  Beine  und  Scheren, 
Spinnen  die  Extremitäten.  Insekten  können  im 
Larvenzustande  Fühler,  Augen,  Flügel  und  Glieder 
wieder  herstellen,  erwachsene  geschwänzte  Am- 
phibien und  Reptilien  den  Schwanz. 

Besonders  merkwürdig  ist  die  sog.  Autotomie 
oder  Selbstverstümmelung  bei  Krebstieren  und 
Insekten.  Die  Tiere  vermögen,  wenn  sie  ange- 
griffen werden,  an  einer  bestimmten  Stelle  das 
angegriffene  Glied  freiwillig  abzuwerfen,  sich  durch 
Preisgabe  dieses  Körperteiles  dem  Feinde  zu  ent- 
ziehen und  das  Verlorene  dann  wieder  zu  ersetzen. 

Viel  geringer  als  bei  den  bisher  genannten 
Tieren,  aber  doch  deutlich  vorhanden,  ist  die 
Regenerationsfähigkeit  der  Gewebe  bei  den  am 
höchsten  entwickelten  Geschöpfen,  den  Säuge- 
tieren und  dem  Menschen. 

Auf  Einzelheiten  kann  ich  hier  nicht  weiter 
eingehen,  sondern  nur  bemerken,  daß  man  bei  den 
Säugern,  außer  der  allgemein  bekannten  Regenera- 
tion von  Haaren,  Nägeln  und  Geweihen,  eine  solche 


s.  W.  Roux:  Die  Entwicklungsmechanik,  ein  neuer  Zweig 
der  biologischen  Wissenschaft.  In  Vorträge  und  Aufs,  über 
Entwicklungsmechanik;  herausgeg.  von  W.  Roux.  Heft  I. 
Leipzig   1905. 

')  Experimente  von  K.  Fiedler,  Driesch,  O.  Hert- 
w  i  g  u.  a. 

')  Die  Erklärung  des  oben  geschilderten  verschieden- 
artigen Verhaltens  der  Eier,  je  nachdem  aus  ihren  isolierten 
Furchungszellen  Teilbildungen  oder  ganze  Embrj'onen  hervor- 
gehen, erblickt  W.  Roux  darin,  „dalj  das  Ei  sowohl  einer 
gewöhnlichen,  typischen  Entwicklung  fähig  ist,  als  auch  einer 
atypischen  regenerativen,  die  nach  Störungen  und  Herstellung 
von  Defekten  am  Ei  eintritt"  (zitiert  nach  Bar  furth).  .Auf 
dem  Standpunkt  von  W.  Roux  steht  auch  Bar  furth. 

Eine  andere  Auffassung  vertritt,  worauf  hier  nur  kurz 
hingewiesen  werden  kann,  besonders  O.  H  e  r  t  w  i  g  (s.  O.  H  e  r  t  - 
wig;  Allgemeine  Biologie.     4.  Auflage.     Jena   1912). 

')  s.  Barfurth:  1.  c. 


z.  B.    an    der   Haut    und    an    Schleimhäuten,    am 
Knochen  und  an  der  Leber  findet. 

Regenerationsfähigkeit  ermöglicht  es  somit 
auch  dem  menschlichen  Körper,  einzelne  verloren 
gegangene  oder  schwer  geschädigte  Teile  neu  zu 
erzeugen,  und  die  Regenerationsfähigkeit  wird  da- 
mit vielfach  in  letzter  Linie  auch  beim  Menschen 
zur  Ursache  oder  Vorbedingung  einer  Heilung. 

Die  Fähigkeit  des  Organismus  zur  genauen 
Wiederherstellung  verloren  gegangener  Teile  wäre 
aber  doch  nicht  ausreichend,  unter  veränderten 
Verhältnissen,  wie  sie  durch  eine  Erkrankung  oder 
Verletzung  geschaffen  sein  können,  viele  gerade 
der  merkwürdigsten  Heilungen  und  Ausgleichs- 
erscheinungen im  Körper  zu  erklären.  Tatsächlich 
ist  aber  mit  der  Regeneration  aufs  engste  eine 
Anpassungsfähigkeit  des  Organismus  an  die  neuen 
Verhältnisse,  also  eine  Umwandlungsfähigkeit  des 
Organismus,  verknüpft. 

Diese  Anpassungsfähigkeit  muß  man  zweifellos 
als  eines  der  wunderbarsten  Phänomene  in  der 
ganzen  Welt  der  organischen  Erscheinungen  an- 
sehen; denn  ihr  Resultat  erweist  sich,  zwar  nicht 
immer,  aber  doch  in  der  Regel,  als  ein  für  das 
Individuum  äußerst  zweckmäßiges,  als  ein  seine 
„Dauerfähigkeit"  (W.  Roux)^)  erhöhendes  oder 
überhaupt  ermöglichendes. 

Wir  haben  im  vorhergehenden  schon  als  Bei- 
spiele aus  der  Krankheitslehre  die  Anpassungs- 
fähigkeit des  Herzens  an  bestimmte  Erkrankungen 
erwähnt,  die  es  dem  Herzen  erlaubt,  unter  Um- 
ständen mit  vermehrter  Kraft  zu  arbeiten  und  da- 
durch Hindernisse  oder  Schwierigkeiten  zu  über- 
winden, die  sich  der  Zirkulation  pathologischer- 
weise entgegenstellen.  Wir  haben  ferner  die  An- 
passung einer  Einzelniere  im  Körper  an  den  Ver- 
lust der  anderen  berührt  sowie  die  Anpassung  des 
Knochens  an  Verhältnisse,  die  sich  nach  Knochen- 
brüchen einstellen  können. 

Aehnlicher  Beobachtungen  heßen  sich  noch 
viele  anführen. 

Auf  die  Anpassungsfähigkeit  des  Knochens 
will  ich  etwas  näher  eingehen,  weil  bei  diesem 
Organ  die  Bedingungen  besonders  klar  und  ver- 
ständlich zu  liegen  scheinen: 

Schon  der  normale  Knochen  verdankt  seine 
Tragfähigkeit  bei  möglichst  geringem  Material- 
aufwand dem  Umstände,  daß  er  einen  vollendet 
zweckmäßigen  Bau  besitzt.  Seine  äußere  Form 
wie  seine  innere  Architektur,  der  Verlauf  der 
Bälkchen  im  Knochen,  entspricht  nämlich  in  der 
überraschendsten  Weise  der  Anordnung  von  Stützen, 
wie  sie  die  Baumeister  nach  mathematischen  Prin- 
zipien konstruieren,  um  ihre  Bauten  tragfähig  zu 
machen.  Ist  nun,  um  bei  dem  vorhin  gewählten 
Beispiel  zu  bleiben,  der  Oberschenkel  gebrochen 
gewesen  und  sind  dann  die  Knochenstücke  in 
schiefer  Richtung  wieder  miteinander  in  Ver- 
bindung getreten,  so  würde  selbstverständlich  die 
alte  Architektur  des  Knochens  nicht  in  die  neuen 


!■)  W.  Roux:  1.  c. 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Verhältnisse  passen;  denn  ebensowenig,  wie  man 
die  Träger  einer  Brücke  nach  Belieben  verbiegen 
kann,  ebensowenig  würde  der,  durch  eine  schiefe 
Aneinanderfügung  der  Bruchstücke  gewissermaßen 
verbogene,  Knochen  die  Last  des  Körpers  zu 
halten  imstande  sein,  wenn  nicht  die  Natur  in 
vollendeter  Weise,  mathematischen  Gesetzen  von 
Druck  und  Zug  entsprechend,  die  innere  Architektur 
und  äußere  Form  des  Knochens  weitgehend  umzu- 
bauen und  den  Bedürfnissen  der  Funktion  anzu- 
passen vermöchte  (Julius  Wolff)'). 

Diese  Erscheinungder  zweckmäßigen  Anpassung, 
die  man,  wie  gesagt,  auch  abgesehen  vom  Knochen, 
vielfach  findet,  ist  also  ein  weiteres  Mittel  der 
Heilung  durch  die  im  Organismus  vorhandenen 
Kräfte. 

Wie  sich  nun  aber  die  Anpassungsfähigkeit 
und  damit  der  zweckmäßige  Bau  der  Tiere  und 
Pflanzen  selbst  wieder  erklären  läßt,  ist  eine  Frage, 
die  uns  vor  eines  der  schwierigsten  Probleme  der 
Biologie  stellt. 

„Solange  Menschen  empfinden  und  solange  sie 
denken,"  sagt  der  verstorbene  bedeutende  Wiener 
Kliniker  Nothnagel'^)  in  einem  bemerkenswerten 
Vortrage,  „strebten  sie,  die  handgreifliche  Zweck- 
mäßigkeit in  der  Einrichtung  des  Organismus  auf 
letzte  Ursachen  zurückzuführen:  nach  vorbedachten 
Zielen  geschaffen,  teleologisch,  wurde  sie  von  den 
einen  aufgefaßt,  als  geworden,  rein  aus  mecha- 
nischen Gründen  heraus  entstanden,  von  den 
anderen,  als  deren  erster  bereits  im  Altertum  der 
tiefsinnige  Empedokles  gelten  kann." 

Es  würde  zu  weit  führen,  den  heutigen  Stand 
der  Frage  hier  eingehender  zu  erörtern.  Kurz 
bemerkt  sei  aber  folgendes: 

Das  große  Verdienst  Darwin 's*)  ist  es,  in 
seiner  Lehre  von  der  „Entstehung  der  Arten"  eine 
biologische  Erklärung  für  die  im  normalen  Bau 
und  in  den  normalen  Lebensgewohnheiten  der 
Tiere  und  Pflanzen  überall  zutage  tretende  Zweck- 
mäßigkeit gegeben  zu  haben.  Natürliche  Zucht- 
wahl im  Kampfe  ums  Dasein  führt  nämlich,  nach 
Darwin,  auf  dem  Boden  der  organischen  Bildungs- 
gesetze, immer  wieder  zur  Auslese  und  Erhaltung 
der  ihren  Lebensbedingungen  am  besten  ange- 
paßten Individuen  und  damit  zur  Erhaltung  ihrer 
Arten. 

Das  Zustandekommen  aber  der  hier  speziell 
in  Rede  stehenden  direkten  Anpassungen,  wie 
wir  sie  im  Organismus  des  einzelnen  Individuums 
—  sozusagen  unter  unseren  Augen  —  entstehen 
sehen,  wird  durch  Darwin 's  natürliche  Zuchtwahl 
nicht  ohne  weiteres  begreiflich.*) 


')  Julius  Wolff:  Das  Gesetz  der  Transformation  der 
Knochen.     Berlin,  Hirschwald,   1892. 

Siehe  auch  Julius  Wolff:  Über  die  Bedeutung  der 
Architektur  der  spongiösen  Substanz.  Zentralbl.  für  die 
medizinischen  Wissenschaften.      1869.     Nr.  54. 

^)  Nothnagel:  1.  c. 

')  Charles  Darwin:  Über  die  Entstehung  der  Arten 
an  Tier-  upd  Pflanzenreich  durch  natürliche  Züchtung.  Aus 
dem  Englischen  übersetzt  und  mit  Anmerkungen  versehen 
von  H.  G.  Bronn.     2.  Aufl.     Stuttgart   1863. 


Der  Begründer  der  neueren  Entwicklungs- 
mechanik, W.  Roux,  aber  hat  ein  Verständnis 
auch  dieser  Vorgänge  angebahnt.  W.  Roux*) 
nimmt  nämlich  —  ähnlich  wie  Darwin  es  ge- 
wissermaßen im  großen  getan  hat  —  so  auch  im 
kleinen  — ,  d.  h.  im  Organismus  selbst,  unter  den 
unzähligen  Zellen  des  Körpers,  —  einen  Kampf 
um  Raum  und  Nahrung  an.  In  diesem  sog. 
„Kampf  der  Teile  im  Organismus"  tragen  die 
arbeitenden,  d.  h.  die  funktionell  in  Anspruch  ge- 
nommenen und  daher  der  Funktion  dienlichen 
Zellen  den  Sieg  davon ;  diese  Zellen  erhalten  sich 
am  sichersten,  ernähren  sich  am  besten  und  voll- 
ziehen am  energischsten  die  Leistungen,  zu  denen 
sie  physiologischerweise  befähigt  sind.")  Beim 
Knochen  also,  dessen  Funktion  im  Ertragen  von 
Druck  und  Zug  besteht,  ist  es  das  mechanische 
Moment  der  Druck-  und  Zugwirkung  in  bestimmter 
Richtung,  das  direkt  die  Entwicklung  der  ent- 
sprechenden Struktur  herbeiführt,  indem  „die  Be- 
anspruchung" „an  den  Stellen  unzureichender 
Festigkeit,  also  stärkerer  Spannung  der  Knochen- 
substanz, Anbildung  von  Knochensubstanz  veran- 
laßt" (W.  Roux).') 

Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  darf  man  wohl 
annehmen,  daß  die  pathologischen  Anpassungen 
nur  dann,  aber  überall  da  entstehen,  wo  sie  nach 
physikalischen,  chemischen  und  biologischen  Ge- 
setzen sich  entwickeln  müssen  (Nothnagel).*) 
„Ob  und  welchen  Zweck"  aber  „die  Gesetze  selbst 
haben,"  sagt  Nothnagel,*)  „diese  Frage  stellt 
uns  wieder  vor  das  große  Daseinsrätsel  überhaupt, 
dessen  Lösung  auf  induktivem  Wege  auch  Riesen- 
geister nicht  anzustreben  versuchten,  dessen  Schleier 
die  deduktive  Spekulation  anrührt,  dessen  gefühlte 
Enthüllung,  aber  nicht  begriffenes  Verständnis  nur 
für  das  empfindende  Gemüt  erfolgt."  — 

Im  speziellen  möchte  ich  mit  einigen  Worten 


*)  Wie  Julius  Wolff  (1.  c.)  hervorhebt,  ist  ,,der  erste, 
welcher  —  im  Jahre  1876  —  auf  das  Vorhandensein  jener 
die  Frage  von  der  direkten  Selbstgestaltung  des  Zweckmäfiigen 
innerhalb  der  einzelnen  Organe  und  Gewebe  der  Lebewesen 
betreffenden  Lücke  der  Deszendenzlehre  hingewiesen  hat, 
du  Bois  Reymond  gewesen.  Indem  dieser  Autor  überdies 
die  Bedeutung  der  .Übung'  für  die  Selbstvervollkommnung 
der  höheren  Lebewesen,  unter  direkter  Bezugnahme  auf  die 
Entstehung  der  inneren  Architektur  der  Knochen  durch 
.nutritive  und  forraative  Reizung  in  den  Richtungen  des 
größten  Drucks  und  Zugs'  hervorhob,  hat  er  zugleich  richtig 
erkannt,  daß  die  Ausfüllung  jener  Lücke  durch  die  Dar- 
legung der  Abhängigkeit  der  Stoffwechselverhältnisse  von  der 
Funktion  geschehen  müsse." 

'>)  W.  Roux:  Der  Kampf  der  Teile  im  Organismus. 
Leipzig   1881. 

*)  Die  „trophisch  vermittelte  funktionelle  Anpassung"  be- 
ruht nach  W.  Roux  (Terminologie,  1.  c.)  darauf,  „daß  dem 
funktionellen  Reize,  resp.  der  Vollziehung  der  Funktion  eine 
trophische,  d.  h.  die  morphologische  Assimilation  des  Gewebes 
und  die  sonstige  gestaltliche  Leistung  des  Gewebes:  Wachs- 
tum, Bildung  von  Interzellularsubstanz,  ev.  Zellteilung  an- 
regende Wirkung  zukommt". 

';  W.  Roux:  1.  c.  (Die  Entwicklungsmechanik,  ein  neuer 
Zweig  usw.). 

*J  Nothnagel :  1.   c. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


nun  noch  auf  die  Heilkraft  der  Natur  bei  den 
Infektionskrankheiten  eingehen  :  ') 

Der  Körper  des  Menschen  und  der  Tiere  ist 
den  Angriffen  der  Bakterien  nicht  wehrlos  preis- 
gegeben; er  verfügt  vielmehr  diesen  Feinden 
gegenüber  über  eine  ganze  Reihe  von  Schutz- 
kräften. 

Zunächst  macht  eine  normale  Beschafifenheit 
des  Körpers  es  vielen  Bakterien  unmöglich,  über- 
haupt in  die  lebenden  Gewebe  einzudringen  und 
krankhafte  Veränderungen  in  ihnen  hervorzurufen. 
Einen  mächtigen  Schutzwall  bietet  z.  B.  die  un- 
verletzte äußere  Haut  dar.  Viele  Bakterien  anderer- 
seits, die  mit  der  Nahrung  in  den  Verdauungs- 
kanal aufgenommen  werden,  tötet  der  im  gesunden 
Magen  vorhandene  Salzsäuregehalt. 

Kommt  es  aber  zu  einem  wirklichen  Angrifif 
der  Bakterien  gegen  den  Körper  und  zwingen  die 
feindlichen  Bakterien  dem  Organismus  den  Kampf 
auf,  so  treten  im  Körper  hauptsächlich  zwei  große 
Gruppen  von  Abwehrvorrichtungen  in  Kraft: 

Einmal  beginnen  aus  dem  Blut  und  aus  den 
Geweben  bestimmte  Zellen,  die  mit  Wanderungs- 
fähigkeit begabt  sind,  auszuwandern.  Wie  Soldaten 
dringen  sie  gegen  den  Feind  vor,  stellen  sich  den 
Bakterien  entgegen  und  suchen  die  feindlichen 
Eindringlinge  abzutöten  und  aufzufressen.  Diese 
Zellen  hat  man  daher  „Freßzellen"  oder  „Phago- 
zyten" genannt. 

Man  nimmt  an,  daß  die  Fähigkeit  der  Freß- 
zellen, eine  bestimmte  Bakterienart  zu  vernichten, 
noch  gesteigert  wird,  wenn  sie  den  Kampf  gegen 
eine  solche  Art  einmal  glücklich  zu  Ende  geführt 
haben,  und  man  glaubt,  daß  auf  diese  Weise  die 
nach  einzelnen  Infektionskrankheiten  eintretende 
Widerstandskraft  oder  „Immunität"  gegen  eine 
neue  Ansteckung  mit  denselben  Krankheitserregern 
zu  erklären  sei. 

Die  zweite  Gruppe  der  Abwehrvorrichtungen 
ist  chemischer  Natur.  Sie  besteht  in  dem  Auf- 
treten bestimmter  chemischer  Stoffe  im  Blute,  die 
die  von  den  Bakterien  gelieferten  Gifte  oder  die 
Bakterien  selbst  unschädlich  machen.  Man  unter- 
scheidet eine  ganze  Reihe  solcher  Stoffe,  unter 
denen  die  —  die  Bakteriengifte  neutralisierenden 
—  sog.  ,, Antitoxine"  und  die  —  die  Bakterien 
vernichtenden  —  sog.  ,,Bakteriolysine"  besonders 
wichtig  sind. 

Durch  eine  Überproduktion  derartiger  Stoffe 
während  einer  Infektionskrankheit,  kann  auch  auf 
diesem  chemischen  Wege  Immunität  gegen  eine 
neue  Ansteckung  bewirkt  werden. 

Für  die  Bildung  der  Antitoxine  und  verwandter 
Stoffe  im  Blute  hat  Paul  Ehrlich  in  seiner  sog. 
„Seitenkettentheorie"  —  ausgehend  von  chemischen 
und  biologischen  Vorstellungen  —  eine  Erklärungs- 
möglichkeit gegeben.  Ehrl  ich 's  Theorie,  auf 
die  ich  hier  nicht  näher  eingehen  kann,  ist  zu  einer 
der   Grundlagen    geworden    für   den    Aufbau    des 


ganzen  stolzen  Gebäudes  der  heutigen  Immunitäts- 
lehre. — • 

Diese  nur  wenigen  Streiflichter,  die  ich  hier 
auf  die  Heilkräfte  der  Natur  werfen  konnte,  dürften 
einigermaßen  dartun,  wie  groß  die  Bedeutung  der 
natürlichen  Schutzmittel  ist  und  wie  hoch  ihr 
Wert  von  den  Ärzten  eingeschätzt  werden  muß 
und  eingeschätzt  wird.  — 

Wozu  brauchen  wir  aber  dann  überhaupt  noch 
eine  besondere  Heilkunst,  wozu  die  verwirrende 
Menge  der  Medikamente,  Apparate  und  Opera- 
tionen, das  ganze  gewaltige  Rüstzeug  der  heutigen 
Medizin?  Es  sind  doch  Medikamente  und  Opera- 
tionen gewiß  nicht  ganz  frei  von  Gefahren.  Täten 
wir  nicht  vielleicht  besser,  von  dem  Kranken  nur 
Störungen  seiner  Ruhe  fernzuhalten  und  im  übrigen 
dem  „natürlichen  Heilverlauf"  zu  vertrauen  ? 

Gewiß,  in  vielen  Fällen  ist  ein  solches  Ab- 
warten, wie  auch  schon  vorhin  gesagt,  die  beste 
und  die  einzig  richtige  Therapie. 

Die  soeben  aufgeworfenen  Fragen  aber  allge- 
mein und  kritiklos  bejahen,  das  hieße  die  Heil- 
kraft der  Natur,  ihr  Wesen  und  ihre  Grenzen, 
vollkommen  verkennen. 

Einige  wenige  Beispiele  mögen  dies  beleuchten: 

Wir  wissen  ganz  genau,  daß  Entzündungspro- 
zesse am  Wurmfortsatz  des  Blinddarms  zuweilen 
ohne  wesentlichen  Schaden  von  selbst  zur  Heilung 
gelangen,  indem  sich  haut-  oder  strangartige  Ver- 
wachsungen in  der  Umgebung  des  erkrankten 
Darmteiles  bilden.  Wir  wissen  aber  auch  anderer- 
seits, daß  oft  genug  der  entzündete  und  schwer 
veränderte  Darmteil  plötzlich  und  unerwartet  zer- 
reißt, daß  sein  Inhalt  sich  in  die  Bauchhöhle  er- 
gießt und  eine  das  Leben  äußerst  gefährdende 
Bauchfellentzündung  hervorruft.  Nur  die  recht- 
zeitig ausgeführte  Operation  bewahrt  den  Kranken 
vor  einer  solchen  Gefahr  der  Zerreißung  oder  des 
Durchbruches  und  rettet  dem  Patienten  somit  in 
vielen  Fällen  das  Leben. 

Auch  der  schief  geheilte  Knochen  vermag  die 
Last  des  Körpers,  wie  erörtert,  zu  tragen;  auch 
das  mit  einem  Klumpfuß  geborene  Kind  lernt 
laufen,  weil  die  Natur  die  innere  Architektur  des 
Knochens  auch  bei  fehlerhafter  Form  der  Funktion 
anpaßt  (J  u  1  i  u  s  W  o  1  f  f'j.  Aber  die  volle  Leistungs- 
fähigkeit des  normalen  Menschen  vermag  doch 
nur  das  geradegerichtete  Bein ,  nur  der  durch 
Orthopädische  Maßnahmen  aus  der  mißbildeten  in 
die  natürliche  Gestalt  übergeführte  Fuß  seinem 
Besitzer  zu  gewähren. 

Ein  Kind  erkrankt  an  Diphtherie.  Zahllose 
Kinder,  die  von  dieser  Krankheit  befallen  wurden, 
sind  allerdings  auch  vor  der  Zeit  der  heutigen 
Serumtherapie  wieder  genesen,  weil  ihre  natür- 
lichen Schutzkräfte  ausreichten,  das  Gift  der  Diph- 
theriebazillen   zu    überwinden.      Zahllose    Kinder 


')  Näheres    hierzu    siehe    u.  a.    bei    E.  Schwalbe;    AU- 
gemeine  Pathologie.     StuUgart   191 1. 


1)  Julius  Wolff:  1.   c. 

Siehe  auch  Julius  Wolff:  Über  die  Ursachen,  das 
Wesen  und  die  läehandlung  des  Klumpfußes.  — .  Nach  dem 
Tode  des  Verfassers  herausgegeben  von  Joachimsthal. 
Berlin  1903. 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


23 


k 


aber  sind  auch  der  Ansteckung  erlegen.  Wir 
müssen  daher  den  Männern  dankbar  sein,  die  ge- 
lehrt haben,  das  Gegengift  gegen  diese  Krankheit 
durch  Tierimpfungen  zu  gewinnen,  und  die  dadurch 
die  Möglichkeit  geboten  haben ,  den  Körper  in 
seinem  Kampfe  mit  den  Parasiten  wirksam  zu 
unterstützen. 

Den  unzweideutigsten  Beweis  aber  für  den 
Wert  der  Schutzmaßnahmen  bei  einer  Infektions- 
krankheit bietet  die  Geschichte  der  Pocken- 
erkrankung, um  deren  Bekämpfung  durch  die  von 
ihm  im  Jahre  1796  aufgefundene  Methode  der 
Kuhpockenimpfung  sich  Jenner')  unsterbliche 
-Verdienste  erworben   hat. 

Ein  letztes  Beispiel  für  die  Notwendigkeit  ärzt- 
licher Kunstliilfe,  das  ich  hier  anführen  möchte, 
bieten  die  bösartigen  Geschwülste,  die  im  Sprach- 
gebrauch des  gewöhnlichen  Lebens  als  „Krebs" 
bezeichnet  werden  : 

Man  kennt  bis  heute  keine  natürliche  Heil- 
kraft im  erörterten  Sinne,  die  es  dem  Körper  mit 
einiger  Zuverlässigkeit  ermöglicht,  solcher  Neu- 
bildungen Herr  zu  werden  und  zu  verhüten,  daß 
die  fortschreitende  Geschwulst  den  Organismus 
zerstört  und  ihm  Kraft  und  Nahrung  entzieht. 
Wohl  aber  vermag  dem  Erkrankten,  wenn  auch 
nicht  in  allen,  so  doch  glücklicherweise  in  zahl- 
reichen Fällen  der  rechtzeitig  ausgeführte  Eingriff 
des  Chirurgen  dauernde  Hilfe  zu  bringen. 

Worauf  also  kommt  es  bei  der  Wahl  zwischen 
einem  bloßen  Warten  auf  die  Wirkung  der  natür- 
lichen Heilkraft  und  der  Herbeiziehung  ander- 
weitiger Heilmittel,  allgemein  gesagt,  an? 

Erstens  bedarf  es  zu  dieser  Entscheidung  eines 
möglichst  genauen  Verständnisses  der  natürlichen 
Heilkräfte  und  ihrer  Grenzen.  Ein  solches  Ver- 
ständnis immer  mehr  zu  vertiefen,  bleibt  das 
dauernde  Ziel  der  medizinischen  Wissenschaft. 

Zweitens  bedarf  es,  als  Grundlage  alles  ärzt- 
lichen Überlegens,  der  eingehenden  Kenntnis  des 
anatomischen  Baues  des  menschlichen  Körpers 
und  seiner  Funktionen  im  gesunden  und  kranken 
Zustande.  Diese  Kenntnis,  die  Tausende  von 
F"orschern  im  Verlaufe  langer  Zeiträume  allmäh- 
lich angehäuft  und  übermittelt  haben,  kann  selbst- 
verständlich von  jedem  einzelnen  durch  neue 
eigene  Beobachtungen  vermehrt  werden;  sie  muß 
aber  und  kann  nur  —  das  möchte  ich  ganz  be- 
sonders betonen  —  in  ihren  Grundzügen  zunächst 
immer  durch  ein  eingehendes  systematisches 
Studium  erworben  werden. 

Drittens  ist  die  genaue  Beurteilung  des  Einzel- 
falles erforderlich,  die  Diagnose  —  zu  der  natür- 
lich nicht  nur  die  lateinische  oder  griechische 
Benennung  der  Krankheit  gehört,  sondern  die 
eingehende  Analyse  des  gesamten  Zustandes  des 
Kranken  und   aller   in  Betracht  kommenden  Ver- 


')  „Am  14.  Mai  1796  vollzog  Edward  Jenner  (1749 
bis  1823)  in  Berkeley  bei  London  den  berühmten  ersten  ent- 
scheidenden Impfversuch,  wodurch  die  Schutzkraft  der  Vakizi- 
nation  unwiderleglich  bewiesen  wurde."  (Zitiert  nach  Pagcl; 
Zeittafeln  zur  Geschichte  der  Medizin.     Berlin   1908.) 


hältnisse  —  und  die  Prognose,  die  Abschätzung 
der  Aussichten,  die  sich  bei  jedem  einzelnen  zur 
Wahl  stehenden  Wege  zur  Heilung  oder  Besserung 
des  Leidens  darbieten. 

Endlich  muß  die  persönliche  Erfahrung  häufig 
den  Ausschlag  geben  in  Fällen,  wo  eine  all- 
gemeine Regel  aufzustellen  heute  —  und  viel- 
leicht auch  in  Zukunft  —  unmöglich    ist. 

Medikamentös-chemische  und  physikalische, 
operative  und  psychische  Therapie,  sie  alle  haben 
ihre  besonderen  zahlreichen  Indikationen.  Miß- 
trauen aber  verdient  derjenige,  der  einseitig  ein 
einzelnes  Mittel  gegen  alle  möglichen  Krankheiten 
oder  ein  einzelnes  Verfahren  als  Allheilmittel  an- 
zupreisen versucht;  denn  so  mannigfaltig  wie  der 
Bau  und  die  Funktionen  des  Körpers  und  so 
mannigfaltig  wie  die  Krankheitsursachen  sind  auch 
die  Wege  zur  Heilung,  unter  denen  die  Wahl 
auch  für  den  Erfahrensten  schwer  sein  kann. 

Bei  dem  besonderen  Interesse,  das  gerade  die 
neuesten  Wege  der  Therapie  begreiflicherweise 
erregen,  seien  wenigstens  einige  kurze  Bemer- 
kungen zur  modernen  Chemotherapie  und  zur 
Behandlung  der  Geschwülste  mit  Röntgen-  und 
Radiumstrahlen  noch  im  speziellen  gestattet: 

Es  ist  anzuerkennen,  daß  eine  Reihe  von 
Arzneimitteln,  die  sich  am  Krankenbette  bewährt 
haben,  uralten  Erfahrungen,  zum  Teil  dem  Volks- 
gebrauch, zuweilen  sogar  den  Gebräuchen  wilder 
Volksstämme,  zu  verdanken  ist.  Erst  viel  später 
ist  es  dann  gelungen,  die  Wirkungsweise  dieser 
Arzneimittel  genauer  zu  verstehen,  und  erst  die 
neueste  Zeit  hat  gelehrt,  die  wirksamen  Bestand- 
teile der  angewendeten  Kräuter  und  Kräuter- 
extrakte in  chemisch  reiner  Form  darzustellen. 
Als  ein  klassisches  Beispiel  zeigt  einen  solchen 
Hergang  der  Dinge  die  Geschichte  eines  der  ge- 
bräuchlichsten und  vortrefflichsten  Arzneimittel, 
der  Digitalis.') 

In  einem  gewissen  Gegensatz  hierzu  steht  nun 
das  Vorgehen  der  modernen  Chemotherapie:  mit 
Hilfe  der  synthetischen  Chemie  und  unter  syste- 
matischer Benutzung  des  Tierexperiments  sucht 
die  Chemotherapie  in  zielbewußtem  Vorgehen 
chemische  Substanzen  von  spezifischer  Wirksam- 
keit aufzufinden.  Da  die  verschiedenen  Zellen 
des  Körpers  und  die  verschiedenen  krankheits- 
erregenden Parasiten  zu  den  chemischen  Stoffen, 
je  nach  deren  Konstitution,  eine  verschiedene 
Beziehung    —    „Avidität",    wie    man    es    genannt 

')  Vgl.  Kobert:  Über  die  wirksamen  Bestandteile  und 
die  Verordnungsweise  der  Digitalis.  —  Korrcspondenzblatt 
des  Mecklenburgischen  Ärztevereinsbundes  Nr.  333  vom 
25.  Juni  1912:  ,,Der  erste  Mensch,  der"  die  Digitalis  ,,zur 
Heilung  von  Wassersucht  in  einem  Gemisch  von  einigen 
zwanzig  Pflanzenarten  verwendete,  war  ein  altes  Weib  in 
Shropshire.  Sie  kurierte  damit  mehrere  von  Ärzten  auf- 
gegebene Wassersüchtige.  Das  Geheimnis  der  Zusammen- 
setzung dieses  Kräutergemisches  erbte  sich  in  ihrer  Familie 
fort.  Von  dieser  erhielt  der  Arzt  William  Withering 
J775  das  Rezept."  ,,Nach  zehnjährigem  eifrigem  Studium  über 
dieses  Geheimgemisch",  sagt  Kobert,  ,, veröffentlichte  Wi  t  h  e  - 
ring  die  herrlichste  Monographie,  welche  je  ein  Arzt  über 
ein  Mittel  des  Pflanzenreiches  geschrieben  hat," 


24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


hat,  —  haben,  so  kommt  es,  beispielsweise  bei 
einer  Infektionskrankheit,  darauf  an,  ein  Mittel 
aufzufinden,  das  die  Bakterien,  womöglich  mit 
einem  Schlage,  vernichtet,')  das  zu  den  Zellen  des 
Körpers  aber  keine  chemische  Verwandtschaft 
besitzt  und  den  Organismus  daher  unangegriffen 
und  ungeschädigt  läßt. 

Mit  dem  chemotherapeutischen  Vorgehen 
haben  die  Bemiahungen  zur  Heilung  bösartiger 
Geschwülste  mit  Röntgen-  und  Radiumstrahlen 
eine   gewisse  Ähnlichkeit : 

Man  hat  nämlich  festgestellt,  daß  unter  der 
für  lebendes  Gewebe  schädlichen  Einwirkung  der 
Röntgen-  und  Radiumstrahlen  nicht  alle  Bestand- 
teile des  Körpers  in  gleichem  Maße  leiden.-)  Es 
sind  vielmehr  besonders  die  jungen,  in  lebhafter 
Fortpflanzung  befindlichen  Zellen,  die  geschädigt 
werden.  Zu  diesen  gehören,  außer  den  Zellen 
einzelner  bestimmter  Organe  des  Körpers  —  z.  B. 
der  Keimdrüsen  —  auch  gerade  die  Zellen  der 
bösartigen  Geschwülste.  Die  Röntgen-  und  Ra- 
diumtherapie bei  bösartigen  Geschwülsten  geht 
daher  darauf  aus,  diese  Eigenschaft  der  Straiilen 
in  dem  Sinne  auszunutzen,  daß  unter  der  Wirkung 
der  Bestrahlung  die  Zellen  der  Geschwulst  zum 
Absterben  gebracht  werden  sollen,  während  die 
gesunden    Gewebe    möglichst    unversehrt    bleiben. 

Ob  und  inwieweit  sich  die  Hoffnungen  erfüllen 
werden,  die  man  an  die  Chemotherapie  und  an  die 
Radiumbehandlung  der  Geschwülste  in  der  neue- 
sten Zeit  geknüpft  hat,  muß  allerdings  erst  die 
Zukunft  entscheiden.  — 

In  den  Vordergrund  meiner  Ausführungen  habe 
ich,  meinem  Thema  gemäß,  die  naturwissenschaft- 
liche Betrachtungs-  und  Denkweise  in  der  Medizin 
gestellt;  es  war  meine  Absicht,  dabei  einiger- 
maßen zum  Ausdruck  zu  bringen,  wie  etwa  sich 
im  Kopfe  der  Arzte  heute  vom  naturwissenschaft- 
lichen Standpunkt  aus  die  Dinge  spiegeln. 

Ich  deutete  aber  schon  eingangs  an ,  daß  das 
naturwissenschaftliche  Verständnis  allein  allerdings 
den  Arzt  nicht  ausmacht.  Ganz  abgesehen  von 
der  notwendigen  Technik,  kommt  vielmehr  selbst- 
verständlich bei  der  Ausübung  der  Heilkunst  auch 
eine  Reihe  von  Gesichtspunkten  in  Betracht,  die 
hier  zu  erörtern  nicht  meine  Absicht  war,  auf 
die  ich  aber  wohl  als  auf  ,, ethische  und  soziale 
Gesichtspunkte"  wenigstens  hinweisen  darf. 

Alles  zusammen  ist  notwendig,  um  es  der 
Heilkunst  zu  ermöglichen ,  in  einer  der  ersten 
Reihen  mitzuarbeiten  an  der  großen,  immer- 
währenden Aufgabe,  an  der  Aufgabe,  dem  Vater- 
lande ein  Geschlecht  zu  erhalten  und  heranzu- 
ziehen, gesund  an  Körper  und  Geist  und  kräftig 
genug,    „die  Forderung  des  Tages"  ■'')   zu    erfüllen. 

Zum  Schlüsse  noch  einige  Worte: 


Es  wird  erzählt, ')  daß  beim  ersten  Aufstieg 
der  Brüder  Montgolfier  in  die  Lüfte  eine  geistreiche, 
82  jährige  Dame,  die  Marquise  Villeroy,  ausgerufen 
habe :  ,,Die  Menschen,  die  Menschen,  sie  werden 
noch  ein  Mittel  gegen  den  Tod  erfinden!" 

Ich  will  hier  nicht  erörtern,  ob  ein  solches 
Mittel  dem  Menschengeschlecht  oder  dem  ein- 
zelnen zu  wünschen  wäre.  Aber  wir  dürfen  uns 
vielleicht  fragen,  ob  nach  den  gewaltigen  F"ort- 
schritten  der  Wissenschaft  und  Technik,  im  Jahr- 
hundert des  lenkbaren  Luftschiffes  und  der  Röntgen- 
strahlen, man  dem  Ziel,  ein  solches  Mittel  zu 
finden,  etwa  näher  gekommen  ist. 

Es  mag  sein,  daß  bemerkenswerte  Ver- 
suche, die  in  der  jüngsten  Zeit  mit  der  Über- 
pflanzung von  ganzen  Organen  von  einem  Indi- 
viduum auf  das  andere  zum  Ersatz  verloren- 
gegangener Teile  vorgenommen  wurden ,  die 
Phantasie  in  abenteuerliche  Fernen  führen  könnten. 

Ich  glaube  aber  doch,  daß  zu  dem  Problem 
einer  Lebensverlängerung  kurz  folgendes  zu  be- 
merken wäre:  -) 

Entwicklung  und  Wachstum  sind  an  einen 
vorgeschriebenen  Weg  gebunden,  dessen  Richtung 
und  Grenzen  in  der  Keimanlage  gegeben  und 
durch  die  im  Keime  enthaltene  Lebensenergie  — 
die  „bioplastische  Energie"  (C.  Weigert),-)  wie 
man  sie  genannt  hat,  —  bestimmt  sind. 

Die  bioplastische  Energie  reicht  nun  zwar 
nicht  nur  aus,  um  das  Wachstum  zur  Vollendung 
zu  führen,  sondern  auch  nach  Beendigung  des 
Wachstums  sind,  wie  aus  dem  vorhin  Erörterten 
hervorging,  die  bioplastischen  Kräfte  in  der  Lage, 
geschädigte  Gewebe  durch  Regeneration  wieder 
auf  den  alten  Zustand  zurückzuführen.  „Aber  all- 
mählich nimmt  die  Fähigkeit  zur  vollkommenen 
Reparation  deutlich  ab.  Die  Gewebe  werden  nur 
unvollkommen  restituiert,  endlich  versagt  eines 
oder  das  andere,  was  zum  Leben  absolut  notwen- 
dig ist,  seinen  Dienst,  und  dann  tritt  das  ein,  was 
unser  aller  Schicksal  ist,  der  Tod." ') 

Eine  Steigerung  der  bioplastischen  Energie 
aber,  wie  sie  bei  einer  künstlichen  Verlängerung 
der  physiologischen  Lebensdauer  notwendig  wäre, 
käme  auf  eine  Art  „Urzeugung"  hinaus.  So  wenig 
indessen,  wie  wir  bisher  eine  Urzeugung  beob- 
achtet haben  und  so  wenig  wahrscheinlich  es  ist, 
daß  wir  jemals  Leben  allein  aus  Leblosem  hervor- 


•)  „Therapia  magna  sterilisans"  (Paul  Ehrlich). 

-)  Siehe  liierzu  Genaueres  bei  A  skanazy:  Auflere  Krank- 
heitsbedingungen.—  InAschoff's:  Pathologische  Anatomie. 
3.  Auflage.      I.  Band.  —  Jena   1913.  « 

^)  „Was  aber  ist  deine  Pflicht?  Die  Forderung  des 
Tages".     (Goethe;  In  „Sprüche  in  Prosa".) 


')  Zitiert  aus:  Riebesell,;  Der]_Kampf  gegen  den  Tod. 
Naturw.  Wochenschr.   191 3,  Nr.  28. 

']  Die  obigen  Ausführungen  über  die  „bioplastische 
Energie"  schließen  sich  an  die  Theorien  des  verstorbenen 
Pathologen  Carl  Weigert  an.  Siehe  C.  Weigert:  Gesam- 
melte  .Abhandlungen.     Herausgeg.  von   Rieder,  Berlin   1906. 

■'')  Zitiert  nach  C.  Weigert:  Neue  Fragestellungen  in  der 
pathologischen  Anatomie,  1896.  In  Weigert's  gesammelte 
Abhandlungen,  Berlin    1906. 

Hinsichtlich  der  ,, Unsterblichkeit  der  : Einzelligen"  und 
der  ,, Unsterblichkeit  des  Keimplasmas"  siehe  .A.  We  ismann: 
1.  c.  und  C.  Weigert  (1.  c).  —  „Nur  der  Körper  ist  sterb- 
lich im  Sinne  eines  normalen  Todes,  die  Keimzellen  besitzen 
die  potentielle  Unsterblichkeit  der  Einzelligen,  und  sie  müssen 
sie  ebensogut  wie  jene  besitzen,  wenn  nicht  die  Art  aufhören 
soll  zu  existieren"  (A.  Weismann,  1.  c). 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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rufen  und  auch  nur  eine  einzige  lebende  Zelle 
aus  anorganischer  Materie,  etwa  im  Reagenzglas, 
entstehen  lassen  können,  so  wenig  ist  zu  hoffen 
oder  zu  erwarten,  daß  wir  die  bioplastische  Energie 
der  Körperzellen  zu  vermehren  vermögen;  denn 
jedem  Geschöpf  hat  die  Natur  Maß  und  Grenzen 
gesetzt,  die  in  seiner  ureigensten  Individualität  von 
seiner  Entstehung  an  begründet  sind.  — 

In  diesem  Sinne  werden  von  uns  erfaßt  und 
ergreifen  uns  die  Worte,  die  Goethe  ')  in  seinem 
wunderbaren,  „Urworte"  benannten  Gedichte  ge- 
prägt hat: 


„Wie  an  dem  Tag,  der  dich  der  Welt  verliehen, 
„Die  Sonne  stand  zum  Gruße  der  Planeten, 
„Bist  alsobald  und  fort  und  fort  gediehen 
„Nach  dem  Gesetz,  wonach  du  angetreten. 


')  Goethe  hat  die  „Urworte"  selbst  in  Prosa  erläutert. 
Die  oben  wiedergegebenen  Worte  stammen  aus  der  mit  der 
besonderen  Überschrift  „JaUnov,  Dämon"  bezeichneten  Strophe 
des  Gedichtes.  Goethe  bemerkt  dazu  (in  „Ethisches"): 
„Der  Dämon  bedeutet  hier  die  notwendige,  bei  der  Geburt 
unmittelbar  ausgesprochene,  begrenzte  Individualität  der  Person, 
das  Charakteristische,  wodurch  sich  der  Einzelne  von  jedem 
anderen,  bei  noch  so  großer  Ähnlichkeit,  unterscheidet." 


Die  Chinesen  und  der  Schmetterling. 


[Nachdruck  verboten.] 

Der  Chinese  steht  den  belebten  und  leblosen 
Naturgebilden  mit  der  Frage  gegenüber:  „Wie 
läßt  sich  das  nutzbringend  verwenden?"  Daß 
diese  Fragestellung  nicht  durch  das  Fehlen  ästhe- 
tischer Empfindung  bewirkt  wird,  beweist  die 
Vorliebe  für  Singvögel,  Zierfische,  Blumen;  viel- 
mehr züchtet  der  im  übervölkerten  China  besonders 
harte  Kampf  ums  Dasein  Härte  und  realen  Sinn. 
Sehr  in  die  Augen  fallend  ist  die  Gleichgültigkeit 
dem  Heer  der  Insekten  und  da  wiederum  den 
vielen  großen,  buntgeflügelten  Schmetterlingen 
gegenüber.  Von  den  mir  aus  Südchina  bekannten 
22  Papilioniden  hat  keiner  einen  chinesischen 
Namen,  auch  die  häufigen  Delias  nicht,  trotz  ihrer 
auffallenden  Farbenkontraste,  ebensowenig  die  wie 
große  grünglitzernde  Edelsteine  hin-  und  her- 
schießenden Eriboea,  die  papierähnliche  Cyrestis, 
die  geisterhafte  Stichaphtalma,  die  im  November- 
Dezember  zuweilen  in  Scharen  am  Wegrand 
saugenden  großen,  blauschillernden  Euploeen; 
selbst  die  sehr  stattlichen,  auffallenden  Saturniden, 
wie  Attacus  Atlas  und  Cynthia,  Actias  Selene, 
Loepa  catinka  sind  unbenannt.  Man  kann  zu- 
weilen Kinder  sehen,  die  einem  großen  Atlas 
einen  Faden  um  den  Leib  gebunden  haben  und 
ihn  wie  einen  „Drachen"  fliegen  lassen;  aber  einen 
Eigennamen  hat  er  trotzdem  nicht,  er  ist  eben 
eine  „T'ang-ngo"  =^  „Lampenmatte",  wie  jeder 
andere  Nachtschmetterling.  Alle  Tagfalter  führen 
den  gemeinsamen  Namen  Wu-tip. 

I.  Nutzschmetterlinge. 
Wenn  es  Vorteile  bringt,  kann  der  praktische 
Chinese  ein  guter  Beobachter  sein;  das  zeigen 
seine  Aussagen  und  Kenntnisse  über  Nutzschmetter- 
linge. Mir  sind  sechs  Arten  solcher  bekannt  ge- 
worden. An  erster  Stelle  steht  natürlich  Bombyx 
mori  L.;  an  zweiter  Stelle  folgt  Antherea  Pernyi 
Guer.,  dann  Saturnia  Pyretorum  Westw.  Weniger 
wichtig  und  nur  gelegentlich  gesammelt  werden 
ein  Aristolochienfalter  (Papilio  mencius  Fldr.), 
Tiere  der  beiden  Genera  Euploea  und  Danais, 
der  Bohnenschwärmer  (Clanis  bilineata  Wlkr.). 
Es  ist  recht  wahrscheinlich,  daß  es  mehr  von  den 
Chinesen  als  Nutztiere  gesammelte  Schmetterlinge 


Von  R.  Meli,  Canton. 

gibt.  Aber  China  ist  groß,  und  die  Zahl  der 
Ausländer  dort,  die  für  naturwissenschaftliche 
Fragen  Interesse  haben,  ist  klein.  Dann  sind  die 
Chinesen  sehr  verschwiegen  und  mißtrauisch,  und 
man  geht  in  den  allermeisten  Fällen  an  der  Sphinx 
vorbei,  ohne  etwas  zu  sehen  und  zu  hören.  So- 
dann ist  mir  in  China  sehr  aufgefallen,  wie  lokali- 
siert die  verschiedenen  Erwerbsarten  und  Nutz- 
objekte sind.  Es  wird  deshalb  in  wenig  besuchten 
Gebieten  noch  manches  zu  entdecken  geben. 


Der    Seidenspinner   (Bombyx  mori  L.). 

Das  Seidengebiet  von  Kuangtung  ist  das  Delta- 
gebiet des  Perlflusses;  es  wird  umzogen  durch 
eine  Linie,  die  Hongkong-Makao-Samsöi  i)-Canton 
verbindet.  Das  Zentrum  davon  ist  wieder  der 
Schun-tak- Kreis,  etwa  3  Stunden  südlich  der 
bedeutenden  Handelsstadt  Fat-shan.  Hier  sind 
weite  Gebiete  mit  Maulbeerbüschen  bepflanzt. 
Diese  Pflanzungen  erinnern  an  solche  unserer 
Korbweiden.  Ein  dicker,  kurzer  Stamm  ragt 
kaum  bis  an  die  Erdoberfläche  und  treibt  über- 
meterlange bis  mannshohe  Schößlinge.  Deren 
Blätter  werden  als  Futter  gepflückt.  Im  Dezember 
werden  die  Triebe  über  dem  Erdboden  abge- 
schnitten und  als  Feuerholz  verbrannt.  In  jeder 
Morus-Plantage  ist  ein  nicht  kleiner,  rechteckiger 
Teich  mit  schrägen  Ufern.  Auf  einem  kleinen 
Kahne  fährt  der  Seidenbauer  darauf  herum  und 
schöpft  den  fetten  Schlamm  des  an  sich  schon 
recht  fetten  Alluvialbodens  und  wirft  ihn  auf  die 
ihrer  Schößlinge  beraubten  Stöcke,  die  nach  solcher 
Düngung  schnell  wieder  ausschlagen.  Das  ge- 
schieht gegen  Ende  Februar. 

-)F"ür  Zuchtzwecke  sucht  man  zuerst  eine  An- 
zahl männlicher  und  weiblicher  Kokons  aus.  Die 
weiblichen  sind  groß,  dick,  rund  und  weich;  die 
männlichen  sind  an  beiden  Enden  mehr  verjüngt. 


')  Da,  wo  der  Nordfluß,  Pak-kong,  den  West-  oder  Perl- 
fluß trifft. 

2)  Ich  habe  mich  im  folgenden  möglichst  an  die  Schilde- 
rungen gehalten,  wie  sie  die  Züchter  geben,  und  Kommentare 
vermieden;  denn  es  kam  mir  bei  der  Niederschrift  dieses 
Aufsatzes  darauf  an,  zu  zeigen,  wie  sich  die  Chinesen  dem 
Insekt  gegenüber  stellen. 


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Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


auch  kleiner,  härter  oder  straffer  als  die  weiblichen. 
Nach  durchschnittlich  15 — 20  Tagen  schlüpft  die 
Imago  und  gibt  dabei  eine  Flüssigkeit  von  sich. 
Tiere  mit  entwickelten  Flügeln  sind  zur  Nachzucht 
verwendbar,  solche  mit  verkrüppelten  Flügeln, 
roten,  trockenen  Leibern  und  ohne  Haare  sind  un- 
brauchbar und  werden  getötet.  Es  gilt  als  strenge 
Regel :  Kopulation  lasse  man  nur  von  Tieren 
desselben  Schlüpftages  zu.  (Dieser  Satz  wird  an- 
geblich von  den  Seidenzüchtern  aller  Distrikte 
genau  beachtet.)  Ist  die  Kopula  gelöst,  so  bringt 
man  die  $$  auf  Lagen  rauhen  Papieres. ')  Dort 
legen  sie  in  74  Stunden  etwa  500  Eier  und 
sterben  nach  der  Ablage.  Die  weißlichen  oder  blaß- 
grauen Eier  werden  am  18.  Tage  sorgfältig  ge- 
waschen, d.  h.  die  mit  den  Eiern  besetzten  Papier- 
blätter werden  durch  warmes  oder  laues  Wasser 
gezogen,  das  in  hölzernen  oder  irdenen  Kübeln  be- 
reit gestellt  ist. 

Im  Herbste  werden  die  Eier  sehr  sorgsam  in 
kühlen  Zimmern  gehalten.  Darin  sind  wagerechte 
Bambusstäbe  befestigt,  an  ihnen  werden  die  Papier- 
lagen aufgehängt  und  zwar  Rücken  an  Rücken. 
Im  zehnten  chinesischen  Monat  (also  etwa  Mitte 
Dezember  europäischer  Zeitrechnung)  werden  die 
Papiere  zusammengerollt  und  in  einen  Raum  ge- 
bracht, der  frei  ist  von  allen  unangenehmen 
Düften  und  Einflüssen.  Am  3.  XII.  (etwa  Mitte 
Januar  europäischer  Zeit)  werden  die  Eier  in  der 
eben  erwähnten  Weise  gewaschen  und  in  der 
Sonne  getrocknet.  Dieses  Waschen  gilt  als  wichtig, 
damit  die  Eier  frühzeitig  im  Jahre  und  ferner 
am  selben  Tage  schlüpfen.  Verschiedene  Schlüpf- 
zeiten bringen  dem  Züchter  Verluste.  -) 

Die  nächsten  Arbeiten  im  Hause  erfolgen  etwa 
Ende  Februar.  Man  wählt  einen  hellen,  sonnigen 
Tag  und  fegt  dann  den  Zuchtraum  gut  und 
wärmt  ihn.  Darauf  werden  die  Papiere  mit  den 
Eiern  auf  Müllen  und  diese  Müllen  wieder  auf 
Bambusgestelle,  die  an  den  Wänden  dieses  Zucht- 
raumes stehen,  gebracht.  An  dunkeln,  feuchten 
Tagen  darf  man  diese  Arbeiten  nicht  vornehmen, 
sonst  würden  die  später  erzielten  Kokons  schad- 
haft. Die  Seide  von  ihnen  würde  grob  und  ge- 
brochen und  im  Aussehen  glanzlos  und  matt. 
Die  Müllen  und  Gestelle  müssen  aus  Bambus  sein, 
weil  Bambus  nicht  riecht,  Holz  aber  leicht  einen 
unangenehmen  Duft  hat  oder  annimmt. 

Das  Futter  für  die  geschlüpften  Räupchen 
wird  in  sehr  kleine  Stücke  geschnitten  und  zwar 
um  Quetschen  und  Pressen  zu  vermeiden  mit 
scharfen  Messern.  Nasse  Blätter  darf  man  nicht 
füttern,  sie  erzeugen  Krankheiten  wie  Durchfall, 
deshalb  müssen  in  der  Regenzeit  nasse  Blätter 
erst  getrocknet  werden.  Aber  die  Blätter  müssen 
auch  ganz  frisch  sein ;  denn  welke  Blätter  ver- 
stopfen. 

Die     eben      geschlüpften     Räupchen     werden 

')  In  den  MiUelprovinzen  Chinas  nimmt  man  Tuchstücke. 

-)  Indirekt  durch  vermehrte  Arbeit,  direkt:  indem  manche 
sterben ,  weil  ihnen  infolge  der  vermehrten  Arbeit  nicht  die 
sorgsame  Pflege  zugewandt  werden  kann,  die  für  junge  Raupen 
nötig  ist. 


48  mal  im  Laufe  eines  Tages  gefüttert,  nach  einiger 
Zeit  noch  30 mal;  mit  dem  Wachstum  der  Raupen 
wird  die  Zahl  der  täglichen  Fütterungen  vermindert, 
die  erwachsenen  Tiere  erhalten  nur  noch  drei 
bis  viermal  täglich  frisches  Futter.  Einmal  oder 
zweimal  im  Laufe  ihrer  Entwicklung  erhalten  die 
Raupen  ein  besonderes  Futter:  die  Maulbeer- 
blätter werden  mit  Mehl  von  grünen  Erbsen, 
schwarzen  Bohnen  und  Reis  gemischt,  dieses 
Futter  kühlt  die  Raupen,  hält  alle  schädlichen 
Einwirkungen  fern  und  erzeugt  eine  gute  Seide, 
stark  im  Faden  und  glänzend  im  Aussehen. 

Die  Raupe  fällt  mehrmals  in  ihrem  Leben  in 
Schlaf.  ')  Der  erste  Schlaf  dauert  länger  als 
24  Stunden,  er  findet  am  4.  bis  5.  Lebenstage 
statt  und  heißt  „Ngo- -mien  ■^"  =  „Mottenschlaf". 
Am  8.  bis  9.  Lebenstage  erfolgt  der  „Ih-mien" 
(„der  zweite  Schlaf"),  am  14.  bis  15.  Lebens- 
tage der  „Saam  1  -mien  ^ "  („der  dritte  Schlaf"), 
am  21.  bis  22.  Tage  findet  der  letzte,  ,,der  große 
Schlaf"  =  ,,Tai  1  -mien  :'  "  statt.  Auch  daß  die 
Raupe  sich  häutet  ('toi  1  -p'e  '  )  ist  dem  Züchter 
bekannt,  und  daß  er  ein  guter  Beobachter  sein 
kann ,  beweist  folgende  chinesische  Schilderung 
der  Häutung:  ,, Am  Kopfe  bricht  die  Haut  zuerst, 
dann  beginnt  die  Raupe  sich  zu  winden  wie  eine 
Schlange  und  tut  das  so  lange,  bis  sie  sich  von 
der  alten  Haut  befreit  hat.  Zuweilen  kann  sich 
das  Tier  aber  nicht  ganz  befreien,  am  Leibesende 
hängt  die  trockene  Haut  fest  und  die  Raupe  stirbt. 
Nach  der  Häutung  ist  der  Appetit  größer,  am 
größten  ist  er  die  vier  oder  fünf  Tage  nach  dem 
großen  Schlafe."  Nach  32  Tagen  sind  die  Raupen 
erwachsen. 

Anfangs  befinden  sich  eine  Menge  der  eben 
geschlüpften  Räupchen  in  einer  Bambusmulle; 
mit  dem  fortschreitenden  Wachstum  werden  sie 
in  immer  kleinere  Häufchen  geteilt  und  jedes 
Häufchen  in  einer  besonderen  Mulle  untergebracht. 
Wollen  die  Tiere  sich  verpuppen,  so  werden  Gitter- 
werke aus  Bambusgeflecht,  an  dem  noch  Bambus- 
schlingen hängen,  auf  die  Müllen  gelegt.  Die  Raupen, 
die  gelblich  werden,  kriechen  in  die  Gitter  oder 
Schlingen  und  fangen  an  zu  spinnen.  ,,Sie  bewegen 
den  Kopf  von  einer  Seite  zur  andern  bis  sie  sich 
eingewickelt  haben,  das  dauert  etwa  3 — 5  Tage.  Dann 
liegt  die  Raupe  wieder  einige  Tage  in  Schlafsucht, 
hierauf  wird  sie  zur  Puppe.  Die  Flechtwerke  mit 
den  Kokons  werden,  um  die  Puppen  zu  töten, 
an  Holzkohlenfeuer  gebracht.  Darauf  werden  die 
Kokons  vom  Geflecht  gelöst  und  in  Körbe  ge- 
gelegt. Frauen  und  Kinder  nehmen  rasch  diese 
Körbe  und  werfen  die  Kokons  in  Gefäße  mit 
kochendem  Wasser.  In  der  Auswahl  der  Leute 
für  diese  und  die  folgenden  Arbeiten  ist  man 
recht  kritisch,  es  ist  eine  geschickte  Hand  und 
Erfahrung  nötig,  damit  ein  gleichmäßiger,  ganz 
glatter,  glänzender  und  reiner  Faden  gewonnen 
wird.     Sind    die  Kokons   genügend   geweicht,    so 


')  Mit  „Schlaf"  bezeichnen  die  Chinesen  das  Stadium 
vor  der  Häutung,  wenn  die  Raupe  mit  vorgerecktem  Kopfe 
bewegungslos  sitzt,  also  die  „Verhäutungsruhe". 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


Nalurwissenschaftliche  Wochenschrift. 


wird  zuerst  die  „Seidenrinde"  (äußere  Schicht)  ab- 
gebunden. Dann  kommen  andere  Frauen,  eben- 
falls geschäftserfahrene  und  geschickte  Spezialisten, 
und  winden  das  „Seidenfleisch"  (die  innere  Hülle) 
ab.  Lange,  weiße,  glänzende  Kokons  geben 
einen  feinen  und  guten  Faden,  große,  mattge- 
färbte und  nicht  feste  geben  einen  groben  Faden. 
Von  offensichtlich  schlechten  und  minderwertigen 
Kokons  wird  ein  sehr  grober  Faden  gewonnen, 
der  nur  Seidenfutter  gibt.  Eine  gewöhnliche, 
gute  Arbeiterin  haspelt  in  einem  Tage  etwa 
4  Gewichtstaeis  ab,  die  geschicktesten  können  in 
derselben  Zeit  höchstens  5 — 6  Taels  liefern.  Mit 
der  Arbeit  vertraute  Familien  können  die  Ernte 
in  18 — 19  Tagen  vollenden,  gewöhnliche  Arbeiter 
brauchen  etwa  24  Tage  dazu. 

In  den  Seidedistrikten  von  Kuangtung  sollen 
sieben  Ernten  im  Jahre  erzielt  werden.  Ich  halte 
das  für  ausgeschlossen  und  glaube,  daß  fünf 
Ernten  jährlich  das  höchste  ist,  was  erzeugt  werden 
kann.')  Die  erste  Ernte  beginnt  im  April.  Bei 
der  zweiten  und  dritten  Ernte  sollen  die  Kokons 
meist  grün,  bei  den  späteren  zum  großen  Teile 
silberig  sein.  Die  letzte  Ernte  erfolgt  im  November", 
sie  heißt  auch  „kleine  Ernte",  oder  „Kaltwetter- 
ernte". 

Die  getöteten  und  gebrühten  Puppen  werden 
in  Öl  gebraten  oder  gebacken  und  gegessen.  Sie 
sollen  gebackenem  Schweinshirn  ähnlich  und  also 
nicht  schlecht  schmecken ;  im  Norden  Chinas 
sollen  sie  auch  eingesalzen  aufbewahrt  werden.-) 
Aus  Schantung  wird  berichtet,  daß  sogar  der  Kot 
der  Raupen  nutzbringend  und  heilsam  verwendet 
wird.  Man  füllt  ihn  getrocknet  in  Kissen  und  legt 
diese  unter  den  Kopf;  sie  wirken  angeblich  nerven- 
beruhigend und  vertreiben  den  Kopfschmerz. 

Zwei  Krankheiten  der  Raupe  können  auftreten, 
sie  sind  allen  Züchtern  bekannt.  „Fung-tsun"  = 
„die  vom  Wind  kommende",  so  heißt  die  eine; 
nur  selten  erholen  sich  die  Raupen  von  ihr  und 
geben  dann  eine  ganz  schlechte  Seide.    Die  andere 

')  Es  ist  für  Zuchtzwecke  die  Zeit  vom  10.  März  bis 
20.  November  in  Betracht  zu  ziehen;  das  sind  255  Tage.  Es 
sind  anzusetzen : 

I.  Zucht  (März — April) 

Eistadium  18  Tage 

Raupenstadium   32     ,, 

_  ,  (Kopula  selben  Abend, 

Puppenruhe  15     „       gj^blage  nächsten  Abend) 

Eiablage  I  Tag 

60  Tage 
3  Somraerzuchten 

Eistadium  6  Tage 

Raupendauer       26     ,, 

Puppenruhe  1 1      ,, 

Eiablage  I   Tag 

44  Tage  X  3  =   '32  Tage 
I   Herbstzucht  (Oktober — November) 
Eistadium  8  Tage 

Raupendauer       28     ,, 
Puppenruhe  13     „ 

Eiablage  I   Tag 

50  Tage 
66  -f-   132  -[-  50  =   248    Tage,    255    Tage    stehen    zur 
Verfügung. 

')  In  Tsingtau  geschieht  das  auch  von  selten  der  Chinesen 
mit  Dendrolimus-Puppen. 


heißt  „Tsak-fung"  =  „Diebeswind".  Auch  sie 
wird  durch  schlechte  Winde  erzeugt  und  ist 
immer  tödlich.  Die  Raupen  werden  rot,  steif,  un- 
fähig zu  kriechen  und  sterben.  Um  die  schäd- 
lichen Winde  abzuhalten,  muß  man  deshalb  die 
Türen  zum  Zuchtraume  immer  geschlossen  halten. 
Auch  gegen  Fliegen  und  sonstige  Schmarotzer 
muß  man  das  tun.  DieF^liegen  legen  ihre  Eier  auf  die 
Raupen  und  saugen  auch  das  Blut  der  Tiere. ')  —  Die 
Zucht  der  Seidenraupen  erfordert  viel  Sorgfalt  und 
Aufmerksamkeit.  Am  besten  gedeiht  sie,  wenn  der 
Himmel  klar  und  die  Luft  rein  ist.  Weiter  muß 
das  Streben  des  Züchters  darauf  gerichtet  sein, 
eine  gleichmäßige  Temperatur  im  Zuchtraume 
herzustellen.  Deshalb  schließt  man  zunächst 
immer  die  Türen  und  Fenster  des  Zuchtraums. 
Sodann  betritt  der  Wärter  von  Zeit  zu  Zeit  prü- 
fend den  Raum.  Er  hat  weiter  nichts  an  als  eine 
dünne  Hose,  deren  Beinlängen  bis  zum  Rumpfende 
hinaufgekrempelt  sind,  so  daß  sie  einer  Badehose 
an  Größe  gleichkommt,  und  sucht  nun  mit  Hilfe 
des  nackten  Körpers  festzustellen,  ob  die  für  die 
Zucht  günstige  Temperatur  im  Zimmer  herrscht. 
Ist  es  zu  kalt  oder  feucht,  so  werden  die  kleinen 
irdenen  Öfchen  von  Ziegelfarbe  angebrannt.  Auch 
der  Blitz  kann  schädlich  auf  die  Raupen  einwirken; 
deshalb  werden  vor  Ausbruch  eines  Gewitters 
Lagen  von  dickem,  braunem  Papier  auf  die  Müllen 
gelegt.  Ebenso  nachteilig  ist  das  alarmierende 
Gerassel  des  Donners.  Überhaupt  werden  die 
Tiere  leicht  durch  die  Geräusche  aller  Art  störend 
oder  schädigend  beeinflußt;  deshalb  wird  im 
Zuchtraume  nur  in  gedämpftem  Tone  gesprochen. 
Außerdem  gibt  es  noch  manche  andere  Vorsichts- 
maßregel zu  beachten.  Schwangere  Frauen  oder 
solche,  die  kurz  vorher  entbunden  sind,  dürfen 
den  Zuchtraum  nicht  betreten,  auch  Leuten,  die 
„Trauer  haben",  ist  dies  bis  zum  49.  Tage  nach 
beendigter  Trauerzeit  streng  untersagt.  Die  Per- 
sonen, die  mit  der  Pflege  der  Raupen  betraut 
sind,  müssen  besondere  Vorschriften  für  ihre  Diät 
beachten:  sie  dürfen  keinen  Ingwer  essen,  ebenso- 
wenig die  T'sam-tao  genannte  Bohnenart  und 
müssen  alle  in  Öl  gebratenen  Speisen  vermeiden. 
Auch  dürfen  sie  am  Körper  oder  in  den  Taschen 
nichts  haben,  was  irgendwie  duftet. 

In  jeder  Züchterei  befindet  sich  vor  dem  Ein- 
gange zum  eigentlichen  Zuchtraume  ein  Ahar  für 
die  Schutzgöttin  der  Seidenraupen.  Auf  diesem 
Altar  steht  stets  eine  Schale  mit  reinem  Wasser 
und  ein  Bündel  Morus-Zweige.  Jeder,  der  den 
Zuchtraum  betreten  will,  taucht  zuvor  das  Bündel 
in  das  Wasser  und  besprengt  sich  das  Gesicht 
damit.  Vergißt  oder  unterläßt  das  der  westlän- 
dische  Besucher,  so  besprengt  ihn  der  begleitende 
Chinese.  In  Nordchina  soll  man  beim  Eintritt  zum 
Zuchtraum  und  wieder  beim  Austritt  aus  ihm 
Reisähren  als  „G^ücksbündel"  auf  den  Kopf  hängen. 


1)  Daß  Tachinen  die  Borabyx-Raupen  angehen,  habe  ich 
nicht  beobachtet,  es  ist  wohl  möglich;  mit  den  „Eiern"  sind 
vermutlich  kleine  Ichneuraonidentönnchen  gemeint. 

(Schluß  folgt.) 


28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


Bücherbesprechimgen. 

P.  Kammerer,  Genossenschaften  von  Lebe- 
wesen auf  Grund  gegenseitiger  Vor- 
teile. 112  S.  Stuttgart  191 3,  Strecker  und 
Schröder.  —  Preis  geb.  3,50  Mk. 
Der  Verfasser  gibt  in  vorhegender  Schrift  eine 
Übersicht  über  die  Fälle  von  mutualistischer  Sym- 
biose in  beiden  Organismenreichen,  und  führt  in 
einem  abschließenden  Kapitel  aus,  daß  die  ,, gegen- 
seitige Hilfe"  im  Lauf  der  phylogenetischen  Ent- 
wicklung ein  ebenso  wichtiger  Faktor  gewesen 
sei  wie  der  „Kampf  ums  Dasein";  ja,  er  sieht  in 
den  vielzelligen  Organismen  —  unter  Hinweis  auf 
Hansemann's  Ausführungen  über  den  Altruismus 
der  Zellen  —  gleichfalls  nur  einen  Spezialfall 
gegenseitiger  Unterstützung,  eine  Zellensymbiose. 
Es  handelt  sich  um  einen  an  sich  nicht  neuen  Ge- 
danken, auch  der  Verfasser  selbst  hat  schon  vor 
mehreren  Jahren  kurz  Ähnliches  ausgeführt.  Dem 
Laien  bietet  die  gemeinverständliche  Schrift  ein 
ziemlich  reichhaltiges  Tatsachenmaterial,  dessen 
kritische  Sichtung  allerdings  sorgfältiger  hätte  sein 
können.  So  ist  gleich  anfangs  die  Parallele  zwischen 
der  „Haustierhaltung"  der  Ameisen  und  Menschen 
doch  recht  äußerlich,  und  von  einer  „ganz  be- 
sonders entwickelten  Intelligenz"  der  Ameisen,  wie 
sie  noch  vor  30  Jahren  Lubbock  diesen  Tieren 
zuschrieb,  wird  heute  auch  der  nicht  reden  können, 
der  in  den  Handlungen  der  Ameisen  Intelligenz 
wahrzunehmen  glaubt ;  inwieweit  im  Wasser 
lebende  Schnecken  durch  Bryozoenüberzüge  oder 
durch  Algenbedeckung  wirklich  einen  Schutz  gegen 
feindliche  Nachstellungen  erhalten,  ist  wohl  nicht 
sicher  zu  ermitteln;  auch  ist  nicht  einzusehen, 
daß  durcheinander  wachsende  Schwämme  ver- 
schiedener Art  einen  kräftigeren  Wasserstrom  zu 
erzeugen  vermögen,  als  wenn  derselbe  Raum  von 
stärker  knospenden  Schwammstöcken  gleicher  Art 
ausgefüllt  wäre.  Daß  eine  Veredelung  im  VorteH 
der  veredelten  Pflanzen  liege,  wird  man  auch 
nicht  unbedingt  sagen  können,  wenn  man  erwägt, 
daß  z.  B.  viele  Gartenpflanzen  mit  gefüllten  Blüten 
die  Fähigkeit  der  Samenerzeugung  verloren  haben. 
Die  Mitteilungen  über  die  Züchtung  gewisser 
Gräser  durch  die  ,, Ernteameisen"  sind  nicht  un- 
bestritten geblieben.  Solche  Einwände  wären 
noch  gegen  manche  Stellen  zu  erheben.  Aus 
einem  Satz  des  Vorworts  geht  hervor,  daß  Kam- 
merer die  hier  dargebotene  Schrift  nur  als  eine 
Vorarbeit  für  eine  spätere,  gründlichere  Bearbei- 
tung der  hier  erörterten  Fragen  angesehen  wissen 
will.  Hierdurch  erklärt  es  sich  wohl,  daß  der 
Verfasser  die  Probleme  hier  mehr  mit  ,, flüchtigen 
Andeutungen"  streift,  als  daß  er  sie  bis  auf  den 
Grund  verfolgte.  R.  v.  Hanstein. 


Herpetologia  europaea.  Eine  systematische 
Bearbeitung  der  Amphibien  und  Rep- 
tilien, welche  bisher  in  Europa  auf- 
gefunden sind.  Von  Dr.  Egid  Schreiber, 
k.  k.  Schulrat    in  Görz.     Zweite,    gänzlich    um- 


gearbeitete Auflage.  Mit  188  in  den  Text  ein- 
gedruckten Holzschnitten.  Jena  1912,  Verlag 
von  Gustav  Fischer.  —  Preis  30  Mk. 
Es  kommt  im  literarischen  Leben  nicht  zu  oft 
vor,  daß  man  in  die  Lage  kommt,  ein  Buch  bei 
seiner  ersten  Auflage  und  dann  wieder  nach 
37  Jahren  zu  besprechen.  Als  die  Herpetologia 
Schreibers  im  Jahre  1875  in  erster  Auflage  er- 
schien, fand  sie  eine  noch  recht  spärliche  Ge- 
meinde von  Lurch-  und  Kriechtierfreunden  vor. 
Dem  Fachmanne  und  dem  Liebhaber  ist  dieses 
Werk  neben  Brehms  Tierleben  lange  der  Haupt- 
behelf beim  Studium  der  europäischen  Amphibien 
und  Reptilien  geblieben.  Wie  haben  sich  in  den 
vier  Jahrzehnten  die  bezüglichen  Verhältnisse  ge- 
ändert. Eine  wie  reiche  Literatur  ist  seither  über 
diese  beiden  Tierklassen  erstanden.  In  wie  weite 
Kreise  hat  die  Aquarien-  und  Terrarienliebhaberei 
Interesse  an  den  so  lange  verfemt  gewesenen 
Lurchen  und  Kriechtieren  gebracht.  Da  muß  es 
die  Freunde  des  Schreiber'schen  Werkes  aufrichtig 
freuen,  dasselbe  in  ganz  verjüngter  Form  erscheinen 
zu  sehen.  Daß  es  heute  gegenüber  einem  Um- 
fang von  639  Seiten  einen  solchen  von  960  Seiten 
im  größeren  Lexikonformat  aufweist,  dokumentiert 
schon  äußerlich,  wie  ausgiebig  es  den  veränderten 
Verhältnissen  Rechnung  getragen  hat. 

Den  Amphibien  sind  die  Seiten  3 — 285  ge- 
widmet. Nach  einer  allgemeinen  Ergehung  über 
die  Lurche  werden  die  Urodela  als  Ordnung 
und  dann  in  ihren  Familien  Proteidae  und  Sala- 
mandridae  besprochen.  Beim  Proteus  konnten 
zwar  Kammerer's  Festlegungen  bezüglich  der  Fort- 
pflanzungsweise, wie  wir  sie  hier  vor  kurzem  be- 
sprochen haben,  noch  nicht  endgültig  zur  Erwäh- 
nung kommen,  doch  läßt  es  Schreiber  unter 
Hinweis  auf  frühere  Untersuchungen  Kammerer's 
bereits  als  sehr  wahrscheinlich  erscheinen,  daß  der 
Grottenolm  in  seinem  Freileben  vivipar  sei. 
Schreiber  bringt  auch  die  nähere  Unterscheidung 
der  seinerzeit  von  Fitzinger  zu  Arten  erhobenen 
lokalen  Formen  des  Grottenolms.  Von  den  Sala- 
mandriden  kommen  zuerst  die  durch  ihre  ver- 
kümmerten Lungen  charakterisierten  Gattungen 
Spelerpes  und  Salamandrina  mit  je  einer  Art  und 
sehr  genauen  Angaben  über  ihre  Lebensweise  im 
Freien  und  in  der  Gefangenschaft  und  ihre  Hal- 
tung im  Terrarium  zur  Besprechung.  Sehr  ein- 
gehend ist  die  Gattung  Molge  mit  ihren  zahl- 
reichen Arten  behandelt.  Schreiber  hält  da, 
einigermaßen  gegen  das  Prioritätsgesetz,  an  dem 
langgebrauchten  Gattungsnamen  Triton  fest,  was  er 
damit  begründet,  daß  Laurent!  1768  diesen  Namen 
für  die  Wassermolche  in  Anwendung  gebracht, 
nachdem  der  apokryphe  Gattungsname  Triton 
Linne  als  undeutbar  längst  fallen  gelassen  worden 
war,  daß  ihn  wohl  Montfort  im  Jahre  1808  für 
eine  Schneckengattung  in  Anwendung  gebracht 
hat,  Laurenti  da  aber  sicherlich  das  Prioritätsrecht 
hat,  überdies  die  betreffende  Schneckengattung 
schon  1806  von  Link  mit  dem  Namen  Tritonium 
belegt    worden    ist.      Für    den,    der    sich    in_  die 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


29 


Tritonenkunde  einführen  lassen  will,  ist  die  sehr 
übersichtliche  Bestimmungstabelle  und  die  aus- 
fiihrliche  Ergehung  über  die  verschiedentlichen 
Varietäten  und  über  das  Frei-  und  Gefangenleben 
und  die  Pflege  der  verschiedentlichen  Tritons  von 
ganz  besonderem  Werte.  Es  kommen  dann  noch 
sehr  ausführlich  die  Gattungen  Salamandra  und 
Chioglossa  zur  Besprechung.  Die  Anura  werden 
auf  den  Seiten  148 — 285  abgehandelt.  Nach  einer 
allgemeinen  Ergehung  über  die  Froschlurche 
werden  die  fünf  Familien  Discoglossidae,  Pelo- 
batidae,  Ranidae,  Hylidae  und  Bufonidae  be- 
sprochen. Bei  der  Gattung  Alytes  bringt  die  neue 
Auflage  außer  der  bekannten  Art  Alytes  obstetri- 
cans  eine  zweite  Art,  Alytes  cisternasi  Bosca,  die 
nur  auf  der  Pyrenäischen  Halbinsel  auftritt,  zur 
Sprache.  Besonders  eingehend  ist  die  Gattung 
Rana  behandelt,  die,  noch  immer  in  Differen- 
zierung begriffen,  der  mehrfach  vorhandenen 
Zwischenformen  wegen  in  ihren  verschiedenen 
Arten  nicht  durchwegs  sicher  auseinanderzuhalten 
ist.  Da  ist  die  Ubersichtstabelle  bezüglich  der 
Unterscheidungsmerkmale  der  heute  sicher  zu 
unterscheidenden  Rana-Arten  besonders  wertvoll. 
In  einer  ausführlichen  Ergehung  über  die  geo- 
graphische Verbreitung  der  europäi- 
schen Lurche  kommt  Schreiber  zu  dem  Er- 
gebnis, daß  die  Schwanzlurche  und  die  Lurche 
überhaupt  von  Norden  nach  Süden  und  nament- 
lich nach  Westen  hin  in  steigendem  Verhältnisse 
zunehmen  und  daß  die  Froschlurche  viel  gleich- 
mäßiger verbreitet  erscheinen. 

Der  weitaus  größere  Teil  des  Buches  (290  bis 
923)  ist  den  Reptilien  gewidmet.  Nach  einer 
allgemeinen  Charakteristik  der  Kriechtiere  kommen 
die  Rhiptoglossa,  in  Europa  nur  durch  das  ge- 
meine Chamäleon  vertreten,  zur  Behandlung.  Sehr 
ausführlich  ist  die  Charakteristik  der  Lacertilia  mit 
den  für  die  europäische  Fauna  in  Betracht  kommen- 
den Familien  Lacertidae,  Scincidae,  Agamidae, 
Geckonidae,  Anguidae  und  Amphisbaenidae.  Von 
diesen  Familien  sind  besonders  die  Lacertiden 
sehr  eingehend  behandelt.  Statt  der  komplizierten 
Nomenklatur  Eimers  gebraucht  der  Verfasser  die 
sehr  einfache  und  faßliche  v.  Mehely's.  Nicht 
weniger  als  142  Seiten  sind  der  Gattung  Lacerta 
gewidmet,  von  der  Schreiber  25  europäische 
Arten  aufstellt,  während  wieder  andere  Herpeto- 
logen,  in  das  andere  Extrem  verfallend,  die  be- 
kannten Lacerten  in  wenige  Arten  zusammen- 
ziehen. Mit  den  Schlangen  beschäftigen  sich 
177  Seiten  des  Buches.  Nach  einer  allge- 
meinen Besprechung  der  Ordnung  kommen  zu- 
nächst die  Viperidae  zur  Erörterung.  Die  heute 
noch  in  der  Differenzierung  begriffenen  Vipern, 
bei  denen  mancherlei  Übergangsformen  die  Ab- 
grenzung der  Arten  erschweren,  sind  für  Europa 
in  acht  Arten:  Vipera  lebetina,  ammodytes, 
latastei,  aspis,  berus,  renardii,  ursinii  und  macrops 
vorgeführt.  Nachdem  noch  die  Boiden,  in  Europa 
durch  Eryx  jaculus,  und  die  Typhlopiden,  durch 
Typhlops  vermicularis  vertreten,  behandelt  worden. 


werden  auf  den  Seiten  754 — 818  die  Schild- 
kröten besprochen,  worauf  Schreiber  sich  ziem- 
lich eingehend  mit  der  geographischen  Ver- 
breitung der  europäischen  Kriechtiere 
befaßt. 

Was  diese  zweite  Auflage  der  Herpetologia 
besonders  dem  Aquarien-  und  Terrarienfreund  sehr 
wertvoll  macht,  sind  die  Kapitel:  „Über  das 
Sammeln,  Präparieren  und  Aufbewahren  von 
Amphibien  und  Reptilien",  ,,Über  das  Versenden 
von  Amphibien  und  Reptilien",  „Über  das  Halten 
von  Amphibien  und  Reptilien  in  der  Gefangen- 
schaft" und  „Über  die  Krankheiten  der  gefangenen 
Lurche  und  Kriechtiere",  sämtliche  reich  an  wert- 
vollen Ratschlägen.  Dr.  Friedrich  Knauer. 


H.  W.  Schmidt,  Deutschlands  Raubvögel 
(Falken,  Habichte,  Bussarde).    Aussehen 
und  Lebensweise,   Nutzen  oder  Schaden,    Scho- 
nung   und  Jagd    in  sachgemäßer,   allgemeinver- 
ständlicher Darstellung.    92  S.,  8  Tafeln.    Stutt- 
gart,   Strecker    und    Schröder,    191 3.    —    Preis 
geheftet  1,20  Mk. 
In  fesselnder  Weise  werden  die  einzelnen  Raub- 
vögel Deutschlands,  die  verschiedenen  Falkenarten, 
der  Hühnerhabicht,  Sperber  und  die  Bussarde  be- 
schrieben.    Neben  der  Schilderung  des  Aussehens 
und  der  Lebensweise  der  einzelnen  Vögel  stehen 
kritische    Untersuchungen    ihres     volkswirtschaft- 
lichen   Nutzens    und    Schadens,    schließlich    An- 
leitungen   zur  Schonung    resp.  Jagd.     Auf  Grund 
eingehender  Beobachtungen  und  jahrelanger  eigener 
Untersuchungen    unterstützt    Verf.    die    modernen 
Vogelschutzbestrebungen.     Andererseits    weist    er 
aber  auch  die  Schädigung  unserer  Volkswirtschaft 
durch  einzelne  Arten  nach,   zu    deren    praktischer 
Erlegung  wertvolle  Winke  gegeben  werden. 

Ferd.  Müller. 

Dr.    med.    Martin,    Die    sogenannte    Bluts- 
verwandtschaft zwischen  Mensch  und 
Affe.  Naturwissenschaftliche  Zeitfragen.  Heft  14. 
Naturwissenschaftlicher    Verlag    (Abteilung    des 
Keplerbundes)  Godesberg  bei  Bonn  191 3.    36  S. 
Der   Verfasser   gibt    in    diesem  Heftchen    eine 
ganz  vortreffliche    populäre  Darstellung   des  Ver- 
fahrens bei  Anwendung  der  biologischen  Reaktionen 
(Agglutination,    Hämolyse,   Präzipitinreaktion),    die 
in   neuerer   Zeit    zur   Prüfung    der   Beschaffenheit 
und    Herkunft    von    Blutproben    benutzt    werden. 
Diese  klaren  Ausführungen  und  die  weiteren  Dar- 
legungen   über   die    Natur   der    Eiweißkörper   des 
menschlichen  und   tierischen  Körpers    wird   jeder 
mit  Vergnügen  lesen,    auch    wenn  er  die  Schluß- 
folgerungen des  Verfassers,  der  sich  auf  die  Formel: 
Spezifität,    nicht    Ähnlichkeit    versteift,    nicht    als 
zwingend  anerkennen  kann.  F.  Moewes. 


i)  Hausschwammforschungen  im  amtlichen 
Auftrage  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  A.  Möller. 
Heft  IV.  Die  bisher  bekannten  Mittel  zur  Ver- 
hütung von  Pilzschäden  an  Bauhölzern  vor  dem 


5Ö 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


Einbau  vom  Kgl.  Baurat  Brüstlein.  Die 
Sicherung  des  Holzwerkes  der  Neubauten  gegen 
Pilzbildung  von  Prof  H.  Ch.  Nußbaum.  Die 
Bedeutung  der  Kondensvvasserbildung  für  die 
Zerstörung  der  Balkenköpfe  in  Außenwänden 
durch  holzzerstörende  Pilze  von  Dr.  Ing.  R.  Nie- 
mann.  Heft  VI.  Die  Meruliusfäule  des  Bau- 
holzes von  Prof  Dr.  R.  Falck.  Jena  (G.  Fischer) 
1911/1912. 
2)  A.  Naumann.  Die  Pilzkrankheiten  gärtneri- 
scher Kulturgewächse  und  ihre  Bekämpfung. 
I.  Gemüse,  Stauden  und  Annuelle,  Kalt-  und 
Warmhauspflanzen.     Dresden  (C.  Heinrich). 

1.  Die  Bedeutung  der  „Hausschwammfor- 
schungen" ftir  Wissenschaft  und  Praxis  ist  bereits 
früher  an  dieser  Stelle  gewürdigt  worden.  Die 
beiden  Hefte  schließen  sich  den  früheren  in 
würdiger  Weise  an.  Brüstlein  bespricht  die 
bisher  bekannten  und  geprüften  Mittel,  um  die 
Schädigungen  des  Bauholzes  noch  vor  der  Ver- 
wendung im  Bau  zu  verhüten.  Es  handelt  sich 
dabei  um  eine  Sterilisierung  des  Holzes,  die  eine 
dauernde  sein  muß,  um  auch  spätere  Angriffe 
durch  Bauholzpilze  zu  verhindern.  Bei  frisch  ge- 
fälltem Holz  läßt  sich  schwer  ein  Schutz  erzielen. 
Man  könnte  höchstens  an  ein  Durchtränken  denken, 
von  dem  verschiedene  patentierte  Verfahren  vor- 
geschlagen worden  sind.  Beim  P"lößen  des  Holzes 
dürfte  kaum  eine  Schädigung  erfolgen,  wohl  aber 
ist  das  Lagern  auf  den  Stapelplätzen  gefährlich, 
weil  hier  die  günstigsten  Infektionsbedingungen 
herrschen.  Zur  Verhütung  hat  Falck  bereits 
früher  die  notwendigen  Maßnahmen  angegeben. 
Die  weitere  Präparation  des  Holzes  kann  durch 
Anstrich-  oder  Tränkungsmittel  oder  durch  Im- 
prägnieren mit  desinfizierenden  Flüssigkeiten  er- 
folgen. Die  verschiedenen  Methoden  und  Vor- 
schläge dafür  finden  eingehende  Besprechung.  — 
Die  Sicherung  des  Bauholzes  im  Bau  selbst  be- 
spricht Nußbaum.  Es  handelt  sich  hier  haupt- 
sächlich darum,  das  Holz  nach  dem  Einbau  schnell 
abzutrocknen  und  das  Wiedereindringen  von 
Feuchtigkeit  von  der  Umgebung  her  zu  verhüten. 
Daß  beides  möglich  ist,  beweisen  die  Ausführungen 
des  Verf's,  die  von  zahlreichen  instruktiven  Bildern 
begleitet  sind.  —  Sehr  wichtig  für  die  Erhaltung 
der  Balken  ist  der  Scluitz  der  Balkenköpfe  gegen 
eindringendes  Wasser.  Mit  dieser  rein  bautechni- 
schen Frage  beschäftigt  sich  Niemann  in  sehr 
eingehenden  Darlegungen  und  Berechnungen,  die 
darin  gipfeln,  daß  es  auch  hier  möglich  ist,  die 
Balkenköpfe  gegen  eindringendes  Wasser  und 
gegen  nachträgliche  Pilzinfektion  zu  schützen. 

2.  Falck  gibt  in  seiner  mit  prächtigen  Tafeln 
und  Figuren  versehenen  Arbeit  im  ersten  Teil 
eine  auf  kultureller  Grundlage  bearbeitete  Mono- 
graphie des  eigentlichen  Hausschwammes  und  der 
nächst  verwandten  Arten.  Bekanntlich  ist  der 
Hausschwamm  recht  vielgestaltig,  die  Hymenien 
sehen  sehr  verschieden  aus,  wodurch  die  Unter- 
scheidung der  Arten  nicht  immer  sicher  ist.  Dem- 
nach wird  in  erster  Linie  die  Formgestaltung  der 


Hymenien  geschildert  und  zwar  immer  mit  Rück- 
sicht auf  die  Unterscheidung  der  vier  Arten: 
Merulius  domesticus  (lacrymans),  Sil- 
vester, m  in  o  r  und  sc  1  e  r  o  t  i  orum.  Als  eben- 
so wichtig  wie  die  Fruchtkörper ,  die  ja  nicht 
immer  vorhanden  sind,  erscheinen  die  Myzelien, 
die  in  den  mannigfaltigsten  Modifikationen  auf- 
treten können.  Die  Kenntnis  dieser  Myzelien  er- 
scheint für  die  Praxis  außerordentlich  wichtig, 
weil  die  Unterscheidung  von  weniger  gefährlichen 
Holzzerstörern  nicht  einfach  ist.  Deshalb  wird 
die  Tabelle  willkommen  sein,  durch  die  eine 
Übersicht  über  die  Merkmale  der  verschiedenen 
Myzelien  gegeben  wird.  Was  dann  über  Oidien- 
bildung  und  Strangbildung  der  Hyphen  gesagt 
wird,  hat  für  die  allgemeine  Morphologie  der  Pilze 
besondere  Bedeutung,  weil  kaum  jemals  die  ein- 
schlägigen Fragen  in  so  umfassender  und  gründ- 
licher Weise  erörtert  worden  sind. 

Im  2.  Teil  werden  nun  aus  der  Kenntnis  der 
allgemeinen  Verhältnisse  die  Nutzanwendungen 
gezogen,  indem  erörtert  wird,  wie  sich  der  Haus- 
schwamm durch  Sporen  erhält  und  verbreitet, 
wobei  auch  die  Ausbreitung  des  Myzels,  die 
äußeren  Bedingungen  für  die  Ausbreitung  und 
anderes  zur  Sprache  kommt.  Wenn  die  Sporen 
das  wichtigste  Verbreitungsmittel  des  Haus- 
schwammes sind,  so  müssen  verschiedene  äußere 
Bedingungen  erfüllt  sein,  ehe  das  Holz  der  Infek- 
tion verfällt.  In  erster  Linie  betrachtet  der  Verf 
die  saure  Reaktion  des  Holzes  als  Vorbedingung. 
Diese  ist  beim  gesunden  Holz  nicht  vorhanden 
—  weshalb  es  nicht  infizierbar  ist  — ,  wohl  aber 
bei  dem  Holze,  das  von  Pilzen  befallen  ist,  die 
als  harmloser  betrachtet  werden.  So  wird  z.  B. 
durch  Coniophora  der  Holzfäule  durch  Merulius 
vorgearbeitet.  Daß  daneben  noch  hohe  Luft- 
feuchtigkeit und  passender  Feuchtigkeitsgehalt  des 
Holzes  notwendig  sind,  führt  Verf  ebenfalls  näher 
aus.  Für  den  Praktiker  wird  das  Kapitel  über 
statistische  Ergebnisse  der  Hausschwammforschung 
in  Preußen  von  Interesse  sein. 

Der  letzte  Teil  beschäftigt  sich  dann  mit  der 
Bekämpfung  und  Verhütung  des  Hausschwammes 
mit  ausschließlicher  Berücksichtigung  der  Immuni- 
sierung des  Bauholzes  durch  verschiedene  Sub- 
stanzen. Diese  Sterilisierung  des  Holzes  kann 
durch  Anstrich  sowie  Imprägnierung  geschehen. 
Alle  die  Methoden,  die  in  Betracht  kommen,  und 
die  empfohlenen  chemischen  Präparate  werden 
geprüft  und  ihre  Wirkungen  in  Tabellen  zusammen- 
gestellt. 

Am  Schluß  gibt  Verf  noch  einmal  die  Folge- 
rungen aus  seinen  Untersuchungen.  Es  müssen 
die  primären  LVsachen  für  die  Schwamminfektion 
beseitigt  werden,  was  durch  den  Schutz  des  Holzes 
gegen  die  Myzelien  anderer  Holzzerstörer  mittels 
Anstrich  usw.  zu  geschehen  hat.  Die  breit  an- 
gelegte Arbeit  wird  der  Praxis  noch  manche  An- 
regung geben. 

3.  Die  Pflanzenhygiene  hat  sich  zu  einem 
wichtigen    Zweige    der    Pflanzenkunde    entwickelt 


N.  F.  Xiri.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


31 


und  kommt  ausschließlich  der  Praxis  zugute.  IWan 
kann  aber  von  dem  praktischen  Landwirt  oder 
Gärtner  nicht  verlangen,  daß  er  die  Pilzkunde  und 
Pflanzenpathologie  beherrscht.  Ohne  diese  könnte 
er  aber  nicht  daran  denken,  eine  Krankheit  seiner 
Kulturpflanzen  erkennen  oder  bekämpfen  zu  wollen. 
Man  kann  deshalb  den  Gärtner  auf  das  Buch  von 
Naumann  hinweisen,  das  jedem  Laien  verständ- 
lich geschrieben  die  Behandlung  der  erkrankten 
Pflanzen  zeigt,  ohne  daß  das  ganze  gelehrte  Rüst- 
zeug notwendig  erscheint.  Die  einleitenden  Ka- 
pitel des  Buches  verbreiten  sich  nämlich  über  die 
in  Betracht  kommenden  Schädlingspilze  und  geben 
an  der  Hand  instruktiver  Figuren  eine  recht  gute 
Einführung  in  die  Kenntnis  der  Formen  der  Pilze. 
Daran  schließen  sich  Kapitel  über  Infektion,  Be- 
kämpfung, Anfertigung  von  Präparaten  usw.  an. 
Alle  diese  allgemeinen  Erörterungen  bilden  nun 
das  Fundament  für  den  speziellen  Teil,  der  darauf 
immerfort  verweist.  Es  werden  in  diesem  ersten 
Heft  die  Krankheiten  der  Gemüsepflanzen,  der 
Stauden  und  Annuellen,  der  Kalthaus-  und  Warm- 
hauspflanzen besprochen  und  z.  T.  abgebildet.  In 
systematischer  Folge  werden  die  einzelnen  Nähr- 
pflanzen genannt  und  nun  dabei  die  Krankheiten 
angegeben,  indem  das  äußere  Bild  kurz  geschildert 
und  dann  ein  Hinweis  auf  die  mikroskopischen 
Einzelheiten  in  der  Einleitung  gegeben  wird.  Die 
Bekämpfung  wird  dann  ebenfalls  kurz  mit  dem 
Hinweis  auf  die  allgemeinen  Erörterungen  über 
die  verschiedenen  Bekämpfungsmittel  erledigt. 
Augenscheinlich  ist  das  Buch  ganz  aus  praktischen 
Überlegungen  und  Studien  hervorgegangen,  so 
daß  man  annehmen  kann,  daß  es  der  Praxis  von 
Nutzen  sein  wird.  G.  Lindau. 


Anregungen  und  Antworten. 

Falltachisloskop.  —  Für  die  Expositionszeit  des  Fall- 
tachistoskops  kommt  bei  freiem  Fall  des  Fallschirmes  nur 
die  Höhe  des  Ausschnittes  im  Schirm  in  Betracht.  Wird  vom 
Luftwiderstand  sowie  von  der  Reibung  abgesehen,  so  wird 
die   Expositionszeit  aus 

t  =  i/?I==i/^ 
'  g     '981 

berechnet,     t  ist  die  Expositionszeit  in  Sekunden,  s  die  Höhe 
des  Ausschnittes,  im  Modell  also  7  cm,  g  die  Beschleunigung 


äer  Schwere  g  =  981 


Die  Expositionszeit    des   Modells 


t  sind  Sekunden,  s  die  Höhe  des  Ausschnittes  in  cm  ;  für  m 
bzw.  nij  werden  die  den  Massen  proportionalen  Gewichte  des 
Schirmes  und  Balanziergewichts  in  gr  ausgedrückt  gesetzt. 

Durch  ein  Gegengewicht,  das  halb  so  schwer  wie  der 
Kalischirm  ist,  wird  die  Expositionszeit  1,733  mal  so  groß  ge- 
macht als  beim  freien  Fall.  Dgt. 


ist  daher  t=l/    ^t^  0,1 19  Sekunden. 
'  981 


Wird  der  Fallschirm  durch  ein  Gegengewicht  belastet, 
das  etwa  durch  eine  über  eine  Rolle  gleitende  Schnur  mit 
dem  Fallschirm  in  Verbindung  steht,  so  wird  die  Expositions- 
zeit wesentlich  größer  gemacht  werden  können.  Sie  läßt  sich 
auf  folgendem  Wege  bestimmen  :  Sei  m  die  Masse  des  Schirmes, 
m,  die  des  Gegengerüstes,  so  wird  durch  die  von  dem  Über- 
gewicht herrührende  Kraft  (m  —  m,)g  die  ganze  Masse  m  -|-  m, 
in  Bewegung  gesetzt  und  ihr  eine  Beschleunigung  a  erteilt. 
Die  Beschleunigung  des  Fallschirmes  ist  daher 
a  =  (m  — mijg  ^  ('"  —  "'1)981. 
m  -|—  TOj  m  -|-  m| 

Die  Expositionszeit  wird  nunmehr 

t  =  \/^  =  l/^-slm-t-  mi) 
'    a  '^  (m  —  m,)98l 


Literatur. 

Ander,    Dr.    med.    Adam,    Mutterschaft    oder  Em.incipation  ? 
Eine  Studie  über  die  Stellung  des  Weibes  in   der  Natur  und 
im  Menschenleben.     Berlin.      P.   Nitschmann. 
Archiv    für    die  Geschichte    der  Naturwissenschaften    und   der 
Technik.     6.  Bd.  Festschrift  Herrn  Geh.  Med. -Rat  Prof.  Dr. 
K.  Sudhoff,    Leipzig    zur  Feier    seines  60.  Geburtstages    ge- 
widmet von  Freunden,  Verehrern  und  Schülern.     Mit   I  Bild- 
nis,   4    Abbildungen    im    Text    und    I    Tafel.      Leipzig    '13. 
F.   C.   W.  Vogel. 
Becher,  Dr.  S.  u.  Demoll,  Dr.  R.,  Einführung  in  die  mikro- 
skopische Technik   für  Naturwissenschaftler    und  Mediziner. 
Leipzig  '13.     Quelle  &  Meyer.  —  Geb.  3  Mk. 
Bendt,  Fr.     Grundzüge    der    Differential-  u,   Integralrechnung. 
5.  Aufl.,  durchges.  u.   verbess.  v.  Dr.  G.  Ehrig.    Mit  39  Text- 
abbildungen.    (Webers    illustr.    Handbücher.)     Leipzig    '14. 
J.  J.   Weber.  —  3  Mk. 
Berg,    Dr.  Alfr.,    Geographisches  Wanderbuch.     Für    mittlere 
und  reifere  Schüler,  ein  Führer  für  Wandervögel  und  Pfad- 
finder.     Mit    193    Abbildg.    im    Text.      (Prof.    Dr.    Bastian 
Schmids  naturwissensch.  Schülerbibliothek  Nr.  23).    Leipzig- 
Berlin  '14.    B.   G.  Teubner. 
Boas,  Prof.  Dr.  J.  E.  V.,  Lehrbuch  der  Zoologie  für  Studierende. 
7.  vermehrte  u.  verbesserte  Auflage.     Mit  648  .-^bb.  im  Text. 
Jena  '13.     G.  Fischer.  —  Geb.   16  Mk. 

Brehms  Tierleben.  Allgemeine  Kunde  des  Tierreichs. 
13  Bände.  Mit  über  2000  Abb.  im  Text  und  auf  mehr  als 
[^00  Tafeln  in  Farbendruck,  Kupferätzung  und  Holzschnitt 
sowie  13  Karten.  Vierte,  vollständig  neubearbeitete  Auf- 
lage, herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Otto  zur  Strassen.  Bd.  V: 
Lurche  und  Kriechtiere.  Neubearbeitet  von  Franz  Werner. 
Zweiter  Teil.  Mit  113  Abb.  im  Text,  19  farbigen  und 
18  schwarzen  Tafeln  sowie  28  Doppeltafeln  nach  Photo- 
graphien und   2  Kartenbeilagen.    —   In  Halblcder  geb.  12  Mk. 

Brohmer,  Dr.  P.,  Tierkunde  für  Lehrerbildungs-Anstalten. 
Nach  dem  naturwissensch.  Unterrichtswerk  von  Prof.  Dr. 
O.  Schmeil  auf  Grund  der  Lehrpläne  bearbeitet.  Mit  31 
mehrfarbigen,  einer  schwarzen  sowie  zahlreichen  Textbildern 
und  Originalzeichnungen.  Leipzig  '13.  Quelle  u.  Meyer.  — 
Geb.   5  Mk. 

Brohmer,  Dr.  P.,  Pflanzenkunde  für  Lehrerbildungsanstalten. 
Nach  dem  naturwissenschaftl.  Unterrichtswerke  von  Prof.  Dr. 
O.  Schmeil  auf  Grund  der  Lehrpläne  bearbeitet.  Mit  27 
mehrfarb.  und  8  schwarzen  Tafeln  sowie  zahlreichen  Text- 
bildern nach  Originalzeichnungen.  Leipzig  '13.  Quelle 
&  Meyer.  —  Geb.  4,80  Mk. 

Crossland,  Cyril.,  Desert  and  Water  Gardens  of  the  Red 
Sea.  Being  an  account  of  the  natives  and  the  shore  for- 
mation  of  the  coast.     Cambridge  '13. 

Cyon,  E.  von,  Gott  u.  Wissenschaft.  2.  Bd.  Neue  Grund- 
lagen einer  wissensch.  Psychologie.  Autorisierte  deutsche 
Ausgabe.  Mit  2  anatomischen  Tafeln.  Leipzig  '12.  Veit 
u.   Co.  —  4  Mk. 

Dittrich,  Prof.  Dr.  C,  Die  Probleme  der  Sprachpsychologie 
und  ihre  gegenwärtigen  Lösungsmöglichkeiten.  Leipzig  '13. 
Quelle  &  Meyer. 

Fischer,  Dr.  J.,  Das  Problem  der  Brütung.  Eine  thermo- 
biologische  Untersuchung.     Leipzig  '13.  Quelle  u.  Meyer. 

Forel,  Prof.  Dr.  med.  Aug.,  Die  sexuelle  Frage.  Der  ge- 
kürzten Volksausgabe  I.  —  20.  Tausend.  München  '13. 
E.   Reinhardt.   —  2,80  Mk. 

Fortschritte  der  naturwissenschaftlichen  Forschung.  Heraus- 
gegeben von  E.  Abderhalden.  Bd.  9.  Berlin-Wien  '13. 
Urban  &  Schwarzenberg.  —  Geb.   17   Mk. 

Friedländer,  Immanuel,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Kap- 
verdischen Inseln.  Die  Ergebnisse  einer  Studienreise  im 
Sommer  1912.  Mit  einer  Übersicht  über  die  Gesteine  der 
Kapverdischen  Inseln  von  Prof.  Dr.  W.  Bergt.  Nebst  I 
geologischen  Übersichtskarte,   10  Spezialkarten  und  40  Licht- 


32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


druckbildern  auf  19  Tafeln.  Berlin  '19.  Dietr.  Reimer 
(Ernst  Vohsen).  —  Brosch.   15  Mk. 

Gohlke,  Kurt,  Die  Brauchbarkeit  der  Serumdiagnostik  für  den 
Nacliweis  zweifelhafter  Verwandtschaftsverhältnisse  im 
Pflanzenreich.  Stuttgart  u.  Berlin  '13.  Fr.  Grub.  —  Geh. 
4  Mk. 

Goldschmidt,  Prof.  Dr.  R. ,  Einführung  in  die  Vererbungs- 
wissenschaft. In  22  Vorlesungen  für  Studierende,  Arzte, 
Züchter.  2.  völlig  utiigearbeitele  und  stark  vermehrte  Auf- 
lage. Mit  189  Abb.  Leipzig  und  Berlin  '13.  W.  Engel- 
mann. —  Geb.   14  Mk. 

de  Haas-Lorentz,  G.  L. ,  Die  Brownsche  Bewegung  und 
einige  verwandte  Erscheinungen.  (Die  Wissenschaft  usw., 
Bd.  52.)     Braunschweig  '13.  F.  Vieweg. 

Hann,  Prof.  Dr.  Julius,  Lehrbuch  der  Meteorologie.  3.  unter 
Mitwirkung  von  Prof.  Dr  R.  Süring,  Potsdam  umgearbeitete 
Auflage.  Mit  mehreren  Tafeln,  Karten  u.  Tabellen  sowie 
zahlreichen  Abbildungen  im  Text.  Lieferung  I.  Leipzig  '13. 
Chr.   Herrn.  Tauchnilz.  —  3,60  Mk.   (etwa   10  Lieferungen). 

Hirt,  Dr.  med.  Walter,  Das  Leben  der  anorganischen  Welt. 
Eine  naturwissenschaftliche  Skizze.  München  '14.  Ernst 
Reinhardt. 

Johannsen,  Prof.  Dr.  W.,  Elemente  der  exakten  Erblichkeits- 
lehre. Zweite  deutsche,  neubearbeitete  und  sehr  erweiterte 
Ausgabe  in  30  Vorlesungen.  Mit  33  .\bb.  im  Text.  Jena 
'13.     G.   Fischer.  —  Geb.   16  Mk. 

Kalähne,  Prof.  Dr.  GrundzUge  der  mathematisch-physikalischen 
Akustik.  II.  Teil.  Mit  57  Textfig.  (Sammlung  matheni.- 
physikal.  Schriften,  herausgeg.  von  E.  Jahnke,  11,2.)  Leipzig- 
Berlin  '13.   B.  G.  Teubner.  —  Geb.  6  Mk. 

Koorders,  Dr.  S.  H.,  Exkursionsflora  von  Java,  umfassend  die 
Blutenpflanzen.  4.  Bd.:  Atlas,  1.  Abteilung;  Familie  I — 19. 
Jena   '13.      G.   Fischer.   —  2,50  Mk. 

Krziwanek,  K.,  Analytische  Darstellung  der  Ungleichheiten 
in  der  Bewegung  des  Mondes.  Wien,  Teschen,  Leipzig  '13. 
K.   Prochaska. 

Löwenheim,  Dr.  L.,  Die  Wissenschaft  Demokrits  und  ihr 
Einfluß  auf  die  moderne  Naturwissenschaft.  Herausgeg.  v. 
Leopold  Löwenheim.    Berlin  '14.  L.  Simon.  —   Broch.  6  Mk. 

Meumann,  Prof.  Dr.  E.,  Intelligenz  u.  Wille.  2.  umgearbeitete 
und  vermehrte  Auflage.  Leipzig  '13.  Quelle  u.  Meyer.  — 
Geb.   5,20  Mk. 

Meyer,  K.,  Die  Entwicklung  des  Temperaturbegriffs  im  Laufe 
der  Zeiten,  sowie  dessen  Zusammenhang  mit  den  wechseln- 
den Vorstellungen  über  die  Natur  der  Wärme,  übersetzt  a.  d. 
Dänischen  v.  J.  Kolde  und  mit  einem  Vorwort  v.  Eilhard 
Wiedemann.  Mit  21  Textabbild.  (Die  Wissenschaft  usw. 
Bd.  48.)     Braunschweig  '13.      Fr.  Vieweg.  —  Geb.  4,80  Mk. 

Meyer,  Dr.  Werner  Th.,  Tintenfische,  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung von  Sepia  und  Octopus.  Mit  I  färb.  Tafel  u. 
81  Abb.  im  Text.  (Monographien  einheimischer  Tiere, 
herausgeg.  v.  Prof.  Dr.  H.  E.  Ziegler  u.  Prof.  Dr.  R.  Wolte- 
reck, Leipzig  Bd.  6.)  Leipzig  '13.  Dr.  W.  Klinkhardt.  — 
Geb.  4,80  Mk. 

Mitchell,  P.  C.,  Die  Kindheit  der  Tiere.  Übersetzt  v.  Hans 
Pander.  Mit  12  Farbtafeln  und  36  Abb.  Stuttgart.  J.  Hoff- 
mann. —  Geb.  8  Mk. 

Möller,  Prof.  Dr.  A.,  Hausschwammforschungen,  in  amtlichem 
Auftrage  herausgegeben.  7.  Heft.  Merkblatt  zur  Haus- 
schwammfrage.    Jena  '13.     G.  Fischer.  —  0,40  Mk. 

Nernst,  W.  u.  Schoenflies,  A.,  Einführung  in  die  mathematische 
Behandlung  der  Naturwissenschaften.  7.  vermehrte  und 
verbesserte  Aufl.  München  u.  Berlin  '13.  R.  Oldenbourg. 
—  Geb.   10  Mk. 

Newcomb-Engelmann's  Populäre  Astronomie.  5.  Aufl.  In 
Gemeinschaft  mit  den  Herren  Prof.  Eberhardt,  Prof.  Luden- 
dorff.  Geh.  Rat  Schwarzschild  herausgegeben  von  Prof.  Dr. 
P.  Kempf.  Mit  22S  Abb.  im  Text  und  27  Tafeln.  Leipzig 
u.   Berlin    '14.      \V.   Engelmann.   —   Geb.    15,60  Mk. 


Philip,  J.  C.  Physikal  Chemistry,  its  bearing  on  biology  and 
niedicine.     2.  Aufl.     London  '13,  E.  Arnold.  —  7  sh.  6  p. 

Philippson,  Alfr.,  Das  Mittelmeergebiet,  seine  geographische 
und  kulturelle  Eigenart.  3.  Aufl.  Mit  9  Fig.  im  Text, 
13  Ansichten  und  10  Karten  auf  15  Tafeln.  Leipzig- 
Berlin  '14.  B.  G.  Teubner.  —  Geb.   7  Mk. 

Rädl,  Dr.,  Eine  Geschichte  der  biologischen  Theorien  in  der 
Neuzeit.  I.  Teil.  2.  gänzl.  umgearbeitete  Auflage.  Leipzig 
u.    Berlin   '13.     W.   Engelmann.   —   Geb.    10  Mk. 

Reichenow,  A.,  Die  Vögel,  Handbuch  der  systematischen 
Ornithologie.  I.  Bd.  Mit  einer  Karte  und  1S5  Textbildern, 
n.   d.   Natur    gez.   v.   G.   Krause.      Stuttgart   '13.    Ferd.  Enke. 

—  15  Mk. 

Scheid,  Prof.  Dr.  K.,  Chemisches  Experimentierbuch.  2.  Teil. 
Für  reifere  Schüler.  Mit  51  Abbildungen  im  Text.  (Prof. 
Dr.  Bastian  Schmids  naturwissensch.  Schülerbibliothek  Nr.  15.) 
Leipzig-Berlin   '14.    B.   G.  Teubner.   —   Geb.   3   Mk. 

Schoenichen,  Prof  Dr.  W.,  Methodik  und  Technik  des  natur- 
geschichtlichen Unterrichts.  Mit  2  farbigen  u.  30  schwarzen 
Tafeln ,  sowie  1 1 5  Abbildungen  im  Text  und  4  Tabellen. 
Leipzig   '14.  Quelle  u.  Meyer.   —   Geb.   14  Mk. 

Scholz,  Ed.  J.  R.,  Bienen  und  Wespen,  ihre  Lebensgewohn- 
heiten und  Bauten.  Mit  80  Abbildungen  im  Text.  (Naturwiss. 
Bibliothek  f.  Jugend  u.  Volk,  herausgeg.  v.  K.  Höller  und 
G.   Ulmer.)      Leipzig,  Quelle  u.   Meyer.  —  Geb.    1,80  Mk. 

Schrenck-Notzing,  Dr.  Freiherr  von,  Materialisationsphänome. 
Ein  Beitrag  zur  Erforschung  der  medinmistischen  Teleplastie. 
Mit  ISO  Abbildungen  und  30  Tafeln.  München  '14.  E.  Rein- 
hardt. —   14  Mk. 

Steinmann,  Dr.  P.  u.  Bresslau,  Dr.  G.,  Die  Strudelwürmer 
(Turbellaria).  Mit  2  Tafeln  u.  156  Textabbildg.  (Mono- 
graphien einheimischer  Tiere,  herausgegeb.  v.  Prof.  Dr. 
H.  E.  Ziegler  u.  Prof.  Dr.  R.  Woltereck.  Bd.  5.)  Leip- 
zig '13.     Dr.  W.  Klinkhardt.  —  Geb.   10  Mk. 

Stickers,  J.,  Was  ist  Energie?  Eine  erkenntniskritische  Unter- 
suchung der  Ostwaldschen  Energetik.  Berlin/Wilmersdorf '13. 
Hausbücherverlag   H.  Schnippel. 

Technik  der  tiefen  Temperaturen.  Dem  III.  Internat.  Kälte- 
kongreß in  Chikago  1913  vorgelegt  v.  d.  Gesellschaft  für 
Linde's  Eismaschinen,  .\bteilg.  f.  Gasverflüssigung,  Mün- 
chen. Mit  34  Abb.  u.  I  Tafel.  München  und  Berlin  '13. 
K.  Oldenbourg.  —  Geb.  3  Mk. 

Wagner,  Prof.  Dr.  P.,  Lehrbuch  der  Geologie  und  Mineralogie 
für  höhere  Schulen.  Große  Ausgabe  für  Realgymnasien 
und  Oberrealschulen  und  zum  Selbstunterricht.  Mit  316  Ab- 
bildungen u.  4  Tafeln.  4.  u.  5.  verbesserte  Auflage.  Leipzig- 
Berlin   '13.    B.   G.  Teubner.   —  2, So  Mk. 

Wien,  W.,  Vorlesungen  über  neuere  Probleme  der  theoreti- 
schen Physik,  gehalten  a.  d.  Columbia-Universität  in  New- 
York  im  April  1913.    Leipzig  u.  Berlin  '13.    B.  G.  Teubner. 

—  Geh.  2,40  Mk. 

Wilke,  A.,  Die  Elektrizität,  ihre  Erzeugung  und  ihre  An- 
wendung in  Industrie  und  Gewerbe.  6.  gänzl.  umgearb. 
.■\ufl.  Unter  Mitwirkung  mehrerer  Fachgenossen  bearbeitet 
und  herausgeg.  v.  Dr.  Willi  Hechler.  Mit  2  Tafeln  und 
629  Texttiguren.     Leipzig  '14.     O.  Spamer.  —  Geb.  10  Mk. 

Wundt,  Prof.  Wilh. :  Einleitung  in  die  Philosophie.  6.  Aufl. 
Mit  einem  .-Xnhang ;  Tabellarische  Übersichten  zur  Geschichte 
der  Philosophie  u.  ihrer  Hauptrichtung.  Leipzig  '14,  A. 
Kröner.   —  8  Mk. 

Zernecke,  Dr.  E. ,  Leitfaden  für  Terrarien-  und  Aquarien- 
freunde. 4.  gänzlich  neu  bearbeitete  Auflage  von  C.  Heller 
u.  P.  Ulmer.  Mit  200  Abb.  im  Text.  Leipzig  '13.  Quelle 
&  Meyer.  —  Geb.   7   Mk. 

Zschimmer,  B.,  Das  Welteriebnis.  III.  Teil  nebst  Anhang: 
Prolegomena  zur  Panlogik.  Leipzig  u.  Berlin  '13.  W.  Engel- 
mann. —  4  Mk. 


Inhalt:  Privatdozent  Dr.  Bruno  Wolff;  Heilkraft  der  Natur  und  Heilkunst.  —  R.Meli:  Die  Chinesen  und  der  Schmetter- 
ling. —  Bücherbesprechungen:  P.  Kammerer:  Genossenschaften  von  Lebewesen  auf  Grund  gegenseitiger  Vorteile. 
—  Herpetologia  europaea.  —  H.  W.  Schmidt:  Deutschlands  Raubvögel.  —  Dr.  med.  Martin:  Die  sogenannte 
Blutsverwandtschaft  zwischen  Mensch  und  Affe.  —  Hausschwammforschungen.  —  Anregungen  und  Antworten.  — 
Literatur  :  Liste. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstraße   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.   Band  ; 
der  ganzen    Reihe   29.  Band. 


Sonntag,  den  i8.  Januar  1914. 


Nummer  3. 


Die  Chinesen  und  der  Schmetterling. 


[Nachdruck  verboten.] 


Die  Schutzgöttin  der  Seidenraupen. 

Wie  schon  oben  erwähnt,  befindet  sich  in 
jeder  Seidenraupenzüchterei  im  Flurraum  hinter 
der  Haustür  der  Altar  der  „Si-sann-tai-sing-cham 
ku'-sien-long",  der  Schutzgöttin  der  Seidenraupen. 

Über  ihre  Lebensgeschichte  wird  folgendes 
erzählt.  Sie  war  bei  Lebzeiten  ein  Mädchen  von 
großen  persönlichen  Vorzügen.  Einst  ritt  ihr 
Vater  in  Geschäften  aus  und  kam  nicht  zurück. 
Frau  und  Tochter  waren  deshalb  sehr  betrübt 
und  aßen  und  tranken  nicht.  Das  Pferd,  auf  dem 
der  Vater  fortgeritten  war,  kam  nach  einiger  Zeit 
zurück,  aber  ohne  seinen  Herrn.  Die  schöne  und 
trostlose  Tochter  tat  eines  Tages  in  ihrem  Schmerze 
das  Versprechen:  „Ich  will  mit  Freuden  jeden 
heiraten,  der  den  Vater  gesund  und  unverletzt 
zurück  bringt."  —  Das  zurückgekehrte  Roß  hatte 
bei  diesem  Gelöbnis  die  Ohren  gespitzt.  Kaum 
hatte  das  Mädchen  geendet,  da  galoppierte  das 
Tier  davon.  Nach  einigen  Tagen  kehrte  es  zu- 
rück, und  trug  den  vermißten  Herrn  unversehrt 
auf  seinem  Rücken.  Die  Tage  nach  der  Rück- 
kunft des  Hausherrn  wieherte  das  Roß  unaufhör- 
lich. Die  P>au  des  Zurückgebrachten  folgerte 
daraus,  das  Tier  fordere  die  Erfüllung  des  Ver- 
sprechens und  sie  berichtete  das  Gelöbnis  der 
Tochter  und  ihre  Meinung  über  das  Benehmen 
des  Pferdes  ihrem  Manne.  Der  brach  in  lautes 
Gelächter  aus,  als  er  sich  die  Verbindung  vor- 
stellte: Seine  schöne  Tochter  und  sein  Roß  I  Er 
lachte,  daß  das  Haus  schallte.  Schließlich  äußerte 
er  in  nicht  mißzuverstehenden  Worten  seine  An- 
sicht über  einen  solchen  Unsinn :  „Ein  Mensch 
kann  einem  Tiere  überhaupt  kein  Versprechen 
geben ,  von  einem  Halten  eines  solchen  kann 
mithin  gar  nicht  die  Rede  sein!" 

Als  das  Pferd  diese  Meinung  seines  Herrn 
hörte,  wurde  es  sehr  aufgeregt  und  verweigerte 
die  Arbeit.  Da  wurde  sein  Herr  zornig  und  tötete 
es  durch  einen  raschen  Pfeilschuß.  Die  Haut  des 
getöteten  Tieres  wurde  abgezogen  und  im  Hofe 
zum  Trocknen  ausgespannt.  Als  das  Mädchen, 
welches  das  Versprechen  getan  hatte,  an  der  aus- 
gebreiteten Haut  vorüberging,  erhob  sich  diese, 
hüllte  das  Mädchen  ein  und  flog  mit  ihm  durch 
die  Luft  davon.  Nach  fünf  Tagen  kam  die  Haut 
zurück  und  spreitete  sich  über  einen  Maulbeer- 
busch aus,  der  nahe  dem  Hause  seines  ehemaligen 
Herrn  stand.  Das  junge  Mädchen  kam  auch 
zurück  und  saß  in  Gestalt  einer  Seidenraupe  auf 
demselben  Busche.  Als  Vater  und  Mutter  des 
Mädchens    herankamen,    um   das   sonderbare    Ge- 


Von  R.  Meli,  Canton.  (Schluß.) 

schehen  in  der  Nähe  zu  betrachten,  wurden  Pferde- 
haut und  Raupe  in  Geister  verwandelt.  Jeder  der 
beiden  saß  auf  einer  Wolke  und  einer  von  ihnen 
wendete  sich  zu  den  beiden  Eltern  mit  folgenden 
Worten:  „Yüh-wong-tai,  der  Perlenkaiser,  hat  be- 
stimmt, daß  ich,  Euere  Tochter  und  mein  Genosse, 
Euer  früheres  Roß  dem  gegebenen  Versprechen 
getreu  sind.  Zur  Belohnung  für  die  Treue  hat  er 
uns  in  Geister  verwandelt  und  für  immer  gesegnet. 
Klagt  deshalb  nicht  über  unsere  Trennung  1'  Dann 
verschwanden  die  beiden  Geister. 

Infolge  ihrer  Verwandlung  in  eine  Seidenraupe 
wird  das  Mädchen  seit  alten  Zeiten  als  Schutz- 
geist der  Seidenraupen  unter  dem  oben  ange- 
gebenen Namen  verehrt. 

Antheraea  Pernyi  Guer.') 

Das  Hauptzuchtgebiet  dieser  großen  Saturnide 
liegt  in  der  Südostmandschurei  und  zwar  in  der 
Gegend  von  Antung. 

Ihre  Nährpflanze  ist  Quercus  mongolica.  (Die 
Chinesen  unterscheiden  wieder  mehrere  Unter- 
arten oder  Rassen  des  Baumes:  Tso-muk  =  die 
Stammart  von  mongolica;  Hu-po-lo,  Tsientso, 
T'sing-t'ang  sind  wohl  drei  Unterarten  davon.)  Für 
die  Raupenzucht  werden  die  Eichen  meist  kurz 
und  buschig  gehalten.  Sie  finden  sich  an  Hügeln 
und  Bergen  und  sind  anscheinend  hinsichtlich  der 
Bodenart  nicht  wählerisch.  Sie  wachsen  im  weichen 
Schlemmboden  am  Hügelfuß  und  bis  weit  hinauf 
zu  den  kahlen  steilen  Felsen;  am  besten  gedeihen 
sie  an  sonnigen  Hängen  niedriger  Schluchten,  wo 
eine  schwarze  Humusdecke  sich  gebildet  hat. 

Die  Sommergeneration  erscheint  etwa  vom 
20.  Juli  an.  Die  Tiere  schlüpfen  nachmittags 
gegen  Sonnenuntergang.  Die  Kopula  wird  vom 
Züchter  am  Nachmittage  des  nächsten  Tages  ge- 
löst. Der  Mann  kann  nur  ein  Weib  befruchten 
und  stirbt  innerhalb  24 — 36  Stunden.  Das  Weib 
wird,    nachdem    es    vom    Manne    getrennt    wurde, 


')  Ein  kurzer,  dreitägiger  Aufenthalt  im  Zuchtgebiet 
brachte  mir  kein  anderes  Material,  als  wie  es  bereits  in  den 
Veröffenllirhungen  des  Chinesischen  Seezolls  geboten  ist 
(Memorandum  on  Wild  SilUworm  Cullure  in  Souih-Eastern 
Manchuria;  Imperial  Maritime  Customs,  China,  11,  Special 
Series  Nr.  30).  Ich  folge  deshalb  in  der  Darstellung  diesem 
Berichte.  Vermißt  habe  ich  bei  den  Erkundigungen  über  die 
Behandlung  von  Pernyi  die  kleinen  ethnologischen  Randleisten 
und  Ornamente,  mit  welchen  der  Morizüchter  sein  Handwerk 
verbrämt.  Das  Fehlen  jeglicher  Spezifika  und  traditioneller 
Vorurteile  bei  der  Pernyi-Zucbt  hat  wohl  zwei  Ursachen:  I.  Sie 
ist,  mit  der  Zucht  von  B.  mori  verglichen ,  verhältnismäßig 
jung.  2.  Infolge  der  Freilandzucht  kommt  der  Mensch  dem 
Tiere  nicht  „so  nahe"  und  kann  es  weniger  „umhegen",  als 
wenn  er  es  im  Hause  zöge. 


34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  3 


auf  einen  Eichbusch  gesetzt  und  da  mit  einem 
Grase,  dem  Ts'am-tso  ^)  oder  Saam-gok-tso  ^)  an- 
gebunden. Es  legt  an  diesem  und  dem  folgenden 
Abende  loo — 200  Eier.  Am  dritten  Morgen  wird 
es  losgebunden  und  in  einen  Korb  gesetzt,  wo 
es  die  zwei  bis  drei  Tage,  die  es  noch  lebt,  um- 
herflattert und  oft  noch  einen  Rest  von  Eiern  ab- 
legt. 

Bei  günstigem  Wetter  schlüpfen  die  Eier  nach 
II  bis  12,  bei  rauherem  nach  14  Tagen.  Die 
Larve  ist  anfangs  schwarz ;  sie  beginnt  fast  sofort 
zu  fressen.  Nach  3  Tagen  fällt  sie  in  den  ersten 
Schlaf,  den  Ts'an  mien,  er  dauert  2  oder  2V.>  Tage; 
dann  erfolgt  die  erste  Häutung.  Sie  findet  also 
am  19.  Lebenstage  —  vom  Ei  an  gerechnet  — 
statt  und  bei  ihr  wird  die  Raupe  grün.  Nach  4 
Tagen  beginnt  der  zweite  Schlaf,  3  Tage  später, 
also  am  26.  Tage  der  Gesamtentwicklung,  erfolgt 
die  zweite  Häutung.  Nach  wiederum  4  Tagen 
Fraßzeit  und  3Tagen„Schlaf"(=Vorhäutungsruhe)''j 
erfolgt  am  33.  Tage  die  dritte  Häutung  und  nach 
denselben  Zeiten  (4  -|-  3)  am  40.  Tage  die  vierte 
Häutung.  Nach  weiteren  13  oder  14  Tagen  er- 
reicht die  Raupe  ihre  volle  Größe  und  etwa  am 
55.  Tage  beginnt  sie  zu  spinnen.  Die  Dauer  der 
Fertigstellung  des  Kokons  hängt  vom  Wetter  ab; 
sie  dauert  wenigstens  3  Tage,  durchschnittlich  5, 
im  Höchstfalle  8.  Dunkle  Regentage  scheinen  die 
Aktivität  der  Raupe  zu  lähmen. 

Die  Raupe  wählt  zur  Verpuppung  einen  ver- 
steckten und  regengeschützten  Platz.  Und  jetzt 
ist  große  Aufmerksamkeit  der  Züchter  zur  Er- 
zielung einer  vollen  Ernte  nötig.  Die  Kokons 
werden  täglich  von  den  Bauern  bei  der  Heimkehr 
vom  Felde  gesammelt  und  in  offenen  Lagern  auf- 
gespeichert, zum  Verpacken  werden  kühlere  Tage 
abgewartet. 

Die  Wächter  haben  zwei  wichtige  Aufgaben. 
Zunächst  müssen  sie  insektenfressende  Vögel  ab- 
halten. Deshalb  hallt  es  zur  Zuchtzeit  in  den 
Hügeln  von  Schießen  und  Peitschengeknall.  Auch 
rote  Fahnen  werden  ausgehängt.  Ferner  müssen 
sie  acht  geben,  wenn  die  Tiere  einen  Busch  kahl 
gefressen  haben  und  müssen  sie  dann,  ehe  die 
Raupen  anfangen,  nach  neuer  Nahrung  suchend 
auseinander  zu  laufen,  nach  einer  anderen  Eiche 
bringen.  Zuweilen  muß  auch  der  ganze  Haufe  in 
Körben  zu  einem  anderen  Hügel  getragen  werden. 
Ein  Wächter  kann  im  Frühlinge  etwa  4000  und 
im  Herbste  gegen   5000  Raupen  beaufsichtigen.*) 

')  San-Tsam  ist  der  chinesische  Name  für  Antheraea 
Pernyi,  tso  heißt  Gras ;  Tsam-tso  bedeutet  also  etwa  ..Psrnyi- 
Gras''. 

")  Saam-gok-tso  heißt  ,, Drei  -  eck  -  gras",  wahrscheinlich 
wegen  der  Stengelforra.  (Da  die  Setzung  chinesischer  Zeichen 
inmitten  einer  Arbeit  mit  europäischen  Typen  die  Drucklegung 
erschwert  und  verteuert,  so  gedenke  ich  später  in  einer  be- 
sonderen Arbeit  alle  mir  bekannt  gewordenen  zoologischen 
und  botanischen  Bezeichnungen  der  Chinesen  zusammenzu- 
stellen, Zeichen,  Umschrift  und  soweit  ich  vermag  auch  den 
wissenschaftlichen  Namen.) 

■■')  Diese  Angaben  scheinen  mir  nicht  richtig  zu  sein,  ich 
kenne  keine  Raupe,  die  drei  Tage   Verhäutungsruhe  hat. 

■■j   Im  Frühlinge    sind    die   Vögel    angriffslustiger,    da    sie 


Die  ersten  Körbe  mit  Kokons  werden  gegen  Ende 
Oktober  verschifft;  der  größte  Versand  erfolgt 
Mitte -November,  von  da  nimmt  er  in  den  Dezember 
hinein  wieder  ab. 

Der  gewöhnliche  Züchter  behält  nichts  von 
seiner  Herbsternte  zuiück;  er  glaubt,  die  Tiere 
seien  nicht  erwünscht  zur  Nachzucht.  Er  kauft 
entweder  im  Frühlinge  Zuchtkokons  aus  einer 
Gegend,  die  durch  die  Güte  ihrer  Kokons  bekannt 
ist,  oder  er  erfragt  imreigenen  Distrikt,  wer  eine 
besonders  gute  Brut  hat.  Die  Preise  sind  im 
Frühlinge  50 — lOo"/,,  höher  als  für  Handelsware 
im  Herbste.  Die  Chinesen  halten  die  Zuchtkokons 
im  gewärmten  (Kang)  Zimmer.  Zum  Töten  der 
Puppen  durch  trockene  Hitze  haben  die  Japaner 
eine  „Backanstalt"  eingerichtet.  Die  Chinesen 
setzen  die  warm  gehaltenen  Puppen,  um  sie  zu 
töten,  jeden  zwanzigsten  Tag  der  Kälte  und  dem 
Winde  aus. 

Etwa  um  das  chinesische  Gräberfest  (also  An- 
fang April)  erscheinen  die  Falter.  Nach  der  Be- 
gattung werden  die  $$  in  Körbe  mit  Gras  und 
Zweigen  gesetzt.  Die  Eier  werden  zunächst  kühl 
gestellt,  damit  sie  nicht  schlüpfen,  bevor  die  Eichen 
ausschlagen.  Den  geschlüpften  Räupchen  werden 
Blätter  in  die  Ecken  der  Körbe  gesteckt;  wenn 
man  glaubt,  daß  das  Wetter  den  Tieren  nicht 
mehr  schaden  kann,  bringt  man  sie  auf  die  Frei- 
landbüsche. Ende  Juni  (etwa  vom  25.  an)  ver- 
spinnen sich  die  Raupen  und  geben  Mitte  Juli 
die  Falter  der  zweiten  Generation.  A.  Pernyi 
liefert  bekanntlich  die  Rohseide  oder  Schantung- 
seide.  *) 

Saturnia  Pyretorum  Westw. 

Sie  ist  mir  aus  allen  Teilen  von  Kuangtung 
bekannt.  Die  Imago  ist  auffällig  wegen  ihrer 
Flugzeit,  ich  beobachtete  sie  vom  30.  Dezember 
bis  25.  Januar,  ihre  Hauptflugzeit  ist  bei  Canton 
vom  20.  Januar  bis  15.  F"ebruar.  Nicht  weniger 
auffällig  ist  die  Raupe,  weil  sie  meist  in  großer 
Zahl  auf  einem  Baume  zu  finden  ist  und  durch 
die  Kotmengen  unten  und  den  Kahlfraß  oben 
schwer  übersehen  werden  kann.  Sie  wird  gegen 
12  cm  lang,  ist  gelb,  mit  Längsreihen  von  Aktinien- 
warzen  und  breiten  blaugrünen  Längsstreifen  da- 
zwischen. Ihre  Hauptnährpflanze  ist  Liquidambar 
formosana,  wo  diese  fehlt,  wird  sie  auch  an  Salix, 
Pirus,  Prunus,  Laurus  angetrofifen.  Obwohl  Pyre- 
torum in  allen  Teilen  der  Provinz  gleichmäßig 
verbreitet  ist,  wird  sie  doch  nur  im  Norden  als 
Nutztier  gesammelt.  Mir  ist  ihre  Verwendung  aus 
der  Umgebung  von  Siu-cao-fu  bekannt,  auch  im 
äußersten  NW,  bei  Lien-cao,  Lien-san,  Saam-kong 
sah  ich,  daß  die  Raupen  gesucht  wurden.  Auch 
vom  Norden  der  Nachbarprovinz  Kuangsi  kommen 
viele  Pyretorum  „fishing  lines"  als  Durchgangs- 
waren nach  Canton.     Ende  Mai  oder  Anfang  Juni 


für  ihre  Brut   zu  sorgen    haben    und   die  großen  Raupenberge 
ihnen  als  Schlaraffenland    erscheinen   mögen. 

')    Die    getöteten    Puppen    werden    angeblich  in  manchen 
Gegenden  gegessen  (ähnlich  wie  die  mori-Puppen). 


N.  F.  XIII.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


35 


werden  die  erwachsenen  T'ien-ts'am')  —  das  ist  der 
chinesische  Name  der  Pyretorum- Larve  —  im 
Freien  gesammelt.  Ein  Arbeiter  faßt  die  großen, 
dicken  Raupen  mit  beiden  Händen,  reißt  oder 
schneidet  die  Körperhaut  in  der  Leibesmitte  in 
zwei  Stücke ,  taucht  schnell  das  Tier  in  einen 
großen  Behälter  mit  Essig  und  zieht  den  bloß- 
gelegten und  mit  Essig  angefeuchteten  Inhalt  der 
Spinndrüsen  zu  einem  Faden  aus.  Dabei  muß 
er  sich  vor  dem  „schmerzhaften  Biß"  der  Raupe 
hüten.  Gemeint  ist  wohl  das  nesselnde  Jucken, 
das  durch  die  Berührung  mit  den  Aktinienwarzen 
erzeugt  wird.  Der  Faden  sieht  aus  wie  eine 
Darmsaite,  er  ist  honiggelb,  etwa  armlang  und 
I  mm  dick;  er  wird  an  Pflöcken,  die  in  einer 
Mauer  angebracht  sind,  zum  Trocknen  ausgespannt. 
Im  Erzeugungsgebiet  kostet  ein  Stück  etwa 
4  Pfennig.  Ich  habe  die  durch  ihre  Haltbarkeit 
bekannten  Fäden  in  China  nicht  in  Gebrauch 
gesehen,  anscheinend  geht  die  gesamte  Produktion 
nach  Japan,  wosie,,  T'ien-tsam-yüh-si",  die  „Himmels- 
tsamfischseide"  zu  Angelschnuren  und  angeblich 
auch  in  der  Torpedoindustrie  verwandt  wird. 
Hauptausfuhrhafen  ist  im  Süden  Canton,  es  werden 
hier  jährlich  gegen  350  Ballen  ausgeführt,  ein  Ballen 
hat  ungefähr  einen  Wert  von   18  M. 

Die  Imago  von  Pyretorum  ist  den  Chinesen 
nicht  bekannt;  das  zeigt  schon  der  Name  „Himmels- 
seidenraupe" (die  vom  Himmel  gekommene  =  un- 
bekannte). 

Papilio  alcinous  f.  mencius  Fldr. 
Dieser  Aristolochienfalter  ist  in  Kuangtung 
recht  selten;  ich  erhielt  von  meinen  Fängern  in 
vier  Jahren  nur  zwei  Stück.  Ein  Sammeln  dieses 
seltenen  Tieres  seitens  der  Chinesen  ist  für  Kuang- 
tung wohl  ausgeschlossen.  Ich  verdanke  die 
Kenntnis  seiner  Verwendung  als  Droge  einer  Mit- 
teilung des  Missionars  Klapheck  in  Schantung.  -) 
Er  berichtet,  daß  die  Puppen  dieses  Papilio  von 
den  Schäfern  nebenbei  gesammelt  und  als  „Stein- 
kindchen" an  Drogenhandlungen  und  Apotheken 
verkauft  würden,  angeblich  als  Augenheilmittel. 
Klapheck  bemerkt  jedoch,  daß  er  die  Anwendung 
der  Puppen    nicht    persönlich    beobachten  konnte. 

Euploea  spec,  Danais  spec. 
Eine  Hauptflugzeit  der  Euploeen  bei  Canton 
ist  Mitte  Oktober  bis  Mitte  November.  Alljähr- 
lich beobachtete  ich  um  diese  Zeit  Tagelöhner 
(„Kuli")  mit  breiten,  flachen  Fischnetzen  an  etwa 
3  m  langen  Stangen;  sie  hatten  sich  an  schmalen 
Bachrinnen  der  Hügelketten  (Pak-wan-san)  im  N 
von  Canton  aufgestellt  und  fingen  die  den  Bach 
entlang  segelnden  Euploea,  zumeist  die  gemeine 
Euploea  Midamus  L.  Meine  Fragen  nach  der 
Verwendung  dieser  Tiere  beantworteten  sie  aus- 
weichend, schließlich  sagte  einer,  die  blauen 
Flügel  würden  den  Feuerwerkskörpern  beigemengt. 

')  T'ien  =  Himmel,  ts'am  =  Name  von  Bombyx  mori  L. 
'')  „Auch    eine  Art    praktischer  Entomologie."     Entomol. 
Zeitschrift,  Stuttgart   1909. 


Nachfragen  bei  Leuten,  die  solche  Artikel  her- 
stellen, ergaben,  daß  diese  Auskunft  falsch  war. 
Später  beobachtete  ich,  daß  die  Leute  auch  die 
einzige  im  gleichen  Gelände  fliegende  Danais'), 
nämlich  Danais  Plexippus  L.  mitfingen  und  auf 
die  Erhaltung  der  F"arben  keinen  Wert  legten: 
die  Tiere  wurden  alle  lebend  in  eine  kleine  Bambus- 
kanne gesteckt.  Was  Euploea  Midamus  und 
Danais  Plexippus  für  den  Laien  und  insbesondere 
für  den  alles  auf  seine  Genießbarkeit  untersuchen- 
den Chinesen  gemeinsam  haben,  ist  der  Ekelsaft. 
Ekelsäfte  werden  auch  in  China  mit  Vorliebe  in 
der  Arzneikunde  verwendet.  Mir  bekannte  chine- 
sische Arzte  wußten  nichts  über  den  Gebrauch 
der  Falter;  ich  vermute  deshalb,  daß  sie  zu  einem 
Geheimmittel,  wahrscheinlich  zu  einem  Aphro- 
disiakum  verwendet  werden ;  vielleicht  ist  das 
mit  dem  giftfressenden  und  ekelsaftführenden 
Papilio  mencius  auch  der  Fall. 

Der  Bohnenschwärmer 
(Clanis  bilineata  Wlk.). 

Clanis  biUneata  ist  in  Kuangtung  nicht 
häufig  und  den  Chinesen  nicht  bekannt.  Meine 
Verwendung  in  Schantung  kenne  ich  durch 
Klapheck  (1.  c.)  und  auf  Grund  eigener  Reisen. 
Anfang  Juni  findet  dort  die  Weizenernte  statt; 
nach  ihr  wird  ein  großer  Teil  der  Felder  mit 
Bohnen  bebaut.  Im  August  stehen  diese  am 
üppigsten  und  es  gibt  dann  eine  Menge  „Bohnen- 
raupen" auf  ihnen.  Sie  werden  nicht  nur  von 
Hühnern  und  Krähen  gern  gesucht;  auch  die 
Chinesen  kann  man  auf  der  Jagd  sehen.  Die 
Ausbeute  wird  folgendermaßen  behandelt.  Ein 
dünnes  stumpfes  Stäbchen  hat  der  Fänger  in  der 
Hand,  die  Raupe  wird  bei  lebendigem  Leibe  dar- 
über gestülpt  wie  ein  Handschuhfinger,  daß  das 
Innere  nach  außen  kommt.  Dann  werden  die 
Tiere  abgewaschen,  in  Öl  gebraten  und  gegessen. 

II.  Der  Schmetterling  in  der  ch  inesischen 
Literatur. 

Die  nachstehenden  kleinen  Auszüge  erheben 
nicht  im  entferntesten  den  Anspruch  auf  Voll- 
ständigkeit. Die  Umschreibungen  der  chinesischen 
Namen  sind  im  Cantondialekt  gegeben. 

Der  Schmetterling  heißt  chinesisch  Wu-tip 
oder  Gab  tip  oder  Fung-tip;  im  Südosten  heißt  er 
auch  Tatmuk.  Nachtschmetterlinge  werden  als 
Yiä-ngo  oder  Tang-ngo  unterschieden. 

„Auf  seinen  Flügeln  ist  Staub,  sein  Fühler  -) 
saugt  gerne  den  Duft;  alle  riechen  mit  den 
Fühlern,  so  ist  sein  Fühler  gleich  der  Nase." 

„Die  Blume  ist  sein  Zimmer.  Im  Frühling, 
wenn  alle  Blumen  sich  öffnen,  sieht  man  ihn  am 
blumigen  Wege,  auch  im  leichten  Rieselregen 
sitzt  er  dort  in  seiner  Blüte." 

Er    kommt    aus    der    Puppe.      Auf   dem 

')  Danais  Chrysippus  L.  ist  hier  Gartenlandbewohner, 
alle  grünen  Uanais  sind  Waldtiere. 

^}  Der  Chinese  sagt  „Bart"  statt  Fühler. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  3 


Orangenbaum ')  ist  das  Insekt  namens  To.  Es 
ist  wie  ein  Fingerglied  so  groß,  sein  Kopf  hat 
Hörner.  Einmal  mag  es  sich  nicht  bewegen,  auch 
nicht  fressen  und  wird  zur  Puppe.  Nicht  lange 
liegt  sie  so,  da  kommt  aus  ihr  der  Schmetterling. 
Es  gibt  Leute,  die  wissen  nicht,  woher  er  kommt 
—  sie  sagen  dann,  er  kommt  vom  Himmel. 

„Im  Tsoili^  lan'  tsab^""  tsil  steht:  „Er  ist  schön, 
sauber,  wie  einer,  der  zu  Hause  sitzt,  sich  pflegt 
und  keine  Arbeit  tut." 

„Es  war  einmal  ein  Mann,  der  stahl  Duft;  der 
Schmetterling  macht  es  wie  er:  Staub  und  Schön- 
heit hat  er,  Duft  stiehlt  er." 

„Er  fürchtet  des  Angr-gor-)  Flügel  sehr;  er 
fürchtet  auch,  daß  die  Schwalbe  ihn  fängt  und 
flattert  nach  einem  südlichen  Zweig." 

„Wenn  der  Elegant  auf  dem  Baume  sitzt,  dann 
ist  er  so  bunt,  so  zierlich-schön  wie  Blüten  vom 
Würznägelein."  ^)  Zu  diesem  Thema  wird  erzählt: 
„Tünü  kungi"  loi  reiste  nach  Süden.  Als  er  durch 
die  Yünl  tangl-Schnellen  fuhr,  sah  er  einen  mehr- 
farbigen Baum  am  Ufer,  bunt  wie  schöne  Fäden, 
„das  ist  der  Tan-tsing-Baum",  sagte  er.  Er  rief 
einen  Diener,  einen  Zweig  zu  holen;  der  brachte 
ihn :  darauf  waren  mehr  als  zwanzig  zarte 
Schmetterlinge,  viele  bunt  wie  schöne  Fäden. 
Mancher  Augen  glänzten  wie  Gold,  mancher  Augen 
schimmerten  rötlich,  manche  waren  wie  Nägelein- 
blüten.  Da  waren  weiße,  gelbe  Körper,  da  waren 
welche  schwarz  und  blumig.  Der  Körper  war  wie 
Erbsen  klein,  der  andere  groß  wie  Fledermaus. 
Tun  kung  verwunderte  sich  sehr  und  ging  ans 
Ufer  um  zu  sehen,  ob  sie  aus  Blättern  wachsend 
kämen." 

Damast,  Goldstücke  und  Nephrit. 
„Der  Kaiser  Muk-tsung  hatte  vor  der  Schloßfront 
eine  Maoü  tanV  fahr*),  die  blühte  sehr  schön  und 
üppig.  Da  kamen  eines  Tages  Schmetterlinge, 
gelbe  und  weiße,  an  Zehntausende  so  viel.  Der 
Kaiser  und  seine  ganze  Familie  liefen,  nahmen 
ihre  Damasthandtücher,  liefen  und  wollten  sie 
fangen,  aber  niemandem  gelang  es.  Deshalb  be- 
fahl der  Kaiser  einigen  Leuten,  sie  mit  Netzen  zu 
fangen,  und  die  fingen  an  die  Hundert.  Der  Kaiser 
und  seine  Familie  freuten  sich  an  ihrer  Schönheit. 
Als  man  sie  am  nächsten  Morgen  neu  betrachten 


')  Es  ist  von  dem  Gat  genannten  Orangenbaum  die  Rede. 
Auf  diesem  leben  die  Raupen  zweier  Papilio  (demoleus  Cram. 
und  polytes  L.).  Das  Osmaterium  der  Papilionidcnraupen 
war  mithin  den  Chinesen  schon  in  alten  Zeiten  bekannt 
(„Hörner"). 

^)  =  Papagei  (Palaeornis  rosae). 

^)  Ich  habe  die  Übersetzung  mehr  in  europäischem  Ge- 
schmack gegeben,  gesagt  ist  nur  ,,Ting-häDg"  =  Gewürz- 
nelken. Der  Gewürznelkenbaum  kommt  hier  nicht  vor,  die 
Blütenfarbe  der  Eugenia  caryophyllata  ist  unbekannt.  Es  ist 
in  Wirklichkeit  auch  der  Duft  gemeint;  der  Chinese  liebt  be- 
kanntlich den  Duft  der  Speise  als  sehr  angenehme  Zugabe 
zum  Geschmack  und  zielit  von  zwei  annähernd  gleichen 
Nahrungsmitteln  unbedingt  das  duftende  vor. 

*)  Paeonia  Moutan  Sims.,  ist  bei  den  Chinesen  sehr  be- 
liebt und  wird  gut  bezahlt;  in  Kuangtung  kommt  sie  nicht 
wildwachsend  vor,  sie  wird  aber  vielfach  aus  Setzschuan, 
Scbensi  und  Honan  eingeführt. 


wollte  —  waren  sie  verwandelt,  in  wunderschönste 
Arbeit  von  Nephrit  und  Gold.  Des  Kaisers  Frauen 
und  Töchter  nahmen  Faden  und  banden  die  ver- 
wandelten Tiere  als  Schmuck  ins  Haar.  Am 
Abend  begannen  sie  zu  glänzen  und  zu  leuchten, 
Glas  und  Spiegel  strahlten  den  Schein  zurück." 
Es  ist  merkwürdig,  was  für  sonder- 
bare Dinge  es  im  Ling-pin  gibt.  Im  Yh- 
mat-tsi  heißt  es:  „Ein  Mann  fährt  nach  Namhoi. 
Als  das  Schiff  in  Ling  pin  am  Lande  liegt,  da 
sehen  die  Schiffer  ein  Ding  durch  die  Luft  ge- 
flogen kommen,  das  sah  aus  wie  ein  Segel.  Als 
es  über  dem  Schiffe  schwebte,  warfen  die  Schiffer 
danach.  Sie  trafen  es  und  es  fiel.  Neugierig 
liefen  sie  hin,  was  es  wohl  sein  möge:  Ein 
Schmetterling!  Der  war  nicht  klein  1  Nach  Ab- 
brechen von  Beinen  und  Flügeln  lieferte  er  noch 
8o  Kätti  Fleisch  und  das  war  recht  fett"  (8o  Kätti 
=  I   Zentner!). 

TsöngrkungsT  Beschäftigung.  „Tsöng  kung  war 
ein  junger  Mann.  Er  versuchte  ein  Examen  zu 
machen,  aber  er  bestand  es  nicht.  Dagegen  ver- 
stand er  allerhand  Zauberstückchen.  Einmal  reiste 
er  nach  Kongl  waihV,  dort  lud  man  ihn  zu  einem 
Trinkgelage  ein.  Als  man  so  recht  lustig  war, 
forderte  Tsöng  Schere  und  Papier,  schnitt  eine 
Anzahl  Schmetterlinge  aus,  blies  sie  an  und  ließ 
die  fliegen.  Sie  flogen  und  flogen  sogar  mehrere 
Zeichen  lang  (l  Zeichen  =  5  Min.).  Dann  holte 
er  sie  zurück  und  keiner  war  verloren." 

Mensch  oder  Schmetterling.?  „Tsöng i 
tsaor  hatte  einen  Traum ;  ihm  träumte,  er  sei  ein 
Schmetterling.  Er  konnte  gut  fliegen  und  fühlte 
darüber  große  Freude.  Er  wußte  nicht  mehr,  daß 
er  Mensch  war,  er  wußte  nur,  daß  er  Schmetter- 
ling war.  Schließlich  wachte  er  auf  Was?  sagte 
er,  ich  bin  ja  kein  Schmetterling?  Ich  bin  ja 
TsöngT  tsaor?  Vorhin  war  ich  noch  ein  Schmetter- 
ling, einen  Augenblick  später  bin  ich  ein  Mensch? 
Jetzt  weiß  ich  wirklich  nicht,  träumte  der  Mensch 
ein  Schmetterling  zu  sein  oder  träumt  der 
Schmetterling  ein  Mensch  zu  sein?" 

Im  San  1  t'ong'  siit'aol  sagt  der  Erzähler:  „Siehst 
Du  zwei  Schmetterlinge  zusammen  spielen  in  der 
Luft,  so  weißt  Du,  es  sind  die  Geister  von  Löngi 
sanT  hak  4  ')  und  Tsuk4  yingi  t'oil ;  sie  lieben  sich 
nach  dem  Tode,  da  es  ihnen  im  Leben  versagt 
war." 

Der  Schmetterlingstshä.  „Tsh'äiyati 
dichtete  ein  Schmetterlingslied,  300  Verse  groß; 
deshalb  nannten  ihn  die  Leute  den  Schmetter- 
lingstshä." 

Die  Schmetterlingswahl.  „Der  Kaiser 
Ming  (Tongdynastie)  trank  mit  seinen  Gästen. 
Seinen  Frauen  und  Konkubinen  gab  er  Auftrag, 
ihr  Haar  mit  Blumen  zu  schmücken.  Dann  ließ 
er  einen  Schmetterling  fliegen,  auf  welcher  Haar- 


')  Die  Geschichte  von  Long  san  hak  und  Tsukying  toi, 
zwei  unglücklich  Liebenden,  wird  gern  von  den  Geigenmädchen 
und  anderen  Sängerinnen  gesungen.  Sie  ist  zu  lang,  um  sie 
hier  wiederzugeben. 


N.  F.  XIII.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


37 


schmuck  der  flog,  um  Honig  zu  naschen,  mit   der 
schlief  der  Kaiser  in  der  folgenden    Nacht." 

DuftfolgtderDirne.  „Zur  Zeit  der  Tong- 
dynastie  war  in  der  Hauptstadt  eine  Dirne,  die 
war  hochberühmt  und  sehr  beliebt.  In  der  ganzen 
Hauptstadt  war  keine  zweite  PVau  so  schön  wie 
sie.  Eine  Menge  Schmetterlinge  und  Bienen 
folgten  ihr,  wenn  sie  ausging;  denn  sie  liebten 
ihren  Duft  sehr." 

DerStatuenDank.  Laol tsiA hang ^  wohnte 
in  L«!  s5n_*.  Eines  Tages  sah  er  ein  Paar  große 
fünffarbige  Schmetterlinge,  die  flogen  von  einer 
Blüte  zur  anderen.  Er  sah  ihnen  lange  zu  und 
freute  sich  über  sie.  Am  Abend  desselben  Tages 
kamen  zwei  Mädchen  zu  ihm,  die  sagten:  „Herr, 
wir  danken  dir  sehr,  daß  du  den  Schmetterlingen 
dein  Herz  schenktest.  Wir  wollen  deshalb  heute 
Nacht  bei  dir  bleiben.  Jeden  zehnten  Abend 
kamen  die  Mädchen  wieder  und  taten  so  mehrere 
Jahre.  Einmal  kam  Lao  auf  seinen  Wegen  dort 
in  der  Gegend  in  einen  Tempel,  in  dem  er  bis- 
her noch  nicht  gewesen  war.  Da  sah  er  zwei 
weibliche  Statuen,  die  hatten  die  Gesichter  seiner 
beiden  Mädchen." 

Sonderbar  klingt  ein  anderes  Wort:  „Spei  ihm 
auf  die  Flügel  und  er  fliegt  sehr  hoch." 

Der  Genius  Got.  „Im  Lo-fau-sam  ^)  gibt 
es  eine  Schmetterlingshöhle,  nahe  bei  der  Wind- 
wolkengrotte. Dort  ist  viel  Wald,  durch  alle 
Jahreszeiten  finden  sich  dort  viele  Schmetterlinge. 
Wie  kommt  das?  Der  Genius  Got  legte  dort  in 
der  Höhle  seinen  Mantel  nieder,  der  verwandelte 
sich  nach  und  nach  in  Schmetterlinge." 

„Auf  einer  Schlingpflanze,  dem  Reihergras, 
gibt  es  im  Frühlinge  viele  schön  gefärbte  Raupen, 
die  werden  zu  Puppen.  Aus  diesen  kommen 
schöne  Schmetterlinge.  Nimm  sie  und  sieh  sie 
Dir  an!" 

Er  liebt  die  LiHen'^)-Erde.  Tsöng 
tsao    fung    sagt:    „Nimm    eine    Lilienblüte,    noch 


')  Der  Lo-fau-san  ist  ein  Berggebiet  im  Osten  von  Canton. 
^)  Die  Pah-hap-fah  ist  Lilium  ligrinum  Ker. 


ehe  sie  geöffnet  ist  und  umschließe  sie  ganz 
mit  nasser  Erde  — :  am  nächsten  Morgen  ist's 
ein  Schmetterling."  Eine  Art  ist  nach  den  Schilde- 
rungen in  der  chinesischen  Literatur  mit  Sicher- 
heit zu  ermitteln.  Er  wird  folgendermaßen  be- 
schrieben: Groß,  grün,  mit  roten  Rändern  vorn 
und  zwei  langen  Schwalbenschwänzen  hinten  — 
das   ist    die    große  Saturnide  Actias    Selene    Hbn. 

Der  Geistschmetterling.  Es  gibt  einen 
Schmetterling,  der  ist  groß  wie  ein  Fächer,  vier 
Flügel  hat  er  und  liebt  den  Laitsi-Baum.  Wie 
Eisendraht  sind  seine  Augenbrauen,  sein  Leib  ist 
abwechselnd  goldig  und  grün.  Schön  ist  er,  so 
schön!  Alle  Blumen  freuen  sich,  kommt  er  da- 
her geschwebt  und  öffnen  sich.  Und  wenn  er 
geht  —  niemand  hat  je  gesehen,  wohin  er  geht, 
ja  niemand  weiß,  wohin  er  dann  verschwindet". 
Charakteristisch  an  dieser  chinesischen  Schmetter- 
lingssammlung erscheint  mir  folgendes:  Der  ele- 
gante Ausdruck  und  manches  gute  Bild;  die  Freude 
am  Erzählen  treibt  manche  phantastische  Blüte. 
Eine  große  Rolle  spielt  in  der  Stellung  des  Chinesen 
zum  Naturobjekt  der  Geisterglaube,  das  erotische 
Moment  hat  einen  ganz  beachtlichen  Akzent. 

Die  Kenntnis  von  der  Verwandlung  der 
Schmetterlinge  ist  schon  lange  vorhanden;  trotz- 
dem besteht  nebenher  der  Glaube,  daß  Schmetter- 
linge auch  aus  Blättern  und  Blumen  entstehen 
können.  Ähnlich  wird  vom  „Reisvogel"  (Emberiza 
aureola)  allgemein  behauptet,  daß  er  sich  in  Fische 
verwandle,  „aus  seinen  Eiern  werden  Fische". 
Der  Landmann,  den  man  eines  Besseren  belehren 
will,  lächelt  nur  nachsichtig  und  milde.  Den 
Grund  zu  der  Annahme  bildet  der  Umstand,  daß 
diese  „Reisammer"  nur  zur  Zeit  der  Reisernte 
hier  erscheint  und  dann  • —  anscheinend  ohne 
hier  zu  brüten  —  wieder  verschwindet.  Dagegen 
werden  nach  der  Reisernte  die  bisher  von  den 
Reispflanzen  oft  versteckten  Fische  im  Felde  mehr 
sichtbar.  —  Auch  von  Fischen  sagt  man,  daß 
sie  aus  Schlamm  entstehen  können,  weil  nämlich 
in  manchem  Tümpel  oder  Reisfeld  Fische  er- 
scheinen, ohne  daß  sie  eingesetzt  wurden  oder 
ein  Zustrom  von  Wasser  erfolgte. 


Einzelberichte. 


Chemie.  Versuche  über  Verflüssigung  und 
Sieden  von  Kohle  teilt  in  der  „Schlesischen  Ge- 
sellschaft für  vaterländische  Kultur"  (Sitzung  vom 
26.  Nov.  1913)  O.  Lummer  mit.  Durch  An- 
wendung der  großen  Hitze  eines  elektrischen 
Flammenbogens  unter  gleichzeitiger  Druckerniedri- 
gung ist  es  Lummer  gelungen,  die  Kohle  zu  ver- 
flüssigen und  zum  Sieden  zu  bringen.  Um  den 
Versuch  mit  möglichst  reinem  Kohlenstoff  auszu- 
führen, mußten  Kohlen  ausgewählt  werden,  die 
möglichst  frei  von  fremden  Beimengungen  sind, 
deren  Aschengehalt  also  ein  sehr  geringer  ist. 
Unter    den    verschiedenen   Kohlensorten,    die   zur 


Verwendung  kamen,  zeichneten  sich  besonders 
aus  eine  Graphitkohle  mit  einem  Aschengehalt 
von  etwa  i  %  und  eine  oberschlesische  Kohle, 
die  besonders  rein  war  und  einen  Aschengehalt 
von  nur  o,  15"^  aufwies.  Das  Verhalten  der  ver- 
schiedenen Kohlenarten  war  in  allen  Fällen  das 
gleiche.  Kam  ein  Flammenbogen  von  220  Volt 
Spannung  zur  Verwendung,  so  begann  bei  einem 
Druck  von  50  bis  60  cm  die  Kohle  zu  sieden, 
mit  weiter  abnehmendem  Druck  wurde  sie  zäh- 
flüssig, bis  sie  bei  etwa  40  cm  ganz  flüssig  war, 
wobei  die  flüssige  Kohle  nicht  abtropft,  sondern 
zu    Blasen     und    Siedeperlen    Veranlassung    gab. 


38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  s 


deren  eckiges  Aussehen  eine  Folge  des  großen 
Kristallisationsvermögens  des  Kohlenstoffs  ist. 
Sinkt  der  Druck  dann  bis  ca.  lo  cm,  so  steigen 
nur  an  den  Rändern  noch  Dämpfe  auf,  während 
das  Sieden  aufhört,  bis  sich  bei  weiterer  Druck- 
abnahme die  Kohle  wieder  verfestigt.  Das  Siede- 
produkt erwies  sich  als  reiner  Graphit.  Die  Ver- 
suche werden  im  Breslauer  Institut  von  Lummer 
noch  fortgesetzt,  und  zwar  mit  ganz  reinem 
Kohlenstoff,  deren  Ergebnisse  aber  erst  abgewartet 
werden  müssen,  ehe  es  möglich  ist,  die  oben  kurz 
geschilderten  Erscheinungen  zu  beurteilen. 

Sbn. 

Hydrolyse  der  F'ette.  Behufs  Beurteilung  der 
Vorgänge  bei  der  Hydrolyse  der  Fette  hat  man 
zu  unterscheiden,  ob  die  Hydrolyse  im  homogenen 
oder  im  inhomogenen  System  verläuft.  Im  homo- 
genen System  verläuft  die  Reaktion  zweifellos 
stufenweise,  unter  Bildung  von  Mono-  und  Di- 
glyceriden  als  Zwischenprodukte. ') 

Bei  der  den  technischen  Verhältnissen  ent- 
sprechenden Spaltung  der  Fette  im  inhomogenen 
System  muß  man  berücksichtigen,  ob  die  Hydro- 
lyse durch  Alkalien,  Säuren,  Wasserdampf  oder 
Fermente  erfolgt.  Bei  der  Verseifung  mit  Alkalien 
konnte  bisher  in  keinem  Falle  Zwischenbildung 
von  Mono-  und  Diglyceriden  nachgewiesen  werden. 
J.  Marcusson  unterzog  vorliegende  Frage  einer 
erneuten  Prüfung.  Bei  dieser  wurden  in  erster 
Linie  einheitliche  Glyceride  wie  Tribenzoin,  Tri- 
palmitin  und  Tristearin,  und  dann  erst  Gemische 
verwandt.  Die  Prüfung  auf  Bildung  von  Mono- 
und  Diglyceriden  erfolgte  folgendermaßen :  Aus 
den  teilweise  gespaltenen  Glyceriden  wurden  die 
neutralen,  noch  nicht  verseiften  Anteile  nach  dem 
Verfahren  von  Spitz  und  Honig  abgeschieden.  In 
diesen  Anteilen  mußten  sich  etwa  gebildete  Mono- 
und  Diglyceride  angereichert  vorfinden.  Bei 
Gegenwart  dieser  Zwischenstufen  war  gegenüber 
dem  reinen  Ausgangsmaterial  eine  Veränderung 
des  Schmelzpunktes,  eine  Verringerung  der  Ver- 
seifungs-  und  Hehnerzahl,  dagegen  eine  Erhöhung 
der  Acetylzahl  zu  erwarten,  wie  auch  die  Tabelle 
zeigt: 


Schmelz- 
punkt 

Hehner- 
zahl 

Ver- 
seifungszahl 

Acetylzahl 

Tristearin 

71,5 

95.7 

iS9,l 

189,1 

Distearin       \ 
a  und  ß       \ 

72-5  "•  74,5 

90,7 

179,8 

252,7 

Monostearin 

61 

79.0 

156,7 

380,8 

Die  Versuche  wurden  vorläufig  durch  Erhitzen 
mit  Wasser  im  Autoklaven  ausgeführt  und  führten 
zu  folgendem  Ergebnis.  Die  aus  teilweise  ge- 
spaltenem Tribenzoin  abgeschiedenen  Neutralstoffe 
hatten  einen  beträchtlich  niedrigeren  Schmelz- 
punkt. Versuche,  durch  Kochen  mit  Essigsäure- 
anhydrid eine  Acetylgruppe  einzuführen,  führten 
nicht  zum  Ziele. 


')  Zeitschrift   für    angewandte    Chemie  Bd.  26,   173 — 176. 


Bei  Verwendung  von  Tripalmitin  bzw.  Tri- 
stearin wurde  gefunden,  daß  die  abgeschiedenen 
Neutralstoffe  um  5 — 8 "  niedriger  schmolzen  als 
das  verwandte  Triglycerid,  die  Verseifungszahl 
war  gesunken,  die  Hehnerzahl  (Prozentgehalt  an 
Fettsäuren)  war  geringer.  Beim  Kochen  mit 
Essigsäureanhydrid  wurden  beträchtliche  Mengen 
von  Acetylverbindungen  gebildet;  die  Verseifungs- 
zahlen  der  acetylierten  Fette  waren  239,9  'J"'^ 
224  gegenüber  208,8  und  189,1  bei  reinem  Tri- 
palmitin und  Tristearin. 

Das  gleiche  Verhalten  zeigte  auch  technisches 
Palmkernfett. 

Hieraus  muß  geschlossen  werden,  daß  die 
Hydrolyse  der  Fette  beim  Erhitzen  mit  Wasser 
unter  Druck  unter  intermediärer  Bildung  von 
Mono-  und  Diglyceriden  erfolgt.  Das  gleiche 
dürfte  auch  für  die  Hydrolyse  durch  Säuren  und 
Fermente  gelten. 

Eine  Sonderstellung  nimmt  somit  nur  die 
Hydrolyse  durch  Alkallen  ein.  Vielleicht  gelingt 
es  aber  auch  hier  noch  einmal,  die  Zwischen- 
glieder der  Reaktion  nachzuweisen. 

Auf  den  experimentellen  Teil  einzugehen, 
würde  zu  weit  führen.  O.  Bürger-Kirn. 

Bufotalin,  das  Gift  der  Kröten.  Die  Kenntnis 
von  der  Giftigkeit  der  Kröte  reicht  bis  ins 
Altertum  hinein.  Auch  Volksglaube  und  Ge- 
lehrsamkeit des  Mittelalters  beschäftigen  sich  leb- 
haft mit  ihr,  und  in  der  Poesie  bildet  die  Kröte 
in  ihrer  Giftigkeit  und  Häßlichkeit  von  jeher  ein 
wirksames  und  viel  gebrauchtes  Sj'mbol.  Als 
Heilmittel,  besonders  gegen  Herzleiden,  sind  ge- 
trocknete Kröten  schon  seit  langer  Zeit  verwendet 
worden.  In  China  und  Japan  besitzen  Präparate 
daraus  noch  heutigen  Tages  in  der  Therapie  hohe 
Bedeutung.  Um  die  Mitte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts wurde  durch  exakte  Untersuchung  fest- 
gestellt, daß  der  Giftstoff  in  den  Hautdrüsen  ab- 
geschieden wird.  Französische  Physiologen  be- 
zeichneten das  Krötengift  als  ein  spezielles  Herz- 
gift. Eine  ausführliche  historische  Darstellung 
über  das  Krötengift  findet  sich  in  der  Monographie 
von  E.  St.  Faust  „Die  tierischen  Gifte".  Für 
den  Chemiker  erhellt  aus  den  früheren  Arbeiten 
bloß  das  eine  Wissenswerte,  daß  der  giftige  Be- 
standteil des  Hautdrüsensekretes  keinen  Stickstoff 
enthält.  Wesentliche  Fortschritte  unserer  Kennt- 
nisse über  das  Krötengift  brachte  eine  Unter- 
suchung von  E.  St.  Faust,  der  einen  scheinbar 
einheitlichen  Stoff  von  der  Zusammensetzung 
C34H4,.,0],|  aus  Krötenhäuten  isolierte  und  ihn 
Bufotalin  nannte.  Neuerdings  befaßten  sich  mit 
diesem  Bufotalin  Heinrich  Wieland  und 
Friedrich  Josef  Weil  am  Chemischen  Labora- 
torium der  Kgl.  Akademie  der  Wissenschaften  in 
München  (Ber.  d.  Dtsch.  Chem. -Ges.  46.  Jahrg. 
Nr.  14,  S.  3315  ff.).  Sie  konnten  konstatieren,  daß 
das  Bufotalin  nicht  den  Säurecharakter  besitzt, 
der  ihm  von  Faust  zugeschrieben  worden  war. 
Das  F  a  u  s  t 'sehe  Bufotalin  enthält  noch  Korksäure, 


N.  F.  XIII.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


39 


welche  bisher  als  Stoffwechselprodukt  der  tieri- 
schen Zelle  noch  nicht  angetroft'en  worden  war. 
Den  beiden  angeführten  Chemikern  gelang  es  das 
Krötengift,  Bufotalin,  in  kristallisierter  Form  zu 
erhalten.  Es  hat  die  Zusammensetzung  CjgH.j^O^, 
zeigt  neutralen  Charakter  und  dürfte  ein  gesättigtes 
Dioxy-lacton  sein,  das  seiner  Zusammensetzung 
nach  drei  Ringbindungen  enthalten  muß. 

Dr.  R.  Ditmar. 

Physik.  Energiemessungen  an  Empfangs- 
antennen. Heinrich  Hertz  hat  eine  Gleichung 
aufgestellt,  welche  gestattet,  die  Stärke  des  elek- 
trischen Feldes  in  größerem  Abstände  r  von  einer 
strahlenden  Antenne  aus  ihrer  Länge  und  der 
Stromstärke  des  in  ihr  schwingenden  Stromes  zu 
berechnen  unter  der  Voraussetzung,  daß  die  An- 
tenne auf  gut  leitendem,  also  die  elektrischen 
Wellen  spiegelndem  Boden  steht.  Aus  dieser 
Formel  läßt  sich  die  Stromstärke  in  einer  im  Ab- 
stände r  von  der  Senderantenne  stehenden  Emp- 
fangsantenne, deren  Widerstand  und  Länge  be- 
kannt ist,  berechnen.  In  der  physikalischen  Zeit- 
schrift (XIV,  Seite  934  191 3)  berichtet  Herr 
M.  R  e  i  c  h  über  seine  Versuche,  welche  die  Überein- 
stimmung der  Theorie  mit  der  Praxis  untersuchen. 
Er  mißt  zu  dem  Zweck  mit  einem  D  u  d  d  e  1 1  'sehen 
Thermogalvanometer  in  der  Empfangsantenne  die 
Stromstärke  und  vergleicht  sie  mit  der  aus  der 
Formel  errechneten.  Die  Entfernungen  zwischen 
den  beiden  Stationen  betrugen  7  km,  dann  216  km 
(Köln-Göttingen),  288  km  (Neumünster-Göttingen). 
Gesendet  wurde  nach  der  Wien 'sehen  Methode 
mit  tönenden  Löschfunken.  Der  Größenordnung 
nach  stimmen  die  Beobachtungsresultate  mit  den 
aus  der  Formel  berechneten  überein.  Die  im 
Empfänger  auftretenden  Stromstärken  sind  stets 
zu  klein,  namentlich  wenn  bei  großem  Abstand  der 
Stationen  der  Sender  kurze  Wellen  {X  =  900  m) 
aussendet;  für  längere  (A  =  2000 — 2500  m)  sind 
die  Abweichungen  geringer.  Die  Differenz  erklärt 
sich  daraus,  daß  erstens  der  Boden  zwischen 
Sender  und  Empfänger  nicht  wie  die  Theorie 
voraussetzt,  unendlich  gut  leitend  ist  (nach  einer 
Regenperiode  wird  wegen  des  erhöhten  Wasser- 
gehaltes des  Bodens  die  Übereinstimmung  besser) 
und  daß  zweitens  das  Gelände,  namentlich  Ge- 
birge, Energie  absorbiert.  Mit  abnehmender 
Wellenlänge  nimmt  die  Absorption  stark  zu, 
doch  ist  sie  für  gedämpfte  und  ungedämpfte  Wellen 
gleich  groß.  Namentlich  die  Tageszeit  hat  Ein- 
fluß, nachts  ist  die  auf  den  Empfänger  über- 
tragene Energie  unter  sonst  gleichen  Verhältnissen 
stets  wesentlich  größer  als  bei  Tage,  eine  schon 
bekannte  Tatsache :  Nachts  ist  die  Reichweite 
einer  Station  größer.  Doch  schwanken  «die  im 
Empfänger  gemessenen  Werte  sehr  stark,  ohne 
daß  sich  hierin  irgendwelche  Gesetzmäßigkeiten 
erkennen  ließen;  bei  Tage  treten  die  Schwankungen 
nicht  auf.  Die  praktische  Bedeutung  der 
Versuche  von  Reich  liegt  darin,  daß  er  aus 
seinen    Versuchen    einen   Absorptionskoeffizienten 


entnehmen  konnte,  bei  dessen  Benutzung  die  Über- 
einstimmung der  beobachteten  mit  der  errechneten 
Stromstärke  in  einer  neuen  Antenne  bei  Tage 
sehr  gut  war.  Dr.  K.  Schutt. 

Botanik.  Körpergröße  und  Zellengröße.  Die 
Frage,  ob  sich  die  Größenunterschiede  zwischen 
Individuen  derselben  Art  oder  zwischen  ver- 
schiedenen Sippen  oder  zwischen  den  Organen 
desselben  Individuums  auch  in  der  Größe  der 
Zellen  ausprägen,  hat  H.  Sierp  durch  umfangreiche 
statistische  Untersuchungen  an  Pflanzen  verfolgt 
(Jahrb.  f.  wissenschaftl.  Botanik  Bd.  53,  p.  i,  191 3). 
Er  hat  dabei  besondere  Rücksicht  auf  den  Zwerg- 
wuchs genommen  und  also  vor  allem  die  Frage 
zu  entscheiden  gesucht:  hat  der  Zwerg  kleinere 
Zellen  wie  die  normale  Form  ?  Dabei  macht  er 
gleich  eine  prinzipielle  Unterscheidung  zwischen 
Kümmerzwergen  und  echten  Zwergen.  Erstere 
sind  nur  klein,  weil  sie  auf  ungünstigem  Boden 
wachsen,  sie  können  normale  Größe  erreichen, 
wenn  sie  in  gutes  Land  gepflanzt  werden,  und 
dementsprechend  ist  auch  ihre  Nachkommenschaft, 
in  nahrhaftem  Boden  gezogen,  normal  groß.  Die 
echten  Zwerge  dagegen  überschreiten  nie  eine 
gewisse  stets  geringe  Größe,  ihre  Nachkommen- 
schaft ist  auch  immer  wieder  zwergig.  Der  Zwerg- 
wuchs ist  bei  ihnen  in  ihrer  inneren  Konstitution 
begründet,  während  er  bei  den  Kümmerzwergen 
durch  die  äußeren  Exi^tenzbedingungen  zeitweilig 
aufgeprägt  wird.  Mit  Hilfe  einer  sehr  sorgfältigen 
und  kritischen  Methodik  stellt  nun  Sierp  zunächst 
fest,  in  Übereinstimmung  mit  früheren  Unter- 
suchungen, »daß  die  Kümmerzwerge  durchgehends 
geringere  Zellgröße  besitzen  als  die  normalen 
Individuen ,  im  maximalen  Falle  (nämlich  bei 
Brennesseln)  nur  halb  so  große.  Die  erblichen 
echten  Zwerge  verhielten  sich  dagegen  merk- 
würdigerweise sehr  verschieden.  Einige  Zwerg- 
sippen, wie  z.  B.  von  der  Kartoffel,  der  Erbse, 
hatten  stets  kleinere  Zellen  als  die  normalen 
Sippen,  bei  anderen  Pflanzen,  wie  z.  B.  bei  der 
Wunderblume  (Mirabilis  Jalapa),  waren  die  Zellen 
der  Zwerge  nur  wenig  oder  überhaupt  nicht 
kleiner  als  die  der  Normalforni  und  bei  einer 
Nigella  war  es  sogar  umgekehrt,  hier  war  der 
Zwerg  großzelliger  als  die  normale  Pflanze. 

Die  Zersetzung  der  Oxalsäure.  Über  das 
Schicksal  der  fortdauernd  mit  den  Pflanzenresten 
in  den  Boden  gelangenden  Mengen  des  schwer- 
löslichen Oxalsäuren  Kalks  war  nichts  bekannt, 
obgleich  diese  Frage  zweifellos  von  Bedeutung  für 
den  Kreislauf  des  Kohlenstoffs  in  der  Natur  ist. 
Beträgt  doch  in  Laubwäldern  die  Menge  des  mit 
dem  Blattfall  dem  Boden  zugeführten  Calciumoxalats 
wenigstens  30  kg  pro  Jahr  und  Hektar.  Frühere 
Untersuchungen  über  die  Eignung  von  Oxalsäuren 
Salzen  als  Kohlenstoffnahrung  für  Mikroorganismen 
hatten  ein  zweifelhaftes,  günstigsten  Falles  ein  sehr 
geringfügiges  positives  Ergebnis.  Meist  bleibt  die 
Entwicklung  vollständig  aus.  K.  Bassalik  (Jahrb. 
f.    wissenschaftl.    Botanik    Bd.    53,    S,    255,    191 3) 


40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  3 


maclite  nun  die  Beobachtung,  daß  in  den  Regen- 
wurmexkrementen die  aus  den  verzehrten  Blättern 
stammenden    Drusen    von    Calciumoxalat     eigen- 
tümliche   Korrosionen    zeigten.     Die    Vermutung, 
daß  sie  durch    die  Angriffe   bestimmter  Bakterien 
hervorgerufen    würden,    bestätigte    sich,    als    eine 
anorganische  Nährlösung,    der  er  als  Kohlenstoff- 
und  Stickstoffquelle  nur  Ammoniumoxalat  zufügte, 
mit  geringen  Mengen  von  Regenwurmexkrementen 
geimpft  wurde.     Es  entwickelten  sich    in    ihr    auf 
dem  Boden  der  Kulturflasche  dicke   rötliche  Bak- 
terienhäute.    Auch    die  Reinzucht   gelang  auf  be- 
stimmte    mühevolle   Weise.      Dieser    als    Bacillus 
extorquens    bezeichnete    Bacillus    besaß    nun    die 
Fähigkeit    der   Oxalatzersetzung    in    ausgeprägtem 
Maße.  Er  fraß  sich,  wie  man  im  hängenden  Tropfen 
konstatierte,    rasch    in    Kristalle    von    oxalsnurem 
Kalk  hinein,    so    daß    diese    nach    etlichen    Tagen 
unter  den  Angriffen  der  sie  rings  umhüllenden  Bak- 
terien zerfielen.     In  ganz  ähnlicher  Weise  brachte 
er,  wenn  er  rein  in  Kulturgefäße  mit  sterilisierten 
Pflanzenresten    geimpft    wurde,    die    in   ihnen  ent- 
haltenen Oxalatkristalle  zum  \'ersch  winden,  während 
dies  z.  B.   verschiedene  Schimmelpilze    nicht    ver- 
mochten.    Was  den  Chemismus   angeht,    so  oxy- 
diert der  Bac.  extorquens    anscheinend    die  Oxal- 
säure   glatt    in    Kohlensäure    und    Wasser,    doch 
wurde  etwas  weniger  CO.,  gefunden  als  der  Formel 
CjO^Hg  +  O  =  2C0„  +'H.,0  entsprechen  würde, 
so  daß"  der  Schluß  nahe  liegt,  dieses  Minus  hänge 
mit  dem  Aufbau    der  Leibessubstanz    des  Bacillus 
zusammen.     In    welcher  Weise,    konnte  allerdings 
nicht  genau   ermittelt  werden.     Irgendwelche  faß- 
baren   Nebenprodukte    fanden    sich    nicht      Steht 
ihm,  wie  es  gewöhnlich  in  der  Natur  der  Fall  ist, 
oxalsaurer    Kalk    zur    Verfügung,    so    verwandelt 
er   diesen    in   kohlensauren  Kalk.     Die    oxydative 
Spaltung    wird,    wie    der    Verf    schließlich    noch 
zeigt,  durch  ein  Enzym  bewirkt,  wahrscheinlich  eine 
Oxydase.      Die   Bedeutung    des    Bac.    extorquens 
und  wahrscheinlich  auch  anderer  noch  unbekannter 
im    Erdboden     lebender    Bakterien    besteht    also 
darin,  daß  er  den  Kohlenstoff  des  schwerlöslichen 
Calciumoxalats     in    Form    der    Kohlensäure    frei 
macht  und  dadurch  wieder   in  den  großen  Kreis- 
lauf einführt. 

Daß  der  Einfluß  des  Lichtes  auf  das  Wachstum 

der  Pflanzen  nicht  ohne  weiteres  in  einer  Hem- 
mung besteht,  sieht  man  schon  daran,  daß  zwar 
die  Stengel  von  im  Dunkel  wachsender  Pflanzen 
rascher  wachsen  als  im  Licht,  die  Blätter  jedoch 
klein  bleiben.  Peirce  zeigt  nun  (Dudlcy  Memorial 
Volume,  Leland  Stanford  Junior  University  Publi- 
cations,  University  Series  S.  62,  19 13),  daß,  wenn 
man  Prothallienkulturen  von  Farnen  teils  ge- 
wöhnlich hinstellt,  teils  bei  derselben  Beleuchtung 
und  unter  sonst  den  gleichen  Bedingungen,  an 
einem  Klinostaten  auf  vertikaler  Achse  rotieren 
läßt,  die  letzteren  ganz  erheblich  viel  stärker  sich 
entwickeln.  Durch  den  rasch  (4mal  pro  Minute) 
rotierenden  Klinostaten  fällt  von  allen  Seiten 
Licht  auf  die  Pflänzchen,  die  Summe  ihres  Licht- 


genusses ist  viel  größer  (zumal  sie  unter  diesen 
Versuchsbedingungen  aufrecht  wachsen)  als  bei 
den  gewöhnlich  beleuchteten  und  dem  Boden  an- 
gedrückten Prothallien.  Ähnlich  beobachtete  Peirce, 
daß  derart  gedrehte  Weizenkeimlinge  größere 
Blätter  bekamen,  während  die  Stammlänge  gleich 
blieb. 

Die  Bakterienkerne,  diese  viel  umstrittenen  Ge- 
bilde, hat  Kruis  (Bulletin  de  l'Academie  des 
Sciences  de  Boheme  191 3)  mit  Hilfe  des  Kohl  er- 
sehen Verfahrens  der  Photographie  im  ultravioletten 
Lichte  untersucht.  Man  hatte  bisher  (vgl.  z. 
B.  das  betreffende  Kapitel  in  dem  Buche  A.Meyers, 
Die  Zelle  der  Bakterien,  Jena  191 2)  immer  nur 
durch  Anwendung  von  besonderen  Färbungs-  und 
mikrochemischen  Methoden  den  Nachweis  von 
Kernen  in  der  Bakterienzelle  versucht,  ohne  daß 
jedoch  auf  die  Weise  eine  Einigung  der  Forscher 
erzielt  worden  wäre.  Die  Möglichkeit,  daß  es  sich 
um  Artefakte,  Reservestoffe  handle,  war  nicht 
widerspruchslos  auszuschließen.  K  r  u  i  s ,  ein  Meister 
auf  dem  Gebiete  der  Mikrophotographie,  hat  nun 
lebende  Bakterien  mit  ultravioletten  Strahlen 
photographiert.  Da  nun,  wie  man  von  höheren 
Pflanzen  weiß,  die  Zellkerne  gerade  die  ultravioletten 
Strahlen  stark  absorbieren,  müßten  auch  die  Photo- 
gramme der  bei  gewöhnlicher  mikroskopischer 
Betrachtungbekanntlich  fast  homogen  erscheinenden 
Bakterien  dann  dunklere  Punkte  aufweisen,  wenn 
etwa  Zellkerne  vorhanden  sind.  Der  Verf.  konnte 
nun  mit  einer  überraschenden  Deutlichkeit  bei 
mehreren  Bakterien,  besonders  schön  bei  dem 
Bacillus  mycoides,  von  einem  helleren  Hof  um- 
gebene dunklere  Körnchen  photographieren. 

Freilich  könnte  man  auch  hier  wieder  einwenden, 
daß  es  sich  um  andere  körnige  Bestandteile  handle. 
Doch  machen  Lage,  Regelmäßigkeit  des  Vor- 
kommens, Gleichmäßigkeit  der  Größe  und  vor 
allem  die  oft  mit  aller  Deutlichkeit  hervortretenden 
Teilungsbilder  solcher  Körnchen  den  Schluß  fast 
unabweisbar, daßKruiswirklichKerne  abbildet,  die 
ersten,  gegen  die  man  kaum  etwas  einwenden  kann. 
Ob  sie  freilich  allgemein  bei  Bakterien  vorkommen, 
wäre  noch  festzustellen.  Das  Interesse,  das  man 
an  dem  Kernnachweis  bei  Bakterien  nahm,  ist  in- 
sofern begreiflich,  als  man  meist  meinte,  die  Bak- 
terien seien  überhaupt  die  primitivsten  Lebewesen, 
die  man  sich  denken  könne,  sie  gehören  an  den 
Anfang  der  Organismenreihe.  War  diese  Auffassung 
schon  aus  anderen  Gründen  morphologischer  und 
auch  physiologischer  Natur  wenig  wahrscheinlich, 
so  wird  sie  auch  durch  den  Kernnachweis  wider- 
legt. Überall,  wo  wir  Organismen  einfacher  Art 
beobachten,  treten  sie  uns  schon  mit  den  wich- 
tigsten Merkmalen  der  Zelle  entgegen.  Ein  ein- 
facheres, als  ein  typisch  zellulär  organisiertes 
Lebewesen,  ein  Urwesen,  kennen  wir  immer 
noch  nicht.  Miehe. 

Völkerpsychologie.       Die     Erforschung des 

geistigen  Kultuibesitzes  der  Völker  begegnet  noch 


weit  größeren  Schwierigkeiten  als  die  Erforschung 


N.  F.  XIII.  Nr.   ^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


4> 


der  materiellen  Kultur.  Ganz  besonders  fühlbar 
machte  sich  bisher  bei  ethno-psychologischen 
Untersuchungen  der  Mangel  eines  planmäßigen 
Vorgehens,  wodurch  ihre  Ergebnisse  sehr  beein- 
trächtigt wurden. 

Um  so  mehr  dankenswert  ist  es,  daß  das 
Institut  für  angewandte  Psychologie  und  psycho- 
logische Sammelforschung  in  Kleinglienicke  bei 
Potsdam  „V  orschläge  zur  psychologischen 
Untersuchung  primitiver  Menschen"  ge- 
sammelt  und  herausgegeben  hat  (Beihefte  zur 
Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie  usw.,  Nr.  5, 
Leipzig  1912,  J.  A.  Barth,  Preis  4  Mk.).  Diese 
Anleitung  zu  ethno-ps)'chologischen  Forschungen 
ist  in  erster  Linie  bestimmt  für  Forschungsreisende, 
sodann  für  solche,  die  dauernd  mit  Menschen 
primitiver  Kulturstufe  in  Berührung  sind,  wie 
Missionare,  Beamte,  Arzte  und  Lehrer  in  den 
Kolonien  usw.  Sie  wird  aber  auch  verwendbar 
sein  für  die  Untersuchung  von  Truppen  fremder 
Völker,  die  zu  Schaustellungszwecken  nach  Europa 
kommen. 

Das  genannte  Institut  erklärt  sich  überdies 
bereit,  über  die  in  der  Anleitung  vorgeschlagenen 
instrumentalen  Hilfsmittel,  Bilderserien  usw.  Aus- 
kunft zu  geben. 

In  den  „Vorschlägen  zur  psychologischen 
Untersuchung  primitiver  Menschen"  gibt  einleitend 
Dr.  Richard  Thurnwald  eine  Übersicht  der 
Probleme  der  ethno-psychologischen  Forschung; 
derselbe  Autor  behandelt  überdies  noch  die  Praxis 
der  ethno-psychologischen  Ermittlungen,  besonders 
durch  sprachliche  Forschungen.  Die  Anleitungen 
betreffend  die  einzelnen  Zweige  der  psychologi- 
schen Untersuchung  fremder  Völker  sind  von 
Spezialisten  auf  diesen  Gebieten  verfaßt,  und  sie 
dürfen  als  sehr  zweckdienlich  gelten,  so  daß  sie 
allen,  die  Gelegenheit  zu  ethno-psychologischen 
Studien  haben,  bestens  zu  empfehlen  sind.  Bei- 
träge haben  außer  R.  Thurnwald  noch  geliefert 
A.  V.  Tschermak,  A.  Gutmann,  W.  Stern,  O.  Lipp- 
mann, A.  Vierkandt  und  C.  Meinhof;  ein  Frage- 
bogen über  die  Ermittlung  von  Ausdrucksbe- 
wegungen ist  Charles  Darwin's  ,, Ausdruck  der 
Gemütsbewegungen"  entnommen. 

Dr.  R.  Thurnwald  verweist  in  seiner  Dar- 
legung der  Probleme  der  ethno-psycho- 
logischen Forschung  auf  den  Umstand,  daß 
bei  Betrachtung  der  Menschen  als  Träger  ver- 
schiedener Kulturen  vor  allem  die  Verschieden- 
heit ihres  psychologischen  Typs  auffällt: 
Das  ganze  Studium  der  Ethnologie  kreist  um  das 
Problem,  die  psychologischen  Eigentümlichkeiten 
der  fremden  Völker  zu  erfassen,  denn  das  heißt 
sie  kennen  lernen.  Man  konstruiert  aus  Pfeil- 
spitzen, Fischnetzen,  Armringen,  Tragtaschen, 
Hauseinrichtungen  und  was  sonst  in  den  Museen 
aufgestapelt  ist,  den  Geist  derer,  die  alle  diese 
Dinge  verfertigt  haben. 

Einer  der  wichtigsten  Grundsätze  für  ethno- 
psychologische  Untersuchungen,  die  Thurnwald 
anführt,    ist    der,    daß    festzustellen    ist,    einerseits 


was  in  den  tiefsten  biologischen  Voraussetzungen 
alle  Menschheit  eint,  was  sie  überall  mit  Gewalt 
zunächst  zu  denselben  Zielen  und  Früchten  „kon- 
vergieren" macht,  und  wo  andererseits  oberhalb 
dieses  gemeinsamen  Mutterbodens  die  Diver- 
genz der  einzelnen  Individuen  oder  Gruppen  zu 
den  farbenwechselnden  Blüten  beginnt. 

Ähnlichkeiten  an  Einrichtungen  und  Denk- 
weisen sind  keineswegs  notwendig  oder  auch  nur 
wahrscheinlich  aus  Übertragungen  zu  erklären. 
Bei  der  Frage  der  Kulturübertragung  ist  stets  zu 
beachten,  daß  die  Menschen  Übernommenes  um- 
arbeiten und  neu  gestalten.  Manchmal  ist  die 
Umwandlung  so  stark,  daß  das  Umwandlungs- 
produkt völlig  den  Stempel  der  Übernehmer  trägt, 
die  oft  nur  die  Äußerlichkeiten  übernommen 
haben.  Zudem  ist  es  zweifellos,  daß  ein  Kultur- 
gut, je  eigenartiger  und  geistiger  es  ist,  um  so 
weniger  unverändert  übertragen  werden  kann. 
Ferner  werden  die  Einwirkungen  von  außen  bei 
verschiedenen  Völkern  durchaus  nicht  gleichartig 
aufgenommen ;  einmal  deshalb,  weil  ein  ver- 
schiedener Kulturstoff  zur  Assimilierung  vorliegt, 
und  dann  weil  ein  andersgeartetes  Denken  diese 
Aneignung  vornimmt.  Bei  materiellem  Kulturgut 
wird  die  Übernahme  leichter  festzustellen  sein  als 
bei  geistigem;  denn  es  muß  ein  starker  Anstoß 
erfolgen,  um  Töpfe,  Äste  usw.  anders  zu  ver- 
fertigen, als  sie  überliefert  wurden  —  aber  etwa 
Geschichten  ändert  jeder  beständig  unbewußt. 

Die  Wahrscheinlichkeit  des  Auftretens  kul- 
tureller ,, Konvergenzerscheinungen"  betrachtet 
Thurnwald  als  sehr  gering :  denn  gleiche  kulturelle 
Bedingungen  müssen  bei  verschiedenen  Völkern 
nicht  notwendig  gleiche  Folgen  hervorrufen. 
Nimmt  man  an,  daß  das  bei  einer  Gelegenheit 
der  Fall  war,  so  kann  man  von  einer  Konvergenz- 
erscheinung sprechen.  Aber  in  Wirklichkeit  han- 
delt es  sich  dabei  meist  um  ähnliche  „gesellschafts- 
biologisclie"  Phänomene,  die  in  den  von  der  ört- 
lichen Umgebung,  von  dem  sozialen  oder  politischen 
Zusammenleben  oder  den  besonderen  Erbanlagen 
unabhängigen  Lebensvorgängen  der  menschlichen 
Art  wurzeln. 

Wichtig  ist  die  F"eststellung  der  Häufigkeit  des 
Auftretens  individueller  Begabungstypen  in  den 
einzelnen  ethnischen  Typen,  da  solche  Begabungs- 
typen vermöge  ihres  eigenartigen  Einflusses  der 
Gesamtheit  ihren  Stempel  aufzudrücken  vermögen, 
das  Kulturleben,  die  Geistesverfassung  und  das 
Schicksal  der  Gruppen,  denen  sie  angehören,  be- 
stimmen können. 

Einzeluntersuchungen  an  repräsentiven  Indivi- 
duen der  ethnischen  Gruppen  sind  deshalb  und 
aus  anderen  Gründen,  die  Thurnwald  aufzeigt, 
sehr  wichtig. 

Dr.  Thurnwald  hat  selbst  umfassende  Unter- 
suchungen über  die  Psychologie  der  Salomo-  und 
Bismarckinsulaner  ausgeführt,  und  einen  Teil  ihrer 
Ergebnisse  bereits  veröffentlicht.  Als  Beiheft 
Nr.  6  der  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie 
erschienen   seine    „Ethno-psychologischen  Studien 


42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  3 


an  Südseevölkern"  (162  S.  u.  23  Tafeln;  Leipzig 
191 3,  Preis  9  JVIk.).  Der  Forscher  berichtet  in 
dieser  wertvollen  Arbeit  über  einzelne  Versuche, 
die  sich  auf  Intelligenzfragen  beziehen  und  außer- 
dem gibt  er  ein  Bild  der  Geistesverfassung  der 
Leute,  das  er  aus  seinen  Erfahrungen  und  dem 
ethnologischen  Material  ableitet.  Diese  Studien 
sind  ein  musterhaftes  Beispiel  dafür,  wie  völker- 
psychologische Ermittlungen  auszuführen  und  wie 
ihre  Ergebnisse  zu  verarbeiten  sind. 

Aus  dem  besonders  interessanten  Abschnitt 
über  die  Geistesverfassung  der  Salomo-  und  Bis- 
marckinsulaner  sollen  hier  einige  Details  mitge- 
teilt werden. 

Die  allgemeine  Intelligenz  wird  als 
passiv  bezeichnet:  Der  Widerstand  gegen  die 
Schranken  der  Natur  ist  stets  gering.  Die  Insu- 
laner passen  sich  ihr  so  weit  als  möglich  an. 
Hindernissen  geht  man  aus  dem  Wege  statt  sie 
zu  beseitigen.  Es  kann  sein,  daß  eine  geringe 
Vitalität,  die  auch  in  der  kurzen  Lebensdauer 
ihren  Ausdruck  findet,  und  für  die  wieder  die 
lange  Einwirkung  des  erschlaffenden  Klimas  ver- 
antwortlich ist,  die  Ursache  der  erheblich  herab- 
gesetzten Aktivität  ist.  Auffallend  ist  auch  der 
Mangel  an  sicherer  Steigerung  der  Gemütsbe- 
wegungen, und  die  große  Rolle,  welche  Stim- 
mungen spielen.  Dies  ist  vielleicht  der  Grund 
zu  dem  oft  mitleidslosen  und  asozialen  Verhalten, 
das  der  Aufspeicherung  wie  der  Überlieferung  von 
Erfahrungen  hinderlich  ist.  Die  Leute  sind  un- 
fähig, ihre  Aufmerksamkeit  lange  auf  einen 
oder  mehrere  Gegenstände  zu  konzentrieren,  und 
mangelnde  Kombinationsfähigkeit  bewirkt,  daß  sie 
nicht  imstande  sind,  sich  mehrere  Dinge  —  wie 
z.  B.  Aufträge  —  gleichzeitig  zu  merken.  Hier- 
mit in  Zusammenhang  steht  die  Art  der  Ermüd- 
barkeit: Arbeiten,  die  keine  oder  wenig  geistige 
Anstrengung  erfordern,  werden  mit  einer  staunens- 
werten Ausdauer  verrichtet ;  dabei  ist  der  Fleiß 
groß,  die  Ermüdbarkeit  gering.  Wo  hingegen 
intellektuelle  Kräfte  in  Frage  kommen,  da  er- 
lahmen Aufmerksamkeit  und  Fleiß  bald.  Leicht 
erklärlich  ist  hierbei  die  herrschende  Neigung  zur 
Arbeitsteilung. 

Die  höhere  kombinatorische  Geistes- 
tätigkeit ist  zunächst  orientierender  passiver 
Art.  Was  die  Orientierung  gegenüber  den  Mit- 
menschen anbelangt,  so  ist  vor  allem  zu  bemerken, 
daß  die  Regelung  des  Geschlechtsverkehrs  durch 
besondere  Bezeichnungen  der  in  Betracht  kommen- 
den Gruppen  zum  Ausdruck  gebracht  wird. 
Thurnwald  ist  ebenfalls  der  Ansicht,  diese  Gruppen 
seien  ursprünglich  rein  lokal  gewesen  und  später 
in  Geschlechts-  und  Handelsbeziehungen  zuein- 
ander getreten,  woraus  sich  die  Regel  der  Exo- 
gamie  entwickelte. ' )  Die  Verwandtschaftsbe- 
ziehung zu  einzelnen  Personen  ist  nicht  genau  be- 
kannt.   Da  es  nur  darauf  ankommt,  welcher  Gruppe 

')  Vgl.  Fehlinger,  Entstehung  der  E.Nogamie.  Sexual- 
probleme,  191 1,  S.  680  ff. 


jemand  angehört  und  ob  er  geschlechtsreif  ist 
oder  nicht,  so  wird  auch  nur  nach  diesem 
Gesichtspunkt  das  Alter  erwogen.  Das 
Alter  richtig  zu  kennen  hat  niemand  Interesse. 
Dazu  kommt,  daß  der  Ablauf  der  Zeit  mangels 
deutlich  ausgeprägter  Jahreszeiten  schwer  zu  be- 
stimmen ist. 

Jeder  einzelne  fühlt  sich  als  Mittelpunkt  seiner 
Welt,  doch  wird  dieses  Gefühl  der  Egozentrizität 
nach  der  Familie  und  der  sozialen  Gruppe  hin 
erweitert,  und  es  tritt  eine  Identifizierung 
der  eigenen  Existenz  mit  der  des  anderen 
auf  So  führt  Thurnwald  z.  B.  an,  daß  man  sich 
nicht  etwa  vorstellt,  ein  anderer  sei  wie  ein 
Hund,  wie  der  Fischgeier  usw.,  sondern  er  ist 
es.  Eine  ähnliche  Identifizierung  finden  wir  bei 
Kindern.  Diese  Denkweise  ist  wohl  auch  für  das 
Verständnis  des  sog.  „Totemismus"  wichtig.  Die 
Identifizierung  mit  jemand  anderem  kann  sogar 
sehr  weit  gehen.  Thurnwald  berichtet  u.  a.,  es 
habe  sich  ein  Mann  in  seinem  Benehmen  krank 
gestellt,  doch  wurde  später  herausgefunden,  daß 
nicht  er,  sondern  seine  Frau  krank  sei,  die  eine 
böse  Wunde  hatte.  Der  Mann  gab  sich  erst  nach 
einigen  Tagen  wieder  als  gesund  aus  —  als  seine 
Frau  gesund  geworden  war.  Dieser  Vorfall  läßt 
auf  die  Entstehungsweise  des  Brauchs  schließen, 
der  als  „Männerkindbett"  bezeichnet  wird.  Es 
handelt  sich  da  um  die  egozentrische  Form  des 
Mitleids,  eine  Form  des  Mitgefühls,  die  noch  nicht 
zur  Nächstenliebe  geworden  ist.  Die  Identifizie- 
rung des  eigenen  Ichs  mit  anderen  findet  ihren 
Ausdruck  ferner  darin,  daß  der  eine  Angehörige 
der  Sippe  für  den  anderen  eintritt,  wenn  es  eine 
Leistung  für  die  Gesamtheit  gilt,  und  daß  einer 
für  den  anderen  haftet.  Auf  solcher  Auffassung 
beruht  die  Blutrache.  Mitgefühl  und  soziales 
Empfinden  in  unserem  Sinne  gibt  es  jedoch  nicht; 
Phantasie  und  Kombination  scheinen  dazu  nicht 
auszureichen. 

Was  die  Kenntnis  der  umgebenden  Natur  be- 
trifft, so  sind  die  Insulaner  mit  allem  vertraut, 
was  der  Lebenserhaltung  dient;  aber  sie  kennen 
die  Dinge  nur  als  Gebrauchsgegenstände,  eine 
weitere  Erklärung  dafür  haben  und  suchen  sie 
nicht.  Krankheit  und  Tod  werden  der  Zauberei 
zugeschrieben.  Der  Glaube  an  ein  Fortleben  der 
Seele  nach  dem  Tode  besteht,  doch  ist  nicht  zu 
entscheiden,  ob  er  von  auswärts  übernommen 
wurde  und  woher.  Die  Sterne  werden  als  Vögel 
der  Nacht  betrachtet,  was  eine  naheliegende 
Assoziation  ist.  In  der  Nacht  ist  die  Furcht  der 
Leute  groß,  sie  sehen  überall  Spuk  und  hören 
überall  geheimnisvolle  Stimmen.  Aberglaube  und 
Zauberei  spielen  eine  wichtige  Rolle.  Das  hängt 
wohl  hauptsächlich  davon  ab,  daß  der  Ausschnitt 
der  Welt,  den  die  Leute  kennen,  sehr  klein  und 
ihre  Weltanschauung  subjektiv  ist.  Sie  muß  um 
so  mehr  subjektiv  sein,  je  weniger  Tradition  vor- 
handen ist,  und  je  mehr  jeder  auf  seinen 
eigenen  Erfahrungen  fußen  muß.  Die 
Erinnerung  erstreckt  sich  nur  auf  sehr  kurze  Zeit, 


N.  F.  XIII.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


43 


und  schon  diese  Tatsaclie  allein  schließt  ein  An- 
sammeln von  Erfahrungen  der  älteren  Genera- 
tionen fast  völlig  aus;  sie  ist  gewiß  eine  der 
Hauptursachen,  warum  es  diese  Völker  zu  keinem 
Fortschritt  der  Kultur  bringen  konnten. 

Das  Alltagsleben  bietet  nicht  viel  Abwechs- 
lung und  es  ist  frei  von  jedem  Schaffenszwang: 
Was  nicht  heute  geschieht,  kann  morgen  gemacht 
werden,  denn  das  Aufschieben  bringt  keinen 
Schaden.  Das  Einerlei  wird  durch  Feste  unter- 
brochen, die  sich  aber  nicht  an  den  Lauf  der 
Gestirne  und  selten  an  Naturereignisse  anknüpfen, 
sondern  vornehmlich  an  Ereignisse  des  mensch- 
lichen Lebens.  Kämpfe  und  Fehden,  Morde  und 
Totschläge  bilden  die  bittere  Würze  vor,  zwischen 
und  nach  den  Festen. 

Sehr  beachtenswert  ist  Thurnwald's  Mahnung, 
daß  psychologisches  Verständnis  der  Eingebornen 
auf  Seite  der  Weißen  die  Grundlage  für  eine 
fruchtbare  Symbiose  mit  den  Eingebornen  schaffen 
sollte.  H.  Fehlinger. 

Geographie.  Die  Abhängigkeit  der  Form  der 
Landoberfläche  vom    inneren  Bau    behandelt  eine 


systematische  Abhandlung  von  A.  Hettner 
(G.  Z.  191 3,  H.  8).  In  der  zweiten  Hälfte  des 
vorigen  Jahrhunderts,  als  die  Geographie  über  die 
beschreibende  Auffassung  der  Oberflächenformen 
hinausging,  suchte  sie  Anlehnung  an  die  Geologie 
und  faßte  die  Abhängigkeit  der  Formen  vom 
inneren  Bau  ins  Auge.  Diese  Auffassung  herrschte 
eine  Zeitlang  vollkommen,  so  daß  Täler  als 
Spalten,  die  Gebirgskörper  als  stehengebliebene 
oder  gehobene  Blöcke  erschienen.  Erst  allmählich 
wurde  die  Arbeit  der  exogenen  Kräfte  anerkannt 
(Wind,  klimatische  Einflüsse,  Flüsse  und  Eis).  Die 
weit  reichende  Abtragung  wurde  durch  genauere 
Forschungen  bekannt,  schon  Ramsay  hatte 
Rumpfflächen  als  Unterschied  zwischen  der  wirk- 
lichen und  tektonischen  Oberfläche  erkannt. 
Erst  in  den  Alpen  wurde  die  richtige  Erkenntnis 
durch  Heim,  Neumayr,  Ed.  Richter  und 
Penck  gewonnen.  Er  und  viele  andere  wiesen 
die  Unabhängigkeit  der  Gebirgsgipfel  vom  inneren 
Baue  nach,  sie  zeigten,  daß  Schichtantiklinalen, 
die  Kämme  sein  sollten,  als  Einsenkungen,  Syn- 
klinalen als  Kämme  usw.  auftraten;  sie  lehrten 
die  Umkehr  oder  Inversion  des  Gebirgsbaues 
kennen.  Erst  dadurch  ist  die  Morphologie  eine 
selbständige  Disziplin  neben  der  Tektonik  und 
mehr  das  Forschungsgebiet  der  Geographen  ge- 
worden. 

In  der  D  a  v  i  s'schen  Schule  ist  die  Emanzipation 
der  Geographie  von  der  Geologie  noch  einen  Schritt 
weiter  gegangen ;  an  die  Stelle  der  geologischen 
oder  petrographischen  Auffassung  der  Gesteine 
soll  eine  besondere  morphologische  treten.  Auch 
Faltung  und  Verwerfung  werden  als  untergeordnet 
gegen  die  allgemeinen  morphologisch  zu  er- 
schließenden Hebungen  und  Senkungen  betrachtet. 
Deshalb  ist  es,  auch  gegenüber  Rühl,  der  Geo- 
logie und  Morphologie  vollständig   scheiden    will, 


notwendig,  über  die  I'rage  Klarheit  zu  schaffen, 
in  welcher  Abhängigkeit  die  Oberflächenformen 
des  Festlandes  vom  inneren  Baue  stehen. 

I.  Die  Abhängigkeit  der  Oberflächen- 
formen  vom  Gestein  wurde  in  den  Anfangen 
der  erklärenden  Morphologie  manchmal  ganz  in 
den  Vordergrund  gerückt.  Die  Oberflächenformen 
werden  aber  aus  dem  Gestein  durch  Verwitterung 
und  Denudation  gebildet,  die  nach  dem  Klima 
verschieden  sind  und  deshalb  bei  gleichem  Ge- 
stein in  verschiedenen  Klimaten  verschiedene 
Formen  erzeugen;  nur  in  bestimmtem  Klima  kann 
man  einem  Gestein  eine  Neigung  zu  bestimmten 
Oberflächenformen  zuschreiben.  Auch  gegenüber 
der  Form  der  Falten  und  Schollen  tritt  der  Ein- 
fluß des  Gesteins  zurück;  er  kommt  erst  in  zweiter 
Linie,  in  den  Einzelformen  der  Gehänge,  zur 
Geltung. 

Die  amerikanische  Geologie  will  nun  die  geo- 
logische Auffassung  der  Gesteine  durch  eine  be- 
sondere morphologische  ersetzen,  in  dem  anstatt 
von  bestimmten  Gesteinen,  die  außer  Kalk  nur 
selten  erwähnt  werden,  von  harten  und  weichen 
Gesteinen  gesprochen  wird.  Restberge  werden 
z.  B.  als  Härtlinge  angesprochen,  wobei  aber  der 
Begriff  der  Weichheit  und  Härte  erst  aus  den 
Tatsachen  der  Talbildung  und  der  Abflachung 
oder  Steilheit  der  Hänge  erschlossen  wird ;  ein 
Zirkelschluß  in  bester  Form.  Die  Widerstands- 
fähigkeit der  Gesteine  liegt  nur  zum  Teil  in  ihrer 
mechanischen  Härte,  zum  anderen  in  ihrer  Durch- 
lässigkeit oder  Undurchlässigkeit,  Löslichkeit  oder 
LInlöslichkeit,  Art  der  Verwitterung  und  Absonde- 
rung begründet.  Für  den  Gegensatz  zwischen 
Aufragungen  und  Einsenkungen  ist  in  erster  Linie, 
wie  das  die  deutsche  Wissenschaft  seit  langem 
erkannt  hat,  die  Lage  zu  den  Tallinien  maßgebend, 
nicht  die  Härte  und  Weichheit  der  Gesteine. 

Die  morphologischen  Eigenschaften  der  Ge- 
steine kann  man  isoliert  zur  Darstellung  bringen; 
so  hat  das  württembergische  statistische  Landes- 
amt eine  besondere  Durchlässigkeitskarte  heraus- 
gegeben; auch  Passarge  erstrebt  dies  mit  seinen 
physiologisch-morphologischen  Karten. ')  Sie  sind 
eine  Abstraktion  aus  den  gewöhnlichen  Gesteins- 
karten. Aber  alles  dies  ist  in  den  geologischen  Kar- 
ten großen  Maßstabes  auch  enthalten,  wenn  in  ihnen 
auf  Unterarten  eingegangen  wird,  wie  z.  B.  auf 
die  Korngröße  bei  Sandsteinen  und  Konglomeraten. 
Es  empfiehlt  sich  daher  die  Ausarbeitung  be- 
sonderer Gesteinskarten  unter  dem  Gesichts- 
punkt der  petrographischen  Verschiedenheit  statt 
unter  dem  des  geologischen  Alters.  Die  einzelnen 
Eigenschaften  der  Gesteine  müssen  von  der  Mor- 
phologie als  nicht  weiter  erklärbare  Tatsachen 
hingenommen  werden,  auch  die  Verteilung  der 
Gesteine  können  wir  heute  nur  unvollkommen 
erklären.  Aber  da  die  Gesteinsbegriffe  auf  Grund 
der  Eigenschaften  empirisch  gebildete,  dabei  zu- 
gleich genetische  Begriffe  sind,  so  erklärt  sich  die 


'J  Physiologische  Morphologie  (Hamburg  1912).    S.  171  ff. 


44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  3 


Verteilung  grundsätzlich  aus  ihrer  Entstehung ; 
gewisse  große  Züge  in  der  Verteilung  der  Gesteine 
sind  uns  heute  schon  verständlich.  Die  bequeme 
nur  mit  „hart"  und  „weich"  rechnende  Auffassung 
wird  der  Wirklichkeit  nicht  gerecht,  führt  an  ihr 
geradezu  vorbei. 

2.  D ie  ge ol ogisc h e n  Fo r mat ion e n ,  die 
Auffassung  des  geologischen  Alters  der  Gesteine 
wurde  von  der  Geologie  durchaus  mit  Recht  in 
den  Vordergrund  gerückt.  Der  Geographie  kann 
das  geologische  Alter  der  Schichten  an  sich  ganz 
gleichgültig  sein,  es  kommen  für  sie  nur  die  Bau- 
materialien in  Betracht,  die  von  der  Beschaffenheit 
abhängen.  Diese  richtet  sich  nach  der  ver- 
schiedenen Art  der  gesteinsbildenden  Vorgänge 
und  der  der  nachträglichen  Umbildungen.  Nur 
für  räumlich  begrenzte  Gebiete  und  zeitlich  be- 
grenzte Formationen  können  wir  ihnen  bestimmte 
Gesteinsbeschaffenheit  zuschreiben.  So  dienen 
Karten  großen  Maßstabes  zugleich  als  Gesteins- 
karten, wenn  sie  die  geologischen  Horizonte  und 
alle  Faziesunterschiede  berücksichtigen.  Bei  klei- 
nerem Maßstab  und  damit  größerer  Zusammen- 
fassung verliert  die  geologische  Karte  ihren  litho- 
logischen  Charakter  und  ihren  geographischen 
Wert.  Auch  die  Lagerungsverhältnisse  kann  man 
aus  ihnen  nicht  mehr  erschließen.  So  hat  es  nach 
Hettner  keinen  Wert,  wenn  geographischen 
Darstellungen  noch  so  oft  geologische  Übersichts- 
karten beigegeben  werden. 

3.  Der  innere  Bau,  von  dem  die  Ober- 
flächenformen ferner  abhängen,  bedeutet  im  engeren 
Sinne  die  Lagerungsverhältnisse  der  Ge- 
steine im  einzelnen;  die  durch  Streich-  und  Fall- 
richtungen, sowie  durch  Verwerfungen  bedingte 
Anordnung  derselben.  In  diesem  Sinne  wird 
sie  als  „Struktur"  auch  in  der  Davis'schen 
Morphologie  gewürdigt,  da  von  der  ^Anordnung 
der  Gesteine  auch  die  Verteilung  der  Widerstands- 
fähigkeit abhängt.  Aus  wagerechter  oder  schwach 
geneigter  Schichtenstellung,  Faltung  mit  steiler 
Schichtenstellung  und  dem  Auftreten  von  Massen- 
gesteinen wird  die  Entstehung  von  epigenetischen 
Tälern,  die  Ausbildung  von  Terrassen,  der  Wechsel 
der  Talformen  abgeleitet. 

Aber  die  Lagerungsverhältnisse  sind  nur  ein 
Teil  des  Bildes;  zu  demselben  gehören  auch  die 
Hebungen,  Senkungen  und  Verbiegungen,  die 
ganze  Bildungsgeschichte.  Der  innere  Bau  im 
weiteren  Sinne  ist  freilich  kein  Gegenstand  der 
unmittelbaren  Beobachtung,  sondern  nur  durch 
Rekonstruktion  zu  gewinnen.  Die  Oberfläche 
dieser  tektonischen  Gebilde  bezeichnet  Hettner 
als  tekionische  Oberfläche.  Diese  ist  für 
die  Richtung  und  Anordnung  der  Täler  ausschlag- 
gebend. So  ist  hier  die  Berührung  von  Geologie 
und  Geographie  am  stärksten.  Aber  auch  hier 
sucht  die  Davis'sche  Morphologie  sich  zu  eman- 
zipieren; sie  schreibt  den  über  große  Strecken 
gleichmäßig  erfolgenden  Hebungen  und  Senkungen 
große  Bedeutung  zu,  während  die  in  "den  Lage- 
rungsverhältnissen beobachteten  Faltungen,  Über- 


schiebungen und  Verwerfungen  nicht  die  heutige 
tektonische  Oberfläche  geschaffen  haben  sollen; 
vielmehr  sind  die  von  ihnen  geschaffenen  Formen 
längst  zerstört  und  eingeebnet,  diese  Bewegungen 
kommen  nur  als  Prinzip  der  Anordnung  der  Ge- 
steine in  Betracht.  Zweifellos  ist,  daß  viele  Täler 
alte  höhere  zerschnittene  Talböden  zeigen ,  daß  auch 
Einebnungen  großer  Flächen  stattgefunden  haben; 
dafj  aber  jungtertiäre  Hochgebirge  eingeebnet  und 
durch  epirogenetische  Bewegungen  im  Sinne 
Gilbert's  zu  gewaltiger  Höhe  nochmals  empor- 
gehoben seien,  ist  von  vielen  Gebirgen  behauptet 
worden,  aber  nicht  sicher  bewiesen.  Die  Nach- 
prüfung des  Schweizer  Jura  und  des  Florentiner 
Apennin  durch  Hettner  hat  ihn  auf  Pseudo- 
rumpfflächen  geführt. 

4.  G  e  o  1  o  g  i  s  c  h  e  s  u  a  d  m  o  r  i?  h  o  1  o  g  i  s  c  h  e  s 
Alter.  Das  Alter  der  Dislokationen,  die  den 
heutigen  inneren  Bau  geschafi'en  haben ,  ist  zu- 
gleich das  morphologische  Alter.  In  vielen  Gegen- 
den können  wir  die  Spuren  mehrerer  großer  Dis- 
lokationen feststellen;  die  deutschen  Mittelgebirge 
haben  eine  große  mittelkarbone  Faltung,  V^er- 
werfungen  um  die  Mitte  der  Tertiärzeit  und  nach 
neueren  Forschungen  in  Norddcutschland  auch 
schon  am  Schlüsse  der  Jura-  und  Beginn  der 
Kreidezeit  erlitten.  Für  die  Geologie  sind  die 
Dislokationen  gleich  wichtig,  für  die  Geographie 
dagegen  kommt  die  alte  P'altung  nur  noch  in  der 
Lagerung  der  Schichten,  der  Struktur,  zum  Aus- 
druck; die  tektonische  Oberfläche  aber  hängt  von 
den  jüngeren  P'altungen  und  Verwerfungen  ab. 
So  sind  die  mitteldeutschen  Gebirge  Schollen- 
gebirge oder  Gevvölbestücke,  wodurch  die  Gliede- 
rung im  großen  bestimmt  ist,  die  Anordnung  der 
Schichten  dagegen  bestimmt  nur  die  Gliederung 
im  einzelnen.  Bei  manchen  Gebirgen,  z.  B.  im 
Bereich  des  mittelländischen  Meeres,  verbinden 
sich  Faltung  und  Zerstückelung  durch  Brüche,  um 
den  heutigen  Bau  hervorzubringen.  Auch  das 
Alter  nachträglicher  Hebungen  ist  für  die 
heutige  Ausgestaltung  von  Bedeutung,  aber  diese 
sind,  wie  sclion  oben  erwähnt,  nicht  sicher  be- 
wiesen. Bei  Davis  hat  auch  der  Altersbegrifif 
eine  andere  Form  angenommen,  er  mißt  ihn  an 
dem  Charakter  der  Formen,  der  Physiognomie  der 
Landschaft.  Der  Altersbegriff  hört  so  auf,  ein 
reiner  Zeitbegriff  zu  sein,  und  bezeichnet  den  Ent- 
wicklungszustand; auf  die  Altersbestimmung  wird 
tatsächlich  verzichtet.  Die  Vorgänge  der  Umbil- 
dung verlaufen  je  nach  dem  Klima  bald  schneller, 
bald  langsamer;  wollen  wir  den  Grad  derselben 
in  zwei  verschiedenen  Gegenden  vergleichen ,  so 
müssen  wir  bestimmen,  wann  sie  eingesetzt  hat. 
Und  dazu  müssen  wir  das  Alter  der  Gebirgs- 
bildung  kennen. 

Fassen  wir  zusammen,  so  sehen  wir,  daß  die 
geologischen  Formationen  nur  geringe  Bedeutung 
haben ;  aber  innerhalb  einer  gegebenen  Landschaft 
sind  sie  für  die  Ausgestaltung  außerordentlich 
wichtig,  und  wir  müssen  hier  die  Gesteiiisbegrifife 
berücksichtigen.      Kein    Zweifel    besteht    über  die 


N.  F.  XIII.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


45 


Bedeutung  der  Lagerungsverhältnisse  der  Schichten 
für  den  Einfluß  der\^erwitterung  und  Denudation. 
Wohl  aber  gehen  die  Meinungen  über  die  Be- 
deutung der  F'altungen  und  Schollenbevvegungen 
auseinander,  ein  sicheres  Urteil  läßt  sich  hier  nicht 


abgeben.  Auf  die  Auffassung  des  geologischen 
Alters  wird  man  nicht  verzichten  können;  das 
Alter  im  Sinne  Davis',  das  den  Kntwicklungs- 
zustand    bezeichnet,    bietet    hierfür    keinen  Ersatz. 

Dr.  Gottfried  Hornig. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Zellulose,  Zucker,  Alkohol.  —  Zu  den  ältesten 
überhaupt  bekannten  chemischen  Vorgängen  ge- 
hört die  Verwandlung  des  Zuckers  in  Alkohol, 
ein  Prozeß,  den  man  gewöhnlich  als  Gärung  be- 
zeichnet und  der,  wie  man  früher  glaubte,  nur 
unter  der  Einwirkung  lebender  Mikroorganismen 
(z.  B.  Hefezellen)  vor  sich  ginge.  Die  Untersuchungen 
13uchners  haben  indessen  bekanntlich  ergeben, 
daß  auch  der  durch  Abpressen  aus  der  Hefe  ge- 
•wonnene  Saft,  der  keine  Hefezellen  mehr  enthält, 
schon  Gärung  hervorruft.  In  dem  Preßsaft  sind 
Eiweißstoffe  unbekannter  Zusammensetzung,  soge- 
nannte Enzyme,  gelöst,  deren  molekularer  Bau 
nach  den  Untersuchungen  Emil  Fischers 
wahrscheinlich  analog  dem  des  von  ihnen  ver- 
gorenen Zuckers  ist.  Die  Hefezellen  haben  mithin 
nur  die  Bedeutung,  die  Enzyme  zu  erzeugen.  Die 
Zuckerarten,  die  meistens  zur  Alkoholfabrikation 
verwendet  werden,  sind  Traubenzucker  (Wein,  Cog- 
nak),  Fruchtzucker  (Obstweine)  und  Malzzucker 
(Bier).  Alle  diese  Körper  gehören  zu  den  Kohlen- 
hydraten, d.  h.,  sie  enthalten  neben  dem  Kohlen- 
stoff Wasserstoff  und  Sauerstoff  in  demselben 
Verhältnis,  wie  diese  Elemente  sich  im  Wasser 
finden.  Der  gewöhnliche  Rohr-  oder  Rübenzucker 
ist  nicht  ohne  weiteres  vergärbar,  er  muß  viel- 
mehr vorher  mit  verdünnter  Säure  behandelt  und 
dabei  unter  Anlagerung  von  Wasser  in  ein  Gemisch 
von  Frucht-  und  Traubenzucker  verwandelt  werden. 
Derselbe  Vorgang  tritt  auch  ein,  wenn  man  zu 
einer  Rohrzuckerlösung  Hefe  hinzusetzt.  Ein 
weiteres  in  der  Hefe  enthaltenes  Enzym  wirkt 
wie  die  verdünnte  Säure,  d.  h.  der  Rohrzucker 
geht  in  gärungsfähigen  Frucht-  und  Traubenzucker 
über.  In  ähnlicher  Weise  verfährt  man  mit  der 
Stärke,  einem  andern  Kohlenhydrat,  die  sich  in  den 
Körnern  der  Getreidearten  und  den  Kartoffeln  in 
reichlicher  Menge  findet.  Auch  sie  läßt  sich  zu 
Spiritus  vergären. 

Außer  der  Stärke  und  dem  Zucker  bringt  der 
Pflanzenkörper  ein  weiteres  höheres  Kohlenhydrat, 
die  Zellulose,  hervor.  Während  die  ersteren  als 
Reservestoffe  dienen,  baut  die  letztere  im  Verein 
mit  dem  Holzstoff  die  Zellenwände  des  Pflanzen- 
körpers auf.  Die  chemische  Zusammensetzung 
der  Zellulose  ist  wesentlich  komplizierter  als  die 
der  übrigen  Kohlenhydrate.  Während  die  Zucker 
meistens  6  oder  12  Kohlenstoffatome  und  damit 
verbunden  12  und  24  (vielfach  22)  Atome  Wasser- 
stoff mit  der  dazu  gehörigen  Menge  Sauerstoff 
enthalten,  ist  das  Zellulosemolekül  viel  größer. 
Die   Verbrennungsanalyse    ergibt,    daß    auf  72    g 


Kohlenstoff  10  g  Wasserstoff  und  80  g  Sauer- 
stoff kommen.  Der  Chemiker  schließt  daraus,  daß 
auf  je  6  Atome  Kohlenstoff  10  Atome  Wasserstoff 
und  5  Atome  Sauerstoff  kommen.  Leider  ist  es 
bisher  nicht  gelungen,  die  Größe  des  Zellulose- 
moleküls zu  bestimmen,  so  daß  man  die  Formel 
schreibt  (C(5Hj|,05)x,  wo  X  noch  unbekannt  ist. 
Da  die  Natur  die  Zellulose  in  außerordentlichen 
Mengen  und  mithin  zu  billigen  Preisen  liefert,  ist 
es  ein  Problem  von  großer  Wichtigkeit,  ob  es 
möglich  ist,  die  Zellulose  durch  ein  geeignetes 
Verfahren  in  Zucker,  und  diesen  durch  Gärung 
in  Alkohol  zu  verwandeln.  Seiner  Bestimmung 
nach,  den  Körper  der  Pflanze  zu  bilden,  ist  das 
Zellulosemolekül  außerordentlich  beständig;  es 
wird  von  verdünnten  Säuren  und  Alkalien  nicht 
angegriffen.  Diese  Eigenschaft  benutzt  man  z.  B. 
in  der  Technik  (Papierfabrikation),  um  die  Zellu- 
lose zu  isolieren,  indem  man  durch  Kalziumsulfit 
oder  Natronlauge  die  übrigen  im  Holz  enthaltenen 
Bestandteile  in  Lösung  bringt.  Erst  durch  Ein- 
wirkung konzentrierter  Säuren  gelingt  es,  das 
Zellulosemolekül  zu  spalten.  Ein  neues  kürzlich 
von  Professor  W  i  1 1  s  t  ä  1 1  e  r  vom  Kaiser  Wilhelm- 
institut in  Berlin  Dahlem  angegebenes  Ver- 
fahren ist  von  großem  Interesse,  da  es  ge- 
stattet, die  Zellulose  in  Alkohol  zu  verwandeln. 
Man  benutzt  dazu  eine  Salzsäure,  die  besonders 
reich  an  Chlorwasserstoff  ist.')  Schon  in  der 
Kälte  verwandelt  diese  hochkonzentrierte  Säure 
die  Zellulose  in  Zucker.  Die  Beobachtung 
im  Polarimeter  zeigt,  wie  sich  die  optisch  voll- 
ständig inaktive  Zelluloselösung  allmählich  in 
rechtsdrehenden  Zucker  verwandelt.  Die  Aus- 
beute beträgt  nahezu  loo"/,,,  Nebenprodukte  treten 
also  nicht  auf  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  sich  das 
sehr  große  Zellulosemolekül  zunächst  in  Moleküle 
von  geringerer  Größe  spaltet,  die  dann  ihrerseits 
wieder  in  Zucker  zerfallen.  Ob  sich  das  Verfahren 
für  die  technische  Durchführung  im  großen  eignet, 
darüber  ist  zurzeit  noch  nichts  bekannt. 

Im  übrigen  sei  darauf  hingewiesen,  daß  Pro- 
fessor Lassar -Cohn  in  seiner  sehr  lesens- 
werten „Chemie  des  täglichen  Lebens"  ein  seit 
1904  in  Amerika  angewendetes  Verfahren  be- 
schreibt, das  demselben  Zweck  dient.  In  einer 
zu  Hattierburg  am  Mississippi  erbauten  Fabrik 
wurden   schon    im    ersten  Jahr  täglich  150000  kg 


')  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  46,  p.  2401,  1913.  Dem  Botaniker 
galt  bisher  Zellulose  als  unlöslich  in  Salzsäure,  doch  hatte  man 
sich  immer  mit  der  gewöhnlichen  konzentrierten  Salzsäure  be- 
gnügt, bis  dann  Willstätte  r  noch  stärkere  probierte.    Red. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  3 


Sägespäne  auf  Spiritus  verarbeitet,  indem  man  sie 
mit  wässriger  schwefhger  Säure  unter  erhöhtem 
Druck  bei  einer  Temperatur  von  140  Grad  erhitzte. 
Nach  der  Behandlung  zeigten  die  Sägespäne  eine 
bräunliche  Farbe  und  einen  angenehmen  Geruch. 
Laugte  man  sie  mit  Wasser  aus,  so  erhielt  man 
eine  verdünnte  Zuckerlösung,  aus  der  sich  durch 
Gärung  Alkohol  gewinnen  ließ.  Aus  je  loo  kg 
Sägespänen  erhielt  man  12 1  Spiritus.  Ob  sich 
dieses  Verfahren  als  so  rentabel  erwiesen  hat, 
daß  die  Fabrik  noch  heute  besteht  (das  genannte 
Buch  ist  1908  erschienen),  darüber  ist  dem  Ver- 
fasser nichts  bekannt.  Dr.  K.  Schutt. 

Heil-  und  Nahrungsmittelreste  in  altägyptischen 
Leichen.  —  Auf  Ersuchen  von  Prof.  Netolitzky') 
entnahmen  die  wissenschaftlichen  Leiter  der  Ph. 
Hearst  Egyptian  Expedition,  Dr.  Reisner  und 
Dr.  Smith,  den  Inhalt  der  Eingeweide  zahlreicher 
prähistorischer  Leichen  vom  Gräberfelde  bei  Girga 
in  Oberägypten.  In  diesen  5—6000  Jahre  alten 
Resten  konnten  folgende  Nahrungs-  und  Heilmittel 
erkannt  werden :  zwei  Fische  (Tilapia  nilotica  und 
Barilius  niloticus),  die  Maus  (Mus  musculus  var. 
Orientalis),  Kopfknochen  eines  größeren  Tieres 
(Heilmittel !),  Gerste,  die  Erdmandel  (Cyperus  es- 
culentus),  eine  heute  nicht  mehr  als  NaJirungsmittel 
dienende  Hirse  (Panicum  colonum).  Als  Heil- 
pflanze aus  der  Familie  der  Borragineae  wurde 
Trichodesma  africanum  aus  den  Zellresten  rekon- 
struiert. Die  Bestimmung  der  Pflanzen  erfolgte 
auf  Grund    der    charakteristischen    Kieselskelette. 

Otto  BürgerKirn. 

Neuere  Verwertungsarten  von  Karbid  und 
Azetylen  und  deren  Rückwirkung  auf  die  Ent- 
wicklung anderer  Industrien.  —  In  einem  am  12. 
April  im  Verein  Österreichischer  Chemiker  von 
Prof.  Dr.  A.  Fraenkel  gehaltenen  Vortrage 
wurden  bemerkenswerte  Einblicke  in  die  vielseitigen 
chemischen  Umsetzungsmöglichkeiten  von  Karbid 
und  Azetylen  zu  technisch  wichtigen  Produkten 
gegeben  und  die  Rückwirkung  auf  die  Entwick- 
lung anderer  Industrien  geschildert  (Österr.  Che- 
mikerzeitung XVI.  Jahrg.  Nr.  15,  S.  202  ff.).  Die 
Beleuchtungstechnik  konsumiert  heute  nur  mehr 
einen  Bruchteil  des  produzierten  Karbids.  Für 
das  Jahr  191 1  wird  die  europäische  Gesamtpro- 
duktion mit  nahezu  200000  Tonnen  angegeben 
(die  auf  Kalkstickstoff  verarbeiteten  Karbidmengen 
nicht  mit  eingerechnet).  Die  Verwendung  des 
Azetylens  hat  in  den  letzten  Jahren  für  Beleuch- 
tungszwecke keine  wesentlichen  Fortschritte  ge- 
zeigt. Dagegen  haben  sich  neue  und  spezifische 
Anwendungsarten  im  Bergbau,  im  Eisenbahn-  und 
Seebeleuchtungswesen  ergeben  insbesondere  durch 
das  gelöste  Azetylen  (Dissousgas).  Das  autogene 
Schweiß-  und  Schneideverfahren  mittels  Azetylen- 
sauerstoffes hat  in  den  letzten  Jahren  eine  rapide 
Entwicklung   aufgewiesen.     In    Deutschland    wird 


')  Zeitschrift    für    angewandte    Chemie    Bd.  26 ,    Nr.  79 
(Seite  577). 


der  dermalige  Karbidverbrauch  für  diese  Zwecke 
auf  jährlich  22  000  Tonnen  geschätzt.  Auf  Grund 
thermochemischer  Erwägungen  läßt  sich  nachwei- 
sen, daß  kein  anderer  Heizstoff  die  hohen  Tempe- 
raturen der  Azetylensauerstoft'flamme  (4000"  C) 
ergeben  kann.  Auch  die  Stickstoffindustrie  ver- 
dankt dem  Karbid  ihr  Entstehen.  Stickstoff  dient 
zur  Fabrikation  des  Kalziumcyanamides  oder  Kalk- 
stickstoffes, einer  Verbindung,  welche  durch  Azo- 
tieren  des  Karbids,  d.  i.  durch  Überleiten  von 
Stickstoff  über  hoch  erhitztes  Karbid  erhalten 
wird.  Das  in  den  Azotierungsöfen  erhaltene  Pro- 
dukt besitzt  noch  einen  geringen  Prozcntgehalt  an 
Karbid  und  wird  als  gepulverte  Rohware  zum 
Zwecke  weiterer  chemischer  Verarbeitung  (insbe- 
sondere Ammoniakgewinnung),  wie  auch  zur 
Hederichvertilgung  verwendet.  Sein  Stickstoffgehalt 
beträgt  18 — 2i"/o.  Zum  Zwecke  der  Zersetzung 
des  noch  darin  enthaltenen  Karbids  wird  Wasser- 
dampf benützt  und  das  erhaltene  Produkt  geölt. 
Diese  hydrierte  und  geölte  Ware  wird  hauptsäch- 
lich zur  Düngung  verwendet.  Sie  enthält  15  — 17% 
Stickstoff.  Die  Preise  des  Kalksiickslofles  liegen 
um  25"/u  niedriger  als  jene  von  Chilisalpeter  und 
Ammonsulfat.  Böhmen  und  Mähren  sind  die 
größten  Verbrauchsländer  für  Kalkstickstoff.  Von 
den  Verfahren  der  chemischen  Weiterverarbeitung 
des  Kalkstickstoffes  ist  noch  das  der  Ammoniak- 
erzeugung mittels  überhitzten  Wasserdampfes  das 
wichtigste. 

Unter  den  Azetylenverwertungsverfahren  be- 
sitzen jene  der  Azetylenspaltung  in  Kohlenstoff 
und  Wasserstoff  größeres  Interesse.  Nach 
Machtolf  wird  das  Azetylen  unter  einem  Drucke 
von  6— 10  Atmosphären  in  die  aus  Stahlguß  her- 
gestellten Spaltzylinder  eingeführt,  die  mit  einem 
Rußsammler  in  Verbindung  stehen.  Das  so  er- 
haltene Azetylenschwarz  zeigt  außerordentliche 
Reinheit,  F'einheit  und  Tiefe  der  Schwärze.  Der 
dabei  erhaltene  Wasserstoff  ist  99,5  proz.  Das 
Verfahren  wird  von  der  „Carbonium  G.  m.  b.  H." 
in  Offenbach  in  deren  Anlage  in  Friedrichshafen 
durchgeführt.  Der  Wasserstoff  wird  an  die  Zeppe- 
lingesellschaft abgegeben,  der  Ruß  u.  a.  nach 
China  und  Japan  exportiert  und  zur  Herstellung 
von  Tuschen  und  Lacken  verwendet. 

Durch  Einwirkung  von  Kohlenoxyd  auf  Kar- 
bid erhielten  Frank  und  Caro  Kohlenstoff  in 
P'orm  von  Graphit,  der  sich  für  Dynamobürsten 
und  für  chemische  Zwecke  besonders  eignet. 

Den  Bemühungen  des  „Konsortiums  für  elektro- 
chemische Industrie"  in  Nürnberg  ist  die  technische 
Herstellung  einer  Reihe  von  Chlorderivaten  des 
Azetylens  gelungen,  die  zum  Teil  heute  bereits 
ausgedehnte  praktische  Verwendung  gefunden 
haben  und  von  der  „Bosnischen  Elektrizitätsaktien- 
gesellschaft" in  deren  Werk  in  Jajce  erzeugt 
werden.  Zunächst  wird  das  Azetylentetrachlorid 
hergestellt.  Aus  diesem  gewinnt  man  dann  Tri- 
chloräthylen ,  Pentachloräihan,  Perchloräthylen, 
Hexachloräthan  und  Dlchloräthylen.  Alle  diese 
Chlorderivate  mit  Ausnahme  des  Hexachloräthans 


N.  F.  XIII.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


47 


sind  unentziindliche  Flüssigkeiten  und  besitzen 
hervorragendes  Lösungsvermögen  für  Fette,  Ole, 
Harze  u.  dgl. 

In  der  Extraktionstechnik  hat  insbesondere  das 
„Tri"  vermöge  der  vorher  angeführten  Beständig- 
keit und  des  dem  Benzin  nahegelegenen  Siede- 
punktes als  dessen  Ersatz  Eingang  gefunden. 
Insbesondere  in  Industrien,  in  denen  die  Extraktion 
nur  einen  Nebenbetrieb  bildet,  wie  bei  der  Ver- 
arbeitung fetthaltiger  Abfalle,  entfallen  bei  dessen 
Verwendung  die  für  Benzinextraktionsanlagen  be- 
stehenden Sicherheitsvorschriften.  Dazu  kommt, 
daß  die  leichten  zu  extrahierenden  Produkte  auf 
diesem  Lösungsmittel  schwimmen,  und  daher  die 
Extraktion  besser  vonstatten  geht  als  bei  Benzin, 
welches  über  dem  Extraktionsgut  steht.  In  Indus- 
trien, bei  denen  die  Extraktion  den  Hauptbetrieb 
bildet,  also  in  erster  Linie  in  Ölfabriken,  die  nur 
nach  dem  Extraktionsverfahren  arbeiten,  kommen 
die  Vorteile  infolge  des  wesentlich  höheren  Preises 
des  „Tri"  und  des  durch  das  große  spezifische 
Gewicht  bedingten  erheblich  größeren  Bedarfes 
weniger  in  Betracht.  Doch  bietet  das  viel  größere 
Lösungsvermögen  für  Öle  im  Vergleich  zu  Benzin 
Vorteile,  die  in  die  Wagschale  fallen.  Mit  dem 
„Tri"  können  Lösungen  bis  65 "/g  Fettgehalt,  mit 
Benzin  nur  solche  von  kaum  über  4o'*/(,  Fettgehalt 
erhalten  werden. 

Ein  weiteres  Anwendungsgebiet  dieser  Chlor- 
derivate bilden  die  chemischen  Wäschereien. 

In  der  Lackindustrie  dient  ,,Tri"  zur  Herstellung 
feuersicherer  Imprägnierungslacke.  An  Stelle  von 
Tetrachlorkohlenstoff,  welcher  leicht  Chlorwasser- 
stoffabspaltet, wird  es  den  aus  Rizinusöl-Sulfosäure 
hergestellten  Seifen  einverleibt,  die  unter  verschie- 
denen Namen,  wie  „Triol",  zumeist  in  der  Textil- 
industrie verwendet  werden.  Gleichem  Zweck 
dient  auch  Perchloräthylen  („Pertürkol").  Dieses 
ist  überdies  ein  vorzügliches  Lösungsmittel  für 
Schwefel.  Tetrachloräthan  wird  meist  in  der 
Lackindustrie  verwendet,  da  es  ein  hervorragenäes 
Lösungsmittel  für  Fette,  Öle,  Harze  und  Firnisse 
bildet.  Pentachloräthan  findet  in  der  Metallindustrie 
zur  Entfettung  von  Kunstgegenständen  vor  der 
galvanischen  Behandlung  Anwendung. 

Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  es  dem  Azetylen 
vielleicht  beschieden  sein  wird,  einen  vollen  Um- 
sturz in  den  technischen  Aufbau  organischer  Ver- 
bindungen zu  bringen.  R.  Ditmar. 


Bücherbesprechungen. 

Georg  Schlenker,    Lebensbilder  aus  deut- 
schen Mooren.      Einführung  in  das  Studium 
der    heimischen    Tier-    und    Pflanzenwelt.      Mit 
124  Abb.     164  S.     Verlag  von  Theod.  Thomas, 
Leipzig  191 3.  —  In  Leinwand  geb.  2,75   Mk. 
Verf.  schildert  in  interessanter,  leicht  verständ- 
licher Weise  die  Entstehung  der  Moore,  die  dabei 
stattfindenden    wichtigen     chemischen    Vorgänge, 
wie  die  Bildung  von  Eisenhydroxyd  und  des  später 
daraus    hervorgehenden    Sumpferzes,    sowie    des 


Schwefels  usw.  Die  gesamte  Tier-  und  Pflanzen- 
welt, die  während  der  verschiedenen  Phasen  der 
Entwicklung  auf  oder  in  unseren  deutschen  Mooren 
lebt,  wird  eingehend  besprochen  und  manche  noch 
fast  unbekannte  Art  ausführlich  beschrieben. 

Vor  allem  werden  die  biologischen  Verhältnisse 
eingehend  behandelt  und  die  oft  ganz  eigenartigen 
Lebensvorgänge,  welche  manche  Tiere  und  Pflanzen 
der  Moore  in  ihren  Beziehungen  zur  Umgebung 
zeigen,  uns  an  besonders  interessanten  Arten  ge- 
schildert. Auch  die  der  eigentlichen  Moorbildung 
verwandten  Erscheinungen,  wie  der  Verlandungs- 
prozeß  bei  Wiesengräben  usw.,  sind  berücksichtigt 
worden,  so  daß  das  Buch  auch  allen,  die  fern  von 
einem  Moore  leben,  viel  Interessantes  bieten  wird 
und  in  der  Tat  als  eine  Einführung  in  die  heimische 
Tier-  und  Pflanzenwelt  anzusehen  ist,  zumal  die 
vielen  schönen  Abbildungen  den  Text  wesentlich 
unterstützen. 

Den  Schluß  bildet  ein  Abschnitt,  „Die  Be- 
deutung der  Moore  für  den  menschlichen  Haushalt" 
und  in  einem  Anhange  finden  wir  die  wichtigsten 
Mikroorganismen  systematisch  geordnet,  die  Pflan- 
zen der  Moore  nach  ihrem  Vorkommen  in  solche  der 
Flach-  und  der  Hochmoore  eingeteilt.  Eine  ,, An- 
leitung für  das  Sammeln  und  die  Behandlung 
der  einfachsten  Lebensformen  des  Süßwassers" 
erleichtert  dem  Naturfreunde  wesentlich  die  Be- 
obachtung. Auch  ist  ein  ausführliches  Literatur- 
verzeichnis und  ein  das  Nachschlagen  sehr  erleich- 
terndes Sachregister  angefügt.         Karl  Ortlepp. 


Max  Planck,  Das  Prinzip  der  Erhaltung 
der  Energie.  3.  Aufl.  Verlag  von  B.  G. 
Teubner,  Leipzig  191 3.  —  Preis  6  Mk. 
Die  Planck'sche  Preisschrift  über  das,,  Prin- 
zip der  Erhaltung  der  Energie"  erschien 
in  drittter  Auflage  mit,  soweit  sich  übersehen 
ließ,  unverändertem  Inhalt.  Es  ist  dies  der  beste 
Beweis  für  die  Güte  der  Darstellung  dieses 
allumfassenden  Prinzips  und  seiner  zeitlosen  Be- 
deutung, daß  es  Veränderungen  der  Darstellung 
und  des  Inhaltes  nicht  bedarf.  Wir  haben  in 
unserem  Geistesbesitz  keinen  allgemeingültigen  Be- 
griff von  so  weit  tragender  Bedeutung  als  den 
der  Energie,  und  darum  bietet  das  Studium  des 
Planck  'sehen  Buches  mit  seiner  vollendet  künstle- 
rischen Sprache  dem  gebildetenNaturwissenschaftler 
wie  dem  Physiker  von  Fach  den  gleichen  Genuß.  Es 
behandelt  im  ersten  Abschnitt  die  historische  Ent- 
wicklung des  Begriffs  und  des  Prinzips  der  Er- 
haltung der  Energie  bis  zu  den  klassischen  Ar- 
beiten von  J.  R.  Mayer,  Joule,  Helmholtz, 
Clausius,  Thomsen  und  Kirchhoff,  bringt 
dann  im  zweiten  Teil  eine  exakte  Formulierung  des 
Prinzips,  eine  Übersicht  und  kritische  Würdigung 
der  versuchten  Beweise  und  einen  Beweis,  der 
sich  auf  die  Unmöglichkeit  des  perpetuum  mobile 
stützt.  Im  letzten  Teil  wird  die  Fruchtbarkeit 
des  Prinzips  an  Beispielen  aus  verschiedenen 
Zweigen  der  Physik,  besonders  der  Elektrizität 
und  der  Thermochemie   gezeigt.     Unter    Verzicht 


48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.    3 


auf  alle  Hypothesen  über  das  Wesen  der  Natur- 
kräfte leitet  das  Werk  im  ganzen  eine  einheitUche 
Übersicht  über  unsere   gesamte  Erscheiiiungswelt. 


Dgt. 


Prof.  Dr.  A.  Zimmermann,  Direktor  des  kaiserl. 
biologischen  Landwirtschaft!.  Instituts  in  Amani, 
Der    Manihot-Kautschuk.     Seine    Kultur, 
Gewinnung  und  Präparation.     Mit   1 5 1  Figuren. 
Jena,  Gustav  P'ischer,   191 3.  —  Preis  9  Mk. 
Das  Buch  umfaßt  einschließlich  eines  Registers 
nicht   weniger   als  342  Seiten    in  Großoktav.     Es 
handelt  sich  demnach  um  eine  ausführliciie  Mono- 
graphie des  Gegenstandes  sowohl  nach  der  botani- 
schen   als    nach    der   praktischen    Seite    hin.      Bei 
der  Wichtigkeit  des  Kautschuks   für  die  Industrie 
wird    das    vorliegende    Buch    namentlich    für    die- 
jenigen,   die    sich  mit   der  Kultur  der   Kautschuk 
liefernden  Manihotarten  beschäftigen    wollen,   von 
großem    Wert    sein,    natürlich    auch    für    alle    die- 
jenigen,   die    sonst    mit  Kautschuk  zu  tun    haben, 
und  auch  für  Botaniker.  R.  P. 


Am"egungeii  und  Antworten. 

Herrn  Dr.  B.  M.  in  Leipzig.  —  Zu  dem  Artikel  von 
Märze  11,  Der  Nußbaum  im  deutschen  Volksglauben  (Naturw. 
Wochenschr.  N.  F.  XII.  Bd.  S.  713  ff.l  schreiben  Sie:  „Aus 
der  Umgebung  von  Zwickau  ist  mir  der  Brauch  bekannt,  daß 
man  einer  Kuh,  die  eben  gekalbt  hat,  eine  Gabe  verabreicht. 
Diese  besteht  aus  einer  Schnitte  Brot,  die  mit  einem  grün- 
lichen auch  sonst  in  der  Veterinärmedizin  verwendeten  Pulver 
bestreut  ist.  Obenauf  kommt  der  Kern  einer  Walnuß,  und 
zwar  möglichst  ganz  und  unverletzt.  Daß  auch  andere  Nüsse 
zu  diesem  Zwecke  benützt  werden,  ist  mir  nicht  bekannt. 
Sollte  dem  Herrn  Verf.  des  obigen  Artikels  etwas  über  die 
Deutung  des  geschilderten  Brauches  bekannt  sein ,  so  wäre 
ich  für  eine  Mitteilung  sehr  dankbar." 

Nach  dem  Volksaberglaubcn  sind  die  Kühe,  die  eben 
gekalbt  haben,  besonders  dem  , »Verhexen"  ausgesetzt.  Daher 
reicht  man  ihnen  vielerorts  im  Futter  zauberwehrende  Mittel. 
In  Schlesien  erhält  eine  solche  Kuh  in  der  Tränke  drei 
Zwiebelköpfe,  einen  Kamm  und  eine  Handvoll  Salz,  in  der 
Pfalz  einen  Nußkern  und  aus  jeder  Ecke  der  Wohnstube 
etwas  Schmutz  unter  einem  heiligen  Spruch.  Im  Erzgebirge 
gibt  man  der  Kuh  nach  dem  Kalben  Butterbrot  mit  Kreide 
und  Safran  bestrichen  oder  süße  Mandeln  [in  Vertretung  der 
Nufil]  zu  fressen,  dann  gibt  sie  gute  Milch.  Sehr  verbreitet 
ist  auch  der  Glaube,  daß  man  drei  Tage  lang  nach  dem 
Kalben  nichts  leihen  oder  verleihen  dürfe,  sonst  können  die 
Leute,  denen  oder  von  denen  man  geliehen,  der  Kuh  schaden 
oder  deren  Milch  an  sich  ziehen  (W  u  tt  ke ,  Volksabergl.  1869, 
415).  In  katholischen  Gegenden  gibt  man  der  Kuh  nach  dem 
Kalben  etwas  von  dem  ,, Weihbüschel"  (vgl.  Naturw.  Wochen- 
schrift N.  F.  XI.  Bd.  S.  329) ,  der  an  Maria  Himmelfahrt 
(15.  August)  geweiht  und  dann  getrocknet  aufbewahrt  wird. 
Im  deutschen  Weslböhmen  gibt  man  diese  geweihten  Blumen 
der  Kuh  nach  dem  Abkalben  mit  Brot  zu  fressen,  damit  sie 
nicht  verschrieen  \\'ird  (John,  Sitte,  Brauch  und  Volksgl.  im 
deutschen  Westböhmen  1905,  210).  Möglicherweise  spielt  die 
Nuß,  die  der  Kuh  nach  dem  Kalben  gegeben  wird,  nicht  nur 
die  Rolle  eines  zauberabwehrenden  Mittels,  sondern  (wie  auch 


sonst  in  vielen  Fällen;  vgl.  meinen  Artikel  S.  714)  auch  die 
eines  Fruchtbarkeitssymbols.  Sicher  dürfte  dies  letztere  der 
Fall  sein  in  einem  böhmischen  Mittel,  nach  dem  der  Kuh, 
wenn  sie  zum  erstenmal  kalben  soll,  von  der  Frau  [ebenfalls 
Hinweis  auf  die  Fruchtbarkeit!]  eine  in  Brot  gesteckte 
Fledermaus  zu  fressen  gegeben  wird,  dann  ein  Kuchen,  von 
Hafermehl,  in  den  eine  vom  Christabend  her  in  geweihtem 
Salz  aufbewahrte  Nußschale  und  ein  halber  Apfel  einge- 
backen ist  (Wuttke  414).  Marzell. 


Herrn  S.  F.  —  Über  Symbiose  der  Pflanzen  mit  Pflanzen 
finden  Sie  Auskuntt  in  allen  Lehrbüchern  der  Biologie;  z.B. 
F.  Ludwig,  Lehrbuch  der  Biologie  (1S95)  S.  34,  83  u.  96 
(Flechten,  Symbiose  der  Nostocaceen  mit  höheren  Gewächsen) ; 
W.  Migula,  Pflanzenbiologie  (1909,  Quelle  &  Meyer-Leipzig) 
S.  328  (Flechten,  Symbiose  der  Knöllchenbakterien  mit  Legu- 
minosen); J.  Wiesner,  Biologie  der  Pflanzen  usw.  Außer- 
dem W.  Pfeffer,  Pflanzenphysiologie  I.  S.  356  u.  IL  219. 
—  Über  die  Lebensweise  der  Bakterien  wird  das  Werk  von 
W.  Benecke,  Bau  und  Leben  der  Bakterien  (Teubner-Leip- 
zig  1912;  aus  Doflein  u.  Fischer,  Naturwissensch.  u.  Technik 
in  Lehre  und  Forschung)  Auskunft  geben.  H.  Harms. 


Herrn  Dr.  Seh.  in  F.  —  i.  Das  eingesandte  eigentümliche 
tütenförmige  Lindenblatt  ist  ein  Beispiel  für  eine  Bildungs- 
abweichung, die  bei  der  Linde  nicht  selten  vorkommt,  jedoch 
auch  bei  anderen  Pflanzen  gelegentlich  beobachtet  wird.  Die 
Erscheinung  gehört  in  die  große  Klasse  von  Mißbildungen, 
die  man  auf  tierische  oder  pflanzliche  Parasiten  nicht  zurück- 
führen kann.  O.  Penzig  (Pflanzenteratologie  I.  318)  sagt; 
Eine  andere  häufig  gefundene,  und  in  gewissen  E.\emplaren 
der  Linde  alljährlich  wiederkehrende  Bildungsabweichung 
besteht  in  dem  Auftreten  von  kappen-  oder  ascidien- 
förmigen  Blättern.  Man  findet  häufig  schon  Blätter, 
welche  durch  Verwachsung  der  beiden  basalen  Öhrchen  der 
Spreite  schildförmig  werden;  erstreckt  sich  die  Verwachsung 
nun  weiter  längs  des  Blattrandes,  so  entstehen  tüten-  oder 
becherförmige  Ascidien,  welche  schon  seit  langer  Zeit  bekannt 
sind.  M.  T.  Masters,  Pflanzenteratologie  (übersetzt  von 
U.  Dammer  (1SS6)  38),  teilt  mit,  daß  krugförmige  oder 
kappenförmige  Blätter  (folia  cucuUata)  bei  der  Linde  oft  an- 
getroffen werden  ;  auf  dem  Kirchhofe  eines  Cistercienscrklosters 
bei  .Sedlitz  stehen  Bäume  mit  solchen  Blättern,  an  denen 
Mönche  aufgehängt  worden  sein  sollen;  es  entstand  davon  die 
Sage,  daß  diese  Blätter  zum  ewigen  Angedenken  an  den 
Märtvrertod  dieser  Mönche  die  eigentümliche  Form  erhallen 
hätten.  Bei  Masters  S.  39  ist  ein  krugförmiges  Blatt  von 
Pelargoniura  abgebildet.  Herr  Prof.  Graebner  teilt  mir 
freundlichst  mit,  daß  er  tütenförmige  Blätter  wiederholt  auch 
bei   Platanen  beobachtet  habe. 

2.  Es  gibt  nur  im  südlichen  Teile  der  Vereinigten  Staaten 
von  Nordamerika  echte  Akazien.  Sargent  (Trees  of  North 
Amer.  (1905)  ^41)  erwähnt  4  Arten;  die  bekannteste  davon, 
A.  faniesiana  Wiild.,  die  bekanntlich  in  allen  wärmeren  Län- 
dern viel  kultiviert  wird  wegen  ihrer  wohlriechenden  zur 
Parfümbereitung  benutzten  Blüten,  soll  in  gewissen  Gegenden 
von  Texas  wild  vorkommen.  Bis  nach  Texas  reicht  die  sonst 
in  Mexiko,  W'estindien  und  dem  nördlichen  Südamerika  ver- 
breitete Ac.  tortuosa  Willd. ,  die  mit  A.  Farnesiana  verwandt 
ist  und  wie  diese  kleine  Blütenköpfchen  besitzt.  Blütenährea 
haben  A.  Wrightii  Benth.  und  A.  Griggii  Gray,  die  in  Texas 
und  Nordmexiko  wohnen.  Die  Zahl  der  Arten  wird  im  mitt- 
leren und  südlichen  Mexiko   erheblich   größer. 

3.  Soviel  mir  bekannt,  kommt  es  recht  oft  vor,  daß 
Kulturgewächse  durch  tierische  oder  pflanzliche  Parasiten  ge- 
tötet werden.  Von  der  Bildung  etwaiger  Gegengifte  in  der 
Pflanze  scheint  nichts  bekannt  zu  sein.  H.  Harms. 


Inhalt;  R.  Meli:  Die  Chinesen  und  der  Schmetteiling.  (Schluß.)  —  Einzelberichte:  Lummcr:  Versuche  über  Verflüssigung 
und  Sieden  von  Kohle.  Marcusson:  Hydrolyse  der  Fette.  Faust,  Wieland,  Weil:  Bufolalin,  das  Gift  der 
Kröten.  Reich:  Energiemessungen  an  Empfangsantennen.  Sierp:  Körpergröße  und  Zellengröße.  K.  Bassalik: 
Zersetzung  der  Oxalsäure.  Peirce:  Einfluß  des  Lichtes  auf  das  Wachstum  der  Pflanzen.  Kruis:  Bakterienkerne. 
Thurnwald:  Erforschung  des  geistigen  Kulturbesitzes  der  Völker.  Hettner;  Die  Abhängigkeit  der  Form  der  Land- 
oberfläche vom  inneren  Bau.  —  Kleinere  Mitteilungen:  K.  Schutt:  Zellulose,  Zucker,  Alkohol.  O.  Bürger:  Heil- 
und  Nahrungsmittelreste  in  altägyptischen  Leichen.  R.  Ditmar:  Neuere  Verwertungsarten  von  Karbid  und  Azetylen 
und  deren  Rückwirkung  auf  die  Entwicklung  anderer  Industrien.  —  Bücherbesprechungen :  GeorgSchlenker:  Lebens- 
bilder aus  deutschen  Mooren.  —  Max  Planck:  Das  Prinzip  der  Erhaltung  der  Energie.  —  A.  Zimmermann:  Der 
Manihot-Kautschuk.  —  Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstrafie   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.   Band; 
der  ganzen   Reihe   29.  Band. 


Sonntag,  den  25.  Januar  1914. 


Nummer  4. 


Schutzfärbung  und  Mimikry 


[Nachdruck  verboten.]  Von   Dr.  Alois 

„Es  ist  auffallend,  wie  in  vielen  Fällen  die 
Natur  dem  Tiere  Dienstleistung  erweist,  indem 
sie  es  mit  solchen  Tinten  färbt,  welche  es  am 
besten  instand  setzen,  seinen  Feinden  zu  ent- 
kommen oder  seine  Beute  zu  fangen."  A.  R. 
Wallace. 

Es  ist  ein  undankbares  Beginnen  über  die 
Färbungen  der  Tiere  zu  schreiben,  da  man  sich, 
wenn  man  mit  seiner  Ansicht  herausrückt,  eine 
Schar  von  Gegnern  auf  den  Hals  lockt,  und  ein 
unangenehmes  zugleich,  da  man  auf  Schritt  und 
Tritt  mit  Aussprüchen  hervorragender  und  ver- 
dienstvoller Forscher  in  Kollision  kommt,  die 
man  trotz  alier  Pietät  nicht  mehr  so  ganz  gelten 
lassen  kann.  Ich  bitte  daher  im  vorhinein  um 
Nachsicht  und  um  gerechte  Beurteilung  meiner 
Zeilen. 

Veranlaßt  hat  mich  zum  Schreiben  des  folgen- 
den Aufsatzes  das  jüngst  erschienene  Buch  Jacobi's 
über  Mimikry,  das  eine  äußerst  gründUche  und 
übersichtliche  Zusammenstellung  des  wichtigsten 
Materiales  gibt,  mit  dessen  Ansichten  ich  aber 
nicht  vollständig  übereinstimme. 

I.  Anpassungsfärbung. 

Es  ist  eine  allgemein  bekannte  Erscheinung, 
daß  ein  großer  Teil  unserer  Tiere  in  seiner  Farbe 
der  Umgebung,  in  der  er  lebt,  oft  in  ganz  ver- 
blüffender Weise  angepaßt  ist.  Die  Wüstentiere 
zeigen  die  Sandfarbe,  die  Tiere  der  arktischen 
Region  die  weiße  Farbe  des  Schnees,  die  nächt- 
lichen Tiere  und  die,  deren  Aufenthaltsort  der 
Erdboden  ist,  sind  grau,  die  Baum-  und  Grastiere 
grün  und  die  VVassertiere  oft  glashell.  Die  so 
allgemein  aufgestellten  Angaben  lassen  sich  durch 
eine  Unmenge  von  speziellen  Beispielen  vermehren, 
und  da  nicht  bloß  die  ausgewachsenen  Tiere, 
sondern  auch  die  offen  abgelegten  Eier  und  die 
Jugendstadien  die  Färbung  ihrer  Umgebung  haben, 
so  ist  es  eigentlich  zum  Verwundern,  daß  diese 
auffallende  Erscheinung  erst  so  spät  von  den 
Naturforschern  so  recht  beachtet  wurde.  Wenn 
wir  auch  schon  bei  dem  in  der  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts berühmten  Nürnberger  Miniaturenmaler 
und  Naturforscher  Rösel  von  Rosenhof  einige 
unzweifelhaft  beschriebene  Fälle  von  I-'arbenan- 
passung  finden,  so  wurde  doch  erst  von  Erasmus 
Darwin  und  speziell  von  seinem  Enkel  Charles 
Darwin  die  biologische  Bedeutung  der  Farben 
für  die  Tiere  richtig  gewürdigt  und  auch  gleich- 
zeitig durch  die  Selektion  erklärt.  Und  Weis- 
mann  sagt  in  seinen  Vorträgen  über  Deszendenz- 
theorie*): „Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  eine  solche 


Czepa,  Wien. 

mit  der  gewöhnlichen  Umgebung  des  Tieres  über- 
einstimmende, sog.  ,, sympathische"  Färbung  sich 
mittels  des  Selektionsprinzips  unschwer  in  ihrer 
Entstehung  begreifen  läßt  und  ebensowohl  daß 
sie  sich  durch  das  Lamarck 'sehe  Umwandlungs- 
prinzip nicht  erklären  läßt.  Durch  Häufung 
kleiner,  nützlicher  Farbenvariationen  kann  sehr 
wohl  aus  der  früheren  Färbung  allmählich  eine 
grüne  oder  auch  eine  braune  entstanden  sein, 
nicht  aber  kann  sich  ein  graues  oder  braunes 
Insekt  dadurch,  daß  es  die  Gewohnheit  annahm, 
auf  Blättern  zu  sitzen,  in  Grün  umgefärbt  haben, 
und  noch  weniger  kann  dabei  der  Wille  des 
Tieres  oder  irgendwelche  Art  der  Tätigkeit  mit- 
gewirkt haben.  Selbst  wenn  das  Tier  eine 
Ahnung  davon  hätte,  daß  es  ihm  nun,  nachdem 
es  sich  an  das  Sitzen  auf  Blättern  gewöhnt  hatte, 
sehr  nützlich  sein  würde,  grün  gefärbt  zu  sein, 
wäre  es  doch  außerstande  gewesen,  irgend  etwas 
für  seine  Grünfärbung  zu  tun.  Man  hat  aller- 
dings in  neuester  Zeit  an  die  Möglichkeit  einer 
Art  von  Farbenphotographie  auf  der  Haut  der 
Tiere  gedacht,  allein  es  gibt  eine  Menge  von 
Arten,  die  in  ihrer  Färbung  im  Gegensatz  zu 
ihrer  Umgebung  stehen,  bei  welchen  also  die 
Haut  keine  farbenphotographische  Platte  ist,  und 
es  mußte  also  zuerst  erklärt  werden,  wie  es 
kommt,  daß  dieselben  bei  den  sympathischge- 
färbten als  solche  funktioniert.  Ich  verlange  nicht 
den  Nachweis  der  chemischen  Zusammensetzung 
des  dabei  vorausgesetzten  lichtempfindlichen  Stoffes. 
Möchte  dieser  Jodsilber  oder  etwas  anderes  sein, 
die  Frage  bleibt  die:  Wie  kommt  es,  daß  es  sich 
nur  bei  solchen  Arten  eingestellt  hat,  deren  sym- 
pathische Färbung  ihnen  im  Kampf  ums  Dasein 
nützlich  ist?  Und  die  Antwort  darauf  könnte 
nur  lauten:  Er  ist  durch  Naturzüchtung  bei  den- 
jenigen Arten  entstanden,  denen  eine  sympathische 
Färbung  nützlich  war." 

Hiermit  ist  deutlich  die  Stellung  der  Selek- 
tionstheoretiker zur  Schutzfärbung  gegeben  und 
der  große  Wert  der  sympathischen  Färbung  für 
die  Erhaltung  der  Art  und  die  einzig  mögliche 
Entstehungsweise,  nämlich  durch  Selektion,  klar 
ausgesprochen. 

Heute  sind  nun  viele  Forscher  mit  der  ange- 
gebenen Meinung  Weismann's  nicht  mehr  ein- 
verstanden und  die  Stimmen  mehren  sich,  die  von 
der  schützenden  Allgewalt  der  sympathischen 
Färbung  nicht  viel  halten,  ja  sogar  soweit  gehen, 
daß  sie  sie  überhaupt  leugnen. 


')  II.  Aufl.  p.  50. 


50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  I'.  XIII.  Nr.  4 


Die  Aufgabe  der  folgenden  Zeilen  soll  es  nun 
sein,  die  Frage  der  Schutzfärbung  vom  objektiven 
Standpimkt  aus  zu  betrachten,  wobei  wir  uns 
natürlich  eine  ziemliche  Beschränkung  auferlegen 
müssen,  um  den  Umfang  der  Arbeit  nicht  ins 
Unermeßliche  wachsen  zu  lassen. 

Wildfärbung  —  Domestikationsfärbung. 

Ein  sehr  beliebtes  Beispiel  für  Schutzfärbung 
sind  unsere  Haustiere,  deren  bunte  Farben  sich 
von  dem  einfachen  Grau  oder  Gelblichbraun  ihrer 
wilden  Verwandten  deutlich  und  auffallend  unter- 
scheiden. In  diesem  Falle  ergibt  sich  auch  die 
Erklärung  ganz  von  selbst.  Die  domestizierten 
Tiere  können  eines  Schutzes  durch  Farbenanpassung 
vollständig  entbehren,  weil  sie  durch  den  Menschen 
geschützt  sind;  es  fällt  also  der  regelnde  Faktor, 
die  natürliche  Zuchtwahl,  vollständig  weg  und 
Farben,  die  dem  wildlebenden  Tier  binnen  kurzem 
den  sicheren  Tod  brächten,  können  deshalb  die 
große  Verbreitung  finden,  ja  sogar  die  eigentliche 
Wildfärbung  vollständig  verdrängen. 

So  plausibel  diese  Erklärung  auf  den  ersten 
Blick  auch  scheint,  so  wenig  vermag  sie  einer 
kritischen  Prüfung  standzuhalten. 

Wenn  wir  bedenken ,  wie  wenige  Haustier- 
rassen noch  Wildfärbung  erkennen  lassen,  daß  es 
gerade  die  primitiven,  wenig  veredelten  Rassen 
sind,  bei  denen  wir  sie  finden,  und  daß  die  bunten 
Farben  vor  allem  die  hochkultivierten  Rassen 
zeigen,  so  muß  sich  uns  unwillkürlich  der  Ge- 
danke aufdrängen,  daß  diese  Farben  eine  typische 
Domestikationserscheinung  sind,  daß  die  Domesti- 
kation mit  ihren  der  P'reiheit  so  ganz  entgegen- 
gesetzten Lebensbedingungen  einen  derartigen 
Einfluß  auf  die  Tiere  ausübt,  daß  die  Wildfärbung 
vollständig  verdrängt  wird. 

Von  unseren  großen  Haustieren  zeigen  nur 
mehr  wenige  Rassen  die  eigentliche  Wildfärbung. 
Die  dunklen  Querstreifen  an  den  Vorder-  und 
Hinterbeinen  und  den  dunklen  Anstrich,  die  das 
Wildpferd  auszeichnen,  zeigen  nur  mehr  die  ganz 
primitiven  Landrassen  z.  B.  das  bosnische  Pferd 
und  der  unveredelte  galizische  Landschlag.  Die 
eigentümlichen  farbigen  Abzeichen  des  Wildrindes 
finden  wir  nur  mehr  bei  den  dachsfarbigen  Mürz- 
talerzuchten,  sowie  bei  den  entsprechend  gefärbten 
Individuen  der  Illyrischen  und  Karpathenrasse. 

Bei  den  kleinen  Haustieren  verhält  es  sich 
ähnlich;  nur  die  Ziegen  lassen  in  den  meisten 
Fällen,  wenn  es  sich  um  die  gewöhnliche  Form 
handelt,  große  Ähnlichkeit  in  ihrer  Färbung  mit 
der  Wildfärbung  erkennen,  aber  gerade  hier  sind 
die  Landzuchten  züchterisch  verhältnismäßig  wenig 
beeinflußt. 

Bei  allen  höheren  Rassen  und  gerade  bei  den 
höchststehenden  ist  von  Wildfärbung  keine  Spur 
mehr  vorhanden,  dafür  spielt  die  weiße  und 
schwarze  Farbe  und  vor  allem  der  Albinismus 
eine  große  Rolle. 

Wenn    wir    die    Färbungen    der  verschiedenen 


Rassen  analysieren,  so  können  wir  nach  A  d  a  m  e  t  z 
folgende  Einteilung  treffen: 
I.  Einfarbigkeit, 

II.  weiße  Abzeichen  bis  Scheckung, 

III.  Leuzismus, 

IV.  echter  Albinismus. 

I.  Zur  Einfarbigkeit  zählt  vor  allem  der  Melanis- 
mus, das  heißt  das  Auftreten  eines  dunklen,  bis 
schwarzen  Haar-  oder  Federkleides,  das  bei  wild- 
lebenden Tieren  nur  unter  gewissen  Bedingungen 
vorkommt  und  stets  eine  Seltenheit  bleibt,  bei 
unseren  Haustieren  aber  eine  überaus  häufige,  bei 
vielen  Rassen  eine  normale  Erscheinung  ist. 

Der  Melanismus  beruht  nicht  auf  dem  Vor- 
handensein eines  rein  schwarzen  Pigmentes,  son- 
dern nur  in  der  Anhäufung  des  gewohnlichen 
braunen,  wie  man  sich  leicht  überzeugen  kann, 
wenn  man  ein  schwarz  gefärbtes  Tier  im  auf- 
fallenden Sonnenlichte  betrachtet;  es  erscheint 
deutlich  rötlich  bis  dunkelbraun.  Wir  haben  uns  j. 
also  das  Auftreten  der  schwarzen  Färbung  durch  ■ 
eine  Überproduktion  des  Pigmentes  von  selten 
der  farbstofferzeugenden  Zellen  zu  erklären  und 
müssen  nur  noch  die  LTrsache  dieser  erhöhten 
Arbeitsleistung  erkunden.  Hierbei  hilft  uns  vor 
allem  die  Tatsache  weiter,  daß  diese  intensive 
Farbstoffbildung  in  naher  Beziehung  zur  P'arbstoff- 
losigkeit  oder  wenigstens  zum  Farbstoffmangel 
steht  oder  mit  anderen  Worten,  daß  Melanismus 
einerseits  und  Leuzismus  oder  Albinismus  anderer- 
seits sehr  häufig  in  ein  und  derselben  Zucht  vor- 
kommen. Ich  erinnere  hier  nur  an  die  bekannte 
Pferderasse  Kladrub,  die  in  einem  Schimmel-  und 
einem  Rappstamme  gezüchtet  werden,  an  den 
weißen  und  schwarzen  Pudel,  an  die  schwarzen 
und  weißen  Schafe  und  an  die  alten  Erfahrungen 
der  Züchter,  daß  Schwarz  stets  mit  dem  Weißen 
Hand  in  Hand  geht.  Wie  wir  später  noch  hören 
werden,  ist  Weiß  eine  Folge  einer  konstitutionellen 
Schwäche  des  Tieres  und  wir  werden  nicht  fehl 
gehen,  wenn  wir  auch  den  Melanismus  als  eine 
F"olgeerscheinung  gewisser  züchterischer  Verhält- 
nisse ansehen,  die  mit  einer  Schwächung,  zum 
mindesten  mit  einer  Störung  der  Lebenstätigkeit 
des  Organismus  parallel  läuft.  Die  Pigmentzellen 
verlieren  die  Fähigkeit,  die  Farbstoffproduktion 
zu  regulieren,  und  so  geht  sie  über  die  normale 
Grenze  hinaus. 

Welcher  Art  diese  züchterischen  Verhältnisse 
sind,  die  den  Melanismus  bedingen,  können  wir 
noch  nicht  sicher  behaupten,  wenn  wir  auch  auf 
die  Inzucht  einen  sehr  starken  Verdacht  haben. 
Denn  sehen  wir  uns  unter  den  wildlebenden 
Tieren  nach  melanotischen  Formen  um,  so  finden 
wir  sie  meistens  nur  in  kleinen  engbegrenzten 
Gebieten,  wie  die  schwarzen  Panther  auf  Java 
oder  unter  den  Haustieren  die  schwarzen  Formen 
der  illyrischen  Rinderrassen  inselartig  unter  den 
andersfarbigen  in  wilden,  schwer  zugänglichen  Ge- 
birgsgegenden, wie  in  der  Umgebung  von  Imljani 
in  Bosnien. 

Man  kennt  den  Melanismus  auch  bei  anderen 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


51 


Tiergruppen  schon  lange  Zeit.  Ich  erinnere  nur 
an  die  Gebirgsformen  der  Schmetterlinge,  Kreuz- 
otter, bei  denen  die  Feuchtigkeit  die  Ursache  der 
F'ärbung  sein  soll,  ferner  an  die  Angaben  Blumen- 
bach's,  der  an  Lerchen  und  Finken  durch 
bloßes  Füttern  mit  Hanf  künstlich  Melanismus 
hervorrief,  und  endlich  an  die  Versuche  Käm- 
merer's,  der  Eidechsen  durch  gewisse,  unge- 
wohnte Lebensbedingungen  zur  melanotischen 
Verfärbung  brachte. 

Aus  diesen  wenigen  Beispielen  können  wir 
schon  entnehmen,  daß  wir  mit  unserer  Auffassung 
von  Melanismus  als  einer  Folge  einer  konstitutio- 
nellen Schwächung  nicht  zu  weit  fehlgegriffen 
haben,  um  so  mehr,  wenn  wir  noch  die  Zucht- 
versuche an  Mäusen  berücksichtigen.  Haake') 
fand,  daß  Kreuzungen  von  blau-  und  weißge- 
scheckten Tanzmäusen,  bei  denen  das  Weiß  das 
Blau  an  Ausdehnung  bedeutend  übertraf,  mit  ge- 
wöhnlichen weißen  Mäusen,  also  mit  totalen  Al- 
binos, einfarbige  graue  oder  schwarze  Mäuse  er- 
gaben. Und  Cuenot'-)  erzeugte  durch  Paarung 
grauer  Bastardmäuse  dritter  Generation  mit  Al- 
binomäusen ebenfalls  schwarze  Mäuse.  L'nd  wenn 
jetzt  unsere  Jagdzeitschriflen  vom  häufigen  Auf- 
treten schwarzer  Eichhörnchen  berichten  und  uns 
die  interessante  Tatsache  mitteilen ,  daß  in  den 
westelbischen  Teilen  der  norddeutschen  Tiefebene, 
besonders  in  der  südöstlichen  Lüneburger  Heide 
schwarzes  Rehwild  nicht  mehr  so  selten  ist ,  so 
werden  wir,  wenn  wir  die  Frage  nach  der  Her- 
kunft der  schwarzen  Färbung  überhaupt  beant- 
worten wollen,  nicht  Anpassung  und  Schutzfärbung, 
sondern  physiologische  Ursachen  für  das  Auftreten 
des    Melanismus    verantwoitlich    machen    müssen. 

II.  Treten  bei  gefärbten  Individuen  pigment- 
freie Stellen  der  Haut  mit  pigmentfreien  Haaren 
im  geringen  Umfange  auf,  so  spricht  man  von 
weißen  Abzeichen  oder  Domestikationszeichen. 
Spezielle  Beispiele  hierfür  anzuführen,  ist  wohl  bei 
der  Häufigkeit  dieser  verbreiteten  Erscheinung 
nicht  Notwendigkeit;  denn  auf  Schritt  und  Tritt 
können  wir  auch  in  der  Großstadt  an  Pferden 
und  Hunden  derartige  Beobachtungen  machen. 

Die  weißen  Abzeichen  sind  meist  an  ganz 
bestimmte  Körperstellen  gebunden  und  finden 
sich  in  der  Regel  weit  vom  Zentrum  entfernt, 
also  dort,  wo  gewissermaßen  der  Stoffwechsel  der 
Haut  weniger  intensiv  sein  wird.  Ich  erinnere 
nur  an  die  F'ußenden  der  Vorder-  und  Hinter- 
beine der  großen  Haussäugetiere,  an  die  Schwanz- 
spitze der  Rinder  und  Hunde  und  an  die  Sterne 
auf  der  Stirne. 

Durch  Vergrößerung  der  pigmentlosen  Partien 
kommt   dann    die  Färbung    zustande,    die  wir  als 


')  Haake,  Über  Wesen,  Ursachen  und  Vererbung  von 
Albinismus  und  Scheckung  und  über  deren  Bedeutung  füi 
vererbungstheoretische  und  entwicklungsmechanische  Fragen. 
Biolog.  CentralblaU.     XV.      1895. 

'')  Cuenot,  L'hcredit^  de  la  Pigmentalion  chez  les  souris 
(2eme  Note)  in  Archives  de  Zoologie  experimentale  et  gene- 
rale  1903. 


Scheckung  bezeichnen ,  die  mehr  oder  weniger 
ausgeprägt  und  in  Verbindung  mit  Melanismus 
oder  einer  anderen  Kulturfärl)ung  auftreten  kann. 
Diese  Scheckung  kann  aber  in  ganz  hervorragen- 
dem Maße  zunehmen  und  fast  alle  gefärbten 
Partien  zum  Schwinden  bringen,  so  daß  fast  die 
gesamte  Körperoberfläche  albinotisch  erscheint. 
Ein  charakteristisches  Beispiel  hierfür  sind  die 
letzten  Moderassen  der  Hunde,  die  zum  Teil  ziem- 
lich stark  entarteten  F^oxterriers,  bei  denen  wir 
oft  nur  mehr  winzige,  wenige  Millimeter  große 
Farbflecken  erkennen  können. 

Merkwürdig  i-,t,  daß  trotz  weitgehendster 
Scheckung  an  meist  ganz  bestimmten  Stellen  pig- 
mentierte Haut  erhalten  bleibt ,  ja  die  Fähigkeit, 
Farbstoff  zu  bilden,  von  diesen  Hautparlien  mit 
großer  Zähigkeit  festgehalten  wird.  So  sehen  wir 
beim  englischen  Parkrind  den  ganzen  Körper  un- 
gefärbt, nur  die  Ohrenspitzen  und  die  Umrandung 
des  Maules  pigmentiert.  Auch  bei  den  Hunden 
bleibt  die  Färbung  an  den  Ohrenspitzen  und 
außerdem  noch  in  der  Kreuzgegend  und  am  obe- 
ren Teil  des  Schwanzes.  Und  gerade  der  letzt- 
genannte Fleck  ist  selbst  bei  sehr  weitgehendem 
partiellen  Albinismus  vorhanden. 

Eine  Erklärung  für  das  Festhalten  des  Pig- 
mentes an  diesen  Stellen  ist  leicht  gegeben. 
Wenn  wir  die  wilden  Formen  zum  Vergleich 
heranziehen,  so  erkennen  wir,  daß  bei  ihnen  ge- 
rade die  genannten  Stellen  auffallend  dunkel  ge- 
färbt sind,  daß  hier  eine  intensive  Farbstoffbildung 
besteht  und  diese  bei  unseren  Haustieren  noch 
in  der  erwähnten  Weise  teilweise  erhalten  bleibt. 

Eine  intensive  Farbstoffbildung  findet  aber 
überall  dort  statt,  wo  ein  regerer  Stoffwechsel 
herrscht,  eine  Tatsache,  die  man  mit  vielen  Bei- 
spielen belegen  kann.  Gleich  im  Schwanzfleck 
der  Hunde  haben  wir  für  diese  Behauptung  einen 
Beweis;  wir  finden  nämlich  an  dieser  Stelle  auch 
bei  fast  allen  wilden  Caniden  eine  Hautdrüse,  die 
den  lebhafteren  Stoffwechsel  bedingt.  Nach 
Haake  bestehen  die  dunklen  Streifen  des  Zebras 
aus  viel  stärkeren  und  längeren  Haaren  als  die 
weißen,  so  daß  sie  erhaben  erscheinen  und  von 
ihm  mit  aufgenähten  Tuchstreifen  verglichen  wer- 
den. Nach  den  Arbeiten  von  Zi  e  tschman  n  i) 
finden  sich  an  den  Bürsten  der  Cerviden,  Stellen 
der  Hinterextremitäten,  die  mit  dunkleren  und 
längeren  Haaren  ausgestattet  sind,  Anhäufungen 
von  Drüsen.  Beim  Menschen  ist  die  Brustwarze, 
die  Achselhöhle,  die  Genitalgegend  stärker  pig- 
mentiert als  die  Umgebung  und  gerade  an  diesen 
Stellen  ist  der  Stoffwechsel   äußerst  rege. 

Diese  Beispiele,  die  sich  leicht  vermehren 
lassen,  zeigen,  daß  lebhafter  Stoffwechsel  intensive 
Farbstoffbildung  bedingt,  und  führen  uns  gleich- 
zeitig zu  der  Erklärung,  daß  die  weißen,  pigment- 
losen   Hautpartien    eine    Folge    eines  zu  geringen 


')  C.  Zietschmann,  Beiträge  zur  Morphologie  und 
Histologie  einiger  Hautorgane  der  Cerviden !  Zeitschrift  für 
wiss.  Zool.  Bd.  CXXIV.   1903. 


52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XUI.  Nr.  4 


Stoffwechsels  dieser  Stelle  sind  oder  als  Ausfluß 
einer  geweblichen  oder  konstitutionellen  Schwäche 
angesehen  werden  müssen.  Die  Farbstoffzellen 
haben  die  Fähigkeit,  Pigment  zu  erzeugen,  aus 
irgendeinem  Grunde  eingebüßt  und  unsere  Auf- 
gabe wäre  es  nun,  die  Ursachen  dieser  Schwächung 
anzugeben.  Wenn  wir  auch  noch  nicht  so  weit 
sind,  wenn  wir  uns  auch  damit  begnügen,  einige 
höchstwahrscheinliche  F"aktoren  anzuführen  (die 
wir  dann  im  Zusammenhange  am  Ende  des  Ab- 
schnittes besprechen  wollen),  so  sind  wir  doch 
imstande,  die  Behauptung  zu  bekräftigen,  daß  die 
Scheckung  eine  Folge  einer  geweblichen  oder 
konstitutionellen  Schwäche  ist. 

Es  ist  eine  bekannte  Erscheinung,  daß  bei 
dunkelpigmentierten  Pferden  an  den  Druckstellen 
weiße  Haare  wachsen. 

Das  Narbengewebe  selbst  der  dunkelhäutigsten 
Menschenrassen  ist  weiß. 

Werden  die  Federkeime  der  Stubenvögel 
irgendwie  störend  beeinflußt,  so  entstehen  weiße 
oder  hellgefärbte  Federn.  Cornesin')  gibt  an, 
daß  die  südamerikanischen  Indianer  den  normal 
grüngefärbten  Papageien  die  grünen  Federn  aus- 
reißen, in  die  Haut  der  Tiere  ein  ätzendes  Sekret 
einer  Krötenart  eindringen  lassen  und  durch  diese 
Hautschädigung  bewirken,  daß  die  neu  hervor- 
wachsenden F"edern  zitronengelb  oder  rötlichgelb 
gefärbt  erscheinen. 

Auch  ist  es  eine  alte  Erfahrung  der  Landwirte 
und  Tierärzte ,  daß  die  weißen  Hautpartien  viel 
weniger  widerstandsfähig  gegen  verschiedene 
Krankheiten  sind,  daß  die  weißgefesselten  Pferde 
auf  feuchten  Weideflächen  viel  häufiger  an  Mauke 
erkranken  als  die  gefärbten  und  daß  bei  fast  ganz 
weißen  Tieren  Hautkrankheiten  auftreten,  die  die 
dunklen  der  gleichen  Rasse  entweder  überhaupt 
nicht  oder  in  nur  ganz  geringem  Grade  befallen. 
Ich  erinnere  hier  nur  an  den  Buchweizenausschlag 
der  weißen  Schafe,  der  die  schwarzen  Tiere  nicht 
angreift  und  an  die  durch  Pilze  hervorgerufene 
Hautkrankheit  der  weißen  Pudel,  die  meist  nicht 
zu  heilen  sind,  während  die  damit  behafteten 
schwarzen  Pudel  ohne  weiteres  gesunden. 

Wie  weit  wir  gewebliche  und  wie  weit  wir 
konstitutionelle  Schwäche  für  das  Auftreten  der 
weißen  Farbe  verantwortlich  machen  sollen,  ist  in 
einzelnen  Fällen  oft  schwer  zu  entscheiden ,  ist 
aber  auch  ziemlich  irrelevant ,  da  die  eine  die 
andere  stark  beeinflussen  wird.  Wenn  wir  finden, 
daß  bei  in  Gefangenschaft  lebenden  Hänflingen 
die  rote  Färbung  von  Brust  und  Scheitel,  die  zur 
Paarungszeit  den  freilebenden  Vogel  auszeichnet, 
nicht  auftritt,  daß  derlei  Hochzeitskleider  in  der 
Gefangenschaft  nur  dann  auftreten,  wenn  die  Tiere 
sich  so  wohl  fühlen,  daß  sie  die  Freiheit  vergessen, 
ob  es  nun  ein  Vogel,  ein  Reptil,  ein  Amphibium 
oder  ein  F"isch  ist,  so  ist  damit  zwar  kein  Beweis 
für  die  weiße  Farbe  als  Folge  der  Schwäche  ge- 
bracht ,    aber    immerhin    deutlich    klargelegt ,    daß 


')  Tjaite  de  Zootechnique  generale.     Paris    1891. 


der  Stoffwechsel  das  Auftreten  der  verschiedenen 
P'ärbungen  bedingt.  In  diesen  letzten  P'ällen 
können  wir  teils  psychische  Depression,  teils  Fehlen 
der  Reize  der  Genitalsphäre  als  Ursache  annehmen. 

III.  Greift  die  weiße  Färbung  auf  die  ganze 
Körperoberfläche  über,  so  daß  die  Haare  und 
Federn  vollständig  pigmentlos  werden,  ist  aber 
das  Pigment  noch  in  Haut  und  Schleimhäuten 
erhalten,  so  sprechen  wir  von  Leuzismus,  einer 
P"ärbung,  die  wir  auch  in  der  Natur  finden;  ge- 
hört doch  das  Weißwerden  der  Polartiere  und 
einiger  Tiere  der  nördlicheren  Gegenden  zur 
Winterszeit  hierher.  Unter  den  Haustieren  findet 
sich  der  Leuzismus  vor  allem  bei  Pferden,  den 
bekannten  Schimmeln,  aber  auch  bei  Rindern  tritt 
er  auf,  so  bei  manchen  Stepperirassen,  und  beim 
Geflügel.  Leider  sind  wir  über  die  Ursachen,  die 
den  Domestikationsleuzismus  bedingen,  noch  voll- 
ständig im  Unklaren  und  wir  müssen  deshalb 
hier  auf  Erklärungsversuche  verzichten. 

IV.  Fehlt  das  Pigment  auch  in  der  Haut  und 
in  den  Schleimhäuten,  so  haben  wir  den  be- 
kannten Albinismus  vor  uns,  der  sich  selbst  dem 
harmlosesten  Beobachter  infolge  der  roten  Augen 
des  Tieres  als  auffallende  Erscheinung  präsentiert. 
Der  Albinismus  tritt  in  der  Natur  unter  den  wild- 
lebenden Tieren  nicht  so  selten  auf  und  gerade 
unter  dem  Wild  finden  wir  öfters  albinotische 
Formen;  doch  derlei  „weiße  Raben"  halten  sich 
nicht  —  wenn  man  sie  nicht  speziell  pflegt  — , 
und  verschwinden  wieder  binnen  kurzem  von  der 
Bildfläche.  Es  gibt  keine  einzige,  albinotische 
Spielart,  die  sich  bei  irgendeinem  wildlebenden 
Tier  herausgebildet  hätte. 

Daß  wir  gerade  unter  den  Haustieren  soviel 
Albinos  finden,  hat  vor  allem  seinen  Grund  darin, 
daß  die  Domestikation  das  Auftreten  des  Albinis- 
mus fördert  und  daß  der  Mensch  diese  auffallen- 
den Formen  mit  Vorliebe  gepflegt  und  sich  um 
ihre  Erhaltung  bemüht  hat. 

Daß  der  Albinismus  ein  Zeichen  beginnender 
Degeneration  ist,  daß  alle  albinotischen  l'iere  sehr 
stark  konstitutionell  geschwächt  sind,  wird  heute 
kein  Biologe  mehr  bestreiten  und  es  ist  ein  über- 
flüssiger Luxus,  noch  Beweise  hierfür  anzuführen. 
Nur  andeutungsweise  möchte  ich  einige  Tatsachen 
erwähnen.  Daß  der  Albinismus  auf  die  Genital- 
sphäre einwirkt  und  sehr  oft  mit  Sterilität  Hand 
in  Hand  geht,  haben  die  Züchter  der  großen 
Haustiere,  wie  auch  die  des  Geflügels  oft  erfahren 
müssen.  Unsere  Jäger  wissen  ein  Liedchen  zu 
singen,  daß  der  weiße  Fasan  viel  hinfälliger  und 
in  jeder  Beziehung  schwächer  ist  als  sein  ge- 
färbter Bruder.  Ganz  besonders  empfänglich  ist 
das  albinotische  Tier  gegen  Infektionskrankheiten. 

Wir  haben  gesagt,  daß  die  Domestikation  das 
Auftreten  des  Albinismus  fördert,  und  haben  diese 
Behauptung  auf  Grund  der  Tatsache  ausgesprochen, 
daß  unter  den  wildlebenden  Formen  Albinos 
selten,  unter  den  Haustieren  sehr  häufig  sind 
und  daß  gerade  unter  den  Haustieren,  mit  denen 
sich    der   Mensch    am    wenigsten    beschäftigt    hat, 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


53 


nämlich  mit  den  Ziegen,  der  Albinismus  fast  eine 
Seltenheit  ist  im  Verhältnis  zu  den  gepflegtesten 
z.  B.  der  Vollblutrassen  der  Pferde.  Wenn  wir 
in  der  so  stark  durch  den  Menschen  veränderten 
Rasse  des  englischen  Vollbluts  so  selten  albino- 
tische Individuen  finden,  so  dürfte  die  Erklärung 
hierfür  die  sein,  daß  die  Verwendung  der  Pferde 
zum  Rennen,  albinotische,  d.  h.  schwächliche  Tiere 
ausschließt.  Aber  die  große  Beeinflussung  läßt 
sich  doch  leicht  in  den  vielen  Hellfüchsen  er- 
kennen. 

Wir  müssen  uns  nur  noch  fragen,  welcher 
Art  der  Einfluß  ist,  welchen  die  Domestikation 
auf  das  Auftreten  des  Albinismus  ausübt.  Wir 
können  auch  hier  wieder  nur  einige  Faktoren  an- 
geben, die  ziemliche  Wahrscheinlichkeit  für  sich 
haben  und  die  man  mit  einigen  Beispielen  be- 
kräftigen kann,  an  wirklichen  Beweisen  fehlt  es 
uns  leider  auch  hier  vollkommen. 

Haake  führt  einen  sehr  glücklichen  Gedanken 
an.  „Die  Haustiere  sind  nicht  annähernd  den 
gleichen  Gefahren  ausgesetzt  wie  die  freilebenden 
Tiere.  Was  unter  diesen  nicht  in  jeder  Beziehung 
den  Ansprüchen,  die  durch  die  Lebensbedingungen 
an  die  Tiere  gestellt  werden,  gewachsen  ist,  muß 
zugrunde  gehen.  Die  Haustiere  indessen,  die  für 
den  Menschen  wertvoll  sind,  werden  möglichst 
gehegt  und  gepflegt  und  vor  schädigenden  Ein- 
flüssen geschützt.  Sie  brauchen  vor  allen  Dingen 
während  der  ungünstigen  Jahreszeit  keinen  Hunger 
zu  leiden.  Sie  finden  auch  Schutz  vor  Kälte,  vor 
schädigender  Nässe,  vor  allzu  starker  Einwirkung 
des  Sonnenlichtes  u.  dgl.  mehr.  Kurzum ,  die 
gute  Pflege  läßt  auch  solche  Individuen  überleben, 
die  als  freilebende  Tiere  dem  Kampfe  ums  Da- 
sein, der  konstitutionellen  Zuchtwahl,  die  nur  die 
Individuen  mit  starker  Konstitution  auswählt,  zum 
Opfer  fallen  würden.  Deswegen  muß  aber  bei 
Haustieren  notwendigerweise  eine  Schwächung 
der  Konstitution  nicht  selten  vorkommen  und 
diese  hat  wahrscheinlich  mit  lokalem  oder  totalem 
Albinismus  zu  tun." 

Zu  diesem  Faktor,  der  die  Domestikation 
wegen  der  Erhaltung  der  selbst  konstitutionell 
sehr  geschwächten  Individuen  zu  einem  Förderer 
des  Albinismus  macht,  gesellt  sich  noch  die  schon 
beim  Melanismus  angeführte  Inzucht,  die  ja  leider 
oft  genug  vorgenommen  wurde  und  noch  wird 
und  wie  kaum  ein  zweiter  Faktor  die  Konstitu- 
tion sehr  stark  zu  schwächen  imstande  ist.  Und 
weil  unter  derart  geschwächten  Tieren  der  teil- 
weise und  der  lokale  Albinismus  eine  der  häufigsten 
Erscheinungen  ist,  hat  man  ihn  direkt  als  Stigma 
degenerationis  bezeichnet. 

Einen  dritten  Faktor  hätten  wir  nach  Ada- 
metz^)  in  der  üppigeren,  bzw.  wasserreicheren 
Ernährung  der  Haustiere  gegeben.  Schon  Dar- 
win hat  in  der  gleichmäßig  reichlichen  Ernährung 
der  Haustiere    mit    den    wichtigsten    Grund    ihrer 


')  Adameiz,    Beiträge   zur  Monographie   des  Illyrischen 
Rindes.     Journal  f.  Landwirtschaft.     1895. 


großen  Variabilität  zu  sehen  gemeint  und  die 
Umschau  unter  unseren  Haustieren  gibt  uns  Be- 
lege für  diese  Ansicht.  Die  älteren  Zuchten  der 
Pinzgauerpferderasse  zeigen  eine  starke  Neigung 
zu  weitgehendem  teilweisem  Albinismus  und  gerade 
ihre  Ernährung  auf  den  Weiden  Salzburgs  ist  eine 
voluminöse  und  wasserreiche.  Die  rot-  oder 
schwarzscheckigen  Berner  Rinder  haben  auffallend 
helle  Verwandte,  die  Simmentaler.  Adametz 
konnte  in  Bosnien  auch  an  den  einfarbigen  lUy- 
riern  ähnliche  Beobachtungen  machen.  „Überall 
dort,  wo  sich  den  Tieren  eine  reichliche,  nament- 
lich aber  wasserreichere  Nahrung  bietet,  fiel  mir 
die  rasche  Zunahme  solcher  Abzeichen  auf.  Tiere 
mit  bereits  ausgebreiteten  weißen  Abzeichen, 
welche  den  Übergang  zur  Scheckfärbung  deutlich 
erkennen  lassen,  sah  ich  innerhalb  des  Braunvieh- 
gebietes nicht  selten.  Im  mildfeuchten  Simmtale 
unweit  Prejpolje  sah  ich  reinblütige  Herden,  in 
welchen  solche  gescheckte  Tiere  neben  einfarbig 
schwarzbraunen  vorkommen,  ja  sogar  direkte  Ab- 
kömmlinge solcher  Individuen  waren.  Den  Kul- 
minationspunkt erreichte  diese  Erscheinung  fort- 
schreitenden Pigmentmangels  im  nordwestlichen 
Teile  des  Mostarski  -  Blato ,  eines  ausgedehnten 
Sumpfweidegebietes.  Hier  traf  ich  ganze  Herden 
des  Scheckviehes  illyrischer  Rasse.  Die  wenigen 
unter  ihnen  befindlichen  einfarbigen  Tiere  waren 
hell  bis  gelbbraun  mit  entschieden  schon  pigment- 
ärmerer Haut."  —  — 

Wollen  wir  uns  nun  mit  den  angeführten  Be- 
hauptungen und  Tatsachen  begnügen  und  resü- 
mieren, was  wir  über  die  Färbungen  der  Haus- 
tiere gehört  haben,  so  kommen  wir  zu  dem  Er- 
gebnis, daß  der  Verlust  der  Wildfärbung  und 
das  Auftreten  der  bunten  Farben  eine  Folge  der 
verschiedensten,  physiologischen  Ursachen  ist,  die 
ihren  Grund  in  der  Domestikation  haben.  Damit 
haben  wir  allerdings  eine  Eiklärung  für  die  Ent- 
stehung der  Bunt-  und  Hellfarbigkeit  gegeben, 
haben  aber  noch  nicht  die  Frage  beantwortet,  ob 
das  Fehlen  der  Selektion  die  bunten  Farben  ver- 
breiten läßt  oder  nicht.  Wir  dürfen  nicht  in  einen 
circulus  vitiosus  verfallen;  denn  auch  im  Pralle  der 
wirkenden  Selektion  müssen  die  Ursachen  der 
Farbenveränderung  physiologische  sein.  Wir 
stehen  deshalb  vor  der  pr-inzipiellen  Frage:  Ver- 
lieren die  Haustiere  ihre  Wildfärbung,  weil  sie 
der  biologisch  wichtigen  Schutzfärbung  nicht  mehr 
bedürfen,  oder  aber  verändern  sie  die  Farben 
bloß  infolge  der  durch  die  andere  Lebensweise 
bedingten  Einwirkungen  auf  ihren  Körper  oder 
besser  gesagt  durch  das  stark  beeinflußte  Allge- 
meinbefinden. 

Wir  können,  um  der  Beantwortung  dieser 
Frage  näher  zu  kommen,  vorher  eine  andere  er- 
ledigen, nämlich  die  P>age,  ob  die  Wildfärbung 
der  großen  Haussäugetiere  überhaupt  eine  Schutz- 
färbung ist  und  für  das  Tier  diese  wichtige  Be- 
deutung hat  oder  nicht.  Ich  für  meinen  Teil 
möchte  den  Wert  der  Wildfärbung  als  Farben- 
anpassung, also  als  Schutzfärbung  in  große  Zweifel 


54 


Nalurwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


ziehen.  Ich  bin  der  Ansicht,  daß  die  Färbung 
für  diese  Tiere  als  Schutzmittel  gar  keine  Bedeu- 
tung hat.  Denn  die  wildlebenden  Pferde  und 
Rinder  sind  wehrhafte  Formen,  haben  die  Mög- 
lichkeit einer  raschen  Flucht  und  leben  außerdem 
in  Rudeln  und  oft  ganzen  Herden,  so  daß  sie 
schon  an  und  für  sich  dadurch  geschützt  sind. 
Außerdem  würde  ihnen  aus  dem  Umstände  schon, 
daß  sie  auf  freierem  Terrain  in  größerer  Zahl 
beisammenleben,  eine  Schutzfärbung  nichts  nützen, 
da  sie  von  sehenden  Feinden  unbedingt  sofort 
entdeckt  werden  müßten.  Und  wenn  Schmeil 
sagt,  daß  die  dunklen  Streifen  dem  Zebra  bei  Tag 
als  Erkennungsmittel  ')  für  von  der  Herde  ver- 
sprengte Tiere,  in  der  Nacht  als  Schutzfärbung 
bei  Mondschein  an  der  Tränke  dienen ,  so  finde 
ich  das  erste  ebenso  wenig  glaublich  als  das 
zweite.  Denn  erstens  sind  die  Equiden  ziemlich 
schlechte  Seher  und  ein  versprengtes  Tier  wird 
eher  infolge  seines  Geruchssinnes  zu  der  Herde 
zurückfinden,  um  so  mehr,  da  die  Gegenden  nicht 
so  eben  und  frei  sind,  daß  sie  das  Tier  auf  weite 
Strecken  übersehen  könnte,  und  zweitens  wird 
sich  der  Räuber,  der  an  der  Tränke  lauert  und 
der  Feind  der  Zebras  ist,  sicher  nicht  ein  einziges 
Mal  durch  die  im  Mondschein  verschwimmenden 
Streifen  täuschen  lassen.  Ich  bin  vielmehr  der 
Ansicht,  daß  die  Färbung  dem  Zebra  nicht  schadet, 
sonst  aber  von  keiner  positiven  Bedeutung  ist  und 
werde  auch  darin  durch  die  Angaben  Werne  r's 
bestärkt,  daß  sich  die  phylogenetisch  wichtigen 
Zeichnungen  der  Tiere,  zu  denen  die  Wildzeich- 
nung der  Pferde,  Zebras  usw.  gehört ,  bei  alten 
Tieren  zurückbildet,  also  ohne  Schaden  verschwin- 
den kann. 

Es  ist  also  die  Wildfärbung  durch  die  Do- 
mestikation einfach  infolge  der  anderen  und  zwar 
der  bereits  angeführten  Lebensbedingungen  zu  der 
Haustierfärbung  verändert  und  nicht  weil  der 
regelnde  Faktor,  die  Selektion  gefehlt  hat,  die 
nicht  schutzgefärbte  Tiere  binnen  kurzem  aus- 
rottete. Vor  allem  war  aber  bei  dem  Zustande- 
kommen der  überaus  bunten  Mannigfaltigkeit  der 
Mensch  schuld,  der  sich  an  den  neuen  Farben 
freute,  sie  pflegte,  ja  bestrebt  war,  sie  wenn  mög- 
lich  noch  zu   vermehren.  — 

Einen  weiteren  Beleg  für  die  hier  ausge- 
sprochenen Ansichten  gibt  uns  das  zweite,  große 
Zuchtbeispiel,  die  Taube.  Abstammend  von  der 
einfach  graublau  gefärbten  Felsentaube,  die  nur 
der  weiße  Unterrücken,  das  schwarze  doppelte 
Querband  auf  den  Schwingen  und  vor  allem  der 
grüne,  bzw.  purpurfarbige  Metallglanz  auf  Hals 
und  Vorderbrust  etwas  bunter  erscheinen  lassen, 
hat  sie  sich  zu  einer  Unzahl  der  verschieden  ge- 
färbten Varietäten  in  der  Hand  des  Menschen 
herausgebildet.  Auch  hier  hat  man  die  gleiche 
Erklärung  gegeben  wie  bei  den  großen  Haus- 
tieren und  auch  hier  könnten  wir  dieselben  gegen- 


')  Übrigens  wird  diese  .\nsicht  von  den  wenigsten  geteilt, 
da  die  meisten  der  Ansicht  sind,  daß  die  Streifen  auf  die 
Distanz  verschwinden  und  so  eine  Körperauflösung  bewirken. 


teiligen  Ansichten  vorbringen.  Es  wäre  daher 
gar  nicht  notwendig  von  den  Tauben  gesondert 
zu  sprechen,  wenn  sie  nicht  einen  neuen  Beweis 
für  unsere  Ansichten  erbrächten. 

Ob  die  Felsentauben  eine  Schutzfärbung  haben 
oder  nicht,  wollen  wir  hier  nicht  erörtern,  daß 
diese  aber  den  Haustauben  vollständig  fehlt,  ist 
wohl  ohne  allen  Zweifel.  Nun  fii.den  wir  in  vielen 
Großstädten,  ich  nenne  hier  nur  als  die  mir  am 
nächsten  liegende,  Wien,  eine  Menge  verwilderter 
Tauben,  die  zum  Verdruß  der  Stadtväter  überall 
nisten  und  gerade  die  schönsten  Bauwerke  mit 
ihrem  Aufenthalt  und  den  damit  verbundenen 
Folgen  beehren,  und  unter  ihnen  eine  große  Zahl, 
die  wie  die  Felsentauben  gefärbt  sind.  Die 
Tauben  verwildern,  die  Domestikationsfarben 
treten  zurück  und  die  ursprüngliche  Wildfärbung 
tritt  wieder  auf.  So  selbstverständlich  diese  Er- 
scheinung draußen  in  Wald  und  Flur  wäre,  so 
wenig  ist  sie  es  vom  Standpunkt  der  Selektion 
und  Schutzfärbung  aus  in  der  Großstadt.  Warum 
tritt  hier  die  Schutzfärbung  auf,  wenn  alle  natür- 
lichen Feinde  des  Tieres  fehlen.?  Wir  werden 
hierfür  wohl  keine  andere  Erklärung  finden,  als 
die,  daß  die  Färbung  der  Felsentaube  die  Wild- 
färbung ist  und  daß  mit  Aufhören  der  Domestika- 
tion und  der  damit  verbundenen  Lebensbedingungen 
die  Ursachen  der  bunten  Färbung  wegfallen  und 
daß  die  Verhältnisse  der  wildlebenden  Tiere  die 
alle  Wildfärbung  wieder  hervorrufen.  Daß  diese 
Färbung  nicht  bei  allen  Exemplaren  zu  finden 
ist,  hat  seinen  Grund  wahrscheinlich  darin,  daß 
die  der  Domestikation  eigentümlichen  Lebensbe- 
dingungen auch  bei  diesen  verwilderten  Formen 
zum  Teil  erhalten  sind,  wie  das  Fehlen  der  Feinde, 
das  Vorhandensein  zahlreicher  und  meist  sehr 
guter  Nistplätze  und  vor  allem  nie  Mangel  an 
guter  Nahrung,  weder  im  Sommer  noch  im 
Winter,  durch  die  vielen  Taubenfreunde.  — 

Nach  allen  diesen  Erörterungen  kommen  wir 
daher  zu  dem  Schlüsse,  daß  die  bunten  F"ärbungen 
der  Haustiere  eine  Folge  der  durch  die  Domestika- 
tion hervorgerufenen  Lebensbedingungen  sind  und 
vom  Menschen  meist  sorgsam  weitergezüchtet 
wurden  und  daß  derart  gefärbte  Spielarten  unter 
den  wildlebenden  Tieren  vollständig  fehlen,  nicht 
weil  gefärbte  Tiere  infolge  ihrer  schlechten  An- 
passung an  die  Umgebung  zugrunde  gehen  müssen, 
weil  sie  von  den  Feinden  leicht  entdeckt  und 
leicht  erbeutet  nie  zur  Fortpflanzung  kommen, 
sondern  weil  solche  Tiere  konstitutionell  viel 
schwächer  sind  und  deshalb  wenn  sie  manchmal 
durch  irgendwelche  LTrsachen  in  der  Natur  auf- 
treten, mit  ihren  Genossen  nicht  konkurrieren 
können,  die  Unbilden  des  Lebens  die  da  sind 
Witterung,  Nahrungsmangel,  Feinde  nicht  ertragen 
können,  und  deshalb  binnen  kurzem  wieder  spur- 
los verschwinden  müssen.  Es  gehen  diese  Formen 
allerdings  auch  durch  den  Kampf  ums  Da- 
sei n  zugrunde,  aber  nicht  infolge  ihrer  unrichtigen 
Färbung,  sondern  i  nfol  ge  ih  rer  schlechteren 
Konstitution  und  diesen  Kampf  ums  Dasein 
wird  niemand  verneinen.  (Fortsetzung  folgt.) 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


55 


Einzelberichte. 


Chemie.     Depside,   Flechtenstoffe    und    Gerb-      Chebulinsäure     der     Myrobalanen     und    das     im 
ar.        A..r    a^    q1-     \r„„„„,.,i,,„„    r>»i,t=^ViPr      Böhm'schen      Laboratorium      von      Grüttner 


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iieiern.  rtnuere  ua^ci^cu,  wcimc  1  iicinji->„aiijvjn- 
säuren  als  Bestandteil  enthalten,  scheinen  nicht 
Glukoside,  sondern,  ähnlich  dem  Tannin,  ester- 
artige Derivate  von  Zuckern  zu  sein.  Dahin  ge- 
hören vor  allem  zwei  kristallisierte  Gerbstoffe,  die 


geleiteten  „alten  Talböden  im  Rhonegebiet"  (Z.  f. 
Gletscherkunde  II,  321)  in  der  Natur  zu  suchen. 
In  drei  Wochen  wurde  das  Rhonetal  vom  Genfer 
See  aufwärts  bis  zum  Rhonegletscher    und    außer 


54  Naturwissenschaftliche  Wochenschrift.  N.  F.  XIII.  Nr.  4 

zielien.      Ich    bin    der  Ansicht,    daß    die  Färbung  teiligen    Ansichten    vorbringen.      Es    wäre    daher 

für  diese  Tiere  als  Schutzmittel  gar  keine  Bedeu-  gar  nicht   notwendig   von    den  Tauben    gesondert 

tung    hat.      Denn    die    wildlebenden    Pferde    und  zu  sprechen,   wenn  sie  nicht  einen  neuen  Beweis 

Rinder   sind  wehrhafte  Formen,    haben    die  Mög-  für  unsere  Ansichten  erbrächten. 


tieren  und  auch  hier  könnten  wir  dieselben  gegen-  allerdings  auch  durch  den  Kampf  ums  Da- 

sein  zugrunde,  aber  nicht  infolge  ihrer  unrichtigen 

,,,•■,,.  •  j  j-       .    •  .  >  .  ■,  Färbung,  sondern  i  n  fol ge  i h re r  schlechteren 

')   Übrigens  wird   diese  Ansicht  von  den  wenigsten  geteilt,  ,,  ".  .  ,     ,.°  i'  r  r>        • 

da  die   meisten  der  Ansicht    sind,    daß    die    Streifen    auf    die  Konstitution     Und    diesen    Kampf    umS    Dasein 

Distanz  verschwinden  und  so  eine  Körperauflösung  bewirken.  wird   niemand    verneinen.  (Forlsetzung  folgt.) 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


55 


Einzelberichte. 


Chemie.  Depside,  Flechtenstofie  und  Gerb- 
stoffe. Auf  der  85.  Versammlung  Deutscher 
Naturforscher  und  Ärzte  in  Wien  hielt  der  Groß- 
meister der  synthetischen  Chemie,  Emil  Fischer, 
einen  Vortrag  über  seine  neuen  Forschungen  über 
Depside,  Flechtenstoffe  und  Gerbstoffe.  Diese 
Produkte  sind  esterartige  Derivate  der  Phenol- 
Carbonsäuren,  zu  denen  die  im  Pflanzenreich  weit 
verbreitete  und  schon  1786  von  C.W.  Scheele 
entdeckte  Gallussäure,  sowie  die  als  Heilmittel 
berühmte  Salizylsäure  gehören  (Ber.  d.  Deutschen 
Chem.  Gesellsch.  46.  Jahrg.  Nr.  14,  S.  3253  ff.  1913). 
Diese  Phenol-Carbonsäuren  besitzen  u.  a.  die 
Fähigkeit,  mit  ihresgleichen  Anhydride  zu  bilden 
in  der  Weise,  daß  das  Carboxyl  des  ersten  Mole- 
küls in  die  Phenolgruppe  des  zweiten  esterartig 
eingreift.  Solche  esterartige  Anhydride  nennt 
Fischer  „Depside",  aus  dem  Griechischen  öiijitLV 
(gerben).  Je  nach  der  Zahl  der  Carbonsäuren, 
die  zusammengekuppelt  sind,  unterscheidet  man 
Didepside,  Tri-  und  Tetradepside. 

Die  einzige  natürliche  F'undstätte  für  Depside 
sind  bis  jetzt  die  Flechten,  jene  eigentümlichen 
Pflanzengebilde,  die  nach  der  Entdeckung  von 
Simon  Seh  wenden  er  durch  Symbiose  von 
Algen  und  Pilzen  entstehen.  Der  eigenartigen 
morphologischen  Beschaffenheit  entspricht  auch 
ihr  Gehalt  an  Depsiden.  Unter  diesen  sind  am 
bekanntesten    die    Lecanorsäure    und    Evernsäure. 

Unter  dem  Namen  „Gerbstoffe"  wird  eine 
größere  Anzahl  pflanzlicher  Stoffe  zusammengefaßt, 
welche  die  gemeinsame  Eigenschaft  besitzen,  sich 
mit  tierischer  Haut  zu  verbinden.  Verwendet 
man  chemische  Gesichtspunkte  zu  ihrer  Klassifi- 
zierung, dann  zerfallen  sie  in  ganz  verschiedene 
Gruppen.  Emil  Fischer  untersuchte  speziell 
den  Gerbstoff  der  Galläpfel,  das  sog.  Tannin  und 
einige  Substanzen  vom  selben  Typus.  Diese 
Gruppe  von  Gerbstoffen  läßt  sich  kurz  als  acyl- 
artige  Verbindungen  der  Zucker  mit  Phenol- 
Carbonsäuren  bezeichnen.  Nachdem  alle  Versuche, 
die  Gerbstoffe  zu  einheitlichen  kristallisierten 
Körpern  abzubauen,  gescheitert  waren,  betrat 
P-mil  Fischer  den  synthetischen  Weg,  indem 
er  überzeugt  war,  daß  das  Tannin  als  eine  ester- 
artige Kombination  von  i  Molekül  Glukose  mit 
5  Molekülen  Digallussäure  nach  Art  der  Penta- 
acetylglukose  zu  betrachten  ist.  Wie  immer 
hatte  Emil  Fischer  auch  diesmal  Recht.  Sein 
eigenartiges  Gefühl  für  das  Molekül  bewährte  sich 
wieder  glänzend.  Dort,  wo  der  Abbau  versagt, 
springt  Fischer  mit  der  Synthese  stets  richtig  ein. 

Andere  Gerbstoffe  der  Tanninklasse  scheinen 
wirkliche  Glukoside  zu  sein,  besonders  solche,  die 
bei  der  Hydrolyse  aromatische  Phenolketone 
liefern.  Andere  dagegen,  welche  Phenol-Carbon- 
säuren als  Bestandteil  enthalten,  scheinen  nicht 
Glukoside,  sondern,  ähnlich  dem  Tannin,  ester- 
artige Derivate  von  Zuckern  zu  sein.  Dahin  ge- 
hören vor  allem  zwei  kristallisierte  Gerbstoffe,  die 


Chebulinsäure  der  Myrobalanen  und  das  im 
Bö  hm 'sehen  Laboratorium  von  Grüttner 
kristallisierte  Hamameli-Tannin.  Letzteres  gibt 
bei  der  Hydrolyse  mit  Schwefelsäure  ebenfalls 
einen  Zucker,  der  aber  von  der  Glukose  ganz 
verschieden  ist,  und  ein  bisher  unbekannter  Körper 
zu  sein  scheint. 

Die  Erkenntnis,  daß  esterartige  Verbindungen 
der  Zucker-  und  Phenol-Carbonsäuren  eine  große 
Klasse  von  tannin-ähnlichen  Gerbstoffen  bilden, 
i^t  für  die  Pflanzenphysiologie  von  großer  Wichtig- 
keit. Besonders  interessant  ist  es,  daß  der  Zucker 
von  der  Pflanze  zur  Veresterung  von  Säuren  be- 
nutzt wird.  Der  Organismus  duldet  freie  Säuren 
im  allgemeinen  nur  an  bestimmten  Stellen,  wie 
im  Magen  der  Tiere  oder  in  den  unreifen  Früchten 
oder  in  Rinde  und  Schale,  wo  sie  wahrscheinlich 
als  Abwehrstoffe  wirken.  Gewöhnlich  ist  er  be- 
strebt, die  Säuregruppe  durch  Salzbildung,  Amid- 
bildung  oder  Esterbildung  zu  neutralisieren.  Dazu 
kommt    nun  jetzt  die  Veresterung  durch  Zucker. 

Für  praktische  Zwecke  sind  die  Entdeckungen 
Emil  Fischers,  soweit  es  sich  um  Verwen- 
dung in  der  Gerberei  handelt,  nicht  zu  verwerten, 
da  die  synthetischen  Gerbstoffe  viel  zu  teuer 
kommen.  Anders  steht  aber  die  Sache,  wenn 
man  bedenkt,  daß  die  Gerbstoffe  in  kleiner  Menge 
einen  Bestandteil  wichtiger  Genußmittel,  des 
Weins,  des  Tees,  Kaffees  und  zahlreicher  süßer 
Früchte  sind,  auf  deren  Geschmack  sie  einen  nicht 
zu  unterschätzenden  Einfluß  haben. 

Bei  diesen  Untersuchungen  erhielt  Emil 
Fischer  das  Hepta  -  (tribenzoyl- galloyl)  -  p-jod- 
phenylmaltosazon ,  Cj.ioHj^aOggN^J.j  in  kristalli- 
sierter Form,  welches  ein  Molekulargewicht  von 
4021  hat.  Der  Körper  steht  mit  dieser  Zahl 
sicherlich  an  der  Spitze  aller  organischen  Sub- 
stanzen von  bekannter  Struktur  und  ist  zudem 
durch  totale  Synthese  zugänglich. 

Die  moderne  Physik  ist  bemüht,  die  Materie 
in  immer  kleinere  Stücke  zu  zersplittern.  Über 
die  Atome  ist  man  längst  hinaus,  und  wie  lange 
die  Elektronen  für  uns  die  kleinsten  Massenteilchen 
sein  werden,  läßt  sich  nicht  absehen.  Demgegen- 
über scheint  die  organische  Synthese  berufen  zu 
sein,  das  Gegenteil  zu  leisten,  d.  h.  immer  größere 
Massen  in  dem  Molekül  anzuhäufen. 

R.  Ditmar. 

Geographie.  Die  präglaziale  Alpenoberfläche 
wird  in  verschiedenen  glazial-morphologischen  Ar- 
beiten zu  rekonstruieren  versucht.  H.  H  e  ß  (P.  M. 
191 3,  H.  6)  hat  im  Herbst  19 11  und  im  Sommer  191 2 
Beobachtungen  im  Rhone-  und  Ogliogebiet  aus- 
geführt, um  über  die  Trogformen  der  vergletschert 
gewesenen  Alpentäler  Gewißheit  zu  erlangen. 
Die  .Aufgabe  war,  die  aus  der  Siegfried-Karte  ab- 
geleiteten ,, alten  Talböden  im  Rhönegebiet"  (Z.  f. 
Gletscherkunde  II,  321)  in  der  Natur  zu  suchen. 
In  drei  Wochen  wurde  das  Rhonetal  vom  Genfer 
See  aufwärts  bis  zum  Rhönegletscher    und    außer 


56 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


dem  Haupttal  auch  das  Val  de  Bagnes,  das 
Eringertal,  das  Visptal,  das  Lötschental  und  das 
Fiescher  Tal  besucht.  Es  handelte  sich  haupt- 
sächlich darum,  festzustellen,  ob  die  Gefällsknicke 
und  Talbodenreste,  die  als  für  den  Güiiztrogrand 
bezeichnend  konstruiert  waren,  wirklich  vorhanden 
seien  und  ob  sich  so  zwischen  den  „präglazialen" 
Talböden  Brück  n  er 's  und  der  oberen  Gietscher- 
grenze  noch  ein  glazialer  Talboden  einschiebt. 

Dieser  Günztrogrand  konnte  tatsächlich 
in  allen  besuchten  Talstrecken  verfolgt  werden. 
Besonders  in  der  Nähe  des  Rhoneknies  waren 
Günz-,  Mindel-  und  Rißtrogrand  deutlich  zu  er- 
kennen. Die  Schliffgrenze,  der  oberste  Eisrand, 
liegt  hier  etwa  bei  2050 — 2100  m,  der  Günz- 
trog  in  etwa  1800  m,  der  Mindeltrog  in  etwa 
1600  m,  sein  Talboden  in  1480  m  Höhe.  Von 
Sitten  bis  zum  Eingang  ins  Visptal,  das  vom 
Matterhornstock  herabkommt,  folgt  der  Günz- 
trogrand etwas  unterhalb  der  Baumgrenze.  Am 
Fiescher  Tal  sind  die  korrespondierenden  Stücke 
jener  Trograndmarken  weit  hinein  in  den  Fels- 
Wänden  zu  verfolgen.  Über  dem  Rißtrogrand 
liegt  der  Rißtrog,  scharf  nach  oben  durch  eine 
sprungweise  Änderung  im  Gefälle  abgegrenzt,  den 
Mindeltrogrand,  und  noch  höher  an  der  Silhouette 
des  vom  Setzenhorn  südlich  ziehenden  Grates 
scharf  markiert,  verläuft  der  Günztrogrand.  Die 
Terrassierung  des  Fiescher  Tales  ist  auf  der  rechten 
Seite  hier  gut  bemerkbar.  Im  Haupttal  hat  also 
die  Besichtigung  genau  das  ergeben,  was  aus  dem 
Studium  der  Karten  entwickelt  worden  ist. 

In  den  Seitentälern,  die  meist  eng  und  steil- 
wandig eingetieft  sind,  ist  es  nicht  immer  möglich, 
von  der  Talsohle  aus  gute  Überblicke  über  die 
Terrassenbildung  an  den  Hängen  zu  erhalten.  Am 
Val  de  Bagnes  konnte  indessen  die  Gliederung 
in  4  Trogformen  unterhalb  der  Schliffgrenze  deut- 
lich wahrgenommen  werden,  besonders  in  Ver- 
bindung mit  dem  Trogschluß.  Im  E  ring  er 
Tal  bei  Sitten  ist  neben  dem  Günzrand  besonders 
der  Rißrand  durch  eine  kleine  Terrasse  bezeichnet, 
auf  der  Ortschaften  300  m  über  dem  Talboden 
liegen.  Der  Mindeltrogrand,  der  etwas  über  die 
Baumgrenze  emporsteigt,  ist  nur  in  wenigen  Spuren 
erhalten.  Am  Ausgang  des  Tales  bietet  eine 
Moränenlandschaft  besonderes  Interesse.  Auf  der 
rechten  Talseite  steigen  stark  zersägte  Schutthänge 
300  m  über  den  Talboden  an;  das  von  der 
Sonne  braun  gesengte  Gras  auf  den  Moränen 
ließ  diese  deutlich  von  der  Nachbarschaft  unter- 
scheiden, die  feuchter  und  frischer  war.  Auch 
gegenüber  auf  den  Terrassen  oberhalb  Sitten  liegen 
Moränenreste,  die  in  der  Längsrichtung  des  Rhöne- 
tales  ziehen.  Diese  Seitenmoräne  entspricht  einem 
Eisstand,  der  bis  über  den  Genfer  See  hinaus 
markiert  war,  und  könnte  der  VVürmeiszeit  ent- 
sprechen. Gerade  in  der  Umgebung  des  Gorner- 
gletschers und  des  Nikolaitales  sind  zahlreiche  Spuren 
der  vier  ineinander  liegenden  Tröge  vorhanden; 
hier  liegt  die  Schliffgrenze  ungefähr  in  3000  m  Höhe. 
Die  Silhouette  des  Riffelhorns  zeigt  deutlich  zwei 


Gefällsknicke,  einen  wenig  über  der  Eisoberfläche, 
einen  anderen  in  der  Mitte  des  Berges:  Mindel- 
und  Rißrand.  Zwischen  ihnen  liegt  der  Rißtrog, 
während  sich  oberhalb  des  Mindelrandes  eine  andere 
Trogform  ansetzt. 

So  führte  der  Besuch  der  Seitentäler  zu  dem- 
selben Ergebnis  wie  der  des  Haupttales;  es  ergeben 
sich  demnach  für  Haupt-  und  Nebentäler  vier 
ineinander  liegende  Trog  formen.  In 
weichem  Gestein  kann  einer  oder  der  andere  Rand 
eine  Strecke  lang  ausfallen,  während  in  hartem 
Gestein  die  Erosionsmarken  erhalten  blieben.  Nur 
mit  dieser  Annahme  läßt  sich  die  Herausgestaltung 
des  bekannten  Querschnittes  des  Reußtales  be- 
greifen, des  fast  idealen  Durchflußprofiles  für  die 
eiszeitlichen  Alpengletscher,  das  Wurm-,  Riß-  und 
Mindeltrog  recht  schön,  den  Günztrog  nur  schwach 
vorführt.  In  2000  m  Höhe  liegt  hier  nach 
E.  Brückner  die  Schliffgrenze. 

Zu  ganz  gleichen  Ergebnissen  führten  die 
Untersuchungen  am  Iseosee,  im  Oglio- Tal  und  an 
der  Brentagruppe  in  Südtirol. 

Aus  den  Profilen  ergibt  sich  nun  mit  aller  Be- 
stimmtheit, daß  mit  demselben  Rechte,  mit  dem 
die  Ausbildung  des  unteren  Taltroges  als  Produkt 
glazialer  Erosion  angesehen  wird,  auch  die  höheren 
Tröge  als  glaziale  Bildung  angesehen  werden 
müssen.  So  kommt  Heß  zu  dem  Schluß,  daß 
die  präglaziale  Alpenoberfläche  in  der  Höhe  der 
oberen  Eisstromgrenze  lag. 

Roman  Lucerna  untersucht  die  Flächen- 
gliederung der  Montblancgruppe  (G.  Z.  191 3, 
H.  6/7),  um  auf  ihrer  Grundlage  eine  genetische 
und  chronologische  Klassifikation  aller  Hoch- 
gebirgsformen  einzuleiten.  Er  kommt  dabei  zu 
bemerkenswerten,  mit  Heß  zum  Teil  überein- 
stimmenden Ergebnissen.  Erst  Richter  hat  durch 
Einführung  der  genetischen  Betrachtungsweise  ^j 
die  Leitlinien  der  Forschung  bestimmt;  die  Klassi- 
fikation der  Hochgipfel,  die  Auflösung  zusammen- 
gesetzter Formen  in  ihre  Elemente,  die  Feststellung 
der  Umwandlungsreihe,  die  Chronologie  der  Formen 
gehören  zu  den  wichtigsten  Fragen.  Die  Stellung 
der  Kare  blieb  ihm  unbekannt,  ihr  verschiedenes 
Alter,  und  daß  die  Karbildung  in  Schwankungen 
der  Schneegrenze  folge.  Auch  Pe  nck  und  Brück- 
ner's  fundamentales  Werk  gibt  hier  keine  Ent- 
scheidung; es  gibt  dagegen  zahlreiche  morpholo- 
gische Erklärungen  und  auf  ihrer  Grundlage  eine 
Chronologie  des  Eiszeitalters  und  der  Postglazial- 
zeit. 

Jeder  Gletscherzeit  entspricht  ein  System 
erosiver  Hohlformen.  Die  IVIethode  der  Bestim- 
mung gleich  alter  Flächenelemente  gibt  uns  eine 
Analyse  der  Flächen  des  Hochgebirges  in  Elemente 
gleicher  Bildung  und  eine  Synthese  der  erosiven 
Hohlformen  zu  einem  Ganzen,  dem  Gletscherbas- 
sin. —  Man  hat  der  Gletscherzunge  erosive  Kraft 
zugeschrieben    und  die  Tröge  als  ihr  Werk  aner- 


')  Geomorphologische  Probleme    aus  den  Hochalpen.    P. 
M.  Erg.-H.   132,   1900. 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


57 


kannt.  Penck  und  Brückner  erkennen  im 
Troge  nur  das  Bett  der  mittleren  Partie  des  Eis- 
stromes, dessen  obere  Grenze  sie  hoch  über  ihm 
ansetzen.  Richter  setzt  den  Eisrand  in  die 
Nähe  des  Trograndes,  da  dieser  beim  Überschreiten 
zugerundet  erscheinen  müßte.  Machen  wir  das 
Gletscherbecken  zum  Zentrum  der  morpho- 
logischen Formen,  so  müssen  alle  seine  Erschei- 
nungen von  seiner  Gestalt  und  Ausdehnung  ab- 
hängen. Jeder  Gletscher  gräbt  seine  Form  in  den 
Fels.  Schwindet  er,  so  bleibt  die  Hohlform  zurück 
und  ist  rekonstruierbar.  Die  heutigen  Gletscher 
sind  aber  bemüht,  die  Kanten  der  früheren  Becken 
abzuschleifen.  So  bedarf  es  einer  sorgfältigen  Kar- 
tierung der  gleichzeitig  gebildeten  Elemente,  um 
das  Ganze  des  Gletschers  zu  erkennen.  Der 
Geologe  wird  außerdem  noch  verlangen,  daß  die 
erosive  Form  mit  der  entsprechenden  akkumulativen 
eindeutig  verknüpft  wird,  die  Schotterfelder  müssen 
mit  dem  Talgehänge  parallelisiert  werden.  Man 
hat  in  der  Erörterung  der  Gletschererosion  be- 
sonders der  Gletscherzunge  Aufmerksamkeit  zu- 
gewendet und  die  Vorgänge  im  Firngebiet 
vielfach  vernachlässigt.  F  i  n  s  t  e  r  w  a  1  d  e  r  hat  auf 
die  Firnerosion  hingewiesen.  Ist  der  Trog  das 
der  Gletscherzunge  entsprechende  Korrelat,  so  tritt 
uns  im  Firnbassin  das  Korrelat  des  F'irnbeckens 
(als  Inhalt)  entgegen,  das  ihm  entsprechen  muß. 
Ist  die  Trogkante  die  Grenze  zwischen  bewegtem 
Eis  und  festem  Fels,  so  die  Karkante  die  Grenze 
zwischen  Firn  und  Felswand.  Die  Trog-  und 
Karkante  also  umzieht  in  einheitlicher  Weise  die 
Hohlform  des  Gletschers.  Die  Forschung  zur  Be- 
antwortung dieser  Fragen  muß  in  den  Gebirgs- 
zentren  geschehen. 

Jede  Gletscherzunge  hinterläßt  ihr  eigenes 
Erosionsgebilde.  Man  wird  kaum  ein  eisfreies 
Kar  finden,  in  dem  diese  Beziehung  gänzlich 
fehlen  würde.  Lucerna  erörtert  dies  am  Bei- 
spiel des  Gruschenstockes  oberhalb  Andermatt. 
Nach  drei  Seiten  erstreckt  sich  im  Vorterrain 
seines  kleinen  Gletschers  eine  höhere  geschliffene 
Felsbodenfläche,  umwallt  von  einem  Moränenzuge, 
außerhalb  eine  weitere  Randbuckelsohle  von  einer 
scharf  ausspringenden,  stellenweise  mit  Ufermoräne 
bedeckten  Kante  umgeben. 

Die  Erosionsform  des  Gletschers. 
Man  hat  erkannt,  daß  der  tiefere  Teil  des  Gletscher- 
tales mit  seinem  U-förmigen  Querschnitt,  ganz 
gleich  ob  derselbe  selbständig  eingeschnitten  wurde 
oder  aus  einem  fluviatilen  Tale  hervorgegangen 
ist,  ein  Werk  des  Gletschers  ist.  Ebenso  werden 
die  Kare  als  Ergebnis  der  Gletscherwirkung  be- 
trachtet, der  obere  Steilwandgürtel  als  morpho- 
logisches Element  wurde  erst  spät  erkannt.  Die 
Karwand,  mit  der  Richter  die  Felswände  be- 
zeichnete, die  die  flache  Sohle  des  Kares  umgeben, 
ist  das  Korrelat  der  Trogwand  in  der  Talregion. 
Die  erste  Unterscheidung  innerhalb  der  Karwand 
wurde  1907  in  den  Liptauer  Alpen  gemacht,  wo 
ein  unterer  glatter  Steilabsatz  von  einem  höheren 
weniger  steilen  Felsgehänge,    das    in  Rippen    auf- 


gelöst ist,  unterschieden  wurde.  Es  ist  wahr- 
scheinlich, daß  beide  Steilwandgürtel  in  Verbin- 
dung treten.  Der  Augenschein  lehrte,  daß  die 
Trogkanten  im  Trogschluß  sich  vereinigen. 
Wo  der  Trogrand  aus  dem  Eise  hervortritt,  muß 
die  Verbindung  zwischen  Trogwand  und  Karwand 
zu  finden  sein.  Sucht  man  Punkte  im  Hochge- 
birge auf,  wo  die  Erhaltungsbedingungen  gut  sind, 
wie  z.  B.  im  Granit,  so  findet  man,  daß  die  er- 
wähnte Trogkante  sich  nahe  dem  Trogschluß 
teilt;  der  untere  Zweig  schwenkt  in  den  Trog- 
schluß ein,  der  obere  schwingt  sich  über  den  Ge- 
fällsbruch empor,  den  Rand  des  P^irnbeckens  bil- 
dend der  Karwand  zu.  Diese  Teilung  der  Trog- 
kante konnte  besonders  gut  in  der  Hohen  Tatra 
beobachtet  werden,  aber  auch  am  rechten  Ufer 
des  Glacier  de  la  Brenva  am  Montblanc  ist  sie 
entwickelt.  Trogschluß  und  Kar  wand  sind 
zwei  gebogene  Wandgürtel  in  verschiedener  Höhe 
mit  verschiedenem  Halbmesser,  die  seitlich  mit- 
einander verbunden  sind.  So  konnte  19 10  am 
Argentieregletscher  beobachtet  werden,  daß  die 
rezente  Gletscherzunge  in  einem  eigenen  kleinen 
Troge  liegt,  der  in  einen  älteren  eingeschliffen  ist. 
Das  Gletscherbecken  besteht  also  aus  einem 
Becken  der  Gletscherzunge  (Trog)  und  einem 
Firnbecken  (Kar);  beide  sind  zu  einem  einheit- 
lichen morphologischen  Ganzen  verbunden.  Dieses 
Gletscherbecken,  das  auch  an  den  heutigen  Glet- 
schern selbständig  besteht,  ist  eine  zweiteilige 
Wanne;  die  durch  den  Gefällsbruch  des  Trog- 
schlusses bezeichnete  Grenze  beider  Wannen  ist 
an  der  Oberfläche  des  Eises  kenntlich. 

Die  so  notwendig  gewordenen  neuen  morpho- 
logischen Begriffe  sind  die  Glazialkante  des 
aus  Karwand,  Bindestück  und  Trogwand  bestehen- 
den Steilwandgürtels,  und  das  Gletscher- 
becken. Der  Felsrand  markiert  die  Grenze  des 
Gletscherraumes;  die  Größe  und  Form  der 
Gletscher  ist  bestimmend  für  die  erosive  Hohl- 
form, Mächtigkeit  von  Firn  und  Eis  für  die  Höhe 
des  oberen  und  unteren  Steilwandgürtels.  Die 
Umrandung  des  Firnbeckens  besteht  aus  der 
,, Scheitelkette"  und  den  beiden  „Flankenketten". 
Im  Troggebiet  leitet  der  „Abschwung  der  Trog- 
kante" zu  der  mitunter  aus  F"els  gebildeten  ,, End- 
schwelle". Außerdem  ist  der  Längsachse  des 
Gletschers  die  Querachse  des  Firnbeckens  gegen- 
über zu  stellen;  die  Feststellung  der  Querachsen 
früherer  Firnbecken  ist  wichtig. 

Ineinandergeschachtelte  Erosions- 
formen verschieden  großer  Gletscher. 
Faßt  man  die  Gletscherbecken  einer  Gletscher- 
zeit als  morphologischen  Horizont  zusammen,  so 
erhebt  sich  die  Präge,  ob  es  der  einzige  ist,  oder 
ob  mehrere  vorhanden  sind.  Jeder  Gletscher 
muß  eine  umlaufende  Glazialkante  erzeugen.  Heß 
hat  (s.  o.)  jüngere  Tröge  in  einem  älteren  Taltrog 
eingeschachtelt  gefunden.  So  ist  zu  vermuten, 
daß  auch  jüngere  Firnbecken  einem  älteren  ein- 
geschachtelt'sind.  Diese  regelmäßige  Form  der 
Ineinanderschaltung    ist    in    der  Montblancgruppe 


58 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


ausgebildet.  Wir  finden  hier  die  Bestandteile 
älterer  höherer  Gletscherbecken,  die  später  durch 
fluviatile  Kleinerosion  in  ihrem  Zusammenhang 
zerstört  sind,  in  den  Gehängen  über  und  vor 
den  heutigen  Gletschern,  wir  finden  Endschwelie 
und  Abschwung,  Trogrand.  Karrund,  auch  die 
ältere  Glazialkante.  Es  fehlt  nur  das  Mittelfeld, 
in  dem  sich  das  rezente  Gletscherbecken  aus- 
breitet. Die  Grenze  beider  bilden  die  jüngere 
Glazialkante  und  die  jüngere  Ufermoräne.  Die 
Flächen,  die  verschieden  alte  Glazialkanten  um- 
schließen, zeichnen  sich,  wie  das  schon  Heß  be- 
merkt hat,  durch  verschiedenen  Verwitterungsgrad 
aus.  Die  höheren  Formen  sind  zudem  zerschnitten 
durch  Verwitterung,  Abbruch,  aber  auch  durch 
jüngereGletscher.  Die  Sohle  älterer  Gletscher 
wurde,  als  der  Eisspiegel  sank,  zum  Felsgehänge 
jüngerer  tieferer  Gletscher.  Es  fragt  sich  nun, 
welche  F"ormen  diese  eisfreien  Gehänge  durch 
selbständige  jüngere  kleinere  Eisfelder  annahmen. 
Wenn  der  Gletscher  als  Komponente  eines  zu- 
sammengesetzten Gletschers  auftritt,  so  verläuft 
der  einmündende  Quergletscher  parallel  dem 
Hauptgletscher.  Ist  er  dagegen  selbständig,  so 
tritt  er  quer  in  den  Haupttrog.  Auch  das  vom 
Eise  verlassene  Felsgehänge  kann  durch  ein  neu 
entstehendes  Kar  wieder  quer  zerschnitten  werden. 
Die  Kare  betrachtet  Lucerna  als  rasch  sich 
bildende  und  ebenso  rasch  vergehende  Formen 
des  Hochgebirges.  Wenn  nun  die  Kare  sich  in 
frühere  Trogwandungen  einsenken,  so  lösen  sie 
die  Längsgliederung  des  Trogtales  auf  und  setzen 
eine  Quergliederung  ein.  Die  Erkenntnis  dieser 
jüngeren  Quergliederung  ist  für  die  Rekonstruk- 
tion des  Hochgebirges  sehr  wesentlich ;  die  Kar- 
bildung im  älteren  Troggehänge  ist  der  Ausgangs- 
punkt für  die  Quergliederung  des  Gebirges. 

Diese  überaus  bedeutsamen  Auseinander- 
setzungen über  die  Erosionstätigkeit  der  Gletscher 
werden  nun  am  Beispiel  der  IVIontblancgruppe 
erläutert.  Wir  können  hier  nicht  auf  diese 
speziellen  Ausführungen  eingehen;  nur  die  allge- 
meinen Gesichtspunkte  der  Untersuchung  waren 
herauszustellen.  — 

In  gewissem  Gegensatz  zu  diesen  Anschauungen 
von  Heß  und  Lucerna  stehen  diejenigen 
H.  Lautensach's  ,,Uber  den  heutigen  Stand 
unserer  Kenntnis  vom  präglazialen  Aussehen  der 
Alpen"  (Z.  Ges.  Erdkde.  1913,  H.  8).  Nach  Penck 
und  Brückner  befanden  sich  die  Alpen  vor  Beginn 
der  Eiszeit  in  einem  Stadium  ausgesprochener 
Reife.  Bis  in  die  innersten  Winkel  der  Ostalpen 
erstreckten  sich  iVIittelgebirgsformen  mit  gerundeten 
Wasserscheiden.  Im  nördlichen  Alpenvorlande 
haben  wir  eine  Landschaft  von  geringem  Relief, 
eine  sich  zur  Donau  senkende  Peneplain.  Im 
Vorlande  haben  wir  verarmte  Schotter  in  der 
Höhe  der  Sohle  des  älteren  Deckenschotters.  Die 
Gipfel  waren  Rundlinge,  die  die  besten  Be- 
dingungen für  die  Bildung  von  Karen  boten.  In 
den    Schweizer    Alpen    wiesen    die    Gipfel    noch 


Hochgebirgsformen  auf  Dagegen  erhebt  Nuß- 
baum den  Einwand,  daß  es  eine  Unstimmigkeit 
wäre,  wenn  die  Täler  der  Schweizer  Alpen  reif, 
die  Formen  noch  Hochgebirgsformen  wären.  Er 
kommt  zu  dem  Ergebnis,  dal3  die  Westschweizer 
Alpentäler  in  ihren  obersten  Abschnitten  noch 
ziemlich  jugendliche  Erosionsformen  besaßen. 

Nach  Penck  boten  IVIittelgebirgsformen  mit 
runden  Wasserscheiden  die  günstigsten  Bedingungen 
zur  Karentwicklung.  Dagegen  hat  Distel  ein- 
geworfen, daß  hier  leicht  eine  vollständige  Über- 
firnung  eintreten  müßte,  die  die  Karbildung  aus- 
schließt. Lautensach  bestreitet  diesen  Einwand, 
indem  er  darauf  hinweist,  daß  es  nur  nötig  wäre, 
eine  neue  Bedingung  hinzuzufügen.  Die  erste 
Eiszeit  darf  nicht  plötzlich  jenes  alte  Mittel- 
gebirge überwallen,  sondern  sie  muß  allmählich 
mit  einer  Schneeflecken-  und  Kargletscherperiode 
beginnen.  Auch  an  fluviatile  F"ormen  haben  sich 
die  Kare  angeknüpft,  an  Wildbachtrichter  der 
Talwände,  oder  an  fluviatile  Sammeltrichter. 
Solche  Formen  sind  aber  im  Stadium  der  Reife 
nicht  mehr  zu  erwarten,  sie  sind  nur  in  früherem 
Reifestadiuni  möglich.  Lautensach  weist  darauf 
hin,  daß  die  Eiszeit  in  Ost-  und  Westalpen  gleich- 
zeitig sowie  gleichschnell  oder  -langsam  einge- 
treten sein  muß.  Doch  ist  es  möglich,  daß  die 
Westalpen  eine  Hebung  erfuhren,  wie  dies  von 
Staff)  darzutun  versucht  hat. 

Die  beachtenswerteste  Kritik  an  den  Ergeb- 
nissen der  „Alpen  im  Eiszeitalter"  hat  de  Mar- 
tonne  geübt.  Er  geht  von  der  Theorie  aus,  daß 
die  glaziale  Erosion  ober-  und  unterhalb  von 
Gefallsbrüchen  am  größten  sei,  so  könne  sich  in 
reifen  Tälern  keine  nennenswerte  Gletschererosion 
entfalten.  Weiter  zeigen  ihm  seine  Talstudien 
eine  große  Zahl  von  ineinander  liegenden  Ter- 
rassenniveaus mit  völlig  unausgeglichenem  Gefälle. 
Die  älteren  haben  einen  ausgeglicheneren  Lauf, 
doch  weisen  auch  sie  zwei  auffällige  Knicke  auf 
Die  Bildung  der  tieferen  Talböden  führt  er  (in 
Übereinstimmung  mit  H.  Heß)  auf  glaziale  Erosion 
zurück,  dagegen  weist  er  der  interglazialen  fiuviatilen 
Erosion  die  ruckweise  Tieferlegung  der  Talsohle  zu. 
So  kommt  er  zu  dem  Schluß,  daß  ein  junges 
fluviatiles  präglaziales  Talsystem  vorhanden  ge- 
wesen sei.  Lautensach  weist  darauf  hin,  daß 
seine  Untersuchungen  im  Tessingebiet  ^j  drei  alte 
ausgeglichene  Talböden  zeigen,  nur  im  Gebiet 
eines  mächtigen  Riegels  findet  sich  eine  Stufe. 
Vielleicht  erklären  sich  durch  solche  Riegel  die 
Gefällsknicke  de  Martonne's.  Zum  Verständ- 
nis der  Übertiefungsformen  sei  die  Annahme  eines 
unausgeglichenen  präglazialen  Talbodenverlaufes 
unnötig. 

Auch  Distel-'j  betrachtet  die  Trogschulter 
in    den  Tälern    der  Hohen    Tauern    als   Rest    des 


19121. 


Naturw.   Wochenschr.    1912,  S.   822. 

Geographische    Abhandlungen    N.  F.   Band   i    (Leipzig 


')  Die  Trogtäler  in  den  Hohen  Tauern  (Landesk.  Forsch. 
München,  H.   13). 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


59 


präglazialen  Talbodens.  Er  sucht  durch  Terrassen- 
studien nachzuweisen,  daß  zahlreiche  Gefällsbrüche 
schon  in  ihm  vorhanden  sind.  Um  das  Quer- 
profil des  Troges  zu  erklären,  legt  er  dem  Trog 
eine  durch  rückschrcitende  Wassererosion  ge- 
schaffene präglaziale  Talrinne  zugrunde,  die  vom 
Gletscher  ausgetieft  und  verbreitert  wurde.  So 
ergibt  sich  bei  Distel  für  die  Trogschlüsse  eine 
doppelte  Erklärung,  einmal  als  glaziale  Weiter- 
bildungen der  präglazialen  Verbiegungen  der 
Trogschultern,  ein  andermal  als  Enden  der  flu- 
viatilen  Rinnen.  Lautensach,  der  die  Unregel- 
mäßigkeiten im  Gefälle  der  Trogschultern  noch 
nicht  für  erwiesen  hält,  scheint  der  zweite  Er- 
klärungsversuch plausibel  zu  sein.  Aber  er  glaubt, 
diese  fluviatilen  Rinnen  in  eine  erste  Interglazial- 
zeit  verlegen  zu  sollen  und  betrachtet  als  Ursache 
des  Einschneidens  die  auf  glazialem  Wege  einge- 
leitete Stufenbildung.  Auch  die  Heß'schcn  Dar- 
legungen (s.  o.)  erscheinen  ihm  nicht  einwandfrei. 

So  erscheint  als  wichtigstes  Resultat,  beim 
Überblick  über  die  Versuche,  den  Terrassenniveaus 
der  Alpentäler  eine  andere  Deutung  zu  geben 
als  die  von  Penck  und  Brückner,  daß  in  vielen 
Talabschnitten  mehr  als  die  zwei  von  ihnen  ver- 
folgten alten  Talböden  vorliegen.  Das  Bild  vom 
präglazialen  Aussehen  der  Alpen  ist  so  nur  wenig 
verschieden  von  dem,  welches  Penck  vor  nahezu 
lo  Jahren  entwarf;  die  Zentralmassive  der  Ost- 
alpen waren  vielleicht  noch  nicht  in  dem  Maße 
gereift  als  Penck  betont. 

Überblicken  wir  diese  noch  so  verschiedenen 
Bilder,  die  die  Forschungen  in  den  Alpentälern 
ergeben  haben,  so  müssen  wir  bekennen:  die  An- 
sichten stehen  sich  noch  schroff  gegenüber!  Den 
mehr  theoretischen  Ausführungen  Lautensach's 
stehen  die  unzweifelhaften  Beobachtungen  von 
Heß  und  Lucerna  entgegen.  Nur  eingehende 
Detailuntersuchungen,  nicht  großzügige  Darstel- 
lungen der  gesamten  Alpen,  werden  uns  in  den 
Stand  setzen  können,  ein  genaues  Bild  vom  prä- 
glazialen Aussehen  der  Alpen  und  von  der  Tätig- 
keit der  Gletschererosion  zu  gewinnen,  die  auch 
nach  anderen  Untersuchungen  weit  bedeutender 
ist,  als  vielfach  angenommen  wird. 

Dr.  Gottfried  Hornig. 

Zoologie.  Katalepsie  der  Phasmiden.  Die 
Phasmiden  oder  Gespenstheuschrecken  sind  all- 
gemein bekannt  durch  ihre  bizarre  Gestalt  und 
ihre  auffallende  Ähnlichkeit  mit  verdorrten  Zweigen 
und  trocknen  Blättern.  Weniger  weiß  man  über 
ihre  Lebensgewohnheiten.  Peter  Schmidt 
(Biologisches  Centralblatt  Bd.  33  191 3  Nr.  4)  teilt 
einige  höchst  merkwürdige  Eigentümlichkeiten 
über  das  Verhalten  der  indischen  Stabheuschrecke 
Carausius  (Dixippus)  morosus  Br.  v.  W.  mit. 

Die  Tiere  sind  sehr  wenig  beweglich  und 
klammern  sich  gewöhnlich  mit  den  vier  Hinter- 
beinen an  die  Unterlage  an  und  strecken  Fühler 
und  Vorderbeine  geradeaus.  Man  darf  'diesen 
Ruhezustand  weder  als  Schlaf-  oder  Schreckstellung 
erklären,    sondern    muß    ihn    als    Katalepsie    be- 


zeichnen ;  denn  man  kann  dabei  die  Tiere  in  die 
schwierigsten  Lagen  bringen,  sie  umwerfen  und 
in  den  unnatürlichsten  Stellungen  wieder  auf- 
richten, sie  bleiben  unbeweglich,  bis  sie  auf  irgend- 
einen Reiz  hin  erwachen  und  energische  Flucht- 
bewegungen ausführen. 

Die  hier  beobachtete  Katalepsie  gleicht  voll- 
kommen der  des  Menschen.  Die  Muskeln  sind 
gespannt,  es  tritt  keine  Ermüdung  ein,  und  der 
Körper  zeigt  nur  geringe  Empfindlichkeit.  Letztere 
steigert  sich  bei  den  Phasmiden  so  stark,  daß 
man  Fühler,  Vorderfüßc,  ja  selbst  den  Hinterleib 
abschneiden  kann,  ohne  daß  die  Tiere  sicii  da- 
gegen wehren ;  sie  scheinen  den  Schmerz  gar 
nicht  zu  fühlen.  Erst  nach  Aufhebung  des  kata- 
leptischen  Zustandes  eilen  sie  fort.  Legt  man 
den  Körper  als  Brücke  über  den  Zwischenraum 
zweier  Ünterstützungspunkte,  wie  man  es  auch 
bei  der  menschlichen  Hypnose  macht,  so  hält  die 
Stabheuschrecke  lange  aus  und  trägt  sogar  kleine 
Lasten. 

Aus  seinen  Experimenten  zieht  der  Verf.  den 
Schluß,  daß  die  Katalepsie  eine  besondere  Art 
der  Nervenerregung  darstellt,  die  vom  Kopfganglion 
ausgeht.  Da  sie  auf  innere  Ursachen  zurückzu- 
führen ist,  nennt  man  sie  besser  Autokatalepsie. 
In  biologischer  Beziehung  gewährt  sie  insofern 
großen  Vorteil,  als  durch  die  Beteiligung  von 
Muskel-  und  Nervensystem  ein  erhöhter  Grad  von 
Mimikry  erzielt  wird. 

Das  Geschlechtsleben  von  Dytiscus  margina- 
lis  L.  Dem  191 2  erschienenen  ersten  Teil  über 
die  Begattung  des  Gelbrandes  läßt  hier  Hans 
Blunck  (Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie 
Bd.  104,  191 3)  den  zweiten  Teil  folgen,  in  dem 
interessante  Einzelheiten  über  die  Eiablage  mit- 
geteilt werden.  Die  Zeit  der  Eiablage  fällt  in 
die  Monate  März,  April  und  Mai.  Nach  Mitte 
Juli  sind  alle  Eier  abgelegt  und  die  Ovarien  be- 
fijiden  sich  im  Ruhezustand.  Während  bei  den 
männlichen  Tieren  Maxima  und  Minima  in  der 
Periodizität  der  Gonaden  bei  jungen  und  alten 
Tieren  nicht  zusammenfallen,  stellt  der  Verf  fest, 
daß  halbjährige  und  anderthalbjährige  Individuen 
zu  gleicher  Zeit  ihre  Eier  ablegen.  Über  die 
Zahl  der  Eier  existieren  keine  genauen  Angaben. 
Sie  dürfte  zwischen  500  und  1500  schwanken. 
1000  Eier  wiegen  etwa  soviel  wie  der  Käfer  selbst 
und  besitzen  ein  viermal  größeres  Volumen.  Reiht 
man  sie  aneinander,  so  ergeben  sie  eine  sieben 
Meter  lange  Schnur.  Die  Zweifel  über  den  Ort 
der  Eiablage  beseitigt  Blunck  durch  seine  Be- 
obachtungen, daß  der  Gelbrand  die  Eier  in  das 
Innere  von  grünen  Trieben  einer  Reihe  von 
Wasserpflanzen  versenkt.  Der  Käfer  bevorzugt 
Teile  mit  schwacher  Cuticula  und  chlorophyll- 
haltigem  Gewebe.  Der  Chlorophyllgehalt  ist  für 
die  Entwicklung  des  Embryos  von  großer  Be- 
deutung, denn  der  von  der  Pflanze  gelieferte  Sauer- 
stoff ist  für  das  wachsende  Tier  unentbehrlich. 

Stellwaag. 


6o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


Kleinere  Mitteilungen. 

Das  Dynamit  im  Dienste  der  Landwirtschaft.  —      Sträucher     und 


In  den  Vereinigten  Staaten  wird  schon  lange  das 
Dynamit  für  bodenkulturelle  Zwecke  benutzt.  Im 
Jahre  191 1  wurden  13  IVIillionen  125  Tausend 
Pfund  und  1912  17  Millionen  389  Tausend  Pfund 
Dynamit  verbraucht,  also  im  Jahre  191 2  iiber 
4  Millionen  Pfund  mehr  als  im  vorhergehenden 
Jahre.  Diese  Zahlen  beweisen,  wie  schnell  die 
Amerikaner  eine  Sache  aufnehmen,  die  ihnen 
greifbare  Vorteile  bietet.  Hand  in  Hand  mit 
diesem  großen  Verbrauch  von  Dynamit  in  der 
Landwirtschaft  hat  sich  in  den  letzten  Jahren 
drüben  auch  ein  neuer  und  einträglicher  Beruf 
herausgebildet,  nämlich  der  des  „Blaster"  oder  auf 
deutsch  Sprengmeister.  Diese  führen  entweder 
für  Rechnung  der  P'armer  usw.  die  Sprengarbeiten 
aus,  indem  sie  sich  einen  täglichen  Lohn  für  ihre 
Arbeit  zahlen  lassen,  oder  sie  treten  als  Unter- 
nehmer für  eigne  Rechnung  auf.  Diese  Spreng- 
meister entfernen  Baumstubben  und  große  Steine 
mit  Hilfe  des  Dynamits  und  machen  wasserun- 
durchläßliche  Bodenschichten  frei.  Dann  stellen 
sie  lange  Gräben  her  und  legen  für  neue  Obst- 
plantagen Baumpflanzgruben  und  zwar  nach  Tau- 
senden. 

In  Deutschland  beschäftigt  sich  die  Dresdner 
Dynamitfabrik  mit  dem  Sprengkulturverfahien. 
Sic  gibt  eine  eigene  Dynamitpräparation  „Rom- 
perit  C"  für  diese  Zwecke  heraus.  Bisher  wurden 
die  Baumgruben  mit  dem  Spaten  ausgegraben. 
Ein  Mann  braucht  zum  Graben  einer  Baumgrube 
etwa  I  Stunde.  Ein  so  gegrabenes  Baumloch 
bleibt  aber  bis  unten  hin  und  nach  den  Seiten 
hart  und  behindert  die  Wurzeln  um  sich  zu  greifen. 

Durch  „Romperit  C"  wird  der  Boden  sowohl 
tief  nach  unten  hin  wie  meterweise  rundherum 
bestens  aufgelockert,  und  die  Wurzeln  bis  zu  den 
feinen  End-  und  Faserwurzeln  können  sich  leicht 
nach  allen  Richtungen  hin  im  Erdreich  ausbreiten. 
Harte  Schichten,  welche  später  das  Wachstum  der 
Wurzeln  kaum  noch  möglich  machen  und  Spitzen- 
dürre erzeugen,  werden  zertrümmert.  Ferner  wird 
hierdurch  ein  Feuchtigkeitsreservoir  für  den  heißen 
Sommerbedarf  geschaffen. 

In  dieser  Feuchtigkeit  wird  nun  die  Pflanzen- 
nahrung, die  wichtigen  Nährsalze  einschließend, 
aufgelöst,  und  die  Wurzeln  können  beides,  I*"euchtig- 
keit  und  Nährstoft'e,  reichlich  aufnehmen,  nachdem 
es  ihnen  möglich  gemacht  wurde,  tief  in  den  ge- 
lockerten Grund  einzudringen.  Während  des 
Wachstums  eines  Baumes  geht  beständig  ein 
Wasserstrom  durch  denselben  und  verdunstet  durch 
die  Blätter.  So  brauchen  auch  Himbeeren,  Johannis- 
beeren, Stachelbeeren,  Melonen,  Gurken,  Tomaten, 
Spargel ,  Erdbeeren  usw.  bedeutende  Mengen 
Feuchtigkeit  als  Früchte,  welche  zum  großen 
Teile  aus  Wasser  zusammengesetzt  sind.  Besonders 
aber  ist  es  der  Obstbaum,  welcher  eine  beständige 
Feuchtigkeitszufuhr  verlangt.  Die  oben  erwähnten 
Feuchtigkeitsreservoire     sind     somit     für    Bäume, 


Pflanzen     von    größter    Wichtig- 


keit. 

Als  besonders  geeignete  Zeit,  Baumgruben  mit 
Romperit  C  herzustellen  und  das  Tiefrigolen  vor- 
zunehmen, gilt  der  Herbst,  weil  dann  die  Feuchtig- 
keit der  Herbstregen,  des  VVinterschnees  und  der 
Frühjahrsregen  in  den  gelockerten,  gelüfteten  und 
filtrierfähig  gemachten  Boden  eindringen  kann. 

Die  Herstellung  der  Baumgruben  durch  Rom- 
perit C  ist  höchst  einfach  und  leicht  zu  erlernen. 
Nachdem  der  betrefifende  Teil  der  Obstplantage 
dort  durch  Pfähle  markiert  ist,  wo  die  Bäume  ge- 
pflanzt werden  sollen,  nimmt  ein  Mann  rund  um 
den  Pfahl  herum  kreisförmig  etwa  fünf  Spaten- 
stiche der  Obererde  fort.  Diese  Obererde  wird 
beiseite  getan,  um  später  in  das  fertige  Pflanzloch 
gelegt  zu  werden,  ehe  der  Baum  mit  sorgfältig 
beschnittenen  Wurzeln  eingesetzt  wird.  Ein  zweiter 
Mann  folgt  dem  ersten  mit  einer  Brechstange  und 
macht  mit  derselben  entsprechend  der  Patronen- 
stärke dort  ein  Loch,  wo  der  Markierungspfahl 
steht.  Trifft  man  dabei  auf  einen  Stein  oder  der- 
gleichen, so  wird  derselbe  herausgegraben.  Stößt 
man  auf  eine  harte  Kruste,  so  wird  dieselbe  mit 
der  Brechstange  durchstoßen.  Die  mit  Spreng- 
kapsel und  Zündschnur  versehene  Romperit  C- 
Patrone  wird  in  dieses  Loch  eingelassen,  letzteres 
mit  Erde  dicht  gefüllt,  die  Zündschnur  angesteckt 
und  die  Explosion  erfolgt.  Durch  Benutzung  einer 
kleinen  Zündmaschine  kann  eine  Anzahl  Baum- 
gruben elektrisch  auf  einmal  gesprengt  werden. 
Nur  wenig  Erde  wird  dabei  in  die  Höhe  geworfen, 
die  Kraft  der  Explosion  geht  nach  unten,  seitwärts 
und  nach  außen.  Die  Löcher  können  über  Nacht 
und  einen  Teil  des  nächsten  Tages  so  stehen 
bleiben,  werden  dann  nochmals  mit  der  Brech- 
stange sondiert,  und,  wenn  in  Ordnung  befunden, 
werden  die  Seiten  eingebrochen,  die  anfangs  bei- 
seite gelegte  Obererde  wird  eingefüllt,  und  das 
fertige  Pflanzloch  sichert  dem  so  gepflanzten 
Baum  einen  in  jeder  Beziehung  guten  Anfang. 

Die  Kosten  des  Sprengkulturverfahrens  be- 
tragen : 

a)  P""ür  Baumgruben  gibt  folgende  Tabelle  einen 
ungefähren  Anhalt: 

Mit  Gramm       bei  Bohrloch-       D">-'^';">«ser        Aushubtiefe 
Rompent  C        •■•"^"  = ''"  '^'""^-  ''"  ß^*""" 


125 
150 

2?0 


5° 

75 
75 


grübe  in  cm  ca. 

120 

1 10 


grübe  in  cm  ca. 

75 

95 

120 


z.  B.    kosten    der  Sprengstoff  und   die  Zündrequi- 
siten für  eine  Baumgrube: 

Durchmesser  ca.   120  cm  —  Tiefe  ca.  75  cm 
ca.  30  Pfennige. 

b)  Für  Tieflockerung   oder   Tiefrigolen    ist    zu 
rechnen 

pro  Hektar  etwa  Mk.  240. —  bis  360. — 
(auf   Jahre    vorhaltend)   je    nach    den    gegebenen 
Verhältnissen. 

Ein  neuer  Zweig  des  Romperit  Sprengkultur- 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


6i 


Verfahrens  besteht  in  der  Bekämpfung  tierischer 
Kulturschädlinge  und  Tiefdüngung  gleichzeitig  mit 
Tieflockerung.  Durch  die  Gewalt  der  Explosion 
werden  in  weitem  Umkreise  um  die  gesprengte 
Baumgrube  herum  im  Erdreich  alle  Larven  und 
Puppen  von  Obstschädlingen,  besonders  die  Enger- 
linge, von  denen  man  oft  Hunderte  antrifft,  ebenso 
Wühlmäuse  usw.  getötet,  womit  wiederum  eine 
große  Gefahr  für  Obstkulturen  schnell  und  sicher 
beseitigt  wird.  Berechnet  man  doch  laut  Freiherrn 
von  Schilling  den  jährlichen  Schaden  in  Frank- 
reich, verursacht  durch  Maikäfer,  auf  250  Millionen, 
in  Flugjahren  auf  eine  Milliarde  Franken. 

Das  Prinzip  der  künstlichen  Düngung  besteht 
darin,  daß  durch  die  zur  Explosion  gebrachte 
Sprengstoffladung  in  dem  hierdurch  aufgelockerten 
Boden  gleichzeitig  Flüssigkeiten  als  solche  oder 
auch  vergasbare  Flüssigkeiten  zur  Verteilung  ge- 
bracht werden.  Die  Art  der  Flüssigkeit  richtet 
sich  nach  dem  jeweiligen  Verwendungszweck. 
Man  kann  beispielsweise  derart  verfahren,  daß  man 
in  einem  aus  geeigneten,  undurchlässigen  Material 
hergestellten  Behälter  von  beliebigen  Formen  und 
Abmessungen  durch  eine  zu  verschraubende  oder 
in  passender  Weise  zu  verschließende  Öffnung  die 
zur  Verteilung  zu  bringende  Flüssigkeit  einfüllt. 
Der  Behälter  besitzt  ferner  eine  Aussparung  von 
beliebiger  Größe,  in  die  der  Sprengstoff  lose  oder 
in  Patronenform  eingefüllt  wird.  Darauf  wird  der 
Sprengstoff  mit  den  zur  Zündung  nötigen  Vor- 
kehrungen versehen. 

Das  Ganze  wird  alsdann  in  das  Bohrloch  bis 
zu  einer  beliebigen  Tiefe  eingelassen  und  der 
Sprengstoff  nach  der  Verdammung  zur  Explosion 
gebracht.  Durch  die  Explosion  des  Sprengstoffes 
wird  der  Flüssigkeitsbehälter  zur  Entladung  ge- 
bracht und  die  Flüssigkeit  in  den  gesprengten 
bzw.  gelockerten  Erdboden  geschleudert  bzw.  ver- 
teilt. Bei  vergasenden  Flüssigkeiten  kann  auch  ein 
damit  versehener  Behälter  in  das  Bohrloch  direkt 
eingelassen  und  darauf  der  Sprengstoff  eingefüllt 
werden.  Als  vernichtende  Flüssigkeit  verwendet 
man  zur  Bekämpfung  der  Reblaus  Schwefelkohlen- 
stoff. 

Will  man  hingegen  künstlich  düngen,  dann 
verwendet  man  als  Flüssigkeit  Jauche,  die  unter 
gleichzeitiger  Lockerung  des  Bodens  in  weitem 
Umkreise  den  tieferen  Bodenschichten  zugeführt 
wird.  R.  Ditmar. 

Zur  Geschichte  der  Zündhölzer.  — -  Jn  alten 
Zeiten,  als  man  noch  nicht  im  Besitze  der  uns 
so  unentbehrlichen  Zündhölzer  war,  mußte  natür- 
lich das  Streben  der  damaligen  Völker  darauf 
hinausgehen,  das  einmal  vorhandene  Feuer  zu 
erhalten  —  sei  es  durch  Reiben  trockenen  Holzes 
oder  durch  einen  Blitzstrahl  entstanden  oder  gar 
den  Göttern  von  ihrer  Feuerstelle  gestohlen.  — 
So  erscheint  es  uns  ganz  selbstverständlich,  daß 
die  älteren  Völker  den  Hausherd  als  heilige 
Stätte  verehrten,  bewahrten  sie  doch  hier  ihr 
notwendigstes  Hilfsmittel,  das  Feuer,  vor  dem 
Verglimmen. 


Erst  im  späten  Mittelalter  kam  man  auf  den 
Gedanken,  durch  Aufeinanderschiagen  von  Stahl 
und  Feuerstein  dem  letzteren  F'unken  zu  entlocken, 
die  man  dann  zum  Entzünden  von  Zunder  oder 
trocknem  Schwamm  benutzen  konnte.  Dieses 
sog.  „Pinkfeuerzeug"  hat  sich  bis  in  unsere  Tage 
erhalten,  und  mancher  Alte,  der  dem  „feuerge- 
fährlichen modernen  Zeug"  und  der  neuen  Zünd- 
holzsteuer mit  Mißtrauen  gegenüber  steht,  hat  sich 
heute  noch  nicht  von  ihm  getrennt. 

Die  ersten  eigentlichen  Zündhölzer  wurden 
1812  von  Chane el  in  Wien  auf  den  Markt  ge- 
bracht; es  waren  die  sog.  Tunkhölzchen.  Schon 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  hatte  Berthollet  die 
Entdeckung  gemacht,  daß  ein  Tropfen  Schwefel- 
säure auf  ein  Gemisch  von  chlorsaurem  Kali  mit 
brennbaren  Substanzen,  wie  Schwefel  oder  Zucker, 
gebracht,  dieses  entzündet.  Versieht  man  also  in 
Schwefel  getunkte  Hölzchen  mit  Köpfen  aus 
einem  Gemisch  von  i  Teil  Schwefel  (oder  Zucker) 
und  3  Teilen  chlorsaurem  Kali,  so  entzünden  sich 
diese  beim  Ein„tunken"  in  ein  Fläschchen  mit  kon- 
zentrierter Schwefelsäure.  Dieses  Verfahren  war 
jedoch  insofern  nachteilig,  als  leicht  Schwefelsäure 
verspritzt  werden  konnte,  was  den  Kleidern  usw. 
nicht  gerade  zum  Vorteil  gereichte.  Etwas  besser 
wurden  die  Tunkhölzchen  dadurch,  daß  man  mit 
Schwefelsäure  getränkten  Asbest  in  einem  ver- 
schließbaren Büchschen  anwendete.  Da  die  Her- 
stellungsweise des  chlorsauren  Kalis  sich  bedeu- 
tend verbilligte,  und  man  außerdem  eine  schnelle 
und  billige  Darstellungsart  der  Hölzchen  fand,  so 
sank  der  Preis  der  Tunkhölzchen  bedeutend,  und 
zwar  für  lOOO  Hölzchen  von  10  Gulden  auf  4 — 5 
Kreuzer,  was  ungefähr  dem  heutigen  Preis  der 
Zündhölzer  entspricht.  Eine  tragbare  F'orm  der 
Tunkhölzchen  waren  die  von  Jones  um  1830  in 
London  unter  dem  Namen  „Prometheans"  in  den 
Handel  gebrachten  Feuerzeuge.  2'/.2  Zoll  lange 
Papierröllchen  enthielten  am  dicken  Ende  eine 
Mischung  aus  chlorsaurem  Kali,  Schwefel,  Benzoe 
usw.,  in  deren  Mitte  ein  dünnes,  zugeschmolzenes 
Glasröhrchen  mit  einem  Tropfen  konzentrierter 
Schwefelsäure  sich  befand.  Durch  Zertrümmern 
des  Röhrchens  wurde  das  „Streichholz"  entflammt. 

Aber  auch  diese  Verbesserung  konnte  die 
Tunkhölzer  zum  Hantieren  im  Haushalte  nicht  ge- 
eignet machen.  Da  brachte  1832  wieder  Jones 
die  Vorläufer  unserer  Schweden  auf  den  Markt, 
Hölzchen  mit  einem  Kopf  aus  einem  Gemisch 
von  3  Teilen  chlorsaurem  Kali  und  i  Teil  Schwefel- 
antimon, die  sich  schon  entzündeten,  wenn  man 
sie  durch  ein  Stück  zusammengefaltetes  hartes 
Papier  zog,  das  später  noch  mit  pulverisiertem 
Glas  überzogen  wurde. 

Etwa  zur  selben  Zeit  gelangten  in  Deutsch- 
land die  Phosphorzündhölzer  zur  Herrschaft.  Die 
ersten  dieser  Art,  die  hergestellt  wurden,  waren 
ziemlich  umständlich.  Die  Hölzchen  selbst  hatten 
nur  einen  Kopf  von  Schwefel,  während  sich  die 
Zündmasse  (ein  Gemisch  von  Phosphor,  Wachs 
und  Korkmehl)  in  einem  verschließbaren  Büchschen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


befand.  Noch  umständlicher  waren  z.  B.  die  Tu- 
riner Lichtchen.')  In  eine  an  einer  Glasröhre  an- 
geschlossene Kugel  war  ein  Stück  Phosphor  ein- 
geführt worden,  dann  wurde  ein  dünner  Wachs- 
stock in  das  Röhrchen  geschoben,  dessen  Docht- 
ende mit  Nelkenöl  getränkt,  mit  Schwefel-  oder 
Kampferpulver  bestreut  war  und  nun  den  Phos- 
phor berührte.  Durch  gelindes  Erwärmen  schmolz 
man  den  Phosphor  an  das  Dochtende  an,  ver- 
schloß das  Glasrohr  durch  Zuschmelzen  und  brachte 
einen  Teilstrich  unterhalb  der  Kugel  an.  Brach  man 
an  dieser  Stelle  das  Rohr  ab  und  zog  man  den 
Wachsstock  heraus,  so  entzündete  dieser  sich  von 
selbst  an  der  Luft. 

Einer  der  ersten,  die  Streichzündhölzer  im 
großen  darstellten,  war  Stephan  v.  Romer, 
der  der  Kuppenmasse  der  Reibzündhölzer  Phos- 
phor zusetzte  und  sie  dadurch  leicht  entzündbar 
machte.  Um  eine  Selbstentzündung  zu  vermeiden, 
überzog  er  die  Kuppe  mit  einem  Spirituskolo- 
phoniumlack. Während  die  ersten  Phosphor- 
zündhölzer noch  sehr  feuergefährlich  waren  und 
sich  schon  durch  Sonnenbestrahlung  entzündeten, 
wurden  bereits  1835  Zündhölzer  hergestellt,  die, 
ohne  sich  zu  entzünden,  die  Siedetemperatur  des 
Wassers  aushielten.  Statt  des  chlorsauren  Kalis 
wendete  man  jetzt  auch  Salpeter,  Mennige,  Braun- 
stein, Blcisuperoxyd  und  ähnliche  Stoffe  an. 

Da  jedoch  das  Arbeiten  mit  Phosphor  gesund- 
heitsschädlich ist,  wurde  bald  die  Fabrikation  der 
Phosphorzündhölzer  in  vielen  Staaten  verboten, 
und  so  war  auch  beinahe  dieser  schöne  Traum 
vorüber.  Da  entdeckte  jedoch  1845  Schrötter 
den  ungiftigen  roten  Phosphor,  der  dann  wesent- 
lich zur  Entwicklung  der  Zündholzindustrie  bei- 
getragen hat.  Hochstätter  in  Langen  bei 
Frankfurt  a.  M.  erzielte  zuerst  mit  rotem  Phosphor 
gute  Ergebnisse.  Ein  anderer  deutscher  Chemiker 
Böttger  fand  dann  Form  und  Zusammensetzung 
der  heutigen  ,, Schweden".  Seine  Zündhölzer  be- 
saßen Kappen  aus  chlorsaurem  Kali  und  Schwefel- 
antimon (vgl.  Jones  1832!),  die  auf  einer  Reib- 
fläche aus  Braunstein  und  rotem  Phosphor  ent- 
zündet wurden.  Ein  Prophet  gilt  jedoch  bekannt- 
lich nichts  in  seinem  Vaterlande,  man  schenkte 
der  Erfindung  wenig  Beachtung,  und  seine  in 
Schüttenhofen  in  Böhmen  gegründete  Fabrik  ging 
ein.  Da  fand  Böttger  in  Schweden  ein  neues 
Arbeitsfeld;  in  Jönköping  wurde  eine  Zündholz- 
fabrik errichtet,  die  dann  den  ganzen  Welt- 
handel in  die  Hände  bekam,  800  Arbeiter 
beschäftigte  und  täglich  i  Million  Schachteln 
der  weltbekannten  ,, Schweden"  erzeugte,  natürlich 
heute  unter  Benutzung  fein  durchdachter  Maschinen. 

Hand  in  Hand  mit  der  Entwicklung  der  Zünd- 
holzindustrie kamen  nach  und  nach  verschiedene 
Apparate  auf  zum  Ersatz  der  Schwedenhölzer; 
ich  erinnere  an  die  Döbereiner'sche  Zündmaschine 
(Platinschwamm),  die  in  jedem  Physikbuch  be- 
schrieben ist,    an  das  elektropneumatische  Feuer- 


zeug, an  die  Molet'sche  Pumpe,  die  das  Prinzip 
des  Dieselmotors  darstellt,  u.  a.  m.  Auch  der 
Stahl  der  Urväterzeiten  hat  in  dem  Ceresinfeuer- 
zeug  ein  neues  Gewand  bekommen,  in  dem  er 
noch  lange  als  vermeintlicher  Bekämpfer  der 
Zündholzsteuer  dahinleben  wird,  bis  auch  er  end- 
lich von  dem  Siegeslauf  der  Technik  überholt 
und   unmöglich  gemacht  wird. 

Otto  Bürger-Kirn. 


Wetter-Monatsübersicht. 

Innerhalb  des  vergangenen  Dezember  wechselte 
die  Witterung  in  Deutschland  mehrmals  ihren 
Charakter,  jedoch  herrschte  'mildes,  trübes  und 
außerordentlich  nasses  Wetter,  besonders  im 
Norden,  bei  weitem  vor.  Zu  Beginn  und  gegen 
Mitte  des  Monats  wurden  noch  an  vielen  Orten 
10°  C  erreicht,  an  einzelnen  sogar  überschritten; 
zu  Dresden   stieg    das    Thermometer   am   3.  bis 


i 


Icin^srafur-il^inima  ciiiiacp  0rle  im  De^ctittsrlSlä. 

t-Peiemhcr  6  4t.  IbT  El. 


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8. 

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BerlinerWefferburetM. 


')  Zeitschrift  für  angewandte  Chemie    1913,   .S.   73. 


auf  14,  zu  Stuttgart  am  4.  bis  12  "  C,  und  selbst 
die  in  der  beistehenden  Zeichnung  wiedergegebenen 
tiefsten  Temperaturen  lagen  in  diesen  Tagen  im 
größeren  Teile  des  Landes  über  5  "  C.  Dazwischen 
herrschte  öfter  Frost,  der  jedoch  im  Norden  immer 
sehr  gelinde  blieb  und  nur  ganz  kurze  Zeit  an- 
hielt. Etwas  strengere  und  beständigere  Kälte 
bildete  sich  in  der  zweiten  Hälfte  des  Monats  in 
Mittel-  und  Süddeutschland  aus,  wo  es  am  21. 
Erfurt,  Meiningen,  Bayreuth,  Ansbach  und  München 
auf  —9,  am  23.  München  auf  —10  und  Birken- 
feld an  der  Nahe  auf  — 11"  C  brachten.  Nach 
nochmaliger  Erwärmung  um  die  Weihnachtszeit 
setzte  erst  ganz  zum  Schlüsse  des  Jahres  überall 
in  Deutschland  neues  Frostwetter  ein. 

Die  mittleren  Temperaturen  des  Monats  lagen 
in  den  meisten  Gegenden  3  bis  4  Grad  über 
ihren  normalen  Werten.  Wie  schon  im  ver- 
gangenen November,    wehten    fast    beständig  sehr 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


63 


lebhafte,  nicht  selten  stürmische,  feuchte  südwest- 
liche Winde,  so  daß  der  Himmel  wiederum  an 
der  Mehrzahl  der  Tage  nahezu  ununterbrochen 
mit  Nebelgewülk  bedeckt  blieb.  Beispielsweise 
konnten  daher  in  Berlin  nicht  mehr  als  7  Stunden 
mit  Sonnenschein  verzeichnet  werden,  nur  der 
fünfte  Teil  der  Sonnenscheinstunden,  die  der 
Monat  Dezember  im  Durchschnitt  bei  uns  auf- 
weist. 

Die  ungewöhnlich  häufigen  und  namentlich  in 
Norddeutschland  oft  sehr  ergiebigen  Niederschläge 
fielen,  der  Höhe  der  Temperaturen  entsprechend, 
größtenteils  in  flüssigem  Zustande,  jedoch  wechselten 
besonders  zwischen  dem  2.  und  5.,  am  14.  und 
am  27.  Dezember,  die  Regengüsse  vielfach  mit 
Schnee  ,  Graupel-  oder  Hagelschauern  ab,  die 
an  der  Küste  von  heftigen  Stürmen  begleitet 
waren.  Auch  kamen  am  14.  in  Berlin  und  der 
ganzen  Provinz  Brandenburg  sowie  in  Mecklen- 
burg, am  27.  in  verschiedenen  Gegenden  Nord- 
westdeutschlands, desgleichen  in  Breslau  kurze, 
aber  ziemlich  schwere  Gewitter  vor. 


'^kßzvß'c^a.^^i^zn  im  Be  JsmScr  1913. 


iJ-i. 


CD 


C   R  .5^   5   öJ    ** 


■-»     ^     c~     a>    &1    ^z    ^     C 


Deutschland. 

MonatssummeimDei, 
i.IZ.JUO.09 


BeAner  Wtfferbureiu. 


Während  der  ersten  Hälfte  des  Dezember 
fanden  allein  zwischen  dem  5.  und  8.  länger  an- 
haltende, weitverbreitete  Schneefälle  statt,  die  in 
Nordost-  und  Mitteldeutschland  eine  leichte  Schnee- 
decke zurückließen.  Nach  den  einzigen  vier  Tagen 
des  Monats,  in  denen  das  Binnenland  größtenteils 
von  Niederschlägen  verschont  blieb,  traten  kurz 
vor  dem  Weihnachtsfeste  wiederum  zahlreiche, 
mäßig  starke  Schneefälle  ein,  die  bald  durch  neue 
Regenfälle  abgelöst  wurden.  In  den  vier  letzten 
Tagen  des  Jahres  aber  gingen  im  größten  Teile 
des  Landes  ungeheure  Schneemengen  hernieder, 
die  vom  28.  bis  29.  z.  B.  in  Aachen  eine  Nieder- 
schlagshöhe von  64  mm  ergaben  und  außer- 
ordentlich große  Verkehrsstörungen  herbeiführten. 
Bald  darauf  traten  an  der  Ostseeküste  schwere 


Nordoststürme  und  an  vielen  Stellen  Hoch- 
wasser ein  und  richteten  an  Gebäuden,  den 
Wintersaaten,  Kartoffeln  wie  auch  sonst  gewaltigen 
Schaden  an.  Bei  Jahresschluß  lag  der  Schnee  in 
Berlin  und  vielen  anderen  Orten  des  mittleren 
Norddeutschlands  über  30  cm  hoch.  Im  ganzen 
Monat  ergab  sich  für  den  Durchschnitt  aller  be- 
richtenden Stationen  eine  Niederschlagssumme  von 
79,7  mm,  die  seit  Jahrzehnten  in  keinem  Dezember- 
monate mehr  gemessen  worden  ist. 


Ziemlich  einfach  waren  im  allgemeinen  die 
Luftdruckverhältnisse  in  Europa  gestaltet.  Während 
Südwesteuropa  gewöhnlich  von  einem  Hochdruck- 
gebiet eingenommen  wurde,  zogen  im  größten 
Teile  des  Monats  tiefe  und  oft  sehr  umfangreiche 
barometrische  Minima  rasch  hintereinander  vom 
atlantischen  Ozean  über  die  skandinavische  Halb- 
insel nach  Nordrußland  hin.  Mehrmals  jedoch, 
besonders  um  Mitte  des  Monats,  als  das  Maximum 
sich  etwas  weiter  nach  Nordwesten  verschoben 
hatte,  drangen  Teildepressionen  in  das  west- 
europäische Festland  ein,  wo  sie  weitverbreitete 
Stürme  und  Unwetter  veranlaßten. 

Seit  dem  18.  Dezember  nahm  das  barometrische 
Maximum  auf  den  britischen  Inseln  an  Höhe  be- 
deutend zu  und  breitete  sein  Gebiet  bald  darauf 
weit  nach  Osten  aus.  Nach  wenigen  Tagen  wurde 
es  aber  durch  neue  Depressionen,  die  gleichzeitig 
von  Nordwesten  und  Südwesten  her  gegen  Mittel- 
europa vorrückten,  in  zwei  Hälften  geteilt  und 
am  27.  Dezember  beinahe  ganz  Nordwest-  und 
Mitteleuropa  von  einem  außerordentlich  tiefen 
Minimum  eingenommen,  das  sich  unter  heftigen 
Schneestürmen  sehr  langsam  ins  Innere  Rußlands 
entfernte.  Dr.  E.  Lcß. 


Bücherbesprechungen. 

Agnes  Arber    (Mrs    E.  A.  Newell  Arber)  D.  Sc, 
V.  L.  S.  Fellow  of  Newnham  College  Cambridge 
and    of  [Univcrsity    College   London,  Herbais 
Their  Origin  and  Evolution.     A  Chapter  in  the 
History    of  Botany.     1470— 1670.     Cambridge: 
at  the  University  Press   19 12.  —  Price   10  Seh. 
Das   Buch    gibt    eine    historische,    mit    Abbild. 
(Kopien)  versehene  Darstellung  der  alten  Pflanzen- 
bücher, die  in  der  Zeit  von  1470— 1670  erschienen 
sind,    geht    aber   um    den  Anschluß  nicht  zu  ver- 
lieren kurz  auf  die  Vorgeschichte  seit  Aristoteles 
über.  R-  P- 


Literatur. 

Bauer,  Dr.  H.,  Analytische  Cliemie  des  Methylalkohols.  Mit 
7  Textabb.  Sonderausgabe  a.  d.  Sammlung  ehem.  u.  chem.- 
techn.  Vorträge.  Herausgeg.  v.  Prof.  Dr.  W.  Herz.  Bd.  XX. 
Stuttgart  '13,  F.   Enke.  —  3  Mk. 

Dreyer,  Dr.  J. ,  Die  Moore  Pommerns,  ihre  geographische 
Bedingtheit  und  wirtschaftsgeographische  Bedeutung.  Mit 
3  Anlagen,  2  Karten  u.  9  Tafeln.  Greifswald  '13,  Kom- 
missionsverlag Bruncken  &  Co. 

Scheu,    Dr.    E.,   Der  Schwarzwald.      Mit  8    lafcln   u.  II  .Abb. 


64 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  4 


im  Text.  (Deutsche  Landschaftstypen.  Heft  I.)  Leipzig, 
Th.  Thomas.  —   1,20  Mk. 

Smiles,  S.,  Chemische  Konstitution  und  physikalische  Eigen- 
schaften. Aus  dem  Englischen  übersetzt  von  Dr.  P.  Krassa. 
Bearbeitet  und  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  R.  O.  Herzog. 
Dresden  u.  Leipzig  '14,  Th.  Steinkopf.  —  Geb.  21,50  Mk. 

Stratz,  Dr.  C.  H.,  Die  Darstellung  des  menschlichen  Körpers 
in  der  Kunst.  Mit  252  Textfiguren.  Berlin  '14,  1  Springer. 
—  Geb.   12  Mk. 

Thurston,  E.,  The  Madras  Presidency,  with  Mysorc,  Coory 
and  the  associated  States.  (Provincial  geographies  of  India, 
General  Editor  Sir  T.  H.   Holland.)     Cambridge  '13. 

Wegner,  Prof.  Dr.  Th. ,  Geologie  Westfalens  und  der  an- 
grenzenden Gebiete.  Mit  197  Abb.  u.  i  Tafel.  (West- 
falenland. Eine  Landes-  und  Volkskunde  Westfalens,  her- 
ausgegeb.  von  Th.  Wegner-Münster.  I.)  Paderborn  '13,  F. 
Schöning.  —  Geb.   8   Mk. 

Wolff,  H.,  Umbelliferae-Saniculoideae.  Mit  198  Einzelbildern 
in  42  Fig.  u.  I  Doppeltafel.  61.  Heft  (IV,  228)  von  „Das 
Pflanzenreich"  herausgeg.  v.  A.  Engler.  Leipzig  u.  Berlin 
'13,   W.  Engelmann.  —   15,80  Mk. 

Vom  Wissen  zum  Glauben,  Grundlagen  einer  einheitlichen 
Welt-  und  Lebensanschauung.  Von  einem  Gottsucher. 
Leipzig  '14,  Leineweber.  —  Geb.  3  Mk. 

Der  Mensch  aller  Zeiten.  Natur  und  Kultur  der  Völker  der 
Erde  von  H.  Obermaier,  F.  Birkner,  W.  Schmidt  und  F. 
Heslermann.  Lieferung  24  und  25.  Berlin-München-Wien, 
Allgemeine  Verlagsgesellschaft  m.  b.  H. 

The  Norwcgian  Aurora  Polaris-Expedition  1902  — 1903.  Vol.  1. 
On  the  cause  of  magnetic  storms  and  the  origin  of  ter- 
restrial  magnetism  by  Kr.  Birkeland.  2.  Section.  Christiania 
(H.  Areschong),  Leipzig  (J.  A.  Barth),  London,  New  York 
(Longmans,  Green  &  Co.),  Paris  (C.  Klincksieck). 


Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  Walter  K.,  Leipzig.  —  Handelt  es  sich  nur  darum, 
eine  Temperatur  auf  konstanter  Höhe  zu  erhalten ,  ohne  die- 
selbe beliebig  zu  variieren,  so  können  sie  sich  selbst  einen 
Thermostaten  leicht  herstellen,  das  bekannte  Siedegefüß.  Der 
Apparat  besteht  aus  zwei  ineinandergesetzten  am  besten  zylin- 
drischen Gefäßen,  die  je  nach  der  verwendeten  Temperatur 
und  Flüssigkeit  aus  Weißblech,  Kupfer,  Glas  oder  Porzellan 
hergestellt  werden.  Der  Zwischenraum  zwischen  beiden  Ge- 
fäßen, der  nach  oben  abgeschlossen  ist  und  nur  durch  ein 
seillich  oben  angebrachtes  Kühlrohr  mit  der  Atmosphäre  in 
Verbindung  steht,  enthält  die  Siedeflüssigkeit,  die  im  Sieden 
erhalten  wird  und  deren  im  Überschuß  gebildeten  Dämpfe 
durch  den  Kühler  entweichen  können  oder  sich  dort  konden- 
sieren und  in  flüssigem  Zustande  wieder  in  den  Kessel  zurück- 
gelangen. In  den  inneren  Raum,  der  die  zu  erwärmenden 
Gegenstände  aufnimmt,  wird  Wasser,  Glyzerin,  Paraffinöl  oder 
sonst  eine  geeignete  Flüssigkeit  gebracht,  deren  Siedepunkt 
oberhalb  dem  der  äußeren  Siedeflüssigkeit  liegt.  Lassen  wir 
die  innere  Flüssigkeit  fort,  so  daß  wir  im  inneren  Gefäß  ein 
Luftbad  haben,  so  ist  die  untere  Seite  des  Deckels  mit  einer 
Filzlage  zu  bedecken,  durch  den  Deckel  evtl.  hindurchgeführte 
Thermometer  usw.  sorgfältig  mit  Watte  an  der  Durchführungs- 
stelle zu  umhüllen,  wie  überhaupt  auf  peinlichste  Dichtung 
zu  sorgen  ist,  um  störende  Wärmeverluste  zu  vermeiden.  Der 
ganze  Apparat  wird  zweckmäßig  schließlich  von  außen  mit 
Asbest  umkleidet.  Die  Temperaturen  hängen  von  den  Siede- 
punkten der  benutzten  Siedeflüssigkeiten  ab. 

Der  .Apparat  läßt  sich  häutig  vereinfachen,  indem  man  das 
innere  Gefäß  fortläßt  und  die  zu  erwärmenden  Gegenstände 
unmittelbar  der  Wirkung  des  Dampfes  der  Siedeflüssigkeit 
aussetzt,  wobei   wir  schließlich   die   hineingebrachten  Apparate 


noch  mit  einem  besonderen  Dampfmantel    der  Siedeflüssigkeit 
umgeben  können. 

Um  die  Temperatur  beliebig  regulieren  zu  können,  braucht 
man  sich  nur  eines  einzigen  Gefäßes  zu  bedienen,  welches  die 
Apparate  aufnimmt  und  mit  einer  Badflüssigkeit  gefüllt  ist, 
deren  Temperatur  auf  beliebiger  Höhe  konstant  gehalten  werden 
kann  durch  Regulierung  deslleizgasverbrauchs,  welche  auf  dem 
Prinzip  beruht,  daß  durch  eine  Temperaturänderung  ein  Vorgang 
ausgelöst  wird ,  durch  welchen  ein  erhöhter  Wärmezu-  bzw. 
-abfluß  bewirkt  wird.  Am  einfachsten  wirkt  folgender  Appa- 
rat, der  sich  leicht  zusammensetzen  läßt.  In  die  Badflüssig- 
keit hinein  reicht  eine  sich  unten  erweiternde,  mit  Queck- 
silber gefüllte  Röhre,  in  welche  oben  hinein  ein  sich  nach 
unten  etwas  verengendes  Rohr  gesteckt  wird ,  welches  durch 
einen  Schlauch  mit  der  Leuchtgasleitung  verbunden  ist.  An 
der  das  Quecksilber  enthaltenden  Röhre  ist  oben  seitlich  ein 
Ansatzrohr  angebracht,  und  zwar  oberhalb  der  Oflnung  des 
Gaszuleitungsrohres,  welches  durch  einen  Schlauch  mit  dem 
zum  Heizen  benutzten  Bunsenbrenner  verbunden  ist.  Steht 
das  Quecksilberniveau  unterhalb  der  Öffnung  der  Zuleitungs- 
röhre, so  kann  das  Leuchtgas  den  .\pparat  ungehindert  pas- 
sieren; erleidet  aber  durch  eine  Temperatuterhöhung  der  Bad- 
fiüssigkeit  das  Quecksilber  eine  solche  Ausdehnung,  daß  es 
die  Öft'nung  des  Zuleitungsrohres  erreicht,  so  ist  die  Gaszufuhr 
unterbrochen,  wobei  eine  kleine  Öffnung  im  Zuleitungsrohr 
dafür  sorgt,  daß  eine  geringe  Menge  Gas  trotzdem  den  Appa- 
rat passiert,  um  die  Flamme  nicht  gänzlich  verlöschen  zu 
lassen.  Die  Zufuhr  bleibt  so  lange  gehindert,  bis  die  alte 
Temperatur  wieder  hergestellt  ist.  Das  Zuleitungsrohr  muß 
so  eingestellt  sein,  daß  sich  bei  der  konstant  zu  erhaltenden 
Temperatur  seine  Öffnung  sich  etwas  über  dem  Quecksilber- 
niveau befindet,  so  daß  gerade  noch  Gaszuführung  stattfinden 
kann.  Zur  Vermeidung  von  Temperaturschwankungen  ist  das 
ganze  Badgefäß  mit  Filz  oder  Asbest  zu  umkleiden. 

Die  besten  Resultate  geben  wohl  Apparate,  die  auf  einem 
ganz  anderen  Prinzip  beruhen,  die  elektrischen  Öfen,  die  Sie 
sich  ebenfalls  leicht  herstellen  können  und  sog.  Widerslands- 
öfen darstellen.  Der  Ofen  besteht  aus  einem  von  außen  mit 
.'\sbest  bekleideten  Melallkasten.  Im  Innern  findet  sich  die 
Heizspirale,  dünner  Konstanlandraht ,  der  auf  ein  Tonrohr, 
z.  B.  eines  galvanischen  Elementes,  gewickelt  ist;  für  höhere 
Temperaturen  empfiehlt  sich  Nickeldraht.  Der  Draht  soll 
fest  angedrückt  sem,  auch  ist  er  gegen  Zusammengleiten  durch 
naß  aufgepreßtes  Chamotlepulver  zu  schützen.  Um  eine  be- 
stimmte konstante  Temperatur  herzustellen,  ist  ein  im  Strom- 
kreis befindlicher  Regulierwiderstand  so  einzustellen,  bis  die 
Temperatur  konstant  bleibt,  wo  also  der  Wärmeverlust  nach 
außen  gerade  durch  die  aufgewendete  elektrische  Energie  ge- 
deckt wird,  was  man  durch  Probieren,  d.  h.  Verschieben  des 
Widerstandes  erreicht.  Um  Schwankungen  des  aus  der  Zen- 
trale kommenden  Stromes  möglichst  aufzuheben,  kann  man 
in  Haupt-  oder  Nebenschluß  Eisenwiderstände  von  Nernstlampen 
einschalten. 

Kurze  Angaben  über  Thermostaten  finden  Sie  in  F.  Kohl- 
rausch, Lehrbuch  der  praktischen  Physik,  sehr  ausführliche 
.■\ngaben  in  Ostwald-Luther ,  Physiko-Chemische  Messungen, 
wo  sich  auch  Literalurhinweise  für  elektrische  Öfen  finden. 

H.  Sbn. 

Man  schreibt  uns :  Auf  S.  688  links  Ihrer  geschätzten 
Wochenschrift  ist  der  Wunsch  ausgesprochen,  daß  die  hygieni- 
sche Bedeutung  des  Permutitverfahrens  untersucht  werden  möge. 
Ich  erlaube  mir,  mitzuteilen,  daß  bei  mir  eine  Doktorarbeit 
von  Herrn  J.  Ginsburg  im  vorigen  Jahre  gemacht  wurde,  die 
sich  mit  dieser  Frage  befaßt.  Leider  besitze  ich  kein  Exem- 
plar mehr,   das  ich  abgeben  kann. 

Prof.  Dr.  Kißkalt, 
Königl.  hygien.  Institut  der  Albertus-Universität, 

Königsberg  i.  Pr. 


Inhalt:  Alois  Czepa:  Schutzfärbung  und  Mimikry  —  Einzelberichte:  Emil  Fischer:  Depside,  Flechtenstoffe  und 
Gerbstoffe.  H.  Heß:  Die  präglaziale  Alpenoberfläche.  Roman  Lucerna:  Die  Flächengliederung  der  Montblanc- 
gruppe. H.  Lautensach:  Über  den  heutigen  Stand  unserer  Kenntnis  vom  präglazialen  Aussehen  der  Alpen.  Peter 
Schmidt:  Katalepsie  der  Phasmiden.  Hans  Blunck:  Das  Geschlechtsleben  von  Dytiscus  marginalis  L.  —  Kleinere 
Mitteilungen:  R.  Ditmar:  Das  Dynamit  im  Dienste  der  Landwirtschaft.  O.  Bürger:  Zur  Geschichte  der  Zündhölzer. 
Wetter-Monatsübersicht.  —  Bücherbesprechungen:  .■\gnes  Arber:  Herbais.  Their  Origin  and  Evolution.  —  Lite- 
ratur: Liste.  —  Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstrafle   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck   der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13     Hand ; 
der  ganzen    Reihe   29,  Hand. 


Sonntag,  den  i.  Februar  1914. 


Nummer  5. 


Schutzfärbung  und  Mimikry, 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.  Alois 


Fehlen  der  Schutzfärbung. 

Wenn  wir  uns  unter  den  Tieren  umsehen,  so 
finden  wir,  daß  bei  weitem  nicht  alle  eine  Schutz- 
färbung besitzen  und  daß  es  gerade  nicht  immer 
die  Formen  sind,  die  eine  derartige  sympathische 
Färbung  nicht  notwendig  haben.  Und  umgekehrt 
finden  wir  wieder  Tiere,  die  infolge  ihrer  Stärke 
oder  ihrer  Lebensweise  eines  Schutzes  durch 
Farbenanpassung  vollständig  entbehren  könnten, 
die  man  auch  nie  als  Beispiel  hierfür  angegeben 
hat,  die  aber  doch  so  gefärbt  sind,  daß  sie  sich 
von  ihrer  Umgebung  nur  wenig  unterscheiden 
und  die  man  gewiß  als  schutzgefärbt  bezeichnet 
hätte,  wenn  sie  eben  eines  Schutzes  bedürften.  — 

Beginnen  wir  gleich  mit  den  Hochzeitskleidern, 
jenen  auffallenden  Veränderungen  in  Form  und 
Farbe  zur  Zeit  der  Paarung,  die  so  viele  Tiere, 
von  den  Insekten  angefangen  bis  herauf  zu  den 
Vögeln,  zeigen  und  die  bei  vielen  Formen  auf  die 
Männchen  beschränkt  sind,  bei  einigen  aber  auch 
an  den  Weibchen,  wenn  auch  in  beschränkterem 
iVIaße  beobachtet  werden  können.  Ich  setze  der- 
artige Erscheinungen  mit  Recht  als  bekannt  vor- 
aus und  möchte  nur  erwähnen,  daß  bei  den 
Fischen,  Amphibien  und  Reptilien  das  Hochzeits- 
kleid nach  der  Paarung  wieder  verschwindet,  bei 
den  Vögeln  meistens  und  da  vor  allem  bei  den 
Hühnervögeln  das  Männchen  diesen  Zustand  fort- 
während bewahrt  und  sich  so  deutlich  von  dem 
unscheinbaren  Weibchen  unterscheidet.  — 

Es  fällt  also  bei  diesen  Tieren  die  Schutz- 
färbung von  vornherein  vveg,  obwohl  es  doch 
eher  merkwürdig  ist,  daß  gerade  zur  Zeit  der 
Fort[jflanzung,  also  zu  der  für  die  Erhaltung  der 
Art  wichtigsten  Periode  des  Lebens  jeder  Schutz, 
den  eine  eventuelle  sympathische  Färbung  ge- 
währte, von  dem  Tiere  abgezogen  und  es  allen 
Feinden  preisgegeben  wird. 

Die  Selektionstheoretiker  erklären  das  Zu- 
standekommen und  die  Notwendigkeit  der  bunten 
Farben  und  auffallenden  Veränderungen  des 
Körpers  auf  folgende  Weise:  „Die  Männchen 
kämpfen  gewissermaßen  um  den  Besitz  der 
Weibchen,  indem  jede  kleine  Variation  eines 
Männchens,  welche  dasselbe  befähigt,  sich  leichter 
als  ein  anderes  in  den  Besitz  eines  Weibchens  zu 
setzen,  eben  dadurch  auch  eine  größere  Aussicht 
hat,  auf  Nachkommen  übertragen  zu  werden. 
Auf  diese  Weise  müssen  anziehende  Variationen, 
die  einmal  auftauchen,  sich  auf  immer  zahlreichere 
Männchen  der  Art  übertragen,  und  da  unter  diesen 
auch  wieder  diejenigen  die  meiste  Aussicht  haben, 


Czepa,  Wien.  (Fortsetzung.) 

ein  Weibchen  für  sich  zu  gewinnen,  die  die  an- 
ziehende Eigenschaft  in  höhcrem  Grade  besitzen, 
so  muß  also  so  lange  eine  Steigerung  der  Eigen- 
schaften anhalten,  als  sich  noch  Variationen  nach 
dieser  Richtung  hin  darbieten.''  ^) 

Dies  ist  aber  nur  dann  möglich,  wenn  wirk- 
lich nur  die  besten  Männchen  ein  Weibchen 
finden,  das  heißt  also,  wenn  viel  mehr  Männchen 
vorhanden  sind  als  Weibchen.  Und  tatsächlich 
überwiegen  bei  derartigen  Formen  die  Männchen 
kolossal;  bei  manchen  F^altern  kommen  100 
Männchen  auf  i  Weibchen.  Auch  bei  den  Vögeln 
und  Säugern  finden  wir  ein  derartiges,  wenn  auch 
nicht  so  hohes  Verhältnis. 

Hiermit  sind  zwei  sehr  auffallende  Erschei- 
nungen mit  einem  Schlage  erklärt,  für  einen,  dem 
eine  derartige  Erklärung  genügt.  Ich  für  meinen 
Teil  kann  einer  derartigen  Ansicht  nicht  nur  nicht 
zustimmen,  ich  muß  gegen  sie  entschieden  Stellung 
nehmen,  weil  sie  von  ganz  falschen  Voraussetzungen 
ausgehend  sehr  wichtige  Tatsachen  nicht  berück- 
sichtigt. 

So  ist  vor  allem ,  wenn  auch  nicht  direkt  zu 
beobachten,  so  doch  als  de  facto  bestehend  die 
Wahl  der  Weibchen  angenommen,  daß  also  das 
Weibchen  nur  dem  Männchen  folgt,  das  ihm  am 
besten  gefällt  oder  wie  man  sich  ausdrückt,  das 
es  am  stärksten  erregt.  Wir  wissen,  daß  in  der 
Natur  nicht  das  Prinzip  des  Gefallens  und  Nicht- 
gefallens,  sondern  das  Prinzip  des  Starken  und 
Schwachen  herrscht,  daß  die  Mäimchen  um  den 
Besitz  der  Weibchen  die  erbittertsten  Kämpfe  auf- 
führen, daß  ihnen  hierzu  eigene  und  oft  recht 
böse  Waffen  zur  Verfügung  stehen  —  ich  erinnere 
hier  nur  an  den  großen  Sporn  der  Hähne  und 
deren  Rauflust,  die  bekanntlich  zu  den  Hahnen- 
kämpfen ausgenutzt  wurde  —  und  daß  das 
Weibchen  dann  nicht  dem  folgt,  der  die  schöneren 
Farben,  die  größeren  Hautkämme  usw.  hat,  son- 
dern daß  es  sich  einfach  dem  ergeben  muß,  der 
im  Zweikampf  Sieger  blieb.  Immer  ist  es  der 
Stärkere,  der  sich  das  Weibchen  erobert  und  nie 
der  Schönere.  Jeder  Hühnerhof  kann  uns  dies 
bestätigen. 

Ich  verweise  hier  nur  auf  die  Hirsche.  Nicht 
das  Männchen  mit  dem  schönsten  und  vielzackigsten 
Geweih  ist  der  Herr  des  Rudels,  sondern  das 
stärkste,  das  alle  anderen  Bewerber  aus  dem  Felde 
schlägt.  In  den  meisten  Fällen  sind  allerdings 
die    Sieger   mit    den    stattlichsten    Geweihen    aus- 


')  Weismann,   Vorträge  über  Deszendenztheorie.     Jena 
1904.     II.  Aufl.  p.    173. 


66 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  5 


gerüstet,  weil  eben  normal  ein  sehr  kräftiges  Tier 
ein  sehr  starkes  Geweih  besitzt,  aber  oft  genug 
kann  man  starke  Hirsche  als  Herren  des  Rudels 
sehen,  deren  Geweih  nichts  weniger  als  groß  und 
schön  ist.  'j 

Die  Weibchen  sind  in  der  Natur  nie  die  hold- 
lächelnd Gewährenden,  sondern  stets  die  vor  der 
Stärke  zitternd  Gezwungenen.  Und  wenn  wir  in 
manchen  Fällen,  speziell  bei  Haustieren  oder  ge- 
fangengehaltenen wilden  Tieren  die  Beobachtung 
machen  können,  daß  ein  Weibchen  nicht  jedes 
Männchen  annimmt,  so  ist  das  kein  Gegenbeweis 
und  sicher  keine  Gruiidstütze  einer  Lehre.  Bei 
derartigen  Weibchen  mögen  viele  Umstände  mit- 
wirken, vielleicht  die  Gefangenschaft  selbst,  die 
fehlende  und  doch  nötige  Erregung  usw. 

Doch  nehmen  wir  an,  es  fände  wirklich  ein 
Wählen  der  Weibchen  statt,  und  es  wäre  dadurch 
der  Wettstreit  unter  den  Männchen,  durch  schönere 
Farben,  auffallendere  Hautanhänge,  besseres  Singen 
mehr  erregend  als  andere  auf  die  Weibchen  ein- 
zuwirken, gegeben,  so  kommen  wir  auch  damit 
nicht  weiter.  Es  bleibt  hierfür  immer,  wie  die 
Selektionstheoretiker  ganz  richtig  betonen,  eine 
notwendige  P'orderung,  daß  die  Männchen  im 
Verhältnis  zu  den  Weibchen  in  der  Überzahl  vor- 
kommen müssen.  ,,Wäre  die  Zahl  von  Männchen 
und  Weibchen  einer  Art  stets  gleich  und  käme 
immer  auf  ein  Weibchen  nur  ein  Männchen,  so 
könnte  zwar  wohl  eine  Wahl  von  Seite  der 
Weibchen  oder  auch  der  Männchen  geübt  werden, 
allein  es  würden  doch  immer  noch  so  viele  In- 
dividuen beider  Geschlechter  übrig  bleiben,  daß 
kein  Mann  unbeweibt  zu  sein  brauchte." ')  Und 
in  der  Tat  sind  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  mehr 
Männchen  als  Weibchen  vorhanden,  daher  unter 
diesen  der  Wettstreit.  ,, Besonders  unter  den 
Vögeln  steht  der  Dimorphismus  der  Geschlechter 
in  auffallender  Beziehung  zu  dem  Überwiegen  der 
Individuenzahl  der  Männchen  oder  auch  —  was 
praktisch  auf  dasselbe  hinauskommt  — ,  mit  Poly- 
gamie. Denn  wenn  ein  Männchen  vier  oder  zehn 
Weibchen  an  sich  fesselt,  so  kommt  dies  einer 
Dividierung  der  Weibchenzahl  durch  vier  oder 
zehn    gleich.      So    sind    z.    B.    die    in    Polygamie 


')  Haake  schreibt  über  unsere  Gemse:  ,,Die  eigentliche 
Brunst  beginnt  stellenweise  schon  um  den  20.  OKtober.  Mit 
ihrem  Anfang  bemächtigt  sich  der  Böcke  fieberhafte  Unruhe. 
Dumpf  blökend  laufen  sie  %'on  Rudel  zu  Kudel,  um  die 
keineswegs  abgeneigten,  vorläufig  aber  noch  zimperlichen  und 
koketten  Geißen  zu  kirren.  Der  stärkste  Bock  vertreibt  end- 
lich die  übrigen  und  macht  die  Geißen  durch  Schlagen  mit 
den  Vorderfüßen  gefügig.  Zum  Brunstplan  wählen  die  Gemsen 
am  liebsten  eine  ruhige  Alpentrift  in  der  Krummholzregion. 
Hier  legt  der  Bock  seine  Galanterie  größtenteils  ab.  Er  miß- 
handelt die  Geißen  rücksichtslos,  was  diese  sich  auch  ruhig 
gefallen  lassen,  solange  er  nur  seine  Schuldigkeit  tut.  Und 
hierin  trift't  ihn  kein  Vorwurf.  Ein  wilder  brünstiger  Gems- 
bock ist  die  verkörperte  Geilheit  und  beständig  nässend  im 
Beschläge  unersättlich.  Dabei  sucht  er  sich  zuerst  die  jungen 
Geißen  aus,  während  die  älteren  zusehen,  sich  auch  wohl  in 
eine  Krummholzdeckung  wegstehlen ,  wo  geringere  Böcke 
unwählerisch  die  Gelegenheit  benutzen." 

Tierleben  der  Erde  1.     Seite   587. 

^)  Weismann,  Vorträge  usw.  p.   173. 


lebenden  Hühner  und  Fasanen  mit  prachtvollen 
Farben  im  männlichen  Geschlechte  geschmückt, 
die  in  Monogamie  lebenden  P'eldhühtier  und 
Wachteln  aber  zeigen  in  beiden  Geschlechtern 
die  gleiche  Färbung."  ^)  Hier  liegt  nun  der  große 
Widerspruch.  Bei  den  Auerhähnen  kommen  auf 
ein  Männchen  sechs  bis  zehn  Weibchen,  die  Tiere 
leben  in  Polygamie  und  es  ist  nach  dem  oben 
Gesagten  die  sexuelle  Selektion  gegeben.  Bei 
den  in  Monogamie  lebenden  Rebhühnern  müßte 
nun  der  P'all  eintreten,  daß  eine  besondere  Wahl 
der  Weibchen  fehlt  und  deshalb  die  sexuelle 
Selektion  unterblieben  ist.  Wie  läßt  sich  das  bei 
der  großen  Überzahl  der  Männchen  gerade  dieser 
Vögel  erklären?  Jeder  Jäger  weiß,  daß  es  be- 
deutend mehr  Hähne  als  Hennen  gibt  und  in 
einer  der  letzten  Nummern  einer  Jagdzeitschrift 
berichtet  ein  Jäger,  daß  in  einer  fünfjährigen  Be- 
obachtungsperiode unter  den  von  ihm  erlegten 
Rebhühnern  87 — 90%  Hähne  konstatiert  werden 
konnten.  Eine  stattliche  l^berzahl  von  unbeweibten 
Männchen,  die  zum  großen  Teil  von  der  I-'ort- 
pflanzung  ausgeschlossen  sind,  weil  die  Ehen  auf 
Lebenszeit  geschlossen  werden.  Wie  läßt  es  sich 
da  erklären,  daß  die  Männchen  wie  die  Weibchen 
gefärbt  sind?  Es  finden  auch  hier  Kämpfe  statt, 
bis  eine  Elie  geschlossen  ist.  Spielt  hier  die 
Wahl  der  Weibchen  keine  Rolle?  Meiner  Ansicht 
nach  ist  hier  die  Wahl  der  Weibchen  von  einer 
viel  größeren  Bedeutung  als  bei  den  Auerhühnern, 
die  in  Polygamie  leben  und  bei  denen  es  einem 
Hahn  leichter  möglich  ist,  sich  einige  Weibchen 
zu  erringen,  weil  die  Zahl  der  Weibchen  der 
anderen  nicht  fixiert  ist.  Haake  sagt  in  seinem 
Tierleben  der  Erde:  „Ledige  Männchen  streifen 
oft  noch  später  umher  und  werden  durch  ihre 
den  Weibchen  anderer  Männchen  bewiesene  Auf- 
dringlichkeit oft  so  lästig,  daß  die  Weibchen  nicht 
zum  Nisten  kommen  und  gezwungen  sind,  ihre 
Eier  fremden  Rebhühnernestern  anzuvertrauen." 
Wie  wir  sehen,  ist  es  also  mit  der  berühmten 
Wahl  der  Weibchen  auch  nicht  so  glänzend  be- 
stellt. Das  Männclien  kämpft  um  das  Weibchen 
und  vertreibt  den  Nebenbuhler,  ob  der  nun  schöner 
ist  oder  nicht.  -) 

Auch  ist  bei  der  Frage  der  auffallenden  Mäim- 
chen  gar  nicht  der  Schutzfärbung  gedacht.  Ist 
es  nicht  eher  ungeschickt  eingerichtet,  daß  die 
Männchen  so  gar  nicht  geschützt  sind  und  in  be- 
deutend größerer  Anzahl  vorhanden  sein  müssen 
wegen    einer   Marotte  der  Weibchen,    die  für  das 


')  Weismann,  Vorträge  usw.  p.   175' 

-)  Jeder  Aquarienliebhaber  weiß,  wieviel  er  von  dem 
Wählen  der  Weibchen  zu  halten  hat  und  wie  die  Männchen 
die  Weibchen  behandeln.  Sind  mehrere  Männchen  da,  so 
muß  man  sie  sehr  schnell  trennen,  will  man  keine  Verluste 
erleiden,  ja  es  ist  sogar  manchmal  notwendig,  die  Gatten  noch 
vor  der  Hochzeit  zu  trennen,  weil  der  Gemahl  die  arme  Ehe- 
hälfte derart  mit  Stößen  und  Bissen  traktiert,  daß  ihr  oft  die 
Fetzen  vom  Leibe  hängen.  Und  dabei  strahlt  er  in  den 
schönsten  Farben  und  je  wilder  er  wird,  desto  leuchtender 
werden  diese;  am  schönsten  sind  sie  im  Moment  des  Samen- 
ergusses, also  der  höchsten  Erregung. 


N.  F.  XIII.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


67 


Fortbestehen  der  Art  ganz  gleichgültig  ist?  Ist 
es  anzunehmen,  daß  der  nach  der  Ansicht  der- 
selben Herren  so  eminent  wichtige  Faktor  der 
Farbenanpassung  vollständig  zurücktritt,  ja  in  das 
Gegenteil  umsclilägt  für  ein  Nichts?  Erzeugt  die 
Natur  einen  solchen  Aufwand,  bloß  damit  die 
Weibchen  wählen  können,  obgleich  wir  immer 
wieder  sehen,  daß  ihr  vor  allem  nur  die  Erhaltung 
der  Art  am  Herzen  liegt?  Können  wir  glauben, 
daß  bei  den  Molchen  ein  Hochzeitskleid  auftritt, 
weil  die  Weibchen  unter  den  Männchen  eine 
Auswahl  treffen?  Müssen  wir  nicht  gerade  durch 
den  Umstand,  daß  bei  diesen  niederen  Tieren  auch 
die  Weibchen  ein  Hochzeitskleid  besitzen,  zu  der 
Überzeugung  gedrängt  werden,  daß  für  das  Auf- 
treten der  bunteren  Farben  andere  Ursachen  vor- 
handen sein  müssen?  Oder  sollen  wir  annehmen, 
daß  sich  bei  diesen  Tieren  auch  die  Weibchen 
gegenseitig  zu  überbieten  trachten? 

Schon  Alfred  Wallace  hat  die  Auszeich- 
nungen der  Männchen  als  den  Ausfluß  größerer 
Lebensenergie  und  lebhafteren  Stoffwechsels  be- 
trachtet und  auch  wir  werden  lieber  diese  Erklä- 
rung annehmen,  um  so  mehr,  da  wir  schon  wissen, 
daß  die  Farben  stark  durch  den  Stoffwechsel 
usw.  beeinflußt  werden  können.  Besonders  niedere 
Tiere  zeigen  die  Fähigkeit  der  Farbenveränderung 
im  hohen  Maße  und  lassen  deutlich  erkennen, 
daß  dieser  Vorgang  durch  die  verschiedensten 
Ursachen,  teils  innere,  teils  äußere  beeinflußt  wer- 
den kann.  Ich  meine  hiermit  alle  die  Tiere,  die 
ihre  Farben  binnen  kurzem  ändern  können ,  wie 
Chamäleon,  die  Fische,  der  Laubfrosch,  die  Tinten- 
fische usw.  Allerdings  ist  bei  diesen  Tieren  die 
Färbung  durch  eigene  Farbzellen,  die  sog.  „Chro- 
matophoren"  bedingt,  durch  deren  wechselnde 
Kontraktionszustände  das  verschieden  gefärbte 
Aussehen  der  Haut  erzeugt  wird.  Diese  Zellen 
stehen  mit  Nervenendigungen  in  Verbindung  und 
werden  durch  auf  die  Nerven  einwirkende  Reize 
entsprechend  beeinflußt.  Wer  jemals  Gelegenheit 
gehabt  hat,  eine  Sepia  oder  Eledone  im  Aquarium 
zu  beobachten,  dem  wird  das  schöne  Farbenspiel, 
das  besonders  durch  Reizen  des  Tieres  mit  einem 
Stock  oder  Klopfen  an  der  Wand  usw.  bedeutend 
verstärkt  wird,  sicher  in  guter  Erinnerung  sein. 
Hunger,  Kälte,  Hitze,  große  Trockenheit,  große 
Feuchtigkeit,  Zorn,  Schreck  usw.  sind  alles  Fak- 
toren, die  eine  Änderung  der  Körperfarbe  dieser 
Tiere  hervorrufen ,  falls  das  Tier  nicht  krank  ist 
und  dann  eo  ipso  eine  charakteristische  Farbe 
besitzt. 

Allerdings  liegen  die  Verhältnisse  bei  den 
Vögeln  und  Säugetieren  anders,  weil  hier  das 
Pigment  in  Haut,  Federn  und  Haaren  abgelagert 
ist;  es  fällt  hier  auch  das  Phänomen  eines  P"arb- 
wechsels  weg.  Dafür  finden  wir  aber  auch,  daß 
die  Hochzeuskleider  entweder  zeitlebens  von  den 
Männchen  getragen  werden  oder  wenn  nicht, 
dann  sehr  wenig  vom  normalen  Kleide  verschieden 
sind.  Wenn  beim  männlichen  Hänfling  zur 
Paarungszeit   die    weißen   Stellen    der   Brust-    und 


Scheitelgegend  rot  werden,  so  dürfte  dies  auf  die 
gleiche  Ursache  zurückzuführen  sein,  die  die  männ- 
lichen P'ische,  wie  Bitterling,  Stichling  usw.  in 
den  herrlichsten  Farben  erstrahlen  läßt,  die  auf 
dem  Kiemendeckel  und  dem  Maule  der  Karpfen- 
arten die  weißen  Pusteln  erzeugt,  der  zufolge 
den  männlichen  Molchen  der  große  Rückenkamm 
wächst,  nämlich  auf  dem  durch  große  Erregung 
gesteigerten  Stoft'wechsel. ')  Was  aber  den  stän- 
digen Dimorphismus  der  Geschlechter  hervorruft, 
das  wissen  wir  allerdings  noch  nicht.  Vielleicht 
ist  es  auch  hier  der  gleiche  Grund,  daß  das 
Männchen  infolge  größerer  Lebhaftigkeit,  gestei- 
gerterem Stoffwechsel  lebhafter  gefärbt  ist,  da  es 
ja  in  der  Mehrzahl  der  I*"älle  mehrere  Weibchen 
befriedigen  muß,  oder  vielleicht  weil  ihm  die 
helleren  Farben  weniger  schaden  als  dem  Weib- 
chen, dem  eine  unauffälligere  Farbe  wegen  der 
Brütezeit  notwendig  ist.  Auf  jeden  Fall  finde  ich 
es  vernünftiger,  keine  Erklärung  zu  geben  und  die 
Frage  offen  zu  lassen,  als  sich  durch  unzureichende 
und  auf  falschen  Voraussetzungen  beruhende  Mei- 
nungen den  Weg  zu  versperren.  — 

Wir  haben  uns  nur  noch  die  Frage  vorzulegen, 
wie  die  große  Überzahl  der  Männchen  zu  erklären 
ist,  die  ja  nach  allen  Berichten  tatsächlich  besteht. 
Ich  möchte  zu  di'm  bereits  Angegebenen  nur  noch 
einige  Daten  über  Enten  anführen.  Eine  Tages- 
strecke von  32  Enten  enthielt  25  Erpel,  eine  Jahres- 
strecke von  etwa  200  Stück  160  Erpel  und  die 
Herbststrecken  vom  Hafifstrande  durchschnittlich 
80  "/o-  Wenn  wir  dagegen  von  einwandfreier  Seite 
hören,  daß  die  jungen  Schofe  durchschnittlich 
mehr  weibliche  als  männliche  Enten  enthalten, 
so  ist  es  doch  völlig  unverständlich,  wo  die  weib- 
lichen Enten  hinkommen,  außer  wir  nehmen  an, 
daß  die  Männchen  mehr  ziehen  und  deshalb  dem 
Jäger  mehr  zur  Beute  fallen.  Wir  sehen  ja  etwas 
Ähnliches  bei  den  Buchfinken  unserer  Heimat, 
von  denen  im  Herbst  in  erster  Linie  die  Weibchen 
nach  Süden  ziehen  und  nur  die  alten  Männchen 
bei  uns  überwintern.  — 

Und  das  tatsächliche  Vorherrschen  der  Männ- 
chen werden  wir  mit  gutem  Gewissen  durch  die 
größeren  Gefahren  erklären  können,  denen  sie 
infolge  ihrer  größeren  Lebhaftigkeit,  helleren 
Farben  usw.  ausgesetzt  sind.   —  — 

Verlassen  wir  jetzt  das  Gebiet  der  Hochzeits- 
kleider und  sehen  wir  uns  einige  der  besonders 
angegebenen  Fälle  der. Schutzfärbung  an.  Seh  m  eil'-) 
sagt  von  unserem  Reh,    daß   es  sich  im  Sommer 


^)  Auch  hierfür  geben  uns  die  exotischen  Aquarienfische 
einen  wichtigen  Beleg.  Jeder  Züchter  weiß,  dafi  man  die 
Tiere  treiben  l^ann.  Durch  gute  p'ütterung  und  vor  allem 
kräftige  Heizung  werden  die  Fische  zur  Paarung  veranlaßt, 
der  sie  sich  bei  Ausbleiben  dieser  Mittel  überhaupt  nicht 
unterziehen.  Ist  dies  auch  kein  direkter  Beweis  unserer  Be- 
hauptung, so  kann  man  doch  erkennen,  wie  sehr  noch  niedere 
Wirbeltiere  durch  die  von  außen  einwirkenden  Reize  beein- 
flußt werden  können.  Selbst  junge  Exemplare  schreiten  so 
getrieben  zur  Fortpflanzung,  die  auf  normalem  Wege  erst  im 
nächsten  Jahre  laichreif  geworden  wären. 

-)  Schmeil,  Lehrbuch   der  Zoologie. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  5 


tagsüber  in  dem  dichtbelaubten  Unterholze  des 
Waldes  verbirgt,  daher  trotz  seiner  auffallend 
roten  bis  gelbroten  Farbe  keinen  Schaden  nimmt, 
im  Winter  aber  ein  unscheinbares,  dunkelgraues 
Kleid  anlegt,  so  daß  sich  das  ruhig  stehende  oder 
liegende  Tier  vom  Boden  und  Gezweig  selbst  auf 
kurze  Entfernung  hin  nicht  abhebt.  —  Und  von 
der  Gemse  können  wir  wieder  lesen,  daß  ihr 
schwarzes  Winterkleid  von  großer  Bedeutung  ist, 
weil  es  durch  Absorption  der  Sonnenstrahlen  mehr 
wärmt.  Müssen  wir  uns  da  nicht  wieder  fragen, 
warum  die  Gemse  keine  schützende  Farbe  hat? 
Oder  ist  das  schwarze  Kleid  gerade  so  schützend 
wie  das  hellgraue?  Oder  hat  vielleicht  die  Gemse 
weniger  sehende  Feinde?  Ist  es  überhau]3t  be- 
reclitigt,  bei  Reh  und  Gemse  von  Schutzfärbung 
zu  reden? 

Jacobi')  gibt  an,  daß  „der  bis  in  die  Polnähe 
vorkommende  Moschusochse  überall  dunkel  und 
das  Renntier  eben  nur  ganz  hoch  oben  weiß  ist; 
da  nämlich  beide  Arten  durch  ihr  herdenweises 
Zusammenhalten  bei  ziemlicher  Wehrhaftigkeit 
geringerer  Verfolgung  ausgesetzt  sind,  so  ist  ein 
geringeres  Bedürfnis  auf  Schutzfarbe  da."  Warum 
wird  dann  das  Renntier  überhaupt  weiß?  Braucht 
es  oben  doch  den  Schutz  oder  ist  das  Weißwerden 
eine  physiologische  Erscheinung,  weil  eine  weiße 
Körperoberfläche  die  Wärmeabgabe  verlangsamt? 

Es  ist  eine  bekannte  Tatsache,  daß  die  Männ- 
chen unserer  Zauneidechse  schön  grün,  die  Weib- 
chen aber  grau  gefärbt  sind.  Wie  läßt  sich  der 
Farbenunterschied  erklären  ?  Ist  das  Männchen 
angepißt  oder  das  Weibchen  oder  aber  beide? 
Doflein")  gibt  an,  daß  unter  den  auf  Martinique 
vorkommenden  und  auf  einem  Platze  lebenden 
Anolis  grüne  und  braune  Formen  gemischt  vor- 
handen waren  und  daß  bei  Herannahen  einer 
Gefahr  die  grünen  Tiere  in  das  Gras,  die  braunen 
aber  unter  Baumrinden  flüchteten.  Eine  derartige 
Teilung  der  grünen  und  braunen  Formen  ist  bei 
unserer  Eidechse  nicht  zu  bemerken. 

Ein  ähnliches  Verhältnis  besteht  bei  einigen 
einheimischen  Heuschrecken  (z.  B.  Decticus),  die 
in  grünen  und  in  braunen  P'ormen  nebeneinander 
auf  demselben  Terrain  vorkommen.  Auch  hier 
müssen  wir  uns  mit  Recht  fragen,  wer  von  beiden 
angepaßt  ist.  Vosseier'')  stellte  bei  den  Heu- 
schrecken der  nordnfrikanischen  Wüsten  fest,  daß 
die  individuellen  Abänderungen  mancher  Arten 
in  strenger  Abhängigkeit  vom  Lokalton  des  von 
ihnen  bewohnten  und  eigensinnig  festgehaltenen 
Fleckes  standen.  Er  konnte  konstatieren ,  daß 
Formen  einer  Eremobia-Art  auf  steinigeni  Gebiet 
eine  derbere  Zeichnung  und  Färbung  besitzen, 
auf  reinem  Sand  dagegen  auf  das  vollkommenste 
mit    dessen    Tönen    und  zarter    Struktur    überein- 


')  Jacobi,  Mimikry  und  verwandte  Erscheinungen. 
Braunschweig   I913. 

^)  Doflein,  Über  Schutzanpassung  durch  Ähnlichkeit. 
Biolog.  Centralblatt.     XXVIII.      1908. 

^)  Beiträge  zur  Faunistik  und  Biologie  der  Orthopteren 
Algeriens  und  Tunesiens  11.     Zool.  Jahrb.  Bd.   17. 


Stimmten;  andere  wieder,  wie  Helioscirtus  capsi- 
tans,  waren  in  der  Färbung  ganz  dem  individuell 
bewohnten  Wü-»tenfleck,  bald  dem  reinen  Sand, 
bald  dem  rostbraunen,  grauschiefrigen ,  ja  selbst 
kupferigen  Gestein  angepaßt.  Er  versuchte  auch 
eine  Erklärung  zu  geben,  indem  er  den  Einfluß 
der  reflektierten  Farbenstrahlen  auf  die  Farbstoffe 
der  Haut  kurz  nach  dem  Abwerfen  der  vorletzten 
Körperbedeckung,  also  in  dem  kurzen  Zeitraum 
vom  Abstreifen  der  letzten  Larvenhaut  bis  zum 
Erhärten  der  neuen  Chitindecke  hierfür  verant- 
wortlich machen  will.  Seine  Erklärung  ist  aber 
nur  ein  Versuch  geblieben,  da  sie  sich,  wie  er 
selbst  sagt,  vorläufig  wegen  unüberwindlicher 
Schwierigkeiten,  die  in  Lebensweise  und  der  Er- 
nährung der  Wüstenheuschrecken  bedingt  sind, 
durch  das  Experiment  nicht  beweisen  läßt. 

Jedenfalls  zeigen  unsere  Heuschrecken  eine  so 
weitgehende  Anpassung  nicht  und  Przibram') 
konnte  trotz  vieler  Experiinente  nach  verschiede- 
nen Richtungen  hin  nur  nachweisen,  daß  die 
Larven  von  Mantis  und  Sphodromantis  in  brauner 
Farbe  aus  dem  Ei  kriechen  und  im  Laufe  der 
Zeit  ihre  Farbe  in  grün  ändern  können  (was  wahr- 
scheinlich bei  anderen  Heuschrecken  ebenfalls 
zutreffen  dürfte),  konnte  aber  nicht  ermitteln, 
welche  Ursachen  diese  Umwandlung  bewirken.  — 

Es  gibt  also  unter  den  als  gut  angepaßt  gelten- 
den Tieren  eine  große  Anzahl,  die  bei  genauer 
Betrachtung  als  nicht  oder  wenigstens  nur  schlecht 
angepaßt  gelten  müssen,  dafür  kennen  wir  aber 
wieder  Tiere,  die  an  ihre  Umgebung  sehr  gut 
angepaßt  sind,  deren  P'ärbung  aber  nie  bei  der 
Schutzfärbung  erwähnt  werden,  da  sie  eines  der- 
artigen Schutzes  nicht  bedürfen. 

Ich  will  hier  als  Beispiel  vor  allem  den  Adler 
erwähnen.  In  seiner  dunkelgrauen,  bis  steingrauen 
F"arbe  ist  er  dem  Felsengestein  sehr  gut  angepaßt, 
und  er  wäre  in  seinem  Horst  gewiß  sehr  schwer 
zu  erkennen,  erkennte  man  nicht  den  Horst  sehr 
gut,  das  heißt,  wenn  er  überhaupt  zu  sehen  mög- 
lich ist.  Niemandem  aber  dürfte  es  einfallen,  bei 
dem  Adler  von  einer  Schutzfärbung  zu  sprechen, 
da  das  Wesentliche,  das  Schutzbedürfnis  hier  fehlt 
und  auch  das  Verborgenbleiben  seiner  Beute 
gegenüber  bei  ihm  nicht  in  Frage  kommt.  Er 
ist  eben  graubraun  gefärbt  und  seine  Farbe  ist 
eben  ohne  jedweden  Nutzen  oder  Schaden  für 
ihn;  und  was  wir  bei  dem  Adler  finden,  zeigen 
viele  Raubvögel  und  zeigen  eine  Menge  anderer 
Tiere. 

Speziell  die  graue  und  die  braune  Farbe  ist 
sehr  weit  im  Tierreich  verbreitet  und  gerade  sie 
wird  so  oft  als  sympathische  Farbe  bei  allen  erd- 
boden-,  felsen-  und  rindenbewohnenden  Formen  ge- 
funden. Wahrscheinlich  hat  dies  seinen  Grund 
darin,  daß  das  braune  Pigment  das  gewöhnlichste 
Pigment  ist  und  die  braune  Farbe  die  primitivste 


')  Przibram,  Aufzucht,  Karbwechstl  und  Regeneration 
unserer  Gottesanbeterin  (Mantis  religiosa  L.).  Archiv  f.  Ent- 
wicklungsmechanik XXII.   1906. 


N.  F.  XIII.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


69 


und  verbreitctste  Färbung  und  Zeichnung  der 
Tiere  bedingt.  Durch  sein  starkes  oder  schwächeres 
X'orhandensein  sind  eine  Unmenge  von  h'arben- 
intensitälen  und  Qualitäten  hervorgerufen,  wie 
schwarz,  grau,  braun,  weiß,  also  die  Färbungen 
der  Mehrzahl  der  Tiere  und  die  anderen  Farben, 
die  entweder  allein  oder  in  Verbindung  mit  der 
genannten  auftreten  können,  sind  späterer  Erwerb 
und  bei  weitem  nicht  so  verbreitet. 

Nutzen  der  Schutzfärbung. 

Die  Frage,  ob  Schutzfärbung  wirklich  einen 
Nutzen  gewährt,  ist  gewiß  nicht  unnötig  und  wie 
wir  gleicli  sehen  werden,  nicht  so  ohne  weiteres 
zu  bejahen. 

Von  den  Wüstenheuschrecken  und  ihrer  aus- 
gezeichneten Anpassung  haben  wir  schon  ge- 
sprochen. Auch  Werner')  gibt  an,  daß  im 
Sudan  alle  Heuschrecken  der  Savanne  und  des 
Papyrussumpfes  Farbenanpassung  im  hohen  Crrade 
zeigen,  daß  aber  alle  insektenfressenden  Vögel  und 
Eidechsen  nahezu  ausschließlich  von  eben  diesen 
Heuschrecken  leben.  Er  entnahm  den  Mägen 
sudanesischer  Vögel  Dutzende  von  verschiedenen, 
durchwegs  trefflich  angepaßten  Heusclirecken. 
Was  nützt  den  Tieren  also  ihre  so  gründliche 
Schutzfärbung,  wenn  sie  \^on  ihren  Feinden  doch 
gefressen  werden  ?  Besteht  da  der  Schutz  der 
Art  nicht  eher  in  der  ungeheueren  Individuen- 
menge als  in  der  Färbung? 

Derselbe  Forscher  gibt  über  die  schutzgefärbten 
Antilopen  an:  „Ich  selbst  konnte  manche  Anti- 
lopenarten (Cobus,  Ourebia,  Gazeila),  obwohl  kein 
Jäger,  kurzsichtig  und  allerdings  erst  dann,  wenn 
ich  darauf  aufmerksam  gemacht  wurde,  in  der 
ostafrikanischen  Steppe,  bzw.  Wüste  deutlich 
unterscheiden  und  längere  Zeit  beobachten." 
Wenn  also  der  Mensch  diese  Tiere  auf  größere 
Entfernungen  sehen  kann,  so  wird  sie  ihr  normaler, 
sehender  Feind  noch  um  so  eher  entdecken. 

Es  kann  ja  Schutzfärbung  überhaupt  nur  gegen 
sehende  F"einde  in  Betracht  kommen ;  denn  gegen 
Tiere,  die  mit  ihrem  Geruchssinn  die  Beute  jagen, 
ist  natürlich  jede  noch  so  gute  Farbenanpassung 
bedeutungslos.  Aber  auch  gegen  die  sehenden 
Feinde  ist  sie  kein  absoluter  Schutz,  da  diese 
sonst  dem  Hungertode  überantwortet  wären,  was 
in  der  freien  Natur  wohl  kaum  vorkommen  dürfte. 
Es  hat  eben  jedes  Tier  seine  bestimmten  Feinde 
und  seine  bestimmten  Beutetiere  und  dagegen 
kann  die  beste  Schutzfärbung  nichts  helfen. 

Auch  Weis  mann  gibt  in  seinen  Vorträgen 
einen  Fall  an :  „Hat  doch  erst  kürzlich  ein  guter 
Beobachter  genau  verfolgt,  wie  ein  Sperlings- 
pärchen einen  Bretterzaun,  an  dem  sich  Ordens- 
bänder und  andere  mit  vortrefflichen  Schutz- 
färbungen versehene  Nachtfalter  bei  Tage  zu  setzen 
pflegten,  Tag  für  Tag  genau  abräumte  und  da 
dabei  nicht  leicht  ein  Stück  übersah."  ^)     Es  gibt 

')  Werner,    Das  Ende    der    Mimikryhvpothese,    Biolog. 
Centralblatt,  XXVII.     1907. 
^)  II.  Aufl.  p.  67. 


eben,  wie  er  sagt,  keinen  absoluten  Schutz,  aber 
hier  kann  von  einem  absoluten  Schutz  schon  nicht 
mehr  gesprochen  werden,  das  ist  mehr.  Hier  ist 
eine  ausgezeichnete  Farbenanpassung  durch  die 
Erfahrung  der  I<"emde  vollständig  zunichte  gemacht, 
ist  also  völlig  wertlos. 

Eine  große  Zahl  von  schutzgefärbten  Tieren 
nutzt  seine  Farbenanpassung  gar  nicht  aus,  son- 
dern ergreift  beim  Herannahen  eines  Feindes  oder 
durch  sonst  etwas  erschreckt  sofort  die  Flucht. 
Ich  erinnere  nur  an  die  Eidechsen,  an  die  Laub- 
heuschrecken, die  sich  oft  nur  durch  ihre  Be- 
wegung verraten.  Nur  wenige  Tiere  und  da  vor 
allem  die  erdfarbenen  Wirbeltiere  machen  von 
ihrer  Anpassung  oft  ausgiebigen  Gebrauch,  ducken 
sich  auf  dem  Boden  und  lassen  den  F'eind  vorüber- 
ziehen. 

Gerade  dieser  Umstand  dürfte  eine  Stütze  der 
Annahme  sein,  daß  die  Schutzfarbe  als  unwesent- 
liches, anfangs  völlig  bedeutungsloses  Nebenpro- 
dukt des  Stoffwechsels  entsteht,  bei  vielen  Tieren 
ohne  weitere  Bedeutung  für  das  Leben  ist,  von 
manchen  aber  als  willkommener  Schutz  verwendet 
wird.  Daß  dieser  Schutz  nur  sehr  beschränkt 
sein  kann,  daß  er  nicht  gegen  alle  Feinde  in  Ver- 
wendung tritt,  ist  selbstverständlich.  Er  wird  vor 
allem  gegen  gelegentliche  Feinde,  nie  aber  gegen 
den  eigentlichen  Feind  wirksam  sein. 

Daß  viele  Tiere  die  Fähigkeit  besitzen,  ihre 
Farben  zu  ändern  und  der  Umgebung  anzupassen, 
haben  wir  bereits  erwähnt.  Ich  möchte  hier  nur 
noch  auf  \  iele  Fische  hinweisen ,  die  den  Farb- 
wechsel ebenfalls  im  hohen  Grade  besitzen  und 
von  denen  speziell  die  Grundfische  ein  großes 
Anpassungsvermögen  an  den  Erdboden  zeigen. 
Sie  sind  nicht  nur  imstande  die  Farbe  der  Um- 
gebung, sondern  zum  Teil  auch  die  grobe  Zeich- 
nung des  Bodens,  auf  dem  sie  liegen,  anzunehmen. 
Nach  den  Versuchen  von  Sumner  zeigen  diese 
F'ähigkeit  nur  sehende  Fische,  da  geblendete  die 
Farben  nicht  mehr  wechseln.  —  Dasselbe  erzählt 
übrigens  Lode^)  von  den  Forellen,  die  sich 
ebenfalls  dem  Untergrund  in  der  Färbung  an- 
passen, während  blinde  stets  dunkel  bleiben. 
Man  erklärt  dies  durch  Wirkung  des  Sympathikus 
auf  die  Pigmentzellen  unter  Mitwirkung  des 
Optikus.  -) 

Wie  dem  auch  sei,  die  Tiere  sind  durch  diese 
Anpassungsfähigkeit  geschützt,  wenigstens  die 
Grundfische.     So    scheint    uns,    wenn    wir    in    ein 


')  Lode,  Sitzungsberichte  d.  k.  k.  ."Miademie  d.  Wissen- 
schaften in  Wien.     Math.   Klasse  Bd.  XCIX,   1890  Abh.  III. 

-)  Hierfür  spricht  auch  folgender  Versuch  Ward's.  Er 
teilte  ein  Aqu.irium  durch  ein  Stück  Linoleum  in  zwei  Teile, 
schnitt  in  die  Zwischenwand  ein  Loch  und  setzte  in  dieses 
einen  kleinen  Hecht,  daß  er  gerade  in  der  Leibesmiite  von- 
der  Zwischenwand  gehalten  wurde.  Die  eine  Hälfte  des 
Aquariums  war  weiß,  die  andere  schwarz  austapeziert.  Ragte 
nun  der  Vorderteil  des  Fisches  in  den  dunklen  Raum,  so 
war  der  ganze  Körper,  also  auch  Körper  und  Schwanz  in  der 
hellen  Hälfte,  dunkel;  wurde  der  Hecht  umgekehrt  eingesetzt, 
daß  sein  Kopf  in  der  hellen  Hälfte  war,  so  blieb  das  ganze 
Tier  hell. 


70 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  5 


Aquarium  mit  derartigen  Fischen  bHcken;  wir 
mi.issen  eine  Weile  suchen ,  bis  wir  sie  auf  dem 
Boden  zwischen  Steinen  und  Sand  entdeckt  haben. 
Ob  sie  aber  wirklich  so  glänzend  angepaßt  sind, 
haben  ihre  Feinde  zu  entsciieiden  und  die  dürften 
da  anderer  Meinung  sein,  denn  ihre  Zalil  ist  groß, 
sogar  sehr  groß. 

Auch  mit  der  Anpassung  der  Forellen  und 
Hechte  ist  es  nicht  soweit  her.  In  jedem  seichteren 
oder  klaren  Wasser  kann  man  die  stehenden 
Fische  ohne  große  Schwierigkeiten  erkennen  und 
daß  dies  die  mit  schärferen  Augen  begabten 
Feinde  noch  besser  können,  ist  ohne  Zweifel.  Ich 
konnte  in  der  Lobau  bei  Wien  konstatieren,  daß 
von  den  Kormoranen,  die  hier  bekanntlich  eine 
ziemliche  Kolonie  bilden,  Hechle  in  großen 
Mengen  gefangen  und  vertilgt  werden.  Unter  den 
Bäumen,  auf  denen  die  Nester  der  Vögel  gebaut 
sind,  liegen  eine  große  Menge  von  frischen  oder 
in  Fäulnis  befindlichen  Resten  der  Fische,  oft 
ganze  50  cm  lange  Exemplare,  die  die  Vögel 
vielleicht  aus  Ungeschick  (besonders  die  jungen), 
vielleicht  durch  irgend  etwas  gestört,  fallen  lassen 
und  aus  denen  man  unschwer  die  Art  erkennen 
kann.  Was  nützt  also  den  Hechten  ihre  Farben- 
anpassung? 

Der  Einwand,  das  Tier  hätte  ohne  Schutz- 
färbung viel  mehr  F"einde,  fällt  vollständig  in  sich 
zusammen,  da  er  die  wichtige  Tatsache  nicht  be- 
rücksichtigt, daß  jedes  Tier  ganz  bestimmte  Feinde 
hat  und  daß  die  wenigsten  fleischfressenden  Tiere 
Allesfresser  sind.  Werner^)  macht  hierauf  auf- 
merksam. Jede  Tierart  hat  nur  eine  beschränkte 
Zahl  von  Feinden  und  die,'  welche  viele  Feinde 
haben,  erhalten  sich  vor  allem  durch  Schnellig- 
keit und  starke  Vermehrung  neben  der  Schutz- 
färbung. „Wir  können  mit  absoluter  Sicherheit 
sagen,  daß-  Coronella  austriaca,  unsere  Schling- 
natter, auch  dann  nicht  unter  die  Feinde  des 
Grasfrosches  gehen  würde,  wenn  dieser  ohne 
Schutzfärbung  wäre;  und  andererseits  sehen  wir, 
daß  sie  ausnahmslos  von  Tieren  lebt,  welche 
Schutzfärbung  besitzen.  Was  sollen  wir  erst  von 
den  reinen  Säugetierfressern  sagen,  deren  Beute 
wohl  nahezu  ausnahmslos  (Stinktier)  Schutzfärbung 


^)  Werner,  Nochmals  Mimikrv  und  Schutzfärbung,   Bio- 
log.  Centralbhut.     Ed.  XXVItl.     1908. 


trägt?"  Unsere  Ringelnatter  frißt  keine  Eidechsen, 
Python  regius  nur  Nagetiere,  aber  keine  Vögel, 
Eunectes  notaeus  alle  möglichen  Wirbeltiere,  nur 
keine  Amphibien;  sogar  unter  den  Individuen  der 
gleichen  Art  ist  der  Geschmack  oft  sehr  ver- 
schieden. — 

Es  ist  also  das  Tier  durch  ein  etwaiges  Fehlen 
der  Schutzfärbung  gar  nicht  allen  fleischfressenden 
Tieren  so  bedingungslos  ausgeliefert  und  dem 
sicheren  Aussterben  überantwortet,  im  Gegenteil, 
je  reichhaltiger  der  Speiszettel  eines  Fleischfressers 
ist,  um  so  weniger  ist  der  Bestand  der  in  Betracht 
kommenden  Arten  gefährdet. 

Und  schließlich  ist  es  mit  der  Schutzfärbung 
nicht  so  bitter  ernst.  Die  Natur  bemüht  sich 
nicht  ängstlich,  ihre  Tiere  mit  guten  Farben- 
anpassungen zu  versehen;  sie  weiß,  daß  man  auch 
ohne  besondere  Farbenübereinstimmung  sehr  gut 
angepaßt  sein  kann.  Wieviel  Insekten  leben  nicht 
auf  dem  Heu  der  Wiese,  auf  den  Steinen  der 
Felsen,  auf  den  trockenen  Bergabhängen  und  wie 
wenig  sieht  nicht  der,  der  nicht  gerade  bestimmte 
Formen  sucht.  Die  vielen  Heuschrecken  be- 
merken wir  erst,  wenn  sie  auffliegen  oder  im 
großen  Rogen  wegspringen  und  verlieren  sie  so- 
fort wieder  aus  dem  Auge,  wenn  wir  einer  nicht 
mit  großer  Aufmerksamkeit  folgen  oder  den 
Boden  systematisch  absuchen.  Haben  wir  sie 
aber  einmal  entdeckt,  so  wundern  wir  uns  sehr, 
daß  wir  sie  nicht  gleich  entdeckten.  Wer  hat 
sich  nicht  schon  bemüht,  eine  zirpende  Heu- 
schrecke mit  den  Blicken  zu  suchen  ?  Es  dauert 
lange  und  hat  man  sie  entdeckt,  was  sehr  oft 
nicht  gelingt,  dann  muß  man  sich  zugestehen, 
daß  sie  gut  zu  erkennen  ist.  —  Entfällt  einem 
aber  draußen  ein  kleiner  Gegenstand,  ein  Bleistift, 
ein  Knöpfel  usw.  oder  legt  man  beim  Photo- 
graphieren  im  Feld  z.  B.  die  Gelbscheibe  auf  einen 
Stein,  so  kann  man  sich  oft  stundenlang  mit  dem 
Suchen  abplagen,  ohne  das  Gesuchte  zu  finden. 
Und  hier  spielt  doch  sicher  keine  Schutzfärbung 
mit.  Aber  unsere  .Augen  können  eben  sehr  schwer 
im  größeren  Räume  scharf  sehen  und  besitzen 
nicht  die  Fähigkeit  der  getrennten  Detailerfassung. 
Und  mit  diesen  Augen  konstruieren  wir  uns  so 
manches  schöne  Beispiel  der  Schutzfärbung. 

(Schluß   folgt.) 


[Nachdruck  verboten.] 


Kristallstruktur  und  Röntgenstrahlen. 

Sammelreferat  von  Alfred  Wenzel. 


Mit   I 

Seit  der  Entdeckung  der  Röntgenstrahlen 
herrschen  verschiedene  Ansichten  über  die  Frage, 
welcher  Art  diese  alles  durchdringenden  Strahlen 
seien.  Der  Physiker  Bragg  behauptete,  man 
hätte  es  init  einer  Korpuskularstrahlung  zu  tun, 
d.  h.  von  der  Antikathode  fliegen  nach  dieser 
Ansicht,  sobald  sie  von  Kathodenstrahlen  getrofifen 
wird,  Teilchen  fort,    die  die  Eigenschaften  haben. 


Textfigur. 

undurchsichtige  Körper  zu  durchdringen  sowie 
den  umgebenden  Raum  zu  ionisieren,  was  ja  heute 
schon  allgemein  bekannt  ist.  Da  sich  diese  Theorie 
aber  aus  hier  nicht  näher  zu  erörternden  Gründen 
als  unhaltbar  erwies,  ging  man  zu  einer  anderen 
Erklärung  über,  die  S  t  o  k  e  s , ' )  W  i  e  c  h  e  r  t ")  iind 
Thomson^)  zu  geistigen  Urhebern  hat.  Hier- 
nach   bestehen    die    Röntgenstrahlen    aus    einem 


N.  F.  XIII.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Eiiergieimpulse,  den  ein  Elektron  bei  plötzlicher 
Geschwindigkeitsänderuiig  aussenden  muß.  Denn 
das  von  der  Kathode  abgeschleuderte  Elektron 
prallt  gegen  die  Antikathode,  die  meist  aus 
Aluminiumblech  besteht,  und  setzt  so  seine  Ge- 
schwindigkeiisenergie  in  Strahlungsenergie  um. 
Diese  muß  unbedingt  elektromagnetischer  Natur 
sein,  da  das  Elektron  bei  Zustandsänderungen 
nur  solche  Energie  hervorbringen  kann.  Wenn 
die  Strahlung  anderer  Natur  sein  sollte,  müßten 
wir  unsere  ganze  Elektronentheorie  umstoßen, 
denn  sie  würde  ja  in  diesem  Falle  vollständig  ver- 
sagen. Da  sich  aber  die  Elektronentheorie  bisher 
in  anderen  Zweigen  der  Elektrizitätslehre  so  gut 
bewährt  hat,  sah  man  sich  gezwungen,  ihrer 
Folgerung  nachzugehen. 

Ein  Hauptkennzeichen  für  elektromagnetische 
Wellenstrahlung  ist  nun  die  Interferenz,  d.  h.  die 
Überlagerung  gleichlaufender  Wellen,  die  sich  in 
besonderen  Erscheinungen  kundgibt.  Lange  hat 
man  versucht,  diesen  sicheren  Beweis  für  das 
Vorhandensein  einer  elektromagnetischen  Wellen- 
strahlung an  Röntgenstrahlen  nachzuweisen,  doch 
leider  stets  ohne  Erfolg.  Dieser  Mißerfolg  wurzelte 
in  keinem  theoretischen  Fehler,  wie  man  vielleicht 
anzunehmen  geneigt  war,  sondern  in  einem  Mangel 
der  Praxis. 

Nach  Haga  und  Wind*)  liegt  die  Wellen- 
länge der  periodischen  Röntgenstrahlen  in  der 
Größenordnung  2-10  **  cm,  während  Sommer- 
feld und  Koch  sie  zu  lO""  cm  schätzten.  Sic 
haben  also  eine  um  lo  '^  cm  kleinere  Wellen- 
länge berechnet,  als  wir  im  sichtbaren  Lichte  vor 
uns  haben.  Es  fiel  daher  sehr  schwer,  ein  ent- 
sprechend feines  Gitter  zur  Erzeugung  der  Inter- 
ferenz zu  erhalten,  dessen  konstante  Spaltenweite 
in  denselben  Dimensionen  sich  bewegt  wie  die 
Wellenlängen,  die  man  vorausberechnet  hatte. 
Alle  bekannten  Gitter  waren  viel  zu  weit,  um  noch 
Interferenzerscheinungen  zu  zeigen.  Nun  ist  ja 
bekanntlich  der  Molekülabstand  rund  lo^'*  cm. 
Hierauf  griff  der  Physiker  Laue^)  zurück,  als  er 
angab,  daß  man  ein  derartiges  Molekulargitter 
dazu  \'erwenden  könnte,  Interferenzerscheinungen 
hervorzurufen.  Eine  regelmäßige  Gitteranordnung 
ist  aber  unter  den  Molekülen  eines  gewöhnlichen 
Körpers  nicht  vorhanden.  Nur  Kristalle  können 
eine  derartige  symmetrische  Verteilung  ihrer  Bau- 
steine zeigen,  wie  schon  Bravais  auf  Grund  der 
Beobachtung  des  Aufbaues  und  des  Wachstums 
der  Kristalle  annahm.  Wie  wir  sehen  werden, 
hatte  Laue  hiermit  einen  glücklichen  Griff  getan, 
denn  in  den  Kristallen  bieten  sich  dem  Physiker 
natürliche  Gitter  für  sehr  kurzwellige  Strahlen  dar, 
nur  müssen  die  Kristallplatten  richtig  orientiert 
sein,  d.  h.  so,  daß  ihre  Molekülanordnung  im  Wege 
der  Strahlen  auch  wirklich  gittcrförmig  ist.  Fallen 
dann  Röntgenstrahlen  auf  ein  Molekül  auf  so 
wird  dies  zum  Ausgangspunkt  einer  sekundären 
Röntgenstrahlung.  Diese  besteht  z.  T.  aus  den 
diffus  zerstreuten  Primärstrahlen,  z.  T.  auch  aus 
neu  erzeugten  sekundären  Strahlen.     Diese  letzten 


sind  meist  für  jeden  Körper  charakteristisch.  Sie 
werden  dann  mit  den  Strahlen  der  umliegenden 
Moleküle  so  interferieren,  daß  sie  neben  dem 
Durchdringungspunkt  der  Primärstrahlen  noch 
helle  Punkte  in  regelmäfiiger  Anordnung,  die  der 
Krislallstruktur  entspricht,  zeigen  werden. 

Soweit  hat  Laue  alles  theoretisch  vorher  be- 
rechnet. Auf  seine  Veranlassung  haben  nun 
Friedrich  und  Knipping")  in  München  diese 
Experimente  praktisch  durchgeführt.  Sie  bedienten 
sich  dabei  nebenstehender  Versuchsanordnung 
(Mgur).  Die  von  der  Röntgenröhre  R,  d.  h. 
von  deren  Antikathode  A  ausgehenden  Strahlen, 
gehen  zunächst  durch  eine  enge  Öffnung  im  Schirm 
S,  im  Kasten  B  und  im  Diaphragma  D,  um  einen 
Strahl    herauszunehmen    und    alle    übrigen    abzu- 


U_[ 


blenden.  Dann  geht  der  Strahl  durch  die  Kristall- 
platte K,  wo  er  die  oben  besprochene  Verände- 
rung erleidet,  und  trifft  schließlich  die  photo- 
graphische Platte  P,  die  zur  Fixierung  der  Er- 
scheinung dient.  Sie  ist  gegen  die  übrigen 
Strahlen  gut  geschützt  durch  einen  Schirm  S  aus 
Schwermetall  sowie  durch  den  Schutzkasten  BB, 
der  ebenfalls  aus  einem  Schwermetall  hergestellt 
ist,  da  die  Röntgenstrahlen  diese  nicht  so  leicht 
durchdringen.  Schließlich  ist  hinten  am  Kasten  B 
noch  ein  Beobachtungsrohr  C  befestigt. 

Die  Bedingungen  und  näheren  Umstände  dieser 
Experimente  waren  sehr  schwierig  und  kostspielig. 
Zunächst  mußten  Intensivröhren  verwandt  werden, 
um  die  nötige  starke  Strahlung  zu  erhalten. 
Ferner  war  die  Abbiendung  der  übrigen  unge- 
brauchten Strahlung  sehr  schwer  vollständig  durch- 
zuführen. Schließlich  mußten  die  Kristallplatten 
dünn  geschliffen  sein  und  genau  orientiert  werden, 
denn  ein  Winkelfehler  von  3 "  hätte  die  Sym- 
metrie schon  vollständig  zerstört.  Dazu  kamen 
noch  die  langen  Expositionszeiten  der  Photoplatien, 
die  sich  zwischen  2  und  20  Stunden  bewegten. 
Trotz  dieser  Schwierigkeiten  sind  die  Versuche 
vollständig  durchgelührt.  Ihre  Resultate  sind  her- 
vorragend und  grundlegend  für  zwei  verschiedene 
Forschungsgebiete,  für  die  Theorie  der  Röntgen- 
strahlen einerseits  und  für  die  Theorie  der  Kristall- 
struktur andererseits. 

Diese  Interferenzversuche  bestätigen  nämlich 
die  Annahme,  daß  wenigstens  die  sekundären 
Röntgenstrahlen     periodische    elektromagnetische 


72 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   5 


Wellen  sind.  Die  Primärstrahlen  hingegen  scheinen 
aus  vollkommen  unperiodischen  Impulswellen  zu 
bestehen.  Reine  Primärstrahlen  wird  man  jedoch 
in  einiger  Entfernung  von  der  Antikathode  nicht 
mehr  haben.  Denn  durch  den  Anprall  an  um- 
liegende Moleküle  werden  sofort  periodische 
elektromagnetische  Wellen  erzeugt,  die  sich  dann 
zusammen  mit  den  Primärstrahlen  ausbreiten.  Die 
sekundäre  Röntgenstrahlung  ist  spektral  ziemlich 
homogen,  denn  sie  umfassen  meist  nur  ein  äußerst 
kleines  Wellengebiet.  Gegen  die  Annahme  einer 
periodischen  Wellenstrahlung  könnte  man  hier 
nun  den  Einwand  machen ,  daß  die  in  Frage 
stehende  Strahlenart  nicht  wie  die  Lichtwellen 
einen  Brechungsindex  für  dichtere  Medien  besitzen. 
Dieser  Einwand  ist  aber  hinfällig;  denn  nach  der 
Kettler-Helm  hol  t  z'schen  Dispersionstheorie 
haben  sehr  kleine  Wellen  den  Brechungsindex 
n=  I.  In  der  Tat  ist  nun  von  mehreren  For- 
schern") festgestellt  worden,  daß  die  Wellen- 
länge dieser  Strahlen  weit  unter  2-io^''  liegt, 
und  die  Vervollkommnung  der  physikalischen 
Technik  hat  diesen  Wert  noch  mehr  herabzu- 
setzen gestaltet.  Aus  diesem  Fehlen  eines  merk- 
lichen Brechungsindex  haben  schon  Raveau*) 
und  andere  eine  Identität  der  Röntgenstrahlen 
mit  äußerst  kurzwelligem  Licht  gefolgert,  doch 
fehlten  ihnen  bisher  weitere  Beweise  für  die  Be- 
stätigung ihrer  Annahme.  Wie  sich  diese  Wellen 
in  die  elektromagnetische  Wellenskala  einordnen, 
zeigt  nachstehende  Tabelle. 


Röntgenstrahlen  o,oi 

Noch    nicht    erforschtes  Gebiet  i 

Ultraviolette  Strahlen  loo    • 

Sichtbare  Strahlen  400 

Ultrarote  Strahlen  800 

Langwellige  Strahlen  I   (i 

Noch    nicht    erforsclites  Gebiet     300  ,, 
Elektrische  Wellen  I    mm 

(Drahtlose  Telegraphie) 


bis          I    uti 

>,       100     „ 

,.       400     „ 
„       800     „ 

„      1000     ,,  = 

I   u 

„        300  11 
,,      1000  „  = 

I   mm 

,,     loco  km. 

Hierzu  ist  zu  bemerken,  daß : 
I    /(/(    (Millimikron)  —   ^ 


/(    (IVlikron)  = 


Vioooniin  '""1  =  'O  "  '^'^  'st.  Die  Größenordnung 
der  Wellenlängen  der  Röntgenstrahlen  ist  also 
10^''  cm,  während  die  Größenordnung  der  Durch- 
messer der  Moleküle  0,1   /',«  =  lO^"*  cm  ist. 

Die  Resultate  der  obigen  Interferenzversuche 
zeitigen  noch  einen  weiteren  Fortschritt  für  die 
Wissenschaft.  Durch  diese  Versuche  ist  nämlich 
die  Raumgitterstruktur  der  Kristalle  experimentell 
erwiesen.  Die  erhaltenen  Photogramme,  die  aus 
einer  regelmäßigen  Anordnung  von  Punkten  be- 
stehen, beruhen  nämlich  auf  Interferenz  der  Eigen- 


strahlung der  Moleküle.  Man  kann  sie  also  als 
die  Reflexion  des  Primärstrahles  an  den  Netz- 
ebenen des  Raumgitters  auffassen,  unabhängig 
davon,  ob  diese  Netzebenen  nur  die  äußere  Be- 
grenzung des  Kristalls  bilden  oder  auch  durch 
das  Innere  sich  erstrecken. 

Gegen  die  Resultate  dieser  Versuche  sind  nun 
Einwürfe  gemacht  worden,  von  denen  ich  nur 
den  schwersten  herausgreifen  will.  Mandel- 
stamm und  Rohmann  "j  behaupten  nämlich, 
man  hätte  diese  Reflexionserscheinungen  als  solche 
an  den  Spaltungsflächen  anzusehen ;  dabei  können 
die  Spaltflächen  für  das  bloße  Auge  unsichtbar 
sein.  Dieser  Einwurf  scheint  aber  durch  die  vielen 
Versuche  über  diese  Interferenz  der  Röntgen- 
strahlen in  Kristallen,  die  alle  dasselbe  Resultat 
ergaben,  widerlegt  zu  sein. 

Von  anderer  Seite  wurde  der  auf  der  Hand 
liegende  Einwurf  gemacht,  daß  Laue 's  Berech- 
nungen die  Wärmebewegung  der  Moleküle  unbe- 
rücksichtigt gelassen  hätten.  Eine  Münchener 
Dissertation  zeigt  uns  jedoch,  daß  dieser  Einwand 
auch  hinfällig  ist;  denn  der  Einfluß  der  Wärme- 
bewegung der  Moleküle  auf  die  hier  erörterten 
Erscheinungen  liegt  unterhalb  der  Beobachtungs- 
grenzen. 

Dieses  neue  Werkzeug  der  Kristallographen, 
die  Untersuchung  mit  Röntgenstrahlen,  brachte 
vor  einiger  Zeit  einen  überraschenden  Aufschluß 
über  die  Natur  der  fließenden  Kristalle.  Wie  be- 
kannt sein  dürfte,  hat  der  Physiker  Lehmann 
gefunden,  daß  einige  organische  Substanzen  Tropfen 
bilden  können,  die  ihrem  optischen  Verhalten 
nach  als  Kristalle  angesehen  werden  müssen. 
Nun  ist  jetzt  festgestellt  worden,  daß  diese  Kristall- 
tropfen keine  Krisiallstruktur  besitzen.  Ihr  optisches 
Verhalten  wird  also  nicht  durch  den  Aufbau  und 
die  Zusammenstellung  aller  Moleküle  zu  erklären 
sein,  sondern  resultiert  aus  dem  inneren  Bau  der  ein- 
zelnen Moleküle.  Diese  Tatsache  ist  für  die  Be- 
urteilun"-  mancher  Erscheinungren  äußerst  wertvoll. 


1S96. 


1912. 


8) 
9) 
1913- 


Literatur: 
G.  G.  Stokes,  Proc.  Cambr.  Soc.  9,  215.      1896. 
E.  \Vi  ediert,    Phys.    ökon,  Ges.  Königsberg   i— 48. 

J.  J.  Thomson,  Phil.  Mag.  45,  172 — 183.     1897. 

Haga  und   Wind,  .\nnal.   d.   Phys.    10.      1903. 

M.  Laue,  Sitzungsber.   d.  Bayr.  Akad.    d.  Wiss.  303. 

W.   P'riedrich  und   K.   Knijiping,   ebenda. 

Walter,  Naturw.  Rundsch.   11,  322 — 23.     1896. 

Gony,   Comptes  rend.    122 — 23.      1896. 

l'Eclair  electrique  6,  249.     1896. 

Mandelstamm  und  Roh  mann,  Phys.  Ztschr.  220. 


Einzelberichte. 

Chemie.  F'luoride  des  Osmiums.  Ein  neuer  ^vird,  ist  durch  die  kürzlich  abgeschlossenen  Ver- 
Beweis, daß  das  Osmium  in  seinen  Verbindungen  suche  über  Flaorierung  von  ( )smiummetall  mit 
auch  achtwertig  auftritt,  wie  bereits  im  Osmium-  elementarem  Pluor  erbracht  worden,  die  von 
tetroxyd     und    der     Osmiumsäure    angenommen  Riiff  und    Tschirch    (Ber.  der  Deutsch.  Chem. 


N.  F.  XIII.   Nr.   5 


Naturwissensclinftliche  Wochenschrift. 


73 


Ges.  191 3,  Bd.  46,  S.  929)  ausgeführt  wurden. 
Bisher  war  es  nur  Moissan,  der  einzelne  Metalle 
der  energischen  Wirkung  elektrolytisch  erzeugten 
Fluors  ausgesetzt  hatte,  so  das  Eisen,  Platin,  Pal- 
ladium, Iridium  und  Ruthenium.  Analytisch  unter- 
sucht war  nur  ein  Platintetrafluorid. 

Das  Osmium  nun  bildet  mit  dem  Fluor  drei 
genau  definierte  Verbindungen:  Oktafluorid,  wo- 
mit alle  Zweifel  über  bestehende  Achtwertigkeit 
des  Osmiums  überwunden  sind,  Hexafluorid  und 
Tetrafluorid.  Das  erstere  entsteht  im  kräftigen 
Fluorstrom  bei  Verwendung  eines  reaktionsfähigen 
Osmiums  und  bei  ca.  250"  als  Hauptprodukt, 
während  das  Hexafluorid  als  Nebenprodukt  auf- 
tritt. Tetrafluorid  erhält  man  bei  unvollständiger 
Fluorierung,  sei  es,  daß  die  Temperatur  niedriger 
oder  das  angewandte  Osmium  wenig  reaktions- 
fähig ist.  Die  Forscher  arbeiteten  in  einem  Platin- 
rohr im  Fluorstrom,  erzeugt  in  dem  Moissan- 
schen  Fluorapparat  zur  Elektrolyse  von  wasser- 
freiem Fluorwasserstoft'.  Peinliche  Sorgfalt  ist 
jedenfalls  auf  absolute  Trockenheit  der  Fluorierungs- 
apparatur  und  Fernhaltung  organischen  Staubes 
zu  verwenden. 

Das  Osmiumoktafluorid  stellt  eine  bei 
34,5"  schmelzende  gelbe  kristallinische  Substanz  dar, 
sehr  empfindlich  gegen  Luftfeuchtigkeit  und  die 
Schleimhäute  stark  reizend.  In  seinen  unange- 
nehmen Eigenschaften  übertrifft  es  das  Osmium- 
tetroxyd  noch  bei  weitem  durch  Erzeugen  von 
Brandwunden  auf  der  Haut,  die  von  Tetroxyd  nur 
geschwärzt  wird.  Den  Dämpfen  des  Okiafluorids 
gegenüber  zeigen  sich  am  reaktionsfähigsten  Anti- 
mon, Arsen  und  gelber  Phosphor,  erstere  geben 
sofort  flüchtige  Fluoride,  letzterer  wird  sofort  ge- 
schwärzt. 

Schwerer  flüchtig  als  das  Oktafluorid  ist  das 
Osmium  hexafluorid,  es  wird  ebenso  wie 
das  erstere  aus  metallischem  Osmium  und  ele- 
mentarem Fluor  erhalten.  Der  Schmelzpunkt  der 
hygroskopischen  grün  gefärbten  Masse  ließ  sich 
nicht  genau  ermitteln,  er  liegt  unterhalb  120  und 
oberhalb  50".  Als  Siedepunkt  wurde  bei  Atmo- 
sphärendruck 202 — 205"  gefunden.  Gleich  dem 
Oktafluorid  wird  auch  das  Hexafluorid  liydro- 
Ij'tisch  gespalten  unter  Abscheiden  von  Osmium- 
diox_\-d  bzw.  Entbindung  von  Tetroxyd. 

Um  zum  Osmiumtetra  fluorid  zu  ge- 
1  ... 

langen,   verwendet    man    weniger  reaktionsfähiges 

Meiall,  als  solches  erweist  sich  bis  zur  Rotglut  in 
VVasserstoft'  erhitztes  Osmium.  Es  resultiert  bei 
der  Fluorierung  ein  schwarzes  in  Wasser  lösliches 
Fluorid.  Die  Lösung  wird  jedoch  ebenfalls  teil- 
weise hydrolytisch  gespalten.  Von  besonderem 
Interesse  ist  noch  die  von  den  genannten  For- 
schern gehegte  Vermutung  der  Existenz  von 
Hexafluoroosmeaten ,  wozu  die  kristallisierten 
Körper  Veranlassung  geben,  die  beim  Eindampfen 
der  alkalischen  Lösung  des  Tetrafluorids  erhalten 
werden.  H.  Rathsburg. 


Über  Neuerungen  in  der  Technologie  des  Ra- 
diums und  der  Uranerze  hielt  Prof.  Dr.  E.  Ebl  er- 
Heidelberg auf  der  85.  Versammlung  deutscher 
Naturforscher  und  Arzte  in  Wien  einen  Vortrag, 
dem  folgendes  entnommen  ist  (durch  Zeilschrift 
für  angewandte  Chemie  26  S.  79). 

Die  Gewinnung  des  Radiums  nach  dem  alten, 
bis  jetzt  üblichen  Verfah.ren  von  Curie  und 
Debierne  erfolgt  in  4  Phasen:  Bei  der  ersten 
Phase  wird  aus  dem  gepulverten  Rohmaterial  nach 
einer  Vorbehandlung  mit  Alkalien  das  Uran  und 
Vanadin  durch  Einwirkung  von  Schwefelsäure  in 
schwefelsaure  Lösung  gebracht.  Die  bei  diesem 
Vorgang  auftretenden  Rückstände,  die  man  früher 
für  wertlos  ansah,    enthalten    gerade  das  Radium. 

In  der  folgenden  Phase  werden  diese  unlös- 
lichen Sulfate  des  Radiums  und  Mesothoriums 
durch  Umsetzen  mit  Alkalien,  Lösen,  Fällen  mit 
Schwefelsäure  in  Sulfate  übergeführt,  die  das  Ra- 
dium oder  Mesothorium  in  angereicherter  Form 
enthalten.  Diese  sog.  „Rohsulfate"  stellen  etwa 
I  ";'„    vom    Gewichte    des   Ausgangsmaterials    dar. 

In  der  dritten  Phase  werden  die  Rohsulfate 
einem  umständlichen  Reinigungsprozeß  unter- 
worfen, der  in  einer  wiederholten  Umsetzung  der 
Sulfate  mit  Soda,  Auswaschen,  Lösen  und  Fällen 
besteht.  Das  Endergebnis  dieser  Phase  ist  Radium- 
bariumchlorid. 

Dieses  Radiumbariumchlorid  wird  dann  zum 
Schluß  durch  fraktionierte  Kristallisation  in  reines 
Radiumchlorid  oder  -bromid  übergeführt- 

Diese  Darstellungsweise  ist  jedoch  außerordent- 
lich umständlich  und  langwierig.  Prof.  Ebler 
hat  daher  eine  neue  Methode  ausgearbeitet  zur 
Überführung  der  Rohsulfate  in  Radiumbarium- 
chlorid, die  darin  besteht,  daß  man  die  Rohsulfate 
mit  Calciumhydrid  autogen  —  ohne  äußere  Wärme- 
zufuhr —  zu  löslichen  Sulfiden  bzw.  Oxyden  redu- 
ziert und  aus  der  reduzierten  Masse  durch  Extrak- 
tion mit  Salzsäure  die  radioaktiven  Substanzen  als 
Chloride  löst.  Durch  F"ällung  mit  Salzsäuregas 
erhält  man  dann  sofort  reines  Radiumbarium- 
chlorid in  angereicherter  Form.  So  erhält  man 
durch  diesen  autogenen  Aufschluß  der  Rohsulfate 
mit  Calciumhydrid  zusammen  mit  der  Salzsäure- 
gasfällung in  wenigen,  nur  einmal  auszuführenden 
Reaktionen,  in  kürzester  Zeit  und  mit  geringstem 
Aufwand  an  Arbeitsmaterialien  sofort  ein  ange- 
reichertes Radiumbariumchlorid.  Bei  dieser  Arbeits- 
weise erhält  man  etwa  90  "/q  des  ursprünglich  vor- 
handenen Radiums  in  Form  des  löslichen  Chlorids. 

Mit  geeigneten  Reduktionsmitteln  kann  man 
auch  schon  den  ursprünglichen  Erzrückstand  zu 
Sulfiden  bzw.  Oxj-den  reduzieren  und  erhält  dann 
auf  die  oben  beschriebene  Weise  direkt  aus  dem 
Erzrückstand  Radiumbariumchlorid. 

Eine  weitere  Neuerung  bezieht  sich  auf  die 
Anreicherung  des  Radiums  gegenüber  dem  Barium 
im  reinen  Radiumbariumchlorid  durch  die  sog. 
„fraktionierte  Adsorption"  des  Radiums  und 
Bariums    am    kolloidalen  Mangansuperoxydhydrat, 


74 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  S 


Fällt  man  aus  einer  Permanganatlösung,  etwa  mit 
Manganchlorür,  in  Gegenwart  der  Radiumbarium- 
lösung den  Braunstein  aus,  so  enthält  das  Mangan- 
superoxydhydrat relativ  mehr  Radium  als  Barium 
im  Vergleich  zu  dem  Ausgangsmaterial;  durch 
geeignete  Wahl  der  Braunsteinmenge  kann  man 
leicht  bewirken,  daß  das  gesamte  Radium  ausge- 
schieden wird,  während  ein  großer  Teil  des  Bariums 
in  Lösung  bleibt.  Aus  den  Adsorptionsverbindun- 
gen des  Mangansuperox\'dhydrats  mit  Radium 
und  Barium  läßt  sich  dann  in  einfacher  Weise 
reines  Radiumbariumchlorid  gewinnen,  das  viel 
radiumreicher  ist  als  das  Produkt,  von  dem  man 
vor  der  Adsor|)tion  ausging.  Verwendet  man 
schließlich  noch  die  fraktionierte  Anreicherung 
des  Radiums  durch  „fraktionierte  Adsorption",  so 
erhält  man  stets  radiumreichere  und  bariumärmere 
Präparate.  O.  Bürger-Kirn  (Nahe). 

Botanik.  Die  Parthenogenesis  von  Balanophora. 
Bis  gegen  Beginn  dieses  Jahrhunderts  kannte 
man  bei  den  Blütenpflanzen  kein  Beispiel  von 
wirklicher  Parthenogenesis,  d.  h.  von  Embryo- 
bildung aus  einer  unbefruchteten  Eizelle.  In  den- 
jenigen I-'ällen,  wo  sich  Embryonen  entwickelten, 
ohne  daß  eine  Bestäubung  vorhergegangen  war, 
ließ  sich  immer  nachweisen,  daß  es  sich  um  Ad- 
ventivembryonen handelte,  die  nicht  aus  dem  Ei, 
sondern  aus  dem  Nucellusgewebe  der  Samen- 
knospe hervorgegangen  waren.  Erst  1898  hat 
Juel  gezeigt,  daß  bei  Antennaria  alpina  Embryo- 
bildung aus  dem  Ei  ohne  vorhergegangene  Be- 
fruchtung erfolgt.  Seitdem  ist  die  gleiche  Fort- 
pflan'ungsart  bei  einigen  anderen  Blütenpflanzen 
aufgefunden  worden.  In  allen  bisher  untersuchten 
Fällen  handelt  es  sich  um  somatische  Par- 
thenogenesis, d.  h.  um  Embryobildung  aus 
einer  Eizelle,  deren  ("hromosomenzahl  nicht  die 
sonst  erfolgende  Redukiion  auf  die  Hälfte  erfahren 
hat.  Generative  Parthenogenesis  ^j  (Entwick- 
lung eines  Eies  mit  reduzierter  Chromosomenzahl) 
ist  bisher  nur  bei  Kryptogamen  bekannt  geworden. 

Bei  einigen  Alchemilla-Arten ,  bei  Allium 
odorum  und  Burmannia  coelestis  erfolgt  gelegent- 
lich neben  Fmbryobildung  aus  der  Eizelle  auch 
Embryobildung  aus  einer  S\"nergiden-  oder  einer 
Antipodenzelle  (somatische  Apogamie  1.  In 
solchen  Fällen  kommt  es  also  zu  einer  ge- 
legentlichen Polyembryonie.  (Habituelle 
Polyembryonie  findet  sich  bei  der  eingangs  er- 
wähnten \egetativen  Embryoentwicklung  aus 
Nucclluszellen,  z.  B.  in  dem  klassischen  Beispiele 
der  Caelebogyne  ilicifolia.) 

Während  bei  normaler  Befruchtung  einer  der 
beiden  männlichen  Kerne  den  aus  der  Verschmel- 
zung der  beiden  Polkerne  hervorgegangenen 
sekundären  Embryosackkern  zu  befruchten  und  so 


')  Die  Ausdrücke  stammen  von  Hans  Winkler  (Pro- 
gressus  rci  botanicac,  Bd.  2,  Heft  3,  1913).  Strasburger 
wt  Ute  den  Begrifi'  Parthenogenesis  auf  die  Embryoentwicklung 
aus  einer  Zelle  mit  haploider  (reduzierter)  Chromosomenzahl 
beschränkt  wissen  und  rechnete  die  anderen  Fälle  zur  Apogamie. 


den  Anstoß  zur  Endospermbildung  zu  geben 
pflegt,  entsteht  das  Endosperm  bei  partheno- 
genctischer  oder  apogamer  Embryoenlwicklung 
ohne  Beihilfe  eines  männlichen  Kernes,  zumeist 
auch  aus  dem  sekundären  Embryosackkern,  bei 
Antennaria  alpina  aus  den  beiden,  getrennt 
bleibenden  Polkernen,  bei  Helosis  und  Balano- 
phora aus  nur  einem  Polkern. 

Nun  haben  Treub  (1898)  für  Balanophora 
elongata  und  nach  ihm  Lotsy  auch  für  Balano- 
phora globosa  angegeben,  daß  bei  diesen  Pflanzen 
nicht  nur  das  Endosperm,  sondern  auch  der 
Embrj'o  aus  dem  einen  Pol  kern  entstehe. 
Nach  der  Darstellung  Treub's  (mit  der  die- 
jenige Lotsy's  übereinstimmt)  geht  die  Ent- 
wicklung des  Embryosacks  bis  zum  achtkernigen 
Stadium  ganz  normal  vor  sich.  An  den  beiden 
Polen  des  l'  förmig  gekrümmten  Sackes  sind  die 
Kerne  in  den  bekannten  Tetraden  angeordnet. 
Die  am  Antipodenende  gelegenen  Kerne  gehen, 
ohne  daß  es  zur  Bildung  von  Antipodenzellen 
kommt,  bald  zugrunde.  Am  anderen  Ende  ent- 
steht ein  Eiapparat,  dessen  Zellen  nach  Treub 
ebenfalls  bald  abortieren ,  während  der  dazu- 
gehörige Polkern  in  Teilung  tritt  und  das  Endo- 
sperm liefert.  Aus  einer  zentralen  Zelle  dieses 
Pindosperms  (also  apogam)  soll  der  Embryo  her- 
vorgehen. Diese  Darstellung  ist  in  zahlreiche 
Bücher  und  Abhandlungen  übergegangen. 

A.  Ernst  (aus  dessen  Zusammenstellung  die 
vorstehenden  Angaben  im  wesentlichen  entnommen 
sind)  hatte  nun  bei  der  Untersuchung  der  Embryo- 
bildung verschiedener  javanischer  Saprophyten 
Präparate  erhalten,  die  ebenfalls  apogame  Ent- 
stehung des  Embryos  aus  dem  Endosperm  ver- 
muten ließen.  Dann  gelang  aber  der  Nachweis, 
daß  bei  Sciaphila  und  Cotylanthera  der  Embryo 
aus  der  Eizelle  hervorgeht  und  daß  die  Be- 
fruchtung bei  Cotylanthera  sicher,  bei  Sciaphila 
sehr  wahrscheinlich  ausbleibt.  Weiter  ergab  die 
Untersuchung  dieser  Gattungen  sowie  verschiedener 
Burmannia-Arten,  daß  die  Weiterentwicklung  der 
Eizelle  im  Vergleich  mit  der  Endospermentwick- 
lung  sehr  spät  einsetzt;  meist  geht  eine  starke 
X'olumabnahme  der  Eizelle  voraus,  und  es  wird 
auch  nur  ein  wenigzelliger  Embryo  gebildet. 

Diese  Befunde  drängten  zu  der  Vermutung, 
daß  bei  Balanophora  elongata  und  globosa  ähn- 
liche Verhältnisse  vorlägen,  und  daß  Treub  und 
Lotsy  die  Abstammung  des  Embryos  aus  der 
Eizelle  übersehen  hätten.  Die  Untersuchung  von 
Material,  das  teils  vom  Verf.  selbst  gesammelt  und 
in  göproz.  .Alkohol  fixiert,  teils  ihm  von  anderer 
Seite  nach  Fixierung  in  Alkohol  oder  im  Gemisch 
von  Carnoy  übersandt  worden  war,  hat  diese  Ver- 
mutung als  richtig  erwiesen. 

Der  Embryosack  entwickelt  sich  allerdings 
völlig  so,  wie  Treub  und  Lotsy  angegeben 
haben.  Er  entsteht  entweder  unmittelbar  aus  der 
Embryosackmutterzelle  oder,  nachdem  diese  eine 
einzige  Teilung  erfahren  hat,  aus  der  oberen 
Tochterzelle,    ohne    Reduktion    der    Chromo- 


N.  F.  XIII.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


75 


sonienzahl.  Bestätigt  wurde  ferner  die  von  Treub 
und  I.otsy  in  Übereinstimmung  mit  van  Tieg- 
hem  gemachte  Angabe,  daß  die  Endosperm- 
bildung  ausschließlich  vom  oberen  Polkern  aus- 
geht, und  daß  durch  dessen  erste  Teilung  eine 
kleinere  obere  Endospermzelle  und  eine  große 
Basal-  oder  Haustorialzelle  gebildet  wird. 

Weiter  aber  treten  Vorgänge  auf,  die  den 
beiden  Beobachtern  entgangen  sind.  Durch  drei 
aufeinander  folgende  Teilungsschnitte  entsteht  aus 
der  ersten  Endospermzelle  (oberen  Tochterzelle 
des  Polkernes)  zunächst  ein  achtzelliger,  aus  zwei 
vierzelligen  Etagen  bestehender  Endosperm- 
körper.  1  )le  nachfolgenden  Teilungen  finden 
mit  wechselnder  Richtung  der  Teilungswände 
statt  und  führen,  namentlich  in  der  Umgebung 
des  Embryos,  zur  Bildung  einer  größeren  Anzahl 
kleiner  Zellen.  Vom  Eiapparat  bleibt  die  Eizelle 
erhalten,  während  die  Synergiden  meist  beide 
abortieren.  Die  Eizelle  nimmt  aber  zunächst  an 
Größe  ab,  und  da  sie  außerdem  infolge  der  Ein- 
wirkung der  P'ixierflüssigkeit  Schrumpfungen  er- 
fährt, da  ferner  das  Endosperm  sie  seitlich  um- 
wächst, so  wird  ihre  Auffindung  sehr  erschwert 
und  der  Anschein  erweckt,  als  ob  sie  auch  de- 
generiere. In  Wirklichkeit  aber  nimmt  sie  nach 
einiger  Zeit  wieder  an  Größe  zu,  teilt  sich  und 
bildet  einen  kleinen  Embryo.  Dieser  kann  bis  an 
die  Oberfläche  des  Endosperms  reichen,  ist  aber, 
so  wie  es  Treub  und  Lotsy  beschrieben  haben, 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle  rings  vom  Endosperm- 
körper  umschlossen,  hat  auch  zuweilen  eine  Stiel- 
zelle (Suspensor),  die  bis  an  die  Oberfläche  reicht. 
Häufig  finden  sich  zwei  junge  Embryozellen  neben- 
einander. Es  ist  möglich,  daß  diese  durch  Längs- 
teilung aus  einer  Eizelle  entstanden  sind ;  doch 
hält  Verf  es  für  wahrscheinlicher,  daß  in  solchen 
Fällen  zwei  Zellen  des  Eiapparats  (also  wohl  Ei- 
zelle und  eine  Synergide)  erhalten  geblieben  seien, 
daß  also  Parthenogenesis  mit  gelegentlicher  Poly- 
embryonie  vorliegt,  ein  \^erhalten,  wie  es  nach 
seinen  eigenen  Beobachtungen  auch  Burmannia 
coelestis  zeigt. 

Für  Balanophora  globosa  ist  die  partheno- 
genetische  Entwicklung  des  Eies  durch  Lotsy 
und  Ernst  sichergestellt;  für  B.  elongata  ist 
die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  daß  neben 
vorwiegender  Parthenogenesis  gelegentlich  auch 
Befruchtung  eintritt  (wie  bei  Thalictrum  purpu- 
rascens,  wo  zuweilen  Chromosomenreduktion  und 
Befruchtung  erfolgt).  Bei  den  meisten  anderen 
Balanophoraceen  sind  entweder  Pollenkörner  auf 
der  Narbe  oder  Pollenschläuche  im  Griffel  oder 
am  Eiapparat  festgestellt  worden,  was  das  Ein- 
treten der  Befruchtung  für  sie  wahrscheinlich 
macht.  Nur  bei  Meiosis  guyanensis  und  Rhopal- 
cnemis  phalloides  scheint  sich  der  Embr\-o  wie 
bei  Balanophora  elongata  und  globosa  partheno- 
genetisch  zu  entwickeln  (Flora  191 3,  N.  F.  Bd.  6, 
S.  129—159).  F.  Moewes. 


Völkerpsychologie.  Neue  Beiträge  zur 
Kenntnis  des  Kulturbesitzes  der  Pai'ua-Melanesier 
veröffentlicht  Thurnwald  in  seinem  großange- 
legten Werk  „Forschungen  aufden  Salomo- 
inseln  und  dem  Bismarckarchipe  1",  von 
dem  bisher  zwei  prächtig  ausgestattete  Bände  im 
\'erlag  von  Dietrich  Reimer  (Ernst  Vohsen)  in 
Berlin  erschienen  sind.  ^)  Die  im  ersten  Band  ent- 
haltene Sammlung  von  Liedern,  Mythen  und  Sagen 
ermöglicht  tiefe  Einblicke  in  das  Geistesleben  der 
Buinleute  (Bougainviile)  und  anderer  papua-mela- 
nesischer  Völkerschaften.  Der  Verfasser  gibt 
nicht,  wie  es  sonst  meist  üblich  ist,  seine  eigenen 
Eindrücke  von  dem  fremden  Volk  und  sein  L'rteil 
über  dieses  wieder,  sondern  er  führt  uns  die  un- 
mittelbaren Äußerungen  des  Denkens  des  fremden 
Volkes  vor,  um  zu  zeigen,  wie  die  Leute  das, 
was  in  ihnen  nach  Ausdruck  ringt,  in  Worte 
kleiden,  und  wie  die  Gedanken  sich  m  den  Reden 
spiegeln.  Die  Lieder  werden  in  der  Buinsprache 
mit  Interlinear-  und  freier  Übersetzung  veröffent- 
licht, die  Mythen  und  Sagen  dagegen  in  der 
Regel  bloß  in  freier  Übersetzung;  nur  bei  vier 
Stücken  sind  auch  die  Originaltexte  abgedruckt. 
Die  Wiedergabe  von  ,, Dichtungen"  ist  vom  völker- 
psychologischen Standpunkt  sehr  wichtig,  denn 
nichts  vermag  uns  das  Geistesleben  eines  Volkes 
deutlicher  vorzuführen,  seine  Fähigkeiten  richtiger 
einschätzen  zu  verhelfen,  als  seine  dichterischen 
Erzeugnisse. 

Im  Vergleich  mit  den  Polynesiern  und  Mikro- 
nesiern  haben  die  Papua-Melanesier  keine  reiche 
Literatur.  Thurnwald  sagt,  es  schien  lange, 
als  ob  es  bei  diesen  düsteren  Menschen  wenig 
oder  fast  nichts  gäbe,  was  ihre  Phantasie  bewegt, 
wenige  oder  fast  keine  Ziele,  um  deren  geistige 
Bewältigung  sie  sich  bemühten,  um  mit  den  Be- 
standteilen der  von  ihnen  auf  diese  Art  zerlegten 
Erfahrungswelt  neue  Kombinationen  und  Möslich- 
keiten,  neue  Varianten  aufzubauen.  Doch  auch 
bei  diesen  stumpfen  und  verschlossenen  Menschen 
zeigt  sich,  daß  sie  mehr  imstande  sind  als  der 
erste  Eindruck  vermuten  ließe.  Die  vorliegende 
Sammlung  ist  ein  trefflicher  Beweis  hierfür.  Aber 
die  Texte  bezeugen  auch,  wie  Thurnwald  richtig 
bemerkt,  daß  wir  es  hier  mit  Menschen  einer 
ganz  anderen,  einer  primitiven  Empfindungs-  und 
Denkart  zu  tun  haben :  Der  Ausdruck  primitiv 
scheint  deshalb  gerechtfertigt,  weil  hier  eine  ver- 
bindungsarme, wenig  komplexe,  also  wenig  ge- 
hemmte, den  Aft'ekten  mehr  hingegebene  Denk- 
und  Leistungsfähigkeit  zutage  tritt. 

Das  Verhältnis  des  Menschen  zur  umgebenden 
Natur  wird  in  den  Sagen  von  Buin  stark  betont. 
Die  gewohnte  Umgebung  ist  die  reiche  Pflanzen- 
und  Tierwelt  des  Buschwaldes,  wo  der  Mensch 
seine  Eindrücke  gewinnt  und  sich  seine  Vor- 
stellungen von  Welt    und  Leben  bildet.     An   das, 


')  Bd.  I:  Lieder  und  Sagen  aus  Buin;  mit  14  Tafeln, 
Notenbeispielen  und  i  Karte.  Preis  32  Mk.  Bd.  III :  Volk, 
Staat  und  Wirtschaft;  mit  I  Tafel  und  70  Stammbäumen. 
Preis   18  Mk.     Berlin  1913. 


•]& 


Naturwissenschaftliche  Wochensclirift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  5 


was  hier  auf  seine  Sinne  wirl<t,  knüpft  er  seine 
Analogien  und  verkettet  nach  roher  Beobachtung 
die  Eindrücke  miteinander.  Aus  diesem  Boden 
keimt  das,  was  wir  die  Mythologie  nennen,  daran 
knüpfen  sich  die  religiösen  Empfindungen,  das 
Welt-  und  Lebenssystem,  hier  und  da  befruchtet 
von  verstreuten  Samenkörnern  der  Erkenntnis 
anderer  Völker,  die  im  Lauf  der  Zeit  bis  in  diese 
fernen  Gegenden  ihren  Weg  gefunden  haben. 

Die  Mimmeismythologie  der  Buinleute  ist  arm, 
doch  haben  immerhin  Mond,  Sonne  und  Sterne, 
sowie  alle  diejenigen  Himmelserscheinungen  die 
Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen,  die  durch  das 
Unvermutete  ihres  Auftretens,  ihre  Bewegung  und 
ihr  Geräusch,  Schrecken  erregen.  Auch  die 
Deutung    terrestrischer    Phänomene    scheint      die 


liehe  Ordnung;  daran  schließen  sich  Erzählungen 
von  Begebenheiten  und  Stammtafeln  mit  ent- 
sprechender textlicher  Analyse.  In  den  sozialen 
Einrichtungen    und    der    Wirtschaftsweise    findet 


.\bb.    I.      Unufest  in  Buin:   Darstellung  von  Sonne  und  Mond, 

die  mit  dem  Morgenstern  kämpfen. 

(.Aus  Thurnwald,  ,, Forschungen"  usw.) 

Geister  nicht  viel  beschäftigt  zu  haben.  Reicher 
ist  der  Sagenschatz.  In  den  Alj-then  und  Sagen 
kommt  die  Art  und  Weise  zum  .*\usdruck,  wie 
man  den  Fährlichkeiten  des  Lebens  begegnet  oder 
ihnen  ausweicht,  aus  ihnen  dringt  das  Gefühl  der 
Furcht  vor  dem'  Übermenschlichen  hervor,  mit 
der  ein  großer  Teil  der  Formen  des  gesellschaft- 
lichen Zusammenlebens  verknüpft  ist. 

Den  Anhang  dieses  Bandes  bildet  eine  von 
E.  M.  v.  Hornbostel  verfaßte  Abhandlung  über 
die  Musik   auf  den    nordwestlichen  Salomoinseln. 

Der  dritte  Band  von  Thurnwald's  For- 
schungsergebnissen behandelt  die  sozialen  und 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  der  Salomo- 
und  Bismarckinsulancr,  wieder  mit  besonderer 
Bezugnahme  auf  die  Landschaft  Buin.  Der  Verf 
schildert  die  Gebräuche  bei  Pubertät,  Heirat  und 
Tod,    das  Wirtschaftsleben  sowie  die  gesellschaft- 


.Abb.  2.     Unufest   in    Buin:     Bumerangförmige    Keulenscheibe 
als  Morgenstern.     (Aus    Thurnwald,  „Forschungen"  usw.) 


.Abb.  3.     Unufest  in  Buin :  .Mondsichelscheibe. 
(Aus  Thurnwald,  „Forschungen"  usw.) 

gleichfalls  die  geistige  Veranlagung  der  Insulaner 
einen  prägnanten  .\usdruck:  In  dem  gesellschaft- 
lichen Leben  treten  uns  die  Kräfte  entgegen,  die 
bestimmend  für  dieses  Zusammenleben  sind. 


N.  F.  XIII.  Nr.   =; 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


n 


Thurnwald's  Darstellung  der  sozialen  Ver- 
hältnisse beweist  zwar,  daß  bei  den  Buiiilenten  in 
mancher  Beziehung  ein  betiächtliches  Maß  per- 
sönlicher Ungebundenheit  herrscht,  aber  es  geht 
m.  E.  daraus  doch  zugleich  hervor,  daß  im  all- 
gemeinen die  Bande,  die  den  Einzelnen  an  die 
Gemeinschaft  binden,  sehr  stark  sind,  was  seinen 
Grund  gewiß  in  der  Schwäche  des  Einzelnen  im 
Daseinskampf  hat.  Je  größer  diese  Abhängigkeit 
von  der  Gesamtheit  ist,  desto  mehr  Bedeutung 
erlangen  auch  die  Förmlichkeiten,  durch  welche 
die  gesellschaftliche  Bindung  den  Gliedern  des 
Gemeinwesens  zum  Bewußtsein  gebracht  wird. 
Aus  diesem  Zustande  heraus  erwuchsen  Pubertäts- 
zeremonien, Totemismus  und  manche  andere 
soziale  Förmlichkeiten.  Als  Kern  der  sozialen 
Organisation  in  Buin  darf  man  wohl  den  Blut- 
racheverband betrachten,  in  welchen  die  heran- 
wachsenden Knaben  noch  vor  der  Zeit  der  Puber- 
tät aufgenommen  werden.  Die  Aufnahme  ist  mit 
großem  Zeremoniell  verbunden,  dem  Unufest,  das 
anscheinend  das  wichtigste  Ereignis  im  Leben  der 
männlichen  Person  ist  und  auch  starke  Beziehungen 
zu  den  himmelsmythologischen  Vorstellungen  zu 
haben  scheint  (vgl.  Abb.  i — 3).  Der  Blutrachever- 
band spielt  im  Leben  eine  erheblich  größere 
Rolle  als  die  Familienorganisation,  und  zur  Staats- 
bildung ist  es  nicht  gekommen.  Thurnwald 
sagt,  daß  alle  Kämpfe  der  Blutrachegruppen  unter- 
einander und  die  Kämpfe  mit  einwandernden 
Fremden  nicht  imstande  waren,    zu    einer  Macht- 


bildung zu  führen,  wie  wir  sie  z.  B.  in  der  Häupt- 
lingsorganisation der  mikronesischen  Inseln  finden. 
Mäßige  Ansätze  dazu  sind  jedoch  vorhanden. 

Aus  dem  reichen  Tatsachenmaterial  Thurn- 
wald's soll  nur  noch  ein  Gegenstand  hervorge- 
hoben werden.  Bei  der  Eheschließung  gilt  die 
Regel  der  Exogamie.  Besonders  hoch  im  An- 
sehen stehen  Heiraten,  die  kreuzweise  zwischen 
zwei  Geschwisterpaaren  geschlossen  werden,  wo- 
bei eine  Partei  der  anderen  den  gleichen  Kauf- 
preis entrichtet.  Die  Sache  läuft  also  auf  einen 
gegenseitigen  Tausch  hinaus  und  Thurnwald's 
Annahme  ist  wohl  begründet,  daß  diese  Art  der 
Eheschließung  als  eine  Form  des  Friedensschlusses 
zwischen  früher  feindlichen  Stämmen  anzusehen 
ist,  was  noch  dadurch  bekräftigt  wird,  daß  bei 
den  Bergstämmen,  die  verhältnismäßig  abge- 
schlossen blieben,  Heiratsgruppen  nicht  entstanden 
sind.  Doch  ist  keineswegs  anzunehmen,  daß  die 
Exogamie  überall  ein  Ergebnis  der  Anbahnung 
friedlicher  Beziehungen  zwischen  früher  feindlichen 
Gruppen  war.  Thurnwald  erwähnt,  daß  die 
Exogamie  auf  der  Salomoinsel  Choiseul  einen 
ganz  anderen  Charakter  hat  als  in  Buin.  Auf 
Choiseul  handelt  es  sich  um  rein  zufällige  lokale 
Gruppen,  wobei  nur  die  Eheschließung  unter  den 
allernächsten  Verwandten  vermieden  wird.  Thurn- 
wald glaubt,  daß  diese  unvollkommene  Exogamie 
vielleicht  eine  Nachbildung  der  exogamen  Sitten 
anderer  Stämme  ist. 

H.  Fehlinger. 


Kleinere  Mitteilungen. 


über  Schlagwetteranzeige  und  die  Haber'sche 
Schlagwetterpfeife.  —  Bei  Gelegenheit  der  kürz- 
lich stattgehabten  Einweihung  des  Kaiser-Wilhelm- 
Institutes  für  experimentelle  Therapie  in  Berlin- 
Dahlem  führte  Herr  Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  F. 
Haber  in  seinem  Vortrage  über  Schlagwetter- 
anzeiger seine  zusammen  mit  Herrn  Dr.  Leiser 
konstruierte  Schlagwetterpfeife  vor  (Die  Natur- 
wissenschaften I.  p.  1049,  191 3).  deren  Wirkungs- 
weise wegen  der  Bedeutung,  die  sie  vielleicht  im 
Bergbau  erlangen  kann,  wohl  für  unsere  Leser 
von  einigem  Interesse  ist. 

Das  für  den  Steinkohlenbergbau  so  äußerst 
gefährliche  Methan  oder  Grubengas,  dessen  Her- 
vorquellen nicht  beseitigt  werden  kann,  ist  harm- 
los, so  lange  sein  Gehalt  in  der  Grubenluft  gering 
bleibt.  Die  Explosionsgrenze  liegt  indessen  schon 
bei  einem  Methangehalt  von  5  7^  "/,, ,  so  daß  es 
notwendig  ist,  ein  Hilfsmittel  zur  Feststellung  des 
Methangehalts  in  Schlagwetter  führenden  Gruben 
zu  besitzen,  um  dann  jedes  Zündmittel  für  Schlag- 
wetter von  den  Arbeitsstätten  fernhalten  zu  können. 

Dies  ist  bisher  nur  unvollkommen  möglich. 
Ein  brauchbarer  Schlagwetteranzeiger  ist  schon 
die  gewöhnliche  Flamme  der  Grubenlampe,  an 
deren  Verhalten  ein  geschultes  Auge  einen  Methan- 
gehalt von  über   i  "/o  bereits  erkennen  kann ;  doch 


ist  gerade  die  Flamme  ein  äuf^erst  gefährliches 
Zündmittel. 

Eine  segensreiche  Neuerung  war  die  Einführung 
der  Davy 'sehen  Sicherheitslampe.  Wenn  die 
Lampe  auch  in  theoretischer  Hinsicht  vollkommen 
schlagwettersicher  ist,  da  die  durch  die  Maschen 
des  Drahtkorbes  eintretenden  Wettergase  im  Innern 
des  Korbes  verbrennen,  und  wenn  durch  Einfüh- 
rung der  Lampe  zweifellos  unzählige  Kata'^trophen 
verhütet  worden  sind,  so  ist  praktisch  die  erreichte 
Schlagwettersicherheit  noch  keine  unbedingte,  da 
nach  der  Statistik  doch  noch  eine  große  Zahl 
von  Grubenexplosionen  auf  die  Sicherheitslampe 
zurückzuführen  sind.  Und  wenn  durch  Einführung 
elektrischer  Grubenbeleuchtung  die  Lampe  nur 
noch  zur  Anzeige  des  Methans,  nicht  aber  mehr 
zur  Beleuchtung  dienen  soll  und  sie  sich  für  diesen 
Zweck  praktisch  sicher  wird  ausgestalten  lassen, 
so  wird  sie  doch  Melhananzeigern  Platz  machen 
müssen,  die  auch  jede  zufällige  Zündung  unmög- 
lich machen.  In  den  letzten  Jahren  sind  eine  er- 
staunliche Fülle  von  Schlagwetteranzeigern  kon- 
struiert worden,  von  denen  indessen  keiner  dauernde 
praktische  Verwendung  gefunden  hat. 

Die  Wirkungsweise  eines  Anzeigers  muß  sich 
nun  entweder  auf  chemische  Veränderungen  des 
Methans    gründen    oder   auf  physikalische   Eigen- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Schäften  der  mit  Methan  versetzten  Atmosphäre. 
Wählen  wir  zum  Prinzip  des  Anzeigers  das  che- 
mische Verhalten,  so  bietet  sich  sofort  die  große 
Schwierigkeit,  daß  das  Methan  bei  gewöhnlicher 
Temperatur  außerordentlich  reaktionsträge  ist,  die 
zur  Erzwingung  einer  chemischen  Reaktion  erfor- 
derliche hohe  Temperatur  aber  wegen  der  Schlag- 
wettergefahr auf  jeden  Fall  vermieden  werden 
muß.  Ein  Apparat,  der  sich  eines  Hilfsmittels 
der  physikalischen  Chemie  bedient,  ein  Zeiß'sches 
Interferometer,  welches  auf  der  Änderung  der 
optischen  Dichte  der  Atmosphäre  beruht,  wenn 
derselben  Grubengas  beigemengt  ist,  hat  sich  an 
vielen  Plätzen  Eingang  verschaffen  können,  doch 
besitzt  auch  dieses  Instrument  den  Fehler,  daß  es 
wie  die  übrigen  eben  ein  Meßinstrument  ist, 
welches  durch  bloßes  Hineingehen  auf  eine  Skala 
allerdings  einen  Methangehalt  von  zehntel  Prozent 
abzulesen  gestattet,  aber  kein  Methan  an  ze  i  ge  r 
ist,  der  jedem  gewöhnlichen  Bergmann  das  Auf- 
treten von  Grubengas  deutlich  ankündigen  soll, 
ohne  daß  erst  Messungen  gemacht  werden. 

Prof.  Haber  und  Dr.  Leiser  haben  nun 
einen  Schlagwetteranzeiger  konstruiert,  der  sich 
nicht  an  das  Auge,  sondern  an  das  Ohr  wendet 
und,  von  handlicher  Form  und  einfacher  Bedienung, 
in  der  Hand  jedes  Bergmannes  verwendungsfähig 
ist.  Der  Apparat,  die  Schlagwet  terpfei  fe, 
beruht  auf  dem  Prinzip,  daß  ein  und  dieselbe 
Pfeife,  mit  verschiedenen  Gasen  angeblasen,  ver- 
schiedene Töne  gibt. 

Äußerlich  stellt  sich  die  Pfeife  als  ein  glatter 
geschlossener  Metallzylinder  von  25  cm  Länge 
und  6  cm  Durchmesser  dar.  Der  Apparat  ent- 
hält als  Hauptbestandteil  zwei  gedackte  Lippen- 
pfeifen, welche  auf  denselben  Ton  (bei  gleicher 
Gasfüllung)  gestimmt  sind.  Die  Eigentümlichkeit 
der  Pfeife  besteht  darin,  daß  das  Gas  im  Pfeifen- 
rohr, dessen  Beschaffenheit  die  Tonhöhe  der  Pfeife 
bestimmt,  durch  eine  sehr  dünne  Glimmerscheibe 
dicht  gegen  das  anblasende  Gas  abgeschlossen  ist 
und  sich  darum  unverändert  in  der  Pfeife  hält, 
wenn  wir  nicht  besondere  Zu-  und  Abführungen 
betätigen.  Wir  füllen  die  eine  Pfeife  über  Tage 
mit  reiner  Luft,  die  sich  mit  der  Grubenluft  nicht 
vermengen  kann,  weil  sie  mit  ihr  nur  durch  eine 
enge  und  lange  Röhre  (Expansionsspirale)  in  Ver- 
bindung .steht.  Das  Rohr  der  anderen  Pfeife 
füllen  wir  unter  Tage  mit  Grubenluft,  die  auf 
dem  Zuführungswege  durch  ein  leicht  auswechsel- 
bares eingebautes  Reinigungsrohr  von  Staub,  Feuch- 
tigkeit und  Kohlensäure  befreit  wird.  Die  Hand- 
habung des  Apparates  besteht  darin,  daß  der  als 
Pumpe  ausgebildete  Mantel  nach  unten  gezogen 
wird,  wodurch  die  Grubenluft  durch  den  Reiniger 
und  die  Gaspfeife  in  den  Pumpenraum  gesaugt 
wird,  worauf  ein  Vakuumstempel  in  der  Mitte 
des  Apparates  den  Pumpenkolben  beim  Loslassen 
zurückzieht  und  das  eingesaugte  Gas  durch  einen 
Druckregler  zu  den  Mundstücken  der  Pfeifen  treibt. 

Beträgt    der    Methangehalt    in    der  Gasfüllung 
I  "^g,    so   gibt    die    durch    diese    Gasfüllung  ange- 


blasene mit  der  durch  reine  Luft  angeblasenen 
Pfeife  rund  2  Schwebungen  in  der  Sekunde.  Die 
Schwebungszahl  nimmt  dann  aber  mit  steigendem 
Methangehalt  rasch  zu,  bis  in  der  Nähe  der  Ex- 
plosionsgrenze die  Schwebungen  in  ein  charakte- 
ristisches Trillern  übergehen,  welches  vom  Ohr 
leicht  aufgefaßt  wird  und  bei  gerader  Strecke 
in  der  Grube  noch  in  mehr  als  100  m  Entfernung 
wahrgenommen  werden  kann. 

Ob  die  Pfeife  sich  praktisch  bewähren  wird, 
muß  erst  eine  längere  Prüfungszeit  lehren.  Vor 
der  Sicherheitslampe  zeichnet  sie  sich  durch  un- 
bedingte Schlagwettersicherheit  und  die  Aufdring- 
lichkeit ihrer  Signale  aus,  während  die  alte  Davy- 
sche  Sicherheitslampe  vor  ihr  den  Vorteil  voraus 
hat,  bei  Auftreten  größerer  Mengen  Methans  durch 
ihr  Erlöschen  ein  ganz  automatisches  Signal  zu 
geben  und  so  die  bei  größeren  Mengen  mögliche 
Erstickungsgefahr  erkennen  läßt.      H.  Schönborn. 

Nebel.  Der  Herbst  ist  die  Zeit  des  Nebels; 
besonders  die  windstillen  Tage,  wie  sie  uns  in 
jedem  Jahre  im  September  und  in  der  ersten 
Hälfte  des  Oktober  beschert  werden,  begünstigen 
seine  Entstehung.  Die  Zahl  der  Nebeltage  ist  für 
die  verschiedenen  Städte  Deutschlands  außer- 
ordentlich verschieden :  an  der  Spitze  steht 
Hamburg  mit  126  im  Jahr,  so  daß,  wenn 
sich  die  Nebeltage  gleichmäßig  über  das  Jahr 
verteilten,  an  jedem  dritten  Tage  Nebel  herrschte. 
München  hat  dagegen  nur  49,  Karlsruhe  35  und 
Helgoland  39.  In  engem  Zusammenhang  mit 
der  Häufigkeit  des  Nebels  steht  die  Zahl  der 
Sonnenscheinstunden,  die  in  Hamburg  1230  gegen 
1790  auf  Helgoland  beträgt.  Nur  London  ist 
mit    rund    looo  Stunden   noch  schlechter  gestellt. 

Der  Nebel  besteht  aus  zahllosen  sehr  kleinen 
Wassertröpfchen  —  nicht  Bläschen,  wie  man 
früher  annahm  — ,  die  in  der  Luft  schweben  und 
sich  langsam  zu  Boden  senken,  und  zwar  um  so 
langsamer,  je  kleiner  sie  sind.  Ihr  Durchmesser 
beträgt  häufig  nur  Vinon  mm.  Je  größer  die 
Tröpfchen,  desto  schneller  fallen  sie  und  desto 
mehr  näßt  der  Nebel.  Wolken  sind  Nebel  in 
größerer  Höhe.  Dampf  und  Nebel  darf  man  nicht, 
wie  es  häufig  geschieht,  verwechseln.  Der  Wasser- 
dampf, der  unsere  Lokomotiven  vorwärts  treibt, 
ist  vollkommen  durchsichtig  wie  Luft;  ebenso  ist 
der  Dampf,  der  stets  in  mehr  oder  minder  großer 
Merge  in  der  Luft  enthalten  ist,  vollkommen  un- 
sichtbar. Kühlt  sich  dieser  luftförmige  Wasser- 
dampf ab,  wie  es  z.  B.  in  einiger  Höhe  über  einem 
Kessel  siedenden  Wassers  durch  Vermischung 
mit  der  kaUen  Luft  geschieht,  so  kondensiert  er 
sich  zu  lauter  Tröpfchen,  eben  Nebel.  Der  heiße 
Wrasen,  der  vom  kochenden  Wasser  aufsteigt,  ist 
also  nicht,  wie  man  gewöhnlich  sagt,  Dampf, 
sondern  Nebel,  er  ist  nicht  luftförmig,  sondern 
schon  wieder  flüssig. 

Die  Verwandlung  des  Wasserdampfes  in  den 
sichtbaren  Nebel  tritt  immer  dann  ein,  wenn  der 
Dampf  hinreichend,  d.  h.  bis  auf  den  Taupunkt 
abgekühlt  wird.    Ein  einfacher  Versuch,  den  man 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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leicht  wiederholen  kann,  gibt  über  diese  Vorgänge 
recht  hübsch  Aufschluß.  Man  füllt  in  eine  größere 
Flasche  etwas  Wasser  und  verschließt  sie  durch 
einen  gut  anliegenden  Stopfen,  durch  den  eine 
mit  einem  Hahn  versehene  Röhre  hindurchgeführt 
ist.  Ein  kleiner  Teil  des  Wassers  verdunstet,  so 
daß  die  Luft  in  der  Fla^iche  sehr  bald  mit  Wasser- 
dampf gesättigt  ist.  Wie  viel  Dampf  sich  dabei 
bildet,  hängt  von  der  Temperatur  ab;  im  warmen 
Zmimer  verdunstet  mehr  Wasser  als  im  kalten. 
Jetzt  bläst  man  mit  dem  JVIunde  Luft  in  die 
Flasche  und  schließt  den  Hahn.  Öffnet  man  ihn 
plötzlich  wieder,  so  sieht  man  in  der  Flasche  eine 
feine  Nebelwolke,  die  sich  allmählich  zu  Boden 
senkt.  Eine  hinter  die  Flasche  gestellte  Kerze 
erscheint,  durch  die  Nebehvolke  gesehen,  von 
einem  rötlich  gefärbten  Lichthof  umgeben,  wie  er 
auch  an  Nebeltagen  unsere  Straßenlaterne  umgibt. 
Eine  ähnliche  feine  Nebelwolke  tritt  fast  immer 
beim  Offnen  einer  Seiter-,  Bier-  oder  Schaumwein- 
flasche auf.  Die  Erklärung  des  Versuches  ist  ein- 
fach: die  komprimierte  Luft  dehnt  sich  beim 
Öft'nen  des  Hahnes  aus  und  kühlt  sich  dadurch 
bis  unter  den  Taupunkt  ab,  so  daß  ein  Teil  des 
Wasserdampfes  sich  als  Nebel  ausscheidet.  Auf 
dieser  Abkühlung  bei  der  Ausdehnung  zusammen- 
gepreßter Gase  beruht  die  Linde 'sehe  Luftver- 
flüssigungsmaschine. 

Diese  Art  der  Nebel-  und  Wolkenbildung  spielt 
in  der  Natur  eine  große  Rolle:  die  durch  den 
Erdboden  erwärmte  dampfhaltige  Luft  steigt  in 
die  Höhe,  dehnt  sich,  da  der  Luftdruck  mit  der 
Höhe  abnimmt,  aus  und  kühlt  sich  ab.  Die  Ab- 
kühlung allein  ist  aber  vielfach  zur  Nebelbildung 
nicht  ausreichend,  es  kommt  vielmehr  noch  ein 
wesentlicher  Umstand  hinzu.  Sorgt  man  bei  dem 
obigen  Versuch  dafür,  daß  die  Luft  in  der  Flasche 
vollkommen  staubfrei  und  rein  ist,  indem  man  sie 
etwa  durch  Watte  filtriert,  so  tritt  keine  Nebel- 
bildung ein.  Die  Luft  ist  also  nach  dem  Ver- 
such mit  Wasserdampf  übersättigt.  Man  hat  fest- 
gestellt, daß  vollkommen  reine  Luft  etwa  viermal 
übersättigt  sein  kann,  ohne  daß  Nebelbildung  ein- 
tritt. Die  Nebeltropfen  bedürfen  der  Ansatzstellen, 
der  Kondensationskerne,  um  die  herum  sich  das 
Wasser  absetzt.  Sorgt  man  umgekehrt  bei  dem 
Versuch  für  unreine,  stauberfüllte  Luft,  indem  man 
ein  brennendes  Streichholz  einen  Augenblick  in 
die  Flasche  hält  oder  etwas  Zigarrenrauch  hinein- 
blä^t,  so  entsteht  beim  Offnen  des  Hahnes  eine 
dichte  Nebelwolke.  Staub  und  Rauch  befördert 
al-o  die  Nebelbildung  außerordentlich.  Die  Be- 
deutung dieser  Tatsache  liegt  auf  der  Hand:  un- 
sere Großstädte  produzieren,  namentlich  wenn 
sie  viele  Fabriken  enthalten,  durch  die  vielen 
Herde,  Kesselanlagen,  Öfen  und  Gasflammen 
große  Mengen  von  Nebelkernen,  so  daß  hier  die 
Bedingungen  für  die  Nebelbildung  besonders 
günstig  sind.  So  kann  man  häufig  beobachten, 
daß  in  den  etwas  weiter  abgelegenen  Vororten 
der  Himmel  klar  ist,  während  das  Innere  der 
Stadt  in  einer  dichten  Nebelhülle  liegt.  Senkt 
sich   der   Nebel    zu    Boden,    so  wird  mit  ihm  der 


Staub  aus  der  Luft  entfernt.  An  solchen  Tagen 
sieht  man  auf  den  Wasserflächen  eine  dicke 
Schmutzschicht  liegen.  Messungen  haben  ergeben, 
daß  sich  in  der  L'mgebung  Londons  nach  einer 
Nebelwoche  auf  den  Gewächshäusern  Ablagerungen 
fanden,  deren  Gewicht  über  2000  kg  pro  Quadrat- 
kilometer betrug.  So  hat  also  der  unangenehme 
Nebel  auch  seine  guten  Seiten,  indem  er  ebenso 
wie  Regen  und  Schnee  die  Luft  von  Staub  und 
Rauch  reinigt. 

Es  ist  ja  selbstverständlich,  daß  in  sehr  vielen 
Fällen  die  Abkühlung  der  Luft  nicht  durch  Empor- 
steigen und  die  damit  verbundene  Ausdehnung 
erfolgt,  daß  sie  vielmehr  auch  durch  Ausstrahlung 
Wärme  verliert  und  sich  dabei  unter  den  Tau- 
punkt abkühlt.  Auf  diese  Weise  erklärt  sich 
meistens  die  Entstehung  des  Nebels,  der  an 
Sommerabenden  über  feuchten  Wiesen  vielfach 
nur  bis  zur  Höhe  von  i  m  lagert;  in  Nordwest- 
deutschland sagt  man  dann,  „der  Fuchs  braut". 
Eine  andere  Möglichkeit  ist  die,  daß  sich  feucht- 
warme Luft  mit  kalter  mischt  und  daß  sich  ein 
Teil  des  Wasserdampfes  als  Nebel  ausscheidet. 
Die  Nebel,  die  sich  an  den  Küsten  Neufundlands 
häufig  bilden,  entstehen  auf  diese  Weise;  hier 
trifft  der  von  Norden  kommende  kalte  Labra- 
dorstrom auf  den  von  Südwesten  kommenden 
Floridastrom;  und  es  tritt  eine  Mischung  der 
kalten  von  Norden  kommenden  und  der  warmen, 
stark  wasserdampfhaltigen  Luft  ein. 

Der  Nebel  und  die  Nebelkerne  sind  für  die 
Wissenschaft  in  mehrfacher  Hinsicht  von  großer 
Bedeutung.  Nach  einer  von  Aitken  angegebenen 
Methode  gelingt  es  mit  Hilfe  von  Nebelbildung 
die  Zahl  der  feinen  unsichtbaren  Nebelkerne  in 
der  Luft  festzustellen.  In  ein  großes  Gefäß,  daß 
durch  Watte  sorgfältig  filtrierte,  also  staubfreie 
Luft  enthält,  wird  eine  kleine  abgemt-ssene  Menge 
der  zu  untersuchenden  Luft  gebracht.  Dehnt 
man  nun  mittels  einer  Luftpumpe  plötzlich  die 
Luft  aus,  so  kühlt  sie  sich  ab,  und  es  bildet  sich 
eine  Nebelwolke,  indem  jedes  Stäubchen  zum 
Kern  eines  Nebeltröpfchens  und  dadurch  bis  zur 
Sichtbarkeit  vergrößert  wird.  Läßt  man  nun  die 
Wolke  sich  auf  eine  in  Quadratmillimeter  einge- 
teilte Glasplatte  senken,  so  gelingt  es  unter  dem 
Mikroskop  die  Tröpfchen  zu  zählen,  die  sich  aus 
der  Luftsäule  von  bekannter  Höhe  auf  einem 
Quadratmillimeter  abgeschieden  hat.  Eine  ein- 
fache Rechnung  ergibt  die  Gesamtmenge  der  in 
der  Probe  enthaltenen  Kerne.  Man  findet  über- 
raschend große  Zahlen;  so  fanden  sich  in  einem 
Kubikzentimeter  Luft  im  Innern  Londons  looooo 
bis  140000,  im  Winter  in  Glasgow  bis  zu  470  000. 
Auf  Bergen,  über  dem  Ozean  und  im  Walde  ist 
die  Luft  verhältnismäßig  rein,  z.  B.  enthielt  sie 
auf  dem  Rigi  Kulm  nur  400 — 800.  Nach  jedem 
Regen  sinkt  die  Zahl  der  Kerne  beträchtlich. 
Jede  Flamme  produziert  ungeheure  Mengen,  so 
enthielt  die  Luft  eines  Zimmers,  in  dem  längere 
Zeit  2  Gasflammen  gebrannt  hatten,  1,9  Millionen 
pro  Kubikzentimeter,  an  der  Decke  sogar 
5,4  Millionen.    Bedenkt  man  dabei,  daß  der  Staub, 


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der  im  Durchschnitt  in  einem  Kubikmeter  (also 
lOOOOOO  Kubikzentimetern)  Zimmerluft  enthalten 
ist,  nur  l,6  Milligramm  wiegt,  so  kann  man  sich 
einen  Begriff  von  der  außerordentlichen  Kleinheit 
der  Nebelkerne  machen. 

Die  nähere  Untersuchung  der  von  jeder 
Flamme  in  großer  Zahl  produzierten  Nebelkerne 
liefert  das  überraschende  Resultat,  daß  die  Kerne 
mit  Elektrizität,  sowohl  positiver  wie  negativer, 
beladen  sind.  Läßt  man  nämlich  Verbrennungs- 
gase zwischen  zwei  durch  eine  Batterie  auf  hohe 
Spannung  geladene  Meiallplatten  hindurchstreichen, 
so  zeigt  ein  in  der  f3atterieleitung  liegender 
empfindlicher  Strommesser  einen  Ausschlag,  ein 
Beweis  dafür,  daß  die  Flammgase  die  Elektrizität 
leiten.  Nachdem  sie  die  Platten  passiert  haben, 
sind  sie  nicht  mehr  imstande,  Nebel  zu  erzeugen, 
die  Kerne  sind  also  entfernt.  Die  nähere  Unter- 
suchung zeigt,  daß  die  Kerne  zum  größten  Teil 
außerordentlich  klein  sind,  daß  es  mit  Elektrizität 
beladene  Gasmoleküle  sind;  man  nennt  sie  Ionen. 
Diese  Tatsache  hat  etwas  Beruhigendes,  indem 
sie  nämlich  zeigt,  daß  die  nach  Aitken  zahllos 
in  der  Luft  vorhandenen  Nebelkerne  sicher  nur 
zum  kleineren  Teil  schädlicher  Staub  und  zum 
größeren  Teil  für  unsere  Lungen  unschädliche 
Ionen  sind.  Dr.  K.  Schutt. 


Bücherbesprechungen. 

Ludwig  Stelz,    Entstehung    und   Entwick- 
lung   des    Menschen    bis    zur    Geburt 
und  die  daraus  sich  ergebenden  Regeln 
für  das  Geschlechtsleben   der  reiferen 
Jugend.     Mit   14  farbigen  und  einer  schwarzen 
Tafel.    Leipzig,  J.  A.  Barth,   191 3.  —  Preis  3  Mk. 
Das  Büchlein  ist  zur  sexuellen  Aufklärung  der 
reifen  Jugend    beiderlei    Geschlechts    und    des 
gebildeten    Publikums    im    allgemeinen    bestimmt. 
Die  Darstellungsvveise  ist  zu  die-em  Zweck  treff- 
lich geeignet.     In  knapper  und  klarer  Form  wird 
unterrichtet   über   das    Wesen   der   Fortpflanzung, 
die  Befruchtung,    den  Bau    und    die  Funktion  der 
Geschlechtsorgane,    die  Entwicklung  des  befruch- 
teten   Eies    und    die    Geburt,    die  Ernährung   des 
Kindes    und  sein  Verhältnis  zu    den  Eltern,    über 
Geschlechtstrieb,    Ehe,   Geschlechtsverkehr,  sowie 
Geschlechtskrankheiten     und      ihre     Vermeidung. 
Den    Abschnitt    über   Geschlechtskrankheiten    hat 
Dr.  med.  R.  Kaufmann  beigetragen.    Zum  Schluß 
wird  dargelegt,  daß  nur  der  Lehrer  der  Natur- 
wissenschaft   die   sexuelle    Aufklärung   geben 
kann.     Die  so  sehr  notwendige  Warnung  vor 
Perversitäten,  einschließlich  Masturbation,  ist  leider 
zu  vermissen.  Fehlinger. 


Anregungen  und  Antworten. 

Zur  Anfruge  des  Herrn  „J.  K.  Cöln-Elberfeld"  in  Nr.  51 
bemerke  ich  noch  folgendes:  Ks  ist  allerdings  der  Fall,  daß 
Seeschiffe  häufig  vor  Antritt  einer  Reise  auf  See  einen  Kreis 
besclireiben.  Sie  tun  das,  um  eine  genaue  Orientierung  mit 
Hilfe  des  Kompasses  zu  ermöglichen. 

Die  Stellung  einer  Magnetnadel  wird  bekanntlich  durch 
Eisenteile,  die  sich  in  ihrer  Nähe  befinden,  beeinflußt.  Am 
SchilTskörper  und  ev.  auch  unter  der  Ladung  befinden  sich 
aber  viele  eine  solche  Beeinflussung  bedingende  Eisenteile. 
Diese  Beeinflussung  der  Nadelstellung  bleibt  sich  nun  aber 
während  einer  Fahrt  nicht  immer  gleich,  sondern  sie  ändert 
sich  mit  dem  Winkel,  den  die  Achse  des  Schifies  mit  der 
Nadel  bildet.  Um  Oricntierungsfchler  zu  vermeiden,  muß  der 
Steuermann  nun  feststellen,  wie  groß  die  Beeinflussung  der 
Nadclstellung  für  jeden  solchen  Winkel  ist.  Das  tut  er  auf 
folgende  Weise:  An  einem  Orte  von  bekannter  geographischer 
Lage  stellt  er  durch  astronomische  Beobachtung  die  Nord- 
richtung genau  fest.  Da  für  jeden  Punkt  von  bekannter  geogr. 
Lage  der  Betrag  der  magnetischen  Mißweisung  bekannt  ist, 
weiß  er  nun,  welche  Stellung  die  Nadel  einnehmen  müßte, 
wenn  sie  nicht  durch  Ei^enteile  des  Schiffskörpers  beeinflußt 
würde.  Beschreibt  das  Schiff  jeizt  an  diesem  Ort  einen  Kreis, 
so  verändert  sich  schrittweise  der  Winkel  zwischen  Längsachse 
des  Schift'es  und  Kompaßnadel,  und  es  läßt  sich  durch  Ver- 
gleich der  wirklichen  und  der  theoretisch  geforderten  Nadel- 
stellung für  jeden  Winkel  direkt  der  Betrag  der  Beeinflussung 
feststellen,  der  dann  bei  der  Orientierung  mittels  des  Kom- 
passes entsprechend  berücksichtigt  werden  kann. 

Dr.  C.  Fahrenholz. 

Zur  gleichen  Frage  schreibt  man  uns:  Wenn  Seeschiffe 
vor  Antritt  einer  größeren  Reise,  bevor  sie  auf  ihren  Kurs 
gehen,  einen  Kreis  beschreiben,  so  machen  sie  Deviations- 
Eestimmungen.  Eine  ideale  Magnetnadel  würde  ja  rein 
geographisch  Nord-Süd  zeigen,  tut  dies  aber  in  praxi  nicht, 
sondern  sie  weist  nach  den  magnetischen  Polen,  die  nicht  mit 
den  geographischen  Polen  koinzidieren.  Resultat:  Der  Kom- 
paß zeigt  nicht  rechtweisend  Nord,  sondern  mißweisend, 
dies  natürlich  an  den  verschiedenen  Punkten  der  Erdoberfläche 
in  verschiedenem  Maße;  der  in  Rechnung  zu  stellende  diesbe- 
zügliche Fehler  heißt  Ortsmißweisung.  Dann  aber  wirken  nicht 
allein  die  eisernen  Bestandteile  des  Schift's,  dessen  Maschine, 
sondern  auch  dessen  Ladung  anziehend  auf  die  Nadel  ein,  je 
nach  der  F^ah  rtrichtung  in  stärkerem  oder  minderem  Maße. 
Diese  einzelnen  ablenkenden  Kräfte  können  vertreten  gedacht 
werden  durch  eine  Resultante  mit  verschiedener  richtender 
Kraft,  je  nach  dem  Ort,  wo  sie  im  Schiff  wirken  mag. 

Dies  ändert  sich  eben  mit  jeder  Reise  je  nach  der  Art 
der  Ladung,  und  diese  Fehlerquelle  muß  empirisch  festgelegt 
werden,  indem  man  faktisch  das  Schift'  im  Kreise  führt  und 
durch  entsprechende  Beobachtungen  die  Ablenkung  für  jeden 
Kompaßstrich  ermittelt,  d.  h.  die  Deviation  bestimmt,  die 
während    der    betr.   Reise  dann    als  Konstante  zu  nehmen  ist. 

Th.  G.  Voß. 

In  Heft  51  der  Naturwiss.  Wochenschrift  fragte  Herr 
J.  K.,  Cöln  an :  „Wie  ist  die  Tatsache  zu  erklären,  daß  fluß- 
abwärts treibende  Schiffe  ohne  Eigenbewegung  zu  steuern 
vermögen.'"  In  der  Antwort  darauf  fehlt  der  Hinweis,  daß 
das  talabwärts  treibende  Schiff  stets  auch  dann  eine  Eigen- 
bewegung zum  strömenden  Wasser  besitzt,  wenn  die  Strömung 
eine  ganz  gleichmäßige  ist,  weil  das  Schift"  mit  dem  Wasser 
ja  nicht  nur  treibt,  sondern  weil  es  auf  der  schiefen  (quasi) 
Ebene,  die  der  Fluß  bildet,  auch  nach  abwärts  gleitet,  für  sich. 
Besitzt  die  Flußoberlläche  zum  Beispiel  das  Gelälle  1  :  loooo, 
so  werden  mit  jedem  Meter  Talweg  bei  einem  600  Tonnen- 
Schiff  schon  60  kgm  frei,  die  das  Schiff  über  die  Strömungs- 
geschwindigkeit des   Wassers  hinaus    beschleunigen  ! 

Dr.   phil.  Wegner  v.   Dallwitz. 


Inhalt;  Alois  Czepa:  Schulzfärbung  und  Mimikry.  ^Fürts.).  Alfred  Wenzel:  Kristallstruktur  und  Röntgenstrahlen.  — 
Einzelberichte:  Ruff  und  Tschirch:  Fluoride  des  Osmiums.  E.  Ebler:  Über  Neuerungen  in  der  Technologie  des 
Radiums  und  der  Uranerze.  A.  Ernst:  Die  Parthenogenesis  von  Balanophora.  T  h  u  r  n  w  al  d :  Kulturbesitz 
der  Papua-Melanesier.  —  Kleinere  Mitteilungen:  H.  Schönborn:  Über  Schlagwetleranzeige  und  die  Haber'sche 
Schlagwctterpfeife.  K.  Schutt:  Nebel.  —  Bücherbesprechungen:  Ludwig  Stelz:  Entstehung  und  Entwick- 
lung des  Menschen  bis  zur  Geburt  und  die  daraus  sich  ergebenden  Regeln  für  das  Geschlechtsleben  der  reiferen 
lugend.  —  Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstrafie   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Fül.se   13.   Hnml ; 
der  ganzen    Reihe   29.  Band. 


Sonntag,  den  8.  Februar  1914. 


Nummer  6. 


Schutzfärbung  und  Mimikry. 


[Nachdruck  verboten. 


Von  Dr.  Alois 


II.  Warn-  und  Schreckfärbung. 

Im  Gegensatz  zu  den  sympathisch  gefärbten 
Tieren  steht  eine  Anzahl  auffallend  gefärbter  oder 
gezeichneter  Formen,  die  aber  trotzdem  ver- 
hältnismäßig wenig  Feinde  haben,  weil  sie  durch 
widrige,  scharfe,  übelriechende  oder  gar  giftige 
Ausscheidungen  geschützt  sind.  Parallel  mit  der 
Schutzfärbung  hat  man  hier  eine  Warnfärbungs- 
theorie  konstruiert  und  ihr  folgende  Begründung 
mitgegeben.  Wäre  ein  durch  derartige  Aus- 
scheidungen geschütztes  Tier  unscheinbar  oder 
gar  kryptisch  gefärbt,  so  liefe  es  immer  Gefahr, 
daß  ein  Raubtier  es  entdeckte  und  bei  dem  Ver- 
suche, es  zu  verzehren,  tötete  oder  auch  nur  be- 
schädigte. Nähme  auch  dann  der  Feind  die  Un- 
genießbarkeit  des  Tieres  war,  so  wäre  die  Art 
trotzalledem  in  ihrem  Bestand  gefährdet,  da  sie 
beständig  jirobeweisen  Angriffen  ausgesetzt  wäre, 
da  die  Unscheinbarkeit  des  Aussehens  keine  Er- 
innerung an  die  unangenehme  Erfahrung  zurück- 
ließe. Zeigt  das  Tier  aber  grelle,  auffallende 
Farben,  so  wird  das  Bild  dem  Feinde  im  Ge- 
dächtnisse bleiben  und  er  wird  sich  nach  einigen 
Versuchen  hüten,  die  so  gezeichneten  Tiere  an- 
zugreifen. Es  erweist  sich  daher  die  Warnfärbung 
als  ein  ausgezeichnetes  Schutzmittel  für  die  Art, 
wenn  sie  auch  dem  Individuum,  das  zur  Probe 
dienen  muß,  nichts  nützt. 

Diese  Erklärung  klingt  sehr  plausibel  und 
wird  noch  durch  das  Verhalten  der  Tiere  unter- 
stützt. Alle  derart  geschützten  Formen  entbehren 
fast  aller  anderen  Schutzmittel.  Sie  sind  nicht 
wehrhaft,  sind  langsam,  suchen  keine  Deckungen 
auf,  sondern  zeigen  sich  bei  hellichtem  Tage  in 
einer  Umgebung,  in  der  sie  stark  auffallen  müssen, 
kurz  leben  so,  daß  man  die  Erklärung  der  Warn- 
färbung ganz  selbstverständlich  findet. 

Und  doch  gibt  es  auch  bei  der  Warnfärbung 
viele  Lücken,  wenn  auch  nicht  halb  so  viele  als 
bei  der  Schutzfärbung. 

Ich  muß  es  mir  auch  hier  versagen,  spezielle 
Beispiele  eingehend  anzugeben,  und  glaube  mit 
Recht  die  Kenntnis  der  meisten  voraussetzen  zu 
können.  Unsere  Aufgabe  ist  es  hier,  an  einigen 
Fällen  zu  zeigen,  daß  es  mit  der  schönen  Theorie 
nicht  so  ganz  stimmen  kann,  auch  hier  natürlich 
vom  Standpunkte  der  Selektion.  Denn  die  Warn- 
färbung entwickelt  sich  ja  als  Folge  einer  ge- 
wissen Immunität. 

Auch  die  Warnfärbungstheorie  macht  Voraus- 
setzungen, deren  Richtigkeit  nicht  ganz  einwand- 
frei ist.  Wenn  man  annimmt,  daß  alle  warn- 
gefärbten Tiere  schlecht  schmecken,  so  geht  man 


Czepa,  Wien.  (Schluß.) 

vielleicht  etwas  zu  weit,  weil  man  von  vielen 
nicht  weiß,  ob  es  in  der  Tat  so  ist.  Wird  ein 
Tier  von  anderen  nicht  gern  gefressen,  so  muß 
es  eben  schlecht  schmecken.  Die  Wanzen  sind 
nach  unserer  Ansicht  durch  das  Sekret  ihrer 
Slinkdrüsen  geschützt,  denn  sie  werden  von  den 
insektenfressenden  Tieren  nur  dann  genommen, 
wenn  schon  kein  anderes  Futter  mehr  da  ist.  Ich 
sage  nach  unserer  Ansicht,  denn  wir  kennen  In- 
sekten, z.  B.  Heuschrecken,  die  als  Lieblingsfutter 
unserer  Eidechsen  gelten  müssen  und  deren 
Speichel,  den  sie  bekanntlich  in  reichlicher  Menge 
absondern,  sehr  bitter  ist  und  gewiß  nicht  ab- 
sonderlich schmecken  wird.  Und  daß  sich  Ei- 
dechsen nicht  abhalten  lassen,  auch  Wanzen  zu 
vertilgen,  beweist  uns  der  Umstand,  daß  im  Früh- 
jahr ihr  Magen  mit  allen  möglichen  Insekten, 
vor  allem  den  bekannten  roten,  sonst  gemiedenen 
Bauniwanzen  gefüllt  ist.  Und  setzen  wir  ihnen 
im  Sommer  nichts  anderes  vor  als  derartige 
Tiere,  so  werden  sie  diese  Kost  ohne  weiteres 
annehmen,  weil  sie  eben  Hunger  haben.  In  jedem 
Terrarium  kann  man  diese  Beobachtung  machen. 
Ein  weiterer  Einwand  ist  der,  daß  die  Warn- 
färbung überhaupt  bloß  dadurch  zustande  kommt, 
daß  in  der  Haut  die  bestimmt  gefärbten,  chemi- 
schen Verbindungen  als  Produkte  des  Stoff- 
wechsels abgelagert  werden,  daß  also  die  Färbung 
ein  rein  physiologischer  Vorgang  ist,  der  mit  der 
Selektion  überhaupt  in  keinem  Zusammenhange 
steht.  LInterstützt  wird  diese  Annahme  durch 
mehrere  Tatsachen;  bei  vielen  Tieren  gelangen 
gewisse  auffallende  Pigmente  bloß  durch  die 
Nahrung  in  den  Körper  und  werden  in  der  Haut 
abgelagert  \) ,  andere  Tiere  sind  deswegen  nur 
giftig  oder  ungenießbar,  weil  sie  von  giftigen 
Pflanzen  leben.  So  sind  viele  Schmetterlinge  ge- 
schützt, weil  ihre  Raupen  auf  den  giftigen  Aristo- 
lochien  und  Solaneen  leben,  wie  wir  von  Haase^) 
wissen.  Und  Eisig  ^)  berichtet,  daß  ein  Borsten- 
wurm in  der  Haut  dasselbe  orangerote  Pigment 
besitzt  wie  der  Schwamm,  auf  dem  er  lebt.  — 
Allerdings  ist  gerade  dieser  Einwand  kein  Beweis 
gegen  die  Selektion,  da  physiologische  Vorgänge 
stets  vorhanden  sein  müssen  und  sie  erst  eine 
Selektion  ermöglichen.  Denn  dadurch,  daß  eben 
die  Haut  auffallend  infolge  der  Stoffwechsel- 
produkte  gefärbt  wurde,   diese   Stoffe   aber    eine 


')  Haase,  Untersuchungen  über  Mimikry  auf  Grund 
eines  natürlichen  Systems  der  Papilioniden   1893. 

^)  Eisig,  Fauna  und  Flora  des  Golfes  von  Neapel,  16. 
2.  Stück   1887. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Immunität  bedangen,  konnte  durch  Selel<tion  eine 
Verbesserung  der  Warnfärbung  einsetzen. 

Anders  verhält  es  sich  aber  mit  folgendem 
Umstände.  K  a  m  m  e  r  e  r  konnte  an  unserem  Feuer- 
salamander, dem  schönsten  Beispiele  für  Warntär- 
bung  unter  den  Amphibien,  zeigen,  daß  die  gelben 
Flecke  in  der  sonst  schwarzen  Haut  durchaus  nicht 
etwas  Fixes,  sondern  variabel  sind.  Er  veränderte 
die  Färbung  der  Tiere  dadurch,  daß  er  sie  auf  ver- 
schieden gefärbten  Böden  hielt;  und  zwar  wurden 
die  Salamander,  die  er  auf  hellem  Lehmboden 
hielt,  bedeutend  heller,  da  sich  die  gelben  Flecken 
\ergrüßerten,  und  die  auf  schwarzer  Erde  wurden 
durch  Verkleinerung  und  Verringerung  der  gelben 
Flecken  viel  dunkler.  Das  Ergebnis  ist  keine 
Stütze  der  Theorie.  Denn  wir  hätten  unbedingt 
erwarten  müssen,  daß  auf  dem  hellen  Boden  eine 
Verdunklung,  auf  dem  dunklen  eine  Aufhellung 
eintreten  wird,  da  ja  die  Auffälligkeit  das  Wesen 
der  Warnfärbung  ist.  Dieses  Experiment  ist  eher 
ein  Beweis  für  die  Ansicht  vieler,  daß  es  sich  bei 
den  Färbungen  der  Tiere  um  eine  Art  Farben- 
photographie  handelt,  die  ohne  Rücksicht  auf  den 
Wert  oder  Unwert  für  das  Leben  des  Tieres  vor 
sich  geht.  Und  dann  zeigt  es  wieder,  daß  man 
mit  Erklärungen  sehr  vorsichtig  sein  muß,  die 
nur  nach  der  \^'ahrschei^lichkeit  für  bestehende 
Tatsachen  gegeben  werden. 

Sehen  wir  aber  von  allen  diesen  Einwänden 
ab,  so  bleibt  doch  immer  noch  die  große  Frage 
unbeantwortet,  warum  die  Warnfärbung,  die  die 
Tiere  ja  unvergleichlich  besser  schützen  müßte 
als  die  Anpassungsfärbung,  so  relativ  selten  ist, 
zum  mindesten  \iel  seltener  als  die  Anpassung.  Ich 
möchte  nicht  versäumen,  an  dieser  Stelle  die  An- 
sicht Jacobi's  wörtlich  zu  zitieren,  die  er  als 
Entgegnung  auf  diese  Frage  in  seinem  Buche  ^) 
gibt,  um  zu  zeigen,  mit  welchen  Beweisen  und 
Schlüssen  man  Einwendungen  zu  erledigen  glaubt: 
„Wenn  wir  im  Auge  behalten,  daß  Warnfärbung 
als  solche  irgendeine  Art  Immunität  zur  Grund- 
lage hat,  so  schränken  die  aposematischen  -)  Arten 
im  allgemeinen  den  Ernährungsbereich  der  räube- 
rischen Tiere  ihres  Wohngebietes  ein,  und  zwar 
desto  mehr,  je  größer  ihre  Zahl  ist  und  je  häufiger 
die  eine  oder  andere  ist.  Dadurch,  daß  gerade 
eine  individuenreiche  Art  durch  ihre  Entwicklung 
zu  einer  aposematischen  Tracht  gelangt,  muß 
sie  die  Befriedigung  des  Nahrungsbedürfnisses 
ihrer  Feinde  auf  andere,  nicht  geschützte  Arten 
lenken.  Falls  diese  nun  auch  durch  irgendwelchen 
Entwicklungsanlaß  auf  den  Weg  zur  Immunität 
kämen,  so  könnten  die  Räuber  in  die  Nötigung 
versetzt  werden,  unter  Überwindung  des  Ekels 
die  unangenehme  Kost  anzunehmen  und  damit 
würde  der  Vorteil  der  Warnfärbung  als  eines  auf- 
fallenden Kennzeichens  in  das  Gegenteil  verkehrt. 


■)  Jacob  i,  Mimikry  und  verwandte  Erscheinungen. 
Braunschweig   1913. 

-)  Unter  ,,aposematisch"  versteht  er  „durch  Warnfärbung 
geschützt".  Roulton  hat  den  Namen  Aposem  für  Warn- 
erscheinungen zum  ersten  Male  gebraucht. 


sie  würde  die  Entdeckung  der  Beute  gerade  er- 
leichtern. Demnach  ist  es  für  den  Daseinskampf 
in  einem  umgrenzten  Gebiet  wichtig,  daß  seine 
Lebensgemeinschaft  nur  eine  mäßige  Anzahl 
aposematischer  Arten  enthält." 

Man  kann  sich  wohl  schwer  eine  komischere 
Erklärung  denken.  Seit  wann  spielen  bei  der 
Selektion  Vernunftgründe  mit?  Es  ist  ja  alles 
sehr  schön  und  verständlich,  wer  gebietet  nur 
dem  Entstehen  der  aposematischen  Arten  Einhalt? 
Es  dürfen  nur  eine  bestimmte  Anzahl  aposemati- 
scher Arten  sein  und  das  genügt,  um  ihr  Ent- 
stehen zu  verhindern.  Lauter  den  durch  An- 
passungsfärbung geschützten  Tieren  wütet  der 
Kampf  ums  Dasein,  die  Konkurrenz  ist  eine  un- 
geheure, immer  vollkommener  muß  die  Anpassung 
werden,  nur  keine  neuen,  aposematischen  Arten 
dürfen  entstehen;  das  Aposem  ist  das  Vorrecht 
einiger  weniger  Gruppen  und  eine  Überfüllung 
ist,  weil  gefährlich,  nicht  erlaubt.  Welche  große 
Macht  dies  bewirkt,  verschweigt  Jacobi  leider, 
obwohl  ihre  Kenntnis  für  uns  von  Vorteil  sein 
könnte. 

Eine  derartige  Ansicht  ist  um  so  unverständ- 
licher, wenn  man  sieht,  daß  er  wenige  Seiten 
später  alle  die  Feinde  der  aposematischen  Arten 
angibt ;  es  ist  auch  gar  kein  Grund  einzusehen, 
warum  unter  den  aposematischen  Arten  nicht 
ein  Kampf  ums  Dasein  ausbrechen,  warum 
ihre  Giftigkeit,  ihr  Geruch  usw.  nicht  immer  ärger 
werden  könnte.  Denn  der  Vernunftgrund,  daß 
die  Wirksamkeit  der  Warnfärbung  vergehen  muß, 
wenn  sie  zu  häufig  wird,  kann  doch  unmöglich 
auch    nur   für  Minuten    ernst    genommen   werden. 

Wir  werden  vielmehr  die  Frage,  warum  Warn- 
färbung und  Immunität  verhältnismäßig  viel  sel- 
tener ist  als  Schutzfärbung,  vor  allem  dadurch 
erklären,  daß  die  Immunität  durch  die  Lebens- 
weise, Nahrung,  Stoffwechsel  usw.  bedingt  ist  und 
infolgedessen  nur  gewissen  Tieren  zukommt  und 
dann  daß  diese  Immunität  kein  Schutz  ist, 
wenigstens  kein  großer. 

Daß  es  mit  dem  Schutz  nicht  weit  her  sein 
kann,  muß  uns  eine  kurze  Überlegung  zeigen; 
wären  die  Tiere  wirklich  geschützt  und  fielen 
sie  nur  unerfahrenen  Feinden  zum  Opfer,  dann 
müßte  ihre  Zahl  bei  selbst  langsamster  Ver- 
mehrung ungeheuere  Dimensionen  annehmen. 
Daß  dies  nicht  so  ist,  daß  derartige  Tiere  nicht 
einmal  häufiger  sind  als  nicht  durch  Warnfärbung 
geschützte,  zeigt  uns  die  einfache  Beobachtung. 
Und  dringen  wir  tiefer  ein,  dann  wird  es  uns 
nicht  schwer  fallen,  die  merkwürdige  Entdeckung 
zu  machen,  daß  die  aposematischen  Arten  genau 
so  ihre  Feinde  haben  wie  die  anderen  Tiere. 

Ich  will  hier  nur  einige  erwähnen.  Unser 
Feuersalamander  wird  von  allen  Schlangen,  die 
Amphibien  fressen,  wie  Ringelnatter,  ohne  Schaden, 
ja  mit  Vorliebe  verzehrt.  Werner  gibt  an,  daß 
viele  Schlangen  (Tropidonotus,  Heterodon,  Lepto- 
dira,  Caususj  nicht  durch  die  schärfsten  Haut- 
sekrete   (wie    das    von    Bufo    viridis)    abgehalten 


N.  F.  XIII.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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werden.  Die  Raupen  des  Kohlweißlings  (Pieris 
brassicae  L.)  werden  von  \'ögeln  nicht  verzehrt, 
dafür  fallen  sie  aber  Schlupfwespen  im  ungeheueren 
Maße  zum  Opfer;  Poulton  sah  von  533  Raupen 
424  auf  diese  Weise  umkommen.  Nach  Werner 
gehören  in  den  österreichischen  Voralpen  die 
Raubfliegen  der  Gattung  Laphria  zu  den  größten 
Feinden  der  Marienkäferchen,  die  von  ihnen  ge- 
fangen und  ausgesaugt  werden.  Und  da  auf  einem 
Areale  von  bestimmter  Größe  kaum  soviel  Frösche 
leben  als  Hunderte  von  Laphrien,  so  sind  letztere 
für  die  Coccinellen  jedenfalls  gefährlicher  als  es 
die  Frösche  wären,  wenn  sie  von  Coccinellen 
lebten.  Nach  demselben  Autor  werden  die  After- 
raupen gewisser  Blattwespen  von  Mantis  religiosa 
mit  Begier  gefressen,  obwohl  sie  von  den  Wirbel- 
tieren verschmäht  werden.  Nach  Versuchen  von 
IMateau  nützt  Warnfärbung  gegen  Raubinsekten 
überhaupt  nichts. 

Was  werden  wir  daher  von  der  schönen  Warn- 
färbung zu  halten  haben?  Nicht  sehr  viel  und 
wir  werden  ebenfalls  wie  bei  der  Schutztärbung 
mit  unseren  Erklärungsversuchen  recht  vorsichtig 
sein  müssen.  Wir  werden  auch  hier  die  Ein- 
wendung, daß  die  Tiere  ohne  Warnfärbung  noch 
weniger  geschützt  wären,  auf  die  gleiche  Weise 
erledigen  wie  bei  der  Schutzfärbung,  daß  die 
Auswahl  der  Nahrung  etwas  Fixes,  wie  Werner 
sagt,  etwas  historisch  Gewordenes  ist. 

Ganz  anders  verhält  es  sich  mit  der  Schreck- 
färbung, die  ja  wie  die  Warnfärbung  eine  auf- 
fallende Färbung  oder  Zeichnung  ist,  die  aber 
meist  harmlosen,  d.  h.  nicht  immunen  Tieren  zu- 
kommt, und  die  auch  von  vielen  im  Momente 
der  Gefahr  benutzt  wird.  Ich  erinnere  nur  an 
die  Unken,  die  durch  Zurückschlagen  des  Körpers 
ihre  grelle  Unterseite  zeigen  oder  an  Smerinihus 
ocellata,  das  Abendfauenauge,  das  in  seiner  Ruhe 
gestört  mit  gespreizten  Flügeln  wippende  Be- 
wegungen ausführt  und  dadurch  viele  Vögel  ver- 
treibt. Über  die  Wirkung  dieser  wenigen  Fälle 
sind  wir  durch  eingehende  Beobachtungen  unter- 
richtet und  haben  keinen  Grund,  an  ihr  zu  zweifeln. 

III.  Schützende  Ähnlichkeit. 

Zwischen  schützender  Ähnlichkeit  und  Mimikry 
hat  man  früher  keinen  Unterschied  gemacht,  hat 
überhaupt  mit  dem  Namen  Mimikry  alle  die  Er- 
scheinungen belegt,  wenn  ein  Tier  einen  Gegen- 
stand seiner  Umgebung,  sei  es  nun  einen  leblosen 
oder  einen  belebten,  nachahmte,  zum  Unterschied 
von  der  einfachen  Schutzfärbung,  die  die  Tiere 
in  ihrer  Umgebung  verschwinden  läßt,  da  sie 
ihnen  alle  auffallenden  Details  nimmt.  Heute 
macht  man  mit  Recht  schärfere  Unterschiede, 
versteht  unter  Mimikry  nur  die  schützende  Nach- 
ahmung gemiedener  Tiere  durch  andere  Tiere 
desselben  Wohngebietes  und  faßt  als  schützende 
Ähnlichkeit  alle  die  Fälle  zusammen,  in  denen 
Tiere  leblose  Gegenstände  als  Modelle  benutzen. 
Der  Unterschied  ist  insofern  gerechtfertigt,  als  die 


schützende  Ähnlichkeit  dem  Tiere  nur  dann  von 
Nutzen  sein  kann,  wenn  es  sich  ruhig  verhält, 
also  verborgen  bleibt,  die  Mimikry  aber  das  Gegen- 
teil, die  Sichtbarkeit  des  Tieres  fordert. 

Zur  schützenden  Ähnlichkeit  zählen  vor  allem 
die  Formen,  welche  Rindenstücke,  Zweige,  Blätter 
usw.  nachahmen  und  die  bekanntlich  in  den 
Tropen  in  ziemlicher  Zahl  vorhanden  sind. 

Man  müßte  sich  wirklich  den  Namen  eines 
blinden,  verbohrten  Hetzers  gefallen  lassen,  wollte 
man  die  große,  ja  geradezu  verblüffende  Ähnlich- 
keit des  laekannten  Schmetterlinges  Kallima  mit 
einem  trockenen  Laubblatte  bestreiten  oder  wollte 
man  nicht  zugeben,  daß  es  schwer  sei,  die  Heu- 
schrecke Phyllium  auf  grünen  Blättern  zu  er- 
kennen. 

Daß  diese  Formen  zum  großen  Teile  ihren 
Modellen  sehr  ähnlich  sind,  ist  gar  keine  F"rage; 
nicht  so  ganz  einwandfrei  ist  schon  die  Behaup- 
tung, daß  die  Tiere  durch  diese  Ähnlichkeit  ge- 
schützt sind,  da  sie  sich  dann,  wie  wir  schon 
einmal  erwähnt,  sehr  stark  vermehren  müßten 
und  sie  gewiß  nirgends  sehr  häufig  sind.  Der 
Einwand,  daß  diese  Tiere  eben  diesen  Schutz 
haben  müssen,  weil  sie  nicht  in  großer  Zahl  vor- 
kommen, ist  aber  nicht  stichhaltig.  Denn  in  der 
Natur  findet  sich  bekanntlich  die  sehr  weise  Ein- 
richtung, daß  stark  verfolgte  P^ormen  durch  zahl- 
reiche Vermehrung  das  notwendige  Gleichgewicht 
herstellen.  Es  ist  daher  eher  die  Sache  so  zu 
drehen,  daß  infolge  des  Schutzes  die  Vermehrung 
eine  schwächere  sein  kann.  Es  ist  also  der  Vor- 
teil gar  nicht  so  groß.  Denn  die  Erhaltung  der 
Art  kann  und  wird  auch  auf  andere  Weise  nur 
zu  oft  durchgeführt.  Und  um  den  Vorteil  handelt 
es  sich  dabei,  denn  auch  die  schützende  Ähnlich- 
keit ist  ein  Kind  der  Selektion  und  als  solche 
durch  den  Kampf  ums  Dasein  und  die  natürliche 
Zuchtwahl  entstanden.  Und  wollen  wir  auch 
nicht  die  Selektion  ganz  missen,  so  dürfen  wir 
ihr  doch  nicht  P'ähigkeiten  zuschreiben,  die  sie 
nicht  besitzt.  Man  hat  lange  Zeit  die  große 
Schwäche  der  Selektion  unberücksichtigt  gelassen, 
daß  sie  nämlich  den  Nutzen  ganz  geringer  Unter- 
schiede zwischen  Formen  derselben  Art  zu  hoch 
wertet  und  auf  Grund  dieser  Kleinigkeiten  die 
Auswahl  für  möglich  hält.  Man  hat  mit  P"einden 
der  Tiere  gerechnet,  die  gar  nicht  existieren 
können.  Heute  ist  man  so  weit,  daß  man  der 
Selektion  erst  dann  eine  Macht  zugesteht,  wenn 
tatsächliche  Unterschiede  in  den  Formen  der  Art 
vorhanden  sind.  Und  es  ist  vor  allem  das  Ver- 
dienst Eimers,  den  Gedankender  bestimmt  ge- 
richteten Entwicklung  ausgesprochen  zu  haben, 
der  in  kurzem  besagt,  daß  die  Umbildung  der 
Arten  nicht  nach  zahlreichen  Richtungen  hin  bloß 
dem  Zufall  unterworfen  erfolge,  sondern  nur  nach 
wenigen  Richtungen  und  nach  erkennbaren  Ge- 
set7,en  und  daß  die  Ursachen  einer  derartigen 
Umbildung  in  den  äußeren  Einflüssen,  so  da  sind 
Klima,  Feuchtigkeit,  Nahrung  usw.,  zu  suchen  sind. 
Allerdings  setzt  er  dabei  die  Vererbung  erworbener 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  6 


Eigenschaften  voraus,  die  aber  wenigstens  in  diesem 
Sinne  gewiß  nicht  bestritten  wird. 

In  dem  Rahmen  dieser  Entwicklung  herrscht 
die  Selektion  und  wir  können  uns  da  ganz  gut 
eine  Vorstellung  von  dem  Entstehen  der  schützen- 
den Ähnlichkeit  machen,  wenn  wir  noch  die  An- 
gaben Werner 's  berücksichtigen,  die  er  über 
die  Blatt-  und  Astnachahmer  macht.  Er  geht  von 
der  Tatsache  aus,  daß  breitere,  abgeplattete  Formen 
an  Baumstämmen,  schmale,  langgestreckte  im 
Grase  und  an  dünnen  Ästen  leben,  erstens  weil 
sie  sich  leichter  und  besser  bewegen  und  vor 
allem  wirkungsvoller  schützen  können.  Er  gibt 
mehrere  Beispiele  an,  bei  denen  zwischen  Männ- 
chen und  Weibchen  ein  Unterschied  in  der  Ge- 
stalt besteht,  das  erstere  schlank  ist  und  im  Grase 
lebt,  das  letztere  aber  breit  ist  und  sich  auf 
Bäumen  aufhält. 

Es  liegt  also  der  Anfang  der  Entwicklung  in 
der  Anpassung  der  Gestalt  an  die  angenommene 
Lebensweise,  und  da  speziell  bei  den  Astnachahmern 
die  dünne  langgestreckte  Gestalt  das  Charakte- 
ristische ist,  so  ist  damit  schon  viel  gegeben.  Es 
ist  nur  noch  das  Auftreten  der  zahlreichen  An- 
hänge bei  den  Blattnachahmern  zu  erklären,  durch 
die  sie  erst  ihre  große  Ähnlichkeit  mit  Blättern 
und  Blatteilen  erlangen. 

Werner  weist  darauf  hin,  daß  wir  Blattnach- 
ahmer nur  in  den  Tropen  finden,  obwohl  doch 
auch  in  den  gemäßigten  Klimaten  Laubbäume 
mehr  als  genug  vorkommen ,  stabförmige  Heu- 
schrecken aber  nicht  auf  heiße  Gegenden  be- 
schränkt sind,  sondern  auch  bei  uns  leben,  wie 
der  bekannte  Bazillus  beweist,  der  in  Istrien  auf 
Gebüschen  oft  in  Menge  vorkommt.  Und  auch 
in  den  Tropen  sind  die  Blattnachahmer  nicht 
überall  zu  finden,  sie  fehlen  allen  trocken  heißen 
Gebieten  und  treten  nur  in  den  feuchten  Urwäl- 
dern auf  In  den  Waldbezirken  von  Ostafrika  und 
in  denen  von  Westafrika  sind  sie  überall,  fehlen 
aber  im  ägyptischen  Sudan  bis  auf  wenige  seltene 
Arten  vollständig,  da  hier  die  Grassteppe  vor- 
herrscht und  das  Klima  den  größten  Teil  des 
Jahres  hindurch  trocken  ist.  In  den  Tropenwäldern 
aber  wachsen  den  Chamäleons  die  Hörner  und 
Rückenhautsäume,  den  Eidechsen  die  Kehlsäcke 
und  Rückenkämme  und  den  Heuschrecken  die 
Anhänge.  Es  ist  also  eine  Hypertrophie,  die 
durch  das  Tropenklima  hier  erzeugt  wird.  Der 
genannte  Forscher  bringt  auch  Beispiele  hierfür, 
er  zeigt,  daß  es  Formen  gibt,  die  die  Anhänge 
in  versch'edenem  Grade  ausgebildet  haben,  daß 
es  zwischen  vielen  Übergänge  gibt,  ja  daß  es 
Arten  gibt,  in  denen  man  den  Wandel  und  die 
Vergrößerung  der  Anhänge  konstatieren  kann. 
Er  weist  auf  die  sudanesische  Fangheuschrecken- 
gattung Stenovates  hin,  die  sich  von  der  echt 
tropisch-afrikanischen  Heterochaeta  bloß  dadurch 
unterscheidet,  daß  bei  letzterer  die  Dornen  an 
den  Hüften  der  Vorderbeine  in  dreieckige  Blätt- 
chen umgewandelt  sind.  ^)  Die  Formen  der 
Raubbeine  vieler  echt  tropischer  Fangheuschrecken 


Afrikas  sind  im  Vergleich  zu  denen  ihrer  nicht 
tropischen  Verwandten  bedeutend  verbreitert  und 
abgeflacht. 

Es  ist  also  die  Bildung  der  verbreiterten  Beine 
und  der  Anhänge  eine  Folge  der  Lebensweise  in 
den  feuchtheißen  Gebieten  und  die  bestimmt  ge- 
richtete Entwicklung  führt  dann  im  Laufe  der 
Zeit    zu    den  Formen,   wie  wir  sie  heute  kennen. 

Daß  diese  Ansicht  sehr  viel  Wahrscheinlich- 
keit für  sich  hat,  dafür  sprechen  alle  die  Fälle,  in 
denen  Tiere  Ähnlichkeiten  erhalten,  die  sie  niemals 
ausnützen,  daß  sie  infolge  ihrer  Lebensweise  und 
der  auf  sie  einwirkenden,  äußeren  Umstände  Ge- 
stalten besitzen,  die  sie  als  gute  Beispiele  schützen- 
der Ähnlichkeit  bezeichnen  müssen,  deren  Lebens- 
weise aber  ihr  Aussehen  vollständig  desavouiert. 
Ich  erinnere  nur  an  die  bekannten  Buckelzirpen, 
die  mit  pflanzlichen  Hartgebilden  wie  Dornen, 
Stacheln,  weichen  Fruchtschalen  usw.  für  mensch- 
liche Begriffe  eine  sehr  große  Ähnlichkeit  haben, 
die  aber  ihrer  Ähnlichkeit  nicht  entsprechend 
leben.  Sie  sind  ausgezeichnete  Springer  und 
wissen  sich  bei  jeder  Gefahr  wie  Flöhe  sofort  aus 
dem  Staube  zu  machen.  Für  sie  hat  ihre  große 
Ähnlichkeit  mit  ungenießbaren  Gebilden  keinen 
Wert,  da  sie  sie  nicht  auszunutzen  verstehen  und 
auch  nicht  brauchen.  Fällt  aber  der  Nutzen  weg, 
dann  fällt  die  Selektion  und  die  schützende  Ähn- 
lichkeit ebenfalls  fort  und  wir  müssen,  wollen  wir 
uns  über  die  merkwürdige  Erscheinung  eine  Er- 
klärung geben,  die  äußeren  und  inneren  Einflüsse 
als  Ursachen  gelten  lassen,  die  ohne  Rücksicht 
auf  Nutzen  oder  Schaden  für  das  Tier  die  Ände- 
rungen bewirken.  Lassen  wir  aber  in  diesem 
Falle  den  Nutzen  aus  dem  Spiele  und  erklären 
wir  das  Ergebnis  der  Entwicklung  als  eine  Folge 
äußerer  und  innerer  Einwirkungen,  so  müssen  wir 
konsequent  auch  dann  die  gleiche  Erklärung 
geben,  wenn  die  Entwicklung  zufällig  Formen 
zeitigt,  die  anderen  Gebilden  ähnlich  sehen.  Und 
Entz  hat  vollkommen  recht,  wenn  er  erklärt,  daß 
die  vergleichende  Biologie  Besseres  zu  tun  hat, 
als  zu  raten,  welchem  Ding  dieses  oder  jenes  Tier 
ähnlich  sehe. 

Unser  Bestreben  muß  es  sein,  Erklärungen  für 
die  Erscheinungen  zu  suchen  und  nicht  eine 
Theorie  auf  alle  Fälle  zu  halten.  Eine  Theorie, 
die  nicht  imstande  ist,  einen  Vorgang  verständ- 
lich zu  machen,  hat  aber  ihren  eigentlichsten 
Zweck  verfehlt.  Wir  verlangen,  daß  sie  uns  über 
die  schwierigen  Stellen  hinweghilft,  und  gerade 
hier  läßt  sie  vollkommen  aus.  Sie  vermag  nicht 
die  Entstehung  auch  nur  einer  einzigen  Form  zu 
erklären,  wenn  man  sich  nicht  mit  wenigen  Wor- 
ten selbst  etwas  vortäuschen  läßt  oder  auf  Schritt 
und  Tritt  die  weitgehendsten  Zugeständnisse 
macht.  Wie  sollen  wir  uns  die  Entstehung  von 
Phyllium  z.  B.  vorstellen  ?    Mit  den  gewöhnlichen 


')  Da  man  in  Westafril;a  Übergangsformcn  beider  Gat- 
tungen gefunden  hat,  so  wurden  beide  Gattungen  zusammen- 
gezogen. 


N.  F.  XIII.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  VVochcnsclirift. 


85 


Angaben,  daß  die  am  meisten  Blattähnlichen  stets 
erhalten  blieben,  ist  doch  nicht  auszukommen. 
Mit  was  für  Feinden  rechnet  man  da  ?  Die  Selek- 
tion nimmt  geringe  Differenzen  an,  die  der  Feind 
nicht  beachtet.  Ich  sage  der  Feind,  da  die  Tiere 
wie  bereits  erwähnt,  bestimmte  h'einde  haben  und 
diese  ihre  Beutetiere  genau  kennen  und  auch  zu 
finden  wissen ,  wie  sie  uns  durch  ihr  Dasein  zur 
Genüge  beweisen.  Der  Feind  wird  die  Tiere 
aber  auch  dann  in  gleicher  Weise  wie  früher  an- 
gehen, wenn  sie  schon  durch  die  längere  Zeit 
bereits  währende  Selektion  besser  angepaßt  sein 
sollten.  Er  wird  sie  ebensogut  erkennen ,  denn 
er  hat  ihren  Werdegang  mitgemacht  und  hat,  weil 
sie  schwieriger  zu  finden  sind,  schärfere  Sinne 
ausgebildet.  Das  Tier  entgeht  also  durch  seine 
Anpassung  seinen  Feinden  nicht.  Nur  die  ge- 
legentlichen Feinde,  die  das  Tier  nur  gerade  so 
mitnehmen,  wenn  sie  es  finden,  werden  durch 
die  Ähnlichkeit  getäuscht  werden'  Diese  wenigen, 
zufälligen  Feinde  haben  aber  im  Kampfe  ums 
Dasein  nichts  zu  sagen;  sie  sind  unmöglich  die 
wirkenden  Faktoren  der  Selektion,  weil  sie  schon 
durch  ihre  geringe  Zahl,  durch  ihr  sporadisches 
Auftreten  keine  so  nachhaltige  Wirkung  haben 
und  so  gründliche  i\uslese  hervorrufen  können. 
Wo  bleibt  also  die  Erklärung?  W'ir  sind  ge- 
zwungen, anzunehmen,  daß  die  Tiere  nach  einer 
Richtung  hin  sich  entwickeln,  daß  diese  Entwick- 
lung durch  physikalische  und  physiologische  Fak- 
toren bedingt  ist,  und  erst  mit  dieser  Voraus- 
setzung kann  man  die  Selektion  als  wirkend  an- 
nehmen. Daß  man  aber  in  diesem  Falle  dann 
die  Selektion  zur  Erklärung  entbehren  kann,  ist 
klar.  Sicher  sinkt  sie  durch  die  Annahme  dieser 
Ansicht  von  der  gewaltigen  Höhe  herab  zu  einem 
eher  nebensächlichen  Faktor  und  die  ganze  schöne 
Theorie  von  der  schützenden  Ähnlichkeit  hat  auf- 
gehört. 

IV.   Mimikry. 

Was  von  der  schützenden  Ähnlichkeit  gesagt 
wurde,  gilt  auch  \on  der  Mimikry.  Auch  sie 
kann  durch  die  Selektion  nur  unter  vielen  Zuge- 
ständnissen erklärt  werden ,  für  viele  Fälle  fehlt 
eine  Erklärung  selbst  dann  noch. 

Daß  die  Mimikryhypothese  eine  grobanthro- 
pomorphistische  Anschauungsweise  voraussetzt,  ist 
I  schon  oft  gesagt  worden.  Es  ist  gar  nicht  so 
sicher,  daß  die  Tiere  dieselben  Ansichten  über 
Ähnlichkeit  haben  wie  wir,  und  es  ist  sehr  frag- 
lich, ob  sich  die  Tiere  ebenso  leicht  durch  mime- 
tische Formen  täuschen  lassen  wie  die  Menschen. 
Hierüber  zu  reden  hat  aber  derzeit  noch  keinen 
Sinn ,  da  hier  vor  allem  das  Tierexperiment  zu 
entscheiden  hat  und  die  bis  heute  vorliegenden 
Versuche  einander  vollständig  widersprechen. 

Die  Zahl  der  Mimikryfälle  ist  eine  ganz  enorme; 
speziell  die  Entomologie  gibt  die  meisten  und 
auch  die  schönsten  Beispiele.  Viele  Fälle  mußten 
allerdings  wieder  aufgegeben  werden ,  nicht  aus 
Mangel  an  Ähnlichkeit,  sondern  weil  das  wesent- 
hchste  Moment  der  Mimikr)-,  der  Schutz  der  durch 


die  Nachahmung  gewährleistet  ist,  oder  der  Nutzen, 
der  durch  Verwechslung  oder  Nichterkennen  ent- 
steht, mit  dem  besten  Willen  nicht  zu  finden  war. 
Trotz  allem  bleibt  noch  eine  große  Zahl  und  es 
ist  äußerst  interessant,  zu  untersuchen,  bis  in  wie 
kleine  Details  die  Ähnlichkeit  zweier  weit  ab  von- 
einander   stehenden    Arten    oft   durchgeführt    ist. 

Auf  alle  Fälle  im  einzelnen  einzugehen,  ist 
vollständig  ausgeschlossen ,  da  von  den  meisten 
viel  zu  wenig  bekannt  ist.  Wir  müssen  uns  daher 
auf  wenige  Beispiele  beschränken  und  aus  diesen 
unsere  weiteren  Schlüsse  ziehen.  Wählen  wir 
hierzu  die  bekanntesten  Formen  aus. 

Unter  den  Wirbeltieren  finden  wir  wenig  Bei- 
spiele für  Mimikry.  Nur  unter  den  Schlangen 
sind   eine  Reihe  von  Formen  bekannt. 

Hier  ist  es  die  große  Schar  der  Giftschlangen, 
die  durch  nicht  giftige  nachgeahmt  wird.  Vor 
allem  ist  die  amerikanische  Gattung  Elaps,  die 
wegen  ihrer  roten  Farbe,  die  durch  schwarze  oder 
gelbe  Ringe  unterbrochen  wird,  auch  ein  Beispiel 
für  Warnfärbung  ist,  für  viele  nichtgiftige  Schlangen 
Modell.     Wallace  nennt  einige  Fälle: 

Elaps    corallinus    —    Homalocranium    semi- 

cinctum 
Elaps    fulvius    —    Pliocercus    aequalis    und 

Coronella  tricincta 
Elaps  lemniscatus  —  Oxyrrhopus  trigeminus. 
Werner  gibt  noch  folgende  Gattungen  an,  die 
ebenfalls  die  auffallende  Farbe  und  Zeichnung  der 
Elaps  trugen:  Ophibolus,  Simophis,  Urotheca, 
Atractus,  Polyodontophis,  Cemophora,  Hydrops, 
Scolecophis  und  Erythrolamprus.  Eine  stattliche 
Zahl,  die  alle  durch  die  Warnfärbung  der  giftigen 
Schlange  geschützt  sein  wollen. 

Daß  zwischen  den  genannten  Formen  eine 
Ähnlichkeit  besteht,  ja  daß  manche  auf  den  ersten 
Blick  nicht  zu  unterscheiden  sind,  ist  sicher  und 
wird  niemand  bestreiten.  Es  ist  nur  die  Frage 
zu  beantworten,  ob  den  harmlosen  Schlangen  aus 
ihrer  Ähnlichkeit  mit  den  giftigen  ein  Vorteil  er- 
wächst. Ich  stehe  nicht  ab,  die  Frage  rundweg 
mit  Nein  zu  beantworten.  Denn  es  gibt  kein 
schlangenfressendes  Tier,  das  zwischen  ungiftigen 
und  giftigen  Schlangen  einen  Unterschied  machte, 
außer  daß  es  diese  letzteren  mit  etwas  größerer 
Vorsicht  angreift.  Von  einem  Täuschen  der  Beute 
kann  keine  Rede  sein  und  daß  die  Mimikry  als 
Schreckmittel  gegen  den  Menschen  da  ist,  v^'ird 
niemand  ernstlich  behaupten  wollen,  da  abgesehen 
davon,  daß  die  Zeichnung  sicher  älteren  Datums 
ist,  die  Schlangen  ob  giftig  oder  giftlos  in  gleicher 
Weise  überall  erschlagen  werden. 

Fällt  aber  der  Vorteil,  dann  fällt  auch  die 
Mimikry  und  wir  müssen  eine  andere  Erklärung 
suchen,  Werner  gibt  sie  in  seiner  bereits  öfter 
zitierten  Schrift.  „Finden  wir  also  derartig  ela- 
pidenartig  gefärbte  Schlangen  nur  in  Amerika 
(neotropische  Region),  ^)  so  kann  die  Ursache  nicht 
in    den  Elaps-Arten    liegen,    denn    warum    ist    in 


')  Die  Klammer  ist  im  Text  niclit  enthalten. 


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Naturwissenschaftliche  VVociienschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  6 


Australien,  wo  die  Hauptmasse  der  Elapiden  lebt, 
in  Afrika  und  in  Asien  keine  einzige  Art  so  ge- 
färbt? Es  muß  die  Ursache  in  den  (Ernährungs- 
oder klimatischen)  Verhältnissen  der  Region  selbst 
liegen,  wenn  wir  auch  so  gut  wie  nichts  darüber 
wissen,  und  diese  Verhältnisse  haben  die  Färbung 
der  Elaps-Arten  ebenso  wie  die  ihrer  Nachahmer 
bestimmt." 

Nur  so  läßt  es  sich  auch  erklären,  daß  unter  den 
Elaps-Nachahmern  zwei  opistoglyphe  Nattern  sind, 
Scolecophis  und  Er)-throIamprus,  deren  Gefährlich- 
keit mindestens  ebenso  groß  ist  wie  die  einiger 
amerikanischer  Elaps-Arten.  Was  hätte  daher  die 
Nachahmung  für  sie  für  einen  Nutzen  ?  Oder 
sollte  das  ein  schönes  Beispiel  für  Warnfärbung 
sein,  da  ja  nach  den  theoretischen  Gesetzen  die 
Färbung  um  so  wirksamer  sein  muß,  je  weniger 
Bilder  sich  der  Feind  zu  merken  hat.''  Schade, 
daß  diese  Schlangen  trotz  ihrer  Färbung  einen 
Schlangenfresser  nicht  zurückschrecken,  die  Freunde 
der  Warnfärbungstheorie  hätten  ein  prachtvolles 
Beispiel.  Außerdem  stellt  sich  noch  ein  zweiter 
Grund  der  Schlangenmimikry  entgegen.  Es  ist 
nämlich  von  giftigen  Elaps-Arten  bekannt,  daß 
sie  zum  größten  Teil  sehr  wenig  beißlustig  sind, 
daß  dagegen  die  Ophibolus- Arten ,  die  ja  mit 
ihrem  schwachen  Gebiß  nichts  ausrichten  können, 
sehr  erregbar  sind  und  sehr  rasch  beißen.  Müßte 
diese  Eigenschaft  den  Tieren  nicht  schaden,  wenn 
wirklich  ihr  Schutz  in  ihrer  Ähnlichkeit  mit  der 
Giftschlange  beruhte,  sie  aber  jeden  sofort  von 
ihrer  ungefährlichen  Natur  überzeugten  ? 

Man  hat  auch  unter  unseren  Schlangen  ein 
Beispiel  für  Mimikry  in  der  Kreuzotter  iVipera 
berus)  und  der  Schlingnatter  (Coronella  austriaca) 
zu  entdecken  geglaubt.  Dem  Laien  kann  es  wohl 
passieren,  daß  er  die  Schlingnatter  infolge  ihres 
kurzen,  gedrungenen  Körpers,  ihres  verbreiterten 
Kopfes,  ihrer  Kopf-  und  Rückenzeichnung  und 
schließlich  wegen  ihrer  Angriffslust  für  eine  Kreuz- 
otter hält,  und  mir  ist  es  bereits  öfter  vorgekom- 
men, daß  mir  getötete  Schlingnattern  als  Kreuz- 
ottern zugesandt  wurden.  Immer  aber  war  das 
nur  von  Leuten,  die  von  Schlangenkenntnis  keine 
Ahnung  hatten;  wer  sich  aber  nur  einmal  die 
beiden  Schlangen  genauer  angesehen  hat,  wird  sie 
sicher  nicht  mehr  verwechseln. 

Daß  auch  in  diesem  Falle  von  Mimikry  keine 
Rede  sein  kann,  da  die  Schlingnatter  eher  Nachteile 
als  Vorteile  aus  dieser  Ähnlichkeit  und  der  damit 
erleichterten  Verwechslungsmöglichkeit  ziehen 
muß,  ist  fraglos.  Trotzdem  erklärt  Jacobi:  „In 
den  dichter  besiedelten  Gegenden  Mitteleuropas,  wo 
man  die  Kreuzotter  auszurotten  sucht,  dürfte  diese 
Mimikry  der  Coronella  freilich  eher  verhängnisvoll 
sein  als  schützend.  Aber  die  beiden  Schlangen 
lebten  ja  längst  vor  der  menschlichen  Besiedlung 
ihrer  Heimat  nebeneinander,  und  da  die  giftige 
Art  ohne  ständige  Verfolgung  an  ihren  Wohn- 
plätzen sehr  häufig  ist,  die  Glattnatter  viel  spar- 
samer, so  treffen  die  allgemeinen  Mimikryregeln 
hier  sämtlich  zu." 


Wir  können  an  diesem  Beispiele  wiederum 
sehen,  wie  die  Mimikr\'theoretiker  arbeiten.  Was 
Jacobi  über  Glattnatter  und  Kreuzotter  sagt, 
ist  gelinde  gesagt  unrichtig.  In  den  weitaus 
meisten  Fällen  kommen  beide  Schlangen  auf  ein 
und  demselben  Gebiet  nicht  zusammen  vor,  weil 
sie  in  puncto  Aufenthalt  verschiedenen  Geschmack 
haben.  Die  Glattnatter  liebt  die  lichten,  trockenen, 
mit  Laubgebüsch  bestandenen,  mit  Steingeröll  und 
Erdlöchern  versehenen  Anhöhen,  sonnige  Halden, 
warme  helle  Waldschläge.  Sie  ist  im  Mittelge- 
birge zu  Hause.  Kahle  Felsplateaus,  Hochmoore, 
feuchte  Gründe  meidet  sie.  Die  Kreuzotter  ver- 
hält sich  da  umgekehrt.  D  ür  i  ge  n  ^1  sagt :  ,,Der 
Umstand,  daß  die  Kreuzotter  an  ihren  Aufenthalt 
das  Verlangen  nach  einem  gewissen  Grad  von 
Feuchtigkeit  und  Kühle  und  ,, Wildnis"  stellt, 
während  die  Glattnatter  das  Bedürfnis  nach 
trockenen,  sonnigen,  freundlichen  Lagen  zum  Aus- 
druck bringt,  hat  die  Tatsache  herbeigeführt,  daß 
im  allgemeinen  beide  Schlangenarten  in  das  Ge- 
biet sich  teilen,  indem  dort,  wo  sich  die  eine 
heimisch  zeigt,  die  andere  gar  nicht,  oder  doch 
nur  in  untergeordnetem  Grade  vertreten  ist."  — 
Wie  stimmt  das  zu  den  Worten  Jacobi 's? 
Außerdem  ist  die  Glattnatter  nach  der  Ringel- 
natter die  verbreitetste  und  häufigste  Schlange. 
Wie  soll  sich  da  die  Mimikry    entwickelt   haben? 

Die  geringe  Ähnlichkeit  zwischen  beiden 
Schlangen  ist  nichts  anderes  als  eine  einfache 
Konvergenzerscheinung  und  bedarf  keiner  weiteren 
Erklärung.  — 

Bleiben  wir  bei  der  heimischen  Fauna  und 
betrachten  den  bekannten  Rlimikryfall ,  Eristalis 
tenax,  die  Schlammfliege  als  Nachahmer  unserer 
Honigbiene. 

Die  Ähnlichkeit  zwischen  beiden  ist  eine  recht 
große;  sie  stimmen  in  Größe,  Form  und  Pelz- 
farbe, ja  auch  in  dem  l'on  des  Summens  so 
ziemlich  überein  und  wenige  Laien  wird  es  geben, 
die  sich  eine  Schlammfliege  trotz  der  Versiche- 
rung, daß  es  eine  harmlose  Fliege  ist,  anzufassen 
trauen.  Vor  den  Menschen  ist  also  die  Schlamm- 
fliege sicher  geschützt,  ob  sie  es  aber  auch  vor 
den  Tieren  ist,  ist  nicht  so  gewiß. 

Merkwürdigerweise  gehen  hier  die  Angaben 
auseinander.  Jacobi  gibt  eine  Angabe  Proch- 
now's  an,  die  jener  in  Landois'  Tierstimmen 
gelesen  haben  will,  daß  ein  PVosch,  der  beim 
Verschlingen  von  Bienen  mit  deren  Stachel  un- 
liebsame I^ekanntschaft  gemacht  halte,  kurze  Zeit 
danach  Schlammfliegen  unberührt  ließ.  Weiter 
führt  er  eine  .Angabe  von  Butler  an,  daß  dessen 
Käfigvögel  die  Fliegen  verzehrten.  Tatsache  ist, 
daß  sich  Eidechsen  nicht  genieren,  Eristalis  anzu- 
gehen; sie  fressen  sie  nicht  sehr  gerne,  wahr- 
scheinlich, weil  sie  nicht  besonders  schmecken, 
aber  töten  sie,  wenn  man  ihnen  nichts  anderes 
vorsetzt,    sowie  sie  keine  Angst  vor  Wespen  und 


')  Dürigen,    Deutschlands    Amphibien    und    Reptilien, 
Magdeburg   1897,  p.  333. 


N.  F.  XIII.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Hummeln  zeigen.  Ich  habe  lange  Zeit  Eidechsen 
CTcpflegt  und  oft  Gelegenheit  gehabt,  ihr  Ver- 
halten gegen  diese  Stachelträger  zu  beobachten. 
Solange  ihnen  andere  Tiere  zur  Verfügung  stehen, 
lassen  sie  diese  vollkommen  unbeachtet;  erst 
wenn  alles  aufgezehrt  ist  und  im  Terrarium  nur 
mehr  die  roten  Baumwanzen,  Käfer  mit  hartem 
Chitinpanzer  und  starkhaarige  Raupen  herum- 
kriechen, machen  sie  sich  an  die  Bienen  und 
Wespen  heran,  beißen  sie,  beuteln  sie,  lassen  sie 
wieder  los,  fassen  sie  wieder  an,  zerbeißen  sie 
und  lassen  sie  dann  meistens  liegen.  Wahrschein- 
lich scheint  ihnen  der  Inhalt  der  zerquetschten 
Giftdrüse  recht  wenig  zuzusagen.  Vor  dem 
Stachel  haben  sie  aber  keine  Angst.  Darum  ist 
mir  die  Angabe  Latter's,  daß  seine  sechs 
Eidechsen  durch  das  Summen  der  Volucella-Arten 
in  erhebliche  Aufregung  gerieten,  nicht  ver- 
ständlich. 

Eidechsen  sind  aber  nicht  die  richtigen  \'er- 
suchsobjekte,  um  den  Wert  der  Ähnlichkeit  der 
Schlammfliege  mit  der  Honigbiene  zu  erproben, 
da  ja  die  eigentlichen  Feinde  die  Vögel  und 
eventuell  auch  die  Frösche  sind.  Daß  Schwalben 
die  stachellosen  Drohnen  verschlingen,  ist  bekannt, 
auch  von  den  Kröten  wird  angegeben,  daß  sie 
gerne  und  ohne  schädliche  Folgen  für  sie  Wespen 
verschlingen,  und  dann  kommen  noch  die  Schar 
der  eigentlichen  Stechimmenfeinde,  die  Mero- 
piden,  Bienenfresser,  der  Tannenhäher,  und  manche 
Raubvögel,  von  denen  besonders  die  ersteren  fast 
ausschließlich  von  diesen  Kerbtieren  leben. 

Der  Nutzen,  den  Eristalis  also  aus  der  Ähn- 
lichkeit   eventuell    gewinnt,    ist    sicher  nicht  groß. 

.\hnlich  wird  es  sich  mit  den  so  zahlreichen 
anderen  Beispielen  verhalten. 

Man  hat  auch  aus  der  Ähnlichkeit  der  Volu- 
cella-.Arten  mit  Hummeln  viel  gemacht;  man  hat 
erklärt,  die  .Ähnlichkeit  mit  Hummeln  diente  ihnen 
dazu,  unerkannt  und  unangefochten  in  die  Nester 
der  Hummeln  einzudringen  und  ihre  Eier  hier 
abzulegen,  damit  ihre  Larven  von  denen  der 
Hummeln  leben  können.  Dieser  Fall  ist  schon 
von  Beddard,^)  dann  von  Latter-)  und 
Speiser^)  widerlegt  worden  und  ich  möchte 
hier  nur  auf  diese  Arbeiten  verweisen.  Mit  Recht 
führt  Keddard  an,  daß  sich  die  Hummeln  höchst- 
wahrscheinlich um  das  Aussehen  der  Fliegen  über- 
haupt nicht  kümmern,  daß  sie  die  Eindringlinge 
vielmehr  durch  den  Geruchsinn  usw.  erkennen, 
wie  ihnen  ja  Artgenossen  eines  fremden  Stockes 
auch  sofort  auffallen.  Auch  hat  es  allen  Anschein, 
als  ob  die  Fliegen  direkt  geduldet  wären,  wofür 
vor  allem  spricht,  daß  noch  andere  Insekten  ohne 
Verkleidung,  sogar  Fliegen  ungestraft  in  Wespen- 
nestern verkehren.  Ferner  machen  die  beiden 
Abarten  der  Volucelia  bombylans,  von  denen  die 

')  Beddard,  Animal  Coloration,  London  1S92,  p.  226 
bis  228. 

')  Latter,  Natural  Science.     2,  54 — 56,   1892. 

')  Speiser,  Krancher's  Entomol.  Jahrbuch  17,  163  bis 
167,   1908. 


eine  die  Steinhummel  B.  lapidarius,  die  andere 
die  Mooshummel  B.  muscorum  nachahmt,  zwischen 
ihren  \'orbildern  keinen  Unterschied,  so  daß  es 
nichts  Seltenes  ist,  daß  man  beide  Abarten  in  ein 
und  demselben  Hummelnest  findet.  Außerdem 
finden  sich  Angaben,  daß  die  Volucella-Larven 
keine  Feinde  der  Hummellarven  sind,  also  keine 
Schmarotzer,  sondern  harmlose  Kommensalen,  die 
von  den  Abfällen,  den  abgestorbenen  Larven  und 
Puppen  leben.  —  Darum  kommt  Latter  zur 
Ansicht,  daß  die  Ähnlichkeit  der  Fliege  mit  der 
Hummel  nicht  dazu  gehört,  die  letztere  zu  täuschen, 
sondern  daß  sie  vielmehr  für  ihre  eigenen  Feinde 
bestimmt  ist,  daß  sie  mit  der  Hummel  verwechselt 
und  darum  nicht  angegriffen  wird.  —  Damit  ist 
aber  dieser  Fall  gleich  dem  der  Schlammfliegen, 
und  was  wir  früher  über  diese  sagten,  gilt  auch 
jetzt  hiefür. 

Es  wäre  vollständig  unmöglich,  auch  nur  den 
zehnten  Teil  aller  bekannten  Mimikryfälle  zu  be- 
sprechen; ihre  Zahl  ist  viel  zu  groß.  Und  über- 
dies sind  uns  die  wenigsten  noch  genauer  be- 
kannt. Eine  große  Zahl  ist  am  Insektenkasten 
beim  Vergleich  der  präparierten  Tiere  aufgestellt 
worden,  Beobachtungen  in  der  Natur  sind  noch 
verhältnismäßig  selten  bekannt  geworden,  und 
wenn  sie  vorhanden  sind,  sind  sie  meist  recht 
konträrer  Natur.  Wir  müssen  deshalb  die  vielen 
Insektenmimikryen  hinnehmen,  wir  haben  für  sie 
noch  keine  Erklärung,  als  eben  die  rein  theo- 
retische der  Mimikry  selbst.  — 

Ich  möchte  nicht  gerne  in  das  gegenteilige 
Extrem  verfallen  und  nicht  für  einen  Menschen 
gehalten  werden,  der  aus  purer  Lust  am  Streiten 
das  Gegenteil  behauptet,  für  einen  Geist,  der 
stets  verneint.  Wir  müssen  mit  Staunen  die 
Mimikryfälle  der  Schmetterlinge  zur  Kenntnis 
nehmen,  müssen  die  oft  raffinierte  Ähnlichkeit 
vieler  zusammen  an  einem  Orte  lebender,  im 
Systeme  aber  weit  abstehender  Formen  ohne 
weiteres  zugeben  und  müssen  für  alle  diese  Fälle 
vorläufig  noch  die  Mimikry  annehmen  ■ —  weil 
wir  zurzeit  keine  bessere  Erklärung  haben.  Ich 
sage  zurzeit,  weil  ich  es  nicht  für  ausgeschlossen 
halte,  daß  wir  einst  doch  eine  andere  Erklärung 
finden  werden. 

Und  warum  ich  mich  gegen  die  Mimikry 
sträube  ? 

Wir  kennen  nämlich  einige  F'älle,  die  man  nie 
als  Mimikry  bezeichnet  hat,  obwohl  alle  Vorbe- 
dingungen dazu  vorhanden  sind,  die  Ähnlichkeit 
in  manchen  Fällen  sogar  sehr  groß  ist,  bei  der 
nur  der  wichtigste  Punkt  der  Mimikrj'  wegfällt, 
das  ist  der  Nutzen,  den  die  Tiere  aus  der  Ähnlich- 
keit ziehen. 

Werner  gibt  einen  recht  typischen  Fall  an: 
„Es  wird  z.  B.  wenig  Zoologen  geben,  welche  die 
vollkommen  unter  gleichen  Umständen  auf  Neu- 
Guinea  und  dem  Bismarck-  und  Molukkenarchipel 
lebenden  Baumschlangen  Python  amethj-stinus 
und  Dipsodomorphus  irregularis  ohne  weiteres  zu 
unterscheiden    imstande    wären,    erstere    ist    eine 


88 


Naturwissenschaftliche  Wochensclirift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  6 


Boide,  letztere  eine  opistoglyphe  Colubride.  Nie- 
mand wird  aber  im  Ernst  daran  denken  können, 
daß  eine  die  andere  imitiert;  beide  leben  von 
denselben  Tierarten,  sind  ihnen  gleich  gefährlich 
und  was  ihre  Feinde  anbelangt,  gegen  die  sie 
sich  durch  ihr  Gebiß  in  gleicher  Weise  ver- 
teidigen, so  dürften  sie  außer  dem  Menschen 
kaum  welche  haben."  ^)  Was  sollen  wir  zu  einem 
solchen  Falle  sagen?  Wären  beide  Schlangen 
schwächer,  so  hätte  niemand  gezögert,  die  Ähnlich- 
keit als  einen  großartigen  F'all  von  Mimikry  zu 
erklären;  so  aber  muß  die  Mimikry  als  Erklärung 
wegfallen  und  wir  müssen  uns  mit  einem  igno- 
ramus  zufrieden  geben. 

Kann  nun  nicht  mit  gleichem  Rechte  bei 
vielen  konstruierten  Mimikryfällen  der  Grund  der 
Ähnlichkeit  derselbe  sein  r  Kann  sich  nicht 
in  manchen  dieser  Fälle  die  Ähnlichkeit  heraus- 
gebildet haben,  ohne  daß  der  Nutzen  eine 
Rolle  spielte,  so  wie  es  bei  den  früher  genannten 
Schlangen  gewesen  sein  mußte?  Lassen  wir  das 
aber  gelten,  so  fällt  damit  die  Mimikry.  Denn 
wenn  die  .Ähnlichkeit  entstand  und  die  Tiere 
dann  daraus  Nutzen  zogen,  so  hat  das  mit  der 
Mimikry  nichts  zu  tun,  da  die  Mimikry  das  Ent- 
stehen der  Ähnlichkeit  auf  der  Basis  des  Nutzens 
erklärt. 

Aber  der  vorhin  genannte  Fall  steht  nicht  ver- 
einzelt da.  Werner  nennt  noch  einige.  Er 
spricht  von  der  Laubheuschreckc  Clonia  Wahlbergi 
und  der  Gespenstheuschrecke  Palophus  centaurus, 
die  in  der  Färbung  bis  ins  Detail  ähnlich  sind, 
beide  unter  gleichen  Lebensbedingungen  in 
Deutscliostafrika  leben,  beide  durch  ihre  Schutz- 
gestalt hinreicliend  geschützt  sind,  Palophus  Stink- 
drüsen, Clonia  kräftige  Kiefer  besitzt.  Wer  ist 
also  der  Nachahmer,  wer  das  Modell?  Es  hielte 
wirklich  schwer,  das  zu  entscheiden,  darum  ist 
der  Fall  für  Mimikry  nicht  verwendbar. 

Ferner  sind  die  tropisch-amerikanischen,  glas- 
flügeligen  Mantiden  (also  Orthoptera)  den  Mantis- 
piden  (also  Neuroptera)  derselben  Gebiete  so  ähn- 
lich, daß  sie  selbst  von  Entomologen  häufig  ver- 
wechselt werden.  Beide  haben  die  gleichen  Vcr- 
teidigungsmittel,  die  gleichen  Feinde.  Wer  ist 
also  Modell,  wer  Nachahmer  ? 

Der  kleine  Ohrwurm  Labia  minor  sieht  kleinen 
Staphyliniden  sehr  ähnlich,  beide  sind  sehr  wehr- 
haft. Beide  werden  von  den  Mimikrytheoretikern 
unbeachtet  gelassen,  well  von  einer  Nachahmung, 
die  einen  Nutzen  einschließen  könnte,  gar  keine 
Rede  sein  kann. 

Wenn  wir  also  diese  Fälle  berücksichtigen, 
werden  wir  zur  Einsicht  kommen,  daß  wir  nicht 
die  ohne  Nachsicht  verurteilen  dürfen,  die  nicht 
auf  die  Mimikrytheorie  ohne  weiteres  schwören. 
Es  ist  nicht  Mangel  an  gutem  Willen,  Fehlen  von 
Einsicht  und  angeborene  Sucht,  an  allem  Be- 
stehenden   zu    nörgeln,    wenn    sie   sich    nicht   zur 


gleichen  h'ahne  bekennen,  wenn  sie  lieber  nach 
tatsächlichen  Verhältnissen  suchen  als  durch  An- 
nahme einer  theoretischen  Erklärung  ihre  Augen 
mit  Scheuledern  versehen  und  den  Weg  zur  Er- 
kenntnis versperren. 

Wir  wollen  der  Mimikrytheorie  nicht  zu  nahe 
treten,  wir  wollen  sie  nicht  eliminieren  und  an 
ihre  Stelle  das  so  ungern  gesehene  ignoramus 
setzen,  wir  wollen  nur  vorsichtig  sein  und  nicht 
immer  den  Nutzen  in  den  Vordergrund  stellen 
und  mit  seiner  Hilfe  die  Natur  erklären.  Wir 
wollen  bedenken,  daß  die  teleologische  Erklärungs- 
weise die  schlechteste  ist,  da  sie  am  wenigsten 
zu  recht  besteht,  und  daß  wir  im  gewissen  Sinne 
auch  die  Selektion  durch  die  Mimikry  auf  dieses 
Niveau  herabziehen. 

Ich  glaube  diesen  Abschnitt  am  besten  damit 
abzuschließen,  daß  ich  die  Ansicht  Przibram's 
vorbringe,  die  er  im  Schlußkapitel  seiner  Ex- 
perimentalzoologie  *)  ausspricht :  ,, Wiewohl  die 
Mimikry  in  manchen  Fällen  ihren  Trägern  einen 
gewissen  Schutz  zu  gewähren  scheint,  führt  die 
Ausdehnung  dieses  Prinzipes  auf  eine  größere 
Anzahl  von  Fällen  mehrfach  zu  Widersprüchen; 
es  läßt  sich  kaum  die  Erhaltung,  keineswegs  die 
Entstehung  mimetischer  Formen  durch  die  Wirk- 
samkeit der  Selektion  erklären." 

R  e  s  u  m  e. 

Überblicken  wir  zum  Schlüsse  noch  einmal 
das  Gesagte  und  fassen  wir  kurz  zusammen,  so 
müssen  wir  zu  dem  Ergebnis  kommen,  daß  die 
Selektion  allein  nicht  imstande  ist,  die  Schutz- 
färbung, Warnfärbung,  schützende  Ähnlichkeit  und 
Mimikry  zu  erklären,  daß  wir  in  vielen  Fällen 
nach  anderen  Erklärungen  suchen  müssen,  und  daß 
wir  sie  für  viele  F'älle  auch  schon  gefunden  haben. 

r)ie  Natur  ist  nicht  so  ängstlich  um  die  ein- 
zelnen Formen  besorgt.  L'nstimmigkeiten  im 
großen  Getriebe  treten  normalerweise  nie  ein,  es 
gleicht  sich  alles  von  selbst  auf  die  richtige  Weise 
aus.  Daß  eine  Art  auf  Kosten  einer  anderen  sich 
stark  vermehrt,  daß  eine  P'orm  dem  Untergange 
nahe  kommt,  weil  ihre  P'einde  stark  zunehmen, 
kommt  in  der  freien  Natur  nie  vor.  Erst  der 
Mensch  vermag  den  regelmäßigen  Gang  zu  stören 
und  das  allerdings  gründlich.  Wo  er  eingreift, 
schwinden  die  Arten  dahin;  Formen,  die  gewiß 
noch  nicht  den  Keim  des  Unterganges  in  sich 
trugen,  hat  er  vom  Erdboden  vertilgt.  Gegen 
sein  Wüten  hat  die  Natur  kein  Mittel.  Die  Welt 
ist  eben  vollkommen  überall,  wo  der  Mensch  nicht 
hinkommt  mit  seiner  Qual.  L^nd  will  er  gar  der 
der  Natur  unter  die  Arme  greifen  und  die  Welt 
verbessern,  so  zeigt  sich  bald  der  Erfolg  in  un- 
angenehmer Weise.  Ich  erinnere  nur  an  den 
P^all :  Gemsen  und  Adler  im  Hochgebirge.  Seit 
die  Adler  fast  verschwunden  sind,  geht  das  Gems- 
wild zurück.  Krankheiten,  die  man  sonst  nicht 
bemerkt  hatte,  treten  jetzt  auf;   man  merkt  schon 


')  Nochmals    Mimikry    usw.     Biol,    Centralblatt    XXVIII. 
P-  591- 


')  Deuticke's  Verlag,  Wien,  Bd.  III,   191 


N.  F.  XIII.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


89 


deutlich,  daß  den  Adlern  nur  die  Schwächlinge 
und  kranken  Tiere  zum  Opfer  fielen,  die  jetzt  un- 
angefochten weiterleben,  die  Krankheit  verbreiten, 
sie  sogar  fortpflanzen. 

Wir  dürfen  uns  eben  nie  vorstellen,  daß 
zwischen  Feind  und  Beute  eine  ähnliche,  un- 
sinnige Konkurrenz  herrscht  wie  z.  B.  zwischen 
modernen  Staaten.  Der  eine  baut  große  Schifte, 
der  andere  darf  nicht  zurückbleiben,  der  eine  er- 
findet Panzerplatten,  die  mit  den  gewöhnlichen 
Geschossen  unzerstörbar  sind,  der  andere  konstruiert 
dann  nach  langer  Arbeit  Geschütze,  deren  Geschosse 
die  feindlichen  Platten  leicht  durchschlagen,  ja  so- 
gar noch  einer  Verbesserung  der  Platten,  die 
ja  naturgemäß  erfolgen  muß,  standhalten  können. 


Der  eine  baut  eine  große  I-'estung  mit  streng  ge- 
heimgehaltener Einrichtung,  der  andere  trachtet 
nun  mit  allen  Mitteln  durch  Spione  die  Einrich- 
tung zu  erfahren.  Und  er  erfährt  sie  und  die 
Reaktion  darauf  ist  der  Umbau  der  Festung,  die 
ja  in  ganz  kurzer  Zeit  wieder  verraten  ist.  So 
seht  der  widersinnige  Wcttlauf  weiter,  wie  weit  r  — 

So  liegen  die  Verliältnisse  bei  den  Tieren 
nicht.  Würde  das  Tier  besser  an  die  Umgebung 
angepaßt  sein,  müßte  der  Feind  mit  einer  besseren 
Ausbildung  der  Sinnesorgane  antworten,  und  das 
Resultat  wäre  das  gleiche  wie  früher. 

Die  experimentelle  Biologie  ist  noch  ein  Kind; 
hoffen  wir,  daß  sie  uns  auch  die  Lösung  unserer 
Frage  bringen  wird. 


Einzelberichte. 


Völkerpsychologie.  Eine  neue  Erklärung  von 
Exogamie  und  Totemismus  und  der  Beziehungen 
der  beiden  so  weit  verbreiteten  Einrichtungen  zu- 
einander gibt  Walter  Heape  in  seinem  Buch  „Sex 
Antagonism"  (London  1913,  Constable  &  Co.,  Preis 
7^.,  Schilling).  Heape's  Grundgedanke  ist,  daß 
das  sexuelle  Bedürfnis  der  beiden  Geschlechter 
wesentlich  verschieden  ist.  Der  Trieb  des  Mannes 
ist  individualistisch  und  auf  augenblickliche  Be- 
friedigung gerichtet,  jener  des  Weibes  richtet  sich 
auf  die  Mutterschaft  und  die  Aufzucht  von  Kindern. 
Außerdem  seien  Not  sowie  Leben  im  Überfluß 
einer  Herabdrückung  des  weiblichen  Geschlechts- 
empfindens günstig,  während  die  Sexualität  des 
Mannes  mindestens  bei  zunehmendem  Wohl- 
stand gesteigert  wird.  Daraus  resultiert  ein  Ge- 
schlechtergegensatz, auf  den  auch  Exogamie 
und  Totemismus  begründet  sind:  Heape  meint, 
daß  mit  zunehmender  Kultur  das  sexuelle  Be- 
dürfnis der  Männer  gesteigert  wurde,  was  zum 
Verlangen  des  X'erkehrs  mit  familien-  oder  gruppen- 
fremden Flauen  führte.  Daraus  ergab  sich  die 
Exogamie  als  ein  Produkt  männlichen  Instinkts. 
Der  Totemismus  hingegen  ist  ein  mehr  oder  we- 
niger kompliziertes  System,  das  den  Zweck  hat, 
der  sexuellen  Befriedigung  der  Männer  Schranken 
zu  setzen.  Der  Gedanke  dazu  kann  nur  vom 
weiblichen  Geschlecht  ausgegangen  sein,  da  die 
Männer  doch  keinen  Anlaß  dazu  hatten,  der  Mög- 
lichkeit ihrer  Befriedigung  Grenzen  zu  stecken. 
Zudem  ist  der  Mystizismus,  der  den  Totemismus 
umgibt,  eine  Eigenart  der  weiblichen  Psyche.  Be- 
züglich des  Einflusses  der  Änderungen  wirtschaft- 
licher Zustände  auf  das  Verhältnis  der  Geschlechter 
zueinander  stimme  ich  Heape  in  der  Hauptsache 
zu.  (Siehe  Naturw.  Wochenschr.  191 3,  S.  360 
bis  361.)  Einen  breiten  Raum  in  Heape's 
Buch  nehmen  Polemiken  gegen  Prof.  Frazer's 
„Totemism  and  Exogamy"  ^)  ein. 


Neues  Licht  auf  Probleme  der  afrikanischen 
Völkerpsychologie  wirft  Leo  Frobenius'  jüng- 
stes Werk  „Unter  den  unsträflichen  Äthiopen."  ^) 
Frobenius  zeichnet  sich  unter  den  modernen 
Völkerforschern  durch  ein  großes  Maß  von  Eigen- 
art aus.  F^r  baut  nicht  auf  alten  Fundamenten 
weiter,  sondern  er  trägt  neues  Material  über  die 
Kulturen  der  Afrikaner  zusammen  und  will  daraus 
ein  vom  Grund  aus  neues  Lehrgebäude  errichten. 
Er  fand  viele  gute  Bausteine,  wo  andere  achtlos 
vorbeigingen,  und  er  versteht  sie  zu  werten. 

Wie  in  seinen  früheren  Bücliern,  so  entwickelt 
Frobenius  auch  in  den  ,, Unsträflichen  Äthiopen" 
großzügige  Gedankenreihen  und  er  versucht  Lö- 
sungen verwickelter  Kulturprobleme,  die  Bewun- 
derung verdienen,  ganz  abgesehen  davon,  ob  und 
wieweit  man  ihm  zustimmen  mag. 

Frobenius  stellt  fest,  daß  der  Sudan  zwischen 
der  Senegalmündung  und  Abessynien  von  einer 
Doppelschicht  dunkelhäutiger  Menschen  bewohnt 
ist:  In  den  Städten,  auf  den  großen  Flächen  und 
als  Träger  politischen  Übergewichts  treten  uns 
allenthalben  staatenbildende  Völker  entgegen, 
welche  die  jüngere  Schicht  bilden.  In  den  Berg- 
tälern und  in  den  durch  Sümpfe  und  andere 
Eigentümlichkeiten  des  Geländes  geschützten 
Gegenden  wohnen  kleine  Stämme,  die  sich  nach 
außen  durch  mangelnde  politische  Macht,  Zurück- 
gedrängtheit und  sprachlichen  Zerfall  kennzeichnen. 
Die  Kultur  dieser  ,, Splitterstämme"  stimmt  im 
wesentlichen  überein.  Überall  dokumentieren 
diese  Stämme  grundsätzliche  Abneigung  gegen 
äußere  Einflüsse  und  feste  Anhänglichkeit  an  alte 
P^inrichtungen  und  Bräuche.  Frobenius  sieht 
die  Splitterstämme  als  die  Erben  der  altklassischen 
äthiopischen  Kultur  an,  denn  vieles,  was  wir  aus 
der  klassischen  Literatur  über  die  äthiopische 
Kultur  erfahren,  hat  sich  hier  in  den  Bergland- 
schaften   des    Sudan    mehr    oder  weniger   gut  er- 


•)  London    iqio,  Macmillan   (4  Bände). 


')  „Und  Afrika  sprach".  ...     3.  Bd.,   mit  Tafeln,  Texl- 
bildern  und  Karten.     Charlottenburg  ^1913!,  Vita.     20  Mk. 


90 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  6, 


halten.  Aus  F  r  o  b  e  n  i  u  s '  Schilderung  gewinnt 
man  den  Eindruck,  daß  es  sich  hier  um  eine  der 
Fortentwicklung  nicht  mehr  fähige,  gewissermaßen 
versteinerte  Kultur  handelt.  Das  konservative 
Wesen  der  Äthiopen  war  auch  schon  den  Ost- 
völkern des  klassischen  Altertums  bekannt,  die 
sich  durch  chaotische  Mischung  der  Kulturformen 
und  besonders  der  Religionen  auszeichneten,  und 


inneren  Zusammenhang  ihrer  Weltanschauung 
ihrer  Kultushandlungen  usw.  nicht  bewußt; 
denn,  sagt  Frobenius,  sie  handeln  gewohnheits- 
gemäß und  entsprechend  dem  Herkommen.  Die 
ganze  Weltanschauung  liegt  im  Unbewußtsein. 
Es  ist  heute  ein  Gebäude,  das  aufgebaut  ist  aus 
dem  Material  der  Überlieferung  und  das  erhalten 
wird  durch  die  Unwandelbarkeit  der  Verhältnisse. 

Einige  der  wichtig- 
=====  "^""^1  sten  Eigenarten  der 
I  äthiopischen  Kultur 
sind  folgende:  Das  so- 
ziale System  ist  sozu- 
sagen ein  zellenmäßi- 
ges. Es  beruht  auf 
patriarchalischer  Ge- 
schlechtergruppierurig, 
aber  die  Gruppen  sind 
nach  außen  isoliert, 
d.  h.  jedes  Geschlecht 
lebt  ohne  profan- 
soziale  Verbindung 
mit  anderen  Geschlech- 
tern für  sich  und 
erkennt  keinerlei  Obrig- 
keit an,  die  den  Ge- 
schlechtergerecht- 
samen übergeordnet 
sein  könnte.  Esiierrscht 
„Patrialanarchie''.  Die 
Geschlcchtergruppie- 
rung  ist  mit  einem 
ausgesprochenen  Ma- 
nismus verbunden: 
Jede  zusammenhausen- 
de Geschlechtergruppe 
stellt  eine  ewig  sich 
erneuernde  oben  ab- 
sterbende und  von 
unten  nachwachsende 
Zelle  dar.  Jeder  Alte, 
der  stirbt,  kehrt  als 
Kind  im  gleichen 
,, Hause"  wieder.  Da 
die  Toten  in  die  Erde 
versenkt  werden,  so 
stehen  sie  mit  dem 
tellurischen  Dienst  in 
Beziehung.  Alle  ma- 
nistischen  Opfer  und 
Kultushandlungen  hat 
natürlich  der  Ge- 
schlechterherr zu  voll- 


Abb. 


I.     Munibajiinglinge  im  Herbst-  und   Erntetanz-Festschmuck. 
(.^us  Frobenius,   „Die  Unsträflichen  Äthiopen".) 


die  mit  gewisser  Achtung  auf  jene  Inlandvölker 
hinübersahen ,  die  ihrer  Xationalkultur  treu  ge- 
blieben waren  und  deshalb  die  „unsträflichen" 
Äthiopen  genannt  wurden. 

Die    heutigen    Äthiopen    sind    sich    über    den 


ziehen.  Die  Geschlech- 
tergruppen ,  die  zwar 
keine  politische  Orga- 
nisation bilden,  sind 
zu  Sakralgemeinschaften  mit  einem  Priester 
an  der  Spitze  zusammengeschlossen.  Die  Sakral- 
gemeinschaft stellt  das  Stammesband  dar,  und 
ihr  führender  Priester  gibt  die  Verordnungen  in 
bezug  auf  Jahreszeitopfer,  in  bezug  auf  der  Gott- 


X.  ]•'.  XIII.  Xr.  6 


Xaturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


91 


heit  genehme  Friedens-  und  Kriegszeiten,  in  beziig 
auf  die  Erziehung  der  Jugend  in  der  Buschzeit  usw. 
Die  äthiopische  Religion  bezeichnet  Proben  ius 
als  Tellurismus.  Sie  war  und  ist  ein  Mittelding 
zwischen  einem  ganz  primitiven  und  ungeregelten 
Animismus  (der  alle  Dinge  als  beseelt  und  leben- 
dig ansieht)  und 
dem  ersten  Mono- 
theismus; diesem 
steht  sie  jedoch 
näher  als  dem  Ani- 
mismus. Die  äthio- 
pische Religion  muß 
aus    der  Erkenntnis 

hervorgegangen 
sein,  daß  Werden 
und  Vergehen  von 
einer  Kraft  ausgeht. 
Dies  führte  zu  dem 
Kultus,  der  in  Saat- 
und  Erntefesten,  in 
Buschzeiten  und 
durchaus  sakralen 
Trinkfesten  gipfelte. 
Bei  einigen  moder- 
nen äthiopischen 
Stämmen  bestehen 
noch  Gebräuche, 
welche  an  den  Opfer- 
tod des  Priester- 
königs der  alten 
Athiopen  gemahnen. 


Die  Sprachen  der  Athiopen  sind  voneinander 
stark  verschieden,  was  vor  allem  der  isolierenden 
Geschlechterorganisation,  dem  mangelnden  Sozial- 
gefüge,  zuzuschreiben  ist;  überdies  kommen  noch 
das  Alter  und  der  senile  Charakter  der  ^Vthiopen- 
kultur    und    die   geographische  Zerrissenheit  ihrer 


Abb.  3.  Terrassenfarmbau  der  Kabre. 
(Aus:    Frobenius,  „Die  Unsträflichen  Athiopen".) 


In  wirtschaftlicher  Hinsicht  sind  die  modernen 
.Athiopen  Sorghumbauern;  daneben  spielt  die 
Hausindustrie  eine  Rolle.  Der  Grund  und  Boden 
ist  Gemeinbesitz. 


Abb.  2.      Kabrenjädchen.      (Aus:   Frobenius,   ,,rjie   Unsträl liehen  .•\tlnopen".) 

heutigen  Zufluchtsorte  in 
Betracht.  Der  äthiopische 
Kulturkreis  stimmt  im  all- 
gemeinen überein  mit  dem 
Verbreitungsgebiet  der  Su- 
dansprachen, wie  es  durch 
Meinhoff  und  West  er- 
mann festgestellt  wurde. 

In  Details  variiert  zwar 
die  äthiopische  Kultur,  ihre 
Grundlagen  sind  aber  bei 
allen  „Splitterstämmen"  mit 
isolierender  Sozialorgani- 
sation die  gleichen,  und  sie 
scheint  von  benachbarten 
Kulturen  wenig  beeinflußt 
worden  zu  sein.  So  blieb 
die  Grundlage  der  sozialen 
Organisation  patriarchalisch, 
während  die  lybische  Kultur 
im  Norden  durchaus  und 
die  westafrikanische  Wald- 
kultur vorwiegend  matri- 
archalisch sind.  Auch  in 
anderer  Beziehung  scheint 
die  Beeinflussung  von  außen 
gering  gewesen  zu  sein. 

Frobenius  ist  der  Ansicht,  daß  die  äthio- 
pische. Kultur  nicht  afrikanischen  Ursprungs 
ist,  denn  das  Korn,  das  die  Athiopen  als  heiliges 


92 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  6 


und  maßgebendes  anbauen,  ist  das  .Sorghum,  also 
eine  aus  Asien  stammende  Frucht.  Beobachtungen 
an  anderen  Früchten  und  an  den  Haustieren  der 
Athiopen  führen  zu  ganz  gleichem  Ergebnis,  so 
daß  man  sagen  kann,  die  äthiopische  Kultur  ist 
in  vorgeschichtlicher  Zeit  aus  Asien  nach  Afrika 
herübergekommen  und  zur  homerischen  Zeit  war 
sie  wohl  noch  in  voller  Originalität  erhalten. 
Heute  ist  sie  senil  geworden,  aber  dennoch  ist 
sie  charaktervoll  und  typenrein  geblieben. 

H.  P^ehlinger. 

Zoologie.  Marine  Relikte  der  nordeuropäischen 
Binnengewässer.  Durch  die  Untersuchungen  zahl- 
reicher Gelehrter  ist  festgestellt  worden,  daß  der 
arküsch-marine  Krebs  3/ysis  oculata  nach  der 
Eiszeit  in  verschiedenen  Bmnenseen  eine  morpho- 
logisch wohl  charakterisierte  Form  gebildet  hat, 
die  von  Loven  als  Mxsis  rclicta  zuerst  beschrie- 
ben wurde.  Für  die  Seen  des  Baltikums  ist  auch 
(vor  allem  durch  Samter 's  und  VVeltner's 
Arbeiten)  die  genaue  „Einwanderungsgeschichte" 
der  Reliktenmysis  recht  gut  bekannt.  Nun  ent- 
deckte der  bekannte  schwedische  Hydrobiologe 
Sven  Ekman  (Int.  Revue  d.  ges.  Hydrobiol.  und 
Hydrographie  V,  1913,  p.  540 — 550)  in  einem 
großen,  aus  dem  Mälarsee  stammenden  Material 
dieser  Form  ein  Mysismännchen ,  das  zwar  in 
vielen  Charakteren  mit  Mxsis  ocidata  f.  rclicta 
übereinstimmte,  andererseits  aber  doch  eine  so 
große  Ähnlichkeit  mit  tler  im  Ostseebecken  häu- 


In  der  beistehenden  Tabelle  sind  diese  Merkmale 
übersichtlich  zusammengestellt. 

Die  Überführung  in  Süßwasser  hat 
also  bei  iiiixta  wie  ocitlafa  an  den  glei- 
chen Körperteilen  gleichartige  Ver- 
änderungen hervorgerufen.  Und  dieser 
durch  \' eränderte  Milieubedingungen 
herbeigeführte  konvergierende  Ent- 
wicklungsgang ist  soweit  vorgeschrit- 
ten, daß  die  Weibchen  der  Formen 
in  (ila  r  c  II  sis  und  rclicfa  morphologisch 
identisch  sind! 

Diese  eigenartige  Erscheinung  wird  verständ- 
lich, wenn  man  jugendliche  Individuen  von  ii/ixfii 
bzw.  oculata  mit  inälarciisis  bzw.  rclida  vergleicht ; 
es  zeigt  sich  dann  eine  große  Übereinstimmung 
der  Stammarten  mit  den  abgeleiteten  Formen; 
oder  m.  a.  W.  rclicfa  wie  iiiälarci/sis  sind  aus 
ihren  Stammformen  durch  Hemmungsvorgänge  in 
der  Entwicklung  einzelner  Organe  entstanden. 
Bei  einem  Vergleich  der  verschiedenen  Arten  \-on 
Mysis  und  der  Gattungen  aus  der  Verwandtschaft 
von  Mysis  ergibt  sich,  „daß  die  bei  /.  rclicfa  und 
/.  inälarcnsis  neuauftretenden  Eigenschaften  eigent- 
lich intermediäre  Merkmale  sind,  die  man  also  als 
Merkmale  der  hypothetischen  Stammform  der 
betreftenden  Mj-siden  annehmen  muß".  Es  kann 
nicht  bezweifelt  werden,  daß  das  Leben  im  Süß- 
wasser —  also  ein  Entwicklungsfaktor,  der  nichts 
mit  den  Existenzbedingungen  der  (marinen)  Vor- 
fahren  der  beiden  Arten  zu  tun  hat  —  diese  re- 


mixta 

mälarensis 

oculata 

relicta 

Körperlänge  in  mm 

liis  30 

1    ;; 

l.ls    25 

liis  20 

Länge:   Breite  der  Schuppe  der  2.   .Antenne 

9:1 

4:1 

6:1 

4:  I 

Länge  :  Breite  des  l'ropodenendopodits 

fast  9  :  I 

fast   7  :  I 

— 

Länge  kleiner  als 
bei  oculata 

Dorne  am   Innenrand   des  Uropodenendopodits 

etwa    14 

5 

7 

4-6 

Telsonlänge  :   Tiefe   der  Endbucht 

4,4:  I 

8:  I 

5:1 

5.9-9,3  :  I 

Dorne  jederseits  am  Außenrande    des  Telsons 

etwa  30 

19 

gegen  30 

15 — 22 

Glieder  des  „Tarsus"  der  Pereiopoden 

8-9 

5-6 

6-7 

'5—7 

figen  und  verbreiteten  Mysis  iiiixfa  I.illjeborg 
zeigte,  daß  sie  als  eine  zu  dieser  Art  gehörige 
Form  ( /.  inälarcnsis)  betrachtet  werden  muß. 
,,Die  Form  sieht  im  ganzen  wie  eine  rclicfa  aus, 
ist  aber  mit  den  sekundären  männlichen  Ge- 
schlechtscharakteren von  AI.  iiiixfa  ausgerüstet.'' 
Die  Übereinstimmung  der  neuen  Form  mit  J7. 
m'ixfa  ist  eine  derartige,  daß  man  sie  von  iiiixfa 
ableiten  muß :  beim  Übergang  aus  dem  salzigen 
Ostseewasser  in  das  Süßwasser  des  Mälaren  hat 
sich  die  forma  inälarcnsis  aus  der  Rlixtastamm- 
form  herausgebildet.  Und  interessanterweise  sind 
die  Charaktere,  durch  die  sich  inixfa  und  inäla- 
rcnsis unterscheiden,  ganz  gleichartig  den  Unter- 
scheidungsmerkmalen zwischen  ocnlafa  und  rclicfa. 


gressiven  Veränderungen  herv^orgebracht  hat.  Die 
Erklärung  für  diese,  im  ersten  Augenblick  viel- 
leicht befremdende  Erscheinung  liegt  darin,  daß 
der  neue  Faktor,  das  Leben  im  Süßwasser,  ein 
für  die  Entwicklung  eigentlich  mariner  Arten  un- 
günstiger ist.  Thienemann  (Münster  i.  W.). 

Darstellung  von  Argon.  —  Im  September  1894 
wurde  die  wissenschaftliche  Welt  durch  eine  Mit- 
teilung von  Lord  Rayleigh  und  W.  Ramsay 
überrascht,  daß  die  Luft  neben  Stickstoff,  Sauer- 
stoff und  Kohlensäure  ein  noch  unbekanntes  Gas 
enthielt,  das  Argon,  wie  es  wegen  seiner  Unfähig- 
keit, chemische  Verbindungen  einzugehen,  genannt 
wurde.    Den  beiden  englischen  Forschern  war  es 


N.  F.  XIII.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


93 


aufgefallen,  daß  der  aus  Luft  gewonnene  Stick- 
stoff stets  etwas  schwerer  war  als  der  aus  stick- 
stoffhaltigen Verbindungen  (Ammoniumnitrit  I  her- 
gestellte. Sie  schlössen  auf  das  Vorhandensein 
eines  unbekannten  Gases  in  der  Luft,  das  schwerer 
wäre  als  Stickstoff  und  das  daher  den  Luftstick- 
stoft'  schwerer  erscheinen  ließe.  Dadurch,  daß  sie 
den  Luftstickstoff  über  glühendes  Magnesium  hin- 
streichen ließen,  wurde  er  von  diesem  gebunden 
und  das  Argon  isoliert.  Spätere  Untersuchungen 
haben  ergeben,  daß  neben  dem  Argon  noch  eine 
ganze  Reihe  anderer  Gase,  allerdings  nur  in  sehr 
geringen  Mengen,  in  der  Luft  enthalten  sind.  Man 
hat  sie  Edelgase  genannt,  weil  sie  sich  ähnlich 
wie  die  Edelmetalle  außerordentlich  schwer  oder 
zum  Teil  überhaupt  nicht  mit  anderen  Elementen 
verbinden.  Nach  neueren  Untersuchungen  ent- 
halten lool  Luft  I  1  Argon,  1,5  ccm  Neon,  0,15  ccm 
Helium,  0,005  ccm  Krypton,  0,0006  ccm  Xenon. 
Die  Darstellung  des  Argons  war  bisher  ziemlich 
umständlich  und  zeitraubend.  Außer  dem  er- 
wähnten Verfahren  kam  ein  zweites  auch  von 
Lord  Rayleigh  angegebenes  in  Betracht,  das 
darin  besieht,  daß  man  durch  Luft,  zu  der  man 
Sauerstoff  hinzugibt,  Induktionsfunken  lange  Zeit 
hindurchschlagen  läßt;  es  verbindet  sich  der 
Stickstoff  mit  dem  Sauerstoff  und  man  entfernt 
die  gebildeten  Stickoxyde  durch  Auflösen  in 
Kalilauge.  Ist  auf  diese  Weise  der  ganze  Stick- 
stoff oxydiert  und  durch  Auflösen  in  Kalium- 
nitrit verwandelt,  so  bleibt  in  der  Entladungsröhre 
das  Argon  und  die  übrigen  Edelgase  zurück. 

J.  Stark  gibt  in  der  physikalischen  Zeitschrift 
(Bd.  14,  p.  497,  1913)  ein  neues  Verfahren  an, 
das  in  kurzer  Zeit  Argon  liefert.  Er  benutzt  zur 
Darstellung  den  verdichteten  Sauerstoff",  der  be- 
kanntlich in  stählernen  Bomben  in  den  Handel 
kommt.  Dieser  Sauerstoff  wird  fast  immer  aus 
flüssiger  Luft  gewonnen;  da  nämlich  der  Stick- 
stoff einen  tieferen  Siedepunkt  (—196")  hat  als 
Sauerstoff  ( — 183"),  verdampft  er  schneller  als 
der  letztere,    so  daß    die  zurückbleibende  Flüssig- 


keit an  Sauerstoff  angereichert  wird.  Auch  der 
Siedepunkt  des  Argons  liegt  mit  — 187"  über 
dem  Siedepunkt  des  Stickstoffs;  die  Folge  ist, 
daß  wegen  des  langsameren  Verdampfens  des 
Argons  (im  Vergleich  zum  Stickstoff)  der  Bomben- 
sauerstoff mehr  Argon  enthält  als  die  Luft,  näm- 
lich etwa  4^/0  (dazu  6"/,,  Stickstoff).  Füllt  man 
eine  mit  2  Elektroden  versehene  Entladungsröhre, 
die  außerdem  eine  kleine  Menge  Quecksilber  ent- 
hält, mit  Bombensauerstofil'  und  evakuiert  mit 
einer  Luftpumpe  so  weit,,daß  die  Entladung  eines 
Induktors  in  Form  des  Glimmstroms  durch  die 
Röhre  geht,  so  sieht  man,  wenn  man  jetzt  das 
Quecksilber  mit  einem  Brenneri'  erhitzt,  daß  sich 
an  den  Rohrwandungen  ein  feines  rotes  Pulver 
absetzt,  ein  Gemisch  von  Quecksilberoxyd  und 
-nitrit.  Unter  der  Einwirkung  des  Glimmlichts 
verbinden  sich  Sauerstoff,  Stickstoff  und  Queck- 
silber miteinander,*  während  das  Argon  zurück- 
bleibt. Gibt  man  jetzt  fortlaufend  kleine  Mengen 
Bombensauerstoff  hinzu  und  schickt  nach  jeder 
Füllung  die  Entladung  hindurch,  so  erhält  man 
in  kurzer  Zeit  größere  Mengen  von  Argon.  Das 
so  dargestellte  Gas  erweist  sich  bei  der  Unter- 
suchung mit  dem  Spektroskop  als  frei  von  Stick- 
stoff und  Sauerstoff  Besonders  interessant  ist  die 
Erklärung,  die  Stark  von  dem  Versuche  gibt: 
Die  Kathodenstrahlen  der  Entladung,  die  ja  aus 
Elektronen  bestehen,  die  mit  ganz  außerordent- 
licher Geschwindigkeit  von  der  Kathodenober- 
fläche fortgeschleudert  werden,  zersprengen  beim 
Aufprall  durch  ihre  Wucht  die  Stickstoff-  und 
Sauerstoftmoleküle,  so  daß  sie  sich  in  einzelne 
Atome  spalten  (O,  =^  0  +  0  bzw.  N,  — >-N  +  N). 
Die  Atome  sind  aber  wegen  der  freien  Bindungen 
bei  weitem  reaktionsfähiger  als  die  Moleküle;  die 
Gase  werden  also  durch  den  Stoß  der  Elektronen 
aktiviert.  Es  ist  zu  erwarten,  daß  auch  andere 
Gase  und  Dämpfe  sich  im  Glimmstrom  aktivieren 
und  zu  neuen  Reaktionen  nutzbar  machen  lassen 
werden.  Dr.  K.  Schutt. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Bestimmung  des  Methylalkohols  in  Spirituosen. 
—  In  der  Zeitschr.  Unters.  Nähr.  u.  Genußmittel 
(191 2,  Bd.  24,  p.  731)  hat  J.  He  t  per  eine  Me- 
thode zur  Bestimmung  des  Methylalkohols  in 
Spirituosen  angegeben. 

Durch  genaue  Bestimmung  des  spez.  Gewichts 
des  zuerst  aus  alkalischer  dann  aus  saurer  Lösung 
gewonnenen  Destillates  muß  zuerst  der  Gesamt- 
alkohol bestimmt  werden. 

Bei  einem  Alkoholgehalt  von  45  —  55  "/g  ist 
das  spez.  Gewicht  für  Äthylalkohol  oder  Methyl- 
alkohol oder  ein  Gemisch  beider  nicht  wesentlich 
verschieden. 

Das  Destillat  wird  auf  spez.  Gew.  0,910  bis 
0,915  gebracht. 

Dann  wird  eine  bestimmte  Menge  hiervon  mit 


phosphorsäurehaltiger      Permanganatlösung       be- 
handelt. 

Dabei  wird  der  Methylalkohol  zu  Kohlensäure, 
der  Äthylalkohol  zu  Essigsäure  oxydiert. 

I  g  Methylalkohol  entspricht   187,5   ccm   n/j 

Kaliumpermanganatlösung, 
I  g  Äthylalkohol  entspricht  nur  87  ccm  n'j 
Kaliumpermanganatlösung. 
Ist  Äthyläther  oder  Furfurol  vorhanden,  welche 
beide    ein   hohes  Reduktionsvermögen  gegen  Per- 
manganat  besitzen,    so  ist  die  Methode  nicht  an- 
wendbar. 

Andere  flüchtige  Stoffe,  wie  sie  in  Spirituosen 
häufig  vorhanden  sind,  schaden  nicht. 

Aus  der  Menge  des  verbrauchten  Permanganat 
kann  man  auf  die  Menge  des  beigemischten 
Methylalkohols  schließen.  Th.  B. 


94 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  6 


Sticivstoffquellen.  *)  Die  Luft  entliäh  78  Volum- 
prozent Stickstoff.  Auf  einem  Hektar  Bodenfläche 
lagern  schätzungsweise  100  000  Tonnen  Luft. 
Wir  leben  also  in  einem  unermeßlichen  iVleer  von 
Stickstoff,  waren  aber  noch  bis  vor  kurzer  Zeit 
nicht  imstande  aus  diesem  gewaltigen  Stickstoff- 
vorrat Stickstoff  zu  erzeugen,  welcher  der  Pflanze 
als  Stickstofifquelle  dienen  könnte.  Die  Schuld 
liegt  in  der  Indifferenz  des  Luftstickstoffes.  Die 
Pflanzen  brauchen  zu  ihrer  Entwicklung  Phosphor, 
Schwefel,  Kali,  Kalk,  Magnesia  und  vor  allem 
Stickstoff  Unsere  Kulturpflanzen  entziehen  der 
Ackerkrume  diese  Stoffe  allmählich,  und  der  Land- 
wirt muß  sie  ersetzen,  wenn  er  auf  eine  weitere 
Nutznießung  der  Zeugungskraft  des  Bodens  reflek- 
tiert. Kali  und  phosphorsäurehaltige  Düngemittel 
sind  am  Markte  leicht  zu  beschaffen,  nicht  aber 
Stickstoffdünger.  Gerade  der  Stickstoff  ist  aber 
der  wichtigste  Pflanzennährstoff 

Zur  Deckung  des  Stickstoffbedarfes  reicht  der 
Stallmist  bei  weitem  nicht  aus;  man  griff  daher 
zu  neuen  stickstoffhaltigen  Substanzen  wie  Blut- 
mehl, Pleischmchl,  Hornmehl,  Guano  usw.  Auch 
diese  waren  in  so  geringer  Menge  auf  dem  Markte, 
daß  damit  keine  wesentlichen  Fortschritte  erzielt 
werden  konnten.  Um  der  Stickstofifnot  zu  steuern, 
wandte  man  sich  den  anorganischen  stickstoff- 
haltigen Produkten  zu  und  zwar  dem  schwefel- 
sauren Ammonium  und  dem  Chilesalpeter. 
Schwefelsaures  Ammonium  wird  als  Nebenprodukt 
bei  der  Leuchtgasfabrikation  gewonnen.  Die 
Produktion  ist  vollkommen  abhängig  von  dem 
Leuchtgaskonsum  und  kann  infolgedessen  nicht 
beliebig  gesteigert  werden.  Der  Chilesalpeter  ist 
ein  ausgezeichnetes  Düngemittel.  Es  wird  aber 
nicht  mehr  lange  dauern  und  der  Vorrat  wird  er- 
schöpft sein.  Im  Jahre  1880  betrug  die  chilenische 
Salpeterausfuhr  bereits  225000  Tonnen.  Bei  der 
heutigen  Jahresausfuhr  von  2  Millionen  Tonnen 
dürfte  der  Chilesalpeter  in  einigen  Jahrzehnten 
aufgebraucht  sein.  Man  mußte  daher  an  das 
Problem  herantreten,  den  elementaren  indifferenten 
Luftstickstoft"  in  den  Dienst  der  Landwirtschaft  zu 
stellen.  Dies  gelang  auf  verschiedenen  Wegen 
und  zwar: 

1.  Durch  direkte  Verbrennung  des  Luftstick- 
stoffes unter  Bildung  von  Salpetersäure,  Nitraten  usw. 

2.  Durch  direkte  Vereinigung  von  Stickstoff 
und  Wasserstoff  zu  Ammoniak. 

3.  Durch  die  Bindung  von  Stickstoff  an  Metalle 
oder  Metalloide  unter  eventueller  weiterer  Um- 
setzung der  entstehenden  Produkte. 

4.  Bakterien. 

Die  Verbreimung  des  Luftstickstoffes  geschieht 


')  A.  Bcrntlisen,  ,,Die  Gewinnung  von  Ammoniak  aus 
neuen  Elementen."  Internationaler  Chemiker-Kongreß  in  New- 
York   1912. 

Hans  tiarrer,  „Landwirtschaftliche  Stickstoffbilanz  und 
Luftslickstoff." 

W.  Nernst,  ,,Über  die  Rolle  des  Stickstoffs  für  das 
Leben".  10.  Jahresversammlung  des  Deutschen  Museums  zu 
München  am   I.  Oktober   1913. 


zunächst  nach  einem  Verfahren  von  den  Norwegern 
Birkeland  und  Eyde.  Die  Birkeland-Eyde- 
sche  Arbeitsweise  besteht  darin,  daß  der  elektrische 
Funke  die  Verbindung  zwischen  Stickstoff  und 
Sauerstoff  in  der  Luft  herstellt,  indem  er  eine 
Fläche  bestreicht.  Zu  diesem  Zwecke  bringt  man 
einen  Wechselstromflammenbogen  genau  zwischen 
die  Pole  eines  gewaltigen  Magneten.  Der  Flammen- 
bogen bewegt  sich  mit  außerordentlicher  Ge- 
schwindigkeit im  elektrischen  Felde,  die  Länge 
des  Flammenbogens  und  der  Widerstand  nehmen 
beständig  zu,  die  Spannung  wächst  so  lange  an, 
bis  an  den  Elektroden  ein  neuer  Flammenbogen 
entsteht  und  der  ursprüngliche  erlischt.  Der  posi- 
tive und  der  negative  Teil  des  Bogens  gehen  ent- 
gegengesetzt, so  daß  eine  leuchtende  Scheibe  ent- 
steht. Die  Spannung  des  Stromes  ist  relativ 
mäßig  (5000  Volt),  ebenso  die  Frequenz  (50).  Bei 
der  Verbrennung  der  Luft  steigt  die  Temperatur 
im  Verbrennungsofen  auf  3000  ••  C.  Die  ver- 
brannte Luft  wird  durch  einen  ringförmigen  Kanal 
abgesaugt,  sie  hat  eine  Austrittstemperatur  von 
700''  und  enthält  etwa  ein  Prozent  Slickoxyd. 
Die  nitrosen  Austrittsgase  werden,  um  eine  Zer- 
setzung des  bei  hohen  Temperaturen  unbeständigen 
Stickoxydes  zu  verhindern,  in  metallenen  Kühl- 
schlangen rasch  auf  200"  abgekühlt,  und  zwar 
leitet  man  diese  Kühlschlangen  unter  die  Dampf- 
kessel der  Fabrik,  um  die  große  Wärmemenge 
nutzbar  zu  machen.  Nach  einer  weiteren  Kühlung 
auf  50"  werden  die  nitrosen  Gase  in  Oxydations- 
kammern geleitet,  in  denen  die  Oxydation  des 
Suckoxydes  zu  Stickstofftetroxyd  vor  sich  geht, 
welches  in  Wasser  zu  50  "/o  Salpetersäure  gelöst 
wird.  Die  nicht  absorbierten  Gase  werden  in 
einem  Kalkmilchturni  zu  Calciumnitrat  und  Calcium- 
nitrit  verarbeitet  und  letzteres  durch  Salpetersäin-e 
in  Calciumnitrat  überführt.  Der  unter  dem  Namen 
Norgesalpeter  in  den  Handel  gebrachte  salpeter- 
saure Kalk  stellt  ein  vorzügliches  Düngemittel 
dar  und  ist  dem  Chilesalpeter  in  jeder  Richtung 
gleichwertig.  Die  Fabrik  zu  Notodden  in  Nor- 
wegen ist  auf  eine  Jahreserzeugung  von  etwa 
20000  Tonnen  eingerichtet. 

Die  Badische  Anilin-  und  Soda fabrik 
hat  ebenfalls  eine  derartige  Methode  ausgearbeitet. 
Im  Gegensatz  zum  Birkeland- Eyde- Verfahren 
arbeitet  sie  mit  einem  ruhenden  Lichtbogen.  Um 
dennoch  eine  innige  Berührung  zwischen  Luft 
und  Flammenbogen  zu  erzielen,  wird  die  Luft 
beim  Einblasen  in  die  Verbrennungskammer  in 
wirbelnde  Bewegung  versetzt  und  im  ruhenden 
Zentrum  des  Luftwirbels  brennt  der  Lichtbogen. 
Die  Gesellschaft  baut  eine  Wasserkraft  von 
120000  Pferdekräften  in  Norwegen  aus  und  will 
auch  in  Bayern,  durch  Überleiten  der  Alz  —  dem 
Abfluß  des  Chiemsees  —  in  die  Salzach,  eine  ent- 
sprechende Kraftquelle  diesen  Zwecken  nutzbar 
machen.  Dieses  Projekt  ist  jedoch  von  der  Hal- 
tung der  Österreichischen  Regierung  abhängig,  die 
bekanntlich  den  Hauptzufluß  des  Chiemsees  auf 
Österreichischem  Gebiete  in  den  Inn  ableiten  will. 


N.  F.  XIII.  Nr.  C^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


95 


Mit  der  direkten  Vereinigung  von  Stickstoff 
und  Wasserstoff  zu  Ammoniak  befaßte  sicli  Prof. 
Haber,  der  jetzige  Direktor  des  physikalisch- 
chemisclien  Institutes  der  Kaiser-Wilhelms-Stiftung 
in  Berlin,  und  die  Badische  Anilin-  und  Sodafabrik 
in  Ludwigshafen  am  Rhein.  Das  Verfahren  wurde 
in  zahlreichen  Patenten  niedergelegt,  die  technische 
Lösung  ist  eine  endgültige.  Die  erste  Fabrik, 
welche  sich  mit  der  Herstellung  von  synthetischem 
Ammoniak  aus  seinen  Elementen  beschäftigt, 
wurde  in  Oppau  bei  Ludwigshafen  am  Rhein  ge- 
gründet. Die  Schwierigkeiten,  mit  denen  Prof. 
Haber  zu  kämpfen  hatte,  waren  ganz  außer- 
ordentliche. Zunächst  muß  bei  ungeheueren 
Drucken  gearbeitet  werden,  Drucke,  die  man  bis- 
her nie  in  der  synthetisch-technischen  Chemie 
verwendet  hat.  Gleichzeitig  kommen  sehr  hohe 
Temperaturen  in  Anwendung.  Durch  die  Auf- 
findung von  Katalysatoren,  welche  bei  weit 
niedrigeren  Temperaturen  eine  genügend  schnelle 
Vereinigung  von  Stickstoff  und  Wasserstoff  zu 
Ammoniak  herbeiführen,  erzielte  Haber  wesent- 
liche Fortschritte.  Bei  200  Atmosphären  Druck, 
einer  Temperatur  von  650 — 700"  unter  Verwen- 
dung von  reinstem  Eisen  als  Katalysator,  das 
einen  Raum  von  20  ccm  einnimmt,  und  bei  einer 
Gasgeschwindigkeit  von  250  1  (gemessen  bei  ge- 
wöhnlichem Druck)  erhält  man  in  der  Stunde 
leicht  z.  B.  5  g,  oder  pro  Liter  Kontaktraum 
250  g  Ammoniak.  Mit  der  technischen  Nutzbar- 
machung des  Verfahrens  betraute  die  Badische 
Anilin-  und  Sodafabrik  Herrn  Dr.  Karl  Bosch. 
Durch  die  speziell  von  Dr.  A.  Mittasch  auf 
Grund  vieler  Einzelversuche  gewonnenen  Einblicke 
in  die  Bedeutung  der  verschiedenartigen  Akti- 
vatoren und  Katalysatorengifte  ist  nunmehr  eine 
sichere  Grundlage  für  einen  zuverlässigen  Dauer- 
betrieb mit  guten  Ammoniakausbeuten  geschaffen. 

Die  Bindung  von  Stickstoff  an  Metalle  und 
Metalloide  geschieht  neben  anderen  Verfahren 
nach  dem  Franke-  Caro'schen  Prozeß.  Franke 
und  Caro  führten  die  Entdeckung  Moissons, 
daß  die  Karbide  bei  hoher  Temperatur  Stickstoff 
anlagern  unter  Bildung  von  Calciumcyanamid,  in 
den  chemischen  Großbetrieb  ein.  Das  rohe 
Calciumcyanamid  wird  gewöhnlich  zur  Zersetzung 
des  noch  darin  enthaltenen  Karbids  hydriert  und 
geölt.  Die  so  behandelte  Ware  enthält  15 — 17"/,, 
Stickstoff  und  wird  als  „Kalkstickstoff"  zur  Düngung 
verwendet.  Jeder  Boden  hat  ein  gewisses  Optimum 
an  Aufnahmefähigkeit  für  Stickstoffdünger.  Ein 
starkes  Überschreiten  desselben  bedeutet  nicht 
nur  eine  überflüssige  Ausgabe,  sondern  kann  so- 
gar schädlich  auf  die  Feldfrucht  einwirken.  Am 
weitesten  kommt  man  mit  einer  guten  Kombina- 
tion von  Stalldüngung  oder  Gründüngung  mit  der 
mehr  akzessorisch  wirkenden  künstlichen  Düngung. 

Eine  weitere  Möglichkeit,  den  Stickstoff  der 
Luft  der  Landwirtschaft  nutzbar  zu  machen,  bieten 
die  stickstoffbindenden  Bakterien.  Doch  soll  auf 
diese  hier  nicht  weiter  eingegangen  werden. 

Dr.  R.  Ditmar. 


Biicherbesprecliungen. 

Prof.  Friedrich  Dahl,  Vergleichen  dePhysio- 
logie   und    Morphologie    der   Spinnen- 
tiere   unter    besonderer  Berücksichti- 
gung  der    Lebensweise.     I.  Teil:  Die  Be- 
ziehungen   des    Körperbaues    und    der    Farben 
zur  Umgebung.  Jena  191 3,  Verlag  von  G.  Fischer. 
—  Preis  3,75  Mk. 
Die  Frage,    welche  Faktoren    bei   der  Heraus- 
bildung   der  Art    maßgebend  gewesen   sind,    wird 
von  den  Biologen    verschieden   beantwortet.     Der 
eine  Teil  sucht  die  Ursachen  der  Umwandlung  in 
einer  Zielstrebigkeit  des  Organismus,  also  in  Ent- 
wicklungsgesetzen, die  im  Organismus  selbst  liegen. 
Die  Vertreter  der  anderen  Richtung   dagegen    er- 
klären   die    Anpassung    an    die    äußeren    Lebens- 
bedingungen als  Folge  der  natürlichen  Zuchtwahl. 
Nach  ihnen  ist    nicht  die  Anlage  des  Organismus 
als  treibendes  Moment  zu  betrachten,  sondern  viel- 
mehr   die    Einwirkung    der    Außenwelt,    die    das 
Überleben  des  Passendsten  herbeiführt.     Beide  An- 
schauungen suchen   die  gleiche  Erkenntnis  zu  er- 
klären :    Bau    und    Lebensweise    eines    Organismus 
bilden  eine  vollkommene  Einheit. 

Die  vorliegende  Schrift  stellt  insofern  eine 
wesentliche  Neuerung  dar,  als  hier  zum  erstenmal 
von  der  Lebensweise  einer  Tiergruppe  ausgegangen 
und  aus  ihr  deren  Organisation  erklärt  wird.  Der 
Verfasser  faßt  alle  morphologischen  Eigenschaften 
als  durch  Anpassung  geworden  auf,  und  zwar 
durch  passive  Anpassung,  denn  er  ist  konsequenter 
Vertreter  der  zweiten  Richtung.  Es  gibt  nicht 
nur  einige  Spezialanpassungen  des  Tierkörpers, 
auch  die  systematischen  Gruppencharaktere  sind 
Anpassungen.  Sie  sind  aus  früherer  Zeit  mit 
herübergenommen  und  nur  durch  Neuanpassungen 
hier  und  da  verwischt. 

Diese  allgemeinen  Gedanken  werden  an  den 
Spinnentieren  erörtert.  Zunächst  definiert  der  Ver- 
fasser den  Geltungsbereich  des  Begriffes  Spinnen- 
tiere und  gibt  dann  eine  vorzügliche  systematische 
Übersicht  der  Arten.  Weiterhin  wird  der  Körper 
mit  seinen  Gliedmaßen,  die  Lage  der  Geschlechts- 
öffnung und  des  Nervensystems  rein  physiologisch 
erklärt.  Das  letzte  große  Kapitel  behandelt  die 
engeren  Beziehungen  des  Baues  und  der  F"arbe 
zur  Umgebung.  Ausführliche  Literatur  und  klare 
Zeichnungen  sind  überall  beigefügt. 

Durch  seine  wertvollen  theoretischen  Erörte- 
rungen und  die  reiche  Fülle  von  neuen  Tatsachen, 
die  mitgeteilt  werden,  bildet  das  Buch  einen 
wesentlichen  Fortschritt,  und  man  darf  auf  den 
zweiten  und  dritten  Teil  gespannt  sein.  Während 
im  ersten  Teil  der  Bau  des  Tieres  allgemein  physio- 
logisch erklärt  wird,  sollen  in  den  beiden  anderen 
die  einzelnen  Organe  mit  ihrer  Funktion  und  der 
Lebensweise  in  Beziehung  gebracht  werden. 

Stellwaag. 


96 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  6 


Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  Dr.  A.  B.  in  Marburg.  —  Außer  der  genannten 
Ausgabe  der  Opera  omnia  von  Kepler,  die  Frisch  in  den 
Jahren  185S  bis  1871  besorgt  hat,  existiert  meines  Wissens 
keine  andere.  F.  Hayn. 

Herrn  Edwin  R.  in  Leipzig.  —  Die  Beantwortung  der 
ersten  Frage  würde  einer  ausgedehnten  Abhandlung  über  die 
Physik  des  Fahrrades  gleichkommen.  Sie  läiät  sich,  besonders 
in  ihrer  allgemeinen  Form,  nicht  kurz  beantworten. 

Zur  zweiten  i  Weshalb  langsames  Gehen  mehr  anstrenge 
als  rasches,  kann  folgendes  mitgeteilt  werden. 

In  der  allgemeinen  Form ,  daß  ,, langsames  Gehen  mehr 
anstrengt  als  rasches",  ist  der  Satz  nicht  richtig.  Richtig  ist 
nur,  daß  außergewöhnlich  langsames  Gehen  anstrengender  ist 
wie  das  gewöhnliche;  es  strengt  aber  auch  außergewöhnlich 
rasches  Gehen  viel  mehr  an.  Der  Grund,  weshalb  sehr  lang- 
sames Gehen  besonders  ermüdend  wirkt,  liegt  in  erster  Linie 
darin,  daß  die' Beinmuskeln  unnötigerweise  in  .Anspruch  ge- 
nommen werden,  um  das  Schwingen  des  nicht  auf  dem  Boden 
aufstellenden  Beines  nach  vorn  langsamer  zu  gestallen,  als  es 
ohne  alle  Muskelaktion,  allein  durch  die  Schwere  veranlaßt, 
vor  sich  gehen  würde.  Das  Bein  schwingt  zwar  nicht  aus- 
schließlich wie  ein  im  Hüftgelenk  aufgehängtes  gegliedertes 
Pendel ,  sondern  es  machen  sich  Muskelkontraktionen  nötig, 
um  zu  verhindern,  daß  der  Fuß  beim  Schwingen  auf  dem 
Boden  auftrifft.  Zu  diesen  Muskelaktionen  müssen  aber  noch 
neue  hinzukommen,  wenn  die  Schwingung  wesentlich  verlang- 
samt werden  soll.  Andererseits  machen  sich  aber  auch  sehr 
beträchtliche  neue  Muskelaktioncn  anderer  Art  nötig,  wenn, 
wie  bei  sehr  raschem  Gehen  ,  das  Schwingen  des  Beines  be- 
schleunigt werden  soll.  Der  Titel  der  angedeuteten  Unter- 
suchung ist:  O.  Fischer,  Der  Gang  des  Menschen.  6  Teile. 
Abhandlungen  der  Königl.  Sächsischen  Gesellschaft  der  W'issen- 
schaften,  mathematisch-physische  Klasse  Bd.  XXI,  XX\',  XXVI 
u.  XXVIII  (1S95  — 1904).  O.  Fischer. 


Indem  ich  mich  den  Ausführungen  des  Herrn  Dr.  W. 
Richter  über  den  ,,Kinematographen  als  naturwissenschaft- 
liches Anschauungsmittel"  (in  der  Naturw.  Wochenschr.  Nr.  52, 
1913)  anschließe,  möchte  ich,  unter  Bezugnahme  auf  einen 
diesbezüglichen  Artikel  von  mir  in  der  ,, Wochenschrift  für 
Aquarien-  und  Terrarienkunde"  vom  iS.  Mai  1910,  einige 
Ergänzungen  und  Bedenken  hier  beifügen. 

Für  den  eigentlichen  Schul-  und  akademischen  Unterricht 
halte  ich  den  Vortrag  mit  Zeichnungen  an  der  Tafel,  wo  auch 
das  Werden  gezeigt  werden  kann,  und  an  wohl  ausgeführten 
Wandtafeln,  sowie  die  praktischen  Übungen  für  die  wichtigste 
Lehrmethode,  wobei  ich  nicht  umhin  kann,  das  Herumgeben 
von  Präparaten  während  der  Vorlesung  für  einen  leider  fast 
unheilbaren  Unfug  zu  erklären. 

In  zweiter  Linie  kommen  Projektionsbilder  in  Be- 
tracht, aber  nicht  als  gewöhnliches  Anschauungsmittel,  da  sie 
nur  kurz  dem  Auge  sich  bieten  und  kein  dauerndes  Erinne- 
rungsbild geben,  auch,  wegen  Verdunklung  des  Raumes  das 
bei  vielen  Studierenden  schon  des  Fixierens  der  Gedanken 
wegen  beliebte  Nachschreiben  verhindern;  oft  ermüden  sie 
durch  ihre  Überzahl,  50  und  mehr,  wie  so  häufig  bei  popu- 
lären einmaligen  Vorträgen  geschieht,  Hirn  und  Sinne,  deren 
Auffassungsfähigkeit  eine  beschränkte  ist.  Andererseits  machen 
sie  durch  ihre  Größe  und  Deutlichkeit  allerdings  einen  ge- 
waltigen Eindruck,  so  daß  das  Publikum  sie  nicht  mehr  missen 
will. 

Noch  mehr  gilt  das  Gesagte  von  kinematographischen 
Vorführungen.  Die  Bilder  sind  noch  flüchtiger  aber  eindrucks- 
voll,   und    bedürfen    einer    eingehenden  vorherigen   Erklä- 


rung   durch    einen    Sacliverständigen ,    womöglich    auch    noch 
während   der  Vorführung. 

Unentbehrlich  und  wesentliche  Bereicherungen  für  Unter- 
richt und  Forschung  sind  die  kinematographischen  Darstel- 
lungen von  biologischen  Lebensvorgängen  und  Be- 
wegungen, wie  die  Arbeiten  der  Ameisen  und  Bienen,  die 
Bewegungen  der  Würmer,  Polypen,  Amöben,  der  Bakterien 
und  Phagozyten,  die  Entwicklung  des  Eies,  z.  B.  eines  See- 
igels, wie  man  sie  neuerdings  manchmal  zu  sehen  bekommt, 
nicht  mit  jedesmaliger  Produktion,  wie  man  es  früher  machen 
mußte,  so  zur  Zeit  des  Sonnenmikroskops ,  sondern  in  Films, 
die  ein  für  allemal  gefertigt  werden  und  meist  in  wissenschaft- 
lichen Kreisen  bleiben.  Hierher  gehören  auch  die  Darstell- 
ungen der  Bewegungen  der  Flügel,  zumal  bei  Insek- 
ten (Fliegen,  Wasserjungfern),  welche  dem  bloßen  Auge 
wegen  ihrer  Raschheit  unsichtbar  sind ;  mittels  außerordent- 
licher Geschwindigkeit  der  Aufnahme  (1500  in  der  Sekunde) 
und  etwa  100  facher  Verlangsamung  der  Äbrollung  des  so  ge- 
wonnenen Films;  so  auch  das  Durchfliegen  einer  abgeschosse- 
nen Flintenkugel  durch  eine  Seifenblase,  .\hnlich,  mit  Zuhilfe- 
nahme von  Röntgenaufnahmen  und  Wismutgaben,  veranschau- 
licht man  die  peristaltische  Bewegung  des  Darms,  das  Vor- 
rücken der  Nahrung  vom  Rachen  eines  Frosches  bis  zum 
Darm.  C.  B.  Klunzinger. 

Herrn  Oberlehrer  W.  Fuhrmeister  in  Eichenwalde  kann 
ich  folgende  Artikel   empfehlen: 

I.  1907  in  der  „Wochenschrift  für  Aquarien-  und  Terrarien 
künde"  (Braunschweig).    Herrn.  L  ö  n  s ,  Freilandaquarien  S.  609, 

2.  Ebenda:    E.    Seeger,    Freilandterrarium    S.    16,    25,    39, 

3.  Ebenda    1908:     Jesch,     Freilandaquarien    S.    481 — 484 

4.  Ebenda   1910:  Thumm,  Freilandfischzuchtanstalten  S.  33 

5.  1912  in  den  ,, Blättern  für  Aquarien-  und  Terrarienkunde" 
Stuttgart:    Kranz,    Der    Gartenteich.     S.  307.      6.   Riedel 

JVIein  Teich.  S.  149.  7.  Schmalz,  Teiche  aus  Dachpappe 
S.  154.  Seh  malz,  Verbesserung  von  Terrarienteichen.  S.  619, 
S.  Ebenda  1913 :  Reintgen,  Unsere  Freilandanlagen.  S.  796, 
9.  Ebenda  1913:  Schortmann,  Mein  Freilandaquarium 
S.  636.  10.  Zernecke,  Leitfaden  für  Aquarien-  und  Ter^ 
rarienfreunde,  4.  Aufl.,  1913,  S.  321.  Gerühmt  werden  die 
Freilandaquarien  der  ,, Biologischen  Gesellschaft"  in  Frankfurt 
a.  M.  Aus  eigener  Anschauung  kenne  ich  das  Freilandterrarium 
im  Humboldhain  in  Berlin  und  das  kleine  im  Tiergarten 
Doggenburg  in  Stuttgart.  C.  B.   Klunzinger. 


Literatur. 

Dugmore,  A.  Radclyfi",  Wild- Wald -Steppe.  Waidmanns- 
fahrten in  Britisch-Ostafrika.  Mit  132  Bildern.  Aus  dem 
Englischen  übersetzt  von  Hans  Eisner.  S°.  252  S.  Leipzig, 
R.   Voigtländer's  Verlag.  —  Geb.  6,50  Mk. 

Sieberg,  .\ugust,  Einführung  in  die  Vulkankunde  Süditaliens. 
Mit  2  farbigen  .Ansichten  sowie  67  Abbildungen  und  Karten 
im  Text.     8".     226  S.     Jena  '14,  G.  Fischer.  —  4  Mk. 

Gradmann,  Dr.  Robert,  Das  ländliche  Siedelungswesen  des 
Königreichs  Württemberg.  Forschungen  zur  deutschen 
Landes-  und  Volkskunde  usw.  Bd.  21,  Heft  I.  Stuttgart, 
I.   Engelhorn's  Nachf 

Voigt,  Alban,  Die  Riviera.  Junk's  Naturführer.  Berlin '14, 
W.  Junk.  —  Geb.  7  Mk. 

Ascherson,  P.  und  Gräbner,  F.,  Synopsis  der  mittel- 
europäischen Flora.  83.  Lieferung.  Bd.  V.  Chenopodia- 
ceae  (Schluß)  Amarantacae.  Bogen  lo — 14.  Leipzig  und 
Berlin  '13,  W.  Engelmann.  —  2  Mk. 

Essays  and  Studies  presented  to  William  Ridgeway  on  his 
sixtieth  birthday  6.  August  19 13.  Edited  by  E.  C.  Quiggin. 
Cambridge  '13,  Cambridge  University  Press. 


Inhalt;  Alois  Czepa:  Schutzfärbung  und  Mimikry.  (Schluß.)  —  Einzelberichte:  Heape:  Eine  neue  Erklärung  von 
Exogamie  und  Totemismus.  Frobenius:  Probleme  der  afrikanischen  Völkerpsychologie.  Ekman:  Marine  Relikte 
der  nordeuropäischen  Binnengewässer.  Stark:  Darstellung  von  Argon.  —  Kleinere  Mitteilungen:  Hetper:  Bestim- 
mung des  Methylalkohols  in  Spirituosen.  Ditmar:  Stickstoffquellen.  —  Bücherbesprechungen:  Friedrich  Dahl: 
Vergleichende  Physiologie  und  Morphologie  der  Spinnentiere  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Lebensweise.  — 
Anregungen  und  Antworten.  —  Literatur:  Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstraße   Ha,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.   Band; 
der  ganzen    Reihe   29.  Band. 


Sonntag,  den  15.  Februar  1914. 


Nummer  y. 


Welche  Bedeutung  haben 

[Nachdruck  verboten.l  Von  Privatdozent  L)r,    Fi 

Bekanntlich  unterscheiden  sich  die  Käfer  von 
den  anderen  Insektenordnungen  durch  den  cha- 
rakteristischen Besitz  von  zwei  verschieden  aus- 
gebildeteo  Flügelpaaren.  Die  Flügel  des  Meta- 
thorax  sind  ungewöhnlich  groß,  membranös  und 
elastisch.  Nur  sie  allein  bewerkstelligen  die  aktive 
Fortbewegung  des  Tieres,  indem  sie  durch  häufige 
und  energische  Schläge  einen  wirksamen  Luft- 
widerstand erzeugen,  der  das  Tier  in  die  Höhe 
hebt  und  vorwärts  treibt.  Die  Deckflügel  da- 
gegen stellen  harte  und  steife,  etwas  gewölbte 
Flächen  dar,  die  in  der  Ruhe  auf  dem  durch  die 
beiden  hinteren  Brustringe  und  den  Hinterleib 
gebildeten  Stamm  aufliegen.  So  erhalten  die 
Hinterflügel  den  denkbar  besten  Schutz,  der  noch 
dadurch  erhöht  wird,  daß  die  Elytren  durch  die 
große  Anzahl  von  1 5  Gesperren  mit  dem  Stamm 
verschlossen  sind.  Will  sich  der  Käfer  zum  Flug 
erheben,  so  stellt  er  die  Elytren  hoch,  bis  sie 
schief  nach  hinten  und  oben  vom  Körper  ab- 
stehen. In  dieser  Lage  können  sie  nur  leise 
fibrieren.  Welche  Bedeutung  die  gehobenen 
Elytren  für  den  fliegenden  Käfer  besitzen,  darüber 
weichen  die  Anschauungen  bedeutend  ausein- 
ander und  wer  sich  in  der  Literatur  Rat  holen 
will,  der  stößt  auf  diametral  entgegengesetzte 
Theorien,  die  sich  in  buntem  Wechsel  im  Laufe 
eines  Jahrhunderts  gegenseitig  ablösen.  In_  der 
folgenden  Tabelle  gebe  ich  eine  historische  Über- 
sicht der  Anschauungen  aus  wissenschaftlichen 
Untersuchungen.  Die  zum  Teil  ganz  absurden 
Mutmaßungen  populärer  Schriftsteller  lasse  ich 
dabei  unerwähnt. 

1820.  Chabrier Durch  ihre  Bewe- 
gung unterstützten 
die  Elytren  aktiv  die 
Arbeit  der  Hinter- 
flügel. 

Die  Elytren  haben 
auf  den  Flug  keinen 
Einfluß. 

Die  Elytren  haben 
auf  den  Flug  keinen 
Einfluß. 

Girard Die    Elytren    haben 

auf  den  Flug  keinen 
Einfluß. 

Bert Die  Elytren  dienen 

zum  Equilibrieren. 

Plateau schließt  sich  Bert  an. 

Pettigrew  .  Die     Elytren     sind 

Tragflächen,  die  dem 
Käfer  den  Flug  erst 
ermöglichen. 


1828.    Strauß  Dürckheim 


1849.    Redtenbacher 


1862. 


1866. 


1872. 
1875. 


die  Deckflügel  der  Käfer? 

itz  Stellwaag,  Erlangen. 

1879.    Jousset  de  Bellesme    .    Die  Elytren  sind  als 

.Steuerorgane  aufzu- 
fassen, durch  deren 
Gewicht  das  Tier 
während  des  Fluges 
die  Richtung  ändert. 

1889.    Ungern  Sternberg  .    .    Die    Elytren    haben 

den  Wert  von  Trag- 
flächen. 

1892.    Hoffbauer Die   Elytren    haben 

auf  den  Flug  keinen 
Einfluß. 

191 1.  Sajo Die  Elytren  verhin- 
dern den  Käfer 
geradezu  am  ge- 
wandten Flug. 

191 1.    Pütter Die     Elytren     sind 

feststehende  Segel- 
flächen. 

1913.    Voß Die   Elytren    haben 

den       Wert        von 
Drachenflächen. 
Die  hier  wiedergegebenen  Theorien  lassen  sich 

in  5   Gruppen  teilen.    Darnach  unterscheiden  wir: 

1.  Theorie  der  aktiven  Beteiligung  am  Flug. 

2.  Theorie,  daß  die  Elytren  am  Flug  voll- 
kommen unbeteiligt  sind.  ' 

3.  Theorie  von  der  Schädlichkeit  der  Elytren. 

4.  Theorie  der  Schwerpunktsverlagerung  durch 
das  Gewicht  der  Elytren. 

5.  Tragflächentheorie. 

Keine  dieser  Ansichten  vermag  bei  kritischer 
Betrachtung  zu  befriedigen. 

Zum  aktiven  Flug  nach  Art  der  Hinterflügel 
kann  der  Vorderflügel  niemals  tauglich  sein,  denn 
ein  wirksamer  Flügel  muß  neben  vielen  anderen 
Eigenschaften  notwendigerweise  einen  steifen 
Vorderrand  und  eine  nachgiebige  Fläche  besitzen, 
wenn  er  den  erzeugten  Luftwiderstand  ausnützen 
will.  Außerdem  muß  er  energische  Schläge  und 
ganz  bestimmte  Drehbewegungen  ausführen.  Aber 
wie  schon  erwähnt  wurde,  bildet  der  Deckflügel 
eine  steife  und  unelastische  Platte,  die  nur  geringe 
Ausschläge  machen  kann.  Sie  ist  außerdem  nur 
sekundär  und  in  vertikaler  Richtung  beweglich. 
Kann  ihm  aber  eine  Bedeutung  als  Luftruder 
nicht  zugesprochen  werden,  so  bleibt  zunächst 
nur  übrie,  ihn  als  reines  Schutzorgan  zu  betrachten. 
Das  ist  die  ganz  natürliche  Überlegung  der  An- 
hänger der  zweiten  Theorie.  Dafür  sprechen  auch 
gewichtige  Gründe,  die  sich  kurz  in  vier  Punkten 
zusammenfassen  lassen. 

I.  Nur  in  wenigen  Fällen  fehlen  die  Elytren 
oder    treten    als   kleine    Schüppchen    auf.      Sonst 


98 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  7 


sind  sie  immer,  obgleich  in  wechselnder  Größe 
vorhanden,  auch  wenn  die  Hinterflügel  nur  schwach 
entwickelt  sind.  Das  klassische  Beispiel  bilden 
die  Carabiden.  Wären  die  Elytren  Fkigorgane, 
so  hätten  sie  für  flugunfähige  Tiere  keinen  Nutzen. 

2.  Die  große  Zahl  der  Histeriden  und  Staphi- 
liniden  hat  vorzüglich  fliegende  Vertreter,  trotz- 
dem  die  Elytren   abgestutzt    oder  abgekürzt  sind. 

3-  Die  Cetoniinen  heben  ihre  Elytren  über- 
haupt nicht. 

4.  Schneidet  man  die  Elytren  bis  auf  ein 
Drittel  der  Körperlänge  ab,  so  vermag  der  Käfer 
scheinbar  unbeschadet  zu  fliegen. 

Somit  kommen  zwar  die  Elytren  als  aktive 
Flugorgane  nicht  in  Betracht,  allein  es  bleibt  die 
Frage  offen,  ob  ihnen  nicht  eine  sekundäre  Be- 
deutung für  den  Mug  beizumessen  ist.  Denn  mit 
Ausnahme  der  Cetoniinen  heben  alle  Käfer  die 
Elytren  vor  dem  Fluge  hoch.  In  dieser  Stellung 
m  ü  s  s  e  n  sie  einen  Luftwiderstand  erzeugen.  Dieser 
kann  allerdings  für  den  Käfer  schädlich  oder  nütz- 
lich sein.  Leider  hat  Sajo,  der  sich  für  den 
ersteren  Fall  entscheidet,  seine  Anschauung,  die 
um  so  weniger  wahrscheinlich  ist,  als  ja  von  den 
zahllosen  Käfern  nur  Cetonia  abweicht,  nicht  ein- 
gehend wissenschaftlich  begründet. 

Ebensowenig  begründet  scheint  die  von  vielen 
Seiten  bedingungslos  wiederholte  Theorie  der 
Schwerpunktsverlagerung  durch  das  Gewicht  der 
Elytren.  Plateau  hat  zwar  den  Versuch  ge- 
macht, sie  eingehend  zu  beweisen,  allein  er  be- 
nützte eine  Methode,  die  für  seine  Zwecke  nicht 
ausreichte.  Er  stellte  zunächst  den  Schwerpunkt 
des  Käfers  in  der  Ruhelage  und  dann  bei  einem 
gespannten  Käfer  fest.  Auf  Grund  seiner  Ver- 
gleichszahlen gelangte  er  zu  dem  Schluß,  daß  der 
Körper  des  Tieres  während  des  Fluges  ständige 
Oszillationen  durch  Verlagerung  des  Schwer- 
punktes nach  vorn  und  hinten  erfährt,  indem  die 
Elytren  verschiedene  Lage  einnehmen.  Durcli 
seine  Messungen  aber  hat  Plateau  nur  gefunden, 
daß  das  Tier  in  der  Ruhe  einen  anderen  Schwer- 
punkt besitzt  als  während  des  Fluges.  Es  ist  ihm 
gar  nicht  möglich,  den  Beweis  zu  führen,  daß  die 
Deckflügel  nennenswerte  orocaudale  Bewegungen 
machen,  denn  dabei  würden  sie  die  Hinterflügel 
bei  ihren  Schlägen  stören  oder  den  Flug  ganz 
beeinträchtigen.  Minimale  Schwankungen  der 
immerhin  sehr  leichten  Deckflügel  wären  trotz- 
dem wohl  nicht  ausgeschlossen,  allein  sie  würden 
so  geringen  Einfluß  ausüben,  daß  dieser  reichlich 
durch  Windstöße  und  Luftströmungen  aufgehoben 
würde.  Aber  auch  diese  sind  nur  in  ganz  ge- 
ringem Umfange  möglich,  wie  die  anatomische 
Untersuchung  lehrt.  *) 

Die  historische  Tabelle  zeigt,  daß  die  modernen 
Forscher  zur  Tragflächentheorie  neigen,  die  Ungern 
Sternberg    unabhängig    von    Pettigrew    auf- 


')  Siehe:  Der  Flugapparat  der  Latnellicornier  von  Dr. 
F.  Stellwaag.  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Zoologie 
Bd.  CVIII. 


gestellt  und  durch  ein  Experiment  begründet 
hat.  Er  fand  nämlich,  daß  ein  Käfer,  dem  die 
Deckflügel  abgeschnitten  oder  gestutzt  sind,  nicht 
mehr  imstande  ist  zu  fliegen.  Leider  hat  Ungern 
Sternberg  nur  dieses  eine  Experiment  ange- 
stellt. Sonst  hätte  er  beobachtet,  daß  Käfer,  die 
aus  irgendeinem  Grunde  im  Fluge  innehalten, 
etwa  wenn  sie  gegen  eine  Wand  stoßen  und  die 
Hinterflügel  nicht  mehr  bewegen  können ,  wegen 
ihres  bedeutenden  Gewichtes  schnell  und  hart  zu 
Boden  fallen.  Das  Segelvermögen  der  Käfer  ist 
das  geringste,  das  unter  den  echten  Flugtieren 
vorkommt.  Sollte  der  Käfer  mit  Hilfe  seiner 
Elytren  nur  einen  kurzen  Gleitflug  ausführen 
können ,  so  müßte  er  nach  mathematischen  Be- 
rechnungen unter  sonst  gleichen  Umständen  eine 
vierfach  größere  Elytrenfläche  besitzen.  Die 
Theorie  Sternberg's  aber  verlangt  eine  acht- 
fach größere  Fläche,  d.  h.  beispielsweise:  die 
Deckflügel  des  Maikäfers  müßten  eine  Fläche 
haben,  so  groß,  wie  Vorder-  und  Hinterflügel  des 
Schwalbenschwanzes  zusammen  genommen. 

Weiterhin  spricht  gegen  Sternberg  folgen- 
der Versuch  :  Man  kann  die  Elytren  durch  Schnitte 
und  Löcher  stark  beschädigen,  wobei  der  Käfer 
im  Flug  keinen  merklichen  Schaden  leidet.  Ferner 
kann  man  die  Elytren  stückweise  bis  auf  einen 
ganz  kleinen  Stummel  verkürzen,  ohne  daß  die 
Manipulation  zur  Flugunfähigkeit  führt.  Der  Käfer 
fliegt  ohne  Elytren  nur  schwankend  und  aufrecht, 
aber  durchaus  nicht  unbeholfen,  wenn  man  ihm 
nur  Zeit  läßt,  sich  nach  und  nach  an  den  neuen 
Zustand  zu  gewöhnen.  Endlich  lehrt  die  genaue 
Beobachtung,  daß  es  den  Käfern  nicht  nur  mög- 
lich ist,  nach  rückwärts  und  aufwärts  zu  fliegen, 
sondern,  daß  sie  diese  Richtung  sogar  bevorzugen, 
wenn  sie  sich  von  ihrem  Unterstützungspunkt 
erheben.  Jeder  Drachenflieger  vermag  im  Gleit- 
flug niederzugehen.  Daß  der  Käfer  zum  richtigen 
Gleitflug  unfähig  ist,  kann  man  sehr  einfach  nach- 
weisen, wenn  man  ein  getötetes  Tier  in  die  Flug- 
lage bringt  und  zu  Boden  fallen  läßt.  Nur  in 
besonders  günstigen  Fällen  landet  das  Tier  in 
einer  steilen  Fallkurve  ein  wenig  weiter  von  dem 
Punkt  entfernt,  den  es  beim  vertikalen  Fall  ohne 
ausgestreckte  Flügel  erreicht  hätte. 

Die  bisherigen  Erörterungen  ergeben,  wie 
schwierig  es  ist,  über  die  Frage  nach  der  Bedeu- 
tung der  Elytren  klar  zu  werden.  Die  physikali- 
schen Erscheinungen  der  Kreis-  und  Wirbelströme, 
die  eine  große  Rolle  spielen,  bilden  für  sich  ein 
schwieriges  Problem,  das  bisher  nicht  angeschnitten 
wurde  und  auch  im  folgenden  gar  nicht  erörtert 
werden  soll.  Hier  handelt  es  sich  in  der  Haupt- 
sache um  die  biologische  Seite  der  Frage. 

Die  Untersuchungen  von  Plateau  ergeben 
die  merkwürdige  Tatsache,  daß  der  Schwerpunkt 
aller  von  ihm  untersuchten  Käfer  ungewöhnlich  weit 
hinter  der  Flügelwurzel  liegt,  obwohl  er  sich  doch 
bei  anderen  Fliegern,  besonders  bei  den  Vögeln 
stets  zwischen  den  Flügelachsen  oder  etwas  unter- 
halb   befindet,    so    daß    sich    der    zwischen    den 


N.  F.  Xin.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


99 


Flügeln  aufgehängte  Körper  in  stabilem  Gleich- 
gewicht befindet.  Dieser  Befund  erschien  mir 
bedeutsam  genug,  um  noch  eine  Reihe  von 
Messungen  an  allen  möglichen  Käfern  vorzu- 
nehmen. Diese  ergaben,  daß  die  Cetoniinen  unter 
allen  Käfern  insofern  eine  .'\usnahmestellung  ein- 
nehmen, als  der  Schwerpunkt  fast  mit  der  Achse 
durch  das  Ende  der  großen  Vorderrandader  jeder 
Seite  zusammenfällt.  Es  bereitet  ihnen  daher 
keine  Schwierigkeiten,  durch  folgerichtiges  Aus- 
nützen des  Luftwiderstandes  dem  Körper  ver- 
schiedene Lagen  zu  geben.  Die  Cetoniinen  aber 
heben  bekanntlich  beim  Fluge  ihre  Deckflügel 
nicht. 

Wenn  der  Schwerpunkt,  wie  bei  den  anderen 
fliegenden  Käfern,  ziemlich  weit  hinter  der  Flügel- 
achse liegt,  so  wird  beim  Flug  das  Abdomen  ab- 
wärts gezogen,  und  der  Körper  steht  mehr  oder 
weniger  vertikal.  Das  ist  stets  bei  langsamem 
Flug  der  Fall.  Bei  schneller  Fortbewegung  aber 
liegt  der  Körper  annähernd  wagrecht.  Diese  Er- 
scheinung kann  ich  mir  nicht  anders  erklären,  als 
daß  beim  raschen  Flug  die  über  den  Schwerpunkt 
zurückgreifenden  Elytren  der  Luft  einen  Teil  ihrer 
Fläche  darbieten,  so  daß  der  von  ihnen  erzeugte 
Luftwiderstand  den  Körper  dreht,  und  daß  das 
Abdomen,  dessen  Fläche  die  Wirkung  unterstützt, 
gehoben   wird.      Die    Elytren    wirken   also    durch 


ihre  Fläche  und  die  bei  schneller  Bewegung 
sekundär  erzeugte  lebendige  Kraft  des  Luftwider- 
standes, nicht  durch  das  in  ihnen  selbst  liegende 
Gewicht.  Ich  fasse  sie  also  nicht  als  Balanzier- 
organe,  sondern  als  Stabilisierungsflächen  auf.  Sie 
gleichen  in  mechanischer  Beziehung  jeder  Ober- 
flächenvergrößerung des  Körpers,  weshalb  sie  kurz 
ausgebildet  sein  können  wie  bei  den  Staphiliniden, 
wenn  der  Hinterleib  lang  ausgezogen  ist.  Ihr 
spezieller  Wert  liegt  darin,  daß  die  weit  hinten 
wirkende  Schwerkraft  durch  eine  entgegengesetzte 
zweite  Kraft  equilibriert  werden  kann. 

Die  natürlichen  Verhältnisse  lassen  sich  durch 
ein  Experiment  nachahmen,  wenn  man  einem  in 
der  Flugstellung  gespannten  Tier  eine  Nadel  durch 
die  Flügelvvurzeln  und  quer  durch  den  Körper 
hindurchführt.  Der  Käfer  hängt  an  der  Achse 
zunächst  vertikal.  Erzeugt  man  aber  vor  ihm 
einen  Luftstrom  von  zunehmender  Stärke,  so  wird 
er  in  die  horizontale  Lage  gedreht. 

Daraus  erklärt  sich  die  Tatsache,  daß  ein 
Käfer,  dem  die  Elytren  vorsichtig  abgenommen 
wurden,  zwar  noch  mäßig  fliegt  und  gut  steuert, 
aber  trotz  der  angestrengtesten  Tätigkeit  den  Kör- 
per nicht  mehr  in  die  günstige  Fluglage  bringen 
kann:  Die  Schwerkraft  findet  kein  entsprechendes 
Gegengewicht. 


Einzelberichte. 


Botanik.  Lichtrichtung  und  phototropische 
Erregung.  Als  parallelotrop  bezeichnet  man 
Pflanzenorgane,  die  sich  dann  in  der  Ruhelage 
befinden,  wenn  ihre  Hauptachse  der  Angriffsrich- 
tung einer  Reizursache  parallel  steht,  und  die 
durch  Ausführung  einer  Krümmung  wieder  in 
diese  Lage  zu  kommen  streben,  wenn  der  Reiz 
unter  einem  Winkel  gegen  ihre  Hauptachse  auf 
sie  einwirkt.  Phototropisch  reizbare  Organe  dieser 
Art  krümmen  sich ,  wenn  sie  seitlich  von  Licht- 
strahlen getroffen  werden.  Es  ist  nun  eine  alte 
Streitfrage,  ob  die  Reizwirkung  unmittelbar  von 
der  Richtung  der  Lichtstrahlen  abhängt,  oder 
ob  sie  durch  den  Helligkeits unterschied 
an  der  Vorder-  und  der  Rückseite  des 
gereizten  Organs  bedingt  wird.  Die  erstgenatmte 
Anschauung  geht  auf  Julius  Sachs  (1879),  die 
andere  auf  N.  J.  C.  Müller  (1872)  zurück.  Die 
Frage  ist  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  bald  in 
diesem,  bald  in  jenem  Sinne  beantwortet  worden, 
ohne  daß  eine  Entscheidung  erzielt  worden  wäre. 
In  einer  Arbeit  von  Konrad  Noack  werden 
nun  recht  bemerkenswerte  Versuchsergebnisse 
mitgeteilt,  die  eine  Abhängigkeit  der  Reizwirkung 
von  der  Richtung  der  Lichtstrahlen  sehr  wahr- 
scheinlich macht.  1) 

')  Noack,  Die  Bedeutung  der  schiefen  Lichtriclitung 
für  die  Helioperzepüon  parallelotroper  Organe.  (Zeitschrift  für 
Botanik,   1914,  Jahrg.  6,  S.   1—79.) 


Noack  verwendete  zu  seinen  Versuchen 
hauptsächlich  die  wegen  ihres  physiologisch  ra- 
diären Baues  und  ihrer  großen  phototropischen 
Empfindlichkeit  besonders  dazu  geeigneten  Keim- 
scheiden (Koleoptilen)  des  Hafers  (Avena  sativa), 
die  im  Dunkeln  bis  zu  2—3  cm  Länge  gezogen 
wurden.  Er  arbeitete  in  einem  als  Dunkelkammer 
eingerichteten  Raum  eines  kleinen  Gewächshauses 
des  Freiburger  Botanischen  Gartens,  bei  einer  un- 
gefähr auf  20"  sich  haltenden  Temperatur  und 
unter  Verwendung  einer  Nernstlampe,  deren 
Strahlen  zur  Herstellung  größerer  Entfernungen 
mit  Hilfe  von  zwei  oder  auch  drei  Spiegeln  in 
dem  kleinen  Räume  hin-  und  hergeschickt  wur- 
den. Die  Lichtstärke  der  verwendeten  Nernst- 
brenner  wurde  im  physikalischen  Institut  exakt 
bestimmt.  Zur  Abschwächung  der  Lichtintensität 
dienten  Rauchglasplatten.  Die  Einzelheiten  der 
Versuchsanstellung  können  hier  nicht  verfolgt 
werden. 

Das  Verfahren  war  auf  die  Bestimmung  der 
phototropischen  Reizschwelle  bei  verschiedener 
Neigung  der  Lichtstrahlen  gegen  die  Versuchs- 
objekte, die  Haferkeimlinge,  gerichtet.  Der  rezi- 
proke Wert  der  Reizschwelle  kann  als  Maß  für 
die  Größe  der  Empfindlichkeit  gelten,  wofern 
man  unter  gleichen  Bedingungen  und  besonders 
mit  gleicher  Lichtquelle  arbeitet.  Zur  Auffindung 
der  Reizschwelle  wird  diejenige  Entfernung  von 
der  Lichtquelle  festgestellt,  wo  die  Zahl  der  eben 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


180' 


gekrümmten  Keimlinge  der  der  ungekrümmten 
Keimlinge  gleich  ist.  Multipliziert  man  die  Licht- 
intensität, die  an  diesem  Punkte  herrscht,  mit  der 
Belichtungsdauer  in  Sekunden,  so  erhält  man  die 
Reizschwelle  in  Meter-Kerzen-Sekunden  (M.-K.-S.). 
Um  die  Lichtintensität  bei  schiefwinkliger  Beleuch- 
tung zu  bestimmen,  mußte 
die  Intensität  des  Brenners 
mit  dem  Kosinus  des  Ab- 
lenkungswinkels vom  recht- 
winkligen Lichteinfall  multi- 
pliziert werden ,  da  die 
i-Ielligkeit  der  beleuchteten 
Fläche  mit  dem  Kosinus 
dieses  Winkels  abnimmt. 

Noack  beleuchtete  nun 
die  Keimlinge  zuerst  hori- 
zontal, dann  unter  verschie- 
denen Winkeln  von  oben, 
hierauf  unter  verschiedenen 
Winkeln  von  unten.  Die 
gefundenen  Schwellenwerte 
sind  aus  der  zweiten  Zeile 
der  folgenden  Tabelle  zu  er- 
sehen ;  die  Richtung  der 
Lichtstrahlen  unter  dem  beigefügten  Winkel  mag 
das  nebenstehende  Schema  veranschaulichen. 

Winkel       15"    30«    45»     65°     90»    105»    120»    135O    150» 
Schwelle       7,3    9,5    11,9  11,18   12,2    15,8    20,3     23,7     32,4 
(in  M.-K.-S.) 

Die  Betrachtung  der  Zahlen  lehrt,  daß  über- 
raschenderweise die  Schwelle,  nachdem  sie  von 
15"  bis  90  "  gewachsen  ist,  unterhalb  der  Horizon- 
talen nicht  wieder  abnimmt,  sondern  zu  wachsen 
fortfährt.  Berücksichtigt  man  nur  die  Werte  ober- 
halb der  Horizontalen,  so  könnte  es  scheinen,  als 
ob  die  Annahme,  daß  die  Reizperzepiion  auf  der 
Heliigkeitsdififerenz  an  Vorder-  und  Hinterseite 
des  beleuchteten  Objekts  beruhe,  zu  Recht  be- 
stünde. Fällt  nämlich  das  Licht  in  schiefem 
Winkel  auf  den  Keimling,  so  muß  diese  Hellig- 
keitsdifferenz größer  sein  als  bei  senkrechtem  Ein- 
fall, da  es  einen  größeren  Weg  im  Stengel  zurück- 
zulegen hat  und  also  eine  stärkere  Absorption 
erfährt.  Je  kleiner  der  Einfallswinkel  ist,  den  der 
Lichtstrahl  mit  der  Vertikalen  bildet,  desto  größer 
müßte  sein  Effekt  in  der  Pflanze  sein,  desto  kleiner 
also  die  Reizschwelle  werden.  Nun  sehen  wir 
aber,  daß  unterhalb  der  Horizontalen,  wo  der 
spitze  Winkel,  den  der  Lichtstrahl  mit  der  Verti- 
kalen bildet,  wieder  kleiner  wird,  die  Reizschwelle 
fortfährt  zu  wachsen,  anstatt  wieder  abzunehmen. 
Für  die  Lichtabsorption  sollte  es  nun  ganz  gleich- 
gültig sein,  ob  die  Strahlen  beispielsweise  unter 
30"  oder  ob  sie  unter  150 
schwelle  beträgt  aber  im 
zweiten  32,4.  Hieraus  geht  hervor,  daß  physika- 
lisch gleiche  Mengen  Licht  physiologisch  ver- 
schiedene Wirkungen  hervorrufen  können,  und 
man  kommt  zu  dem  Schluß,  „daß  die  Richtung 
der  Lichtstrahlen  ausschlaggebend  für  die  Größe 
des  Effekts  ist;   die  Pflanze  wird  von  verschieden 


"  auffallen.     Die  Reiz- 
ersten    Pralle  9,5,    im 


gerichtetem  Licht  verschieden  affiziert,  sie  emp- 
findet also  die  Richtung,  in  der  ein  Lichtstrahl 
sie  trift't". 

Noack  glaubt  auch,  eine  zahlenmäßige  Be- 
ziehung zwischen  Winkel  und  Schwellengröße 
feststellen  zu  können,  indem  er  durch  Multiplika- 
tion des  Supplementwinkels  eines  jeden  Wnikels 
mit  dem  zugehörigen  Schwellenwert  ein  Produkt 
erhält,  das  um  den  Mittelwert  1200  pendelt.  Mit 
Hilfe  dieses  Mittelwertes  findet  er  den  Schwellen- 
wert, der  zu  dem  Winkel  o"  gehört,  der  also  dem 
senkrecht  von  oben  einfallenden  Licht,  d.  h.  der 
normalen  Ruhelage  entspricht  =  1200:  180  =  6,7. 
Dies  würde  der  kleinste  Wert  in  der  ganzen 
Reihe  sein;  streng  genommen,  wäre  also  die 
normale  Ruhelage  die  optimale  Reizlage  beim 
Phototropismus,  doch  äußert  sich,  wie  Verf.  an- 
nimmt, die  tropistische  Erregung  dann  statt  in 
einer  Krümmung  nur  in  einer  gewissen  Verlänge- 
rung der  Koleoptilen. 

Versuche  mit  den  Keimlingen  von  Sinapis 
alba  und  den  Sporangienträgern  von  Phycomyces 
nitens,  führten  zu  den  nämlichen  Schlüssen. 
Phycom}xes  zeigt  jedoch  die  Eigentümlichkeit, 
daß  die  Schwellenwerte  mit  steigender  .Ablenkung 
des  Lichtstrahls  von  der  \'ertikalen  nicht  zu- 
nehmen, sondern  fallen,  so  daß  die  theoretisch 
optimale  Lichtrichtung,  der  gegenüber  die 
Sporangienträger  die  größte  Empfindlichkeit 
(=  reziprokem  Wert  der  Reizschwelle)  besitzen,  die 
Beleuchtung  senkrecht  von  unten  wäre.  Diesen  Ver- 
hältnissen entsprechend  stellt  sich  der  Sporangien- 
träger von  Phycomyces  weniger  genau  in  die  Licht- 
richtung ein  als  die  Keimlinge  vom  Hafer  und 
vom  Senf.  —  Die  interessanten  Befunde  machen 
weitere  Versuche  erwünscht.  F.  Moewes. 

Physik.  Verwendung  lichtelektrischer  Zellen 
zur  Photometrie  der  ultravioletten  Sonnenstrahlung. 
Lädt  man  ein  mit  einer  frisch  geschmirgelten  1 
Zinkplatte  verbundenes  Elektroskop  mit  negativer 
Elektrizität  und  läßt  auf  die  Zinkplatte  das  Licht 
einer  Bogenlampe  fallen,  so  entlädt  sich  das 
Elektroskop  in  kurzer  Zeit  unter  der  Einwirkung  ! 
der  Lichtstrahlen.  Läßt  man  das  Licht  der  Lampe 
vorher  durch  eine  Glasplatte  hindurchgehen,  so 
bleibt  der  Ausschlag  des  Elektroskopes  bestehen, 
während  eine  Ouarzplatte  die  entladende  Wirkung 
des  Lichtes  nicht  aufhebt.  Ist  dagegen  das  Elektro- 
skop statt  mit  negativer  mit  positiver  Elektrizität 
geladen,  so  hat  die  Bestrahlung  der  Zinkplatte 
mit  Bogenlicht  auf  die  Ladung  keinen  Einfluß. 
Die  beschriebenen  Versuche  sind  im  Jahre  188S 
zuerst  von  Hallwachs  ausgeführt,  der  zu  iiinen  an- 
geregt wurde  durch  die  ein  Jahr  früher  von 
Heinrich  Hertz  gemachte  Beobachtung,  daß  die 
Entladung  einer  F''unkenstrecke  durch  auffallendes 
ultraviolettes  Licht  erleichtert  wird.  Aus  den 
Versuchen  geht  hervor,  daß  unter  dem  Einfluß 
des  ultravioletten  Lichtes  der  Bogenlampe,  das 
vom  Quarz  hindurchgelassen,  vom  Glase  aber  ab- 
sorbiert   wird,    die    negative    Elektrizität   aus   der 


N.  F.  XIII.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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gereinigten  Zinkoberfläche  entweicht,  wälirend  bei 
positiver  Ladung  keine  entladende  photoelektrischc 
Wirkung  stattfindet ;  es  entweichen  aus  dem  Zink 
Atome  negativer  Elektrizität,  Elektronen.  Weitere 
Untersuchungen  haben  ergeben,  daß  alle  Metalle 
I  und  viele  andere  Körper  den  sogenannten  Hall  wachs- 
Efifekt  zeigen,  einige  in  noch  viel  stärkerem  Maße 
als  Zink,  so  z.  B.  die  stark  elektropositiven  Metalle 
Kalium,  Natrium  und  vor  allem  Rubidium.  Elster 
und  Geitel  haben  Kalium-  und  Natriumamalgam 
oder  auch  die  flüssige  Legierung  von  Kalium  und 
Natrium  in  luftleere  Glasgefäße  gebracht  und  auf 
diese  Weise  lichtclektrische  Zellen  hergestellt,  in 
denen  schon  eine  Entladung  negativer  Elektrizität 
stattfand,  wenn  auf  die  blanke  Metalloberfläche 
crewöhnliches  sichtbares  Licht  z.  B.  der  Sonne  oder 
einer  Petroleumlampe  fiel.  —  Da  die  Menge  der 
die  wirksame  Oberfläche  verlassenden  Elektrizität 
der  auffallenden  Lichtmenge  proportional  ist,  lag 
der  Gedanke  nahe,  lichtelektrische  Zellen  zu  photo- 
metrischen Zwecken  zu  benutzen.  Doch  zeigt  sich 
hier  eine  Schwierigkeit:  stellt  man  den  zu  Anfang 
erwähnten  Versuch  mit  einer  etwa  ^2  Stunde  alten 
Zinkoberfläche  an,  so  entlädt  sich  das  Elektroskop 
viel  langsamer;  man  spricht  demgemäß  von  einer 
Ermüdung  der  Metalloberfläche.  Eine  alte  Ober- 
fläche ist  lichtelektrisch  unwirksam;  durch  erneutes 
Abschmirgeln  kann  man  sie  wieder  wirksam  machen. 
Die  Ermüdungserscheinungen  sind  wahrscheinlich 
einer  Oxydation  zuzuschreiben,  da  sie  im  Vakuum 
und  im  Wasserstoff  nicht  stattfinden. 

In  dem  ersten  Heft  des  Jahrgangs  1914  der 
Physikalischen  Zeitschrift  beschreiben  die  Herren 
Elster  und  Geitel,  die  sich  besonders  um  die 
Erforschung  der  photoelektrischen  Erscheinungen 
verdient  gemacht  haben,  Kadmium-  und  Zinkzellen, 
die  zur  Photometrie  des  ultravioletten  Sonnenlichtes 
dienen  sollen.  Sie  haben  zu  diesem  Zweck  frülier 
eine  amalgamierte  Zinkkugel im\'akuum  verwendet, 
doch  zeigt  sie  si^-h  nicht  konstant,  da  das  Queck- 
silber allmählich  in  das  Zink  hineindift'undiert, 
wodurch  sich  der  Quecksilbergehalt  der  Oberfläche 
und  damit  ihre  lichtelektrischen  Eigenschaften 
ändern.  Die  neuen  Zellen  bestehen  aus  einer 
Hohlkugel  aus  Uviolglas  (diese  von  der  Firma 
Schott  u.  Gen.,  Jena,  hergestellte  Glassorte  läßt 
ultraviolettes  Licht  bis  herab  zur  Wellenlänge 
2i5/(/(  =  2i5  Milliontel  Millimeter  durch).  Die 
innere  Oberfläche  der  Glaskugel  ist  zum  Teil  mit 
einer  durch  Destillation  im  Vakuum  hergestellten 
Kadmium-  resp.  Zinkschicht  überzogen ;  eine  in 
das  Glas  eingeschmolzene  Platinelektrode  stellt 
die  Verbindung  mit  der  Metallschicht  her.  Der 
Schicht  gegenüber,  aber  von  ihr  isoliert,  steht  in 
der  Mitte  der  Glaskugel  eine  zweite  ringförmige 
Elektrode.  Der  Glaskörper  ist  mit  verdünntem 
Argon  gefüllt.  Verbindet  man  die  lichtelektrisch 
wirksame  Schicht  mit  dem  negativen  und  die 
ringförmige  Elektrode  mit  dem  positiven  Pol  einer 
1 10- Volt-Leitung  und  belichtet  mit  ultraviolettem 
Licht,  so  treten  die  Elektronen  aus  der  Metallfläche 
und  wandern    zum    positiven   Pol.     Es   geht    also 


ein  Strom  durch  die  Zelle,  der  durch  ein  in  die 
Zuleitung  gelegtes  Galvanometer  (Empfindlichkeit 
10""  Ampere)  nachgewiesen  und  gemessen  wer- 
den kann. 

Die  Zellen  wurden  mit  den  Strahlen  einer 
Heraeus'schen  Ouecksilberlampe  untersucht;  es 
ergab  sich  dabei,  daß  ihre  Lichtempfindlichkeit 
konstant  ist,  sie  ermüden  nicht.  Ihr  Photostrom 
nimmt  mit  dem  Quadrat  ihrer  Entfernung  von 
der  Lampe  ab.  Die  Zinkzelle  spricht  schon  auf 
äußerstes  noch  sichtbares  Violett  (400  /(/(),  die 
Kadmiumzelle  auf  UUraviolett  (390  /(/()  an,  so 
daß  die  Zellen  für  das  Intervall  von  400  resp.  390 
bis  224  ftfx  verwendbar  sind.  Das  llviolglas  läßt 
nämlich  Licht  von  der  Wellenlänge  224  /(((  noch 
gut  durch,  während  solches  bis  215  f.iu  nur  wenig 
durchgelassen  wird.  Dieses  Intervall  ist  indessen 
für  die  Photometrie  der  ultravioletten  Sonnen- 
strahlung durchaus  ausreichend,  da  Versuche  er- 
geben haben,  daß  im  Sonnenlicht  selbst  in  9000  m 
über  dem  Meere  kürzere  Wellen  als  291  (^ij-i  nicht 
vorkommen.  Die  kürzeren  Wellenlängen  werden 
schon  in  den  höchsten  Schichten  der  Atmosphäre 
absorbiert.  Dr.  K.  Schutt,  Hamburg. 

Zoologie.  Sauerstofifgehalt  und  Fauna  des 
Tiefenwassers  unserer  Seen.  Das  Bild  der  Tiefen- 
fauna unserer  Binnenseen  wird  ausschlaggebend 
beeinflußt  durch  das  Massenauftreten  der  Larven 
der  Zuckmücken  (Chironomiden);  und  zwar  sind 
für  die  norddeutschen  und  dänischen  Seen  im 
allgemeinen  charakteristisch  die  Larven  der  Gattung 
Chirouviuiis,  für  die  subalpinen  Seen  die  Larven 
der  Gattung  Taiiytarsiis.  Die  Maare  der  Eifel 
sind  z.T.  Tanytarsusseen ,  z.T.  Chironomusseen. 
In  den  flacheren  Maaren  (Schalkenmehrener  Maar 
2 1  m,  Holzmaar  21m,  Meerfelder  Maar  1 7  m )  besteht 
die  Tiefenfauna  vor  allem  aus  den  großen  roten  Larven 
von  ÜiirojioimtsbatJwphihis,  einer  Tubifexart  aus  der 
Verwandtschaft  von  Tiibifcx  tiibifcx  und  der 
Erbsenmuschel  P«/i:////w//cj7///;//;  in  den  tieferen 
Maaren  (Pulvermaar  74  m,  Weinfelder  Maar  51  m, 
Gemündener  Maar  38  m)  fehlt  Pisidi/iiii ;  die  hier 
vorkommende  Tubifexart  ist  T.  velutiiius,  und  statt 
der  Chironomuslar\-en  treten  die  Larven  einer  Art 
der  Z'c?/.')'/'(?;-5/Mgruppe  in  Massen  auf. 

Woher  dieser  Unterschied  in  der  Besiedelung 
so  dicht  benachbarter  Wasserbecken?  Der  Unter- 
schied in  der  Tiefe  an  sich  kann  keine  Rolle 
spielen,  die  thermischen  Differenzen  sind  auch  nicht 
so  bedeutend,  daß  sie  die  große  Verschiedenheit 
in  der  Tiefenfauna  erklären  könnten. 

Auffallend  ist  es,  daß  die  Tiefenfauna  der 
Chironomusseen  (Ciiiroiioiiiiis,  Tiibifcx  tiibifcx)  in 
hohem  Maße  der  Fauna  der  durch  organische 
faulende  Stofi'e  stark  verunreinigten  Gewässer 
ähnelt,  und  daß  anderseits  Tanytarsusarten  nie  in 
solchen  verunreinigten  Gewässern  auftreten.  Wir 
wissen  weiterhin,  daß  der  Einfluß,  den  die  Fäulnis 
auf  die  Zusammensetzung  der  Wasserfauna  ausübt, 
vor  allem  auf  dem  Sauerstofischwund  im  Wasser 
beruht. 


I02 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


Wenn  sich  also  nachweisen  ließe,  daß  in  der 
Tiefe  der  Chironomusseen  im  Sommer,  zur  Zeit 
der  thermischen  und  chemischen  Schichtung  des 
Wassers,  bedeutend  weniger  Sauerstoff  im  VVasser 
gelöst  ist,  als  in  den  Tanytarsusseen,  so  wäre  die 
Verschiedenheit  der  Tiefenfauna  beider  Seetypen 
dem  Verständnis  um  Vieles  näher  gebracht.  Das 
ist  nun  talsächlich  der  Fall!  (A.  Thienemann, 
Int.  Revue  d.  ges.  Hydrobiol.  u.  Hydrogr.  VI, 
191 3,  S.  243  ff).  Die  in  den  Eifelmaaren  im  August 
191 3  gewonnenen  Sauerstoffzahlen  zeigen  folgen- 
des: 

I.  Tanytarsusmaare:  Sauerstoffgehalt  in 
ccm  pro  Liter  Wasser 

im  Gemiindener  Maar  im  Weinfelder  Maar 

(3- VIII.  13)  (8.  VIII.  13) 

o  m  (19,7  ")  =  7,32  ccm       o  m  (16,5  ")  =  7,32  ccm 

5  m  (16,4")  =  7,59  ccm  20  m    (6,4")  =  8,82  ccm 

25  m    (4,9")==;  8,25  ccm  50  m    (4,6")  =  8,25  ccm 

38  m    (4,8")  =  7,77  ccm 

II.  Chironomusmaare: 

im  Schaikenmehrener  Maar  im  Holzmaar 

(4.  VIII.  13)  (6.  VIII.  13) 

om(i9,o")  :=  7,80  ccm  o  m  (18,1  ")  =  7,99  ccm 
10  m  (8,5")  =  8,42  ccm  5  m  (15,2")  =  8,25  ccm 
1 5  m  (6,5  ")  =  6,72  ccm  7  m  ( 10,1  ")  =  7,67  ccm 
20  m    (6,4'*)  =  3,49  ccm      10  m    (7,8")  =  5,30  ccm 

19  m    (6,5  "j=  1,55  ccm 

.■Mso  im  Tanytarsusmaar  auch  im  Hochsommer 
in  allen  Schichten  Sauerstoffsättigung  des  Wassers, 
im  Chironomusmaar  im  Sommer  in  der  Tiefe  ein 
weitgehender  Sauerstoffmangel  (Messungen  aus  dem 
Oktober  zeigten  noch  größere  Differenzen).  Und 
nach  den  bis  jetzt  vorliegenden  Untersuchungen 
dürfen  wir  annehmen,  daß  alle  Chironomusseen 
Norddeutschlands  und  Dänemarks  im  Sommer 
ebenfalls  ein  sauerstoffarmes  Tiefenwasser  besitzen; 
die  wenigen  Sauerstoffbestimmungen,  die  in  einem 
subalpinen  See  (Genfer  See)  gemacht  wurden, 
zeigen,  daß  hier,  in  einem  typischen  Tanytarsus- 
see  im  Sommer  auch  in  Tiefen  von  250  m  an- 
nähernd Sauerstoffsättigung  herrscht. 

Daß  die  Verschiedenheit  in  der  Sauerstoff- 
verteilung bei  beiden  Seetypen  natürlich  auch  in 
manch  anderer  Beziehung  biologisch  von  Bedeutung 
sein  wird  (z.  B.  für  die  Planktonschichtung  und 
-Wanderungen),  kann  hier  nur  angedeutet  werden ; 
spätere  Untersuchungen  müssen  hierüber  erst  Auf- 
schluß geben.  Auf  jeden  Fall  scheinen  Chironomus- 
und  Tanytarsussee  zwei  hydrographisch  und  bio- 
logisch wohl  charakterisierte  extreme  Typen  der 
temperierten  Binnenseen  darzustellen,  die  bisher 
merkwürdigerweise  noch  nicht  unterschieden  wor- 
den sind.  Thienemann  (Münster  i.  W.). 

Das  Geruchsvermögen  der  Bienen.  Nach  der 
Anschauung  von  Andreae  und  Forel  kommt 
den  Bienen  nur  ein  geringes  Geruchsvermögen 
zu.  Zum  Beweise  dafür  brachte  Forel  eine 
mit  etwas  Honig  beschickte  und  mit  Gaze  über- 
spannte Schale  vor  das  Flugloch  des  Stockes  und 


fand,    daß  die  Tiere  von  dem  Honig   keine  Notiz 
nahmen. 

Ausgehend  von  der  Beobachtung,  daß  bei 
Hantierungen  wie  Honigschleudern  und  Wachs- 
auslassen die  Bienen  sich  in  großer  Zahl  einfinden, 
stellte  Zander  (Biol.  Centralblatt  Bd.  XXXIII, 
Nr.  12)  planmäßig  Versuche  an,  indem  er  von 
April  bis  September  je  zweimal  im  Monat  nach 
der  Vorschrift  Forel's  die  Schale  auf  das  h'lug- 
brett  oder  das  Dach  des  Stockes  stellte,  jedoch 
so,  daß  die  grüne  Drahtgaze  den  Honig  vor  den 
Augen  der  Bienen  verbarg.  Der  Erfolg  der  Be- 
obachtungen war,  daß  die  Schale  unbeachtet  blieb, 
solange  die  Tracht  und  die  klimatischen  Verhält- 
nisse günstig  waren.  War  dagegen  die  Tracht 
schlecht,  so  sah  man  die  Bienen  überall  nach 
Honig  herumwittern,  und  die  Schale  war  dicht 
belagert.  Daraus  ergibt  sich  zunächst  der  Schluß, 
daß  man  den  Bienen  ein  feines  Geruchsvermögen 
zuerkennen  muß,  und  weiter,  daß  sie  die  Fähig- 
keit besitzen,  zu  lernen  und  ihre  Tätigkeit  ent- 
sprechend den  äußeren  Verhältnissen  zu  modi- 
fizieren. Dr.  Stellwaag. 

Chemie.  Über  eine  chemisch-aktive  Modifika- 
tion des  Stickstoffs  hat  der  bekannte  englische 
Physiker  R.  J.  Strutt  seit  dem  Jahre  1911  eine 
Reihe  von  Mitteilungen  (Proc.  Roy.  Soc.  London 
85,  219  [191 1];  8ß,  179  und  302  [1912];  88,  539 
[191 3])  veröffentlicht.  Setzt  man  ,, reinen"  Stick- 
stoff bei  einem  Druck  von  1  bis  10  mm  der 
Wirkung  einer  elektrischen  Entladung  aus,  so  be- 
merkt man  in  dem  Entladungsraum  ein  eigen- 
tümliches gelbes  Leuchten  von  wolkigem  .Aus- 
sehen, das  sich,  wenn  man  durch  das  Entladungs- 
rohr einen  Stickstoffstrom  gehen  läßt,  mit  dem 
Strome  fortbewegt  und  so  aus  dem  eigentlichen 
Entladungsraum  herausgebracht  werden  kann. 
Strutt  schreibt  die  Ersciieinung  der  Entstehung 
einer  bisher  unbekannten  aktiven  Modifikation  des 
Stickstoffs  zu,  die  allerdings  wenig  beständig  sei 
und  sich  spontan  unter  Ausstrahlung  eben  jenes 
gelben  Lichtes  wieder  in  gewöhnlichen  Stickstoff 
zurückverwandele.  In  der  Tat  klingt  das  Leuchten, 
wenn  es  aus  dem  Entladungsraum  entfernt  ist, 
rasch  ab  —  innerhalb  weniger  Sekunden  bis  zu 
höchstens  etwa  einer  Minute. 

An  der  Erscheinung  selbst,  die  übrigens  schon 
früher  von  W  a  r  b  u  r  g  u.  A.  beobachtet  worden 
ist,  ist  nicht  zu  zweifeln,  ihre  Deutung  durch  An- 
nahme einer  besonderen  Modifikation  des  Stick- 
stoffs hat  aber  keineswegs  allgemeinen  Beifall  ge- 
funden. Besonders  wies  P.  Lewis  (Phil.  Mag. 
[6]  25,  II,  326;  191 3)  darauf  hin,  daß  wirklich 
reiner  Stickstoff  die  Erscheinung  nicht  zeige,  daß 
das  gelbe  Nachleuchten  vielmehr  nur  auftrete, 
wenn  der  Stickstoff  durch  Spuren  von  Sauerstoff 
verunreinigt  sei,  und  zu  demselben  Ergebnis  kam 
F.  Comte  (Physik.  Zeitschr.  14,  74;  191 3)  bei 
seinen  auf  Veranlassung  von  E.  Baur  angestellten 
Versuchen,  während  A.  König  und  E.  El  öd 
(Physik.  Zeitschr.  14,   165;   191 3)   wieder   die  von 


N.  F.  XIII.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


103 


Strutt  erlialtenen  Resultate  bestätigten.  In 
diesen  Widerstreit  der  Meinungen  scheinen  nun 
neue,  unter  besonders  reinen  Bedingungen  ange- 
stellte Versuche  von  Erich  Tiede  und  Emil 
Domcke  (Ben  d.  Chem.  Gesellsch.  46,  4095; 
1913)  eine  Entscheidung  in  dem  Sinne  gebracht 
zu  haben,  daß  absolut  sauerstofffreier  Stickstoff 
die  fraglichen  Erscheinungen  tatsächlich  nicht 
gibt. 

Tiede  und  Domcke  benutzten  für  ihre  Ver- 
suche nicht  den  stets  sauerstoffhaltigen  und  der 
vollkommenen  Reinigung  große  Schwierigkeiten 
entgegensetzenden  Luftstickstoff,  sondern  stellten 
in  ihrem  Versuchsapparate  selbst  vollkommen 
sauerstofffreien  Stickstoff  aus  einer  sauerstofffreien, 
ohne  Kristallwasser  kristallisierenden  leicht  in  sehr 
reiner  Form  zu  erhaltenden  Verbindung,  dem 
Baryumsalz  Ba(N3)3  der  Stickstoffwasserstoffsäure 
HN3,  her.  Ihr  verhältnismäßig  einfacher  Versuchs- 
apparat bestand  aus  einem  einerseits  an  eine 
Gaedepumpe  angeschlossenen,  andererseits  mit 
einem  etwa  2  g  Baryumazid  enthaltenden  Gefäß 
verbundenen  Entladungsrohr.  Der  einzige  Schliff 
des  Apparats  zwischen  dem  Entladungsrohr  und 
dem  Baryumazidgefäß  war  ganz  fettfrei  mit  Queck- 
silber gedichtet.  Nachdem  der  Apparat  evakuiert 
und,  soweit  wie  möglich,  von  etwaigen,  an  den 
Wandungen  haftenden  oder  von  den  Elektroden 
okkludierten  Luflresten  befreit  war,  wurde  das 
Baryumazid  erhitzt,  wobei  es  unter  Schwarz- 
färbung in  seine  Elemente  zerfiel.  Der  zunächst 
entweichende  Stickstoff  zeigte  bei  Einschaltung 
des  elektrischen  Stromes  im  Entladungsrohr  noch 
deutlich  das  gelbe  Nachleuchten,  offenbar  weil 
noch  geringe  Spuren  von  Sauerstoff  im  Apparat 
vorhanden  waren.  Würde  aber  der  Apparat  auf 
die  beschriebene  Weise  drei-  oder  viermal  mit 
Stickstoff  bis  zu  einem  Druck  von  etwa  40  mm 
gefüllt  und  der  Stickstoff  dann  wieder  abgesaugt, 
so  verblaßte  das  Nachleuchten  allmählich  und  ver- 
schwand schließlich  vollständig,  mochten  die  Ver- 
suche bei  hohem  oder  niedrigem  Stickstoffdruck, 
im  ruhenden  oder  im  strömenden  Gase  vorge- 
nommen werden.  Ließen  Tiede  und  Domcke 
aber  in  geeigneter  Weise  eine  Spur  Sauerstoff  in 
den  Apparat,  so  trat  das  gelbe  Nachleuchten  so- 
fort wieder  auf  und  verschwand  wieder,  sobald 
auch  die  letzten  Reste  des  Sauerstoffs  durch  neu 
entwickelten  Stickstoff  verdrängt  wurden.  Die 
Versuche  ließen  sich  beliebig  wiederholen. 

Da  es  nach  der  Versuchsanordnung  ausge- 
schlossen ist,  daß  etwa  aus  dem  Baryumazidrohr 
entweichende  Baryumdämpfe  in  das  eigem  liehe 
Entladungsrohr  gelangen  und  dort  die  Entstehung 
des  gelben  Leuchtens  verhindern  konnten,')  und 
auch  von  der  Schliffstelle  her  kommende  Queck- 


'■)  Zwischen  dem  Baryumazidgefäli  und  dem  Entladungs- 
rohr befand  sich  ein  mit  diesem  verschmolzenes  Kondensrohr, 
das  etwa  die  Form  einer  Gaswaschflasche  besaß,  mit  Glas- 
wolle gefüllt  war  und  in  flüssige  Luft  getaucht  werden  konnte. 
Etwaige  aus  dem  Baryumazidgefäß  entweichende  Baryum- 
dämpfe wären  hier  zurückgehalten  worden. 


silberdätTipfe  sicher  keine  Rolle  gespielt  haben, ') 
so  dürfen  die  Versuche  von  Tiede  und  Domcke 
wohl  bis  auf  weiteres  als  eine  Widerlegung  der 
Strutt 'sehen  Annahme  von  der  Existenz  einer 
aktiven  Modifikation  des  Stickstoffs  angesehen 
werden.  Mg. 

Geographie.  A.  Ilettner,  „Rumpfflächen  und 
Pseudorumpfflächen"  (G.  Z.  191 3,  H.  4).  Die  Lehre 
von  den  Rumpfflächen  hat  ihren  Ausgangspunkt  bei 
Ramsay,  der  1846  die  Einebnung  von  Süd- 
Wales  durch  marine  Denudation  erklärte.  Später 
machte  F.  v.  Rieht  ho  fen  im  südlichen  China 
ähnliche  Beobachtungen  und  erklärte  ebenfalls  die 
dortigen  Hochflächen  durch  marine  Abrasion,  mit 
der  er  die  Transgression  in  Verbindung  brachte. 
Eine  andere  Theorie  führt  die  Bildung  der  Rumpf- 
flächen auf  festländische  oder  subaerische  Eineb- 
nung zurück.  Neumayr  und  Penck  haben  sie 
zuerst  in  Deutschland  eingeführt,  ebenso  hat 
A.  Hettner  zuerst  versucht,  sie  auf  die  Ober- 
flächengestaltung der  Sächsischen  Schweiz  anzu- 
wenden (1887).  Davis  hat  sie  auf  die  Appa- 
lachen,  ein  gefaltetes  Land,  zuerst  1889  angewandt, 
und  dann  immer  weiter  ausgebaut.  Sie  ist  durch 
ihn  zu  einem  besonderen  Rüstzeug  der  Morpho- 
logie geworden.  Die  Terminologie  ist  nicht  ganz 
einheitlich.  Den  Ausdrücken  Peneplain,  Fast- 
ebene, Halbebene  oder  Abrasionsfläche  gegenüber 
ist  der  neutrale  von  v.  Richthofen  eingeführte 
Ausdruck  Rumpf  fläche  oder  Rumpfebene  vor- 
zuziehen. 

Die  Rumpfnatur  ist  bei  steil  gestellten  oder 
gefalteten  Schichten  am  deutlichsten,  aber  sie  ist 
nicht  auf  Faltengebirge  beschränkt,  sondern  auch 
in  Schollen-  und  Tafelländern  können  Rumpf- 
flächen erzeugt  werden.  Zur  Bildung  einer  Rumpf- 
fläche bedarf  es  sehr  langer  Zeiträume,  sie  wird 
bei  Davis  verbunden  mit  der  Theorie  der  Alters- 
und Entwicklungsstufen  und  ist  die  charakteristische 
Form  des  Greisenalters. 

Nur  ausnahmsweise  ist  die  Entstehungsweise 
aus  dem  Vorkommen  allein  schon  zu  schließen. 
Strandplatten  sind  wahrscheinlich  mariner  Ent- 
stehung. Andererseits  sehen  wir  Rumpfflächen 
in  Verbindung  mit  alten  Talböden,  also  fest- 
ländischer Entstehung.  Schwieriger  ist  die  Ent- 
scheidung bei  fiissilen  Rumpfflächen,  und  für  jeden 
einzelnen  P'all  sind  genaue  Untersuchungen  nötig. 
Die  Einebnung  wird  in  beiden  Fällen  ungefähr 
auf  das  Meeresniveau  erfolgen,  bei  Rumpfflächen 
in  größeren  Höhen  muß  nachträgliche  Hebung 
angenommen  werden.  Bei  mariner  Abrasion  ist 
die  Ent>tehung  eines  Gefällsbruches  am  aufragen- 
den Lande  gegeben,  bei  der  festländischen  Ab- 
tragung müssen  wir  dagegen  eine  gleichmäßige 
Abtragung  annehmen;  Piedmontebenen  sind  da 
nicht  ohne  weiteres  erklärbar.     Unebenheiten  sind 


')  Wurde  die  Verbindung  zwischen  dem  Baryumazidgefäß 
und  dem  Kntladungsgefäß  anstatt  durch  Schliff  mit  Queck- 
silberdichtung durch  Verschmelzen  hergestellt,  so  bliebeu  die 
Ergebnisse  der  Versuche  die  gleichen. 


I04 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  7 


erstens  durch  Härteunterschiede  gegeben;  bei  fest- 
ländischer Einebnung  kommen  außerdem  die 
Formen  der  Talsysteme  und  wasserscheidenden 
Rücken  in  Betracht.  So  kommt  Hettner  zu 
dem  Schluß,  daß  die  Bildungsweisen  der  Rumpf- 
flächen in  mancher  Beziehung  noch  unklar  sind. 
Auch  Passarge  hat  die  Einebnung  in  feuchten 
Waldgebieten  für  unwahrscheinlich  erklärt. 

Diese  Einsicht  in  die  Unvolikommenheit  beider 
Theorien  hat  Passarge  dazu  geführt,  eine  dritte 
Theorie  aufzustellen,  daß  die  Rumpfflächen  durch 
die  Wirkung  des  Windes  in  einem  mesozoischen 
Wüstenklima  entstanden  seien.  ^)  Die  Möglich- 
keit dieser  Bildungsweise  ist  nicht  in  Abrede  zu 
stellen,  jedoch  besteht  dabei  eine  Beschränkung 
auf  Trockengebiete  und  Unabhängigkeit  von  der 
Meereshöhe. 

Eine  andere  Art  von  Rumpfflächen  kann  nach 
Passarge  durch  den  Bodenfluß  im  polaren 
Klima  entstehen.  Diese  Erklärung  kommt  für  die 
große  Zahl  der  in  extremen  Klimaten  bestehen- 
den Rumpfflächen  in  Betracht. 

In  Zentralgebieten,  in  denen  eine  ge- 
wisse Verwandtschaft  mit  äolischer  Einebnung 
besteht,  tritt  außer  der  Abtragung  durch  Wind 
auch  die  durch  Wasser  in  Tätigkeit;  die  von  den 
Gebirgen  herabkommenden  Flüsse  transportieren 
große  Schuttmassen,  auf  die  der  Wind  einwirken 
kann.  Auch  Karstgebiete  müssen  als  Klima- 
zonen aufgefaßt  werden.  Durch  die  unterirdische 
Versickerung  des  fließenden  Wassers  und  die  da- 
durch verursachte  Auflösung  kann  eine  Einebnung 
erfolgen. 

Auf  den  Wechsel  der  Kräfte  in  bestimmten 
klimatischen  Höheiizonen  machte  Ed.  Richter 
aufmerksam.  Durch  Zurücklegung  glazialer  Kare 
und  Abtragung  der  treimenden  Gratwände  können 
Karplatten  entstehen ;  auch  die  trennenden  Kämme 
werden  abgetragen,  so  daß  an  die  Stelle  des  ehe- 
maligen Kammes  eine  Hochfläche  treten  wird. 
An  der  Lage  im  Niveau  der  Firngrenze  und  an 
der  glazialen  Bearbeitung  können  solche  Hoch- 
flächen erkannt  werden.  Auch  Passarge  wendet 
diese  Erklärung  der  klimatischen  Höhengürtel 
an.  -)  In  der  Mattenregion  findet  eine  starke  Ab- 
tragung statt,  so  daß  in  der  Waldgrenze  gleich 
hohe  und  gerundete  Kammformen  entstehen. 

Bei  flacher  oder  schwach  geneigter  Lagerung 
entstehen  Landterrassen  in  Abhängigkeit  vom 
Gestein  (Stufen-  und  Terrassenlandschaften  der 
Sächsischen  Schweiz,  Coloradokanon).  Das  maß- 
gebende Motiv  hierbei  ist  das  Zurückweichen  von 
Felswänden  und  Landstufen,  meist  durch  die  unter- 
minierende Wirkung  des  Sickerwassers.  Zu  diesen 
Landterrassen  scheinen  auch  viele  Rumpfflächen 
der  deutschen  Mittelgebirge  in  ihrer  heutigen 
Form  zu  gehören.  Man  kann  in  verschiedenen 
Gebirgen  eine  solclie  Wiederentblößung  alter 
fossiler  Rumpfflächen  beobachten. 


')  Physiologische  Morphologie,  Hamburg   1912,  S.   181  ff. 
2)  a.  a.  0.  S.  42. 


So  ergibt  sich  eine  große  Mannigfaltigkeit  der 
Entstehung  von  Rumpfflächen. 

I.  Eigentliche  Rumpfflächen:  a)  durch  marine 
Abrasion ,  b)  durch  festländische  Einebnung, 
c)  durch  den  Bodenfluß  in  Polargebieten,  d)  durch 
die  Wirkung  des  Windes  in  Wüsten  und  Steppen. 

II.  Hochflächen  der  Einebnung  in  abflußlosen 
Gebieten:  a)  in  Zentralgebieten  der  Trockenzonen, 
b)  in  Karstlandschaften. 

III.  Hochflächen  bestimmter  klimatischer  Höhen- 
zonen: a)  Karplatten,  b)  durch  Entstehung  in  der 
Matten-  und  Waldregion,  c)  in  trockenen  steppen- 
artigen Höhengürteln  über  dem  Walde. 

IV.  Landterrassen:  a)  in  tafelartigen  Schichten, 
b)  erneuerte,  d.  h.  wiederentblößte  Rumpfflächen. 

Die  Altersverhältnisse  der  Rumpfflächen 
sind  sehr  bedeutsam.  Die  meisten  sind  geologisch 
alt,  und  gehören  dem  Karbon  und  Rotliegenden 
an;  wieder  andere  sind  jung  (Jungtertiär  und 
Quartär).  Dagegen  finden  sich  mesozoische  sehr 
wenig.  Die  Kriterien  für  junge  Rumpfflächen 
müssen  eingehend  geprüft  werden ;  besonders  die 
Kriterien  der  Rekonstruktion. 

Die  Merkmale  von  Rumpffläclien  bestehen: 
I.  in  dem  Vorkommen  von  Flächenstücken, 
die  auf  eine  allgemeine  Hebung  schließen  lassen. 
Durch  kriechende  Bodenbewegungen  nehmen  die 
Kämme  Rückenform  an,  2.  in  der  Gipfelkon- 
stanz. Dabei  muß  aber  beachtet  werden,  daß 
die  Verwitterung  in  größerer  Höhe  stärker  wird 
und  einen  Ausgleich  erstrebt.  3.  Der  innere 
Bau  der  Landoberfläche  muß  in  Betracht  gezogen 
werden,  der  Widerspruch,  der  zwischen  den  Erd- 
oberflächenformen und  der  Lagerung  der  Schichten 
besteht.  4.  Die  Anordnung  des  Flußnetzes, 
besonders  das  Auftreten  indifferenter  Täler.  5.  Das 
Mäandrieren  der  Flüsse  ist  ein  weiterer 
Anhalt  für  die  Rekonstruktion.  Aber  dazu  genügt 
vielfach  schon  eine  breite  Talterrasse;  es  hängt 
auch  mit  der  Gesteinsbeschaffenheit  zusammen. 

So  ergibt  sich,  daß  die  Anhaltspunkte  für  die 
Rekonstruktion  oft  ziemlich  unsicher  sind.  Eine 
sorgfältige  Analyse  der  Formen  muß  angewandt 
werden,  um  eine  wirkliche  Erklärung  der  Er- 
scheinungen zu  bieten. 

Die  Oberflächengestaltung  des  Harzes  wird 
von  W.  Behrmann  (Forschungen  z.  d.  Landes- 
und Volkskunde  Band  XX,  H.  2,  Stuttgart  191 2) 
nach  der  erklärenden  Methode  geschildert.  Schon 
in  alter  Zeit  hat  der  Harz  seiner  isolierten  Stellung 
wegen  eine  besondere  Rolle  gespielt.  Der  Wald 
ist  das  Charakteristische  des  Gebirges:  die  im  all- 
gemeinen buckelige  Oberfläche  des  Oberharzes 
Avird  von  tiefen  Randtälern  im  Norden  zerschnitten, 
die  niederen  Partien  des  Südharzes  haben  mehr 
lieblichen  Ciiarakler.  Die  wechselnde  morpho- 
logische Gestaltung  hat  ihren  Grund  in  einer 
verwickelten  geologischen  Geschichte. 

Der  Harz  selbst  stellt  einen  Rest  des  alten 
variskischen  Gebirges  dar,  aufgebaut  aus  stark 
gefalteten    paläozoischen   Gesteinen.      Im    Norden 


N.  F.  XIII.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


105 


aber,  sowie  rund  um  das  Gebirge  finden  wir  die 
Gesteine  des  Mesozoikums  einschließlich  Zechstein 
in  sanften  Falten;  nur  in  der  Nähe  des  Gebirges 
tritt  eine  Schrägstellung  ein.  Nach  der  Periode 
des  Aufbaues,  die  bis  ins  obere  Karbon  reichte, 
erlebte  der  Harz  eine  Periode  der  Abtragung, 
deren  Produkte  am  Südrand  eine  große  Rolle 
spielen.  Zechstein  und  Trias  sind  wahrscheinlich 
Perioden  der  Meeresbedeckung  gewesen.  Im 
jüngeren  Mesozoikum  treten  ausgedehnte  Perioden 
der  .Störung  ein,  wobei  aber  das  Verhalten  des 
nördlichen  Vorlandes  vom  südlichen  verschieden 
ist.  Die  Hebungen  des  Nordharzes  sind  in  jung- 
jurassischer, jungkretazeischer,  präoligozäner  und 
postoligozäner  Zeit  erfolgt;  an  den  anderen 
Rändern,  wo  wir  eine  ruhige  Schichtenfolge  haben, 
ist  die  Zahl  der  Bewegungen  nicht  nachzuweisen. 
Im  Norden  dagegen  bilden  die  Sedimentgesteine 
eine  große  nach  Norden  überschobene  Antiklinale, 
so  daß  infolge  der  verschiedenen  Zusammen- 
setzung sehr  wechseh'olle  Oberflächenformen  ent- 
stehen. Das  Gebirge  stellt  im  wesentlichen  eine 
Hochfläche  dar,  die  aber  von  verschiedenen 
Rumpfhöhen  überragt  wird.  Dabei  liegen  die 
größeren  Höhen  in  der  Nähe  des  Nordrandes, 
während  doch  die  Hauptwasserscheide  möglichst 
nahe  dem  Südrand  verläuft.  So  ergibt  sich  auch 
bei  Betrachtung  der  Talformen  eine  Dreigliederung 
der  Landschaft:  in  eine  reife  Südharzzone,  eine 
greisenhafte  Mittelharzzone  und  eine  jugendliche 
Nordharzzone. 

Die  alte  Landoberfläche  des  Mittelharzes 
wird  von  einer  Reihe  von  Monadnocks  (Härt- 
ungen) überragt,  deren  bedeutendster  das  Brocken- 
massiv ist,  das  aus  Granit  mit  seinen  Kontakt- 
gesteinen besteht.  Kennzeichnend  sind  die  Block- 
formen, „Klippen",  die  milden  Talformen  und  die 
Moore,  die  der  Eigentümlichkeit  der  Granitver- 
witterung ihr  Dasein  verdanken.  Der  Ackerbruch- 
berg und  Ramberg  verdanken  ebenfalls  harten 
Ouarziten  bzw.  Hornfelsen,  die  den  Kontakthof 
des  Granits  bilden,  ihre  überragende  Stellung. 
Die  Hochfläclie,  aus  der  diese  Häftlinge  empor- 
ragen, senkt  sich  von  650  m  im  Westen  auf  300  m 
im  Osten;  sie  ist  präoligozänen  Alters. 

Die  Täler  der  Nordabdachung  des 
Harzes  zeigen  bei  allen  Flüssen  eine  dreifache 
Verjüngung.  In  drei  verschiedenen  Zeiten  seit 
dem  Oligozän  hat  sich  also  das  Talsystem  des 
Nordharzes  gebildet.  Während  Innerste,  Oker, 
Bode  und  Selke  durch  ihre  Anlage  in  eingesenkten 
Mäandern  sich  als  Hochflächenflüsse  erkennen 
lassen,  zeigen  die  anderen  Flüsse  ihre  Anlage  als 
jüngere  Randflüsse. 

Die  Ostabdachung  des  Harzes  geht  all- 
mählich in  das  Vorland  über;    so    sind  Terrassen 


der  F'lüsse    hier   spärlich    und    lassen   keine  allge- 
meinen Schlüsse  zu. 

Die  Täler  der  Südabdachung  zeigen 
durchgehends  eine  Talkante.  Nur  ein  Stadium 
des  Einschneidens  in  der  Höhe  der  Vorlandberge 
läßt  sich  beobachten. 

In  der  Talentwicklung  zeigt  sich  ebenfalls  wie 
in  den  Formen  ein  Gegensatz  zwischen  Nordharz 
und  Südharz.  Die  Nordharzflüsse,  meist  Hoch- 
flächcnflüsse,  ließen  drei  Terrassen  erkennen,  die 
Südharzflüsse,  Randflüsse,  nur  eine.  Die  Ursache 
dieser  Verschiedenheit  muß  in  einer  oder  mehre- 
ren Hebungen  gesucht  werden. 

Die  Betrachtung  des  Vorlandes  lehrt  uns, 
daß  die  präoligozäne  Landoberfläche  sowohl  im 
Norden  als  im  Süden  des  Harzes  nachgewiesen 
werden  kann;  ihre  Höhenlage  zeigt,  daß  nur 
Bruchstufen  für  die  Grenzen  des  Harzes  in 
Frage  kommen.  Tektonische  Bewegungen  seit 
dem  Oligozän  schufen  das  Gebirge.  Die  Bruch- 
stufen des  Harzes  müssen  als  wiederaufgelebte 
Bruchstufen  betrachtet  werden,  da  schon  zur  Fast- 
ebenenzeit Herzyngesteine  gegen  mesozoische 
Gesteine  stießen.  Eine  Hebung  seit  der  P'ast- 
ebenenzeit  hat  den  Zusammenhang  zwischen  Harz 
und  Vorland  an  einer  unregelmäßigen  Linie  ge- 
stört. Durch  eine  Ausräumung  des  Vorlandes 
wurde  im  Südharz  eine  Verjüngung  erzeugt.  Es 
erhebt  sich  die  Frage,  ob  im  Nordharz,  etwa 
durch  die  Einwirkung  des  diluvialen  Eises  ein 
Einfluß  auf  die  Erosion  im  Harzinneren  festzu- 
stellen ist.  Behrmann  weist  auf  die  Kraftlosig- 
keit des  auf  dem  Ostharz  gelagerten  Eises  hin 
und  glaubt  nicht,  daß  dieses  von  Einfluß  auf  die 
Morphologie  des  Gebirges  war.  Aber  seit  der 
Diluvialzeit  hat  eine  Vertiefung  der  Täler  statt- 
gefunden, die  wohl  auf  postglaziale  Ausräumung 
hindeutet.  Die  beiden  höheren  Stufen  sind  aber 
nur  durch  eine  Hebung  des  Harzes  zu  erklären, 
die  seit  der  Fastebenenzeit  in  zwei  getrennten 
Perioden  erfolgt  ist. 

Aus  einer  Betrachtung  der  Höhlen  der  Bode 
bei  Rübeland  folgert  Behrmann,  daß  sich  der 
Harz  im  Diluvium  im  Norden  um  rund  70  m  ge- 
hoben haben  muß.  F'ür  die  Zeit  der  Oberterrasse 
glaubt  er  ein  tertiäres  Alter  annehmen  zu  können. 
So  kommt  er  zu  dem  Schluß,  daß  der  Harz  seit 
der  oligozänen  Fastebenenzeit  durch  eine  tertiäre 
nordwärts  gerichtete  Hebung  zum  Gebirge  wurde. 
Die  nordwärts  fließenden  Hochflächenflüsse  schnit- 
ten sich  ein,  es  entwickelten  sich  neue  Randflüsse. 
Das  Gebirge  wurde  im  Süden  durch  Ausräumung 
des  Vorlandes  verjüngt,  und  reifte  aus.  Es  wurde 
im  Diluvium  von  neuem  im  Norden  gehoben  und 
verjüngt,  endlich  zum  drittenmal  verjüngt  durch 
postdiluviale  Ausräumung  des  Vorlandes. 

Dr.  Gottfried  Hornig. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Chemische  Mittel  gegen  Schädlinge  der  Kultur- 
pflanzen. —  Sowohl  pflanzliche  als  auch  tierische 
Lebewesen  sind  es,  die  durch  ihr  Auftreten  all- 
jährlich dem  Ackerbau  ungeheuren  Schaden  zu- 
fügen, sei  es  dadurch,  daß  sie  Leben  und  Gesund- 
heit der  Pflanzen  gefährden,  oder  sie  so  verändern, 
daß  eine  wirtschaftliche  Ausnutzung  unmöglich 
wird. 

Während  man  in  früherer  Zeit  meistens  me- 
chanische Bekämpfungsmittel  anwandte,  ist  man 
in  neuerer  Zeit  zur  Verwendung  chemischer 
Mittel  und  schließlich  in  aller  neuester  Zeit  zu 
biologischen  Bekämpfungsmethoden  übergegangen, 
d.  h.  man  benutzte  natürliche  Feinde  der  Schäd- 
linge zu  ihrer  Bekämpfung. 

Die  Anforderungen,  die  man  an  ein  wirksames 
Bekämpfungsmittel  stellen  muß,  sind  etwa  folgende ; 

1.  Erfüllung  der  angestrebten  Wirkung. 

2.  Gute  Benetzungsfähigkeit. 

3.  Gute  Haftfähigkeit. 

4.  Unschädlichkeit  für  die  Pflanze. 

5.  Leichte  Anwendungsmöglichkeit. 

6.  Gefahrlosigkeit  für  Mensch  und  Tier. 

7.  Billigkeit. 

Auf  dem  Markte  befinden  sich  eine  große 
Menge  Pflanzenschutzmittel,  die  mehr  oder  weniger 
obige  Bedingungen  erfüllen ;  von  Tag  zu  Tag 
wächst  außerdem  ihre  Zahl  noch.  Im  folgenden 
seien  einige  Mittel  kurz  besprochen. 

Ein  wichtiges  Mittel  zur  Bekämpfung  niedriger 
Pilze  ist  das  Kupfervitriol  und  sonstige  Kupfer- 
salze. Schon  allein  dieses  Mittel  erspart  der  deut- 
schen Landwirtschaft  jährlich  mehrere  Hundert- 
millionen Mark.  Die  Keimkraft  der  Steinbrand- 
sporen verschiedener  Getreidearten  wird,  wie 
Prevost  schon  1807  erkannte,  durch  Kupfer- 
vitriollösung (i  :  10000)  vollkommen  zerstört.  In 
die  Praxis  eingeführt  wurde  diese  Methode  jedoch 
erst  um   1850  von  Kühn. 

Da  jedoch  bei  dieser  „Kupfervitriolbeize"  leicht 
Schädigungen  des  Saatgutes  eintreten  können,  hat 
man  an  Stelle  des  Kupfervitriols  den  P'ormaldehyd 
verwendet  und  in  bezug  auf  Ungefährlichkeit  für 
das  Keimgut  und  seine  fungizide  Wirkung  Er- 
gebnisse erhalten,  die  den  Formaldehyd  in  seiner 
Wirkung  dem  Kupfervitriol  mindestens  gleich- 
stellen. ^) 

Eine  noch  größere  Bedeutung  besitzt  das 
Kupfervitriol  für  den  Weinbau.  Die  Peronospora- 
krankheit  bewirkt  ein  Abfallen  des  Weinstock- 
laubes und  hat  gerade  in  den  letzten  Jahren  im 
deutschen  Weinbaugebiet  eine  so  große  Verbrei- 
tung gewonnen,  daß  sicherlich  bald  der  Weinbau 
aufhören  müßte,  hätten  wir  nicht  im  Kupfervitriol 
ein  ausgezeichnetes  Bekämpfungsmittel  dieser 
Krankheit. 

Es  ließe    sich  jedoch  hier   leicht  der  Einwand 


^)  Vgl.  die  Arbeit  von  Dr.  Molz-lialle  in   der  Zeitschrift 
für  angewandte  Chemie,   19:3,  S.   533—36  und   5S7— 88. 


machen,  schadet  denn  das  Kupfervitriol  den 
Trauben  bzw.  dem  Verzehrer  der  Trauben  nichts, 
da  doch  bekanntlich  Kupfersalze  giftig  sind.  Dem- 
gegenüber wurde  festgestellt,  daß  in  I  kg  Trauben 
nach  zweimaliger  Bespritzung  nur  3,2  mg  Kupfer 
vorhanden  waren,  im  Weine  fand  man  in  1  1  nur 
bis  0,26  mg.  Dies  sind  so  geringe  Mengen,  daß 
sie  ohne  jeglichen  gesundheitlichen  Nachteil  ge- 
nossen werden  können,  um  so  mehr  als  die  töd- 
liche Dosis  für  Kupfervitriol  beim  Menschen  10  g 
beträgt.  Andererseits  ist  zu  bedenken,  daß  Wasser, 
das  in  Kupfer-  oder  Messingröhren  fließt,  auch 
Spuren  von  Kupfer  auflöst  (im  Liter  0,107  mg), 
und  daß  man  skrofulösen  Kindern  das  Kupfer 
(0,4 — 0,6  mg)  als  Arznei  verabreicht. 

Außer  diesen  Fällen  finden  Kupfersalze  in  der 
Landwirtschaft,  im  Obst-  und  Gartenbau  und  im 
Weinbau  zur  Pilzbekämpfung  vielseitige  Anwen- 
dung und  schließlich  sei  noch  darauf  hingewiesen, 
daß  z.  B.  Kupferkalkbrühe  gegen  Raupenfraß  und 
gegen  Heuschrecken  angewendet  wird. 

Ein  anderes  wichtiges  Bekämpfungsmittel  ist 
der  Schwefel  und  gewisse  Schwefelverbindungen. 
Besonders  dem  Winzer  ist  der  Schwefel  ein  un- 
entbehrliches Hilfsmittel  gegen  das  Oidium.  Die 
Wirkung  des  Schwefels  beruht  höchstwahrschein- 
lich auf  einer  Schwerelwasserstofi"wirkung,  da 
durch  schweflige  Säure  die  Sporen  des  Oidiums 
gerade  zum  Keimen  gebracht  werden.  Da  der 
Schwefel  jedoch  auch  nachteilig  wirkt,  so  sucht 
man  schon  lange  nach  einem  gleichwertigen  Er- 
satzmittel. 

Zur  Bekämpfung  verschiedener  Meltauarten 
und  anderer  pilzlicher  Bodenschädlinge  eignet  sich 
auch  besonders  gut  der  Schwefel.  Spinnmilben 
und  Erdflöhe  können  ebenfalls  hiermit  vernichtet 
werden. 

Statt  des  Schwefels  wendet  man  besser  noch 
entweder  die  sog.  Schwefelleber,  des  Fünffach- 
Schwefelkalium  (K2S5)  an,  oder  die  Schwefelkalk- 
brühe, oder  „Kalifornische  Brühe",  die  in  Nord- 
amerika besonders  zur  Beseitigung  der  verderb- 
lichen San-Josc-Schildlaus  dient.  Außerdem  findet 
die  Kalifornische  Brühe  Verwendung  zur  Bekämp- 
fung der  Kräuselkrankheit  der  Pfirsiche,  der  Birn- 
blattmilbe,  die  Obstmade  und  vieler  anderer 
Schädlinge. 

Die  Schwefelkalkbrühe  besteht,  wie  der  Name 
schon  sagt,  aus  gebranntem  Kalk,  Schwefelpulver 
und  Wasser.  Auf  100  1  Wasser  nimmt  man 
I9.I75  kg  Schwefel  und  8,628  kg  reinen,  frisch 
bereiteten  Ätzkalk  und  kocht  diese  Mischung. 
Schwefel  und  Atzkalk  verbinden  sich  zu  Polysul- 
fiden,  besonders  zu  Calciumtetrasulfid  und  Calcium- 
pentasulfid. 

Die  Schwefelkalkbrühe  gewinnt  immer  größere 
Bedeutung  und  fängt  sogar  an,  ein  anderes 
Pflanzenschutzmittel,  das  Karbolineum,  zu  ver- 
drängen, das  doch  immer  als  das  Universalmittel 
gegen  alle  Pflanzenschädlinge  galt. 


N.  F.  XIII.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


107 


Karbolineum  ist  bel<anntlich  ein  Produl<t  der 
Stein-  lind  Holzkohleiitcerdestillation,  ein  Gemisch 
von  Teerölen  und  ist  in  einer  selir  großen  Anzahl 
von  Sorten  unter  den  verschiedensten  Namen  im 
Handel,  die  in  ihrer  Wirkungsweise  jedoch  wesent- 
lich voneinander  verschieden  sind.  Auf  Einzel 
heilen  hier  einzugehen  würde  zu  weit  führen. 

Gegen  solche  Schädlinge,  die  sich,  wie  z.  B. 
die  Blattläuse,  durch  Aussaugen  der  Pflanzensäfie 
ernähren,  wendet  man  sog.  Kontaktgifte  an,  vor 
allem  Seife,  wodurch  die  Benetzungsfähigkeit  der 
Insektizide  bedeutend  vergrößert  wird.  Um  eine 
Zersetzung  bzw.  Fällung  der  Seife  durch  anorga- 
nische Salze  zu  verhüten,  setzt  man  den  IVIitteln 
Saponin  zu,  das  aus  den  Früchten  des  algerischen 
Baumes  Sapindus  utilis  gewonnen  wird. 

Zwei  andere  Bekämpfungsmittel  schädlicher 
Insekten  unserer  Kulturpflanzen  sind  das  Nikotin 
und  die  Arsenverbindungen. 

In  der  Form  der  Tabakslauge  wurde  das 
Nikotin  zur  Bekämpfung  aller  möglichen  Insekten 
angewendet,  heute  wird  es  besonders  zur  Heu- 
und  Sauerwurmbekämpfung    besonders  geschätzt. 

Wichtiger  wie  das  Nikotin  ist,  schon  seiner 
Giftnatur  wegen,  das  Arsen  und  seine  Verbindun- 
gen, die  besonders  in  der  Form  des  Schweinfurter- 
grün  zu  allen  möglichen  Bekämpfungen  Verwen- 
dung finden.  Auch  gegen  den  im  Frühjahr  auf- 
tretenden Heuwurm  der  Trauben  kann  man  Arsen 
ohne  Bedenken  anwenden ,  da  hierdurch  keine 
größeren  Arsenmengen   in  den  Wein  kommen. 

Zum  Schluß  sei  noch  ein  Schutzmittel  erwähnt, 
das  in  Amerika  mit  großem  Erfolge  angewendet 
wird,  die  sog.  Räucherung  mit  Blausäure,  die  je- 
doch zu  ihrer  Ausführung  nicht  gerade  wenig 
Vorsicht  bedarf,  da  doch  die  Blausäure  eins  der 
stärksten  Gifte  ist,  die  wir  kennen.  Bei  der  Blau- 
säureräucherung  stellt  man  z.B.  um  den  betreffenden 
Baum  ein  gasdichtes  Zelt  her,  und  bringt  darunter 
Wasser  zum  Kochen,  in  das  man  Cyankalium  und 
zuletzt  Schwefelsäure  gebracht  hat.  Die  Gefähr- 
lichkeit der  Blausäureräucherung  soll  für  den  Men- 
schen nicht  sehr  groß  sein  und  noch  nicht  zu 
bleibenden  Nachteilen  geführt  haben. 

In  Amerika  wendet  man  dieses  Verfahren  zur 
Desinfektion  von  Bäumen,  Magazinen,  Mühlen, 
Getreidespeichern,  Gewächshäusern  usw.  an  und 
hat  bei  den  größten  Schädlingen  der  Kultur- 
pflanzen sehr  gute  Ergebnisse  erhalten. 

Otto  Bürger. 

Die  Nitra-Lampe.  —  Während  die  elektrische 
Bogenlampe  wegen  ihrer  großen  Helligkeit  mehr 
für  die  Beleuchtung  von  größeren  Räumlichkeiten, 
von  Straßen  und  Plätzen  geeignet  ist,  dient  die 
Glühlampe,  die  Edison  vor  34  Jahren  erfunden 
hat,  mehr  der  Beleuchtung  im  Kleinen,  dem  Haus- 
gebrauch. Die  ersten  von  Edison  hergestellten 
Lampen  waren  in  ihrem  Stromverbrauch  außer- 
ordentlich kostspielig;  sie  verbrauchten  für  jede 
Kerze  rund  4  V2  Watt,  eine  gewöhnliche  32  kerzige 
Kohlefadenlampe    also    144  Watt,    d.  h.  der  Preis 


betrug  für  die  Brennstunde  7,2  Pf.,  angenommen, 
daß  die  Kilowattstunde  50  Pf.  kostet.  Schon 
Edison  gelang  es  bald,  die  Wirtschaftlichkeit  der 
Glühlampe  durch  geeignete  Verbesserungen  so 
weit  zu  steigern,  daß  3  Watt  pro  Kerze  aufzu- 
wenden waren,  doch  hinderte  der  hohe  Strom- 
verbrauch immer  noch  die  allgemeine  Einführung 
der  elektrischen  Glühlampe.  Erst  die  Erfindung 
der  Metallfadenlampe  durch  Auer  von  Wellspach, 
der  auch  das  Gasglühlicht  erfunden  hat,  im  Jahre 
1898  hat  das  elektrische  Licht  so  billig  gemacht, 
daß  es  jetzt  allgemeine  Verbreitung  gefunden  hat. 
Die  Metallfadenlampen  sind  im  Stromverbrauch 
beträchtlich  billiger  als  die  alten  Kohlefadenlampen; 
Osmium-  und  Tantallampe  brauchen  pro  Kerze 
1,5  Watt,  die  Wolframlampe  nur  i,i  Walt,  so 
daß  sich  der  Preis  für  die  Brennstunde  einer 
32  kerzigen  Lampe  auf  nur  2,4  resp.  1,76  Pf.  stellt. 
Mit  dieser  außerordentlichen  Steigerung  der  Wirt- 
schaftlichkeit ist  namentlich  in  den  letzten  Jahren 
parallel  gegangen  das  Bestreben,  die  einzelne 
Lampe  so  einzurichten,  daß  sie  eine  große  Licht- 
stärke lieferte,  daß  sie  also  hochkerzig  wurde. 
Während  die  Glühlampe  also  ursprünglich  nur 
als  Ergänzung  und  Ersatz  des  sehr  lichtstarken 
Bogenlichts  in  kleineren  Verhältnissen  gedacht  war, 
ist  die  Entwicklung  dahin  gegangen,  in  der  hoch- 
kerzigen  Glühlampe  einen  ernsthaften  Konkurrenten 
der  Bogenlampe  zu  schaffen.  Einen  bedeutenden 
Schritt  nach  vorwärts  auf  diesem  Wege  bedeutet 
die  kürzlich  von  der  A.  E.  G.  auf  den  Markt  ge- 
brachte Nitralampe,  die  bis  zu  3000  Kerzen  liefert; 
gleichzeitig  ist  die  Wirtschaftlichkeit  der  neuen 
Lampe  günstiger,  sie  verbraucht  nur  0,5  Watt  für 
die  Kerze,  so  daß  eine  32 kerzige  Nitralampe  (eine 
so  niedrigkerzige  gibt  es  allerdings  noch  nicht,  die 
kleinste  Lampe  liefert  600  Kerzen)  nur  0,8  Pf 
pro  Stunde  kosten  würde.  Das  wesentlich  Neue 
der  Nitralampe  ist,  daß  die  kugelförmige  Lampe 
nicht  luftleer  gepumpt,  sondern  mit  Stickstoff  von 
%  Atmosphären  Druck  gefüllt  ist. 

Es  ist  von  großem  Interesse ,  die  Gedanken- 
gänge zu  verfolgen,  die  zur  Konstruktion  der  neuen 
Lampe  geführt  haben.  Erhitzt  man  einen  festen 
Körper,  z.  B.  einen  Kohle-  oder  Metalldraht,  wie 
er  in  unseren  Glühlampen  verwendet  wird,  all- 
mählich mehr  und  mehr,  so  zeigt  sich,  daß  er 
zunächst  dunkelrotes  Licht  ausstrahlt,  das  bei 
steigender  Temperatur  hellrot,  dann  gelb  und 
schließlich  weiß  wird.  Zerlegt  man  das  ausge- 
sandte Licht  durch  ein  Glasprisma,  so  sieht  man, 
daß  sich  zu  dem  zuerst  auftretenden  Rot  die  üb- 
rigen Regenbogen-  (Spektral  )Farben :  Gelb,  Grün, 
Blau  und  Violett  hinzugesellen.  Was  die  Hellig- 
keit des  ausgesandten  vielfarbigen  Lichts  betrifft, 
so  gilt  darüber  folgendes:  je  höher  die  Temperatur, 
desto  heller  erstrahlen  alle  Farben.  Die  Farbe, 
die  jeweilig  in  der  größten  Helligkeit  vorhanden 
ist,  liegt  um  so  weiter  nach  dem  Violett,  je  heißer 
der  Körper  ist.  Da  das  Helligkeitsmaximum  des 
Sonnenlichtes,  das  für  unser  Auge  ja  das  ange- 
nehmste ist,  im  Gelbgrün  liegt,  kommt  es  darauf 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  7 


an,  die  Strahlung  der  künstlichen  Lichtquelle  so 
einzurichten,  d.  h.  ihre  Temperatur  so  weit  zu 
steigern,  daß  ihr  Licht  möglichst  dem  Sonnenlichte 
ähnlich  wird.  Das  ist  aber  ein  Ziel,  das  sich 
schwer  erreichen  läßt,  da  bei  der  außerordentlich 
hohen  Temperatur  der  .Sonne  keiner  der  uns  be- 
kannten festen  Körper  beständig  ist.  Man  muß 
sich  also  damit  begnügen,  die  Temperatur  des 
Leuchtdrahtes  möglichst  hoch  zu  treiben.  Sie 
beträgt  in  den  bisher  gebräuchlichen  Metallfaden- 
lampen ca.  2100",  sie  liegt  noch  etwa  800"  unter 
dem  Schmelzpunkt  des  Wolframs  (2900°),  ist  also 
durchaus  der  Steigerung  fähig.  Belastet  man  eine 
solche  Lampe  stärker,  indem  man  an  ihre  Enden 
eine  höhere  Spannung  als  die,  für  welche  sie  ge- 
baut ist  (meistens  1 10  Volt),  anlegt,  so  leuchtet 
die  Lampe  allerdings  viel  heller,  aber  es  dauert 
nicht  lange,  dann  „brennt  der  Faden  durch",  die 
Lampe  wird  unbrauchbar.  Durch  die  Überbe- 
lastung wird  ihre  Lebensdauer  also  außerordentlich 
verkürzt.  Sieht  man  die  Lampe  an,  so  bemerkt 
man,  daß  die  Birne  innen  geschwärzt  ist,  eine 
Erscheinung,  die  mau  auch  bei  alten  Lampen,  die 
schon  lange  gebrannt  haben,  wahrnimmt.  Bei  der 
hohen  Temperatur  ist  der  dünne  Faden  zerstäubt. 
Gelingt  es,  das  Verdampfen  des  Fadens  zu  ver- 
hindern oder  wenigstens  zu  vermindern,  so  kann 
er  eine  größere  Belastung  ertragen  und  heller 
strahlen.  Nun  Ist  es  bekannt,  daß  Flüssigkeiten 
im  luftverdünnten  Raum  viel  schneller  verdunsten 
und  verdampfen,  als  wenn  sie  unter  normalem  oder 
gar  höherem  Druck  stehen.  Der  Versuch  zeigt, 
daß  unser  Wolframfaden  sich  ganz  ähnlich  verhält, 
auch  er  zerstäubt  in  einer  Stickstoffatmospliäre 
weit  weniger  als  im  luftleeren  Raum.  Aber  der 
Stickstoff  macht  sich  in  einer  anderen  Weise  un- 
angenehm bemerkbar.  Läßt  man  einen  Wolfram- 
faden zunächst  im  luftleeren  Raum  brennen  und 
läßt  nun  plötzlich  Stickstoff  in  die  Birne  strömen, 
so  brennt  die  Lampe  jetzt  dunkler  und  man  muß 
mehr  elektrische  Energie  aufwenden,  um  die  gleiche 
Helligkeit  wie  vorher  zu  erzielen.  Das  Gas  leitet 
nämlich  die  Wärme  von  dem  glühenden  Faden 
nach  der  Wandung  der  Birne  fort,  entzieht  ihm 
also  Energie,  so  daß  jetzt  nicht  mehr  die  gesamte 
elektrische  Energie  in  Strahlung  verwandelt  wird. 
Mißt  man  die  Wärmeverluste  und  gleichzeitig  die 
Lichtstrahlung,  so  zeigt  sich,  daß  bei  steigender 
Temperatur  letztere  schneller  wächst  als  erstere. 
Je  heißer  der  Faden  demnach  ist,  desto  mehr 
überwiegt  die  Lichtausbeute  die  Wärmeverluste, 
die  durch  die  Gegenwart  des  Gases  bedingt  sind. 
Noch  viel  günstiger  gestalten  sich  die  Verhältnisse, 
wenn  man  den  Faden  nicht  wie  bisher  frei  in  der 
Birne  ausspannt,  sondern  ihn  auf  einen  engen  Raum 
zusammendrängt,  indem  man  ihn,  wie  es  in  der 
Nitralampe  geschieht,  in  einer  engen  Sgirale  auf- 
wickelt. Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  bei  einem 
so  gewundenen  Faden,  an  dem  die  Stickstofif- 
moleküle  nicht  ohne  weiteres  von  allen  Seiten 
herankommen  können,  die  Wärmeverluste  durch 
Leitung  und  Fortführung    viel    geringer  sind.     Es 


hat  sich  ferner  als  zweckmäßig  erwiesen ,  den 
Durchmesser  des  Leuchtdrahtes  möglichst  zu  ver- 
größern, das  hat  den  weiteren  Vorteil,  daß  der 
Faden  wesentlich  hallbarer  und  unempfindlicher 
wird. 

Die  Glocke  der  2000  kerzigen  Nitralampe  hat 
einen  Durchmesser  von  nur  20  cm,  der  Hals  ist 
erheblich  länger  als  früher,  da  er  als  Kühlraum 
für  den  heißen,  vom  Leuchtkörper  nach  oben 
steigenden  Stickstofifstrom  dient,  der  auch  die 
verstaubten  Teile  mit  nach  oben  entführt,  so  daß 
die  Glocke  auch  nach  langer  Brenndauer  klar 
bleibt.  Die  Untersuchung  der  Lichtkurve  hat 
namentlich  bei  Verwendung  von  Reflektor  und 
Opalglasglocke  eine  sehr  günstige  Gestalt.  Bei 
normaler  Belastung  nimmt  die  Lichtstärke  der 
Lampe  nach  800  Brennstunden  um  ca.  ^/^  ab.  Da 
die  Temperatur  des  Glühkörpers  ca.  2400 ",  also 
höher  ist  als  die  der  alten  Metallfadenlampen,  ist 
die  Farbe  des  Nitra-Lichts  dem  Tageslichte  ähn- 
licher. Dr.  K.  Schutt. 

Radioaktivität  und  Atomtheorie.  —  Wegen  des 
hohen  Preises  der  radioaktiven  Substanzen  gibt  es 
nur  wenige  zur  Demonstration  dieser  Erscheinungen 
dienende  Apparate,  die  so  billig  sind,  daß  man  sie 
sich  anschaffen  kann.  Zu  den  letzteren  gehört  das 
von  Crookes  1903  angegebene  Spinthariskop.  Es 
besteht  aus  einem  ganz  kleinen  Körnchen  radio- 
aktiver Substanz,  das  am  Ende  eines  dünnen  Metall- 
drahtes dicht  vor  einem  Schirm  aus  phosphores- 
zierendem Zinksulfid  befestigt  ist.  Beobachtet  man 
durch  eine  Lupe  die  dem  Radium  zugewandte 
Seite  des  .Schirmes,  so  bemerkt  man  auf  ihm  ein 
fortwährendes  Flimmern.  Bald  hier,  bald  dort 
leuchtet  er  auf.  Namentlich  unmittelbar  unter 
dem  Radium  liegen  die  aufblitzenden  Lichtpunkte 
so  dicht  nebeneinander,  daß  diese  Stelle  dauernd 
zu  leuchten  scheint,  während  um  diese  helhte  Zone 
herum  nach  außen  hin  die  Wichtigkeit  der  Licht- 
punkte abnimmt.  Der  Schirm  sieht  aus  wie  der 
gestirnte  Himmel,  auch  hier  sehen  wir  wegen  der 
außerordentlichen  Entfernung  der  Fixsterne  nur 
Lichtpunkte,  die  zu  funkeln  scheinen,  ohne  irgend 
welche  Einzelheiten  erkennen  zu  können.  Frau 
Curie,  die  bekannte  Entdeckerin  des  Radiums,  hat 
schon  im  Jahre  1900  die  Strahlenart  erkannt,  die 
Anlaß  der  beschriebenen  Erscheinung  ist.  Wie 
jetzt  wohl  allgemein  bekannt  ist,  schicken  die 
radioaktiven  Substanzen  3  Arten  von  Strahlen  aus, 
die  nach  Rutherford  a-,  ß-  und  y-Strahlen  genannt 
werden.  Die  letzteren  werden  vom  Magneten 
nicht  beeinflußt,  sind  stark  durchdringend  und 
verhalten  sich  wie  Röntgenstrahlen.  Die  /J-Strahlen 
sind  Kathodenstrahlen,  also  Quanten  negativer 
Elektrizität  (Elektronen),  die  mit  ganz  außer- 
ordentlicher Geschwindigkeit  fortgeschleudert 
werden;  sie  legen  in  der  Sekunde  im  Mittel 
250000  km  zurück,  das  Licht  300 000  km. 
Sie  verdanken  ihren  Namen  der  Tatsache,  daß 
sie  in  stark  evakuierten  Entladungsröhren  an  der 
Kathode  entstehen,    wenn  hochgespannte  Ströme 


N.  F.  XIII.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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die  Röhre  durchsetzen.  Doch  ist  die  Geschwin- 
di'ji'Ceit  der  so  erzeugten  Strahlen  beträchtlich 
kleiner  als  die  der  von  radioaktiven  Substanzen 
auso-esandten  Strahlen.  Die  a- Strahlen  schließlich, 
die  den  Hauptteil  der  Radiumstrahlung  ausmachen, 
sind  sehr  wenig  durchdringend;  schon  eine  Luft- 
schiclit  von  etwa  7  cm  Dicke  hält  sie  fast  voll- 
kommen zurück.  In  einem  Magnetfeld  werden 
sie  im  Gegensatz  zu  den  /^Strahlen  nur  schwach 
abgelenkt  und  zwar  nach  der  entgegengesetzten 
Richtung  wie  die  Kathodenstrahlen.  Daraus  geht 
hervor,  daß  sie  eine  positive  Ladung  mit  sich 
führen.  Während  die  /Strahlen  Röntgenstrahlen, 
also  Vorgänge  im  Äther  und  nach  den  Unter- 
suchungen von  Laue,  Friedrich  und  Knip- 
ping  (191 2)  ganz  kurzwelliges  Licht  sind,  wäh- 
rend die  Kathodenstrahlen  vielleicht  aus  reiner, 
von  Materie  freier  Elektrizität  bestehen  (ihre 
Masse  ist  sicher  kleiner  als  der  2000  ste  Teil  des 
kleinsten  und  leichtesten  bisher  bekannten  Körpers, 
des  Wasserstofifatoms),  sind  die  «Strahlen  grobe 
materielle  Geschosse,  nämlich  mit  positiver  Elek- 
trizität beladene  Heliumatome. 

Läßt  man  auf  einen  Zinksulfidschirm  aus 
mäßiger  Höhe  ein  Schrotkorn  fallen,  so  leuchtet 
der  Schirm  an  der  getroffenen  Stelle  auf;  die 
Wucht  des  Aufpralls  bringt  ihn  zum  Leuchten. 
Dasselbe  findet  statt,  wenn  sich  eine  radioaktive 
Substanz  in  seiner  Nähe  befindet,  z.  B.  etwas 
Radiumsalz.  Die  Atome  des  Radiums  zerfallen, 
und  senden  dabei  außer  den  ß-  und  y-Strahlen  die 
Heliumatome  aus,  die  sich  mit  ^/jo  Lichtgeschwin- 
digkeit fortbewegen.  Das  was  ihnen  an  Masse 
fehlt,  ersetzt  ihre  enorme  Geschwindigkeit.  Die 
Wucht  der  «-Strahlen  ist  daher  beträchtlich. 
Trifft  das  Atom  den  Leuchtschirm,  so  leuchtet  er 
wie  beim  Aufprall  der  Schrotkugel  an  der  ge- 
troffenen Stelle  auf  Das  Flimmern  im  Spinthari- 
skop  entsteht  durch  das  Bombardement  der  «- 
Strahlen.  Jedes  Aufleuchten  bedeutet  also,  daß 
ein  Heliumatom  vom  Radium  fortgeschleudert  ist 
und  daß  es  in  diesem  Augenblick  auf  den  Leucht- 
schirm schlägt. 

Die  quantitative  Auswertung  der  beschriebenen 
Versuche  durch  Rutherford,  Geiger  und 
Regen  er  hat  zu  einer  glänzenden  Bestätigung 
der  Atomtheorie  geführt.  Sorgt  man  durch  ge- 
eignete Verdünnung  der  radioaktiven  Substanz 
dafür,  daß  die  Lichtblitze  auf  dem  Leuchtschirm 
nicht  so  häufig  und  dicht  nebeneinander  entstehen, 
so  gelingt  es,  die  Lichtpünktchen  auf  dem  Schirm 
zu  zählen,  die  durchschnittlich  in  einer  Stunde 
auftreten.  Berechnen  wir  ferner  die  Zahl  der 
Schüsse,  die  fehl  gehen,  weil  der  Leuchtschirm 
nicht  in  ihrer  Flugrichtung  liegt,  so  ergibt  beides 
zusammengezählt  die  Zahl  der  Heliumatome,  die 
unser  Radiumsalz  von  bekanntem  Gewicht  in 
I  Stunde  fortgeschleudert  hat.  Nun  ist  aber  durch 
Messungen  festgestellt,  wieviel  Gramm  Radium 
nötig  sind,  um  in  i  Jahr  i  ccm  Helium  zu 
entwickeln  (es  sind  6,3  g).  F"erner  weiß 
man  seit   1865  (Loschmidt),  daß  in  einem  Kubik- 


zentimeter Gas  von  Atmosphärendruck  und  bei 
o"  Temperatur  27  Trillionen  Moleküle  enthalten 
sind.  Rechnet  man  mit  Hilfe  der  gefundenen 
Zahl,  die  die  Zahl  der  in  einer  Stunde  von  unserem 
Radium  fortgeschleuderten  Heliumatome  angab, 
aus,  wieviel  Heliumatome  6,3  g  Radium  in  einem 
Jahr  aussenden,  so  findet  man  ebenfalls  27  Trillionen, 
ein  Ergebnis,  das  fast  märchenhaft  erscheint.  Durch 
diese  und  andere  Versuchsergebnisse  ist  die  Atom- 
theorie in  das  Stadium  der  unmittelbaren  Erfahrungs- 
tatsachen getreten.  Zweifel  an  ihrer  Richtigkeit 
sind  hiernach  kaum  mehr  möglich. 

Dr.  K.  Schutt,  Hamburg. 

Echinorrhynchen  im  Darm  des  Wassergeflügels. 
Beim  systematischen  Öffnen  aller  zur  Verfügung 
stehenden  Tierkadaver  fanden  Z  s  c  h  o  k  e  und 
Feuereißen')  im  Darm  einer  Ente  und  einer 
Gans  den  Echinorrhynchus  filicollis.  Auffallend 
war,  daß  in  dem  Darm  der  Ente  nur  die  blasen- 
förmigen  Rüssel  und  Hälse  der  weiblichen  Echi- 
norrhynchen in  der  Darmwand  steckend  gefunden 
wurden;  die  abgerissenen  Leiber  waren  nicht  auf- 
zufinden. Ebensowenig  waren  männliche  Echi- 
norrhynchen vorhanden.  Der  Gänsedarm  beher- 
bergte zahlreiche  vollständige  Exemplare  beiderlei 
Geschlechts.  Aber  auch  hier  entdeckte  man 
massenhaft  die  erwähnten  Fragmente  weiblicher 
Tiere.  Die  Verfasser  sprechen  die  Vermutung  aus, 
daß  die  Leiber  der  weiblichen  Parasiten  nach  Er- 
ledigung des  Fortpflanzungsgeschäftes  sich  ablösen 
und  mit  dem  Kote  abgehen,  während  der  fest- 
gekeilte Rüssel  und  Hals  stecken  bleibt,  um  später 
zu  degenerieren.  W.  ligner. 


Bücherbesprechungen. 

Monographien  einheimischer  Tiere.  Heraus- 
gegeben von  Prof  Dr.  H.  E.  Ziegler,  Stuttgart 
und  Prof.  Dr.  R.  Woltereck,  Leipzig.  Verlag 
von   Dr.  W.  Klinkhardt  in  Leipzig. 

Bd.  5.  Die  Strudelwürmer  (Turbellaria).  Von 
Privatdozent  Dr.  P.  Steinmann  und  Prof  Dr. 
E.  Breßlau.  1913.  8".  XII  u.  380  S.  2  Taf  u. 
156  Abb.  im  Text.  —  Preis  9  Mk. 

Bd.  6.     Tintenfische    mit   besonderer  Berück- 
sichtigung  von    Sepia   und    Octopus.     Von  Dr. 
Werner  Th.  Meyer.     1913.     8».     148  S.     i  Taf 
81  Textabb.  —  Preis  4  Mk. 
Die  ersten  Bände  dieser  Monographien  sind  in 
früheren    Heften    der    Naturw.    Wochenschr.    be- 
sprochen worden.     Das  Ziel,  das  sich  die  Heraus- 
geber gesteckt  haben,  ist  in  den  Verlagsprospekten 
gekennzeichnet :  „Jedem  Dozenten,  Lehrer,  Studie- 
renden, Züchter,  Liebhaber,  Naturfreund  usw.,  der 
über  ein  Tier  allseitig  Bescheid  wissen  möchte,  auf 
knappem  Raum  und  für  wenige  Mark  alles  an  die 
Hand    zu    geben,    was    er    braucht,    um    sich    zu 
orientieren".     Die  Werke  verdanken  also  ihre  Ent- 
stehung  dem    in    den  letzten  Jahren  immer   mehr 


')   Zeitschrift  für  Fleiscli-  und  Milchhygiene,  Bd.  23,  S.  313 


HO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  7 


zutage  tretenden  Wunsche  nach  Zusammenfassung 
der  Ergebnisse  und  Fortschritte  eingehender  Spezial- 
Studien. Bei  der  Fülle  der  Neuerscheinungen  und 
deren  Verstreuung  über  die  vielen  wissenschaft- 
lichen Zeitschriften  wird  es  dem  auf  dem  be- 
treffenden Gebiete  Arbeitenden  mitunter  recht 
schwer,  Daten  und  Literatur  über  ein  bestimmtes 
Tier  zusammenzufinden,  um  wieviel  mehr  dem 
Laien,  dem  meist  größere  Bibliotheken  nicht  zur 
Verfügung  stehen.  Dazu  kommt,  daß  ein  mit  dem 
Stoffe  nicht  ganz  Vertrauter  schwerlich  in  dem 
Gebotenen  wirklich  Positives  von  Unverbürgtem 
trennen  kann.  Eine  kritische  Sichtung  des  Materials 
dürfte  auch  deshalb  willkommen  sein.  Das  Ziel 
der  Herausgeber  haben  die  Verfasser  der  beiden 
neuen  Bände  erreicht.  Die  Bücher  seien  den  Lesern 
der  Naturw.  Wochenschr.  bestens  empfohlen. 

Bd.  5.  Tu  rbellarien.  Von  den  vier  Llnter- 
ordnungen  der  Strudelwürmer,  die  weiteren  Kreisen 
mit  Ausnahme  der  Aquarienliebhaber  wohl  weniger 
bekannt  sein  dürften,  werden  die  ausschließlich 
marinen  A c o e  1  e n  und  Polycladen  nur  gestreift 
und  im  Zusammenhang  mit  den  beiden  anderen 
Unterordnungen  im  Kapitel  überStammesgeschichte 
und  Entwicklung  behandelt.  Die  Monographie 
erstreckt  sich  demnach  in  der  Hauptsache  auf  die 
Tricladen  und  Rhabdocoelen  und  da  auch  wieder 
besonders  auf  die  einheimischen  Formen  des 
Süßwassers.  Diese  stellen  nur  einen  sehr  geringen 
Teil  der  überhaupt  bekannten  1200  Turbellarien- 
arten  dar;  denn  ca.  600  Arten  leben  im  Meere 
und  400  sind  exotische  landbewohnende  Tiere. 
Von  den  übrigen  200  leben  in  unseren  süßen  Ge- 
wässern 140,  nämlich  ca.  120  Rhabdocoele  und 
20  Tricladen. 

Der  über  die  Tricladen,  zu  denen  die  gemeinen 
Dendrocoelum  und  Planaria  gehören,  handelnde 
Teil  hat  Steinmann  zum  Verfasser,  während 
die  Rhabdocoelen  von  Breßlau  bearbeitet  worden 
sind  und  zwar  fast  ausschließlich  an  der  Hand  des 
für  das  Studium  so  günstigen  Mesostomum  Ehren- 
bergii.  Mögen  nun  die  Kapitel  über  Systematik 
dem  Sammler  besonders  wertvoll  sein ,  so  wird 
jeder  Naturfreund  das  Kapitel  über  die  Biologie 
begrüßen.  Nicht  nur  die  eigentümlichen  Fort- 
pflanzungsverhältnisse, sondern  vor  allem  —  bei 
den  Tricladen  —  das  außerordentliche  große 
Regenerationsvermögen  und  diedarüber  angestellten 
zahlreichen  Experimente  werden  das  Interesse  auch 
des  Nichtfachmannes  erregen.  Das  Schlußkapitel 
über  die  Entwicklung  und  die  Stammesgeschichte 
der  Strudelwürmer  haben  die  beiden  Verfasser  ge- 
meinsam geschrieben. 

Das  Buch  zeichnet  sich  durch  sehr  gute  Dis- 
position und  demzufolge  durch  große  Übersicht- 
lichkeit aus.  Es  wurde  dies  einesteils  dadurch  er- 
reicht, daß  beide  Hauptabschnitte  in  gleicher 
Weise  eingeteilt  sind  (Anatomie,  Biologie,  Öko- 
logie, Systematik),  vor  allem  aber  dadurch,  daß 
jeder  kleinste  Abschnitt  durch  eine  besondere 
Überschrift  gekennzeichnet  ist.  Die  vielen  klaren 
Textabbildungen  und  die  ausgezeichneten  Habitus- 


bilder der  beiden  Tafeln  erhöhen  den  Wert  des 
Buches. 

Bd. 6.  Tintenfische.  Speziell  für  die  Tinten- 
fische, oder  wie  man  wohl  auch  mit  Rücksicht  auf 
die  systematische  Stellung  sagt,  für  die  Tinten- 
schnecken mag  eine  Zusammenfassung  des  Wissens- 
werten sehr  erwünscht  sein,  da  in  letzter  Zeit  die 
Tiergruppe  erneut  Gegenstand  eingehender  Unter- 
suchungen gewesen  ist.  Selbst  von  unseren  be- 
kanntesten, gemeinsten  Arten  sind  gewisse  ana- 
tomische Verhältnisse  wie  Gefäßsystem  und  Nerven- 
system erst  in  jüngster  Zeit  näher  bekannt  ge- 
worden. Die  Anregung  zu  diesen  Arbeiten  ist 
nicht  zuletzt  durch  die  große  Anzahl  abenteuer- 
licher Formen  gegeben  worden,  die  unsere  Tief- 
seeexpeditionen zutage  gefördert  haben.  Von 
unseren  heimischen  Meeren  beherbergt  indessen 
nur  die  Nordsee  einige  wenige  Arten,  die  zu 
den  beiden  Unterordnungen  der  zehnarmigen 
(decapoden)  und  achtarmigen  (octopoden)  di- 
branchiaten  Tintenfische  gehören.  Als  Typen 
dieser  beiden  Gruppen  können  Sepia  und  Octopus 
(der  gemeine  Tintenfisch  und  der  Krake  oder 
Pulp)  angesehen  werden.  Der  Verfasser  hat  des- 
halb diese  beiden  Vertreter  ausgewählt,  um  an 
ihnen  in  leicht  faßlicher  Form  die  gesamte  Or- 
ganisation der  Tintenfische  darzustellen.  Die 
exotischen  und  Tiefseeformen  werden  dabei  keines- 
wegs übergangen  und,  soweit  es  nötig  ist,  in  die 
Darstellung  einbezogen,  so  z.  B.  in  den  Abschnitten 
über  die  Physiologie  des  Gehirns  und  der  Sinne, 
über  die  Teleskopaugen,  die  Chromatophoren  und 
die  Leuchtorgane. 

Der  Verf  hat  mit  Recht  nur  das  Wichtigste 
zusammengestellt  und  hat  vermieden,  sich  auf 
spekulative  Betrachtung  einzulassen,  wie  das  kurze 
Kapitel  über  die  Stammesgeschichte  beweist.  Auch 
dieser  Band  zeichnet  sich  durch  viele  gute  Ab- 
bildungen aus.  Dr.  Wagler  (Leipzig). 


O.  Keller,  Die  antike  Tierwelt.  i.  Band: 
Säugetiere,  mit  145  Abbildungen  im  Text  und 
3  Lichtdrucktafeln.  Leipzig  1909,  im  Verlag 
von  W.  Engelmann.  —  Preis  10  Mk.,  geb. 
11,50  Mk. 

2.  Band:  Vögel,  Reptilien,  Fische,  Insekten, 
Spinnentiere,  Tausendfüßler,  Krebstiere,  Würmer, 
Weichtiere,  Stachelhäuter,  Schlauchtiere,  mit 
161  Abbildungen  im  Text  und  auf  Tafeln,  so- 
wie 2  Lichtdrucktafeln.  Leipzig  1913,  im  Ver- 
lag von  W.  Engelmann.  —  Preis  17  Mk.,  geb. 
18,50  Mk. 

Hierzu  noch  gehörig,  zusammen  eine  Einheit 
bildend : 

Tiere    des    klassischen    Altertums    in    kultur- 
geschichtlicher Beziehung,  mit  56  Abbildungen. 
Innsbruck   1887,  Verlag  der  Wagner'schen  Uni- 
versitätsbuchhandlung. 
Den    Naturkundigen    vom    alten    Schlag,    die, 
den  literarischen  Quellen  nachgehend,    stets  ihren 
Herodot    und    Aristoteles   zur  Seite    haben,    steht 


N.  F.  XIII.  Nr.  7 


Naturwissenschaftlich  e  Wochenschrift. 


III 


nun  ein  umfassendes,  jetzt  erst  vollendetes  Werk 
zu  Gebot,  unter  obigen  Titeln. 

Otto  Keller,  emerit.  Professor  der  alten 
klassischen  Philologie  in  Prag,  früher  in  Graz  und 
in  Freiburg  i.  Br.,  geb.  1838  in  Tübingen,  Sohn 
des  bekannten  Germanisten  Adalbert  Keller 
in  Tübingen,  ist  in  erster  Linie  Philologe,  der 
sich  aber  auch  schöne  zoologische  Kenntnisse  er- 
worben hat;  sein  Werk  ist  somit  erst  in  zweiter 
Linie  ein  zoologisches.  Es  wird  daher  auch  auf 
die  zoologische  Beschreibung  der  behandelten 
Tiere  nicht  weiter  eingegangen,  außer,  wo  es 
gilt,  die  Angaben  und  Darstellungen  der  Alten 
näher  zu  „bestimmen",  d.  h.  auf  die  Zugehörig- 
keit zu  den  von  der  heutigen  Zoologie  bestimmten 
Arten  zu  prüfen.  Dies  gelingt  nun  allerdings 
nicht  immer,  auch  den  Zoologen  vom  Fach  nicht, 
und  es  mögen  daher  mancherlei  Irrtümer  mit  unter- 
laufen, obwohl  auch  Keller  mehrfach  jene  zu 
Rate  gezogen  hat. 

Der  Hauptwert  des  Werkes,  das  in  obigen 
drei  Teilen  zusammen  eine  Einheit  bildet, ')  liegt 
in  des  Verfassers  großer,  umfassender  Kenntnis 
in  der  alten ,  insbesondere  ,, klassischen"  (grie- 
chisch-lateinischen) Literatur,  sowie  in  seinen 
praktischen,  meist  persönlichen  Nachforschungen 
an  zahlreichen  Museen,  Berlin,  München,  Paris, 
London,  Brüssel,  Neapel,  mit  Benutzung  der  dort 
sich  findenden  Originalzeichnungen,  Gemälde, 
Wandbilder,  Mosaiken,  Gemmen,  Reliefs,  Vasen, 
plastischen  Darstellungen  und  Grabmäler  aus  der 
Zeit  des  klassischen,  sowie  assyrischen  und 
ägyptischen  Altertums.  Das  so  wenig  bietende 
Mittelalter,  vom  „Physiologus"  bis  auf  Gesner  ist 
kaum  berücksichtigt,  die  Neuzeit,  entsprechend 
dem  Charakter  des  Werkes  wenig,  außer  bei  Ver- 
gleich mit  noch  lebenden,  aber  in  der  Kultur  nieder 
stehenden  Völkern,  oder  bei  Benutzung  neuerer, 
wichtige  Angaben  im  Sinne  des  Werkes  liefernder 
Schriften,  wie  Pallas,  Pöppig,  Brehm,  Held- 
reich und  V.  d.  Mühle  (Fauna  Griechenlands), 
Wilkinson,  Gaillard  usw.  Wo  es  zum  Ver- 
ständnis nötig  erscheint,  sind  auch  dann  und  wann 
Abbildungen  von  Tieren  nach  neueren  Werken 
eingelegt. 

Die  sehr  zahlreichen  Abbildungen,  teils 
als  Textfiguren,  teils  auf  besonderen  Tafeln, 
worunter  mehrere  mit  Gemmen,  beleben  den 
Text.  Wie  es  sich  für  ein  wissenschaftliches  Werk 
gehört,  sind  die  literarischen  Quellen  ge- 
wissenhaft angegeben,  mit  Erläuterungen  oder 
Anmerkungen  in  einem  Anhang  (Regesten).  Diese 
sind  in  dem  ersten  Werk  von  1887  noch  aus- 
führlicher behandelt,  in  den  beiden  späteren 
Bänden  mußten  sie,  im  Interesse  des  Betriebs  für 
das  größere  Publikum,    etwas  beschränkt  werden. 

Die  Anordnung  des  Werkes  ist  im  ganzen 


eine  zoologisch-systematische,  nach  den  Haupt- 
abteilungen des  Tierreichs:  Säugetiere,  Vögel, 
Fische  usw.,  und  zwar  nach  der  älteren  Cu  vi  er- 
sehen Einteilung  (daher  noch  z.  B.  Ein-,  Zwei- 
und  Vielhufer).  Bei  den  einzelnen  Tieren  werden 
besprochen  :  das  Vorkommen  und  die  Verbreitung 
in  historischen  und  womöglich  auch  prähistori- 
schen Zeiten,  die  Namen  mit  eingehender  Etymo- 
logie, worin  der  Philologe  sich  zeigt;  ferner  die 
naturwissenschaftlichen  Kenntnisse  der  Alten  über 
das  betreffende  Tier  in  Form  und  Lebensweise, 
die  Beziehungen  zur  Religion  und  Mythologie 
(auch  noch  der  germanischen),  einschließlich  des 
Aberglaubens  und  der  Zauberei,  ihre  Rolle  in  der 
Kunst,  Symbolik  und  der  Tierfabel.  Endlich  wird 
die  Verwendung  der  Tiere  bei  den  Alten  an- 
gegeben :  im  Haushalt  des  Menschen  (die  Stellung 
im  Haushalt  der  Natur  gehört  der  Nach-Darwin- 
schen  Zeit  an),  ihr  Fang,  ihre  Zähmung,  Züchtung 
und  Abrichtung,  ihre  Rolle  im  Handel  und  im 
Krieg. 

Trotz  der  strengen  Wissenschaftlichkeit  ist  das 
Werk  leicht  z  u  1  e  s  e  n ,  ja,  für  den  interessierten 
Leser,  unterhaltend  und  zugleich  belehrend. 

C.  B.  Klunzinger. 


'j  Dazu  gehört  eigentlich  noch  ein  weiteres  Werlt  von 
0.  Keller,  in  Verbindung  mit  Irahoof- Blumer  1889 
erschienen,  im  Verlag  von  Teubner  in  Leipzig :  ,,Tier-  und 
Pflanzenbilder  auf  Münzen  und  Gemmen  des  klassischen  Alter- 
tums", mit   1352  Abbildungen. 


Goldbeck,  Das  edle  französische  Pferd. 
Hannover  '13.  Schaper. 
Die  leichte  anschauliche  Schilderungsweise 
des  in  Züchterkreisen  allbekannten  Autors  dürfte 
die  Lektüre  des  mit  vorzüglichen  photographischen 
Aufnahmen  ausgestatteten  Buches  nicht  nur  dem 
Sachverständigen  auf  dem  Gebiete  der  Pferde- 
zucht, sondern  auch  dem  Pferdefreund,  Sports- 
mann und  Kavallerie-Offizier  zur  angenehmen 
Beschäftigung  machen,  während  der  Inhalt  dem 
Leser  gar  manche  Anregung  bieten  wird.  Das 
Werk  gibt  im  wesentlichen  ein  Bild  der  Zeit  vom 
Jahre  1900  bis  zur  Gegenwart.  In  dieser  Zeit 
entwickelte  sich  in  Frankreich  besonders  die 
Tätigkeit  der  privaten  Zuchtgesellschaften,  die 
früher  gegenüber  dem  Staatsbetriebe  eine  ver- 
schwindend geringe  war.  Auch  in  Deutschland 
beginnt  die  Zucht  des  schweren  Pferdes  aus 
finanziellen  und  landwirtschaftlichen  Gründen  der 
Remontezucht  gefährlich  zu  werden.  Es  ist  da- 
her von  großem  Interesse  zu  sehen,  welche  Maß- 
nahmen in  Frankreich  Staat  und  patriotische  Ge- 
sellschaften getroffen  haben,  um  die  Zucht  des 
Soldatenpferdes  zu  fördern  und  wieder  rentabel 
zu  machen,  denn  gerade  Frankreich  hat  in  den 
letzten  Jahren  die  Verminderung  der  Erzeugung 
des  Halbblutpferdes  in  ausgesprochenem  Maße 
durchgemacht.  Einzelheiten  können  hier  kaum 
angedeutet  werden.  Frankreich  hat  im  Jahre  1910 
nicht  weniger  als  23486689  Fr.  in  bar  für  Zucht- 
zwecke ausgegeben.  Dazu  kommen  die  Aufwen- 
dungen der  einzelnen  Zuchtgesellschaften.  Es  ist 
besonders  interessant,  dem  Autor  bei  der  Be- 
trachtung der  Tätigkeit  dieser  privaten  Zucht- 
gesellschaften zu  folgen,  die  auch  daher  von  be- 
sonderem Nutzen  ist,  weil  sich  die  Mitglieder  der 


112 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  7 


von  denen  in  der  Naturw.  Wochenschr.  1910,  p.  620  die  Rede 
ist.  Ein  in  Geologenkreisen  bekannt  gewordenes  Untermeef- 
moor  befindet  tich  auch  in  der  Nähe  von  Sylt.  Untetmeer- 
moore  sind  unter  das  Meer  geratene  Moore  und  bestehen  da- 
her aus  Landpflanzen.  Sie  haben  also  mit  Ablagerungen  von 
Tangen  u.  dgl.  nichts  za  tun.  Dadurch  nun,  daß  sie  zur  Ebbe- 
zeit oft  zutage  treten,  sind  sie  eine  recht  auffällige  Erscheinung, 
und  so  wäre  es  nicht  unmöglich,  daß  der  Mensch  gerade  dort 
zuerst  auf  den  Torf  aufmerksam  geworden   ist  und    ihn  prak- 


Gesellschaften  aus  den  Kreisen  der  berufensten 
Pferdekenner  ergänzen.  Die  französische  Vollblut- 
zucht hat  sich,  wie  allgemein  bekannt  sein  dürfte, 
glänzend  entwickelt.  Der  spezifische  französische 
Vollblüter  ist  der  AngloxAraber,  dessen  Züchtung 
eine  ursprünglich  deutsche  Erfindung  ist.  Das 
militärisch  größte  Interesse  haben  die  Halbblut- 
pferde, deren  Zucht  sich  in  Frankreich  nahezu  tisch  zu  verwerten  gelernt  hat.  Es  sei  hier  auch  an  die  Ge- 
über das  ganze  Land  erstreckt.  Auf  einen  der  winnung  des  Salzes  aus  dem  Untermeertorf  erinnert,  wie  sie 
TT   iLi  1    1     1  i"  \  4.    n      ^AU^     1      u„„„„j„..r.    1=V,         von  Mev  (Naturw.  Wochenschr.  1.  c.)  beschrieben  worden  ist. 

Halbblutschlage  geht  Lroldbeck    besonders  leb-                  ^  '•  ■'       Robert  Potonie. 

haft    ein.      Es    ist    dies    der   Norfolk- Breton    oder  

Postier,    eine    verhältnismäßig   neue   Mischung,    den  Herrn  Prof.  M.   in  Ratzeburg.    —    Die    von    Ihnen    uber- 

Goldbeck     für     das    bedeutendste   Halbblutpferd       sandten  WurzelknöUchen  sind,    wie  Sie  ganz  richtig  angeben, 

Frankreichs  hält.  Es  handelt  sich  um  ein  gut 
gebautes,  niedrig  gestelltes,  leichtes  aber  leistungs- 
fähiges Zugpferd,  das  die  hauptsächliche  Be- 
spannung der  neuen  Geschütze  abgibt.  Mit  dem 
eigentlichen  Kavalleriepferd  scheint  man  in  den 
militärischen  Kreisen  Frankreichs  noch  nicht  recht 
zufrieden  zu  sein.  Ausdauer  und  Galoppierfähig- 
keit lassen  noch  zu  wünschen  übrig.     Einen  kurzen       kämen  jedoch  sicher  nicht  in  Betracht. 

Ausflug  macht  der  Verfasser  noch  auf  das  Gebiet 
des  Militär- Veterinärwesens.  Er  rühmt  dem 
französischen  Veterinärdienst  manche  mustergültige 
Einrichtungen  nach,  die  in  Deutschland  leider 
noch  fehlen.  Im  Anschluß  daran  folgen  sehr 
interessante  Ausführungen  über  die  Brustseuche 
der    Pferde,    über    die   Auffassung,    die    man    über 


mit  Bakterien  erfüllt  und,  da  wir  keine  anderen  Pflanzen  mit 
baktcrieuhaltigen  WurzelknöUchen  kennen  ,  als  Leguminosen, 
werden  die  Wurzeln  von  einer  solchen  stammen.  Allerdings 
könnte  man  auch  an  Elaeagnus,  Hippophae,  Alnus  denken, 
die  ebenfalls  WurzelknöUchen  haben.  Diese  sehen  jedoch 
anders  aus  und  enthalten  auch  statt  der  Bakterien  sehr  dünn- 
fädige  Pilze.  Mit  Rücksicht  auf  den  eventuell  durch  das 
Trocknen  ungünstig  beeinflußten  Erhaltungszustand  wäre  diese 
Möglichkeit   nicht   ganz   außer  acht   zu  lassen.       Erlenwurzeln 

M. 


Hg.  O.  in  R.r.  —  Die  Adresse  des  Instituts  für  Gärungs- 
gewerbe ist  Berlin  N  65,  Seestraße  4.  M. 


Herrn  Prof.  Dr.  Sc.  in  Darmstadt.  —  Die  sog.  „Halme" 
(Durchzugsstroh)    der    Virginia  -  Zigarren    (Österreich,  Italien) 
stammen  von  dem   Espartogras,    Stipa  tenacissima  L. ,    einhei- 
misch   in    Spanien    und   Nordafrika.      Es   werden  jedoch   nicht 
diese   im   Militärbetriebe   so    gefürchtete   Seuche    in       die   Halme  zu  dem  bestimmten  Zweck  verwendet,  sondern  die 
Frankreich     hat,     sowie     die     dortigen     Schutzmaß-       «'älter  des   Grases,  unter  Wegfall  der  Basal-   und  Spitzenteile. 


nahmen. 


W.  ligner. 


Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  Prof.  R.  in  P.  —  Seit  wann  ist  die  Verwertung 
des  Torfes  als  Heizungsraaterial  bekannt?  —  Sicherlich  ist 
diese  Verwendung  des  Torfs  uralt,  denn  die  natürlichen  Moor- 
brände (durch  Blitz  usw.)  müssen  den  Menschen  sehr  bald 
darauf  hingewiesen  haben.  L'ber  Moorbrände  vergleiche  man 
Naturw.  Wochenschr.  1911,  p.  752.  Funde  von  Holzkohle 
in  älterem  Torf  geben  davon  Kunde,  daß  einst  solche  Brände 
ohne  die  Einwirkung  des  Menschen  stattgefunden  haben.  Heute 
pflegt  man  bekanntlich  die  Moore  oft  aus  technischen  Grün- 
den abzubrennen.  Es  ist  dem  Unterzeichneten  nicht  möglich, 
diejenige  Literaturstelle  zu  ermitteln,  wo  tatsächlich  zum  ersten- 
mal von  der  Verwendung  des  Torfs  als  Heizungsmaterial  die 
Rede  ist.  Herr  Prof.  F.  Matthias  teilt  jedoch  freundlichst 
das  folgende  mit:  ,,Plinius,  der  selbst  als  römischer  Offizier 
in  Germanien  gedient  hat,  gibt  in  seiner  Naturgeschichte  eine 
lebensvolle  Schilderung  der  Wattenbewohner  an  der  Nordsee, 
die  zum  Chaukenstamme  gehörten.  Dem  verwöhnten  Römer 
kommt  das  Leben  an  der  wilden  Nordsee  greulich  vor;  und 
so  sagt  er  u.  a.  (XVI,  4) :  ,,captum  manibus  lutum  ventis 
magis  quam  sole  siccantes  terra  cibos  et  rigentia  septentrione 
viscera  sua  urunt".  Also  etwa;  ,, Mit  den  Händen  aufgelangten 
Schlamm  trocknen  sie  mehr  am  Wind  als  in  der  Sonne  und 
wärmen  so  mit  Erde  die  Speisen  und  ihre  im  eisigen  Nord 
erstarrten  Eingeweide".  Damit  ist  offenbar  Torf  gemeint." 
Es  liegt  sogar  die  Vermutung  nahe,  daß  die  im  Wattenmeer 
der    Nordsee    vorkommenden    Untermeermoore    gemeint    sind. 


Stipa  tenacissima  besitzt  als  Xerophyte  Falt-  oder  Rollblätter, 
deren  im  Querschnitt  ungefähr  halbkreisförmige  Hälften  sich 
bei  Trockenheit,  zur  Herabsetzung  der  Transpiration,  längs 
der  Mittelrippe  aufwärts  zusammenfalten.  Dasselbe  geschieht 
natürlich  beim  Eintrocknen  der  geernteten  Blätter  und  so 
kommt  die  stielrunde  Form  der  „Virginiahalme"  zustande. 
Von  einem  anderen  Gras  aus  Spanien  und  Nordafrika,  Lygeum 
spartum  L.,  welches  ebenfalls  unter  dem  Namen  Esparto  ex- 
portiert wird,  scheinen  die  Blätter,  trotzdem  sie  sonst 
denen  von  Stipa  tenacissima  gleichen ,  keine  Verwendung  bei 
der  Virginiafabrikation  zu  finden.  Wahrscheinlich  weil  sie, 
wie  ein  Versuch  ergibt,  im  Trockenzustand  weniger  biegungs- 
fest und   leichter  zerbrechlich   sind   als  die  Slipablätter. 

Letztere  Eigenschaft  erklärt  sich  auch  aus  einem  Vergleich 
der  Anatomie  beider  Blattarten ,  denn  das  Blattgewebe  von 
Stipa  tenacissima  enthält  bei  weitem  mehr  Bastfasern  als  das- 
jenige von  Lygeum  spartum.  Gießler. 


Literatur. 

Bremer,  Prof.  Dr.  Fr.,  Leitfaden  der  Physik.  Auf  Grund- 
lage gemeinsamer  Schülerübungen.  I.  Teil.  Für  die  mitt- 
leren Klassen  höherer  Lehranstalten.  Mit  2IoFig.  im  Text 
und  auf  einer  Tafel.  Leipzig  und  Berlin  '14,  B.  G.  Teubner. 
—  Geb.   1,50  Mk. 

Rothe,  Karf  Cornelius,  Vorlesungen  über  allgemeine  Metho- 
dik des  Naturgeschichtsunterrichls.  1.  Heft.  I. — 3.  Vor- 
lesung. Geschichte  der  Methodik  im  19.  Jahrhundert,  der 
gegenwärtige  Stand  der  Methodik,  Kritik  des  derzeitigen 
Standes.     München  '14,  Fr.  Seybold.  —  3  Mk. 


Inhalt:  Fritz  Stellwaag;  Welche  Bedeutung  haben  die  Deckflügel  der  Käfer?  —  Einzelberichte:  Noack:  Licht- 
richtung und  phototropische  Erregung.  Elster  und  Geitel:  Verwendung  lichtelektrischcr  Zellen  zur  Photometrie 
der  ultravioletten  Sonnenstrahlung.  Thienemann:  Sauerstoffgehalt  und  Fauna  des  Tiefen wassers  unserer  Seen. 
Zander:  Das  Geruchsvermögen  der  Bienen.  R.  J.  Strutt:  Über  eine  chemisch-aktive  Modifikation  des  Stickstoffs. 
A.  Hettner:  Rumpfflächen  und  Pseudorumpfflächen.  W.  Behrmann:  Die  Oberflächengestaltung  des  Harzes.  -— 
Kleinere  Mitteilungen:  Otto  Bürger;  Chemische  Mittel  gegen  Schädlinge  der  Kulturpflanzen.  K.  Schutt:  Die 
Nitra-Lampe.  K.  Schutt;  Radioaktivität  und  .\tomtheorie.  W.  ligner;  Echinorrhynchen  im  Darm  des  Wasser- 
geflügels. —  Bücherbesprechungen:  Monographien  einheimischer  Tiere.  —  O.  Keller:  Die  antike  Tierwelt. 
Goldbeck:   Das  edle   französische  Pferd.   —  Anregungen  und  Antworten.  —  Literatur:  Liste. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstrafie    na,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.    Band  ; 
der  ganzen  Reihe  2g.  Hand 


Sonntag,  den  22.  Februar  1914. 


Nummer  8. 


(Nachdruck  verboten.] 


Eine  Tour  durch  den  Urwald  von  Sumatra. 

Von  Julius  Robert  Mayer. 


Weiß  der  Leser,  was  eine  Landkonzession 
in  Niederländisch-Indien  ist?  —  Nun,  jeder 
holländische  Untertan  von  weißer  Hautfarbe  kann 
aus  den  unermeßlichen  noch  unkultivierten  Gegen- 
den der  ostindischen  Besitzungen  auf  lange  Jahre 
Land  zur  Benutzung  überwiesen  erhalten,  voraus- 
gesetzt, daß  er  eine  genaue  kartographische  Be- 
schreibung des  begehrten  Landes  liefert,  wobei 
diese  Beschreibung  von  Obrigkeits  wegen  geprüft 
wird,  ob  sie  mit  der  Wirklichkeit  übereinstimmt. 
Dann  wird, ')  wenn  alles  klappt,  die  Erlaubnis  er- 
teilt, eine  Plantage  für  Kautschuk  oder  Kaffee  zu 
errichten,  und  diese  Erlaubnis  heißt  L. andkon- 
zession. 

Die  Vorarbeiten,  die  nötig  sind,  um  solche 
Konzessionen  zu  erlangen,  sind  nicht  immer  an- 
genehmer Art,  wenn  auch  die  Kenntnisse  in  der 
Geodäsie,  die  zu  diesen  Arbeiten  erforderlich  sind, 
gewiß  nicht  als  mühsam  zu  erschwingende  be- 
zeichnet werden  dürfen.  ,, Einmal  und  nicht  wieder" 
heißt  es  da  oft,  oder  wenigstens  das  zweite  Mal 
auf  andere  Art;  und  solche  Arbeiten  sind  nur  des- 
halb lockend,  weil,  der  sie  unternimmt,  sich  manch- 
mal durch  solchen  Pionierdienst  den  PJintritt  in 
die  Verwaltungslaufbahn  einer  Plantagengesell- 
schaft öffnen  kann.  Die  gute  Vorarbeit  wird 
öfters  durch  bleibende  Anstellung  in  der  zahmeren 
Tätigkeit  eines  Assistenten  oder  Administrateurs 
belohnt,  falls  der  Betreffende  nämlich  hierzu  ge- 
eignet ist. 

Der  Schreiber  dieses ,  stellenlos  wie  er  im 
Herbste  1910  nach  dem  Scheitern  eines  anderen 
Unternehmens  war,  ging,  optimistisch  und  noch 
etwas  grün  in  diesen  Dingen,  obschon  durch  einen 
bereits  siebenjährigen  Aufenthalt  auf  den  Sunda- 
inseln  mit  dem  Leben  auf  den  Pflanzungen,  mit 
Sprache  und  Gewohnheiten  der  Eingeborenen 
wohl  vertraut,  auf  einen  derartigen  Vorschlag  ein 
und  ward  ,, Konzessionsjäger",  wie  man  das  nennt, 
und  sah  auf  der  Expedition,  die  er  beschreiben 
will,  bei  den  Pionierarbeiten  manches,  was  viel- 
leicht von  Lesern  in  Europa  gerne  vernommen 
wird. 

Mehr  wie  einmal  werde  ich  freilich  in  die- 
sen Aufzeichnungen  als  der  ungeschickte  Neu- 
ling erscheinen,  der  sich  Gefahren  aussetzt,  die 
leicht  zu  vermeiden  gewesen  wären  (als  ein  Totok, 
wie  die  Malaien  sagen).  Aber  dieser  Umstand 
(durch  den  ich  meine  Person,  die  ich  leicht  mit 
romantischen  Abenteuern  hätte  schmücken  können, 
ein   wenig   bloßstelle)    hat    den    Vorteil ,   daß    die 

')  Eigentlich  ,, wurde"  ;  denn  seitdem  wurden  die  Bedingun- 
gen erschwert. 


Wahrhaftigkeit  der  Darstellung  sich  dadurch  um 
so  deutlicher  zu  erkennen  gibt,  und  so  wird 
einiges  Wissenswerte,  das  ich  zu  berichten  habe, 
mehr  an  Eindrücklichkeit  gewinnen. 

An  einem  Novembertag  des  Jahres  1910  zog 
ich  von  Kroe  aus.  Der  Küstenplatz  Kroe  liegt 
(wie  jede  bessere  Karte  lehrt)  nahe  dem  Südwest- 
ende der  großen  Sunda-Insel,  in  deren  Wälder  ich 
mich  begeben  sollte.  Er  war  früher  von  größerer 
Bedeutung.  Zur  Zeit  des  englischen  Regiments 
eine  Residenz,  wie  noch  die  Gräber  eines  Ver- 
waltungsbeamten und  seiner  Angehörigen  in  einem 
vergessenen  Winkel  bezeugen.  Aber  der  Hafen 
hier  an  der  stürmischen  Südwestküste  war  zu 
schlecht,  so  daß  die  Holländer  den  Sitz  der 
Provinzialregierung  nach  dem  geschützten  Telok 
Betong')  in  der  Südbucht  verlegten.  Mit  diesen 
schlechten  Hafenverhältnissen  habe  ich,  wie  man 
sehen  wird,  auf  dem  Rückweg  der  Tour,  die  ich 
beschreiben  will,  noch  sattsam  Bekanntschaft  ge- 
macht. 

Meine  Begleitung  bestand  aus  10  einge- 
borenen Lampongers,  angeworben  für  das  Drei- 
fache des  gewöhnlichen  Tagelohnes,  dieser  ist 
32  Cent  =  53  Pfennige,  die  mit  Lanzen  bewaffnet 
waren,  und  einem  Mandoer  von  der  gleichen 
Rasse,  dem  ich  eines  meiner  beiden  Gewehre  an- 
vertraute. Ein  dreiläufiges  behielt  ich  für  mich 
selber.  Das  Austeilen  von  Feuerwaffen  an  Ein- 
geborene unterliegt  nämlich  sehr  scharfen  Be- 
stimmungen seitens  der  holländisch-indischen  Re- 
gierung. 

Meine  Vorräte  und  Gerätschaften  bestanden 
aus  Blechkonserven  von  Fleisch,  Gemüse  und 
Kartoffeln,  Aluminiumpfannen,  Zwieback,  Öl, 
Zucker,  Brand)',  einem  Windlichte,  Petroleum  und 
Streichhölzern,  einem  Feldbette,  bestehend  aus 
einer  Matte  und  4  Pfosten,  zwischen  denen  diese 
gespannt  wird,  einem  Klambu  (iMuskitennetz),  einer 
Zeltdecke  aus  imitiertem  Kunstleder,  und  anderen 
kleineren  Dingen.  Alles  wird  verladen  in  einen 
Grobak,  einen  zweirädrigen  Karren.  Für  mich 
selber  steht  ein  Plankin,  ein  Liegewagen  bereit, 
mit  einem  indischen  Ochsen  bespannt. 

Bei  mir  in  unmittelbarer  Bewachung  behalte 
ich  meine  Apparate  zum  Feldmessen,  in  der 
Hauptsache  eine  „Bussole-Transmontagne",  die  für 
solche  schwierigen  Terrains  die  besten  Dienste 
leistet. 

Um  6  Uhr  morgens  Aufbruch.  Es  ist  bei- 
nahe noch  Dämmerung.  Die  Sonne  erhebt  sich 
erst    später    hinter    den    Kokospalmen    des    auf- 


')  telok  =  Bai,  betong  =  Holz. 


114 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  8 


steigenden  Gebirges.  Wir  nehmen  unseren  Weg 
in  südöstlicher  Richtung,  dem  Strande  entlang, 
zuweilen  dicht  am  Strande. 

Es  ist  noch  kühl.  Erst  gegen  8  Uhr  spendet 
die  Sonne  Wärme,  um  bald  gehörige  Hitze  zu 
geben;  aber  dann  steht  sie  schon  hoch,  und  ihre 
Strahlen  dringen  nicht  durch  den  schweren 
Tropenhelm.  Auch  gibt's  auf  der  Straße,  die  wir 
ziehen,  einigen  Schatten,  denn  sie  ist  nur  schmal 
in  den  Wald  eingeschnitten,  und  geht  nur  selten 
über  die  offenen  Stellen  des  Meeresstrandes.  Auch 
sind  die  Reisfelder  der  Eingeborenen  selten ;  denn 
die  Lampongers  sind  faul  und  haben  keine  eigent- 
lichen Sawahs.  Sie  bauen  nur  etwas  Trockenreis 
und  erhandeln  sich  lieber  die  so  unentbehrlichen 
Lebensmittel  gegen  ihre  bequemer  zu  erwerben- 
den Vieh-  und  Waldprodukte,  als  daß  sie  sich 
der  Mühe  des  Terrassierens  und  der  geregelten 
Bewässerung  unterziehen.  Auch  ist  das  Land 
reich  an  Vieh,  so  daß  sie  nicht  für  die  Notdurft 
zu  arbeiten  brauchen,  und  es  gibt  Eingeborene, 
die  300 — 400  Stück  Karbaus  besitzen.  Diese 
Nabobs  haben  dann  auch  schöne  Häuser  mit  Holz- 
schnitzerei und  auf  kupfernen  Pfählen,  wie  man 
solche  Wohnungen  wenigstens  im  Modell  in  ihrer 
eigenartigen  Form  auch  wohl  in  den  ethnographi- 
schen Sammlungen  in  Europa  sieht. 

Der  Mangel  an  Tätigkeit  zehrt  aber  keineswegs 
am  Leben  der  Eingeborenen,  denn  gerade  diese 
Gegenden  in  den  Lampongs  sind  dadurch  ausge- 
zeichnet, daß  die  Bewohner  ein  für  Indien  und 
auch  absolut  sehr  holies  Alter  erreichen.  Ich  habe 
da  Leute  gesprochen,  die  sich  noch  der  englischen 
Herrschaft  erinnern  und  demgemäß  jetzt  also  wohl 
120  Jahre  alt  sein  müssen.  Die  Ernährung  dieser 
Metusaleme  soll  eben  so  einfach  sein  wie  die  der 
übrigen  Malaien,  sich  aber  durch  Sparsamkeit  im 
Gebrauch  von  Carry  und  anderen  Gewürzen  aus- 
zeichnen. Ich  habe  freilich  keine  Gelegenheit, 
diese  Angaben  zu  kontrollieren. 

Zunächst  haben  wir  also  noch  Straße,  die  frei- 
lich wenig  befahren  ist  und  ungefähr  einem  Feld- 
wege in  Deutschland  gleicht,  mit  tiefen  Wagen- 
spuren, nur  sehr  viel  stärker  vergrast.  Die  in  den 
Tropen  besonders  unverwüstliche  Natur  sucht  sich 
das  bescheidene  Terrain  schleunigst  wieder  zu  er- 
obern, und  schickt  auch  ihrerseits  Pioniere  aus, 
die  ihr  Geschäft  besser  besorgen,  wie  ich  das 
meinige.  Nicht  bloß  langes  Gras,  das  zähe  Alang- 
alang,  webt  hier  bald  wieder  den  grünen  Teppich, 
sondern  auch  erstaunlich  rasch  aufkeimendeStauden- 
gewächse  und  Wurzelschößlinge,  der  durch  die 
Kultur  in  ihrer  Ausbreitung  zerschnittenen  Strauch- 
gewächse. Aber  einen  Teppich  nur  für  das  Auge, 
für  den  Fuß  oft  Fessel  und  Schlinge;  und  meine 
Begleiter  müssen  manchmal  die  Beine  hochheben, 
um  der  Wirrnis  zu  entgehen,  während  ich  diese 
Strecken  lieber  im  Wagen  zurücklege.  Von  Zeit 
zu  Zeit  nötigen  uns  gefallene  Bäume  auszuspannen 
und  Güter  und  Wagen  mit  vereinten  Kräften  über 
das  Hindernis  wegzuheben. 

Und  nicht  allein  die  durch  diese  bescheidenen 


Anfänge  von  Kultur  beleidigte  Pflanzennatur  sucht 
sich  Terrain  zurückzuerobern.  Dasselbe  gilt  auch 
für  die  Fauna,  die  durch  den  Gouvernementsweg 
in  ihrem  Tun  und  Treiben  in  gleicher  Weise  ge- 
stört ist.  Zwar  von  den  scheuen  Tigern  und  Panthern 
hat  unsere  Karawane,  so  schweigsam  sie  auch  immer 
vorrücken  mag,  wenigstens  bei  Tage  nichts  zu 
fürchten.  Aber  Gras  und  Kräuter  decken  das 
kriechende  Getier,  das  sich  hier  wieder  auf  die 
Lauer  legt  und  öfters  am  Tage  gleitet  eine  Schlange, 
von  den  Tritten  meiner  Leute  gescheucht,  seitwärts 
in  die  Büsche.  Die  Zeit  ist  zu  kurz,  um  zu  unter- 
suchen, ob  man  es  mit  einer  giftigen  oder  ungiftigen 
Spezies  zu  tun  hat.  Aber  die  Wahrnehmung  ist 
für  mich  noch  immer  mit  einem  kleinen  Nerven- 
schock verbunden,  obgleich  ich  bei  der  hundert- 
fachen Wiederholung  in  den  Jahren  meines  Aufent- 
halts in  den  Tropen  doch  nachgerade  wissen  kann, 
daß  die  Gefahr  gebissen  zu  werden  nicht  gar 
groß  ist. 

In  den  Bäumeij  längs  unseres  Weges  ist  es 
hier  und  da  lebendig.  Da  klettern  namentlich  zur 
linken  Seite,  wo  es  dem  Gebirge  zugeht,  Affen 
in  großer  Zahl,  die  nicht  gar  scheu  sind  und  neu- 
gierig nach  uns  ausschauen.  Auch  Vögel  mancher- 
lei Art:  Reisvögel,  die  grünen  kleinen  Papageien 
(Parakieten),  die  vielen  Lärm  machen,  die  wilden 
Hühner,  die  kreischen  und  flattern,  und  noch  viele 
andere. 

Dann  kommen  wir  wieder  vorbei  an  gerodetem 
Land,  das  wenig  sorgfältig  mit  Reis  bepflanzt  ist, 
oder  an  alten  Reisfeldern,  „ladangs",  auf  denen 
wieder  Gras  und  wilde  Kräuter  sprossen.  Dort 
weiden  auch  die  Karbaus  der  Dorfbewohner.  Ab- 
seits sehen  wir  dann  eine  weite  trichterförmige 
Schlucht,  die  zum  Kraal  hergerichtet  ist,  in  denen 
die  Tiere  alle  fünf  Jahre  einmal  zusammengetrieben 
werden,  um  sie  für  die  Besteuerung  zu  zählen  und 
die  jungen,  seit  der  letzten  Zählung  geborenen, 
zu  zeichnen. 

Manchmal  geht  dann  wieder  der  Weg  dicht 
am  Strande,  wo  die  Brandung  des  Ozeans  sehr 
stark  ist  und  die  Wellen  öfters  zu  uns  hinauf- 
gischten.  Auch  mit  dieser  Gefahr  sollte  ich  einige 
Tage  später  Bekanntschaft  machen.  Heute  ist  der 
Indische  Ozean  besser  wie  sein  Ruf,  und  ich  ergötze 
mich  an  dem  Anblick  der  zahlreichen  schöngefärbten 
Muscheln  und  einiger  sich  langsam  bewegender 
Riesenschildkröten.  Meine  Begleiter  suchen  nach 
Eiern,  die  diese  Tiere  in  Nestern  von  bis  zu  200 
Stück  verbergen.  Sie  finden  auch  ein  Nest  und 
beladen  sich  mit  diesen  Eiern,  Hühnereiern  gleich, 
aber  mit  elastischer  Schale,  ein  Leckerbissen,  der 
ihnen  den  Reis,  den  sie  sich  nun  bald  kochen 
werden,  schmackhafter  machen  soll. 

Um  Mittagszeit  wird  der  erste  Halt  gemacht. 
Es  wird  abgekocht.  Ein  Feuerchen  ist  bald  zu- 
stande gebracht.  Ein  paar  Zweige  sind  schnell 
gesucht,  sind  sie  auch  feucht.  Die  Masse  tut  es, 
und  bald  lodert  eine  schöne  Flamme  auf,  die  an 
den  Kochtöpfen  emporleckt.  Meine  Begleiter 
kochen    sich    da   der   Bequemlichkeit   wegen    nur 


N.  F.  XIII.  Nr.  S 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


115 


ihren  ewigen  Reis  in  stählernen  Pfannen,  die  sie 
mit  sich  führen.  Aber  heute  gewähren  die  Schild- 
kröteneier eine  angenehme  Zuspeise.  Ich  lasse 
mir  von  meinen  Konserven  aufkochen  und  hoffe 
für  die  nächsten  Tage  auf  einen  frischen  Braten, 
den  mir  mein  Dreiläufer  verschaffen  soll. 

Dann  kurze  Siesta  unter  dem  Klambu,  das 
ich  heute  woiil  brauche.  Hätte  ich  gewußt,  daß 
der  eigentliche  Urwald,  in  den  ich  eindringen  will, 
beinahe  frei  ist  von  Muskiten,  ich  hätte  das  Netz 
in  Kloe  zurückgelassen. 

Um  2  Uhr  brechen  wir  wieder  auf.  Es  ist 
noch  furchtbar  heiß.  Es  mag  32  "  C  sein,  unge- 
fähr das  Maximum,  das  hier  erreicht  wird.  Aber 
wir  müssen  weiter,  um  das  Pasangrahan  zu  er- 
reichen, das  Gouvernementsgebäude,  gewissermaßen 
die  Station,  um  nicht  auf  der  Straße  oder  in  einem 
der  seltenen  Dörfer,  die  der  Weg  berührt,  nächtigen 
zu  müssen. 

In  der  Nähe  dieser  Dörfer  erscheinen  die  Ein- 
geborenen am  Wege,  wohl  die  ganze  Einwohner- 
schaft, die  gar  nicht  scheu,  sondern  neugierig  und 
beinahe  zudringlich  sind.  Aber  gefällig  und  hilf- 
reich sind  sie  nicht,  ob  wir  suchen,  ein  Huhn  oder 
einige  Eier  von  ihnen  zu  erhandeln  oder  ihnen 
Geld  anbieten,  uns  Hilfe  zu  leisten  beim  Über- 
schreiten eines  jener  vielen  Bergströme,  die  unsere 
Straße  schneidet.  Sie  stehen  oder  hocken  am 
Wege  und  gucken  und  gucken,  nicht  viel  anders 
wie  die  Affen  oben  in  den  Bäumen.  Die  Lam- 
pongers  gelten  für  hochmütig.  Das  macht  der 
Wohlstand.  Gerne  glaube  ich  der  Versicherung 
der  holländischen  Beamten,  daß  man  diesen  Leuten 
mit  Gefängnisstrafe  drohen  muß,  um  sie  zum  Be- 
bauen ihres  Landes  zu  bringen.  Nach  der  dritten 
Warnung  wandern  sie  wirklich  in  das  Gefängnis, 
das  nicht  selten  6  Tagereisen  von  den  Kampongs 
entfernt  liegt. 

Am  Nachmittag  des  ersten  Tages  beginnt 
schon  das  Überschreiten  der  Bergströme,  die  bei 
dem  täglichen  Regen  alle  viel  Wasser  führen,  und 
deren  ich  nahe  an  dreißig  passieren  muß,  bis  ich 
meine  Endstation  erreiche.  Diesmal  geht's  in  einer 
leidlich  erhaltenen  Furt ,  durch  die  Wagen  und 
Karren  passieren.  Der  Unsicherheit  wegen  steige 
ich  aus.  Aber  man  muß  fest  auf  den  Beinen 
stehen.  Meine  langen  Hosen  sind  sehr  hinderlich, 
da  der  Strom  sie  packt  wie  eine  Turbine,  und 
naß  wird  man  bis  zum  Gürtel,  übrigens  eine  gute 
Abkühlung  in  der  Hitze  und  mehr  unangenehm, 
weil  sich  nun  die  Hosen  über  den  Knien  spannen, 
daß  das  Marschieren  mühsam  wird,  aber  ich  habe 
ja  meinen  Wagen. 

Besser  sind  die  Inländer  daran  mit  ihren  bis 
an  die  Knie  nackten  Beinen,  und  sie  lassen  mir 
bei  solchen  Gelegenheiten  besonders  gerne  den 
Vortritt.  Naß  wird  man  doch  übrigens  alle  Tage, 
da  auch  heute  wie  an  jedem  Nachmittage  ein  ge- 
höriger Tropenregen  einsetzt.  Aber  die  Sonne, 
die  uns  trocknet,  kommt  ja  bald  wieder,  und  ich 
darf  mich  am  wenigsten  beklagen,  ich  kann  ja  auf 
meinem  Ochsenwagen  unter  die  Decken  kriechen. 


Endlich  wird  gegen  Sonnenuntergang,  der  hier 
5  "  südlicher  Breite  prompt  6  Uhr  statthat,  das 
Pasangrahan  erreicht.  Soeben  ist  die  Sonne  blut- 
rot ins  Meer  gesunken.  Wir  Europäisch-Indier 
verzieren  diesen  Vorgang  mit  keinerlei  Sentimen- 
talität. Wir  sagen  nicht  wie  Schillers  edler  Räuber: 
„So  stirbt  ein  Held",  oder  wie  die  deutschen  Lyriker: 
,,Die  liebe  Sonne  scheidet".  Nein,  uns  ist  die 
Sonne :  ,,de  koperen  ploert"  =  der  kupferne  Kaffer. 
Wir  begreifen  gut,  daß  nicht  der  Stirnreif,  sondern 
ein  solider  Schirm  die  Krone  der  indischen  Fürsten 
ist,  und  atmen  erleichtert  auf,  da  der  strahlen- 
schießende Bösewicht  nun  für  12,  ja  hier  für  14 
Stunden  im  Ozean  begraben  ist:  denn  den  astro- 
nomischen Aufgang  hindert  das  Hochgebirge  im 
Nordosten. 

Also  das  Pasangrahan  ist  erreicht.  Der  Wächter 
desselben,  ein  Dorfbewohner  der  Nachbarschaft, 
der  nachts  ein  Feuer  unterhält  und  täglich  abgelöst 
wird,  empfängt  uns.  Es  wird  wieder  abgekocht 
und  mein  Nachtlager  wird  bereitet.  Meine  Be- 
gleiter verrichten  nach  mohammedanischem  Ge- 
brauch ihr  Gebet.  Sie  breiten  ihre  Matte  aus  —  sie 
wissen  immer,  in  welcher  Himmelsrichtung  Mekka 
liegt  —  und  strecken  sich,  nachdem  sie  die  Richtung 
geändert,  zum  Schlafe  auf  die  Matte  nieder. 

Der  zweite  Tag  sollte  für  mich  ein  Unglückstag 
werden.  Doch  wurde  ich  noch  zeitig  aus  meiner 
üblen  Lage  befreit.  Beim  Liberschreiten  eines 
Bergstromes  verlor  ich  den  Boden  und  wurde  die 
Strecke  von  etwa  2  Kilometer  bis  zur  See  mit- 
geführt. Nur  durch  Schwimmen  konnte  ich  mich 
retten.  Zum  Glück  gibt's  im  bewegten  Wasser 
keine  Krokodile,  die  hier  sonst  sehr  allgemein 
sind,  und  die  mit  der  Flinte  zu  erlegen  keine 
Heldentat  ist.  Ich  habe  deren  unzählige  geschossen. 
Nur  im  stillen  Wasser  werden  sie  gefährlich,  selbst 
den  Ruderern  im  Boote,  die  sie  zuweilen  mit  einem 
Schlage  des  Schwanzes  ins  Wasser  schleudern.  Sie 
werden  bis  4  Meter  groß. 

Meine  Begleiter  suchten  mir  in  dieser  Gefahr 
wohl  zu  helfen,  aber  mit  zweifelhafter  Energie; 
sie  irrten  nur  am  Ufer  und  wagten  sich  nicht  ins 
Wasser. 

Auch  am  dritten  Tage,  dessen  Erlebnisse  sonst 
nur  eine  Wiederholung  der  schon  geschilderten 
waren,  hätte  ich  leicht  durch  ein  ähnliches  Er- 
eignis mein  Leben  verlieren  können. 

Der  Weg  führte  wieder  am  Seestrand  und  ich 
ging  zu  Fuß,  als  ich  durch  eine  besonders  starke 
Welle  auf  einen  liegenden  Baum  geschleudert 
wurde,  derart,  daß  ich  bewußtlos  liegen  blieb  und 
mit  schmerzenden  Gliedern  erwachte.  Zumal  die 
rechte  Hand  war  verletzt,  der  Mittelfinger  stand 
ganz  schief  und  ich  konnte  ihn  nur  mit  großen 
Schmerzen  wieder  zurechtbiegen.  Ein  Militärarzt, 
den  ich  sechs  Wochen  später  traf,  erklärte,  daß 
das  unterste  Gelenk  gebrochen  gewesen  sei.  F"ür 
die  ausgestandenen  Gefahren  werde  ich  aber  ent- 
schädigt durch  allerlei  Interessantes,  das  ich  nach 
und  nach  in  Erfahrung  bringe. 

Auf  einer  solchen  Expedition   wird   auch    der 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  8 


Verkehr  freier  mit  den  Leuten,  während  man  auf 
den  Plantagen  und  gar  in  den  Städten  auch  bei 
Neigung  zur  Leutseligkeit  den  Vornehmen  spielen 
muß,  um  die  Eingeborenen  gehörig  in  Respekt 
zu  erhalten.  Es  ist  damit,  wie  mit  dem  Verhältnis 
zwischen  Offizier  und  Gemeinen  im  Feldzug. 

So  ließ  ich  mir  zuweilen  von  den  Lampongers 
erzählen  und  erfuhr  manches  von  ihren  Gebräuchen, 
erzählte  auch  selbst  wieder.  Am  meisten  Glück 
hatte  ich  mit  meiner  Mitteilung  über  Europa,  daß 
dort  der  Orang  blanda  ')  (der  weiße  Mann)  selbst 
Kuli  sein  muß  und  die  niedrigsten  Dienste  ver- 
richtet. Die  Unglaublichkeit  dieser  Mitteilung 
erweckte  immer  die  größte  Heiterkeit,  etwa  wie 
wenn  in  Holland  ein  Lakai  Bauern  erzählt  hätte, 
daß  der  Prinzgemahl  sich  selbst  die  Stiefel  wichse. 

So  ging  es  7  Tage  fort  mit  wenig  Abwechs- 
lung und  ohne  weitere  interessante  Ereignisse. 
Ich  lernte  auch  nach  und  nach  die  größten  Ge- 
fahren vermeiden.  Nur  eine  Nacht,  da  wir  das 
vor  uns  liegende  Stationshaus,  eines  geschwollenen 
Bergstroms  wegen,  nicht  erreichen  konnten, 
mußten  wir  im  Freien  nächtigen.  Ich  ließ  ein 
Feuer  unterhalten ,  und  stellte  neben  meinen 
Wagen,  in  dem  ich  schlief,  noch  die  als  Wind- 
licht eingerichtete  Petroleumlampe  auf  zum  Schutz 
gegen  die  etwaigen  Bestien  des  Waldes,  die  alle 
das  Licht  scheuen. 

Für  den  Neuling  ist  eine  solche  Nacht  immer 
höchst  unangenehm,  und  ich  gestehe,  da  mir  dies 
zum  ersten  Male  widerfuhr,  keinen  ordentlichen 
Schlaf  gefunden  zu  haben.  Jeder  fallende  Zweig, 
jedes  raschelnde  Laub  wird  auf  herannahende 
Raubtiere  gedeutet.  Doch  diese  wagen  sich 
nicht  heran.  Allerdings  hört  man  wohl 
in  der  Ferne  Tiger  brüllen  und  Wildschweine 
stampfen,  doch  scheuen  sie  alle  das  Licht.  Aber 
allmählich  gewöhnt  sich  der  Mensch  an  vieles, 
zumal  wenn  man  die  fatalistischen  Eingeborenen, 
die  der  Gefahr  noch  näher  liegen,  so  still  um  sich 
herum    sieht,    und    ihr    ruhiges    Atmen    belauscht. 

Über  den  reißenden  Bergstrom,  der  dieses 
Nachtlager  veranlaßt  hatte,  wurde  am  anderen 
Morgen,  als  das  Wasser  sich  ein  wenig  verlaufen 
hatte,  aus  Balkenstämmen  und  Flechtwerk  von 
Rottang  (dem  Material  der  Spazierstöcke  und  des 
Stuhlgeflechtes),  das  mit  Beilen  gekappt  wurde, 
ein  primitives  Floß  gezimmert,  über  das,  wenn 
auch  nicht  ohne  Fährlichkeiten,  unsere  Karawane 
mit  Wagen  und  Karren  hinübergeschafift  werden 
konnte.  Zuerst  läßt  man  die  Menschen,  dann  die 
Wagen  und  zuletzt  die  ausgespannten  Tiere 
passieren. 

So  erreichten  wir  endlich  unsere  Endstation, 
wo  nun  die  eigentliche  Arbeit  begann. 

*  * 

* 

Landkonzessionen,  um  die  es  bei  meiner  Sen- 
dung zu  tun  war,    dürfen    nämlich    nur   angefragt 


')  Eigentlich  hollanda,    aber  das  h  ersetzen    die  Malaien 
durch  ein  b. 


werden  für  Ländereien,  die  mindestens  4'.,  km 
von  schon  bestehenden  Wegen  und  den  Flüssen 
entfernt  sind.  Das  Land  innerhalb  dieses  Ab- 
standes  bleibt  in  landesväterlicher  Fürsorge  für  die 
Eingeborenen  reserviert,  worauf  diese  auch  in  der 
Tat  reichlich  ihre  Existenz  finden  können.  Hier 
installierte  ich  mich  in  dem  sehr  primitiven 
Stationsliause  für  Tage  und  Wochen.  Denn  von 
hier  aus  mußte  der  Weg  erst  gebahnt  werden  in 
den  eigentlichen  Urwald.  Mit  Kappmesser  und 
Beil  muß  das  Gewirr  der  Zweige  durchschlagen 
werden.  So  rückt  man  langsam  vorwärts,  oft  nur 
800  und  höchstens  20OO  m  im  Tag.  Ich  gab  nur 
mit  dem  Kompaß  die  Richtung  an  und  über- 
wachte die  Einhaltung  derselben,  hatte  aber  da- 
zwischen viel  Zeit  und  Langeweile,  die  ich  durch 
allerlei  Jagd  auf  wilde  Schweine  und  Nashorn- 
vögel zu  töten  suchte,  von  deren  Schnäbel  die  rm 
Inländer  phantastische  Uhrketten  fertigen.  fl 

Über  den  Urwald  hatte  ich  mir  aus  gedruckten 
Beschreibungen  und  meiner  bisherigen  Anschauung 
auf  Java  sowohl  wie  aus  Erzählungen  einen  Be- 
griff gemacht,  den  hier  die  Erfahrung  nicht  be- 
stätigen sollte.  Hier  in  Süd-Sumatra  wenigstens 
ist  er  nicht  farbenprächtig  und  voller  Leben  und 
Üppigkeit,  sondern  dunkel,  feucht,  kühl  und  still. 
Das  große  Pflanzengewirr  läßt  keine  einzelne 
Pflanze  so  recht  zur  Geltung  kommen.  Wenig 
Blüten  und  Früchte.  Nur  immer  Ranken  und 
Blätter  in  ganzen  Stockwerken  übereinander,  von  , 
denen  nur  die  oberste  Etage,  die  aber  der  | 
Mensch  nicht  zu  sehen  bekommt  (außer  etwa  ' 
von  einem  Flugzeuge  aus,  die  es  ja  in  Sumatra 
noch  nicht  gibt),  eine  große  Blütenpracht  ent- 
faltet. Unten  viel  unterdrücktes  Leben,  Über- 
wundenes und  Abgestorbenes.  Auch  das  Tier- 
leben mehr  am  Rande  des  Urwaldes  wie  in  diesem 
selber.  Zum  Glücke  fehlt  es  auch  an  Muskiten, 
die,  wenn  auch  nicht  die  Sonne,  doch  das  Licht 
lieben. 

Ich  hatte  mir  auch,  ehe  ich  diese  Verhältnisse 
aus  eigener  Anschauung  kennen  lernte,  über  die 
Verbreitung  der  gefürchteten  Tiere  in  den  Wäl- 
dern der  Tropen  ganz  andere  Vorstellungen  ge- 
macht. Unsere  Buchgelehrsamkeit  muß  sich  ja 
überall  eine  Revision  gefallen  lassen,  wo  wir  mit 
den  Dingen  selber  Bekanntschaft  machen.  Ein 
richtiger  Sohn  der  Wildnis  ist  eigentlich  nur  der 
Elefant  und  der  andere  große  Dickhäuter,  das 
Nashorn,  die  im  Innern  der  Urwälder  leben,  sich 
dort  eigene  Straßen  brechen  und  sich  ganz  auf 
eigene  Rechnung  von  den  jungen,  blätterreichen 
Zweigen  ernähren. 

Schon  der  Tiger,  auch  der  große  Königstiger, 
ist  nach  der  menschlichen  Kultur  orientiert  und 
zwar  auf  die  folgende,  allerdings  nicht  ganz  ein- 
fache Weise :  Diese  Raubtiere  ernähren  sich  vor- 
wiegend von  Hirschen  und  Wildschweinen,  von 
denen  namentlich  die  letzteren  sehr  häufig  sind, 
da  die  Malaien,  die  den  Islam  bekennen,  sie  als 
Nahrung  verschmähen.  Hirsche  aber  bedürfen 
zur  Nahrung  des  Grases,  das  im  eigentlichen  finsteren 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Urwald  fehlt  und  nur  da  gedeiht,  wo  der  Mensch 
bereits  mit  Beil  und  Feuer  gerodet  hat;  und 
die  Schweine  lieben  über  alles  Bananen  (Pisangs), 
die  hier,  obschon  vielfach  in  längst  verwildertem 
Zustande,  nur  da  vorkommen,  wo  menschliche 
Kultur  besteht  oder  gewesen  ist,  also  in  der  Nähe 
der  Siedelungen.  So  umkreisen  die  großen  Katzen 
die  menschliche  Kultur,  ähnlich  wie  in  Europa 
der  Fuchs,  der  dem  Bauer  die  Hühner  stiehlt, 
nur  daß  die  Abhängigkeit,  wo  sie  noch  um  ein 
oder  zwei  Glieder  loser  ist,  nicht  so  augenfällig 
erscheint  und  daher  von  bloßen  Reisenden  leicht 
übersehen  wird,  während  diese  Beziehungen  jeman- 
den, der  dauernd  in  den  Tropen  lebt,  allmählich 
aber  unwiderstehlich  klar  werden. 

In  Java  gibt  es  hierzu  wenig  Gelegenheit.  Dort 
ist  schon  zu  viel  Kultur.  Die  Kampongs  sind  zu 
nahe  beieinander,  als  daß  man  beobachten  könnte, 
wie  es  an  der  Grenze  zwischen  ihnen  und  der 
unberührten  Natur  ist.  Auf  15  km  nämlich 
schätze  ich  den  Abstand,  in  dem  die  großen 
Katzen:  Tiger  und  Panther  am  liebsten  hausen. 
Für  die  in  ähnlicher  Weise  orientierten  Vögel 
2  km.  Auch  für  diese  gilt  dasselbe  Gesetz ,  da 
sie  sich  gerne  von  Reis  ernähren,  der  von  den 
Menschen  erzeugt  wird,  oder  von  Muskiten  und 
Würmern,  die  gleichfalls  in  den  nassen  Reisfeldern 
gedeihen.  Dasselbe  gilt  auch  für  die  Boas,  deren 
ich  mehrere  nicht  im  Urwald  aber  auf  der  Plan- 
tage erlegte,  wo  sie  gerne  in  den  Scheuern  auf 
Ratten  Jagd  machen. 

Nur  der  Elefant  lebt  ganz  für  sich  und  schafft 
sich,  wenn  man  es  so  nennen  will,  seine  eigene 
Kultur.  Die  des  Menschen  ist  ihm  völlig  zu- 
wider. Das  geht  soweit ,  daß  er  überall  die 
Telegraphenpfähle  knickt,  die  in  seinen  Bezirk 
eindringen,  und  die  Grenzsteine,  die  ich  später 
setzen  lassen  werde,  um  das  abgemessene  Areal 
in  Kataster  zu  bringen,  muß  ich  sorgfältig  funda- 
mentieren,  und  bin  selbst  dann  noch  nicht  sicher, 
daß  der  eifersüchtige  Beherrscher  des  Urwalds 
nicht  einen  oder  den  anderen  herauswühlt  und 
verschleppt.  Die  Instinkte  des  Elefanten  sind 
geradezu  in  unserem  Sinne  kulturfeindlich,  es  sei 
denn,  daß  der  Mensch  ihn  einfängt  und  besiegt. 
Nach  der  Zähmung,  die  bei  ihm  eine  gewaltige 
innere  Umwäl/.ung  bedeutet,  stellt  er  aber  dann 
um  so  bereitwilliger  seine  hervorragenden  Gaben 
in  den  Dienst  des  Überwinders.  Wie  das  geschieht, 
ist  ja  schon  häufig  von  Brehm  und  anderen 
Tierfreunden  erzählt.  Es  geht  bekanntlich  bis 
zur  intelligenten  Hilfeleistung  bei  der  Zähmung 
seiner  eigenen  Siammesgenossen. 

Auf  die  sehr  häufig  vorkommenden  Wild- 
schweine machte  ich  nun  täglich  Jagd  und  schoß 
mehrere.  Gefalir  ist  nicht  viel  dabei.  Man  muß 
sich  nur  einen  gesicherten  Standort  wählen,  auf 
einem  Felsen  oder  unter  einem  Ast,  an  dem  man 
sich  im  Fall  der  Not  emporschwingen  kann. 
Fatal  war  es  nur,  daß  ich  den  schönen  Braten 
allein  essen  mußte,  da  der  Islam  meinen  Be- 
gleitern   den    Genuß    verbietet.       Nur    der    auf- 


geklärte Mandur  ließ  sich  bewegen  und  wurde 
sogar,  nachdem  er  den  Wohlgeschmack  ge- 
kostet, ein  leidenschaftlicher  Schweinefleischesser. 
Ich  hoffe,  daß  ihm  dieser  Sünde  wegen  die 
Freuden  des  mohammedanischen  Paradieses  nicht 
verkürzt  werden.  Die  anderen  weigerten  sich 
hartnäckig,  auch  nur  das  Wild  zu  berühren.  Die 
Sundanesen  in  West-Java  erwehren  sich  wohl  der 
zahlreichen,  die  Pflanzungen  beschädigenden  Wild- 
schweine mittels  spitzer  Pfähle  aus  Bambus,  die 
schräg  in  den  Boden  gerammt  werden.  Die  blind- 
lings vorwärts  jagenden  Sauen  spießen  sich  an 
diesen  Palisaden  oder  verletzen  sich  doch  lebens- 
gefährlich. Aber  zur  Nahrung  gebraucht  wird 
das  Wild  nicht,  ja,  wenn  man  den  Eingeborenen 
befiehlt,  das  erlegte  Wild  zu  tragen,  so  wissen  sie 
jede  Berührung  zu  vermeiden,  flechten  nur  kunst- 
reich Zweige  um  die  Läufe,  so  daß  ihnen  das 
Taschenspielerstück  wirklich  gelingt. 

Auch  ein  paar  Zwerghirsche  schoß  ich  in 
diesen  einsamen  Tagen.  Tiere,  nur  40  cm  hoch 
am  Rücken  und  mit  knotenartigen  Stummeln  von 
Geweihen,  die  gerade  in  der  Erneuerung  begriffen 
sein  mochten,  konnte  mich  aber  nicht  entschließen 
deren  Fleisch  zu  genießen,  da  es  eine  bläuliche 
Farbe  zeigte.  Später  hörte  ich,  daß  ich  einen 
vortrefflichen  Braten  verschmäht  hatte.  Da  war 
ich  also  der  Mann  der  Vorurteile  wie  meine  moham- 
medanischen Malaien    gegenüber    den   Schweinen. 

Zuweilen  stießen  meine  Leute  bei  dem  Kappen 
des  Weges  auf  eine  Verzögerung  dadurch,  daß 
ein  Baumriese  gerade  in  der  durch  den  Kompaß 
angewiesenen  Richtung  stand,  oder  gar,  daß  die 
Leiche  eines  solchen  im  Wege  lag.  Das  ist  dann 
ein  ganzer  Berg  von  brauner  verwesender  Pflanzen- 
masse, durch  die  man  schlechterdings  nicht  durch- 
dringen kann  und  der  also  umgangen  werden 
muß.  Da  war  dann  natürlich  jedesmal  meine 
Hilfe  nötig,  um  nach  dem  gemachten  Umwege 
mit  Sicherheit  die  alte  Richtung  wieder  zu  ge- 
winnen. Es  ist  ein  geodätischer  Kunstgriff  er- 
forderlich, die  der  Eingeborene  bei  aller  seiner 
Geschicklichkeit  in  technischen  Dingen  nicht 
kapiert. 

Sehr  häufig  passierten  wir  mit  unserer  Gasse 
durch  den  Wald  die  Wege ,  die  sich  die  Ele- 
fanten gebahnt  hatten,  und  schiebkarrengroße  Kot- 
ballen verrieten  durch  ihre  Frische  —  sie  rauchten 
zuweilen  noch  —  die  noch  nicht  lange  entfernte 
Anwesenheit  dieser  Beherrscher  des  Urwaldes,  die 
auf  Java,  jenseits  der  Sundastraße  nicht  mehr 
vorkommen.  Auch  das  Nashorn,  dessen  Wege 
dort  wenigstens  noch  z.  T.  vorhanden  sind  und 
manchmal  benutzt  werden,  ist  dort  beinahe  aus- 
gestorben. 

Hier  waren  wir  aber  in  unmittelbarer  Nähe 
der  großen  Dickhäuter  und  hörten  täglich  deren 
Trampeln  und  das  Brechen  von  Zweigen. 

Jagd  auf  Elefanten  habe  ich  nur  einmal  mit- 
gemacht; sie  ist  gefährlich,  weil  die  Herde  nach 
gefallenem  Schusse  nach  allen  Seiten  auseinander 
stiebt,  wobei  der  Jäger  leicht  unter  die  Füße  der 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Tiere  gerät  und  von  diesen  blindlings  zertreten 
wird. 

Einer  großen  Plage  in  den  Urwäldern  muß 
ich  aber  noch  gedenken.  Das  sind  die  unzähligen 
Blutigel,  die  sich  einem  bei  jeder  Berührung  mit 
dem  feuchten  Gestrüpp  an  den  Beinen  festsetzen, 
und  die  ihren  Weg  auch  durch  die  Maschen  der 
Strümpfe  zu  finden  wissen,  indem  sie  sich  durch 
ihre  fabelhaft  bewegliche  Muskulatur  an  jeder 
Stelle  ihres  wurmförmigen  Leibes  dünn  zu  machen 
wissen,  um  dann,  wenn  sie  Posto  gefaßt  und  ihre 
Berufstätigkeit  üben ,  bald  wie  eine  Blase  aufzu- 
schwellen. Man  merkt  die  Angriffe  im  Eifer  des 
Visierens  oder  Zielens  gar  nicht,  um  dann  auf 
einmal  die  unliebsamen  anschwellenden  Franzen 
an  den  Knöcheln  und  beim  Aufstreifen  der  Hosen- 
beine an  den  Waden  zu  bemerken.  Bei  manchen 
Personen  haben  die  Bisse  unliebsame  Folgen  in 
Gestalt  von  Schwären,  und  jedenfalls  schwächt 
der  Blutverlust.  Es  werden  viele  Mittel  dagegen 
angegeben.  Ich  befand  mich  am  besten  dabei, 
die  Beine  ganz  mit  Baumwollzeug  ä  la  Pfifferari 
zu  umwickeln  und  die  Lappen  tüchtig  mit  Schmier- 
seife zu  bestreichen. 

Mit  den  überaus  scheuen  Ureinwohnern  des 
Landes,  die  noch  an  der  mohammedanischen  Kultur 
keinen  Teil  haben,  bin  ich  nicht  in  Berührung  ge- 
kommen. Man  erzählte  mir  nur,  daß  sie  sich  in  den 
Wäldern  versteckt  und  mit  den  zivilisierteren  Ein- 
geborenen nur  eine  Art  Tauschhandel  unterhalten, 
der  etwas  an  das  Deponieren  von  Brandschatzungen 
erinnert.     An  bestimmten  Stellen  im  Walde  findet 


man  dann  Elfenbein  und  Nashornhörner,  wofür 
man  dann  entsprechende  Mengen  von  Reis,  Ge- 
schirr und  Stoffen  niederlegen  muß,  die  dann  auf 
ebenso  geheimnisvolle  Weise  verschwinden.  Es 
sind  wohl  dieselben  Stämme,  die  weiter  nördlich, 
in  der  Gegend  von  Palembang  und  Djambi  unter 
dem  Namen  von  Kubus  bekannt  sind. 

Nachdem  ich  meine  Arbeit  vollendet  hatte, 
habe  ich  die  Rückreise  angetreten,  von  der  nicht 
mehr  viel  zu  berichten  ist,  da  sie  so  ziemlich  eine 
Wiederholung  meiner  Hinreise  war,  mit  denselben 
Eindrücken  und  Fährlichkeiten. 

Der  größten  Gefahr  war  ich  noch  zu  allerletzt 
ausgesetzt,  als  ich  mich  in  Kroe  einschiffen  wollte 
und  dem  Dampfer  entgegenruderte,  der  eine  gute 
Strecke  vor  der  Bucht  vor  Anker  lag.  Kaum 
hatte  ich  mit  dem  Ruderboot  die  stillere  Bucht 
verlassen,  als  der  Wellenschlag  so  heftig  wurde, 
daß  wir  wiederholt  dem  Kentern  nahe  waren,  und 
es  dauerte  beinahe  eine  Stunde,  bis  wir  mit  der 
größten  Anstrengung  an  Bord  gelangten.  Selbst 
der  Kapitän  war  außer  sich  über  die  Sorglosigkeit 
des  malaiischen  Hafenmeisters,  der  uns  hatte  aus- 
laufen lassen.  Auch  so  etwas  passiert  mir  nicht 
zum  zweiten  Male.  Aber  ich  hatte  wenigstens  die 
Genugtuung,  daß  bei  der  späteren  Wiederholung 
meiner  Reise  mit  Regierungsbevollmächtigten,  wo 
dann  die  von  mir  ausgemessenen  Grenzen  des 
angefragten  Landes  mit  Grenzsteinen  festgelegt 
und  Konzession  erteilt  wurde,  meine  aufopferungs- 
volle .Arbeit  korrekt  gefunden  ward. 


Einzelberichte. 


Zoologie.  Sekundäre  Geschlechtscharaktere. 
O.  Steche  hatte  bei  seinen  Katalaseversuchen 
die  Erfahrung  gemacht,  daß  das  Blut,  oder  wie 
man  bei  Wirbellosen  besser  sagt,  die  Hämolymphe 
der  Raupen  und  Puppen  eines  Schmetterlings  in 
den  beiden  Geschlechtern  einen  auffälligen  Farb- 
unterschied aufweist.  Geyer  fand  (105.  Bd.  d. 
Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.),  daß  dieser  Unterschied 
bei  den  meisten  Schmetterlingsraupen  und  Puppen 
mehr  oder  weniger  deutlich  (mitunter  schon  durch 
das  Integument  hindurch)  zu  beobachten  ist.  Ganz 
allgemein  herrschte  bei  den  cJ(J  wasserklare  bis 
leicht  gelbe,  bei  den  $$  dagegen  leuchtend  grüne 
Farbe  der  Hämolymphe  vor.  Die  gleiche  Diffe- 
renz zeigten  weiterhin  die  Larven  vieler  ande- 
rer phytophager  Insekten ,  während  die  der  (J(J 
und  $$  nicht  phytophager  gleichgefärbtes  Blut 
besitzen.  Die  spektroskopische  Untersuchung  der 
Hämolymphe,  die  leicht  den  Raupen  durch  Ab- 
schneiden eines  Afterfußes,  den  Puppen  durch 
Anstechen  der  F'lügeldecken  abgezapft  werden 
kann,  erbrachte  als  wichtigstes  Ergebnis  den  Nach- 
weis, daß  sowohl  die  grüne  Farbe  der  $$  als  die 
gelbe  der  (Jc^  durch  im  Blut  in  freier  Lösung 
existierende    Farbstoffe    hervorgerufen    wird    und 


daß  der  grüne  ein  wenig  verändertes  Chlorophyll 
(,,Metachlorophyll")  ist,  der  gelbe  dagegen  durch 
weiter  abgebaute  Chlorophyllprodukte,  Xantho- 
phylle  erzeugt  wurde.  Ein  Vergleich  ergab  nahezu 
eine  Übereinstimmung  des  Spektrums  der  grünen 
Hämolymphe  mit  dem  einer  Lösung  von  Pfianzen- 
chlorophyll  in  Kochsalz  und  eine  starke  Differenz 
mit  denen  der  Wittstätter 'sehen  Chlorophyll- 
abbauprodukte. 

Was  nun  die  Frage  nach  dem  Zweck  dieser 
Differenzierung  betrifft,  so  findet  (entgegen 
V.  Linden)  wahrscheinlich  eine  Assimilation  mit 
Hilfe  des  Chlorophylls  nicht  statt.  Wir  haben  es 
lediglich  mit  einer  Anpassung  zu  tun.  Die  grüne 
Farbe  wird  im  Imago  aus  der  Hämolymphe  ent- 
fernt und  in  den  Eiern  abgesetzt,  die  dadurch 
Blattfarbe  als  Schutzfärbung  bekommen.  Bei  den- 
jenigen Insekten,  deren  Gelege  durch  dunklere, 
braune  oder  rotbraune  Töne  ausgezeichnet  sind, 
ließ  sich  eine  Veränderung  der  Hämolymphe  in 
den  entsprechenden  Farbton  vor  der  Verpuppung 
konstatieren.  Die  stärker  gelbe  Blutfarbe  der  (J(^- 
Imagines  rührt  nicht  von  einer  Veränderung,  son- 
dern nur  von  einer  Konzentration  der  ursprüng- 
lich vorhandenen  Xanthophylle   her. 


N.  F.  Xin.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


119 


Es  waren  nun  zwei  Ursachen  für  diese  ge- 
schlechtliche Differenzierung  möglich :  Einmal 
konnten  die  Darmzellen  der  $$  und  (^(^  ver- 
schiedenartig differenziert  sein,  indem  die  der  $$ 
schon  wenig  verändertes  Chlorophyll,  Metachloro- 
phyll,  die  der  ^t^  hingegen  nur  stärker  abge- 
bautes, Xanthophylle  durchlassen  oder  beide 
sind  in  gleicher  Weise  durchlässig,  aber  in  der 
Hämolymphe  der  ^(^  finden  sich  spezifische  Stoffe, 
die  den  Chlorophyllabbau  weiterführen.  Das 
zweite  schloß  sich  von  selbst  aus,  da  einmal  ein 
Zusatz  von  ^(J-Blut  zu  weiblichem  keine  Ent- 
färbung gab  und  da  ferner  Transfusionsversuche 
von  (^(J-Blut  auf  Weibchen  und  umgekehrt  erfolg- 
los verliefen.  Ebenso  brachten  Kastrations-  und 
Transplantationsversuche  von  Gonaden  auf  das 
andere  Geschlecht  keinen  Beweis  für  die  Ab- 
hängigkeit der  Hämolymphenfarbe  von  den  pri- 
mären Sexualcharakteren.  Auch  die  Präzipitin- 
rcaktion  lieferte  keinen  Nachweis  für  das  Vor- 
handensein differenter  Eiweißkörper  im  Blute  der 
Geschlechter.  (Nur  in  einem  Falle  konnte  der 
Ausgang  einer  Präzipitinreaktion  mit  Injektion 
von  Gonadenextrakt  als  positiv  gedeutet  werden.) 

Daß  aber  tatsächlich  spezifische  (JcJ-  und  $$- 
Eiweißkörper  in  der  Hämolymphe  vorhanden  sind, 
geht  aus  einer  einfacheren  Reaktion  hervor.  Beim 
Zusammenbringen  von  <J(J-  und  $$-Blut  trat  stets 
in  verschiedener  Stärke  ein  Ausfall  von  Eiweiß 
(Schlierenbildung)  auf.  Die  gleiche  Reaktion  er- 
hielt Geyer  auch  durch  Mischen  des  Blutes  ver- 
schiedener Arten  und  verschiedener  Geschlechter 
von  Arten  mit  gleicher  Blutfarbe,  ein  Beweis,  daß 
das  (J-  und  $-Blut  der  Insekten  sich  wie  artfremd 
verhalten. 

Die  Ergebnisse  dieser  Versuche  haben  weit- 
tragende Bedeutung  für  die  Erklärung  der  Ent- 
stehung der  sekundären  Geschlechtscharaktere 
überhaupt.  Während  man  bisher  auf  Grund  der 
Kastrations-  und  Transplantationsexperimente  an 
Wirbeltieren  den  primären  Geschlechtscharakteren 
einen  maßgebenden  Einfluß  auf  die  Ausbildung 
der  sekundären  einräumte  (Hormonenlehre),  scheint 
hier  eine  Reeinflußbarkeit  nicht  möglich  zu  sein. 
Dieser  Widerspruch  ist  nach  Geyer  jedoch  nur 
ein  scheinbarer.  Er  nimmt  an,  daß  das  gesamte 
Soma  der  Insekten  schon  vom  Ei  her  weitgehend 
geschlechtlich  differenziert  ist  und  weiter  „daß 
hier  die  phylogenetisch  unter  dem  Einfluß  der 
Geschlechtshormone  entstandenen  (,,sekundären") 
Geschlechtscharaktere  zu  primären  Artcharakteren 
geworden  sind".  ,,Es  besteht  ein  spezifischer  Einfluß 
der  Geschlechtsdrüsen  auf  den  Stoffwechsel,  der 
sich  aber  bei  den  einzelnen  Tiergruppen  in  ver- 
schiedenem Maße  geltend  macht  je  nach  der 
Stärke  der  ab  ovo  gegebenen  sexuellen  Differen- 
zierung des  Somas." 

Einwirkung  des  Radiums  auf  Fortpflanzungs- 
zellen  von  Wirbeltieren.  Während  bei  Kreuzungen 
durch  künstliche  Befruchtung  von  Eiern  von  Bufo 
vulgaris  und  Rana  esculenta- Weibchen  mit  Samen 


von  Rana  fusca-Männchen  zwar  eine  Furchung  der 
Eier  eintrat,  die  Weiterentwicklung  aber  auf  dem 
Keimblasenstadium     plötzlich     aussetzte,     konnte 
G.  H  e  r  t  w  i  g  ( Arch.  f  mikroskop.  Anat.  81,  Abt.  II. 
191 3)  durch  Bestrahlung  der  fusca-Spermien  eine 
Entwicklung    der    Bastarde    zu    Larven    erzielen. 
Diese  waren  allerdings  kleiner  als  normale  gleich- 
altrige Kröten-  und  esculenta-Larven    und  wiesen 
mehr  oder   minder   starke    typische  Mißbildungen 
(Radiumkrankheit)  auf     Als  Gegenstück  zu  diesen 
Experimenten    wurden    unbefruchtete    Kröteneier 
mit  Radium  bestrahlt  und  dann  mit  unbestrahltem 
Samen    von    Rana    fusca   befruchtet.     Auch   dann 
entwickelten  sich  die  Eier  bis  zum  Blastulastadium. 
Den    Grund    für    das    Absterben    der    Kfeuzungs- 
produkte    aus    unbestrahlten  Eiern   von  Bufo  und 
Rana  esculenta  mit  bestrahltem  fusca-Samen  sieht 
H.  in  der  „disharmonischen  Idioplasmaverbindung", 
d.  h.  in  der  Erkrankung  der  nach  der  Befruchtung 
in    einem   Kern    vereinigten    artfremden    Kernsub- 
stanzen.   Die  längere  Lebensdauer  der  durch  mit 
Radium    bestrahlten  Samen   erzielten  Kreuzungen 
ist  deshalb  möglich,    weil    durch   die  Bestrahlung 
die  Kernsubstanz  (Idioplasma)  der  Spermien  zerstört 
wird.      Die    Eier    entwickeln    sich    also    nur    mit 
dem      mütterlichen      Chromatin ;      die      Entwick- 
lung   wird     durch     die     nach     dem     Eindringen 
des     Samens      auftretende      Strahlung      angeregt. 
Dies   nachzuweisen    gelang    freilich    infolge    tech- 
nischer  Schwierigkeiten    nicht   durch    Zählen    der 
Chromosomen,  wohl  aber  konnte  festgestellt  werden, 
daß  die  Zellen  der  Radiumbastarde  immer  kleiner 
sind  als  die  der  entsprechenden  Organe  normaler 
Larven  (Oberflächen  bzw.  Volumina  wie  i  :  2).     Da 
nun  in  allen  Fällen  das  Verhältnis    von  Kern    zu 
Plasma  das  gleiche  bleibt  (Kernplasmarelation),  so 
ist   dies    gleichbedeutend    mit    einfacher  Chromo- 
somenzahl;   d.  h.  die    Eier  haben   sich    partheno- 
genetisch  entwickelt.  Das  stets  beobachtete  Kleiner- 
bleiben   der   Radiumlarven    selbst    ist    nicht    auch 
auf  die  kleineren  Zellen  zurückzuführen,    sondern 
auf  die  geringere  Wachstumsenergie  und  Teilungs- 
fähigkeit  derselben    infolge    der    halben   Chromo- 
somenzahl.     Darin    ist   schließlich   auch    das   Ab- 
sterben der  Larven  vor  erlangter  Reife  erklärt. 

Daß  es  sich  in  den  vorstehenden  Versuchen 
tatsächlich  um  Parthenogenese  handelt,  meint  in 
einer  kurzen  Notiz  Paula  Hertwig  cytologisch 
zu  beweisen.  (Ebenda.)  Es  zeigten  nämlich  Zwei- 
und  Vierzellenstadien  von  Eiern  von  Rana  fusca, 
die  mit  radiumbestrahltem  Sperma  der  gleichen 
Art  befruchtet  worden  waren,  auf  Schnittserien, 
dal3  das  Spermachromatin  nicht  mit  dem  Eikern 
verschmolzen,  sondern  degeneriert  und  als  stärker 
färbbares  Klümpchen  sichtbar  ist.  Dieses  „Radium- 
chromatin"  steht  infolge  seiner  Lage  und  Ver- 
teilung im  Zellplasma  in  keiner  Beziehung  zum 
Eikern  und  den  Tochterkernen  und  zu  deren 
Teilungen.  Dr.  Wagler,  Leipzig. 

Der  Schafochse  (Ovibos  moschatus  Blainv.). 
Was    ich    in    der    Einleitung     zu     meinem    Auf- 


I20 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  8 


satz  über  den  Schafochsen  (diese  Wochenschrift 
191 3,  S.  757 — 759)  sagte,  ist  buchstäblich  wahr 
geworden.  Eine  umfangreiche  Monographie  von 
J.  A.  Allen  liegt  vor  mir;  „Ontogenetic  and 
olher  Variations  in  Muskoxen,  with  a  systematic 
Review  of  the  Muskox  Croup,  recent  and  extinct". 
Memoirs  of  the  American  Museum  of  Natural 
History.  New  Series,  Vol.  I,  Part  IV.  March,  1913 
(123  S.  und    18  vorzügliche  Tafeln  nebst  i  Karte). 

Der  Autor  ist  zu  wesentlich  anderen  Resultaten 
gelangt  als  ich  sie  seinerzeit  (1910)  veröffeni lichte. 
Allen  hat  ein  sehr  schönes  Material  besessen, 
das  beispielsweise  mehr  als  150  Schädel  umfaßte. 
Zunächst  sucht  er  nun  den  Grad  der  Variation  zu 
bestimmen,  der  bei  den  verschiedenen  embryonalen 
und  postembryonalen  Stadien  zutage  tritt.  Da 
unterläuft  nun  dem  Autor  ein  großer  Fehler.  Er 
wirft  alle  Schädel  einfach  zusammen  und  beschreibt 
z.  B.  zwei  8  Monate  alte  fötale  Schädel  von  den 
,, Rarren  Grounds"  östlich  vom  Mackenzie  und  als 
nächstes  Stadium  zwei  i  Woche  alte  Schädel  von 
Grantland  und  von  Grönland.  Dann  folgen  fast 
ausschließlich  Exemplare  junger  Individuen  von 
Grantland  und  dieses  „Pele  mele"  wird  dann  ziem- 
lich ka'tblütig  als  „Dogma"  für  die  Kenntnis  der 
Hornentwicklung  beim  Moschusochsen  (I?)  hinge- 
stellt, ja  der  Autor  greift  sogar  auf  Grund  seiner 
„Zwitterontogenie"  der  Hörner  die  vorzügliche 
Arbeit  von  Einar  Lönnberg  ')  an. 

Die  Ontogenie  der  Zähne,  des  übrigen  Schädels, 
des  Haarkleides  und  der  Färbung  wird  in  ähn- 
licher Weise  vergewaltigt,  alles  wird  zusammen- 
geworfen und  für  ganz  verschiedene  Formen  die- 
selbe Entwicklung  „kommandiert". 

Von  Seite  143  an  versucht  Allen  die  Schädel- 
variationen festzustellen,  und  glaubt  besonders 
sicher  vorzugehen,  wenn  er  sich  von  Grantland 
31  männliche  und  26  weibliche  Schädel  hernimmt. 
Zum  Unglück  entgeht  ihm  nun  aber  völlig,  daß 
die  Gegend,  aus  der  seine  Exemplare  stammen, 
eine  —  tiergeographisch  gesprochen  - —  denkbarst 
verdächtigeist.  Daselbst  stoßen  nämlich  mindestens 
2  verschiedene  Tierverbreitungsbezirke  zusammen 
und  so  ist  es  natürlich  gar  nicht  zu  verwundern, 
daß  Allen  auf  angeblich  große  Variation  im 
Schädelbau  dieser  Exemplare  gekommen  ist. 

In  den  nächsten  Kapiteln  befaßt  sich  der  Autor 
mit  Sachen,  die  er  lieber  hätte  übergehen  sollen, 
da  sich  dieselben  bereits  in  meiner  Monographie 
(1910)  vorfinden,  z.  T.  schreibt  Allen  meine  .An- 
gaben einfach  ab,  allerdings  nicht,  ohne  mich  als 
Quelle  anzuführen.  Ein  weiteres  Kapitel  (S.  173 
bis  1 79)  ist  ausschließlich  der  kritischen  Besprechung 
meiner  beiden  Arbeiten  über  den  Schafochsen  ge- 
widmet, wobei  jedoch  Allen  meine  Studie  über 
die  Phylogenie  dieses  Tieres  auf  europäischem 
und    asiatischem   Boden    nur    als   Auszug   kennt. ^) 

')  On  the  Structure  and  .\natomy  of  the  Musk-Ox  (Ovibos 
moschatus).  Sect.  I.  The  Development  of  the  Horns  in  the 
Musk-O-x.  Proc.  Zeel.  Soc.  London,  1900,  pp.  687 — 694, 
fig.   1^-4. 

')  R.  Kowarzik,  Der  Moschusochs  im  Diluvium  von  Europa 


Ich  will  mich  mit  der  Besprechung  dieser  Seiten 
hier  nicht  befassen,  da  ich  Aliens  Angriffe  in 
einer  Fachzeitschrift  entsprechend  zurückweisen 
werde.  Gut  ist  das  Kapitel  über  den  Schafochsen 
in  der  Gefangenschaft,  wobei  einzig  und  allein  die 
amerikanischen  zoologischen  Gärten  behandelt 
werden,  doch  stammen  diese  Seiten  —  wie  ich 
nebenbei  bemerken  möchte  —  nicht  von  Allen, 
sondern  vom  Direktor  des  zoologischen  Gartens 
in  New- York,  William  T.  Hornaday. 

Allen  läßt  nur  folgende  Formen  des  lebenden 
Schafochsen  gelten :  Ovibos  moschatus  moschatus, 
O.  m.  niphoecus  und  O.  m.  wardi.  Von  fossilen 
Formen  zählt  er  auf:  O.  yukonensis,  O.  spec.  indet. 
und  O.  pallantis. 

Vielleicht  das  Beste  an  Aliens  Arbeit  ist,  daß 
er  die  fossilen  P'ormen  Bootherium,  Symbos  und 
Liops,  die  durchwegs  dem  nordamerikanischen 
Diluvium  angehören,  genau  beschrieben  und  ab- 
gebildet hat.  P-in  weiteres  Verdienst  ist  die  Samm- 
lung der  zerstreuten  Literatur. 

Davon  abgesehen  stellt  die  mit  echt  ameri- 
kanischem Luxus  ausgestattete  Abhandlung  kaum 
einen  Fortschritt  in  unserer  Kenntnis  von  der 
Naturgeschich; e  und  Systematik  der  lebenden  und 
ausgestorbenen  Formen  des  Schafochsen  dar.  Im 
Gegenteil  wirft  uns  der  Schleier  der  Verworrenheit, 
der  die  ganze  Arbeit  bedeckt,  wieder  um  Jahre 
zurück  und  es  wird  mühsame  Klärarbeit  notwendig 
sein,  bis  in  dieser  Frage  wieder  ein  Fortschritt 
zu  verzeichnen  und  die  von  .Allen  gepredigten 
Irrtümer  beseitigt  sein  werden. 

Dr.  Rud.  Kowarzik. 

Chemie.  Zellulose,  Zucker,  Alkohol.  Auf 
S.  45  (Nr.  3)  der  Naturw.  Wochenschr.  sind  die 
Ergebnisse  einer  Arbeit  von  WiUstätter^)  über 
die  Verzuckerung  der  Zellulose  durch  Hydrolyse 
mit  höchst  konzentrierter  Salzsäure  erwähnt  worden. 
Hierzu  dürfte  eine  Ergänzung  in  einigen  Punkten 
angebracht  sein.  Zunächst  ist  das  von  Will- 
stätter  entdeckte  Verfahren  nicht  neu;  das 
Prinzip  dieser  Methode  ist  schon  Gegenstand  einer 
Patentschrift  (D.  R.-P.  II  836)  aus  dem  Jahre  1880, 
die  sich  eingehend  mit  der  technisch-apparativen 
Seite  des  Problems  beschäftigt.  Auch  in  anderer 
Hinsicht  scheint,  wie  die  Kritik  des  verdienstvollen 
Zelluloseforschers  Ost  (Ber.  d.  Deutsch.  Chem. 
Ges.  46,  2995)  zeigt,  die  Willstätter 'sehe  Unter- 
suchung anfechtbar  zu  sein.  Insbesondere  fehlt 
ein  exakter  Beweis  für  die  q  uantitative  Über- 
führung der  Zellulose  in  Zucker,  da  die  Ermitt- 
lung der  Ausbeute  nur  durch  Polarisations-  und 
Reduktionsbestimmungen,  nicht  aber  durch  Ver- 
gärung oder  durch  gewichtsanalytische  Bestim- 
mung des  isolierten  Zuckers  erfolgte.  Eine  Ver- 
zuckerung der  Zellulose  von  90 — 95  "/^  der 
theoretischer!  Ausbeute  ist  schon  von  Ost  und 
Wilkeni  ng  (Chemiker-Zeitung  34,  461)  im  Jahre 


und   .-^sien.     Verhandl.   des  naturf.  Vcr.  in  Brunn,  Bd.  Xt^VIII, 
1908/1909,   S.  44 — 49. 

ä)  Ber.  d.   Deutsch.  Chem.  Ges.  46,  2401. 


N.  F.  XIII.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


121 


1910  erreicht  worden,  und  zwar  durch  Verwen- 
dung von  72  "/oiger  Schwefelsäure  als  Hydroly- 
sierungsmittel.  Das  Prinzip  dieses  Verfahrens  — 
Abbau  der  Zellulose  mittels  starker  Säure  zu 
Dextrinen  und  Verzuckerung  der  Dextrine  mit 
verdünnter  Säure  —  wird  wahrscheinlich  auch 
auf  die  VV  i  1 1  st  ä  1 1  e  r 'sehe  Methode  übertragen 
werden  müssen,  wenn  es  gelingen  soll,  konzen- 
triertere  Zelluloselösungen  (Will  statt  er  ver- 
zuckerte einprozeniige  Lösungen)  glatt  in  Zucker 
(Dextrose)  zu  verwandeln.  Bugge. 

Die  interessante  Frage,  ob  Jod  und  Selen 
chemische  Verbindungen  miteinander  zu  bilden 
vermögen,  ist  neuerdings  von  Ernst  Beckmann 
und  einigen  seiner  Schüler  eingehend  behandelt 
worden  (vgl.  Zeitschr.  f.  anorgan.  Chem.  Bd.  84, 
S.  79  und  S.  103,  1913).  Ihren  Ausgangspunkt 
nahmen  die  Untersuchungen  von  der  Beobachtung, 
daß  das  Seien  bei  der  kryoskopischen  Untersuchung 
in  geschmolzenem  Jod  als  Lösungsmittel  ein  auf- 
fallend niedriges  Molekulargewicht  von  Se,  bis  Se,, 
hat,  während  sein  Molekulargewicht  bei  der  kryo- 
skopischen Bestimmung  in  anderen  Lösungsmitteln 
sowohl  bei  höheren  als  auch  bei  niedrigeren  Tem- 
peraturen sehr  groß  —  etwa  Se,,,  —  ist.  Auch 
entspricht  das  Eutektikum  von  Jod-Selenschmelzen 
gerade  einer  Zusammensetzung  SeJ.  Alle  Ver- 
suche aber,  die  Existenz  einer  Verbindung  von 
der  angegebenen  Zusammensetzung  SeJ  nachzu- 
weisen, sind  vergeblich  gewesen.  Sowohl  die 
Bestimmung  der  Volumänderung,  welche  beim 
Schmelzen  eines  Jod -Selengemisches  auftreten, 
wie  die  Bestimmung  des  spezifischen  Volumens 
sowie  des  elektrischen  Leitvermögens  von  Jod- 
Selen-Legierungen  führte  zu  Werten,  die  mit  den 
nach  der  Mischungsregel  berechneten  Werten 
innerhalb  der  Fehlergrenzen  der  Versuche  zusam- 
menfielen. Auch  wird  das  Molekulargewicht  von 
Selen  in  Methylenjodid  Se^^,  durch  Hinzufügung 
von  Jod  zu  der  Lösung  nicht  verringert;  in  die- 
sem Falle  wirkt  Jod  also  auf  das  große  Selen- 
molekül nicht  merklich  dissoziierend  ein.  Die 
Frage,  warum  das  Sclenmolckül  bei  der  Auflösung 
in  Jod  so  klein  ist,  ist  also  als  nicht  geklärt  an- 
zusehen. Mg. 

Über  neue  Verfahren  zur  Anreicherung  des 
Radiums  aus  Gemischen  von  Salzen  des  Baryums 
und    des    Radiums    berichten   E.    Ebler    und  W. 


Bender  in  der  Zeitschr.  f.  anorg.  Chem.  Bd.  84, 
S.  77—94  (1913).  Schon  früher  hatte  Ebler  in 
gemeinschaftlicher  Arbeit  mit  einigen  Schülern 
die  seit  langem  bekannte  Tatsache,  daß  radio- 
aktive Stoffe  eine  starke  Adsorbierbarkeit  besitzen, 
zu  ihrer  Anreicherung  aus  Gemischen  mit  in- 
aktiven Stoffen  praktisch  zu  verwerten  gesucht. 
Anfangs  verwendete  er  als  adsorbierenden  Stoff 
ein  Kieselsäuregel,  das  sich  aber  in  der  Folge 
nicht  recht  bewährt  hat  und  neuerdings  durch 
Mangansuperoxydhydratgel  ersetzt  worden  ist. 
Schüttelt  man  eine  Radium  Baryumsalzlösung  mit 


frisch  gefälltem  Mangansuperoxydhydratgel  bei 
Zimmertemperatur  etwa  eine  Stunde  lang,  so  wird 
gleichzeitig  Baryum-  und  Radiumsalz  adsorbiert, 
das  Radiumsalz  aber  in  relativ  viel  stärkerem 
Maße  als  das  Baryumsalz.  Je  nach  den  Versuchs- 
bedingungen war  die  Menge  des  Radiums  in  dem 
adsorbierten  Anteil  des  Radium -Baryumsalz- 
gemisches  zwei-  bis  dreimal  größer  als  in  der 
Lösung.  Zur  Trennung  des  Radiums  vom  Man- 
gansuperoxydhydrat kann  dieses  in  Salzsäure  ge- 
löst und  aus  der  Lösung  das  Radium  Baryum- 
chlorid  in  bekannter  Weise  durch  Einleiten  von 
Salzsäuret^as  gefällt  werden.  Zweckmäßiger 
arbeitet  man  jedoch  in  der  Weise,  daß  man  nicht 
die  Gesamtmenge  des  Mangansuperoxydhydrates 
mitsamt  dem  adsorbierten  Radium-Baryumgemisch 
sogleich  in  einem  Überschuß  von  konzentrierter 
Salzsäure  auflöst,  sondern  sie  zunächst  nur  mit 
verdünnter  Salzsäure  behandelt,  denn  hierbei  wird 
ein  großer  Teil  des  Baryums  aus  dem  Adsorp- 
tionskomplex herausgelö.-.t,  während  das  Radium 
in  der  Hauptmenge  zurückbleibt,  und  erst  nach 
dieser  zweiten,  die  Konzentration  des  Radiums 
im  Baryum  abermals  auf  das  Doppelte  bis  Drei- 
fache erhöhenden  Anreicherung  die  Auflösung  des 
Ganzen  in  starker  Salzsäure  und  die  Fällung  des 
Radium-Baryumchlorids  vornimmt.  Mg. 

Geographie.  Der  Malaiische  Archipel,  sein  Bau 
und  sein  Zusammenhang  mit  Asien  ^)  wird  von 
Wilhelm  Volz  in  einer  interessanten  Arbeit  ge- 
schildert. Die  Malaiische  Scholle  bietet  zahlreiche 
Probleme,  das  Verhältnis  zu  Asien  und  Australien, 
die  Vulkane,  die  Gräben,  die  sie  umgeben,  die  viel- 
gestaltigen F"ormen  der  Inselbögen  und  seltsamen 
Meeresmulden;  aber  unsere  Kenntnisse  sind  noch 
recht  lückenhaft.  So  kann  es  sich  nur  um  den 
Versuch  einer  Lösung  handeln,  sie  muß  den  viel- 
gestaltigen Problemen  gerecht  werden  und  muß 
von  der  objektiven  Beobachtung  ausgehen,  darf 
aLo  die  Kombination  nur  dort  zu  Hilfe  nehmen, 
wo  Beobachtungen  fehlen.  Zwei  Linien  des  Re- 
liefs spielen  eine  wichtige  Rolle,  einmal  die  200  m- 
Linie ;  aber  sie  ist  nicht  im  Bau  der  Scholle,  son- 
dern in  den  zufälligen  Wassermassen  begründet. 
Wichtiger  ist  die  andere  Linie,  die  Tiefenlinie 
von  3000  m,  bei  der  der  Sockel  unten  anfängt. 
Die  beigegebene  Karte  wurde  nach  diesem  Ge- 
sichtspunkte gezeichnet. 

Einen  wichtigen  Gesichtspunkt  in  der  Unter- 
suchung gibt  die  prätertiäre  Oberfläche. 
Es  ist  eine  ,,Uroberfläche",  an  der  Gneise,  Glimmer- 
schiefer, andere  Schiefer,  paläo-  und  mesozoische 
Sedimente  Anteil  haben.  Das  Charakteristische 
ist  ihre  Höhenlage  Während  in  Nord-Sumatra 
das  prätertiäre  Gebirge  in  Höhen  von  2000  bis 
2600  m  hinaufreicht,  senkt  es  sich  nach  Süden 
immer  mehr,  in  Süd  Sumatra  tritt  Granit  und 
Glimmerschiefer    noch    gerade    über   dem  Meeres- 


')  Sitzungsberichte   der  physik.-mediz.  Sozietät  in  Erlangen 
Bd.  44  (1912)  S.-A.     (Mit  einer  Karte.) 


122 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  8 


niveau  auf  In  Java  fehlt  die  Unterlage  ganz. 
Dagegen  liegt  im  Herzen  von  Hinterindien  das 
alte  Gebirge  in  5000  m  und  mehr  Höhe;  auch 
Borneo  besteht  im  wesentlichen  aus  diesen 
Schichten,  die  auch  hier  fast  bis  zu  5000  m  Höhe 
emporragen.  Aber  in  den  Philippinen  tritt  es 
wieder  stark  zurück,  und  erst  im  Osten,  in  Celebes, 
in  den  Molukken  und  im  äußersten  Südosten 
erreicht  es  wiederum  größere  Höhen. 

Das  jüngere  tertiäre  Gebirge  hat  eine 
energische  Faltung  erlitten,  es  ist  zum  Teil  außer- 
ordentlich (1500  m  und  mehr)  mächtig  und  erscheint 
an  Einsenkungsgebiete  gebunden.  Vulkanisches 
Material  setzt  zum  großen  Teil  diese  Sedimente 
zusammen,  die  sich  in  tieferen  Becken  abgesetzt 
haben.  Ähnlich  tiefe  räumlich  begrenzte  Becken 
haben  auch  schon  im  Tertiär  bestanden  und  sind 
durch  die  damals  gebildeten  Sedimentmassen  aus- 
gefüllt worden.  Die  Basis  dieser  Ablagerungen 
liegt  heute  vielfach  in  größerer  Höhe;  Hebungen 
haben  in  der  Geschichte  des  malaiischen  Archipels 
zweifellos  eine  große  Rolle  gespielt. 

Das  Tertiär  Sumatras  ist  zu  einem  wesent- 
lichen Teil  gefaltet,  es  erfüllt  zum  großen  Teil 
die  Vorgebirgszonen  an  der  Malakkastraße.  Der 
Verlauf  der  Falten  folgt  überall  den  alten  Horsten, 
streicht  mit  ihnen  O — W  und  biegt  mit  ihnen  nach 
SO— S  um.  Man  erhält  so  den  Eindruck,  als  ob 
das  Tertiär  gegen  diese  I  lorste  als  Widerlager 
gepreßt  ist;  auch  in  den  Gräben  folgt  das  Streichen 
der  tertiären  Falten  dem  der  begrenzenden  Horst- 
schollen. So  haben  wir  es  mit  sekundärer 
Faltung  zu  tun.  Ganz  ähnliche  Ergebnisse 
bieten  sich  in  Java,  Celebes  und  im  Osten  dar. 
Die  sekundäre  Natur  der  Faltung  wird  überaus 
wahrscheinlich,  die  Faltung  ist  ein  untergeordnetes 
Moment,  ein  Teil  der  Zerrung  mit  ihren  Dislo- 
kationsphänomenen. 

Sehen  wir  von  der  prätertiären  Tektonik  ab, 
so  ist  für  die  jüngere  Zeit  das  geomorphologisrhe 
Bild  der  Inseln  durch  folgende  Faktoren  bestimmt: 
gewaltige  Sprünge  und  Spalten,  tiefe  Einbrüche 
und  Senkungen,  mit  aufgefüllten  Sedimentmassen 
von  lausenden  Metern  Mächtigkeit,  und  vulkanische 
Ereignisse  größten  Maßstabes. 

Sumatra  wird  beherrscht  durch  Sprünge,  welche 
in  den  Richtungen  NW— SO,  N-S  und  0-W 
verlaufen.  Daneben  treten  Kesselbrüche  auf  die 
gern  mit  Vulkanen  verbunden  sind.  In  Java 
spielen  O — W  -  Verwerfungen  eine  große  Rolle, 
daneben  wird  es  von  einem  Netz  von  Brüchen 
durchsetzt,  die  in  den  Richtungen  NW — SO  und 
NO — SW  sich  kreuzen.  Dieses  eigenartige  Sprung- 
netz, das  Java  durchsetzt,  wird  von  Volz  auf 
Torsionsspannungen  zurückgeführt,  die  bei 
der  ungleichen  Zerstückelung  der  Malaiischen 
Scholle  entstanden.  Elbert')  hat  dasselbe 
Sprungsystem  im  Osten  des  Archipels  nachge- 
wiesen. Von  dem  Bau  der  Philippinen  ist  uns 
wenig  bekannt.     Aber  auch  hier  werden  mehrere 


')  Die  Sunda-Expedition.     2  Bde.     Frankfurt   1911/12. 


Systeme  von  tektonischen  Linien  unterschieden, 
ein  äußeres  wesentlich  in  S — N-Richtung  verlaufen- 
des und  ein  inneres  SW — NO-Richtung  zeigendes 
System.  Die  Kenntnisse  vom  Aufbau  Borneos 
sind  noch  recht  lückenhaft. 

Im  Relief  des  Meeresbodens  heben  sich 
unverkennbare  Beziehungen  zur  Gestaltung  des 
Landes  heraus.  Die  Inseln  Sumatra  und  Java 
brechen  in  mehreren  Stufen  gegen  den  Ozean- 
boden ab.  Die  Sumatra  vorliegende  Inselreihe 
ist  durch  ein  auffallend  tiefes  Meer  von  der  Haupt- 
insel geschieden.  Seewärts  zeigt  sich  eine  Wieder- 
holung des  Vorganges,  die  Inselreihe  bricht  zum 
schmalen  Mentaweigraben  ab,  um  dann  zu  einer 
breiten  Schwelle  wieder  anzusteigen,  die  sich 
langsam  zum  Indischen  Ozean  senkt.  Im  Süden 
Javas  sind  die  Verhältnisse  gleichartig;  ebenso 
wurden  ähnliche  Beobachtungen  an  den  Philippinen 
im  Nordosten  gemacht.  Durch  die  Vermessungs- 
schiffe „Edi"  und  „Planet"  wurde  festgestellt,  daß 
die  Philippinen  an  der  Ostseite  von  einem  schmalen, 
dem  tiefsten  Graben  des  Ozeans  (9788  m),  be- 
gleitet sind;  jenseits  erhebt  sich  eine  Schwelle  zu 
4000  m,  dann  folgt  ein  ähnlicher  Graben  von 
7000  m  Tiefe,  dem  seewärts  wieder  eine  Schwelle 
vorgelagert  ist,  die  ihn  vom  Pazifischen  Ozean 
trennt. 

Wir  sehen  aus  den  geschilderten  Tiefenver- 
hältnissen, daß  das  Versinken  des  Südostendes 
der  Malaiischen  Scholle  gegenüber  dem  asiatischen 
Festlande  auch  den  Meeresboden  betrifft. 
Auch  der  Meeresboden  bei  Java  liegt  gegen  den 
beim  mittleren  und  nördlichen  Sumatra  um 
2 — 3000  m  tiefer.  Die  tiefsten  Grabenbrüche  be- 
grenzen im  NO  und  SW  beiderseitig  die  Rfalaiische 
Scholle  mit  gewaltigem  Abbruch.  Der  tiefste 
Einbruch  innerhalb  derselben ,  die  5000  m  tiefe 
Celebessee  liegt  auf  der  genauen  Verbindung  der 
tiefsten  Stellen  des  Sundagrabens  und  des  Phi- 
lippinengrabens in  der  Richtung  SW- — NO!  Die 
200  m  Linie  umschreibt  den  ganzen  Block  und 
zeigt  die  enge  Zugehörigkeit  des  westlichen  Teiles 
zum  asiatischen  Kontinent.  Ebenso  wird  im  SO 
durch  dieselbe  Linie  ein  großer  Teil  an  Australien 
gekittet.  Dieser  australische  Block  und  Hinter- 
Indien stellen  zwei  Widerlager  dar,  zwischen 
denen  sich  die  Zertrümmerung  der  Malaiischen 
Scholle  vollzieht.  Im  Nordwesten  treten  die  N — S- 
Linien  beherrschend  auf,  im  Süden  der  Celebessee 
beginnt  die  Herrschaft  der  O — W-Richtung  der 
Leitlinien.  Zwischen  den  Leitlinien  des  festen 
Landes,  die  als  Brüche  hervortreten,  und  den 
Gräben,  Rinnen  und  Schwellen  des  Meeresbodens 
besteht  absolute  Kongruenz.  Sie  ist  beweisend 
für  den  inneren  Zusammenhang. 

So  ergibt  sich  der  Bauplan  des  Malai- 
ischen Archipels.  Die  Malaiische  Scholle 
ist  eine  Landbrücke  zwischen  Hinterindien  und 
Australien  als  zwischen  zwei  Widerlagern,  an 
denen  sie  geheftet  ist.  Diese  Landbrücke  versinkt 
4000—5000  m  gegenüber  dem  asiatischen  Fest- 
lande.   Zu  dieser  Bewegung  tritt  noch  eine  zweite: 


N.  F.  XIII.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


123 


im  NO  versinkt  der  Pazifische  Ozean,  im  SW  der 
Indische.  Aber  dieses  Einsinken  geschieht  in 
anderer  Weise  als  das  Sinken  der  Landbrücke. 
Da  der  Ansatz  an  Asien  sehr  breit  ist,  wird  die 
Tiefe  des  Einbruches  erheblich  näher  an  Austra- 
lien verlegt.  Die  Malaiische  Scholle  sinkt  in 
gleicher  Weise  gegen  Australien  hin  wie  gegen 
die  angrenzenden  Meere;  so  erhält  sie  einen 
halbkuppelförmigen  Bau  mit  einer  zentralen  Höhen- 
achse, die  im  Anschluß  an  Asien  steht.  Daß 
dies  tatsächlich  der  Fall  ist,  zeigt  die  Betrachtung 


der  Uroberfläche.  Durch  den  Widerstreit  der 
Absenkungsrichtungen  kommt  eine  Torsion 
zustande;  die  Hauptzerrungsrichtungen  bilden  ein 
Torsionssprungnetz,  die  Hauptzertrümmerung  liegt 
im  australischen  Anteil.  Aber  ebenso  ist  der  Ein- 
fluß der  pazifischen  Zerrung  weit  größer  als  der 
der  indischen.  Durch  ein  Zusammentreffen  der 
verschiedenen  Bruchrichtuiigen  entstehen  jene 
tiefen  Meeresbecken,  wie  die  der  Bandasee  u.  a. 
Alle  diese  Bewegungen  werden  von  sekundärer 
Faltung  begleitet.  Dr.  Gottfried  Hornig. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Mesothorium.  —  Über  das  Mesothorium  ist  in 
letzter  Zeit  viel  gesprochen  und  wohl  noch  mehr 
geschrieben  worden.  Dies  ist  ein  Beweis,  daß 
ihm  von  allen  Seiten  ein  lebhaftes  Interesse  ent- 
gegengebracht wird.  Wir  dürfen  uns  darüber 
nicht  wundern,  soll  doch  das  Mesothorium  imstande 
sein,  die  Menschheit  von  Leiden  zu  befreien,  gegen 
die  alle  bisherigen  Mittel  —  abgesehen  vom  Radium 
—  versagten.  Welchem  von  diesen  beiden  Stoffen 
für  obige  Zwecke  der  Vorzug  gebührt,  ist  noch 
nicht  entschieden.  So  weit  die  Erfahrungen  bis 
jetzt  reichen,  sind  die  Wirkungen  bei  beiden  die 
gleichen.  Wenn  jetzt  überall  der  Anschaffung 
von  Mesothorium  das  Wort  geredet  wird,  so  sind 
hier  rein  praktische  Gründe  maßgebend.  Das 
Radium  ist  nicht  nur  enorm  teuer  (i  g  kostet 
etwa  V-2  Million  Mark),  sondern  auch  schwer  zu 
haben,  während  Mesothorium  leichter  und  billiger 
zu  beschaffen  ist.')  Immerhin  sind  die  Preise  auch 
für  diesen  Stoff  noch  so  hoch,  daß  es  einem  Ein- 
zelnen schwer  werden  dürfte,  sich  ein  Quantum 
zu  beschaffen,  wie  es  zu  Heilzwecken  erforderlich 
ist.  In  dankenswerter  Weise  haben  sich  deshalb 
einzelne  Gemeinden  entschlossen,  den  Kranken- 
häusern Mittel  zur  Anschaffung  von  Mesothorium 
zur  Verfügung  zu  stellen.  Und  wenn  die  Erfolge 
tatsächlich  so  sein  sollten,  wie  sie  gepriesen  werden, 
so  wäre  das  Kapital  gut  angelegt. 

Die  Wirkung  des  Mesothoriums  beruht  auf 
seiner  Eigenschaft,  Strahlen  auszusenden.  Solche 
strahlenaussendenden  Körper  gibt  es  mehrere, 
und  da  sie  zurzeit  immer  noch  im  Mittelpunkte 
des  allgemeinen  Interesses  stehen,  ist  es  vielleicht 
angebracht,  mit  ein  paar  Worten  darauf  einzugehen. 
Im  Jahre  1895  entdeckte  Professor  Röntgen  die 
sogenannten  x-Strahlen.  Diese  besaßen  die  merk- 
würdige Eigenschaft,  Körper  zu  durchdringen, 
durch  welche  die  Lichtstrahlen  nicht  hindurchzu- 
gehen vermochten.  Die  Gelehrten  waren  nun 
bemüht,  durch  eifriges  Suchen  und  Forschen  die 
Ursache  und  das  Wesen  dieser  Strahlen  zu  er- 
gründen.    Da  die  Röntgenstrahlen  von  der  fluores- 


')  Man  darf  dabei  aber  nicht  vergessen,  daß  die  Wirk- 
samkeit des  Radiums  von  fast  unbegrenzter  Dauer  ist,  wahrend 
das  Mesothorium  nach  und  nach  an  Wirksamkeit  verliert. 


zierenden  Glaswand  ausgingen,  auf  welcheKathoden- 
strahlen  fielen,  so  hielt  man  sie  zunächst  für  eine 
Äußerung  dieser  Fluoreszenz.  Es  wurden  nun 
die  verschiedensten  fluoreszierenden  Körper  darauf- 
hin untersucht,  und  es  gelang  Becquerel  festzu- 
stellen, daß  auch  das  Uran  die  Eigenschaft  besaß, 
Strahlen  auszusenden;  dieselbe  Eigenschaft  konnte 
Frau  Curie  bei  dem  Thorium  nachweisen.  Ihren 
rastlosen  Bemühungen  verdanken  wir  auch  ^ie 
Entdeckung  des  Radiums.  Das  Aktinium  beschließt 
die  Reihe  der  bis  jetzt  bekannten  „radioaktiven" 
Elemente.  Die  Strahlen  dieser  Stoffe  sind  aber 
nicht  von  einer  Art,  sondern  setzen  sich  aus  drei 
verschiedenen  Strahlenarten  zusammen,  aus  den 
«-,  ß-  und  /Strahlen.  Die  Teilchen  der  a-Strahlen 
sind  positiv  elektrisch,  die  der  /J-Strahlen  negativ 
elektrisch.  Die  y-Strahlen  gleichen  in  ihrem  ganzen 
Verhalten  den  Röntgenstrahlen,  sind  also  wahr- 
scheinlich Äthervvellen.  Die  Teilchen  der  Strahlen 
werden  mit  ungeheuren  Geschwindigkeiten  fort- 
geschleudert; die  geringste  Geschwindigkeit  be- 
sitzen die  «Strahlen,  die  größte  die  y-Strahlen. 
Von  diesen  Geschwindigkeiten,  die  zugleich  cha- 
rakteristisch für  jeden  Stoff  sind,  hängt  auch  ihr 
Durchdringungsvermögen  ab;  wir  sind  deshalb 
imstande,  durch  geeignete  Vorrichtungen  die  eine 
oder  die  andere  Strahlenart  auszuschalten. 

Mit  der  Entdeckung  der  Strahlen  war  aber 
noch  nicht  das  Geheimnis  von  der  Ursache 
dieser  Strahlung  gelöst.  Die  verschiedensten 
Theorien  wurden  zur  Erklärung  dieser  Er- 
scheinungen aufgestellt.  Darauf  näher  einzugehen, 
verbietet  mir  hier  der  Raum.  Heute  wissen  wir, 
daß  die  Strahlung  eine  Eigenschaft  der  Atoine 
des  betreffenden  Körpers  und  von  dem  molekularen 
Bau  desselben  ganz  unabhängig  ist.  Es  ist  also 
gleichgültig,  ob  wir  z.  B.  Radiumbromid  oder 
Radiumchlorid  haben;  auf  die  Intensität  der 
Strahlung  hat  dies  keinen  Einfluß,  sie  ist  in  beiden 
Fällen  die  gleiche,  wenn  nur  in  beiden  Körpern 
gleiche  Mengen  der  strahlenden  Substanz  vorhanden 
sind.  Die  Atome  selbst  sind  nun  aber  zusammen- 
gesetzt aus  einer  Menge  kleinster  Zentren  gleich 
vieler  positiver  und  negativer  Energie,  den  Elek- 
tronen. Die  Zeit,  in  welcher  sich  diese  in  ver- 
schiedener  Menge    zu  Atomen    gruppierten,    liegt 


124 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  8 


Jahrmillionen  zurück.  Und  es  läßt  sich  denken, 
daß  Elektronenverbindungen,  welche  in  einem 
früheren  Entwicklungsstadium  der  Erde  entstanden 
sind,  unter  den  veränderten  Druck-  und  Temperatur- 
verhältnissen nicht  mehr  existieren  können.  Die 
Atome  müssen  sich  spalten  und  ihre  Bestandteile 
als  Strahlen  aussenden.  Mit  dieser  Sirahlenaus- 
Sendung  ist  also  notwendigerweise  ein  Zerfall  der 
Atome  verbunden.  Denn  ein  Atom,  das  a-  und 
/^■Teilchen  abgibt,  ist  in  seiner  Existenz  bedroht 
und  muß  entweder  plötzlich  und  dauernd 
zerfallen  oder  die  zurückbleibenden 
Teilchen  müssen  sich  neu  gruppieren, 
müssen  sich  in  eine  neue  Gleichgewichtslage  be- 
geben. Diese  Umbildung  wird  solange  vor  sich 
gehen,  bis  sich  ."^tome  gebildet  haben,  die  unter 
den  jetzigen  Verhältnissen  existenzfähig,  also  be- 
ständig sind.  Die  erste  Annahme  widerspricht 
der  Erfahrung.  Es  bleibt  also  nur  die  zweite  An- 
nahme als  richtig  übrig.  Die  Ursache  der 
Strahlung  ist  also  der  Zerfall  der  Atome. 
Daraus  ergibt  sich  folgendes:  Wenn  die  Atome 
andere  geworden  sind,  so  müssen  auch  die  Körper, 
die  sich  aus  ihnen  aufbauen,  andere  sein  als  die 
Muttersubstanz.  Mit  dem  Zerfall  der  Körper  muß 
eine  Transformation  derselben  Hand  in  Hand 
gehen. 

Bei  dieser  Umformung  zerfallen  nun  aber  nicht 
sämtliche  Atome  auf  einmal,  sonst  würde  ja  die 
Strahlung  nur  einen  Moment  dauern  und  dann 
plötzlich  aufhören.  Es  zerfällt  vielmehr  in  jeder 
Zeiteinheit  nur  ein  bestimmter  Bruchteil  des  Körpers. 
Ist  dieser  Bruchteil  ein  großer,  so  wird  die  Strahlung 
sehr  lebhaft  sein,  der  Körper  aber  schnell  zer- 
fallen. Ist  dieser  Bruchteil  ein  kleiner,  so  wird 
die  Strahlung  zwar  geringer  ausfallen,  dafür  aber 
von  um  so  längerer  Dauer  sein.  Die  Geschwindig- 
keit dieses  Zerfalls  ist  charakteristisch  für  den  be- 
treffenden Körper.  Man  bestimmt  sie  durch  die 
Zeit,  in  welcher  die  Hälfte  einer  gegebenen  Menge 
zerfällt.  Diese  Halbwertszeit  beträgt  z.  B.  für  das 
Radium  1760  Jahre,  für  das  Mesothorium  5,5  Jahre. 
Würden  sich  beide  in  der  Natur  nicht  nachbilden, 
so  würden  wir  heute  wohl  vergebens  nach  ihnen 
suchen.  Die  Muttersubstanz  des  Radiums  ist  das 
Uran,  die  des  Mesothoriums  das  Thorium.  Ersteres 
besitzt  aber  eine  Halbwertszeit  von  5,3  Milliarden, 
letzteres  eine  solche  von  13,5  Milliarden  Jahren. 
Sie  sind  also  wahrscheinlich  älter  als  die  E>de 
nach  dem  Festwerden  ihrer  (Jberfläche  selbst. 
Geologisch  läßt  sich  daher  die  Herkunft  von  Uran 
und  Thorium  nicht  verfolgen. 

Das  Mesothorium  ist  also  ein  Umwandelungs- 
produkt  des  Thoriums;  sein  Vorkommen  in  der 
Natur  ist  an  das  des  Thoriums  gebunden.  Die 
Menge  desselben  wird  daher  auch  zunächst  ab- 
hängig sein  von  der  Menge  des  vorhandenen 
Thoriums.  Aber  auch  noch  ein  anderer  Umstand 
wird  bestimmend  darauf  einwirken,  das  ist  die 
Zerfallszeit  beider.  Da  das  Thorium  im  Verhältnis 
zum  Mesothorium  eine  außerordentlich  lange  Lebens- 
dauer besitzt,  so  kann  sich  letzteres  natürlich  nur 


in  dem  Maße  nachbilden,  als  ersteres  zerfällt.  Da 
das  Mesothorium  auch  zerfällt,  so  wird  seine  Menge 
nur  dann  konstant  sein,  wenn  die  absolute  Menge 
der  vom  ersten  Körper  in  der  Zeiteinheit  zer- 
fallenden Atome  gleich  der  vom  zweiten  Körper 
in  der  gleichen  Zeit  zerfallenden  Atomzahl  ist. 
Es  besteht  dann  zwischen  beiden  das  sogenannte 
radioaktive  Gleichgewicht.  Die  Gleichgewichts- 
mengen müssen  sich  wie  ihre  Halbwertszeiten  ver- 
halten. Auf  diese  Weise  ist  man  imstande,  schon 
von  vornherein,  ungefähr  wenigstens,  zu  berechnen, 
wievielMesothorium  eine  bestimmteMenge  Thorium 
liefert. 

Die  w'chtigsten  Thoriumerze  sind  der  Monacit- 
sand  in  Nord-  und  Südamerika  und  das  Thorianit 
auf  Ceylon.  Diese  Erze  werden  zuerst  mit  Sal- 
petersäure behandelt.  Nachdem  dann  das  Thorium 
gefällt  worden  ist,  werden  die  Rückstände  weiter 
behandelt;  denn  gerade  in  diesen  Rückständen, 
besonders  in  den  als  Sulfaten  abgetrennten  Ver- 
unreinigungen des  Thoriums  befindet  sich  das 
Mesothorium.  Diese  werden  dann  weiter  gereinigt 
und  in  Chloride  übergeführt.  .Aus  den  Chloriden 
wird  das  Mesothorium  (-Radium)  von  dem  Baryum 
durch  fraktionierte  Kristallisation  getrennt  und 
gleichzeitig  angereichert.  Das  ganze  Verfahren  ist 
umständlich  und  mühsam  und  das  Ergebnis  ziem- 
lich gering.  Im  günstigsten  Falle  erhält  man  aus 
I  Tonne  Thoriumrückständen  10  mg  eines  Meso- 
thorpräparates,  welches  gleichwertig  ist  0,33  g 
Radiumbromid.  Fast  alle  Thoriumerze  enthalten 
Uran  (Thorianit  etwa  12 "/(,).  Aus  dem  Uran  ent- 
steht aber  das  Radium.  Da  dies  in  seinem  che- 
mischen Verhalten  mit  dem  des  Mesothoriums 
vollkommen  übereinstimmt,  so  kann  es  von  diesem 
nicht  getrennt  werden,  auch  nicht  durch  die 
fraktionierte  Kristallisation.  Infolgedessen  enthalten 
alle  Mesothorpräparate  —  nicht  zu  ihrem  Schaden 
—  immer  Radium.  Dadurch  wird  nicht  nur  die 
Strahlung  der  Mesothorpräparate  vermehrt,  sondern 
sie  bleibt  auch  infolge  der  längeren  Lebensdauer 
des  Radiums  gleichmäßiger. 

Die  Entdeckung  des  Mesothoriums  verdanken 
wir  O.  Hahn.  Als  dieser  die  Rückstände  bei  der 
Thoriumverarbeitung  untersuchte,  fand  er  eine 
Substanz,  die  etwa  200  000  mal  stärker  radioaktiv 
war  als  eine  gleiche  Gewichtsmenge  des  reinen 
Thoriums;  er  nannte  sie  Radiothorium.  Diese 
Substanz  wurde  anfangs  für  ein  direktes  Um- 
wandelungsprodukt  des  Thoriums  gehalten;  seine 
Lebensdauer  wurde  auf  2  Jahre  berechnet.  Als 
dann  aber  Boltwood  und  Mc  Coy  unabhängig  von 
einander  käufliche  Thoriumsalze  hinsichtlich  ihrer 
Aktivität  verglichen,  fanden  sie  dieselbe  nicht 
immer  gleich,  oft  war  sie  kleiner  als  die  Hälfte  des 
normalen  Betrages.  Sie  teilten  ihre  Beobachtung 
O.  Hahn  mit.  Dieser  untersuchte  nun  die  Aktivität 
verschiedener  Präparate,  deren  Alter  ihm  bekannt 
war.  Auf  Grund  dieser  Untersuchung  konnte  er 
feststellen,  daß  die  Aktivität  frisch  hergestellter 
Thorpräparate  unmittelbar  nach  der  Abtrennung 
normal    war,    dann    aber   einen    Rückgang   zeigte. 


N.  F.  XIII.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


125 


um  wieder  allmählich  anzusteigen.  Hahn  schloß 
daraus,  daß  Radiothorium  sich  nicht  direkt  aus 
Thorium,  sondern  erst  aus  einer  Zwischensubstanz 
entwickeln  müsse.  Bevor  sich  diese  Zwischen- 
substanz nicht  gebildet  habe,  könne  sich  auch  kein 
Radiolhorium  bilden,  weshalb  die  Aktivität  zurück- 
gehen müsse  und  erst  nach  Bildung  derselben 
wieder  steigen  könne.  Er  nannte  diese  Zwischen- 
substanz Mesothorium.  Sie  erwies  sich  als  strahlen- 
los. Dies  kann  sie  aber  wohl  nicht  sein,  da  ja 
sonst  keine  Umwandelung  mit  ihr  vorgehen  könnte. 
Es  ist  also  wohl  anzunehmen,  daß  diese  Strahlung 
so  langsam  vor  sich  geht,  daß  sie  nicht  nachge- 
wiesen werden  konnte.  Wenige  Stunden  nach 
der  Herstellung  zeigte  aber  das  Mesothorium  eine 
Emission  von  ß-  und  y-Strahlen.  Diese  Strahlung 
konnte  also  nur  einem  neuen  Zwischenprodukt 
entstammen,  das  Hahn  Mesothorium  II  nannte. 
Es  fiel  aber  schon  nach  6,2  Stunden  ab.  Wegen 
der  kurzen  Lebensdauer  von  Mesothorium  II  kann 
man  Mesothorium  1  und  II  als  ein  Produkt  an- 
sehen, das  zur  Hälfte  in  5.5  Jahren  iransformiert 
wird  und  a-  und  ß  Strahlen  emittiert.  Aus  ihm 
bildet  sich  dann  das  Radiothorium  mit  seinen 
Produkten. 

Es  ergibt  sich  somit  folgende  Zerfallsreihe  des 
Thoriums: 

ö   ß 


strahlenlos 

/ 
Thorium  — >•  Mesothorium  I  — >■ 


t/Jj, 


aussetzung  liefert  z.  B.  die  chemische  Fabrik  von 
Dr.  O.  Knöfler  &  Co.  in  Plötzensee  bei  Berlin 
technische  Mesothorpräparate  (frisch  hergestellt) 
für  300  Mark  pro  Milligramm  Radiumaktivität 
(RaBrg -["  2  aq.)  internationaler  Standard. 

Bald  nach  der  Entdeckung  der  radioaktiven 
Substanzen  setzten  auch  die  Versuche  ein,  diese 
Stoffe  der  Heilkunde  dienstbar  zu  machen.  Es 
handelt  sich  dabei  entweder  um  eine  Allgemein- 
wirkung auf  den  menschlichen  Körper  oder  um 
eine  Lokalwirkung.  F"ür  erstere  Zwecke  kommt 
hauptsächlich  die  Emanation,  für  letztere  die  Strah- 
lung in  Anwendung.  Bei  der  Lokalbehandlung 
handelt  es  sich  wohl  hauptsächlich  um  die  Hei- 
lung der  Krebsgeschwülste.  Hierfür  stehen  nun 
den  Ärzten  in  den  Mesothorpräparaten  außer  der 
Strahlung  des  Radiums,  das  stets  darin  enthalten 
ist,  gleichzeitig  die  ß-  und  j'-Strahlen  von  Meso- 
thorium II  sowie  die  «-Strahlung  und  die  Emana- 
tion von  Radiothorium  zur  Verfügung.  Zur  An- 
wendung kommen  aber  fast  nur  die  j'-Strahlen, 
weil  dies  die  durchdringendsten  sind  und  sich 
besonders  für  die  Behandlung  tiefliegender  Ge- 
schwülste eignen.  Die  übrigen  Strahlen  werden 
durch  geeignete  Vorrichtungen  zurückgehalten. 
Stark  durchdringend  müssen  die  Strahlen  sein, 
da   sie   ja    das    kranke    Gewebe    zerstören    sollen. 


Lebens- 
dauer: 


13X10""  Jahr 


5,5  Jahr 


ß  y 

Mesothorium  II 
6,2  Stunden 


Radiothorium 
2  Jahr 


Wovon  ist  nun  der  Wert  eines  Mesothorprä- 
parates  abhängig?  Will  man  den  Wert  einer 
Sache  beurteilen,  so  muß  man  einen  Maßstab 
haben,  mit  dem  man  ihn  vergleichen  kann.  Das 
Wertvolle  an  den  Mesothorpräparaten  sind  nun 
aber  seine  Strahlen,  besonders  die  j' Strahlen, 
die  für  medizinische  Zwecke  hauptsächlich  in 
Betracht  kommen.  Es  wird  sich  also  der  Wert 
weniger  nach  dem  Gewicht  als  nach  der  In- 
tensität der  Strahlung  einer  bestimmten  Menge 
richten.  Zweckmäßig  würde  es  deshalb  sein, 
sich  einen  Mesothorstandard  anzuschaffen  und 
mit  ihm  die  Strahlung  zu  vergleichen.  Einen 
solchen  besitzen  wir  aber  zurzeit  noch  nicht ,  da 
wir  reines  Mesothorium  noch  gar  nicht  herstellen 
können.  Wohl  aber  besitzen  wir  einen  solchen 
für  das  Radium,  welchen  Frau  Curie  angefertigt 
hat  und  der  191 2  von  der  internationalen  Stan- 
dard ■  Kommission  anerkannt  worden  ist.  Mit 
diesem  werden  nun  auch  die  Mesothorpräparate 
verglichen,  indem  man  das  Gewicht  einer  Radium- 
menge bestimmt,  welche  dieselbe  Strahlung  her- 
vorbringt wie  das  zu  untersuchende  Mesothor- 
präparat.  5  mg  Mesothorium  bedeutet  also:  die 
Strahlenaktivität  des  zu  untersuchenden  Mesothor- 
präparates  plus  der  des  Radiums,  das  in  ihm  ent- 
halten ist,  ist  gleich  der  j'-Strahlenaktivität  von 
5  mg  reinem  Radiumbromid.     Unter  dieser  Vor- 


Nun  ist  damit  allerdings  die  Gefahr  verbunden, 
daß  auch  gesundes  Gewebe  vernichtet  wird.  Ge- 
schickte Arzte  werden  jedoch  auch  diese  Gefahr 
zu  beseitigen  wissen.  Außerdem  verfügt  das  ge- 
sunde Gewebe  über  Abwehr-  und  Regenerations- 
kräfte, das  kranke  nicht  und  geht  daher  zugrunde. 
Hoffen  wir  also,  daß  durch  die  Anwendung  der 
radioaktiven  Substanzen,  des  Radiums  und  Meso- 
thoriums, noch  da  Heilung  erzielt  wird,  wo  das 
Operationsmesser  des  Arztes  versagt. 

R.  Boesc. 

Die  Menhadenindustrie.  —  Auf  der  Versamm- 
lung der  American  Chemical  Society  zu  Milwaukee 
vom  24. — 28.  März  1913  hielt  J.  W.  Turrentine 
einen  sehr  interessanten  Vortrag  über  die  Men- 
hadenindustrie an  der  atlantischen  Küste  von 
Nordamerika.  Der  Menhadenfisch,  Alosa  Menhaden, 
ist  ein  zur  Familie  der  Heringe  gehöriger  Fisch, 
der  an  der  atlantischen  Küste  Nordamerikas  in 
ungeheuren  Mengen  vorkommt.  Die  Fische  ent- 
halten ca.   16  "/„  Fett. 

Mit  der  Verarbeitung  des  Fleisches  des  Men- 
hadens  auf  Fischguano  und  Mcnhadenöl  beschäf- 
tigen sich  an  der  atlantischen  Küste  gegenwärtig 
ungefähr  40  Fabriken ;  den  Mittelpunkt  der  In- 
dustrie bildet  die  Chesapeakebai.  Im  Jahre  1912 
wurden     insgesamt     28  242    t    angesäuerter    und 


126 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  8 


50  166  t  trockener  Fischguano  hergestellt.  Nach 
der  alten  noch  vielfach  üblichen  Methode  werden 
die  Fische  mit  etwas  Wasser  in  offenen  Kesseln 
durch  unter  dem  falschen  Boden  angebrachte 
Dampfschlangen  ungefähr  20  Minuten  gekocht, 
worauf  die  Masse  in  hydraulische  Pressen  gelangt, 
in  denen  das  Ol  und  Wasser  abgeschieden  wer- 
den. Der  Kuchen,  der  noch  ungefähr  50  "/q 
Wasser  und  6 — 9  %  Ol  enthält,  wird  mit  ein 
wenig  roher  Schwefelsäure  behandelt,  teils  um 
Zersetzung  zu  verhindern,  teils  um  die  Phosphor- 
säure der  Gräten  aufzuschließen  ;  gleichzeitig  wird 
dadurch  der  Verlust  an  Stickstoff  verhindert. 
Dieser  „angesäuerte"  oder  „rohe  Fischguano" 
kommt  als  solcher  auf  den  Markt  oder  wird  vor- 
her getrocknet.  Die  frühere  Methode,  ihn  durch 
Luft  und  Sonne  zu  trocknen,  wofür  mindestens 
3  Tage  erforderlich  sind  und  wobei  wahrschein- 
lich erheblicher  Ammoniakverlust  eintritt,  ist  zu- 
meist durch  heiße  Lufttrocknung  ersetzt  worden. 
Bei  dem  neuen  fortlaufenden  Verfahren  erfolgt 
das  Kochen  in  bis  zu  12  m  langen,  engen  Eisen- 
zylindern (0,6  m  Durchmesser),  durch  welche  die 
Fische  mittels  Förderschrauben  unter  Einleitung 
von  Dampf  geführt  werden.  Sie  vermögen  unge- 
fähr 100  000  Fische  in  der  Stunde  zu  kochen  und 
kosten  etwa  1200  Dollar.  Zum  Pressen  dienen 
neuerdings  kegelförmige  Schraubenpressen ,  die 
in  selbsttätiger  Weise  mit  der  gekochten  Masse 
beschickt  werden.  loo  Pfund  enthalten  22  Pfund 
Fisch  und  78  Pfund  Wasser;  in  der  Presse  werden 
56  Pfund  abgeschieden,  die  zurückbleibende  Masse 
besteht  je  zur  Hälfte  aus  Fisch  und  Wasser.  Eine 
Presse  von  5,4  m  Länge  vermag  80000  — 1 00 ooo 
Fische  in  der  Stunde  durchzusetzen  und  kostet, 
einschließlich  Montage,  5000  Dollar.  In  den 
neueren  Fabriken  wird  nur  noch  dieses  fortlaufende, 
selbsttätige  Verfahren  verwendet.  Die  neuen 
Trockenapparate  bestehen  in  isolierten  eisernen 
Drehzylindern  von  1,8  m  Durchmesser  und  9  bis 
12  m  Länge,  die  im  Innern  mit  Flanschen  ver- 
sehen sind.  Sie  sind  etwas  schräg  gestellt  und 
am  Ende  mit  einem  elektrisch  getriebenen  Venti- 
lator versehen,  der  die  Masse  durch  den  Zylinder 
saugt.  Das  obere  Ende  ruht  in  einer  gemauerten 
Kammer,  unter  der  sich  der  Feuerkasten  befindet. 
Die  Masse  braucht  3 — 20  Minuten,  um  durch  den 
Zylinder  hindurchzugehen,  wobei  der  Feuchtig- 
keitsgehalt auf  7  "Zu  herabgebracht  wird ,  jedoch 
ein  erheblicher  Teil  der  Fischmasse  infolge  der 
starken  Erhitzung  der  Heizgase  verloren  geht. 
I  Million  Fische  liefern  75  —  85  t  trockenen  Guano 
oder  für  i  t  sind  12  OOO — 15000  Fische  erforder- 
lich. Ein  Trockenapparat,  einschließlich  Montage, 
kostet  3000  Dollar.  In  einer  mit  den  neuen 
Apparaten  ausgerüsteten  P"abrik  bewegt  sich  der 
Fisch  von  seiner  Ausladung  aus  dem  Boot  bis 
zum  Sacken  des  getrockneten  Guanos  in  vollkom- 
men selbsttätiger  Weise  durch  die  Anlage,  die 
Zeit  beträgt  noch  nicht  l  Stunde.  In  manchen 
Fabriken  wird  der  Guano  noch  vermählen ,  in 
anderen  mit  Kali  und  Phosphat  gemischt.    Gegen- 


wärtig wird  die  getrocknete  Fischmasse  noch 
zumeist  als  Düngemittel  verwertet.  Auch  als 
Viehfutter  wird  die  Masse  noch  Anwendung  fin- 
den. Die  durch  die  Pressen  abgeschiedene  öl- 
und  wasserhaltige  Flüssigkeit  läßt  man  absitzen. 
Das  Ol  geht  an  die  Raffinerien,  der  Bodensatz 
teils  an  Seifenfabriken,  teils  wird  er  dem  Guano 
zugefügt.  Die  Ausbeute  an  Öl  richtet  sich  haupt- 
sächlich nach  der  Zeit  des  Fanges,  auch  nach 
der  ürtlichkeit.  Im  Herbst  liefern  1000  Fische 
durchschnittlich  12  Gallonen  (von  3,785  1),  häufig 
15  Gall.  Ol.  Im  rohen  Zustand  hat  es  eine  helle 
bernstein-  bis  dunkelbraune  Farbe,  je  nach  seiner 
Erzeugungsweise  und  vorläufigen  Reinigung.  Men- 
hadenöl  wird  unter  nachfolgenden  Marken  ge- 
handelt :  Prime  Crude,  Brownstrain,  Lightstrained 
(gebleichtes  Winteröl),  gebleichtes  weißes  Winter- 
öl; letztere  beiden  Marken  sind  durch  Filtration 
von  Stearin  getrennt.  Diese  Manipulation  geschieht 
bei  Winterkälte.  Der  durch  Abpressen  der  ge- 
kühlten Öle  gewonnene  Rückstand  kommt  unter 
dem  Namen  Fisch-Stearin  und  Fisch-Talg  in  den 
Handel.  Das  Menhadenöl  besteht  aus  Glyceriden, 
deren  chemische  Zusammensetzung  noch  nicht 
bekannt  ist. 

Das  Menhadenöl  dient  in  der  Lederindustrie 
zum  Geschmeidigmachen  des  Leders,  ferner  als 
Schmieröl,  zum  Anlassen  von  Stahl.  Auch  zu 
Bleichungszwecken  dient  das  raffinierte  Öl.  In 
der  Seifenfabrikation,  der  Jutespinnerei  und  in  der 
Farbenindustrie  werden  große  Mengen  des  Öls 
verbraucht.  Es  besitzt  eine  erhebliche  Trocken- 
kraft, die  größer  ist  als  die  des  Mais-  und  Baum- 
wollsamenöles. Auch  für  die  Fabrikation  von 
Druckerschwärze  wird  das  Öl  empfohlen.  Für 
Außenanstriche  werden  3  Teile  Menhadenöl  und 
I  Teil  Leinöl  empfohlen,  die  Mischung  ist  nicht 
hygroskopisch.  Die  Widerstandsfähigkeit  des 
Menhadenöls  gegen  Hitze  empfiehlt  es  besonders 
für  Anstriche  von  Kesselanlagen  und  Schorn- 
steinen. 1912  schwankte  der  Preis  zwischen  25 
und  28  Cts.  für  eine  Gallone.  R.  Ditmar. 

Über  Sarkosporidien  bei  den  Haustieren,  jene 
so  häufigen,  aber  biologisch  so  wenig  bekannten 
Parasiten,  berichtet  Prof.  M.  Bergmann')  auf 
Grund  jahrelanger  systematischer  Untersuchungen, 
die  auf  dem  Schlachthofe  zu  Malmö  mit  Hilfe  des 
dort  angestellten,  gut  geschulten  Trichinenschau- 
personals vorgenommen  wurden.  Die  Schlacht- 
tiere stammten  fast  ausschließlich  aus  den  um 
Malmö  liegenden  Gebieten  der  schonenschen  Nie- 
derung. Bei  erwachsenen  Rindern,  über  2^/2  Jahre 
alt,  wurden  bei  88  "j^  Sarkosporidien  gefunden. 
Ihr  vornehmster  Sitz  war,  wie  schon  früher  fest- 
gestellt ist,  der  Schlund.  Als  der  Verfasser  daran- 
ging, diesen  selbst  näher  auf  das  Vorkommen  der 
Sarkosporidien  zu  untersuchen,  konnte  er  feststellen, 
daß  die  Muskulatur  der  Speiseröhre  in  der  Nähe 
des   Pansens    die    vornehmste    Prädilek- 


')  Zeitschrift  für  Fleisch-  und  Milchhygiene,  Bd.  23,  S.  170. 


N.  F.  XIII.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


127 


tionsstelle  der  Sarkosporidien  beim 
Rinde  sei,  und  daß  sie  bei  allen  erwachsenen 
Rindern  hier  zu  finden  seien.  Man  fand  ferner 
Sarkosporidien  bei  76  "/o  der  Schafe,  bei  keinem 
Spanferkel,  dagegen  bei  96%  der  Schweine  im 
Alter  von  über  einem  Jahr  und  bei  allen  15  unter- 
suchten Renntieren.  Beim  Schweine  gibt  es  keine 
ausgeprägten  Prädilektionsstellen.  In  der  glatten 
Muskulatur  wurden  die  Parasiten  nie  festgestellt. 
Die  Annahme,  daß  sie  in  der  dem  Darmkanal 
benachbarten  roten  Muskulatur  am  häufigsten 
vorkommen,  ist  unzutreffend.  Die  Sarkosporidien 
werden  mit  dem  Pflanzenfutter  aufgenommen, 
dringen  durch  die  Wände  des  Digestionsapparates 
und  werden  mit  dem  Lymph-  und  Blutstrom 
nach  der  quergestreiften  Muskulatur  geführt.  In 
die  der  Speiseröhre  können  sie  direkt  eindringen. 

W.  ligner. 

Hat  der  Balkankrieg  uns  neue  Gesichtspunkte 
bezüglich  der  Behandlung  kriegschirurgischer  Ver- 
letzungen gebracht?  Über  diese  Frage  äußert 
sich  Generalarzt  Hertels.  Das  moderne  Spitz- 
geschoß  neigt  sehr  zum  Pendeln  und  zu  Drehun- 
gen, so  daß  selbst  leichte  Widerstände  genügen 
können ,  um  eventuell  völlige  Umdrehungen  des 
Geschosses  herbeizuführen.  Die  Schußkanäle  sind 
im  Gegensatz  zu  früheren  Kriegen  sehr  lang  (so 
ist  ein  Fall  berichtet,  wo  der  Einschuß  in  der 
Fußsohle,  der  Ausschuß  in  der  Hüftknochengegend 
saß).  Bezüglich  der  Wundbehandlung  sind  ver- 
änderte wesentliche  Gesichtspunkte  kaum  zu  ver- 
merken. Zwei  Momente  kämen  als  neu  in  Frage, 
das  ist  die  Behandlung  bestimmter  Verwundungen 
mit  Stauungshyperämie,  durch  die  die  Schmerzen 
beseitigt  würden,  sowie  die  Sonnenbehandlung. 
Ferner  entschließt  man  sich  jetzt  schneller  als 
früher  zu  Schädeloperationen,  weil  man  die  Er- 
fahrung gemacht  hat,  daß  Schädelwunden  leichter 
zu  Infektionen  neigen.  Endlich  käme  noch  hinzu, 
daß  in  künftigen  Kriegen  möglichst  große  Vor- 
räte von  sog.  Tetanusantitoxin  (ein  Mittel  gegen 
den  Wundstarrkrampf)  mitgenommen  werden 
müßten,  damit  man  es  prophylaktisch  bei  allen 
Verletzungen ,  die  durch  Erde  verunreinigt  sind, 
einspritzen  könnte,  um  den  Ausbruch  des  Wund- 
starrkrampfes zu  verhüten. 

Dr.  med.  Carl  Jacobs. 


Bücherbesprechungen. 

Imendörfer,  Prof  Dr.  Benno,  Lehrbuch  der  Erd- 
kunde für  Mädchenlyzeen  und  verwandte  Lehr- 
anstalten. 

I.  Teil,   I.  Klasse    mit    32  Figuren    im    Text. 

—  Preis   1,10  Kr. 

II.  Teil ,    2.  Klasse    mit   6  Figuren    im   Text. 

—  Preis   1,50  Kr. 

III.  Teil,    3.  Klasse    mit   4  Figuren  im  Text. 

—  Preis   1,40  Kr. 

Vierte,  dem  neuen  Lehrpiane  angepaßte  Auf- 
lage.    Wien,  Verlag  von  F.  Tempsky,    1913. 


Das  Buch  ist  für  österreichische  Schulen  be- 
stimmt. Teil  I  führt  die  Schülerinnen  in  ein- 
fachem, kindlichem  Gesprächstone  nach  heuristi- 
schem Lehrverfahren  in  die  Anfangsgründe  der 
mathematischen  Geographie,  in  das  Kartenlesen 
und  -Zeichnen  ein  und  bringt  von  der  Länder- 
kunde nur  das  Allernotwendigste.  In  Teil  II  wer- 
den die  Erdteile  Asien,  Afrika  und  Europa  sehr 
eingehend  erörtert;  Teil  III  behandelt,  im  An- 
schluß an  eine  umfassendere  Darstellung  Europas, 
Amerika  und  Australien  nach  gleichen  Grundsätzen. 
Die  Selbstbetätigung  der  Schülerinnen  wird  durch 
Frage  und  Aufgabenstellung  in  weitgehendster 
Weise  gefördert;  der  Bildschmuck  ist  dürftig;  wenn 
ich  auch  nicht  einer  üppigen  Ausstattung  des 
Lehrbuches  mit  Illustrationen  das  Wort  reden 
will,  so  halte  ich  es  doch  für  wünschenswert,  daß 
in  einem  modernen  Buche  die  Anschauung  durch 
eine  Auswahl  guter  Abbildungen  und  Skizzen 
unterstützt  wird.  Hirsch. 

Himmelbauer,  Dr.  Alfred,  Mineralogie  und  Petro- 
graphie    für    die    VII.  Klasse    der    Realschulen. 
Mit  224  Abbildungen,   150  Seiten.     Wien,  Ver- 
lag von  F.  Tempsky,   1913.  —  Preis   1,65  M. 
Himmelbauer   behandelt  eingehend    die    allge- 
mein  morphologischen  Verhältnisse  der  Kristalle, 
gibt    den  Schülern    einen  Einblick    in    die  Lehren 
von  der  Mineralphysik  und  -Chemie  und  gibt  eine 
ziemlich  vollständige  Übersicht  über  die  Systematik 
der  Minerale  und  der  Gesteine.     Die   sehr  reiche 
Illustrierung  durch  Skizzen  und  Bilder  in  Schwarz- 
druck ist  rühmend    hervorzuheben ;    die  Original- 
photographien    typischer    Landschaften    sind    be- 
sonders bemerkenswert  als  Buchschmuck. 
Ficker,    Dr.    Gustav,    Direktor,    Grundlinien    der 
Mineralogie  und  Geologie  für  die  fünfte  Klasse 
der    österreichischen    Gymnasien.      Historische 
Geologie   von   Dr.  Friedrich  Trauth.      Mit    192 
Abbildungen  und  einer  geologischen  Karte  von 
Österreich-Ungarn,   140  Seiten.    Zweite  Auflage. 
Wien,   1913,  Franz  Deuticke.  —  Preis  3  Kr. 
In  ähnlicher  Anordnung  wie    in    dem    vorigen 
Buche  werden  erst  die  allgemein  morphologischen 
wie   speziellen  Verhältnisse    der  Mineralien,    dann 
in    dem    systematischen  Überblick   die  Mineralien 
nach  ihrer  chemischen  Zusammensetzung  (Grund- 
stoff'e,  Sulfide,  Oxyde,  Haloid-Sauerstofi'salze  usw.) 
besprochen.      Im    geologischen    Teil    werden   die 
Geschichte  der  Erde  und  die  verschiedenen  Stadien 
des  Auf-  und  Abbaues  der  Erdrinde  erörtert.    Die 
historische  Geologie  von  Dr.  Fr.  Trauth  gibt  einen 
Überblick    über   die    Zeitalter    der    Erde    und    die 
Überreste    der   Flora    und    Fauna,    die    zum  Ver- 
ständnis   derselben    beitragen.      Eine    reiche   Illu- 
strierung unterstützt  die  Anschauung. 

W.  Hirsch,  Dr.  phil.,  Oberlehrer. 


Ludwig  Jost,  Vorlesungen  überPflanzen- 
physiologie.  Dritte  Auflage.  Mit  194  Ab- 
bildungen im  Text.  Verlag  von  (.justav  Fischer, 
Jena,  1913.  —  Preis  16  Mk. 


128 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  8 


Da  seit  1907  die  Literatur  über  Pflanzenphysio- 
logie enorm  angeschwollen  ist,  konnte  der  alte 
Umfang  des  bewährten  Buches  nicht  eingehalten 
werden.  Die  Ziele,  die  das  Werk  verfolgt,  haben 
sich  aber  mit  der  dritten  Auflage  nicht  geändert. 

Wer  dem  Buche  ferner  steht,  wird  sich  für 
seine  Disposition  interessieren.  Zunächst  wird  der 
Stoffwechsel  behandelt.  Man  erfährt  Ausführliches 
über  die  stoffliche  Zusammensetzung  der  Pflanze 
und  über  die  Stoftaufnahnie  im  allgemeinen,  also 
über  Diffusion,  Osmose  usw.  Sodann  wird  die 
Stoffaufnahme  im  einzelnen  besprochen,  sowie  die 
Verwendung  der  aufgenommenen  Stoffe. 

Der  zweite  Hauptteil  des  Buches  behandelt 
den  Formwechsel.  Hier  kommt  das  Wachstum 
und  die  Gestaltung  unter  konstanten  äußeren  Be- 
dingungen zur  Sprache.  Sodann  der  Einfluß  der 
Außenwelt  auf  Wachstum  und  Gestaltung,  die 
inneren  Ursachen  des  Wachstums  und  der  Ge- 
staltung und  die  Entwicklung  der  Pflanze  unter 
dem  Einfluß  von    inneren  und  äußeren  Ursachen. 

Im  letzten  Hauptabschnitt  kommt  die  Rede 
auf  den  Ortwechsel.  So  werden  behandelt  die 
hygroskopischen  Bewegungen,  die  Variations-  und 
Nutationsbewegungen  und  endlich  die  lokomo- 
torischen  Bewegungen. 

Das  Buch  wird  dem  Lernenden  durch  seine 
Übersichtlichkeit  und  Klarheit,  dem  Forscher 
durch  seine  Vollständigkeit  auch  fürderhin  von 
größtem  Nutzen  sein.  R.  P. 


Oscar  Drude,  Die  Ökologie  der  Pflanzen. 
Mit  80  eingedruckten  Abbildungen.  Druck  und 
Verlag  von  Friedr.  Vieweg  &  Sohn,  Braunschweig, 
1913.  —  Preis   10  Mk. 

Drude  betont,  daß  gegenüber  der  wirklich  auf 
botanisch-ökologischem  Gebiete  geleisteten  Arbeit 
die  in  dem  vorliegenden  Bande  gegebenen  Literatur- 
auszüge nur  beanspruchen  sollen,  als  Quellennach- 
weis zu  dienen  und  denjenigen  Forschern  gerecht 
zu  werden,  welche,  Eugen  Warming  an  ihrer  Spitze, 
den  heutigen  Standpunkt  der  Ökologie  so  viel- 
seitig ausgebaut  haben. 

Dennoch  ist  das  kleine  Werkchen  mehr  als 
eine  bloße  Zusammenstellung  der  wichtigeren  Tat- 
sachen. Spricht  doch  aus  diesen  Seiten  an  vielen 
Stellen  die  individuelle  Meinung  eines  erfahrenen 
Botanikers.  Und  so  werden  diejenigen,  die  selbst 
auf  diesem  Gebiete  arbeiten,  der  übersichtlichen 
Darstellung  viel  Anregung  verdanken. 

Das  Buch  enthält  folgende  Hauptabschnitte: 
Die  pliysiognomischen  Lebensformen  der  Pflanzen. 
—    Klimatische    Einflüsse,   Periodizität    und   Blatt- 


Charakter.  —    Die  physiographische  ()kologie.  — 
Ökologische  Epharmose  und  Phylogenie. 

R.  P. 

Hugo    Bauer,     Analytische    Chemie     des 
Methylalkohols  (Sammlung  chemischer  und 
chemisch-technischer    Vorträge,    herausgegeben 
von  W.  Herz,  Bd.  XX).     74  Seiten  mit  7  Text- 
abbildungen.    Stuttgart  191 3.    Ferdinand  Erike. 
Der    Methylalkohol    hat    besondere    Aufmerk- 
samkeit   dadurch    erregt,    daß    er  als  Ursache  der 
Berliner  Massenvergiftungen  vom  Dezember  191 1 
erkannt    worden    ist.     .Sein    Nachweis    und    seine 
quantitative  Bestimmung  in   Spirituosen  usw.    hat 
daher    nicht  nur  rein   wissenschaftliches  Interesse, 
sondern    ist   auch    von   großer  Bedeutung   für  die 
Genußmittelchemie    und    für    forensische    Unter- 
suchungen    geworden.      Die    vorliegende    Schrift 
gibt    eine   gute    Zusammenstellung    der    oft    recht 
umständlichen    und    zeitraubenden    Methoden,    die 
für    die    qualitative    und    quantitative  Analyse  des 
Holzgeistes  in  Betracht  kommen.  Bugge. 


Literatur. 

Capstick,  I.  W.,  Sound,  an  elementary  textbook  for  schools 
and  Colleges.  Cambridge  Physical  Series.  Cambridge  '13, 
University  Press. 

Zschimmer,  Eberhard.  Philosophie  der  Technik.  Vom 
Sinn  der  Technik  und  Kritik  des  Unsinns  über  die  Technik. 
Jena   '14,   E.   Diederichs.  —  Geb.   4  Mk. 

Die  Süßwasser  -  Flora  Deutschlands,  Österreichs  und  der 
Schweiz.  Herausgeg.  v.  Prof.  Dr.  A.  Pascher  (Prag).  Heft  14; 
Bryophyta  (Sphagnales,  Bryales,  Hepaticae).  Bearbeitet  von 
C.  Warnstorf,  W.  Mönkemeyer,  V.  Schiffner.  Mit  i;oo  Ab- 
bildungen im  Te.xt.     Jena  '14,   G.Fischer.  —  Geb.  6,20  Mk. 

Fuchs,  C.  W.  C,  Anleitung  zum  Bestimmen  der  Mineralien. 
6.  Aufl.,  neu  bearbeitet  von  Reinhardt  Brauns.  Mit  27  Ab- 
bildungen im  Text.      Gießen   '13,    A.  Töpelmann.    . —    Geb. 

5  Mk. 

Rabenhorst's  Kryptogaraen  Flora  usw.  6.  Bd. :  Die  Leber- 
moose (Musci  hepatici).  Mit  vielen  in  den  Text  gedruckten 
Abbildungen.  Bearbeitet  von  Dr.  Karl  Müller.  18.  Liefg. 
Leipzig  '13,  E.   Kummer.  —  2,40  Mk. 

Hann,  Dr.  Julius,  Lehrbuch  der  Meteorologie.  3.,  unter 
Mitwirkung  von  Prof.  Dr.  R.  Süring  umgearbeitete  Auflage. 
Lieferung  2  und  3.  Leipzig  '13.  Chr.  Herrn.  Tauchnitz.  — 
Je  3,60  Mk. 

Weinschenk,  Prof.  Dr.  Ernst,  Grundzüge  der  Gesteins- 
kunde. L  Teil.  Allgemeine  Gesteinskunde  als  Grundlage 
der    Geologie.      III.    verb.   Aufl.    mit     138  Textfiguren    und 

6  Tafeln.     Freiburg  i.  Br.  '13,  Herder'sche  Verlagshandlung. 
—  Geb.  7,30  Mk. 

Kolkwitz,  K. ,  Pflanzenphysiologie.  Versuche  und  Be- 
obachtungen an  höheren  und  niederen  Pflanzen  einschließ- 
lich Bakteriologie  und  Hydrobiologie  und  Planktonkunde. 
Mit  z.T.  farbigen  Tafeln  und  1 16  Abb.  im  Text.  Jena  '14, 
G.   Fischer.  —  Geb.   lo  Mk. 

Eckard  t,  Dr.  Wilh.  R.,  Praktischer  Vogelschutz.  Mit  zahlr. 
Abb.      Leipzig,  Theod.  Thomas.  —    1    Mk. 


Inhalt:  Julius  Robert  Mayer:  Eine  Tour  durch  den  Urwald  von  Sumatra.  — •  Einzelberichte:  Geyer:  Sekundäre 
Geschlechtscharaktere.  G.  Hertwig:  Einwirkung  des  Radiums  auf  Fortpflanzungszellen  von  Wirbeltieren.  R.  Kowarzik: 
Der  Schafochse.  Ost:  Zellulose,  Zucker,  Alkohol.  Beckmann:  Können  Jod  und  Selen  chemische  Verbindungen 
miteinander  bilden.  Ehler  und  Bender:  Über  neue  Verfahren  zur  Anreicherung  des  Radiums  aus  Gemischen  von 
Salzen   des   Bariums   und   des  Radiums.      Volz:   Der  Malaiische  Archipel,    sein  Bau  und  sein  Zusammenhang   mit  .Asien. 

—  Kleinere  Mitteilungen:  Boese:  Mesothorium.  J.  W.  Turrentinc:  Menhadenindustrie.  M.  Bergmann:  Über 
Sarkosporidien  bei  den  Haustieren.  Hertels:  Hat  der  Balkankrieg  uns  neue  Gesichtspunkte  bezüglich  der  Behandlung 
kriegschirurgischer  Verletzungen  gebracht?  —  Bücherbesprechungen:  Imendörfer:  Lehrbuch  der  Erdkunde  für 
Madchenlyzeen.  ■ — •  Himmelbauer:  Mineralogie  und  Petrographie.  —  Ficker:  Grundlinien  der  Mineralogie  und 
Geologie.     —     Ludwig  Jost:   Vorlesungen  über  Pflanzenphysiologie.  —   Oscar  Drude:   Die  Ökologie  der   Pflanzen. 

—  Hugo  Bauer:  Analytische  Chemie  des  Methylalkohols.  —  Literatur:   Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an   den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Mariensfraße   IIa,   erbeten. 

Verlag   von   Gustav   Fischer  in  Jena. 
Druck   der   G.  Pätz'schen   Buchdr.   Lippert   &   Co.   G.  m.  b.  H.,   Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.   Hand  ; 
der  ganzen    Reihe   29.  Hand. 


Sonntag,  den  i.  März  1914. 


Nummer  9. 


Das  älteste  Leben  Ostthüringens. 

Nach  einem  Vortrage  in  der  Gesellschaft  von  Freunden  der  Naturwissenschaften  in  Gera 

im  September   1913. 

Von  Rudolf  Hundt. 


[Nachdruck  verboten,] 

Ehe  wir  uns  mit  dem  in  den  Gesteinen  ein- 
gebetteten Inhalt  beschäftigen,  lialte  ich  es  für 
angebracht,  zu  dem  Begriff  Ostthüringen,  den  Hof- 
rat Liebe  in  den  Wortbestand  der  Geologie  wie 
auch  der  Geographie  eingeführt  hat,  einiges  zu 
bemerken.  Er  sagt  über  dieses  Gebiet  in  der 
Programmarbeit  „Die  Seebedeckungen  Ost- 
thüringens" von  1881:')  „Unter  Ostthüringen  ist 
in  dieser  Abhandlung  verstanden  der  Strich  Landes 
zwischen  der  bayerischen  Grenze  und  der  Breiten- 
linie von  Zeitz  (etwa  51  ")  einerseits  und  zwischen 
einer  Linie  Altenburg — Reichenbach— Ölsnitz  und 
einer  Linie  Dornburg — Kahla — Leutenberg  anderer- 
seits." Regel  nennt  die  von  Liebe  gemeinte 
Landschaft  „Vogtländisches  Bergland"  und  er- 
weitert die  östliche  und  westliche  Grenze  bis  zur 
Saale — Saalfeld  und  zur  Zwickauer  Mulde.  Diese 
von  Regel  abgegrenzte  Landschaft  mit  noch 
kleinen  östlichen  und  westlichen  Vorstößen  soll 
uns  ihre  fossilen,  ältesten  Reste  kennen  lernen 
lassen. 

Von  den  allerältesten  Schichten  sind  im 
Frankenwalde  Gneis-  und  Glimmerschiefer  noch 
nicht  angetroffen  worden.  Doch  ist  daran  nicht 
zu  zweifeln,  daß  diese  ältesten  Gesteine  nicht 
auch  irgendwo  in  Ostthüringen  durch  Tief- 
bohrungen erreicht  werden  könnten.  Das,  was 
man  bei  Hirschberg  an  der  Saale  als  „Gneis"  an- 
sah, entpuppte  sich  als  Granit,  der  bei  uns  viel 
jüngerer  Entstehung  ist  und  als  ,,Hirschberger 
Gneis"  kartiert  ist.  Die  ältesten  Schichten  müssen 
aber  in  der  Tiefe  ruhen,  man  kennt  sie  bei  uns 
nur  nicht,  weil  sie  nirgends  aufgeschlossen  sind. 
So  konnte  man  auch  im  Archaikum  Ostthüringens 
keine  Fossilfunde  machen,  die  auch  anderwärts 
sehr  spärlich  ausgefallen  sind.  In  dem  großen 
finnischen  Gebiet  gelang  es  Sederholm,  tang- 
ähnliche Corycium  enigmalicum  Sed.  von  Tammers- 
fors  zu  beschreiben.  So  bleiben  uns  nur  zwei 
Schichten  zu  betrachten  übrig,  in  denen  das  älteste 
Leben  Osithüringens,  soweit  es  in  Fossilien  auf- 
bewahrt ist,  ruht:  das  Kambrium  und  das 
Silur.  Anderwärts,  in  Nordamerika  und  in  Nor- 
wegen kennt  man  eine  noch  ältere  Schicht,  aus 
der  man  schon  für  die  damalige  Zeit  hochorgani- 
siertes, der  Begriff  ist  relativ  zu  nehmen,  Leben 
kennen  gelernt  hat.  Das  ist  das  sog.  Algonkium, 
das  auch  bei  uns  noch  nicht  nachgewiesen  ist. 

Unser  Kambrium  und  Silur  steht  nun  in  bezug 
auf  Fossilführung  den  gleichen  Schichten  Frank- 
reichs, Amerikas,  Schwedens,  Englands,  Portugals, 


Böhmens  nach.  Im  X'^ergleich  unserer  Faunen  mit 
denen  der  angeführten  Länder  muß  man  unsere 
Einschlüsse  spärlich  nennen.  Nur  sporadisch  sind 
unsere  Funde  gemacht  worden  und  richtige 
Faunenbilder  sind  nur  ganz  vereinzelt  aus  den 
Resten  zu  konstruieren.  Wer  im  ostthüringer 
Schiefergebirge  arbeitet,  der  ist  über  jeden  Fund 
erfreut,  der  noch  nicht  aus  dem  Gebiet  bekannt 
geworden  ist,  er  hofft  schon  gar  nicht  mehr, 
ganze  Faunen  aufdecken  zu  können.  Diese  Tat- 
sache hängt  eng  mit  einer  anderen  ursächlich  zu- 
sammen. 

Die  wenigen  Funde  aus  unserm  Ostthüringen 
sind  auch  dermaßen  schlecht  erhalten,  daß  ihre 
Bestimmung  Rätsel  aufgibt,  die  oft  schwierig  zu 
lösen  sind.  Die  Erhaltung  ist  schwedischem  Ma- 
terial oder  solchem  aus  den  Ostseeprovinzen  gegen- 
über mehr  als  mangelhaft.  Diese  beiden  Tatsachen 
sind  leicht  zu  erklären,  wenn  man  sich  vorstellt, 
daß  Ostthüringen  ein  Land  ist,  das  in  bezug  auf 
nachträgliche  Umwandlungen  von  schon  abge- 
lagerten Gesteinen  Mustergültiges  geleistet  hat, 
zur  P'reude  der  Tektoniker,  zum  Leid  der  Palä- 
ontologen. Kontaktmetamorphose  und  Dynamo- 
metamorphose haben  zusammen  die  Schichten 
unkenntlich  verwandelt.  Dazu  kam  die  auffaltende 
Tätigkeit  nach  der  Kulmzeit,  welche  die  Schichten 
riß,  zog,  zerbrach,  zusammenschob.  Daß  so  die 
Versteinerungen  nicht  in  dem  Maße  erhalten 
bleiben  konnten  wie  in  den  Gebieten  Schwedens, 
Rußlands,  wo  sie  in  Schichten  eingebettet  liegen, 
die  ungestört  aufeinander  lagern,  das  leuchtet 
leicht  ein.  Die  Lücken  in  unseren  Faunenlisten 
erklären  sich  auch  dadurch,  daß  man  sich  Tiere 
vorstellen  muß,  die  sehr  wenige,  manche  über- 
haupt keine  harten  Körperteile  besaßen,  die  den 
Druck  sich  neu  auflagernder  Gesteine  aushalten 
konnten. 

Unter  allen  diesen  Umständen  erscheint  es 
begreiflich,  daß  nur  wenige  Reste  vom  ehemaligen, 
ältesten  Leben  Ostthüringens  erzählen. 

Über  den  ältesten  fossilführenden  Horizont  ist 
ein  heftiger  Streit  entfacht.  Ein  Teil  der  Forscher 
möchte  unsere  ältesten  Sedimentschichten,  die 
Phycodes  circinatum  Richter  einschließen,  nicht 
als  Kambrium  anerkennen.  Philippi")  und 
Karl  Walther^)  stellen  es  zum  untersten  Silur. 
Begründend  führen  sie  an,  das  Phycodes  und  die 
von  Karl  VV^alther  bei  Gräfenthal  gefundenen 
Trilobiten  untersilurisch  sind.  Dagegen  stehen 
die     Ansichten     der     Preußischen     Geologischen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  9 


Landesanstah,  die  am  Kambrium  mit  Phycodes 
circinatum  R.  als  Leitfossil  festhält. 

Also  auch  die  Grenze  steht  bei  uns  noch 
nicht  fest,  an  der  das  erste  Leben  bei  uns  auftritt. 

Sicher  ist  aber,  daß  überall,  wo  kambrischer 
Quarzit  auftritt,  an  genügend  ausgewitterten  Stellen 
das  Leitfossil  dieser  Schicht  Phycodes  circinatum 
gefunden  wird.  Darum  erkennen  wir  unser  ältestes 
Lebewesen  im  Kambrium.  Was  dieses  vielum- 
strittene Phycodes  war,  das  entscheidet  wohl  am 
besten  der  Bau.  Aus  einem  Schaft  lösen  sich 
einzelne  Zweige,  die  nach  oben  zusammengehen, 
heraus,  bilden  einen  straußförmigen  Körper,  der 
als  Steinkern  einer  Alge  zu  deuten  ist.  Genügende 
Verwitterung,  am  besten  an  den  verschleppten 
Exemplaren  aus  dem  Collisser  Rotliegenden  zu 
sehen,  läßt  an  manchen  Steinkernen  die  vielum- 
strittene Ouerriefung  erkennen,  die  man  als  Zellen- 
struktur deutet,  das  beste  Zeugnis  für  die  pflanz- 
liche Abstammung.  Man  hat  dieses  Phycodes 
auf  alle  nur  denkbare  Art  und  Weise  erklärt. 
Bald  sollten  es  Rieselspuren,  bald  Kriechspuren 
von  Würmern,  bald  Wohnröhren  von  Würmern 
sein.  Der  größte  Teil  der  Geologen  aber  spricht 
sich  für  die  Tangnatur  von  Phycodes  aus.  Karl 
Walther  macht  uns  nun  aus  diesen  Schichten 
mit  Trilobiten,  den  Vorläufern  unserer  Krebse, 
bekannt.  FIr  beschrieb  •')  drei  Reste  vom  P'ört- 
schenbachtal,  südöstlich  Gräfenthal;  vom  Geheg 
bei  Förtschenbachtal  und  von  einer  Stelle  zwischen 
Unterwirbach  und  Aue  am  Berg.  Diesen  letzten 
Trilobitenrest  deutet  er  als  einen  Asaphusrest, 
die  Trilobitenart ,  die  für  das  Untersilur  leitend 
ist,  darum  auch  seine  Ansicht  vom  untersilurischen 
Alter  der  kambrischen  Schichten.  Schon  Richter 
fand  in  den  kambrischen  Schichten  Reste  eines 
Trilobiten,  dessen  1,75  Zoll  langes  Pygidium 
(Schwarzschild)  einem  ?  Asaphus  Tyrannus  Murch. 
anzugehören  schien.  Mit  sicheren  Phycoden  zu- 
sammen sammelte  er  einen  Rest,  der  zu  einem 
Paradoxides  gehörte.  Leider  sind,  wie  viele 
Rieht er'sche  Sachen  auch  diese  Belege  ver- 
schwunden. Im  reußischen  Oberland  fand 
Zimmermann'')  zwischen  Seibis  und  Kröten- 
mühle eine  Lingula  ähnliche  Muschel.  Bei  Küh- 
dorf im  Grund  und  Neugernsdorf  schließen  die 
kambrischen  Phycodenschichten  ..stäbchenförmige 
gebogene  Formen"  ein,  für  die  Zimmermann") 
den  Namen  Palaeophycus  tabularis  Gein.  anführt, 
also  auch  ein  Tang  wie  Phycodes. 

Damit  ist  schon  die  Faunenliste  unseres  ost- 
thüringer  ältesten  Lebens  geschlossen,  wie  es  die 
Schichten  des  Kambriums  treubewahrt  einschließen. 
Ein  P'aunenbild  läßt  sich  aus  diesen  wenigen,  an 
sehr  verstreuten  Fundorten  gesammelten  Ver- 
steinerungen nicht  entwerfen.  Auch  über  die  Be- 
schaffenheit des  Meeres  geben  die  Reste  keinen 
Aufschluß.  Und  wir  wissen  nicht,  ob  die  Tiere 
im  tiefen  Meere  oder  in  flacher  See  lebten. 

Mit  reichlicher  Formenfülle  macht  uns  das 
Silur  Ostthüringens  bekannt.  Ein  Vergleich 
unserer  Schichten  mit  denen  Schwedens  oder  der 


anderen  oben  angeführten  Länder  hinsichtlich  der 
Menge  und  Erhaltung  der  Fossilien  fällt  natürlich 
zu  Ungunsten  unserer  engeren  Heimat  aus. 

Das  Untersilur  Ostthüringens  hat  man  in  ein- 
zelne,   genau    voneinander    geschiedene   Horizonte 
eingeteilt,    die  man  von  unten    nach  oben  nennt: 
Oberer  Schiefer, 
Oberer  oder  Hauptquarzit, 
Oberer  Thuringithorizont, 
Unterer  Schiefer  (Griffelschiefer), 
Unterer    Quarzit    und   Unterer  Thuringit- 
horizont. 
In  jeder  von  den  angeführten  Schichten  haben 
sich  Fossilien  gefunden,  die  einigermaßen  ein  Bild 
vom    Leben    im    Meer    dieser    Zeit    geben,    denn 
alles,    was  wir  in  den  Schichten   antreffen,    zeugt, 
wie  auch  die  Natur  der  einschließenden  Gesteine 
von  Meeren,    die  zur  Silurzeit  unser  Ostthüringen 
bedecken.       Der    Wechsel    von    Quarzitschichten 
mit    Tonschieferschichten    läßt    schon    auf    einen 
Wechsel  in   der  Tiefe    des  Meeres   schließen,    das 
überhaupt   als  Tiefsee    nicht    zu    denken  ist,    weil 
die    Küste    immer    in    der   Nähe   war.      Vielleicht 
hat  man  sich   das  Untersilurmeer    recht    buchten- 
reich vorzustellen,    das  ermöglichte,    daß   sich  die 
verschiedensten  Schichten  ablagern  konnten.    Die 
Quarzitschichten  zeugen    vom   nahen  Strand,    von 
flacher,  oft  vom  Wasser  ganz  und  gar  verlassener 
Küste ;     die    Tonschieferschichten     erzählen     von 
tieferen  Meeren,  doch  nicht  von  Tiefsee. 

Aus  dem  Unteren  Tiiuringithorizont  war  schon 
lange  durch  G  ü  m  b  e  1 ')  eine  (^rthis  Lindstroemi 
bekannt  geworden ,  die  sich  im  Leuchtholz  bei 
Hirschberg  fand.  Nun  beschrieb  Heß  von  Wich- 
dorff  1911*)  eine  interessante  Fauna  ebenfalls 
aus  dem  untersilurischen  Chamosit-Eisenerzlager 
von  Schmiedefeld  bei  Wallendorf  Leider  fand  er 
nur  Bruchstücke,  aber  es  wurde  ihm  doch  mög- 
lich, folgende  Formen  zu  bestimmen :  Aeglina 
armata  Barr,  Aeglina  sp.,  Illaenus  afif.  perrovalis 
Murch,  Macrocheilus  äff.  cancellatus  Lindstr.,  alles 
Trilobiten,  Orthis  parva,  ( Jrthis  sp.  äff.  Budieighensis 
Davids,  ?  Echinosphaerites,  Crinoiden,  dazu  Gastro- 
poden. Aus  dem  gleichen  Horizont,  dem  Unteren 
Schiefer,  beschrieb  Zimmermann*)  von  einem 
Bahneinschnitt  bei  Reichenfels  mehrere  Reste,  die 
Disciniden  oder  Oboliden  gleichkommen. 

Also  an  der  Schwelle  des  Silurs  schon  ein 
bunteres  Leben  als  im  ganzen  ostthüringischen 
Kambrium.  Schnecken  krochen  mit  Urkrebsen 
zusammen  durch  Seelilienwälder,  zwischen  welchen 
Brachiopoden  ihre  Schalen  zum  Fangen  von  Nahrung 
aufsperrten. 

Zu  diesen  Tieren  gesellten  sich  im  Unteren 
Schiefer,  den  man  seiner  griffligen  Spaltbarkeit 
wegen  auch  Griffelschiefer  nennt,  zum  ersten  Male 
in  Ostthüringen  die  Graptolithen,  die  dann  im 
Mittelsilur  Ostthüringens  die  alleinige  Herrschaft 
führen  sollen.  In  Nordamerika,  Schweden,  England, 
Portugal  und  Frankreich  herrschen  sie  auch  im 
Untersilur,  wo  sie  sich  bei  uns  höchst  selten  finden. 
DerersteFund  wurde  iSSjdurch  einen  schwedischen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Forscher  Törnquist'"j  gemacht,  der  einen  sog. 
Tetragraptus  von  Gebersreuth  aus  dem  Unteren 
Schiefer  beschrieb.  Es  war  lange  Zeit  der  erste 
Fund  geblieben,  bis  man  auf  jene  gelben  Fäden 
im  Unteren  Schiefer  aufmerksam  wurde,  die  in 
regelloser  Anordnung  sich  zwischen  den  Schicht- 
flächen hinziehen.  Manchmal  sind  sie  schmal, 
manchmal  für  Graptolithenreste  unnatürlich  breit. 
Was  sonst  die  Graptolithen  charakterisiert,  die 
einzelnen  Zellen,  die  an  einer  gemeinsamen  Achse 
sitzen,  das  kann  man  an  diesen  Resten  nicht 
studieren.  Darum  nannte 'sie  Weise  zuerst 
Coenograptus  linearis  Carr.  Diesen  Namen  über- 
nahm Zimmermann  ^^)  auch  für  die  von  ihm 
früher  als  tangähnliche  Gebilde  angeführten,  damit 
zu  vergleichenden  Reste.  Aus  den  gleichen  Schichten 
von  Seibis  beschrieb  ich  1912'-)  einen  Gonio- 
graptus  mit  unbestimmbarer  Spezies.  Und  meine 
Untersuchungen  über  einen  mit  richtiger  Achse 
versehenen  Graptolithen  aus  dem  Unteren  Schiefer 
am  Sieglitzberg  bei  Lobenstein  sind  noch  nicht 
veröfi'entlicht.  So  treten  die  ersten  Reste  der 
später  so  mächtigen  Graptolithenfamilie  zunächst 
noch  zaghaft,  aber  doch  sicher  erwiesen  in  unser 
ostthüringisches  Faunenbild  ein.  Dazu  kommen 
die  ersten  untersilurischen  Trilobiten,  die  uns 
Loretz  1883^")  aus  dem  Grififelschiefer  bei 
Gräfenthal  mitteilt.  Die  ältesten  Aufzeichnungen 
über  die  Gräfenthaler  und  SpechtsbrunnerTrilobiten 
stammen  von  Richter  aus  dem  Jahre  1872'*). 
Er  führt  aus  dem  Griffelschiefer  an :  Calymene  sp., 
Asaphus  marginatus,  denen  fügt  Gümbel  1879 
noch  Ogygia  an.  Heute  kennen  wir  aus  den 
Fundstellen  :  Asaphus  marginatus,  lUaenus  Loretzii, 
Megalaspis  gladiator  und  den  Gastropoden  Conularia 
modesta.  Zimmermann'*)  fand  bei  Saalburg 
einen  größeren  Rest  eines  Trilobiten.  Mit  den 
Graptolithen  zusammen,  die  pseudoplanktisch  wie 
ihre  Verwandten  im  jüngeren  Mittelsilur  lebten, 
bevölkerten  sie  das  Griffelschiefermeer,  in  dem  bei 
Plauen'")  noch  eine  Orthisart  ihr  Leben  fristete. 
Als  der  Meeresboden  flacher  wurde,  sich  grob- 
körnigere Massen  zu  Quarziten,  zum  Oberen  oder 
Hauptquarzit  zusammenschichteten,  wechselte  die 
Fauna.  Das  flache  Wasser  belebten  Würmer,  die 
sich  in  dem  noch  nassen,  eben  vom  Wasser  ganz 
verlassenen  Schlamm  schützend  eingruben,  deren 
Bohrröhren  man  als  Scolithes  beschrieb  (Saalfeld). 
Ein  Bild  in  das  Leben  am  Strand  dieser  Zeit  läßt 
sich  nach  den  Funden  an  den  Hüttchenbergen 
bei  Wünschendorf  zeichnen  '^).  Wie  auf  Blatt 
Lehesten  ")  der  geologischen  Karle  und  bei  der 
Eybaer  Schule  ^'*)  unweit  Saalfeld  Wohnröhren 
im  Ouarzit  gefunden  wurden,  die  von  einem  Wurm 
Arenicolites  didyma  Salt,  gegraben  sind,  so  be- 
decken sich  auch  in  den  Hüttchenbergbrüchen 
die  Quarzitschichtflächen  mit  Querschnitten  des- 
selben Wurmes,  der  hier,  wie  an  allen  Stellen, 
sich  vor  dem  Verschwinden  des  an  und  für  sich 
flachen  Wassers  in  seine  Wohnröhren  zurückzog. 
Andere  Würmer  schlängelten  sich  auf  dem  nassen 
Sande  hin,  hinterließen  Ireubewahrt  ihren  schlangen- 


gleichen Weg.  Das  flache  Wasser  war  dazu  ordent- 
lich geschaffen,  ganze  Flächen  von  Wellenfurchen  so 
einzudrücken,  daß  sie  erhalten  blieben.  In  dem 
Schiefer  dieses  Bruches,  der  den  Quarziibänken 
eingelagert  ist  und  von  tieferem  Wasserstande 
zeugt,  treten  die  rätselhaften,  in  ihrer  Stellung 
zum  Tier-  oder  Pflanzenreich  noch  nicht  sicher 
entschiedenen  Palaeodyctium  Eiseleanum  Hundt 
und  Dictyodora  Zimmermanni  Hundt  auf.  Das 
erstgenannte  Tier  stellt  man  zu  den  Würmern, 
während  über  die  Natur  des  letzteren  großer  Streit 
entfacht  ist.  Rauff  und  Fraas'®)  wollen  die 
Dictyodora  als  Diuckerscheinung  aufgefaßt  wissen, 
wie  und  unter  welchen  Umständen  sich  diese 
Gebilde,  der  tütenförmige  Körper  mit  seinem  offenen 
Teile  nach  unten  und  der  Spitze  nach  oben  bildeten, 
das  erklären  sie  nicht.  Seitdem  es  mir  gelungen 
ist  -"),  ihre  Stammesgeschichte  vom  Untersilur 
Ostthüringens  und  Portugals,  über  das  Mittelsilur 
des  Kellerwaldes,  Unterdevon  Portugals,  Oberdevon 
Schlesiens  bis  zum  Kulm  Ostthüringens  festzu- 
stellen, wird  wohl  ihre  organische  Natur  vollständig 
sicher  gestellt  sein. 

Den  letzten  Teil  des  Untersilurs  beherrschen 
tiefere  Meere,  die  eine  ganz  besonders  charakte- 
ristische Fauna  in  ihre  Ablagerungen  einschlössen 
Und  zwar  waren  es  Einschlüsse  aus  härterem 
Quarzitgestein,  die  überall  dem  Oberen  Schiefer 
regellos  eingebettet  sind  und  die  eine  eigenartige 
Fauna  bergen.  Die  Tiere  scheinen  im  Gebiet 
von  ganz  Ostthüringen  gelebt  zu  haben,  denn  das 
häufigste  Tier  Echinosphaeritium  aurantium  findet 
sich  überall  über  das  Gebiet  verstreut.  Es  ist  von 
Hoheneiche,  Kleingeschwenda,  Piesau ,  Beulwitz, 
Lehestener  Schloßgraben ,  Gißratal  bei  Saalfeld 
bekannt  geworden.  Das  Tier  war  ein  Vorläufer 
der  Seeigel  und  bildet  oft  ganz  allein  eine  solche 
oben  erwähnte  Knolle  für  sich.  Das  ist  aber 
keineswegs  der  einzige  Bewohner  des  Hauptschiefer- 
meeres. Richter  macht  uns  aus  diesen  Schichten 
mit  Beyrichia  excavata  Rieht.,  einem  Krebs,  Orthi- 
sima,  Lingula,  Discina  rediviva  Rieht.,  Obolus 
minor  Barr,  bekannt.  Mit  Echinosphaeritium  au- 
rantium fand  Loretz-')  Trochiten,  Anthozoen, 
?  Bryozoen,  Korallen  aus  den  Familien  Favosites, 
Chaetetes,  Monticularia  zusammen  mit  Orthis  äff. 
Lindströmi  und  den  Stacheln  des  Krebses  Ceratio- 
caris. 

Wenn  wir  das  Leben  im  Untersilur  überblicken, 
so  erscheint  es  uns  dem  Kambrium  gegenüber 
mehr  entwickelt.  Große  Trilobiten,  Schnecken, 
Orthisarten,  Cystideen,  Korallen,  Seelilien,  Krebse 
und  die  ersten  Graptolithen  bevölkerten  das  Meer. 
Am  Strande  lebten  Würmer,  Palaeodjctium  Eise- 
leanum, Dictyodora  Zimmermanni. 

Diese  Tiere  verschwanden  zum  allergrößten 
Teil,  als  das  Meer  im  Mittelsilur  seinen  Einzug 
hält.  Sofort  treten  die  Graptolithen,  jene  eigen- 
artigen Tiere  auf,  deren  Ähnlichkeit  mit  der 
rezenten  Rhabdopleura  Normanni  Allmann  zur 
Einschaltung    in    die    Klasse    der    Echinodermata 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  9 


verführt,  obschon  man  sie  gern  als  Hydroitpolypen 
angesehen  wissen  möchte. 

Die  Graptolithen  beherrsclien  nun  die  mittel- 
silurisclien  Kieselschiefer  und  Alaunschiefer  voll 
und  ganz.  Die  anderen,  beiläufig  erwähnten  Reste 
treten  ganz  zurück,  d.  h.  sie  fehlen  nur  bei  uns 
in  Ostthüringen.  Die  Stammesgeschichte  der 
Graptolithen  ist  durch  das  ganze  Mittelsilur  hin- 
durch zu  verfolgen,  deshalb  war  eine  Zonenein- 
teilung, wie  sie  England  und  Schweden  als  erste 
kannten,  auch  für  Ostthüringen  möglich.  Sie  war 
d.is  Lebenswerk  Ro  bert  Eiseis -^).  Es  sei  hier 
gleich  vorangestellt  bemerkt,  daß  er  die  Zonen 
lo — 19  in  unseren  Ostthüringen  für  das  Mittelsilur 
und  Zone  20  für  das  Obersilur  nachweisen  konnte, 
davon  kann  Zone  16 — 19  kalkig  als  Knotenkalk 
ausgebildet  sein. 

Die  Zone  10  macht  uns  schon  mit  einer 
reichen  Formenfülle  bekannt ,  obgleich  nur  ein 
mangelhafter  Aufschluß  bei  Raitzhain  unweit 
Ronneburg  diese  Zone,  die  als  Naturdenkmal  er- 
klärt wurde,  "^)  einschließt.  Es  finden  sich  in  dem 
vom  Herzog  von  Sachsen-Altenburg  geschützten 
Bruche:  Diplograpten,  Climacograpten,  Monograp- 
ten,  Cyrtograpten,  Dimorphograpten,  Demirastriien, 
davon  sind  die  Diplograpten,  Climacograpten  zwei- 
reihig, die  anderen  einreihig,  d.  h.  an  den  Achsen 
sitzen  entweder  nur  an  einer  oder  an  beiden  Seiten 
Zellen  oder  Theken.  Die  C)Ttograptcn  verzweigen 
sich  und  bei  den  Dimorphograpten  ist  die  Ver- 
teilung so,  daß  an  dem  einen  (distalen)  Ende  an 
einer  Seite  einige  Zellen,  am  anderen  (proximalen) 
Ende  an  beiden  Seiten  Theken  stehen.  Von 
den  Cyrtograpten ,  den  seltensten  Formen,  konn- 
ten bis  jetzt  Cyrtograptus  multiramis  Törnq., 
Cyrtograptus  radians  Törnqu.  und  Cyrtograptus 
Törnquisti  Hundt  nachgewiesen  werden.  Die 
Formenfülle  ist  erstaunlich  groß,  Spezies-  und 
Individuenzahl  unglaublich  hoch.  Manchmal  be- 
decken die  Tiere  zu  Tausenden  die  Schichten 
kreuz  und  quer.  Daneben  bemerkt  man  keinen 
Rest  eines  anderen  Lebewesens.  Neben  der  F'ülle 
der  vorhandenen  Graptolithen  fällt  nur  noch  die 
schwarze  Farbe  aller,  diese  Tiere  einschließenden 
Schiefer  auf.  Alle  Schiefer  des  Mittel-  und  Ober- 
silurs, aber  besonders  die  feinkörnigen  Alaun- 
schiefer, die  im  unteren  Teile  des  Mittclsilurs  nur 
zeitweise  eingeschaltet,  im  oberen  Teile  vorherr- 
schen, bis  sie  schließlich  im  Obersilur  die  Herr- 
schaft haben,  sind  schwarz  gefäibt.  Die  schwarze 
Farbe  der  einschließenden  Gesteine,  der  eigen- 
artige Bau  gewisser  Graptolithen,  besonders  der 
Monograpten ,  Rastriten ,  Demirastriten  hat  nun 
Lapworth  in  England  benutzt,  uns  die  Lebens- 
weise der  Grajjtolithen  anschaulich  zu  machen. 
Er  kann  sich  nicht  denken,  daß  die  Graptolithen 
als  fossiles  oder  vagiles  Benthos  oder  als  Plankton 
im  Silurmecr  lebten.  Er  denkt  sich  das  Silur- 
meer mit  Wäldern  von  Tangen  erfüllt,  ähnlich 
der  Sargossasee.  In  diesem  Silursargossameer 
sollen  sich  die  Graptolithen  wohl  gefühlt  haben. 
Jede   Kolonie   war   an    einen  Tang   befestigt  und 


trieb  an  und  mit  diesem  im  Meer  herum.  Nur 
im  Jugendzustande  können  sie  demnach  plank- 
tonisch gelebt  haben,  hefteten  sich  aber  dann  in 
einem  gewissen  Altersstadium  fest.  Von  dem 
Silursargassum  ist  nichts  erhalten  geblieben.  Nur 
die  schwarze  Farbe  zeugt  von  der  ehemaligen 
Anwesenheit  von  Tangen.  So  lebten  die  ein- 
reihigen Formen.  Glückliche  Funde  in  Nord- 
amerika von  Ruedemann-^)  und  in  Westergöt- 
land  von  Horn^*)  geben  uns  Aufschluß,  wie  die 
zv^reireihigen  Formen  gelebt  haben.  Ruedemann 
beobachtete  ganze  Kolonien  von  Diplograptus 
pristis  Hall,  deren  einzelne  Achsen  zu  einem  zen- 
tralen Packen  verschnürt  waren.  Das  ganze  wurde 
von  einer  Luftblase  gehalten  und  dadurch  schwimm- 
fähig gemacht.  Zwischen  den  ausgewachsenen 
Stöcken  lagerten  um  eine  viereckige  Platte  die 
Eiträger  oder  Goangien,  aus  denen  in  Zeiten  der 
Reife  die  Keimzellen  oder  siculae  ausgestoßen 
wurden.  Diese  schwammen  so  lange  im  Meere 
frei  umher,  bis  ihnen  eine  Verlängerung,  das 
Nema,  gewachsen  war.  Daran  setzten  sie  nun  an 
eine  oder  an  beide  Seiten  neusprossende  Theken 
an.  Ein  neuer  Stock  entsteht,  der  sich  zu  einer 
Kolonie  ausbildet.  So  lebten  die  Diplograpten 
nicht  allein,  sondern  auch  von  Climacograpten 
hat  es  Hörn  191 1  beobachtet.  Einzelne  Diplo- 
grapten und  Climacograpten  haben  an  der  ver- 
längerten Achse  blasenartige  Verbreiterungen,  die 
als  Schwimmorgane  für  den  ganzen  Stock  anzu- 
sehen sind.  So  müssen  wir  uns  die  Graptolithen 
schwimmend  zwischen  den  Tangwäldern  denken. 
Einzelne  Formen,  wie  Monograptus  Halli,  Mono- 
graptus  Sedgwicki,  Monograptus  turriculatus, 
Monograptus  testis  haben  an  den  einzelnen  Zellen 
feine  Haare,  die  bei  der  Nahrungsaufnahme  der 
Tiere  sicher  eine  Rolle  gespielt  haben.  Im  Ver- 
laufe des  Mittelsilurs  entwickelten  sich  die  einzelnen 
Graptolithengattungen,  einzelne  verschwanden  ganz, 
bis  zuletzt  nur  noch  im  Obersilur  die  Monograpten 
vorhanden  sind.  In  den  unteren  Zonen  (10 — 13) 
herrschen  Diplograpten  und  Climacograpten  vor, 
die  Monograpten  treten  zurück.  In  den  Zonen 
10 — 13  entwickeln  sich  aus  den  Cyrtograpten  die 
Demirastriten,  die  teilweise  die  Zellenanordnung 
der  Monograpten  und  der  Rastriten  aufweisen,  die 
in  Zone  14  zu  echten  Rastriten  geworden  sind. 
Cyrtograpten,  Monograpten  und  Retioliten  halten 
im  Mittelsilur  bis  zuletzt  aus,  bis  im  Obersilur 
in  Zone  20  nur  noch  Monograpten  zu  Hause 
sind.  In  die  Lebensgemeinschaft  der  Grapto- 
lithen treten  in  einzelnen  Zonen  noch  andere 
Tiere,  die  aber,  wie  ich  schon  bemerkte,  vor  den 
Graptolithen  zurücktreten,  ein.  Rothpletz-^) 
fand  in  den  Kirselschiefern  von  Langenstriegis 
und  nach  ihm  wurde  auch  unser  Kieselschiefer 
erfolgreich  daraufhin  untersucht,  die  Radiolarie 
Spongosphaerites  tritestacea  Rothpl.,  die  mit  ihrem 
kieseligen  Skelett  nicht  unerheblich  am  Aufbau 
des  Kieselschiefers  beteiligt  sein  soll.  Von  den 
Diadomeen  lebten  im  Kieselschiefer  Navicula. 
Rätselhafte    Stellung    zwischen    Tier    und    Pflanze 


N.  F.  Xm.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


133 


nimmt  Sphaerosomatites  ein.  In  Zone  13  ist  an 
zwei  Stellen  t^rthis  callactis  und  Orthoceras  tenue 
Wahl,  bei  Mennsdorf  und  Heinrichsruh  unweit 
von  Schlei/,  nachgewiesen  worden.  Das  ist  die 
Fauna  des  Kieselschiefers,  der  für  die  Erhaltung 
organischer  Reste  nicht  geeignet  ist.  Etwas  reich- 
haltiger ist  die  Fauna  des  Alaunschiefers  und  der 
eingelagerten  Phosphoritknollen,  die  beide  für  die 
Erhaltung  der  tierischen  Reste  ein  ideales  Ein- 
bettungsmittel sind.  Man  nimmt  an,  daß  der 
Alaunschiefer  an  ruhigen,  wenig  tiefen  Stellen 
des  Silurmeeres  abgelagert  wurde,  darum  konnten 
sich  dort  auch  die  feinen  und  feinsten  Körn- 
chen niederschlagen.  In  erster  Linie  sind  wieder 
die  Graptolithen  vertreten.  Dazu  kommen 
noch  reichlich  Stielgliederreste  von  Cyathocrinus 
longimanus,  denen  aber  die  seltenen  Kronen 
fehlen  (Klosterhammer,  Plauen,  Gräfenthal,  Neu- 
hammer bei  Lobenstein).  Wie  im  Untersilur, 
so  findet  sich  auch  hier  der  Ceratiocaris  inae- 
qualis  Barr,  wieder  bei  Klosterhammer,  Bären- 
mühle bei  Wurzbach,  in  den  Phosphoritknollen 
bei  Plauen.  .Als  Seltenheit  schlössen  die  Alaun- 
schieferschichten von  Klosterhammer  einen  leider 
schlecht  erhaltenen  Gastropoden '')  ein.  Dem 
Ockerkalk  sind  Orthoceras  bohemicum,  Cardiola 
interrupta, -**)  neben  Stielgliedern  von  Seelilien 
eingelagert,  leider  aber  auch  sehr  selten  (Garns- 
dorf, Gräfenthal).  Aus  dem  unteren  Wetteratale 
macht  uns  E.  Z  i  m  m  e  r  m  a  n  n  ■^'')  mit  Posidonomya 
glabra  Münster  bekannt,  die  von  mir  jetzt  auch 
im  Pößnigstal  bei  Saalburg  gefunden  wurden. 

(Nachtrag:  Im  Herbste  191 3  fand  Verfasser 
noch  einige  bis  jetzt  aus  Ostthüringen  unbekannte 
Fossilien.  Am  Klosterhammer  bei  Saalburg 
schlössen  die  obersilurischen  Alaunschiefer  eine 
Cystidee:  Orthocystites,  eine  Dendroidee:  Dyctio- 
nema  ein.) 

Im  Obersilur  wich  das  Meer  immer  weiter 
aus,  verließ  unsere  Gegend,  die  während  des 
Unterdevons  Festland  blieb.  Darum  wurden  die 
obersilurischen  Schichten  so  zerstört  und  damit 
viele  eingelagerte  Fossilien. 

Literatur: 

1)  Die  Seebedeckungen  Ostthüringens.  Ref.  Dr.  K.  Th. 
Liebe.     Gera   1881. 

2)  Vorlesungen  von  Dr.  phil.  E.  Philippi  f.  Jena 
1912.     p.   12. 


3)  Beiträge  zur  Geologie  und  l'aläontülogie  des  älteren 
Paläozoikums  in  Ostthüriogen.  Dr.  Karl  Walther.  Stutt- 
gart  1907. 

4I   Erläuterungen  zu  Blatt  Lobenstein.    E.Zimmermann. 

c,)  Erläuterungen    zu    Blatt    Weida.      E.    Zimmermann. 

6)  Geognostische  Beschreibung  des  Kichtelgebirges.  Güm- 
bel.     Gotha   1879. 

7)  Über  die  Auffindung  von  Fossilien  im  untersilurischen 
Chamosit- Eisenerzlager  von  Schmiedefcld  bei  Wallendorf  im 
Thüringer  Walde.  Heß  von  Wichdorf  f.  Monatsbericht, 
d.   D.  geol.  Gesellschaft.     Bd.  63.      191 1.     p.   155. 

S)  Erläuterung  zu  Blatt  Weida.     E.  Zimmermann. 

9)  G.  V.  Törnquist,  Geol.  Foren  in  Stockholm.  Förh. 
1887.     Bd.  9.     Heft  7. 

10)  Erläuterung  zu  Blatt  Lobenstein  und  zu  Lehesten. 
E.  Zimmermann. 

11)  I.  Nachtrag  zur  Graptolithenfauna  usw.  igi2.  Ru- 
dolf Hundt.     Jahresbericht  der  Gesellsch.  v.  Fr.  d.  Naturw. 

I2'|  Über  Echinosphaerites  und  einige  andere  organische 
Reste  aus  dem  Untersilur  Thüringens.  H.  Loretz.  Jahrb. 
d.  pr.  geol.  Landesanstalt.      1883. 

13)  Untersilurische  Petrefakten  aus  Thüringen.  Richter. 
1877.     Z.  d.  D.  g.  G.     p.   72. 

14)  Bericht  üb.  bes.  Ergebn.  d.  Aufn.  d.  Blätter  Hirsch- 
berg a.  Saale,  Gefalt.,  Schleiz.  E.  Zimmermann.  Jahrb. 
d.   pr.  geol.   Landesanstalt.      1894, 

15)  Geologische  Verhältnisse  der  Stadt  Plauen.  E.  Weise. 
Plauen   19 10. 

16)  Organische  Reste  aus  dem  Untersilur  des  Hüttchen- 
berges bei  Wünschendorf  an  der  Elster.  R.  Hund  t.  Central- 
blatt.      Stuttgart   1912.     Nr.   3. 

17)  Erläuterungen  zu  Blatt  Lehesten.    E.  Zimmermann. 

18)  Kleine  geologische  Umschau  in  der  Umgebung  Saal- 
felds.    H.  Meyer,     p.   119.     Saalfeld   1910. 

19)  Petrefaktensammler.     Stuttgart.     Lutz. 

20)  Vertikale  Verbreitung  der  Dictyodora  im  Paläozoikum. 
R.   Hundt.      Centralblatt.     Stuttgart    1912.      Nr.    17. 

21)  Siehe   unter    12)  der  Literaturangabe. 

22)  Über  die  Zonenfolge  ostthüringischer  und  vogtländi- 
scher  Graptolithenschiefer.  Rob.  Ei  sei.  Gera.  39. — 42. 
lahresber.  d.  Gesellsch.  v.  Fr.  d.  Naturw. 

23)  Der  Eisenbahnbruch  bei  Raitzhain,  die  Fundstelle  der 
Zone  10  des  Mittelsilurs,  unweit  von  Ronneburg.  R.Hundt. 
.■\ltenburg   191 2. 

24)  Übersicht  des  Wachstums  und  Entwicklung  der  Grap- 
tolilhengattung  Diplograptus.  R.  Ruedemann.  The  Amer. 
Journ.   of  Science.     Ser.  3.     Vol.  XLIX.     Nr.  294.      1895. 

25)  Eine  Graptolithenkolonie  aus  Westergötland.  E.  Hörn. 
Geol.  För.  Förk.     Bd.  33.     H.  4. 

26)  Radiolarien,  Diatomaceen  und  Sphärosomatiten  im 
silurischen  Kieselschiefer  von  Langenstriegis  in  Sachsen. 
Rothpletz.     Z.   d.   D.  geol.  Gesellsch.     iSSo. 

27)  Gastropod  aus  dem  Obersilur  bei  Klosterhammer  un- 
weit Saalburg  a.  d.  Saale  im  Reuß.  Oberlande.  R.  Hundt, 
lahresber.  d.  Gesellsch.  ¥.  Fr.  d.  Naturw.  zu  Gera.      1912. 

28)  Erläuterungen  zu  Blatt  Gräfenthal.     Loretz. 

29)  Das  Obersilur  an  der  Heinrichsthaler  Mühle  im 
Wetteratale  bei  Gräfenwarth.  E.  Zimmermann.  43./44. 
Jahresbericht  d.  Gesellsch.  v.  Fr.  d.  Naturw.  in  Gera.  p.  44 
hiis  55. 


Die  Keforinbewegung  in  der  aiigewaiulteu 
Entomologie. 

Von  Prot".  Dr.    F.  Schwangart,   Neustadt  a.   d.  H.; Karlsruhe. 

Die  „angewandte  Entomologie"  beschäftigt 
sich  mit  der  Erforschung  von  wirtschaftlich 
wichtigen  Gliederfüßlern  („Entoma"-Kerbtiere).  vor- 
wiegend Insekten,  auf  wissenschaftlicher 
Grundlage; Mit  Schädlingen  von  Kulturpflanzen, 
in  Land-  und  Forstwirtschaft,  krankheitüber- 
tragenden   und    -erregenden,    aber    auch    nütz- 


lichen Kerbtieren,  deren  Zucht  uns  Nahrungs- 
mittel, Kleidung,  Luxusartikel  verschafft.  Die 
wissenschaftliche  Erforschung  dieser  Kategorien 
soll  dazu  führen,  Schädlinge  und  Krankheiten  zu 
bekämpfen  und  den  Nutzen  von  Kultur- 
insekten zu  steigern,  bzw.  weitere  der  Kultur 
nutzbar  zu  machen.  Der  Schaden,  dem  es 
vorzubeugen  gilt,  beziffert  sich  auf  viele  Millio- 
nen jährlich,  —  wir  brauchen  nur  an  „Nonne", 
„Traubenwickler",  „Reblaus"  zu  erinnern ;  —  durch 
Kerbtiere  (Insekten,  Milben)  verursachte  Seuchen 


134 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


haben  Massenelend  in  den  Kolonien  zur  Folge 
und  erschweren  die  Besiedelung  und  wirtschaft- 
liche Nutzung  aufs  äußerste  —  wie  beim  Gelb- 
fieber, der  Schlafkrankheit,  den  tropischen  Vieh- 
seuchen —  und  eine  Sanierung  ist  nur  auf  der 
Basis  der  Erforschung  jener  Kerbtiere  zu  er- 
hoffen. —  Die  Insektenzucht  auf  der  anderen 
Seite  gehört  zu  den  wichtigsten  Einnahmequellen 
weiter  Landstriche,  wie  das  z.  B.  von  der  Seiden- 
raupenzucht gilt ;  —  Nutzen  und  Schaden  der 
Kerbtiere  greifen  tief  ein  in  die  Daseinsbedingun- 
gen auch  der  Industrie,  des  Handels,  von 
Unternehmungen  künstlerischer  und  Wissen- 
schaft lieber  Art:  die  Kerbtiere  liefern  indu- 
strielle Produkte,  wie  die  Seide,  gewisse  Farbstoffe 
usw.  und  sie  zerstören  auch  solche  Erzeugnisse 
in  großem  Maßstab;  unsere  Kunst-  und  wissen- 
schaftlichen Sammlungen  sind  durch  sie  bedroht. 

Dieser  eminenten  wirtschaftlichen  und  hygieni- 
schen Bedeutung  der  Kerbtiere  ist  bis  in  die 
jüngste  Zeit  wenig  Rechnung  getragen  worden: 
Insbesondere  war  man  sich  weder  im  Volk  noch 
an  den  regierenden  Stellen  darüber  klar,  daß  an- 
gesichts der  komplizierten  Biologie  dieser 
Tiere  ohne  wissenschaftliche  Arbeil  in  der 
Praxis  nicht  auszukommen  sei. 

Der  ursprünglich  volkstümliche  Standpunkt 
tritt  noch  unverhohlen  zutage  im  größten  Teil 
unserer  Presse;  dort  vermißt  man  an  zahllosen 
Berichten,  die  z.  B.  über  den  Verlauf  und  die 
Bekämpfung  von  Schädlingsplagen  verbreitet 
werden ,  meist  das  Bedürfnis  nach  wissenschaft- 
licher Orientierung  und  das  Bewußtsein,  daß 
mit  Verbreitung  von  Legenden  beiden,  den 
Wissenschaftlern,  die  aufklärend  tätig  sein 
wollen,  und  den  Interessenten,  die  von  phan- 
tastischen Vorstellungen  zu  wissenschaftlich  er- 
mittelten Tatsachen  und  damit  zu  einem  wirk- 
samen Vorgehen  bekehrt  werden  sollen, 
schwerer  Schade  zugefügt  werden  kann,  — 
den  Landwirten  an  ihrem  X'ermögen,  den  Wissen- 
schaftlern an  Schaffensmut  und  Gesundheit.  Wenn 
z.  B.  Tageszeitungen  immer  wieder  von  einem 
rapiden  Fortschreiten  der  „Reblaus"  berichten,  wo 
es  sich  um  die  Blattfallkrankheit  der  Rebe,  von 
Mitteln  gegen  die  ,,Rel3laus",  wo  es  sich  um  solche 
gegen  den  Traubenwickler  handelt,  —  wenn  sie 
ihre  Urteile  über  Bekämpfungsverfahren  immer 
wieder  von  beliebigen  Korrespondenten  beziehen, 
statt  von  den  dazu  berufenen  wissenschaftlichen 
Auskunftsstellen,  —  so  ist  das  doch  nicht  anders 
zu  bewerten,  als  wenn  sie  etwa  vom  Heilserum  in 
Verbindung  mit  Krebs,  von  Spirochaete  pallida  in 
Verbindung  mit  dem  Unterleibstyphus  schreiben, 
oder  ihre  Auskünfte  über  den  VVert  ärztlicher 
Maßnahmen  in  einem  Seuchengebiet  bei  irgend- 
einem Ortsvorsteher  einholen  wollten. 

Besser  als  mit  der  Presse  steht  es  in  meinem 
engeren  Wirkungskreise  (dem  der  landwirtschaft- 
lichen Zoologie)  schon  mit  der  Bevölke- 
rung. Vollkommene  Abhilfe  kann  hier  aber 
nur  von  einem  zweckentsprechenden  Aus- 


bau des  Ju  gen  d  Unterrichtes  erwartet  werden.  Das 
Ziel  dieses  Unterrichtes  muß  es  sein,  Lust  und 
Fähigkeit  zu  objektiver  Naturbeobach- 
tung im  Volke  zu  stärken  und  ihm  zugleich 
einen  Begriff  davon  zu  vermitteln,  daß  zu  Be- 
obachtungen, Untersuchungen,  Versuchen,  Urteilen 
im  Gebiete  der  Naturforschung  fachl  ich  e  Vor- 
bildung gehört,  so  gut  wie  auf  anderen  Sonder- 
gebieten menschlicher  Betätigung.  (Ist  doch  ein 
großer  Teil  der  Objekte  ohne  Fachkenntnis  und 
ohne  spezielle  Methoden  nicht  zu  bestimmen 
oder    für    Laien    überhaupt    nicht    wahrnehmbar.) 

—  Was  an  Erwachsenen  geleistet  werden 
kann,  ist  recht  unzulänglich;  denn  bei  ihnen 
hat  sich  oft  ein  Zustand  festgesetzt,  der  in 
Gegensatz  zu  dem  steht,  was  wir  anstreben 
müssen:  der  in  der  Jugend  natürliche  Trieb  zum 
Beobachten  ist  unterdrückt;  die  Fähigkeit,  zwischen 
Phantasie  und  Wahrnehmung  zu  unterscheiden, 
fehlt  oder  ist  doch  herabgesetzt;  an  die  Stelle 
des  Beobachtungstriebes  tritt  das  Vorurteil,  der 
„Praktiker"  —  d.  h.  der  Besitzer  wirtschaftlicher 
Objekte  —  müsse,  in  ständiger  F'ühlung,  mit  diesen 
auch  alle  Schädlichkeiten  daran  besser  kennen,  als 
der  wissenscbafiliche  Entomologe ;  spricht  dieser 
von  Dingen,  die  sich  der  Wahrnehmutig  des  Prak- 
tikers entziehen,  dann  ist  hinreichender  Verdacht 
erweckt,  daß  es  sich  hier  um  „Theorie"  handle; 
der  Entomologe  wird  in  dem  Sinne  auch  schlecht- 
hin als  „Theoretiker"  bezeichnet. 

(Diese  Darstellung  der  Volkspsychc  im  Wirkungskreise 
unserer  Wissenschaft  soll  gegen  niemand  eine  Spitze  haben: 
Man  muß  die  Wahrheit  sagen,  wenn  man  bessern  will,  und 
ich  persönlich  bin  dazu  wohl  berechtigt,  da  ich  bei  jeder 
(Gelegenheit  bewiesen  habe,  wie  hoch  ich  die  Mit:irbcit  der 
Interessenten  einschätze,  dort,  wo  deren  Urteil  maßgebend 
ist,  z.  B.  in  einer  der  wichtigsten  Prägen  der  Schädlingsbe- 
kämpfung: ,,Ist  eine  Maßnahme  unter  den  besonderen  Ver- 
hältnissen einer  Kulturart  durchfühibar ?"  Diese  Frage  muß 
vor  jeder  Bekänipfungsaklion  erhoben  und  jedesmal  unter 
Mitwirkung  der  Besitzer  erörtert  werden.) 

Die  S  c  h  u  1  d  an  den  gerügten  Übelständen  trägt 
die  Art  der  Schulbildung.  Und  da  es  sich  hierbei 
um  ein  Übel  handelt,  das  in  alle  Schichten  tief 
eingedrungen    ist  —  auch  in  die  der  Lehrenden  ! 

—  muß  mit  dem  Ruf  nach  vermehrter  Belehrung 
auch  die  laute  Warnung  einhergehen  vor  irrigen 
Tendenzen  des  Naturkundeuntenichts,  der  oft 
selber  dazu  neigt,  Phantasie  und  vorgefaßte 
Spekulation  an  Stelle  der  Übung  im  Beobachten 
zu  setzen,  die  dem  Volke  nottut !  Ich  habe  mich 
hierüber  in  einem  Referat  \)  näher  ausgesprochen. 

In  der  Hauptsache  hat  sich  unsere  Reform- 
bewegung  bisher  mit  den  staatlichen  Ein- 
richtungen für  angewandte  Entomologie  befaßt; 
mit  Grund,  denn  es  hat  seine  volle  Berechtigung, 
wenn  man  uns  darin  andere  Staaten  zum 
Muster  vorhält:  die  Vereinigten  Staaten,  wie 
das    Escherich    in    seiner    trefflichen    Reform- 


')  Verhandlungen  der  Ges.  Deutscher  Naturforscher  und 
Ärzte,  Karlsruhe  igil.  Aufgenommen  in:  ,,Üie  Trauben- 
wickler u.  ihre  Bekämpfung",  II.  Teil.  G.  Fischer,  Jena  1913. 
(Nr.  6  ,,Die  Bekämpfung  der  Rebschädlinge  und  die  Biologie".) 


N.  F.  XIII.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Schrift*)  getan  hat;  aber  auch  Frankreich,  Italien, 
England ,  Ungarn.  In  diesen  Ländern  ist  man 
uns  zum    mindesten    organisatorisch    voraus. 

Die  Hauptpunkte,  wo  die  Organisation 
in  Deutschland  einsetzen  muß,  sind  folgende: 

I.  Man  hat  bei  uns  in  der  Landwirtschaft 
wie  in  den  Kolonien  meistens  davon  Abstand 
genommen,  Stellen,  die  mit  Bekämpfung  tieri- 
scher Schädlinge  betraut  waren,  mit  Zoologen 
zu  besetzen;  die  Entomologie  wurde  und  wird 
noch  in  der  Regel  von  Vertretern  anderer  Wissens- 
zweige: im  besten  Fall  von  Botanikern,  aber  auch 
von  Chemikern,  Technikern,  Landwirten,  Medi- 
zinern im  Nebenamt  verwaltet.  Wenn  man 
auch  oft  die  Geschicklichkeit  loben  darf,  mit  der 
sich  solche  Persönlichkeiten  in  das  ihnen  fremde 
Gebiet  eingearbeitet  haben,  obendrein  oft  mitten 
in  der  Praxis,  so  ist  doch  ohne  weiteres  klar, 
daß  bei  dem  mächtigen  Umfang,  den  heutzutage 
alle  Disziplinen  angenommen  haben  —  nicht 
zuwenigst  die  Entomologie  — ,  jetzt  An- 
stellung von  gelernten  Fachleuten,  Be- 
ruf szoologen,  notwendig  ist;  die  Rückständig- 
keit verrät  sich  denn  auch  auf  den  ersten  Blick, 
bei  Betrachtung  der  Literatur  wie  beim  Eintritt  in 
die  Praxis;  eine  ganze  Ouacksalberzunft  lebt  da- 
von, zum  Schaden  der  Land-  und  Kolonialwirt- 
schaft. 

2.  Die  Zahl  der  Arbeitsstätten  für  an- 
gewandte Entomologie  ist  zu  gering,  die 
Ausstattung  der  vorhandenen  viel  zu 
d  ürft  ig. 

Anstatt  hierin  schleunige  Abhilfe  zu  schaffen,  verlegen 
sich  einflußreiche  Persönlichkeiten  noch  immer  gern  auf  alte 
Hausmittel  zur  ,, Entdeckung"  von  Heilmitteln  und  zur 
Beschwichtigung  der  durch  Schädlingspiagen  erregten  Be- 
völkerung: Sitzungen,  Veranstaltung  (politisch  gefärbter)  Ver- 
sammlungen ,  Prämienausschreiben  für  Erfinder  von  Radikal- 
mitteln. Insbesondere  solche  Prämien  sind  angesichts  der 
weitverbreiteten  Kritiklosigkeit  ein  Unglück  gerade  für  die 
Kreise,  welche  von  dem  Übel  betroffen  sind;  Sie  sind  es, 
die  dann  einem  Heer  von  Pfuschern  (deren  jeder  natürlich 
das  J.Radikalmittel"  erfunden  hat)  zu  Reichtum  und  Ansehen 
verhelfen  sollen.  Die  Versuchsanstalten  andererseits,  die 
ohnedies  überlastet  sind,  vergeuden  dann  ihre  Zeit  mit  dem 
Durchprobieren  all'  der  Heilmittelchen,  statt  ihre  Kraft  und 
ihr  Wissen  für  eine  folgeiichtige  Erforschung  des  Schädlings 
und  der  ihm  feindlichen  Faktoren  einzusetzen. 

3.  Die  Frage :  „W  oh  er  nun  aber  die  prak- 
tisch e  n  Zoolo  gen  nehmen?"  ist  in  Deutsch- 
land vollauf  berechtigt.  Denn  es  fehlt  noch 
an  Lehrstätten  zur  Vorbildung  solcher.  Man 
muß  hinzufügen,  daß  an  den  wenigen  vorhan- 
denen Hoc  h  seh  u  Istellen  für  angewandte 
Zoologie  erst  in  neuerer  Zeit  die  natürliche  Haupt- 
aufgabe wieder  zur  Geltung  kommt ;  bis  dahin 
hatte  man  dort  meist  theoretisch  gearbeitet,  ohne 
rechte  Würdigung  der  eigentlichen  Schädlings- 
fragen   als    tiefgründiger    hygienischer    Probleme. 


')  K.  Escherich,  Die  angewandte  Entomologie  in  den 
Vereinigten  Staaten.  Eine  Einführung  in  die  biologische  Be- 
kämpfungsmethode. Zugleich  mit  Vorschlägen  zu  einer  Re- 
form der  Entomologie  in  Deutschland.  —  P.  Parey ,  Berlin 
1913- 


Darin  sind  uns  unstreitig  die  Amerikaner 
vorausgegangen,  mit  jenen  mühseligen,  aber  auch 
so  fesselnden  Arbeiten  zur  Bekämpfung  von 
Schadinsekten  mit  Hilfe  ihrer  winzigen  natürlichen 
P'einde  bzw.  Parasiten;  nur  an  wenigen  Stellen 
in  Europa  hat  man  konsequent  Arbeiten  dieser 
Art  durchgeführt  und  damit  ein  Neuland  der 
Heihvissenschaften  erschließen  helfen. 

Gegenwärtig  ist  die  Lage  noch  immer  so, 
daß  z.  B.  für  landwirtschaftliche  Zoologie 
kein  einziger  Lehrstuhl  in  ganz  Deutschland 
errichtet  ist.  Wenn  sie  in  manchen  Fällen  als 
Prüfungsfach  von  theoretischen  Zoologen  neben 
deren  anderweiten  Vorlesungen  versehen  wird, 
muß  das  natürlich  eher  Schaden  als  Nutzen  beim 
wissenschaftlichen  Nachwuchs  stiften. 

4.  Das  Ansehen  der  angewandten  Entomo- 
logie iit  auch  bei  den  Staatsbehörden  meist 
noch  nicht  das  eirer  vollwertigen  Wissenschaft; 
und  das  muß  ihr  natürlich  schaden,  direkt  bei 
den  Interessenten,  die  ihren  Ratschlägen  folgen 
sollen,  indirekt  an  Schaffensfreudigkeit.  Wenn 
es  aucli  kaum  mehr  vorkommen  dürfte,  daß 
amtlich  mit  Schädlingsbekämpfung  betrauten 
Stellen  anbefohlen  wird,  mit  irgendeinem  be- 
stimmten, bei  „Praktikern"  beliebten  Mittel  Ver- 
suche anzustellen,  gegen  die  eigene  Meinung  von 
dem  Werte  des  Mittels,  so  ereignet  es  sich  doch 
noch,  daß  tiefeingreifende  Maßnahmen 
ohne  Berücksichtigung  des  staatlichen 
Entomologen  lediglich  auf  Antrag  einflußreicher 
Interessenten  gutgeheißen  werden. 

Eine  Grundforderung  der  Reform  ist 
deshalb :  Wo  entomologische  Sachver- 
ständige angestellt  sind,  darf  ohne  Be- 
gutachtung durch  sie  keine  die  ange- 
wandte Entomologie  berührende  Ent- 
schließung seitens  der  Staatsbehörden  getrofifen 
werden. 

Die  Reformbewegung  zur  Hebung  der 
angewandten  Entomologie  in  Deutschland  hat  be- 
gonnen i.  J.  1902  mit  den  Schriften  und  Vorträgen 
von  L.  Reh  (derzeit  Hamburg).*)  Die  Zeit  war 
noch  nicht  reif  dafür;  in  Zoologenkreisen 
insbesondere,  von  denen  doch  die  Bewegung  aus- 
gehen mußte,  wurde  Reh  nicht  verstanden. 
Als  nächster  trat  (1908)  Heymons  auf,  nachdem 
er  die  Forschungsrichtung  und  die  damals  noch 
junge  Organisation  in  den  Vereinigten  Staaten 
kennen  gelernt  hatte. ")  Den  Anstoß  zur  gegen- 
wärtigen Bewegung  gab  jedoch  das  Escherich- 
sche  „Amerikabuch",  das  in  sehr  geschickter 
Fassung  die  Entomologie  in  Amerika  schilderte 
und    mit   klaren    und   festumrissenen  Vorschlägen 

')  L.  Reh,  „Die  Zoologie  im  Pflanzenschutz",  Verhandl. 
d.  Deutsch.  Zool.  Ges.  1902.  —  Ders„  „Die  Rolle  der  Zoo- 
logie in  der  Phytopathologie",  Zeitschr.  für  wisscnsch.  Insekten- 
biologie, 1905.  —  Ders„  ,,Phytopathologische  Zoologie  für 
unsere  Kolonien",  Tropenpflanzer  (Organ  des  Kolonialwirt- 
schaftl.   Komitees)   1911. 

')  R.  Heymons,  ,, Europäische  Insektenschädlinge  in 
Nordamerika  und  ihre  Bekämpfung",  Naturwiss.  Zeitsclir.  f. 
Forst-  und  Landwirtschaft  1908. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


für  Deutschland  hervortrat.  Ihm  kamen  von 
der  einen  Seite  Bestrebungen  auf  Teilgebieten  des 
deutschen  entomologischen  Versuchswesens  (land- 
wirtschaftliche Zoologie,  Seh  wan gart)/)  auf  der 
anderen  die  schon  im  Gang  befindlichen  Reformen 
in  anderen  europäischen  Ländern  (Frankreich, 
England,  Ungarn,  Italien)  zu  Hilfe. 

Escherich  fand  lebhaften  Anklang  mit  einem 
Vortrage  bei  der  Versammlung  der  Deutschen 
Zoologischen  Gesellschaft  in  Bremen 
(191 3).-)  Dort  erfolgte  die  Gründung  der 
„Deutschen  Gesellschaft  für  an  gewandte 
Entomologi e",  mit  folgendem  Programm, 
das  man  nach  meinen  Ausführungen  über  die 
Mängel  der  bisherigen  Zustände  ohne  weiteres 
verstehen  wird : 

Durchführung  einer  zweckdienlichen  staatlichen 
Organisation  zur  wissenschaftlichen  Erforschung 
und  Bekämpfung  der  wirtschaftlich  schädlichen 
und  der  krankheitenerregenden  Insekten  und  der 
Förderung  der  Zucht  von  Nutzinsekten;  —  Samm- 
lung und  kritische  Sichtung  des  vorhandenen 
Stoffes  aus  diesem  Forschungsgebiet;  —  Hebung 
des  Verständnisses  für  angewandte  Entomologie 
und  Wahrung  ihres  Ansehens  in  der  Öffentlich- 
keit. - —  Diesen  Zweck  sucht  die  neue  Gesellschaft 
zu  erreichen  durch :  Versammlungen  zur  Abhal- 
tung von  Vorträgen  und  Demonstrationen,  zur 
Erstattung  von  Referaten  und  zur  Besprechung 
und  Feststellung  gemeinsam  in  Angrift'zu  nehmen- 
der Arbeiten;  —  Veröffentlichung  von  Berichten 
und  anderen  Arbeiten ;  —  Anbahnung  und  Pflege 
von  Beziehungen  zu  staatlichen  Behörden  und 
Korporationen;  —  Erziehung  und  Förderung  eines 
wissenschaftlichen  Nachwuchses. 

Daß  die  Gründung  einem  Bedürfnis  weiter 
Kreise  entgegenkam,  ergab  sich  aus  dem 
schnellen  Anwachsen  der  Mitgliederzahl.  Durch 
das  rege  Interesse  w  e  i  n  b  a  u  1  i  c  h  e  r  Kreise,  die 
ja  gegenwärtig  der  Unterstützung  durch  die 
angewandte  Entomologie  besonders  dringend 
bedürfen,  und  durch  die  aufopfernde  Rührigkeit 
des  um  die  Schädlingsbekämpfung  hochverdienten 
Kommerzienrates  Otto  Me  u  schel- Buchbrunn 
kam  schon  Oktober  des  Grund  ungsjahres  die 
erste  Jahres  versammln  ng  zustande.  Wenn 
ich  ihren  Verlauf  im  folgenden  kurz  wiedergebe, 
geschieht  dies,  um  an  Beispielen  zu  zeigen,  welchen 
Umfang  das  Forschungsgebiet  unserer  Wissen- 
schaft hat  und  welch  wichtige  Wirtschaft  liehe 
Fragen  von  ihr  Förderung  erwnrten  dürfen. 

Die  erste  Jahresversammlung  der 
„Deutschen  Gesellschaft  für  angewandte 
Entomologie",  vom  21. — 25.  Oktober  in 
Würzburg,   war   aus  Kreisen    der  Wissenschaft 


')  F.  Schwangart,  siehe  oben,  ferner  ,,Die  Trauben- 
wickler und  ihre  Bekämpfung,  mit  Berücksichtigung  natür- 
licher Bekämpfungsfaktoren",  I.  Teil.  G.  Fischer,  lena  1910, 
u.  a.  m. 

^)  K.  Escherich,  ,,Die  gegenwärtige  Lage  der  ange- 
wandten Entomologie  in  Deutschland".  Verh.  d.  Deutsch. 
Zoolog.  Ges.   1913. 


(Pflanzenpathologie,  Züchtungskunde,  Medizin  usw.) 
wie  seitens  der  wirtschaftlichen  Interessenten  stark 
besucht.  Von  über  20  angemeldeten  Vorträgen 
mußten  infolge  des  Stoffandranges  mehrere  zurück- 
gestellt werden.  Vertreter  von  Ministerien  und 
Regierungen,  der  Universität,  der  Stadt,  deutscher 
und  auswärtiger  Versuchsanstalten,  sowie  solche 
der  Deutschen  Zoologischen  Gesellschaft,  der 
deutschen  entomologischen,  der  deutschen  Kolonial- 
gesellschaft, des  kolonialwirtschaftlichen  Komitees 
und  anderer  angesehener  Vereinigungen  nahmen 
teil.  Escherich  -  Tharandt,  der  erste  Vor- 
sitzende, sprach  einleitend  über  die  Ziele  und 
Methoden  der  angewandten  Entomo- 
logie; es  folgten  weiter:  Ew.  H.  Rübsaamen, 
Leiter  der  Reblausbekämpfung  in  Preußen,  über 
die  Maßnahmen  und  Fortschritte  der  dortigen 
Reblausbekämpfung;  L.  Orth,  leitender  Sach- 
verständiger der  Reblausarbeiten  in  Franken,  über 
dasselbe  Thema  für  das  fränkische  Weinbaugebiet; 
K.  Born  er,  Vorstand  der  Kaiserlichen  Versuchs- 
station in  Villers  l'Orme  bei  Metz,  über  seine 
neuen  experimentellen  Ergebnisse  zur  Reb- 
lausbiologie; R.  Heymons  über  die  ange- 
wandte Entomologie  in  Italien;  L.  Reh  über 
den  Stand  in  Deutschland;  Aulmann- Berlin 
über  die  koloniale  Entomologie;  Bolle-Görz 
(Ostern  Küstenland)  in  drei  Vorträgen  über 
Museal  Schädlinge,  Seidenraupenzucht  und 
Seuchen  der  Seidenraupen  und  die  biologische 
Bekämpfung  der  Maulbeerbaumschildlaus 
Diaspis  pentagona  mit  Hilfe  künstlich  importierter 
natürlicher  Feinde,  vor  allem  der  Schlupfwespe 
Prospaltella  berlesei;  Zander,  Vorstand  der 
K.  bayer.  Anstalt  für  Bi  e  nen  forschung  in  Er- 
langen, über  die  Einrichtungen  und  Arbeiten  seiner 
Anstalt;  E.  Teich  mann -Frankfurt  über  die  Er- 
gebnisse seiner  Studienreise  nach  Afrika  zur  Er- 
forschung der  Tsetsefliege,  des  bekannten 
Überträgers  tropischer  Seuchen;  Haenel,  Sach- 
verständiger der  staatlichen  bayerischen  Vogel- 
schutzkommission, über  „angewandte  Entomologie 
und  Vogelschutz";  Pre  1 1  -  Tübingen  über  die 
Entwicklung  der  Raupenfliegen  (Tachiniden), 
jener  wirksamen  Schmarotzer  landwirtschaftlich 
und  forstlich  schädlicher  Raupen.  (Solche  Unter- 
suchungen gehören  zu  den  Voraussetzungen  einer 
wirksamen  „biologischen  Bekämpfung");  Arn. 
Schul tze  über  Biologie  und  wirtschaftliche  Be- 
deutung wildlebender  Seidenspinner  in 
unseren  Kolonien;  Jablonowski,  Direktor 
der  ungarischen  staatlichen  Zentrale  für 
angewandte  Entomologie,  über  Getreideschäd- 
linge. —  In  der  Diskussion  bekamen  auch  die 
Vorstandschaftsmitglieder,  welche  infolge  des  Stoff- 
andranges auf  ihre  angemeldeten  Referate  ver- 
zichtet hatten,  Escherich  und  Schwan  gart, 
Gelegenheit  über  die  von  ihnen  in  Aussicht  ge- 
nommenen Themata:  Forstschutz,  Biologi- 
sche Bekämpfung,  das  Traubenwickler- 
problem, Organisationsfragen,  sich  zu 
äußern.      Hiervon,    wie    von    so    vielen    anderen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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dringlichen  Fragen,  blieb  aber  das  meiste  der 
nächstjährigen  Versammlung  vorbehalten,  die  auf 
freundliche  Einladung  des  „Deutschen  Pomologen- 
vereins"  in  Eisenach  stattfinden  soll.  An  die 
Verhandlungen  schloß  sich  eine  Exkursion  in 
das  fränkische  Reblausgebiet  bei  Iphofen. 
In  den  Geschäftssitzungen  wurde  u.  a.  die 
Einrichtung  spezieller  Ausschüsse  zur 
Behandlung  von  Einzelaufgaben  beschlossen:  für 
Organisationsfragen  der  angewandten  Entomologie, 
—  Wein-,  Obst-  und  Gartenbau,  —  Feldbau,  — 
Forstschutz,  —  Koloniale  F'ntomologie,  —  Medi- 
zinische Entomologie,  —  Zucht  von  Nutzinsekten. 


Besonders  ermutigend  war  es,  daß  zu  einem 
geplanten  Fonds  für  Studienreisen  schon  vor  der 
ersten  Jahresversammlung  namhafte  Beiträge  ge- 
zeichnet waren. 

Die  „Verhandlungen"  der  Deutschen  Ge- 
sellschaft für  angewandte  Entomologie  erscheinen 
demnächst  im  Druck  und  werden  einer  neu- 
gegründeten „Deutschen  Zeitschrift  für 
angewandte  Entomologie"  (Schriftleitung: 
Escherich  und  Schwangart,  Verlag  P.  Parey-Berliii) 
angegliedert,  in  der  die  Grundsätze  walten  werden, 
die  ich  in  vorstehender  Skizze  klarzulegen  ver- 
sucht habe. 


Einzelberichte. 


Chemie.  Über  die  optischen  Eigenschaften  von 
kristallisiertem  Wasserstoff,  Sauerstoff,  Stickstoff, 
Argon  und  anderen  Stoffen  berichtet  eine  sehr  inter- 
essante Mitteilung  von  VValter  Wahl  in  der 
Zeitschr.  f  physik.  Chem.  Bd.  84,  S.  101  und  112 
(1913).  Für  die  Versuche  benutzte  der  Verfasser 
optische  Dünnschliffe,  die  er  bei  der  Kristallisa- 
tion der  zur  Untersuchung  gelangenden  Stoffe 
zwischen  zwei  parallel  stehenden  polierten  Quarz- 
plättchen  mit  einem  Zwischenraum  von  0,05  mm 
an  aufwärts  durch  Kühlung  mit  flüssiger  Luft  ge- 
wann und  im  Polarisationsmikroskop  untersuchte. 
Es  ergab  sich,  daß  Wasserstoff,  Stickstoff,  Argon 
und  Methan  regulär,  Sauerstoff  hexagonal,  Athyl- 
äther  rhombisch,  Äthylalkohol,  Aceton,  Methyl- 
alkohol und  Schwefelkohlenstoff  monoklin  oder 
triklin  kristallisieren.  Sauerstoff  und  Äthylalkohol 
erstarren  bei  der  Abkühlung  ähnlich  wie  ge- 
wisse Silikate  und  Borate  in  der  Regel  glasartig, 
können  jedoch  der  Sauerstoff  leicht,  der  Äthyl- 
alkohol weniger  leicht  und  erst  durch  Anwendung 
besonderer  Kunstgriffe,  so  durch  Reiben  der  halb- 
weichen Alkoholgallerte  mit  einem  Draht,  auch  in 
Kristallen  erhalten  werden.  Sauerstoff  und  Methyl- 
alkohol kommen  in  zwei,  im  Verhältnis  der 
Enantiotropie  zueinander  stehenden,  d.  h.  durch 
Temperaturerniedrigung  oder  Temperaturerhöhung 
reversibel  ineinander  umwandelbarcn  Modifika- 
tionen vor.  Mg. 

Physik.  Radioaktivität  der  Atmosphäre.  Die 
Herkunft  des  Radiums  und  seiner  Abkömm- 
linge aus  der  Pechblende,  wie  sie  besonders 
stark  radioaktiv  in  Joachimsthal  gefunden  wird, 
sowie  ihr  Vorkommen  in  einigen  Mineralquellen 
ist  wohl  allgemein  bekannt,  weniger  dagegen, 
daß  man  diese  seltenen  Stoffe  auch  in  der  Erd- 
atmosphäre vorfindet.  Ihre  Menge  ist  natürlich 
nur  sehr  gering,  was  ja  leicht  erklärlich  ist,  wenn 
man  bedenkt,  daß  die  gesamte  bisher  gewonnene 
reine  radioaktive  Substanz  sich  überhaupt  nur  auf 
einige  Gramm  beläuft.  Ehe  wir  uns  nun  mit  den 
äußerst  interessanten  Tatsachen  und  den  Ver- 
suchen,  die   zwecks    Auffindung    dieser    Stoffe    in 


der  Atmosphäre  angestellt  wurden,  beschäftigen, 
möchte  ich  einige  Bemerkungen  aus  der  Lehre 
der  Radioaktivität  vorausschicken.  Zunächst  sei 
erwähnt,  daß  alle  radioaktiven  Stoffe  die  Luft 
ionisieren,  d.  h.  die  Leitfähigkeit  der  Luft  für 
Elektrizität  wesentlich  erhöhen.  Eine  weitere 
Wirkung  auf  die  Umgebung  haben  wir  in  der 
sog.  induzierten  Radioaktivität  vor  uns.  Sämt- 
liche Stoffe  in  der  Umgebung  werden  nämlich 
durch  Übertragung  mehr  oder  minder  radioaktiv, 
doch  verschwindet  dieser  Zustand  wieder  nach 
einiger  Zeit.  Der  Eigenschaft  der  Induktions- 
fähigkeit zufolge  begegnen  wir  überall  in  der 
Atmosphäre  den  Wirkungen  der  Radioaktivität, 
die  sich  besonders  durch  die  erhöhte  Leitfähig- 
keit kundtut.  L^nd  dies  war  auch  der  Ausgangs- 
punkt für  die  Untersuchungen,  die  besonders  die 
beiden  Physiker  Elster  und  G  e  i  t  e  1  in  Wolfen- 
büttel zwecks  Auffindung  radioaktiver  Substanzen 
in  der  Atmosphäre  anstellten  (Phys.  Zeitschrift  i, 
p.  96  und  5,  p.   II,   1904). 

Gelegenilich  einer  experimentellen  Erforschung 
der  Ionisation  der  Luft  fanden  die  beiden  Forscher, 
daß  der  lonisationsgrad  der  Luft  abnimmt,  je 
länger  sie  sich  unter  der  Versuchsglocke,  die  ein 
Elektrometer  enthielt,  befindet.  Diese  Tatsache 
ändert  sich  selbst  bei  künstlich  staubfrei  gemachter 
Luft  nicht.  Ein  Mittel,  die  erhöhte  Ionisation  der 
freien  atmosphärischen  Luft  zu  erklären,  bot  sich 
in  der  Annahme,  daß  die  Luft  eine  Art  radio- 
aktiver Substanz  enthält.  Auch  das  Sinken  des 
lonisationsgrades  ergab  sich  folgerichtig  aus  dieser 
Vermutung.  Denn  die  eventuell  wirksamen  Stoffe 
müssen  der  umgebenden  Luft  ihre  Aktivität  mit- 
teilen. Diese  induzierte  Luft  verliert  aber,  wie 
der  große  englische  Radiumforscher  Rutherford 
kurz  zuvor  gefunden  hatte,  in  einiger  Zeit  die 
^Aktivität  (Phil.  Mag.  Dez.  1902).  Es  war  somit 
Grund  genug  vorhanden,  das  Vorhandensein  radio- 
aktiver Stoffe  in  der  freien  Luft  anzunehmen. 

Schwierig  war  es  nur,  ihr  Dasein  durch  weitere 
Analogien  hinreichend  zu  beweisen.  Um  dies 
experimentell  durchzuführen,  mußten  die  radio- 
aktiven Produkte  gesammelt  werden,    da    bei  der 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


großen  Verdünnung  in  der  Luft  ein  genauer  Nach- 
weis sehr  schwer  möglich  ist.  Diese  Stoffe, 
besonders  die  Radiumemanation,  die  als  Gas 
hauptsächlich  in  Betracht  kommt,  anzuhäufen,  bot 
sich  eine  Möglichkeit  insofern,  als  sie  vermittels 
stark  negativ  elektrischer  Drähte  aufgefangen 
werden  können,  da  sie  selbst  ja  positive  elektrische 
Ladung  besitzen.  Durchgeführt  wurden  diese  Ver- 
suche folgendermaßen.  Lange  iVletalidrähte,  die 
frei  aufgespannt  waren,  wurden  stundenlang  auf 
ein  sehr  hohes  negatives  Potential  gehalten,  dann 
auf  einer  Rolle  aufgewickelt  und  nun  unter  die 
Glocke,  die  ein  E.lektrometer  enthielt,  gestellt. 
So  war  es  möglich,  die  durch  die  am  Drahte 
haftenden  Emanationsprodukte  erhöhte  Ionisierung 
der  Luft  unter  der  Glocke  deutlich  und  gut  meß- 
bar nachzuweisen.  Man  kann  auch  durch  Ab- 
reiben des  Drahtes  mittels  feuchten  Tuches  die 
aktiven  Stoffe  auf  einen  kleinen  Raum  konzen- 
trieren und  dadurch  den  Effekt  erhöhen.  So  ist 
es  den  beiden  Gelehrten  gelungen,  mit  den  auf 
diese  Art  gewonnenen  Stoffen  auch  photographische 
Wirkungen  zu  erzielen,  was  als  ein  neues  Beweis- 
mittel für  die  Identität  dieser  Stoffe  mit  den  radio- 
aktiven Substanzen  anzusehen  ist. 

Die  Experimente,  wozu  zuweilen,  um  auch  die 
höhere  Atmosphäre  untersuchen  zu  können, 
Drachen  und  Ballons  als  Träger  der  Drähte  ver- 
wandt wurden,  erwiesen  sich  in  ihren  Erfolgen 
stets  als  äußerst  abhängig  von  der  gesamten 
Witterungslage;  der  nähere  Zusammenhang  ist  • 
aber  noch  nicht  hinreichend  ergründet.  Da  ferner 
die  Stärke  der  Radioaktivität  mit  der  Höhe  be- 
trächtlich abnimmt,  so  hat  man  zunächst  ange- 
nommen, daß  die  Radioaktivität  ihren  Sitz  in  der 
Erde  habe.  Dies  wurde  auch  durch  Versuche 
mit  Luft,  die  der  Erde  entnommen  war,  bestätigt. 
Weiterhin  gab  diese  Tatsache  Anlaß  dazu,  die 
LIntersuchungen  auf  verschiedene  Gegenden 
Deutschlands  und  der  Schweiz  auszudehnen,  um 
so  eine  mögliche  Abhängigkeit  von  der  geo- 
graphischen Lage  festzustellen. 

Zunächst  war  es  nun  aber  hierzu  nötig,  ein 
vergleichbares  Maß  der  Aktivität  zu  besitzen.  Da 
die  Geschwindigkeit  der  Entladung  eines  Elektro- 
meters proportional  der  Ionisierung  und  damit 
auch  der  Aktivierung  ist,  so  schlugen  Elster 
und  Geitel  die  Potentialerniedrigung,  die  ein 
Draht  von  einem  Meter  Länge  in  einer  Stunde 
hervorbringt,  als  Aktivierungszahl  A  vor  (Phys. 
Zeitschr.  -i,  96,   1903). 

Auf  Anregung  der  beiden  Forscher  hin  wurde 
nun  die  Abhängigkeit  der  Zahl  A  von  den  ver- 
schiedenen geographischen  Lagen  genau  erforscht. 
Um  einigermaßen  vergleichbare  Werte  zu  erhalten, 
müssen  diese  Versuche  über  eine  größere  Zeit- 
spanne hin  ausgedehnt  werden,  da  sonst  Zufällig- 
keiten in  der  Witterung  die  Resultate  zu  sehr 
beeinflussen  würden.  In  Fällen,  wo  dies  geschah, 
bemerkte  man,  wie  z.  B.  Simpson  in  Karasjok, 
eine  deutlich  hervortretende  jährliche  Periode,  die 
vermutlich  auch  an  anderen  Orten  besteht.     Nun 


ist  zwar  bei  diesen  Bestimmungen  von  A  in  keiner 
Weise  die  Natur  der  radioaktiven  Stoffe,  die  sich 
am  Drahte  ansammeln,  berücksichtigt  worden, 
und  dies  ist,  wie  wir  weiter  unten  sehen  werden, 
von  Wichtigkeit  für  die  Deutung  dieser  Versuche. 
Immerhin  ergibt  sich  aber  aus  den  bisher  vor- 
liegenden Versuchen  deutlich,  daß  der  Gehalt  an 
aktiven  Stoffen  allmählich  abnimmt,  wenn  man 
von  der  Nordsee  aus  nach  den  Alpen  zu  fort- 
schreitet. Dieselbe  Verteilung  über  den  ver- 
schiedenen Höhenstufen  des  Kontinents  geht  auch 
aus  Versuchen  von  Simpson  (Proc.  Royal  So- 
ciety 73,  209,  1905  und  Phys.  Zeitschr.  C,  270, 
1905)  hervor,  der  in  Hammerfest  bei  seinen 
Untersuchungen  feststellte,  daß  der  Wind,  der 
vom  Festlande  kam,  weniger  Aktivität  zeigte 
als  der  von  der  Küste. 

Wir  haben  bisher  nur  beiläufig  erwähnt,  daß 
Radiumemanation  unter  anderen  Stoffen  in  der 
Atmosphäre  wirksam  ist,  sonst  aber  nur  das  Vor- 
kommen radioaktiver  Erscheinungen  in  der  Atmo- 
sphäre besprochen.  Es  ist  nunmehr  angebracht, 
die  Frage  nach  der  genaueren  Natur  jener  Sub- 
stanzen zu  prüfen,  auf  deren  Anwesenheit  in  der 
Luft  wir  diese  Erscheinungen  zurückzuführen 
Ilaben.  Daß  wir  es  hier  nur  mit  gasförmigen 
Produkten,  den  sog.  Emanationen,  hauptsächlich 
zu  tun  haben,  ist  wohl  selbstverständlich,  da  die 
festen  Stoffe  nicht  dauernd  in  der  Atmosphäre 
bleiben  können.  Das  Material  wiederum,  das  sich 
auf  den  Drähten  niederschlägt,  ist  fest.  Es  rührt 
von  dem  Zerfall  der  Emanationen  her,  deren  Halb- 
wertszeit, das  heißt  die  Zeit,  in  der  sie  die  Hälfte 
ihrer  Wirksamkeit  verloren  haben,  sehr  kurz  ist, 
so  daß  wir  hauptsächlich  nur  ihre  Zerfallsprodukte 
erhalten.  Daß  der  Erde  nur  Emanationen  ent- 
weichen können,  geht  aus  folgender  Tatsache  her- 
vor. Rutherford  u.  a.  haben  nämlich  gezeigt, 
daß  die  Emanation  zwar  infolge  von  Diffusion 
überall  hingelangen  kann,  ihre  Zerfallsprodukte 
aber  schon  durch  äußerst  poröse  Filter  wie  Watte 
oder  Glaswolle  zurückgehalten  werden.  Die  Um- 
wandlungsprodukte, die  wir  in  der  Atmosphäre 
vorfinden,  müssen  infolgedessen  ausschliel31ich  das 
Ergebnis  des  Zerfalls  jener  Emanationen  sein,  die 
früher  der  Erde  entströmt  sind. 

Zur  Erläuterung  des  Nachstehenden  sei  noch 
erwähnt,  daß  die  Emanationen  nur  a-Strahlen 
aussenden,  die  aus  positiv  geladenen  Zerfalls- 
produkten bestehen.  In  der  nachfolgenden  Tabelle 
sind  die  bekannten  radioaktiven  Substanzen  ein- 
getragen, die  in  der  Luft  vorhanden  sein  können ; 
jedem  sind  die  Strahlenarten,  die  es  aussendet, 
die  Reichweite  der  a-Strahlen  in  Luft,  sowie  die 
Halbwertszeit  hinzugefügt. 

Die  Hauptrolle  spielen  natürlich,  wie  schon  oben 
erwähnt,  die  drei  Emanationen,  von  denen  die 
beiden  letzten  infolge  ihrer  sehr  kurzen  Halb- 
wertszeit hinter  der  Radiumemanation  zurück- 
treten. Wenn  wir  also  an  die  Prüfung  der  radio- 
aktiven Substanzen,  die  wir  in  der  Atmosphäre 
vorfinden,     herantreten,     müssen     wir    vor     allen 


N.  F.  XIII.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


139 


Name  des  Produkts 

Strahlen- 
arten 

Reich- 
weite der 
«-Strahlen 

Halb- 
wertszeit 

Radiumemanation  (gasf.) 

a 

4,23   cm 

3,85    Tage 

Radium  A  (fest) 

a 

4,83    ., 

3    Min. 

Radium  C  (fest) 

",  ß,  y 

7,06    „ 

19.5    „ 

Radium  F  (fest) 

n 

3,86    „ 

136  Tage 

Thoriumemanation  (gasf.) 

ft 

5.5      .. 

53  Sek. 

Thorium  A  (fest) 

a 

f 

0,14    „ 

Thorium  C  (fest) 

a,  ß 

8,6  cm 

60,5  Min. 

Aktiniumemanation  (gasf.) 

a 

f 

3,9  Sek. 

Aktinium  B  (fest) 

a 

? 

2,15    „ 

Dingen  die  Natur  der  Emanation  in  solcher  Luft 
besprechen,  die  sich  in  der  Tiefe  der  Erde  und 
in  den  kapillaren  Gängen  des  Erdreichs  befindet; 
denn  von  ihr  gehen  jene  Wirkungen  aus  und 
pflanzen  sich  durch  die  ganze  Atmosphäre  fort, 
wobei  sie  selbstverständlich  mit  der  Höhe  ab- 
nehmen. Die  Versuche  mit  P>dluft  ergaben  nun 
viele  Analogien  mit  der  Radiumemanation.  Zu- 
nächst nahmen  Elster  und  Geitel  die  gleiche 
Zerfallszeit  wahr  durch  Messung  der  Ab- 
nahme der  lonisierungsfahigkeit  und  stellten  eine 
Halbwertszeit  von  3,3  Tagen  fest;  ferner  konnten 
sie  mit  der  Bodenluft  dieselben  Induzierungs- 
erscheinungen  hervorrufen  wie  mit  Radiumemana- 
tion (vgl.  G.  A.  Blanc  im  Jahrb.  d.  Radioakt.  u. 
Elektronik  VI,  1909).  Einen  weiteren  Beweis  für 
die  Identität  der  beiden  Stoffe  lieferte  der  gemein- 
same Siedepunkt,  der  etwas  höher  als  der  der 
Luft  liegt.  Läßt  man  nämlich  die  aus  der  Erde 
gesogene  Luft  kondensieren  und  wieder  ver- 
dampfen, so  bleibt  anfänglich  ein  Kondensations- 
produkt zurück,  das  sehr  starke  Radioaktivität 
zeigt. 

Die  oben  genannten  gasförmigen  Produkte 
sind  nun  sehr  gut  löslich  in  Wasser.  Sie  finden 
sich  daher  sehr  viel  in  den  Mineral-  und  Thermal- 
quellen. In  Spuren  muß  besonders  die  Radium- 
emanation auch  in  jedem  Brunnenwasser  enthalten 
sein,  wo  man  ihr  Vorhandensein  auch  schon 
nachgewiesen  hat.  Schließlich  finden  sich  diese 
Emanationen  sehr  viel  in  den  Gasen,  die  der 
Erde  an  einigen  Stellen  entströmen.  In  allen 
diesen  Fällen  hat  man  besondere  Anzeichen  dafür 
gefunden,  daß  die  Erscheinungen  zum  großen 
Teile  auf  die  Anwesenheit  der  Radiumemanation 
zurückzuführen  sind. 

Wie  es  leicht  erklärlich  ist,  stellen  diese  eben- 
berührten Fälle  Quellen  dar,  denen  die  Atmo- 
sphäre stets  neue  Mengen  von  Emanation  ent- 
nimmt. Daß  diese  Stoffe  so  verbreitet  in  der 
Luft  vorkommen,  erklärt  sich  aus  dem  Umstände, 
daß  das  Radium  in  fast  allen  Gesteinen,  vulkani- 
schen wie  sedimentären,  in  merklichen  Spuren 
anzutreffen  ist.  Die  Emanation  dieses  Radiums 
verbreitet   sich    auf  den    oben    erörterten    Wegen 


in  der  Atmosphäre  und  unterliegt  dort  dem  all- 
mählichen Zerfall ,  wobei  alle  obenangeführten 
Umwandlungsprodukte  des  Radiums  der  Reihe 
nach  erzeugt  werden. 

Weit  schwieriger  wegen  des  schnellen  Zerfalls 
ist  der  Nachweis  der  anderen  radioaktiven  Sub- 
stanzen. Das  Vorhandensein  der  Thoriumemana- 
tion kann  man  aus  dem  Vorkommen  des  Radio- 
thors, eines  ziemlich  langlebigen  Zerfallsproduktes 
des  Thoriums,  in  dem  Schlamm  einiger  Quellen 
schließen.  Der  direkte  Nachweis  ist  in  neuerer 
Zeit  auch  gelungen  und  zwar  auf  demselben 
Wege,  wie  er  oben  beim  Radium  beschrieben  ist. 
Ähnlich  gelang  auch  der  Beweis  für  das  Vor- 
kommen der  Aktiniumemanation  und  ihrer  Zer- 
fallsprodukte in  der  Atmosphäre,  jedoch  nur  unter 
großen  Schwierigkeiten,  da  sie  weit  spärlicher  an- 
getroffen werden  wie  die  des  Radiums  und 
Thoriums.  Das  ist  aber  auch  darauf  zurückzu- 
führen, daß  die  charakteristischen  Merkmale  dieser 
Produkte  bei  ihrer  Kurzlebigkeit  noch  durch  die 
gleichzeitig  anwesenden  stärkeren  Radiumzerfalls- 
produkte verdeckt  werden.  Aus  der  allgemeinen 
Verbreitung  dieser  Aktiniumprodukte  in  den 
obersten  Schichten  des  Erdreichs  allein  könnte 
man  schon  auf  ihr  Vorhandensein  in  der  Atmo- 
sphäre schließen.  Aber  es  ist  auch  den  Forschern 
Elster  und  Geitel  (Phys.  Zeitschr.  5,  1904,  11) 
gelungen,  diese  Stoffe  direkt  aus  der  Pflanzenasche 
und  Pflanzenerde  von  Capri  abzuscheiden. 

Was  die  Verteilung  der  in  obiger  Tabelle  an- 
geführten Substanzen  innerhalb  der  Atmosphäre 
anbetrifft,  so  läßt  sich  darüber  kein  allgemein 
gültiges  Urleil  abgeben.  An  windstillen  Tagen 
werden  sich  in  der  Nähe  des  Bodens  die  Emana- 
tionen aller  radioaktiven  Stoffe  aufhalten,  be- 
sonders am  Boden  die  des  Thoriums  und  Aktiniums, 
da  sie  die  Neigung  haben,  sich  an  die  umgeben- 
den Stoffe  anzusetzen.  Die  Radiumemanation 
kann  wegen  ihres  langsamen  Zerfalls  in  einer  ver- 
hältnismäßig ausgedehnten  Zone  der  Atmosphäre 
merkliche  Wirkungen  hervorrufen.  An  windigen 
Tagen  werden  diese  Produkte  selbst\'erständlich 
in  regelloser  Weise  durcheinander  gewirbelt. 

Inwieweit  die  Radioaktivität  der  Atmosphäre 
technisch  ausgebeutet  werden  kann,  ist  eine  Frage 
der  Zukunft.  Alfred  Wenzel. 

Botanik.      Säuregehalt    und    geotropische  Re- 


aktion. Man  hat  gefunden,  daß  Säuren  eine  be- 
schleunigende Wirkung  auf  das  Wachstum  aus- 
üben ;  als  wahrscheinliche  Ursache  davon  wird  die 
erhöhte  Fähigkeit  zur  Wasseraufnahme  bei  den 
Kolloiden,  spezielldem  Protoplasmaangesehen.  Nach 
Martin  H.  Fischer  geht  das  relative  Wachstum 
an  der  konkaven  und  an  der  konvexen  Seite  eines 
sich  geotropisch  krümmenden  Organs  mit  dem 
Säuregehalt  parallel.  Eva  O.  Schley  hat  nun 
den  Unterschied  im  Säuregehalt  an  den  beiden 
Seiten  geotropisch  gereizter  Organe  von  neuem 
geprüft  und  dazu  etiolische  Keimlinge  verwendet, 
die  sie  auf  Brettern  aufrecht  wachsen  ließ.    Wenn 


140 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  9 


sie  6 — 8  cm  groß  geworden  waren,  wurde  ein 
Teil  der  Bretter  aufgerichtet,  so  daß  die  Keim- 
linge in  einem  rechten  Winl<el  zur  Schwerkraft- 
richtung standen.  Die  Untersuchung  erfolgte  nach 
verschieden  langer,  zwischen  7  Minuten  und 
48  Stunden  liegender  Präsentations-  und  Reaktions- 
zeit. Zur  Kontrolle  wurden  auch  uiigereizte  (auf- 
recht wachsende)  Keimlinge  untersucht;  hierzu 
wurde  der  Stamm  sowohl  in  eine  rechte  und 
eine  linke  Hälfte  (in  der  Ebene  der  Kotyledonen) 
wie  in  eine  vordere  und  eine  hintere  Hälfte  (im 
rechten  Winkel  zur  Ebene  der  Keimblätter)  ge- 
spalten. Zur  Prüfung  der  gereizten  Keimlinge 
wurden  diese  der  Länge  nach  in  eine  obere  und 
eine  untere  Hälfte  zerlegt.  Die  Säurebestimmung 
wurde  an  dem  4,5  cm  langen  Endstück  des  Keim- 
lings vorgenommen.  Wie  nämlich  schon  früher 
festgestellt  worden  war  und  von  Eva  Schley 
von  neuem  bestätigt  wurde,  ist  der  Säuregehalt 
an  der  Spitze  am  größten  und  nimmt  von  dort 
nach  der  Basis  zu  ab.  In  dem  aus  den  zerriebenen 
Keimlingen  z.  T.  durch  Ausziehen  mit  Wasser 
erhaltenen  Saft  wurde  die  Säure  durch  Titrieren 
bestimmt,  wobei  in  einigen  Versuchen  Phenol- 
pthalein  als  Indikator  diente.  In  anderen  Ver- 
suchen machte  sich  die  Verf  den  Umstand  zu- 
nutze, daß  in  der  Flüssigkeit  selbst  bei  Neutrali- 
sierung ein  Chromogen  entsteht,  so  daß  ein  Farb- 
wechsel hervorgerufen  wird,  der  als  Indikator  be- 
nutzt werden  kann.  PIs  ergab  sich,  daß  die  rela- 
tive Azidität  der  beiden  Hälften  des  geotropisch 
gereizten  Keimsprosses  im  Verlaufe  der  Präsen- 
tations- und  Reaktionszeit  Veränderungen  zeigt. 
Zuerst  wird  die  obere  Seite  verhältnismäßig  saurer, 
dann  nimmt  der  Säuregehalt  dort  ab,  bis  sein 
Maximum  auf  der  Unterseite  liegt.  Zur  Zeit  der 
sichtbaren  Reaktion  zeigen  dann  beide  Seiten  so 
gut  wie  gleichen  Säuregehalt.  Das  bleibt  so,  bis 
die  Spitze  des  Keimlings  durch  die  \'ertikalebene 
gegangen  ist,  worauf  die  konkave  Seite  wieder 
saurer  wird.  Mit  der  Geradestreckung  des  Keim- 
lings nimmt  die  Differenz  im  Säuregehalt  von 
neuem  ab.  Die  Zunahme  der  Azidität  geht  also 
mit  der  Wachstumsgescliwindigkeit  der  beiden 
Hälften  nicht  parallel.  (The  ßotanical  Gazette 
191 3,  vol.  56,  p.  480—489.)  F.  Moewes. 

Eisen  und  Pflanzenwachstum.  Den  vielbehan- 
delten Einfluß  des  Eisens  auf  die  Entwicklung  der 
Pflanze  und  die  Frage,  ob  es  durch  Chrom  oder 
Nickel  vertreten  werden  kann,  hat  neuerdings 
J.  Wolff  in  hübschen  Versuchen  mit  Gerste  ge- 
prüft. Nach  dem  von  P.  Maze  angegebenen 
Verfahren  wurden  die  Samen  zuerst  mit  einem 
sterilen  Gemisch  von  Wasser  und  Sand  lebhaft 
umgerührt,  in  sterilem  Wasser  gewaschen,  5  bis 
10  Minuten  mit  Sublimatlösung  (i  "/,,(,)  behandelt 
und  nochmals  gewaschen.  Zugleich  wurde  eine 
Reihe  großer,  mit  sehr  verdünnter  Bierwürze  ge- 
füllter Probiergläser,  die  mit  einem  Wattepfropf 
verschlossen  waren,  sterilisiert.  Dieser  wurde 
dann    nebst    einem    darauf .  gelegten    Gerstenkorn 


in  das  Probierglas  hinabgeschoben,  bis  er  in  die 
Flüssigkeit  eintauchte.  Nachdem  die  Samen  so 
aseptisch  gekeimt  hatten,  wurden  die  Keimpflänz- 
chen  auf  eine  nach  Maze  hergestellte  sterilisierte 
Nährlösung  überführt,  die  u.  a.  0,1  g  kristallisiertes 
Eisensulfat  im  Liter  enthielt.  Nach  der  Über- 
führung erfährt  die  Entwicklung  der  Pflanzen  zu- 
nächst eine  .Stockung,  die  10 — 12  Tage  dauert; 
dann  tritt  normales  Wachstum  ein,  die  Blätter 
werden  tiefgrün,  und  nach  8  Wochen  bildet  sich 
die  erste  Ähre.  Daneben  wurden  Pflanzen  in  der 
gleichen  Nährlösung  gezogen ,  aus  der  nur  das 
Eisen  weggelassen  war.  Auch  hier  wurde  zuerst 
die  erwähnte  Stockung,  dann  ein  Wachstum  der 
Wurzeln  und  des  Stengels  beobachtet,  aber  bald 
machte  sich  das  Fehlen  des  Eisens  in  der  weniger 
raschen  Entwicklung  der  Pflanze  und  dem  Bleich- 
werden der  Blätter  bemerklich.  Das  Trocken- 
gewicht der  mit  Eisen  ernährten,  6  Wochen  alten 
Pflanzen  war  3  —  3V2  rnal  so  groß  als  das  der 
gleichaltrigen  eisenfrei  erzogenen. 

Ersetzt  man  das  Eisensulfat  durch  Nickelsulfat 
oder  Kaliumchromat  in  günstiger  Dosis,  so  ent- 
wickeln sich  die  Pflanzen  nicht ,  sondern  sterben 
ab.  Beobachtet  man  die  Wirkung  der  drei  Salze, 
wenn  jedes  in  der  geringen  Menge  von  0,02  g 
im  Liter,  vorhanden  ist,  so  ergibt  sich  folgendes: 
Das  Eisen  begünstigt  die  Entwicklung  der  Gerste 
in  ausgesprochener  Weise,  und  die  Pflanze  kommt 
zur  Reife.  Das  Chrom  begünstigt  in  den  ersten 
vier  Wochen  die  Entwicklung  der  Pflanze,  und 
besonders  die  Wurzeln  erreichen  außerordentliche 
Größe;  dann  wird  die  Pflanze  chlorotisch  und 
geht  langsam  ein.  Das  Nickel  hindert  selbst  in 
dieser  geringen  Menge  jede  Entwicklung  der 
Pflanze.  (Die  toxische  Wirkung  des  Nickels  hatte 
man  schon  früher  beobachtet.)  Das  Eisen  ist  also 
durch  die  verwandten  Metalle  Chrom  und  Nickel 
nicht  ersetzbar.  Es  wirkt  schon  in  äußerst  kleinen 
Mengen  nach  der  Art  eines  Katalysators.  (Comptes 
rendus   191 3,  157,  p.   1022.)  F.  Moewes. 

Astronomie.  Die  veränderlichen  Sterne  vom 
Typus  des  Sternes  (5  Cephei,  der  seit  1784  als  sol- 
cher bekannt  ist,  bilden  eine  scharf  charakterisierte 
Gruppe  für  sich.  Die  Veränderung  der  Hellig- 
keit geht  ganz  regelmäßig  vor  sich.  P'ür  d  Cephei 
zwischen  der  3,62.  und  4,27.  Größe.  Die  Hellig- 
keitszunahme dauert  i  Tag  14  Stunden  59  Min., 
die  Abnahme  3  Tage  17  Stunden  49  Min.,  der 
ganze  Lichtwechsel  genau  5  Tage  8  Stunden 
47  Min.  35,8  Sek.  Es  scheint,  daß  wie  Luizet 
zeigt,  innerhalb  der  letzten  100  Jahre  sich  die 
Lichtkurve  ein  wenig  verändert,  so  daß  in  der 
Nähe  des  Maximums  der  Lichtwechsel  schneller, 
und  langsamer  in  der  Nähe  des  Minimums  vor 
sich  geht.  Die  Cepheiden  liegen  alle  in  der  Nähe 
der  Milchstraße,  haben  sehr  enge  Bahnen  und 
eine  Umlaufszeit  gleich  der  Dauer  des  Licht- 
wechsels. Bei  der  Schwäche  mancher  Cepheiden 
ist  eine  Messung  der  Spektrallinien  nach  dem 
Doppler'schen    Prinzip    nicht    angängig,    so    daß 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


141 


Luizet  versucht,  nur  die  Liclitkurven  zu  benutzen, 
um  die  Bahnelemente  abzuleiten.  Er  nimmt 
ferner  eine  schon  von  anderer  Seite  aufgestellte 
Hypothese  zu  Hilfe,  daß  nämlich  der  Hauptstern 
sich  in  einem  widerstehenden  Mittel  bewege.  Die 
Reibung  in  diesem  Mittel  muß  dann  den  Teil  des 
Sternes  erhellen,  der  gerade  gegen  das  Mittel  ge- 
richtet ist,  und  es  zeigt  sich,  daß  die  Zeiten  des 
hellsten  Glanzes  zusammenfallen  mit  den  stärksten 
Bewegungen  in  der  Gesichtslinie.  Wenn  also  die 
Veränderlichkeit  der  Geschwindigkeit  in  der  Ge- 
sichtslinie abhängt  von  der  Lage  der  Bahn  gegen 
den  Beobachter,  so  muß  dies  für  die  Helligkeits- 
schwankungen auch  der  Fall  sein.  Auf  diese 
Weise  gelingt  es  nun,  die  wichtigsten  Elemente 
der  Bahn  abzuleiten,  bis  auf  die  Neigung  der 
Bahn  gegen  das  Himmelsgewölbe  und  die  Größe 
der  halben  großen  Axe.  Aus  den  Spektral- 
messungen der  hellen  Sterne  ist  aber  abzuleiten, 
daß  die  Bahn  eines  Cepheiden  30 — 40  mal  kleiner 
ist  als  die  Merkurbahn ,  also  etwa  5  mal  größer 
als  die  Mondbahn,  daß  ferner  die  Massen  der 
Sterne  von  der  Ordnung  der  4 — lofachen  Jupiter- 
masse sind,  und  daß  trotz  dieser  Kleinheit  ihr 
Glanz  größer  ist  als  der  der  Sonne.  Die  Dichtig- 
keiten sind  sehr  gering,  und  infolgedessen  sind 
die  Dimensionen  der  Sterne  erhebliche  Teile  ihrer 
Bahnen,  so  daß  durch  die  gegenseitige  Gezeiten- 
wirkung beide  Körper  etwas  gegeneinander  in 
die  Länge  gezogen  sein  müssen.  Ferner  ist  der 
Einfluß  des  widerstehenden  Mittels  auf  den  Haupt- 
körper sehr  genau  untersucht,  und  eine  allgemeine 
Formel  für  alle  Cepheiden  aufgestellt,  die  den 
Glanz  im  Maximum  und  Minimum  mit  zwei  Win- 
keln in  die  Bahnbewegung  verbindet.  Die  gute 
Übereinstimmung  zwischen  Theorie  und  Beobach- 
tung für  alle  Cepheiden  zeigt,  daß  das  Wesen 
dieses  Typus  richtig  erkannt  ist.  Da  ferner  mit 
zwei  Ausnahmen  das  Maximum  kurz  nach  dem 
Durchgang  des  helleren  Sternes  durch  das  Peria- 
stron  stattfindet,  dieses  aber  von  der  Lage  gegen 
den  Beobachter  abhängt,  so  ergibt  sich  die  merk- 
würdige Tatsache,  daß  die  Cepheiden  aus  einem 
unbekannten  Grunde  in  einer  ganz  bestimmten 
Weise  im  Räume  orientiert  sind.  [Bull.  soc.  Astro- 
nom, d.  France,   191 3,  S.  218.] 

Über  Doppelsterne,  die  infolge  ihrer  Bahnlage 
sich  bei  jedem  Umlauf  bedecken  und  infolgedessen 
uns  als  Veränderliche  erscheinen,  hat  Harlow 
Shapley  folgende  bemerkenswerte  Ergebnisse 
erzielt.  Er  untersucht  die  sehr  genauen  photo- 
metrischen Messungen  von  87  solchen  Systemen, 
und  findet  zunächst,  daß  je  besser  die  photo- 
metrischen Messungen  sind,  um  so  besser  wird 
die  Veränderung  der  Helligkeit  durch  die  Theorie 
dargestellt.      Irgendwelche    Unregelmäßigkeiten  in 


den  Lichtkurven  pflegen  mit  zunehmender  photo- 
metrischer Genauigkeit  zu  verschwinden,  herner 
ist  deutlich  aus  den  Beobachtungen  zu  entnehmen, 
wie  der  entferntere  Stern  sich  verdunkelt,  wenn 
er  sich  dem  Rande  der  Scheibe  des  anderen 
nähert,  ein  Beweis  für  die  Existenz  einer  absor- 
bierenden Atmosphäre.  Daraus  geht  dann  hervor, 
daß  auch  der  schwächere  der  beiden  Sterne  selbst 
leuchtend  ist,  wenigstens  ist  in  den  hier  unter- 
suchten Fällen  kein  Beispiel  dafür  vorhanden,  daß 
der  eine  der  beiden  Sterne  dunkel  sein  müßte. 
Weiterhin  sind  Beziehungen  aufgesucht  worden 
zwischen  den  relativen  Dichten  der  Steine  und 
den  Spektren  der  Sterne  vom  ersten  Typus.  Hier 
scheint  eine  mittlere  Dichtigkeit  zu  herrschen, 
während  beim  zweiten  Typus  zwei  sich  deutlich 
unterscheidende  Gruppen  vorhanden  sind,  zwischen 
denen  die  Dichtigkeit  des  ersten  Typus  liegt. 
Diese  beiden  Gruppen  sind  offenbar  in  ausge- 
sprochenem Maße  identisch  mit  den  beiden  Klassen 
der  Sterne  vom  zweiten  Typus,  deren  außerordent- 
lich verschiedene  Leuchtkraft  von  Hertzsprung 
und  Russell  untersucht  worden  ist.  Und  zwar 
sprechen  die  Tatsachen  für  die  Richtigkeit  der 
Annahme,  daß  die  Unterschiede  der  Leuchtkraft 
vor  allem  durch  die  sehr  verschiedenen  Dichtig- 
keiten verursacht  sind.  [Astrophys.  Journal  1913, 
September.] 

Ein  eigentümliches  Verhalten  der  Spektral- 
linien hat  B  e  1  o  p  o  1  s  k  i  bei  «  Canum  Venaticorum 
gefunden.  Aus  67  Spektrogrammen,  die  er  mit 
dem  großen  30-Zöller  und  einem  Dreiprismen- 
Spektrograph  aufgenommen  hat,  und  die  mit 
einem  Vergleichsspektrum  des  Eisens  verglichen 
sind,  so  daß  eine  hohe  Genauigkeit  in  den  Mes- 
sungen liegt,  ergibt  sich  für  eine  Anzahl  Linien 
eine  Schwankung  ihrer  Dicke  in  einer  Periode 
von  5,5  Tagen,  also  der  Umlaufszeit  des  Systems. 
Andere  Linien  schwanken  in  der  gleichen  Periode, 
aber  im  entgegengesetzten  Sinne,  indem  sie 
schwächer  werden,  wenn  die  ersten  dicker  werden 
und  umgekehrt.  Andere  Linien,  wie  die  des  H, 
Mg,  Fe,  Ca,  zeigen  wenig  oder  gar  keine  Ver- 
änderungen. Die  Messungen  nach  dem  Doppler- 
schen  Prinzip,  die  die  Bewegungen  in  der  Ge- 
sichtslinie ergeben,  zeigen  für  gewisse  Linien  keine 
Veränderungen,  die  von  der  5,Stägigen  Periode 
abhingen,  während  andere  Linien  dies  tun.  Dies 
widerspruchsvolle  Verhalten  glaubt  Belopolski 
an  besten  dadurch  erklären  zu  können,  daß  er 
einen  gasförmigen  Begleiter  annimmt,  oder  einen 
Gasring,  der  sich  rings  um  den  Zentralkörper  be- 
wegt. Es  bleiben  aber  noch  unerklärte  Schwierig- 
keiten übrig,  für  die  das  erklärende  Material  von 
der  Zukunft  zu  erwarten  ist.     ;Astr.  Nachr.  4681.] 

Riem. 


142 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr.  9 


Kleinere  Mitteilungen. 


Tuberkulosebehandlung.     Über  die  Zusammen- 


setzung und  die  Art  der  Anwendung  seines  Ver- 
fahrens hat  P'riedmann  (Indikationen  zur  An- 
wendung des  Dr.  Friedrich  Franz  Friedmann'schen 
Heil-  und  Schutzmittels  zur  Behandlung  der 
Tuberkulose  und  Skrofulöse,  Berlin,  klin.  Wochen- 
schrift Nr.  44;  sowie  „Über  das  Dr.  Friedmann- 
sche  Heil-  und  Schutzmittel  zur  Behandlung  der 
Tuberkulose  und  Skrofulöse",  Berlin,  klin.  Wochen- 
schrift Nr.  45)  Mitteilung  gemacht. 

Nachdem  F.  dort  seiner  Überzeugung  Aus- 
druck gegeben  hat,  daß  es  auch  heute  noch 
besser  wäre,  das  Mittel  nur  eingeweihten  Ärzten 
in  die  Hände  zu  geben,  hält  er  es  aber  doch 
nunmehr  für  seine  Pflicht,  „dem  immer  größer 
werdenden  Ansturm,  dem  immer  lauter  werden- 
den Wunsche  nachzukommen  1  Ich  gebe  daher 
mein  Mittel  den  deutschen  Ärzten  frei." 

Das  klingt  sehr  schön,  und  ich  hätte  nun 
eigentlich  alle  Ursache  mein  Schlußurteil  über 
das  von  F.  eingeschlagene  Verfahren  zu  mildern, 
aber  bei  näherer  Betrachtung  ist  man  eigentlich 
auch  jetzt  immer  noch  im  unklaren  darüber,  auf 
welche  Art  gewinnt  denn  F.  seine  lebenden 
Schildkrötentuberkelbazillen  ?  Er  macht  darüber 
nur  die  etwas  aphoristische  Bemerkung,  daß  sie: 
„nach  einem  ganz  besonderen  \'erfahren  (sehr 
lange  fortgesetztes  Umzüchtungs-  bzw.  Passagever- 
fahren) hergestellt  sind".  Im  übrigen  wird  die 
zu  einer  Einspritzung  erforderliche  Bazillenemulsion 
von  einer  hiesigen  pharmazeutischen  P"abrik  her- 
gestellt, und  der  Arzt  erhält  sie  fertig  zum 
Einspritzen  ausgeliefert.  Man  hatte  nun  früher 
immer  den  Eindruck,  als  F.  nicht  mit  dem  neuen 
Mittel  in  die  Öffentlichkeit  wollte,  als  ob  die 
technischen  Schwierigkeiten,  das  Mittel  herzustellen, 
so  bedeutende  wären,  daß  er  es  nicht  verant- 
worten konnte,  es  der  Allgemeinheit  auszuliefern. 
Um  so  erstaunter  ist  man  jetzt,  wenn  man  er- 
fahren muß,  daß  der  Arzt  selbst  mit  der  Her- 
stellung nicht  das  geringste  zu  tun  hat,  sondern 
sich  nur  an  die  angegebenen  Richtschnuren  zu 
halten  braucht,  um  das  neue  Mittel  wie  jedes 
andere  zu  injizieren.  Wäre  das  nicht  schon  vor 
*/2  Jahre  möglich  gewesen?  Hätten  sich  nicht 
schon  damals  wohl  ausnahmslos  sämtliche  Kliniken 
Deutschlands  bereitwillig  geöffnet,  das  neue  Mittel 
auszuproben?  Warum  also  dieser  Umweg  über 
Amerika  von  einem  d  e  u  t  s  c  h  e  n  I'orscher  ?  Also 
mag  der  Wert  des  neuen  Mittels  sein,  wie  er 
wolle  —  so  hervorragend  wie  immer  behauptet, 
sind  scheinbar  bis  jetzt  allerdings  die  Erfolge 
immer  noch  nicht  einwandfrei  festgestellt  —  die 
Amerikareise  wird  auch  in  Zukunft  unverständlich 
bleiben. 

Über  die  Erfolge  des  neuen  Mittels  werde  ich, 
sobald  allgemeinere  Beobachtungen  vorliegen 
werden,  des  näheren  berichten. 

Dr.  med.  Carl  Jacobs. 


Die  Billiter-Kerze.  —  Ungefähr  vor  40  Jahren 
konstruierte  Jablochkoffeine  Bogenlampe  ohne 
Reguliermechanismus,  indem  er  zwei  parallele 
Kohlenstäbe  durch  eine  dazwischen  gestrichene 
dünne  Gipsschichte  verband.  Diese  Kerzen  zündeten 
aber  nach  dem  Ausschalten  des  Stromes  beim 
Wiedereinschalten  nicht,  daher  wurden  leitende 
Materialien  zu  der  aus  Gips  oder  ähnlichen  Stoffen 
hergestellten  Mittelscliichle  beigemischt.  Der  ge- 
wünschte Erfolg  trat  aber  nicht  ein,  weil  die 
Mittelschichte  entweder  zu  schlecht  oder  zu  gut 
leitend  war.  Im  letzteren  Falle  schmolz  die  Masse 
heraus.  Für  brauchbare  Kerzen  muß  die  Mittel- 
schichte folgenden  Bedingungen  entsprechen : 
I.  darf  sie  von  Natur  aus  nicht  leitend  sein,  da 
sonst  der  elektrische  Strom  direkt  durchfließen 
und  sie  zum  Glühen  bringen  würde;  2.  soll  sie 
bei  hoher  Temperatur  durch  Berührung  mit  dem 
Lichtbogen  eine  ganz  bestimmte  Leitfähigkeit  er- 
reichen; geringe  Erhitzung  muß  ohne  Einfluß 
sein ;  3.  die  einmal  erreichte  Leitfähigkeit  darf 
arrf  keine  Weise  verloren  gehen,  da  sonst  eine 
Wiederzündung     der    Kerzen     unmöglich     vi'äre; 

4.  die  Mittelschichte  muß  infolge  der  starken  Er- 
hitzung, die  beim  Einschalten  des  elektrischen 
Stromes  eintritt,  leitende  Dämpfe  abgeben,  durch 
welche  sofortige  Lichtbogenbildung  bewirkt  wird; 

5.  muß  sie  guten  Kontakt  mit  den  Kohlen  haben 
und  auch  dauernd  beibehalten,  ferner  muß  sie 
unempfindlich  sein  gegen  große  Temperatur- 
sprünge; 6.  die  einmal  leitend  gewordene  Masse 
muß  einen  sehr  hohen  Temperaturkoeffizienten 
der  elektrischen  Leitfähigkeit  besitzen,  damit  die 
Zündspannung  nur  wenig  höher  liegt  als  die 
Brennspannung;  7.  darf  die  die  Mittelschichte 
bildende  Masse  nicht  zu  teuer  sein,  weshalb  die 
Edelmetalle  von  der  Verwendung  ausgeschlossen 
sind. 

Bei  der  Billiter-Kerze  ist  die  Mittelschicht  aus 
folgenden  Bestandteilen  zusammengesetzt:  a)  aus 
einem  Metalloxyd  (z.  B.  TiO.,  u.  a.),  welches  durch 
hohe  Erhitzung  in  Gegenwart  eines  Reduktions- 
mittels den  elektrischen  Strom  leitende  Verbin- 
dungen gibt;  b)  aus  einer  Trägersubstanz;  c)  einem 
Reduktionsmittel  (z.  B.  Kohlen-  oder  Graphit- 
pulver); d)  einem  geeigneten  Bindemittel. 

Für  die  erste  Zündung  wird  an  dem  Brennende 
der  Kerze  eine  leitende  Schichte  zwischen  den 
beiden  Elektroden  hergestellt.  Für  die  späteren 
Zündungen    bildet   sich    diese  Brücke    von    selbst. 

Das  Einschalten  der  Kerze  geschieht  folgender- 
maßen: Zunächst  erhitzt  sich  die  Brücke  infolge 
Stromdurchganges,  und  wegen  des  sehr  hohen 
Temperaturkoeffizienten  der  elektrischen  Leit- 
fähigkeit steigt  die  Siromstärke  und  somit  auch 
die  Temperatur  sehr  rasch,  so  daß  in  kürzester 
Zeit  die  Brücke  zum  Glühen,  Schmelzen  und  Ver- 
dampfen kommt.  Die  hierbei  entstehenden  leiten- 
den Dämpfe  rufen  die  Bildung  eines  Lichtbogens 
hervor,    der    sich    unter    dem    Einflüsse    elektro- 


N.  F.  Xin.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


143 


magnetischer  Kräfte  rasch  an  die  Spitze  der 
Kerze  begibt  und  dort  ruhig  weiterbrennt.  Durch 
die  Brücke  geht  nur  noch  ein  minimaler  Teil  des 
Stromes  hindurch,  da  sie  bis  auf  eine  dünne 
Schichte  verdampft  und  ihr  Widerstand  durch 
Abkühlung  infolge  Entfernung  des  Bogens  ge- 
stiegen ist.  In  dieser  Weise  zünden  die  Kerzen 
bis  zu  ihrem  gänzlichen  Abbrande  beliebig  oft. 

Die  BilliterKerzen  brennen  in  jeder  beliebigen 
Lage  und  eignen  sich  für  rasch  herzustellende 
billige  Intensivbeleuchtung.  R.  D. 


Bücherbesprechungen. 

Von  der  Karte  der  nutzbaren  Lagerstätten 
Deutschlands  im  Maßstabe  i  :  200000  ist  die 
Lieferung  VI,  Oberschlesien,  enthaltend 
die  Blätter  ()ls,  Landsberg,  Brieg,  Lublinitz,  Ratibor, 
Beuthen,  Hultschin,  Pleß,  zwei  Ergänzungsblätter 
zu  Blatt  Beuthen  und  Pleß  und  vier  Beilageblätter 
im  Maßstabe  i :  100  000,  bearbeitet  von  Bergassessor 
Dr.  Kurt  Flegel,  herausgegeben  von  der  Königlich 
Preußischen  Geologischen  Landesanstalt  zu  Berlin, 
erschienen.  Um  ein  möglichst  einfaches  und  klares 
Bild  der  Lagerungsverhältnisse  des  oberschlesischen 
Steinkohlenbezirkes  zu  geben,  sind  die  einzelnen 
Flözstufen,  und  zwar  die  Ostrauer-,  Sattelflöz-, 
Rudaer-  und  Laziskerschichten  meistens  nur  durch 
ein  Flöz  in  einem  bestimmten  Niveau  zur  Dar- 
stellung gelangt.  Dabei  sind  die  Schichten  der 
Randgruppe  mit  einem  dunklen  Karbonton  von 
denen  der  Muldengruppe  mit  einem  helleren  Ton 
unterschieden.  Von  den  sehr  zahlreichen  Bohrungen 
sind  nur  die  wichtigsten  durch  konzentrische  Kreise 
in  der  Farbe  der  durchbohrten  Flözstufen  einge- 
tragen worden.  Die  in  zwei  Horizonten  des 
Muschelkalks  abgelagerten  Blei-  und  Zinkerze, 
sowie  die  in  Taschen  des  Muschelkalks  vorkom- 
menden Eisenerze  sind  in  einer  Projektion  auf  die 
Erdoberfläche  in  verschiedenen  Farben  zur  Dar- 
stellung gelangt.  Im  übrigen  gibt  das  Kartenwerk 
Aufschluß  über  Form  und  Inhalt  der  Lagerstätten, 
über  das  geologische  Alter  des  Nebengesteins, 
über  die  Lage  und  relative  wirlschaftliche  Be- 
deutung der  Bergwerke  und  Hütten,  über  die  Zu- 
gehörigkeit der  Lagerstätten  zu  gesonderten,  natür- 
lichen Lagerstättenbezirken  nach  geognostischen 
und  geographischen  Gesichtspunkten  und  über  die 
Produktion  der  einzelnen  Bezirke  nach  Menge  und 
Wert  in  graphischer  Darstellung.  Besonderen  Wert 
erhält  die  Karte  noch  dadurch,  daß  auch  die 
Fortsetzung  der  oberschlesischen  Steinkohlen-  und 
Erzlagerstätten  ins  benachbarte  Ausland  (Österreich 
und  Rußland)  vollständig  berücksichtigt  ist. 

W.Wien,  Vorlesungen  über  neuere  Pro- 
bleme der  theoretischen  Physik.    76  S. 
Leipzig,  Teubner,   191 3.  —  Geh.  2,60  Mk. 
Diese  Vorlesungen,  die  der  Träger  eines  Nobel- 
preises   für    Physik    im    FVühjahr     191 3     an     der 
Columbia-LTniversität  gehalten  hat,    wollen  haupt- 
sächlich   Klarheit    schaffen    über    die    Fragen,    die 


aus  der  Strahlungstheorie  und  der  davon  abge- 
leiteten Quantentheorie  entsprungen  sind.  Be- 
kanntlich soll  Plank's  neueste  Theorie  nur 
Gültigkeit  haben  in  bezug  auf  Emission  von 
Wärmestrahlen,  nicht  auf  deren  .Absorption.  Darin 
liegt  eine  große  Schwierigkeit,  die  der  Autor  zu 
vermindern  sucht.  Er  will  „die  ältere  Plank- 
sche  Theorie  in  der  besseren  F"orm  von  Debye 
mit  der  neueren  Theorie  Plank's  vereinen". 
Hierbei  ergibt  sich  das  Emissionsgesetz,  das 
P 1  a  n  k  als  Hypothese  einführt,  als  Folgerung,  was 
entschieden  ein  Vorteil  zu  nennen  ist.  Daher 
braucht  dann  die  Theorie  der  spezifischen  Wärme 
nicht  geändert  zu  werden.  Was  die  einzelnen 
Vorlesungen  anbetrifft,  so  behandelt  der  Verfasser 
folgende  Themen  :  Ableitung  der  Strahlungsformel, 
Theorie  der  spezifischen  Wärmen  von  Debye, 
die  neuere  Plank'sche  Strahlungstheorie,  Theorie 
der  elektrischen  Leitung  in  Metallen,  Einstein- 
sche  Schwankungen,  Theorie  der  Röntgenstrahlen, 
lichtelektrische  Wirkung  und  Lichtemission  der 
Kanalstrahlen.  Da  das  Buch  dem  Gegenstande 
entsprechend  teilweise  sehr  mathematisch  ist,  kann 
es  nur  dem  Fachmann  empfohlen  werden,  soweit 
es  überhaupt  einer  Empfehlung  bedarf. 

Alfred  Wenzel. 


E.  I.  R.  Scholz,  Bienen  und  Wespen,  ihre 
Lebensgewohnheiten  und  Bauten.  Na- 
turwissenschaftliche Bibliothek  für  Jugend  und 
Volk  von  K.  Höller  und  G.  Ulm  er.  Leipzig, 
Quelle  &  Meyer.  —  Geb.  1,80  Mk. 
Verf  ist  bestrebt,  in  einem  Volksbuch  die 
mannigfachen  und  komplizierten  Lebensgewohn- 
heiten der  Hymenopteren  zusammenzulassen.  Der 
umfangreiche  Stoff  zerfällt  in  die  zwei  größeren 
Kapitel:  Einsame  und  gesellige  Stechimmen.  Im 
ersten  werden  die  einsam  lebenden  Bienen  und 
Wespen  nach  der  Art  ihrer  Bauten  und  nach  ihren 
wichtigsten  biologischen  Eigentümlichkeiten  be- 
sprochen. Der  zweite  Abschnitt  behandelt  die 
Hummeln  und  Papierwespen.  Den  Schluß  bildet 
eine  umfangreiche  Tabelle,  in  der  von  jeder  ein- 
zelnen im  Buche  erwähnten  Art  Bauweise  und 
Nistorte,  besondere  Gewohnheiten,  die  am  häufig- 
sten besuchten  Blüten,  Flugzeit  und  Feinde  mit- 
geteilt werden.  Leider  sind  die  wenigen  anato- 
mischen Hinweise  unvollständig  und  zum  Teil 
unklar,  die  systematischen  Verwandtschaftsverhält- 
nisse werden  kaum  berührt.  Im  Hinblick  auf  den 
Zweck  des  Buches,  volkstümlich  zu  sein,  vermeidet 
es  der  Verfasser,  bei  jeder  Art  den  allgemein 
gültigen  wissenschaftlichen  Namen  zu  gebrauchen. 
Da  aber  seine  deutsche  Übersetzung  nicht  immer 
glücklich  ist,  so  wird  der  Leser  leicht  zu  Miß- 
verständnissen geführt.  Dr.  Stellwaag. 


Wetter-Monatsübersicht. 

Innerhalb  des  vergangenen  Januar  wechselten  etwiis 
längere  Zeiten  mit  heiterem,  kaltem  und  trübem,  mildem 
Wetter  zweimal  miteinander  ab.  Zu  Beginn  des  neuen  Jahres 
herrschte  in  ganz  Deutschland  ziemlich  strenger  Frost,  zwischen 


144 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  9 


dem  I.  und  2.  Januar  brachten  es  z.  B.  Königsberg  i.  Pr., 
Cassel  und  Frankfurt  a.  M.  auf  14,  Weilburg  auf  Ib,  Habel- 
schwerdt  auf  20°  C  Kälte.  Aber  am  2.  früh  stellte  sich  längs 
der  Küste  trübes,  nasses  Tauwetter  ein,  das  sich  mit  lebhaften 
südwestlichen  Winden  rasch  nach  dem  Binnenlande  weiter- 
verbreitete. In  den  folgenden  Tagen  wurden  an  vielen  Orten 
5"  C  überschritten  und  am  5.  Januar  in  Celle  10"  C  nahezu 
erreicht.  Fünf  Tage  später  drehte  sich  der  Wind  im  größten 
Teile  des  Landes  nach  Nord  und  rief  einen  südwärts  fort- 
schreitenden jähen  Temperatursturz  hervor.  Der  wieder- 
cingetretene,  mehr  oder  weniger  strenge  Frost  hielt  in  den 
meisten  Gegenden  zwei  Wochen  lang  fast  ohne  Unterbrechung 
an.  Am  13.  Januar  sank  das  Thermometer  beispielsweise  in 
Insterburg  auf  —  20,  am  14.  in  Orteisburg  auf  —  21  und 
am  15.  in  Habelschwerdt  sogar  auf  —  29 "  C.  Während 
dieser  ganzen  Zeit,  in  der  sich  der  Himmel  bisweilen  auf- 
klärte, aber  nebeliges  Wetter  bei  weitem  vorherrschte,  lag  in 
der  Niederung,  außer  im  östlichen  Ostseegebiete,  im  all- 
gemeinen nur  eine  ganz  leichte  Schneedecke,  an  vielen 
Stellen   war   der   Boden   völlig  von  Schnee   entblößt. 


Xstn^srafur- SRinima  ciniaer  ©rfs  im  Sanuarl914. 

t.  Januar  6.  11.  Ss^  Zt. 


Berliner  Welterbu 


Erst  um  den  25.  Januar  führten  mildere  südwestliche 
Winde  eine  neue  allgemeine  Erwärmung  herbei  und  am  Ende 
des  Monats  war  es  im  Norden  frühlingsartig  warm,  während 
in  Süd-  und  Mitteldeutschland  ziemlich  milde  Tage  noch  mit 
kalten  Nächten  abwechselten.  In  Berlin  und  verschiedenen 
anderen  Orten  stieg  das  Thermometer  am  31.  bis  auf  10,  in 
Magdeburg  sogar  auf  12"  C.  Im  Monatsmittel  war  es  in 
ganz  Deutschland,  außer  an  der  ostpreußischen  Küste,  zu  kalt, 
die  .Abweichungen  von  den  normalen  Temperaturen  betrugen 
aber  in  den  meisten  Gegenden  Norddeutschlands  nicht  mehr  als 
einen,  in  Süddcutschland  hingegen  und  in  einem  kleinen  Teile 
des  nordwestlichen  Binnenlandes  bis  zu  4  Celsiusgraden.  Um- 
gekehrt war  die  durchschnittliche  Bewölkung  im  Norden 
größer  und  daher  die  Zahl  der  Sonnenscheinstunden  kleiner 
als  im  Süden.  In  Berlin  hat  die  Sonne  im  ganzen  Monat  an 
37   Stunden  geschienen,   während   hier  in   den   früheren  Januar- 


monaten   42    Stunden    mit    Sonnenschein    verzeichnet    worden 
sind. 

Bedeutendere  Niederschläge  blieben  im  wesentlichen  auf 
die  ersten  12  Tage  des  Monats  beschränkt.  Seit  dem  2.  Januar 
fanden  im  größten  Teile  des  Landes  lange  anhaltende,  er- 
giebige Regenfälle  statt,  die  später  mehrmals  mit  Schneefällen 
abwechselten.  Am  g.  und  10.  herrschten  an  der  östlichen 
Ostseeküste  heftige  Schneestürme  und  richteten,  mit  einer 
Sturmflut  verbunden,  daselbst  schweres  Unheil  an.  Vom 
13. — 26.    Januar    blieb    das    Wetter    im    allgemeinen    trocken, 




V^wefcr^ßeBraa^S^^cn  im  3anuarl914. 

^1                                          ^i         o'o     iftitterer  Werf  für 

^  H-  "-^  1  ^  S  fJ-S-s    Ki^^^^  S       MonatssummeimJan. 
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wenn  auch  der  Himmel  größtenteils  mit  Nebelgewölk  bedeckt 
war.  i)ann  kamen  wieder  etwas  häufiger  Niederschläge, 
hauptsächlich  Regen  vor,  die  jedoch  nur  wenigen  Orten 
nennenswerte  Regenmengen  brachten.  Im  ganzen  Monat  be- 
trugen die  Niederschläge  für  den  Durchschnitt  aller  berichten- 
den Stationen  38,9  mm,  5,2  mm  weniger,  als  die  gleichen 
Stationen  im  Mittel  der  früheren  Januarmonate  seit  1891  ge- 
liefert  haben. 


Die  mit  einem  zweimaligen  Wittcrungsumschlage  ver- 
bundene Drehung  der  Winde  stand  im  engsten  Zusammen- 
hange mit  den  Veränderungen,  die  die  allgemeine  Anordnung 
des  Luftdruckes  im  Laufe  des  Januar  aufwies.  In  seinen 
ersten  acht  Tagen  wurde  der  Norden  Europas  von  mehr  oder 
weniger  tiefen  Barometerdepressionen  durchzogen,  während 
sich  in  Südwest-  und  Mitteleuropa  gewöhnlich  ein  umfang- 
reiches Hochdruckgebiet  befand.  Am  9.  Januar  aber  erschien 
auf  der  skandinavischen  Halbinsel  ein  anderes  Maximum,  das 
daselbst  an  Höhe  bedeutend  zunahm  und  mit  trockenen,  eisig- 
kalten nördlichen,  allmählich  in  Ost  übergehenden  Winden 
langsam  weiter  nach  Süden  vordrang.  Am  23.  war  das 
Barometermaximum  nach  Norddeutschland,  einen  Tag  später 
nach  Süddeutschland  gelangt,  worauf  vom  atlantischen  Ozean 
neue  tiefe  Minima  nach  Skandinavien  und  Nordrußland  vor- 
rücken konnten  und  die  östlichen  Winde  in  ganz  Mitteleuropa 
wieder  der  früheren  milden  Südwestströmung  Platz  machen 
mußten.  Dr.  E.  Leß. 


Inhalt:  Rudolf  Hundt:  Das  älteste  Leben  Ostthüringens.  F.  Schwangart:  Die  Reformbewegung  in  der  angewandten 
Entomologie.  —  Einzelberichte:  Walter  Wahl:  Über  die  optischen  Eigenschaften  von  kristallisiertem  Wassenstofl, 
Sauerstoff,  Stickstoff,  Argon  und  anderen  Stoffen.  Alfred  Wenzel:  Radioaktivität  der  Atmosphäre.  EvaO.  Schley: 
Säuregehalt  und  geotropische  Reaktion.  J.  Wolff:  Eisen  und  Pflanzenwachstum.  Luizet:  Die  veränderlichen  Sterne 
vom  Typus  i  Cephei.  Harlow  Shapley:  Doppelsterne.  Belopolski:  Spektrallinien.  —  Kleinere  Mitteilungen: 
Friedmann'sche  Tuberkulosebehandlung'.  Die  Billiter-Kerze.  —  Bücherbesprechungen:  Karte  der  nutzbaren  Lager- 
stätten Deutschlands.  —  W.  Wien:  Vorlesungen  über  neuere  Probleme  der  theoretischen  Physik.  —  E.  I.  R.  Scholz: 
Bienen  und   Wespen,  ihre   Lebensgewohnheiten   und   Bauten.  —   Wetter-Monatsübersicht. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstrafie   IIa,   erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.    Band  ; 
der  ganzen  Reihe  29    Band 


Sonntag,  den  8.  März  1914. 


Nummer  10. 


Die  petrographische  Methode  der  Paläogeographie. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.   K.  Andree, 
Privatdozent  für  Geologie   und   Paläontologie  an  der  Universität  Marburg  i.  H. 


Das  Ziel  jeder  Paläogeographie  muß  sein, 
ein  geographisches  Bild  der  Erdoberfläche  für 
jeden  kleinsten,  durch  stratigraphische  Forschun- 
gen unterscheidbaren  Zeitabschnitt,  mag  er 
auch  durch  eine  noch  so  dünne  Schicht  repräsen- 
tiert werden,  zu  entwerfen.  Von  diesem  Ziele 
sind  wir  noch  weit  entfernt,  und  auch  die  neuesten 
paläogeographischen  Karten  sind,  wie  Koken 
sich  einmal  ausgedrückt  hat,  „mehr  die  graphische 
Darstellung  eines  Gedankenkreises  als  ein  Abbild 
tatsächlicher  Verhältnisse". 

Bisher  ist  fast  ausschließlich  die  paläontologi- 
sche Methode  paläogeographischer  Forschung  be- 
trieben worden.  Doch  läßt  sich  zeigen,  wie  wert- 
volle Fingerzeige  auch  eine  modern  betriebene 
Sedimentpetrographie  der  Paläogeographie  geben 
kann.  Es  ist  ein  Verdienst  von  Joh.  Walther, 
im  Hinblick  auf  dieses  hohe  Ziel  —  sehen  wir 
doch  als  das  schließliche  Ziel  aller  unserer  geo- 
logischen und  paläontologischen  Untersuchungen 
nicht  eine  Faunen-  und  nicht  eine  Gesteinsbe- 
schreibung, sondern  eine  bis  ins  einzelnste  gehende 
Paläogeographie  und  Entwicklungsgeschichte 
unseres  Planeten  —  mit  Nachdruck  auf  die  Wich- 
tigkeit sedimentpetrographischer  Studien  hinge- 
wiesen zu  haben. 

Das  erste,  was  hier  zu  tun  ist,  ist  das  Studium 
rezenter  .Sedimentbildung.  Hierbei  kommt  es  auf 
den  ganzen  komplizierten  Mechanismus  geographi- 
scher Bedingungen  an,  die  zu  bestimmten  Sedi- 
mentationen führen,  und  es  ist  daher  unerläßlich, 
daß  der  Sedimentpetrograph,  der  der  Paläogeo- 
graphie mit  Erfolg  dienen  will,  sich  die  Erfah- 
rungen der  physischen  Geographie  zu  eigen  macht. 
Gerade  wer  als  Sedimentpetrograph  mit  solchen 
paläogeographischen  Zielen  vor  Augen  geographi- 
sche Studien  treibt,  wird  am  ersten  empfinden, 
wie  falsch  die  gerade  bei  Geologen  nicht  selten 
anzutreffende  Nichtachtung  der  Geographie  als 
selbständiger  Wissenschaft  ist.  Allerdings  muß 
zugegeben  werden,  daß,  da  viele  Geographen 
nicht  nur  früher,  sondern  auch  noch  heute  aus 
den  verschiedensten  Hilfswissenschaften  dieses 
Faches  hervorgegangen  sind,  auch  ganz  naturge- 
mäß gelegentlich  Gebiete  von  ihnen  bearbeitet, 
bzw.  für  die  Geographie  annektiert  wurden,  die 
anderen  Wissenschaften,  so  z.  B.  der  Geologie, 
zufallen  müssen.  Eine  solche  Nichtachtung  der 
Grenzen  einer  Wissenschaft  ist  keineswegs  ein 
Beweis  für  das  Fehlen  einer  Berechtigung  dieser 
Wissenschaft  an  sich.  Im  Gegenteil,  ich  bin  der 
Zustimmung  der  Mehrzahl  der  beteiligten  Forscher 
sicher,    wenn    ich   in  der  Geographie  als  Wissen- 


schaft jenes  ungeheure  Gebiet  erkenne,  das  sich 
mit  der  Aufgabe  beschäftigt,  die  Beziehungen  aller 
Erscheinungen  der  Erdoberfläche  zueinander, 
mögen  sie  nun  anorganischer  oder  organischer 
Natur  sein,  herzustellen  und  auszuwerten.  Hat 
der  Geograph  diese  Aufgabe  für  die  Jetztzeit,  so 
ist  es  Sache  des  Geologen  —  und  hier  ist  aller- 
dings am  häufigsten  von  jenen  Nachbarn  verstoßen 
worden  — ,  dieses  für  die  unendlich  lange  Vorzeit 
durchzuführen,  woraus  allein  schon  hervorgeht, 
wie  wichtig  geographisches  Denken  für  den  Geo- 
logen, der  zugleich  Paläogeograph  und  nicht  nur 
Handlanger  des  Bergmanns  oder  dgl.  sein  will, 
sein  muß. 

Um  sich  die  komplexe  Zusammensetzung  der 
Sedimente  ständig  vor  Augen  zu  halten,  hat  man 
es  für  praktisch  befunden,  ^)  sämtliche  für  die 
Sedimentbildung  in  Frage  kommenden  Kompo- 
nenten in  einem  Schema  zusammenzufassen,  das 
zweckmäßigerweise  umstehende  Form  erhält : 

Ein  solches  Schema  mag  ein  jeder  nach  Be- 
darf einfacher  oder  komplizierter  gestalten.  Jeden- 
falls aber  sollte  sich  der  Sedimentpetrograph  bei 
der  Untersuchung  eines  jeden  Gesteins  darüber 
klar  zu  werden  suchen,  ob  und  in  welchem  Maße 
eine  Beteiligung  der  einzelnen  minerogenen  oder 
biogenen,  autochthonen  oder  allochthonen  usw. 
Komponenten  vorliegt.  Denn  es  liegt  hierin  zu- 
gleich die  Beantwortung  einer  großen  Zahl  von 
Fragen,  welche  die  erwähnten  geographischen  Be- 
dingungen der  Sedimentbildung  betreffen.  So  ist 
z.  B.  bei  der  Bildung  der  sog.  Oolithkörner  oder 
Ooide  scharf  zwischen  zwei  F'ällen  zu  unter- 
scheiden, die  gleichwohl  beide  unter  die  Rubrik 
der  aus  Lösung  ausgeschiedenen  autochthon- 
minerogenen  Komponente  zu  stellen  wären,  näm- 
lich erstens  dem  Niederschlag  aus  übersättigter 
Kalklösung,  wie  die  Buntsandsteinrogensteine  er- 
fordern, für  deren  Bildung  ein  Fällungsmittel,  das 
man  bisher  wohl  meistens  angenommen  hat, 
kaum  zur  Verfügung  stand,  und  zweitens  einer 
chemischen  Ausfällung  aus  einer  verdünnten 
Lösung  durch  gegenseitige  chemische  Umsetzung; 
diesem  Vorgang  verdanken  die  marinen  Oolithe 
ihre  Entstehung.  Dabei  erscheint  natürlich  nicht 
ausgeschlossen,  daß  diese  Ausfällung  aus  dem 
Meerwasser  durch  eine  erhöhte  Konzentration 
desselben  in  wärmeren  Meeren  erleichtert  wird. 
Doch  wären  zum  Beweise    dieser  Möglichkeit  zu- 


')  K.  Andree,  Die  Diagenese  der  Sedimente,  ihre  Be- 
ziehungen zur  Sedimentbildung  und  zur  Sedimentpetrographie. 
Geolog.  Rundschau  2,  19U,  p.  61 — 74,  117 — 130.  —  Vgl. 
auch  Petermann's   Mitteilungen    1913,  2,   p.    121. 


146 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   10 


Nach  der  Art  der  Komponenten,  ob 
Minerogen  i 


Biogen 


In  Gewässern 


Aus   Lösung 


Klastisch 


Auf   dem   Lande 


Benthogcn 


Nektogen 


PlanktQfren 


Durch  chemische  Aus- 
fallung  aus  verdünnter 
oder  einfache  Aus- 
scheidung aus  über- 
sättigter  Losung 


Mechanische     Zerstö-  Korallen,      Kalk- 

rungsprodukte  älterer  algen.Sumpfpflan- 

Gesteine,   die   am  Ort  zen    (autochthone 

der  Zerstörung  in  neue  Kohlen  I) 
Sedimente   eintreten 

I 


Z.    B. 
zahne 


Haifisch- 


Kokkolithen, 

Diatomeen, 

Fettalgen 

(Petroleum !) ; 

Globigerincn, 

Radiolarien 


Z.   B.    Knochen- 
ansammlungen  in 
Höhlen 


Mechanische  Zerstö-  '  Z.  B.  ins  Meer  gc- 
rungsprodukte  älterer  schwemmte  Land- 
Gesteine,  transportiert  ,  pflanzen,  Land-  u 


durch  ; 

Süßwassermollus- 

1.  Schwerkraft 

ken.  (.-Mlochthone 

2.   Eis 

Kohlen!) 

3.   Wasser 

4.  Wind 

5.   Vulkanische  Ex- 

plosionen 

6.  Organismen 

Wie  oben,  aber  nach 
einem  Transport   der 
Lösung  (z.B.  die  Aus- 
scheidung  des  durch 
eine     Ausgleichsströ- 
g    raung  aus  dem  Kaspi- 
•^    See  ständig  erneuerten 
•5    Salzgehaltes  des  Kara- 
S    bugasbusens) 


Kosmogene    Kompo- 
nente :        Meteoriten- 
]  kügelchen 

vor  Analysen    des  Meerwassers   solcher   Regionen 
auszuführen. 

Ein  erschwerendes  Moment  beim  Vergleich 
fossiler  mit  rezenten  Sedimenten  ist  zunächst  die 
Frage  der  Vergleichbarkeit  früherer  Vorgänge  mit 
heutigen  überhaupt.  Nun,  seit  von  Hoff  und 
Ch.  Lyell  wissen  wir,  d;tß  ein  solcher  Vergleich 
gezogen  werden  darf,  wenn  auch  die  Kompliziert- 
heit der  ineinandergreifenden  Bedingungen  manch- 
mal sehr  schwer  zu  erfassen  ist  und  eine  derartige 
Rechnung  durch  Vernachlässigung  eines  einzigen, 
vielleicht  auf  den  ersten  Blick  unwichtiger  er- 
scheinenden Faktors  völlig  über  den  Haufen  ge- 
worfen werden  kann.  Viel  wichtiger  als  diese 
Bedenken  ist  die  Frage,  ob  auch  die  Lebens- 
gewohnheiten der  verschiedenen  Tiere  und  Pflanzen 
sich  nicht  im  Laufe  der  geologischen  Epochen 
wesentlich  geändert  haben,  kennen  wir  doch  in 
der  Tat  aus  der  Paläobiologie  eine  große  Zahl 
solcher  Änderungen,  z.  B.  Wechsel  des  Lebens- 
mediums bei  manchen  Crustaceen,  Zurückkehren 
landbewohnender  Wirbeltiere  zum  Wasserleben 
und  manches  andere  mehr.  Spielt  also  auch  die 
Lösung  paläobiologischer  Fragen  in  unseren  Ver- 
gleich fossiler  mit  rezenten  Sedimenten  hinein, 
sowie  es  sich  um  die  Deutung  der  biogenen 
Komponente  von  Gesteinen  handelt,  so  ist  alles 
dieses  doch  nur  von  untergeordneterer  Bedeutung 
gegenüber  der  Frage  nach  den  möglichen  Ände- 
rungen, welche  frisch  gebildete  Sedimente  durch 
das  Fossilwerden  oder  die  Diagenese  erleiden. 
Diesen  Erscheinungen  hat  Verfasser  vor  wenigen 
Jahren  eine  eingehende  Studie  gewidmet  (vgl. 
a.  a.  O.)  und  auseinandergesetzt,  daß  es  sich  um 
eine  große  Zahl  von  Umsetzungen  physikalischer, 
chemischer  und  chemisch-physikalischer  Art  han- 


Wie  oben.  Hier- 
her z.  B,  auch  die 
Komponenten  der 
meisten  Bonebeds 


Z.  B.  Sargasso- 
kraut ,  ,,Pseudo- 
plankton" ,  Spi- 
rula  und  manche 
fossile  Cephalo- 
podenschalen 


Z.  B.    gewisse  Bone- 
beds 


delt  und  der  Sedimentpetrograph  den  Verlauf  der 
hierdurch  entstehenden  Umformungen  kennen 
muß,  da  diese  Vorgänge  bald  in  diesem,  bald  in 
jenem  Stadium  stehen  geblieben  sind  und  es  nötig 
ist,  trotz  derselben  den  Urzustand  des  frischen 
Sedimentes  zu  rekonstruieren.  Auch  hier  wieder 
heißt  es,  alle  in  dem  Bereich  der  Möglichkeil 
liegenden  Faktoren  in  Rücksicht  zu  ziehen,  will 
man  nicht  in  Fehlschlüsse  geraten.  An  einem 
Beispiel  sei  dieses  näher  erläutert.  Die  Zusammen- 
setzung gewisser  Salzgesteine  erfordert  für  deren 
Bildung  unerwartet  hohe  Temperaturen,  woraus 
man  geschlossen  hatte,  daß  diese  Temperaturen 
während  des  Absatzes  dieser  Salze  in  dem  be- 
treffenden .■\blagerungsbecken  geherrscht  haben 
müßten.  Da  es  sich  um  72 "  (für  die  als  Hart- 
salz bekannte  Paragenese  von  Steinsalz,  Sylvin 
und  Kieserit)  und  mehr  handelt  und  es  sich  heraus- 
gestellt hat,  daß  es  —  ganz  abgesehen  davon,  daß 
zeitweise  solche  Temperaturen  von  Wüstenböden 
erreicht  werden  —  nicht  möglich  erscheint,  die 
„Glashauswirkung"  der  bekannten,  mit  einer  Süß- 
wasserschicht bedeckten  ungarischen  Salzseen 
heranzuziehen,  da  hier  eine  Verdunstung  und  Ab- 
scheidung des  Salzes  nicht  möglich  ist,  so  müssen 
wir  uns  daran  gewöhnen,  daß  diese  hohen  Tem- 
peraturen erst  nachträglich  auf  Salze  einwirkten 
und  Umwandlungen  erzeugten,  die  das  Hartsalz 
usw.  sekundär  entstehen  ließen.  Diese  nachträg- 
liche Temperaturerhöhung  in  den  Salzlagerstätten 
mußte,  worauf  Boeke  zuerst  aufmerksam  ge- 
macht hat,  während  ihrer  Diagenese  eintreten, 
als  die  Salze  im  Laufe  der  folgenden  geo- 
logischen Perioden  unter  einer  immer  mächtiger 
werdenden  Decke  jüngerer  Sedimente  begraben 
wurden.     ¥.s  ist  dieselbe  Erscheinung,  welche  wir 


N.  F.  XIII.  Nr.    lO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


147 


lange  von  den  mächtigen  in  den  Geosynklinalen 
sich  anhäufenden  Sedimenten  kennen.  Wenn 
hierbei  fast  immer  von  einem  Ansteigen  der  Geo- 
isothermen  gesprochen  wird,  so  entspricht  dieser 
Ausdruck  allerdings  in  keiner  Weise  den  Tat- 
sachen, handelt  es  sich  doch  vielmehr  um  ein 
allmähliches  Hinabrücken  der  Gesteine  in  Gebiete 
tiefer  liegender,  höhere  Temperaturen  bezeichnen- 
der Geoisothermen.  Ehe  man  diese  Vorgänge 
sinngemäß  auf  die  Geschichte  der  Salzlagerstätten 
übertragen  hatte,  war  es  möglich,  den  Irrweg  der 
Annahme  primär  hoher  Temperaturen  zu  gehen, 
und  so  mag  gerade  dieser  Fall  die  beste  Lehre 
dafür  sein,  daß  eine  genaue  Kenntnis  sämtlicher 
diagenetischer  Vorgänge  für  jeden  petrographisch 
arbeitenden  Paläogeographen  unbedingt  notwen- 
dig ist. 

Eine  weitere  wichtige  Aufgabe  des  Sediment- 
petrographen  ist  das  Studium  der  Eigenschaften 
der  Schichtflächen  der  ihm  vorliegenden  Gesteine, 
da  diese  Schichtflächen  als  Teile  ehemaliger  LJtho- 
sphärenoberflächen  zu  gelten  haben  und  als  solche 
die  Spuren  aller  möglichen  exogenen  Vorgänge 
tragen,  die  ihrerseits  für  geographisch  ganz  be- 
stimmte Gebiete  charakteristisch  sind.  Ich  er- 
wähne nur  die  Wellenfurchen,  die  Steinsalzpseudo- 
morphosen,  die  Kriech-  und  Gehspuren,  die  Sand- 
steinkegel usw.  bei  kontinentalen  oder  Flach- 
wassersedimenlen,  die  Atzsuturen  bei  marinen 
Kalken  und  glaube  die  Zustimmung  aller  zu  haben, 
wenn  ich  dringend  anrate,  diesen  bis  jetzt  vielfach 
allzusehr  vernachlässigten  Dingen  mehr  Aufmerk- 
samkeit zu  schenken. 

Verfasser  hat  an  anderem  Orte  ^j  eingehender 
darüber  berichtet,  wie  er  sich  nunmehr  unter 
diesen  Gesichtspunkten  die  Anwendung  der  petro- 
graphischen  Methode  für  die  Zwecke  der  Paläo- 
geographie  denkt,  und  Beispiele  dieser  Anwen- 
dung durchzuführen  versucht.  Als  Beispiel  kon- 
tinentaler Sedimentbildung  kann  der  deutsche 
Buntsandstein  gelten,  dessen  Entstehung  eine  Un- 
zahl Schriften  und  manche  wissenschaftliche  Dis- 
kussionen gewidmet  sind.  Es  ist  nun  ohne  allen 
Zweifel  falsch,  wenn  man,  wie  vielfach  in  diesen 
Schriften  und  Diskussionen,  die  alle  anzuführen 
hier  der  Platz  nicht  reichen  würde,  über  die  Ent- 
stehung des  Buntsandsteins  im  ganzen  Betrach- 
tungen anstellt,  denn  eine  unbefangene  Würdigung 
der  Eigenschaften  der  Gesteine  in  den  ver- 
schiedenen Abteilungen  ergibt  ganz  verschiedene 
Entstehungsbedingungen,  welche  verschieden  sind 
auch  für  die  verschiedenen  Gegenden  des  Bunt- 
sandsteinbeckens, selbst  wenn  man  sich  in  gleichen 
Horizonten  bewegt.  Und  wenn  man  gefragt  hat, 
ob  der  Buntsandstein  eine  Bildung  der  Wüste, 
eines  Flachmeers  oder  von  Flüssen  sei,  so  kann 
ich  nur  darauf  erwidern,  daß  ein  Streit  über  die 
Entstehung    dieser    Formation    solange    fruchtlos 

')  K.  Andree,  Die  paläogeograpliische  Bedeutung  sedi- 
mcntpetrograpliischer  Studien.  Petermann's  MiUeilungen 
1913,  2,  p.  117 — 123,  1S6 — 190,  245 — 249.  —  Vgl.  auch  diese 
Wochenschr.  N.  F.  XI,   1912,  p.  241—251. 


bleiben  muß,  als  man  sich  nicht  von  vornherein 
auf  die  kleinsten,  stratigraphisch  unterscheidbaren 
Einheiten  beschränkt.  Geschieht  aber  die.-es,  so 
ergibt  sich  einwandsfrei,  daß  allerdings  ein  flaches 
gelegentlich  sogar  ganz  eintrocknendes  Ingressions- 
meerfür  die  obersten  Schichten,  dasRöt,  als  Ablage- 
rungsbecken in  F"rage  kommen  könnte,  aber  damii 
scheintauch,  was  an  möglichen  marinen  Sedimenta- 
tionen vorkommt,  erschöpft  zu  sein.  Es  bliebe 
daher  die  Entsteluingsweise  des  unteren  und 
mittleren  Buntsandsteins  zu  erörtern,  deren  Ge- 
steine den  Typus  der  „bunten  Sandsteine''  bilden 
und  sicher  kontinentaler  Entstehung  sind.  Ver- 
fasser ist  nun  der  Ansicht,  daß  für  einen  Teil 
dieser  Sandsteine  und  zwischengelagerten  Schiefer- 
tone in  der  Tat  eine  Ablagerung  unter  einem 
wüstenartigen  Klima  in  einem  kontinentalen 
Becken  anzunehmen  ist  und  es  sich  nur  darum 
handeln  kann,  festzustellen,  wieweit  hier  neben 
der  trockenen  Entstehung,  worauf  am  schönsten 
die  Windschlifife  und  Dreikanter  hindeuten,  die 
Mitwirkung  periodischer  Wasserläufe  und  periodi- 
scher Wasseransammlungen  herangezogen  werden 
muß.  Es  stimmt  durchaus  mit  unseren  geo- 
graphischen Kenntnissen  der  heutigen  weiten 
Kontinentalgebiete  in  Innerasien  usw.  überein,  daß 
die  Randzonen  des  Buntsandsteinbeckens  konglo- 
meratische Gesteine  aufweisen,  welche  sich  un- 
gezwungen als  die  Ablagerungen  von  Wasserläufen, 
auch  vielleicht  von  „Schichifluten"  werden  erklären 
lassen,  die  gegen  das  Beckeninnere  zu  bald  ver- 
siegen mußten,  da  sie  der  Verdampfung  anheim- 
fielen. Im  Laufe  der  Zeit  konnten  auf  diese  Weise 
einzelne  Gerolle  selbst  bis  in  das  Beckeninnere 
gelangen,  und  ich  stehe  keineswegs  an,  für  die 
z.  B.  im  mittleren  Buntsandstein  der  Gegend  von 
Marburg  mehr  vereinzelt  auftretenden  Gesteins- 
brocken, welche  durch  ihre  eckige  Beschaffenheit 
auf  die  mechanischen  Zerstöningsvorgänge  eines 
Trockengebietes  hinweisen,  eine  derartige  Her- 
kunft anzunehmen,  stehen  wir  doch  bei  der  An- 
nahme mariner  Entstehung  vor  einer  viel  größeren 
Anzahl  von  nicht  lösbaren  Rätseln.  Bei  Gelegen- 
heit der  Beschreibung  zweier  neuer  Funde  aus 
dem  mittleren  Buntsandstein  Mitteldeutschlands 
wird  Verfasser  in  Kürze  Gelegenheit  nehmen, 
diese  kurzen  Ausführungen  des  näheren  nochmals 
zu  begründen,  wobei  auch  auf  einen  Teil  der  vor- 
handenen  Literatur  eingegangen  werden  soll. 

Ein  gutes  Beispiel  für  den  Wert  der  petro- 
graphischen  Methode  bietet  auch  die  Entstehung 
der  verschiedenen  Löße,  indem  der  chinesische 
Löß,  der  das  ausgeblasene  Material  der  inner- 
asiatischen Trockengebiete  darstellt,  doch  große 
petrographische  Übereinstimmung  mit  anderen, 
mitteleuropäischen  und  südamerikanischen  Löß- 
gesteinen zeigt,  die  über  den  Umweg  der  kalk- 
haltigen Grundmoräne  entstanden  sind,  deren 
Komponenten  bereits  andersartigen,  allerdings  in 
gleicher  Weise  wesentlich  mechanischen  Zer- 
störungs-  und  Transportvorgängen  unterlegen 
hatten. 


148 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   lo 


Ähnliches  an  diesem  Orte  für  marine  Sedi- 
mentgesteine durchzuführen,  würde  zu  weit  führen. 
Verfasser  ist  damit  beschäftigt,  dergleichen  Unter- 
suchungen an  einer  kleinen,  aber  wohl  umgrenzten 
Gruppe  von  Gesteinen,  den  Radiolariten  und 
Kieselschiefern,  anzustellen,  nach  deren  Abschluß 
weiter  darüber  berichtet  werden  wird.  Schon 
hier  aber  mag  darauf  hingewiesen  sein,  wie  kom- 
pliziert die  Verhältnisse  hierbei  liegen,  indem  für 


die  Deutung  dieser  Gesteine  nicht  nur  die  ozeano- 
graphischen  Zirkulationsverhältnisse  der  damaligen 
Zeit,  sondern  auch  Vulkanismus,  Lage  der  Erd- 
achse, Klimafragen  und  anderes  mehr  heranzu- 
ziehen sind.  Der  Geolog,  der  auf  petrographischem 
Wege  Paläogeographie  treibt,  ist  also  gezwungen 
im  wahrsten  Sinne  des  Wortes  Geographie  zu 
treiben,  indem  er  die  Wechselbeziehungen  aller- 
möglichen Vorgänge  der  Vorzeit  aufzuklären  sucht. 


Einbürgerungsversuche  als  Möglichkeiten  zur 
Erforschung  des  Vogelzuges. 

Von   Dr.   Wilh.  R.  Eckardt  in  Essen. 

In  einem  Referat  „Das  Zugstraßenproblem  der 
Wandervögel" ')  schrieb  ich  folgendes  über  eine 
Möglichkeit  zur  exakten  Erforschung  des  Vogel- 
zuges: „Aus  leicht  einzusehenden  Gründen  kämen 
vor  allem  auch  exotische  Vögel  in  Betracht.  Ich 
möchte  hierfür  irgendeinen  Insektenfresser  Asiens 
oder  Nordamerikas  gewählt  wissen.  Man  setze 
an  einer  geeigneten  Örtlichkeit,  die  dem  betreffen- 
den Vogel  günstige  Nahrungsbedingungen  und 
Fortpflanzungsmöglichkeiten  bietet,  eine  größere 
Anzahl  markierter  Vögel  aus.  Ziehen  diese  im 
Herbste  sämtlich  ab,  und  erscheint  im  nächsten 
Frühling  auch  nur  ein  einziges  Exemplar  der  be- 
treffenden Vogelart  wieder,  so  dürfte  das  Experi- 
ment positiv  ausgefallen  sein.  Jedenfalls  sollte 
man  dieses  leicht  durchzuführende  Experiment  in 
der  exakten  Vogelzugforschung  doch  künftighin 
nicht  mehr  vernachlässigen ;  auch  wiederhole  man 
es,  selbst  bei  anfänglichem  Mißerfolg."  Als  ich 
diese  Zeilen  schrieb,  ahnte  ich  nicht,  daß  ich 
selbst  binnen  kurzem  Gelegenheit  haben  würde, 
in  dieser  Hinsicht  Beobachtungen  anstellen  zu 
können,  deren  Möglichkeit  allerdings  eben  einem 
,, unglücklichen",  in  diesem  Falle  aber  sehr  glück- 
lichen Zufalle  zu  verdanken  war.  Mit  Unter- 
stützung des  Bundes  für  Vogelschutz  in  Stuttgart 
unternahm  ich  im  Frühjahr  auf  einem  großen 
Gewässer  der  öffentlichen  Anlagen  zu  Hildburg- 
hausen in  Thüringen  Einbürgerungsversuche  mit 
der  Braut-  und  Mandarinente.  U.  a.  erhielt  ich 
im  Februar  ein  Paar  frisch  importierte  Mandarin- 
enten von  der  Firma  Carl  Hagenbeck,  welche  so 
scheu  waren,  daß  sie,  obwohl  amputiert,  von  dem 
Gewässer,  auf  das  sie  gebracht  wurden,  alsbald 
verschwanden,  um  einige  Wochen  später  an  einer 
einsamen  Stelle  des  Werraflusses  dicht  unterhalb 
der  Stadt  wiedergefunden  zu  werden.  Hier  ließ 
man  sie  ungestört  verweilen,  so  daß  sie  im 
Sommer  erfolgreich  zur  Brut  schritten.  Der  im 
August  entdeckte  Nachwuchs  konnte  hinsichtlich 
seiner  Anzahl  zwar  nicht  genau  festgestellt  werden, 
da  auch  die  jungen  Tiere  naturgemäß  sehr  scheu 
waren,  weil  sie  an  einer  einsamen  Stelle  des 
Flusses  unter  dem  Schutze    eines  scheuen  Eltern- 


')  Die  Naturwissenschaften,   Heft  30,   1913. 


paares  groß  geworden  waren,  das  seinen  Nach- 
wuchs beim  seltenen  Herannahen  eines  Menschen 
stets  rechtzeitig  warnte.  Immerhin  dürften  es 
mindestens  8  junge  Tiere  gewesen  sein,  die  zum 
größten  Teile  auch  noch  Ende  Januar  1914,  zur 
Zeit  starker  Winterkälte,  die  den  F'luß  fast  gänz- 
lich zufrieren  ließ,  vorhanden  waren. 

Diese  Tatsache  erscheint  mir  aber  insofern  in 
höchstem  Maße  bemerkenswert,  als  unter  den 
beiden  Schmuckenten- Arten  Liwipronesse  sponsa 
und  Lampronessc  galericiilata  die  letztere  aus  ver- 
schiedenen ,  weiter  unten  noch  anzuführenden 
Gründen  als  die  weniger  seßhafte  im  allgemeinen 
bezeichnet  werden  muß.  Es  kommt  hinzu,  daß 
im  vorliegenden  Falle  die  Eltern  des  jungen  flug- 
fähigen Nachwuchses  frisch  importierte  Tiere  ge- 
wesen sind. 

Die  Heimat  der  Brautente  {L.  sponsa)  ist 
Nordamerika  vom  50  '^  nördl.  Breite  bis  Mexiko, 
die  der  Mandarinente  das  östliche  Asien  vom  süd- 
östlichen Sibirien  bis  zum  südlicheren  China  und 
Japan.  Die  klimatischen  Verhältnisse  der  Heimat- 
länder dieser  beiden  Schmuckenten  bringen  es 
aber  ohne  weiteres  mit  sich,  daß  diese  Tiere  in 
ihren  nördlicheren  Verbreitungsbezirken  ausge- 
sprochene Zugvögel  sein  müssen,  während  sie  in 
den  südlicheren  Teilen  ihres  Verbreitungsgebietes 
Stand-  oder  Strichvögel  sein  können.  Infolge  der 
klimatischen  Ungunst  des  ostasiatischen  Winters 
gilt  das  natürlich  von  der  Mandarinente  in  noch 
weit  höherem  Maße  als  von  der  Brautente. 

Da  es  sich  nun  bei  dem  oben  beschriebenen 
Mandarinentenpaare  um  die  Nachkommen  frisch 
importierter  Tiere  handelte,  so  könnte  ein  ober- 
flächlicher Beurteiler  der  Dinge  leicht  zu  dem 
Schluß  gelangen,  daß  das  importierte  Elternpaar 
ein  etwa  aus  Südchina  stammendes  und  hier  seß-  , 
haftes  Paar  gewesen  sein  möge,  bei  dem  sich  eben  1 
auf  die  Nachkommenschaft  ein  Wandertrieb  aus 
dem  Grunde  nicht  vererbte,  weil  er  bei  den 
Eltern  selbst  nicht  entwickelt  war.  Aber  ganz 
abgesehen  davon,  daß  die  Heimat  des  allen 
Mandarinentenpaares  leider  nicht  mehr  ermittelt 
werden  konnte,  ergeben  sich  auch  noch  zwei 
andere  Erklärungsmöglichkeiten.  Die  erstere  wäre 
die,  daß  wie  viele  Schwimmvögel,  so  auch  die 
Mandarinenten  zur  Kategorie  der  „Zugstraßen- 
vögel" gehörten,  d.  h.  zu  solchen,  die  nur  dann 
ziehen,  wenn  sie  von  den  flugfähigen  Eltern,  die 
eine    Zugstraße    aus    Erfahrung    kennen,    geführt 


N.  F.  XIII.  Nr.   lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


149 


werden.  Ein  Beispiel  bieten  in  dieser  Hinsicht 
die  VVildgänse.  Bei  diesen  ist  es  die  Regel,  daß 
der  junge  Nachwuchs,  der  auf  den  Gewässern 
unserer  zoologischen  Gärten  und  Parke  gezogen 
wird,  im  Herbste  nicht  abzieht,  wenn  die  Eltern 
flugunfähig  sind;  dasselbe  gilt  übrigens  auch  für 
Kraniche.  Diese  Vögel  werden  zwar,  wie  Dr.  O. 
Heinroth  M  bemerkt,  unruhiger,  wenn  die  Zug- 
zeit naht,  kehren  aber  von  ihren  Luftreisen  immer 
wieder  zu  Vater  und  Mutter  zurück:  „für  mich  ein 
guter  Beweis,  daß  der  Herbstzug  junger  Grau- 
gänse unter  Führung  der  Eltern  stattfindet,  und 
es  ist  ja  auch  bekannt,  daß  Junge,  deren  Eltern 
man  abgeschossen  hat,  so  lange  in  der  betreffen- 
den Gegend  umherirren,  bis  sie  schließlich  alle 
erlegt  sind,  ohne  daß  sie  vorher  den  Versuch  ge- 
macht haben,  selbständig  weiterzureisen". 

Es  wäre  möglich,  daß  dasselbe  auch  für  den 
von  mir  beobachteten  h'all  bezüglich  der  Mandarin- 
enten gälte.  Denn  was  könnte  man  zunächst 
wohl  für  einen  besseren  Grund  dafür  ins  Feld 
führen,  daß  die  Enten  bei  fast  vollständig  zu- 
gefrorenem Flusse,  bei  zeitweise  — 20"  C  starkem 
Froste  geblieben  sind,  ohne  daß  sie  von  Menschen- 
hand gefüttert  wurden  ?  Vielleicht  ist  aus  diesem 
Grunde  auch  ein  Pärchen  von  Niifi/n/i  formusiim 
bis  weit  in  den  Januar  hinein  geblieben,  welche 
Art  sonst  als  berüchtigter  Ausreißer  gilt. 

Allein  bei  weiterem  Nachdenken  erhebt  sich 
auch  bei  dieser  Frage  eine  Schwierigkeit,  wenigstens 


')  Beiträge  zur  Biologie,  namentlicli  Ethologie  und  Psycho- 
logie der  Anatiden.  Bericht  über  den  V.  Internat.  Ornitho- 
logenkongreß,   Berlin   1910. 


soweit  der  Vogelzug  in  des  Wortes  eigentlicher 
Bedeutung  in  Frage  kommt.  Es  fragt  sich  näm- 
lich: kann  man  überhaupt  noch  von  „Vogelzug" 
sprechen,  wenn  man  exotische  Vögel  etwa  in 
Deutschland  aussetzt,  und  wenn  diese  Tiere  im 
Herbst  abziehen,  ohne  etwa  wiederzukommen. 
Das  Wort  „Vogelzug"  setzt  auch  eine  Rückkehr 
der  betreffenden  Vögel  in  ihre  Heimat  voraus. 

Ob  das  aber  bei  Exoten  stattfindet,  bzw.  über- 
haupt stattfinden  kann,  darüber  wissen  wir  noch 
nichts.  Mir  persönlich  will  es  auch  unwahrschein- 
lich dünken,  als  ob  ein  in  ein  anderes  Land  ge- 
brachter Zugvogel  sich  ohne  weiteres  eine  plan- 
mäßige „Zugstraße"  schaffen  kann,  die  ihn  wieder 
an  den  Ausgangspunkt,  der  ihm  als  neue  Heimat 
angewiesen  wurde,  zurückführen  kann.  Immerhin 
fehlt  ja,  wie  gesagt,  hier  noch  die  systematisch 
durchgeführte  Beobachtung,  die  exakte,  mit  Ring- 
versuchen operierende  Forschung.  Kaum  ein 
anderer  Vogel  aber  würde  sich  meiner  Meinung 
nach  dazu  besser  eignen  als  die  Mandarinente. 
Denn  sie  wird  heute  noch  in  nicht  unbeträcht- 
licher Anzahl  noch  als  Wildling  importiert, 
während  das  bei  der  Brautente  seit  Generationen 
nicht  mehr  der  Fall  ist,  da  die  Amerikaner  ihren 
Export  streng  verbieten.  Man  ersieht  jedenfalls 
aus  diesen  Mitteilungen  klar,  daß  man  Einbürge- 
rungsversuche mit  so  herrlichen  Schmuckenten 
nicht  nur  im  Interesse  der  Ästhetik  unserer  Parke 
und  Parkgewässer,  sondern  auch  im  Interesse  der 
Wissenschaft  vornehmen  kann.  Hier  hätten  wir 
jedenfalls  das  Experiment  in  der  exakten  Vogel- 
zugforschung in  harmlosester  und  einfachster  Form. 
Darum  wäre  es  doppelt  zu  empfehlen  1 


Einzelberichte. 


Chemie.  Über  die  Erscheinungsformen  des 
elementaren  Silbers  hat  V.  Kohlschütter  im 
Laufe  der  letzten  Jahre  eine  Reihe  hochinteressanter 
Untersuchungen  angestellt,  über  die  hier  im  Anschluß 
an  eine  zusammenfassende  Abhandlung  des  ge- 
nannten Autors  in  der  Kolloid-Zeitschrift,  Bd.  XII, 
S.  285 — 296  (1913),  berichtet  werden  möge. 

Daß  Stoffe  im  allgemeinen  bei  chemisch 
gleicher  Zusammensetzung  in  morphologisch  recht 
verschiedenen  Erscheinungsformen  auftreten 
können,  ist  eine  allgemein  bekannte  Tatsache. 
So  weiß  jeder,  der  sich  auch  nur  oberflächlich 
mit  mineralogischen  Problemen  beschäftigt  hat, 
ein  wie  verschiedenes  Äußeres,  einen  wie  ver- 
schiedenen „Habitus"  dasselbe  Mineral  besitzen 
kann,  und  ebenso  beruht  die  Isomerie  der  Zinn- 
säure, der  Unterschied  zwischen  der  Ortho-  und 
der  Metazinnsäure,  wie  neuere  Llntersuchungen 
bewiesen  haben,  nicht  etwa  in  der  chemischen 
Konstitution,  in  der  Molekulargröße,  sondern  allein 
in  der  ,, Teilchengröße"  im  kolloidchemischen 
Sinne  des  Wortes.  Sehr  auffallend  sind  auch  die 
Erscheinungen  bei  den  elementaren  Edelmetallen. 


Gold  oder  Silber  können  sich,  wenn  sie  aus  ihren 
Verbindungen  gewonnen  werden,  je  nach  den 
Versuchsbedingungen  in  sehr  verschiedenen  Formen 
darstellen,  als  Metallspiegel,  als  molekulares  Metall, 
als  kompaktes  Metall,  als  kolloidale  Lösung  usw. 
„Die  Form  ist,  sagt  Kohlschütter,  nicht  der 
Ausdruck  der  stofflichen  Natur,  die  P'olge  des 
molekularen  Baus,  sondern  das  Ergebnis  des 
chemischen  Vorganges,    der   zu    dem  Stoff  führt." 

Die  Beantwortung  der  Frage  nach  dem  Ein- 
flüsse, den  die  Entstehungsbedingungen  eines 
Stoffes  auf  seine  morphologische  Erscheinungsform 
ausüben,  hat  sich  nun  Kohlschütter  als  Auf- 
gabe gestellt,  und  zwar  hat  er  als  Versuchs- 
material das  experimentell  verhältnismäßig  leicht 
zu  handhabende  elementare  Silber  gewählt. 

Wohl  die  reinlichste  Art  der  Darstellung  ele- 
mentaren Silbers  besteht  in  der  Reduktion  von 
Silberoxyd  durch  elementaren  Wasserstoff: 

Ag,0  +  H,^-2Ag  +  H,0. 
Die  Untersuchung   dieser   scheinbar    so    einfachen 
Reaktion    führte    zu    überraschenden  Ergebnissen : 
Die  Eigenschaften  der  kolloidalen  Lösungen,  welche 


150 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   lo 


bei  der  Reaktion  entstehen,  hängen  in  holiem 
Maße  von  der  chemischen  Natur  des  Gefäßes  ab, 
in  dem  die  Reaktion  vorgenommen  wird.  Gefäße 
aus  gewöhnhchem  Glase  oder  aus  Quarz  geben 
gelbbraune,  Gefäße  aus  Jenaer  Glas  rote,  violette 
und  blaue  Lösungen,  während  sich  in  Platin- 
gefäßen das  Silber  in  Form  von  Kristallen  an  der 
Wand  des  Gefäßes  abscheidet.  Die  Ursache  für 
diese  interessanten  Unterschiede  liegt  aber  nun 
nicht  etwa,  wie  man  zunächst  wohl  vermuten 
könnte,  darin,  daß  sich  Teile  der  Gefäßwand  in 
der  Flüssigkeit  auflösen,  sondern  vielmehr  darin, 
daß  sich  der  Vorgang  überhaupt  nicht  im  Schöße 
der  Lösung,  sondern  vielmehr  nur  an  der  Grenz- 
fläche zwischen  Gefäßwand  und  Flüssigkeit  ab- 
spielt. Vermutlich  scheidet  sich  das  Silber  an 
verschiedenen  Wänden  in  Teilchen  von  ver- 
schiedener Gestalt  und  Größe  ab;  bei  Verwen- 
dung von  Platingefäßen  bleibt  das  Silber  an  der 
Wand  haften,  von  (ilas-  oder  Quarzwänden  aber 
wird  es  nicht  fest  genug  gehalten  und  lobt  sich 
daher  in  der  Flüssigkeit  zu  einer  kolloidalen 
Lösung  auf. 

Bei  der  Entstehung  von  Silberspiegeln,  wie 
sie  etwa  beim  analytischen  Nachweise  von 
Aldehyden,  von  Zucker,  von  Weinsäure  usw.  auf- 
treten, handelt  es  sich  ebenfalls  um  Vorgänge 
an  der  Gefäßwand.  \'on  der  Wand  wird  das 
Silberoxyd  aus  seiner  ammoniakalischen  Lösung 
und  auch  das  Reduktionsmittel  adsorbiert,  und 
die  Reduktion  findet  daher  an  ihr  statt.  Die 
Reduktionsmittel  werden  bei  der  Reduktion  selbst 
oxydiert,  es  entstehen  aus  den  primären  Oxyda- 
tionsprodukten geringe  Mengen  hochmolekularer 
Nebenprodukte,  die,  ähnlich  wie  Schutzkolloide 
wirkend,  die  Abscheidung  des  Silbers  in  F'orm 
einer  zusammenhängenden  glänzenden  Haut,  d.  h. 
als  Spiegel  veranlassen.  Die  Silberspiegel  sind  je 
nach  den  Verhältnissen,  unter  denen  sie  sich 
bilden,  recht  verschieden.  Dünne  Spiegel,  die  das 
Licht  bald  in  dieser,  bald  in  jener  Farbe  durch- 
scheinen lassen,  erscheinen  bei  der  Intersuchung 
im  gewöhnlichen  Mikroskop  homogen,  im  Ultra- 
mikroskop aber  lassen  sie  sich  zu  Einzelteilchen 
auflösen,  die  nach  Größe  und  Anordnung  be- 
merkenswerte Unterschiede  aufweisen.  Die  nähere 
Untersuchung  der  Spiegel,  die  sich  besonders  gut 
mit  Hilfe  von  Messungen  ihrer  elektrischen  Leit- 
fähigkeit durchführen  läßt,  macht  auf  viele  cha- 
rakteristische Einzelheiten,  so  auf  den  Einfluß,  den 
gewisse  Fremdstofife  in  der  Lösung  wie  z.  B. 
Spuren  von  Schwermetalloxydhydraten  auf  die 
morphologischen  Eigentümlichkeiten  haben,  und 
auf  die  Veränderungen  aufmerksam,  die  die  Spiegel 
mit  der  Zeil  erleiden. 

Unter  ungeeigneten  Versuchsbedingungen  ent- 
steht an  Stelle  des  sich  an  der  Wand  abscheiden- 
den Silberspiegels  häufig  ein  dunkelfarbiger,  bis- 
weilen tiefschwarzer  glanzloser  Niederschlag,  der 
nicht  selten  so  feinpulverig  ist,  daß  er  beim  Aus- 
waschen durchs  Filter  läuft,  sich  aber  in  der  ur- 
sprünglichen Form  nicht   isolieren   läßt,    sondern 


rasch  heller  und  heller  wird.  Von  dem  bei  der 
FLlektrolyse  bei  Silbersalzlösungen  entstehenden 
,, schwarzen  Silber"  unterscheidet  sich  der  durch 
Reduktion  mittels  organischer  Stoffe  entstehende 
schwarze  Niederschlag  dadurch,  daß  er  im  Gegen- 
satz zu  jenem,  der  aus  einzelnen  winzigen  Kristall- 
individuen besteht,  amorph  erscheint. 

Bei  der  Abscheidung  des  Silbers  durch  Elek- 
trolyse nach  der  schematischen  Gleichung 

Ag+  +  0-j-  Ag-f  ©0 
handelt  es  sich  um  einen  Kristallisationsvorgang 
zu  dessen  Verständnis  nach  den  bekannten  Unter- 
suchungen von  Tammann  vor  allen  Dingen 
zwei  Faktoren,  die  mit  wachsender  Stromdichte 
wachsende  Bildungsgeschwindigkeit  der  Keime 
und  ihre  mit  zunehmender  Konzentration  zu- 
nehmende Wachstunisgeschwindigkeit,  in  Betracht 
zu  ziehen  sind.  Große  Keimbildungsgeschwindig- 
keit bei  kleiner  Keimwach^tumsgeschwmdigkeit 
bewirkt  die  Entstehung  vieler  kleiner  Kriställchen, 
während  umgekehrt  große  Wachstumsgeschwindig- 
keit der  Keime  bei  kleiner  Keimbildungsgeschwin- 
digkeit wenige  große  Kristalle  entstehen  läßt.  Im 
ersten  Falle  bildet  sich  das  ,, schwarze  Silber", 
aber  dieses  geht  in  dem  Augenblick,  wo  der 
Strom  unterbrochen  wird,  in  graues  Silber  über, 
vermutlich  weil  die  einzelnen  Teilchen  des  schwar- 
zen Silbers,  die  ja  während  des  Stromdurchganges 
eine  negative  elektrische  Ladung  aufweisen,  sich 
nach  Um  erbrech  ungdes  Stromes  elektrostatisch  nicht 
mehr  abstoßen  und  so  ihrem  natürlichen  Streben 
zur  Verkleinerung  ihrer  großen  Oberfläche  nach- 
geben können.  Dieser  Übergang  vom  schwarzen 
zum  grauen  Silber  wird  durch  Hydroxylionen  ver- 
langsamt, durch  Wasserstoffionen  beschleunigt,  und 
damit  tritt  eine  unverkennbare  Analogie  zum  Ver- 
halten der  kolloidalen  Silberlösungen  auf,  die  ja 
ebenfalls  durch  Hydroxylionen  stabilisiert,  durch 
Wasserstoffionen  koaguliert  werden.  Neben  diese 
allgemeinen  Gesetzmäßigkeiten  treten  noch  viele 
Sondereinflüsse,  die  die  neben  dem  Silber  in  der 
Lösung  vorhandenen  Stoffe  auf  dessen  morpho- 
logische Erscheinungsform  ausüben.  Bemerkt  sei 
auch,  daf5  sich  ähnliche  Beobachtungen  wie  bei 
der  elektrolytischen  Abscheidung  des  Silbers 
bei  seiner  Abscheidung  durch  andere  Metalle  von 
größerem  Lösungsdruck  (Zink,  Cadmium,  Kupfer 
usw.)  machen  lassen.  Verschiedene  Metalle  wirken 
ganz  verschieden,  ja  bei  Verwendung  desselben 
Metalles  kommt  es  auf  das  für  den  Versuch  be- 
nutzte Silbersalz,  auf  die  Anwesenheit  oder  Ab- 
wesenheit bestimmter  Ionen  sowie  auf  die  Reak- 
tion der  Lösung  wesentlich  an;  insbesondere  ist, 
wie  auch  Versuche  bei  der  elektrolytischen  Silber- 
abscheidung bestätigt  haben,  die  etwaige  An- 
wesenheit von  kolloidalen  Oxydhydraten  der 
Schwermetalle  in  der  Flüssigkeit  von  erheblicher 
Wichtigkeit. 

Bei  der  elektrolytischen  Abscheidung  des 
Silbers  aus  Komplexsalzlösungen,  z.  B.  bei  der 
Abscheidung  aus  Cyankali-  oder  Thiosulfatlösung 
dürfte  es   sich    ebenfalls  um  den  Einfluß   geringer 


N.  F.  XIII.  Nr.   lO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


151 


Meng-en  von  Kolloiden  handeln.  So  enthält  z.  H. 
eine  Silbercyankalilösung  zweifellos  geringe  Mengen 
kolloidal  gelösten  Silbercyanids;  dieses  wird  von 
der  Kathode  adsorbiert,  und  infolgedessen  scheidet 
sich  das  Silber  gewissermaßen  in  einem  die 
Kathode  bedeckenden  Netzwerk  von  Cyansilber 
ab.  In  der  Tat  weisen  die  ersten  sich  auf  der 
Kathode  abscheidenden  Silbermengen  unter  be- 
stimmten Bedingungen  jene  eigentümlichen,  für 
die  sog.  Subhaloide,  also  wohl  auch  für  das  ihnen 
nahestehende  Cyansilber  charakteristischen  Farben 
auf  Weiter  zeigt  sich,  daß  die  Art,  wie"  sich  die 
ersten  Mengen  des  Silbers  aus  der  Lösung  ab- 
scheiden, für  die  weitere  Abscheidung  bestimmend 
sind,  denn  wenn  man  die  Elektrolyse  zunächst 
in  einer  einen  glatten,  weißen,  festhaftenden  Nieder- 
schlag liefernden  Cyankalilösung  beginnt,  und  dann 
in  einer  amnioniakalischen  Lösung  fortsetzt,  aus 
der  sonst  wenig  fest  haftende,  gröbere  Kristalle  er- 
halten werden,  so  bleibt  das  Silber  trotzdem  weiß, 
dicht  und  haftet  auch  weiter  fest  an  der  Elektrode. 
Löst  man  den  bei  der  Elektrolyse  einer  Silber- 
cyankalilösung  entstehenden  festhaftenden  Silber- 
niederschlag von  der  Kathode  ab,  so  bleibt  doch  der 
dünne  Hauch  von  Cyan'ilber,  und  wenn  man 
jetzt,  also  nach  der  Auflösung  des  aus  der  Cyan- 
kalilösung gefällten  Silbers,  eine  Elektrolyse  aus 
ammoniakalischer  Lösung  vornimmt,  so  findet 
auch  unter  diesen  Umständen  die  Bildung  eines 
festen,  weißen,  gut  haftenden  Niederschlags  statt. 
„Man  kann,  sagt  K  o  h  1  s  c  h  ü  1 1  e  r,  so  die  für  einen 
bestimmten  Elektrolyten  charakteristische  Ab- 
scheidungsform  auf  einen  anderen  übertragen,  und 
man  entzieht  sich  schwer  der  Versuchung,  hier 
von  einer  „Vererbung"  der  Form  zu  sprechen." 
In  ähnlicher  Weise  wie  bei  der  Abscheidung 
von  Silber  aus  Lösungen  erhält  man  auch  bei  der 
Zerstäubung  von  .Silberkathoden  durch  die  Glimm- 
entladung in  Gasen  von  mäßig  tiefem  Druck  sowie 
bei  der  der  Reduktion  des  Silbers  aus  festen  Ver- 
bindungen je  nach  den  Versuchsbedingungen 
Präparate  von  sehr  verschiedenem  morphologischen 
Bau,  doch  kann  auf  Einzelheiten,  so  interessant 
sie  auch  sind,  hier  nicht  mehr  eingegangen  wer- 
den. Leser,  die  sich  für  sie  interessieren,  seien 
auf  die  am  Kopfe  dieses  Berichtes  angeführte  Ar- 
beit und  die  dort  zitierten  Originalarbeiten  Kohl- 
schütter's  und  seiner  Schüler  verwiesen. 

Mg. 

Eine  sehr  interessante  Methode  zur  Bestimmung 
der  Wertigkeit  des  Radiums  mit  Hilfe  der  Elek- 
troendosme,  eine  Methode,  die  auch  zur  Ermitt- 
lung der  Wertigkeit  anderer  Metalle  in  ihren 
Salzen  angewendet  werden  kann,  beschreiben 
H.  Freundlich  und  G.  v.  Elissafoff  in  der 
Physik.  Zeitschr.  Bd.  14,  S.  1042  (1913).  Die 
Versuchsanordnung  ist  folgende;  In  eine  Kapil- 
lare K  werden  einige  Tropfen  reinen  Wassers 
gebracht,  dann  wird  die  Kapillare  in  der  in  der 
Abb.  I  angegebenen  Weise  zwischen  zwei  Elek- 
troden angeordnet,    von    denen   sie    durch  kleine 


Luftstrecken  getrennt  ist.  Die  Elektrode  MN  ist 
mit  dem  negativen  Pol  einer  Starkstrominfluenz- 
maschine verbunden,  deren  anderer  Fol  über  ein 
Galvanometer  geerdet  ist;  die  andere  Elektrode 
PQ  ist  über  ein  Funkenmikrometer  geerdet.  Läßt 
man  nun  die  Influenzmaschine  spielen,  so  wandert 
das  Wasser  in  der  Kapillare  im  Sinne  des  Pfeiles 
von  dem  Ende  ß,  an  dem  es  sich  vor  Beginn  des 
Versuches  befunden  hat,  nach  dem  Ende  ci  hin 
und  tropft  schließlich  dort  heraus.    Die  Geschwin- 


" ' —  Wism: 


IKi 


Abb.    I. 

digkeit,  mit  der  der  Tropfen  in  der  Kapillare  unter 
sonst  vollkommen  konstant  gehaltenen  Bedingun- 
gen wandert,  ist  in  reinem  Wasser  viel  größer  als 
in  Lösungen.  Löst  man  daher  in  dem  Wasser 
irgendwelche  Salze  auf  so  wird  die  Wanderungs- 
geschwindigkeit erheblich  herabgedrückt,  und 
zwar  um  so  mehr,  je  größer  die  Konzentration 
des  Salzes  ist.  Vergleicht  man  Lösungen  von 
gleicher  Metallionenkonzentration,  so  zeigt  sich, 
daß  die  Wertigkeit  der  Metalle  eine  wesentliche 
Rolle  spielt:  Je  höher  die  Wertigkeit  der  Metalle 
in  den  Salzen  ist,  um  so  geringer  ist  die  Wande- 
rungsgeschwindigkeit, während  Salze  mit  Metallen 
gleicher  Wertigkeit  die  Geschwindigkeit  in  an- 
nähernd gleicher  Weise  herabsetzen.  Diese  Effekte 
treten  schon  bei  äußerst  geringer  Konzentration 
ein.  Löst  man  z.  B.  in  einem  Liter  reinen  Wassers 
nur  zwei  Mikromole,  d.  h.  o,0OOOO2  Mol  Radium- 
bromid  auf,  so  sinkt  die  Wanderungsgeschwindig- 
keit der  Flüssigkeit  in  der  Kapillare  bereits  um 
28  "/o  >  jä  wenn  man  24  Mikromole  Zirkonnitrat 
Zr(NOo)^  im  Liter  Wasser  auflöst,    sogar  um  fast 


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9            £ 

:? 

0 

Abb.  2. 

1 50  "/„ ,  d.  h.  die  Flüssigkeit  wandert  in  diesem 
Falle  überhaupt  nicht  mehr  zum  negativen,  son- 
dern in  entgegengesetzter  Richtung  zum  positiven 
Pol.  Das  Diagramm  in  Abb.  2,  in  dem  die  Or- 
dinate die  Wanderungsgeschwindigkeit  v  der  Lösung 
in  der  Kapillare  und   die  Abszisse  die  Molekular- 


152 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   lo 


konzeniration  c  der  Salze  in  den  Lösungen  angibt, 
zeigt  die  Abhängigkeit  der  Erscheinung  von  der 
Konzentration  der  Lösungen  und  den  großen 
Einfluß,  den  die  Wertigkeit  des  Metallatoms  aus- 
übt; sie  zeigt  ferner,  daß  das  Radium  sich  durch- 
aus der  Gruppe  der  zweiwertigen  Metalle  anschließt. 

Mg. 
Physik.  In  seinem  Vortrage  über  „charakteristi- 
sche  Röntgenstrahlen"  (Berichte  der  deutschen 
physikalischen  Gesellschaft,  Heft  24,  S.  1273,  1913) 
gibt  Charles  G.  Barkla  einen  umfassenden 
Bericht  über  die  bisherigen  Ergebnisse,  die  die 
Forschungen  nach  der  elektromagnetischen  Wellen- 
natur der  Röntgenstrahlen  gezeitigt  haben.  Be- 
kanntlich gehen  von  einem  Körper,  der  von  pri- 
mären Röntgenstrahlen  getroflen  und  durchdrungen 
wird,  drei  Arten  von  Strahlungen  aus.  Die  erste 
Art  sekundärer  Strahlung  ist  ähnlich  den  primären 
Strahlen  und  besteht  aus  unperiodischen  Äther- 
impulsen. Die  zweite  Art  ist  ebenfalls  eine 
Röntgenstrahlung,  aber  weit  anderer  Natur  als 
die  erste.  Die  dritte  Art  stellt  eine  Art  /J-Strah- 
lung  dar,  schnellbewegle  Elektronen,  wie  wir  sie 
auch  bei  der  (^Strahlung  der  radioaktiven  Sub- 
stanzen beobachten.  Wie  wir  sehen,  ist  nur  die 
zweite  Art  der  sekundären  Strahlungen  ein  perio- 
discher elektromagnetischer  Vorgang.  Sehr  inter- 
essant sind  die  Analogien  zwischen  den  Erschei- 
nungen beim  Licht  und  denen  bei  den  Röntgen- 
strahlen. Wie  in  der  Optik  ein  Körper  haupt- 
sächlich die  Wellenlängen  des  Lichtes  absorbiert, 
die  er  aussendet  —  erinnert  sei  nur  an  die  Ab- 
sorption des  gelben  Lichtes  durch  Natriumdampf 
— ,  so  läßt  ein  Körper  auch  nur  die  Röntgen- 
strahlen hindurch,  die  nicht  seinen  Eigenschwin- 
gungen entsprechen.  Im  Gegensatze  zu  den  un- 
periodischen Sekundärstrahlen  erster  Art  haben 
die  der  zweiten  Art  nur  eine  Durchdringungs- 
fähigkeit. Mit  wachsendem  Atomgewichte  wächst 
diese  Fähigkeit,  während  die  Wellenlänge  der 
Eigenstrahlung,  die  ein  Charakteristikum  jedes 
Körpers  ist,  abnimmt.  Letztere  wird  nur  durch 
noch  kürzere  Wellenlängen  erregt,  eine  fundamen- 
tale Analogie  und  Erweiterung  des  Stokes- 
schen  Fluoreszenzgesetzes.  Bei  diesem  Vorgange 
haben  wir  eine  partielle  Transformation  des  pri- 
mären Strahles  in  diese  charakteristische  Eigen- 
strahlung des  Körpers  auf  Kosten  der  lonisations- 
fähigkeit  sowohl  des  primären  wie  des  sekundären 
Strahles  vor  uns.  Das  bedeutet  aber  eine  Um- 
wandlung der  Energie  in  eine  bisher  noch  nicht 
beobachtete  Form.  Mit  Hilfe  einer  Formel  von 
Plank  und  den  Versuchsdaten  von  VVhidding- 
ton  hat  man  die  Werte  für  die  Wellenlängen 
der  charakteristischen  Strahlungen  verschiedener 
Metalle  festgestellt.  So  ergaben  sich  folgende  Daten. 


.Aluminium-Strahl 

Calcium- 

Chrom- 

Kupfer- 

Rhodium- 

Silber- 

Ceri 


ung  (charakteristische) 


5,9- 10—«  cm 
2,73- lo-n  cm 

1,6   lo-N  cm 

1,08 -lO-s  cm 

0,41. 10—8  cm 

0,375. 10  -»  cm 

o,22. 10-«  cm 


Diese  charakteristischen  Strahlungen  deuten 
darauf  hin,  daß  wir  es  hier  mit  der  einfachsten 
Form  der  Fluoreszenz  zu  tun  haben.  Um  eine 
Analogie  aus  der  Akustik  anzuführen,  —  wir 
haben  hier  nur  den  höchsten  Oberton  vor  uns, 
während  die  gewöhnliche  Fluoreszenz,  wie  sie  die 
Sidot' sehe  Blende  z.B.  zeigt,  mit  dem  Grundton 
begleitet  von  sämtlichen  Obertönen  vergleichbar 
iit.  Ein  weiterer  Beweis  für  den  Zusammenhang 
dieser  Strahlen  mit  der  Fluoreszenz  liegt  in  der 
Tatsache  begründet,  daß  beide  durch  /)  Strahlen 
erregt  werden  können,  sobald  die  Geschwindigkeit 
der  Elektronen  die  kritische  Ausstoßungsgeschwin- 
digkeit der  Korpuskeln  bei  der  charakteristischen 
Strahlung  übertrifft. 

Eine  Vorstellung,  wie  man  sich  ungefähr  die 
Entstehung  der  charakteristischen  Strahlung  zu 
denken  hat,  gewinnt  man  folgendermaßen  Nach 
den  modernsten  Anschauungen  hat  man  sich  ein 
Atom  als  ein  Konglomerat  von  Elektronen  vor- 
zustellen. Die  Zahl  und  gegenseitige  Lage  dieser 
kleinsten  Bausteine  der  Materie  ist  für  jeden  Stoff 
charakteristisch ,  aber  leider  noch  unerforscht. 
Durch  die  eindringenden  Primärstrahlen  wird  ein 
Elektron  aus  dem  Atomverbande  gelöst.  Der 
Rest  geht  in  periodischen,  langsam  abklingenden 
Schwingungen  in  eine  neue  Gleichgewichtslage 
über.  Das  abgeschleuderte  Elektron  trägt  zu  der 
stets  beobachteten  /i-Strahlung  bei,  während  die 
Schwingungen  der  übrigen  Elektronen  sich  in  den 
kurzwelligen  elektromagnetischen  Strahlen  äußert. 
Da  bei  diesem  Vorgange  die  Energieaufnahme 
von  Elektron  zu  Elektron  je  nach  seiner  Lage  im 
Atom  verschieden  ist,  kann  man  erwarten,  daß 
ein  kontinuierliches  Spektrum  entsteht. 

Daß  dies  wirklich  der  Fall  ist  und  wie  man 
dieses  Spektrum  photographisch  fixieren  kann, 
zeigt  M.  de  Broglie  in  einer  Arbeit  „über  eine 
Methode,  die  Spektra  der  Röntgenstrahlen  zu 
photographieren"    (Ber.    der  deutschen  phys.  Ges. 

191 3,  S.  1348).  Er  geht  dabei  von  den  Versuchen 
von  Laue  und  Bragg  aus  (siehe  diese  Zeitschrift 

1914,  Heft  5,  S.  70).  Ist  d  der  Abstand  der  Netz- 
ebene im  Kristall  und  «  ihr  Neigungswinkel  zur 
Strahlenrichtung,  so  gilt  die  einfache  Beziehung 
2dcos«  =  n-/,  wo  n  eine  ganze  Zahl  und  /.  die 
Wellenlänge  der  einfallenden  Strahlen  ist.  Diese 
Formel  zeigt  uns,  daß  beim  Variieren  von  a  wir 
der  Reihe  nach  eine  große  Anzahl  verschiedener 
Wellenlängen  erhalten  müssen.  In  die  Praxis  um- 
gesetzt hat  Broglie  dies  dadurch,  daß  er  einen 
Kristall  um  eine  Achse  rotieren  läßt,  die  senk- 
recht zu  der  Einfallsebene  liegt.  So  erhalten  wir 
ein  kontinuierliches  Spektrum  (vgl.  auch  Comtes 
Rendues,  Paris  191 3,  17.  November).  Die  Rota- 
tion muß  natürlich  der  geringen  Intensität 
wegen  sehr  langsam  vor  sich  gehen ,  in  der 
Stunde  ungefähr  um  2°.  Man  erhält  so  ein  Spek- 
trum, das  aus  Banden  und  hellen  Linien  besteht. 
Auch  Absorptionsstreifen  treten  auf;  sie  rühren 
anscheinend    von    dem    Glase    her.      Spektra    ver- 


N.  F.  XIII.  Nr.   lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


153 


schiedener  Ordnungen  werden  mit  verschiedenen 
hintereinander  angeordneten  Pholograpiiieplatten 
aufgenommen.  Versuche  über  Aufnahme  von 
Absorptionsstreifen,  die  von  Körpern  herrühren, 
die  in  den  Strahlengang  eingesclioben  werden, 
und  aus  denen  man  eventuell  die  Frequenz  der 
Eigenstrahlung  feststellen  kann,  sind  jetzt  in 
Paris  im  Gange.  Alfred  Wenzel. 

Botanik.  Hydronastische  Blattbewegungen. 
Vor  einigen  Jahren  hatte  W.  Wächter  be- 
obachtet, daß  die  Blätter  von  Callisia  repens  L., 
einer  Commelinacee,  die  normal  etwa  unter 
einem  rechten  Winkel  vom  Stengel  abstehen 
(vgl.  Fig.  i),  sich  im  Laboratorium  senkten  und 
an  den  Stengel  anlegten  (vgl.  Fig.  2),  und  er  hat 
nachweisen    köimen,    daß    diese  Bewegung-    durch 


Fig.    1.     Normalstellung. 

Verunreinigung  der  Luft  (Leuchtgasgehalt)  hervor- 
gerufen wird,  also  chemonastischer  Natur  ist.  ^) 
(Ben  d.  D.  Bot.  Ges.  1905,  Bd.  '23,  S.  379.)  Ähn- 
liche Blattbewegungen  treten  nun,  wie  Wächter 
neuerdings  festgestellt  hat,  bei  derselben  Pflanze 
auf  wenn  flüssiges  Wasser  auf  sie  einwirkt,  ohne 
daß  dabei  der  Einfluß  in  diesem  gelöster  Stoffe 
oder  andere  Faktoren  in  Betracht  kommen. 
Pflanzen,  die  unter  Wasser  (Leitungswasser)  ge- 
stellt   wurden,    sowohl    eingewurzelte    wie  ausge- 

')  Unter  Nastien  sind  nach  Pf  eff  er  Krümmungen  zu  ver- 
stehen,   die   durch    einen  diffusen   Reiz  hervorgerufen   werden. 


topfte  und  sorgfältig  von  anhaftender  Erde  ge- 
reinigte, klappten  ihre  Blätter  im  Verlauf  von 
2  Tagen  so  weit  herab,  daß  sie  dem  Stengel  an- 
lagen. Wurden  sie  dann  in  Luft  gebracht,  so  hoben 
sie  sich  wieder  bis  zur  normalen  Lage.  Der  Ver- 
such konnte  so  lange  mit  demselben  Ergebnis 
wiederholt  werden,  bis  die  Blätter  ihre  Wachs- 
tunisfähigkeit verloren  hatten.  Sie  blieben  dabei 
gesund  und  turgeszent.  Abgeschnittene  Sprosse 
reagieren  ebenso  wie  die  bewurzelten  Pflanzen. 
Destilliertes  Wasser  wirkt  in  der  gleichen  Weise, 
auch  Einleiten  von  Sauerstoff  ändert  das  Verhalten 
der  Pflanzen  nicht.  Hiernach  sind  weder  gelöste 
Stoffe  noch  Sauerstoffmangel  die  Ursache  der 
Reizkrümmung. 

Da  durch  das  Einsetzen  der  Pflanzen  in  Wasser 

abnorme  Bedingun- 
gen geschaffen  wer- 
den,  ließ  Wächter 
auch  Wasser  in  Ge- 
stalt eines  anhalten- 
den Regens  auf  sie 
einwirken  (wozu  die 
Brause  einer  Gieß- 
kanne verwendet 
wurde,  die  durch 
einen  Schlauch  mit 
der  Wasserleitung 
verbunden  war). 
Auch  in  diesem 
Falle  senkten  sich 
die  Blätter  und  ho- 
ben sich  wieder 
nach  Aufhören  des 
Regens;  freilich  war 
die  Reaktionszeit 
länger.  Verf  be- 
merkt, daß  der  Ver- 
such deshalb  nicht 
ganz  einwandfrei 
sei,  weil  der  me- 
chanische Druck, 
den  der  Regen  aus- 
übt, von  Bedeutung 
sein  kann. 

Auch  abge- 
schnittene, hori- 
zontal stehende 
Blätter,  die  mit 
der  Oberseite  oder  mit  der  Unterseite  auf 
Wasser  gelegt  wurden ,  zeigten  die  Reaktion, 
indem  sich  die  Blattscheide  dicht  an  die  Blatt- 
spreite anlegte.  Dieser  Versuch  zeigt  i.  daß 
zur  Hervorrufung  der  Krümmung  eine  allseitige 
Benetzung  nicht  erforderlich  ist,  2.  daß  ein  etwaiges 
Eindringen  von  Wasser  durch  die  Spaltöffnungen 
keine  Rolle  spielt  (wie  Verf  durch  Wägungen 
feststellte,  nehmen  die  Blätter  überhaupt  nur 
wenig  Wasser  auf),  3.  daß  die  Hemmung  der 
Transpiration  für  die  Blattbewegungen  ohne  Be- 
deutung ist. 

Der    Aufenthalt    in    dampfgesättigter    Luft    ist 


Fig.  2.     Reizlage. 


154 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   lo 


im  allgemeinen  ohne  Wirkung  auf  die  Blätter, 
doch  fanden  sich  Ausnahmen ,  die  weitere  Ver- 
suche nötig  machen. 

Im  Dunkeln  reagieren  die  in  Wasser  gestellten 
Pflanzen  nicht  in  der  geschilderten  Weise,  ob- 
wohl, wie  Versuche  zeigten,  die  Verdunkelung 
an  und  für  sich  das  Wachstum  und  damit  die 
Krümmungsfähigkeit  nicht  beeinträchtigt.  Das 
IJcht  übt  also  einen  Einfluß  auf  die  Entstehung 
der  Krümmung  aus.  Verf  zeigt,  daß  auch  unter 
normalen  Bedingungen  an  den  Blättern  eine  auf 
oberseitigem  Wachstum  beruhende  Krümmung 
phot  onastischer  Natur  eintritt,  die  aber 
schwächer  ist  und  langsamer  verläuft  als  die 
Krümmung  unter  Einwirkung  des  Wassers  oder 
des  Leuchtgases. ')  Man  könnte  „in  der  Wasser- 
wirkung eine  Beschleunigung  der  normalen  photo- 
nastischen  Wirkung  sehen".  Verf  bezeichnet  die 
Reaktion  indessen  als  hy  d  ronastisch,  weil  sie 
„sowohl  in  bezug  auf  die  Reaktionszeit  wie  auf 
die  rückläufige  Bewegung  ganz  der  chemonasti- 
schen  Reaktion  gleicht". 

Die  Wiederaufrichtung  der  aus  dem  Wasser 
herausgenommenen  Blätter  erfolgt  auch  dann, 
wenn  die  Pflanze  ins  Dunkle  gebracht  wird.  Die 
photonastisch  gekrünmiten  Blätter  lassen  sich 
nicht  wieder  in  die  I  lorizontalebene  bringen,  weil 
sie  ihr  Wachstum  beendet  haben,  wenn  sie  auf 
etwa  45"  oder  60"  heruntergeklappt  sind.  (Jahr- 
bücher für  wissenschaftliche  Botanik  1914,  Bd.  53, 
S.  305  —  326.)  F.  Moewes. 

Astronomie.  Die  kosmologisch  wichtige 
Frage  nach  der  Veränderlichkeit  der  Nebel  hatte 
bisher  nur  bei  dem  Hind'schen  Nebel  eine  schein- 
bar bejahende  Antwort  gefunden,  diese  wird  so- 
eben bestätigt  durch  eine  Mitteilung  von  Borelly, 
daß  dieser  Nebel  augenscheinlich  gegenwärtig 
durch  eine  Periode  des  Maximums  der  Helligkeit 
gehe.  Nach  einer  Zusammenstellung  von  Bigurdan 
gehen  diese  Beobachtungen  an  dem  Nebel  bis  auf 
Schönfeld  in  Bonn  im  Jahre  1861  zurück.  [Nature 
1913,  2291.J  Riem. 

Zoologie.    Die  ,, Schwebefortsätze"  pelagischer 

Cladoceren.  Schon  seit  Jahren  ist  es  bekannt,  daß 
die  frei  im  Wasser  schwebenden  Organismen  (das 
sog.  Plankton)  in  vielen  Fällen  lange  Stacheln, 
Spitzen,  buckelartige  Vorwölbungen  oder  andere 
Fortsätze  besitzen  und  daß  diese  Gebilde  bei  der 


')  Die  Horizontalstellung  der  Blätter  ist  die  Folge  des 
Photo  tropismus  (Reaktion  gegen  e  i  n  s  e  i  l  i  g  e  Lichtwirkung), 
über  den  mit  der  Zeit  die  Photonastie  die  Oberhand  gewinnt, 
so  daß  sich  die  Blätter  auch  bei  der  günstigsten  Stellung  zum 
Lichte  mit  dem  Alter  senken  (meist  bis  45—60").  Bei  Ab- 
schwächung  des  diffusen  Lichtes  kann  der  Phototropismus  das 
ijbergewicht  über  die   Photonastie  behaupten. 


gleichen  Art  im  Laufe  des  Jahres  einen  regel- 
mäßigen Größenwechsel  aufweisen,  daß  sie  ferner- 
hin von  See  zu  See  bei  derselben  Art  oft  beträcht- 
liche Unterschiede  in  F'orm  und  Größe  haben. 
Man  hat  diese  Formeigentümlichkeiten  der  Plank- 
tonten  bisher  allgemein  in  Beziehung  zu  den  jahres- 
zeitlichen und  lokalen  Verschiedenheiten  in  der 
Tragkraft  des  Wassers  gesetzt  und  sie  als  „Schwebe- 
organe" aufgefaßt  (vgl.  diese  Wochenschrift  191 1, 
N.  F.  X,  p.  145  — 156).  Allerdings  wollten  manche 
Erscheinungen  —  z.  B.  die  vertikale  Haltung  dieser 
F'ortsätze  bei  einzelnen  Formen,  ihre  Verlängerung 
im  Winter,  Verkürzung  im  Sommer  bei  anderen 
Arten  —  sich  durchaus  nicht  in  den  Rahmen  der 
Schwebetheorie  einpassen  lassen.  Nun  hat  kürz- 
lich R.  Wolter  eck  bei  den  pelagischen  Clado- 
ceren (den  Wasserflöhen)  Funktion,  Herkunft  und 
Entstehungsursachen  dieser  sog.  Schwebefortsätze 
gründlich  untersucht  (Zoologica,  191 3,  Heft  6-], 
P-  475-550). 

Durch  eingehende  Analyse  der  Bewegung,  vor 
allem  der  Daphnien  und  Bosminen,  kam  Wolter- 
eck zu  der  Auffassung,  daß  all  diese  Körper- 
fortsätze als  gemeinsame,  wichtigste  Funktion  die 
haben,  die  Schwimmrichtung  zu  regulieren,  indem 
sie  einerseits  geradlinige  Fortbewegung  ermöglichen, 
andererseits  eine  Horizontalisierung  der  Schwimm- 
bahnen bewirken.  Es  sind  also  Richtungs- 
organe, und  zwar  dienen  sie  teils  alsFührungs- 
flächen,  teils  als  Steuer.  Jene  dienen  dazti, 
Abweichungen  von  der  Vorlriebsrichtung  zu  er- 
schweren, indem  sie  parallel  der  F'ortbewegungs- 
richtimg  liegen  und  bei  jeder  Abweichung  als 
Gegensteuer  wirken;  diese  stehen  beständig  in 
einem  bestimmten  Winkel  zur  Richtung  der  Eigen- 
bewegung derart,  daß  die  Schwimmrichtung  eine 
Resultante  aus  Bewegungsrichtung  (Schlagrichtung 
der  Ruder)  und  Steuerablenkung  darstellt;  dazu 
kommt  noch  der  Einfluß  der  Schwerkraft  und  des 
Lichtes. 

Alle  Tatsachen  der  jahreszeitlichen  wie  örtlichen 
Formvariabilität  der  pelagischen  Cladoceren  werden 
durch  die  neue  W  o  It  ere  ck'sche  Theorie  in  ver- 
hältnismäßig einfacher  Weise  erklärt,  keine  steht 
mit  ihr  in  Widerspruch.  Auch  das  bisher  noch 
ganz  rätselhafte  Problem  der  Vertikalwanderungen 
der  Planktonten  wird  durch  sie  dem  Verständnis 
näher  gebracht.  —  Wir  halten  Woltereck 's 
neueste  Arbeit,  die  unsere  Anschauungen  über  die 
Bewegung  der  Planktonten  durchgreifend  ändert 
und  die  verschiedenartigsten  Probleme  der  moder- 
nen Hydrobiologie  in  so  eigener  und  interessanter 
Weise  beleuchtet,  für  eine  der  allerwichtigsten  und 
bedeutungsvollsten,  die  seit  Wesenberg-Lund's 
großen  „Planktoninvestigations"  über  die  Schwebe- 
welt unserer  Binnengewässer  erschienen  sind. 
A.  Thienemann  (Münster  i.  W.). 


N.  F.  XIII.  Nr.    lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


155 


Schlafkrankheit  in  Uganda.  —  Diese  Infektions- 
krankheit" wird  Ijekanntlich    hervorgerufen    durch 
einen  Parasiten,  das  Trypanosoma  gambiense,  der 
auf  den  Menschen    durch   den  Stich    eines  in  be- 
stimmten   Gegenden    Afrikas     weit     verbreiteten 
Insekts,     der    Glossina  palpalis,    übertragen    wird. 
Die  Symptome    bestehen    in  allgemeinen  Drüsen- 
schwellungen, später  Apathie,   mit  Krampfzusiän- 
den  verbunden  und  dauernder  Schlafsucht.   Durch 
die  bekannte  Afrikareise  von  Robert  Koch    ist 
nun  eine  energische  Bekämpfung  der  Schlafkrank- 
heit in  die  Wege  geleitet  worden,  so  daß  in  man- 
chen Gegenden    die    Fälle    ganz   wesentlich  abge- 
nommen   haben.      Zu    diesen    Orten    gehört    auch 
Uganda  (siehe  Schilling,  Deutsch.  Med.  Wochen- 
schrift Nr.  43,   1913),    wo    seit    etwa    18  Monaten 
kein  Todesfall  mehr  beobachtet  worden  ist.     Zur 
wirksamen    Bekämpfung    der   Schlafkrankheit    ge- 
hört das  System    der  Evakuierung  der  Bewohner 
von  Gegenden,  die  von  der  Glossina  palpalis  heim- 
gesucht sind,    in  palpalisfreie  Landstriche.     Diese 
Maßnahme    wird    von    Seiten    der  Regierung   sehr 
energisch  durchgeführt,    wobei    man    den   Leuten 
6  Monate  Zeit  läßt,    einen  neuen  Wohnort  aufzu- 
suchen.     Nach    dieser   Frist   werden    alle   Hütten, 
Kähne  usw.    in    dem    alten  Dorfe  verbrannt,    und 
dadurch    die    Brutstätten    der  Insekten    vernichtet. 
Eine   zweite  Methode    ist    die   der  Abholzung. 
Da  es  nachgewiesen  ist,  daß  die  Glossinen  sich   in 
bestimmtem  Buschwerk  in  der  Nähe  von  Flüssen 
aufhalten,  ist  man  dazu  übergegangen,  dieses  Busch- 
werk   erst    abzuholzen    und    dasselbe    an  Ort  und 
Stelle  zu  verbrennen.    Man  muß  dabei  sehr  sorg- 
fältig   vorgehen    und    die  Wurzeln  mehrmals  aus- 
roden, weil  sonst  sofort  neue  Triebe  aufschießen. 
Diese   abgeholzten    Stellen    werden    mit  einer  be- 
stimmten   Gra.sart,    dem  Citronellagras    bepflanzt, 
das  imstande  sein  soll,  durch  seinen  aromatischen 
Geruch    Mücken   zu    vertreiben.      Doch  tritt,    wie 
Schilling  bemerkt,   dieser  Geruch    erst   zutage, 
wenn  man  die  Blätter  zerreibt,    und  er  hält   des- 
halb   die    Anpflanzung    eines    Oueckengrases  (wie 
in    Entelbe)    für    wirksamer.       Die     Abholzungen 
werden  in  einer  Breite  bis  zu   looo  m  vorgenorn- 
men,  danach  kommt,    nach    dem  Flußufer  zu,   ein 
Streifen  von  Papyrusgestrüpp,    in  dem  sich  keine 
Glossinen  zu  halten  vermögen. 

Eine  dritte  Methode  der  Bekämpfung  ist  die 
Behandlung  der  Patienten  selbst  durch  Injektionen 
von  Atoxyl.  Während  an  manchen  Orten  die 
Einwohner  in  ihren  Hütten  aufgesucht  und  auf 
verdächtige  Symptome  hin  untersucht  werden  — 
durch  sog.  „Drüsenfühler",  (weil  die  Schwellung 
der  Drüsen  eines  der  ersten  Symptome  ist)  — 
findet  diese  Art  der  Behandlung  in  Uganda  nicht 
statt,  sondern  es  werden  hier  nur  die  Leute  be- 
handelt, die  von  selbst  kommen.  Die  weitere 
Erforschung  der  Schlafkrankheit  bietet  noch  .Aus- 
sicht auf  manche  interessante  Beobachtung  über 
die   Art    der    Entwicklung    des    Trypanosoma    in 


Kleinere  Mitteilungen. 

der  Glossina  palpalis,  sowie  der  Parasitenträger, 
zu  denen  neben  dem  Menschen  auch  noch  be- 
stimmte Tierarten  (Antilopen)  gehören. 

Dr.  med.  Carl  Jacobs. 


Ouarzgut.  —  Noch  im  Jahre  1903  konnte  der 
Besitzer  der  Quarz-  und  Platinschmelze  in  Hanau, 
Heraus,  in  einem  Vortrage  gelegentlich  des 
fünften  Internationalen  Kongresses  für  angewandte 
Chemie  die  Worte  aussprechen:  „Quarzglas  wird 
immer  etwas  Kostbares  bleiben,  und  die  Glas- 
industrie hat  darin  keinen  Konkurrenten  zu  fürch- 
ten." Damals  hatte  Heraus  auch  recht,  man 
war  eben  noch  darauf  angewiesen,  wie  bei  ge- 
wöhnlichem Glase,  mit  Hilfe  des  Knallgasgebläses 
zu  arbeiten  und  es  war  nur  mit  großer  Mühe  und 
Geschicklichkeit  möglich,  kleine  Laboratoriums- 
geräte herzustellen  Im  Jahre  darauf  wurde  je- 
doch eine  Erfindung  gemacht,  die  es  ermöglichte, 
aus  geschmolzenem  Sande  Gegenstände  in  jeder 
beliebigen  Form  und  Größe  herzustellen.  Quarz- 
glas ist,  im  Gegensatz  zu  gewöhnlichem  Glas, 
reiner  Quarz  oder  Sand  ohne  Zusatz  von  Fluß- 
mitteln. Die  Herslellungstemperatur  beträgt 
2000"  C.  ^) 

Die  ersten  Versuche,  Quarzgeräte  herzustellen, 
fallen  in  das  Jahr  1839,  in  dem  es  dem  Franzosen 
Gaudin  gelang,  l  m  lange,  dünne  Ouarzfäden 
herzustellen.  Späterhin  arbeiteten  Ga  u  t  ie  r  ( 1878), 
Moissan,  Boys,  Dufor,  Le  Chatelier, 
Villard,  Heraus,  Shenstone  und  Huttoii 
auf  diesem  Gebiete. 

Diejenige  Erfindung,  auf  der  die  heutige 
Quarzguttechnik  begründet  ist,  wurde  von  den 
beiden  Engländern  Bottomley  und  Paget 
1904  gemacht,  und  benutzt  nicht  mehr  das  Knall- 
gasgebläse, sondern  stellt  erst  einen  Quarzzylinder 
her  und  verarbeitet  diesen  durch  entsprechende 
Vorrichtungen  mit  Preßluft  zu  beliebigen  Formen. 
Nach  diesem  Verfahren  gelingt  es.  Schalen  bis 
I  m  Durchmesser  und  entsprechend  andere  Ge- 
rätschaften verhältnismäßig  leicht  herzustellen. 
Verbesserungen  dieses  Verfahrens  sind  von  Dr. 
Völker  und  Dr.  WolfBurckhardt  erfunden 
worden.  Da  Quarzgut  einen  sehr  geringen  Aus- 
dehnungskoeffizienten hat —  nur  V)ii  von  Jenenser 
Glas  — ,  ist  es  ziemlich  unempfindlich  gegen 
schroffen  Temperaturwechsel,  derart,  daß  man 
solche  Schälchen  z.  B.  unvorgewärmt  in  eine 
Knallgasflamme  und  dann  sofort  in  kaltes  Wasser 
bringen  kann.  Quarzglas  hat  auch  vor  allem  noch 
eine  interessante  optische  Eigenschaft,  es  läßt 
ultraviolette  Strahlen  sehr  gut  durch.  In  F"orm 
von  Quecksilberquarzlampen  wird  es  daher  für 
manche  Zwecke,  neuerdings  zur  Wassersterilisation, 
angewendet,  da  ultraviolette  Strahlen  stark  keim- 
tötende Eigenschaften  besitzen. 

Infolge  des  Silberglanzes    benutzt    man  neuer- 
dings auch  Quarzgut  zu  Schmuck-  und  Ziergegen- 

')  Technische  Rundschau  XIX.  21. 


156 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   lo 


ständen    und    in     der    Architektur    zu    Wandver- 
zierungen. Otto  Bürger-Kirn. 

Weltwirtschaftliche  Probleme  Ostasiens.  —  In 
der  Hauptversammlung  des  Vereines  deutscher 
Eisenhüttenleute  zu  Düsseldorf  am  30.  Nov.  1913 
hielt  Dr.  v.  Wiese  und  Kaisers  waldau, 
Düsseldorf,  einen  Vortrag  über  dieses  Thema. 
Die  Mahnungen  mancher  rditiker  und  Volkswirte 
in  Deutschland,  sich  mit  China  eifrig  zu  beschäf- 
tigen, entsprechen  in  jeder  Beziehung  den  Inter- 
essen der  Politik  und  Volkswirtschaft  Deutsch- 
lands, vor  allem  der  Eisen  erzeugenden  und  ver- 
arbeitenden Industrie.  Die  Gewinnung  des  chinesi- 
schen Marktes  fordert  das  steigende  Ausfuhrbe- 
dürfnis der  deutschen  Eisenindustrie,  wenn  sie 
den  Wettbewerb  mit  der  englischen  aufrecht  er- 
halten will.  Von  allen  Großmächten  wird  gleich- 
zeitig um  den  chinesischen  Markt  gekämpft,  weil 
ein  entscheidender  Umschwung  der  Wirtschafts- 
kultur Chinas  eingetreten  ist.  Vor  allem  handelt 
es  sich  um  die  t>schließung  des  chinesischen 
Hinterlandes  durch  Eisenbahnen.  Der  Bedarf  an 
Maschinen ,  besonders  an  landwirtschaftlichen, 
Bergwerks-  und  Werkzeugmaschinen,  an  Näh- 
maschinen, an  elektrischen  Installationen,  Schienen, 
Motoren  für  das  Kleingewerbe  usw.  ist  groß 
Der  Hauptmangel  im  chinesischen  Geschäfts- 
verkehr besteht  im  Fehlen  eines  einheitlichen 
Berg-,  Patent-  und  Gesellschaftsrechtes.  Die 
Angelsachsen  und  die  Japaner  erkannten  sehr 
richtig,  daß  sich  in  China  ein  großer  Einsatz  lohnt. 
Die  englische  Sprache  wurde  zur  zweiten  Landes- 
sprache gemacht. 

Durch  die  Gründung  von  ausgesprochen 
deutschfeindlichen  Gesellschaften,  wie  der  British 
Engineering  Association  und  von  entsprechenden 
Zeitschriften,  wie  des  Eastern  Engineering,  kämpfen 
die  Briten  um  den  Vorsprung.  R.  Ditmar. 

Die  Stollbeule  der  Pferde  ist  eine  Entzündung 
des  Schleimbeutels  auf  dem  Ellenbogenhöcker 
(bursa  olecrani)  und  des  umgebenden  Gewebes. 
Außer  anderen  Nachteilen  bildet  sie  häufig  einen 
außerordentlich  störenden  Schönheitsfehler.  Als 
Ursache  des  Leidens  wird  allgemein  Quetschung 
der  Haut  des  Ellenbogens  und  der  bursa  durch 
Liegen  mit  untergeschlagenen  Vorderbeinen  in  zu 
engen  Ständen,  scharfe  Stollen,  zu  lange  Hufeisen, 
schlechte  Einstreu  und  dergl.  angenommen.  Kürz- 
lich veröffentlichte  Dr.  Sustmann  seine  Er- 
fahrungen über  die  Entstehungsweise  der  Stoll- 
beule. Ohne  daß  es  ihm  gelungen  ist,  den  näheren 
Zusammenhang  zu  ergründen,  will  er  beobachtet 
haben,  daß  die  Stollbeule  nur  in  Ställen  mit  Holz- 
pflasterung entstehe.  Zur  Behandlung  wurde  meist 
eine  Einreibung  mit  Quecksilberbijodatsalbe,  An- 
wendung von  Atzmitteln  oder  der  elastischen 
Ligatur  empfohlen.  Alle  diese  Methoden  erfreuten 
sich  aber  bei  den  Tierärzten  ebensowenig  unge- 
teilter Anerkennung,  wie  die  operative  Ent- 
fernung der  erkrankten  Gewebsteile.  Bei  letzterer 
erhält  man  sehr  große,  wegen  ihrer  Lage  schwer 


heilende  Wunden,  sowie  häufig  sehr  störende 
Blutungen.  In  einem  Vortrage  spricht  nun 
Dr.  Magnußen  über  gute  Erfolge,  die  er  mit 
der  Operationsmethode  nach  Prof.  Mörkeberg 
erzielt  hat.  Die  wesentliche  Abänderung  der  neuen 
Methode  besteht  darin,  daß  die  ganze  Geschwulst 
vor  dem  Anlegen  des  ersten  Schnittes  mit  Hilfe 
der  sog.  Bayer'schen  Naht  von  ihrer  Unterlage 
geschieden  wird,  die  Wundnaht  also  gewissermaßen 
vor  Beginn  der  ( )peration  angelegt  wird.  Nach 
den  bisherigen  Erfahrungen  dürfte  dies  Verfahren 
geeignet  sein,  der  operativen  Pintfernung  der  Stoll- 
beulen neue  F"reunde  zu  gewinnen. 

W.  Ilgner. 


Bücherbesprechiingen. 

„Naturwissenschaftliche  Jugendliteratur". 

1 1  Naturwissenschaftl. -Technische  Volksbücherei 
der  Deutschen  Naturwissenschaftlichen  Gesellschaft 
e.V.,  herausgegeben  von  Dr.  Bastian  Schmid. 

Nr.  i:  Fischer,  Dr.  Hugo,  Die  Bakterien. 
Mit  Abbildungen.  —  Preis  20  Pf. 

Nr.  2  :  B 1  a  n  c  k ,  Dr.  E. ,  Wie  unsere  Acker- 
erde geworden  ist.  —  Preis  20  Pf. 

Nr.  3  —  5:  Schreber,  Prof.  Dr.  K.,  Die 
Eisenbahn.     Mit  15  Abbildungen.  —  Preis  60  Pf. 

Nr.  6:  Wernicke,  Gymnasialoberlehrer  K., 
Wetterkunde.  Mit  16  Abbildungen.  —  Preis 
20  Pf. 

Nr.  7 — 9:  Gen  gl  er,  Dr.  J.,  Bilder  aus  dem 
Vogelleben.     Mit  4  Abbildungen.  —  Preis  öo  Pf. 

Nr.  10 — 12:  Wunder,  L.,  Die  Elektrizität 
im  täglichen  Leben.  Mit  Abbildungen.  —  Preis 
60  Pf. 

Nr.  13-16:  Plaßmann,  Prof.  Dr.  J.,  Der 
gestirnte  Himmel.  Mit  zahlreichen  Abbildungen. 
—  Preis  80  Pf. 

Nr.  17—21 :  Hen  niger,  Prof.  Dr.  Karl  Anton, 
Die  Metalle  nach  Vorkommen,  Gewinnung,  Ver- 
wendung und  wirtschaftlicher  Bedeutung.  Mit 
22  Abbildungen.  —  Preis  i   Mk. 

Nr.  26 — 28:  Bauer,  Dr.  H.,  Die  Chemie  der 
menschlichen  Nahrungsmittel.  —  Preis  60  Pf. 

Nr.  36:  Wald  mann,  Dr.  A.,  Oberarzt,  Erste 
Hilfeleistung  bei  Unglücksfällen.  Mit  26  Ab- 
bildungen. —  Preis  20  Pf. 

Nr.  37 — 38:  Schreber,  Prof.  Dr.  Karl,  Der 
Luftverkehr.  Mit  26  Abbildungen.  —  Preis 
40  Pf 

Nr.  44:  Lipschütz,  Dr.  Alexander,  Von 
den  Drüsen  unseres  Körpers.  Mit  zahlreichen 
Abbildungen.  —  Preis  20  Pf. 

Nr.  45 : ,  Pflanze  und  Tier.  Mit  8  Ab- 
bildungen. —  Preis  20  Pf. 

Nr.  46:  —  — ,  Wasser  und  Salze  im  Haus- 
halte des  Organismus.  Mit  8  Abbildungen.  — 
Preis  20  Pf. 

Nr.  56,57:  Bauer,  Dr.  Hugo,  Trinkwasser 
und  Trinkwasserversorgung.  —  Preis  40  Pf. 

Nr.  58/59:  Blanck,  Dr.  E. ,    Die  Lehre  von 


N.  F.  XIII.  Nr.   lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


157 


der    Ernährung    und    Düngung     der    Pflanzen. 
Teil  I.  —  Preis  40  Pf. 

Nr.  84  —  85: ,    Teil  II.     Mit  zahlreichen 

Abbildungen  und  Tabellen.  —  Preis  40  Pf. 

Nr.  60/61 :  Berg,  Dr.  Alfred,  Wie  unsere 
Erde  geworden  ist.  Mit  42  Abbildungen.  — 
Preis  40  Pf. 

Nr.  74-75:  H  i  1  z  h  e  i  m  e  r ,  Dr.  M. ,  Urge- 
schichte des  Menschen.  Mit  zahlreichen  Abbil- 
dungen. —  Preis  40  Pf. 

Nr.  76 — 78:  Ho  ff  bau  er,  Dr.  C,  Unsere 
einheimischen  Süßwasserfische  und  die  Fisch- 
zucht. Mit  14  Tafeln  und  20  Abbildungen  im 
Text.  —   Preis  60  Pf. 

Nr.  79—81:  Fest,  Dr.  Franz,  Gemüse-  und 
Obstbau  im  Haus-  und  Wirtschaftsgarten.  — 
Preis  60  Pf. 

Nr.  86— 87;  Wald  mann,  Dr.  A.,  Die  Tuber- 
kulose und  ihre  Bekämpfung.      Mit    zahlreichen 
Tabellen.   —  Preis  40  Pf. 
Thomas'  Volksbücher,  herausgegeben   von  Dr. 
Bastian  Schmid. 

Nr.  88—90:  Block,  Dr.  Walter,  Grundlagen 
der  Photographie.  Mit  28  Abbildungen.  — 
Preis  60  Pf. 

Nr.  94 — 95:  Lipschütz,  Dr.  Alexander, 
Allgemeine  Biologie  für  Selbstunterricht  und 
Schule.  I.  Teil:  Zellenlehre.  Mit  60  Abbil- 
dungen. —   Preis  40  Pf. 

Nr.98— loi:  Lämmermayr,  Dr.  L.,  Unser 
Wald,  ein  Kapitel  denkender  Naturbetrachtung 
im  Rahmen  der  vier  Jahreszeiten.  Mit  71  Ab- 
bildungen. —  Preis  80  Pf. 

Nr.   107 — 109:  Thiele,  Dr.  R.,  Die  wichtig- 
sten   Faserpflanzen.      Mit    17   Abbildungen.    — 
Preis  60  Pf. 
2)  Prof  Dr.  Bast ian  Schmid's  naturwissen- 
schaftliche Schülerbibliothek. 

2)  Rebenstorff,  Prof  H.,  Physikalisches 
Experimentierbuch.  II.  (Schluß  )Teil.  Anleitung 
zum  selbständigen  Experimentieren  für  mittlere 
und  reife  Schüler.  Mit  87  Abbildungen  im 
Text.     178  Seiten.     1912.  —  Preis  3  Mk. 

12)  Graebner,  Prof.  Dr.,  Vegetationsschil- 
derungen. Eine  Einführung  in  die  Lebens 
Verhältnisse  der  Pflanzenvereine,  namentlich  in 
die  morphologischen  und  blütenbiologischen 
Anpassungen.  Für  mittlere  und  reife  Schüler. 
Mit  40  Abbildungen  und  184  Seiten.  1912.  — 
Preis  3  Mk. 

16)  Hock,  Dr.  F.,  Prof.,  Unsere  Frühlings- 
pflanzen, Anleitung  zur  Beobachtung  und  zum 
Sammeln  unserer  Frühjahrsgewächse  für  jüngere 
und  mittlere  Schüler.  Mit  76  Abbildungen  im 
Text.     180  Seiten.     19 12.  —  Preis  3  Mk. 

17)  Sassenfeld,  Max,  Oberlehrer,  Aus  dem 
Luftmeer.  Meteorologische  Betrachtungen  für 
mittlere  und  reife  Schüler.  Mit  40  Abbildungen. 
183  Seiten.      191 2.  —  Preis  3  Mk. 

18)  Schaf fer,  Prof.  Dr.  C. ,  Biologisches 
Experimentierbuch.  Anleitung  zum  selbsttätigen 
Studium    der    Lebenserscheinungen    für  jugend- 


liche Naturfreunde  für  mittlere  und  reife  Schüler. 
Mit  100  Abbildungen  im  Texte.  269  Seiten. 
191 3.  —  Preis  4  Mk. 

19)  Wunder,  L. ,  Physikalische  Plaudereien 
für  10-  bis  14jährige  Schüler  aller  Schulgattun- 
gen. Mit  15  Abbildungen.  47  Seiten.  191 3. 
—  Preis  I  Mk. 

22) ,  Chemische  Plaudereien  für   10-  bis 

14jährige  Schüler  aller  Schulgattungen.  Mit 
5  Abbildungen.  42  Seiten.  191 3.  —  Preis  i  Mk. 
Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner. 
i)  Was  die  „Deutsche  Naturwissenschaftliche 
Gesellschaft"  laut  Satzungen  als  ihre  Aufgabe  be- 
trachtet, „die  Errungenschaften  der  Naturforschung 
in  gediegener  und  zugleich  gemeinverständlicher 
Weise  in  die  weitesten  Kreise  zu  tragen",  das 
sucht  sie  durch  die  von  ihr  herausgegebene  und 
von  ihrem  Vorstandsmitgliede  Herrn  Prof.  Dr. 
Bastian  Schmid  geleitete  Naturwissenschaft- 
lich-Technische Volksbücherei  weiter  zu  erreichen. 
Die  Ankündigung,  die  der  Verlag  Theod.  Thomas, 
Leipzig  als  Aufruf  zur  Beteiligung  an  das  Publi- 
kum hinaussendet,  spricht  sich  über  Zweck  und 
Ziel  dieser  Bücherei  in  folgenden  Sätzen  aus : 
„Um  diese  Aufgabe  in  ihrem  großen  Umfange 
erfüllen  zu  können,  begnügen  sich  diese  Bücher 
nicht  mit  der  üblichen  Darstellung  des  Stoffes, 
vielmehr  kommt  es  ihnen  in  erster  Linie  darauf 
an,  das  Selbstbeobachten  und  das  Denken  anzu- 
regen und  in  enger  Fühlung  mit  den  Erschei- 
nungen des  täglichen  Lebens  zu  bleiben.  Sie 
wollen  zeigen,  wie  man  an  die  Natur  mit  Fragen 
herantritt,  wie  die  Männer  der  Wissenschaft  Er- 
fahrungstatsachen verarbeiten,  kurz,  welches  die 
Aufgaben  der  Wissenschaft  und  Technik  sind. 
Des  weiteren  wird  dargetan,  wie  die  Naturwissen- 
schaften ineinandergreifen,  zu  praktischen  Ergeb- 
nissen führen  und  ein  wesentlicher  Bestandteil 
unseres  ganzen  Kulturlebens  werden  .  .  ."  Aus 
den  Titeln  der  Einzelhefte  der  Bücherei,  auf  deren 
Inhalt  im  besonderen  einzugehen  wegen  der 
großen  Zahl  hier  der  Platz  fehlt,  ist  zu  ersehen, 
daß  die  Leser  über  das  ganze  Gebiet  der  Natur- 
wissenschaften und  der  Technik  gemeinverständ- 
lich, aber  wissenschaftlich  einwandfrei  von  Autoren 
belehrt  werden,  die  P'achleute  auf  ihrem  Gebiete 
sind;  der  außerordentlich  billige  Preis  der  Einzel- 
hefte ermöglicht  es  jedem,  der  Belehrung  in 
naturwissenschaftlichen  Fragen  sucht,  in  den  Besitz 
der  Bibliothek  zu  gelangen.  Ich  begrüße  diese 
Naturwissenschaftlich  -  Technische  Volksbücherei 
als  Waffe  gegen  die  naturwissenschaftliche  Halb- 
bildung, die  sich  in  so  erschreckendem  Maße  im 
Volke  so  breit  macht;  in  allen  öffentlichen 
Büchereien  (Volksbibliotheken)  sollten  diese 
Heftchen  ausgelegt  werden.  Die  Deutsche  Natur- 
wissenschaftliche Gesellschaft  erwirbt  sich  durch 
die  Herausgabe  dieser  Naturwissenschaftlich-Tech- 
nischen Volksbücherei  ein  bleibendes  Verdienst, 
im  edlen  Sinne  aufklärend  zu  wirken. 

2)  Rebenstorff's  Physikalisches  Experimentier- 
buch, II.  Teil,  wendet  sich   an   mittlere   und  reife 


158 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xlll.  Nr.    lo 


Schüler,  mit  Versuchen  aus  schwierigeren  Kapiteln 
der  Physik,  die  selbsttätig  mit  den  einfachsten 
Mitteln  auszuführen  selbst  dem  Ungeschicktesten 
möglich  sein  wird.  Sie  sollen  die  Schüler  zum 
gründlicheren  Beob.ichten  und  Nachdenken  an- 
regen, da  sie  häufig  das  gestellte  Thema  von 
einer  anderen  als  der  im  Unterrichte  vorgetragenen 
Seite  anpacken  lernen.  Viele  Versuche  behandeln 
Gebiete,  die,  wie  der  Verf.  in  dem  Vorwort 
schreibt,  trotz  ihrer  außerordentlich  großen  Be- 
deutung nur  selten  mit  Aussicht  auf  Verständnis 
im  Unterricht  behandelt  werden  können.  Das  Buch 
ist  ein  hübsches  Geburtstags-  oder  Weihnachtsbuch. 

In  anregendem,  anspruchslosem  Stil  schildert 
Graebner  in  seinen  für  mittlere  und  leife 
Schüler  bestimmten  Vegetationsschilderungen  die 
wichtigsten  biologischen  Erscheinungen,  die  sich 
überall  auf  S[5aziergängen  an  den  Pflanzen  beob- 
achten lassen.  Die  beigegebenen,  treu  nach  der 
Natur  gezeichneten  Abbildungen  werden  das  Auf- 
finden der  betreffenden  Pflanzen  und  der  an  ihnen 
zu  beobachtenden  Einrichtungen  erleichtern,  so- 
wie andererseits  das  genaue  Register  dazu  dienen 
kann,  den  Standort  und  die  genauere  Beschreibung 
einer  bestimmten,  dem  Namen  nach  bekannten 
Pflanze  leicht  zu  ermitteln  (angezeigt  von  Prof. 
Dr.  K  o  e  r  b  e  r).  — 

Höck's  ,, Unsere P"rühlingspflanzen"  ist  dem  An- 
denken Bernhard  Landsberg 's  gewidmet; 
wer  seine  Streif' üge  durch  Wald  und  Flur  kennt, 
wird  beim  Durchblättern  des  vorliegenden  Bandes 
immer  wieder  an  den  unvergessenen  Schulmann 
erinnert.  Das  Buch  schildert  die  Frühblüher,  ihre 
Lebensweise  und  ihren  Zusammenhang  mit  der 
Organisation  in  einem  verständlichen  und  leicht- 
flüssigen Stile,  reicher  Buchschmuck  ziert  das 
empfehlenswerte  Büchlein.  — 

Sassenfeld's  ,,Aus  dem  Luftmeer",  wird  ohne 
Zweifel  eifrig  von  den  Schülern  gelesen  werden, 
da  Luftschiff  und  Flugapparat  das  Interesse  der 
deutschen  Jungen  an  der  Luft  gesteigert  haben, 
werden  theoretische  Erklärungen  über  meteoro- 
logische Tatsachen  und  Beobachtungen  ihnen  lieb 
werden,  da  sie  ihnen  das  einleuchtend  machen, 
was  die  Praxis  täglich  vorführt.  Der  Verf.  be- 
müht sich,  die  Knaben  in  die  Gesetze  der  Meteoro- 
logie   einzuführen    und   zu    Versuchen    anzuregen. 

Es  ist  mir  eine  Freude,  Schäffer's  Biologi- 
sches Experimentierbuch,  dieses  ausgezeichnete 
Büchlein,  auch  an  dieser  Stelle  rühmend  nennen 
zu  dürfen.  Eine  Fülle  von  Versuchen  aus  der 
Pflanzen-  und  Tierwelt,  viele  mit  den  einfachsten 
und  billigsten  Hilfsmitteln  ausführbar,  ist  darin 
enthalten,  so  daß  der  Lehrer  an  der  Hand  dieses 
famosen  Büchleins  niemals  in  Verlegenheit  kommen 
wird;  viele  Versuchsanordnungen  sind  enthalten, 
die  man  in  den  vielen  bekannten  Leitfäden  und 
Praktiken  für  das  biologische  Schullaboratorium 
vergeblich  sucht;  daher  wird  auch  der  erfahrenere 
Praktiker  mit  Erfolg  das  Büchlein  benutzen  können. 

Wunder  's  Plaudereien  sind  an  jüngere  Schüler 
gerichtet,  die  anfangen,  ihr  Interesse  an  physikali- 


schen und  chemischen  Vorgängen  durch  Basteleien 
zu  bekunden;  viele  höchst  einfache  Versuche  lenken 
den  Betätigungsdrang  in  vernünftige  Bahnen ;  das 
Büchlein  wird  die  Knaben  besonJers  in  der  langen 
Winterzeit  nützlich  beschäfiigen,  sie  über  Stunden 
der  Langeweile  hinweghelfen  und  sie  gleichzeitig 
über  manche  Fragen  des  Alltags  belehren. 

W.  Hirsch,  Dr.  phil.,  Oberlehrer. 

W.  Nernst  und  A.  SchoenfJies,  Einführung 
in  die  mathematische  Behandlung  der 
Naturwissenschaften.  Siebente  vermehrte 
und  verbesserte  Auflage.  XII  und  444  Seiten 
mit  85  Abbildungen  im  Text.  München  und 
Berlin,  Verlag  von  R.  Oidenbourg,  1913.  — 
Preis  geb.  10  Mk. 
Das  vorliegende  kurzgefaßte  Lehrbuch  der 
Differential-  und  Integralrechnung  wendet  sich  in 
erster  Linie  an  die  Chemiker,  die  es  mit  den  für 
das  Verständnis  der  Entwicklung  ihrer  Wissen- 
schaft in  neuerer  Zeit  unentbehrlichen  mathema- 
tischen Kenntnissen  ausrüsten  will.  Dieser  Auf- 
gabe wird  das  Buch,  wie  ja  das  Erscheinen  der 
siebenten  Auflage  beweist,  in  ganz  ausgezeichneter 
Weise  gerecht,  und  man  kann  ihm  daher  unter 
den  jüngeren  Naturwissenschaftlern ,  denen  ihr 
SpezialStudium  nicht  die  erforderliche  Zeit  zur 
Erwerbung  größerer  mathematischer  Kenntnisse, 
wie  sie  etwa  der  theoretische  Physiker  besitzen 
muß,  übrig  läßt,  recht  viele  Leser  wünschen. 
Besondere  Vorkenntnisse  werden  von  den  Ver- 
fassern mit  Recht  nicht  vorausgesetzt;  für  die 
verständnisvolle  Lektüre  genügt  es,  wenn  man  die 
auf  einem  humanistischen  Gymnasium  erworbenen 
Kenntnisse  noch  in  ganz  dunkler  Erinnerung  hat, 
denn  im  ersten  Kapitel  werden  die  Elemente  der 
analytischen  Geometrie,  soweit  sie  für  das  Ver- 
ständnis nötig  sind,  gewissermaßen  zur  Wieder- 
holung noch  einmal  gründlich  durchgenommen 
und  ergänzt,  und  in  einer  „Formelsammlung"  wer- 
den dem  Leser  die  wichtigeren  Tatsachen  der 
elementaren  Mathematik,  die  er  etwa  vergessen 
haben  könnte,  in  die  Erinnerung  zurückgerufen. 
Auch  für  den  Selbstunterricht,  der  in  neuerer 
Zeit  immer  mehr  an  Wichtigkeit  gewinnt,  eignet 
sich  das  Werk  sehr  gut.  Die  Darstellung  ist  sehr 
klar,  auf  Mißverständnisse,  wie  sie  dem  Anfänger 
leicht  auftreten ,  wird  an  geeigneten  Stellen  be- 
sonders aufmerksam  gemacht,  die  erworbenen 
Kenntnisse  werden  dem  Lernenden  durch  Übungs- 
aufgaben, die  in  einem  Anhange  zusammengestellt 
sind,  näher  gebracht,  in  den  Text  verstreute  Bei- 
spiele aus  der  Chemie  und  der  Physik  tragen  viel 
dazu  bei,  den  praktischen  Nutzen  der  erworbenen 
Kenntnisse  darzutun  und  damit  das  Interesse  an 
der  Sache  wach  zu  halten.  Der  Umfang  des  dar- 
gebotenen Stoffes  ist  so  bemessen,  daß  dem  Leser, 
der  das  Werk  gewissenhaft  durchgearbeitet  hat, 
das  Verständnis  aller  Probleme  der  theoretischen 
Chemie  und  selbst  mancher  schwierigerer  Kapitel 
der  theoretischen  Physik  erschlossen  ist. 

Clausthal  i.  H.  Werner  Mecklenburg. 


N.  F.  XIII.  Nr.   lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


159 


Dr.  Max  Offner,    Das   Gedächtnis.      Die  Er- 
gebnisse   der    experimentellen  Psychologie    und 
ihre  Anwendung    in  Unterricht    und  Erziehung. 
Dritte,    vermehrte  und    teilweise  umgearbeitete 
Auflage.     XII  und  312  Seiten.      Berlin,    Verlag 
von  Reuther  &  Reichard,   19 13.    ■ —    Preis    geh. 
4,20  Mk.,  geb.  5   Mk. 
Der  Verf.  gibt  uns  in  einer  gründlichen ,    um- 
fangreichen  Arbeit ,    die    in    auffallend  kurzer  Zeit 
bereits  zum  dritten  Male  aufgelegt  ist,  eine  wert- 
volle Monographie    über    das  Gedächtnis.     Er  hat 
sich    nicht    nur    in   sorgfältigster    Weise    mit    der 
reichen     Literatur     über     den     bedeutungsvollen 
Gegenstand  vertraut  gemacht,  sondern  auch  feste 
Stellung  zu  den  zahlreichen  Theorien  genommen. 
Mag  auch    der   erkenntnistheoretische  Standpunkt 
hier  und  da  stärker,  als  uns  lieb  ist,  auf  die  Aus- 
drucksweise abgefärbt  haben,  so  müssen  wir  doch 
die  psychologischen  Ansichten  des  Verf  als  wohl- 
begründet bezeichnen. 

Offners  Werk  ist  in  erster  Linie  für  Lehrer 
bestimmt,  aber  es  wird  auch  dem  F"achphilosophen 
die  besten  Dienste  leisten.  Die  Behandlung  der 
mannigfaltigen  Probleme,  deren  Aufzählung  uns 
zu  weit  führen  würde,  ist  durchaus  verständlich; 
höchst  anziehend  sind  die  vielen  Beispiele  und 
namentlich  die  auf  Erziehung  und  Unterricht  sich 
erstreckenden  Regeln  und  Anweisungen.  Nicht 
unerwähnt  bleibe,  daß  ein  überaus  reiches  Literatur- 
verzeichnis sowie  ein  nicht  minder  sorgfältiges 
Namen-  und  Sachregister  die  Verwendbarkeit  des 
Buches  erhöhen. 

Möge  das  treffliche  Buch,  das  übrigens  auch 
durch  Aufdeckung  mannigfaltiger  Schwierigkeiten, 
Unklarheiten  und  ungenügend  begründeter  Auf- 
fassungen einen  Anstoß  zu  neuer  Forschung  zu 
geben  vermag,  weiteste  Verbreitung  finden  ! 

Angersbach. 

Dr.   E.  Zernecke's  Leitfaden  für  Aquarien- 
und    Terrarien  freunde.      4.    gänzlich    neu 
bearbeitete    Auflage    von    C.  Heller    und    P. 
Ulmer.     Mit  200  Abbildungen  im  Text.    Ver- 
lag von  Quelle  &  Meyer   in  Leipzig.      1913. 
Daß  der  Z er necke'sche  Leitfaden  eines  der 
populärsten    Handbücher    für  Aquarien-   und  Ter- 
rarienfreunde   ist,    zeigen    die    rasch    aufeinander 
folgenden  Auflagen.   So  wurde  auch  gerade  diese 
Schrift    in    ihrer    3.  Auflage    bei    der  Ausstellung 
des  Vereins    der  Aquarien-    und  Terrarienfreunde 
in  Stuttgart  190g  den  Ausstellern  als  Vereinsgabe 
verliehen.     Während  aber  die  2.   1904  von  Hes- 
dörffer,  und  die  3.   1906  von  Leonhardt  be- 
arbeitete   Auflage   sich   wenig  voneinander  unter- 
scheiden, ist  diese  4.  Auflage  wesentlich  neu 
bearbeitet,    wobei    sich  2  Schriftsteller    in  die 
Arbeit    geteilt    haben:    C.  Heller,     bekannt    als 
Verfasser  des  ,, Süßwasseraquariums  1908",  für  das 
Süß-  und  Seewasseraquarium,  P.  U  1  m  e  r,  Verfasser 
einer    Schrift   über    die  „Wasserinsekten",    für  das 
Terrarium.    Die  Neubearbeitung  bezieht  sich  haupt- 
sächlich    auf    den     technischen     und    praktischen 


Teil,  aber  auch  der  wissenschaftliche  Teil:  Auf- 
führung der  Tiere  und  Pflanzen,  erfuhr  eine  be- 
deutende Veränderung;  bei  allen  Namen  wurde 
der  Gewährsmann ,  d.  h.  der  Name  des  ältesten 
Beschreibers  der  Art,  wie  es  sich  bei  wissenschaft- 
lichen Schriften  von  selbst  versteht,  beigesetzt,  z.  B. 
Tinea  vulgaris  Cuvier  ^=  Schleie,  und  in  zweifel- 
haften Phallen  wurden  die  neueren  Autoren,  wie 
A.  Günther,  Boulenger,  Regan  usw.  zu 
Rate  gezogen.  Die  Zahl  der  aufgeführten  Tiere  und 
Pflanzen  wurde  vermehrt,  besonders  durch  die  Neu- 
erscheinungen, wie  Xyphophorus  striatus,  Cyno- 
lebias  Bellotti,  Pantodon  Buchholzi,  Pterophyllum 
scalare,  während  andere,  nicht  oder  wenig  mehr 
im  Handel  vorkommende ,  ausgemerzt  wurden, 
wie  Toxotes  jaculator,  Amia  calva.  So  nur  war 
es  möglich,  die  Seitenzahl  der  vorigen  Auflage: 
455  oder  456  zu  erhalten.  Auch  die  Abbildungen 
wurden  teils  vermehrt,  teils  vermindert,  sie  be- 
stehen nur  noch  in  Textfiguren,  die  früheren  Voll- 
tafeln wurden  aufgegeben,  wobei  freilich  auch  das 
hübsche  Titelbild :  die  Farbentafel  mit  Tricho- 
gaster  calius  fallen  mußte. 

Beim  Kapitel :  Goldfische  vermisse  ich  die 
Angabe  von  Kreyenberg  und  Tornier,  daß 
manche  Rassen  derselben  auch  ohne  künstliche 
Zuchtwahl  entstehen  können,  beim  Kapitel:  Tri- 
tonen  wäre  die  Abbildung  eines  Spermatophoren 
nach  C.  Zeller  wünschenswert  gewesen,  da  die 
Beobachtung  solcher  auch  für  Laien  wohl  mög- 
lich ist.  Auch  die  lungenartige  Funktion  des 
Labyrinths  der  Labyrinthfische  mit  seinem  Gefäß- 
reichtum, wie  sie  neuerdings  G.  Henninger 
1907  dargelegt  hat,  hätte  hervorgehoben  werden 
sollen.  Die  photographischen  Abbildungen  von 
Tieren  im  Wasser  fallen  meistens  etwas  unklar  aus 
gegenüber  von  Zeichnungen.  Klz. 

Festschrift  für  Karl  Sudhoff.  Mit  1  Bildnis, 
4  Abbildungen  im  Text  und  i  Tafel.  Archiv 
für  die  Geschichte  der  Naturwissenschaften  und 
der  Technik  6.  Band. 
Die  Festschrift  ist  Sudhoft'  zur  F"eier  seines 
sechzigsten  Geburtstages  gewidmet.  Eine  große 
Zahl  namhafter  Gelehrter  hat  sich  an  der  Ehrung 
beteiligt.  Hauptsächlich  aus  dem  Gebiet  der 
Medizin,  aber  auch  aus  der  Geschichte  der  Natur- 
wissenschaften, liegen  55  historische  Aufsätze  vor. 
Der  Inhalt  ist  äußerst  vielgestaltig.  Den  Beginn 
macht  Karl  Boas  mit  einer  Mitteilung  über 
,, mittelalterliche  Hebammenordnung".  Von  allge- 
meinem Interesse  ist  z.  B.  der  Aufsatz  von  G. 
Buschan  über  das  Schwimmen  bei  den  Natur- 
und  frühgeschichtlichen  Völkern  sowie  von  F. 
Dannemann  über  ,,die  Naturwissenschaften  in 
ihrer  Entwicklung  und  in  ihrem  Zusammen- 
hang". Von  Eugen  Holländer  finden  wir 
Bemerkungen  zu  einem  persischen  Anatomie- 
bild, von  Poske  „Galilei  und  der  Kausalbegriff". 
—  Es  sind  hier  nur  wenige  Arbeiten  herausge- 
griffen, es  findet  sich  eine  Fülle  des  Interessanten 
in  dem  vorliegenden  Band.    Mit  Genugtuung  wird 


i6o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  lo 


Sudhoff  an  seinem  Ehrentage  diese  schöne 
Gabe  entgegengenommen  haben,  da  er  sich  sagen 
durfte,  daß  von  seiner  Lebensarbeit  vielfache  An- 
regung und  Befruchtung  auf  das  Gebiet  gefallen 
ist,  dessen  fleißiger  Anbau  durch  hervorragende 
Forscher  eben  die  Festschrift  beweist.  —  Geschichte 
der  Naturwissenschaften  und  Medizin  ist  ein  wich- 
tiges Stück  Kulturgeschichte.  So  ist  die  Fest- 
schrift als  ein  Beitrag  zur  Kulturgeschichte  an- 
zusehen und  hoch  zu  bewerten. 

Ernst  Schwalbe  (Rostock). 


Anregungen  und  Antworten. 

Ihre  Antwort  auf  die  erste  Frage  des  Herrn  J.  K.  Cöln- 
Ehrenfeld  in  Nr.  51  19 13  dieser  Zeitschrift  ist  unzutreffend 
(wie  schon  in  Nr.  5  1914  von  zwei  Seiten  betont  wurde). 
Tatsächlich  beschreiben  Seedampfer  vor  Antritt  einer  Reise 
sehr  oft  erst  einen  Kreis,  ehe  sie  ihren  Kurs  steuern,  wie  ich 
mehrfach  miterlebt  habe.  Aber  nicht  die  Länge  der  beab- 
sichtigten Reise  ist  das  ausschlaggebende,  sondern  die  Ladung. 
Jedes  eiserne  und  stählerne  Schilf  hat  seinen  ihm  eigentüm- 
lichen magnetischen  Koeffizienten,  der  Kompaß  zeigt  ganz 
wesentlich  anders  als  an  Land  oder  auf  reinen  Holzschiffen. 
Zum  großen  Teil  wird  dieser  irreführende  Einfluß  des  Riesen- 
magneten ,, Schiff"  auf  die  Kompasse  kompensiert,  ausgeglichen 
durch  große ,  quer  zur  Schiffsrichtung  angebrachte,  in  ihrer 
Stellung  regulierbare  Metallklötze  dicht  neben  dem  Kompaß- 
gehäuse, aber  jeder  Kompaß  behält  einen  bestimmten  Fehler 
bei,  der  auch  dem  Laien  dadurch  kenntlich  wird,  daß  z.  B. 
der  steuernde  Matrose  einen  etwas  anderen  Kurs  befohlen  er- 
hält, als  der  wachhabende  Offizier  auf  dem  Kontrollkompasse 
abliest;  die  nach  den  Kompaßangaben  innezuhaltenden  Kurse 
sind  für  jeden  einzelnen  Kompaß  angeschrieben  und  lauten 
etwas  verschieden.  Durch  die  rhythmischen  Stöße  der  Ma- 
schinen und  durch  die  vibrierenden  Eigenschwingungen  des 
Schiffskörpers  ändert  sich  nach  bekannten  Gesetzen  der  Mag- 
netismus des  großen  stählernen  Schiffskörpers,  bis  er  nach 
vielen  Reisen  konstant  bleibt.  Aber  noch  viel  eingreifendere 
wechselnde  Änderungen  treten  ein  bei  Eisenladungen,  be- 
sonders Maschinen,  Eisenbahnschwellen  auf  der  Ausreise, 
Eisenerzen  auf  der  Rückreise.  Dann  fährt  das  Schiff  nach  der 
,, Deviationsboje"  und  peilt  die  am  Ufer  aufgestellten  ,, Devia- 
tionsbaken", und  die  Offiziere  stellen  fest,  welche  Schwankun- 
gen die  Kompaßrose  ausführt,  wenn  sich  das  Schiff  sozusagen 
unter  dem  Kompasse  herumdreht.  Diese  Ladungsmißweisungen 
in  den  verschicdenenLagen  des  Schiffes  zu  den  Himmelsrichtungen 
werden  gebucht  und  sind  bei  den  Kursfeststellungen  sehr  wichtig. 
Aus  diesen  Gründen  beobachtet  der  Reisende  dieses  ,, Kreis- 
fahren" nicht  bei  kurzen  Fahrten  nach  England,  Skandinavien 
usw.,  auch  nicht  bei  den  großen  Schnelldampfern  nach  Nord- 
amerika, da  diese  keine  Schwerfracht  laden,  wohl  aber  bei  den 
kombinierten  Fracht-  und  Passagierdampfern  nach  Ost-  und 
Westafrika ,  da  diese  stets  sehr  starke  Eisenladungen  führen, 
und  bei  anderen  Linien  nach  Bedarf  Dr.  P.  Diettrich. 


Die  im  diesjährigen  5.  Hefte  (S.  80)  dieser  ,, Wochen- 
schrift" enthaltene  lichtvolle  Ergänzung  der  Antwort  auf  die 
Frage  der  Steuerfähigkeit  der  ohne  Eigenbewegung  flußab- 
wärts treibenden  Schifte  bedarf  einer  Erweiterung.  Es  zeigen 
diese  Fähigkeit  nämlich  Fahrzeuge  von  eigenartiger  Gestalt 
(Raddampfer  mit  stillstehender  Maschine,  Flöße  usw.)  weniger 
und  alle  .Schiffe  von  geringerer  Größe  abwärts  an  gar  nicht. 
Hier  wirkt  der  durch  das  Heruntergleiten  auf  dem  Gefälle 
erzeugten     Beschleunigung     die     Reibung     (Adhäsion)     der 


Oberfläche  des  Schwimmkörpers  an  dem  Wasser  erfolg- 
reich entgegen.  Da  die  Masse  eines  Körpers  mit  der  drei- 
tachen  Potenz  seiner  linearen  .Abmessung,  seine  Oberfläche 
aber  nur  mit  dem  Quadrate  des  linearen  Maßes  zunimmt,  so 
leuchtet  ein,  daß  eine  nur  von  der  Körpermasse  abhängige 
Kraft  die  größeren  Schwimmkörper  stärker  beeinflußt  als  die 
kleineren.  Heibig. 

Herrn    Lehrer    E.    Seh.   in    Leipzig-Schönfeld. 
Rezept  für  Polreagenzpapier: 

1.  Man  tränke  Fließpapier  mit  einer  Lösung  von  250  g 
Salpeter  in  i  1  Wasser  und  tauche  nach  dem  Trocknen  das 
Papier  in  eine  Lösung  von   5 — 6  g  Phenoiphtalein  in  Alkohol. 

oder: 

2.  Man  tränke  Fließpapier  mit  Stärkekleisler  (2  :  100),  der  mit 
Kaliumjodid  und  alkoholischer  Phenolphtaleinlösung  versetzt  ist. 

Polsucherflüssigkeit  besteht  in  der  Regel  aus  einer  Lösung 
von  5  g  Salpeter  in  20  g  Wasser  und  50  g  Glyzerin,  welcher 
eine  Lösung  von  0,5  g  Phenoiphtalein  in  lo  g  .Mlsohol  zu- 
gemischt ist,  oder  man  erhält  sie,  wenn  man  die  P'lüssigkeit 
unter  2.  auf  das  10  fache  verdünnt.  (Die  Angaben  sind  ent- 
nommen aus  Lehmann-Frick,  Physikalische  Technik,  Vieweg 
u.  Sohn,   1909.) 

Wenn  Sie  in  ein  Gefäß  mit  Wasser  einige  Tropfen  der 
alkoholischen  Phenolphtaleinlösung  geben  und  etwas  Kali- 
lauge oder  Sodalösung  hinzusetzen,  so  wird  die  Flüssigkeit 
rot ;  nach  Zusatz  von  Säure  entfärbt  sie  sich  wieder. 

Das  Six- Maximum-Minimum-Thermometer  ist  ein  einfaches 
Weingeistthermometer  mit  mehrfach  gebogener  Röhre.  Von 
A  bis  B  etwa  ist  der  Weingeistfaden  durch  einen  Quecksilber- 
faden   unterbrochen.       Wird    das    Thermometer 

erwärmt,  so  steigt  infolge  der  Ausdehnung  von 
Weingeist  und  Quecksilber,  da  das  Rohr  bis  an 
das  Ende  e  mit  Flüssigkeit  gefüllt  ist,  das  Queck- 
silber auf  der  Seite  B  in  die  Höhe  und  schiebt 
dabei  einen  kleinen  eisernen  Stift,  der  im  Wein- 
geist auf  dem  Quecksilber  lagert,  mit  in  die 
Höhe.  Beim  .Abkühlen  sinkt  das  Quecksilber 
wieder,  der  Stift  bleibt  aber  infolge  der  Reibung 
an  der  Glaswand  zurück  und  zeigt  also  die  höchste 
Temperatur  an,  der  das  Thermometer  ausgesetzt  war.  Mittels 
eines  Magnetes  zieht  man  nach  der  Ablesung  den  Stift  wieder 
herunter.  Bei  A  befindet  sich  ein  gleicher  Stift,  der  also  das 
Minimum  der  Temperatur  angibt.  Valentiner. 


9 


U' 


Le  Comite  de  Bibliographie  et  d'Etudes  astronomiques 
compose  de  quelques  membres  du  personnel  de  l'Observaloirc 
royal  de  Belgique:  MM.  P.  Stroobant,  Prof.  Dr.,  premier 
astronome,  chef  de  service,  membre  de  l'Academie  royale  de 
Belgique;  J.  Delvosal,  Dr.  astronome;  H.  Philippot,  Dr.  astro- 
nome; E.  Delporte,  Dr.  astronome  adjoint,  va  publier  une 
nouvelle  edition  de  l'ouvrage  Les  Observatoires  astronomiques 
et  les  astronomes,  paru  en   1907. 

Une  demande  de  renseignements  concernant  le  personnel, 
les  Instruments,  les  recherches  et  les  publications  est  adressee 
aux  Directeurs  des  divers  Observatoires. 

L'ouvrage  renfermera  aussi,  comme  la  premiere  edition, 
les  noms  des  astronomes  libres  (professeurs  d'astronomie, 
amateurs,  etc.)  qui  ne  sont  attaches  ä  aucun  observatoire  mais 
qui  s'occupent  activement  de  recherches  astronomiques. 

Nous  prions  les  Directeurs  d'Observatoires  et  les  astro- 
nomes libres,  auxquels  une  demande  de  renseignements  ne 
serait  pas  parvenue  ou  qui  n'auraient  pas  encore  envoye  leur 
reponse,  d'adresser  les  indications  mentionnees  ci-dessus  ou 
de  signaler  toute  Omission,  le  plus  tct  possible  au  Directeur 
du  comite:  M.  P.  Stroobaut,  ä  l'Observatoire  royal,  ä  Uccle 
(Belgique). 


Inhalt;  K.  Andree:  Die  petrographische  Methode  der  Paläogeographie.  Wi  1  h.  R.  E  ckar  d  t :  Einbürgerungsversuche  als 
.Möglichkeiten  zur  Erforschung  des  Vogelzuges.  —  Einzelberichte:  V.  K  ohl  seh  ütter :  Über  die  Erscheinungsformen 
des  elementaren  Silbers.  H.  Freundlich  und  G.  v.  Elissafoff:  Bestimmung  der  Wertigkeit  des  Radiums  mit  Hilfe 
der  Elektroendosme.  Charles  G.  Barkla:  Charakteristische  Röntgenstrahlen.  M.  de  Broglie:  Photographie  der 
Spektren  der  Röntgenstrahlen.  W.  Wächter:  Hydrouastische  Blattbewegungen.  Borelly;  Veränderlichkeit  der  Nebel. 
R.  Wolle  reck:  Die  ,, Schwebefortsätze"  pelagischer  Cladoceren.  —  Kleinere  Mitteilungen:  Schilling:  Schlaf- 
krankheit in  Uganda.  Otto  Bürger:  Quarzgut.  v.  Wiese  und  Kaiserswaldau:  Weltwirtschaftliche  Probleme 
Ostasiens.  Sustmann:  Die  Stollbeule  der  Pferde.  —  Bücherbesprechungen:  Naturwissenschaftliche  Jugendliteratur. 
W.  Nernst  und  A.  Schoenflies:  Einführung  in  die  mathematische  Behandlung  der  Naturwissenschaften.  Dr.  Max 
Offner:  Das  Gedächtnis.  Dr.  E.  Zernecke:  Leitfaden  für  Aquarien-  und  Terrarienfreunde.  Festschrift  für  Karl 
Sudhoff.  —  Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstraße   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.    Hand; 
der  ganzen  Reihe  2g.  Band, 


Sonntag,  den  15.  März  1914. 


Nummer  11. 


Neuere  Untersuchungen  über  den  Farbensinn  der  Insekten. 


[Nachdruck  verboten. 


Von  Privatdozent  Dr.  F.  Stellwaag,  Erlangen. 


Nach  der  Theorie  von  J  o  h.  M  ü  1 1  e  r  wird  durch 
das  zusammengesetzte  Auge  der  Insekten  das  ge- 
sehene Objekt  mosaikartig  in  einzelne  Felder  zer- 
legt, von  denen  jedes  seine  Existenz  einem  Augen- 
keile verdankt.  Zweifellos  nimmt  das  Insekt  die 
Umrisse  des  Gegenstandes  um  so  deutlicher  wahr, 
je  mehr  solcher  Keile  den  Komplex  zusammen- 
setzen und  je  länger  die  Kristallkegel  sind.  Doch 
steht  die  Deutlichkeit  des  Bildes  im  umgekehrten 
Verhältnisse  zu  seiner  Helligkeit.  Mit  diesen  durch 
anatomische  Untersuchungen  gewonnenen  Resul- 
taten stimmen  die  biologischen  Beobachtungen 
vollkommen  überein.  So  besitzen  die  Bienen  wegen 
der  großen  Zahl  der  Augenkeile  lichtschwache 
Augen  und  reagieren  daher  auf  jede  Verminderung 
der  Belichtung,  eine  Tatsache,  auf  die  weiter  unten 
noch  hingewiesen  werden  wird.  Über  ihre  Empfind- 
lichkeit machte  Zander  (Ja)')  gelegentlich  der 
Sonnenfinsternis  am  17.  April  1912  folgende  Be- 
obachtungen: 

12/01  :  Beginn  der  Verfinsterung. 

l/oo:  Hälfte  der  Sonnenscheibe  vom  Mond  be- 
deckt. Es  herrscht  ein  eigenartiges  gedämpftes 
Licht.  Die  Bienen  eilen  scharenweise  heim.  Nur 
einzelne,  welche  schon  vorher  draußen  waren,  sieht 
man  an  den  Blüten.  Keine  Bienen  fliegen  mehr 
aus.  Manche  Völker  haben  sich  schon  ganz  in 
ihre  Kästen  zurückgezogen. 

i/io:  Leuchtender  Teil  der  Sonne  noch  sichel- 
förmig. Keine  Biene  mehr  auf  den  Blüten.  Die 
amerikanischen  Goldbienen  und  Italiener  sind  be 
sonders  still  geworden. 

1/22:  Die  Verfinsterung  hat  ihren  Höhepunkt 
erreicht.  Die  Temperatur  ist  auf  13  Grad  C  ge- 
sunken. Ein  kühler  Zug  geht  durch  den  Garten. 
Vor  den  Ständen  herrscht  Totenstille  wie  am 
späten  Abend. 

1/30:  Es  wird  heller.  Die  Mondscheibe  ent- 
weicht nach  oben  und  rechts,  leuchtende  Sonnen- 
sichel am  unteren  linken  Rande.  Noch  zeigt  sich 
keine  Biene. 

1/40 :  Die  Verfinsterung  geht  zurück.  Einzelne 
Bienen  wagen  sich  ins  Freie. 

1/50:  Die  Sonnenscheibe  wird  fast  frei.  Der 
Bienenflug  wird  lebhafter  und  nimmt  allmählich 
seine  frühere  Stärke  wieder  an. 

Während  die  Empfindlichkeit  des  Insektenauges 
für  Helligkeitsgrade  außer  allem  Zweifel  steht, 
herrscht  in  der  Entscheidung  der  Frage,  ob  den 
Insekten  ein  Farbensinn  zukommt,  durchaus  keine 
Einmütigkeit,    ja    die    Gegensätze    scheinen    sich 


')  Die  Zahlen  weisen  auf  das  Literaturverzeichnis  am  Ende 
des  Artikels  hin. 


immer  mehr  zuzuspitzen,  seit  Plateau  in  einer 
Reihe  von  Abhandlungen  gegen  die  Anschauungen 
von  Sprengel  protestiert  hatte. 

Chr.  D.  Sprengel  hatte  1793  den  Gedanken 
ausgesprochen,  daß  die  Insekten  von  den  Farben 
der  bunten  Blüten  angezogen  würden  und  daher 
farbentüchtig  sein  müßten.  Nicht  ganz  100  Jahre 
nach  ihm  beschäftigte  sich  der  kürzlich  verstorbene 
vorzügliche  Beobachter  Lubbock  (6)  mit  der 
gleichen  Frage  und  suchte  sie  mit  Hilfe  der  sog. 
Dressurmethode  zu  lösen.  Er  fand,  daß  eine  Biene, 
die  er  zu  einem  kleinen  Tropfen  Honig  auf  blaues 
Papier  gebracht  hatte,  bei  jedem  Besuch  zum  blauen 
Papier  zurückkam,  auch  wenn  er  dieses  an  einen 
anderen  Platz  brachte  und  an  die  frühere  Stelle  ein 
gleichgroßes  orangefarbiges  Papier  legte.  Lub- 
bock variierte  seine  Experimente  oftmals  und 
dressierte  die  Bienen  mit  gleichem  Erfolg  auch  auf 
andere  Farben.  Er  glaubte  sich  daher  zu  dem 
Schluß  berechtigt,  daß  die  Bienen  die  P'ähigkeit 
haben,  Farben  zu  unterscheiden.  Auch  Forel  (3) 
arbeitete  mit  der  Dressurmethoee  und  bestätigte 
die  Resultate  Lubbocks  gegenüber  der  Ansicht 
von  Plateau,  daß  die  Blüten  durchaus  nicht  bunt 
zu  sein  brauchen,  um  die  Insekten  anzulocken. 
Wohl  könnten  die  Bienen  einen  Farbensinn  be- 
sitzen, doch  braucht  er  nicht  dem  unsrigen  ähnlich 
zu  sein.  Er  stellte  fest,  daß  weder  künstliche 
Blumen  noch  Spiegelbilder  natürlicher  Blüten  von 
den  Insekten  beflogen  werden. 

In  neuester  Zeit  wird  die  Dressurmethode  unter 
den  deutschen  Forschern  besonders  von  L.  v.  Dob- 
kiewicz  und  K.  v.  Frisch  angewandt. 

L.  V.  Dobkiewicz  (2)  gebrauchte  zu  seinen 
Experimenten  künstliche  gelbe  und  blaue  Blüten. 
Nach  der  Angabe  von  Lubbock  und  anderen 
soll  nämlich  blau  die  Lieblingsfarbe  der  Insekten 
sein,  während  gelb  am  wenigsten  Anziehungskraft 
ausübt.  Zunächst  wurden  die  Artefakte  in  einem 
stark  besuchten  Kleeacker  aufgestellt  und  zum  Teil 
mit  Honig  gefüllt.  Keine  der  Blüten  wurde  be- 
achtet. Die  Bienen  waren  der  angefangenen  Arbeit 
eben  zu  sehr  treu,  um  sich  ablenken  zu  lassen. 
Erst  dann  wurden  sie  von  einer  Biene  mehrmals 
besucht,  als  diese  auf  den  Honig  aufmerksam  ge- 
macht worden  war.  Ihr  diente  die  Farbe  von 
weitem  als  Signal,  denn  sie  verwechselte  die  honig- 
gefüllte Blüte  mit  anderen  gleichgefärbten  nebenan. 
Ganz  in  der  Nähe  setzte  dann  der  Geruchssinn 
ein.  Da  die  Biene  so  lange  honiglose  und  honig- 
gefüllte Artefakte  absuchte,  bis  sie  ihre  erste  Blüte 
fand,  so  sind  sicher  Honig  und  Farbe  beim  Blüten- 
besuche   noch    nicht    entscheidend.       Nun    kamen 


l62 


Naturwissenschaftliche  Wo  chenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  II 


die  blauen  Blüten  an  Stelle  der  gelben,  während 
diese  weiter  auseinander  gestellt  wurden :  Im  Gegen- 
satz zu  den  blauen  erhielten  sie  zahlreiche  Besuche. 
Weiterhin  band  L.  v.  üobkiewicz  fünf  gelbe 
künstliche  Blüten  mit  und  ebensoviele  ohne  Honig 
paarweise  zusammen  und  stellte  sie  in  ^'j^  m  Ent- 
fernung voneinander  auf.  Die  mit  Honig  gefüll- 
ten wurden  mit  immer  größerer  Sicherheit  be- 
flogen. Nachdem  für  das  nächste  Experiment  alle 
Artefakte  entfernt  waren,  wurden  fünf  blaue  mit 
Honig  in  die  Tracht  gestellt,  blieben  aber  unbe- 
achtet, während  zwei  gelbe  mit  Honig  15  Besuche 
in  fünf  Minuten  erhielten.  Am  nächsten  Tage 
wurden  fünf  gelbe  Blüten  ohne  Honig  innerhalb 
zehn  Minuten  umflogen.  Zuletzt  wird  ein  Versuch 
vom  Monat  vorher  mitgeteilt,  wo  eine  große  gelbe 
künstliche  Blume  in  einem  Feld  von  blühendem 
Borago  offic.  aufgestellt  worden  war.  Sie  wurde 
von  den  Bienen  ebenso  gemieden  wie  eine  an  ihre 
Stelle  gebrachte  blaue  oder  eine  stark  duftende 
Päonienblüte.  Dagegen  wurde  ein  künstlicher  Bo- 
ragobusch  mehrmals,  aber  immer  seltener  beflogen. 

Dieses  letzte  Experiment  ist  außerordentlich 
interessant.  Es  zeigt ,  daß  weder  grobe  Nach- 
ahmungen von  Form  und  Farbe,  noch  der  Honig- 
duft oder  sonst  bevorzugte  Blumen  die  Bienen 
aus  ihrer  Arbeit  ablenken  können.  Immerhin 
konnten  die  Bienen  die  künstlichen  Blüten  sehen, 
denn  sie  wurden  so  lange  getäuscht,  bis  sie  den 
Unterschied  gegenüber  den  echten  Blüten  erkannt 
hatten. 

Aus  den  mitgeteilten  Experimenten  ergeben 
sich  folgende  Schlüsse: 

1.  Die  Bienen  richten  sich  nach  den  Farben, 
besitzen  somit  ein  Farbenunterscheidungsvermögen. 

2.  Die  Farben  gewinnen  für  die  Bienen  nur 
dann  eine  Bedeutung,  wenn  sie  gelernt  haben, 
daß  gewisse  Farben  mit  irgendwelchen  Vorteilen 
für  sie  verbunden  sind.  Das  sich  nach  der  Farbe 
Richten  ist  nur  ein  sekundäres  Orientierungsmittel. 
Daher  wird  die  besonders  von  Plateau  betonte 
Beobachtung  verständlich,  daß  es  farblose,  unan- 
sehnliche Blumen  gibt,  die  von  den  Bienen  sehr 
gerne  besucht  werden ,  während  oft  auffallend 
farbige  unbeachtet  bleiben. 

Bei  seinen  Untersuchungen  geht  L.  v.  Dob- 
kiewicz  nicht  näher  auf  das  Problem  ein,  ob 
die  Blütenfarben  an  ihrem  Farbwert  oder  nur  an 
ihrem  Helligkeitswert  von  den  Bienen  erkannt 
werden.  K.  v.  Frisch  (4a,  b,  c)  dagegen  sucht 
gerade  hierüber  Aufschluß  zu  bekommen. 

Er  stellte  sich  zunächst  mattgraue  Papiere  in 
30  Abstufungen  von  Schwarz  bis  Weiß  her  und 
legte  sie  ohne  Rücksicht  auf  die  Helligkeit  in 
eine  Reihe.  Nachdem  die  Bienen  zwei  Tage 
lang  durch  Honigschälchen  auf  gelbe  Papiere 
dressiert  waren,  verteilte  er  unter  den  Graupapieren 
zwei  neue  gelbe,  versah  alle  Papiere  mit  honig- 
gefüllten Schälchen  und  exponierte.  Während 
der  Beobachtungszeit  erhielten  die  gelben  Papiere 
74  Besuche,  die  grauen  aber  nur  drei.  IBeim 
nächsten  Versuch    verwandte   er   leere  Schälchen. 


In  fünf  Minuten  fanden  sich  auf  den  beiden  Gelb- 
papieren 220  Bienen  ein,  keine  einzige  dagegen 
auf  Grau.  Ganz  ähnliche  Resultate  ergab  die 
Dressur  auf  blaue  Bögen ,  auch  wenn  alle  Schäl- 
chen mit  Zuckerwasser  gefüllt  wurden  mit  Aus- 
nahme des  Schälchens  auf  dem  Blaupapier.  Die 
Bienen  flogen  scharenweise  auf  Blau,  während  die 
gefüllten  Schälchen  lange  Zeit  nicht  beachtet 
wurden.  Die  Bienen  suchten  also  aus  der  Grau- 
serie stets  die  farbigen  Papiere  aus.  Sie  mußten 
somit  durch  den  Farbwert  und  nicht  durch  die 
Helligkeit  angezogen  worden  sein.  Das  bedeutet 
aber  nichts  anderes,  als  daß  die  Bienen  Farben- 
sinn besitzen.  Man  könnte  zwar  einwenden:  die 
Serie  von  30  Graupapieren  ist  zwar  für  das 
menschliche  Auge  genügend  fein  abgestuft,  aber 
das  Auge  der  Bienen  besitzt  eine  feinere  Hellig- 
keitsempfindung. Es  gelingt  jedoch  nicht,  die 
Bienen  auf  ein  bestimmtes  Grau  zu  dressieren. 
Um  zu  entscheiden,  ob  die  Papiere  statt  an 
Helligkeit  und  Farbe  an  ihrer  Mattigkeit  erkannt 
wurden,  machte  K.v.  Frisch  ein  gelbes  Papier 
glänzend  und  legte  es  unter  den  bisherigen 
Versuchsbedingungen  zwischen  die  anderen.  Die 
Bienen  besuchten  aber  das  Glanzpapier  ebenso 
eifrig  wie  die  matten  Papiere.  Der  Einwand,  daß 
die  Bienen  nicht  auf  die  Farbe  des  Papieres,  son- 
dern auf  den  Geruch  dieser  Farbe  dressiert  wor- 
den seien,  wird  dadurch  entkräftet,  daß  die  Bienen 
auch  die  Farben  herausfinden,  wenn  diese  mit 
einer  Glasscheibe  bedeckt  oder  in  ein  Röhrchen 
eingeschmolzen  werden. 

K.  v.  Frisch  suchte  auch  festzustellen,  wie- 
weit bei  den  Bienen  eine  Dressur  auf  Farbmuster 
und  P'ormen  durchgeführt  werden  kann.  Denn 
die  Bienen  unterscheiden  erfahrungsgemäß  nicht 
nur  die  Farben  der  Blüten,  sondern  sie  befliegen 
jedesmal  eine  ganz  bestimmte  Art.  Zu  diesem 
Zweck  ließ  er  die  Bienen  durch  eine  Schablone 
von  bestimmter  Form  und  Farbe  zu  einer  Futter- 
quelle gelangen.  Die  Bienen  lernten  sehr  wohl 
eine  Scheibe,  die  zur  Hälfte  blau,  zur  Hälfte  gelb 
ist,  von  einer  anderen,  in  blaugelbe  Oktanten  ge- 
teilten unterscheiden,  obwohl  beide  Scheiben  gleich- 
viel Blau  und  Gelb  enthalten. 

Die  Dressur  der  Bienen  gelingt  außer  mit  Blau 
und  Gelb  auch  mit  Gelbgrün,  Orange  und  Purpur- 
rot, nicht  aber  mit  Rot  und  Blaugrün.  Auf  Rot 
dressierte  Bienen  „verwechseln"  in  der  Grauserie 
das  Rot  mit  schwarzen  und  dunkelgrauen  Papieren, 
und  auf  Blaugrün  dressierte  Bienen  benehmen  sich 
so,  als  ob  sie  auf  ein  Grau  von  mittlerer  Hellig- 
keit dressiert  worden  wären.  Ebenso  sehen  sie 
Purpurrot  wie  Blau  und  Violett.  Daraus  folgt, 
daß  der  Farbensinn  der  Bienen  weitgehende  Ähn- 
lichkeiten mit  dem  Farbensinn  eines  rolblinden 
(protanopen)  Menschen  zeigt. 

Nach  dieser  Erkenntnis  ist  es  interessant  einen 
Blick  auf  die  Farben  der  Blüten  zu  werfen.  Hier 
fällt  sofort  nach  der  Ansicht  v.  Frisch 's  der 
Mangel  an  roten  Blüten  auf,  während  andersfarbige, 
die    von    den  Bienen    gern    beflogen    werden,    in 


N.  F.  XIII.  Nr.  II 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


163 


großer  Menge  vorhanden  sind.  Damit  würde  die 
Behauptung  von  Sprengel,  daß  die  Blütenfarben 
um  der  Insekten  willen  vorhanden  seien,  eine  neue 
Grundlage  erhalten,  während  gleichzeitig  die  Be- 
funde einer  Reihe  von  Zoologen  und  Botanikern, 
besonders  solcher,  die  ebenfalls  die  Bienen  auf 
bestimmte  Farben  dressiert  hatten,  bestätigt 
werden. 

Gegen  diese  Dressurmethode  und  insbesondere 
gegen  die  Schlußfolgerungen  von  K.  v.  Frisch 
wendet  sich  K.  H  e  ß  (5  a,  b,  c).  Er  sagt :  „Stellt 
man  solche  Versuche  unter  genügender  Berück- 
sichtigung aller  in  Betracht  kommender  Fehler- 
quellen an,  und  trägt  man  insbesondere  Sorge, 
daß  die  Ansammlungen  der  Bienen  an  bestimmten 
Stellen  nicht  durch  andere  Umstände,  wie  z.  B. 
den  Geruchssinn,  mit  beeinflußt  werden,  so  kann 

man leicht  zeigen,  daß  es  ganz  unmöglich 

ist,  Bienen  auf  irgendwelche  Farben  zu  dressieren". 
Um  dies  exakt  zu  beweisen,  verfährt  Heß  folgender- 
maßen. 

Zunächst  wurden  die  Bienen  drei  Tage  lang 
auf  Blau  dressiert.  Er  brachte  einen  blauen  mit 
Honig  bestrichenen  Glasstab  vor  das  Flugloch 
und  übertrug  die  daran  saugenden  Bienen  auf 
eine  l — 2  m  entfernte  blaue  Fläche,  wo  sie  ge- 
zeichnet wurden.  Das  geschah  an  jedem  Tag  mit 
50  Bienen ,  wobei  die  Bienen  der  drei  Tage  drei 
verschiedene  Farben  erhielten.  Sie  wurden  auf 
allen  möglichen  blauen  Gegenständen,  Papieren 
und  Glasplatten  mit  Honig  gefüttert.  Am  vierten 
Tage  wurden  folgende  Versuche  gemacht. 

1.  10   quadratische    Platten    wurden    teils    mit 
I       farbigen,    teils  mit  grauen  Papieren  von  gleichem 

Helligkeitswert  wie  die  farbigen  Papiere  bespannt, 
in  einen  Rahmen  gelegt  und  mit  einer  großen 
Glasplatte  zugedeckt.  Auf  letztere  kam,  der  Mitte 
jedes  Quadrates  entsprechend,  je  ein  Tropfen  Honig. 
Während  der  Exposition  zeigten  die  Bienen  ent- 
gegen V.  Frisch  nicht  die  geringste  Neigung,  das 
Blau  mehr  aufzusuchen  als  die  anderen  Felder. 

2.  12  quadratische  Felder  sind  in  der  Mitte  so 
geteilt ,  daß  die  eine  Hälfte  jedes  Feldes  ein  frei- 
farbiges Papier,  die  andere  das  farblos  graue  zeigt, 
das  für  den  total  Farbenblinden  mit  der  betreffen- 
den Farbe  übereinstimmt.  Nachdem  sie  unter  einer 
Glastafel  in  passenden  Zwischenräumen  angeordnet 
waren,  wurden  sie  zunächst  ohne,  dann  mit  Honig 
dargeboten  und  zwar  so,  daß  dieser  bald  vor- 
wiegend auf  die  farblos  grauen,  bald  auf  die  ver- 
schiedenen Farben  geträufelt  wurde.  Niemals  war 
eine  Bevorzugung  des  Blau  durch  die  auf  Blau 
dressierten  Bienen  wahrzunehmen. 

3-  185  verschiedene  freifarbige  Papierstreifen 
wurden  zu  einem  kontinuierlichen  Spektrum  ver- 
einigt und  unter  einer  Glasplatte  gefaßt.  Ein  langer 
Strich  von  Honig  verband  die  Mittelpunkte  der 
einzelnen  Farbtäfelchen.  Die  gezeichneten  Bienen 
flogen  regellos  bald  zu  dieser,  bald  zu  jener  Farbe 
des  Spektrums.  Das  gleiche  Resuhat  ergaben  auf 
Gelb  dressierte  Bienen. 

4.  Versuche  mit  Farbpapieren    zwischen  Petri- 


schalen, die  mit  Honig  bestrichen  waren,  führten 
zu  dem  Ergebnis,  daß  die  Bienen  wahllos  ver- 
schiedene Farben  aufsuchten,  auch  wenn  sie  auf 
eine  bestimmte  Farbe  dressiert  waren. 

Die  negativen  Ergebnisse  seiner  Experimente 
überzeugten  Heß,  daß  die  Dressur  der  Bienen 
nicht  zum  Ziele  führen  kann.  Er  arbeitete  daher 
andere  Methoden  aus,  indem  er  mit  Hilfe  der 
wissenschaftlichen  Farbenlehre  über  den  Lichtsinn 
der  Bienen  Aufschluß  zu  bekommen  versuchte. 

Bringt  man  vom  Stock  abfliegende  Bienen  in 
einen  Glaskasten,  so  zeigen  sie  sich  zunächt  posi- 
tiv phototaktisch.  Wird  der  Behälter  ins  Spek- 
trum gestellt,  so  eilen  sie  aus  dem  rot  und  aus 
dem  blau  und  violett  durchstrahlten  Teil  zum  Gelb- 
grün und  Grün.  Bei  Verwendung  von  roten  und 
blauen  Strahlen  bevorzugen  sie  die  blaue  Seite, 
auch  wenn  für  unser  Auge  das  Rot  heller  zu  sein 
scheint.  Erst  wenn  das  Rot  so  lichtstark  gemacht 
wird,  daß  es  an  Helligkeitswert  mit  dem  Blau 
übereinstimmt,  verteilen  sich  die  Bienen  gleich- 
mäßig in  den  beiden  Farben.  Danach  sehen  also 
die  Bienen  wie  ein  total  farbenblinder  Mensch, 
dem  das  rote  Ende  des  Spektrums  verkürzt  er- 
scheint, während  die  hellste  Stelle  nach  Grün  ver- 
schoben ist.  Diese  Anschauung  wird  unterstützt 
durch  eine  weitere  Versuchsanordnung.  Der  Glas- 
kasten wird  durch  schwarzen  Karton  gegen  ein- 
fallendes Licht  geschützt,  und  seine  Rückwand  mit 
schwarzer  Gaze  überzogen.  Stellt  man  nun  seit- 
lich im  Winkel  farbige  Flächen  auf,  so  begeben 
sich  die  Bienen,  auch  wenn  sie  dressiert  waren, 
stets  nach  der  Stelle,  die  für  den  total  farbenblinden 
Menschen  heller  ist,  gleichgültig,  in  welcher  Farbe 
diese  Seite  dem  normalen  Menschen  erscheint. 
Die  Bienen  besitzen  daher  keinen  dem  unsrigen 
irgendwie  vergleichbaren  Farbensinn,  sie  vermögen 
dagegen  Helligkeiten  vorzüglich  zu  unterscheiden. 

Dieser  Schluß  hat  weittragende  Bedeutung,  denn 
er  vernichtet  die  Erklärung  für  das  Vorhandensein 
der  Blütenfarben.  Allerdings  nimmt  schon  v.  F  r  i  s  c  h 
an,  daß  eine  Reihe  von  Blütenfarben,  nämlich  die 
roten  und  die  blaugrünen  von  den  Bienen  anders 
gesehen  werden  als  sie  uns  erscheinen.  Alle  roten 
Blüten  könnten  ebensogut  schwarz,  alle  bläulich- 
roten und  violetten  ebensogut  blau  sein,  ohne  daß 
die  Bienen  einen  Unterschied  bemerken  würden. 
So  blieben  nur  die  gelben  und  blauen  Farben  übrig, 
die  um  der  Insekten  willen  da  seien. 

Heß  macht  weiterhin  darauf  aufmerksam,  daß 
es  im  Pflanzenreiche  genug  bunte  Farben  gibt, 
die  mit  dem  Besuch  der  Insekten  gar  nichts  zu 
tun  haben.  Man  denke  nur  an  das  Vorhandensein 
gelber  und  roter  Farben  bei  Windblütlern,  an  die 
roten  Blätter  verschiedener  Bäume  oder  an  die  z.  T. 
wundervollen  Färbungen  zahlreicher  Flechten. 
Auch  unterirdische  Pflanzenteile,  z.  B.  Rüben-  und 
Rettigarten  besitzen  lebhafte  Farben.  „Wenn  bunte 
Farben  im  Pflanzenreiche  so  häufig  vom  Insekten- 
besuche unabhängig  auftreten,  erscheint  es  nicht 
logisch,    für   die    bunten  Farben    der  Blüten   ohne 


104 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  u 


weiteres  anzunehmen,  sie  könnten  nur  um  der 
Insekten  willen  zur  Entwicklung  gekommen  sein." 
Außer  der  Biene,  die  ein  vorzügliches  Versuchs- 
objekt darstellt,  sind  bisher  nur  wenige  andere 
Insekten  auf  ihren  Farbensinn  hin  gepriift  worden. 
Forel  experimentierte  mit  Hummeln  und  Wespen 
und  stellte  fest,  daß  die  Wespen  den  Farben  weniger 
Aufmerksamkeit  schenken  wie  Bienen  und  Hummeln, 
sich  dagegen  offenbar  nach  der  Gestalt  des  Gegen- 
standes richten,  die  sie  zum  erstenmal  besucht  haben. 
Darin  stimmt  Forel  mit  L  u  b  b  o  c  k  überein.  Beide 
F"orscher  haben  schon  vor  Heß  bei  ihren  Ver- 
suchen die  Einwirkungen  des  Spektrum  beobachtet 
und  fassen  ihre  Ergebnisse  bei  Ameisen  folgender- 
maßen zusammen : 

1.  Die  Ameisen  spüren  das  Licht  und  beson- 
ders das  Ultraviolett,  wenn  sie  geblendet  sind, 

2.  Im  Gegensatz  zum  menschlichen  Auge  sehen 
sie  auch  das  Ultraviolett, 

3.  Da  uns  jeder  Strahl  homogenen  Lichtes, 
den  wir  überhaupt  wahrnehmen  können,  als  eine 
besondere  Farbe  erscheint,  so  wi-rd  es  wahrschein- 
lich, daß  die  ultravioletten  Strahlen  von  den 
Ameisen  als  eine  bestimmte  eigene  Farbe  gesehen 
werden,  die  von  den  übrigen  so  verschieden  ist, 
wie  Rot  von  Gelb  oder  Grün  von  Violett. 

Bei  Portesiaraupen  fand  Heß,  daß  sie  im 
Dunkeln  träge  am  Boden  verweilen,  mit  zuneh- 
mender Belichtung  aber  immer  lebhafter  nach 
oben  kriechen.  Mit  einem  Spektrum  beleuchtet, 
wandern  vorwiegend  jene  im  Gelbgrün  und  Grün 
nach  oben,  weniger  lebhaft  die  im  Blau,  am 
wenigsten  die  im  Rot  befindlichen. 

Das  gleiche  Verhalten  zeigen  die  Stechmücken, 
während  ihre  Larven,  die  bekanntlich  an  der 
Wasseroberfläche  hängen,  schon  bei  ganz  geringen 
Lichtstärkeabnahmen  rasch  nach  unten  fliehen,  so 
daß  sich  mit  farbigen  Papieren  leicht  Versuche 
über  iiire  Helligkeitsempfindungen  anstellen  lassen. 

Ohne  mich  auf  eine  sachliche  Würdigung  der 
hier  mitgeteilten  Untersuchungen  einzulassen, 
möchte  ich  den  bisherigen  Ausführungen  bezüg- 
lich der  Experimente  mit  Bienen  folgendes  hinzu- 
fügen. Es  ist  doch  auffallend,  daß  die  gleiche 
Frage  bei  ein  und  demselben  Tier  unter  den 
Forschern  so  ganz  verschiedene  Beantwortung 
findet.  Die  Bienen,  die  Heß  bei  seinen  Dressur- 
versuchen unter  Beobachtung  aller  Vorsichtsmaß- 
regeln verwendete,  verteilten  sich  auf  alle  Farben 
seiner  mit  Honig  bestrichenen  Farbentafel,  obwohl 
sie    auf  Blau    dressiert    waren.      Und  andererseits 


konstatierte  K.  v.  Frisch,  daß  seine  auf  Blau 
dressierten  Bienen  stets  Blau  aufsuchten,  auch 
wenn  das  Papier  unter  einer  Glasscheibe  lag,  so 
daß  die  Bienen  unmöglich  die  Farbe  mit  Hilfe 
des  Geruchssinnes  erkennen  konnten.  Ebenso  wird 
angegeben,  daß  die  Bienen  künstliche  Blüten  be- 
fliegen,  während  Plateau  das  gerade  Gegenteil 
beobachtet  hat.  Es  scheint  mir  sehr  wichtig,  bei 
allen  Experimenten  und  Beobachtungen  die  Tracht- 
verhältnisse genau  zu  berücksichtigen,  um  hier 
Klarheit  zu  bekommen.  Wie  Zander  (7b)  bei 
seiner  Untersuchung  über  den  Geruchssinn  der 
Bienen  mitteilt  (Besprechung  in  der  Nalurwiss. 
Wochenschr.  Nr.  7,  191 4),  wird  eine  vor  dem 
Flugloch  aufgestellte  Honigschale  nur  dann  von 
den  Bienen  beachtet  und  aufgesucht,  wenn  die 
Trachtverhältnisse  ungünstig  sind.  So  wird  auch 
wohl  die  Dressur  der  Bienen  auf  P"arben  miß- 
lingen, wenn  bei  schlechter  Tracht  die  Bienen 
überall  nach  Honig  herumwittern.  Unter  solchen 
Verhältnissen  werden  dann  auch  Blüten  hinter 
Glas  (cf  V.  Buttel-Reepen  i)  oder  künstliche 
Blumen  beflogen.  Schon  Dobkiewicz  beobach- 
tete, daß  die  Bienen  gegen  Ende  des  Sommers 
nicht  nur  einzeln  stehende  Blumen,  ob  sie  künst- 
lich oder  echt  sind,  sondern  jede  Spur  von  Honig 
in  beliebigen  Gefäßen,  und  zwar  in  verhältnis- 
mäßig kurzer  Zeit  auffinden. 

Literaturverzeichnis. 

1)  H.  V.  Buttel-Reepen,  Psychobiologische  und  bio- 
logische Beobachtungen  an  .Ameisen,  Bienen  und  Wespen. 
Naturw.  Wochenschr.   1907. 

2)  L.  V.  Dobkiewicz,  Beitrag  zur  Biologie  der  Honig- 
biene.    Biologisches  Centralblatt   1912. 

3)  Forel,  Das  Sinnesleben  der  Insekten.    München  1910. 

4)  K.  V.  Frisch,  a)  Über  den  Farbensinn  der  Bienen 
und  die  Blumenfarben.     MUnch.  med.  Wochenschr.  1913,  Nr.  I. 

b)  Zur  Frage  nach  dem  Farbsinn  der  Tiere.  Verhand- 
lungen der  Gesellschaft  deutscher  Naturf.  und  Arzte   1913. 

c)  Über  den  Farbensinn  der  Bienen  und  die  Blumenfarben. 
Gesellschaft  für  Morphologie  und  Physiologie.  München  1913. 

5)  K.  Heß,    a)  Physiologie   des  Gesichtssinnes.      1912. 

b)  Experimentelle  Untersuchungen  über  den  angeblichen 
Farbensinn  der  Bienen.  Zoologische  Jahrbücher,  Abteilung  f. 
allgemeine  Zoologie  und  Physiologie  Bd.  34,   1914. 

c)  Die  Entwicklung  von  Lichtsinn  und  Farbensinn  in  der 
Tierreihe.  Vortrag,  gehalten  bei  der  Versammlung  deutscher 
Naturf.  und  Arzte  in  Wien  1913.  Erschienen  bei  Bergmann, 
Wiesbaden   1914. 

6)  Lubbock,  Ameisen,  Bienen  und  Wespen.  Internat, 
naturwissenschaftl.  Bibliothek,  Bd.  57,  Leipzig   1883. 

7)  Zander,  a)  Leben  der  Biene,  Stuttgart,  Ulmer,   1913. 
b)  Das  Geruchsvermögen  der  Bienen.     Biologisches  Cen- 
tralblatt  19 13. 

W'eitere  Angaben  siehe  bei  L.  v.  Dobkiewicz. 


Zur  Koinbiuatioiislehre. 

Von  Patentanwalt  Dr.  Gustav  Rauter  in  Berlin-Charlottenburg. 

I.  Wenn  wir  in  einem  Beutel  eine  große  An- 
zahl schwarzer  und  weißer  Steine  haben,  und 
zwar  von  jeder  Farbe  gleich  viel,  so  werden  wir, 
wenn  wir  hineingreifen,  und  immer  je  zwei  davon 
herausholen,  im  Durchschnitt  auf  vier  Griffe  ein- 


mal zwei  schwarze,  zweimal  je  einen  schwarzen 
und  einen  weißen,  einmal  zwei  weiße  Steine  er- 
fassen, was  sich  durch  folgendes  Bild  wiedergeben 
läßt: 

s      s    w     w 
s     w    s      w. 
an,  diese  Steine  beständen  z.  B. 
sie    ließen    sich    durch  Kneten 


Nehmen  wir  nun 
aus    Wachs,    und 


N.  F.  XIII.  Nr.  1 1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


165 


dermaßen  vereinigen,  daß  entsprechend  der  vor- 
handenen Menge  schwarzen  und  weißen  Stoffes 
neue  dunkler  oder  heller  graue  Steine  entständen, 
so  erhalten  wir  als  Ergebnis  folgende  Mischungen 
s     g     g     w. 

Denken  wir  uns  nun  weiter  einen  Beutel  mit 
solchen   gemischt-farbigen    Steinen,    wo    also    auf 
einen  schwarzen  zwei  graue  und  ein  weißer  kämen, 
so  erhalten  wir  auf  16  Griffe  im  Durchschnitt 
I   SS     4  sg     6  gg     4  gw     I   ww. 

Wir  erhalten  also  nur  noch  einmal  schwarz 
und  einmal  weiß,  dagegen  4  dunklere,  6  mittlere 
und  4  hellere  Mischungen.  Gehen  wir  noch 
weiter,  so  erhalten  wir  beim  nächsten  Male  256 
Ergebnisse,  unter  denen  sich  auch  nur  je  ein 
schwarzes  und  ein  weißes  Steinpaar  befinden, 
während  im  übrigen  alle  Stufen  von  grau  vor- 
handen sein  werden,  und  zwar  um  so  zahlreicher, 
je  mehr  das  Grau  in  der  Mitte  zwischen  schwarz 
und  weiß  liegt.  Die  betreffende,  von  schwarz 
nach  mittelgrau  zunehmende,  dann  wieder  ab- 
nehmende Zahlenreihe  ist: 

I     8     28     56     70     56     28     8     I 

Es  ergibt  sich  also  bei  fortschreitender  Ver- 
mischung der  weißen  und  der  schwarzen  Steine 
ein  gleichmäßiges  Grau,  das  um  so  dunkler  oder 
heller  ist,  je  mehr  schwarze  oder  weiße  Steine 
ursprünglich  vorhanden  gewesen  sind. 

Es  ist  nun  aber  auch  möglich,  daß  außer  dem 
Vorgange  der  Mischung  gleichzeitig  noch  andere 
Einflüsse  auftreten.  Nehmen  wir  z.  B.  an,  der 
Farbstoff  des  schwarzen  Wachses  nehme  durch 
Lichteinwirkung  allmählich  an  Stärke  ab,  oder 
die  Bestandteile  des  weißen  Wachses  würden 
durch  Sauerstoffaufnahme  aus  der  Luft  allmählich 
dunkler,  oder  einer  der  beiden  Bestandteile  ver- 
flüchtige sich  mit  der  Zeit,  so  ergibt  sich,  daß 
die  Mischung  alsdann  langsam  ganz  schwarz  oder 
ganz  weiß  werden  kann,  und  daß  auf  diese  Weise 
das  Ergebnis  einer  manchmal  erst  in  sehr  lang- 
samen Zeiträumen  erfolgenden  Vermischung  ganz 
verdeckt  werden  kann. 

So  z.  B.  wird  eine  violette  Lösung  von  Per- 
manganat  beim  Zusatz  von  Wasser  im  Verhältnis 
des  farblosen  Wasserzusatzes  heller;  enthält  aber 
z.  B.  gleichzeitig  in  die  Flüssigkeit  gelangter  Staub 
gewisse  Stoffe,  die  das  Permanganat  zerstören, 
so  wird  die  Mischung  farblos,  nicht  weil  die 
Wasserfarbe  diejenige  des  Permanganates  ver- 
deckte, sondern  weil  andere  Ursachen  das  Perman- 
ganat zerstören. 

Es  sei  ausdrücklich  bemerkt,  daß  diese  anderen 
Einflüsse,  die  neben  dem  Vorgange  der  Mischung 
noch  tätig  sind,  mit  diesem  zwar  gar  nichts  zu 
tun  haben,  daß  sie  aber  doch  hier  erwähnt  werden 
müssen,  weil  man  in  Wirklichkeit  sehr  genau 
darauf  achten  muß.  Es  kann  auch  sogar  der 
Fall  sein,  daß  etwas,  das  zunächst  das  Ergebnis 
einer  Mischung  zu  sein  scheint,  damit  an  sich 
gar   nichts   zu   tun    hat.     Mischt    man    z.  B.   zwei 


leicht  oxydierbare  Flüssigkeiten,  indem  man  stark 
rührt  oder  schüttelt,  so  tritt  vielleicht  eine  sehr 
starke  Wirkung  ein,  die  aber  nicht  auf  einem 
gegenseitigen  Einflüsse  der  beiden  Mischungsbe- 
standteile beruht,  sondern  auf  dem  oxydierenden 
Einfluß  der  Luft.  Man  könnte  in  diesem  Falle 
auch  ebensogut  zwei  Anteile  der  nämlichen 
Flüssigkeit  mischen,  oder  überhaupt  nur  rühren 
oder  umschütteln. 

2.  Wenn  nun  bei  dem  erst  angeführten  Bei- 
spiel das  schwarze  Wachs  eine  so  starke  Färbe- 
kraft hat,  daß  es  auch  in  kleinsten  Mengen  dem 
weißen  noch  seine  Farbe  mitteilt,  so  wird  beim 
Vermischen  der  beiden  Wachsarten  kein  Grau, 
sondern  immer  nur  Schwarz  entstehen. 

s      s    w     w 

SWS       w 

heißt  also  hier:  Dreimal  schwarz  und  einmal  weiß. 
Auch  dieser  Fall  ist  in  der  Natur  nicht  selten. 
Es  ist  bekannt,  daß  manche  Körper  gerade  ge- 
wisse, für  sie  scheinbar  besonders  kennzeichnende 
Eigenschaften  eigentlich  gar  nicht  selber  haben, 
sondern  diese  nur  Verunreinigungen  verdanken, 
die  zwar  in  ganz  kleiner  Menge  vorhanden,  aber 
doch  fast  immer  bei  ihnen  anzutreffen  sind.  So 
z.  B.  ist  Wasser  in  ganz  reinem  Zustande  ein 
beim  Genuß  giftig  wirkender  Stoff.  Nur  ein 
kleiner  Anteil  darin  gelöster  Salze  und  Gase  — 
die  in  dem  gewöhnlichen  destillierten  Wasser 
übrigens  auch  vorhanden  sind  —  macht  es  erst 
zu  dem  unentbehrlichen  Genußmittel,  als  das  wir 
es  anzusehen  gewohnt  sind. 

3.  Nehmen  wir  nun  wieder  einen  Sack  mit 
schwarzen  und  weißen  Steinen,  die  aber  diesmal 
Porzellanplättchen  sein  sollen.  Da  wir  diese  nicht 
ihrem  Stoffe  nach  mischen  können,  legen  wir 
immer  zwei  zusammengegriffene  Plättchen  über- 
einander, so  daß  nicht  die  Farbe  der  Mischung, 
sondern  die  des  obenliegenden  Plättchens  zum 
Vorschein  kommt.     Das  Schema 

s     s    w     w 


w    s 


w 


bedeutet  jetzt  also:  von  oben  gesehen  zwei 
schwarze  und  zwei  weiße  Doppelplatten.  Mischen 
wir  die  erhaltenen  Doppelplatten  wieder,  so  ergibt 
sich  immer  wieder  dasselbe  Verhältnis.  Die  Zahl 
der  oben  liegenden  Platten,  die  dem  Ganzen  ihre 
P'arbe  leihen,  wird  immer  dem  Verhältnis  der 
ursprünglichen  Mischungsbestandteile  entsprechen. 
Auch  noch  ein  anderer  Unterschied  ist  gegen- 
über dem  ersten  Beispiel  vorhanden.  Betrachten 
wir  nämlich  das  Endergebnis,  so  hat  man  dort 
lauter  graue  Körper,  die  sich  durch  keine  Kunst 
der  Auswahl  wieder  in  schwarze  und  weiläe  trennen 
lassen.  Haben  wir  dagegen  hier  eine  Anzahl 
Doppelplatten,  so  ist  eine  Entmischung  leicht 
vorzunehmen.  Nehmen  wir  z.  B.  eine  Anzahl  oben 
schwarzer  Doppelplatten,    so    sehen    diese    so  aus 

s      s     s     s 

usw. 
s     w    s    w 

Dies  ergibt  auf  16  Kombinationen 


i66 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  n 


9  ss;  3  sw;  3  ws;   i   ww 

12  s  4  w 

Nehmen  wir  hier  wieder  die  schwarzen  Doppel- 
platten, so  ist  hier  das  Mischungsverhältnis 

s     s     s     s 

usw. 
s     s     s     w 

Es  ist  also  nur  noch  ein  Viertel  der  schwarzen 
Platten  mit  einer  weißen  Unterplatte  versehen. 
Mischen  wir  weiter,  so  ergeben  die  hier  vor- 
handenen sieben  schwarzen  mit  dem  einen  weißen 
Steine  64  Zusammenstellungen  und  zwar: 
49  ss;  7  sw;  7  ws;   I  ww 

56  s  8  w 

Unter  den  hier  vorhandenen  56  schwarzen  Doppel- 
platten befinden  sich  noch  7  mit  weißer  Unter- 
lage, also  '/g  der  ganzen  Anzahl ;  im  ganzen  macht 
dies  auf  8  Doppelsteine  15  schwarze  und  einen 
weißen  Stein. 

Wir  erhalten  also  bei  fortgesetztem  Aussondern 
der  weißen  Steine  immer  reinere  Mischungen  an 
schwarzen,  die  nacheinander  nur  noch 

I     I     I      1  I 

T    4    ^      16  ■    ■   ■  2" 

weiße  Steine  enthalten.  Ebenso  lassen  sich  auch 
die  weißen  Steine  aussondern;  aber  da  man  nie- 
mals weiß,  was  bei  einer  Doppelplatte  unten  liegt, 
kann  man  niemals  ohne  weiteres  rein  schwarze 
und  rein  weiße  Steine  voneinander  trennen. 

Eine  derartige  Entmischung  ist  in  weitestem 
Umfange  gebräuchlich,  z.  B.  wenn  man  Erde 
immer  und  immer  wieder  umgräbt,  um  die  jedes- 
mal nach  oben  kommenden  Steine  auszulesen. 

Auch  hier  kann  natürlich  das  Mischungsver- 
hältnis durch  andere  Umstände  beeinflußt  oder 
verdeckt  werden.  Stapelt  man  z.  B.  schwarze 
und  weiße  Flurplatten  im  Freien  auf,  so  werden, 
bei  gleicher  Anzahl  beider  Farben,  zunächst  eben- 
soviel schwarze  wie  weiße  Platten  oben  liegen. 
Entwickeln  sich  nun  in  der  Nähe  große  Mengen 
Ruß  oder  Kalkstaub,  so  werden  die  Platten  dann 
alle  entweder  schwarz  oder  weiß.  Packt  man  sie 
nun  um,  so  beginnt  der  ganze  Vorgang  von  neuem, 
bis  man  nur  noch  Platten  von  einer  Farbe  hat, 
bis  also  scheinbar  eine  völlige  Entmischung  statt- 
gefunden hat. 

4.  Denken  wir  uns  nun,  der  Sack  enthalte 
schwarze  undurchsichtige  und  weiße  (farblose) 
durchsichtige  Steine  (Glasplatten),  und  wir  bilden 
wieder  Paare  von  zwei  Steinen,  so  hat  das  Bild 
s  s  w  w 
s  w  s  w 
wieder  eine  andere  Bedeutung.  Wir  haben  jetzt 
drei  schwarze  (undurchsichtige)  und  eine  weiße 
(durchsichtige)  Doppelplatte.  Mischen  wir  nun 
weiter,  so  ergibt  es  sich,  daß  auch  hier,  ebenso 
wie  beim  dritten  Beispiel,  das  einmal  vorhandene 
Verhältnis  immer  bestehen  bleibt. 

Ebenso  ist  auch  hier  eine  Entmischung  leicht 
möglich.  Zunächst  brauchen  wir,  im  Gegensatz 
zu  dem  vorhin  behandelten  Fall,  nur  die  durch- 
sichtigen Doppelplatten  herauszunehmen,  um  reine 


durchsichtige  Steine  zu  bekommen.  Nehmen  wir 
weiter  die  undurchsichtigen  Platten  heraus,  so 
haben  wir  hier  das  Verhältnis: 

S       SWS       s      w 

usw. 

SWS        SWS 

Dies  ergibt  auf  9  Fälle 

4  ss;  4  sw;   I   ww 

8  s  I   w 

Nehmen  wir  hier  die  acht  schwarzen  Doppel- 
platten, so  erhalten  wir  auf  16  P'älle: 
9  ss;   6  sw;   i  ww 

15  s  I   w 

Sondern    wir    nun    wieder   die    15    schwarzen 

Doppelplatten  aus,  so  erhallen  wir  das  Verhältnis 

von    24    schwarzen    zu    6    weißen    Platten    oder 

4  s :  I  w.     Dies  gibt  25  Kombinationen,  nämlich: 

16  ss;  8  sw;   i  ww 

24  s  I   w 

Die  Zahl  der  sich  beim  jedesmaligen  Neu- 
mischen nach  Aussuchen  der  weißen  (farblosen) 
bildenden  weißen  Doppelplatten  geht  also  ständig 
zurück  im  Verhältnis: 

1     1      I      I  I 

4    9    16  25  '  "  '  n^ 
Dagegen  steigt  die  Zahl  der  vorhandenen  rein 
schwarzen  Doppelplatten  in  folgendem  Verhältnis: 
I     4    9    16  /n — 1\^ 

4    9    16  25  "  '  '  \    n    / 
Sind     die     beiden     Mischungsbestandteile    bei 
diesem  Beispiel  von  vornherein   nicht    in  gleicher 
Zahl  vorhanden  gewesen,  so  ergibt  sich  ganz  all- 
gemein für  das  Bild 

s      s     w     w 
SWS      w 
wenn  wir  das  Verhältnis  zwischen  den  vorhandenen 
schwarzen  (durchschlagenden)  und  farblosen  (nicht 
durchschlagenden)     Bestandteilen     mit    a  :  b    be- 
zeichnen, die  Bedeutung 

^^T^'  ula=  +  2ab 

sw-l-ws  =  2ab) 

ww  ^b- 
Also  z.  B.  wenn  a  :  b  =  4  :  3 

s  =  a-+2ab  =  28 
w  =  b"  =    9 

Oder  wenn  z.  B.  a  :  b  =  100  :  i 
s  =  10200 
w=  I 

Bei    sehr   großen  Werten  von  a :  b  kann    man 
hierfür  also  angenähert  einsetzen: 
s  :  w  ^  a'':  b". 
5.  Stellen    wir    nun    das  Ergebnis  unserer  vier 
Versuche  zusammen,  so  haben  wir 

1.  und  2.  Ihrem  Stoff  nach  beliebig  misch- 
bare Bestandteile  (Feinmischung).  Die  Mischung 
ist  erst  ungleichförmig,  nimmt  dann  aber  beim 
weiteren  Durchmischen  (in  der  Praxis  Umrühren 
oder  Durchkneten)  schnell  eine  gleichmäßige  Fär- 
bung an.  Eine  Rückbildung  der  Mischung  durch 
Aussuchen  ist  unmöglich. 

3.  und  4.     Ihrem  Stoff  nach    nicht    mischbare 


N.  F.  XIII.  Nr.  II 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


167 


Bestandteile  (Grobmischung).  Die  Mischung  zeigt 
dauernd  dasselbe  Verhältnis  zwischen  den  in  die 
Erscheinung  tretenden  Bestandteilen.  Eine  Rück- 
bildung der  Mischung  durch  Aussuchen  ist  leicht 
durchführbar. 

1.  und  3.  Die  beiden  Bestandteile  der  Mischung 
sind  gleichwertig;  demgemäß  entsteht  bei  Fein- 
mischung eine  Zwischenstufe,  bei  Grobmischung 
verteilt  sich  die  oberflächlich  zutage  tretende 
Farbe  der  Anzahl  der  beiderseits  verwendeten 
Stücke  entsprechend. 

2.  und  4.  Die  beiden  Bestandteile  der  Mischung 
sind  nicht  gleichwertig;  demgemäß  verschwindet 
bei  Feinmischung  der  nicht  durchschlagende  Be- 
standteil scheinbar  ganz,  während  sich  bei  Grob- 
mischung  sein  Anteil  nach  der  Gleichung 

s:  w=  (a--f-  2ab) :  b'- 
berechnet,    wo    a :  b    das    Verhältnis    darstellt,    in 
dem  die    verschiedenen  Mischungsbestandteile  ur- 
sprünglich vorhanden  gewesen  sind. 

6.  Was  nun  die  Frage  anbetrifft,  welche  prak- 
tische Nutzanwendung  wir  von  diesen  Über- 
legungen zu  machen  haben,  so  würde  es  den 
Rahmen  dieses  Aufsatzes  überschreiten,  hier  Einzel- 
heiten zu  geben.  Es  sei  nur  darauf  hingewiesen, 
daß  die  Vererbungslehre  sich  als  ein  ganz  be- 
sonders wichtiges  Gebiet  für  Untersuchungen  dieser 
Art  darstellt. 

Weiter  sei  nochmals  ganz  besonders  darauf 
aufmerksam  gemacht,  daß  man  bei  seinen  Beob- 
achtungen genau  darauf  sehen  muß,  ob  und  in- 
wieweit nicht  neben  den  Ursachen,  deren  Wirkungen 
man  feststellen  möchte,  noch  andere  Umstände 
gleichzeitig  eintreten,  die  das  eigentlich  in  Betracht 
kommende  Ergebnis  zu  ändern,  zu  verdecken  oder 
in  sein  Gegenteil  zu  verkehren  geeignet  sind. 

Zweitens  muß  man  beachten,  daß  sich  Regeln 
nur  aus  der  Beobachtung  sehr  zahlreicher  Fälle 
ableiten  lassen,  und  daß  man  nicht  gelegentlich 
gemachte  Einzelbeobachtungen  gleich  verall- 
gemeinern darf.  So  beziehen  sich  die  vorhin  auf- 
gestellten Beispiele  i — 4  auch  nicht  auf  einzelne, 
sondern    auf  unendlich  viele  Fälle,    d.  h.    sie  sind 

nicht  nach   der  F"ormel  — ^ ,  sondern  nach  a- 

2 

berechnet.      Wollen    wir    z.  B.    prüfen,    wie    eine 

Mischung    aus    immer   vier  schwarzen   und  einem 

weißen    Stein    bei    Kombinationen    von    je    zwei 

Steinen    sich    verhält,    so    würden    wir    nach    der 

„         ,  (s  +  w)(s-l-w — i)  „..,,       ,    . 

Formel  ^^ — — ■ nur  10  Falle  erhalten, 

2 

nämlich  6  ss  und  4  sw.  Würden  wir  gar  vier 
schwarze  und  einen  weißen  Stein  in  Paare  ab- 
zählen wollen,  so  würden  wir  nur  zwei  F"älle  er- 
halten, und  ein  Stein  würde  übrig  bleiben,  während 
die  Formel  s-  +  2s  w  -|-  w-  uns  16  -|-  8  +  i  =25 
Fälle  gibt  und  dabei  anzeigt,  daß  die  Fälle  2  sw 
je  nachdem  noch  in  sw  und  ws  getrennt  werden 
müssen. 

Praktisch  kann  man  dabei  selbst  bei  be- 
schränkter Anzahl  von  Steinen  doch  ein  richtiges 


Ergebnis  erhalten,  indem  man  so  verfährt,  daß 
man  die  Steine  einzeln  herausgreift  und  gleich 
wieder  in  den  Beutel  zurückwirft.  Man  wird  sich 
dann  leicht  überzeugen,  daß  man  auf  fünf  erste 
Griffe  immer  durchschnittlich  viermal  schwarz 
und  einmal  weiß  greifen  wird.  Da  sich  nun  hinter 
jedem  ersten  Griff  immer  noch  vier  andere  Griffe 
mit  denselben  Möglichkeiten  ergeben,  so  sind  dies 
ohne  weiteres  25  Kombinationen.  Das  Wieder- 
liineinwerfen  der  Steine  in  den  Beutel  hat  hierbei 
die  Wirkung,  auch  mit  einer  kleinen  Anzahl  von 
Steinen  dasselbe  erzielen  zu  können,  was  in  der 
Natur  durch  eine  unendlich  große  Anzahl  von 
einzelnen  Fällen  erreicht  wird. 

Weiter  sei  noch  bemerkt,  daß  es  natürlich  auch 
Kombinationen  von  mehr  als  zwei  Elementen  gibt, 
daß  diese  aber  im  vorstehenden  nicht  berück- 
sichtigt sind,  weil  es  hier  nur  darauf  ankam,  an 
verhältnismäßig  einfachen  Fällen  einen  Fingerzeig 
für  weitere  Beobachtungen  zu  geben. 

Auch  sind  in  vorstehendem  nicht  die  Über- 
gänge zwischen  Fein-  und  Grobmischung  berück- 
sichtigt worden.  Solche  Übergänge  können  aber 
in  der  Natur  eine  große  Rolle  spielen.  Zwei 
Flüssigkeiten  sind  z.  B.  im  allgemeinen  unbegrenzt 
mischbar;  zwei  Flurplatten,  von  denen  entweder 
die  eine  oder  die  andere  oben  liegt  und  die  untere 
verdeckt,  sind  als  solche  nicht  mischbar.  Zer- 
schlagen wir  aber  die  Flurplatten,  oder  wenden 
wir  gleich  Scherben  an,  und  nehmen  wir  dabei 
die  Korngröße  immer  kleiner  und  kleiner,  so  er- 
halten wir  schließlich  feinen,  scheinbar  einfarbigen 
Kies  oder  Staub,  der  in  seinem  Verhalten  je  nach 
den  Umständen  den  Beispielen  i  und  2  oder  3 
und  4  folgt. 

Ebenso  ist  auch  der  Unterschied  zwischen 
gleichwertigen  und  ungleichwertigen  Mischungs- 
bestandteilen nicht  scharf  Auch  hier  werden  die 
Umstände  von  großem  Einfluß  sein,  und  zwar 
nicht  nur  in  der  Stärke  der  einzelnen  Eigenschaften 
für  sich,  sondern  auch  in  ihrem  gegenseitigen  Ver- 
halten. 


Die  Flora  des  Homer. 

Von  Dr.  med.  et  phil.  Friederich  Kanngießer 
(Brauufels  ob  der  Lahn). 

Die  Übersetzungen  der  altgriechischen  Schrift- 
steller kranken  samt  und  sonders  an  fehlerhafter 
Interpretation  der  Pflanzennamen.  Dieses  Manko 
ist  teils  zurückzuführen  auf  das  mangelnde  Ver- 
ständnis oder  Interesse  der  Philologen  für  botanische 
Fragen,  teils  aber  auf  die  Merkwürdigkeit,  wie  der 
griechische  Unterricht  an  unseren  Gymnasien  ge- 
handhabt wird.  Denn  das  Griechisch  wird  nicht 
nur  als  tote  Sprache,  sondern  obendrein  in  ver- 
ballhornter Aussprache  gelehrt.  Statt  mit  der  von 
der  Sprache  des  Homer  und  Thukydides  kaum 
verschiedenen  modernen  Hochsprache,  so  wie  sie  zu 
Athen  gesprochen  und  geschrieben  wird,  zu  be- 
ginnen, ähnlich  wie  man  Englisch  und  Französisch 


i68 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   II 


unterrichtet,  lehrt  man  Griechisch  rein  nach  gram- 
matischen Grundsätzen  als  tote  Sprache  und  zwingt 
die  Schüler  geradezu,  teils  noch  durch  übertriebene 
Anforderungen,  mit  Übersetzungen  zu  arbeiten  und 
den  Lehrer  diesbezüglich  zu  betrügen,  der  seiner- 
seits zuweilen  das  Nötige  tut,  um  die  Schüler  im 
Glauben  zu  halten,  er  könne  Griechisch  so  perfekt 
übersetzen,  daß  er  selbst  keine  Übersetzung  notwen- 
dig habe.    Aber  diese  Lüge  und  Gegenlüge  entsteht 
großenteils  durch  das  verkehrte  System,  statt  mit  der 
hoch-  und  vulgärgriechischen  Umgangssprache  zu  be- 
ginnen, gleich  mit  Altgriechisch  anzufangen.   Wenn 
in  diesem  Scliulzopf  eine  Konsequenz  wäre,   dann 
müßte    man   ja    auch   mit  Alldeutsch    und   Mittel- 
hochdeutsch   statt  mit  unserer  modernen  Sprache 
die  ABCSchützcn    unterrichten.     Wenn  dem  ent- 
gegengehalten wird,  daß  das  Neugriechische  keine 
Schriftsteller  von  Ruf  aufzuweisen  habe  oder  sich 
nicht  mit  der  sog.  klassischen  Periode  messen  könne, 
so  ist  dies  ein  von  keinerlei  Sachkenntnis  getrübtes 
Urteil.     Wenn    es    aber  ferner  heißt,  das  Neugrie- 
chische   sei    noch    keine    abgeschlossene    Sprache, 
sondern  noch  in  Entwicklung  begriffen,  so  beweist 
ein    solcher  Einwand    nur    das  Unverlrautsein  der 
Philologen    mit    naturwissenschaftlichem     Denken 
oder  mit  dem  TTcirra  Qti,  das  nur  eine  Schulweis- 
heit zum  Stillstand  verurteilen  möchte.    Der  wahre 
Grund  des  Widerstandes  vieler  Schulmänner  gegen 
ein  modernes  System  des  griechischen  Unterrichts 
besteht  eben  einfach  in  der  Bequemlichkeit  und  in 
der  Scheu,  umlernen  zu  müssen;  andere  Einwände 
sind  mehr  oder  minder  faule  Ausreden.  Non  scholae, 
sed  vitae  discimus.     Wir  Ärzte  und  Naturforscher 
haben  ein  Interesse  daran,  daß  unseren  Nachfolgern 
auf  den  Gymnasien   das  Griechisch    praktisch    ge- 
lehrt wird,  so  daß  wir  es  nicht  nach  bestandenem 
Abitur  als  Ballast  über  Bord  werfen,  sondern  daß 
wir  durch  Lektüre   der   alten  wie  modernen  grie- 
chischen Fachliteratur  unser  Wissen  erweitern  und 
vertiefen  können. 

Wenn  ich  nun  nach  dieser  apologetischen  Pro- 
vokation dazu  übergehe,  eine  Chloris  des  Homer 
zu  geben,  so  sollen  in  dieser  Arbeit  die  in  der 
Ilias  und  Odyssee  (um  900  v.  Chr.)  genannten 
Pflanzen  und  ihre  Synonyme  bei  Theophrast  (um 
300  V.  Chr.),  Dioscorides  (um  50  n.  Chr.)  und  im 
Neugriechischen  oder  Hellenischen  in  onomato- 
logischer  Entwicklung  verbucht  und  mit  der  offi- 
ziellen Nomenklatur  identifiziert  werden.  Außer 
meinen  früheren  Arbeiten  über  die  Flora  des  Hero- 
dot  (Archiv  f.  Gesch.  d.  Naturw.  1910,  Bd.  3  und 
Berichte  der  deutschen  pharmaz.  Ges.  191 3,  H.  9) 
und  Aristophanes  (Jen.  Zeitschr.  f.  Naturw.  1913, 
S.  849)  und  außer  dem  altgriechischen  Lexikon  von 
Pape  und  dem  neugriechischen  von  Mitsotakis- 
D  iet  eric  h,  und  den  Kommentaren  von  Crusius 
und  Ameis,  leisteten  mir  bei  dieser  Arbeit  gute 
Dienste  der  Link  -  Schneider'sche  Index  zu 
Theophrast  (1821),  die  Berendes'sche  Über- 
setzung und  Erläuterung  des  Dioskorides  (1902) 
und  das  Buch  von  Cheldraix  und  Miliaraki 
über  volkstümliche  Pflanzennamen    (neugriechisch: 


Athen  1910).  Selbstredend  wurde  auch  die  Voß- 
sche  Übersetzung  verglichen,  die  trotz  ihrer  über- 
ragenden Vorzüglichkeit  botanisch  unzulänglich  ist, 
diesen  Nachteil  aber,  wie  erwähnt,  mit  anderen 
Übersetzungen  gemein  hat. 

./iytiQog  {äxtQMi'i).  Bei  Theophr.  und  Diosc. 
cayuQog  und  levxi].  Ngr.  meist  '/.evxa.  Populus: 
Pappel.  Als  species  kommen  sowohl  Weiß  als 
Schwarz-Pappel  in  Betracht. 

axav(^a,  Theophr.  r^Qi'yyiov  (piUaxavO-ov,  Diosc. 
i^Qvyyinv  und  /.ti-QÜxav&oc,  ngr.  äxavO^a  (uyyaO-id). 
Eryngium  campestre.  Mannstreu  oder  laufende 
Distel. 

af.irtii.og,  desgl.  bei  Th.  u.  D.  ngr.  ScfiyrAi 
{äfiTtdog:  Weinberg).     Vitis  vinifera.     Rebe. 

aa(fi(')ötXog,  desgl.  bei  Th.  u.  D.  ngr.  auch  {ä)arpev- 
tohü,  [ä.)o7iiqdoü'Ala.  Asphodelus  ramosus:  Aspho- 
dill. 

äxigöog,  Th.  u.  D.  äxQdg,  ngr.  axladtä,  wilder 
Birnbaum.  "Oyxviq  resp.  o'/^vi]  bei  Homer  der  Edel- 
birnbaum,  ngr.  amdid  (vgl.  uitiog  bei  Diosc.  Plat. 
u.  Ath.).     Pirus  communis. 

ßvßlog,  Th.  u.  D.  TTÜnvQog,  desgl.  ngr.  Cyperus 
papyrus.  Die  Papiersiaude.  Vgl.  ßißlog:  Buch. 
Das  ('  und  /  wurden  wohl  schon  in  frühen  Zeiten 
wie  i  ausgesprochen.  Die  Aussprache  des  ü- Lautes 
ist  ja  auch  für  moderne  Völker,  z.  B.  Süddeutsche, 
Engländer  schwierig. 

Jdcpvrj-.  zu  allen  Zeiten  :  Laurus  nobilis:  Lorbeer. 
ÖQüg:  desgl.:  Quercusarten,  speziell  Q.  aegilops. 
Homer    erwähnt  die   Eiche    zu    Dodona,    Herodot 
Buchen  (fpriyoi). 

'EkaiTj,  bei  Theophr.  und  Diosc.  sXaia,  ngr. 
ihd.  Olea  europaea.  Der  wilde  Ölbaum  heißt 
bei  Homer  (ftUij  (ngr.  (pdoiQid),  bei  Theophr.  u. 

D.  xöiirog  und  dygielaia  (ngr.  dygioilaia  und 
xoorii'og). 

IMti},  desgl.  bei  Th.  u.  D.  Ngr.  'ilarog,  e'laia. 
Abies  apoUinis  und  andere  Tannen.  Über  die 
in  Griechenland  verbreiteten  Tannen  vgl.  E.  J. 
Emmanuel.     Berner  Dissertation  191 2,  p.  48,49. 

tgeßivO-og  desgl.  bei  Theophr.  und  Diosc.  ngr. 
(xßiif^ta.      Cicer  arietinum.  Kichererbse  (vgl.  auch 

E.  Emmanuel.  Etüde  comparative  sur  les  plan- 
tes  dessinees  dans  le  Codex  Constantinopolilanus 
de  Dioscoride.  Journal  suisse  de  Chimie  et  Phar- 
macie.     Sep.  Abdr.  undatiert). 

Zfia  und  oAiga ,  desgl.  bei  Th.  u.  D. ,  sind 
Herodot  zufolge  identisch,  jedenfalls  nahverwandte 
Abarten  des  Weizens.  Triticum  spelta  (ngr. 
dygioairdgi) ,  monococcum  und  dicoccum,  d.  h. 
Spelz,  Einkorn  und  Emmer  kommen  in  Betracht. 

6)vnv,  bei  Th.  u.  D.  &iu<,  &iia  oder  d^itict 
(schon  im  .Altertum  wurde  n  wie  i  ausgesprochen) 
soll  nach  Sprengel  Thuja  articulata  sein. 

"lov,  desgl.  Th.  u.  D.,  ngr.  ftevtieg.  Viola  odo- 
rata,  Veilchen. 

hii^  ,  Th.  u.  D.  iTs'a,  ngr.  Inä  {hiä),  Salix 
alba,  Silberweide. 

Ksdgog:  zu  allen  Zeiten  Juniperus- Wacholder- 
Arten. 


N.  F.  XIII.  Nr.  u 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


169 


xlr]&Q)]:  bei  Th.  x/i;.?()a,  ngr.  xlf^d-Qi,  Alnus 
glutinosa.     Schwarzerle. 

KQÜveia,  desgl.  bei  Th.,  bei  D.  v.Qaviu,  ngr. 
■Aqavia,  Cornus  mas,  Kornelkirsche. 

y.Qid^<]  (x^r)  Th.  u.  D.  y-Qi^i],  ngr.  -Agt^äQ/,  Hor- 
deum  vulgare,  Gerste. 

xpdxoc:  zu  allen  Zeiten:  Crocus  vernus  et  sa- 
tivus,  Safran. 

■/.QÖ/.ILOV ,  Th.  ■/(QÖu(Lt)iov ,  D.  xQoiitiLor ,  ngr. 
desgl.  und  zpe/i/a'd«,  AUium  cepa,  Zwiebel. 

■Ki'aitog ,  desgl.  bei  Th.  u.  D. ,  ngr.  xovx{x)ia 
und  ■/0('x(z)/(ov),  Vicia  faba,  die  Sau-  oder  Puff- 
bohne. 

nvTrdcQiaaog,  desgl.  bei  Th.  u.  D.,  ng-r.  xurra- 
Qtaat,  Cypressus  sempervirens. 

Y.V7TSIQ0V,  bei  Th.  u.  D.  wrteiQOQ,  ngr.  xvTieQjj, 
Cyperus  longus  et  rotundus,  Cyperngras. 

Jivor,  desgl.  bei  Th.  u.  D.,  ngr.  ktväqi,  Linum 
usitatissimum,  Lein,  Flachs. 

Awro'c,  desgl.  bei  Th.  u.  D. ,  ngr.  rgiffckki, 
Trifolium-  und  Melilotus-  d.  h.  Kleearten. 

}MTbi;TCüv  JioTOfpäywv:  die  Frucht  des  Zizj'phus 
lotus.  Oder  identisch  mit  der  Frucht  des  liby- 
schen Lotes  des  Th.  resp.  des  Lotosbaumes  des 
D.  Diesenfalls  kommt  Celtis  australis,  der  Zürgel- 
baum, der  auch  heute  noch  huröi  genannt  wird, 
in  Betracht. 

/n^'zw)',  desgl.  bei  Th.  D.  und  im  ngr.  Daselbst 
auch  wpiövt,  äcpiüvi  (in  der  Aussprache  sind  zwischen 
0  und  (Ol,  die  beide  ähnlich  unserem  mittellangen  o 
mitganz  leichtem  Anklang  an  a  ausgesprochen  wer- 
den keine  Unterschiede,'  wofür  es  auch  schon  aus 
dem  Altertum  Belege  gibt),  d.  h.  Opium,  und 
t;';ri'og  (Schlaf!)  auch  .T«.Ta()Oi;)'«  (Papaper)  genannt. 
Papaver  somniferum,  Mohn. 

Mt)M],  bei  Th.  u.  D.  uelia,  ngr.  ^ts'kiü,  Fraxi- 
nus  ornus,  Mannaesche. 

fii;ke)^,  Th.  tii^lia  D.  -/.vöcüvia  firj/Ja ,  ngr.  zr- 
öiot'ici,  Cydonia  maliformis  sivc  vulgaris,  Quitte. 

fiiQixrj ,  desgl.  Th.  u.  D.,  ngr.  fiiQi/.id  (/«cp/z/, 
auch  mit  dem  Anlaut  cd  oder  äg),  Tamari.x  galiica, 
Tamariske. 

Iltv/.r,  desgl.  Th.  D.  und  ngr.  Dort  auch 
7t£vy.a,  TTeCxot;,  Pinus  halepensis  et  laricio.  Aleppo- 
und  Schwarzkiefer. 

nkvc,,   desgl.   Ih.    D.    u.    ngr.     Daselbst  auch 
/o(/(/()f)(i'«p/«  und  ajQOifiAiä,   Pinus  pinea,   Pinie. 
TTkaruviaiOi   Th.    D.    u.    ngr.    n'käiavoc..     Hier 
auch  TtluTÜri.     Platanus  orientalis.     Platane. 

iTi'^oc,  Th.  desgl.,  ngr.  TtiiÜQi  (jaifiaiQi)  Buxus 
sempervirens.     Buchs. 

niQÖg.  Th.  u.  D.  desgl.,  ngr.  azagt  =  anÜQi, 
auch  anoc,  das  schon  im  Altgriechisch  Getreide, 
spez.  Weizen  bedeutet.     Triticum  vulgare. 

'P6Ö0V,  Th.  D.  u.  ngr.  desgl.  Rose.  Ngr.  ^oö\, 
Qodia,  QOÖaQici:  (Wild-) Rosenstrauch,  TQiavxcapcX- 
Xid:  Edelrosenstrauch,  Rosenstock.  Unter  ßämg 
versteht  man  alt-  und  neugr.  stachliges  Gesträuch : 
Brombeer-  und  Wildrosentriebe. 

^oii^ :  Th.  u.  D.  (foiä,   ngr.    Qoiä,    gölöi,    gwöi. 


Qodiä  und  Qcjdici  (vermerkt  sei,  daß  6  wie  das 
weiche  engl,  th  in  thine  gesprochen  wird).  Punica 
granatum.     Granatbaum. 

Ifhvov:  zu  allen  Zeiten:  Apium  graveolens. 
Eppich. 

av/.ei],  Th.  u.  D.  at'z»],  ngr.  ffi'/i],  ac/dd,  Ficus 
carica;  eQiveog,  desgl.  bei  Th.,  dort  auch  tr/Qta 
ffi/(],  das  letztere  Synonym  auch  bei  Diosc ,  ngr. 
dQv{i)6g,  oQviä  ist  der  wilde  F'eigenbaum. 

'Tmtvd-og,  desgl.  Th.  D.  u.  ngr.  Hyacinthus 
orientalis.  Andere  freilich  meinen  Iris  germanica, 
Delphinium  ajacis,  und  Gladiolusarten  kämen  in 
PVage  (vgl.  Kanngießer,  Erklärung  der  Pflanzen- 
namen. Gera  1909,  p.  86).  Bemerkt  sei,  daß  icnoivd-i 
usw.  jetzt  ein  Synonym  für  Poiyanthes  tuberosa 
ist.  Diese  Pflanze,  desgl.  die  Hyazinthe  selbst 
werden  neugriechisch  meist  ^iftßovXi  [Zwiebel?] 
genannt.  Über  L'dxivd-og  soll  auch  Murr  im  Progr. 
des  Gymn.  zu  Innsbruck  i888  abgehandelt  haben, 
(desgl.  über  die  f/)i;yo'L;  Frage),  doch  ist  mir  die 
Schrift  leider  nicht  zugänglich. 

'I>r;yög,  Th.  D.  auch  ngr.  desgl.  Ngr.  auch 
(fd'/og  und  o|i«  {6'ivu  des  Th.)  Fagus  silvatica. 
Buche.  Hier  hatVoß  im  Gegensatz  zu  anderen, 
die  Eiche  oder  Kastanie  übersetzen  wolle,  m.  E. 
recht. 

(poh'i^  oder  cpoUii.  {01  wird  wie  i  gesprochen, 
vgl.  den  Doppelsinn  des  Orakels:  lotiiög  u.  hftög), 
desgl.  Th.  D.  u.  ngr.  Jetzt  /ocp/fad;«  gebräuch- 
licher. Phoenix  dactylifer,  nicht  dactylifera,  wie 
durchgehends  geschrieben  wird.  Phoenix  ist  so- 
wohl im  Griech.  wie  im  Lat.  masculinum.  (Auch 
heißt  es  nicht  Orchis  mascula,  sondern  masculiis,  da 
()p;f<i,':  der  Hoden,  nach  dem  die  Pflanzen  wegen  der 
Ähnlichkeit  ihrer  Bulben  mit  den  Testikeln  genannt 
sind,  sc.  männlich  ist.  Auch  darauf,  daß  es  nicht 
die,  sondern  der  Aster  heißt,  hat  mich  H.  Voss 
aufmerksam  gemacht,  der  bisher  vergeblich  gegen 
diese  offensichtlichen  Fehler  ankämpft  und  u.  a. 
die  Forderung  aufstellt,  daß  Speziesnamen  stets 
klein  zu  schreiben,  welcher  Aufforderung  ich  in 
dieser  Arbeit  nachkam.) 

Zu  diesen  43  Pflanzennamen,  die  Homer  er- 
wähnt, kämen  noch  einige  Namen  wie  döva^ 
(Arundo  donax.'),  axolvog  (Scirpus  lacustris?),  d-qvov 
(Imperatar),  oQorpog  kayj'iieig  (}),  rz-rzog  (Meeralgen) 
und  andere  Kollektivbegriffe  hinzu.  Auch  könnte 
man  den  wilden  Feigen-  und  Ölbaum  doppelt  zählen, 
desgl.  olcga  und  Ceta  als  nicht  nahverwandt 
auffassen  und  so  eine  höhere  Ziffer  ermitteln. 
Doch  trotz  der  geringen  Zahl  gibt  uns  Homer 
manche  Nuß  zu  knacken,  ganz  abzusehen  von 
der  geheimnisvollen  Pflanze  jU(olf,  von  der  gua 
ni/.gi],  deren  Pulver  auf  Wunden  gestreut  den 
Schmerz  lindert  und  dem  mildtätigen  (pdgiia/.ov 
der  Helena.  Doch  über  die  letzteren  Dinge  ge- 
denke später  zu  schreiben  und  bitte  schon  jetzt 
um  diesbezügliche  freundliche  Mitteilungen,  desgl. 
was  etwaige  Korrekturen  meiner  homerischen  Flora 
betrifft. 


170 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  II 


Einzelberichte. 


Physik.  Neue  Untersuchungen  über  die  Radium- 
emanation. Bekanntlich  wiesen  zum  erstenmal 
im  Jahre  1900  Elster  und  Geitel  nach,  daß 
die  Atmosphäre  stets  Radiumemanation  entliält, 
ein  gasförmiges  Zerfallsprodukt  des  Radiums,  das 
sich  dadurch  zu  erkennen  gibt,  daß  es  an  negativ 
geladenen  Drähten,  die  man  der  Luft  aussetzt, 
einen  „aktiven  Beschlag"  erzeugt.  Für  die  Ermitt- 
lung des  Emanationsgehaltes  der  Luft  wurde  die 
Rutherford'sche  Entdeckung  wichtig,  daß  aus 
Kokosnußschalen  hergestellte  Holzkohle  in  hohem 
Grade  die  Fähigkeit  besitzt,  Radiumemanation  zu 
absorbieren.  Hierauf  gründet  sich  folgende  Methode 
zur  Bestimmung  der  Emanation:  Man  schickt  wäh- 
rend einer  bestimmten  Zeit  Luft  mit  bekannter 
Geschwindigkeit  durch  Röhren,  die  mit  Kokos- 
kohle  gefüllt  sind,  treibt  die  absorbierte  Emanation 
durch  Erhitzen  der  Röhre  aus,  sammelt  sie  über 
Wasser  und  leitet  sie  in  eine  Ionisationskammer, 
die  mit  einem  Elektrometer  in  Verbindung  steht. 
Ebenso  verfährt  man  mit  der  Emanation,  die  aus 
einer  Radiumsalzlösung  von  bekanntem  Radium- 
gehalt ausgetrieben  werden  kann.  Aus  dem  Poten- 
tialabfall, den  man  in  beiden  Fällen  mit  dem  Elek- 
trometer erhält,  läßt  sich  dann  die  in  einem  be- 
stimmten Volumen  Luft  enthaltene  Emanations- 
menge bzw.  die  ihr  entsprechende  Radiummenge 
berechnen.  Da  die  Emanation,  die  aus  dem  in 
der  Erdkruste  vorhandenen  Radium  stammt,  nach 
3,86  Tagen  zur  Hälfte  zerfallen  ist,  ist  die  Frage 
von  Interesse:  Wie  weit  kann  die  aus  dem  Boden 
entweichende  Emanation  durch  Diffusion  und  verti- 
kale Luftströmungen  aufwärts  getragen  werden, 
ohne  daß  viel  von  ihr  zerfällt?  Zu  erwarten  wäre, 
daß  die  Menge  der  Emanation  in  der  Atmosphäre 
mit  zunehmender  Höhe  abnimmt.  Die  bisher  vor- 
liegenden Beobachtungen  haben  aber  zum  Teil  zu 
anderen  Ergebnissen  geführt.  So  fand  z.  B.  F 1  e  m  - 
ming  bei  Ballonaufstiegen,  daß  sich  in  3000  m 
Höhe  an  einem  negativ  geladenen  Draht  ungefähr 
die  gleiche  Menge  „aktiven  Beschlags"  absetzt 
wie  an  der  Erdoberfläche.  Saake  und  Gockel 
stellten  dagegen  bei  Beobachtungen  auf  Berggip- 
feln fest,  daß  der  akti\^e  Beschlag  in  großen  Höhen 
beträchtlicher  ist  als  auf  dem  Meeresniveau. 

Einen  neuen  Beitrag  zur  Beantwortung  dieser 
Frage  haben  vor  kurzem  die  Amerikaner  J.  R. 
Wright  und  O.  F.  Smith  geliefert  (vgl.  Physi- 
kal.  Zeitschr.  15,  Heft  i,  S.  31),  indem  sie  nach 
der  Methode  der  Absorption  mit  Kokoskohle  fast 
ein  Jahr  lang  Beobachtungen  in  Manila  (annähernd 
Meeresniveau)  und  auf  dem  Mount  Pauai  (2460  m) 
anstellten.  Der  Mittelwert  der  Emanationsmenge 
im  cbm  Luft,  durch  das  Äquivalent  an  Radium 
ausgedrückt,  wurde  für  Manila  zu  82,  48X10"^^  g, 
für  den  Mount  Pauai  zu  19,  iSXiO"'- g  gefunden. 
Damit  scheint  also  endgültig  bewiesen  zu  sein,  daß 
der  Gehalt  der  Luft  an  Emanation  tatsächlich  in 
großen  Höhen  abnimmt.  Ferner  ergab  sich,  daß 
an  einem  gegebenen  Orte    die  Emanationsmenge 


in  der  Atmosphäre  großen  Schwankungen  unter- 
worfen ist,  die  in  naher  Beziehung  zu  der  Ände- 
rung der  meteorologischen  Verhältnisse  stehen. 
Regnerisches  Wetter  lieferte  z.  B.  niedrige,  schönes 
Wetter  hohe  Werte. 

Über  den  Emanationsgehalt  der  Bodenluft  hat 
K.  K  ä  h  1  e  r  kürzlich  eine  wichtige  Arbeit  veröffent- 
licht (vgl.  Physikal.  Zeitschrift  15,  Heft  i,  S.  27). 
In  der  Nähe  des  Potsdamer  Observatoriums  wurde 
auf  einer  Wiese  ein  ca.  i  '/o  m  tiefes  und  '/j  m 
breites  Loch  gegraben  und  seitlich  mit  einem  Zink- 
blechzylinder ausgekleidet,  in  dessen  Achse  ein 
Kupferdraht  isoliert  aufgehängt  war.  Der  Kupfer- 
draht führte  zur  Nadel  eines  Benndorf-Elektro- 
meters,  das  automatisch  alle  viertel  Stunden  auf 
ein  bestimmtes  Potential,  dessen  Abfall  das  Elektro- 
meter alle  Minuten  registrierte,  aufgeladen  wurde. 
Auf  diese  Weise  konnten  die  von  der  Emanation 
erzeugten  positiven  Elektrizitätsträger  in  dem  Meß- 
raum ermittelt  werden  (die  gleichzeitig  gebildeten 
negativen  Träger  entluden  sich  an  der  Metallwand) ; 
parallel  hiermit  gingen  Messungen  des  elektrischen 
Leitvermögens  der  Atmosphäre.  Der  Mittelwert 
für  den  Gehalt  der  Bodenluft,  der  sich  aus  den 
Beobachtungen  eines  Jahres  ergab,  war  o,22XiO~' 
elektrostatische  Einheiten  pro  ccm.  Dieser  Wert 
ist  bedeutend  kleiner  als  der  im  Jahre  1907  von 
Endrös  in  München  registrierte  Wert  (i,2XiO~') 
oder  der  von  Gockel  in  Freiburg  (Schweiz)  er- 
mittelte (2 — 7Xio~').  Der  brandenburgische  Sand 
ist  also  viel  weniger  radioaktiv  als  der  steinige 
Boden  Münchens  oder  der  Schweiz.  Dem  Wert 
0,22  KiO~"  elektrost.  Einh.  entspricht,  wenn  man 
für  die  Ladung  eines  Elektrizitätsträgers  den  von 
Millikan  gefundenen  Betrag  4,9X10^'"  zugrunde 
legt,  eine  Zahl  von  45  Elektrizitätsträgern;  d.  h. 
die  Emanation  in  ^j^  m  Tiefe  ist  imstande,  pro 
Sekunde  und  ccm  45  positive  (und  negative)  Träger 
zu   erzeugen. 

Am  stärksten  emanationshaltig  erwies  sich  die 
Bodenluft  im  Sommer,  am  schwächsten  im  Winter. 
Dies  erklärt  sich  natürlich  so,  daß  bei  stärkerer 
Bodenerwärmung  mehr  Emanation  aus  den  „ge- 
sättigten" Tiefen  (unterhalb  2  m)  in  die  näher  der 
Oberfläche  liegenden  Tiefen  und  damit  auch  in 
die  Atmosphäre  tritt.  Auch  die  täglichen  Schwan- 
kungen des  Emanationsgehaltes  der  Bodenluft  er- 
gaben bestimmte  Regelmäßigkeiten:  ein  Haupt- 
maximum um  7  Uhr  abends,  ein  kleineres  Maxi- 
mum um  6  Uhr  morgens,  ein  Hauptminimum 
mittags  und  ein  weniger  ausgesprochenes  Mini- 
mumkurz nach  Mitternacht.  Diese  tägliche  Schwan- 
kung zeigt  eine  bemerkenswerte  Ähnlichkeit  mit 
den  täglichen  Schwankungen  des  Luftdrucks.  Die 
wichtigste  Ursache  der  Schwankungen  ist  in  der 
Luftbewegung  zwischen  Atmosphäre  und  Boden 
zu  suchen;  die  aufsteigende  Luft  wirkt  erhöhend 
auf  den  Emanationsgehalt,  die  absteigende  ver- 
mindernd. Bugge. 


N.  F.  XIII.  Nr.  1 1 


Naturwissenschaftliche  Woch  cnschrift. 


171 


Botanik.  Über  den  Einfluß  der  radioaktiven 
Emanation  auf  die  Entwicklungder  Pflanzen  berichten 
in  den  Comptes  Rendus  de  l'Academie  des  Sciences 
(Paris)  157,  S.  1082,  J.Stoklasa  und  V.  Zdob- 
nicky.  Daß  das  Radium  und  seine  Emanation 
treibend  auf  die  Knospen  mancher  Pflanzen  (z.  B. 
Flieder)  wirkt,  hat  1912  IVIolisch  gezeigt  (vgl. 
Naturw.  Wochenschrift  lttl2,  S.  378).  Eine  Be- 
stätigung und  Ergänzung  dieses  Ergebnisses  bringen 
die  Versuche  von  Stoklasa  und  Zdobnicky, 
die  sowohl  mit  künstlich  aktiviertem  als  auch  mit 
natürlichem  aktivem  Wasser  (von  Brambach  und 
Franzensbad)  ausgeführt  wurden.  Es  zeigte  sich, 
daß  Erbsen,  Linsen  und  Weizen  in  einer  emana- 
tionshaltigen  Knoop 'sehen  Nährlösung  mehr  als 
doppelt  so  hohe  Ausbeuten  lieferten  wie  bei  Paral- 
lelversuchen ohne  Emanation.  Ähnliche,  wenn  auch 
nicht  so  in  die  Augen  fallende  Ertragssteigerungen 
in  bezug  auf  Frucht  und  Stengel  bewirkte  die 
Emanation  bei  Mohn,  Lupinen,  Zuckerrüben  und 
Wicken,  die  in  Erde  aufgezogen  und  mit  radio- 
aktivem Wasser  begossen  wurden.  In  allen  Fällen 
trat  Blütenbildung  und  Befruchtung  in  den  Versuchs- 
reihen mit  Emanation  früher  ein  als  in  denen  ohne 
Emanation.  Auch  in  „PJmanatorien"  —  großen 
Behältern,  deren  Atmosphäre  Emanation  zugeführt 
wurde  —  äußerte  sich  deutlich  der  günstige  Ein- 
fluß der  radioaktiven  Wirkung.  Interessant  ist,  daß 
alle  diese  guten  Erfolge  nur  bei  mäßiger  Dosierung 
der  Emanation  erzielt  werden.  Zu  starke  Emana- 
tionsmengen wirken  gegenteilig,  da  sie  offenbar 
das  Chlorophyll  der  Pflanzen  zerstören  und  Plas- 
molyse hervorrufen.  Bugge. 

Vom  Anthocyan.  Guillermond  gibt  an, 
daß  das  Anthocyan  in  den  jungen  Blättern  des 
Rosenstocks  und  des  Nußbaums,  in  Rizinus- 
keimlingen ,  in  Korknieristemzellen  der  jungen 
Knollen  gewisser  Kartoffelsorten,  in  Herbstblättern 
von  Ampelopsis  Veitchii  und  in  der  Blüte  von 
Iris  germanica  in  Chondriosomen  (Mitochondrien) 
gebildet  werde,  indem  entweder  von  vornherein 
eine  farbige  Phenolverbindung  in  ihnen  auftritt 
oder  zunächst  eine  farblose  Phenolverbindung  vor- 
handen ist,  die  erst  später  zum  Pigment  wird. 
Guillermond  bemerkt,  daß  dieses  Ergebnis 
völlig  im  Einklang  stehe  mit  den  Resultaten,  zu 
denen  Raoul  Combes  und  Viktor  Gräfe 
gelangt  sind,  wenn  auch  dieser  ein  Entstehen 
von  Anthocyan  durch  Umwandlung  farbloser 
Phenolverbindungen  nicht  angenommen  habe. 
(Comptes  rendus   1913,  t.  15",  p.   1000.) 

Combes  hatte  schon  früher  aus  grünen  Blät- 
tern des  sog.  wilden  Weins  (Ampelopsis  hedera- 
cea)  eine  in  rosettenförmig  geordneten  Nadeln 
kristallisierende  braungelbe  Verbindung  erhalten,  die 
gleich  dem  Anthocyan  mit  neutralem  Bleiacetat 
einen  gelben  Niederschlag  gab.  Er  hat  nun  ge- 
funden, daß  eine  mit  HCl  angesäuerte  alkoholische 
Lösung  dieses  braungelben  Körpers  bei  Einwir- 
kung von  naszierendem  Wasserstoff  (mit  Natrium- 
amalgam erhalten)  violettrosafarben  wird,  und  daß 


sich  diese  Färbung  immer  mehr  vertieft.  Filtriert 
und  neutralisiert  liefert  die  Flüssigkeit  beim  Ver- 
dampfen eine  purpurfarbene  Substanz,  die  in 
rosettenförmig  gruppierten  Nadeln  kristallisiert. 
Dieselbe  Farbe  und  Kristallform  zeigt  das  aus 
roten  Ampelopsis-Blältern  ausgezogene  natürliche 
Anthocyan.  Die  nach  zweimaligem  Umkristalli- 
sieren in  Alkohol  und  dreimaliger  Kristallisation 
in  Wasser  erhaltenen  reinen  Pigmente  zersetzen 
sich,  das  natürliche  wie  das  künstliche,  bei  der- 
selben Temperatur  (165 ")  und  schmelzen  auch 
bei  derselben  Temperatur  (212" — 215").  Die 
braungelbe  Verbindung  zersetzt  sich  und  schmilzt 
etwas  später  (182"  bzw.  226"— 229"),  ist  auch  in 
Wasser  weniger  löslich  als  die  beiden  purpurnen 
Farbstoffe.  Da  diese  auch  in  ihren  chemischen 
Reaktionen  übereinstimmen,  so  zieht  Combes 
den  Schluß,  daß  das  natürliche  Anthocyan  aus 
der  in  den  grünen  Blättern  enthaltenen  Verbin- 
dung durch  Reduktion  entsteht. 

Wenn  dem  so  ist,  so  liegt  der  Versuch  nahe, 
das  natürliche  Anthocyan  durch  Oxydation  in  den 
gelben  Farbstoff  überzuführen.  Auch  diese  Um- 
wandlung wurde  von  Combes  erzielt,  indem  er 
eine  alkoholische  Lösung  des  natürlichen  Pigments 
mit  Wasserstoffsuperoxyd  versetzte.  Er  erhielt 
eine  gelbe  Lösung  und  aus  dieser  ein  in  Nadel- 
rosetten kristallisierendes  braungelbes  Pigment, 
das  in  allen  Eigenschaften  mit  dem  natürlichen 
übereinstimmte. 

Nach  Combes  gehören  beide  natürliche  h'arb- 
stoffe,  das  gelbe  Pigment  sowohl  wie  das  Antho- 
cyan, zur  Gruppe  der  Phenol-y-Pyrone.  Man  hat 
einige  dieser  Verbindungen  aus  Pflanzen  ausge- 
zogen, wo  sie  gelbe  I'arbstoffe  bilden,  und  hat 
sie  synthetisch  herstellen  können.  Verf.  hat  solche 
synthetisch  erzeugten  Pigmente  durch  naszieren- 
den  Wasserstoff  in  rote  P'arbstoffe  von  den  Eigen- 
schaften der  Anthocyane  übergeführt.  (Comptes 
rendus   1913,  t.  157,  p.   1002,   1454.) ') 

F.  Moewes. 

Zoologie.  Umkehrbarkeit  in  der  Entwicklungs- 
erregung des  Seeigeleies.  Zahlreiche  Versuche 
der  letzten  Zeit  haben  gezeigt,  daß  die  Eier  vieler 
wirbelloser  Tiere,  Stachelhäuter,  Würmer,  Schnek- 
ken  und  sogar  die  von  Wirbeltieren  (Frösche), 
ohne  befruchtet  zu  sein,  durch  die  verschiedensten 
äußeren  Eingriffe  (chemischer,  thermischer  und 
mechanischer  Natur)  veranlaßt  werden  können, 
sich  mehr  oder  minder  weit  zu  entwickeln. 

Jacques  Loeb  (Archiv  für  Entwicklungs- 
mechanik der  Organismen  Bd.  38,  1914)  ist  es 
nun  gelungen,  den  durch  chemische  Mittel  (Alka- 
lien und  Säuren)  veranlaßten  Beginn  der  Entwick- 
lung des  Eies  einer  Seeigelart  (Arbacia)  rückgängig 
zu  machen,  insofern,  als  die  Eier  wieder  in  den 
Zustand    des    unbefruchteten   Eies    zurückkehrten. 


')  Inzwischen  hat  Combes    eine  erste    Mitteilung    über 

seine  Versuche   in    deutscher   Sprache  veröffentlicht    (Berichte 

der  Deutschen  Botanischen  Gesellsch.  1914,    Bd.  81,    S.  570 

bis  578). 


172 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   II 


Während  sie  sonst  nach  Einleitung  der  künst- 
lichen Parthenogenese  sich  entweder  furchen  oder 
zerfallen,  kehren  sie  nach  Behandlung  mit  cyan- 
natriumhaltigem  Seewasser  wieder  in  den  ursprüng- 
lichen Zustand  zurück  und  können  aufs  neue  durch 
die  Befruchtung  mit  Samenfäden  oder  durch 
,, künstliche  Parthenogenese"  zur  Entwicklung  ver- 
anlaßt werden.  Obwohl  also  bei  ihnen  der  Zell- 
teilungsapparat —  Zentrosomen,  Astrosphären  — 
vorhanden  und  in  Bewegung  gesetzt  war,  gingen 
die  Blastomeren  doch  wieder  in  den  Ruhezustand 
zurück. 

Je  früher  die  Eier  nach  der  Alkalibehandlung 
in  die  Cyannatriumlösung  gebracht  werden,  um 
so  größer  ist  der  Prozentsatz  jener,  die  in  den 
Ruhezustand  zurückkehren.  Als  Ursache  dafür 
ist  vielleicht  die  Herabsetzung  der  O.xydations- 
vorgänge    durch    das  Cyannatrium    zu  betrachten. 

Veranlaßt  wurde  L.  zu  seinen  Versuchen  durch 
die  Wahrnehmung,  daß  die  Furchungszellen,  in 
welche  die  bei  künstlicher  Parthenogenese  ent- 
standenen Entwicklungsstadien  eines  anderen  See- 
igels (Strongylocentrotus  purpuratus)  auf  dem  2- 
oder  4-  bis  8-  oder  i6-Zellenstadium  auseinander 
fielen,  am  Leben  blieben  und  noch  am  nächsten 
Tag  durch  Samen  oder  durch  Buttersäurebehand- 
lung zur  normalen  Entwicklung  gebracht  werden 
konnten.  Daß  die  Entwicklung  bei  Strongylo- 
centrotus schwerer  rückgängig  gemacht  werden 
kann  als  bei  Arbacia ,  liegt  nach  L.  daran ,  daß 
hier  die  Befruchtungsmembran  weniger  durch- 
gängig ist.  Dr.  phil.  et  med.  L.  Kathariner. 

Astronomie.     Die  Bestimmung  des  Mondortes 


behandelte  Hayn  auf  der  Astronomenversammlung; 
er  wies  daraufhin,  daß  bei  dem  Mangel  eines  scharfen 
Randes  sich  der  Mondmittelpunkt  nicht  bestimmen 
läßt.  Auch  die  Methode,  den  in  der  Mitte  der 
Mondscheibe  liegenden  Krater  Mösting  A  zu  be- 
obachten, und  dessen  Ort  durch  Mikrometer- 
messungen an  den  Mondrand  anzuschließen,  sei 
nicht  ausreichend.  \'ielmehr  erscheine  als  der 
beste  Weg  der,  durch  alle  die  Teile  der  Mond- 
oberfläche, die  uns  wegen  der  Libration  als  Rand 
erscheinen  können,  eine  Kugeloberfläche  zu  legen 


und  deren  Mittelpunkt  als  Mondmittelpunkt  zu 
betrachten.  Der  Mondschwerpunkt  wird  an  sich 
nicht  mit  diesem  Punkte  zusammenfallen,  die 
Differenz  ist  aus  der  Theorie  zu  bestimmen,  da 
die  Beobachtung  sich  auf  den  eben  bestimmten 
Mittelpunkt,  die  Theorie  aber  auf  den  Schwer- 
punkt bezieht.  Schon  aus  den  bisherigen  Beob- 
achtungen geht  ein  nicht  Zusammenfallen  beider 
Punkte  deutlich  hervor.  Es  sind  nun  durch  Hayn 
schon  eine  große  Menge  photographischer  Auf- 
nahmen hergestellt  worden,  und  die  selenographi- 
schen  Koordinaten  von  über  loooo  Punkten  ge- 
messen. Hat  man  dann  noch  einen  gut  bestimmten 
Stern  auf  der  Platte,  an  den  der  gemessene  Mond- 
mittelpunkt angeschlossen  werden  kann,  so  erhält 
man  Mondörter  auch  außerhalb  des  Meridianes 
von  einer  bisher  noch  nicht  erreichten  Genauig- 
keit. Denn  es  war  bisher  immer  der  Übelstand, 
daß  man  nur  den  einen  Teil  der  Mondbahn  aus 
Meridianbeobachtungen  kannte,  in  der  der  Mond 
im  Meridian  erscheint,  oder  wo  der  Krater 
Mösting  A  beleuchtet  ist,  daß  also  die  eine  Hälfte 
der  Mondbahn  so  wenig  bekannt  war,  daß  gewisse 
Glieder  von  sehr  kurzer  Periode  sich  nicht  be- 
stimmen ließen.  Nun  kommt  hier  aber  noch  hin- 
zu, daß,  wenn  man  Mond  und  Stern  in  zwei  um 
etwa  6  Stunden  verschiedenen  .Stundenwinkeln 
beobachten  kann,  daß  man  dann  aus  der  paral- 
laktischen  Verschiebung  sofort  die  Entfernung  des 
Mondes  erhält,  also  alle  drei  Koordinaten  des 
Mondortes.  Hier  ergibt  sich  nun  aber  die  große 
technische  Schwierigkeit,  daß  in  den  Sekunden, 
die  der  Stern  zur  Belichtung  braucht,  der  Mond 
überexponiert  wird,  ferner  muß  bei  der  schnellen 
Bewegung  des  Mondes  das  Fernrohr  auf  diesen 
gehalten  werden,  so  daß  der  Stern  eine  Linie 
zieht.  Es  scheint,  daß  man  dieser  Schwierigkeit 
am  besten  begegnet,  indem  man  durch  eine 
rotierende  Sektorscheibe  den  Mond  abblendet, 
wie  es  schon  immer  am  Heliometer  gemacht 
wurde,  wenn  hier  zwei  Sterne  von  sehr  ver- 
schiedener Helligkeit  aneinander  angeschlossen 
werden  sollten.  Die  Untersuchungen  über  die 
Brauchbarkeit  dieser  Methoden  ist  noch  im  Gange. 
[Vierteljahrsschrift  der  astronom.  Ges.  1913  S.  231.] 

Riem. 


Kleinere  Mitteilungen. 


über  die  Walloneneichen  in  ihrer  pflanzen- 
und  wirtschaftsgeographischen  Bedeutung  hat 
Karl  Burk  (Jahrb.  des  Nassauischen  Vereins  für 
Naturkunde,  66.  Jahrg.,  Wiesbaden  191 3)  ein- 
gehende Untersuchungen  angestellt.  Unter  den 
Walloneneichen  versteht  man  jene  Gruppe  der 
laubabwerfenden  Eichen  der  Mittelmeerländer,  die 
charakterisiert  ist  durch  große  und  dicke,  gerb- 
stoffhaltige  Fruchtbecher  mit  extrem  entwickelter 
Beschuppung.  Wegen  des  reichlichen  Gerbstoff- 
gehaltes werden  die  Becher,  meist  von  ihren 
Früchten    befreit,    als    Wallonen    und    die    abge- 


brochenen Schuppen  als  Drillo  in  den  Handel  ge- 
bracht. In  den  Schuppen  ist  der  Gerbstoffgehalt 
am  größten  (bis  über  40%),  in  den  Bechern 
selbst  etwas  geringer. 

Die  Lebensbedingungen  der  Walloneneichen 
sind  nicht  allgemein  anzugeben,  da  es  sich  bei 
ihnen  um  einen  größeren  Formenkreis  handelt, 
dessen  einzelne  Elemente  sehr  verschiedene  An- 
sprüche stellen.  Für  alle  Arten  ist  aber  jedenfalls 
ein  Klima  mit  völlig  regenfreiem  Sommer  erfor- 
derlich. Als  Höhengrenze  ist  etwa  eine  Höhe 
von  700  m  anzusehen. 


N.  F.  Xm.  Nr.   1 1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


»73 


Das  Maximum  der  Ausdehnung  erlangen  die 
VValloneneichen  in  den  Ebenen  der  Westküste 
Griechenlands  und  in  den  Flußtälern  an  der 
Westküste  von  Kleinasien. 

Die  Ernte  der  Wationen  wird  in  allen  Ge- 
bieten in  fast  gleicher  Weise  gehandhabt:  Die 
Bäume  werden  vor  dem  Herausfallen  der  Eicheln 
aus  den  Bechern  abgeklopft ,  die  gesammelten 
Früchte  in  hohen  Lagen  aufgeschichtet  und  zu- 
gedeckt. Die  durch  die  entwickelte  Feuchtigkeit 
verursachte  Gärung  ermöglicht  dann,  die  Eicheln 
leicht  aus  den  Bechern  zu  lösen.  Die  geringste 
Übergärung  ist  für  das  Produkt  von  Nachteil. 
Daher  kann  natürlich  auch  Regen  die  ganze  Ernte 
vernichten. 

In  manchen  Teilen  Griechenlands  befinden 
sich  die  Walloneneichen  in  Halbkultur,  in  Klein- 
asien (mit  Ausnahme  des  Nordwestens  von  Ana- 
tollen)  sind  sie  dagegen  rücksichtsloser  Raubwirt- 
schaft preisgegeben.  Neuanpflanzungen  finden 
dort  nicht  statt,  und  zum  Schutze  des  Nach- 
wuchses gegen  Ziegen,  die  ja  großen  Schaden  in 
der  Vegetation  dort  anrichten,  geschieht  auch 
nichts. 

Der  Bedarf  Europas  an  Wallonen  wird  im  wesent- 
lichen von  Smyrna,  ferner  aber  auch  von  Patras 
und  dem  Piräus  aus  gedeckt.  Der  Export  Smyrnas 
übertrifft  den  der  griechischen  Häfen  schon  seit 
langem  um  das  7 — 10  fache. 

Man  unterscheidet  die  Wallonensorten  des  Han- 
dels entweder  nach  Verbreitungsgebieten  in  klein- 
asiatische oder  Smyrna-,  griechische  Insel-  und 
Festlands-,  albanische,  Golfo-  und  Caramania- Wallo- 
nen aus  dem  südöstlichen  Kleinasien;  oder  nach 
Eitner  in  kleinasiatische,  griechische  und  alba- 
nische Wallonen;  oder  nach  dem  Grade  der  Reifung: 
(Chamada  =  junge  geschlossene  Früchte,  im  April 
gesammelt;  Rhavdisto  =  große  ausgereifte  Früchte, 
im  September  gesammelt;  Charchala  =  nach  dem 
ersten  Oktoberregen  gesammelt,  Becher  völlig  offen 
und  leer,  aber  auch  gerbstoffarm.) 

Die  allgemeine  Verwendung  der  Wallonen  in 
der  mitteleuropäischen  Gerbindustrie  besteht  kaum 
ein  Jahrhundert.  Die  erste  Einfuhr  fand  1780 
statt  (von  Smyrna  nach  Wien). 

Fr.  J.  Meyer. 

Tollwut.  —  Nachdem  sich  schon  seit  längerer 
Zeit  ein  dringendes  Bedürfnis  für  einen  Neubau 
der  Tollwutstation  in  Berlin  fühlbar  gemacht  hatte, 
wurde  zu  dem  Bau  eines  neuen  Instituts  geschritten, 
das  allen  modernen  Anforderungen  entspricht. 
Zu  dessen  Eröffnung,  die  in  diesem  Jahre  stalt- 
fand, hielt  Prof  Koch  eine  Rede  über  den 
„gegenwärtigen  Stand  der  Lyssaforschung" 
(Deutsch,  med.  Woch.  Nr.  42,   191 3). 

Über  die  Erkrankung  selbst  seien  mir  ein 
paar  kurze  Worte  zur  Erläuterung  gestattet.  Die 
Übertragung  der  Wut  auf  den  Menschen  erfolgt 
fast  ausschließlich  durch  den  Biß  wutkranker 
Tiere  (in  erster  Linie  Hunde,  seltener  Wölfe  oder 
Katzen).      Die    Infektion    erfolgt   um    so  sicherer, 


je  mehr  Speichel  des  betreffenden  Tieres  in  die 
Wunde  gelangt,  und  wenn  bei  dem  Biß  Nerven- 
äste verletzt  werden,  da  das  Gift  sich  weniger 
auf  dem  Blut-  und  Lymphwege  als  vielmehr  längs 
der  Nervenbahnen  verbreitet.  Ferner  ist  von 
Wichtigkeit  die  Bißstelle,  die  um  so  gefährlicher 
ist,  je  näher  sie  dem  Gehirn  sich  befindet,  in  erster 
Linie  sind  also  Kopfwunden  zu  fürchten.  Der  Verlauf 
der  Tollwut  gestaltet  sich  folgendermaßen.  Nach 
einem  sog.  Prodromalstadium  mit  allgemeineren 
Symptomen  von  Kopfschmerz,  unruhiger  Stimmung, 
und  einer  beginnenden  Abneigung  gegen  Flüssig- 
keiten, tritt  der  Kranke  in  das  hydrophobische  Sta- 
dium ein.  Dieses  äußert  sich  in  außerordentlich 
quälenden  Krampfzuständen  der  Atemmuskulatur, 
des  Rumpfes,  der  Gliedmaßen  und  der  Kehlkopf- 
muskeln. Die  Anfälle  werden  bei  den  geringsten 
äußeren  Anlässen  ausgelöst,  manchmal  bei  dem 
Versuch  zu  schlucken,  sogar  schon  bei  dem  bloßen 
Anblick  eines  Getränkes  (daher  der  Name  hydro- 
phobisch  i'diüQ  —  (poßelv).  Darnach  erfolgt  im 
dritten  Stadium  der  Lähmung  der  Tod. 

Koch  weist  nun  in  seinem  Vortrage  darauf 
hin,  daß  die  Tollwut  eigentlich  zu  den  seltensten 
Erkrankungen  Deutschlands  gehöre,  und  vor  allem 
nur  in  den  östlichen  Grenzgebieten,  in  der  Eifel, 
sowie  vereinzelt  in  einzelnen  Teilen  Sachsens  und 
Bayerns  beobachtet  wird.  Das  zurzeit  gehäuftere  Auf- 
treten in  der  Umgegend  Berlins  sei  darauf  zurück- 
zuführen, daß  wohl  ein  zugelaufener  Hund,  dessen 
Krankheit  nicht  rechtzeitig  erkannt  worden  wäre, 
Gelegenheit  hatte,  andere  zu  infizieren.  Man  war 
nun  bisher  der  Meinung,  daß  die  Wut  die  einzige 
Infektionskrankheit  sei,  die,  einmal  beim  Menschen 
ausgebrochen,  unrettbar  zum  Tode  führe.  Doch 
haben  experimentelle  Tierversuche  gezeigt,  daß 
es  auch  leichtere  P'ormen  der  Erkrankung  —  sog. 
abortive  Formen  —  gibt,  und  dieselbe  Beobach- 
tung konnte  Koch  auch  bei  Menschen  machen. 
Derartige  Fälle  enden  dann  nicht  tödlich. 

Die  jüngsten  P"orschungen  haben  uns  einen 
Weg  weiter  bezüglich  der  Diagnose  und  der 
Ätiologie  gebracht.  Da  wutkranke  Tiere  mit 
Vorliebe  Steine,  Holz  verschlingen,  ist  der  Befund 
solcher  Sachen  im  Magen  eines  getöteten  Hundes 
immer  verdächtig  auf  eine  zu  seinen  Lebzeiten 
bestandene  Wutkrankheit.  Sodann  ist  man  viel- 
leicht der  Frage  der  Erreger  der  Tollwut  näher 
gekommen  durch  Auffinden  feinster  Gebilde  im 
Hirn  und  Knochenmark,  die  nach  Ansicht  Koch 's 
die  parasitären  Erreger  dieser  Krankheit  darstellen. 
Er  kommt  dabei  auf  die  ausführlichen  Arbeiten 
Noguchis  zu  sprechen,  der  den  Erreger  gefun- 
den haben  will  in  der  Form  kleinster  chromatoider 
Körperchen,  die  durch  besondere  Kulturverfahren 
hergestellt  werden  (Berl.  klin.  Woch.  Nr.  42,  1913). 
Weiterhin  bezweifelt  Koch  die  früher  allge- 
mein angenommene  Meinung  der  Verbreitung  des 
Giftstoffes  durch  die  Nervenbahnen  (cf  oben!), 
da  Versuche,  in  denen  das  Gift  direkt  in  die  Ner- 
ven eingespritzt  worden  war,  trotzdem  ergebnislos 
verlaufen  waren.    Ebenso  hält  er  es  für  belanglos, 


174 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  1 1 


wo  die  Bißstelle  sitzt,  da  unabhängig  von  deren 
Lokalisation  der  Wuterreger  vorzugsweise  im 
Lendenmark  als  einer  Prädilektionsstelle  sich  an- 
siedelt. 

Dagegen  ist  man  bisher  noch  nicht  bezüglich 
der  Therapie  weiter  gekommen.  Es  kommen  auch 
jetzt  immer  noch  Fälle  vor,  wo  —  trotz  energi- 
scher Schutzimpfung  —  „wie  ein  Blitz  aus  heite- 
rem Himmel"  der  Ausbruch  der  Wutkrankheit, 
selbst  noch  nach  einem  Jahre  erfolgt.  Koch 
glaubt  nun  aus  gewissen  theoretischen  Erwägungen 
heraus  eine  Jodbehandlung  auch  in  prophylakti- 
scher Beziehung  empfehlen  zu  können,  von  dem 
er  sich,  bis  ein  Spezifikum  gegen  die  Wut  ge- 
funden ist,  doch  immerhin  einige  Vorteile  ver- 
spricht. Dr.  med.  Carl  Jacobs. 

Die  Giftigkeit  des  Methylalkohols.  —  Seit 
dem  Sc  härm  ach 'sehen  Prozesse  in  Berlin 
schwoll  die  Literatur  über  Methylalkohol  lawinen- 
artig an.  Nach  der  eidlichen  Aussage  einiger 
Zeugen  richtete  Methylalkohol,  längere  Zeit  hin- 
durch in  größeren  Mengen  genossen,  keine  wesent- 
lichen körperlichen  Schädigungen  an,  während 
einzelne  Individuen  bereits  bei  einmaligem  Genüsse 
dem  Tode  verfallen.  Oberapotheker  Ludwig 
Kroeber  in  München  -  Schwabing  stellte  die 
neuere  Literatur  über  die  Giftigkeit  des  Methyl- 
alkohols ausführlich  zusammen  und  referierte  da- 
rüber auf  dem  1 1.  Internationalen  pharmazeutischen 
Kongreß  in  Haag  und  Scheveningen  vom  17.  bis 
21.  September   191 3: 

Juckenack  glaubte  den  bei  der  Oxydation 
des  Methylalkohols  intermediär  auftretenden  Form- 
aldehyd in  statu  nascendi  verantwortlich  machen 
zu  sollen.  Nach  Hund  und  Harnack  soll  die 
aldehydische  Ameisensäure,  als  Produkt  der  lang- 
samen Oxydation  des  Methylalkohols,  am  Orte 
ihrer  Entstehung  eine  starke  Giftwirkung  entfalten. 
Harnack  hält  diese  im  statu  nascendi  angreifende 
Säure  für  viel  gefährlicher  als  eingeführte  freie 
Ameisensäure,  bei  der  baldige  Bindung  an  Basen 
erfolgt.  Nach  anderen  soll  gerade  diese  Bindung 
zu  einer  gefährlichen  Verarmung  des  Blutes  an 
Alkali  Veranlassung  geben.  Auch  eine  Verarmung 
des  Blutes  an  Sauerstoff  soll  die  Folge  der  Oxy- 
dation des  Methylalkohols  zu  Formaldehyd,  Ameisen- 
säure und  Kohlensäure  sein.  v.  Buchka  wider- 
spricht der  .■\nschauung,  als  ob  das  aus  der  Ameisen- 
säure sich  möglicherweise  abspaltende  Kohlenoxyd 
die  Vergiftung  bewirke,  da  im  Blute  der  Er- 
krankten Kohlenoxyd  nicht  nachgewiesen  wurde. 
F  ü  h  n  e  r  hält  Methylalkohol  aus  Oxalsäure  dar- 
gestellt für  giftiger.  O  h  1  e  m  a  n  n  sucht  die  Ur- 
sache in  einer  Verunreinigung  des  Methyalkohols 
mit  Furfurol.  Hingegen  vertritt  Aronsohn  die 
Auffassung,  daß  Methylalkohol  nach  seinen  Unter- 
suchungen mit  Sicherheit  nicht  als  schweres  Gift 
in  Betracht  kommt,  eine  These,  die  sich  auch  in 
Übereinstimmung  mit  dem  biologischen  Bilde  be- 
findet. Bekanntlich  steht  nach  dem  durch  Expe- 
rimente   gestützten    Rieh  ardson 'sehen    Gesetz 


die  Stärke  der  physiologischen  Wirkung  der  Al- 
kohole in  direktem  Verhältnisse  zur  Menge  der 
in  dem  betreffenden  Alkohole  vorhandenen  Kohlen- 
stoffatome. Demgemäß  müßte  Methylalkohol  am 
schwächsten  in  der  Reihe  wirken.  Nach  Aron- 
sohn handelt  es  sich  dabei  um  Beimengungen 
zum  Methylalkohol.  Kobert  glaubt  das  Vor- 
handensein von  Idiosynkrasien  zur  Erklärung  der 
wechselnden  Wirkung  annehmen  zu  müssen. 
Joffroy  und  Serveaux  halten  Methylalkohol 
in  einmaliger  Dosis  für  harmlos;  bei  fortgesetztem 
Genüsse  wirke  er  jedoch,  da  kohlenstoffarme  Al- 
kohole nur  schwer  oxydierbar  sind  und  infolge- 
dessen nur  langsam  verbrennen,  durch  Kumulierung 
der  nicht  oxydierten  Anteile  schädlicher  als  höhere 
Alkohole.  Im  Zusammenhang  hiermit  steht  wohl 
die  Ansicht,  daß  jene  Asylisten,  die  sich  nach  dem 
Braimtweingenuß  sofort  körperlicher  Arbeit  hin- 
gaben, infolge  der  beschleunigten  Oxydation  dem 
Tode  entgingen.  Zum  Schlüsse  sei  noch  der 
Tierversuch  von  Langgaard  angeführt,  dessen 
Schlußfolgerung  lautet:  In  kleinen  wiederholten 
Dosen  ist  Methylalkohol  giftiger  als  der  Athj-l- 
alkohol.  In  großen  einmaligen  Dosen  ist  der 
Äthylalkohol  giftiger  als  der  Methylalkohol. 

Aus  den  gemachten  Beobachtungen  sollten 
ähnliche  Vergiftungserscheinungen  bei  allen  Prä- 
paraten auftreten  müssen,  welche  ein  Methylradikal 
enthalten.  Es  ist  jedoch  noch  kein  Fall  bekannt 
geworden ,  der  diese  Ansicht  bewiesen  hätte. 
Kroeber  sucht  die  Ursache  für  die  zeitweilige 
Giftwirkung  des  Methylalkohols  in  einer  Verun- 
reinigung desselben  durch  Dimethylsulfat(CH3).jS04, 
welches  sich  bei  der  Reinigung  des  Rohalkohols 
unter  gewissen  Bedingungen  bilden  kann. 

R.  Ditmar. 


Bücherbesprechiingen. 

Dr.  Karl  Groos,  Das  Seelenleben  des  Kin- 
des.    Ausgewählte  Vorlesungen.    Vierte  durch- 
gesehene   und    ergänzte    Auflage.      334  Seiten. 
Berlin,    Verlag  von  Reuther  &  Reichard,    1913. 
—  Preis  geh.  4,80  Mk.,  geb.  5,70  Mk. 
Der   bekannte    Psychologe   K.    Groos    bietet 
uns  in  bereits  vierter  Auflage  ein  Werk,  das  alle 
Erwartungen,  die  man  berechtigterweise  von  einer 
Kinderpsychologie     haben     kann,      reichlich     er- 
füllt.     Er    liefert    in    ihm    den  Beweis,    daß    man 
trotz  der  außerordentlichen  Schwierigkeit,  das  aus 
Einzel-  und  Massenbeobachtung  gewonnene  Mate- 
rial   kindlicher  Ausdrucksbewegungen    richtig    zu 
deuten,    doch    einen    wertvollen    Einblick    in    die 
ontogenetische  sowie  selbst  in  die  phylogenetische 
Entwicklung   des    menschlichen    Geisteslebens   zu 
gewinnen  vermag. 

Der  Verf  macht  uns  nicht  nur  mit  beachtens- 
werten allgemeinpsychologischen  Auffassungen  be- 
kannt, sondern  gibt  auch  dem  Erzieher  und  Lehrer 
bedeutsame  Anweisungen.  Der  naturwissenschaft- 
lich gebildete  Leser   wird    es   begrüßen,   daß    die 


N.  F.  Xin.  Nr.  11 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


175 


psychische  und  physische  Seite  des  kindlichen 
Verhaltens  gleichmäßig  beachtet  werden,  daß  die 
seelischen  Zustände  nicht  bloß  als  Folgen  voraus- 
gegangener bewußter  Lebensprozesse,  sondern 
auch  als  Folgen  rein  physiologischer  Vor- 
gänge aufgefaßt  werden. 

Bei  der  allgemeinen  Anerkennung,  die  die 
Schriften  des  bekannten  Psychologen  gefunden 
haben,  haben  wir  es  nicht  mehr  nötig,  dessen 
eigenartige,  wohlbegründete  Ansichten  näher  an- 
zuführen oder  Proben  der  gewandten ,  durchaus 
klaren  Darstellung  zu  geben. 

Möge  das  lehrreiche  Buch  viele  für  die  scientia 
amabilis  der  Kinderpsychologie  erwärmen  1 

Angersbach. 

James  C.  Philip,  Physical  chemistry,  its 
bearlng  on  biology  and  medicine. 
2.  Auflage.  London  191 3,  Edward  Arnold. 
326  Seiten  8». 

Die  physikalische  Chemie  ist  heute  zu  einer 
unentbehrlichen  Grundlage  für  die  Physiologie 
geworden,  und  jeder  Blick  in  eine  referierende 
Zeitschrift  zeigt,  wie  erstaunlich  der  Anteil  an  der 
jährlichen  physiologischen  Literatur  steigt,  welcher 
auf  die  physikalisch-chemische  Arbeitsrichtung 
entfällt.  Zu  einem  Verständnis  dieser  modernen 
Behandlung  biologischer  Fragen  will  das  vor- 
liegende aus  Vorlesungen  vor  Studenten  der  Bio- 
logie hervorgegangene  Buch  dem  mit  dem  ge- 
wöhnlichen physikalischen  und  chemischen  Schul- 
wissen ausgerüsteten  Leser  als  Leitfaden  dienen. 
Es  behandelt  demgemäß  unter  Vermeidung  mathe- 
matischer Betrachtungen  in  mehr  anschaulicher 
Weise  vor  allem  die  lonenlehre  mit  ihren  Grund- 
lagen, das  chemische  Gleichgewicht  und  das 
Massenwirkungsgesetz,  die  kolloiden  Lösungen  usw. 
Dabei  werden  mit  bemerkenswertem  Geschick  die 
Beispiele  möglichst  der  Physiologie  entnommen 
und  weitere  Anwendungsmöglichkeiten  betont. 
Zahlreiche  Hinweise  auf  die  Originalliteratur  und 
auf  ausführlichere  zusammenfassende  Darstellungen 
sind  beigefügt,  zu  deren  Studium  sich  ohne  Zweifel 
zahlreiche  Leser  durch  das  kleine  Buch  angeregt 
fühlen  werden.  Ruhland  (Halle  a.  S.). 


O.  M.  Reuter,  Lebensgewohnheiten  und 
Instinkte  der  Insekten  bis  zum  Erwachen 
der  sozialen  Instinkte.  Vom  Verfasser  revidierte 
Übersetzung  nach  dem  schwedischen  Manuskript, 
besorgt  von  A.  u.  M.  B  u  s  c  h.  Mit  84  Textfiguren. 
XVI  u.  448  S.  Berlin,  R.  Friedländer  u.  Sohn, 
191 3.  —  Preis   16  Mk. 

Eine  zusammenfassende  Übersicht  über  die 
Lebensgewohnheiten  der  solitären  Insekten  hat 
bisher  gefehlt.  Reuter  hat  eine  Fülle  wertvollen 
Materials  zusammengetragen  und  unter  einheitliche 
Gesichtspunkte  zu  bringen  gesucht.  Bei  dem  für 
einen  einzelnen  nicht  mehr  zu  übersehendem  Ge- 
biet ist  es  begreiflich,  daß  auch  hier  nur  eine  Aus- 
lese hat  geboten  werden  können.  Die  einzelnen 
Kapitel  befassen  sich  mit  den  Lebensgewohnheiten 


der  „Tätigkeit  und  Ruhe",  mit  den  verschiedenen 
„Nahrungsinstinkten", ,,  Wanderinstinkten  im  Dienste 
der  Nahrung",  „Reinlichkeitsinstinkten",  „Schutz-, 
Metamorphose-,  Paarungs-,  Eierlege ,  Brutpflege-, 
Parasitäre-,  und  Gcselligkeitsinstinkten"  bei  nicht 
sozialen  Arten  und  schließen  mit  Ausführungen 
über  „das  Aufdämmern  der  sozialen  Instinkte". 
Da  ein  zweiter  Band  über  die  sozialen  Insekten 
in  nahe  Aussicht  gestellt  ist,  wird  eine  eingehen- 
dere Besprechung  bei  der  Fülle  der  gemeinsamen 
Gesichtspunkte  am  richtigsten  mit  diesem  zugleich 
vorgenommen.     Der  Preis  erscheint  zu  hoch. 

Büttel-Reepen. 

C.  Lloyd  Morgan,  Instinkt  und  Erfahrung. 
Autorisierte  Übersetzung  von  Dr.  R.  Thesing. 
Berlin,  Verlag  von  Julius  Springer,    19 13.     VIII 
u.  216  Seiten.     Preis  geh.  6,  geb.  6,80  M. 
Der   bekannte   Forscher   behandelt    in  überaus 
fesselnder   Weise    das   Problem    von   Instinkt    und 
Erfahrung  und  alle  damit  verbundenen  Teilprobleme. 
Instinkthandlungen  sind  fix  und  fertig  auftretende, 
von    der    Erfahrung  unabhängige  Handlungen,  die 
der  Erhaltung  des  Individuums  und  der  Art  dienen, 
die  ferner  von    allen  Vertretern    einer   mehr  oder 
minder  geschlossenen  Tiergruppe  in  gleicher  Weise 
ausgeführt  werden  und  durch  Erfahrung  modifizier- 
bar sind.    Sie  sind  das  Ergebnis  subkortikaler  An- 
lagen.    Diese  Anlagen  sind  die  strukturellen  Kor- 
relate der  Funktion  eines  vollständig  organisierten 
Systems  von  Nervenbahnen.     „Wie    diese  Bahnen 
in  jedem  Moment  funktionieren,  hängt  ab  von  der 
ererbten   Organisation,   der   Konstellation    der    im 
selben  Moment    einwirkenden  Reize    und    der  Art 
und  Weise,  wie  sie  schon  funktionieren". 

Das  bewußte  Verhalten  dagegen  ist  an 
Rinden  prozesse  geknüpft.  Da  die  Rinde  mit 
den  subkortikalen  Gebieten  verbunden  ist,  so  be- 
ginnt wohl  unmittelbar  mit  den  ersten  Instinkt- 
tätigkeiten auch  die  Erfahrung.  Die  Tätigkeiten 
der  subkortikalen  Zentren  werden  mehr  und  mehr 
abhängig  von  der  Tätigkeit  der  kortikalen  Zentren, 
d.  h.,  die  Intelligenz  übernimmt  immer  stärker  die 
Leitung  des  instinktiven  Verhaltens.  Die  ange- 
borenen Verbindungsbahnen  der  Rinde  be- 
stimmen die  Geistesrichtungen  oder  ererbten 
Anlagen. 

Jeder  Gebildete  sollte  sich  rtiit  dem  Inhalte  des 
vorliegenden  Werkes,  das  durch  die  geistvollen 
Auseinandersetzungen  mit  bekannten  Naturforschern 
und  Philosophen  noch  einen  eigenen  Zauber  aus- 
übt, vertraut  machen.  Die  Übersetzung  scheint 
gewandt  zu  sein.  Angersbach. 


Anregungen  und  Antworten. 


Herrn  R.  Z.,  Berlin  VV. 


Ist    der    Begriff    des  „Abso- 


luten" für  die  Beschreibung  des  Vorgefundenen  zu  entbehren, 
wo  doch  der  Begriff  des  ,, Relativen"  nur  seinen  Sinn  erhält 
gegenüber  dem  „Absoluten"  ? 

Der  naive  Mensch  erlebt  tagaus  tagein,  daß  zahllose 
Gegenstände  seiner  Umgebung  zeitweise  ruhen,  zeitweise  in 
Bewegung  sind;  niemals  dagegen  erlebt  er,  daß  der  liefere 


176 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  II 


Grund  und  Boden,  auf  dem  er  wohnt,  oder  die  Erde  als 
Ganzes  sich  bewegt,  und  ebensowenig,  daß  die  Gestirne  je- 
mals zur  Ruhe  gelangen.  Gegenüber  der  eine  kürzere  oder 
längere  Zeit  wälirenden  Ruhe  und  Bewegung  der  meisten 
Dinge  der  Umgebung  deutet  er  die  Ruhe  der  Erde  und  die 
Bewegung  des  Himmels  als  etwas  Ewiges.  Mit  anderen 
Worten:  Während  ihm  Erde  und  Himmel  als  ,,absolut" 
ruhend  und  bewegt  gelten ,  so  fast  alle  Objekte  der  näheren 
Umgebung  als  ,,relativ"  ruhend  und  bewegt.  Auf  Grund 
einer  solchen  teils  positiven,  teils  negativen  Erfahrung  ent- 
stehen wohl  die  einander  durchaus  bedingenden  Begriffe  des 
.■\bsoluten  und   Relativen, 

Aber  die  Begriffe  der  absoluten  Ruhe  und  Bewegung 
von  Erde  und  Himmel  werden  mit  einem  Schlage  aufgehoben, 
als  Aristarch  und  Kopernikus  sich,  wenn  auch  nur  in 
Gedanken,  auf  die  Sonne  versetzen  und  von  hier  aus  die 
kosmischen  Verhältnisse  beschreiben.  Jetzt  ist  die  zuvor 
ruhende  Erde  ein  Bewegtes,  der  zuvor  bewegte  Himmel  ein 
Ruhendes.  Vielleicht  werden  die  neuen  Kennzeichnungen 
wieder  in  absolutem  Sinne  genommen.  Wer  jedoch  durch 
jene  Begriffsumkehrung  stutzig  gemacht  ist,  wird  auch  ein- 
sehen ,  daß  immer  wieder  ein  neuer  Standpunkt  denkbar  ist, 
von  dem  aus  der  frühere  den  Charakter  eines  , .Absoluten" 
verliert,  daß  es  ferner  unmöglich  ist,  einen  allerletzten  oder 
allerhöchsten  Standpunkt  und  eine  alles  umfassende  Perspek- 
tive zu  gewinnen.  Nichts  zwingt  mich  mithin,  irgendeinen 
Gegenstand  als  absolut  ruhend  oder  als  absolut  bewegt 
anzusehen;  aber  ebensowenig  bin  ich  genötigt,  irgendeinen 
Gegenstand  als  relativ  ruhend  oder  als  relativ  bewegt  zu 
bezeichnen.  Habe  ich  mich  für  einen  Standpunkt  entschie- 
den, so  genügt  es  völlig,  dem  zu  beurteilenden  Gegenstande 
schlechtweg  die  Merkmale  der  Ruhe  oder  der  Bewegung, 
eventuell  die  Merkmale  unbestimmt  lang  währender  oder  mehr 
oder  weniger  rasch  vorübergehender  Ruhe  bzw.  Bewegung  zu 
geben.  Die  getreue  Wiedergabe  unseres  sinnlichen  Erlebens 
sowie  unseres  Vorstellens  und  Fühlens  bedarf  demnach  wed  e  r 
des  Begriffes  des  „Absolute  n"  noch  den  des  ,,Relati  ven". 

Trotzdem  gibt  es  scheinbare  Ausnahmen  I  Ohne  die 
Überzeugung,  daß  das  wirkliche  Geschehen  mit  beliebiger  An- 
näherung als  ein  eindeutiger  Funktionszusammenhang  begriff- 
lich charakterisiert  werden  kann  ,  ist  ex.akte  Wissenschaft  un- 
möglich. Die  .Aufstellung  eines  Eunklionszusammenhangcs  ver- 
langt aber,  wie  J.  Petzoldt,  der  Hauptvertreter  des  relati- 
vistischen Positivismus,  selbst  sagt,  einen  letzten  Parameter, 
für  den  selbst  nicht  wieder  bestimmende  Faktoren  gefordert 
werden  können;  die  Forderung  der  Eindeutigkeit  schließt  ge- 
radezu die  Beziehung  auf  eine  einzige  absolute  Zeit,  einen 
einzigen  absoluten  Raum  und  eine  absolute  gleich- 
förmige und  geradlinige  Bewegung  in  sich  ein. 
Diese  Begriffe,  deren  reale  Gültigkeit  durch  keine  sinnliche 
Erfahrung  bewiesen  oder  widerlegt  werden  kann,  werden  nur 
durch  Definition  und  Vereinbarung  aufrecht  erhalten. 
Wenn  Natorp  eine  noch  näher  zu  definierende  ,, Energie" 
als  Substanz  der  Veränderungen  fordert,  so  tut  er  das  auch 
nur,  um  ,, alle  Rechnungen  der  Natur  aus  einem  einzigen 
letzten  F'ond  zu  bestreiten".  Das  Verfahren  widerspricht 
nur  scheinbar  den  Grundsätzen  einer  relativistischen  Philo- 
sophie;  es  dient  ja  nicht  der  direkten  Beschreibung  des 
Vorgefundenen,  sondern  dem  Aufbau  eines  logischen 
Schematismus,  der  möglichst  viele  durch  abstrahierendes 
und  isolierendes  Denken  aus  der  Vorstellungswelt  gewonnene 
Begriffe  und  Begriffszusammenhänge  umfassen  soll. 

Weiteres  hierüber  finden  Sie  in  der  Natur w.  Wochen- 
schrift  1912,  N.  F.  XI,  auf  den  Seiten  14  u.   15,  ferner  bei 

J.  Petzoldt,  ,,Das  Gesetz  der  Eindeutigkeit".  Viertel- 
jahrsschrift f.  wiss.  Phil.  XIX,    1S95. 


J.  Petzoldt,  „Die  Gebiete  der  absoluten  und  der  rela- 
tiven Bewegung".     Annalen   der  Naturphilosophie  Vll. 

P.  Natorp,  ,,Die  logischen  Grundlagen  der  exakten 
Wissenschaften".     Leipzig,  B.   G.  Teubner,    1910. 

F.  Enriques,  ,, Problem  der  Wissenschaft".  2  Bände. 
Leipzig,  B.  G.  Teubner,   1910. 

H.  Poincare,  ,, Letzte  Gedanken".  Leipzig,  .•\kadem. 
Verlagsgesellschaft,    1913.     Erste  und  zweite  Abhandlung. 

J.  B.  Stallo,  „Die  Begriffe  und  Theorien  der  modernen 
Physik".     Leipzig,  J.  A.  Barth,   1901.  Angersbach. 


Herrn  R.  Z.,  Berlin  W.  —  Gibt  es  eine  gemeinverständ- 
liche Darstellung  des  Relativitätsprinzipes  der  modernen  Physik? 

Ohne  gewisse  mathematische  Vorkenntnisse  ist  es  kaum 
möglich ,  das  Relativitätsprinzip  klar  zu  erfassen.  Ich  selbst 
habe  eine  elementare  Ableitung  desselben  versucht  (Beilage 
des  Programms  des  Kgl.  Gymn.  in  Weilburg,  1913).  Nach- 
träglich ist  es  mir  aber  gelungen,  die  Darstellung  weit  kürzer 
und  überzeugender  zu  gestalten ;  ich  hoffe  die  Umformung  ge- 
legentlich veröffentlichen  zu  können.  Zurzeit  ist,  so  viel  ich 
weiß,  J.  Petzoldt  ebenfalls  mit  einer  elementaren  Darstel- 
lung beschäftigt,  die  wohl  in  einer  der  nächsten  Nummern 
der  Zeitschrift  für  positivistische  Philosophie  erscheinen  dürfte. 

Neuere  Veröffentlichungen  über  das  Relativitätsprinzi])  und 
das  Zcitproblcm  nebst  zahlreichen  Literaturangaben  (S.  369 
und  370)  finden  Sie  von  Laue  und  Frischeisen-Köhler 
in  den   ,,f  ah  r  b  ü  c  h  e  r  n  der  Philosophie"    (Berlin   1913). 

Angersbach. 


Literatur. 

1)  F"uß,  Konrad  und  Hensold,  Georg,  Lehrbuch  der 
Physik  für  den  Schul-  und  Selbstunterricht.  Mit  zahlreichen 
Schülerübungen,  vielen  Rechenaufgaben,  einer  Spektraltafel  in 
Farbendr.  und  400  Textbildern.  11.  u.  12.  verb.  Aufl.  Ge- 
kürzte Ausgabe.  F'reibnrg  i.  Br.,  Herder'sche  Verlagshandlung. 
—  Geb.  5,70  Mk. 

2)  Sieveking,  Prof.  Dr.  H.,  Moderne  Probleme  der 
Physik.  Mit  21  Abb.  im  Text.  Braunschweig '14,  F>.  Vieweg 
&  Sohn.   —   Geb.   5,50  Mk. 

3)  Kerner  V.  Marilaun,  Anton,  Pflanzenleben.  3.  Aufl., 
neubearbeitet  von  Prof.  Dr.  Ad.  Hansen.  2.  Bd.:  Die 
Pflanzengestalt  und  ihre  Wandlungen  (Organlchre  u.  Biologie 
der  F'ortiiflanzung).  Mit  250  Textabb.,  20  farbigen,  lo  schwar- 
zen und  4  doppelseiligen  Tafeln  usw.  Leipzig  u.  Wien  '14, 
Bibliographisches  Institut.  —  Geb.   14  Mk. 

4)  Densraore,  Francis,  Chippewa  Music  11.  Smitbsonian 
Institution ,  Bureau  of  .\merican  Ethnolcgy  Bull.  53.  Wa- 
shington '13. 

5)  Bernays,  Privatdozent  Dr.  Paul,  Über  die  Bedenk- 
lichkeilen der  neueren  Relativitätstheorie.  24  S.  Göttingen 
'13,  Vandenhoeck  &  Ruprecht.  —  80  Pf. 

6)  Meyerhof,  Privatdozent  Dr.  Otto,  Zur  Energetik  der 
Zellvorgänge.  Ein  Vortrag.  32  S.  Göttingen  '13,  Vanden- 
hoeck &  Ruprecht.  —   t   Mk. 

7)  Brandt,  Dr.  Bernhard,  Studien  zur  Talgeschichte  der 
großen  Wiese  im  Schwarzwald.  Mit  Karten  und  Tafeln. 
Abhandlungen  zur  badischen  Landeskunde.  53  S.  Karlsruhe 
'14,  G.  Braun'sche  Hofbuchdruckerei  und  Verlag.  —  2,40  Mk. 

8)  Boveri,  Prof.  Dr.  Theodor,  Zur  F'rage  der  Ent- 
stehung maligner  Tumoren.  Mit  2  Abbild.  64  S.  Jena  '14, 
G.   Fischer.  —   1,50  Mk. 

9)  Bürgi,  Roderich,  Die  Tätigkeit  der  Ionen  in  der 
Natur.  In  allgemein  verständl.  Form.  233  S.  Leipzig  '14. 
In  Kommission  bei  O.   VViegand.  —  7,50  Mk. 


Inhaltt  F.  Stellwaag:  Neuere  Untersuchungen  über  den  Farbensinn  der  Insekten.  Gustav  Rauter:  Zur  Kombinations- 
lehre. Friederich  Kanngießer:  Die  Flora  des  Homer.  —  Einzelberichte:  J.  R.  Wright,  O.  F.  Smith:  Gehalt 
der  Atmosphäre  an  Radiumemanation.  K.  Kahler:  Emanationsgehalt  der  Bodeuluft.  J.  Stocklasa  und  V.  Zdob- 
nicky:  Einfluß  der  radioaktiven  Emanation  auf  die  Entwicklung  der  Pflanzen.  Guillermond  und  Combes:  Vom 
.\nthocyan.  Jacques  Loeb:  Umkehrbarkeit  in  der  Entwicklungserregung  des  Seeigeleies.  Hayn:  Bestimmung  des 
Mondortes.  —  Kleinere  Mitteilungen  :  Karl  Burk:  Die  Walloneneichen  in  ihrer  pflanzen- und  wirtschaftsgeographischen 
Bedeutung.  Koch:  Tollwut.  Kr  o  eher:  Die  Giftigkeit  des  Methylalkohols.  —  Bücherbesprechungen:  Karl 
Groos:  Das  Seelenleben  des  Kindes.  James  C.  Philipp:  Physical  chemistry,  its  bearing  on  biology  and  medicine. 
O.  M.  Reuter:  Lebensgewohnheiten  und  Instinkte  der  Insekten.  C.  Lloyd:  Instinkt  und  Erfahrung.  —  Anregungen 
und  Antworten.  —  Literatur :  Liste. 

Manuskripte   und  Zuschriften   werden  an   den  Redakteur  Professor  Dr.  H.Mi  ehe   in  Leipzig,  Marienslraße   IIa,   erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.  Band; 
der  ganzen  Reihe   29.  Band. 


Sonntag,  den  22.  März  1914. 


Nummer  12. 


Die  modernen  wissenschaftlichen  Forschungen  über  die  Entstehung 


und  willkürliche 


Bestimmung 


des  Geschlechts. 


Von  Dr.  Albert  Koch  (Münster  i.  W.). 


[Nachdruck  verboten.]  M^^   3     ^ 

Ein  Problem,  mit  dem  sich  der  Forschunigsgeist 
beschäftigt  hat,  seitdem  es  denkende  Menschen 
gibt,  und  dessen  endgültige  Lösung  den  tiefst- 
gehenden  Einfluß  auf  das  Schicksal  der  ganzen 
Menschheit  ausüben  könnte,  ist  die  Frage  nach  der 
Entstehung  und  willkürlichen  Bestimmung  des  Ge- 
schlechts. 

Die  ältere  Geschichte  des. Problems  ist  voll  von 
Irrtümern,  und  stets  stellten  sich  den  gewagten 
Hypothesen  unüberwindliche  Schwierigkeiten  in 
den  Weg.  Erst  mit  der  Entdeckung  der  Sper- 
matozoen  durch  Anton  van  Leeuvenhoeek 
(1677)  und  des  Säugetiereies  durch  Karl  Ernst 
von  Baer  (1827)  war  eine  sichere  anatomische 
Grundlage  für  die  weitere  Forschung  auf  diesem 
Gebiete  gegeben.  Wir  wissen  heute,  daß  diese 
Geschlechtszellen  bei  ihrem  Zusammentreffen  voll- 
ständig miteinander  verschmelzen,  d.h.  zu  einer 
neuen  Zelle  werden,  die  durch  fortgesetzte  Teilun- 
gen allmählich  das  neue  Individuum  heranwachsen 
läßt. 

Stellen  wir  uns  nun  die  Frage,  wann  bei  diesem 
Werdeprozeß  die  Geschlechtsdifferenzierung  eintritt, 
so  können  wir  rein  theoretisch  folgende  Fälle  als 
möglich  hinstellen: 

1.  Das  Geschlecht  wird  während  des  Embryonal- 
lebens entschieden,  z.  B.  beim  Menschen  dann, 
wenn  die  bis  zum  dritten  Monat  hin  für  beide 
Geschlechter  gleiche  Genitalanlage  sich  zu  männ- 
lichen oder  weiblichen  Geschlechtsorganen  zu 
differenzieren  beginnt. 

2.  Die  Geschlechtszellen  sind  —  genau  wie  im 
ersten  Falle  —  ,, geschlechtslos",  d.  h.  weder  Männ- 
chen noch  Weibchen  bestimmend,  die  Geschlechts- 
differenzierung tritt  aber  nicht  erst  während  des 
Embryonallebens,  sondern  im  Augenblick  der  Ver- 
einigung von  Ei-  und  Samenzelle  ein,  eventuell  auf 
Grund  irgendeines  unbekannten,  vielleicht  psychi- 
schen oder  mystischen  Vorgangs. 

3.  Das  Ei  ist  zum  Männchen-Erzeuger  resp. 
Weibchen-Erzeuger  prädestiniert,  die  Samenfäden 
sind  „geschlechtslos". 

4.  Die  Umkehrung  vom  vorigen  Falle:  Die 
Samenfäden  sind  die  geschlechtsbestimmenden  Fak- 
toren, die  Eier  sind  indifferent. 

Bei  den  modernen  Arbeitsmethoden  zur  Er- 
gründung  des  Sexualproblems  lassen  sich  verschie- 
dene Phasen  unterscheiden:  Einmal  die  statistische 
Richtung,  die  im  wesentlichen  an  den  Namen  des 
ehemaligen  Tübinger  Professors  der  Tierheilkunde 
J.  D.  Hofacker  und  an  den  Engländer  Sadler 


extfiguren. 

anknüpft,  dann  die  Versuche  willkürlicher  Beein- 
flussung, wie  sie  seinerzeit  der  Wiener  P^mbryologe 
S  c  h  e  n  c  k  vorschlug ;  ferner  die  anatomisch-histolo- 
gische  F"orschung,  die  sich  mit  einem  eingehenden 
Studium  der  Geschlechtszellen  befaßt,  wie  es  heut- 
zutage auf  Grund  der  vervollkommneten  mikro- 
skopischen Untersuchungsmethoden  möglich  ist, 
und  schließlich  die  experimentelle  Richtung,  die 
hauptsächlich  auf  den  Münsterschen  Professor  der 
Botanik,  Dr.  Correns,  zurückgeht. 

Die  statistische  Forschung  stellt  mittels 
der  durch  die  staatlichen  Institute  festgelegten 
Zahlen  oder  mit  Hilfe  von  eigens  zu  diesem  Zweck 
angefertigten  Tabellen  Berechnungen  an  über  das 
Geschlechtsverhältnis  der  Neugeborenen,  über  das 
Alter  und  den  Altersunterschied  der  Eltern,  kurz 
über  alles,  was  sich  zahlenmäßig  von  irgendwelchen 
Beziehungen  der  Eltern  zueinander  und  dem  darauf 
beruhenden  Einflüsse  auf  die  Geschlechtsziffer  der 
Kinder  sagen  läßt.  Sie  berücksichtigt  ferner  die 
Ergebnisse,  zu  denen  die  praktische  Tierzucht  im 
Laufe  der  Jahre  gekommen  ist.  Auf  diese  Weise 
ist  es  dann  gelungen,  das  sogenannte  Hofacker - 
Sadler'sche  Gesetz  aufzustellen,  das  tatsächlich 
eine  Beziehung  zwischen  dem  Alter  und  dem  Alters- 
unterschiede der  Eltern  einerseits  und  dem  Ge- 
schlechte der  Kinder  andererseits  zahlenmäßig  aus- 
spricht. Es  erübrigt  sich,  das  ganze  Gesetz  hier 
anzugeben,  da  es  einmal  viele  Gegner  gefunden 
hat,  vor  allem  aber  für  den  Menschen  selbst,  was 
die  willkürliche  Bestimmung  des  Geschlechtes  an- 
geht, keine  Bedeutung  haben  kann.  Ein  Beispiel 
möge  das  beweisen.  In  dem  Gesetze  heißt  es 
u.  a. :  Ist  der  Vater  4—6  Jahre  älter  als  die  Mutter, 
so  ist  das  Geschlechtsverhältnis  108  (auf  108  Knaben 
kommen  demnach  100  Mädchen).  Das  heißt  doch 
mit  anderen  Worten :  Zwei  Ehegatten,  zwischen 
denen  dieser  Altersunterschied  herrscht,  können 
mit  einer  Wahrscheinlichkeit  von  108  :  lOO  darauf 
rechnen,  männliche  Nachkommen  zu  erzielen!  Da 
obendrein  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  nur 
für  ganz  große  Zahlen  unbedingte  Gültigkeit  hat, 
so  ergibt  sich  daraus,  daß  das  Gesetz  für  den 
Menschen  nur  vom  rein  theoretisch-wissenschaft- 
lichen Standpunkt  aus  größeres  Interesse  bean- 
spruchen kann. 

Jedoch  läßt  sich  für  die  Tierzucht  eine  ge- 
wisse Bedeutung  ähnlicher  Forschungen  nicht 
leugnen,  da  man  es  ja  auch  hier  meist  mit  einer 
weit  größeren  Nachkommenschaft  ein  und  der- 
selben Generation  zu  tun  hat  als  beim  Menschen ; 


178 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   12 


und  so  hat  man  denn  auch  Sätze  aufgestellt,  wie 
z.  B.  die  folgenden : 

„Paare  alte  Stuten  mit  jungen  Hengsten,  wenn 
du  verhältnismäßig  mehr  männliche  Fohlen  haben 
willst",  und: 

„Paare  junge  Stuten  mit  alten  Hengsten,  wenn 
du  verhältnismäßig  mehr  weibliche  Fohlen  haben 
willst."  — 

Worauf  es  uns  bei  diesen  Dingen  besonders 
ankommt,  ist  die  Tatsache,  daß  wir  auf  Grund 
solcher  Feststellungen  annehmen  müßten,  daß 
weder  Ei  noch  männlicher  Same  zur  Erzeugung 
des  einen  oder  anderen  Geschlechts  prädestiniert 
sei;  denn  sonst  könnten  unmöglich  Altersunter- 
schiede der  Eltern  einen  Einfluß  auf  die  Geschlechts- 
bestimmung ausüben.  Fall  3  und  4,  ebenso  natür- 
lich Fall  I  unserer  oben  erwähnten  Möglichkeilen 
für  den  Eintritt  der  Geschlechtsdifierenzierung 
wären  demnach  hinfällig,  und  wir  hätten  uns  für 
den  Fall  2  zu  entscheiden,  in  dem  von  einem 
geheimnisvollen  Faktor  die  Rede  war,  der  im 
Augenblick  der  Vereinigung  von  Ei  und  Same 
über  das  Geschlecht  des  entstehenden  Wesens 
entscheiden  würde. 

Bei  der  Betrachtung  der  zweiten  Gruppe  von 
Beobachtungen  und  Forschungen  wollen  wir  uns 
an  die  Mitteilungen  erinnern,  durch  die  seinerzeit 
Prof.  Schenck  allgemeines  Aufsehen  zu  erregen 
wußte.  Dieser  nahm  an,  daß  die  Geschlechts- 
bestimmung während  der  Entwicklung  des  Eies 
im  Eierstock  vor  sich  gehe,  und  daß  demnach 
im  reifen  Ei  das  Geschlecht  endgültig  festgelegt 
sei.  Wie  kam  Schenck  dazu?  Seine  Theorie 
gründet  sich  auf  zwei  Beobachtungen  im  Tierreich. 

Die  eine  wichtige  Stütze  seiner  Auffassung  be- 
ruht auf  den  allerdings  sehr  selten  beobachteten 
Fällen,  in  denen  man  es  schon  vor  der  Befruch- 
tung dem  Ei  ansehen  kann,  ob  es  ein  Männchen 
oder  ein  Weibchen  liefern  wird.  So  kann  man 
z.  B.  in  dem  Eierstock  von  Dinophilus,  einem 
kleinen  im  Meere  lebenden  Ringelwurme,  stets 
zwei  durch  ihre  Größe  leicht  unterscheidbare 
Arten  von  Eiern  nachweisen,  von  denen  es  fest- 
steht, daß  die  kleinen  Formen  Männchen,  die  bei 
weitem  größeren  der  anderen  Art  stets  Weibchen 
liefern.  Ja,  in  der  neuesten  Zeit  hat  man  be- 
obachtet, daß  bei  den  —  allerdings  äußerlich 
vollständig  gleich  erscheinenden  —  Eiern  von 
gewissen  Seeigelformen  (Strongylocentrotus  lividus 
und  Echinus  microtuberculatus)  ein  deutlicher 
Unterschied  in  der  Beschaffenheit  des  Kernes 
nachzuweisen  ist,  und  daß  man  auf  Grund  dieser 
Tatsache  ebenfalls  zwei  Arten  von  unbefruchteten 
Eiern  unterscheiden  kann ,  von  denen  die  einen 
Männchen,  die  anderen  nur  Weibchen  hervorbringen. 
Diese  letzten  von  Baltzer  ausgeführten  und 
1909  veröfTentlichten  Untersuchungen  beweisen, 
daß  wir  in  gewissen  Fällen  tatsächlich  mit  einer 
vom  weiblichen  Geschlecht  ausgehenden  Ge- 
schlechtsbestimmung zu  rechnen  haben. 

Weiter  stützte  sich  Schenck  darauf,  daß  für 
verschiedene    Tierformen ,    so    z.  B.    für    Pflanzen- 


läuse (Phytophthiren),  Wasserflöhe  (Daphniden), 
Rädertierchen  (Rotalorien)  und  vielleicht  auch  für 
einzelne  Säugetiere  angegeben  wurde,  das  Ge- 
schlecht der  nächsten  Generation  ließe  sich  durch 
äußere  Einflüsse  und  Existenzbedingungen,  wie 
Ernährungs-  und  Ten.peraturverhältnisse,  denen 
man  die  Eltern  aussetzt,  bestimmen.  So  berichtet 
z.  B.  später  (1907)  der  Italiener  Russo,  daß  es 
ihm  gelungen  sei,  von  Kaninchenweibchen,  die  vor 
der  Begattung  mit  einem  Fette,  Lecithin,  gefüttert 
worden  waren,  vorwiegend  weibliche  Junge  zu 
erhalten. 

Für  Schenck,  der  annahm,  daß  sich  solche 
Tatsachen  verallgemeinern  ließen,  war  somit  das 
Problem  der  Geschlechtsbestimmung  gelöst.  Es 
kam  darauf  an,  die  Lebensbedingung  der  Frau 
während  der  Eireifung  —  also  vor  der  Konzeption  ^) 
—  durch  entsprechende  Ernährung  so  zu  gestalten, 
daß  nur  Knaben-  resp.  Mädchen-  erzeugende  Eier 
in  dem  Eierstock  heranreifen  konnten. 

Wir  wissen,  welche  Angriffe  diese  Lehre 
Schenck's  bei  ihrem  Erscheinen  von  den  ver- 
schiedensten Seiten  aus  erfahren  hat  und  wie 
oft  es  die  praktischen  Versuche  an  dem  gewünsch- 
ten Erfolge  fehlen  ließen.  Erst  in  der  allerneuesten 
Zeit  werden  Stimmen  von  Forschern  laut,  die  auf 
ganz  anderem  Wege  als  Schenck  zu  ähnlichen 
Überzeugungen  gelangen,  insofern  sie  ebenfalls 
den  Prozeß  der  Geschlechtsbestimmung  bei  der 
Eireife,  also  im  weiblichen  Körper  zu  finden 
glauben.  Hierher  gehören  von  älteren  VeröfTent- 
lichungen  die  zum  Teil  experimentellen  Unter- 
suchungen von  Lenhossek  und  Oskar  Schnitze 
und  aus  den  letzten  Jahren  die  Arbeiten  der 
Münchener  Schule  (R.  Hertwig),  des  Berliner 
Zoologen  Gutherz  u.  a. 

Mit  der  Erwähnung  dieser  Arbeiten  haben 
wir  uns  aber  schon  der  dritten  Untersuchungs- 
methode zugewandt.  Es  kommt  hierbei  besonders 
auf  eine  Erscheinung  bei  der  Ei-  und  Samenreifung 
an,  die  wissenschaftlich  als  Reduktionsteilung  be- 
zeichnet wird. 

Bei  einer  in  Teilung  befindlichen  Zelle  bildet 
das  Chromatin,  die  leicht  färbbare  Substanz  des 
Kerns,  eine  gewisse  Anzahl  von  haken-  oder 
stäbchenförmigen  Gebilden,  die  man  Kernsegmente 
oder  Chromosome  nennt  und  die  als  Träger  der 
Vererbung  angesehen  werden.  Die  Zahl  dieser 
Chromosome  ist  nun  für  jedes  Tier  konstant,  sie 
wechselt  bei  den  verschiedenen  Arten  von  nur 
2  bis  zu   100  und  mehr. 

Die  reifen  Geschlechtszellen  unterscheiden  sich 
nun  von  allen  anderen  Zellarten  des  Körpers  da- 
durch, daß  sie  nur  halb  so  viel  Chromosome  ent- 
halten wie  diese.  Das  muß  der  Fall  sein,  weil 
bei  dem  Befruchtungsakt,  d.  h.  bei  dem  Ver- 
schmelzen von  Ei-  und  Samenkern  zu  dem  Kern 
der  neuen  Zelle,  die  richtige  Chromosomenzahl 
auf  diese  Weise  wieder  hergestellt  wird. 


')  Nur  zur  Sicherheit  empfahl  Schenck,  die  betreffende 
Kur  auch  während  der  ersten  Schwangerschaftsmonate  fort- 
zusetzen. 


N.  F.  XIII.  Nr.  12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


179 


Die  Verminderung  der  Chromosomenzahl  findet 
bei  der  oben  bezeichneten  Reduktionsteilung  statt. 
Und  zwar  geschieht  dies  auf  dem  einfachsten 
Wege,  der  möglich  ist:  Sind  z.B.  12  Chromo- 
some  vorhanden,  so  bekommt  jede  der  Tochter- 
zellen 6  davon. 

Als  nun  vor  etwas  mehr  als  20  Jahren  H  e  n  - 
king  diesen  Vorgang  bei  der  Samenreifung  der 
Feuerwanze  untersuchte,  fand  er,  daß  in  der  ur- 
sprünglichen männlichen  Keimzelle  23  Chromosome 
vorhanden  waren,  von  denen  bei  der  Reduktions- 
teilung 12  auf  die  eine,  11  auf  die  andere  Tochter- 
zelle iibergingen.  Es  resultierten  also  schließlich 
Samenfäden ,  die  bei  gänzlich  gleichem  Äußeren 
in  ihrer  inneren  Struktur  verschieden  waren  in- 
folge des  Mangels  resp.  des  Besitzes  eines  Chro- 
mosoms, das  deswegen  den  Namen  Heterochromo- 
som  oder  auch  X-Chromosom  erhielt;  und  zwar 
ist  genau  die  eine  Hälfte  im  Besitze  dieses  X- 
Chromosoms,  die  andere  nicht. 

Studiert  man  auf  die  gleiche  Weise  die  Vor- 
gänge bei  der  Eireifung  der  Feuerwanze,  so  findet 
man,  daß  hier  alle  Eier  die  gleiche  Chromosomen- 
zahl, nämlich  12,  besitzen.  Prüft  man  jetzt  die 
übrigen  Zellen,  die  den  Körper  der  Feuerwanze 
zusammensetzen,  auf  ihre  Chromosomenzahl,  so 
findet  man  die  merkwürdige  Tatsache  bestätigt, 
die  sich  ja  nach  dem  Gesagten  schon  vermuten 
ließ,  daß  nämlich  das  Männchen  23,  das  Weibchen 
24  Chromosome  in  allen  —  in  Teilung  befind- 
lichen —  Zellen  des  Körpers  besitzt.  Das  Männ- 
chen besitzt  also  ein,  das  Weibchen  aber  zwei 
X-Chromosome. 

Nun  ist  natürlich  der  Sprung  von  der  Be- 
obachtung dieser  merkwürdigen  Tatsache  bis  zur 
Anwendung  auf  das  Geschlechtsproblem  nicht 
mehr  weit.  Es  genügt  ein  einfaches  Rechen- 
exempel:  Es  existieren  zwei  Arten  von  Sperma- 
tozoen,  solche  mit  1 1  -j-  i  und  solche  mit  1 1  -|-  o 
Chromosomen,  aber  nur  eine  Sorte  von  Eiern; 
sie  haben  alle  1 1  +  i  Chromosome.  (Das  X- 
Chromosom  ist  immer  besonders  geschrieben.) 
Kommt  nun  ein  Spermatozoon  der  ersten  Art, 
also  ii-j-i,  mit  einem  Ei,  1 1 -|- "  >  zusammen, 
so  entsteht  eine  befruchtete  Eizelle  mit  (u  -H  1) 
-{-(ii -j- i)  =  24  Chromosomen,  und  daraus  ein 
weibliches  Junges.  Ein  Spermatozoon  1 1  -|-  o, 
kombiniert  mit  einem  Ei,  liefert  eine  befruchtete 
Eizelle  mit  (i  i -f- o) -f  (n  +  i)  =  23  Chromo- 
somen, also  ein  iVlännchen. 

Hier  wäre  somit  Fall  4  der  Einleitung  verwirk- 
licht. 

Und  wie  es  bei  der  F'euerwanze  ist,  so  haben 
es  andere  Autoren,  z.  B.  Montgommery, 
Sinety,  McClung  für  mehrere  andere  Tier- 
arten, besonders  für  Insekten,  dann  aber  auch  für 
Fadenwürmer  und  einige  Wirbeltierformen ,  be- 
stätigen können,  und  Gelehrte  wie  Wilson, 
Miss  Stevens,  Morgan,  Boveri,  Gold- 
schmidt, Gutherz  u.  a.  haben  durch  ausge- 
dehnte vergleichende  Studien  sich  um  den  Aus- 
bau  dieses  F"orschungszweiges    verdient    gemacht. 


Freilich  liegen  nicht  immer  die  Verhältnisse  so 
einfach  und  sind  so  leicht  zu  überschauen  wie 
bei  dem  angegebenen,  fast  als  Schulbeispiel  zu 
bezeichnenden  Falle. 

An  der  von  Wilson  angefertigten  und  aus  der 
Plate'schen  „Vererbungslehre"  (Leipzig  1913) 
entnommenen  P'ig.  I  können  wir  uns  einen  Be- 
griff machen  über  die  Mannigfaltigkeit  der  Formen, 
in  denen  die  Heterochromosome  auftreten  können. 


«      _Q_ 
I      • 


0 


1 


X 
Y 


0  -^  X4 


8. 


«• 
10.  11- 


Fig.   I.     Verschiedene  Formen  von  Heterochromosomen. 

(Nach  Wilson,  aus  Plate:  Vererbungslehre,   19 13.) 

I   Protenor,  Anasa.     2  Syromastes,  Homo?     3  Ascaris  lumbri- 

coides.      4  Nezara  viridula.      5    Euschistus  coenus.      6  Nezara 

hilaris.     7  Thyanta  calceata.     8  Rocconota,  Fitschia.     9  Prio- 

nidus,  Sinea.      lo  Gelastocoris.     H  Acholla  multispinosa. 


Die  obere  Reihe  zeigt,  daß  das  X-Chromosom 
nicht  immer,  wie  im  Fall  i,  einfach  zu  sein  braucht, 
sondern  aus  zwei  oder  mehr  —  sich  wie  ein  Chro- 
mosom verhaltenden  —  Komponenten  bestehen 
kann  (vgl.  Fig.  i,  2  u.  3).  Fall  2  ist  deshalb  von 
besonderem  Interesse,  weil  er  auch  nach  Guy  er 
für  die  Samenreifung  des  Menschen  Geltung  haben 
soll.  Nach  dessen  Angaben  besitzt  der  Mann 
20  -j-  2  =:  22  Chromosome,  die  Frau  20  -|-  2  -|-  2  =  24 
Chromosome  in  allen  Zellen  des  Körpers.  Die 
Teilungen,  die  Ei-  und  Samenreifung  bewirken, 
gehen  hier  etwas  anders  als  gewöhnlich  vor  sich: 
Es  sollen  Spermatozoeri  mit  5  und  5+2  =  7  Chro- 
mosomen und  Eier  mit  stets  7  Chromosomen  ge- 
bildet werden.  Ob  es  sich  wirklich  so  verhält,  ist 
bis  jetzt  noch  nicht  einwandfrei  entschieden.  So 
bestreitet  z.  B.  Gutherz,  daß  überhaupt  beim 
Menschen  Heterochromosome  vorhanden  seien. 

Das  X-Chromosom  kann  nun  auch  einen  Partner 
besitzen,  das  sogenannte  Y-Chromosom,  das  sich 
von  ihm  durch  geringere  Größe  unterscheidet. 
Dies  ist  in  den  Figuren  4— n  der  Wilson'schen 
Tafel  der  Fall.  Bei  der  Reduktionsteilung  wandert 
das  X-Chromosom  in  die  eine,  das  Y-Chromosom 
in  die  andere  Zelle,  so  daß  wir  schließlich  reife 
Spermatozoen  erhalten,  von  denen  die  Hälfte  ein 
X-,  die  übrigen  ein  Y-Chromosom  neben  der 
gleichen  Anzahl  von  gewöhnlichen  oder  ,, Auto- 
chromosomen" besitzen.  Die  Eier  enthalten  auch 
in  diesem  Pralle  stets  ein  X-Chromosom,  so  daß 
sich  folgendes  Schema  für  den  Befruchtungsvorgang 
ergibt:     (Die  Zahl  der  Autochromosome  sei  n.) 


i8o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.    12 


Eikern      plus      Spermakern      gleich       befruchteter  also 

Kikern  entsteht : 

n  +  X          „                n  +  X                „              2n  +  2.x  Weibchen 

n  +  x         „               n  +  y               ..          2n  +  x-|-y  Männchen 

Ist  nun  auch  in  diesem  Falle  das  X-Chromosom 
nicht  einfach  (wie  in  Figur  i,  4-6),  sondern  zu- 
sammengesetzt (Fig.  1,  7— 11),  so  ergeben  sich  bei 
den  Samenreifungen  Bilder  wie  Fig.  2,  die  drei 
Stadien  einer  solchen  Kernteilung  bei  der  Spermato- 
zoenentwicklung  schematisch  darstellen  soll.  (Nach 
Payne  aus  R.  H  e  r  t  w  i  g ,  Biol.  Zentralbl.  1 9 1 2,  S.  8.) 
In  Fig.  2,  I  sind  die  Chromosome  paarweise  grup- 
piert in  der  sog.  Äquatorialplatte  vereinigt.  Das 
vierteilige  X-Chromosom  liegt  neben  seinem  Partner, 
dem  Y-Chromosom.  Fig  2,  2  zeigt  das  Auseinander- 
weichen der  Chromosome  bei  der  Reduktions- 
teilung; das  V-  geht  nach  der  einen,  das  X-Chro- 
mosom geht  nach  der  anderen  Seite.  Fig.  2,  3 
stellt  das  Ergebnis  der  Teilung  dar;  ein  Chromo- 
somensortiment enthält  das  X-,  das  andere  das 
Y-Chromosom.  (Es  sind  der  besseren  Übersicht 
halber  in  Fig.  2,  i  und  2  nicht  alle  l'aare  von  Auto- 
chromosomen gezeichnet.) 


'^< 


llt 

Fig.  2.     Galastocoris  occulatus.     Spermatozoencnlwick 
(Erklärung  im  Text.) 


)\ 


tm 


3. 


''X 


lung. 


Stand  die  Entdeckung  der  X-Chromosome  wirk- 
lich in  Zusammenhang  mit  dem  Sexualproblem, 
so  mußten  sich  auch  solch  komplizierte  Erschei- 
nungen, wie  Hermaphroditismus  (Zwitterbildung) 
und  Heterogonie,  ^)  mit  dieser  Lehre  von  den  „Ge- 
schlechts"-Chromosomen  vereinbaren  lassen. 

Die  Vorgänge  bei  der  Zwitterbildung  haben 
Boveri  und  Schleip  bei  einem  Fadenwurme, 
Rhabdonema  nigrovenosum,  eingehend  untersucht. 
Rhabdonema  hat  zwei  Generationen;  Die  getrennt- 
geschlechtlichen und  freilebenden  Formen  erzeugen 
Eier  mit  6  resp.  Spermatozoon  mit  6  oder  5  Chro- 
mosomen. Von  diesen  degeneriert  nun  aber  die 
letzte  Kategorie  noch  vor  der  endgültigen  Reife, 
es  bleiben  deshalb  nur  „Weibchen"-liefernde  Sper- 
matozoon übrig.  Alle  befruchteten  Eizellen  müssen 
somit  Weibchen  ergeben.    Wir  wissen  nun,  daß  diese 


')  Unter  Heterogonie  versteht  man  eine  zyklische  Fort- 
pflanzung, wie  sie  z.  B.  Blattläuse,  Wasserflöhe,  Rädertierchen 
zeigen,  bei  der  eine  geschlechtliche  mit  einer  oder  mehreren 
parthenogenetischen  Generationen  abwechselt. 


„Weibchen",  die  parasitisch  in  der  Lunge  des  Frosches 
leben,  ihrem  Geschlechtscharakttr  nach  „Zwitter" 
sind.  Dies  beruht  histologisch  auf  der  Tatsache,  daß 
in  ihren  Geschlechtsorganen  abwechselnd  Schichten 
von  Eiern  und  Spermatozoon  gebildet  werden. 
Ursprünglich  sind  sämtliche  Keimzellen  zu  Eiern 
bestimmt,  d.  h.  sie  enthalten  alle  6  Paare  von  je 
zwei  untereinander  gleichen  Chromosomen.  Bei 
den  Reifungsteilungen  geht  aber  in  den  zu  Sper- 
matozoon werdenden  Geschlechtszellen  ein  Chro- 
mosom zugrunde,  so  daß  aus  den  nunmehr  1 1 
Cliromosome  enthaltenden  Zellen  bei  der  Teilung 
schließlich  reife  Spermatozoon  mit  5  oder  5  +  l 
Chromosomen  entstehen.  Die  Eier  machen  natür- 
lich die  reguläre  Entwicklung  durch;  sie  enthalten 
im  reifen  Zustande  sämtlich  5  +  i  Chromosome. 
Es  entstehen  auf  diese  Weise  in  der  Zwittordrüse 
2  Arten  von  .Spermatozoon  und  lauter  unter  sich 
gleiche  Eier.  Es  ergibt  sich  mithin  dasselbe  Re- 
sultat, wie  wir  es  von  einer  ganzen  Reihe  getrennt- 
geschlechtlicher Tiere  berichtet  haben. 

Auch  bei  den  als  Heterogonie  bezeich- 
neten Phallen  zyklischer  Fortpflanzung  findet  man 
bei  der  Entwicklung  der  männlichen  Geschlechts- 
produkte die  Erscheinung,  daß  aus  dem  weiblichen 
Chromosomenbestand  durch  Vernichten  eines  Chro- 
mosoms die  für  das  Männchen  charakteristische 
Anzahl  von  Chromosomen  hergestellt  wird.  Es 
ist  leicht  einzusehen,  daß  gerade  solche  Entdeckun- 
gen von  manchen  p-orschern  als  besonders  wichtige 
Stütze  für  die  Hypothese  von  der  geschlechtsbe- 
stimmenden Eigenschaft  der  X-Chromosome  an- 
gesehen werden. 

Auf  Grund  dieser,  sowie  der  oben  erwähnten 
Beobachtungen  bezeichnet  Wilson  das  weibliche 
Geschlecht  als  h  omogametisch,  d.  h.  es  ist  in 
Bezug  auf  die  Chromosomenverhältnisse  der  reifen 
Eier  gleichartig,  es  bildet  stets  Gameten  (Ge- 
schlochtsprodukte)  einer  und  derselben  Art;  das 
männliche  Geschlecht  ist  hingegen  heteroga- 
me tisch;  denn  in  ihm  entstehen  zweierlei  Ga- 
meten, in  diesem  Pralle  Spermatozoon,  die  sich 
durch  den  Besitz  resp.  Mangel  des  Hetorochromo- 
soms  unterscheiden. 

Nun  ist  es  aber  bis  jetzt  noch  nicht  gelungen, 
bei  allen  Tierarten  einen  heterogametischen  Cha- 
rakter des  Männchens  nachzuweisen.  Ja,  in  man- 
chen Fällen  ist  es  direkt  umgekehrt,  wie  bei  den 
oben  erwähnten  Seeigelformen.  Hier  sind  näm- 
lich die  Spermatozoon  gleichartig  gebaut,  sie  ent- 
halten alle  n  +  i  Chromosome,  jedoch  kann  man 
die  Eier  einteilen  in  solche  mit  und  solche  ohne 
X-Chromosom,  d.  h.  in  Eier  mit  der  Chromo- 
somenzahl n  -f-  I  und  n  -f-  o.  Es  kommt  also  in 
diesem  Falle  dem  Weibchen  der  heterogameti- 
sche  Charakter  zu:  der  geschlechtsbestimmende 
Faktor  ist  hier  das  Ei,  nicht  das  Spermatozoon. 
Manche  Forscher  gehen  nun  so  weit,  dies  über- 
haupt als  Norm  anzunehmen.  Sie  sehen  dann 
bei  heterogameten  Männchen  in  der  Differenzierung 
der  Spermatozoon  nur  eine  sekundäre  Erscheinung, 
während    die    primäre    Geschlechtsdifforonziorung 


N.  F.  XIII.  Nr.  i: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


i8i 


in  den  homogametischen  weiblichen  Geschlechts- 
zellen zu  finden  sein  soll.  Denn  hier  gibt  es  — 
nach  Ansicht  dieser  Forscher  —  solche  Eier,  die 
nur  Männchen -erzeugende,  und  andere,  die  nur 
Weibchen  bestimmende  Spermatozoen  in  sich  auf- 
nehmen. Diese  Vorstellungen  gründen  sich  auf 
den  Gedanken  einer  sog.  „selektiven  Befruchtung": 
Das  Ei  ist  von  vornherein  zu  einem  Männchen- 
resp.  Weibchen  Erzeuger  „determiniert",  kann 
also  nur  von  Männchen-  resp.  Weibchen  •  bestim- 
menden Spermatozoen  befruchtet  werden ,  wenn 
es  zu  einer  ,, Geschlechts  realisieru  ng"  — wie 
Gutherz  „die  Herstellung  der  für  das  Geschlecht 
charakteristischen  Chromosomenzahl"  nennt  — 
kommen  soll. 

Interessant  ist  schließlich  noch  die  Tatsache, 
daß  bei  manchen  Arten  überhaupt  keine  Hetero- 
chromosome  nachgewiesen  werden  köimen,  wie  z.B. 
bei  Culex,  der  gemeinen  Singschnake.  Wollte 
man  in  diesem  Falle  auch  von  einer  geschlechts- 
bestimmenden Funktion  der  Chromosome  reden, 
so  könnte  man  diese  Tatsache  höchstens  auf 
Grund  einer  physiologischen  statt  morphologischen, 
d.  h.  anatomisch  nachweisbaren ,  Differenzierung 
derselben  erklären. 

Aus  alledem  ersehen  wir,  wie  mannigfaltig  die 
Entdeckungen  sind,  die  in  den  letzten  Jahren  auf 
diesem  Spezialgebiet  der  mikroskopischen  Ana- 
tomie gemacht  wurden.  Es  ist  deshalb  vorläufig 
noch  nicht  möglich,  ein  für  alle  Fälle  geltendes 
Schema  aufzustellen.  Das  wissenschaftliche  Er- 
gebnis, das  wir  heute  schon  mit  Sicherheit  aus- 
sprechen können,  besteht  wohl  darin,  daß  es  sich 
— -  wenigstens  für  eine  ganze  Reihe  untersuchter 
Fälle  —  um  keine  Hypothese  mehr,  sondern  um 
die  Tatsache  einer  Beziehung  der  Heterochromo- 
some  zum  Sexualproblem  handelt. 

Eine  äußerst  wichtige  Stütze  dieser  Theorie 
bilden  nun  die  Ergebnisse  der  experimen- 
tellen Vererbungslehre,  d.  h.  der  seit  Anfang 
dieses  Jahrhunderts  von  botanischer  wie  zoologi- 
scher Seite  aus  mit  großem  Erfolge  betriebenen 
modernen  Bastardforschung.  Es  handelt  sich 
dabei  um  Versuche,  das  Sexualproblem  nach  der 
Methode  der  mendelistischen  Vererbungsversuche 
in  Angriff  zu  nehmen.  Als  Grundlagen  hierfür 
kommen  hauptsächlich  drei  Tatsachen  in  Betracht: 

1.  die  Erscheinung  des  sexuellen  Dimorphismus, 

2.  das  Zahlenverhältnis  der  Geschlechter,  und 

3.  die  Spuren  eines  latenten  Hermaphroditismus. 
Punkt  I  und  2  sind  ohne  weiteres  verständlich. 

Die  in  3  ausgesprochene  Hypothese,  daß  in  vielen, 
wahrscheinlich  sogar  in  allen  Fällen  jedes  Ge- 
schlecht auch  die  Merkmale  des  anderen  latent 
enthalte  und  in  der  Lage  sei,  unter  gewissen  Be- 
dingungen diese  verborgenen  Eigenschaften  zur 
Entfaltung  zu  bringen,  geht  auf  Darwin  zurück. 
Die  Hahnenfedrigkeit  der  Hennen,  im  Alter  Ge- 
weihe tragende  Weibchen  hirschartiger  Tiere  galten 
diesem  als  Beweismaterial.  Als  modernes  Beispiel 
sei  die  Krabbe  Inachus  erwähnt,  bei  der  ein  Parasit, 
der  Wurzelkrebs  Sacculina,  die  männlichen  Keim- 


drüsen teilweise  in  weibliche  verwandelt,  wobei 
auch  die  sekundären  Geschlechtscharaktere  eine 
entsprechende  Umwandlung  erfahren  können. 

Lassen  sich  diese  Beobachtungen  verallge- 
meinern, so  müssen  wir  annehmen,  daß  es  sich 
bei  Männchen  und  Weibchen  um  eine  völlige 
Gleichheit  der  Geschlechter  in  bezug  auf  ihre 
Anlagen  handelt,  und  daß  die  Geschlechts- 
bestimmung in  der  Förderung  der  einen  und 
Unterdrückung  der  anderen  Geschlechtsanlage  be- 
steht. 

Wie  verhalten  sich  in  dieser  Beziehung  nun 
die  Keimzellen?  Entweder  übertragen  sie  nur  die 
Eigenschaften  des  einen  Geschlechts  oder  sie 
besitzen ,  ebenso  wie  das  Individuum,  die  F"ähig- 
keit,  männliche  und  weibliche  Merkmale  zu  ent- 
falten. 

Mit  der  Lösung  dieser  l'Vage  nach  der  „ge- 
schlechtlichen Tendenz  der  Keimzellen"  beschäf- 
tigen sich  nun  die  experimentellen  Versuche,  die 
man  in  drei  Kategorien  einteilen  kann : 

1.  Untersuchungen  über  natürliche  und  künst- 
liche Parthenogenese, 

2.  Zuchtversuche  mit  annähernd  eingeschlech- 
tigen Individuen, 

3.  Bastardierungsversuche. 

Bei  der  Parthenogenese  entwickelt  sich 
eine  Keimzelle  ohne  Zusammentritt  mit  einer 
anderen  zum  fertigen  Individuum.  Man  müßte  da- 
her durch  das  Geschlecht  derselben  sicheren  Auf- 
schluß über  die  Tendenz  dieser  Keimzelle  erlangen 
können.  Da  aber  bei  den  sich  parthenogenetisch 
fortpflanzenden  Tieren  die  Ergebnisse  von  Fall  zu 
Fall  verschieden  sind,  da  bald  Weibchen,  bald 
Männchen,  bald  beide  gleichzeitig  oder  nacheinan- 
der entstehen,  können  wir  aus  dieser  natürlichen 
Parthenogenese  keine  allgemein  gültigen  Schlüsse 
ziehen.  Anders  ist  es  bei  der  künstlichen 
Parthenogenese,  wo  befruchtungsbedürftige  Eier 
anstatt  durch  Spermatozoen  durch  mechanische  oder 
chemische  Einflüsse  zur  Entwicklung  gebracht 
werden.  Diese  Versuche  sind  aber  bisher  an  tech- 
nischen Schwierigkeiten  fast  stets  gescheitert,  so 
daß  es  leider  nicht  möglich  ist,  jetzt  schon  Resul- 
tate angeben  zu  können. 

Auch  die  Versuche  mit  annähernd  eingeschlech- 
tigen Individuen  haben  bis  jetzt  keine  eindeutigen 
Ergebnisse  gezeitigt. 

Correns,  Strasburger  und  Bitter  trenn- 
ten bei  dem  Bingelkraut,  Mercurialis  annua,  die 
fast  rein  getrenntgeschlechtigen  Pflanzen  voneinan- 
der und  zogen  die  durch  Selbstbefruchtung  der 
„vorwiegend  männlichen"  und  „vorwiegend  weib- 
lichen" Individuen  entstandene  Nachkommenschaft 
auf  Sie  fanden,  daß  beiderlei  Pflanzen  ihresgleichen 
hervorbringen,  während  sonst  das  Sexualverhältnis 
annähernd  i:i  ist.  Die  von  Correns  mit  der 
Ackerdistel  angestellten  analogen  Versuche  er- 
gaben ein  etwas  anderes  Resultat,  indem  zwar  die 
weiblichen  Pflanzen  nur  Weibchen  brachten,  die 
männlichen  jedoch  außer  den  männlichen  auch 
weibliche. 


182 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   12 


Die  an  dritter  Stelle  bezeichneten  und  weitaus 
wichtigsten  Bastardierungsexperimente  wurden  zu- 
erst von  Correns  mit  den  beiden  Zaunrübenarten 
Bryonia  dioica  und  Bryonia  alba  angestellt. 

Von  Bryonia  dioica  gibt  es  männliche  und 
weibliche  Pflanzen,  von  alba  dagegen  nur  einhäusige 
Exemplare. 

Es  handelt  sich  um  vier  Versuchsreihen; 

1.  9  dioica  X  c?  dioica.    Resultat:  SO^/j,  weibliche 

und  50 "/y  männliche  Pflanzen. 

2.  $  dioica  )<  cj  alba.    Resultat:    100%  weibliche 

Bastarde. 

3.  $  alba  X  c?  alba.      Resultat:     100%,    zwittrige 

Pflanzen. 

4.  $  alba  X  3  dioica.     Resultat:  50 "/g  männliche 

und  50  "/g   weibl.  Bastarde. 

Versuch  i  und  3  liefern  das  im  voraus  zu  er- 
wartende Resultat.     Versuch    2  und  4  sagen  aus: 

„Bestäubt  man  die  Weibchen  der  getrenntge- 
schlechtigen Pflanzen  mit  dem  Pollen  der  gemischt- 
geschlechtigen,  so  erhält  man  lauter  Weibchen, 
bestäubt  man  dagegen  die  gemischtgeschlechtige 
Pflanze  mit  dem  Pollen  der  getrenntgeschlechtigen, 
so  erhält  man  zur  Hälfte  Männchen,  zur  Hälfte 
Weibchen. 

Wie  man  auch  die  Versuchsergebnisse  deuten 
will,  eines  ist  sicher:  Die  Keimzellen  der  Bryonia 
dioica- Weibchen  stimmen  unter  sich  überein,  es 
gibt  ihrer  nur  einerlei,  während  es  bei  den  Männ- 
chen zweierlei  Keimzellen  geben  muß.  Die  Weib- 
chen sind  homogametisch,  die  Männchen  hetero- 
gametisch."  ') 


^17  ^17  ^i7  ^17 


Fig.  3.     Schema  für  den  Befruchtungsvorgang  zwischen  einem 

homogametischen  (weibl.)  und  einem  heterogametischen  (männl.) 

Eher. 


Wir  haben  somit  auf  ganz  andere  Weise  das- 
selbe Resultat  erhalten,  wie  wir  es  im  vorigen 
Abschnitt  alsErgebnis  deranatomischhistologischen 


')  C.  Correns,  Vererbung  und  Bestimmung  des  Ge- 
schlechts. Verh.  d.  Ges.  deutscher  Naturf.  u.  Ärzte.  84.  Vers. 
1912.     p.   173. 


Forschungen  kennen  gelernt  haben.  Wir  wissen, 
daß  die  mit  Hilfe  des  Bastardierungsversuches 
festgestellte  Hetero-  resp.  Homogametie  mit  der 
anatomischen  Entdeckung  derX- oder,, Geschlechts"- 
Chromosomen  in  guten  Einklang  gebracht  werden 
kann. 

Den  ersten  Versuch  der  Bryonia  -  Kreuzung 
kann  man  durch  das  in  Fig.  3  angegebene  Schema 
darstellen : 

In  der  oberen  Reihe  der  Figur  sei  eine  weib- 
liche homogametische  und  eine  männliche  hetero- 
gametische  Keimzelle  schematisch  dargestellt.  Die 
zweite  Reihe  zeige  die  infolge  der  Reduktions- 
teilung der  Keimzellen  entstandenen  4  Gameten. 
Dann  sind  nach  der  Wahrscheinlichkeits-Rechnung 
für  die  Befruchtuug  4  Kombinationen  möglich, 
deren  Ergebnisse  die  letzte  Reihe  veranschaulichen 
soll. 

Dieses  Schema  erinnert  ohne  weiteres  an  die 
Erscheinung,  die  ein  den  Mendel'schen  Ver- 
erbungsgesetzen folgender  Bastard  bei  Kreuzung 
mit  einem  seiner  Eltern ')  zeigt.  Es  ist  deshalb 
berechtigt,  mit  Correns  von  einer  „Vererbung 
des  Geschlechts"  zu  sprechen  und  die  Vererbungs- 
gesetze auf  das  Sexualproblem  zu  übertragen. 

Aus  obigem  Schema  ersieht  man  nun  auch, 
daß  das  Geschlechtsverhältnis  eigentlich  stets  i  :  i 
sein  müßte.  Daß  dies  aber  in  der  Natur  fast  immer 
nur  angenähert  beobachtet  wird,  ist  wohl  auf  sekun- 
däre Einflüsse  zurückzuführen. 

Durch  Bastardierungsversuche,  bei  denen  es 
sich  um  die  sog.  „gcschlechtsbegrenzte  Vererbung" 
handelt,  d.  h.  um  die  Vererbung  von  Merkmalen, 
die  stets  mit  einem  bestimmten  Geschlecht  vererbt 
werden,  hat  man  z.  B.  für  den  Stachelbeerspanner, 
Abraxas,  nachgewiesen,  daß  die  Weibchen  dieses 
Schmetterlings  heterogametisch,  die  Männchen  da- 
gegen homogametisch  sein  müssen.  Im  vorigen 
Teile  ist  von  einem  solchen  —  auf  Grund  histolo- 
gischer Studien  beobachteten  —  Falle  bei  Seeigel- 
formen berichtet  worden. 

Gegenüber  den  Ansichten,  die  von  Castle 
u.  a.  vertreten  worden  sind,  daß  Männchen  und 
Weibchen  in  bezug  auf  das  Geschlecht  heteroga- 
metisch seien,  scheinen  die  neuen  experimentellen 
wie  histologischen  Untersuchungen    darauf   hinzu- 

')  Riiclcbastardierung.  (Verbindung  eines  Bastardes  mit 
einem  seiner  Eltern.)  Kreuzt  man  eine  bänderlose  und  eine 
gebänderte  Gartenschneckc,  so  erhält  man  bänderlose  Bastarde. 
D.  h.:  „bänderlos"  dominiert  über  ,, gebändert".  Bildet  der 
Bastard  nun  Gameten,  so  erhält  auf  Grund  des  Spaltungs- 
gesetzes die  Hälfte  der  männlichen  wie  der  weiblichen  Ga- 
meten die  Anlage  für  bänderlos,  die  übrigen  die  für  gebändert. 
Bei  Kreuzung  mit  dem  einen  Elter,  z.  B.  mit  dem  gebänderten, 
ist  folgende  Gametenkombination  möglich: 

Elter:  Bastard: 

Gameten :        G       ,       G       .  B       ,       G     . 

Befruchtete  Eier:   GB       ,       GB       ,       GG       ,       GG. 

(G:  Anlage  für  gebändert,  B  für  bänderlos.) 
Da  B  über  G  dominiert,  ist  die  eine  Hälfte  der  entstandenen 
Bastarde  bänderlos,   die  andere  gebändert. 

Setzt  man  nun  für  G  die  Tendenz  Weibchen  zu  erzeugen 
und  für  B  die  Fähigkeit  Männchen  zu  bestimmen,  so  ergibt 
sich  ohne  weiteres  die  Übereinstimmung  mit  dem  oben  ange- 
gebenen Schema. 


N.  F.  XIII.  Nr.  12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


183 


weisen,  daß  diese  Eigenschaft  nur  einem  Geschlecht 
zukommt,  und  daß  man  deshalb  hei  jeder  Spezies 
zwischen  einem  homogametischen  und  einem  hetero- 
gametischen  Geschlecht  unterscheiden  muß. 

Nachdem  wir  nun  so  einen  kurzen  Einblick  in 
die  Arbeitsmethoden  der  modernen  Forscher  über 
das  Sexualproblem  getan  haben,  ergibt  sich,  daß 
es  auf  Grund  der  bis  jetzt  feststehenden  Ergebnisse 
auf  jeden  Fall  verfrüht  wäre,  irgendwelche  Theorien 
über  eine  willkürliche  Bestimmung  des  Geschlechts 
anzuknüpfen,  so  sehr  ja  auch  der  Stoff  zu  solchen 
Gedankengängen  reizen  mag.  Vorläufig  müssen 
wir  uns  damit  begnügen,  daß  wir  in  den  Mecha- 
nismus des  ganzen  Apparates  um  ein  Bedeutendes 
tiefer  eingedrungen  sind,  aber  gleichzeitig  lehrt  uns 
diese  Erkenntnis  auch  wieder,  wie  weit  wir  trotz 
allem  noch  von  dem  letzten  Ziel  entfernt  sind. 


Künstliche  Seide  ans  Zellnlose. 

Von  Dr.   Günther  Bugge. 

[Nachdruck  verboten. 1 

Die  Chemie  hat  uns  die  Herstellung  einer  Reihe 
von  Kunstprodukten  ermöglicht,  die  in  vielen 
Fällen  in  bezug  auf  stofi'liche  und  sonstige  Eigen- 
schaften mit  den  Naturerzeugnissen  identisch  sind. 
In  anderen  Fällen  handelt  es  sich  um  Ersatzpro- 
dukte, die  zwar  bezüglich  der  für  die  Verwendung 
in  Betracht  kommenden  Eigenschaften  den  natür- 
lichen Vorbildern  mehr  oder  weniger  nahe  kommen, 
in  chemischer  Hinsicht  sich  aber  von  ihnen  unter- 
scheiden. Als  Typus  der  ersten  Art  von  Kunst- 
stoffen sei  der  Farbstoff  des  synthetischen  Indigos 
genannt,  der  sich  in  keiner  Weise  von  dem  des 
natürlichen  Indigos  unterscheidet.  Zur  zweiten  Klasse 
von  Kunststoffen  gehört  die  künstliche  Seide,  die 
zwar  der  natürlichen  Seide  in  ihren  physikalischen 
Eigenschaften  sehr  nahe  steht,  ihrer  chemischen 
Zusammensetzung  nach  aber  eine  ganz  andere  Sub- 
stanz darstellt. 

Der  Kernfaden  der  Naturseide,  wie  sie  die  Raupe 
des  Seidenspinners  erzeugt,  besteht  aus  Fibroin, 
einem  zu  den  Eiweißstoffen  gehörenden  Mate- 
rial. Man  könnte  daher  zunächst  daran  denken, 
künstliche  Seide  aus  Eiweißstoffen  herzustellen. 
Aber  da  unsere  Kenntnisse  von  dieser  Körperklasse 
noch  sehr  in  den  Anfängen  stecken,  liegt  eine 
synthetische  Gewinnung  der  Seidensubstanz  noch 
in  weiter  Ferne.  Es  hat  nicht  an  Versuchen  ge- 
fehlt, aus  eiweißähnlichen  Produkten,  wie  Ge- 
latine oder  Casein,  Kunstseide  herzustellen;  aber 
diesen  Versuchen  ist  ein  praktischer  Erfolg  nicht 
beschieden  gewesen.  Alle  heute  technisch  ange- 
wandten Verfahren  gehen  von  der  Zellulose 
aus,  also  einem  chemisch  von  den  Eiweißstoffen 
grundverschiedenen  Material. 

Um  künstliche  Seide  aus  Zellulose  herzustellen, 
ist  es  nötig,  diese  zunächst  in  eine  Verbindung 
überzuführen,  die  in  irgendeinem  Lösungsmittel 
löslich  ist.  Als  ältestes  Verfahren  ist  hier  das  des 
Grafen Hilaire  de  Chardonnet  anzuführen,  das 
die  Nitrozellulose   als  Ausgangsstoff  benutzt. 


Zur  näheren  Orientierung  über  das  Sexualproblcm  seien 
folgende  Werke  besonders  empfohlen: 

Baur,  E.,  Einführung  in  die  experimentelle  Vererbungs- 
lehre.     Berlin,  Bornträger,    191 1. 

Correns,  C,  Die  Bestimmung  und  Vererbung  des  Ge- 
schlechts nach  Versuchen  an  höheren  Pllanzcn.  Rassenbiol.  4, 1907. 

Gold  Schmidt,  R.,  Einführung  in  die  Vererbungswissen- 
schaft.    Leipzig,   Engelmann,    1911. 

Correns  und  Goldschmidt,  Vererbung  und  Bestim- 
mung des  Geschlechts.     Berlin,   1913. 

Gutherz,  S.,  Über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Hetero- 
chrosomenforschung.  Sitz.-Ber.  d.  Ges.  naturf.  Freunde  Berlin. 
1911. 

Haecker,  V.,  Allgemeine  Vererbungslehre.  Braun- 
schweig,  19 II. 

Hertwig,  R. ,  Über  den  derzeitigen  Stand  des  Sexual- 
problems nebst  eigenen  Untersuchungen.  Biolog.  Zentralblatt 
1912. 

Plate,   L.,   Vererbungslehre.     Leipzig,   Engelmann,    1913. 

Wilson,  E.  B. ,  The  Sex  Chromosoms.  Arch.  f.  mikr. 
Anat.  77,   191 1,   H. 


Nitrozellulose  wird  bekanntlich  erhalten,  wenn  man 
Zellulose  (meist  wird  gebleichte  Baumwolle  — 
,,Linters"  —  gewählt)  mit  einem  Gemisch  von 
Salpetersäure  und  Schwefelsäure  behandelt.  Die 
Überführung  von  Zellulose  in  Nitrozellulose  (die 
,, Nitrierung"  der  Zellulose)  ist  chemisch  als  Ver- 
esterung der  Hydroxyle  des  Zellulosemoleküls  auf- 
zufassen, bei  der  je  nach  der  Zusammensetzung 
des  Nitriergemisches  eine  verschieden  große  Anzahl 
von  Nitrogruppen  in  das  Molekül  der  Zellulose 
eintreten  kann.  Die  höchst  nitrierten  Zellulosen 
(ca.  13,5%  Stickstoff)  nennt  man  Schießbaumwolle 
oder  Fyroxylin ;  sie  finden  hauptsächlich  als  Ex- 
plosivstoffe Verwendung.  Für  die  künstliche  Seide 
kommen  die  weniger  hoch  nitrierten  Zellulosen 
(11  —  12,5%  Stickstoff  in  Betracht,  die  man  als 
Kollodiumwolle  bezeichnet.  Die  wichtigste  Eigen- 
schaft der  Kollodiumwolle  ist  ihre  Löslichkeit  in 
einem  Gemisch  von  Alkohol  und  Äther,  mit  dem 
sie  mehr  oder  weniger  zähflüssige  Lösungen  bildet. 
Meist  löst  man  das  bei  40"  getrocknete  Produkt 
in  einem  Gemisch  von  3  Teilen  Alkohol  und 
2  Teilen  Äther. 

Die  so  erhaltene  Lösung  wird  nun  versponnen. 
Nach  dem  ursprünglichen  Ch  ardon  n  et 'sehen 
Verfahren  erfolgte  das  Verspinnen  in  der  Weise, 
daß  die  Spinnflüssigkeit  nach  vorhergegangenem 
Filtrieren  unter  einem  Druck  von  8 — 10  Atmo- 
sphären durch  feine  Glaskapillaren  („Düsen")  in 
Wasser  ausgepreßt  wurde.  Das  Wasser  bringt  den 
Fiüssigkeitsstrahl  in  Form  eines  Fadens  zum  ober- 
flächlichen Gerinnen,  indem  es  dem  Kollodium  den 
Alkohol  und  Äther  entzieht.  Dieses  „Naßspinn- 
verfahren" ist  jetzt  meist  aufgegeben  worden  zu- 
gunsten des  „Trockenspinnverfahrens",  bei  dem  man 
das  sehr  konzentrierte  Kollodium  durch  die  Düsen 
direkt  in  die  Luft  austreten  läßt.  Alkohol  und 
Äther  verdunsten,  und  die  Nitrozellulose  bleibt  in 
Fadenform  zurück.  Der  an  der  Luft  erstarrte  Faden 
wird  sofort  auf  eine  Spule  gelegt,  die  ihn  mit  kon- 
stanter Geschwindigkeit  von  der  Düse  abzieht  und 
aufwickelt. 

Wie  bei  der  natürlichen  Seide   der  Faden  aus 


i84 


Naturwissenschaftliche  Wociienschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  12 


einer  Anzahl  von  dünnen  Einzelfäden  besteht,  so 
läßt  man  auch  bei  der  Kunstseide  mehrere  Fädchen 
sich  zu  einem  einzigen  Faden  vereinigen.  Dies 
erreicht  man,  indem  man  das  Kollodium  durch 
sogenannte  „Brausendüsen"  preßt,  kleine  Metall- 
scheiben (meist  aus  Platin),  die  mit  einer  Anzahl 
von  feinen  Durchbohrungen  versehen  sind. 

Der  getrocknete  Faden  hat  eine  sehr  unange- 
nehme Eigenschaft:  er  ist  sehr  explosiv.  Wegen 
dieser  Feuergefährlichkeit  war  eine  Verwendung 
der  Kunstseide  aus  Nitrozellulose  in  der  Textil- 
industrie erst  möglich,  als  es  gelang,  die  Fäden 
zu  „denitrieren",  d.  h.  die  bei  der  Nitrierung  in 
das  Molekül  eingeführten  Salpctersäurereste  nach- 
träglich wieder  zu  beseitigen.  Dies  geschieht  am 
besten,  indem  man  die  Seidenstränge  in  ein  Bad 
mit  Ammonium-  oder  Natriumsulfhydratlösung 
bringt.  Bei  der  chemischen  Umsetzung,  die  sich 
hierbei  zwischen  der  Nitrozellulose  und  den  Sulfhy- 
draten  abspielt,  wird  der  Stickstoff  der  ersteren  (bis 
auf  einen  unwesentlichen  Rest)  entfernt.  Der  nun 
nicht  mehr  feuergefährliche  Faden  wird  vorsichtig 
gebleicht,  nochmals  gründlich  mit  Wasser  ausge- 
spült und  dann  in  warmer  Luft  getrocknet. 

Das  Chardonn  e  t 'sehe  Verfahren  hat  im 
Laufe  der  Zeit  verschiedene  L'mänderungen  und 
Verbesserungen  erfahren.  In  Deutschland  war  es 
vor  allem  Lehner,  der  sich  um  seine  Weiter- 
entwicklung Verdienste  erwarb.  Er  ersetzte  das 
schwerflüssige  Spinnkollodium  Chardonnets 
durch  eine  dünnflüssige  Spinnlösung,  die  ein  F"il- 
trieren  und  Verspinnen  ohne  großen  Druck  ermög- 
lichte. 

Da  Alkohol  und  Äther  (zumal  in  Deutschland) 
relativ  teure  Lösungsmittel  sind,  ist  das  Problem 
der  Wiedergewinnung  dieser  Stoffe  von  größter 
Bedeutung  für  das  Nitrozelluloseverfahren;  zahl- 
reiche Verfahren  sind  zu  diesem  Zweck  vorge- 
schlagen worden.  Meist  wird  die  mit  Alkohol- 
und  Ätherdämpfen  gesättigte  Luft  durch  Absorp- 
tionsflüssigkeiten (z.  B.  Schwefelsäure  oder  flüssige 
Fette)  geleitet,  aus  denen  dann  durch  Destillation 
die  Lösungsmittel  wiedererhalten  werden  können. 

Ein  Konkurrent  ist  der  Chardonnetseide  in  der 
Kupferoxydammoniakseide  erstanden,  die 
auch  unter  dem  Namen  Glanzstoff  oder  P  a  u  1  y  - 
Seide  bekannt  ist.  Zu  ihrer  Herstellung  löst  man 
in  geeigneter  Weise  vorbehandelte  Baumwolle  in 
Kupferoxydammoniak  („Schweizers  Reagens")  und 
spinnt  dann  die  Lösungen  in  saure  oder  —  besser  — 
alkalische  Flüssigkeiten  hinein,  wobei  sich  der 
Zellulosefaden  ausscheidet.  Das  Kupfer  kann  aus 
den  „angereicherten"  Lösungen  wiedergewonnen 
werden.  Zur  Darstellung  der  Kupferoxydammoniak- 
lösung kann  man  im  Großbetrieb  vom  metallischen 
Kupfer  ausgehen,  das  in  Form  von  Drehspänen 
usw.  mit  konzentriertem  Ammoniak  übergössen 
und  bei  niederer  Temperatur  in  intensive  Berüh- 
rung mit  Luft  gebracht  wird.  Hierbei  sollen  ge- 
wisse Zusätze,  wie  Milchsäure  usw.  das  Lösungs- 
vermögen des  Ammoniaks  bedeutend  fördern.  Die 
Bereitung  der  Kupferlösung  und  das  Auflösen  der 


Zellulose  kann  auch  in  einer  Operation  ausgeführt 
werden,  indem  man  die  Zellulose  mit  Ammoniak- 
wasser tränkt  und  dann  mit  Kupferhydroxyd paste 
mischt. 

Ein  drittes  Verfahren  —  zurzeit  das  aussichts- 
reichste, da  es  am  billigsten  ist  —  wurde  von  den 
englischen  Zelluloseforschern  Groß  und  Bevan 
entdeckt.  Es  gründet  sich  auf  die  interessante 
Beobachtung,  daß  Zellulose  bei  der  Behandlung 
mit  Natronlauge  und  Schwefelkohlenstoff  eine  Ver- 
bindung  CßHoO^CS.jNa  (Natriumzellulosexantho- 
genat)  liefert,  die  mit  Wasser  eine  schleimige,  dick- 
flüssige Substanz  (,,Viskose")  bildet.  Als  Aus- 
gangsmaterial braucht  man  nicht  wie  bei  den 
anderen  Verfahren  Baumwolle  zu  benutzen,  sondern 
kann  den  aus  Holz  hergestellten  Zellstoff  verwenden. 
Die  filtrierte  und  „gereifte"  Viskose  kann  nach 
verschiedenen  Verfahren  versponnen  werden.  Man 
benutzt  z.  B.  als  Fällflüssigkeit  eine  Lösung  von 
Ammonchlorid  oder  -sulfat,  der  man  Eisenvitriol 
zusetzt.  Der  letztere  Zusatz  beseitigt  die  bei  der 
Regenerierung  der  Zellulose  aus  dem  Xanthogenat 
auftretende  Klebrigkeit  der  Fädchen,  indem  der 
größte  Teil  des  in  Sulfidform  vorhandenen  Schwefels 
auf  dem  Faden  als  Schwefeleisen  gefällt  wird. 
Nach  dem  Erstarren  des  Fadens  läßt  sich  der 
Sulfidniederschlag  wieder  durch  verdünnte  Säuren 
entfernen.  Oder  man  verspinnt  die  Viskose  in 
einem  Bad  von  Schwefelsäure,  die  ein  Sulfat  gelöst 
enthält,  ein  Verfahren,  das  wegen  seiner  Billigkeit 
vorgezogen   wird. 

Ghardonnetseide,  Glanzstoff  und  Viskoseseide, 
die  in  trockenem  Zustande  die  Festigkeit  der 
natürlichen  Seide  zwar  nicht  erreichen,  ihr  aber 
doch  nahe  kommen,  haben  die  Eigenschaft,  in 
feuchtem  Zustande  eine  bedeutend  verringerte 
Festigkeit  zu  zeigen,  ein  Nachteil,  der  das  Waschen 
der  Gewebe  aus  Kunstseide  erschwert  bzw.  un- 
möglich macht.  Man  hat  zwar  versucht,  durch 
Behandlung  des  Fadens  mit  Formaldehyd  und 
einer  Säure  (,,Sthenosieren")  die  Wasserfestigkeit 
zu  erhöhen;  es  hat  sich  aber  gezeigt,  daß  diese 
Verbesserung  mit  einer  nicht  unbeträchtlichen 
Verschlechterung  anderer  wichtiger  textiler  Eigen- 
schaften (Elastizität,  Färbbarkeit  usw.)  verknüpft  ist. 
Eine  größere  Wasserfestigkeit  kommt  der 
Azetatseide  zu,  deren  Herstellung  der  jüngste 
Erfolg  der  nicht  rastenden  Kunstseideindustrie  ist. 
Das  Material  der  Azetatseide  ist  die  Azetyl- 
zellulose,  ein  Zelluloseester  der  Essigsäure. 
Ihre  technische  Darstellung  erfolgt  in  der  Weise, 
daß  man  Zellulose  mit  Essigsäureanhydrid  in 
Gegenwart  gewisser  Katalysatoren,  wie  Schwefel- 
säure, Chlorzink  usw.  verestert.  Die  Azetylzellu- 
lose,  die  nicht  nur  für  die  Seidenfabrikation,  son- 
dern auch  zur  Herstellung  schwer  verbrennbarer 
Kinematographenfilms  und  wetterbeständiger  Lacke 
verwendet  wird,  kann  auf  künstliche  Seide  ent- 
weder so  verarbeitet  werden,  daß  man  die  bei  der 
Azetylierung  sich  bildende  zähflüssige  Masse  direkt 
in  Wasser  oder  andere  Fällmittel  verspinnt,  oder 
in  der  Weise,  daß  man  die  Azetylzellulose  zunächst 


N.  F.  XIII.  Nr.  12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


185 


durch  Ausfällen  mit  Wasser  in  fester  Form  isoliert 
und  dann  die  Lösung  dieses  Produkts  in  Chloro- 
form oder  anderen  organischen  Lösungsmitteln 
verspinnt. 

Die  Verwendung  der  Kunstseide  hat  in  den 
letzten  Jahren  in  erstaunlicher  Weise  zugenommen; 
es  werden  heute  jährlich  mehr  als  5  Millionen 
Kilogramm  fabriziert,  eine  Menge,  die  ^j^ — '/s  der 
Jahresproduktion  an  natürlicher  Seide  ausmacht. 
Trotzdem  hat  die  künstliche  Seide,  soweit  die 
Herstellung  von  Kleiderstoffen  in  Frage  kommt, 
der  natürlichen  wenig  Konkurrenz  gemacht.  Da- 
gegen hat  sie  sich  wegen  ihres  schönen  Glanzes 
und  ihres  festen  „Griffes"  verschiedene  spezielle 
Anwendungsgebiete  (Möbelstoffe,  Kravatten,  Be- 
satzstoffe usw.)  erobert.  Eine  wichtige  Rolle 
spielt  heute  das  aus  dem  Material  der  Kunstseide 
hergestellte  künstliche  Roßhaar,  das  unter 
verschiedenen  Namen  (Sirius,  Meteor,  Viszellin  usw.) 
in  den  Handel  kommt.  Die  Verfahren  zur  Er- 
zeugung von  künstlichem  Roßhaar  unterscheiden 
sich  von  denen  der  Kunstseideherstellung  nur  da- 
durch, daß  man  die  Zelluloselösungen  durch  Düsen 
von  größerem  Durchmesser  preßt  oder  mehrere 
Fäden  zu  einem  stärkeren  verzwirnt. 

Es  sei  noch  erwähnt,  daß  es  vor  kurzem  ge- 
lungen ist,  auch  kü  nstliche  Gaze  und  künst- 
lichen Tüll  herzustellen.  Man  verfährt  hierbei 
so,    daß    man    die    Kunstseidemasse    (Nitro-  oder 


Kupferoxydammoniakzelluloselösung)  nicht  ver- 
spinnt, sondern  auf  einen  rotierenden  Metallzylinder 
gießt,  auf  dem  das  Tüllmuster  eingraviert  ist. 
Die  überschüssige  Masse  wird  durch  eine  beson- 
dere Vorrichtung  abgestrichen ,  so  daß  nur  das 
Linienmuster  des  Tüllgewebes  ausgefüllt  ist.  Die 
Koagulierung  des  Gewebes  erfolgt  entweder  direkt 
auf  der  Walze,  die  sich  durch  das  Gerinnungsbad 
bewegt,  oder  in  der  Weise,  daß  der  noch  nicht 
feste  Tüll  auf  ein  Band,  an  dem  er  haftet,  abge- 
preßt und  dann  in  dem  Bad  koaguliert  wird. 

Auf  den  verschiedensten  Wegen  ist  es  also 
geglückt,  aus  der  Zellulose  ein  Ersatzprodukt  für 
unseren  edelsten  Gewebestoff  herzustellen.  Es  ist 
nicht  ohne  Interesse,  daß  der  Gedanke,  die  Tätig- 
keit der  Seidenraupe  nachzuahmen,  schon  vor  fast 
200  Jahren  zum  erstenmale  auftaucht.  In  einem 
1734  erschienenen  Buch  des  französischen  Physikers 
Reaumur  über  die  Geschichte  der  Insekten  lesen 
wir,  wie  den  Naturforscher  der  Anblick  einer  sich 
einspinnenden  Seidenraupe  zu  der  Überlegung  an- 
regt: Wäre  es  nicht  möglich  —  da  die  Seide  doch 
eine  Art  von  eingetrocknetem  Gummi  darstellt  — , 
aus  den  uns  zur  Verfügung  stehenden  „Gummi- 
oder Harzstoffen"  künstliche  Fäden  zu  ziehen? 
Die  Idee  Reaumurs  ist  jetzt  verwirklicht  worden, 
und  die  Lösung  dieser  Aufgabe  reiht  sich  würdig 
anderen  Erfolgen  an,  die  wir  dem  Zusammenarbeiten 
von  Wissenschaft  und  Technik  verdanken. 


Einzelberichte. 


Botanik.  Der  Eichenmehltau  auf  amerikanischen 
Eichen.  Vor  einigen  Jahren  trat  plötzlich  in 
Europa  auf  Eichen  ein  die  Blätter  und  Sprosse 
mit  einem  weißen  Mehltau  überziehender  Pilz  auf, 
der,  insbesondere  in  Frankreich,  große  Schädigun- 
gen hervorrief.  Es  wurde  zuerst  als  Oidium  quer- 
cinum  bezeichnet,  und  man  nahm  an,  daß  er  aus 
Amerika  stamme.  Diese  Ansicht  wurde  wieder 
aufgegeben,  als  sich  herausstellte,  daß  der  Pilz  die 
amerikanischen,  in  Europa  angepflanzten  Eichen 
nur  wenig  befiel.  In  Deutschland  konnte  P.  M  a  g  n  u  s 
oft  amerikanische  Arten  beobachten,  die  inmitten 
stark  vom  Mehltau  befallener  Ouercus  robur  stan- 
den, aber  völlig  gesund  waren.  Neuerdings  nun 
hat  Magnus  in  der  Baumschule  von  Bad  Nau- 
heim das  Oidium  nicht  nur  auf  Quercus  robur, 
sondern  auch  auf  den  jungen,  zweijährigen  Pflanzen 
der  amerikanischen  Ouercus  rubra  allgemein  ver- 
breitet gefunden,  während  alle  älteren  Bäume 
dieser  Art  vom  Mehltau  völlig  frei  waren.  Nach 
der  Angabe  eines  Gärtners  ist  das  Auftreten  des 
Mehltaus  auf  den  amerikanischen  Saateichen  erst 
seit  191 2  in  der  Baumschule  beobachtet  worden. 
Magnus  nimmt  an,  daß  die  jungen  Saatpflanzen 
von  Ouercus  robur  aus  infiziert  worden  seien, 
und  daß  sich  der  Mehltau  von  den  ersten  infi- 
zierten Pflanzen  auf  die  anderen  übertragen  habe. 
Er  hält  es  für  möglich,  daß  sich  so  eine  besondere 


Rasse  des  Eichenmehltaus  ausbilde,  die  Quercus 
rubra  leichter  infiziere.  Nach  Griffon  und 
Maublanc  gehört  der  Pilz  übrigens  zu  einer 
besonderen  Art  der  Ascomycettengattung  Micro- 
phaera  (M.  alphitioides),  deren  Fruchtgehäuse 
(Perithecien)  von  denen  der  amerikanischen  Micro- 
sphaera-Arten  verschieden  sind.  Woher  dieser 
Mehltau  stammt,  bleibt  noch  immer  ein  Rätsel. 
(Jahresbericht  der  Vereinigung  für  angewandte 
Botanik   191 3,  Jahrg.  11,  Teil  I,  S.   14 — 15). 

F.  Moewes. 
Astronomie.     Zum  Studium    des   Nordlichtes 


durch  photographische  Aufnahmen  ist  im  Frühjahr 
191 3  eine  Expedition  der  Herren  Störmer  und 
Birkeland  nachBossekop  im  nördlichen  Norwegen 
unter  70"  Breite  gegangen.  Da  es  auch  darauf 
ankam,  die  Höhe  des  Nordlichtes  zu  bestimmen, 
wurden  zwei  Stationen  in  einem  Abstand  von 
27  "2  km  bezogen  und  telephonisch  verbunden. 
An  beiden  Stationen  lagen  je  40  Kassetten  bereit, 
so  daß  in  einer  Nacht  80  Aufnahmen  gemacht 
werden  konnten,  deren  Gleichzeitigkeit  durch 
telephonische  Verständigung  erreicht  wurde.  Es 
wurden  in  der  Zeit  vom  28.  Februar  bis  i.  April 
636  Aufnahmen  gemacht,  von  denen  447  gelungen 
sind.  Auf  diesen  Platten  sind  alle  Arten  von 
Nordlichtern  zu  sehen,  und  es  sind  etwa  4000 
Messungen    angestellt    zum  Zweck    der  Höhenbe- 


i86 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  12 


Stimmung.  Da  auf  den  Platten  immer  Sterne 
erscheinen,  so  sind  die  Fixpunkte  gegeben,  nur 
die  Unbestimmtheit  der  Formen  des  Nordlichtes 
macht  die  Sache  unsicher.  Auch  mit  dem  pris- 
matischen Objektiv  sind  mehrere  Aufnahmen  ge- 
macht, auf  denen  neben  den  Sternspektren  die 
Linien  des  Nordlichtes  deutlich  erscheinen.  Von 
besonderem  Interesse  sind  kinematographische 
Aufnahmen ,  bei  denen  jedes  Bildchen  zwei 
Sekunden  belichtet  wurde ,  nur  bei  sehr  hellen 
Lichtern  war  eine  Belichtung  von  einer  Sekunde 
ausreichend.  Diese  Aufnahmen  sind  von  größtem 
Werte  für  die  Darstellung  der  oft  sehr  schnellen 
Veränderungen  innerhalb  des  Nordlichtes.  [Comptes 
rendues   156,    1871   und  Knowledge  10,  263,  1913.] 

Riem. 

Anthropologie.  Im  Jahre  1912  führte  Prof- 
Dr.  F.  v.  L  u  s  c  h  a  n  anthropologische  Unter- 
suchungen auf  der  Insel  Kreta  aus,  deren  Ergeb- 
nisse in  der  Zeitschrift  für  Ethnologie,  191 3,  S.  307 
bis  393,  veröffentlicht  wurden.  Prof.  v.  Luschan 
nahm  Messungen  an  alten  und  rezenten  kretischen 
Schädeln  vor,  das  Hauptgewicht  legte  er  aber  auf 
das  Studium  der  lebenden  Bevölkerung.  Doch 
wurden  nur  Männer  untersucht;  auf  Messungen 
und  Beobachtungen  an  Frauen,  Kindern  und  Halb- 
erwachsenen wurde  wegen  der  Kürze  der  verfüg- 
baren Zeit  und  aus  anderen  Gründen  von  vorn- 
herein verzichtet.  Die  Schädelmessungen  ergaben, 
daß  die  kretischen  Schädel  jetzt  bedeutend  breiter 
sind,  als  sie  in  der  vorgriechischen  Zeit  waren. 
Der  Prozeß  des  Breitervverdens  hat  wohl  bereits 
vor  der  Einwanderung  der  Achäer  und  Dorier 
begonnen,  was  ein  Vergleich  der  LängenBreiten- 
indizes  der  Schädel  (Breite,  ausgedrückt  in  Pro- 
mille der  Länge)  aus  verschiedenen  Perioden  zeigt. 
Die  mittleren  Indizes  betragen  bei  den  ältesten 
bisher  bekannten  Schädeln  von  Kreta  aus  der 
mittelminoischen  Zeit  735,  bei  Schädeln  aus  dem 
Anfang  der  spätminoischen  Zeit  765,  bei  Schädeln 
vom  Ende  der  spätminoischen  Zeit  791,  bei  rezen- 
ten männlichen  Schädeln  von  Hiraklion  und  Khania 
780  und  bei  rezenten  weiblichen  Schädeln  von 
denselben  Orten  809.  Die  Zunahme  der  Menschen 
mit  kürzeren  und  breiten  Köpfen  führt  v.  L  u  s  c  h  a  n 
auf  Kreta,  wie  anderwärts,  auf  die  Einwanderung 
einer  rundköpfigen  Rasse  zurück. 

Die  320  untersuchten  lebenden  Männer  weisen 
in  allen  körperlichen  Merkmalen  eine  große  Varia- 
tionsbreiteauf Die  Körpergröße  schwankt  zwischen 
154  und  189  cm,  im  Mittel  beträgt  sie  169;  die 
größte  Kopflänge  ist  22  cm,  die  geringste  17,4  cm, 
die  größte  Kopf  breite  17,4  cm,  die  geringste  Kopf- 
breite 13,8  cm,  der  Längenbreitenindex  des  Kopfes 
bewegt  sich  zwischen  920  und  673  bei  einem 
Mittel  von  789,  der  Gesichtsindex  zwischen  977 
und  645  (Mittel  865)  usw. 

Die  Augen  färbe  variiert  zwischen  den 
Nummern  2  und  16  der  Martin'schen  Augen- 
farbentafel.  Die  dunkelste  Augenfarbe,  Nr.  i, 
wurde    auf  Kreta    nicht  notiert;    sie  kommt  wohl 


nur  bei  farbigen  Rassen  vor.  Bei  165  Männern 
oder  5 1  "lg  wurden  dunkle  Augen  festgestellt,  die 
den  Nrn.  4  und  5  der  Martin'schen  Tafel  und 
einem  dazwischenliegenden  Rehbraum  entsprechen. 
Ganz  helle  Augen,  Nr.  12 — 16,  hatten  bloß  23 
Männer.  Sehr  selten  sind  hellblonde  Kopf  haare, 
die  nur  bei  einem  Mann  unter  319  beobachtet 
wurden;  blond  kam  12  mal,  dunkelblond  8 mal 
vor.  Am  häufigsten  ist  die  Haarfarbe  braun, 
dunkelbraun  oder  braunschwarz;  grauschwarzes 
Haar  wurde  in  5  Fällen  und  schwarzes  in  72  Fällen 
notiert.  Die  Hautfarbe  wurde  an  der  Beuge- 
seite des  Vorderarmes  bestimmt.  Von  318  Männern 
wiesen  23  ganz  helle  Hautfarben  auf,  nämlich 
Nr.  7  bis  9  der  v.  Luschan 'sehen  Tafel;  die 
Nrn.  10 — 12  kamen  210  mal  vor,  die  schon  ziem- 
lich dunklen  Nrn.  13 — 15  80  mal  (ungefähr 
„brünett"  im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch)  und 
die  Nrn.   16 — 18  fünfmal. 

Die  heutige  Bevölkerung  Kretas  scheint  das 
Produkt  einer  Kreuzung  einer  kleinwüchsigen,  lang- 
köpfigen  mit  einer  großwüchsigen,  kurzköpfigen 
Rasse  zu  sein.  Das  langköpfige  Bevölkerungselement 
ist  in  der  Regel  auch  durch  breitere  Nasen  und 
dunkleres  Pigment  ausgezeichnet  als  das  breit- 
köpfige.  Bemerkenswert  ist  überdies,  daß  große 
Gestalten,  breite  Köpfe  und  helle  Farben  im  Westen 
der  Insel  häufiger  sind,  während  im  Osten  kleine, 
langköpfige  und  dunkle  Leute  vorherrschen.  Die 
letzteren  sind  wohl  die  älteren  Bewohner  Kretas, 
denn  v.  Luschan  fand,  daß  sie  in  der  Schädel- 
bildung mit  den  Langschädeln  aus  der  minoischen 
Zeit  oder  der  Bronzezeit  von  Kreta  übereinstimmen. 
Jene  alte  Bevölkerung  ist  sehr  wahrscheinlich  auch 
durch  geringe  Körpergröße  ausgezeichnet  gewesen. 
Von  woher  sie  nach  Kreta  kam,  ist  schwer  zu 
entscheiden;  gewiß  nicht  aus  Vorderasien,  denn 
dort  war  die  älieste  Bevölkerung,  wie  v.  Luschan 
schon  bei  früherer  Gelegenheit  feststellte,  extrem 
kurz-  und  hochköpfig,  sowie  groß-  und  meist  schmal- 
nasig.  Uralte  Kultur  beziehungen  bestehen  zwischen 
Kreta  und  Ägypten,  doch  darf  man  daraus  nicht 
auf  einen  somatischen  Zusammenhang  schließen.  Der 
Tj'pus  der  Ostkreter  erinnert  stark  an  den  der 
Sarden  und  Sizilier,  und  es  kann  als  sichere  Tat- 
sache gelten,  daß  diese  den  alten  Kretern  soma- 
tisch sehr  nahe  standen;  beide  Gruppen  gehören 
zur  ,, mediterranen  Rasse".  Woher  sie  kamen,  wird 
wohl  die  Zukunft  lehren.  Unentschieden  ist  auch 
noch  die  Herkunft  der  großen  breitköpfigen  Be- 
völkerung, die  man  hauptsächlich  in  Westkreta  trifft. 
Wohl  sind  Historiker  und  Philologen  gleichmäßig 
der  Meinung,  daß  man  die  verhältnismäßig  reinsten 
Nachkommen  der  alten  Dorier  in  der  Sphakia, 
Westkrefa,  erwarten  dürfe,  aber  vom  Standpunkt 
der  physischen  Anthropologie  ist  das  unerwiesen. 
Nach  landläufiger  Ansicht  sind  die  Dorier,  wie  vor 
ihnen  die  Achäer,  aus  einer  nördlichen  oder  gar 
,, nordischen"  Heimat  nach  Griechenland  und 
Kleinasien  gewandert.  Aber  es  ist  mit  der  Mög- 
lichkeit zu  rechnen,  daß  die  große  dorische  Wan- 
derung „wenigstens    zum  Teil    nur  eine  Rückkehr 


N.  F.  XIII.  Nr.  12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


187 


vorderasiatischer  Elemente  nach  Vorderasien  be- 
deutet. Denn  wie  immer  die  Dorier  bei  ihrem 
ersten  Auftreten  in  Griechenland  ausgesehen  haben 
mögen,  so  ist  es  doch  sehr  wahrscheinlich,  daß 
sie  bei  ihrem  Eintreffen  auf  Kreta  und  auf  dem 
kleinasiatischen  Festland  schon  reichlich  mit  den 
Nachkommen  der  vorgriechischen  Bevölkerung  von 
Griechenland  durchsetzt  waren".  Die  Venetianer 
und  selbst  die  Türken,  die  in  der  nachgriechischen 
Zeit  auf  Kreta  herrschten,  kamen  zuversichtlich  in 
so  kleiner  Zahl,  daß  sie  keinen  merklichen  Einfluß 
auf  die  somatischen  Eigenschaften  der  Kreter  aus- 
übten. H.  Fehlinger. 

Physiologie.  Ein  Mensch  ohne  Großhirn. 
Von  L.  Edinger  und  B.  Fischer  (Pflüger's 
Archiv  für  die  gesamte  Physiologie  des  Menschen 
und  der  Tiere.     Bd.   152,   191 3). 

Wiederholt,  zuerst  von  Goltz,  wurden  die 
Großhirnhemisphären  beim  Hund  experimentell 
entfernt  und  die  Tiere  blieben  längere  Zeit 
am  Leben,  so  daß  die  durch  den  Ausfall  des 
Großhirns  bedingten  Störungen  genau  festgestellt 
werden  konnten.  Auch  ohne  Großhirn  geborene 
Menschen  sind  schon  mehrere  Tage  am  Leben 
geblieben.  Die  von  ihnen  ausgeführten  Lebens- 
tätigkeiten, wie  Bewegung  der  Glieder,  Saugen, 
Schreien,  Lidschluß,  auch  gewisse  mimische  Be- 
wegungen, haben  alle  ihre  Zentren  im  verlängerten 
Mark  und  im  Rückenmark.  Sie  konnten  dasselbe 
leisten  wie  der  normale  Neugeborene.  Bei  diesem 
ist  ja  auch  nur  das  Urhirn  (Palaeencephalon)  und 
noch  kein  Assoziationszentrum  im  Großhirn  (Neen- 
cephalon)  entwickelt.  Edinger  beobachtete  nun 
einen  bisher  noch  nie  dagewesenen  Fall,  daß  ein 
ohne  Großhirn  geborener  Mensch  längere  Zeit 
(3'/4  Jahre)  am  Leben  blieb.  Er  untersuchte  das 
Gehirn  anatomisch  und  bespricht  an  der  Hand 
der  von  der  Mutter  gegebenen  Schilderung  die 
Lebensäußerungen  dieser  Mißgeburt. ') 

Das  mikroskopisch  genau  untersuchte  Gehirn 
zeigte  eine  auffallende  Ähnlichkeit  mit  dem  des 
„Goltz 'sehen  Hundes".  Während  aber  bei  jenem 
die  Hemisphären  total  fehlten,  waren  sie  bei  dem 
Kind  durch  eine  ganz  dünne  vielgefaltete  Membran 
vertreten.  Es  sah  so  aus,  als  ob  sie  einmal  vor- 
handen gewesen  seien  und  dann  durch  einen 
krankhaften  Prozeß  zugrunde  gegangen  wären, 
so  daß  von  ihnen  nur  noch  jene  oben  erwähnte 
Blase  übrig  blieb.  Das  Kind  starb  schließlich  an 
Entkräftung  und  einer  Lungentuberkulose.  Bei 
der  Sektion  der  sehr  abgemagerten  Leiche  ent- 
leerte  sich  nach  Abnahme  des  Schädeldaches, 
dessen  Fontanellen  verwachsen  waren,  eine  große 
Menge  einer  klaren,  wässerigen  Flüssigkeit.  Sie 
hatte  sich  anscheinend  zwischen  der  Dura  und 
Pia  mater  befunden. 

Im  Leben  hatte  das  Kind  folgende  Erschei- 
nungen gezeigt.  Außer  beim  Saugen,  zu  dem  es 
erst  geweckt  werden  mußte,  lag  es  beständig  im 

')  Es  war  das  Erstgeborene  einer  25jährigen  Frau,  deren 
Schwester  ein  blödsinniges  Kind  hatte. 


Schlaf  Im  i.  Jahre  hörte  man  es  nie  weinen, 
manchmal  gab  es  nur  leise  Töne  von  sich.  Durch 
kein  Zeichen  verriet  es,  daß  es  Hunger  oder 
Durst  hätte.  Wollte  man  es  nicht  verhungern 
lassen,  so  mußte  man  es  immer  wecken  und  ihm 
Milch  geben.  An  nichts  erkannte  die  Mutter, 
wenn  es  genug  hatte,  und  so  fütterte  sie  meistens 
so  viel,  als  das  Kind  nehmen  konnte;  es  erbrach 
sich  dann  oft  tagelang  und  nahm  in  den  darauf 
folgenden  Wochen  fast  gar  nichts  zu  sich.  Arme 
und  Beine  lagen  starr  im  Krampf  gestreckt.  Nie- 
mals suchte  es  mit  der  Hand  nach  der  Milch- 
flasche zu  greifen.  Es  lag  vollständig  bewegungs- 
los im  Bett.  Den  Kot  und  den  Urin  ließ  es  unter 
sich  gehen  und  blieb,  ohne  sich  zu  rühren,  darin 
liegen. 

Die  Augen  reagierten  auf  starke  Belichtung 
durch  krampfhaftes  Schließen;  sie  waren,  wenn 
geöffnet,  stets  nach  oben  gerichtet,  aber  fast  immer 
geschlossen.  Durch  Zusammenschrecken  bgim 
Hinfallen  eines  Gegenstandes  verriet  es  eine  Ge- 
hörempfindung. Das  Schmerzgefühl  schien  ganz 
zu  fehlen.  Wurde  es  in  die  Fingerbeeren  gekniffen, 
verzog  es  keine  Miene.  Daß  es  aber  eine  Tast- 
empfindung hatte,  erhellt  daraus,  daß  es  sich  be- 
ruhigte, wenn  der  Kopf  in  die  Kissen  gedrückt 
und  gerieben  wurde,  während  es  sonst  vom 
2.  Jahre  an  bis  zum  Lebensende  Tag  und  Nacht 
laut  schrie.  Zähne  erschienen  schon  im  4.  Monat 
und  alle  hatten  eine  gesägte  Kante. 

In  diesem  Zustande  lebte  das  Kind  3^/4  Jahre, 
ohne  daß  sich  etwas  Wesentliches  in  seinem  Zu- 
stande änderte,  außer  daß  es  vom  2.  Jahre  an 
viel  schrie,  vielleicht  im  Zusammenhang  mit  der 
Entwicklung  des  verlängerten  Marks.  Denn  um 
diese  Zeit  beginnt  ja  auch  sonst  die  Sprache  sich 
zu  entwickeln. 

Die  genaue  mikroskopische  Untersuchung  ergab 
das  völlige  Fehlen  des  Großhirns,  von  dessen 
Hemisphären  nichts  übrig  geblieben  war  als  einige 
dünnwandige  Cysten;  es  gab  keine  einzige  mark- 
haltige  Nervenfaser,  welche  aus  diesem  hinunter 
zu  dem  Urhirn  führte.  Alle  Teile  des  letzteren 
dagegen  waren  normal  und  nur  etwas  kleiner 
als  die  eines  ca.  2 jährigen  Kindes.  Auch  die 
Faserung  des  Urhirns  vom  Corpus  striatum  nach 
hinten  zum  Rückenmark  war  ganz  normal.  Da- 
gegen fehlten  sämtliche  aus  ihm  in  das  Großhirn 
einstrahlenden  Faserzüge. 

Es  liegt  zum  erstenmal  ein  menschliches  Wesen 
vor,  das  ganz  auf  das  Urhirn  angewiesen  war  und  dem 
ein  Großhirn  ebenso  fehlte,  wie  etwa  einem  Fisch. 
Besonders  bemerkenswert  ist,  daß  dieser  Mensch 
ohne  Großhirn  viel  weniger  leistete,  als  ein  Tier 
unter  gleichen  Umständen.  So  lernte  der  Hund 
Rothmanns,  der  gleichfalls  über  3  Jahre  ohne 
Großhirn  lebte,  bald  wieder  laufen,  sogar  die  Hürde 
überklettern.  Das  Kind  dagegen  lag  stets  bewegungs- 
los, versuchte  nie  sich  aufzurichten  oder  auch  nur 
die  Hände  zum  Greifen  zu  benutzen.  Der  Hund 
mußte  nur  anfangs  gefüttert  werden  und  lernte 
bald  die  Schüssel  leer  zu  fressen,  wenn  sie  an  seine 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   12 


Schnauze  gebracht  wurde.  Das  Kind  dagegen 
mußte  stets  mit  Einlöffeln  gefüttert  werden.  Bei 
dem  Hund  wechselten  Schlaf  und  Wachen,  während 
das  Kind  beständig  schlief.  Auch  war  es  unmög- 
lich, es  irgend  etwas  zu  lehren,  während  dies  beim 
Hund  bis  zu  einem  gewissen  Grad  gelang. 

Aus  allem  ergibt  sich,  daß  die  Säuger  zwar 
nicht,  wie  die  Fische,  Amphibien  und  Reptilien, 
mit  dem  Urhirn  allein  auskommen  können,  daß 
aber  der  Mensch  das  Großhirn  überhaupt  nicht  ent- 
behren kann.  Er  ist  absolut  auf  die  ungestörte 
Funktion  desselben  angewiesen.  E.  schließt: 
„Unser  Kind  ohne  Großhirn  war  weniger  leistungs- 
fähig als  ein  Fisch  oder  ein  Frosch  ohne  Großhirn." 

Totales  Fehlen  des  Gehirns  und  Rückenmarks 
lag  bei  dem  ausgetragenen  Kind  eines  syphiliti- 
schen Vaters  vor.  Darüber  berichtet  Gustavo 
M o  d  e  n  a  (Deutsche  Zeitschrift  fürNervenheilkunde, 
46.  Bd.,  Heft  2,   191 3). 

Bei  der  Geburt  waren  die  Herztöne  regelmäßig 
und  ebenso  sollen  die  Beine  einige  Bewegungen 
gezeigt  haben;  beides  hörte  aber  nach  wenigen 
Minuten  auf.  Die  anatomische  Untersuchung  ergab 
ein  völliges  Fehlen  des  Gehirns  und  der  vorderen 
Wurzeln  des  Rückenmarks.  Einige  der  Gehirn- 
nerven (Trigeminus,-  Facialis,  Acusticus,  einige 
Vagus-  und  Glossopharyngeuswurzeln)  hatten  sich 
entwickelt  und  endigten  frei  in  der  Schädelhöhle. 
Während  von  den  vorderen  Wurzeln  des  Rücken- 
marks jede  Spur  fehlte,  waren  die  hinteren  Wurzeln 
mit  den  Spinalganglien  entwickelt. 

Prof.  Dr.  phil.  et  med.  L.  Kathariner. 

Chemie.  Ein  neues  Kohjenoxyd.  Seit  langem 
kennt  man  zwei  Verbindungen  des  Kohlenstoffs 
mit  Sauerstoff:  das  Kohlendioxyd  oder  die  Kohlen- 
säure (CO.3)  und  das  Kohlenmonoxyd  oder  Kohlen- 
oxyd (CO).  Durch  die  Untersuchungen  von 
D  i  e  1  s  ist  1906  zu  diesen  beiden  Kohlenstoffoxyden 
ein  drittes  hinzugekommen,  das  Kohlensuböxyd 
(CgOo).  Es  entsteht  aus  der  Malonsäure  durch 
Wasserentziehung  mittels  Phosphorpentoxyd  nach 
dem  Schema 

COOH  C  =  O 

!  II 

CHj         >     C  +2H.,0, 

I  II 

COOH  C  r=  O 

ist  also  das  Anhydrid  der  Malonsäure.  Die  von 
Diels  angewandte  Methode  der  Anhydrisierung 
einer  Dikarbonsäure  müßte  theoretisch,  auf  andere 
Polykarbonsäuren  von  geeigneter  Struktur  über- 
tragen, zu  den  verschiedensten  „Kohlenoxyden" 
führen.  Tatsächlich  ist  es  vor  kurzem  Hans 
Meyer  und  Karl  St  ein  e  r  gelungen,  auf  diesem 
Wege  ein  neues  Kohlenoxyd  von  der  Zusammen- 
setzung Ci.,0.,  zu  isolieren  (vgl.  Berichte  d.  Deutsch. 
Chem.  Ges.  46,  813).  Meyer  und  Steiner 
gingen  von  der  Mellitsäure  aus,  einer  Hexakarbon- 
säure,  die  bekanntlich  bei  der  Oxydation  von 
Holzkohle  mittels  Kaliumpermanganat  in  alkali- 
scher Lösung  erhalten  werden  kann.    Erhitzt  man 


diese  Säure  längere  Zeit  mit  viel  Benzoylchlorid, 
so  geht  sie  unter  Wasseraustritt  in  ihr  Anhydrid 
über: 


COOH 


CO  — ü 


HOOC 
HOOC- 


•  COOH 


C   i-yCOOH 


CO. 


>-►  o 


CO..C   0 


CO 


■  CO 


+  3H,0. 


COOH  CO    0 

Das  aus  der  Lösung  auskristallisierende  Kohlen- 
oxyd hat  also,  nach  Art  seiner  Entstehung  und  nach 
seiner  Zusammensetzung  (so»/,,  Kohlenstoff,  50% 
Sauerstoff)  die  Formel  CigO«.  Es  ist  in  kaltem 
Wasser  fast  unlöslich;  beim  PIrwärmen  mit  Wasser 
geht  es  wieder  in  Mellitsäure  über.  Auf  Tempe- 
raturen oberhalb  320°  erhitzt  wird  es  dunkel,  bei 
weiterem  Erhitzen  versprüht  es  unter  Erglühen, 
und  schließlich  verbrennt  es  mit  rußender,  dunkel- 
roter Flamme.  Im  Vakuum  läßt  es  sich  subli- 
mieren.  Bugge. 

Zoologie.     Feminierung    von    Männchen    und 
Maskulierung  von  Weibchen.     In    der    Keimdrüse 
sind  bekanntlich  zweierlei  Arten  von  Drüsengewebe 
vereinigt,    die    gänzlich    verschiedene    Funktionen 
haben:    die    Samenzellen    und    die    intersti- 
tiellen   Zellen,    die    den    innersekretorischen 
Anteil    des    Hodens    bilden.     Vor   einigen   Jahren 
gelang     es     Steinach      auf     dem     Wege     der 
autoplastischen     Transplantation     diese 
Elemente    gänzlich    isoliert,    also   von    generativen 
Elementen  frei,  zur  Ausbildung  zu  bringen.    Wäh- 
rend   sie    sich    bei     Transplantation     der    Hoden 
im  infantilen  Alter  in  abnormer  Menge  entwickel- 
ten, fehlen  die  Samenzellen  vollständig.    Da  trotz- 
dem sämtliche  sekundäre  Sexualmerkmale  wie  alle 
psychischen  und  funktionellen  Veränderungen,  die 
für  den  Pubertätszustand  charakteristisch  sind,  auf- 
traten, mußte  angenommen  werden,  daß  die  Ge- 
schlechtsreife nicht  mit  den  samenbereitenden 
Organen  in  Zusammenhang  zu  bringen  ist,  sondern 
allein  von  der  sekretorischen  Funktion 
der  inneren  Drüse  veranlaßt  wird,  die  Stei- 
nach   nach    ihrer    Wirkung    Pubertätsdrüse 
nannte.      Die    Versuche    ergaben    ferner,    daß  der 
Grad  der  Pubertät  nach  der  Menge  dieser  Drüsen- 
substanz wechselt ,    daß   also    z.  B.   bei   abnormer 
Entwicklung  übertriebene  Männlichkeit  in  Erschei- 
nung tritt,   während  bei  teilweiser  Entfernung  die 
für  sie  bezeichnenden  Erscheinungen  wieder  zurück- 
gehen. ^) 

Versuche  an  niederen  Tieren  erwiesen  nicht  mit 
Sicherheit,  ob  die  Wirkung  der  männlichen  und 
weiblichen  Pubertätsdrüse  in  bezug  auf  Ausbildung 
der  Geschlechtscharaktere  identisch  sei,  d.  h.  ob 
sich  nach  der  Transplantation  von  Ovarien  auf 
kastrierte  Männchen  dieselben  Erscheinungen  zeigten 


')  Physiol.  ZentralblatI,  Bd.  24,   igio.  —  Pflüger's  .Archiv, 
1912. 


N.  F.  XIII.  Nr.  12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


189 


wie  bei  der  autoplastischen  Transi)]antation  oder 
bei  normalen  Männchen.  Die  an  Säugetieren  ge- 
machten Beobachtungen  ergaben  indessen,  daß  die 
Pubertätsdriise  eines  Geschlechts  nur  die  homo- 
logen sekundären  Charaktere  hervorrufen  kann, 
daß  also  ihre  Wirkung  spezifisch  ist. 

Autoplastische  Eierstockstransplantationen, eben- 
so solche  von  Weibchen  auf  Weibchen  werden 
schon  lange  mit  Erfolg  ausgeführt.  Die  Ovarien- 
transplantation  von  weiblichen  auf  männliche  Indivi- 
duen führte  Steinach  zum  erstenmal  mit  Resul- 
tat aus.  Sie  gelang  allerdings  nur,  wenn  vorher 
die  Kastration  vorgenommen  war.  Kontrollversuche 
mit  Beibehaltung  der  Hoden  zeigten  bald  eine 
Degeneration  der  Transplantate.  Es  wurde  bei 
den  Experimenten,  die  an  jugendlichen  Ratten 
und  Meerschweinchen  vorgenommen  worden  sind, 
folgendermaßen  verfahren :  Man  ließ  eine  einem 
größeren  Wurfe  entnommene  Vergleichsserie  unter 
denselben  Bedingungen  zusammen  aufwachsen.  Sie 
enthielt  nach  vollzogener  Operation  ein  normales 
Männchen,  ein  normales  Weibchen,  ein  im  frühesten 
Alter  kastriertes  Männchen  und  ein  oder  mehrere 
Männchen  mit  nach  der  Kastration  implantierten 
Ovarien.  Bei  letzteren  ergab  sich  nun  ein  Anheilen 
und  Wachsen  der  Ovarien,  in  histologischer  Be- 
ziehung eine  starke  Anhäufung  des  interstitiellen 
Gewebes,  also  der  weiblichen  Pubertätszellen.  Die 
männlichen  sekundären  Geschlechtscharaktere 
blieben  dagegen  wie  bei  gewöhnlichen  Frühkastra- 
ten auf  infantiler  Stufe  stehen.  Durch  Kontroll- 
wägungen  von  normalen  Männchen  und  Kastraten 
desselben  Wurfes  ließ  sich  nachweisen,  daß  die 
bei  den  Tieren  mit  implantierten  Ovarien  auftreten- 
den Hemmungen  im  Wachstum  wie  die  Umwand- 
lung der  männlichen  Formen  nicht  auf  die 
Kastration  zurückzuführen  sind,  also  allein 
durch  die  innersekretorische  Tätig- 
keit der  Pubertätsdrüsen  veranlaßt 
werden.  Wenn  das  implantierte  Ovarium  nach 
Ansatz  zur  Anheilung  wieder  resorbiert  wird 
oder  wenn  es  überhaupt  nicht  zum  Anwachsen 
kommt,  bilden  sich  die  auftretenden  weiblichen 
Geschlechtseigentümlichkeiten  sofort  zurück  oder 
sie  entwickeln  sich  gar  nicht.  Die  charakteristisch- 
sten dieser  firscheinungen  sind  folgende:  Das 
Skelett  und  die  Körperformen  der  Männchen 
mit  implantierten  Ovarien  nehmen  nach  und  nach 
die  des  Weibchens  an.  Die  Gestalt  wird  schlanker 
und  kürzer,  es  bildet  sich  Fettansatz  und  das  in 
der  Jugend  bei  beiden  Geschlechtern  vorhandene 
glatte  weiche  Haarkleid,  das  beim  heranwachsen- 
den männlichen  Tiere  allmählich  in  ein  grobes 
Struppiges  übergeht,  bleibt  fein  und  geschmeidig 
wie  es  war.  Am  auffälligsten  ist  aber  die  U  m  - 
bildung  der  beim  Männchen  rudimentären  An- 
lagen der  Brustwarzen  und  Brustdrüsen 
zu  gut  entwickelten  weiblichen  Organen.  Neue 
Beiträge  zu  dieser  Erscheinung  lieferten  die  jüngsten 
St  ei  nach 'sehen  Versuche,  die  gleichfalls  an  der 
Wiener  biologischen  Versuchsanstalt  ausgeführt 
wurden.  *)     Die    bei  normalen  Weibchen   erst  zur 


Zeit  der  (iravidität  eintretende  Hyperplasie  der 
Mamma,  ein  außerordentlich  starkes  Wachsen 
und  Wuchern  der  Alveolen  und  Drüsenlappen,  die 
in  der  Pubertätszeit  noch  weit  auseinander  liegen, 
tritt  merkwürdigerweise  bei  den  feminierten 
Männchen  auch  ein,  was  die  derzeit  gellende  An- 
nahme, daß  die  die  Hyperplasie  der  Mamma  wie  die 
Milchsekretion  hervorrufenden  Hormone  aus  dem 
P"ötus  (der  Plazenta)  hervorgehen,  wohl  ins  Wanken 
bringen  muß.  Diese  Feststellung  eröffnet  eine 
Reihe  interessanter  Möglichkeiten.  In  Pflüger's 
Archiv,  Bd.  39,  äußert  sich  S  t  e  i  n  a  c  h  folgender- 
maßen :  „Der  Gedanke  liegt  nahe,  das  Implantations- 
verfahren bei  normalen  weiblichen  Tieren  praktisch 
zu  verwerten  und  durch  Verstärkung  des  Wachs- 
tums durch  entsprechend  größere  Ausbreitung 
der  Milchdrüsenanlage  eine  günstige  Disposition 
für  eine  gravide  Weiterentwicklung,  mittelbar  für 
eine  reichere  Milchproduktion  zu  schaffen.  Diese 
Methode  käme  zunächst  für  junge  Milchtiere  in 
Betracht.  Da  auch  heteroplastische  Transplan- 
tation (d.  h.  in  diesem  Falle  Transplantation  von 
Tieren  auf  Menschen)  der  Ovarialsubstanz  gelingt, 
könnte  man  es  schließlich  auch  wagen,  die  Dis- 
position für  die  Stillfähigkeit  beim  Menschen  zu 
verbessern." 

Gemeinsam  mit  dem  Wiener  Radiologen 
Guido  Holzknecht  hat  S  t  e  i  n  a  c  h  schon  mit 
Erfolg  den  Versuch  unternommen,  das  Ovarium  des 
normalen  jungfräulichen  Meerschweinchens  durch 
Röntgenbestrahlung  derartig  zu  beeinflussen, 
daß  die  für  die  Schwangerschaft  charakteristischen 
Erscheinungen  —  starkes  Wachstum  des  Uterus, 
Ausbildung  der  Zitzen,  Hyperplasie  der  Mamma, 
Sekretion  fettreicher  normaler  Milch  —  auftreten, 
eine  Tatsache,  die  vielleicht  Aussicht  zur  Behand- 
lung des  pathologischen  Infantilismus 
auf  diesem  Wege  eröffnet. 

Auch  das  Benehmen  der  feminierten  Männchen 
wird  dem  der  Weibchen  ähnlich :  Sie  nehmen  die 
Jungen,  die  man  zu  ihnen  setzt,  an,  säugen  sie,  wobei 
sie  dieselbe  Geduld  und  Aufmerksamkeit  wie  eine 
wirkliche  Mutter  zeigen.  Ebenso  sind  die  anderen 
psychosexuellen  Charaktere  weiblich  geworden  :  die 
feminierten  Männchen  sind  ohne  Mut  und  Rauflust, 
ohne  männlichen  Trieb,  sie  zeigen  die  typischen 
weiblichen  Reaktionen  und  Bewegungen  (Schwanz- 
reflex, Abwehrreflex),  und  werden  —  das  ist  wohl 
die  beweiskräftigste  Erscheinung  für  die  erfolgte 
Feminierung  —  von  den  normalen  Männchen  ganz 
wie  Weibchen  behandelt,  d.  h.  leidenschaftlich  ver- 
folgt, besprungen,  was  bei  Kastraten  absolut  nicht 
der  F'all  ist.  ,,Das  zentrale  Nervensystem  der  femi- 
nierten Männchen  ist  in  weiblicher  Richtung  ero- 
tisiert." 

Natürlich  müßte  theoretisch  die  Maskulierung 
von  Weibchen  ebensogut  möglich  sein  wie  die 
Feminierung  der  Männchen.  Bei  der  praktischen 
Durchführung  ergaben  sich  insofern  Schwierig- 
keiten, als  das  Hodengewebe  bei  der  Übertragung 


')  Phys.  Zentralblatt,  Bd.  27,   19 13. 


IQO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   12 


nicht  so  widerstandsfähig  ist  wie  das  Ovarium. 
Abgesehen  davon  ist  das  Implantat  auch  weniger 
dauerhaft.  Doch  gelang  es  Steinach  nach 
manchen  Fehlschlägen  durch  wiederholte  Implan- 
tation oder  Ausnützung  der  Blutsverwandtschaft 
(Verpflanzung  des  brüderlichen  Hodens  in  die 
vorher  kastrierte  Schwester)  Weibchen  in 
Tiere  mit  somatischer  und  psychi- 
scher männlicher  Sexualität  umzu- 
wandeln. In  histologischer  Beziehung  zeigt  die 
implantierte  männliche  Drüse  vollständige  Degene- 
ration resp.  Zerstörung  der  Samenkanäle  (im  Ova- 
rium entwickeln  sich  auch  die  generativen  Gewebe 
und  bestehen  eine  Weile  in  funktionsfähigem  Zu- 
stande fort)  und  eine  mächtige  Wucherung  der 
männlichen  Pubertätszellen  (Leydi  g'schen  Zellen) 
im  interstitiellen  Gewebe.  Auch  hier  bleiben  alle 
weibliche  Anlagen  unentwickelt,  während  sich  die 
indifferenten  in  männlicher  Richtung  umbilden. 
Mamma,  Mamilla,  Uterus  bleiben  rudimentär,  da- 
gegen werden  alle  Sexualcharaktere,  die  vor,  mit 
oder  nach  der  Pubertät  auftreten  bzw.  fertig  aus- 
gebildet werden,  ausgesprochen  männlich.  Am 
auffälligsten  sind  das  starke,  weit  über  das  des 
kastrierten  Weibchens  hinausgehende  Wachstum 
des  männliche  Formen  annehmenden  Körpers,  das 
lange,  struppige  Haarkleid,  das  teilweise,  bisweilen 
auch  vollständige  Verschwinden  der  vaginalen 
(Öffnung.  Wie  die  feminierten  Männchen  zum  Teil 
feinere  Formen  zeigen  als  ihre  normalen  Schwestern, 
so  übertreffen  die  maskulierten  Weibchen  auch 
die  normalen  Männchen  oft  an  Robustheit  und 
Größe  (besonders  des  Kopfes).    Hand  in  Hand  mit 


der  Umbildung  der  körperlichen  Merkmale  geht 
die  der  psychischen  Eigenschaften.  Der  Ge- 
schlechtstrieb wird  ausgesprochen  männlich,  ein 
brünstiges  Weibchen  wird  augenblicklich  von 
einem  nicht  brünstigen  unterschieden  und  verfolgt. 
Setzt  man  ein  normales  Männchen  zu  den  mas- 
kulierten Weibchen,  so  wird  es  angegriffen,  genau 
wie  von  einem  wirklichen  männlichen  Tiere. 

Auch  die  übrigen  Eigenschaften  der  männlichen 
Psyche  haben  die  der  weiblichen  verdrängt. 

Die  Ergebnisse  der  St  ei  nach 'sehen  Ver- 
suche bringen  uns  der  Lösung  des  schwierigen 
und  vielumstrittenen  Problems  der  sekundären 
Geschlechtscharaktere  um  einen  bedeutenden 
Schritt  näher.  Sie  haben  gezeigt,  daß  der  Ge- 
schlechtscharakter nicht  fixiert  oder 
vorausbestimmt  ist  —  es  wäre  ja  sonst  nicht 
möglich,  ihn  durch  Austausch  der  Pubertätsdrüsen 
beim  infantilen  Individuum  vollständig  umzuwan- 
deln. Die  Annahme,  daß  die  Anlage  des  Embryos 
weder  ein-  noch  zweigeschlechtig,  sondern  asexuell 
oder  indifferent  ist,  gewinnt  durch  die  erwiesenen 
Tatsachen  sehr  an  Wahrscheinlichkeit.  Die  von 
S  t  e  i  n  a  c  h  angekündigte  Veröffentlichung  weiterer 
Versuchsreihen  wird  noch  auf  manche  dunkle 
Fragen  ein  Licht  werfen  und  —  wie  es  ja  schon 
durch  die  bisherigenVersuche  in  bedeutendem  Grade 
geschehen  ist  —  den  biologischen  Wissenschaften, 
insonderheit  der  Erblichkeitsforschung  eine  Anzahl 
neuer,  höchst  interessanter  Probleme  und  Unter- 
suchungsmethoden auftun. 

R.  Aichberger-München. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Geschichtliche    Notizen    zur   allmählichen  Vi 


vollkommnung  der  Tmte. 
Jahre 


Schon  ungefähr  3000 
V.  Christi  Geburt  war    den    Chinesen   Tinte 


bzw.  Tusche  bekannt.  Diese  erste  Tinte,  als  deren 
Erfinder  Tien-Tschen  genannt  wird,  war  eine 
Art  Lack,  mit  der  man  auf  Seide  schrieb.  Später 
verwandte  man  Ruß  zur  Tintenherstellung,  beson- 
ders war  dies  bei  den  Römern  und  Griechen  Sitte. 
Als  Klebemittel  wurde  schon  damals  der  Tinte 
zu  3  Teilen  Ruß  i  Teil  Gummi  zugesetzt.  In 
dem  vom  Vesuv  verschütteten  Herculanum  hat 
Winkelmann  Schriftstücke  aufgefunden,  die  mit 
Rußtinte  geschrieben  und  tadellos  leserlich  erhalten 
sind').  Diese  Schreibvveise  bedeutete  sicherlich 
einen  gewaltigen  Fortschritt  gegenüber  dem  vor- 
her üblichen  Eingraben  der  Schriftzeichen  in  Holz, 
Stein,  Ton  oder  Metall. 

Außer  der  oben  erwähnten  schwarzen  Tinte 
kannte  das  Altertum  auch  schon  farbige,  vor  allem 
rote  Tinten,  zu  deren  Herstellung  Zinnober,  Ali- 
zarin und  Mennige  verwendet  wurden.    Zu  der  be- 

')  Man  vgl.  Dr.  Paul  Mar  teil:  „Einige  Beiträge  zur 
Geschichte  der  Tinte".  (Zeitschrift  für  angewandte  Chemie 
1913.  27-) 


sonders  von  den  byzantinischen  Kaisern  benutzten 
Purpurtinte  diente  der  Saft  der  Purpurschnecke. 
Goldtinte  stellte  man  oft  nach  folgendem  Rezept 
dar:  „Mischung  von  fein  zerriebenem  und  mit  Wein 
geschlämmten  Gold  in  Verbindung  mit  Ochsen- 
galle oder  Gummi,  auch  Eiweiß."  Solche  Goldtinten 
haben  sich  zum  Unterschied  von  den  unscheinbar 
gewordenen  Silbertinten  gut  gehalten.  Diese  Tinten- 
arten wurden  bis  in  das  15.  Jahrhundert  beibe- 
halten. Da  erst  kamen  die  heute  noch  viel  be- 
nutzten Eisengallusiinten  auf,  die  damals  von  den 
hauptsächlichsten  Trägern  des  Schrifttums,  den 
Mönchen,  hergestellt  wurden. 

Ein  aus  dem  Jahre  141 2  herdatierendes  Rezept 
für  Eisengallustinte  lautet:  Man  übergieße  fein  ge- 
pulverte Galläpfel  mit  Regenwasser  oder  Bier, 
mische  dazu  Vitriol  (Eisensulfat)  und  filtriere  die 
Masse  nach  einigen  Tagen.  Nach  Cardamus 
(De  rerum  varietate,  libri  XVII.  1557)  setzt  man  der 
Tinte  Schalen  der  Granatäpfel  zu,  um  einen  guten 
Glanz  zu  erreichen.  Auch  Tintenpulver  zum  Mit- 
nehmen auf  Reisen  erwähnt  schon  dieser  Autor. 
In  dem  Werke  „De  secretio  libri  Septem"  bringt 
der    Verfasser    Alexius    Pedemontanus    ein 


N.  F.  XIII.  Nr.  12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


191 


Rezept,  um  alte,  verblichene  Tinte  wieder  lesbar 
zu  machen:  Man  zerstoße  Galläpfel  grob  und  lege 
das  Pulver  einen  Tag  in  Wein  und  destilliere  das 
Wasser  ab.  Die  verblaßte  Schrift  betupft  man 
mit  einem  Baumwollläppchen,  worauf  sie  wieder 
lesbar  wird. 

Von  Bedeutung  für  die  Tintenherstellung  sind 
auch  die  wissenschaftlichen  Arbeiten  des  englischen 
Naturforschers  Robert  Boyle's.  Er  untersuchte 
die  Reaktion  der  Galläpfel  und  anderer  pflanzlicher 
Stoffe  auf  die  Lösungen  der  Vitriole  in  Gegenwart 
von  Säuren  und  Salzen.  Außer  Galläpfeln  sind 
nach  ihm  Eichenrinde,  Blätter  der  roten  Rose,  Rinde 
der  Granatäpfel,  Blauholz  und  Sumach  zur  Tinten- 
herstellung zu  verwenden.  Otto  Trachenius 
fand,  daß  sich  nur  Eisenvitriol  zur  Tintenfabrikation 
verwenden  läßt.  Kobalttinte  wird  zum  ersten  Male 
1705  in  einem  Werke  von  D.  J.  Waitz  erwähnt. 
Einen  weiteren  Fortschritt  bedeutete  die  von 
Scheele  1785  gemachte  Entdeckung  der  Gall- 
äpfelsäure und  die  der  Gerbsäure  von  Deyeux 
(1793)-  I"  <i^n  30  er  Jahren  des  letzten  Jahrhunderts 
beschäftigte  man  sich  vor  allem  damit,  die  Tinte 
dauerhaft  zu  machen  und  vor  Fälschungen  zu 
schützen.  Auf  eine  von  der  französischen  Regierung 
ausgehende  Anregung  hin  schlugen  angesehene 
Chemiker  Frankreichs  eine  Tinte  vor,  die  aus 
chinesischer  Tusche  mit  einem  Zusatz  von  ver- 
dünnter Salzsäure  oder  essigsaurem  Mangan  be- 
stand. Bei  den  alten  tierisch  geleimten  Papieren 
tat  sie  auch  ganz  gute  Dienste,  als  man  jedoch 
gestärkte  und  harzgeleimte  Papiere  verwendete, 
versagte  diese  Tinte.  Wertvoller  war  die  von  dem 
deutschen  Professor  Runge  1847  entdeckte  Chrom- 
blauholztinte, die  auch  vor  allem  die  Stahlfedern 
nicht  angriff 

Den  Übergang  zu  den  neueren  Tinten  bildet 
die  Alizarintinte  von  Aug.  Leo nhardi -Dresden 
(1856).  Diese  Alizarintinte  enthielt  nicht  das  gerb- 
und  gallusäaure  Eisen  in  fertiger  Bildung,  sondern 
stellte  eine  klare  Lösung  dar.  Das  gerbsaure  Eisen 
bildete  sich  erst  nach  dem  Eintrocknen  der  Schrift 
durch  Oxydation,  die  sich  hauptsächlich  innerhalb 
der  oberen  Schichten  des  Papieres  vollzog,  und 
so  ein  stärkeres  Anhaften  der  Tinte  vermochte. 
Das  Mittel,  das  der  Tinte  diese  Eigenschaften  gab, 
war  Indigosulfosäure.  Den  Namen  hat  die  Tinte 
von  dem  holländischen  Krapp,  einem  Zusatzmittel, 
das  Alizarin  enthält. 

Die  Indigosulfosäure  wurde  in  den  darauffolgen- 
den Jahren  durch  wasserlösliche  Anilinfarbstoffe 
ersetzt.  Die  so  entstandenen  Anilintinten  fanden 
bald  durch  ihre  schöne  Farbe  viele  Anhänger  und 
verdrängten  so  die  Eisengallustinten.  Da  sie  je- 
doch wenig  widerstandsfähig  gegen  Luft  und 
Licht  sind,  so  hatte  man  bald,  besonders  in  bezug 
auf  wichtige  Schriftstücke,  seine  Bedenken.  Bismarck 
machte  daher  auf  diese  Tatsachen  aufmerkam  und 
erließ  am  i.  8.  1888,  die  „Grundsätze  für  amtliche 
Tintenprüfung".  Auf  die  neuere  Geschichte  der 
Tinte  noch  einzugehen,  würde  zu  weit  führen. 

Otto  Bürger. 


„Über  den  heutigen  Stand  der  Organtrans- 
plantationen" berichtet  Stich  (Deutsch,  med. 
Wochenschr.  Nr.  39,  19 13).  Die  Versuche,  ganze 
Organe  in  ihrem  Zusammenhange  ausgelöst, 
anderen  Menschen  wieder  einzusetzen,  sind  ganz 
neuesten  Datums,  und  erst  von  dem  Zeitpunkt 
aus  praktisch  am  Tierexperiment  in  größerem 
Umfange  erprobt  worden,  als  die  sog.  Gefäßnaht 
Gemeingut  der  Chirurgen  geworden  war.  Wäh- 
rend man  nämlich  sonst  die  Überpflanzungen  der- 
art ausführte,  daß  das  zu  überpflanzende  Stück  in 
die  neue  Umgebung  einfach  eingenäht  wurde, 
ging  man  nach  den  grundlegenden  Arbeiten 
Carrel's  nunmehr  dazu  über,  die  das  betreffende 
Organ  mit  der  Nachbarschaft  verbindenden  Haupt- 
blutgefäße durch  direkte  Naht  mit  den  Blutgefäßen 
der  neuen  Stelle  zu  vereinigen,  um  so  durch  eine 
schneller  einsetzende  Blutzirkulation  in  dem  neu 
verpflanzten  Gewebe  dessen  vorzeitiges  Absterben 
zu  verhindern.  Nun  erfordert  aber  die  Ausführung 
dieser  Gefäßnaht  einmal  eine  ganz  ausgezeichnete 
Technik,  sodann  aber  die  Einhaltung  einer  absolut 
einwandfreien  Asepsis  (d.  i.  Keimfreiheil),  die  weit 
über  den  Rahmen  der  sonstigen  Operationen 
hinausgeht. 

Man  hat  nun  bei  Überpflanzungen  zu  unter- 
scheiden: I.  die  autoplastischen  Transplantationen 
(d.  i.  Überpflanzungen  von  einzelnen  Organteilen 
bei  demselben  Menschen),  2.  die  homoioplastischen 
Transplantationen  (das  sind  Überpflanzungen  von 
Organen  oder  Teilen  desselben  auf  Lebewesen 
derselben  Art  also  zum  Beispiel  von  Mensch  zu 
Mensch,  oder  Hund  zu  Hund)  und  endlich  3.  die 
heteroplastischen  Transplantationen  (das  sind  Über- 
pflanzungen auf  Geschöpfe  verschiedener  Art  also 
zum  Beispiel  von  Affe  auf  Mensch,  von  Katze  auf 
Hund  u.  a.  m.).  Die  praktischen  Ergebnisse  dieser 
äußerst  interessanten  Forschungen,  die,  wie  ich 
bemerken  muß,  bislang  hauptsächlich  bei  Tieren 
experimentell  erprobt  wurden,  während  vom 
Menschen  nur  spärliche  Berichte  vorliegen,  sind 
kurz  folgende: 

1.  Autoplastische  Transplantationen  sind  mit 
Erfolg  bei  Tieren  und  Menschen  ausgeführt  worden. 
Die  besten  Resultate  lieferten  Nierenverpflanzungen, 
daneben  auch  solche  der  Schilddrüsen  und  der  Milz. 

2.  Homoioplastische  Transplantationen  ge- 
langen, wenn  auch  nicht  so  sicher  ebenfalls,  und 
zwar  sind  es  wieder  die  Nieren,  die  ein  dankbares 
P'eld  dafür  bieten.  Bei  Schilddrüsenverpflanzungen 
waren  die  Erfolge  nicht  so  gute  wie  bei  auto- 
plastischen. 

3.  Heteroplastische  Überpflanzungen  gelangen 
in  keinem  Falle. 

Die  praktische  Seite  dieser  Forschungen  wird 
klar,  wenn  man  sich  die  Perspektiven  vor  Augen 
hält,  die  sich  eröffnen,  wenn  es  gelingen  würde 
zum  Beispiel  schwer  nierenkranken  Menschen  durch 
Einpflanzung  neuer  Nieren,  sterilen  (unfruchtbaren) 
Frauen  durch  Einsetzung  neuer  Ovarien  den  Zu- 
stand zu  bessern.  Dr.  med.  Carl  Jacobs. 


192 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   12 


Bücherbesprecliungen. 

Dr.  Vittorio  Benussi,  Psychologie  der  Zeit- 
auffassung.     Mit    36  Figuren    und    60    Dia- 
grammen im  Text.     Rand  6  der  Psychologie 
in  Einzeldarstellungen,    herausgegeben    von    H. 
Ebbinghaus  f  und  E.  Meumann.     X   und 
581  S.  Heidelberg  191 3,  Carl  Winters  Universitäts- 
buchhandlung. —  Preis  geh.  9  Mk.,  geb.  10  Mk. 
Die     von     Winters     Universitätsbuchhandlung 
herausgegebene     Bibliothek     der    Psychologie    in 
Einzeldarstellungen  ist  durch  ein  Werk  bereichert 
worden ,    das    in  mustergültiger  Weise  auf  Grund 
eines     außerordentlichen     Beobachtungsmateriales 
das    vielleicht   schwierigste    aller    psychologischen 
Probleme,    das  Zeitproblem,    nach  den  verschie- 
densten Richtungen  hin  behandelt.    Der  stattliche 
Band  verlangt  wohl  einen  aufmerksamen,  geduldi- 
gen   Leser,    hinterläßt    aber,    da    er    nach    jedem 
größeren  Abschnitte  einen  wohldisponierten  Rück- 
blick   enthält    und    bei    Vermeidung    alles    Über- 
flüssigen durchweg  klar  und  gewandt  geschrieben 
ist,  einen  nachhaltigen  Eindruck.    Besonders  wird 
den    Philosophen    der    Abschnitt   über    die  Prove- 
nienz  der   Zeitvorstellung    interessieren,    der  zwar 
nicht  zu  bedeutsamen  positiven  Ergebnissen  führt, 
aber  um    so  gründlicher  die  Schwierigkeiten  auf- 
deckt,  mit   der   die    Zeitanalyse   zu  kämpfen  hat. 
Wir  wünschen    dem    Buche  weiteste  Verbreitung. 

Angersbach. 

G.  L.  de  Haas-Lorentz,  Die  Brown 'sehe  Be- 
wegung undeinigeverw  andteErschei- 
nungen.    Bd.   52  der  Sammlung  „Die  Wissen- 
schaft".   VI  u.  103  Seiten.    Braunschweig,  Verlag 
von  Friedr.  Vieweg  u.  Sohn,   1913.  —  Preis  ge- 
heftet 3,50  Mk.,  gebunden  4,20  Mk. 
Über  VVesen  und  Bedeutung  der  Brown 'sehen 
Bewegung   sind    die  Eeser   der  Naturwissenschaft- 
lichen Wochenschrift    bereits   durch   eine  ausführ- 
liche Darstellung  (Bd.  IX,  S.  35 — 43,   1910)  unter- 
richtet, und  es  genügt  daher,  an  dieser  Stelle  auf 
die  vorliegende  kleine  Schrift,  eine  etwas  ergänzte 
deutsche  Ausgabe    der    holländischen  Dissertation 
der    Verfasserin,    als    auf   eine    Arbeit    wesentlich 
theoretisch-mathematischen  Charakters  hinzuweisen. 
In  der  Tabelle  auf  Seite  39  des  Büchleins  ist  der 
im  Deutschen  kaum  verständliche  Ausdruck  ,,Ureum- 
lösung"  durch  den  Ausdruck  ,, Harnstofflösung"  zu 
ersetzen.       Werner  Mecklenburg,  Clausthal  i.  H. 


Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  F.  Iringer,  Naumburg  a.  d.  S.  Die  Stellung  der 
Wissenschaft  gegenüber  den  Kugelblitzen  ist  zunächst  einmal 
dadurch  gegeben,    daß    sie    heute  an  die  Wirklichkeit  der  Er- 


scheinung glaubt.  Mit  zunehmender  Verbreitung  physikalischer 
und  besonders  meteorologischer  Vorbildung  sind  mit  der  Zeit 
so  viele  naturwissenschaftlich  klar  gefaßte  Beschreibungen  ge- 
sehener Kugelblitze  bekannt  geworden,  daß  jetzt  umgekehrt 
ein  Zweifel  erst  zu  begründen  wäre,  /war  ist  ein  objektiver 
Beweis  ihres  Bestehens,  d.  h.  eine  Photographie  noch  nicht 
gelungen,  doch  liegen  Messungen,  oder  besser  gesagt,  objektive 
Schätzungen  über  F.igengeschwindigkeit,  Größe,  Höhe  über  dem 
Erdboden  u.  dgl.  vor,  und  schließlich  gibt  es  eine  ganze  Anzahl 
deutlicher  Photographien  der  wohl  nah  verwandten  Perlschnur- 
blitze. 

Dazu  kommt,  daß  man,  vor  allem  durch  die  Laboratoriums- 
Studien  von  A.  T  o  e  p  1  e  r ,  Dresden,  über  leuchtende  Entladungen 
in  freier  Luft  über  die  physikalischen  Vorgänge  der  Blitzbildung 
Vorstellungen  gewonnen  hat,  die  den  wahren  Verhältnissen 
bei  der  Blitzenlladung  wohl  sehr  nahe  kommen.  Es  kann  hier 
nicht  näher  auf  die  so  entstandene  Tiicorie  vom  Blitz  einge- 
gangen werden,  doch  sei  bemerkt,  daß  das  Typische  darin 
liegt,  daß  der  Ausgleich  der  Elektrizitäten  zwischen  einem  guten 
Leiter  (Erde)  und  einem  Halbleiter  (Wolke)  stattfindet.  Je  nach 
der  durch  die  Umstände  gegebenen  Möglichkeit,  im  Halbleiter 
rasch  oder  langsam  Elektrizitätsmengen  zuführen  zu  können, 
richtet  sich  die  Form  der  Entladung  (Funke,  Gleitfunke,  Büschel- 
licht, Büschellichtbogen  u.  a.  m.).  Ist  der  Elektrizitätszufluß 
sehr  gleichmäßig,  so  entstehen  im  Laboratorium  geschichtete 
Entladungen,  denen  in  der  Natur  die  Perlschnurblitze  entsprechen 
werden,  bei  nahezu  kontinuierlichem  Zufluß  bildet  sich  im  Labo- 
ratorium nur  eine  einzige  leuchtende  Masse,  deren  Widerspiel 
in  der  Natur  der  Kugelblitz  sein  wird.  Künstliche  Nachahmun- 
gen des  Kugelblitzes  hat  schon  Plante  gemacht,  sowie 
F.  V.  Lepel.  Für  eingehendere  Fragen  verweise  ich  aui 
A.  Toeplers  .Arbeit  zur  Kenntnis  der  Kugelblitze  in  der 
Meteorologischen  Zeitschrift  d.  J.  igoo;  auch  das  Lehrbuch 
der  Physik  von  MüHer-l'ouillet,  10.  Aufl.,  wird  im  Kapitel  über 
l'rdelektrizität  sich  mit  den  Blitzen  im  Rahmen  der  gesamten 
Luftelektrizität  eingehend  befassen.  A.  Nippoldt. 


Herrn  Dr.  R.  H.,  Berlin-Friedenau.  —  Beruht  das  Lispeln 
(Anstoßen  mit  der  Zunge)  lediglich  auf  einer  schlechten  An- 
gewohnheit oder  auf  physiologischen  Ursachen,  und  gibt  es 
Mittel,    um    bei    Kindern    die    üble  Gewohnheit  zu  vertreiben? 


Lispeln  (=  mangelnde  Fähigkeit  oder  totale  Unfähigkeit,  die 
s-Laute  zu  bilden)  ist  streng  von  Stottern  zu  scheiden.  Die 
Aussprache  des  s  ist  verfälscht,  es  klingt  gewöhnlich  wie  das 
englische  th.  Diese  falsche  Lautbildung  ist  an  jeder  Stelle, 
wo  ein  s-Laut  gebildet  werden  muß.  Die  Zunge  führt  dabei 
abnorme  Bewegungen  aus :  sie  hält  einen  falschen  Laut.  Das 
weist  darauf  hin,  die  letzten  physiologischen  Ursachen  nicht  in 
lediglich  peripheren  Verhältnissen  des  Sprechapparates  (z.  B. 
ungünstige  Zahnstellung,  etwa  Verschleppung  einer  verkehrten 
Angewohnheit  aus  der  Zeit  des  Zahnens,  d.  h.  des  Zahnwechsels) 
zu  suchen.  Wohl  die  meisten  der  von  mir  behandelten  Lispeier 
hörten  den  richtigen  Laut  nicht,  wenigstens  zunächst  nicht. 
Das  läßt  an  primäre  Unvollkommenheiten  der  Gehörapparate 
denken,  die  wenigstens  eine  Zeitlang  bestanden  haben  mögen. 
Die  Behandlung  ist  nicht  leicht  durchführbar;  sie  besteht  in 
einer  Verbindung  von  mechanischen  und  Hörübungen. 
Dr.  Th.  Hoepfner-Eisenach. 
(„Professor  Rudolf  Denhardts  Sprachheilanstalt"). 


Literatur. 

Bart  hei,  Dr.  Ernst,  Die  Erde  als  Totalebene.  Hyper- 
bolische Raumtheorie,  mit  einer  Voruntersuchung  über  die 
Kegelschnitte.  Mit  Abbildungen.  1 10  S.  Leipzig '14,  O.  Hill- 
mann. —  2,50  Mk. 


Inhalt;  Albert  Koch:  Die  modernen  wissenschaftlichen  Forschungen  über  die  Entstehung  und  willkürliche  Bestimmung 
des  Geschlechts.  Günther  Bugge:  Künstliche  Seide  aus  Zellulose.  —  Einzelberichte:  P.  Magnus:  Der  F.ichen- 
mehltau  auf  amerikanischen  Eichen.  Störmer  und  Birkeland:  Studium  des  Nordlichtes.  F.  v.  Luschan:  Anthro- 
pologische Untersuchungen  auf  der  Insel  Kreta.  L.  Edinger  und  B.  Frischer:  Ein  Mensch  ohne  Großhirn.  Gustavo 
Mode  na:  Totales  Fehlen  des  Gehirns  und  Rückenmarks.  Bugge:  Ein  neues  Kohlenoxyd.  St  ei  nach:  F"eminierung 
von  Männchen  und  Maskulierung  von  Weibchen.  —  Kleinere  Mitteilungen:  P.  Martell:  Geschichtliche  Notizen  zur  all- 
mählichen Vervollkommnung  der  Tinte.  Stich:  Über  den  heutigen  Stand  der  Organtransplantationen.  —  Bücher- 
besprechungen: Vittorio  Benussi:  Psychologie  der  Zeitauffassung.  G.  L.  d  e  H  a  as  -  Lo  r  e  n  tz  :  Die  Brown'sche 
Bewegung  und   einige  verwandte  Erscheinungen.  —  Anregungen  und  Antworten.  —  Literatur:  Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Mi  ehe  in  Leipzig,  Marienstraße   na,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.   G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d,  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.    Band; 
der  ganzen  Keihe  2g.  Band. 


Sonntag,  den  29.  März  1914. 


Nummer  13. 


Das  Problem  der  Elberfelder  Pferde  und  die  Telepathie. 


[Nachdruck  verboten.]  Von   Prof.    Dr.   H. 

Nachdem  ich  die  rechnenden  Pferde  des  Herrn 
Krall  zu  vier  verschiedenen  Malen  —  insgesamt 
neun  Tage  —  beobachtet  habe,  bin  ich  in  dieser 
Frage  vorläufig  zu  einem  Abschluß  gekommen, 
da  meine  Zeit  und  die  vorhandenen  Umstände  es 
mir  nicht  gestatten,  dieses  Problem  in  gleich  inten- 
siver Weise  weiter  zu  verfolgen. 

Ziehe  ich  das  Fazit  aus  meinen  bisherigen  Ein- 
drücken, so  muß  ich  sagen,  daß  meine  beim  ersten 
und  zweiten  Besuch  (Ende  191 2)  gewonnenen  An- 
sichten sich  im  ganzen  nicht  verändert  haben.  ^) 
Leider  hatte  ich  bei  sämtlichen  Besuchen  mit  zum 
Teil  stark  indisponierten  Tieren  zu  tun,  so  daß 
meine  Eindrücke  nicht  die  besten  sein  konnten 
und  daher  nur  ein  Teilgebiet  umfassen,  da  ich 
z.  B.  keinerlei  befriedigende  „spontane"  Äußerungen 
der  Pferde  erlebte.  Wenn  ich  daher  im  nach- 
folgenden etwas  abweichende  Ansichten  äußere, 
abweichend  von  dem  Urteil  anderer  Beobachter, 
die  durch  die  Umstände  mehr  begünstigt  waren, 
so  ist  diese  meine  persönlichen  Erfahrungen  ein- 
schränkende Sachlage  wohl  zu  beachten. 
Es  kommt  hinzu,  daß  ich  mein  Hauptaugenmerk 
bei  den  beiden  ersten  Besuchen  (6  Beobachtungs- 
tage) lediglich  darauf  richtete,  festzustellen,  ob  die 
Pfungst'sche  Hypothese  der  unbewußten  opti- 
schen Zeichengebung  das  vorliegende  Problem  löse 
oder  nicht.  Ich  kam  zur  Ansicht,  daß  diese  Hypo- 
these nicht  ausreiche,  die  Leistungen  der  Pferde 
zu  erklären  und  verweise  auf  das  blinde  Pferd 
„Berto"  '),  dessen  vollkommene  Blindheit  übrigens 
keinem  Zweifel  unterliegen  kann.  Aber  auch  mit 
einer  bewußten  Zeichengebung  kommt  man  nicht 
durch  das  ganze  Problem  hindurch. '")  Der 
Krall'schen  Hypothese  einer  menschlichen  Intel- 
ligenz bei  den  Pferden  vermag  ich  nicht  zuzu- 
stimmen. ')^)  Ich  habe  das  ausführlich  in  meiner 
erwähnten  kleinen  Broschüre  auseinandergesetzt. 
Ich  kam  ferner  zur  Überzeugung,  daß  ein  Aus- 
rechnen im  gewöhnlichen  Sinne  bei  den  schwierig- 
sten Aufgaben  (Wurzelziehen)  nicht  vor  sich  geht, 
daß  man  hier  vorläufig  vor  einem  „Rätsel"  steht, 
dessen  Lösung,  „falls  fortgesetzte  Beobachtungen 
nicht  einen  einfacheren  Weg  finden  lassen"  \), 
vielleicht  auf  einem  bei  den  Pferden  vorhandenen 
„Rechensinn"  (Zahlensinn)  beruht,  der  mit  eigent- 
licher Intelligenz  nichts  zu  tun  hat.  ^)    Feinden  wir 


')  Vgl.  ,, Meine  Erfahrungen  mit  den  ,, denkenden"  Pferden". 
Jena  1913,  48  S.  m.  5  Textfig. ,  wie  auch  diese  Zeitschrift 
Nr.  16  u.   17,   1913. 

'")  Büttel- Reepen ,  Tierverstand  und  Abstammungs- 
lehre.    Biol.  Centralbl.  Bd.  33,  p.  512 — 515.     Erlangen   1913. 

^)  Arch.  f.  Rassen- u.  Gesellschaftsbiologie.      1913,  p.  77t- 


von  Buttel-Reepen. 

ihn  doch  auch  bei  geistig  Minderwertigen  und  Ver- 
blödeten."'') 

Sehr  merkwürdig  erscheint  es,  daß  dieser 
Zahlensinn  bei  einigen  Rechenkünstlern  (z.  B.  bei 
Richard  Whately,  Zerah  Colburn  u.  a.) 
mit  den  Kinderjahren  ,,mit  der  Zunahme  der  In- 
telligenz —  bei  fortschreitender  allgemeiner  Bil- 
dung —  wieder  verschwindet,  hier  also  gewisser- 
maßen in  Gegensatz  zur  Intelligenz  tritt".  ^)  In 
einer  jüngst  erschienenen  Arbeit "")  befaßt  sich 
V.  Maday  —  ein  Gegner  Krall 's —  mit  diesen 
Verhältnissen  und  zieht  daraus  einige  forcierte 
Schlüsse.  Er  meint,  „wenn  sich  Rechentalent  und 
Intelligenz  tatsächlich  nicht  vertrügen,  so  müßten 
die  Angeführten  in  ihrer  Jugend  beschränkt  und 
erst  später  intelligent  gewesen  sein,  was  jedoch 
nicht  berichtet  wird".  Es  wäre  doch  denkbar, 
daß  anscheinend  neben  der  Intelligenz  diese  be- 
sondere Rechengabe  einhergeht,  die  unter  uns 
unbekannten  Umständen  sogar  wieder  ausnahms- 
weise verschwinden  kann,  ohne  die  eigentliche 
Intelligenz  anscheinend  zu  tangieren.  Mit  dem 
Worte  ,, gewissermaßen"  soll  eben  nur  dar- 
getan werden,  daß  es  sich  um  eine  nebenläufige 
F"ähigkeit  handelt,  die  mit  der  Intelligenz  nicht 
direkt  verknüpft  zu  sein  braucht,  es  handelt  sich 
gewissermaßen  nur  um  einen  Gegensatz. 
V.  Mäday  gibt  dann  zu,  daß  „jene  Ansicht  ge- 
stützt wird  durch  die  Tatsache,  daß  es  Rechen- 
künstler gibt,  die  unintelligent,  ja  solche,  die 
schwachsinnig,  idiotisch  sind  und  sonst  gar  keinen 
Beweis  einer  auch  nur  niedrigen  Intelligenz  liefern".^'') 
„Aber",  sagtv.Maday  weiter,  „daraus,  daß  einer, 
der  sonst  dumm  ist,  nur  das  eine  kann,  zu  schließen, 
daß  dieses  eine  so  leicht  oder  einfach  sei,  daß  es 
jeder  Idiot  trifft  —  was  gar  nicht  stimmt!  — 
dies  ist  ein  offenbarer  Fehlschluß".  Ich  jedenfalls 
habe  niemals  behauptet,  daß  „jeder  Idiot"  ein 
Rechenkünstler  sei.  Es  scheint  mir,  daß  man 
mit  derartigen  „Fehlschlüssen"  dem  eigentlichen 
Problem  aus  dem  Wege  geht.  Tatsache  ist,  daß 
gewisse  Idioten  Rechenkünstler  sind,  —  ob  diese 
Gabe  eine  „leichte"  oder  „schwierige",  darüber 
habe  ich  mich  nie  geäußert  —  und  daß  sie 
zweifellos  ihre  eigenen  Methoden  dabei  haben 
(s.  a.  Claparede).  ^)  Wenn  v.  Mäday  meint: 
„das     Erfinden     von     neuen     Verfahrungsweisen" 

')  Vgl.  auch  Ed.  Claparede,  Les  Chevaux  Savants 
d'Elberfeld.  Arch.  Psych.  T.  12.  Nr.  47.  Genive  1912; 
siehe  auch  „Tierseele".     Heft   1/2.     i.  Jahrg.     Bonn   1913. 

'")  Stefan  v.  Mäday,  Die  Fähiglccit  des  Rechnens 
beim  Menschen  und  beim  Tiere.  Z.  f.  angew.  Psych.  Bd.  8, 
p.  204—227,   1913. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  13 


(Methoden)  „gelte  aber  auf  der  ganzen  Welt  als 
die  Blüte  der  geistigen  Tätigkeit",  so  wäre  der 
logische  Schluß,  daß  die  hier  in  Betracht  kommen- 
den jeglicher  Intelligenz  baren  Idioten  trotzdem 
hochintelligente  Leute  seien.  Sollte  hier  nicht 
ein  „Fehlschluß"  vorliegen  ? 

Bei  den  Pferden  findet  ein  Wurzelziehen  im 
umfassenden  Sinne  übrigens  nicht  statt,  es  han- 
delt sich  ausschließlich  um  das  Radizieren  rest- 
loser Potenzen.*) 

Was  nun  die  sog.  „unwissentlichen  Versuche" 
anbetrifft,  also  Aufgaben,  die  nur  dem  Pferde  sicht- 
bar sind,  oder  deren  Lösung  keinem  der  Anwesen- 
den bekannt  ist,  so  sehen  wir,  daß  derartige  Ver- 
suche, obgleich  schon  viele  derselben,  und  soweit 
sich  ersehen  läßt,  mit  günstigem,  einwandfreiem 
Erfolge  gemacht  wurden,  mit  einigem  Widerstreben 
zugelassen  werden.  So  heißt  es  in  Heft  3  der 
unter  ■*)  angezogenen  „Mitteilungen":  ,, Andererseits 
sind  an  Herrn  Krall  auch  mancherlei  unbrauchbare 
Vorschläge  gekommen,  welche  abgelehnt  werden 
mußten".  Es  wird  dann  ein  Vorschlag  angeführt;  hier- 
auf heißt  es:  „Andere  Psychologen  wollten  die  Auf- 
gaben aus  einem  Mechanismus  herausspringen 
lassen,  so  daß  bei  der  Stellung  derselben  jede  per- 
sönliche Beziehung  ausgeschaltet  wäre.  Dieser 
Vorschlag  ist  ebensowenig  brauchbar,  wie  wenn 
jemand  in  einer  Schule  den  Lehrer  durch  einen 
Mechanismus  ersetzen  wollte".  Dieses  Argument 
erscheint  unriclitig.  Es  handelt  sich  ja  bereits 
um  erzogene  Pferde  und  es  ist  zweifellos,  daß  in 
der  Rechenkunst  einigermaßen  bewanderte  Schüler 
eine  Aufgabe  ebensogut  lösen,  gleichviel,  ob  sie 
von  dem  Lehrer  an  die  Tafel  geschrieben  wird, 
oder  ob  sie  durch  einen  Mechanismus  sichtbar  ge- 
macht würde.  Vielleicht  hat  aber  etwas  anderes 
ausgedrückt  werden  sollen.  Es  ist  nämlich  eine 
eigentümliche  Tatsache,  daß  Kinder  z.  B.  einen 
Buchstaben,  der  ihnen  aus  der  P'ibel  neu  beigebracht 
wurde,  nicht  sofort  mit  absolut  demselben  an  der 
Tafel  oder  an  anderen  Orten  vorgezeigten  Buch- 
staben zu  identifizieren  vermögen.  Immerhin  lernen 
Kinder  das  sehr  schnell.  Auch  dem  Erwachsenen 
kann  es  passieren,  daß  er  z.  B.  eine  gewisse  Per- 
sönlichkeit, trotzdem  sie  sich  äußerlich  nicht  im 
Geringsten  verändert  hat,  in  anderer  Umgebung 
nicht  wiedererkennt.  Es  handelt  sich  in  diesen 
Fällen  offenbar  nicht  um  ein  deutliches  Aufnehmen 
von  Einzelheiten,  sondern  um  das  Auffassen  von 
Situationskomplexen,  die  ihre  besonderen  Quali- 
täten haben. 

Das  in  bezug  auf  die  Pferde  gezeigte  Wider- 
streben muß  aber  doch  wohl  auf  der  Erfahrung 
beruhen,  daß  die  Pferde  bei  derartigen  Mechanis- 
men versagen  resp.  derartige  Schlüsse  einfacher 
Art  nicht  zu  machen  verstehen,  denn  sonst  wäre 
die  Ablehnung  nicht  verständlich.  Immerhin  muß 
man  mit  einer  Beurteilung  dieser  ganzen  Aneelegen- 


*)  Vgl.  auch  H.  E.  Ziegler,  Über  das  Angeben  der 
Grundzahlen  zu  Potenzzahlen.  Mitt.  d.  Gesellsch.  f.  Tierpsych. 
Nr.  2.  I.  Jahrg.  19 13.  Redaktion:  Prof.  H.  E.  Ziegler, 
Stuttgart,  Ameisenberg  26. 


heit  sehr  vorsichtig  sein,  wir  kennen  die  i'ferde- 
psyche  —  trotz  aller  neuen  Erkenntnisse  —  recht 
wenig. 

Meine  „skeptische  Grundstimmung" ')  klingt 
aber  noch  immer  bei  diesen  ,, unwissentlichen" 
Versuchen  an. 

Andererseits  glaube  ich,  soweit  es  bei  den  in 
Elberfeld  gegebenen  Verhältnissen  möglich  er- 
scheint, aus  den  sonstigen  Leistungen  festgestellt 
zu  haben,  daß  wir  nicht  umhin  können,  den  Pferden 
eine  gewisse  Intelligenz,  ein  gewisses  begriffliches 
Denken,  ein  Zählvermögen  und  ein  ausgezeichnetes 
Gedächtnis  zuschreiben  zu  müssen,  das  aber  wahr- 
scheinlich der  Auffrischung,  wenigstens  soweit 
Zahlen  in  Betracht  kommen,  häufig  bedarf.  Hier- 
mit wäre   schon    sehr  Bedeutsames  gegeben. 

In  bezug  auf  das  Buchstabieren  habe  ich  die 
Erkenntnis  gewonnen,  daß  die  Buchstabentabelle  *), 
die  den  Pferden  stets  sichtbar  aufgehängt  ist,  über- 
flüssig sein  dürfte.  Die  Pferde  klopfen,  wie  mir 
auch  der  vielgenannte  Pferdepfleger 
Albert  bestätigte,  die  Buchstaben  auch  ohne 
daß  die  Tafel  dort  hängt.  Man  muß  also,  wenn 
man  eine  Zeichengebung  ablehnt,  annehmen,  daß 
die  Pferde  die  ganze  sehr  verwickelte  Tabelle  im 
Kopf  haben!  Hier  dürfte  eine  weitere  Forschung 
zu  prüfen  haben. 

Bei  meinem  dritten  Besuch  in  Elberfeld 
(30.31.  Okt.  V.  ].),  der  ein  mehr  zufälliger  war, 
stand  ich  überhaupt  unter  dem  vielleicht  unrich- 
tigen Eindrucke,  daß  alles  Geleistete  auf  Gedächtnis- 
prozesse zurückgeführt  werden  könne,  welches 
Urteil  aber  nur  auf  das  an  jenen  Tagen  von  den 
wenig  willigen  Pferden  Vorgebrachte  zu  beziehen 
ist.  Ich  äußerte  mich  in  diesem  Sinne  einem  an- 
wesenden Herrn  gegenüber.  Herr  Krall  war  ab- 
wesend. Als  ich  mich  etwas  später  an  den  Pferde- 
pfleger Albert  wandte  mit  der  Frage,  wie  er 
über  die  Leistungsfähigkeit  der  Pferde  im  allge- 
meinen dächte,  sagte  er  ungefähr  wörtlich:  „Ich 
denke  wie  Herr  Professor  darüber".  „Wieso?"  ent- 
gegnete ich.  ,,Ja,  ich  glaube,  daß  es  Gedächtnis- 
leistungen sind",  ,, allerdings",  so  fügte  er  plötzlich 
zögernd  und  überlegend  hinzu,  „lösen  sie  ja  auch 
unbekannte  Aufgaben".  Es  ist  immerhin  von  In- 
teresse, die  Ansicht  des  Pferdepflegers,  der  seit 
3  Jahren  bei  den  Pferden  ist,  kennen  zu  lernen. 
Nun  mag  man  vielleicht  mit  Recht  derartigen 
Äußerungen  eines  einfachen  und  nicht  sehr  ge- 
bildeten Mannes  wenig  Gewicht  beilegen.  Ich  er- 
wähne diese  Äußerung  aber  aus  dem  Grunde,  weil 
ich  weiterhin  die  Erkenntnis  gewonnen  habe,  daß 
nicht  Herr  Krall,  sondern  Albert  die  „Autori- 
tätsperson" bei  den  Pferden  ist!  Die  Verhältnisse 
liegen  hier  also  umgekehrt  wie  bei  dem  „klugen 
Hans".  Das  Problem  \ereinfacht  sich  hierdurch, 
wie  mir  scheint,  ein  wenig.  Erwägt  man  eine 
Zeichengebung,  die  ja  dem  Fernerstehenden  stets 
das  Nächstliegende  sein  wird,  so  müßte  man  schon 
annehmen,  daß  Albert  —  man  bedenke  die  schwie- 
rigen Wurzelaufgaben  —  ein  Rechenmeister  ersten 
Ranges  wäre  und  dabei  ein  beispiellos  geschickter 


N.  F.  XIII.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


195 


Dresseur.  Wie  dem  auch  sei,  es  erscheint  jeden- 
falls sehr  unwahrscheinlich,  daß  Herr  Krall  ge- 
rade zufällig  solch  ein  ungebildetes  Genie  als 
Stallburschen  gefunden  hätte.  Dann  sind  auch 
viele  Wurzelaufgaben  in  ,, Abwesenheit"*)  des 
Pferdepflegers  geglückt,  des  weiteren  konnte  bisher 
von  zahlreichen  wissenschaftlichen  Forschern  keiner- 
lei Zeichengebung  irgendwelcher  Art  entdeckt 
werden  und  überdies  unterschrieb  mir  Albert 
folgende  Bescheinigung: 

„Ich,  Endesunterzeichneter,  erkläre  hierdurch  an 
Eidesstatt,  daß  ich  nicht  imstande  bin,  die  zweiten 
bis  fünften  Wurzeln  aus  mehrstelligen  Zahlen,  wie 
sie  insbesondere  durch  das  Pferd  Muhamed  zur 
Lösung  gebracht  werden,  im  Kopfe  auszurechnen, 
noch  daß  ich  jemals  den  Pferden  des  Herrn  Krall 
in  der  Weise  bei  der  Lösung  der  ihnen  gestellten 
Aufgaben  behilflich  gewesen  bin,  daß  ich  Zeichen 
gegeben  habe. 

Elberfeld,  im  Dezember   191 3. 

gez.:  Albert  Bühren. 

Diese   Erklärung  ist    immerhin    von    Interesse. 

Vielfach  —  namentlich  durch  Prof.  Dr.  H.  E. 
Ziegler  —  ist  auch  darauf  hingewiesen  worden, 
daß  eine  Zeichengebung  außerordentlich  erschwert 
ist  durch  das  eigenartige  Klopfen  der  Pferde. 
Bei  einer  dreistelligen  Lösung  müßten  beispiels- 
weise 3 — 4  Zeichen  gegeben  werden,  da  die  Einer 
mit  dem  rechten,  die  Zehner  mit  dem  linken  und 
die  Hunderter  wieder  mit  dem  rechten  P"uß  ge- 
klopft werden,  und  schließlich  müßte  ein  Schluß- 
(Aufhör-)Zeichen  stattfinden,  das  eventuell  mit  dem 
dritten  Zeichen  zusammenfiele. 

Da  nun  aber  Albert  „Autoritätsperson"  bei 
den  Pferden  ist,  liegt,  wie  gesagt,  eine  gewisse 
Vereinfachung  des  Problems  darin,  daß  Herr  Krall 
in  der  gegenwärtigen  Lage  völlig  ausscheiden 
kann.  Es  ist  tatsächlich  irrelevant,  ob  Herr  Krall 
jetzt  bei  den  Pferden  anwesend  ist  oder  nicht, 
nicht  so  liegt  die  Sache  bei  Albert,  dessen  An- 
wesenheit oder  Nähe  namentlich  bei  „Unlust"  und 
„Bockigkeit"  der  Tiere  nicht  gut  entbehrt  werden 
kann.  Hier  liegen  Richtlinien  für  die  weitere  Er- 
forschung des  Problems. 

Wie  schon  Cl  aparede '')  betonte,  ist  ein  das 
wissenschaftliche  Gewissen  völlig  befriedigendes 
Arbeiten  unter  den  in  Elberfeld  gegebenen  Ver- 
hältnissen oft  nicht  möglich.  PZs  müßten  noch 
bessere  —  Verdachtsmöglichkeiten  ausschließende 
—  Vorkehrungen  getroffen  werden.  Es  sollte 
beispielsweise,  wie  das  schon  mehrfach  öffentlich 
betont  wurde,  ein  Vorhang  angebracht  werden, 
hinter  den  der  Pferdepfleger  zu  treten  hätte,  wenn 
seine  Anwesenheit  nun  einmal  als  Autoritätsperson 
zuzeiten  vonnöten  ist  u.  a.  m. 

Bezüglich    einer  Zeichengebung   gebe   ich  hier 

*)  Ob  das  auf  den  Hof  schicken  eine  wirkliche  „Ab- 
wesenheit" bedeutet,  bedürfte  wohl  noch  weilerer  Feststellun- 
gen ;  in  manchen  Fällen  war  es  jedenfalls  genügend. 

^)  „Encore  les  Chevaux  d'Elberfeld".  Arch.  de  Psycho- 
logie.    Vol.   13.     p.  244 — 284.     Geneve   1913. 


noch    folgende    persönliche   Erfahrungen    aus    un- 
veröffentlichten Protokollen. 

30.  Okt.  191 3.  Der  blinde  „Berto"  wird  von 
Herrn  Krall  gefragt:  „Wieviel  ist  sechs  hoch 
zwei?  Nur  mit  dem  rechten  Fußl!"  Während 
die  Lösung  auf  dem  normalen  Wege  (Erledigung 
der  Einer  mit  dem  rechten  und  der  Zehner  mit 
dem  linken  F'uß)  nur  ein  geringfügiges  Klopfen 
erfordert,  so  schließt  dieser  Befehl  eine  „Pferde- 
gedulds"-Probe  ein.  Sowie  Berto  mit  dem  Klopfen 
beginnt,  steht  man  unter  dem  zwingenden 
Eindruck:  das  Pferd  weiß,  daß  es  ein  vielmaliges 
Klopfen  gilt!,  denn  die  Schläge  erfolgen  schnell, 
mehr  gewischt,  da  der  Huf  nur  wenig  gehoben 
wird.  Ohne  Irrtum  eilt  Berto  bis  zum  letzten 
Schlag  (36),  der  mit  besonderer  Wucht  er- 
folgt! Das  Betonen  des  letzten  Schlages  wurde 
schon  häufig  beobachtet !  Dieses  ganze  höchst 
charakteristische  Verhalten  des  vollkommen  blinden 
Pferdes  wird  unverständlich,  wenn  man  eine 
Zeichengebung  annimmt.  Das  Pferd  stand  allein 
in  der  Box.  Eine  Berührung  war  ausgeschlossen. 
Akustische  Signale  wurden  trotz  größter  Auf- 
merksamkeit nicht  bemerkt. 

31.  Okt.  191 3.  Krall  ist  verreist.  Albert 
steht  auf  dem  Hofe;  Häuschen  steht  in  der  Box. 
Ich  bemerke  aus  dem  Protokoll  nur,  daß  ich  von 
zwei  richtigen  unter  einer  Anzahl  von  falschen 
Antworten  mit  größter  Sicherheit  behaupten  kann, 
daß  diese  richtigen  Resultate  nicht  durch  eine 
Zeichengebung  von  selten  des  Pferdepflegers  be- 
wirkt werden  konnten,  da  es  dem  sehr  kleinen 
Pony  (Rückenhöhe  92  cm)  gar  nicht  möglich  ist, 
Albert  zu  sehen,  der,  wie  erwähnt,  auf  dem  Hofe 
steht.  Man  vergleiche  hierzu  auch  die  gleichartigen 
Erfahrungen  Dr.  H.  Haenel's*)  und  verschiedener 
anderer  Beobachter.  Im  übrigen  muß  ich  auf 
meine  Broschüre  verweisen.  Die  Ansicht,  daß 
einige  wenige  richtige  Antworten  unter  einer  grö- 
ßeren Anzahl  von  falschen,  wie  bei  den  eben  er- 
wähnten von  Hänschen,  nichts  Beweisendes  hätten, 
da  sie  auf  einem  Zufall  beruhen  könnten,  widerlegt 
H.  E.  Z  i  e  g  1  e  r  treffend. ')  Eine  unbewußte  Zeichen- 
gebung meinerseits  erscheint  ausgeschlossen ,  da 
ich  hinter  dem  Pferde  stand. 

Einer  merkwürdigen  Unklarheit  begeg- 
net man  des  öfteren  noch  in  der  Zurhilfenahme 
der  Telepathie  in  bezug  auf  eine  Lösung  der  Pferde- 
Frage.  Es  kommen  hier  in  erster  Linie  die  reinen 
Gedankenübertragungen  in  Betracht,  im  weiteren 
auch  die  mediumistischen  Vermittlungen.  Ganz 
neuerdings  ist  es  Maeterlinck,  der  nach  dieser 
Seite  hinüberneigt.  Auch  Dr.  R.  A.  Reddingius 
beschäftigt  sich  ausführlich  hiermit.*)    Es  sei  mir 


^)  „Eine  Prüfung  der  Elberfelder  Pferde".  Mitt.  d.  Ges. 
f.  Tierpsych.  Nr.  3.  1913.  Derselbe,  Neue  Beobachtun- 
gen an  den  Elberfelder  Pferden.  Z.  f.  ang.  Psych.  Bd.  8, 
Heft  3/4,   1914,  p.   193—203. 

'J  ,, Falsche  Statistik".     Mitt.   d.  Ges.  f.  Tierpsych.    Nr.  4. 

1913- 

")  „Het  probleera  van  de  onderwezen  dieren  en  de  tele- 
pathie."     Handelsblad  v.  6.  Janr.     Amsterdam   1914. 


IQÖ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  13 


gestattet,  hier  in  Kürze  einige  Äußerungen  wieder- 
zugeben, die  ich  an  abseits  liegender  Stelle  als 
Entgegnung  gab  "),  indem  ich  mich  auf  das  eigent- 
liche Gedankenübertragen  beschränke.  Ich  bin 
der  Ansicht,  daß  es  psychologisch  unrichtig 
ist,  hier  überhaupt  telepathische  Phänomene  zur 
Erklärung  heranzuziehen,  ganz  abgesehen  davon, 
daß  selbst  zwischen  Mensch  und  Mensch  eine 
wirkliche,  ganz  einwandfreie  Gedankenübertragung 
bisher  meines  Wissens  noch  nicht  konstatiert  werden 
konnte.  Man  muß  sich  über  die  Vorbedingungen, 
die  eine  Gedankenübertragung  überhaupt  ermög- 
lichen können,  klar  werden.  Eine  „drahtlose" 
Übertragung  ist  nur  zwischen  zwei  oder  mehreren 
gleichartigen  und  gleichwertigen  Systemen  mög- 
lich. Pferdehirn  und  Menschenhirn  sind  nun  aber 
doch  sehr  verschieden.  Wäre  es  möglich,  Ge- 
danken in  ein  Pferdehirn  zu  projizieren,  so  müßten 
die  gegebenen  Impulse  im  Pferdehirn  die  gleichen 
Gedanken,  d.  h.  alle  die  notwendigen  adäquaten 
N  e  r  V  e  n  p  r  o  z  e  s  s  e  mit  ihren  Folgeerscheinungen 
auslösen.  Mit  anderen  Worten:  das  Empfangshirn 
im  Pferdeschädel  müßte  dem  menschlichen  Sende- 
hirn gleichartig  und  gleichwertig  sein,  sonst  wäre 
es  eben  nicht  imstande,  die  gleichen  Impulse  auf- 
zunehmen und  gleich  artig  zu  verwerten.  Nimmt 
man  aber  diese  Möglichkeit  an  oder  ist  gar  fest 
davon  überzeugt,  so  wäre  der  Fall  erledigt,  das 
Pferd  wäre  eben  ein  Mensch.  —  — 

Man  könnte  hier  einwenden:  das  Pferd  rechnet 
aber  doch  leichte  und  schwierige  Aufgaben  richtig 
aus.  Es  kommt  also  zu  denselben  Resultaten  wie 
der  Mensch  wenn  auch  anscheinend  nur  in  dieser 
Hinsicht.  Es  wäre  immerhin  möglich,  daß  wenig- 
stens hier  adäquate  Prozesse  vor  sich  gingen.  — 
Nun  ist  aber  gerade  die  Hypothese  einer  tele- 
pathischen Einwirkung  aufgetaucht,  weil  man  der 
Überzeugung  war,  daß  die  Pferde  nicht  rechnen 
wie  wir  oder  daß  sie  überhaupt  nicht  rechnen 
können.  Da  sie  nun  aber  richtige  Lösungen  pro- 
duzieren ,  erschien  diese  Leistung  nur  erklärlich 
durch  eine  telepathische  Vermittlung  der  ferti- 
gen Lösungen.  Derartige  Hypothesen  erscheinen 
aber  aus  den  vorerwähnten  Gründen  nicht  ernst- 
lich diskutierbar. 

Von  Interesse  ist,  daß  die  Pferde  in  der  letzten 


Zeit  immer  schlechter  arbeiten  (s.  a.  Haenel, 
1914).  Ebenso  wie  der  „kluge  Hans"  ausgeschie- 
den werden  mußte,  sind  zwei  weitere  Pferde,  die 
längere  Zeit  unterrichtet  wurden,  wie  auch  der 
Elefant  „Kama",  abgeschafft  worden.  Unlängst 
wurde  aus  gleichem  Grunde  der  vielgenannte 
„Zarif  aus  dem  LJnterricht  genommen.  Er  wird 
jetzt  geritten.  Auch  ,,Muhamed"  versagt  mehr 
und  mehr.  Der  König  von  Württemberg  sandte 
an  Krall  drei  Araberhengste,  denen  aber  trotz 
ungefähr  6  wöchigem  Unterricht  nichts  beigebracht 
werden  konnte.  Es  eignet  sich  also  nicht  jedes 
Pferd  zum  Unterricht.  Es  sollen  jetzt  zum  ersten- 
mal Versuche  mit  weiblichen  Pferden  gemacht 
werden.  Das  alles  spricht  gegen  eine  Dressur. 
Ein  Zirkusdirektor  hätte  die  Pferde  gezwungen  zu 
Leistungen,  die  innerhalb  der  Dressurgrenze  liegen. 
Hier  handelt  es  sich  aber  um  anderes. 

Auf  die  vielfachen  Fragen,  ob  die  jahrelang 
unterrichteten  so  Erstaunliches  leistenden  Pferde  sich 
im  Behaben  verändert  zeigen,  ist  zu  antworten, 
daß  die  Pferde  sich  anscheinend  in  gar  nichts  von 
anderen  Pferden  mit  denen  viel  umgegangen  wird 
und  die  daher  eine  gewisse  Zutraulichkeit  erwerben, 
unterscheiden.  Die  Psyche  erscheint  unverändert. 
Der  Unterricht  ist  ihnen  offenbar  etwas  Lästiges, 
was  namentlich  auch  Kindern  sehr  begreiflich 
erscheinen  dürfte. 

Inzwischen  genießt  Herr  Krall  alle  die  Leiden 
eines  Entdeckers,  der  das  Altgewohnte  erschüttert 
hat.  Sein  besonderer  Kummer  aber  ist  es,  daß 
die  Wissenschaft  ihn  insofern  bisher  in  Stich  ge- 
lassen hat,  als  sie  alles  seinen  Schultern  aufbürdet, 
die  die  Last  kaum  noch  zu  tragen  vermögen. 
Vergebens  war  bisher  sein  Wunsch,  daß  man  an 
anderer  Stelle  gleichartige  Unterrichtsversuche  an 
Pferden  vornähme,  um  damit,  das  ist  seine  feste 
Überzeugung,  sehr  bald  seine  Angaben  in  wirkungs- 
vollster Weise  zu  unterstützen.  HofTentlich  geht 
sein  Wunsch  bald  in  Erfüllung.  ^^) 

Auf  die  wunderbaren  Leistungen  des  rechnen- 
den Hundes  „Rolfi'"  der  Frau  Paula  Moekel  in 
Mannheim  gehe  ich  nicht  ein,  da  ich  ihn  noch 
nicht  gesehen  habe  und  mir  daher  kein  Urteil 
erlaube. 


')  „Het    probleem    der    rekenende    paarden    en    de    tele- 
pathie."     Handelsblad  v.   15.  Janr.     Amsterdam   1914. 


"•)  Man    vgl.    hierzu    die    ,, Aufforderung"    in  Heft  3  der 
„Tierseele".     Bonn,  Verlag  Emil  Eisele,   1914. 


Zur 
Staiiiinesgeschiehte  des  Schildkrötenpanzers. 

Von  Dr.  Heinrich  Völker-Dicburg  [Hessen). 
Mit  8  Abbildungen. 
[Nachdruck  verboten.] 

Nach  dem  Bau  ihres  Panzers  zerfallen  die  heu- 
tigen Schildkröten  in  zwei  außerordentlich  scharf 
gesonderte  und  ungleich  große  Gruppen:  Mosaik- 
schildkröten oder  Atheken  und  echte  Schildkröten 
oderThecophoren.  Die  Atheken  werden  nur  durch 
eine  einzige  lebende  Art,  die  seltene  Lederschild- 


kröte (Dermochelys  coriacea  L.)  vertreten  (Fig.  i). 
Alle  übrigen  Vertreter  der  Ordnung  sind  Theco- 
phoren. 

Das  mit  sieben  Längsk'ielen  versehene  Rücken- 
schild der  Lederschildkröte  setzt  sich  aus  einer 
großen  Anzahl  von  rundlichen  oder  vieleckigen 
Knochenplättchen  zusammen,  die  durch  zackige 
Nähte  miteinander  verbunden  sind.  Unter  diesem 
Knochenmosaik,  aber  vollständig  getrennt  davon, 
liegen  die  Nackenplatte  und  die  Rippen  (Fig.  2). 
Aiif   dem    Bauche    finden    sich    oberflächlich    fünf 


N.  F.  XIII.  Nr.   13 


Naturwissenschaftliclic  Wochenschrift. 


197 


Längszonen  von  Hautverknöcherungen  und  darunter 
das  aus  acht  paarigen  Stücken  bestehende  Plastron 

(Fig.  3). 

Als    ein    besonders    auffälliges  Merk- 
mal des  At  hekenpanzers  mußalso  seine 


F"ig.   I.      Lederschildkröte    (Dermochelys    coriacea    L.). 
dem    Rücken    5   Haupt-    und    2  Nebenkiele.      *    Reste 
Neljenkielpaares  auf  dem  Halse. 
(Umriß  nach  der  J  ae  ck  el'schen  Figur.) 


Auf 
eines 


\ 


Fig.  3.  Lederschildkröte  (Dermochelys  coriacea  L).  Kombi- 
nationsbild des  thekalen  Plastrons  und  der  epithekalen  Ver- 
knöchcrungen  der  fünf  Längskiele.  Mittelkiele  eine  Doppel- 
reihe von  Verknöcherungen;  I  :  12.  (Nach  Völker,  (1913),  Zool. 
Jahrbücher,  Bd.  33,  Tafel  30,  Fig.  2.) 


Fig.  2.  Lederschildkröte  (Dermochelys  coriacea  L).  Rumpf- 
wirbelsäule mit  Rippen,  Nackenplatte  (Nu)  und  Rückenpanzer ; 
m  Elemente  der  Randkiele  1:12.  Die  schneidenartig  verbreiter- 
ten Rippen  völlig  frei  vom  Rückenschild.  (Nach  Völker,  (1913), 
Zool.  Jahrbücher,  Bd.  33,  Tafel  30,  Fig.   I.j 


3' 


T 

Fig.  4.  Schematischer  (Querschnitt  durch  den  Panzer  der 
Lederschildkröte  (Original).  Auf  dem  Rücken  der  oberfläch- 
liche Panzer  sehr  stark  als  Mosaik  entwickelt,  mit  7  Kielen 
(543  I  345)1  ä"f  ^^^^  Bauche  nur  schwach  vertreten  in 
5  Längszonen  (3'  2'  l'  2'  3').  P  Plastron,  tiefere  Panzerlage 
der  Bauchplatte.  Ri  Rippe.  Die  Punktierung  des  oberen 
Randes  soll  andeuten,  daß  mit  der  Rippe  möglicherweise  noch 
rückgebildete  Rippenplattcn  in  Verbindung  sind.  (2)  verloren 
gegangener  Längskiel  des  RUckenscliildes.  In  allen  folgenden 
Figuren  ist  die  oberflächliche  Panzerlage  getont,  die  tiefere 
punktiert. 


198 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   13 


Zusammensetzuiigauszweivollkommen 
getrennten  Knochenschichten  bezeich- 
net werden  (Fig.  2,  3  u.  4). 

Die  Thecophoren  (Fig.  S  u.  6)  besitzen 
im  Gegensatz  zu  den  Atheken  eine  aus 
wenigen  großen  Knochentafeln  ein- 
schichtig zusammengesetzte,  starre 
Panzerkapsel,  die  äußerlich  von  großen 
Hornschuppen  abgedeckt  wird.  Auf  der 
Rückenseile  finden  wir  zunächst  am  Vorderrande 
eine  Nackenplatte  wieder  und  daran  anschließend 
längs  der  Mittellinie  eine  Serie  großer  Knochen- 
tafeln, die  wegen  ihres  Zusammenhanges  mit  den 
Dornfortsätzen  der  Wirbel  als  Wirbelplatten  (Neu- 
ralia)  bezeichnet  werden.  Die  Hauptfläche  des 
Rückens  bedecken  mehrere  Paare  sehr  großer 
Rippenplatten  (Costalia),  und  den  Seitenrand  bildet 
eine  Serie  kleinerer,  mit  dem  Innenskelett  nicht 
in  Verbindung  stehender  Randplatten.  Der  Bauch- 
teil des  Thecophorenpanzers,  der  mit  dem  Rücken- 
schild beiderseits  durch  eine  Brücke  verbunden  ist, 
setzt  sich  in  der  Regel  aus  neun  großen  Knochen, 
einem  unpaaren  Mittelstück  und  vier  ])aarigen 
Teilen  zusammen. 

Die  Grenzen  der  Hornschilder,  welche  sowohl 
die  Rücken-,  wie  Bauchfläche  bedecken ,  fallen 
bemerkensvyerterweise  nicht  mit  den  Nähten  der 
unter  ihnen  liegenden  Knochentafeln  zusammen, 
eine  Tatsache,  die  uns  nochmals  beschäftigen  wird 
(Fig.  5  u.  6). 


b(3'i 


Pl''i 


Fig.  5.  Scheraatischer  QuerschniU  der  Panzermitte  von  Chelonia 
(Thecophore).  (Original.)  W.  Wirbelplatte,  w  Hornsclüld  der 
Wirbelzone  (Wirbelschild).  Kp.  Rippenplatte.  Ri.  Rippe,  ri  Horn- 
schild  der  Rippenzone  (Rippenschild).  Ra.  Randplatte, 
ra  Randplattenhornschild.  P  Plastron,  p  Hornschild,  s  Bauch- 
platte  (Bauchschild),  b  Hornschild  der  Panzerbrücke.  Die 
eingeklammerten  Zahlen  deuten  an,  auf  welche  Kiele  des 
primitiven  Panzers  die   Hornschuppen  zurückzuführen  sind. 

Diese  beiden  so  sehr  verschiedenen  Zustände 
im  Panzerbau  der  Schildkröten  müssen  sich  nach 
neueren  Untersuchungen  ^)  aus  einer  gemeinsamen 
Wurzel  entwickelt  haben.  Es  ergab  sich  nämlich, 
daß  die  Ledersclüldkröte  unbedingt  mit  den  anderen 
lebenden  Seeschildkröten,  den  thecophoren  Chelo- 
niiden -)  (vgl.  Fig.  5)  blutsverwandt  sein  muß. 


')  Vgl.  des  Verfassers  Arbeit :  ,,Über  das  Rumpf-,  Glied- 
mai3en-  und  Hautskelett  von  Dermochelys  coriacea  L."  in: 
Zool.  Jahrbücher  Bd.  33,  p.  431— 552  (1913),  ferner:  L.Nick: 
„Das  Kopfskelett  von  Dermochelys  L.",  ebenda  p.   i — 238. 


Das  Hautskelett  jener  gemeinsamen  Urform 
(Fig.  7)  bestand,  wie  noch  deutlich  bei  der  Leder- 
schildkröte erhalten  geblieben  ist,  aus  zwei  voll- 
kommen unabhängigen  Panzerlagen,  einer  ober- 
flächlich gelegenen  (epithekalen)  und  einer  tiefer 
im  Bindegewebe  verankerten  (thekalen).     Letztere 


(5) 


Fig.  6.     Querschnitt  durch  Panzer  einer  Landschildkröte  (etwas 
scSematisiert).      Original.      Extrem    der    thecophoren    Panzer- 
entwicklung.     Bezeichnungen    wie    in    Fig.    5.      Bei    Rippen- 
platten  Rippenteil  rudimentär. 


5(ra)- 


Fig.  7-  Querschnitt  durch  den  Panzer  der  hypothetischen 
Stammform  von  Atheken  und  Cheloniiden  (Thecophoren).  Der 
Panzer  erinnerte  mehr  an  den  Zustand  bei  den  Thecophoren, 
als  an  denjenigen  bei  Atheken.  Tiefere  Panzerlage  gut  ent- 
wickelt. Oberflächliche  in  Gestalt  von  9  dorsalen  und  5  ven- 
tralen Längszonen  von  Hautverknöcherungen.  Auf  dem  Rücken 
5  Hauptkiele  (schwarz)  und  4  Nebenkiele,  auf  dem  Bauche 
2  Haupt-  und  3  Nebenkiele.  Mit  oberilächlichem  Panzer  ein 
Hornschuppensystem  in  Verbindung.  (Bei  jungen  Lederschild- 
kiöten  in  ähnlicher  Weise  vorhanden.)  Die  Panzerlagen  sind 
der  Übersichtlichkeit  halber  weit  auseinandergerückt  angegeben. 

war  allem  Anscheine  nach  verhältnismäßig  stark 
entwickelt  und  erinnerte  ziemlich  an  den  Zustand 
bei   den   Thecophoren.     Die    oberflächliche   stand 

2)  Hierzu  gehören  4  Arten;  die  bekanntesten  sind:  die 
Suppenschildkröle  (Chelone  mydas)  und  die  echte  Karette  oder 
Bissa  (Chelone  imbricata). 


N.  F.  XIII.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


199 


mit  einem  Hornschuppensystem  in  Verbindung  und 
war  jedenfalls  in  Gestalt  mehrerer  Längszonen  von 
Hautverknöcherungen ausgeprägt.  Als  ursprüng- 
liche Zahl  dieser  Längszonen  muß  man 
auf  dem  Rücken  neun  annehmen;  sieben 
davon,  der  mittlere  und  jederseits  drei,  sind  bei 
der  Lederschildkröte  in  den  Rückenkielen  noch  gut 
erhalten  geblieben,  zwei  wurden  bei  dieser  Form 
jedoch,  wie  Verfasser  gezeigt  hat,  bis  auf  einen 
kleinen  Rest  auf  dem  Halsteil ')  rückgebildet  (vgl. 
Fig.  i).  Auf  dem  Bauche  waren  vermut- 
lich, wie  bei  der  Lederschildkröte,  aber 
in  besserer  Ausbildung,  fünf  Längszonen 
von  Knochenplättchen  vorhanden.  Zu 
diesen  als  ursprünglich  anzunehmenden  Zahlen- 
verhältnissen der  Längskiele  bietet  eine  sehr  wert- 
volle Ergänzung  der  Befund  an  der  Schwanzwurzel 
einer  Thecophore,  Chelydra  serpentina,  was  New- 
man  beschrieben,  aber  vollkommen  falsch  gedeutet 
hat.  Bei  dieser  Schildkröte  finden  sich  nämlich 
auf  der  Schwanzwurzel  ^)  alle  Kiele,  die  bei  der 
Lederschildkröte  auftreten,  wieder:  9  dorsale  und 
5  ventrale.  Nach  der  Größe  der  sie  zusammen- 
setzenden Schuppen  lassen  sie  sich  in  Haupt-  und 
Nebenkiele  ordnen,  die  miteinander  abwechseln. 
Übertragen  auf  die  Verhältnisse  bei  der  Leder- 
schildkröte hätten  wir  auf  dem  Rücken  5  Haupt- 
und  2  -\-  (2)  Nebenkiele  und  entsprechend  auf  dem 
Bauche  2  Haupt-  und  3  Nebenkiele  zu  unterscheiden. 
Diese  Gruppierung  der  primitiven  Längskiele  in 
solche  erster  und  zweiter  Ordnung  dürfte  auch 
noch  aus  einem  anderen  Befund  gerechtfertigt  sein, 
der  zugleich  sehr  wahrscheinlich  macht,  daß  die 
Hornschuppen  tatsächlich  mit  dem  Epithekalpanzer 
in  Verbindung  standen:  nämlich  aus  den  Reihen- 
verhältnissen der  Hornsc huppenplatten  bei 
den  Thecophore n.  Es  ist  klar,  daß  bei  ein- 
tretender Rückbildung  des  Epithekalpanzers  bei 
den  Vorfahren  der  Thecophoren  die  Nebenkiele 
zuerst  verschwinden  mußten  (vgl.  Lederschildkröte, 
Fig.  i).  Wenn  Hornschuppen  übrigblieben,  werden 
wir  erwarten  dürfen,  daß  sie  zu  Knochenelementen 
der  Hauptkiele  gehörten.  Nun  haben  wir  aber 
noch,  was  wir  bei  Chelydra  und  Dermochelys 
fanden,  dorsal  5  und  ventral  2  Hauptkiele  anzu- 
nehmen und  genau  so  viele  Längsreihen  von  Horn- 
schuppenplatten  finden  sich  auf  dem  Thecophoren- 
panzer.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  wird  auch 
die  eigentümliche  Tatsache  verständlich,  daß  die 
Hornschuppen  der  Thecophoren  durchaus  nicht  den 
darunter  liegenden  Knochenplatten  entsprechen ;  bei- 
de, die  epithekalen  Hörn-  und  die  thekalen  Knochen- 
tafeln hatten  ja  ursprünglich  nichts  miteinander  zu 
tun.  Die  ursprünglich  bei  der  Stamm- 
form von  Atheken  undThecophoren  vor- 
handenen 14  Kiele  zerfallen  also  in  5-|-2 
Haupt-  und  4+3  Nebenkiele.    Die  Horn- 

')  Daß  diese  Reste  auf  dem  Halse  nachgewiesen  werden 
konnten,  braucht  nicht  zu  überraschen,  da  bei  den  Vorfahren 
der  Schildljröten  die  Längszonen  des  Epithelcalpanzers  auch 
auf  den  Hals-  und  den  Schwanzteil  übergetreten  sein  müssen 
(vgl.  auch  Krokodile !  und  Fig.  8). 


platten  der  Thecophoren  sind  h^rvor- 
gegangen  aus  den  Hornschuppen,  die 
ursprünglich  mit  Knochenelementen 
der  Hauptkieleverbunden  waren.  Wenn 
Rückbildung  des  Epithekalpanzers  ein- 
trat, verschwanden  zuerst  die  Neben- 
kiele, wie  die  Thecophoren  und  die 
Lederschildkröte  zeigen. 

Diese  Längsreihen,  die  dorsalen  so- 
wohl wie  die  ventralen,  bildeten  jedoch 
bei  der  Urform  höchstwahrscheinlich 
keinen  geschlossenen  Panzer,  wie  heute 
bei  der  Lederschildkröte  und  spielten 
überhaupt  mit  Ausnahme  der  Rand kiel- 
elemente  nur  eine  untergeordnete  Rolle 
bei  der  Bildung  des  Panzers. 

Zu    der   eben  .   . 

gegebenen     Auf- 
fassung   von   der 

Zusammen- 
setzung des  Pan- 
zers der  Stamm- 
form von  Atheken 
und  Cheloniiden 
wird  man  vor 
allem  auch  durch 
einige  neuerliche 
paläontologische 
Befunde  geführt, 
z.  B.  bei  Toxo- 
chelys,  besonders 
aber  bei  Archeion 
ischyros,  einer 
richtigen  Theco- 
phore, von  der 
zugleich  auch  ein 
epithekaler  Mit- 
telkiel bekannt 
ist.  welcher  über 
typischen  theka- 
len Wirbelplatten 
lag  und  aus  gro- 
ßen Elementen 
bestand. 

Wenn  wir  nun 
nach  der  Ursache 
fragen ,  welche 
die  verschiede- 
nen,       geradezu 

entgegengesetzten  Ausbildungsformen  des  Theco- 
phoren- und  Athekenpanzers  bedingte,  so  werden 
wir  wohl  ganz  von  selbst  auf  die  Anpassungs- 
bestrebungen kommen,  welche  aus  den  äußeren 
Lebensverhältnissen  sich  ergaben ,  unter  denen 
jene  Tiere  heute  leben  oder  in  früheren  Entwick- 
lungsabschnitten ihrer  Stammesgeschichte  lebten. 
DerThecophorenpanzer  mußbetrach- 
tet werden  als  eine  ganz  speziell  e  An - 
passung  an  die  Bedürfnisse  landbewoh- 
nender Tiere.  „Für  so  schwerfällige  und  wehr- 
lose Geschöpfe,  wie  es  die  ältesten  Schildkröten 
schon  gewesen  sein  müssen,  muß  die  Ausbildung 


Fig.   8.     Verlauf  der  ejjithekalen 
Kückenkiele  bei  den  Schildkröten- 
ahnen.    (Original.) 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  13 


einer  festen,  aus  großen,  starr  verbundenen  Knochen- 
platten  zusammengesetzten  Knochenkapsel,  welche 
auch  noch  Raum  zum  Schutze  des  Kopfes,  Halses 
und  der  Gliedmaßen  bot,  vorteilhaft  gewesen  sein; 
die  epithekalen  Elemente  waren  von  geringer  Be- 
deutung, verfielen  der  Rückbildung  und  sind  meist, 
mit  Ausnahme  der  Marginalia  (Randplatten)  ver- 
schwunden". Als  ein  besonders  wichtiges  Er- 
gebnis der  eingangs  zitierten  Arbeit  muß  hervor- 
gehoben werden,  daß  die  Randplatten  der  Theco- 
phoren  ihrer  Herkunft  nach  nicht  gleichwertig  sind 
mit  jenen  Hautkiiochen,  welche  in  den  Rippen  und 
Wirbelplatten  des  Thecophorcnpanzers  enthalten 
sind  (Hg.  5  u.  6,  Rp.  u.  W.),  sondern  als  Homologa 
der  Dermochelysrandkiele  zu  der  oberflächlichen 
Panzerlage  gehören.  Die  Knochenkapsel  der 
Thecophoren  ist  also  ebenfalls  ein  Doppelpanzer, 
entstanden  durch  Zusammenschluß  epilhekaler  und 
thekaler  Elemente,  wobei  aber  die  letzteren  weit- 
aus überwiegen. 

Wenn  nun  bei  den  Atheken  ganz  gegen  die 
allgemeine  Regel  der  Epithekalpanzer  besonders 
verstärkt  worden  ist,  während  der  Thekalpanzer, 
wie  sich  bei  der  Lederschildkröte  nachweisen  läßt, 
in  allen  Stücken  Rückbildung  erfuhr,  so  müssen 
wir  uns  sagen,  daß  hier  ganz  andere  Bedürfnisse 
vorgelegen  haben  müssen,  als  bei  den  Theco- 
phoren. Es  liegt  nun  auf  der  Hand,  daß  wir 
für  die  eigentümliche  Panzerentwicklung  der 
Atheken  das  Meeresleben  dieser  Tiere  verant- 
wortlich zu  machen  haben. 

Die  Lederschildkröte  ist  heute  eine  Hochsee- 
form. Wie  aber  die  fossilen  Ichthyosaurier,  Me- 
triorhynchlden  (Meerkrokodile),  ferner  auch  die 
Mosasaurier  beweisen,  die  unter  dem  Einfluß  des 
Hochseelebens  fast  vollkommen  nackthäutis  se- 
worden  waren,  geht  Hand  in  Hand  mit  dieser 
Lebensweise  nicht  Verstärkung,  sondern  im  Gegen- 
teil hochgradige  Rückbildung  eines  etwa  vorhan- 
denen Hautskeletts.  Zweierlei  ergibt  sich  hieraus: 
Die  Lederschildkröte  kann  unter  dem 
Einfluß  der  Hochsee  ihr  Panzermosaik  wohl  kaum 
erworben  haben,  und  dieses  muß  unter  dem  Ein- 
fluß des  pelagischen  Lebens  neuerdings  wieder  in 
Rückbildung  begrifi'en  sein.  Durch  diese  beiden 
Schlüsse  finden  aber  einige  Tatsachen  eine  sehr 
einleuchtende  Erklärung.  Zunächst  zum  ersten 
Punkt.  Wenn  nicht  die  Hochsee  das  Panzermosaik 
geschaffen  hat,  kann  es  wohl  nur  in  der  Strandzone 
entstanden  sein.  In  diesem  durch  starken  Wellen- 
schlag gekennzeichneten  Gebiet  wäre  auch  die 
Zweckmäßigkeit  des  Athekenpanzers  verständlich, 
indem  er  bei  seiner  hohen  Elastizität  der  Gefahr 
eines  Bruches  durch  Wellenschlag  weniger  aus- 
gesetzt war,  als  etwa  der  starre  Thecophoren- 
panzer  und  auch  bei  seinem  Aufbau  aus  vielen 
kleinen    Knochenplättchen    unterstützt   durch  eine 


sehr  zähe  und  dicke  Lederhaut  ein  etwa  ent- 
stehender Bruch  eine  weniger  ernste  Beschädigung 
bedeuten  wird  und  besser  heilen  dürfte,  als  bei 
einer  Thccophore.  Unmittelbar  auf  eine  erfolgte 
Rückbildung  des  oberflächlichen  Dermochelys- 
panzers  —  und  damit  kommen  wir  zu  dem  zwei- 
ten Punkt  —  weist  der  Zustand  desselben  bei  der 
fossilen  Atheke  Psephophorus  hin,  eine  Form,  die 
anscheinend  noch  nicht  die  skelettrückbildende 
Einwirkung  des  Hochseelebens  erfahren  hatte,  und 
immer  im  Strandgebiet  verblieben  war.  Bei  dieser 
Schildkröte  war  der  Mosaikpanzer  nicht  allein  auf 
dem  Rücken ,  sondern  auch  auf  dem  Bauche  ge- 
schlossen und  erreichte  eine  Dicke  von  bis  10  mm 
gegenüber  i — 2  mm  bei  der  Lederschildkröte.  Im 
Vergleich  zu  diesem  Zustand  bei  Psephophorus 
erscheint  der  Epithekalpanzer  der  Lederschild- 
kröte tatsächlich  stark  rückgebildet  nicht  allein 
auf  dem  Bauche,  sondern  auch  auf  dem  Rücken. 
P^unktionell  ersetzt  wurde  er  zum  Teil  durch  die 
ungeheuer  dick  gewordene  Lederhaut,  welche  auf 
dem  Bauche  bis  3  cm  Dicke  erreicht  und  auch 
unter  dem  Rückenschild  nahezu  2  cm  dick  wird. 
Übrigens  hat  sich  auch  bei  den  Cheloniiden  der 
skelettrückbildende  Einfluß  des  Hochseelebens  Gel- 
tung verschafft,  was  sehr  deutlich  aus  dem  L^mstand 
hervorgeht,  daß  bei  Thalassochelys  erst  im  späteren 
Alter,  bei  Chelonia  sogar  nie  mehr  die  allmählich 
nach  den  Seiten  hin  sich  ausdehnenden  Rippen- 
platten bis  an  die  Wirbelplatten  herankommen  (vgl. 
Fig.  5  u.  6). 

Die  Cheloniiden  (Thecophoren)  und 
die  Atheken  (Dermochelys)  sind  also 
Zweige  desselben  Stammes,  die  anfangs 
u  nt  er  dem  Ein  flu  ß  verschieden  erLebens- 
weise gerade  entgegen  gesetzteWegeder 
Panzerent Wicklung  einschlugen.  Wäh- 
rend die  Vorfaliren  der  Atheken  schon  frühzeitig 
ins  Meer  und  zwar  zunächst  in  die  Strandzone 
gingen,  wobei  sie  ihr  Panzermosaik  erwarben  und 
Hand  in  Hand  damit  den  Thekalpanzer  rückbilde- 
ten, blieben  die  unmittelbaren  Stammeltern  der 
Cheloniiden  noch  auf  dem  Lande  oder  im  Süß- 
wasser und  entwickelten  sich  dabei  zu  Thecophoren. 
Ihr  Thekalpanzer  erlangte  weitaus  das  Über- 
gewicht über  das  oberflächlich  gelegene  Epithekal- 
skelett.  Später  aber  wandten  sich  beide 
Zweige,  Cheloniiden  und  Dermochely- 
iden,  nachdem  die  ersteren  vorher  auch 
eine  Zeitlang  in  der  Strandzone  gelebt 
hatten,  gemeinsamen  Lebensverhält- 
nissen, derHochsee  zu,  und  es  läßt  sich 
auch  erkennen,  daß  sie  gemeinsam  neuer- 
dings den  skelettrückbildende n  Ein- 
flüssen dieser  Lebensweise  unterworfen 
gewesen  sind. 


N.  F.  XIII.  Nr.   13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


201 


Einzelberichte. 


Chemie.  Die  Bestimmung  des  Schmelzpunktes 
„refraktärer",  d.  h.  sehr  schwer  schmelzbarer 
Stoffe  bietet  erhebliche  Schwierigkeiten.  Diese 
Schwierigkeiten  liegen  erstens  in  der  Konstruktion 
eines  Ofens,  der  genügend  hohe  Temperaturen  zu 
erreichen  und  auf  ein  für  die  Versuche  aus- 
reichendes Gebiet  innerhalb  des  Ofens  konstant 
zu  erhalten  gestattet,  zweitens  in  der  Wahl  eines 
geeigneten  Gefäßmaterials,  das  selbst  gegen  hohe 
Temperaturen  widerstandsfähig  ist  und  sich  bei 
diesen  hohen  Temperaturen  chemisch  indifferent 
gegen  die  zur  Untersuchung  stehende  Substanz 
verhält,  und  drittens  in  der  genauen  Messung  der 
Temperatur.  In  Anbetracht  dieser  Schwierigkeiten 
erscheint  es  begreiflich,  daß  die  Schmelzpunkte 
selbst  technisch  wichtiger  refraktärer  Materialien, 
wie  sie  etwa  zur  inneren  Auskleidung  von  Ofen, 
zur  Herstellung  der  Elektrolytglühstifte  (Nernst- 
stifte)  oder  des  Auerstrumpfes  usw.  verwendet 
werden,  nicht  oder  doch  nur  sehr  unzureichend 
bekannt  sind.  Daher  verdient  eine  von  C.  W. 
Kanolt  im  Bureau  of  Standards  in  Washington 
ausgeführte  Untersuchung  über  die  Schmelzpunkte 
einiger  refraktärer  Oxyde  (Zeitschr.  f.  anorg.  Chem. 
Bd.  85,  S.  I  — 19,  1914)  sowohl  in  methodisch- 
experimenteller Hinsicht  als  auch  in  Hinsicht  auf 
die  erhaltenen  Resultate  allgemeinere   Beachtung. 

Zur  Erhitzung  der  zu  schmelzenden  Substanzen 
wurde  ein  Graphitwiderstandsofen  benutzt,  der 
in  ein  evakuiertes  Gefäß  eingeschlossen  wurde, 
wodurch  einerseits  Wärmeverluste  durch  Leitung, 
andererseits  die  Oxydation  des  Graphits  vermieden 
wurde.  Die  Messung  wurde  mittels  eines  opti- 
schen Pyrometers  vom  Holborn-Kurlbaum- 
Typus  ausgeführt,  durch  das  die  in  dem  Ofen 
befindliche  Substanz  direkt,  aber  natürlich  unter 
Zwischenschaltung  von  Absorptionsgläsern  von 
genau  bekanntem  Absorptionsvermögen  anvisiert 
wurde.  Da  die  schmelzenden  Substanzen  im 
Ofenloch  als  „schwarze  Körper"  wirkten ,  waren 
sie  selbst  nicht  sichtbar,  ihr  Schmelzen  konnte 
nicht  mit  dem  Auge  wahrgenommen,  es  mußte 
vielmehr  durch  Aufnahme  einer  ,, Schmelzkurve" 
festgestellt  werden,  d.  h.  es  wurde  beim  Anheizen 
des  Ofens  etwa  alle  20  Sekunden  die  Temperatur 
gemessen  und  die  gemessenen  Temperaturen 
dann  als  Funktion  der  Zeit  in  ein  rechtwinkliges 
Koordinatensystem  eingetragen :  die  Schmelzung 
gibt  sich  dann  dadurch  zu  erkennen,  daß  die  zu- 
nächst ganz  kontinuierlich  mit  der  Zeit  erfolgende 
Zunahme  der  Temperatur  plötzlich  infolge  des 
mit  der  Schmelzung  verbundenen  Wärmeverbrau- 
ches der  schmelzenden  Substanz  eine  durch  Tem- 
peraturkonstanz gekennzeichnete  Unterbrechung 
erfährt,  der  dann,  sobald  die  Substanz  vollständig 
geschmolzen  ist,  wieder  die  regelmäßige  Zunahme 
der  Temperatur  folgt;  die  sich  während  einiger 
Zeit  konstant  erhaltende  Temperatur  stellt  den 
Schmelzpunkt  der  Substanz  dar.  Eine  wesentliche 
und    bei   früheren  Versuchen   nicht  genügend  be- 


achtete Fehlerquelle  bei  den  Temperaturmessungen 
wurde  durch  Dämpfe  hervorgerufen,  die  von  den 
zu  schmelzenden  Substanzen  vor  Erreichung  des 
Schmelzpunktes  ausgingen,  sich  in  den  Raum 
zwischen  Substanz  und  Pyrometer  zogen  und 
einen  kleinen  Teil  des  von  der  Substanz  ausge- 
sandten Lichtes  verschluckten.  Da  nun  gerade 
diese  von  der  Substanz  ausgesandte  mit  wachsen- 
der Temperatur  rasch  wachsende  Lichtmenge  als 
Maß  für  die  Temperatur  benutzt  wird,  so  erscheint 
die  Temperatur  niedriger,  als  sie  in  Wirklichkeit 
ist.  Ein  Vorteil  des  Vakuumofens  besteht  nun 
gerade  darin,  daß  bei  seiner  Verwendung  diese 
schädlichen,  die  Genauigkeit  der  Messungen  emp- 
findlich beeinträchtigenden  Dämpfe  ausbleiben. 

Zur  Eichung  der  Temperaturmeßanordnung 
dienten  folgende  Materialien  mit  ihren  genau  be- 
kannten Schmelzpunkten : 

Antimon  630"  C 

Kupfer  Silber-Eutektikum     779 
Silber  960,5 

Kupfer  1083 

Diopsid  1391 

Die  Schmelzung  der  untersuchten  Oxyde  MgO, 
CaO,  Al.jOg  und  CrgOg  wurde  meist  in  Wolfram- 
tiegeln, z.  T.  auch  in  Graphittiegeln  vorgenommen. 
Calciumoxyd  ließ  sich  im  Vakuum  nicht  schmelzen, 
weil  es  vorher  sublimierte;  es  mußte  dalier  unter 
Atmosphärendruck  geschmolzen  werden ,  wobei 
die  unter  diesen  Bedingungen  auftretenden  Dämpfe 
durch  einen  Strom  von  Wasserstoffgas  beiseite 
gedrängt  wurden,  so  daß  sie  nicht  stören  konnten. 
Die  Ergebnisse  der  sehr  sorgfältig  und  unter  Be- 
rücksichtigung aller  erforderlichen  Kontrollmaß- 
regeln an  sehr  reinem  Versuchsmaterial  ausge- 
führten Versuche  sind  in  der  folgenden  Tabelle 
zusammengestellt,  in  die  auch  der  zur  Kontrolle 
der  Ergebnisse  bestimmte,  schon  durch  frühere 
Messungen  genau  bekannte  Schmelzpunkt  des 
Platins  (1755"  C)  aufgenommen  ist: 

Mittlere  Ab- 


,,  ,     .  ,  Sclimelz-  .  ,  j       !■•       1 

Material  ,  weichung  der  r.inzel- 

werte  vom  Mittelwert 


pun 


Magnesiumoxyd  MgO  2800"  C 

Calciumoxyd  CaO  2572 

Aluminiumoxyd  AljOg  2050 

Chromoxyd  Cn^Og  1990 

Platin  Pt  "  1755 


13-0 
3 
5 
6 

S 
Mg. 

Physik.  Energieträgheit.  Wird  ein  elektrisch 
geladener  Körper  in  Bewegung  gesetzt,  so  ver- 
hält er  sich  wie  ein  elektrischer  .Strom,  der  ja 
nach  der  heutigen  Anschauung  auch  nichts  anderes 
ist  als  eine  Wanderung  der  elektrisch  geladenen 
Elektronen ,  d.  h.  es  treten  um  seine  Bahn  mag- 
netische Kräfte  auf,  die  z.  B.  imstande  sind,  einem 
ruhenden  Magneten  eine  Beschleunigung  zu  er- 
teilen, also  Arbeit  zu  leisten.  Die  auftretende 
Energie  kann  nur  von  der  Kraft  herstammen,  die 
den  Körper  in  Bewegung  setzt.      Zur  Beschleuni- 


202 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  13 


gung  eines  elektrisch  geladenen  Körpers  muß  also 
mehr  Arbeit  aufgewandt  werden  als  zur  Beschleu- 
nigung eines  ungeladenen  Körpers,  und  dieses 
Mehr  wächst  mit  zunehmender  Geschwindigkeit, 
und  zwar  mit  dem  Quadrate.  Man  kann  das  so 
ausdrücken,  als  wüchse  die  träge  Masse  des  be- 
wegten Körpers.  Diese  Variabilität  der  Masse  ist 
nun  beiden  meisten  Vorgängen  unmerklich,  bemerk- 
bar wird  sie  nur  dort,  wo  es  sich  um  extreme 
Energiemengen  bei  kleiner  Masse  handelt,  also  in 
erster  Linie  bei  den  mit  fast  Lichtgeschwindigkeit 
bewegten  Elektronen. 

Nun  muß  man  aber  jeden  Körper  als  aus 
gleichviel  positiven  und  negativen  Teilchen  be- 
stehend betrachten,  deren  Ladung  getrennt  ganz 
maßlose  Beträge  darstellt,  wie  man  aus  den  elektro- 
chemischen Vorgängen  weiß.  Andererseits  be- 
deutet jede  Energiezuführung  letzten  Endes  eine 
Beschleunigung,  so  die  Wärmezuführung  eine  Be- 
schleunigung d^  kleinsten  Teilchen.  Man  ist  also 
wohl  berechtigt,  wenigstens  versuchsweise,  ein 
allgemeines  Gesetz  aufzustellen,  das  besagt:  Jeder 
Energieänderung  eines  Körpers  geht  eine  Massen- 
änderung parallel,  in  Formel: 

Dabei  bedeutet  V-  den  an  elektrischen  Vor- 
gängen gemessenen  Proportionalitätsfaktor,  der 
gleich  dem  Quadrate  der  Lichtgeschwindigkeit  ist, 
m  ist  die  träge  Masse,  E  der  gesamte  Energie- 
inhalt des  Körpers. 

Langevin  versucht  nun,')  an  welchen  Vor- 
gängen sich  das  Gesetz  prüfen  ließe.  Eine  ein- 
fache Erwärmung  des  Körpers  genügt  nicht.  Denn 
bei  einer  Erwärmung  von  Wasser  von  i  — 100" 
ergibt  die  Rechnung  trotz  der  hohen  spezifischen 
Wärme  nur  eine  Änderung  der  trägen  Masse  um 
das  5-  io~'- fache. 

Bei  der  chemischen  Vereinigung  von  Sauerstoff 
und  Wasserstoff  zu  Wasser  werden  sehr  viel 
höhere  Energiemengen  frei,  nämlich  69000  cal. 
=  3- 10^'-  Erg.  für  das  Mol.  Aber  auch  hier  be- 
trägt   die    Massenänderung    nur    etwa    ^ig-io~'^  g. 

Günstiger  liegen  die  Verhältnisse  bei  den 
radioaktiven  Substanzen,  i  g  Radium  entwickelt 
130  cal.  in  der  Stunde  und  geht  unter  Helium- 
entwicklung über  Radium  A,  B,  C  in  Radium  D 
über.  Die  mittlere  Lebensdauer  eines  Radium- 
atoms beträgt  dabei  2600  Jahre,  also  ist  die  von 
I  g  Radium  entwickelte  Energie  gleich 
I30-2600-365  •24-4,i8- 10"  Erg.  ^=  i,i-io"'  Erg. 
Dieser  Energiemenge  entspricht  eine  Massenände- 
rung nach  der  Formel  von  i,2-iO"~*  g  —  eine 
recht  gut  meßbare  Größe.  Bei  gleichem  Gewichte 
müßten  also  z.  B.  Uran  und  seine  Zerfallsprodukte 
(Helium  und  Blei)  verschiedene  Beschleunigungen 
durch  die  Erdanziehung  erfahren,  was  sich  leicht 
feststellen  ließe,  indem  man  Pendel  aus  ihnen 
fertigte  und  ihre  Schwingungsdauer  beobachtete. 
Nun    zeigen    aber    die  Versuche,    daß    die  Erdbe- 


schleunigung verschiedener  Substanzen  sicher  auf 
ein  Zwanzigmillionstel  gleich  ist.  Man  muß  also 
schließen,  daß  nicht  nur  die  träge,  sondern  in 
gleicher  Weise  auch  die  ponderable  (wägbare) 
Masse  durch  Energieaufnahme  oder  -abgäbe  ver- 
ändert werden. 

Man  müßte  den  Versuch  also  so  anstellen, 
daß  man  ein  Quantum  Radium  einschlösse,  so 
daß  von  seinen  Zerfallsprodukten  nichts  entweichen 
kann,  und  es  dann  vor  und  nach  dem  Zerfall 
wöge.  Das  würde  aber  etwas  viel  Zeit  in  An- 
spruch  nehmen,  mindestens  einige  hundert  Jahre. 

Eine  glänzende  Hypothese  Langevin's  zeigt 
da  einen  bequemeren  Weg:  Bekanntlich  weichen 
die  Atomgewichte  der  chemischen  Elemente,  be- 
sonders die  von  niedrigem  Betrage,  auffallend 
wenig  von  ganzen  Zahlen  ab,  doch  um  mehr  als 
sich  durch  die  Unsicherheit  der  Messungen  er- 
klären läßt.  Langevin  faßt  nun  diese  Ab- 
weichungen als  das  Gewicht  der  Energie  auf,  die 
bei  der  Bildung  des  betreffenden  Elementes  aus 
anderen  gebunden  oder  abgegeben  wurde.  Man 
könnte  dann  ein  Sauerstofifatom  als  einen  Kom- 
plex von  16  Wasserstoff-  oder  4  Heliumatomen 
auffassen.  In  beiden  Fällen  wären  bei  der  Ent- 
stehung des  Sauerstoffatoms  Energiemengen  von 
der  Größenordnung  der  Radiumzerfallsenergie  frei 
geworden.  Zur  Prüfung  dieser  Hypothese  wäre 
fürs  erste  eine  Bestimmung  des  Atomgewichtes 
des  Radiums  und  seiner  Produkte  nötig,  die  auch 
die  Zehntel  sicherstellt. 

Auch  die  frei  im  Räume  sich  ausbreitende 
Energie,  z.  B.  die  Sonnenstrahlung  besitzt  Iräg- 
heit  und  außerdem  müßte  sie,  wenn  die  oben 
gegebene  Herleitung  richtig  ist,  auch  durch  Massen 
nach  dem  Newton 'sehen  Gesetze  angezogen 
werden.  Doch  ist  diese  Wirkung  gering  und,  wie 
es  scheint,  der  Messung  nicht  zugänglich. 

Das  eingangs  erwähnte  Verhalten  eines  elek- 
trisch geladenen,  bewegten  Körpers,  magnetische 
Kraftlinien  wie  ein  elektrischer  Strom  um  seine 
Bahn  zu  breiten,  ist  auch  die  Grundlage  der 
Wien'schen  Arbeit  über  die  magnetische  Be- 
einflussung der  Wasserstoffkanalstrahlen.  ^)  Die 
Kraft,  die  im  elektromagnetischen  Felde  auf  einen 
geladenen  Körper  ausgeübt  wird,  ist 

I 


f=@  + 


V 


0^) 


®  ist  der  elektrische,  §  der  magnetische  Vektor 
und  ö  die  Geschwindigkeit  des  Körpers.  Also 
nur  wenn  der  Körper  sich  bewegt,  wirkt  auch 
die  magnetische  Kraft  auf  ihn.  Ist  dieser  geladene 
Körper  nun  ein  Elektron,  das  schwingend  Licht 
aussendet,  so  besteht  die  Erscheinung  darin,  daß 
das  Licht  eine  Beeinflussung  seiner  Wellenlänge 
erfährt,  daß  seine  Spektrallinien  aufgespalten  wer- 
den, wie  man  es  ja  vom  Zeema  nn- Effekt  kennt. 
Der  Effekt  des  Gliedes  ®  ist  von  Stark  vor 
kurzer    Zeit    nachgewiesen    worden,    worüber    in 


')  Langevin,  Journal   de  Physique,  Juli   1913. 


')  Wien,  Berl.   Ber.   1914,  S.   70. 


N.  F.  XIII.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


^03 


einer    der    nächsten    Nummern    berichtet    werden 


soll.      Auch  das  Glied 


V 


0|) 


kann    bei    geeig- 


neter Versuchsanordniing  so  groß  gemacht  werden, 
daß  es  eine  beobachtbare  Aufspaltung  liefert. 
Wien  brachte  ein  enges  Wasserstoff kanalstrahl- 
rohr  zwischen  die  Pole  eines  Elektromagneten  in 
ein  F'eld  von  17000  Gauß  und  beobachtete  durch 
eine  Bohrung  in  den  Polen  in  Richtung  der  mag- 
netischen Kraftlinien.  Der  Effekt  stimmte  sehr 
annähernd  mit  dem  berechneten  überein.  Doch 
zeigten  sich  die  Linien  nicht  scharf  aufgespalten, 
sondern  nur  über  die  entsprechende  Breite  ver- 
waschen, was  ja  auch  natürlich  ist,  da  die  leuch- 
tenden Teilchen  sehr  verschiedenes  0  besitzen. 

Bräuer. 

Bakteriologie.  Haben  polare  Tiere  einen 
sterilen  Darm .?  Der  Darm  der  Tiere  enthält  stets 
eine  ganz  ungeheuere  Menge  von  Bakterien,  schon 
kurze  Zeit  nach  der  Geburt  des  Kindes  ergreifen 
die  Bakterien  Besitz  von  seinem  Darm,  um  ihn 
nicht  mehr  zu  verlassen.  Sehr  merkwürdig  ist 
nun,  daß  von  verschiedenen  Forschern,  die  bei 
Gelegenheit  von  Polarexpeditionen  bakteriologische 
Untersuchungen  anstellten,  übereinstimmend  ver- 
sichert wird,  daß  der  Darm  von  polaren  Säuge- 
tieren gelegentlich,  der  von  Vögeln  sogar  sehr  oft 
vollkommen  steril  war.  Auch  Hesse  hat  dies 
neulich  wiederum  bestätigt  (Centralblatt  für  Bak- 
teriologie usw.,  I.  Abteil.  Orig.  Bd.  72,  1914,  S.  454). 
Platten,  die  mit  dem  Darminhalt  einer  Lumme, 
einer  Ente  und  einer  Schnepfe  beimpft  wurden, 
die  an  der  Nordwestküste  von  Spitzbergen  ge- 
schossen waren,  blieben  vollkommen  steril.  Da- 
gegen enthielt  der  Dickdarm  einer  zweiten  Schnepfe 
zahlreiche  Keime.  Allerdings  hat  Hesse  nur  Rück- 
sicht auf  die  luftbedürftigen  Bakterien  genommen, 
wie  wohl  die  meisten  der  früheren  Beobachter 
auch.  Doch  wird  z.  B.  von  dem  Bakteriologen 
der  Deutschen  Südpolexpedition  1902  bis  1903, 
Gazert,  angegeben,  daß  in  dem  Darm  von  Pin- 
guinen, Sturmvögeln  und  Seeschwalben  auch  Anae- 
robe, d.  h.  nur  bei  Sauerstofifabwesenheit  wachsende 
Bakterien  vollständig  fehlten. 


Die  Erklärung  für  die  zunächst  sehr  verwunder- 
liche Keimarmut  bzw.  -freiheit  des  Darmes  polarer 
Tiere  könnte  zunächst  in  der  bekannten  außer- 
ordentlichen Reinheit  der  polaren  Luft  und  Ge- 
wässer gesucht  werden.  Man  (z.  B.  Levin)  hat 
tausende  von  Litern  Luft  filtriert,  ohne  einen  ein- 
zigen Keim  zu  finden.  Platten,  auf  die  man  frisch 
gefallenen  Schnee  brachte,  blieben  steril.  Auch 
das  Meerwasser  im  hohen  Norden  ist  ungewöhn- 
lich keimarm.  Allerdings  würde  dies  noch  nicht 
das  Entscheidende  sein.  Um  die  Sterilität  des 
Darmes  polarer  Tiere  zu  erklären,  müßte  man  auch 
annehmen,  daß  der  Darm  der  Meertiere,  z.  B.  der 
Fische,  von  denen  sie  sich  nähren,  auch  steril  sein 
müßte,  und  darüber  ist  nichts  bekannt.  Dabei  wäre 
noch  ein  wichtiger,  meist  nicht  genügend  berück- 
sichtigter Punkt  zu  bedenken,  die  Temperatur.  Die 
polaren  Bakterien  sind  sicher  an  sehr  niedrige 
Temperaturen  angepaßt,  so  daß  man  folgerichtig 
zu  ihrem  Nachweis  in  Wasser,  Luft,  Schnee  die 
Platten  ebenfalls  nur  bei  diesen  Temperaturen  halten 
müßte.  Möglicherweise  ist  ihnen  die  Temperatur 
des  geheizten  Zimmers  bereits  zu  hoch.  Daß  dann 
solch  extrem  kälteliebenden  Bakterien,  wenn  sie 
mit  der  Nahrung  in  den  besonders  warmen  Vogel- 
darm gelangen,  nicht  weiterzuwachsen  vermögen, 
wäre  ganz  plausibel.  Andererseits  sollte  man  aber 
doch  annehmen,  daß  sich  in  dem  Verdauungs- 
traktus  (z.  B.  auch  im  Maul,  bzw.  Schnabel)  un- 
abhängig von  den  klimatischen  Bedingungen  eine 
lokale  Bakterienflora  ansiedeln  und  durch  Kon- 
taktinfektion erhalten  könnte.  In  diesem  Zusammen- 
hange wäre  es  z.  B.  interessant  nachzusehen,  ob 
auch  die  Nester  der  brütenden  Vögel  steril  sind, 
sowie  ihre  Körperoberfläche.  Die  Erde,  das 
Gletscherwasser  hat  man  gewöhnlich  keimhaltig 
befunden.  Sollte  wirklich  es  sich  als  die  Regel 
herausstellen,  daß  der  Darm  polarer  Tiere  absolut 
steril  ist,  so  wäre  dies  auch  von  allgemein-physio- 
logischem Interesse,  nämlich  für  das  Problem,  ob 
die  Bakterienvegetation  des  Darmes  notwendig  für 
die  normale  Verdauung  ist.  Mehrfach  hat  man 
diese  Frage  durch  sehr  mühevolle  Experimente  zu 
entscheiden  gesucht,  während  die  Natur  selbst  sie 
in  dem  hohen  Norden  in  eleganter  Weise  lösen 
würde.  Miehe. 


Bücherbesprechiingen. 

Dr.     Nicolai      Hartmann,      Philosophische 
Grundfragen    der    Biologie.      Bd.  6    der 
Sammlung      „Wege      zur      Philosophie", 
Schriften  zur  Einführung  in  das  philosophische 
Denken.    172  Seiten.     Göttingen,  Vandenhoeck 
&  Ruprecht.  —  Preis  geh.  2,40  Mk. 
Ein  Philosoph  der  Marburger  Schule  behandelt 
in  knapper,  aber  durchaus  erschöpfender  und  ver- 
ständlicher Weise    das   Problem    des  Lebens    und 
dessen  Teilprobleme,  nämlich    die  systematischen 
Voraussetzungen    des    Lebens,    Lebensform    und 


Lebensprozeß,  Individuum  und  Gattung,  Kausalität 
und  Zweckmäßigkeit,  Deszendenz  und  Selektion, 
Leben  und  Bewußtsein.  Wir  wüßten  kaum  ein 
Werk  zu  nennen ,  das  bei  so  geringem  Umfange 
eine  gleiche  Fülle  belehrender  und  anregender 
Gedanken  brächte.  Die  Erörterungen  des  Zweck- 
mäßigkeitsbegriffes,  namentlich  die  Ansichten  über 
die  methodische  Leistung  der  teleologischen  Be- 
griffe und  ihre  Selbstauflösung  in  Kausalmomente 
und  über  die  regulierende  Bedeutung  des  Vitalis- 
mus, ferner  die  Auseinandersetzungen  über  De- 
szendenz und  Selektion  werden  den  Biontologen 
lebhaft  fesseln.      Die   Gedanken  Darwins  erhalten 


204 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


13 


eine  Beleuchtung,  die  vorteilhaft  absticht  gegen 
die  vielen  leidenschaftlichen ,  oft  wenig  sachge- 
mäßen Verkleinerungen  der  immer  noch  bedeut- 
samen Theorie.  Angersbach. 

William    Kingdon    Clifford,     Der    Sinn     der 
exakten  Wissenschaft,  in  gemeinverständ- 
licher Form  dargestellt.     Mit  loo  Figuren.    Deut- 
sche Übersetzung  nach  der  4.  Auflage  des  eng- 
lischen Originals  von  Dr.  Hans  Kleinpeter. 
VIII  und  282  Seiten.     Leipzig,    Verlag  von  Jo- 
hann   Ambrosius    Barth,    191 3.    —    Preis    geh. 
6  Mk.,  geb.  6,75   Mk. 
W.  K.  Clifford,    der    als   Mathematiker  und 
Philosoph  bekannte  englische  P'orscher,    hatte  die 
Absicht  gehabt,  denjenigen,  die,  ohne  mathematisch 
geschult  zu  sein,    die  Grundbegriffe    und  wichtig- 
sten Probleme  der  Mathematik    kennen  zu  lernen 
wünschen,  ein  Werk  zu  widmen  unter  dem  Titel: 
„Die     ersten     Grundlagen      der     mathematischen 
Wissenschaften,  erörtert  in  einer  dem  Nichtmathe- 
matiker  verständlichen  Weise."     Leider  wurde  er 
durch   den    Tod    an    der    Ausführung    verhindert. 
Auch    der    mit    der  Herausgabe    des  Werkes    be- 
auftragte Prof.  R  o  w  e  starb  bald  nach  Clifford, 
und  erst  Prof.  Karl  Pearson   konnte  das  zwei- 
mal unterbrochene  Werk  ergänzen  und  veröffent- 
lichen. 

Clifford  hat  seine  Aufgabe  nicht  ohne  Ge- 
schick erfüllt ,  wenn  er  auch  mehrfach  über  die 
Fassungsgabe  und  über  die  Bedürfnisse  des  Laien 
hinausgeht;  vor  allem  hat  er  dem  unterrich- 
tenden Mathematiker  manche  wertvolle  An- 
regung gegeben. 

Der  philosophisch  orientierte  Leser  wird 
mit  Interesse  den  in  dem  Werke  vertretenen  er- 
kenntnistheoretischen  Standpunkt  beachten. 
Als  entschiedener  Empirist  läßt  Clifford  die 
mathematischen  Begriffe  und  Grundsätze  durch 
abstrahierende  Verarbeitung  von  Erfahrungstat- 
sachen gewinnen;  er  macht  ferner  auf  den  tief- 
gehenden Unterschied  zwischen  den  Begriffen 
„Zahl",  „Raum",  ,, Größe"  und  „Lage"  aufmerksam, 
denen  er  je  ein  Kapitel  widmet;  er  hebt  scharf 
die  Bedürfnisse  hervor,  die  zur  Erweiterung  mathe- 
matischer Begriffe  führen,  und  gibt  klar  die  Gründe 
an,  die  die  vollzogene  Begriffserweiterung  als 
logisch  zulässig  rechtfertigen. 

Möge  das  Buch  dem  nach  Bildung  strebenden 
Laien  wie  dem  Mathematiker,  namentlich  dem 
unterrichtenden,  empfohlen  sein! 

Angersbach. 

Eugenio  Rignano,  L'evolu  tion  du  raisonne- 
ment.  Premiere  partie:  Du  raisonnement 
concret  au  raisonnement  abstrait.  Deu- 
xieme  partie:  De  l'intuition  ä  la  deduc- 
tion. 

Extrait  de  „Scientia"  Vol.  XIV,  7'""-  Annee 
(191 3),  N.  XXX,  4  u.   5.    Bologna,  Nicola  Zani- 
chelli. 
Schon  die  niedersten  Tiere  üben  eine  affek- 


tive Klassifikation  aus,  d.  h.  es  gilt  ihnen 
alles  als  gleich,  was  ein  gegebenes  Bedürfnis  be- 
friedigt, ein  gegebenes  Verlangen  stillt.  Die  affek- 
tive Tendenz  führt  auch  zu  den  Gattungsnamen 
der  menschlichen  Gebrauchsgegenstände,  sie  ist  die 
Grundlage  aller  Begriffe,  selbst  der  wissenschaft- 
lichen. 

Aus  der  direkten,  rein  affektiven  Klassifikation 
geht  die  indirekte  hervor,  zunächst  die  tech- 
nische oder  die  Nützlichkeit 's -Klassifi- 
kation, und  schließlich  die  wissenschaft- 
liche. Das  verallgemeinernde  und  abstrahierende 
Denken  bedeutet  gegenüber  dem  auf  das  greifbare 
Einzelobjekt  gerichteten  Denken  eine  „technische 
Leistung"  höheren  Grades,  durch  die  bei  jedem 
neuen  Einzelfall  wesentlich  Arbeit  erspart  wird. 
DieWissenschaftsentwicklungbesteht  im  Anwachsen 
der  technischen  Leistung  der  Vernunft,  sie  führt 
zu  einer  möglichst  bündigen  Beschreibung  der  Dinge. 

Die  geistige  Entwicklung  beginnt  mit  einfachen 
Intuitionen  und  schreitet  zu  sehr  verwickelten  deduk- 
tiven Leistungen  fort. 

Die  Intuition  bedeutet  ein  unerwartetes,  spon- 
tanes Feststellen.  Eins  ihrer  wichtigsten  Ergebnisse 
ist  das  Auffinden  von  Analogien  zwischen  Erschei- 
nungen, die  vordem  als  durchaus  verschieden  auf- 
gefaßt waren.  .Sie  bietet  am  meisten  Aussicht  auf 
Entdeckung  völlig  neuer  Wahrheiten. 

Auf  innerem  Erschauen  in  Verbindung  mit  einer 
gewissen  Dosis  von  Überlegung  beruht  der  Syllo- 
gismus. Er  ist  ein  gerichtetes,  in  mehreren  Zeit- 
abschnitten sich  abspielendes  inneres  Wahrnehmen, 
eine  Übertragung  des  Interesses  auf  ein  gegebenes 
Einzelattribut.  Auch  e  r  vermag  zu  neuen  Wahr- 
heiten zu  führen. 

Im  Denken  verbinden  sich  geistige  Tätigkeiten, 
die  dasselbe  festzustellen  vermögen  wie  wirkliches 
Beobachten  oder  Versuchen ;  zuweilen  spielt  sich 
das  Denken  rein  intuitiv  ab. 

Zum  Schlüsse  beschäftigt  sich  der  \'erfasser 
mit  der  kausalen  Erklärung,  der  ,, Geschichte  der 
Dinge",  die  immer  ökonomischer,  stenographischer 
und  schematischer  wird. 

Die  vorliegenden  Aufsätze  fesseln  uns  durch 
die  klare,  zahlreiche  Beispiele  heranziehende  Dar- 
stellung und  durch  Ergebnisse,  die  vielfach  mit 
denjenigen  Machs  übereinstimmen. 

Angersbach. 

Wohlgemuth,  J. ,  Grundriß  der  Ferment- 
methoden. Berlin,  Springer,  191 3.  —  Preis 
geh.   10  Mk. 

Verf.  gibt  eine  ausführliche  Darstellung  der 
vorwiegend  in  der  medizinischen  Physiologie,  aber 
auch  seitens  der  Pflanzenphysiologie,  hier  vor- 
wiegend in  der  Gärungskunde,  ausgearbeiteten 
Methoden,  die  verschiedenartigen  Funktionen  der 
Enzyme  (hier  leider  noch  „Fermente"  genannt) 
exakt  zu  verfolgen.  Da  auf  dem  hochwichtigen 
Gebiet  viel  gearbeitet  wird,  ist  eine  sorgfältige 
Zusammenstellung  der  Methodik  sehr  zu  begrüßen. 
—  Leider  wird  auch  hier  (quousque  tandem.?)  die 


N.  F.  XIII.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


205 


Spaltung  der  Disaccharide  (in  iVIonosaccharide) 
und  die  ganz  anders  geartete  Verarbeitung  der 
letzteren  gleichermaf3en  als  „Spaltung"  bezeichnet; 
wäre  es  nicht  an  der  Zeit,  für  so  grundverschiedene 
Dinge  auch    verschiedene  Namen  zu  gebrauchen  ? 

Hugo  Fischer. 

Cresson,  A.,  L'espece  et  son  serviteur. 
Paris,  F.  Alcan,  19 13.  —  Preis  6  fr. 
Verf  gibt  eine  allgemeinverständliche,  an  einer 
großen  Zahl  von  z.  T.  bildlich  dargestellten  Einzel- 
fällen erläuterte  Abhandlung  über  die  verschiedenen 
Weisen,  wie  in  der  Natur  für  die  Erhaltung  der 
Art  gesorgt  ist,  wobei  in  den  Schlußkapiteln  auch 
soziale  und  ethische  Gesichtspunkte  erörtert  wer- 
den. —  Die  Nachwirkung  der  Befruchtung  auf 
eine  spätere,  mit  einem  anders  gearteten  Vater 
erzeugte  Generation  dürfte  nach  dem  heutigen 
Stande  der  Wissenschaft  wohl  nicht  mehr  als 
Talsache  anzuführen  sein.  Hugo  Fischer. 


Charles  S.  Minot,  Die  Methode  der  Wissen- 
schaft und  andere  Reden.     Übersetzt  von  Dr. 
Joh.    Kaufmann    (Bonn).      205   Seiten.     Jena, 
Verlag  von  Gustav  P'ischer,    191 3.  —  Preis  ge- 
heftet  S  Mk. 
Neun  Reden  sind  in  erster  Linie  an  Mediziner 
gerichtet,    enthalten    aber   so    viel    Gedanken    von 
allgemeiner  Bedeutung,  daß  auch  rein  naturwissen- 
schaftlich  orientierte    Leser   ihren    Gefallen    daran 
finden  werden.  Der  erste  Vortrag  behandelt  gerade- 
zu die  Aufgabe  des  Naturforschers  in  der  Welt. 
Den    meisten  Beifall  verdienen    wohl   die  schönen 
Abhandlungen  über  die  embrj'ologische  Basis  der 
Pathologie,    über   genetische    Interpretationen    auf 
dem  Gebiete  der  Anatomie  und  über  die  Beziehun- 
gen   der    Embryologie    zu    den    Fortschritten    der 
Medizin.     Der    vierte   Vortrag   über   das   Problem 
des  Bewußtseins  in  seinen  biologischen  Beziehun- 
gen kommt    trotz  manchen  beachtenswerten  Aus- 
führungen   zu  einem  Ergebnis,    das  wir    ablehnen. 
Der  Verfasser  bedient  sich  einer  klaren,  gemein- 
verständlichen,   jeder    Phrase    abholden    Sprache, 
einer  wohlgegliederten  Form  und  versteht  es  treff- 
lich zu  belehren.     Die  Übersetzung  scheint  wohl- 
gelungen zu  sein.  Angersbach. 

K  C.  Rothe,  Vorlesungen  über  allgemeine 
Methodik  des  Naturgeschichtsunter- 
richts. I.  Heft.  Seybold,  München,  1914. 
Das  I.  Heft  von  Rothe 's  Vorlesungen  enthält 
eine  Geschichte  der  Methodik  des  Naturgeschichts- 
unterrichts im  19.  Jahrhundert,  sowie  eine  Dar- 
stellung und  Kritik  des  gegenwärtigen  Standes  der 
Methodik.  Von  anderen  Schriften  ähnlichen  Inhalts 
unterscheidet  sich  die  vorliegende  durch  das  liebe- 
volle Eingehen  auf  die  Persönlichkeit  der  Männer, 
die  neue  Wege  für  den  Naturgeschichtsunterricht 
gewiesen  haben.  Dabei  sucht  Rothe  auch  der 
älteren  Methodik  gerecht  zu  werden,  die  —  wie 
z.  B.  Lüben  und  Leunis  —  die  Systematik  in 
den  Vordergrund    stellte;    ist    doch    der  Sammler 


immer  in  Berührung  mit  der  Natur,  und  das  Be- 
stimmen der  Lebewesen  bringt  noch  viel  wichtigere 
Erfahrungen  als  die  Kenntnis  des  Namens.  So 
weist  Rothe  hin  auf  eine  künftige  Gestaltung 
des  Naturgeschichtsunterrichts:  Die  rein  „biolo- 
gische" Richtung,  die  —  als  Reaktion  gegen  die 
rein  systematische  und  morphologische  Richtung 
—  über  ihr  Ziel  hinausschoß,  muß  ausgebaut 
werden.  Die  berechtigten  Elemente  der  älteren 
Methode  müssen  beibehalten  bzw.  wieder  aufge- 
nommen werden,  neue  Forschungswege  der  Wissen- 
schaft müssen  auch  die  Methodik  des  Schulunter- 
richts durchdringen.  Vielleicht  ist  es  angebracht, 
daß  man  sich  wieder  mehr  den  Gedanken  Pried- 
rich  Junge's  zuwendet,  der  der  eigentliche  Pfad- 
finder für  den  neueren  Naturgeschichtsunterricht 
gewesen  ist.  Dr.  Brohmer. 

C.  B.  Klunzinger,  Die  Rundkrabben  (Cyclo- 
metopa)  des  Roten  Meeres.     Mit  7  Tafeln 
und    14    Textfiguren.      40  Bogen    Text.      Nova 
Acta  der  Leop.  Carol.  Deutschen  Akademie  der 
Naturforscher.     Bd.  IC,  Nr.  2.     Halle  a.  S.,   1913. 
(Auch  einzeln  zu  beziehen  durch  die  Buchhand- 
lung   von    W.  Engelmann    in    Leipzig.      Laden- 
preis 25   Mk.). 
Hierzu  gehörig  als  I.  Teil ; 
Die    Spitz-    und    Spitzmundkrabben 
(Oxyrhyncha    und    Oxystomata)    des    Roten 
Meeres.      Mit    2  Tafeln    und   13  Abbildungen 
im    Text.      12  Bogen    Text.      Im    Verlag    von 
Ferd.  Enke,  Stuttgart   1906.     Ladenpreis  10  Mk. 
Der  Verf    hatte   vor    mehr  als  40  Jahren  von 
einem  mehrjährigen  Aufenthalt  in  Coseir  am  Roten 
Meere    reiche  Sammlungen    nach  Hause    gebracht 
und  auf  Grund  dieses  Materials  bereits  früher  die 
F"ische  sowie  die  Korallentiere  des  Roten  Meeres 
systematisch  bearbeitet  und  herausgegeben.     Alle 
diese  älteren  Arbeiten  zeichnen  sich  wie  die  neueste 
jetzt  vorliegende  aus  durch  eine  außerordentliche 
Sorgfalt  und  Gewissenhaftigkeit,  die  der  Verfasser 
sowohl  dem  Text  wie  den  Abbildungen  hat  zuteil 
werden   lassen.      Diese  Werke    sind  daher  unent- 
behrliche   und     äußerst    zuverlässige    literarische 
Hilfsmittel  für  die  Spezialforscher  auf  den  betreffen- 
den Gebieten  geworden. 

Das  vorliegende  Werk  enthält  eine  Beschrei- 
bung nebst  Literaturangabe  von  sämtlichen  bisher 
aus  dem  Roten  Meere  bekannt  gewordenen  Arten 
von  Rundkrabben;  es  sind  das  166  Arten  in  59 
Gattungen ;  davon  sind  70  vom  Verfasser  selbst 
gesammelte  Arten,  darunter  8  nov.  species,  be- 
sonders eingehend  „monographisch-kritisch"  be- 
handelt. Auch  die  Gattungen  und  höheren  Gruppen 
sind  sorgfältig  charakterisiert  und  begründet.  Es 
werden  die  zwei  Familien  der  Xanthidae  mit  10 
und  der  Portunidae  mit  8  Unterfamilien  behandelt. 
Die  zur  Unterscheidung  der  Formen  dienenden 
Merkmale  werden  eingehend  besprochen  und  ihr 
Wert  für  das  System  festgestellt.  Auf  die  Form- 
abänderungen, die  vom  Alter  oder  Geschlecht 
abhängig    sind,    ist    ein    besonderer  Wert    gelegt. 


206 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  13 


Zahlreiche  sehr  gute  Detailabbildungen  im  Text 
und  auf  drei  von  den  sieben  Tafeln  erleichtern  das 
Verständnis.  Von  den  übrigen  Tafeln  enthalten 
zwei  Originalphotographien  der  ganzen  Tiere, 
und  endlich  finden  sich  auf  zwei  weiteren  Tafeln 
photographische  Reproduktionen  der  vorzüglichen 
Abbildungen  von  Krabben  aus  der  „Description 
de  l'Egypte'',  was  zu  begrüßen  ist,  da  dieses  nicht 
leicht  erhältliche  Werk  auch  infolge  seines  mon- 
strösen Formats  sehr  schwer  benutzbar  ist. 

Als  Hauptzweck  seines  verdienstvollen  Werkes 
bezeichnet  der  Verf.  selbst  „die  genaue  und  kriti- 
sche Feststellung  der  Arten" ,  um  dem  Tiergeo- 
graphen eine  zuverlässige  Grundlage  zu  bieten. 
Und  diesem  Ziel  ist  Prof.  Klunzinger  in  vor- 
bildlicher Weise  nahe  gekommen. 

Prof  L.  Döderlein  in  Straßburg. 


Schrenck-Notzing,  Dr.  Freiherr  von,  M  a  t  e  r  i  a  1  i  - 
salionsphänomene.  Ein  Beitrag  zur  Erfor- 
schung der  mediumistischen  Teleplastie.  Mit 
150  Abbildungen  und  30  Tafeln.  München '14, 
E.  Reinhardt.  —  Preis  14  Mk. 
Dies  vorzüglich  ausgestattete,  523  Seiten  starke 
Werk  des  bekannten  Münchener  Nervenarztes 
schien  anfangs  der  dem  Spiritismus  ablehnend 
gegenüberstehenden  Wissenschaft  eine  harte  Nuß 
aufgeben  zu  wollen.  Hier  trat  ein  Mann  für 
die  Echtheit  der  vielumstrittenen  Geistermateriali- 
sationen ein,  dem  hervorragende  Sachkenntnis, 
gründliche  psychologische  Erfahrung  und  eine 
weitgehende  Erfahrung  mit  allen  landläufigen 
Schwindeltricks  spiritistischer  Berufsmedien  nicht 
abzustreiten  waren,  ein  Mann,  der  durch  seine 
Entlarvung  des  Mediums  Linda  Gazzerra  noch  vor 
wenig  Jahren  bewiesen  hat,  daß  er  eine  von  den 
viel  zu  seltenen  Persönlichkeiten  ist,  die  spiritistische 
Darbietungen  sachlich  zu  beurteilen  und  scharf  zu 
beobachten  vermögen.  Keine  von  allen  den  wissen- 
schaftlichen Autoritäten,  die  im  Laufe  der  Zeit  für 
die  Wahrheit  spiritistischer  Lehren  und  insbeson- 
dere der  Materialisationsphänomene  eingetreten 
sind,  war  auf  dem  Gebiete  der  Psychologie  und 
der  Taschenspielerei  so  sehr  Sachkenner  wie  Dr. 
V.  S  c  h  r  e  n  c  k.  Auch  das  Zeugnis  des  Physikers 
Crookes  für  die  beiden  Medien  Home  und  Flo- 
rence  Cook  in  den  70  er  Jahren  konnte  nicht  an- 
nähernd so  überzeugend  und  maßgebend  wirken 
wie  jetzt  die  Stellungnahme  v.  Schrenck- 
Notzing 's,  da  dieser  eben  in  allen  Sätteln 
spiritistischen  Betruges  gerecht  war,  während 
Crookes  bei  seinen  Untersuchungen  nur  ein 
guter  Physiker,  aber  ein  herzlich  schlechter  Psycho- 
loge war,  dessen  fleißige  Arbeit  durch  die  spätere 
einwandfreie  Entlarvung  seines  ,,Katie  King"- 
Mediums  Florence  Cook  (9.  Januar  1S80)  und  den 
von  der  ursprünglichen  Publikation  bedenklich  ab- 
weichenden Wortlaut  seiner  erst  1891  veröffent- 
lichten Sitzungsprotokolle  wertlos  gemacht  und 
heut  als  erledigt  zu  betrachten  ist. 

Noch    nie    zuvor    schien    die  Stellung   der  den 
Spiritismus    und  die  Materialisationstheorie  ableh- 


nenden „offiziellen"  Wissenschaft  so  schwer  er- 
schüttert, so  unhaltbar  zu  sein,  wie  in  den  ersten 
Tagen  nach  der  Ausgabe  des  v.  Schrenck- 
Notzing  'sehen  Buches.  Und  heute  schon, 
wenige  Monate  später,  ist  eben  diese  Stellung  be- 
festigter als  je,  der  Skeptizismus  darf  nur  um  so 
stolzer  sein  Haupt  erheben,  und  der  spiritistischen 
Lehre  ist  eine  tiefe  Wunde  geschlagen,  von  der 
sie  sich  nicht  so  bald  erholen  wird.  Auch 
Schrenck-Notzing  ist  —  das  steht  heute  be- 
reits mit  unbedingter  Sicherheit  fest  —  das  Opfer 
eines  unglaublich  raffinierten  Betruges  geworden, 
auf  den  auch  er,  der  gewiegte  Sachkenner,  unmög- 
lich verfallen  konnte  und  dessen  Enthüllung  ledig- 
lich einem  Zufall  zu  danken  ist,  einer  einmaligen, 
sehr  plumpen  Entgleisung  des  angeblichen  Mediums, 
wie  sie  sich  ja  auch  der  schlaueste  Betrüger  ge- 
legentlich zuschulden  kommen  läßt. 

Die  Entlarvung  des  Schre  nck 'sehen  Haupt- 
Mediums  Eva  C.  läßt  eine  genauere  Beschreibung 
der  über  4  Jahre  sich  erstreckenden  Beobachtungen 
und  Untersuchungen  überflüssig  erscheinen.  Dr. 
V.  Schrenck  hat  alle  nur  denkbaren  Vorsichts- 
maßregeln angewendet,  um  sich  gegen  Betrug 
zu  sichern,  hat  in  der  Tat  auch  alle  Betrugsmöglich- 
keiten, die  von  früher  her  bekannt  waren,  aus- 
geschaltet, hat  durch  schärfste  Kontrolle  des  Me- 
diums in  der  Tat  selbst  das  so  beliebte  Einschmug- 
geln von  allerhand  fremden  Gegenständen  in  die 
Sitzungen  auf  den  gewöhnlichen  Wegen  vereitelt, 
aber  —  er  konnte  freilich  nicht  ahnen,  daß  sein 
Medium  die  „Apparate",  die  es  zur  betrügerischen 
Hervorbringung  von  Materialisationen  benötigte, 
verschluckte,  um  sie  später  im  Bedarfsfall  wieder 
aus  dem  Schlund  heraufzuwürgen.  Eva  C.  war 
eine  „Ruminantin",  die,  ähnlich  wie  der  neuerdings 
vielfach  aufgetretene  ,, Froschschlucker",  wie  ehedem 
Justinus  Kerner  u.  a.,  in  der  Lage  war,  verschluckte 
Gegenstände  willkürlich  und  nahezu  geräuschlos 
wieder  von  sich  zu  geben,  um  alsdann  mit  ihnen 
die  fabelhaftesten  „Materialisationen"  hervorzurufen. 
Man  lese  nach,  was  ein  Teilnehmer  derSchrenck- 
schen  Versuche,  Dr.  v.  Gulat,  in  der  „Münchener 
Medizinischen  Wochenschrift"  vom  18.  November 
191 3  und  den  „Münchener  Neuesten  Nachrichten" 
vom  23.  November  geschrieben  hat,  man  vergleiche 
ferner  den  verblüfi'enden  Nachweis  der  Betrügereien 
durch  Dr.  Kafka  in  den  „Naturwissenschaften" 
vom  19.  Dezember  191 3,  eine  kürzlich  bei  J.  F. 
Lehmann-München  erschienene  Broschüre  des  Dr. 
V.  Gulat  und  der  Frau  Dr.  v.  Kemnitz,  das 
zusammenfassende  Referat  des  Grafen  Carl  von 
K 1  i  n  c  k  o  w  s  t  r  o  e  m  in  Nr.  1 266  des  „Prometheus" 
vom  31.  Januar  1914,  die  Ausführungen  des  Prof 
Hellpach  in  der  „Psychologischen  Rundschau" 
des  „Tag"  vom  6.  Januar  und  manche  andere  neuere 
Untersuchung  des  >interessanten  Falles,  und  man 
erkennt,  wie  hier  die  Findigkeit  einer  Betrügerin 
selbst  der  höchstgesteigerten,  wissenschaftlichen 
Sachkenntnis  und  der  vorurteilslosesten  Objektivität 
ein  bedenkliches  Schnippchen  zu  schlagen  wußte. 

Dr.  V.  S  c  h  r  e  n  c  k  -  N  o  t  z  i  n  g  's  höchst  fleißige 


N.  F.  XIII.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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und  gewissenhafte  Arbeit  bleibt  auch  unter  den 
geänderten  Verhältnissen  ein  sehr  wertvolles  Doku- 
ment zur  wissenschaftlichen  Erforschung  der  spiri- 
tistischen Lehre.  Irren  ist  menschlich,  und  einem 
Manne,  der  mit  so  ausgeprägtem  Willen  zur  wissen- 
schaftlichen Wahrheitsfindung  unter  außergewöhn- 
lichsten Umständen  irrt,  wird  man  kaum  minder 
Hochachtung  zolleri  müssen,  als  wenn  er  in  der 
Tat  der  Forschung  neue  Wege  in  ein  unbetretenes 
Gebiet  gewiesen  hätte.  Schrenck's  „Materiali- 
sationsphänomene" enthalten  eine  ernste  Mahnung, 
allen  unbewiesenen  spiritistischen  Behauptungen, 
allen  angeblichen  „Beweisen"  für  die  Existenz  einer 
unsichtbaren,  intelligenten  Hinterwelt  mit  noch 
mehr  Skepsis  und  Vorsicht  gegenüberzustehen, 
als  es  die  Fachwissenschaft  ohnehin  bereits  tut. 

R.  Hennig. 

A.  Sieberg,  „Einführung  in  dieErdbeben- 
und  Vulkankunde  Süditalien s."  226  S. 
(Mit  2  farbigen  Ansichten,  67  Abbildungen  und 
Karten.)  Gustav  Fischer,  Jena,  1914.  — Preis  4Mk. 
Der  als  Erdbebenforscher  wohlbekannte  Ver- 
fasser wendet  sich  mit  diesem  Buche  an  ,, weiteste 
Kreise",  auch  an  die  große  Zahl  von  Touristen, 
die  Süditalien  alljährlich  besuchen.  In  der  Tat  ist 
ja  auch  Süditalien  der  europäischen  Wissenschaft 
der  klassische  Boden  für  das  Studium  der  vulka- 
nischen Kräfte  gewesen  und  hat  uns  zugleich  die 
erste  regional  gefaßte  monographische  Behandlung 
eines  Schüitergebietes  aus  der  Meisterhand  eines 
E.  Sueß  geschenkt,  wie  auch  noch  in  unferner 
Vergangenheit  seine  furchtbaren  seismischen  Kräfte 
aller  Welt  kundgelan.  Kaum  ließe  sicli  also  ander- 
wärts mit  besserem  Erfolge  die  Lehre  des  Vulka- 
nismus und  der  Erdbeben  durch  ein  populäres 
Werk  so  sehr  als  Anschauungsunterricht 
gestalten.  Der  Verfasser  ist  zudem  bestrebt,  durch 
zahlreiche  selbstangefertigte  Zeichnungen  nach  der 
Natur,  die  größtenteils  absichtlich  schematisch  ge- 
halten sind,  einem  ungeübten  Auge  die  zu  be- 
achtenden Züge  in  der  Landschaft  recht  eindring- 
lich nahe  zu  bringen  und  so  die  erste  und  vor- 
nehmste Lehrmeisterin  Anschauung  nach  Möglich- 
keit zu  unterstützen.  Die  reiche  und  zweckmäßige 
Illustrierung  des  Werkes  darf  deswegen  in  diesem 
Falle  noch  besonders  hervorgehoben  werden.  Als 
besonders  instruktiv  sei  die  „Tektonische  Übersichts- 
karte des  Einbruchsbeckens  von  Neapel"  (nebst 
Profil)  auf  S.  60  genannt. 

Die  enge  Verknüpfung  der  beiden  voneinander 
doch  recht  wesentlich  verschiedenen  Wissenszweige 
im  Titel  birgt  eine  gewisse  Gefahr,  daß  nämlich 
die  allzutief  eingewurzelte  Anschauung  des  größe- 
ren Publikums  von  einem  alleinigen  direkten  Zu- 
sammenhange der  Erdbeben  mit  den  vulkanischen 
Kräften  neue  Nahrung  daraus  entnehmen  könnte. 
Freilich  ist  auf  S.  3  und  4  auf  das  Irrige  dieser 
ursächlichen  Verknüpfung  nachdrücklich  hinge- 
wiesen, aber  eindringlicher  vielleicht  hätte  es  ge- 
wirkt, wenn  beide  Stoffe  inhaltlich  voll  auseinander 
gehalten  worden  wären. 


Der  Weg,  den  der  Verfasser  einschlägt,  hat 
dafür  den  Wert  weniger  strenger  Gelehrsamkeit 
und  damit  größerer  Natürlichkeit  für  sich :  Das 
Büchlein  gibt  sich  mehr  als  Reiseführer  und  ge- 
leitet den  Leser  in  geographischer  Anordnung  durch 
die  in  der  Natur  wahllos  verstreuten  Haupterschei- 
nungsgebiete der  vulkanischen  und  seismischen 
Kräfte  Süditaliens.  Nach  einer  allgemeinen  Ein- 
führung geht  es  von  der  Römischen  Campagna 
zum  Vesuv  und  dem  auch  tektonisch  so  wichtigen 
und  interessanten  Golf  von  Neapel,  weiter  ins  erd- 
bebenreiche Kalabrien  und  das  oft  und  schwer 
heimgesuchte  Land  von  Messina,  sodann  werden 
Ätna,  die  Liparischen  Inseln  und  der  Stromboli 
besucht.  Gewiß  eine  Reise,  auf  der  sich  unter  so 
sachkundiger  Führung  viel  Wissenswertes  lernen 
läßt.  Ein  Literaturverzeichnis  bietet  dem,  der 
tiefer  zu  schürfen  wünscht,  die  nötigen  Anhalts- 
punkte, ein  Register  erinöglicht  die  Handhabung 
des  Buches  auch  als  Nachschlagewerk.  Auch  Ein- 
geweihte werden  die  anschauliche  Zusammenfassung 
eines  reichen  Tatsachen-  und  Datenmaterials  daher 
gelegentlich  mit  Nutzen  gebrauchen  können,  jeden- 
falls nie  ohne  Interesse  darin  blättern. 

E.  Hennig. 

Th.  Wegner,    „Geologie    Westfalens    und 
der  angrenzenden  Gebiete".     Westfalen- 
land, Bd.   I.     (304  S.  m.  197  Abbild,  und  einer 
Tafel.)    F.  Schöningh,  Paderborn.  —  Preis  7  Mk., 
geb.  8  Mk. 
Eine  wissenschaftlich    sehr    ernsthafte    und   er- 
freulich vielseitige  Heimatkunde  einzelner  deutscher 
Gaue  ist  seit  einiger  Zeit    in   entschiedenem  Auf- 
schwünge begriffen.    Es  sei  nur  an  derartige  mono- 
graphische Behandlungen  Schleswig-Holsteins,  der 
Rheinlande,    Schlesiens    erinnert.     Die  Sammlung 
,, Westfalenland",  herausgegeben  vom  Verfasser  des 
hier  genannten  ersten  Bandes  scheint  sich  in  würdig- 
ster Weise   solchen  Vorgängern    anzureihen.     An- 
gekündigt sind  folgende  weiteren  Bände: 

Süßwasserfauna  von  Thienemann,  Pflanzen- 
decke von  Brockhausen,  Geschichte   (der 
in  Aussicht  genommene  Verfasser  ist  vorzeitig 
gestorben    und    noch   nicht  ersetzt),  Baukunst 
von  Ehrenberg,   Malerei  von  Koch,    Die 
Dichter  der  Roten  Erde  von  Gast  eile. 
Was  die  vorliegende  ,, Geologie  Westfalens"  be- 
trifft, so  kann  sie  als  eine  hervorragende  Einführung 
in   den  Bau    und    die    geologische  Geschichte  des 
engeren    Landes    nicht    nur,    sondern    ganz  Mittel- 
deutschlands gelten.    Ist  doch  die  Reihe  der  geolo- 
gischen Formationen    auf  westfälischem  Boden   in 
seltener  Vollständigkeit  zu  studieren  und  auch  der 
Gebirgsbau  übersichtlich  und  vielgestaltig  zugleich. 
Zudem  ist  nicht  die  Projektion   des  Aufbaues  auf 
die  Oberfläche  allein,  sondern  durch  emsigen  Berg- 
bau   wirklich   der   ganze    Körper   recht    wohl    be- 
kannt.   Dem  Verfasser,  a.  o.  Professor  der  Geologie 
und  Paläontologie  an  der  Landesuniversität  Münster, 
verdankt  das  dortige  Museum  ein  Querprofil  durch 
Mittel-  und  Nord  Westfalen,  im  Jahre  1912  aus  den 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  13 


natürlichen  Gesteinen  in  26  m  Länge  aufgebaut. 
Die  Tafel  gibt  dies  Profil  mit  zahlreichen  Erläu- 
terungen und  einer  Übersichtskarte  wieder.  Es 
ist  ein  wahrer  Genuß,  sich  in  dieses  Profil  zu  ver- 
tiefen, aus  dem  allein  die  stratigraphischen  und 
tektonischen  Hauptzüge  der  gesamten  geologischen 
Vergangenheit  Westfalens  aufs  lebhafteste  zu  dem 
Beschauer  sprechen.  Ihm  ganz  besonders  wäre 
die  allerweiteste  Verbreitung  zu  wünschen,  auch 
außerhalb  der  Grenzen  Westfalens!  Es  gibt 
kaum  ein  anschaulicheres  Mittel  für  die  mannig- 
faltigsten Fragen  und  Probleme  der  Geologie. 

Der  erste  Teil  des  Werkes  „Die  geologische 
Geschichte  Westfalens"  ist  eine  historische  Ver- 
folgung der  mannigfachen  Geschicke  des  behan- 
delten Gebietes  seit  dem  Devon.  Dabei  müssen 
einige  zu  verschiedenen  Zeiten  eingetretene  ge- 
birgsbildende  Vorgänge  besprochen  werden,  ohne 
die  der  vielfache  Wechsel  von  Land  und  Meer, 
sowie  die  fossilen  einander  folgenden  Faunen  und 
Floren  nicht  verständlich  würden.  Der  durch  sie 
zustande  gekommene  heut  vorliegende  tektonische 
Bau  erfährt  jedoch  noch  eine  besondere  eingehende 
Darstellung  im  zweiten  Teile:  ,,Der  geologische 
Aufbau  des  Landes".  Denn  auch  umgekehrt  sind 
diese  gebirgsbildenden  Vorgänge  nicht  zu  erfassen 
ohne  genaue  Berücksichtigung  und  Keimtnis  der 
stratigraphischen  Verhältnisse.  Der  Bau  des  vari- 
stischen  und  des  saxonischen  „Gebirges"  (in  einem 
allgemeinverständlichen  Werke  vielleicht  besser 
„Faltung",  da  es  sich  z.  T.  um  fossile,  nicht  mehr 
vorhandene  Gebirge  handelt),  sowie  das  zwischen 
beiden  gelegene  Westfälische  Tafelland  bilden 
den  Gegenstand  der  Schilderungen  in  diesem 
zweiten  Teil,  so  daß  im  großen  und  ganzen  die 
Beschreibung  des  bestehenden  Zustandes  auf  die 
Schilderung  der  Vergangenheitsschicksale  folgt. 
Es  ist  selbstverständlich,  daß  die  Wissenschaft  den 
umgekehrten  Weg  hat  gehen  müssen.  Doch  hat 
der  Leser  den  entschiedenen  Vorteil  davon,  das 
Sein  aus  dem  Werden  heraus  verstehen  zu  lernen. 

Die  Darstellung  nimmt  dauernd,  auch  in  der 
gewissenhaften  Erläuterung  der  unvermeidlichen 
Fremdwörter,  Bedacht  darauf,  auch  dem  ungeüb- 
ten Leser  versländlich  zu  bleiben,  insbesondere 
sorgt  dafür  auch  die  reiche  Auswahl  und  die  sehr 
genaue  Erläuterung  der  Abbildungen.  Anderer- 
seits geht  sie  allenthalben  in  der  Herzählung  aller 
Daten  und  Beweise  so  sehr  in  die  Tiefe,  daß  auch 
der  Fachmann  sich  in  zahlreichen  Fragen  an  Hand 
des  Buches  sehr  wohl  orientieren  kann,  insbeson- 


dere aber  Studierenden  die  Lektüre  warm  emp- 
fohlen werden  kann.  Wo  Entscheidungen  noch 
ausstehen  oder  verschiedene  Anschauungen  neben- 
einander bestehen,  wird  nicht  einseitig  Partei  ge- 
nommen, sondern  das  Problem  klar  und  umfassend 
genug  dargelegt.  Die  Darstellung  des  Buntsand- 
steins und  Keupers,  sowie  der  Entstehung  der  Porta 
westfalica,  die  Wiedergabe  der  jüngeren  Anschau- 
ungen über  die  einzelnen  Phasen  der  mesozoischen 
und  tertiären  Faltungsvorgänge  u.  a.  m.  mögen  in 
diesem  Zusammenhange  hervorgehoben  werden. 
Das  222  Nummern  umfassende  und  reichlich 
zitierte  Verzeichnis  der  Karten  und  Spezialarbeiten 
ist  übersichtlich  angelegt  und  zugleich  eine  aus- 
gezeichnete Bibliographie  der  Geologie  Westfalens. 

E.  Hennig. 


Literatur. 

Handbuch  der  Entomologie ,  herausgegeb.  von  Prof.  Dr. 
Chr.  Schröder.  4.  Lieferung  (Bd.  I,  Bogen  31 — 33  und 
Bd.  III,  Bogen  1—7).  Mit  84  Abbild  i.  Text.  Jena  '13, 
G.   Fischer.  —  5  Mk. 

Haecker,  Prof.  Dr.  Valentin,  Über  Gedächtnis,  Ver- 
erbung und  Pluripotenz.  .August  Weismann  zum  80.  Geburts- 
tage gewidmet.  Mit  14  ,-\bbild.  im  Te.\t.  97  S.  Jena  '14, 
G.   Fischei.  —  2,50  Mk. 

Lanessan,  J.  L.  de,  Transformisme  et  Creationisme 
Contribution  a  l'histoire  du  transformisme  depuis  l'anliquite 
jusqu'i  nos  jours.     352  S.     Paris  '14,  Fcli.\   .'\lcan.  —  6  fr 

.^bendroth,  Dr.  Robert,  Das  bibliographische  System 
der  Naturgeschichte  und  der  Medizin  (mit  Einschluß  der  all- 
gemeinen Naturwissenschaft).  Nach  den  Fachkatalogen  der 
Universitätsbibliothek  zu  Leipzif;  dargestellt,  historisch-kritisch 
eingeleitet  und  erläutert.  230  S.  Borna  und  Lei|]zig  '14, 
Roh.  Noske.  —  4,50  Mk, 

Die  Süßwasserflora  Deutschlands,  Österreichs  und  der 
Schweiz.  Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  A.  Pascher.  Heft  i. 
Flagellatae.  I.  Allgemeiner  Teil  von  A.  Pascher.  Pantosto- 
malinae,  Protomasliginae,  Distomatinae  von  E.  Lemmermann. 
Mit  252  Abbild,  im  Te.\t.  Jena  '14,  G.  Fischer.  —  Brosch. 
3,50  INIk. 

Oppel,  Prof.  Dr.  .Albert.  Leitfaden  für  das  embryologi- 
sche Praktikum  und  Grundriß  der  Entwicklungslehre  des  Men- 
schen und  der  Wirbeltiere.  Mit  323  Abbild,  im  Te.^t  in  484 
Einzeldarstellungen.  313  S.  Jena  '14,  G.  Fischer.  —  Geb. 
II   Mk. 

Study,  E.,  Die  realistische  Weltansicht  und  die  Lehre 
vom  Räume.  Geometrie,  Anschauung  und  Erfahrung.  Mi/ie'n 
dy^oj/urorjTO^  ttiiicu.  Braunschweig  '14,  Fr.  Vieweg  ^  Sohn. 
—  Geb.  5,20  Mk. 

Rosenthal,  Prof.  Dr.  Werner,  Tierische  Immunität. 
Mit  einer  Abbild,  im  Text.  329  S.  (Die  Wissenschaft  Bd.  53.) 
Braunschweig   '14,   Fr.  Vieweg  &  Sohn.  —   Geb.  7,20  Mk. 

Zi  cgier,  Dr.  J.  H.,  Die  Umwälzungen  in  den  Grund- 
anschauungen der  Naturwissenschaft.  Acht  kritische  Bemer- 
kungen. 153  S.  Bern  '14,  Fr.  Semminger  vorm.  J.  Heu- 
berger's  Verlag.  —  Brosch.  3  fr. 


Inhalt:  H.  v.  Büttel- Reepen:  Das  Problem  der  Elberfelder  Pferde  und  die  Telepathie.  Heinrich  Völker:  Zur 
Stammesgeschichte  des  Schildkrötenpanzers.  —  Einzelberichte:  C.  W.  Kanolt;  Die  Schmelzpunkte  einiger  refrak- 
tärer Oxyde.  Langevin:  Energieträgheit.  Wien:  Über  die  magnetische  Beeinflussung  der  Wasserstoff  kanalstrahlen. 
Hesse:  Haben  polare  Tiere  einen  sterilen  Darm.'  —  Bücherbesprechungen:  Nicolai  Hartmann:  Philosophi- 
sche Grundfragen  der  Biologie.  William  Kingdon  Clifford:  Der  Sinn  der  exakten  Wissenschaft.  Eugenio 
Rignano:  L'evolution  du  raisonnement.  Wohlgemuth,  J. ;  Grundriß  der  Fermentmethoden.  Cresson,  A. :  L'cs- 
pece  et  son  serviteur.  Charles  S.  Minot:  Die  Methode  der  Wissenschaft.  K.  C.  Rothe:  Vorlesungen  über  all- 
gemeine Methodik  des  Naturgeschichtsunterrichts.  C.  B.  Klunzinger:  Die  Rundkrabben  (Cyclometopa)  des  Roten 
Meeres,  v.  Schrenck-Notzing:  Materialisationsphänomene.  .A.  Siebe  rg:  Einführung  in  die  Erdbeben-  und  Vulkan- 
kunde Süditaliens.     T  h.  Wegner:   Geologie  Westfalens  und   der  angrenzenden  Gebiete.  —  Literatur:  Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften   werden  an  den  Redakteur  Professor   Dr.  H.  Mich  e   in  Leipzig,  Marienstrafle    IIa,   erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Fulgc   13.    lianH  ; 
der  ganzen  Reihe  29    H.i 


Sonntag,  den  5.  April  1914. 


Nummer  14. 


rNachdruck  verboten.] 


Die  Ursachen  der  Eiszeiten. 

Von  Alfred  Frey. 


Im  Vordergriinde  des  Interesses  in  der  Geologie 
stellt  gegenwärtig  unzweifelhaft  das  Problem  nach 
den  Ursachen  der  Eiszeiten.  Die  deutlichen  Spuren, 
die  speziell  die  jungdiluviale  Vereisung  in  der 
Morphologie  unserer  Erde  zurückließ,  bedingen  es, 
daß  nicht  nur  der  Geologe,  sondern  auch  der 
Geograph  mit  dieser  Erscheinung  in  Berührung 
kommt.  Durch  diesen  Kontakt  mit  einer  Wissen- 
schaft, die  sich  z.  T.  im  Gegensatz  zu  der  Geologie 
ganz  im  Rahmen  der  Gegenwart  bewegt,  wurde 
auch  das  kausale  Problem  enger  an  die  Gegenwart 
angeschlossen. 

Bei  der  Betrachtung  der  verschiedenen  Hypo- 
thesen, die  im  Laufe  der  Zeit  über  diesen  Gegen- 
stand aufgestellt  worden  sind,  können  wir  prinzi- 
pielle Änderungen  konstatieren.  Diese  stehen 
unzweifelhaft  im  Zusammenhang  mit  dem  jeweiligen 
Stande  der  Forschung.  Zuerst,  als  man  die  Spuren 
einer  Vergletscherung  kannte,  glaubte  man  mit 
einer  katastrophalen  Erklärung  auszukommen.  In 
der  Tat  ist  es  ganz  begreiflich,  daß  eine  Erscheinung, 
die  einzig  dasteht  in  der  Erdgeschichte,  auch  eine 
besondere  Erklärung  benötigt. 

Mit  dem  Fortschreiten  der  geologischen  I-'or- 
schung  kamen  Ergebnisse  zum  Vorschein,  welche 
die  diluviale  Vereisung  nicht  mehr  isoliert  in  der 
Erdgeschichte  stehen  ließen,  sondern  ihr  ähnliche 
Erscheinungen  in  anderen  Epochen  an  die  Seite 
stellte.  Es  erfolgte  die  Entdeckung  gewaltiger 
Blocklehme  (Tillit)  und  gekritzten  Geschiebes  in 
gewaltigen  Ablagerungen  im  Innern  von  Vorder- 
indien und  von  Kaschmir.  Ferner  ließen  sich  ähn- 
liche Gebilde  konstatieren  in  Afrika,  hauptsächlich 
im  Süden  dieses  Kontinents,  dann  in  Südamerika 
und  Australien. ')  Unzweifelhaft  haben  wir  es  hier 
mit  einer  typischen  Glazial-Fazies  zu  tun,  die  nach 
ihrem  geologischen  Vorkommen  als  jungpaläo- 
zoisch zu  deuten  ist.  Nach  dem  gegenwärtigen 
Stande  der  F'orschung  beschränkt  sie  sich  haupt- 
sächlich auf  die  Kontinente  der  Süd-Hemisphäre. 
Ferner  wurde  konstatiert,  daß  im  Diluvium  nicht 
nur  eine  Verglelscherung  stattfand,  sondern  deren 
mehrere.  Im  allgemeinen  werden  die  Interglazial- 
zeiten  zu  kurz  angesehen.  Wir  müssen  annehmen, 
daß  die  Interglazialzeiten  bedeutend  länger  ge- 
wesen sind  als  die  Postglazialzeit.  -)  Es  könnte 
hier  die  Frage  aufgeworfen  werden,  ob  alle  jungen 
Glazialzeiten  in  ein  und  dieselbe  Periode  zu  rechnen 
seien.       Tatsächlich     haben    auch    Forscher,    wie 


Delafond  und  Deperet,'')  fußend  auf  palä- 
ontologischen Funden,  die  älteste  Veigletscherung 
ins  Jungtertiär  (Pliocän)  gestellt.  VVir  möchten 
damit  nur  andeuten,  daß  wir  unter  Umständen 
nicht  berechtigt  sind,  von  einer  diluvialen  Eiszeit 
zu  sprechen  im  Gegensatz  zu  einer  andern,  sondern 
daß  jede  diluviale  Eiszeit  einer  andern  gegenüber- 
gestellt werden  kann. 

Ferner  sind  nach  S  e  m  p  e  r  ■*)  zweifelhafte  Spuren 
von  Eiszeiten  in  der  Ob.  Kreide  von  England,  im 
Ob.  Karbon  und  Unt.  Perm  Europas  zu  konstatieren. 

Sehen  wir  von  diesen  zweifelhaften  Spuren  ab, 
so  können  wir  doch  konstatieren,  daß  größere 
Vereisungen  nicht  nur  auf  die  jüngste  Zeit  unserer 
Erde  beschränkt  sind,  sondern  auch  in  früheren 
Perioden  stattgefunden  haben.  Ja,  James  Groll '') 
glaubt  sogar  annehmen  zu  dürfen,  daß  in  jeder 
Erdperiode  Vereisungen  vorgekommen  seien. 

Es  ist  nun  klar,  daß  mit  der  Erkenntnis  dieser 
Tatsachen  die  Hypothesen  zur  Erklärung  der  Eis- 
zeiten wesentlich  andere  geworden  sind.  Vor  allem 
haben  sie  den  katastrophalen  Charakter  verloren. 
Credner")  sagt:  ,, Nicht  als  ein  katastrophenartig 
unvermittelt  über  die  Erde  hereingebrochenes  ein- 
maliges Ereignis  erscheint  sie  uns  mehr,  sondern 
als  ein  von  bestimmten  Gesetzen  beherrschtes, 
klimatisches  Phänomen,  ein  System  mehrerer  perio- 
disch wiederholter  großer  Schwankungen  des  Klimas 
unseres  Planeten." 

Von  diesem  Standpunkte  aus,  indem  sie  das 
Glazialphänomen  mit  anderen  klimatischen  Er- 
scheinungen der  Vorwelt  unserer  Erde  in  Zu- 
sammenhang brachten ,  betrachteten  Frech') 
und  W.  R.  Eckardt*)  das  Eiszeitproblem. 

Daß  die  diluvialen  Vereisungen  immer  den  Aus- 
gangspunkt für  dieses  Problem  bilden,  verstehen 
wir,  wenn  wir  bedenken,  daß  die  Spuren  dieser 
jüngsten  Vereisung  uns  doch  am  besten  erhalten 
sind  und  uns  daher  am  besten  zugänglich,  tatsäch- 
lich auch  am  besten  bearbeitet  sind. 

Das  Natürlichste  und  Nächstliegende,  ganz 
dem  Prinzip  des  Aktualismus  Entsprechende  wäre 
die  Erklärung,  daß  die  Eiszeiten  bedingt  sein 
müssen  durch  die  jeweilige  Verteilung  von  Wasser 


')  Vgl.  Em.  Kayser,  Lehrbuch  der  Geologie,  II.  Teil, 
1913.  S.  277. 

')  Vgl.  R.  Credner  „Das  Eiszeit-Problem",  Vlll.  Jahres- 
bericht d.  geogr.  Gesellschaft.     Greifswald   igoo — 1903. 


')  Delafond  et  Deperet.  Les  terrains  tertiaires  de  la 
Bresse.     Paris   1893. 

*)  M.  Sem  per,  Handwörterbuch  der  Naturwissenschaften, 
Bd.  111,  S.  78. 

"1  Vgl.  R.  Credner  a.  a.   O. 

")  Vgl.   R.   Credner  a.  a.  O. 

")  F.  Fr  ech  ,  ,,Studien  über  das  Klima  der  geol.  Vergangen- 
heit". Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkunde,  Berlin,  Bd.  37, 
igo2. 

')  \Vi  1  h.  R.  Ec  kar  d  t.  Das  Klimaproblem.  Braunschweig 
1909. 


2IO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  14 


und  Land  und  die  damit  hervorgerufenen  klima- 
tisclien  Erscheinungen,  wie  Luftdruck,  Winde  und 
Niederscliläge.  PIs  ist  klar,  daß  die  \"erteilung  von 
Wasser  und  Land  immer  einen  bedingenden  Faktor 
für  das  Klima  eines  Gebietes  sein  müssen. 
Die  quartäre  Vereisung  ist  aber  weltumfassend 
gewesen  bei  einer  annähernd  gleichen  Verteilung 
von  Wasser  und  Land;  zum  mindesten  war  sie 
nicht  so  verschieden,  daß  sie  in  einzelnen  Gegen- 
den eine  Depression  der  Schneegrenze  um  mehr  als 
1000  m,  wie  z.  B.  in  den  Alpen,  bewirken  konnte! 

Eine  andere  Erklärung  geht  darauf  hinaus,  die 
Vergletscherungen  aus  den  damaligen  beträchtlichen 
Erhebungen  zu  erklären.  Unzweifelhaft  muß  eine 
positive  oder  negative  Höhenverschiebung  Einfluß 
auf  die  Schneegrenze  haben.  Wir  müssen  zugeben, 
daß  das  westliche  Europa  und  Nordamerika  höher 
gelegen  haben  als  heute");  dazu  addieren  sich 
dann  noch  die  beträchtlicheren  Höhen  der  da- 
maligen Gebirge.  England  besaß  eine  selbständige 
Vergletscherung.  '")  Es  erhob  sich  soweit  über 
dem  Meeresniveau,  daß  es  mit  dem  Kontinente 
in  landfester  Verbindung  stand.  Diese  Höhe,  ver- 
bunden mit  der  ganzen  Topographie,  bedingen 
aber  noch  lange  keine  \'ergletscherung  dieser 
Gegend  bei  Annahme  der  sonst  gleichen  klima- 
tischen Bedingungen.  Wäre  diese  Erklärung  richtig, 
daß  allein  durch  die  größeren  Erhebungen  eine 
\^ergletschcrung  möglich  sei,  so  müßten  uns  aus 
den  Gebieten  der  gewaltigen  Erhebungen  der 
kaledonischen  und  herzynischen  Faltungen  aus  der 
Zeit  ihrer  größten  Erhebung  glaziale  Spuren  vor- 
handen sein,  ebenso  müßte  die  größte  Vergletsche- 
rung in  den  Alpen  ins  Tertiär  fallen.  Wohl  dürfen 
wir  annehmen,  daß  die  höhere  Lage  der  nördlichen 
Kontinente  die  Vereisungen  begünstigt  habe,  daß 
sie  aber  die  Ursache  der  Vergletscherung  ist, 
müssen  wir  verneinen. 

Allgemein  bekannt  und  z.  T.  auch  anerkannt  ist 
die  Theorie  von  Arrhenius.  ^')  Sie  beruht  da- 
rauf, daß  der  wechselnde  CO.^-Gehalt  der  Atmo- 
sphäre eine  verschiedene  Absorption  der  Wärme- 
strahlen bewirkt.  Nach  eigenen  experimentellen 
LTntersuchungen  sollte  ein  großer  CO.,-Gehalt  der 
Atmosphäre  die  Absorption  der  Sonnenstrahlen 
begünstigen,  zugleich  die  Wärmeausstrahlung  der 
Erdoberfläche  mehr  oder  weniger  verhindern.  Ein 
geringer  CO.,  Gehalt  würde  das  Gegenteil  bewirken. 
Frech  ^-)  hat  dann  diese  Theorie  ausgebaut  und 
sie  anzuwenden  gesucht  auf  die  ganze  Erdgeschichte. 
Nach  ihm  fallen  die  Zeiten  der  höchsten  vulka- 
nischen Tätigkeit  zugleich  mit  Wärmeperioden 
zusammen  und  Vergletscherungen  mit  Zeiten  einer 
minimalen  vulkanischen  Tätigkeit.  Nach  den  Unter- 
suchungen von  Angström  ^^)  würde  ein  Plus  von 


COo  gegenüber  dem  heutigen  Gehalt  der  Atmo- 
sphäre wirkungslos  sein  für  die  Absorption  derjenigen 
Strahlen,  die  absorptionsfähig  sind.  Nach  seinen 
Untersuchungen  wären  nicht  einmal  soviel  nötig, 
^,5  würde  genügen.  Dadurch  ist  natürlich  der 
Theorie  von  Arrhenius-Frech  der  experimen- 
telle Boden  genommen.  Aber  auch  in  geologischer 
Hinsicht  weisen  Koken")  und  Gregory''') 
darauf  hin,  daß  Befunde  vorhanden  sind,  die  gegen 
diese  Theorie  sprechen. 

Gestützt  auf  die  Beobachtungen ,  daß  in  der 
Gegenwart  die  Polhöhen  ein  und  desselben  Ortes 
kleine  Schwankungen  aufweisen,  was  auf  eine 
Schwankung  der  Erdpole  zurückzuführen  ist,  suchen 
einige  Forscher  den  Vereisungen  der  Erde  mit 
der  Annahme  von  Polschwankungen  beizukommen. 
Man  nimmt  an,  der  Nordpol  habe  sich  zur  dilu- 
vialen Eiszeit  auf  die  Gegend  Spitzbergen — Grön- 
land verschoben.  Dabei  wird  aber  nur  eine  atlan- 
tische Vereisung  vorausgesetzt.  Wir  wissen  aber, 
daß  auch  Alaska  "'l  vollständig  vergletschert  war. 
Ferner  ist  sicher  festgestellt,  daß  die  diluviale  Ver- 
eisung, wie  schon  oben  bemerkt,  eine  wellum- 
fassende war.  Eine  Polverschiebung  im  ange- 
deuteten Sinne  erklären  diese  Tatsachen  nicht. 

Die  bis  jetzt  besprochenen  Theorien  nehmen 
zur  Erklärung  der  Eiszeiten  rein  terrestrische  Ver- 
änderungen an.  Wir  müssen  sie  als  unzureichend 
erklären. 

In  scharfsinniger  Weise  hat  James  Groll'') 
die  Entstehung  der  Eiszeiten  auf  die  wechselnde 
Exzentrizität  der  Erdbahn  zurückgeführt.  Bekannt- 
lich haben  bei  dem  momentanen  Betrag  der  Ex- 
zentrizität der  Erdbahn  die  beiden  Hemisphären 
ungleiche  Wärmemengen;  die  Nordhalbkugel  be- 
sitzt mehr  Wärme  als  die  Südhalbkugel.  Durch 
eine  Änderung  in  der  Exzentrizität  könnten  für 
die  eine  Halbkugel  so  ungünstige  thermische  Ver- 
hältnisse entstehen,  dai3  eine  Vereisung  wohl 
möglich  wäre.  Sie  müßte  sich  dann  je  nur  auf 
eine  Hemisphäre  beschränken.  Wir  wissen  aber, 
daß  z.  B.  die  diluviale  Vereisung  gleichzeitig  auf 
beide  Erdhälften  sich  erstreckte.'*)  Nach  Groll 
soll  sich  die  Exzentrizität  der  Erdbahn  in  großen 
Perioden  ändern.  Die  im  Verhältnis  sich  rasch 
abwechselnden  Glazial-  und  Interglazialzeiten  fän- 
den in  der  Croll'schen  Hypothese  keine  Er- 
klärung. 

Eine  prinzipielle  Frage  bei  der  Erklärung  der 
Eiszeiten  dreht  sich    darum ,    ob   die  Vergletsche- 


")  Vgl.  Em.  Kayser  a.  a.  O.,  S.  673  und  S.   733. 

">)  Vgl.   Em.   Kayser  a.   a.   (  >.,  S.   729. 

")  On  the  Influence  of  Caibonic  Acide  in  the  Air  upon 
the  Temperature  of  the  Ground.  Philosophical  Magazine  1S96. 
Bd.  XU. 

'2)   F.  Frech   a.  a.   O. 

'■')    Angst  rö  m  ,  „Über  die  Bedeutung   des  Wasserdampfes 


und  der  Kohlensäure    bei    der  Absorption    der  Erdatmosphäre 
(Anm.  d.  Physik  N.  F.  3). 

Derselbe,  Einige  Bemerkungen  zur  Absorption  der  Erd- 
strahlen durch  atmosph.  CO2  (Övfers.  Vetensk.  Akad.  Förhandl. 
190 II. 

"1  Koken,  Neues  Jahrbuch  f.  Mineralogie  usw.     Festband 
1907. 

'•'■)  Verh.  internal.  Geol.  Kongreß,  Mexiko   1906,  I. 

"*)  Vgl.  Xaturw.  Wochenschr.  N.  F.  XI.  Bd.,    1912,  Xr.  23, 
S.  3^8  Anm.  _       ij 

"'■)  James  Groll,    „Climate    and   time  in  thcir  geologi-      li 
cal  relations ,    a  Iheory    of   secular  changes  of  the  earths  cli- 
mate."    London   1S75. 

'»)  Vgl.  E.  Kayser,   a.   a.   O.  S.   740. 


N.  F.  XIII.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


211 


rung  durch  vermehrte  Niederschläge  oder  durch 
Temperaturerniedrigung  hervorgerufen  worden  sei. 
Zur  Erzeugung  größerer  Niederschläge  müssen 
größere  Verdunstungen  stattfinden.  Dies  wurde 
auf  das  Vorhandensein  größerer  Wasserflächen 
oder  auf  vulkanische  Ausbrüche  zurückgeführt. 
Zum  ersteren  Argument  müssen  wir  einwenden, 
daß,  wie  schon  oben  hervorgehoben,  die  Ver- 
teilung von  Wasser  und  Land  bei  der  letzten 
Glazialzeit  annähernd  gleich  war  wie  heute;  zum 
zweiten  wissen  wir,  daß  eine  vulkanische  Tätig- 
keit in  größerem  Maßstabe  aus  jenen  Zeiten  nicht 
bekannt  ist.  Rekonstruiert  man  nach  den  heutigen 
Erfahrungen  die  vorherrschenden  Winde  für  Europa, 
so  müssen  wir  annehmen ,  daß  dieselben  vor- 
herrschend aus  kalten,  aus  dem  Innern  des  Kon- 
tinents stammenden  Luftströmungen  bestanden. 
Über  dem  vereisten  Europa  lag  ein  barisches 
Maximum,  von  dem  aus  antizyklonale  Luftbewegun- 
gen ausgingen.  Wir  nehmen  mit  l'enck'")  an, 
daß  die  Vergletscherungen  durch  Temperatur- 
erniedrigungen hervorgerufen  worden  seien. 

Nicht  nur  alles  Lebendige  auf  der  Erde,  son- 
dern auch  alle  Bewegungen  und  Vorgänge  in  der 
Atmosphäre  müssen  wir  in  letzter  Linie  abhängig 
machen  von  der  Strahlungsintensität  der  Sonne. 
Wäre  nun  diese  in  jedem  Momente  des  Jahres 
gleich  stark  durch  Jahrzehnte  hindurch,  so  müßte 
theoretisch  jeder  Moment  des  Jahres  durch  einen 
festen  genau  bestimmten  Zustand  charakterisiert 
sein.     Daß  dem  nicht  so  ist,    wissen  wir  alle  zur 


")  Penck  und   ürückner,   ,,Die  Alpen   im   Eiszeitalter", 
III.  Bd.,  S.   1146. 


Genüge.  Allerdings  müssen  wir  zugeben,  daß  sich 
das  Relief  der  Erdoberfläche  durch  Abtragung 
und  Aufschüttung  ändert,  daß  dadurch  auch  die 
Strahlungswirkungen  andere  werden.  Das  sind 
aber  Vorgänge,  abgesehen  von  vulkanischen  Er- 
scheinungen, die  sich  allmählich  abspielen,  daraus 
können  wir  die  Tatsache  nicht  erklären,  daß  sich 
oft  Jahre  ablösen  mit  ganz  verschiedenem  Witte- 
rungscharakter. Dies  ließe  sich  daraus  erklären 
daß  die  Strahlungsintensität  der  Sonne  nicht  kon- 
stant ist.  Ist  die  Strahlungsintensität  in  der 
Gegenwart  nicht  konstant,  so  muß  sie  auch  in 
der  Vergangenheit  Schwankungen  unterworfen  ge- 
wesen sein.  So  können  wir  die  Eiszeiten  erklären 
als  eine  Zeit,  die  im  Vergleich  zu  heute  ausge- 
zeichnet war  durch  eine  große  negative  Strahlungs- 
anomalie, die  ihre  Ursache  in  der  Sonne  hatte. 
Dadurch  ist  das  Problem  in  engsten  Zusammen- 
hang mit  anderen  paläoklimatischen  Problemen 
gebracht.  Im  Grunde  erwächst  uns  in  der  Tat- 
sache, daß  das  Tertiärklima  sich  wesentlich  vom 
heutigen  unterscheidet,  das  nämliche  Problem  wie 
bei  der  Erklärung  der  Eiszeiten.  Beide  Erschei- 
nungen sind  im  Vergleiche  zur  Gegenwart  Ex- 
treme, die  sich  aus  StrahlungsanomaHen  erklären 
lassen.  Ob  sich  darin  Gesetzmäßigkeiten  erkennen 
lassen,  wissen  wir  noch  nicht.  Es  ist  nicht  aus- 
geschlossen, daß  uns  die  heute  noch  am  Anfang 
stehenden  Untersuchungen  über  die  Solarkon- 
stante -")  einst  Aufschluß  geben  wird  über  die 
Gesetze  und  Ursachen  der  Inkonstanz  der  Strah- 
lungsintensität. 

2»)  Vgl.  auch  Naturw.   Wocliensclir.    N.  F.  XII.  Bd.,   1913, 
Nr.  45,  S.   716. 


Das  Wesen  der  Enzyiiiwirliiiug. 

Von  0«o  Bürger. 

[Nachdruck  verboten.] 

Nach  den  Kenntnissen,  wie  wir  sie  heute  be- 
sitzen, definieren  wir  Enzyme  als  durch  lebende 
Wesen  hervorgebrachte  Katalysatoren.  ^)  Es  soll 
damit  jedoch  nicht  etwa  gesagt  sein,  daß  man 
nicht  vielleicht  später  einmal  die  Enzyme  im  La- 
boratorium synthetisch  herstellen  könnte. 

Ein  Katalysator  ist  ein  Stoff,  welcher,  ohne 
selbst  durch  die  Reaktion  verbraucht  zu  werden, 
die  Geschwindigkeit  ändert,  mit  welcher  eine  Re- 
aktion ihre  Gleichgewichtslage  erreicht.  Sauerstoff 
und  Wasserstoff  verbinden  sich  bei  gewöhnlicher 
Temperatur  so  langsam,  daß  wir  eine  Bildung  von 
Wasser  nicht  wahrnehmen  können.  Erhitzen  wir 
jedoch  das  Gasgemisch  oder  lassen  wir  elektrische 
Funken  durchschlagen,  so  findet  eine  merkliche 
Vereinigung  der  beiden  Elemente  statt.  Aber 
auch  schon  die  Gegenwart  einer  winzigen  Menge 
fein  verteilten  Platins  genügt,  um  bei  Zimmer- 
temperatur eine  Vereinigung  zu  bewirken.    Dieses 

')  Man  vgl.  auch  meine  Arbeit  in  Nr.  42  dieser  Zeit- 
schrift (Jahrgang   1912),  Seite  666—68. 


Beispiel  aus  der  endlosen  Kette  der  Katalysen 
mag  die  Erscheinung  an  und  für  sich  erklären. 

Um  nun  die  wesentlichen  Merkmale  einer 
Katalyse  zu  erkennen,  wie  sie  bei  Reaktionen  auf- 
treten, deren  Agenzien  eine  bekannte  chemische 
Zusammensetzung  besitzen,  teilen  wir  die  Reak- 
tionen in  2  Klassen;  einmal  in  solche,  die  sich 
zwischen  Ionen  abspielen  und  die  augenblicklich 
verlaufen  (Schwefelsäure  fällt  sofort  aus  einem 
löslichen  Bariumsalz  das  unlösliche  Sulfat  aus), 
andererseits  in  solche,  die  eine  meßbare  Zeit  nötig 
haben,  um  ihr  Endstadium  zu  erreichen  (Hydrolyse 
des  Rohrzuckers). 

Nach  unserer  Erklärung  ist  ein  Katalysator 
ein  Stoff,  der  die  Geschwindigkeit  einer  Reaktion 
ändert,  sie  also  entweder  beschleunigt,  oder  aber 
sie  verzögert.  Das  angeführte  Beispiel  für  kata- 
lytische  Reaktionen  bezieht  sich  auf  Reaktions- 
beschleunigung. Ein  Beispiel  für  den  umgekehrten 
Fall,  eine  sogenannte  ,, negative  Katalyse",  ist  die 
Hemmung  der  Phosphoroxydation  durch  eine  Spur 
Ätherdampf. 

Läßt  man  einer  Reaktion  genügend  Zeit  zu 
ihrer  Vollendung,  so  ist  es  gleich,  ob  man  eine 
geringe  oder  eine  größere  Menge  des  Katalysators 


212 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  14 


dem  Reaktionsgemisch  zusetzt,  vorausgesetzt  natür- 
Hcli,  daß  der  Katalysator  nicht  etwa  vorher  para- 
lysiert oder  zerstört  wurde.  Der  Grad  der  Re- 
aktionsbeschleunigung ist  der  Konzentration  des 
vorhandenen  Katalysators  proportional.  Trotz 
dieses  Gesetzes  müssen  wir  darüber  erstaunt  sein, 
wie  geringe  Mengen  eines  Katalysators  noch  dazu 
imstande  sind,  eine  merkliche  Wirkung  zu  erzeugen. 
Nach  B  r  e  d  i  g  und  v.  B  e  r  n  e  c  k  ist  kolloidales 
Platin  imstande,  auf  eine  Menge  Wasserstoffsuper- 
oxyd einzuwirken,  die  1000  000  fach  so  groß  ist, 
wie  das  eigene  Gewicht. 

Eine  große  Anzahl  katalytischer  Reaktionen 
ist  auf  die  Bildung  von  Zwischenprodukten  zurück- 
zuführen. Nach  Ostwald  ist  die  Summe  der 
Geschwindigkeiten  jener  Zwischenreaktionen  immer 
größer  als  die  Geschwindigkeit  der  nicht  kataly- 
sierten Reaktion,  wenn  es  sich  überhaupt  um  eine 
Katalyse  mit  Bindung  von  Katalysator  und  Substrat 
handelt.  Die  Reaktionsgeschwindigkeit  zwischen 
Jodwasserstoffsäure  und  VVasserstoffsuperoxyd  wird 
bedeutend  gesteigert,  wenn  als  Katalysator  Molyb- 
dänsäure zugesetzt  wird.  Dies  ist  nach  Brode 
eine  katalytische  Reaktion  mit  intermediärer  Bin- 
dung; es  konnten  nämlich  als  Zwischenprodukte  eine 
Reihe  von  Permolybdänsäuren  nachgewiesen  werden. 

Als  man  schon  frühzeitig  aus  dem  lebenden 
Organismus  den  Katalysatoren  sehr  ähnliche  Stoffe 
hergestellt  hatte,  wie  z.  B.  1833  die  Diastase, 
nannte  man  diese  Körper  Fermente  und  unter- 
schied nach  Pasten  r  zwei  verschiedene  Gruppen: 
Diastase  und  ähnliche  Fermente  nannte  man  lös- 
liche oder  anorganische  Fermente,  während  man 
z.  B.  Hefe  ein  organisiertes  h'erment  nannte. 

Diese  Bezeichnung  führte  jedoch  zu  mancherlei 
Verwirrung,  die  K  ü  h  n  e  veranlaßten,  einen  neuen 
Namen  ,, Enzym",  einzuführen.  Nach  dieser  Be- 
zeichnungsweise definieren  wir  Enzyme  als  durch 
lebende  Organismen  hervorgebrachte  Katalysatoren. 

Wie  wir  oben  gesehen  haben,  gibt  es  nur  zwei 
Eigenschaften,  die  allen  Katalysatoren  gemeinsam 
sind,  einmal  ändern  sie.  die  Geschwindigkeit  einer 
in  Gang  befindlichen  Reaktion,  ohne  jedoch  andrer- 
seits in  die  Endprodukte  der  Reaktion  einzutreten. 
Wenn  nun  unsere  Definition  richtig  ist,  müssen 
die  Enzyme  ebenfalls  diese  Eigenschaften  besitzen. 
Auf  den  Beweis  hier  einzugehen,  würde  mich  zu 
weit  führen.  Auch  bei  den  Enzymen  genügen 
winzige  Spuren,  um  eine  Katalyse  zu  beschleunigen. 
Invertase  kann  nach  O'Sullivan  und  Tompson 
ihr  2poooofaches  Gewicht  Saccharose  hydroly- 
sieren;  Labferment  vermag  nach  Hammarsten 
sein  400000 faches  Gewicht  Kasein  in  Milch  zur 
Gerinnung  zu  bringen. 

Die  chemischen  und  physikalischen  Eigen- 
schaften der  Enzyme  werden  hauptsächlich  durch 
ihre  kolloide  Natur  gekennzeichnet.  Enzyme  be- 
sitzen daher  die  Fähigkeit,  Bestandteile  einer 
Lösung,  aus  der  sie  ausgefällt  werden,  durch 
Adsorption  mitzureißen.  Was  man  über  die  che- 
mische Natur  der  Enzyme  sagen  kann,  sind  alles 
mehr  Vermutungen  als  Talsachen. 


Zum  Unterschied  von  den  anorganischen  Kata- 
lysatoren werden  Enz)-me  bei  Temperaturen  von 
etwa  100"  zerstört.  Dies  scheint  eine  h'olge  der 
kolloiden  Natur  dieser  Stoffe  zu  sein  und  stellt  ein 
oft  angewandtes  Hilfsmittel  dar,  um  zu  entscheiden, 
ob  es  sich  um  ein  Enzym  oder  einen  Katalysator 
handelt. 

189S  sprach  van  'tHoff  die  Vermutung  aus, 
Enzyme  könnten  auch  chemische  Synthesen  aus- 
führen bzw.  beschleunigen.  Diese  Vermutung 
wurde  in  den  verflossenen  Jahren  durch  zahlreiche 
Versuche  bewiesen.  Graft  Hill  beobachtete 
im  gleichen  Jahre  eine  synthetische  Wirkung  der 
Hefemaltase.  Wirkt  Hefemaltase  monatelang  auf 
40 "  0 'gc  Glukoselösung  bei  30"  ein,  so  wird  ihr 
Reduktions-  und  Drehungsvermögen  im  Sinne  einer 
Maltosebildung  geändert.  Wie  jedoch  Emmer- 
ling  nachwies,  beruht  die  beobachtete  Wirkung 
nicht  auf  der  Bildung  von  Maltose,  sondern  von 
Isomaltose  und  dextrinartigen  Produkten.  Isomal- 
tose wird  auch  durch  Maltase  nicht  weiter  ge- 
spalten. Emulsin  verhält  sich  Maltose  gegenüber 
umgekehrt  wie  Maltase;  es  spaltet  Isomaltose,  aber 
synthetisiert  Glukose  zu  Maltose.  Diese  Versuchs- 
ergebnisse verallgemeinerte  Armstrong  dahin, 
daß  ,, Enzyme  gerade  diejenigen  Moleküle  aufbauen, 
welche  sie  nicht  zu  spalten  vermögen".  Ist  diese 
Behauptung  richtig,  so  muß  man  annehmen,  daß 
diejenigen  Enzyme,  welche  ein  chemisches  Gleich- 
gewicht von  beiden  Seiten  aus  herstellen,  Ge- 
mische eines  sj-nthetisierenden  und  eines  hydro- 
l\sierenden  Enzyms  darstellen. 

Bei  der  Hydrolyse  des  Rohrzuckers  entsteht 
eine  d-Glukose,  die  von  Tau  r  et  als  a-Glukose 
bezeichnet  wurde.  Diese  d-Glukose  geht  allmäh- 
lich in  eine  t-Glukose  über,  die  ein  Gleichgewicht 
zwischen  der  a-Glukose  und  der  optisch  isomeren 
Form,  der  ^-Glukose,  darstellt. 

In  jeder  Hefe,  die  Maltose  fermentiert,  ist,  wie 
Fischer  gezeigt  hat,  ein  Enzym  vorhanden,  das 
Maltose  hydrolysiert,  dieses  Enzym  ist  die  Maltase. 
Die  Maltase  vermag  das  «-Mcthylglukosid,  aber 
nicht  die  ,i-Form  zu  hydrolysieren,  während  um- 
gekehrt das  Emulsin  das  a-Glukosid  nicht  an- 
greift und  das  p'-Glukosid,  mit  Leichtigkeit  hydro- 
lysiert. Maltose  erscheint  also  seiner  Struktur  nach 
als  «  Glukosid,  während  die  natürlichen  Glukoside 
l'z.  B.  das  Salizini  /i-Glukoside  sind.  —  Außer  diesen 
enzymatischen  Synthesen  sind  uns  auch  noch  andere 
bekannt. 

Wird  ein  Ester  von  Wasser  hydrolysiert,  so 
verläuft  die  Reaktion  zumeist  sehr  langsam,  wird 
aber  in  dem  Maße,  wie  die  Konzentration  der  ge- 
bildeten freien  Säure  zunimmt,  sehr  beschleunigt. 
Ostwald  hat  diesen  Vorgang  mit  dem  Namen 
.Autokatalyse"  belegt.  Verschwindet  im  Verlaufe 
der  Reaktion  der  Katalysator,  so  handelt  es  sich 
um  eine  negative  Autokatalyse. 

Die  Faktoren,  welche  die  Reaktionsgeschwin- 
digkeit einer  Enzymlösung  beeinflussen,  sind  etwa 
folgende : 

A)  Verzögerung  erfolgt  durch: 


N.  F.  XIII.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


213 


1.  Reversibilität    (Gleichgewichtsänderung). 

2.  Verbindung  des  Enzyms  mit  dem  Sub- 
strat. 

3.  Negative  Autokatalyse. 

4.  Zerstörung  der  Enzymeigenschaften. 
B)  Beschleunigung  erfolgt  durch : 

I.  Wie  A)  2.,  wenn  ein  verhältnismäßig 
großer  Überschuß  des  Substrates  vor- 
handen ist. 

Soll  ein  Enzym  seine  Aktivität  entfalten ,  so 
muß  es  vorher  irgendeine  Bindung  mit  dem  Sub- 
strat eingehen.  Da  die  Enzyme  Kolloide  sind, 
neigen  sie  besonders  zur  Bildung  sog.  „Adsorp- 
tionsverbindungen". 

Von  größerer  und  allgemeinerer  Bedeutung 
für  das  Zustandekommen  enzymatischer  Reak- 
tionen, als  man  bis  vor  kurzem  angenommen 
hatte,  sind  die  sog.  Aktivatoren  oder  Ko-Enzyme. 
iVIagnus  unterwarf  einen  Leberextrakt  der  Dia- 
lyse, dabei  verlor  dieser  nach  und  nach  seine  an- 
fängliche lipolytische  Fähigkeit,  die  er  jedoch 
wiedergewann,  sobald  das  Dialysat  wieder  hinzu- 
gefügt wurde.  Der  dialysierte  inaktive  Extrakt 
konnte  auch  durch  Vermischen  mit  gekochtem 
Leberextrakt  wieder  aktiv  gemacht  werden.  Der 
Teil,  der  bei  der  Dialyse  nicht  heraus  diffundierte, 
wurde  durch  Kochen  zerstört,  kann  also  als  das 
eigentliche  Enzym  betrachtet  werden.  Der  dialy- 
sable  Stoff  dagegen  heißt  „Kocnzym".  Bertrand 
beobachtete  eine  vermehrte  Oxydationskraft  der 
Laccase  beim  Zusatz  von  geringen  Mengen  Man- 
gansalzen und  verwandte  hierbei  zum  ersten  Male 
den  Namen  „Koenzym"  oder  „Koferment",  ob- 
gleich wir  es  hier  eher  mit  einem  sog.  „Accelera- 
tor"  zu  tun  haben.  Auch  für  das  Enzym  des 
Hefepreßsaftes  konnten  Harden  und  Young 
ein  koenzymatisches  Verwandtschaftsverhältnis 
feststellen.  F"iltriert  man  Hefesaft  durch  ein 
Martin'sches  Gelatinefilter,  so  erhält  man  eine 
Substanz,  die,  obgleich  sie  die  Zymase  enthält, 
inaktiv  ist.  Bringt  man  nun  einen  Teil  des  Fil- 
trates  (das  für  sich  allein  ebenfalls  inaktiv  ist)  zu 
dem  Enzym,  so  findet  eine  starke  Fermentation 
statt,  wobei  jedoch  vorausgesetzt  ist,  daß  das 
Filtrat  auch  anorganische  Phosphate  gelöst  ent- 
hält, die  gleichfalls  als  Koenzym  wirken.  Die 
Natur  des  anderen  Koenzyms  ist  uns  bis  jetzt 
noch  unbekannt. 

Ähnlich ,  wie  man  durch  Einspritzen  von 
Toxinen  in  den  lebenden  Organismus  Antitoxine 
erhält,  so  bildet  der  Organismus  auch  sog.  Anti- 
enzyme     als     Schutzmittel     gegen    körperfremde 


Enzyme.  Aber  auch  das  normale  Serum  enthält 
Substanzen,  welche  z.  B.  die  Trypsinwirkung  mehr 
oder  weniger  vollständig  aufheben;  da  es  nach  den 
bis  jetzt  bekannten  Tatsachen  nicht  wahrscheinlich 
ist,  daß  diese  Körper  von  den  eigentlichen  Anti- 
enzymen  wesentlich  verschieden  sind,  so  kann  man 
sie  ebenfalls  unter  die  Antienzyme  rechnen.  Das 
Blut  enthält  normalerweise  einige  Antienzyme,  so 
Antitrypsin  und  Antilab;  andere  können  durch 
subkutane  Injektion  von  Enzymen  erhalten  werden. 
(So  hergestellt  wurden  die  Antikörper  von  Lipase, 
Emulsin,  Amylase,  Pepsin,  Papain  und  Urease.) 

Wie  verschieden  hohe  Temperaturen  auf  En- 
zyme einwirken,  wurde  oben  erwähnt.  Auch  ver- 
schiedenartige Bestrahlung  äußert  sich  in  ver- 
schiedener Weise.  Zwar  scheinen  die  Enzyme 
keine  so  hohe  Lichtempfindlichkeit  zu  besitzen 
wie  die  Toxine.  Strahlen  der  Wellenlänge  280  ((/( 
schwächen  Trypsin,  Diastase  und  Labferment, 
allerdings  erfordern  die  Enzyme  zu  ihrer  Zer- 
störung eine  bedeutend  längere  Zeit  als  die  Toxine. 
Wie  Jamada  und  Jodlbauer  fanden,  schädigen 
die  durch  Glas  durchtretenden  Sonnenstrahlen 
Invertase ,  aber  ausgesprochen  nur  dann ,  wenn 
Sauerstoft'  zugegen  ist.  Stärker  hemmend  als  ge- 
wöhnliche Strahlen  wirken  ultraviolette  Strahlen. 
So  fand  R.  Green,  daß  Diastase  durch  ultra- 
violette Strahlen  zerstört  wird,  während  sichtbare 
Strahlen  im  Gegenteil  dieses  Enzym  aktivieren. 
Von  Röntgenstrahlen  werden  Enzyme  nicht  ge- 
schwächt, während  Radiumstrahlen  und  Radium- 
emanation nicht  immer  ohne  Einfluß  auf  Enzyme 
sind.  ^) 

Experimentelle  Ergebnisse  über  den  Verlauf 
enzymatischer  Reaktionen  anzugeben  dürfte  sich 
aus  dem  Grunde  nicht  empfehlen,  da  dies  doch 
lediglich  nur  ein  Aufzählen  und  Aneinanderreihen 
von  Zahlen  sein  würde,  die  nicht  von  allgemeinem 
Interesse  sind. 

Der  lebende  Organismus  ist  mit  Hilfe  der 
Enzyme  bei  gewöhnlicher  Temperatur  und  bei 
Gegenwart  gewisser  Stoffe  in  der  Lage,  eine 
ganze  Reihe  oft  verwickelter  chemischer  Reak- 
tionen ablaufen  zu  lassen,  zu  deren  Gelingen  wir 
außerhalb  des  Körpers  höhere  Temperaturen  und 
oft  kräftige  Reagenzien  benötigen. 

Im  allgemeinen  können  wir  sagen,  daß  sich 
Enzymreaktionen  auf  die  Wirkungen  der  Kataly- 
satoren zurückführen  lassen. 

')  Man  vgl.  auch;  W.  M.  Bayliss:  „Das  Wesen  der 
Enzymwirkung",  deutsch  von  K.  Schorr.  (Th.  Steinkojjff, 
Dresden   1910.) 


Einzelberichte. 


Paläontologie.  Über  eine  Platte  mit  pracht- 
voll erhaltenen  Crinoideen  berichtet  R.S.  Baßler 
(Proceedings  of  the  United  States  National  Mu- 
seum Bd.  46,  S.  57 — 59,  Washington  191 3).  Es 
handelt   sich    um    die    Gattung  Scyphocrinus,    die 


dem  Obersilur  und  Unterdevon  angehört.  Das 
auf  zwei  Tafeln  wiedergegebene  Stück  ist  nicht 
allein  ein  paläontologisches  Wertstück,  das  nun- 
mehr der  Schausammlung  des  National  Museum 
zur  Zierde   gereicht,    sondern    es  ist  auch  bemer- 


214 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  14 


kenswert  als  ein  kleines  Kunstwerk  der  Präpara- 
tion und  auch  durch  die  Fundgeschichte.  Der 
Fundort  ist  in  der  Umgebung  des  Cape  Girardeau, 
Missouri  am  Mississippi  gelegen  und  zwar  fern 
jeder  Station  oder  Landungsstelle,  so  daß  die 
Funde  im  Gesamtgewicht  von  4500  Pfund  nur 
durch  besondere  Vorkehrungen  geborgen  werden 
konnten.  Das  Wichtigste  ist  aber,  dai3  die 
schöne  Ausbeute  das  Ergebnis  planvollen  Suchens, 
also  ein  von  vornherein  erstrebtes  Ziel  war.  Ein 
Reweis  mehr  zu  manchen  anderen  in  neuerer  Zeit, 
wie  sehr  die  Paläontologie  durch  das  in  der  Ar- 
chäologie längst  angewandte  Forschungsmittel 
systematischen  Sammeins  oder  Grabens  gewinnen 
kann,  während  sie  bisher  auf  die  zufällig  beim 
Verfolgen  anderer  Zwecke  abfallenden  Brocken 
angewiesen  zu  sein  pflegte.  E.  Hennig. 

Geologie.  Die  Wärmeleitung  der  Gesteine 
und  die  Temperatur  in  der  Tiefe.  ^)  Die  Gesteine 
besitzen  eine  verschiedene  Wärmeleitfähigkeit,  die 
auf  die  Temperatur  von  gewissem  Einfluß  ist,  was 
mit  ein  Grund  ist  für  die  Verschiedenheit  der 
geothermischen  Tiefenstufe.  Je  größer  die  Unter- 
schiede in  der  Wärmeleitfähigkeit  und  je  mäch- 
tiger die  verschiedenen  Gesteine  sind,  desto  be- 
deutender ist  dieser  Einfluß.  Einheitliche  Kristalle 
besitzen  ein  größeres  Wärmeleitungsvermögen  mit 
einer  anderen  Temperaturabhängigkeit  als  Gesteine, 
die  aus  denselben  aber  kleinen  Mineralkörnern  zu- 
sammengesetzt sind.  Ouarzit  zeigt  eine  viel  ge- 
ringere Wärmeleitfähigkeit  als  ein  Quarzkristall, 
weil  sich  zwischen  den  Trennungsflächen  der  ein- 
zelnen Mineralkörner  häufig  noch  Luft  befindet, 
die  bekanntlich  ein  schlechter  Wärmeleiter  ist. 
Poröse  Gesteine  leiten  die  Wärme  viel  schlechter 
als  dichte  Gesteine.  Umgekehrt  sind  poröse  Ge- 
steine, deren  Lumina  mit  Wasser  erfüllt  sind,  durch 
eine  sehr  erhebliche  Wärmeleitfähigkeit  ausge- 
zeichnet, die  unter  LTmständen  auf  das  doppelte 
und  dreifache  steigen  kann  (Wasser  leitet  gegen- 
über Luft  viel  besser).  In  nicht  allzu  großer  Tiefe 
pflegen  aber  die  Gesteine  meist  bergfeucht  zu  sein. 
Der  Einfluß  des  Wassers  als  Bergfeuchtigkeit  wirkt 
ausgleichend  zwischen  porösen  und  weniger  porösen 
Gesteinen. 

Parallel  geschichtete  Gesteine  besitzen  eine  mit 
der  Richtung  verschiedene  Wärmeleitfähigkeit.  Beim 
Bau  des  Simplontunnels  wurde  man  zum  ersten 
Male  mit  der  Tatsache  bekannt,  daß  die  Erdwärme 
in  der  Schichtrichtung  viel  leichter  abfließt  als 
quer  zu  dieser.  Bei  steiler  Schichtstellung  erfolgt 
die  Temperaturzunahme  langsamer  als  bei  horizon- 
taler. So  beobachtete  man  im  Simplontunnel  bei 
steil  stehenden  Schichten  eine  geothermische  Tiefen- 
stufe von  50  m,  während  sie  bei  flacher  Schichten- 
stellung nur  30—40  m  betrug.  Da  im  Simplon- 
tunnel nur  in  der  Nähe  des  Nordportales  steil 
stehende    Schichtung   vorkommt    und    im    ganzen 

')  J.  Koen  igsb  er  ge  r  ,  Geologische  Rundschau,  Bd.  4, 
H.   7,   1913. 


Übrigen  Teil  mehr  oder  weniger  flache  Lagerung 
auftritt,  so  traf  man  lo — 12  "  höhere  Temperaturen 
an,  als  man  nach  den  Erfahrungen  in  den  anderen 
Alpentunnels  erwartet  hatte.  In  8',,  km  Entfer- 
nung vom  Nordportal  stieg  die  Temperatur  auf 
fast  54 "  C,  während  man  auf  eine  Temperatur 
von  42  "  C  gerechnet  hatte. 

Normaler  Granit,  Gneis  (im  Mittel),  sowie  Kalk 
und  Marmor  zeigen  praktisch  nahezu  das  gleiche 
Wärmeleitungs  vermögen. 

Neben  der  verschiedenen  Wärmeleitfähigkeit 
muß  noch  die  Begrenzung  und  Mächtigkeit  der 
Gesteine  beachtet  werden.  Einlagerungen  von 
Gesteinsschichten  mit  größerer  oder  kleinerer 
Wärmeleitfähigkeit  können  nur  dann  eine  erheb- 
lich andere  Temperatur  besitzen,  wenn  Gesteins- 
komplexe von  größerer  Mächtigkeit  vorliegen. 
Selbst  bei  recht  verschiedenen  Leitfähigkeiten  tritt 
kein  Temperatursprung,  sondern  nur  ein  langsamer 
Übergang  ein. 

Von  praktischer  Bedeutung  ist  die  Wärme- 
leitung der  Gesteine  für  den  Bergbau.  Große 
P^rzmassen  zeigen  eine  erheblichere  VVärmcleit- 
fähigkeit  als  das  Nebengestein,  wodurch  die  Tiefen- 
stufe vergrößert  wird.  Durch  die  natürliche  Ven- 
tilation (Schächte)  wird  aber  die  Temperatur  in 
Bergwerken  erheblich  vermindert.  In  Bergwerken 
mit  oxydierbaren  Mineralien  (so  am  Rammeisberg, 
in  Rio  Tinto,  sowie  in  den  Schwefelgruben  Sizi- 
liens) macht  sich  durch  die  wenn  auch  langsam 
diffundierende  Luft  eine  Erwärmung  geltend,  wo- 
mit eine  Verkleinerung  der  normalen  Tiefenstufe 
eintritt.  Hier  sind  in  abgesperrten  Stollen  viel 
iiöhere  Temperaturen  zu  beobachten,  als  in  dem 
offenen,  aber  nicht  ventilierten  Bergwerke.  In  den 
nicht  abgesperrten  Stollen  geht  aber  die  Oxyda- 
tion noch  stärker  vor  sich.  Auf  der  andern  Seite 
ist  aber  die  Luftkühlung  dann  so  stark,  daß  die 
entwickelte  Wärme  größtenteils  weggescliaftt  wird. 
In  Bergwerken,  in  denen  oxydierbare  Mineralien 
fehlen  (z.  B.  im  Siegener  Gebiet),  wird  die  natür- 
liche Ventilation  kühlend  wirken  und  auch  auf  die 
abgesperrten  Räume  indirekt  durch  das  Gestein 
hindurch  sich  geltend  machen. 

V.  Hohenstein. 

Geographie.  „Polygonboden  und  thufur  auf 
Island"  sind  Untersuchungen  betitelt,  die  Th. 
Thoroddsen  angestellt  hat  (Petermann's  Geogr. 
Mitteilungen   1913,  Heft   11). 

Schon  Meinardus  hat  auf  den  Bodenfliiß 
und  die  damit  nicht  ohne  weiteres  zusammen- 
hängenden Strukturböden  hingewiesen.  ^)  Beide 
Erscheinungen  sind  auch  in  Island  sehr  häufig, 
dazu  kommen  dort  noch  die  Bülten  (thufa,  PI. 
thufur),  die  von  großer  Bedeutung  für  den  Pflanzen- 
wuchs und  Bodenbau  sind.  Diese  ,, thufur"  stehen 
in  enger  genetischer  Beziehung  zum  Polygonboden; 
die  wesentliche  Bedingung  für  die  Bildung  beider 
ist  das  Bodeneis.    Die  Tiefe,  in  der  das  isländische 

')  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  XI,    1912,  .S.  817. 


N.  F.  XIII.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


215 


Bodeneis  im  Frülijahr  angetroffen  wird,  ist  äußerst 
ungleich  nach  den  verschiedenen  Landesteilen  und 
nach  der  Witterung;  es  kann  sicli  in  den  nörd- 
lichsten Gegenden  nahezu  den  ganzen  Sommer 
halten,  es  ist  im  größten  Teil  des  Landes  im  Juni 
in  einer  Tiefe  von  i  —  1 '/.,  m  vorhanden,  im  Moch- 
land  den  ganzen  Sommer.  Nur  an  Stellen  be- 
deutender Erdwärme  fehlt  es. 

Der  Polygonboden  bildet  sich  im  allge- 
meinen nur  auf  flachem  Lande,  wo  der  Erdboden 
mit  Ton  und  Schutt  vermischt  ist;  der  Boden  ist 
in  mehr  oder  minder  regelmäßige  Vielecke  ge- 
teilt, die  durch  Reihen  von  Steinen  oder  Schutt 
getrennt  sind,  während  das  Innere  von  steinfreiem 
Ton  eingenommen  wird.  Pflanzenwuchs  findet 
sich  gewöhnlich  nur  in  den  Schuttringen,  da  der 
Tonboden  in  der  Mitte  zu  feucht  ist.  Erst  wenn 
der  Boden  trockener  wird,  breitet  sich  die  Vege- 
tation allmählich  iiber  die  P'elder  aus,  besonders 
wenn  der  Wind  Staub  hinzuträgt.  Die  Polygone 
sind  von  verschiedener  Größe  und  zeigen  im  all- 
gemeinen einen  Durchmesser  von  i  —  i  V2  rn- 
Beim  Austrocknen  bilden  sich  in  tonhaltigem 
Boden  eine  Menge  Risse,  die  auch  unter  dem 
Einfluß  der  Kälte  entstehen  können.  Daher  ist 
die  Erdschicht  der  Oberfläche  von  einem  Netz 
von  Rissen  und  Spalten  in  unregelmäßige  Stücke 
oder  eckige  Zylinder  geteilt.  Bodeneis  und  Spalten 
sind  nach  Thoroddsen's  Meinung  zur  Bildung 
von  Bodeneis  und  Büken  erforderlich,  wozu  noch 
Frost  und  ungleiche  Verdunstung  auf  der  Ober- 
fläche kommen. 

In  flachem  sandigen,  abflußlosen  Schuttboden 
wird  bei  der  Schneeschmelze  der  ganze  Erdboden 
von  Wasser  gesättigt.  Das  Wasser  steht  eben 
zur  Erde  oder  erhebt  sich  noch  über  die  Ober- 
fläche. Im  Laufe  des  Frühjahrs  verdampft  es 
teilweise,  zum  anderen  Teil  fließt  es  ab.  In  mit 
Ton  vermischtem  und  mit  einem  Netz  von  Rissen 
durchzogenen  Schuttboden,  wo  während  des  Früh- 
jahrs der  Boden  am  Tage  auftaut,  nachts  wieder 
gefriert,  ist  es  anders.  Da  bildet  das  Bodeneis 
eine  Grenze,  durch  die  das  Wasser  nicht  abfließen 
kann,  aber  durch  die  Risse  im  Boden  wird  ein 
gleichmäßiges  Verdunsten  an  der  Oberfläche  ver- 
hindert. Das  Wasser  sammelt  sich  in  diesen 
Rissen  und  Vertiefungen,  in  denen  die  Verdunstung 
langsamer  vor  sich  geht  als  auf  den  Polygonen 
selbst,  so  daß  von  der  Mitte  derselben  das  Wasser 
von  den  Spalten  aus  aufgesaugt  wird ;  toniger 
Erdboden  besitzt  große  Kapillarität,  die  durch 
Vermischung  mit  Humus  noch  vermehrt  wird. 
Nachts  friert  der  Polygonboden  teilweise  wieder, 
im  Laufe  des  Tages  steigt  das  Wasser  vermöge 
der  Kapillarität  und  der  Verdunstung,  so  daß  sich 
die  Mittelpartie  des  Kreises  hebt.  Hierdurch 
wird  eine  Wanderung  der  leichteren  Teilchen  nach 
oben  verursacht,  und  die  schwereren  an  die  Seite 
geschoben.  Der  Druck  von  unten,  der  so  bedeu- 
tend ist,  daß  er  10—20  cm  dicken  Rasentorf  zu 
sprengen  vermag,  schiebt  den  gröberen  Schutt 
zur  Seite,  so  daß  er  in  den  Rissen  des  Erdbodens 


liegen  bleibt.  LTntcr  der  Schicht  des  Bodeneises 
ist  der  Schutt  unregelmäßig  im  Ton  verstreut,  er 
ordnet  sich  nur  an  der  Oberflächenschicht.  So- 
bald im  Sommer  das  Bodeneis  schmilzt,  fließt  das 
Wasser  ab  und  der  Boden  trocknet  aus.  Wo  der 
Boden  aus  tonfreiem  Sande  besieht,  und  wo  sich 
kein  Bodeneis  bildet,  fehlt  der  Polygonboden. 

Die  BültenM  (thufur),  sind  größere  oder 
kleinere  Erdhügelchen,  die  massenweis  auftreten. 
Sie  besitzen  einen  Durchmesser  von  '/g — 2  m  und 
'/i — V-,  rn  Höhe,  sind  meist  länglich  und  werden 
nur  durch  schmale  Rinnen  voneinander  getrennt. 
Der  mit  Rasentorf  bedeckte  Boden  und  die  Vege- 
tation sind  ähnlich  wie  der  Polygonboden  von 
einem  Netz  von  Rissen  durchzogen.  Die  Büken 
sind  ebenfalls  durch  Spaltensysteme  des  Unter- 
grundes bedingt.  Der  humusreiche  Rasentorf 
kann  vermöge  seiner  Kapillarität  und  großen 
Wasserkapazität  viel  Wasser  aufnehmen  (50 — 60  *"  „). 
Im  Frühjahr  ist  der  Torf  auf  den  kleineren  Büken 
wie  ein  Schwamm  mit  Wasser  getränkt.  Streifen 
vulkanischer  Asche  im  Erdboden  haben  sich  der 
Form  der  Büken  gemäß  nach  oben  in  Kurven 
gebogen  —  ein  Beweis  für  den  lokalen  Druck 
von  unten.  Bei  der  Schneeschmelze  sind  die 
Rinnen  zwischen  den  Büken  häufig  zur  Hälfte 
mit  Wasser  gefüllt,  während  die  Büken  selbst 
durch  Verdunstung  trocken  sind.  Große  Büken 
sind  zuweilen  bis  in  den  Sommer  mit  Eis  ange- 
füllt. Da  sie  sich  schnell  wieder  bilden,  wenn 
der  Boden  nicht  dräniert  wird,  so  richten  sie  im 
Ackerboden  viel  Schaden  an.  Auch  auf  un- 
bebautem Grasland  und  Heideland,  jedoch  nur 
auf  flachem  Boden,  finden  sich  Büken  derselben 
Art.  .Sie  sind  häufig  durch  eigentümlichen  Pflanzen- 
wuchs gekennzeichnet,  in  der  die  Polygone  mit 
bräunlichem  Calluna  und  Empetrum,  die  Risse 
zwischen  ihnen  mit  dem  grauen  Moos  Grimmia 
hypnoides  bewachsen  sind.  Die  Büken  bestehen 
aus  Mohellaton;  auf  nacktem  Tonboden  fehlen  sie, 
erst  wenn  der  Boden  sich  mit  Vegetation  über- 
zieht, beginnen  sie  sich  zu  heben  und  behalten 
ihre  Form.  An  Abhängen  konnten  sie  nie  be- 
obachtet werden ,  ein  Zusammenhang  mit  den 
Erscheinungen  des  Bodenflusses  wurde  also  nicht 
nachgewiesen. 

Auf  dem  Hochland  finden  sich  eigentümlich 
große  Büken  von  unregelmäßig  länglicher  Form, 
besonders  an  der  Grenze  von  Mooren ,  wo  sie 
beim  Schmelzen  des  Schnees  mit  dem  E"uß  im 
Wasser  stehen.  Sie  erreichen  hier  i  —  i^/jmHöhe, 
15 — 20  m  Länge  und  8 — 10  m  Breite.  Sämtliche 
Büken  bestehen  aus  Mohellaerde  und  Humus,  aber 
enthalten  nicht  soviel  Steine  wie  der  Polygon- 
boden. Auf  dem  Hochlande  kommt  der  Polygon- 
boden selten  vor.  Hier  sind  jedoch  Fließerde- 
erscheinungen häufiger,  indem  an  Abhängen  die 
Steine  in  Streifen  und  in  anderer  Weise  angeordnet 
sind.  Polygonboden  und  Büken  haben  mit  Boden- 


')  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  X,     191 1,    S.   55g.      Bulte 
oder  Kupsten. 


2  l6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  14 


flußphänomenen  direkt  nichts  zu  tun;  es  kann 
aber  der  Boden  mit  diesen  Erscheinungen  vom 
Bodenfluß  betroffen  werden,  was  dann  eine 
sekundäre  Erscheinung  ist.  Polygonboden  und 
„thufur"  sind  in  ihrer  Verbreitung  auf  arktische 
Gebiete  beschränkt  und  erklären  sich  aus  deren 
klimatischen  Verhältnissen. 

Dr.  Gottfried  Hornig. 

Bakteriologie.  Zersetzung  von  Kautschuk. 
Bekanntlich  ist  der  vulkanisierte  Gebrauchskaut- 
schuk außerordentlich  widerstandsfähig  gegen  Fäul- 
nis, selbst  wenn  er  in  dauernder  Berührung  mit 
Feuchtigkeit  ist.  Anders  verhält  sich  aber  der 
Rohkautschuk  des  Handels.  Er  stellt  ja  die  ge- 
ronnene Milch  der  Kautschukbäume  dar  und  ent- 
hält, auch  nach  dem  Waschen,  noch  genug  dem 
Milchsaft  entstammende  organische  Substanzen, 
um  Mikrorganismen  Wachstum  zu  gestatten,  voraus- 
gesetzt, daß  er  hinreichend  feucht  ist.  Man  findet 
infolgedessen  auf  den  Kuchen  und  Scheiben 
(crepcs,  sheetes)  des  Handels  oft  Flecke,    die  von 


verschiedenen  Mikroben  herrühren ;  ja  man  hat 
sogar  vermutet,  daß  das  sogenannte  Leimigwerden 
des  Kautschuks  auf  die  Wirkung  von  Bakterien 
zurückgehe.  Doch  ist  diese  Frage  noch  nicht  ent- 
schieden. 

N.  L.  Söhn  gen  und  J.  G.  Fol  (Centralblatt 
für  Bakteriologie  usw.,  II.  Abteil.  Bd.  40,  19 14, 
S.  87)  haben  nun  allgemein  die  Frage  aufgeworfen, 
inwieweit  Kautschuk  als  Nährboden  für  Mikro- 
organismen dienen  könne.  Sie  fanden,  daß  selbst 
sehr  reiner  Handelskautschuk,  wenn  er  feucht  ge- 
halten   und    mit  Erde    oder  Schmutz  verunreinigt 


wird,  eine  üppige  Vegetation  von  Schimmelpilzen 
und  Bakterien  auf  sich  erblühen  läßt.  War  dieser 
Erfolg  wegen  der  stets  vorhandenen  kleinen  Mengen 
von  stickstoffhaltigen  Substanzen  und  Kohlehydra- 
ten nicht  weiter  verwunderlich,  so  ist  doch  die 
weitere  Feststellung  von  Interesse,  daß  auch  die 
möglichst  gereinigten  spezifischen  Kautschuksub- 
stanzen, die  Kohlenwasserstoffe,  von  ganz  bestimm- 
ten Mikroben  angegriffen  und  verzehrt  werden 
können.  Wurden  nämlich  sorgfältig  hergestellte 
und  fast  ganz  reine  dünne  Kaulschukhäutchen  mit 
einer  Nährsalzlösung  befeuchtet  und  mit  etwas 
Erde  oder  Grabenwasser  geimpft,  so  entwickelten 
sich  2  Arten  äußerst  dünnfädiger  Pilze  (sog. 
Aktinomyceten  oder  Strahlenpilze)  auf  ihnen,  die 
schließlich  Löcher  in  die  Häutchen  fraßen.  Daß 
diese  Pilze  spezifische  Kautschukzerstörer  waren, 
zeigte  sich,  als  zum  Vergleich  verschiedene  andere 
gewöhnliche  Bakterien  und  Pilze  auf  die  Häutchen 
zusammen  mit  den  erwähnten  .Strahlenpilzarten 
gesät  wurden.  Wie  die  Abbildung  erkennen  läßt, 
entwickelten  sich  nur  diese  beiden  üppig,  alle  die 
anderen  hingegen  äußerst  kümmerlich. 
Merkwürdig  ist,  daß  sich  diese  Kaut- 
schukzersetzer ganz  gewöhnlich  in  Erde 
und  Schmutzwasser  (wenigstens  bei 
Delft  in  Holland)  finden,  trotzdem  sie 
wohl  nur  sehr  selten  Gelegenheit  haben, 
eigentlichen  Kautschuk  anzugreifen. 
Doch  werden  ihnen  wohl  unter  natür- 
lichen Verhältnissen  ähnliche  aus  der 
Zersetzung  von  Pflanzenresten  hervor- 
gehende Körper  zu  Gebote  stehen. 

Miehe. 

Chemie.  Die  Ergebnisse  der 
Kolloidforschung  ist  der  Titel  eines 
Vortrages,  den  der  bekannte  schwedi- 
sche Physiko  -  Chemiker  The  Sved- 
berg  am  29.  November  191 3  auf  Ein- 
ladung der  Deutschen  Chemischen 
Gesellschaft  im  I  lofmann-Hause  in  Berlin 
gehalten  hat  (vgl.  Ben  d.  D.  Chem.  Ge- 
sellsch.  Bd.  47,  S.  12—38,   1914). ') 

Der  Begriff ,, Kolloid"  ist  bekanntlich 
etwa  in  der  Mitte  des  vergangenen 
Jahrhunderts  im  Anschluß  an  die  Be- 
obachtung gebildet  worden,  daß  manche 
Stoffe,  die  „Kolloide",  die  meist,  wie 
z.  B.  der  Leim  (colla)  in  kristallisierter 


')  Über  die  Entwicklung  der  Kolloidchetnie  ist  in  der 
Xaturw.  Wochenschr.  bereits  häufig  bericlitet  worden  [vgl. 
Bd.  IV,  S.  81—89  (igo';),  Bd.  V,  S.  10-12  (igobl,  Bd.  VI, 
S.  763—765  (1907),  Bd'.  VII,  S.  417—422  (190S),  Bd.  VHI, 
S.  121  und  S.  769 — 781  (igog),  Bd.  IX,  S.  35—43,  S.  312 
und  S.  3S5 — 396  (1910),  Bd.  X,  .S.  279 — 281  und  S.  425  bis 
426  I1911),  Bd.  XI,  S.  404 — 405  und  S.  701  — 702  (1912), 
Hd.  XII,  S.  182,  S.  411 — 414  und  .S.  785—790  (1913)],  der 
beste  Beweis  für  die  Wichtigkeit  dieses  Gebietes  und  seine 
rasche  Entwicklung.  Trotzdem  glauben  wir,  daß  den  Lesern 
der  Xaturw.  Wochenschrift  das  oben  stehende  Referat  über  den 
S  V  e  d  b  e  rg  '  sehen  Vortrag  in  seiner  knappen  Form  nicht  un- 
erwünscht sein  wird. 


N.  F.  XIII.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


217 


Form  nicht  vorkommen,  im  Gegensatz  zu  den  ,,K  r  i  - 
stall  oiden",  d.  h.  typisch  kristallisationsfähigen 
Stoffen,  wie  etwa  dem  Kochsalz,  in  Lösungen  nur  ein 
äußerst  geringes  Diffusionsvermögen  besitzen,  und 
wenn  auch  manche  kristaliisationsfähige  Stoffe  in 
kolloidaler  Form  vorkamen ,  so  wurde  von  zwei 
allotropen  Modifikationen,  der  kristalloidalen  und 
der  kolloidalen,  gesprochen.  Die  neuere  Forschung 
hat  aber  gezeigt,  daß  die  Unterschiede  zwischen 
Kolloiden  und  Kristalloiden  nicht  intramolekularer, 
sondern  extramolekularer  Natur  seien.  Der  grund- 
legende Fortschritt,  der  zu  dieser  Erkenntnis 
führte,  war  die  Entdeckung  der  ultramikroskopi- 
schen Versuchsanordnung,  ')  die  gerade  in  dieser 
Zeit  ihr  zehnjähriges  Jubiläum  feiern  konnte. 
Beleuchtet  man  ein  kleines  Gebiet  einer  kolloidalen 
Lösung  von  der  Seite  her  mit  sehr  intensivem 
Lichte  und  betrachtet  dann  die  kolloidale  Lösung 
von  oben  her,  d.  h.  senkrecht  zur  Richtung  des 
beleuchtenden  Lichtes,  so  sieht  man  einzelne  helle 
Teilchen  auf  dunklem  Hintergrunde,  gerade  wie  man 
in  einer  mondlosen  klaren  Nacht  die  Sterne  auf 
dem  dunklen  Himmel  sieht.  Der  Vorteil  dieser 
Untersuchungsmethode  liegt  vor  allen  Dingen 
darin,  daß  im  Ultramikroskop  noch  Teilchen  sicht- 
bar gemacht  werden  können ,  die  sich  der  Be- 
obachtung im  gewöhnlichen  Mikroskop  vollkommen 
entziehen. 

Da  die  Einzelteilchen  kolloidaler  Lösungen 
äußerst  klein  sind,  lassen  sie  sich  durch  gewöhn- 
liche F"ilter  nicht  abfiltrieren :  Sie  laufen  durchs 
Filter.  Um  sie  zu  filtrieren,  muß  man,  wie  Bech- 
hold")  gezeigt  hat,  die  Poren  der  Filter  enger 
machen,  eine  Aufgabe,  die  man  durch  Behandlung 
gewöhnlicher  Filter  mit  Kollodium  oder  mit  Ge- 
latine lösen  kann.  Auch  papierfreie  Kollodium- 
membranen haben  sich  als  ausgezeichnete  ,,Ultra- 
filter"  bewährt. 

Durch  verschiedene  Mittel,  über  die  noch 
weiter  unten  gesprochen  werden  wird,  kann  man 
die  Hinzelteilchen  einer  kolloidalen  Lösung  zum 
Zusammentritt  zu  größeren  Kemplexen  veran- 
lassen, ein  Vorgang,  der  als  „Ausflockung" 
oder  „Koagulation"  bezeichnet  wird  und  die 
Zerstörung  der  kolloidalen  Lösung  zur  Folge  hat. 
Die  Koagula,  zu  denen  die  feste  Gelatine,  Agar- 
Agar  und  ähnliche  Stoffe  gehören,  werden  als 
„Gele"  bezeichnet.  Wesentlich  bei  der  Gelbildung 
ist  —  das  ist  wenigstens  für  einige  Fälle  mit 
Sicherheit  nachgewiesen  — ,  daß  die  Einzelteilchen, 
die  in  der  kolloidalen  Lösung  enthalten  waren, 
in  den  Gelen  ihre  Individualität  behalten,  so  daß 
das  Gel  unter  geeigneten  Versuchsbedingungen 
wieder  zu  der  ursprünglichen  kolloidalen  Lösung 
aufgelöst  werden  kann.  Der  Aufbau  der  Gele 
aus  den  Einzelteilchen  ist  bereits  seit  längerer  Zeit 
besonders  mit  Rücksicht  auf  das  in  den  Gelen 
enthaltene  Wasser  eingehend  diskutiert  worden. 
Anfangs    glaubte    man    wohl    an    eine  verhältnis- 


mäßig grobe  Struktur,  neuerdings  aber  hat  sich 
herausgestellt,  daß  die  Struktur  im  Gegenteil 
äußerst  fein  ist;  so  beträgt  z.B.  der  Durchmesser 
der  Hohlräume  im  Gel  der  Kieselsäure,  d.  h.  der 
Raum  zwischen  den  eigentlichen  Kieselsäureteil- 
chen nur  etwa  5  ßfi,  ist  also  viel  kleiner  als  die 
Wellenlänge  des  Lichtes. 

Die  kolloidalen  Lösungen  unterscheiden  sich 
dadurch  von  den  echten  Lösungen,  daß  die  in 
ihnen  enthaltenen  Teilchen  verhältnismäßig  groß 
sind,  d.  h.  die  kolloidalen  Lösungen  stehen  zwi- 
schen den  echten  Lösungen  und  den  Suspensionen 
und  Emulsionen.  Danach  ergeben  sich  grund- 
sätzlich zwei  einander  gewissermaßen  entgegen- 
gesetzte Methoden  zur  Gewinnung  kolloidaler 
Lösungen:  Entweder  kann  man  gröbere  Teilchen 
in  irgendeiner  Weise  so  weit  zerteilen  oder  man 
kann  einzelne  Moleküle  zu  so  großen  Aggregaten 
zusammentreten  lassen,  daß  die  entstehenden 
Komplexe  die  richtige  Teilchengröße  haben. 
Wesentlich  ist  bei  diesen  Vorgängen  nur,  daß  die 
Bedingungen  zweckmäßig  gewählt  sind.  Die  ent- 
stehenden kolloidalen  Lösungen  müssen  beständig 
sein,  eine  Bedingung,  deren  Erfüllung  nicht  nur 
von  der  Größe  der  Teilchen,  sondern  auch  von 
anderen  Faktoren ,  so  vor  allen  Dingen  von  der 
Zusammensetzung  und  der  Konzentration  der  Lö- 
sung abhängt. 

Die  Eigenschaften  der  kolloidalen  Lösungen 
erweisen  sich  unter  sonst  gleichen  Bedingungen 
in  sehr  hohem  Maße  als  eine  Funktion  der 
Größe  der  kolloidalen  Teilchen,  und  es  ist  daher 
wesentlich,  solche  Lösungen  herzustellen,  deren 
Teilchen  sämtlich  die  gleiche  Größe  haben.  Die 
Aufgabe,  kolloidale  Lösungen  von  gleicher  Teilchen- 
größe herzustellen  wird  in  der  Regel  in  der  Weise 
gelöst,  daß  man  aus  einem  Gemisch  von  Teilchen 
sehr  verschiedener  Größe  durch  ein  geeignetes 
Fraktionierungsverfahren  die  Teilchen  gleicher 
Größe  aussondert.  Als  Fraktionierungsverfahren 
kommt  für  größere  Teilchen  die  Zentrifugierung, 
für  kleinere  Teilchen  die  fraktionierte  Fällung  in 
Frage.  Auch  durch  fraktionierte  LUtrafiltration 
erreicht  man  bisweilen  das  Ziel. 

Ahnlich  wie  nach  der  kinetischen  Gastheorie 
die  größeren  Moleküle  eine  trägere  Bewegung  auf- 
weisen, als  die  kleineren  Moleküle,  ist  auch  die  Be- 
wegung der  Teilchen  in  kolloidalen  Lösungen,  die 
heute  gewöhnlich  als  Brown  sehe  Bewegung 
bezeichnet  wird,  träger  als  die  Bewegung  der 
Moleküle  in  echten  Lösungen.  Daher  verläuft 
die  Diffusion  in  kolloidalen  Lösungen  viel  weniger 
lebhaft  als  in  echten  Lösungen,  eine  Tatsache, 
die  ja  gerade  als  Ausgangspunkt  für  die  Aufstel- 
lung des  Begriffs  der  Kolloide  gedient  hatte,  und 
darum  ist  auch  der  osmotische  Druck  bei  ihren 
Lösungen  viel  geringer  als  derjenige  wirklicher 
Lösungen,  denn  der  osmotische  Druck  ist  der 
Anzahl  der  Einzelteilchen  proportional,  von  ihrer 
Größe  aber  ganz  unabhängig. ')      Wenn  ein  Stofit 


')  Vgl.  Naturw.   Wochenschr.  Bd.   VII,  S.  421   (1908). 
")  Vgl.  Naturw.   Wochenschr.   Bd.  VI,  S.   763   (1907). 


')  Vgl.    Naturw.   Wochenschr.    Bd.   IX,  S.  35—43  (1910). 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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einmal  in  echter  Lösung,  und  das  andere  Mal  in 
kolloidaler  Lösung  vorliegt  und  die  Kolloidteilchen 
tausendmal  größer  als  die  Moleküle  sind,  so  wür- 
den die  beiden  Lösungen  darnach  den  gleichen 
osmotischen  Druck  ausüben,  wenn  die  absolute 
Konzentration  der  kolloidalen  Lösung  tausendmal 
größer  als  die  der  echten  Lösung  ist.  Hätten 
wir  etwa  eine  kolloidale  Goldlösung,  deren  Teil- 
chen den  ganz  außerordentlich  kleinen  Durch- 
messer von  einem  Millionstel  Millimeter  haben 
und  enthielte  die  Lösung  ein  Gramm  Gold  im 
Liter  —  konzentriertere  kolloidale  Goldlösungen 
lassen  sich  rein  kaum  darstellen  —  dann  würde 
der  osmotische  Druck  der  Lösung  nur  <:|,5-iO"^ 
Atmosphären  betragen,  also  mit  unseren  heutigen 
Mitteln  nicht  mehr  meßbar  sein.  Trotzdem  ist 
es  möglich  gewesen,  in  Lösungen  anderer  Kolloide, 
die  sich  in  sehr  viel  höheren  Konzentrationen  ge- 
winnen lassen ,  den  osmotischen  Druck  direkt  zu 
messen. 

Die  Teilchen  der  kolloidalen  Lösungen  sind 
in  der  Regel  elektrisch  geladen,  sind  also  gewisser- 
maßen als  sehr  große  Ionen  anzusehen,  allerdings 
Ionen  mit  so  großen  elektrischen  Ladungen ,  wie 
sie  in  der  Elektrochemie  nie  vorkommen;  so  er- 
gab sich  z.  B.  die  elektrische  Ladung  eines  kollo- 
idalen Silberteilchens  zu  62  Einheitsladungen,  es 
lag  also  ein  ,,62  wertiges  Ion"  vor.  Auch  sind 
die  elektrischen  Ladungen  der  Kolloidteilchen  im 
Gegensatz  zu  denen  der  echten  Ionen,  bei  denen 
das  Vorzeichen  der  Ladung  in  stärkstem  Maße 
von  der  chemischen  Zusammensetzung  des  Ions 
bestimmt  wird,  von  ihrer  chemischen  Natur  in 
weitesten  Grenzen  unabhängig.  Je  nach  den  Ver- 
suchsbedingungen kann  dasselbe  Teilchen  eine 
positive  oder  eine  negative,  eine  große  oder  eine 
kleine  Ladung  mit  sich  führen ,  ja  es  ist  sogar 
möglich,  die  Ladung  eines  Teilchens  beliebig  zu 
verändern.  Die  Ursache  für  diese  Erscheinung 
liegt  in  erster  Linie  darin,  daß  die  Ladung  der 
Kolloidteilchen  sekundären  Ursprunges  ist.  Die 
kolloidalen  Teilchen  verdanken  ihre  Ladung  ge- 
wöhnlichen Ionen,  die  sich  an  ihnen  festgesetzt 
haben,  oder,  wie  man  sich  meist  ausdrückt,  von 
ihnen  „adsorbiert"  sind.  Entzieht  man  einem 
Kolloidteilchen  seine  elektrische  Ladung  stufen- 
weise, so  nimmt  sein  Bestreben,  sich  mit  anderen 
Teilchen  zu  größeren  Aggregaten  zu  vereinigen, 
sein  Koagulationsbestreben,  zu,  im  Neutralpunkt 
erreicht  die  Beständigkeit  der  kolloidalen  Lösung 
ein  Minimum,  und  sie  steigt  wieder  an,  wenn 
man  den  Teilchen  nunmehr  die  entgegengesetzte 
Ladung,  als  sie  ursprünglich  besessen  liaben,  er- 
teilt. Diese  Veränderung  der  elektrischen  Ladung 
kann,  wie  die  direkte  Beobachtung  gezeigt  hat, 
durch  Hinzufügung  eines  Elektrolyten  zu  der 
kolloidalen  Lösung  bewirkt  werden,  denn  wenn 
dadurch  auch  der  Lösung  gleich  viele  Ladungen 
positiver  wie  negativer  Elektrizität  zugeführt  wer- 
den, so  zeigen  doch  die  Ionen  ein  verschiedenes 
Bestreben,  sich  an  die  Kolloidteilchen  anzuheften. 
Iksitzt    daher    ein    Kolloidteilchen    eine    negative 


Ladung  und  führt  man  der  Lösung  einen  Elektro- 
lyten zu ,  dessen  positives  Ion  von  dem  Teilchen 
besonders  stark  adsorbiert  wird,  so  nimmt  die 
Größe  der  auf  dem  Kolloidteilchen  haftenden 
Ladung  infolge  der  Adsorption  ab,  und  damit 
sinkt  die  Beständigkeit  der  Lösung.  Es  wird  also 
durch  diese  Anschauung  erklärt,  in  welcher  Weise 
die  Koagulation  kolloidaler  Lösungen  durch  Elek- 
trolyte  zustande  kommt.  Wenn  auch  das  Pro- 
blem der  Koagulation  kolloidaler  Lösungen  noch 
nicht  vollständig  gelöst  erscheint,  so  sprechen 
doch  für  die  skizzierte  Theorie  sehr  viele  Einzel- 
heiten, so  daß  man  sie  wohl  als  einen  adä(]uaten 
Ausdruck  der  Wirklichkeit  ansehen  kann. 

Die  große  IMehrzahl  der  Untersuchungen  ist 
an  kolloidalen  Lösungen,  d.  h.  an  Systemen  durch- 
geführt worden,  bei  denen  die  kolloidalen  Teilchen 
in  einem  flüssigen  Medium  schweben.  Von  sehr 
großer  Bedeutung  sind  aber  neuerdings  die  Systeme 
mit  gasförmigem  Medium  geworden,  und  die  grund- 
legenden ultramikroskopischen  Untersuchungen,  die 
die  neuere  Entwicklung  der  Kolloidchemie  inaugu- 
riert haben,  sind  an  Goldrubingläsern,  d.  h.  an 
kolloidalen  Lösungen  von  metallischem  Golde  in 
Glas  angestellt  worden. 

Zum  Schluß  seines  Vortrages  weist  S  v  e  d  b  e  r  g 
darauf  hin,  daß  die  Lehre  von  den  Kolloiden 
keineswegs  etwa  nur  ein  theoretisch-wissenschaft- 
liches, sondern  daß  sie  auch  ein  sehr  großes  prak- 
tisches Interesse  habe.  Beruhen  doch  viele  wich- 
tige Zweige  der  Industrie,  wie  z.  B.  die  Photographie, 
auf  kolloidchemischen  Vorgängen.  Die  Prozesse, 
welche  sich  im  lebenden  Organismus  der  Pflanze 
und  des  Tieres  abspielen,  sind  kolloidchemischen 
Charakters,  und  für  manche  Krankheit,  wie  etwa 
das  Oedem,  konnte  durch  die  zielbewußte  Anwen- 
dung der  Erkenntnisse  kolloidchemischer  Forschung 
eine  Methode  erfolgreicher  therapeutischer  Behand- 
lung gefunden  werden.  ,,Wenn  ein  Forschungs- 
zweig sich  in  rascher  Entwicklung,  befindet,  so 
schließt  Svedberg  seinen  Vortrag,  und  die  Me- 
thoden und  Ergebnisse  desselben  auf  viele,  zum 
Teil  fernstehende  Gebiete  Anwendung  finden,  so 
liegt  immer  die  Gefahr  einer  Überschätzung  der 
Bedeutung  dieses  Forschungszweiges  und  seiner 
Ergebnisse  sehr  nahe.  Vielleicht  ist  die  Kolloid- 
chemie diesem  Schicksal  nicht  ganz  entgangen. 
Es  scheint  mir  aber,  daß  diese  Forschung,  auch 
im  Lichte  einer  gesunden  Kritik  gesehen,  schon 
jetzt  so  wertvolle  Ergebnisse  zu  verzeichnen  hat, 
daß  wir  berechtigt  sind,  in  der  eifrigen  Bearbeitung 
dieses  Gebietes  ein  Versprechen  für  wichtige  künf- 
tige Fortschritte  auf  verschiedenen  Gebieten  der 
Naturwissenschaft  und  speziell  der  Chemie  zu  er- 
blicken". Mg. 

Bekanntlich  nimmt  die  Geschwindigkeit  che- 
mischer Reaktionen  mit  wachsender  Temperatur 
zu,  und  zwar  wird  sie  nach  einer  allgemeinen 
Regel  bei  einer  Steigerung  der  Temperatur  um 
10"  C  etwa  verdoppelt.  Insbesondere  war  ein 
einfacher    Fall    von    Abnahme     der    Reaktionsge- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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schwindigkeit  mit  steigender  Temperatur  bisher 
nicht  bekannt.  Nun  muß,  wie  Ä.  Skrabal  auf 
der  letzten  Naturforscherversammking  in  Wien 
gezeigt  hat,  der  Temperaturkoeffizient  einer  che- 
mischen Reaktion  eine  Veränderung  erfahren,  wenn 
der  eine  oder  der  andere  der  an  der  Reaktion 
beteiligten  Stoffe  in  eine  komplexe  Verbindung 
übergeführt  wird,  denn  in  diesem  Falle  lagert  sich 
ja  bei  einer  Steigerung  der  Temperatur  über  die 
dadurch  bedingte  Beschleunigung  der  Reaktion 
eine  Vergrößerungoder  Verkleinerung  der  Komplex- 
bildung und  damit  eine  Veränderung  der  Konzentra- 
tion eines  der  an  der  Reaktion  teilnehmenden  und 
durch  seine  Konzentration  ihre  Geschwindigkeit 
mitbestimmenden  Stoffe.  Nun  wird  nach  dem 
Le  Chatelier-van'tHoff  sehen  Prinzip  durch 
Temperatursteigerung  immer  der  Vorgang  be- 
günstigt, bei  dessen  Ablauf  Wärme  verbraucht 
wird.  Wenn  man  also  zu  einem  reaktionsfähigen 
System  einen  Stoff  hinzufügt,  der  mit  einer  Kom- 
ponente des  Systems  eine  komplexe  Verbindung 
bildet,  und  die  Komplexbildung  die  Zuführung 
einer  erheblichen  Wärmemenge  verlangt,  so  kann 
der  Fall  eintreten,  daß  von  den  beiden  entgegen- 
gesetzt wirkenden  Faktoren,  der  Vergrößerung 
der  Reaktionsgeschwindigkeit  durch  die  Tempe- 
ratursteigerung und  ihrer  Verkleinerung  infolge 
des  durch  die  Temperatursteigerung  bewirkten 
Fortschrittes  in  der  Komplexbildung,  der  zweite 
Faktor  überwiegt,  d.  h.  daß  im  ganzen  die  Ge- 
schwindigkeit der  Reaktion,  anstatt  vergrößert  zu 
werden,  verringert  wird.  Einen  derartigen  Fall 
hat  nun  Skrabal  in  Gemeinschaft  mit  S.  R. 
Weberitsch  (Ber.  d.  D.  Chem.  Gesellsch.  Bd.  47, 
S.  117  bis   119;   1914)  in  der  Reaktion 

SJ'  +  JOs'  +  ÖH  — >  3j3'  +  3H,0 
aufgefunden,  deren  Geschwindigkeit  v  in  mineral- 
saurer Lösung  dem  Quadrat  der  Wasserstoft'ionen- 
konzentration,  dem  Quadrat  der  Jodionenkonzen- 
tration und  der  ersten  Potenz  der  Jodsäureionen- 
konzentration  proportional  ist : 

Durch  Hinzufügung  einer  größeren  Menge  von 
Natriumsulfat  wird  das  Wasserstoffion  H'  in  das 
komplexe  Ion  HSO,'  umgewandelt,  ein  Vorgang, 
bei  dem,  wie  die  Gleichung 

H-  +  SO,"  — ^  HSO/  —  5000  cal. 
zeigt,  etwa  5000  Kalorien  verbraucht  werden,  der 
also  durch  Temperatursteigerung  stark  gefördert 
wird.  In  der  Tat  wird  in  diesem  Falle,  wie  sich 
auch  aus  der  Wärmetönung  der  Reaktion  berech- 
nen läßt,  die  Reaktionsgeschwindigkeit  durch  die 
Abnahme  der  Wasserstoft'ionenkonzentration  bei 
einer  Temperatursteigerung  in  stärkerem  Maße 
verringert,  als  sie  durch  die  Temperatursteigerung 
an  sich  erhöht  wird:  Der  Temperaturkoeffizient 
der  Reaktion 

8J'  +  J03'  +  6H    — >  3J3'  +  3H.,0 
ist    bei    Anwesenheit    von    vielem  überschüssigen 
Natnumsulfat  kleiner  als   i,  er  hat  den  Wert  0,83, 


d.  h.  die  Geschwindigkeit  der  Reaktion  nimmt  bei 
einer  Steigerung  der  Temperatur  um  10"  C,  an- 
statt auf  etwa  das  Doppelte  zu  steigen,  auf  den 
0,83.  Teil  ab.  Mg. 

Entwicklungsmechanik.  Über  die  Verschie- 
bung der  Vererbungsrichtung  unter  dem  Einfluß 
der  Kohlensäure  berichtet  Theodor  Hinderer 
(Archiv  f.  Entwicklungsmechanik  der  Organismen, 
38.  Bd.,  2.  u.  3.  H.).  Er  ließ  die  Eier  von  Sphaer- 
echinus  granularis  sich  in  Seewasser  entwickeln, 
das  aus  einer  Mischung  von  normalem  Seewasser 
mit  solchem  Seewasser  bestand,  durch  welches 
ein  Kohlensäurestrom  hindurchgeleitet  worden 
war.  Die  Eier  blieben  verschieden  lange  Zeit 
(ungefähr  5  und  8  Stunden)  darin  und  kamen 
dann  wieder  in  gewöhnliches  Seewasser  zurück. 
Die  Mischung  bestand  aus  70  ccm  kohlensäure- 
haltigem und  30  ccm  gewöhnlichem  Seewasser; 
ein  dritter  Teil  endlich  verweilte  5  Stunden  lang 
in  reinem  Kohlensäurewasser.  Ein  Teil  der  so 
behandelten  Eier  zeigte  keine  sichtbare  Verände- 
rung, ein  Teil  entwickelte  sich  parthenogenetisch, 
die  meisten  aber  zeigten  eine  Vergrößerung  des 
Kerns  schon  vor  der  Befruchtung.  Nach  der 
Befruchtung  mit  den  Samen  einer  anderen  Art, 
Strongylocentrotus  lividus,  entwickelten  sich  aus 
den  großkernigen  Eiern  Larven,  die  in  den  For- 
men und  Körperverhältnissen  des  Skeletts  viel 
mehr  Übereinstimmungen  mit  der  Larve  der 
mütterlichen,  als  jener  der  väterlichen  Art  zeigten. 
Die  Unterschiede  waren  so  deutlich  und  standen 
mit  der  Kerngröße  so  regelmäßig  in  Zusammen- 
hang, daß  man  aus  der  Form  des  Skeletts  bereits 
auf  die  Größe  der  Kerne  —  ob  klein-  oder  groß- 
kernige Larven  —  schließen  konnte. 

Die  großen  Kerne  waren  aus  solchen  von  ge- 
wöhnlicher Größe  dadurch  entstanden ,  daß  die 
ursprüngliche  Chromatinmenge  sich  verdoppelte 
oder  vervierfachte  oder  verachtfachte,  ehe  die 
Furchungsteilungen  begannen. 

Die  Rauminhalte  der  unbefruchteten  Eikerne 
verhielten  sich  wie  i  :  2  :  4  :  8,  standen  also  zu- 
einander in  geradem  Verhältnis  ihrer  Chromatin- 
mengen. 

Die  Gastrulae,  welche  parthenogenetisch  ent- 
standen, hatten  teils  kleine,  teils  große  Kerne,  je 
nachdem  sie  aus  Eiern  entstanden  waren,  deren 
Kerne  sich  sofort  geteilt  hatten,  oder  deren  Kerne 
sich  erst  vergrößert  hatten.  Wie  bei  den  Fur- 
chungskernen  stand  auch  bei  den  Kernen  der 
Larve  der  Inhalt  in  direktem  X'erhältnis  zur 
Chromatinmenge. 

Die  Chromatinmenge  jener  Eikerne  von  Sphaer- 
echinus,  in  welche  ein  Spermakopf  eingedrungen 
war,  verhielten  sich  wie  2:3:5:9.  Die  Kubik- 
inhalte aber  entsprachen  nicht  diesem  Verhältnis. 
Der  Grund  dafür  liegt  sicher  darin ,  daß  der 
Spermakopf  in  bereits  vergrößerte  Kerne  eintritt. 

Die  mit  kohlensäurehaltigem  Seewasser  be- 
handelten Eier  bildeten  keine  Doltermembran; 
eine  Mehrfachbefruchtung  blieb  aber  trotzdem  aus. 


220 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  14 


Vielleicht  war  durch  jene  Behandlung  die  Ober- 
fläche widerstandsfähiger  gegen  das  Eindringen 
des  Samenfadens  geworden. 

Der  Spermakopf  dringt  in  den  behandelten 
Eiern  langsamer  gegen  den  Eikern  vor.  Nicht 
selten  blieben  jene  auch  ganz  unbefruchtet. 

Die  Ergebnisse  der  Versuche  von  H.  stimmen 
damit  überein,  daß  die  Entwicklung  an  einen  ge- 
steigerten Sauerstoffverbrauch  geknüpft  ist.  Wird 
nun  die  Sauerstoftaufnalime  in  das  Wasser  infolge 
der  durch  die  Kohlensäuredurchströmung  herbei- 
geführten Gasspannung  herabgesetzt,  so  unter- 
bleiben die  Furchungsteilungen,  während  der  Ei- 
kern seine  Chromatinmenge  vermehrt.  Dieselbe 
übertrifft  schließlich  die  des  Samenkerns  um  das 
Mehrfache.  Die  Mischung  der  Gestaltsmerkmale 
oder:  die  Vererbungsrichtung  der  Nachkommen 
hängt  aber  von  dem  Mischungsverhältnis  der  elter- 
lichen Kernmengen  ab.  Da  jene  des  Eikerns 
überwiegt ,  so  werden  auch  bei  Bastardlarven  die 
Eigenschaften  der  mütterlichen  Art  überwiegend 
zur  Geltung  kommen.  Kathariner. 

Zoologie.  Über  die  beschleunigende  Einwir- 
kung des  Hungerns  auf  die  Metamorphose  teilt 
Krizenecky  (Biol.  Centralblatt,  34.  Bd.,  1914, 
S.  46)  folgendes  mit.  Bei  den  Wirbeltieren  zeigen 
sich  die  Wirkungen  des  Hungerns  in  einer  Ab- 
nahme des  Glykogengehalts  der  Leber  und  einer 
Verminderung  der  Gallenproduktion.  Nusbaum 
und  Oxner  (1912)  hatten  durch  Hungern  bewirkte 
Reduktionen,  ähnlich  jenen  bei  der  Regeneration 
der  Nemertinen  festgestellt.  Morgulis  (1912) 
hatte  gefunden,  daß  das  Hungern  auch  ein  positiv- 
katalytischer  Faktor  sein  kann.  Tiere  von  Triton 
cristatus,  welche  eine  Zeitlang  gehungert  hatten 
und  dann  wieder  ad  libitum  gefüttert  wurden, 
ersetzten  nicht  nur  das,  was  sie  während  des 
Hungerns  verloren  hatten,  sondern  übertrafen  bald 
an  Gewicht  die  regelmäßig  gefütterten  Kontroll- 
tiere. Das  Hungern  greift  als  förderndes  Prinzip 
ein,  indem  es  die  morphogenetischen  Vorgänge 
beschleunigt.  D.  Barfurt h  erkannte  dies  als 
erster  im  Jahre  1887.  Durch  Hungern  wurde  die 
normale  Metamorphose  von  Kaulquappen  abge- 
kürzt. Es  liege  daran,  meint  er,  daß  überflüssige 
Gewebe  schneller  resorbiert  würden.  Auch  die  Natur 
bedient  sich  des  Hungerns  bei  Metamorphosen. 
Schon  Marie  von  Chauvin  hatte  gefunden,  daß 
die  Schwanzlurche  während  der  Metamorphose  nor- 
malerweise fasten,  und  nach  Po  we  rs  ( 19131  tritt  die 
Metamorphose  beim  Axolotl  nur  dann  ein,  wenn 
man  den  Tieren  nach  guter  Ernährung  plötzlich 
die  Nahrung  entzieht.  Ob  dabei  auch  das  Wasser 
entzogen  wird,  spielt  keine  Rolle.  Weismann 
(1866)  gibt  an,  daß  die  Larven  von  Corethra 
plumicornis,  nachdem  sie  vollständig  ausgewachsen 
sind,  einige  Zeit  vor  der  Verpuppung  keine  Nah- 
rung mehr  aufnehmen,  womit  sie  nach  seiner  .An- 
sicht die  Histolyse  der  inneren  Gewebe  ermög- 
lichen. K.  nun  fand  diese  Ansicht  bei  Versuchen 
mit    den    Larven    des    Mehlkäfers    (Tenebrio)    be- 


stätigt. Sie  hören  einige  Tage  vor  der  Verpuppung 
auf  zu  fressen,  nehmen  eine  bogenförmige  Gestalt 
an  und  bleiben  so  bis  zur  Verpuppung.  Schon 
1 887  hatte  Keller  beobachtet,  daß  durch  Nahrungs- 
entzug die  noch  nicht  ausgewachsenen  Rebläuse 
zur  Verwandlung  in  geflügelte  Tiere  veranlaßt 
werden.  Pictet  (1914)  experimentierte  mit  Raupen 
von  Vanessa  spec.  und  fand  eine  Beschleunigung 
der  Metamorphose  durch  Hungern.  Uberernährte(!) 
Tiere  ergaben  melanotische,  hungernde  albinotische 
Formen.  Kellog  und  Bell  (1904)  konnten  da- 
gegen beim  Seidenspinner  durch  Hungern  keine 
Beschleunigung  der  Metamorphose  erzielen. 

K.  stellte  Versuche  über  die  Regeneration  an 
Tenebriolarven  an,  die  er  hungern  lassen  mußte. 
Um  zu  sehen,  was  bei  seinen  Versuchen  auf  Rech- 
nung des  Hungerns  und  was  auf  Rechnung  der 
Regeneration  kam,  legte  er  eine  Kontrollkultur 
an.  Er  unterwarf  seinen  Versuchen  drei  Gruppen 
von  Larven,  die  dem  Aussehen  nach  untereinander 
gleich  alt  waren,  zwei  von  je  100,  eine  von  80 
Tieren.  Davon  wurde  je  die  Hälfte  reichlich, 
die  andere  nicht  mit  Futter  versehen.  In  allen 
drei  Gruppen  begann  die  Verpuppung  der  hungern- 
den Larven  früher.  Die  hungernden  Larven  zeigten 
verschiedenes  Verhalten:  bei  den  einen  hatte  das 
Hungern  eine  positive,  bei  den  anderen  eine  negativ- 
katalytische  Wirkung. 

Es  gibt  nämlich  in  der  Larvenentwicklung  einen 
kritischen  Punkt;  ist  derselbe  schon  erreicht  evtl. 
überschritten,  führt  das  Hungern  zu  einer  Be- 
schleunigung der  Metamorphose,  bei  noch  jüngeren 
Larven  dagegen  zur  totalen  Verhinderung  derselben 
und  die  Larven  gehen  zugrunde. 

Ahnliches  zeigen  auch  die  Larven  anderer  Tiere. 
Laufberger  (1913)  fand,  daß  Larven  vom  Axo- 
lotl (Amblystoma  mexicanum)  sich  normal  ver- 
wandelten, wenn  sie  mit  Schilddrüse  gefüttert 
wurden,  nachdem  sie  sich  bereits  über  10  Jahre 
lang  neotenisch  fortgepflanzt  hatten.  Auch  hier  gab 
es  ein  Optimum  und  ein  Minimum.  Jedenfalls 
steht  die  Tatsache  fest,  daß  die  Metamorphose  der 
Insekten  durch  das  Hungern  der  Larven  beschleu- 
nigt werden  kann. 

Nach  Barfurth  ist  die  beschleunigende  P^in- 
wirkung  des  Hungerns  auf  die  Metamorphose  sehr 
einfach  zu  erklären.  Einige  Tage  nach  Entstehung 
der  Hintergliedmaßen  kann  man  schon  mit  bloßem 
Auge  oder  der  Lupe  bei  der  Froschlarve  jederseits 
in  der  Gegend  der  Kiemenhöhle  einen  Hautwulst 
sehen,  unter  dem  beim  Zappeln  des  Tieres  eine 
lebhafte  Bewegung  stattfindet.  Dieselbe  wird  her- 
vorgerufen durch  die  \"ordergliedmaßen,  welche 
schon  mit  Füßen  und  Zehen  vollständig  ausge- 
bildet unter  der  Haut  liegen.  Nur  die  letztere 
hält  sie  noch  zurück  und  sie  brechen  durch,  so- 
bald die  Haut  dünn  genug  geworden  ist.  Letzteres 
wird  dadurch  herbeigeführt,  daß  die  Elemente  der 
Kutis  resorbiert  werden,  und  diese  Resorption 
wiederum  geht  bei  fastenden  Tieren  schneller  vor 
sich.  So  würde  sich  die  paradoxe  Tatsache  er- 
klären,   daß  der  Hunger  auf  die  Entwicklung  för- 


N.  F.  XIII.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


221 


dernd  einwirkt.  Aber  bei  den  Insel<ten  liegt  die 
Sache  komplizierter,  da  hier  eine  Beschleunigung 
der  Metamorphose  nicht  nur  in  rein  morpho- 
logischem Sinn,  sondern  auch  eine  solche  der 
Geschlechtsreife  stattfindet,  wie  dies  namentlich 
bei  den  \^ersuchen  von  Keller  (1887)  mit  Phyl- 
loxera  vastatrix  der  Fall  war. 

Analoge  Erscheinungen  finden  sich  auch  bei 
anderen  nicht  metamorphosierenden  Tieren,  bei 
Bakterien,  Protozoen,  Pilzen  und  höheren  Pflanzen. 

Schultz  konnte  nachweisen,  daß  die  Ge- 
schlechtszellen von  Hydra  bei  der  Reduktion  nicht 
nur  erhalten  bleiben,  sondern  sich  mächtig  ent- 
wickeln und  Samenzellen  bilden  zu  einer  Zeit, 
wo  die  Tiere  in  der  freien  Natur  sich  nur  durch 
Knospung  fortpflanzen.  Eine  analoge  Erscheinung 
bietet  der  Lachs,  der  während  seiner  Wanderung 
monatelang  hungert  und  seine  Geschlechtszellen 
auf  Kosten  der  Muskulatur  entwickelt.  Auch  fällt 
die  Brunstzeit  fast  aller  Tiere  in  das  Frühjahr, 
resp.  die  Regenzeit,  also  nachdem  die  Tiere  wäh- 
rend des  Winter-  oder  Trockenschlafs  mehr  oder 
weniger  gehungert  hatten. 

Bei  den  Bakterien  findet  die  Sporenbildung 
unter  Bedingungen  statt,  welche  das  vegetative 
Wachstum  verlangsamen  oder  ganz  hemmen. 

Nach  Klebs  (1913)  hat  bei  Pilzen,  die  auf 
flüssigen  Substraten  wachsen,  Abnahme  der  organi- 
schen Nahrung  die  Bildung  von  Sporen  zur  Folge. 
Bei  Blütenpflanzen  kann  sogar  durch  Wiederzufuhr 
von  Nahrung  die  Rückbildung  der  Blütentriebe 
veranlaßt  werden  (Driesch   1905). 

In  den  angeführten  Tatsachen,  daß  die  Bildung 
der  Geschlechtszellen  besonders  dann  stattfindet, 
wenn  die  äußeren  Lebensbedingungen  ungünstig 
sind,  kommt  nach  K.  die  Betätigung  des  einen 
der  zwei  Grundinstinkte  der  Lebewesen  zur  Gel- 
tung, welche  sind:  erstens  sich  selbst  und 
zweitens  die  Art  zu  erhalten.  Kathariner. 

Sitz  des  Gehörsinnes  bei  niederen  Insekten. 
Weder  die  biologische  Beobachtung  noch  die 
anatomische  Untersuchung  konnte  bisher  mit 
Sicherheit  feststellen,  welche  Organe  bei  niederen 
Insekten  als  Gehörorgane  funktionieren.  Um  hier 
Klarheit   zu    bekommen,   stellte   Regen    mit   der 

j     Laubheuschrecke      Thamnotrizon      Versuche     an. 

I  (J.  Regen:  Haben  die  Antennen  für  die  alter- 
nierende Stridulation  von  Thamnotrizon  apterus 
Fab.  (J  eine  Bedeutung?  Pflüg  er 's  Archiv  für 
die   gesamte  Physiologie,   1913,  Bd.   155).     Unver- 

I  sehrte  Männchen  dieser  Tiere  bringen  bei  ihrer 
Stridulation  eine  Periode  von  mehreren  Zirplauten 
in  rascher  Aufeinanderfolge  hervor  und  lassen  dann 
eine  kürzere  oder  längere  Pause  eintreten.  Jede 
Periode  kann  sich  im  allgemeinen  auf  dreierlei 
Weise  abspielen.  Entweder  bringen  zwei  oder 
mehrere  Männchen  ihre  Stridulationsgeräusche  ab- 
wechselnd hervor  oder  es  zirpt  nur  ein  einzelnes 
Männchen  oder  es  zirpen  zwei  oder  mehrere  Männ- 
chen regellos  durcheinander. 

Zürn  Versuch  wurden  sieben  frisch  gefangenen 


Männchen  die  Fühler  abgenommen.  Die  Beobach- 
tung ergab,  daß  die  Versuchstiere  in  den  Zirp- 
lauten mit  normalen  im  wesentlichen  überein- 
stimmen. Die  Zahl  der  Pralle  von  alternierendem, 
einzelnem  und  regellosem  Zirpen  war  beidemale 
annähernd  gleich.  Die  Antennen  können  also  für 
die  alternierende  Stridulation  keine  Bedeutung 
haben.  Das  Gehör  muß  bei  Thamnotrizon  apt. 
Fab.  anderswo  als  in  den  Fühlern  seinen  Sitz  haben. 

Dr.  Stellwaag. 

Über  die  Anlockung  des  Weibchens  von  Gryllus 
campestrisL.  durch  telephonisch  übertragene  Stridu- 
lationslaute  des  Männchens.  Die  Zirplaute  des 
Männchens  von  Gryllus  campestris  L,  der  Feld- 
grille, sind  sehr  hoch,  ungemein  schrill  und  er- 
klingen wie  Rrrr,  so  daß  man  sie  als  intermittierend 
bezeichnen  kann.  Sie  lassen  sich  nach  J.  Regen 
(Pflüger 's  Archiv  für  die  gesamte  Naturwissen- 
schaft, 1913,  Bd.  155)  auf  zweierlei  Weise  über- 
tragen, entweder  mit  einem  Kugelmikrophon  in 
V^erbindung  mit  einem  sehr  empfindlichen  Dosen- 
telephon oder  mit  einem  Starktontelephon  und 
dem  dazugehörigen  Mikrophon.  Obwohl  durch  den 
zweiten  Apparat  nach  menschlichem  Emi)finden 
die  Wiedergabe  am  besten  erfolgte,  gelangen  die 
Versuche  vorläufig  besser  mit  dem  Kugelmikrophon. 
Regen   gebrauchte    folgende  Versuchsanordnung. 

Auf  dem  Fußboden  eines  Zimmers  wurde  eine 
Fläche  von  vier  qm  durch  vertikale  Glasplatten 
abgegrenzt.  Innerhalb  dieses  Versuchsfeldes  befand 
sich  ein  zirpendes  Männchen  in  einem  von  einer 
schwarzen  Papiermanschette  umgebenen  Glasgefäß. 
Ein  Drahtgitter  über  dem  Tier  konnte  leicht  zum 
Fallen  gebracht  werden  und  dieses  am  Zirpen  ver- 
hindern. In  einem  entfernt  gelegenen  Zimmer  wurde 
ein  anderes  zirpendes  Männchen  untergebracht, 
dessen  Laute  bei  geschlossenen  Türen  durch  das  im 
Versuchsfeld  aufgestellte  Telephon  zu  hören  waren. 

Ein  noch  unbefruchtetes  und  dem  Lockruf  des 
Männchens  zugängliches  Weibchen  wurde  nun  unter 
besonderen  Vorsichtsmaßregeln  im  Versuchsfeld 
freigelassen  und  das  Telephon  ausgeschaltet.  Es 
näherte  sich  langsam  und  vorsichtig  dem  zirpenden 
Männchen,  bis  es  zum  Glasbehälter  gelangte.  In 
diesem  Augenblick  wurde  das  Fallgitter  ausgelöst, 
so  daß  das  Männchen  verstummte,  während  durch 
das  nun  eingeschaltete  Telephon  das  zweite  Männ- 
chen zu  hören  war.  Nach  wenigen  Minuten  be- 
wegte sich  das  Weibchen  zögernd  in  der  Richtung 
zum  Telephon  und  blieb  in  einer  Entfernung  von 
I  cm  etwa  stehen,  um  auf  das  Zirpen  zu  lauschen. 
Das  gleiche  wiederholte  sich  stets,  wenn  das  Tele- 
phon eingeschaltet  worden  war.  Bei  einem  anderen 
Versuch  blieb  das  Männchen  innerhalb  des  Ver- 
suchsfeldes weg,  ohne  daß  das  Weibchen  sein  Be- 
nehmen geändert  hätte.  Daraus  folgt:  1.  Die 
Zirplaute  werden  vom  Weibchen  wahrgenommen. 

2.  Sie  wirken  auf  das  Weibchen  orientierend  ein. 

3.  Das  Weibchen  wird  durch  sie  angelockt,  4.  Das 
Weibchen  findet  das  zirpende  Männchen  vermöge 
seines  Gehör-  und  Tastsinnes.       Dr.  Stellwaag. 


222 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Astronomie.  Eine  Untersuchung  über  die  Be- 
deutung der  Photographie  für  das  Studium  der  Photo- 
sphäre der  Sonne  hat  Chevalier  in  Zose  in  China 
angestellt,  in  der  er  zu  ganz  unerwarteten  Ergeb- 
nissen kommt.  Die  so  wichtige  Granulation  hat 
zuerst  Secchi  und  Dawes  beobachtet,  während  es 
Janssen  in  Meudon  gelungen  ist,  sie  zu  photo- 
graphieren.  Bei  der  ungeheuren  Helligkeit  in  der 
Sonne  haben  wir  hier  aber  eine  unangenehme 
Fehlerquelle.    So  ist  es  die  Frage,  ob  eine  Sonnen- 


.\cer  platanoides,  angegriffen  von  Daedalea  unicolor, 


Ablenkung  soll  vor  allem  innerhalb  des  Fern- 
rohres bei  dem  zwischengeschalteten  Vergröße- 
rungsapparat stattfinden.  Chevalier  stützt  diese 
seine  .Ansichten  durch  eine  Anzahl  von  Abbil- 
dungen der  Sonnenoberfläche,  die  er  auf  photo- 
graphischem Wege  erhalten  hat.  [Veröffenll. 
Zose  III   191 2.]  Riem. 

Botanik.  Daedalea  unicolor  als  Baumschädiger. 
Viele  1  lautpilze  (Hymenomyceten),  von  denen  man 
früher  glaubte,  daß  sie  sich  als  Saprophyten  nur 
auf  totem  Holze  ansiedelten,  sind 
in  neuerer  Zeit  als  Baumschädiger 
erkannt  worden,  deren  junges  Mycel 
in  lebende  Holzzellen  eindringt  und 
das  Holz  tötet.  Ein  solcher  .Schäd- 
ling ist  nach  Beobachtungen  von 
P.  Magnus  und  P.  Baccarini 
auch  der  Löcherschwamm  Daedalea 
unicolor  Bull.,  dessen  dachziegelig 
beieinander  stehende  Fruchtkörper 
häufig  an  Laubbäumen  angetroffen 
werden,  der  zumeist  aber  nicht  als 
Baumschädiger  betrachtet  wird.  Daß 
ihm  tatsächlich  diese  Bedeutung  zu- 
kommt, beweist  mit  aller  Deutlich- 
keit ein  Fall,  den  Magnus  im 
vorigen  Jahre  in  Badenweiler  be- 
obachtet hat.  Er  fand  dort  einen 
jungen  Ahornbaum  (Acer  platano- 
ides), der  an  der  einen  Seite  mit 
l'ruchtkörpern  von  Daedalea  unicolor 
bedeckt  war.  (Siehe  die  Abbildung.) 
Ein  starker  Ast  war  vor  Jaliren  vom 
Baume  abgesägt  worden.  Von  dieser 
.Astnarbe  aus  hatte  sich  der  Pilz,  wie 
deutlich  zu  erkennen  war,  nach  unten 
auf  den  Stamm,  nach  oben  auf  die 
Äste  verbreitet;  nach  beiden  Rich- 
tungen nahm  die  Zahl  der  Frucht- 
körper mit  der  Entfernung  von  der 
.Astnarbe  ab.  An  der  Pilzseite  waren 
die  Äste  z.  T.  abgestorben,  während 
die  Krone  auf  der  anderen  Seite 
noch  in  vollem  Grün  prangte.  Auch 
konnte  man  an  Ästen,  die  auf  der 
Pilzseite  abgingen,  beobachten,  daß 
nach  der  gesunden  Seite  gerichtete 
Zweige  noch  frische  Blätter  trugen, 
während  die  nach  der  Pilzseite  zu 
gelegenen  abgestorben  waren.  (Jahres- 
bericht der  Vereinigung  für  ange- 
wandte Botanik,  191 3,  Jahrg.  II, Teil I, 
S.  16— 18.)  F.  Moewes. 


Photographie  in  allen  Fällen  eine  wahrheitsgetreue 
Abbildung  der  Sonnenoberfläche  ist.  Nach 
Chevalier  ist  dies  nicht  immer  der  Fall.  Das 
von  Janssen  entdeckte  photosphärische  Netz  soll 
nicht  der  Sonne  angehören,  sondern  vielmehr  auf 
physikalischem  Wege  dadurch  entstanden  sein, 
daß  Lichtstrahlen  in  einer  unnormalen  Weise  im 
Instrument    abgelenkt    werden.     Diese    unnormale 


J- 


Bücherbesprechiingen. 

Stickers,  Was  ist  Energie?     Eine  erkennt- 
niskritische  Untersuchung  der   Ostwaldschen 
Energetik.      225  Seiten.    Berlin-Wilmersdorf  im 
Verlag    von    Hans  Schnippel.     1913- 
Obwohl  O  s  t  w  a  1  d  s  qualitative  Energetik  schon 


N.  F.  XIII.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


223 


von  den  verschiedensten  Seiten  melir  oder  wenjfrer 
gründlich  beurteilt  worden  ist,  so  verdient  doch 
auch  die  vorliegende  kritische  Arbeit,  die  eine 
einwandfreie  Fuiidierung  der  Energielehre  anstrebt, 
allgemein  beachtet  zu  werden.  Uer  Verfasser  be- 
antwortet vom  Standpunkte  eines  „philosophischen 
Empirismus"  aus  eine  Reihe  wichtiger,  mit  dem 
Gegenstande  der  Untersuchung  zusammenhängen- 
der Einzelfragen,  um  dann  im  zweiten,  kritischen 
Teile  überzeugend  nachzuweisen,  daß  von  den 
sieben  bestehenden  Formen  des  Energiebegriftes 
nur  diejenige  haltbar  ist,  in  der  die  Energie  ledig- 
lich als  IVIaßzahl,  als  Skalar,  auftritt.  Er  kommt 
dann  zu  dem  Ergebnis,  daß  Ostwalds  Energe- 
tik weder  ein  einheitliches  naturphilosophisches, 
noch  ein  einheitliches  naturwissenschaftliches  System 
ist  und  einer  ,,liypothesenfreien  Wissenschaft"  durch- 
aus nicht  entspricht.  Energie  als  reine  Denk- 
form und  empirische  ,, Energieübergänge" 
dürfen  nie  und  nimmer  miteinander  verwechselt 
werden.  Der  temperamentvolle  Verfasser  stützt 
seine  recht  annehmbaren  Ansichten  durch  zahl- 
reiche, wohlgewählte  Zitate.  Merkwürdigerweise 
scheint  er  die  schöne  Arbeit  von  Fr.  W.  Adler 
über  die  IVIetaphysik  in  der  Ostwaldschen  Ener- 
getik (Leipzig,  Reisland,  1905)  nicht  zu  kennen. 
Durch  eine  ISIachprüfung  habe  ich  mich  überzeugt, 
daß  eins  der  in  Anführungszeichen  stehenden  Zitate 
(S.  175)  zwar  sinngetreu,  aber  nicht  ganz  wort- 
getreu wiedergegeben  ist.  Angersbacli. 


Dr.  Paul  Flaskämper,  Die  Wissenschaft  vom 
Leben,  biologisch  -  philosophische  Betrachtun- 
gen. 309  Seiten.  München,  Verlag  von  Ernst 
Reinhardt,  191 3.  —  Preis  geh.  6  Mk. 
Dieses  schlicht  und  verständlich  geschriebene 
Buch  verdient  nicht  nur  die  Beachtung  derjenigen, 
die  ein  klares  Bild  vom  Verhältnis  zwischen  Mecha- 
nismus und  Neovitalismus  bekommen  wollen,  son- 
dern auch  die  .Aufmerksamkeit  aller,  die  überhaupt 
biologische  Gesichtspunkte  in  die  Philosophie  ge- 
tragen sehen  möchten.  Freilich  müssen  wir  so- 
wohl den  Mechanismus  wie  den  Neovitalismus  als 
allgemeinphilosophische  Richtungen  ablehnen. 
Den  einen,  weil  er  sich  lediglich  auf  das  physische 
Geschehen  beschränkt  und  somit  dem  Psychischen 
nicht  gerecht  zu  werden  versteht;  den  anderen, 
weil  er  in  seinem  Deuten  der  organischen  Vor- 
gänge über  die  Grenze  desjenigen  hinausgeht,  was 
uns  als  methodisch  zulässig  erscheint,  und  weil  er 
einen  teleologischen  Faktor  einführt,  der  mit  dem 
Kausalprinzip  kaum  verträglich  ist.  Wenn  wir 
nun  doch  zahlreichen  Folgerungen  des  neovita- 
listischen  Verfassers  zustimmen,  namentlich  seinen 
Gedanken  über  Natur  und  Kultur,  so  liegt  das 
daran,  daß  das  „Es  ist"  desselben  für  uns  doch 
ein  „Es  ist,  als  ob"  bedeutet,  und  daß  wir  dieses 
„Als  ob"  aus  demselben  Strom  des  unmittelbaren 
Erlebens  schöpfen,  wie  der  Verfasser  sein  „Es  ist". 
Das  anregende  Werk  möge  daher  empfohlen  sein  ! 

Angersbach. 


Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  K.  Schmidt,  Luckenwalde.  —  Das  vegetative  oder 
sympathische  Nervensystem  zerfällt  in  zwei  Teile  :  den  eigent- 
lichen Sympathikus  und  den  Parasym|iathikus. 

Was  den  eigentlichen  Sympathikus  anbetrilTt,  so  besteht 
eine  sympathische  Bahn  durchgangig  aus  zwei  Neuronen.  Das 
erste  Neuron  hat  seine  Zelle  im  Rückenmark  (Vordersäulen 
der  grauen  Substanz)  und  in  den  Kernen  verschiedener  Iliru- 
nerven  z.  B.  der  .Augenmuskelnerven.  Der  Nervenfortsatz  ver- 
läßt das  Rückenmark  in  der  hinteren  Wurzel  resp.  das  (iehirn 
mit  den  Hirnnerven.  Diese  Nervenfasern  verlaufen  nun  nicht 
direkt  zum  Erfolgsorgan,  sondern  ein  Neuron  wech  sei  ist 
zwischengeschaltet  (Umschaltstalion).  Die  Zelle  dieses  zweiten 
Neurons  liegt  entweder  im  Grenzstrangganglion.  Der  Grenz- 
strang steht  ja  durch  die  Rami  communicantes  der  Spinal- 
nerven mit  diesen  in  Verbindung.  Das  .Xeuron  I  verläuft  in 
diesen  Verbindungen.  Oder  die  Umschaltstation  liegt  weiter 
periphcrwärls,  im  Ganglion  coeliacum  oder  noch  weiter  peri- 
jiherwärts  in  den  nervösen  Plexus  der  Erfolgsorgane  selbst, 
Plexus  myentericus,  Herzganglien,  Gefäßplexus  usw.  Die  sen- 
siblen d.  h.  zentripetalen  Bahnen  des  Sympathikus  sind  sehr 
wenig  bekannt.  Vorhanden  sind  sie  sicher  da  es  Rellexe  im 
Sym[iathikus  gibt.  Durch  die  eben  skizzierte  Anordnung  der 
efferenten  Käsern  ist  einmal  eine  Verbindung  mit  dem  Zentral- 
nervensystem gegeben,  da  der  Schluß  des  Reflexbogens  an 
jeder  Neurongrenze  erfolgen  kann.  Der  Reflex  kann  also 
laufen,  über  beliebige  Stationen  des  Zentralnervensystems  und 
die  Neuronen  1  und  II;  ferner  nur  über  die  Neuronen  1  und 
11;  endlich  nur  über  das  Neuron  II,  unter  Umgehung  der 
Zentralorgane. 

Der  Parasympathikus  ist  in  seiner  Funktion  Antagonist 
des  Sympathikus.  Seine  Fasern  verhalten  sich  ähnlich  wie 
die  des  Sympathikus,  sie  verlaufen  besonders  im  Nervus  vagus 
und  in  den  spinalen  Beckennerven.  Das  bekannteste  Beispiel 
der  enigegengesetzten  Funktion  beider  Systeme  ist  die  Inner- 
vation des  Herzens.  Der  Sympathikus  bringt  beschleunigende, 
der  Vagus  verlangsamende   Reize  zum  Herzen. 

Literatur:  Tigers  tedt,  Lehrbuch  der  Physiologie, 
Bd.  11;  Meyer,  Gottlieb,  Pharmakologie,  besonders 
Metzner,  Sympathikus  in  den  Vorträgen  und  Aufsätzen  über 
Anatomie  und  Physiologie,  herausgegeben  von  Gaupp  und 
Nagel;  Müller  und  Dahl,  Deutsches  Archiv  für  klin. 
Medizin  99,   1910,  S.  4S.  Petersen. 


Wetter-Monatsübei'sicht. 

Der  diesjährige  Februar  zeichnete  sich  während  seiner 
ersten  Hälfte  in  ganz  Deutschland  durch  sehr  schönes,  gr()ßten- 
teils  trockenes  Wetter  aus,  während  später  die  Witterung  einen 
recht  veränderlichen  Charakter  annahm.  Die  Temperaturen 
blieben  anfangs  in  den  meisten  Gegenden  Norddeutschlands 
bei  Tage  und  bei  Nacht  über  dem  Gefrierpunkt  und  stiegen 
in  den  Mittagsstunden  für  die  Jahreszeit  sehr  hoch  empor,  in 
Aachen  schon  am  2.  Februar  bis  auf  14*'  C.  Dagegen  kamen 
im  Süden  nur  mäßig  hohe  Tagestemperaturen  und  andauernd 
mehr  oder  weniger  strenge  Nachtfröste  vor,  die  sich  allmäh- 
lich auf  immer  weitere  Landesteile  ausdehnten,  während  nur 
in  höheren  Lagen  der  Boden  mit  Schnee  bedeckt  war.  In 
der  Nacht  zum  6.  Februar  brachten  es  Meiningen,  Coburg 
und  Regensburg  auf  — 13,  Passau  sogar  auf  — 16"  C.  Bald 
darauf  trat  wieder  eine  Milderung  der  Kälte  ein ,  wenn  auch 
im  Süden  und  Osten  die  Nachtfröste  sich  noch  häufig  wieder- 
holten. 

Besonders  um  Mitte  des  Monats  herrschte  bei  sehr  leb- 
haften Südwestwinden  in  West-  und  Mitteldeutschland  überaus 
mildes  Frülilingswetter,  in  Aachen  und  Karlsruhe  stieg  das 
Thermometer  bis  auf  16"  C. ;  weniger  warm  war  es  im  Nord- 
osten. Am  22.  Februar  führten  heftige  östliche  Winde  zu- 
nächst in  der  Provinz  Ostpreußen  eine  emptlndliche  Abkühlung 
herbei,  die  sich  ziemlich  rasch  weiter  nacli  Westen  fortpflanzte, 
am  24.  früh  hatten  Königsberg  5,  Memel  und  Marggrabowa 
7"  C  Kälte.  Bis  zum  Ende  des  Monats  blieben  dann  die 
Temperaturen  im  größten  Teile  des  Landes  meist  in  der  Xähe 
des  Gefrierpunktes.  Im  Monatsmittel  überschritten  sie  überall 
ihre  normalen  Werte ,  in  Süddeutschland  zwar  nur  etwa  um 
einen,    in  Norddeutschland    aber  an  den  meisten  Orten  um  3 


224 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


14 


bis  4,  an  einzelnen  sogar  um  4^2  Celsiusgrade.  Ebenso  war 
die  Anzahl  der  Sonnenscheinstunden  allgemein  viel  größer  als 
gewöhnlich.      In   Berlin  z.  B.   hat   die  Sonne   im   letzten  Februar 


Temperatur -ißinima  citiiacr  ©rfc  imIctruarlSl'i', 

I.F«bru»p 6.  «.  ^  ü.  26. 


^-«•-^-4^ 


I    I    I    I    I   I    I    I    I   I    I    I    I   I 


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Berliner  Wefferbure  a  w . 


an  86  Stunden  geschienen,  wogegen  hier  in  den  trülicren 
Februarmonaten  durchschnittlich  nicht  mehr  als  60  Stunden 
mit  Sonnenschein   verzeichnet  worden   sind. 


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Ilici^«rsc^fa^.s"]^*l7in  im  flSruar  1914. 

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PeuFschland. 

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ISIH.IS.IZ.II.  10.09. 


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1.  bis  12. Februar. 


UmilüLLi_ 


13.bis  18.  februap.         | 


In  den  ersten  12  Tagen  des  Monats  kamen  last  allein 
an  der  Küste,  ferner  im  Rhein-  und  Wesergebiete  bisweilen 
leichte    Regen,    stellenweise     auch   Schneefälle    vor,    während 


sonst  das  trockene,  obschon  vielfach  etwas  nebelige  Wetter 
ununterbrochen  anhielt.  Dann  wurden  die  Regenfälle  im 
Westen  allgemeiner  und  breiteten  sich  sehr  langsam  weiter 
ostwärts  aus.  Nachdem  sich  in  verschiedenen  Gegenden 
Südwestdeutschlands  vorübergeliend  Schneestürme  eingestellt 
hatten,  gingen  seit  dem  ig.  in  weiter  Umgebung  des  Rheins 
und  der  Weser  längere  Zeit  hindurch  fast  täglich  heftige 
Regengüsse  hernieder;  in  Metz  kam  am  21.  nachmittags 
auch  ein  Gewitter  zum  Ausbruch.  Auch  im  mittleren  Nord- 
dcutschland  traten  am  24.  etwas  ergiebigere  Kegenfälle  ein, 
die  dort  am  25.  größtenteils  in  Schneefälle  übergingen.  Gegen 
Ende  des  Monats  ließen  die  Niederschläge  aber  im  ganzen 
Lande  wieder  nach.  Ihre  Monatssumme  belief  sich  für  den 
Durchschnitt  aller  bericiitenden  Stationen  auf  25,3  mm.  wäh- 
rend die  gleichen  Stationen  in  den  Februarmonaten  seit  1S91 
im   Mittel   39,0  mm   Niederschläge  geliefert  haben. 

* 
Die  beständige  Witterung  der  ersten  Hälfte  des  Monats 
spiegelt  sich  sehr  deutlich  in  der  außerordentlichen  Gleich- 
mäßigkeit wieder,  die  die  allgemeine  Anordnung  des  Luft- 
druckes während  dieser  Zeit  in  ganz  Europa  aufwies.  Der 
größere  Teil  des  Festlandes  wurde  fast  dauernd  von  einem 
ausgedehnten  Hochdruckgebiet  eingenommen ,  dessen  Mitte 
sich  gewöhnlich  in  L^ngarn  oder  Siebenbürgen  befand ,  wäh- 
rend mehr  oder  weniger  tiefe  barometrische  Minima  vom  .At- 
lantischen Ozean  über  Schottland  nordostwärts  nach  der  skan- 
dinavischen Halbinsel  und  von  da  nach  Nordrußland  zogen. 
Seit  Mitte  Februar  schlugen  aber  mehrere  atlantische  Depres- 
sionen gerade  nach  Osten  gerichtete  Straßen  ein,  auf  denen 
sie  nach  Mittelskandinavien,  später  nach  der  südlichen  Ostsee 
gelangten  und  daher  das  Wetter  in  Deutschland  stärker  be- 
cinllussen  konnten.  Nachdem  sich  bald  darauf  in  Nordruß- 
land ein  neues  Barometermaximum  ausgebildet  hatte ,  waren 
einer  anderen,  außerordentlicli  tiefen  Depression,  die  am  21. 
westlich  von  Schottland  erschien ,  die  Wege  nach  Osten  und 
Nordosten  versperrt.  Sie  mußte  daher  mehrere  Tage  in  der 
Nähe  der  britischen  Inseln  verweilen,  führte  daselbst  schwere 
Stürme  herbei  und  zerfiel  dann  in  mehrere  getrennte  Minima, 
die  langsam  nach  Süd-  und  Mitteleuropa  vordrangen  und  in 
verschiedenen  Gegenden  zu  ernsten  Unwettern  Veranlassung 
gaben.  Dr.   E.  Leß. 

Literatur. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.  Leipzig  und  Berlin,  B.  G. 
Teubner.  —  Jedes  Bändchen  geb.   1,25  Mk. 

Bd.  30:  Janson,  Prof.  Dr.  Otto,  Das  Meer,  seine  Er- 
forschung und  sein  Leben.     3.  Aufl.     Mit  40  Abbild. 

Bd.  35:  Scheffer,  Prof.  Dr.  W. ,  Das  Mikroskop. 
2.  Aufl.     Mit  99  .\bbild.  im  Te.it. 

Bd.  1 44 ;  B  i  e  d  e  r  m  a  n  n ,  E.,  Das  Eisenbahnwesen.  2.  verb. 
Aufl.     Mit  zahlr.  Abbild. 

Bd.  38S  :  Heilborn,  Dr.  Adolf,  Entwicklungsgeschichte 
des  Menschen.  4  Vorlesungen.  Mit  60  .Abbildungen  nach 
Photogr.   u.  Zeichn. 

Bd.  41S:  Bardeleben,  Prof.  Dr.  Karl  v.,  Die  Anatomie 
des  Menschen.  Teil  I:  Zellen-  u.  Gewebelehre.  Entwick- 
lungsgeschichte. Der  Körper  als  Ganzes.  2.  .Aufl.  Mit 
70  .Abbild,  im  Text. 

Bd.  433:  Lu.\,  Dr.  H.,  Das  moderne  Beleuchtungswesen. 
Mit  54  Abb.  im  Text. 

Bd.  452:  Preuß,  Prof.  Dr.  K.  Th.,  Die  geistige  Kultur 
der  Naturvölker.      Mit  9   Abbild,   im  Text. 

Handbuch  der  Tropenkrankheiten,  herausgegeben  von 
Prof.  Dr.  Carl  Mense.  2.  Aufl.  I.  Bd.  295  S.  Mit  200  Abbild, 
im  Text,  10  schwarzen  und  2  farbigen  Tafeln.  Leipzig  '14, 
1.   A.   Barth.  —   Geb.    18  Mk. 


Inhalt:  Alfred  Frey.  Die  Ursachen  der  Eiszeiten.  Otto  Bürger:  Das  Wesen  der  Enzymwirkung.  —  Einzelberichte: 
R.  S.  Baß  1er:  Über  eine  Platte  mit  jirachtvoll  erhaltenen  Crinoideen.  J.  Koen  ig  sb  e  rger :  Die  Wärmeleitung  der 
Gesteine  und  die  Temperatur  in  der  Tiefe.  Th.  Thoroddsen;  Polygonboden  und  thufur  auf  Island.  N.L.  Söhn- 
gen und  J.G.Fol:  Zersetzung  von  Kautschuk.  The  Svedberg;  Die  Ergebnisse  der  Kolloidforschung.  A.Skrabal: 
Ein  einfacher  Fall  von  Abnahme  der  Reaktionsgeschwindigkeit  mit  steigender  Temperatur.  Theodor  Hinderer: 
Über  die  Verschiebung  der  Vererbungsrichtung  unter  dem  Einfluß  der  Kohlensäure.  Krizenecky:  Über  die  beschleu- 
nigende Einwirkung  des  Hungerns  auf  die  Metamorphose.  J.  Regen;  Sitz  des  Gehörsinnes  bei  niederen  Insekten, 
y.  Regen:  Über  die  Anlockung  des  Weibchens  von  Gryllus  campcstris  L.  durch  telephonisch  übertragene  Stridulations- 
iaute  des  Männchens.      Chevalier:  Photographie  der  Ph'otosphäre.      P.Magnus:   Daedalea  unicolor  als  Baumschädiger. 

—  Bücherbesprechungen;  J.  Stickers;  Was  ist  Energie?     Dr.   Paul   Klaskämper:   Die  Wissenschaft  vom  Leben. 

—  Anregungen  und  Antworten.  —  Wetter-Monatsübersicht.  —  Literatur ;  Liste. 

Manuskripte   und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  IL  Mi  ehe  in  Leipzig,  Marienstraße   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'scheu  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.    Band  ; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band. 


Sonntag,  den  12.  April  1914. 


Nummer  15. 


Neue  Ergebnisse  des  Ringversuches. 


[Nachdruck  verboten.] 

Seitens  der  verscliiedenen  Beobaclitungs- 
stationen  und  ihrer  privaten  Mitarbeiter  werden 
seit  einigen  Jahren  niclit  nur  typische  Zugvögel, 
sondern  auch  Stand-  und  Strichvögel  der  Heimat 
beringt,  um  über  diese  und  jene  biologische  Frage 
Aufschluß  zu  erhalten.  So  hat  Dr.  K  eil  hack 
im  Jahre  191 2  Meisen  und  Kleiber  mit  Ringen 
versehen.  Bei  17  dieser  Ringvögel  konnte  er 
22  Wiederfänge  erzielen.  Es  ließen  sich  bei  der 
Fütterung  am  selben  Ort  wiederfangen  10  Kohl-, 
3  Blau-,  I  Sumpf-  und  i  Tannenmeise  und 
2  Kleiber,  Kohlmeisen  nach  i,  4,  4,  6,  6,  10,  11, 
13,  26  Tagen,  drei  nach  ungefähr  10  Monaten, 
Blaumeisen  nach  3  und  14  Tagen,  eine  andere 
nach  8  Monaten  zweimal  kurz  nacheinander,  eine 
dritte  nach  9  Monaten  9  Tagen ,  Sumpf-  und 
Tannenmeisen  nach  je  7  Tagen,  Kleiber  nach 
14  Tagen  und  knapp  10  Monaten,  2  Blaumeisen 
ließen  sich  zweimal,  i  Kohlmeise  zweimal,  eine 
andere  dreimal  wiederfangen.  Die  Vögel 
machen  sich  al  so  aus  dem  Eing  efangen - 
und  Beringt  werden  nichts.  Eine  zu  Ende 
des  Winters  am  Futterplatz  beringte  Kohlmeise 
wurde  später  an  Ort  und  Stelle  mit  einem  eben- 
falls beringten  Männchen  brütend  angetroffen. 
Man  hat  es  also  in  der  Hand,  durch 
Winter-  und  Frühlings  fütterung  und 
Darbietung  von  Nistkästchen  sich  die 
nützliche  Tätigkeit  der  Meisen  dem 
eigenen  Garten  zu  sichern. 

Auf  den  Rat  Dr.  Curt  Weigold's  hat  Dr. 
Keilhack  die  Vogelberingung  in  den  Dienst 
der  Erziehung  zum  Naturschutz  und 
zur  Naturbeobachtung  gestellt.  Er  läßt 
seine  Schüler  im  Winter  Vogelfütterungen  ein- 
richten, unter  Aufsicht  Meisen  und  Kleiber  fangen, 
beringen ,  beobachten ,  im  Frühjahre  Nisthölilen 
aufhängen,  zieht  mit  ihnen  in  den  Wald  und 
unterweist  sie  im  Aufsuchen  der  Horste,  im  rich- 
tigen Ansprechen  der  Vögel,  in  der  Beobachtung 
ihres  Lebens.  Die  eifrigsten  Schüler  dürfen  zu 
den  Nestern  hinaufklettern  und  die  Nestlinge 
markieren. 

Über  das  Ziehen  der  Stare  hat  das  Ring- 
experiment weitere  Aufklärungen  gebracht.  So 
ist  man  sich  heute  über  den  Wanderweg  der 
ungarischen  Stare  fast  völlig  klar.  Im  Jahre  19 13 
liefen  bei  der  ungarischen  ornithologischen  Zentrale 
in  Budapest ')  sieben  Rückmeldungen  über  Stare 
ein,  die  Bela  Szeöts  als  Nestlinge  in  Tavarna  be- 


Von  Dr.  Friedrich  Knauer. 


')  Bericht  über  die  Vogelmarkierungen  der  königl.  ungar. 
ornith.  Zentrale  im  Jahre  1913.  Von  Jakob  Schenk,  Buda- 
pest 1913. 


ringt  hat.  Ein  am  16.  Mai  1910  mit  Ring  Nr.  3576 
gezeichneter  Star  wurde  Ende  Juni  1913  am 
Sebkha  de  Sidi  el  Hani-See  in  Tunis,  also  1800  km 
von  der  Heimat  entfernt  und  2  Jahre  8  Monate 
alt,  von  Eingeborenen  erlegt.  Ein  am  22.  Juni 
1910  mit  Ring  Nr.  4383  versehener  Star  wurde 
im  März  1913  von  Eingeborenen  bei  El  Gohra 
in  Tunis  erbeutet.  Ein  am  21.  Juni  191 1  mit 
Ring  Nr.  101  gezeichneter  Star  im  Januar  191 3 
wieder  an  dem  vorhin  genannten  See  erlegt  und 
ebenda  und  zur  selben  Zeit  auch  die  mit  Ring 
Nr.  614  und  Nr.  629  markierten  Tavarnastare. 
Über  diese  fünf  ungarischen  Stare  ließ  der  deut- 
sche Konsul  Graf  v.  Hardenberg  der  ungarischen 
Zentrale  Mitteilung  zukommen.  Zwei  andere  Ta- 
varnastare, mit  Ring  N'-.  627  und  Nr.  640  gezeich- 
net, wurden  in  Osima  in  Italien  und  in  Gaiba  in 
Italien  aufgefunden.  Der  Zug  der  Tavarna- 
stare geht  also  durch  Italien  und  endet 
im  Tunesischen  Winterquartier.  Diese 
Rückmeldungen  über  die  ungarischen  Ringstare 
ergeben  auch,  daß  sich  da  Individuen  dreier  ver- 
schiedener Jahrgänge  im  selben  Winterquartier 
vorgefunden  haben,  also  die  Jungen  mit  den 
Eltern  beisammen  bleiben,  mit  ihnen 
die  gleichen  Winterquartiere  beziehen 
und  mit  ihnen  in  die  Geburtsorte  zu- 
rückkehren. 

Es  liegt  jetzt  auch  der  erste  Beweis  für  die 
Rückkehr  des  Hausrotschwanzes  an  die 
alte  Brutstelle  vor,  indem  ein  am  22.  Juni  1912 
in  Oberndorf  (Oberösterreich)  mit  dem  Ring 
Nr.  1599  der  ungar.  ornithol.  Zentrale  gezeichneter 
Hausrotschwanz  am  11.  Juni  1913  an  der  gleichen 
Stelle  nistend  vorgefunden  wurde. 

Über  in  Ungarn  beringte  Rauch-  und 
Mehlschwalben  sind  zahlreiche  Rückmeldungen 
eingelangt.  Zwei  Fälle  verdienen  da  besondere 
Erwähnung.  Am  16.  Juni  1908  markierte  Peter 
Müller  in  Ujbessenyö  eine  Rauchschwalbe  mit 
Ring  Nr.  887  und  zeichnete  auch  gleichzeitig  ihren 
Ehegenossen.  Am  4.  August  1911  wurde  die 
Schwalbe  mit  dem  Ring  8S7  auf  dem  alten  Neste 
brütend  aufgefunden,  hatte  aber  einen  unberingten 
Ehegefährten,  der  nun  gleichfalls  beringt  wurde 
und  den  man  am  23.  Juni  191 2  im  selben  Neste 
wieder  vorfand.  Die  ersterwähnte  Schwalbe 
wurde  im  Vorjahre  wieder  im  alten  Neste  brütend 
aufgefunden,  ihr  beringter  Genosse  konnte  aber 
nicht  eingefangen  werden.  Eine  andere  Rauch- 
schwalbe war  am  23.  Juli  1909  mit  Ring  Nr.  2403 
gezeichnet  worden,  wurde  am  29.  Juli  1910  im 
alten  Neste  brütend  vorgefunden,  auch  am  4.  Mai 
und   12.  Juni   191 1    mit    dem    vorjährigen    Gatten 


226 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   15 


im  alten  Neste  brütend  getroffen  und  am  21.  Juli 
1913  mit  gebrochenem  Flügel  aufgefunden.  Es 
sind  also  da  Schwalben  sechs  und  vier 
Jahre  ihrem  Neste  treu  geblieben! 

Der  Drang  der  brutfähigen  Zugvögel,  im  Früh- 
jahre den  heimischen  Brutstätten  zuzueilen,  ist 
jedenfalls  größer  als  der,  im  Herbste  die  süd- 
licheren Winterquartiere  aufzusuchen.  Man  sollte 
da  meinen,  daß  die  Brutpaare  mit  aller  Schnellig- 
keit, der  sie  fähig  sind,  zu  ihren  Brutgebieten 
zurückkehren.  Das  ist  aber  nach  den  Beobach- 
tungen nicht  der  Fall.  Prof.  Dr.  Thienemann^) 
hat  die  Eigengeschwindigkeit  der  Nebelkrähe  mit 
13,9  m  für  die  Sekunde  berechnet.  Es  müßte 
also  eine  Nebelkrähe  imstande  sein,  den  Weg 
von  der  Vogelwarte  Rossitten  nach  St.  Petersburg 
in  i6  Stunden,  oder,  wenn  sie  täglich  nur  acht 
Stunden  flöge,  in  zwei  Tagen  zurückzulegen.  Eine 
am  18.  April  1904  bei  Rossitten  aufgelassene  be- 
ringte Nebelkrähe  wurde  am  26.  April  in  der 
Umgebung  von  St.  Petersburg  erlegt,  v.  Kaygoro- 
dofifs  vom  Forstinstitute  in  St.  Petersburg  läßt 
sich  in  jedem  Frühjahre  die  ersten  bei  Rossitten 
durchziehenden  Krähen  melden.  Sie  brauchen 
nach  seinen  genauen  Beobachtungen  durchschnitt- 
lich zwölf  Tage,  um  von  Rossitten  nach  St.  Peters- 
burg zu  kommen.  Die  Krähen  ziehen  also 
gemächlich  und  das  dürfte,  sagt  Dr.  Th  iene- 
mann,  für   die  Zugvögel  im    allgemeinen    gelten. 

Nach  der  , .Theorie  des  Überfliegens" 
kann  es  vorkommen,  daß  mitunter  bei  einigen 
Arten  die  nördlichen  Stämme  südlichere  Winter- 
quartiere haben  als  die  südlicheren.  Eine  positive 
Grundlage  für  diese  Theorie  haben  Beobachtungen 
Dr.  Curt  Weigold's'-)  geliefert.  Das  Be- 
ringungsexperiment hat  nämlich  die  überraschende 
Tatsache  ergeben,  daß  die  deutschen  Austern - 
fisch  er  (Haematopus  ostralegus)  Stand-  oder 
Strichvögel  sind,  während  man  bei  der  Auffällig- 
keit des  Durchzuges  von  Austernfischern  im 
Herbste,  wenn  auch  Tausende  von  Austernfischern 
in  den  Watten  überwintern ,  hätte  annehmen 
müssen,  daß  da  ein  etappenweises  Verschieben 
der  Bestände  vor  sich  gehe ,  die  deutschen 
Austernfischer  südwärts  abzögen  und  nordische  an 
ihre  Stelle  rücken. 

Wie  sehr  man  bei  den  Beringungsversuchen 
mit  dem  günstigen  Zufall  rechnen  muß,  mag  die 
Beringung  von  Lummen  zeigen.  Am  25.  Juni 
191 2  fuhr  Dr.  Weigold  mit  einem  anderen 
jungen  Zoologen  abends  im  kleinen  Ruderboot 
unter  den  bekannten  Lummenfelsen  von  Helgo- 
land und  gelang  es  ihm,  von  den  jungen  Lummen 
(Uria  troille),  die  gerade  soweit  waren,  in  das 
Wasser  zu  gehen,  fünf  abzufangen  und  zu  be- 
ringen. Er  hatte  da  nicht  die  geringste  Hoffnung, 
einmal  etwas  über  das  Schicksal  dieser  Ringvögel 
zu     erfahren,    da   ja    im    Winter    Tausende    und 

')  Untersuchungen  über  die  Schnelligkeit  des  Vogelfluges. 
Von  Dr.  J.  Thienemann,    Journ,il  für  Ornithologie,    1910. 

^)  IV.  Jahresbericht  der  Vogelwarte  der  kgl.  biolog.  An- 
stalt auf  Helgoland.    Von  Dr.  Hugo  Weigold,  Leipzig  1 9 1 3. 


Tausf  ndc  Alken  aus  dem  Norden  nach  Helgoland 
kommen.  Um  so  erstaunter  war  er,  als  er  vom 
Museum  Stavanger  in  Norwegen  den  Ring  einer 
dieser  Lummen  zugesandt  erhielt,  die  am  14.  No- 
vember 191 2  bei  Fogn  in  Ryfylke  in  der  Nähe 
von  Stavanger  geschossen  worden  war.  Es  ist 
wieder  gegen  alles  Schema,  daß,  während  Un- 
mengen nordischer  Lummen  sich  bei  Helgoland 
aufhalten,  um  dieselbe  Zeit  Helgoländer  Lummen 
im  Norden  sich  befinden.  Offenbar  breiten  sich 
die  Lunimenscharen  nach  allen  Seiten  auf  der 
hohen  -See  aus  und  geht  nicht  eine  scharf  staffel- 
weisc,  sondern  nur  eine  regellose  Verschiebung 
nach  Süden  vor  sich. 

Bezüglich  des  Verhaltens  der  Silbermöven 
(Larus  argentatus)  der  deutschen  Nordseeküsten 
haben  die  Ringversuchc  volle  Klärung  gebracht. 
Diese  Silbermöven  ziehen  nicht,  breiten  sich  auf 
der  Nahrungssuche  in  der  ganzen  deutschen  Bucht 
aus,  überschreiten  dabei  selten  die  jütische  Halb- 
insel bis  an  deren  Ostküste.  Ihre  Ausbreitung 
erreicht  von  November  an  das  Maximum.  Es 
bleiben  aber  immer  große  Mengen  in  der  Nähe 
der  Heimat. 

Ein  vielberingter  Vogel  ist  die  Lachmöve 
(Larus  ridibundus).  Die  Ausbreitung  der  Schles- 
wiger Lachmöven  erreichte  nach  den  Ergebnissen 
der  Beiingungen  der  Helgoländer  Vogelwarte 
diesmal  .luf  jeder  Seite  weitere  Ausdehnung,  nach 
Nordosten  bis  Fünen,  in  England  bis  Holderneß 
nördli>:h  des  Humber,  bis  Irland,  fast  bis  Gibraltar 
und  im  Südosten  bis  Norditalien.  So  ist  jetzt  in 
den  Hauptzügen  die  Natur  und  der  Wanderzug 
der  Sclileswiger  Lachmöven  geklärt. 

Die  Markierungen  von  deutschen  S  e  e  - 
schwalben  lassen  es  vorläufig  auf  Grund  der 
eihaltenen  Rückmeldungen  als  wahrscheinlich  er- 
scheinen, daß  aller  Zug  nur  der  Küste  folgt  und 
Besuche  des  Binnenlandes  nicht  sehr  ausgedehnt 
und  selten  sind.  Interessante  Ergebnisse  er- 
brachten  die  Rückmeldungen  über  in  Ungarn  be- 
ringte Lachmöven.  Außer  der  Lachmövenkolonie 
im  See  von  Velencze  wurde  eine  zweite  Kolonie 
im  Nordosten  Ungarns  in  Bodrogszerdahely  auf- 
gefunden. Aus  den  zahlt  eichen  Rückmeldungen 
—  eine  4Y2  Jahre  alte,  am  19.  Juni  1908  mit 
Ring  Nr.  615  markiert  —  ist  zu  ersehen,  daß, 
während  ein  Teil  der  Velenczer  Lachmöven  die 
Kolonie  erst  im  November  zu  verlassen  begann, 
andere  Ende  November  schon  bei  Napoli,  Mitte 
Dezember  bei  Fiume,  Mitte  Jänner  in  Brindisi 
und  Tunis,  jedenfalls  im  Winterquartier,  sich  be- 
fanden. So  bevölkert  also  die  Lachmövenkolonie 
eines  kaum  einige  Quadratkilometer  weiten  Brut- 
gebietes ein  Winterquartier,  dessen  extreme  Punkte 
in  der  Luftlinie  1500  km  voneinander  entfernt 
sind.  Mit  Ringen  der  ungar.  ornitholog.  Zentrale 
hat  Forstmeister  Curt  Leo;  zahlreiche  Lachmöven 
am  Hirnsensee  in  Nordböhmen  gezeichnet.  Über 
diese  böhmischen  Lachmö/en  sind  im  Jahre  191 3 
bei  der  ungarischen  Zentiale  11  Rückmeldungen 
eingelaufen,  welche  besagen,  daß  diese  Möven  der 


N.  F.  Xra.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


227 


Elbe  folgend,  also  in  nordwestlicher  Richtung, 
ihr  bis  zur  Seinemündung  sich  erstreckendes 
Winterquartier  aufsuchen,  während  man  im  Hin- 
bUck  darauf,  daß  die  Lachmöven  von  Rossitten 
zum  Teile  ebenfalls  wie  die  ungarischen  das  Mit- 
telmeer als  Winterquartier  aufsuchen,  auch  die 
Winterquartiere  der  böhmischen  Lachmöven  viel 
südlicher  gesucht  hätte.  Vor  der  Einführung  des 
Ringversuches  in  die  Vogelzugforschung  waren 
eben  unsere  Zugtheorien  ganz  auf  die 
südliche  Richtung  eingestellt.  Hier  hat 
also  wieder  der  Ringversuch  Aufklärung  gebracht. 
Deutlich  zeigt  sich  da  die  Wichtigkeit  der  Elbe 
als  topographischer  Faktor.  Auch  für  den  Rück- 
zug ist  sie  im  Frühjahre  den  Lachmöven  der 
Wegweiser.  Es  scheint  sich  da  auch  für  die  Lach- 
möve  zu  bewahrheiten,  was  Jakob  Schenk') 
für  den  weißen  Storch  festgestellt  hat,  daß  als 
Winterquartiere  jene  klimatisch  und 
hinsichtlich  der  Ernährungsverhält- 
nisse entsprechenden  Gebiete  gewählt 
werden,  welche  am  leichtesten,  also 
am  sichersten  zu  erreichen  sind. 

Bei  dem  großen  Interesse,  daß  der  Wald- 
schnepfe in  allen  Jägerkreisen  entgegengebracht 
wird,  und  der  ausführlichen  Berichterstattung  der 
fachmännischen  Presse  über  das  Kommen  und 
Gehen  dieses  Vogels  hat  man  sich  von  der  Mar- 
kierung dieses  Wandervogels  reichliche  Ergebnisse 
versprochen.  Aber  die  technischen  Schwierigkeiten 
der  Schnepfenberingung,  die  eine  größere  Aktion 
wie  bei  den  kolonienweise  brütenden  Vögeln  un- 
möglich machen,  sind  sehr  große.  In  Ungarn  ist 
der  erste  diesbezügliche  Versuch  gescheitert.  Gün- 
stiger waren  die  Ergebnisse  anderen  Ortes.  W. 
V.  Dietz  hat  im  Juli  191 1  bei  Gatschina  (in  der 
Umgebung  von  St.  Petersburg)  eine  junge  Wald- 
schnepfe beringt.  Diese  ist  im  Dezember  191 1 
im  Departement  Gers  in  Südfrankreich  geschossen 
worden.  Im  Sommer  1912  hat  Jägermeister  W. 
V.  Dietz-)  im  Gatschinarevier  wieder  sechs  junge 
Waldschnepfen  beringt.  Von  diesen  wurde  eine, 
die  am  21.  Juli  den  Ring  Nr.  4618  erhalten  hatte, 
im  Dezember  191 2  in  der  Gegend  von  Visignano 
in  Istrien  erlegt.  Diese  beiden  Rückmeldungen 
über  Ringschnepfen  erweisen,  daß  in  einem  und 
demselben  Revier  erbrütete  Waldschnepfen  in  zwei 
auf  einander  folgenden  Jahren  ganz  verschiedene 
Winterquartiere  aufsuchten,  einmal  westlich,  einmal 
östlich  an  den  Alpen  vorbei  ihren  Weg  genommen 
haben.  Und  noch  über  eine  dieser  von  v.  Dietz 
beringten  Waldschnepfen  kam  eine  Rückmeldung.  •') 
Es  wurde  nämlich  die  am  27.  Juli  191 2  mit  Ring 
Nr.  4621  markierte  Waldschnepte  am  24.  März 
191 2  im  Freckenfelder  Gemeindewalde,  südlich 
von  Landau    in    der  Rheinpfalz,    auf  dem  Abend- 

*)  Das  Experiment  der  Vogelzugforschung.  Von  Jakob 
Schenk,  Budapest  19 10. 

^)  Bericht  von  Dr.  J.  Thienemann  in  Reichenow's 
Ornithologische  Monatsberichte,    19 13,  Märzheft. 

^)  Bericht  von  Dr.  Th  ienemann.  Reichenow's  Ornitho- 
logische Monatsberichte,   1913,  Maiheft. 


Striche  erlegt.  Drei  Rückmeldungen  auf  sieben 
Beringungen  ist  wohl  ein  so  günstiges  Resultat, 
daß  es  zu  fortgesetzter  Schnepfenberingung  an- 
spornen muß.  Auf  der  Vogelwarte  Helgoland 
wurde  am  6.  November  1910  vormittags  eine 
Waldschnepfe  im  Drosselbusch  gefangen  und  mit 
Ring  Nr.  3851  gezeichnet.  Diese  Schnepfe  wurde 
am  16.  August  des  nächsten  Jahres  bei  Jönköping 
in  Südschweden  im  Brutgebiete  erlegt.  Dieser 
Fall  bestätigt  die  von  Dr.  Hugo  Weigold 
wiederholt  ausgesprochene  Ansicht,  daß  die 
Helgoländer  Wald  Schnepfen  wenigst  ens 
zum  Teil  in  Südschweden  brüten. 

Es  müßte  doch  zum  mindesten  für  den  Jäger 
von  Interresse  sein,  gewiß  aber  auch  praktischen 
Wert  haben,  bestimmt  zu  wissen,  was  mit  den 
jährlich  in  einem  bestimmten  Gebiete  erbrüteten 
jungen  Rebhühnern  geschieht,  ob  auch  sie  wie 
die  Eltern  in  den  Gebirgsrevieren  bleiben  oder 
fortziehen  und  ob  die  Rebhühner  größere  Wande- 
rungen unternehmen.  Auch  hier  würde  der  Ring- 
versuch Aufklärung  bringen.  Ein  solcher  Versuch 
ist  von  Harald  Baron  Loudon')  gemacht 
worden.  Er  markierte  in  Lisden  bei  Wolmar  am 
I.  August  1909  auf  seinem  Gute  drosselgroße 
junge  Rebhühner  mit  Ringen  der  Rossittener 
Vogelwarte.  Am  21.  August  191 1,  also  nach 
2  Jahren  20  Tagen,  wurde  eines  dieser  Hühner, 
mit  Ring  Nr.  1050  markiert,  in  Osthof  am  Burt- 
neksee,  etwa  20  km  nordwestlich  von  der  seiner- 
zeitigen Markierungsstelle,  erbeutet.  Der  Vogel 
ist  also  der  näheren  Umgebung  seiner  Heimat  treu 
geblieben  und  hat  da  auch  gebrütet. 

Durch  die  früheren  und  die  im  Vorjahre  be- 
kannt gewordenen  Rückmeldungen  über  in  Ungarn 
beringte  Purpurreiher  (Ardea  purpurea)  ist  die 
Zugsweise  dieser  Reiher  völlig  klargelegt.  Sie 
überwintern  im  südlichsten  Italien,  in  Kalabrien 
und  auf  Sizilien  und  kehren  in  ihre  Geburts- 
kolonien oder  deren  nächste  Umgebung  wieder 
zurück.  Aber  man  kennt  das  Durchzugsgebiet 
noch  nicht,  da  keine  der  eingelangten  Rückmel- 
dungen von  einem  zwischen  den  beiden  Endpunkten 
ihres  Reiseweges  gelegenem  Orte  stammt.  Auch 
die  Nachtreiher  (Nycticorax  nycticorax)  über- 
wintern, wie  aus  den  eingelangten  Rückmeldungen 
zu  ersehen  ist,  im  südlichen  Italien  und  kehren 
in  ihre  Blutkolonien  zurück.  Von  einer  bestimmten 
Gesetzmäßigkeit  ihres  Zuges  kann  aber  nicht  die 
Rede  sein,  man  findet  einzelne  Nachtreiher  noch 
im  Oktober  in  der  Nähe  ihrer  Brutplätze,  andere 
schon  anfangs  September  in  den  südlichen  Winter- 
quartieren. 

Über  die  weißen  Störche,  diese  idealen 
Ringvögel,  bringen  die  Markierungsversuche  immer 
wieder  neue  Aufschlüsse.  Über  von  der  Vogel- 
warte Rossitten  beringte  Störche  sind  im  Jahre 
1912  wieder  16  Rückmeldungen,  über  3  einjährige, 
2  zweijährige,    8  dreijährige,   2  vierjährige    und   i 


')  Bericht  von  Dr.  J.  Th  ienemann  in  ,, Deutsche  Jäger- 
zeitung", 61.  Bd.,  Nr.  7. 


228 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   15 


fünfjährigen  Ringstorch,  eingelangt.  Sie  erweisen 
neuerlich,  daß  die  norddeutschen  Störche  von  ihren 
südlichen  Winterquartieren  in  ihr  engeres  Heimats- 
gebiet und  oft  in  die  unmittelbare^  Nähe  ihres 
heimatlichen  Horstes  zurückkehren,  und  zwar  schon 
im  ersten  Jahre,  wenn  sie  noch  nicht  fortpflanzungs- 
fähig sind.  Auch  eine  bisherige  ganz  auffällige 
Lücke  in  der  Reihenfolge  biologischer  Details  aus 
dem  Storchleben,  daß  es  nämlich  bisher  nicht 
möglich  gewesen,  einen  beringten  Storch 
am  Horste  anzutreffen,  erscheint  jetzt  aus- 
gefüllt.^) Am  27.  Juni  1913  wurde  auf  einem 
Horste  in  Seligenfeld  bei  Königsberg  ein  männ- 
licher Storch  erbeutet,  der  mit  Ring  1321  der 
Rossittener  Vogelwarte  gezeichnet  war.  Man  konnte 
daher  feststellen,  daß  dieser  Storch  vor  genau  fünf 
Jahren  im  Juni  1908  in  Adl.  Spandienen  bei  Königs- 
berg, etwa  7,5  km  von  der  Erbeutungsstelle  ent- 
fernt, beringt  worden  war.  Er  hatte  sich  mit  seiner 
Ehegenossin  im  F'rühjahre  auf  dem  Horste  ein- 
gefunden, ohne  das  es  aber,  obschon  das  Paar  den 
ganzen  Sommer  dablieb,  zum  Aufziehen  von  Jungen 
gekommen  wäre.  Was  die  1 1  Rückmeldungen 
über  beringte  ungarische  Störche  betrifft,  die  im 
Vorjahre  bei  der  ungar.  ornitholog.  Zentrale  ein- 
gelangt sind,  so  verdienen  da  zwei  Fälle  eine  be- 
sondere Erwähnung.  Am  25.  Juni  191 2  wurde 
in  Hödsäg  ein  Jungstorch  mit  Ring  Nr.  48 11  ge- 
zeichnet. Dieser  Ringstorch  wurde  am  3.  März 
am  Kasiliefluß  bei  Ekwendeni  in  British  Nyassaland 
erlegt.  Damit  ist  eine  neue  Winterstation  der 
weißen  Störche  bekannt  geworden.  Am  30.  Juli 
191 3  wurde  in  Kuvuklia  bei  Brussa  in  Kleinasien 
ein  ungarischer  Ringstorch  aufgefunden,  dessen 
Ring  Nr.  4948  besagte,  daß  er  am  26.  Juni  1912 
in  Apatin  beringt  worden  ist.  Diese  kleinasiatische 
Station  gehört  nicht  in  den  heute  bekannten  Reise- 
weg des  weißen  Storches  und  besagt,  daß  die 
noch  nicht  fortpflanzungsfähigen 
Störche  sich  nach  Weg  und  Zeit  nicht 
an  den  normalen  Zug  halten,  daß  sie  ihre 
Reise  bummelnd  zurücklegen,  daß  sie  sich  viel- 
leicht über  die  Reiseroute  orientieren.  Das  ist  bei 
den  Schwalben,  bei  welchen  auch  die  einjährigen 
Individuen  schon  fortpflanzungsfähig  sind,  anders. 
Hier  haben  es  die  alten  und  jungen  Vögel  gleich 
eilig,  in  die  Brutgebiete  zurückzukommen. 

Über  eine  andere  das  Storchleben  betreffende 
Frage  ist  jetzt  Aufklärung  geworden.  Es  treiben 
sich  nämlich  in  jedem  Jahre  im  Mai  und  Juni,  zu 
einer  Zeit  also,  da  die  brütenden  Paare  mit  den 
verschiedentlichen  Aufgaben  des  Brutgeschäftes 
vollauf  zu  tun  haben,  einzelne  Storchindividuen 
auf  den  Wiesen  und  F"eldern  herum.  Das  Volk 
nennt  sie  in  der  Meinung,  daß  es  Männchen  seien, 
die  keine  Weibchen  gefunden  haben,  ,,Storch- 
j  unggeseU  en".  In  manchen  Jahren  treten  sie 
zahlreicher,  in  anderen  spärlicher  auf.  Die  Jäger 
bezeichnen  diese  herumvagierenden  Störche,  weil 


sie  eifrig  hinter  Junghasen,  jungen  Rebhühnern 
und  Fasanen  her  sind,  als  „Raubstörche"  und 
schonen  sie  nicht.  Eingehende  Untersuchungen, 
die  Dr.  J.  T  h  i  e  n  e  m  a  n  n  anatomisch  an  ihm  ein- 
gesandten Exemplaren  und  in  Rücksprache  mit 
Jägern  angestellt  hat,  haben  nun  ergeben,  daß 
diese  Einzelstörche  durchaus  incht  lediglich  Männ- 
chen sind,  sondern  unter  ihnen  beide  Geschlechter 
vertreten  sind,  die  sich  also  untereinander  paaren 
könnten,  daf3  solches  Herumstreifen  eheloser  Störche 
mit  den  Nahrungsverhältnissen  in  den  verschiedenen 
Jahren  zusammenhängt.  Es  gibt  gute  und  schlechte 
Storchjahre.  Das  Jahr  1912  war,  wie  J.  Schenk 
betont,  ein  ausnehmend  gutes  Storchjahr,  in  welchem 
viel  weniger  Horste  unbesetzt  blieben,  die  Gelege 
eine  größere  Anzahl  von  Eiern  aufwiesen.  Auf 
dieses  Maximum  folgte  im  Jahre  1913,  in  welchem 
viele  Horste  unbesetzt  blieben,  die  Nahrungsverhält- 
nisse schlechte  waren,  heftige  Stürme  die  Horste 
beschädigten  oder  gnnz  vernichteten,  ein  sehr 
schlechtes  Storchjahr.  In  solchen  schlechten  Jahren 
tritt  bei  vielen  Individuen  eine  Pause  im  Geschlechts- 
leben ein,  sie  nisten  nicht,  sondern  treiben  sich 
vagabundierend  herum.  Solch  ein  Vagant  war 
gewiß  auch  der  fünf|ährige  Ringstorch,  der,  am 
10.  Juli  1908  von  J.  Schenk  in  Hidveg  mit  Ring 
Nr.  207  markiert,  am  31.  Juli  191 3  in  nächster 
Umgebung  von  Hidveg  tot  aufgefunden  worden 
war.  Diese  Ergebnisse  über  die  „Raubstörche", 
die  sich  in  gleicher  Zahl  aus  Männchen  und  Weib- 
chen zusammensetzen,  stellen  auch  die  An- 
nahme, daß  in  derVogelwelt  die  Männ- 
chen   numerisch    überwiegen,    in    Furage. 

Seit  Mai  des  Vorjahres  besitzt  auch  Österreich, 
das  bisher  neben  Spanien,  Italien  und  den  Balkan- 
staaten einer  Vogelmarkierungsstation  entbehrte, 
eine  solche  in  der  von  Eduard  Paul  Tratz 
aus  eigenen  Mitteln  begründeten  Ornithologi- 
schen  Station  in  Salzburg,  die  auch  schon 
ihren  ersten  Jahresbericht ')  veröffentlicht  hat.  Es 
wurden  im  Jahre  1913  an  1650  Ringe  versendet, 
von  denen  365  bereits  zur  Markierung  verwendet 
worden  sind.  Trotz  der  kurzen  Zeit,  während 
welcher  die  Salzburger  Station  in  die  Vogelmar- 
kierung eingetreten  ist,  liegen  schon  zwei  Rück- 
meldungen vor.  Eine  am  5.  Juli  191 3  von  Graf 
M  e  nsdorff-Poully  in  Chotelice  (Böhmen)  mit 
Ring  Nr.  580  markierte  junge  Krickente  wurde 
am  22.  Oktober,  etwa  5  Kilometer  vom  Beringungs- 
orte entfernt,  erlegt.  Eine  am  15.  Mai  191 3  von 
Tratz  in  Salzburg  mit  Ring  Nr.  594  versehene 
Rabenkrähe  wurde  arri  8.  August  in  nächster  Nähe 
des  Beringungsortes  geschossen.  Diese  beiden 
Fälle  ergeben,  daß  junge  Krickenten  und 
junge  Krähen  verhältnismäßig  lange  in 
der  Nähe  ihres  Brutortes  verweilen. 

So  hat  man  alle  Ursache,  mit  den  fortgesetzten 
Erfolgen  des  Ringversuches  sehr  zufrieden  zu  sein. 
Wer   hätte  in  so  kurzer  Zeit  solche  Resultate  er- 


')    Bericht    von    Dr.    J.    Thicnemann    in    Reichenow's 
Ornithologische  Monatsberichte   1913,  Septemberheft. 


')  I.  Jahresbericht    der  Ornithologischen  Station    in   Salz- 
burg,   1913.      Von  Eduard   Paul  Tratz. 


N.  F.  XIII.  Nr.    15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


229 


warten  dürfen.  Freilich  sind  noch  zahlreiche 
Lücken  auszufüllen,  steht  noch  auf  so  manche 
Frage  die  Antwort  aus.  Obschon  in  Ungarn  J. 
Schenk  allein  jährlich  an  50  —  70  Störche  seit 
1909  beringt  hat,  ist  noch  kein  einziger  dieser 
ungarischen  Ringstörche  irgendwo  als  Brutvogel 
aiigetroften  worden.  Ebenso  noch  keine  ungarische 
beringte  Lachmö\e.  Bis  zum  heutigen  Tage  ist 
es  auch  noch  nicht  geglückt,  auch  nur  über  eine 
einzige  der  beringten  iVIehl-  und  Rauchschwalben 
von  einem  Orte  außerhalb  der  Grenzen  Ungarns 
eine  Rückmeldung  zu  erhalten.  Von  etwa  700  be- 
ringten Sichlern  ist  noch  keiner  außerhalb  der 
ungarischen  Landesgrenze  angetroffen  worden. 
Die  Vogelmärkte  in  Italien,  Griechenland,  Nord- 
afrika könnten  da  wohl  manchen  Beleg  liefern ! 
Mit  Recht    macht    Dr.    Hugo  Weigold   weiter 


Die  Bedeiitniig  der  Konjugation  bei  den 
Infusorien. 

Von  Dr.  Hans  Nachtsheim,  Freiburg  i.  B. 
[Machdruck  verboten.] 

Vor  einigen  Jahren  schrieb  der  amerikanische 
Protozoologe  C  a  1  k  i  n  s  in  einem  größeren  Werk 
über  Protozoenkunde : ') 

„Wenn  wir  solch  eine  vollständige  Reihe  von 
Zellen  nehmen  könnten,  wie  sie  durch  die  wieder- 
holten Teilungen  eines  befruchteten  Protozoons 
gebildet  wird,  und  wenn  wir  sie  dann  zu  einer 
Masse  von  Zellen  vereinigen  könnten,  so  erhielten 
wir  das  Analogon  zu  einem  Metazoon  und  wür- 
den finden,  daß  das  Protoplasma,  das  der  Haufen 
von  Zellen  darstellt,  die  gleichen  aufeinander  fol- 
genden Perioden  von  Lebenskraft  aufweist,  die  für 
die  Metazoen  charakteristisch  sind:  Jugend,  Reife 
und  Alter.  Wir  würden  finden,  daß  die  jungen 
Zellen  sich  rascher  teilten,  als  sie  es  später  in 
dem  Zyklus  tun;  wir  würden  finden,  daß  sie  nach 
einer  gewissen  Zeit  ihre  geschlechtliche  Reife  er- 
langen und  fähig  sind  zu  konjugieren  und  so  die 
Rasse  fortzusetzen;  und  wir  würden  finden,  daß 
1  schließlich  Zeichen  einer  geschwächten  Lebens- 
1  kraft  und  einer  Degeneration  sichtbar  werden  in 
dem  Haufen  von  Zellen,  und  daß  sie  schließlich 
1    alters  sterben." 

Calkins  ist  also  der  Ansicht,  daß  ein  Infusor, 
ein  Paramaecium  z.  B.,  sich  eine  Zeit  lang  unge- 
schlechtlich durch  Teilung  fortzupflanzen  vermag, 
daß  aber  dann  schließlich  eine  Zeit  kommt,  wo 
es  konjugationsbedürftig  wird.  Durch  die  Konju- 
gation wird  der  ganze  Organismus  vollständig 
verjüngt,  das  Tier  wird  zu  neuer  ungeschlecht- 
licher Vermehrung  befähigt.  Unterbleibt  aber  die 
Konjugation,  so  gehen  die  Tiere  einer  Degenera- 
tion entgegen  und  sterben  schließlich  ab. 

Die  Theorie,  daß  die  Konjugation  eine  Ver- 
jüngung des  Organismus  zur  Folge  hat,   ist  nicht 


darauf  aufmerksam,  wie  wünschenswert  es  wäre, 
wenn  junge  eifrige  Mitarbeiter  verschiedene  wich- 
tige zoogeographische  Unterlagen  für  die  Vogelzug- 
forschung bearbeiten  würden,  Dissertationen  dieser 
Art  erscheinen  würden. 

Eine  sehr  gute  Idee  war  die  Abhaltung  eines 
fünftägigen  Kurses  (während  der  Pfingstferien)  über 
Vogelschutz  und  ])raktische  Vogelkunde  an  der 
Vogelwarte  Rossitten.  Wie  not  solche  Unter- 
weisungen besonders  für  angehende  Landwirte 
tun,  mag  die  Mitteilung  Prof.  Thienemanns 
zeigen,  daß  ein  Ackerbauschüler,  also  ein  junger 
Mensch,  der  acht  Jahre  lang  eine  Land-  oder  Stadt- 
schule durchgemacht  hat,  auf  eine  bezügliche  Frage 
des  Lehrers  antwortete:  „Die  Krähe  bringt 
acht  lebendige  Junge  zur  Welt,  welche 
15   cm  lang  sin d." 


neu;  sie  wurde  bereits  in  den  70er  Jahren  des 
vorigen  Jahrhunderts  von  Bütschli  aufgestellt 
und  hat  zahlreiche  Anhänger  gefunden.  Seit 
langem  weiß  man,  daß  bei  der  Konjugation  der 
Makronukleus  zugrunde  geht,  daß  in  jedem  der 
konjugierenden  Tiere  die  Mikronuklei  die  sog. 
Reifungsteilungen  durchmachen  und  dann  ein  Aus- 
tausch von  Kernsubstanz  erfolgt.  Hierauf  trennen 
sich  die  Konjuganten  wieder,  und  der  Makronukleus 
wird  vom  Mikronukleus  neu  gebildet.  Das  macht 
allerdings  den  Eindruck,  als  ob  hier  eine  „Ver- 
jüngung" vor  sich  gehe.  Der  alte  Makronukleus, 
der  den  somatischen  Funktionen  des  Organismus 
vorsteht,  wird  aufgelöst,  es  wird  ein  neuer  ge- 
bildet vom  generativen  Kern,  dem  Mikronukleus, 
jedoch  auch  nicht  von  dem  alten  Mikronukleus, 
sondern  dieser  hat  zuvor  Substanz  abgegeben  und 
statt  dessen  Substanz  von  einem  anderen  Indivi- 
duum aufgenommen. 

Aber  ist  denn  wirklich  eine  solche  „Verjüngung" 
des  Organismus  nötig,  vermag  sich  wirklich  ein 
Infusor  ohne  Konjugation  nicht  unbegrenzte  Zeit 
ungeschlechtlich  zu  vermehren.?  Ausgedehnte,  in 
den  letzten  Jahren  ausgeführte  Experimente  haben 
in  der  Tat  gezeigt,  daß  eine  solche  Vermehrung 
möglich  ist.  Woodruff)  ist  es  gelungen,  eine 
Rasse  von  Paramaecium  5V.2  Jahre  lang  zu  züch- 
ten. In  dieser  Zeit  erzeugte  die  Rasse,  die  sich 
unter  täglicher  Beobachtung  befand,  334oGene- 
rationen,  ohne  daß  jemals  eine  Konju- 
gation in  dieser  Rasse  erfolgte.  Eine 
Abnahme  der  Lebenskraft  konnte  nicht  festgestellt 
werden.  ,,Die  Organismen  der  jetzigen  Genera- 
tionen", schreibt  Woodruff,  der  die  Rasse  noch 
weiter  fortführt,  „sind  ebenso  normal  in  ihren 
morphologischen  und  physiologischen  Verhält- 
nissen wie  das  originale  „wilde"  Individuum,   das 


')  Callsins,  G.  N.,  Protozoology.     New  York  and  Phila- 
delphia, 1909. 


')  Woodruff,  L.  L. ,  Two  thousand  generations  of 
Paramecium.     Arch.  f.  Protistenk.,  21.  Bd.,   igil. 

—  — ,  Dreitausend  und  dreihundert  Generationen  von 
Paramaecium  ohne  Konjugation  oder  künstliche  Reizung.  Biol. 
Ccntralbl.,  33.  Bd.,   1913. 


230 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   IS 


als  Ausgangstier  der  Kultur  isoliert  wurde." 
Woodruff  kommt  daher  zu  dem  Resultat,  „daß 
das  Protoplasma  einer  einzigen  Zelle 
unter  günstigen  äußeren  Umständen 
ohne  Hilfe  von  Konjugation  oder  einer 
künstlichen  Reizung  imstande  ist,  sich 
unbegrenzt  fortzupflanzen",  und  ,,daß 
das  Altern  und  das  Befruchtungsbedürf- 
nis  nicht  Grundeigenschaften  der  leben- 
digen  Substanz  sin d". 

Was  bewirkt  nun  aber  die  Konjugation?  Wenn 
wir  in  der  Literatur  Umschau  halten,  so  finden 
wir,  daß  wirklich  einwandfreie  größere  Unter- 
suchungen über  die  Wirkung  der  Konjugation 
bisher  fehlten.  Man  hat  zwar  des  öfteren  konju- 
gierende Protozoenstämme  mit  nichtkonjugieren- 
den  verglichen  und  will  gefunden  haben,  daß  die 
konjugierenden  in  mancher  Hinsicht  im  Vorteil 
waren  gegenüber  den  nichtkonjugierenden,  aber 
man  hat  niemals  —  jedenfalls  nicht  in  ausreichen- 
der Weise  —  konjugierende  Infusorien  mit  solciien 
verglichen,  die  zwar  zur  Konjugation  bereit  waren, 
die  man  aber  künstlich  an  der  Konjugation  ver- 
hindert hat.  Diese  Lücke  durch  ausgedehnte 
Untersuchungen  ausgefüllt  zu  haben,  ist  das  Ver- 
dienst des  amerikanischen  Protozoenforschers 
Jen  nings. ') 

Jennings  benutzte  zu  seinen  Experimenten 
ebenfalls  das  klassische  Objekt  der  experimentellen 
Protozoenforschung,  das  Paramaecium.  Konju- 
gierende Tiere  erhält  man  leicht,  wenn  man  das 
Medium,  in  dem  sich  die  Tiere  befinden,  schroff 
wechselt.  Wurde  am  Abend  eine  größere  Anzahl 
Paramaecien  einer  Stammkultur  entnommen  und 
in  Uhrgläschen  gebracht,  so  konnte  Jennings 
damit  rechnen,  am  folgenden  Morgen  Tiere  in  be- 
ginnender Konjugation  zu  finden.  In  diesem 
Stadium  —  die  Tiere  legen  sich  zunächst  mit 
den  Vorderenden  aneinander  —  hat  die  Reifung 
der  Mikronuklei  noch  nicht  begonnen,  und  es  ist 
jetzt  noch  leicht,  die  beiden  Individuen  wieder 
zu  trennen.  Die  künstliche  Trennung,  welche 
durch  wiederholtes  Einziehen  der  Tiere  in  eine 
fein  ausgezogene  Pipette  geschieht,  überstehen 
diese  ganz  gut,  vorausgesetzt  nur,  daß  die  Tren- 
nung im  Anfangsstadium  der  Konjugation  erfolgt. 
Einen  Teil  der  konjugierenden  Tiere  trennte 
Jennings  auf  die  soeben  beschriebene  Weise, 
einen  anderen  Teil  ließ  er  die  Konjugation  be- 
enden; erstere  bezeichnet  er  als  „splitpairs"  im 
Gegensatz  zu  den  letzteren,  den  „pairs".  Nach 
der  Konjugation  wurden  die  beiden  Individuen 
eines  „pair"  in  Einzelkultur  genommen  und  ihr 
weiteres  Verhalten  ebenso  wie  das  der  ,  split-pairs" 
beobachtet.  Um  die  Nachkommen  der  ,, pairs" 
und  „split-pairs"  miteinander  vergleichen  zu  können, 
ist   es    natürlich    notwendig,    alle   unter  ganz  den 

')  Jennings,  H.  S.,  The  effect  of  conjugation  in  Para- 
meciuni.     Journ.  of  e.xperim.  Zoöl.,  Vol.   14,    1913. 

Jennings,  H.  S.  and  Lashley,  H.  S.,  Biparental  in- 
heritance  and  the  question  of  sexuality  in  Paramecium.  Journ. 
of  experim.  Zoöl.,  Vol.   14,   1913. 


gleichen  äußeren  Bedingungen  zu  halten.  Und 
um  z.  B.  die  Teilungsrate  einer  Linie  genau  fest- 
stellen zu  können,  ist  es  notwendig,  die  Kulturen 
täglich  zu  kontrollieren  und,  falls  sich  ein  Tier 
geteilt    hat,    die  Tochtertiere    wieder  zu  isolieren. 

Jennings  teilt  die  von  ihm  in  großer  Zahl 
angestellten  Experimente  ausführlich  mit.  An  der 
Hand  einiger  seiner  Tabellen  wollen  wir  seine 
Resultate  kurz  betrachten. 

In  Tabelle  i  ist  die  Zahl  der  Teilungen  in  den 
ersten  drei  Wochen  von  je  1 5  Linien  von  „pairs" 
und  „split-pairs"  wiedergegeben.  Ein  Tier,  das 
konjugiert  hatte,  teilte  sich  also  in  der  ersten  Woche 
nach  der  Konjugation  omal,  in  der  zweiten  Woche 
mial,  in  der  dritten  Woche  starb  diese  Linie  aus 
(t^tot);  ein  anderer  „Exkonjugant"  —  wie  wir 
die  Tiere,  die  konjugiert  haben,  auch  nennen  — 
teilte  sich  in  der  ersten  Woche  imal,  wieder  ein 
anderer  5mal  usw.  Ein  Paramaecium,  das  künst- 
lich an  der  Konjugation  verhindert  worden  war, 
machte  in  der  ersten  Woche  6  Teilungen  durch, 
in  der  zweiten  4,  in  der  dritten  7  usw. 

Tabelle  i. 


Erste  Woche: 

„Pairs" 

0 

1 

5 

S 

4 

2 

I 

5 

0 

S 

6 

3 

2 

4 

0 

,, Split-pairs" 

6 

6 

8 

7 

7 

7 

7 

7 

7 

8 

7 

8 

7 

7 

7 

Zweite  Woche : 

,, Pairs" 

1 

2 

6 

5 

6 

6 

0 

S 

2 

4 

S 

5 

I 

2 

6 

,, Split-pairs" 

4 

6 

6 

7 

ö 

5 

4 

6 

6 

4 

5 

6 

5 

6 

6 

Dritte  Woche: 

,, Pairs" 

t 

t 

8 

6 

8 

I 

0 

5 

0 

6 

6 

3 

3 

t 

8 

„Split-pairs" 

7 

9 

6 

9 

7 

6 

6 

8 

6 

5 

9 

10 

9 

8 

7 

Wenn  wir  die  Tabelle  überschauen,  so  fallt  uns 
sofort  auf,  daß  die  Abkömmlinge  der  „split-pairs" 
sich  viel  reger  vermehrten  als  die  der  „pairs". 
So  teilten  sich  die  15  Abkömmlinge  der  „pairs" 
in  der  ersten  Woche  zusammen  43  mal,  die  15 
der„split  pairs"  hingegen  in  derselben  Zeit  106  mal. 
In  der  dritten  Woche  gingen  3  von  ,, pairs"  stam- 
mende Linien  zugrunde,  die  übrigen  12  vermehrten 
sich  54 mal.  Die  Fortpflanzungsrate  der  15  „split- 
pairs"-Linien  in  der  dritten  Woche  ist  wieder  be- 
trächtlich höher,  sie  vermehrten  sich  112  mal 
Ähnliche  Resultate  erhielt  Jennings  in  allen 
seinen  übrigen  Experimenten.  Zwar  war  in  einigen 
wenigen  Fällen  ein  Unterschied  in  der  Teilungs- 
rate der  ,, pairs"-  und  der  ,,split-pairs"-Linien  nicht 
zu  bemerken,  niemals  aber  teilten  sich  die  Para- 
maecien nach  der  Konjugation  schneller  als  die  an 
der  Konjugation  verhinderten  Tiere. 

Dieses  Resultat  mag  zunächst  überraschen.  Sind 
doch  die  zahlreichen  Anhänger  der  Verjüngstheorie 
größtenteils  der  Ansicht,  daß  die  Konjugation  das 
Infusor  zu  zahlreichen  neuen  Teilungen  befähigt, 
daß  durch  sie  die  Teilungsrate  gehoben  wird. 
Und  doch  ist  die  Feststellung  Jennings  nicht 
neu.     Zwei    so    ausgezeichnete  Protozoenforscher 


N.  F.  XIII.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


231 


wie  Maupas')  und  R.  Hertwig'-j  sind  bereits 
vor  längerer  Zeit  zu  dem  gleichen  Resultat  ge- 
kommen. R.  Hertwig,  trotz  dieser  Beobachtung 
—  ebenso  wie  Maupas  —  ein  Anhänger  der 
Verjüngungstheorie,  suchte  seine  Befunde  in  der 
Weise  zu  erklären,  d?Q  er  annahm,  durch  die 
ständige  ungeschlechtliche  Vermehrung  werde  die 
Teilungsrate  erhöht  und  schließlich  eine  Höhe  er- 
reicht, die  für  den  Organismus  schädlich  ist,  durch 
die  Konjugation  aber  werde  dann  die  Vermehrungs- 
fähigkeit wieder  in  normale  Bahnen  gelenkt.  Jen- 
nings  hingegen  sieht  in  der  Wirkung  der  Kon- 
jugation auf  die  Teilung;  rate  wohl  mit  Recht  einen 
Beweis  gegen  die  Richtigkeit  der  Verjüngungs- 
theorie. 

Ein  weiterer  wichtiger  Grund,  die  Verjüngungs- 
theorie entschieden  abzulehnen,  ist  für  Jennings 
die  Tatsache,  daß  die  Sterblichkeit  unter  den  Ex- 
konjuganten  viel  größer  ist  als  unter  den  an  der 
Konjugation  verhinderten  Tieren.  Betrachten  wir 
nochmals  die  Tabelle  1.  Die  „split-pairs"-Lii  ien 
zeigen  in  der  dritten  Woche  alle  eine  normale 
Vermehrung.  Von  den  ,,pairs"-Linien  sind  drei 
eingegangen,  zwei  Tiere,  die  auch  in  den  beiden 
ersten  Wochen  sich  kaum  vermehrt  hatten,  haben 
sich  nicht  geteilt.  Das  ist  also  nichts  weniger  als 
eine  Erhöhung  der  Lebenskraft  infolge  Konjugation  I 

Nur  in  zwei  Fällen  war  die  Sterblichkeit  unter 
den  Nachkommen  der  „split-pairs"  größer  als  die 
der  Exkonjuganten.  Da  aber  in  beiden  Fällen 
besondere  Umstände  vorlagen,  kommen  sie  hier 
nicht  in  Betracht.  In  dem  einen  Falle  wurden  die 
Kulturen  einer  abnorm  hohen  Temperatur  — 
32 "  C  ■ —  ausgesetzt.  Diese  hohe  Temperatur 
vertrugen  die  ,,pairs"  wesentlich  besser  als  die 
,,split  pairs".  Wir  werden  weiter  unten  noch  darauf 
zu  sprechen  kommen,  wie  dieses  Resultat  zu  er- 
klären ist.  Im  zweiten  Falle  handelte  es  sich  um 
Tiere,  die  sich  in  einer  sog.  ,, Depressionsperiode" 
befanden;  schwache  Vermehrung  und  große  Sterb- 
lichkeit war  für  diese  Kultur  charakteristisch.  Es 
ist  schon  seit  langer  Zeit  bekannt,  daß  solche 
Tiere  außerordentlich  schwer  zur  Konjugation  zu 
bringen  sind.  Jennings  aber  legte  besonderen 
Wert  darauf,  gerade  in  dieser  Kultur  Konjuganten 
zu  erhalten.  Denn  wenn  tatsächlich  die  Konjuga- 
tion den  Organismus  verjüngt,  so  mußte  das  hier 
am  deutlichsten  zutage  treten.  Es  gelang  Jen- 
nings denn  auch,  wenigstens  drei  Paare  zur 
Konjugation  zu  bringen,  die  er  alle  die  Konjuga- 
tion beenden  ließ.  Die  sechs  von  diesen  Konju- 
ganten stammenden  Linien  verglich  er  mit  Tieren, 
der  gleichen  Kultur,  die  nicht  konjugiert  hatten, 
wohlgemerkt  also  nicht,    wie  in  den  übrigen  Ex- 


')  Maupas,  E.,  Recherches  experimentales  sur  la  tnulti- 
plication  des  infusoires  cilies.  Arch.  d.  Zool.  experim.  et  ^en., 
Ser.  2,  Tome  6,   1888. 

—  — ,  La  rajeunissement  karyogamique  cliez  les  cilies. 
Arch.  d.  Zool.  experim.  et  gen.,  Ser.  2,  Tome  7,   1889. 

^)  Hertwig,  R.,  Über  die  Konjugation  der  Infusorien. 
Abhandl.  d.  II.  Kl,  d.  königl.  bayr.  Akad.  d.  Wiss.,  17.  Bd., 
1889.  ' 


perimenten,  mit  ,, split-pairs",  mit  zur  Konjugation 
bereiten  Tieren,  sondern  mit  solchen,  die  unter 
keinen  Umständen  zur  Konjugation  zu  bringen 
waren.  Die  Tiere,  welche  nicht  konjugiert  hatten, 
starben  alle  nach  kurzer  Zeit  ab.  Aber  auch  die 
Exkonjuganten  zeigten  keineswegs  eine  erhöhte 
Lebenskraft.  Vier  Linien  starben  ebenfalls  sehr 
bald  aus.  Daß  wenigstens  zwei  Linien  von  P^x- 
konjuganten  sich  weiter  fortpflanzten,  findet  darin 
seine  Erklärung,  daß  in  dieser  stark  in  Depression 
befindlichen  Kultur  nur  die  lebenskräftigsten  In- 
dividuen überhaupt  noch  zu  konjugieren  vermoch- 
ten, während  den  meisten  die  Kraft  dazu  bereits 
fehlte.  Daß  also  die  letzteren  in  kurzem  zugrunde 
gingen,  kann  uns  nicht  wundern,  daß  aber  auch 
das  Schicksal  jener  die  Konjugation  nicht  zu  ändern 
vermochte,  beweist  uns  die  Unhaltbarkeit  der  Ver- 
jüngungstheorie. 

Wenn  wir  von  diesen  beiden  eine  besondere 
Betrachtung  verlangenden  Experimenten  absehen, 
war,  wie  gesagt,  die  Sterblichkeit  in  den  „pairs"- 
Linien  regelmäßig  größer  als  in  den  „split-pairs"- 
Linien  und  zwar  erwies  es  sich  als  ganz  gleich- 
gültig, ob  die  beiden  Konjuganten  einer  „wilden" 
Kultur  entstammten  oder  ob  sie  in  irgendeiner 
verwandtschaftlichen  Beziehung  zueinander  standen, 
ob  sie,  um  einen  Ausdruck  aus  der  Vererbungs- 
wissenschaft zu  gebrauchen,  einer  „reinen  Linie" 
angehörten.  Der  Grund  für  die  größere  Sterblich- 
keit unter  den  Exkonjuganten  ist  vielleicht  in  dem 
Verlaufe  der  zytologischen  Prozesse  während  der 
Konjugation  zu  suchen.  Irgendwelche  Unregel- 
mäßigkeiten bei  der  Reifung  oder  beim  Austausch 
der  Kernsubstanzen  können  zur  Bildung  von  In- 
dividuen führen,  denen  infolge  irgendeines  Mangels 
die  weitere  Lebensfähigkeit  durch  die  Konjugation 
genommen  ist.  Vielleicht  werden  auch  durch  die 
Konjugation  neue  Kombinationen,  neue  Varianten 
geschaff'en,  von  denen  ein  Teil  den  gegebenen 
Verhältnissen  nicht  genügend  angepaßt  ist. 

Daß  die  Bildung  von  Abnormitäten  durch  die 
Konjugation  gefördert  wird,  dürfte  auf  dieselbe 
Ursache  zurückzuführen  sein  wie  die  Erhöhung 
der  Sterblichkeit. 

Wir  haben  bisher  nur  vernommen,  in  welcher 
Hinsicht  die  „pairs"  im  Nach  teil  sind  gegenüber 
den  „split  pairs".  Welchen  Vorteil  aber  bringt 
die  Konjugation  den  Konjuganten?  Auch  auf  diese 
Frage  glaubt  Jennings  eine  Antwort  geben  zu 
können. 

In  Tabelle  2  sind  die  Zahlen  der  Teilungen  in 
einer  Anzahl  „pairs"-Linien  den  Teilungszahlen  in 
einer  Anzahl  „split-pairs"-Linien  in  der  gleichen 
Zeit  gegenübergestellt,  und  zwar  das  Minimum 
einerseits,  das  Maximum  andererseits.  Die  Nach- 
kommen von  „pairs"  teilten  sich  also  z.  B.  in  acht 
Wochen  im  Minimum  25  mal,  im  Maximum  38  mal, 
die  Nachkommen  von  „split-pairs"  in  der  gleichen 
Zeit  im  Minimum  37  mal,  im  Maximum  47  mal. 
In  den  in  der  Tabelle  angegebenen  Experimenten 
ist  überall  der  Unterschied  zwischen  Minimum  und 
Maximum  der  Teilung  bei  den  Nachkommen  der 


232 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  15 


Exkonjuganten  größer  als  bei  den  „split- pairs"- 
Linien.  Jennings  zieht  hieraus  den  wichtigen 
Schluß,  daß  die  Konjugation  die  Variabilität  — 
hier  also  die  Variationsbreite  der  Teilungszahl  — 
erhöht.  Die  Berechnung  des  Variationskoeffizienten 
und  der  Standardabweichung  ')  ergab ,  daß  diese 
bei  den  Abkömmlingen  von  „pairs"  mehr  als 
doppelt  so  groß  sein  können  als  bei  denen  von 
„split-pairs". '') 

Tabelle  2. 


Zeit 

„Pairs" 

„Split- 

Dairs" 

M 

nimum 

Maximum 

Minimum 

Maximum 

Wilde   Kulturen: 

I.  u.   2.  Woche 

0 

12 

7 

15 

3.  u.  4.  Woche 

0 

16 

6 

20 

8  Wochen 

25 

3S 

37 

47 

4  Tage 

2 

10 

8 

13 

Reine  Linien  : 

20  Tage 

I 

17 

6 

17 

6  Tage 

0 

6 

4 

() 

12  Tage 

6 

16 

8 

'5 

S  Tage 

I 

17 

8 

IS 

Es  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  daß  eine  Ver- 
größerung der  Variabilität  für  einen  konjugieren- 
den Infusorienstamm  von  hoher  Bedeutung  sein 
muß.  Die  Konjugation  erfolgt,  wie  bereits  her- 
vorgehoben wurde,  besonders  dann,  wenn  die 
äußeren  Bedingungen  wechseln.  Durch  die  Kon- 
jugation können  dann  Varianten  geschaffen  wer- 
den, denen  die  neuen  Verhältnisse  mehr  zusagen, 
die  besser  an  sie  angepaßt  sind  als  die  Individuen 
vor  der  Konjugation.  Andere  Varianten  freilich 
werden  auch  schlechter  angepaßt  sein,  sie  sind 
vielleicht  teilweise  überhaupt  nicht  lebensfähig  in 
den  neuen  Verhältnissen.  Immerhin  wird  durch 
die  Konjugation   die  Gefahr,  wenn  auch  nicht  be- 


'1  Die  Art  und  Weise,  wie  in  der  modernen  Vererbungs- 
forschung Variationskoeffizient  und  Standardabweichung  be- 
rechnet werden,  schildert  ausführlich  Goldschmidt  in  seiner 
vor  kurzem  in  zweiter  .-\uflage  erschienenen  ,, Einführung  in 
die  Vererbungswissenschaft"  (Leipzig  und  Berlin   1913I. 

*)  Es  sei  hier  nicht  unerwähnt  gelassen,  daß  Jollos 
(Über  die  Bedeutung  der  Konjugation  bei  Infusorien,  Arch.  f. 
Protistenk.,  30.  Bd.,  1913)  gegen  diese  letzten  Resultate  von 
Jennings  einige  Einwendungen  gemacht  hat,  die  zum  wenig- 
sten teilweise  der  Berechtigung  sicher  nicht  entbehren. 
Jollos  sieht  durch  die  Experimente  Jennings'  den  Beweis 
nicht  erbracht,  daß  tatsächlich  die  Konjugation  eine  Erhöhung 
der  Variabilität  zur  Folge  hat.  Immerhin  hält  es  auch  Jollos 
für  sicher,  daß  die  Konjugation  neue  Varianten  schaffen  kann. 
Die  nächste  Zeit  dürfte  uns  wohl  auch  hierfür  noch  einwand- 
freie Beweise  bringen. 


seitigt,  so  doch  beträchtlich  herabgesetzt,  daß  bei 
Änderung  der  äußeren  Lebensverhältnisse  der 
ganze  Infusorienstamm  zugrunde  geht.  Betrachten 
wir  z.  B.  nochmals  das  Wärmeexperiment.  Die 
künstlich  an  der  Konjugation  verhinderten  Tiere 
zeigten  in  der  hohen  Temperatur  eine  außer- 
ordentlich hohe  Sterblichkeit  (über  68  "/o).  Die 
Exkonjuganten  hingegen  erwiesen  sich  teilweise 
als  sehr  gut  angepaßt  an  die  höhere  Temperatur; 
nur  23^/2  "/o  ungefähr  starben. 

Ein  weiteres  Resultat  der  Konjugation  ist  die 
,, zweielterliche  Vererbung".  ^) 

Frühere  Untersucher  hatten  die  Vermutung 
geäußert,  daß  die  beiden  Konjuganten  geschlecht- 
lich different  sind,  ein  ,, männliches"  Paramaecium 
sollte  mit  einem  „weiblichen"  konjugieren.  Nur 
die  „weiblichen"  Tiere  sollten  dazu  berufen  sein, 
die  Rasse  fortzupflanzen ,  während  die  Teilungs- 
fähigkeit der  „Männchen"  sehr  gering  sein  sollte. 
Vermittels  experimenteller  und  rechnerischer 
Methoden  vermögen  indessen  Jennings  und 
sein  Mitarbeiter  Lashley  zu  zeigen,  daß  von 
einer  geschlechtlichen  Verschiedenheit  der  Kon- 
juganten nicht  die  Rede  sein  kann.  Bei  der  Kon- 
jugation tauschen  die  beiden  Tiere  ihre  Eigen- 
schaften gegenseitig  aus,  und  wenn  sie  nach  der 
Konjugation  unter  gleichen  Bedingungen  gehalten 
werden ,  sind  ihre  Lebenswege  bzw.  die  ihrer 
Nachkommen  ganz  ähnliche.  Lebenskraft,  l'ort- 
Pflanzungsgeschwindigkeit,  Größenverhällnisse  usw. 
sind  in  zwei  von  einem  Konjugationspaar  abge- 
leiteten Linien  nahezu  gleich.  Trennt  man  hin- 
gegen ein  Konjugationspaar  im  Anfang  der  Kon- 
jugation, so  unterscheiden  sich  diese  Individuen 
in  ihren  verschiedenen  Eigenschaften  ebenso,  wie 
wenn  man  zwei  beliebige  Individuen  einer  ,, wilden" 
Kultur  miteinander  vergleicht. 

„Was  die  Konjugation  tut",  so  schließt 
Jennings  seine  interessanten  Ausführungen,  „ist: 
sie  bringt  neue  Kombinationen  von 
Keimplasma  zustande,  gerade  wie  es 
bei  der  geschlechtlichen  Vermehrung 
der  höheren  Tiere  geschieht.  Eines 
ihrer  Resultate  ist,  daß  sie  zweielter- 
liche Vererbung  erzeugt;  ein  anderes, 
daß  sie  zahlreichen  Variationen  den 
Ursprung  gibt,  im  Sinne  von  erblichen 
Verschiedenheiten  zwischen  verschie- 
denen Stämmen.  Einige  von  diesen 
neuen  Kombinationen  sind  besser  an- 
gepaßt an  die  bestehenden  Verhält- 
.  nisse  als  andere;  jene  überleben,  wäh- 
rend die  anderen  aussterben". 


')  Die  folgenden  Resultate  veröffentlicht  Jennings  m 
einer  besonderen  Abhandlung  gemeinsam  mit  Lashley.  S. 
.'\nm.  2  oben. 


N.  F.  XIII.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


23,? 


Einzelberichte. 


Astronomie.  Der  Komet  1910a,  der  im  Januar 
des  Jahres  in  Johannisburg  entdeckt  wurde,  und 
durch  seine  Größe  auffiel,  so  daß  er  im  Süden  in  der 
Nähe  der  Sonne  mit  bloßem  Auge  gesehen  werden 
konnte,  hat  nach  einer  eben  erschienenen  Arbeit 
von  Lampland  auffallende  Schweifentwicklungen 
gezeigt,  wie  aus  der  Bearbeitung  einer  Anzahl 
von  Photographien  hervorgeht.  Zunächst  lag  der 
Schweif  nicht  in  der  Richtung  Sonne-Komet, 
sondern  rechtwinklig  dazu,  er  zeigte  ferner  eine 
Anzahl  Verdichtungen,  deren  Weiterbewegung 
sich  verfolgen  ließ,  und  ergab,  daß  sie  sich  mit 
einer  Geschwindigkeit  von  etwa  100  km  in  der 
Sekunde  bewegten,  wahrscheinlich  die  Schnellig- 
keit, mit  der  die  Schweifentwicklung  vor  sich 
geht.  Diese  selber  war  äußerst  lebhaft,  es  zeigten 
sich  Nebenschweife  und  eine  auf  die  Sonne  ge- 
richtete Ausstrahlung.  Die  starkgelbe  Farbe  der 
Erscheinung  rührte  von  dem  Vorwiegen  des 
Natriumlichtes  her,  das  später  durch  Cyan  ersetzt 
wurde.  Lampland  zeigt  nun,  daß  die  lebhaftesten 
Vorgänge  in  der  Zeit  vorkamen,  wo  der  Komet 
niedere  heliographische  Breiten  hatte,  wie  sie  die 
Zone  der  Sonnenflecken  auch  hat,  und  er  zieht 
die  Kometen  Donati  1858  und  Chesaux  1744  zum 
Vergleich  herbei,  von  denen  der  erste  einen 
riesigen  Schweif  hatte,  der  zweite  einen  6  teiligen 
Fächerschweif,  um  zu  beweisen,  daß  die  Aussen- 
dung von  Energie  bei  der  Sonne  an  gewisse 
Zonen  hauptsächlich  gebunden  sei,  und  daß  die 
Kometen  gegen  den  Wechsel  dieser  Energie- 
strahlung sehr  empfindlich  seien.  [Lowell  Observ 
Bull.  Nr.  57.] 

Die    Stabilität    unseres    Planetensystems    liegt 
unter   anderem    auch    darin    begründet,    daß    sich 
die  Umlaufszeiten    der  Planeten    nicht    wie    ganze 
Zahlen  verhalten.     Die  Planeten  kommen  also  nie 
an  denselben  Stellen  der  Bahn   wieder  in  gleiche 
Längen,  so  daß  sich  ihre  Störungen  im  Laufe  der 
Zeit  bald  summieren,  bald  aufheben.     Nach  einem 
von    La  place    untersuchten    Sonderfall    gibt    es 
aber    eine    Ausnahme,    wenn    nämlich    die    drei 
Körper,  also  Sonne,  störender  und  gestörter  Planet 
ein  gleichseitiges  Dreieck  bilden.     Dieser  Fall  tritt 
nun  tatsächlich  ein,  es  gibt  in  der  Entfernung  des 
Jupiter   4    kleine   Planeten,    die   zum    Unterschied 
von    den    anderen    die  Namen  Achilles,  Patroklos, 
Hektor    und    Nestor   erhalten    haben,    die   sich    in 
einem  Abstände    von  etwa  60"  vom  Jupiter    ent- 
fernt in  derselben  Bahn  bewegen.     3  davon  haben 
größere     heliozentrische    Länge,     einer     kleinere. 
Nach    den  Untersuchungen    von  Brown   hat  diese 
Trojanergruppe  Störungen  durch  Jupiter  von  einer 
etwa  150jährigen    Periode,    und    diese    Störungen 
haben   den    Charakter    von  Librationen,   also   von 
Schwankungen    um    einen    mittleren  Ort,    können 
freilich  ziemlich  bedeutende  Beträge  erreiclien. 

Riem. 


Physiologie.       Das    Auge    des    Grottenolms 
(Proteus  anguineu.s),    eines   in  den  Gewässern  der 
Höhlen    von    Krain    lebenden    Schwanzlurchs,    ist 
normalerweise  als  .Sehorgan  unbrauchber.   t^s  bleibt 
auf  dem  Stadium  der  sekundären  Augenblase  stehen. 
Da   es    mit  dem  Wachstum    des  übrigen  Körpers 
nicht  Schritt  hält,  erscheint  es  beim  erwachsenen 
Tier  unverhältnismäßig    klein    und  wird  auch  fast 
oder  ganz  unsichtbar,  weil  es  von  der  Haut  über- 
deckt wird.  Paul  Kammerer  (Pflüger 's  Archiv 
für   die    gesamte    Physiologie    des    Menschen    und 
der  Tiere,   153.  Bd.,  19 13)  ließ  nun,  noch  ehe  die 
Rückbildung    der   Augen    begonnen    hatte,    direkt 
nach   der    Geburt    einen    kräftigen    Lichtreiz    ein- 
wirken.    Unter    natürlichen  Verhältnissen    ist   der 
01m  lebendig  gebärend,  während  er  im  Aquarium 
bei    einer  Temperatur    von    durchschnittlich    über 
15"  C    schon    die    Eier   ablegt.     Es    werden   zwei 
IG — 12  cm  lange  Junge  geboren,  von  denen  jedes 
aus  einem    der  beiden  Ovidukte  stammt.      Zuerst 
versuchte  K.   die  Entwicklung   des    Auges    zu  er- 
reichen, indem  er  das  junge  Tier  dem  Tageslicht 
aussetzte.     Aber   dann  verdunkelte    sich   auch  die 
Haut,  welche  das  Auge  überzieht,  in  tiefstes  Blau- 
oder Braunschwarz,  so  daß  dieses  jetzt  wieder  im 
Dunkeln  war.    Indem  K.  die  Jungen  während  der 
Aufzucht  abwechselnd  zwei  Wochen  im  Tageslicht 
und  eine  Woche    im   roten    Licht    hielt,    erreichte 
er  es,    daß   die  Entwicklung  vom  Pigment  in  der 
Haut  eingeschränkt  wurde.     Die    Augen    dagegen 
vergrößerten  sich  um  das  4  fache,  während  es  im 
Dunkeln  nur  um  das  1,6  fache  an  Größe  zunimmt. 
Auch   die   einzelnen    Teile   des    Auges    —    Linse, 
Aderhaut,  Iris,  Glaskörper,  Sehzellen  usw.  —  bilde- 
ten sich  aus.    Durch  wiederholte  unter  allen  Kau- 
telen  angestellte  Versuche  konnte  K.  nachweisen, 
daß  die  Tiere  mit  derartigen  Augen  auch  wirklich 
sahen.     Es   bedurfte    dabei    besonderer    Vorsichts- 
maßregeln, um  mit  Sicherheit  auszuschließen,  daß 
die  für  andere  Sinnesreize  außerordentlich  empfind- 
lichen   Tiere    nicht    durch    Erschütterungen    ihres 
Behälters,  Bewegungen  der  Luft  und  des  Wassers 
angelockt    wurden.      Eine    positive    Reaktion    auf 
den  optischen  Eindruck  eines  außerhalb  der  Wanne 
sich  bewegenden  Objekts    —    zappelnder   Regen- 
wurm  —    wurde   14  mal  erzielt,  wiederholt  mehr-  • 
mals  nacheinander  an  demselben  Tage. 

Kathariner. 

Entwicklungsmechanik.  Über  künstliche 
Parthenngenese  haben  neuerdings  Dorothy  Jor- 
dan Lloyd  und  Jacques  Loeb  (Archiv  für 
Entwicklungsmechanik  der  Organismen,  38.  Bd., 
1914)  weitere  Mitteilungen  gemacht. 

Nach  der  Methode  von  Vves  Delage  wird 
künstliche  Parthenogenese  dadurch  hervorgerufen, 
daß  man  dem  die  Eier  des  Seeigels  enthaltenden 
Seewasser  Ammoniak,  Rohrzucker  und  Gerbsäure 
zufügt.  Nach  beiden  Autoren  ist  letztere  zum 
Hervorbringen  des  Effekts  ganz  entbehrlich.     Das 


234 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  15 


Ammoniak  wirkt  als  cytolytisches  Agens  und  bringt 
so  die  Oberflächenänderung  hervor,  welche  nach 
L  o  e  b  eine  wesentliche  Bedingung  für  das  Eintreten 
der  Entwicklung  des  unbefruchteten  Eies  ist.  Die 
Zuckerlösung  wirkt  stark  hypertonisch. 

Er  zeigt,  daß  die  Amine  und  die  in  Spermato- 
zoen  enthaltene  Base  Protamin  besonders  geeignet 
sind,  die  Entwicklung  der  Eier  des  Seeigels  (Arba- 
cia)  anzuregen.  Außer  den  schon  frülier  bekannten 
hat  er  auch  andere  schwache  Basen  wie,  Butyla- 
min  und  Benzylamin  als  sehr  wirksam  gefunden. 
Dasselbe  war  der  Fall  bei  dem  aus  dem  Lachs- 
sperma gewonnenen  Protamin.  Schwache  Basen 
und  Säuren  sind  wirksamer,  weil  sie  besser  in  der 
Rindenschicht  des  Eies  löslich  sind,  als  die  starken. 
Angenommen,  die  Rindenschicht  des  Eies  sei  auch 
nur  dünn,  so  wird  eine  schwache  Base  durch  seine 
ganze  Dicke  hindurch  wirken  können,  die  starken 
Basen  aber  nur  an  der  Oberfläche.  In  der  alka- 
lischen Lösung  beginnt  die  Membranbildung, 
in  der  hypertonischen  Lösung  wird  sie  beendet. 
In  ihr  bleiben  die  Eier  etwa  10 — 15  Minuten,  je 
nach  der  Temperatur.  In  der  alkalischen  Lösung 
bleiben  sie  oft  nur  recht  kurz,  manchmal  nur  3 — 5 
Minuten  bei  22  ".  Die  alkalische  Lösung  besteht 
aus  50  cm-'  m/2(NaCl-|-KCl  +  CaCl2)  +  Oi3  cm^ 
N/io(NHj|OH')  oder  Butylamin  oder  eine  andere 
schwache  Base.  NaCl,  KCl  und  CaCl,  sind  in  dem 
Verhältnis  gemischt,  in  dem  sie  im  .Seewasser 
enthalten  sind.  Während  die  Expositionsdauer  in 
der  alkalischen  Lösung  nicht  so  eng  abgegrenzt 
ist,  machen  2  oder  3  Minuten  mehr  oder  weniger 
in  der  hypertonischen  Lösung  schon  einen  merk- 
lichen Unterschied  aus.  Wenn  die  Eier  lang  genug 
in  der  ammoniakalischen  Lösung  sind,  tritt  eine 
ziemlich  deutliche  Membranbildung  ein.  Im  all- 
gemeinen aber  bildet  sich  bei  kurzer  Exposition 
im  Alkali  nur  ein  heller  Saum,  der  andeutet,  daß 
in  der  Rindenschicht  eine  Änderung  eingetreten 
ist.  Loeb  versuchte  durch  eine  Änderung  in  der 
Konstitution  der  Lösung  die  Membranbildung  zu 
beschleunigen  und  fand,  daß  dies  geschieht,  wenn 
man  das  Kalium  wegläßt.  Am  günstigsten  für 
die  Membranbildung  durch  neutrale  Lösungen  ist 
eine  Mischung  von  NaCl  -f-  CaCl.j.  Bei  der  ge- 
wöhnlich angewandten  Mischung  von  50  cm'^ 
m/2(NaCl -f  KCl  -f  CaCl.,)  -\- 0,3  cm^'  N/io(NH40H) 
bestand  die  Membranbildung  nur  in  einem  hellen 
Saum,  der  erst  in  der  hypertonischen  Lösung  deutlich 
wird.  Welches  ist  nundieWirkungderhypertonischen 
Lösung?  Bringt  man  die  mit  alkalischer  Lösung  be- 
handelten Eier  gleich  ins  Seewasser,  so  tritt  meist 
eine  abnorme  P\irchung  ein.  Das  Ei  verlängert  sich, 
wird  bohnen-  oder  hufeisenförmig  und  zerfällt  in 
zwei  Zellen;  weitere  Teilungen  können  folgen. 
An  der  Oberfläche  der  Zelle  erscheint  ein  Tröpf- 
chen und  schließlich  können  die  ganzen  Furchungs- 
zellen  in  kleine  Tröpfchen  zerfallen.  Durch  Be- 
handlung mit  hypertonischer  Lösung  wird  dies 
verhindert.  Bei  zu  langer  Expositionsdauer  in 
dieser  aber  tritt  eine  andere  Störung  auf,  nämlich 
multipolare  Mitosen  ohne  darauffolgende  Furchung. 


Statt  die  Eier  erst  20  Minuten  in  die  Ammoniak- 
lösung und  dann  20  Minuten  in  die  hypertonische 
Lösung  zu  bringen,  können  auch  beide  Lösungen 
gleichzeitig  angewandt  werden.  L.  stellt  sich  vor, 
daß  die  membranbildende  Wirkung  des  Alkali  und 
jene  der  hypertonischen  Lösung  in  ganz  verschie- 
denen Richtungen  liegt.  Dann  würde  das  Resultat 
auch  nicht  befremden.  R.  Lillie  hatte  die  Ver- 
mutung ausgesprochen,  daß  die  Membranbildung 
in  einer  Erhöhung  der  Permeabilität  des  Eies  be- 
stehe, und  daß  dann  eine  durch  die  hypertonische 
Lösung  herbeigeführte  Erniedrigung  derselben  folge. 
Wäre  dies  richtig,  so  würden  sich  beide  in  ihrer 
Wirkung  aufheben.  Außerdem  wird  ja  bei  suc- 
cessiver  Anwendung  die  Expositionsdauer  in  der 
hypertonischen  durch  jene  in  der  alkalischen  Lösung 
abgekürzt,  was  ja  gerade  umgekehrt  sein  müßte. 
Wie  L.  schon  1906  aussprach,  werden  durch 
das  Spermatozoen  mindestens  zwei  Substanzen  in 
das  Ei  eingeführt,  von  denen  die  eine  die  Membran- 
bildung anregt,  die  andere  korrektiv  wirkt.  Denn 
die  membranbildende  Substanz  kann  man  auch 
aus  toten  Spermatozoen  gewinnen,  aber  nur  aus 
artfremden,  ebenso  aus  artfremdem  Blut. 
Würden  die  eigenen  Körpersäfte  die  Entwicklung 
anregen  können,  so  würden  die  Eier  entweder 
frühzeitig  zerfallen  oder  ausschließlich  männliche  ') 
Tiere  ergeben.  Daß  das  Spermatozoon  noch  eine 
korrektive  Substanz  in  das  Ei  hineinbringt,  ergibt 
sich  aus  folgendem.  Wird  nur  eine  Oberflächen- 
veränderung des  Eies  mit  Basen  oder  Säuren  herbei- 
geführt, so  furchen  sich  die  Eier,  gehen  aber  bald 
zugrunde,  wenn  man  nicht  den  zweiten  Faktor 
zuführt.  Unbefruchtete  Eier,  zur  Entwicklung  durch 
Zusatz  von  2,0  cm''  Buttersäure  zu  50  cm''  See- 
wasser (2 — 5  Minuten  bei  23")  angeregt,  gehen 
im  Seewasser  alsbald  zugrunde,  wenn  sie  nicht 
auch  noch  in  hypertonischer  Lösung  gewesen  sind. 
Mit  Samen  befruchtete  Eier  dagegen  vertragen  die 
Behandlung  mit  Buttersäure  ohne  weiteres.  Dasselbe 
gilt  für  dieBehandlung  mit  schwachen  Basen.  Werden 
sie  aber  einige  Minuten  nach  der  künstlichen 
Membranbildung  besamt,  so  bleiben  alle  am  Leben. 
Dies  deutet  darauf  hin,  daß  durch  das  Sperma- 
tozoon eine  zweite  unentbehrliche  Wirkung  bei 
der  Befruchtung  ausgeübt  wird. 

Kathariner. 

Chemie.  Im  wasserfreien  Magnesiumchlorid 
haben  K.  A.  Hofmann  und  Kurt  Höschele 
(Ber.  d.  D.  Chem.  Gesellsch.,  Bd.  47,  S.  238  bis  247; 
1914)  einen  ausgezeichneten  Mineralisator  aufge- 
funden. Das  Magnesiumchlorid  MgCl.,  ist  ein  bei 
708  "  zu  einer  leichtbeweglichen  Flüssigkeit  schmel- 
zendes Salz,  das  als  überaus  lästiges  Nebenprodukt 
der  deutschen  Kaliindustrie  zu  einem  äußerst  billigen 
Preise  in  den  Handel  kommt.  Nach  den  Versuchen 
von  Hofmann  und  Höschele  ist  es  ein  sehr 
brauchbares  Lösungs-  und  Kristallisationsmittel  für 


')  Nach  unseren  derzeitigen  Anschauungen  von  dem  Bau 
und  von  der  Natur  der  Chromosomen. 


N.  F.  XIII.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


235 


viele  anorganische  Oxyde.  Schmilzt  man  das  Salz 
für  sich  allein  unter  Luftzutritt  in  einem  Porzellan- 
tiegel,  der  von  der  Schmelze  kaum  angegriffen 
wird,  so  kristallisiert  aus  dem  Magnesiumchlorid 
durch  die  Flinwirkung  des  Luftsauerstoffes  nach  der 
Gleichung 

MgCI.3  +  O  — >  MgO  +  CI2 
entstandenes  Magnesiumoxyd  in  großen  glänzenden 
Oktaedern  (Periklas)  aus,  die  in  Essigsäure  oder 
verdünnter  Salzsäure  leicht  löslich  sind  und  mittels 
dieser  beiden  Lösungsmittel  von  anderen  Stoffen, 
die  bei  Benutzung  der  Schmelze  als  Lösungsmittel 
auftreten,  leicht  getrennt  werden  können.  Aus 
Eisenoxyd  erhält  man  bei  kürzerer  Schmelzdauer 
einen  mehr  oder  minder  FeO-haliigen,  nach  länge- 
rem Schmelzen  reinen  Magnesioferrit  FcgO.j-MgO. 
Besonders  schöne  Präparate  liefert  das  Cerdioxyd 
CcO.j,  das  in  diamantglänzenden  Würfeln  oder 
Oktaedern  des  regulären  Systems  kristallisiert; 
das  spezifische  Gewicht  der  Kristalle  ist  7,3,  ihr 
Brechungsexponent  liegt  über  1,9.  Löst  man  die 
Oxyde  oder  die  Sulfate  der  seltenen  Erden,  z.  B. 
von  Erbium,  Neodym,  Praseodym,  Samarium  in 
geschmolzenem  Magnesiumchlorid  auf,  so  kristalli- 
sieren die  Oxychloride  ErOCl,  NdOCl,  PdOCl, 
SmOCl  in  prächtigen  Kristallen  aus.  Nichtflüchtige 
Säuren,  wie  die  Borsäure  oder  die  Uransäure, 
dagegen  nicht  die  als  reines  Zirkondioxyd  ZrOo 
auskristallisierende  Zirkonsäure  liefern  die  ent- 
sprechenden Magnesiumsalze,  so  daß  Magnesium- 
orthoborat  B.,03-3MgO  oder  das  Magnesiumuranat 
aUrOj-ßMgÖ.  Bei  mineralsynthetischen  Arbeiten 
dürfte  nach  dem  Gesagten  das  Magnesiumchlorid 
ein  wertvolles  Hilfsmittel  bilden.  Mg. 

Über  die  Darstellung  und  die  Eigenschaften 
von  Selenschwefelkohlenstoff  CSSe  und  Tellur- 
schwefelkohlenstofT  CSTe  berichtet  AlfredStock 
in  Gemeinschaft  mit  zwei  Schülern  (Alfred 
Stock  und  Paul  Praetorius.  Ben  d.  D. 
Chem.  Gesellsch.  Bd.  47,  S.  131  bis  144,  und 
Alfred  Stock  und  Ernst  Willfroth  ,  ebenda 
S.  144  bis  154,  1914).  Die  dem  Schwefelkohlen- 
stoff CS.,  entsprechenden  Verbindungen,  der  Selen- 
kohlenstoff CSe.,  und  der  Tellurkohlenstofif  CTe.,, 
sind  bisher  nicht  bekannt,  und  die  wenigen  No- 
tizen, die  sich  in  der  Literatur  über  die  gemischten 
Verbindungen,  den  Selenschwefelkohlenstoff  und 
den  Tellurschwefelkohlenstoff,  finden,  sind  un- 
sicher. Es  bedeutet  daher  für  die  präparative 
Chemie  einen  erheblichen  Fortschritt,  daß  es 
Stock  gelungen  ist,  die  beiden  gemischten  Ver- 
bindungen in  analysenreiner  Form  darzustellen 
und  ihre  Eigenschaften  zu  bestimmen.  Das  Ver- 
fahren, dessen  sich  Stock  bediente,  ist  im  Prinzip, 
wenn  auch  wohl  nicht  in  der  Ausführung  verhält- 
nismäßig einfach :  Aus  Selen  und  Graphit  und 
aus  Tellur  und  Graphit  wurden  unter  Verwendung 


von  Zuckerlösung  Elektroden  geformt  und  mittels 
eines  unter  Schwefelkohlenstoff  brennenden  Licht- 
bogens bei  20  bis  40  Volt  Spannung  und  etwa 
5  Ampere  Stromstärke  anodisch  zerstäubt.  Es 
bilden  sich  unter  diesen  Umständen  neben  nicht- 
flüchtigen Zersetzungsprodukten  des  Schwefel- 
kohlenstofifs  TellurschwefelkohlenstofT  oder  Selen- 
schwefelkohlenstoff, beides  leicht  flüchtige  Verbin- 
dungen, welche  bei  der  Destillation  der  erhalte- 
nen Schwefelkohlenstofflösungen  mitdestillieren, 
und  außerdem  das  ebenfalls  flüchtige  Kohlen- 
stoffsubsulfid C3S2.  Die  Trennung  des  Selen- 
schwefelkohlenstoffs  resp.  des  Teilurschwefelkohlen- 
stoffs  von  dem  Kohlenstoffsubsulfid  bot  besonders 
große  Schwierigkeiten,  deren  Überwindung  aber 
schließlich,  allerdings  auf  ziemlich  kompliziertem 
und  darum  hier  nicht  im  einzelnen  zu  schildern- 
dem Wege  gelang.  Die  Analysen  und  die  Er- 
mittlung des  Molekulargewichtes  der  Präparate  in 
benzolischer  und  beim  Tellurschwefelkohlenstoff 
auch  in  Schwefelkohlenstofflösung  bewiesen,  daß 
Stock  die  reinen  Verbindungen  CSSe  und  CSTe 
isoliert  hat. 

Eine  Übersicht  über  die  physikalischen  Eigen- 
schaften des  Selen-  und  des  Tellurschwefelkohlen- 
stoffs im  Vergleich  mit  denen  des  Schwefelkohlen- 
stoffs selbst  gibt  die  nachstehende  Tabelle. 


Eigenschaft 

CSo 

CSSe 

CSTe 

Farbe 

farblos 

gelb     1 

rot 

Dichte 

1,26 

1,9s     2,9 

(bei  —50»  C) 

Molvolumen 

60 

62      [59 

(bei  —50»  C) 

Schmelzpunkt 

—  112» 

-85»  i 

-54» 

Siedepunkt 

46» 

84« 

— 

Uampfdruck  bei   10»  C 

198  mm 

45  "it" 

ca.  2  mm 

Brechungsexponent 

1.63 

1.73 

— 

Bemerkenswert  ist  die  große  Empfindlichkeit 
von  Selen-  und  besonders  von  Tellurschwefel- 
kohlenstoff  gegen  Licht  und  Wärme.  Schon  bei 
längerem  Aufbewahren  bei  Zimmertemperatur 
zersetzen  sich  die  beiden  Stoffe,  und  bei  der  Her- 
stellung muß  natürliches  oder  lebhaftes  künst- 
liches Licht  sorgfältigst  ferngehalten  werden.  Durch 
Behandlung  mit  Natrlumalkoholat  C^Hj.ONa  ließ 
sich  der  Selenschwefelkohlenstofif  in  das  Natrium- 
monoselenxanthogenat 

CSe(SNa)(0CoH5) 
umwandeln,  eine  Verbindung,  die  dem  durch  Ein- 
wirkung von  Natriumalkoholat  auf  Schwefelkohlen- 
stoff entstehenden    gewöhnlichen  Natriumxantho- 
genat  CS(SNa)(0C.3HJ  entspricht. 

Andeutungen  für  die  Entstehung  von  Selen- 
kohlenstoff CSe.,  und  Tellurkohlenstoff  CTe.,  hat 
Stock  weder  bei  der  Darstellung  der  beiden 
schwefelhaltigen  Verbindungen  noch  auch  bei 
ihrer  Zersetzung  bemerkt.  Mg. 


236 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   15 


Kleinere  Mitteilungen. 


Ein  wichtiger  Fund  aus  der  Ancyluszeit.  — 
Aus  der  Zeit  der  ersten  Hebung  nach  der  Eiszeit, 
der  sog.  Ancyluszeit,  als  noch  die  ganze  westliche 
Ostsee  ein  Binnensee  mit  süßem  Wasser  war,  weiß 
man  sehr  wenig,  da  nur  spärliche  Funde  aus  jener 
Zeit  bekannt  sind.  Um  so  erfreulicher  ist  es  da- 
her, wenn  durch  neue  Funde  ein  Beitrag  zur  Klar- 
stellung jener  fernen  Zeit  geliefert  werden  kann. 
Einen  hierher  gehörigen  F"und  machte  man  kürz- 
lich bei  dem  Ausbaggern  des  Flensburger  Hafens. 
Schon  mehrfach  hat  man  früher  ähnliche  Funde 
an  der  Nordseite  des  Hafens  gemacht,  die  aber 
leider  fast  ganz  unbeachtet  geblieben  sind;  zum 
Glück  wurde  der  letzte  h'und  auf  der  Südseite, 
dem  sog.  Kielsenger  Haken,  nahe  der  Marine- 
station Mürwik  rechtzeitig  bemerkt,  so  daß  er  für 
die  Wissenschaft  gerettet  werden  konnte. 

Die  Baggermaschine  brachte  aus  einer  Tiefe 
von  etwa  2  m  Waldtorf  an  die  Überfläche  und 
in  dem  Torf  lagen  viele  Geweihstücke,  teils  be- 
arbeitet, ferner  Knochen,  ganz  primitive  P'euer- 
steingeräte  u.  dgl.  Über  der  Torfschicht  lagerte 
eine  Schicht  Meeressand  mit  zahllosen  Muscheln, 
teils  Arten,  wie  sie  jezt  nur  in  der  Nordsee,  in 
der  Ostsee  aber  nicht  mehr  vorkommen;  diese 
Schicht  ist  also  zweifellos  der  Zeit  der  zweiten 
Bodensenkung  nach  der  Eiszeit,  der  Litorinazeit 
zuzurechnen,  und  die  darunter  liegende  Schicht 
ist  jedenfalls  zur  Prälitorinazeit,  wenn  nicht  zur 
Ancyluszeit  gehörig. 

Die  Moorschicht  war  nicht  sehr  stark,  nur 
etwa  10  cm.  Ordentliche  Moorproben  zur  ge- 
nauen botanischen  Bestimmung  waren  leider  nicht 
erhältlich ,  doch  konnte  man  an  den  Holzresten 
deutlich  Weide,  Birke,  Erle  und  Eiche  erkennen. 
Danach  stammt  die  Schicht  aus  der  letzten  Periode 
der  Ancyluszeit,    als  bereits  die  Eiche  Waldbaum 

wurde  und  die  Birke  so  ziemlich  verdrängt  hatte.  2000  —  800  v.  Chr.  zur  Einbalsamierung  verwen- 
Die  Ansiedlungen  an  der  Nordseite  des  Hafens  deten  harzigen  Massen.  Er  untersuchte  mit  Hilfe 
scheinen    etwas    älter    gewesen     zu     sein.       Die      von  umständlichen  chemischen  Methoden  die  Zu- 


Gerätschaften waren  aus  Feuerstein  bearbeitet 
und  da  sieht  man  Schaber,  Beile,  Messer,  Späne, 
aber  alle  einfach  behauen  und  ungeschliffen.  Die 
Spanmesser  hat  man  aber  damals  schon  ebenso 
geschickt  abzuspalten  verstanden,  wie  in  der  weit 
späteren  neolithischen  Steinzeit.  Ferner  liegen 
die  Scherben  von  einem  roh  gebrannten  Gefäß 
vor,  unverziert  und  plump;  doch  zeigen  die  dem 
Ton  beigemengten  Steinbrocken,  daß  man  auch 
schon  in  der  Keramik  eine  nicht  unbedeutende 
Fertigkeit  erlangt  hatte.  Vielleicht  die  wichtig- 
sten Fundstücke  sind  mehrere  menschliche  Schädel- 
fragmente, die  aber  noch  der  genauen  Unter- 
suchung von  Autoritäten  auf  diesem  Gebiete 
harren. 

Die  Wichtigkeit  dieses  Fundes  braucht  nicht 
besonders  betont  zu  werden ;  es  geht  deutlich 
daraus  hervor,  daß  der  jetzt  tief  unter  dem  Meer 
liegende  Boden  einst  Waldboden  war  und  viel 
höher  gelegen  haben  muß,  was  nur  zur  Ancylus- 
zeit gewesen  sein  kann.  Aber  bereits  damals  gab 
es  hier  Ansiedlungen,  deren  Bewohner  aber  schon 
weit  über  die  ersten  Anfänge  der  Kultur  hinweg 
waren,  und  die  sich  zur  Hauptsache  von  den 
Jagdtieren  des  Waldes  nährten.  Wenn  auch  aus 
anderen  südlicheren  Gegenden  prähistorische 
Funde  aus  den  interglazialen  Perioden  bekannt 
sind,  so  kennt  man  solche  hier  im  Norden  nicht; 
hier  bleiben  jedenfalls  die  Ansiedlungen  aus  der 
Ancyluszeit  die  ältesten  Beweise  für  das  Auftreten 
der  Menschen.  Philippsen-Flensburg. 

Zusammensetzung  der  zur  Einbalsamierung 
dienenden  Harze.  —  In  der  Sitzung  vom  11.  De- 
zember 191 3  der  Sociele  de  Chimie  de  Geneve 
berichtet  L.  Reu  tt  er  über  die  Zusammensetzung 
der    von    den    alten    Ägyptern    und    Karthagern 


Schicht  senkte  sich  nach  der  Tiefe  des  Hafens  zu, 
doch  reichten  die  Baggermaschinen  technisch  nicht 
aus,  um  die  Schicht  bis  zum  Ende  zu  verfolgen 
und  Bohrungen  wegen  der  hohen  Kosten  vor- 
läufig unterbleiben  mußten.  Sehr  wahrscheinlich 
ist  damals  die  ganze  Binnenförde  ein  langgestreck- 


sammensetzung  der  Harze,  welche  zur  Einbalsa- 
mierung dienten.  Unter  anderem  gelang  es 
Reutter,  in  dem  Harz  des  einbalsamierten 
Körpers  des  Admirals  Heckan  M.  Saf  folgende 
Bestandteile  zu  finden :  Mastix,  ein  Harz,  welches 
aus  Pistacia  lentiscus  und  aus  den  Anacardiaceen 


ter  Süßwassersee  gewesen,  dessen  steile  Abhänge  des  Mittelmeergebietes  stammt,  ferner  ein  Harz 
mit  Waldungen  bedeckt  waren.  An  den  Ufern  von  Pinus  Halepensis,  dann  den  gewöhnlichen, 
des  Sees  waren  die  Hütten  der  damaligen  Be-  kleinasiatischen  Styrax  (ein  trüber,  wasserhaltiger, 
völkerung.  zäher,  klebriger,  grauer  Balsam),  Asphalt,  Zedern- 
Aus  den  verschiedenen  Fundsachen  kann  man  harz  und  Pflanzenreste  von  Koniferen  wie  Juni- 
sich ein  Bild  machen  von  der  Lebensweise  dieser  perus  Oxycedrus,  ferner  Weinreste,  Natriumkarbo- 
Urmenschen.      Sie  jagten    in    den    Wäldern    Rot-  nat,  Sulfat  und  Chlorid,  sowie  verschiedene  Steine 


hirsche,  Damhirsche  und  Elche,  deren  Knochen 
und  Geweihe  zahllos  umherliegen.  Manche  Ge- 
weihe sind  bearbeitet  und  als  Hacken,  Dolche, 
Spieße  u.  dgl.  benutzt.  Auch  finden  sich  Knochen 
vom  Wildschwein,  ebenso  vom  Büffel  und  Bären. 
Eine  genauere  Untersuchung  dürfte  noch  die  Zahl 
der   Jagdtiere    bedeutend    erhöhen.     Die    meisten 


und  Perlen. 


R.  D. 


Wärmeapplikation  ist  ein  beliebtes  Mittel  bei 
Krankheiten  verschiedener  Art,  das  aber  gewöhn- 
lich nur  für  oberflächlich  gelegene  Prozesse  prak- 
tisch anwendbar  ist.  Bei  dem  noch  nicht  lange 
geübten  Verfahren    der    Diathermie    benutzt   man 


N.  F.  XIII.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


237 


„IiochfrequciUe  elektrische  Ströme  von  erheb- 
licher Spannung  und  Intensität",  „die  durch  den 
Körper  geleilet  und  dort  infolge  des  Wider- 
standes in  sog.  Foulesche  Wärme  umgewan- 
delt werden",  um  Tiefenwirkungen  zu  erzielen 
(Dreesen,  Deutsch,  med.  Wochenschr.  Nr.  37, 
1913).  Es  gelingt  bei  dieser  iVIethode,  eine  ganz 
allgemeine  „Durchwärmung"  der  betreftenden 
Körperstellen  zu  erzielen ,  wobei  sich  nicht  ein 
unbehagliches  Gefühl  übergroßer  Wärme  geltend 
macht,  sondern  die  allmähliche  Erwärmung  als 
sehr  angenehm  empfunden  wird.  Bei  verschiedenen 
Erkrankungen  bisher  praktisch  erprobt,  dürften 
das  Hauptanwendungsgebiet  die  chronischen 
Leiden  bilden,  bei  denen  man  schon  gute  Resul- 
tate gesehen  hat. 

Da  man  mit  Hilfe  der  Sonnenbehandlung  in 
der  Neuzeit  Erkrankungen  der  verschiedensten 
Art  therapeutisch  beeinflußt,  suchte  man  bald 
nach  einem  Ersatz  der  Sonnenstrahlen,  der  auch 
in  der  von  Prof  Kromayer  angegebenen  Form 
der  Quarzlampe  seine  Verwirklichung  fand.  Das 
Anwendungsgebiet  dieser  Lampe  ist  jedoch  haupt- 
sächlich auf  Haulerkrankungen  beschränkt.  Um 
ihr  nun  eine  weitere  Ausdehnungsbreite  zu  geben, 
mußte  man  an  eine  Kombination  der  von  der 
Quarzlampe  ausgehenden  ultravioletten  Strahlen 
mit  den  warmen  Sonnenstrahlen  suchen.  Man 
fand  eine  solche,  indem  man  die  Lampe  mit 
einem  Kranz  elektrischer  Glühlampen  umgab, 
und  erzielte  durch  diese  „künstliche  Höhensonne" 
einen  der  natürlichen  vollkommen  gleichen  Erfolg. 
Busse  beschreibt  in  einem  kleinen  Aufsatz: 
Die  „künstliche  Höhensonne"  (Deutsch,  med. 
Wochenschr.  Nr.  42,  191 3)  die  genaueren  Einzel- 
heiten, mit  Hilfe  deren  es  möglich  ist,  durch  Ver- 
stellung der  Apparate  eventuell  den  ganzen  Körper 
„besonnen"  zu  lassen.        Dr.  med.  Carl  Jacobs. 

70  proz.  Alkohol  zeigt  die  größte  desinfizierende 
Wirkung.  Nach  S.  Tijmstra  scheint  die  An- 
wesenheit von  Wasser  eine  absolute  Notwendig- 
keit für  die  desinfizierende  Wirkung  des  Alkohols 
zu  sein.  Die  Wirkung  des  Desinfektionsmittels 
besteht  aus  vier  Faktoren :  i.  Diffusion  durch  die 
lipoide  Substanz;  2.  Diffusion  durch  die  eiweiß- 
artigen Teile  des  Protoplasmas;  3.  Zerstörung  der 
lipoiden  Membran ;  4.  Zerstörung  der  Eiweiß- 
substanz. Bei  der  Konzentration  von  60 — 70  "/„ 
werden  die  Eiweißstoffe  so  schnell  denaturiert, 
daß  letztere  keine  Zeit  haben,  Wasser  aufzunehmen. 
Oberhalb  70  "/^  findet  wieder  eine  konstante  und 
starke  Gewichtsabnahme  statt.  DerDenaturierungs- 
grad  sinkt  also  oberhalb  70  "/q.  Bei  ungefähr 
40  "/o  beginnt  die  denaturierte  Wirkung  des  Alko- 
hols, oberhalb  80  "/„  ist  das  oberflächlich  denatu- 
rierte Albumin  undurchlässig  für  Alkohol. 

R.  Ditmar. 


Bücherbesprcchungen. 

Dr.  Louis  Löwenheim,  Die  Wissenschafi 
Demokrits  und  ihr  Einfluß  auf  die  moderne 
Naturwissenschaft.  Herausgegeben  von  Leopold 
Löwen  heim.  XI  und  244  Seiten.  Berlin, 
Verlag  von  Leonhard  Simion  Nachf,  1914.  — 
Preis  geh.  6  Mk. 
Eine  interessante  Veröffentlichung,  die  den  Nach- 
weis versucht,  daß  D  e  m  o  k  r  i  t  derjenige  Philosoph 
des  Altertums  gewesen  ist,  von  dem  die  moderne 
Naturwissenschaft  auf  sämtlichen  Gebieten  die 
bedeutungsvollsten  Anregungen  unmittelbar  und 
mittelbar  empfangen  hat!  Der  große  Abderite  hat 
danach  das  Beharrungsgesetz  klar  ausgesprochen, 
die  allgemeine  Schwere  der  irdischen  Körper  ge- 
lehrt, hat  gewußt,  daß  im  leeren  Räume  alle  Körper 
gleich  schnell  fallen,  daß  die  in  der  Luft  aufsteigen- 
den Körper  durch  den  Stoß  der  Luftatome  in  die 
Flöhe  getrieben  werden,  daß  alle  Körper  eine 
wechselseitige  Anziehung  ausüben,  daß  also 
die  Schwere  ein  besonderer  P"all  einer  allge- 
meinen Anziehung  ist;  er  hat  das  Kausalprinzip, 
die  Sätze  von  der  Erhaltung  der  Materie,  von  der 
Erhaltung  der  Kraft  und  von  der  Wirkung  und 
Gegenwirkung  gekannt,  den  Selektions  und  Des- 
zendenzgedanken gefaßt,  die  Ansicht  geäußert,  daß 
Körperliches  nicht  auf  Geistiges  und  Geistiges 
nicht  auf  Körperliches  einwirke  usw.  Wohl  wer- 
den manche  der  in  kühner  Dialektik  und  auf 
Grund  eines  reichen,  aber  oft  höchst  unsicheren 
Quellenmaterials  entwickelten  Ansichten  einer 
gründlichen  Nachprüfung  nicht  standhalten;  trotz- 
dem dürfte  das  bislang  herrschende  Zell  ersehe 
Urteil  über  den  Einfluß  der  antiken  Philosophie 
mehr  zugunsten  Demokrits  und  zuungunsten 
eines  Plato  und  Aristoteles  abzuändern  sein. 
Der  Verfasser,  der  ein  vierbändiges  Werk  über 
Demokrit  geplant  hatte,  wurde  durch  den  Tod 
an  der  Ausführung  gehindert;  aber  der  einzige, 
vom  Sohne  veröffentlichte  Band  enthält  doch  alle 
wesentlichen  Ergebnisse.  Angersbach. 


Newcomb- Engelmann,  Populäre  Astro- 
nomie. F"ünfte  Auflage.  Herausgegeben  von 
Dr.  P.  K  e  m  p  f  Mit  228  Abbildungen  im  Text 
und  auf  27  Tafeln.  Gr.  8".  —  In  Leinen  gebunden 
15,60  Mk. 

Von  diesem  vortrefflichen  Werk,  das  R.  Engel- 
mann  im  Jahre  1881  als  bearbeitete  Übersetzung 
der  Ne wcomb'schen  „Populär  Astronomy"  er- 
scheinen ließ,  liegt  jetzt  die  5.  Auflage  vor;  die 
4.  war  in  dem  kurzen  Zeitraum  von  3  Jahren  be- 
reits vergriffen.  Wie  diese  ist  auch  die  vorliegende 
Auflage  vonKempf,Schwarzschil  d,  L  uden  - 
dorff  und  Eberhard  gemeinsam  bearbeitet  und 
mit  größter  Sorgfalt  auf  den  neuesten  Stand  der 
Kenntnisse  gebracht  worden.  Insbesondere  sind 
das  Kapitel  über  die  Sonne,  die  Abschnitte  über 
die  Meteore  und  Sternschnuppen,  die  physische 
Beschaffenheit  der  Sterne,  ihre  Bewegung,  sowie 
die  Doppelsterne,    die    veränderlichen    Sterne,   die 


^38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  ij 


Nebelflecke  und  Sternhaufen  wesentlich  erweitert, 
z.  T.  umgestaltet.  Wir  wünschen,  daß  sich  dieses 
Buch,  eines  der  besten  der  populären  Literatur, 
recht  viele  neue  Freunde  erwerben  möge;  der 
Preis  für  den  835  Seiten  starken  Band  ist  als 
mäßig  zu  bezeichnen.  Miehe. 


Kolkwitz,  R.,  Pflanzen  Physiologie.  Ver- 
suche und  Beobachtungen  an  höheren  und 
niederen'  Pflanzen  einschließlich  Bakteriologie 
und  Hydrobiologie  und  Planktonkunde.  Mit 
z.  T.  farbigen  Tafeln  und  116  Abb.  im  Text. 
Jena  '14,  G.  Fischer.  —  Geb.  10  Mk. 
Der  Titel  ist  insofern  nicht  recht  bezeichnend, 
als  das  Buch,  wenigstens  der  Vorrede  nach,  eine 
Anleitung  zu  praktischen  Arbeiten  sein  soll;  er 
ist  aber  auch  mit  dieser  Beschränkung  noch  un- 
zutreffend, da  das  Prinzip :  Anleitung  zu  physio- 
logischen Übungen  nur  zum  Teil  befolgt  wird. 
Der  erste  etwa  60  Seilen  lange  Abschnitt  könnte 
als  physiologisches  Praktikum  bezeichnet  werden, 
doch  ist  die  Auswahl  etwas  einseitig ,  indem 
z.  B.  Wachstum,  Heliotropismus,  Geotropismus 
gar  nicht,  die  Atmung  nur  flüchtig  behandelt  sind. 
Im  Kapitel:  Parasiten  und  Saprophyten  ist  sogar 
der  physiologisch-praktische  Standpunkt  wieder 
aufgegeben.  Noch  mehr  verschwindet  er  dann 
als  leitender  Gesichtspunkt  im  zweiten  Abschnitt, 
der  die  Kryptogamen  behandelt  und  mit  seinen 
170  Seiten  den  Hauptteil  des  Buches  einnimmt. 
Hier  wird  eine  große  Anzahl  von  Kryptogamen 
in  Einzelbeschreibungen  aufgeführt,  in  die  ziem- 
lich willkürlich  experimentelle  Hinweise,  gelegent- 
lich auch  nur  physiologische  Bemerkungen  ein- 
gestreut sind.  Selbst  das,  was  über  die  I<vultur 
von  Pilzen  und  Bakterien  geboten  wird,  ist,  scheint 
mir,  nicht  ausreichend,  um  im  strengen  Sinne  als 
Anleitung  gelten  zu  können,  da  das  meiste  zu 
flüchtig  ist.  Überhaupt  wird  sehr  oft  auf  andere 
Hilfsmittel  verwiesen,  wo  eine  genaue  methodi- 
sche Unterweisung  am  Platze  wäre.  Bei  den 
Algen  mündet  die  „Pflanzenphysiologie"  in  reine 
Wasser-  oder  vielmehr  Abwasserbiologie  ein,  bei 
der  sogar  die  Tierwelt  ausgiebig  berücksichtigt 
wird ;  über  Moose  und  Farne  wird  schließlich  nur 
nach  Art  eines  Lehrbuches  referiert  und  zwar 
fast  nur  anatomisch,  morphologisch  und  systema- 
tisch. 

Man  kann  nicht  sagen,  daß  bei  der  Abfassung 
dieses  Buches  ein  klares  Ziel  befolgt  wurde,  es 
leidet  an  innerer  Zusammenhanglosigkeit.  Auch 
muß  leider  bemerkt  werden,  daß  manches  etwas 
flüchtig  ist  und  auch  Ungenauigkeiten  und  Schief- 
heiten nicht  fehlen  (Mykorrhiza  ist  nicht  der  Pilz 
selbst,  sondern  die  verpilzte  Wurzel;  daß  die 
meisten  Bewegungen  durch  Turgorschwankungen 
Zustandekommen,  kann  man  nicht  sagen;  der 
Satz:  „Turgordifferenzen ,  Wachstum  und  Reiz- 
erscheinungen, z.  B.  bei  Ranken,  können  mitein- 
ander kombiniert  sein"  ist  verworren;  die  revolu- 
tive  Nutation  soll  eine  Variationsbewegung  sein ; 
die  Ranken  werden  unter  dem  Kapitel:   Gewebe- 


spannung angeführt;    die  .Salpeterbakterien   sollen 
seine  „Kohlenstoffatmung"  haben  usw.). 

Ich  glaube  nicht,  daß  das  Buch  erfolgreich 
mit  anderen  für  Lehrer  und  Studenten  bestimmten 
Praktika,  deren  wir  ja  eine  ganze  Reihe  vorzüg- 
licher besitzen,  konkurrieren  kann.  Dagegen 
würde  es  sich  namentlich  in  den  Abschnitten 
über  Algen,  Pilze,  Plankton,  Abwasseruntersuchung 
für  solche  eignen,  die  hiermit  zu  tun  haben,  ins- 
besondere, da  hier  wirklich  vieles  bequem  zur 
Hand  ist,  was  man  sich  gewöhnlich  erst  zusammen- 
suchen muß.  Auch  ist  gerade  hier  das  Abbildungs- 
material sehr  wertvoll,  das  überhaupt,  wenn  es 
auch  hier  und  da  etwas  willkürlich  ausgewählt  ist, 
recht  instruktiv  ist.    Die  Ausstattung  ist  sehr  gut. 

Miehe. 

Voigt,  Alban,  DieRiviera.  Junk's  Naturführer. 
Berlin  '14,  W.  Junk.  —  Geb.  7  Mk. 
Charles  Darwin  sagt  irgendwo  in  der  Be- 
schreibung seiner  Weltreise:  ein  Reisender  sollte 
ein  Botaniker  sein.  In  der  Tat  ist  das,  was  die 
verschiedenen  Länder  in  erster  Linie  charakteri- 
siert, das  Pflanzenkleid,  das  sie  schmückt,  und 
jeder,  der  nicht  ganz  stumpf  ist,  ja  mancher,  der 
sich  sonst  sehr  wenig  um  die  Flora  kümmert, 
empfindet  in  fremder  Landschaft  den  Wunsch, 
etwas  über  die  Vegetation  zu  erfahren,  die  ihre 
Eigenart  bedingt.  Insbesondere  in  dem  herrlichen 
Italien  sollte  man  diesen  natürlichen  Trieb  walten 
lassen.  Leider  ist  meist  gerade  das  Umgekehrte 
der  Fall,  indem  der  Reisende  gewöhnlich  stunden- 
lang in  den  Museen  verschwindet,  einerlei,  ob  er 
nun  zum  Kunstgenuß  berufen  ist  oder  nicht,  und 
dann  wie  gerädert  wieder  zum  Vorschein  kommt. 
Während  nun  an  Anleitungen  zu  historischen, 
künstlerischen  Genüssen  kein  Mangel  ist,  gibt  es 
nicht  viel  Möglichkeiten,  die  italienische  Natur 
genauer  kennen  zu  lernen,  wenigstens  für  den 
Nichtbotaniker,  der  sich  nicht  der  wissenschaft- 
lichen Hilfsmittel  zu  bedienen  gelernt  hat.  Diesem 
Mangel  versucht  nun  A.  Voigt  wenigstens  für  ein 
bestimmtes  Gebiet,  nämlich  die  Riviera  (die 
italienische  sowohl  als  die  französische)  abzuhelfen, 
indem  er  die  Pflanzen  nach  ihren  Standorten  be- 
schreibt, also  die  natürlichen  Pflanzengesellschaften 
schildert.  Dabei  gibt  er  eine  große  Zahl  von 
biologischen,  historischen  und  ökonomischen  No- 
tizen. Auch  wird  eine  ziemlich  ausführliche  Be- 
schreibung der  interessantesten  Pflanzen  angefügt, 
die  in  dem  berühmten  Garten  in  La  Mortola 
kultiviert  werden,  das  den  zahlreichen  Freunden 
dieses  Gartens  sehr  willkommen  sein  wird.  Eine 
kurze  Übersicht  über  die  Geologie  samt  der 
Prähistorie  des  Gebietes  sowie  über  die  Tierwelt 
machen  den  Beschluß.  Das  handliche  bädeker- 
artig  ausgestattete  Bändchen  kann  warm  empfohlen 
werden.  Auszusetzen  und  bei  späteren  Auflagen 
des  trefflichen  Büchleins  ev.  zu  berücksichtigen 
wäre  eine  bessere  Auswahl,  größere  Reichhaltig- 
keit und  z.  T.  größere  technische  Vollkommen- 
heit des  Abbildungsmaterials.  Miehe. 


N.  F.  XIII.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


239 


Rosenthal,  Prof.  Dr.  Werner,  Tierische  Im- 
munität. Mit  einer  Abbild,  im  Text.  329  S. 
(Die  Wissenschaft  Bd.  53.)  Braunschweig  '14, 
Fr.  Vieweg  &  Sohn.  —  Geb.  7,20  Mk. 
Bei  dem  großen  allgemein-naturwissenschaft- 
lichen Interesse,  das  die  Immunitätslehre  bean- 
spruchen kann,  und  der  immer  wachsenden 
Kompliziertheit  und  hypothetischen  Verkapselung 
des  Gebietes,  muß  es  sehr  dankbar  begrüßt 
werden,  wenn  es  ein  Fachmann  unternimmt,  auch 
dem  nicht  Eingeweihten  einen  Überblick  über  die 
Grundlagen  dieser  schwierigen  Wissenschaft  zu 
geben.  Der  Versuch  ist  als  gelungen  zu  be- 
zeichnen. Allerdings  würde  trotz  der  Bemühungen 
des  Verf,  so  einfach  und  klar  wie  möglich  zu 
schreiben,  doch  ein  nicht  unerhebliches  Maß  bak- 
teriologischer Kenntnisse  erforderlich  sein.  Des- 
halb würden  speziell  solche,  die  sich  mit  einem 
anderen  Zweige  der  Bakteriologie  befassen,  wie 
Botaniker,  Apotheker,  Gärungschemiker,  Land- 
wirte, sich  vor  allen  anderen  des  Buches  mit 
großem  Vorteil  zur  Vertiefung  ihrer  allgemeinen 
Kenntnisse  bedienen  können.  Doch  wird  es  auch 
namentlich  dem  Arzt  und  Tierarzt  willkommen 
sein.  Wenn  Ref  noch  einen  Wunsch  äußern 
sollte,  so  wäre  es  der,  noch  mehr  die  Tatsachen 
in  den  Vordergrund  zu  stellen  und  diese  mit 
allen  Mitteln,  auch  demjenigen  der  leider  ganz 
fehlenden  bildlichen  und  schematischen  Dar- 
stellung, so  anschaulich  wie  möglich  herauszu- 
arbeiten. Man  kann  sich  leicht  an  Hypothesen 
anpassen,  wie  z.  B.  an  das  Ehrlich'sche  Hypo- 
thesengebäude, das  Verf.  selbst,  allerdings  nur 
annahmsweise ,  sehr  anschaulich  charakterisiert, 
das  aber  gleichwohl  für  den  Physiologen  stets 
einen  sehr  ausgeprägt  hypothetischen  Charakter 
behält.  Da  ist  der  stete  Hinweis  auf  die  nackten 
Tatsachen  ein  gutes  Regulativ.  Übrigens  würde 
dasselbe  auch  für  andere  Teile,  wie  z.  B.  die 
Opsonintheorie  zu  wünschen  sein.  Doch  soll  und 
kann  dies  kein  Vorwurf  sein;  denn  der  Physiologe, 
der  alle  jene  merkwürdigen  Tatsachen,  die  uns  die 
Immunitätslehre  kennen  gelehrt  hat,  in  eine  all- 
gemein-physiologische Verknüpfung  bringt,  muß 
erst  noch  kommen.  Miehe. 


Ziehen,  Theodor,  Zum  gegenwärtigenStand 
der  Erkenntnistheorie   (zugleich  Versuch 
einer  Einteilung   der  Erkenntnistheorien.     73  S. 
I       Wiesbaden '  1 4,  J.  F.  Bergmann.  —  Brosch.  2,80  Mk. 
!         Auf  eine  sehr  anziehende  Art   macht  hier  der 
'   Verf.  den  Versuch,    auf  dem  Wege  rein  logischer 
;   Analyse    eine    Übersicht    über    die   verschiedenen 
I   Erkenntnistheorien  zu  geben  und  ihren  Wert  resp. 
ihre  Tragweite  und  Leistungsfähigkeit  gegeneinan- 
der abzuwägen.    Die  bekannte  klare  Darstellungs- 
weise des  Verfassers  macht  das  Heft  sehr  geeignet, 
um  als  Einführung  in  die  wichtigsten  Grundfragen 
der  Erkenntnistheorie    und   zur  Orientierung  über 
die   Möglichkeiten,    wie    man    sie   angreifen   kann, 
zu  dienen.    Insbesondere  wird  mancher,  der  diesen 
Fragen  bisher  fernstand,    durch    diese  Darstellung 


der  Elntwicklung  erkenntnistheoretischer  Probleme 
gefesselt  und  interessiert  werden ;  doch  wird  sie 
auch  dem  Philosophen  durch  die  Anregungen  und 
zahlreichen  Anmerkungen  und  Zitate  wertvoll 
sein.  Miehe. 

Voigtländers  Tierkalender  1914.  Mit  Ver- 
gnügen machen  wir  auf  diesen  in  R.  Voigtländer's 
Verlag  erschienenen  Abreißkalender  aufmerksam, 
der  in  bunter  F"olge  Naturaufnahmen  und  Wieder- 
gaben charakteristischer  Werke  der  Malerei  und 
Plastik,  soweit  sie  sich  auf  die  Tierwelt  beziehen, 
an  uns  vorüberziehen  läßt  und  mit  den  kurzen 
Erläuterungen  ein  ebenso  unterhaltendes  wie  be- 
lehrendes Bilderbuch  für  jeden  Tierfreund  darstellt. 

M. 

Chr.    Schröder,    Handbuch    der    Entomo- 
logie, Jena,  G.  Fischer,  4.  Lieferung. 

Mit  der  Ausgabe  der  vierten  Lieferung  ist  vom 
Handbuch  nun  nahezu  der  vierte  Teil  erschienen. 
Sie  führt  nur  zum  Teil  die  vorhergehenden  Liefe- 
rungen des  ersten  Bandes  fort,  in  welchem  Dee- 
gener  das  Kapitel;  Muskulatur  und  Endoskelett 
eingeleitet  hatte.  Die  überwiegend  größere  Hälfte 
gehört  dem  Band  III  an,  da  verschiedner  Umstände 
halber  der  I.  Band  noch  nicht  weitergeführt  und 
auch  der  II.  Band  noch  nicht  begonnen  werden 
konnte.  Die  sechs  Kapitel  tragen  folgende  Über- 
schriften : 

Kap.  I.     Aus  der  Geschichte  der  Entomologie. 

Kap.  II.  Über  entomologische  Literatur  und 
ihre  Benutzung. 

Kap.  III.     Zur  entomologischen  Technik. 

Kap.  IV.      Die    systematischen    Grundbegriffe. 

Kap.  V.     Nomenklatur,  Typen  und  Zitate. 

Kap.  VI  (zum  Teil).  Terminologie  der  für  die 
Systematik  wichtigsten  Teile  des  Hautskelettes. 

Besonders  wertvoll  sind  die  letzten  Kapitel, 
da  durch  sie  von  einem  bekannten  Fachmann 
gegenüber  der  vielerlei  von  den  einzelnen  Autoren 
willkürlich  bevorzugten  Bezeichnungen  eine  ein- 
heitliche Nomenklatur  festgelegt  wird. 

Dr.  Stellwaag. 

Anregungen  und  Antworten. 

H.  M.  in  Heidelberg.  —  ,, Warum  hört  man  aus  grol3er 
Entfernung  die  große  Trommel  eines  Musikchors  lauter  als 
die  anderen  Instrumente,  während  dieselbe  in  der  Nähe  nicht 
an  Schallstärke  die   übrigen  Instrumente  übertrifft?" 

Der  Fragesteller  scheint  mir  -von  einer  falschen  Voraus- 
setzung auszugehen.  Wenn  mir  auch  keine  exakten  Messungen 
der  Schallstärken  der  großen  Trommel  und  anderer  musikali- 
scher Instrumente  bekannt  sind,  so  scheint  es  mir  doch  zweifel- 
los, daß  die  Schallwelle,  welche  durch  den  Schlag  auf 
das  Fell  der  großen  Trommel  erzeugt  wird,  viel  intensiver 
sein  wird  als  die  Schallwellen,  die  von  anderen  musikalischen 
Instrumenten  ausgehen,  die  etwa  durch  Anblasen  mit  dem 
Mund  zum  Tönen  gebracht  werden.  Damit  erklärt  sich  aber 
wohl  ohne  weiteres  die  beobachtete  Erscheinung. 

O.  Fischer. 

Herrn  Dr.  Miskowsky.  —  Bewegung  von  Gasbläschen 
in  Flüssigkeiten.  Ich  nehme  an,  daß  das  durch  die  Schwer- 
kraft  bewirkte  Aufsteigen  der  Gasbläschen    in  der  Flüssigkeit 


240 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  15 


gemeint  ist.  Dieses  folgt  den  einfachen  Fallgesetzen ,  doch 
spielt  natürlich  die  Reibung  dabei  eine  sehr  große  Rolle. 
Die  Reibung  bewirkt,  daß  die  Blase  schon  nach  sehr  kurzer 
Zeit  praktisch  sich  mit  konstanter  Geschwindigkeit  bewegt 
und  diese  „kritische"  Geschwindigkeit  v  ist  bei  kleinen  Blasen, 
die  trotz  des  Widerstandes  der  Flüssigkeit  infolge  der  Ober- 
flächenkräfte merklich  Kugelform  besitzen,  wenn  g  die  Erd- 
beschleunigung, o — (1  den  Unterschied  der  Dichten  der  Flüssig- 
keit und  des  Gases,  ij  den  Reibungskoeffizienten  der  Flüssig- 
und  a  den  Radius  der  Blase  bedeutet: 

Bei  extrem  kleinen  Blasen  könnte  noch  die  durch  die  Tem- 
peratur bedingte  Brown' sehe  Molekularbevvegung  sich  be- 
merkbar machen.  Die  Blasengröße  ist  nicht  in  faßbarer  Weise 
von  der  Höhe  der  Flüssigkeilssäule  abhängig,  sie  richtet  sich 
vielmehr  wesentlich  nach  der  Beschaffenheit  der  Stelle,  an  der 
die  Blase  entsteht.  Nur  wird  die  Blase  durch  den  Flüssig- 
keitsdruck zusammengedrückt;  dieselbe  Blase  hat  also  in 
verschiedenen  Höhen  verschiedenes  Volumen,  umgekehrt  pro- 
portional dem  Drucke.  Der  Ursprung  der  Blase,  ob  natürlich 
oder  künstlich,  ist  für  ihre  Bewegung  ganz  gleichgültig. 

Bräuer. 


Herrn  A.  K.  in  S.  —  Die  Funktion  eines  Okulars  ist  be- 
kanntlich eine  doppelte.  Einmal  soll  es  eine  (möglichst  starke) 
Konvergenz  der  Hauplstrahlen  erzeugen,  d.  h.  überhaupt  eine 
Vergrößerung  des  in  der  Brennebene  des  Objektives  erzeugten 
Bildes  bewirken ;  und  zweitens  soll  es  die  Strahlen ,  die  von 
einem  einzelnen  Punkte  dieses  Bildes  ausgehen,  parallel  machen, 
damit  das  Auge  auf  seiner  Netzhaut  sie  wieder  in  einen  Punkt 
vereinigen  kann.  Beim  Rani  sden- Okular  sind  beide  Zwecke 
im  wesentlichen  getrennt.  Eine  ziemlich  nahe  an  der  Brenn- 
ebene stehende  (Kollektiv-)Linse  ändert  fast  nur  die  Divergenz 
der  Hauptstrahlen  und  eine  zweite  (Augen-)Linse  hat  die  Auf- 
gabe, die  Bildpunktstrahlenbüschel  parallel  zu  machen.  Beim 
Huyg  h  ens- Okular  liegt  die  Kollektivlinse  auf  der  Objektiv- 
seite der  Brennebene ,  bewirkt  also  eine  (geringe)  Verkleine- 
rung des  Brennbildes,  die  Augenlinse  steht  etwa  wie  bei 
R  am  sden.  Der  Vorteil  des  Huygh  ens- Okulares  besteht 
in  einer  Verminderung  der  Fernrobrlänge.  Bei  ihm  sind  die 
beiden  oben  genannten  Funktionen  etwa  gleich  auf  beide 
Linsen  verteilt.  Um  auch  bei  starken  Vergrößerungen ,  also 
starker  Konvergenz  der  Hauptstrahlen  nach  dem  .austritt,  den 
Augenpunkt  genügend  weit  vor  dem  Okulare  erhalten  zu 
können,  wendet  Mittenzwey  eine  dreifach  verkittete  Bi- 
konvexlinse aus  zwei  verschieden  brechenden  Gläsern,  welche 
den  Querschnitt  des  Gesamtstrahlenbündels  bis  dicht  vor  die 
Augenlinse  größer  zu  erhalten  gestattet,  in  Verbindung  mit 
einem  nach   dem   Auge  zu  hohlen  Meniskus  an. 

Die  beim  Auftreffen  einer  elektrischen  Welle  auf  eine 
Antenne  am  Fritter  auftretenden  Spannungen  sind  einigermaßen 
bekannt.  Legt  man  dieselben  künstlich  an ,  so  genügen  sie 
bei  weitem  nicht,  das  Pulver  leitend  zu  machen.  Aus  diesem 
Grunde  ist  die  Fritttheorie  zu  verwerfen.  Bräuer. 


Herrn  Vinzenz  Z.,  Triest.  —   Wie    erklärt    man ,    daß 


der  Region  von  Varesi  in  Oberitalien  (Lombardei)  so  häufig 
Zyklonen  vorkommen?  Die  Poebene  liegt  auf  der  Zugstraße 
von  Zyklonen,    die    im  Winterhalbjahr    häufig    vom  Golf  von 


Genua  oder  vom  westlichen  und  südlichen  Mittelmeer  kommen 
und  ostwärts  am  Rande  der  Alpen  entlang  ziehen.  Überhaupt 
stellt  das  gesamte  Mittelmeergebiet  den  Sitz  ständiger  Baro- 
meterminima  dar,  die  durch  die  thermische  Auflockerung  der 
Luflmassen  entstehen.  Ganz  besonders  auch  gilt  dies  für  die 
Poebene.  Sehr  oft  bilden  sich  über  den  Alpen  durch  die 
Wärmeausstrahlung  der  Schnee-  und  Gletscherflächen  kalte 
Luftmassen,  die  zur  Entstehung  eines  Hochdruckrückens  führen. 
Die  durchschnittliche  Druckverteilung  im  Winterhalbjahr  zeigt 
dieses  sekundäre  alpine  Hochdruckgebiet  sehr  dtutlich.  LIber 
der  Poebene ,  wo  ähnliche  Abkühlungsmöglichkeiten  wie  in 
den  Alpen  fehlen,  und  wärmere  Luflmassen  lagern,  sinkt  dann 
der  Luftdruck,  besonders  wenn  das  Gebiet  einen  Zuzug  mittel- 
meerischer  Zyklonen  erhält.  Ähnlich,  wenn  auch  weniger 
ausgesprochen,  liegen  die  Verhältnisse  im  Sommer.  Man  kann 
sagen,  daß  die  Depressionen  Oberitaliens  einmal  durch  das 
warme  Mittelnieer,  dann  aber  auch  durch  den  im  Norden 
vorgelagerten  Alpenwall  hervorgerufen  werden,  den  die  Zy- 
klonen nur  selten  zu  überschreiten  pflegen. 

Dr.  A.  Peppler-Gießen. 


Herrn  Prof.  A.  Liebus,  Prag.  —  Versteinerungen,  die 
auf  die  marine  Entstehung  der  deutschen  Zechsteinsalze  hin- 
deuten, sind  wiederholt  im  grauen  Salzton  gefunden.  (Man 
vgl.  C.  Ochsenius,  Die  ersten  Versteinerungen  aus  Tief- 
bohrungen in  der  Kaliregion  des  norddeutschen  Zechstein. 
Zfitschr.  d.  d.  geol.  Ges.  1901 ,  S.  76;  E.  Zimmermann, 
Marine  Versteinerungen  aus  der  Kaliregion  des  norddeutschen 
Zechsteins.  Ebenda  1904,  S.  47;  C.  Rei  d  e  m  eist  er ,  Über 
Salztone  und  Plattendolomite  im  Bereiche  der  norddeutschen 
Kalisalzlagerstätten.)  Von  sonstigen  Organismen  fanden  sich 
häufiger  Pollen  von  Koniferen  (vgl.  H.  Lück,  Ein  neuer 
Fund  organischer  Reste  im  Salzton.  Zeitschr.  Kali  1913, 
Heft  2.  Ders.,  Beitrag  zur  Kenntnis  des  älteren  Salzgebirges 
im  Berlepsch-Bergwerk  bei  Staßfurt  nebst  Bemerkungen  über 
Pollenführung  des  Salztones.  Dissert.  Leipzig  1913,  S.  2S  ff.). 
Foraminiferen  sind  m.  W.  bislang  nicht  gefunden.  Zu  ent- 
sprechenden Untersuchungen  würden  Ihnen  die  meisten  Kali- 
werke Norddeutschlands  Material  senden  können. 

Dr.  E.  Harbort. 


Literatur. 

Preyer,  Dr.  Axel  Thierry,  Lebensänderungen.  Das- 
Problem  der  Veränderung  lebender  Strukturen.  144  Seiten. 
Leipzig  '14,  Th.  Grieben's  Verlag  (L.  Fernau).  —  Brosch. 
2,40  Mk. 

Kerschensteiner,  Georg,  Wesen  und  Wert  des  natur- 
wissenschaftlichen Unterrichts.  Neue  Untersuchungen  einer 
alten  Frage.  141  S.  Leipzig  und  Berlin  '14,  B.  G.  Teubner. 
—  Geb.  3,60  Mk. 

Ziehen,  Theodor,  Zum  gegenwärtigen  Stand  der  Er- 
kenntnistheorie (zugleich  Versuch  einer  Einteilung  der  Er- 
kenntnistheorien). 73  S.  Wiesbaden  '14,  J.  F.  Bergmann.  — 
Brosch.  2,80  Mk. 

Haeckel,  Walther,  Ernst  Haeckel  im  Bilde.  Eine 
physiognomische  Studie  zu  seinem  80.  Geburtstage.  Mit  einem 
Geleitwort  von  Wilhelm  Bölsche.     Berlin  '14.  —  2,40  Mk. 

Verworn,  Prof.  Dr.  Max,  Erregung  und  Lähmung. 
Eine  allgemeine  Physiologie  der  Reizwirkungen.  Mit  113  Ab- 
bildungen im  Text.     Jena  '14,  G.  F'ischer. 


Geb.    II   Mk. 


Inhalt:  Friedrich  Knauer:  Neue  Ergebnisse  des  Ringversuches.  —  Hans  Nachtsheim:  Die  Bedeutung  der  Konju- 
gation bei  den  Infusorien.  —  Einzelberichte:  Lampland:  Komet  1910a.  Laplace:  Stabilität  unseres  Planeten- 
systems. Paul  Kammerer:  Das  Auge  des  Grottenolms.  Lloyd  und  Loeb:  Über  künstliche  Parthenogenese. 
Hofmann  und  Höschele:  Wasserfreies  Magnesiumchlorid  ein  ausgezeichneter  Mineralisator.  Alfred  Stock:  Über 
die  Darstellung  und  die  Eigenschaften  von  Selenschwefelkohlenstoff  CSSe  und  Tellurschwefelkohlenstoff  CSTe.  —  Kleinere 
Mitteilungen:  Philippsen:  Ein  wichtiger  Fund  aus  der  Ancyluszcit.  L.  Reutter:  Zusammensetzung  der  zur 
Einbalsamierung  dienenden  Harze.  D  reesen  :  Wärmeapplikation.  Busse:  Die  künstliche  Höhensonne.  S.  Tijmstra: 
7oproz.  Alkohol  zeigt  die  größte  desinfizierende  Wirkung.  —  Bücherbesprechungen:  Dr.  Louis  Lö  wenhe  im:  Die 
Wissenschaft  Demokrits.  X  e  w  Co  mb  -  Engelm  an  n  :  Populäre  Astronomie.  Kolkwitz:  Pflanzenphysiologie.  Voigt: 
Die  Riviera.  Rosen thal:  Tierische  Immunität.  Ziehen:  Zum  gegenwärtigen  Stand  der  Erkenntnistheorie.  Voigt- 
länder's  Tierkalender  :9I4.  Chr.  Schröder:  Handbuch  der  Entomologie.  —  Anregungen  und  Antworten. 
Literatur:  Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Mi  ehe  m  Leipzig,  Marienstraße   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band  ; 
der  ganzen  Reihe   2g.   Band. 


Sonntag,  den  19.  April  1914. 


Nummer  16. 


Begriff  und 


Wesen  der  Metamorphose  der  Insekten. 


[Nachdruck  verboten.]  Von  Dr.  Siegfr.  Hans 

Die  Metamorphose  der  Insekten  ist  ein  allge- 
mein wohlbekannter  Vorgang.  Aus  der  Raupe 
wird  die  Puppe,  aus  der  Puppe  der  Schmetterling. 
Wer  aber  hat  gesehen,  wie  sich  die  Raupe  in 
die  Puppe  umwandelte,  wie  der  Puppe  der  Falter 
entschlüpfte?  Wem  sind  die  Vorgänge  bekaimt, 
die  im  Innern  des  tierischen  Körpers  sich  ab- 
spielen, um  aus  der  unscheinbaren  Larve  durch 
Vermittlung  der  geheimnisvollen  Puppe  das  leicht- 
beschwingte Insekt  hervorgehen  zu  lassen?  Unsere 
Kenntnisse  davon  sind  erst  jungen  Datums. 

Das  Wort  „Metamorphose"  hat  im  Laufe  der 
Zeiten  eine  Begriffsverengung  erfahren.  An  und 
für  sich  bedeutet  es  ja  nur  so  viel  wie  „nach- 
trägliche Gestalts'Veränderung.  Somit  fällt  unter 
diesen  Begriff  jede    postembryonale   Entwicklung. 

Von  alters  her  pflegt  man  die  Insekten  ent- 
wicklungsgeschichtlich in  ametabole,  hemi- 
und  holometabole  Formen  einzuteilen.  Jedoch 
hat  man  im  Laufe  der  Zeiten  nach  einem  neuen 
Einteilungsprinzip  Umschau  halten  müssen.  Diese 
wurde  gefunden  in  der  Organisation  der  Jugend- 
formen. 

In  dieser  Beziehung  lassen  sich  3  verschiedene 
Stufen')  unterscheiden:  Im  ersten  Fall  gleicht  die 
Jugendforin  der  Imago  völlig  oder  fast  völlig;  sie 
unterscheidet  sich  von  ihr  durch  geringere  Größe 
und  das  Fehlen  einzelner  imaginaler  Charaktere, 
die  allmählich  durch  eine  Reihe  successiver  Häu- 
tungen erworben  werden,  so  daß  kaum  merklich, 
graduell  der  Imagozustand  erreicht  wird:  ima- 
giniformejugendstadienoderepimorphe 
Entwicklung.  Im  2.  Fall  zeigt  das  dem  Ei 
entschlüpfte  junge  Tier  zwar  schon  eine  unver- 
kennbare Ähnlichkeit  mit  der  Geschlechtsform, 
unterscheidet  sich  aber  von  ihr  durch  den  Besitz 
einzelner,  mitunter  erst  während  der  postembryo- 
nalen Entwicklung  auftretender  Organe,  welche 
der  Imago  fehlen;  durch  eine  einmalige,  selten 
doppelte  (Ephemeriden-)  Häutung  verwandelt  sich 
die  Jugendform  oft  ziemlich  unvermittelt  in  die 
Imago:  semimagini forme  Jugendstadien 
oder  hemimetabole  Entwicklung.  Endlich 
kann  das  junge  Tier  eine  von  der  Imago  gänzlich 
abweichende  Gestalt  haben,  ganz  anders  als  diese 
organisiert  sein,  so  daß  ohne  Hilfe  der  P^rfahrung 
niemand  die  Zusammengehörigkeit  von  Larve  und 
Imago  erkennen  könnte;  in  diesem  Fall  schiebt 
sich   zwischen  Jugend-    und    Geschlechtsform    ein 


')  Heymons,  Ergeb.  u.  Fortschritte  d.  Zoologie  I,   1907. 
Deegener,  Die  Metam.  d.  Insekt.     Leipzig  1909. 
Börner,  Sitz.-Ber.  Ges.  naturf.  Freunde.     1909. 


el,  Berlin-Friedenau. 

Puppenstadium  ein:  holometabole  Entwick- 
lung. 

Der  Begriff  der  Metamorphose  wird  gegen- 
wärtig von  den  meisten  Zoologen  auf  die  Hemi- 
und  Holometabolie  beschränkt.  Der  wesentliche 
Unterschied  zwischen  der  Metamorphose  im  engeren 
Sinn  und  der  Metamorphose  im  weiteren,  älteren 
Sinn  (Epimorphose  +  Metamorphose  der  neueren 
Autoren)  ist  der,  daß  nur  bei  jener  die  Jugend- 
formen stets  als  Larven  zu  bezeichnen  sind. 

Die  Unterschiede  zwischen  den  vetschiedenen 
Formen  postembryonaler  Entwicklung  sind  durch- 
aus nicht  immer  scharf,  so  daß  man  mit  der  Auf- 
stellung von  nur  3  Kategorien  kaum  auskommen 
kann  M,  doch  genügt  es  für  uns  völlig,  wenn  wir 
ein  für  allemal  festlegen,  was  unter  Jugendform, 
Larve,  Puppe,  Imago,  postembryonaler  Entwicklung, 
Metamorphose,  Hemimetabolie,  Holometabolie  ver- 
standen werden  soll. 

1.  Als  Jugendform  ist  jedes  nach  dem  Ver- 
lassen des  Eies  bis  zur  Erreichung  der  Geschlechts- 
reife durchlaufene,  zeitlich  von  je  2  Häutungen 
(das  Verlassen  der  EihüUen  sei  einer  Häutung 
gleichwertig  betrachtet)  begrenzte  Entwicklungs- 
stadium zu  bezeichnen. 

2.  Die  Larve  stellt  eine  Jugendform  dar,  welche 
durch  den  Besitz  spezifischer  Organe,  „Larven- 
organe", ausgezeichnet  ist. 

3.  Die  Puppe  ist  ein  letztes  präimaginales, 
flugunfähiges  Entwicklungsstadium,  während  dessen 
keine  geformte  Nahrung  aufgenommen  wird. 

4.  Die  Imago  ist  durch  die  Fähigkeit  zu  ge- 
schlechtlicher Fortpflanzung  ausgezeichnet. 

5.  Die  postembryonale  Entwicklung  ist  die 
Summe  aller  nach  dem  Verlassen  der  Eihüllen  —  nach 
Beendigimg  der  embryonalen  Entwicklung  —  er- 
folgenden Veränderungen  des  Individuums  bis  zum 
Eintreten  der  Geschlechtsreife. 

6.  Die  Metamorphose  ist  eine  postembryonale 
Entwicklung  mittels  Larven. 

7.  Hemimetabolie  bedeutet  Metamorphose  ohne 
Puppenstadium. 

8.  Holometabolie  bedeutet  Metamorphose  mit 
Puppenstadium. 

Überblickt  man  die  vorstehenden  Definitionen, 
so  ist  auffällig,  daß  weder  für  die  Puppe  noch  für 
die  Imago  eine  auf  morphologische  Charaktere 
beruhende  Begriffsbestimmung,  sondern  ein  physio- 
logisches   Kriterium    gegeben    wurde.         Sowohl 

•)  Vgl.  auch  Heymons,  Die  Metamorphose  der  Insekten. 
Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  VII,  p.   711. 

Börner,  Die  Verwandlungen  der  Insekten.  Naturwiss. 
Wochenschr.  N.  F.  IX,  p.  561. 


242 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  i6 


Puppe  wie  vor  allem  Imago  können  morphologisch 
so  verschieden  sein,  daß  es  kein  für  alle  Formen 
hinreichendes  und  notwendiges  morphologisches 
Merkmal  gibt.  Im  einzelnen  ist  zu  den  verschie- 
denen Punkten  folgendes  zu  bemerken : 

ad  I.  Die  Zahl  der  Jugendformen  ist  sehr  ver- 
schieden; sie  kann  bei  Plphemeriden  *)  außerordent- 
lich groß  sein,  20 — 22  Häutungen  umfassen.  Aus- 
nahmsweise kann  aber  auch  eine  Jugendform  gänz- 
lich fehlen,  so  bei  den  erst  neuerdings  bekannt 
gewordenen  Termitoxenidae "),  einer  besonderen 
Familie  hermajihroditer  Dipteren.  Jede  postem- 
bryonale Entwicklung  ist  hier  unterdrückt  oder 
vielmehr  in  die  embryologische  Periode  hinein 
verlegt  worden. 

Betreffend  Pädogenesis  vgl.  ad.  2. 

ad  2.  Man  kann  liäufig  als  Kriterium  der  Larve 
das  Vorhandensein  „provisorischer  Organe"  ange- 
geben finden;  diese  Definition  ist  besser  zu  ver- 
meiden, da  sie  logisch  nicht  ganz  einwandfrei  ist. 
F"ür  die  Larve  sind  die  fraglichen  Organe  gar  nicht 
provisorisch;    für   diese   sind    sie    dauernd,   ent- 


Fig.   I  a — c.     Beispiel  eines    spezifischen  Larvenorgans    mit   provisorischen  Ausbildungsformen. 

Endoskelett  von  Billaea  pectinata  Mg.  im   I.,   2.  u.   3.  Larvenstadium,     t,  f  Sinnespapillen,  kl  Kopf 

Segment,  I,  II  erstes  u.  zweites  Thoraxsegment,   vp,   v,  q,  mk,  h  Teile  des  Chitinskelettes. 

(Nach  T  ö  1  g.) 


weder  während  ihrer  ganzen  Existenz  als  Larve 
—  z.  B.  Afterfüße  der  Raupe  —  oder  von  dem 
Augenblick  an,  da  sie  im  Laufe  der  Entwicklung 
zum  erstenmal  auftreten  —  z.  B.  Tracheenkiemen 
der  Ephemeriden,  die  erst  nach  der  zweiten  Häu- 
tung vorhanden  sind.  Provisorisch  sind  diese 
Organe  nur  für  das  Individuum,  die  Art,  die  Onto- 
genesis;  sie  treten  nur  während  eines  Teils  der 
gesamten  Existenz  auf  nämlich  während  der  Larven- 
periode, fehlen  aber  der  Puppe,  wenn  diese  vor- 
handen, und  der  Imago. 

Der  Ausdruck  ,, provisorisch"  in  bezug  auf 
Larvenorgane  sollte  für  diejenigen  F"älle  reserviert 
bleiben,  da  tatsächlich  für  die  Larve  provisorische 
Bildungen  vorliegen,  d.  h.  Organe,  die  nur  während 


einer  Periode  der  Larvenzeit  vorhanden  sind,  später 
aber  wieder  schwinden.  Beispiele  derartiger  echter 
provisorischer  Organe  bieten  zahlreiche  Insekten 
mit  di-  und  polymorphen  Larvenstadien  (vgl.  ad  3). 
Die  scharfe  Trennung  zwischen  spezifisch  und 
provisorisch  larval  wird  in  der  Regel  keine  Schwierig- 
keiten machen  und  nur  dann  willkürlich  oder  un- 
möglich werden,  wenn  die  fragliche  Bildung  erst 
im  letzten  Larvenstadium  auftritt.  Es  kann  auch 
dasselbe  Organsystem  gleichzeitig  die  Prädikate 
provisorisch  und  spezifisch  larval  verdienen;  so 
ist  das  Endoskelett  vieler  Dipterenlarven  (Fig.  1) 
während  der  ganzen  Dauer  des  Larvenlebens  vor- 
handen, also  typisch  spezifisch  larval;  es  be- 
sitzt aber  oft  in  jedem  larvalen  Entwicklungs- 
stadium seine  eigene  morphologische  Ausbildung; 
die  einzelne  Ausbildungsform  ist  also  typisch 
provisorisch  larval. 

Beispiele  echter  spezifischer  Larven- 
organe sind  außerordentlich  reichlich:  die  Mandi- 
beln,  Spinndrüsen,  Afterfüße  der  Schmetterlingsrau- 
pen, die  Tracheenkiemen  der  Ephemeriden,  Sinnes- 
organe verschieden- 
ster Art,  die  mannig- 
faltigsten Chitinbil- 
dungen, mehr  oder 
weniger  bedeutende 
Teile  des  Darm- 
systems ,  die  Spei- 
cheldrüsen undVasa 
mali)ighii  der  Flie- 
genmaden ,  Musku- 
latur in  größerem 
oder  kleinerem  Um- 
fang usw.  Die  Liste 
läßt  sich  beliebig 
verlängern ;  es  geht 
aus  ihr  hervor,  daß 
die  Organe,  welche 
als  Larvenorgane 
auftreten,  durchaus 
nicht  nur  bei  Larven 
vorzukommen  brau 
chen,  wie  die  Pedes  spurii  der  Raupen,  sondern 
auch  der  Organisation  der  Imago  angehören  können, 
wie  die  Malpighischen  Gefäße  der  Museiden  ;  dann 
stellt  aber  das  imaginale  Organ  eine  Neubildung 
während  der  Puppenzeit  vor,  ist  also  dem  larvalen 
Organ  analog,  aber  nicht  homolog.  Ganz 
allgemein  kann  jedes  Organsystem  als  Larvenorgan 
ausgebildet  sein,  mit  alleiniger  Ausnahme  der  Ge- 
schlechtsorgane. Zwar  können  normalerweise 
selbst  Larven  geschlechtsreif  werden  (Pädogenesis 
der  Cecidomyiden),  doch  dürfte  dieser  Fall  als  eine 
physiologische  Prothetelie  anzusehen  sein,  als  vor- 
schnelle Entwicklung  der  Gonaden,  wie  sie  anormal 
besonders  für  die  Ausbildung  der  Flügel ')  mehr- 
fach beobachtet  werden  konnte. 

ad  3.     Die   drei  Kriterien    der   Puppe,   letztes 


1901. 


')  La  Baume,  Sitz.-Ber.  Ges.   naturf.  Freunde.     1909. 
')  Wasmann,  Zeitschr.  wiss.  Zoolog.   67,   1900  und  70, 


')  Heymons,  Sitz.-Ber.  Ges.  naturf.  Freunde.     1896. 
Kolbe,  ibid.  1902. 


N.  F.  XIII.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


243 


präimaginales  Entwickluiigsstadium ,  Flugunfähig- 
keit, Sistieren  der  Aufnahme  fester  Nahrung  sind 
notwendig  und  hinreichend  zur  Charakteristik  der 
Puppe.  Fehlt  eines  der  Merkmale,  so  ist  man 
nicht    berechtigt,    von    einer  Puppe    zu    sprechen. 

a)  Die  Pseudochrysalis  oder  Scheinpuppe  der  Me- 
loiden  ist  flugunfähig,  nimmt  keine  Nahrung  auf, 
stellt  aber  kein  letztes  präimaginales  Entwick- 
lungsstadium vor.  Die  Entwicklung  dieser  Käfer 
spielt  sich  folgendermaßen  ab:  Dem  Ei  entschlüpft 
eine  bewegliche  Larve  mit  gut  entwickelten 
Beinen,  diese  verwandelt  sich  in  eine  fußlose  Made, 
die  nach  einer  weiteren  Häutung  zur  Pseudo- 
chrysalis wird,  die  äußerlich  mit  einer  echten 
Puppe  Ähnlichkeit  haben  kann  und  wie  diese 
keine  Nahrung  zu  sich  nimmt;  darauf  folgen  ein 
weiteres  Madenstadium,  die  echte  Puppe  und  die 
Imago.  Bei  dieser  „Hypermetabolie"  ist  also  in 
die    Larvenzeit    eine    Ruheperiode    eingeschoben. 

b)  Die  Subimago  der  Ephemeriden  ist  ein  letztes, 


mo 


Puppe  vom  letzten  Larvenstadium  und  der  Iniago- 
form  stellt  nichts  Besonderes  vor.  Kommt  doch 
sehr  häufig  auch  ein  Di-  oder  Polymorphismus 
der  Jugendformen  vor.  So  wird  die  Larve  im 
ersten  Stadium  der  Hymenoptere  Platygaster 
(Fig.  2)  als  Cyclopsform  wegen  ihrer  äußerlichen 
Ähnlichkeit  mit  einem  Copepoden  bezeichnet, 
während  das  zweite  Stadium  gewohnten  Larven- 
charakter zeigt.  Die  Larven  der  Erbsen-  und 
Bohnenkäfer  (Bruchus)  besitzen  zunächst  Beine, 
während  sie  später  fußlos  sind.  Das  Endo-  oder 
Cephalopharyngealskelett  vieler  acephaler  Dipteren- 
larven (Fig.  I)  zeigt  nach  jeder  Häutung  morpho- 
logische Verschiedenheiten  usw. 

Die  abweichende  Gestalt  der  Puppe  von  Larve 


.«-^sd 


gh 


Fig.  2  a — c.     Beispiel  für  Polymorphismus  der  Larven.      1.,  2.  u.  3.  Larvenform  von  Platygaster  sp.     mo  Mund,  nl  Unterlippe, 
slkf  Schlundkopf,    md  Mandibeln,    msl  Darm,    cd   Enddarm,  e\v  Erweiterung  desselben,    ao  After,  fk   Fettkörper,  a  Antennen, 

gs  ae  Oberschlundganglion,    bnm  Bauchmark,    kf  Krallenfüße,    z  zapfenförmiges  Organ,    f  Schwanzanhänge ,    Im  Muskeln, 
gh  Genitalhügel,  im  Imaginalscheiben,  tr  Tracheen,  sp  Speicheldrüse  mit  Ausführungsgang  ag,  ga  Genitalanlage.    (Nach   Ganin.) 


präimaginales  Stadium,  sie  kann  keine  Nahrung 
zu  sich  nehmen,  da  ihre  Mundwerkzeuge  ver- 
kümmert sind,  aber  sie  ist  flugfähig  und  unter- 
scheidet sich  hierdurch  von  einer  Puppe,  c)  Der 
Fall,  daß  ein  letztes  präimaginales  Stadium  flug- 
unfähig ist,  aber  feste  Nahrung  zu  sich  nimmt, 
ist  z.  B.  bei  den  Apterygogenea  und  vielen  hemi- 
metabolen  Insekten  verwirklicht.  Auch  hier  ist 
selbstverständlich  von  einer  Puppe  keine  Rede. 

Die  Puppe  als  Ruhestadi  um  zu  bezeichnen, 
ist  gänzlich  verfehlt.  Denn  einmal  kommt  ihr  oft 
eine  zeitweilige  —  manche  Neuropteren,  wie  Man- 
tispa  —  oder  dauernde  —  Trichopteren  —  Be- 
weglichkeit zu,  andererseits  spielen  sich  in  ihrem 
Innern  gewaltige  Umwälzungen  ab,  die  das  gerade 
Gegenteil  eines  Ruhezustandes  bedeuten. 

Die  morphologische  Verschiedenheit   der 


und  Imago  kann  durch  den  Besitz  spezifischer 
Puppenorgane  noch  vergrößert  werden.  Die 
spezifischen  Organe  der  Larve  und  der  Puppe 
haben  miteinander  gemeinsam,  daß  sie  Neuerwer- 
bungen, Anpassungen  an  spezielle  Lebensbedingun- 
gen darstellen.  Während  aber  fast  jedes  Organ  eine 
spezifisch  larvale  Bildung  sein  kann,  sind,  zwar 
nicht  theoretisch,  aber  doch  in  praxi,  die  Puppen- 
organe auf  spezielle  Differenzierungen  des  Haut- 
und  Respirationssystems  beschränkt.  Ist  doch 
die  Haut  ihrer  Lage  nach  am  ehesten  Einflüssen 
der  Umwelt  ausgesetzt  und  die  Atmung  diejenige 
Funktion,  welche  oft  während  der  ganzen  Puppen- 
zeit fast  oder  ganz  uneingeschränkt  ausgeübt  wird 
und  bei  der  Dicke  des  oft  Hautatmung  aus- 
schließenden Chitins  besondere  Einrichtungen  er- 
forderlich macht.     Wenn  ausnahmsweise  innere 


244 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  i6 


Organe  als  besondere  Puppenbildungen  vorkom- 
men —  so  besitzt  z.  B.  die  Puppe  des  Käfers 
Cybister  Roeselii ')  ihr  besonderes,  von  Larve  wie 
Imago  verschiedenes  Mitteldarmepithel — ,  so  liegen 
in  diesem  Fall  doch  nicht  spezifische  Puppen- 
organe vor;  denn  es  handelt  sich  hier  nicht  um 
eine  Adaption  an  spezielle  biologische  Verhält- 
nisse —  das  ganze  Darmsystem  ist  ja  während 
der  Puppenzeit  außer  Betrieb  gesetzt  I  — ,  sondern 
man  wird  kaum  fehl  gehen ,  wenn  man  ein  der- 
artiges Verhalten  als  phylogenetische  Rekapi- 
tulation im  Laufe  der  Ontogenesis  ansieht. 

ad  4.  So  paradox  es  auch  scheint:  den  Be- 
griff der  Imago  zu  begrenzen,  macht  die  größten 
Schwierigkeiten.  Morphologische  Kenn- 
zeichen gibt  es  nicht.  Der  Besitz  von  Flügeln, 
der  mit  dem  Begriff  „Insekt"  wenigstens  für  den 
Laien  durch  eine  Art  Ideenassoziation  verbunden 
ist,  kommt  ganzen  Ordnungen,  wie  den  Siphona- 
ptera,  nicht  zu.  Als  physiologisches  Merk- 
mal charakterisiert  die  Fortpflanzungsfähigkeit  die 
Imago  allein  ebenfalls  nicht,  da,  wie  schon  erwähnt, 
Pädogenesis,  also  parthenogenetische  Fortpflanzung 
von  Jugendstadien ,  vorkommt.  Dagegen  scheint 
die  P'ähigkeit  zur  Fortpflanzung  durch  befruch- 
tete Eier  allein  auf  die  Imagines  beschränkt  zu 
sein.  Außer  der  geschlechtlichen  Vermehrung 
kann  selbstverständlich  zugleich  auch  partheno- 
genetische vorkommen  (Bienen).  Da  die  Reserve- 
männchen und  -Weibchen  der  Termiten  schon  im 
letzten  präimaginalen  Stadium  geschlechtsreif  wer- 
den können,  da  ferner  die  5  einiger  Ephemeriden 
[Palingenia  longicauda,  Polymitarcys  virgoj  wahr- 
scheinlich als  Subimago  bereits  fortpflanzungsfähig 
sind,  so  ergibt  sich,  daß  auch  obiges  physiologi- 
sches Merkmal  der  Imago  nur  bedingte  Gültig- 
keit  hat. 

Eine  besondere  Eigentümlichkeit  der  Imago 
der  Insekten  mit  Metamorphose  ist  die  Häutungs- 
unfähigkeit,  während  viele  niedere  Formen 
auch  in  entwickeltem  Zustand  sich  noch  mehrfach 
häuten  können. 

Die  Verschiedenheit  von  Larve  und  Imago  ist 
biologisch  zu  erklären  durch  die  verschiedene 
Lebensweise,  verbunden  mit  Arbeitsteilung:  Bei 
der  Larve  überwiegen  die  an  i  malen  Funktionen 
(Erhaltung  des  Individuums),  bei  der  Imago  die 
vegetativen  Verrichtungen  (Erhaltung  der  Art). 

ad  5,  6,  7   ist  nichts  hinzuzusetzen. 

ad  8.  Die  Holometabolie  wurde  durch  das 
Vorhandensein  einer  Pujipe  charakterisiert.  Damit 
wird,  nicht  mit  vollem  Recht,  die  Puppe  zu  sehr 
in  den  Vordergrund  gestellt.  Ontogenetisch 
umfaßt  die  Holometabolie  Larve,  Puppe,  Imago. 
Phylogenetisch  ist  die  Imago  am  ältesten, 
dann  folgt  die  Larve,  zuletzt  die  Puppe.  Diese 
ist  also  in  ihrer  Existenz  bedingt  und  verursacht 
durch  eine  Larve,  welche  sich  in  ihrer  Organisa- 
tion soweit  von  der  der  Imago  entfernt  hat,  daß 
nicht  wie  bei  den  meisten  hemimetabolen  Formen 


eine  einzige  Häutung  genügt,  um  die  Larve  zur 
Imago  werden  zu  lassen ,  sondern  noch  ein 
Zwischenstadium,  eben  die  Pujjpe,  erforderlich 
wird.  ^)  Die  hochgradige  Verschiedenheit  der  lar- 
valen  und  imaginalen  Organisation  ist  also  der 
Kernpunkt,  der  die  Ausbildung  der  Holometabolie 
veranlaßt  hat  und  daher  auch  zu  ihrer  Charakte- 
ristik verwertet  werden  sollte.  Die  Puppe  ist  nur 
der  äußere  Ausdruck  dieser  organisatorischen  Ver- 
schiedenheit, eine  allerdings  notwendig  gewordene 
Begleiterscheinung  der  Holometabolie.  Wie  weit 
sich  die  Organisation  der  Larve  von  der  der 
Imago  entfernen  muß,  damit  ein  Puppenstadium 
erforderlich  wird,  läßt  sich,  wenigstens  zurzeit, 
nicht  sagen.  Daher  ist  es  auch  nicht  möglich, 
eine  Definition  der  Holometabolie  zu  geben,  welche 
dem  eben  näher  auseinandergesetzten  Verhältnis 
von  Larve,  Puppe,  Imago,  in  vollem  Umfang  ge- 
recht wird. 

Die  Vorgänge  der  Metamorphose  lassen 
sich  einteilen  in  unwesentliche  und  wesentliche. 
Unwesentlich  sind  das  Aufhören  der  Nahrungs- 
aufnahme, das  Aufsuchen  eines  geschützten  Ortes 
zur  Verpuppung,  das  Spinnen  eines  Kokons  usw. 
Wesentliche  Vorgänge  sind:  i.  die  Beseiti- 
gung der  spezifischen  Larvenorgane,  2.  die  Ver- 
änderung von  Organen,  die  bei  Larve  und  Imago 
vorhanden  sind,  3.  die  Ausbildung  von  Organen, 
welche  nur  der  Imago  zukommen.  Dazu  tritt  als 
ein  Prozeß,  welcher  in  die  Metamorphose  ein- 
geschaltet sein  kann,  4.  die  Bildung  und  Beseiti- 
gung spezifischer  Puppenorgane. 

Eine  scharfe  Trennung  der  einzelnen  Vorgänge 
ist  oft  nicht  möglich,  ebensowenig  unterliegt  ein 
Organ  bei  verschiedenen  Formen  immer  demselben 
Prozesse. 

Um  die  spezifischen  Larvenorgane  zu  beseitigen, 
stehen  zwei  gänzlich  verschiedene  Mittel  zur  Ver- 
fügung, die  Häutung  und  die  Histolyse. 

Die  einmalige  oder  doppelte  Häutung,  welche 
die  Umwandlung  der  Larve  zur  Imago  begleitet, 
unterscheidet  sich  prinzipiell  durch  nichts  von  den 
Häutungen,  welche  die  einzelnen  Larvenstadien 
trennen.  Durch  sie  werden  sämtliche  Chitin- 
bildungen, damit  alle  chitinigen  Larvenorgane,  wie 
Mundwerkzeuge,  Afterfüße,   Borsten  usw.   entfernt. 

Durch  die  Histolyse  werden  die  inneren 
Larvenorgane  vernichtet.  Sie  erfolgt  als  Phago- 
cytose  oder  Autolyse  oder  als  Kombination 
beider  Vorgänge.  Bei  der  Phagocytose  dringen 
Leukocyten  in  die  völlig  intakten  larvalen  Gewebe 
ein,  zerlegen  sie  in  einzelne  Portionen,  nehmen 
sie  nach  Art  von  Amöben  auf  und  verdauen 
sie.  Bei  der  Autolyse  erfolgt  die  Beseitigung 
der  Larvenorgane  durch  allmähliche  Auflösung, 
ohne  Beteiligung  irgendwelcher  fremder  Elemente. 
Bei  vielen  Insekten  kann  anfänglich  Autolyse,  später 
Phagocytose  beobachtet  werden.    Bei  der  A  u  t  o  - 


')  Deegener,  Zoolog.  Jahrb.  Anat.  20,   IQ04. 


')  Boas,  Zool.  Jahrb.  Syst.   12,   1899. 
Perez,  Bull,  scientif.  France  Belgique  37, 
H  e  y  m  o  n  s  und  Deegener,  1.  c. 


1903. 


N.  F.  XIII.  Nr.  16 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


245 


phagocytose  zehren  sich  die  larvalen  Gewebe 
gewissermaßen  selbst  auf.  Ferner  sollen  die  Leuko- 
cyten  nur  als  Transporteure  der  Trümmer  der  zer- 
störten Larvenorgaiie  dienen,  ohne  sie  zu  verdauen. 
Endlich  wird  ihnen  die  Fähigkeit  zugeschrieben, 
eine  Art  Enzjm  oder  Ferment  zu  sezernieren, 
durch  welches  die  lar\'alen  Gewebe  aufgelöst 
werden  (L)- ocy t ose).  —  Die  letzten  drei  An- 
sichten bedürfen  noch  weiterer  Bestätigung.  —  Im 
einzelnen  auf  die  ebenso  kmplizierten  wie  sinne- 
reichen Vorgänge  der  Histol)'se  hier  einzugehen, 
würde  den  Raum  dieser  kurzen  Skizze  bei  weitem 
überschreiten. 

Der  zweite  Prozeß,  die 
Veränderung  von  Organen, 
welche  bei  Larve  und  Imago 
vorkommen,  kann  auch  als 
histologische  Metamor- 
phose bezeichnet  werden.  In 
diesem  Falle  machen  die  Or- 
gane Veränderungen  durch 
(Fig.  3),  durch  welche  spezifische 
larvale  Differenzierungen  ent- 
fernt und  durch  spezifische 
imaginale  Dift'erenzierungen 
ersetzt  werden.  Die  histologi- 
sche Metamorphose  stellt  eine 
Vermittlung  zwischen  totaler 
Histolyse  und  totaler  Histo- 
genese  dar;  die  Intensität  der 
histologischen  Veränderungen 
kann  sehr  verschieden  sein;  sie 
kann  so  tiefgreifend  wirken, 
daß  man  fast  ebensogut  von 
vollständiger  Histol)-se  gefolgt 
von  vollständiger  Histogenese 
reden  könnte;  sie  kann  ande- 
rerseits so  wenig  einschneidend 
sein,  daß  man  nur  von  einer 
leichten  „Auffrischung''  oder 
„Renovation"  des  betreffenden 
Gewebes  spricht.  Auch  hier 
können  die  mannigfaltigsten 
Organe  Gegenstand  der  Meta- 
morphose sein. 

Die  Ausbildung  oder  Histogenese  rein 
imaginaler  Organe  ist  des  öfteren  nicht  allein  auf 
die  Puppenperiode  beschränkt,  sondern  erfolgt  auch 
oft  schon  in  der  Larvenzeit;  bei  den  Hemimetabola 
muß  sie  ja  in  dieser  Periode  bereits  sich  abspielen. 
Auch  die  gänzlich  neu  gebildeten  Organe  können 
der  verschiedensten  Art  sein;  als  typisch  für  diese 
Gruppe  können,  wenigstens  bei  holometabolen 
Formen,  die  Flügel  und  Extremitäten  mit  ihrer 
Muskulatur,  die  Facettenaugen,  die  Geschlechts- 
organe gelten.  Die  neu  zu  bildenden  Organe  sind 
stets  bereits  in  der  Larve  angelegt,  sei  es  in  Ge- 
stalt von  Imaginalscheiben,  oder  in  F"orm 
von  frei  in  der  Leibeshöhle  befindlicher  Haufen  em- 
bryonaler Zellen.  Auch  die  Imaginalscheiben 
stellen  nichts  anderes  vor  als  auf  embryonaler, 
undifferenzierter    Stufe  verbliebene    Zell- 


gruppen, welche  in  die  d  i  f  f  e  r  e  n  z  i  e  r  t  e  n  Zell- 
elemente der  larvalen  Gewebe  eingeschaltet 
sind.  Die  Histogenese  besieht  in  einer  rapiden 
Vermehrung  und  Spezifikation  der  Elemente  der 
Imaginalscheiben,  Imaginalzellnester  (Fig.  3),  Ima- 
ginalzellringe  usw. 

Die  Puppe  stellt  primär  nur  ein  Übergangs- 
stadium zwischen  Larve  und  Imago  dar,  eine 
Periode,  in  der  die  mannigfaltigen  histolytischen 
und  histogenetischen  Prozesse  sich  abspielen.  Se- 
kundär aber  kann  sie  sich  an  spezielle  Lebens- 
verhältnisse anpassen  und  in  Adaption  an  spezi- 
fische Bedingungen    spezifische  Puppenorgane    er- 


l'ig'  3-     Querschnitt  duich   den  Mitteldarm  einer  erwachsenen  Larve  von  Calliphora 
crythrocephala.      Die    Zellen    des    larvalen    Epithels    werden    während    der  Meta- 
morphose ersetzt  durch   imaginale  Zellen,  welche  an  der  Basis  der  larvalen  Zellen 
liegen  und  „Zellnester"   bilden,     ^'^ji-     (Nach  Perez.) 


werben,  welche  ihrerseits  der  Larve  und  Imago 
fehlen.  Es  kann  somit  in  die  Metamorphose  ein- 
geschaltet sein  der  Prozeß  der  Ausbildung  und 
Beseitigung  spezifischer  Puppenorgane.  Als  solche 
sind  anzusehen  verschieden  gestaltete  paarige  oder 
unpaare  Anhänge  am  Abdomen  der  Lepidopteren- 
puppen,  die  Atemröhren  der  Culex-  und  Corethra- 
puppen,  sowie  die  prothorakalen  .Stigmen  zahlreicher 
Dipterenpuppen.  Das  klassische  Objekt  für  Puppen- 
organe bieten  die  Trichopteren.  „Zwei  Momente 
sind  ausschlaggebend  für  die  Gestaltung  der  Tri- 
chopterenpuppen  und  ihrer  Gehäuse,  das  Schutz- 
und  das  Atembedürfnis;  aus  der  Konkurrenz  beider 
läßt  sich  die  spezifische  Puppenorganisation  ver- 
stehen" (Thienemann,  Zoolog.  Jahrb.,  Syst., 
Bd.  22,  1905).  Ich  kann  nichts  Besseres  tun,  als 
hier  auf  das  Original  zu  verweisen. 


246 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  16 


Über  die  histologische  Ausbildung  von 
Puppenorganen  liegen  nur  wenige  Angaben  vor. 
Meist  gehören  sie  dem  Hautsystem  an  und  sind 
Chitinbildungen,  wie  Borsten,  Haare  usw.  der  Larve 
und  der  Imago.  Größeres  Interesse  verdienen  die 
Prothorakalstigmen  der  Dipteren,  da  ihre  Ausbil- 
dung von  besonderen  Imaginalscheiben  ausgeht, 
genau  ebenso  wie  z.  B.  die  der  Hügel  und  Halteren. 
Während  aber  diese  schon  im  jüngsten  Larven- 
stadium oder  gar  noch  embryonal  angelegt  werden, 
entstehen  die  Imaginalscheiben  der  Pu])penstigmen 
erst  im  letzten  Larvenstadium.')  Dieses  Ver- 
halten bestätigt  die  schon  oben  ausgesprochene 
Ansicht,  daß  die  Puppenorgane  keine  primären 


Resoiiaiizstrahliiug. 

Ein  Sammel-Relcrat  von  Dr.   E.  Bräuer-Lichlenberg. 
[Nachdiuck  verboten] 

Die  Auffindung  der  ,, Resonanzstrahlung"  durch 
Wood  schließt  sich  unmittelbar  an  die  Ent- 
deckung der  Inversion  der  Spektrallinien,  mit  der 
wir  schon  seit  Jahrzehnten  vertraut  sind,  an. 

Wood   nahm  ein  reaeenzglasähnliches  Gefäß, 
in    das    er   etwas   Natrium    brachte.     Entfernte    er 
dann  die  Luft  sehr  vollständig  durch  Auspumpen 
und  erhitzte,  so  erhielt  er  in  dem  Gefäß  eine  At- 
mosphäre  von    Natriumdampf,    deren  Druck    sehr 
stark  von  der  Temperatur  abhing.    Dieser  Natrium- 
dampf greift  zwar  Glas    außerordentlich  stark  an, 
so    daß    es  in  kürzester  Zeit   undurchsichtig  wird. 
Doch    gelang    es   bei    raschem    und    vorsichtigem 
Arbeiten,    die  Erscheinungen,    die    ein    durch    den 
Dampf  fällender  Lichtstrahlenkegel    bot,    zu  beob- 
achten.   Benutzte  man  dazu  das  Licht  einer  Natrium- 
flamme,   deren    Strahlen    durch    eine    Linse    nach 
einem    Punkte    im    Innern     des    Rohres    vereinigt 
wurden,    so    sah    man    bei   sehr  geringem  Drucke 
des  Natriumdampfes    den    Licktkegel    fast    bis  zur 
Rohrmitte  hell  leuchten,    und    zwar  in   demselben 
Lichte    der    beiden    Natrium(D)-Linien,     obgleich 
aller  Staub  o.  dgl.,  der  Licht  hätte  zur  Seite  beugen 
können,  sorgfältig  \'erniieden  war.    Stieg  die  Tem- 
peratur und  mit  ihr  der  Dampfdruck  des  Natriums, 
so    zog    sich    der    leuchtende  Teil    —    infolge   der 
Absorption  —  immer  enger  an  die  Wandung  und 
bildete  zuletzt  nur  noch  eine  dünne,  aber  intensiv 
strahlende    Lichthaut.     Der   Dampf  des  Natriums 
sendet    also    bei    diesem  Versuche  Licht  von   der- 
selben Wellenlänge  wie   das  erregende  Licht  aus, 
während  bei  allen  bis  jetzt  bekannten  Fluoreszenz- 
erscheinungen   die  Wellenlänge    des  ausgesandten 
Lichtes    größer    ist    als  die  des  erregenden.     Und 
während  mangels  einfacher  Gesetzmäßigkeiten  über 
den  Mechanismus  der  Erscheinung  in  diesen  Fällen 
gar  nichts  gesagt  werden  kann,  müssen  wir  die  neue 
Erscheinung   als  ein  Resonanzphänomen  auffassen 
und  haben  damit  einen  neuen  überraschenden  Ein- 
blick   in    das  Getriebe    der  molekularen  Welt  ge- 
wonnen. 

Der   von    Wood    zu    seinen    Untersuchungen 


Organisationseigentümlichkeiten  des  letzten  prä- 
imaginalen  Stadiums  sind,  sondern  eine  sekun- 
däre Anpassung  an  spezielle  Verhältnisse.  Phy- 
logenetisch ist  die  Puppe  jünger  als  die 
Imago,  daher  ontoge netisch  die  Anlage  der 
Puppenorgane  später  als  die  der  Imago. 

Die  Beseitigung  der  spezifischen  Puppen- 
bildungen erfolgt  wie  die  der  I.arvenorgane  durch 
Häutung  und  Histolyse;  meist  wird  schon  der 
Häutungsprozeß  allein  genügen. 


')  Walil,  Arb.   zool.  Inst.  Wien   12,   1900   und    Zeitschr. 
wiss.  Zool.   70,   1901. 


benutzte  Apparat  bestand  in  einem  T-förmigen 
Stahlrohre,  dessen  3  Enden  mit  Glasscheiben  ver- 
schlossen waren.  Im  mittelsten  Teile  befand  sich 
der  zu  untersuchende  Körper,  zumeist  noch  in 
einer  Glasretorte  eingeschlossen.  Durch  einen 
Bunsenbrennder  wurde  das  Rohr  von  außen  erhitzt, 
nachdem  die  Luft  weitgehend  ausgepumpt  worden 
war.  Durch  das  Längsrohr  wurde  ein  Lichtkegel 
geworfen  und  die  Fluoreszenzerscheinungen  durch 
das  Seitenrohr  beobachtet. 

Zunächst  wurde  das  Absorptionsspektrum  des 
Natriumdampfes  untersucht,  um,  soweit  das  auf 
diesem  Wege  angeht,  Klarheit  über  die  schwingungs- 
fähigen Gebilde  im  Natriummolekül  zu  gewinnen. 
Dieses  Absorptionsspektrum  ist  nun  total  verschie- 
den von  dem  Emissionsspektrum.  Es  zeigt  viele 
Tausende  feiner  Linien,  die  zusammen  ein  kanne- 
liertes Bandenspektrum  bilden.  Wir  wollen  vor- 
weg nehmen,  daß  nur  wenige  dieser  Absorptions- 
linien eine  Beziehung  zum  Resonanzspekirum,  d.  h. 
zu  dem  Lichte,  das  der  Dampf,  in  passender  Weise 
angeregt,  als  P'luoreszenzlicht  aussendet,  besitzen, 
im  besonderen,  daß  nur  wenige  dieser  Eigen- 
schwingungen durch  Resonanz,  wenn  sie  mit  der 
gleichen  Frequenz  angeregt  werden,  strahlen.  Aber 
diese  Linien  sind  es  auch  gerade  —  und  das  ist 
sehr  beachtenswert  — ,  die  durch  Beimengung 
fremder  Gase  zum  Natriumdampf  beeinflußt  werden, 
indem  sie  sowohl  ihre  Lage,  wie  ihre  Intensität 
ändern. 

Bei  der  Untersuchung  der  Fluoreszenz  des 
Dampfes  ergab  sich,  daß  eine  sehr  große  Anzahl 
von  Strahlungsquellen,  so  der  mit  Kadmium,  Zink, 
Lithium,  Kupfer,  Silber,  usw.  gespeiste  Lichtbogen 
Wellenlängen  aussenden,  die  mit  der  eines  resonanz- 
fähigen Gebildes  im  Natriummolekül  überein- 
stimmen. Das  ist  nicht  verwunderlich,  da  die 
Linien  in  den  Bogenspektren  eine  sehr  erhebliche 
Breite  besitzen,  so  daß  sie  häufig  mehrere  der 
feinen  Absorptionslinien  des  Natriumdampfes  be- 
decken. Andere  Lichtquellen  aber,  wie  der  Queck- 
silberlichtbogen,  enthalten  zufällig  keine  passenden 
Wellenlängen. 

Das  Licht,  das  der  Natriumdampf  ausstrahlt, 
wenn  er  passend  erregt  wird,  besteht  zunächst 
aus  der  erregenden  Wellenlänge  selbst,  außerdem 


N.  F.  Xin.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


247 


aber  aus  vielen  Linien,  die  in  gleichen  Abständen, 
in  der  Hauptsache  auf  Rot  zu,  sich  an  die  er- 
regende anschließen.  Diese  Abstände  sind  für 
Natrium  stets  sehr  nahe  gleich  3,8  fifi.  Da 
im  allgemeinen  mehrere  Linien  erregt  werden, 
ist  das  Resonanzspektrum  meist  ziemlich  kompli- 
ziert. Ungemein  typisch  ist  nun,  daß  die  ge- 
ringste Änderung  im  erregenden  Spektrum,  wie 
sie  etwa  durch  Andern  der  Stromstärke  der  Bogen- 
lampe sich  bewirken  ließ,  gleich  sehr  weitgehend 
das  Resonanzspektrum  beeinflußt.  Wood  spricht 
von  einem  Umherflattern  der  Spektrallinien. 
Versuche  mit  Brom  und  Jod. 

Des  weiteren  wurden  die  Versuche  ausgedehnt 
auf  zwei  Dämpfe,  die  durch  die  ungeheuer  große 
Zahl  ihrer  Absorptionslinien  besonders  interessante 
Resonanzphänomene  erwarten  ließen,  auf  den  Brom- 
und  Joddampf  Bei  beiden  wird  nämlich  eine 
ganze  Anzahl  Linien  von  einer  Linie,  die  von 
leuchtendem  Hg -Dampf  unter  höherem  Druck 
emittiert  wird,  bedeckt. 

Bei  Brom  entsprach  der  Erfolg  nicht  den  Er- 
wartungen. Um  überhaupt  ein  Fluoreszenzleuchten 
zu  zeigen,  muß  ja  ein  Dampf  eine  gewisse  mini- 
male Dichte  besitzen,  damit  genügend  Moleküle 
da  sind,  die  angeregt  werden  können;  bei  zu  hohen 
Drucken  und  Temperaturen  verschwindet  aber 
das  Leuchten  wieder,  einmal  wegen  der  Absorp- 
tion in  den  umgebenden  Gasschichten  und  zweitens 
wegen  der  Störungen  bei  den  häufigen  Zusammen- 
stößen der  Moleküle.  Brom  zeigte  nun,  wenn  sein 
Dampfdruck  durcli  Kühlen  mit  Kohlensäureschnee 
herabgesetzt  wurde,  in  den  Strahlen  der  Queck- 
silberdampflampe für  kurze  Zeit  ein  schwaches 
hellgrünes  Leuchten,  das  aber  bei  fortschreitender 
Kondensation  bald  wieder  verschwand. 

Sehr  viel  besser  war  der  Erfolg  bei  Jod.  Dessen 
Spektrum  ist  so  dicht  mit  Linien  besetzt,  daß  nicht 
weniger  als  7  von  ihnen  von  der  grünen  Linie  der 
mit  kräftigem  Strome  betriebenen  Quarzquecksilber- 
lampe bedeckt  werden.  Als  wirksam,  d.  h.  zur 
Erregung  von  Resonanzstrahlung  geeignet,  erwiesen 
sich  die  Wellenlängen  von  500  bis  560  /(,«.  In 
diesem  Bereiche  liegen  die  beiden  gelben  Linien 
des  Quecksilberdampfes  und  die  grüne  Linie  bei 
5461   Ä.-E. 

Außer  der  Resonanzstrahlung  zeigt  sich  nach 
Rot,  nach  größeren  Wellenlängen,  zu  —  nach  der 
Nomenklatur  von  Wood  —  das  Resonanzspek- 
trum. Wurde  nun  mit  monochromatischem  Lichte, 
also  etwa  mit  der  grünen  Quecksilberlinie  allein 
angeregt,  so  sandte  der  Joddampf  eine  ungemein 
typische  Strahlung  aus.  Bei  mäßiger  Auflösung 
sieht  man  folgendes  Spektralbild:  Es  erscheint 
zunächst  die  erregende  Linie  selbst,  außer  ihr  aber, 
ähnlich  wie  bei  Natrium,  in  gleichen  Abständen 
voneinander  15  und  mehr  Linien  nach  der  roten 
Seite  des  Spektrums  zu  und  außerdem  auch  einige 
nach  der  blauen  Seite.  Die  Intensität  dieser  Linien 
ist  sehr  verschieden  und  ihre  Struktur  keineswegs 
die  einer  einfachen  Linie,  sondern  sogar  recht 
kompliziert,   wie  wir  weiter   unten    sehen  werden. 


Es  resonieren  eben  nicht  bloß  eine,  sondern  meh- 
rere, wenn  nicht  alle  der  7  Jodlinien,  die  in  das 
Bereich  der  Quecksilberstrahlung  fallen  und  viel- 
leicht auch  außerdem  schwingungsfähige  Gebilde, 
die  sich  im  Absorptionsspektrum  nicht  bemerkbar 
machen.  Die  Gesamtintensiiät  des  vom  Joddampfe 
ausgesandten  Lichtes  ist  dabei  außerordentlich 
stark.  Wurden  nun  statt  der  grünen  Hg-Linie  allein 
auch  die  beiden  gelben  Linien  benutzt,  so  erzeugt 
jede  Wellenlänge  der  Quecksilberstrahlung  eine 
ganze  Serie  Linien  im  Spektrum  des  Joddampfes, 
und  diese  Serie  lagert  sich  natürlich  zu  einem  recht 
komplizierten  Bilde  übereinander.  Benutzt  man 
nun  gar  ein  kontinuierliches  Spektrum  zum  Erregen, 
wie  etwa  das  der  Sonne,  so  ergibt  der  Joddampf 
ein  vollständiges  Bandenspektrum,  welches  das 
Gebiet  zwischen  500  und  560  fifi  und  die  größeren 
Wellenlängen  füllte. 

Die  anschließenden  Untersuchungen,  die  Wood 
z.T.  mit  h'rank  in  Berlin  anstellte,  zielten  darauf 
ab,  ein  Verständnis  des  Mechanismus  dieser  Emis- 
sionsvorgänge zu  gewinnen.  Zu  diesem  Zwecke 
wurde  zunächst  der  Einfluß  von  Beimengungen  unter- 
sucht. Dabei  ergaben  sich  ganz  merkwürdige  Re- 
sultate. Zunächst  vermindert  jede  Beimengung 
die  Intensität  des  Leuchtens.  Setzt  man  dem  Jod- 
dampf Chlor  oder  ein  anderes  Gas  mit  starker 
Affinität  zum  Elektron  zu,  so  ist  die  Verringerung 
sehr  stark;  weniger  wirkt  schon  Äther,  Kohlen- 
säure, Luft  (Sauerstofi),  noch  weniger  Wasserstoff, 
bei  weitem  am  schwächsten  aber  die  Edelgase, 
Helium,  Argon  usw.,  die  die  Leuchtstärke  erst  in 
größerer  Konzentration  beeinflussen.  Das  Spek- 
trum selbst  wird  dabei  durch  Chlor,  Brom  u.  dgl. 
kaum  beeinflußt.  Doch  schon  bei  Luft  zeigt  sich 
unter  gewissen  Bedingungen  ein  schwacher  konti- 
nuierlicher Hintergrund ;  und  bei  den  Edelgasen 
verwandelt  sich  das  Spektrum  des  Jodleuchtens, 
ohne  seine  Gesamtintensität  allzu  stark  zu  ver- 
mindern, in  ein  Bandenspektrum,  ganz  ähnlich 
dem,  wie  es  Erregung  mit  kontinuierlichem  (Sonnen  ) 
Spektrum  hervorruft.  Bei  ganz  geringen  Mengen 
Helium  (ca.  2  mm  Druck)  sind  die  Resonanzlinien 
und  die  zugehörigen  Serien  äquidistanter  Linien 
ja  noch  zu  erkennen,  sie  lösen  sich  jedoch  bei 
stärkerem  Heliumzusatz  völlig  in  dem  hellen 
Hintergrunde  auf. 

Wood  und  Frank  stellen  nun  folgende 
plausible  Theorie  dieser  Erscheinungen  auf.  Die 
Lichtwellen  werden  ja  nach  der  jetzt  allgemein 
angenommenen  Auffassung  von  Elektronen  aus- 
gesandt, welche  irgendwie  im  Molekül  gebunden 
sind.  Und  zwar  nimmt  man  an,  daß  mehrere 
Elektronensysteme  vorhanden  sind  —  ob  diese 
nun  von  einem  Elektron  in  verschiedenen  Zu- 
ständen oder  von  mehreren  Elektronen  gebildet 
werden,  ist  hier  ohne  Belang  — ,  die  typische 
Eigenschwingungen  ausführen.  Diese  Systeme 
beeinflussen  sich  im  ungestörten  Zustande  nicht, 
oder  die  Beeinflussungen  sind  gesetzmäßiger  Art, 
so  daß  ihnen  eben  wieder  typische  Eigen- 
frequenzen zukommen.    Einem  solchen  Elektronen- 


248 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  16 


Systeme  soll  auch  eine  Resonanzserie  zukommen. 
Prallt  nun  aber  in  unserem  Falle  ein  Jodmolekül 
auf  ein  dem  beigemengten  Gase  angehörendes 
fremdes  Molekül,  so  werden  die  Systeme  nicht 
mehr  unabhängig  voneinander;  es  werden  viel- 
mehr durch  die  Schwingungen  des  einen,  resonieren- 
den  Systems  auch  die  anderen  Systeme  angeregf, 
deren  Serien  sich  zwischen  die  Serie  des  ersten 
Systems  einschieben,  und  es  entsteht  ein  Banden- 
spektrum. Nun  liegt  ja  das  Resonanzspektrum  — 
in  der  Hauptsache  wenigstens  —  nach  längeren 
Wellen  zu  gegen  die  erregende  Frequenz;  wenn 
seine  einzelnen  Frequenzen  nun  wieder  Spektren 
anregen,  die  überwiegend  längere  Wellen  ent- 
halten, so  verschiebt  sich  die  Energie  stark  nach 
dem  Rot,  und  dies  ist  auch  für  das  Auge  sehr 
gut  erkennbar,  denn  das  grüne  Leuchten  des 
reinen  Joddampfes  geht  nach  Beimengung  von 
Helium  in  Gelbrot  über. 
Die  Messungen  im  Resonanzspektrum 
des  Joddampfes. 
Wir  haben  oben  gesehen,  daß  das  Resonanz- 
spektrum des  monochromatisch  angeregten  Jod- 
dampfes aus  einer  Serie  äquidistanter  Linien  be- 
steht. Die  nähere  Untersuchung  dieser  Linien 
stellt  den  wichtigsten  Teil  der  Wood 'sehen 
Arbeiten  dar. 

Die  Mittel,  die  Wood  zur  Verfügung  standen, 
zeigen  eine  interessante  Mischung  höchster  Ver- 
vollkommnung mit  äußerster  Primitivität,  und  es 
ist  wohl  lehrreich,  näher  auf  sie  einzugehen.  Es 
stand  ihm  ein  Michelsen'sches  Konkavgitter  von 
2  m  Brennweite  zur  Verfügung,  das  auf  den  Zoll 
1 5  000  Linien  enthält.  Ferner  verfertigte  Dr. 
Andersen  ihm  mit  der  1 5  000  Strich-Maschine 
ein  großes  Plangitter,  das  Wood  zur  Herstellung 
eines  12,5  m-Spektrographen,  des  mächtigsten 
jetzt  existierenden  Instrumentes,  dem  nur  der 
M  icheise  n 'sehe  Apparat  gleichkommt,  benutzte. 
Als  Beobachtungsraum  hatte  er  eine  große 
Scheune;  docli  waren  die  Winderschütterungen 
so  stark,  daß  er  es  vorzog,  seinen  Apparat  im 
Freien  aufzubauen.  Als  Pfeiler  für  Gitter  und 
Linse  dienten  vier  gesprengte,  für  wenig  Geld 
erworbene  Wasserrohre,  die  mehrere  Meter  tief 
in  den  Boden  gegraben  wurden.  Ein  langer 
Holzkasten  umschloß  das  Ganze,  der  mit  Objektiv 
und  Kamera  nur  durch  dunkle  Tücher  verbunden 
war,  die  Seitenlicht  abhielten,  aber  keine  Er- 
schütterung übertrugen.  Beim  Arbeiten  zeigten 
sich  Spinnen  als  sehr  störend.  Ihre  Gewebe  zer- 
störte Wood  dadurch,  daß  er  seine  Katze  durch 
das  Holzrohr  jagte! 

Die  Resultate,  die  W  o  o  d  mit  diesem  Spektro- 
graphen  gewonnen  hat,  sind  von  überraschender 
Schönheit.  Der  Joddampf  zeigte  insgesamt  nicht 
weniger  als  50000  klar  getrennte  Absorptions- 
linien.    Das  Problem  war  nun  folgendes: 

Die  grüne  Quecksilberlinie  bedeckte,  wie 
schon  gesagt,  bei  der  benutzten  Anordnung 
(Hochdruckquecksilberlampe)  sieben  wohl  definierte 
Jodlinien.    F'erner  zeigten  die  Linien  des  Resonanz- 


spektrums einen  sehr  komplizierten  Bau.  Pls  war 
also  festzustellen,  welche  der  sieben  Jodlinien  auf 
die  Erregung  ansprachen,  resp.  ob  die  Resonanz- 
linien überhaupt  mit  Absorptionslinien  identisch 
sind,  und  welche  Linien  des  Resonanzspektrums 
mit  ihnen  gekoppelt  sind.  Es  mußten  also  ein- 
zelne Wellenlängengebiete  aus  der  breiten  Queck- 
silberlinie (welche  bei  diesen  Dispersionen  nicht 
wie  eine  Linie,  sondern  wie  ein  breiter  Streifen 
[0,4  Angström-Einheiten  bedeckt  sie]  aussieht) 
ausgelöscht  werden;  dann  empfingen  die  in 
ihnen  liegenden  Jodlinien  keine  Erregung  und 
man  konnte  zusehen,  welche  Linien  im  Resonanz- 
spektrum verschwanden.  Dazu  gab  es  verschie- 
dene Wege. 

1.  Das  Licht  der  Hg-Linie  wurde  durch  Brom- 
dampf filtriert.  Brom  hat  ebenfalls  innerhalb  der 
Hg-Linie  eine  Anzahl  Absorptionslinien  '),  die 
z.  T.  mit  denen  des  Jod  zusammenfallen. 

2.  Die  Belastung  der  Ouecksilberlampe  wurde 
geändert.  Dabei  verschieben  sich  die  Maxima 
innerhalb  der  Linie  etwas  und  außerdem  ändern 
die  Komponenten  ihre  Breite,  indem  diese  mit 
zunehmender  Belastung  zunimmt. 

3.  Das  Hg  Licht  wurde  durch  Joddampf 
filtriert.  Wären  die  Resonanzlinien  mit  den  Ab- 
sorptionslinien identisch,  so  müßten  sie  dabei  alle 
gleichmäßig  geschwächt  werden.  Das  war  nicht 
der  Fall;  also  muß  wenigstens  ein  Teil  der 
Resonanzlinien  von  den  Absorptionslinien  ver- 
schieden sein. 

Die  Einzelresultate  der  Untersuchung  anzu- 
geben hat  keinen  Zweck.  Es  ist  Wood  ge- 
lungen, einigermaßen  Ordnung  in  das  komplizierte 
Spektralbild  zu  bringen.  Es  scheint  mir  aber 
vorteilhaft,  die  Erscheinung  selbst  zum  Schluß 
etwas  genauer  zu  beschreiben ,  denn  sie  zeigt, 
wie  kompliziert  die  Schwingungsvorgänge  selbst 
in  diesem  Falle  sind,  wo  wir  schon  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  doch  Klarheit  über  den  Mechanis- 
mus haben,  und  wie  sehr  verfrüht  die  häufig  be- 
liebten Schematisierungen  der  Molekularvorgänge 
zurzeit  noch  sind. 

Betrachten  wir  nämlich  das  Resonanzspektrum 
bei  einer  Auflösung,  die  die  7  Jodlinien  inner- 
halb der  Quecksilberlinie  noch  als  eine  einzige 
erscheinen  läßt,  so  sehen  wir  an  ihrer  Stelle  die 
starke  Resonanzlinie  als  Sunime  sämtlicher 
Resonanzlinien  des  Bereiches.  Über  die  30  fache 
Breite  aber  erstrecken  sich  noch  Trabanten.  Be- 
zeichnen wir  diese  ganze  Gruppe  als  die  0. 
Ordnung  bei  5461  Ä.-E.,  so  finden  wir  bei  5525, 
5657  und  5796  Ä.-E.  in  i.,  3.  und  5.  Ordnung 
fast  ebenso  gestaltete  Gruppen,  in  2.,  4.,  6.  bis 
etwa  20.  Ordnung  (wobei  die  9.  Ordnung  fehlt) 
viel  schwächere  und  kleinere  Gruppen  Linien.    Ihr 


')  Wood  macht  bei  dieser  Gelegenheit  die  Bemerkung, 
daß  von  den  Linien  dieser  beiden  Elemente  eine  groflc  An- 
zahl bei  der  Auflösung  seines  Spektrographen  als  identisch 
erscheinen,  und  zwar  mehr  als  den  Gesetzen  der  Wahrschein- 
lichkeit entspräche. 


N.  F.  XIII.  Nr.   i6 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


249 


Kern  wird  fast  stets  von  Doppellinien  gebildet  und 
ihre  Frequenzendifferenzen  sind  sehr  nahe  kon- 
stant. Von  all  dem  gibt  es  aber  hier  und  da 
Abweichungen,  die  nicht  wohl  durch  Versuchs- 
fehler bedingt  sein  können. 

Polarisation  des  Resonanzlichtes. 

Das  Resonanzlicht  ist  teilweise  polarisiert. 
Das  ist  auch  sehr  verständlich,  da  ja  der  elektri- 
sche Vektor  des  erregenden  Lichtes  —  und 
ebenso  der  magnetische  —  bei  der  schwachen 
Konvergenz  des  beleuchtenden  Strahlenbüschels 
fast  ganz  in  einer  Ebene  liegen,  in  die  die  Be- 
obachtungsrichtung hineinfällt.  Benutzte  Wood 
zum  Beleuchten  polarisiertes  Licht,  dessen  elektri- 
scher Vektor  parallel  der  Beobachtungsrichtung 
war,  so  verschwand,  wie  zu  erwarten  war,  die 
Polarisation.  Sie  stieg  auf  den  doppelten  Betrag, 
wenn  polarisiertes  Licht  mit  senkrechtem  elektr. 
Vektor  angewandt  wurde,  doch  stieg  der  polari- 
sierte Anteil  nie  tiber  30"/,,,  während  doch  die 
angeregten  Systeme  von  polarisiertem  Erreger- 
licht stets  in  einer  Richtung  Energie  empfangen, 
man  also  erwarten  mußte,  daß  auch  das 
Resonanzlicht  vollständig  polarisiert  sein  würde. 
Das  Merkwürdigste  war,  daß  a'le  Linien  des 
Resonanzspektrums  zum  gleichen  Betrage  polari- 
siert waren.  Es  mußte  also  nach  der  Ursache 
gesucht  werden ,  welche  Unordnung  in  die 
Schwingungen  brachte,  also  depolarisierend  wirkte. 


Am  nächsten  lag  es,  diese  Ursache  in  den  Zu- 
sammenstößen der  Moleküle  zu  suchen.  Setzte 
Wood  aber  bis  zu  12  mm  Stickstoff  zu,  wodurch 
die  Stoßzahl  auf  das  Mehrfache  steigen  mußte, 
so  war  keine  Verminderung  der  Polarisation  zu 
bemerken.  Weiter  versuchte  er  es  mit  der 
Hypothese,  daß  der  Elektron  an  geradlinige 
Bahnen  im  Molekül  gebunden  sei.  Eine  einfache 
Betrachtung  zeigte  aber,  daß  sich  in  diesem  Falle 
eine  Polarisation  von  50  "/i,  zeigen  mußte.  Ferner 
kam  in  Betracht,  die  depolarisierende  Ursache  in 
der  Rotation  des  Moleküls  beim  Durchlaufen  seiner 
freien  Wegstrecke  zu  suchen.  Dabei  blieb  aber 
das  Bedenken,  daß  der  Natriumdampf  als  ein- 
atomiges Gas  ja  gar  keine  Rotationsenergie  ent- 
hält. Am  wahrscheinlichsten  ergab  sich  schließ- 
lich die  Hypothese,  daß  die  Depolarisation  durch 
sekundäre  Resonanzstrahlung  vorgetäuscht  sei, 
indem  ja  das  schwingende  System  auch  wieder 
befähigt  ist,  das  entsprechende  System  in  seinen 
Nachbarmolekülen  anzuregen. 

Literatur. 

Wood,  Physikalische  Zeitschrift  6,  903,  1905.  7,  873, 
1906.  9,  450,  1908.  9,590,1908.  10,466,1909.  11,1195, 
1910.     12,  Si,   1911.    12,   1204,   1911.    14,   177  u.  1189,   1913. 

Phil.  IVlag.   Ölst.    1905.      Nov.    1905.     Mai   1908. 

Ber.  d.  D.  Phys.  Ges.   13,   72,   191 1. 

Wood  u.  Franl«,  Ber,  d.  D.  Phys.  Ges.  13,  78,  1911. 
13,  84,   1911. 

Zickendraht,   Physik.  Zeitschr.  9,  593,   igo8. 


Einzelberichte. 


Botanik.  Die  Reizleitung  im  phototropen 
Keimling.  Werden  Graskeimlinge  einseitig  be- 
leuchtet, so  krümmen  sie  sich  dem  Lichte  zu. 
Der  Lichtreiz  wird  dabei  vorzugsweise  von  der 
Spitze  des  Keimlings  perzipiert  und  dem  unteren 
Teile  zugeleitet,  der  sich  darauf  krümmt.  R  o  t  h  e  r  t 
und  Fitting  hatten  gefunden,  daß  die  Reiz- 
leitung in  Haferkeimlingen  (Koleoptilen)  durch 
quere  Einschnitte  nicht  unterbrochen  wird.  Dar- 
aus ergab  sich  der  Schluß,  daß  sich  der  Reiz 
nach  allen  Seiten  durch  die  lebenden  Zellen  fort- 
pflanzt. P.  Boysen-Jensen  war  nun  schon 
1909  zu  abweichenden  Ergebnissen  gekommen, 
indem  er  gefunden  hatte,  daß  die  Reizleitung  zwar 
durch  einen  Einschnitt  auf  der  (dem  Lichte  zugewen- 
deten) Vorderseite  der  Koleoptile  nicht  verhindert 
werden  konnte,  wohl  aber  unter  gewissen  Be- 
dingungen durch  einen  Einschnitt  auf  der  Hinter- 
seite. In  denjenigen  Versuchen  Fittings,  in 
denen  die  phototropische  Krümmung  eingetreten 
war,  obwohl  der  Zusammenhang  der  Gewebe  an 
der  Hinterseite  durch  einen  Einschnitt  unterbrochen 
war,  hatte  sich  nach  der  Ansicht  von  Boysen- 
Jensen  der  Reiz  über  die  Wunde  hinweg 
fortgepflanzt.  Daß  derartiges  überhaupt  möglich 
ist,  beweisen  die  merkwürdigen  Versuche,  die  der 
Kopenhagener  Physiolog  mit  Koleoptilen  ange- 
stellt   hat,    denen    die    Spitze    abgeschnitten    und 


wieder  aufgesetzt  war.  Solche  Objekte  reagierten 
auf  einseitige  Beleuchtung  der  Spitze  durch  positiv 
phototropische  Krümmung  und  führten,  im  Dunkel- 
raum horizontal  gelegt,  auch  negativ  geotropische 
Krümmungen  aus,  während  Kontrollpflanzen  ohne 
Spitze  keine  phototropische  und  nur  sehr  schwache 
geotropische  Reaktion  zeigten.  Um  bei  Versuchen 
über  die  Reizleitung  zu  verhindern,  daß  der  Reiz 
sich  über  die  Einschnitte  fortpflanzte,  schob 
Boysen-Jensen  Glimmerblättchen  in  diese 
hinein.  VanderWolk  hatte  bei  ähnlichen  Ver- 
suchen Stanniolblättchen  benutzt.  Dieser  Be- 
obachter wollte  das  von  Boysen-Jensen  fest- 
gestellte Ausbleiben  der  phototropischen  Krüm- 
mung bei  Einschnitten  an  der  Hinterseite  darauf 
zurückführen,  daß  der  Wundreiz  eine  nach  hinten 
gerichtete  Krümmung  hervorruft,  die  die  (nach 
vorn  gerichtete)  phototropische  Krümmung  kom- 
pensiert. Boysen-Jensen  füiirt  aus,  daß  diese 
Schlußfolgerung  nicht  begründet  sei,  und  daß  die 
von  van  der  Wölk  erhaltenen  positiven  Krüm- 
mungen bei  Einschnitten  an  der  Hinterseite  durch 
unvollständige  Unterbrechung  der  Reizleitung 
(Verschiebung  der  Stanniolblättchen  und  Ansamm- 
lung von  Wasser  in  den  Einschnitten  im  dampf- 
gesättigten Versuchsraum)  bedingt  sein  können. 
Jedenfalls  ergaben  seine  neuen  Versuche  wieder- 
um   phototropische     Krümmung     bei     vorn    ver- 


250 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  16 


wundeten,  Ausbleiben  der  Krümmung  bei  hinten 
verwundeten  Pflanzen,  —  vorausgesetzt,  daß  die 
Einschnitte  mit  (ilimmerplättchen  versehen  waren. 
Hinten  verwundete  Keimlinge  ohne  Glimmer- 
plättchen  zeigten  dagegen  schöne  phototropische 
Krümmungen.  Daß  sich  der  Reiz  um  zwei  gegen- 
einander gerichtete  (vorn  und  hinten  befindliche) 
Einsclinitte  herum  fortpflanzt,  konnte  (bei  Anwen- 
dung von  Glimmerplättchen)  auch  nicht  bestätigt 
werden.  Nach  diesen  Versuchen  würde  mithin 
der  phototropische  Reiz  sich  nicht  allseitig  fort- 
pflanzen ,  sondern  die  Leitung  würde  lokalisiert, 
nämlich  auf  die  Hinterseite  der  Koleoptile  be- 
schränkt sein.  (Berichte  der  Deutschen  Bot.  Ges. 
1914,  Bd.  31,  S.  559—566.)  F.  Moewes. 

Geographie.  Antarktische  Probleme  hat  Prof 
A.  Penck  am  22.  Januar  in  einem  Akademie- 
vortrag behandelt  (Sitz.-Ber.  der  Kgl.  Preuß.  Aka- 
demie der  Wissenschaften,  Physika!.- Mathemat. 
Klasse,  Berlin  1914,  Nr.  IV),  in  dem  er  darauf 
hinweist,  daß  unter  dem  Einfluß  von  A.  Peter- 
mann 1863  die  Bezeichnung  „Antarktischer  Kon- 
tinent" aus  den  deutschen  Karten  verschwand  und 
durch  die  Worte  „.Antarktischer  Ozean"  ersetzt 
wurde.  Erst  nach  dem  Vorstoß,  den  das  briti- 
sche Forschungsschiff  „Challenger"  1874  in  das 
Südpolargebiet  unternommen  hatte,  befestigte  sich 
die  Vorstellung,  daß  ein  großer  antarktischer  Kon- 
tinent vorhanden  sein  müsse,  mehr  und  mehr. 
Hans  Reiter  unternahm  es  sogar  schon  1886, 
als  noch  nie  der  P\iß  eines  Menschen  diesen 
Kontinent  betreten  hatte,  Schlüsse  auf  dessen 
inneren  Bau  zu  ziehen.  Ist  das  von  ihm  entworfene 
Bild  auch  in  wichtigen  Stücken  falsch,  so  kann 
man  doch  auf  Grund  der  neuesten  F'orschungen 
aussprechen,  daß  er  sich  im  allgemeinen  eine  zu- 
treffende Vorstellung  über  die  Unterscheidung 
einer  P'altenzone  und  eines  Massivs  in  dem  unbe- 
kannten Lande  gebildet  hatte.  Die  planmäßigen 
Forschungen  zu  Beginn  unseres  Jahrhunderts,  die 
durch  die  deutsche  Südpolar-Expedition  unter 
der  Leitung  von  Prof.  Erich  v.  Drygalski,  die 
englische  unter  Scott,  die  schwedische  unter 
Nordenskjüld  und  die  schottische  unter 
Bruce  ausgeführt  wurden,  hat  nicht  nur  zu  neuen 
Landentdeckungen  geführt,  sondern  auch  über  den 
geologischen  Bau  dieser  Länder  und  die  Tiefen- 
verhältnisse der  umgebenden  Meere  wichtige  Auf- 
schlüsse gebracht. 

Der  Gaußberg,  jene  isolierte,  von  der  deut- 
schen Expedition  entdeckte  eisfreie  Kuppe  südlich 
des  Indischen  Ozeans,  besteht  aus  vulkanischen 
Gesteinen  von  atlantischem  Typus,  während  noch 
weiter  südlich  Urgesteine  und  kristallinische 
Schiefer  vorkommen.  Das  gewaltige,  südlich  von 
Neu-Seeland  gelegene  Süd-Viktoria-Land  dagegen 
besitzt  einen  ähnlichen  geologischen  Aufbau  wie 
die  Massive  von  Brasilien,  von  Vorderindien  und 
Australien,  während  südlich  von  Amerika,  in 
Graham-Land,  fossilreiche  mesozoische  und  tertiäre 
Ablagerungen    gefunden    wurden,    die    eine    weit- 


gehende Übereinstimmung  mit  den  Gesteinen 
Patagoniens  aufweisen.  Hier  war  Ha  ns  Reit  er 's 
Mutmaßung,  daß  das  westliche  Graham-Land  pazi- 
fische Faltung  zeige,  zutreffend,  und  der  von 
Arctowski  für  den  Gebirgszug  dieses  Landes 
geprägte  Name  „Antarktanden"  trifft  insofern  das 
Richtige,  als  sich  der  geologische  Bau  von  Pata- 
gonien hier  in  den  Südpolarkontinent  hinein  fort- 
setzt. 

V\'ir  finden  also  eine  fundamentale  Verschie- 
denheit in  dem  geologischen  Bau  von  Süd-Viktoria- 
Land  und  dem  ihm  benachbarten  WilkesLand 
einerseits  und  Graham-Land  mit  seinen  Nachbar- 
inseln andererseits.  Balch  hat  diese  beiden 
Gebiete  als  Ost-  und  Westantarktika  unterschie- 
den, eine  Bezeichnungsweise,  die  sich  schnell  ein- 
gebürgert hat.  Die  Feststellung  der  Grenze  zwi- 
schen den  Kettengebirgen  von  Westantarktika  und 
den  Massiven  von  Ostantarktika  ist  nun  eines  der 
Probleme,  die  neuerdings  für  die  antarktische  For- 
schung in  den  Vordergrund  des  Interesses  gerückt 
sind. 

Noch  1910  glaubte  man  mit  der  Möglichkeit 
rechnen  zu  dürfen,  daß  die  Roß  See  unter  der  auf 
ihr  schwimmenden  mächtigen  Tafel  des  Barriere- 
Eises  hindurch  weit  nach  .Süden  hin  in  den  Kon- 
tinent eingreife  und  vielleicht  in  direkter  Verbin- 
dung mit  der  Weddell-See  stände,  indem  ein 
gänzlich  mit  Eis  bedeckter  Meeresarm  sich  von 
dem  pazifischen  nach  dem  atlantischen  Südpolar- 
meere hindurchziehe,  der  eine  natürliche  Scheide 
zwischen  Ost-  und  Westantarktika  darstellen  würde. 

Obgleich  nun  die  Deutsche  Antarktische  Ex- 
pedition unter  Filchner  den  Nachweis  lieferte, 
daß  die  WeddellSee  weiter  nach  Süden  reicht 
als  man  bis  dahin  angenommen  hatte,  ja  daß  sie 
eine  nahezu  ebenso  tiefe  Einbuchtung  in  den 
Kontinent  darstellt  wie  die  Roß  See  auf  der  ent- 
gegengesetzten Seite,  sprechen  doch  gewisse  An- 
zeichen dafür,  daß  hier  nicht  die  atlantische  Mün- 
dung jenes  hypothetischen  Meeresarms  zu  suchen 
ist.  Vor  allem  sind  an  der  Filchner-Eisbarriere 
keine  großen  Tiefen  gelotet  worden,  so  daß  schon 
aus  diesem  Grunde  eine  erhebliche  Ausdehnung 
der  Weddell-See  unter  dem  Eise  nicht  zu  erwarten 
ist.  Die  Frage,  ob  zwischen  Weddell-  und  Roß- 
See  Wasser  oder  Land  vorhanden  ist,  darf  daher 
mit  großer  Wahrscheinlichkeit  als  zugunsten  des 
Landes  entschieden  betrachtet  werden. 

Gleichzeitig  aber  waren  auch  auf  der  pazifi- 
schen Seite  von  Antarktika  neue  Entdeckungen 
gemacht  worden.  Auf  seiner  glänzend  durchge- 
führten Schlittenreise  zum  Südpol  (vgl.  Naturw. 
Wochenschr.  191 2,  Bd.  XXVII,  S.  449—454)  hat 
Amu  n  d  s  e  n  wichtige  geographische  Feststellungen 
machen  können,  die  für  die  Auffassung  der  Be- 
ziehungen zwischen  Ost-  und  Westantarktika  von 
großer  Bedeutung  sind.  In  etwa  85"  südl.  Breite 
endete  die  Tafel  des  Roß-Barriere-Eises  in  einer 
Bucht,  die  im  Südwesten  von  einem  Teil  des 
Randgebirges  des  zentralen  antarktischen  Plateaus, 
den  Kronprinz-Olaf-Gipfeln,  im  Südosten  dagegen 


N.  F.  XIII.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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von  dem  Carmen-Land  begrenzt  wird.  Zwischen 
letzterem  und  dem  fast  800  km  weiter  nördlich 
gelegenen  König- Eduard- VIT. -Land  ist  östlich  von 
Amundsen's  Route  noch  weiteres  Land  vor- 
handen. Zwar  spricht  er  in  seinem  Reisewerk 
nur  von  Andeutungen  eines  solchen,  doch  hat  er 
in  mündlicher  Unterredung  seiner  festen  Über- 
zeugung Ausdruck  gegeben,  daß  hier  zwischen 
81"  und  82"  südl.  Breite  Land  vorhanden  sei.  Nur 
der  Umstand,  daß  kein  schneefreier  Fels  sichtbar 
war,  habe  ihn  gehindert,  mit  Bestimmtheit  von 
Land  zu  berichten.  Er  habe  aber  dasselbe  cha- 
rakteristische Ansteigen  der  Eisoberfläche  wahr- 
genommen, das  u.  a.  bei  Kaiser-Wilhelm- II. -Land 
und  Coats-I.and  als  untrügliches  Zeichen  des 
Landes  genommen  werde.  Zwischen  diesem 
Amundsen-Lande,  wie  es  am  treffendsten  zu  be- 
nennen wäre,  und  dem  Carmen  Lande  existiert 
noch  eine  unbekannte  Strecke  von  etwa  200  km 
Länge.  Hier  müßte  also  die  Furche  zwischen 
Roß-See  und  Weddell-See  durchlaufen ,  falls  sie 
vorhanden  ist. 

Amundsen  hat  jedoch  nicht  nur  für  die  oro- 
graphischen  Probleme,  sondern  auch  zu  morpho- 
logischen Spekulationen  neues  Material  geliefert. 
Schetelig,  der  die  von  Amundsen  im 
Königin  -  Maud  -  Gebirge  und  von  Prestrud  in 
König -Eduard -VII. -Land  gesammelten  Gesteins- 
proben bearbeitet  hat,  hält  beide  für  Bestandteile 
des  Grundgebirges  von  Süd- Viktoria-Land.  Nor- 
denskjöld  dagegen  möchte  die  Frage  für  König- 
Eduard- VII.-Land  offen  lassen. 

Aber  auch  bei  dem  von  Amundsen  im 
äußersten  Süden  entdeckten  Königin-Maud  Gebirge 
lassen  die  großen  Gipfelhöhen,  die  zwischen  4000 
und  5000  m  betragen,  eher  eine  Zugehörigkeit 
zur  westantarktischen  Kette  als  einen  Plateaurand 
vermuten,  denn  die  großen,  nicht  vulkanischen 
Erhebungen  der  Erde  gehören  im  allgemeinen 
den  Kettengebirgen  und  nicht  den  Massiven  an. 
Die  Gesteinsbeschaffenheit  allein  kann  nicht  über 
die  Zusammengehörigkeit  von  Gebirgen  entschei- 
den, für  welche  vielmehr  in  erster  Linie  die 
Struktur  maßgebend  ist.  Jedenfalls  deutet  ein  ge- 
wisser Parallelismus  mit  dem  Gebirgsbau  Nord- 
amerikas eine  Möglichkeit  an,  wie  das  Königin- 
MaudGebirge  zu  Westantarktika  gehören  könnte, 
ohne  von  dem  Plateau  Ostantarktikas  durch  eine 
tiefe  Furche  geschieden  zu  sein.  Gehört  es  zu 
Westantarktika,  so  haben  wir  seine  P'ortsetzung 
in  Graham-Land  zu  suchen,  gehört  es  zu  Ost- 
antarktika, dann  würde  es  mit  Coats-Land  zusam- 
menhängen ,  jener  nördlichen  P'ortsetzung  des 
Prinzregent- Luitpold- Landes,  das  der  Schotte 
Bruce  1904  im  Weddell-Meere  entdeckt  hat. 
Zwischen  diesen  Möglichkeiten  kann  nur  durch 
eingehende  Untersuchungen  entschieden  werden, 
die  für  die  nächste  Zeit  bevorstehen. 

Der  Österreicher  Dr.  König,  ein  Mitglied 
der  von  p-ilchner  geleiteten  Deutschen  Antark- 
tischen Expedition  gedenkt  nämlich  noch  in  diesem 
Sommer  eine  neue  Forschungsreise  in  das  Weddell- 


Meer  zu  unternehmen.  Der  Hauptvorstoß  soll 
dem  Abfall  des  Prinzregent-Luitpold-Landes  nach 
Süden  folgen,  in  der  Richtung  auf  das  Königin- 
Maud-Gebirge. 

Aber  der  erfolgreiche  englische  Polarforscher 
Shackleton,  der  bekanntlich  den  ersten  Vor- 
stoß in  das  Herz  des  Südpolar-Kontinents  aus- 
geführt hat  und  auf  diesem  im  Januar  1909  dem 
Südpol  bis  auf  180  Kilometer  nahe  gekommen 
war  (vgl.  Naturw.  VVochenschr.  19 10,  Bd.  XXV, 
S.  137 — 140),  will  gleichfalls  von  dem  Südende 
des  WeddellMeeres  aus  in  das  Innere  von  Ant- 
arktika vordringen,  und  zwar  ebenfalls  in  der  Rich- 
tung auf  das  Königin-MaudGebirge. 

Es  darf  uns  in  Deutschland  mit  lebhafter  Freude 
erfüllen,  daß  beide  Expeditionen  von  der  Weddell- 
See  ausgehen  wollen,  deren  Benutzbarkeit  als 
Operationsbasis  eine  deutsche  Entdeckung  ist. 
Andererseits  wäre  es  vorteilhafter,  wenn  beide 
Forscher  nicht  gleichzeitig  von  derselben  Seite  dem 
gleichen  Ziele  zustrebten,  sondern  wenn  König, 
der  die  Weddell-See  kennt,  von  dieser  Seite,  Shack- 
leton, dem  die  Roß-See  und  ihre  Umgebung  be- 
kannt ist,  von  dort  ausginge,  und  wenn  so  die 
große  Aufgabe  von  verschiedenen  Seiten  in  An- 
griff genommen  werden  könnte. 

Inzwischen  hat  der  Australier  Mawson  auf 
einer  großzügig  angelegten  Expedition  in  den 
Jahren  1912  und  1913  die  Erforschung  von  Wilkes- 
Land,  jener  ausgedehnten,  nahezu  mit  dem  Süd- 
polarkreis zusammenfallenden  Küstenstrecke  süd- 
lich von  Australien  durchgeführt.  Nach  den  bis- 
her vorliegenden  Nachrichten  hat  dieses  Land  eine 
nachgewiesene  Küstenlänge  von  2600  km,  was 
etwa  der  Entfernung  von  Berlin  bis  Ägypten  gleich- 
käme. Der  geologische  Bau  würde  demjenigen 
von  Süd- Viktoria-Land  entsprechen.  Weiter  west- 
lich scheint  sich  zwischen  dem  Gaußberg  und  dem 
Kemp-Enderby  Lande,  für  dessen  geologischen  Bau 
wir  keinerlei  Anhaltspunkte  haben,  eine  nach  Süden 
einspringende  Bucht  zu  erstrecken.  Noch  weiter 
westlich  lassen  die  Gesteine,  welche  dieDretschzüge 
des  ,,Challenger",  der  ,,Valdivia"  und  der  ,,Scotia" 
aus  den  Meerestiefen  ans  Tageslicht  gefördert  haben, 
die  Annahme  zu,  daß  südlich  vom  Indischen  und 
Atlantischen  Ozean  zwischen  Kemp-Enderby-Land 
und  Coats  Land  ein  stark  abgetragenes  Massiv  von 
kristallinen  Schiefern  mit  einer  Sandsteindecke  vor- 
liegt. Dagegen  haben  die  beiden  Süd])olar-Expe- 
ditionen  des  Franzosen  Charcot  (vgl.  Naturw. 
Wochenschr.  191 1,  Bd.  XXVI,  S.  552 — 555)  und 
die  ältere  belgische  unter  de  Gerlache  für  die 
Westküste  der  Westantarktis  den  Nachweis  geliefert, 
daß  hier  eine  eigene  petrographische  Provinz  von 
andinem  Charakter  vorliegt,  ein  neuer  Beweis  für 
die  Zusammengehörigkeit  dieses  Gebietes  mit  Pata- 
gonien. 

Durch  die  Entdeckungsreisen  in  der  ersten 
Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  waren  die  antark- 
tischen Küsten  in  einer  Pirstreckung  über  1 10 
Längengrade  bekannt  geworden,  während  die  heute 
bekannten    LImrisse    175    Längengrade    umfassen. 


;52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  i6 


wobei  allerdings  die  zahlreich  vorhandenen  Lücken 
nicht  berücksichtigt  sind.  Wir  kennen  also  den 
Umfang  des  Südpolarkontinents  noch  nicht  einmal 
zur  Hälfte,  und  daher  sind  auch  unsere  Vorstellungen 
von  der  Größe  dieses  sechsten  Erdteils  naturgemäß 
ziemlich  unsichere.  Wir  dürfen  sein  Areal  zurzeit 
auf  etwa  13^'.,  Million  Quadratkilometer  schätzen, 
ein  Betrag,  der  zu  groß  sein  dürfte,  wenn  die  von 
G.  Neumayer  vermutete  Einbuchtung  des  Meeres 
zwischen  WilkesLand  und  Kemp-Enderby-Land 
vorhanden  sein  sollte,  der  jedoch  hinter  der  Wirklich- 
keit zurückbleibt,  wenn  die  Küsten  in  den  noch 
unbekannten  Gebieten  nördlicher  liegen,  als  man 
nach  unserer  augenblicklichen  Kenntnis  vermuten 
muß.  O.  Baschin. 

Meteorologie.  Neuere  Ansichten  über  die  Ur- 
sache der  Gletscherschwaiikungen.  Seit  Ende  der 
50  er  Jahre  befinden  sich  die  mächtigsten  Schweizer 
Gletscher  im  Rückgang.  Millionen  von  Kubikmetern 
Eis  sind  verschwunden  und  Hunderte  von  Ouadrat- 
kilometern  Terrain  wurden  aper.  Für  diese  ge- 
waltige Naturerscheinung  fehlte  seither  noch  jede 
sichere  Begründung.  Aus  dem  Verhalten  der  Luft- 
temperatur hätte  niemand  auf  einen  derartigen 
Rückgang  der  Gletscher  schließen  können.  Die 
Temperaturinessungen  der  in  der  Gletscherzone 
liegenden  Alpenstationen  (Einsiedeln,  Andermatt, 
St.  Gotthard  u.  a.)  geben  keinerlei  Erklärung 
für  diesen  Gletscherschwund.  Das  gleiche  gilt 
für  die  Niederschlags  Verhältnisse.  Die 
große  feuchtkalte  Periode  1875  — 1891  ist  an  den 
großen  Gletschern  des  Zentralalpenmassivs  und 
Berninagebietes  spurlos  vorübergegangen,  ohne 
ihren  Rückzug  aufzuhalten.  Ebenso  einflußlos 
scheinen  trocken-warme  Klimaperioden  zu  sein, 
insofern  sie  den  Gletscherschwund,  wie  besonders 
der  mächtige  Rhonegletscher  beweist,  nicht  wie 
man  glauben  sollte,  beschleunigen.  Man  steht  da 
vor  Rätseln  und  kommt  stets  von  neuem  auf  den 
Gedanken,  daß  Lufttemiieratur  und  Niederschlags- 
menge durchaus  nicht  die  maßgebenden  Einflüsse 
erschöpfend  wiedergeben  können.  Von  selbst  wird 
man  auf  ein  weiteres  Element,  auf  die  direkte 
Besonnung,  das  ist  der  Einfluß  der  wirk- 
samen Sonnenstrahlung,  geführt,  als  wich- 
tigen Faktor  für  den  Gletscherstand.  Nach  den 
LTntersuchungenMau  r  er 's  ')  -Zürich  istdieSonnen- 
strahlungvoneminenter  WirkungaufdenSch  mel  z- 
p  r  o  z  e  ß  an  der  Gletscheroberfläche.  Maurer  hat 
neuerdings  an  großen  Eisplatten  hierüber  Versuche 
angestellt.  Er  kommt  zu  dem  Schluß,  daß  Eis- 
flächen mindestens  40  "  „  der  gesamten  auftreffenden 
Sonnenstrahlung  absorbieren.  Unter  Berücksich- 
tigung der  Strahlungsmessungen  im  schweizerischen 
Zentralalpengebiet,  wie  sie  besonders  C.  Domo 
in  Davos  ausführt,  kommt  er  zu  dem  Ergebnis, 
daß  in  der  Gletscherregion  an  einem  heiteren 
Sommertag  für  den  Quadratkilometer  Eisfläche 
30000  m^  abschmelzen,  d.  h.  etwa  32  mm  Ablations- 


betrag  pro  Tag  allein  durch  die  Sonnenwärme. 
Vom  Mai  bis  September  erhöht  sich  dieser  Betrag 
auf  2,7  m.  Überblickt  man  daher  die  enorme 
Gletscherschwundperiode  während  des  verflossenen 
halben  Jahrhunderts,  so  hat  man  kaum  eine  andere 
Erklärung  dafür,  als  daß  sie  zustande  gekommen 
ist  durch  das  überaus  günstige  Zusammentreffen 
einer  langen,  äußerst  wirksamen  Strahlungsperiode 
mit  einer  besonders  im  zweiten  Teil  des  Rückzuges 
noch  relativ  starken  Niederschlagsarmut  in  der 
F"irnregion,  beides  Erscheinungen,  wie  sie  während 
Jahrhunderten  nur  selten  in  diesem  Zusammenspiel 
undsolcherBeharrlichkeit  zurBeobachtung kommen. 

A.  P. 


Zoologie.       Das    Verhältnis 
zur  übrigen  Vogelwelt 

dörfer   eine 

In    der    Zeit    vom    Jahre   1895    bis 
1913    hat  der  Verf  2089  sog, 
die  Überreste  wie  Feedern, 


der    Raubvögel 


Hierüber  hat  O.  Utten- 
interessante  Arbeit   veröfientlicht. ') 


31.  Dezember 
Rupfungen",    d.  h. 
Körperteile  der  Mahl- 
zeiten von  Raubvögeln  gesammelt. 

Diese  2089  von  Raubvögeln  erbeuteten  Vögel 
verteilen  sich  auf  101  Arten,  und  zwar:  102  Reb- 
hühner, 169  Buchfinken,  143  Haussperlinge,  iio 
Stare,  103  Goldammern,  100  Eichelhäher,  95  Ringel- 
tauben, 95  Haustauben,  74  Singdrosseln,  66  Feld- 
sperlinge, 65  F"eldlerchen,  61  Amseln,  58  Kohl- 
meisen, 52  Fasanen,  42  Nebelkrähen,  36  Grün- 
finken, 27  Blaumeisen,  26  Birkhühner,  23  Rauch- 
schwalben, 23  Stockenten,  20  Wintergoldhähnchen, 
17  Bachstelzen,  16  Grünspechte,  16  Bluthänflinge, 
16  Weindrosseln,  15  Krickenten,  15  Kiebitze, 
15  Grauammern,  14  Wasserhühner,  13  Hauben- 
meisen, 13  Kuckucke,  13  Wacholderdrosseln, 
12  Baumpieper,  12  Turteltauben,  12  Elstern, 
II  Tannenmeisen,  11  Dompfaffen,  10  Rotkehlchen, 
10  Misteldrosseln,  10  Rotrückige  Würger,  7  Wiesen- 
pieper, 7  Pirole,  7  Große  Buntspechte,  5  Berg- 
finken, 5  Stieglitze,  5  Kernbeißer,  4  Gartenrot- 
schwänze, 4  Haushühner,  4  Birkenzeisige,  4  Ufer- 
schwalben, je  3  Rotschenklige  Wasserläufer, 
Wasserrallen,  Zwergsteißfüße,  Heidelerchen,  Garten- 
grasmücken, Raubwürger,  Waldkäuze,  Wald- 
olireulen,  Turmfalken,  Baumläufer,  Spechtmeisen, 
Schwanzmeisen,  Kreuzschnäbel,  Erlenzeisige  und 
Lachmöwen,  je  2  Zaungrasmücken,  Dorngras- 
mücken, Steinschmätzer,  Seidenschwänze,  Schnee- 
ammern, Nachtschwalben,  Wiedehopfe,  Blauracken, 
Turmsegler,  Schwarzspechte,  llohltauben ,  Wach- 
teln, Wachtelkönige,  Bekassinen,  Knäckenten  und 
Tafelenten  und  endlich  je  i  Sperber,  Baumfalk, 
Sumpfohreule,  Steinkauz,  F'itislaubvogel,  Weiden- 
laubvogel,  Gebirgsstelze,  Trauerfliegenschnäpper, 
Grauer  F"liegenschnäpper,  Sumpfmeise,  Hauben- 
lerche, Rohrammer,  Waldschnepfe,  F^ischreiher  juv., 
Grünfüßiges  Teichhuhn,  Geflecktes  Sumpfhuhn, 
Moorente,  Schwarze  Seeschwalbe,  Flußseeschwalbe 
und  Rothalstaucher. 


Met.  Zeitschrift,  XXXI,   1914,  S.  23  ff. 


')    Ornithologische    Monatsschrift,    39.    Jahrgang,     1914, 
S.    198—205. 


N.  F.  XIII.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


253 


So  groß  auch  die  Zahl  der  gerupften  Vögel 
ist,  so  ist  doch  zu  berücksichtigen,  daß  von  den 
101  Arten  nur  20  mit  über  i  "'„  unter  den  Beute- 
tieren vertreten  sind  und  daß  diese  zusammen 
über  ■'/a  der  Gesamtzahl  ausmachen.  Die  Vögel 
dieser  20  Arten  gehören  solchen  an ,  welche  in 
einer  großen  Individuenzahl  vertreten  sind  und 
die  auch  häufig  bleiben,  trotzdem  sie  durch  die 
Raubvögel  gezehntet  werden.  „Da  kommen  nicht 
nur  die  143  Haussperlinge  in  Betracht,  sondern 
noch  vielmehr  die  142  Nebelkrähen,  12  Elstern 
und  100  Eichelhäher,  die  bei  ungestörter  Ver- 
mehrung unter  den  Brüten  ihrer  Umgebung  noch 
eine  weit  größere  Verheerung  angerichtet  hätten, 
als  es  die  Raubvögel  selbst  getan  haben." 

Ferner  wurde  festgestellt,  daß  neun  Zehntel 
der  Funde    vom  Habicht    und  Sperber  herrühren. 

Albert  Heß,  Bern. 

Physiologie.  Einen  außerordentlichen  Fall 
von   menschlichem  Wiederkauen   hat  v.  G  u  1  a  t  - 

Wellenburg  (Münchener  Med.  Wochenschrift, 
1913,  S.  2568)  beschrieben. 

Bevor  die  Untersuchung  mit  Röntgenstrahlen 
in  Aufnahme  kam,  glaubte  man,  daß  bei  mensch- 
lichen „Wiederkäuern"  abnorme  Verhältnisse  des 
unteren  Teils  der  Speiseröhre  und  des  Magen- 
mundes vorlägen.  Bei  der  Obduktion  fand  man 
auch  bisweilen  eine  Erweiterung  des  unteren  Teils 
der  Speiseröhre,  welche  die  Cardia  des  Magens 
überlagerte,  auch  einen  sog.  Sanduhrmagen.  Bei 
manchen  „Wiederkäuern"  aber  kann  das  Wieder- 
kauen nicht  durch  eine  anatomische  Besonderheit 
veranlaßt  sein,  da  es  nur  zeitweise  auftritt.  Am 
häufigsten  ist  es  bei  hysterischen  Frauen  und 
Geisteskranken,  nur  selten  bei  Männern.  Die 
„Wiederkäuer"  würgen  die  Ingesta  bei  Inspirations- 
stellung des  Brustkorbs  ohne  Beteiligung  des  Zwerch- 
fells und  der  Bauchpresse  —  wie  das  beim  Er- 
brechen geschieht  —  willkürlich  oder  unwillkürlich 
wieder  herauf  und  schlucken  sie  nochmals  gekaut 
oder  ungekaut  wieder  hinunter.  Durch  die  ge- 
wohnheitsmäßige Erweiterung  der  Cardia  des 
Magens  tritt  allmählich  eine  Erschlaffung  von 
deren  Ringmuskulatur  ein,  bzw.  diese  wird  auf 
nervösem  Wege  gelähmt.  Die  allmählich  ein- 
tretende Erweiterung  des  unteren  Abschnitts  des 
Schlundrohrs  ist  dann  eine  Folgeerscheinung. 

Nach  W.  zeigte  sich  Oktober  191 3  während 
des  Oktoberfestes  in  München  ein  Mann,  der  bis 
4  Liter  Wasser  auf  einmal  hinuntertrank,  bis  20 
lebende  Frösche  und  Goldfische  schluckte,  sie  eine 
Zeitlang  im  Magen  behielt  und  dann  die  Tiere 
lebend  wieder  heraufwürgte.  Der  Mann,  62  Jahre 
alt,  war  durchaus  gesund  und  hatte  keinerlei  An- 
zeichen von  Hysterie.  Bis  vor  wenigen  Monaten 
war  er  Holzarbeiter  gewesen,  bis  er  auf  die  Idee 
kam,  den  Broterwerb  auf  die  genannte  bequemere 
Art  zu  betreiben.  Schon  als  Säugling  hatte  er 
alle  Milch  heraufgewürgt  und  konnte  in  seiner 
Jugend  die  Speisen  willkürlich  in  den  Mund  herauf- 


stoßen.    Ein    Bruder    von    ihm    und    dessen    Kind 
sind  gleichfalls  Wiederkäuer. 

Bei  der  Untersuchung  von  W.  verschluckte  der 
Mann  noch  allerhand  andere  Dinge:  so  einen  zu- 
sammengerollten Chiffon  von  i  qm,  einen  Opera- 
tionsgummihandschuh, zusammengelegte  Akten- 
blätter usw.,  alles  mühelos  bis  ungefähr  auf  die 
Höhe  der  Mitte  des  Brustbeins;  die  Stelle  bis 
wohin,  fühlte  er  deutlich. 

Das  Vorkommen  des  Wiederkauens  in  diesem 
Maß  gibt  eine  natürliche  Erklärung  für  viele  wunder- 
bare Erscheinungen,  wie  sie  in  spiritistischen 
Sitzungen  vorgeführt  werden  (vgl.  Nr.  13,  206) 
und  hat  auch  seine  Bedeutung  in  kriminalistischer 
Beziehung,  z.  B.  Juwelendiebstahl  usw. 

Kathariner. 

Grüne  tierische  Farbstoffe.  Von  Hans  P  r  z  i  - 
bram  (Pflüger's  Archiv  für  die  gesamte  Physio- 
logie des  Menschen  und  der  Tiere,  153.  Bd.,  8.  Heft, 

1913-) 

Schon    wiederholt    ist    die    Ansicht    geäußert 

worden,  die  grüne  Farbe    mancher  Tiere    sei    mit 

dem  Blattgrün  (Chlorophyll)  identisch. 

P.  kam  auf  Grund  eingehender  spektroskopi- 
scher und  chemischer  Untersuchungen  der  ver- 
schiedensten grün  gefärbten  Tiere  (Bacillus  Rossii, 
Dixippus  morosus,  Psophus  stridulatorius,  Stenobo- 
thrus  viridulus,  Loeusta  viridissima,  Orphania  can- 
tans,  Mantis  religiosa,  Cantharis  (Lytta)  vesicatoria, 
Hyla  arborea,  Rana  esculenta,  Bonellia  viridis)  zu 
der  Feststellung,  daß  in  keinem  einzigen  P^all,  wo 
pflanzliche  Beimischungen  ausgeschlossen  waren, 
die  Grünfärbung  durch  pflanzliches  Chlorophyll 
verursacht  wurde.  Stets  fehlte  das  für  letzteres 
charakteristische  Absorptionsband  im  Spektrum. 
Spektroskopisch  hatten  alle  untersuchten  Extrakte 
gemeinsam  eine  Verkürzung  am  roten  Ende  des 
Spektrums  und  die  Lage  der  Absorptionsbänder. 
Eigentümlich  für  die  Gephyree  Bonellia  war  ein 
starkes  Absbrptionsband.  Wo  ein  Hinweis  auf 
pflanzliches  Chlorophyll  vorhanden  war,  handelte 
es  sich  stets,  wie  bei  den  ersten  fünf  Arten,  um 
Tiere  mit  gemischter  Nahrung.  Bei  ihnen  fand 
sich  ein  Schatten  an  jener  Stelle  des  Spektrums, 
die  bei  den  übrigen  Tieren  hell,  bei  den  Pflanzen 
aber  durch  ein  charakteristisches  Chlorophyllband 
ausgezeichnet  ist.  So  erhielt  es  Chautard  bei 
Canthariden  nur  dann,  wenn  Teile  des  Abdomens 
mit  Nahrungsresten  im  Darm  bei  Herstellung  der 
Extrakte  verarbeitet  worden  waren.  Um  mit  ganz 
einwandfreiem  Material  Versuche  anzustellen,  hat 
P.  u.  a.  die  Flügeldecken  der  ägyptischen  Gottes- 
anbeterin (Sphodromantis  bioculata)  benutzt. 

In  Übereinstimmung  mit  seinen  älteren  Ver- 
suchen hält  P.  an  seinem  Standpunkt  fest,  daß  es 
im  Tierkörper  wirkliches  Chlorophyll  von  der 
chemischen  Konstitution  des  Blattgrüns  nicht  gibt. 
Wo  solches  vorkommt,  ist  es  mit  der  Nahrung 
hineingelangt  oder  das  Produkt  symbiontischer 
Algen.  Es  schließt  das  nicht  aus,  daß  die  vom 
Tierkörper  selbst  gebildeten  Pigmente  nahe  Ver- 
wandte des  Chlorophylls  sind.  Kathariner. 


254 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  16 


Chemie.  Der  Farbstoff  der  Kornblume.  Die 
blauen,  roten  und  violetten  F'arbstoffe,  die  sich  in 
den  Blüten  vieler  Blumen,  in  Früchten  und  in 
manchen  Blättern  vorfinden,  faßt  die  Chemie  unter 
dem  Namen  Anthocyane  zusammen.  Diese  Farb- 
stoffe lassen  sich  mit  Wasser  oder  wasserhaltigem 
Alkohol  extrahieren  und  sind  unlöslich  in  Äther. 
Nach  ihrem  chemischen  Verhalten  lassen  sich  ver- 
schiedene Gruppen  von  Anthocyanen  unterscheiden  : 
viele  sind  in  saurer  Lösung  rot,  in  Sodalösung 
blau  (z.  B.  die  Farbstoffe  der  Kornblume,  der  Rose, 
der  Weintraube,  der  Radieschen  usw.);  andere,  wie 
die  der  Nelke  oder  der  Aster,  sind  sowohl  in  saurer 
als  auch  in  schwach  alkalischer  Lösung  (in  dicker 
Schicht)  rot;  wieder  andere  (z.  B.  die  der  roten 
Rübe  und  der  Melde)  sind  in  saurer  Lösung  violett 
und  werden  mit  Soda  rot.  Vor  kurzem  haben 
Willstätter  und  Everest  die  Ergebnisse  einer 
Arbeit  veröffentlicht  ( L  i  e  b  i  g  s  Annalen  der  Chemie, 
401,  189),  die  sich  mit  dem  Anthocyan  der  Korn- 
blume beschäftigt.  Dieser  Farbstoff  kommt  in  der 
Kornblume  in  verschiedenen  Modifikationen  vor. 
Die  Randblüten  enthalten  hauptsächlich  einen 
blauen  Farbstoff,  der  das  Kaliumsalz  einer  .Säure 
ist.  Eine  violette  Form  des  F"arbstoffs,  die  sich 
fast  ausschließlich  in  den  Scheibenblülchen  vor- 
findet, ist  die  freie  Säure  selbst;  sie  hat  den  Namen 
Cyanin.  Eine  rote  Modifikation,  die  bei  Anwesen- 
heit überschüssiger  Säure  im  Zellsaft  auftritt,  ist 
eine  Verbindung  des  Cyanins  mit  einer  I'flanzen- 
säure.  Wässerige  Lösungen  des  blauen  und  roten 
Farbstoffs  werden  bald  entfärbt;  es  bildet  sich 
dabei  eine  vierte  farblose  Modifikation  des  Farb- 
stoffs, indem  sich  das  Cyanin  isomerisiert.  Will- 
stätter isolierte  das  blaue  Cyaninsalz,  indem  er 
getrocknete  Kornblumenblätter  mit  alkoholhaltigem 
Wasser  extrahierte  und  den  Farbstoftaus  der  Lösung 
mit  Alkohol  fällte.  Ein  Zusatz  von  Natriumnilrat 
oder  Natriumchlorid  verhindert  oder  verzögert  die 
bei  der  Extraktion  sich  bemerkbar  machende  Um- 
wandlung in  die  farblose  Form.  Durch  Dialyse 
läßt  sich  schließlich  ein  prachtvoll  kristallisierendes 
Präparat  erhalten.  Das  Cyaninchlorid,  das  aus  dem 
Kaliumsalz  hergestellt  werden  kann,  ergab  bei  der 
Analyse  die  Formel  C2,H330j,Cl  + 3H,0.  Die 
Verbindung  ist  ein  Glukosid  und  wird  durch  Säuren 
in  die  eigentliche  Farbstoffkomponente,  das  Cyani- 
din, und  in  Glukose  gespalten:  C^sH-jgGi-Cl -)- 
2H.,0==C,eH,30;Cl  +  2CoHi.,Oa.  Der  zuckerfreie 
Farbstoff,  der  als  Chlorid  schöne  Kristalle  bildet, 
ist  in  säurefreier  Form  violett,  als  Alkalisalz  blau. 

Bugge. 

Ester  der  Chromsäure.  Merkwürdigerweise 
sind  bisher  in  der  Literatur  der  organischen 
und  anorganischen  Chemie  Ester  der  Chromsäure 
unbekannt  geblieben.  H.  W  i  e  n  h  a  u  s  hat  diese 
Lücke  ausgefüllt,  indem  er  auf  einfache  Weise  — 
durch  Behandeln  gewisser  Alkohole  mit  über- 
schüssigem Chromtrioxyd  in  Lösungen  von  Te- 
trachlorkohlenstofif  oder  Petroläther  —  die  Chrom- 
säureester von  Menthanol,   Methylfenchol,  Methyl- 


borneol  und  anderen  Alkoholen  der  Terpenreihe 
darstellte  (Berichte  d.  Deutschen  Chem.  Ges.,  47, 
322).  Da  Chromsäure  primäre  und  sekundäre 
Alkohole  (mit  der  Gruppe  —  CH.,OH  und  =  CHOH) 
zu  x'\ldehyden  bzw.  Ketonen  oxydiert,  ist  die  Zahl 
der  Alkohole,  die  sich  mit  Chromsäure  verestern 
lassen,  beschränkt  auf  die  tertiären  Alkohole  (bei 
denen  sich  das  Hydroxyl  an  einem  Kohlenstoff- 
atom befindet,  das  mit  drei  anderen  Kohlenstoff- 
atomen verbunden  ist).  Die  hergestellten  Ester 
sind  flüssig  odtr  kristallisiert,  in  Wasser  so  gut 
wie  gar  nicht  löslich  und  durch  Alkalilaugen  nur 
schwer  verseifbar.  Durch  die  Veresterung  verliert 
die  Chromsäure  die  Eigenschaft,  welche  sonst  zu 
ihrem  Nachweis  dient :  sie  färbt  nicht  mehr  Äther 
nach  Zusatz  von  Wasserstoffsuperoxyd  blau.  Der 
Umstand,  daß  sie  in  Gegenwart  tertiärer  Alkohole 
aus  wässeriger  Lösung  in  Äther  oder  Petroläther 
übergeht  (was  sie  in  freiem  Zustand  nicht  tut), 
kann  analytisch  zum  Nachweis  der  Chromsäure 
verwertet  werden,  da  bei  dieser  Reaktion  das  or- 
ganische Lösungsmittel  sich  rot  färbt.  Anderer- 
seits hat  man  in  dieser  Reaktion  ein  bequemes 
Mittel,  um  tertiäre  .'Alkohole  von  primären  und 
sekundären  unterscheiden  zu  können.  Bugge. 

Paläontologie.  Über  einen  fossilen  Menschen- 
fund in  Deutsch-Ostafrika  hat  Dr.  H.Reck  letzt- 
hin verschiedentlich  in  der  Tagespresse  berichtet, 
noch  ehe  seine  Ausführungen  vor  dem  Forum 
der  Gesellschaft  Naturforschender  Freunde  zu 
Berlin  in  den  Sitzungsberichten  dieser  Gesellschaft 
erschienen  sind.  Naturgemäß  hat  eine  solche 
Nachlicht  das  allerlebhafteste  Interesse  auf  allen 
Seiten  wachgerufen. 

Auch  Geheimrat  F ritsch  hat  im  „Berliner 
Lokal-Anzeiger"  das  Wort  dazu  ergriffen  in  I""orm 
eines  Berichtes  über  jene  Sitzung  und  sich  dabei 
in  einem  nicht  unwesentlichen  Punkte  anders  aus- 
gesprochen   als    der    Entdecker   selbst. 

Es  wäre  nun  gut,  wenn  für  ein  Referat  an 
dieser  Stelle  ein  wissenschaftlicher  Bericht 
abgewartet  werden  könnte.  Wie  das  aber  bei 
dem  mehr  auf  Fixigkeit  denn  auf  Richtigkeit 
gerichteten  Betriebe  des  Zeitungswesens  nahezu 
unvermeidlich  zu  sein  scheint,  ist  eine  im  Berliner 
Lokal-Anzeiger  erschienene  Abbildung  unter  fal- 
schem Titel  gebracht  worden  und  dadurch  ge- 
eignet ganz  erheblich  irrezuführen.  Das  betreffende  h 
Bild  betraf,  wie  in  Heft  13  der  „Woche"  richtig- 
gestellt ist,  eine  andere  Grabungsstelle  im  Ge- 
biete der  Nachforschungen  des  Herrn  Dr.  Reck, 
nicht,  wie  in  der  Zeitung  (Morgenausgabe  vom 
16.  März  1914,  I.  Beiblatt!  angegeben,  die  des 
Menschenfundes!  Was  gar  in  ausländischen  Zeitun- 
gen an  unautorisierten  Zahlenangaben  gebracht 
worden  ist,  ist  nicht  wert  berichtigt  zu  werden. 
Für  jeden  halbwegs  mit  wissenschaftlichen  Me- 
thoden Vertrauten  ergibt  sich  die  völlige  Halt- 
losigkeit derartiger  von  der  Presse  künstlich  auf- 
gebauschter Nachrichten  von  selbst.  Es  erscheint 
aber    nötig,    rechtzeitig    solchem    Treiben     einen 


N.  F.  XIII.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


255 


Damm  entgegenzusetzen,  damit  das  Unheil  nicht 
lawinenartig  anschwillt.  Es  wird  sonst  dem  Ferner- 
stehenden auf  die  Dauer  dennoch  unmöglich  ge- 
macht, durch  das  Gemisch  wahrer  und  falscher 
Berichte  hindurchzufinden,  und  es  besteht  Gefahr, 
daß  das  Gute  mit  dem  Schlechten  verworfen  werde. 

Wie  Dr.  Reck  verschiedentlich  ausgeführt  hat, 
hat  er  mit  Mitteln,  die  die  kgl.  preußische  Aka- 
demie der  Wissenschaften  und  die  Gesellschaft 
Naturforschender  Freunde  zu  Berlin  zur  Verfügung 
stellten,  für  das  geologischpaläontologische  Institut 
und  Museum  der  Universität  Berlin,  von  dem  auch 
die  Saurierausgrabungen  am  Tendaguru  ausgingen, 
nach  deren  Abschluß  Ausgrabungen  am  nahezu 
entgegengesetzten  Ende  der  Kolonie  vorgenommen, 
die  fossile  Säugetiere  zum  Gegenstande  hatten. 
Entdecker  der  Fundstelle  ist  Herr  Prof.  Katt- 
winkel  in  München.  Sie  ist  in  der  Nachbar- 
schaft des  von  Herrn  Prof.  Jaeger  studierten  und 
beschriebenen  Hochlandes  der  Riesenkrater  gelegen 
und  zwar  in  der  Oldoway- Schlucht  am  West- 
rande des  ostafrikanischen  Grabensystems  bzw.  am 
Ostabfall  der  SserengetiSteppe.  Das  nach  Dr. 
Reck 's  genaueren  Erkundungen  sehr  reiche 
Knochenlager,  das  in  mehrere  Horizonte  geglie- 
dert werden  konnte,  befindet  sich  hauptsächlich 
in  vulkanischen  Tuffen.  Nach  allem,  was  man  vom 
Alter  der  Grabenbildungen  und  der  mit  ihnen  eng  ver- 
knüpften vulkanischen  Ergüsse  bisher  wußte,  war 
anzunehmen,  daß  es  sich  etwa  um  jungtertiäre  bis 
altdiluviale  P"unde  handeln  mochte.  Das  erschien  um 
so  interessanter,  als  in  nicht  allzugroßer  Entfernung, 
bei  Karungu  am  Ostufer  des  Viktoria-Sees  auf 
englischem  Gebiete  in  freilich  anders  gearteten 
Schichten  ebenfalls  fossile  Säugetierreste  bekannt 
geworden  waren,  die  nach  Andrews  Dinotherium 
enthalten  und  miozänen  bis  pliozänen  Alters 
sein  dürften.  Es  ist  aber  klar,  daß  die  Alters- 
bestimmung sich  erst  aus  der  Bearbeitung  der 
Fauna  ergeben  kann ,  und  ihr  sehr  großer  strati- 
graphischer  Wert  neben  dem  rein  paläontologi- 
schen besteht  gerade  darin,  daß  wir  durch  sie 
hier  mitten  im  sonst  fossilleeren  Innern  den  präch- 
tigsten Fixpunkt  erhalten,  der  zur  Altersbestim- 
mung tektonischer,  vulkanischer  und  morphologi- 
scher Vorgänge  von  weittragendster  Bedeutung 
werden  muß. 

Als  nun  Herr  Dr.  Reck  die  erstaunliche  Kunde 
mit  heimbrachte,  daß  es  ihm  gelungen  sei,  ein 
fossiles  Menschenskelelt  aus  eben  jenen  Schichten 
und  zwar  aus  einem  der  unteren  Horizonte  zu 
bergen,  mußte  bei  Annahme  einer  primären  Lager- 
ung des  Skeletts  dem  Menschen  die  gleiche  Ein- 
schätzung als  stratigraphischer  Wegweiser  zuteil 
werden,  wie  den  Säugetierformen.  Da  Menschen- 
funde aus  älteren  als  diluvialen  Schichten  nirgends 
mit  Sicherheit  bekannt  sind,  hätte  also  unter  jener 
Voraussetzung  das  Tertiär  aus  der  Betrachtung 
zunächst  ausschalten  können. 

Nun  ergab  sich  aber  weiter,  wie  Fritsch  be- 
richtet, aus  der  erwähnten  Besprechung  im  Kreise 
der  Naturforschenden  Freunde,  bei  der  freilich  nur 


erst  der  sorgfältig  transportierte  Schädel  vorlag,  daß 
primitive  Merkmale  dem  Schädel  höchstens  in 
demselben  Sinne  zugesprochen  werden  können, 
wie  etwa  heute  lebenden  primitiven  Völkern  auch, 
d.  h.  also  ein  auffällig  rezenter  Habitus.  Es  mußte 
daher  sofort  die  P"rage  auftauchen,  ob  jene  Voraus- 
setzung primärer  Lagerung  in  der  Schicht  auch  zu- 
treft'e.  Es  gilt  demnach  zunächst  die  Unterlagen 
für  die  noch  ausstehende  genaue  Untersuchung  dea 
Skelettfundes  aufs  sorgfältigste  zu  prüfen.  Denn 
ein  hochentwickelter  Mensch  als  Zeitgenosse  jener 
in  den  Tuffen  begrabenen  Fauna  müßte  den  Ver- 
dacht erwecken ,  daß  sie  selbst  und  damit  man- 
cher geologische  Vorgang  nur  sehr  jugendlichen, 
vielleicht  subrezenten  Datums  sein  könnte  oder 
aber  er  würde,  falls  jene  sich  doch  als  alt  heraus- 
stellt, unser  Wissen  von  der  Entwicklung  des 
Menschengeschlechts  in  der  ungewöhnlichsten 
Weise  bereichern,  ja  in  gewissem  Sinne  fraglos 
umwerfen.  Nun  wäre  es  selbstverständlich  nicht 
minder  verkehrt  und  unwissenschaftlich,  sich  gegen 
eine  solche  unerwartete  Bereicherung  des  Wissens 
zu  sträuben,  weil  sie  eine  Abänderung  hergebrach- 
ter Überlieferung  bedeutet,  als  ein  besonders  er- 
strebenswertes Ziel  in  solchem  Umsturz  sehen  zu 
wollen.  Wir  haben  wunschlos  und  voraussetzungs- 
los die  Natur  zu  befragen  und  zwar  mit  aller  Kritik 
gerüstet,  nichts  weiter  1  Für  je  wertvoller  man  den 
Fund  zu  halten  geneigt  ist,  desto  größere  Vorsicht 
ist  bei  der  Beurteilung  vonnöten. 

Bei  jedem  Fossil  sind,  wie  das  in  jener  Sitzung 
besonders  Geheimrat  Branca,  der  Direktor  des 
geologisch- paläontologischen  Instituts  hervorhob, 
zwei  Fragen  streng  auseinanderzuhalten  und  ge- 
sondert, aber,  was  wichtig  ist,  doch  parallel  zu- 
einander zu  behandeln,  entsprechend  der  eigen- 
artigen Doppelstellung  der  Paläontologie  zwischen 
zoologischer  und  geologischer,  also  einer  „organi- 
schen" und  einer  „unorganischen"  Wissenschaft.  Jede 
einseilig  morphologisch-paläontologische  Betrach- 
tung ist  ebenso  unvollkommen,  wie  eine  bloß  strati- 
graphisch  geologische.  Es  versteht  sich  von  selbst, 
daß  am  Arbeitstisch  in  der  Heimat  die  letztere 
überhaupt  nicht  vollkommen  geleistet  werden  kann ; 
sie  hat  im  Felde  zu  geschehen  und  ist  in  diesem 
P"alle  von  Dr.  Reck  natürlich  geleistet  worden.  Er 
hat  sich  nach  dem  an  Ort  und  Stelle  gewonnenen 
Eindruck  mit  aller  Entschiedenheit  dahin  ausge- 
sprochen, daß  dem  menschlichen  Skelette  eine 
primäre  Lagerung  in  der  Schicht  zukomme,  daß 
dieser  Mensch  also  tatsächlich  Zeitgenosse  der  aus- 
gebeuteten Säugetierfauna  sei.  Wenn  diese  Frage 
dennoch  als  diskussionsfähig  angesprochen  worden 
ist,  so  ist  mit  solchem  Zweifel  selbstverständlich 
kein  Vorwurf  verbunden.  Wie  schwer,  ja  nahezu 
unmöglich  zuweilen  dergleichen  Entscheidungen 
sind,  zeigt  der  Pithecanthropus  erectus  von  Java. 
Trotz  jahrelanger  Diskussionen,  trotz  Entsendung 
einer  großen  Forschungsexpedition  und  trotz  ein- 
gehendster Bearbeitung  ihrer  sehr  reichen  Ergeb- 
nisse kann  man  selbst  jetzt  noch  nicht  die  Behaup- 
tung wagen,   das  Alter   der  Schicht  sei  endgültig 


2S6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  i6 


festgestellt,  wissen  wir  selbst  jetzt  noch  nicht,  ob  die 
wenigen  Knochenreste,  was  ja  sehr  wahrscheinlich 
ist,  wirklich  einem  Individuum  angehört  haben! 

Die  gegenteilige  Meinung,  der  Mensch  sei  in 
einem  Grabe  beigesetzt  worden,  also  in  eine  Schicht 
geraten,  die  vor  seiner  Existenz  entstanden  sein 
müsse,  stützt  sich  in  erster  Linie  auf  die  photo- 
graphischen Aufnahmen  des  Skeletts  an  seinem 
Fundorte.  F ritsch  hat  auf  die  vom  Referenten 
in  der  mehrgenannten  Sitzung  besonders  betonte 
Hockerstellung  der  Leiche  hingewiesen,  wie  auch 
auf  ganz  ähnliclie  Befunde  in  prähistorischen 
Gräbern  der  sog.  Grimaldirasse.  In  der  Tat  er- 
sieht man  selbst  in  der  die  Photographie  vor- 
trefflich wiedergebenden  Zeichnung  des  Berliner 
Blattes,  wie  die  linke  Hand  an  der  Backe  ruht. 
Arme  und  Beine  eng  an  den  Körper  herangezogen 
sind  und  Knie  und  Ellenbogen  einander  berühren. 
Es  ist  das  etwa  die  Lage,  in  der  der  menschliche 
Körper  den  geringsten  Raum  einnimmt.  Eine  solche 
Hockerstellung  wird  durch  Zusammenschnüren  der 
Leiche  gewaltsam  herbeigeführt  und  hat  unter 
anderm  wohl  den  schätzenswerten  Vorteil,  daß 
nur  eine  sehr  kleine  Grube  für  die  Beisetzung  aus- 
gehoben zu  werden  braucht.  Daß  durch  natürliche 
Kräfte  eine  solche  Zusammenpressung  der  Leiche 
hervorgerufen  werden  kann,  könnte  man  bezwei- 
feln. Bei  einer  unverwesten  dürften  die  Bänder 
widerstreben,  bei  einer  verwesten  würden  die  Ge- 
lenkenden der  Extremitäten  kaum  so  intakt  bei- 
einanderbleiben. 

Hält  man  aber  in  dieser  Weise  die  Voraus 
Setzung  der  primären  Lagerung  nicht  für  zwin- 
gend, so  spielt  das  Alter  der  Säugetierfauna  für 
die  Beurteilung  des  Menschen  gar  keine  Rolle. 
Gräber  können  natürlich  in  den  allerältesten  Schich- 
ten angelegt  werden.  Der  rezente  Habitus  des 
Oldoway-Skeletts  würde  dann  gar  keine  Schwierig- 
keiten bereiten.  Von  Wichtigkeit  indessen  bliebe 
auch  dann  noch  die  Lage  des  Skeletts  in  der 
Schichtenfolge.  Die  genaue  Schilderung  der  Ver- 
hältnisse durch  Dr.  Reck  bleibt  unbedingt  abzu- 
warten. Stellt  sich  heraus,  daß  unter  den  heute 
obwaltenden  Verhältnissen  eine  Beisetzung  an 
der  Fundstelle  unwahrscheinlich  ist,  so  bliebe  noch 
die  Möglichkeit,  den  Menschen  zeitlich  zwischen  die 
Entstehung  der  Schichten,  in  denen  er  eingebettet 
liegt,  und  die  Bildung  der  heutigen  Oberflächen- 
formen und  Deckschichten  zu  stellen.  (Hervor- 
gehoben sei  in  diesem  Zusammenhange  nochmals, 
daß  das  im  Lokalanzeiger  unter  der  Bezeichnung 
,, Fundstelle  des  Diluvialmenschen  in  der  Oldoway- 
Schlucht,  acht  Meter  über  der  Talsohle"  gebrachte 
Bild  mit  dem  Menschenfunde  gar  nichts  zu  tun  hat!) 

Aus  der  Bestimmung  der  Säugetiere  hätte  sich 
unter  der  letzteren  Annahme  eine  ungrelähre  untere 


Grenze  für  das  Alter  des  Menschen,  nicht  das  Alter 
des  Menschen  selbst  zu  ergeben,  während  der  voll- 
gültige Nachweis  primärer  Lagerung  ihn,  wie  ge- 
sagt, zum  unmittelbaren  Zeitgenossen  der  Fauna 
stempeln  würde.  Eine  obere  Grenze  läßt  sich 
bisher  überhaupt  nicht  ziehen:  sie  könnte  unmittel- 
bar in  die  Gegenwart  zu  liegen  kommen,  falls  der 
geologische  Befund  nicht  in  dieser  Beziehung  eine 
Einschränkung  zuläßt.  Wir  haben  es  also  ganz 
schematisch  ausgedrückt  mit  den  drei  Hauptfragen 
zu  tun:  Primäre  Lagerung,  fossiles  oder 
rezentes  Grab?  Von  einem  Diluvialmenschen 
zu  sprechen,  wäre  bisher  durchaus  hypothetisch,  es 
spricht,  solange  ein  wissenschaftlicher  Bericht  noch 
aussteht,  nichts  dafür  und  nichts  dagegen.  Auch 
ein  Grab  kann,  wie  wir  aus  reicher  Erfahrung 
wissen,  noch  diluvial  sein,  und  in  diesem  Falle 
hätten  wir  es  noch  immer  mit  einem  Funde  von 
seltenem  Werte  zu  tun,  da  unser  sicheres  Wissen 
über  Afrikas  Bewohner,  von  unzähligen  Steinwerk- 
zeugen der  heutigen  Wüsten  des  Nordens,  einem 
neuerdings  gemeldeten  Knochenfunde  mit  Stein- 
messern in  Südafrika  und  hochinteressanten,  aber 
noch  ungeklärten  Bauten  in  Rhodesia  abgesehen, 
kaum  einige  Jahrhunderte  zurückreicht,  geschweige 
denn  bis  ins  Diluvium. 

Es  ist  wohl  kaum  möglich,  schon  jetzt  das 
Problem  im  ganzen  Umfange  darzustellen,  so  viele 
Fragen  sich  auch  bereits  ergeben.  Von  einer 
Beantwortung  kann  demnach  erst  recht  keine  Rede 
sein.  Jede  Meinungsäußerung  ist,  da  das  Material 
noch  nicht  vorliegt,  also  jede  stratigraphische  wie 
morphologische  Bearbeitung  noch  aussteht,  reine 
Hypothese.  Das  muß  bei  einem  Problem  von 
solcher  Bedeutung  auf  das  Allerdeutlichste  hervor- 
gehoben werden.  E.  Hennig. 

Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  Dr.  Weinhold  in  flauen.  —  Das  beste  Werk  zum 
Bestimmen  von  Diatomeen  im  allgemeinen  ist  noch  immer 
Van  Heurck's  Synopsis  des  diatomees  de  Belgique  1885, 
jedoch  sehr  teuer;  ein  Auszug  davon,  der  jedoch  alle  Abbil- 
dungen enthält,  erschien  als  Traile  des  diatomees.  Anvers 
•899,  34  Taf.,  200  Fig.  im  Te.\t.  Von  neueren  Werken  sei 
genannt:  Peragallo,  Diatomees  marines  de  France  et  des 
districts  maritimes  voisins,  3  Teile,  1900 — 1908,  mit  vielen 
Tafeln.  Eine  sehr  gute  Arbeit,  die  auch  auf  die  Biologie  und 
Entwicklungsgeschichte  der  Diatomeen  eingeht,  ist;  Karsten, 
Die  Diatomeen  der  Kieler  Bucht  (Wissensch.  Meeresuntersuch. 
Abt.  Kiel,  N.   F.  IV,    1899). 

Über  Brackwasser-Diatomeen  finden  Sie  einiges  in  H. 
V.  Schönfeld,  Diatomaceae  Germaniae.  Die  deutschen 
Diatomeen  des  Süßwassers  und  des  Brackwassers.  Berlin 
1907.     4",  mit   19  Tafeln. 

Zusammenfassende  Werke,  in  welchen  alle  Abbildungen 
durch  Photographie  hergestellt  sind,  gibt  es  nicht,  in  kleineren 
Abhandlungen  finden  sich  öfter  Mikrophotographien.  Ver- 
einzelte sind  auch  in  dem  umfangreichen  Atlas  der  Diatoma- 
ceenkunde  von  A.  Schmidt,   Leipzig    1874  ff.,  enthalten. 

J.  Br. 


Inhalt!  Siegfr.  Hansel:  Begriff  und  Wesen  der  Metamorphose  der  Insekten.  E.  Bräuer:  Resonanzstrahlung.  —  Einzel- 
berichte: Boysen-Jensen:  Die  Reizleitung  im  phototropen  Keimling.  A.  Penck:  .antarktische  Probleme.  — 
Maurer:  Neuere  Ansichten  über  die  Ursache  der  Gletscherschwankungen.  —  O.  Uttendörfer:  Das  Verhältnis  der 
Raubvögel  zur  übrigen  Vogelwelt.  v.  Gulat- Wellenburg:  Ein  außerordentlicher  Fall  von  menschlichem  Wieder- 
kauen. Hans  Przibram:  Grüne  tierische  Farbstoffe.  WiUstätter  und  Everest:  Der  Farbstoff  der  Kornblume. 
H.  W  i  e  n  h  a  u  s  :  Ester  der  Chromsäure.  H.Reck:  Ein  fossiler  Menschenfund  in  Deutsch-Ostafrika.  —  Anregungen 
und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Mich  e   in  Leipzig,  Marienstraße   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der   G.   Pälz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.    Hand ; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band 


Sonntag,  den  26.  April  1914. 


Nummer  17* 


[Nachdruck  verboten.] 


Über  die  Bewohnbarkeit  der  Sterne. 

Von  Adolf  Mayer. 


Sind  die  Sterne  bewohnbar?  so  lautet  die  Frage, 
die  vom  Publikum  dem  Astronomen  gestellt  wird. 
Und  gewöhnlich  wird  die  Frage  so  beantwortet: 
Die  meisten  Sterne,  die  auch  wegen  ihres  festen 
Standes  am  Himmelsgewölbe  Fixsterne  genannt 
werden,  jedenfalls  nicht;  denn  sie  sind  glühende 
Sonnen,  die  also  viel  zu  heiß  sind,  und  von  den 
wenigen  Wandelsternen  sind  einige,  wie  der  Ju- 
piter, noch  gar  nicht  gehörig  abgekühlt,  so  daß 
von  ihnen  dasselbe  zu  sagen  wäre;  andere  sind 
in  zu  großer  Sonnenferne  oder  -nähe,  so  daß  sie 
entweder  zu  kalt  oder  zu  warm  sind.  Die  Tra- 
banten aber,  die  Monde,  haben  keine  genügende 
Atmosphäre.  Und  wie  sollte  ohne  Wasser  und 
Luft  organisches  Leben  zustande  kommen  ?  Schließ- 
lich bleibt  gewöhnlich  nur  unser  Nachbarplanet, 
der  Mars,  der  mit  seinen  der  Erde  ähnhchen  Vor- 
bedingungen die  Note  ,, genügend"  erhält,  und  in 
dessen  mit  den  schärfsten  Fernrohren  der  Beob 
achtung  zugänglichen  Kanälen  man  bereits  die 
Spuren  menschlicher  Tätigkeit  zu  erblicken  glaubte, 
so  daß  schon  Vorschläge  laut  wurden,  sich  in 
heliograph  ischen  Nachrichten  Wechsel  mit  den  Herren 
Marsiten  zu  stellen,  bis  dann  diese  Deutungen 
wieder  zweifelhaft  geworden  sind.  Zurzeit  glaubt 
man,  daß  die  Temperatur  nur  17"  unter  Null  be- 
trage. Und  wenn  auch  warm  genug,  das  wäre 
ein  sehr  unbefriedigendes  Resultat :  Unter  allen 
den  ungezählten  Welten  nur  dieser  einzige,  kleine 
Weltkörper,  der  noch  nicht  einmal  an  die  Maße 
unserer  kleinen  Erde  heranreicht.  —  Freilich  wäre 
dabei  vergessen,  daß  alle  die  vielen  jener  lausenden 
und  abertausenden  von  Sonnen,  die  wir  Sterne 
nennen,  wieder  ihre  eigenen  Planeten  haben  können 
in  vielen  verschiedenen  Stufen  der  Abkühlung,  von 
denen  wir  nur  nichts  sehen,  weil  ihr  entlehntes 
Licht  zu  schwach  ist  für  unsere  Wahrnehmung, 
und  wir  wollen  daher  auch  nicht,  wie  manche 
fromme  Gemüter  tun  ^),  aus  der  Not  eine  Tugend 
rnachen  und  aus  der  ,, einzigartigen  Lage"  der  Erde, 
die  sie  nur  mit  ihrem  nächsten  Nachbar  teilt,  den 
Schluß  machen,  daß  wir  Menschen  uns  im  Zen- 
trum des  Weltalls  befänden,  und  die  Erde  der 
einzig  auserwählte  Stern  sei,  auf  dem  die  Gottheit 
mit  ihren  Schöpfungsversuchen  experimentiere. 

Wir  wollen  uns  heute  nicht  in  der  Abwägung 
aller  dieser  Möglichkeiten  und  Wahrscheinlichkeiten 
erschöpfen,  sondern  vielmehr  die  Frage  von  einem 
weiteren  Gesichtspunkte  aus  zu  beleuchten 
suchen,  und  zugleich  bescheidentlich  an  die  für  die 
menschliche  Vernunft  so  beschämende,  wie  für  die 

■)  Vgl.  z.  B.  Riem,  Unsere  Welt,   1913,  S.  777. 


Experimentierkunst  unseres  naturwissenschaftlichen 
Zeitalters  rühmliche  Tatsache  erinnernd,  daß  der 
berühmte  Vertreter  der  „positiven  Philosophie"  in 
F'rankreich,  August  Comte,  genau  zu  demselben 
Zeitpunkt  die  Unmöglichkeit  eines  Wissens  in  betreff 
der  stofflichen  Beschaffenheit  der  Himmelskörper 
aussprach,  in  welchem  die  deutschen  Physiker 
und  Chemiker  Kirchhoff  und  Bunsen  durch 
die  Spektralanalyse  des  Sternenlichtes  unsere  irdi- 
schen stofflichen  Elemente  in  jenen  fernen  Welten 
wiedererkannten,  und  zwarmit  einer  Wahrscheinlich- 
keit wiedererkannten,  die  wegen  der  großen  Zahl 
von  Linien,  die  manchmal  für  das  Spektrallicht 
eines  einzigen  Elementes  charakteristisch  sind,  ganz 
nahe  an  Gewißheit  grenzt. 

Wenn  man  die  Frage  nach  der  Bewohnbarkeit 
gründlich  erörtern  will,  so  muß  man  doch  wohl 
zuerst  fragen:  Bewohnbar  für  wen?  Für  den 
Menschen?  Nun  ja,  da  wird  man  allerdings  ge- 
wisse unabweisbare  Bedingungen  aufstellen  können  : 
bestimmte  Wärmeverhältnisse,  Wasser,  Luft.  Das 
andere  wird  sich  dann  schon  finden.  Aber  ist  das 
nicht  eine  gar  kindliche  Fragestellung? 

Es  würde  sehr  vorurteilsvoll  sein  und  unseren 
wohlbegründeten  Anschauungen  über  Entwicklung 
wenig  entsprechen,  wollte  man  die  Möglichkeit 
abschneiden,  daß  sich  auf  jenen  anderen  Sternen 
niedrige  Organismen  unter  ähnlichen  äußeren  Be- 
dingungen zu  höheren  mehr  und  mehr  vernunft- 
begabten entwickeln  könnten.  Und  selbst,  wenn 
man  der  Aufstellung  eines  so  weit  folgernden 
Entwicklungsgesetzes  abhold  ist,  so  ist  von  vorn- 
herein doch  nicht  darüber  abzuurteilen,  ob  gerade 
die  vernunftbegabten  Organismen  so  ganz  andere 
äußere  Lebensbedingungen  nötig  haben  als  die 
Organismen  überhaupt.  Auf  unserer  Erde  wenig- 
stens sind  sehr  wenig  Anzeichen  einer  solchen 
Einschränkung  vorhanden.  Gerade  der  höchstent- 
wickelte Mensch  kann  bekanntlich  in  den  ver- 
schiedensten Klimaten  leben.  Aber  auch  wenn 
unsere  irdische  Erfahrung  das  Umgekehrte  lehrte, 
so  wäre  doch  immer  zweifelhaft,  ob  sie  auch  auf 
ganz  von  Grund  aus  andere  Verhältnisse  über- 
tragbar wäre. 

Man  wird  also  kaum  berechtigt  sein,  auch  wenn 
man  mit  der  ganzen  Fragestellung  auf  menschen- 
ähnliche Geschöpfe  abzielt,  für  jene  andere  Welten 
gerade  die  Bedingungen  des  menschlichen  Seins 
so  in  den  Vordergrund  zu  schieben,  wie  gemeinig- 
lich geschieht.  Man  wird  vielmehr  die  Frage  ganz 
allgemein  auf  die  Existenzfähigkeit  von  Lebewesen 
richten  müssen,  da  wir  eben  die  Bedingungen  zur 
Entwicklung  der  Vernunftbegabten  aus  jenen  heraus 


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Naturwissenschaflliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   17 


gar   nicht    kennen    und    am   wenigsten    für  andere 
Welten  voraussagen  können. 

In  bezug  auf  die  Existenzfähigkeit  von  Lebe- 
wesen aber  müssen  wir  die  Grenzen  nach  unseren 
neueren  Erfahrungen  immer  weiter  und  weiter 
setzen,  selbst  die  Temperaturgrenze  und  auch  die, 
die  sich  aus  der  Anwendung  des  Gesetzes  von  der 
Erhaltung  der  Energie  ergeben,  eines  Gesetzes,  das 
freilich  unentrinnbar  scheint,  aber  das  man  lange 
auf  diese  Fragen  in  etwas  kurzsichtiger  oder  klein- 
licher Weise  angewendet  hat. 

Nichts  ist  lehrreicher  für  die  richtige  Erfassung 
dieser  Frage  als  ein  Rundblick  auf  —  manche  Leser 
werden  bei  diesem  plötzlichen  Sprung  von  dem 
Fernrohre  zu  dem  Vergrößerungsglase  enttäuscht 
aufblicken,  aber,  wie  ich  hoffe,  nicht  allzu  lange  — 
und  über  die  Ernährung  der  kleinsten  Lebe- 
wesen, der  Bakterien,  da  gerade  diese  natur- 
gemäß die  äußersten  Möglichkeiten  darstellt. 

Was  ist  die  Grundlage  alles  organischen  Lebens, 
die  unwidersprechliche  Einheit  bei  einer  Vielfach- 
heit der  einzelnen  Lebensäußerungen:  der  orga- 
nische Stoff,  eine  Antwort,  die  wegen  der 
Wiederholung  des  Wortes  „organisch"  wie  eine 
Scheinerklärung  aussieht,  es  aber  nicht  ist,  denn 
organischer  Stoff  ist  nach  dem  heutigen  Begriffe 
nichts  anderes  als  kohlenstoffhaltiger  von  nicht 
vollständiger  Sauerstoffsättigung  und  hat  in  der 
heutigen  Fassung  des  Ausdrucks  gar  nichts  mit 
dem  Organisiertsein  zu  tun.  Alle  Organismen  be- 
stehen bekanntlich  wesentlich  (neben  anderen  rein 
mineralischen  Bestandteilen)  aus  solcher,  nicht  oder 
nicht  völlig  oxydierter,  kohlenstoffhaltiger  Substanz. 
Die  Tiere  suchen  sie  auf  als  Nahrungsmittel,  da 
fortwährend  von  diesem  organischen  Stoffe  für  den 
langsamen  Verbrennungsprozeß,  genannt  Atmung, 
verloren  geht;  und  es  scheint  nach  dieser  Fassung, 
als  ob  überhaupt  ohne  diese  Voraussetzung  kein 
organisches  Leben  möglich  wäre,  und  als  ob  wir 
auch  auf  anderen  Weltenkörpern  nach  solchen 
Stoffen  suchen  müßten,  um  die  Frage  nach  der 
Möglichkeit  des  Bewohntseins  zu  entscheiden. 

Aber  da  kommt  sogleich  die  erste,  jedermann 
bekannte  Verwicklung.  Die  Pflanzenwelt  lebt  auf 
mineralischem  Boden,  obgleich  sie  genau  den- 
selben Voraussetzungen  unterworfen  ist.  —  Warum  ? 
—  Weil  sie  (genauer  die  grünen  Pflanzen)  sich 
selbst  die  Substanz  schafift,  deren  sie  bedarf.  Sie 
ist  aus  diesem  Grunde  abhängig  von  einer  ande- 
ren, von  außen  zuströmenden  Energiequelle,  dem 
Sonnenlichte,  weil  dieses  eben  die  Arbeit  zur 
Sauerstoffentziehung  aus  der  überall  anwesenden 
Kohlensäure  leistet. 

Also  haben  wir  die  beiden  großen  Reiche: 
das  der  kohlen  haltigen  Brennstoffs  be- 
dürftigen Tiere  und  das  der  lichtbedürf- 
tigen Pflanze.  Soviel  wußte  man  schon  um  die 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts. 

Aber  die  Natur  erwies  sich  der  fortgesetzten 
Forschung  als  unendlich  verwickelter,  als  man 
damals  ahnen  konnte.  Es  gab  nicht  bloß  Pflanzen 
(Pilze  und  andere  nichtgrüne),   die    in    dieser  Be- 


ziehung lebten  wie  die  Tiere,  und  diese  Abweichung 
war  leicht  in  das  System  einzuschalten.  Man 
fand  nach  und  nach  niedrige  Organismen,  meist 
den  Bakterien  zugehörig,  die  auf  einem  minerali- 
schen Boden  wuchsen  und  dennoch  des  Lichts 
nicht  bedürftig  waren.  Wie  ist  das  möglich, 
wird  man  sagen  ohne  Einbruch  in  das  Gesetz 
der  Erhaltung  der  Energie,  dem  auch  die  organi- 
sche Welt  unterworfen  ist  r  Aus  nichts  kann 
nichts  entstehen.  —  Gewiß. 

Aber  gibt  es  nicht  noch  andere  Energiequellen, 
oder  kann  nicht  auch  organischer  Stoft'  als  Gas 
zuströmen  ?  Wir  wollen  zunächst  den  letztgenann- 
ten Fall  ins  Auge  fassen ;  denn  er  ist  der  ein- 
fachere. 

Der  bekannte  holländische  Bakteriologe 
Beijerinck  hat  in  einer  Abhandlung,  die  er  vor 
kurzem')der  königl.  holländischen  Akademie  anbot, 
anschaulich  beschrieben ,  wie  man  solciier  Orga- 
nismen, in  ihrer  Gesamtheit  Aithrobios  ge- 
nannt ,  habhaft  werden  kann.  Man  braucht  nur 
etwas  reines  Wasser,  in  dem  man  ein  bißchen 
Kaliumphosphat  auflöst,  in  eine  größere  Flasche 
zu  tun  und  mit  etwas  Bodenflüssigkeit  aus  dem 
Garten  oder  noch  besser  mit  Wasser,  das  wochen- 
lang über  Gartenerde  gestanden  hatte,  zu  impfen, 
und  man  erhält  (im  Zimmer  oder  im  Laboratorium) 
wieder  nach  einigen  Wochen  eine  Haut ,  ähnlich 
der  Kahmhaut  auf  an  der  Luft  stehendem  Wein 
oder  Bier,  die  aber  nichts  mit  den  Organismen 
dieser  Kahmhaut  gemein  hat,  sondern  unter  dem 
Mikroskope  aus  sehr  feinen,  kurzen  Stäbchen  be- 
stehend sich  zeigt,  welche  keine  Eigenbewegung 
haben  und  keine  Sporen  bilden.  Nach  ihrer  Na- 
tur gehören  sie  (nach  der  Ansicht  Be  ij  er  in  ck's) 
zu  den  Actinomyceten,  wozu  von  manchen  auch 
die  Bazillen  der  Tuberkulose  und  der  Diphtheritis 
gezählt  werden.  Es  darf  als  ausgemacht  gelten, 
daß  der  betreffende  Organismus  (oder  die  Orga- 
nismen —  denn  es  sind  mehrere  — )  von  Kohlen- 
wasserstoffen, die  in  unreiner  Luft  immer  vor- 
handen sind,  leben,  denn  in  ganz  reiner  Luft  geht 
die  Ernährung  nicht  von  statten.  Im  Boden  ist 
oft  Sumpfgas,  in  den  Ställen  gasförmige  (gleich- 
falls niethanhaltige)  Abscheidungen  der  Tiere,  in 
menschlichen  Wohnungen  Leuchtgas  u.  dgl. 

Man  sieht,  es  handelt  sich  im  vorliegenden 
Falle  nur  um  eine  wenig  bedeutende  Komplikation. 
Der  Organismus  des  Aithrobios  lebt  genau  wie 
andere  nichtgrüne  Pflanzen  und  die  Tiere.  Nur 
weil  seine  organische  Nahrung  gasförmig  ist,  sieht 
man  diese  nicht,  wie  man  die  Atmung  nicht 
sieht,  und  daher  es  viele  Jahrhunderte  dauerte, 
bis  man  von  der  natürlich  schon  den  Kubus  auf 
Sumatra  zugänglichen  Kenntnis  der  Notwendig- 
keit der  Nahrungsaufnahme  bis  zu  der  Kenntnis 
der  Atmung  fortschritt. 

Nun  gibt  es  aber  immer  wieder  neue  Gruppen 
von  Lebewesen,  die  auch  in  diesem  Punkte  ganz 
bedürfnislos    sind,    und    die    wirklich    auch    unter 


')    1913,  Amsterdam  bei  Johannes  Müller. 


N.  F.  Xin.  Nr.  i; 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


259 


der  scharfen  Kontrolle,  denen  sich  die  Hunger- 
künstler unterwerfen  müssen ,  nichts  Organisches 
aufnehmen  und  dennoch  im  Dunkeln  leben.  Wird 
hierdurch  denn  noch  immer  nicht  das  Gesetz  von 
der  Erhaltung  der  Energie  verletzt.'  —  Nun  wir 
werden  sehen. 

Eines  der  Rezepte/)  um  einen  Aufguß,  in 
dem  sich  solche  Lebewesen  entwickeln,  zu  erhal- 
ten, ist  folgendes:  Man  nehme  wieder  etwas  ver- 
dünnte Lösung  von  Kaliumphosphat  und  infiziere 
mit  Spuren  von  Grabenschlamm,  füge  aber  dies- 
mal etwas  Schwefelblume  und  ebensoviel  Kreide 
zu,  zwei  doch  gewiß  rein  mineralische  Körper. 
Läßt  man  d  ese  Mischung,  am  besten,  in  dünner 
Lage  wegen  der  Ermöglichung.  des  Luftzutritts, 
bei  etwa  30"  C  stehen,  so  sind  schon  nach  weni- 
gen Tagen  de  Schwefelteilchen  von  Bakterien 
umhüllt,  und  die  Flüssigkeit  wird  in  steigendem 
Maße  gipshalt  ig,  wovon  man  sich  durch  mikro- 
skopische, resp.  durch  chemische  Untersuchung 
überzeugen  kann.  Da  aber  bei  der  Oxydation 
von  Schwefel  zur  Schwefelsäure  des  Gi[)ses  eine 
Quelle  der  Energie  sich  auftut,  so  ist  das  Gesetz 
der  Energiekonstanz  auch  in  diesem  Falle  erfüllt. 
Wir  machten  vorzeitig  absprechend  nur  den 
Fehler,  es  in  zu  enger  Fassung  auf  die  Probleme 
des  Lebens  anzuwenden.  Alle  Organismen  ent- 
halten kohlenstoffhaltige  Substanz  —  gewiß;  sie 
müssen  alle  ihre  Lebensenergie  durch  chemischen 
Umsatz  bestreiten  —  ebenso  gewiß.  Aber  die 
organische  Substanz  braucht  nicht  notwendig  die 
Kosten  dieses  chemischen  Prozesses  zu  tragen, 
das  „Kind  der  Rechnung"  kann  auch  der  Schwefel 
sein,  in  dessen  Affinität  zum  Sauerstoff  ebenso 
eine  Energiequelle  offen  steht  wie  in  der  des 
Kohlenstoffs  zu  dem  gleichen  Elemente.  Dann 
kann  es  selbst  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  die 
betreffenden  Schwefelbakterien  (oder  besser 
Schwefelsäurebakterien,  denn  wir  brauchen  jenen 
Namen  noch  anderweit)  auf  Kosten  dieser  Energie 
noch  aus  Kohlensäure  organische  Substanz  er- 
zeugen. 

Die  Schwefelsäurebakterien  sind  sehr  verbreitet. 
Man  findet  sie  vielfach  im  Seeschlamm,  wo  sie 
auf  Kosten  von  Schwefel  und  Schwefelmetallen, 
die,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  wieder  durch 
andere  Organismen  den  eigentlichen  Schwefel- 
bakterien, entstehen,  sich  nähren. 

Aber  es  braucht  auch  nicht  immer  gerade  der 
Schwefel  zu  sein.  Irgendein  anderes  Element,  d.  h. 
eines  derer,  die  ohnehin  schon  zu  physiologischen 
Leistungen  in  Betracht  kommen  und  die  in  der 
Natur  in  (mit  Sauerstoff)  ungesättigtem  Zustande 
vorkommen,  kann  es  sein,  z.  B.  Wasserstoff. 
Dieser  entsteht  ja  auch  als  Endprodukt  mancher 
Gärungen,  der  Buttersäuregärung  z.  B.  Schon  im 
Jahre  1838  bemerkte  der  berühmte  Genfer  Pflanzen- 
physiologe Theodore  deSaussure,  der  seiner 
Zeit  so  weit  voraus  und  auch  der  eigentliche  Ent- 


')  Beijerinck-,  a.a.O.     Vgl.  auch  Lafar,  Technische 
Mykologie   1906,  IV. 


decker  der  Pflanzenatmung  war,  daß  Knallgas 
unter  Wasser,  das  mit  Heideboden  in  Berührung 
war,  langsam  verschluckt  wurde,  und  schrieb  diesen 
auffallenden  Vorgang  einer  „Art  von  Gärung"  zu.-') 
Knallgas  aber  besteht  aus  einem  Gemenge  von 
Wasserstoff  und  Sauerstoff,  und  wenn  das  Ver- 
schwinden des  letzteren  einer  gewöhnlichen  Oxy- 
dation der  im  Boden  vorhandenen  organischen 
Teile  zugeschrieben  werden  konnte,  so  erheischte 
das  Verschwinden  des  Wasserstoffs  doch  eine  be- 
sondere Erklärung,  die  von  de  Saussure  auch 
in  der  richtigen  Linie  gesucht  wurde. 

Durch  die  moderne  Bakteriologie  ist  nun  ge- 
nauer bekannt  geworden,  daß  dieser  Vorgang  die 
Arbeit  ist  zweier  winzig  kleiner  Bakterien  (warum 
immer  zwei  Arten  zusammen  wirken  müssen,  ent- 
zieht sich  noch  der  Beurteilung  ^),  die  man  leicht 
gewinnt,  wenn  man  Wasser  mit  etwas  Kalium- 
phosphat und  dazu  etwas  Ammoniaksalz  versetzt 
und  mit  den  Luftgasen,  Wasserstoff  und  etwas 
Kohlensäure  in  Berührung  bei  30"  sich  selbst  über- 
läßt. Es  entsteht  dann  wieder,  wie  wir  das  vorhin 
für  Kohlenwasserstoff  beschrieben,  eine  kahmartige 
Haut,  in  der  man  unter  dem  Mikroskop  die  be- 
treffenden Organismen  erkennt. 

Wenn  aber  Schwefel  oder  Wasserstoff  als 
Energiequelle  dienen  kann,  dann  braucht  man  sich 
nicht  zu  wundern,  wenn  auch  der  Schwefel- 
wasserstoff, die  Verbindung  beider,  und  der 
als  gewöhnliches  Fäulnisprodukt  eiweißartiger  Stoffe 
in  der  Natur  überall  verbreitet  ist  (die  Nase  ist 
in  diesem  Falle  der  erbarmungslose  Zeuge),  eine 
vortreffliche  Energiequelle  für  niederes  Leben  abgibt. 

Die  Organismen  aber,  dieser  Energiequelle  an- 
gepaßt, sind  die  Schwefelbakterien,  welche 
in  den  achtziger  Jahren  von  Winogradsky 
eifrig  durchforscht  wurden,  fadenförmige  Bil- 
dungen von  verhältnismäßig  großen  Maßen  °), 
in  deren  Innern  sich  nach  Verbrauch  des  Wasser- 
stoffs für  die  Zwecke  des  Lebens  der  größte  Teil 
des  Schwefels  ausscheidet,  der  nach  dem  Verwesen 
dieser  Organismen  die  Quelle  der  Energie  wird, 
für  jene  Schwefelsäurebakterien,  von  denen  wir 
vorhin  sprachen.  Doch  können  die  Schwefelbak- 
terien, wenn  ihnen  der  Schwefelwasserstoff  aus- 
geht, diese  Oxydation  auch  selber  besorgen,  so 
daß  ihnen  der  Schwefel  auch  als  eine  Art  Reserve- 
stoff dient. 

Aber  auch  damit  ist  die  Liste  der  Lebens- 
möglichkeiten noch  nicht  erschöpft.  Auch  ein 
Metall  der  Tier-  und  Pflanzenasche  kann  als  Energie- 
quelle dienen,  natürlich  nicht  Kalium,  Magnesium 
oder  Calcium,  die  in  der  Natur  überhaupt  nur  in 
einer  Oxydationsstufe  vorkommen,  aber  das  Eisen, 
von  dem  wir  neben  der  Oxydstufe  auch  eine  solche 
mit  weniger  Sauerstoff  (daher  das  diminutiv:  Oxy- 

')  Journal  f.  prakt.  Chemie,  Bd.  14,  p.  152  (zitiert  nach 
Beijerinck). 

2)  Vermutlich  Symbiose. 

^)  Näheres  in  Botan.  Zeitung,  45,  S.  489  und  in  Meisen- 
heimer,  Gärungschemie  1906,  S.  232,  3.  Bd.  von  Adolf 
Mayer,  Agrikulturcheraie,  auch  Lafar,  a.  a.  O. 


200 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  I'.  XIII.  Nr.   17 


dulum)  überall  vorfinden.  Die  das  Eisenoxydul 
als  Energiequelle  brauchenden  Bakterien  sind  den 
eben  beschriebenen  Schwefelbakterien  nahe  ver- 
wandt und  speichern  wie  diese  den  Schwefel  so 
Eisenoxyd,  aber  nicht  im  Plasma,  sondern  in  den 
Scheiden  'J.  Doch  sind  in  diesem  Falle  die  grund- 
legenden Tatsachen  nicht  so  einwandfrei  festge- 
stellt, und  es  fehlt  nicht  an  Forschern  -),  die  die 
Eisenoxydablagerung,  welche  mit  der  geologisch 
wichtigen  Bildung  von  Raseneisenstein  und  Ocker 
in  Beziehung  steht,  mehr  als  durch  eine  mecha- 
nische Filterwirkung  der  kleinen  Lebewesen  zu 
Stande  kommend  ansehen. 

Schließlich  besteht  ein  analoger  Fall  für  die 
schon  seit  längerer  Zeit  bekannten  und  namentlich 
von  Müntz'')  studierten  Salpeterbakterien,  die 
Ammoniak  zu  salpeteriger  Säure  und  diese  zu 
Salpetersäure  zu  oxydieren  und  dabei  gleichfalls 
des  Kohlenstoffs  in  einer  anderen  als  in  der  F"orm 
von  Kohlensäure  entraten  zu  können  scheinen, 
von  den  Wasserstoffoxydierenden  zu  geschweigen. 

Auch  die  thermophilen  Bakterien  mit  ihren 
hohen  Temperaturoptimen  (60")  wären  geeignete 
Beispiele.  Nur  liegen  diese  zu  nahe  und  sind 
nicht  von  genügender  Tragweite,  um  großen  Ein- 
druck zu  machen. 

Also  die  allerverschiedensten  Möglichkeiten. 
Kohle  bleibt  zwar  immer  der  Baustoff  alles  Leben- 
digen, und  alle  Versuche,  dieselbe  durch  das  che- 
misch ähnliche  Silicium,  das  Element  der  Kiesel- 
säure zu  ersetzen,  sind  bis  dahin  gescheitert.  *j 

Aber  darum  braucht  nicht  der  Kohlenstoff  die 
Energiequelle  des  Lebendigen  zu  sein.  Dieser  kann 
beinahe  durch  beliebige  andere  chemische  Elemente 
ersetzt  werden,  wenn  diese  nur  dem  Organismus 
zur  Hand  liegen  und  ihm  in  verschiedenen  Oxy- 
dationsstufen anpassungsfähig  sind. 

Und  nun  wieder  vom  Kleinen  zum  Großen, 
vom  Nahen  zum  Fernen,  zur  Anwendung  aller 
dieser  Resultate  der  modernen  Forschung  über  die 
Lebensweise  der  Bakterien  auf  die  zu  Eingang  ge- 
stellte Frage?  Welche  Perspektive  eröffnet  sich 
daraus  auf  die  Möglichkeiten  des  Lebens  auf  ferne- 
ren Weltkörpern  ? 

Natürlich  nichts  Positives.  Aber  wohl  etwas 
Kritisches  und  Negatives:  nämlich,  daß  die  Frage 
viel  zu  enge  gestellt  ist.  Was  wollen  wir  über 
solche  Möglichkeiten  des  Lebens  aussagen,  da  wir 
noch  so  wenig  wissen,  was  eigentlich  Leben  ist. 
Wir  wissen  nach  allen  diesen  minutiösen  Erfahrun- 
gen doch  eigentlich  nur  so  viel,  daß  das  Leben 
sich  tatsächlich  einordnet  in  das  große  Gesetz  der 
Erhaltung  der  Energie.  Der  Organismus:  eine 
Maschine,  ja  wohl,  und  alle  chemisch-mechanischen 
Gesetze  der  unbeseelten  Natur  gelten  auch  für  ihn. 
Aber  darüber  hinaus  hat  er  auch  eine  ganze  Reihe 

•)  Zur  Physiologie  vgl.  L  i  e  s  k  e  ,  Jahrb.  f.  Botanik,  50,  32S. 

2)  Z.  B.  Molisch.  Vgl.  Adler,  Centralbl.  f.  Bakterio- 
logie, iq04,  S.  215. 

')  Adolf  Mayer,  Bodenkunde  (Lehrb.  d.  Agrikultur- 
chemie, II,   i),  S.   161. 

■*)  Ebenda,  Bd.  I,  die  Ernährung  der  grünen  Gewächse,  S.  lo. 


von  rätselhaften  Eigenschaften,  die  man  charakte- 
ristisch „übermaschinell"  genannt  hat.  Wir  können 
keinen  Organismus  künstlich  machen,  und  selbst  der 
kühnste  Chemiker,  der  die  Synthese  des  Eiweiß 
in  die  Aussicht  dieses  unseres  zwanzigsten  Jahr- 
hunderts stellt,  muß  daran  verzweifeln,  da  das 
kleinste  Protoplasmaklümpchen  doch  etwas  ganz 
anderes  und  unendlich  Rätselhafteres  ist  als  das 
größte  Eiweißmolekül.  Wir  wissen  gleichfalls 
nichts  von  den  Ursachen  des  Verschleißes  und 
des  schließlichen  unausweichlichen  Untergangs 
eines  Lebewesens.  Von  der  Erblichkeit  kennen 
wir  nur  einige  empirische  Regeln,  aber  auch  hier 
—  nicht  mit  Geringschätzung  der  riesenhaften 
P'ortschritte  auf  allen  diesen  Gebieten,  sondern 
nur  in  kritischer  Erwägung  ihrer  Tragweite  sei 
dies  alles  gesagt  —  ist  uns  alle  Einsicht  in  die 
Ursächlichkeit  verschleiert,  so  sehr  wir  auch  hier 
die  Lücke  unseres  Wissens  mit  verblüffenden 
Fremdwörtern  zu  überkleistern  verstehen.  Und 
nun  gar  die  Entwicklung  des  Protozoischen  zum 
Tierischen,  des  Tierischen  zum  Menschlichen,  das 
Wachsen  dessen,  was  wir  geistig  nennen.  Auch 
hier  wissen  wir  nichts,  und  selbst  die  hier  Wissen- 
schaft vortäuschen,  müssen  ihr  Evangelium  Welt- 
rätsel nennen,  —  und  zwar  Rätsel,  die  sie  nicht 
zu  lösen  verstehen. 

Wenn  nun  alle  Wissenschaft  darauf  hinausgeht 
zu  prophezeien,  in  die  Zukunft,  in  die  verschleierte 
Vergangenheit  oder  in  die  Ferne,  gleichviel,  so 
wird  ein  Prophezeien  nur  möglich  sein ,  soweit 
Wissenschaft  da  ist,  und  so  wird  man  sagen 
können :  Auch  auf  fernen  Weltkörpern  wird  das 
Leben  an  Umsatz  von  Energien  gebunden  sein. 
Das  ist  alles.  Ob  aber  dort  überall  Leben  und 
schließlich  geistiges  Leben,  das  uns  als  die  höchste 
Steigerung  des  Lebens  erscheint,  gebunden  sein 
muß  an  unsere  irdischen  Temperaturen  und  an 
die  zwölf  oder  dreizehn  physiologischen  Elemente: 
Sauerstoff,  Stickstoff,  Kohlenstoff,  Wasserstoff, 
Schwefel,  Phosphor,  Chlor,  Jod,  Kalium,  Natrium, 
Calcium,  Magnesium  und  Eisen?  Wer  darf  sich 
unterfangen  hierüber  eine  Meinung  auszusprechen? 
Wer  dies  doch  tut,  der  urteilt  wie  ein  verwöhnter 
Reicher,  der  behauptet,  daß  man  nicht  ohne 
Kammerdiener  leben  könne,  oder  wie  ein  Kirgise, 
dem  das  Pferd  als  des  Lebens  erste  Notdurft  er- 
scheint, oder  wie  der  Philister  einer  Kleinstadt,  , 
der  nicht  meint  leben  zu  können  ohne  seinen  ge-  I 
wohnten  Abendschoppen.  Selbst  in  der  Glut 
flammender  Sonnen  ist  dem  einzigen  Prinzipe  zu- 
folge, das  uns  wissenschaftlich  unumgänglich  scheint, 
etwas  dem  Leben  Ähnliches  sehr  gut  denkbar 
und  wer  weiß,  ob  nicht  ganze  Milchstraßensysteme 
zusammenschließen  zu  einem  ungeheuren  Gebilde, 
das  wieder  den  Namen  eines  Organismus  verdient. 
Mikrokosmos,  Makrokosmos,  in  diesem  Vergleiche 
sind  schon  derartige  Ahnungen  eingeschlossen. 
Phantastisch,  allerdings.  Aber  die  Phantasie  ist 
erlaubt  und  sogar  von  Wert,  so  weit  nicht  das 
Gesetz  des  bereits  Erkannten  feste  Schranken 
zieht. 


N.  F.  XIII.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


261 


Chronialpapieri'. 

Von  Carl  Breuer. 

I  Nachdruck  verboten,  j 

Ein  uraltes,  lange  vor  der  Zeit  der  jetzt  wieder 
allmählich  zu  Ehren  kommenden  Alchimisten  ge- 
prägtes Erfahrungswort  besagt:  „natura  non  facit 
saltus"  —  die  Natur  macht  keine  Sprünge  —  mit 
anderen  Worten  zwischen  die  gegensätzlichsten 
Erscheinungen  der  Körperwelt  schieben  sich  ständig 
Zwischenformen  ein,  welche  den  Übergang  ver- 
mitteln. Was  aber  von  den  Dingen  selber  giU, 
kann  auch  von  ihrem  zweidimensionalen  Abbilde 
mit  Recht  behauptet  werden.  Welch  ein  gewaltiger 
Unterschied  besteht  z.  B.  zwischen  der  farben- 
sprühenden, genial  erdachten  Autochromplatte  und 
der  schlichten ,  schwarzweißen  Darstellungsweise 
eines  Bromsilberbildes.  Wir  brauchen  aber  gar 
nicht  weit  zu  suchen,  um  zahlreiche  Übergangs- 
stufen zu  erblicken. 

Von  der  Pinatypie  und  dem  farbigen  Brom- 
öldrucke bis  zu  den  getonten  Gaslichtpapieren 
finden  wir  alle  Grade  der  Farbigkeit  vertreten, 
und  selbst  die  einfachen,  „Ton  in  Ton"  gehaltenen 
P"ärbungen  haben  ihre  völlige  Berechtigung.  Der 
Stimmungsinhalt  einer  Abendlandschaft  wird  z.  B. 
durch  das  saftige  van  Dyk- Braun  eines  Pigment- 
druckes viel  trefflicher  wiedergegeben,  als  durch 
den  Abdruck  des  gleichen  Negativs  auf  irgend- 
einem Auskopierpapier.  Dasselbe  gilt  von  einem 
Schneebilde  in  gebrochenem  Blau  ausgeführt.  Diese 
besonderen  Abbildungen  wurden  nun  bisher  auf 
umständlichen  Wegen  hervorgebracht  und  zwar 
meist  durch  Färbung  eines  ursprünglich  schwarz- 
weißen  Bildes  durch  chemische  Prozesse.  Die 
Chromalpapiere  bringen  nun  schöne  abgestufte 
Töne  sozusagen  „prima  vista"  hervor,  indem  gleich 
schon  beim  Entwickeln  ein  gefärbtes  Bild  entsteht. 
Ihre  Herstellung  ist  auf  der  Beobachtung  aufgebaut, 
daß  gewisse  Hervorruferlösungen  ein  gebrochenes 
Schwarz  des  Bildes  erzeugen.  Dies  geschieht  da- 
durch, daß  neben  dem  metallischen  Silber,  aus  dem 
letzteres  sich  aufbaut,  auch  noch  andere  Stoffe, 
die  aus  dem  Entwickler  durch  Oxydation  sich  ab- 
spalten, das  werdende  Bild  überlagern.  Diese  Er- 
scheinung wird  aber  manchmal  recht  lästig,  indem 
nicht  bloß  die  photographische  Schicht,  sondern 
auch  Finger  und  Kleidung  des  Laboranten  dadurch 
in  unliebsamer  Weise  gefärbt  werden.  In  dem 
Versuchslaboratorium  einer  bekannten  großen 
Fabrik  photographischer  Papiere  wurde  nichts- 
destoweniger dem  Vorgange  größere  Aufmerksam- 
keit geschenkt.  Bei  den  einschlägigen ,  Unter- 
suchungen stellt  sich  heraus,  daß  die  Menge  dieser 
Oxydationsprodukte  proportional  ist  dem  beim 
Entwicklungsvorgange  niedergeschlagenen  metalli- 
schen Silber,  welches  das  Bild  aufbaut.  Es  gelang 
nicht  bloß,  erstere  in  unlöslicher  Form  das  letztere 
überlagern  zu  lassen,  sondern  auch  sie  in  stark 
und  angenehm  gefärbte  X'erbindungen  überzuführen. 

Zunächst  wurde  mit  Brenzkatechin  und  Pyro- 
gallol  gearbeitet.  Diese  Stoffe  lieferten  aber  nur 
bräunlich  gefärbte  Bilder.     Bei  weiteren  Versuchen 


benutzte  man  zwei  seltenere  Hervorruferstofife: 
das  Indoxyl  und  Thioindoxyl.  Sie  bilden  bei  der 
Entwicklung  Indigo  bzw.  Thioindigo.  Leider 
waren  diese  Ergebnisse  jedoch  ohne  Belang  für 
die  Praxis,  da  sich  die  Bilder  als  wenig  haltbar 
herausstellten.  We.-entlich  wertvoller  für  photo- 
graphische Zwecke  erwies  sich  aber  die  Ver- 
wendung gewisser  Stoffe  aus  der  Phenolgruppe. 
Diese  sowohl,  wie  auch  saure  Körper  aus  der 
IMethylengruppe  haben  die  merkwürdige  Eigen- 
schaft, sich  mit  den  Oxydationsprodukten  be- 
stimmter Entwickler  von  dem  p-Phenolendiamin- 
typus  zu  stark  gefärbten  und  dabei  völlig  un- 
löslichen Körpern  zu  verbinden,  oder,  wie  der 
chemische  P'achausdruck  lautet,  zu  „kuppeln". 
Dabei  geht  diese  Reaktion  so  leicht  und  sicher 
vonstatten ,  daß  das  darauf  aufgebaute  Arbeiten 
keine  größeren  Schwierigkeiten  macht  als  das  land- 
läufige, tausendfach  geübte  PJntwickeln.  Die  Stoffe 
aber,  die  sich  mit  den  Oxydationsprodukten  der 
genannten  Entwickler  kuppeln,  sind  so  zahlreich 
und  in  ihren  Endergebnissen  von  so  verschiedener 
Färbung,  daß  sie  eine  reiche  Palette  lebhafter  und 
schöner  Farbtöne  ergeben.  Diese  fallen  dann  alle 
von  demselben  Entwickler,  lediglich  durch  Wechsel 
der  Kuppelungskörper. 

In  der  Praxis  hat  es  sich  nuti  als  besonders 
vorteilhaft  erwiesen,  die  letzteren  der  lichtempfind- 
lichen Schicht  einzuverleiben.  Auf  diese  Weise 
erhält  man  eine  Reihe  von  Papieren,  Platten  oder 
Films,  die  mit  dem  gleichen  bestimmten  Ent- 
wickler mühelos  und  von  vornherein  prächtige 
Farbtöne  ergeben.  Im  Handel  sind  zunächst 
5  Sorten  käuflich,  die  nebenbei  auf  Papieren  ver- 
schiedener Stärke  hergestellt  werden.  Die  Fabri- 
kation von  Diapositivplatten  nach  diesem  System 
wird  vorbereitet.  Sie  werden  eine  angenehme 
Abwechslung  in  das  Projektionswesen  bringen  und 
dem  feinsinnigen  Laternisten  willkommen  sein. 

Das  Arbeiten  mit  den  Chromalerzeugnissen  ist 
überaus  einfach.  Es  gleicht  der  Behandlung  der 
weitverbreiteten,  photographischen  Gaslichtpapiere 
aufs  Haar.  Letzteres  ist  so  allgemein  bekannt, 
daß  es  sich  erübrigt  an  dieser  Stelle  näher  darauf 
einzugehen.  Der  einzige  Unterschied  besteht  darin, 
daß  es  streng  vermieden  werden  muß,  ein  Säure- 
zwischenbad oder  ein  saures  Fixierbad  anzuwenden. 
Auch  der  Gebrauch  einer  Alaunlösung  zum  Härten 
der  Schicht  ist  nicht  zulässig. 

Das  Chromalbild  besteht,  wie  aus  obigem  er- 
hellt, aus  zwei  Komponenten,  die,  einander  über- 
lagernd, die  Zeichnung  aufbauen.  Zunächst  aus 
dem  normalen,  schwarz- weißen  Silberbilde  und 
kongruent  mit  ihm,  der  äquivalenten  Menge  un- 
löslichen Chromalfarbkörpers.  Dies  bietet  nun 
eine  willkommene  Möglichkeit  entweder  die 
Mischung  so  zu  belassen,  wie  sie  entstand  oder 
eines  der  beiden  Bildelemente,  das  schwarze  oder 
das  farbige  vorwiegen  zu  lassen.  Dergestalt  erzielt 
man  je  nach  Wunsch  eine  reiche  Stufenleiter  von 
Zwischentönen.  Soll  das  farbige  Bild  den  Haupt- 
akzent  abgeben ,    so  entwickelt   man   „lege  artis' 


262 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


•7 


recht  kräftig  und  löst  dann  das  schwarz-weiße 
Silberbild  aus  dem  Chromalbilde  heraus.  Dies 
geschieht  in  höchst  einfacher  Weise  durch  Ein- 
legen des  Druckes  in  den  bekannten,  aus  gelöstem 
rotem  Blutlaugensalze  und  Fixiernatron  zusammen- 
gesetzten Farmer'schen  Abschwächer.  Im  Handum- 
drehen verschwindet  die  Silberkomponente  und  der 
Bildton  wird  zusehends  frischer  und  feuriger. 

Anders  verfährt  man,  wenn  gebrochene  Farb- 
töne erzielt  werden  sollen.  Man  entwickelt  dann 
das  Bild  mit  Chromalentwickler  nur  bis  zu  ent- 
sprechend geringer  Stärke,  wäscht  es  in  reinem 
Wasser  kurze  Zeit  aus  und  gibt  dem  Drucke  als- 
dann durch  Fortsetzung  der  Entwicklung  in  einem 


gewöhnlichen  Hervorrufer  die  gewünschte  Kraft. 
In  diesem  Falle  überwiegt  das  Silberbild,  dessen 
Ton  je  nach  der  Art  des  Arbeitens,  durch  größere 
oder  geringere  Mengen  von  Chromalfarbstoff  ab- 
gewandelt bzw.  gebrochen  wird. 

Angesichts  der  vielfachen  Ausdrucksmöglich- 
keiten, die  dem  Lichtbüdner  durch  die  Chromal- 
papiere  geboten  werden,  sowie  der  verblüffenden 
Leichtigkeit  und  Sicherheit,  mit  der  das  Verfahren 
arbeitet,  dürfte  die  Neuerung  als  die  wichtigste 
Erfindung  auf  dem  Gebiete  photographischer 
Kopiermaterialien  bezeichnet  werden,  die  seit  dem 
Erscheinen  der  Aufsehen  erregenden  Autochrom- 
platte dem  Lichtbildner  dargeboten  wurde. 


Einzelberichte. 


Physik.  Mit  der  Beeinflußbarkeit  der  Zerfall- 
geschwindigkeit  von  Radiumemanation  beschäftigen 
sich  Versuche  von  L.  Brunerf  (Physikalische 
Zeitschrift  VII,  240,  1914).  Überträgt  man  die 
allgemeinen  Prinzipien  der  chemischen  Mechanik 
auf  den  Zerfall  von  Radiumemanation  in  Radium  A 
und  «-Teilchen,  so  müßte  eine  Vermehrung  der 
ß  Teilchen,  also  der  geladenen  Heliumatomen,  den 
Zerfallprozeß  zum  Stillstand  resp.  ?ur  Umkehr 
bringen.  Die  Versuche  wurden  in  der  Weise  aus- 
geführt, daß  die  durch  Auskochen  aus  '/40  "^S 
Radiumbromid  gewonnene  Emanation  zusammen 
mit  Helium  in  ein  mit  2  Elektroden  versehenes 
Glasrohr  gebracht  wurde,  durch  welches  die  Ent- 
ladungen eines  Induktors  eine  Zeitlang  hindurch- 
geleitet wurden.  Von  Zeit  zu  Zeit  wurde  die 
Radioaktivität  mit  Hilfe  eines  Elektroskopes  mit  Hilfe 
der  ß-  und  /-Strahlen  gemessen.  Das  Versuchs- 
resultat war  negativ.  Die  Gegenwart  geladener 
Heliümatome  hat  keinen  Einfluß  auf  die  Zerfall- 
geschvvindigkeit  der  Radiumemanation.  Erwähnt 
sei  noch,  daß  andere  Forscher  schon  früher  fest- 
gestellt haben,  daß  auch  Temperaturänderungen 
und  Bestrahlen  mit  Kathoden-  und  Röntgenstrahlen 
die  Geschwindigkeit  des  Atomzerfalls  nicht  be- 
schleunigen oder  verzögern. 

Dr.  K.  Schutt,  Hamburg. 

Chemie.  Über  die  Einwirkung  von  geschmol- 
zenem Natriumparawolframat  auf  die  Salze -flüch- 
tiger Säuren  haben  F.  A.  Gooch  und  S.  B. 
Kuzirian  eine  Reihe  von  Versuchen  angestellt, 
über  die  hier  kurz  berichtet  werden  muß,  da  die 
Ergebnisse,  die  die  genannten  Autoren  erhalten 
haben,  für  die  analytische  Chemie  von  größerem 
Interesse  sind. 

Zur  Zersetzung  solcher  Karbonate,  die,  wie 
etwa  das  Baryumkarbonat  BaCOg,  durch  bloßes 
Erhitzen  nur  schwer  in  Kohlenstoffdioxyd  und 
Metalloxyd  zerlegt  werden  können,  sind  verschie- 
dene Stoffe  vorgeschlagen  worden,  so  wasserfreier 
Borax,  Siliciumdioxyd,  Kaliumdichromat  und  Na- 
triummetaphosphat.   An  Bequemlichkeit  der  Hand- 


habung und  an  Sicherheit  der  Ergebnisse  ist 
ihnen  wohl  zweifellos  das  vor  einiger  Zeit  von 
Gooch  und  Kuzirian  (Zeitschr.  f.  anorgan. 
Chem.  Bd.  71,  S.  323—327,  191 1)  vorgeschlagene 
Natriumparawolframat  überlegen,  eine  Substanz, 
die  etwa  der  Zusammensetzung  5Na.2O-i2W03 
entspricht  und  leicht  synthetisch  durch  Entwässern 
und  Schmelzen  eines  bekannten  Gewichtes  des 
normalen  Natriumwolframats  Na,3WO^-2H20  vor 
dem  Gebläse,  Beigabe  der  berechneten  Menge 
ausgeglühten  Wolframtrioxyds  WO3  und  Erhitzen 
des  Gemisches  bis  zu  klarem  Fluß  dargestellt 
werden  kann.  Schmelzt  man  abgewogene  Mengen 
dieses  übrigens  kaum  hygroskopischen  und  leicht 
zu  pulvernden  Salzes  mit  abgewogenen  Mengen 
eines  Karbonats  oder  Nitrats  —  das  geschieht 
mittels  des  Bunsenbrenners — ,  so  werden  Kohlen- 
stoffdioxyd COj  oder  StickstofTpentoxyd  N^O., 
quantitativ  ausgetrieben,  während  die  Metalloxyde 
von  dem  überschüssigen  Wolframtrioxyd  unter 
Bildung  von  Wolframaten  gebunden  werden,  und 
der  Gewichtsverlust  des  Tiegels  gibt  ohne  weiteres 
die  Menge  der  beiden  genannten  Säureanhydride  an. 
Die  Halogenwasserstofifsäuren  werden  durch 
Natriumparawolframat  nicht  ausgetrieben ,  da  sie 
sich  ja  nicht  wie  die  Karbonate  und  die  Nitrate 
in  ein  Säureanhydrid  und  ein  Metalloxyd  zerlegen 
lassen ,  nur  bei  den  Jodiden  verläuft  unter  Mit- 
wirkung des  Luftsauerstoffs  die  Reaktion 

2KJ  +  0  =  K,0-f  J., 
quantitativ.      Auch    von    den  Salzen  der  Halogen- 
sauerstofifsäuren    werden    nur    die   Jodate    quanti- 
tativ nach  der  Gleichung 

2KJ03=k,0  +  j2Ö5 
in  nicht-flüchtiges  Kaliumoxyd  und  flüchtiges  Jod- 
pentoxvd  verwandelt  (Kuzirian,  Zeitschr.  f. 
anorg. 'Chem.  Bd.  84,  S.  319-322,  191 3).  Unter- 
stützt man  aber  die  Reaktion  durch  Zuführung 
von  Wasserdampf  zu  der  Salz-Natriumparawolfra- 
mat-Schmelze,  so  wird  das  Säureanhydrid  auch 
aus  den  Chloraten,  Perchloraten  und  Bromaten 
und  aus  den  Chloriden,  Bromiden  und  Fluoriden 
das    Halogen    unter   gleichzeitiger  Aufnahme  von 


N.  F.  XIII.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


263 


Foluol  und  Benzol, 
der  Deutschen  Chemischen 
,    Heft  4,    S.  704)    veröffent- 


Sauerstoff   vollständig    ausgetrieben    (Kuzirian, 
Zeitschr.    f.    anorg.    Chem.    Bd.  85,    S.   118— 126, 

1914). 

Sulfate  spalten  beim  Schmelzen  mit  Natrium- 
parawolframat  kein  Schwefeltrioxyd  ab,  selbst 
dann  nicht,  wenn  sie,  auf  die  gleiche  Temperatur 
für  sich  allein  erhitzt,  das  Schwefelsäureanhydrid 
ganz  oder  teilweise  verlieren.  Die  Ursache  für 
dieses  unerwartete  X'erhalten  liegt  offenbar  darin, 
daß  sich  das  Natriumoxyd  des  Parawolframats 
mit  dem  Schwefeltrioxyd  zu  dem  gegen  über- 
schüssiges Wolframtrioxyd  vollkommen  stabilen 
Natriumsulfat  vereinigt.  Daher  leistet  das  Natrium- 
parawolframat  oder  besser  noch  ein  Na.,0-reicheres 
VVolframat,  wie  etwa  das  wasserfreie  Na^O-WOa 
ausgezeichnete  Dienste,  wenn  es  sich  um  die  Be- 
stimmung des  Kristallwassergehaltes  zersetzlicher 
Sulfate  handelt:  Selbst  so  instabile  Sulfate  wie 
das  Aluminiumsulfat  geben  beim  Schmelzen  mit 
Natriumwolframat  nur  Wasser,  aber  keine  Spur 
Schwefeltrioxyd  ab  (Kuzirian,  Zeitschr.  f.  anorg. 
Chem.  Bd.  85,  S.  127—132,  1914)-  Mg. 

Nitroverbindungen  aus 
In  den  Berichten 
Gesellschaft  (Bd.  47 
licht  Prof.  W.  Will,  der  Leiter  der  Zentralstelle 
für  wissenschaftlich-technische  Untersuchungen 
in  Neubabelsberg,  einen  Beitrag  zur  Kenntnis 
der  Nitroderivate  des  Toluols  und  Benzols,  der 
anläßlich  der  Rummelsburger  Explosionskatastrophe 
erhöhtes  Interesse  finden  dürfte.  Bekanntlich  ist 
es  der  modernen  Sprengstofftechnik  gelungen,  in 
den  sog.  „S'cherheitssprengstoffen"  Sprengkörper 
herzustellen,  welche  trotz  einer  ungemein  brisanten 
Wirkung  viel  gefahrloser  zu  handhaben  sind  als 
die  von  Nobel  entdeckten  Dynamitsprengstoffe. 
Einer  der  ersten  allgemeiner  verwendeten  Sicher- 
heitssprengstoffe war  die  Pikrinsäure,  die  durch 
Nitrierung  des  Phenols  entsteht.  VOn  den  Spreng- 
stoffen, welche  die  Pikrinsäure  allmählich  verdrängt 
haben,  ist  in  erster  Linie  das  Trinitrotoluol 
zu  nennen  ■CuH2(N0.2);,CH.j  |,  das  verschiedene 
Vorzüge  vor  der  Pikrinsäure  besitzt ;  es  ist  noch 
sicherer  in  der  Handhabung,  zeichnet  sich  durch 
Unlöslichkeit  in  Wasser  aus,  ist  weniger  giftig 
und  besitzt  einen  zum  Gießen  von  Sprengladungen 
sehr  geeigneten  Schmelzpunkt.  Zur  Herstellung 
des  Trinitrotoluols,  das  in  Deutschland  hauptsäch- 
lich von  der  Carbonitfabrik  in  Schlebusch  fabri- 
ziert wird ,  geht  man  entweder  vom  Toluol  aus 
(einem  Nebenprodukt  bei  der  trockenen  Destillation 
der  Steinkohle),  oder  von  den  einfach  nitrierten 
Toluolen  (z.  B.  Mononitrotoluol),  wie  sie  die  Farb- 
stofftechnik liefert.  Die  Überführung  des  Toluols 
oder  des  Mononitrotoluols  in  das  Trinitrotoluol 
wird  in  gußeisernen  Apjjaraten  vorgenommen,  die 
mit  einem  Kühl-  bzw.  Heizmantel  zur  Regulierung 
der  Temperatur  umgeben  sind.  Die  Nitrierung 
geschieht  in  der  Weise,  daß  man  das  Ausgangs- 
produkt mit  einem  Gemisch  von  Salpetersäure 
und   Schwefelsäure    in  geeigneten  Mengenverhält- 


nissen behandelt.  Hierbei  entsteht  zuerst  das 
Dinitrotoluol,  das  dann  von  der  Säure  getrennt 
und  mit  höchst  konzentrierter  Milchsäure  völlig 
nitriert  wird.  Die  Nitrierung  läßt  sich  auch  in 
einer  Operation  durchführen,  wenn  man  das  Re- 
aktionsgemisch anfänglich  kühlt  und  später  auf 
120 — 130"  erwärmt.  Das  fertige  Trinitrotoluol 
wird  noch  heiß,  also  in  flüssigem  Zustand,  von 
dem  Säuregemisch  getrennt  und  dann  mit  war- 
mem Wasser  gewaschen ,  wobei  man  die  anhaf- 
tenden Säurereste  mit  Natriumbikarbonat  neutrali- 
siert. Beim  Erkalten  kristallisiert  das  Trinitro- 
benzol  aus ;  zur  Reinigung  wird  es  noch  aus  Al- 
kohol oder  anderen  Lösungsmitteln  umkristallisiert. 

In  den  zehn  Jahren  seit  Beginn  der  Entwick- 
lung der  Trinitrotoluolindustrie  sind  schwere  Be- 
triebsunfälle, bei  denen  eine  Explosion  des  Spreng- 
stoffs stattgefunden  hätte,  nicht  vorgekommen 
Immerhin  verzeichnet  die  Statistik  einige  Unfälle 
leichter  Art,  die  aber  weniger  auf  die  Gefährlich- 
keit des  Trinitrobenzols  als  auf  gewisse  bei  denr 
Reinigungsprozeß  vor  sich  gehende  chemische 
Umsetzungen  zurückzuführen  sind. 

Die  Untersuchung  des  Trinitrotolyols  des 
Handels  ergab,  daß  es  zur  Hauptsache  aus  einem 
bei  80,6"  schmelzenden  Produkt,  dem  «-Trinitro- 
toluol besteht.  Dieser  Körper  ist  nicht  die  ein- 
zige Verbindung,  welche  nach  den  Theorien  der 
organischen  Chemie  die  Formel  eines  Trinitro- 
toluols besitzen  kann;  strukturtheoretisch  müßten 
sechs  verschiedene  Isomere  des  Trinitrotoluols 
existieren.  Trotz  genauer  Untersuchung  aller 
Produkte  der  technischen  Gewinnung  des  Trinitro- 
toluols und  trotz  zahlreicher  Versuche,  bei  denen 
die  Bedingungen  der  Nitrierung  auf  alle  mög- 
liche Weise  variiert  wurden,  konnten  im  ganzen 
nur  drei  isomere  Verbindungen  entdeckt  werden : 
außer  der  ebengenannten  «-Verbindung  ein  bei 
112"  schmelzendes  jiTrinitrobenzol  und  ein  y- 
Trinitrobenzol  vom  Schmelzpunkt  104''.  Für  diese 
drei  Trinitrotoluole  wurden  folgende  Konstitutions- 
formeln erwiesen : 


CH, 


CH, 


CH, 


NO. 


iNO, 


.NOj 

'nOj 


NO, 


Ino,, 


NÖa  NO2  NOo 

«-Trinitrotoluol     /J- Trinitrotoluol     y-Trinitrotoluol 

Die  physikalischen  Eigenschaften  dieser  drei 
Isomeren  sind,  abgesehen  von  den  Schmelzpunkten, 
nur  unwesentlich  voneinander  verschieden :  alle 
drei  haben  annähernd  das  gleiche  spezifische  Ge- 
wicht, verpuffen  bei  ziemlich  derselben  Temperatur, 
ergeben  dieselbe  Verbrennungswärme  usw.  Von 
Interesse  sind  die  Unterschiede  in  ihrem  Verhalten 
gegen  Alkalien,  ß-  und  j'-TrinitrotoluoI  reagieren 
mit  alkoholischem  Alkali  in  der  Weise,  daß  eine 
Nitrogruppe  durch  ein  Hydroxyl  bzw.  Alkoxyl 
ersetzt  wird,  so  daß  sich  Salze  oder  Äther  der 
entsprechenden  Dinitrokresole  bilden;   «-Trinitro- 


264 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  17 


toluol  liefert  mit  Alkalien  und  Alkohol  charakte- 
ristische rotgefärbte  Produkte,  und  in  Gegenwart 
von  Oxydationsmitteln  einen  Körper,  der  nach 
Zusammensetzung  und  sonstigem  Verhalten  ein 
Hexanitrodibenzyl  ist.  Bemerkenswert  ist,  daß 
sowohl  die  aus  dem  cr-Trinitrotoluol  als  auch  die 
aus  dem  ß-  und  ;'-TrinitrotoIuol  entstehenden  salz- 
artigen Verbindungen  verhältnismäßig  empfindlich 
und  stark  explosiv  sind,  so  daß  ihre  etwaige  Bil- 
dung in  Fabrikbetrieben  gefährlich  werden  kann. 
Höher  nitrierte  Toluole,  etwa  Tetra-  oder 
Pentanitrotoluole  ließen  sich  auf  keinerlei  Weise 
herstellen.  Auch  die  Versuche,  aus  dem  Benzol 
höher  als  dreifach  nitrierte  Benzole  zu  erhalten, 
ergaben  ein  negatives  Resultat.  Von  Nietzki 
ist  1901  (vgl.  Berichte  der  Deutsch.  Chem.  Ges. 
34-,  55)  ein  Tetranitrobenzol  beschrieben  worden, 
das  angeblich  durch  Oxydation  eines  Dinitro- 
dinitrosobenzols  entstehen  soll.  Eine  sorgfältige 
Nacharbeitung  der  Versuche  N  i  e  t  z  k  i '  s  führte 
aber  zu  dem  Ergebnis,  daß  diese  Verbindung  nicht 
existiert  und  somit  aus  der  chemischen  Literatur 
zu  streichen  ist.  Bugge. 

Physiologie.  Ein  unentbehrlicher  Bestandteil 
unserer  Nahrung  sind  nach  Casimir  Funk  (Lon- 
don) gewisse  bisher  unbekannte  Aminverbindungeni 
die  wegen  ihrer  Unentbehrlichkeit  so  genaimten 
Vitamine  (Vita  =  Leben).  Ihr  dauerndes  Fehlen 
in  der  Nahrung  hat  gewisse  Krankheiten,  Avit- 
aminosen  und  schließlich  den  Tod  zur  Folge.  Viele 
in  ihrer  Ätiologie  unbekannte  Kranklieiten,  Beri- 
beri,  Pellagra,  Rachitis,  Osteomalacie,  infantile 
Kinderlähmung  u.  a.  werden  nach  F.  teils  sicher, 
teils  höchst  wahrscheinlich  durch  eine  Unterernäli- 
rung  verursacht.  Er  nennt  sie  Deficiency  Diseases. 
Geflügel,  Tauben  und  Hühner,  durch  längere  Zeit 
dauernde  Ernährung  mit  vitaminarmem  Futter  ex- 
perimentell beriberikrank  gemacht,  wurden  nach 
Darreichung  von  vitaminreichem  Futter  in  über- 
raschend kurzer  Zeit  wieder  geheilt.  Wurden 
4 — 8  mg  Beriberivitamin  subkutan  injiziert,  so 
verschwanden  die  Krankheitssymptome  in  2 — 3 
Stunden. 

In  einer  Reihe  von  Untersuchungen  weist  F. 
nach,  daß  Avitaminosen  teils  sicher,  teils  höchst 
wahrscheinlich  bei  den  oben  genannten  Krank- 
heiten und  gewissen  krankhaften  Zuständen  vor- 
liegen. (Fortschritte  der  experimentellen  Beriberi- 
forschung  in  den  Jahren  1911— 1913.  Diät  und 
diätetische  Behandlung  vom  Standpunkt  der  Vit- 
aminlehre. [Münchener  med.  Wochenschrift,  36  u.  47, 
1913.]  Über  die  physiologische  Bedeutung  ge- 
wisser bisher  unbekannter  Nahrungsbestandteile, 
der  Vitamine.  Ergebnisse  der  Physiologie,  heraus- 
gegeben von  L.  As  her  und  K.  Spiro,  XIIL 
Jahrgang,   191 3.) 

Es  zeigte  sich,  daß  es  verschiedene  Arten  von 
Vitaminen  gibt,  deren  Fehlen  eine  bestimmte  Er- 
krankung zur  Folge  hat,  nach  der  die  Bezeichnung 
des  jeweiligen  Vitamins  gewählt  wird,  wie  Beri- 
berivitamin   und    Skorbutvitamin.      Entsprechend 


ihrer  verschiedenen  physiologischen  Wirkung  unter- 
scheiden sich  Beriberi-  und  Skorbutvitamin  auch 
in  ihrem  Verhalten  und  Vorkommen.  Ersteres 
verträgt,  ohne  zerstört  zu  werden,  ein  Erhitzen 
auf  130"  C  und  findet  sich  in  der  sog.  Aleuron- 
schicht  der  Frucht-  und  Getreidekörner  (Reis, 
Roggen,  Weizen,  Mais  usw.).  Letzteres  kommt  in 
frischen  Gemüsen,  Früchten  usw.  vor  und  geht 
schon  während  des  Trockenprozesses  verloren. 

Die  Untersuchung  der  chemischen  Natur  eines 
Vitamins  ist  wegen  seiner  außerordentlich  geringen 
Menge  mit  erheblichen  Schwierigkeiten  verknüpft. 
So  erhielt  F.  bei  der  Verarbeitung  von  100  kg 
trockener  Hefe  erst  einige  dg  des  Beriberivitamins. 
Wie  bei  der  aus  der  Hypophyse  isolierten  Sub- 
stanz (F  ü  h  n  e  r :  Pharmakologische  Untersuchungen 
über  die  wirksamen  Bestandteile  der  Hypophyse. 
Z.  f  ges.  exp.  Med.  i,  397,  1913),  die  sich  als 
aus  vier  verschiedenen  Verbindungen  zusammen- 
gesetzt erwies,  gelang  es  auch,  das  Vitamin  in  drei 
Substanzen  zu  zerlegen.  Bei  den  Tierversuchen 
zeigte  sich,  daß  keine  von  ihnen  allein  eine  nennens- 
werte Heilwirkung  hat.  Werden  sie  dagegen  zu- 
sammen verabreicht,  in  noch  kleinerer  Menge  als 
einzeln,  so  wirken  sie  frappierend  heilkräftig.  Die 
drei  Verbindungen  sind:  Smp.  233  C2oH.,|,Os,N4, 
Smp.  235  CgH.-OjN  und  Nikotinsäure.  Nachdem 
sich  aus  dem  Verhalten  der  Schwefelsäure  gegen- 
über ergeben  hatte,  daß  es  sich  um  Slickstoffver- 
bindungen  handelte,  wurden  die  mit  Alkohol  kalt 
gewonnenen  Extrakte  nach  der  für  jene  üblichen 
Methode  fraktioniert.  Bei  Anwendung  von  Phos- 
phorwolframsäure geht  die  wirksame  Substanz  in 
den  Niederschlag  über.  Teilweise  wird  sie  mit 
Sublimat  in  alkoholischer  Lösung  und  Siibernitrat, 
quantitativ  dagegen  fast  vollständig  mit  Silber- 
nitrat und  Baryt  gefällt.  Außer  in  Reiskleie  in 
geringen  Mengen  wurde  das  Beriberivitamin  später 
auch  in  Hefe,  Milch,  Gehirn,  Fleisch  —  namentlich 
Herzmuskelfleisch  —  und  Zitronensaft  gefunden. 
Daß  die  Vitamine  sehr  labil  sind,  wurde  schon 
gesagt.  Schon  Spuren  von  Säuren  und  Alkalien 
können  sie  zerstören.  Das  F"ehlen  des  Vitamins 
in  einer  Nahrung,  die  hauptsächlich  aus  geschältem 
Reis  besteht,  ist  nach  F.  die  einzige  primäre  Ur- 
sache der  Beriberikrankheit.  Für  die  Annahme 
der  Wirkung  eines  in  der  Nahrung  sich  bildenden 
Giftes  liegt  nicht  der  geringste  Grund  vor.  Ex- 
perimentell lassen  sich  alle  Symptome  der  Beri- 
beri bei  Tieren  hervorrufen,  wenn  deren  Nahrung 
kein  Vitamin  mehr  enthält,  und  ebenso  läßt  sie  sich 
durch  Zufuhr  desselben  sofort  heilen,  während  sein 
dauerndes  Fehlen  unweigerlich  zum  Tod  führt. 

Was  die  Verbreitung  der  Vitamine  angeht,  so 
findet  sich  das  Skorbutvitamin  in  grünen  Pflanzen, 
saftigem  Obst,  frischem  Gemüse,  Kartoffeln  usw. 
Das  Auftreten  des  Skorbuts  bei  langen  Seereisen, 
eine  bei  den  Segelschiffern  gefürchtete  Krankheit, 
ist  gerade  durch  das  Fehlen  dieses  Nahrungs- 
körpers bedingt.  Das  Beriberivitamin  hinwiederum 
ist  in  der  Aleuronschicht  trockener  Körner  ent- 
halten.    Wird  diese  wie  beim  Polieren  des  Reises 


N.  F.  XIII.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


265 


oder  vor  dem  Mahlen  der  Getreidekörner  zu  den 
feinen  Mehlsorten  entfernt,  so  fehlt  es  natürlich  in 
der  Reisnahrung  und  in  den  aus  dem  weißen  Mehl 
bereiteten  Backwaren,  z.  B.  im  Weißbrot. 

Aber  auch  noch  auf  andere  als  mechanische 
Weise  können  die  Nahrungsmittel  jener  für  die 
Ernährung  so  wichtigen  Körper  beraubt  werden. 
Vor  allem  kommt  hier  das  Kochen  in  Betracht. 
Schon  das  Trocknen  zerstört  das  Skorbuivitamiii, 
ebenso  ein  kurzes  Kochen  bei  100"  C,  eine  Tem- 
peratur, die  für  das  Beriberivitamin  noch  unschäd- 
lich ist.  Längeres  Kochen  bei  100"  C  (unter  Druck) 
dagegen  zerstört  alle  Vitamine  gänzlich.  Dieser 
Behandlung  werden  aber  die  Nahrungsmittel  dort, 
wo  es  sich  um  die  Speisung  einer  großen  Menschen- 
menge handelt,  z.  B.  in  Kasernen,  Pensionaten, 
Krankenhäusern  u.  dgl.  meist  unterworfen.  Das 
in  Milch  enthaltene  Vitamin  wird  teilweise  oder 
gänzlich  zerstört  bei  der  Sterilisierung,  der  Konden- 
sierung und  langem  oder  wiederholtem  Kochen 
der  Milch.  Es  hat  dies  seine  besondere  Bedeutung 
bei  der  Ernährung  der  Säuglinge  und  nach  F.  sind 
darauf  gar  viele  Kinderkrankheiten  zurückzuführen. 
Kindermehl  und  sonstige  Surrogate  sind  mehr  oder 
minder  für  die  Säuglingsernährung  wertlos.  Das 
Beste  ist  ohne  Zweifel  die  Brustmilch.  Als  Beispiel 
für  ihren  großen  Wert  in  dieser  Beziehung  wird 
angegeben,  daß  die  Kindersterblichkeit  in  Neusee- 
land fast  plötzlich  von  8*"^  auf  4''/(,  fiel,  als  dort 
für  die  natürliche  Ernährungsweise  der  Säuglinge 
erfolgreich  Propaganda  gemacht  wurde. 

Was  nun  die  Nahrung  des  Erwachsenen  an- 
belangt, so  ist  der  Wert  eines  Nahrungsmittels  mit 
seinem  relativen  Gehalt  an  Eiweißstoffen,  Kohle- 
hydraten, Fetten  usw.  durchaus  noch  nicht  er- 
schöpfend festgestellt,  es  ist  vielmehr  wohl  zu  be- 
rücksichtigen, ob  es  arm  oder  reich  an  Vitaminen 
ist.  Vitaminhaltig  sind :  die  Brustmilch,  rohe  oder 
kurz  aufgekochte  Kuhmilch,  Butter,  Käse,  Eigelb, 
Fleischsaft  und  -brühe,  frische  Kartoffeln,  grüne 
Gemüse,  Gemüsesuppen,  frisches  Obst,  Fruchtsaft, 
Kompott,  schwarzes  Weizen-  und  Roggenbrot,  un- 
geschälter Reis  und  leicht  geröstetes  Fleisch.  Wenig 
oder  gar  kein  Vitamin  hingegen  enthalten:  steri- 
lisierte oder  wiederholt  gekochte  Milch,  Milch- 
konserven, Eiweiß,  sterilisiertes  Fleischextrakt,  ge- 
kochtes Fleisch  und  Gemüse,  weißes  Weizenmehl, 
Weißbrot,  weißer  Reis,  Sago,  geschliffener  Mais 
oder  das  daraus  bereitete  Mehl,  Suppenfleisch  und 
Fleischkonserven.  Besonders  reich  daran  und  des- 
halb zu  Heilmitteln  geeignet  sind :  frische  Bierhefe, 
Hefeextrakte  und  -präparate  und  Lebertran. 

Einen  Hauptgrund  für  die  langsame  Genesung 
nach  Magen-Darmkrankheiten  erblickt  F.  darin,  daß 
gerade  die  vitaminhaltigen  Nahrungsmittel  vom 
Speisezettel  derartiger  Rekonvaleszenten  verbannt 
sind.  Infolge  der  ihnen  auferlegten  Diät  leiden 
diese  an  einer  Unterernährung,  die  noch  dadurch 
besonders  verhängnisvoll  wird,  daß  ein  hervor- 
stechendes Symptom  aller  Avitaminosen  der  stei- 
gende Appetitmangel  ist.  Schließlich,  langsam 
aber  sicher,   geht   der  Patient  an  Entkräftung  zu- 


grunde. Gerade  was  ihn  retten  sollte,  die  strenge 
Diät,  war  ihm  zum  Verderben;  eine  abwechslungs- 
reichere Kost  —  natürlich  unter  den  nötigen  Kau- 
telen  gewährt  —  hätte  ihn  gerettet. 

Eine  Krankheit,  die  als  Avitaminose  zu  be- 
trachten ist,  ist  nach  V.  auch  die  Pellagra,  die  da- 
durch verursacht  wird,  daß  als  Hauptnahrungs- 
mittel der  Mais  in  einer  Form  dient,  in  welcher 
das  Korn  seiner  vitaminhaltigen  Aleuronschicht 
beraubt  ist.  Sehr  belehrend  in  dieser  Beziehung 
ist  einmal  die  Beschränkung  der  Pellagraseuche 
auf  die  Maisbezirke  und  ferner  der  Umstand,  daß 
die  schweren  F'älle  mit  letalem  Ausgang  (20 — 25  "/q) 
auf  die  Vereinigten  Staaten  entfallen,  wo  der  Mais 
in  Dampfmühlen  energisch  geschliffen  wird;  in 
Italien  und  Ägypten  dagegen,  wo  er  nur  primitiv 
zubereitet  wird,    beträgt    die    Mortalität    nur  4  "/o- 

In  einer  neuen  Arbeit  (Prophylaxe  und  The- 
rapie der  Pellagra  im  Lichte  der  Vitaminlehre, 
Münchener  med.  Wochenschr.,  Nr.  13,  1914)  ver- 
tritt Funk  ganz  entschieden  die  Avitaminosenatur 
der  Pellagra.  Die  Aleuronzellenschicht  des  Mais- 
korns, welche  beim  Schälen  verloren  geht,  ist  sehr 
reich  an  Protein,  Fetten  und  Salzen,  während  das 
Innere  des  Korns  zwar  stärkereich  ist,  aber  kein 
Vitamin  enthält.  Auch  der  am  unteren  Ende  des 
Kornes  liegende  Keim,  der  sehr  reich  an  Protein, 
Fetten  und  Salzen  ist,  geht  verloren.  Während 
das  ganze  Maiskorn  im  Durchschnitt  5  "/o  enthält, 
haben  die  nordamerikanischen  Maisprodukte  einen 
Fettgehalt  von  sehr  oft  nur  2 "'(,  bis  i  "/(,  und 
weniger.  Das  südafrikanische  Maiskorn  erleidet 
beim  Mahlen  14  "/^  Verlust,  also  weniger  als  der 
amerikanische  Mais.  Wenn  geschälter  Mais  als 
Hauptnahrung  dient,  so  sind  vitaminreiche  Zulagen 
(Kartoffeln,  Obst,  Milch,  Butter  usw.)  nicht  aus- 
reichend. 

Im  Viktoriagefängnis  von  Rhodesia  wurden 
von  Nightigale  der  Anschauung  von  F.  ent- 
sprechende Beobachtungen  gemacht.  Es  brach 
eine  Pellagraepidemie  aus  mit  12 10  Erkrankungen. 
Dabei  erwies  sich  der  ungeschälte  Mais  als  Heil- 
mittel. Ebenso  wurde  nach  Dr.  Macaulay,  Cape 
Town,  U.  S.  Afrika,  eine  Skorbutepidemie  mit 
Pellagrafällen  durch  Ernährung  mit  ungeschältem 
Mais  siegreich  bekämpft. 

Als  Prophylaxe  empfiehlt  F.  das  ungeschälte 
Maiskorn  zu  gebrauchen  und  die  zollfreie  Kartoffel- 
einfuhr in  der  Pellagrazone.  In  der  Kartoffelzone 
sei  die  Pellagra  eine  unbekannte  Krankheit.  Die 
Therapie  ergebe  sich  aus  dem  Gesagten  von  selbst. 
Sie  bestehe  einfach  in  einer  vitaminreichen  Nahrung. 

Ein  allen  Avitaminosen  gemeinsames  Früh- 
symptom ist  die  zunehmende  Appetitlosigkeit. 
Häufig  ist  ferner  eine  Erkrankung  der  Nerven 
(Polyneuritis)  mit  Krämpfen  und  Lähmungen,  Er- 
weiterung des  rechten  Herzens,  Dyspnoe,  Cyanose, 
Oligurie,  Anasarka,  Herzbeutel-,  Brust-  und  Bauch- 
wassersucht. 

Auch  manche  endemische  Seuchen  bei  den 
Haustieren  (Rind,  Pferd,  Schwein,  Schaf)  sind  viel- 
leicht auf  einen  Mangel  an  Vitamin  im  Futter  zu- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  17 


rückzuführen,  das  durch  das  Trocknen  des  Grases 
zerstört  wurde.  Der  Tierkörper  aber  ist  nicht 
imstande,  diese  Verbindungen  aufzubauen.  Sie 
müssen  ihm  in  der  Pflanzennahrung  zugeführt 
werden.  Kathariner. 

Der  Lichtsinn  mariner  Würmer  und  Krebse, 
C.  He^  (München)  (Pflüger 's  Archiv  für 
die  gesamte  Physiologie  des  Menschen  und  der 
Tiere,  155.  Bd.,  8.  u.  9.  Heft,  1914),  hat  für  den 
Röhrenwurm  Serpula  contortuplicata  festgestellt, 
daß  er  schon  auf  sehr  geringfügige  Verminderung 
der  Lichtstärke  durch  Einziehen  der  Pentakelkrone 
reagiert.  Schon  die  äußerst  geringe  Verminderung 
der  Lichtstärke,  die  einem  Zurückziehen  der  Glüh- 
lampe von  50  cm  auf  52  cm  entspricht  und  die 
von  unserem  Auge  kaum  wahrgenommen  wird, 
ist  wirksam.  Selbst  wenn  die  Lampe  in  60  cm 
Entfernung  stand  und  auf  61,5  cm  zurückgeschoben 
wurde,  erfolgte  nach  einer  Sekunde  das  Einziehen 
vieler  Kiemen.  Es  verhalten  sich  in  diesem  Fall 
die  Lichtstärken  wie   1:0,95. 

Durch  sinnreiche  Einrichtungen  wurden  ferner 
die  Wirkungen  der  verschiedenen  Farben  des  Spek- 
trums auf  ihre  Wirksamkeit  hin  untersucht.  Es 
ergab  sich,  daß  das  Spektrum  in  der  Gegend  des 
Gelbgrün  bis  Grün  für  Serpula  am  hellsten  ist 
und  seine  Helligkeit  von  da  nach  dem  Rot  ver- 
hältnismäßig ra'ich,  nach  dem  Blau  und  Violett 
langsamer  abnimmt.  Vorher  dunkel  gehaltene, 
durch  längeres  Öffnen  des  Verschlusses  einer  in 
einem  Gehäuse  eingeschlossenen  Nernstlampe  mit 
verhältnismäßig  hohen  Lichtstärken  bestrahlte  Tiere 
zeigten  niemals  Fluchtbewegungen.  Wird  dagegen 
nach  Belichtung  während  einer  oder  mehrerer  Se- 
kunden wieder  verdunkelt,  so  ziehen  sich  die  Tiere 
plötzlich  zurück.  Wurde  der  \^erschluß  so  ein- 
gestellt, daß  die  Belichtungsdauer  etwa  nur  '  ,„„  Se- 
kunde oder  noch  weniger  war,  so  zogen  sich  auch 
dann  viele  von  den  Tieren  etwa  i  Sekunde  nach 
Auslösen  des  Verschlusses  in  ihre  Röhren  zurück. 
Zunahme  der  Lichtstärke  hatte  gar  keinen 
Effekt,  sondern  nur  die  Lichtstärkenabnahme.  Es 
entspricht  dies  auch  ganz  den  biologischen  Ver- 
hältnissen. Die  Prüfung  mit  den  einzelnen  Spek- 
tralfarben ergab,  daß  die  Sehqualitäten  jenen  des 
total  farbenblinden  menschlichen  Auges  ähnlich 
oder  gleich  sind,  wie  H.  dies  schon  oft  für  Culex- 
larven  Krebse,  Bienen  und  Fische  zeigte.  Wenn 
eine  für  den  total  Farbenblinden  helle  Fläche 
durch  eine  für  ihn  dunklere  ersetzt  wird,  fliehen 
die  Tiere  jedesmal.  Es  ist  einerlei,  ob  eine  Fläche 
dem  farbentüchtigen  Auge  heller  oder  dunkler  er- 
scheint. So  erscheint  diesem  z.  B.  Rotgelb  viel 
heller  als  Grün,  und  doch  wirkt  ersteres  im  Sinne 
einer  Verdunkelung. 

Weitere  Versuche  beziehen  sich  auf  ein  Krebs- 
tier, den  Rankenfüßler  Baianus.  Normale  Tiere 
dieser  .^rt  pflegen  ihre  Rankenfüße  in  regelmäßigem 
Tempo  zwischen  den  Schalen  hervorzustrecken  und 
sie  wieder  einzuziehen.  Bei  geringer  Lichtstärken- 
verminderung ziehen  sie  die  Füße  ein  und  schheßen 


die  Schale.  Dagegen  hat  Lichtstärkenvermehruhg 
auch  bei  ihnen  keinen  Effekt.  Die  Prüfung  auf 
den  Helligkeitswert  der  verschiedenen  Farben  er- 
gab auch  hier,  daß  er  für  Rot  sehr  gering  ist, 
und  daß  für  Baianus  dieselben  Helligkeitsgleichungen 
Geltung  haben,  wie  für  den  total  farbenblinden 
Menschen.  H.  wendet  sich  dann  polemisch  gegen 
die  von  J.  Loeb  vorgenommene  Einteilung  der 
Tiere  in  „heliotropische"  und  „unterschiedsempfind- 
liche". Denn  „unterschiedsempfindlich"  sind  alle 
Tiere,  die  Lichtreaktionen  zeigen,  einerlei,  welcher 
Art  letztere  sind.  Das  Einziehen  der  Kiemen 
bei  Serpula,  der  Rankenfüße  bei  Baianus  und 
das  Fliehen  der  Culexlarven  nach  unten  bei 
Beschattung  ist  nach  H.  ganz  ebenso  eine 
zweckmäßige,  durch  Lichtstärkenunterschiede  ver- 
anlaßte  Reaktion  wie  die  Ansammlung  der  Fische 
und  Krebse  im  hellsten  Teil  ihres  Behälters. 
Beide  Reaktionen  .sollten  daher  nicht  durch  ver- 
schiedene Benennungen  voneinander  getrennt 
werden.  Die  Art  der  Abhängigkeit  der  Reaktionen 
von  der  Wellenlänge  des  Lichtes  ist  bei  den 
„phototropischen"  und  den  „unterschiedsempfind- 
lichen" Tieren  überall  die  gleiche  und  dieselbe  wie 
beim  total  farbenblinden  Menschen.  Die  Annahme, 
daß  die  Tiere  auch  „Farbensinn"  haben,  ist  un- 
haltbar. Kathariner. 

Astronomie.  Die  Sternwarte  auf  dem  Mt.  Wilson 
hat  mit  ihrem  großen  60  zölligen  Spiegelteleskop  so 
gute  Erfahrungen  gemacht,  daß  sie  im  Begriff  ist, 
sich  ein  100  zölliges  Instrument  der  gleichen  Art  zu 
bauen.  Die  Grundmauern  für  das  Gebäude  und 
den  Pfeiler  sind  fertig,  letzterer  hat  unten  20  zu 
40  P"uß  Durchmesser  und  ist  33  Fuß  hoch.  Die 
Kuppel  hat  100  Fuß  Durchmesser  und  ist  105  Fuß 
hoch,  die  Bedachung  ist  doppelt,  indem  die  beiden 
Lagen  2  Fuß  Entfernung  voneinander  haben 
und  mit  Luken  versehen  sind,  so  daß  die  Luft 
ungehindert  sich  bewegen  kann  und  ein  voll- 
kommener Temperaturausgleich  stattfindet.  Die 
Kuppel  ist  ungewöhnlich  massiv  ausgeführt,  da 
sie  stabil  sein  muß  trotz  der  nicht  weniger  als 
20  Fuß  breiten  Spaltöffnung.  Auch  die  Guß- 
stücke für  die  Teile  des  Instrumentes,  besonders 
die  Achsen,  sind  gelungen,  und  die  Gabel,  in  der 
das  Instrument  sich  dreht,  und  die  ein  Gewicht 
von  28  Tonnen  hat.  Der  große  Spiegel  von 
100  Zoll  =  250  cm  ist  im  Schliff,  die  sphärische 
Fläche  ist  nahezu  vollendet,  so  daß  dann  noch 
der  parabolische  Schliff  anzubringen  ist.  Die 
Lichtstärke  dieses  Instrumentes  wird  dann  alles 
andere  weit  in  Schatten  stellen,  und  uns  von  den 
schwachen  Nebeln  Bilder  von  ungeahnter  Kraft 
geben.     ^Mt.  Wilson  Contrib.  1913,  Jahresbericht.] 

Riem. 

Zoologie.     Inhalt    von   Schreiadler  ■  Gewöllen. 

H.    Freiherr    Geyr    zu    Seh weppenburg    hat 

das  Resultat  der  Untersuchung  von  42  Gewöllen  des 

Schreiadlers  (Aquila  pomerina  L.)  veröffentlicht.') 

1)  Zeitschrift  für  (Jologie  und  Ornithologie.    X.Xlü.  Jahrg., 
1913,  S.   103-105. 


N.  F.  XIII.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


267 


Im  ganzen  wurden  Reste  gefunden  in  6  Fällen 
von  Hasen,  in  9  vom  Igel,  in  13  vom  Maulwurf, 
in  25  von  Mäusen,  in  14  von  Vögeln  und  in  8 
von  Reptilien. 

Naturgemäß  erhält  man  durch  die  beschränkte 
Zahl  der  untersuchten  Gewölle  kein  genaues  Bild 
über  die  Nahrung  des  Schreiadlers.  Immerhin 
erhält  man  aber  einen  Einblick  in  seinen  Speise- 
zettel, wobei  es  interessant  ist,  daß  der  Vogel  die 
Stacheln  des  Igels  verzehrt  und  nach  der  Ver- 
.dauung  des  Fleisches  wieder  auswürgt,  ohne 
Schaden  zu  nehmen.  Alb.  Heß,   Bern. 

Form  des  Einflugloches  des  Schwarzspechtes. 
Die  Form  des  Einflugloches  des  Schwarzspechtes 
(Dryocopus  martius  L.)  wird  auch  in  den 
besten  ornithologischen  Werken  als  rund,  oder 
etwa  oval  oder  elliptisch  angegeben.  Auch  die 
künstlichen  Berlep'schen  Nisthöhlen,  die  eine  ge- 
naue Nachbildung  der  natürlichen  Sjiechthöhlen 
sein  sollen,  haben  ein  rundes  Einflugloch.  Nun 
hat  Erich  Hesse  schon  191 1  und  neuerdings 
wieder  darauf  hingewiesen,')  daß  zahlreiche,  in 
verschiedenen  Gegenden    sogar   die  Mehrzahl,  der 


Schwarzspechthöhlen,  kein  rundes  oder  länglich 
gestaltetes  Einflugloch  besitzen,  sondern  daß  das- 
selbe etwa  die  Form  eines  romanischen  Fensters 
habe ,  also  eine  fast  horizontale  Basis  besitze. 
Diese  Form  sei  schon  bei  ganz  frischen  Höhlen 
anzutreflen,  so  daß  sie  nicht  etwa  als  eine  solche 
aller,  ausgebrauchter  und  vermeißelter  Höhlen 
anzusprechen  sei. 

Dieser  Hinweis  hatte  zur  Folge,  daß  sie  zur 
genaueren  Beobachtung  anregte,  und  daß  dann 
aus  verschiedenen  Gebieten  die  Nachricht  kam, 
daß  dort  diese  „romanische  Form"  sogar  die  Regel 
sei.  Diese  Form  ist  auch  in  der  Abb.  5  der  Ar- 
beit vonKoepert  „.Arbeiten  der  Schwarzspechte"  ') 
deutlich  ersichtlich.  Auch  schreibt  dieser  Autor 
„Der  Eingang  ist  weder  kreisrund  noch  oval,  son- 
dern beinahe  halbkreisförmig,  insofern  der  untere 
Rand  horizontal  verläuft." 

Es  ist  nicht  anzunehmen,  daß  der  Schwarz- 
specht erst  in  neuerer  Zeit  diese  Form  zimmert, 
sondern  es  darf  vorausgesetzt  werden,  daß  bisher 
eine  mangelhafte  Beobachtung  vorlag. 

Alb.  Heß,  Bern. 


')  Ornith.  Monatsberichte,  21.  Jahrg.,    1913,  S.  171  — 17S. 


')  Naturw.  Wochenschrift  XU,  Bd.,   1913,  S.  21 — 23 


Ein  neues  Verfahren  zur  Gewinnung  von  Zellu- 
lose aus  Holz  und  Gespinstfasern  und  zur  Be- 
seitigung  der  abfallenden  Laugen  veröffentliclrt 
Geh.  Reg.-Rat  Prof  Dr.  J.  König- Münster  i.W. 
zusammen  mit  Dr.  J.  Hasenbäumer  und  Dr. 
M.  Braun  in  der  „Zeitschrift  für  angewandte 
Chemie"  (26,  Nr.  73,  Seite  481—485).  Das  neue 
Verfahren  besteht  zusammenfassend  in  folgendem  i') 

Das  zerkleinerte  Holz  wird  mit  der  4 — 5  fachen 
Menge  3 — 5  proz.  Ammoniak  etwa  5  —  6  Stunden 
bei  einem  Überdruck  von  2  —  3  Atmosphären  ge- 
dämpft, die  Lauge  abgepreßt  und  zur  Wieder- 
gewinnung des  Ammoniaks  und  Verwertung  von 
Harz  und  Gerbsäure  (Inkrusten)  weiter  verarbeitet. 
Der  Rückstand  der  Ammoniakdämpftmg  wird  mit 
Schwefelsäure  zusammengebracht,  wobei  dann  die 
Hemizellulosen  in  Zucker  übergeführt  werden. 
Die  sirupartige  Ablauge  verwendet  man,  nach 
Entfernung  des  Gipses  direkt,  oder  mit  Trocken- 
futtermitteln zusammen  zur  Fütterung.  Neben  der 
reinen  Zellulose  erhält  man  nach  dieser  Methode 
nur  noch  Lignine,  die  sich  durch  Bleichflüssig- 
keiten leicht  beseitigen  lassen.  Die  Restabwässer 
wirken  dann  nicht  mehr  flußverunreinigend. 

Heute  werden  täglich  i  120000  kg  als  Futter- 
mittel verwendbare  Ablaugen,  die  einen  Wert  von 
120000— 130000  Mark  darstellen,  unbenutzt  in  die 
Flüsse  geleitet.  Nach  obigem  Verfahren  können 
diese  Summen  gespart  werden,  außerdem  ist  man 
der  Belästigungen  wegen  Verunreinigung  der 
Flüsse  enthoben.  Otto  Bürger. 

•)  Man  vgl.  auch  mein  Referat  in  „Die  Naturwissenschaften" 
(1913,  Heft  52). 


Kleinere  Mitteilungen. 


Der  Einfluß  des  letzten  nassen  Sommers  auf 
malakazoologischem  Gebiet.  Da  die  Feuchtigkeit 
bei  den  Mollusken  eine  besondere  Rolle  spielt, 
so  sollte  man  eigentlich  folgern,  daß  sich  nament- 
lich die  Gastropoden  in  dem  nassen  Sommer  1913 
besonders  wohl  gefühlt  haben  müssen.  Dies  dürfte 
jedoch  nicht  zutreffend  sein.  Nach  meinen  Be- 
obachtungen hat  die  übermäßige  Feuchtigkeit  eher 
hemmend  auf  das  Wachstum  der  Landschnecken 
eingewirkt. 

Bei  den  Arten,  die  mehr  die  trockenen  Hänge 
bevorzugen,  blieb  das  Wachstum  nicht  so  sehr 
zurück;  es  zeigte  sich  aber  eine  länger  als  sonst 
anhaltende  auffallende  Weichheit  der  Schale.  Dies 
hatte  wieder  zur  F'olge,  daß  man  öfters  abnorme 
Gehäusebildungen  beobachten  konnte,  die  auf  Ver- 
letzungen des  zu  weichen  und  wenig  widerstands- 
fähigen Gehäuses  und  infolgedessen  auf  Formver- 
änderung desselben  sich  wohl  zurückführen  lassen. 
Bei  Arten,  die  schon  mehr  Feuchtigkeit  bevorzugen 
und  an  feuchteren  Stellen  leben,  konnte  man  trotz- 
dem auch  ein  deutliches  Zurückbleiben  im  Wachs- 
tum wahrnehmen.  Am  wenigsten  beeinflußt  schie- 
nen die  Waldbewohner  zu  sein,  bei  denen  weder 
in  Form  noch  in  der  Härte  der  Schale  Abweichun- 
gen festzustellen  waren. 

Vorstehendes  könnte  sich  vielleicht  auf  eine, 
von  der  anhaltenden  Feuchtigkeit  bedingte  chemi- 
sche Veränderung  der  Pflanzen  zurückführen  lassen, 
etwa  in  der  Weise,  daß  sie  weniger  kalkhaltig 
waren  und  so  die  Gastropoden  gegen  normale 
Jahre  mit  ihrer  Nahrung  in  demselben  Zeitraum 
weniger  Kalk  aufnehmen  konnten  ." 

Rudolf  Schmitt. 


268 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  17 


Bücherbesprechimgen. 

Handbuch  der  Tropenkrankheiten,  herausge- 
geben von  Prof  Dr.  Carl  Mense.  2.  Aufl.  i.  Bd. 
295  S.  Mit  200  Abbild,  im  Text,  10  schwarzen 
und  2  farbigen  Tafeln.  Leipzig  '14,  J.  A.  Barth. 
—  Geb.  18  Mk. 
Das  Studium  der  Tropenkrankheiten  hat  sich 
wegen  der  Eigenart  dieser  Krankheiten  und  ihrer 
großen  wirtschaftlichen  Bedeutung  zu  einer  be- 
sonderen Disziplin,  der  Tropenmedizin,  entwickelt, 
die  in  den  letzten  Jahren  dank  einer  außerordent- 
lich regen  Forschertätigkeit  mächtig  angeschwollen 
ist.  Ein  anschauliches  Bild  dieses  Wachstums  wird 
die  im  Erscheinen  begriffene  2.  Auflage  des  be- 
kannten Handbuchs  der  Tropenkrankheiten  geben, 
von  dem  der  erste  Band  vorliegt.  In  ihm  hat 
A.  Eyßel  in  sehr  sorgfältiger  und  erschöpfender 
Weise  die  Arthropoden  behandelt,  soweit  sie  ent- 
weder als  Krankheitsüberträger  oder  als  Krankheits- 
erreger selbst  in  Frage  kommen.  Durch  systema- 
tische Übersichten  und  allgemein  orientierende 
Einleitungen  in  die  einzelnen  Gruppen  der  Glieder- 
füßler kommt  er  in  sehr  schätzenswerter  Weise 
dem  Bedürfnisse  des  Mediziners  entgegen.  Sehr 
zu  rühmen  ist  auch  das  vorzügliche  Material  an 
klaren  Abbildungen,  sowie  die  ausgedehnte  Be- 
rücksichtigung der  Literatur.  Besteht  doch  z.  B. 
allein  das  Verzeichnis  der  Literatur  über  Stech- 
mücken aus  ca.  1270  Nummern!  Ein  kurzer  Ab- 
schnitt über  die  Fliegengattung  Phlebotomus  von 
R.  Doerr  und  Y.  Ruß  beschließt  den  Band. 
Wir  werden  später  auf  dieses  dem  Tropen-  und 
Schiffsarzt  unentbehrliche,  in  dem  vorliegenden 
Bande  aber  auch  für  den  Zoologen,  speziell  den 
Entomologen  wichtige  Werk  noch  einmal  zurück- 
kommen. Miehe. 

Kerner  v.  Marilaun,  Anton,  Pflanzenleben.  3.  .^ufl., 
neubearbeitet    von    Prof.    Dr.    Ad.   Hansen. 

1.  Bd. :  Der  Bau  und  die  lebendigen  Eigenschaften 
der  Pflanzen  (Zellenlehre  und  Biologie  der  Er- 
nährung). Mit  159  Abb.  i.  Text,  21  farbigen, 
4  schwarzen    und   3  doppelseitigen  Tafeln  usw. 

2.  Bd.:  Die  Pflanzengestalt  und  ihre  Wandlungen 
(Organlehre  und  Biologie  der  Fortpflanzung). 
Mit  250  Textabb.,  20  farbigen,  10  schwarzen 
und  4  doppelseitigen  Tafeln  usw.  Leipzig  und 
Wien  '14,  Bibliographisches  Institut.  —  Geb.  1 4  Mk, 

Ein  Buch,  das  eine  solche  ausgeprägte  Eigen- 
art besitzt,  wie  das  Kerner'sche  Pflanzenleben, 
und  das  gerade  dieser  Eigenart  seinen  großen 
und  berechtigten  bleibenden  Erfolg  verdankt,  neu 
herauszugeben,  ist  gewiß  kein  leichtes  Unterfangen. 
Blättern  wir  die  beiden  bis  jetzt  erschienenen  Bände 
durch,  so  müssen  wir  dem  Herausgeber  Ad.  Han- 
sen in  Gießen  zugestehen,  daß  er  mit  sehr  \-iel 
Takt  und  Umsicht  zu  Werke  gegangen  ist.  Es 
ist  in  der  Tat  der  alte  Kern  er  geblieben,  aus 
dem  Tausende  und  aber  Tausende  Belehrung 
und  reinsten  Genuß  geschöpft  haben  und  auch 
die  alten  Freunde,  die  vorzüglichen  Bilder  treffen 


wir  alle  wieder  an.  Hansen  hat  daraufgesehen, 
daß  vor  allem  der  Grundcharakter  der  Darstellung, 
den  man  den  biologischen  nennen  kann  und  der 
vorbildlich  für  eine  ganze  Literaturgattung  auf 
botanischem  Gebiete  geworden  ist,  in  voller  Rein- 
heit gewahrt  wurde,  d.  h.  auch  im  neuen  Kern  er 
wird  das  Leben  der  Pflanzen  aus  ihren  natürlichen 
Lebensbedingungen  heraus  geschildert.  Über  die 
Berechtigung  einer  solchen  Darstellung  ist  viel 
diskutiert  worden.  Da  sie  notwendigerweise  stets 
nach  dem  Zwecke  der  Organisationen,  der  Reak- 
tionen auf  die  Umwelt  fragt,  hängt  ihre  Durch- 
führbarkeit gänzlich  von  dem  Grade  ab,  bis  zu 
welchem  diese  Zwecke  wirklich  in  wissenschaft- 
lichem Sinne  bewiesen  und  aufgeklärt  sind.  Hier 
liegt  nun  aber  der  wunde  Punkt.  Trotz  der  großen 
Erfolge,  die  die  Experimentalphysiologie  der  Pflan- 
zen erzielt  hat,  sind  wir  heute  selbst  bei  sehr  auf- 
fälligen Lebenserscheinungen  der  Pflanzen  noch 
ganz  außerstande,  zu  sagen,  welche  Bedeutung  sie 
für  ihr  Leben  haben.  Und  in  solchen  Fällen  mit 
Wahrscheinlichkeiten  zu  operieren,  ist  äußerst 
mißlich.  Wie  schwer  ist  es  doch,  sich  in  die 
Organisation  und  in  die  „Bedürfnisse"  eines  Or- 
ganismus hineinzuversetzen,  der  so  weit  von  dem 
uns  besser  vertrauten,  nämlich  dem  tierischen  ab- 
weicht !  Jede  „biologische"  Darstellung  muß  also, 
wenn  sie  nicht  ganz  lückenhaft  bleiben  soll  (was 
wiederum  dem  Ziel  derartiger  Schilderungen  ab- 
träglich ist),  immer  ein  starkes  hypothetisches  Ele- 
ment enthalten.  Wenn  auch  K  e  r  n  e  r  sich  stets 
frei  von  manchen  geschmacklosen  Übertreibungen 
gehalten  hat,  die  manche  der  Epigonen  sich  un- 
bedenklich geleistet  haben,  und  wenn  auch  jene 
Schilderungen  viel  mehr,  als  die  schlichte  Dar- 
stellung vermuten  läßt,  auf  sorgfältigsten  Studien 
beruhen,  so  ist  doch  auch  er  in  diesem  Punkte 
nicht  unverwundbar.  Manches  hat  Hansen  ge- 
ändert, anderes  nicht,  ohne  daß  wir  da  mit  ihm 
rechten  wollen. 

Der  erste  Band  behandelt  nach  einer  allge- 
meinen Einleitung,  an  deren  Schluß  noch  ein 
kurzes  Kapitel  über  moderne  Richtungen  in  der 
Botanik  angefügt  ist,  Bau  und  Leben  der  Zellen, 
die  Ernährung,  die  Rolle  des  Wassers,  den  Stoff- 
wechsel, die  Atmung,  allgemeine  Lebensbedingun- 
gen usw.  Der  zweite  Band  umfaßt  die  weitgehend 
umgearbeitete  Gestaltenlehre  und  die  Fortpflanzung. 
Der  dritte  soll  die  Pflanzengeographie  darstellen; 
er  wird,  da  dieser  Abschnitt  im  alten  Kern  er  nur 
ganz  kurz  war,  fast  ganz  von  dem  Herausgeber 
herrühren.  Der  Abschnitt  „Die  Pflanze  und  der 
Mensch"  ist  ganz  gestrichen  worden.  Wenn  zum 
Schluß  noch  einige  Wünsche  angeführt  werden, 
so  sollen  diese  nur  Suggestionen  für  eine  neue 
Auflage  sein. 

Im  ersten  Band  hätte  man,  wenn  schon  neu- 
geordnet wurde,  noch  eine  straffere  Disposition 
anwenden  können,  entsprechend  den  für  eine  biolo- 
gische Darstellung  in  Betracht  kommenden  Haupt- 
themen der  Physiologie.  Sehr  lehrreich  würde 
auch  eine    besondere   Darstellung    der  großen  all- 


N.  F.  XIII.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


269 


gemeineil  Beziehungen  sein,  die  zwischen  der  Tier- 
welt und  der  Pflanzenwelt  hinsichtlich  des  Kreis- 
laufes der  Stoffe  herrschen  und  die  uns  die  Pflanzen 
im  Naturganzen  zeigen  würde.  Ob  man  Hyda- 
thoden,  extraflorale  Nektarien,  Salzausscheidungen 
als  Mittel  zur  Wasseraufnahme  auffassen  kann,  ist 
fraglich,  desgl.  ob  die  Sarracenien  die  Produkte 
der  Verwesung  direkt  mit  ihren  Blättern  aufnehmen. 
Epiphyten  und  Schmarotzerpflanzen  sollten  auch 
äußerlich  vollständig  getrennt  werden.  Chlorophyll 
sollte  immer  nur  den  P'arbbtoff  bezeichnen.  Die 
Darstellung  der  Myrmekophilie  ist  nicht  ganz 
modern.  Der  kurze  Abschnitt  über  den  Parasitis- 
mus der  Bakterien  bedarf  einer  strengeren  Revision, 
u.  a.  z.  B.  sind  Scharlach,  Blattern,  Masern  ätiolo- 
gisch noch  ganz  unbekannte  Krankheiten  usw. 
Daß  Arum  italicum  in  seinem  Blütenstande  sich 
um  29°  über  die  Temperatur  der  Umgebung  er- 
wärmen kann,  klingt  überraschend,  desgl.,  daß 
Penicillium  und  Rhizopus  noch  bei  54 — 55 
keimen  und  sich  etwas  entwickeln  können.  Im 
zweiten  Bande  wäre  vielleicht  eine  zusammenfassende 
Darstellung  der  Fortpflanzung  der  Farne,  Gymno- 
spermen und  Angiospermen  mit  Rücksicht  auf  die 
biologischen  Verhältnisse,  etwa  in  der  Art,  wie 
es  V.  Wett  st  e  i  n  so  anregend  in  seinem  Hand- 
buch der  systematischen  Botanik  getan  hat,  lehr- 
reich gewesen. 

Wir  empfehlen  diese  beste  aller  populären 
Pflanzenbiologien,  die  Jebenso  anregend  für  den 
Laien  wie,  wegen  der  großen  Zahl  von  Beobach- 
tungen, für  den  Fachmann  ist,  auch  in  der  neuen 
Gestalt  allen,  denen  an  einem  wirklich  guten  Buch 
gelegen  ist.  Miehe. 

Kr.  Birkeland:  Über  die  Ursache  der  erd- 
magnetischen    Stürme     und    den    Ur- 
sprung des  Erdmagnetismus,  Bd.  I    des 
Werkes  „Norwegian  Aurora  Polaris  Expedition", 
1902 — 1903.     Roy.   4",   801  S.,   Teil  i    (1908), 
Teil  2  (191 3).     Leipzig,  J.  A.  Barth. 
Kein  anderer  Forscher  hat  unsere  Anschauun- 
gen vom  Wesen  der  magnetischen  und  elektrischen 
Vorgänge    auf   der    Erde    und    auf    den    anderen 
Himmelskörpern  mit  einer  solchen  Fülle  von  neuen 
Ideen  bereichert,  als  der  Verfasser  des  vorliegenden 
Werks,  das  sich  dem  Gesamttitel  nach  eigentlich 
mit   den    Ergebnissen   seiner    (dritten)    Expedition 
zur   Erforschung    der   Nordlichter   befassen    sollte. 
In  der  Tat  kommen  auch  die  dort  erhaltenen  Re- 
gistrierungen der  magnetischen  Variationen  sowie 
jener  der  Erdströme  zur  Verarbeitung.    Der  größte 
Raum  ist  jedoch  unstreitig  der  Begründung  seiner 
Gedanken  über  das  Wesen  einer  großen  Zahl  kos- 
mischer Phänomene  gewidmet,  und  zwar  sind  dies : 
das     Polarlicht,      die      erdmagnetischen 
Variationen,    das    Zodiakallicht,    die 
Sonnenflecken,    der  Sat  u  rnring,    die   Ko- 
metenschweife, die  Erdströme  und  die 
Spiralnebel  im  Weltall. 

Alle  diese  einzelnen  kosmischen  Erscheinungen 
werden   in   dem   vorliegenden    Werk    besprochen. 


doch  muß  es  der  Referent  von  vornherein  für  un- 
möglich erklären,  den  Inhalt  der  einzelnen  Kapitel 
hier  eingehend  zu  schildern.  F'ür  ein  weitergehen- 
des Interesse  seien  als  eine  Art  Führer  durch  das 
Werk  die  kritischen  Berichte  in  Gerlands  Bei- 
trägen   zur    Geophysik,    Bd.  X  und  XIV   genannt. 

Birkeland 's  Haupt-  und  Grundgedanke  ist 
der,  daß  von  den  glühenden  Himmelskörpern  eine 
Elektronenstrahlung  ausgehe,  also  eine  elektrische 
Korpuskularstrahlung. 

Zuerst  dachte  er  dabei  nur  an  die  Polarlichter, 
für  die  schon  früher  eine  Kathodenstrahlung  zur 
Erklärung  herangezogen  worden  war.  Im  Verlauf 
seiner  Studien  kam  er  dann  auch  auf  die  Erklä- 
rung der  übrigen  Erscheinungen  durch  eine  solche 
Ursache. 

Der  von  ihm  eingeschlagene  Weg  ist  ein  durch- 
aus eigenartiger:  er  ahmte  die  Polarlichter 
im  kleinen  im  Laboratorium  nachl 

In  große,  luftleer  gemachte  Glasräume  (zuletzt 
von  70  1  Inhalt)  setzte  er  eine  kleine  Nachahmung 
der  Erde,  eine  Terrella.  Sie  bestand  aus  einer 
kugelförmigen,  elektrischen  Stromspule  mit  Eisen- 
kern. Die  Oberfläche  war  mit  einer  Masse  gleich- 
förmig überstrichen,  und  diese  Masse  dann  mit 
Platincyanür  überzogen,  welcher  Stoff  bekanntlich 
die  Eigentümlichkeit  besitzt,  unter  einer  Kathoden- 
lichtbestrahlung  phosphoreszierend  aufzuleuchten. 
Von  einer  Elektrode  aus  wurde  die  Terrella  mit 
Kathodenstrahlen  beleuchtet.  Solange  kein  Strom 
die  Windungen  der  in  die  Terrella  eingelegten 
Spule  durchfloß,  leuchtete  die  ganze  der  Kathode 
zugewandte  Hälfte  ihrer  Oberfläche  phosphores- 
zierend auf.  Sobald  jedoch  ein  Strom  sie  magne- 
tisierte,  zog  sich  das  aus  lauter  parallelen  Strahlen 
bestehende  Kathodenlicht  in  scharf  umrissene 
Lichträume  zusammen,  die  nach  der  Terrella  zu 
immer  spitzer  wurden,  und  auf  den  Stellen,  gegen 
die  sie  gerichtet  waren,  leuchtende  Punkte  oder 
Bänder  hervorriefen.  Außerdem  umgab  ein  leuch- 
tender Ring  die  Terrella  konzentrisch,  und  zwar 
in  der  Ebene  ihres  magnetischen  Äquators.  Die 
Lichträume  haben  die  Form  gekrümmter  Keile, 
die  mit  den  Spitzen  in  der  Nähe  der  magnetischen 
Pole  gegen  die  Terrella  gerichtet  sind;  d.  h.  sie 
bewahren  immerhin  noch  einen  deutlichen  Abstand 
von  diesen  Polen,  und  zwar  stehen  sie  über  einer 
besonders  hell  aulleuchtenden  Stelle  der  Kugel- 
oberfläche, die  zugleich  das  Ende  einer  fast  kreis- 
förmigen, jedoch  etwas  spiralischen  Lichtzone  ist. 
In  diesiem  Lichtband  sieht  der  Verfasser  das  Ab- 
bild der  Zone  größter  Häufigkeit  der  irdischen 
Polarlichter;  die  Lichtkeile  sind  das  Gegenstück 
der  Polarlichter  selbst. 

Es  kann  hier  nicht  geschildert  werden,  wie 
überzeugend  diese  Versuche  in  der  Tat  sind;  aber 
es  sei  bemerkt,  daß  Birkeland 's  Ideen  eine 
gründliche  mathematische  Prüfung  durch  K.  Stör- 
m  e  r  gefunden  haben,  und  die  physikalische  Möglich- 
keit seiner  Vorstellungen  zweifelsfrei  festgelegt  ist. 
Das  Gesamtergebnis  ist,  daß  die  Polarlichter  der 
Erde    in  der  Tat    eine  Wirkung    einer  Kathoden- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Strahlung  sind,  die  durch  das  magnetische  Feld 
der  Erde  aus  dem  Raum  zu  unserem  Planeten 
herabgezogen  wird,  und  so  die  obersten  Schichten 
der  Atmosphäre  zum  Leuchten  bringt. 

Nach  Birkeland  stammt  die  Strahlung  von 
der  Sonne  (und  nicht  etwa  von  der  Erde  selbst), 
was  ebenfalls  nunmehr  als  erwiesen  gelten  kann. 
Er  faßte  nun  den  geistreichen  Gedanken,  statt  die 
Terrella  mit  Kathodenlicht  bestrahlen  zu  lassen, 
sie  selbst  zur  Kathode  zu  machen;  sie  war  ihm 
dann  ein  Abbild  der  Sonne.  Solange  sie  noch 
nicht  als  Magnet  erregt  war,  fand  sich  bei  dem 
Versuch,  daß  von  ihrer  ganzen  Oberfläche  in  ziem- 
lich gleichmäßiger  Verteilung  eine  disruptive  Ent- 
ladung ausging,  durch  lauter  kleine,  leuchtende 
Punkte  auf  der  Kugel  erkenntlich.  Schon  eine 
schwache  Magnetisierung  der  Terrella  ordnete 
diese  Pünktchen  in  zwei  Breitenkreisen  zu  beiden 
Seiten  des  Äquators  an;  die  mit  der  Entladung 
verbundene,  ursprünglich  die  ganze  Kugel  gleich- 
mäßig umgebende  leuchtende  Schicht  wurde  dabei 
ebenfalls  nach  dem  Äquator  hin  zusammengezogen. 
Bei  stärkster  Magnetisierung  schließlich  zogen  sich 
alle  Punkte  und  der  Lichtkranz  ganz  in  die  Äquator- 
ebene zusammen,  nur  daß  die  leuchtende  Schicht 
sich  dabei  auch  mehr  und  mehr  verbreiterte  und 
schließlich  wie  ein  Ring  die  kleine  Sonne  umgab. 

In  diesen  Vorgängen  sieht  Birkeland  die 
Nachbildung  der  Sonnenflecken  oder  -fackeln  und 
dürfte  damit  ebenfalls  recht  haben.  Die  Leucht- 
schicht entspricht  der  Sonnenkorona. 

Bei  geeigneter  Magnetisierung  erreicht  es  der 
norwegische  Forscher,  daß  der  Ring  sich  voll- 
kommen von  der  Sonne  loslöst;  so  hat  er  Ringe 
zustande  gebracht,  die  74  cm  vom  Mittelpunkt 
der  Terrella  entfernt  waren.  Solange  sie  noch  in 
der  nächsten  Nähe  der  Kugel  bleiben,  sieht  er  in 
ihnen  ein  Abbild  der  Saturnringe.  Die  Bedenken 
der  Astronomen  richten  sich  hier  besonders  gegen 
den  Umstand,  daß  nach  dieser  Idee  die  Ringe 
aus  einer  immateriellen  Korpuskularsubstanz  statt 
aus,  der  Schwere  unterworfener  Materie  bestehen ; 
auch  kann  der  Schatten  des  Saturn  auf  einem  an 
sich  leuchtenden  Ring  nicht  so  leicht  erklärt  werden. 

Eine  weitere  Rolle  spielt  der  die  magnetisierte 
und  zugleich  Kathodenstrahlen  aussendende  Kugel 
umschwebende  Ring  bei  der  Erklärung  des  Zodiakal- 
lichts.  Es  ist  nach  der  Vorstellung  Birkeland's 
ein  Ring,  der  die  Sonne  mit  einem  Radius  um- 
gibt, der  größer  ist  als  der  der  Erdbahn.  Unser 
Planet  mit  seinem  magnetischen  Feld  ruft  in  ihm 
eine  Einbuchtung  hervor  und  bewirkt  damit  das 
Phänomen  des  Zodiakallichts  und  des  Gegenscheins. 
Die  Frage  unterliegt  zurzeit  noch  weiterer  Prüfung 
durch  den  Urheber  selbst. 

Den  vergleichsweise  breitesten  Raum  nimmt 
in  der  vorliegenden  Veröffentlichung  die  Erklärung 
der  erdmagnetischen  Störungen  ein.  Wenn  von 
der  Sonne  Elektronen  zur  Erde  wandern,  so  kommt 
diese  einem  elektrischen  Strom  in  der  Wirkung 
gleich,  da  ja  die  transportierten  Teilchen  elektri- 
siert sind..  Der  Erdmagnet  zieht  sie  zu  sich  herab, 


es  kommen  dadurch  Ströme  in  seine  nächste  Nähe, 
und  sie  müssen  selbstverständlich  den  Erdmagne- 
tismus ändern.  So  einfach  wird  sich  der  Vorgang 
aber  doch  nicht  gestalten,  da  gar  zu  große  Kraft- 
mengen (Energien)  von  der  Sonne  zu  liefern  wären. 
Die  Wirkung  der  Elektronenstrahlung  der  Sonne 
ist  vielmehr  die,  daß  sie  die  höchsten  Luftschichten 
für  elektrische  Ströme  in  erhöhtem  Maße  leitfähig 
macht,  so  daß  dort  von  den  an  sich  vorhandenen 
Ursachen  (Drehung  der  magnetischen  Erde  im 
Raum,  Bewegung  der  leitfähigen  Luft  gegen  das 
magnetische  Erdfeld  unter  Wirkung  der  Gezeiten) 
jetzt  stärkere  Ströme  hervorgerufen  werden. 

Über  die  Begründung  dieser  seiner  neuen  Vor- 
stellungen hinaus  bringen  die  beiden  Bände  auch 
eine  P^üUe  von  tatsächHchem  Material,  sei  es  aus 
seinen  Expeditionen,  sei  es  aus  den  Ergebnissen 
anderer  Forscher.  Und  schließlich  liegt  in  der 
Ableitung  seiner  verschiedenen  Typen  erdmagne- 
tischer Störungen  eine  schöne,  erträgnisreiche  Neu- 
studie vor,  die,  ganz  abgesehen  von  der  Verwen- 
dung, die  ihr  der  Verfasser  zur  Unterstützung  seiner 
Elektronenlheorie  gibt,  auch  eine  durchaus  selb- 
ständige Bedeutung  hat. 

Im  übrigen  ist  das  ganze  Werk  von  B  i  r  k  e  1  a  n  d 
ein  schönes  Beispiel  dafür,  daß  nicht  so  sehr  die 
P'ortführungen  ewiger  Beobachtungsreihen  zur  Er- 
kenntnis leitet,  als  vielmehr  eine  die  Beobachtun- 
gen und  mathematischen  Entwicklungen  als  Hilfs- 
mittel heranholende  Phantasie.         A.  Nippoldt. 


Dugmore,  A.  Radclyfif,  Wild-Wald-Steppe. 
Waidmannsfahrten  in  Britisch-Ostafrika.  Mit 
132  Bildern.  Aus  dem  Englischen  übersetzt 
von  Hans  Elsrier.  8°,  252  S.  Leipzig,  R. 
Voigtländer's  Verlag.  —  Geb.  6,50  Mk. 
Der  Verfasser  berichtet  in  der  Plinleitung,  wie 
er  von  früher  Jugend  ein  leidenschaftlicher  Jäger 
allmählich  zu  einem  beobachtenden  Tierfreunde 
geworden  ist,  wie  der  Reiz,  ein  Tier  zu  erlegen, 
gänzlich  dem  noch  viel  spannenderen  wich,  es  in 
seinen  intimen  Lebensregungen  zu  studieren.  Er 
hat  also  die  Büchse  mit  der  Kamera  vertauscht 
und  ist  in  das  große  Reservatgebiet  Britisch-Ost- 
afrikas  gefahren,  das  sich  von  der  Ugandabahn  bis 
zur  Grenze  von  Deutsch-Ostafrika  und  von  Tsawo 
bis  Nairobi  erstreckt.  In  einer  liebenswürdigen 
und  in  ihrer  Schlichtheit  vertrauenerweckenden, 
aber  gleichwohl  oft  höchst  spannenden  Art  be- 
schreibt er  nun  die  Erlebnisse  der  viermonatigen 
PIxpedition  in  dieses  Paradies  der  tropisch-afrika- 
nischen Tierwelt  und  gibt  vor  allem  eine  große  | 
Zahl  von  Naturaufnahmen,  die  durchweg  von  einer  ' 
hervorragenden  Schönheit  sind  und  von  der  un- 
erschrockenen Kühnheit,  der  Zähigkeit  und  dem 
Geschick  des  Autors  ein  glänzendes  Zeugnis  ab- 
legen. Viele  Bilder,  wie  z.  B.  das  des  Rhinozeros 
auf  Taf.  5,  suchen  in  der  einschlägigen  Literatur 
ihresgleichen.  Ein  eingehendes  Studium  dieser 
Naturdokumente,  besonders  wenn  es  durch  eigene 
Erfahrungen  in  tropischen  Landschaftsbildern  etwas 
unterstützt  wird,   kann   eine  wirklich  anschauliche 


N.  F.  XIII.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


271 


und  zuverlässige,  sonst  ja  sehr  schwer  zu  ver- 
mittelnde \'orstellung  davon  geben,  wie  sich  diese 
Tiere  in  ihre  natürliche  Umgebung  einordnen. 
Wir  können  das  schöne  Buch  jedem,  der  Sinn  für 
die  Romantik  tropischen  Jägerlebens  besitzt,  aber 
auch  jedem  Zoologen  rückhaltlos  empfehlen,  zumal 
der  Preis  trotz  der  vorzüglichen  Ausstattung  als 
mäßig  zu  bezeichnen  ist.  Miehe. 


vergleichende  Anatomie.  I.  Teil.  Bd.  18  der  „Bücher  der 
Naturwissenschaft".  Mit  4  bunten  und  4  einfarbigen  Tafeln, 
135  Abb.  im  Text  und  einem  Gesamtregister.  Leipzig,  Phi- 
lip|)  Rcclam.  —  In  Leinen  .1   Mk. 


Boas,  Prof.  Dr.  J.  E  V.,  Leh  rbuch  der  Zoo - 
logie  für  Studierende.  7.  vermehrte  und 
verbesserte  Auflage.  Mit  648  Abb.  im  Text. 
Jena  '13.  G.  Fischer.  —  Geb.  16  Mk. 
Das  Boas 'sehe  Buch  ist,  wie  die  Vorrede  zu 
der  ersten  Auflage  betont,  für  solche  Studierende 
bestimmt,  die  Zoologie  als  Nebenfach  betreiben. 
Diese  Beschränkung  auf  das  Wichtigste  prägt  sich 
besonders  in  dem  allgemeinen  Teil  aus.  Er  ist 
rein  auf  Anatomie  und  Organographie  orientiert, 
auf  eine  allgemeine  Darstellung  der  tierischen 
Lebenserscheinungen  ist  verzichtet  worden,  der 
Abschnitt  über  Biologie  ist  nur  im  ökologischen 
Sinne  dargestellt.  Der  spezielle  Teil  ist  ungleich 
reichhaltiger,  auf  ihm  ruht  der  Schwerpunkt  des 
Buches.  Die  durch  eine  große  Zahl  instruktiver 
Abbildungen  unterstützte,  leicht  faßliche  und  klare 
Darstellung  ist  ein  besonderer  Vorzug  des  Buches, 
das  sich,  wie  die  große  Zahl  der  Auflagen  beweist, 
einer  dauernden  Wertschätzung  erfreut. 

Miehe. 

Literatur. 

Hegi,  Prof.  Dr.  Gustav,  Illustrierte  Flora  von  Mittel- 
europa. Mit  besonderer  Berücksichtigung  von  Deutschland, 
Österreich  und  der  Schweiz.  Zum  Gebrauch  in  den  Schulen 
und  zum  Selbstunterricht.  VI.  Band.  Bearb.  von  Privatdoz. 
Dr.  med.  et  phiL  Aug.  von  Hayek.  4.  Lief.  München,  I.  F. 
Lehmann.  —   1,50  Mk. 

Handbuch  der  mikroskopischen  Technik,  herausgegeben 
von  der  RedakUon  des  „Mikrokosmos".  Apparate  und  Arbeits- 
methoden der  Bakteriologie.  Bd.  I;  Allgemeine  Vorschriften, 
Einrichtung  der  Arbeitsräume,  Kulturverfahren,  Färbeverfahren, 
Bestimraungstabellen.  Von  Dr.  Adolf  Reitz.  Stuttgart  '14, 
Geschäftsstelle  des  ,, Mikrokosmos",  Frankh'sche  Verlagshand- 
lung. —  Geb.  3  Mk. 

Werner,  Prof.  Dr.-Alfr.,  Über  die  Konstitution  und 
Konfiguration  von  Verbindungen  höherer  Ordnung.  Vortrag, 
gehalten  in  Stockholm  am  11.  Dezebmer  1913,  im  Anschluß 
un  die  Entgegennahme  des  Nobelpreises.  Berlin  '14,  J.  Springer. 
—  1,20  Mk. 

Auwes,  K.  V.  und  Böen  necke,  A.,  Tabellen  zur  Be- 
rechnung der  ,, theoretischen"  Molrefraktionen  organischer 
Verbindungen.      Berlin   '14,  J.  Springer.  —  1,20  Mk. 

Mi  11,  H.  R.  und  Allen,  F.,  Elementary  commercial 
geography.     Cambridge  '14,  University  Press. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.  Sammlung  wissenschaftlich- 
gemeinverständlicher Darstellungen.  Leipzig  und  Berlin  '14,. 
B.  G.  Teubner.  —  Jedes  Bändchen  geb.   1,25   Mk. 

Bd.  83:  Hanse  mann,  Prof.  Dr.  v..  Der  .'Kberglaube 
in  der  Medizin  und  seine  Gefahr  für  Gesundheit  und  Leben. 
2.  Aufl. 

Bd.  399:  Abel,    Prof.  Dr.   O.,    Die  Tiere    der  Vorwelt. 
Mit  31  Abbild,  im  Text. 
■        Bd.  414:    Prelinger,    DipL-Ing.    Dr.    O. ,    Die    Photo- 
graphie, ihre  wissenschaftlichen    Grundlagen    und    ihre  An- 
wendung.    Mit.  65  Abbild,  im  Text. 

Bd.  45S;  Schmidt,  Prof.  Dr.  M.  G.,  Natur  und  Mensch. 
Mit  19  Abbild,  im  Text. 

Hempelmann,    Dr.  Fr.,    Der  Wirbeltierkörper.      Eine 


VVetter-Moiiatsübersicht. 

Während  des  diesjährigen  März  war  das  Wetter  in  ganz 
Deutschland  ziemlich  mild,  aber  weit  überwiegend  trübe  und 
sehr  niederschlagsreich.  Am  wärmsten  war  es  in  den  meisten 
Gegenden  zwischen  dem  6.  und  10.,  dann  vom  14.  bis  16. 
und  am  letzten  Tage  des  Monats.  Zu  diesen  Zeiten  beliefen 
sich  die  in  der  beistehenden  Zeichnung  wiedergegebenen 
TagesmiUel    der    Temperaturen    an    verschiedenen    Orten    auf 


5Bifff6rc  Temgeraifurftn  einiger  ©rfe  im  5Räril9W 

I.Min  6.  II.  IG.        "^  21.  26.  «         31. 


Berliner  Wetterbureiu. 


10»  C  oder  noch  ein  wenig  darüber  upd  wurden  in  den 
Mittagsstunden  vielfach  15"  C  überschritten;  am  14.  stieg  das 
Thermometer   in    Stuttgart   bis   auf  17,    in  Mülhausen  i.  E. 

Hisifer^^cßTaa^Bs^cn  im  SBäri  19W. 

S»    ^  i        .  ^.  »      n   •      -^^J=>E        Peutschbnd. 
i^       Uls"^    i'Sc.E"«-S    M^^:£-="i       Monafssummeim  W 


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18.bisJl.Marz. 


lIlhilllllE 


fAirrterepWepFK 
PeuFsdiland. 

^onalssumme  im  Mi 

""1.13.12.11.10. 


,0J. 


"■'        BerlinerWettertunu.   ^ 


bis  18,  am  31.  in  Cleve  sogar  bis  19"  C.  Aber  auch  Nacht- 
fröste kamen  während  des  ganzen  Monats  in  allen  Landes- 
teilen noch  sehr  häufig  vor,  obschon  sie  im  allgemeinen  ge- 
linde, nur  zwischen  dem  11.  und  14.  ziemlich  streng  auftraten ; 
am  II.  März  brachte  es  Flensburg,  am  14.  Bromberg  und 
Marggrabowa  auf  8°  C  Kälte. 


272 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  17 


Die  mittleren  Monatstcmperaturen  lagen  allgemein  über 
ihren  normalen  Werten ,  in  Nordwest  und  Süddeutschland 
um  einen  bis  zwei,  östlich  der  Elbe  bis  zu  vollen  drei  Grad. 
Dagegen  fehlte  es  überall  nicht  unbeträchtlich  an  Sonnen- 
schein; beispielsweise  hatte  Berlin  im  ganzen  Monat  nicht 
mehr  als  84  Sonnenscheinstunden,  während  hier  in  den  frühe- 
ren Märzmonaten  durchschnittlich  106  Stunden  mit  Sonnen- 
schein verzeichnet  worden  sind. 

Desto  größer  waren  im  ganzen  Lande  die  Häutigkeit  und 
Mengen  der  Niederschläge,  die  in  unserer  zweiten  Zeichnung 
veranschaulicht  sind.  Allein  in  den  drei  ersten  Tagen  des 
Monats  herrschte  bei  veränderlicher  Bewölkung,  besonders  im 
Nordwesten,  trockenes  Wetter  vor.  Aber  schon  am  4.  März 
gingen  an  vielen  Orten  heftige  Regengüsse  hernieder,  die  sich 
innerhalb  der  nächsten  zwei  Wochen  oftmals  wiederholten. 
Sie  waren  großenteils  von  starken  Südwest-  oder  Westwinden 
begleitet,  die  am  6  und  7.  namentlich  im  Küstengebiete, 
zwischen  dem  14.  und  17.  in  Südwest-  und  Mitteldeutsch- 
land vielfach  zu  Stürmen  anwuchsen.  Auch  wechselten  die 
Regenfälle  nicht  selten  mit  Graupel-,  Hagel-  und  Schnee- 
schauern ab,  zwischen  denen  sich  der  Himmel  immer  kurz 
vorübergehend  aufklärte,  so  daß  die  Witterung  schon  in  der 
ersten  Hälfte  des  März  völlig  dem  bekannten  „Aprilwetter" 
glich.  Am  6.  März  kamen  im  westlichen  Küstengebiet,  am 
14.  in  Süddeutschland,  am  16.  und  17.  in  Thüringen,  Sachsen, 
Schlesien  und  Brandenburg  verschiedentlich  Gewitter  zum 
Ausbruch.  Infolge  der  unaufhörlichen  Unwetter  traten  in 
vielen  Teilen  des  Reiches  um  die  Mitte  des  Monats  Hoch- 
wasser ein,  die  namentlich  im  Ruhrgebiet  und  in  der  Um- 
gebung der  Unterelbe  erheblichen  Schaden  anrichteten. 

Seit  dem  18.  ließen  die  Niederschläge  an  Stärke  wesent- 
lich nach,  jedoch  wiederholten  sich  leichte  Regenfälle  in  allen 
Gegenden  noch  beinahe  täglich.  Zwischen  dem  27.  und  28. 
gingen  sie  im  Norden  vielfach  in  Schneefälle  über,  die  be- 
sonders im  Elbe-  und  Üdergebiete  lange  anhielten  und  ziem- 
lich ergiebig  waren.  Die  Niederschlagssumme  des  Monats 
betrug  für  den  Durchschnitt  aller  berichtenden  Stationen 
87,5  mm,  während  die  gleichen  Stationen  in  den  früheren 
Märzmonaten  seit  1891  nicht  mehr  als  44,5  mm  Niederschlag 
geliefert  haben.  Noch  in  keinem  der  Jahre  ist  im  März  auch 
nur  annähernd  so  viel  Regen  wie  diesmal  gefallen. 


In  der  ersten  Hälfte  des  Monats  wurde  die  nördliche 
Hälfte  Europas  von  zahlreichen,  zum  Teil  sehr  tiefen  und 
umfangreichen  Barometerdepressionen  durchzogen,  die  meistens 
in  der  Nähe  von  Island  auftraten  und  über  das  Nordmeer 
und  die  skandinavische  Halbinsel  nach  Nordwestrußland  ge- 
langten. In  Südwesteuropa  lag  dabei  beständig  ein  Hoch- 
druckgebiet, dessen  östlicher  Teil  zwischen  dem  13.  und  14. 
rasch  nordostwärts  vorrückte  und  sich  mit  einem  zweiten,  von 
Nordwesten  herbeigeeilten  zu  einem  sehr  hohen  Maximum  in 
Nordösterreich  verband.  Durch  eine  gleichzeitig  bei  Schott- 
land erschienene,  außerordentlich  tiefe  Depression  wurde  je- 
doch das  Barometermaximum  bald  weiter  nach  Südosten  ver- 
schoben, worauf  verschiedene  neue  Minima  vom  Atlantischen 
Ozean  ostwärts  vordringen  und  ihre  Gebiete  über  ganz  West- 
und  Mitteleuropa  ausbreiten  konnten.  Hier  herrschten  daher 
im  allgemeinen  milde,  sehr  feuchte  südwestliche  Winde  von 
größerer  oder  geringerer  Stärke,  nur  am  28.  März,  als  wiederum 
ein  Maximum  von  Südwest-  nach  Mitteleuropa  vorrückte  und 
mit  einem  zweiten,  auf  dem  Nordmeere  gelegenen  in  Verbin- 
dung trat,  stellte  sich  vorübergehend  eine  kühle  Nordwest- 
strömung ein.  Dr.  E.  Leß. 


Anregungen  und  Antworten. 

Chinesische  Kenntnisse  von  der  Verwandlung  der  Schmetter- 
linge. —  Bei  dem  Aufsatze  ,,Die  Chinesen  und  der  Schmetter- 
ling" sind  zeitliche  Angaben ,  aus  welchem  Jahre  diese  oder 
jene  chinesische  Aussage  stammt,  unterblieben.  Bei  der  an- 
geführten Stelle,  die  zeigt,  daß  die  Chinesen  die  Verwandlung 
der  Schmetterlinge  und  sogar  das  Osmaterium  der  Papilioniden- 
raupen  schon  lange  kannten,  dürfte  eine  zeitliche  Angabe  aber 
von  allgemeinem  Interesse  sein.  Die  Stelle  findet  sich  im 
Log-knei  mung-tsag,  der  Biographie  des  Log  knei-mung.  Dieser 
Autor  schrieb  das  Buch  zur  Zeit  des  Kan-tsu,  des  ersten 
Kaisers  der  Tang-Dynastie,  also  zwischen  61 8  u.  627  n.  Chr. 
Die  in  Rede  stehenden  Kenntnisse  sind  also  in  China  schon 
recht  alt.  _ 

Er  wohnte  in  Tsungl---kongT  pol  lei  und  scheint  das 
Rousseau'sche  »Retournans  ä  la  nature«  schon  lange  vor  dem 
Franzosen  durch  die  Tat  betätigt  zu  haben.  Es  wird  von 
ihm  erzählt:  vor  seinem  Hause  pflanzte  er  Chrysanthemen  zur 
Nahrung  (die  großen  Blütenblätter,  bzw.  Randblüten  der  voll- 
blütigen größten  Arten  werden  gekocht  gegessen).  Mit  Bett 
und  Ofen ,  Pinsel  und  .^ngel  fuhr  er  auf  dem  Flusse  herum 
und   nannte  sich   selbst  ,,den  freien  Mann   des   Flusses". 

Dieser  auch  in  China  nicht  ganz  gewöhnlichen  Lebens- 
weise, die  ihn  in  nahe  Berührung  mit  den  Naturgebilden 
brachte,  hatte  er  ohne  Zweifel  seine  noch  heute  in  China  un- 
gewöhnlichen Naturkenntnisse  zu  verdanken.  Meli. 


Herrn  Prof.  W.  B.  in  H.  —  Nutzen  und  Schaden  des 
Maulwurfes.  —  Sie  senden  uns  einen  Ausschnilt  aus  einer 
Tageszeitung,  in  dem  auf  Grund  der  Arbeiten  des  französischen 
Zoologen  Raspail  dem  Maulwurf  jeder  Nutzen  abgesprochen 
und  dieses  Tier  im  Gegenteil  als  überaus  schädlich  hingestellt 
wird.  Ich  habe  vergeblich  nach  dieser  Arbeit  Raspail 's 
in  allen  französischen  Zeitschriften  gesucht,  auch  widersprechen 
alle  mehrfach  gemachten  Untersuchungen  der  ausgesprochenen 
Ansicht.  Es  ist  natürlich  zuzugeben,  daß  ein  schön  gepflegter 
Garten  durch  die  Miniertätigkeit  des  unterirdischen  Pioniers 
oft  zum  Ärger  des  Besitzers  zerstört  werden  kann,  anderer- 
seits muß  aber  auch  gerechterweise  anerkannt  werden,  daß  der 
Maulwurf  durch  die  massenhafte  Vertilgung  tierischer  Schäd- 
linge sowie  durch  die  Rajolarbeit  dem  Landwirte  von  großem 
Nutzen  ist.  Der  von  Ihnen  übersandte  Artikel  ist  nichts  weiter 
als  eine  Reklame  für  eine  Pelzfirma,  die  die  verwerfliche 
Modenarrheit  der  Maulwurfspelze  zu  entschuldigen  sucht.  Es 
ist  außerordentlich  zu  bedauern,  daß  wissenschaftliche  Probleme 
und  Grundsätze  durch  diese  Art  neuerdings  sehr  beliebter 
Reklame  —  prostituiert  werden,  und  daß  die  Tageszeitungen 
solche  Artikel  veröffentlichen.  Diese  Kampfesweise  der  Pelz- 
und  Federhändler  zeigt  deutlich,  daß  den  Naturschutzbestre- 
bungen gar  nicht  genug  Interesse  und  Unterstützung  entgegen- 
gebracht werden  können.  Ferd.  Müller. 


Herrn  Dr.  A.  M.  in  Gr. 


Reptilieneier. 


Um  Rep- 


tilieneier zu  embryologischen  Untersuchungen  zu  erhalten, 
würde  das  beste  sein,  die  betreffenden  Tiere  im  Terrarium  zu 
halten,  da  man  so  am  sichersten  die  einzelnen  Stadien  be- 
kommt und  am  besten  fixieren  kann.  Ob  konservierte  Eier 
käuflich  zu  haben  sind,  ist  mir  unbekannt.  Eine  Anzeige  in 
dem  Inseratenteil  dieser  Zeitschrift  und  Anfragen  bei  ver- 
schiedenen Naturalienhandlungcn  können  von  Erfolg  sein. 

Ferd.  Müller. 


Inhaltl  Adolf  Mayer:  Über  die  Bewohnbarkeit  der  Sterne.  Carl  Breuer:  Chromalpapiere.  —  Einzelberichte:  L. 
Brunerf:  Beeinflußbarkeit  der  Zerfallgeschwindigkeit  von  Radiumemanation.  Gooch  undKuzirian:  über  die 
Einwirkung  von  geschmolzenem  Natriumparawolframat  auf  die  Salze  flüchtiger  Säuren.  W.  Will:  Nitroverbindungen 
aus  Toluol  und  Benzol.  Casimir  Funk:  Ein  unentbehrlicher  Bestandteil  unserer  Nahrung.  C.  Heß:  Der  Lichtsmn 
mariner  Würmer  und  Krebse.  Riem:  60 zölliges  Spiegelteleskop.  Geyr  zu  Schweppenburg:  Inhalt  von  Schrei- 
adler-GewöUen.  Erich  Hesse:  Form  des  Einflugloches  des  Schwarzspechtes.  —  Kleinere  Mitteilungen:  König, 
Hasenbäumer  und  Braun:  Ein  neues  Verfahren  zur  Gewinnung  von  Zellulose  aus  Holz  und  Gespinstfasern  und 
zur  Beseitigung  der  abfallenden  Laugen.  Ru  d  o  1  f  S  c  h  mi  1 1 :  Der  Einfluß  des  letzten  nassen  Sommers  auf  malaka- 
zoologischem  Gebiet.  —  Bücherbesprechungen:  Handbuch  der  Tropenkrankheiten.  Kerner  v.  Marilaun:  Pflanzen- 
leben. Kr.  Birkeland:  Über  die  Ursache  der  erdmagnetischen  Stürme  und  den  Ursprung  des  Erdmagnetismus.  Dug- 
more:  Wild-Wald-Steppe.  Boas:  Lehrbuch  der  Zoologie  für  Studierende.  —  Literatur:  Liste.  —  Wetler-Monats- 
übersicht.  —  Anregungen  und  Antworten.  

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Mi  ehe  in  Leipzig,  Marienstraße   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Bund; 
der  ganzen  Reihe   29.  Band 


Sonntag,  den  3.  Mai  1914. 


Nummer  18. 


Die  Quelle  der  Muskelkraft. 


:ibotei 


[Nachdruck 

Es  ist  in  letzter  Zeit  mehrfach  die  Aufmerk- 
samkeit weiterer  Kreise  auf  die  Frage  nach  der 
Quelle  der  Muskelkraft  gelenkt  worden.  Dies  ver- 
anlaßt uns,  auch  die  Leser  der  „Naturwissenschaft- 
lichen Wochenschrift"   an  diesen  Erörterungen  zu 

i  beteiligen.  Im  vergangenen  Jahre  stellte  J.  M  a  t  u  1  a 
in  der  Zeitschrift  „Die  Naturwissenschaften"  \)  die 

;  Quellungstheorie  der  Muskelkontraktion  dar.  Kurz 
darauf  wurde    von  S.  Gutherz-)    diese    Theorie 

I  verworfen,    dann    von    R.  Hob  er   in    einem  Vor- 

j  trage  vor  der  deutschen  Bunsengesellschaft  in  Bres- 
lau ^)  wieder  verteidigt  und  jüngst  von  R.  Pütt  er 
in  einem  .Artikel  der  „Naturwissenschaften"  *)  nur 
mit  bestimmten  Einschränkungen  gelten  gelassen. 
Diese  Ouellungstheorie  nimmt  an,  daß  gewisse 
mikroskopische  Gewebselemente  der  Muskeln  nach 
erfolgter  Reizung  aufquellen,  wodurch  eine  Ver- 
kürzung des  Muskels  eintrete.  Sie  hat  einen  Rivalen 
in  der  Oberflächenspannungstheorie.  Diese  stellt 
sich  vor,  daß  die  wirksamen  Gewebselemente  im 
gereizten  Muskel  eine  Vermehrung  ihrer  Ober- 
flächenspannung erfahren  und  somit  zu  schrumpfen 
bestrebt  sind. 

Jede  Muskeltheorie  muß  natürlich  die  Eigen- 
tümlichkeiten des  Baues  und  der  Verrichtung 
dieser  Organe  berücksichtigen  und  physikalisch 
möglich  sein.  Bezüglich  des  Baues  der  Muskeln 
wissen  wir,  daß  ihre  anatomischen  Elemente  die 
Fibrillen  sind,  lange,  mikroskopische  dünne  Fäden, 
die  bündelweise  in  mit  Flüssigkeit  erfüllten  Schläu- 
chen stecken.  Die  Flüssigkeit  heißt  Sarkoplasma 
und  der  Schlauch  .Sarkolemm.  Die  beiden  Enden 
des  Sarkolemms,  an  denen  die  Fibrillen  angeheftet 
sind,  gehen  in  die  Sehne  des  Muskels  über,  die 
diesen  zwischen  zwei  Knochen  oder  dergl.  aus- 
spannt. Beim  quergestreiften  Muskel  zeigt  sich 
nun  die  Fibrille  zusammengesetzt  aus  Stücken,  die 
abwechselnd  heller  und  dunkler  sind.  Die  dunk- 
leren haben  die  Eigenschaft  der  Doppelbrechung. 
Sie  sind  es,  die  bei  der  Kontraktion  ihre  Gestalt 
verändern  und  im  besonderen  ihren  Längsdurch- 
messer verkürzen.  Von  K.  Hürthle  ist  in  einer 
vortrefflichen  Untersuchung  nachgewiesen  worden, 
daß  „bei  der  Kontraktion  weder  eine  Volumzu- 
nahme der  Fibrillen  im  ganzen,  noch  ihrer  doppel- 
brechenden Abschnitte"  vorkommt.^)  Hürthle 
weist  daher  jede  Ouellungstheorie  ab.  Ich  glaube, 
daß  man  nicht  umhin  kann,  seinem  Schlüsse  zu 
folgen. 


Von  Emil   Baur-Zürich. 


')  Bd.   1,    109  (19131. 

2)  Ebenda,  Bd.  1,  38S  (1913). 

■')  Zeitschr.  f.  Elektrochemie,  19,  73S  (1913). 

')  Bd.  2,  31  (1914I. 

'')  Pflügers  Archiv,  126,    151    I1909). 


Somit  bliebe  fernerhin  nur  die  Oberflächen- 
spannungstheorie in  ernstliche  Erwägung  zu  ziehen. 
Sie  betrachtet  die  ganze  Fibrille  als  Elüssigkeits- 
faden  oder  ihre  doppelbrechenden  Anteile  als  eine 
Perlschnur  von  Tropfen.  Mit  den  mikroskopischen 
Tatsachen  steht  sie  nach  Hürthle  nicht  im 
Widerspruch,  wohl  aber,  wie  mir  scheint,  mit  der 
Art  der  Tätigkeit  des  Muskels.  Derselbe  arbeitet 
nämlich  so,  wie  wenn  er  eine  gespannte,  lange, 
elastische  Spiralfeder  wäre.  PJne  solche  kann  bei 
größter  Dehnung  das  größte  Gewicht  heben;  je 
mehr  sie  sich  verkürzt,  desto  kleiner  wird  das 
Gewicht,  das  sie  weiterhin  noch  heben  kann.  Für 
den  Muskel  gilt  das  nämliche.  Dagegen  wäre  eine 
gegebene  Oberflächenspannung  von  der  Verkürzung 
unabhängig.  Daraus  muß  man  schließen,  wie  mir 
scheint,  daß  der  Muskel  elastische  Kräfte  besitzt, 
die  bei  der  Kontraktion  ins  Spiel  treten. 

Es  liegt  nahe,  diese  in  die  doppelbrechenden 
Scheiben  zu  verlegen.  Die  Doppelbrechung  deutet 
auf  Spannung;  in  der  Tat  nimmt  die  Doppel- 
brechung ab,  wenn  die  Scheiben  sich  verkürzen. 
Diese  hätte  man  einfach  als  elastische  Bänder  zu 
betrachten.  Wohl  aber  könnte  man  Oberflächen- 
kräfte in  Anspruch  nehmen,  um  die  nach  erfolgter 
Kontraktion  entspannten  Bänder  wieder  zu  spannen. 
Diese  Oberflächenkräfte  müßten  dann  ihren  Sitz 
in  den  einfachbrechenden  Scheiben  der  Fibrillen 
haben. 

Um  nun  zu  erfahren,  welche  Geschehnisse  den 
Wechsel  in  der  Oberflächenspannung  jener  Elemen- 
tarorgane hervorrufen,  muß  man  den  Chemismus 
des  Muskels  heranziehen.  Das  Sarkoplasma  ent- 
hält in  der  Ruhe  einen  Vorrat  an  Zucker,  zum 
Teil  in  P'orm  von  Glykogen.  Nach  der  Reizung 
verschwindet  dieser  durch  Umwandlung  in  Milch- 
säure, und  bei  der  Rückkehr  zum  Ruhestand  wird 
die  letztere  zu  Kohlensäure  oxydiert.  Diese  Ände- 
rungen in  der  chemischen  Zusammensetzung  des 
Mediums,  in  dem  die  Fibrillen  eingebettet  liegen, 
können  nun  sehr  wohl,  ja  sogar:  sie  müssen  eine 
Änderung  in  der  Oberflächenspannung  kontraktiler 
I'ormelemente  herbeiführen. 

An  der  Grenze  zweier  Medien  oder  „Phasen", 
wie  die  physikalische  Chemie  sagt,  reichern  sich 
gelöste  Stoffe  im  allgemeinen  an.  Man  nennt 
diesen  X^organg  eine  Adsorption,  und  diese  hat 
auf  die  an  der  Phasengrenze  herrschende  Spannung 
einen  Einfluß,  der  natürlich  um  so  größer  sein 
wird,  je  bedeutender  die  Adsorption  ist.  Das 
hängt  nun  wieder  von  der  Natur  des  adsorbier- 
baren Stoffes  ab.  In  dieser  Beziehung  wissen 
wir,  daß  die  Kohlenhydrate  wenig,  die  aliphatischen 
Säuren    dagegen    stark    adsorbierbar    sind.       Das 


274 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  i8 


Interesse  richtet  sich  daher  vornehmlich  auf  die 
Milchsäure,  mit  deren  Auftreten  und  \'ersch\vinden 
erhebliche  Änderungen  in  der  Oberflächenspannung 
der  einfachbrechenden  Scheiben  der  Fibrillen  ver- 
bunden zu  denken  sind. 

Ein  gelöster  Stoff  kaim  sich  nur  dann  in  der 
Oberfläche  anreichern,  wenn  die  dort  herrschende 
Spannung  erniedrigt  wird.  Zunehmender  Konzen- 
tration einer  Lösung  muß  also  Abnahme  der  an 
ihren  Grenzen  herrschenden  Spannung  entsprechen, 
und  zwar  gelangt  man  zu  einem,  von  W.  Gibbs 
entdeckten  quantitativen  Zusammenhang  zwischen 
der  Verdünnung  einer  Lösung  und  der  Änderung 
ihrer  Oberflächenenergie,  wie  man  aus  folgendem 
Gleichgewicht  ableiten  kann :  Zwei  Gefäße,  vgl. 
Fig.  I,  sind  durch  einen  Zylinder  verbunden,  in 
dem  ein  halbdurchlässiger  Stempel  gleitet.  Das 
rechte    Gefäß    enthält    die    Lösung    eines    .Stoffes 


Fig.    I. 

mit  dem  osmotischen  Druck  p,  das  linke  Gefäß 
dieselbe  Lösung  etwas  konzentrierter,  mit  dem 
osmotischen  Druck  p+  dp.  In  den  beiden  Gefäßen 
stehen  in  fester  Lage  rechtwinklig  gebogene  Rahmen 
mit  vertikal  beweglichen  Querstegen.  In  den  so 
geschaffenen  V^ierecken  sind  Lamellen  einer  Flüssig- 
keit ausgespannt,  die  sich  in  der  umgebenden 
Lösung  nicht  auflösen  soll.  Wegen  der  Adsorp- 
tion des  gelösten  Stoftes  auf  den  Lamellen  ist  ihre 
Spannung  links  etwas  geringer,  nämlich  o — da, 
als  rechts,  wo  sie  a  betragen  möge.  Um  beide 
Lamellen  am  Schrumpfen  zu  verhindern,  sind  die 
Stege  mit  Schnur  und  Rolle  miteinander  verbunden. 
An  der  Schnur  links  ist  ein  Gewicht  angebracht, 
das  den  Unterschied  der  beiden  Spannungen  aus- 
gleicht. Schließlich  wird  der  osmotische  Stem])el 
am  Vorrücken  nach  rechts  verhindert  durch  ein 
ebenfalls  an  Schnur  und  Rolle  passend  angehängtes 
Gewicht. 

Wenn  man   nun  dieses    letztere  senkt,    so  ant- 


wortet das  andere  Gewicht  mit  einer  entsprechen- 
den Hebung  und  umgekehrt.  Wenn  der  Stempel 
nach  links  vorrückt  und  im  linken  Gefäß  das  Vo- 
lum V,  in  dem  z.  B.  ein  Mol  des  gelösten  Stoffes 
enthalten  sein  mag,  zum  Verschwinden  bringt, 
so  entsteht  dafür  die  Oberfläche  w,  die  diese  Stoft'- 
menge  aufnimmt.  Auf  der  rechten  Seite  ist  gleich- 
zeitig ein  Volumen  v  entstanden  und  eine  Ober- 
fläche io  verschwunden.  Das  linke  Gefäß  hat  da- 
bei die  Volumenergie  — (p-j-dp)v  verloren  und 
die  Oberflächenenergie  -|-(ff  — da)(ii  gewonnen,  das 
rechte  Gefäß  hat  -|-pv  gewonnen  und  — wer  ver- 
loren. Die  Summe  dieser  Beträge  muß,  da  es 
sich  um  ein  Gleichgewicht  handelt.  Null  ergeben, 
so  daß  folgt; 

—  vdp  =  (oda. 

Wir  lernen  daraus,  daß  es  Gebilde  gibt,  die 
Oberflächenenergie  aufnehmen,  indem  sie  Volum- 
energie abgeben.  Die  entstandene  Oberflächen- 
energie können  wir  in  Arbeit  verwandeln  und  so 
zu  Maschinen  kommen,  in  denen  aus  dem  Ver- 
brauch eines  gegebenen  Vorrates  von  Volumenergie, 
d.  h.  aus  Konzentrationsänderungen,  durch  Ver- 
mittelung  von  Oberflächenkräften  Arbeit  gewonnen 
wird.  Da  nun  alle  aus  chemischer  Energie  zu 
gewinnende  Arbeit  im  letzten  Grunde  auf  Konzen- 
trationsänderungen beruht,  so  kann  man  eine 
Maschine  der  gedachten  Art  passend  eine  kapillar- 
chemische Maschine  nennen. 


1 

i 

^Ji_ß_Ä_fi_fi_ajüL 

1  1 

_. 

'.\ 

1 

o* 

Fig. 


Die  .Aufgabe,  eine  solche  Maschine  zu  kon- 
struieren,   könnte    folgendermaßen    gelöst   werden. 

Wir  denken  uns  einen  rechtwinkligen  Rahmen, 
wie  Fig.  2,  mit  zwei  beweglichen  Querstegen. 
Der  linke  sei  zunächst  festgeklemmt  und  zwischen 
beide  Stege  eine  Flüssigkeitslamelle  gebracht. 
Dann  wird  der  rechte  Steg  nach  dem  linken  hin- 
gezogen werden.  Wir  hindern  ihn  daran,  indem 
wir  zwischen  ihm  und  dem  Rahmen  Federn  aus- 
spannen. Bei  einer  gewissen  Stellung  des  Steges 
wird  die  Spannung  der  Federn  der  Oberflächen- 
spannung das  Gleichgewicht  halten.  Wenn  wir 
nun  an  dem  anderen  Stege  mit  Schnur  und  Rolle 
eine  Wagschale  befestigen  und  auf  diese  Gewichte 
legen,  die  der  an  dem  Stege  wirkenden  Ober- 
flächenkraft das  Gleichgewicht  halten,  so  können 
wir  die  Arretierung  des  Steges  lösen,  ohne  daß 
etwas   geschieht.     Wir   wollen    nun    noch    in    der 


N.  F.  XIII.  Nr.  i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


275 


Lamelle  von  Steg  zu  Steg  Fäden  knüpfen,  die  nur 
eben  etwas  lose  sind. 

Nun  bringen  wir  das  Ganze  in  die  Atmosphäre 
eines  ad.sorbierbaren  Gases.  Der  Erfolg  wird  sein, 
daß  die  Oberflächenspannung  sinkt  und  daß  die 
Fäden  sich  straffen.  Von  nun  an  hängen  die  (Ge- 
wichte nicht  mehr  an  der  Lamelle,  sondern  an 
den  Federn.  Nehmen  wir  jetzt  Gewichte  stück- 
weise ab,  so  schrumpfen  die  Federn  und  ziehen 
die  übrigen  Gewichte  empor.  So  läßt  sich  fort- 
fahren, bis  Gewicht  bzw.  Federspannung  gerade 
unter  den  Wert  der  Oberflächenspannung  herab- 
sinken. Dies  macht  sich  dadurch  bemerklicli,  daß 
in  diesem  Augenblick  die  Fäden  in  der  Lamelle 
locker  werden  oder  sich  zu  kräuseln  anfangen. 
Durch  Erhöhung  der  Konzentration  des  adsorbier- 
baren Gases  kann  man  den  Vorgang  wiederholen, 
bis  die  Feder-  und  Oberflächenspannung  und  da- 
mit auch  die  Last  minimal  geworden  sind. 

Die  \'orgänge  lassen  sich  prompt  umkehren 
dadurch,  daß  man  die  Konzentration  des  Gases 
erniedrigt,  etwa  indem  man  es  durch  chemische 
Reaktion  fortschafft.  Sonach  muß  die  beim  Hub 
vom  System  geleistete  Arbeit  der  verschwundenen 
Oberflächenenergie  der  Lamelle  gleich  sein,  und 
der  Gewinn  an  dieser  bei  der  Zurückführung  auf 
den  Anfangszustand  muß  der  Abnahme  der  Volum- 
energie des  Gases  entsprechen.  Wir  haben  also 
die  Arbeitsgleichung: 

A=  I      wdff=  I      vdp  =  RTln^ 

Hier  bedeuten  a^  die  Oberflächenspannung  bei 
dem  großen  Druck  p,  oder  der  entsprechenden 
molaren  Konzentration  Cj,  a,  die  Oberflächen- 
spannung bei  dem  kleinen  Druck  p.^  bez.  c.,. 
Die  Hubarbeit  A  ist  bezogen  auf  die  Adsorption 
von  einem  Mol  Gas  auf  der  Oberfläche  w.  R  ist 
die  Gaskonstante  bezogen  auf  das  iMolarvolumen 
V  und  T  ist  die  absolute  Temperatur. 

Rechnet  man  die  Oberflächenarbeit  aus,  so 
kommt  man  zu  einer  Beziehung  zwischen  den 
Spannungen  und  Gaskonzentrationen  zu  Anfang 
und  zu  Ende  des  Prozesses.     Sie  lautet^): 


')  Anmerkung.      Zur    Ableitung    kombinieren    wir    die 
Adsorptionsformel : 

1 


I —  ist  die  Adsorption  pro   Flächeneinlieit  in  Molen)    mit    der 

Oberiliichenspannungsformel    (siehe    Freundlich,    Kapillar- 
chemie, Leipzig  1909,  S.  65): 

J_ 

n 
Oq  —  o  =  sc 

{Oq  ist  die  Spannung  der  reinen  Oberfläche,  a  die  der  Lösung). 
Das  n  der  Adsorptionsformel  ist 

"  =  nRT 
(siehe  Freundlich,  ebenda,  Seite  76). 
Man  erhält ; 

I 


.K— ") 


©- 


ffo— ff., 

und  besagt:  je  größer  der  Konzentrationsquotient 
wird,  desto  mehr  muß  die  Differenz  ff,,  —  ff._,  sich 
der  Null  annähern,  was  ja  nur  ein  anderer  Aus- 
druck dafür  ist,  daß  zu  einer  extrem  kleinen  Kon- 
zentration c,  eine  ebenfalls  extrem  kleine  Adsorp- 
tion gehört.     Der  Exponent        stellt    die   Konzen- 


n 


trationsabhängigkeit 
bei 


der    Adsorption    dar.       Für 
denen    natürlich    der    osmotische 

I 


Lösungen, 

Druck    an    die  Stelle    des  Gasdruckes  tritt,    hat 


n 


Werte  ')  zwischen  0,1    und  0,5. 

Nunmehr  wollen  wir  zum  quergestreiften  Muskel 
zurückkehren  und  uns  fragen,  inwieweit  eine 
Hbrille  anatomisch  und  physiologisch  der  geschil- 
derten kapillarchemischen  Maschine  vergleichbar 
ist.  Wie  mir  scheint,  liegt  es  äußerst  nahe,  die 
Segmente  einer  Fibrille  mit  einer  Strickleiter 
zu  vergleichen,  deren  Sprossen  abwechselnd  durch 
elastische  Bänder,  entsprechend  den  doppelbrechen- 
den Säulchen,  und  durch  Flüssigkeitslamellen,  ent- 
sprechend den  einfachbrechenden  Säulchen  der 
Fibrille,  verbunden  sind.  Ist  ein  solches  Gebilde 
von  einem  mit  Lösung  gefüllten  Sack  umschlossen, 
wie  die  Fibrille  von  Sarkolemm  und  Sarkoplasma, 
und  zwischen  den  Armen  eines  Gelenkes  ausge- 
spannt, wie  die  Fibrille  mit  ihren  sehnigen  Enden 
zwischen  zwei  Gelenkknochen,  so  wird  dieses  Ge- 
bilde sich  energetisch  ebenso  betragen,  wie  ein 
Muskel  es  tut.  Abzusehen  ist  allerdings  von  der 
wellenförmigen  Ausbreitung  des  Reizes  und  von 
einer  am  Muskel  zweifellos  noch  vorhandenen  Vor- 
richtung zur  automatisch  wirkenden  Arretierung 
und  Dehnung. 

Um  dies  einzusehen,  stellen  wir  uns  die  ver- 
schiedenen Zustände  des  Muskels  einzeln  vor.  An 
einem  nicht  gereizten,  ausgeruhten  Muskel  hänge 
eine  Last,  die  er  gerade  noch  heben  kann.  In 
diesem  Zustand  besitzt  der  Muskel  seine  volle 
Spannkraft.  Nun  erfolge  die  Reizung.  Sie  erzeugt 
Milchsäure,  diese  schaltet  die  Oberflächenspannung 
der  Lamellen  aus  und  löst  wohl  gleichzeitig  eine 
Arretierung,  die  an  unserem  Strickleitermodell  nicht 
vertreten  ist.  Nun  folgt  die.  Zuckung  und  Hebung 
der  Last.  Danach  hat  der  Muskel  seine  Spann- 
kraft eingebüßt.  Jetzt  muß  am  entlasteten  Muskel 
eine  —  wohl  elastische  —  Dehnung  ins  Spiel 
treten,  welche  die  einfachbrechenden  Glieder  der 
Fibrille  in  die  Länge  zieht  und  so  die  ganze  Fi- 
brille auf  ihre  ursprüngliche  Länge  zurückführt. 
Unser  Modell  hat  für  diesen  Vorgang  kein  ent- 
sprechendes Organ.    Zuletzt  gewinnt  der,  in  seiner 


Somit  wird; 


I       ai^ii  =  n 
fi  "1 


nRT 


RTln- 


—  =  RTln  -, 

-  a,  Co 


S.   149. 


Vgl.     Freundlich,     Kapillarchemie,      Leipzig     1909, 


276 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  18 


natürhchen  Länge  gewissermaßen  arretierte,  Muskel 
seine  Spannung  zurück,  indem  ein  Oxydations- 
prozeß die  Milchsäure  auf  eine  sehr  niedrige 
Konzentration  herunterbringt.  Bei  diesem  Vor- 
gang, der  das  Werk  gewissermaßen  aufzieht,  werden 
die  elastischen  Bänder  der  doppelbrechenden 
Scheiben  ebensoviel  gedehnt,  als  die  einfachbrcchen- 
den  an  Länge  abnehmen. 

Daß  die  freie  Energie  einer  derartigen  chemi- 
schen Reaktion,  wie  die  Verbrennung  der  Milch- 
säure, im  Muskel  gespeichert  wird,  liegt  daran, 
daß  die  adsorbierte  Milchsäure  die  Oberfläche 
nicht  verlassen  kann,  ohne  deren  Spannung  zu 
vermehren.  Es  ist  die  Triebkraft  der  chemischen 
Reaktion,  die  den  adsorbierten  .Stoff  gewissermaßen 
aus  der  Oberfläche  herausholt,  .»Arbeit  an  ihn  leistend. 

Offenbar  ist,  daß  die  ganze  Erholungszeit,  bis 
zum  Aufbrauch  der  auf  die  Reizung  hin  in  Wirk- 
samkeit getretenen  Milchsäure,  mit  zum  Kreis- 
prozeß gehört.  Handelt  es  sich  also  um  die 
Energiebilanz  des  Vorganges,  so  muß  der  LTnter- 
schicd  der  \'erbrennungswärme  q  eben  jener 
Milchsäure  (oder  der  entsprechenden  Menge  Zucker, 
was  nur  sehr  wenig  mehr  ausmacht)  und  der  ge- 
leisteten Arbeit  A  mit  der  gesamten  beobacht- 
baren Wärmeproduktion  des  Muskels  O  verglichen 
werden.     Beide  müssen  gleich  sein: 

Q  =  q-A. 
Welcher  Teil  von  Q  gerade  während  des  kurzen 
Zeitintervalles  einer  Zuckung  auftritt,  ist  für  die 
Energiebilanz  gleichgültig  und  in  seinem  Verhält- 
nis zu  A  uninteressant.  Ich  kann  daher  nicht  zu- 
stimmen, wenn,  wie  gegenwärtig  geschieht,  ^)  die 
Bestimmung  dieses  Verhältnisses,  das  mit  Auf- 
wendung nicht  gewöhnlicher  Mittel  vor  kurzem 
ermittelt  wurde,  ■)  als  besonders  wertvoll  ange- 
sehen wird.  Allein  wichtig  ist  das  Verhältnis  der 
Größen  q  und  A  in  der  obigen  Gleichung.  Dies 
Verhältnis  ist  längst  bekannt  und  beträgt  für  an- 
nähernd maximale  Belastung  etwa  A  =  ''j^  q.  Mit 
Rücksicht  auf  die  weiter  oben  gegebene  Gleichung 
erhält  man : 

A=RTln^'=  329500^3 

Co  4 

woraus  Cj  ==  etwa   iO~""  für  c,  =  i   folgt. 

Diese  minimale  Konzentration  ist  aufzufassen 
als  die  Konzentration  der  Milchsäure  (oder  ihrer 
Umwandlungsprodukte)  im  chemischen  Gleicli- 
gewicht  mit  Sauerstoff  und  Kohlensäure.  Die 
freie  Energie  dieser  oder  einer  ähnlichen  Oxyda- 

')  A.  Pütt  e  r  und  K,  H  ober,  a.  a.  O.,  auch  C.  O  pp  en- 
heimer,  Naturwissenschaften,   Bd.  2,  82  (1914). 

^)  A.  V.  Hill,  lourn.  of  Physiology,  Bd.  U,  466(1912), 
46,  28,  435   (1913'- 


tion  ist  es,  die  die  Muskelmaschine  aufzieht.  Der 
Ort  der  Verbrennung  ist  die  wirkende  Oberfläche; 
sie  wird  durch  die  Tendenz  zur  Gleichgewichts- 
einstellung sozusagen  beständig  gereinigt,  ihre 
Spannung  dadurch  immerfort  regeneriert  und  die 
Federkraft  der  Fibrille  so  oft  wieder  hergestellt, 
als  sie  unter  Leistung  von  Hubarbeit  aufgehoben 
wurde,  indem  rhythmisch  wiederkehrende  Reize 
einen  ruckweisen  Zufluß  des  adsorbierbaren  Stoffes 
in  die  wirkende  Oberfläche  hinein  auslösen.  Daß 
die  Quelle  der  Muskelkraft  letzten  Endes  eine 
chemische  sein  muß,  ist  selbst\erständlich.  Frag- 
lich konnte  bloß  die  Art  des  Mechanismus  sein, 
wodurch  chemische  Energie  sich  im  Muskel  in 
Arbeit  umsetzt. 

Wenn  die  Antwort,  die  wir  versucht  haben, 
daß  nämlich  der  Muskel  eine  kapillarchemische 
Maschine  sei,  völlig  befriedigen  soll,  so  muß  außer 
der  energetischen  Möglichkeit  auch  das  Zustande- 
kommen der  Kraftwirkung  des  Muskels  nachge- 
wiesen werden.  Auf  i  qcm  Muskelquerschnitt 
kommen  rund  30  Millionen  Fibrillen,  deren  jede 
einen  Radius  von  etwa  '.ii,,,,,  mm  besitzt.  Denkt 
man  sich  die  Fibrillen  als  zylindrische  Fäden ,  so 
kann  man  fragen,  wie  groß  muß  ihre  Oberflächen- 
spannung sein,  damit  die  tatsächlich  beobachtbare 
Tragfähigkeit  einer  Muskelsäule  von  l  qcm  Ouer- 
schnitt  herauskomme.  Die  letztere  beträgt  beim 
l'roschmuskel  3000  g  und  soll  beim  Menschen 
noch  mehr  als  doppelt  so  groß  sein.  Die  Rech- 
nung ist  von  J.  Bernstein')  durchgeführt  wor- 
den mit  dem  Ergebnis,  daß  die  Oberflächen- 
spannung der  l'ibrillen  (oder,  nach  vorstehender 
Darstellung,  ihrer  einfach  brechenden  Teile)  gegen 
das  Sarkoplasma  etwa  den  Wert  derjenigen  des 
Uuecksilbers  gegen  Wasser  erreichen  müßte,  was 
für  organische  Stoffe  außer  dem  Bereich  des 
Plausiblen  liegt.  Man  müßte  daher  die  Ober- 
flächenspannungstheorie des  Muskels  fallen  lassen, 
wenn  man  nicht  annehmen  dürfte,  daß  die  maß- 
geblichen, einfach  brechenden  Segmente  der 
Fibrillen  tatsächlich  nicht  kompakt  sind,  sondern 
in  Wahrheit  einen  z.  B.  lamellaren  Bau  hätten. 
Eine  derartige  Anordnung  kann  der  Mikroskopie 
leicht  verborgen  bleiben,  wenn  etwa  der  Unter- 
schied der  Lichtbrechung  der  aneinander  grenzen- 
den Phasen  nur  klein  ist.  Man  wird  daher 
J.  Bernstein  nur  beipflichten  können,  wenn  er 
die  von  ihm  aufgedeckte,  vorläufige  Unstimmig- 
keit zwischen  Rechnung  und  Beobachtung  nicht 
für  hinreichend  hält,  um  der  Oberflächenspannungs- 
theorie den  Boden  zu  entziehen. 

')  Pflüger's  Archiv,  Bd.  S5,  271   (1901). 


Die  Chemie  des  Chloroitlijlls. 

Von  Dr.   Günther  Bugge. 
[Nachdruck  verboten.] 

Das  Chlorophyll  hat  seit  langem  das  besondere 
Interesse  der  chemischen  P'orschung  erregt,  da  aus 
der    .'Kufklärung    seiner    chemischen    Konstitution 


eine  Beantwortung  der  wichtigsten  Fragen  der 
Pflanzenphysiologie  zu  erhoffen  ist.  Wenn  man 
bedenkt,  daß  der  Mensch  und  die  Tiere  von  der 
organischen  Materie  leben ,  welche  die  Pflanzen 
durch  die  Wirkung  des  Chloroph}-lls  in  sich  auf- 
bauen ,    begreift  man  die  Wichtigkeit    dieser  Sub- 


N.  F.  XIII.  Nr.  i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


277 


stanz,  die  Darwin  als  den  interessantesten  aller 
organischen  Stoffe  bezeichnet  hat.  Durch  die  vor 
8  Jahren  in  Angriff  genommenen  Untersuchungen 
von  R  i  c  h  a  r  d  W  i  1 1  s  t  ä  1 1  e  r  ist  die  Frage  nach 
der  Natur  des  Blattgrüns  ihrer  Lösung  um  ein  er- 
hebliches Stück  näher  gerückt,  und  der  vorläufige 
Abschluß  dieser  mit  viel  Scharfsinn  und  experi- 
mentellem Geschickdurchgeführten  Untersuchungen 
mag  einen  Bericht  über  den  jetzigen  Stand  der 
Chlorophyllchemie  rechtfertigen. 

Als  Willstätter  seine  Forschungen  über 
den  Blattfarbstoff  begann ,  lag  eine  einwandfreie 
Methode  zur  Isolierung  des  Chlorophylls  aus  den 
Pflanzen  nicht  vor.  Zwar  hatte  schon  in  den 
dreißigerjahren  des  vorigen  Jahrhunderts  Berzelius 
versucht,  das  Blattgrün  durch  Anwendung  starker 
Säuren  und  Laugen  aus  Blättern  zu  extrahieren; 
aber  dieses  Verfahren  trug,  wie  die  meisten  später 
versuchten  Methoden,  bei  denen  Säuren  oder 
Alkalien  benutzt  wurden,  nicht  der  überaus  großen 
Zersetzlichkeit  des  Chlorophylls  Rechnung,  das  bei 
diesen  „rohen"  Kingriffen  schon  tiefgehend  ver- 
ändert wird.  Andererseits  bot  aber  die  Unter- 
suchung dieser  durch  Säuren  und  Alkalien  ver- 
ursachten Veränderung  die  Möglichkeit,  Aufschluß 
über  die  Atomgruppierungen  zu  erhalten,  aus  denen 
sich  das  Chlorophyllmolekül  zusammensetzt.  Die 
schon  früher  gemachte  Beobachtung,  daß  aus 
alkoholischen  Blätterauszügen  mit  Alkalilauge  grüne 
Stoffe  erhalten  werden,  die  im  Gegensatze  zum 
Chlorophyll  wasserlöslich  sind,  wurde  für  Will- 
stätter der  Ausganspunkt,  an  den  die  weitere 
Erforschung  des  Chlorophylls  anknüpfte.  Es  lag 
nahe,  anzunehmen,  daß  diese  bei  der  alkalischen 
Hydrolyse  entstehenden  Körper  Alkalisalze  einer 
Säure  sind,  welche  bei  dem  Abbau  des  esterartig 
konstituierten  Chlorophylls  durch  Verseifung  ge- 
bildet wird.  Ferner  ließ  sich  vermuten,  daß  die 
gelinde  Einwirkung  von  Säuren,  bei  der  die  grüne 
Farbe  des  Chlorophylls  in  Grünbraun  umschlägt, 
in  anderer  Weise  das  Molekül  angreift  wie  die 
Wirkung  der  Alkalien,  und  daß  hier  keine  Ver- 
seifung eintritt,  sondern  eine  Zerstörung  der  sauren 
Komponente,  die  bei  der  alkalischen  Verseifung 
abgespalten  wird. 

Die  sehr  zersetzlichen  Produkte  der  Einwirkung 
von  Alkali  auf  Chlorophyll,  dieChlorophylline, 
konnten  nach  Ausarbeitung  geeigneter  Methoden 
isoliert  und  genauer  untersucht  werden.  Sie  er- 
wiesen sich  bei  der  Analyse  als  magnesiumhaltig. 
Und  zwar  stellte  sich  heraus,  daß  das  Magnesium 
in  den  Chlorophyllinen  nicht ,  wie  bei  den  ge- 
wöhnlichen Magnesiumsalzen ,  in  elektrolytisch 
dissoziierbarem  Zustand  vorhanden  ist,  sondern  in 
„komplexer"  Bindung,  d.  h.  in  einer  Form,  in  der 
es  durch  die  üblichen  lonenreaktionen  nicht  nach- 
gewiesen werden  kann.  Selbst  beim  Erhitzen  mit 
Alkalien  läßt  sich  das  Magnesium  nicht  abspalten, 
sondern  der  Metallkomplex  bleibt  unversehrt.  Wohl 
aber  werden  bei  dieser  Reaktion  die  in  den  Chloro- 
phyllinen vorhandenen  Säureradikale,  die  Karboxyl- 
gruppen,  nacheinander  unter  Kohlendioxydbildung 


eliminiert.  Es  entstehen  auf  diese  Weise  prächtig 
gefärbte  Abbauprodukte,  die  den  Namen  Ph\-lline 
erhalten  haben  (z.  B.  das  intensiv  fluoreszierende 
Glaukophyllin  und  das  Rhodophyllin).  Beim  Er- 
hitzen der  Phylline  mit  Natronkalk  wird  auch  die 
letzte  Karboxylgruppe  abgespalten,  und  es  re- 
sultiert eine  sauerstofffreie  Substanz  von  der  Formel 
C..jH.;^N_iMg,  das  Ät  iophyllin.  In  dieser  Stamm- 
substanz der  Chloroph\'lline  hat  man  eine  Bindung 
des  Magnesiums  an  die  vier  Stickstoffatome  in  der 
Weise  anzunehmen,  daß  das  mit  zwei  Valenzen 
an  Stickstoff  gebundene  Metall  durch  „Neben- 
valenzen" komplex  befestigt  wird : 

Mg 

/    !  \ 

NNNN 

Dem  Ätiophyllin  kommt  deshalb  besondere  Be- 
deutung zu ,  weil  es  auch  aus  dem  Hämin  ge- 
wonnen werden  kann,  eine  Tatsache,  die  auf  die 
zuerst  von  Ne  n  cki  entdeckte  Verwandtschaft  von 
Blut-  und  Blattfarbstoff  deutlich   hinweist. 

Während  das  Magnesium  der  Phylline  gegen 
alkalische  Eingriffe  sehr  beständig  ist,  zeigt  es 
gegenüber  der  Einwirkung  von  Säuren  nur  geringes 
Widerstandsvermögen.  Unter  Abspaltung  des 
Magnesiums  bilden  sich  mehrbasische  und  ein- 
basische Aminosäuren,  die  Porphyrine,  und 
schließlich  entsteht  eine  Substanz,  die  keinen  Sauer- 
stoffmehr enthält,  das  Ätioporphyrin  (CgiHgiN^). 

Durch  das  Verhalten  der  Phylline  gegen  Säuren 
ergaben  sich  wichtige  Hinweise  auf  den  Mecha- 
nismus der  Einwirkung  von  Säuren  auf  das  Chloro- 
phyll selbst.  Bei  dieser  Reaktion,  die  durch  einen 
auffälligen  Farbenumschlag  gekennzeichnet  ist, 
bildet  sich  —  am  besten  bei  Anwendung  alko- 
holischer Oxalsäure  —  ein  Chlorophyllderivat,  das 
ebenso  wie  die  Porphyrine  frei  von  Magnesium 
ist.  Dieser  Körper,  das  Phäophytin,  ist  eine 
olivgrüne  Substanz  von  wachsähnlichem  Aussehen, 
die  aus  mehr  als  200  verschiedenen  Pflanzen  von 
Willstätter  isoliert  werden  konnte.  Sie  ist" 
identisch  mit  dem  1879  von  Hoppe-Seyler 
erhaltenen  Chlorophyllan.  Führt  man  in  das  Atom 
des  Phäophytins  Metalle  ein,  die,  wie  das  Kupfer 
oder  das  Zink,  zu  komplexer  Bindung  neigen,  so 
entstehen  Stoffe,  die  in  bezug  auf  Farbe  und 
andere  Eigenschaften  große  Ähnlichkeit  mit  dem 
Chloroplnll  zeigen.  Die  Wiedereinführung  von 
Magnesium  in  das  Phäophytin,  die  durch  Methyl- 
magnesiumjodid  bewirkt  werden  kaim,  ermöglicht 
die  Rückverwandlung  von  Phäoph\"tin  in  Chlore- 
phyll. 

Seiner  chemischen  Natur  nach  ist  das  Phäo- 
phytin ein  Ester.  Behandelt  man  es  daher  mit 
alkoholischer  Kalilauge,  so  wird  es  verseift,  indem 
einerseits  ein  hochmolekularer  Alkohol,  andererseits 
eine  Säure  entsteht.  Der  Alkohol  hat  die  Formel 
C.,oHo,,OH  und  führt  den  Namen  Phytol.  Er 
steht  wahrscheinlich,  seiner  Struktur  nach,  in  nahen 
Beziehungen    zum    Isopren,    einem    Kohlenwasser- 


278 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  i8 


Stoff,  von  dem  sich  der  Kautschuk  ableitet.  Da 
dieser  Alkohol  auch  bei  der  hinwirkung  von  Al- 
kalien auf  das  Chlorophyll  selbst  entstehen  muß, 
gibt  uns  das  durch  die  Säure  gebildete  Chloro- 
phyllderivat erwünschten  Aufschluß  über  die 
Alkoholkomponente  des  als  Ester  aufzufassenden 
Chlorophylls;  das  Chlorophyll  ist  also  ein  Phyto]- 
ester. 

Um  zu  dieser  Erkenntnis  zu  gelangen,  bedurfte 
es     einer     mühsamen     Untersuchung     zahlreicher 
Pflanzen  und  der  richtigen  Deutung  der  sich  hier- 
bei ergebenden  Resultate.     Der  Phytolgehalt  von 
Phäophytinpräparaten  verschiedener  Herkunft  zeigte 
nämlich    in    vielen    Fällen    unerklärliche    Schwan- 
kungen ;  er  stieg  zwar  niemals   über  eine  gewisse 
Grenze  (SS"/,,),    aber  manchmal    sank  er  beträcht- 
lich unter  diesen  Wert  oder  es  ließ  sich  überhaupt 
kein     Phytol     nachweisen.      Zur     Lösung     dieses 
Rätsels  verhalf  die  Beobachtung,    daß    diejenigen 
Pflanzen,  die  einen  abnorm  niedrigen  Ph)-tolgehalt 
aufwiesen,    sich    dadurch    auszeichneten,    daß  aus 
ihnen  mit  besonderer  Leichtigkeit  das  Chlorophyll 
in  einer  eigenartigen    kristallisierten  Form   isoliert 
werden  konnte.     Dies  „kristallisierte"  Chloroph)-ll 
war  1881  von  dem  russischen  Botaniker  Borodin 
in  Blattschnitten    mit    Hilfe    des    Mikroskops    ent- 
deckt und  später  von  Monteverde  spektralana- 
lytisch untersucht  worden.     VV il  1  s t ä tt e r  stellte 
fest,    daß    das    kristallisierte  Chlorophyll    frei  von 
Phytol    ist,    also    nicht    etwa    eine    physikalische 
Modifikation    des    eigentlichen   amorphen   Chloro- 
phylls vorstellt,  sondern  ein  Derivat  dieses  Pigments 
ist.     Ferner  fand  er,    daß  das  Chlorophyll   in  den 
grünen  Pflanzenteilen  stets  von  einem  Enzym,  der 
Chlorophyllase,  begleitet  ist,  und  daß  dieses  Enzym 
bei  der  alkoholischen  Extraktion  des  Chlorophylls 
eine    Reaktion    zwischen    dem  Alkohol    und    dem 
Chlorophyll    auslöst,    bei    der    eine    „Alkoholyse", 
d.  h.  eine  Verdrängung  des  Phytols  durch  Alkohol 
unter  Bildung  von  Methyl-  oder  Äthylchlorophyllid 
bewirkt  wird.     Das  phytolfreie  Chlorophyllderivat 
tritt  also  immer  dann  auf,  wenn  der  Plxtrakt  längere 
Zeit  mit  dem  Mehl  der  getrockneten  Blätter,  aus 
denen  man  das  Chlorophyll  gewinnt,  in  Berührung 
bleibt ;    bei    schnellem   Extrahieren    wird   dagegen 
die  Alkoholyse  eingeschränkt  oder  verhindert  und 
ein  normaler  Phytolgehalt  beobachtet. 

Für  die  Konstitution  des  Chlorophylls  ergaben 
sich  weitere  wichtige  P'olgerungen  aus  der  Llnter- 
suchung  der  Verseifungsprodukte,  die  außer  dem 
Phytol  bei  der  Behandlung  des  Phäophytins  mit 
Alkalien  gebildet  werden.  Es  gelang,  die  Abbau- 
methoden so  zu  vervollkommnen,  daß  schließlich 
immer  zwei  Endprodukte  resultierten:  das  grüne 
„Phytochlorin  e"  und  das  rote  „Phytorhodin  g". 
Das  erstere,  eine  Tricarbonsäure,  hat  die  Zu- 
sammensetzung CjjHjiO-.N^ ,  das  letztere,  eine 
Tetracarbonsäure,  die  Formel  C.5|H.,^0-Nj.  Es 
entstand  jetzt  die  I'rage:  wie  läßt  sich  das  gleich- 
zeitige Auftreten  dieser  beiden  chemisch  sich  sehr 
nahe  stehenden  Produkte  erklären?  Man  konnte 
zunächst    denken,    daß    das    Phäophytin    in    zwei 


Bruchstücke  zerfiele.  Diese  Annahme  schied  aber 
deshalb  aus,  weil  zwischen  dem  Molekulargewicht 
des  Phäophytins  einerseits  und  dem  des  Phyto- 
chlorins  und  Phytorhodins  andererseits  nur  eine 
unerhebliche  Differenz  vorhanden  war.  So  blieb 
nur  die  Erklärung,  daß  das  Phäophj-tin  und  da- 
mit auch  das  Chlorophyll  aus  zwei  Komponenten 
besteht,  von  denen  die  eine  beim  Abbau  das 
Phytochlorin  e,  die  andere  das  Phytorhodin  g 
liefert.  Diese  Hypothese  hat  der  experimentellen 
Nachprüfung  stand  halten  können :  tatsächlich  be- 
steht das  Ch!oroph)-ll  aus  zwei  Komponenten,  dem 
Chlorophyll  a,  einer  blaugrünen  Substanz,  die  beim 
Abbau  zum  Phytochlorin  e  führt,  und  dem  Chloro- 
phyll b,  einem  gelbgrünen  Stoff,  der  das  Phyto- 
rhodin g  liefert. 

Die  Will  statt  ersehen  Forschungen  haben 
damit  zu  einem  t>gebnis  geführt,  das  schon  früher 
durch  Beobachtungen  von  Stokes  (1864)  und  von 
Tswett  wahrscheinlich  gemacht  worden  war. 
Aber  die  von  Stokes  ausgesprochene  Ansicht 
über  die  Doppelnatur  des  Chlorophylls  konnte  sich 
nicht  auf  ein  experimentelles  Material  von  so 
zwingender  Beweiskraft  stützen,  wie  es  die  VVill- 
stätter'sche  Hypothese  vermag;  insbesondere 
war  früher  mit  der  Möglichkeit  zu  rechnen,  daß 
erst  durch  die  Extraktions-  und  Trennungsmetho- 
den eine  Zerlegung  des  Chlorophylls  in  zwei 
Komponenten  erfolgte,  während  wir  heute  wissen, 
daß  diese  beiden  Bestandteile  schon  im  chemisch 
nicht  veränderten  Chlorophyll  gemeinsam  vorhan- 
den sind. 

Die  Isolierung  des  Chlorophylls  in  reinem  Zu- 
stand wird  durch  die  Tatsache  ermöglicht,  daß 
sich  durch  Anwendung  zweier  organischer  Lösungs- 
mittel iz.  B.  Alkohol  und  Petroläther)  eine  ver- 
schiedene Verteilung  des  Chlorophylls  und  seiner 
Begleitstoffe  (hauptsächlich  der  gelben  P^'arbstoffe) 
in  beiden  P'lüssigkeiten  erzielen  läßt.  Man  kann 
so  durch  genügend  häufige  Wiederholung  dieser 
Entmischungsoperationen  aus  Extrakten ,  die  nur 
8— lö^o  Chloroph\il  enthalten,  ca.  70  i)roz.  Chloro- 
phylllösungen herstellen.  Der  Reinheitsgrad  der 
Lösungen  läßt  sich  hierbei  durch  kolorimetrische 
Methoden  kontrollieren.  Hat  das  Chlorophyll  einen 
bestimmten  Reinheitsgrad  erreicht,  so  löst  es  sich 
nur  noch  in  alkoholhaltigem  Petroläther,  aber  nicht 
mehr  in  reinem  Petroläther.  Man  braucht  dann 
also  nur  noch  den  Alkohol  durch  Auswaschen  zu 
entfernen,  um  das  Chlorophyll  zur  Ausscheidung 
zu  bringen.  Durch  Umfallen  des  Chloroi^hylls 
aus  der  ätherischen  Lösung  mit  reinem  Petrol- 
äther kann  die  letzte  Reinigung  des  Farbstoffes 
bewirkt  werden. 

Die  Komponenten  a  und  b  verteilen  sich  bei 
den  Entmischungsvorgängen,  die  zur  Isolierung  des 
Chlorophylls  dienen,  in  ungleicher  Weise  zwischen 
dem  Alkohol  und  dem  Petroläther.  Durch  syste- 
matische Fraktionierung  kann  die  Verteilung  der 
beiden  Stoffe  so  geleitet  werden,  daß  sie  schließ- 
lich zur  Isolierung  jeder  einzelnen  Komponente 
führt.     Die    Methoden    der    Extraktion    und    Ent- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


2/9 


miscluing  sind  jetzt  so  vervojll^ommnet,  daß  man 
ohne  Schwierigkeit  in  wenigen  Stunden  zu  größeren 
Mengen  Ciiloroph)'ll  kommen  kann.  Es  lassen  sich 
beispielsweise  aus  250  g  frischen  Brennesselblättcrn 
nach  der  Angabe  VVi  llstätt  er's  in  40  Minuten 
0,25  g  völlig  reines  Chlorophyll  isolieren. 

Chlorophyll  a  und  b  haben  trotz  ihrer  ojitischen 
Verschiedenheit  nahezu  die  gleiche  chemische  Zu- 
sammensetzung: die  I'ormcl  der  a-Komponente  ist 
Cj,-,H;,,OjNjMg,  die  der  b-Komponente  C-^H^nO,. 
N4Mg.  Das  Gewiclnsverhältnis,  in  dem  beide  im 
Chlorophyll  anwesend  sind,  ist  fast  ganz  unab- 
hängig von  der  Pflanzenart  und  von  dem  biolo- 
gischen Zustand  der  Pflanze;  auf  drei  Moleküle  der 
a- Verbindung  kommt  stets  ein  Molekül  der  b- 
Komponente. 

Die  oben  erwähnten  gelben  Pigmente, 
die  das  Chloroph)-ll  in  der  Pflanze  begleiten,  sind 
ebenfalls  von  Willstätter  untersucht  worden. 
Für  das  schon  früher  bekannt  gewordene  Carotin 
ließ  sich  die  Formel  C^^iHr,,;  sicherstellen;  für  das 
Xanthoph)'ll ,  das  zum  erstenmal  in  reiner  Form 
hergestellt  wurde,  ergab  sich  die  Zusammensetzung 
CjdH,-,i;0.,.  Ein  dritter  ,, carotinoider"  h'arbstoff,  der 
in  den  Braunalgen  vorkommt,  wurde  als  eine  Ver- 
bindung von  der  F'ormel  C4,|H,r,40|5  erkannt. 
Ebenso  wie  das  Verhältnis  von  Chlorophyll  a : 
Chlorophyll  b  konstant  ist,  stehen  auch  die  Mengen 
der  Carotinoiden  Farbstoft'e  zu  den  Mengen  der 
Chlorophylle,  die  sie  begleiten,  in  einem  bestimmten 
Verhältnis.  Aus  i  kg  trockener  Hollunderblätter 
lassen  sich  z.  B.  8,48  g  Chlorophyll  (6,22  g  a  und 
2,26g  b)  und  1,48g  gelbes  Pigment  (0,55  g  Carotin 
und  0,93  g  XanthophyllJ  isolieren.  Die  Konstanz 
dieser  Verhältnisse  deutet  schon  darauf  hin,  daß 
die  Carotinoiden  Farbstoffe  in  nahen  Beziehungen 
zur  Funktion  des  Chloroph)'lls  stehen  müssen. 
Willstätter  hat  hier  eine  kühne  Hypothese  auf- 


gestellt, die  vom  Standpunkt  des  Chemikers  eine 
Vorstellung  von  der  Rolle  geben  soll,  welche  die 
verschiedenen  Farbstoffe  bei  der  Assimilation  der 
Kohlensäure  spielen.  Er  denkt  sich  die  Chloro- 
phyllfunktion in  der  Weise,  daß  die  Reduktion 
der  Kohlensäure,  die  durch  die  Affinität  der 
Magnesiumverbindungen  angezogen  wird ,  unter 
Verbrauch  der  absorbierten  l.ichtenergie  durch  die 
a-Komponente  bewirkt  wird,  wobei  diese  sich  in 
die  b-Komponente  umwandelt.  Das  durch  ().\y- 
dation  gebildete  Chlorophyll  b  wird  unter  Abgabe 
von  Sauerstoff  wieder  in  a  zurückverwandelt,  und 
zwischen  beiden  Vorgängen  stellt  sich  ein  Gleich- 
gewichtszustand ein.  An  der  Rückverwandlung 
von  b  in  a  beteiligen  sich  möglicherweise  die 
gelben  P'arbstofie,  vielleicht  derart,  daß  sie  das 
Verhältnis  der  Chlorophyllkomponenten  regulieren. 
Dies  könnte  beispielsweise  so  erfolgen,  daß  das 
Carotin  dem  Chlorophyll  b  den  Sauerstoff  ent- 
zieht und  sich  dabei  in  Xanthophyll  umwandelt, 
das  dann  den  Sauerstoff  unter  der  Wirkung  eines 
Enzyms  wieder  abgibt. 

Wieweit  diese  interessanten  Hypothesen  zu- 
trefl'en ,  müssen  künftige  Untersuchungen  zeigen, 
zu  denen  die  Wi  llstä  t  ter'schen  Arbeiten  eine 
sichere  Grundlage  geschaffen  haben.  Jedenfalls 
erscheint  heute  die  Chemie  des  Chloroph\-lls,  wenn 
auch  die  Struktur  dieses  Stoffes  noch  nicht  völlig 
erschlossen  ist,  schon  soweit  aufgeklärt,  daß  ihre 
weitere  Erforschung  in  vorgezeichneten  Leitlinien 
erfolgen  kann.  Die  P'ülle  von  Anregungen ,  die 
wir  dem  Werk  Willstätter 's  verdanken,  läßt 
erhoffen,  daß  wir  jetzt  tiefer  in  das  Problem  der 
Kohlensäureassimilation  eindringen  werden ,  und 
daf3  schließlich  auch  die  Aufgabe  ihre  Lösung 
finden  wird,  unabhängig  von  der  Pflanze  mit  den 
chemisch  isolierten  Substanzen  die  Assimilation 
zu  erzielen. 


Einzelberichte. 


Anthropologie.  Über  die  vielumstrittene 
Frage  der  Kreuzung  von  Menschenrassen  hielt 
F.  V.  Reitzenstein  auf  der  44.  deutschen  Anthro- 
pologenversammlung einen  Vortrag,  der  kürzlich 
im  Korrespondenzblatt  der  deutschen  Gesellschaft 
für  Anthropologie  (44.  Jahrg.,  S.  103  — 1 10)  im 
Druck  erschien.  Der  Vortragende  bekannte  sich 
zu  der  Ansicht,  daß  die  Kreuzung  verschiedener 
Rassen  im  allgemeinen  nicht  nachteilig  wirkt,  weil 
er  an  eine  Minderwertigkeit  der  F"aibigen  nicht 
glaubt.  Den  Umstand,  daß  die  farbigen  Rassen 
bisher  nur  geringe  kulturelle  Fähigkeiten  entwickel- 
ten, führt  v.  Reitzenstein  hauptsächlich  auf 
ungünstige  Beeinflussung  seitens  der  Weißen  zurück; 
die  Wegnahme  des  Landes,  das  Aufzwingen  euro- 
päischer Kleidung  und  die  Versorgung  mit  Alkohol, 
dessen  Genuß  den  Zwang  zu  verbrecherischen  Hand- 
lungen fördert,  sind  für  die  farbigen  Rassen  ver- 
derblich.    Die  Weißen  haben  aber  in  den  meisten 


Gebieten,  welche  sie  den  Farbigen  abgenommen, 
keine  Aussicht  auf  Akklimatisation.  F.  v.  R  e  i  t  z  e  n  - 
stein  führt  eine  Reihe  von  Beispielen  an,  die 
zeigen,  daß  europäische  Bevölkerungen  in  tropi- 
schen Kolonialländern  in  wenigen  Generationen 
an  Kopfzahl  stark  abnehmen,  oder  daß  nur  Misch- 
linge zurückbleiben.  —  Gewiß  trägt  hieran  zum 
Teil  der  Umstand  Schuld,  daß  die  Körperkonsti- 
tution der  Europäer,  und  namentlich  der  Mittel- 
und  Nordeuropäer,  der  tropischen  Umwelt  nicht 
angepaßt  ist.')  Aber  es  ist  zu  beachten,  daß  in 
allen  diesen  Phallen  der  Degeneration  von  Kolonial- 
bevölkerungen Kreuzungen  mit  den  Eingeborenen 
siattfanden.  Das  legt  den  Gedanken  nahe,  daß 
denn  doch  beide  Erscheinungen  in  ursächlichem 
Zusammenhang  stehen.    Überdies  wurde  auch  be- 


')  Vgl.    Fehlinger,    Die  Akklimatisation    der  Europäer 
in   den  Tropen.      Politisch. -Anthrop.   Revue,  9.  Jahrg.,   Heft  II. 


28o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   i8 


reits  gezeigt,  ')  daß  in  tropischen  wie  in  außer- 
tropischen Ländern  nach  Massenl<reuzungen  zwi- 
schen Eingeborenen  und  Europäern  die  Volks- 
zahl beträchtlich  zurückgeht.  Bei  den  Negern 
der  Vereinigten  Staaten  läßt  sich  der  statistische 
Nachweis  erbringen,  daß  die  auf  eine  bestimmte 
Zahl  gebärfähiger  Frauen  treffende  Kinderzahl 
um  so  geringer  ist,  je  weiter  vorgeschritten  die 
Rassenkreuzung  in  dem  betreffenden  Gebiet  ist. 
In  einem  Falle  wurde  allerdings  nachgewiesen,  und 
zwar  von  Prof.  Eugen  Fischer  an  den  Bastards 
von  Südwestafrika,  -)  daß  nach  Rassenkreuzung  die 
Vollfruchtbarkeit  der  IViischlinge  weiterbesteht.  Es 
weisen  jedoch  verschiedene  Umstände  darauf  hin, 
daß  die  farbige  Stammrasse  der  Bastards,  die 
Hottentotten,  vornienschengeschichtlich  noch  nicht 
allzu  langer  Zeit  in  Südeuropa  ansässig  war  und 
von  da  nach  Afrika  wanderte.  Man  braucht  sich 
deshalb  nicht  sehr  zu  wundern,  wenn  die  Differen- 
zierung zwischen  Europäein  und  Hottentotten  noch 
nicht  bis  zu  einem  Grade  gediehen  ist,  bei  dem 
nach  Kreuzungen  eine  Minderfruchtbarkeit  der 
Mischlinge  besteht. 

Um  bei  der  Behandlung  der  Mischlingsfrage 
grenzenlose  Verwirrung  zu  vermeiden,  ist  es  er- 
forderlich, zwischen  Mischrasse  und  Mischvolk  zu 
unterscheiden,  was  in  der  Regel  nicht  geschieht. 
Man  geht  so  weit,  von  den  Deutschen  als  Misch- 
rasse von  Germanen  und  Slawen  zu  sprechen, 
während  dies  in  Wirklichkeit  nur  verschiedene 
Völker  einer  Rasse  sind.  Richtig  ist  es,  wenn 
V.  Reitzenstein  die  Japaner  als  Misch volk 
bezeichnet,  denn  sowohl  die  Chinesen,  Koreaner 
als  Malaien,  die  zur  Bildung  der  japanischen  Nation 
beitrugen,  gehören  zu  der  gelben  körperhaararmen 
Rasse,  die  man  gewöhnlich  als  Mongolen  bezeich- 
net. Allerdings  fällt  mit  dem  Einbekenntnis,  daß 
die  Japaner  ein  Misch  volk  sind,  die  Möglichkeit 
fort,  sie  als  Beispiel  biologischer  und  kultureller 
Tüchtigkeit  von  Mischrassen  anzuführen.  Die 
Zahl  der  in  die  Japaner  aufgegangenen  Aino  war 
hingegen  sicher  viel  zu  klein,  als  daß  diese  Ver- 
mischung von  nennenswertem  Einfluß  auf  die 
Körpereigenart  der  Japaner  gewesen  sein  könnte. 
F".  V.  Reitzenstein  ist  dagegen  im  Recht, 
wenn  er  die  Behauptung  als  falsch  zurückweist, 
daß  die  Mischlinge  nur  die  schlechten  Eigenschaften 
der  Elternrassen  erben.  Da  die  Vererbung  nach 
den  allgemein  gültigen  Mendel'schen  Gesetzen 
erfolgt,  so  müssen  bei  den  Mischlingen  zum  Teil 
auch  jene  Eigenschaften  vorhanden  sein,  die  man 
innerhalb  eines  Kulturkieises  zu  einer  gegebenen 
Zeit  als  „gut"  betrachtet. 

Wichtig  ist  V.  Rei  t  zens  t  ei  n  's  Konstatierung, 
daß  in  den  deutschen  Kolonien,  mit  Ausnahme 
von  Samoa,    die  Zahl    der  Mischehen    äußerst  ge- 


ring ist,  so  daß  von  einer  tatsächlich  infolge  der 
Vermischungen  drohenden  Gefahr  nicht  die  Rede 
sein  kann.  H.  Fehlinger. 

Zoologie.  Das  Schnellen  der  Springkäfer  wird 
nach  der  bisherigen  Anschauung  dadurch  hervor- 
gebracht, daß  der  auf  dem  Rücken  liegende  Käfer 
seinen  Rücken  hohl  macht,  indem  er  einen  kleinen 
Brustdorn  gegen  den  Rand  einer  Grube  des  zweiten 
Brustringes  stützt  und  dann  den  Dorn  in  die  Grube 
einschnappen    läßt.      Dadurch    krümmt    sich    der 


Fig.  I.    SpringliKfer  Semiotus.     Auf  dem  Rücken  liegend,  zum 

Sprunge  bereit,  Brusidorn  aus  der  Grube  gezogen. 

Nacli   T  h  i  1  o. 

Rücken  so  stark  nach  vorn,  daß  er  heftig  gegen 
den  Boden  schlägt  und  das  ganze  Tier  in  die  Höhe 
schleudert.  Den  Springprozeß  hat  neuerdings 
Thilo  genauer  studiert  [Das  Schnellen  der 
Springkäfer  (Elateriden),  Biol.  Ctrbl.,  Bd.  XXXIV, 
1914].  Er  ging  von  der  Beobachtung  aus,  daß 
eine  durch  Federung  funktionierende  Mausefalle, 
oder  das  Klippholz,  ein  bekanntes  Kinder- 
spielzeug, in  die  Höhe  hüpft,  wenn  auf  das  eine 
Ende  ein  Schlag  ausgeführt  wird,  obwohl  die 
Grundfläche  ganz  eben  ist,  und  konstruierte  ein 
sinnreiches  Drahtgestell,  das  in  seinen  Dimensionen 
dem    Längsschnitt    eines    Springkäfers    entspricht. 


')  Vgl.  Fehlinger,  Kreuzungen  beim  Menschen.  Archiv 
f.  Rassen-  und  Gesellschaftsbiol.,  Jahrg.  1911,  Heft  4.  —  Der- 
selbe, Neues  v.  d.  Biul.  d.  Menschen,  Xaturw.  Wochcnschr., 
N.  F.,  IX.  Bd.,  S.  86— 87. 

-)  Vgl.  Neues  von  der  Biologie  des  Menschen.  Nalurw. 
Wochenschr.,  N.  F.,  XII.  Bd.,  S.  641—644. 


Fig.   2.      Springendes   Modell   des  SpringkUfers. 
ü   Gummizug,  Z  Zündschnur.      Nach  Thilo. 

,,Der  einarmige  Hebel  vorn  am  Gestell  (siehe 
Fig.  21  wird  mit  einer  Zündschnur  befestigt,  und 
hierauf  wird  ein  Gummizug  von  einem  Ende  zum 
anderen  gespannt.  Entzündet  man  jetzt  die  Schnur, 
so  schlägt  der  Hebel  gegen  eine  Gabel  und  schleu- 
dert das  ganze  Gestell  so  in  die  Höhe,  daß  es  sich 
in  der  Luft  in  der  Pfeilrichtung  überschlägt."  Da 
das  Modell  die  gleiche  Form  und  den  gleichen 
Mechanismus  besitzt  wie  der  Springkäfer,  so  be- 
weist es,  daß  auch  bei  diesem  die  Bewegung 
durch  einen  Schlag  auf  das  vordere  Ende  erfolgt. 
T  h  i  1  o  fand  am  Käfer  auch  die  kräftigen  Muskeln 
des  .Sprunggelenkes.  Das  Gelenk  selbst  erinnert 
in  seinem  Bau  an  das  Gelenk  einer  Wage,  wo 
der  Balken  auf  einer  Schneide  ruht.  Um  ein  seit- 
liches Ausgleiten  zu  verhindern,  greifen  seine  beiden 
Teile  durch  Höcker    ineinander   wie    die   Schalen- 


N.  F.  XIII.  Nr.  i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


281 


liälften  der  meisten  Muscheln.  Durch  die  Be- 
wegung des  Gelenkes  gleitet  der  ventrale  Dorn 
am  ersten  Rrustring  in  die  korrespondierende  Grube 
des  folgenden,  und  zwar  so,  daß  er  wie  ein  krummer 
Säbel  in  der  Scheide  ruht  und  die  beiden  Seg- 
mente fest  zusammenschließt.  Somit  dient  der 
Dorn  nicht  nur  zum  Sprung,  sondern  auch  zum 
Schutz  der  Intersegmentalparlien. 

Dr.  Stell waag. 

Die  Lebensfähigkeit  der  Dauereier  von  Hy- 
datina  senta  und  die  Vererbung  dieser  Eigen- 
schaft. Im  Verlaufe  seiner  umfassenden  Unter- 
suchungen über  die  Faktoren ,  de  den  Ab- 
lauf des  Generationszyklus  bei  den  Rotatorien 
regeln'),  machte  Shull  die  Beobachtung,  daß  bei 
weitem  nicht  aus  allen  Dauereiern  —  im  Gegen- 
satz zu  den  parthenogenetischen  Eiern  —  junge 
Tiere  ausschlüpfen,  und  zwar  war  die  ,, Lebensfähig- 
keit" der  Dauereier  in  verschiedenen  Linien  sehr 
verschieden  groß.  Durch  eine  Reihe  von  Experi- 
menten kommt  Shull  nunmehr  zu  dem  Resultat"), 
daß  die  ,, Lebensfähigkeit"  der  Dauereier  von  Hyda- 
tina  senta  eine  erbliche  Eigenschaft  ist. '')  Kreuzt 
man  ein  Weibchen  von  Hydatina  senta  mit  einem 
Männchen,  das  derselben  parthenogenetischen  Linie 
entstammt,  so  ist  ein  bestimmter  Prozentsatz  von 
lebensfähigen  Dauereiern  für  diese  neue  Linie 
charakteristisch.  In  einer  Linie  schlüpfen  aus 
nur  5  ^jii  der  Dauereier  junge  Tiere  aus,  in 
einer  anderen  aus  4o''/(,,  in  wieder  einer  anderen 


aus   70 


usw.  Shull  beobachtete  auch  eine 
Linie,  in  der  sich  kein  Dauerei  als  ,, lebensfähig" 
erwies.  Das  Schicksal  einer  solchen  Linie  ist, 
falls  sie  sich  nicht  parthenogenetisch  fortzupflanzen 
vermag,  natürlich  besiegelt. 

Was  uns  an  den  Ergebnissen  ShuU's  beson- 
ders interessiert,  sind  seine  Resultate,  die  er  bei 
Kreuzung  von  Linien  mit  einem  verschieden  hohen 
Prozentsatz  lebensfähiger  Dauereier  erhielt.  Es 
erwies  sich  nämlich  durchaus  nicht  als  gleich- 
gültig, ob  die  zu  der  Kreuzung  verwandte  Mutter 
der  einen  oder  der  anderen  Linie  entstammte, 
d.  h.  mit  anderen  Worten,  reziproke  Kreuzungen 
führten  nicht  zu  dem  gleichen  Resultat.  Wurde 
z.  B.  eine  Linie,  für  die  5  %  lebensfähiger  Dauer- 
eier charakteristisch  war,  mit  einer  anderen  mit 
45  "/o  lebensfähiger  Dauereier  gekreuzt  und  gehörte 
das  zur  Kreuzung  benutzte  Weibchen  der  ersten 
Linie  an,  so  näherte  sich  der  Prozentsatz  lebens- 
fähiger Eier  der  neuen  Linie  5  "  „,  entstammle  das 

')  Siehe  das  Sammelreferat  in  Nr.  5  des  vorigen  Jalirganges 
dieser  Zeitsclirift. 

-)  Shull,  A.  F,  Inherilance  in  Hydatina  senta.  I.  Via- 
bility  of  the  resting  cggs  and  the  sc\  ratio.  Journ.  of.  e.xpcrim. 
Zoöl.,  Vol.   15,   1913. 

')  Über  die  Faktoren,  die  den  Prozentsatz  der  ,, lebens- 
fähigen" Dauereicr  bestimmen,  lassen  sich  nur  Vermutungen 
äußern.  Nach  der  Darstellung  von  Shull  scheinen  nicht 
anormale  Entwicklungsprozesse  die  Ursache  zu  sein,  daß  aus 
zahlreichen  Eiern  liein  junges  Tier  ausschlüpft,  sondern  die 
Tiere  entwickeln  sich  vollständig,  vermögen  aber  die  Eischale 
nicht  zu  durchbrechen  und  gehen  innerhalb  derselben  zugrunde. 


Weibchen  aber  der  zweiten  Linie,  so  näherte  er 
sich  45  "/^|.  Die  Hybriden  waren  also  hinsichtlich 
dieser  Erbeigenschaft  immer  der  Mutter  ähnlicher. 

Daß  reziproke  Kreuzungen  ungleiche  Produkte 
liefern  können,  wußte  man  bereits  auf  Grund  von 
Experimenten  mit  Tieren  und  Pflanzen.  In  den 
meisten  Fällen  ist  es  so  wie  bei  Hydatina:  die 
Bastarde  sind  der  Mutter  ähnlicher.  Bei  gewissen 
Seeigelbastardierungen  wird,  wie  Baltzer  zeigen 
konnte,  im  Laufe  der  Furchung  der  zur  Kreuzung 
benutzten  Eier  ein  Teil  der  vom  Spermakern  stam- 
menden Chromosomen  eliminiert  und  geht  zu- 
grunde. Die  Verschiedenheiten  zwischen  den  rezi- 
proken Bastarden  sind  also  hier  darauf  zurückzu- 
führen, daß  die  Träger  der  väterlichen  Erbeigen- 
schaften zum  Teil  überhaupt  nicht  mehr  vorhanden 
sind  bei  der  Ausbildung  des  jungen  Tieres.  Aber 
nicht  alle  obengenannten  Fälle  können  in  dieser. 
Weise  eine  Erklärung  finden.  Wenn  man  solche 
Fälle  als  einen  Beweis  dafür  angesehen  hat,  daß 
auch  das  Plasma  ein  Träger  erblicher  Eigenschaften 
ist,  so  muß  doch  hervorgehoben  werden,  daß  da- 
mit dieser  Beweis  nicht  erbracht  ist.  Mit  Recht 
vertreten  in  einer  kürzlich  erschienenen  Abhand- 
lung über  Kreuzungsversuche  an  Knochenfischen 
Günther  und  Paula  Hertwig')  —  sie  be- 
obachteten ebenfalls  Verschiedenheiten  zwischen 
reziproken  Bastarden  —  den  Standpunkt,  daß 
sich  dieser  Beweis  aus  dem  Vergleich  der 
ersten  Generation  überhaupt  nicht  erbringen 
läßt.  Erst  wenn  die  zweite  Generation  der  rezi- 
proken Bastarde  noch  die  bisherigen  Unterschiede 
zeigte,  könnte  man  eine  Mitbeteiligung  des  Proto- 
plasmas an  der  Vererbung  als  bewiesen  betrachten. 
,,Erst  aus  dieser  Beobachtung  würde  sich  der 
Schluß  ziehen  lassen,  daß  die  Geschlechtszellen 
der  beiden  P', -Generationen  trotz  identischer  Kern- 
zusammensetzung einander  nicht  gleich  wären, 
daß  sich  also  tatsächlich  die  Verschiedenheiten 
des  Protoplasma  auch  auf  die  Geschlechtszellen 
des  neuen  Individuums  vererbt  hätten."  In  den 
bisherigen  Experimenten  dieser  Art  verhinderte 
indessen  meist  die  LIngunst  des  Materials  die  Auf- 
zucht der  zweiten  Generation,  sei  es,  daß  die  erste 
Generation  überhaupt  nicht  bis  zur  Geschlechts- 
reife gebracht  werden  konnte  —  so  z.  B.  in  den 
Experimenten  der  Geschwister  Hertwig  — ,  sei 
es,  daß  die  Unfruchtbarkeit  der  Bastarde  eine 
Weiterzucht  unmöglich  machte  —  ich  erinnere 
an  Maultier  und  Maulesel. 

Bei  Hydatina  bietet  die  Aufzuciit  weiterer 
Generationen  nach  der  ersten  Kreuzung  keine 
Schwierigkeiten  und  Shull  findet,  daß  in  der 
Tat  späterhin  zwischen  den  reziproken  Bastarden 
keine  Unterschiede  mehr  zu  bemerken  sind.  Wurde 
von  jedem  der  beiden  —  unter  sich  also  ver- 
schiedenen —  reziproken  Bastarde  eine  partheno- 
genetische  Linie  abgeleitet  und  in  beiden  Linien 
dann    eine    Kreuzung    vorgenommen,    so    unter- 


')  Hertwig,  Günther  und  Paula.    Kreuzungsversuche  an 
Knochenfischen.     Arch.  f.  mikr.  Anat.,  84.  Bd.,   1914. 


282 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   i8 


schieden  sicli  die  von  den  Weibchen  der  beiden 
Linien  erzeugten  Dauereier  hinsichtlich  ihrer 
Lebensfähigkeit  nicht  mehr,  wie  in  der  ersten 
Generation.  Das  Zellplasma  hat  also  —  das  ist 
das  wichtige  Resultat,  zu  dem  Shull  kommt  — 
keinen  Anteil  an  der  Vererbung,  es  ist  als  ein 
Teil  der  Umgebung  zu  betrachten,  und  dem  reifen 
Ei  kommt,  um  mit  den  Geschwistern  Hertwig 
zu  sprechen,  nur  deshalb  ,,eine  gewisse  höhere 
Wertigkeit  der  Übertragung  der  elterlichen  Eigen- 
schaften" zu  als  dem  Spermatozoon,  weil  es  ,, wäh- 
rend der  ganzen  Zeit  seiner  Entwicklung  von  der 
Ureizelle  an  unter  dem  Einfluß  des  rein  mütter- 
lichen Idioplasma  gestanden  hat",  während  „erst 
mit  dem  Moment  der  Befruchtung  auch  dem  väter- 
lichen Idioplasma  Gelegenheit  gegeben  wird,  auch 
seinerseits  dem  neuen  Individuum  seine  Eigen- 
schaften aufzuprägen".  Nachtsheim. 

Leistungsfähigkeit    des  Haussperlings   im  Eier- 
legen.     Daß    unser    Haussperling   (Passer    domes- 
ticus    L.)     eine     große    Fortpflanzungskraft      hat, 
ist    schon    lange    bekannt.      Diesbezüglich  enthält 
der    Bericht    eines    Oologen,    I^ich.  Schlegel, 
einige  interessante  Angaben. ')      Um  die  Pigmen- 
tierung der  Nachgelege  studieren   zu  können,  be- 
seitigte er  stets  die  Gelege.     Es  legten  dann : 
Weibchen  Nr.  i    6  Gelege  zu  24  Eiern  in  71  Tagen, 
,.25       „         „  24     „       „  49 
„     3  3       ..         ..13     V       „  48       „ 
„     4  6       .,         „  33     n       „  83^      „ 
Die    I-'ruchtbarkeit    ist   eine  sehr  verschiedene, 
aber  docli  durchwegs  eine  große. 

Alb.  Heß,  Bern. 

Vogelzug  über  die  schweizerischen  .Alpen- 
pässe. Eine  interessante  Zusammenstellung  über 
die  Vögel,  welche  die  schweizerischen  Alpen- 
pässe als  Zugstraße  benutzen,  hat  K.  Bretscher 
geliefert.  -) 

Er  stellt  fest,  daß  z.  B.  über  den  Golthard 
mehr  oder  weniger  regelmäßig  als  Zugstraße 
wählen ;  49  Sänger,  3  Spechte,  7  Raub-,  2  Girr-, 
I  Scharr-,  4  Schreit-,  27  Laufvögel,  10  Schwimm- 
vögel, 3  Seeflieger  und  2  Taucher,  insgesamt 
108  Arten. 

Noch  stärker  wird  das  Oberengadin  benutzt. 
Das  Verzeichnis  weist  auf:  55  Singvögel,  i  Tag- 
schläfer, 3  Spechte,  7  Raubvögel,  3  Girr-,  i  Scharr-, 
4  Schreit-,  24  Laufvögel,  16  Zahnschnäbler, 
I  Ruderfüßler,  12  Seeflieger,  6  Taucher,  Summa 
133  Arten. 

Bemerkenswert  sind  auch  die  Beobachtungen 
für  die  einzelnen  Pässe. 

Am  Sp  lügen  (21 17  m  ü.  M.  I  wurden  be- 
obachtet: Hlaukehlchen,  Singdrossel,  Mistel- 
drossel, Weiße  Bachstelze,  Rauchschwalbe,  Felsen- 
schwalbe, Mauersegler,  Graugans  =^  8  Arten. 


\m  Lukmanier  (191 7  m) :  Nachtigall,  Rot- 
kehlchen, Blaukehlchen,  Singdrossel,  Rotdrossel, 
Gartengrasmücke,  Dorngrasmücke,  Feldlerche, 
Weiße  Bachstelze,  Stieglitz,  Rauchschwalbe,  Alpen- 
strandläufer, Waldschnepfe,  Graugans  =  14  Arten. 

Am  Flüelapaß  (2388  m) :  Schwarze  See- 
schwalbe =   I    Art. 

Am  Ob  er  alppaß  (2038  m) ;  Wiesenpieper, 
Heller  Wasserläufer  =  2  Arten. 

Am  Fürkap  aß  (2436  m) :  Weidenlaub  vogel, 
Wasscrralle  =  2   Arten. 

An  der  Grimsel  (2172  m) :  Turteltaube  = 
I    Art. 

Am  Sanetsch  (2234  m):  Bläßhuhn  =  i  Art. 

Am  Simplon  (20I0  m):  Weiße  Bachstelze, 
Mauersegler  =  2  Arten. 

Am  Großen  St.  Bernhard  (2472  m):  Nach- 
tigall, Rotkehlchen,  Weiße  Bachstelze,  Rauch- 
schwalbe, Mehlschwalbe,  Uferschwalbe .^  Mauer- 
segler, Alpensegler  =  8  Arten. 

Am  Theodul  (,3322  m):  Weiße  Bachstelze 
=   I   Art. 

Die  größte  Artenzahl  hat  der  niedrigste  dieser 
Pässe,  der  Lukmanier,  aufzuweisen. 

Am  höchsten  hinauf  hat  nach  dem  vorliegen- 
den Material  sich  die  Weiße  Bachstelze  (Theodul, 
3322  ml   gewagt. 

Beim  Sanetsch  wäre  noch  die  Zwergtrappe 
nachzutragen,  die  nach  V.  Fatio  auf  diesem 
Paß  gefunden  wurde. ') 

Natürlich  handelt  es  sich  in  allen  Fällen  um 
mehr  zufällige  Beobachtungen,  aber  sie  sind  den- 
noch von  Bedeutung,  als  aus  ihnen  hervorgeht, 
daß  die  Zugvögel  nötigenfalls  auch  größere  Höhen 
überfliegen.  Alb.  Heß,  Bern. 

Chemie.  „Über  einige  neue  Verbindungen  von 
Stickstoff  und  Wasserstoff  mit  den  Erdalkali- 
metallen" ist  der  Titel  einer  vor  kurzem  von 
F.  W.  Dafert  und  R.  Miklauz  veröffentlichten 
.Abhandlung  (Wiener  Monatsh.  Bd.  34,  S.  1685 
bis  1712,  191 3),  der  die  folgenden  Angaben  ent- 
nommen sind. 

.'\!s  Ausgangsmaterial  für  die  Versuche  diente 
reines  metallisches  Calcium,  das  durch  Destillation 
des  käuflichen  Metalls  im  Vakuum  gereinigt  war, 
sowie  reines  metallisches  Strontium  und  reines 
metallisches  Baryum,  die  sich  nach  der  Vorschrift 
von  Guntz  und  Galliot  leicht  und  in  guter 
Au.sbeute  durch  Destillation  eines  Gemisches  von 
Sirontiurnoxyd  oder  Baryumo.xyd  mit  der  berech- 
neten Menge  metallischen  Aluminiums  im  Vakuum 
darstellen  lassen.  Durch  Erhitzen  der  reinen  Me- 
talle in  Stickstoff-  oder  in  Wasserstoffatmosphäre 
erhält  man  die  Nitride  CagNj,  SrgNj  und  BajN., 
oder  die  Hydride  CaH.,,  SrH,  und  BaH,  in  reiner 
Form.  Die  Temperaturen,  bei  denen  die  Reaktion 
zwischen    den    Metallen    und    den    beiden    Gasen 


')  Zeitschrift  für   Oologie  und   i/irnilhologie 
gang,   19 13,  S.  84— S6, 


XXIII.  Tahr- 


')  Principales   lignes   de   passage  des   Oiseau.x   ii  travcrs  la 
ä)  Vierteljahr'sschrift  der  nalurf.  Gesellschaft  Zürich,  Jahr-       Suisse   et  les  ..\lpes.     Compte  rendu  des  seances  du  6i"e  Con- 
gang  59  (1914).  grcs  international  de  Zoologie,  Berne   1904,  S.  553. 


N.  F.  XIII.  Nr.  i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


283 


lebhaft  zu  werden  betiinnt,  erweisen  sich,  wie  ja 
zu  erwarten  ist,  als  Funktion  der  Atomgewichte: 

Beginn  der   Reaktion 

Metall  Wasserstoff-  Stickstoff- 

atmosphäre almosphäre 

Ca  -iio"  (■  300"  C 

Sr  380»  j  215° 

Ba  260''  I  170» 

Erhitzt  man  die  Nitride  der  Erdalkalimetalle 
in  einer  Wasserstoftalmosphäre,  so  entstehen  die 
Verbindungen  CagN.^H^,  SrgN.,H,  und  BajN.jHj, 
von  denen  sich  jedoch  nur  die  beiden  ersten  in 
reinem  Zustande  isolieren  ließen,  da  die  Baryum- 
verbindung  schon  bei  verhältnismäßig  niedrigen 
Temperaturen  nach  der  Gleichung 

Ba.NjH,  -L  H2  =  2  BaH.,  -f  N., 
in   Baryumhydrid  und  elementaren  Stickstoff'  zer- 
fällt.     Der   Beginn    der    Reaktion    zwischen    den 
Nitriden  und  Wasserstoff  ist  ebenfalls  eine  Funk- 
tion der  Atomgewichte  der  Metalle: 

Die   Reaktion  j       beginnt  bei 

Ca^X.,  +  2  H.>  =  CajNoHi  230°  C 

SrjXj  -)-  2  Ha  =  Sr^NoHi  270" 

BajNa  -f  2  Hj  =  Sr-NjUi  300" 

Die  Erdalkalimetalle  selbst,  ihre  Hydride  und 
ihre  Nitride  geben  bei  Behandlung  mit  einem 
Gemisch  von  gleichen  Teilen  Stickstoff  und 
Wasserstoff  Imide  von  der  P'ormel  CaNH,  SrNH 
und  BaNH,  Stoffe,  die  sich  ebenso  wie  die  ent- 
sjirechende  Lithiumverbindung,  am  Licht  dunkel 
färben,  jedoch  gelang  den  Autoren  die  Reindar- 
stellung dieser  Imide  selbst  beim  Calcium  noch 
nicht,  bei  dem  die  Imidbildung  am  leichtesten 
verläuft.  Mg. 

Geographie.  Koch  und  Wege  n  er 's  Durch- 
querung Grönlands  1912/13.^)  Bei  dieser  Reise, 
die  September  191 2  bei  Königin-Luise-Land  an 
der  Ostküste  ihren  Anfang  nahm,  kam  es  vor 
allem  darauf  an,  die  geplante  Überwinterung  auf 
dem  Eise  durchzuführen;  falls  diese  nicht  gelang, 
mußte  die  Expedition  in  wissenschaftlicher  Hin- 
sicht als  verfehlt  betrachtet  werden.  Es  war 
nicht  leicht,  nach  dem  Eisrande  zu  kommen. 
Außer  Koch  und  W  e  g  e  n  e  r  waren  ein  dänischer 
Seemann  und  ein  isländischer  Bauer  an  der  Reise 
beteiligt.  Da  es'  nötig  war,  20C00  kg  Gepäck 
auf  das  Inlandeis  zu  schaffen,  wurden  Pferde  an- 
stelle von  Hunden  mitgenommen.  Dies  bedingte 
eine  Verlangsamung  der  Reise  über  das  Inlandeis, 
die  für  Sommer   1913  geplant  war. 

Der  Storströmmen,  ein  Gletscher,  der 
sich  zwischen  dem  Königin-Luise-Land  und  der 
Küste  herunterschiebt,  besteht  in  seinem  südlichen 

')  J.  P.  Koch,  Unsere  Durchi|uerung  Grönlands  1912  13. 
(Z.  Ges.  Erdkunde   1914,  H.   I.) 

A.  Wegener,  Vorläuliger  Bericht  über  die  wissenschaftl. 
Ergebnisse  der  E.xpedition  [Z.  G.  E.   1914,  H.   i). 


Teile  aus  stark  gefaltetem  Eise,  das  beschwerlich 
zu  überschreiten  war.  Im  Herbst  gibt  es  nur 
einen  schmalen  Gürtel  mitten  im  Gletscher,  der 
eine  Schlittenreise  ermöglicht.  Das  Gepäck  war 
Ende  September  in  einem  Tal  gesammelt  worden, 
das  sich  einige  100  m  in  den  Gletscher  hinein 
erstreckte.  Hier  konnte  zum  erstenmal  von  Augen- 
zeugen das  Kalben  des  Gletschers  beobachtet 
werden.  Es  begann  mit  Spaltenbildung.  Bei 
Niedrigwasser  öffnen  sich  die  Spalten,  und  Brocken 
von  Eis  stürzen  von  oben  hinein  und  füllen  sie 
an.  Die  Hochflut,  die  die  Spalten  wieder  schließen 
will,  findet  Widerstand  und  sprengt  den  Eisberg 
von  unten  ab.  In  der  Nacht  vom  30.  September 
geschah  die  überaus  packend  geschilderte  Kata- 
strophe, in  der  eine  35  m  hohe  Eiswand  an  der 
südwestlichen  Talseite  zusammenstürzte  und  auch 
noch  die  Hälfte  der  Zeltscholle  zerbrach ,  ohne 
daß  jedoch  das  Gepäck  der  Expedition  gefährdet 
wurde.  Gleichzeitig  hat  eine  etwa  15  m  hohe 
Woge  die  Eismassen  gehoben  und  einen  Teil 
über  die  noch  vorhandene  Hälfte  der  Zeltscholle 
geworfen.  Später  konnte  vom  Gletscher  aus  der 
Schauplatz  der  Kalbung  deutlich  übersehen  wer- 
den. Längs  der  Gletscherwand,  auf  einem  Gebiet 
von  800X600  m  war  derBorgfjord  vollständig 
von  Eisbergen  und  Kalbeisbrocken  bedeckt  — 
ein  Zeugnis  von  der  Entfaltung  ungeheurer  Kräfte. 

Anfang  Oktober  wurde  auf  dem  Storströmmen 
das  Überwinterungshaus  Borg  eingerichtet,  3  km 
vom  Rande  des  Gletschers  entfernt,  da  es  nicht 
möglich  war,  nach  Königin-Luise-Land  zu  kommen. 
Es  dauerte  einen  Monat,  ehe  die  wissenschaftliche 
Arbeit  in  Gang  kam. 

Nachdem  Mitte  Februar  die  Sonne  zurückge- 
kehrt war,  wurde  am  20.  April  nach  Westen  auf- 
gebrochen. Während  des  Anstieges  aufs  Inlandeis 
wehte  und  stöberte  es  jeden  Tag,  aber  auf  dem 
Eise  wurde  es  stiller,  je  mehr  man  nach  der  Mitte 
kam.  So  konnte  die  Reise  mit  einer  Durch- 
schnittsgeschwindigkeit von  15  km  vonstatten 
gehen.  Am  7.  Juli  war  das  Land  an  der  West- 
küste —  die  kleine  Bergkolonie  Pröven  —  erreicht. 

Von  wissenschaftlichem  Interesse  sind  außer 
dem  Profil  der  Eiskappe,  das  westlich  der  Mitte 
3020  m  Höhe  erreicht,  die  glaziologischen 
und  meteorologischen  Arbeiten,  über  die 
Wegener  einen  vorläufigen  Bericht  gibt. 

Für  die  Frage  nach  der  Natur  der  Blau- 
bänder des  Eises  konnte  reiches  Material  ge- 
sammelt werden.  Es  wurden  zahlreiche  Aufnah- 
inen  der  inneren  Struktur  dieser  Blaubänder  ge- 
macht; Verwerfungen  konnten  in  zahlloser  Menge 
photographisch  aufgenommen  werden.  Auf  der 
Winterstation  wurde  die  Temperat  u  r  im  Inne- 
ren des  Eises  in  Bohrlöchern  gemessen,  die  zuerst 
im  Freien  8  m  tief  ins  Eis  gestoßen  wurden, 
später  im  Fußboden  des  Hauses  24  m  unter  die 
Gletscheroberfläche  getrieben  werden  konnten. 
So  konnte  festgestellt  werden,  daß  die  Temperatur 
des  Eises  in  derjenigen  Tiefe,  in  der  ihre  jährliche 
Schwingung    verschwindet,    nur    wenig    von    der 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   i8 


mittleren  Jahrestemperatur  des  Ortes  abweicht. 
Mit  größerer  Tiefe  zeigte  sich  eine  Erwärmung 
von    i"  auf  20  m. 

Auf  der  großen  Schliltenreise  wurden  Beobacli- 
tungen  über  die  Schichtung  des  Schnees  ge- 
macht, und  festgestellt ,  daß  schon  in  2000  m 
Höhe,  sehr  nahe  an  der  Küste,  alle  sommerlichen 
Schmelzwirkungen  aufhören.  Eine  feinkörnige 
Schicht,  die  dem  Winterniederschlag  entspricht, 
hob  sich  deutlich  von  dem  darunter  liegenden 
grobkörnigen  Eise  ab.  Sie  nahm  von  ^/o  m  an 
der  Ostküste  auf  30  cm  im  Inneren  ab  und  er- 
reichte an  der  Westküste  ihren  gröfjten  Wert, 
I  m.  Wäiirend  sich  für  den  Ostrand  eine  mitt- 
lere Jahrestemperatur  von  — 15"  ergab,  ging  diese 
im  Zentrum  Grönlands  auf  — 32"  herab.  Sie 
wurde  auch  hier  durch  Tiefbohrungen  an  zwei 
Rasttagen  festgestellt. 

Auch  die  meteorologischen  Beobachtungen  sind 
besonders  wertvoll,  da  sie  in  dieser  VVeise  in 
jener  Breite    noch   niemals  gemacht  worden  sind. 


Mit  einem  mikrophotographischen  Apparat  wurden 
Schnee-  und  Reifkristalle  untersucht.  In  der 
Winternacht  wurde  aus  dem  Verschwinden  der 
Dämmerungsbögen  die  Höhe  der  betreffenden 
vom  .Sonnenlicht  durchstrahlten  Schichten  ermit- 
telt, am  ,,Hauptdämmerungsbogen"  (Stickstoff- 
sphäre, 70  km  Höhe  entsprechend),  ,,Nachdämme- 
rungsbogen"  (Wasserstoffsphäre,  bis  200  km  Höhe) 
und  „letzten  Dämmerungsbögen"  (die  hypothetische 
Geokoroniumsphäre  in  mehr  als  600  km  Höhe). 
Ebenso  gelangen  Beobachtungen  desZodiakal- 
lichtes  als  flacher  Pyramide  am  Horizont.  Mit 
dem  Sa vart- Jensen'schen  Polariskop  wurde  die 
Polarisation  des  blauen  Himmelslichtes  unter- 
sucht und  von  Euft Spiegelungen  und  Nord- 
lichtern zahlreiche  photographische  Aufnahmen 
gewontien.  —  Erst  wenn  die  wissenschaftlichen 
Ergebnisse  der  Expedition  in  den  „Meddelser  om 
Grönland"  erschienen  sein  werden,  wird  man  sehen 
können,  wie  erfolgreich  sie  gewesen  ist. 

Dr.  Gottfried  Hornig. 


Kleinere  Mitteilungen. 

Fischfang  mit  Drachen.  Über  eine  eigenartige, 
im  malaiischen  Archipel,  aber  auch  weiter  ostwärts 
geübte  Methode  des  Fischfanges  berichtet  H.  Bal- 
four  in  der  Festschrift  für  Wil  liamRidgeway.  'j 


Abb.    I.       Nach    einer    Origiualpholographie    von    II.   Miehe 


*)  Essays  and  sludics  prcsented  lo  William  R  i  d  g  e  w  a  y 
on  his  si.\ticth  birtliday  b.  Aug.  1913.  Edited  by  E.  C.  Quig- 
gin.  Cambridge,  University  Press.  —  Kite-tishing.  S.  SS3.  Außer 
den  dem  vielseitigen  Gelehrten  dargebrachten  Abhandlungen 
aus  dem  Gebiete  der  klassischen  Philologie,  der  Archäologie, 
der  mittelalterlichen   Literatur    und   Geschichte    sowie  der  ver- 


Da  Referent  bei  einer  Seegelfahrt  auf  der  Reede 
von  Batavia  in  der  Nähe  der  Insel  I.eyden  (Poeloe 
njamok)  die  nicht  häufige  Gelegenheit  hatte,  selbst 
diesen  merkwürdigen  Fischfang  zu  sehen  und  zu 
photographieren ,  sei  hier 
eine  kurze  Schilderung  ge- 
geben. Wie  die  Photogra- 
phie (Abb.  II  zeigt,  sitzen 
in  dem  Boote  zwei  Fischer 
und  halten  eine  lange  Bam- 
busstange in  der  Hand,  die 
in  einem  Loch  in  einer 
Planke  steckt.  An  der 
Stange  läuft,  geführt  von 
zwei  Ringen,  eine  Leine, 
an  deren  Ende  ein  Drache 
befestigt  ist.  Dieser  besteht 
aus  einem  jener  festen,  perga- 
mentartigen Blätter,  welche 
bei  dem  in  den  Wäldern 
von  Java  verbreiteten ,    epl- 

gleichenden  Religionswissenschaft 
sind  in  dem  vorzüglich  ausgestat- 
teten, starliep  Bande  noch  folgende 
ethnographische  und  anthropologi- 
sche Aufsätze  enthalten:  E.  Th  ur- 
ston, The  number  sevcn  in 
Southern  India;  S.A.Cook,  Tho 
evolution  and  survival  of  primitive 
Ihought ;  W.  Boyd  DawUins, 
The  settlement  of  britain  in  the 
prehistoric  age ;  W.  W  r  i  g  h  t , 
The  mandible  of  man  from  the  morphological  and  anthropo- 
logical  poinls  of  view ;  W.  L.  H.  Dückwortli,  The  pro- 
blem  of  the  Galley  Hill  skeleton ;  W.  H.  R.  Rivers,  The 
contact  of  peoples;  G.  Elliot  Smith,  The  evolution  of 
the  rock-cut  tomb  and  the  Dolmen;  C.  S.  Myers,  The  be- 
ginning  of  music;  A.  C.  Haddon,  The  outrigger  canoes  of 
Torreys  Straits  and  North-Queensland. 


N.  F.  XIII.  Nr.  i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


285 


phytischen  I-"arn  Drjnaiia  quercifolia  Humus 
sammeln  und  unter  dem  Namen  Nischenblätter 
bekannt  sind  (vgl.  Abb.  2).  Von  dem  Drachen 
hängt,  gewissermaßen  seinen  Schwanz  darstellend, 
die  eigentliche  Angelschnur  herab,  die  in  eine 
kleine  Schlinge  aus  einer  einzelnen  Faser  von  der 
Palme  Arenga  saccharifera  endigt,  an  der  außer- 
dem noch  der  aus  einem  kleinen  Fisch  bestehende 
Köder  befestigt  ist.  Wenn  nun  der  Fischer  die 
Leine  locker  läßt,  so  treibt  der  Wind  den  Drachen 


Abb.  2.     l-)iynaiia  queicifülia,  an  einem  Baumstamm  kletternd. 

Man  bemerkt  neben  den  großen    gefiederten   Laiibbluttern  die 

kleineren   dem  .Stamm   angcdiückten  Nischenblätlcr.  (X) 

Original|iliotcigra|>liie   von   II.   Miehe. 


horizontal  durch  die  Luft  und  die  Schlinge  samt 
dem  Köder  spielt,  durch  geschickte  Manöver  ge- 
leitet, über  die  Meeresoberfläche  dahin.  Sobald 
der  Fisch  nach  dem  Köder  schnappt,  wird  die 
Schlinge  angezogen  und  der  Usch  an  den  Kiefern 
gefangen.  Mit  dieser  von  den  Javanen  als  pantj- 
ing  (Angeln)  lajangan  (Drachen)  bezeichneten 
Methode  wird  der  Nasenhecht  (Belone)  gefangen.') 

"  Miehe. 


')  Wegen  weiterer  Einzelheiten  siehe    ,,De  Hulpmiddelen 

-der  Zeevisscherij     op    Java    en  Madoera    in    gebruik"  Batavia 

1909  von  Dr.  P.  \.  v  a  n  K  a  m  p  e  n  ,  der  auch  den  Referenten 

bei    jener    Segelfahrt    auf    die    Drachenfischerei    aufmerksam 

machte. 


Bücherbesprechungen. 

Dr.  Heinrich  Karny ,  Tabellen  zur  Be- 
stimmung einheimischer  Insekten.  I. 
Mit  Ausschluß  der  Käfer  und  Schmetterlinge. 
Wien  191 3.  —  Preis  geb.  1,50  Mk. 
Das  Büchlein  bildet  den  ersten  Teil  eines  drei- 
bändigen Bestimmungswerkes,  dessen  andere  Teile 
die  Käfer  und  .Schmetterlinge  behandeln.  Da 
ähnliche  Bücher,  wie  ,,die  Insekten  well"  von 
Karsch  und  „die  Insekten"  von  Schlechten- 
dal- Wünsche  gänzlich  veraltet  sind,  füllt  das 
Werk  eine  fühlbare  Lücke  aus.  Der  Verfasser 
folgt  im  allgemeinen  dem  vorzüglich  ausgearbeiteten 
phylogenetischen  S)'stem  von  Handlirsch,  nur 
die  Parasiten  sind  nicht  nach  äußeren  Merkmalen, 
die  dem  Ungeübten  weniger  geläufig  sind,  sondern 
nach  den  Wirtstieren  geordnet.  Dabei  kann  die 
Gattung  wohl  nach  den  Tabellen  aufgefunden 
werden,  doch  wird  die  Bestimmung  der  Art  nach 
den  Wirten  vorgenommen.  Nach  der  im  Buche 
getroffenen  Anordnung  fällt  es  nicht  schwer,  ein 
Objekt  zu  bestimmen,  da  die  Merkmale  so  definiert 
sind,  daß  sie  sich  gegenseitig  ausschließen.  Man 
geht  zunächst  die  allgemeinen  Merkmale  durch 
und  wird  durch  Leitzahlen  dahinter  auf  die  immer 
niedrigeren  Begriffe  P^amilie,  Gattung  und  Art 
hingewiesen,  eine  Methode,  wie  sie  jetzt  all- 
gemein bevorzugt  wird.  Die  heute  gültigen  Namen 
sind  den  bisher  gebräuchlichen  vorgezogen  und 
hier  und  da  durch  deutsche  Namen  ergänzt.  Ein 
ausführliches  Literaturverzeichnis  gibt  dem  fort- 
geschrittenen Sammler  die  Möglichkeit,  sich  ein- 
gehendere Kenntnisse  zu  erwerben. 

Das  Buch  wendet  sich  an  die  Anfänger  im 
Sammeln,  ist  aber  sicher  wertvoll  für  jeden,  der 
in  der  entomologischen  Systematik  nicht  .Spezialist 
ist.  Da  auch  der  Preis  sehr  gering  ist,  kann  es 
jedem  empfohlen  werden,  dem  an  einer  raschen 
und  exakten  Bestimmung  liegt. 

Dr.  Stellwaag. 

Robert  Gradmann,  Das  ländliche  Siedlungswesen 
des  Königreichs  Württemberg.  —  Die  städtischen 
Siedlungen  des  Königreichs  Württemberg.     Mit 
einer  Karte.    (F"orschungen  zur  deutschen  Landes- 
und Volkskunde.    XXI.  Heft    i   u.  2.)    Stuttgart, 
J    Engelhorns  Nachf.,   1913/14.     6,80  u.  9,30  Mk. 
Der  Verfasser,    der   durch    wertvolle    Arbeiten 
über  die  Beziehungen  zwischen  Pflanzengeographie 
und    Siedlungsgeschichte    bekannt    geworden    ist, 
faßt  hier    die  P-rgebiiisse  seiner   auf  Württemberg 
bezüglichen  Studien  in  abschließender  Darstellung 
zusammen,    will    aber    zugleich    einen  Beitrag    zur 
methodischen  Behandlung  siedlungsgeographischer 
1^'ragen  überhaupt  bieten.     Beides  ist  ihm  in  vor- 
züglicher Weise  gelungen;  die  Arbeit  verdient  un- 
eingeschränkte Anerkennung. 

Der  erste  Abschnitt  ist  den  physisch-geogra- 
phischen Verhältnissen  des  untersuchten  Siedlungs- 
gebiets gewidmet.  In  überzeugender  Auseinander- 
setzung mit  den  bisher  vorgetragenen  Erklärungs- 


286 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  i8 


theorien,    namentlich    bezüglich    der    Morphologie 
des  schwäbisch  fränkischen  Stufenlandes,  begründet 
der   Verfasser   seine    Ansicht,    die    der   tatsächlich 
vorhandenen     Mannigfaltigkeit     der     Oberflächen- 
formen   besser     gerecht     zu    werden    sucht     und 
damit    einer    allzu    einseitigen    Deutung    der  sied- 
lungsgeographischen Gegensätze  aus  Unterschieden 
der    Landesnatur     (hier    Muschelkalkgebiet,     dort 
Keuperlandschaft   und  Moränengelände)    vorbeugt. 
Im  zweiten  Abschnitt  werden  Form  und  Lage  der 
ländlichen     Siedlungen    besprochen;    unter    ihren 
wichtigsten  Merkmalen  (Siedhmgsgröße,  Siedlungs- 
dichte, Ortsform  und  Flurforml  wird  die  Flurform 
für    das  Wesentlichste  erklärt,    die    für    den   Geo- 
graphen  noch  darum  besonders  vorteilhaft  ist,  weil 
sie  das  geschlossenste  Verbreitungsbild  bietet.     Es 
wird    also    in    sehr    bemerkenswerter    Weise    von 
geographischer  Seite    ein  Anschluß    an  die  agrar- 
historische  Art  der  Untersuchung  gewonnen,  nicht 
mehr    bloß    in    der   Übernahme    gewisser    Grund- 
begrifte,  sondern  in  eigener  selbständig  geographi- 
scher Weiterbildung  der  Methode.     Ausführungen 
über    die    Hausformen,    den    wirtschaftlichen    und 
kulturellen    Charakter,    sowie    die  Lage    der  Sied- 
lungen schließen  sich  an.    Der  dritte  umfänglichste 
Abschnitt  bringt    die  historisch  geographische  Be- 
trachtung:  für  die  vorrömi'^che,  die  römische,  die 
alemannisch-fränkische    Periode  wird    die    Ausdeh- 
nung  der    Besiedlung    des    Landes  bestimmt;    der 
mittelalterliche     Landesausbau,     das    Wüstwerden 
mancher    Orte,    die    Wandlungen    der   Siedlungen 
während  der  Neuzeit  werden   dargelegt.     So  wird 
die     geschichtliche    Entwicklung     des    Siedlungs- 
wesens   mit    besonderer  Berücksichtigung    der  je- 
weiligen Verbreitung  aus  den  Quellen  selbständig 
(allerdings  bei  günstigem   Stande  der  historischen 
Vorarbeiten)    herausgearbeitet.      Das  Ergebiüs  ist, 
daß   gewisse   Grundzüge    des   Siedlungsbildes    im 
Bereich    des    offenen    waldarmen   Geländes    schon 
seit    frühen    vorgeschichtlichen    Zeiten    vorhanden 
waren    und    sich   aus    anderen    Naturbedingungen 
erklären,  als  sie  heute  bestehen,  für  die  geschicht- 
liche Zeit    aber    die    natürliche  Beschaffenheit  des 
Bodens    zwar  auch  mit  bedingend  ist,    aber  vieles 
nur  aus  besonderen  historischen  Vorgängen  erklärt 
werden  kann.     Die   großen  Gewanndörfer  sind  auf 
altem  Kulturland  von  den  einwandernden  Aleman- 
nen  begründet  worden ;    die  Waldhufendörfer    ge- 
hören dem  mittelalterlichen  Laiidesausbau  an,  eben- 
so größtenteils  die  Weilersiedlungen,  die  Einödhöfe 
im  Südosten  aber  einer  wirtschaftlich  begründeten 
Bewegung  seit  dem   16.  Jahrhundert. 

In  entsprechender  Weise  wird  die  L'ntersuchung 
der  städtischen  Siedlungen  durchgeführt.  Für  die 
Bestimmung  der  Merkmale  einer  Stadt  genügt 
die  Größe  nicht ;  andere,  wie  geschlossene  Bau- 
weise, Mauerring,  .\nlage,  kultureller  Charakter, 
müssen  hinzukommen.  Die  Bestimmung  der  Städte- 
typen lehnt  sich  an  die  in  der  Reichsstatistik  üb- 
liche Unterscheidung  nach  Größenklassen  an;  nur 
wird  den  Groß-,  Mittel-,  Klein-  und  Landstädten 
noch  die  Gruppe  der  Zwergstädte  angefügt.    Würt- 


tembergs hohe  Städtedichtigkeit  und  die  Art  der 
Verbreitung  der  Städte  erklärt  sich  aus  der  Ge- 
schichte. Meist  sind  sie  neben  schon  bestehenden 
ländlichen  Siedlungen  entstanden,  aber  planmäßig 
gegründet;  maßgebend  dafür  ist  vor  allem  die 
günstige  Lage  für  den  Nahverkehr,  die  Marktlage. 
Auf  die  jüngere  Entwicklung  wirkte  die  Lage  zum 
großen  Handelsverkehr  ein,  bis  die  moderne  Tech- 
nik neue  Bedingungen  der  Entwicklung  schuf, 
wofür  sich  auch  politische  Momente  geltend  machten. 
Eine  geographische  Übersicht  über  die  Sied- 
lungsweise in  den  verschiedenen  Landschaften 
Württembergs  faßt  das  Vorausgehende  zusammen 
und  dient  zur  Erläuterung  der  beigegebenen  Karle. 
Den  Beschluß  bilden  knappe  Aufstellungen  über 
die  Grundsätze  der  siedlungsgeographischen  Me- 
thode, die  in  der  Arbeit  Anwendung  gefunden 
haben,  wesentlich  nach  dem  Satze  Hettner's, 
daß  eine  zeitlose  Auffassung  der  Naturbedingtheit 
des  Menschen  eine  L'topie  ist.  —  Diesen  Aus- 
führungen stimme  ich  rückhaltlos  zu,  möchte  nur 
betonen,  daf5  bei  der  Durchbildung  der  Grund- 
begriffe, die  Gemeingut  der  Wissenschaft  werden 
sollen  —  z.  B.  bei  Bestimmung  des  Groß  ,  Mittel- 
und  Kleinbauerntums  —  die  Berücksichtigung  ganz 
Deutschlands  oder  noch  größerer  Beobachtungs- 
gebiete einzelne  Änderungen  bringen  dürfte. 

R.  Kötzschke. 

Karl  Scheid,  Chemisches  Experimentier- 
buch.     Zweiter  Teil.     VIII  und  207  Seiten 
mit  51    .\bbildungen  im  Text.     Bd.  15  der  von 
Bastian    Schmidt    herausgegebenen    natur- 
wissenschaftlichen Schülerbibliothek.  B.  G.  Teub- 
ner,  Leipzig  und  Berlin  1914.  —  Preis  in  Leine- 
wand gebunden  3  Mk.  -. 
Ein    recht    hübsches    Büchlein,    mit    dem    man 
älteren  Jungen,  welche  ein  wenig  zu  „chemischer 
Bastelei"  neigen,  eine  große  Freude  machen  wird. 
Die   Darstellung   ist   schlicht    und    klar,   die   Vor- 
schriften sind    leicht  verständlich    und    die  Erklä- 
rungen einwandfrei.    Das  Büchlein  verdient  daher 
eine    gute    Empfehlung,    mag    auch    im    einzelnen 
hier  und  da  eine  Kleinigkeit  auszusetzen  sein.     So 
wird    z.  B.   die    Erläuterung    der    Begriffe   „Atom- 
gewicht" und  „Äquivalentgewicht",  wie  der  Referent 
aus  eigener  Erfahrung  weiß,  erheblich  klarer,  wenn 
man  das  Atom,    wozu    man   ja  nach  den  neueren 
Fortschritten  der  Wissenschaft  durchaus  berechtigt 
ist,  als  Realität  voraussetzt    und  vom    Begriff  des 
Atoms  deduktiv    die  Begrifte  ,, Atomgewicht"  und 
..Äquivalentgewicht"    ableitet    und    nicht,    wie    es 
Scheid  in  Anlehnung  an  Wilhelm  Ostwald 
tut,  induktiv,    ohne  Hinzuziehung  des  eigentlichen 
Atombegriffes,    direkt    aus    dem    Experiment    er- 
schließt.   Auch  der  Begriff  der  chemischen  Formel 
würde  so  an  Klarheit  gewinnen. 

Werner  Mecklenburg. 


A.  Strei^Ier,  Öldruck,  Bromöldruck  und  ver- 
wandte Verfahren.  Leipzig,  Ed.  Liesegang's 
Verlag.  —  Brosch.  2,50,  geb.  3  Mk. 


N.  F.  XIII.  Nr.   18 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


28; 


Verfasser  gibt  eine  ausführliche  Darstellung  der 
neuerdings  in  der  künstlerischen  Photographie  mit 
V^orliebe  benutzten  Verfahren.  Die  Wirkung  der 
dem  Werk  beigegebenen  Probetafeln  ist  in  der 
Tat  so  hervorragend  kiinstlerisch,  daß  man  eher 
die  Reproduktion  eines  Ölgemäldes  als  einer  Photo- 
graphie zu  sehen  glaubt.  Das  Werk  kann  unseren 
Lesern,  die  sich  mit  der  Photographie  beschäftigen, 
angelegentlichst  empfohlen  werden ;  inhaltlich  ist 
es  saclilich  und  gediegen  angelegt.  Als  Mangel 
muß  das  Fehlen  von  Literatur  und  Quellenangaben 
bezeichnet  werden,  um  so  mehr,  als  dies  die  erste 
Veröffentlichung  über  genannte  Verfahren  in  Buch- 
form ist.  Gustav  Blunck. 

O.  Prelinger,  Die  Photographie,  ihre  Grund- 
lage   und   Anwendung.     Verlag  B.  G.  Teubner, 
Leipzig,   1,25   Mk. 
In   dem  neuen  Bändchen  der  Sammlung  ,,.Aus 
Natur    und    Geisteswelt"   behandelt    der  Verfasser 
kurz  und  gedrängt  in  gemeinverständlicher  Weise 
die  Photographie.    Das  kleine  Werk  ist  kein  Lehr- 
buch, sondern  bestimmt,  Fernstehenden  eine  Über- 
sicht über  das  interessante,  für  Wissenschaft,  Kunst 
und  Technik  so  bedeutende  Gebiet  zu  geben. 

Gustav  Blunck. 

Röseler,  P.  u.  Lamprecht,  H.    Handbuch  für 
Biologische    Übungen.      Zoologischer 
Teil.     Mit   467  Abbildungen    und    574   Seiten 
Text.     Berlin   19 14,    Verlag    von    Jul.  Springer. 
Preis  27  Mk.  geb.  28,60  Mk. 
Man  kann  den  Verfassern  für  ihre  vorliegende, 
wohlgelungene  Arbeit  nur  Dank  zollen.     Das  Buch 
enthält    nicht    etwa  Vorschriften,    wie   biologische 
Übungen  abgehalten  werden  sollen;  dagegen  ver- 
wahren sich  die  Autoren  ausdrücklich,  sondern  es 
soll  den  Leitern  biologischer  Übungen  ein  Hilfs- 
mittel   sein,    dieser    soll    sich    über    den    zu    be- 
handelnden Stoff  rasch  orientieren   können.     Das 
Buch    ist    keinesfalls   so    gedacht,    daß   der   ganze 
Inhalt  nachgearbeitet  werden  soll   in  den  Übungen, 
sondern  es  bleibt  dem  Unterrichtenden  volle  Wahl- 
freiheit,   was  er  auswählen  will   je  nach    den  be- 
treffenden L-mständen. 

Es  sind  zahlreiche  technisch  ausgeprobte  An- 
gaben und  praktische  Winke  gegeben  in  jedem 
Abschnitt,  die  namentlich  denjenigen  willkommen 
sein  werden ,  die  im  Anfang  ihrer  Unterrichts- 
tätigkeit stehen  und  noch  nicht  über  viel  eigene 
Erfahrung  verfügen. 

Der  Inhalt  ist  kurz  folgender,  denn  auf  Einzel- 
heiten können  wir  hier  nicht  eingehen.  Der 
allgemeineTeil  (Abschnitt  1  —4  S.  i  —  1 1 1 )  be- 
handelt die  Ausstattung  des  biologischen  Labors 
und  die  technischen  Behandlungsmethoden  des 
Materials.  Dann  folgt  ein  Abschnitt  aus  der  all- 
gemeinen Histologie  und  aus  der  Ph\-siologie.  In 
letzterem  könnten  meines  Dafürhaltens  Kürzungen 
eintreten ,  denn  gerade  Versuche  aus  der  Ver- 
dauungsphysiologie setzen  doch  schon  eine  ziem- 
lich weitgehende  Kenntnis  in  der  Chemie  voraus, 


sollen  die  Versuche  nicht  einfach  vom  Lernenden 
hingenommen,  sondern  auch  voll  verstanden  werden. 
Der  Raum,  der  durch  solche  .Streichungen  frei 
würde,  wäre  ja  sehr  leicht  für  andere  Darstellungen 
aus  dem  Gebiete  der  Physiologie  auszunutzen, 
z.  B.  Bewegungserscheinungen  der  Protozoen;  Be- 
fruchtungserscheinungen an  Seeigeleiern  usw. 

Im  speziellen  Teil  (8  Abschnitte  S.  112 
bis  564)  werden  die  einzelnen  Stämme  des 
Tierreichs  im  großen  und  ganzen  der  syste- 
matischen Stufenfolge  nach  abgehandelt.  Auch 
hier  hönnte  manches  wegfallen,  um  anderem  Platz 
zu  machen ,  z.  B.  die  Kapitel  über  Spirochäten, 
Sagitta,  Chitonen,  Ascidieneier,  über  das  C  o  r  t  i'sche 
Organ.  —  Dafür  wären  einzuschalten  Kapitel  über 
den  Menschenbandwurm,  die  Leberegel  (Distom. 
hep.  und  lanc),  über  Daphnia  und  Cyclops,  über 
Corethra-Larven,  Nais;  auch  das  Kapitel  Plankton 
könnte  noch  einige  Erweiterung  erfahren.  Da 
Dytiscus  sehr  ausführlich  behandelt  wird,  könnte 
das  Kapitel  über  Hydrophilus   gestrichen  werden. 

Recht  lobenswert  sind  die  mit  großer  Sorgfalt 
ausgeführten  sehr  zahlreichen  Abbildungen  und  es 
erhöht  die  Brauchbarkeit  des  Buches  wesentlich, 
daß  damit  nicht  gespart  wurde.  Von  den 
467  Abbildungen  sind  439  völlig  neu;  gerade 
unter  letzteren  sind  sehr  instruktive  Bilder.  Ich 
habe,  mit  aus  letztem  Grunde,  das  Buch  mit 
vollem  Erfolg  bei  den  zoologischen  Kursen  an 
der  Universität  Jena  verwendet.  Betonen  möchte 
ich  noch ,  daß  die  Bilder  das  zeigen ,  was  man 
tatsächlich  am  Präparate  sieht,  und  es  sich  nicht 
um  Schemabilder  handelt.  —  Eine  kleine  Revision 
bedürfen  Fig.  82  u.  83.  Fig.  126  ist  wohl  nur 
versehentlich  als  „Mitteldarm"  vom  Krebs  be- 
zeichnet, es  muß  „Enddarm"  heißen.  Die  Frost- 
schnittbilder (Krebs,  Kaninchen  u.  a.)  könnten 
wegfallen.  Aber  dies  sind  ganz  unwesentliche 
kleine  Mängel. 

Alles  in  allem  liegt  ein  sehr  wertvolles  Hilfs- 
mittel des  biologischen  Unterrichtes  vor,  wie  wir 
es  bisher  noch  nicht  besaßen.  Die  Reproduktion 
der  P'iguren  und  die  äußere  Ausstattung  sind  ein- 
wandfrei. Der  Preis  ist  in  Anbetracht  der  vielen 
Abbildungen  und  des  LImfanges  nicht  zu  hoch 
angesetzt.  Albrecht  Hase-Jena. 


Anregungen  und  Antworten. 

Das  Dynamit  im  Dienste  der  Landwirtschaft.  (Eine  Ent- 
gegnung zu  dem  Artikel  in  Nr.  4  dieses  Jahrgangs.)  Wenn 
Herr  R.  Ditmar  der  Landwirtschaft  mit  seinen  .Ausführungen 
hätte  einen  Dienst  erweisen  wollen ,  wäre  es  besser  gewesen, 
sich  erst  einmal  in  der  Praxis  umzusehen,  statt  sein  Urteil 
lediglich  aus  Reklameschriften,  z.  T.  sogar  wörtlich  ,  zu  ent- 
nehmen. Damit  ist  jedoch  niemandem  gedient  aufler  dem 
Fabrikanten,  und  die  Öffentlichkeit  wird  in  bedauerlicher 
Weise  irregeführt. 

Wir  können  in  Deutschland  nicht  ohne  weiteres  die  Me- 
thoden der  extensiven  amerikanischen  Betriebe  nachahmen. 
Das   würde  uns   50  %   t^^r  Krnten  kosten. 

Im  übrigen  ist  die  Bodensprengung  der  Landwirtschaft 
und  besonders  dem  Obstbau  heute  nicht  mehr  neu.  Seit  einer 
Reihe  von  Jahren  sind  durch  ganz  Deutschland  Versuche  ge- 
macht,    die    eben     nicht    e.i  n    so    glänzendes   Resultat 


288 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  i8 


ergeben  haben,  wie  die  Reklameschriften  der  Sprengmittel- 
fabrikanten   angeben. 

Der  Wasserhaushalt  des  Bodens  ist  nach  Sprengungen 
im  allgemeinen  nicht  zu  seinem  Vorteil  verändert.  Im  Gegen- 
teil, es  wird  die  Kapillarität  in  unvorteilhafter  Weise  gestört, 
was  besonders  in  trockenen  Sommern  sehr  merklich  in  Er- 
scheinung tritt. 

In  schweren  Böden  verbleiben  im  Boden  Hohlräume, 
deren  Wände  verhärten,  so  daß  eine  Sprengung  hier  mitunter 
den  Boden  geradezu  verderben  kann.  Das  sofortige  .Nach- 
gießen von  Wasser  in  die  Sprenglöcher  kann  diese  Schäden 
nur  zum  Teil  verhindern.  Zur  Herstellung  von  Pflanzgruben 
mag  in  vereinzelten  Fällen  Sprengung  mit  Vorteil  anzuwenden 
sein.  Im  heutigen  Erwerbsobstbau  rigolt  man  jedoch  die 
ganze  Fläche  !  Pflanzung  in  Baumlöcher  ist  heute  eiu  glück- 
licherweise ziemlich  überwundener  Standpunkt.  Zum  Obstbau 
gehört  bester,  tiefgründiger  Boden.  Wo  erst  undurch- 
dringliche Schichten  durchbrochen  werden  müs- 
sen, bleibe  man  ja  fort  mit  i'bstbäuraen!  Die  Ver- 
kittungen im  Boden  sind  meistens  übrigens  mit  einer  bloßen 
Durchbrechung  nicht  beseitigt,  sondern  sie  beginnen  von 
neuem. 

Zwischen  alten  Bäumen  zu  sprengen,  ist  ein 
sehr  gewagtes  Unternehmen  wegen  der  dabei  unver- 
meidbaren Wurzelzerrcißungcn.  Es  ist  ein  alter  Aberglaube, 
daß   die   Wurzeln  nur  bis  zur  Kronentraufe  reichen. 

Die  Preise  sind  sowohl  für  einzelne  Gruben  wie  auch 
für  ganze  Flächen  sehr  viel  zu  niedrig  angegeben. 
Schon  aus  diesem  Grunde  allein  würden  die  bisherigen  Me- 
thoden der  TiefkuUur  dem  Sprengverlahren  überlegen  bleiben! 
Denn  jede  Kulturmaßnalime  ist  im  letzten  Grunde  eine  Frage 
der  Rentabilität. 

Die  Düngung  des  Untergrundes  aus  Sprengkapseln,  die 
inzwischen   patentiert  wurde,  ist  wirklich  , .künstlich" ! 

Die  Sprengung  bleibt  also  ein  Xotbehelf  für 
einzelne  Fälle,  nicht  aberist  sie  ein  Kultur  mittel 
ersten  Ranges!  Diesen  Standpunkt  hat  auch  die  Obst- 
und  Weinbauabteilung  der  Deutschen  Landwirt- 
schaftsgesellschaft am  17.  F'ebruar  dieses  Jahres  auf 
der  Versammlung  in  Berlin  vertreten.  Sowohl  der  Vortragende 
(Direktor  Seh  in  d  1  e  r-Proskau)  wie  auch  die  meisten  Dis- 
kussionsredner sprachen  sich  ungünstig  über  das  Sprengver- 
fahren aus.     (Referat  in  den  Mitteilungen   der  D.  L.  G.,  Stück 

8/1914.) 

Um  keinen  Irrtum  aufkommen  zu  lassen,  bemerke  ich 
ausdrücklich,  daß  meine  Ausführungen  sich  nicht  gegen 
das  Sprengmittel  Romperit  C  richten,  —  das  halte 
auch  ich  für  eines  der  geeignetsten  —  sondern  gegen  die  Art 
und  Weise,  in  welcher  der  Verfasser  des  genannten  Artikels 
sich  seine  Informationen  beschallt   hat.  F.  Meyer. 


Herrn  ( Jberlehrer  Dr.  Hackenberg,  Lennep.  —  Können 
Singvögel  Tuberkulose  übertragen  ?  Man  unterscheidet  ver- 
schiedene Tuberkelbazillen,  die  mehr  oder  weniger  deutlich 
voneinander  abweichen  und  die  man  je  nach  der  .Auffassung 
als  verschiedene  Arten  oder  Varietäten  oder  Standortsformen 
bezeichnet,  nämlich  den  Menschen-T.-B. ,  den  Rinder-T.-B., 
den  Hühner-T.-B.  und  den  KaUblüter-T.-B.  Am  ähnlichsten 
sind  sich  die  beiden  erstgenannten,  doch  ist  bekanntlich  der 
sich  bis  in  die  Gegenwart  erstreckende  Streit,  ob  die  Rinder- 
T.-B.  Tuberkulose  beim  Menschen  hervorrufen  können  und 
dementsprechend  die  Perlsucht  der  Rinder  auch  für  den  Men- 
schen gefährlich  ist,  noch  nicht  endgültig  entschieden.  Weiter 
weicht    schon    der    durch    sein    hohes  Wachstumsoptimum  der 


Temperatur  ausgezeichnete  Hühner-T.-B.  von  dem  Menschen- 
T.-B.  ab.  Er  ist  kräftig  pathogen  für  alle  Vögel,  nicht 
aber  für  den  Menschen  und  auch  für  die  größeren  Säugetiere 
nicht.  Dagegen  scheinen  die  kleinen  Nager  nicht  ganz  un- 
empfänglich zu  sein.  Umgekehrt  sind  fast  alle  Vögel  immun 
gegen  den  Menschen-T.-B.  Eine  merkwürdige  .Ausnahme 
macht  nur  der  Papagei,  der  sowohl  durch  die  Hühner-T.-B. 
als  auch  durch  die  Rinder-  und  Menschen-T.-B.  infiziert  wer- 
den kann,  spontan  sogar  am  häufigsten  durch  den  letzteien. 
Gegen  den  Kaltblüter-T.-B.,  der  wahrscheinlich  alle  Kaltblüter 
angreift,  besonders  heftig  die  Frösche ,  sind  alle  Warmblüter 
vollständig  unempfänglich. 

Sie  können  also   Ihre  kleinen  Freunde  ruhig  weiter  halten. 

Miehe. 


Der  Ausschuß  der  akademischen  Ferienkurse  zu  Hamburg 
spricht  sich  über  die  Ziele  dieser  Kurse  folgendermaßen  aus : 

„Die  akademischen  Ferienkurse  zu  Hamburg,  die  in 
enger  Verbindung  mit  unseren  wissenschaftlichen  Instituten 
und  Krankenhäusern  1913  zum  ersten  Male  stattfanden,  wollen 
wissenschaftlich  interessierten  Hörern,  Lehrenden  wie  Lernen- 
den, in  knapper  Form  und  von  sachverständiger  Seite  her, 
eine  Orientierung  bieten  über  den  gegenwärligen  Stand  aus- 
gewählter Forschungs-  und  Kulturprobleme,  die  das  geistige 
Leben  im  heutigen   Deutschland   beschäftigen. 

Es  ist  ihr  besonderer  Zweck,  die  inneren  methodischen 
Zusammenhänge  zwischen  der  wissenschaftlichen  Arbeit,  wie 
sie  auf  allen  Einzelgebieten  der  Forschung  geleistet  wird  ,  zu 
zeigen  und   zu  fördern. 

Sie  wollen  insbesondere  wissenschaftlichen  Persönlich- 
keiten, die  an  den  Problemen  ihres  eigenen  Fachs  interessiert 
sind,  in  Vorträgen  über  Probleme  verwandter  Fächer  metho- 
dische .Anregung  geben,  neue  und  vielversprechende  Wege, 
die  einzelne  Disziplinen  eingeschlagen  haben,  klären  und  den 
anderen  eröffnen. 

Es  sind  keine  Fortbildungskurse  zur  .Auffrischung  ver- 
loren gegangener  oder  zur  Übermiulung  noch  nicht  erworbener 
akademischei   Berufskenntnisse. 

Sie  wenden  sich  aber  nicht  nur  an  wissenschaftlich  den- 
kende Deutsche,  sondern  an  die  Vertreter  des  geistigen  Lebens 
und  die  Studierenden  aller  anderen  Länder.  Dem  Ausländer, 
der  an  Ort  und  Stelle  die  deutsche  Sprache  praktisch  erlernen 
und  sich  über  die  Erscheinungsformen  der  heutigen  deutschen 
Kultur  orientieren  will,  wollen  sie  ein  Studienplatz  und  ein 
Wegweiser  sein,  ihm  die  Möglichkeit  geben,  sich  bei  uns 
selbst  ein  Bild  von  dem  Stande  des  wissenschaftlichen  Slrebens 
zu  machen,  das  Deutschland  heute  mit  seiner  Heimat  auf  den 
verschiedenartigsten  F'achgebieten  verknüpft,  die  Art  und  den 
Inhalt,  die  Materien,  Fragestellucgen  und  die  Organisatinn 
des   geistigen  Lebens  in  Deutschland  ihm  nahebringen. 

Diesen  persönlichen  Kontakt  des  wissenschaftliclien  und 
studierenden  Auslands  mit  Deutschland  wollen  die  Ferien- 
kurse in  einem  Zentrum  des  internationalen  und  überseeischen 
Lebens,  in  Hamburg,  herstellen." 

Die  für  Ausländer  bestimmten  Vorlesungen  und  Übun- 
gen erstrecken  sich  größtenteils  über  die  Zeit  vom  13.  Juli 
bis  8.  August,  zum  Teil  auch  über  die  Zeit  bis  22.  August. 
Die  für  Ausländer  und  Deutsche  bestimmten  Vorlesun- 
gen linden  in   der  Zeit  vom   10.  bis  22.  .August  statt. 

Ein    detailliertes    A'orlesungsverzeichnis    mit    Stundenplan 
erscheint  im  Frühjahr  1914  und  wird  an  Interessenten  kosten- 
frei von  der 
Geschäftsstelle    der    Akademischen  Ferienkurse, 

Martinistraße  52,    Hamburg  20, 
versandt. 


Inhalt;  F.mil  Baur;  Die  tjuelle  des  Muskelkraft.  Günther  Bugge;  Die  Chemie  des  Chlorophylls.  —  Einzelberichte: 
F.  v.  Reitzen  stein:  Kreuzung  von  Menschenrassen.  Thilo:  Das  Schnellen  der  Springkäfer.  Shull:  Die  Lebens- 
fähigkeit der  Dauereier  von  Hydatina  senta  und  die  Vererbung  dieser  Eigenschaft.  Rieh.  Schlegel:  Leistungsfähig- 
keit des  Haussperlings  im  Eierlegen.  K.  Bretscher:  Vogelzug  über  die  schweizerischen  Alpenpässe.  Dafert  und 
Miklauz:  Über  einige  neue  Verbindungen  von  Stickstoff  und  Wasserstoff  mit  den  Erdalkalimetallen.  Koch  und 
Wegener;  Durchquerung  Grünlands  1912,13.  —  Kleinere  Mitteilungen:  H.  Balfour:  Fischfang  mit  Drachen.  — 
Bücherbesprechungen:  H  ei  nr  i  ch  K  arny :  Tabellen  zur  Bestimmung  einheimischer  Insekten.  Robert  Grad- 
mann; Das  ländlrche  Siedlungswesen  des  Königreichs  Württemberg.  Karl  Scheid:  Chemisches  E.K|ierimentierbuch. 
.A.  StreiUler:  Öldruck.  O.  Prelinger:  Die  Photographie.  Röseler  und  Lamprecht:  Handbuch  für  Biologi- 
sche Übungen.  —  Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstraße    IIa,   erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck   der   G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m,  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.    Band; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band 


Sonntag,  den  lo.  Mai  1914. 


Nummer  19. 


Die  Methode  „of  trial  and  error"  (des  Versuchs  und  Irrtums) 
und  ihre  psychologische  Bedeutung. 


[Nachdruck  verboten.] 

Im  Jahre  1906  veröffentlichte  Jennings,  ein 
ameril<anischer  Tierpsychologe,  ein  Werk  unter 
dem  Titel:  „Das  Verhalten  der  niederen 
Organismen  unter  natürlichen  und  ex- 
perimentellen Bedingunge  n."  Er  beschreibt 
hierin  Beobachtungen  über  die  Bewegungen  von 
Protozoen  und  Cöienteraten  und  gelangt  zu  der 
Überzeugung,  daß  sich  das  Verhalten  dieser  Tiere 
und  analog  diesem  ein  großer  Teil  der  Bewegungen 
höherer  Organismen  auf  die  Methode  „of  trial  and 
error",  des  Versuchs  und  Irrtums,  zurückführen  läßt. 

Als  Beispiel  eines  einfachen,  nach  der  Probier- 
methode vor  sich  gehenden  Aktionstypus  stellt 
Jennings  die  Bewegungsweise  der  Amöbe  dar. 
Gelangt  das  Tier  bei  seinen  Bewegungen  zu  irgend- 
einer Reizung,  die  mechanischer,  chemischer  oder 
photischer  Natur  sein  oder  durch  Wärme,  Kälte, 
Schwerkraft,  Zentrifugalkraft  oder  durch  irgend- 
eine Wasserströmung  hervorgerufen  sein  kann,  so 
versucht  das  Tier  eine  andere  Richtung;  führt 
diese  Bewegung  wiederum  zu  einer  Reizstelle,  so 
wendet  sich  das  Tier  nach  einer  neuen  Richtung 
und  setzt  nötigenfalls  seine  Reaktionen  so  lange 
fort,  bis  es  in  Regionen  gelangt,  in  denen  kein 
Reiz  mehr  wirkt.  Auf  diese  Weise  stellt  also  die 
Amöbe  alle  möglichen  Versuche  an,  unter  denen 
schließlich  einer  von  Erfolg  begleitet  ist.  Sie 
produziert  ein  gewisses  Übermaß  von  Ortsver- 
änderung, welches  die  Möglichkeit  zuläßt,  unter 
mehreren  Bewegungen  eine  als  definitive  auszu- 
wählen und  somit  neue  Lebensbedingungen  zu 
finden. 

Bei  Paramaecium,  einem  Infusor,  lassen  sich  die 
Reaktionen  auf  verschiedenartige  Reize  nach  der 
Methode  des  Versuchs  und  Irrtums  noch  deut- 
licher wahrnehmen.  Erschütterungen  des  Wassers, 
Einwirkungen  des  Lichtes  oder  der  Wärme  ver- 
anlassen das  Tier,  mit  Bewegungen  der  ver- 
schiedensten Art  auf  den  Reiz  zu  reagieren.  Er- 
hält Paramaecium  z.  B.  einen  etwas  wärmeren 
VVasserstrom  als  gewöhnlich,  so  hält  es  mit  seinen 
Bewegungen  inne,  schwingt  sein  Vorderende  im 
Kreise  herum,  so  daß  sich  die  Spitze  des  Tieres 
nacheinander  nach  verschiedenen  Richtungen 
wendet,  während  das  hintere  Ende  unbeweglich 
bleibt.  So  probiert  das  Tier  der  Reihe  nach  alle 
möglichen  Richtungen  aus,  bis  es  schließlich  mit 
seinem  Vorderende  in  Wassermengen  gerät,  die 
nichts  mehr  von  der  Reizursache  enthalten.  In 
dieser  neu  gefundenen  Richtung  schwimmt  das 
Tier  davon.  Der  Übergang  von  einer  Richtung 
zur   anderen    geschieht    also    in    einer    besonders 


Von  Fritz  Schmidtsdorf. 

charakteristischen  Weise ,  die  es  dem  Tiere  ge- 
stattet, durch  ein  systematisches  Ausprobieren  der 
Umgebung  alle  möglichen  Schwierigkeiten  zu  um- 
gehen und  ebenso  wie  die  Amöbe  eine  Auswahl 
unter  den  verschiedenen  Bedingungen,  zu  welchen 
die  Bewegungen  führen,  zu  treffen. 

Trifft  das  Tier  auf  Wassermassen,  die  inten- 
siver beleuchtet  werden,  so  antwortet  es  auf  diesen 
Reiz  mit  der  sogenannten  Fluchtreaktion;  es  be- 
wegt sich  rückwärts  und  dreht  das  Vorderende 
soweit,  bis  es  von  der  belichteten  Stelle  ab- 
gewendet ist,  und  schwimmt  in  der  durch  Probieren 
gefundenen  Richtung  davon.  Man  braucht  hierbei, 
wie  später  noch  gezeigt  werden  soll,  keinen  Photo- 
tropismus anzunehmen,  sondern  kann  den  Vorgang 
vollständig  mit  Hilfe  der  Methode  „of  trial  and 
error"  erklären. 

Schlägt  eine  Aktionsmethode  fehl,  so  versucht 
der  Organismus  eine  neue,  bis  er  mit  einer  von 
ihnen  Erfolg  hat.  Hierbei  werden  die  Einzelheiten 
der  Reaktionsreihen  oft  variiert.  Manchmal  wird 
der  eine  oder  andere  Schritt  ausgelassen,  oder  es 
ändert  sich  die  Reihenfolge  der  verschiedenen 
Schritte.  Jedoch  läßt  sich  immer  ein  sukzessives 
Probieren  verschiedener  Reaktionen  bemerken, 
welches  von  der  Reizung  befreit  und  den  Orga- 
nismus allmählich  zu  neuen  Lebensbetätigungen 
führt. 

Unter  den  Cöienteraten  liefert  Hydra  ein 
interessantes  Beispiel  für  das  Verhalten  nach  der 
Methode  ,,of  trial  and  error".  Das  Tier  krümmt 
sich  auf  Reize  hin  abwechselnd  zusammen  und 
streckt  sich  wieder  aus.  Hiermit  ist  ein  Wechsel 
der  Anheftungsstelle  des  Polypen  an  der  Unter- 
lage verbunden.  Da  das  Ausstrecken  des  Körpers 
nach  allen  nur  möglichen  Richtungen  erfolgt,  so 
erforscht  das  Tier  auf  diese  Weise  gründlich  die 
Umgebung  seiner  Anheftungsstelle,  eine  Probier- 
methode, welche  die  Möglichkeit  der  Nahrungs- 
aufnahme beträchtlich  vergrößert.  Denn  auch 
die  Anwesenheit  von  Nahrungsstoffen  übt,  wie 
Jennings  an  einer  Meduse  beobachten  konnte, 
einen  Reiz  auf  das  Tier  aus  und  veranlaßt  es, 
durch  probierende  Bewegungen,  sogenannte  Angel- 
bewegungen, der  Tentakel  des  Beutestückes  hab- 
haft zu  werden.  Diese  Bewegungen  sind  jedoch 
nicht  nur  unmittelbare  Reaktionen  auf  Reize  hin, 
sondern,  soweit  sie  die  Nahrung  betreffen,  Be- 
wegungen mehr  spontaner  Art.  Die  Meduse  wird 
durch  die  Gegenwart  der  Nahrung  veranlaßt  um- 
herzuschwimmen und  kommt  auf  diese  Weise 
früher   oder  später   mit  der  Nahrung   in  Kontakt. 


290 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  19 


Das  Verhalten  besteht  demnach  nicht  in  einer 
durch  die  Reizursache  in  bestimmter  Weise  fest- 
gesetzten Tätigkeit,  sondern  in  einem  Probieren, 
das  so  lange  fortgesetzt  wird,  bis  der  Erfolg  sich 
einstellt. 

Mit  den  Cölenteraten  schließen  Jennings' 
eigene  Beobachtungen  ab,  jedoch  macht  die 
Methode  „of  trial  and  error",  die  hauptsächlich 
diesem  Forscher  ihren  Namen  verdankt,  an  dieser 
Stelle  des  Tierreiches  nicht  halt.  Wie  die  Beob- 
achtungen anderer  amerikanischer  Gelehrter  über 
das  Verhalten  niederer  und  höherer  Tiere  zeigen, 
ist  diese  Methode  bis  hinauf  zu  den  intelligentesten 
Säugetieren,  ja  sogar  bis  zum  Menschen  zu  ver- 
folgen. Jennings  war  der  erste,  der  darauf 
hinwies,  daß  das  Verhalten  aller  tierischen  Orga- 
nismen von  diesem  Gesetz  beherrscht  wird. 

Läuft  der  Plattwurm  (Planaria)  Gefahr,  infolge 
zu  hoher  Temperatur  zu  vertrocknen,  so  versucht 
er  alle  möglichen  Reaktionen,  um  sich  von  dem 
thermischen  Reize  zu  befreien.  Er  wendet  seinen 
Kopf  hin  und  her,  führt  rasche  und  heftige  Kon- 
traktionen des  Körpers  aus,  legt  sich  auf  den 
Rücken,  kurz,  versucht  alles,  um  dem  Tode  zu 
entgehen. 

Legt  man  einen  Seestern  auf  den  Rücken,  so 
streckt  er,  wie  Preyer  (1886)  beschreibt,  seine 
Füßchen  hervor  und  bewegt  sie  in  allen  Richtungen 
herum,  bis  schließlich  ein  .'\rm  mit  seinen  P'üßchen 
bei  der  Suche  nach  einem  festen  Halt  Erfolg  hat, 
sich  umwendet  und  die  anderen  Arme,  die  in- 
zwischen ihre  suchenden  und  windenden  Be- 
wegungen fortgesetzt  haben,  ebenfalls  zum  An- 
heften veranlaßt.  Diese  Reaktion  stellt  ein  gutes 
Beispiel  für  die  Ausführung  verschiedener  pro- 
bierender Bewegungen  dar,  in  Verbindung  mit 
der  Auswahl  einer  bestimmten,  zum  Ziele  führenden 
Bewegung.  Während  anfangs  alle  Füßchen  und 
Strahlen  versuchen,  eine  Anheftungsstelle  zu  finden, 
glückt  es  nur  einigen  von  ihnen,  diese  Bewegung 
mit  Erfolg  auszuführen.  Hindert  man  einen  See- 
stern durch  Nadeln,  die  man  zwischen  den  Radien 
dicht  an  der  Scheibe  in  ein  untergelegtes  Brett 
einschlägt,  an  seiner  Bewegungsfreiheit,  so  sucht 
sich  das  Tier  mit  aller  Anstrengung  von  den 
Nadeln  zu  befreien,  indem  es  sich  bald  hindurch- 
zwängt, bald  über  die  Nadelspritzen  hinüberklettert, 
bald  sich  auf  eine  Seite  dreht. 

Uexküll,  der  sich  im  allgemeinen  recht 
geringschätzig  über  die  Methode  des  Versuchs 
und  Irrtums  ausspricht,  berichtet  selbst  über  ein 
Beispiel  dieser  Reaktionsmethode  bei  Krabben ; 
,,So  hat  mich  folgende  einfache  Beobachtung  an 
einem  Carcinus  viaenas  in  überraschender  Weise 
über  die  Anpassung  des  Krebses  an  sein  Milieu 
aufgeklärt.  Unter  eine  große  Actinie  legte  ich 
ein  kleines  Stück  Plschfleisch  so  nahe  dem  Stamm, 
daß  die  Tentakel  es  nicht  erreichen  konnten.  Ein 
ins  Bassin  gesetzter  Carcinus  eilte,  sobald  er 
Witterung  empfangen,  auf  die  Actinie  los,  an  der 
er  sich  bei  jeder  Berührung  verbrannte.  Von  allen 
Seiten  und  immer  wieder  wiederholte  die  Krabbe 


den  Angriff'.  Immer  verwehrten  ihr  die  nesselnden 
Schläuche  den  Weg.  Da  änderte  die  Krabbe  ihre 
Angrififsweise  ;  anstatt  einfach  darauf  los  zu  rennen, 
kniff  sie  mit  ihren  Scheren  nach  den  Tentakeln, 
diese  verkürzten  sich,  und  das  Fleischstück  wurde 
freigegeben.  Schnell  wurde  es  erwischt  und  fort- 
fortgetragen." Dies  ist,  wie  sich  C.  C.  Schneider 
ausdrückt,  ein  geradezu  glänzendes  Beispiel  der 
Methode  des  Versuchs  und  Irrtums. 

Um  die  Methode  auch  bei  höheren  Tieren, 
speziell  Säugetieren,  beobachten  zu  können,  hat 
Thorndike  das  Labyrinth-  und  Vexierkasten- 
verfahren angewandt.  Der  Versuch  besteht  darin, 
daß  das  Tier  seinen  Weg  aus  der  Mitte  des 
Labyrinthes  herausfinden  oder  durch  irgendwelche 
Kunstgriffe  verschlossene  Türen  öffnen  muß,  um 
zu  seinem  Futter  zu  gelangen.  Man  zählt  dabei 
die  Irrtümer,  die  das  Tier  begeht,  sowie  die  Zeit, 
welche  es  zu  dem  Versuch  nötig  hat,  und  kon- 
struiert danach  Kurven,  an  denen  man  die  Fort- 
schritte des  Tieres,  die  durch  die  Vervollkommnung 
der  Assoziationen  zustande  kommen,  sofort  de- 
monstrieren kann.  Die  Triebfeder  ist  Hunger  oder 
Furcht.  Als  Versuchstiere  dienten  Katzen  und 
Hunde.  Die  Tiere  sollten,  um  aus  ihrem  Ge- 
fängnis entschlüpfen  zu  können,  entweder  auf  eine 
Klinke  drücken  oder  einen  Türknopf  drehen  oder 
an  einem  Faden  ziehen.  Durch  eine  zufällige  Be- 
wegung des  Tieres  öffnete  sich  die  Tür.  Diese 
Bewegung  merkte  sich  das  Tier  und  versuchte 
offenbar,  sie  nachher,  wenn  es  wieder  eingesperrt 
war,  zu  wiederholen.  In  einer  Reihe  von  Ver- 
suchen gelang  es  dem  Tier  in  immer  kürzerer 
Zeit,  die  Tür  zu  öffnen. 

Kinnaman  wiederholte  diese  Versuche  an 
zwei  Affen.  Ihre  Käfige  waren  mit  ganz  kompli- 
zierten Verschlüssen ,  sogar  mit  Schlössern  ver- 
sehen. Trotzdem  lernten  die  Affen  noch  schneller 
als  Hunde  und  Katzen  die  Tür  öffnen. 

LI.  Morgan  stellte  Untersuchungen  mit 
Hunden  an,  um  ebenfalls  die  Methode  des  Ver- 
suchs und  des  Irrtums  in  ihren  Handlungen  nach- 
zuweisen. Er  ließ  einen  Hund  einen  hakig  ge- 
krümmten Stock  durch  eine  enge  Spalte  hindurch- 
transportieren. Der  Hund  faiJte  zuerst,  wie  ge- 
wohnt, den  Stock  in  der  Mitte  und  hatte  keinen 
Erfolg.  Er  versuchte  es  dann  auf  verschiedene 
Weise,  den  Stock  hier  oder  dort  erfassend,  ohne 
zum  Ziele  zu  gelangen;  erst  als  er  den  Stock  am 
Haken  erwischte,  gelang  ihm  die  Aufgabe. 

Eine  weitere  interessante  Beobachtung  machte 
LI.  Morgan  an  seinem  Foxterrier  Tony.  Dieser 
pflegte  durch  die  Stäbe  des  Hoftores,  das  zur 
Straße  führte,  seinen  Kopf  zu  stecken  und  hinaus- 
zusehen. Anfangs  suchte  er  sich  eine  beliebige 
Öffnung  der  Stäbe  aus,  schließlich  aber  geriet  er 
mit  seinem  Kopf  an  eine  Stelle  unterhalb  der  Tür- 
klinke, wodurch  diese  gehoben  wurde.  Er  zog 
nun  den  Kopf  zurück  und  begann  an  einer  anderen 
Stelle  hinauszusehen,  als  er  sah,  daß  das  Tor  auf- 
ging. Sofort  stürzte  er  hinaus.  Von  dieser  Zeit 
an  wartete  LI.  Morgan  stets,   bis  der  Hund  die 


N.  F.  Xin.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


291 


Klinke  hob ,  statt  ihm  selbst  die  Tür  zu  öft'ncn. 
Allmählich  ging  der  Hund,  nachdem  er  weniger 
oft  den  Kopf  an  der  unrechten  Stelle  hinaus- 
gesteckt hatte,  zu  der  einen  Öffnung,  durch  welche 
die  Klinke  gehoben  werden  konnte.  Aber  es 
dauerte  beinahe  drei  Wochen,  bis  er  sofort  an  die 
richtige  Stelle  ging,  ohne  zu  zögern  oder  vorher 
wirkungslose  täppische  Manöver  mit  seinem 
Kopfe  unterhalb  der  Klinke  vorzunehmen. 

Schließlich  seien  noch  Sokolowsky's  Be- 
obachtungen über  das  Verhalten  eines  Schimpansen 
erwähnt.  Sokolowsky  schreibt  hierüber:  „In 
der  Art  und  Weise,  wie  sich  der  Schimpanse  aus 
der  Haft  seines  Käfigs  zu  befreien  versuchte,  war 
das  Tier  direkt  erfinderisch.  Obwohl  von  der 
Verwaltung  des  Tierparks  jeweilen  nach  einer  ge- 
glückten Befreiung  sofort  wieder  Mittel  getroffen 
wurden,  um  eine  Wiederholung  zu  verhindern, 
fand  der  Schimpanse  nicht  lange  danach  wiederum 
Mittel  und  Wege,  dieselbe  dennoch  mit  Erfolg  in 
Szene  zu  setzen.  Diese  Affen  teilen  seit  längerer 
Zeit  mit  den  Giraffen  zusammen  den  Innenraum 
des  Giraffenhauses.  Von  diesen  letzteren  sind  die 
Affen  durch  eine  hohe  Holzwand,  die  aber  nicht 
bis  zur  Decke  des  Hauses  hinaufreicht,  getrennt. 
Man  hatte  es  unterlassen,  die  Trennungswand  der 
Abteilungen  bis  an  die  Decke  fortzuführen ,  da 
man  es  nicht  für  möglich  hielt ,  daß  die  Affen 
das  hohe  Gesims  erreichen  konnten ,  um  den 
Giraffen  einen  Besuch  abzustatten,  resp.  auf  diese 
Weise  aus  ihrem  Käfig  heraus  ins  Freie  zu  ge- 
langen. Dieses  wäre  auch  gänzlich  ausgeschlossen 
gewesen,  wenn  sich  die  Affen  nicht  besonderer 
Mittel  bedient  hätten,  um  das  Ziel  der  Freiheit 
zu  erreichen.  Im  Käfig  der  Affen  befand  sich 
eine  große  Holzkiste ,  die  denselben  des  Nachts 
als  Schlafstätte  diente.  Diese  Kiste  war  rechts 
in  der  Ecke  des  Käfigs  aufgestellt  und  war  so 
schwer,  daß  sie  von  den  Tieren  nicht  bewegt 
werden  konnte.  Außerdem  hatten  die  Tiere  in 
ihrem  Käfig  eine  sehr  große  Blechkugel ,  welche 
seinerzeit  zur  Dressurschaustellung  diente,  indem 
die  großen  Raubtiere  darauf  ihre  Kunststücke  auf- 
führen mußten.  Diese  Biechkugel  war  den  Affen 
zur  Unterhaltung  in  den  Käfig  gegeben  worden. 
Da  die  Kugel  inwendig  hohl  war,  war  sie  sehr 
leicht  und  ließ  sich  ohne  Schwierigkeit  fortbe- 
wegen. Der  Schimpanse  veranlaßte  nun  seine 
Freundin  Rosa  (ein  Orang),  gemeinschaftlich  mit 
ihm  die  Kugel  auf  die  Schlafkiste  zu  bugsieren, 
was  ihnen  auch  nach  verschiedenen  vergeblichen 
Versuchen  gelang.  Da  aber  der  dadurch  bewirkte 
Steigapparat  noch  nicht  hoch  genug  war,  um  das 
Gesims  zu  erreichen,  veranlaßte  der  Schimpanse 
seine  Freundin,  auf  die  Kugel  zu  klettern,  sich  an 
der  Wand  aufzurichten  und  ihm  mit  ihrem  Rücken 
als  Kletterbock  zu  dienen.  Die  Sache  gelang  auch 
vortrefflich,  der  Schimpanse  gelangte  auf  diese 
Weise  auf  das  hervorragende  Gesims  des  Innen- 
raumes des  Hauses  und  von  dort  mit  leichter 
Mühe  zu  den  Giraffen  in  den  Käfig  herunter. 

Um    künftigen     ferneren    Befreiungsversuchen 


vorzubeugen,  wurde  die  Holzwand  bis  an  die 
Decke  weitergeführt,  wodurch  ein  Entweichen  nach 
obenhin  ausgeschlossen  ist.  Der  Affe  hatte  sich 
aber  gemerkt,  daß  der  Wärter,  wenn  er  in  den 
Käfig  zu  ihm  trat,  stets  vorher  mit  dem  Schlüssel, 
der  mit  anderen  an  einem  Schlüsselbund  hing, 
das  Hängeschloß  aufschloß.  Da  das  Tier  oft 
neugierig  zuschaute,  hatte  ihm  der  Wärter  wieder- 
holt spielend  die  Schlüssel  gezeigt.  Als  nun  die 
Befreiungsversuche  nach  obenhin  nicht  mehr 
fruchteten,  kam  der  Affe  auf  den  Gedanken,  die 
Gegenwart  des  Wärters  im  Käfig  zu  benutzen,  um 
das  Schloß  zu  öffnen  und  so  ins  Freie  zu  gelangen. 
Als  eines  Tages  die  Schlüssel  wieder  in  seine 
Hände  gelangten,  lief  der  Schimpanse  zum  Schloß 
hin  und  versuchte,  indem  er  Schlüssel  für  Schlüssel 
probierte,  das  Schloß  damit  zu  öffnen.  Endlich 
gelang  ilim  dieses,  der  Wärter  hatte  es  aber  be- 
merkt und  vereitelte  seinen  Fluchtversuch.  Seit 
diesen  Tagen  versuchte  er  jeweilen,  sobald  ihm 
die  Schlüssel  gereicht  wurden,  das  Schloß  damit 
zu  eröffnen.  Ich  habe  wiederholt  den  Affen  dabei 
beobachtet  und  mich  gewundert,  welche  Mühe 
sich  das  Tier  gab,  die  einzelnen  Schlüssel  nach  der 
Reihe  zu  probieren,  bis  es  den  rechten  gefunden 
hatte. 

Aber  auch  der  männliche  Orang  Jakob  ver- 
suchte sein  Heil  in  einem  Befreiungsversuch,  der 
ihm  so  gut  gelang,  daß  nicht  nur  er,  sondern 
auch  der  weibliche  Orang  und  der  Schimpanse 
mit  ihm  ins  Freie  gelangten.  Er  brachte  dieses 
auf  folgende  Weise  fertig.  Von  den  aus  Holz 
angefertigten  Turngeräten  hatten  die  Affen  ein  Holz- 
stück abgebrochen.  Der  Orang  benutzte  dieses 
Holzstück,  fuchtelte  damit  am  Hängeschloß  umher 
und  steckte  dessen  Spitze  in  den  Henkel  des 
Schlosses  hinein.  Da  er  mit  großer  Kraftan- 
strengung dabei  zu  Werke  ging,  wirkte  das  Holz 
als  Hebel,  das  Schloß  wurde  gesprengt,  dann  von 
den  Affen  entfernt,  die  Tür  geöffnet,  —  und  hinaus 
ging  es  mit  allen  Dreien  ins  Freie." 

Soweit  die  Beispiele.  Betrachtet  man  nunmehr 
das  Verhalten  der  Organismen  in  Rücksicht  auf 
die  Methode  des  Versuchs  und  Irrtums  etwas  all- 
gemeiner, so  findet  man  in  dieser  Methode  den 
Ausdruck  eines  höchst  wichtigen  Grundsatzes,  der 
für  das  Verständnis  des  Verhaltens  eine  weit- 
tragende Bedeutung  besitzt.  Der  Reiz  ruft  nicht 
direkt  eine  einzelne  einfache  Bewegung  (eine 
Reflexbewegung)  hervor,  von  der  Art,  daß  sie  den 
Organismus  sofort  von  dem  Zustande  der  Reizung 
befreit,  sondern  es  folgen  der  Reizung  viele  ver- 
schiedene Bewegungen,  aus  denen  die  erfolgreiche 
dadurch  ausgewählt  wird,  daß  sie  ein  Aufhören 
der  Reizung  herbeiführt.  Die  Probiermethode 
kann  daher  folgendermaßen  formuliert  werden: 
Auf  Reizung  hin  führt  der  Organismus  eine  Reihe 
von  probierenden  Bewegungen  aus,  die  ihn  ver- 
schiedenen Bedingungen  aussetzen.  Aus  dieser 
Überproduktion  von  Bewegungen  wählt  das  Tier 
diejenige  Reaktion,  welche  Erfolg  hat,  aus,  um 
der  Reizung    oder    dem    Hindernis    zu    entgehen. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   19 


Diese  Auswahl  von  Bewegungen  hängt  zum  größten 
Teile  von  dem  ab,  was  man  bei  höheren  Tieren 
als  Unterscheidungsvermögen  bezeichnet,  d.  h.  von 
der  Genauigkeit,  mit  welcher  sich  das  Reaktions- 
bestreben der  Schädlichkeit  des  einwirkenden 
Reizes  anpaßt.  Durch  die  Steigerung  der  Ge- 
nauigkeit in  der  Unterscheidung  verschiedener 
Reize  erfolgt  der  I'ortschritt  in  dieser  Methode 
des  Verhaltens.  Durch  das  Unterscheidungsver- 
mögen wird  eine  Auswahl  unter  den  Bewegungen 
derart  getroffen,  daß  gewisse  Arten  von  Reaktionen 
auf  geeignetere  Weise  als  andere  den  Organismus 
von  einer  unvorteilhaften  Reizung  befreien  oder 
ihm  eine  günstige  sichern.  Das  ganze  Schema 
der  Reaktion  durch  Auswahl  aus  den  Resultaten 
verschiedener  probierender  Bewegungen  ist  daher 
kein  festes,  vollkommenes,  endgültiges,  vielmehr 
ein  Versuchsplan,  berechnet  für  die  verwirrenden 
Ereignisse,  wie  sie  sich  im  Leben  abspielen ;  es 
ist  Abänderungen  und  Fehlern  unterworfen  und 
daher  entwicklungsfähig. 

Durch  Wiederholung  desselben  Reaktions- 
schemas gelangt  schließlich  der  Organismus  dazu, 
prompter  und  schneller  mit  der  wirksamen  Bewegung 
zu  antworten.  Hierbei  sind  früher  empfangene 
Reize  und  früher  ausgeführte  Reaktionen  nicht 
nur  bei  Protozoen  und  Cölenteraten,  sondern  auch 
bei  höheren  Tieren  wichtige  bestimmende  Faktoren 
für  das  gegenwärtige  Verhalten ;  sie  können  ent- 
weder das  Aufhören  der  Reaktion  auf  einen  ge- 
gebenen Reiz  oder  einen  vollständigen  Wechsel 
des  Wesens  der  Reaktion  herbeiführen,  mit  der 
Tendenz ,  daß  eine  vorher  bereits  ausgeführte 
Tätigkeit  prompter  und  schneller  ausgeführt 
wird.  Nachdem  sich  auf  diese  Weise  die  Reiz- 
beantwortungen des  Organismus  durch  Auswahl 
und  ein  gewisses  Erinnerungsvermögen  an  frühere 
Reaktionen  bis  zu  einem  bestimmten  Grade  fest- 
gelegt haben,  können  sich  die  Bedingungen  derart 
ändern,  daß  diese  Reaktionen  nicht  länger  zweck- 
mäßig sind.  Das  Tier  befindet  sich  dann  in  einer 
weniger  vorteilhaften  Situation,  als  wenn  das  Ver- 
halten mehr  nur  durch  I'robierbewegungeii  be- 
stimmt wird.  Es  wird  jetzt  die  Tendenz  bestehen, 
daß  die  festgelegten  Reizbeantwortungen  abge- 
brochen werden ,  und  die  Probiervorgänge  sie  er- 
setzen, bis  neue  feststehende  Reaktionen,  die  den 
gegenwärtigen  Bedingungen  angepaßt  sind,  sich 
ausgebildet  haben.  So  kann  der  Organismus  auf 
Grund  der  Methode  „of  trial  and  error"  immer  neue 
und  besser  geeignete  Methoden  der  Bewegung 
annehmen.  Dadurch ,  daß  nur  die  vorteilhaften 
Reaktionen  beibehalten  werden,  reguliert  der 
Organismus  sein  Verhalten  in  einer  bestimmten 
Richtung. 

Vermutlich  hat  jedes  Tier  durch  vieles  Pro- 
bieren alle  erforderlichen  Tätigkeiten  gelernt  und 
verfügt  nun  über  einen  Erfahrungsschatz,  der  es 
veranlaßt,  die  einzig  richtige  Reaktion  unter  vielen 
auszuwählen.  Nach  der  gemachten  Erfahrung 
richtet  sich  also  das  Verhalten  des  Tieres;  dies 
kommt  besonders  bei    höheren  Tieren    zum  Aus- 


druck. Es  fragt  sich  nun,  ob  sich  auch  bei  niederen 
Organismen  Erscheinungen,  z.  B.  der  Wechsel  im 
Verhalten  von  Stentor,  finden,  die  in  irgendeiner 
Weise  dem  Lernen  eines  höherenOrganismus  ähnlich 
sind.  Die  Hauptsache  ist,  daß  der  Organismus  nach 
seinen  Erfahrungen  in  einer  wirksameren  Weise 
reagiert  als  vorher.  Tatsächlich  zeigt  das  Ver- 
halten von  Stentor  in  einer  rudimentären  Weise 
Erscheinungen,  die  in  Übereinstimmung  mit  der 
von  ihm  gemachten  Erfahrung  stehen,  indem  näm- 
lich entweder  der  Reiz,  auf  den  zuerst  eine  starke 
Reaktion  erfolgte,  gar  nicht  mit  seinen  Funktionen 
interferiert,  so  daß  die  Reaktion  dann  aufhört, 
oder  indem  die  bereits  erfolgte  Reaktion  ohne 
Nutzen  bleibt,  da  die  Interferenz  mit  seinen  Lebens- 
funktionen bestehen  bleibt,  so  daß  eine  andere 
Reaktion  hervorgerufen  wird.  Jedoch  dauert  die 
Veränderung  des  Verhaltens  infolge  der  gemachten 
Erfahrung  nur  sehr  kurze  Zeit. 

In  einer  von  J  e  n  n  i  n  g  s  angegebenen  Versuchs- 
reihe machte  ein  Krebs  nach  400  Versuchen  einen 
P"ehler  auf  50  Versuche.  Der  Krebs  hatte  gelernt, 
die  richtige  Reaktion  fast  sofort  auszuführen.  So 
können  die  niedersten  Tiere  in  der  Tat  auf  die 
verschiedenste  Weise  lernen.  Lernfähigkeit  ist 
eben  eine  charakteristische  Eigenschaft  des  Proto- 
plasmas. 

Bei  höheren  wirbellosen  Tieren,  z.  B.  bei 
Ameisen  und  Bienen,  und  bei  Wirbeltieren  wird 
dieses  Verhalten,  welches  sich  auf  die  Methode 
,,of  trial  and  error"  in  Verbindung  mit  der  Erfahrung 
gründet,  außer  durch  Assoziation  auch  durch  Nach- 
ahmung und  Überlegung  geleitet  und  erlangt  dann 
große  Bedeutung.  Nicht  nur  ganze  Tiergruppen, 
sondern  auch  einzelne  Individuen  derselben  Art 
machen  hierbei  verschiedene  Erfahrungen.  So 
können  zwei  Exemplare  vonConvoluta  (Turbellarie) 
nebeneinander  zu  gleicher  Zeit,  das  eine  positiven 
Geotropismus,  das  andere  negativen  Geotropis- 
mus zeigen,  je  nach  ihrer  Vergangenheit. 

Dieses  Lernen  aus  Erfahrung  kann  sich  auf  die 
eigene  Körpertätigkeit  beziehen ,  die  dabei  ver- 
vollkommnet wird.  Hier  tritt  das  Problem  wo- 
möglich noch  prägnanter  auf.  Wenn  der  Hund 
z.  B.  einen  Sprung  über  den  Zaun  versucht,  um 
zu  seinem  Herrn  zu  kommen,  ein  solcher  Sprung 
aber  höhere  Anforderungen  an  sein  Können  stellt, 
als  er  auszuführen  gewohnt  ist,  so  bedeutet  das 
gleichfalls  die  Methode  des  Versuchs  und  Irrtums. 
Indem  das  Tier  die  verschiedensten  Versuche  an- 
stellt, bis  es  zum  Ziele  gelangt,  und  sich  so  übt 
und  trainiert,  macht  es  nach  all  den  probierenden 
Bewegungen  die  Erfahrung,  daß  der  Weg  zu 
seinem  Herrn  nur  über  die  Mauer  führt.  In  der 
Folgezeit  wird  der  Hund  auf  Grund  seiner  früheren 
Erfahrung,  die  ihm  das  Erinnerungsvermögen  auf- 
bewahrt hat,  die  Gewohnheit  erlangt  haben,  die 
einmal  als  zweckmäßig  erprobten  Bewegungen 
immer  wieder  von  neuem  auszuführen. 

Während  die  Ausbildung  der  Handlungsweise 
nach  der  Methode  „of  trial  and  error"  zu  einem 
zweckdienlichen  Aktionstypus    auf  der    durch  Er- 


N.  F.  XIII.  Nr.   19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


293 


fahrung  begründeten  Auswahl  bestimmter  Be- 
wegungen beruht,  hängt  der  Erfolg  des  Probierens 
nur  vom  Zufall  ab.  Dies  zeigen  deutlich  die  Ver- 
suche an  Hunden  und  Affen.  Die  auf  die  oben 
creschilderte  Weise  erfolgte  Öffnung  des  Schlosses 
durch  den  Affen  beruht  auf  einem  glücklichen  Zu- 
fall. Denn  Zufall  ist  aller  Handlungserfolg,  der 
weder  auf  Grund  von  Erfahrung  vorausgesehen 
noch  durch  Überlegung  herbeigeführt  wird.  Die 
Erfahrung  geht  den  Affen  vorläufig  ab,  aber  auch 
Überlegung  braucht  man  nicht  anzunehmen ;  denn 
es  genügt,  von  Versuch  zu  reden,  der  von  Erfolg 
begünstigt  ist.  Die  zwekmäßigen  Reaktionsbe- 
wegungen assozieren  sich  auf  Grund  der  Versuche 
allmählich  mit  den  durch  Reize  ausgelösten  Emp- 
findungen, z.  B.  bildet  sich  eine  feste  Assoziation 
zwischen  der  Türklinke  eines  Tores  und  dem  Ver- 
such des  Hundes,  diese  emporzudrücken  und  dann 
das  Tor  zu  öffnen. 

Sowohl  bei  Tieren  als  auch  beim  Menschen  wird 
das  Vorhandensein  von  Wahrnehmung,  Wahlver- 
mögen, Begehren,  Gedächtnis,  Gewohnheit,  Gemüts- 
bewegungen, Lernfähigkeit,  Intelligenz  und  Nach- 
denken aus  gewissen  objektiven  Tatsachen  —  be- 
stimmten Dingen,  die  diese  Wesen  treiben —  beurteilt. 
Sowohl  höhere  als  auch  niedere  Organismen  be- 
sitzen ein  Unterscheidungsvermögen,  ein  Wahl- 
vermögen oder  zeigen  Aufmerksamkeit,  Abneigung; 
bei  beiden  finden  sich  negative  Reaktionen  auf 
starke  schädigende  Einwirkungen,  die,  wie  man 
sagt,  sich  beim  Menschen  und  bei  höheren  Tieren 
in  Schmerzen  äußern.  Die  Hauptursache  der  dem 
Schmerz  entsprechenden  Zustände  liegt  in  der 
Beeinträchtigung  aller  Vorgänge,  die  sich  in  dem 
Organismus  abspielen.  Die  diesen  Zuständen  ent- 
sprechende Betätigung  ist  eine  Veränderung  der 
Ortsbewegung.  Diese  findet  nach  der  Probier- 
methode so  lange  statt,  bis  es  dem  Tier  gelingt, 
sich  von  der  Reizung  zu  befreien.  Es  findet  also 
ein  Versuchen  statt,  das  durch  einen  dem  Unlust- 
gefühle  der  höheren  Tiere  und  des  Menschen  ent- 
sprechenden Zustand  ausgelöst  wird,  bis  der  Erfolg 
sich  einstellt.  Als  Erfolg  ist  zu  bezeichnen,  daß 
das  Tier  sich  in  günstigen  äußeren  Bedingungen 
erhält,  die  einem  Zustand  entsprechen,  der  den 
Begleiterscheinungen  des  Vergnügens  bei  dem 
Menschen  und  den  höheren  Tieren  entspringt. 
Dieser  Zustand  ist  mit  einer  Befreiung  von  der 
Beeinträchtigung   der   Lebensprozesse    verbunden. 

Da  wir  bei  uns  selbst  Bewegungen  und  Re- 
aktionen nach  der  Methode  „of  trial  and  error"  vor- 
finden ,  die  in  mancher  Beziehung  denen  der 
niederen  Organismen  gleichen,  uns  z.  B.  von  Hitze, 
Kälte  und  schädlichen  Einflüssen  entfernen,  so 
handeln  wir  darin  gerade  wie  ein  Paramaecium. 
Indessen  kommt  bei  uns  selbst  noch  die  höchst 
interessante  Tatsache  hinzu,  daß  diese  Bewegungen, 
Reaktionen  und  physiologischen  Zustände  oft  von 
subjektiven    Zuständen    begleitet    sind,    den    Zu- 


ständen des  Bewußtseins.  Wenn  wir  bei  uns  selbst 
von  dem  Verhalten  sprechen  und  ebenso  meist 
auch  bei  den  höheren  Tieren,  so  gebrauchen  wir 
Bezeichnungen,  die  auf  diesen  subjektiven  Zu- 
ständen beruhen,  wie  Lust,  Unlust,  Empfindung, 
Gedächtnis,  Furcht,  Ärger,  Vernunft  und  der- 
gleichen mehr.  Solche  Zustände,  die  nur  von  der 
einen  Person  wahrgenommen  werden  können,  die 
sie  unmittelbar  betreffen,  dem  Subjekt,  können 
nicht  durch  Beobachtung  und  Versuch  an  Lebe- 
wesen außer  uns  entdeckt  werden.  Beobachtung 
und  Versuch  sind  aber  die  einzigen  direkten  Mittel, 
um  das  Verhalten  bei  den  niederen  Organismen  zu 
studieren.  Man  kann  über  ihr  Verhalten  For- 
schungen anstellen  und  durch  Analogiebetrach- 
tungen vielleicht  zu  dem  Schlüsse  kommen,  daß 
auch  sie  Bewußtseinszustände  haben. 

So  ergibt  sich  die  Möglichkeit,  manche  von 
den  Erscheinungen,  von  denen  man  aus  objektiven 
Gründen  weiß,  daß  sie  in  dem  Verhalten  des 
Menschen  und  der  höheren  Tiere  auftreten,  bis  zu 
den  niedersten  Lebewesen  zurückzuverfolgen.  Viele 
Zustände,  die  man  beim  Menschen  deutlich  unter- 
scheiden kann ,  lassen  sich  auf  einen  einzigen 
physiologischen  Zustand  bei  den  niederen  Orga- 
nismen zurückverfolgen.  Die  Differenzierung  geht 
in  der  aufsteigenden  Tierreihe  ebenso  in  diesen 
Dingen  vor  sich  wie  in  anderen. 

Die  Methode  ,,of  trial  and  error"  gibt  uns  also 
die  Möglichkeit  an  die  Hand,  durch  vergleichende 
Betrachtungen  über  das  auf  dieser  Methode  be- 
ruhende Benehmen  der  Tiere  Rückschlüsse  auf 
ihre  psychischen  Fähigkeiten  zu  machen.  Man 
muß  annehmen,  daß  die  Wirbeltiere  und  wenigstens 
auch  die  höheren  Evertebraten,  sobald  sie  einmal 
eine  Aktionsmethode  durchprobiert  haben,  bei 
Wiederholung  derselben  von  gewissen  Vorstellungen 
geleitet  werden,  daß  sie  während  des  Probierens 
Erfahrungen  sammeln  und  lernen  können.  Vor- 
stufen dieser  an  ein  Gedächtnis  geknüpften  psychi- 
schen Fähigkeiten  finden  sich  auch  bei  niederen 
Metazoen  und  Protozoen,  wie  die  Versuche  zeigen. 
Dabei  ist  es  nicht  erforderlich,  daß  der  erste  Erfolg 
in  dieser  Methode  durch  bestimmte  Vorstellungen 
bedingt  ist,  daß  gewissermaßen  schon  die  ersten 
probierenden  Bewegungen  einen  Zweck  haben. 
Das  Zweckdienliche  in  diesem  Verhalten  stellt 
sich  erst  nach  einer  Reihe  von  z.  T.  erfolglosen 
Versuchen  ein.  Der  Erfolg  in  der  Methode  „of 
trial  and  error"  hängt  vielmehr  ganz  und  gar  bei 
allen  Tieren  vom  Zufall  ab. 


1906. 


Literatur. 
Jennings,  Behavior  of  the  lower  organisms.     New  York 
6. 
Morgan,  Animal  behaviour.     London   igoo. 
Thorndike,  Aniraal  behaviour.     1906. 
Schneider,  Tierpsychologie.    1909. 
G.  Bohn,  Die  neuere  Tierpsychologie.      1912. 
Zur  Straßen,  Die  neuere  Tierpsychologie.    Berlin  190S. 
Wasmann,  Instinkt  und  Intelligenz  im  Tierreich.   1905. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   19 


Zerealieufiiude  vorgeschichtlicher  Zeit 
aus  den  thüringisch-sächsischen  Ländern. 

Von  Hugo  Mötefindt,  Wernigerode. 
[Nachdruck  verboten.] 

Die  prähistorische  Forschung  der  letzten  Jahre 
hat  hinsichtlich  des  Alters  der  Kulturpflanzen  ganz 
wunderbare  Ergebnisse  geliefert.  Noch  B  u  s  c  h  a  n 
konnte  in  seinem  vortrefflichen  zusammenfassenden 
Werke  „Vorgeschichtliche  Botanik  der  Kultur-  und 
Nutzpflanzen  der  alten  Welt  auf  Grund  prähisto- 
rischer Funde"  (Breslau  1895)  die  Kulturpflanzen 
durchweg  nur  bis  zur  neolithischen  Periode  zurück- 
verfolgen. Jetzt  haben  die  epochemachenden  Aus- 
grabungen von  Piette  u.  a.  ergeben,  daß  im  süd- 
westlichen Frankreich  der  paläolithische  Mensch 
bereits  im  Magdalenien  Zerealien  kannte  und  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  auch  in  roher  Weise  kulti- 
vierte ^).  Wie  im  südlichen  Frankreich,  so  sind 
auch  vor  wenigen  Jahren  in  Campign^  in  Nord- 
frankreich in  einer  Wohngrube  aus  der  Übergangs- 
zeit zwischen  dem  Paläolithikum  und  dem  Neo- 
lithikum eine  Gefäßscherbe  mit  dem  Abdruck  eines 
Gerstenkornes  und  Mahlsteine,  die  auf  Feldbau 
deuten,  gefunden. 

Aus  der  neolithischen  Zeit  (vor  2000  vor  Chr. 
Geburt)  sind  bereits  seit  langem  zahlreiche  Getreide- 
funde aus  den  Schweizer  Pfahlbauten  bekannt,  die 
beweisen,  daß  Weizen,  Gerste,  Hirse  und  Flachs 
u.  a.  m.  dort  bereits  in  der  jüngeren  Steinzeit  ge- 
baut wurden.  Getreidefunde  wurden  dann  später 
auch  in  Bosnien,  in  Ungarn,  Österreich,  Italien, 
Schweden,  Dänemark  und  auch  in  Deutschland 
entdeckt. 

Sehr  wichtig  für  unsere  Kenntnis  der  vorge- 
schichtlichen Kulturpflanzen  ist  eine  Beobachtung 
geworden,  die  ein  Dorfschullehrer  in  Jütland,  Frode 
Kristensen,  im  Jahre  1894  gemacht  hat,  daß  sich 
nämlich  an  prähistorischen  Gefäßen  öfters  Ab- 
drücke von  Körnern  oder  verkohlte  Körner  selbst 
finden,  die  bei  der  .Anfertigung  der  Gefäße  zufällig 
in  die  Tonmasse  geraten  waren.  Durch  diese  Ent- 
deckung wurden  zahlreiche  weitere  Getreidefunde 
und  sichere  Zeitbestimmungen  im  Laufe  der  Jahre 
ermöglicht. 

Merkwürdig  wenig  Funde  von  prähistorischen 
Vegetabilien  liegen  bis  jetzt  aus  Deutschland  vor, 
obwohl  gerade  hier  in  allen  Teilen  des  Reiches 
eine  unzählige  Menge  vorgeschichtlicher  .-^nsied- 
lungen  aufgedeckt  und  erforscht  sind.  Man  könnte 
daraus  folgern,  daß  in  Deutschland  der  Ackerbau 
In  vorgeschichtlicher  Zeit  weniger  verbreitet  ge- 
wesen sei  als  in  den  Alpenländern  und  in  Nord- 
europa. Ein  derartiger  Schluß  wäre  jedoch  völlig 
falsch  ;  jene  immerhin  sehr  auffällige  Tatsache  findet 
ihre  Erklärung  vielmehr  darin,  daß  in  früheren 
Jahren  auf  der  Suche  nach  wertvollen  Gegen- 
ständen   die    unscheinbaren    und    doch    so    außer- 


ordentlich wichtigen  pflanzlichen  Reste  nur  in  den 
seltensten  Fällen  oberflächlich  registriert  wurden. 
Seitdem  in  den  letzten  Jahren  durch  die  verdienst- 
Hchen  Arbeiten  von  Buschan  und  Hoops  die 
Aufmerksamkeit  nachdrücklicher  auf  die  vegetabi- 
lischen Reste  gelenkt  wurde,  sind  dann  auch  bald 
eine  größere  Anzahl  von  Funden  dieser  Art  zur 
Kenntnis  gelangt. 

Aus  den  thüringisch-sächsischen  Ländern  ^} 
waren  bereits  fünf  Funde  von  Zerealien  bekannt 
und  von  Buschan  in  seinem  oben  angeführten 
Werke  verzeichnet.  Seitdem  sind  dort  drei  neue 
Funde  zutage  gekommen,  von  denen  zwei  bis 
zur  Stunde  noch  unpubliziert  sind;  in  Anbetracht 
der  Wichtigkeit  gerade  dieser  neuen  Funde  sehe 
ich  mich  veranlaßt,  einmal  alle  vorgeschichtlichen 
Zerealienfunde  aus  meinem  Arbeitsgebiet  zusammen- 
zustellen und  bekannt  zu  geben. 

I.  Mertendorf,  Verwaltungsbezirk 

Apolda  (Sachsen- Weimar). 
Bei  Mertendorf  wurden  von  Klop  fleisch 
im  Jahre  1880  vier  ovale  Hügel  untersucht,  in 
denen  er  mit  lockerer  Erde  gefüllte  Gruben, 
Scherben,  gebrannten  Lehm,  Kohle,  Reibsteine, 
einige  Steinbeile  und  Feuersteinsplitter  fand,  aber 
keine  Skelette  oder  sonstige  Grabeinrichtungen. 
In  einem  der  Hügel  entdeckte  Klop  fleisch 
sieben  „inwendig  mit  gebranntem  Ton  ausgeklei- 
dete Gruben,  die  in  den  Grundboden  eingegraben" 
waren  und  augejischeinlich  als  Kornbehälter  ge- 
dient hatten.  In  einer  dieser  sieben  Zylindergruben 
lacr  gerösteter  Weizen,  in  anderen  Reste  von  Back- 
formen und  Getreidereibern  ").  B  u  s  c  h  a  n  rechnet 
den  Weizen  (auf  Grund  einer  untersuchten  Probe?) 
zur  Art  Triticum  vulgare''),  die  schon  in  der 
Steinzeit  die  häufigste  und  verbreitetste  Sorte  des 
Weizens  war;  in  fast  allen  Ländern,  wo  überhaupt 
Weizenfunde  gemacht  worden  sind,  ist  auch  Triti- 
cum vulgare  vertreten. 

2.  Ettersberg  bei  Ettersburg,  Verwal- 
tungsbezirk Apolda  (Sachsen-Weimar). 
In  einer  Lehmgrube  des  Ettersberges  nördlich 
von  Weimar  wurde  eine  Niederlassung  aus  neoli- 
thischer  Zeit  —  und  zwar  der  bandkeramischen 
Kultur  angehörig  —  entdeckt,  in  der  Weizen, 
Gerste  und  Apfelkerne  zum  Vorschein  kamen  *). 
Der  Weizen  gehört  nach  der  Untersuchung  Bu- 
sch an 's*)  zur  Art  Triticum  vulgare.  Bei  der 
Gerste  handelt  es  sich  —  ebenfalls  nach  Buschan 
—  wahrscheinlich  um  Hordeum  hexastichum  sanc- 
tum  Heer*'),  die  kleine  sechszeilige  sog.  Pfahlbau- 
gerste, das  häufigste  Getreide  der  Schweiz  in  prä- 


*)  Nähere  Angaben  findet  man  am  besten  in  dem  aus- 
gezeichneten Werke  von  Joh.  Hoops,  Waldbäume  und 
Kulturpflanzen  im  germanischen  Altertum  (1905),  auf  das  ich 
hier  ein  für  allemal  verweise. 


1)  Unter  thüringisch-sächsischen  Ländern  verstehe  ich  hier 
wie  in  meinen  anderen  Arbeiten  die  Provinz  Sachsen  mit  den 
historisch  nicht  scharf  von  ihr  trennbaren  angrenzenden  Ge- 
bietsteilen. 

2)  Korrespondenzblatt  der  deutschen  Gesellschaft  für  An- 
thropologie usw.,   18S1.  S.    139 — 142. 

3)  Buschan  a.  a.  O.  S.   12. 

*)  Götze-Höfe r-Zschiesche,     Die    vor-     und    früh- 
geschichtlichen Altertümer  Thüringens.  S.  263. 
6)  A.  a.  O.  S.   12. 
6)  A.  a.  O.  S.  41. 


N.  F.  XIII.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


295 


historischen  Zeiten.  Die  Apfelkerne  zählt  Bu- 
schan wohl  in  seinem  „Verzeichnis  der  Fundorte 
mit  vorgeschichtlichen  Kulturpflanzen"  (a.  a.  O. 
S.  252)  auf,  berücksichtigt  sie  aber  bei  der  Be- 
sprechung der  Apfelfunde  (a.  a.  O.  S.  166  ff.)  nicht. 
Merkwürdigerweise  hat  auch  Hoops  diesen  Fund 
übersehen.  Meine  an  die  in  Frage  kommenden 
Museen  in  Berlin  und  Halle  a.  S.  gerichteten  An- 
fragen, ob  dort  vom  Fttersberge  Apfelreste  vor- 
handen seien,  sind  bis  jetzt  leider  unbeantwortet 
geblieben. 

3.  Erfurt. 

Am  Andreastor  in  Erfurt  fand  Zschiesche 
bei  der  Erforschung  neolithischer  und  zwar  wiederum 
bandkeramischer  Ansiedlungen  auf  dem  Boden 
eines  zertrümmerten  Topfes  verkohlteWeizenkörner. 
Bei  diesem  Weizen  handelt  es  sich  nach  der  An- 
gabe von  Buschan  (a.  a.  O.  S.  6  u.  12),  der  auch 
von  hier  Proben  untersucht  hat,  um  Triticum 
vulgare. 

4.  Schlichen,  Kr.  Schweinitz. 

Von  dem  durch  die  Untersuchungen  des  Kreis- 
physikus  Wagner ')  bekannten  Burgwall  aus  der 
Zeit  der  sog.  Lausitzer  Kultur  (Jüngere  Bronzezeit, 
1400  —  500  vor  Chr.  Geburt)  sind  auch  Getreide- 
funde bekannt.  Buschan  hat  noch  Proben  von 
diesen  Funden  zur  Untersuchung  bekommen  können 
und  dabei  stellte  es  sich  heraus,  daß  vier  Frucht- 
sorten von  hier  vorliegen :  Bohnen,  Erbsen,  Weizen 
und  Hirse.  Bestimmbar  war  zunächst  Vicia  Faba 
L.  maior,  die  im  Gebiet  derselben  Lausitzer  Kultur 
bereits  mehrfach  belegt  ist").  Ferner  Pisum  sa- 
tivum L.,  Erbse.  Letztere  ist  in  der  Steinzeit 
scheinbar  sehr  spärlich  verbreitet  gewesen ;  sie  ist 
dort  nur  für  das  Pfahlbautengebiet  und  für  Ungarn 
belegt,  während  sie  sich  im  eigentlichen  Deutsch- 
land erst  durch  einige  mit  dem  hier  von  Schlieben 
vorgelegten  gleichaltrige  Funde  nachweisen  läßt. 
Schließlich  sind  Reste  von  Hirse  (Panicum)  vor- 
handen. Steinzeitliche  Hirse  ist  in  Deutschland 
und  Böhmen  überhaupt  nicht  nachgewiesen,  wäh- 
rend sie  in  den  skandinavischen  Ländern,  in  der 
Schweiz  und  Oberitalien  aus  dieser  Zeit  bereits 
bekannt  ist;  in  Deutschland  ist  sie  erst  in  der 
Bronzezeit  durch  mehrere  Funde  im  Lausitzer 
Kulturkreise  belegt.  Der  in  diesem  Funde  von 
Schlieben  vertretene  Weizen  gehört  zur  Art  Triti- 
cum vulgare,  die  übrigens  im  Bereich  der  Lausitzer 
Kultur  noch  einmal  belegt  ist  ^). 

5.  Aschersleben. 

Aus  einem  Gräberfelde  „aus  der  Zeit  des  Lau- 
sitzer Typus"  hat  Buschan  durch  Vermittlung 
des  damaligen  Museumsdirektors  Dr.  Schmidt  in 
Halle  a.  S.  Getreideproben  von  Weizen  erhalten  ■*). 
Da  Buschan  diesen  Fund  im  weiteren  Verlaufe 
seiner   Arbeit    nicht  weiter    erwähnt,    so    vermute 


ich,    daß    eine  genaue  Bestimmung  der  Weizenart 
nicht  möglich  war. 

6.    Gleich berg    bei     Römhild    (Sachsen- 
Meiningen). 

Ein  sehr  wichtiger  Fund  vom  kleinen  Gleich- 
berge ist  bisher,  obwohl  er  von  seinem  Entdecker 
in  einer  Sonderpublikation  bekannt  gegeben  wurde'), 
den  Augen  der  Forscher  entgangen. 

Am  Südrande  des  Thüringer  Waldes  befinden 
sich  in  der  Nähe  von  Römhild  zwei  große  Be- 
festigungen aus  vorgeschichtlicher  Zeit,  der  große 
und  der  kleine  Gleichberg,  die  beide  zahlreiche 
Funde  aus  der  Latenezeit  (500  vor  Chr.  Geb.  bis 
um  Chr.  Geb.)  geliefert  haben  ^). 

Am  kleinen  Gleichberge  entdeckte  im  Jahre 
1906  der  Technikumslehrer  C.  Kumpel  aus  Hild- 
burghausen eine  Wohn-  oder  Vorratsgrube,  über 
welche  früher  der  Wall  mit  seiner  größten  Mächtig- 
keit gelagert  haben  soll  und  die  demnach  älter 
als  der  Wall  selbst  sein  müßte.  Bei  der  Unter- 
suchung ihres  Inhaltes  stieß  Kumpel  auf  einige 
Körner,  und  nun  aufmerksam  geworden,  fand  er 
durch  Sieben  und  Schlämmen  großer  Bodenmassen 
an  der  Stätte  aus  einer  bestimmten  Schicht  an 
Zerealien  ^|^  1  Weizen,  i  1  Mohn,  '/^  1  Bohnen  und 
kleinere  Mengen  von  anderen  Fruchtsorten. 

Um  zunächst  über  das  Alter  des  Fundes  zu 
sprechen,  so  ist  die  von  Kumpel  gegebene  Da- 
tierung in  die  Bronzezeit  wohl  anzuzweifeln.  Der 
Fund  gehört  wahrscheinlich  der  Latenezeit  an; 
später  als  diese  ist  er  auf  keinen  Fall  anzusetzen. 
Nach  derBestimmungvonB  raungart  in  München 
sind  in  dem  Funde  folgende  Fruchtsorten  vertreten: 

1.  Triticum  monococcum  L,  Einkorn.  Aus 
neolithischer  Zeit  bereits  aus  Bpsnien,  Ungarn,  den 
Schweizer  Pfahlbauten,  der  württembergischen  neoli- 
thischen  Station  von  Schussenried  und  aus  Däne- 
mark bekannt,  während  in  Mittel-  und  in  Nord- 
deutschland Funde  dieser  Art  aus  vorgeschicht- 
licher Zeit  bisher  überhaupt  fehlten. 

2.  Triticum  spelta  L.,  Spelt  im  engeren  Sinne, 
auch  Dinkel  genannt,  wie  er  noch  heute  in  der 
Umgebung  des  kleinen  Gleichberges  gebaut  wird. 
Spelt  war  bisher  nur  ein  einziges  Mal  aus  ganz 
Mittel-  und  Nordeuropa  aus  vorgeschichtlicher  Zeit 
überhaupt  durch  einen  Fund  aus  dem  bronzezeit- 
lichen Pfahlbau  der  Petersinsel  im  Bieler  See  be- 
kannt. Im  Hinblick  auf  die  von  Buschan  und 
Gradmann")  über  die  Herkunft  der  Kultur  des 


')  Vgl.  besonders  Wagner,  Die  Tempel  und  Pyramiden 
der  Urbewohner  auf  dem  rechten  Eibufer  (1828)  und  derselbe, 
Ägypten  in  Deutschland  (1833). 

^)  Hoops    a.  a.   Ci.  S.  402. 

»)  A.  a.  O.  S.  7. 

*)  A.  a.  O.  S.   7  u.  250. 


')  C.  Kumpel,  Ein  Zerealienfund  vom  kleinen  Gleich- 
berge bei  Römhild.  Mit  einer  Tafel.  Ohne  Ort  und  Jahr. 
8  Seiten. 

-)  Jacob,  Die  Gleichberge  bei  Römhild.  Vorgeschicht- 
liche Altertümer  der  Provinz  Sachsen.  Heft  5 — 8.  Halle  a.  S. 
18S7.  —  Verhandlungen  der  Berliner  anthropologischen  Ge- 
sellschaft 1900,  S.  416  (Götze).  Neue  Beiträge  zur  Geschichte 
deutschen  Altertums.  Lieferung  16.  Meiningen  1902  (Götze). 
Bau-  und  Kunstdenkmäler  Thüringens.  Heft  31,  1904,  S.  466 
(Götze). 

')  Buschan  a.  a.  O.  S.  24.  —  Grad  mann,  Der 
Dinkel  und  die  Alemannen  1902.  —  Hoops  a.  a.  O.  S.  411  ff. 
—  Gradmann,  Getreidebau  im  deutschen  und  römischen 
Altertum  (Jena  1909I.  —  Aug.  Schulz,  Geschichte  des  Ge- 
treidebaues.     Band   1.  (1913). 


296 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  19 


Speltes  aufgestellten  Hypothesen  ist  der  hier  ge- 
gebene Nachweis  von  vorgeschichtlichem  Spelt 
um  so  wichtiger. 

3.  Triticum  vulgare  compactum  nuticum,  Binkel- 
oder  Igelweizen.  Es  handelt  sich  um  eine  beson- 
dere Art  des  Weizens,  die  aus  Bosnien  und  der 
Schweiz  bekannt  ist.  Eine  Varietät  von  ihr,  die 
in  den  Fundberichten  meist  nicht  geschieden  ist, 
ist  Triticum  vulgare  globiforme  Buschan,  das 
sich  für  die  Steinzeit  in  Bosnien  (?),  Ungarn,  Ober- 
italien, in  den  Schweizer  Pfahlbauten,  Württem- 
berg nachweisen  läßt.  Erst  während  der  Bronze- 
zeit haben  diese  beiden  Weizensorten  ihr  Gebiet 
bis  nach  Dänemark  hin  ausgebreitet.  Aus  der 
Latenezeit  waren  beide  Sorten  in  Deutschland 
noch  in  keinem  Funde  vorhanden. 

4.  Triticum  vulgare  antiquorum  O.  Heer, 
kleiner  Pfahlbauweizen.  Braun  garten  hat  bei 
seiner  Bestimmung  diese  Weizensorte  ausdrücklich 
von  Triticum  compactum  Host,  getrennt;  ich  weiß 
aber  nicht,  inwieweit  sich  beide  decken,  und 
möchte  eine  eingehende  Untersuchung  einem  bota- 
nischen Fachmann  überlassen. 

5.  Hordeum  hexastichum  sanctum,  kleine  Pfahl- 
baugerste. Das  steinzeitliche  \'orkommen  dieser 
Sorte  haben  wir  bereits  oben  erwähnt,  wir  tragen 
hier  nur  noch  nach,  daß  aus  der  Bronzezeit  nur 
in  drei  Funden  diese  Sorte  belegt  ist,  während  in 
den  späteren  vorgeschichtlichen  Zeiten  diese  Sorte 
in  keinem  Funde  vorkommt. 

6.  Vicia  Faba  L.  var.  celtica  nana  Heer,  kleine 
keltische  Zwergbohne,  nur  eine  Varietät,  vielleicht 
die  Stammform  der  heutigen  großen  kultivierten 
Formen.  In  welchen  Gebieten  sich  diese  Varietät 
für  vorgeschichtliche  Zeiten  nachweisen  läßt,  ver- 
mag ich  leider  nicht  anzugeben. 

7.  Pisum  sativum  L.,  Erbse.     Vgl.  oben. 

8.  Papaver  somniferum  var.  antiquorum, 
Gartenmohn.  Die  Körner  sind  ungewöhnlich  groß. 
Diese  Auffindung  von  Gartenmohn  ist  sehr  wichtig, 
denn  Gartenmohn  war  bisher  prähistorisch  noch 
nicht  bezeugt ').  Eine  Abart,  Papaver  setigarum 
D.  C,  ist  in  den  Pfahlbauten  in  großen  Mengen 
gefunden  worden.  In  Robenhausen  ist  u.  a.  ein 
ganzer  Kuchen  von  verkohltem  Mohnsamen  ge- 
funden worden,  woraus  man  erschließen  kann,  daß 
der  Samen  in  F"orm  von  Mohnkuchen  genossen 
wurde.  Außerdem  wird  Mohn  zur  Ölgewinnung 
benutzt  sein;  die  berauschenden  Fähigkeiten  des 
IVIohnsamens  als  auch  des  daraus  gewonnenen 
Öls  werden  gleichfalls  die  Leute  zu  seinem  Bau 
und  seiner  Pflege  angeregt  haben. 

9.  Ein  Fruchtkorn,  das  unbestimmbar  geblieben 
ist;  wahrscheinlich  handelt  es  sich  um  einen 
Apfelkern. 

7.  „Diebeshöhle"  bei  U  f  t  r  u  n  g  e  n , 

Kr.  S  a  n  g e r  h  a u  s e  n. 
In  der  „Diebeshöhle"  zwischen  Uftrungen  und 
Breitungen  hat  der  Klempnermeister  GüntherRoßla 
a.  H.  außer   einem  Grabe    der  ältesten  Bronzezeit 


')  Hoops  a.  a.  O.  S.  334. 


(Aunjetitzer  Kultur)  auch  eine  Herdstelle  mit 
Scherben  der  sog.  Lausitzer  Keramik  (Periode 
IV — V)  entdeckt.  In  dieser  Herdstelle  hat  er  u.  a. 
einen  Scherben  gefunden,  auf  dem  zahlreiche  ver- 
kohlte Getreidekörner  lagen.  Diese  Funde  bilden 
heute  den  wissenschaftlich  wertvollsten  Teil  der 
Günther'schen  Antiquitätensammlung,  und  sie 
werden  demnächst  an  anderer  Stelle  von  mir  aus- 
führlich veröffentlicht  werden ;  hier  soll  nur  über 
die  Getreidereste  berichtet  werden.  Herr  Prof  Dr. 
August  Schulz  in  Halle  war  so  freundlich, 
die  Untersuchung  der  Getreidereste  zu  übernehmen 
und  schreibt  mir  darüber  wie  folgt :  ,,Es  handelt 
sich  um  Saatgersten-  und  Weizenreste,  doch  läßt 
sich,  da  ganze  Ähren  oder  größere  Ährenbruch- 
stücke fehlen,  nicht  mit  Bestimmtheit  sagen,  zu 
welchen  P^ormengruppen  dieser  beiden  Getreide 
die  Reste  gehören.  Da  bei  den  wenigen  Saat- 
gerstenfrüchten, an  denen  noch  die  Basis  der  Deck- 
spelze haftet,  diese  vorn  eine  tiefe  Kerbe  (Nute) 
trägt,  und  bei  einem  Teile  der  P^rüchte  nach  der 
Außenkante  hin  konvex  gebogen  ist,  und  da  die 
obere  Partie  der  Deckspelze  dieser  letzteren  Früchte 
da,  wo  sie  vorhanden  ist,  entsprechend  schief  ist, 
so  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  daß  Hordeum  poly- 
stichum  pyramidatum  Körnicke  vorliegt.  Ein  Teil 
der  Weizenfrüchte  gleicht  so  vollständig  rezentei\ 
Früchten  von  Triticum  vulgare  Vill.  Körnicke, 
wenn  sie  auch  kleiner  als  die  der  meisten  Formen 
dieser  Formengruppe  sind,  daß  ich  es  für  sehr 
wahrscheinlich  halte,  daß  sie  in  der  Tat  zu  dieser 
Formengruppe  gehören.  Und  ich  würde  auch 
keine  Bedenken  getragen  haben,  auch  die  übrigen 
Früchte  zu  Triticum  vulgare  zu  rechnen,  wenn  ich 
nicht  zwischen  den  Früchten  vier  Ährenachsen- 
glieder  mit  anhaftenden  Hüllspelzenresten  gefunden 
hätte,  die  nur  von  Spelzweizen,  wohl  Triticum 
dicoccum  Schrank,  zu  stammen  scheinen.  Ich  habe 
aber  vergeblich  versucht,  die  vorhandenen  Früchte 
auf  Triticum  vulgare  und  Spelzweizen,  etwa  Triti- 
cum dicoccum,  zu  verteilen,  ja  ich  habe  keine 
PVucht  gefunden,  die  ich  mit  Bestimmtheit  zu 
Triticum  dicoccum  oder  zu  einem  anderen  Spelz- 
weizen rechnen  möchte.  Ich  bezweifle  es,  daß 
man  Früchte  von  Triticum  vulgare  und  Triticum 
dicoccum  in  verkohltem  Zustande  und  ohne  Spelzen 
und  größere  Achsenreste  sicher  voneinander  unter- 
scheiden kann."  Zu  Hordeum  ist  zu  bemerken, 
daß  gerade  die  Varietät ,, pyramidatum",  wie  Hoops 
einmal  treffend  sagt,  ,,im  ganzen  Altertum  an- 
scheinend die  gewöhnlichste  Kulturart"  war;  immer- 
hin läßt  sie  sich  durch  vorgeschichtliche  Funde 
nicht  allzuoft  belegen.  Über  Triticum  vulgare 
haben  wir  bereits  oben  gesprochen.  Triticum  di- 
coccum Schrank  ist  in  den  neolithischen  Pfahl- 
bauten der  Alpenländer  vollkommen  sicher  fest- 
gestellt, ebenso  in  der  steinzeitlichen  Siedlung  auf 
dem  Michelsberge  bei  Untergrombach,  bei  Heidel- 
berg und  in  Böhmen,  sowie  auch  in  Dänemark 
und  Schweden.  Aus  Nord-  und  Mitteldeutschland 
war  kein  Fund  bekannt.  Aus  der  Bronzezeit  ist 
aus  ganz  Mittel-  und  Nordeuropa  nur  ein  einziger 


N.  F.  XIII.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Fund  aus  dem  Pfahlbau  von  Auvernier  bekannt. 
Daraus  wurde  geschlossen,  daß  Triticum  dicoccum 
sich  bereits  seit  der  Steinzeit  südwärts  zurückge- 
zogen habe;  das  trifft  jedoch  nicht  zu,  da  es  durch 
unseren  Fund  jetzt  für  die  Bronzezeit  noch  aus 
Mitteldeutschland  nachgewiesen  wird.  Wann  es 
seinen  Rückzug  nach  der  Schweiz  und  Südwest- 
deutschland  angetreten  hat,  wo  es  heute  lediglich 
gebaut  wird,  darüber  vermögen  wir  eben  heute 
noch  kein  Urteil  abzugeben,  hoffen  aber  auf  Grund 
weiterer  Funde  in  Zukunft  auch  über  diesen  Zeit- 
punkt einmal  etwas  ermitteln  zu  können. 
8.  Kloster  Berge  bei  Magdeburg. 
Im  Magdeburger  Museum  für  Natur-  und 
Heimatkunde  fand  ich  eine  Probe  von  verkohltem 
Getreide  zusammen  mit  einer  Scherbe  ausgestellt, 
die  bei  Kloster  Berge  bei  Magdeburg  gefun- 
den waren.  Die  Scherbe  möchte  ich  für  neo- 
lithisch  halten,  sie  kann  aber  auch  bronzezeit- 
lich sein.  Herr  Prof.  Dr.  C.Schröter  in  Zürich 
war  so  liebenswürdig,  auf  meine  Bitte  eine  Unter- 
suchung des  Getreidefundes  zu  übernehmen,  wofür 
ich  ihm  auch  an  dieser  Stelle  meinen  besten  Dank 
aussprechen  möchte;  danken  möchte  ich  auch 
Herrn  Prof  Dr.  Mertens,  der  so  freundlich  war, 
einen  Teil  des  Getreidefundes  zur  Untersuchung 
an  Herrn  Prof  Dr.  Schröter  zu  übersenden. 
Über  die  Untersuchung  des  Getreides  berichtet 
Schröter  wie  folgt:  „Ich  habe  die  von  Ihnen 
eingesandte  Probe  prähistorischen  Getreides  unter- 
sucht. Ich  halte  es  aus  folgenden  Gründen  für 
Triticum  dicoccum  L.  (Emmer):  a)  Die  Art  der 
Verkohlung  (matte  Oberfläche,  wenig  aufgetriebene 
Seitenfläche  der  Körner)  stimmt  mit  den  prähisto- 
rischen Proben  von  Triticum  dicoccum  (aus  der 
neolithischen  Station  von  Czernoseck  bei  Lobositz, 
Böhmen)  völlig  überein.  b)  Die  für  das  Emmer- 
korn  charakteristische  Abflachung  der  Furchenseite 
des  Kornes  (von  dem  gegenseitigen  Druck  der 
beiden  Körner  herrührend)  ist  bei  den  meisten 
Körnern  gut  ausgebildet,  oft  so  stark,  daß  die 
abgeflachte  Bruchseite  mit  einer  scharfen  Kante 
gegen    die    Seitenfläche    abgeht,      c)    Auch    eine 


Rückenkante  ist  vorhanden,  die  bei  Triticum  vul- 
gare doch  fehlt,  d)  Das  Korn  ist  meistens  seit- 
lich zusammengedrückt.  Die  Dimensionen  sind 
etwas  kleiner  als  beim  Emmer  von  Lobositz  (die 
Körner  sind  im  Mittel  aus  35  Messungen  5  mm 
lang).  Es  fehlen  auch  in  dem  wenigen  Material, 
das  mir  vorliegt,  die  so  charakteristischen  „Klapper- 
gabeln" des  Emmer  (richtiger  Hülsenspelzgabeln 
nach  neuerer  Terminologie);  vielleicht  finden  sie 
sich  bei  näherem  Nachsuchen  noch.  Insbesondere 
wäre  die  Hülsenspelzgabel  des  Gipfelährchens,  die 
ich  unter  dem  Material  von  Klein-Czernoseck  nach- 
weisen konnte,  von  besonderem  diagnostischem 
Wert."  Herr  Prof  Dr.  Mertens  bemerkt  hierzu 
noch,  daß  .sich  die  Spelzengabeln  in  dem  übrigen 
Material  des  Magdeburger  Museums  auch  nicht 
gefunden  haben. 

* 
Es  ist  ganz  interessant,  zu  sehen,  wie  aus 
einem  doch  verhältnismäßig  kleinen  Gebiete  wie 
den  thüringisch -sächsischen  Ländern  eine  ganz 
beträchtliche  Anzahl  von  Zerealienfunden  vorliegt. 
Buschan  gab  in  seinem  „Verzeichnis  der  Fund- 
orte mit  vorgeschichtlichen  Kulturpflanzen"  *)  nur 
37  Funde  aus  Deutschland  an;  unter  ihnen  be- 
fanden sich  fünf  Funde  aus  unserem  Gebiet.  Bei 
unserer  jetzigen  Zusammenstellung  konnten  wir 
allein  aus  unserem  speziellen  Arbeitsgebiet  acht 
Funde  nachweisen.  Das  ist  doch  ein  erfreuliches 
Zeichen  dafür,  daß  sich  im  Laufe  der  Jahre  die 
Getreidefunde  beträchtlich  vermehrt  haben !  Eine 
derartige  Vermehrung  des  Materials  wird  aber 
nicht  nur  in  dem  hier  behandelten  Gebiete  statt- 
gefunden haben,  sondern  in  allen  Provinzen  unseres 
Vaterlandes,  in  denen  die  vorgeschichtliche  For- 
schung tätig  ist.  Neuere  Publikationen  von  Ge- 
treidefunden sind  jedoch  unseres  Wissens  nicht 
erschienen.  Hoffentlich  en  tschli  eß  en  sich 
die  betreffenden  Forscher  zur  baldigen 
Bekanntgabe  ihres  Materials  zu  Nutz 
und  Frommen  der  Wissenschaft! 


')  Busch  an  a.  a.   O.  S.  249. 


Einzelberichte. 


Mineralogie.  Über  ein  neues  Mineral  be- 
richtet M.  H  e  n  g  1  e  i  n  -  Karlsruhe  in  Heft  5  des 
Jahrganges  191 4  des  Centralbl.  f  Mineral.,  Geol. 
und  Paläontol.,  S.  129,  in  einer  Arbeit,  betitelt: 
„Über  Kobaltnickelpyrit  von  Musen  im 
Siegenschen,ein  neues  Mineral  der  Kies - 
gruppe".  Die  chemische  Formel  ist  (Co,  Ni,  Fe) 
S.,,  analog  dem  Pyrit.  Von  einem  kobalt-  und 
nickelhaltigem  Pyrit  unterscheidet  sich  das  neue 
Mineral  durch  seine  stahlgraue  Farbe,  seine  gute 
Spaltbarkeit  und  darin,  daß  der  Gehalt  an  Nickel 
und  Kobalt  demjenigen  an  Eisen  gleichkommt. 
Der  Kobaltnickelpyrit  ist  regulär,  pentagonal-hemie- 
drisch.     Die  vorhandenen  Kristalle  waren  flächen- 


arm; es  konnten  nur  das  Pentagondodekaeder 
(023),  seltener  die  Würfelfläche  und  noch  seltener 
die  Oktaederfläche  beobachtet  werden.  Die  Dimen- 
sionen der  ziemlich  ideal  ausgebildeten  Kristalle 
sind  verschieden.  Während  die  kleinsten  etwa 
0,5  mm  nach  3  Richtungen  aufweisen,  erreichen 
die  größten  Kristalle  nur  selten  3  mm.  Die  Kriställ- 
chen  sind  meist  regellos  aggregiert  und  durch- 
dringen sich  oft  unregelmäßig,  manchmal  sitzen 
mehrere  übereinander  und  bilden  gestrickte  Aggre- 
gate. 

Der  Kobaltnickelpyrit  ist  undurchsichtig,  hat 
starken  Metallglanz  und  stahlgraue  Farbe.  Die 
Kristalle  sind  oft  angelaufen.    Der  Strich  ist  grau- 


298 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  19 


schwarz;  die  Härte  5 — 5V2;  das  spezifische  Ge- 
wicht bei  19 — 20"  C  4-716^0.028.  Der  Bruch 
ist  muschehg;  die  Spaltbarkeit  nach  dem  Würfel 
ziemlich   deutlich. 

Nach  einer  der  verschiedenen  in  der  Original- 
arbeit angeführten  Analysen  ist  die  chemische 
Zusammensetzung  folgende: 

Co  =  10.6 

Ni  —  11.7 

Fe  =  22.8 

S    =53-9 
Unlösl.  Rückst.  =    0.7 

99-7 

Das  Mineral  ist  löslich  in  HNOg,  wobei  der 
Schwefel  oxydiert  wird.  Im  geschlossenen  Röhr- 
chen erhitzt,  gibt  es  sehr  leicht  ein  Sublimat  von 
Schwefel  ab,  was  anzeigt,  daß  eine  Verbindung 
auf  hoher  Schwefelungsstufe,  etwa  von  der  Zu- 
sammensetzung RS,  vorliegt.  In  der  Boraxperle 
erhält  man  die  Kobaltfärbung,  die  alle  anderen 
Farben  überdeckt. 

Der  beschriebene  Kobaltnickelpyrit  stammt 
aus  der  Grube  Viktoria  bei  Musen.  Das  Vor- 
kommen brach  mutmaßlich  vor  etwa  10  Jahren 
ein  und  ist  ein  sehr  seltenes.  Soviel  aus  der 
Stufe  zu  ersehen  war,  sitzen  auf  dem  Eisenspat 
und  wenig  Quarz  als  Gangart  darüber  Pyrit  und 
auf  diesem  als  jüngste  Bildung  Kobaltnickelpyrit 
und  Kupferkies,  seltener  auch  tafeliger  Schwerspat. 

F.  H. 

Chemie.  Verbindungen  des  einwertigen 
Nickels  sind  bisher  kaum  bekannt,  denn  die  in 
der  Literatur  vorhandenen  Angaben  über  das 
Nickelsuboxyd  NioO,  das  Nickelsubsulfid  NL^S  und 
das  Nickelsubsulfat  Ni.jSO^  können  nicht  als  wirk- 
licher Nachweis  für  die  Existenz  der  genannten 
Verbindungen  angesehen  werden.  Um  so  be- 
achtenswerter ist  daher  eine  soeben  von  J.  Bellucci 
und  R.  Corelli  veröffentlichte  Untersuchung 
(Zeitschr.  f.  anorgan.  Chem.  Bd.  86,  S.  88  bis  104, 
1914),  in  der  der  Beweis  für  die  Existenz  des 
vom  einwertigen  Nickel  ableitenden  Komplex- 
salzes Ni(CN).5K,j  in  einwandfreier  Weise  geführt 
wird,  eine  Arbeit,  die  nicht  nur  von  Wichtigkeit 
ist,  weil  in  ihr  eine  neue  Wertigkeitsstufe  des 
Nickels  beschrieben  wird,  sondern  auch  deswegen, 
weil  durch  die  Entdeckung  des  einwertigen  Nickels 
die  Analogie  zwischen  diesem  Metall  und  dem 
Kupfer,  bei  dem  ja  die  einwertige  Form  charak- 
teristisch ausgebildet  ist,  erheblich  schärfer,  als  es 
bisher  möglich  war,  präzisiert  wird. 

Schon  im  Jahre  1879  hatte  Papasogli  be- 
obachtet, daß  sich  in  der  Umgebung  eines  in  eine 
Lösung  von  Nickelkaliumcyanid  K2Ni(CN)4  ge- 
tauchten Zinkblechs  dichte  Wolken  einer  intensiv 
roten  Flüssigkeit  bilden ,  eine  Reaktion ,  die  von 
dem  genannten  Autor  auch  als  ein  sehr  charak- 
teristischer und  gleichzeitig  sehr  empfindlicher 
analytischer  Nachweis  für  Nickel  empfohlen  wurde. 
Eine  Reihe  von  Jahren  später  wurde  die  Reaktion 
von  T.  Moore  untersucht,  aber  die  von  ihm  er- 


haltenen Ergebnisse  konnten  von  Reitzenstein 
nicht  bestätigt  werden  und  sind  auch,  wie  die 
Versuche  von  Bellucci  und  Corelli  beweisen, 
fehlerhaft. 

Bellucci  und  Corelli  reduzierten  eine  reine 
wässrige  Lösung  von  Nickelkaliumcyanür  Ni^CNj^Kj 
unter  Luftabschluß  mit  etwa  30proz.  Natrium- 
amalgam, ein  Vorgang,  bei  dem  weder  merkliche 
Mengen  von  Nickelamalgam  entstehen,  noch  auch 
Quecksilber  in  Lösung  geht,  sondern  nur  das 
komplexe  Nickelsalz  zu  Ni(CN)3K„  reduziert  wird. 

Ni(CN),K.3  +  [Hg,  Na]  -  Ni(CN)3K  +  NaCN  +  Hg. 

Die  hierbei  entstehende  rote  Lösung  ist  gegen 
Oxydationsmittel  äußerst  empfindlich,  ja  sie  oxy- 
diert sich  sogar  ähnlich  wie  das  Kobalticyan- 
kalium,  das  beim  Kochen  der  wässrigen  Lösung 
nach  der  Gleichung 

2Co(CN)ßK,  +  2H0O = 2Co(CN)eK3  +  2KOH  +  H, 
unter  Wasserstoffentwicklung  in  Kobalticyankalium 
übergeht,  spontan  ebenfalls  unter  Wasserstofif- 
entwicklung  zu  dem  komplexen  Salz  Ni(CN)jK2. 
Die  Reaktion  verläuft  quantitativ:  ein  Atom 
Nickel  liefert  ein  Atom  VVasserstoff.  Ebenso  er- 
gab sich  durch  die  jodometrische  Analyse,  daß 
ein  Atom  Nickel  in  der  roten  Lösung  zur  Oxyda- 
tion zu  zweiwertigem  Nickel  ein  Atom  Jod  ver- 
braucht, und  bei  der  Titration  mit  Wasserstoff- 
superoxyd erforderte  die  Oxydation  von  zwei 
Atomen  Nickel  ein  Molekül  Wasserstoffsuperoxyd: 
Das  Nickel  ist  also  in  der  rotenLösung 
zweifellos  einwertig. 

Die  Gewinnung  des  roten  Nickelcyankaliums 
in  fester  Form  ist  möglich,  wenn  man  zu  der 
roten  Lösung  einen  Überschuß  von  Alkohol  gibt. 
Man  erhält  eine  rote  Masse,  in  der  sich  nach  der 
Analyse  Ni  :  CN  :  K  verhalten  wie  1:3:2,  die 
Verbindung  entspricht  also  dem  bekannten 
Kupferkaliumcyanür  Cu(CN)3K2.  Da  das  Nickel- 
kaliumcyanür Ni(CN)3K2  äußerst  empfindlich  gegen 
Sauerstoff  ist,  läßt  es  sich  nicht  trocknen.  Ver- 
setzt man  die  wässrige  Lösung  des  .Salzes  mit 
verdünnter  Säure,  so  scheidet  sich  das  gegen 
Oxydationsmittel  ebenfalls  außerordentlich  unbe- 
ständige Nickelcyanür  Ni(CN)  ab. 

„Der  so  anschauliche  Farbübergang,  von  dem 
die  Reduktion  des  KaliumNickelcyanids  in  einer 
4 — 5  proz.  Lösung  begleitet  ist,  läßt  sich  als 
Schulversuch  zur  Demonstration  der  Bildung  des 
einwertigen  Nickels  verwerten.  Tatsächlich  voll- 
zieht sich  die  Reduktion  bei  gewöhnlicher  Tem- 
peratur schnell,  wenn  man  zur  geschüttelten  Lö- 
sung des  Cyanids  kleine  Stücke  Natriumamalgam 
zufügt.  Die  Farbe  der  Lösung  geht  dann  von 
gelblich  in  Intensivrot  über,  und  die  rote  Farbe 
ändert  sich  wieder  in  die  gelbliche,  wenn  man 
bei  Gegenwart  von  Luft  schüttelt  oder  einige 
Tropfen  Wasserstoffsuperoxyd  zugibt.  Außerdem 
kann  man  zeigen,  daß  bei  Zufügung  von  ver- 
dünnten Säuren ')  aus  der  gelben  Lösung  des  ge- 


')  Vorsicht  1     Blausäureentwicklung  I     (Ref.). 


N.  F.  XIII.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


299 


wohnlichen  Kalium-Nickelcyanids  NiCyjKg  das 
grünliche  Nickelcyanid  NiCyj  gefällt  wird,  während 
aus  der  roten  reduzierten  Lösung  das  orangerote 
NiCy  ausfällt,  dessen  hohe  Oxydationsfähigkeit 
sich  durch  Zufügung  von  Wasserstoffperoxyd  er- 
gibt." Mg. 

Daß  durch  eingehendere  Untersuchungen 
auch  bei  altbekannten  und  regelmäßig  und 
unbedenklich  benutzten  Methoden  der  analyti- 
schen Chemie  erhebliche  Fehlerquellen  aufge- 
funden werden  können,  beweist  eine  vor  kurzem 
von  C.  Rothaug  veröffentlichte  Studie  über  die 
Bestimmung  des  Chroms  als  Chromoxyd  (Zeitschr. 

fT  anorg.  Chem.  Bd.  84,  S.  165  bis  189,  1913). 
Rothaug  stellte  nämlich  mit  voller  Sicherheit 
fest,  daß  beim  Glühen  von  Chromoxyd  unter 
Luftzutritt  stets  eine  partielle  Oxydation  zu 
Chromichromat  Cr2(Cr04)3  nach  der  Gleichung 

5Cr.,03  +  90  ^  2Cr.,(CrOj3 
erfolgt.  Diese  Oxydation  ist  bei  niedrigen  Tem- 
peraturen kaum  merklich,  erreicht  zwischen  200 
und  400"  C  ein  sehr  stark  ausgesprochenes  Maxi- 
mum ,  dessen  Spitze  bei  etwa  300"  C  liegt,  und 
nimmt  oberhalb  400 "  langsam  wieder  ab.  Man 
wird  also  bei  der  üblichen  Art  des  Arbeitens  je 
nach  der  Art  des  Glühens  und  vor  allen  Dingen 
je  nach  der  Leichtigkeit,  mit  der  der  Sauerstoff 
der  Luft  zu  dem  erhitzten  Chromoxyd  treten  kann, 
bei  gleicher  Chrommenge  verschiedene  Auswege 
erhalten,  die  alle  mehr  oder  minder  weit  über 
den  wirklichen  Wert  liegen;  bei  gutem  Luftab- 
schluß und  sehr  hohem  Erhitzen  wird  man  auch 
wohl  bisweilen  annähernd  richtige  Resultate  er- 
zielen können.  Die  einfachste  Art,  die  von  Roth- 
aug erkannte  Fehlerquelle  zu  vermeiden,  liegt  in 
der  Fernhaltung  des  Luftsauerstoffs,  und  darum 
glüht  Rothaug  das  Chromoxyd  zuletzt  in  be- 
bannter  Weise  unter  Benutzung  eines  Rosetiegels 
im  Wasserstoffstrom.  Die  so  erhaltenen  Resultate 
sind  ausgezeichnet.  Mg. 

Zoologie.  Über  Perlen  und  Perlbildung  hat 
Fr.  Alverdes  neue  Untersuchungen  angestellt, 
die  zu  folgenden  Ergebnissen  führten. ')  Er  hat 
durchaus  nicht  in  allen  Perlen  einen  zentralen  Kern 
gefunden,  der  den  Anreiz  zur  Perlbildung  gegeben 
haben  kann;  die  vorgefundenen  sind  teils  körper- 
fremde, teils  körpereigene  Bildungen.  Rubbel 
hatte,  wie  in  einem  früheren  Artikel  berichtet, 
gelbe  Körnchen  im  Bindegewebe  als  Ursache  der 
Perlbildung  angesehen.  Sie  sind  aber  nach  Alver- 
des durch  ihre  Farbenreaktion  von  den  zuweilen 
im  Perlinnern  vorkommenden  Körnchen  verschieden. 
Der  die  Perle  erzeugende  Perlsack  ist  ein  Gebilde 
des  Ektoderms,  was  auch  das  Vorkommen  von 
Becherzellen  beweist.  Bei  zahlreichen,  besonders 
kleinen  Perlen  war  ein  Perlsack  allerdings  häufig 
nicht   zu   finden;   er   mag    hier    abgestorben    sein. 


weshalb  die  Perlen  nicht  weiter  wuchsen.  Die 
Entstehungsart  der  schon  in  frühen  Stadien  an- 
gelegten Perlsäcke  ist  noch  zweifelhaft.  Experi- 
mentell konnte  AI verdes  zeigen,  daß  ins  Binde- 
gewebe eingeführte  Epithelfetzen  dort  einheilen  und 
perlensackartige  Cysten  bilden,  in  denen  konzen- 
trische Perlmutterschichten  abgeschieden  werden. 
In  der  Natur  können  wahrscheinlich  Epithelzellen 
durch  Einwanderung  von  Parasiten  ins  Parenchym 
gelangen  und  einen  Perlsack  bilden. 

Ferd.  Müller. 

Farbe  und  Zeichnung  der  Kuckuckseier 
ähneln  den  Eiern  der  Vogelarten  oft  auffallend, 
in  deren  Nestern  sie  abgelegt  werden.  E.  Stuart 
Baker  hat  die  Ursachen  dieser  Erscheinung  bei 
unserem  Kuckuck  (Q/ciiliis  cniionis)  und  dem  in 
Indien  heimischen  Khasia-Kuckuck  (Ciicidtts  caiio- 
rus  büken')  zu  ergründen  versucht  ^).  Er  kommt 
zu  dem  Schluß,  daß  die  Eier  unseres  Kuckucks 
sich  langsam  denjenigen  der  Pflegeeltern  angepaßt 
haben  und  zwar  durch  „Auslese  des  Untauglichen" 
von  selten  des  brütenden  Pflegers,  nicht  von  selten 
des  eierlegenden  Kuckucksweibchen.  Die  den 
Eiern  der  Pflegeeltern  unähnlichen  Kuckuckseier 
werden  in  viel  größerer  Menge  zurückgewiesen 
als  die  ähnlichen.  Daher  muß  jener  Stamm  von 
Kuckucken  allmählich  aussterben,  der  unangepaßte 
Eier  legt.  Hierbei  ist  die  Hauptbedingung,  daß 
die  Pflegeeltern  die  fremden  Eier  auch  als  solche 
zu  erkennen  imstande  sind.  Auf  Grund  langjähriger 
Beobachtungen  glaubt  Baker,  daß  Abweichungen 
von  der  Größe  von  den  Pflegeeltern  meistens  nicht 
bemerkt  werden,  wohl  aber  solche  in  der  Färbung. 
Diese  Auslese  nach  dem  Grundsatz  der  Ähnlich- 
keit der  Eier  ist  bei  einigen  indischen  Gattungen 
(Coccysfes,  Cacoinaiifis)  bereits  soweit  gediehen, 
daß  der  Kuckuck  nur  noch  völlig  angepaßte  Eier 
legt.  F.  Müller. 

Schellente  in  künstlicher  Nisthöhle.  Im  Herbst 
191 1  hat  W.Rüdiger  9  passende  Nistkasten 
angefertigt  und  am  Uferrande  des  Großen  Segelin- 
Sees  in  der  Königl.  Oberförsterei  Hochzeit  (Neu- 
mark) aufgehängt.  Laut  veröffentlichtem  Bericht^) 
wurden  im  Jahre  191 2  die  Kasten  nicht  ange- 
nommen. Im  Jahre  191 3  wurden  aber  die  Kasten 
bezogen  und  zwar  nistete  in  7  die  Schellente, 
I  enthielt  ein  Eichhornnest  und  nur  einer  blieb 
unbesetzt. 

Es  ist  dies  das  erstemal,  daß  für  die  Schell- 
ente (Nyroca  clangula  L.)  in  Deutschland  Nist- 
kasten aufgehängt  wurden.  Der  sofort  eingetretene 
schöne  Erfolg   wird    zur   Nachahmung  ermuntern. 

Alb.  Heß,  Bern. 

Physiologie.  Der  Farbensinn  ist  beim  Menschen 
und  bei  den  Tieren  —  vor  allem  bei  den  Wasser- 
tieren —    gänzlich    verschieden.     Zu   dieser   Ver- 


')  Fr.  AI  verd  es,  Über  Perlen  und  Perlbildung.  Zeitschr. 
f.  wissensch.  Zoologie,  Bd.  105,  1913,  p.  598—633.  —  Vgl. 
auch  Nalurwissensch.  Wochenschrift,  Bd.  XI.   1912. 


')  E.  C.  S.  Baker,  The  evolution  of  adaptation  in  para- 
sits    cuckoo's    egg.     In:    The  Ibis.    ser.    10.  vol.  I.   1913-  pag. 

384-398. 

2}  Blätter  für  Naturschutz,  Nr.   i,   19 14. 


300 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   19 


schiedenheit  in  physiologischer  Hinsicht  kommen 
noch  physikalische  Umstände,  denen  bei  der  Be- 
antwortung biologischer  Fragen  Rechnung  zu  tragen 
ist.  Die  lebhaften  Farben,  welche  bei  den  Männ- 
chen mancher  Fische  zur  Laichzeit  erscheinen  und 
das  sog.  „Hochzeitskleid"  darstellen,  sind  nach  den 
Untersuchungen  von  C.  H  e  ß  in  München  (Neue 
Untersuchungen  zur  vergleichenden  Physiologie 
des  Gesichtssinnes,  Zool.  Jahrb.,  33.  Bd.,  3.  H., 
191 3)  auch  für  das  farbentüchtige  Menschenauge 
schon  bei  einer  geringen  Tiefe  im  Wasser  nicht 
mehr  als  Farbe  sichtbar.  Durch  einen  eigenen 
Apparat  beobachtete  H.,  bis  zu  welcher  Tiefe  das  rote 
Licht  in  Wasser  eindringt.  Schon  ca.  3  m  unter 
der  Oberfläche  —  im  Schliersee,  an  einem  sonnigen 
Dezembertag  zwischen  11  — 12  Uhr  vormittags 
—  erschien  eine  rote  Fläche  unter  einem  Winkel 
von  etwa  45"  nach  unten  reflektiert  im  Spiegel 
als  ein  schmutziges  Braungrau,  das  sich  kaum 
merklich  vom  Boden  abhob.  Wurde  die  Fläche 
voll  von  den  Sonnenstrahlen  getrofi'en,  die  von 
dem  schräg  abfallenden  Seeboden  zurückgeworfen 
wurden,  erschien  sie  heller  und  mehr  gelbgrau, 
sonst  bräunlichgrau.  Im  günstigsten  Falle  war 
ein  rötliches  Graugelb  wahrzunehmen.  Der  Saib- 
ling des  Königssees  laicht  in  60  m  Tiefe.  Hier 
können  rote  und  gelbe  Färbung  schon  in  8 — 10  m 
Tiefe  nicht  mehr  als  Farbe  wahrgenommen  werden. 
Es  fehlt  also  jede  Berechtigung,  sie  als  „Schmuck- 
farbe" zu  deuten. 

Die  Angaben  von  v.  h'risch  über  die  Farben- 
anpassung der  Pfrille  an  den  Grund  ihres  Wohn- 
gewässers erwiesen  sich  sämtlich  als  unzutreffend. 
Die  Farbe  des  Grundes  hat  keinerlei  Einfluß. 

Junge  Aale  werden  beim  Aufsuchen  ihrer  Nah- 
rung vorwiegend  vom  Geruch  geleitet.  Sie  sind 
positiv  phototropisch.  Im  ultravioletten  Licht 
zeigen  sie  an  einem  großen  Teil  ihrer  Körper- 
oberfläche lebhafte  Fluoreszenz. 

Mit  Larven  von  Culex  angestellte  Unter- 
suchungen ergaben,  daß  ihre  Sehqualitäten  jenen 
des  total  farbenblinden  Menschen  ähnlich  oder 
gleich  sind.  Die  Larven  zeigen  zwei  voneinander 
grundverschiedene  Reaktionen.  Bei  Beschattung 
fliehen  sie  nach  unten,  dann  aber  bei  Belichtung 
wieder  vom  Licht  weg  nach  oben. 

Bei  den  gänzlich  der  Sehorgane  entbehrenden 
Aktinien  Cereanthus  und  Bunodes  gemmaceus  fand 
H.  die  ausgesprochene  Neigung,  sich  zum  Licht 
zu  wenden.  Lichtreaktionen  bei  diesen  Coelente- 
raten  waren  bisher  nicht  bekannt.     Kathariner. 

Der    Gesichtssinn    der    Fische.      Wie    C.  Heß 


(München)  („Zeitschrift  für  Biologie",  Bd.  6^,  6. 
und  7.  Heft,  1914)  mitteilt,  zeigten  kaum  i  cm 
lange  Süßwasserjungfische  (einer  nicht 
näher  bestimmten  Weißfischart)  deutlich  die 
Neigung  zum  Hellen  zu  schwimmen  (ältere  Fische 
nicht  mehr).  Wurde  ein  ca.  20  cm  breites  Gefäß 
von  dem  etwa  20  cm  breiten  Spektralband  einer 
500  kerzigen  Nernstlampe  getroffen,  so  sammelte 
sich  in  wenigen  Sekunden  die  Mehrzahl  der  Fische 


in  der  Gegend  des  Gelbgrün  bis  Grün,  während 
in  den  übrigen  Farben  des  Spektrums  wenige  oder 
gar  keine  Fische  zu  sehen  waren.  Die  Durch- 
lüftung des  Aquariums  verhinderte  die  sonst  ein- 
tretende Ansammlung  in  der  Nähe  der  Wasser- 
oberfläche. Die  Wellenlänge  des  Lichtes  in  der 
Gegend,  welche  der  stärksten  Ansammlung  ent- 
sprach, wurde  auf  ca.  525  bis  535  ///<  bestimmt. 
Die  Grenze  nach  Rot  war  oft  etwas  schärfer,  als 
die  nach  Blau.  Die  Angabe,  daß  die  jungen  Fische 
gewisser  Arten  (Atherina  hepsetus  und  Charax 
puntazzo)  vom  Rot  abgeschreckt  würden  und  in 
den  dunklen  Teil  des  Behälters  flüchteten,  ist  un- 
richtig. Wurden  derartige  Fische  in  einem  Be- 
hälter gehalten,  der  zur  Hälfte  verdunkelt  war, 
zur  Hälfte  mit  rotem  Licht  durchstrahlt  wurde,  so 
suchten  sie  den  roten  Teil  auf 

In  einer  Anmerkung  weist  H.  darauf  hin,  daß 
die  verbreitete  Meinung,  Truthahn  und  Stier  würden 
durch  die  rote  Farbe  erregt,  unrichtig  ist.  30 
Simmentaler  Zuchtstiere,  welche  er  durch  das  Vor- 
halten roter  Tücher  reizte,  verhielten  sich  dem- 
gegenüber vollständig  gleichgültig. 

Wird  ein  schwarzer  Karton  vom  kurzwelligen 
Ende  her  langsam  über  das  Grün  und  Gelbrot 
hin  vorgeschoben,  so  sammeln  sich  die  Fische  in 
einem  schmalen  Streifen  zwischen  dem  äußersten 
Rot  und  dem  Rande  des  Kartons  im  Gelbrot. 
Unmittelbar  nach  dem  Wegziehen  des  Kartons 
schwimmen  sie  wieder  dem  Gelbgrün  bis  Grün 
zu.  Wird  ein  Behälter  zur  Hälfte  verdunkelt,  zur 
Hälfte  rot  durchstrahlt,  bevorzugen  sie  die  letz- 
tere Hälfte.  Wird  nun  die  andere  nicht  verdun- 
kelt, sondern  von  blauem  Glaslicht  durchleuchtet, 
gehen  sie  alsbald  in  die  blaue  Hälfte,  auch  wenn 
sie  uns  dunkel  erscheint.  Ferner  halten  sich  die 
Fischchen  in  dem  für  sie  helleren  Teil  des  Be- 
hälters näher  der  Oberfläche  auf,  während  sie  in 
dem  dunkleren  Teil  mehr  nach  unten  schwimmen. 
Setzt  man  einen  dunklen  Karton  vor  einen  mit 
diffusem  Tageslicht  durchleuchteten  Behälter,  so 
schwimmen  die  meisten  nach  unten,  nach  Weg- 
ziehen des  Kartons  wieder  nach  oben. 

Auch  eine  neue  Methode  zur  Untersuchung 
des  Lichtsinnes  bei  Fischen  ergab  aufs  neue,  daß 
die  Fische  nach  der  Seite  schwimmen,  welche 
auch  für  das  total  farbenblinde  Menschenauge  die 
hellere  ist,  einerlei,  ob  das  auch  für  das  farben- 
tüchtige Auge  zutrifft. 

Im  3.  Kapitel  erörtert  H.  den  Einfluß  der 
Farbe  des  Wassers  auf  die  Sichtbarkeit  der  Fisch- 
färbungen (s.  das  vorige  Referat). 

In  bezug  auf  die  somatischen  Eigenschaften  der 
Tiere  vertritt  man  mit  Recht  den  Standpunkt, 
daß  jedes  Organ  aus  seinen  Beziehungen  zur  Um- 
gebung zu  verstehen  ist.  Wenn  nun  die  physika- 
lischen Bedingungen  für  die  Wahrnehmung  der 
Farben  im  Wasser  von  jenen  in  der  Luft  ver- 
schieden sind,  so  darf  man  auch  nicht  annehmen, 
daß  die  Wassertiere  einen  Farbensinn  haben,  wie 
die  Lufttiere.  Sie  haben  nur  die  Fähigkeit,  Helligkeits- 
unterschiede wahrzunehmen. 


N.  F.  XIII.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


301 


Von  den  Kiementen  der  Netzhaut  sollen  nach 
M.  Schnitze  (1866)  die  Stäbchen  dem  Licht- 
und  Raumsinn  dienen,  die  Zapfen  daneben  außer- 
dem noch  den  Farbensinn  vermitteln.  Wenn  nun 
neuere  Autoren  (Franz  1913)  aus  dem  Vorkommen 
von  Zapfen  in  der  Netzhaut  der  Fische  auf  einen 
Farbensinn  schließen  wollen,  so  ist  darauf  hinzu- 
weisen, daß  auch  in  der  normalen  menschlichen 
Netzhaut  in  den  peripheren  Teilen  noch  Zapfen 
vorkommen,  obschon  diese  gänzlich  farbenblind 
sind.  Hier  können  die  Zapfen  nur  der  Empfindung 
von  farbloser  Helligkeit  dienen. 

Im  Kapitel  über  die  Bedeutung  des  Silber- 
glanzes der  Fische  bekämpft  H.  die  von  Popoff 
(1906)  und  Kapelkin  ( 1907)  geäußerte  Meinung, 
ein  im  Wasser  nach  oben  blickendes  Auge  sähe 
die  Wasseroberfläche  silberglänzend  infolge  einer 
totalen  Reflexion  des  Lichtes.  Das  vom  Himmel  in 
das  Wasser  eintretende  Licht  wird  aber  einmal  schon 
an  der  Oberfläche  zum  Teil  reflektiert,  ein  weiterer 
Teil  beim  Durchdringen  des  Wassers  absorbiert 
und  nur  ein  kleiner  Teil  endlich  vom  Boden  des 
Gewässers  und  den  im  Wasser  suspendierten  Teil- 
chen nach  oben  reflektiert.  "Dieser  kleine  Teil 
erst  kann  an  der  Wasseroberfläche  nach  unten 
zurückgeworfen  werden.  Ein  im  Wasser  nach 
oben  blickendes  Auge  wird  daher  nur  ein  mehr 
oder  weniger  gleichmäßiges  Hell  sehen.  Ein 
Wasserspiegel  dagegen  existiert  nicht.  Man  kann 
sich  davon  leicht  überzeugen,  wenn  man  beim 
Tauchen  nach  oben  blickt.  Die  Bedeutung  des 
Silberglanzes  liegt  darin,  daß  er  das  von  oben 
kommende  Himmelslicht  nach  unten  zurückwirft, 
und  der  Fischkörper  sich  so  von  dem  hellen 
Hintergrunde  möglichst  wenig  unterscheidet. 

Über  die  biologische  Bedeutung  der  Licht- 
reaktion bei  Fischen  sagt  H.,  die  sog.  phototak- 
tischen Bewegungen  der  Jungfische  hätten  ihren 
Grund  darin,  daß  die  winzigen  Gebilde  und  Lebe- 
wesen, welche  deren  wesentliche  Nahrung  bildeten, 
für  sie  um  so  leichter  wahrnehmbar  seien,  in  je 
hellerer  Umgebung  sie  sich  befänden.  Warum 
Franz  die  Phototaxis  der  Fische  als  „Flucht- 
bewegung" deute,  sei  ihm  dagegen  unverständlich, 
zumal  er  auch  bei  häufiger  Wiederholung  eines 
von  F.  angegebenen  Versuchs  nie  das  gemeldete 
Resultat  erhalten  habe.  Kathariner. 


Ein  Farbensinn  fehlt  den  Krebsen.  C.  Heß 
(München)  (Archiv  für  vergleichende  Ophtal- 
mologie  Bd.  IV,  U.  i,  Dez.  1913)  gibt  an,  wie 
man  in  einfacher  Weise  dies  nachprüfen  kann. 
Ein  Glasbehälter  B  etwa  8  cm  lang  4  cm  breit 
und  2  cm  hoch  wird  mit  einigen  Hunderten 
möglichst  frischer  Daphnien  in  einigem  Abstand 
vom  F'enster  F  aufgestellt.  Das  direkt  vom  Fenster 
einfallende  Licht  wird  durch  einen  schwarzen 
Karton  c  abgehalten.  Rechts  und  links  vom  Be- 
hälter werden  zwei  Schirme  aufgestellt,  Sj  und  Sj. 
Sj  ist  mit  einem  weißen,  S.^  mit  einem  schwarzen 
Katton  überklebt.  Beide  stehen  in  gleichem 
Winkel  (45  "j  zum  Fenster.  5  — 10  Minuten  vor 
dem  Versuch  wird  der  Behälter  mit  einem  schwar- 
zen Tuch  überdeckt.  Wird  dasselbe  weggenommen, 
so  schwimmen  die  Krebschen  (die  Daphniden 
Simocephalus  und  Daphnia  pulex,  sowie  Artemia 
saüna)  nach  S^  hin.  Werden  die  Kartons  ver- 
tauscht, so  kehren  die  Tiere  rasch  um.  Bringt 
man  an  Stelle  der  weißen  und  schwarzen  rasch 
eine  rote  oder  orangefarbige,  bzw.  blaue  oder 
grüne  Fläche,  so  schwimmen  die  Tiere  nach  Rot 
oder  Orange,  obschon  diese  Farben  dem  normalen 
helladaptierten  Auge  beträchtlich  heller  erscheinen. 

F  


In  der  Dämmerung  ist  auch  für  das  normale 
Menschenauge  ein  helles  Rot  oder  Gelbrot  dunkel- 
grau ,  fast  schwarz;  ein  Blau  dagegen,  das  am 
Tag  viel  dunkler  erscheint  als  Rot,  ist  nun  viel 
heller  als  dieses.  Wie  das  Auge  der  genaimten 
Tiere  verhält  sich  auch  das  des  total  farbenblinden 
Menschen.  Heß  fand  die  Angaben  von  v.  Frisch 
und  Kupelwieser  (Über  den  Einfluß  der 
Lichtfarbe  auf  die  phototaktischen  Reaktionen 
niederer  Krebse,  Biol.  Zentralbl.  Bd.  XXX,  Nr.  9, 
1913)  nicht  bestätigt,  wonach  Gelb  und  Blau  ent- 
gegengesetzt wirken  sollen,  auch  bei  gleichem 
Helligkeitswert.  Vertauschen  einer  blau  und  einer 
gelb  gefärbten  gleich  hellen  Fläche  hat  gar  keinen 
Effekt.  Kathariner. 


Bücherbesprechimgen. 

Franz  Bendt,  Grundzüge  der  Differential- 
und  Integralrechnung.  Fünfte  Auflage, 
durchgesehen  und  verbessert  von  Dr.  phil.  G. 
Ehr  ig.  XVI  und  268  Seiten  mit  39  Abbildun- 
gen im  Text.  Verlag  von  J.  J.  Weber  (Illu- 
strierte Zeitung),  Leipzig  1914.  —  Preis  in  Leinw. 
geb.  3  Mk. 
Das  vorliegende  Lehrbuch  der  Differential-  und 

Integralrechnung,  ein  Band  der  bekannten  Samm- 


lung Weber's  illustrierter  Handbücher, 
verfolgt  rein  praktische  Zwecke:  Es  will  den  Leser 
mit  dem  praktischen  Gebrauch  von  Differentialen 
und  Integralen  vertraut  machen.  Daher  ist  auf 
die  Strenge  der  theoretischen  Ableitungen  ver- 
zichtet und  der  Hauptwert  auf  die  Verständlich- 
machung  der  F'ormeln  gelegt  worden.  So  ist  ein 
theoretisch  allerdings  nicht  immer  ganz  einwand- 
freies, praktisch  aber  recht  brauchbares  Büchlein 
geschaffen  worden,  das  sich  ja  offenbar,  wie  das 
Erscheinen    der   fünften   Auflage    beweist,    in    der 


302 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  19 


Praxis  auch  schon  gut  bewährt  hat.  Wünschens- 
wert wäre,  daß  der  Verfasser  in  das  Buch  bei  Ge- 
legenheit der  nächsten  Auflage  praktische  Beispiele, 
aus  Physik,  Chemie  und  Technik  aufnähme,  wie 
es  etwa  Nernst  und  Schdenflies  in  ihrer 
„Einführung  in  die  mathematische  Behandlung  der 
Naturwissenschaften"  (vgl.  Naturw.  Wochenschrift, 
Bd.  13,  S.  158,  1914)  und  andere  Lehrbuchautoren 
gemacht  haben;  das  Buch  würde  nach  Ansicht 
des  Referenten  zwar  an  Umfang  etwas  zunehmen, 
dafür  aber  an  Brauchbarkeit  sehr  gewinnen. 

Werner  Mecklenburg. 


Albert  Oppel.     Leitfaden  für  das  embryo- 
logische Praktikum  und  Grundriß  der 
Entwicklungslehre        des       Menschen 
und  der  Wirbeltiere.    Mit  323  Abbildungen 
im  Text.     313  S.     Jena,    Gustav  F'ischer,    19 14. 
—  Preis  10  Mk.,  geb.   11   Mk. 
Wie  im  Vorwort  hervorgehoben  wird,    ist  das 
vorliegende  Buch    nicht    nur   für  Studierende    und 
Ärzte,  sondern  auch  für  einen  weiteren  Kreis  von 
Freunden    der    Entwicklungslehre   bestimmt.     Das 
Buch  soll,    wie    der  Titel  sagt,    nicht  allein  einen 
Leitfaden    für  das  embryologische  Praktikum  dar- 
stellen,    sondern     auch     ein    Grundriß    der    Ent- 
wicklungslehre des  Menschen  und  der  Wirbeltiere 
sein.      Ob    es    ein    glücklicher    Gedanke    war,    in 
einen  solchen  Leitfaden  das  gewaltige  Gebiet  der 
allgemeinen  und  speziellen  Entwicklungsgeschichte 
hineinzupressen,  erscheint  höchst  zweifelhaft.    Da- 
gegen   ist    eine    Zusammenfassung  der   gebräuch- 
lichsten embryologischen  Methoden  und  vor  allem 
die  Abbildung    und  Beschreibung    einer    größeren 
Anzahl  von  Schnittserien    für    den  Lehrbetrieb  zu 
begrüßen. 

Das  Buch  zerfällt  in  vier  Hauptteile.  Im  ersten 
werden  zunächst  die  Ziele  und  Wege  des  embryo- 
logischen Praktikums  besprochen.  Es  folgt  eine 
kurze  Erklärung  der  wichtigsten  entwicklungs- 
geschichtlichen Begriffe  und  der  Faktoren  der  Ent- 
wicklung. Dabei  bekennt  sich  der  Autor  als  An- 
hänger der  Roux'schen  Schule.  Dann  werden 
die  gebräuchlichsten  Methoden  embryologischer 
Technik  besprochen.  Es  folgen  Angaben  über 
einige  entwicklungsmechanische  Experimente.  Am 
Schlüsse  dieses  Teiles  gibt  der  Verf  die  Stoffein- 
teilung an,  wie  er  sie  in  Halletin  seinem  embryo- 
logischen Praktikum  eingeführ    hat. 

Der  zweite  Hauptteil  gibt  einen  kurzen  Abriß 
der  allgemeinen  Entwicklungsgeschichte  der  Wirbel- 
tiere. Referent  ist  der  Ansicht,  daß  ein  so  wich- 
tiges und  schwieriges  Forschungsgebiet  nicht  in 
so  kurzer  Weise  abgehandelt  werden  kann,  ohne 
daß  der  Wert  der  Darstellung  darunter  leidet. 

Es  folgen  im  dritten  Hauptteil  Beschreibungen 
und  Abbildungen  einer  größeren  Anzahl  von 
Schnittserien,  durch  Embryonen  von  Unke,  Frosch, 
Blindschleiche,  Huhn,  Kaninchen,  Schwein  und 
Mensch.  Nützlich  ist,  daß  den  meisten  Schnitt- 
bildern ein  durchsichtiges  Modell  des  betreffenden 
Embryos  vorangestellt  ist,  in  das  die  nachher  ein- 


zeln abgebildeten  Schnitte  hineingezeichnet  sind. 
Die  Figuren  sind,  bis  auf  diejenigen  menschlicher 
Embryonen,  welche  zum  größten  Teile  der  Normen- 
tafel von  Keibel  und  Elze  entlehnt  sind.  Origi- 
nale. 

Der  vierte  Hauptteil  endlich  stellt  einen  sehr 
kurzen  Grundriß  der  speziellen  Entwicklungs- 
geschichte der  Wirbeltiere  und  vor  allem  des 
Menschen  dar.  Die  sehr  zahlreichen  Abbildungen 
dieses  Teiles  sind,  mit  zwei  Ausnahmen,  aus  anderen 
Werken  entlehnt,  vor  allem  aus  den  Handbüchern 
von  O.  Hertwig  und  Keibel  und  Mall,  so- 
wie aus  den  Lehrbüchern  von  O.  Hertwig,  Koll- 
mann und  Bonnet.       von  Berenberg-Goßler. 


Karl  V.  Bardeleben.      Die    Anatomie    des 
Menschen.    Teil  I.    Zellen-  und  Gewebelehre, 
Entwicklungsgeschichte,  der  Körper  als  Ganzes. 
II.  Auflage.     Aus  Natur  und  Geisteswelt.    418. 
Bändchen. 
Das  Buch    enthält   alles    Wesentliche,    um    als 
sicherer  Führer   in    die  Anfangsgründe    der    allge- 
meinen Anatomie  dienen  zu  können.       Petersen. 


A.  Heilborn.  Entwicklungsgeschichte 
des  Menschen,  ebenda  388.  Bändchen. 
Das  Büchlein,  dem  eine  Widmung  an  E.H  a  e  c  k  e  1 
vorangestellt  ist,  schöpft  wesentlich  aus  älteren 
Quellen;  die  Abbildungen  sind  reichlich,  z.  T. 
gut  (nach  Photographien  von  K  o  p  s  c  h) ,  z.  T. 
recht  minderwertig  (Abb.  42,  S.  55).  Der  Ab- 
schnitt (S.  9 ff.)  über  das  biogenetische  Grundgesetz 
und  die  Entwicklungsmechanik  ist  verfehlt.  Im 
übrigen  kann  das  Büchlein  bei  einiger  Vorsicht 
wohl  zur  ersten  Orientierung  dienen.      Petersen. 


A.  Th.  Preyer,  Lebensänderungen.  Leip- 
zig, Th.  Grieben's  Verlag  (L.  Fernau)  19 14. 
Kant  teilte  bekanntlich  die  Urteile  ein  in 
analytische  und  synthetische  Urteile.  Charakte- 
ristisch für  die  ersteren  ist  es,  daß  sie  unseren 
logischen  Bestand  iPetzoldt)  nicht  eigentlich 
erweitern,  daß  sie  „durch  das  Prädikat  nichts  zum 
Begriff  des  Subjekts  hinzutun".  So  nützlich  sie 
sind,  um  sich  sämtliche  Folgerungen  eines  einge- 
führten oder  einzuführenden  Begriffs  klar  zu  machen, 
so  notwendig  es  ist,  eine  Theorie  zu  Ende  zu 
denken,  um  zu  prüfen,  ob  sie  mit  allem  ,, Vorge- 
fundenen" sich  vereinbaren  läßt,  die  Arbeit,  die 
das  analytische  Urteil  leistet,  ist  eine  wesentlich 
kritische.  D.  h.  wenn  man  einen  Begriff  auch 
noch  so  viel  herumwendet,  es  kommt  nichts  Neues 
dabei  heraus,  und  man  weiß  hinterher  nicht  mehr 
als  was  man  vorher  wußte,  nicht  mehr  als  das, 
was  eben  zur  Aufstellung  des  Begriffs  geführt 
hatte.  Es  ist  nun  ein  Charakteristikum  einer  ge- 
wissen Art  von  Schriften,  die  revolutionierend 
sein  wollen,  die  den  Anspruch  machen,  die  „Wahr- 
heit" (S.  112)  wenigstens  in  vielen  Dingen  ihren 
im  Dunkel  tappenden  Zeitgenossen  nun  endlich 
zu  bringen,  daß  sie  sich  im  wesentlichen  auf 
solchen    analytischen    Urteilen    aufbauen.      Auch 


N.  F.  XIII.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


303 


Preyer  geht  von  wenigen  Begriffen  aus  und 
glaubt  eine  mehr  oder  minder  neue  Ansicht  von 
den  Lebensvorgängen  daraus  entwickeln  zu  können. 
Seine  Hauptbegriffe  sind  ,, Energiewechselstruktur", 
Veränderung,  lebendes  Plasma,  Variabilität.  Die 
„Energiewechselstruktur"  ist  eine  verworrene  Ver- 
allgemeinerung der  metabolischen  Auffassung  des 
Stoffweclisels,  d.  h.  der  Vorstellung,  daß  die  Stoffe 
bei  den,  den  Stoffwechsel  ausmachenden,  chemi- 
schen Vorgängen  durch  die  lebendige  Substanz 
hindurch  gehen,  die  lebendige  Substanz  also  in 
einem  fortwährenden  Zerfall  und  Wiederaufbau 
begriffen  sei.  Der  Begriff  des  Biogens,  der  vor 
allem  von  Verworn  als  Bezeichnung  für  die 
kleinste  stoffwechselnde  Einheit  aufgestellt  wurde, 
ist  in  den  der  „Energiewechselstruktur"  verflochten. 
Das  Wort  Variabilität  wird  in  einem  von  dem 
gewöhnlichen  vollständig  abweichenden  Sinne  ge- 
braucht, was  nun  eigentlich  darunter  verstanden 
werden  soll,  bleibt  unklar  (S.  25).  Das  Proto- 
plasma erscheint  z.  B.  gleich  anfangs  mit  der 
Bezeichnung  schleimig  flüssig.  Die  Schrift  ist  im 
Jahre  1901  abgefaßt,  und  der  Vei fasser  hat  es 
nicht  für  nötig  befunden,  seitdem  irgend  etwas 
Wesentliches  daran  zu  ändern  (Vorwort).  So  sind 
denn  die  ganzen  Forschungen  über  den  Mendelis- 
mus,  das  Werk  Johan  nsen's  über  Variation  und 
Erblichkeit,  die  Ideen  HansDriesch's,  Wil- 
helm Roux's,  —  obgleich  die  des  letzteren 
eigentlich  schon  vor  190 1  im  wesentlichen  fertig 
vorlagen  — ,  die  Forschungen  über  Kern-  und 
Plasmastrukturen  und  deren  Verhalten  zur  Ver- 
erbungslehre und  vieles  andere  fast  spurlos  an 
dem  Buch  vorübergegangen.  Charakteristisch  ist, 
daß  in  dem  Literaturnachweis  außer  den  Neu- 
auflagen von  Verworn's  „Allgemeiner  Physio- 
logie" nur  ein  Werk  aus  dem  letzten  Jahrzehnt 
zitiert  ist,  nämlich  Bergson's  „Evolution  crea- 
tive".  Es  kommt  aber  noch  eins  hinzu:  Je  all- 
gemeiner die  verhandelten  Dinge  sind,  je  mehr 
sie  sich  dem  nähern,  was  man  als  Weltanschauung 
zu  bezeichnen  pflegt,  desto  dringender  wird  die 
Forderung,  die  einfachsten  Lehren  einer  kritischen 
Erkenntnislehre  zu  berücksichtigen.  Wie  es  damit 
in  diesem  Buche  steht,  beweist  der  folgende  Satz: 
„Die  plasmatische  Energiewechselstruktur  der  ein- 
zelligen Organismen  ist  wohl  als  identisch  anzu- 
sehen mit  Haeckel's  Zellseele,  der  Urform  der 
Psyche;  sie  ist  der  Komplex,  welchem  die  meisten 
Empfindungen,  die  Reflexe,  das  Reproduktions- 
gedächtnis zugehören  (S.  11).  Wie  sich  der  Ver- 
fasser diese  „modernen  unabhängigen  Ideen  und 
neuen  Anschauungsweisen,  auch  offenen  Angriffe 
gegen  manche  alten  wissenschaftlichen  Vorurteile" 
(aus  dem  Vorwort)  in  die  Praxis  der  wissenschaft- 
lichen Forschung  umzusetzen  denkt,  darüber 
schweigt  er  sich  allerdings  aus.  Petersen. 


W.  Schoenichen,  Methodik  und  Technik 
desnaturgeschichtlichenUnterrichts. 
611  Seiten  und  32  Tafeln.  Leipzig  1914,  Quelle 
und  Meyer.  —  8  Mk.,  geb.   14  Mk. 


Das  umfangreiche  und  reich  ausgestattete  Werk 
bildet  den  fünften  Band  des  von  Norrenberg 
herausgegebenen  Handbuchs  des  naturwissenschaft- 
lichen Unterrichts.  Der  erste,  weitaus  größte  Teil 
behandelt  die  Methodik,  der  zweite  die  Technik. 
Zunächst  werden  die  „Aufgaben  und  Ziele  des 
naturgeschichtlichen  Unterrichts"  erörtert,  wobei 
die  Verstandesbildung,  die  ästhetische  und  ethische 
Bildung  berücksichtigt  werden;  ein  zweiter  Ab- 
schnitt behandelt  die  Ausgestaltung  des  Unterrichts, 
mit  Rücksicht  auf  Umfang  und  Stoffbehandlung, 
wobei  vor  allem  das  Verhältnis  „biologischer" 
Betrachtungen  zur  Systematik  und  Morphologie, 
die  Biocönosen,  sowie  die  Abstammungslehre  be- 
handelt werden.  An  einige  durchgeführte  „Lehr- 
proben" schließen  sich  Erörterungen  über  die  Be- 
ziehungen des  naturgeschichtlichen  Unterrichts  zu 
anderen  Lehrfächern  und  die  dadurch  gegebene 
Gelegenheit  konzentrierender  Verknüpfungen.  Hier 
wird  auch  die  Behandlung  der  Geschichte  der 
Biologie  im  Unterricht  gewürdigt.  Ein  weiterer 
Abschnitt  behandelt  die  Lehrmittel  im  weiteren 
Sinn  —  Lehrbücher,  Bilder,  Modelle,  Zeichnungen, 
Versuche,  die  Schulsammlung,  Vivarien,  Unterrichts- 
garten und  Exkursionen  — ;  mit  einem  Kapitel  über 
die  verschiedenen  Formen,  in  denen  die  Selbst- 
tätigkeit der  Schüler  sich  äußern  kann  —  Zeichnen, 
Modellieren,  Photographieren,  Sammeln,  endlich 
praktische  biologische  Übungen  auf  den  verschie- 
denen Stufen  —  schließt  der  methodische  Teil  ab. 

Der  zweite,  der  Technik  gewidmete  Teil  be- 
handelt die  Unterrichtsräume,  die  Verwaltung  der 
Sammlung,  die  Vivarien,  den  Schulgarten,  sowie 
die  Technik  des  Sammeins. 

Diese  kurze  Inhaltsübersicht  läßt  erkennen,  daß 
der  Verfasser  dem  angehenden  Lehrer  der  Biologie 
ein  sehr  reichhaltiges  Material  bietet;  es  dürfte 
sich  kaum  eine  diesen  Unterrichtszweig  betreffende 
FVage  finden,  die  hier  nicht  wenigstens  gestreift 
wäre. 

In  der  allgemeinen  Auffassung  des  Unterrichts, 
namentlich  in  der  Art,  wie  Schoenichen  die 
biologischen  Deutungen  im  Unterricht  behandelt 
zu  sehen  wünscht,  in  der  Forderung  nach  mög- 
lichst weitgehender  Anschaulichkeit  des  Unterrichts 
und  Selbstbetätigung  der  Schüler,  nach  Verknüpfung 
des  naturgeschichtlichen  Lehrstoffes  mit  dem,  was 
in  anderen  Fächern  geboten  wird,  namentlich  mit 
Chemie,  Physik  und  Geographie,  endlich  auch  in 
der  Forderung  ausreichender  und  gut  ausgestatteter 
Unterrichts-  und  Arbeitsräume  wird  man  dem  Ver- 
fasser nur  beistimmen  und  seinen  Forderungen 
weitestgehende  Erfüllung  wünschen  können. 

In  manchen  Punkten  allerdings  vermag  der 
Referent  dem  Verfasser  nicht  zuzustimmen.  Der 
einleitende  Abschnitt  über  den  erziehlichen  und 
bildenden  Wert  der  Naturwissenschaften  wird  meines 
Erachtens  dieser  Bedeutung  nicht  in  vollem  Umfang 
gerecht;  der  Leser  gewinnt  leicht  aus  diesen  Aus- 
führungen den  Eindruck,  als  ob  doch  die  Natur- 
wissenschaften den  Sprachen  als  Bildungsfaktor 
nicht  gleichwertig  seien.  In  bezug  auf  die  Gebiets- 


304 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  19 


des  Königreichs  Württemberg  von  Dr.  Rob.  Gradniann.  Mit 
I   Karte.     Stuttgart,  J.  Engelhorn's  Verlag. 

Karny,  Dr.  Heinrich,  Tabellen  zur  Bestimmung  einhei- 
mischer Insekten.  Mit  Ausschluß  der  Käfer  und  Schmetter- 
linge. Für  Anfänger,  insbesondere  für  den  Gebrauch  beim 
Unterricht  und  bei  Schülerübungen  zusammengestellt.  Mit 
68  Abbild.  Wien  '13,  A.  Pichler's  Witwe  &  Sohn.  —  Geb. 
2,50  Kr. 

Jahrbuch  der  Deutschen  Mikrologischen  Gesellschaft. 
V.  Jahrgang  1913.  Inhalt:  Prof.  Dr.  A.  Wagner,  Die  Ge- 
Üntersekunda  empfohlene  Art,  Chemie  und  Biologie  Sichtspunkte  der  modernen  Pflanzenanatomie.  Prof  Dr.  L. 
.    .  •  „.„1      A, 1 ,    ^„,„CaU\^„c-         Lämmermayr,  Einführung  in  die  Elemente  der  physiologischen 

ZU  vereinigen —  ein  an  sich  durchaus  emptenlens-      -  '  '   .       --.".-      _ r.^  ,    5 

werter  Gedanke   —    in  der  hier  gegebenen  Form 


abgrenzung  zwischen  Naturwissenschaft,  Religion 
und  Philosophie  —  die  allerdings  dem  Schüler 
gegenüber  Sorgfalt  und  Takt  erfordert  —  geht 
Schoenichcn  auch  etwas  einseitig  vor;  auch 
erscheint  die  Polemik  gegen  einen  Mann  von  der 
wissenschaftlichen  Bedeutung  Haeckels  als  zu  weit- 
gehend. —  Um  einen  anderen  Punkt  herauszu- 
greifen, so  dürfte  sich  doch  die  vom  Verfasser  für 


auf  dieser  Stufe  kaum  durchführen  lassen.  Auch 
an  anderen  Stellen  überschreitet  Schoenichen 
m.  E.  mehrfach  die  Grenzen  dessen,  was  sich  durch- 
schnittlich an  Schulen  mit  im  Beobachten  und 
Präparieren  doch  noch  ungeübten  Schülern  durch- 
arbeiten läßt. 

Zu  weiterem  Ergehen  auf  Einzelheiten  ist  hier 
nicht  der  Ort.  Bei  der  Behandlung  eines  so  um- 
fangreichen Gebietes  werden  sich  in  bezug  auf 
Einzelheiten  immer  Meinungsverschiedenheiten  er- 
geben. Dem  angehenden  Lehrer,  der  die  hier 
gemachten  Vorschläge  nicht  kritiklos  aufnimmt, 
sondern  sie  praktisch  erprobt  und  als  Wegweiser 
zu  eignen,  selbständigen  Erfahrungen  benutzt, 
dürfte  das  sehr  fleißig  durchgearbeitete  und  reich 


Pflanzenanatomie.  Mit  10  Abb.  Praktische  Winke  f.  pflanzen- 
anatom.  Untersuchungen.  Mit  I  Abb.  M.  Gamgera,  Fort- 
schritte a.  d.  Gebiet  mikroskop.  Hilfsapparrte.  Mit  1 1  Abb. 
München  '14,  Verlag  der  Deutsch,  mikrolog.  Gesellschaft.  E. 
V.   L.  —  60  Mk. 

Kryptogamenflora  für  Anfänger.  Bd.  VI.  Die  Torf-  und 
Lebermoose  von  Dr.  Wilhelm  Lorch.  Mit  296  Fig.  im  Text. 
Die  Farnpflanzen  (Pteridophyta)  von  Guido  Brause,  Oberst- 
leutnant a.  D.  Mit  73  Fig.  im  Te.xt.  Berlin '14,  J.Springer. 
—  Geb.  9,20  Mk. 

Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  Ph.  Fauth,  Landstuhl  (Pfalz).  Die  Gewitter,  die 
am  21.  Februar  d.  J.  in  der  Pfalz  auftraten,  waren  Wirbel- 
gewitter. Es  sind  das  solche,  deren  Kraftvorrat  aus  der 
wirbelnden  Bewegung  stammt,  welche  die  barometrischen 
Minima  umzieht,  im  Gegensalz  zu  den  sommerlichen  Wärme- 
gewittern, die  ihren  Kraftvorrat  aus  der  Überhitzung  schöpfen. 
^  .An  dem  genannten  Tage  lagen  drei  tiefe  Minima  über  Europa, 

illustrierte  Buch    viel    wertvolle  Anregungen    geben.       j^  eins  über   England,    Rußland    und   Tirol.     In  der  Pfalz  be- 

Tj  HanQtpin  stand   zudem  noch   ein  örtliches,   kleineres,    ein  sog.    1  eilmini- 

r^.   \.    nansiem.  ^^^^^    ^^    ^^g    ^^^    ^^^  Fachmann    das  beobachtete  Auftreten 

von  Gewittern  bald  erklärt  ist.  Im  Grunde  ist  das  eben  Ge- 
sagte aber  noch  keine  Erklärung;  es  erhebt  sich  nämlich  die 
weitere  Frage ,  warum  Luftwirbel  bestehen  und  wodurch  sie 
zu  Gewittern  führen  können. 

Die  an  den  Wirbeln  teilnehmende  Luft  ist  zwischen  den 
Erdkörper  und  den  höheren  Schichten  eingeschlossen,  die  an 
dem  Zustandekommen  des  täglichen  Wetters  nicht  mehr  be- 
teiligt sind.  Durch  die  tägliche  Sonnenstrahlung  wird  sie 
immer  wieder  in  Bewegung  versetzt,  eine  Bewegung,  auf  die 
die  Einflüsse  des  verschiedenen  Klima  der  Gebiete  durch  die 
sie  wandern  muß,  abändernd  eingreifen.  Es  ist  eine  gar  nicht 
zu  umgehende  Folge  dieser  Ursachen  und  der  eigentümlichen 
Gestalt  des  Raums,  daß  bei  der  Bewegung  Wirbel  entstehen. 
In  der  Nähe  der  Mittelpunkte  der  Wirbel,  besonders  der 
Teilminima,  findet  ein  schnelles  .Aufsteigen  der  Luft  statt;  sie 
muß  sich  dabei  abkühlen,  und  eine  Folge  davon  ist  das  Aus- 
fallen von  Wasser.  Dieser  Vorgang  des  Ausfallens  von  Wasser 
ist  die  Ursache  des  Auftretens  der  elektrischen  Erscheinungen. 
Bei  Platzregen  oder  Schneegestöber  sind  die  elektrischen 
Spannungen  so  groß,  daß  sie  durch  Blitze  ausgeglichen  wer- 
den. Im  Sommer  hat  man  es  mit  anders  gearteten  Luftbe- 
wegungen zu  tun,  die  Ursache  für  den  Regen  ist  eine  ver- 
schiedene, aber  stets  ist  er  die  Ursache  der  elektrischen  Be- 
gleiterscheinung. 

Im  übrigen  sind  Wintergewitter  durchaus  etwas  Zeitge- 
mäßes und  kommen  Jahr  aus  Jahr  ein  vor,  nur  sind  sie  nicht 
über  so  große  Gebiete  ausgedehnt  und  daher  am  einzelnen 
Ort  weniger  zu  merken.  Nippoldt. 


Literatur. 

Pahde,  Prof.  Dr.  ,\dolf,  Meereskunde.  Bd.  20  der 
,, Bücher  der  Naturwissenschaft".  Mit  3  farbigen  Kartenbei- 
lagen, 7  schwarzen  Tafeln,  i  Porträtbeilage  und  13  Abbil- 
dungen im  Text.     Leipzig,  Philipp  Reclam.  —  In  Leinen  I  Mk. 

Wilckens,  A. ,  Aus  Chiles  Vergangenheit.  Valparaiso 
'14,   C.  F.  Niemeyer. 

Streissler,  Alfred,  Öldruck,  Bromöldruck  und  verwandte 
Verfahren.  Mit  19  Abb.  und  15  Tafeln.  Bd.  XV  von  Liese- 
gang's  photographischem  Bücherschatz.  Leipzig  '14,  Ed. 
Liesegang's  Verlag,  M.   Eger.  —  Geb.  3  Mk. 

Bortkiewics,  Prof.  Dr.  L.  v. ,  Die  radioaktive  Strah- 
lung als  Gegenstand  wahrscheinlichkeitstheoreüscher  Unter- 
suchungen. Mit  5  Textfiguren.  Berlin  '13,  J.  Springer.  • — 
4  Mk. 

Secerov,  Dr.  Slavko,  Licht,  Farbe  und  die  Pigmente. 
Beiträge  zu  einer  Pigmenttheorie.  Heft  XVIII  der  Vorträge 
und  Aufsätze  über  Entwicklungsmechanik  der  Organismen. 
Leipzig  und  Berlin  '13,  W.  F^ngelmann.    —  3  Mk. 

Forschungen  zur  deutschen  Landes-  und  Volkskunde. 
Bd.  20.  1913.  Heft  5:  Beiträge  zur  physikalischen  Geogra- 
phie und  Siedlungskunde  des  Schleswig-Holsteinischen  Sandr- 
(Geest-)Gebietes  von  Dr.  Hans  Fürchtenicht-Boening.  Mit 
I  Karte  und  I  Tafel.  Heft  6 :  Hausgeographie  der  Wüster 
Marsch  von  Dr.  W.  Peßler.  Mit  I  Karte,  4  Tafeln  u.  I  Tcxt- 
abbild.     Bd.  21    '14.      Heft  2:    Die    städtischen    Siedelungen 


Inhaltt  Fritz  Schmidtsdorf:  Die  Methode  „of  trial  and  error"  (des  Versuchs  und  Irrtums)  und  ihre  psychologische 
Bedeutung.  Hugo  Mötefindt:  Zerealienfunde  vorgeschichtlicher  Zeit  aus  den  thüringisch-sächsischen  Ländern.  — 
Einzelberichte:  M.  H  engte  in:  Ein  neues  Mineral.  J.  Beiluc  ci  und  R.  Corelli:  Verbindungen  des  einwertigen 
Nickels.  C.  Rothaug:  tjber  die  Bestimmung  des  Chroms  als  Chromoxyd.  Fr.  Alverdes:  Über  Perlen  und  Perl- 
bildung. E.  Stuart  Baker:  Farbe  und  Zeichnung  der  Kuckuckseier.  W.  Rüdiger:  Schellente  in  künstlicher  Nist- 
höhle. C.  Heß:  Der  Farbensinn  ist  beim  Menschen  und  bei  den  Tieren  —  vor  allem  bei  den  Wassertieren  —  gänz- 
lich verschieden.  C.  Heß:  Der  Gesichtssinn  der  Fische.  C.  Heß:  Ein  Farbensinn  fehlt  den  Krebsen.  —  Bücher- 
besprechungen: Franz  Bendt:  Grundzüge  der  Differential-  und  Integralrechnung.  Albert  Oppel:  Leitfaden  für 
das  embryologische  Praktikum  und  Grundriß  der  Entwicklungslehre  des  Menschen  und  der  Wirbeltiere.  Karl  v.  Barde- 
leben: Die  Anatomie  des  Menschen.  A.  Heilborn:  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen.  A.  Th.  Preyer: 
Lebensänderungen.  W.  Schoenichen:  Methodik  und  Technik  des  naturgeschichtlichen  Unterrichts.  —  Literatur; 
Liste.  —  Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Mi  ehe  in  Leipzig,  Marienstraße   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band; 
der  ganzen  Reihe   39.  Band. 


Sonntag,  den  17.  Mai  1914. 


Nummer   20. 


Über  die  biologische  Wirkung  der  Radiumstrahlen,  insbesondere  über 
die  Strahlenbehandlung  von  bösartigen  Geschwülsten. 

Von  Prof.  Heineke-Leipzig. 

[Nachdruck  verboten.]  Mit  2  Textfiguren. 


Seit  einer  Reihe  von  Monaten  steht  für  den 
Mediziner  die  Frage  der  Behandlung  von  bös- 
artigen Geschwülsten  mit  radioaktiven 
Stoffen  im  Vordergrund  des  Interesses.  Die 
?'rage  bewegt  aber  nicht  nur  die  ärztliche  Welt. 
Bei  der  großen  Verbreitung  der  furchtbaren  und 
auch  dem  Laien  wohlbekannten  Krebskrankeit  ist 
es  leicht  begreiflich,  daß  die  guten  Erfolge  der 
Strahlenbehandlung,  über  die  die  medizinischen 
Kongresse  des  letzten  Jahres  berichtet  haben, 
auch  in  Laienkreisen  großes  Aufsehen  erregt  haben. 
Welche  Bedeutung  die  Krebskrankheit  hat,  erhellt 
aus  der  Tatsache,  daß  noch  heute  allein  in  Deutsch- 
land etwa  50000  Menschen  pro  Jahr  am  Krebs 
und  ähnlichen  Geschwülsten  sterben.  Soweit  wir 
die  Dinge  übersehen  können,  ist  es  nicht  wahr- 
scheinlich ,  daß  die  weiteren  Fortschritte  der 
operativen  Technik  an  dieser  Zahl  noch  sehr  viel 
ändern  werden.  Wenn  das  Radium  und  Mesothorium 
in  Zukunft  mehr  leistet  und  mehr  Krebsgeschwülste 
zur  Heilung  führt,  als  bisher  das  Messer,  so  würde 
das  einen  der  größten  Fortschritte  auf  medizini- 
schem Gebiete  bedeuten. 

Von  einem  abschließenden  Urteil  über  den 
Wert  der  Radiumbehandlung  der  Geschwülste  sind 
wir  aber  heute  noch  weit  entfernt.  Die  augen- 
blicklichen Erfolge  sind  erstaunlich  und  über- 
treften  alle  Erwartungen;  bei  weit  fortgeschrittenen 
Krebsgeschwülsten,  die  wir  mit  dem  Messer  über- 
haupt nicht  mehr  angreifen  können,  sehen  wir  die 
Geschwulstmassen  unter  der  Bestrahlung  oft  voll- 
kommen verschwinden;  die  Eiterung  und  Jauchung 
hört  auf,  die  Geschwüre  vernarben ;  die  Kranken 
blühen  auf  und  zeigen  keinerlei  Krankheits- 
erscheinungen mehr.  Über  die  Dauer  dieser 
Erfolge  ist  ein  Urteil  aber  erst  nach  mehreren 
Jahren  möglich.  Darin  liegt  ja  gerade  das  Un- 
heimliche der  bösartigen  Geschwülste,  daß  sie  die 
Eigenschaft  haben,  nach  anscheinend  vollständiger 
Ausrottung  wieder  zu  wachsen,  sobald  auch  nur 
kleinste,  mit  blossem  Auge  nicht  sichtbare  Teile 
der  Geschwulst  zurückgeblieben  sind.  Diese  Eigen- 
schaft vereitelt  so  oft  die  mit  dem  Messer  er- 
zielten Erfolge.  Ob  das  Radium  uns  hier  weiter 
bringt,  das  steht  noch  dahin. 

Man  sollte  meinen,  daß  der  große  Aufschwung, 
den  die  Radiumbehandlung  des  Krebses  seit  einem 
Jahre  genommen  hat,  auf  ganz  neuen  Erkenntnissen 
über  die  biologische  Wirkung  der  Strahlen  be- 
ruhen müsse.     Das  ist  aber  auffallenderweise  nicht 


der  Fall.  Das,  was  wir  über  die  Wirkung  der 
Strahlen  auf  lebende  Zellen  wissen,  ist  nicht  neu, 
sondern  in  den  Grundzügen  bereits  seit  etwa 
10  Jahren  bekannt.  Auch  die  Einschmelzung  von 
Geschwülsten  durch  Radiumstrahlen  ist  bereits  seit 
langen  Jahren  festgestellt  und  praktisch  verwertet 
worden.  Neu  ist  jetzt  nur  die  Technik  und  die 
Steigerung  der  Wirkung  durch  die  Verwendung 
großer  Radiummengen.  Neu  ist  vor  allem  die 
Energie  und  der  Wagemut,  mit  dem  einige  Ärzte, 
unter  denen  die  Gynäkologen  an  erster  Stelle 
stehen,  die  Radiumbehandlung  wieder  aufgenommen 
haben. 

Wenn  wir  die  Wirkung  der  Radiumstrahlen 
auf  bösartige  Geschwülste  verstehen  wollen,  so 
müssen  wir  uns  klar  darüber  sein,  wie  die  Strahlen 
auf  normale  Zellen  einwirken.  Wir  kennen  diese 
Veränderungen  ganz  gut,  so  weit  sie  mikro- 
skopisch festzustellen  sind.  Damit  ist  die  Wirkung 
der  Strahlen  allerdings  nicht  erschöpft.  Außerdem 
wird  nämlich  auch  der  Stoffwechsel  beeinflußt, 
die  Tätigkeit  des  Nervensystems,  die  Wirkung  der 
Fermente  usw.  Aber  diese  Dinge  sind  noch  sehr 
wenig  erforscht;  wir  können  uns  zunächst  nur 
an  die  gut  bekannten  histologischen  Ver- 
änderungen halten.  Diesesind  dendurch  Röntgen- 
strahlen erzeugten  Veränderungen  voll- 
kommen gleich. 

Die  Wirkung  der  Strahlen  auf  die  lebende 
Zelle  kann  zweierlei  Art  sein.  Kleine  Strahlen- 
dosen üben  eine  Reiz  Wirkung  aus,  d.  h.  sie 
beschleunigen  das  Wachstum ,  sie  regen  die  Zell- 
teilung an.  Große  Strahlendosen  hemmen  das 
Wachstum  oder  wirken  sogar  zerstörend,  zelltötend. 
Beim  Menschen,  insbesondere  bei  der  Geschwulst- 
behandlung machen  wir  im  allgemeinen  nur  von 
der  zerstörenden  Wirkung  der  Strahlen  Gebrauch, 
doch  ist  auch  die  Kenntnis  der  Reizwirkung  von 
großer  praktischer  Bedeutung. 

Die  Reiz  Wirkung  der  Strahlen  läßt  sich  am 
besten  an  Pflanzen  zeigen.  Es  gelingt  z.  B. 
ruhende  Pflanzen  (Syringen)  durch  Radiumwirkung 
zu  treiben  (Molisch);  ferner  sieht  man,  wie 
Schwarz  gezeigt  hat,  Bohnen,  die  während  des 
Auskeimens  mit  geringen  Dosen  bestrahlt  werden, 
wesentlich  schneller  wachsen,  als  die  Kontroll- 
pflanzen. Abbildung  i  zeigt  eine  Kultur  von 
Gartenkresse,  die  am  ii.  Februar  gesät  und  am 
13.  und  14.  zur  Hälfte  je  i  Minute  lang  bestrahlt 
worden  ist.     Die  am    i8.  P'ebruar   aufgenommene 


3o6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  20 


Pliotographie  zeigt,  daß  die  bestrahlte  Hälfte  viel 
schneller  gewachsen  ist.  —  Wesentlich  schwieriger 
ist  die  Reizwirkung  am  Tierkörper  zu  de- 
monstrieren ,  doch  kann  man  z.  B.  Hautdefekte 
durch  Strahlenwirkung  zu  schnellerer  Überhäutung 
anregen  (Schwarz).  Ferner  lassen  sich  gerade 
an  Geschwülsten  bisweilen  lebhafte  Zellteilungs- 
vorgänge  nach  kurzdauernder  Bestrahlung  nach- 
weisen. 

Es  ist  leicht  verständlich,  daiJ  diese  Reizvvirkung  bei  der 
Behandlung  vun  Geschwülsten  von  großer  Bedeutung  ist.  Wir 
müssen  sie  natürlich  sorgfältig  zu  vermeiden  suchen,  da 
wir  sonst  gerade  das  Gegenteil  des  beabsichtigten  Effektes, 
nämlich  ein  schnelleres  Wachstum  der  Geschwülste  erreichen 
würden.  Wir  müssen  also  stets  mit  so  hohen  Strahlendosen 
arbeiten,  daß  die  Schwelle  der  Reizwirkung  mit  Sicherheit 
überschritten  ist.  Das  ist  keineswegs  immer  leicht,  da  die 
Intensität  der  Sirahlenwirkung  proportional  dem  Quadrat 
der  Entfernung  abnimmt.  Es  kann  leicht  vorkommen,  daß 
eine  .Strahlenquantität,  die  genügt,  um  oberflächliche  Teile 
einer  Geschwulst  zu  zerstören,  in  der  Tiefe  gerade  eine  Reiz- 
wirkung hervorruft. 


Abb.   I. 


Hinsichtlich  der  z  eilzerstöre  ii  den  Wirkung 
der  Strahlen  ist  die  Frage  von  der  größten 
Bedeutung,  ob  die  Strahlen  elektiv  wirken, 
d.  h.  ob  ihre  Wirkung  nur  gewisse  Zellarten,  nur 
bestimmte  Gewebe  trifft,  während  andere  un- 
berührt bleiben.')  Die  Radiumbehandlung  wäre 
sehr  einfach,   wenn  z.  B.  nur    die  Geschwulst- 


')  Eine  elektive  Wirkung  dieser  Art  finden  wir  ja  bei 
zahlreichen  Medikamenten,  die  nur  an  bestimmten  Zellen 
verankert  werden  und  nur  hier-  zur  Wirkung  kommen.  Ich 
erinnere  z.  B.  an  die  Schlafmittel,  deren  Wirkung  sich 
an  den  Zellen  des  Zentralnervensystems  erschöpft. 


Zellen,  die  wir  zerstören  wollen,  getroffen  würden, 
das  umgebende  gesunde  Gewebe  aber  intakt  bliebe. 

Bei  den  Strahlen  besteht  nun  eine  solche 
elektive  Wirkung  sicher  nicht,  wenigstens  nicht 
in  dem  Sinne,  daß  es  Zellen  gibt,  die  auf  die  Be- 
strahlung überhaupt  nicht  reagieren.  Bei  genügend 
intensiver  Wirkung  kommt  es  vielmehr  einfach  zu 
einer  wahllosen  Gewebszerstörung  bis  zu 
einer  gewissen  Tiefe.  Es  entsteht  ein  Schorf  und 
nach  Abstoßung  des  verschorften  Gewebes  ein 
Defekt,  der  mit  Narbenbildung  heilt.  Diese  ver- 
schiirfendc  Wirkung  großer  Strahlenmengen  können 
wir  brauchen ,  wenn  es  sich  um  die  Zerstörung 
oberflächlich  liege  nder  Geschwülste  handelt. 
Wenn  aber  Geschwülste  zerstöit  werden  sollen, 
die  in  der  Tiefe  liegen,  von  gesundem  Gewebe 
gedeckt,  das  erhalten  bleiben  muß,  so  liegen  die 
Dinge  ganz  anders.  In  solchen  Fällen  wäre  das 
Problem  der  Strahlenbehandlung  nur  dann  in 
idealer  Weise  lösbar,  wenn  eine  elektive  Wirkung 
auf  die  Geschwulstzellen  bestünde.  Das  ist  nun 
nicht  der  F"all,  aber  die  einzelnen  Gewebe  des 
l'ierkörpers  und  die  einzelnen  Zellarten  unter- 
scheiden sich  außerordentlich  stark  in  bezug  auf 
die  .Strahlenempfindlichkeit.  Die  Unter- 
schiede sind  so  groß,  daß  wir  imstande  sind,  durch 
eine  bestimmte  Strahlendosis  das  eine  Gewebe 
zu  zerstören,  während  ein  anderes  von  gleich 
starker  Strahlung  getroft'enes  ganz  unbeeinflußt 
bleibt.  Unsere  Aufgabe  ist  also,  festzustellen,  in 
welcher  Reihenfolge  die  einzelnen  Zellartcn  der 
Strahlenwirkung  unterliegen,  also  gleichsam  eine 
.Skala  der  Strahlenempfindlichkeit  aufzustellen. 

Wenn  man  ein  kleines  Tier,  z.  B.  eine  Maus, 
längere  Zeit  hindurch  in  tote  den  Röntgen-  oder 
Radiumstrahlen  aussetzt,  so  geht  es  rasch  zugrunde. 
Schon  nach  einigen  Stunden  wird  es  krank,  das 
1  laar  sträubt  sich,  die  Augen  werden  klein,  das 
Tier  frißt  nicht  mehr,  sitzt  ängstlich  zusammen- 
gekauert und  zitternd  da,  bekommt  Durchfall  und 
stirbt  schließlich,  meist  nach  einigen  Tagen. 
Wenn  wir  die  Sektion  eines  durch  Strahlen 
getöteten  Tieres  machen,  so  findet  sich  makro- 
skopisch recht  wenig,  höchstens  eine  auffallende 
Füllung  des  Darmes  mit  flüssigen  oder  blutigen 
Massen.  Bei  der  histologischen  Untersuchung 
sehen  wir  als  auffallendsten  Befund  eine  starke 
Verminderung  derZahl  der  weißen  Blut- 
körperchen, die  so  weit  gehen  kann,  daß  das 
Blut  überhaupt  frei  von  Leukocyten  wird.  Ferner 
zeigt  sich,  daß  die  weißen  Blutkörperchen  in  ihren 
Bildungsstätten,  in  den  sogenannten  lym- 
phatischen Organen  und  im  Knochenmark  hoch- 
gradig vermindert  sind.  Sonst  aber  finden  wir, 
wenn  die  Tiere  innerhalb  von  2 — 3  Tagen  zugrunde 
gegangen  sind,  keine  mikroskopischen  Ver- 
änderungen, insbesondere  nicht  an  der  Haut.  — 
Auch  beim  Menschen  sind  Tod  esfälle  durch 
Strahlenanwendung  vorgekommen,  nämlich  nach 
Einspritzung  des  wasserlöslichen  Thorium  X  in. 
die  Bluibahri.  Auch  bei  diesen  Fällen  hat  man  eine 
starke  Verminderung    der  weißen  Blutkörperchen 


N.  F.  XIII.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


307 


und   bei    der  Sektion    alle  Anzeichen    einer   Klut- 
zerstörung  nachweisen  können. 

Wenn  wir  die  Organe  eines  Tieres  einzeln  be- 
strahlen und  zu  verschiedenen  Zeiten  untersuchen, 
so  bekommen  wir  schließlich  ein  Bild  über  die 
Strahlenempfindlichkeit  der  einzelnen 
Gewebsarten  und  über  die  Reihenfolge  und 
Art  der  in  ihnen  vorgehenden  Veränderungen. 
Da  erweist  sich,  daß  am  allerempfindlichsten  gegen 
die  Strahlen  die  Lymphocyten  sind,  eine  Abart 
der  weißen  Blutkörperchen,  die  etwa  den  vierten 
Teil  der  weißen  Blutkörperchen  des  zirkulierenden 
Blutes  ausmachen  und  in  großen  Anhäufungen  in 
allen  Lymphdrüsen  in  der  Milz,  den  Mandeln  und 
in  der  Wand  des  Darmkanals  vorkommen.  Diese 
Zellen  sind  so  empfindlich  gegen  die  Strahlen,  daß 
eine  Einwirkung  von  wenigen  Sekunden  genügt, 
um  sie  zum  Zerfall  zu  bringen.  Der  Zerfall  geht 
dabei  in  sehr  charakteristischer  Weise  vor  sich : 
die  Kerne  der  Lymphocyten  zerfallen  schon  nach 
I — 2  Stunden,  die  Kerntrümmer  werden  von  Freß- 
zellen aufgenommen  und  verschwinden  innerhalb 
von  24  Stunden  (Abbildung  2).  —  In  ähnlicher 
Weise,  nur  etwas  langsamer,  werden  die  anderen 
Formen  der  weißen  Blutkörperchen,  die  im  Knochen- 
mark gebildet  werden,  zerstört. 

Was  wir  sonst  an  charakteristischer  Strahlen- 
wirkung im  Körper  entstehen  sehen,  das  verläuft 
auffallenderweise  zeitlich  ganz  anders. 
Während  die  bisher  genannten  Veränderungen 
ganz  gesetzmäßig  schon  wenige  Stunden  nach  der 
Bestrahlung  beginnen  und  innerhalb  von  i — 2  mal 
24  Stunden  ablaufen,  treten  die  Veränderungen 
an  den  noch  zu  nennenden  Organen  erst  nach 
einer  längeren  Latenzzeit  auf,  deren  Länge  von 
der  Stärke  der  Bestrahlung  abhängig  ist.  Diese 
Latenzzeit  kann  Tage,  Wochen  und  selbst  viele 
Monate  betragen. 

Um  Veränderungen  an  diesen  Zellen  hervor- 
zurufen, sind  auch  viel  größere  Strahlen- 
dosen nötig  als  zur  Zerstörung  der  oben  ge- 
nannten hochempfindlichen  Zellen.  Endlich  sind 
auch  die  Einzelheiten  der  Zellzerstörung  und  -auf- 
lösung  anderer  Art.  Die  Zellen  zerfallen  nicht 
plötzlich,  gleichsam  explosiv,  sondern  ihre  Kerne 
entarten  allmählich  und  die  Zellen  verschwinden 
langsam  und  fast  unmerklich  im  Laufe  von  Tagen 
und  Wochen. 

In  dieser  Weise  reagieren  auf  die  Strahlen  vor 
allem  diejenigen  Zellen  der  Keimdrüsen,  der 
Hoden  und  Eierstöcke,  denen  die  Bildung  der 
Samen-  und  Eizellen  obliegt.  Werden  diese 
Zellen  zerstört,  so  hört  die  Bildung  der  Samen- 
fäden und  die  Reifung  der  Eier  auf  und  das  hat 
je  nach  der  Intensität  der  Zellzerstörung  die  vor- 
übergehende oder  dauernde  Sterilisierung  des  Indi- 
viduums zur  Folsfe.  M  —  In  ganz  ähnlicher  Weise 


')  Innerhalb  der  Keimdrüsen  findet  sich  noch  eine  zweite 
Art  von  Zellen,  die,  so  viel  wir  wissen,  eine  innere  Sekretion 
haben,  d.  h.  gewisse  Stoffe  in  die  Blutbahn  abgeben.  Der 
Verlust  dieser  Zellen  ruft  die  charakteristischen,  nach  Entfer- 
nung der  Keimdrüsen    auftretenden    Ausfallserscheinun- 


wie  die  Keimdrüsenzellen  reagieren  auch  die 
Deckepithelien,  die  Deckzellen,  die  die  äußere 
Haut  und  alle  Schleimhäute  überziehen  und  auch 
alle  Drüsengänge  des  Körpers  auskleiden.  Auch 
diese  gehen  erst  nach  einer  längeren  Latenzzeit 
und  ganz  langsam  zugrunde,  wobei  sich  die  Drüsen- 
epithelien  als  etwas  weniger  empfindlich  erweisen,  als 
die  Epithelien  der  äußeren  Haut.  —  Der  Verlust 
des  Deckepithels  an  einer  bestrahlten  Stelle  führt 
zur  Gesch  wü  rsbild  u  ng  und  zum  Haarausfall, 
denn  die  Haare  sind  Abkömmlinge  der  Epithelien. 
Neben  den  bisher  genannten  Zellarten  gibt  es 
noch  eine  Reihe  von  sehr  wenig"  strahlen- 
empfindlichen Zellen.  Dazu  gehören  vor 
allem  die  gesamten  Bindesubstanzen,  das 
Binde-  und  Fettgewebe,  die' Muskulatur,  Knorpel, 
Knochenhaut  und  Knochen.  An  diesen  Zellen 
kann  man  nur  durch  sehr  intensive  Bestrahlung 
überhaupt  Veränderungen  hervorrufen. 


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Abb.  2.      Meerschweinchen;     Milz;    5    Min.    direkt    bestrahlt. 
Tötung  nach   6  Stunden.      Kernzerfall  im  Zentrum  des  Follikels. 


Die  Strahlenempfindlichkeit  der  einzelnen  Zell- 
arten ist  also  außerordentlich  verschieden.  Wir 
können  gleichsam  drei  Empfindlichkeits- 
stufen unterscheiden:  Erstens  gibt  es  hoch- 
empfindliche Zellen,  die  nach  der  Bestrahlung 
fast  explosiv  in  ganz  kurzer  Zeit  zerfallen.  Zweitens 
gibt  es  weniger,  aber  doch  spezifisch  emp- 
findliche Zellen,  die  nach  der  Bestrahlung  unter 
Einhaltung  einer  Latenzperiode  allmählich  de- 
generieren und  der  Auflösung  verfallen.  Drittens 
gibt  es  unempfindliche  Zellen,  die  nur  durch 
große  verschorfende  Strahlendosen  angegriffen 
werden. 

Wodurch    dieses    verschiedene    Verhalten    der 


gen    hervor.       Durch    Strahlen    werden    diese  Zellen  nur  sehr 
wenig  beeinflußt. 


^,o8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  20 


Zellen  den  Strahlen  gegenüber  bedingt  ist,  darüber 
wissen  wir  noch  wenig.  Der  anatomische  Bau 
der  Zellen  liefert  uns  keine  Erklärung.  Wir  wissen 
nur  das  eine,  daß  die  St  rahle  nempfind  lieh - 
keitdereinzelnenZellartenungefährder 
Lebhaftigkeit  der  in  ihnen  ablaufenden 
Wachstumsvorgänge  proportional  ist. 
Die  Zellen  sind  um  so  empfindlicher,  je  kürzer 
ihre  Lebensdauer  ist,  je  schneller  sie  sich  ver- 
mehren und  durch  neue  Zellen  ersetzt  werden, 
je  lebhafter  also  die  Teilungsvorgänge  innerhalb 
der  Kerne  des  betreffenden  Gewebes  sind.  Eine 
sehr  lebhafte  Neubildung  finden  wir  aber  gerade 
bei  den  hochempfindlichen  Zellen,  den  weißen  Blut- 
körperchen; in  geringerem  Grade  auch  bei  den  Keim- 
drüsenzellen und  bei  den  Dcckepithelzellen  der 
Haut  und  der  Schleimhäute,  in  noch  geringerem 
Grade  bei  den  Epithelien  der  Drüsen.  Die  un- 
empfindlichen Zellen,  die  Zellen  der  Bindesubstanzen, 
des  Knorpels  und  Knochens  vermehren  sich  dagegen 
wenigstens  beim  erwachsenen  Menschen  nur  sehr 
langsam.  —  Man  kann  aus  diesen  Tatsachen  den 
Schluß  ziehen,  daß  die  Zellen  während  der 
Kernteilung  der  Strahlenwirkung  am 
meisten  zugänglich  sind.  Wir  kommen 
noch  darauf  zurück. 

Ich  komme  nun  zur  Nutzanwendung  dieser 
Erkenntnisse  auf  die  Bestrahlung  der  bös- 
artigen Geschwülste.  Wir  unterscheiden 
zwei  Formen  von  bösartigen  Geschwülsten ,  den 
Krebs  und  das  Sarkom;  beide  wachsen 
schrankenlos  zerstörend  in  die  Umgebung  hinein, 
auf  Kosten  des  Organismus,  der  ihnen  schließlich 
zum  Opfer  fällt.  Es  sind  aber  ganz  andere  Zellen, 
die  den  Krebs  und  das  Sarkom  zusammensetzen. 
Der  Krebs  geht  von  den  Epithelien  aus,  d.h. 
von  den  Deckzellen  der  Haut,  der  Schleimhäute 
und  der  Drüsengänge,  das  Sarkom  aber  von  den 
Bindesubstanzen,  zu  denen  das  Bindegewebe, 
der  Knorpel  und  Knochen,  ferner  auch  das  Lymph- 
gewebe und  das  Knochenmark  gehört.  —  Bei denbös- 
artigen  Geschwülsten  finden  wir  nun  ganz  dieselben 
Unterschiede  in  der  St  ra  hl  enempfindlichkeit 
wie  beim  normalen  Gewebe.  Die  Zellen  der  Ge- 
schwülste sind  im  allgemeinen  ebenso  strahlen- 
empfindlich wie  die  Zellen  des  Mutter- 
gewebes, von  denen  sie  ausgegangen  sind,  nur 
ist  ihre  Strahlenempfindlichkeit  durchschnittlich 
und  gleichmäßig  etwas  größer,  als  die  des  Mutter- 
gewebes, weil  die  Zellen  der  schnell  wachsenden 
bösartigen  Geschwülste  in  lebhafter  Vermehrung 
und  Teilung  begriffen  sind  (s.  o.) 

Unter  den  Sarkomen  gibt  es  Geschwülste 
von  höchster  Strahle  nempfindlichkeit, 
(z.  B.  die  sogenannten  Lymphosarkome,  die  von 
den  Zellen  des  lymphatischen  Gewebes,  den 
Lymphocyten  ausgehen),  die  nach  der  Bestrahlung 
manchmal  wie  Butter  an  der  Sonne  innerhalb  von 
wenigen  Tagen  verschwinden.  Leider  gibt  es  aber 
auch  Sarkome,  d i e  auf  die  Strahlen  gar  nicht 
oder  fast  gar  nicht  reagieren,  z.  B.  die 
häufigen    von    der  Knochenhaut  ausgehenden  Ge- 


schwülste, die  die  geringe  Strahlenempfindlich- 
keit mit  ihrem  Muttergewebe  teilen  und  deshalb 
mit  Radium-  oder  Röntgenstrahlen  kaum  angreif- 
bar sind. 

Etwas  gleichmäßiger  liegen  die  Verhältnisse 
bei  den  viel  häufigeren  und  wichtigeren  K  rebs - 
gesell  Wülsten,  deren  Zellen  im  allgemeinen 
die  ziemlich  hohe  Strahlenempfindlichkeit  der 
Deckepithelien  zeigen.  Wie  diese  zerfallen  auch 
die  Zellen  des  Krebses  nach  der  Bestrahlung 
ganz  allmählich  innerhalb  von  Wochen  unter  den 
Zeichen  der  fortschreitenden  Kerndegeneration. 
Die  Krebse  der  Schleimhäute  reagieren  etwas 
weniger  gut  als  die  der  äußeren  Haut  und  die 
Krebsgeschwülste  der  Drüsen  noch  etwas  weniger, 
aber  spezifisch  zu  beeinflussen  sind  sie  offenbar 
alle.  Man  kann  sie  ohne  schwere  Schädigung  des 
umgebenden  gesunden  Gewebes  durch  die  Be- 
strahlung zerstören  —  so  lange  sie  sich  nicht  im 
ganzen  Körper  veilireitet  haben. 

Aus  diesen  Ausführungen  geht  also  hervor, 
daß  die  St  rahle  nempfindlichkeit  der  Ge- 
schwülste sehr  verschieden  ist.  Ferner  sieht 
man,  daß  die  meisten  Geschwülste,  vor  allem  alle 
Krebsgeschwülste,  weniger  strahlenemp- 
findlich sind  als  manche  normale  Zellen, 
insbesondere  die  weißen  Blutzellen  und  ihre 
Bildungsstätten.  Wir  müssen  also,  wenn  wir  Ge- 
schwülste an  solchen  Stellen  bestrahlen,  an  denen 
die  Strahlen  auch  diese  normalen  Organe  treffen 
müssen,  damit  rechnen,  daß  an  ihnen  Zellzer- 
störungen frühzeitiger  und  in  größerem  Umfange 
auftreten  als  an  der  Krebsgeschwulst  selbst.  Die 
dadurch  bedingte  Gefahr  scheint  aber  bei  vor- 
sichtigem Vorgehen  und  bei  Bestrahlung  nicht  zu 
ausgedehnter  Partien  des  Körpers  nicht  sehr  groß 
zu  sein,  weil  gerade  die  hochempfindlichen  sich 
schnell  vermehrenden  Zellen,  insbesondere  die 
weißen  Blutzellen,  auch  eine  sehr  ausgesprochene 
Regenerationsfähigkeit  besitzen. 

Wie  kommt  es  nun  eigentlich,  daß 
die  lebende  Zelle  durch  Röntgen-  und 
Radi  umstrahlen  beeinflußt  wird?  Welche 
Kräfte  sind  dabei  wirksam .? 

Eine  befriedigende  Antwort  auf  diese  Frage 
können  wir  heute  noch  nicht  geben,  trotz  aller 
Arbeit,  die  man  auf  die  Lösung  dieses  Problems 
verwandt  hat.  Wir  stecken  da  noch  ganz  in  den 
Hypothesen. 

Man  kann  bei  der  Erklärung  zunächst  an  die 
bekannten  physikalischen  Wirkungen  der 
Strahlen  anknüpfen,  d.  h.  an  die  Fähigkeit,  nicht 
leitende  Körper  zu  ionisieren,  d.  h.  leitfähig  zu 
machen  und  an  die  Eigenschaft,  Fluoreszenz  zu 
erregen.  Daß  derartige  Vorgänge  sich  auch  im 
lebenden  Gewebe  abspielen ,  ist  sehr  wahrschein- 
lich, doch  ist  es  bisher  nicht  möglich  gewesen, 
über  Vermutungen  in  dieser  Hinsicht  hinauszu- 
kommen. 

Man  kann  ferner  auf  die  Tatsache  zurückgreifen, 
daß  die  Strahlen  die  Eigenschaft  haben ,  überall 
dort,    wo  sie  auftreffen,    wo  sie  in    ihrer  Bahn  ge- 


N.  F.  XIII.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


309 


hemmt  werden,  eine  sekundäre  Strahlung 
hervorzurufen.  Diese  Sekundärstrahlung  ist  z.  T. 
eine  körperliche,  eine  Elektronenstrahlung,  d.  h. 
die  auftreftenden  Primärstrahlen  sind  imstande,. 
Elektronen  aus  dem  getroftenen  Gewebe  heraus- 
zuschleudern. Zum  anderen  Teil  ist  die  Sekundär- 
strahlung eine  Atherbewegung,  wie  die  Röntgen- 
strahlen und  die  y-Strahlen  des  Radiums,  und  dann 
in  ihrer  Stärke  von  dem  Atomgewicht  der  betreffenden 
Substanz  abhängig.  Man  kann  sich  nun  wohl  vor- 
stellen, daß  dieser  Vorgang  der  Sekundärstrahlung 
mit  einer  Zerreißung  des  Zellzusammenhaltes  ver- 
bunden ist,  und  kann  diese  Annahme  auch  zur 
Erklärung  des  explosiven  Kernzerfalls  an  den  hoch- 
empfindlichen Zellen  gelten  lassen.  Ferner  ließe  sich 
auch  die  verschiedene  Reaktion  der  einzelnen 
Zellarten  auf  diese  Weise  erklären,  da  die  ver- 
schiedene chemische  Zusammensetzung  der  Ge- 
webe die  Art  und  Stärke  der  Sekundärstrahlung 
bestimmt.  Aber  diese  Theorie  liefert  uns  keine 
Erklärung  für  die  zwischen  Bestrahlung  und  Ein- 
tritt der  Reaktion  liegende,  u.  a.  bis  zu  mehreren 
Monaten  betragende  Latenzzeit. 

Man  hat  auch  die  chemische  Wirkung 
der  Strahlen,  die  wir  von  der  photographischen 
Platte  her  kennen,  zur  Erklärung  des  biologischen 
Effektes  herangezogen.  Schwarz  hat  schon  1903 
die  Beobachtung  gemacht,  daß  sich  bei  der  Be- 
strahlung von  Hühnereiern  eine  Verfärbung  und 
Geruchsveränderung  des  Eidotters  entwickelt,  die 
durch  Zerstörung  des  charakteristischen  F"ettstoffes 
des  Dotters,  des  Lezithins  bedingt  ist.  Bei  weiterer 
Verfolgung  dieser  Untersuchungen,  um  die  sich 
namentlich  Werner  verdient  gemacht  hat,  hat 
sich  herausgestellt,  daß  die  Einverleibung  des 
durch  Strahlen  zerlegten  Lezithins  und  seiner 
synthetisch  darstellbaren  Spaltungsprodukte  (in 
erster  Linie  des  Chol  in)  im  Tierkörper  ähnliche 
Veränderungen  hervorruft  wie  die  Bestrahlung 
selbst.  Daran  hat  man  die  Hypothese  geknüpft, 
daß  die  Strahlenwirkung  durch  Lezithinspaltung 
zu  erklären  sei  und  daß  die  nach  der  Bestrahlung 
auftretenden  histologischen  Veränderungen  auf 
einer  Giftwirkung  des  abgespaltenen  Cholins  be- 
ruhen. 

Die  chemische  Erklärung  der  Strahlenwirkung 
ist  aber  sicher  nicht  ganz  zutreffend.  Zwar  ist 
es  richtig,  daß  man  durch  Einspritzung  von  Cholin 
strahlenähnliche  Veränderungen,  z.  B.  Kernzerfall 
im  Lymphgewebe  und  in  den  Keimdrüsen  und 
auch  gewisse  Hautveränderungen  erzeugen  kann, 
aber  diese  Eigenschaft  teilt  das  Cholin  mit 
manchen  anderen  Giften.  Die  Hoffnungen,  die 
man  an  die  Cholinhypothese  knüpfte,  nämlich  bös- 
artige Geschwülste  durch  Einspritzung  von  Cholin- 
lösungen  heilen  zu  können,  haben  sich  nicht  er- 
füllt. —  Man  kann  aber  auch  durch  einen  ein- 
fachen Versuch  zeigen,  daß  das  Wesen  der  Strahlen- 
wirkung mit  den  chemischen  Veränderungen,  die 
sie  zweifellos  hervorrufen,  nicht  erschöpft  ist.  Wenn 
man  ein  Kaninchen  zur  Hälfte  bestrahlt,  so  sieht 
man  die  charakteristischen  Strahlenveränderungen 


nur  in  der  exponierten,  nicht  aber  in  der  ge- 
schützten Körperhälfte  auftreten.  Wären  die 
chemischen  Umsetzungen  im  bestrahlten  Gewebe 
so  bedeutend,  so  müßten  die  Spaltungsprodukte 
durch  den  Blutstrom  sofort  im  ganzen  Körper 
herumgetragen  werden  und  überall  die  gleichen 
V^eränderungen  auslösen,  was  tatsächlich  nicht  der 
Fall  ist.  Übrigens  würde  sich  auch  die  Latenz- 
periode  durch  die  chemische  Hypothese  schwer 
erklären  lassen. 

Den  besten  Einblick  in  die  feineren  Vorgänge 
bei  der  Strahlenwirkung  haben  uns  die  hochinter- 
essanten Versuche  von  H  e  r  t  w  i  g  gebracht.  H  e  r  t  - 
w  i  g  fand  bei  der  Bestrahlung  von  Eiern  des  Pferde- 
spulwurms und  von  PVöschen,  daß  die  Bestrahlung 
des  befruchteten  Eies  Anomalien  der  Kern- 
teilung und  des  Furchungsvorganges  nach 
sich  zieht  und  daß  die  Embryonen  entweder  auf 
einem  frühen  Entwicklungsstadium  absterben  oder 
sich  zu  Mißbildungen  weiter  entwickeln.  Die 
gleichen  Mißbildungen  lassen  sich  erzeugen,  wenn 
man  die  Eier-  und  Samenzellen  vor  der  Befruchtung 
isoliert  mit  mittleren  Dosen  bestrahlt,  und  zwar 
ist  der  Effekt  derselbe,  gleich  ob  eine  bestrahlte 
Eizelle  mit  einer  normalen  Samenzelle  oder  eine 
normale  Eizelle  mit  einer  bestrahlten  Samenzelle 
verbunden  wird.  Nun  verhält  sich  aber  die  Masse 
des  Lezithins  der  Samenzelle  zu  der  der  Eizelle 
„wie  ein  Weizenkorn  zu  einem  ganzen  Sack  voll 
Weizen".  Wäre  die  Wirkung  auf  das  Lezithin 
das  eigentliche  Wesen  der  Strahlenwirkung,  so 
müßte  der  Effekt  ganz  verschieden  ausfallen,  je 
nach  dem  die  kleine  Sperma-  oder  die  große  Ei- 
zelle bestrahlt  wird.  Das  ist  aber  nicht  der  Fall. 
Die  Gleichartigkeit  des  Effektes  in  beiden  Fällen 
weist  vielmehr  darauf  hin,  daß  die  Strahlenwirkung 
an  denjenigen  Teilen  der  Zellen  angreift,  die  in 
der  Ei-  und  Samenzelle  in  gleicher  Menge  vor- 
handen sind.  Das  sind  die  Elemente  des 
Zellkerns,  die  Chromosomen. 

Die  Hert wig'schen  Untersuchungen  führen 
uns  aber  noch  weiter.  Es  hat  sich  nämlich  heraus- 
gestellt, daß  die  isolierte  Bestrahlung  der  Samen-  und 
Eizelle  vor  der  Befruchtung  ziemlich  normale 
Individuen  entstehen  läßt,  wenn  mit  sehr 
hohen  Dosen  bestrahlt  wird,  während  eine  ge- 
ringere Bestrahlung,  wie  eben  erwähnt,  Miß- 
bildungen hervorruft.  Diese  anscheinend  paradoxe 
Erscheinung  erklärt  sich  dadurch,  daß  die  nach 
intensiver  Bestrahlung  entstehenden  anscheinend 
normalen  Individuen  haploide  Organismen 
sind,  d.  h.  Organismen,  deren  sämtliche  Zellkerne 
nur  die  halbe  Chromosomenzahl,  nämlich  nur  die 
Chromosomen  des  nicht  bestrahlten  Elters  ent- 
halten. ^)  Die  Chromosomen  der  bestrahl- 
ten Zelle  teilen  sich  nämlich  nicht  mehr 
und  treten  nicht,  wie  in  der  Norm,  mit  in  den 
Komplex     der    Tochter-     und     Enkelzellen     ein. 

')  Daß  solche  haploide  Organismen  bei  Pflanzen  und 
Tieren  vorkommen,  ist  bekannt.  Man  weiß  auch ,  daß  sie 
sich  zu  anscheinend  ganz  normalen  Individuen  entwickeln 
können. 


310 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  20 


Durch  die  Bestrahlung  ist  also  dem 
Samen-  oder  Eikern  die  Fähigkeit  ge- 
nommen worden,  sich  zu  teilen,  nicht 
aber  die  Fähigkeit,  zu  befruchten  oder 
befruchtet  zu  werden. 

Ähnliche  Beobachtungen  hat  auch  Halberstädter 
bei  der  Bestrahlung  von  Trypanosomen  gemacht.  Er  hat 
gefunden,  daß  die  bestrahUen  Trypanosomen  nicht  absterben, 
sondern  sich  in  anscheinend  normaler  Weise  weiter  bewegen, 
daß  sie  aber  die  Fähigkeit,  Aft'en  zu  infizieren,  verloren  haben. 
Offenbar  ist  diese  hähigkeit  an  die  —  durch  die  Bestrahlung 
aufgehobene  —  Vermehrung  der  Parasiten  gebunden.  — 
V.  Wassermann  hat  vor  kurzem  auch  an  Mäusegeschwülsten 
zeigen  können,  daß  die  Strahlen  die  Zellteilung  verhindern 
können. 

Die  Tatsache,  daß  die  Bestrahlung  die  Tei- 
lungsfähigkeit des  Kernes  aufheben 
kann,  ohne  die  Zelle  direkt  abzutöten, 
ist  für  die  Kenntnis  der  biologischen  Strahlen- 
wirkung von  großer  Bedeutung;  sie  erklärt  uns 
vor  allem  die  bisher  so  rätselhafte  lange  Latenz- 
zeit der  Strahlenwirkung:  jede  Zelle  des  Körpers 
hat  eine  bestimmte  Lebensdauer,  nach  deren  Ablauf 
sie  durch  eine  neue,  durch  Zellteilung  entstehende 
Generation  ersetzt  wird.  Bleibt  die  Zellteilung  aus, 
so  verschwindet  die  alte  Generation,  ohne  daß  die 
Lücke  ausgefüllt  wird :  es  entsteht  ein  Gewebsdefekt. 
Je  kürzer  die  natürliche  Lebensdauer  einer  Zelle 
ist,  desto  schneller  muß  das  Ausbleiben  des  Zell- 
ersatzes nach  ihrem  Tode  in  Erscheinung  treten. 
Nimmt    man    solchen    Zellen ,    deren   Lebensdauer 


Neuere  Meteoriteiifiinde  in  Europa. 

Sammelreferat   von   F.  Heide   (Jena). 
[Nachdiuck  verboten.] 

Das  nachfolgende  Referat  umfaßt  die  seit  dem 
Jahre  1900  neu  in  Europa  aufgefundenen  Meteoriten. 
Ihre  Zahl  beträgt  insgesamt  elf,  und  zwar  ein 
Achondrit  (eisenarme  Steine,  im  wesentlichen 
ohne  runde  Chondren),  sechs  Chondrite  (im 
wesentlichen  aus  Bronzit,  Olivin,  Nickeleisen  be- 
stehend, mit  runden  oder  runden  und  polyedrischen 
Chondren),  zwei  Lithosiderite  (Übergänge  von 
den  Eisen  zu  den  Steinen;  kristallinisch-körnige 
Silikate  in  einem  auf  Schnittflächen  zusammen- 
hängend erscheinenden  Nickeleisennetz)  und  zwei 
Meteoreisen. 

Die  Literaturangabe  bezieht  sich  jedesmal  auf 
die  Originalarbeit.  Wer  weitere  Angaben  wünscht, 
der  sei  auf  die  vorzüglichen  Zusammenstellungen 
von  F.  B  er  wert  h  in  Bd.  I,  II,  III  der  „Fort- 
schritte der  Mineralogie,  Kristallographie  und  Petro- 
graphie",  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  L  i  n  c  k 
(Verlag  von  Gustav  Fischer,  Jena),  verwiesen. 
Stein  meteoriten. 

Achondrite.  Am  12.  Juni  1910,  7h25"i 
abends  fiel  bei  dem  Dorfe  Pekkola  in  der  Nähe 
der  Bahnstation  Hietanen  im  Kirchspiele  S  t.  M  i  c  h  e  1 
im  Gouvernement  gleichen  Namens  ein  Meteor- 
stein. Er  wurde  von  L.  H.  Borgström  be- 
schrieben („Der  Meteorit  von  St.  Michel".  Bull. 
Comm.  Geol.  de  Finlande.  Nr.  34.  Helsingfors; 
August  1912;  S.  I — 49;  Tafel  I — III).   Der  Meteorit 


nur  nach  Stunden  zählt  —  wie  dies  vielleicht  bei 
den  weißen  Blutzellen  der  F'all  ist  —  die  Ver- 
mehrungsfähigkeit, so  muß  sich  der  Ausfall  schon 
nach  kürzester  Zeit  bemerkbar  machen,  handelt  es 
sich  um  Zellen  mit  längerer  Lebensdauer,  wie  die 
Epithelien,  so  tritt  die  Wirkung  erst  nach  Tagen 
oder  Wochen,  d.  h.  nach  Ablauf  ihres  Lebens  in 
Erscheinung.  Endhch  werden  wir  überhaupt  keine 
Wirkung  zu  sehen  bekommen,  wenn  wir  solchen 
Zellen  die  Teilungsfähigkeit  nehmen,  die  sich  beim 
ausgewachsenen  Individuum  überhaupt  kaum  mehr 
vermehren  ,  wie  diejenigen  des  Skelettes. ')  Der 
Tod  der  Zelle  wird  dann  mit  dem  Tode  des  Indi- 
viduums zusammenfallen  müssen. 

Durch  die  Vernichtung  der  Zellteilung  lassen 
sich  aber  keineswegs  alle  bei  der  Bestrahlung 
lebender  Zellen  auftretenden  Erscheinungen  er- 
klären. Die  Einwirkung  der  Strahlen  auf  die 
lebende  Zelle  ist  offenbar  recht  komplizierter 
Natur  und  es  ist  uns  vorläufig  nicht  möglich,  alle 
biologischen  Wirkungen  einheitlich  zu  erklären. 
Von  einem  klaren  Einblick  in  die  bei  der  biologi- 
schen Strahlenreaktion  wirksamen  Kräfte  sind  wir 
noch  weit  entfernt  und  es  wird  noch  vieler  For- 
scherarbeit bedürfen,  bis  unsere  theoretischen 
Kenntnisse  der  heute  weit  vorausgeeilten  Praxis 
der  Strahlenbehandlung  folgen  können. 


')  Die  Bestrahlung  der  Knochen  von  kindlichen  Individuen 
hat  aber  starke  Störungen  des  Längenwachstums  zur  Folge  1 


muß  ziemlich  senkrecht  herabgefallen  sein ;  ein 
7  kg  schweres  Stück  hatte  ein  59  cm  tiefes,  ein 
anderes  Stück  von  10  kg  ein  50  cm  tiefes  Loch 
in  die  Erde  geschlagen.  Von  diesen  beiden,  beim 
Aufschlagen  zertrümmerten  Stücken  konnten  6,802 
und  9,650kg  geborgen  werden;  sie  befinden  sich 
in  der  geologischen  Landesanstalt.  Die  Schmelz- 
rinde ist  0,05 — 0,2  mm  dick,  unter  ihr  liegen  eine 
Saugzone  von  0,03 — 0,15  cm  Dicke  und  schließ- 
lich eine  Imprägnationszone  von  0,20—0,45  mm 
Mächtigkeit,  die  mit  Magnetkies  von  der  äußersten 
Zone  imprägniert  ist. 

Die  chemische  Analyse  ergab: 


Fe 

^= 

11,71 

Ni 

= 

1,16 

Co 

= 

0,13 

Cu 

= 

0,01 

SiO., 

:^= 

.39,52 

TiOa 

= 

0,02 

Al„0, 

= 

.3,31 

Cr,0, 

= 

0,56 

FeO 

= 

13,44 

MnO 

= 

0,41 

CaO 

= 

1,64 

MgO 

= 

24,60 

KjO 

= 

0,13 

Na,0 

• 

I,.32 

P 

= 

0,08 

S 

= 

2,22 

100,26    Sp.G.  =  3,557. 


N.  F.  XIII.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


;ii 


Aus  der  Analyse  läßt  sich  folgende  mineralo- 
gische Zusammensetzung  berechnen: 

Nickeleisen   ^  8,71 

Schreibersit  =  0,51 

Magnetkies  =^  6,11 

Chromit        =  0,82 

Olivin             =  43.22 

Bronzit          =  26,25 

Plagioklas     =  14,63 
100,25 

Der  Olivin  ist  sehr  eisenreich;  das  Verhältnis 
von  FeO  :  IVIgO  =  i  :  3,18.  Der  Bronzit  ist  farblos 
und  weist  normale  Eigenschaften  auf;  bei  ihm  ist 
das  Verhältnis  von  FeO  :  MgO  =  i  :  3,73-  Der 
Feldspat  ist  ein  Oligoklas,  Ab^Anj,  mit  sehr  nie- 
driger Doppelbrechung  (höchstens  0,06)  und  einer 
Auslöschung  von  2 — 3".  Das  Nickeleisen  setzt 
sich  zusammen  aus  86,6%  Fe,  ii,8''/o  Ni,  1,5  7o 
Co;  Sa.   100,00 "Z^,. 

Unter  dem  Mikroskop  erweist  sich  der  Meteorit 
als  ein  kristallinisch-körniges  Gemenge  von  vor- 
waltend farblosen  Silikaten  mit  Körnchen  von 
metallischen  Mineralien  und  nur  vereinzelten  Chon- 
dren  oder  Chondrenfragmenten.  Der  Meteorit  ist 
seiner  Zusammensetzung  und  seinem  Gefüge  nach 
als  ein  sehr  chondrenarmer  Rodit  (Ro)  zu  bezeich- 
nen. Der  Verfasser  ist  der  Meinung,  daß  die 
Struktur  des  Steines  das  Resultat  einer  unvoll- 
ständigen Metamorphose  eines  Trümmergesteines 
(Tuffes)  ist,  dessen  Partikelchen  wegen  der  Ab- 
wesenheit jeglicher  Schichtung  keinen  Lufttrans- 
port erlitten  haben.  Daraus  zieht  Borgström 
den  Schluß,  daß  sich  die  meteorischen  Tufife  im 
Gegensatz  zu  den  irdischen  in  einer  extrem  dünnen 
Atmosphäre  gebildet  haben. 

Chondrite.  Am  22.  Januar  1910,  abends 
9V2  Uhr,  fiel  in  Vigarano  Pieve  bei  Ferrara  ein 
Meteorstein,  den  Aristide  Rosati  unter  dem 
Namen  Cariani  beschreibt.  („Mikrosk.  Studium 
des  in  Vigarano  Pieve  bei  Ferrara  im  Januar  1910 
gefallenen  Meteoriten".  Atti.  R.  Accad.  dei  Lincei, 
Roma;  [5];  19.  I.  S.  841—846.  16./VI.  Rom.) 
Der  Meteorit  hat  ein  Gewicht  von  11,5  kg,  seine 
Abmessungen  sind  17,5  :  18,5  :  20  cm.  Die  glän- 
zend schwarze  Schmelzrinde  ist  2  mm  dick. 

Die  Mineralbestandteile  sind  Olivin,  Bronzit, 
Nickeleisen,  Magnetkies;  akzessorisch  Chromit, 
Plagioklas,    Augit,  Glas  und  C-haltige  Substanzen. 

Unter  dem  Mikroskop  zeigen  sich  zahlreiche 
Chondren  von  Olivin  und  Bronzit.  Auch  schwarze 
Chondren  kommen  vor.  Die  Struktur  ist  tufifartig. 
Der  Meteorit  wird  als  schwarzer  Chondrit  (Cs) 
bezeichnet. 

Aus  derselben  Gegend  stammt  der  im  Februar 
1910  gefundene  und  von  Rosati  unter  dem 
Namen  Morandi  beschriebene  Meteorit  (Atti 
R.  Accad.  dei  Lincei,  Roma.  [5]  19.  IL  25—27. 
3./VII.  Rom.)  Er  hat  ein  Gewicht  von  4,5  kg  und 
zeigt  dieselbe  mineralogische  Zusammensetzung 
und  dieselbe  Struktur  wie  der  eben  angeführte 
Meteorit  Cariani. 


99,614') 


Am  28.  April  1904,  6''  20'"  nachmittags  fiel 
unter  donnerartigem  Geräusch  in  der  Umgebung 
der  Dörfer  Gumoschnik,  Wrabewo,  Debuewo 
ein  Meteorstein,  den  G.  Bontschew  untersuchte. 
(„Der  Meteorit  von  Gumoschnik  im  Bezirke  Trojan 
in  Bulgarien."  Mit  einer  topographischen  Skizze 
und  einer  Tafel  mit  einigen  Photographien  und 
Mikrophotographien.  Periodizesko  spisanie.  71.  p. 
373 — 390.  Bulgarisch  mit  deutschem  Auszug. 
Sofia  19 10.)  Von  diesem  Meteoriten  wurden  5 — 6 
Stücke  in  einer  Tiefe  von  10 — 60  cm  gefunden; 
das  schwerste  wog  3,815  kg;  das  Gesamtgewicht 
aller  Stücke  betrug  5,669  kg.  Die  Stücke  sind  in 
des  Richtung  von  N-S  niedergefallen  und  sind  von 
einer  dünnen,  schwarzen  Rinde  bedeckt. 

Die  chemische  Analyse  ergab  folgenden  Befund : 

Magnetischer  Teil  Nichtmagnetischer  Teil 

Fe        =  67,141  SiOj      =  45,980 

Ni        =    2,135  Cr^Og    =     0,062 

Fe^Sg  =    2,028  Fe.,03   =  22,834 

Silikate  =  28,310  FeO      =     4,082 

MnO      ^     0,190 
CaO       =     2,460 
MgO      =  24,470 
100,078 
Die  Analyse  des  gesamten  Meteoriten  ergab: 
Fe         =   15,012 
Ni         =     0,467 
Fe-Sg    =     0,453 
SiOs     =  42,363 
CrjOg  =     0,048 
Fe.Og  =  17,872 
FeÖ      =     3,29s 
MnO     =     0,147 
CaO      =     1,916 
MgO     =  18,998 
Glühverlust  =     0,163 

^ö;734r 

Die  mineralogische  Zusammensetzung  ist:  Oli- 
vin, Enstatit,  Augit,  Nickeleisen,  Magnetkies,  Chro- 
mit und  eine  feinkörnige  bis  dichte  Masse  von 
unbestimmter  Natur. 

Die  Farbe  des  Meteoriten  ist  grau,  übersät 
mit  schwarzen  und  braunen  Pünktchen,  die  von 
Eisen-  und  Erzteilchen  herrühren.  Die  Struktur 
ist  tuffös.  Chondren  treten  sehr  zahlreich  auf  und 
lassen  sich  zum  Teil  aus  der  Grundmasse  loslösen. 
Sie  bestehen  aus  Olivin  und  Enstatit. 

Der  Meteorit  ist  der  zweite  in  Bulgarien  auf- 
gefundene. 

In  den  Comptes  rend.  beschreibt  Meunier 
einen  Meteoriten,  der  am  30.  Juni  1903  beim  Gute 
K  e  r  m  i  c  h  e  1 ,  Gemeinde  Limerzel,  Kanton  Roche- 
forten-Terre  (Morbihau)  gefallen  ist.  („Sur  deux 
meteorites  frangaises  recemment  parvenues  au  Mu- 
seum et  dont  la  chute  avait  passe  inapergue". 
C.  r.  Bd.  154,  1912.  S.  1739  — 1741.)  Aufgefunden 
wurde  dieser  Meteorit  erst  am  10.  April  191 1. 
Infolge  des  langen  Liegens  war  der  Meteorstein 
schon  ziemlich  verwittert. 


')  Im  Original  stellt  99,814. 


312 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  20 


Die  chemische  Analyse  ergab: 


SiO, 

=  36,60 

MgO 

=  24,14 

CaO 

=  Spur 

K„0 

=     1,64 

Na^O 

=      1,70 

AUO, 

=     8,00 

Fe„0, 

=     2,90 

FeO 

=    21,60 

Ni,03 

=     1,20 

97.78 

Die  Struktur  ist  klastisch.  In  einer  schwärz- 
lichen Grundmasse  liegen  zahlreiche  metallisch 
glänzende  Körnchen  von  Nickeleisen.  Die  Silikat- 
körner sind  teilweise  von  Kristallflächen  begrenzt. 
Nach  der  in  Frankreich  gebräuchlichen  Klassifika- 
tion der  Meteoriten,  die  vonMeunier  aufgesteUt 
wurde,  ist  der  Meteorit  dem  Typus  der  Luceite 
(Olivin,  Bronzit  und  Enstatit;  Struktur  sehr  fein) 
zuzuweisen. 

Am  30.  November  1901  fiel  mittags  um  2  Uhr 
ein  kristallinischer  Kügelchenchondrit  (Cck)  im 
Chervatt  ez- Walde  bei  Chatillens,Waadt,  Schweiz. 
Er  wurde  beschrieben  von  M.  Lugeon.  („Le 
met.  de  la  Chervettaz.  Bull,  des  laboratoires  de 
Geol.,  Geogr.  etc.  de  l'universite  de  Lausanne. 
Nr.  6,  1904.  S.  487 — 496.  S.  a.  Bull.  Soc.  Vau- 
doise  de  sience  natur.  iO.  Nr.  149.  Der  Meteorit 
ist  800  g  schwer  und  hätte  beim  Niederfallen 
beinahe  einen  Waldarbeiter  getroffen. 

Weitere  Angaben  können  nicht  gemacht  werden, 
da  es  dem  Ref  trotz  aller  Bemühungen  unmög- 
lich war,    in   die  angeführte  Literatur  einzusehen. 

Der  Meteorit  von  H  vittis  fiel  am  21.  Oktober 
1901  kurz  vor  12  Uhr  mittags  im  Kirchspiel 
Hvittis,  AboLän,  Finnland,  unter  donnerähnlichem 
Getöse.  Er  wurde  der  geologischen  Kommission 
eingehändigt  und  von  L.  H.  Borgström  unter- 
sucht. („Die  Meteoriten  von  Hvittis  und  Marja- 
lahti."  Diss.,  Helsingfors  1903.)  Sein  Gewicht 
beträgt  14,050  kg,  die  Abmessungen  sind  28X23 
Xi3,S  cm.  Die  Form  ist  gerundet,  länglich  ab- 
geplattet. Er  gehört  zu  den  ,, orientierten"  Me- 
teoriten. Die  Brustseite  ist  kuppeiförmig  und  mit 
einer  nur  rund  0,1  mm  dicken  Rinde  bekleidet. 
Die  Rückenseite  ist  ausgefüllt  mit  flachen  Gruben, 
die  Rinde  ist  hier  2 — 3  mal  so  dick  wie  auf  der 
Vorderseite. 

Der  Meteorit  besteht  hauptsächlich  aus  einer 
feinkörnigen  Mischung  von  Silikaten  mit  metalli- 
schem Nickeleisen  und  Sulfiden.  Die  chemische 
Analyse  ergab : 


SiOj 

= 

41.53 

Fe 

^= 

24,66 

FeO 

= 

0,34 

Ni 

= 

1,96 

Co 

= 

0,07 

A1,0, 

^ 

I.S5 

Cr,0, 

= 

0,57 

CaO 

= 

1,41 

K^O  = 
Na,0  = 

0,32 
1,26 

S  = 
P         = 

3.30 
0,08 

100,28 
Die  aus  dieser  Analyse    ermittelte  mineralogi- 
sche   Zusammensetzung    ergab   folgenden  Befund: 
Oldhamit  (CaS)  =    o,861 


Daubreelith(FeSCr.,S3)=    0,57^8,74  °/o  Sulfide 

Magnetkies  =    7,31) 

Schreibersit  =    0,50(  22,0  ^/^  gediegen 

Nickeleisen  =  21,50)  Metalle  u.Phosphor 

•instatit  =59,Oi\g8  8    0/    Siiij-^te 

Oligoklas  =    9,86(      '  ^    '<• 

Chromit  =    0,32}  0,32  %  Chromit 

Der   Enstatit    kommt    in    bis    1,5   mm    langen 
Kristallen    oder    als  Cliondren   vor.     Seine  Dichte 
beträgt  bei  sorgfältig  gereinigtem  Material    3,217. 
Seine  Zusammensetzung  ist: 
SiO,      = 


Al,03 

FeO 

CaO 

MgO 

Na^O 

K,0 


59.05 
1,09 
0,90 

:        0,98 

37.10 
:        0,68 

■     °'4L 

100,27 

Er  ist  also  fast  eisenfrei.  Der  Plagioklas  ist 
später  auskristallisiert  als  der  Enstatit  und  bildet 
zuweilen  eine  „Zwischenklemmungsmasse"  zwischen 
den  Enstatitkristallen.  Hin  und  wieder  findet  man 
Schnitte,  die  aus  Lamellen  aufgebaut  sind.  Seine 
Dichte  ist  2,60 — 2,65.     Die  Analyse  ergab: 

AbjAni 


SiO,     =  63,5 

SiO.,      =  63,3 

AloOg       =      22,2 

AUOg  =  23,1 

CaO      =     4,0 

CaO     =     4,2 

Na,0    =     9,2 

Na,0    =     9,4 

K,0     =     1,1 

KjO     =     0,0 

100,0 


100,0 


MgO    =  23,23 


Der  Plagioklas  ist  demnach,  wie  sich  aus  der 
daneben  angeführten  Analyse  des  Oligoklases 
(Ab^AnJ  ergibt,  ein  Oligoklas,  wofür  auch  der 
optische  Befund  spricht.  Der  Oldhamit  erscheint 
in  mikroskopischen  Präparaten  als  kleine,  hell 
braungelbe,  isotrope  Körnchen  mit  zwei  gleich 
gut  entwickelten,  aufeinander  senkrecht  stehenden 
Spaltrichtungen.  Das  Nickeleisen  bildet  Körner 
und  Klümpchen  bis  zu  2  mm  Durchmesser.  Seine 
Zusammensetzung  wurde,  wie  folgt,  berechnet: 

Fe    =  91,11 

Ni    =     8,56 

Co    =    0,33 

100,00 

Der  Magnetkies  bildet  kleine  goldgelbe  Körner. 
Der  Daubreelith  wurde  im  Hvittis-Meteoriten  zum 
ersten  Male  in  einem  Meteorstein  nachgewiesen. 
Graphit  wurde  in  zwei  kleinen  Knollen  von  2  und 
1^/2  mm    Länge    und    etwa    i   mm    Durchmesser 


N.  F.  Xm.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


313 


gefunden.  Ferner  wurden  noch  geringe  Mengen 
Glas  und  eines  unbestimmbaren  Minerals  und 
stellenweise  zahlreiche  Gasporen  beobachtet. 

Der  Meteorit  ist  sehr  fest  und  zäh,  sein  Bruch 
ist  muschelig.  Die  Bruchflächen  haben  eine 
dunkelgraugrüne  Farbe.  Chondren  treten  nur  ver- 
einzelt auf  und  sitzen  sehr  fest  in  der  Grundmasse. 
Sie  werden  beim  Zerschlagen  mit  zersprengt. 
Seinem  Gefüge  nach  besteht  der  Meteorit  aus 
einer  Grundmasse  von  kristallisierten  Silikaten  mit 
eingemengten  Sulfiden  und  Metallpartikelchen, 
sowie  aus  einzelnen  Chondren.  Seiner  mineralogi- 
schen Zusammensetzung  nach  unterscheidet  er 
sich  wesentlich  von  den  übrigen  Chondriten.  In 
ihm  wurde  der  erste  Vertreter  einer  neuen  Meteo- 
ritengruppe erkannt,  nämlich  die  der  kristallinen 
Enstatitchondriten  (Gek.).  ^) 

Eisenmeteoriten. 

Lithosiderite.  Ein  dem  Pallaseisen  von 
Krasnojarsk  sehr  ähnlicher  Pallasit  wurde  im  Sep- 
tember 1902  in  Finnmarken  unter  69''42' n.Br. 
und  22"  13'  ö.  L.  V.  Gr.  gefunden.  E.  Cohen 
veröffentlichte  eine  kurze  Mitteilung  über  ein  ihm 
zugesandtes  Stück  dieses  Meteoriten  („Ein  neuer 
Pallasit  von  Finnmarken".  Mitt.  des  naturw.  Ver- 
eins von  Vorpommern  und  Rügen.  Bd.  XXXV, 
1903,  S.   i).     Der  Meteorit  ist  77,5  kg  schwer. 

Der  metallische  Teil  zeigte  sich  sehr  reich  an 
Nickel.  Er  hinterließ  beim  Auflösen  in  HCl 
einige  schwarze  Körnchen,  die  die  Chromreaktion 
ergaben  und  wohl  als  Chromit  zu  deuten  sind. 
Die  Anwesenheit  von  Schreibersit  lies  sich  eben- 
falls erkennen.  Das  Nickeleisen  zeigte  beim  Ätzen 
prächtige  Widmann  statten'  sehe  Figuren. 

Die  Silikate  werden  von  Wickelkamazit  um- 
geben. Die  deutlich  von  Taenit  umsäumten  Bal- 
ken sind  schmal  und  in  der  Regel  geschart. 
Fülleisen  herrscht  stark  vor.  Kleinere  F"elder  be- 
stehen aus  dunklem ,  feinkörnigem  Plessit  mit 
winzigen  glänzenden  Füttern.  Die  großen  Felder 
wiederholen  auf  das  zierlichste  den  Aufbau  des 
ganzen  Nickeleisens,  indem  kleine,  0,05 — 0,1  mm 
breite  von  Taenit  umsäumte  Balken  und  dunkle 
Felder  —  besonders  unter  dem  Mikroskop  — 
scharf  hervortreten.  Die  Silikate  scheinen  reich- 
lich vorhanden  zu  sein.  Die  noch  erhaltenen 
Olivine  erreichen  eine  Größe  von  1,5  cm  und 
scheinen,  soweit  man  ohne  Dünnschliff  beurteilen 
kann,  aus  kompakten,  gerundeten,  wie  angeschmol- 
zen aussehenden  Kristallen  zu  bestehen. 

Ebenfalls  ein  Pallasit  ist  der  Meteorit,  der  am 
I.  Juni  1902  gegen  10  Uhr  abends  bei  Marja- 
lahti  am  Ladoga-See,  Kirchspiel  Jaakkima, 
Viborgs  Län,  Finnland,  fiel  und  der  von  L.  H. 
Borgström  beschrieben  wurde  („Die  Meteoriten 
von  Hvittis  und  Marjalahti".  Diss.,  Helsingfors 
1903).  Durch  den  Aufprall  wurde  der  Meteorit 
zertrümmert.  Die  größten  Stücke  wiegen  22,7 
und  4,8  kg;    das   gesamte  gefundene  Material  zu- 


sammen 44,8  kg.     Die  Rinde,  die  sich  leicht  ab- 
lösen läßt,  ist  papierdünn  bis  0,5  mm  dick. 

Die  Untersuchung  ergab,  daß  der  Meteorit  ein 
Pallasit  ist.  Er  besteht  hauptsächlich  aus  einem 
Gemenge  von  Nickeleisen  und  Olivin,  untergeordnet 
kommen  Troilit  und  Schreibersit  vor.  Das  Nickel- 
eisen macht  80  "/o  der  gesamten  Masse  aus.  Seine 
Zusammensetzung  ist: 

Fe  =  92,28 

Ni   =     7,13 

Co  =     0,42 

"99,83" 
Beim  Ätzen  treten  Widmannstätten' sehe 
F'iguren  auf  Der  Plessit  ist  nicht  einheitlich,  son- 
dern wird  von  einem  feinkonstruierten  Lamellen- 
system, das  parallel  mit  den  Balken  verläuft,  durch- 
zogen. Der  Kamazit  zeigt  reichlich  „Feilhiebe" 
und  ist  abgekörnt.  Der  Olivin  zeigt  auf  den 
Schnittflächen  eine  gerundete,  polyedrische  Be- 
grenzung und  ist  von  gelblicher  Farbe.  Sein 
spez.  Gewicht  ist  3,3778.  Die  chemische  Analyse 
ergab: 

SiO,  =  40,26 
=  11,86 
0,12 
=  47.26 
=  0,05 
=     0,21 


FeO 

Cr.Og 

MgO 

K,0 

Nä,0 

99.76 
Das  Verhältnis  von  MgO  :  FeO 


')  Als   zu   dieser    Gruppe    gehörig   haben    sich    noch    die 
Meteoriten  von  Pillistfer  und  St.  Marks  in  Südafrilfa  erwiesen. 


7:1.  Der 
Magnetkies  kommt  in  runden  Partikeln  bis  zu  i  cm 
Durchmesser  vor.     Seine  Zusammensetzung  ist: 

Fe  =  63,63 

S    ==  35.93 
99.56 
Der  Schreibersit    ist    weniger    häufig    als    der 
Magnetkies  und  kommt  in  Individuen  bis  zu  0,5  cm 
Durchmesser    vor.      Seine    Dichte   ist  7,278.     Die 
Analyse  ergab: 

Fe   =  55,15 

Ni    =  29,15 

Co  =     0,21 

P     ^  14,93 
99,44 
Der    Meteorit    von    Marjalahti    ist    der    einzige 
Pallasit,  dessen  Fall  beobachtet  wurde. 

Oktaedrite.  Im  Sommer  1906  wurde  ein 
Meteoreisen  bei  Muonionalu  sta  im  nördlichen 
Schweden  gefunden  und  von  A.  G.  Högbom 
beschrieben  (,,Uber  einen  Eisenmeteorit  von 
Muonionalusta  im  nördlichsten  Schweden".  Bull, 
of  the  Geolog.  Inst,  of  the  Univers,  of  Upsala,  9, 
1908  — 1909,  S.  229 — 238.  Mit  I  Tafel).  Sein 
Gewicht  beträgt  7,53  kg,  seine  Dichte  ist  7,9. 
Der  keilförmige  Meteorit  ist  von  vier  Hauptfiächen 
begrenzt,  die  eine  charakteristische  Oberflächen- 
skulptur zeigen  und  der  Lage  von  Oktaederflächen 
entsprechen.  Brust-  und  Rückenseite  sind  deut- 
lich zu  unterscheiden.  Die  den  Meteoriten  ganz 
überziehende    Rostrinde    ist    dünn.      Stellenweise 


314 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  20 


läßt  sich  noch  eine  schwarze  Braiidrinde  erkennen, 
von  der  dünne  Adern  in  das  Innere  des  Meteo- 
riten eindringen. 

Das  Eisen  setzt  sich  zusammen  aus  der  Nickel- 
eisentrias, Magnetkies  und  Daubreelith.  Die  Menge 
der  Trias  beträgt  etwa  99 '%,  Magnetkies  und 
Daubreelith  sind,  nach  Messungen  auf  den  Schnitt- 
flächen, höchstens  0,2  %  vorhanden.  Die  von  R. 
Manzelius  ausgeführte  Analyse  ergab: 

Fe   =  91,10 

Ni    =     8,02 

Co  =     0,69 

Cu  =     0,01 

Cr  =     0,01 

P     =     0,05 

99.88 

C  und  S  wurden  nicht  bestimmt.  Der  Dau- 
breelith bildet  Einschlüsse  im  Magnetkies,  von 
dem  einige  Körner  parallel  den  Widmann- 
stät t en'schen  Lamellen  orientiert  sind. 

Der  Dicke  der  Lamellen  nach  gehört  der 
Meteorit  zu  den  Oktaedriten  mit  feinen  Lamellen 
(Of).  Der  Kamazit  zeigt  den  gewöhnlichen 
Schimmerreflex.  Der  Taenit  weist  keine  Be- 
sonderheiten auf.  Der  Plessit,  der  etwa  1 7  ^l„  der 
Trias  ausmacht,  ist  mitunter  von  feinen  Lamellen 
durchsetzt  und  wiederholt  so  im  kleinen  den 
Aufbau  des  ganzen  Eisens. 

Das  Meteoreisen    von    Westböhmen  wurde 


1909  gefunden  und  von  K.  Vrba  beschrieben 
(„Ein  neuer  Fund  von  Meteoreisen''.  Böhmisch 
im  Anzeiger  der  Akademie  Prag,  1910.  S.  265 
bis  266.  Sitzungsberichte  der  naturw.  Klasse  vom 
27.  Mai  1910).  Das  Gewicht  des  keilförmigen 
Eisens  ist  2,269  kg.  An  den  beiden  breiteren 
Seiten  ist  die  Rostrinde  schon  sehr  stark  ent- 
wickelt, auf  der  dritten  Fläche,  die  eine  Bruch 
fläche  zu  sein  scheint,  ist  sie  dünn. 

Am  Aufbau  des  Meteoriten  beteiligen  sich 
Nickeleisen,  Magnetkies  und  Schreibersit,  dieser 
teilweise  in  der  Modifikation  des  Rhabdites. 

Beim  Ätzen  treten  prächtige  Widmann- 
stätten'sche  Figuren  und  Reiche  nbach 'sehe 
Lamellen  hervor.  Die  Breite  der  Kamazitlamellen 
beträgt  0,5  —  1  mm,  der  Meteorit  gehört  also  zu 
den  Oktaedriten  mit  mittlerer  Lamellenbreite  (Om). 
Die  Taenitbänder  sind  sehr  fein,  der  Taenit  tritt 
auch  als  feine  Lamellen  im  Plessit  auf.  Die  Wider-  I 
Standsfähigkeit  des  Plessits  ist  5  "/„  HNOg  gegen- 
über verschieden  stark.  Der  Magnetkies  bildet 
einmal  die  bis  zu  3  cm  langen  Reiche  nbach- 
schen  Lamellen,  weiterhin  tritt  er  in  ziemlich 
großen  Körnern  auf,  die  Abmessungen  bis  zu 
4,75X2,25  cm  haben  können.  Der  Schreibersit 
begleitet  teilweise  die  Re  iche  nbach 'sehen  La- 
mellen und  umgibt  die  Magnetkieskörner,  teilweise 
kommt  er  auch  selbständig  als  nadeiförmiger  Rhab- 
dit  vor,    dessen    Enden    schief  oder  gegabelt  sind. 


Die  Spalteueruptioii  der  Hekla 
vom  Jahre  1013. 

Von  M.  phil.  Carl  Küchler. 
(Mit  2  erklärenden  Skizzen  nach  der  Natur  im  Te,\te.) 
[Naclidruck  verboten.^ 

Die  Hekla  auf  Island,  der  berüchtigtste  der 
130  bekannten  Vulkane  der  nordischen  Eis-  und 
Feuerinsel,  hat  nach  3 5 jähriger  Ruhe  seit  ihrem 
letzten  Ausbruche  am  Krakatindur  im  Frühjahre 
1878  durch  eine  erneute  gewaltige  Spalteneruption 
im  April  und  Mai  vorigen  Jahres  aufs  neue  von 
sich  reden  gemacht.  Der  Ausbruch  am  Krakatindur 
erfolgte  aus  einer  Reihe  von  14  Kratern  und 
förderte  einen  Lavastrom  von  i'j.j  Meile  Länge 
und  I  —2  km  Breite  bei  einer  Höhe  von  oft  mehr 
als  30  m  zutage.  Die  vorjährige  jüngste  Eruption, 
die  aus  einer  Reihe  von  10  Kratern  erfolgte,  hat 
einen  Lavastrom  von  durchschnittlich  i  km  Breite 
und  etwa  5  km  Länge  bei  einer  Höhe  von  12 
bis  16  m  produziert,  dessen  Volumen  von  60  bis 
80  Millionen  cbm  also  erheblich  hinter  dem  der 
Lava  [des  Krakatindur  zurücksteht.  Aber  trotz- 
dem hat  dieser  jüngste  Lavaerguß  genügt ,  ein 
ehedem  fruchtbar  grünes  Weidegelände,  nach  dem 
die  Bauern  der  nächstliegenden  Bezirke  alljährlich 
ihre  Schafe  zur  Sommerweide  zu  treiben  pflegten, 
die  „Lambafit",  vollständig  zu  vernichten,  während 
die  Lava  des  Krakatindur  sich  über  schon  vordem 
völlig  wüstes  Gelände  ergossen  hat. 


Es  war  mir,  der  ich  im  Sommer  1913  nach 
einem  zweitmaligen  längeren  Aufenthalte  auf  den 
Färöern ')  zum  vierten  Male  auf  Island'-)  weilte, 
vergönnt,  diese  beiden  jüngsten  Ausbruchsstellen 
der  Hekla  zu  besuchen  und  namentlich  als  erster 
die  noch  brennenden  Krater  der  vorjährigen  Erup- 
tion —  wenn  auch  unter  höchster  Lebensgefahr 
—  zu  betreten.  Beide  Ausbruchsstellen  liegen 
ziemlich  entfernt  von  dem  eigentlichen  Hekla- 
stocke,  nämlich  fast  2  geographische  Meilen  weit 
im  Nordosten  dieses,  aber  einander  selbst  ziem- 
lich nahe,  so  daß  wohl  angenommen  werden  darf, 
daß  der  Magmaherd  des  alten  Vulkanriesen  sich 
mehr  und  mehr  nach  dieser  Richtung  verschiebt. 
Von  den  letzten  menschlichen  Wohnstätten  im 
Süden,  dem  Bauernhofe  Galtalaekur  oder  dem 
Pfarrhofe  Fellsmuli  nordwestlich  der  Hekla,  sind 
es  4  bzw.  5  Meilen  trostlosen  Wüstenlandes,  die 
man  zu  Pferde  durchsprengen  muß,  um  zu- 
nächst den  gewaltigen  Lavastrom  des  Krakatindur 
zu  erreichen,  der  nicht  zu  umgehen  ist,  sondern 
vielmehr     selbst     in    mühsamer    Kletterei     über- 


')  Siehe  mein  reich  illustriertes  Reisewerk  „Die  Färber. 
Studien  und  Wanderfahrten"  (München  1913,  Georg  Müller 
Verlag). 

2)  Über  meine  früheren  Reisen  siehe  meine  3  illustrierten 
Reisewerke  ,, Unter  der  Mitternachtssonne  durch  die  Vulkan- 
und  Gletscherwelt  Islands",  Leipzig  1906;  „Wüstenritte  und 
Vulkanbesteigungen  auf  Island",  Altenburg  1909;  und  „In 
Lavawüslen  und  Zauberwelten  auf  Island",  Berlin   191 1. 


N.  F.  Xni.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


315 


schritten  werden  muß.  Dann  hat  man  aber  auch 
sofort  das  —  leider  auf  den  Karten  des  dänischen 
Generalstabs  nicht  mehr  verzeichnete  —  von  den 
düsteren  Höhen  des  Valahnükur,  der  Hrafnabjarga- 
alda,     der    Hrafnabjörg    und     der     Krukagilsalda 


Abb. 


I.     Die  nördliche  Ausbruclisstelle  der  Hekla  vom 
Nach  der  Natur  gezeichnet  von  Carl  Küchl 


umschlossene  Gelände  der  jüngsten  Eruption  vor 
sich  liegen. 

Als  ich  am  19.  Juli  191 3  an  der  zu  meiner 
Rechten  bleibenden  Kraterreihe  des  Krakatindur 
mit  dem  großen  blutroten  Schlackenhügel  des 
Hauptkraters  im  Vordergrunde  vorüberritt,  ehe 
ich  seinen  Lavastrom  selbst  überkletterte,  stieg 
aus  einem  der  Krater  noch  ein  leichter  Rauch  auf, 
ein  Zeichen,  daß  nach  35  Jahren  hier  noch  nicht 
alles  zur  Ruhe  gekommen  war!  Und  dann  lag 
mit  einem  Schlage  das  allenthalben  lebhaft 
rauchende  und  dampfende  unheimliche  jüngste 
Eruptionsgelände  vor  mir,  das  ich  in  einer  mit 
von  dem  anstrengenden  weiten  Ritte  zitternden 
Händen  entworfenen  Bleistiftskizze  (siehe  Abb.  i) 
festzuhalten  suchte,  so  gut  ich  es  vermochte,  da 
keine  photographische  Kamera  ein  Gesamtbild 
des  ganzen ,  mehr  als  3  km  breiten  Komplexes 
hätte  liefern  können. 

Der  schon  an  seinem  Rande  bis  zu  etwa  10  m 
Höhe  ansteigende  wildzerrissene  Lavastrom  war 
hier  jedoch  so  breit,  daß  ich  es  von  dieser  Seite 
kaum  wagen  konnte,  über  dieses  Chaos  hinweg 
bis  an  den  am  lebhaftesten  rauchenden  großen 
Hauptkrater,  dem  er  in  der  Hauptsache  entflossen 
ist,  und  der  mich  am  meisten  interessierte,  hin- 
über zu  gelangen.  Ich  bog  deshalb  nach  rechts 
nach  der  steilen  Krukagilsalda  aus,  die  zu  erklettern 
für  die  seit  9  Stunden  abgehetzten  Pferde  freilich 
nichts  Leichtes  war,  da  ihr  Hang  von  tiefer 
schwarzer  jungvulkanischer  Asche  bedeckt  war, 
durch  welche  die  armen  Tiere  immer  wieder  in 
den  darunter  liegenden  Schnee  einbrachen.  Auf 
ihrer  Höhe  sah  ich  mich  vor  einem  neuen  Hinder- 
nis. Hier  war  der  Berg  von  einer  grundlos  tiefen, 
breiten  Spalte ,  die  von  der  etwa  3  km  weit  im 
Norden  gegenüberliegenden  Hrafnabjargaalda  her- 
kam,   mitten  durchgerissen.     In  sie  hinab  führten 


zwei,  ziemlich  dicht  beieinander  gelegene  enge 
Kraterschlünde,  aus  denen  glühend  heiße  Luft 
heraufstieg,  und  in  denen  ich  keinen  Stein  an- 
schlagen oder  fallen  hörte.  Ein  kleinerer  Lava- 
strom hat  sich  von  hier  aus  über  die  Krukagilsalda 
südwärts  ergossen,  wo  er  ein  kleines, 
auf  der  beigegebenen  Kartenskizze 
(siehe  Abb.  2)  nicht  mehr  verzeich- 
netes Tal  vollkommen  ausfüllt. 
Schließlich  fand  ich  doch  eine  Stelle, 
wo  die  unheimliche  Kluft  von  noch 
warmer  Lava  überbrückt  war,  so 
daß  ich  auch  die  Pferde,  sie  vorsich- 
tig hinter  mir  herziehend,  hinüber- 
brachte, um  nun  die  von  vielen 
kleineren  Nebenspalten  auch  weiter- 
hin zerrissene  Krökagilsalda  wieder 
hinab  auf  die  Helliskvisl  zuzureiten, 
einen  von  (3sten  her  durch  den  Paß 
Lambaskard  kommenden  kleinen 
reißenden  Gletscherfluß,  der  jetzt 
unmittelbar  unterhalb  der  Kröka- 
gilsalda unter  dem  großen  Lava- 
strome von   1913  verschwindet. 


Jahre  19 13 
er. 


Abb.   2. 

Skizze  des  nördlicheren  Heklaausbruches  vom  Jahre   1913. 

Nach   Gudm.  Magnussen    ergänzt    und  verbessert  von 

C.  Küchler. 


Nach  seiner  Durchquerung  gelangte  ich  über 
ein  in  gewaltigen  Erdwogen  aufgetriebenes,  gleich- 
falls von  tiefer  schwarzer  Asche  angefülltes  Ge- 
lände   um    das    östHche    Ende    des    Lavastromes 


3i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  20 


herum  glücklich  in  die  Nähe  des  Hauptkraters. 
Einen  Blick  in  diesen  selbst  zu  werfen,  ist  mir 
leider  nicht  gelungen,  wenn  ich  auch  über  das 
Chaos  hoch  übereinander  getürmter  Lavaplatten 
und  wild  durcheinander  geschleuderter  Lavablöcke, 
aus  dem  eine  fast  unerträgliche  trockene  Hitze 
aufstieg,  bis  an  seine  Außenwände  gelangte ,  da 
mir  schließlich  nicht  mehr  zu  überspringende 
Spalten,  in  denen  die  rotglühende  Lava  floß,  den 
Weiterweg  versperrten.  Bis  auf  die  Höhe  der 
beiden  ihm  vorgelagerten  Nebenkrater  vermochte 
ich  jedoch  durch  die  ätzenden  Salmiakdämpfe 
und  beißenden  Schwefeldampfwolken,  die  mir  von 
dorther  entgegenwehten,  vorzudringen,  indem  ich 
die  dicken  Wollhandschuhe  vor  Mund  und  Nase 
preßte.  Beide  Krater  fand  ich  noch  geschlossen, 
mit  einer  festen  Rinde  gelben  und  weißen  Schwefels 
bedeckt,  die  freilich  an  zahllosen  Stellen  zoll-  bis 
fußbreite  Risse  aufwies,  in  denen  die  rote  Glut 
hell  leuchtete.  Die  Hitze  dieser  Schwefeldecke 
war  so  stark,  daß  ich  trotz  der  dicken  Sohlen 
meiner  Reitstiefel  unablässig  von  einem  Beine 
auf  das  andere  treten  mußte,  wenn  ich  nur  einen 
Augenblick  still  zu  stehen  versuchte.  Eine  etwa 
2  Zoll  starke  Lavaplatte,  die  ich  weiterhin  auf- 
brach und  umwälzte,  brannte  an  ihrer  Unterseite 
noch  hell,  und  aus  dem  aufgerissenen  Loche 
leuchtete    mir    gleichfalls    die   sengende  Glut  ent- 


gegen, so  daß  ich  wohl  oder  übel  zurückweichen 
mußte.  An  Ausscheidungen  habe  ich  wie  hier 
neben  dem  massenhaften  Schwefel  so  auch  in  dem 
Lavastrome  selbst  namentlich  erhebliche  Mengen 
von  Salmiak  vorgefunden. 

Die  gewaltige  Erdspalte,  über  der  sich  auch 
die  6  Krater  des  Talkessels  aufbauten,  verfolgte 
ich  die  Hrafnabjargaalda  aufwärts,  vermochte  vor 
in  sie  hinabgestürzten  Tuffblöcken  und  aus  ihr 
aufsteigenden  Dampfwolken  jedoch  nirgends  bis 
auf  ihren  Grund  hinabzusehen.  In  ziemlicher 
Höhe  entdeckte  ich  mitten  über  ihr  einen  präch- 
tigen Hornito,  in  den  ich  mühelos  hinabzuklettern 
vermochte,  und  noch  weiter  aufwärts  war  sie 
durch  zwei  mächtige  gegeneinandergestürzte  Felsen 
überbrückt,  auf  denen  ich  sie  überschreiten  konnte. 
Auch  dieses  nördliche  Ende  der  Spalte  hat  eine 
kleine  Lavazunge  ostwärts  nach  den  Hrafnabjörg 
zu  entsandt,  und  am  Nordhange  der  Hrafnabjarga- 
alda schließt  sie  mit  zwei  weiteren ,  ziemlich 
großen  Kratern  ab,  die  gleichfalls  noch  lebhaft 
dampften,  mich  aber  nach  den  voraufgegangenen 
Erfahrungen  zu  keinem  näheren  Besuche  zu  ver- 
locken vermochten.  Um  Mitternacht  stieg  ich 
wieder  zu  Tal  und  in  den  Sattel,  um  auf  dem- 
selben Wege  nach  der  Krökagilsalda  zurückzu- 
kehren, von  wo  mich  ein  neuer  nächtlicher  Ge- 
waltritt   nach   dem  fernen  Fellsmuli   zurückführte. 


Einzelberichte. 


Physiologie.  Die  Beweglichkeit  von  Körper- 
zellen. Sie  hat  ihre  Ursache  in  der  Zelle  selbst, 
„Selbstbewegung"  in  der  Roux'schen  Termino- 
logie. Beispiele  dafür  bilden  die  Erscheinungen, 
welche  an  Explantaten,  d.  h.  vom  Körper  eines 
Lebewesens  abgetrennten  und  in  einem  geeigneten 
Kulturmedium  (Ringer'sche  Lösung,  Plasma) 
überlebend  erhaltenen  Teilen  des  Körpers,  von 
H  i  r  ß  -  E 1  i  a  O  s  o  w  s  k  i  beobachtet  wurden  ( Arch. 
f  Entwicklungsmechanik  der  Organismen,  38.  Bd., 
4.  H. ,  1914).  Entsprechende  Versuche  wurden 
angestellt  mit  der  Kaulquappe  des  Grasfrosches, 
Embryonen  der  Forelle  und  des  Huhns.  Durch 
einen  Schnitt  wurde  der  Schwanz  von  3 — 4  Wochen 
alten  Kaulquappen  nahe  dem  Rumpf  quer  abge- 
schnitten und  in  die  verdünnte  Ringer'sche 
Lösung  gebracht.  Nach  24  Stunden  war  die 
Wundfläche  mit  Epithel  überzogen.  Dasselbe  war 
der  Fall  bei  Explantaten  von  Forellenembryonen 
(i — 6  Tage  nach  dem  Ausschlüpfen),  sowohl  bei 
Schwanzstücken,  als  bei  davor  gelegenen  Rumpf- 
stücken mit  zwei  Wuntlflächen.  Die  gleichen 
Erscheinungen  zeigten  die  Embryonen  des  Huhns 
(48 — 60  Stunden  lang  bebrütet).  Durch  einen 
Schnitt  wurden  sie  nach  Entfernung  des  Gefäß- 
hofs in  eine  vordere  und  hintere  Hälfte  zerlegt 
und  bei  37"  in  Plasma  gehalten.  Die  genannten 
Explantate  überlebten  bis  24  Stunden.  Die  Über- 
häutung   der  Wundflächen   geschah    vom  angren- 


zenden Epithel  aus  und  zwar  nicht  durch  eine 
Zellvermehrung  —  wenigstens  waren  nirgends 
Zellteilungsfiguren  zu  sehen  — ,  sondern  durch 
aktive  Ortsbewegung  der  schon  vorhandenen 
Zellen.  Diese  beruhte  auf  einer  gleitenden  Be- 
wegung. Sie  ging  ohne  Pseudopodienbildung  vor 
sich;  Druck-  und  Zugwirkungen  spielten  dabei 
gleichfalls  keine  Rolle. 

Beim  Forellenembryo  wurde  sogar  die  3 — 4  mm 
aus  der  Wundfläche  vorspringende  Chorda  über- 
häutet. Selbst  eine  Regeneration  derselben  trat 
insofern  ein,  als  die  normale  kegelartige  Form 
des  Chordaendes  wieder  hergestellt  wurde. 

Kathariner. 

Chemie.  Eine  einfache  Methode  zur  Erzeugung 
einer  sehr  intensiven  Natriumflamme,  wie  sie  für 
viele  Zwecke  der  Chemie  und  der  Physik  er- 
wünscht ist ,  wird  von  R.  W.  Wood  (Phil.  Mag. 
(6)  '27,  530,  1914)  angegeben.  Legt  man  auf  den 
Rost  eines  Meker-Brenners')  ein  Stück  vom 
Mantel  eines  Auerglühstrumpfs  und  darauf  einige 
Brocken  vorher  bis  zum  Schmelzen  erhitzten 
Kochsalzes  und  zündet  den  Brenner  an,  so  schmilzt 
das  Kochsalz,  verteilt  sich  über  den  Glühstrumpf 
und  verdampft,  da  die  Wärmekapazität  des  Quer- 


')  Über  die  Konstruktion  des  ,,Meker- Brenn  ers" 
wurde  in  der  Nalurw.  Wochenschr.  Bd.  12,  S.  729  bis  730 
(1913)  berichtet. 


N.  F.  XIII.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


317 


mantels  sehr  gering  ist,  außerordentlich  rasch  und 
färbt  die  Mamme  intensiv  gelb.  Nach  der  Angabe 
von  Wood  ist  die  Helligkeit  der  so  erzeugten 
Natriuniflamme  annähernd  so  groß  wie  die  der 
viel  schwerer  zu  handhabenden  Knallgas-Natrium- 
Flamnie.  Mg. 

Zoologie.  Im  Anschluß  an  Beobachtungen 
der  Kopulation  bei  Protozoen  war  die  Meinung 
aufgetaucht,  daß  für  die  unbegrenzte  Dauer 
der  Fortpflanzungsfähigkeit  die  Kopulation  die 
„conditio  sine  qua  non"  sei,  und  daß  Vermeh- 
rung durch  andauernde  .Selbstteilung  zur  Degene- 
ration und  schließlich  zum  Tode  führe.  Daß  dies 
aber  durchaus  nicht  immer  der  Fall  zu  sein  braucht, 
hat  L.  L.  Woodruff  in  einer  interessanten  Arbeit 
mitgeteilt. ')  Er  hat  eine  große  Zahl  von  Rassen 
von  Paraiiiacciitui  aurdia  gezüchtet,  von  denen 
eine  nach  5 '/o  jähriger  Zuchtdauer  die  3340.  Ge- 
neration erzeugte,  ohne  daß  jemals  in  dieser  langen 
Zeit  Konjugation  eingetreten  wäre.  Bemerkens- 
werterweise zeigte  die  Vitalität,  insbesondere  die 
Teilungsgeschwindigkeit  durchaus  keine  Einbuße, 
so  daß  VVoodruff  zu  dem  Ergebnis  kommt,  daß 
das  Altern  und  das  Befruchtungsbedürfnis  nicht 
Grundeigenschaften  der  lebendigen  Substanz  sind. 
„Die  Ausgangszelle  der  3340.  Rasse  hatte  die  Po- 
tenz, ähnliche  Zellen  bis  zu  einer  Zahl  von  2^^^" 
und  eine  Masse  Protoplasma  von  mehr  als  jo"""'- 
mal  der  Masse  des  Erdballes  zu  erzeugen." 

Ferd.  Müller. 

Biologie  der  Hokkohühner.  —  Eine  bemer- 
kenswerte Eigentümlichkeit  aus  der  Biologie  der 
zu  den  Hühnervögeln  gehörenden  neotropischen 
Gattung  Ortalis  teilt  Lowe  mit").  Die  erwach- 
senen „Hokkohühner"  führen  bekanntlich  ein  reines 
Baumleben  und  erbrüten  die  Jungen  in  ziemlich 
sorgfältig  auf  hohen  Urwaldbäumen  angelegten 
Nestern.  Bald  nach  dem  Ausschlüpfen  begeben 
sich  die  jungen  Vögel  auf  die  Erde,  wo  sie  bis 
zur  Erlangung  der  Flugfähigkeit  ganz  wie  unsere 
Hühner  leben.  Sobald  sie  aber  fliegen  können, 
verlegen  sie  ihre  Wohnsitze  auf  die  Bäume.     Das 


*)  L.  L.  Woodruff,  Dreitausend  und  dreihundert  Gene- 
rationen von  Paramaeciiim  ohne  Konjugation  oder  künstliche 
Reizung.  —  Biolog.  Centralbl.,  Bd.   33,   1913,   p.  34 — 36. 

^)  R.  P.  Lowe,  Sorae  notes  and  observations  on  a  Guan 
{Orlalis  orlula).     The  Ibis.    1913.  vol.   I.   p.   283 — 301. 


Baumnisten  dieser  Vögel  darf,  wie  Lowe  ausführ- 
lich darlegt,  nicht  als  ein  Rückfall  in  frühere  Ge- 
wohnheiten betrachtet  werden.  Vielmehr  erblickt 
er  in  dem  Verhalten  der  jungen  Tiere  einen  un- 
vollendet gebliebenen  Versuch  eines  sehr  alten 
Vogchypus,  zur  rein  terrestrischen  Lebensweise 
der  phylogenetisch  jüngeren  Hühnergattungen  über- 
zugehen. Zur  Stütze  seiner  Theorie  zieht  Lowe 
morphologische  und  biologische  Merkmale  heran, 
so  die  F'ärbung  des  Dunenkleides,  die  frühzeitige 
Entwicklung  der  Dunenfedern  bei  gleichzeitiger 
Reduktion  der  äußeren  Handschwingen  und  andere 
den  Hokkohühnern  eigentümliche  Merkmale. 

Ferd.  Müller. 

Spätbruten  der  Ringeltaube.  In  Eutin  (Fürsten- 
tum Lübeck)  hat  R.  Biederman  n -Imhoof ') 
zu  wiederholten  Malen,  so  in  den  Jahren  1910 
und  1911  ,  festgestellt,  daß  die  Ringeltaube  (Co- 
lumba  palumbus  L.)  im  September  und  bis  Mitte 
Oktober  brütete  und  Junge  aufzog.  Als  normale 
Brutzeit  gilt  April  bis  Juni.         Alb.  Heß,  Bern. 

Jedem  Seereisenden  sind  die  ununterbrochen 
dem  Schiffe  folgenden  Vögel  bekannt,  und 
sicher  haben  besonders  die  Möven  die  Auf- 
merksamkeit auf  sich  gezogen,  die  ohne  Flügel- 
schlag horizontal  gleitend  das  Schiff  auf  Windseite 
begleiten.  Es  i.st  klar,  daß  der  horizontale  Gleit- 
flug der  Möven  nur  durch  aufwärts  strebende  Luft- 
ströme ermöglicht  wird.  Der  bekannte  englische 
Ornithologe  Bre  wster  hatte  aber  aus  seinen  Be- 
obachtungen geschlossen,  daß  dies  nicht  immer 
der  Fall  sein  könne  und  der  horizontale  Gleitflug 
deshalb  unerklärlich  sei,  weil  an  den  Beobachtungs- 
tagen das  Schiff  nur  von  rein  horizontalen  Wind- 
stößen getroffen  wurde.  Demgegenüber  zeigt  nun 
A.  F'orbes'-),  daß  durch  die  schnelle  Fortbe- 
wegung des  Schiffes  beim  Durchschneiden  der  Luft 
und  durch  die  den  Schornsteinen  entströmende 
Hitze  vertikal  oder  diagonal  aufsteigende  Luftströme 
gebildet  werden.  Der  Ausgleich  der  nach  unten 
wirkenden  Schwerkraft  durch  diese  Luftströme  ge- 
stattet den  Möven  das  unbewegliche  Gleiten  in 
horizontaler  Richtung.  F.  Müller. 


')  Ornith.  Monatsberichte,  21.  Jahrg.,   1913,  S.  25 — 26. 
2)  Alex.  Korbes,  Concerning  the  flight  of  Gulls.    The 
Auk.  vol.  30.  pag.  359—366. 


Bücherbesprechungen. 

O.  Abel,  „Die  Tiere  der  Vor  weit".     Samm- 
lung   „Aus    Natur    und    Geisteswelt"    Nr.    399. 
Teubner-Leipzig,   1914. 
Der   Inhalt   des    vorliegenden    Heftchens    wäre 
genauer    durch    einen    Titel  „Probleme,  Methoden 
und    Möglichkeiten    der  Paläontologie"    oder    der- 
gleichen  wiedergegeben.     Denn  vom    Leben,    der 
Entwicklung,  dem  Aussehen  der  Fossilien  ist  nicht 
viel    die    Rede;     derartige   Darstellungen    gibt    es 
ja   aber   auch   schon    im  verschiedenartigsten  Ge- 


wände. Ist  so  der  Titel  als  etwas  irreführend  zu 
bezeichnen,  so  ist  es  doch  um  so  erfreulicher,  ein- 
mal ein  neues  wichtiges  Thema  in  gemeinverständ- 
licher Weise  behandelt  zu  sehen,  dessen  Behand- 
lung zur  richtigen  Einschätzung  der  Paläontologie 
und  ihres  Gegenstandes  ganz  gewiß  notwendig 
ist.  Was  der  Verfasser  gibt,  ist  mehr  eine  persön- 
liche Auseinandersetzung  mit  der  Entwicklung  der 
Paläontologie  und  den  Folgen ,  die  sich  daraus 
für  unsere  heutige  Stellungnahme  zu  dieser  Wissen- 
schaft ergeben. 

Die  einzelnen  Kapitel  behandeln :  i .  Das  Quellen  ■ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  20 


material  der  Paläozoologie.  2.  Die  ErschHeßung 
vorvvehlicher  Tierreste.  3.  Die  fossilen  Tiere  im 
Volksglauben  und  in  der  Sage.  4.  Die  Phantasten- 
zeit der  Paläontologie.  5.  Die  Bahnbrecher  der  mo- 
dernen Paläontologie.  6.  Entwicklung,  Fortschritt 
und  Ziele  der  Paläontologie.  Es  sind  höchst  lesens- 
werte Zusammenstellungen  interessanter  Daten, 
die  uns  unter  diesen  Themen  geboten  werden. 
Mag  manches  nicht  neu  sein  und  hier  und  da  im 
Büchlein  selbst  eine  Wiederholung  sich  einge- 
schlichen haben,  die  einzelnen  Kapitel  sind  doch 
gar  wohl  in  sicli  abgeschlossen  und  z.  T.  recht 
lehrreich. 

Die  Einsicht,  daß  die  Paläontologie  der  syste- 
matischen Erschließung  der  Fossilreichtümer 
der  Erde  dringend  bedarf,  will  sie  ein  rechtes  Bild 
von  dem  Tier-  und  Pflanzenleben  der  Vergangen- 
heit bieten,  bricht  sich  neuerdings  allenthalben 
Bahn  und  wird  hier  durch  sehr  einleuchtende  Bei- 
spiele gestützt. 

Innig  zusammengehörig  sind  Kapitel  3  und  4. 
Wie  sehr  Sage,  Aberglaube  und  Wissenschaft  an 
der  Wurzel  ineinander  übergehen,  ist  keineswegs 
genügend  bekannt.  Und  wie  schwer  es  selbst 
führenden  Geistern  zuweilen  gefallen  ist,  ihre  bloße 
Phantasie  von  der  Wirklichkeit  zu  trennen,  welche 
Zeiten  vergingen,  ehe  eine  ernste  Selbstkritik  zur 
unumgänglichen  Mitarbeiterin  erhoben  wurde,  das 
kann  gar  nicht  eindringlich  genug  ausgesprochen 
werden.  Wer  wollte  behaupten,  daß  wir  in  der 
Paläontologie  die  Phantastenzeit  endgültig  hinter 
uns  hätten !  Alles  Für-Wahr-Halten  ist  eben  noch 
kein  Wissen,  und  eine  geschichtliche  Betrachtung, 
wie  sie  hier  geboten  wird,  kann  nur  zu  allergrößter 
Bescheidenheit  auffordern  und  deshalb  sehr  heil- 
sam sein.  Für  ,, modern"  (vgl.  Kap.  5I)  hat  sich 
noch  jede  Zeit  und  jede  Wissenschaft  geiialten 
und  die  näciiste  Generation  sieht  doch  wieder 
weiter  und  klarer.  \'on  bloßen  Maßnahmen,  wie 
der  von  Abel  warm  befürworteten  und  gewiß 
erstrebenswerten  Trennung  der  geologischen  und 
paläontologischen  Leiirstühle  das  Heil  erwarten 
zu  wollen,  erscheint  gerade  in  diesem  Zusammen- 
hange bedenklich.  Obendrein  ist  die  Forderung 
für  „alle  Hochschulen"  doch  wohl  etwas  extrem. 
Die  Befürwortung  einer  Emanzipation  von  der 
(.geologischen  Brille"  scheint  dem  Referenten  oben- 
drein eine  Ungerechtigkeit  gegen  eine  treue  Hel- 
ferin zu  enthalten,  da  ein  P'ossil  zoologisch  und 
biologisch  nie  erschöpft  werden  kann,  sondern  der 
stratigraphisch-geologische  Rahmen  zur  rechten 
Beurteilung  unbedingt  berücksichtigt  werden  muß. 
Doch  kann  und  soll  durch  solche  Einwände,  zu 
denen  mancher  Leser  angeregt  werden  wird,  der 
Wert  des  Büchleins  als  einer  sehr  ausgesprochenen 
und  interessanten  Stellungnahme  des  bekannten 
Wiener  Vertreters  der  ,,Paläobiologie"  nicht  herab- 
gemindert werden.  Vielleicht  liegt  im  Gegenteil 
gerade  in  dieser  Anregung  zu  lebendiger  und  för- 
dernder Diskussion  ein  besonderer  Vorzug  des 
Bändchens.  Besonders  beachtenswert  ist  die  re- 
signierte Auffassung   des  biologischen  Wertes  der 


Wirbellosen  durch  den  Autor.  Auch  da  wird 
mancher  nicht  zustimmen  wollen.  Um  so  allge- 
meiner dürfte  die  Anerkennung  des  wissenschaft- 
lichen Programms  zur  Auswertung  des  fossilen 
Wirbeltiermateriales  sein. 

Wie  ein  großer  Teil  des  Heftes  keineswegs 
allein  für  ein  weiteres  Publikum,  sondern  auch  für 
engere  F'achkreise  bestimmt  zu  sein  scheint,  so 
richtet  sich  auch  die  Aufforderung,  die  Populari- 
sierung der  Paläontologie  nicht  Unberufenen  zu 
überlassen,  die  paläontologische  „Schundliteratur" 
zu  bekämpfen,    unmittelbar   an  die  F"achgenossen. 

Der  Bilderschmuck  darf  nicht  vergessen  werden  : 
Die  Auswahl  der  Illustrationen  ist  sehr  sorgsam 
geschehen  und  das  Ergebnis  recht  instruktiv,  denn 
es  findet  sich  mit  voller  Absicht  gar  manches 
Bild  eingestreut,  wie  es  nicht  sein  soll ! 

E.  Hennig. 

Handbuch      der      mikroskopischen      Technik, 

herausgegeben  von  der  Redaktion  des  „Mikro- 
kosmos". Apparate  und  Arbeitsmethoden  der 
Bakteriologie.  Bd.  I:  Aligemeine  Vorschriften, 
Flinrichtung  der  Arbeitsräume,  Kulturverfahrcn, 
Färbeverfahren,  Bestimmungstabellen.  Von  Dr. 
Adolf  Reitz.  Stuttgart  191 4,  Geschäftsstelle  des 
„Mikrokosmos",  Frankh'sche  Verlagshandlung.  — 
Geb.  3  Mk. 
Das  Heft  stellt  eine  ganz  brauchbare  Anleitung 
zum  bakteriologischen  Arbeiten  dar,  insbesondere 
sind  die  allgemeinen  Vorschriften  sowie  die  Dar- 
stellung der  Apparatur  und  des  Arbeitsplatzes 
recht  gut.  Weniger  einverstanden  würde  man 
schon  mit  der  Beschreibung  der  Nährsubstrate 
sein.  So  ist  die  ja  für  gewöhnlich  notwendige 
Neutralisation  der  Brühe  und  des  Agars  vergessen, 
eine  45  Min.  dauernde  t^rhitzung  der  Nährgelatine 
würde  wohl  nur  in  den  seltensten  Fällen  zur  ab- 
solut sicheren  Sterilisation  ausreichen,  weshalb 
nur  0,3 — O,^"!^  Traubenzucker  genommen  werden 
soll,  ist  nicht  einzusehen,  doch  ist  das  nicht  be- 
langreich. Was  dann  die  Auswahl  der  Methoden 
und  der  Beobachtungsobjekte  anbelangt,  so  wäre 
dem  Zweck  des  Buches  entsprechend  die  Berück- 
sichtigung der  pathogenen  Bakterien  entbehrlich, 
dafür  müßten  aber  mehr  andere  ,, gewöhnliche" 
Formen  herangezogen  werden  und  namentlich 
müßte,  was  ich  für  sehr  wesentlich  halte,  irgendwo 
einmal  angegeben  werden,  wie  man  sich  denn 
überhaupt  Untersuchungsmaterial  beschaft't.  Dann 
fehlt  ganz  die  wichtige  Anleitung  zur  mikro- 
skopischen Beobachtung  der  lebenden  Bakterien 
und  ihrer  Entwicklungszustände,  die  gerade  für 
den  Interessentenkreis  von  großer  Bedeutung  ist. 
Ob  die  Tabelle  zur  Bakterienbestimmung  not- 
wendig ist,  kann  bezweifelt  werden,  man  würde  da 
viel  besser  eine  genaue  Beschreibung  einiger 
häufiger  Bakterien  anschließen,  wobei  immer  an- 
gegeben werden  sollte,  wie  man  sich  das  Material 
beschaffen  kann  und  wo  es  vorkommt.  Man 
würde  also  zusammenfassend  sagen  können,  daß 
das  Heft    wohl  recht    brauchbar   als  Nachschlage- 


N.  F.  Xm.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


?>^9 


buch  für  solche  sein  würde,  die  schon  eine  all- 
gemeine bakteriologische  Vorbildung  haben,  da- 
gegen für  solche,  die  aus  Freude  an  mikrobiolo- 
gischen Arbeiten  sich  auch  den  interessanten 
Bakterien  zuwenden  wollen,  weniger  geeignet 
sein  würde.  Für  diese  wäre  auch  eine  Be- 
schränkung auf  recht  einfache  aber  zuverlässige 
Hilfsmittel  wünschenswert  gewesen.  Miehe. 


Jahrbuch    der   Deutschen  Mikrologischen  Ge- 
sellschaft.   V.Jahrgang  1913.    Inhalt:  Prof  Dr. 
A.  Wagner,    Die  Gesichtspunkte  der  modernen 
Pflanzenanatomie.      Prof.   Dr.    L.    Lämmermayr, 
Einführung  in  die  Elemente  der  physiologischen 
Pflanzenanatomie.      Mit     lo    Abb.      Praktische 
Winke      f.      pflanzenanatom.      Untersuchungen. 
Mit   I  Abb.     M.  Gamgera,  Fortschritte  a.  d.  Ge- 
biet   mikroskop.    Hilfsapparate.      Mit    1 1    Abb. 
München   1914,  Verlag   der  Deutsch,    mikrolog. 
Gesellschaft  E.  V.  L.  —  60  Mk. 
Das  Heftchen  ist  nicht  übel  geeignet  als  hand- 
licher kurzer  Begleit  er  bei  botanisch-mikroskopischen 
Übungen.    Inwieweit  freilich  der  etwas  anspruchs- 
volle Untertitel:  ,,P~ortschritte  der  mikroskopischen 
Technik    und    Erkenntnis"    gerechtfertigt    ist,    ist 
eine    andere    Sache.      Auch    Wagners    (nicht    ge- 
rade kritischer)  Aufsatz  über  den  „verblüffenden" 
I''ortschritt    von    de    Bary    bis   Haberlandt    scheint 
entbehrlich.  Der  praktische  Abschnitt  von  Lämmer- 
mayr ist  aber  für  den   belehrungsuchenden  Laien 
durchaus  zu  empfehlen.  Miehe. 


Johannsen,  Prof  Dr.  W.,  Elemente  der  exak- 
ten Erblichkeitslehre.  Zweite  deutsche, 
neubearbeitete  und  sehr  erweiterte  Ausgabe  in 
30  Vorlesungen.  Mit  33  Abb.  im  Text.  Jena 
191 3,  G.  frischer.  —  Geb.  16  Mk. 
Das  Hauptziel  und  der  Hauptwert  des  ganz 
ausgezeichneten  Johan  nse  n'schen  Buches,  das 
nach  verhältnismäßig  sehr  kurzer  Zeit  bereits  in 
der  2.  Auflage  vorliegt,  besteht  in  der  Darstellung 
der  auf  dem  Gebiete  der  exakten,  d.  h.  nicht 
spekulativ,  sondern  experimentell  vorgehenden 
Vererbungslehre  anzuwendenden  Methodik,  und 
damit  in  der  Erziehung  zu  kritischer  Arbeit  und 
kritischem  Urteil  auf  diesem  bis  in  die  Gegenwart 
hinein  leider,  insbesondere  von  der  Mehrzahl  der 
sog.  Praktiker,  aber  auch  von  Theoretikern  vor- 
zugsweise spekulativ  angebauten  Gebiete.  Überall 
ist  somit  auf  die  rechnerische  Analyse  von  Be- 
obachtungsreihen ,  Kreuzungsexperimenten  usw. 
das  größte  Gewicht  gelegt,  überall  sind  instruktive 
Schulbeispiele  herangezogen,  Tabellen  angeführt 
und  Formeln  entwickelt.  Indem  dadurch  die  zu- 
sammenhängende Darstellung  der  Erblichkeitslehre 
immerfort  unterbrochen  wird,  ja  indem  geradezu 
auf  eine  solche  leicht  faßliche  lehrbuchartige  Dar- 
stellung verzichtet  wird,  ist  die  Lektüre  des  Buches 
nicht  leicht  und  erfordert  die  größte  Hingabe  des 
Lesers.  Um  so  größer  ist  aber  der  Gewinn  und 
wir  können   jedem,    der    nicht  eine  „Einführung", 


wohl  aber  eine  kritische  Darstellung  der  l'unda- 
menle  der  Vererbungslehre  zu  haben  wünscht, 
kein  anderes  Buch  mehr  empfehlen  als  das 
Johannsen 'sehe.  Insbesondere  seien  auch  die 
Zoologen  auf  sein  sorgsames  Studium  hingewiesen, 
weil  sie  manchen  der  hier  vertretenen  Anschau- 
ungen aus  historischen  Gründen  \'oreingenommen 
gegenüberstehen ,  sowie  allen  den  Züchtern  resp. 
denen ,  welche  Zuchtlehre  ex  cathedra  zu  lehren 
haben,  soweit  sie  den  Wunsch  haben,  sich  über 
prinzipielle  Dinge  klar  zu  werden. 

Der  immer  wieder  angeschlagene  Grundton 
des  ganzen  Buches  ist  die  scharfe  Scheidung  der 
realisierten  Erscheinungen  und  des  eigentlichen 
Substrates  der  Erblichkeitsvorgänge  oder  nach 
der  Ausdrucksweise  des  Verfassers  des  „Phäno- 
t\'pus"  und  des  ,,Genotypus".  Nach  einer  auch 
methodisch  sehr  ausführlich  geschilderten  Dar- 
stellung der  alten,  in  Galton  kulminierenden  Ver- 
erbungslehre, die  an  der  Außenseite  gegebener 
Massen  von  Individuen  angreift ,  geht  der  Autor 
zu  der  modernen  über,  die  darauf  ausgeht,  durch 
exakte  Nachkommenprüfungen  das  zu  präzisieren, 
was  in  einzelnen  Individuen  der  „ruhende  Pol  in 
der  Erscheinungen  P'lucht"  ist,  d.  h.  die  Elemente 
der  genotypischen  Konstitution  zu  ergründen.  Er 
geht  da  zunächst  von  seinen  eigenen  seinerzeit 
bahnbrechenden  Untersuchungen  über  die  Erblich- 
keit in  Populationen  und  in  „reinen  Linien"  aus 
(deren  Fortsetzung  übrigens,  wie  Verf  hier  mit- 
teilt, neuerdings  eine  merkwürdige  Anomalie  er- 
geben haben),  betont  die  Ohnmacht  der  Selektion 
und  legt  seine  Nomenklatur  fest.  Dabei  sei  gleich 
hier  erwähnt,  daß  er  im  Gegensatz  zu  seiner  in 
der  ersten  Auflage  vertretenen  Auffassung  den 
strengen  Parallelismus  zwischen  den  ,, Genen"  und 
den  sichtbaren  Eigenschaften  zugunsten  einer 
anderen  Konzeption  fallen  läßt,  nach  der  die  Ge- 
sanitwirkung  des  Erbplasmas  und  die  Variabilität 
seiner  Funktion  infolge  der  Entfaltungsbedingungen 
betont  wird.  Energisch  weist  er  jedoch  die  Potenz- 
variabilität der  Gene  zurück.  Es  folgt  dann  eine 
ausführliche  Behandlung  des  Korrelationsproblems, 
darauf  eine  eingehende  Auseinandersetzung  mit 
den  Anhängern  der  Lehre  von  der  Erblichkeit 
erworbener  Eigenschaften,  die  mit  wirksamen 
Argumenten  bekämpft  wird.  Mendelismus  und 
Mutationstheorie  werden  in  5  weiteren  Vorlesungen 
behandelt  und  im  30.  und  letzten  Kapitel  in 
aphoristischer  Form  Rückblicke,  Anwendung  der 
Erblichkeitslehre  auf  den  Menschen,  Rassenhygiene 
und  allgemeine  Erörterungen  über  Evolution  ge- 
geben. Wertvoll  ist  auch  die  Zusammenstellung 
der  Formeln  und  Zeichen  am  Schluß  sowie  der 
für  die  exakte  Erblichkeitslehre  grundlegenden 
Literatur. 

Die  Schreibweise  ist  sehr  ausdrucksvoll,  oft 
geistreich  und  amüsant.  Es  würde  aber  gewiß 
der  originellen  Sprache  gar  keinen  Abbruch  tun, 
wenn  bei  der  nächsten  Auflage,  die  sicher  nicht 
lange  auf  sich  warten  lassen  wird,  einige  schmerz- 
hafte   Stilwidrigkeiten     (so    der    Komparativ    mit 


320 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  20 


„mehr")  ausgemerzt  würden.     Abbildungen  fehlen 
abgesehen    von  Kurvenbildern   ganz  (absichtlich?). 

Miehe. 

Literatur. 

Röseler,  Prof.  Dr.  Paul  und  Lamprecht,  Oberlehrer 
Hans,  Handbuch  für  biologische  Übungen.  Zoologischer  Teil. 
Mit  467  Textfig.     Berlin   '14,  J.  Springer.  —  Geb.  28,60  Mk. 

Schmidlin,  Prof.  Dr.  Julius,  Das  Triphenylmethyl. 
Bd.  VI  der  ,, Chemie  in  Einzeldarstellungen".  Mit  23  Fig. 
im  Text.     Stuttgart  '14,   Ferd.  Enke.  —  Geb.   8,80  Mk. 

Planck,  Prof.  Dr.  Max,  Neue  Bahnen  der  physikalischen 
Erkenntnis.  Rede,  gehalten  beim  Antritt  des  Rektorats  der 
Friedrich-Wilhelm-Universität  Berlin  am  15.  Oktober  IQI4. 
Leipzig  '14,  Joh.  Ambr.  Barth.  —   t  Mk. 

Procter,  Prof.  R.  H.,  Taschenbuch  für  Gerbereichemiker 
und  Lederfabrikanten.  Kurze  Anleitung  zu  analytischen  Ar- 
beilen. Aus  dem  Englischen  übersetzt  und  unter  Mitwirkung 
des  Verfassers  bearbeitet  von  Ing.-Chem.  Josef  Jettmar.  Dres- 
den und  Leipzig  '14,  Th.  Steinkopff.  —  5  Mk. 

Dr.  Doiiarius  (Joh.  Ed.  Böttcher"),  .Mle  Jahreskalender 
auf  einem  Blatt.     Leipzig  '14,  B.  G.  Teubner.  —  30  Pf. 

Neger,  Prof.  Dr.  F'.  W.  ,  Die  Laubhölzer.  Kurzgcfaßle 
Beschreibung  der  in  Mitteleuropa  einheimischen  Bäume  und 
Sträucher,  sowie  der  wichtigeren  in  Gärten  gezogenen  Laub- 
holzpflanzen. Mit  74  Texlabbild,  und  6  Tabellen.  Sammlung 
Guschen  '14.  —  90  Pf. 

Rothe,  Prof.  Dr.  R.,  Darstellende  Geometrie  des  Ge- 
ländes. Mit  82  Figuren  im  Text.  Leipzig. Berlin  '14,  B.  G. 
Teubner.  —  80  Pf. 

Poincare,  Henri,  Wissenschaft  und  Methode.  Autori- 
sierte deutsche  Ausgabe  mit  erläuternden  .Anmerkungen  von 
F.  u.  L.  Lindeniann.  Bd.  XVll  von  ,, Wissenschalt  und  Hypo- 
these".     Leipzig-Berlin   '14,    B.   G.   Teubner.   —  Geb.   5   Mk. 

Swart,  Dr.  Nikolas,  Die  Stoffwanderung  in  ablcbendcn 
Blättern.     Mit  5  Tafeln.     Jena  '14,  G.  Fischer.  —  6  Mk. 

Haenlein,  Prof.  Dr.  F.  H.,  Das  .Mter  der  Erde.  Fest- 
vortrag, geh.  am  7.  Dez.  1913  anläßlich  der  Feier  des  50jäh- 
rigen  Bestehens  des  Naturw.  Vereins  zu  Freiberg  i.  S.  Frei- 
berg i.  S.  '14,  Graz  u.  Gerlach  (Joh.  Stettner).  —  80  Pf. 

Himmel  und  Erde.  Volksausgabc.  Lieferung  3.  Berlin- 
München  -  Wien.  .MIgemeine  Verlagsgesellschaft  (_i.  m.  b.  H. 
60  Pf,  (Vollständig  in  40  Lieferungen  zum  Gcsamipreisc  von 
24  Mk.) 

Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  Dr.  S.  in  B.  Gibt  es  eine  Arbeit,  die  in  elemen- 
tarer Weise  die  mechanische  Erklärung  der  elektrischen  Er- 
scheinungen behandelt?  Auf  diese  Frage  ist  es  nicht  ganz 
leicht,  zu  antworten,  da  der  Begrifl"  ,, elementar"  nicht  ganz 
eindeutig  ist.  Wenn  man  sich  spez'ell  über  Elektronentheorie 
in  Metallen  orientieren  will,  so  mag  man  mit  Nutzen  die 
beiden  Bändchen  von  J.  J.  Thomson  ,, Elektrizität  und  Ma- 
terie" (Sammlung  Wissenschaft,  Heft  3]  und  ,, Korpuskulartheorie 
der  Materie"  (Heft  25)  zu  Rate  ziehen,  die  recht  leicht  ver- 
ständlich und  sehr  interessant  geschrieben  sind.  Etwas  all- 
gemeiner und  einfacher  sind  gehallen  die  Bändchen  von 
Righi  ,,Die  moderne  Theorie  der  physikalischen  Erscheinun- 
gen (Radioaktivität,  Ionen,  Elektronen)",  deutsch  von  Dessau 
(Barth,  Leipzig  190S)  und  ,,Die  Bewegung  der  Ionen  bei  der 
elektrischen    Entladung",    deutsch    von    Iklc    (Barth,    Leipzig 


1907).  Sehr  einfach  sind  die  „Leichtfaßlichen  Vorlesungen 
über  Elektrizität  und  Licht"  von  Ja  u  mann  (Barth,  1901), 
sie  werden  aber  vielleicht  zu  wenig  das  gerade  enthalten,  was 
gewünscht  wird.  Wenn  der  Herr  Dr.  S.  sich  überhaupt  über 
die  neueren  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  Elektrizität 
unterrichten  will,  so  kann  ihm  sehr  warm  das  leicht  faßliche 
Buch  von  Kalähne  ,, Die  neueren  Forschungen  auf  dem  Ge- 
biete der  Elektrizität  und  ihre  Anwendungen",  in  dem  auch 
ein  Abschnitt  über  Elektronen  enthalten  ist,  empfohlen  werden 
(Quelle  &  Meyer,  Leipzig  1908).  Vielleicht  ist  auch  ein  Hin- 
weis auf  den  Aufsatz  von  Mecklenburg,  Naturw.  Wochen- 
schrift Bd.  Vlll  und  IX,  1909  und  1910  „Die  experimentelle 
Grundlegung  der  .\tomistik",  welcher  als  Sonderabdruck  käuf- 
lich ist  (Falscher,  Jena   1910),  angebracht.  V. 


Herrn  Dr.  H.  in  Üibeon,  Dtsch.-S.-W.-Afrika.  —  Afrika 
nische  Stachelschweine.    —    Sie    machen    Mitteilung    von 


der 


Verwundung  eines  Negers  .am  Knie  durch  einen  Stachel,  den 
nach  der  Aussage  des  Erkrankten  ein  Stachelschwein  auf  ihn 
abgeschossen  haben  soll  und  fragen,  ob  dies  überhaupt  mög- 
lich ist.  Schon  Plinius  erzäült,  daß  das  Stachelschwein 
seine  Stacheln  durch  eine  Spannung  der  Haut  fortschleudern 
könne  und  der  römische  Dichter  O  p  p  i  a  n  schildert  dies  nach 
Brehm  mit  folgenden  Worten:  ,,Die  Stachelschweine  sehen 
erschrecklich  aus  und  sind  die  allergefährlichsten  Tiere.  Wer- 
den sie  verfolgt,  so  fliehen  sie  mit  Windesschnelle,  nicht  aber, 
ohne  zu  kämpfen;  denn  sie  schießen  ihre  todbringenden 
Stacheln  gerade  hinter  sich  gegen  den  Feind  "  Auch  der 
Dichter  Claudian  erwähnt  in  einem  Gedicht  diese  Fähigkeit 
und  warnt  ausdrücklich  vor  zu  großer  Annäherung  an  die 
kampfeslustigen  Tiere.  Wie  Sie  selbst  mitteilen  und  wie  ich 
in  Deutsch  -  Ostafrika  von  Negern  erfahren  habe ,  wird  in 
Afrika  den  Stachelschweinen  die  erwähnte  Schießfertigkeit 
ausdrücklich  zugeschrieben,  auch  Bauern  aus  der  römischen 
Campagna  erzählen  unglaublich  klingende  Geschichten  hier- 
über und  Satuni  n  berichtet  von  den  Bewohnern  des  Kau- 
kasus dasselbe.  Es  ist  nur  auffällig,  daß  die  Tiere  ihre 
furchtbaren  Waffen  niemals  gegen  Menschen  richten,  deren 
Aussagen  jederzeit  nachzuprüfen  sind.  Ich  habe  seit  drei 
Jahren  über  Slachelschweine  gearbeitet,  habe  häufig  die  nicht 
immer  eindruckslose  Bekanntschaft  mit  den  in  unseren  Zoolo. 
gischen  Gärten  befindlichen  Exemplaren  gemacht,  aber  noch 
niemals  ein  ,, .Abschießen"  von  Stacheln  bemerkt.  .Auch  die 
Wärter  der  Tiere  verneinten  jede  dahingehende  Beobachtung. 
Anatomisch-physiologisch  würde  eine  Erklärung  des  willkür- 
lichen Fortschleuderns  der  Stacheln  gleichfalls  auf  Schwierig- 
keiten stoßen.  Denn  die  Stacheln  sind  anatomisch  nichts 
anderes  als  außerordentlich  stark  verhornte  Haare,  und  von 
willkürlich  erfolgendem  Haarausfall  hat  man  bisher  noch  nichts 
gehört.  Die  .Stachelschweine  sind  überhaupt  recht  harmlose 
Geschöpfe,  die  angegriffen  alle  Stacheln  des  Körpers  sträuben, 
mit  den  Hinterfüßen  auf  den  Boden  stampfen  und  mit  den 
hohlen  Schwanzslacheln  ein  rasselndes  Geräusch  erzeugen. 
Bei  diesen  heftigen  Körper-  und  Schwanzbewegungen  fallen 
häufig  Stacheln  aus,  die  wohl  die  Veranlassung  zu  der  Er- 
zählung vom   .Abschießen  der  Stacheln  gegeben   haben. 

Übrigens  kommt  in  Süd-  und  Ostafrika  nicht,  wie  Sie 
schreiben,  Hystrix  cristata  vor,  sondern  eine  durch  den 
Schädelbau  ganz  von  dieser  nordafrikanischen  verschiedene 
Art,  Hystrix  afyicae-atistralis.  Ferd.   Müller. 


Berichtigung.  Das  in  Nr.  14  besprochene  Buch  von 
Fl  as  kam  per  (Die  Wissenschaft  vom  Leben)  kostet  geh. 
nicht  6   Mk.,   sondern  4,50  Mk. 


Onhaltn  Heineke:  Über  die  biologische  Wirkung  der  Radiumstrahlen,  insbesondere  über  die  Strahlenbehandlung  von 
bösartigen  Geschwülsten.  F.  Heide:  Neuere  Meteoritenfunde  in  Europa.  Küchler:  Die  Spalteneruption  der  Hekla 
vom  Jahre  1913.  —  Einzelberichte:  Hirß-Elia  Osowski:  Die  Beweglichkeit  von  Körperzellen.  Wood:  Eine 
einfache  Methode  zur  Erzeugung  einer  sehr  intensiven  Natriumflamme.  Woodruff;  Kopulation  bei  Protozoen.  Lowe; 
Biologie  der  Hokkohühner.  B  i  e  d  e  r  m  a  nn  - 1  m  h  o  o  f ;  Spätbruten  der  Ringeltaube.  Forbes:  Der  horizontale  Gleit- 
flug der  Möven.  —  Bücherbesprechungen:  O.  Abel:  Die  Tiere  der  Vorwelt.  Handbuch  der  mikroskopischen  Tech- 
nik. Jahrbuch  der  Deutschen  Mikrologischen  Gesellschaft.  Johannsen;  Elemente  der  exakten  Erblichkeitslehre. 
—  Literatur ;  Liste.  —  Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den   Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstrafie    IIa,   erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Fulge  13.  Band; 
der  ganzen  Reihe   29.  Band, 


Sonntag,  den  24.  Mai  1914. 


Nummer  31. 


Eine  Kritik  der  Leistunnen  der  „Elberfelder  denkenden  Pferde' 

Von  Prof.   Dr.  Christoph  Schröder,   Berlin. 


[Nachdruck  verboten.] 

Der  Gegenstand  dieser  Darlegungen  ist  in  der 
„Naturw.  Wochenschrift"  bereits  berührt  worden 
(namentlich  von  den  Herren  Prof.  Dr.  H.  v.  B  u  1 1  e  I  - 
Reepen,  „Meine  Erfahrungen  mit  den  denkenden 
Pferden",  1913  S.  241,245  und  257/263;  Prof.  Dr. 
L.  Plate,  „Beobachtungen  an  den  denkenden 
Elberfelder  Pferden  des  Herrn  K.  Krall",  1913 
S.  263/268).  Mich  hatte  s.  Zt.  gerade  der  von 
ersterem  hervorgehobene  Erfolg  mit  4  „unwissent- 
lichen" Aufgaben  veranlaßt,  der  Frage  näher  zu 
treten. 

Als  erstes  Ergebnis  dieser  Studien  habe  ich 
in  der  „Natur"  (Heft  23,  Jahrg.  1913,  S.  543  — 548) 
einen  Beitrag  „Zum  Geheimnis  der  Elberfelder 
denkenden  Pferde"  veröffentlicht,  dem  die  genann- 
ten Autoren  an  gleicher  Stelle  (S.  548 — 550)  einige 
„Anmerkungen"  haben  folgen  lassen,  denen  ich  im 
Hefte  14  (Jahrg.  1914)  derselben  Zeitschrift  erwiderte. 
Von  der  „Deutsch.  Naturw.  Ges."  in  eine  Kommission 
zur  Nachprüfung  der  Leistungen  der  Pferde  designiert, 
habe  ich  mich  bemüht,  zunächst  die  vorliegende 
Literatur  in  monatelanger,  ob  der  oft  ausgesproche- 
nen Kritiklosigkeit  ihres  Inhaltes  recht  wenig  be- 
friedigender Arbeit  sorgfältig  zu  vergleichen. 

Der  Juwelier  K.  Krall  zu  Elberfeld ,  be- 
kanntlich der  Besitzer  jener  Pferde,  hatte 
zwar  zunächst  grundsätzlich  zugesagt,  die  Tätig- 
keit der  übrigens  aus  Zweiflern  und  Gläubigen 
„gemischten"  Kommission  zuzulassen  und  zu 
fördern.  Er  ist  aber  nicht  um  Vorwände  verlegen 
gewesen,  ihren  Arbeitsbeginn  immer  wieder  hin- 
auszuschieben, bis  ihn  die  Zähigkeit  ihrer  Ersucher 
zu  dem  Bekenntnis  veranlaßle,  sie  glatt  abzu- 
lehnen. Die  Leistungen  seien  bereits  hinreichend 
nachgeprüft.  K.  Krall  scheint  hierin  leider  von 
Anhängern  wissenschaftlichen  Namens  —  ich  be- 
tone, nicht  den  oben  genannten  Autoren  —  unter- 
stützt zu  sein ,  die  fürchten  mochten ,  von  einer 
solchen  planmäßigen,  nüchternen  Untersuchung 
eine  Erhöhung  ihres  Ansehens    nicht  zu  erfahren. 

Eine  betreffende  Aufklärung  scheint  daher, 
wenigstens  einstweilen,  nicht  mehr  zu  erwarten. 
Ich  möchte  daher  glauben,  daß  es  auch  für  wei- 
tere Kreise  nicht  ohne  Interesse  sei  zu  erfahren, 
was  eine  kritische  Durcharbeitung  der 
Literatur  dem  obj  ektive  n  Urteil  zu  leh- 
ren geeignet  ist. 

Ich  sehe  klar  genug,  um  zu  wissen,  daß  wir 
uns  nur  des  Strebens  nach  (Objektivität  der  For- 
schung rühmen  sollten.  Dieses  Bestreben  wird 
—  hoft'e  ich  —  die  folgende  Ausführung  nirgend 
vermissen  lassen,   auch  dort  nicht,    wo    mich  die 


Bedeutung  des  Gegenstandes  zu  einer  freimütigen 
Aussprache  nötigt. 

Ich  bitte,  allein  aus  Rücksicht  auf  den 
verfügbaren  Raum,  mich  wesentlich  auf 
die  rechnerischen  Leistungen  derPferde 
in  dieser  Kritik  beschränken  zu  dürfen. 

Wie  ist  Herr  K.  Krall,  Juwelier  in  Elberfeld, 
zu  der  aufsehenerregenden  Entdeckung  des  Denk- 
vermögens der  Pferde  gekommen  ?  Er  war  s.  Zt. 
„von  Anfang  an  dem  Verlaufe  der  Angelegenheit 
gefolgt,  soweit  dies  aus  Zeitungsberichten  möglich 
war"  (''  S.  3);  der  Angelegenheit  nämlich,  wie 
sie  die  bekannten  Unterrichtserfolge  des  Herrn 
W.  von  Osten  zu  Berlin  mit  seinem  „Klugen 
Hans"  bildeten.  ,, Gewichtige  Umstände,  die  von 
scharfen  Beobachtern,  namentlich  von  erfahrenen 
Pferdekennern,  berichtet  wurden",  erachtete  K. 
Krall  als  mit  dem  Urteile  der  W isse nsch af t- 
lichen  Kommission  , .durchaus  im  Wider- 
spruch stehend".  Er  machte  sich  daher  im  Mai 
1905,  als  der  „Kluge  Hans"  schon  vergessen  war, 
mit  W.  von  Osten  persönlich  bekannt,  führte 
sich  in  dessen  Methoden  und  Ideen  ein,  suchte 
diese  auszubauen  und  pflegte  die  Beziehungen  bis 
zu  dessen  Tode  im  Juni  1909.  Der  ,, Kluge  Hans" 
fiel  dann  an  K.  Krall  als  Erbteil.     Aber  schon  am 

1.  November  1908  waren  bei  ihm  2  Pferde,  Hengste 
arabischer  Abstammung,  Muhamed  und  Zarif, 
ersterer  2-  und  letzterer  2 '/.i -jährig,  eingetroffen, 
mit  denen  K.  Krall  versuchen  wollte,  ,,in  das 
schier  undurchdringliche  Gebiet  der  Tierseele 
weiter  vorzudringen"  (''S.  8).  Diese  Genesis 
seiner  tierpsjchologischen  Versuche 
aus  vorgefaßter  Meinung  erklärt  be- 
reits zu  einem  wesentlichen  Teile  die 
Möglichkeit  der  grotesken  Irrungen 
über  die  Bedeutung  des  Erreichten  und  zugleich 
über  das  Wesen  der  Tierseele. 

Die  Tiere  sind  zuvörderst,  wie  es  so  bei 
Menschenkindern  üblich  ist,  im  Lesen  und  Rechnen 
unterrichtet  worden.  Ich  gebe  in  Rücksicht  auf  den 
Raum  nur  die  Anfangsdaten  des  „zeitlichen  Ver- 
laufes des  Rechenunterrichts"  für  Muhamed 
('S.  447  u.  f.;  die  Einer  werden  mit  dem  rechten, 
die  Zehner  mit  dem  linken  Fuß  geklopft):  i.  No- 
vember   1908    (s.    o.)    Eintreffen    der    Pferde.    — 

2.  Nov.  „Übungen  im  Zählen  am  Rechenknecht, 
mit  Paiiptäfelchen  und  Kegeln :  die  Zahlen  i  und  2." 
—  3.  Nov.  „Die  Zahlen  3  und  o  (Bewegung  links- 
rechts)".  —  5.  Nov.  „Lesenler  n  en  von  Zahl- 
Wörtern  [auf  Papptafeln.  Verf.]  eins  zwei  drei 
(in    Verbindung   mit    der    entsprechenden    Anzahl 


322 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  21 


von  Kegeln)".  —  6.  Nov.  „M(iihamedj  zählt  tem- 
peramentvoller als  Z(arif).  Beide  Pferde  wissen, 
daß  sie  zu  scharren  haben,  wenn  etwa  der  Befehl 
erfolgt:  ,Zähle  drei'.  Es  wird  Wert  auf  eine 
schwungvolle  Art  des  Tretens  gelegt.  _Die^ah\_j. 
Hingehen  und  Berühren  der  Zahltafeln  |j_|  |^|  |j_|. 
—  8.  Nov.  ,,Von  links  nach  rechts  liegt  Rot  an 
der  wievielten  Stelle?"  —  9.  Nov.  „M.  gibt  beim 
Zählen  mehrfach  richtige  Antworten".  —  14.  Nov. 
„M.  zählt  bis  zur  Zahl  4  richtig.  Er  lernt  darauf 
das  Zählen  bis  zur  Zahl  10,  sowie  Zuzählen,  Ab- 
ziehen, Malnehmen  und  Ausrechnen  gemischter 
Aufgaben"  (mehr  als  2  Summanden,  Addition, 
Subtraktion,  Multiplikation  zu  einer  Aufgabe  \er- 
eint,  z.  B.  2  +  3  —  I,  2X2+3-  Verf.).  —  1 7.  Nov. 
„M.  Erklärung  der  Zehner  (Ausführung  mit  dem 
linken  Fuß):  ,Die  Zehner  setzen  sich  aus  Einern 
zusammen'.  Nach  einer  halben  Stunde  hat  M.  die 
Zähhveise    begriffen    und    führte  einige  neue  Auf- 


gaben richtig  aus,   z.  B. 


20 
-I-40 


32 
13 


(an    die 


Tafel  geschrieben.  Verf).     M.  Malnehmen  mit  der 


I 

X  3 


nach 


Zahl  3.  Er  führt  Aufgaben -wie 
Igarzer  Unterweisung  richtig  aus;  desgleichen 
IS  X  3  +  2I  l?  X  3  +"41-  Erklärung,  daß  4>3 
^3X4  'St.  Kopfrechnen:  einfache  Zuzählauf- 
gaben. —  18.  Nov.  M.  Teilen:  Aufgaben  ohne 
Rest.     Nach  kurzer  Unterweisung,  die  durch  Bei- 


spiele -  wie  die  beiden  nebenstehenden 


4X2  =  8 
8:2  = 


4X3=  i; 

12:3=  -ergänzt  wird,  rechnet  M.  folgende 
(neue)  Aufgaben  richtig  aus:  8:4;  8:8;  12:6; 
6  :  3  usw.      Zuzählaufgaben    mit    mehreren    zwei- 


stelligen Zahlen,  z.  B. 


r   (d.  h.  richtig  ge- 


löst. Verf.)  67".  —  19.  Nov.  „Spielkarten:  Zählen 
der  Augen.  Deutsche  Reichsmünzen."  —  20.  Nov. 
„Die  Hunderter  (Ausführung  mit  dem  rechten 
Fuß)."  —  21.  Nov.  „M.  Brüche:  Erläuterung  an 
Papierstreifen.  Zähler ,  Bruchstrich ,  Nenner, 
l^-j-^  -|- I  _|- I  =  ||."  —  24.  Nov.  M.  Malnehmen 
mit  der  Zahl  6."  —  25.  Nov.  „M.  Malnehmen  mit 
der  Zahl  O."  —  27.  Nov.  „Zählen  mit  verbundenen 
Augen.      Rechenaufgaben    mit    gedruckten    Zahl- 


eins plus  zehn 
I         +      10 


Wörtern    (zum    Lesenlernen) : 

2.  Dez.  ,,M.  Bruchrechnen  (mit  verschiebbaren 
Holzklötzen)."  —  3.  Dez.  „M.  beantwortet  bei  der 
Wiederholung    einfache    Aufgaben    richtig,    z.  B. : 

II 


,Ein    Ganzes     hat     wieviel    Halbe.-'     |-^ 


+  f 


\l+i=  A-"  —  ^3-  Dez.   „M.   macht  gute  Fort- 
schritte im  Bruchrechnen."   —    14.  Dez.    „M.  Mal- 
nehmen;   Aufgaben    mit    gedruckten    Zahlwörtern 
multipliziere  zwei  mit  drei  .     Er  fängt  an,  seine 


I  //.  Hafer  2  .4 
Regel  de  tri:  3  „  „  ?  „  (//.-,  .Ä-,  „-Zeichenl 
Verf).  Zahlwörter,  sowie  einfache  Aufgaben  in 
französischer  Sprache  (mündlich  und  schriftlich), 
zunächst    in  Verbindungr    mit  den  entsurechenden 


un  et  deux      deux  fois  deux 
Ziffern:      1+2  2X2      ."  —  21.  Dez. 

„M.  zählt  verschiedene  Zahlen  richtig,  die  ihm  in 
französischer  Sprache  genannt  werden:  un,  trois, 
quatre,  dix."    —    28.  Dez.    „M.  Lesenlernen  deut- 


scher und  französischer  Zahlwörter : 


zehn  und  zwei 
dix  et  deux 


—  30.  Dez.  ,,M.  Vorübung  für  das  Rechnen  einer 

(?  =  o! 


unbekannten  Zahl: 


2X5 
.0  + 


10 
10 


Verf.) 


h'ehler    selbst    zu    verbessern."    —     i6.  Dez.    „M. 


2  ,-,  6^12 

10+  ^12  .  Nach  kurzer  Unterweisung  gibt 
er  (bei  neuen  Aufgaben)  die  fehlende  Zahl  richtig 
an."     C  S.  447— 450). 

Usf.  Denn  der  Raum  gestattet  leider  nicht, 
den  Unterrichtsverlauf  weiter  zu  verfolgen;  so  be- 
deutsam gerade  die  Kenntnis  desselben  für  die 
kritische  Prüfung  seines  Ergebnisses  auch  ist.  Die 
wiedergegebenen  Monate  November/Dezember 
werden  —  denke  ich  —  genügen.  „Die  Dauer 
der  gesamten  Unterweisung  betrug  für  jedes 
Pferd  ungefähr  i"., — 2  Stunden  täglich"  ( ^'  S.  I02); 
,,je  eine  Stunde  vormittags  und  eine  nachmittags 
oder  abends"  (  ''  S.  89).  „Nach  einem  Jahre 
mußte  K.  Krall  sich  ,,auf  eine  Stunde  täglicher 
Unterweisung  für  jedes  Pferd  beschränken"  ( ''  S.  89 
und  90).  „Bei  der  Vielseitigkeit  des  Lehrstoffes 
konnte  selbstverständlich  von  einer  regelmäßi- 
gen Wiederholung  des  Durchgenommenen  keine 
Rede  sein"  (''S.  447). 

In  diesen  nicht  selten  überhaupt 
oder  durch  gänzlich  andersartigen 
Lehrstoff  unterbrochenen,  kurzen  2 
Monaten  von  durchschnittlich  höch- 
stens V2  —  Vi  Stunde  täglich  soll  Muha- 
med  gelernt  haben:  das  Verständnis 
des  Zahlenkreises  bis  in  die  Hunderte 
hinein,  die  4  Grundrechnungsarten 
wenigstens  im  ersten  Hundert,  die  Ele- 
mente der  Bruchrechnung,  Regeldetri, 
Vorübung  für  das  Berechnen  einer  Un- 
bekannten; das  alles  nach  Wortlaut 
bzw.  als  Ziffern  oder  Zahlwörter  —  in 
deutscher,  auch  französischer  Sprache 
—  angeschrieben. 

K.  Krall  hat  sich  offenkundig  bemüht,  die 
Methoden  des  menschlichen  Unterrichts  zu  be- 
nutzen. Was  pflegt  ein  Menschenkind  von 
6  Jahren  demgegenüber  zu  begreifen?  Das 
I.Schuljahr  mutet  ihm  die  Grundrechnungsarten 
I  —  20,  das  2.  innerhalb  der  Zahlen  I  — 100,  das 
dritte  in  größeren  Zahlen,  das  4.  in  mehrfach  oder 
ungleichbenannten  Zahlen  (Münzen,  Gewichte, 
Regeldetri)  zu;  usf 

Man    zögere    nicht,    die    ganze  überwältigende 


N.  F.  XIII.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


.123 


Armseligkeit  unserer  über  Jahrtausende  geschul- 
ten Unterrichtserfolge  mit  dem  zu  vergleichen, 
was  K.  Krall 's  schulmeisterliche  Fähigkeiten 
aus  seinem  Muhanied  in  spärlichen  Wochen  schufen  ! 
Vielleicht  aber  hat  der  Lehrmeister  der  Pädagogik 
neue  Bahnen  gewiesen?  Wohl  ist  die  Darstellung 
des  Unterrichtsweges  in  den  dürftigen  Protokollen 
allgemein  sorgfältig  gefeilt;  trotzdem  aber  be- 
gegnet man  nicht  ein  mal  verein  zeit  Lehr- 
proben, die  nur  erstauntes  Kopfschüt- 
teln, bzw.  herzhafte  Heiterkeit  auszu- 
lösen vermögen.  (^'S.  116):  „Das  Bruchrechnen 
brachte  ich  (K.  Krall.  Verf.j  ihnen  bei,  indem 
ich  einen  Papierstreifen  in  zwei,  vier,  acht 
gleiche  Teile  zerschnitt  und  diese  erläuternder- 
weise wieder  zu  einem  Viertel ,  einem  Halben 
und  einem  Ganzen  zusammenfügte;  des  weiteren 
auch,  indem  ich  an  geteilten  Stäben  die  Halben, 
Drittel,  Viertel  usw.  veranschaulichte".  Wieviel 
saure  Kinderplage  könnte  unser  L^nterricht  er- 
sparen, wieviel  spielfreie  Zeit  könnte  er  gewinnen, 
vermöchte  er  so  bequem,  so  schnell  dasselbe  Ziel 
zu  erreichen !  Oder  S.  450  (s.  Auszug) :  „M.  Vor- 
übung für  das  Rechnen  mit  einer  unbekannten  Zahl: 


2  X,  5  ^ 
10  —    = 


10         2X6  =  12 

10  ,  10 -|-  =  12  .  Nach  kurzer 
Unterweisung  gibt  er  (bei  neuen  Aufgaben)  die 
fehlende  Zahl  richtig  an."  Diese  Zusammenstel- 
lung z.  B.  von  2-5=iomitiO  —  x^io,  um 
die  Berechnung  der  Unbekannten  zu  erklären,  be- 
deutet m.  E.  völligen  Unsinn.  Wenn  die  Pferde 
das  Rechnen  mit  einer  Unbekannten  nach  dieser 
„Unterweisung"  betätigt  haben,  so  konnten  sie  es 
eben  schon  vorher;  und  ich  wundere  mich  nur, 
daß  sie  durch  solchen  ,, Unterricht"  nicht  irre  ge- 
worden sind !  Oder  die  Tafel  „zur  Erläuterung 
der  Zehner"  (am   17.  Nov.!  Verf) 


0  I 

23456789 

10 

II 

12  13  14  15  16  17  18  19 

20 

21 

22  23  24  25  26  27  28  29 

3c 

31 

32  33  34  35  36 

40 

41 

42  43  44 

50 
60 

70 
80 

90 

Wahrhaftig,  K.  Krall  hat  auch  hier  versucht, 
seine  Pferde  die  schwierigsten,  wunder- 
lichsten Unt errich  ts wege  zu  führen, 
wenigstens  im  Vergleich  zu  der  minderwerten 
menschlichen  Auffassungsgabe ! 

Derartige  —  kritisch  gesprochen  —  gänzlich 
unwahrscheinliche  Unterrichtserfolee  mit  einer 
jochgewohnten  Kreatur  könnten  uns  nur  zu  leicht 
derart  von  einer  Überraschung  in  die  nächste 
größere  stürzen,  daß  wir  versäumen  möchten  zu 
prüfen,  was  bisher  die  anatomisch- 
physiologischen Untersuchungen  zu- 
nächst der  Sinnesorgane  des  Pferdes 
ergeben    hatten.     K.    Krall    unterrichtet  durch 


das  Wort  und  Tafelschrift  bzw.  Schriftdruck;  er  be- 
ansprucht also  das  Gehör  und  Gesicht  des  Pferdes. 
Es  ist  daher,  bei  der  rein  anthropomorphen  Unter- 
richtsweise, unbedingt  vorerst  zu  fragen,  welcher 
Art  die  betreffenden  Reiz-  und  Wahrnehmungs- 
vorgänge sein  dürften.  Stef.  von  Maday 
('^'  S.  26)  faßt  das  Urteil  dahin  zusammen,  daß 
„das  Gehör  des  Pferdes  dem  menschlichen  insofern 
überlegen  sei,  als  es  viel  leisere  Geräusche  wahr- 
zunehmen vermöge  als  wir,  daß  es  andererseits 
auch  hinter  unserem  Gehör  zurückbleibe,  indem 
das  Pferd  Worte  und  musikalische  Töne  nur  in 
geringem  Grade  unterscheiden  könne. 

Bezüglich  des  Gesichtssinnes  derselbe  Autor 
(S.  15):  „Der  Gesichtssinn  des  Pferdes  steht  dem 
des  ;\Ienschen  im  allgemeinen  nach;,  besonders  die 
genauen  Konturen  und  die  Details  der  Körper, 
dann  die  in  größerer  Entfernung  liegenden  Gegen- 
stände sind  es,  die  vom  Pferde  nicht  unterschieden 
werden.  Diese  Schwachsichtigkeit  ist  ein  Haupt- 
grund für  das  häufige  Scheuen  des  Pferdes.  .  .  .  Die 
Ansicht,  welcher  zufolge  das  Pferdeauge  nicht 
bloß  im  Vergleiche  mit  dem  Auge  des  Menschen, 
sondern  auch  absolut  genommen,  d.  h.  was  seine 
Brauchbarkeit  betrifft,  als  ein  minderwertiges 
Organ  zu  betrachten  ist,  kann  durch  eine  Anzahl 
von  Beobachtungen  gestützt  werden."  So  kommt 
der  Astigmatismus,  eine  Sehstörung,  bei  welcher 
die  Gegenstände  verzogen  und  an  den  Rändern 
verschwommen,  ohne  scharfe  Grenzen  gesehen 
werden,  neben  anderen  Ursachen  derselben  Er- 
scheinung häufiger  vor.  Blinden  Pferden  begegnet 
man  zu  Hunderten;  und  das  blinde  Wagenpferd 
verrichtet  seine  Arbeit  so  gut  wie  das  sehende. 
Der  Mangel  seines  Gesichtssinnes  verrät  sich  kaum 
im  Benehmen  des  Pferdes;  usf.  (nach-'  S.  17/18). 
Diese  Tatsachen  erweisen,  daß  das  Verhalten  des 
Pferdes  allgemein  durch  seine  übrigen  Sinne  be- 
stimmt wird. 

Andererseits  aber  ist  das  Pferdeauge  dem  mensch- 
lichen außer  durch  die  günstigere  Stellung,  die  sie 
fast  den  ganzen  Horizont  auf  einmal  übersehen 
läßt,  insofern  überlegen,  alses  in  seinernäheren 
Umgebung  die  minimalsten  Bewegun- 
gen wahrzunehmen  imstande  ist.      Sei  es 

—  nach  R.Berlin  —  infolge  eigentümlicher  Krüm- 
mungs-  und  Lichtbrechungsverhältnisse  seiner  Ele- 
mente, welche  kleinste  Bewegungen  verhältnis- 
mäßig  größer    erscheinen  lassen    würden.     Sei  es 

—  nach  Oskar  Pfungst  —  wegen  der  im  Ver- 
gleich zur  menschlichen  3  mal  größeren  Ausdehnung 
der  Netzhaut  bei  feinerer  Struktur  der  Stäbchen 
und  Zapfen,  welche  das  Sehen  vermitteln.  Nehmen 
wir  an,  daß  durch  die  Ausbreitung  des  Reizes 
von  einer  bestimmten  Sehzelle  auf  die  benachbarte 
die  Empfindung  eines  bewegten  Lichtpunktes  er- 
zeugt werde,  so  versteht  sich  auch  hiernach,  daß  das 
Pferd  nochsolchekleinsten  Bewegungen  vonObjekten 
bemerken  wird,  welche  unsere  derber  organisierte 
Netzhaut    nicht  zu  fassen  vermag  (nach  -'  S.   18). 

Demgegenüber  „ist  nach  übereinstimmender 
Aussage   der    meisten  Pferdekenner   der  Geruchs- 


324 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  21 


sinn  der  wichtigste  Sinn  des  Pferdes"  ( -'  S.  32). 
Es  darf  jedoch  innerhalb  dieser  Darlegungen  von 
einer  Erörterung  der  Frage  abgesehen  werden, 
wie  weit  dieser  Sinn  etwa  beim  Apportieren  von 
Tafeln  usw.  beteiligt  sein  l<önnte.  Die  gänzlich 
anthropomorphe  Unterrichtsmethode  K.  Krall's 
würde  dem  Riechvermögen  ohnedem  keinen  An- 
teil an  einem  Erfolge  gewähren.  Wenn  nun  so 
auch  die  Möglichkeit  vorliegt,  daß  das  Pferd  auf 
dem  Wege  durch  das  Ohr  zu  Vorstellungen  und 
Assoziationen  solcher  gelange,  bleibt  es  höchst 
unwahrscheinlich,  daß  das  Auge  solche 
ruhenden  Lettern,  gedruckt  oder  ge- 
schrieben, vermitteln  werde.  Es  sollen 
aber  selbst  Photographien  u.  a.  unterschieden,  er- 
kannt werden.  Vielleicht  wäre  es  denkbar,  daß 
die  durch  die  Handführung  (an  der  Tafel)  ent- 
stehenden Schriftzeichen  von  dem  Pferde  schärfer 
wahrgenommen  werden.  Die  Unterrichtsmethode 
K.  Krall's  arbeitet  aber  gerade  auch  mit  ruhen- 
den Lettern;  seine  Unterrichtserfolge  ver- 
fallen daher  von  Anbeginn  wiederum  einem  hohen 
Grade  von  Unwahrscheinlichkeit. 

Seine  L^nterrichtserfolge  im  Rechnen,  welche 
in  der  Fähigkeit  des  Radizierens  von  2.,  3.,  auch  4. 
und  selbst  5.  Wurzeln  gipfeln !  Man  würde  nun 
einen  grundsätzlichen  Irrtum  begehen,  wollte  man 
—  um  die  Kritik  einstweilen  auf  diese  rechnerische 
Höchstleistung  zu  beschränken  —  etwa  auf  Grund 
einzelner  Protokolle  aimehmen,  die  Pferde  hätten 
solche  Aufgaben  in  beliebiger  Mannigfaltigkeit  ge- 
löst. Ich  könnte  hiergegen  eine  ganze  Zahl 
von  gleichen  Wurzelaufgaben  anführen, 
die  sich  beiden  verschiedenstenGästen 
wiederholt  haben.  Teils  zeitlich  zusammen- 
fallend: F.  Hern  pel  mann  (vom  14.  März  1912) 
yig36  :=  r.  44  (Zarif)  und  (vom  15.  März)  f.  43  r. 
44  (Muhamed)  wie  L.  Plate  {*'  vom  5.,  10.  und 
II.  März  1912)  f.  23,  f.  II,  r.  44  (Muhamed)  und 
ebenfalls  O  te  Kloot  C*'  vom  März  1912)  r.  44. 
Oder:  L.  Plate  l'ii56  =  f.  32,  r.  34  (Muhamed) 
wie  Hartkopf  (vom  3.  März  1912;  zitiert  nach 
O.  t  e  K 1  o  o  t ,  S.  28)  ^r.  34  (Muhamed).  Oder : 
F.  Hempelmann  115876  =  r.  126  (Muhamed) 
wie  A.  Ritter  (vom  27.  März  1912,  zitiert  nach 
O.  te  Kloot,  S.  41)  }  15876  —  }  12769  =  (126— 
113)  r.   13.     Usf. 

Andere     übereinstimmende    Aufgaben     liegen 

i, -      - 

auch  zeitlich  mehr  auseinander;  so  yi7850625  bei 
H.  V.  Buttel-Reepen  ("^  vom  Dezember 
1912)  mit  f.  56,  f.  66,  f.  75,  bei  L.  Plate 
(^'  im  März  1913)  mit  f.  45,  r.  65.  Die  Aufgaben- 
sammlung ist  hiernach  recht  beschränkten  Um- 
fanges.  Und  die  betreffenden  Leistungen  der 
Pferde  sprechen  wiederum  nicht  gerade  für  einen 
Denkakt;  denn  auf  dieser  Grundlage  ließe  sich 
die  Mannigfaltigkeit  solcher  Aufgaben  ohne  jede 
Einschränkung  lösen.  Wenn  möglich,  noch  weni- 
ger die  rechnerisch  gänzlich  sinnlosen  Folgen  der 

3, 

Antworten;    z.  B.    (nach    L.  Plate)    y32768=:ff. 


18,  8,  7,  38,  45,  34,  8,  44,  schließlich  r.  32.  Auch 
nicht  die  Tatsache,  daß  die  Pferde  nach  j  eder 
Aufgabe,  sie  mag  schwer  oder  leicht 
sein,  augenblicklich  zu  klopfen  be- 
ginnen. 

Man  wäre  wohl  schon  berechtigt  zu  fragen, 
weshalb  sich  denn  die  Wissenschaft  nach  solchen 
Feststellungen  überhaupt  noch  mit  diesen  „denken- 
den" Pferden  beschäftige.  Da  sind  aber  die  „un- 
wissentlichen Aufgaben",  d.  h.  solche,  die 
weder  K.  Krall  noch  der  Prüfende  zuvor  gekannt 
halten.  H.  v.  Buttel-Reepen  verzeichnet  (  "', 
S.  258)  deren  4,  die  ihm  von  Prof.  Krause  in 
versiegelten  Umschlägen  zugleich  mit  ihren  ge- 
trennt versiegelten  Lösungen  gegeben  waren. 
Die  Aufgabe  wurde  erst  vor  ihrer  Niederschrift 
an  die  Tafel  entnommen,  die  bezügliche  Lösung 
erst  am  Guckloch  hinter  der  Stalltüre.  Ich  muß 
nochmals  gestehen,  daß  mir  gerade  dieser  Teil  des 
Berichtes  H.  v.  B  u  1 1  e  1  -  R  e  e  p  e  n  '  s,  den  ich 
als  kritischen  Beobachter  schätze,  Anlaß  ge- 
worden ist,  mich  näher  mit  dem  Problem  der 
„denkenden  Pferde"  zu  beschäftigen.     Es  sind  die 

Aufgaben:  V3364  =  f.  32  f.  44  f.  f.  r.  58;  yi2i67 

:=  f .  33,  f.  r.  23  (undeutlich)  r.  23;  }'4096  =  f.  36 

f.  74  f.  46  f.  46  r.  64;    16241  =  vielmals  f. 

Schon  ehe  ich  weitere  Protokolle  hierzu  durch- 
gearbeitet halte,  mußte  ich  {''  S.  239)  aus  den 
Antwortreihen  der  gelösten  Aufgaben  schließen, 
daß  diese  den  Pferden  nicht  das  erste  Mal  vorgelegt 
waren.  Das  leitete  mich  damals  zu  der  von 
H.  v.  Buttel-Reepen  berichtigten  Annahme, 
daß  Herr  Prof.  Krause  auch  früher  bereits 
solche  Aufgaben  verfaßt  und  sich  wiederholt 
habe.  Dies  war  zwar  nicht  der  Fall.  Meine 
Voraussage  hat  aber  dennoch  insoweit  eine 
glänzende  Bestätigung  gefunden,  als  ich 
2  jener  3  Aufgaben  als  zuvor  „durchge- 
nommen" nachzuweisen  vermag.   P.  Sara- 

3 

sin  *)  nennt  als  Aufgabe  vom  i.Juni  I9i2:yi2i67 
mit  f.  13  r.  23 ;  H.  v.  B  u  1 1  e  1  -  R  e  e  p  e  n  's  Besuch 
datiert  vom  17. — 19.  Dez.  1912!  Beide  Aufgaben 
beziehen  sich  auf  Leistungen  Muhameds.  Und  nach 
dem  handschriftlichen  Protokoll  F.  H  e  m  p  e  1  - 
m  a  n  n's  (S.  3)  war  eine  der  aus  K.  Krall's 
Aufgabensammlung  (!)  an  Zarif  gestellten  Aufgaben: 

]  4096  =  r.  64 ;  dieses  Protokoll  datiert  vom  1 5.  März 
1912!  Nach  derartigen  Erfahrungen  lassen  sich, 
von  anderen  Einwänden  gegen  sie  ganz  abgesehen, 
auch  solche  Aufgaben  nicht  mehr  dafür  zitieren, 
daß  die  vorhandenen  richtigen  Lösungen  etwa 
gerade  von  den  Pferden  ausgerechnet  worden  sein 
mußten. 

L.  Plate  möchte  dies  jedoch  ( ^'  S.  264/5) 
aus  einer  Statistik  dartun.  Er  ordnet  die 
beobachteten  Leistungen  z.  B.  Muhamed's  in  leichte, 
schwere  und  sehr  schwere  Aufgabenantworten. 
Die  I.  Gruppe  von  29  Aufgaben  verzeichnete  nach 
ihm  13  (44,82  "/o)  sofort  richtig  gegebene  Lösungen 
gegen  4  (13,8%)  völlige  „Versager";  die  2.  Gruppe 


N.  F   XIII.  Nr.  2  1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


325 


mit  34  Aufgaben  14  (41,17  7o)  gegen  11  (32,35  "/ol 
Versager;  die  3.  Gruppe  von  20  sehr  schweren 
Aufgaben  2  (10%)  gegen  4  ('207,,)  Versager. 
Dieses  mathematische  Gewand  könnte  über  den 
Wert  seines  Inhaltes  täuschen.  Ich  habe  mich 
deshalb  die  Mühe  einer  Nachprüfung  auf  genau 
rrleichcr  Grundlage  an  dem  von  F.  Hempel- 
niann  gewonnenen  Antwortenmaterial  Muha- 
med's  nicht  verdrießen  lassen.  Dieser  nennt 
neben  wenigen  unter  die  i.  der  obigen 
Gruppen  zu  weisenden  29  Rechenaufgaben  der 
2.  und  18  Aufgaben  der  3.  Gruppe,  also  fast  die- 
selbe Anzahl,  welche  L.  Plate  die  Grundlage 
seiner  Statistik  geliefert  hat.  Ich  finde  unter  den 
29  .Aufgaben  der  2.  Gruppe:  7  sofort  und  i  sofort 
„mit  Einhilfe"  richtig  gegebene  Lösungen ,  8 
nach  Fehlschlägen  richtige  nebst  i  sodann  mit 
„Einhilfe"  richtigen,  2  später  (inmitten  folgender 
Fragen)  richtige,  9  gänzlich  versagte  Antworten. 
Ich  verzeichne  für  die  3.  Gruppe:  4  sofort 
richtige  und  2  mit  ,, Einhilfe"  richtige,  7  nach 
Fehlschlägen  richtige,  3  später  richtige  Ant- 
worten und  nur  i,  die  einzig  in  einer  anderen 
richtigen  Antwort  zutreffend  enthalten  war !  Hier- 
mit ist  der  Unwert  der  L.  Plate'schen 
Statistik  vollkommen  erwiesen.  Aber 
selbst,  wenn  sie  sich  bestätigt  hätte,  würde  sie  in 
Rücksicht  auf  die  noch  folgenden  t^inwände  nur 
eine  Parallelitä  t  zwischen  menschlicher 
Leistung  und  jener  der  Pferde  dartun, 
keineswegs  „nur  die  Erklärung  zulassen,  daß 
es  sich  bei  den  Pferden  (d.  h.  eben  bei  diesen 
und  nicht  etwa  bei  K.  Krall!  Verf)  um  Ver- 
standcsoperationen  handelt,  welche  um  so  öfter  un- 
richtig ausfallen,  je  schwieriger  die  gestellten  Auf- 
gaben sind"  (■*'  S.  265).  Übrigens  würde  der 
ganze  statistische  Bau  schon  über  die  stetig  wieder 
berichtete  Eigenart  der  Pferde  stürzen,  daß  sie 
in  spontaner  „Unlust",  wie  es  heißt,  gerade  b  e  i 
den  leichtesten  Aufgaben  nicht  selten 
versagen. 

Auch  II.  E.  Ziegler,  einer  der  erklärtesten 
Anhänger  K.  Krall's,  versucht")  vergebens,  in 
das  Gebiet  der  Mathematik  zu  flüchten, 
tlr  wendet  sich  gegen  gewisse  statistische  Nach- 
weise von  Gegnern;  ich  muß  mich  getroffen  er- 
klären, ohne  genannt  zu  sein.  Ich  würde  aber 
den  Rahmen  dieser  Ausführungen  weit  überschreiten, 
wollte  ich  an  der  ganzen  Folge  von  Unrichtig- 
keiten hier  Kritik  üben.  Ich  treffe  auch  den  Inhalt 
des  Irrtums  zu  einem  wesentlichsten  Teile, 
wenn  ich  die  Prüfung  auf  H.  Fl  Ziegler 's  Worte 
beschränke:  „Wenn  ich  einem  Kinde  10  gleich- 
artige Divisionsaufgaben  stelle,  wobei  jeweils  eine 
zweistellige  Zahl  herauskommt,  und  es  werden  nur 
ein  oder  zwei  Aufgaben  richtig  gelöst,  so  ist  da- 
mit schon  bewiesen,  daß  das  Kind  das  Divisions- 
verfahren verstanden  hat,  denn  sonst  hätte  es  keine 
einzige  Aufgabe  lösen  können." 

Vollkommen  unrichtig,  besonders  auch  im  vor- 
liegenden Falle.  Die  mathematische  Wahr- 
scheinlichkeit ist  gleich  einem  Bruche,  dessen 


Zähler  gleich  ist  der  Anzahl  der  günstigen  Fälle, 
dessen  Nenner  der  Zahl  der  möglichen  Fälle  gleich- 
kommt. Zur  Gewißheit  (,, bewiesen")  wird  die 
Wahrscheinlichkeit  nur  dann,  wenn  jeder  mögliche 
Fall  günstig,  der  Bruch  gleich  i  ist.  Variationen 
von  10  Elementen  zur  2.  Klasse  mit  Wiederholung 
gibt  es  rein  mathematisch  100  Komplexionen,  hier 
verwertbar  90  (es  entfallen  00,  Ol  bis  09).  Für 
jede  einzelne  der  10  Aufgaben  gibt  es  eine  einzige 
richtige  Lösung.  Die  Wahrscheinlichkeit,  eine 
der  Aufgaben  mit  zweistelligem  Ergebnis  in  diesem 

richtig  zu  erraten,  wird  daher  gleich        .      Werden 
^  ^90 

aber  10  Aufgaben  gestellt  und  soll  dieVerschiedenheit 
bestimmt  werden,  daß  eine  dieser  voneinander  unab- 
hängigen Aufgaben  zutreffend  im  Ergebnis  erraten 
werde,  erhöht  sich  die  Wahrscheinlichkeit  damit  auf 

denSummenwert  der  ioBrüche;sie  ist  daher      =    . 

90       9 

Das  Eintreffen  ist  also  immer  noch  unwahrscheinlich. 

Nun  scheint  aber  H.  E.  Ziegler  dabei  gänz- 
lich zu  übersehen,  daß  die  Lösungstreffer 
meist  erst  nach  einer  ganzen  Reihe  von 
F"ehlschlägen  erzielt  worden  sind.  So  zählt 
L.  Plate  (*',  S.  265)  unter  den  20  sehr  schweren 
(d.  h.  Wurzel-Aufgaben)  2  sofort,  4  nicht  richtig 
beantwortete ;  d.  h.  70  "/o  derart  nach  Fehlschlägen 
gefundene  Lösungen.  Es  wäre  für  die  genauere 
weitere  Bestimmung  der  fraglichen  Wahrsclieinlich- 
kcit  notwendig,  statistisch  nachzuweisen,  wie  groß 
durchschnittlich  die  Zahl  der  E'ehlschläge  bzw. 
E^inhilfen  gewesen  ist.  Leider  reichen  dazu  die 
Protokolle  schlecht  aus;  mit  Ausdrücken  „Viel- 
mals f ',  „Nach  vieler  Mühe"  ist  nichts  anzufangen. 
Wenn  ich  z.  B.  nur  die  9  betreffenden  Wurzel- 
aufgaben   bei  L.  Plate    in  Betracht    ziehe,  deren 

eine  Ergebnisfolge  (für  y32768)  lautet:  18,  8,  7, 
38,  45.  34,  8,  44,  endlich  r.  32),  so  begegne  ich 
23    Fehlantworten  vor    den   9    richtigen,   d.  h.   je 

2    ;  im  ganzen  3      Antworten    zu   jeder  Aufgabe. 
9'         "  -^9  ' 

Doch  müssen  auch  die  oft  erheblich  längeren 
Reihen  von  Fehlschlägen  der  ungelöst  gebliebenen 
Aufgaben  berücksichtigt  werden,  welche  die  durch- 
schnittliche Zahl  der  Antworten  auf  sicher  nicht 
weniger  als  4  erhöhen  dürfte.  Es  ist  aber  ganz 
selbstverständlich,  daß  sich  die  Wahrscheinlichkeit 
proportional  der  Zahl  der  Antworten  erhöht.     Sie 

•     -1  lo  40   j4i 

würde    im    obigen    Beispiele    von  aut    -^1 

'^  '  90  90   \  9/ 

steigen. 

Nunmehr  eine  andere  bedeutungsvolle  E'est- 
stellung.  Bisher  ist  vorausgesetzt  worden,  daß  die 
10  Ziffern  o  bis  9  in  den  zweistelligen  Ergebnis- 
komplexionen uneingeschränkt  gleichmäßig  auf- 
treten. Alles  andere  als  das!  Schon  '' S.  546  habe 
ich  hervorheben  müssen,  daß  die  Ziffern  eine 
sehr  weitgehende  Auswahl  erleiden. 
So  fanden  sich  unter  den  betreffenden  13  r.  Lö- 
sungen   der   H.    v.    Büttel -R  eep  en  sehen  bzw. 


326 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  21 


L.  riate'schen  VVurzelaufgaben,  also  26  Ziffern, 
die  Ziffer  3  viermal,  4  siebenmal,  5  viermal,  6  fünfmal. 
F.  Hempelmann  äußert  sich  hier/Ai  ( '"'  S.  233): 
Unter  den  354  als  Antwort  auf  Rechenaufgaben  ge- 
tretenen Ziffern  „waren  nur  7  Achten  und  nur  2 
Neunen  .  .  .  Allerdings  betont  schon  K.  Krall, 
daß  die  Hengste  diese  beiden  Zahlen  nur  ungern 
treten,  und  er  bittet,  bei  etwa  selbst  gestellten 
Aufgaben  das  Resultat  so  einzurichten,  daß  keine 
8  oder  9  darin  vorkommt".  Oder  K.  Krall  selbst 
( '',  S.  III):  „Eigentümlicherweise  gaben  sie  im 
Anfang  des  Rechenunterrichts  die  Zahl  i  fast  nie 
richtig  an,  sondern  statt  dessen  2  oder  3";  wie 
auch  (S.  362):  „Da  Hans  (das  W.  v.  Osten 'sehe 
Pferd.  Verf )  sich  schon  widerspenstig  zeigte,  wenn 
er  bei  Zähl-  oder  Rechenaufgaben  mehr  als  6  zu 
treten  hatte,  wollte  ich  ihm  das  , langweilige' 
Klopfen  ersparen". 


In  dieser  Erscheinung  liegt  zunächst  alles 
andere  denn  ein  Moment,  geeignet,  zu- 
gunsten des  Denkvermögens  gerade  der 
Pferde  zu  sprechen.  Sie  erklärt  sich  sehr 
einfach,  wenn  man  sich  dessen  erinnert,  daß  das 
Scharren  jene  Ausdrucksbewegung  des 
Pferdes  ist,  „die  am  meisten  bekannt  ist  und 
auch  vielen  Zirkuskünsten  als  Grundlage  dient": 
,,Das  wiederholte  Heben  und  Senken  des  Vorder- 
fußes, das  als  Stampfen,  Klopfen,  Bodenkratzen 
bezeichnet  wird"  ("',  S.  145).  „Wiederholt"! 
Das  bedeutet  die  angeborene  Gepflogenheit  der 
Pferde,  innerhalb  etwa  der  Zahlen  3 — 6  zu  „klopfen". 
Und  K.  Krall  dachte  seine  Pferde  zu  ,, unterrichten", 
während  er  sich  wiederum  nur  zum  .Sklaven  der 
Instinkte  der  Tiere  machte. 

(Schluß  folgt.) 


Nene  Vakniiiiiröliroii  für  Deiiioiistratioiis- 
zAveeke  und  tt'clmische  Aerweiidiiiig. 

Von  I'rivaldozent   Dr.  H.  Greinacher. 
Mit  S  Textfiguren. 
[Nachdruck  verboten.] 

Serienentladungsröhren.  Ikvor  wir 
auf  die  Beschreibung  der  sog.  Serienentladungs- 
röhren eingehen  wollen ,  sei  zunächst  an  die 
Funktionsweise  des  Hörnerblitzableiters  erinnert. 
Zwei  Drähte  sind  hier  hörnerartig  um- 
gebogen (Fig.  I)  und  so  montiert,  daß 
sie  einander  unten  in  einem  .'\bstand 
von  wenigen  Millimetern  gegenüber- 
stehen. Wird  auf  irgendeine  Art  ein 
Lichtbogen  an  der  engsten  Stelle  ge- 
zündet, so  wandert  dieser  selbsttätig 
nach  oben  und  erreicht 
an  den  Hörnern  schließ-  ,-^^b?x 

lieh  eine  solche  Länge, 
daß  er  auslöscht.  Wie 
in  einer  früheren  Ar- 
beit ')  gezeigt  wurde, 
beruht    das    Wandern 


tischen  Wirkung    des   Stroms    in    den    Zuleitungs- 
drähten. 

Verbindet  man  die  Horner  statt  mit  einer 
Batterie  mit  den  Polen  eines  Induktoriums,  so 
erhält  man  statt  eines  Lichtbogens  eine  sog.  Bogen- 
cntladung.  Die  Stromstärke  ist  bei  dieser  Art 
Entladung  viel  geringer.  Man  erhält  zwar  eben- 
falls ein  \\'andern  des  Bogens,  die  Bewegung 
findet  jedoch  viel  lang.<;amer  statt  und  ist  zum 
größten  Teil  der   nach   oben    treibenden  Wirktini? 


Fis-  .•^. 


Fig.  4- 


des  Lichtbogens  fast  ausschließhch  auf  der  magne-      der  warmen  Luft  zuzuschreiben.  Da  einlnduktorium 

die  nötige  P^ntladungsspannung  liefert,    so  zündet 
■)  Verhandlungen  der  Ueutsch.  Physika!.  Ges.  15, 123,  1913.      hier    die    Entladung    von    selbst    an    der    engsten 


N.  F.  XIII.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Stelle,  steigt  mit  mäßiger  Schnelligkeit  bis  zu  den 
Hörnern  hinauf,  löscht  hier,  um  von  neuem  an 
der  engsten  Stelle  einzusetzen. 

Besonders  interessant  wird  die  Erscheinung, 
wenn  man  die  Hörner  unter  eine  Glasglocke  setzt, 
die  man  evakuiren  kann.  Bereits  fertige  Demon- 
strationsröhren für  solche  Versuche  liefert  die 
Glasinstrumentenfabrik  Emil  G  u  n d  e  1  a c h  in  Gehl- 
berg (Thüringen)  (Fig.  2).  Man  verbindet  den 
Hahnansatz  etwa  mit  einer  Wasserstrahlpumpe 
und  beobachtet  die  wandernden  Lichtbogenent- 
ladungen, indem  man  allmählich  zu  steigender 
Luftverdünnung  übergeht.  Während  man  bei 
Atmosphärendruck  das  Bild  eines  gewöhnlichen 
Lichtbogens  hat,  verändert  sich  die  I"'arbe  mit 
abnehmendem  Druck  zunächst  in  rotgelb  und 
schließlich  ganz  in  rot,  wobei  zugleich  an  den 
Drähten  blaues  Glimmlicht  erscheint.  Zugleich 
enthüllt  die  Bogenentladuiig  immer  mehr  ihren 
diskontinuierlichen  Charakter. 

Besonders  schön  ist  das  Experiment,  wenn 
man  das  Indukiorium  bezw.  einen  Hochspannungs- 
transformator mit  Wechselstrom  z.  B.  von  50  Peri- 
oden speist.  Dann  löst  sich  der  Lichtbogen  in 
lauter  Einzelcntladungen  auf,  die  abwechselnd  an 
den  beiden  Drähten  ansetzen  und  lebhaft  in  die 
Höhe  steigen.  Oben  löscht  die  Erscheinung  und 
beginnt  alsobald  wieder  unten.  Obwohl  ein  Auf- 
stieg nicht  länger  dauert  als  etwa  eine  halbe 
Sekunde,  ist  es  gelungen,  einzelne  Aufstiegsperioden 
direkt  zu  photographieren.  Fig.  3  gibt  eine  solche 
Aufnahme  wieder,  die  bei  einem  Druck  von  un- 
gefähr 7  cm  Quecksilber  gemacht  wurde.  Man 
sieht  sehr  deutlich  die  Ansatzstellen  des  negativen 
Glimmlichts  und  die  langen  Zacken  der  anodischen 
Entladung.  In  Wirklichkeit  ist  die  Erscheinung 
infolge  der  roten  und  blauen  harben  und  bei 
dem  lebhaften  Spiel  der  Einzelentladungen  über- 
aus ansprechend. 

Eine  weitere  Photographie  ist  in  Fig.  4  wieder- 
gegeben. Hier  wurde  das  Induktorium  mit 
Gleichstrom  und  Wehneltunterbrecher  betrieben. 
Wie  man  sieht,  befinden  sich  alle  anodischen 
Streifen  am  einen,  alle  Glimmlichtpunkte  am 
anderen  Draht.  Auch  hier  ist  die  Auflösung  in  die 
Einzelentladungen  trotz  der  höheren  Frequenz  der 
Unterbrechungen  noch  sehr  deutlich. 

Das  Aussehen  der  beschriebenen  Erscheinungen 
variiert  übrigens  etwas  mit  dem  Gasdruck.  Um 
eine  gute  Auflösung  in  die  Plinzelentladungen  zu 
bekommen,  ist  es  zweckmäßig,  den  Druck  nicht 
zu  weit  zu  erniedrigen.  Die  Firma  Gundelach 
liefert  auch  solche  fertige  Röhren,  die  passend 
dimensioniert  und  evakuiert  sind  (Fig.  5).  Zu 
Demonstrationszwecken  werden  diese  Röhren  mit 
verschiedenen  Gasfüllungen  (Stickstoft',  Kohlen- 
säure, Helium  usw.)  versehen.  Zu  beachten  bleibt 
bei  Verwendung  der  Röhre  Fig.  2,  daß  sich  aus 
der  Luft  durch  die  Bogenentladungen  NO.,- Dämpfe 
bilden.  Die  Stickoxydbildung  ist  sehr  deutlich  an 
der  Gelbfärbung  des  Gasinhalts  zu  ersehen.  Da- 
mit   die  Kupferdrähte   nicht   angefressen    werden, 


ist  nach  Beendigung  der  Versuche  eine  Erneuerung 
des  Luftinhalts  zu  empfehlen.  Die  Serienentladungs- 
röhren können  zu  den  verschiedensten  praktischen 
Aufgaben  Verwendung  finden: 

1.  Sie  lassen  den  Stromcharakter  feststellen 
(Wechselstrom,  kontinuierlicher  bezw.  intermittie- 
render Gleichstrom).  Jede  Deformation  des 
Wechselstromes,  z.  B.  durch  Ventilzellen,  läßt 
sich  an  der  Serienenlladungsröhre  erkennen.  Diese 
stellt  also  im  Prinzip  einen  selbsttätigen  Oszillo- 
graphen dar. 

2.  Die  Röhren  geben  ein  Bild  von  der  Funk- 
tionsweise von  Gleichstromunterbrechern.  Da 
überdies  starke  Schließungsströme  leicht  erkenn- 
bar sind,  so  sind  sie  ohne  weiterem  zur  Prüfung 
des  Stromes  von  Röntgeninduktorien  geeignet. 
Will  man  etwa  die  Unterbrechungszahl  selbst 
bestimmen,  so  photographiert  man  eine  Aufstiegs- 
periode und  zählt  die  vorhandenen  Partialentladuii- 
gen.  Bestimmt  man  noch  die  Zeit  einer  Auf- 
stiegsperiode so  gibt  der  Quotient  die  gesuchte 
Unterbrechungszahl. 

3.  Kleine  Zeiten  lassen  sich 
ebenfalls  mit  der  Röhre  bestim- 
men. Der  Zeitunterschied  zwi- 
schen zwei  Zacken  bei  Wechcl- 
strom  von  50  Perioden  ist  ^/jfK, 
Sekunde.  Will  man  nun  beispiels- 
weise die  Expositionsdauer  eines 
photographischen         Momentver- 


t'g-  5- 


Fig.  6. 


Schlusses  prüfen,  so  beobachtet  man  etwa  das 
Bild  der  Serienentladungen  auf  der  Mattscheibe. 
Sieht  man  während  des  P'unktionierens  des  Ver- 
schlusses z.  B.  6  Zacken,  so  beträgt  die  Exposi- 
tionszeit 0,06  Sekunden. 

Glühlamp  en  rö  hren.  Eine  weitere  Er- 
scheinung, die  ebenfalls  bei  der  Entladung  im 
luftverdünnten  Raum  auftritt  und  sich  sowohl  zur 
Demonstration  als  zu  technischer  Verwendung 
eignet,  ist  die  Erwärmung  der  negativen  Elektrode. 
Wie  bereits  Wiedemann  und  Ebert  gezeigt 
haben,  kann  sich  ein  Platindraht,  der  als  Kathode 
in  einer  Geißlerröhre  verwendet  wird,  so  weit 
erwärmen,  daß  er  zur  Weißglut  kommt.  Pis  ge- 
nügt, auch  schon  bei  Atmosphärendruck  zwischen 
zwei  Platindrähten  I-'unkenentladungen  übergehen 
zu  lassen,  um  ein  lebhaftes  Aufglühen  des  nega- 
tiven Drahtes  zu  beobachten.  Die  starke  Er- 
wärmung   der    Kathode    hängt    damit    zusammen, 


328 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  21 


daß  der  Entladungswiderstand  fast  ausschließlich 
an  der  Kathode  liegt.  Während  das  Anodenge- 
fälle im  allgemeinen  nur  20 — 30  Volt  beträgt,  hat 
das  Kathodengefälle,  das  zwischen  der  Kathode 
und  der  Grenze  des  blauen  Glimm.lichts  herrscht, 
Werte  von  mehreren  hundert  Volt.  Die  positiven 
Ionen,  welche  auf  die  Kathode  aufprallen,  erhalten 
daher  im  Kathodengefälle  eine  solche  Energie,  daß 
sie  die  Kathode  lebhaft  erwärmen.  Im  allge- 
meinen ist  diese  Erscheinung  allerdings  sehr  wenig 
erwünscht  (z.  B.  beiRönlgenröhrcn,  Spcklralröhrcn). 
Sie  kann  jedoch  zu  einem  sehr  schönen  Demon- 
strationsversuch verwendet  werden.  In  Fig.  6  ist 
eine  fertige  Demonstrationsröhre  wiedergegeben, 
wie  sie  ebenfalls  von  der  Firma  G  u  n  d  e  1  a  c  h 
hergestellt  wird.  Zwei  Kohlcfaden-  oder  Metall- 
faden-Glühlampen sind  durch  eine  Glasröhre  zu 
einer  einzigen  Vakuumröhre  vereinigt.  Der  Kaum 
ist  bis  auf  wenige  mm  Ilg  luftleer  gemacht. 
Jeder  der  beiden  Glühlampcnfäden  wird  mit  den 
Polen  eines  Induktors  verbunden,  so  daß  Entladungen 
von  der  einen  Glühlampe  zur  anderen  übergehen. 
Zugleich    wird  man  bei   genügend    kräftigem  Pri- 


i-ig. 


märstrom  des  Induktors  beobachten,  wie  die 
kathodische  Glühlampe  zu  lirennen  beginnt,  wäh- 
rend die  anodische  Lampe  vollständig  dunkel 
bleibt.  Man  kann  die  negative  Glühlampe  leicht 
so  hell  brennen  machen,  wie  bei  dem  üblichen 
Gebrauch. 

Da  die  Entladungsspannung  nicht  übermäßig 
hoch  ist,  so  kann  man  den  Induktor  auch  einfach 
mit  gewöhnlichem  Wechselstrom  speisen  und  den 
transformierten  Sekundärstrom  anlegen.  In  diesem 
Fall  leuchten  dann  beide  Glühlampen.  Will  man 
das  unipulare  Bild  haben,  so  hat  man  nur  eine 
Ventilröhre  einzuschalten.  Die  Glühlampenröhre 
ist  namentlich  im  Hinblick  auf  die  farbenprächtigen 
Lumineszenzeffekte,  welche  das  Aufleuchten  der 
(ilühlampen  begleiten,  ein  vorzügliches  Demonstra- 
tionsobjekt.  Die  Röhre  darf  allerdings  nicht  sehr 
andauernd  beansprucht  werden,  denn  mit  den  Ent- 
ladungen zugleich  findet  eine  merkliche  Zerstäubung 


der  Glühfäden  statt  (Kathodenzerstäubung).  Die 
Glaswand  wird  daher  nach  längerem  Gebrauch 
schwarz  und  der  Glühfaden  bricht.  Da  die  Lampe 
dabei  weiterbrennt,  so  kann  die  Demoiistrations- 
röhre  immerhin  so  lange  gebraucht  werden,  bis 
der  Faden  vollständig  aufgezehrt  ist.  Schließlich 
ist  auch  eine  Neubeschaffung  der  Röhre  bei  dem 
niedrigen  Preis  derselben  keine  große  Sache. 

Die  Ka  t  h  od  e  n  gl  ü  hl  am  p  e.  Die  Richtung, 
in  welcher  eine  praktische  Verwendung  der  be- 
schriebenen Erscheinung  zu  suchen  ist,  liegt  nun 
nahe.  Pralls  es  möglich  ist,  die  Demonstralions- 
röhre  derart  umzuändern,  daß  eine  Zerstäubung 
der  Kathode  vermieden  wird  und  die  Helligkeit 
der  glühenden  Elektrode  eine  genügende  ist,  so 
muß  sich  eine  brauchbare  Licht(|uelle  nach  dem 
Prinzip  der  Kathodenerwärmung  lierstellen  lassen. 
Die  Kathodenzerstäubung  ist  nun  im  allgemeinen 
um  so  geringer,  je  kleiner  das  .'\tomgewicht  des 
betreffenden  Materials  ist.  Aber  selbst  bei  einem 
so  leichten  Material  wie  die  Kohle  ist  die  Zer- 
stäubung noch  sehr  lebhaft. 

Ich  habe  nun  versucht,  ob  vielleicht  Materialien 

geeignet  sind,  die 
erst  bei  höheren 
Temperaturen  zu 
P^lcktrizitätsleitern 
werden.  Besonders 
einfach  schien  mir 
ein  Versuch  unter 
Verwendung  von 
Nernststiften  als 

PHcktroden.  Und 
in  der  Tat  hat  es 
sich  gezeigt,  daß 
man  unter  Verwen- 
dung dieser  Maße 
eine  Glühlampe 

von  hinreichender 
Dauerhaftigkeit  her- 
stellen kann.  Die 
Konstruktion ,  die 
ich  ausgeführt  habe, 
wird  in  h'ig.  7  im  Schnitt  wiedergegeben. 
Eine  Glaskugel  von  14  cm  Durchmesser  be- 
sitzt zwei  diametral  gegenüberliegende  Ansatz- 
röhren R,  wobei  die  eine  den  Ansatz 
Pumpe  trägt.  Zwei  dickwandige  Röhren 
billigem  Ouarzgut  ragen  in  die  Kugel 
Die  Weite  der  Quarzröhren  beträgt    etwa 


An  den  Enden  sind  die  Ouarzröhren 
jungt,    daß    gerade    zwei  Nernststifte 


A  zur 
Q  aus 
hinein, 
mm. 
so  weit  ver- 
S  hindurch- 
gesteckt werden  können.  Die  Stromzuleitung  zu 
den  Nernststiften  befindet  sich  noch  innerhalb  der 
Ouarzröhren.  Um  der  Zuleitung  festen  Halt  zu 
geben,  sind  sie  an  den  Stellen  K  eingekittet.  Die 
Lampe  ist  bis  auf  wenige  mm  Hg  ausgepumpt. 
Die  zum  Betrieb  nötige  Wcchselspannung  von 
etwa  1000  Volt  wird  an  die  Platinösen  der  Röhren 
R  angelegt.  Im  Anfang  setzt  blaue  Glimment- 
ladung an  der  Basis  der  Stifte  S  ein.  Diese 
schreitet    rasch    bis    zur   Spitze    vor,    so    daß    die 


N.  F.  XIII.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


329 


Stifte  ganz  von  blauem  Glimmlicht  umgeben  sind. 
Zugleich  erwärmen  sich  die  Stifte  von  der  Basis 
her.  Infolgedessen  steigt  die  Stromstärke,  bis  die 
Stifte  auf  heller  Weißglut  sind.  Dieses  Anbrennen 
der  Lampe  dauert  nur  wenige  Sekunden.  Eine 
Photographie  der  breiuienden  Lampe  gibt  Mg.  8. 
Man  sieht  die  Enden  der  Ouarzröhren,  aus  denen 
die  leuchtenden  Stifte  herausragen.  Ferner  beob- 
achtet man  die  radial  von  den  Stiften  ausgehende 
Glimmentladung,  die  hier  bis  an  die  Glaswand 
reicht. 


Fig.  8. 


Das  Vorwärmen  der  Stifte  besorgt  hier,  wie 
ersichtlich,  die  anfänglich  bereits  einsetzende  Glimm- 
entladung. Die  neue  Lampe  hat  also  gegenüber 
der  gewöhnlichen  Nernstlampe  den  Vorteil,  daß 
sie  nicht  besonders  vorgewärmt  zu  werden  braucht. 
Zu  bemerken  ist,  daß  eine  Entladung  von  den  Zu- 
leitungsdrähten  außen  um  die  Quarzröhren  herum 
durch  die  Glaskugel  nicht  stattfindet.  Der  Raum 
zwischen  den  Ouarzröhren  O  und  den  Ansatzröhren 
R  braucht  dabei  gar  nicht  besonders  abgedichtet 
zu  sein. 


Die  neue  Lampe  laßt  sich  also  in  einfachster 
Weise  herstellen.  Man  braucht  auch  keine  Hoch- 
vakuumpumpe. Es  ist  sogar  zweckmäßig,  wenn 
man  das  Vakuum  nicht  zu  weit  treibt.  Das  blaue 
Glimmlicht  und  damit  auch  Kathodenstrahlen 
würden  sonst  die  Glaswand  erreichen,  wodurch 
letztere  bedeutend  heißer  würde  bei  derselben 
Helligkeit  der  Stifte.  Dies  würde  aber  einen  grö- 
ßeren Energieverbrauch  der  Lampe  bedeuten.  Bei 
passend  gewähltem  Vakuum  erwärmt  sich  das 
Glas  nur  so  weit,  daß  man  es  noch  anfassen  kann. 
Da  man  die  Temperatur  der  Nernststifte  ziemlich 
hoch  treiben  kann,  so  ist  die  Lichtausbeute  sehr 
bedeutend.  Immerhin  konnte  mit  der  so  kon- 
struierten Probelampe  noch  keine  Wirtschaftlich- 
keit erzielt  werden,  die  eine  unmittelbare  tech- 
nische Verwendung  zuließe,  doch  ist  bei  tech- 
nischer Vervollkommnung  der  Lampe  eine  erfolg- 
reiche Konkurrenz  mit  den  bestehenden  Systemen 
zu  erwarten.  Der  Verbrauch  der  Lampe  ergab 
90  Watt  (820  Volt  0,11  Ampere).  Die  Hellig- 
keit der  Lampe  war  dabei  mindestens  die  einer 
50  kerzigen  Glüiilampe. 

Was  für  die  definitive  Kon.->truktion  einer  Glüh- 
lampe nach  dem  Prinzip  der  Kathodenerwärmung 
in  Betracht  kommt,  sind  etwa  folgende  Punkte. 
Es  müssen  Versuche  gemacht  werden  über  die 
Abhängigkeit  des  Wattverbrauchs  vom  Grad  der 
Luftverdünnung,  ferner  über  den  Einfluß  verschie- 
dener Gase,  über  die  geeignetste  Form  und  das 
zweckmäßigste  Material  der  Elektroden.  Es  wird 
vor  allem  auch  von  Interesse  sein,  ob  man  durch 
passendeWahldieserFaktoren  die  Betriebsspannung 
so  weit  heruntersetzen  kann,  daß  die  Lampe  an 
demselben  Netz  wie  die  gewöhnlichen  Glühlampen 
brennen.  Man  wird  diese  Möglichkeit  um  so  eher 
ins  Auge  fassen  dürfen,  als  man  ja  unter  geeig- 
neten Verhältnissen  schon  unterhalb  hundert  Volt 
Glimmentladung  erzeugen  kann  (Heliumfüllung  und 
Kaliumkathode).  Immerhin  dürfte  die  Lampe  in 
der  vorliegenden  Ausführung  zunächst  haui)tsäch- 
lich  für  direkten  Anschluß  an  Hochspannungs- 
leitungen zu  gebrauchen  sein. 


Einzelberichte. 


Bakteriologie.  Erbliche  Gewöhnung  niederer 
Organismen  an  Gifte.  Charles  Riebet  ver- 
öffentlicht einen  interessanten  Bericht  über  Ver- 
suche mit  einem  Milchsäureferment  (es  ist  nicht 
näher  bezeichnet),  das  sich  an  das  Leben  in  Milch, 
der  giftige  Stoffe  zugesetzt  waren,  gewöhnte.  Er 
arbeitete  zunächst  mit  Kaliumarseniat.  Kuhmilch 
wurde  mit  dem  gleichen  Volumen  destillierten 
Wassers  verdünnt  und  durch  einige  Tropfen  Kali- 
lösung genau  neutralisiert.  Diese  normale  Milch- 
flüssigkeit heiße  N,  eine  andere,  ebenso  herge- 
stellte, aber  mit  einer  bestimmten  Menge  Kalium- 
arseniat versetzte  werde  mit  A  bezeichnet.  Sehr 
reines   Milchsäureferment    wurde  nun  einige  Zeit- 


lang auf  N  kultiviert,  indem  man  es  sukzessiv 
immer  auf  neue  N-Llüssigkeit  überimpfte.  Parallel 
damit  wurde  das  gleiche  Ferment  auf  A  kultiviert 
unter  sukzessiver  Übertragung  von  A  auf  A.  Nach 
einigen  Tagen  wurde  das  Ferment  N  auf  je  10  ccm 
Milchflüssigkeit    übertragen,    die    in    einem    Falle 

kein  Arseniat,    im  zweiten        ,  im  dritten  A,    im 
'  2 

vierten  2A  Arseniat  enthielt;  ebenso  wurde  das 
Ferment  A  viermal  auf  Milchflüssigkeit  von  der 
gleichen  Beschaffenheit  gesät.  Man  konnte  so 
durch  Bestimmung  der  gebildeten  Säure  die  Ak- 
tivitäten dieser  beiden  Fermente,  die  gleichen  Ur- 
sprung   hatten,    deren    eines    aber   immer   auf   N, 


330 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  21 


deren  anderes  immer  auf  A  gewachsen  war,  mit- 
einander vergleichen.  Das  Verhältnis  der  Aziditäts- 
ziffer des  Fermentes  A  zur  Aziditätsziffer  des 
P'ermentes  N  (=  loo  gesetzt)  stellt  das  Verhält- 
nis der  funküonellen  Aktivität  der  beiden  P^er- 
mente  dar.  Die  Säurebestimmung  erfolgte  durch 
Titrieren  mit  Kalilösung,  wobei  Phenolphthalein 
als  Indikator  diente.  Es  ergab  sich,  daß  das 
Ferment  A  in  reiner  Milch  eine  geringere  Aktivität 
hatte  als  das  h'erment  N,  aber  in  arsenhaltiger 
Flüssigkeit  eine  höhere  Lebenstätigkeit   zeigte  als 

dieses,  derart,  daß  ^  mit  steigendem  Arsenge- 
halt der  Kulturflüssigkeit  wuchs.  Das  Ferment  A 
hatte  sich  also  in  den  A  Flüssigkeiten  an  das 
Kaliumarseniat  gewöhnt,  so  daß  es  in  der  mit 
diesem  Salze  versetzten  Milch  besser  gedieh  als 
das  nicht  daran  gewöhnte  Ferment. 

Bei  Verwendung  von  Kaliumphospliat,  Kalium- 
seleniat,  Bromkalium,  Kaliumnitrat,  Thalliumnitrat. 
Kupfersulfat,  Chlornatrium  und  auch  von  Saccha- 
rose wurden  ganz  entsprechende,  natürlich  in  den 
Ziffern  nicht  übereinstimmende  Ergebnisse  erhal- 
ten. Es  handelt  sich  also  hier  um  ein  aligemeines 
Gesetz.  Wenn  man  die  beobachtetei\  Ziffern  ver- 
einigt und  die  Mittel  der  Mittel  nimmt  ( Ergebnisse 
von  loooo  Säurebestimmungen),  so  erhält  man  für 

A  A 

,  :  Auf  reiner  Milch  85;  auf  Milch  mit  -       iio; 

N  2  ' 

auf  Milch  mit  A  150;  auf  Milch  mit  2  A  190. 
Das  Ferment,  das  auf  A  gewachsen  ist,  hat  sich 
also  von  dem  Ferment,  das  auf  reiner  Milch  ge- 
wachsen ist,  differenziert;  es  ist  gegen  die  toxi- 
sche Wirkung  von  A  widerstandsfähiger  geworden. 

Die  Gewöhnung  an  die  fremde  Substanz  ist 
verschieden  je  nach  deren  Natur.  Unter  den  ge- 
prüften Verbindungen  ist  sie  am  größten  beim 
Kaliumarseniat.  Sie  geht  hier  zuweilen  so  weit, 
daß  das  an  Kaliumarseniat  gewöhnte  Ferment  auf 
normaler  Milch  fast  nicht  mehr  wächst.  Die  Ge- 
wöhnung vollzieht  sich  sehr  schnell ;  schon  nach 
24  stündiger  Gärung  macht  sie  sich  geltend. 
Meistens  erreicht  sie  aber  erst  nach  4,  5  oder 
selbst  8  Stunden  ihr  Maximum.  Bei  zu  starker 
Konzentration  der  fremden  Substanz  entwickelt 
sich  das  F"erment  gleich  schlecht  in  der  toxischen 
wie  in  der  normalen  Milch.  Das  an  eine  fremde 
Substanz  gewöhnte  Ferment  nimmt ,  wenn  es  in 
normale  Milch  versetzt  wird,  sehr  rasch  seine  ge- 
wöhnlichen Eigenschaften  wieder  an  (meist  nach 
24  Stunden);  eine  beständige,  an  das  Gift  ange- 
paßte Rasse  wurde  nicht  erzielt. 

Die  Anpassung  der  lebenden  Zelle  an  ein 
abnormes  Medium,  eine  der  regelmäßigsten  und 
eigentümlichsten  Erscheinungen  der  Biologie,  voll- 
zieht sich  nirgends  rascher  und  intersiver  als  in 
diesen  Fermentkulturen  in  vitro,  die  schon  in  24 
bis  48  Stunden  ihre  biologische  Reaktion  stark 
verändern  und  die  Änderung  auf  ihre  Nachkom- 
menschaft übertragen.  (Comptes  rendus  de  l'Acad. 
des  Sciences  1914,  t.  158,  p.  764 — 770.) 

F.  Moewes. 


Physik.     Über    ein    akustisches  Verfahren  zur 
Dichtemessung  von  Gasen  und  Flüssigkeiten  berich- 
tet  A.  Kai  ahne  (Danzig-Langfuhr)    in    den  Be- 
richten der  Deutschen  Physikalischen  Gesellschaft: 
16,  Seite  81 — 92  {1914).     Schwingt    eine   Stimm- 
gabel in  einem  flüssigen  oder  gasförmigen  Medium, 
so  nehmen    die    benachbarten  Teile   des  Mediums 
an  der  Bewegung  teil,  so  daß  die  Masse  der  Gabel 
vergrößert    und  dadurch    ihre  Frequenz  (Zahl  der 
Schwingungen    in    der  Sekunde)  verkleinert  wird. 
Die  auf  diese  Weise  verstimmte  Stimmgabel  gibt 
daher  mit  einer  in  Luft  tönenden  zweiten.  Schwe- 
bungen, und  zwar  um  so  zahlreicher,  je  mehr  die 
Dichte  des  Mediums  von    der   der  Luft  abweicht. 
Aus    der    Zahl    der    Schwebungen    läßt    sich    die 
Frequenzänderung    der  Gabel    und    aus  dieser  die     ' 
Dichte  des  Mediums  berechnen.    Da  Stimmgabeln 
wegen  ihrer  großen  Masse  in  ihrer  Frequenz  nur 
unwesentlich    durch   die    Massenvergrößerung   be- 
einflußt werden,  benutzte  der  Verfasser  in  seinem 
,,Sch  wi  n  g  u  ngspy  knometer  für  Gase"  ein 
gut  80  cm  langes  Aluminiumrohr  von  4  cm  Außen- 
durchmesser und  0,4  mm  Wandstärke,  das  an  zwei 
je    17  cm    von    seinen    Enden    liegenden    Punkten      1 
(den  Knoten)    fest    eingespannt    und   in  der  Mitte     1 
angeschlagen  wird,    so  daß  es  Ouerschwingungen 
macht    (n  ^=  360).     Eine    gleichgestimmte    Stimm- 
gabel   dient    zur    Feststellung    der   Schwebungen, 
die  auftreten,    wenn    das  Rohr  in  einem  von  I.uft 
verschiedenen    Gase    schwingt.      Die    Fehler    der 
Methode  sind  klein  für  Gase,  deren  Dichte  größer 
ist  als  die  der  Luft,  so  daß  der  .Apparat  sich  be- 
sonders für  komprimierte  Gase  eignet.    Kalähne 
gibt  eine  besonders  einfach  zu  handhabende  Form 
seines  Dichtemessers  für  technische  Anwendungen 
an  (D.  R.-P.  Nr.  26S353):    An  dem  Aluminiumrohre 
sitzt  in  seinem  Schwingungsbauch  ein  Stück  weichen 
Eisens,    dem    die    Induktionsspulen    eines    kleinen 
Telephonmagneten     gegenüberstehen.       Schwingt 
das  durch  den  Anschlag   eines    elektromagnetisch 
betätigten  Hammers  erregte  Rohr,  so  nähert  und 
entfernt  sich  das  Weicheisenstück    periodisch  von 
den  Spulen   und  erzeugt  in  ihnen  Wechselströme. 
Diese  werden  beliebig  weit  fortgeleitet  und  durch 
einen    kleinen    Elektromagneten     geschickt,     dem 
nach  Art  eines  Frequenzmessers  für  Wechselströme 
Stahlzungen  von  verschiedener  (bekannter)  Frequenz 
gegenübenstehen.      Man    beobachtet    nun    einfach, 
welche  von    den  Zungen   auf  den    in    den  Induk- 
tionsspulen erzeugten  Wechselstrom  anspricht  (re- 
soniertl    Ihre  Frequenz  ist  dann  ebenso  groß  wie 
die  der  im  zu  untersuchenden  Gas   schwingenden 
Aluminiumröhre.     Die  Vorzüge  des  Schwingungs- 
pyknometers  liegen  in  der  Schnelligkeit  der  Messung     j 
und  in  der  Möglichkeit,  aus  der  Ferne  die  Dichte 
(auch   an    unzugänglichen    Orten)    zu    bestimmen. 
Ob  der  Apparat  wie  die  in  dieser  Zeitschrift  schon 
beschriebene  Schlagwetterpfeife  von  Haber 
auch  geeignet  ist,    den  Gehalt  der  Grubenluft  an 
brennbaren  Gasen  anzuzeigen,   darüber  macht  der 
Verfasser  keine  Angaben. 

Dr.  K.  Schutt. 


N.  F.  XIII.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


331 


Astronomie.  Einen  Beitrag  zur  Physik  der 
ihrem  Wesen  nach  immer  noch  unaufgeklärten 
Erscheinung  des  Tierkreislichtes  gibt  Roß,  der 
mit  seiner  Frau  in  Westaustralien  unter  sehr 
günstigen  atmosphärischen  Bedingungen  dies 
Licht  beobachtet  hat  (Brit.  Astronom.  Ass.  Bd.  24, 
5,  1914).  Er  hält  es  für  einen  Ring  um  die 
Sonne  in  der  Gegend  der  Erdbahn,  in  den  diese 
nach  Art  der  Teilungen  im  Saturnsring  einen 
leeren  Raum  gerissen  hat.  Es  handelt  sich  um 
die  Frage,  ob  der  Ring  in  der  Ebene  des  Sonnen- 
äquators liegt  oder  der  Ekliptik.  Nach  Veeder 
soll  der  Ring  zwiefach  gespalten  sein,  entsprechend 
den  beiden  Zonen  der  Sonnenflecken.  Die  Be- 
obachtungen von  Roß  zeigen,  daß  der  Zielpunkt 
des  Lichtes  genau  in  der  Ebene  der  Ekliptik  liegt. 
Die  Verteilung  der  Intensität  des  Zodiakallichtes 
aber  ist  unsymmetrisch  zur  Ekliptik,  der  südliche 
Teil  ist  heller  und  der  südliche  Rand  verwaschener 
als  der  nördliche.  Das  müßte  dann  eintreten, 
wenn  die  mittlere  Ebene  der  Teilchen  innerhalb 
der  Erdbahn  ein  wenig  gegen  die  Ekliptik  geneigt 
ist.  Dies  scheint  für  die  Idee  von  Veeder  zu 
sprechen.  Ferner  zeigte  sich  das  Licht  in  einem 
leicht  grünlich  opalisierenden  Schimmer,  ganz 
anders  als  das  bläulich  getönte  Licht  der  Milch- 
straße, und  übertraf  diese  wesentlich  an  Helligkeit. 

Riem. 

Die  von  den  Herren  Müller  und  Krön 
vom  astrophysikalischen  Observatorium  Pots- 
dam in  Teneriffa  angestellten  spektralphoto- 
metrischen  Messungen  zur  Bestimmung  der  Aus- 
löschung des  Lichtes  in  der  Atmosphäre  und  der 
Energieverteilung  im  Sonnenspektrum  haben  zu 
sehr  bemerkenswerten  Ergebnissen  geführt  (Publ. 
des  astroph.  Obs.  Potsdam  Nr.  64).  Während 
diese  Aufgabe  meist  mit  dem  Bolometer  bearbeitet 
worden  ist,  kam  hier  die  photometrische  Methode 
zur  Anwendung,  um  erstens  die  Beobachtungen 
gegenseitig  zu  kontrollieren ,  und  um  zweitens 
Ergebnisse  unter  anderen  Umständen  zu  erhalten. 
Um  den  Einfluß  der  Luftschicht  auszuschalten, 
wurde  an  zwei  Stellen,  in  1950  und  3260  m  Höhe 
je  eine  Beobachtungsreihe  gewonnen.  Es  wurden 
1 1  verschiedene  Strahlengattungen  des  sichtbaren 
Spektrums  benutzt,  die  mit  einer  kleinen  Metall- 
fadenlampe verglichen  wurden.  Zu  den  Berg- 
stationen kam  noch  eine  nahe  am  Meere  gelegene, 
so  daß  der  Einfluß  der  Luftmasse  über  dem  Be- 
obachter genügend  berücksichtigt  werden  konnte. 
Die  Berechnung  der  Weite  ergibt  zunächst  das 
bemerkenswerte  Resultat,  daß  für  die  Mitte  des 
Spektrums,  bei  Wellenlängen  von  0,560 — 0,570 
im  Gange  des  Transmissionskoeffizienten  eine 
Einbiegung  zu  sehen  ist,  indem  hier  die  gleich- 
mäßige Abnahme  der  Konstanten  einen  Stillstand 
zeigt.  Die  Veranlassung  dazu  ist  in  der  Atmo- 
sphäre selber  zu  suchen,  vielleicht  in  der  Bei- 
mischung von  Ozon  oder  einem  anderen  perma- 
nenten Gase.     Die  Werte    selber    zeigen  dann  in 


auffallender  Weise  die  großen  Vorzüge  der  Höhen- 
stationen. Für  die  Höhenstation  von  3260  m  ver- 
lieren die  roten  Strahlen  bei  senkrechtem  Durch- 
gang durch  die  Lufthülle  nur  4  %,  die  Strahlen 
von  der  Wellenlänge  0,430  nur  18"/,,,  während 
für  einen  niedrig  liegenden  Ort  die  gleichen 
Werte  sind  19  "'(,  und  40  •*/„.  Die  Bestimmung 
der  Energieverteilung  im  Sonnenspektrum  diente 
dann  dazu ,  nach  dem  Wien'  sehen  Gesetz  die 
Temperatur  der  Sonnenatmosphäre  zu  bestimmen. 
Die  unter  den  verschiedenen  Bedingungen  erhal- 
tenen Werte  der  drei  Stationen  ergeben  diese 
Temperatur  zu  6332  Grad,  eine  Zahl,  die  in  guter 
Übereinstimmung  ist  mit  der  Zahl,  die  Kurl- 
bäum  in  Ägypten  erhalten  hat,  die  sich  auf 
6390  Grad  stellte.  Riem. 

Eine  Veränderung  der  Umdrehungszeit  des 
Mars  glaubt  Lowe  11  nachgewiesen  zu  haben, 
der  in  den  Bull,  de  la  Soc.  astronomique 
de  France,  Band  28  erklärt,  daß  nach  seinen 
Beobachtungen  der  Nullmeridian  um  12  Mi- 
nuten früher  durch  die  Mitte  der  Marsscheibe 
gehe,  wie  es  die  Berechnung  angebe.  Nun  gehört 
die  Umdrehungszeit  des  Mars  zu  den  bestbekannten 
Konstanten  unseres  Systems,  so  daß  diese  Nach- 
richt sehr  auffallen  muß.  Seit  1695  sind  auf  dem 
Mars  Flecke  beobachtet ,  und  eine  ganze  Anzahl 
Rechner  haben  24  Stunden  37  Minuten  22,65  Sek. 
als  Länge  des  Marstages  abgeleitet.  Diese  Zahl 
soll  um  wenige  hundertstel  Sekunden  unsicher 
sein,  so  daß  der  Betrag  von  12  Minuten  undenk- 
bar erscheint.  Wie  Fla  m  marlon  annimmt, 
handelt  es  sich  hierbei  ofifenbar  um  eine  Ver- 
schiedenheit in  dem  Aussehen  des  Meerbusens, 
durch  den  der  Nullmeridian  gelegt  ist.  Ofi'enbar 
vermögen  der  Wechsel  in  den  Eisverhältnissen 
und  in  den  atmosphärischen  Zuständen  auf  dem 
Mars  scheinbare  Veränderungen  der  Art  herbei- 
zuführen, daß  die  betreffende  Bai  nicht  immer 
dieselbe  Form  hat,  so  daß  man  nicht  immer  den- 
selben Punkt  als  den  des  Anfangsmeridianes  auf- 
faßt Riem. 

Auffallende  Vorgänge  auf  dem  Mars  hat 
h^ournier  beobaciitet  und  mit  Zeichnungen 
im  Bull,  de  la  Soc.  astr.  de  France  Bd.  28 
veröffentlicht.  Die  Gegend  Libyen  erschien  am 
II.  Oktober  191 1  plötzlich  in  einem  ungewöhn- 
lichen Glänze,  der  den  des  Schneefleckes  übertraf 
und  ein  wenig  gelblich  aussah.  Am  Morgen  des- 
selben Tages  war  alles  normal  gewesen.  Die 
fortgesetzte  Beobachtung  dieser  Gegend  zeigte, 
daß  sich  die  Stelle  dieses  Glanzes  langsam  auf  der 
Oberfläche  des  Mars  fortbewegte.  Sie  folgte  der 
Richtung  der  Landschaft  Hesperia  und  hatte  im 
Laufe  von  9  Tagen  einen  Weg  von  etwa  3500  km 
zurückgelegt.  Comas  Sola  in  Barcelona  hat 
Ähnliches  an  derselben  Stelle  zu  gleicher  Zeit  be- 
obachtet. Später  kam  dann  an  einer  anderen 
Gegend  etwas  ganz  Ähnliches  vor.  Von  dem 
südlichen    Schneefleck    dehnte    sich    eine    gelblich 


332 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  21 


strahlende  Masse  auf  eine  weite  Strecke  hin  aus 
und  bedeckte  in  einigen  Tagen  eine  Fläche  von 
1800  km  Länge,  um  dann  wieder  si)urlos  zu  ver- 
schwinden. Solche  Vorgänge  sollen  gar  nicht  so 
selten  vorkommen,    und    erst    im  Dezember   191 3 


haben  zwei  Beobachter  im  Gebiete  Amazonis  eine 
Fläche  von  ungewöhnlichem  Glänze  wahrgenom- 
men. Es  scheint,  daß  bestimmte  Gebiete  auf  dem 
Mars  diese  Eigenschaften  in  besonderem  Maße 
zeigen.  Riem. 


Bticherbesprechungen. 

Warburg,  Prof  Dr.  Otto ,  Die  Pflanze  nw e  1 1. 
I.  Bd.  Protophyten,  Archegoniophyten,  Gymno- 
spermen und  Dikotyledonen.  Mit  9  farbigen 
Tafeln,  22  meist  doppelseitigen  schwarzen 
Tafeln  und  216  Textfiguren.  Leipzig  und  Wien 
1914,  Bibliographisches  Institut. —  Geb.  17  Mk. 
Dieses  auf  3  Bände  berechnete  vorzügliche 
Werk  stellt  eine  sehr  erwünschte  Ergänzung  zu 
dem  bekannten  im  gleichen  Verlag  neuerdings 
neu  herausgegebenen  „Pflanzenleben"  von  K  e  r  n  e  r 
dar,  indem  es  die  Einzelobjekte  der  Pflanzenwelt 
in  sj'Stematischer  Anordnung  vorführt.  Eine 
solche  das  gesamte  Pflanzenreich,  sowohl  die  in- 
ländische wie  die  ausländische  Flora,  die  niederen 
wie  die  höheren  Pflanzen  berücksichtigende,  gut 
lesbare  und  zuverlässige  Darstellung  kommt  einem 
wirklichen  Bedürfnis  entgegen.  Besonders  schät- 
zenswert ist  auch ,  daß  überall  die  mannigfachen 
Anwendungen  der  pflanzlichen  Objekte  sowie 
pflanzengeographische  und  ökologische  Notizen, 
entsprechend  der  reichen  Erfahrung  des  Verfassers, 
in  umfangreichem  Maße  mitgeteilt  werden.  Ein 
eanz  besonderer  Vorzug  sind  die  zahlreichen 
durchweg  vorzüglichen  Abbildungen  (teils  Zeich- 
nungen, teils  Aquarelle,  teils  schöne  Naturaufnah- 
men), die  mit  Verständnis  ausgewählt  sind,  und 
die  auch  der  Fachmann  mit  Wohlgefallen  be- 
trachtet. Einige  beim  Durchblättern  notierte 
kleine  Bemerkungen  seien  für  später  angeführt. 
Arthrosporen  sind  bei  Bakterien  mit  Sicherheit 
nicht  bekannt.  Die  Ptomalne  und  Toxalbumine 
sind  nicht  die  eigentlichen  Giftstoffe  der  patho- 
genen  Bakterien.  .Aclinomyces  darf  nicht  mit 
Sphaerotilus  konfundiert  werden.  Daß  sexuelle 
Vorgänge  außer  bei  den  Algenpilzen  nicht  fest- 
gestellt sind,  kann  man  nach  den  L'ntersuchuiigen 
z.  B.  an  Ascomyceten  nicht  mehr  sagen.  Daß  in 
der  systematisciien  Anordnung  der  Verfasser  auch 
seiner  eigenen  Auffassung  Ausdruck  gibt,  ist 
durchaus  versländlieh.  Es  wäre  aber  doch  bei 
einem  Buche  wie  dem  vorliegenden  zu  überlegen, 
ob  es  nicht  besser  wäre,  bei  der  Aufstellung  der 
großen  Gruppen  der  Nomenklatur  eines  sich  all- 
gemeinerer Anerkennung  und  Anwendung  er- 
freuenden Systems  anzuschließen,  wie  z.  B.  des 
(ja  auch  sonst  in  dem  Buche  benutzten)  Engler- 
schen  und  neue  Namen  zu  vermeiden,  um  dem 
sowieso  in  allen  Nomenklatur-  und  Definitions- 
fragen übermäßig  ängstlichen  Laien  nicht  zu  ver- 
wirren. Miehe. 


Chodat,  P.,  Mo  nograpliie  d 'algu  es  en  cul- 
ture  pure.  Mit  9  farbigen  Tafeln  und  201 
Textfiguren.  Bd.  IV,  Heft  2  der  Matcriaux 
pour  la  flore  cryptogamique  suisse.  Bern  191 3. 
K.  J.  Wyss.  —  14,40  Mk. 
Die  einfachen,  niederen  Algen  sind  die  Crux 
der  Systematik,  da  sie  in  ihren  Erscheinungsformen 
stark  von  den  Bedingungen  des  Substrates  be- 
einflußt werden.  Um  da  zu  entscheiden,  was  zu- 
sammengehört und  was  nicht,  ist  eine  Unter- 
suchungsmethode notwendig,  die  sich  auf  einem  ver- 
wandten Gebiete,  nämlich  auf  dem  der  Bakterio- 
logie längst  als  ganz  unumgänglich  herausgestellt 
hat  und  eine  conditio  sine  qua  non  ist,  nämlich 
die  Reinzucht.  Verf  führt  uns  nun  eine  Reihe 
genauer  Beschreibungen  von  Algen  vor,  die  er 
aus  Anreicherungskulturen  auf  dem  Wege  des 
Plattengusses  isoliert  hat,  wobei  er  immer  die 
Methode  der  Isolation  angibt.  Das  mikroskopische 
Aussehen  wird  durch  Textabbildungen,  das  Ma- 
kroskopische der  Kolonien  durch  9  farbige  Tafeln 
illustriert.  Außer  den  häufigsten  im  süßen  Wasser 
(sowohl  der  Seen  wie  der  Sümpfe  und  Moore)  vor- 
kommenden einfachen  Algen  (z.  B.  Scenedesmus, 
Chlorella,  Hormidium  Stichococcus,  Chlaydomonas 
und  andere,  meist  in  zahlreichen  Arten)  werden 
auch  die  Flechtenalgen  sowie  die  ihnen  verwandten 
Formen  berücksichtigt:  dagegen  fehlen  die  Cy- 
anophyceen.  Den  Schluß  bildet  eine  Auseinander- 
setzung mit  Wille  über  das  System  der  grünen 
Algen.  Das  Buch  ist  ein  sehr  wertvoller  Beitrag 
zur  Kenntnis  der  einfacheren  grünen  .Algen,  der 
jedem  Algologen  empfohlen  sei.  Miehe. 


Gohlke,  Kurt,  Die  Brauchbarkeit  der  Serumdiagno- 
stik für  den  Nachweis  zweifelhafter  \'erwandt- 
schaftsverhältnisse  im  Pflanzenreich.  Stuttgart 
und  Berlin  191 3.  Fr.  Grub.  —  Geh.  4  Mk. 
Nachdem  U  h  1  e  n  h  u  t  h  den  Nachweis  gefunden 
hatte,  daß  mit  Hilfe  der  Serumdiagnostik  es  mög- 
lich war,  biologisch  das  Blut  eines  Tieres  von  dem 
eines  anderen  streng  zu  dift'erenzieren,  wurde  diese 
Erfindung  für  die  verschiedensten  Wissenschafts- 
zweige von  Bedeutung.  Besonders  interessant 
wurde  die  Serumdiagnostik,  als  sich  die  Tatsache 
zeigte,  daß  nicht  nur  eine  Differenzierung  der  ver- 
schiedensten Blutarten  von  Tieren  herbeizuführen 
war,  sondern  sich  auch  verwandtschaftliche  Be- 
ziehungen feststellen  ließen.  Uhlenhuth  gelang 
es  nicht  nur,  die  verschiedenen  Vogeleier  biologisch 
und  verwandtschaftlich  zu  differenzieren,  neben 
ihm  stellten  auch  Wassermann  und  Stern  eine 
„Blutsverwandtschaft"  zwischen  dem  Menschen  und 
den  verschiedenen  Aft'enarten  auf 


N.  F.  XIII.  Nr.  2  1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


333 


Naturwissenschaftlich  hochinteressante  Tat- 
sachen erbrachte  dann  Kowarski  mit  der  Fest- 
stellung, daß  nicht  nur  tierisches,  sondern  auch 
pflanzliches  Eiweiß  sich  durch  die  serodiagnosti- 
schen Methoden  differenzieren  ließ.  Es  folgten  Ver- 
suche vonRelander,  Bertarelli  und  anderen 
Forschern,  die  diese  Beobachtung  bestätigten. 
Magnus  und  Fri  ed  enthal  zeigten,  daß  Trüffel 
(Tuber  brumale)  und  Bierhefepiiz  (Saccharomyces 
cerevisiae)  eine  Eiweißverwandtschaft  aufwiesen. 
Jedoch  sind  diese  Versuche  noch  zum  Teil  recht 
lückenhaft  und  mit  widerspruchsvollen  Resultaten 
publiziert  worden,  so  daß  eine  Verwendung  der  Me- 
thoden zum  Zwecke  systematischer  Familienver- 
knüpfung nicht  möglich  war,  um  darauf  irgend- 
welche weiteren  Versuche  aufzubauen. 

Die  Brauchbarkeit  der  Serumdiagnostik  für 
derartige  Untersuchungen,  besonders  aber  die  ver- 
schiedenen Methoden  zu  erweisen,  stellte  ich  mir 
in  dem  vorliegenden  Buche  als  Aufgabe. 

Es  kommen  in  Hauptsache  4  Methoden  in  Frage, 
nämlich  die  Präzipitation,  die  Komplementbindungs- 
methode (Wasser man  n'sche  Reaktion),  die  Ana- 
phylaxie und  die  Konglutination. 

Die  Anaphylaxie  war  für  den  Botaniker  wohl 
von  vornherein  auszuschalten.  Führt  man  in  den 
Organismus  eines  Warmblütlers  artfremdes  Eiweiß 
ein,  und  zwar  auf  parenteralem  Wege,  so  ent- 
wickelt sich  nach  einiger  Zeit  eine  spezifische 
Uberempfindlichkeit  (Hypersensibilität),  die  dadurch 
bemerkbar  wird,  daß  ein  derartig  behandeltes  Tier 
auf  die  neuerliche  Reinjektion  derselben  Eiweiß- 
lösung, auch  wenn  diese  völlig  atoxisch  ist,  mit 
stürmischen  Krankheitserscheinungen  reagiert  und 
oft  nach  wenigen  Minuten  verendet.  Dieser  Zu- 
stand, den  man  als  Anaphylaxie  bezeichnet,  reagiert 
streng  spezifisch,  d.  h.  mit  Pferdeserum  vorbehan- 
delte Tiere  sind  nur  gegen  dieses,  nicht  etwa  gegen 
Ziegen-  oder  Rinderserum  anaphylaktisch;  es  lassen 
sich  jedoch  verwandtschaftliche  Beziehungen  er- 
kennen. 

Da  in  der  Botanik  ein  sehr  ungleichmäßiges 
Impfmaterial,  es  handelt  sich  dabei  fast  ausschließ- 
lich um  das  aus  den  Samen  gewonnene  Eiweiß, 
in  Betracht  kommt,  das  noch  mit  allerlei  giftigen 
bzw.  nicht  antigen  wirkenden  Stoffen  vermischt  ist, 
so  ergibt  sich  von  selbst,  daß  die  Beurteilung  einer 
derartigen  Erscheinung  zum  Zwecke  von  systema- 
tischen Feststellungen  zur  Unmöglichkeit  gemacht 
wird. 

Ebensowenig  gut  erweist  sich  die  Komple- 
mentbindungsmethode für  botanisch-systematische 
Forschungen.  Die  Reaktion  besteht  darin,  daß 
beim  Mischen  eines  Antigens  mit  einem  homolo- 
gen, inaktiven  Immunserum  (Ambozeptor)  und  mit 
Komplement  das  letztere  gebunden  wird,  was 
durch  ein  hämolytisches  System  (Hammelblutauf- 
schwemmung -(-  Immunserum  für  Hammelblut) 
nachgewiesen  wird.  Tritt  die  Reaktion  ein,  so 
bleibt  letzteres  unaufgelöst  bei  passendem  Antigen 
und  Ambozeptor,  wird  aber  zur  Lösung  gebracht 
bei  einem  Antigen,  das  nicht  zu  dem  Ambozeptor 


gehört.  Die  Methode  ist  besonders  bei  der  Unter- 
suchung von  Lues  in  Verwendung  und  als  W  a  s  s  e  r  - 
mann'  sehe  Reaktion  wohlbekannt.  Mit  derselben 
lassen  sich  auch  verwandtschaftliche  nahestehende 
Antigene  nachweisen,  jedoch  ist  die  Reaktion  so 
streng  spezifisch,  daß  sie  sich  für  den  Nachweis 
weiterer  Verwandtschaftskreise  kaum  eignet.  Es 
gelingt  leicht,  mit  Hilfe  der  Methode  das  zur 
Immunisierung  verwendete  Antigen  festzustellen, 
die  Reaktion  tritt  auch  ein,  wenn  das  Antigen 
von  einer  ganz  nahe  verwandten  Spezies  herrührt, 
aber  weiter  auch  nicht,  während  es  doch  im  In- 
teresse der  Systematik  liegt,  den  Nachweis  recht 
weiter  Verwandtschaften   zu  erreichen. 

Wohlgeeignet  für  die  Untersuchungen  erweisen 
sich  die  Präzipitation  und  die  Konglutinations- 
methode.  Erstere,  die  älteste  und  bekannteste, 
ist  besonders  einfach  und  erfordert  nur  ein  Antigen 
und  ein  Immunserum.  Beim  Mischen  eines  solchen 
Immunserums  mit  dem  in  verschiedensten  Ver- 
dünnungen sich  abstufenden  Antigen  tritt  eine 
Reaktion  ein,  die  sich  als  Niederschlag  zeigt,  und 
nur  dort  zeigt,  wo  das  zu  dem  Antigen  gehörige 
Immunserum  Verwendung  fand,  d.  h.  die  Reaktion 
ist  spezifisch.  Ein  Niederschlag,  der  durch  eine 
nahestehende  Eiweißart  mit  dem  Immunserum  des 
Ausgangsmaterials  auftritt,  zeigt  eine  Verwandt- 
schaft an,  und  speziell  die  Präzipitation  hat  in 
dieser  Beziehung  für  die  Botanik  insofern  den 
großen  Vorzug  neben  ihrer  einfachen  Handhabung, 
daß  sie  verwandtschaftliche  Beziehungen  weit  über 
die  Ausgangsfamilie  hinaus  zu  anderen  Familien 
derselben  Reihe  nicht  nur,  sondern,  was  noch 
wichtiger  ist,  zu  anderen  Reihen  hinüber  zur  An- 
schauung bringt. 

Die  Konglutinationsmethode  ist  etwas  kompli- 
zierter. Das  Immunserum  wird  mit  dem  dazugehöri- 
gen Antigen  bei  37  "  C  2  Stunden  sensibilisiert,  d.  h. 
gemischt,  und  zwar  ist  hierbei  die  Verdünnung  des  Ei- 
weißextraktes in  allen  Versuchsgläsern  dieselbe,  aber 
das  sehr  geringe  Immunserumquantum  abstufend 
verteilt  (0,08,  0,02,  0,01,  0,005  ccm  von  Glas  I — 4). 
Zu  dieser  so  sensibilisierten  Mischung  wird  nach 
der  vorgeschriebenen  Zeit  aktives,  frisches  Rinder- 
serum hinzugefügt.  Dort,  wo  größere  Mengen  von 
Immunserum  vorhanden  sind,  entsteht  dann  eine 
deutliche  Konglutination,  d.  h.  eine  Ausflockung, 
die  von  einer  solchen  der  Präzipitation  und  Agglu- 
tination streng  zu  unterscheiden  ist. 

Diese  Zusammenballung,  die  im  Rinderserum 
bei  Gegenwart  von  Antigen,  Ambozeptor  und 
Komplement  entsteht,  beruht  darauf,  daß  im  Rinder- 
serum Stoffe  enthalten  sind,  die  als  Konglutinine 
bezeichnet  werden  und  die  Konglutinationen  her- 
vorrufen. 

Die  Vorteile  dieser  Methode  bestehen  in  der 
idealen  Empfindlichkeit,  welche  die  der  Präzipita- 
tion im  wesentlichen  überragt,  vorausgesetzt,  daß 
das  Immunserum  ein  vorzügliches,  hochwertiges 
ist.  Hierin  ergeben  sich  aber  für  den  Botaniker 
Schwierigkeiten.  Das  Material,  das  zur  Extraktion 
des  Eiweißes  bzw.  zur  Injektion  dient,  zeigt  nicht 


334 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  21 


die  gute  und  gleichartige  Beschaffenheit  des  zu 
analogen  Versuchen  verwendeten  Blutes  von  Tieren 
in  der  Hygiene  und  Zoologie. 

Die  Pflanzensamen  wurden  zur  Herstellung  des 
Impfmaterials  zu  Mehl  zerstoßen  und  in  Kochsalz- 
lösung die  in  demselben  enthaltenen  Eiweißstoffe 
extrahiert.  Der  Extrakt,  der  je  nach  dem  Eiweiß- 
gehalte des  Samens  verschiedenen  Gehalt  an  Eiweiß- 
stofifen  hatte,  wurde  sowohl  zur  Injektion  als  auch, 
in  natürlich  viel  größeren  Verdünnungen,  zur  Unter- 
suchung verwendet.  Der  Extrakt  wurde  von  dem 
Satz  durch  Doppelfilter  filtriert,  bis  er  ganz  klar  war. 

Hierbei  zeigten  sich  die  für  pflanzliche  Extrakte 
charakteristischen  Nebenerscheinungen.  Es  wurden 
bei  dem  Ausziehen  der  Eiweißstoffe  aus  dem  Samen 
auch  ein  Teil  weiterer  Stoffe  gelöst,  von  denen 
man  annehmen  muß,  daß  sie  für  den  Tierkörper 
von  Nachteil  sein  müssen.  Die  vorhandenen  Fette 
und  <  )le  wurden  durch  Alkohol  und  Äther  zu  ex- 
trahieren versucht,  die  in  verschiedenen  Samen 
vorhandenen  Säuren  und  Gifte  sowie  die  nicht 
antigen  wirkenden  Stoffe  wie  Stärke,  Glykogene, 
Zucker  usw.  wurden  bei  ersteren  durch  Neutrali- 
sieren, die  anderen  Stoffe  durch  Dialyse,  Behand- 
lung mit  Alkohol  usw.  zu  entfernen  versucht. 
Es  wird  jedoch  nicht  immer  gelingen,  sämtliche 
schädlichen  Stoffe  zu  entfernen.  Es  hat  deshalb 
die  Frage  nach  der  Verwendbarkeit  eines  Unter- 
suchungsobjektes die  Voruntersuchung  nach  dem 
Vorhandensein  von  derartigen  Stoffen  zur  Voraus- 
setzung, und  die  Vorbereitung  des  oben  erwähnten 
Extraktes  wird  deshalb  je  nach  der  spezifischen 
Eigenart  des  Samens  eine  verschiedene  sein. 

Die  Extrakte  wurden  Kaninchen  injiziert  ent- 
weder intravenös,  d.  h.  in  die  Ohrvene,  oder  intra- 
peritoneal, also  in  die  Unterbauchgegend.  Die 
Dosierung  und  Häufigkeit  der  Injektionen  richtete 
sich  nach  dem  Eiweißgehalte  des  Extraktes.  Nach 
wenigen  Impfungen,  ca.  3 — 4,  kann  dann  zuweilen 
schon  ein  hochwertiges,  brauchbares  Immunserum 
erzeugt  werden,  bei  etwa  10  ccm  Extrakt  bei  jeder 
Injektion.  Die  Individualität  des  Impftieres  spricht 
jedoch  zuweilen  so  mit,  daß  oft  auch  nach  zehn- 
maliger Injektion  eine  Immunität  nicht  erreichbar 
war,  ganz  abgesehen  davon,  daß  einzelne  Pflanzen- 
samen so  geringen  Eiweißgehalt  aufwiesen,  daß 
eine  Immunisierung  unmöglich  wurde. 

Zur  Untersuchung,  ob  das  Serum  Immunität 
zeigt,  wird  eine  Probeblutentnahme  aus  der  Ohr- 
vene vorgenommen,  und  sofern  sich  die  Brauch- 
barkeit des  Serums  erweist,  die  Schlachtung  und 
Entblutung  des  Tieres  durch  Karotidenschnitt 
herbeigeführt.  Das  in  sterilen  Gefäßen  aufge- 
fangene Blut  wird  zum  Erstarren  gebracht,  zentri- 
fugiert,  und  das  so  gewonnene  Serum  steril  auf- 
bewahrt. Es  hält  sich  bei  Beobachtung  jeder  Vor- 
sicht, steril  in  dunklen  Gläschen  konserviert,  sehr 
gut  und  ist  nach  langer  Zeit  noch  völlig  brauchbar. 

Wer  mit  Hilfe  der  Serumreaktionen  Unter- 
suchungen über  Verwandtschaften  anzustellen  hat, 
muß  sich  dessen  bewußt  sein,  daß  Fehlerquellen 
überaus    häufig   und  nur  mit  größter  Vorsicht  zu 


vermeiden  sind.  Wer  jedoch  längere  Zeit  mit 
den  Methoden  operiert  hat,  gewinnt  bald  eine 
genaue  Kenntnis  der  Reaktionen  und  Sicherheit 
in  ihrer  Beurteilung,  so  daß  er  ein  völliges  Ver- 
trauen den  Untersuchungen  entgegenbringen  kann. 
Dieses  Vertrauen  wird  noch  unterstützt  durch  das 
Arbeiten  mit  Samen  unbekannter  Herkunft  und 
Kontrollversuchen  mit  normalem  Kaninchenserum, 
wie  auch  mit  reinem  Extrakt  usw. 

Die  Serumdiagnostik  hat  ihre  Brauchbarkeit 
erwiesen  für  systematisch  botanische  Zwecke.  Eine 
große  Anzahl  von  Familien  ist  bereits  auf  ihre 
Stellung  im  System  untersucht  worden.  Es  zeigte 
sich,  daß  der  Stammbaum  der  höheren  Pflanzen 
nicht  von  den  Filices  eusporangiatae  zu  den  Cycado- 
filices  —  Cycadales  —  Bennettitales  —  Magnoliaceae 
geht,  sondern  daß  die  Entwicklungsreihe  IVIuscineae 
—  Lycopodiales  eligulatae  —  Lycopodiales  ligu- 
latae— Coniferales-Magnoliaceae  eingehalten  wurde. 
Wahrscheinlich  sind  die  Gymnospermaediphyletisch, 
und  zwar  stammen  möglicherweise  die  Cycadales 
aus  Bennettitales  von  den  Cycadofilices  ab,  nicht 
aber  die  Coniferales.  Durch  die  Eiweißreaktionen 
ist  die  Verwandtschaft  der  Pinaceae  zu  den  Gneta- 
ceae  erwiesen. 

Es  hat  sich  gezeigt,  daß  der  Stammbaum  der 
Angiospermen  von  den  Selaginellen  über  die  Pina- 
ceae nach  den  Magnoliaceae  sich  erstreckt,  wobei 
sich  die  Taxaceae  von  den  Pinaceae  abzweigen, 
während  die  Gnetaceae  einen  anderen  Seitenzweig 
der  Coniferales  bilden  usw.,  siehe   ')  und  ^). 

Ich  verweise  hierbei  neben  meinen  Unter- 
suchungen auf  die  unten  angeführten  Abhandlungen, 
in  denen  die  bisherigen  Resultate  verzeichnet  sind, 
da  eine  Ausführung  hierüber  den  Rahmen  dieses 
Referates   überschreiten  würde. 

Es  ist  hervorzuheben,  daß  die  bisher  angestellten 
Untersuchungen  in  keinem  Falle  einen  Widerspruch 
mit  den  morphologischen  Erwägungen  gebracht 
haben,  vielmehr  gibt  uns  die  Serumdiagnostik 
einen  Weg  an,  auf  dem  wir  in  dem  schwierigen 
Gebiete  der  phylogenetischen  Forschung  vorwärts 
zu  schreiten  haben.  Der  Wert  der  scrobiologischen 
Methoden  für  den  Nachweis  von  besonders  zweifel- 
haften Verwandtschaftsbeziehungen  im  Pflanzen- 
reiche ist  deshalb  keineswegs  zu  verkennen. 

Dr.  K.  Gohlke. 


Haeckel,  Walther,  Ernst  Haeckel  im  Bilde. 

Eine    physiognomische    Studie    zu    seinem    80. 

Geburtstage.    Mit  einem  Geleitwort  von  Wilhelm 

Bölsche.     Berlin   1914.  —  2,40  Mk. 

Der    hübsche    Band    zeigt    uns    eine    bildliche 

Darstellung  der  Entwicklungsgeschichte  des  äußeren 

Menschen    „Haeckel"   vom  Abiturienten    bis    zum 

80  jährigen,    eine    höchst    interessante    Serie    für 

')  Mez,  K.  und  Gohlke,  K.,  Physiol.-systemat.  Unter- 
suchuDgen  über  die  Verwandtschaft  der  Angiospermen  (C  o  h  n '  s 
Beiträge  z.  B.  d.  Yi\.,   1913). 

'')  I. ange,  L.,  Serodiagnostische  Untersuchungen  über 
die  Verwandtschaften  innerhalb  der  Pflanzengruppe  der  Ranales. 
Dissert.   1913. 


N.  F.  XIII.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


335 


jeden,  der  sich  auch  für  die  Menschen  in  den  be- 
deutenden Männern  interessiert,  doppelt  interessant 
bei  einem  solchen  Individuum,  dessen  starker  per- 
sönlicher Zauber  Freund  und  Gegner  in  seinen 
Bann  zwingt.  Die  ausgezeichnet  reproduzierten 
Bildnisse  sind  mit  einem  Kommentar  von  Wil- 
helm Bölsche  versehen,  der  manche  feine  und 
geistreiche  Bemerkung  enthält.  Miehe. 


Maurer,  Prof.  Dr.  Fr.  Ernst,  Haeckel  und  die 
Biologie.      Festrede     zur     Feier     von    Ernst 
Haeckel's  8o.  Geburtstag  (i6.  Februar   1914)  in 
der  Aula    der    Universität    bei  Gelegenheit    der 
Sitzung  der  medizinisch-naturwissenschaftlichen 
Gesellschaft    in    Jena    am     13.    Februar     1914. 
Jena   1914,  G.  Fischer.  —  80  Ff. 
In    ruhiger,    vorurteilsloser    Weise    wird    hier 
von    kompenteter    Seite    die    Summe    von    Ernst 
Haeckel's  wissenschaftlicher  Arbeit  gezogen.    Wir 
möchten  das  Bändchen    gerade    den  vielen    emp- 
fehlen, die  gar  zu  leicht  (oder  zu  gern  ?)  über  dem 
streitbaren    Naturphilosophen    den    Forscher    ver- 
gessen,   den    Forscher,    von    dem    der   Verf.   sagt, 
daß    wir    zugleich    die    Breite    und    Tiefe    seiner 
wissenschaftlichen    Tätigkeit    bewundern    müssen, 
und  daß  die  E^rucht  seiner  Geistesarbeit   nicht    in 
Äonen  untergehen  werde.  Miehe. 


Literatur. 

Brückmann,  Dr.  R. ,  Beobachtungen  über  Stranaver- 
schiebungen  an  der  Küste  des  Samlands.  Im  Auftrage  der 
Zentralkommission  für  wissenschaftliche  Landeskunde  von 
Deutschland.  Mit  9  Tafeln,  13  Kartenskizzen  und  2  Text- 
bildern. III.  Palmnicken.  Leipzig-Berlin  '14,  B.  G.  Teubner. 
—  3  Mk. 

Maurer,  Prof.  Dr.  Fr.  Ernst,  Haeckel  und  die  Biologie. 
Festrede  zur  Feier  von  Ernst  Haeckel's  80.  Geburtstag  (16.  Fe- 
bruar 1914)  in  der  Aula  der  Universität  bei  Gelegenheit  der 
Sitzung  der  medizinisch-naturwissenschaftlichen  Gesellschaft  in 
Jena  am   13.  Februar   1914.     Jena  '14,    G.   Fischer.  —  80  Pf. 

P.  Zeeman,  Magnetooptische  Untersuchungen,  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  der  magnetischen  Zerlegung  der 
Spektr.illinien.  Deutsch  von  Max  Ikle.  Mit  74  Abb.  im  Text 
und  8  Lichtdrucktafeln.  Leipzig  '14,  Joh.  Ambr.  Barth.  — 
Geb.  9  Mk. 

Hörn,  Dr.  Carl,  Goethe  als  Energetiker,  verglichen  mit 
den  Energetikern  Robert  Mayer,  Ottomar  Rosenbach ,  Ernst 
Mach.     Leipzig  '14,  Joh.  Ambr.  Barth.  —  2  Mk. 

Block,  Robert,  Die  Grundlagen  der  Rechtschreibung. 
Eine  Darstellung  des  Verhältnisses  von  Sprache  und  Schrift. 
Mit  4  Abb.  Veröftentlichung  der  ,,Literaturgesellsch.  Neue 
Bahnen".     Leipzig  '14,  R.  Voigtländer.  —  Geb.    1,80  Mk. 

Bronsart  v.  Schellendorf,  Fritz,  Novellen  aus  der 
afrikanischen  Tierwelt.     2.  Aufl.     Leipzig  '14,    E.   Ilaberland. 

Goßner,  Priv.-Doz.  Dr.  B. ,  Kristallberechnung  und 
Kristallzeichnung.  Ein  Hilfsbuch  der  Kristallographie.  Mit 
Betonung  der  graphischen  Verfahren  sowie  der  analytischen 
und  zonalen  Bezieliungen-  Mit  i  Taf.  und  109  Abb.  im  Text. 
Leipzig  u.  Berlin  '14,  Wilh.  Engelmann.  —  8  Mk. 

Lorscheid,  Prof.  Dr.  Jakob,  Lehrbuch  der  .unorgani- 
schen Chemie.  20.  u.  21.  Aufl.  Mit  153  Abb.  im  Text  und 
I  Spektriltafel  in  Farbendruck.  Freiburg  i.  Br. ,  Herder'sche 
Verlagshandlung.  —   Geb.  4,20  Mk. 

Magnus,  Prof.  Dr.  Werner,  Die  Entstehung  der  Pflanzen- 
gallen, verursacht  durch  Hymenopteren.  Mit  32  Abb.  im  Text 
und  4  Doppeltafeln.     Jena  '14,   G.   Fischer.  —  9  Mk. 

Hughes,  Arthur  Llewelyn,  Photo-electricity.  (Cambridge 
Physical  Series)  Cambridge  University  Press  '14.  —  6  sb. 


Freundlich,  Prof.  Dr.  II.,  Kapillarchemic  und  Physio- 
logie. 2.  erweiterte  Aufl.  Mit  5  Fig.  Dresden  und  Leipzig 
'14,  Th.  Steinkopff.  —   1,50  Mk. 

Wedekind,  Prof.  Dr.  E. ,  Stereochemie.  Mit  42  Fig. 
im  Text.  2.  umgearb.  u.  verm.  Aufl.  (Sammlung  Göschen.) 
Berlin   und   Leipzig  '14.  —  90  Pf. 

Heilig,  Robert,  Die  Deszendenztheorie  und  ihre  Hilfs- 
theorien. F.ine  kritische  Studie.  Stuttgart  '14,  Franckh'sche 
Vcrlagshandlung. 

Estreicher,  Prof.  Dr.  Tad.,  Über  die  Kalorimetrie  der 
niedrigen  Temperaturen.  (Sammlung  ehem.  und  chcm.-techn. 
Vorträge.)     Stuttgart  '14,  F.   Enke.  —   1,50  Mk. 

Sarasin,  Paul,  Über  die  Aufgaben  des  Weltnaturschutzes. 
Denkschrift  gelesen  an  der  Delegicrtenversammlung  zur  Welt- 
schutzkommission in  Bern  am  18.  Nov.  1913.  Basel  '14,  Hel- 
bing  und   Lichtenhahn.  —  2   Mk. 

Illustrierte  Länderkunde.  Herausgegeben  von  Ew.  Banse 
usw.  Braunschweig  und  Berlin  '14,  G.  Westermann.  —  Geb. 
6  Mk. 

Handwörterbuch  der  Naturwissenschaften.  Lieferung  72 
und  73  (enthaltend  Bogen  49 — 68  des  V.  Bandes).  Jena  '14, 
G.  Fischer.  —  pro  Lieferung  2,50  Mk. 

Dahl,  Prof.  Dr.  Fr.,  Vergleichende  Physiologie  und 
Morphologie  der  Spinnentiere,  mit  besonderer  Berücksichtigung 
der  Lebensweise.  I.  Teil :  Die  Beziehungen  des  Körperbaues 
und  der  Farben  zur  Umgebung.  Mit  223  Abbild,  im  Text. 
Jena  '13,  G.  Fischer.  —  3,75  Mk. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.      Leipzig  und  Berlin  '14,    B. 
G.  Teubner.     Jedes  Bändchen  geb.   1,25   Mk. 
Bd.  28:    M.  Geitel,    Schöpfungen    der   Ingenieurtechnik    der 

Neuzeit.  Mit  32  Abb.  im  Text. 
Bd.  437:  F.  .Auerbach,  Die  graphische  Darstellung.  Eine 
allgemeinverständliche,  durch  zahlreiche  Beispiele  aus  allen 
Gebieten  der  Wissenschaft  und  Praxis  erläuterte  Einführung 
in  den  Sinn  und  den  Gebrauch  der  Methode.  Mit  100  Fig. 
im  Text. 
Bd.  200;    M.  Verworn,    Die    Mechanik    des    Geisteslebens. 

3.  Aufl.     Mit   19  Abb.   im  Text. 
Bd.  36:  Joh.  Rehmke,   Die  Seele  des  Menschen.     4.  völlig 
umgearbeitete  Aufl. 

Galen i  in  Hippocralis  de  natura  hominis  in  Hippocratis 
de  victu  acutorum  de  diaeta  Hippocratis  in  morbis  acutis. 
Ediderunt  Joannes  Mewaldt  GeorgiusHelmreich  Joannes  Westen- 
berger.  Teil  V  9,  des,.  Corpus  medicorum  graecorum.  Auspi- 
ciis  academiarum  associatarum  ediderunt  academiae  beroli- 
nensis,  havniensis,  lipsiensis.  Lipsiae  et  Berolini  MCMXIV. 
In  aedibus  B.  G.  Teubner.     20  Mk. 

Philumeni  de  venenatis  animalibus  eorumque  remidiis. 
Ex  codice  vaticano  primum  edidit  M.  Wellraann.  Ebenda. 
2,So  Mk. 

Brehm's  Tierbilder.  Kleine  Ausgabe.  2.  Teil.  Die 
Vögel.  I.  Die  einheimischen  Vögel.  II.  Ausländische  Vögel. 
Leipzig  und   Wien  '14,  Bibliographisches  Institut. 

Paul  Ehrlich,  Eine  Darstellung  seines  wissenschaft- 
lichen Wirkens.  Von  zahlreichen  Forschern  herausgegebene 
Festschrift  zum  60.  Geburtstage  des  Forschers  (14.  März  1914). 
Mit   l   Bildnis.     Jena  '14,  G.  Fischer. 

Pole,  Dr.  I.  C,  Die  Quarzlampe,  ihre  Entwicklung  und  ihr 
heutiger  Stand.  Mit  47  Textabbild.  Berlin  '14,  Jul.  Springer. 
4  Mk. 

Sitzungsberichte  der  mathematisch-physikalischen  Klasse 
der  K.  B.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  München.  1913. 
Heft  HI.  Inhalt  u.  a.:  Die  Glazialhypothese  und  der  Mond, 
von  S.  Günther.  —  Zum  Turbulenzproblem  von  O.  Blumenthal. 

Bar  d  egg,  Dr.  K. ,  Natur,  Wissenschaft  und  Zweck. 
Leipzig  '14,  O.  Hillmann.     3  Mk. 

Wölbling,  Prof.  Dr.  H. ,  Die  Bestimmungsmethoden 
des  Arsens,  Antimons  und  Zinns  und  ihre  Trennung  von  den 
anderen  Elementen.  Mit  39  Textabbild.  Bd.  XVU/XVllI  von 
„Die  chemische  Analyse".     Stuttgart '14,  Ferd.  Enke.     13  Mk. 

Koepert,  Prof.  Dr.  Otto,  Jagdzoologisches  aus  Alt- 
sachsen. Beiträge  zur  sächsischen  Jagdgeschichte.  Mit  2  .Abb. 
Beilage  zum  Jahresbericht  des  Vitzthumschen  Gymnasiums  zu 
Dresden  auf  das  Schuljahr  1913/14.     Dresden  '14. 

Brücke,  Prof.  Dr.  E.  Th.  v.,  Über  die  Grundlagen  und 
Methoden  der  Großhirnphysiologie  und  ihre  Beziehung  zur 
Psychologie.      Nach    einer    am    18.    Dezember    1913    an    der 


336 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  21 


Universität  Leipzig  gehaltenen  Antrittsvorlesung.  Heft  24  der 
„Sammlung  anatomischer  und  physiologischer  Vorträge  und 
Aufsätze".     Jena  '14,   G.  Fischer.     50  Pf. 

Heinricher,  Prof.  Dr.  E.,  Das  neue  botanische  Institut 
der  Universität  Innsbruck.  Mit  3  Tafeln,  lena'14,  G.  Fischer. 
80  Pf. 

Lundegardh,  Dr.  Henrik,  Grundzüge  einer  chemisch- 
physikalischen Theorie  des  Lebens.  Jena  '14,  G.  Fischer. 
2  Mk. 

Die  Kultur  der  Gegenwart.  Berlin  und  Leipzig  '14,  B. 
G.  Teubner.  Teil  111.  Abteiig.  I.  A.  Voß:  Die  Beziehungen 
der  Mathematik  zur  Kultur  der  Gegenwart. 

Timerding  H.  E. ,  Die  Verbreitung  mathematischen 
Wissens  und  mathematischer  Auffassung.     6  Mk. 

Andree,  Dr.  K. ,  Über  die  Bedingungen  der  Gebirgs- 
bildung.  Vorträge.  Mit  16  Te.xtabbild.  Berlin  '14,  Gebr. 
Borntraeger.     3,20  Mk. 

The  Cambridge  British  Flora.  By  G.  E.  Moss,  assisted 
by  specialists  in  certain  genera.  lUustrated  frora  drawings  by 
E.  W.  Hunnybun.  Vol.  II  Salicaccae  to  Chenopodiaceae. 
Mit  einem  Band  Tafeln.  Cambridge  '14,  University  Press. 
Einfach  gebunden  2   £   10  sh. 

Suter,  Henry,  Manual  of  the  New  Zealand  Mollusca. 
With  an  Atlas  of  quarto  plates.  Wellington,  N.  Z.  '13,  John 
Mackay  Government  Printer. 

Brandt,  Dr.  Otto  und  Most,  Dr.  Otto,  Heimat-  und 
Wirlschaftskunde  für  Rheinland  und  Westfalen.  Im  Auftrage 
des  zur  Förderung  des  kaufmännischen  Fortbildungsschulwescns 
in  Rheinland  und  Westfalen  unter  Mitwirkung  zahlreicher 
Fachmänner  herausgegeben.  2  Bände.  Essen  '14,  G.  D. 
Baedeker.     Geb.  8  Mk. 

Hansen,  Prof.  Dr.  Adolf,  Repetitorium  der  Botanik  für 
Mediziner,  Pharmazeuten,  Lehramiskandidaten  und  Studierende 
der  Forst-  und  Landwirtschaft.  Mit  8  Tafeln  und  41  Text- 
abbild, g.  umgearbeitete  und  erweiterte  Auflage.  Gießen '14, 
Alfr.  Töpelmann.      Geb.  4  Mk. 

Bavink,  Dr.  Bernhard,  Allgemeine  Ergebnisse  und  Pro- 
bleme der  Naturwissenschaft.  Eine  Einführung  in  die  moderne 
Naturphilosophie.  Mit  19  F'iguren  und  2  Tafeln.  Leipzig  '14, 
S.  Hirzel.     Geb.  7  Mk.  

Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  Lyzeallehrer  E.  B.  in  E.  —  „Gibt  es  eine  maß- 
analytische Methode  zur  quantitativen  Bestimmung  des  Sauer- 
stoffgehaltes des  Wassers?" 

Zur  maßanalytischen  Bestimmung  des  Sauerstoffs  im  Wasser 
sind  verschiedene  Verfahren  vorgeschlagen  worden,  von  denen 
das  von  L.  W.  Winkler  heute  wohl  am  meisten  angewendet 
werden  dürfte:  In  das  zur  Untersuchung  stehende  Wasser 
wird  vorsichtig  und  unter  sorgfälligem  Luftabschluß  Mangan- 
chlorür  und  Natronlauge  gegeben.  Es  entsteht  Mangano- 
hydroxyd ,  das  durch  den  im  Wasser  enthaltenen  Sauerstoff 
rasch  zu  Manganihydroxyd  oxydiert  wird.  Nunmehr  säuert 
man  die  Flüssigkeit  mit  Salzsäure  an  —  nach  dem  Ansäuern 
ist  LuftabschluÜ  nicht  mehr  erforderlich,  weil  saure  Mangano- 
salzlösungen  durch  den  Luftsauerstoff  nicht  oxydiert  werden 
—  und  fügt  Jodkalium  hinzu.  Dabei  wird  in  bekannter  Re- 
aktion Jod  in  Freiheit  gesetzt  und  dessen  Menge  mittels 
Natriumthiosulfats  bestimmt.  Da  zwei  Atome  Jod  einem 
Atom  Sauerstoff  äquivalent  sind,  läßt  sich  der  Sauerstoffgehalt 
des  Wassers  leicht  aus  dem  Ergebnis  der  Titration  berechnen. 

Ist  das  Wasser  unrein,  so  kann  ein  Teil  des  entstehenden 
Jods  von  den  Verunreinigungen   verbraucht    werden ,    so    daß 


man  bei  der  Titration  zu  wenig  Jod  findet  und  damit  zu 
wenig  Sauerstofi"  berechnet.  In  diesem  Falle  hilft  man  sich 
durch  Blindversuche.  Ist  das  Wasser  nitrithaltig,  so  findet 
man  zu  viel  Jod ,  weil  die  salpetrige  Säure  unter  Reduktion 
zu  Stickoxyd  ebenfalls  Jod  in  Freiheit  setzt,  das  Stickoxyd 
dann  mit  dem  Luftsauerstoff  salpetrige  Säure  zurückbildet, 
diese  wieder  mit  Jodkalium  reagiert  usw.,  d.  h.  also  weil 
wenig  Nitrit  die  Reaktion  zwischen  Jodkalium  und  Luftsauer- 
stoff stark  katalysiert.  In  diesem  Falle  muß  man  also  die 
salpetrige  Säure  vorher  in  geeigneter  Weise  entfernen  oder 
unschädlich  machen. 

Einzelheiten  über  die  praktische  Ausführung  der  Methode 

sind    in    den   Lehrbüchern    der  Maßanalyse,    z.  B.  Beckurts, 

,,Die  Methoden  der  Maßanalyse"   (Braunschweig    1913,  Verlag 

von  Friedrich  Vieweg  und  Sohn),    S.  286  bis  293,    enthalten. 

Mg. 

Bemerkung  zur  Beantwortung  der  Frage  von  H.  M.  in 
Heidelberg:  ,, Warum  hört  man  aus  großer  Entfernung  die 
große  Trommel  eines  Musikchors  lauter  als  die  anderen  In- 
strumente, während  dieselbe  in  der  Nähe  nicht  an  Schallstärke 
die  übrigen  Instrumente  übertrifft?"     Siehe  Seite  239. 

Außer  der  von  Herrn  O.  Fischer  bei  der  Beantwortung 
dieser  Frage  hervorgehobenen  Tatsache,  daß  wahrscheinlich 
der  Ton  der  großen  Trommel  lauter  ist  als  der  der  übrigen 
Instrumente,  spielt  noch  ein  zweites  Moment  eine  wichtige 
Rolle,  nämlich  die  Beugung  der  Schallwellen.  Treffen 
Wasserwellen  auf  irgendein  Hindernis,  z.  B.  eine  im  Wasser 
liegende  Insel,  so  ist  das  Wasser  hinter  der  Insel  nicht  in 
Ruhe,  sondern  die  Wellen  umfassen  die  Insel  und  zwar  um  so 
mehr,  je  mehr  sich  die  Größe  des  Hindernisses  der  Länge 
der  Wellen  nähert:  so  zeigt  ein  im  Wasser  stehender  Pfahl, 
wenn  längere  vom  Wind  oder  einem  Dampfer  erregte  Wellen 
an  ihn  heran  kommen,  keinen  Wellcnschatten  hinter  sicli, 
dieser  wird  dagegen  bemerkbar,  wenn  kurze  von  einem  leich- 
ten Windstoß  erzeugte  Kräuselwellen  über  das  Wasser  laufen. 
Zur  Beugung  der  sehr  kurzen  Lichtwellen  bedarf  es  Körper 
von  sehr  geringen  Dimensionen,  sehr  feiner  Spalte,  mit  be- 
sonderer Sorgfalt  hergestellter  Gilter,  der  winzigen  Wasser- 
tröpfchen des  Nebels,  des  feinen  Seidengewebes  eines  Regen- 
schirms. Ja,  um  Beugungsversuche  mit  den  Röntgenstrahlen, 
die  ja  Licht  von  außerordentlich  kleiner  Wellenlänge  sind, 
zu  erhalten,  muß  man  als  Gitter  die  regelmäßig  angeordneten 
Moleküle  eines  Kristalls  benutzen.  Da  die  Schallwellen  ziem- 
lich große  Wellenlängen  haben  —  die  der  eingestrichenen 
Oktave  liegen  ca.  zwischen  1,20  m  und  0,60  m  — ,  so  werden 
sie  stark  gebeugt,  es  kann  von  einem  scharfen  Schallschalten 
nirgends  die  Rede  sein.  Wir  vernehmen  mühelos  die  Klänge 
einer  in  der  Nachbarstraße  spielenden  Kapelle,  da  die  Schall- 
wellen an  den  Begrenzungen  der  dazwischen  liegenden  Häuser 
gebeugt  werden ,  und  zwar  werden  die  tiefsten  Töne  am 
stärksten,  die  höheren  schwächer  gebeugt.  Aus  diesem  Grunde 
ist  es  möglich,  daß  die  höheren  Töne  gar  nicht  oder  doch 
stark  geschwächt  in  unser  Ohr  gelangen ,  während  die  liefen, 
langwelligen  kräftig  erklingen.  Wenn  man  auch  von  einer 
genau  definierten  Tonhöhe  der  großen  Trommel  wohl  nicht 
sprechen  kann  (die  ursprüngliche  Stimmung  der  beiden  Pauken 
ist  a  (n^io9,  ^.  =  rund  3  m)  und  das  höhere  d,  so  ist  ihr 
Ton  aut  jeden  Fall  ziemlich  tief;  daher  haben  die  von  ihr 
ausgehenden  Schallwellen  große  Wellenlängen  und  werden 
stark  gebeugt.  Diese  Tatsache  im  Verein  mit  der  großen 
Lautstärke  erklärt  die  in   Frage  stehende  Erscheinung. 

K.  Schutt,  Hamburg. 


Inhalt:  Christoph  Schröder:  Eine  Kritik  der  Leistungen  der  „Elberfelder  denkenden  Pferde".  H.  Greinach  er: 
Neue  Vakuumröhren  für  Demonstrationszwecke  und  technische  Verwendung.  —  Einzelberichte:  Charles  Riebet; 
Erbliche  Gewöhnung  niederer  Organismen  an  Gifte.  A.  Kalähne:  Über  ein  akustisches  Verfahreen  zur  Dichtemessung 
von  Gasen  und  Flüssigkeiten.  Roß:  Tierkreislicht.  Müller  und  Krön:  Spektralphotometrische  Messungen  zur  Be- 
stimmung der  Auslöschung  des  Lichtes  in  der  Atmosphäre  und  der  Energieverteilung  im  Sonnenspektrura.  Lowe  11; 
Umdrehungszeit  des  Mars.  Fournier;  Vorgänge  auf  dem  Mars.  —  Bücherbesprechungen:  War  bürg:  Die  Pflanzen- 
welt. Chodat:  Monographie  d'algues  en  culture  pure.  Gohlke:  Die  Brauchbarkeit  der  Serumdiagnostik  für  den 
Nachweis  zweifelhafter  Verwandtschaftsverhältnisse  im  Pflanzenreich.  Haeckel:  Ernst  Haeckel  im  Bilde.  Maurer: 
Haeckel  und   die  Biologie.  —  Literatur:  Liste.  —  Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschritten  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.Mi  ehe  in  Leipzig,  Marienstraße   na,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.  Band; 
der   ganzen  Reihe   2g.  Band. 


Sonntag,  den  31.  Mai  1914. 


Nummer   32. 


Eine  Kritik  der  Leistungen  der 


„Elberfelder  denkenden  Pferde". 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Prof.  Dr.  Christoph  Schröder,  Berlin. 


(Schluß.) 


Was  aber  bedeutet  dieser  Nachweis  für  die 
begonnene  Wahrscheinlichkeitsbestimmung?  Auch 
hier  fehlt  es  an  statistischen  Unterlagen  für  eine 
gänzlich  genaue  Berechnung.  Wie  schon  ge- 
zeigt, erscheinen  die  Ziffern  3,  4,  5  und  6  aig 
bevorzugt;  demgegenüber  fehlt  die  Ziffer  o 
—  die  nicht  geklopft,  sondern  durch  Kopf- 
schütteln markiert  wird ,  also  die  sonstige 
Ausdrucksform  verläßt!  —  z.  B.  auch  unter  den 
obigen  354  Ziffern  F.  Hempelmann's 
völlig,  die  8  und  9  kommen  unter  ihnen  zu- 
sammen 9 mal  vor.  Zu  diesen  so  gut  wie 
ganz  ausfallenden  Ziffern  gesellen  sich  dann 
noch  jene  anderen:  i,  2  und  7,  die  doch  sehr 
viel  spärlicher  vorkommen  als  die  übrigen: 
3,  4,  5  und  6;  so  bei  den  v.  Buttel-Reepen- 
schen  und  Plate'schen  Aufgabenergebnissen  nur 
6  mal  gegenüber  20  mal. 

Ich  gehe  nunmehr  wieder  von  den  lOO  mathe- 
matischen Komplexionen  der  10  Zififernelemente 
aus.  Statt  der  10  Elemente  aber  sind  es  deren 
nur  noch  7  (ohne  O,  8  und  9  gerechnet);  d.  h. 
statt  der  lOO  (10-)  allein  49  (7")  mögliche  Kom- 
plexionen. Hierzu  das  spärlichere  Auftreten  der 
Ziffern  i,  2  und  7  im  Vergleich  zu  den  4  übrigen, 
die  für  sich  nicht  mehr  als  16  mögliche  Kom- 
plexionen ergeben  würden.  Schätze  ich  daher 
etwa    selbst    auf    35    mögliche    Fälle,     wäre    die 

Wahrscheinlichkeit  mithin    auf      -    erhöht;    d.    h. 

35 
es  ist  die  Gewißheit  einer  richtigen  Zufallslösung 
unter  10  solchen  Aufgaben.  Schließlich  bleibt 
noch  auf  die  Neigung  der  Beobachter  hinzuweisen, 
in  ihren  Ziffern  umgekehrt  geklopfte  Zahlen  als 
ein  der  Methode  des  links-  bzw.  rechtsseitigen 
Schiagens  zur  Last  fallendes  Versehen  zu  be- 
trachten. Daraus  würde  eine  Gewißheit  von 
mehr  als  2  richtigen  Zufallslösungen 
unter  10  Aufgaben  folgen!  Mathematische 
Methoden  des  Inhaltes  wie  bei  L.  Plate  und 
H.  E.  Ziegler  könnten  einen  Nachweis  nur  vor- 
täuschen. 

Jedoch  auch,  wenn  eine  dieDaten  schärfer  berück- 
sichtigende Berechnung  zugrunde  gelegt  und  sich 
ein  Mehr  an  Wahrscheinlichkeitslösungen  ergeben 
würde,  scheint  ein  Übriges  an  zutreffenden  Ant- 
worten der  Pferde  zu  bleiben,  das  der  Erklärung  be- 
darf. Es  ist  mir  äußerst  interessant  zu  sehen,  wie  sich 
die  verschiedenen  Autoren  hierzu  aussprechen.  Da 
äußert  K.  C.  Schneider  in  geistvollen  Satz- 
gefügen (**)S.  173)  sein  Urteil:  „Daß  Mathematik 
ein  apriorisches  Vermögen  ist,  daran  kann  wohl 
heutzutage    kein    Einsichtiger   mehr   zweifeln."  — 


„Wer  möchte  mit  Sicherheit  sagen ,  daß  die 
Bienen  nicht  zählen,  wenn  sie  arbeiten  ?"  —  „Ein 
Hund  berechnet  seinen  Sprung;  ja,  kann  er  das, 
ohne  zu  zählen?"  (S.  174).  —  „Es  ist  nicht  nötig, 
daß  sich  die  Pferde  logisch  strapazieren,  um  eine 
5.  Wurzel  zu  ziehen;  sie  haben  einfach  den  Sinn 
dafür,  und  wenn  man  auch  nicht  sagen  kann,  daß 
sie  die  Zahlen  anschauen ,  so  bewältigen  sie  sie 
doch  auf  Grund  einer  Veranlagung,  die  mit  An- 
schauung wenigstens  verwandt  ist"  (S.  179).  Wie 
man  schon  nach  diesen  Auszügen  erkennt,  zögert 
K.  C.  Schneider  nicht,  sich  zu  einem  recht 
sorglos  ad  hoc  gefertigten  Urteil  zu 
bekennen,  das  in  schroffstem  Wider- 
spruch steht  zu  dem  aller  jener,  die 
sich  ein  Leben  lang  mit  der  Didaktik 
des  Rechenunterrichts  beschäftigt 
habe  n. 

So  C.  Kehr  ('-'  S.  249):  ,,Das  Rechnen  ist 
eines  der  vorzüglichsten  Mittel  der  menschlichen 
Geistesbildung".  Oder  Max  Simon -J.  Kieß- 
ling  ( !•"  S.  39):  „Die  Arithmetik  ist  eine 
reine  Vernunft  Wissenschaft,  ja,  man  kann 
fast  sagen,  es  ist  die  reine  Vernunftwissenschaft, 
denn  die  formale  Logik  geht,  ich  erinnere  an 
Graßmann,  Frege,  Schröder,  mehr  und 
mehr  in  Arithmetik  über.  —  (S.  41) :  ,,Dem  Rechen- 
unterricht fällt  in  den  unteren  Klassen,  was  die 
Ausbildung  der  Denkkraft  betrifft,  geradezu  die 
führende  Stellung  zu."  Daß  dem  in  der  Tat  so 
ist,  ,, daran  kann  wohl  kein  Einsichtiger  zweifeln", 
niemand  jedenfalls,  der  die  Kindespsyche  be- 
obachtet hat. 

K.  Krall  hatte  jene  wundersamen  Unterrichts- 
erfolge in  kurzen  Stunden  gezeitigt,  nachdem  er 
sich  einmal  für  diesen  Nachweis  berufen  fühlte. 
Was  haben  demgegenüber  andere  erfah- 
rene Tierfreunde  in  hartem  Mühen  hierin 
erreicht?  P.  Hachet -So  u  p  le  t  (  '^'  S.  82): 
,,Wenn  man  interessante  Dressurresultale  durch 
Überredung  erzielen  will,  so  muß  man  dieser  Auf- 
gabe fast  seine  ganze  Zeit  widmen."  Und  er  be- 
zeichnet es  als  eine  ganz  vereinzelte  Leistung,  daß 
es  derart  gelungen  sei ,  unter  ., Verwerfung  aller 
in  den  Zirken  üblichen  Dressurmittel  einem 
Pferde  das  Apportieren  beizubringen."  H.  Rothe 
( '^'  S.  744)  stellte  9  Monate  hindurch  Unterrichts- 
versuche mit  einem  übrigens  „sehr  intelligenten" 
Hunde  und  Pferde  an.  „Vor  dem  Pferde  hing 
(er)  in  gleichen  Abständen  zu  beiden  Seiten  Zucker, 
den  es  gern  fraß,  auf,  und  zwar  erst  auf  der  einen 

1  Stück  und  auf  der  anderen  2  Stücken,    danach 

2  bzw.  3.     Stets  langte  es  nach  den  meisten.    Als 


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(er)  aber  3  bzw.  4  aufhing,  wurde  es  irre  und 
wählte  die  Zuckerstückchen  verschiedene  Male 
unregelmäßig."  Während  das  Pferd  bei  einer 
anderen  Versuchsanordnung,  ,,um  festzustellen,  ob 
die  Tiere  einen  Begriff  vom  Zählen  haben",  schon 
nach  der  Zahl  2  völlig  versagte,  ist  es  H.  Rothe 
gelungen,  einen  Hund  so  abzurichten,  daß  er  lernte, 
erst  nach  5  maligem  Werfen  von  Holzstücken 
beim  6.  Male  auf  den  Leckerbissen  zuzuspringen. 
Aber  ,,auch  bei  ihm  konnte  von  einem  Zählen 
keine  Rede  sein;  denn  sobald  (H.  Rothe)  die 
Stücken  in  ungleichen  Zeitabständen  in  die  Krippe 
warf,  versagte  auch  er." 

Unter  den  manchen  anderen  gleichstimmigen 
Berichten  kritischer  Forschung  darf  der  folgende 
für  die  vorliegende  Frage  besonderes  Interesse 
erwarten.  Auf  Anregung  und  unter  Aufsicht  von 
George  Romanus  hatte  der  Wärter  (mit  einer 
Schimpansin  Sally)  in  den  Zoological  Gardens  von 
London  Versuche  über  das  Zählvermögen  des 
Affen  angestellt.  Durch  geduldige  Dressur  sollte 
das  Tier  dahin  gebracht  sein,  eine  bestimmte  An- 
zahl von  Strohhalmen  —  fünf  und  darüber  —  in 
den  Mund  zu  nehmen,  um  sie  dem  Wärter  dar- 
zureichen. Doch  Lloyd  Morgan  (,,Introduction  to 
comparative  Psychologie",  London,  1903;  p.  253)  be- 
richtet zu  diesem  Erfolge:  ,,Währendmeines Besuches 
jener  Gärten  sah  ich  Sally  diese  Handlung  16  mal 
vornehmen,  darunter  1 1  mal  mit  richtigem  Resultat. 
Aber  an  einem  Tage,  als  sie  2  mal  geirrt  hatte 
—  indem  sie  statt  3  Strohhalmen  deren  5,  und 
dann  4  statt  3  reichte  — ,  sagte  der  Wärter,  sie 
sei  müde  und  schlecht  aufgelegt  (genau  wie  bei 
K.  Krall!  Verf).  Ich  sah  überhaupt  keine  Ver- 
suche, die  über  die  Zahl  fünf  hinausgingen"  (zit. 
aus  ^'"  S.  202).  —  Mit  den  Worten:  ,, Apriorischer 
Zahlensinn"  wird  schlechthin  also  gar  nichts  ge- 
wonnen; so  leicht  auch  sollten  wir  eine  Wahrheit 
bis  heute  nicht  in  die  Rumpelkammer  werfen. 
Und  wiederum  nichts,  das  geeignet  wäre, 
die  Krall 's  chen  Erfolge  als  möglich  er- 
scheinen zu  lassen.  Nichts  als  legendäre 
Mitteilungen  älterer  Jahrhunderte,  die 
K.  Krall  mit  rührender  Sorgfalt  gesammelt  hat. 

Allerdings  und  gewiß,  ein  apriorisches 
Auffassungsvermögen  für  unterschied- 
liche Quantitäten  haben  wir  sehr  wohl  anzu- 
nehmen. Das  Rind,  das  junge  Wirbeltier  werden 
ganz  allgemein  das  größere  Stück  beliebter  Nah- 
rung wählen,  vorausgesetzt  allerdings,  daß  der 
Unterschied  einen  je  augenfälligen  Wert 
besitzt,  eine  je  gewisse  Schwelle  überschreitet. 
Hierbei  kann  es  nicht  grundsätzlich  verschieden 
sein,  ob  jene  Quantitäten  als  Massen  physikalisch- 
chemischen Zusammenhanges  erscheinen  oder  aus 
etwa  gleichartigen  Einzelkörpern  gehäuft 
werden.  Im  letzteren  hier  interessierenden  Falle 
ist  das  Unterscheidungsvermögen  gleichzeitig  ab- 
hängig von  der  Höhe  der  kleineren  Summe  der 
verglichenen  Zählobjekte.  So  vermag  ein  Kind 
bereits  im  2.  Jahre  zu  erkennen,  wenn  ihm  von 
2  oder  3  gleichen  Objekten  eins  genommen  wurde, 


zunächst  aber  nicht  bei  einer  größeren  Anzahl. 
Und  gleichsinnig  verhält  sich  z.  B.  der  Vogel 
seinem  beraubten  Eigelege  gegenüber.  Bei  einer 
höheren  Einerzahl  bedarf  es  für  die 
Wahrnehmung  auch  eines  größeren 
Verlustes.  Das  Kind  entwickelt  erst  sehr  all- 
mählich, insbesondere  an  Objekten,  die  seine 
Aufmerksamkeit  durch  ihre  Eignung  zum  Naschen 
oder  Spielen  fesseln,  ein  feineres  Anschauungs- 
vermögen für  solche  Unterschiede,  ohne  deshalb 
irgendwie  mit  Zahlenbegriften  zu  arbeiten. 

Für  es  bleiben  die  Objekte  eine  einfache  Folge  von 
Gleichartigem,  das  es  aneinandereiht,  wie  die 
Perlen  einer  Kette:  ,, Noch  eins,  noch  eins."  Nicht 
selten  selbst  dann  noch,  wenn  es  die  Zahlen  bis  10 
und  20  sicher  herzuplappern  vermag.  Es  verbindet 
vielleicht  bereits  mit  der  2  und  3  die  Möglichkeit, 
sie  auf  verschiedene  Objekte  richtig  anzuwenden, 
und  ist  doch  völlig  außerstande,  eine  der  höheren 
Zahlen  zu  erkennen.  Oft  genug  bezeichnet 
es  längst  ein  Dutzend  und  mehr  z.  B.  der 
Zahlenbezeichnungen  elektrisch  er 
Straßenbahnen,  die  ihm  genannt  wur- 
den, mit  irrt  ums  freier  Sicherheit,  be- 
vor e  s  ein  e  der  Ziffe  rn  an  anderer  St  el  1  e 
wieder  zu  erkennen  wüßte.  Die  Zahlen- 
eindrücke haften  völlig,  sie  sind  untrennbar  asso- 
ziiert mit  dem  betrefienden  Gegenstande  des 
Interesses.  Und  es  bedarf  des  Geschickes  und 
der  Mühen  eines  ganzen  ersten  Schuljah- 
res, die  Zahlen  innerhalb  der  Grenzen 
bis  20  von  bestimmten  Objekten  zu  lösen  (zu 
abstrahieren)  und  sie  an  das  (gesprochene  und 
geschriebene)  Wort  wie  an  das  Zahlenbild  zu  bin- 
den. Und  die  Sprache  wird  dann  zum 
vornehmsten  Mittel  der  Durchdringung 
des  Stoffes  als  Vorbereitung  für  die  nach  fer- 
neren langen  5  Jahren  einsetzende  Algebra,  die 
als  eine  erste  Grundlage  für  die  „Mathematik"  zu 
dienen  berufen  ist. 

Nach  alledem  erscheint  es  sehr  wohl 
möglich,  daß  ein  Tier  wie  das  Pferd 
mit  einem  bestimmten  Zahlenbilde 
oder  einer  charakteristischen  Laut- 
folge eine  gewisse,  seiner  Natur  gemäße 
Ausdrucks  weise  in  Hufschlägen  asso- 
ziiere, wenigstens,  sofern  es  unsere  Kenntnis 
der  Anatomie-Physiologie  seines  Auges  nicht  aus- 
schließt; auf  derselben  Stufe,  wie  sie  ein  Kind  |l 
von  2  Jahren  bei  der  Benennung  z.B.  der  Zahlen- 
schilder elektrischer  Wagen  äußert.  Es  mag  selbst 
angenommen  werden,  daß  das  Pferd  oder  doch  die 
höchsten  seiner  Säugetiergenossen,  so  Hund  und 
Affe,  auf  eine  gesicherte  Anschauung  der  Zahlen 
bis  3,  4,  5,  vielleicht  noch  um  die  eine  und  andere 
fernere  Einheit  dressiert  werden  könne.  Aber 
von  einem  Verständnis  füi  abstrahie- 
rendes Zählen  nirgend  eine  Spur,  um 
so  viel  weniger  von  der  Möglichkeit  eines  Ein- 
dringens in  die  höheren  Rechnungsarten;  nirgends 
bis  auf  K.  Krall,  der  sich  für  diesen  besonderen 
Nachweis  Pferde  zulegte. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


339 


Wenn  man  nun  aber  auch  bereit  ist,  in  diesen 
Leistungen  nichts  als  Assoziationen  des  sinnlichen 
Gedächtnisses  zu  erkennen,  bedarf  es  doch  noch 
einer  Würdigung  der  heterogenen  Mannig- 
faltig k  e  i  t  d  e  s  G  e  b  o  t  e  n  e  n.  Es  ist  zu  prüfen, 
ob  eine  solche  Fülle  rein  gedächtniswertiger 
Leistungen  denkbar  ist.  Das  Gedächtnis  des 
Pferdes  scheint  ganz  einstimmig  gerühmt  zu  wer- 
den. So  urteilt  G.  Bohn  {^''  S^  122),  daß  „das 
Gedächtnis  sich  (bei  den  Wirbeltieren)  in  eminen- 
tem Maße  entwickle".  Oder  nach  St.  vonMaday 
('-'  S.  51):  „Das  Gedächtnis  ist  die  am  meisten 
angestaunte  Fähigkeit  des  Pferdes.  ,Das  Pferd 
sei  ein  dummes  Vieh,  es  habe  aber  ein  vorzüg- 
liches Gedächtnis',  sagt  ein  uralter  Spruch,  und 
es  gibt  noch  heute  viele  Dresseure,  die  sich  an- 
gebhch  einzig  und  allein  an  dieses  Talent  wenden. 
,Es  ist  wenig  intelligent',  sagt  auch  Le  Bon, 
,doch  scheint  sein  Gedächtnis  dem  mensch- 
lichen weit  überlegen  zu  sein." 

Schließlich  noch  eine  der  Notizen  bei  K.  Krall 
("S.  405,  Anm.):  „Derartige  Gedächtnisleistungen 
habe  ich  zahlreich  erlebt.  Herr  General  Zobel  schrieb 
mir  hierzu  ergänzend:  ,Ich  war  Hans  (dem  , Klugen 
Hans'  W.  von  Osten 's.  Verf)  als  General  vor- 
gestellt, und  er  hat  mich  mehrfach  so  genannt. 
Erstaunt  aber  war  ich  ganz  außerordentlich ,  als 
ich  bei  einer  der  ersten  öffentlichen  Vorführungen 
durch  G.  Schillings  nach  Monaten  zum  ersten 
Male  wieder  zu  Hans  kam,  ihn  fragte,  ob  er  mich 
noch  kenne,  und  er  nickte,  ihn  auf  den  Hof  führen 
und  durch  Schillings  fragen  ließ,  wer  ich  wäre. 
Er  antwortete  prompt:  .General'."  Wie  man 
sieht,  darf  dem  Gedächtnis  des  Pferdes  nach  dem 
Urteile  erfahrenster  Kenner  eine  außergewöhnliche 
Aufgabe  gestellt  werden,  größer  vielleicht  als 
jene,  mit  deren  Leistung  das  Gedächtnis  des 
Kindes  überrascht.  Und,  wie  gesehen ,  jedenfalls 
infolge  der  Vielseitigkeit  des  Unterrichtsstoffes, 
waren  auch  die  betreffenden  Assoziationen  derart 
wenig  sicher,  daß  es  angängig  erscheinen 
könnte,  die  restlichen  Treffer  unter 
den  Leistungen  als  einen  Ausfluß  des 
sinnlichen  Gedächtnisses  für  befriedi- 
gend erklärt  zu  erachten. 

Doch  die  Pferde  sollen  Aufgaben  gelöst  haben, 
die  ihnen  nicht  gelehrt  worden  seien.  Überall, 
bis  zum  Überdrusse,  liest  man  die  Versiche- 
rung K.  Kral  l's,  daß  er  selbst  nichtradi- 
zieren  könne.  So,  nach  P.  Sara  sin  (*',  S.  249), 
von  M.  Döring  („Neue  Bahnen",  '12,  S.  413): 
.  .  .,  der  (K.  Krall;  Verf)  eingestand,  daß  er  kein 
großer  Rechner  sei";  oder  von  P.  Sarasin  (^' 
S.  251 1:  „.  .  .,  daß  mir  Krall  nicht  nur  mündlieh, 
sondern  auf  besonderes  Verlangen  auch  schriftlich 
versichert  hat,  daß  weder  er  noch  der  Wärter  Albert 
imstande  seien,  hohe  Wurzelrechnungen,  wie  der 
Hengst  Muhamed  sie  löste,  in  kurzer  Zeit  im  Kopfe 
auszuführen".  Oder  von  H.  v.  Buttel-Reepen 
("',  S.  261):  „Herr  Krall  gab  mir  auf  Wunsch 
folgende  schriftliche  Erklärung :  Ich  bin  nicht  im- 


weder  im  Kopfe  noch  schriftlich  —  lösen  zu 
können  .  .  ."     Usf. 

Demgegenüber  zitiere  ich  einige  Stellen,  die 
das  Gegenteil  besagen.     Unter    manchen  anderen 

P.  Sarasin's  Darstellung  C*',  S.  248):  „j/ 147008443. 
Krall,  er  (Muhamed ;  Verf)  hat  noch  nie  so  etwas 
Schweres  gemacht !  Er  nennt  die  Zahl :  ,Fünfte 
Wurzel  aus  147  Millionen  00  (?,  \'erf.)  8  Tausend 
443,  mach  das!'  Antwort  sogleich:  f  23,  f  24, 
f  ^2  oder  33  (die  Hufschläge  des  rechten  Fußes 
unklar  zwischen  2  und  3),  f  22,  f63,  f  33.  Krall: 
, Albert,  die  Reitpeitsche  her'  .  .  .  richtig  43!  Da 
strahlte  Krall  vor  Freude  .  .  ".  Auch  H.  v.  Büttel- 
Reepe  n  zur  2.  (unwissentlichen  1)  Kouvertaufgabe 

(«',  S.  258):  }T2T67  =  f33.  Obgleich  ich  Krall 
die  richtige  Lösung  (23)  nicht  mitgeteilt  habe,  ruft 
er  ,falsch'!  und  läßt  dem  Pferde  durch  Albert  einen 
Peitschenschlag  geben". 

Leider  sind  Widersprüche  dieser  Art 
zuzüglich  jener  eigentümlichen  Fest- 
stellungen betreffs  der  schon  zuvor  be- 
handelten „unwissentlichen"  Wurzel- 
aufgaben nicht  die  einzigen  geblieben, 
welche  sich  mir  aufgedrängt  haben. 
Sie  würden  dartun,  daß  K.  Krall's  Gedächtnis 
wenigstens  dort  recht  unzuverlässig  erscheinen 
möchte,  wo  es  dem  Interesse  seiner 
Wünsche  dient.  So  schreibt  P.  Sarasin 
( ''  S.  242)  über  seinen  Besuch  in  Elberfeld  vom 
1.6. '12:  „Man  zeigt  ihm  ein  Bild  mit  3  Pferde- 
köpfen :  ,Zarif,  was  siehst  du  ? '  (lispelnd  gefragt), 
Fudrzeinfärd.  ,Wie  viele'?,  fff  Er  wird  abgeführt; 
er  kenne  dieses  Bild  noch  nicht,  es  sei  das  erste 
Mal,  daß  man  es  ihm  gezeigt."  —  „Muhamed  wird 
vorgenommen.  Man  zeigt  die  Pferdeköpfe  .  .  ." 
Dagegen  entnehme  ich  K.  Krall's  Buch  („Nieder- 
schrift vom  18.  7.  '09)  S.  141 :  „Die  nebenstehende 
Pferdekarte  (Abb.  82)  wurde  Muhamed  gezeigt: 
,Was  ist  das?'  Er  antwortete  aus  sich:  Drei 
Färt  . .  .  Die  Form  der  Mehrzahl  einzuüben,  wurde 
absichtlich  unterlassen;  ja  es  wurde  sogar  statt 
dessen  in  einzelnen  Fällen  die  von  den  Pferden 
angewandte  Form,  drei  Färt  von  uns  im  Unter- 
richt beibehalten". 

Oder:  Nach  dem  handschriftlichen  Protokoll 
F.  Hempelmann's  S.  7:  „Muhamed  soll  jetzt 
eine  für  ihn  neue  Aufgabe  rechnen,  wo  nämlich 
in  Worten  , addiere  ...  zu'  geschrieben  ist,  wäh- 
rend bis  jetzt  immer  nur  ein  -|— Zeichen  geschrieben 
wurde."  Dagegen  lese  ich  in  K.  Krall's  Buch 
(14.  Dezember  1908):  „M  Malnehmen.  Aufgaben 
mit  gedruckten  Zahlwörtern  (es  geht  aus  dem 
Folgenden  hervor,  daß  K.  Krall  unter  ihnen  in 
Buchstaben  angeschriebene  Zahlen  versteht,  Verf): 
multipliziere  zwei  mit  drei.     „Hierzu  vom  28.:  „M. 


Stande,  Wurzeln  wie  die  angegebenen  (y  12167) 


Lesenlernen  deutscher  und  französischer  Zahl  Wörter". 
Da  ist  schwer  zu  glauben,  daß  das  nächstliegende, 
sehr  viel  einfachere:  „Addiere  zu"  übersehen  sein 
sollte.  Ich  verweise  den  Zweifler  zudem  auf  K. 
Krall's  Buch  S.  484:  „.  .  .;  ein  Halb  und  ein 
Viertel  sollst  du  addieren"  ...(vom  12.  4.  '10) 


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oder  S.  479:  „Nicht  addieren",  „Addiere"  (vom 
18.  2.  '10);  u.  a.  O. 

So  frei  sich  aber  auch  K.  Kr  all 's  Buch  von 
jeder  Selbstkritik  auf  wissenschaftlichem  Boden 
hält,  es  hieße  doch  der  sonst  gern  hervorgehobenen 
Intelligenz  desselben  ein  gänzlich  unverdien- 
tes Armutszeugnis  ausstellen,  wollte  man  an- 
nehmen, daß  nicht  jedenfalls  i  h  n  sein  Rechen- 
unterricht so  weit  gefördert  haben  sollte,  jene  mit 
elementarsten  Kenntnissen  lösbaren  Ra- 
dizier ungen  gründlich  zu  beherrschen. 
Diese  bestehen  in  nichts  weiterem  als  zu  wissen, 
daß  die  Radikanden  von  Quadratwurzeln  2  ziffrig, 
von  kubischen  3  ziffrig,  von  vierten  4  ziffrig  (u.  s.  f.) 
von  rechts  nach  links  abzustreichen  bzw.  abzuzählen 
sind,  um  die  Ziffernzahl  der  Wurzellösung  sofort 
zu  erkennen;  ferner  als  die  2.,  3.  und  evtl.  4.  Po- 
tenzen der  Ziffern  2  bis  9  im  Kopfe  zu  haben, 
um  nach  ihnen  aus  der  Restkomplexion  links  und 
der  Endziffer  rechts  allsogleich  jede  derartige 
Wurzel  zu  ziehen.  Allerdings  ist  mir  nach  dem 
gesamten  Protokollmateriale  aufgefallen,  daß  neue 
(unwissentliche)  Aufgaben  erst  nach  Fehl- 
antworten, wenn  überhaupt,  richtig  gelöst 
wurden.    Doch  das  „H  eranrate  n",  das  L.  P 1  a  t  e 

nennt,    hat  kaum  je  menschliche  Züge;    am 

2 

meisten    noch    bei  ^c,S2i6g  — mit  den  Antworten 

523.  347,  177.  132,  747.  7^7.  773,  ^75,  7&3,  363, 
schließlich  r  763  —  die  Betonung  der  Hunderter- 
ziffer 7  und  der  Einerziffer  3. 

Schwerer,  unter  Umständen  sehr  viel  schwieriger 
ist  es,  die  I^ösung  für  eine  nicht  restlos 
radizierbare  Zahl  anzugeben;  mit  solchen  Ver- 
suchen, welche  allein  die  Rechenfähigkeit  der 
Tiere  bezeugen  würden,  eben  da,  wo  sie  für  die 
menschliche  Schätzung  aufzuhören  beginnt,  scheint 
sich  K.  Krall  nie  bemüht,  seine  „Unterrichts"- 
Ergebnisse  an  ihnen  nie  selbst  nachgeprüft  zu 
haben.  —  Hierauf  weist  übrigens  auch  eine  aus- 
führlichere Zuschrift  des  Herrn  Dr.  Jul.  Pikler 
(Budapest)  vom  16.  Sept.  '13  au  mich  hin.  — 
So  wenig,  wie  sich  ein  Vermerk  darüber  finden  läßt, 
daß  es  K.  Krall  aufgefallen  wäre  festzustellen,  wie 
seine  Pferde  keine  anderen  als  die  alier- 
niedrigsten  Potenzier  ungen  auszuführen 
vermögen.  Und  hier  glaube  ich  K.  Krall  gerne, 
daß  auch  er  weiteres  nicht  kann. 

Solche  ausnahmslose  Parallelität 
dieser  menschlichen  und  tierischen 
Leistungen  legt  die  Frage  nahe,  ob  nicht  ein 
direkter  Zusammenhang  beider  in  der  Weise 
denkbar  sei,  wie  ihn  Osk.  Pfungst  für  den 
„klugen  Hans"  nachgewiesen  hat,  der,  gleichfalls 
durch  die  dargebotenen  Rüben  zur  Aufmerksam- 
keit veranlaßt,  infolge  unfreiwilliger  Futter- 
dressur zu  gelegentlich  richtigen  Antworten  ge- 
langt war.  Je  tiefer  ich  in  die  Literatur  über 
den  Gegenstand  eingedrungen  bin,  desto  mehr 
halte  ich  mich  überzeugt,  daß  auch  bei 
den  Leistungen  dieser  Pferde  derartige 
Beziehungen  mit  inFrage  stehen.    Nichts 


spricht  dagegen;  und  K.  Krall  dürfte  diese  Mög- 
lichkeit selbst  fürchten,  wenn  er,  wie  zu  Anfang 
hervorgehoben,  die  Nachprüfung  durch  eine  Kom- 
mission auf  ungeradem  Wege  abgelehnt   hat. 

Daß  die  Rechenleistungen  der  Pferde 
nicht  auf  einem  begrifflichen  Denken 
beruhen  können,  glaube  ich  im  vorigen 
objektiv  erwiesen  zu  haben.  Und  ich  hätte 
die  Darlegung  gleichermaßen  auf  die  gesamten 
Leistungen  ausdehnen  können.  Wie  weit  sie 
als  Ergebnis  gedächtnismäßiger,  bloßer 
sinnlicher  Assoziationen  zu  betrachten 
sind,  wie  weit  sie  etwa  der  Erfolg  un- 
bewußter Zeichengebung  im  Sinne  der 
O.  Pfungst'schen  Erklärung  sein  könn- 
ten, wie  weit  sie  selbst  in  manchen 
Fällen  der  suggestiven  Wirkung  K. 
Krall's  auf  seine  Hörer  bzw.  Zuschauer 
entspringen  dürften,  das  gegeneinan- 
der abzugrenzen  würde  nur  möglich  sein, 
wenn  umfassendere,  sorgfältigste,  kritische  Proto- 
kolle und  Beobachtungen  einer  Kommission 
vorlägen,  deren  aus  beiden  Streitlagern,  aus  ver- 
schiedenen anschließenden  Disziplinen  gewählte 
Mitglieder  eine  angemessene  Arbeit  verbürgen 
würden. 

Ich  meine  aber,  selbst  ohnedem  dürften  die 
Herren,  deren  unkritischer  Beifall,  von  ungezügelten 
Wünschen  für  eine  anthropomorphe  „Tierseele"  ge- 
boren, „K.  Krall  welken  Lorbeer  geflochten  hat, 
dessen  bald  zufrieden  sein,  wenn  schon  eine  nahe 
Zukunft  dies  mit  den  ,Elberfelder  denkenden 
Pferden'  zugleich  in  Vergessenheit  geraten 
läßt.  Bis,  nun  bis  einmal  wieder  ein  K.  Krall 
legendäre  Berichte  zur  Tierpsychologie  für  seine 
Zwecke  aus  älteren  Jahrhunderten  sammelt"."" 


Nachschrift.  Inzwischen  ist  in  der  ,,Naturw.  Wochen- 
schrift" (1914,  S.  193  — 196)  eine  weitere  Ausführung  H.  v. 
Bu  tt  el-Reep  e  n's  erschienen äoi :  ,, Das  Problem  der  Elber- 
l'eldcr  Pferde  und  die  Telepathie".  In  li'  S.  259  hat  derselbe 
seine  Beurteilung  der  einfacheren  Rechenleistungcn  dahin  aus- 
gesprochen, daß  er  sie  sich  ,, nicht  ohne  ein  eigenes  Zählver- 
mögen ,  nicht  ohne  eine  gewisse  Denktätigkeit  und  ein  vor- 
treffliches Gedächtnis*'  vorzustellen  vermöge.  Demgegenüber 
würde  H.  v.  Butt  el- Re  ep  en  nach  i''  S.  261  geneigt  gewesen 
sein,  eine  Erklärung  für  ,,die  Leistungen  der  Pferde  bei  der 
Lösung  komplizierter  Rechenaufgaben"  ,, vielleicht  auf  einem 
ganz  besonderen  Gebiete"  zu  sehen ,  „auf  dem  uns  die  sog. 
Zahlenwunder  und  die  Rechenkünstler  begegnen". 

Hiermit  sei  eine  Stelle  des  ProtokoUes  -<>'  S.  194  ver- 
glichen, das  H.  V.  Buttel-Reepen  vom  3.  seiner  4  Besuche 
bei  den  Pferden  veröffentlicht:  „Herr  Krall  war  abwesend. 
Als  ich  mich  etwas  später  an  den  Pferdepileger  .Albert 
wandte  mit  der  Frage,  wie  er  über  die  Leistungsfähigkeit  der 
Pferde  im  allgemeinen  dächte,  sagte  er  ungefähr  wiirtlich : 
,Ich  denke  wie  Herr  Professor  darüber'.  , Wieso  f  entgegnete 
ich.  ,Ja,  ich  glaube,  daß  es  Gedächtnisleistungen  sind.  .  .  ." 
Ohne  mich  hier  über  den  ferneren  Inhalt  der  Ausführungen 
unter  20 1  auseinandersetzen  zu  können  (vgl.  zu  ihm  und  in  be- 
zug  auf  weitere  Gesichtspunkte;  Chr.  Schröder,  ,,Die 
rechnenden  Pferde".  In:  „Biolog.  Centralblatt",  Bd.  XXXIV), 
erachte  ich  es  doch  für  recht  bemerkenswert,  daß  der  Pferde- 
pfieger  Albert,  der  nach  201  S.  194  zudem  ,,die  Autoritäts- 
person bei  den  Pferden  ist",  während  man  sonst  angenommen 
hat,  das  wäre  K.  Krall,  daß  der  Pferdepfleger  Albert  in 
einem  Augenblick,  in  dem  er  sich  offenbar  frei  von  Rück- 
sichten fühlte,  die  Leistungen  der  Pferde   als  rein  gedächtnis- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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mäßige  bezeichnete  und  dafi  sich  auch  H.  v.  B  u  1 1  e  1  •  R  e  c  p  e  n 
nach  seinen  weiteren  Besuchen  nicht  mehr  ausdrücklich  gegen 
diese  von  mir  schon  7'  vertretene  Auffassung  zu  wenden 
scheint. 

Wenn  aber  H.  v.  Bu  1 1  el  -  R  e  e  p  e  n  schließlich  (S.  196) 
K.  Krall  als  Märtyrer  beldagt,  den  „die  Wissenschaft  bis- 
her insofern  in  Stich  gelassen  habe,  als  sie  alles  seinen 
Schultern  aufbürde ,  die  die  Last  kaum  noch  zu  tragen  ver- 
möge", so  kann  die  Wissenschaft  diesen  Vorwurf  glatt  ab- 
lehnen mit  dem  Hinweise  auf  Tatsachen  wie  die  K.  Krall 
vorgeschlagene  Kommission  und  Versuche  nach  'in. 

i)  Krall,  K.,  „Denkende  Tiere".  532  S.,  zahlr.  (phot.) 
Abb.  u.  Taf.     Fr.  Engelmann,  Leipzig,    19 12. 

2)  von  Maday,  Dr.  Stef.,  ,, Psychologie  des  Pferdes  und 
der  Dressur".  349  S.,  7  Abb.  Verlag  Paul  Parey,  Berlin, 
1912. 

3)  Hempelmann,  F.,  ,,Bei  Hans,  Muhamed  und  Zarif 
in  Elbcrfeld."  ProtokoUmanuskript,  mir  gütigst  zur  Benutzung 
überlassen.      12  S. 

4)  Plate,  L.,  ,, Beobachtungen  an  den  denkenden  Elber- 
felder  Pferden  des  Herrn  K.  Krall".  In:  ,,Naturw.  Wochen- 
schrift",  1913,  S.  263 — 268. 

5)  te  Kloot,  O.,  „Die  denkenden  Pferde  Hans,  Muha- 
med und  Zarif.     96  S.,   Abb.      F.   Lehmann,  Berlin,    1912. 

6)  v.  Buttel-Reepen,  H.,  ,, Meine  Erfahrungen  mit  den 
denkenden  Pferden".  In:  „Naturwiss.  Wochenschrift",  1913, 
Hef\   16  u.   17. 

7)  Schröder,  Chr.,  ,,Zum  Geheimnis  der  Elberfelder 
„denkenden"   Pferde".     In:  „Natur",   1913,  Heft  23. 


S)  Sarasin,  P. ,  „Ein  Besuch  bei  Herrn  Karl  Krall 
und  seinen  denkenden  Pferden".  In:  ,,Zool.  Anzeiger",  1912, 
S.  23S — 254. 

9)  Ziegler.  H.  E.,  ,, Falsche  Statistik".  In:  „Mitt.  Ges. 
Tierpsychologie",   i.  Jahrg.,  S.  65/66. 

10)  Hempelmann,  F.,  ,,Das  Problem  der  denkenden 
Pferde  des  Herrn  Krall  in  Elberfeld".  In:  „Verh.  D.  Zool. 
Ges.",   1912,  S.  228—234. 

11)  Schneider,  Karl  Camillo :  ,,Die  rechnenden  Pferde". 
In:   „Biolog.   Centralbl.",    1913,  S.   170 — 179. 

12)  Kehr,  C,  ,,Die  Praxis  der  Volksschule".  40S  S. 
E.  F.  Thienemann,  Gotha,   1S85. 

13)  Simon,  Max,  und  J.  Kießling,  „Didaktik  und 
Methodik  des  Rechen-,  Mathematik-  und  Physikunterrichts". 
C.  H.  Beck,  München,   1S95. 

14)  Hachet-Souplet,  P.,  „Untersuchungen  über  die 
Psychologie  der  Tiere".      186  S.     E.  Ungleich,   Leipzig,   1910. 

15)  Rothe,  H.,  ,,Vom  Zahlenbegriffsvermögen  des  Pfer- 
des".    In:   „Umschau",    1913,  S.   744/45. 

16)  Wasmann,  E.,  S.  J. ,  ,, Instinkt  und  Intelligenz  im 
Tierreich".     276  S.     Herder'scher  Verlag,  Freiburg  i.  Breisg., 

1905-  .. 

17)  Bohn,  Georges,  ,, Die  Neue  Tierpsychologie".  (Übers, 
v.   R.  Thesing.)     179  S.     Veit  &  Co.,  Leipzig,   19 12. 

18)  Pfungst,  Oskar,  „Das  Pferd  des  Herrn  v.  Osten 
(Der  kluge  Hans)".    191   S.    Job.   Ambr.  Barth,  Leipzig,  1907. 

19)  Schröder,  Chr.,  ,, Berichtigungen  zu  den  , .Anmer- 
kungen' der  Herren  Profs.  Drs.  L.  Plate  und  H.  v.  Buttel- 
Reepen  .  .  ."     In;   „Natur"   1914,  Heft   14,  S.  312 — 314. 


Einzelberichte. 


Botanik.  Latentbleiben  der  Rostkrankheit. 
Vor  drei  Jahren  hatte  G.  Tischler  sjezeigt, 
daß  es  durch  Veränderungen  der  Außenbedin- 
gungen möglich  ist,  einzelne  Sprosse  von  Euphor- 
bia Cyparissias,  die  bereits  vom  Mycel  des  Rost- 
pilzes Uromyces  Pisi  durchzogen  waren,  äußerlich 
gesunden  zu  lassen.  Tischler  hat  inzwischen 
diese  interessanten  Versuche  fortgesetzt  und  fest- 
gestellt, daß  man  den  Ausbruch  der  Rostkrankheit 
immer  verhindern  kann,  wenn  man  die  winterliche 
Ruheperiode  der  Wolfsmilch  (durch  Einbringen  ins 
Warmhaus)  aufhebt  und  die  Pflanze  so  zu  dauern- 
der vegetativer  Tätigkeit  nötigt.  Die  Krankheit 
kann  dann  mehrere  Vegetationsperioden  hindurch 
latent  bleiben,  tritt  aber,  wenn  man  die  Pflanzen 
eine  Winterruhe  durchmachen  läßt,  an  den  sodann 
entstehenden  Trieben  sofort  wieder  auf.  Bei  Brand- 
pilzen hat  Brefeld  schon  ein  Latentbleiben  der 
Krankheit  beobachtet  und  gefunden,  daß  gewisse 
Pflanzenarten  in  einigen  Jahren  ganz  brandfrei 
werden  können,  während  andere  dauernd  krank 
bleiben.  Tischler  sah  bei  der  mikroskopischen 
Untersuchung  der  Vegetationspunkte  seiner  schein- 
bar gesundeten  Wolfsmilchpflanzen,  daß  sie  sämt- 
lich Myzel  enthielten,  aber  nur  in  bestimmter  Ent- 
fernung von  den  rein  meristematischen  Zellen 
(höchstens  bis  zur  6.  oder  7.  Periklinalreihe),  so 
daß  die  jüngsten  Blattanlagen  dem  Pilze  entrückt 
waren.  Die  Aufhebung  der  Winterruhe  hatte 
somit  nicht  ein  Wachsen  des  Myzels  überhaupt 
unmöglich  gemacht,  sondern  das  Myzel  hatte  nur 
nicht  bis  in  die  jungen  Blattanlagen  dringen  können  ; 
der  Sproß  war  hier  dem  Pilz  „entwachsen".   Tisch- 


ler findet,  daß  während  der  scheinbaren  Ruhe- 
periode von  Pilz  und  Wirtspflanze  die  Krankheit 
weiter  fortschreitet,  das  Myzel  sich  also  im  Rhizom 
immer  weiter  verbreitet  und  neue  Knospen  infiziert. 
Der  Pilz  wuchert  sowohl  zwischen  den  parenchy- 
matisch  gebliebenen  Holzfaserzellen  wie  zwischen 
den  Parenchymzellen  des  Markes.  Zu  Beginn  des 
Austreibens  könnte  der  Pilz  in  den  Winterknospen 
überall  zwischen  den  Zellen  vordringen,  aber  in 
den  vorzeitig  entwickelten  Trieben  entwächst  die 
Euphorbia  dem  Pilz  bezüglich  ihrer  eigentlichen 
meristematischen  Zellen.  Zur  Erklärung  des  Phä- 
nomens verweist  Tischler  auf  die  Untersuchungen 
Mac  Dougals,  nach  denen  die  Möglichkeit 
parasitischen  Lebens  davon  abhängt,  daß  in  den 
Zellen  des  Schmarotzers  ein  höherer  osmotischer 
Druck  herrscht  als  in  denen  des  Wirtes.  Bei  einer 
Verschiebung  der  Entwicklungsperioden  (seasonal 
cycles)  könnte  eine  nicht  harmonische  Regulierung 
des  osmotischen  Druckes  in  den  beiden  Symbion- 
ten  erfolgen,  die  zur  Folge  haben  würde,  daß  der 
Parasit  nicht  weiterwachsen  kann.  Mit  dieser 
„Arbeitshypothese"  ließe  sich  auch  die  Beobachtung 
erklären,  daß  an  einigen  infizierten,  dann  äußerlich 
gesundeten  Euphorbien  sich  Blütenstände  mit  ver- 
pilzten  und  deformierten  Blattorganen  entwickelten 
(Engler's  Botanische  Jahrbücher,  Bd.  50,  Supple- 
mentband ^Festband  für  A.  E  n  g  1  e  r] ,  S.  95 — 1 10). 

F.  Moewes. 

Geographie.  Neues  Land  im  Nordpolbecken. 
Die  Bemühungen,  eine  freie  Durchfahrt  an  der 
Nordküste  Sibiriens  zu  finden,  wurden  zuerst  und 


342 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  22 


bisher  ohne  Nachfolge  von  Nordenskjöld  ge- 
löst, der  mit  der  „Vega"  um  Asien  herumfuhr. 
Später  haben  mehrere  Schiffe  der  Nansen  'sehen 
und  Toll 'sehen  Expeditionen  Taimyr  glücklich 
umschifft,  und  andererseits  hat  die  russische  Re- 
gierung versucht,  eine  Seefahrt  vom  Stillen  Ozean 
bis  zur  Kolymamündung  durchzuführen  \).  Das 
Kolymagebiet  wurde  1905 — 1909  aufgenommen 
und  erforscht.  Im  Jahre  1909  wurden  in  Peters- 
burg zwei  Eisbrecher  „Taimyr"  und  „VVaigatsch" 
im  Bau  vollendet,  die  in  Wladiwostok  liegen. 
191 1  vollführten  sie  Küstenaufnahmen  bis  zur 
Kolymamündung,  1912  erreichten  sie  die  Lena- 
mündung wieder  von  Wladiwostok  aus.  So  ist 
der  Warentransport  in  das  Kolymagebiet  leichter 
geworden,  auch  amerikanische  Schiffe  aus  .Maska 
sind  191 1  nach  Nischnekolymsk  an  der  Mündung 
der  Kolyma  gelangt.  Als  Endziel  der  Schiffahrt 
vom  Pazifischen  Ozean  her  erscheint  einstweilen 
das  Gebiet  der  Lena,  das  ja  den  größten  Teil  des 
J  a  k  u  t  e  n  1  a  n  d  e  s  umfaßt. 

Das  Jakutengebiet,  welches  von  300000  Men- 
schen bevölkert  ist,  aber  eine  Fläche  umfaßt,  die 
dem    des    westlichen    Europa    gleichkommt,    ver- 
dient   große    Beachtung    wegen     des    Reichtums 
seiner  Naturprodukte  und  wegen  seiner  Tauglich- 
keit   im    südlichen  Teile    für   die  Ansiedelung 
einer    seßhaften    Bevölkerung.     Im    Tal    der  Lena 
und    ihrer  Nebenflüsse  Olekma    und  Aldan    rückt 
die    Landwirtschaft    immer    mehr    nach    Norden 
vor;    viele   Eingeborene    leben    hier  ansässig  oder 
halbansässig.       Die     Korngewächse     haben     sich 
den  rauhen  klimatischen  Verhältnissen  angepaßt; 
in  den  südlichen  Teilen    des  Kolymsker  Gebietes 
können    noch    Kartoffeln    und    Gemüse    angebaut 
werden.    Vor  der  Entwicklung  der  Landwirtschaft 
war  Viehzucht,   vor   allem  Pferde-   und  Rindvieh- 
zucht,   die    Hauptbeschäftigung    der   Jakuten;    im 
Tundragebiet    ist     die    Renntierzucht     verbreitet. 
Ebenfalls  wichtig  ist  der  Fischreichtum  der  großen 
Flüsse,    die  nach  dem  Eismeere    gehen.     Die  Be- 
völkerung leidet  aber  sehr    unter  dem  Mangel  an 
Verbindung     mit    Verbrauchsländern.      Die    Jagd 
auf  Pelztiere  spielt  auch  eine  große    Rolle;    diese 
sind    im   Jakutengebiet    noch    in    ziemlich    großer 
Menge  vorhanden.     Eine  Hauptbeschäftigung  der 
Bewohner   ist    das    Aufsuchen    von    Mammutstoß- 
zähnen am  Ufer  des  Eismeeres  und  auf  den  Neu- 
Sibirischen    Inseln.      Entschieden    von    Bedeutung 
könnten  auch  die  mineralischen  Reichtümer  (Wasch- 
gold,   Steinkohlenlager,    Salzlager)    werden.     Aber 
ein  schnelles  Wachstum    der  Bevölkerungsdichtig- 
keit kann  nur  durch  geeignete  Verkehrswege 
befördert    werden.     Dies    erklärt  zur  Genüge    die 
Bemühungen  der  russischen  Regierung  um  Nord- 
Sibirien. 

Bei  Gelegenheit  der  letztjährigen  hydrogra- 
phischen   Expedition  -)     unter    Kapitän    \Vilkitskij 

')  B.  M.  Shitkow,  Die  nordöstliche  Durclifalut  (G.  Z. 
1913,    H.   12). 

*)  Neues  Land  im  Nordpolbecken  (Z.  Ges.  Erdkde.  1914, 
H.   2,  mit  Karte  u.  Geogr.  Zeitschr.    1914,  II.  2). 


mit  den  Eisbrechern  „Taimyr"  und  „Waigatsch", 
die  im  August  1913  vom  Anadyrbusen  auf- 
brachen, wurde  nördlich  vom  Kap  Tscheljuskin 
neues  Land  entdeckt.  Während  ,, Waigatsch"  ver- 
geblich versuchte,  Wrangelland  anzulaufen,  fuhr 
,, Taimyr"  bis  Kaji  Baranow  in  der  Nähe  der  Küste. 
Hier  trennten  sich  die  Schiffe.  Der  „Taimyr"  ge- 
lang es,  nördlich  der  Neu-Sibirischen  Inseln  in 
geradem  Wege  Kap  Tscheljuskin  zu  erreichen. 
Hierbei  wurde  nordöstlich  von  diesen  Inseln  eine 
kleine  Insel  (Wil  kitskij -Insel)  entdeckt.  Die 
,, Waigatsch"  folgte  der  sibirischen  Küste  und 
machte  Vermessungen  an  der  Chatangabucht  und 
der  ihr  vorgelagerten  Begitschew-Insel.  Bei  Kap 
Tscheljuskin,  wo  sich  die  Schiffe  wieder  trafen, 
war  der  Weg  nach  W.  versperrt.  Nach  N.  aus- 
biegend fanden  sie  nach  50  km  Fahrt  eine  etwa 
12  km  lange  Insel,  „Zesarowitsch  Alexis"  und  im 
NW.  nach  abermals  50  km  ein  neues  hohes  Land 
mit  Gletschern  bei  80"  4'  n.  Breite  und  97"  12' 
ö.  Länge.  .Sie  folgten  der  Küste  35  km  weit, 
dann  zwang  sie  das  Eis  (bei -p  81",  96"  O.)  zur  Um- 
kehr. Das  neue  Nikolaus  II -Land  schiebt 
sich  vor  die  Lücke  zwischen  Franz  Josef-Land  und 
Nowaja-Semlja  und  erklärt  so  auch  die  Eissperre 
am  Kap  Tscheljuskin,  die  der  Schiffahrt  so  un- 
überwindliche .Schwierigkeiten  bereitet. 

Dr.  Gottfried  Hornig. 

Astronomie.      Über     ein    lichtabsorbierendes 


Medium  im  Räume  gibt  King  (Harvard  Coli. 
.-^nn.  Bd.  76,  i)  neue  Messungen,  nachdem  schon 
früher  (ebenda,  Bd.  59,  179)  Untersuchungen  über 
diese  wichtige  Frage  gegeben  waren.  Der  leitende 
Gedanke  ist  der,  daß  ein  absorbierendes  Medium 
zunächst  die  kurzen  Lichtwellen  beeinflussen  wird, 
so  daß  also  bei  Sternen  desselben  Spektralt}-|)us 
mit  zunehmender  Entfernung  eine  zunehmende 
Färbung  ins  Rötliche  bemerkbar  sein  müßte.  Das 
zugrunde  liegende  Material  ist  nicht  sehr  ausge-  I 
dehnt,  weil  es  schwierig  ist,  die  notwendigen 
Parallaxen  zu  beschaffen.  Der  Sicherheit  halber 
sind  nur  die  Sterne  genommen,  bei  denen  gut 
zusammenstimmende  Parallaxen  von  wenigstens 
zwei  Beobachtern  vorhanden  sind.  Die  Parallaxen 
sollten  0,030  Sek.  überschreiten,  und  die  Sterne 
wegen  der  Photographie  des  Spektrums  nicht 
schwächer  sein  als  von  der  5.  Größe.  So  erhielt 
man  28  Sterne.  Das  in  der  früheren  Arbeit  er- 
haltene Resultat  wird  bestätigt,  dort  erhielt  man 
0,0377  Größen  Absorption  der  photographischen 
Strahlen  und  0,0184  für  die  optischen,  hier  0,0189 
für  die  optischen  Strahlen  mit  einem  Fehler  von 
0,0065  Größen.  Dieser  Wert  der  Absorption  be- 
zieht sich  auf  eine  Rnumstrecke  von  der  Länge 
von  32,6  Lichtjahren  oder  einer  Parallaxe  von 
0,1   Sek.  Riem. 

Einen  Begleiter  zur  Capella  hat  Furuhjelm 
gefunden  (.A.str.  Nachr.  47x5),  und  zwar  in  dem 
sehr  großen  Abstand  von  12  Minuten,  in  einem 
Positionswinkel    von    141,3    Grad.       Daß    Capella 


N.  F.  XIII.  Nr.  2: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


343 


ein  spektroskopischer  Doppelstern  sei,  war 
bekannt.  Dieser  Begleiter  ist  dadurch  gefunden, 
daß  er  dieselbe  Eigenbewegung  besitzt  wie  Ca- 
pella,  so  daß  an  einem  inneren  Zusammenhang 
nicht  gezweifelt  werden  kann.  Denn  die  sonst 
in  der  Nälie  liegenden  Sterne  haben  nicht  dieselbe 
Eigenbewegung.  Nimmt  man  hinzu,  daß  Capeila 
keine  meßbare  Parallaxe  besitzt,  also  mindestens 
100  Lichtjahre  entfernt  ist,  vielleicht  sogar  sehr 
viel  weiter,  so  stellt  jener  Abstand  von  mehr  als 
12  Minuten  eine  ungeheure  Entfernung  dar,  so  daß 
man  den  inneren  Zusammenhang  nach  der  Er- 
klärung der  Hörbiger'schen  Glazialkosmogonie 
in  der  gemeinsamen  Entstehung  beider  Gestirne 
aus  einer  Riesensonne  suchen  wird.  Riem. 

Eine  Untersuchung  über  Nebelflecken  hat 
Fath  von  der  Sonnenwarte  auf  dem  Mt.  Wilson 
angestellt.  Mit  dem  dortigen  Reflektor  sind  an 
139  Stellen  der  Milchstraße  Aufnahmen  gemacht 
worden  (Astronom.  Journal  28  Nr.  10 — 11) 
und  der  angrenzenden  Partien  des  Himmels, 
zwischen  dem  Nordpol  und  1 5  Grad  südl.  Dekl. 
Jede  Platte  ist  an  dem  lichtstarken  Spiegel  des 
öoZöllers  eine  Stunde  belichtet  worden,  so  daß 
sehr  schwache  Objekte  noch  erhalten  sind.  Es 
handelte  sich  darum,  außer  der  Lage  am  Himmel 
die  Größen,  die  Lage  der  großen  Achsen  und  die 
Helligkeiten  zu  bestimmen.  Es  zeigte  sich  eine 
sehr  große  Zahl  von  rundlichen  Nebeln,  vom  Kreis 
bis  zur  langgestreckten  Ellipse,  aber  ohne  daß 
sich  eine  gemeinsame  Orientierung  auf  eine  be- 
stimmte Ebene  feststellen  ließ.  Sowohl  die  run- 
den wie  die  Spiralnebel  liegen  in  allen  denkbaren 
Ebenen.  Das  Instrument  würde  am  ganzen 
Himmel  mit  einstündiger  Exposition  etwa  162000 
Nebel  zeigen ,  bei  längeren  Belichtungen  ent- 
sprechend mehr.  Das  kosmologisch  wichtigste 
Ergebnis  ist  die  Bestätigung  der  schon  früher 
mit  kleinerem  Material  abgeleiteten  Tatsache,  daß 
die  Nebel  am  dichtesten  gegen  die  Pole  der  Ebene 
der  Milchstraße  zusammentreten.  Eine  Karte, 
in  der  gleichgroße  Flächen  eingezeichnet  sind, 
in  denen  die  vorkommende  Zahl  der  Nebel  ein- 
geschrieben ist,  beweist    dies    auf  das  deutlichste. 

Riem. 

Physik.  Neues  von  der  Lichtelektrizität.  Die 
von  Hall  wachs  vor  gut  25  Jahren  entdeckten 
lichtelektrischen  Erscheinungen  bestehen  bekannt- 
lich darin,  daß  bei  Bestrahlung  mit  Licht  (ultra- 
violettes ist  besonders  wirksam)  aus  Metallober- 
flächen negative  Elektrizität  (Elektronen)  entweicht. 
In  den  Verhandlungen  der  Deutschen  Physikalischen 
Gesellschaft  (Jahrg.  16  [191 4,  S.  107)  veröffent- 
lichen Hall  wachs  und  Wiedmann  Versuche, 
die  interessante  Aufschlüsse  über  den  Mechanismus 
und  den  Sitz  dieser  Erscheinungen  geben.  Die 
Verfasser  untersuchen  das  Kalium,  welches  von 
allen  Metallen  am  wirksamsten  ist  und  finden, 
daß  sich  der  Effekt  durch  die  große  Gasaufnahme 
des  Kaliums  erklärt,  daß  das  Vorhandensein 
von    Gas    eine    notwendige     Bedingung 


merklicher  Lichtelcktrizität  ist;  entfernt 
man  jede  Spur  von  Gas,  so  verschwindet  die  Wir- 
kung. Da  ein  Volumen  Kalium  126  Volumina 
Wasserstoff  aufnimmt  und  recht  festhält,  so  machte 
die  Entfernung  des  Gases,  also  die  Herstellung 
eines  guten  Vakuums  beträchtliche  Schwierigkeiten. 
Man  verfuhr  folgendermaßen :  Das  in  einem  Glas- 
kolben zunächst  unter  Wasserstoff  eingebrachte 
Metall  wurde  unter  fortwährendem  Laufen  einer 
Sprengel'schen  Luftjjumpe  mehrere  Tage  bis 
zum  Kochen  erwärmt,  bis  ein  mit  dem  Kolben 
verschmolzenes  Geißlerrohr  auch  bei  lebhafterem 
Sieden  des  Kaliums  grüne  Fluoreszenz  bei  Durch- 
gang eines  Induktiorstromes  zeigte.  Jetzt  wurde 
das  Kalium  bei  fortdauerndem  Gang  der  Pumpe 
langsam  in  einen  zweiten,  und  von  hier  in  einen 
dritten,  vierten  und  fünften  Kolben,  die  alle  hinter- 
einander geschaltet  waren,  überdestilliert  und  das 
Vakuum  durch  flüssige  Luft  und  Kokosnußkohle, 
die  besonders  bei  niedriger  Temperatur  Gas  ab- 
sorbiert, so  weit  gesteigert,  daß  die  Entladung  des 
Induktors  nicht  mehr  durch  das  Geißlerrohr,  son- 
dern über  eine  ihm  parallel  geschaltete,  6  cm  lange 
Funkenstrecke  ging.  Der  nach  viermaliger  De- 
stillation erhaltenen  Kaliumschicht  stand  eine  auf 
-|-  8  Volt  geladene  Elektrode  gegenüber,  während 
der  Kaliumbelag  durch  eine  Platinelektrode  mit 
einem  H  a  1 1  w  a  c  h  s  -  Elektrometer  verbunden  war. 
Bei  Belichtung  des  Kaliums  mit  einer  Ouarzqueck- 
silberlampe  zeigte  das  Elektrometer  keinen  Aus- 
schlag, während  eine  Vergleichszelle  mittlerer 
Empfindlichkeit  einen  solchen  von  500  Skalenteilen 
ergab.  Lim  sicher  zu  gehen,  wurden  noch  meh- 
rere andere  Zellen  nach  demselben  Verfahren  her- 
gestellt; alle  zeigten  dasselbe  Resultat.  Welcher 
Art  die  Wirkung  des  Gases  ist,  darüber  zurzeit 
eine  Aussage  machen,  lehnen  die  Verfasser  ab. 
Aus  den  Versuchen  geht  mit  Sicherheit  hervor, 
daß  die  lichtelektrische  Wirkung  in  der 
mit  Gas  beladenen  Metalloberfläche, 
also  in  einem  Gemisch  von  Metall  und 
Gas  ihren  Sitz  hat. 

In  ähnlicher  Richtung  wie  die  geschilderten 
bewegen  sich  Versuche  von  Fredenhagen,  die 
ebenfalls  in  den  Verhandlungen  der  Deutschen 
Physikalischen  Gesellschaft  (16  [1914],  S.  201)  mit- 
geteilt werden.  Der  Verfasser  untersucht  sowohl 
die  thermische  Elektronenemission  als  auch  den 
lichtelektrischen  Effekt  des  Kaliums.  Dieses  ist 
in  einem  mittels  G  ae  de 'scher  Molekularluff  pumpe 
evakuierbaren  Glasrohr  eingeschlossen  und  wird 
mittels  eines  um  das  Rohr  herumgeführten  Heiz- 
drahtes elektrisch  auf  275"  bis  375"  erwärmt. 
Es  gibt  dann  Elektronen  ab,  so  daß  eine  einerseits 
an  das  Kalium,  andererseits  an  eine  ihm  gegen- 
überstehende Elektrode  angelegte  Spannung  (2  bis 
200  Volt)  einen  Strom  erzeugt,  dessen  Stärke 
mittels  eines  empfindlichen,  in  die  Leitung  gelegten 
Galvanometers  gemessen  werden  kann.  Zur  Ver- 
meidung lichtelektrischer  Störungen  wurden  die 
Versuche  im  Dunkeln  ausgeführt.  Dieselbe  Kalium- 
oberfläche wurde    in   der  gleichen  Anordnung  auf 


344 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr.  22 


ihr  photoelektrisches  Verhalten  untersucht,  indem 
sie  mit  einer  50  kerzigen  Metallfadenlampe  bestrahlt 
wurde.  In  Übereinstimmung  mit  den  H  a  1 1  w  a  c  h  s  - 
W  i  ed  m  an  n 'sehen  Versuchen  ergab  sich,  daß 
mehrmaliges  Destillieren  (bis  3mal)  die  Effekte, 
den  lichtelektrischen  sowohl  als  auch  den  ther- 
mischen, beträchtlich  herabsetzte,  so  daß 
der  Verfasser  zu  dem  Resultat  kommt,  daß  zwi- 
schen beiden  Effekten  ein  Zusammen- 
hang besteht,  der  auf  Beziehungen  zwischen 
den  Ursachen  beider  Effekte  hindeutet.  Ein  wirk- 
sames Agens,  wahrscheinlich  Wasserstoff,  ruft  die 
Erscheinungen  hervor. 

In  wertvoller  Weise  bestätigt  und  ergänzt 
werden  diese  Ergebnisse  durch  eine  von  Freden- 
hagen  angeregte  Arbeit  von  Küstner,  die  in 
der  physikalischen  Zeitschrift  15  (1914)  Seite  18 
veröffentlicht  ist  und  die  das  Verhalten  des  Zinks 
untersucht.  Die  Strahlen  einer  Ouecksilberlampe 
fallen  auf  eine  in  einem  mittels  Gaede- Pumpe 
evakuierten  Glasrohr  eingeschlossene  Zinkplatte, 
deren  Oberfläche  mittels  einer  ebenfalls  in  das 
Glasrohr  eingeschlossenen,  elektromagnetisch  zu 
betätigenden  Schabvorrichtung  jederzeit  erneuert 
werden  kann.  Reaktionsfähige  Gase  werden  durch 
Induktorentladungen  und  durch  geschmolzenes 
Kalium  entfernt,  das  in  einem  mit  dem  Zinkrohr 
verschmolzenen  Nachbarrohr  enthalten  ist.  Unter 
diesen  Umständen  erweist  sich  das  Zink  als 
lichtelektrisch  unwirksam  und  zwar  zeigt 
es  sich,  daß  der  geringste  Effekt  in  einem 
ziemlich  schlechten  Vakuum  auftritt.  Es 
kommt  also  nicht  auf  besonders  gutes  \'akuum 
an,  sondern  vielmehr  darauf,  daß  wirksame  Gase 
durch  das  erhitzte  Kalium  entfernt  werden. 

K.  Schutt. 

Anatomie.  Die  Kurzfingerigkeit  (Brachydac- 
tylie)  ist  eine  nicht  allzu  seltene  erbliche  Miß- 
bildung. Sie  besteht  in  einer  Verkürzung  der 
Finger  oder  der  Zehen  oder  beider  zusammen. 
Die  betreffenden  Individuen  haben  außerdem,  be- 
sonders die  Männer,  eine  geringere  Körpergröße; 
die  Widerstandsfähigkeit  gegen  Krankheiten  ist 
in  beiden  Geschlechtern  gesteigert,  ebenso  die 
Fruchtbarkeit  der  Weiber. 

Bezüglich  der  Frage,  ob  das  Merkmal  der 
Kurzfingerigkeit  sich  den  Mendel'schen  Ver- 
erbungsregeln fügt,  kommt  Dr.  Emile  Guyenot 
(Le  mendelisme  et    l'heredite  chez    l'homme,    Bio- 


logica,  4.  Jahrg.,  1914,  Nr.  37)  im  Anschluß  an 
Rabaud  zum  Resultat,  daß  dies  nicht  der 
Fall  ist. 

Zu  einem  anderen  PIrgebnis  gelangte  H.  Drink ■ 
water  (Account  of  a  family  showing  Minor- 
Brachydactyly.  Journal  of  Genetics.  February  19 12, 
Vol.  2,  Nr.  i).  Während  die  gewöhnliche  Brachy- 
dactylie  in  der  Verschmelzung  der  kurzen  zweiten 
und  der  dritten  Phalange  besieht,  versteht  er 
unter  Minorbrachydactylie  jene  P'orm  der  Miß- 
bildung, bei  der  die  Glieder  selbständig  bleiben,  aber 
sehr    verkürzt   sind  (Fig.    a).     Finger    und    Hände 


Kurzfingerigkeit  des  2.,   3.  und   5.   Fingers. 

Hände  von  der  Palmarfläclie. 

Nach  Rabaud  (L'anthropologie   1911). 


sind  kürzer  und  plumper  (Fig.).  Die  Ursachen  für 
diese  Form  der  Brachydactylie  können  dreierlei 
Art  sein :  kürzerer  Körper  der  Mittelphalange, 
Fehlen  der  basalen  Epiphysen  und  vorzeitige  Ver- 
kiiöcherung  des  Epiphysenknorpels.  Im  extrem- 
sten P'all  sind  alle  4  Finger  (außer  dem  Daumen) 
betroffen.  In  einem  anderen  Fall  war  nur  der 
Zeigefinger  und  der  kleine  Finger  verkürzt.  Bei 
jedem  abnormen  Individuum  der  betreffenden  Fa- 
milie war  die  Anomalie  an  den  Händen  und 
an  den  Füßen  symmetrisch.  Die  Mißbildung  zeigte 
bei  5  Generationen  einer  P'amilie  folgendes  Bild. 
Wenn  sie  übertragen  wurde,  betraf  sie  stets  beide 
Hände  und  beide  Füße.  Sie  wurde  nur  von  ab- 
normen Eltern  vererbt,  während  die  Kinder  der 
normalen  alle  normal  waren.  Kathariner. 


Bücherbesprechungen. 

Jean  Perrin ,    Die    Atome,    mit    Autorisation 
des    Verfassers    deutsch    herausgecreben   von  A. 

T  0      ö 

Lottermoser.  196  S.  mit  13  Abbildungen 
im  Text.  Verlag  von  Theodor  Steinkopff,  Dres- 
den und  Leipzig  1914.  —  Geh.  Mk.  5, — ,  geb. 
Mk.  6,—. 
„Die  Atomtlieorie  hat  triumphiert.  Ihre  un- 
längst   noch    zahlreichen    Widersacher    verzichten, 


da  sie  endlich  überzeugt  sind,  einer  nach  dem 
andern  auf  die  Einwürfe,  welche  lange  Zeit  be- 
rechtigt und  ohne  Zweifel  nützlich  waren.  Nun 
kann  der  Konflikt  der  Meinungen,  die  teils  aus 
Klugheitsgründen,  teils  in  kühnem  Vorwärtsstreben 
geäußert  werden,  an  anderen  Gegenständen  ent- 
brennen. Das  Gleichgewicht  zwischen  ihnen  ist 
notwendig  für  den  langsamen  Fortschritt  der  Wissen- 
schaft." 

Diese   stolzen    und   doch    bescheidenen  Worte 


N.  F.  XIII.  Nr.  22 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


345 


finden  sich  am  Schluß  des  Buches  von  Per r in. 
Kein  anderer  konnte  sie  mit  größerer  Berechtigung 
schreiben  als  der  Verfasser,  dessen  Untersuchungen 
der  alten  Hypothese  von  der  atomistischen  Struktur 
der  Materie  zum  endgültigen  Siege  verholfen  haben. 
Das  erste  Kapitel  zeigt,  was  die  Dalton'sche 
Atomtheorie  und  die  Regel  von  Avogadro  für 
die  Entwicklung  der  Chemie  geleistet  haben.  Sie 
sind  die  Grundpfeiler  der  chemischen  Systematik, 
der  Yalenztheorie  und  der  Strukturchemie;  ohne 
sie  wäre  der  beispiellose  Aufschwung  der  Chemie 
im  19.  Jahrhundert  undenkbar.  Angesichts  dieser 
geschichtlichen  Tatsachen  ist  es  dem  Chemiker 
immer  schwer  geworden,  an  die  dereinstige  Ent- 
behrlichkeit der  Atomtheorie  zu  glauben,  die  Wil- 
lielm  Ostwald  noch  im  Jahre  1906  in  einem 
seiner  schönsten  Bücher,  den  Leitlinien  der  Chemie, 
voraussagte. ')  —  Am  Schluß  des  ersten  Kapitels 
behandelt  Perrin  die  Übertragung  der  Gasgesetze 
und  der  A  vo  gad  ro  '  sehen  Regel  auf  verdünnte 
Lösungen,  ferner  das  Faraday'sche  Gesetz  und 
die  Theorie  der  elektrolytischen  Dissoziation.  Die 
Grundlagen  für  die  später  durchgeführte  Berech- 
nung der  ,, Elementarladung"  einwertiger  Ionen  sind 
damit  gegeben. 

Die  Molekularbewegung  ist  der  Gegen- 
stand des  2.  Kapitels.  Durch  die  von  Clausius 
und  Krönig  aufgestellte,  von  Maxwell,  Boltz- 
mann,  van  der  Wa als  u.  a.  ausgebaute  kine- 
tische Gastheorie  findet  eine  Reihe  bekannter 
physikalischer  Gesetze  eine  einheitliche  Erklärung; 
neue  Gesetze  werden  abgeleitet  und  durch  das 
Experiment  in  überraschender  Weise  bestätigt. 
Mit  ihrer  Hilfe  gelingt  die  erste  annähernde  „Aus- 
wertung molekularer  Größen". 

Nun  folgen  in  Kapitel  III  und  IV  die  Unter- 
suchungen, an  denen  der  Verf.  den  Hauptanteil 
hat,  und  die  zu  einem  direkten  experimentellen 
Beweis  für  die  reale  Existenz  der  Moleküle  geführt 
haben.  Sie  nehmen  ihren  Ausgang  von  der  zuerst 
von  Brown  beobachteten  und  nach  ihm  benann- 
ten Bewegungmikroskopisch  kleiner,  in  Flüssigkeiten 
(oder  Gasen)  suspendierter  Teilchen.  Die  Brown- 
sche  Bewegung  wird  verursacht  durch  die  unauf- 
hörlichen, unregelmäßigen  Stöße  von  Seiten  der 
bewegten  i\IoIeküle  des  umgebenden  Mediums. 
Diese  selbst  sehen  wir  zwar  nicht,  wohl  aber  die 
von  ihnen  hin-  und  hergestoßenen  suspendierten 
Teilchen.  Ebenso  bleiben,  um  ein  anschauliches 
Bild  zu  brauchen,  dem  entfernten  Beobachter 
die  Meereswellen  unsichtbar,  aber  er  erkennt  ihre 
Wirkung,  wenn  in  Sehweite  ein  Boot  auf  den 
Wellen  schaukelt  (Perrin).  Durch  genial  ausge- 
dachte und  experimentell  bewundernswert  durch- 
geführte Versuche  wies  Perrin  nach,  daß  die 
Gasgesetze  auf  verdünnte  Emulsionen  anwendbar 
sind,  daß  sich  die  suspendierten  Teile  der  Emulsion 
in  einer  P'lüssigkeitssäule  in  derselben  Weise  ordnen 
wie    die    Gasmoleküle    in    einer    senkrechten  Gas- 


')  In    2.    Auflage     unter     dem     Titel    ,, Werdegang    einer 
Wissenschaft"  erschienen. 


säule,  und  daß  es  so  gelingt,  die  A vogadro'sche 
Zahl  (Zahl  der  Einzelmoleküle  im  Grammolekül) 
direkt  durch  Zählung  der  suspendierten  Teilchen 
unter  den  Mikroskop  zu  ermitteln.  Die  gefundene 
Zahl  ist  der  aus  der  kinetischen  Gastheorie  abge- 
leiteten fast  gleich  aber  ungleich  genauer,  weil  ,,sie 
nicht  wie  diese  aus  vereinfachenden  Hypothesen 
hervorgeht,  sondern  durchaus  nur  von  der  Ge- 
nauigkeit der  Versuche  abhängt".  Als  wahr- 
scheinlichsten Wert  gibt  Perrin  N  =  68,2  ><  10-'-. 

Der  Mechanismus  der  Brown'  sehen  Bewegung 
ist  von  Einstein  analysiert  worden.  Die  experimen- 
tellen Beweise  von  Perrin  und  Svedberg  bringen 
der  Theorie  von  Einst  ein  eine  glänzende  Bestätigung 
und  öffnen  zugleich  neue  Wege  zur  firmiitlung  von 
,,N".  Auch  die  von  Kamerlingh  Onnes  und  Kee- 
som  ausgeführte  Prüfung  der  Theorie  von  Smolu- 
chowsky  für  die  „kritische  Opaleszenz"  und  die 
zuerst  von  Lord  Rayleigh  gegebene  Erklärung 
für  die  blaue  Farbe  des  Himmels  führen  zu  dem 
gleichen  Ziele.  Dasselbe  gilt  von  den  Gesetzen  der 
Strahlung  des  schwarzen  Körpers  (Quantentheorie 
von  Planck)  und  von  der  Bestimmung  des  elek- 
trischen Elementarquantums  durch  T  o  w  n  s  e  n  d  , 
Wilson,  J.  J.  Thomson  und  M  i  1 1  i  k  a  n 
(Kapitel  VI  und  VII).  Den  Schluß  der  Beweiskette 
bildet  ein  Abschnitt  über  die  radioaktiven  Elemente, 
den  Atomzerfall  und  die  Atomzählung,  wie  sie 
zuerst  von  Regener  und  von  Rutherford  und 
Geiger  durchgeführt  wurde.  Alle  diese  von- 
einander unabhängigen  und  sehr  verschiedenartigen 
Wege  führen  immer  wieder  zu  dem  gleichen  Werte 
für  die  A  v  o  g  a  d  r  o'sche  Zahl.  Die  F'üUe  der 
Beweise  ist  fast  erdrückend.  ,,Die  Atomtheorie 
hat  triumphiert  1" 

,,Aber  in  dem  Triumphe  selbst  sehen  wir  das, 
was  die  ursprüngliche  Theorie  an  Starrem  und 
Endgültigem  hatte,  verschwinden.  Die  Atome 
sind  nicht  jene  ewigen  und  unteilbaren  Elemente, 
deren  unabänderliche  Einfachheit  allen  Möglich- 
keiten ein  Ziel  setzte,  wir  fangen  an,  ein  unend- 
liches Gewimmel  neuer  Welten  zu  ahnen  .  .  .  Jedes 
neue  Mittel  der  Erkenntnis  zeigt  uns  die  Natur 
mannigfaltiger,  fruchtbarer,  überraschender,  schöner 
und  reicher  in  ihrer  unergründlichen  Unermeß- 
lichkeit." 

Das  Buch  ist  von  A.  L  o  1 1  e  r  m  o  s  e  r  sehr 
gut  übersetzt.  M  Für  flüchtige  Lektüre  ist  es  nicht 
geschrieben.  Der  Gegenstand  fordert  vom  Leser 
angespannte  Aufmerksamkeit,  aber  die  aufgewen- 
dete Mühe  wird  belohnt  durch  eine  reiche  Fülle 
des  Interessanten  und  Anregenden,  von  dem  in 
diesen  Zeilen  nur  eine  Andeutung  gegeben  werden 
konnte.  A.  Sieverts,  Leipzig. 


H.  Gro^mann,  Die  B  e  s  t  i  m  m  u  n  g  s  m  e  t  h  o  d  e  n 
des  Nickels  und  Kobalts  und  ihre 
Trennung  von  anderen  Elementen. 
140  S.  Verlag  von  Ferdinand  Enke.  Stuttgart 
191 3.  —  Preis  geh.  5  Mk. 

')  Bei  einer  Neuauflage  wären  die  Formeln  auf  S.  142/143 
zu  revidieren. 


346 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  22 


Die  vorliegende  Monographie  erscheint  als 
XVI.  Band  der  von  Margosches  herausgege- 
benen Sammlung  „Die  chemische  Analyse".  Die 
Bestimmung  von  Nickel  und  Kobalt  wird  zuerst 
besprochen,  sodann  ihre  Trennung  von  anderen 
Metallen,  und  endlich  die  Scheidung  der  beiden 
Elemente  voneinander.  Sie  gehörte  früher  für  den 
Chemiebeflissenen  7ai  den  gefürchteten  Aufgaben 
der  analytischen  Chemie.  Durch  die  Methoden 
von  Großmann  (des  Vcrf)  und  von  Tschu- 
g  a  e  f  f-  B  r  u  n  c  k  ist  aber  die  Kobalt-Nickeltrennung 
seit  einigen  Jahren  zu  einem  einfachen  und  schnell 
ausführbaren  Verfahren  geworden. 

Der  Inhalt  des  Heftes  ist  sehr  reichhaltig; 
behandelt  werden  qualitative  und  quantitative 
Methoden,  unter  diesen  gewichtsanalytische,  maß- 
analytische, elektroanalytisclie,  kolorimetrische, 
spektrometrische  und  gasvolumetrische  Verfaliren. 
Ein  Abschnitt  über  die  ,, Untersuchung  technisch 
wichtiger  nickel-  und  kobalthaltiger  Materialien" 
beschließt  das  Buch,  das  allen  empfohlen  sei,  die 
sich  über  das  behandelte  Spezialgebiet  näher  unter- 
richten wollen  oder  müssen. 

A.  Sieverts- Leipzig. 


A.  Berg,  Geographisches  Wanderbuch. 
(Prof.  Dr.  Bastian  Schmid's  Naturwissensch. 
Schülerbibliothek  Bd.  23).  Verlag  B.  G.  Teub- 
ner,  Leipzig  19 14.  —  Preis  geb.  4  Mk. 
Der  mit  zahlreichen  Abbildungen  geschmückte 
Band  ist  eine  vorzügliche  Anleitung  für  Schüler, 
Wandervögel  und  Pfadfinder  zu  geographischer 
Beobachtung.  .\usführ]ich  wird  in  die  Kartenkunde 
elngefüiirt,  in  das  Messen  im  Gelände  mit  ein- 
fachen selbst  herzustellenden  Hilfsmitteln,  in  Ge- 
ländeaufnahmen und  in  das  Kartenlesen,  wobei 
dem  Meßtischblatt  der  Vorzug  vor  der  General- 
stabskarte gegeben  wird.  .Auf  die  amtlichen 
Kartenwerke  wird  mit  nützlichen  Angaben  hin- 
gewiesen, die  Anfertigung  von  Reliefs  eingehend 
dargestellt.  .■\uchdieMittelzurVerständigung(Helio- 
graph,  Telegraphie)  werden  in  ihrer  Herstellung 
und  Wirkungsweise  erklärt,  wobei  leider  bei  der 
Angabe  des  Morsealphabets  ein  kleiner  Irrtum 
untergelaufen  ist,  indem  vor  dem  Zeichen  für  o 
die  Zahl  10  steht;  aucli  in  dem  Beispiel  auf  S.  188 
haben  sich  einige  Zeichenfehler  eingeschlichen. 
Kürzer,  doch  ausreichend  im  Rahmen  dieses  Ban- 
des, wird  auf  Wind  und  Wetter,  Bach  und  Fluß 
eingegangen.  Die  folgenden  Abschnitte  behandeln 
Fragen  der  Pflanzen-  und  Tiergeograj:)hie,  sowie 
den  Menschen  und  seine  Werke,  vor  allem  Eisen- 
bahn und  Schiffahrt.  Der  Ilauptwert  ist  auch 
hier  auf  die  Beobachtung  der  Erscheinungen  selbst 
gelegt,  die  sich  dem  Schüler  und  jungen  Geogra- 
phen darbieten.  Im  ganzen  Buche  wird  von  den 
Formeln  der  einfachen  Trigonometrie  wiederholt 
Gebrauch  gemacht  und  ihre  praktische  Anwen- 
dung gelehrt.  Auch  der  Lehrer  der  Geographie 
und  Mathematik  wird  das  Buch  mit  Nutzen  ver- 
wenden können.  Dr.  G.  Hornio-. 


S.    Becher   und    R.    Demoll,    Einführung    in 
diemikroskopischeTechnik  für  Na  t  u  r  - 
Wissenschaftler  und  Mediziner.     183  S. 
Verlag    v.  Quelle    und  Meyer   in  Leipzig   191 3. 
—  Preis  geh.  2,50  Mk.,  geb.  3  Mk. 
Das  Buch  gibt  in  kurzer  und  sehr  klarer  Form 
Anleitungen      zur     Herstellung      mikroskopischer 
Präparate.     Die  Methoden    der  Bakteriologie    und 
parasitischen  Protozoologie,    für  welche  es  bereits 
genug    Leitfäden    gibt,    sind    nicht    berücksichtigt. 
In  der  Einleitung,  die  über  die  allgemeine  Metho- 
dikmikroskopischer LIntersuchungen  handelt,  finden 
sich    manche    gute    Ratschläge    für    Anfänger    in 
selbständiger  Forschung.     Auf  die  mikroskopische 
Beobachtung    des    lebenden    Objektes    wird    mit 
Recht  großer  Wert  gelegt,  ebenso  auf  das  Zeichnen 
des  Gesehenen.     Dabei  wird  vor  zu  großer  Über- 
schätzung der  Mikrophotographie  gewarnt. 

Es  folgen  dann  Anweisungen  über  die  spe- 
ziellen Methoden  der  mikroskopischen  Technik.  Die 
Autoren  stellen  dabei  die  bewährten  und  zuver- 
lässigen in  den  Vordergrund.  Was  das  Buch  be- 
sonders auszeichnet,  ist,  daß  es  nicht  eine  ein- 
fache Aufzählung  gibt,  sondern  daß  überall  in 
außerordentlicli  klarer  Weise  allgemeine  Gesichts- 
punkte hervorgehoben  werden.  Überall  merkt 
der  Leser,  daß  die  Ausführungen  auf  eigener  Er- 
fahrung der  Autoren   basieren. 

Das  vortreffliche  Buch  eignet  sich  nicht  allein 
für  den  Anfänger,  sondern  auch  für  den  Fortge- 
schrittenen. Auch  solchen,  die  nicht  Berufsmikro- 
skopiker  sind,  sondern  mehr  zu  dem  weiteren 
Kreise  der  Freunde  mikroskopischer  Forschung 
gehören,  ist  es  sehr  zu  empfehlen.  Der  Preis  ist 
für  das,  was  geboten  wird,  sehr  gering. 

V.  Berenberg-Goßler,  Freiburg  i.  B. 


Friedrich  Bergius,  Die  Anwendung  hoher 
Drucke  bei  chemischen  Vorgängen 
und  eine  Nachbildung  des  Ent- 
stehungsprozesses der  Steinkohle. 
Mit  4  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen. 
Druck  u.  Verlag  v.  Wilhelm  Knapp,  Halle  (Saale) 
191 3.  —  Preis  2,80  Mk. 

Bergius  gibt  eine  systematische  Betrachtung 
über  die  Rolle  des  Druckes  bei  chemischen  Re- 
aktionen und  schildert  dann  die  Versuchsanordnung 
für  das  Arbeiten  mit  hohem  Druck.  Den  Haupt- 
teil der  Schrift  bilden  Spezialitäten  wie  die  Disso- 
ziation und  Bildung  von  Kalziumsuperoxyd,  Re- 
aktionen des  überhitzten  Wassers  und  endlich  die 
Nachbildung  des  natürlichen  Steinkoiilenbildungs- 
vorganges  im  Laboratorium.  Von  alledem  werden 
sich  weitere  Kreise  namentlich  für  den  zuletzt  ge- 
nannten Gegenstand  interessieren. 

Der  Versuch,  künstliche  Kohle  herzustellen, 
ist  nicht  neu.  Schien  es  doch  außerordentlich 
einfach,  die  Bedingungen,  unter  denen  totes 
Pflanzenmaterial  mit  der  Zeit  zu  Kohle  wird,  im 
Laboratorium  nachzuahmen.  Man  dachte  sich, 
daß  Hitze  und  Druck  die  maßgebenden  Faktoren 
seien,  und  daß  es  deshalb  gelingen  müßte,  durch 


N.  F.  XIII.  Nr.  22 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


347 


Variation  eines  oder  beider  Faktoren,  den  Prozeß 
der  Kohlewerdung  zu  beschleunigen.  Warum 
sollte  sich  nicht  ein  Vorgang,  der  sonst  Zeiten 
dauerte,  denen  die  ganze  menschliche  Geschiciite 
nicht  zum  Maßstab  dienen  kann,  z.  B.  durch  eine 
höhere  Temperatur  in  nur  wenigen  Stunden  ab- 
spielen können  r  Diese  und  ähnliche  Fragen  ver- 
anlaßten  1841  auch  Alexander  Petzoldt  zu 
dem  folgenden  Experiment:  Er  konstruierte  fest 
verschließbare  Büchsen,  in  die  frisches  Holz  ge- 
füllt wurde,  und  setzte  sie  dem  Feuer  aus.  Bei 
( )ft'nung  der  Büchsen  fand  sich  darin  eine  wie 
Steinkohle  aussehende  Masse. 

Bergius  bemerkt  mit  Recht,  daß  das  Pro- 
dukt Petzoldt 's  keine  Kohle  gewesen  sei.  Bei 
der  großen  Hitze  wird  sich  das  Holz,  wie  dies 
bei  der  Destillation  geschieht,  unbedingt  in  Holz- 
kohle und  Teer  zersetzt  haben.  Was  Petzoldt 
darstellte,  war  also  nichts  als  ein  Gemisch  dieser 
beiden  Bestandteile.  Lenken  wir  deshalb  unsere 
Aufmerksamkeit  auf  eine  andere  Mitteilung 
P  e  t  z  o  1  d  t '  s. 

Einst  sollten  mit  einer  Dampframme  Holz- 
pfähle  in  den  Untergrund  geti  ieben  werden  und 
sie  schienen  auch  den  Stößen  zu  weichen.  Es  er- 
gab sich  jedoch,  daß  sie  auf  hartes  Gestein  ge- 
raten waren  und  sich  nur  oberhalb  des  Eisen- 
schuhes, der  ihre  Spitze  umgab,  gestaucht  hatten. 
Als  nun  das  Innere  der  Pfähle  an  den  gestauchten 
Stellen  untersucht  wurde,  da  fand  sich,  daß  im 
Zentrum  ein  wie  Anthrazit  aussehendes  Ma- 
terial entstanden  war,  weiter  außen  ein  mehr 
brau  nko  hl  i  ges  und  schließlich  zu  äußerst  nur 
ein  angebräuntes  bis  gelbliches  Holz.  Sicherlich 
ist  unter  diesen  Produkten  zum  mindesten  eines  ge- 
wesen ,  das  gewissen  Kohlen  sehr  nahe  stand, 
und  man  muß  nur  bedauern,  daß  Petzoldt 
seiner  Beschreibung  dieser  Produkte  nur  ganz 
mangelhafte  chemische  Daten  beigegeben  hat. 
Jedenfalls  zeigt  diese  Beobachtung  Petzoldt 's, 
daß  es  keineswegs  fern  liegt,  den  Prozeß  der 
Kohlebildung  im  Laboratorium  nachahmen  zu 
wollen.  Bildet  sich  doch  auch  zuweilen  in  den 
Stempeln  der  Bergwerke,  die  einem  besonders 
starken  Druck  ausgesetzt  waren,  ein  kohleartiges 
Material. 

Das  Verdienst  von  B  er  gi  u  s  ist  es  nun,  einmal 
unter  genau  bekannten  Bedingungen  künstliche 
Kohle  hergestellt  zu  haben.  So  ist  der  Prozeß 
der  Kohlewerdung  definitiv  in  ein  klares  Licht  ge- 
rückt worden.  Endgültig  wird  man  jetzt  aufhören, 
fabelhaften  Druck  und  kolossale  Hitze  für  unbe- 
dingt notwendige  Faktoren  zu  halten;  man  wird 
in  Geologenkreisen  nun  einen  großen  Schritt  dem 
Gedanken  näher  kommen,  daß  schon  bei  normalem 
1  )ruck  und  bei  normaler  Temperatur  Kohle  werden 
kann,  wenn  nur  das  Pflanzenmaterial  hinreichend 
vom  Sauerstoff  der  Luft  abgeschlossen  ist,  um 
nicht  zu  verwesen,  d.  h.  ,, spurlos  zu  ver- 
schwinden". 

Da  die  Zellulose  keine  stabile  Verbindung  ist, 
fällt  sie  dem  Selbstzersetzungsprozeß  anheim.    Sie 


wird  also  freiwillig  zur  Kohle.  Große  Hitze  und 
großer  Druck  wirken  nur  reaktionsbeschleunigend, 
sind  aber  nicht  einmal  nötig,  um  den  Prozeß 
einzuleiten,  was  ja  die  Torfbildung  deutlich  zeigt. 
Als  maßgebender  Faktor  ist  also  einzig 
und  allein  die  Tendenz  aller  toten  Zel- 
lulose zu  betrachten,  von  selbst  zu  zer- 
fallen. 

Bergius  setzte  das  pflanzliche  Material  Tem- 
peraturen aus,  von  denen  er  annehmen  durfte, 
daß  sie  noch  keinen  Destiüationsprozeß  bedingen, 
sondern  nur  den  selbständigen  Zellulosezerfall 
beschleunigen  würden.  Er  erhielt  poröse  Mate- 
rialien, deren  Zusammensetzung  der  der  Fett- 
kohlen glich.  Um  den  so  gewonnenen  Produkten 
den  bekannten  Glanz  zu  verleihen,  setzte  er  sie 
hohen  Drucken  aus.  Es  ergab  sich  dabei,  daß 
auch  der  Druck  den  Zellulosezerfall  beschleunigt. 

Robert  Potonie. 


O.  Dittrich,  Die  Probleme  der  Sprach- 
psychologie und  ihre  gegenwärtigen  Lösungs- 
möglichkeiten. 148  S.  Leipzig  1913.  —  Geh. 
Mk.  3,20,  geb.  Mk.  3,80. 
F"ußend  auf  P.  Kretschmer,  W.  v.  Hum- 
boldt, Steinthal,  H.  Paul,  J.  Geyser,  E. 
Husserl,  A.  Marty,  H.  Gompetz,  E.  Martinak,  F. 
Saran,  Brugmann  u.a.,  die  er  aber  auch  manch- 
mal befehdet,  gelingt  es  dem  Verf.  der  schon 
durch  seine„Grundzüge  der  Sprachpsychologie"  u.a. 
bekannt  ist,  seine  Selbständigkeit  im  Denken  und 
Forschen  auch  gegen  einen  Wundt  mit  Erfolg 
zu  behaupten.  Für  dessen  von  Paul  abgelehnten 
Ausdruck  „Völkerpsychologie"  setzt  er  „Gemein- 
psychologie, der  die  nur  aus  der  Sondergemein- 
schaft von  Individuen  erwachsenden  psychischen 
Tatsachen  zur  Erforschung  zufallen",  und  ordnet 
ihr  die  Sprachpsychologie  unter,  ohne  die  Mög- 
lichkeit zu  bestreiten,  daß  alles  das,  wodurch  die 
Wirkung  eines  Individuums  auf  das  andere  ermög- 
licht wird,  nicht  psychisch  sei.  P'erner  ist  ihm 
,,Zweiheit  von  Individuen  zur  Entstehung  von 
Sprache  eine  unerläßliche  Bedingimg,  Vielheit  da- 
gegen nicht",  und  so  definiert  er:  ,, Sprache  ist  die 
Gesamtheit  aller  jemals  aktuell  gewordenen  bzw. 
aktuell  werden  könnenden  Ausdruckslcistungen  der 
menschlichen  bzw.  tierischen  Individuen,  insofern 
sie  von  mindestens  einem  anderen  Individuum  zu 
verstehen  gesucht  werden  können."  Diese  Ein- 
schränkung ist  aber  eine  klare  Lossage  von  Wundt 
(vgl.  von  mir  Sprachentwicklung  der  Kinder  und 
der  Menschheit,  Langensalza  1899,  S.  26 — 28  und 
R  e  i  n '  s  Enzyklopäd.  Handb.  d.  Päd.,  2.  Aufl.,  S.  768 
bis  771).  Nach  der  aligemeinen  Einführung  und 
Gliederung  der  Probleme  behandelt  D.  die  p  h  y  1  o  n  - 
togenetischen,  besonders  das  der  Bedeu- 
tung, dann  die  ontoge netischen  (Syntax  und 
Wortbildung),  endlich  die  phylogenetischen. 
Hierbei  gilt  ihm  als  wichtigste  l<"rage,  wie  der 
Sprachusus  entstehe,  wobei  es  ihm  aber  entgeht, 
daß  ihre  Beantwortung  wenigstens  ver^ucht  worden 
ist:    Der   durch    die  hilflose  Lage  des  Kindes  ge- 


348 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  22 


gebene  lange  Verkehrszwang  zwischen  der  Mutter 
und  diesem  führte  zunächst  einen  Ausgleich  zwi- 
schen den  Lautäußerungen  beider  herbei,  Nach- 
ahmungstrieb, Respekt  vor  dem  redegewaltigen 
Führer  und  gemeinsame  Tätigkeit,  dann  später 
innerhalb  der  Horde  (vgl.  von  mir  „die  mutm. 
SprachederFiszeitmenschen",  Halle  19 13,5.47 — 97). 
Manche  formelle  Neuerung  Dittrich's  muß 
die  Sprachforschung  ablehnen,  so  den  Ersatz  der 
ihr  gebräuchlichen  Bezeichnungen  ,, Satzwort"  oder 
„Einwortsatz"  (Stern)  durch  Häufungssatz,  welches 
Wort  eher  das  besagen  könnte,  was  sie  mit  mehr- 
fachem oder  zusammengesetztem  Satz  bezeichnet, 
also  gerade  das  Umgekehrte  von  dem,  was  D. 
meint,  nämlich  e  i  n  Wort  (Lautung),  auf  das  Sub- 
jekt und  Prädikat  gehäuft  sind.  Die  Einführung  der 
Begriffe  Generalsubjekt,  Generalprädikat  usw.  als 
Oberbegriffe  von  Satzaussage,  Satzgegenstand  usw. 
mag  vielleicht  auch  für  die  Sprachforschung  fruchtbar 
werden  können.  Doch  übergeht  D.,  daß  diese  in  den 
Begriffen  „logisches  Subjekt,  logisches  Prädikat" 
und  in  der  Unterscheidung  zwischen  ,, Inhalt-  und 
P'ormwort"  schon  etwas  sehr  Brauchbares  hat. 
Ja,  gerade  seine  Beweisführung  läßt  mir  diese  Be- 
griffe brauchbarer  erscheinen  als  seine  General- 
subjekte usw.  Denn  mit  Hilfe  dieser  kommt  er 
zu  der  Behaujitung:  „Wo  sind  die  Gefangenen?" 
wäre  ein  wortloser  Satz.  „Wo",  „sind"  und  ,,die" 
sind  ja  allerdings  nur  P'ormwörter  und  „Gefange- 
ner" bezeichnet  die  Person  nicht  eindeutig,  wohl 
aber  den  Zustand,  in  dem  sich  diese  befindet, 
und  ist  daher  ein  relativ  selbständiges  subjekt- 
oder  prädikatseitig-integrales  Satzbedeutungsglied, 
wie  D.  ,,Wort"  definiert.  Gleichwohl  verdient 
diese  Schrift  eingehende  Beachtung  aller  Sprach- 
forscher, auch  der,  die  in  der  Zoologie  die  wert- 
vollste Bundesgenossin  der  Sprachwissenschaft  er- 
kennen (Kosmos  1886,  I,  S.  98:  Über  die  Ent- 
wicklung der  menschl.  und  der  tier.  Sprache.  Die 
mutm.  Spr.  d.  Eiszeitmenschen,  S.  3 — 13). 

Prof.  Dr.  Carl  Franke. 


G.  Kerschensteiner ,  Wesen  und  Wert  des 
naturwissenschaftlichen  Unterrichts. 
141  S.  8".  Leipzig  und  Berlin  1914,  Teubner. 
—  Geb.  3,60  Mk. 
Die  sehr  lesenswerte  kleine  Schrift,  die  in  er- 
weiterter Form  den  Inhalt  eines  vom  Verfasser 
auf  der  Münchner  Hauptversammlung  des  Vereins 
zur  Förderung  des  mathematischen  und  natur- 
wissenschaftlichen Unterrichts  gehaltenen  Vortrages 
wiedergibt,  geht  aus  von  einer  Betrachtung  über 
die  Merkmale,  nach  denen  der  Erziehungswert 
eines  Lehrfaches  abzuschätzen  sei,  und  findet 
diese  in  der  Nötigung  zur  sinngemäßen,  den  gerade 
vorliegenden  Verhältnissen  entsprechenden  An- 
wendungen der  Begriffe,  die  uns  übermittelt  wer- 
den. Hierzu  zu  erziehen  sei  an  sich  Sprachunter- 
richt und  naturwissenschaftlicher  Unterricht  in 
gleichem  Maß  imstande.  Der  Verfasser  führt  dies 
näher  an  drei  Beispielen  aus:  der  sinngemäßen 
Übersetzung  einer  griechischen  Strophe  aus  Pindar, 


und  je  einem  physikalischen  und  chemischen  Be- 
obachtungsbeispiel. Der  Schüler,  der  selbständig, 
ohne  besondere  Anleitung  diese  Aufgaben  zu 
lösen  hat,  vollzieht  dabei,  wie  Kerschensteiner 
im  einzelnen  ausführt,  ganz  analoge  Verstandes- 
operationen. Da  auf  naturwissenschaftlichem  Ge- 
biet bei  solchem  Verfahren  übereilte  I'olgerungen 
und  Trugschlüsse  meist  schneller  und  sicherer 
erkannt  werden,  so  kommt  diesem  ein  gewisser 
Vorzug  zu.  Auch  sei  hier  die  „eindeutige  Zu- 
ordnung eines  Begriffs  zu  einem  Wortsymbol" 
besonders  scharf  ausgeprägt.  L 

;  In  bezug  auf  die  Ausbildung  des  Beobachtungs-  f 
Vermögens  schreibt  Ke  rsc  h  e  nst  ei  n  e  r,  dafi  der 
ganz  auf  Erfahrung  und  Beobachtung  beruhende 
naturwissenschaftliche  Unterricht  diese  Fähigkeit 
naturgemäß  besonders  gut  entwickelte,  daß  dies 
aber  nicht  als  ein  allgemeiner  Erziehungsgewinn 
zu  betrachten  sei,  da  jedes  Fach  seine  eigene  Art 
zu  beobachten  habe,  und  daher  jedes  F"ach  auch 
nur  eine  spezielle  Art  der  Beobachtung  entwickeln 
könne.  Sonst  aber  sei  eine  regelmäßige  Übung 
des  Beobachtungsvermögens  als  Gegengewicht 
gegen  die  die  Lust  und  Fähigkeit  zu  eigener  Be- 
obachtung beeinträchtigende  vorwiegende  Be- 
schäftigung mit  Büchern  zu  empfehlen.  Einen 
besonderen  Wert  schreibt  dabei  Kerschen- 
steiner dem  „aktiven"  Beobachten,  d.  h.  dem 
Experiment  zu.  Als  moralische  Erziehungswerte 
des  naturwissenschaftlichen  Unterrichts  erscheinen 
dem  Verfasser  die  Einführung  in  den  Geist  der 
Gesetzmäßigkeit  alles  Weltgeschehens,  das  Gefühl 
der  Verantwortlichkeit  für  die  Genauigkeit  des 
Feststeilens,  die  Ehrfurcht  vor  allem  streng  wissen- 
schaftlichen Denken  sowie  die  Erziehung  zu  Wahr- 
heitsliebe und  Objektivität.  Dagegen  könne  die 
Naturwissenschaft  in  die  „Welt  des  Sollens"  nicht 
einführen,  wie  Verfasser  in  einem  besonderen  Ab- 
schnitt, im  Gegensatz  zu  Unold  und  Ostwald 
ausführt. 

Um  nun  die  angeführten  Erziehungswerte  im 
Unterricht  auszulösen,  bedarf  es  des  natürlichen 
Interesses  eines  selbst  von  P'orschergeist  erfüllten 
Lehrers,  endlich  aber  einer  Lehrmethode,  die  nicht 
auf  möglichst  umfangreichen  Lehrstoff,  auf  „Enzy- 
klopädismus",  sondern  auf  Konzentration  und  auf 
möglichst  ausgedehnte  Selbsttätigkeit  der  Schüler 
den  Nachdruck  legt.  Ein  enzyklo])ädischer  Über- 
blick, der  nachher  zu  dem  Dünkel  führe,  , .bereits 
alles  zu  wissen",  bleibe  äußerlich,  dagegen  die 
gründliche  Beschäftigung  mit  einem  kleinen  Ge- 
biet, mit  dem  Bestreben,  „den  Geist  des  For- 
schens  in  die  Schüler  zu  tragen"  hinterlassen  einen 
,, unstillbaren  Hunger",  nun  auch  andere  Teil- 
gebiete durchzuarbeiten".  Den  Schluß  des  Buches 
bildet  der  Entwurf  eines  Lehrplans  für  ein  „natur- 
wissenschaftliches Gymnasium",  in  dem  die  Natur- 
wissenschaften als  wesentliches  Fach  mit  einer 
größeren  Stundenzahl  ihre  bildenden  und  erzieh- 
lichen Eigenschaften  entfalten  können. 

Der  Verfasser  wünscht  „mehr  kritische,  als 
geneigte  Leser";   es  sei  daher,  bei  aller  Anerken- 


N.  F.  Xm.  Nr.  22 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


349 


nung  vieler  der  in  der  kleinen  Schrift  geäußerten 
Gedanken,  doch  betont,  daß  der  Verfasser  in  der 
—  an  sich  wohl  berechtigten  —  Warnung  vor 
enzyklopädischem  Vollständigkeitsstreben  etwas  zu 
weit  geht.  Die  Schule  soll  doch  nicht  n  u  r  for- 
male Bildung  vermitteln,  sondern  auch  ein  ge- 
wisses Maß  von  dem ,  was  man  als  ,, positive 
Kenntnisse"  zu  bezeichnen  pflegt.  Wohl  kann 
auch  nach  des  Referenten  Ansicht  der  Unterricht 
dem  Umfang  nach  auf  allen  Gebieten  einge- 
schränkt werden ,  aber  ganz  darf  doch  auch  das 
„stoffliche"  Interesse  nicht  hintangesetzt  werden. 
Auch  wird  Kersch  ensteiner  den  biologischen 
Fächern  nicht  ganz  gerecht.  Schon  der  Ausdruck 
„beschreibende  Naturwissenschaften"  sollte,  weil 
er  einen  inneren  Widerspruch  einschließt  —  eine 
„Wissenschaft"  kann  niemals  ,, beschreibend"  sein, 
wenn  man  dies  Wort  nicht  in  dem  von  Kirch- 
hof gebrauchten,  weiteren  .Sinn  faßt  —  nie  mehr 
gebraucht  werden.  Ein  Gegensatz  aber  zwischen 
Zoologie  und  Botanik  einerseits  und  Biologie 
andererseits,  wie  ihn  der  Verfasser  mehrmals 
bringt,  existiert  nicht.  Solche  Ausstellungen,  deren 
sich  noch  weitere  machen  ließen,  beeinträchtigen 
aber  den  wahren  Wert  der  Schrift  nicht,  be- 
sonders ist  der  Gedanke ,  eine  Schulgattung  zu 
gründen,  die  wirklich  den  naturwissenschaftlichen 
Fächern  zur  Entfaltung  ihrer  eigentümlichen  Bil- 
dungselemente volle  Gelegenheit  gibt,  ernstester 
Erwägung  wert.  R.  v.  Hanstein. 


J 


L.  de  Lanessan,  Transformisme  etCre- 

ationisme;     contribution    ä    l'histoire 

du    transformisme    depuis    l'antiquite 

j  usq  u  'ä  nos  j  ou  rs.    Bibliotheque  scientifique 

internationale,  Librairie  Felix  Alcan,  Paris  19 14. 

Das  Werk  ist    in  fünf  Bücher  eingeteilt.     Das 

erste  behandelt  in  neun  Kapiteln  die  Gedanken 

über   „Schöpfung"    und    „Entwicklung"    im    Alter- 

tume,    speziell  die   griechischen  Philosophen ;    das 

zweite    Buch    behandelt    in    fünf    Kapiteln    das 


Mittelalter  und  die  Renaissance.  Diese  beiden 
ersten  Bücher  haben  mir  ganz  besonders  gefallen; 
dem  Naturwissenschaftler,  der  sich  nicht  speziell 
mit  Philosophie  des  Altertums  und  des  Mittelalters 
befassen  kann,  hat  der  Autor  hiermit  einen  großen 
Dienst  erwiesen.  — 

Die  acht  Kapitel  des  dritten  Buches  werden 
ausgefüllt  durch  die  Darstellung  der  Lehren  Buffons 
über  Evolution.  Das  Buch  scheint  mir  unverhält- 
nismäßig umfangreich  ausgefallen  zu  sein:  hin- 
sichtlich der  Einschätzung  Buffons  kann  man 
anderer  Meinung  sein;  vide  a.  e. :  Max  Rauther, 
„Über  den  Begriff  der  Verwandtschaft",  Zool. 
Jahrb.   191 2,  Suppl.  XV,  3.  Bd.  pag.  95.  — 

Im  vierten  Buche  (das  in  fünf  Kapitel  zer- 
fällt) wird  die  Lehre  Lamarck's  ausführlicher  dar- 
gestellt :  die  Bedeutung  dieses  Gelehrten  erscheint 
mir  richtig  erkannt.  —  Trotz  der  Überschätzung 
Buffons  und  trotz  der  Unterschätzung  der  histo- 
rischen Bedeutung  Etienne  Geoffroy  Saint-Hilaires 
—  dem  der  Autor  mit  Unrecht  nur  wenige  Seiten 
widmet  —  müssen  die  klaren  Darlegungen  des 
dritten  und  vierten  Buches  dem  Leser  empfohlen 
werden.  — 

Das  fünfte  Buch  (fünf  Kapitel)  bringt  die 
Darlegung  der  Leiire  und  Bedeutung  Darwins. 
Die  Ausführungen  und  Ansichten  des  französischen 
Autors  werden  den  deutschen  Leser  ganz  beson- 
ders interessieren.  Zweifellos  indes  ist  die  Be- 
deutung Darwins  unterschätzt.  —  Das  Werk,  dem 
ein  zweiter  Teil  folgen  soll,  verdient  unbedingt 
Beachtung.  — 

Eins  freilich  ist  dem  Autor,  wie  so  manchem 
anderen  Autor,  nicht  zu  verzeihen,  nämlich,  daß 
er  den  größten  „Naturforscher"  nicht  kennt, 
der  mit  dem  Anspruch  auftrat,  „die  menschliche 
Vernunft  in  dem,  was  ihr  Wißbegierde  jederzeit, 
bisher  aber  vergeblich,  beschäftigt  hat,  zur  völligen 
Befriedigung  zu  bringen"  .  .  . 

Oristano,  Sardinien,  März   191 4. 

Dr.  Anton  Krauße. 


über 


Kleinere  Mitteilungen. 

.postmortale  Veränderungen  beim  Wild 


bret"  referierten  auf  der  Herbstversammlung  des 
Vereins  der  Tierärzte  des  Regierungsbezirks  Düssel- 
dorf die  Herrn  Weis  eher  und  Dr.  Möller'). 
Es  wurden  im  besonderen  diejenigen  Vorgänge  be- 
handelt, die  für  Wildfleisch  eigentümlich  sind  und 
hier  häufiger  beobachtet  werden  als  bei  Schlacht- 
tierfleisch. Sie  interessieren  allgemeiner  vom  wissen- 
schaftlichen und  sanitären  Standpunkte  aus,  vom 
Standpunkt  des  Jägers  und  Jagdliebhabers.  Es 
wurde  früher  angenommen,  daß  Wildfleisch  für  ge- 
wisse Verderbnisvorgänge  von  Natur  aus  empfäng- 
licher wäre  wie  das  Fleisch  der  Schlachttiere.  Das 
ist  aber  nicht   der  Fall.      Im  Gegenteil    kann    be- 


')  Bericht    in    der 
I9M,   Nr.    14,  S.  247. 


Berliner    Tierärztlichen  Wochenschrift 


hauptet  werden,  daß  Wildfleisch,  weil  es  zäh  und 
derb  ist,  einen  hohen  Grad  von  Widerstands- 
fähigkeit besitzt.  .'\uch  scheint  nach  den  Be- 
obachtungen des  einen  Referenten  das  Wildblut 
mit  besonderen  bakteriziden  Fähigkeiten  ausge- 
stattet zu  sein.  Aber  das  Wildbret  wird  gewohn- 
heitsgemäß vom  Abschuß  bis  zum  Verbrauch 
unzweckmäßig  behandelt.  Es  unterliegt  keiner 
besonderen  Durchkühlung  und  Kältekonservierung 
und  wird  häufig  unzweckmäßig  verpackt  über 
weite  Strecken  transportiert.  Es  ist  leider  nicht 
mehr  allgemein  üblich,  erlegte  Tiere  sofort  auf- 
zubrechen. Dies  geschieht  häufig  viel  zu  spät  und 
wird  bei  kleinem  Wild  meist  überhaupt  nicht  mehr 
vorgenommen.  Durch  diese  Unsitte  verdirbt  viel 
Wildbret.  Dr.  Möller  schlägt  nach  seinen  Er- 
fahrungen   und    Untersuchungen    eine    neue    Ein- 


350 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  22 


teilung  der  Zersetzungsvorgänge  vor.  Er  erklärt 
die  Begriffe  „Verhitztsein"  und  „saure  Gärung" 
für  unbrauchbar  und  spricht  von  :  I.  Reifung  (Auto- 
lyse),  2.  stickiger  Reifung  (stickiger  Autolyse)  und 
3.  der  Fäulnis.  Daneben  kommen  Bereifen,  Ver- 
schimmeln, Vermaden  des  Fleisches  usw.  in  Frage. 
Als  .AiUtolyse  bezeichnet  man  die  nicht  durch 
Bakterien  hervorgerufene  Spaltung  des  toten  Ei- 
weißes ,  die  die  sog.  Tafelreife  des  Fleisches 
herbeiführt.  Da  Wildbret  viel  länger  aufbewahr- 
bar ist  wie  Schlachttierfleisch,  ohne  daß  es  in 
Fäulnis  übergeht,  läßt  sich  bei  ihm  ein  hoher 
Grad  der  Reifung  erzielen,  die  ihm  den  pikanten, 
aromatischen  Geschmack  verleiht.  Die  fortge- 
schrittenen Grade  der  Autolyse  bezeichnet  man 
als  „Hautgout".  (Fälschlicherweise  wird  häufig 
Fleisch,  das  bereits  begonnen  hat,  in  Fäulnis  über- 
zugehen, als  mit  Hautgout  versehen  bezeichnet.) 
Bei  der  stickigen  Autolyse  erfolgt  die  Zer- 
setzung ebenfalls  durch  Enzyme,  aber  rascher  und 
meist  unter  Bildung  unangenehm  riechender  Stoffe. 
Sie  tritt  ein,  wenn  Wild  zwar  sachgemäß  ausge- 
weidet, danach  aber  warm  aufbewahrt  oder  über- 
einander geschichtet  wird.  Bei  der  F"äulnis  sind 
2  Formen  zu  unterscheiden:  die  durch  aerobe  Bak- 
terien hervorgerufene,  bei  der  die  häulniskeime 
von  außen  auf  das  I'leisch  gelangen,  und  die 
durch  Anäerobin  bedingte  Leichenfäulnis.  Bei 
letzterer  dringen  die  Bakterien  bei  zu  spät  aus- 
geweideten Tieren  durch  die  Darmwand  in  das 
Fleisch.  Der  Ref  spricht  dann  noch  über  den 
geringen  Wert  der  früher  allgemein  angewendeten 
chemischen  Untersuchungsmethoden,  die  er  durch 
histologische  und  biologische  bei  der  Nahrungs- 
mittelkontrolle ersetzt  zu  sehen  wünscht,  an- 
schließend daran  über  die  Beurteilung  des  ver- 
dorbenen Wildfleisches  im  Sinne  der  Nahrungs- 
mittelpolizei. Als  Regeln  für  die  Behandlung  und 
Aufbewahrung  von  Wildbret  werden  von  den  Ref. 
angegeben:  Sämtliches  Wild  muß  rechtzeitig 
ausgeweidet  werden.  Das  Zerlegen  des  Großwildes 
muß  sofort  nach  dem  Einbringen  erfolgen,  wenn 
hohe  Außentemperatur  herrscht,  oder  auf  andere 
Weise  ein  schnelles  Abkühlen  nicht  zu  erreichen 
ist  (Aufbrechen  und  Zerlegen  nach  den  An- 
weisungen des  allgemeinen  deutschen  Jagdschutz- 
vereins). Kein  Wildslück  soll  versandt  werden, 
ehe  es  vollkommen  ausgekühlt  ist.  Beim  Trans- 
port sind  die  Stücke  luftig  aufzuhängen.  Die  Auf- 
bewahrung soll  an  einem  möglichst  kühlen,  luftigen 
t)rte  geschehen.  So  behandeltes  und  aufbewahrtes 
Wildfleisch  hält  sich  wochenlang  unverdorben  und 
besitzt  den  echten  Wildgeschmack.     W.  ligner. 

Ein  Mittel  gegen  die  Schlaflosigkeit  gibt  Dr. 
E.  Ebst ein-Elbing  in  der  Zeitschrift  für  physika- 
lische und  diätetische  Therapie  (Bd.  1 8,  3.  Heft,  1 9 1 4) 
an,  das  sich  durch  seine  vollkommene  Unschäd- 
lichkeit vor  den  Mitteln  chemischer  Natur  (die 
zwar  meist  sicher  wirkend  und  bequem  anzuwenden 
sind,  auch  jetzt  fast  frei  von  Nebenwirkungen  her- 
gestellt werden,    aber   gerade    dadurch    eine  nicht 


zu  unterschätzende  Gefahr  in  sich  bergen)  und 
durch  überaus  große  Einfachheit  vor  den  Methoden 
auszeichnet,  die  auf  physikalisch-diätetischem  Wege 
die  Hebung  des  Leidens  versuchen  und  im  Gegensatz 
zu  den  chemischen  Mitteln  zwar  harmlos,  aber 
auch  meist  in  der  Anwendung  umständlich  (z.  T. 
Benötigung  einer  zweiten  Person !)  und  in  ihrer 
Wirkung  nicht  immer  sicher  sind. 

Auf  das  Mittel  führte  den  Verfasser  ein  Zufall, 
der  ihn  in  einer  schlaflosen  Nacht  nach  einer  der 
senkrechten  Stangen  greifen  ließ,  die  das  Kopfende 
seiner  Bettstelle  bildeten,  worauf  nach  kurzer  Zeit 
Ermüdung  der  Arm-  und  Schultermuskulatur,  bald 
darauf  auch  ein  starkes  psychisches  Müdigkeitsgefühl 
und  Schlaf  eintrat.  Die  wissenschaftliche  Erklärung 
dieser  Wirkung  läßt  sich  nach  Dr.  E.  aus  der  Berück- 
sichtigung der  Ursachen  der  Schlaflosigkeit  ableiten, 
die  letzten  Endes  jedenfalls  auf — durch  organische 
oder  funktionelle  Erkrankungen  des  Herzens  und 
der  Gefäße  oder  psychische  Störungen  veranlaßte  — 
unregelmäßiger  Blutzirkulation  im  Ge- 
hirn beruht.  Die  Sorgen  und  Gedanken  des 
Tages  werden  auch  in  der  Nacht  weiterges])onnen, 
die  oftmalige  Verzögerung  im  Eintritt  des  Schlafes 
veranlaßt  bald  eine  Art  Autosuggestion,  die  durch 
Anwendung  der  chemischen  Schlafmittel  nicht  be- 
seitigt, sondern  noch  verstärkt  wird.  Durch  die 
Lageänderung  der  Arme,  die  so  schnell  den  Schlaf 
herbeizuführen  imstande  ist,  wird  nach  Dr.  E.  der  Blut- 
abfluß aus  dem  Schädelinnern,  der  bei  aufrechter  Hal- 
tung durch  die  fast  senkrechte  Richtung  der  Kopf- 
venen gegeben,  aber  in  horizontaler  Lage  durch  den 
geringen  Höhenunterschied  zwischen  Kopf  und  Herz 
fast  vollkommen  aufgehoben  ist,  sehr  gefördert, 
denn  da  Arm-  und  Kojifvenen  dann  dieselbe  Rich- 
tung haben  und  beide  Blutströme  in  der  Vena 
anonyma  zusammentreffen,  so  wirkt  der  stärkere 
Armstrom,  der  durch  die  erhobene  Haltung  der 
Arme  beiderseits  ein  sehr  starkes  Gefäll  erhält, 
durch  Aspiration  verstärkend  auf  den  schwächeren 
Kopfstrom.  Nicht  nur  bei  Hyperämie,  auch 
bei  Anämie  im  Gehirn  übt  diese  Haltung  eine 
wohltätige  Wirkung  aus.  Ihre  Folgen  rufen  allerlei 
Störungen  im  Stoftwechsel  hervor,  dessen  normales 
Vorsichgehen  ja  nicht  allein  von  der  absoluten 
Menge  des  Blutes,  sondern  auch  von  der  Schnellig- 
keit und  Regelmäßigkeit  der  Zirkulation  abhängt. 
Einem  schwachen  Herzen  wird  nun  aber  der  Nach- 
schub neuen  Blutes  durch  eine  energische  Ent- 
leerung des  Blutes  aus  dem  Gehirn  viel  leichter 
gemacht.  Abgesehen  von  der  Regelung  der  Blut- 
zirkulation ist  die  ungewohnte  Haltung  und  das 
Bestreben  sie  beizubehalten,  insofern  von  Vorteil, 
als  sie  die  Gedanken  in  eine  bestimmte  Richtung 
zwingt  und  —  ein  nicht  zu  unterschätzendes 
Moment  —  die  Ermüdung  bestimmter  Muskel- 
gruppen veranlaßt,    die   aber  anfangs    nicht  durch 


')  Für  Patienten,  denen  ein  Bett  mit  eisernen  Stäben  oder 
Holzknäufen,  die  man  durch  ein  Tuch  verbinden  und  so  eine 
Art  Handgriff  schaffen  kann,  nicht  zur  Verfügung  steht,  hat 
Dr.  Ebstein  einen  kleinen  einfachen  Apparat  konstruiert, 
den   er  ,,Hypnophor"  nennt. 


N.  F.  XIII.  Nr.  22 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


351 


ein  Herunternehmen  der  Arme  aufgehoben  werden 
soll  —  am  besten  schläft  man  in  der  Stellung  ein 
und  ändert  sie  erst  bei  dem  evt.  wieder  folgenden 
Erwachen  in  die  gewöhnliche  Schlafstellung  um. 
R.  Aichberger-München. 


Nachrichten  aus  der  wissenschaftlichen  Welt. 

Der  Preis  der  Otto  Vahlbruch-Stiftung ,  der  alle  2  Jahre 
im  Betrage  von  12000  Mk.  dem  Verfasser  derjenigen  in  deut- 
scher Sprache  geschriebenen  und  verölTentlichten  Arbeit  ver- 
liehen wird,  die  in  diesem  Zeitraum  den  größten  Fortschritt 
in  den  Naturwissenschaften  gebracht  hat,  ist  in  diesem  Jahre 
von  der  als  Jury  fungierenden  philosophischen  Fakultät  der 
Universität  Göttingen  zwei  Autoren  zuerkannt  worden,  und 
zwar  je  zur  Hälfte  dem  Herrn  Dr.  Job.  Stark,  Professor 
an  der  Technischen  Hochschule  Aachen,  für  die  Entdeckung 
der  Zerlegung  der  Spektrallinien  im  elektrischen  Felde,  und 
dem  Herrn  Dr.  M.  v.  Laue,  Professor  an  der  Universität 
Zürich,  für  die  Entdeckung  der  Beugung  der  Röntgenstrahlen 
durch  die  Raumgitter  der  Kristalle.  K.  S. 

86.  Versammlung  Deutscher  Naturforscher  und  Ärzte^ 
Hannover,  20.  bis  26.  September   1914. 

Das  Programm  ist  in  seinen  Grundzügen  festgelegt.  Aus 
der  großen  Zahl  der  bisher  angemeldeten  Vorträge  seien  be- 
sonders hervorgehoben;  W.  HeUpach  (Karlsruhe):  Die 
kosmische  Abhängigkeit  des  Seelenlebens;  O.  Lämmer 
(Breslau):  Die  Verflüssigung  des  Kohlenstoffes;  Br.  Tacke 
(Bremen):  Die  Entstehung  und  Kultivierung  der  Moore; 
H.  Stille  (Göttingen):  Das  tektonische  Bild  des  deutschen 
Bodens;  R.  Hennig  (Berlin-Friedenau):  Über  die  Aussichten 
des  Panamakanals;  E.  Abderhalden  (Halle  a.  S.):  Über 
die  Abwehrmaßnahmen  des  Organismus  gegen  blutfremde 
Stoffe;  E.  Gaupp  (Tübingen):  Probleme  der  Degeneration; 
A.  N  o  c  h  t  (Hamburg) :  Tropenmedizinische  Fragen  von  allge- 
meinerer Bedeutung;  H.  Wieland  (Straßburg);  Über  Beri- 
Beri  vom  physiologisch-chemischen  Standpunkt;  W.  Uhthoff 
(Breslau)  und  L.  Bruns  (Hannover);  Ophthalmologisches  zur 
Hirnchirurgie;  O.  C.  Sprengel  (Braunschweig)  und  L. 
Aschoff  (Freiburg  i.  Br.) :  Über  Gallensteinkrankheiten;  W. 
Schütz  (Berlin);  Die  Serodiagnose  in  der  Veterinärmedizin; 
H.  Ziegler  (Stuttgart)  und  H.  Dexler  (Prag);  Probleme 
der  Tierpsychologie;  u.  a.  An  Besichtigungen  sind  vorge- 
sehen solche  größerer  industrieller  Werke  in  Hannover,  sowie 
eines  Kaliwerkes  in  der  Nähe.  Ausflüge  sind  geplant  nach 
Bad  Nenndorf,  Elisen,  Minden  (Besichtigung  der  Kanalbauten), 
Bad  Rehburg,  Pyrmont,  Hildesheim,  Goslar,  Harzburg,  Lüne- 
burg. Am  26.  und  27.  September  soll  bei  genügender  Be- 
teiligung ein  Ausflug  nach  Helgoland  staltfinden  (Preis  für  die 
ganze  Fahrt  Hannover-Helgoland  (über  Bremen-Bremerhaven- 
Hannover  mit  Eisenbahnfahrkarte  111.  Kl.  etwa  IG  Mk.,  11.  Kl. 
entsprechend  teurer;  rechtzeitige  Anmeldung  dringend  er- 
wünscht). 

Teilnehmer  an  der  Versammlung  kann  jeder  werden,  der 
sich  für  Naturwissenschaften  oder  Medizin  interessiert.  Die 
Teilnehmerkarte  kostet  20  Mk.  Ein  ausführliches  Programm 
wird  Ende  Juli  versandt  werden.  Nähere  Auskunft  erteilt 
gern  das  Büro  der  Geschäftsführung,  Bahnhofstr.  6/7  1. 

„Bringt  materielles  und  soziales  Aufsteigen  den  Familien 
Gefahren  in  rassenhygienischer  Beziehung?",  so  lautet  das 
Thema  eines  Preisausschreibens,  welches  die  Berliner  Gesell- 
schaft für  Rassenhygiene  unter  Verdoppelung  der  vorher  aus- 
gesetzten Preise  wiederholt  erläßt.  Zur  abermaligen  Aus- 
schreibung dieses  Themas  sah  sich  die  Berliner  Gesellschaft 
für  Kassenhygiene  deshalb  veranlaßt,  weil  dem  Einsender  der 
wertvollsten  Arbeit  der  Preis  aus  formalen  Gründen  nicht  zu- 
gesprochen werden  konnte,  und  weil  die  übrigen  Einsendungen 
den  gestellten  Anforderungen  nicht  entsprachen.  Für  die 
besten  Arbeiten  sind  nunmehr  2  Preise  von  je  Soo  und  400  Mk. 
bestimmt.  Die  Einsendung  der  Arbeiten  hat  bis  31.  Dezember 
191 5  zu  erfolgen.  Alle  Einsendungen  sind  an  die  Berliner 
Gesellschaft  für  Rassenhygiene,  z.  H.  des  Schriftführers  Dr. 
G.  Heinemann,    Charlottenburg,    Cauerstr.  35,  zu  richten,  die 


auch  über  die  Bedingungen  des  Preisausschreibens  Auskunft 
gibt  und  Drucksachen  über  die  Ziele  der  Berliner  Gesellschaft 
für  Rassenhygiene  versendet. 

Ferienkurse  in  Jena  finden  vom  5. — 18.  August  auf 
folgenden  Gebieten  statt:  Naturwissenschaften;  Pädagogik; 
Theologie;  Psychologie  und  Philosophie;  Geschichte,  Literatur, 
Nationalökonomie ;  Sprachen,  Vortragskunst,  Modellieren  und 
Zeichnen;  Staatsbürgerkunde.  Anmeldungen  und  Auskunft 
beim  Sekretariat  (Frl.  Clara  Blomeyer,    Jena,    Gartenstr.  4). 

Kurse  für  Meeresforschung  an  der  Zoologischen  Station 
Rovigno  (Adria).  Das  Institut  für  Meereskunde  veranstaltet 
in  der  Zeit  vom  9. — 22.  August  19 14  einen  Kurs  für  Meeres- 
forschung an  der  Zoologischen  Station  in  Rovigno.  Dieser 
Kurs  bezweckt  die  Einführung  in  die  Beobachtungs-  und  Ar- 
beitsmethoden der  Hydrographie  und  Hydrobiologie.  Er  wird 
Demonstrationen  und  Übungen  im  Laboratorium  und  Arbeiten 
in  der  Natur  umfassen.  Letztere  zerfallen  in  Küstenstudien 
und   Ausfahrten  auf  das  Meer. 

Der  Kurs  gliedert  sich  in  eine  hydrographische  Abteilung, 
die  der  Abteilungsvorsteher  am  Institut  für  Meereskunde  und 
a.  o.  Professor  an  der  Universität  Berlin,  Dr.  Alfred  Merz, 
leiten  wird,  und  in  eine  hydrobiologische  Abteilung  unter  der 
Leitung  des  Kustos  am  Institut  für  Meereskunde  und  Direktors 
der  Zoologischen  Station  in   Rovigno,   Dr.  Thilo  K  ru  mbac  h. 

Gesuche  um  Zulassung  zum  Kurse  sind  bis  zum  20.  Juli 
d.Js.  an  die  Direktion  des  Instituts  für  Meereskunde  zu  richten. 
Die  Anmeldung  soll  die  Angabe  enthalten,  ob  die  Teilnahme 
an  beiden  Abteilungen  oder  nur  an  einer  derselben  erwünscht 
ist.  Der  Kurs  ist  unentgeltlich,  doch  sind  für  den  Verbrauch 
an  Chemikalien  usw.  20  Mark  zu  entrichten.  Dieser  Betrag 
ist  bis  zum  1.  August  d.  Js.  beim  Institut  für  Meereskunde 
einzuzahlen. 

Nähere  Mitteilungen  über  Wohnungsverhältnisse  und  Ver- 
pflegung erteilt  auf  Wunsch  das  Ilntel  in  Rovigno,  das  für 
6  Kronen  (=   5  Mark)  den  Tag  volle  Pension  geben  wird. 

Pe  nck 
Direktor  des  Instituts  für  Meereskunde. 

V.  Reinach-Preis  für  Paläontologie.  Ein  Preis  von  500  Mk. 
soll  der  besten  Arbeit  zuerkannt  werden,  die  einen  Teil  der 
Paläontologie  des  Gebietes  zwischen  Aschaffenburg,  Heppen- 
heim, Alzey,  Kreuznach,  Koblenz,  Ems,  Gießen  und  Büdingen 
behandelt;  nur  wenn  es  der  Zusammenhang  erfordert,  dürfen 
andere  Landesteile  in  die  Arbeit  einbezogen  werden. 

Die  Arbeiten,  deren  Ergebnisse  noch  nicht  anderweitig 
veröffentlicht  sein  dürfen,  sind  bis  zum  I.  Oktober  1915  in 
versiegeltem  Umschlage,  mit  Motto  versehen,  an  die  unter- 
zeichnete Stelle  einzureichen.  Der  Name  des  Verfassers  ist  in 
einem  mit  gleichem  Motto  versehenen  zweiten  Umschlage  bei- 
zufügen. 

Die  Senckenbergisclie  Naturforschende  Gesellschaft  hat 
die  Berechtigung,  diejenige  Arbeit,  der  der  Preis  zuerkannt 
wird,  ohne  weiteres  Entgelt  in  ihren  Schriften  zu  veröfi'ent- 
lichen,  kann  aber  auch  dem  Autor  das  freie  Verfügungsrecht 
überlassen.  Nicht  preisgekrönte  Arbeiten  werden  den  Ver- 
fassern  zurückgesandt. 

Über  die  Zuerteilung  des  Preises  entscheidet  bis  spätestens 
Ende  Februar  1916  die  unterzeichnete  Direktion  auf  Vorschlag 
einer  von  ihr  noch  zu  ernennenden  Prüfungskommission. 
Die  Direktion 

der  Senckenbergischen  Naturforschenden  Gesellschaft. 


Wetter-Monatsübersicht. 

Der  diesjährige  April  wies  zwar  in  seinen  Witterungs- 
verhältnissen nicht  unbedeutende  Schwankungen  auf,  jedoch 
herrschte  heiteres,  mildes  Wetter  in  ganz  Deutschland  bei 
weitem  vor.  Die  Temperaturen  waren  besonders  am  Anfang, 
ferner  zwischen  dem  II.  und  14.,  dann  wieder  um  den  22. 
und  gegen  Ende  des  Monats  für  die  Jahreszeit  sehr  hoch. 
An  diesen  Tagen  überschritten  sie  im  Mittel  vielfach  15  und 
in  den  Nachmittagsstunden  20"  C,  zwischen  dem  21.  und 
23.  sowie  am  29.  April  stieg  das  Thermometer  z.  B.  in 
Frankfurt  a.  M.,  Kleve,  Münster,  Magdeburg,  Bromberg 
und  Lauenburg  i.  P.    bis    auf    25  oder  26°  C.      Allerdings 


352 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  22 


kamen,  namentlich  um  den  S.,  15.  und  26.,  auch  beträchtlich 
kühlere  Zeiten  vor,  die  aber  viel  weniger  als  die  warmen  von 
den  normalen  Verhältnissen  abwichen.  Nachtfröste  waren 
nicht  mehr  gar  zu  häufig  und  traten  fast  überall  nur  gelinde 
auf. 


SlZitmr«  JUmBeraTurcn  einiaer  ©rfe  im  «yippiriSlil. 


I.Apfil 


I     I     I     I     I     I 


BerlincrWetfertureaM. 


Die  mittleren  Temperaturen  des  Monats  waren  in  den 
meisten  Gegenden  um  2  bis  3  Grad  zu  hoch.  Am  geringsten 
war  der  Überschuß  im  äußersten  Nordosten  und  Süden,  wo 
er  nur  etwa  einen  Grad  betrug,  während  er  im  Nordsee- 
gebiete bis  auf  fast  4  Grad  anwuchs.  Ebenso  war  der  Monat 
in  ganz  Deutschland  durch  einen  großen  Reichtum  an  Sonnen- 
schein ausgezeichnet.  Beispielsweise  sind  in  Berlin  insgesamt 
208  Sonnenscheinstunden  vorgekommen,  während  hier  im 
Mittel  der  früheren  .Aprilmonate  nur  166  solcher  Stunden 
verzeichnet  worden  sind.  Namentlich  zwischen  dem  17.  und 
22.  war  der  Himmel  im  größten  Teile  des  Landes  nahezu 
wolkenlos. 

Nur  in  den  ersten  1 1  Tagen  des  Monats  war  das  Wetter 
überwiegend  trübe  und  sehr  regnerisch.  Zwischen  dem  2.  und 
6.  gingen  in  den  meisten  Gegenden  länger  anhaltende,  heftige 
Regengüsse  hernieder,  während  später  kurze,  aber  kräftige 
Regen-  und  Ilagelschauer  häutiger  mit  klarem  Himmel  ab- 
wechselten. Dabei  wuchsen  die  westlichen  Winde  zeitweise 
zu  Stürmen  an  und  kamen  in  Nordwest-,  Süd-  und  Mittel- 
deutschland auch  vielfach  Gewitter  vor.  In  München  wurden 
am  5.  und  S.April  Niederschlagshöhen  von  23  und  22  mm 
gemessen. 

Gerade  zum  Osterfest  stellte  sich  in  ganz  Deutschland 
freundlicheres,  im  allgemeinen  trockenes  Wetter  ein,  das  dann 
bis  zum  Ende    des    Monats    nur    noch    kurze  Unterbrechungen 


erfuhr  und  namentlich  anfangs  zur  Fortführung  der  Frühjahrs- 
bestellung und  für  die  Weiterentwicklung  der  Wintersaaten 
äußerst  willkommen  war.  In  Berlin  sind  z.  B.  vom  11.  bis 
22.  nur  wenige  Regentropfen  gefallen ,  Trockenzeiten  von 
solcher  Länge  kommen  hier  durchschnittlich  nur  in  jedem 
dritten  Aprilmonat  vor.  Die  Niederschlagssumme  des  ganzen 
Monats  war  aber  doch  wegen  der  Nässe  der  vorangegangenen 


en     13  5 


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1.  bis  11.  April. 


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/llonafssumm»  im  April 

1914.13.12.11.10.09 


ßerlintrWetterburtaw 


Zeit  nicht  viel  geringer  als  gewöhnlich.  Für  den  Durchschnitt 
aller  berichtenden  Stationen  belief  sie  sich  nämlich  im  letzten 
April  auf  38,2  mm,  während  im  Mittel  der  früheren  April- 
monate seit  iSgx  von  den  gleichen  Stationen  44,9  mm  Regen 
geliefert  worden  sind. 


Der  Gegensatz  zwischen  der  nassen  und  trockenen  Zeit 
des  Monats  spiegelte  sich  auch  sehr  deutlich  in  den  allge- 
meinen Luftdruckverhältnissen  Europas  wieder.  In  der  ersten 
Hälfte  des  April  wurde  der  Nordwesten  von  verschiedenen 
tiefen  Barometerdepressionen  durchzogen,  die  meistens  zwischen 
Island  und  Schottland  auftraten  und  an  deren  Südseite  sich 
vielfach  Teilminima  ausbildeten.  Hochdruckgebiete  lagen  in 
dieser  Zeit  gewöhnlich  in  Südwesteuropa  und  Nordrußland. 
Seit  dem  9.  .April  rückte  aber  das  südwestliche  Barometer- 
maximum rasch  nach  Osten  vor,  vereinigte  sich  nach  einigen 
Tagen  in  Rußland  mit  dem  dort  schon  befindlichen  Maximum 
und  breitete  bald  darauf  sein  Gebiet  auch  über  Mitteleuropa 
aus.  Von  da  an  gelangten  noch  mehrere  neue  hohe  Maxiraa 
nach  dem  westeuropäischen  Festlande,  wo  sie  immer  ziemlich 
lange  verweilten  und  daher  statt  der  früheren  dampfgesättigten 
westlichen  Luftströmungen  jetzt  im  allgemeinen  trockene,  oft- 
mals östliche  Winde  wehten.  Dr.  E.  Leß. 


ihalt:  Christoph  Schröder:  Eine  Kritik  der  Leistungen  der  „Elberfelder  denkenden  Pferde".  (Schluß.)  —  Einzel- 
berichte: Tischler:  Latentbleiben  der  Rostkrankheit.  Shitkow:  .Neues  Land  im  Norpolbecken.  King:  Licht- 
absorbicrendcs  Medium  im  Räume.  Furuhjelm;  Begleiter  zur  Capella.  Fath;  Nebelflecken.  Hall  wachs,  VVied- 
mann,  Fredenhagen:  Neues  von  der  Lichtelektrizität.  Guyenot,Drinkwater:  Die  Kurzfingerigkeit.  —  Bücher- 
besprechungen: Jean  Perrin:  Die  Atome.  Großmann:  Die  Bestimmungsmethoden  des  Nickels  und  Kobalts  und 
ihre  Trennung  von  anderen  Elementen  Berg:  Geographisches  VVanderbuch.  Becher  und  Dem  oll:  Einführung  iii 
die  mikroskopische  Technik  für  Naturwissenschaftler  und  Mediziner.  Bergius:  Die  Anwendung  hoher  Drucke  bei 
chemischen  Vorgängen  und  eine  Nachbildung  des  F.ntstehungsprozesses  der  Steinkohle.  Dittrich:  Die  Probleme  der 
Sprachpsychologie.  K  ers  c  hens  t  e  i  n  e  r  :  Wesen  und  Wert  des  naturwissenschaftlichen  Unterrichts,  de  Lanessan: 
Transformisme  et  Creationisme ;  contribution  ä  l'histoire  du  transformisme  depuis  l'antiquite  jusqu'ä  nos  jours. 
Kleinere  Mitteilungen:  Weischer  und  Möller:  Postmortale  Veränderungen  beim  Wildbret.  Ebstein:  Ein  Mittel 
gegen  die  Schlaflosigkeit.  —  Nachrichten  aus  der  wissenschaftlichen  Welt.  —  Wetter-Monatsübersicht. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  MiJhe  in  Leipzig,  Marienstraße   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folpe  13.    Kand ; 
der  ganzen   Reihe  29.  Band 


Sonntag,  den   7.  Juni   1914. 


Nummer  23 


Die  ältesten  Dokumente  paläontologischer  Überlieferung. 


[Nachdruck  verholen.]  Von  A. 

Vor  wenigen  Jahrzehnten  noch  war  der  Ausdruck 
Präkambrium  in  der  Hauptsaclie  ein  petrograjjhi- 
scher  Regriff.  Er  war  gleichbedeutend  mit  der  Be- 
zeichnung Archaikum,  die  erst  1876  von  J.  D.  Dana, 
einem  amerikanischen  Geologen  vorgeschlagen 
wurde.  Man  faßte  unter  dem  Begriff  Archaikum  die 
aus  kristallinen  Schiefern,  Graniten  und  anderen 
Eruptivgesteinen  bestehenden  ältesten  Grundge- 
birgskomplexe  zusammmen.  Erst  viel  später  er- 
kannte man,  daß  sich  zwischen  diese  kristallin  ent- 
wickelte archäische  und  die  fossilführende  kamb- 
rische  Formation  Gesteine  einschalten,  die  in  ihrer 
petrographischen  Beschaft'enheit  z.  T.  klastisch 
entwickelt  sind  und  sich  prinzipiell  von  jüngeren 
schichtigen  Gesteinen  nicht  unterscheiden.  Die 
stratigraphische  Selbständigkeit  dieser  Schichten 
ergibt  sich  an  vielen  Stellen  durch  Diskordanzen, 
die  sie  nach  oben  und  unten  begrenzen.  Wo 
solche  Diskordanzen  fehlen,  da  ist  allerdings  ihre 
Abgrenzung  mit  großen  Schwierigkeiten  verbun- 
den. Diese  jüngere  Gruppe  von  Gesteinen  hat 
man  nun  mit  sehr  verschiedenen  Namen  belegt, 
so  z.  B.  als  agnotozoisch,  kryptozoisch,  protero- 
zoisch,  eozoisch  bezeichnet.  Von  der  geologischen 
Landesanstalt  der  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika wurde  der  Name  Algonkium  vorgeschla- 
gen. In  der  europäischen  Geologie  hat  sich  mehr 
und  mehr  die  Bezeichnung  Archäozoikum  ein- 
gebürgert. Was  nun  die  archäozoischen  Schichten  in 
den  Vordergrund  des  Interesses  rückt,  das  ist  die 
Tatsache,  daßsich  in  ihnen  dieältcsten  unanfechtbaren 
Spuren  organischen  Lebens  gefunden  haben.  Es 
ist  das  eine  Tatsache  von  eminenter  Bedeutung 
in  rein  geologischer  wie  phylogenetischer  Hinsicht. 

Die  Gesamtheit  der  präkambrischen  Formationen 
gliedert  sich  also  in  2  Abteilungen,  in  das  ältere 
Archaikum  und  das  jüngere  Archäozoikum. 

Obwohl  nun  im  Archaikum  sedimentogene 
Äquivalente  vorkommen,  galt  es  doch  von  jeher 
als  ein  feststehender  Lehrsatz,  daß  das  Archaikum 
fossilfrei  ist.  Zwar  schien  dieser  Satz  schon  Ende 
der  fünfziger  Jahre  vorigen  Jahrhunderts  erschüttert 
zu  werden,  als  man  zuerst  in  Kanada,  dann  aber 
auch  in  Schottland,  Skandinavien  und  Böhmen  in 
körnigen  Kalken  ästig  verzweigte  Serpentinknollen 
fand,  die  man  als  riesige  Foraminiferen  deutete. 
Sie  erhielten  den  Namen  Eozoon.  Möbius  hat 
aber  überzeugend  dargetan,  daß  es  sich  nur  um 
anorganische  Gebilde  handeln  könne. 

Eine  genaue  Durchforschung  des  Archaikums 
hat  nun  aber  in  der  Tat  ergeben,  daß  da  und 
dort  eine  Umdeutung  archäischer  Gesteine  in  ar- 
chäozoische    nötig    wird,     wenn    anders    man    an 


Wurm. 

der  Fossilfreiheit    archäischer    Gesteine    festhalten 
will. 

So  spricht  der  reiche  Kohlcnstoffgehalt  ge- 
wisser bisher  dem  Archaikum  zugerechneter  Schiefer 
Finnlands  ziemlicli  deutlich  dafür,  daß  organisches 
Leben  schon  damals  existierte.  Nun  ist  ja  wohl 
geltend  gemacht  worden,  daß  der  Kohlenstoff,  der 
hier  gewöhnlich  in  der  Form  des  Graphites  auf- 
tritt, auch  auf  anorganischem  Weg  entstehen 
kann.  Graphit  findet  sich  ja  häufig  z.  B.  in  Cey- 
lon und  in  Kanada  in  pegmatitähnlichen  Gängen. 
Aber  in  diesen  finnländischen  Schiefern  tritt  der 
Kohlenstoff  als  Zement  der  klastischen  Körner 
und  in  naher  Verbindung  mit  den  ursprünglichen 
Gemengteilen  des  Gesteins  auf  und  läßt  sich  eben 
deshalb  nur  als  organischer  Detritus  deuten. 

Sederholm,  der  sich  um  die  Gliederung  und 
die  petrographische  Untersuchung  des  finnländischen 
Archaikums  hochverdient  gemacht  hat,  konnte 
schon  1S9O  in  sog.  bottnischen  Schichten  der 
Umgebung  von  Tammerfors,  also  in  Schichten, 
die  bisher  allgemein  dem  Archaikum  zugerechnet 
wurden  und  durch  eine  große  Diskordanz  von 
dem  darüber  liegenden  Kalevian  getrennt  sind, 
eigenartige,  sackförmige  Gebilde  feststellen,  die  er 
Cor\-cium  cnigmaticum  nannte.  Die  Schichten, 
in  denen  sie  sich  fanden,  sind  deutlich  klastischer 
Natur  und  führen  oft  reichlich  Kohle.  Die  Ge- 
bilde selbst  bestehen  aus  einer  dünnen  Kohlehaut 
und  haben  im  Querschnitt  ungefähr  diese  Form  o  ; 
sie  sind  im  Durchschnitt  2—3  cm,  in  einigen 
Fällen  10 — 15  cm  groß.  Sederholm,  der  die 
archäische  Formation  seit  mehr  als  20  Jahren 
untersucht  hat,  ist  immer  mehr  zu  der  Überzeu- 
gung gekommen,  daß  hier  in  der  Tat  organische 
Gebilde  vorliegen.  Welcher  Natur  sie  aber  sind, 
läßt  sich  schwer  sagen.  Man  könnte  vielleicht 
versucht  sein  an  gewisse  fossile  Algen  zu   denken. 

Alle  diese  Spuren  organischen  Lebens  wurden 
in  Schichten  gefunden,  die  bisher  dem  Archaikum 
zugerechnet  wurden.  Sollte  sich  die  organische 
Natur  dieser  Reste  bestätigen,  so  ergeben  sich,  wie 
schon  oben  kurz  angedeutet,  zwei  Möglichkeiten : 
Das  Fehlen  von  Fossilien  im  Archaikum  darf  ent- 
weder nicht  mehr  als  ein  wesentliches  Kennzeichen 
dieser  Formation  betrachtet  werden,  die  Bezeich- 
nung azoisch  darf  nicht  als  synonym  mit  archäisch 
angewandt  werden.  Diesen  Standpunkt  vertritt 
Sederholm').  Oder  man  ist  gezwungen,  große 
Komplexe,  die  bisher  als  Archaikum  galten,  ins 
Archäozoikum  zu  stellen.    Ich  glaube,  diese  zweite 


S.  541. 


Archaikum,    Handwörterbuch   der  Nalurwissenschaftcn, 


354 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


23 


Lösung  der  ersten  vorziehen  zu  müssen,  und  zwar 
hauptsächHch  aus  praktischen  Gründen.  Die  Ab- 
grenzung des  Archaikum  vom  Archäozoikum  ist 
ohnedies  mit  großen  Schwierigkeiten  verbunden 
und  unterhegt  häufig  subjektiven  Entscheidungen. 
Die  Fossilfreilieit  war  bisher  wenigstens  theoretisch 
das  einzige  durchgreifende  Unterscheidungsmerkmal 
des  Archaikums  und  schon  zu  Werner 's  Zeit 
als  Lehrsatz  ausgegeben.  So  scheint  es  mir  an- 
gebracht, an  diesem  Prinzip  festzuhalten,  schon 
deshalb,  um  niclit  dem  Begrift'  Archaikum,  der  so 
wie  so  nicht  genau  umgrenzt  ist,  eine  noch  un- 
schärfere Fassung  zu  geben. 

Unzweifelhaftes  Archäozoikum  ist  nun  von 
vielen  Punkten  der  hrde  beschrieben  worden. 
Namentlich  in  Nordamerika  erreicht  es  ungeheure 
Ausdehnung.  Nordamerika  weist  fünf  Hauptver- 
breitungsgebiete algonkischer  Gesteine  auf:  den 
Grand  Canon  von  Arizona,  Montana,  Neufund- 
land, das  Gebiet  der  großen  Seen  und  die 
Llanos  von  Texas.  Von  den  vier  ersten 
Stellen  sind  auch  Fossilien  bekannt  geworden. 
Die  großartigsten  .Aufschlüsse  des  Algonkiums 
bietet  der  Grand  Canon  in  Arizona.  Den  Sockel 
dieses  gewaltigen  Profils  bildet  ein  archäisches 
Grundgebirge,  das  von  Fruptivgängen  und  Erup 
tivlagern  förmlich  durchwoben  ist.  Dieses  Grund- 
gebirge wurde  schon  vor  Beginn  der  algon- 
kischen  Periode  gefaltet  und  wieder  abgetragen 
und  auf  der  ziemlich  ebenen  Denudationsfläche 
lagerten  sich  in  einer  Mächtigkeit  von  3800  m 
algonkische  Sedimente  ab.  Eine  weitere  scharfe 
Diskordanz  trennt  diese  von  dem  darüber  liegen- 
den mittelkambrischen  Tontosandstein.  Sehr  be 
merkenswert  ist,  daß  das  Algonkium  nicht  oder 
nur  wenig  gefaltet  ist,  meist  nur  etwas  gekippt 
oder  durch  Verwerfungen  zerstückelt  ist  und  im  all- 
gemeinen nur  ganz  geringe  Metamorphose  aufweist. 
Das  Algonkium  des  Grand  Canon  gliedert  sich  in 
2  Abteilungen,  in  die  untere  Unkarformation  und 
die  darüber  liegende  Chuarformation.  Diese 
Chuarserie  ist  es  nun,  in  der  organische  Reste  ge- 
funden wurden.  Aus  der  oberen  Abteilung  sind 
Gebilde  bekannt  geworden,  die  den  Namen  Cryp- 
tozoon  Dawsoni  erhalten  haben.  Es  sind 
konische,  schwach  gekrümmte  Körper,  die  aus 
einzelnen  Kieselsäurelamellen  aufgebaut  sind.  Sie 
liegen  in  Kalk  eingebettet  und  zeigen  beim  Heraus- 
lösen mit  Salzsäure  netzartiges  Gefüge. 

In  sandig  tonigen  Schichten,  etwa  200  m  unter 
der  Decke  der  Chuarformation,  fanden  sich  kreis- 
förmige diskusartige  Reste,  die  nach  Walcott, 
einem  amerikanischen  Paläontologen,  als  gepreßte 
konische  Schalen  von  Muscheln  aufzufassen  sind 
und  alsChuaria  circularis  bezeichnet  worden 
sind.  Die  Schale  ist  sehr  dünn  und  zart  und  kon- 
zentrisch gerunzelt.  Außerdem  ist  in  eben  diesen 
Schichten  ein  Rest  von  Hyolithes  triangularis, 
einem  Pteropoden  und  eine  Brachiopodenschale, 
entdeckt  worden,  die  dem  Genus  .Acrothele  nahe- 
steht. Eine  schmale  .Spange  könnte  vielleicht  als 
Pleurallobus  eines  Trilobiten  zu  deuten  sein. 


Es  ist  das  Verdienst  VValcott's,  in  den 
nordamerikanischen  Kordilleren  im  Staate  Montana 
eine  Fauna  entdeckt  zu  haben,  die  ein  ganz  neues 
Licht  auf  die  Organisationshöhe  algonkischer  Tier- 
formen geworfen  hat.  Der  F'undort  dieser  F'auna 
liegt  in  den  sog.  Little  Belt-  und  Big  Belt-Moun- 
tains.  Die  Beltserie  ist  ein  rund  40CO  m  mäch- 
tiger Komplex  von  Schiefern,  Kalksteinen  und 
Quarziten.  In  der  unteren  Hälfte  des  ganzen 
Komplexes  liegt  der  sog.  Newiand  Limestone, 
welcher  die  Fossilien  enthält.  Die  Fauna  besteht 
nur  aus  Kriechspuren  und  den  Panzerfragmenten 
von  Arthropoden.  Unter  den  Kriechspuren  sind 
von  Walcott  verschiedene  Typen  als  Helmin- 
thoidichnites  beschrieben  worden.  Sie  dürften  wohl 
von  Würmern  und  Mollusken  herrühren.  Aus- 
güsse der  Röhren  von  grabenden  Würmern,  die 
oft  deutliche  Ringeluiig  zeigen,  hat  Walcott  als 
Planolites  bezeichnet.  Die  eigenartige  Form  all 
dieser  Spuren  und  ihre  Übereinstimmung  mit 
solchen  aus  kambrischcn  Schichten  läßt  wohl  keinen 
Zweifel,  daß  es  sich  um  organische  Gebilde  han- 
delt. Nicht  diese  Kriechspuren  aber  sind  es,  welchen 
die  Greyson  Shales  ihre  Berühmtheit  verdanken, 
sondern  das  Vorkommen  von  hochorganisierten 
Arthropoden.  In  ungeheurer  Menge  finden  sich 
ihre  Bruchstücke  und  lassen  so  ahnen,  welch  reiches 
Leben  in  dieser  altersg'-auen  Zeit  herrschte.  Leider 
sind  sie  nicht  sehr  günstig  erhalten,  stark  defor- 
miert und  plattgedrückt.  Ganze  Panzer  haben  sich 
noch  nicht  gefunden,  immer  nur  Panzerfragmente. 
Nach  allem,  was  wir  bis  jetzt  wissen,  gehören  die 
Reste  zu  den  Merostomata,  jener  auf  die  ältesten 
Zeiten  der  Erdgeschichte  beschränkten  Klasse  der 
Arthropoden.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  mehrere 
Genera  und  Spezies  vertreten  sind.  Jedenfalls  lassen 
sich  zwei  Haupttypen  ausscheiden,  die  einerseits 
durch  viereckiges  Kopfschiid  und  langen  spieß- 
förmigen Telson,  anderseits  durch  breit  abgerun- 
detes Kopfschild  und  schildförmigen  Telson  aus- 
gezeichnet sind.  Auch  Anhänge  des  Rumpfes 
und  des  Kopfschildes  z.  T.  mit  Mundwerkzeugen 
sind  von  Walcott  beschrieben  worden.  Eine 
Pterygotus-ähnliche  F'orm  hat  Walcott  als  Bei - 
tina  Danai  bezeichnet.  Neuerdings  sind  an 
anderer  Stelle  in  Montana  Rumpfschilder  dieser 
Art  gefunden  worden,  welche  noch  die  ursprüng- 
liche Konvexität  und  eine  Oberflächenskulptur  er- 
kennen lassen.  Ja  in  jüngster  Zeit  ist  derselbe 
Fossilhorizont  viel  weiter  nördlich  in  Britisch- 
Kolumbia  nachgewiesen  worden.  Cryptozoon 
Arten,  das  sind  korallenähnliche  Gebilde,  sind  an 
vielen  Punkten  des  Algonkiums  in  Montana  ge- 
funden worden,  besonders  häufig  ist  im  sogenann- 
ten Siyeh-Limestone  Cryptozoon  frequens 
mit  ganz  eigentümlichen  blumenkohlartigen  Wachs- 
tumsformen. 

Die  große  Laurentische  Platte,  die  den  Grund- 
sockel des  ganzen  NO  von  Nordamerika  bildet, 
enthält  namentlich  in  Neufundland  algonkische 
Gesteine.  Es  ist  eine  3800  m  mächtige  Schicht- 
serie, deren  stratigraphische  Gliederung  schon  mit 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


35S 


viel  Erfolg  von  amerikanischen  Geologen  in  An- 
griff genommen  wurde.  Leider  sind  die  Bemüh- 
ungen, organische  Reste  zu  finden,  ziemlich  erfolg- 
los geblieben.  Nur  aus  den  sog.  Momable-Schich- 
ten  ist  von  Billings  ein  Rest  angegeben  worden, 
den  er  As  pideil  a  terranovica  nennt  und  der 
wohl  organischen  Ursprungs  ist.  Es  handelt  sich 
um  ovale  Körper,  die  in  der  Mitte  einen  aufge- 
wulsteten  Ring  besitzen,  von  dem  radiale  Rinnen 
nach  dem  Rande  ziehen.  Vielleicht  könnte  man 
an    eine  Patella -ähnliche  Napfschnecke   denken. 

Weitaus  die  mächtigste  Entwicklung  erreicht 
die  algonkische  Formation  im  Gebiet  der  Großen 
Seen,  namentlich  am  Lake  superior.  Leider  haben 
aber  fast  alle  Fossilreste,  die  aus  diesem  Gebiet  be- 
kannt geworden  sind,  einer  eingehenden  Nachprü- 
fung nicht  Stand  gehalten.  Nur  in  der  Gegend 
des  Steeprock  Lake  in  Ontario  hat  Lawson 
eigentümliche  Gebilde  entdeckt,  deren  organische 
Natur  keinem  Zweifel  unterliegt.  Sie  sind  von 
VValcott  in  2  verschiedenen  Spezies  als  Atiko- 
kania  beschrieben  worden.  Auf  der  verwitterten 
Oberfläche  erscheinen  sie  als  kreisförmige  radial- 
strahlige  Körper.  In  ihrer  Struktur  sind  sie  mit 
den  Spongien  verwandt,  zeigen  aber  auch  vielleicht 
Beziehungen  zu  den  Archäocj-athinen. 

In  der  alten  Welt  gibt  es  nur  ein  Gebiet,  in 
dem  algonkische  Gesteine  größere  Ausdehnung 
erreichen:  Fennoskandia.  Die  viele  Kilometer 
dicke  algonkische  Serie  wird  jetzt  in  3  große  Ab- 
teilungen eingeteilt,  in  das  stark  gefaltete  Kalevian 
und  Jatulian  und  das  ungefaltete  Jotnian.  Hoch- 
interessant ist  das  Vorkommen  eines  2  m 
starken  Kohlenflötzes  im  Jatulian  bei  Schunga  im 
Gouvernement  Olonetz  an  der  russisch  finnlän- 
dischen  Grenze.  Diese  Kohle  ist  ohne  Zweifel 
organischer  Natur.  Erkennbare  organische  Reste 
ließen  sich  in  ihr  allerdings  nicht  nachweisen, 
was  nicht  verwunderlich  ist,  da  sie  anthrazitischer 
Natur  ist.  Dieses  F"lötz  von  Schunga  ist  das 
älteste  bekannte  Kohlenlager  der  Erde.  Es 
beweist,  daß  schon  zu  algonkischer  Zeit  an  ein- 
zelnen Stellen  wenigstens  üppiges  pflanzliches 
Leben  vorhanden  war. 

In  Schweden  sind  nur  kleinere  Denudations- 
reste algonkischer  Gesteine  erhalten  geblieben  so 
am  Wetternsee.  In  der  obersten  Abteilung  der 
sog.  Wisingsöformation  haben  sich  in  weichem 
Schiefer,  stark  plattgedrückte,  kreisrunde  schwarze 
Körperchen  von  i — 2  mm  im  Durchmesser  ge- 
funden, die  zuerst  von  Nathorst  beobachtet  und 
später  von  Wiman  genauer  beschrieben  wurden. 
Die  Substanz  dieser  Gebilde  scheint  aus  Chitin 
zu  bestehen.  Die  Form  war  ursprünglich  wohl 
aufgebläht  und  ist  erst  durch  Zusammendrückung 
zu  einer  Scheibe  geworden.  Über  die  Natur  der 
Körperchen  läßt  sich  wenig  sagen,  Nathorst 
hat  sie  als  kleine  Schalenkrebse  gedeutet. 

Einen  besseren  Einblick  in  die  Organismen- 
weit  der  algonkischen  Zeit  hat  uns  die  Bretagne 
eröffnet.  Hier  sind  es  die  Schiefer  von  St.  L6, 
die  von  Barrois  genau  untersucht  wurden.     Zy- 


lindrische Spuren  in  diesen  Schiefern  scheinen 
auf  WLuniähnliche  Organismen  zu  deuten.  In  dem 
derselben  Gesteinsfolgc  angehörigen  Kalke  von 
St.  Thurial  haben  sich  Crinoidenstiele  gefunden. 
Besonderes  Interesse  verdient  aber  der  Nachweis 
von  Radiolarien,  von  Foraminiferen  und  Spongien, 
die  von  Cayeux  genauer  beschrieben  worden 
sind.  Verblüffend  ist  die  hohe  Dififenenzierung 
dieser  Reste.  Die  Radiolarien  treten  in  einer 
staunenswerten  Formenfülle  auf  und  zwar  sind 
die  beiden  Typen  der  Nasselarien  und  Spumellarien 
vertreten,  unter  den  Kieselschwämmen  haben  sicli 
Lithistiden,  TetraktinclHden  und  Hexaktinelliden 
nachweisen  lassen.  Nun  hat  Rauff  die  Existenz 
dieser  präkambrischen  Organismen  angezweifelt 
und  einige  seiner  Bedenken  mögen,  was  die 
Spongien  betrifft,  Berechtigung  haben.  Andere 
Gelehrte  allerdings,  denen  Schliffe  und  Präparate 
dieser  präkambrischen  Organismen  vorlagen,  haben 
diese  Bedenken  fallen  lassen. 

Wollen  wir  nun  einen  Rückblick  auf  die  Be- 
deutung der  präkambrischen  Fauna  werfen  !  Wenn 
man  sie  in  ihrer  Gesamtheit  betrachtet,  so  kann 
man  sich  nicht  verhehlen,  daß  sie  sich  durch 
recht  bemerkenswerte  Armut  und  Dürftigkeit  aus- 
zeichnet. Man  hat  von  jeher  nach  Ursachen  dafür 
gesucht,  und  es  sind  sehr  viele  mehr  oder  minder 
geistreiche  Theorien  ersonnen  worden.  Daß  die 
Tiere  des  Präkambriums  der  Kalk-  und  Chitin- 
panzer größtenteils  entbehrt  und  deshalb  keine 
Reste  hinterlassen  hätten,  erscheint  wenig  glaub- 
haft, wenn  wir  die  mit  mächtigen  Panzern  aus- 
gestatteten Trilobiten  des  Kambriums  damit  ver- 
gleichen. Eine  andere  Hypothese  fußt  auf  der 
Anschauung,  daß  das  Leben  auf  der  Erde  nicht 
zuerst  im  Meere,  sondern  auf  dem  Lande  haupt- 
sächlich in  den  über  das  Land  zerstreuten  Süß- 
wassertümpeln und  Seen  entstanden  sei.  Vielleicht 
war  die  präkambrische  P'auna  und  Flora  haupt- 
sächlich noch  an  das  Land  gebannt,  vielleicht 
hat  die  Besitzergreifung  des  Meeres  erst  in  spät- 
algonkischer  Zeit  stattgefunden;  dann  würde  sich 
ja  das  Fehlen  und  die  Dürhigkeit  präkambrischer 
Reste  wenigstens  in  den  marinen  Schichten  des 
Algonkiums  auf  diese  Weise  erklären.  Eine  dritte 
Hypothese  geht  von  der  Annahme  aus,  daß  das 
archäozoische  Meer  reicher  an  COg  war  als  das 
heutige.  War  doch  noch  nicht  so  viel  Kohlen- 
säure durch  Kalk  und  Kohle  gebunden  als  heute, 
und  außerdem  wurde  der  Atmosphäre  durch  die 
damalige  lebhafte  vulkanische  Tätigkeit  relativ 
viel  COo  zugeführt.  Vielleicht  war  der  Kohlen- 
säuregehalt der  damaligen  Meere  so  groß,  daß 
sich  alle  kalkschaligen  Organismenreste  auflösen 
mußten. 

Alle  diese  Theorien  erscheinen  aber  bei  ge- 
nauerer Überlegung  doch  recht  unwahrscheinlich; 
man  muß  nach  anderer  Ursache  suchen,  und  man 
geht  wohl  nicht  fehl,  wenn  man  diese  in  der  aus- 
gedehnten Metamorphose  erblickt,  welche  archäo- 
zoische Sedimente  erfahren  haben.  Es  ist  ja 
gewiß    kein    zufälliges  Zusammentreffen,    daß    wir 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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unsere  Kenntnisse  der  arcliäozoischen  Fauna 
hauptsächlich  Nordamerika  verdanken.  Wenn  wir 
die  Wahrscheinlichkeit  archäozoische  Faunen  zu 
finden,  genauer  analysieren,  so  ergibt  sich,  daß 
die  Gebiete  am  vielversprechendsten  sind,  die 
möglichst  wenig  von  Faltungen  betroffen  wurden. 
Sueß,  der  Altmeister  der  Geologie,  hat  die  Ge- 
biete der  Erde  regional  in  verschiedene  tekto- 
nische  Einheiten  eingeteilt.  Unter  allen  diesen 
Gebieten  ist  das  sog.  laurentische  Festland ,  das 
einen  großen  Teil  Nordamerikas  umfaßt,  seit 
kambrischen  Zeiten  von  jeglicher  Faltung  unbe- 
rührt geblieben.  In  Europa  sind  die  Bedingungen 
für  die  Erhaltung  präkambrischcr  Faunen  viel  un- 
günstiger. Hier  entstanden  am  Schluß  der  paläo- 
zoischen Zeit  mächtige  Gebirge,  durch  welche 
die  tiefen  archäozoischen  Gesteine  mit  empor- 
gefaltet und  stark  metamorphisiert  wurden.  Der 
Faltungsprozeß  hat  sie  in  kristalline  Schiefer  um- 
gewandelt und  hier  sucht  man  gewöhnlich  ver- 
gebens nach  Fossilien.  In  Afrika  und  Asien, 
namentlich  in  China  dürften  vielleicht  noch  Gebiete 
liegen,  wo  präkanibrische  Faunen  zutage  kommen 
können. 

Nun  sind  uns,  wie  erwähnt,  in  Nordamerika 
in  ungeheurer  Ausdehnung  archäozoische  Gebiete 
erhalten,  deren  Gesteine  z.  T.  keine  oder  nur  ge- 
ringe Metamorphose  aufzuweisen  haben.  Und  den- 
noch sind  auch  hier  Fossilien  nur  als  große  Selten- 
heit gefunden  worden.  W  a  1  c  o  1 1  führt  diese 
Fossilarmut  auf  den  terrigenen  kontinentalen  Charak- 
ter der  algonkischen  Sedimente  Nordamerikas  zu- 
rück. Walcott  geht  im  Gegensatz  zu  Seder- 
hol m  von  der  Annahme  aus,  daß  das  Leben  sich 
zuerst  im  offenen  Ozean  entwickelt  habe.  Damals 
war  die  Verteilung  von  Land  und  Meer  im  Ge- 
biete von  Nordamerika  so  ziemlich  die  gleiche 
wie  heutzutage.  Deshalb  liegen  die  marinen  Ab- 
lagerungen, in  denen  sich  die  Entwicklung  der 
Lebewesen  zu  algonkischer  Zeit  vollzog,  außerhalb 
des  heutigen  Kontinentes  im  Ozean  begraben  und 
sind  der  Beobachtung  nicht  zugänglich.  Die  algon- 
kischen Gesteine  Nordamerikas  sind  zum  größten 
Teil  kontinentaler  Entstehung,  in  Binnen-  oder 
Süßwasserseen  entstanden.  Die  wenigen  Faunen 
aus  dem  Algonkium,  wie  z.  B.  die  Arthropoden, 
sind  aus  dem  ozeanischen  Meere  eingewandert,  zu 
einer  Zeit,  in  der  diese  Binnengewässer  mit  dem 
Ozean  in  Verbindung  standen.  So  erklärt  sich 
das  plötzliche  Erscheinen  von  Bell  in  a  in  der 
Beltserie. 

So  müssen  wir  uns  eben  mit  dem  Wenigen, 
was  uns  aus  algonkischer  Zeit  erhallen  geblieben 
ist,  begnügen.  Und  in  der  Tat,  dieses  Wenige 
ist  schon  von  außerordentlicher  Bedeutung.  Bis 
jetzt  haben  sich  folgende  Tierklassen  in  algon- 
kischen Gesteinen  nachweisen  lassen:  Protozoen, 
Zölenteraten,  Echinodermen,  Mollusken,  Mollus- 
koideen,  Würmer  und  Arthropoden.  Die  Art  und 
der  Charakter  dieser  Faunen  spricht  ganz  dagegen, 
daß  uns  hier  die  Uranfänge  des  Lebens  vorliegen. 
Darüber    gibt   uns   paläontologische  Überlieferung 


keinen  Aufschluß.  Alle  diese  Faunen  zeigen  be- 
reits eine  staunenswerte  Differenzierung  und  Or- 
ganisationshöhe, die  darauf  hinweisen,  daß  ein 
weiter  Weg  der  Entwicklung  vor  ihnen  liegt.  Ich 
habe  bereits  bei  der  Forrnenfülle  der  Radiolarien 
aus  der  Bretagne  darauf  aufmerksam  gemacht,  ein 
weiteres  Beispiel  bieten  die  Merostomata  von  Mon- 
tana. Die  Arthropoden  nehmen  im  Entwicklungs- 
stamm der  Tierwelt  allein  durch  ihre  Organisation 
eine  sehr  hohe  Stellung  ein.  Darum  muß  es  sehr 
überraschen,  sie  in  so  alten  Ablagerungen  zu  finden. 
Es  hat  den  Anschein,  als  lägen  im  Archäozoikum 
nicht  nur  die  Wurzelstellen  des  Lebens  begraben, 
sondern  auch  lange  Entwicklungsreihen  mit  vielen 
Gabelungstellen,  die  der  Ausgangspunkt  wurden 
für  viele  Tiergruppen,  die  uns  am  Anfang  des 
Kambriums  vollkommen  gesondert  entgegentreten. 
Sicher  waren  fast  alle  wichtigeren  Tierstämme 
schon  zu  archäozoischer  Zeit  geprägt. 

Wir  können  nun  allerdings  über  die  Zeitspanne 
des  Archäozoikums  nur  Vermutungen  anstellen. 
Daß  aber  in  der  Tat  das  Archäozoikum  eine  ge- 
waliige  Periode  umfaßt,  das  geht  aus  der  Strati- 
graphie  archäozoischer  Ablagerungen  zur  Genüge 
hervor.  Betrachten  wir  das  Algonkium  des  Lake 
superior.  Es  erreicht  an  einigen  Stellen  über  14000 
Meter  Mächtigkeit,  die  einzelnen  Abteilungen,  das 
Keweenawan,  das  untere  und  obere  Huron  werden 
durch  Diskordanzen  mit  oft  mächtigen  Grund- 
konglomeraten voneinander  geschieden.  Diese 
Diskordanzen  weisen  auf  zeitliche  Unterbrechungen 
hin,  die  oft  von  so  langer  Dauer  waren,  daß  ältere 
Gesteine  zu  Gebirgen  emporgesattelt,  abgetragen 
und  wieder  überflutet  wurden.  Das  spricht  für 
eine  sehr  bedeutende  Länge  der  archäozoischen 
Zeit  und  hat  mehr  und  mehr  zu  der  Erkenntnis 
geführt,  daß  die  archäozoische  Zeit  nicht  einer 
bestimmten  Formationsgruppe,  wie  etwa  dem  Kar- 
bon oder  Jura  gleichgestellt  werden  darf,  sondern 
daß  sie  einer  Periode  entspricht,  die  vielleicht  der 
Summe  der  paläozoischen,  mesozoischen  und  neo- 
zoischen  Formationen  gleichwertig  ist.  Und  von 
diesem  Gesichtspunkte  betrachtet  erscheint  uns 
die  für  die  Entwicklung  der  algonkischen  Faunen- 
welt   nötige    Zeitdauer   hinreichend   gewährleistet. 

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Einzelberichte. 


Botanik.  Die  Giftwirkung  von  Metall-Ionen 
und  der  Lipoidgehalt  der  Zellmembran.  B.  Han- 
stee n  hatte  schon  vor  einigen  Jahren  die  Ergeb- 
nisse von  Versuchen  über  das  Verhalten  von  Kultur- 
pflanzen zu  den  Bodensalzen  veröffentlicht.  Wie 
andere  Forscher  ')  konnte  er  die  Giftwirkung  der 
K-,  Na-  und  Mg  Ionen  auf  Wurzeln  von  Keimpflanzen 
und  die  meiir  oder  weniger  weitgehende  Aufhebung 
dieses  Einflusses  bei  Anwesenheit  von  zwei  Kat- 
ionen-Arten in  der  Lösung  feststellen.  Ca-Salze 
zeigten  keine  wurzelzerstörenden  Eigenschaften, 
beförderten  im  Gegenteil  die  Ausbildung  der 
Wurzeloberfiäclie  und  hoben  die  schädliche  Wir- 
kung der  andern  Salze  vollständig  auf.  In  den 
giftigen  Lösungen  fallen,  wie  Hansteen  weiter 
ermittelte,  nicht  die  Wurzelspitzen  mit  ihren  be- 
sonders großkernigen  Zellen,  sondern  immer  die 
Streckungszonen  mit  ihren  in  starkem  Flächen- 
wachstum begriffenen  Zellwänden  zuerst  der  Zer- 
störung anheim.  Experimentell  und  durch  direkte 
mikroskopische  Beobachtung  wurde  festgestellt, 
daß  die  Erkrankung  nicht  in  einer  Zerstörung  der 
Kernsubstanz  ihren  Grund  hat  (wie  O.  Loew  und 
seine  Schüler  wollen),  sondern  in  erster  Linie  auf 
Oberflächenwirkungen  beruht;  denn  die  Zell  wände 
lösen  sich  unter  Schleimbildung  allmählich  von 
außen  nach  innen  auf,  worauf  die  Plasmakörper 
zerplatzen  und  eine  schleimige  Masse  entsteht. 
Der  Angriff  ist  immer  streng  lokalisiert;  er  trifft 
nur  Wurzelteile,  die  mit  der  Lösung  in  unmittel- 
barer Berührung  stehen.  Der  in  den  Wurzeln 
selbst  enthaltene  Kalk  hat  keinen  Einfluß  auf  die 
Dämpfung  der  Wirkung. 

Untersuchungen  über  die  Wasserökonomie  von 
Weizen,  Roggen  und  Hafer  bei  Zuführung  der 
verschiedenen  Salze  ergaben,  daß  die  Ca-Ionen  die 


^)  Da  in  der  hier  zu  besprechenden  Abhandlung  Han- 
steen's  diese  Arbeiten  nicht  erwähnt  werden,  so  sei  für  die 
weniger  unterrichteten  Leser  bemerkt,  daß  sich  seit  Loew 
(1892)  eine  ganze  Reihe  von  Pflanzenphysiologen  mit  der  Frage 
der  To.\izität  und  des  Antagonismus  der  Salze  beschäftigt  hat. 
Neue  wertvolle  Versuche  sind  neuerdings  von  M.  M.  McCook 
im  Memoir  2  der  Cornell  University  Agricultural  Experiment 
Station  (August  1913)  veröffentlicht  worden.  Einer  kleinen 
Mitteilung  von  Mlle.  C.  Robert  (Compt. 'rend.  de  l'Acad.  des 
Sciences  1913,  T.  156,  p.  915)  möge  hier  gleichfalls  gedacht 
sein. 


Wasserzufuhr  durch  die  Wurzeln  erschweren  und 
gleichzeitig  die  Transpiration  relativ  stark  befördern, 
während  die  K-Ionen  die  Wasserzufuhr  durch  die 
Wurzeln  befördern,  aber  die  Transpirationsgröße 
relativ  stark  herabsetzen;  die  Na-Ioneii  hemmen 
im  Verhältnis  zu  den  K-Ionen  sowohl  die  Auf- 
nahme wie  die  Abgabe  des  Wassers.  Weim  da- 
gegen im  Nährmedium  K-  und  Ca-Ionen  gemischt 
vorkommen,  so  ist  sowohl  die  Transpiration  wie 
auch  die  Wasseraufnahme  stärker  als  in  einer 
isosmotischen  K-Lösung.  Die  Ergebnisse  dieser 
Versuche  stehen  im  Einklang  mit  der  Erfahrung, 
daß  Pflanzen  auf  kalkreichem  Boden  geneigt  sind, 
xerophytische  Struktur  anzunehmen. 

Die  streng  lokalisierte  Wirkung  der  Ionen 
wurde  auch  durch  Kulturversuche  mit  blauen  Lu- 
pinen, Pferdebohnen,  Kürbis-  und  Maispflänzchen 
erwiesen.  Interessant  ist,  daß  die  Keimwurzeln  der 
Pferdebohne,  deren  Streckungszone  durch  den 
Aufenthalt  in  Magnesiumnitratlösung  so  stark  be- 
schädigt worden  war,  daß  die  gesund  gebliebenen 
Wurzelspitzen  nur  durch  das  zentrale  Gewebe  wie 
durch  einen  feinen  Draht  mit  den  oberen  Wurzel- 
teilen in  Verbindung  standen,  nach  Einbringung 
in  eine  Lösung  von  Kalknitrat  vollständig  heilten. 

Die  Versuche  mit  giftigen  Salzlösungen  sollten 
nun  auch  zu  wichtigen  Aufschlüssen  über  die  Kon- 
stitution der  Zellmembran  führen.  Vtrf.  beobach- 
tete nämlich,  daß  Magnesialösungen,  in  denen  eine 
Schädigung  der  Wurzeln  eintrat,  Trübungen  in 
Gestalt  schwebender  weißer  Wolken  zeigten,  die, 
wie  die  mikroskopische  Prüfung  lehrte,  von  äußerst 
kleinen  Stoffpartikelchen  herrührten,  unter  denen 
sich  nicht  Gewebs-,  Zellwand-  oder  Plasmafrag- 
mente befanden.  Hansteen  fand,  daß  sie  teils 
Pektinsubstanzen,  teils  Lipoidstoffe,  nämlich  Fett- 
säuren und  kleinere  Mengen  von  phytosterinartigen 
Stoffen  enthielten.  Die  ersteren  stammten  zweifel- 
los aus  der  Membran,  die  ja  allgemein,  auch  in 
ganz  jungen  Organen,  Pektinstoffe  enthält.  Lipoid- 
stoffe aber,  worunter  Verf  mit  Ivar  Bangs  durch 
Äther  oder  ähnliche  Lösungsstoffe  extrahierbare 
Zellbestandteile  versteht,  sind  noch  nie  in  den 
Membranen  ganz  junger  Zellen,  sondern  nur  in 
kutinisierten  und  verkorkten  Zellwänden  nachge- 
wiesen worden.    Um  ihr  Auftreten  in  jungen  Mem- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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branen  zu  beweisen,  darf  man  die  Zellwände  nicht 
mit  Hau  de  Javelle  oder  Äther,  Alkohol  und  ver- 
dünnten Alkalien  vom  Zellinhalte  befreien,  da  dabei 
auch  Lipoide  aus  der  Zellwand  entfernt  werden. 
Hansteen  verfuhr  so,  daß  er  das  fein  zerquetschte 
und  in  Wasser  verteilte  Material  (lebende,  beim 
Stoffaustausch  kräftig  tätige  Parenchymgewebe  ver- 
schiedener Pflanzen  und  Pflanzenorgane)  zentrifu- 
gierte,  die  in  der  Zentrifuge  zurückbleibende  Masse 
wieder  im  Mörser  behandelte,  mikroskopisch  unter- 
suchte, mit  viel  Wasser  anrührte,  wiederum  zentri- 
fugierte  und  dieses  Verfahren  so  oft  wiederholte, 
bis  das  abgeschleuderte  Wasser  klar  blieb  und  die 
in  der  Zentrifuge  zurückbleibende  Masse  nur  aus 
ganz  reinen  Zellwandfragmentcn  bestand.  So 
wurden  kleine  Mengen  (bis  87  cg)  einer  schnee- 
weißen Masse  erhalten,  in  der  stets  die  Anwesen- 
heit von  Lipoiden  festgestellt  werden  konnte.  Die 
Gesamtmenge  der  Lipoide  betrug  gewöhnlich  3,06 
bis  5,52,  bei  der  Kartoffelknolle  10.39,  bei  Pfeide- 
bohnenwurzeln  13,21  Prozent  der  trocknen  Wand- 
substanz. Von  diesen  Mengen  waren  2,37  -  I7,78'\n 
verseif  bar  und  nur  0,24 — 1,64"/,,  unverseifbar,  phyto- 
sterinartig.  Der  verseifbare  Anteil  bestand  sowohl 
aus  flüssigen  wie  aus  festen  Fettsäuren  ;  die  Schmelz- 
punkte der  letzteren,  sowie  die  Löslichkeitsverhält- 
nisse  ihrer  Kali-  und  Natronseifen  ließen  darauf 
schließen,  daß  sie  in  der  homologen  Reihe  Glieder 
bilden,  die  höher  als  die  Kaprinsäure  und  niedriger 
als  die  Myristinsäure  stehen. 

Wie  Hansteen  fand,  gehen  Pektinsubstanz 
(aus  Mohrrüben  erhalten)  und  (käuflich  bezogene) 
Laurinsäure  (eine  feste  Fettsäure,  deren  Schmelz- 
punkt den  Schmelzpunkten  der  festen  Fettsäuren 
der  Zelhvand  am  nächsten  liegt)  eine  eigentüm- 
liche Verbindung  ein,  die  aus  kleinen  kristallinischen 
Teilchen  mit  schwacher,  aber  deutlicher  Doppel- 
brechung besieht.  Beim  Zusammendrücken  klebten 
diese  Teilchen  aneinander  und  bildeten  eine  knet- 
bare Masse,  aus  der  Verfasser  Membranen  herstellen 
konnte,  die  mindestens  ebenso  kohärent  waren 
wie  gewöhnliches  Papier  von  derselben  Dicke. 
Dies  Verhalten  weist  auf  die  Bedeutung  ähnlicher 
Verbindungen  in  der  Zellwand  für  deren  Kohä- 
renz hin.  Wahrscheinlich  bilden  die  Salze  der 
Fettsäuren  mit  den  Pektinstoffen  und  auch  mit 
der  Zellulose  Adsorptionsverbindungen.  Die  jugend- 
liche Membran  dürfte  als  ein  H)xlrogelkomplex 
anzusehen  sein,  dessen  feste  Phase  aus  den  hydro- 
philen Kolloiden  Zellulose  -j-  Pektin  -\-  kolloidalen 
Seifen  zusammengesetzt  ist.  Auch  ohne  die  letzleren 
bildet  die  Zellwand  ein  Kolloidsystem,  das  für  den 
Austausch  der  gelösten  Stoffe  nicht  indifferent  ist. 
Verf.  verweist  u.  a.  auf  die  Untersuchungen  von 
Bau  mann  und  Gully  über  Humussäure  (1910), 
wonach  die  Zellhäute  der  Torfmoose  durch  ihren 
kolloidalen  Zustand  in  hervorragendem  Maße  die 
Fähigkeit  besitzen,  Salze  zu  zerlegen  und  die  Basen 
zu  adsorbieren,  eine  Beobachtung,  die  die  Ver- 
mutung nahelegt,  die  höheren  Pflanzen  möchten 
sich  die  Nährstoffe  in  ähnlicher  Weise  aus  dem 
Boden  aneignen.     Daß  die  Wandung  einer  leben- 


den Pflanzenzelle  nicht  einfach  wie  eine  Pergament- 
membran wirkt,  zeigen  noch  folgende  Versuche 
des  Verfassers. 

Er  stellte  sich  eine  Zellmembran  her,  indem 
er  von  der  ganz  reinen  (aus  dem  Blattstielmark 
der  weißen  Rübe  gewonnenen)  Zellwandmasse  eine 
gewisse  Menge  in  Wasser  verteilte  und  die  Flüssig- 
keit unter  stetem  Umrühren  in  ein  Porzellansieb 
goß,  auf  dessen  Boden  Pließpapier  wagerecht  aus- 
gebreitet war.  Die  erhaltene  dünne  Schicht  von 
Membransubstanz  wurde  unter  passendem  Druck 
zwischen  Fließpapier  getrocknet  und  ließ  sich 
nachher  leicht  abheben.  Sie  besaß  mindestens  so 
große  Kohärenz  und  Festigkeit  wie  gewöhnliches 
Papier  von  gleicher  Dicke  (90 — 100 //).  i>  3  cm 
große  Stücke  solcher  Membranen  wurden  in  0,1 
bis  0,2  Mol  starke  Lösungen  von  Salzen,  Säuren 
und  Alkalien  gelegt  und  auf  die  Größe  ihrer 
Wasseraufnahme  und  -Abgabe  Innerhalb  einer  be- 
stimmten Zeit  geprüft.  Nebenher  gingen  ent- 
sprechende Versuche  mit  Stücken  aus  Pergament- 
papier. In  einigen  Phallen  waren  die  aus  Zellwand- 
masse hergestellten  Membranen  durch  Extraktion 
mit  heißem  salzsaurem  Alkohol  von  ihren  Lipoid- 
stoffen  befreit  worden.  Solche  Membranen  waren 
nicht  biegsam,  sondern  sehr  spröde  und  quollen 
in  K-Lösungen  abnorm  stark  auf;  das  weist  nach 
Hansteen  daraufhin,  daß  der  Lipoidgehalt  auch 
für  die  Festigkeit  und  Plastizität  der  jugendlichen 
Zellwand  von  Bedeutung  sein  kann.  Die  mit  den 
lipoidhaltigen  Membranen  ausgeführten  Versuche 
ergaben,  daß  jene  immer  viel  weniger  Wasser  auf- 
nahmen, wenn  sie  von  Ca-Ionen,  als  wenn  sie 
von  K-  oder  Na-Ionen  beeinflußt  wurden,  und  daß 
sie  (in  trockener  Luft)  am  meisten  Wasser  ab- 
gaben, wenn  sie  vorher  mit  Ca  Ionen  in  Be- 
rührung gewesen  waren.  Die  isolierten  Zellmem- 
branen zeigen  also  in  bezug  auf  Wasseraufnahme 
und  Wasserabgabe  unter  dem  Einflüsse  der  ge- 
nannten Ionen  ganz  dasselbe  Verhalten,  das  nach 
den  früheren  Darlegungen  bei  lebenden  ganzen 
Pflanzen  oder  Pflanzenteilen  zu  beobachten  ist,  so 
daß  sich  dieses  auf  die  Eigenschaften  der  Zellmem- 
branen zurückführen  läßt.  Pergamenlmembranen 
treten  nicht  oder  nicht  in  so  ausgesprochener  Weise 
mit  der  Umgebung  in  Reaktion.  .Auch  wich  ihr 
Verhalten  insofern  von  dem  der  Zellmembranen 
ab,  als  diese  gewisse  Mengen  von  Ca  und  K,  die 
nicht  ausgewaschen  werden  konnten,  aus  den  Lö- 
sungen aufnahmen,  was  bei  den  Pergamentmem- 
branen nicht  der  Fall  war. 

Hansteen  bemerkt,  daß  die  geschilderten  Er- 
scheinungen ganz  den  von  Jacques  Loeb  nach- 
gewiesenen Einflüssen  der  genannten  Ionen  aut 
die  Flüssigkeilsresorption  in  Mu.-keln  gleichen,  und 
daß  Loeb  auf  das  analoge  Verhalten  der  Kalk-, 
Kali-  und  Natron-Seifen  gegen  Wasser  hinweist.  Bei 
den  pflanzlichen  Membranen  müssen  auch  Pektin- 
stoffe an  den  Erscheinungen  ursächlich  beteiligt 
sein,  da  diese  auch  bei  den  lipoidfreien  Membranen, 
obschon  nicht  so  ausgeprägt,  zum  Ausdruck  kamen. 
Künstlich  hergestellte  Zellulosemembranen,  die  in 


N.  F.  XIII.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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verschiedener  Weise  mit  l'el<tinverbindungen  und 
mit  festen  kolloidalen  Seifen  imprägniert  waren, 
verhielten  sich  analog  (P  r  i  n  g  s  h  e  i  m '  s  Jahrbücher 
f.  wiss.  Bot.,   1914,  Bd.  5:},  S.  536— 598)- 

F.  Moewes. 

Nachweis  der  Gasvergiftung  bei  Straßen- 
bäumen. In  der  Theaterstraße  in  Hannover 
kränkelten  je  7  zu  beiden  Seiten  des  Fahr- 
dammes einander  gegenüberstehende  Linden, 
wäiirend  die  Bäume  an  den  beiden  Enden  der 
Straße  vollständig  gesund  blieben.  Filscher  Gas- 
geruch war  an  dem  Boden  nicht  wahrzunehmen, 
doch  zeigten  Erdproben  nach  längerem  Verweilen 
im  dichtgeschlossenen  Glasgefäß  einen  scharfen 
Geruch,  der  in  gewisser  Weise  an  Leuchtgas  er- 
innerte. Paul  Ehrenberg,  der  diese  Untersuch- 
ungen ausführte,  stellte  ferner  massenhaftes  Eisen- 
oxydul in  den  Erdproben  fest;  es  mußten  also  im 
Boden  Reduktionsvorgänge  stattgefunden  haben,  ein 
Zeichen,  daß  seine  Beschaffenheit  für  das  Wachstum 
ungünstig  war.  Da  noch  Erdschichten  in  i  m  Tiefe 
diese  Reduktionserscheinungen  aufwiesen,  so  konnte 
die  Erkrankung  nicht  etwa  durch  böswilliges  Auf- 
schütten von  Chemikalien  hervorgerufen  worden 
sein.  Für  Leuchtgasvergiftung  sprach  außerdem 
der  Umstand,  daß  Schwefelverbindungen  im  Boden 
auftraten;  doch  konnten  diese  auch  aus  den  Ka- 
nalisationsleitungen stammen.  Daß  aber  die 
Schädigung  wirklich  durch  Leuchtgas  verursacht 
war,  lehrte  der  von  Ehrenberg  geführte  Nach- 
weis von  Azet}'len  im  Boden.  Dieses  Gas  findet 
sich  im  Leuchtgas  allerdings  nur  in  sehr  geringer 
Menge  (o,o6'\, ),  läßt  sich  aber  durch  seine  rote 
Kupferverbindung  noch  in  minimalen  Dosen  nach- 
weisen (angeblich  bis  zu  0,005  rng)-  Durch 
Übergießen  mit  konzentrierter  Kochsalzlösung 
(worin  sich  Azetylen  sehr  wenig  löst)  und  lang- 
sames Erhitzen  verjagt  man  das  Azetylen  aus 
einer  Erdprobe  und  treibt  es  in  eine  mit  ammo- 
niakalischer  Kupferchlorürlösung  beschickte  Vor- 
lage. (Der  rote  Niederschlag  von  Azetylenkupfer 
explodiert  beim  Erhitzen  und  durch  Schlag.) 
Man  kann  auch  einfach  auf  den  die  Erdprobe  und 
die  Kochsalzlösung  enthaltenden  Kolben  eine 
Kugelröhre  aufsetzen,  in  deren  Kugel  man  mit 
der  Kupferlösung  getränkte  Watte  lose  eingestopft 
hat;  die  rote  Färbung  tritt  dann  hier  auf.  Die 
durch  die  Bodenuntersuchung  ermittelte  Gasver- 
giftung wurde  hinterher  durch  Auffindung  einer 
schadhaften  Stelle  an  der  in  der  Mitte  derStraße  unter 
dem  Fahrdamm  liegenden  Rohrleitung  bestätigt. 
Augenscheinlich  hatte  sich  das  Gas,  da  es  durch  den 
dicht  betonierten  Straßendamm  nicht  nach  oben 
entweichen  konnte,  von  der  Bruchstelle  aus  seit- 
lich bis  zu  den  Wurzeln  der  zunächst  stehenden 
Bäume  ausgebreitet,  um  dann  durch  die  Erd- 
scheiben der  Bäume  und  das  neben  die-en  be- 
findliche Kleinpflaster  nach  außen  zu  gelangen. 
So  werden  die  weitgehenden  Reduktionserschei- 
nungen im  Boden  (durch  die  Wirkung  des  Wasser- 
stoffs   und    des    Kohlenoxyds)    leicht    erklärlich. 


Die  Schädigung  der  Bäume  dürfte  sowohl  auf 
der  Entziehung  des  Sauerstoffs  und  der  Unter- 
drückung des  nützlichen  Bakterienlebens  wie  auf 
der  direkten  Giftwirkung  des  Kohlenoxyds,  des 
Äthylens  und  des  Azetylens  beruhen.  Die  Krank- 
heit äußerte  sich  daran,  daß  die  Blätter  nicht  die 
Giöße  der  normalen  Blätter  erreichten,  sich  nach 
den  Rändern  zu  bräunlich  verfärbten  und  dort 
\ertrockncten.  Die  Aussicht  auf  Heilung  solcher 
Bäume  ist  sehr  gering,  doch  gibt  Ehrenberg 
einige  Fingerzeige  für  Heilmaßnahmen  (Zeiischr. 
f    Pflanzenkrankheiten    1914,    Bd.    '2i,  S.    33 — 40). 

F.  Moewes. 

Physik.  In  einer  Arbeit  über  die  Grundlagen 
der  Atommodelle  in  den  Berichten  der  Deutschen 
Physikalischen  Gesellschaft  XVI  (i9r4)  Seile  281 
führt  F.  A.  Lindemann  folgende  Eigenschaften 
der  Atome  an,  die  durch  die  experimentellen 
Untersuchungen  der  letzten  Jahre  sicher  gestellt 
sind: 

1.  Die  Atome  sind  undurchdringlich,  solange 
sie  von  Elektronen  oder  Atomen  getroffen  werden, 
deren  Geschwindigkeiten  kleiner  sind  als  etwa 
3'iO*bezw.  fvio'"'  cm  pro  Sekunde.  Bei  höheren 
Geschwindigkeiten  können  sowohl  PLlektronen  als 
auch  geladene  Atome  (ß-Strahlen)  die  Atome 
durchsetzen.  Aus  der  Größe  der  Ablenkung  läßt 
sich  ein  unterer  Grenzwert  für  die  Anzahl  La- 
dungen im  Atom  berechnen.  Der  Raum  des 
Atomvolumens  kann  daher  nicht  kontinuierlich 
erfüllt  sein. 

2.  Die  Atome  sind  mit  Ausnahme  derjenigen 
der  radioaktiven  Substanzen  über  außerordentlich 
große  Zeiten  stabil. 

3.  Die  Atome  enthalten  Elektronen,  die  in 
den  Spektrallinien  sehr  wenig  gedämpfte  elek- 
trische Strahlen  aussenden.  Die  Erregung  der 
strahlenden  Elektronen  kann  durch  thermische 
Bewegung,  durch  chemische  Reaktionen,  durch 
Stoß  von  Elektronen  oder  durch  elektrische  Re- 
sonanz erfolgen.  Die  Spektrallinie  eines  Elemen- 
tes lassen  sich  vielfach  nach  empirischen  I'ormeln 
zusammenfassen. 

4.  Auch  im  Gebiet  der  höchsten  F"requenzen, 
im  Röntgenspektrum,  sind  ungedämpfte  Spektral- 
linien vorhanden.  Die  Hauptlinien  der  Elemente, 
deren  Atomgewichte  zwischen  40  und  65  liegen, 
lassen  sich  nach  Moseley  durch  die  Formel 
n  =  konstu-  darstellen,  wo  u  ganze  Zahlen  be- 
deutet, die  von   19  bis  29  steigen. 

5.  Ein  unterer  Grenzwert  für  die  Anzahl  der 
im  Atom  enthaltenden  Elektronen  läßt  sich  aus 
der  Zerstreuung  der  Röntgenstrahlen  in  der  Ma- 
terie berechnen,  so  lange  die  Frequenz  der  be- 
nutzten Röntgenstrahlen  groß  ist  im  Vergleich 
zur  Frequenz  der  Elektronen.  Die  nach  diesem 
Verfahren  bestimmten  Zahlen  sind  in  guter  Über- 
einstimmung mit  den  nach  i  berechneten  Werten. 
Sie  scheinen  nach  Van  den  Broek  einfach  der 
Ordnungszahl  zu  entsprechen,  wenn  die  Elemente 
nach  den  Atomgewichten  geordnet  sind. 


36o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


23 


6.  Die  Erscheinungen  des  selektiven  Photo- 
effektes zeigen  uns  stark  gedämpfte  Elektronen- 
schwingungen, von  denen  wir  heute  noch  nicht 
wissen,  ob  sie  dem  Atom  als  solchem  oder  wie  die 
Reststrahlen  im  Ultraroten  nur  den  Molekülaggre- 
gaten der  festen  und  flüssigen  Körper  angehören. 

Ein  Atommodell  muß  mit  diesen  Erfahrungs- 
tatsachen in  Einklang  gebracht  werden. 

K.  Schutt-Hamburg. 

Meteorologie.  Meteorologisches  von  derOster- 
insel.    Auf  dieser  mitten  im  stillen  Ozean  gelegenen 
Insel  wurden  von  Seiten  des  chilenischen  meteoro- 
logischen Zentralobservatoriums  auf  Anregung  von 
dessen    Direktor,    Dr.  W.  Knoche,    ein    volles 
Jahr    hindurch    (Mai    1911     bis    April    1912)    sehr 
vollständige  meteorologische  und  seismographische 
Beobachtungen    durch    E.  Marti nez    angestellt, 
über  deren  Ergebnisse  in  Nr.  4  der  Publikationen 
des  genannten  Instituts  ausführlich  berichtet  wird. 
Unter  großer  Aufopferung  hat  der  Beobachter  auf  der 
sehr  spärlich  bevölkerten,  stark  vom  .Aussatz  heim- 
gesuchten Insel    in    der    Nähe    des    eii\zigeii,    doit 
befindlichen  Europäerhauses  zu  Mataveri  am  h'uße 
des  Vulkans  Ranakao    die  Stationsbeobachtungen 
durchgeführt  und  noch  ergänzt  durch  Beobachtungen 
an   zwei  Nebenstationen,    von    denen   die    eine  in 
höherer  Lage  (300  m),  die  andere  im  Zentrum  der 
Insel  auf  dem  Vulkan  Manuga  Terevaca  sich  be- 
fand.    Die  Beobachtungen    erstreckten  sich  außer 
auf  Lufttemperatur,  Barometerstand,  P'euchtigkeit, 
Niederschläge,    Wind    und    Bewölkung    auch    auf 
Bodentemperatur,    Sonnenscheindauer    und    Ver- 
dunstung   und    wurden    sowohl    mit    Registrier- 
instrumenten, als  auch  durch  Terminbeobachtung 
gewonnen.    Es  ist  klar,  daß  dadurch  bei  der  außer- 
gewöhnlichen Lage    so    fern    von   jeder    größeren 
Landmasse  ein  sehr  wertvolles  Material  gesammelt 
wurde.     Das  Klima   ist  natürlich  ein  sehr  gleich- 
mäl3iges  und  es  zeigen  z.  B.  die  Barometerangaben 
fast  das  ganze  Jahr  hindurch  eine  sehr  niedrige  regel- 
mäßige täglicheDoppelwclle  von  I '  jmm  Amplitude, 
deren  Maxima  auf  9''a  und  9''p  fallen.     Gleichwohl 
hatte      die     jährliche,      ziemlich      unregelmäßige 
Schwankung    eine    Amplitude    von    19  mm.      Da 
gelegentliche    Depressionen     später     nach    Osten 
wandern,  würde  eine  bleibende  Station  auf  dieser 
Insel  für  die  Wetterprognose  der  südamerikanischen 
Westküste    von  Wert   sein.      Gewitter    kamen  im 
Beobachtungsjahr    nur    zweimal    zum    Ausbruch. 
Die  Sonnenscheindauer    ist    ungefähr    ebensogroß 
wie  in  Rom  (54  "i,  der  möglichen  Dauer),  obgleich 
die  Bewölkungszahl  (6,6  gegen  4,1)  und  die  Zahl 
der   Tage    mit    Niederschlag   (209   gegen  97)    auf 
der  Osterinsel  weit  höher  liegt  als  in  Rom.     Die 
Temperatur  schwankte  zwischen    31,0"  und   10,6" 
und  betrug  im  Mittel  20,4",  gut  übereinstimmend 
mit  den  Isothermen  des  Be  rgh  aus'schen  Atlas. 
Die  tägliche  Schwankung  differierte  zwischen  2,2" 
und    13".     Bezüglich  weiterer  Angaben  verweisen 
wir  auf  die  Publikation  selbst.     Diese  enthält  noch 
Aufsätze    über    die    Flora    (von    Fuentes),    die 


Geomorphologie  (von  K  n  o  c  h  e),  die  Gesteine  (von 
Felsch)  und  namentlich  über  die  Seismizität  der 
Insel  (von  Monstessus  de  Ballore).  Dieser 
letztere  Aufsatz  stützt  sich  auf  Beobachtungen  einer 
Komponente  eines  Pendels,  die  gleichfalls  von 
Marti  nez  ausgeführt  wurden  und  65  mal  seismische 
Bewegungen  anzeigten,  ohne  daß  ein  fühlbarer 
Erdstoß  vorgekommen  wäre.  Die  drei  geologisch 
jungen  Vulkane  sind  völlig  erloschen  und  ruhen 
auf  einem  sehr  ausgedehnten  und  sehr  tiefen  sub- 
marinen Sockel.  Montessus  meint,  daß  diese 
unterseeische  Hochebene  nur  peneseismisch  ist  und 
schließt  daraus  auf  ein  hohes  geologisches  Alter 
der  Tiefen  dieses  Teiles  des  Pazifik.      F.  Kbr. 

Zoologie.  „Dauermodifikationen"  bei  Mikro- 
organismen. In  den  letzten  Jahren  sind  „Muta- 
tionen" bei  Bakterien,  Trypanosomen  und  anderen 
Mikroorganismen  speziell  von  medizinischer  Seite 
in  großer  Zahl  beschrieben  worden.  Wenn  z.  B. 
Bakterien  oder  Trypanosomen  allmählich  an  ver- 
schiedene Gifte  gewöhnt  werden  konnten,  und 
wenn  dann  weiter  festgestellt  wurde,  daß  die 
einmal  erworbene  Giftfestigkeit  jahrelang  fortbe- 
stand, so  wurde  vielfach  hieraus  der  Schluß  ge- 
zogen, daß  eine  Veränderung  der  Erbeigenschaften 
in  dem  betreffenden  Bakterien-  bzw.Trypanosomen- 
stamm  vor  sich  gegangen  sei.  Sind  aber  in  der 
Tat  in  allen  diesen  Phallen  am  Erbfaktorenkomplex 
bleibende  Veränderungen  erfolgt,  ist  also  hier 
wirklich  das  eingetreten,  was  wir  bei  den  Meta- 
zocn  als  „Mutationen"  zu  bezeichnen  pflegen? 
Diese  F"rage  behandelt  Jollos^)  und  kommt  zu 
dem  Resultat,  daß  die  zahlreichen  Bakterien, 
Trypanosomenmutationen  usw.  prinzipiell  ver- 
schiedensind von  den  durch  Vererbungsexperimente 
mit  höheren  Tieren  bekannt  gewordenen  Muta- 
tionen. P>  sieht  in  den  sog.  Bakterienmutationen 
„Dauermodifikationen",  ein  Begriff,  zu  dessen  Auf- 
stellung ihn  eigene  Experimente  mit  Infusorien 
geführt  haben.  -) 

Jollos  züchtete  Stämme  von  Paramäcium  bei 
verschiedenen  Temperaturen  sowie  unter  Zusatz 
von  arseniger  Säure  zu  dem  Kulturwasser.  Wurden 
die  Paramäcien  einer  wilden  Kultur  entnommen, 
handelte  es  sich  also  um  eine  Population ,  so 
konnten  zunächst  mehrere  Rassen  isoliert  werden, 
die  höhere  Temperaturen  sowie  die  arsenige 
Säure  verschieden  gut  vertrugen.  Während  z.  B. 
bei  den  einen  0,3  "  „  der  verwandten  Lösung  ge- 
rade tödlich  war,  gingen  andere  erst  bei  1,5  "/„ 
zugrunde.  An  den  Individuallinien  konnte  Jollos 
unter  der  Einwirkung  von  arseniger  Säure  Ver- 
änderungen verschiedener  Art  feststellen.  Bei 
einer  bestimmten  Giftkonzentration  vermag  eine 
bestimmte  Individuallinie  eben  noch  zu  existieren. 
Bei  ganz  allmählicher  Steigerung  der  Giftkonzen- 


')  Jollos,  V.,  Variabilität  und  Vererbung  bei  Mil;ro- 
organismen.  Zeitschr.  f.  indukt.  Absl.  und  Vererbungslehre. 
12.  Bd.,   1914. 

2)  Jollos,  V.,  Experimentelle  Untersuchungen  an  In- 
fusorien.    Biol.  Centralbl.,  33  Bd.,   1913. 


N.  F.  XIII.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


361 


tration  kann  dieses  Maximum  ohne  Schaden  für 
die  Rasse  noch  überschritten  werden ,  bei  der 
einen  Rasse  nur  ganz  wenig,  bei  anderen  aber 
doch  reciit  beträclitlich,  so  daß  schHcßhch  eine 
Konzentration  erreicht  wird,  die,  wenn  sie  sofort 
angewandt  würde,  den  Tod  der  Rasse  zur  Folge 
hätte.  Bringt  man  die  Rassen  nunmehr  zurück 
in  das  giftfreie  Medium  und  prüft  nach  einiger 
Zeit  wieder  ihre  Giftfestigkeit,  so  findet  man,  daß 
diese  vollständig  verloren  gegangen  ist.  Wird 
das  für  die  Rasse  bekannte  Maximum  der  Gift- 
konzentration auch  nur  um  ein  Geringes  über- 
schritlen,  so  geht  sie  zugrunde.  Die  Veränderung, 
die  an  der  Rasse  erzielt  worden  war,  ist  also 
nicht  erblich  gewesen,  sie  verschwindet  sehr  bald 
wieder.  Solche  Veränderungen  bezeichnen  wir 
als  Modifikationen.  Neben  diesen  Modi- 
fikationen konnte  JoUos  aber  noch  Verände- 
rungen beobachten,  die  ohne  eine  genaue  Prüfung 
wohl  als  Mutationen  bezeichnet  worden  wären. 
Bei  lange  andauernder,  in  der  Konzentration  häufig 
wechselnder  Einwirkung  konnte  nämlich  in  ver- 
schiedenen Fällen  eine  ,, Giftfestigung"  erzielt  wer- 
den. Linien,  die  anfangs  bei  einer  Konzentration 
von  0,8  "/(i  cler  Lösung  arseniger  Säure  abstarben, 
konnten  sciiließlich  noch  bis  5  "/„  ohne  Schädigung 
vertragen.  Abgesehen  davon,  daß  hier  die  Kon- 
zentration beträchtlich  höher  ist,  ist  der  wesent- 
lichste L^nterschied  zu  den  Modifikationen  der, 
daß  in  diesen  Fällen  die  Widerstandsfähigkeit 
gegen  das  Gift  nicht  verloren  geht,  wenn  die 
Linie  einige  Zeit  im  giftfreien  Medium  gehalten 
wird.  Ein  gefestigter  Stamm,  der  nach  sieben 
Monaten  arsenfreier  Kultur  plötzlich  wieder  in 
eine  Konzentration  von  5  "/g  gebracht  wurde,  über- 
stand dies,  während  die  Ausgangslinie  bereits  bei 
1,1  "/o  abgetötet  wurde.  Hier  lag  also  die  Ver- 
mutung nahe,  daß  in  der  Tat  eine  erbliche  Ver- 
änderung der  Rasse  vor  sich  gegangen  sei.  Aber 
dem  war  nicht  so :  Das  Verhalten  des  gefestigten 
Stammes  änderte  sich  vom  achten  Monat  ab,  die 
Giftfestigkeit  ging  allmählich  zurück,  bis  schließ- 
lich nach  ungefähr  zehn  Monaten  der  Stamm  sich 
von  der  Ausgangslinie  nicht  mehr  unterschied. 
Es  war  also  die  Veränderung  ebensowenig  erb- 
lich wie  bei  den  Modifikationen,  nur  hielt  sie  be- 
trächtlich länger  an,  weshalb  auch  lollos  solche 
Veränderungen  als  Dauermodifikationen 
bezeichnet.  Daß  solche  Veränderungen  den  Erb- 
faktorenkomplex unberührt  lassen,  wird  am 
schlagendsten  bewiesen  durch  das  Verhalten  der 
betreffenden  Rassen  nach  der  Konjugation ,  d.  h. 
mit  anderen  Worten  nach  der  Befruchtung.  Die 
Befruchtung  vernichtet  die  Giftfestigkeit  der  Tiere 
mit  einem  Schlage. 

Daß  neben  diesen  Modifikationen  und  Dauer- 
modifikationen bei  den  Protisten  auch  echte  Mu- 
tationen vorkommen,  bestreitet  natürlich  Jollos 
nicht,  aber  diese  sind  außerordentlich  selten,  wer- 
den zum  wenigsten  äußerst  selten  beobachtet. 
Jollos  selbst  konnte  bei  Paramäcium  eine  echte 
Mutation  feststellen.    In  einer  Individuallinie,  die 


bereits  seit  längerer  Zeit  bei  31  "  C  gehalten 
wurde,  traten  plötzlich  Tiere  auf,  die  erheblich 
kleiner  waren  als  die  übrigen.  Bei  isolierter  Zucht 
stellte  sich  dieses  Merkmal  als  konstant  heraus, 
und  außerdem  unterschied  sich  die  neue  Rasse 
noch  dadurch  von  der  alten,  daß  sie  ohne  Schä- 
digung bei  39"  konnte  kultiviert  werden,  eine 
Tem^ieratur,  bei  der  keine  andere  Paramäcienrasse 
zu  existieren  vermochte.  Wie  bei  vegetativer 
Vermehrung  so  erwies  sich  die  neue  Rasse  auch 
bei  der  Konjugation  im  Gegensatz  zu  den  Dauer- 
modifikationen als  konstant. 

Bei  den  Bakterien  sowie  bei  den  Trypano- 
somen, bei  denen  Befruchtungsvorgänge  sehr  selten 
sind  oder  vielleicht  überhauiH  fehlen,  ist  es  natür- 
lich außerordentlich  schwierig,  von  einer  im  Ex- 
periment erzielten  Veränderung  nachzuweisen,  ob 
es  sich  um  eine  Dauermodifikation  oder  eine 
Mutation  handelt.  Ist  es  nun  aber  schon  von 
vornherein  unwahrscheinlich,  daß  hier  so  massen- 
haft Mutationen  vorkommen,  während  sie  sonst 
so  außerordentlich  selten  sind,  so  überzeugt  uns 
Jollos  durch  die  Sichtung  der  vorliegenden  Be- 
obachtungen vollkommen,  daß  es  sich  bei  den 
meisten  sog. ,, Mutationen"  um  Dauermodifikationen 
handelt.  Und  wir  können  ihm  vollkommen  zu- 
stimmen, wenn  er  sagt;  „Handelte  es  sich  bei 
den  Veränderungen  wirklich  um  eine  Beeinflussung 
der  Erbanlagen  und  nicht  nur  um  Dauermodifi- 
kationen, wie  schnell  hätte  dann  der  stolze  Bau 
der  bakteriologischen  Diagnostik  in  sich  zusammen- 
sinken müssen !  Denn  wie  wäre  besonders  bei 
unseren,  rein  biologisch  betrachtet,  recht  unvoll- 
kommenen Kenntnissen  und  Hilfsmitteln  eine 
sichere  Identifizierung  möglich,  wenn  so  leicht 
und  schnell  immer  neue,  erblich  verschiedene 
Formen  entständen  ?"  Nachtsheim. 

Anzahl  der  Spermatozoen  beim  Coitus  der 
Hunde.  Mittels  einer  besonderen  Apparatur 
hat  Amantea  (Atti  della  Reale  Accademia 
dei  Lincei.  Bd.  XXIII,  S.  457.  1914.)  Hunde 
einen  künstlichen  Coitus  ausführen  lassen  und  die 
Dauer  des  Aktes,  die  Menge  des  Sekretes  sowie 
die  Zahl  der  Spermatozoen  gemessen.  Er  findet, 
daß  die  Dauer  individuell  verschieden,  aber  für 
das  einzelne  Tier  annähernd  konstant  ist  (ent- 
sprechende Pausen  vorausgesetzt).  Sie  schwankt 
etwa  zwischen  7  und  15  Minuten.  Die  Menge 
des  Sekretes  bewegt  sich  zwischen  1,7  und  19,1  ccm, 
die  Zahl  der  in  ihm  enthaltenen  Spermatozoen 
zwischen  38740000  und  679960000.  Die  letztere 
steht  weder  mit  der  Menge  der  Spermaflüssig- 
keit, noch  mit  der  Dauer  des  Aktes  noch  mit  der 
Größe  des  Hundes  in  Beziehung;  auch  war  ein 
ganz  deutliches  Verhältnis  von  Sekretmenge  und 
Größe  der  Tiere  nicht  festzustellen.  Erwähnens- 
wert ist  noch,  daß  die  Ejakulation  während  der 
ganzen  Dauer  des  Coitus  anhält,  daß  aber  die 
Menge  der  Spermatozoen  im  Anfang  am  größten 
ist,  dann  abnimmt  und  in  einem  letzten  Stadium 
gleich  Null  wird,  und  daß  die  Zahl  der  Spermata- 


362 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  23 


zoen  beim  ersten  Versuch  nach  langer  Entlialt- 
samkeitsdauer  geringer  als  bei  dem  zweiten  ihm 
einige  Tage  später  folgenden  befunden  wurde. 

Miehe. 

Physiologie.  Das  Auge  von  Periophthalmus, 
Boleophthalmus  und  Änableps  hat  einen  sehr  merk- 
würdigen Bau,  entsprechend  der  eigentümlichen 
Lebensweise  der  genannten  Fische.  Diese  leben 
an  den  Küsten  der  tropischen  Meere,  vom  Roten 
Meere  bis  Japan  entlang  der  Südküste  des  asiati- 
schen Kontinents,  am  Strande  der  Inseln  des 
indoaustralischen  Archipels  und  des  westlichen 
Stillen  Ozeans,  Änableps  in  Südamerika  und  Perioph- 
thalmus koelreuteri  Fall,  an  der  Westküste  Afrikas. 
Sie  halten  sich  in  der  Nähe  des  Strandes  auf,  der 
zur  Ebbezeit  trocken  liegt,  um  dann  auf  demselben 
ihre  Beute  zu  jagen.  Dabei  können  sie  stunden- 
lang außerhalb  des  Wassers  leben  und,  indem  sie 
sich  auf  Schwanz  und  Messen  stützen,  überraschend 
schnell  laufen.  Ihre  Augen  sind,  abweichend  von 
denen  der  anderen  Fische,  an  das  Sehen  in  der 
Luft  angepaßt.  Sie  stehen,  dicht  nebeneinander, 
weit  über  die  Oberfläche  des  Kopfes  hervor;  durch 
besondere  Muskeln  können  sie  zurückgezogen 
werden.  Die  Hornhaut  ist  sehr  stark  gewölbt, 
auf  dem  Schnitt  fast  halbkreisförmig.  Die  Linse 
ist  kugelig.  Die  Brechkraft  des  Auges  ist  infolge- 
dessen zu  groß  zum  deutlichen  Sehen  in  die  Ferne, 
wie  es  in  der  Luft  notwendig  ist.  Durch  einen 
besonderen  Akkommodationsmuskel  aber  kann  die 
Linse  und  mit  ihr  das  Bild  fast  bis  an  die  Netz- 
haut herangebracht  werden. 

Nach  V  o  1  z  ')  bildet  die  Endsehne  dieses  „Skleral- 
muskels"  vor  der  Linse  eine  durchsichtige  Mem- 
bran. Zwischen  ihr  und  der  Hornhaut  bleibt  ein 
großer  Raum,  welcher  der  Linse  eine  ausreichende 
Bewegung  gestattet. 

Nach  L.  Baumeister  (Die  Augen  der 
Schlammspringer    [Periophthalmus    und    Boleoph- 


')  Der  junge  Berner  Zoologe  fand  am  18.  April  igo8 
einen  vorzeitigen  Tod  .luf  einer  Forschungsreise  durch  das 
Hinterland  von  Liberia. 


thalmusj.  Bemerkungen  zu  dem  von  W.  Volz 
verfaßten  usw.,  Zool.  Jahrb.,  Bd.  35,  Anat.,  1913) 
aber  ist  jene  Membran  nur  die  hintere  Lamelle 
der  gespaltenen  Hornhaut,  und  der  Raum  zwischen 
ihr  und  der  vorderen  Lamelle  ein  Lymphraum. 
Die  Retraktoren  von  V.  seien  nur  welliges  Binde- 
gewebe. 

Die  Ansicht  von  B.  bestätigt  W.  Harms  (Über 
die  Augen  der  am  Grunde  der  Gewässer  lebenden 
Fische,  Zool.  Anz.,  Bd.  XLIV,  Nr.  i,  31.  März  1914). 
Er  untersuchte  gelegentlich  eines  Aufenthalts  auf 
der  Insel  Lanzarote  im  Herbst  19 13  die  Augen 
verschiedener  Lepadogasterarten  (zu  den  Gobieso- 
eiden gehörig).  Er  vergleicht  ihre  Hornhaut  mit 
der  „Brille"  der  Schlangen.  Dieselbe  Einrichtung 
fand  er  bei  den  verschiedensten  Gobiiden  der 
Ebbezone,  bei  Anguilla  canariensis  und  einer  dem 
Periophthalmus  verwandten  Art.  Spätere  Unter- 
suchungen an  Cottus  gobio  (Cottidae)  sowie  Cobi- 
tis  fossilis  und  barbatula  (Cyprinidae)  zeigten  hier 
ähnliche  Einrichtungen;  ziemlich  sicher  fand  sich 
dasselbe  bei  Scorpaciia  und  Antennarius.  Mit  V. 
und  B.  hält  er  den  Hohlraum  vor  dem  Auge  der 
erstgenannten  Fische  für  eine  Einrichtung  zum 
Schutz  gegen  das  Trockenwerden  der  Hornhaut 
beim  stundenlangen  Aufenthalt  in  der  Luft,  sein 
Vorkommen  bei  den  anderen  am  Grunde  der  Ge- 
wässer lebenden  Fischen  dient  zum  besonderen 
Schutz  für  das  Auge  durch  den  elastischen  Kon- 
junktivalsack  bei  sehr  schneller  Fortbewegung, 
z.  B.  auf  der  Flucht. 

Nach  einem  kleinen  seitlichen  Einschnitt  in 
die  „Brille"  konnte  H.  leicht  die  Linse  oder  das 
Auge  oder  beide  zugleich  entfernen.  Die  Wunde 
heilte  innerhalb  weniger  Tage  zu.  Schon  nach 
10  —  14  Tagen  war  die  ganze  ,, Brille"  mit  Pigment 
durchsetzt,  das  von  der  umgebenden  Haut  in  sie 
eingewandert  war.  Durch  diesen  merkwürdigen 
Vorgang  verliert  die  „Brille"  natürlich  ihre  Durch- 
sichtigkeit. Bei  einseitiger  Operation  blieb  diese 
Störung  am  anderen  Auge  aus.  Die  Pigment- 
einwanderung ist  offenbar  eine  Folge  der  Auf- 
hebung der  Funktion  des  Auges. 

Kathariner. 


Bücherbesprechungen. 

Prof    H.    R.    Procter,       Taschenbuch      für 

Gerbereichemiker      und      Leder  fabri- 

kanten.      Kurze    Anleitung     zu     analytischen 

Arbeiten ,    verfaßt  unter    Mitwirkung   von    Prof. 

Dr.  Edmund  Stiasny  und  HaroldBrum- 

well.   Aus  dem  Englischen  übersetzt  und  unter 

Mitwirkung   der  Verfasser    bearbeitet   von  Ing.- 

Chem.  Josef  Jettmar.     VIII  und  248  Seiten. 

Dresden  und  Leipzig  1914,  Verlag  von  Theodor 

Steinkopff.  —  Preis  5  Mk. 

Das    in    Fachkreisen    bekannte  Handbuch    der 

Lederindustrie    von    Procter   (Leather  Industries 

Laboratory  Book),   das   auch    in    einer  deutschen 

Bearbeitung  ^von    Dr.   Joh,    Paß  1er)    erschienen 


ist,  hat  sich  für  den  Gebrauch  der  Studierenden 
an  technischen  Schulen  und  für  die  praktische  Ver- 
wendung in  Gerbereien  als  etwas  zu  umfangreich 
erwiesen.  Da  es  ferner  in  manchen  Punkten  die 
letzten  Forscliungsergebnisse  nicht  mehr  berück- 
sichtigt, darf  die  Herausgabe  eines  kurzgefaßten 
und  die  neuesten  Methoden  enthaltenden  ,, Taschen- 
buchs" als  eine  willkommene  Ergänzung  des 
größeren  Handbuchs  begrüßt  werden.  Aus  dem 
Inhalt  des  Büchleins,  das  sich  durch  handliches 
Format  und  soliden  Einband  auszeichnet,  seien 
u.  a.  folgende  Abschnitte  erwähnt :  Äschern,  Ent- 
kalken und  Beizen;  die  qualitative  und  quanti- 
tative L'ntersuchung  der  Gerbstoffe;  die  Analyse 
des  Formaldehyds,  des  Kochsalzes,  der  Seifen  usw.; 
Öle    und    Fette;    Nachweis   und    Bestimmung   des 


N.  F.  Xm.  Nr. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


363 


Traubenzuckers;  Analyse  des  Leders;  Bakteriologie 
und  Mykologie  in  der  Gerberei  und  Lederfabrikation. 
Ein  zuverlässiges  Namen-  und  Sachregister  erhöht 
die  Brauchbarkeit  des  empfehlenswerten  Buches. 
Bugge. 

R.  Brückmann,  Palm  nicken.  (Beobachtung 
über  Strandverschiebungen  an  der  Küste  des 
Samlands.  IIL)  Im  Auftrage  der  Zentral- 
kommission für  wissenschaftliche  Landeskunde 
von  Deutschland.  Seite  117 — 144.  Mit  9  Tafeln, 
13  Kartenskizzen  und  2  Textbildern.  Leipzig 
1913,  B.  G.  Teubner. 

Der  vorliegende  Abschnitt  ist  ein  Teil  des 
umfassenden  Werkes,  das  sich  im  allgemeinen 
mehr  mit  Uferabbrüchen  und  Versetzung  des  ab- 
gebrochenen Materials  beschäftigt  als  mit  wahren 
„Strandverschiebungen",  worunter  doch  eine  Land- 
einwärts- oder  Seewärts- Verschiebung  der  Strand- 
linie zu  verstehen  ist.  Brückmann  stellt  für 
die  Gemarkung  Sorgenau,  die,  wie  alle  von  ihm 
behandelten,  an  der  Westküste  des  Samlandes 
liegt,  einen  Abbruch  von  o,il  ha,  für  die  Ge- 
markung Palmnicken  4,96  ha,  für  die  Gemarkung 
Kraxtepelle  4,59  ha  in  einem  Zeitraum  von 
68  Jahren  fest,  was  einen  durchschnittlichen  Ab- 
bruch von  0,5  m  Breite  für  das  Jahr  ergibt.  Der 
bergmännische  Abbau  des  Bernsteins  hat  in  diesen 
Gebieten  die  Uferzerstörung  wesentlich  befördert. 
Die  Erörterung  über  Strömungen  in  der  Ostsee, 
die  der  Verf  anstellt,  um  den  Verbleib  des  Materials 
zu  untersuchen,  ist  sehr  wenig  tiefgehend.  Denn 
die  Tatsache  der  Verfrachtung  nach  Nordosten 
hin  hätte  ihn  schon  ein  Blick  auf  eine  Übersichts- 
karte lehren  können,  setzen  doch  alle  Nehrungen 
im  Westen  an.  Glänzend  ist  die  Ausstattung  mit 
Karten  und  Abbildungen.  W.  Behrmann. 


Die  Süßwasserflora  Deutschlands,  Österreichs 
und  der  Schweiz.  Bearbeitet  von  zahlreichen 
Fachgelehrten  und  herausgegeben  von  Prof.  Dr. 
A.  Pascher  (Prag).  Jena  1913 — 191 4,  Gustav 
Fischer. 

Heft  I :  Flagellatae  L  Allgemeiner  Teil  von 
A.Pascher;  Pantostamatinae,  Protomastiginae, 
Distomatinae  von  E.  L  e  m  m  e  r  m  a  n  n  (Bremen). 
Mit  252  Textabbild.     Geb.  4  Mk. 

Heft  2 :  Flagellatae  IL  Chrysomonadinae, 
Cryptomonadinae,  Eugleninae,  Chloromonadinae 
und  gefärbte  Flagellaten  unsicherer  Stellung  von 
A.  Pascher  und  E.  Lemmermann.  Mit 
398  Textabbild.     Geb.  5,50  Mk. 

Heft  3 :  Dinoflagellatae  (Peridineae)  von  A.  J. 
Schilling  (Darmstadt).  Mit  69  Textabbild. 
Geb.  2,30  Mk. 

Heft  6:  Ulotrichales,  Mikrosporales,  Oedogo- 
niales.  (Chlorophyceae  III)  von  W.  Heering. 
Mit  38s   Abbild,  im  Text.     6,60  Mk. 

Heft  9:  Zygnemales  von  O.  Borge  (Stock- 
holm) und  A.  Pascher.  Mit  89  Textabbild. 
Geb.  2  Mk. 


Heft  10:  Bacillariales  (Diatomeae)  von  H. 
V.  Schön feldt  (Eisenach).  Mit 379 Textabbild. 
Geb.  4,50  Mk. 

Heft  14:  Bryophyta  (Sphagnales,  Bryales, 
Hepaticae)  von  C.  Warnstorf  (Friedenau), 
W.  Mönkemey  er  (Leipzig)  und  V.  Schiffner 
(Wien).  Mit  500  Textabbild.  Geb.  6,20  Mk. 
Die  Flora  des  Wassers  in  ihrer  biologischen 
Geschlossenheit,  ihrer  besonders  bei  den  mikro- 
skopischen Vertretern  reichen  Formenmannigfaltig- 
keit und  in  ihrer  Fülle  von  besonders  auffallenden 
Anpassungserscheinungen  in  einer  Serie  von  Be- 
stimmungsbüchern zu  behandeln,  ist  ein  glück- 
licher Gedanke.  Insbesondere  ist  es  für  die  Klein- 
welt des  Wassers  äußerst  wünschenswert,  einen 
zuverlässigen  literarischen  Ratgeber  zu  besitzen, 
der  die  meist  nur  mit  schwer  zugänglichen  Hilfs- 
mitteln möglichen  Bestimmungen  der  Formen, 
die  der  Wasserbotaniker  heimbringt,  auszuführen 
gestattet.  Weniger  notwendig  'scheint  mir  die 
Berücksichtigung  der  höheren  Pflanzen  zu  sein; 
doch  sind  von  den  geplanten  16  Heften  einer- 
seits nur  2  hierfür  bestimmt,  andererseits  ist  ge- 
rade das  eine  von  diesen ,  nämlich  das  über  die 
Moose  deswegen  besonders  wertvoll ,  weil  es  auf 
diesem  Gebiete  gegenwärtig  sehr  an  guten  Be- 
stimmungsbüchern mangelt. 

Erschienen  sind  bisher  die  oben  angegebenen 
Bändchen.  Jedes  wird  eingeleitet  durch  eine 
kurze  allgemeine  Darstellung  des  äußeren  und 
inneren  Baues,  der  Entwicklung,  der  Fortpflanzung, 
der  Ernährung,  Lebensweise,  des  Vorkommens, 
des  Sammeins,  Fixierens  und  Präparierens  der  be- 
treftenden  Organismen.  Im  systematischen  Teil 
sind  klare  Bestimmungsschlüssel  der  Familien, 
Gattungen  und  Arten  gegeben.  Diese  sind  dann 
noch  durch  zusammenhängende,  durch  gute  Ab- 
bildungen unterstützte  Einzelbeschreibungen  cha- 
rakterisiert, wobei  stets  der  Standort  angeführt 
wird.  Wie  es  schon  durch  die  Namen  der  als 
Spezialforscher  bekannten  Bearbeiter  gewährleistet 
ist,  stellen  die  Bändchen  keine  bloße  Kompilation 
dar,  sondern  sind  auf  genaue  Sachkenntnis  gegrün- 
dete, selbstständige,  wissenschaftliche  Leistungen, 
ganz  besonders  da,  wo  eine  kritische  Bearbeitung 
bislang  nicht  vorlag.  So  ist  z.  B.  die  Anführung 
der  Literatur  sehr  wertvoll.  Die  Zahl  der  aufge- 
nommenen Arten  ist  recht  bedeutend.  Besonders 
hübsch  erscheinen  mir  die  Bändchen  über  die 
Flagellaten  und  über  die  Moose,  womit  aber 
nichts  gegenteiliges  über  die  anderen  ausgedrückt 
werden  soll. 

Wir  können  die  handlichen  in  Taschenformat 
gehaltenen  Büchlein  als  sehr  nützliche  Hilfsmittel 
beim  Studium  der  Pflanzenwelt  des  Wassers  durch- 
aus empfehlen ,  ja  sie  stellen  für  die  Liebhaber 
sowohl  wie  für  die  Mehrzahl  der  Fachleute  eine 
sehr  dankenswerte  Bereicherung  der  Literatur  dar. 
Wir  werden  auf  die  Sammlung  bei  dem  weiteren 
Erscheinen    der    Bändchen    noch    zurückkommen. 

Miehe. 


364 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


23 


Philippson,  Alfr.,  Das  Mittelmeergebiet, 
seine  geographische  und  kulturelle 
Eigenart.  3.  Aufl.  Mit  9  Fig.  im  Text,  13  An- 
sichten und  10  Karten  auf  15  Tafeln.  Leipzig- 
Berlin  1914.  B.  G.  Teubner.  —  Geb.  7  Mk. 
Das  schöne  und  vielen  Reisenden ,  die  der 
Weg  nach  Süden  führt,  als  anmutiger  und  zu- 
verlässiger Begleiter  unentbehrliche  Buch  Philipp- 
son's  liegt  nunmehr  bereits  in  der  dritten  Auf- 
lage vor.  Sie  ist  von  dem  Verf  sorgfältig  durch- 
gesehen und  auf  den  neuesten  Stand  der  Keiuit- 
nisse  gebracht  worden.  Bei  dem  Durchblättern 
des  mit  guten  Bildern  und  Karten  versehenen 
Buches  ist  man  immer  wieder  von  der  Reichhaltig- 
keit des  Inhaltes  überrascht  und  von  dem  Zauber 
der  klaren  und  ausdrucksvollen  Darstellung  ent- 
zückt. Im  übrigen  sind  ja  seine  Vorzüge  allge- 
mein bekannt  und  gewürdigt,  so  daß  wir  uns  hier 
mit  der  erneuten  warmen  Empfehlung  des  vor- 
trefflichen Buches  begnügen  dürfen.  Außer  dem 
die  Gestade  des  Mittelmeeres  aufsuchenden  Rei- 
senden wird  es  gerade  gegenwärtig  jedem  als 
gutes  Belehrungsmittel  willkommen  sein,  der  sich 
für  die  politischen  Fragen  im  Mittelmecrgebiet, 
besonders   in    seinem    östlichen    Teil,    interessiert. 

Miehe. 

E.  Study,  Die  realistische  Weltansicht 
und  die  Lehre  vom  Räume.  Bd.  54  der 
Sammlung  „Die  Wissenschaft".  X  und 
145  Seiten.  Braunschweig  1914,  Fr.  Vieweg 
&  Sohn.  —  Preis  geh.  4,50  Mk.,  geb.  5,20  Mk. 
Nach  Aufstellung  eines  realistischen  Weltbildes 
und  nach  schroffer  Ablehnung  idealistischer,  posi- 
tivistischer und  pragmatistischer  Lehren  spricht 
der  Verf.  die  Möglichkeit  eines  Systems  abstrakter 
Begriffe  und  Lehrsätze  aus,  das  als  Gedanken- 
bild des  empirischen  Raumes  gelten  darf  und 
diesen  zum  Gegenstand  des  quantitativen  Er- 
kennens  macht.  Die  mathematische  Analysis 
liefert  ein  Mitte! ,  die  Euklidische  Geometrie  auf 
eine  vollkommen  einwandfreie  Form  zu  bringen, 
sie  gestattet  eine  „abstrakte  Koordinatengeometrie", 
in  der  die  der  Anschauung  entnommenen  Begriffe 
„Punkt",  „Entfernung",  ,, Bewegung",  ,, Kongruenz" 
usw.  in  möglichster  Allgemeinheit  durch  algebra- 
ische Symbole  vertreten  sind.  Unsere  gegen- 
wärtigen Hilfsmittel  gestatten  gar  nicht  oder  nur 
sehr  schwer,  einen  Unterschied  zwischen  dieser 
„natürlichen  Geometrie"  und  irgendeiner  der 
4  Arten  der  Maßgeometrie  (der  sphärischen, 
elliptischen ,  pseudosphärischen  und  Euklidischen) 
festzustellen.  Einstweilen  gestattet  jedoch  die 
,, natürliche  Geometrie"  der  Euklidischen  eine 
Vorzugsstellung.  Zum  Schlüsse  bekämpft  der 
Verf.  diejenigen,  die  die  analytische  Grundlegung 
der  Geometrie  verwerfen  und  ein  System  von 
aus  der  Anschauung  entsprungenen  Axiomen 
vorziehen. 

Wer  eine  philosophische  Richtung  bekämpfen 
will,  hat  die  Pflicht,  sich  in  erster  Linie  mit 
den   Forschern    auseinanderzusetzen ,     die   in    ihr 


die  vollendetste  Ausbildung  gegeben  haben.  So 
hätte  der  Verfasser  von  R.  Avenarius  und 
J.  Petzoldt  erfahren  können,  daß  M a c h s  ( jkono- 
mieprinzip  ')  keineswegs  als  Eckpfeiler  des  Positi- 
vismus zu  gelten  hat,  und  daß  kaum  ein  Philosoph 
in  schärferem  Gegensatz  zu  dieser  philo- 
sophischen Weltanschauung  steht  als  W.  Ostwald, 
der  leidenschaftliche  Verfechter  eines  energetischen 
Absolutismus!  Wenn  der  Positivismus,  der 
gerade  die  gesunden  Gedanken  des  naiven 
Realismus  zu  retten  sucht,  hinsichtlich  der  Möglich- 
keit einer  natürlichen  Geometrie  zu  gleichen  Er- 
gebnissen wie  der  moderne  Realismus  gelangt,  so 
braucht  er  damit  keineswegs  seine  Grundgedanken 
aufzugeben.  Gewiß  verwirft  der  Positivismus  die 
I<"orderung  eines  Standpunktes,  auf  dem  wir  uns 
gar  nicht  stehend  denken  können ,  nimmt  aber 
unbedenklich  Hypothesen  und  Theorien  auf  sofern 
deren  „arbeitsfähige"  Bestandteile  mit  den  u  n  ■ 
mittelbar  aus  dem  Erleben  hervorgegangenen 
Begriffen  in  eindeutigem  Zusammenhang  stehend 
gedacht  werden  können. 

Indes  bieten  die  auf  die  natürliche  Geometrie 
sich  erstreckenden  Abschnitte  so  viel  gehaltvolle 
Gedanken  und  Anregungen,  daß  wir  dem  vor- 
liegenden Buche  aufmerksame  Leser  wünschen. 
Mögen  analytisch  weniger  geschulte  Freunde  des 
Raumprobleins  sich  nicht  durch  das  Motto  des 
Titelblattes  abschrecken  lassen!        Angersbach. 


K.  V.   Auwers    und    A.  Boennecke,    Tabellen 
zur    Berechnung    der    ,,theoretischen" 
Moire  fr  aktionen  organischer  Verbin- 
dungen.     27    Seiten.      Berlin    1914.      Verlag 
von  Julius  Springer.   —  Preis   1,20  Mk. 
Die  vorliegenden  Tabellen,    die  als  Ergänzung 
der  Hilfsmittel  des  refraktometrischen  Werkes  von 
W.  A.  Roth  und  F.  Eisenlohr   dienen  sollen, 
erleichtern  die  oft  umständlichen    und  zeitrauben- 
den   Berechnungen    der    „theoretischen"    Mol-Re- 
fraktionen   und    -Dispersionen.     Sie    sind    für    die 
Untersuchung     von    Kohlenwasserstoffen,    sauer- 
stoffhaltigen   Körpern    und    Halogenderivaten    be- 
stimmt, lassen  sich  aber  auch  für  Substanzen  mit 
anderen  Elementen  verwenden,  wenn   man    deren 
Atomrefraktionen  kennt.    Im  allgemeinen  sind  Ver- 
bindungen und  Radikale  bis  zu  einem  Gehalt  von 
1 5  Kohlenstoffatomen  berücksichtigt  worden.    Der 
Berechnung  wurden  die  vierstelligen  Eisen  loh  r- 
schen  Atomrefraktionen  unverändert  zugrunde  ge- 
legt;   nur    für    Brom    wurden    verbesserte  Werte 
(von  Karvonen)  verwendet.    Die  durch  beide  For- 
cher unabhängig  voneinander  erfolgte  Berechnung 
und   Vergleichung   der    Werte    dürfte    die    Zuver- 


lässigkeit der  Tabellen  verbürgen. 


Bugge. 


Prof.    Dr.  Julius  Schmidlin,    Das    Triphenyl- 
methyl.     Mit  23  Figuren  im  Text.     VI.  Band 


')  Man  lese  auch  nach,  was  Mach  selbst  über  den 
Sinn  des  Ökonoraicbcgriffes  auf  Seite  393  der  „Prinzipien  der 
Wärmelehre",  2.  Aufl.,  sagll 


N.  F.  XIII.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


365 


der  „Chemie  in  Einzeldarstelkmgen",  heraus- 
■  gegeben  von  Prof.  Dr.  Julius  Schmidt.  XII  u. 
233  Seiten.  Stuttgart  1914.  Verlag  von  Fer- 
dinand Enke.  —  Preis  geh.  8  Mk  ,  in  Leinwand 
geb.  8,80  Mk. 
Ebenso  wie  die  \orhergegangenen  „Einzeldar- 
stellungen" behandelt  auch  die  neueste  Monogra- 
phie dieser  Sammlung  ein  Thema,  daß  der  letzten 
Entwicklung  der  organischen  Chemie  angehört. 
Man  könnte  es  —  auf  den  ersten  Blick  —  für 
nicht  ganz  angebracht  halten,  einer  speziellen  or- 
ganischen Substanz,  der  keinerlei  praktische  Be- 
deutung zukommt  und  deren  Erforschung  über- 
dies noch  nicht  abgeschlossen  ist,  ein  umfangreiches 
Buch  wie  das  vorliegende  zu  widmen.  Aber  die 
theoretische  Bedeutung,  die  das  Triphenylmethyl 
für  die  organische  Chemie  besitzt,  läßt  diesen 
naheliegenden  Einwand  hinfällig  erscheinen.  Das 
1900  von  Gomberg  entdeckte  Triphenylmethyl 
hat  sich  als  der  erste  Vertreter  einer  Klasse  von 
Verbindungen  erwiesen,  in  denen  der  Kohlen- 
stoff nicht  als  vierwertiges,  sondern  als  dreiwer- 
tiges Element  fungiert.  Es  sind  zwar  verschiedene 
Versuche  gemacht  worden,  die  merkwürdigen 
Eigenschaften  dieser  Substanz  in  Parallele  mit 
schon  bekannten  Tatsachen  zu  setzen  und  durch 
das  Bild  bewährter  Formeln  mit  vierwertigem 
Kohlenstoff  zu  veranschaulichen;  aber  diese  Ver- 
suche haben  wenig  Erfolg  gehabt,  so  daß  heute 
die  herrschende  Ansicht  dahin  geht,  im  Triphe- 
nylmethyl und  seinen  analogen  Verbindungen 
ganz  neuartige  Erscheinungen  zu  sehen,  die  eine 
Erweiterung  der  alten  theoretischen  Vorstellungen 
nötig  machen.  Der  Verfasser  des  Buches,  der 
selbst  tätigen  Anteil  an  der  Erschließung  des 
Triphenylmethyl  Problems  genommen  hat,  ver- 
steht es,  mehr  als  eine  nur  die  Spezialforschung 
interessierende  Literaturzusammenstellung  zu  geben; 
man  durchwandert  unter  seiner  Führung  eines 
der  reizvollsten  Gebiete  der  organischen  Chemie. 
Bugge. 

Prof.  Dr.  Alfred  Werner ,  Über  die  Konsti- 
tution und  Konfiguration  von  Ver- 
bindungen höherer  Ordnung.  21  S. 
Berlin  1914,  Verlag  von  Julius  Springer.  —  Preis 
1,20  Mk. 

Die  kleine  Schrift  ist  die  Wiedergabe  eines 
Vortrags,  den  der  bekannte  Züricher  Chemiker 
am  II.  Dezember  191 3  bei  der  Entgegennahme 
des  ihm  verliehenen  Nobel-Preises  in  Stockholm 
gehalten  hat.  Der  \^erfasser,  dessen  experimentelle 
und  theoretische  Arbeiten  grundlegend  für  die 
moderne  Systematik  der  anorganischen  Chemie 
geworden  sind,  entwirft  in  kurzen  Zügen  ein  an- 
schauliches Bild  seines  Forschungsgebietes;  durch 
die  Klarheit  der  Darstellung  und  die  Weglassung 
verwirrender  experimenteller  Einzelheiten  dürfte 
die  Schrift  den  Zweck  erfüllen,  die  neueren  An- 
schauungen über  die  Konstitution  und  Konfiguration 
der  sog.  Molckülverbindungen  —  und  damit  die 
Fortschritte  unserer  Kenntnis  vom  Bau  der  Mole- 


küle —  auch  demjenigen  zugänglich    zu    machen, 
dem  es  an  Zeit  fehlt,  die  schon  stark  angeschwollene 
Literatur    über    dies    Thema    in    Originalarbeiten 
oder  umfangreichen  Monographien  nachzulesen. 
Bugge. 

Hann,    Prof.    Dr.   Julius,    Lehrbuch    der    Me- 
teorologie.    3.    unter  Mitwirkung    von    Prof. 
Dr.  R.  Süring,  Potsdam,  umgearbeitete  Auflage. 
Mit  mehreren  Tafeln,  Karten  u.  Tabellen  sowie 
zahlreichen    Abbildungen    im   Text.      Lieferung 
I — 3     191 3.      Chr.    Herrn.   Tauchnitz.    —    Jede 
Lieferung  3,60  Mk.  (etwa   10  Lieferungen). 
Das  allgemein  bekannte  und  den  Meteorologen 
von  F"ach  ebenso  wie  dem  Biologen  gleicherweise 
unentbehrliche  Hann' sehe  Lehrbuch   der  Meteo- 
rologie beginnt  in  der  zweiten  Auflage  lieferungs- 
weise zu  erscheinen.     Wie    der  Prospekt    mitteilt, 
unterscheidet  sich  die  neue  Auflage,  abgesehen  da- 
von,   daß  sie  überall  auf  den  neuesten  Stand   des 
Wissens    gebracht   worden    ist,    von    der    zweiten 
dadurch,  daß  die  in  der  letzten  z.  T.  fortgelassenen 
Literaturnachweise      wieder      aufgenommen      und 
bis   auf  die  Gegenwart    fortgeführt   sind.     Außer- 
dem ist  ein  besonderes  Kapitel  über  die  wichtigen 
neuen  Ergebnisse  der  aerologischen  Forschung  ein- 
geschaltet,   das    von    Prof.    Süring    in    Potsdam 
verfaßt    ist.      Das    ganze   Werk    ist    auf    10  Liefe- 
rungen berechnet,  3  sind  bereits  erschienen.    Wir 
begnügen  uns  vorläufig,  auf  dieses  wichtige  Werk 
hinzuweisen,    und    werden,    wenn    es    vollständig 
vorliegt,  ausführlich  darauf  zurückkommen.     M. 


Fritz  Münch,  Erlebnis  und  Geltung.  Ber- 
lin 191 3,  Reuther  und  Reichard. 
In  diesem  Buche  konzentrieren  s'ch  die  Er- 
gebnisse der  Erkenntnistheorie  der  letzten 
25  Jahre,  um,  gleichsam  durch  die  richtende  Kraft 
der  von  Kant,  Fichte,  Hegel  über  L  o  t  z  e 
und  Windelband  in  die  Gegenwart  reichenden 
Grundgedanken  ein  vollständiges  System  der 
Kulturlogik  herauszukristallisieren.  —  Die 
Angelpunkte  der  von  Münch  entwickelten  Ge- 
samttheorie der  ,, historischen  Wirklichkeit  über- 
haupt" erkenne  ich  in  folgenden  drei  Sätzen ; 
I.  Es  gibt  „Seiendes"  =  „reines  Erlebnis",  und 
den  Begriff  davon  ==  ,, reine  Geltung"  =  „Sinn 
des  Seienden".  2.  Es  gibt  eine  „Realisation" 
der  geltenden  Begriffe  in  der  Wirklichkeit  des 
Seienden  und  eine  „Aktualisierung"  derselben 
durch  die  handelnden  Subjekte  ^=  Realisations- 
prozeß des  Geltenden  in  der  Subjektbezogen- 
heit.  3.  Es  gibt  „Begründungszusammenhänge" 
sämtlicher  realisierbarer  Begriffe  gemäß  Ideen, 
die  als  solche  „objektive  Werte"  darstellen ,  und 
deren  Gesamtheit  in  ihrer  geschichtlichen  Erfüllung 
die  „Kultur"  ist.  —  Hat  man  die  drei  Grund- 
einsichten gewonnen,  so  wird  man  dem  Verfasser 
bis  in  die  schwierigsten  logischen  Probleme  folgen 
können,  deren  letztes  die  Möglichkeit  des  Zusam- 
menfallens  von  „Weltanschauung"  und  „Lebens- 
anschauung" fordert.    Die  Bedeutung  des  Münch- 


366 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr.  23 


sehen  Buches  liegt  jedoch  nicht  z.um  geringsten 
Teile  in  der  klaren ,  dabei  eigenartigen  Heraus- 
arbeitung dessen,  was  für  den  wissenschaftlich 
orientierten  Erkenntnistheoretiker  Gemeingut  ge- 
worden ist.  Besonders  wertvoll  war  mir  auch  die 
vorzügliche  und  gewissenhafte  Einführung  in  die 
um  das  Grundproblem  gruppierte  Literatur  der 
neuesten  Zeit  und  deren  scharfe  Kritik  von  seilen 
des  Verfassers.  Eberhard  Zschimmer. 


Kafka,  Gustav,  Einführung  in  die  Tier- 
psychologie auf  experimenteller  und  etho- 
logischer  Grundlage.  Erster  Band :  „Die 
Sinne  der  Wirbellosen".  Mit  362  Ab- 
bildungen im  Text.  XII  u.  593  S.  Leipzig, 
Johann  Ambrosius  Barth,  1913.  —  Preis  18  Mk. 
Ein  grundlegendes  für  jeden  synthetisch  Den- 
kenden, insbesondere  für  den  Tierpsychologen 
unentbehrliches  Werk.  Der  erste  vorliegende 
Band  erörtert  in  der  Hauptsache  das  Tatsächliche 
des  Sinneslebens  bei  den  Wirbellosen,  dem  zahlreiche 
psychologische  Definitionen  angeschlossen  sind. 
Der  zweite  Band  wird  die  Sinne  der  Wirbeltiere 
und  die  Entwicklung  der  höheren  psychischen 
Fähigkeiten  in  der  Tierreihe  (Instinkihandlungen, 
Gedächtnis,  Intelligenzäußeruiigen  usw.)  behandeln. 
Soweit  Ref.  das  Gebiet  zu  überschauen  vermag, 
ist  Kafka  gründlich  und  mit  Kritik  vorgegangen 
und  bietet  weit  mehr  und  Zuverlässigeres  als  das 
hier  kürzlich  besprochene  Werk  von  O.  M.  Reu- 
ter (Nr.  II).  Zahlreiche  gute  Abbildungen  unter- 
stützen die  Textangaben.  Nicht  völlig  befriedigend 
ist  die  Quellenangabe,  obgleich  ein  ausführliches, 
eine  erstaunliche  Übersicht  beweisendes,  Literatur- 
verzeichnis vorhanden  ist,  aber  im  Text  fehlen 
die  Hinweise  auf  die  Autoren  häufig,  so  daß  eine 
Benutzung  erschwert  und  man  nicht  weiß,  wem 
die  Beobachtung  oder  besondere  Ansicht  zuzu- 
schreiben ist.  In  der  Einleitung  legt  Kafka 
seinen  Standpunkt  gegenüber  extremen  Richtungen 
dar,  anerkennt  vollkommen  das  Begehren  des 
Physiologen  alles  rein  physiologisch  analysieren 
zu  wollen,  aber  es  fragt  sich,  ob  wir  hiermit  zu 
einer  erschöpfenden  Analyse  der  Lebenstätigkeiten 
kommen,  denn  es  steht  —  nach  Kafka  —  fest, 
daß  die  psychischen  Phänomene,  die  jeder  in 
seiner  eigenen  Erfahrung  vorfindet,  in  funktio- 
nellerAbhängigkeit  von  den  physiologischen 
Prozessen  stehen.  Wir  werden,  wenn  es  uns  noch 
nicht  möglich  ist,  alle  Bahnen  einer  Reizreaktion 
darzulegen,  doch  zur  Einschaltung  psychischer 
oder  psychoider  Faktoren  unsere  Zuflucht  nehmen 
und  selbst  dort,  wo  es  uns  ausnahmsweise  einmal 
gelungen  ist,  z.  B.  einige  Tropismen  auf  physi- 
kalisch-chemische Prozesse  zurückzuführen,  dürfen 
wir  psychische  Begleiterscheinungen  nicht  als  aus- 
geschlossen gelten  lassen,  wenn  natürlich  auch  die 
Unmöglichkeit  solcher  Zurückführung  keineswegs 
zwingt  psychoide  oder  psychische  Zwischenglieder 
anzunehmen.  Die  Grundlage  einer  fruchtbaren 
Tierpsychologie  ist  —  nach  Kafka  —  sich  streng 
an    die   Ergebnisse    der   objektiven    Forschung   zu 


halten  als  ihrer  einzigen  Grundlage,  ohne  sich 
dazu  verleiten  zu  lassen,  psychologische  Interpre- 
tationen als  kausale  Erklärungen  der  physischen 
Phänomene  auszugeben. 

Es  ist  dem  Ref.  nicht  zweifelhaft,  ganz  gleich- 
gültig, wie  man  sich  zu  den  einzelnen  Auffassungen 
Kafkas  stellt,  die  hier  natürlich  nur  zum  klein- 
sten Teile  angedeutet  werden  konnten,  daß  seine 
ganze  Art  und  Weise  der  Problemerfassung  bei 
durchaus  objektiver  Würdigung  gegnerischer  An- 
sichten, sehr  geeignet  erscheint,  diesem  besonde- 
ren psychologischem  Gebiete,  auch  auf  der  ex- 
tremen Seite,  Freunde  zu  gewinnen.  Nach  dem 
Erscheinen  des  zweiten  Bandes  wird  auf  die  vor- 
treffliche Leistung  noch  wieder  zurückzukommen 
sein.  Buttel-Reepen. 


H.  Lux:  Das  moderne  Beleuchtungs- 
wesen. Aus  Natur  u.  Geisteswelt.  Verlag  v. 
B.  G.  Teubner,  Leipzig  u.  Berlin  1914.  —  In 
Leinwand  geb.  1,25  Mk. 
Das  lesenswerte  und  interessante  Büchlein 
gibt  in  allgemein  verständlicher  Weise  einen  Über- 
blick über  den  gegenwärtigen  Stand  des  modernen 
Beleuchtungwesens.  Nach  einem  Hinweis  auf  die 
elektromagnetische  Natur  des  Lichtes  und  seine 
Erreger,  die  in  den  Atomen  schwingenden  Elek- 
tronen, geht  der  Verfasser  auf  die  Strahlung,  ihre 
Messung  und  ihre  Gesetze  (Wien  Planck'sche 
Strahlungsgleichung)  ein,  um  dann  die  Methoden, 
die  zur  Bestimmung  der  Temperatur  leuchtender 
Körper  (Temperaturstrahler)  dienen,  zu  schildern. 
Der  erste  Teil  schließt  mit  einem  Kapitel  über 
photometrische  Einheiten  und  Messungen  und 
einem  Hinweis  auf  die  I,uminiszenzerscheinungen, 
betreffs  der  praktischen  Verwendung  wir  erst  am 
Anfang  der  Entwicklung  stehen.  Im  umfang- 
reicheren zweiten  Teil  werden  die  sämtlichen 
künstlichen  Lichtquellen  von  der  Kerze  und  der 
Öllampe  bis  zum  Vakuumlicht  und  der  Queck- 
silberdampflampe besprochen.  Sehr  dankenswert 
sind  die  Kurven  über  die  räumliche  Lichtverteilung 
der  wichtigeren  Lichtquellen  und  Angaben  über 
Ökonomie  fast  aller  Beleuchtungsarten.  Eine 
große  Anzahl  von  Abbildungen  unterstützt  den 
Wortlaut  des  Textes.  Am  Schluß  sind  zwei  Ta- 
bellen aufgenommen,  die  Aufschluß  geben  über 
Verbrauch  und  Kosten  einer  Tisch  und  Zimmer- 
beleuchtung, letztere  von  200  Hefnerkerzen,  wenn 
man  als  Lichtquelle  eine  Petroleum-,  Spiritus- 
glühlicht-, Gasglühlicht-  oder  elektrische  Glühlampe 
wählt.  Es  sei  noch  erwähnt,  daß  es  im  Interesse 
der  Klahrheit  vielleicht  besser  gewesen  wäre, 
wenn  in  Abbildung  23  nur  die  Emissionskurve  (d) 
des  Auerkörpers  allein,  die  im  Text  auch  wirklich 
besprochen  wird,  aufgenommen  wäre.         K.  Seh. 


Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  M.  F.  in  Zw.  —  Was  versteht  man  unter  einer 
„apiitischen  Injektion"  in  der  Geologie? 

In  Weinschenck's  „petrographischem  Vademekum" 
(Freiburg  i.  Br.  1907,  Herder'sche  Verlagsbuehhandlung)  finden 


N.  F.  XIII.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


367 


sich  über  diese  in  kurzen  Worten  schwer  zu  behandelnde 
Krage  folgende  Definitionen: 

Petrographiscli  (S.  Iio):  „Die  Aplite  sind  typische 
Feldspatgesteine ,  meist  mit  ganz  untergeordnetem  basischem 
Gemen<^teil,  daher  licht  gefärbt,  von  mittlerem  bis  feinem 
Korn,   oft  auch  ganz  dicht." 

Über  die  Art  des  Auftretens  (S.  ly):  feinkörnige  Aplite, 
.welche  in  großer  Anzahl  und  in  schmalen  ,  mannigfach  sich 
verästelnden  Gängen  besonders  in  Graniten  und  deren  Um- 
gebung auftreten".  .  .  .  „Diese  gangförmigen  Bildungen  sind 
als  Nachschübe  der  Intrusion  selbst  zu  betrachten. 
Außer  diesen  zweifellos  jüngeren  Gängen  trifft  man  in  der 
Umgebung  der  Tiefengesteine  bald  vereinzelt,  bald  das  ganze 
Nebengestein  durchtränkend  und  injizierend  normal  zu- 
sammengesetzte oder  aplitische  Apophysen,  welche 
die    Abzweigungen    der    Hauptmasse    darstellen." 

Rosenbusch  (Elemente  der  Gesteinslehre,  3.  .\ufl. 
1910,  Schweizerbart-Stuttgart)  sagt  (S.  262):  ,,Die  aplitischen 
Ganggesteine  .  .  .  treten  nur  selten  in  größerer  Entfernung 
von,  meistens  in  den  Tiefengesteinen  auf,  zu  deren 
Gefolgschaft  sie  gehören". 

Gibt  es  einen  geologischen  Führer,  der  über  Helgoland, 
Kieler  Bucht,  die  dänischen  Inseln  und  Rügen  orientiert  f 

In  der  von  Borntraegei-Berlin  herausgegebenen  „Samm- 
lung geologischer  Führer"  behandelt 

Band  111  vonW.  Deecke  die  Insel  Bornholm  (erschienen 
1899). 

Dänemark  insgesamt  findet  sich  behandelt  in  den  beiden 
dänischen  Beschreibungen  von 

N.  V.  Ussing,  Danmarks  Geologi,  Kopenh.agen  19C4 
(2.  Aufl.) 

undK.  Bördam,   Danmarks  Geologi,  Kopenhagen   1909. 

Eine  kurze  übersichtliche  Zusammenfassung  des  Stoffes  in 
deutscher  Sprache  hat  Ussing  ferner  auch  im  ,, Handbuch 
der  regionalen  Geologie"  Band  1,  Heft  2  (Heidelberg  1910, 
Winter's  Universitätsbuchhandlung)  gegeben. 

Leider  sind  wir  für  die  deutschen  Gebiete  nicht  so  gut 
gestellt,  so  zahlreiche  Arbeiten  auch  über  Rügen,  sodann  auch 
über  die  Kieler  Bucht  und  Helgoland  erschienen  sind. 

„Über  die  Gliederung  der  Flözformationeu  Helgolands" 
hat  W.  Dam  es  in  den  Sitzungsberichten  der  Königl.  Preuß. 
Akad.  der  Wissensch.  schon  1893  (S.  1019 — 1039)  berichtet 
und  dort  auch  die  älteren  Arbeiten  von  Wiebel  und  Volger 
zitiert.  Über  einen  neuen  wichtigen  VVirbeltierfund  hat  neuer- 
dings Schröder  (Jahrb.  d.  Kgl,  Preuß.  geolog.  Landesanstalt) 
Mitteilungen  gemacht.  Eine  moderne  Gesamtdarstellung  der 
interessanten   Insel  steht  noch   aus. 

■\uf  Rügen  steht  naturgemäß  die  Kreideküste  im  Vorder- 
grunde des  Interesses,  insbesondere  in  neuerer  Zeit  ihre  Tek- 
tonik. Philippi,Jaekel,  Keil  hack  haben  ihr  in  jüngerer 
Zeit  die  .Aufmerksamkeit  besonders  zugewendet,  letzterer  auch 
eine  Kartierung  geliefert.  Das  Diluvium  der  Insel  ist  meines 
Wissens  für  sich  nicht  ausführlicher  behandelt  worden.  Viel- 
leicht interessieren  auch  Zusammenfassungen  in  größerem 
Rahmen  und  nicht  rein  geologischer  Natur,  wie 

Braun,  Das  Ostseegebiet  (Aus  Natur  und  Geisteswelt), 
Leipzig   1912; 

Ders.,  Entwicklungsgeschichtliche  Studien  an  europäischen 
Flachlandsküslen  und  ihren  Dünen.  Institut  f.  Meeres- 
kunde zu  Berlin,  He't   I,   1911;  und  besonders 

Spethmann,  Meer  und  Küste  von  Rügen  bis  Alsen. 
Ebenda  Heft  71,   1912. 

Daselbst  auch  weitere  Literatur.  Nie  zu  vergessen  sind 
für  eng  umgrenzte  Spezialgebiete  etwa  bereits  vorliegende  Ver- 
öffentlichungen der  eingehenden  -Aufnahmen  seitens  der  geo- 
logischen Landesanstalt,  die  freilich  ein  gewisses  Maß  von 
Vorkenntnissen  voraussetzen.  E.  Hennig. 


teilhaftesten  ab) ,  und  auf  welche  Weise  weicht  man  spröde 
gewordene  Käfer  auf,    damit   man   sie    nadeln  und  ausrichten 

kann?  —  Waren  die  Käfer  mit  Straßenstaub,  Aas  oder  Kot 
beschmutzt,  so  werden  sie  mit  Benzin  abgepinselt;  größere 
reinigt  man  vorher  eventuell  auch  mit  warmem  Wasser.  Han- 
delt es  sich  um  alte,  verschimmelte  oder  verstaubte  Samm- 
lungsc.\emplare,  so  säubert  man  zunächst  mit  einem  trockenen 
Pinsel  vorsichtig  und  wendet  dann  erst  Benzin  an.  Bei  be- 
haarten Käfern  ist  zu  beachten,  daß  die  Haare  nicht  zusammen- 
kleben. Man  vermeidet  das,  indem  sie  nach  der  Behandlung 
mit  Benzin  mit  feinem  Sägemehl  bestreut  werden.  Nach  dem 
Trocknen  wird  dieses  behutsam  abgebürstet.  —  Bezüglich  des 
Aufweichens  schreibt  Handlirsch  in  der  vierten  Lieferung 
des  Handbuches  der  Entomologie :  Über  eine  etwa  2  cm  hoch 
mit  feuchtem,  reinem  Sand  gefüllte  Glasschüssel  wird  eine 
mäßig  hohe  Glasglocke  gestellt,  unter  welche  die  aufzuwei- 
chenden Objekte  je  nach  Größe  einige  Stunden  bis  zu  einigen 
Tagen  liegen  bleiben.  Fäulnis-  oder  Schimmelbildung  wird 
vermieden,  wenn  man  einige  Tropfen  Karbolsäure  oder  Kreosot 
auf  den  Sand  gießt.  —  Eine  etwas  umständlichere  Methode  ist 
folgende :  Man  wäscht  F'lußsand  so  lange,  bis  das  Wasser 
klar  abfließt,  und  erhitzt  ihn  stark,  um  Fäulniserrcger  abzu- 
töten. Der  heiße,  feuchte  Sand  wird  mit  einer  alkoholischen 
ThymoUösung  Übergossen.  Auf  dem  so  behandelten  Sand 
werden  die  trockenen  Käfer  aufgeweicht.  Käfer,  die  nach  dem 
Aufweichen  erst  genadelt  werden,  haben  gewöhnlich  nicht 
genügend  Halt  an  der  Nadel  und  man  muß  sie  mit  Syndetikon 
festkleben.  Größere  Formen  unterstützt  man  auch  durch  ein 
Korkscheibchen.  Dr.  Stellwaag. 

Gibt  es  ein  neueres  größeres  Werk  mit  bunten ,  zuver- 
lässigen Tafeln  über  die  Haut-  und  Zweiflügler?  —  In  der 
Frage  ist  nicht  genau  ausgedrückt ,  ob  Werke  systematischen 
oder  biologischen  Inhaltes  gemeint  sind.  Bestimmungsbücher 
mit  bunten  Abbildungen  gibt  es  meines  Wissens  nicht,  da  die 
einzelnen  Spezies  sehr  häufig  nach  mikroskopischen  Merk- 
malen unterschieden  werden,  die  sich  in  einem  Habitusbild 
selten  zur  Anschauung  bringen  lassen.  Daher  enthalten  die 
modernen  Bestimmungsbücher  (z.  B.  Schmiedeknecht, 
Mitteleuropas  Hymenopteren ,  Friese,  Die  Bienen  Europas 
nach  ihren  Gattungen,  Arten  und  Varietäten  auf  vergleichend 
morphologisch-biologischer  Grundlage  bearbeitet)  im  besten 
Falle  Abbildungen,  die  systematische  Merkmale  darstellen. 
Das  gleiche  ist  der  Fall  bei  K.  Grünberg,  Dyptera  (Bd.  2 
von  A.  Brauer,  Die  Süßw.asserfauna  Deutschlands).  Es 
ist  übrigens  ein  großes  Werk  von  Friese,  Enslin  u.a. 
in  Vorbereitung,  das  die  Hymenopteren  biologisch  und  syste- 
matisch behandelt  und  auch  bunte  Tafeln  enthalten  soll.  Be- 
züglich der  vorhandenen  systematischen  Literatur  verweise  ich 
auf  Naturwissenschaftliche  Wochenschrift  N.  F.  Bd.  IV,  S.  223 
und  224  und  N.  F.  Bd.  X,  S.  799.  Nur  über  die  Hummeln 
existiert  eine  Abhandlung  mit  bunten  Tafeln  und  zwar  Friese 
und  Wagner,  Zoologische  Studien  an  Hummeln,  I.  Die 
Hummeln  der  deutschen  Fauna,  Zoologische  Jahrbücher,  Ab- 
teilung für  Systematik,  Geographie  und  Biologie  der  Tiere. 
Bd.  29,  1910.  Ähnlich  steht  es  mit  Büchern  biologischen  In- 
haltes. Soviel  ich  weiß,  existiert  auch  hier  nur  ein  Buch  über 
Hummeln,  wie  Sie  es  wünschen :  The  Humble  Bee  von  F.  W. 
L.  S laden.  Zahlreiche  vorzügliche  aber  schwarze  Abbil- 
dungen enthält  Zander,  Handbuch  der  Bienenkunde  in 
Einzeldarstellungen.  Bd.  3:  Bau  der  Biene,  Bd.  4 :  Leben  der 
Biene,  und  Escherich,  Die  Ameise.  In  beiden  Büchern  ist 
auch   weitere  biologische  Literatur  zitiert.         Dr.  Stellwaag. 


Herrn  M.  F.  in  Zt.  —  Kuckuck's  nützliches  Buch 
,,Der  Strandwanderer"  ist  eigentlich  für  die  Nordsee  bestimmt. 
Etwas  ähnliches  für  die  Ostsee  gibt  es  meines  Wissens  nicht; 
daher  ist  vorläufig  das  Werk  auch  für  die  Ostsee  anzuwenden. 

H.  Harms. 

Herrn  M.  F.  in  Zwickau.  —  Wie  präpariert  man  schmutzig 
gewordene  Käfer  wieder  auf  (womit  pinselt  man  sie  am  vor- 


Herrn O.  S.  in  Frankfurt  a.  M.  —  Verschiedenheiten 
zwischen  den  Eiern  des  rechten  und  linken  Ovariums  sind 
meines  Wissens  nirgends  erwähnt,  wenigstens  soweit  es  sich 
um  spezifische  Merkmale  irgendwelcher  Art  handelt,  die  kon- 
stant nur  auf  einer  Seite  sich  finden  oder  fehlen.  Überhaupt 
ist  von  sichtbaren  Unterschieden  zwischen  verschiedenen  Eiern 
wenig  bekannt.  Es  kommen  zweikernige  Eier  vor;  die  meisten 
von  der  Norm  abweichenden  Befunde  gehören  wohl  in  das 
Gebiet  der  Pathologie.  Daß  die  einzelnen  Eier  ebenso  wie 
die  Sjiermien  in  ihrem  Erbmaterial  differieren  geht  aus  den 
Mendel 'sehen    Regeln    hervor.      Die  Reinheit    der  Gameten 


368 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  23 


in  bezug    auf   eine  Eigenschaft    war    ja    schon    eine    der  von 
Mendel  selbst  aufgestellten   Forderungen. 

Über  einen  eventuellen  Turnus  in  der  Ovulationstätigkeit 
der  Ovarien  ist  mir  gleichfalls  nichts  bekannt.  Es  ist  auch 
schwierig  einen  Modus  auszudenken,  wie  man  das  konstatieren 
soll.  Es  wird  sich  wohl  schwerlieh  eine  Frau  finden,  die  sich 
etwa  ein  halbes  Dutzend  mal  hintereinander  im  Menstruations- 
intervall den  Bauch  aufschneiden  hißt,  um  nachsehen  zu  lassen, 
wo  das  zugehörige  Corpus  luteum  sitzt.  Bei  Tieren  mit  mehr- 
facher Gravidität  ist  die  Anzahl  der  Embryonen  in  jedem 
Uterushorn  sowohl ,  wie  der  Sitz  der  Corpora  lutea  ein  un- 
regelmäßiger. Petersen. 

Herrn  W.  L.  in  Neukölln.  —  „Gibt  es  den  Karbiden 
analoge  Verbindungen  von  I.  Silicium  mit  Calcium  und  Alu- 
minium; II.  Bor  mit  Calcium  und  Aluminium!'  Gibt  es  ferner 
Aluminiumkarbid  f  Wie  ist  die  Herstellung,  welche  chemi- 
schen Eigenschaften  und  welche  Verwendung  haben  diese 
Verbindungen?" 

Von  Verbindungen  des  Calciums  mit  Silicium  sind  mit 
Sicherheit  zwei  bekannt,  das  Caiciumsilicid  Ca^Sia  und  das 
Calciumsilicid  CaSij.  Beide  Silicide  lassen  sich  durch  gemein- 
schaftliches Erhitzen  der  Elemente,  aber  auch  auf  anderen 
Wegen  herstellen;  auch  technisch  werden  sie  vonTh.  Gold- 
schmidt  in  Essen  gewonnen  (D.  R.  P.  19g  193  KI.  12 i  [190S'). 
Das  in  reiner  Form  dargestellte  Silicid  CajSio  kristallisiert  in 
Nadeln  und  wird  durch  Mineralsäuren  unter  Bildung  von 
selbsteutzündlichen  Siliciumwasserstoffen  und  gleichzeitiger 
Entstehung  von  Siliciumdioxyd  zerstört.  Das  andere,  bisher 
in  reiner  Form  nicht  erhaltene  Silicid  CaSi.,  ist  gegen  Säuren 
widerstandsfähiger.  In  der  Technik  werden  die  beiden  Cal- 
ciumsilicide  als  Ersatz  des  Aluminiums  bei  Thermitreaktionen 
verwendet.  Weitere  Einzelheiten  über  die  Herstellung  und 
die  Eigenschaften  der  Calciumsilicide  sind  in  der  soeben  er- 
schienenen Monographie  von  Hönigschmid,  ,, Karbide 
und  Silicide"  (Halle  1914,  Verlag  von  Wilhelm  Knapp, 
S.   165  und  S.    166)  zu  finden. 

Verbindungen,  die  nur  Aluminium  und  Silicium  enthalten, 
sind  bisher  mit  Sicherheit  nicht  bekannt. 

Calciumborid  CaB^  ist  von  Moissan  und  Williams 
durch  Reduktion  von  Calciumborat  mit  .aluminium  und  Zucker- 
kohle im  elektrischen  Ofen  hergestellt  worden.  Es  ist  ein 
sehr  hartes,  glänzendes,  schwarzes  kristallinisches  Pulver,  das 
selbst  überhitztem  Wasser  widersteht.  Wird  das  Calcium- 
borid im  elektrischen  Ofen  geschmolzen,  so  erleidet  es  irgend- 
eine Veränderung,  denn  danach  zersetzt  es  Wasser  unter 
Wasserstoffentwicklung.  Weitere  Einzelheiten  siehe  Gmelin- 
Kraut-Friedheim,  Handbuch  der  anorganischen  Chemie 
(Heidelberg  1909,  Verlag  von  Carl  Winter),  Bd.  II,  .■\bt.  2, 
S.  311  und  S.   715. 

In  der  Literatur  sind  zwei  .Muminiumboride  BjAl,,  und 
B04AI2  beschrieben.  Sie  entstehen  bei  hoher  Temperatur  und 
sind  durch  große  Härte  ausgezeichnet.  Weiteres  siehe 
Gm  el  in  -  Kr  au  t  -  Fr  ied  heim  a.  a.  O. ,  Bd.  11 ,  .'\bt.  2, 
S.  644. 

Das  bislang  allein  bekannte  Alurainiumkarbid  von  der 
Formel  .M4C.1  wurde  zuerst  von  Moissan  durch  Verschmelzen 
eines  Gemisches  von  Aluminium  und  Kohle  oder  Kaolin  und 
Kohle  bei  der  Temperatur  des  elektrischen  Lichtbogenofens 
erhallen.  Es  ist  ein  schön  kristallisierter  Stoff,  von  dessen 
Eigenschaften  besonders  das  Verhalten  gegen  Wasser  bemer- 
kenswert ist:  Mit  Wasser  liefert  das  Aluminiumkarbid  nach 
der  Gleichung 


A\^L-^  -|-  6  H.jO  =  3  CH4  -f  2  Al.O;, 
neben  hydratischem  Aluminiumoxyd    reines  Methan.      Näheres 
siehe   Hönigschmid,  1.  c.  S.  59.  Mg. 


Herrn  L.  L.  in  W.  —  Über  die  Aufgaben  und  Ziele  der 
Phänologie,  der  Wissenschaft,  die  sich  mit  der  zeitlichen 
Entwicklung  des  Pflanzenlebens  im  Laufe  eines  Jahres  (vor- 
nehmlich mit  der  Belaubung,  dem  Aufblühen,  der  F"ruchtreife, 
der  Laubvcrfärbung,  dem  Laubfall)  und  ihrer  Beziehung  zum 
Klima  beschäftigt ,  unterrichtet  man  sich  am  besten  aus  den 
Schriften  H.  Hoffmann' s  und  E.  Ihne's,  der  F'orscher, 
die  sich  ganz  besonders  um  die  Förderung  der  Phänol  ogie 
verdient  gemacht  haben.  Es  sind  zu  nennen  die  Arbeiten: 
H.  Hoffmann,  Resultate  der  wichtigsten  pllanzenphänologi- 
schen  Beobachtungen  in  Europa;  mit  F^rühlingskarle ,  Gießen 
1X85;  ders.,  Phänologische  Untersuchungen,  Gießen  1887.  — 
H  o  f  fm  ann  und  I  h  ne  ,  Beiträge  zur  Phänologie,  Gießen  1884, 
—  E.  Ihne,  Phänologische  Mitteilungen,  1S9S  — 1911;  Phä- 
nolog.  Karte  des  Frühlingseinzugs  im  Großherzogtum  Hessen, 
mit  Erläuterungen,  2.  Aufl.,  1911;  Beziehungen  zwischen 
Pflanzenphänologie  und  Landwirtschaft  (Arbeiten  der  Deutsch. 
Landwirtschaflsgesellschaft,  Heft  161  ,  Berlin  1910).  Hoff- 
niaun's  und  Ihne's  Arbeiten  sind  größtenteils  in  den  Be- 
richten der  Oberhessischen  Gesellschaft  für  Natur-  und  Heil- 
kunde, später  in  den  Abhandlungen  der  Naturhistorischen 
Gesellschaft  in  Nürnberg  erschienen;  Ihne's  Mitteilungen  in 
den  letzten  Jahren  in  den  .-arbeiten  der  Landwirtschaftskammer 
für  das  Großherzogtum  Hessen  (Beigaben  zur  Hessischen 
Landwirtschaftl.  Zeitschrift).  —  Ferner  sind  zu  nenuen :  S. 
Günther,  Die  Phänologie,  ein  Grenzgebiet  zwischen  Biologie 
und  Klimakunde,  1895;  Bemerkungen  zur  Geschichte  der 
Phänologie  (Archiv  f.  d.  Geschichte  der  Naturwissensch.  und 
Technik,  111.  1911).  —  E.  Beiche,  Blütenkalender  der  deut- 
schen Phanerogamenflora,  2  Bde..  Hannover  1872.  —  In  Wien 
hat  früher  Fritsch  eine  eifrige  Tätigkeit  auf  diesem  Gebiete 
entfaltet;  er  veröffentlichte  viele  Mitteilungen  (in  Jahrb.  der 
Wiener  Zentralanstalt  f.  Meteorologie,  bis  1877).  F'ür  Ungarn: 
M.  Staub  und  J.  Bernatsky,  Resultate  der  phytophänolog. 
Beobaclitungen  in  der  Umgebung  des  Balatonsees,  Wien  1906. 
In  Rußland  hat  sich  F.  Herder  mit  solchen  Studien  befaßt 
(z.  B.  die  wichtigsten  Bäume,  Sträucher  und  Stauden  des  K. 
Bot.  Gart.  St.  Petersburg  mit  Rücksicht  auf  ihre  periodische 
Entwicklung;  1864).  In  mehreren  Teilen  Deutschlands  hat 
man  fast  jährlich  die  Resultate  der  Beobachtungen  zusammen- 
gestellt. So  z.  B.  Th.  Schübe  für  Schlesien  (in  Jahrbuch 
Schles.  Gesellsch.  vaterl.  Kultur);  H.  Töpfer  für  Thüringen 
(Mitteilg.  Sachs.  Tliüring.  Vereins  f.  Erdkunde  in  Halle  a.S.; 
z.  B.  1910);  J.  Ziegler  für  Frankfurt  a.  M.  (z.  B.  Pflanzen- 
phänol.  Beob.  zu  Frankfurt  a.  M.  1891).  —  Schließlich  sei 
noch  O.  Drudc's  Werk,  Deutschlands  Pflanzengeographie, 
1895,  genannt.  Ein  sehr  guter  allgemein  orientierender  Ab- 
schnitt ist  enthalten  in  Meyer's  Konversationslexikon,  6.  Aufl., 
Bd.  XV,  wo  auch  4  lehrreiche  Karten  beiliegen.  Mehrere 
der  genannten  Arbeiten  und  auch  andere  sind  unter  Phänologie 
angezeigt  im  .\ntiquariatskataloge  von  Max  Weg  (Leipzig, 
Königstrafle  3)  Nr.  129  (19U)  S.  241.  Schließlich  möchte  ich 
noch  auf  ein  kleineres  für  die  reifere  Jugend  bestimmtes  Werk 
hinweisen,  das  bei  mir  früher  das  Interesse  für  solche  Be- 
obachtungen geweckt  hat:  Otto  Dammer,  Der  Naturfreund 
(Berlin  und  Stuttgart,  W.  Spemann,  1885);  S.  61  ist  dort  ein 
längerer  Abschnitt,  der  Anleitungen  gibt,  auch  ist  H  off- 
mann's   und   Ihne's  ,,Phänologischer  Aufruf"   abgedruckt. 

H.   Harms. 


Inhalt:  A.  Wurm:  Die  ältesten  Dokumente  palänntologischer  Überlieferung.  —  Einzelberichte:  Hansteen:  Die  Gift- 
wirkung von  Metall-Ionen  und  der  Lipoidgeh.ilt  der  Zellmembran.  Ehrenberg:  Nachweis  der  Gasvergiftung  bei 
Straßenbäumen.  Lindemann:  Über  die  Grundlagen  der  Atommodelle.  Knoche:  Meteorologisches  von  der  Oster- 
insel,  Jollos:  ,, Dauermodifikationen"  bei  Mikroorganismen.  Amantea:  Anzahl  der  Spermatozoen  beim  Coitus  der 
Hunde,  Volz,  Baumeister,  Harms:  Das  Auge  von  Periophthalmus,  Boleophthalmus  und  Anableps.  —  Bücher- 
besprechungen: Procter:  Taschenbuch  für  Gerbereichemiker  und  Lederfabrikanten.  Brückraann:  Palmnicken. 
Die  Süßwasserflora  Deutschlands,  Österreichs  und  der  Schweiz.  Philippson:  Das  Mittelmeergebiet,  seine  geographi- 
sche und  kulturelle  Eigenart.  Study:  Die  realistische  Weltansicht  und  die  Lehre  vom  Räume.  Auwers  und  Boen- 
necke:  Tabellen  zur  Berechnung  der  ,, theoretischen"  Molrefraktionen  organischer  Verbindungen.  Seh  midiin:  Das 
Triphenylmethyl.  Werner:  Über  die  Konstitution  und  Konfiguration  von  Verbindungen  höherer  Ordnung.  Hann: 
Lehrbuch  der  Meteorologie.  Münch:  Erlebnis  und  Geltung.  Kafka:  Einführung  in  die  Tierpsychologie.  Lux:  Das 
moderne  Beleuchtungswesen.  —  Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstrafle    IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  P'olge  13     liaml ; 
der  ganzen  Keihu  29.  Band 


Sonntag,  den   14.  Juni   1914. 


Nummer  Ji4. 


Methoden  /Air  Untersuchung  des  „Sehens 

[Nachdruck  verboten.]  Von  Dr.  Friedrich  Keyl  (Frankfurt  a.  M.). 

Bis  fast  ZU  den  Tagen  Darwins  hatte  man 
von  einer  Tierpsychologie,  dem  Zweige  der  Psycho- 
logie, der  sich  mit  den  geistigen  P""ähigkeiten  der 
Tiere  befaßt,  nahezu  keine  Ahnung.  Man  hatte 
sich  daran  gewöhnt,  den  Tieren  jede  Regung 
geistigen  Lebens  abzusprechen  und  alle  ihre  Hand- 
lungen, die  für  uns  den  Begriff  der  Zweckmäßig- 
keit erkennen  lassen,  einfach  als  Äußerungen  des 
Instinktes  aufzufassen.  Darwins  Lehre  von  der 
allmählichen  Weiterentwicklung  auch  auf  das 
feelische,  geistige  Gebiet  übertragen,  führte  dann 
nach  und  nach  zur  Herausbildung  eines  eigenen 
Wissenschaftszweiges  der  Tierpsychologie.  Beob- 
achtung der  Tierwelt  in  ihrem  Leben  und  Trei- 
ben in  der  Freiheit  und  in  der  Gefangenschaft 
haben  den  Biologen  und  Psychologen  mehr  und 
mehr  dazu  gebracht,  das  Experiment  im  Dienste 
der  Tierpsychologie  als  den  allein  ausschlaggeben- 
den und  weiterführenden  Faktor  anzuerkennen. 
So  haben  sich  denn  seit  den  Tagen  Hermann 
Müllers  und  Preyers  die  experimentellen 
Untersuchungsmethoden  zu  immer  größerer  Voll- 
kommenheit und  Sicherheit  herausgearbeitet.  Wie 
es  ja  nun  aber  so  oft  in  der  Wissenschaft  geht, 
hat  man  auch  hier,  nachdem  einmal  geistige,  sinn- 
liche Eigenschaften  den  Tieren  zugesprochen 
waren,  gern  und  leicht  über  das  Ziel  hinausge- 
schossen und  zuviel  Menschliches  auch  auf  die 
Tiere  übertragen.  Immer  wieder  mußten  Stim- 
men laut  werden,  um  solche  Analogie-  und  Fehl- 
schlüsse zu  hindern  oder  doch  vor  ihnen  zu  war- 
nen. So  sagten  schon  1852  Bergmann  und 
Leuckart:  „Hüten  wir  uns,  auf  die  Tiere  mit 
zu  großer  Sicherheit  zu  übertragen,  was  wir  von 
unseren  eigenen  sinnlichen  Wahrnehmungen  her 
kennen  .  .  .  Praktisch  wichtiger  sind  die  L^nter- 
suchungen  über  die  Grenzen,  innerhalb  welcher 
die  Tiere  mittels  ihrer  Sinneswerkzeuge  die  Außen- 
welt zu  erkennen  vermögen  .  .  ." 

In  den  folgenden  Zeilen  möchte  ich  nun  einen 
Überblick  und  eine  Beschreibung  der  Untersuchungs- 
methoden geben,  die  man  herausgebildet  hat,  das 
„Sehen"  der  Tiere  zu  prüfen.  Da  heißt  es  nun 
in  erster  Linie  festzustellen,  was  man  unter  „Sehen" 
verstehen  will.  Daß  dies  nicht  ganz  leicht  ist, 
zeigt  ein  Blick  in  die  ausgedehnte  Literatur,  aus  der 
ich  einige  Definitionen  als  Beispiele  anführen  will. 
Noel  definiert;  „Le  mot  „voir"  supposant  generale- 
ment  une  distinction  visuelle  est  une  representation 
visuelle  et  psychique des  objets."  Max  Schnitze  er- 
klärt: „Sehen  ist  Umwandlung  derjenigen  Bewe- 
gung, auf  welcher  das  Licht  beruht,  in  eine 
andere,  welche  wir  Nervenleitung  nennen."     Nach 


der  Tiere. 


A.  v.  Gräfe  versteht  man  unter  Sehen  „die  Emp- 
findung des  Leuchtenden  haben"  —  das  Sehen 
im  engeren  Sinne  ist  aufzufassen  als  ,,die  Perzep- 
tion  der  optischen  auf  der  Netzhaut  entstehenden 
Bilder".  Nagel  ^),  dem  die  beiden  letzten  Defi- 
nitionen entnommen  sind,  führt  noch  eine  weitere 
an,  die  einem  Urteilsspruch  des  Reichsgerichts 
vom  6.  März  1895  entstammt,  der  aus  Anlaß 
einer  Sehstörung  durch  Verletzung  herbeigeführt 
wurde;  „Der  Verlust  des  Sehvermögens  ist  an- 
zunehmen, wenn  das  Auge  zwar  noch  für  die 
Lichteindrücke  empfänglich,  das  Unterschei- 
dungsvermögen oder  die  Fähigkeit,  äußere 
Gegenstände  wahrzunehmen,  aber  erloschen  ist." 
Alle  diese  Erklärungen,  bis  auf  die  von  Schnitze, 
bedürfen  des  Auges  als  desjenigen  Apparates,  der 
Bilder  entwirft  und  schalten  somit  von  vornher- 
ein die  Tiere  von  der  Fähigkeit  zu  ,, sehen"  aus, 
die  keine  Augen  besitzen ;  und  doch  vermögen 
diese  auch  Helligkeitsunterschiede  wahrzunehmen. 
Lubbock'-j  sagt  ja  schon:  „Einfaches  Empfinden 
des  Lichtes  ist  möglich  ohne  irgendeinen  op- 
tischen Apparat."  Um  auch  diese  Fähigkeit  mit 
in  meine  Ausführung  einzubegreifen,  möchte  ich 
folgende  Definition  geben;  Jede  Reaktion,  die 
durch  eine  Änderung  am  Lichtstrahlen  aussen- 
denden Objekt,  sei  es  durch  Vermehrung  oder 
Verminderung  der  Größe  oder  der  Intensität  des 
Lichtes,  sei  es  durch  eine  Änderung  in  der  Rich- 
tung der  ausgehenden  Strahlen,  an  dem  von  den 
Strahlen  getroffenen  Tierkörper  hervorgerufen 
wird,  ist  ein  Zeichen  dafür,  daß  das  Tier  ,, sieht", 
oder  um  den  landläufigen  Begriff  des  ,, Sehens" 
als  Bildempfindung  ganz  zu  umgehen,  daß  das 
Tier  Licht  empfindet,  also  nach  Beer^)  photiert. 
Es  soll  aber  hierbei  keineswegs  ausgedrückt 
sein,  wie  diese  Lichtempfindung  vor  sich  geht, 
ob  als  t^mpfindung  von  Helligkeit  und  Dunkel- 
heit, ob  als  Gefühl  des  Schmerzes  oder  der  Un- 
lust usw. 

Die  verschiedenen  Methoden  zur  Untersuchung 
des  Sehens  der  Tiere  lassen  sich  in  drei  Haupt- 
gruppen einteilen: 

1.  die  Methoden  der   direkten  Reaktion, 

2.  die  Wahlmethoden, 

3.  die  Strukturmethoden. 
I.   Methoden  der  direkten  Reaktion. 

Die  Untersuchung  nach  der  ersten  Art  beruht 


')  Nagel,    Der    Lichtsinn    augenloser  Tiere,  Jena   1896. 

2)  Lubbock,  Die  Sinne  und  das  geistige  Leben  der 
Tiere.     Intern,   wiss.  Bibl.   iSSg. 

'■')  Beer,  Über  primitive  Sehorgane.  Wiener  klinische 
Wochenschrift   1901. 


370 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  24 


darauf,  daß  man  auf  ein  Tier  einen  bestimmten 
Reiz  einwirl<en  läßt  und  dabei  nun  beobachtet, 
ob  irgendwelche  Reaktionen  des  Versuchstieres 
ausgelöst  werden. 

Zu  dieser  Methode  gehören  die  einfachsten 
Untersuchungen,  die  man  angestellt  hat,  um  zu 
prüfen,  ob  ein  Tier  überhaupt  „sieht",  sei  es  nun, 
daß  es  wirkliche  Gegenstände  erkennen  kann,  also 
mit  Nagel  ')  zu  reden  „ikonoptisch"  ist  oder  dal3 
es  nur  Hell  und  Dunkel,  Licht  und  Schatten  unter- 
scheidet und  mithin  nur  „photoskoptisch"  ist. 

Betrachten  wir  zuerst  kurz  die  Versuche,  die 
sich  damit  befassen,  das  Sehen  von  Gegenständen 
seitens  der  Versuchstiere  festzustellen.  Diese  be- 
ruhen auf  der  Beobachtung,  daß,  wenn  ein  Gegen- 
stand in  irgendwelcher  Weise  vor  einem  augen- 
tragenden, also  ikonoptischen  Tiere  eine  Verände- 
rung erfährt,  das  Versuchstier  darauf  reagiert,  sei 
es  nun,  daß  es  den  Gegenstand  mit  den  Augen 
verfolgt  oder  eine  Reflexbewegung  ausführt,  sei 
es,  daß  es  auf  ihn  zueilt  oder  ihn  flieht.  Bezüg- 
lich des  Sehobjektes  läßt  sich  diese  Art  der  Unter- 
suchung sehr  vielseitig  modifizieren.  .So  kann 
man  das  Gesehenwerden  von  bewegten  und  un- 
bewegten Gegenständen  prüfen.  Weiter  läßt  sich 
das  Erkennungsvermögen  als  abhängig  von  der 
Größe,  der  Farbe,  der  Helligkeit  usw.  des  Objek- 
tes feststellen. 

Eine  besondere  Art  dieser  Methode  ist  die, 
bei  der  die  Sichtbarkeit  bzw.  die  Unsichtbarkcit 
gebotenen  F\itters  als  Grundlage  dient.  Hierbei 
streut  man  dem  Versuchstiere  Futter  aus  und 
bestrahlt  es  entweder  mit  zusammengesetztem  oder 
mit  homogenem  Licht  und  stellt  fest,  ob  das  Tier  das 
Futter  nimmt,  es  also  sieht ;  zu  berücksichtigen 
ist  hierbei,  daß  man  kein  F^utter  benutzt,  was  sich 
durch  den  Geruch  verrät.  Man  kann  auch  so  vor- 
gehen, daß  man  das  F'utter  in  einem  auf  den 
Boden  geworfenen  Spektrum  ausstreut  und  das 
Versuchstier  dann  fressen  läßt.  Es  läßt  sich  nun 
an  dem  F'ehlen  bestimmter  F'utterpartien  feststellen, 
welche  Farben  für  das  Tier  sichtbar  waren  und 
welche  nicht.  Durch  passende  Anordnung  von 
verstellbaren  Blenden  vor  der  Lichtquelle  läßt  sich 
auch  genau  der  Helligkeitsgrad  des  Lichtes  be- 
stimmen, bei  dem  es  zu  sehen  anfängt.  Stets  ist 
aber  bei  diesen  Versuchen  zu  berücksichtigen,  ob 
das  Versuchstier  vor  dem  Beginn  der  Beobachtung 
im  Dunkeln  gehalten  wurde  oder  im  Hellen,  d.  h. 
ob  das  Auge  im  Zustand  der  Dunkeladaption  sich 
befand  oder  in  dem  der  Helladaption. 

Viel  zahlreicher  als  die  eben  angeführten  Ver- 
suche, bei  denen  das  Tier  einen  bestimmten  Gegen- 
stand erkennen  soll,  sind  die,  bei  welchen  Licht- 
strahlen als  solche  unabhängig  von  einem  bestimm- 
ten Objekt,  von  denen  sie  ausgehen,  zur  Reaktion 
gebracht  werden. 

Die  relativ  einfachsten  Untersuchungen,  ob  ein 
Tier  überhaupt  auf  Lichtstrahlen  reagiert,  sind  der- 


art angestellt  worden,  daß  man  Tiere,  die  sich 
vorher  im  Dunkeln  befanden,  plötzlich  beleuchtete 
oder  umgekehrt,  daß  man  auf  sich  im  Hellen  be- 
findlichen Tieren  einen  Schatten  fallen  ließ.  Von 
R  c  a  u  m  u  r  ')  stammt  wohl  die  älteste  diesbezüg- 
liche genauere  Angabe,  die  ich  aus  historischem 
Interesse  hier  anführen  will.  Er  machte  in  einem 
Stück  Holz  eine  kleine  Höhlung,  ähnlich  der,  welche 
die  Weidenbohrerraupen  anfertigen.  Nun  setzte 
er  eine  solche  Raupe  in  den  Hohlraum  hinein 
und  verschlotiJ  ihn  nach  außen  fest  mit  einer  Glas- 
scheibe, da  die  Tiere  die  Berührung  mit  der  äußeren 
Luft  scheuen.  Es  ließen  sich  also  nun  die  Be- 
wegungen des  Tieres  durch  das  Glas  genau  ver- 
folgen. Näherte  R  e  a  u  m  u  r  eine  Kerze  so,  daß 
die  Strahlen  auf  die  Raupe  fielen,  so  kroch  sie 
vor-  oder  rückwärts  und  suchte  sich  zu  verbergen. 
Er  schließt  dann  die  Beschreibung  seines  Ver- 
suches mit  den  Worten :  „il  y  a  grande  apparance 
qu'il  avoit  des  yeux  capables  de  voir".] 

Auch  bei  diesen  einfachen  Methoden  lassen 
sich,  je  nachdem  man  zusammengesetztes,  weißes 
Licht  oder  homogenes,  einfarbiges  verwendet,  Auf- 
schlüsse geben,  ob  die  Tiere  für  die  einzelnen 
F'arben  unterschiedsempfänglich  sind.  Die  Reak- 
tion, die  durch  den  Licht-  oder  Beschattungsreiz 
ausgeübt  wird,  tritt  aber  nicht  in  allen  Fällen 
augenblicklich  ein,  sondern  es  befindet  sich  oft 
dazwischen  eine  mehr  oder  weniger  lange  Latenz- 
zeit. Um  die  verschiedene  Reizstärke  der  spek- 
tralen Farben  zu  prüfen,  kann  man  so  vorgehen, 
daß  man  die  Versuchstiere  längs  eines  Spektrums 
bewegt  und  beim  Übergang  in  die  einzelnen  F'arben 
genau  beobachtet  oder  indem  man  diese  mittels 
eines  Spiegels    nacheinander   auf  die   Tiere   wirft. 

Für  augentragende  Tiere  sind  nun  im  Laufe 
der  Zeit  noch  mehrere  Methoden  ausgearbeitet 
worden,  die  an  Genauigkeit  und  Reizempfindlich- 
keit die  bis  jetzt  genannten  weit  hinter  sich  lassen. 

1892  veröffentlichte  Sachs'-)  eine  neue  Me- 
thode zur  Untersuchung  des  Einflusses  des  Lichtes 
auf  das  Auge,  die  er  auf  den  von  ihm  geschaffenen 
Begriff  der  motorischen  Valenz  des  Lichtes  auf- 
baute. Darunter  versteht  er  das  Vermögen  des 
Lichtes,  Reflexbewegungen  der  Iris  auszulösen. 
Je  größer  die  Valenz  ist,  um  so  kleiner  ist  die 
Öffnung  der  Pupille.  Motorisch-äquivalente  Lichter 
sind  solche,  deren  motorische  Valenzen  gleicii  sind. 
Er  benutzte  bei  seiner  Methode  als  Versuchsobjekt 
nur  den  Menschen;  auch  nachher  noch,  als  er  sie 
ausbaute  zu  einer  „Methode  der  objektiven  Prüfung 
des  F'arbensinnes".  Schirm  er'")  verwandte  die 
Sachs 'sehe  Methode  nur  beim  menschlichen 
Auge,    indem   er  noch  besonders  die  Beziehungen 


')  Nagel,     Experimentelle     sinnesphysiologische    Unter- 
suchungen   an    Cölenleraten.     Pflügers  Archiv,    Bd.    57,    1S94. 


')  Reaumur,  Memoires  pour  servir  a  l'histoire  des  In- 
sectes.     Amsterdam   1798. 

^]  Sachs,  Über  den  Einfluß  farbiger  Lichter  auf  die 
Weite  der  Pupille.     Pflügers  Arch.,  Bd.  52,   1892. 

— ,  t'ine  Methode  der  objektiven  Prüfung  des  Farben- 
sinnes.    Arch.  für  Ophthalmologie,  Bd.  39,   1893. 

')  Schirmer,  Unters,  zur.  Phys.  der  Pupillenweite.  Arch. 
f.  Ophthalm.,  Bd.  40,   1894. 


N.  F.  XIII.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


371 


zwischen  der  Helligkeit,  dem  Adaptionszustande 
und  der  Pupillenweite  besonders  feststellte.  Abels- 
dorff^)  wandte  dann  diese  Methode  auf  Ver- 
suchstiere an.  Im  Dunkelzimmer  wurden  die  Ver- 
suche v'orgenommen  und  sowohl  für  weißes  Licht 
als  auch  für  farbige  Glas-  und  Spektrallichter  vor 
allem  von  Heß")  mit  den  verschiedensten  Ver- 
suchstieren erprobt  und  vervollkommnet. 

Ganz  analog  wie  das  VVirbeltierauge  den  Liclit- 
reiz  durch  Erweitern  oder  Verengern  seiner  Pupille 
beantwortet,  reagiert  das  Auge  der  Cladoceren 
und  das  decapoder  Krebse  auf  ein  Mehr  oder 
Weniger  der  Belichtung  durch  Veränderung  seiner 
Achsenstellung.  R  ä  d  1 ")  machte  diese  Beobach- 
tung zuerst  1901  an  Daphnien.  Er  stellte  durch 
einfache  Versuche  fest,  daß  der  Scheitel  des  Auges 
sich  der  Lichtquelle  oder  dem  Mehr  der  Licht- 
intensität zudreht.  Unter  Scheitel  versteht  er  den 
in  der  Normalstellung,  d.  h.  der  Rücken  ist  gegen 
das  Licht  gerichtet,  dem  Rücken  zugekehrten  Pol 
des  Auges.  Befinden  sich  unter  einem  Mikroskope 
Daphnien  in  dieser  Normalstellung  und  schließt 
man  das  von  unten  kommende  Licht  durch  die 
Irisblende  ab,  so  dreht  sich  der  Scheitel  des  Auges 
nach  oben,  also  dorthin,  wo  das  meiste  Licht 
herkommt.  Deckt  man  andererseits  das  von  oben 
auffallende  Licht  ab,  so  dreht  sich  das  Auge  nach 
unten.  Für  farbige  Lichter  hat  Heß*)  diese  R  ä  d  1  - 
sehen  Versuche  angewendet. 

Eine  weitere  exakte  Methode,  den  Einfluß  der 
Lichtstrahlen  auf  das  Auge  zu  zeigen,  ist  die,  die 
das  elektromotorische  Verhalten  der  Netzhaut  ver- 
wertet. Bei  Belichtung  des  Wirbeltierauges  läßt 
sich  nachweisen,  daß  nach  einer  gewissen  Latenz- 
zeit, die  mit  der  Temperatur  in  umgekehrtem 
Sinne  sich  ändert,  an  der  Cornea  bzw.  an  der 
Faserseite  der  Netzhaut  ein  stärkeres  positives, 
am  Sehnerven  bzw.  der  Stäbchenschicht  der  Retina 
ein  stärkeres  negatives  Potential,  als  vorher  dort 
gewesen,  auftritt.  Dieses  nach  Kühne  und 
Steiner^)  als  das  Gesetz  der  konstanten  Span- 
nungsänderung bekannte  Gesetz  bezieht  sich  in  den 
Bezeichnungen  positiv  und  negativ  auf  einen  äußeren 
Stromkreis.  Der  entstehende  Strom  ist  durch 
G  o  t  c  h  ")  in  3  Phasen  eingeteilt  worden.  In 
I.  den  „on-effect",  der  ein  steiles  Ansteigen  und 
dann  einen  geringen  Wiederabfall  der  elektro- 
motorischen Kraft  zeigt,  2.  den  „continous-effect". 


')  Abelsdorff,  Zur  Erforschung  des  Helligkeils-  und 
Karbensinnes  bei  Menschen  und  Tieren.  Arch.  f.  Anat.  u.  Phys. 
1900. 

— ,  Die  Änderung  der  Plipillenweite  durch  verschieden- 
farbige Belichtung.  Zeitschr.  f.  Phys.  der  Sinnesorgane.  Bd.  22. 
1900. 

^)  Heß,  Vergleichende  Physiologie  des  Gesichtssinnes 
Jena   1912. 

')  Rddl,  Über  den  Photolropismus  einiger  Arthropoden. 
Biol.  Centralbl.,   Bd.   21,    1901. 

*)  Heß,   Vergl.  Physiologie  usw. 

°)  Kühne  und  Steiner,  Über  das  elektrom.  Verhalten 
der  Netzhaut.     Unters,  d.  phys.   Inst.  Heidelberg  1S80. 

*)  Gotch,  The  time  relations  of  the  photo-electric 
changes  in  the  eyebae  of  the  frog.  Journal  of  Phys.  1903. 
Bd.  29. 


einen  nur  wenig  oszillierenden  .Strom,  der  den 
Dunkelstrom  im  Auge  um  einen  konstanten  Wert 
überragt,  und  3.  den  ,,off-effect".  Dieser  tritt  erst 
nach  Verdunkelung  wieder  ein  und  zwar  nach 
einer  Latenzzeit  von  0,14 — 0,22  Sekunden  und 
verhält  sich  ganz  ähnlich  wie  der  „on-effect", 
doch  zeigt  er  meist  größere  und  schneller  abflauende 
Schwankungen  als  dieser.  Die  Latenzperioden 
sind  bei  den  einzelnen  Augen  verschieden  lang, 
je  nach  der  Farbe  und  der  Intensität  des  Lichtes. 

Piper')  war  es,  der  diese  Methode  ausbaute 
und  zur  Untersuchung  von  Kaninchen-,  Katzen-, 
Hunde-  und  Vogelaugen  benutzte  und  sich  dazu 
komplizierte  Apparate  herstellte.  Auch  fürCephalo- 
poden  versuchte  er  sie.  Himstedt  und  Nagel") 
u.  a.  untersuchten  auf  diese  Weise  das  Froschauge. 

Zur  Untersuchung,  ob  Krebse  und  Insekten 
ultraviolettreiches  Licht  wahrnehmen  können  und 
um  schließen  zu  können,  in  welcher  Helligkeit 
ihnen  dieses  im  Vergleich  zu  der  Helligkeit  be- 
nachbarter Strahlen  des  Spektrums  (z.  B.  violett) 
erscheint,  hat  Heß'')  eine  einfache  Methode  er- 
dacht. Diese  beruht  auf  der  Fluoreszenzerscheinung, 
die  viele  Augen  bei  Belichtung  erkennen  lassen. 
So  hat  er  das  Licht  einer  gewöhnlichen  kleinen 
Bogenlampe  im  Dunkelzimmer  durch  eine  Quarz- 
linse auf  das  Arthropodenauge  geworfen.  Nun 
beobachtete  er  dieses  bei  etwa  20^ — Sofacher  Ver- 
größerung durch  das  Mikroskop  oder  eine  Bin- 
okularlupe. Vor  der  Lichtquelle  war  eine  Blau- 
violglasplalte  eingeschaltet.  Das  durch  sie  hin- 
durchgehende Licht  ruft  nun  in  den  Facetten  des 
Auges  reiche  Fluoreszenz  hervor,  z.  B.  bei  For- 
mica  rufa,  Dytiscus  marginalis,  Notonecta  glauca, 
Schmetterlingen,  Bienen,  Stubenfliegen,  Astacus 
fluviatilis,  Daphnien  usw.  Wird  nun  eine  Schwerst- 
flintplatte  vor  die  Strahlen  eingeschaltet,  die  den 
größten  Teil  der  ultravioletten  Strahlen  löscht,  s© 
verschwindet  sofort  die  Fluoreszenzerscheinung 
und  erscheint  erst  wieder  bei  Entfernung  der  vor- 
gestellten Platte.  Diese  Erscheinungen  ergeben, 
daß  den  Tieren,  bei  denen  sie  auftreten,  ultra- 
violettreiches Licht  wohl  heller  erscheint  als  violett- 
armes; das  läßt  sich  durch  Tiere,  bei  denen  Hellig- 
keitsunterschiede leicht  Bewegungen  auslösen,  wie 
z.  B.  Daphnien  usw.,  auch  gut  feststellen. 

Wie  nun  bei  den  bis  jetzt  betrachteten  Metho- 
den Lichtstrahlen  entweder  Bewegungen  des  Tieres 
oder  optische  Erscheinungen  und  elektrische  Re- 
aktionen im  Auge  selbst  auslösten,  so  hat  O  r  b  e  1  i  *) 
gezeigt,  daß  auch  bestimmte  Drüsen,  wie  z.  B. 
die  Speicheldrüse,  durch  von  dem  Auge  wahr- 
genommene Lichtstraiilen  in  ihrer  Tätigkeit  be- 
einflußt werden  können.  Diese  Eigenschaft  baute 
er  zu  einer  Methode  zur  Untersuchung  des  Farben- 


')  Piper,  Archiv  f.   Physiol.   1905,  Suppl.-Bd. 

")  Himstedt  und  Nagel,  Versuche  über  die  Reizwir- 
kung verschiedener  Strahlenartcn  auf  Menschen-  und  Tieraugen. 
Festschrift  d.  Univ.  Freiburg   1902. 

')  Heß,  Vergl.  Phys.  usw. 

*)  Orbeli,  Reflexes  conditionnels  du  cnte  de  l'oeil  chez 
le  chien.  Arch.  d.  Sciences  biol.   1907. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Unterscheidungsvermögens  des  Hundes  aus.  Er 
ließ  auf  einem  weißen  Schirme  ein  rotes  Quadrat 
erscheinen  und  jedesmal  verabreiclite  er  dabei  dem 
Hunde  Futter,  was  eine  Speichelsekretion  veran- 
laßte.  Nach  einiger  Zeit  hatte  er  es  dann  erreicht, 
daß  schon  allein  bei  dem  Erscheinen  des  roten 
Quadrates  Speichelfluß  eintrat  auch  ohne  daß  der 
Hund  gefüttert  wurde.  Nun  ließ  er  andere  Farben 
auftauchen;  Futter  bekam  das  Tier  jedoch  nur  bei 
roten  Scheiben.  Es  trat  aber  nun  nicht  das,  was 
O  r  b  e  1  i  vermutete,  ein,  daß  nämlich  bei  den  anderen 
Farben  die  Speichelabgabe  ausblieb.  Er  kam  dann 
zu  dem  Schlüsse,  daß  eben  der  Speichelfluß  aus- 
gelöst wurde  durch  den  Wechsel  der  Lichtinten- 
sität, nicht  aber  durch  die  verschiedene  Wellen- 
länge des  Lichtes. 

Alle  bis  jetzt  angeführten  Versuche  bestanden 
darin,  daß  man  den  Einfluß  beobachtete,  den  eine 
mehr  oder  minder  große  Intensität  von  Licht  aus- 
übte. Die  nun  folgenden  beruhen  darauf  daß  man 
das  Tier  der  Organe,  mit  denen  es  die  Lichtstrahlen 
aufnimmt,  beraubt  und  dann  sein  Verhalten  be- 
obachtet im  Vergleich  zu  dem  des  normalen  Tieres. 
In  erster  Linie  sind  hierher  die;zahlreichen  Biendungs- 
versuche  zu  rechnen.  Diese  können  wieder  auf 
verschiedene  Weise  vorgenommen  werden.  Ent- 
weder es  werden  die  Augen  auf  operativem  Wege 
entfernt  oder  ihre  nervöse  Reizbarkeit  zerstört, 
oder  aber  sie  werden  auf  mechanischem  Wege 
durch  Verdeckung  unfähig  zum  Sehen  gemacht. 
Die  Operation  kann  nun  so  vorgenommen  werden, 
daß  man  entweder  die  Augen  aussticht,  abhebt 
oder  daß  man  nur  den  Nervus  opticus  durch- 
schneidet. Bei  allen  den  operierten  Tieren  ist 
mit  einer  Ruhezeit  zwischen  der  Operation  und 
den  Versuchen  zu  rechnen,  um  so  wenig  wie  mög- 
lich durch  den  Eingriff  beeinflußte  Beobachtungen 
^u  erhalten.  Hier  müssen  auch  die  Versuche 
wenigstens  erwähnt  werden,  die  man  anstellte, 
um  bei  augentragenden  Tieren  eine  Lichtwahr- 
nehmung auch  durch  die  Haut  feststellen  zu  können. 

Eine  weniger  in  den  Organismus  des  Tieres 
eingreifende  Art  der  Blendung  ist  die  Lackierung 
oder  Befirnissung  der  Augen,  wie  man  sie  vielfach 
für  Insekten  benutzte.  Hierbei  dürfen  natürlich 
keine  farbigen  oder  riechenden  Stoffe  benutzt 
werden.  Plateau  ')  fand  die  alte  Methode 
Swammerdamms  sehr  zweckmäßig,  nämlich 
mit  Leinöl  angerührten,  längere  Zeit  eingedickten 
Kienruß.  Der  Auftrag  ist  öfters  zu  erneuern,  da 
die  Insekten  sich  desselben  durch  Putzen  mit  den 
Beinen  zu  entledigen  suchen.  Graber  benutzte 
zur  Blendung  seiner  Insekten  Wachs,  mit  dem  er 
die  Augen  kuppenförmig  überdeckte.  Dubois 
verwandte  zur  Verdeckung  der  rudimentären  Augen 
von  Proteus  anguineus  einen  Firnis,  bestehend  aus 
Gelatine  und  Kienruß. 

Damit  möchte  ich  die  Reihe  der  Versuche  unter 


dem  Sammelbegrifi"  der  Methoden  der  direkten  Re- 
aktion abschließen  und  wende  mich  nun  zu  der 
Wahlmethode. 

2.  Die  Wahlmethode. 

Will  man  diese  Methode  zur  Untersuchung 
der  Einwirkung  der  Lichtstrahlen  auf  Tiere  an- 
wenden, so  läßt  man  zu  gleicher  Zeit  zwei  oder 
mehr  verschiedene  Lichtreize  das  Tier  treffen 
und  stellt  dann  fest,  welcher  von  ihnen  das  Ver- 
suchstier anziehend  oder  abstoßend  erregt.  Da- 
bei läßt  man  dem  Tiere  dann  völlig  die  Möglichkeit, 
sich  dem  einen  Reiz  mehr  zuzuwenden  und  sich  da- 
mit dem  anderen  zu  entziehen;  kurz,  das  Tier  kann 
sich  aus  den  Reizen  welche  auswählen.  Die 
hierher  gehörigen  Versuche  beschäftigen  sich 
auch  damit,  festzustellen,  ob  die  Tiere  einmal 
überhaupt  weißes  Licht  wahrnehmen  und  dann 
auch  wieder,  ob  sie  farbiges  Licht  unterscheiden 
können.  Betrachten  wir  zuerst  die  Anordnungen, 
die  weißes,  also  zusammengesetztes  Licht  benutzen 
lassen.  Da  kann  man  nun  so  vorgehen,  daß  man 
die  zu  untersuchenden  Tiere  zwei  Lichtquellen 
aussetzt,  die  in  bezug  auf  ihre  Intensität  gleich 
oder  ungleich  sind.  Im  ersten  Falle  können  die 
Lichtquellen  entweder  beide  feststehen  und  dann 
verschieden  groß  sein  oder  sie  sind  gleichgroß, 
dann  aber  bewegt  sich  die  eine,  während  die  andere 
fest  bleibt.  Auf  die  letzte  Art  prüfte  Plateau') 
Insekten,  auf  die  erste  Cole'-j  die  verschieden- 
sten Tiere,  wie  Würmer,  Insekten,  auch  Amphibien. 
Zu  Beginn  seiner  Beobachtungen  brachte  er  seine 
Versuchstiere  stets  in  die  sog.  Normalstellung, 
d.  h.  er  veranlaßte  sie,  oft  durch  sinnreich  aus- 
geklügelte Vorrichtungen,  daß  sie  in  dem  Augen- 
blick, in  dem  sie  von  den  rechts  und  links  be- 
findlichen Lichtern  getroffen  wurden,  senkrecht  zu 
deren  Verbindungslinie  standen.  Er  stellte  dann 
jeweils  den  Winkel  fest,  unter  dem  das  Tier  sich 
der  einen  Lichtquelle  näherte. 

Ganz  ähnlich  stellen  sich  die  Versuche  dar, 
wenn  man  zwei  Lichtquellen  verschiedener  In- 
tensität benutzt,  und  sie  lassen  sich  auch  in  dem- 
selben .Sinne  variieren  wie  die  eben  angeführten. 
Daß  sich  diese  Methoden  auch  für  wasserlebende 
Tiere  anwenden  lassen,  bedarf  wohl  nur  kurzer 
Erwähnung. 

Man  kann  die  Versuchsanordnungen  nun  aber 
auch  so  vereinfachen,  daß  man  dem  Tier  die 
Wahl  läßt,  zwischen  verschieden  erhellten  Teilen 
seines  Aufenthaltsraumes  sich  den  ihm  angenehm- 
sten auszusuchen.  Hierher  gehören  in  erster 
Linie  alle  die  Versuche,  die  den  Phototropismus 
der  Tiere  festlegten.  Die  angewandte  Lichtquelle 
kann  entweder  das  einseitig  in  den  Behälter  fal- 
lende Tageslicht  oder  eine  Lampe  usw.  sein. 
Gehen  die  Tiere  nun  in  den  hellen  Teil,  so  sind 
sie    positiv   phototropisch,   gehen    sie    ins  Dunkle 


')  Plateau,  Recherches  cxperimentales  ....  usw. 
)  Plateau,     Recherches    cxperimentales    sur    la    vision  ')  Cole,    An    experimental   study    of   the    image-forming 

chez  les  Arthropodes.      Bull.  d.  l'Acad.  roy.  d.  Belg.  3  Serie.       powers    of  various  types  of  eyes.     Proc.  Amer.  Acad.    Ans  a 
Tom.  15  ff.   iSSSfif.  Sc,  Vol.  42,   1907. 


N.  F.  Xra.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


373 


oder  besser  wenden  sie  sich  vom  Lichte  ab,  so 
sind  sie  negativ  phototropisch. 

Anstatt  nun  den  Behälter  der  Versuchstiere 
einseitig  zu  beleuchten,  ihn  also  immerhin  in 
allen  seinen  Teilen,  wenn  auch  verschieden  stark, 
diffus  zu  erhellen,  ist  man  auch  so  vorgegangen, 
daß  man  die  Tiere  in  einen  dunklen  Raum  brachte, 
der  nur  durch  eine  kleine  Öffnung  oder  einen 
Spalt  Licht  erhielt,  was  bei  weitem  nicht  aus- 
reichte, den  Behälter  nur  schwach  zu  erhellen. 
Man  beobachtete  dann,  ob  eine  Ansammlung  der 
Tiere  dicht  an  der  Öffnung  eintrat  oder  nicht. 

So  war  auch  hier  eine  Wahl  zwischen  Hell 
und  Dunkel  seitens  der  Versuchsobjekte  möglich. 
Bei  den  nun  anzuführenden  Methoden  besteht 
dagegen  eine  Wahl  zwischen  zwei  verschiedenen 
Farben.  Damit  ist  natürlich  nicht  gesagt,  daß 
dem  Versuchstier  die  Farben  nun  so  erscheinen 
wie  uns,  ja  nicht  einmal  das,  ob  sie  ihm  über- 
haupt als  P'arben  erscheinen.  Die  einfachste 
Anordnung  ist  die,  daß  man  über  das  Ge- 
fäß, in  dem  sich  die  Tiere,  seien  es  nun  land- 
oder  wasserlebige,  befinden,  zwei  verschiedenfarbige 
Gläser  legt  und  nach  einiger  Zeit  beobachtet,  un- 
ter welchem  sich  die  Tiere  oder  wenigstens  die 
meisten  angesammelt  haben.  Bei  diesem  Vor- 
gehen ist  es  ratsam,  der  größeren  Sicherheit  der 
Schlußfolgerungen  wegen,  die  Farben  öfters  zu 
vertauschen.  Forell  legte  auf  seinen  Kasten  mit 
Ameisen  erst  zwei  flachwandige,  mit  Wasser  ge- 
füllte Glasflaschen,  um  die  Wärmestrahlen  abzu- 
halten, und  darauf  dann  z.  B.  auf  die  eine  Hälfte 
ein  Violettkobaltglas  und  auf  die  andere  eine 
flache  Plasche  mit  Eskulinlösung.  Diese  ist  sehr 
durchsichtig,  läßt  aber  die  ultravioletten  Strahlen 
nicht  durch,  ähnlich  wie  der  Schwefelkohlenstoff. 
Merzbacher ^)  ging  so  vor:  Von  einem  größeren 
Räume  aus  führten  zwei  Öffnungen  nebeneinander  in 
zwei  gleichgroße  Räume,  von  denen  der  eine  rot 
ausgekleidet  und  mit  einer  roten  Glasplatte  be- 
deckt war,  während  der  andere  in  gleicher  Weise 
blau  oder  schwarz  ausgestattet  war.  In  den  ge- 
meinsamen hellen  Vorraum  wurden  die  Versuchs- 
frösche gesetzt^und  festgestellt,  in  welchen  Raum 
sie  sich  flüchteten.  Alle  diese  Versuche  lassen 
sich  zusammenfassen  unter  dem  Begriff  der 
„Zweikammermethode",  wie  sie  als  solche  Graber 
einführte. 

An  diese  Anordnungen,  bei  denen  es  auf  die 
Wahl  der  Tiere  zwischen  zwei  Farben  ankommt, 
ordnen  sich  die  an,  bei  denen  den  Versuchstieren 
Gelegenheit  geboten  wird,  aus  einer  Anzahl  von 
Farben  zu  wählen.  In  Betracht  kommen  dabei 
farbige  Glaslichter  und  die  Spektralfarben.  Die 
Versuche  mit  ersteren  gestalten  sich  wieder  so, 
daß  man  eben'mehrere  farbige  Glasplatten  über 
den  Behälter  der  Versuchstiere  legt.  Die  meisten 
hierher  gehörigen  Versuche  wurden  aber  mit  den 


Spektralfarben  angestellt  und  zwar  derart,  daß  man 
auf  den  Behälter  von  oben  oder  von  der  Seite  her 
ein  objektives  Spektrum  warf. 

Bei  allen  bis  jetzt  unter  der  Wahlmethode  an- 
geführten Versuchen  trat  eine  natürliche  Bevor- 
zugung seitens  des  Tieres  ein,  man  kann  diese 
aber  auch  durch  eine  künstliche,  angelernte  Bevor- 
zugung ersetzen.  Dabei  kommt  man  dann  zu  den 
sog.  „Dressurmethoden",  die  ich  aber  immer  noch 
unter  den  Hauptbegriff  der  Wahlmethoden  ein- 
fügen will.  Katz  und  Revesz^)  färbten  Reis- 
körner mit  bestimmten  Farben  und  klebten  die 
einer  bestimmten  Farbe  (z.  B.  die  roten)  auf  der 
Unterlage  fest  („Klebemethode"),  während  die 
anderen  lose  ausgestreut  wurden.  Dadurch  brachten 
sie  die  Hühner  bald  dahin,  die  roten  Körner,  auch 
wenn  sie  nun  nicht  mehr  festgeklebt  waren,  liegen 
zu  lassen.  Diese  Methode  hat  Ähnlichkeit  mit  der 
Seebeck- Holmgrenschen  Wollprobe.  Hier 
wird  der  zu  untersuchenden  Person  ein  Bündel 
Wollfäden  verschiedener  Farbe  vorgelegt.  Eine 
Farbe  wird  ihr  nun  bezeichnet  und  sie  muß  dann 
die  gleichen  und  ähnlichen  Farben  auslesen.  Dem 
Zeichen  der  Farbe  entspricht  hier  bei  dem  Ver- 
such mit  den  Hühnern  das  Ankleben,  das  Aus- 
suchen aber  dann  dem  Liegenlassen  und  Zuletzt- 
picken. Solcher  Dressurmethoden  sind  eine  ganze 
Anzahl  ausgearbeitet  und  versucht  worden  und  ver- 
weise ich  nur  auf  die  Arbeiten  von  Eimer  Gates,") 
Samoiloff  und  Phe  ophilakt  o  wa  ")  u.  a.  m. 

3.  Struktur methode. 

Eine  letzte,  aber  viel  weniger  benutzte  Methode, 
Aufschluß  über  das  Sehen  der  Tiere  zu  gewinnen, 
ist  die  sog.  „Strukturmethode",  die  z.  B.  Exner^) 
für  das  zusammengesetzte  Auge  der  Arthropoden 
und  DemolP)  für  Squilla  mantis  besonders  ge- 
brauchten. Diese  Methode  beruht  darauf,  daß  die 
Struktur  eines  Sinnesorganes  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  gestattet,  uns  Rechenschaft  zu  geben 
über  die  Natur  und  die  Vollkommenheit  von  Emp- 
findungen, die  ein  Tier  hat.  Diese  Methode  ist 
aber,  wie  Claparede  bemerkte,  schon  eigentlich 
keine  psychologische  mehr. 

Im  vorstehenden  habe  ich  nun  einen  Über- 
blick zu  geben  versucht  über  Methoden  und  Ver- 
suchsanordnungen, die  man  angewendet  hat,  das 
„Sehen"  der  Tiere  zu  untersuchen.  Nicht  be- 
rücksichtigt habe  ich,  als  vom  Thema  zu  weit 
abführend^  die  Methoden  der  indirekten  Reaktion, 


')  Merzbacher,  Über  die  Beziehungen  der  Sinnes- 
organe zu  den  Reflexbewegungen  des  Frosches.  Pflügers 
Archiv.,  Bd.  81, 


')  Katz  und  Revesz,  Experimentell -psychologische 
Untersuchungen  mit  Hühnern.  Zeitschr.  f.  Psychologie,  Bd.  50, 
190S. 

^)  Gates,  Eimer,  The  Science  ofMentation  and  some 
ncw  general  Methods  ot  Psychologie  Research.   The  Monist  5. 

1894—95- 

")  Samoiloff  and  Pheophilaktowa,  Über  die 
Karbenwahrnehmung  beim  Hunde.  Centralbl.  f.  Physiol.,  Bd.  21, 
1907. 

*)  Exner,  Die  Physiologie  der  facettierten  .'\ugen  von 
Krebsen  und  Insekten.     Leipzig  u.  Wien   iSgi. 

s)  Dem  oll,  Über  die  .\ugen  und  Augenstielreflexe  von 
Stjuilla  mautis.     Zool.  Jahrb.,  Bd.  27,   1909. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  24 


wie  z.  B.  Yerkes  ^)  sie  benutzt  hat  bei  seinen  Ver- 
suchen mit  dem  Frosch.  Er  stellte  fest,  ob  z.  B.  ein 
Geräusch  in  irgendeiner  Weise  die  Reaktionen  des 
Gesichtssinnes  beeinflußt. 

Viele  Versuche  nun,  die  der  eine  Forscher  an- 
stellte, sind  von  einem  anderen  als  ungenau  oder 


')  Yerkes,  Bahnung  und  Hemmung  der  Reaktionen  auf 
taktile  Reize  durch  akustische  Reize  beim  Frosche.  Pflüger's 
Archiv,  Bd.    107,     1905. 


täuschend  späterhin  verworfen  worden.  Auf  die 
so  entstandene  Polemik  habe  ich  mich  ebenfalls 
nicht  eingelassen,  um  den  Rahmen  dieser  Zeit- 
schrift nicht  zu  verlassen.  Für  das  Gültig-  oder  Un- 
gültigsein der  Versuche  müssen  eben  andere  Ver- 
suche selbst  wieder  reden.  In  diesem  Sinne  sagt 
ja  auch  Plateau: 

,,0n  ne  repond  ä  des  experiences  physiologique 
que  par  des  experiences." 


[Nachdiuck  verboten.] 


Zui-  Frage  der  Ateinreguliition  in  der  Tierreihe. 

Von  Prof.   Dr.   Edward  Babäk  (l'rag). 


In  dem  ganzen  Tierreiche  treten  in  unüberseh- 
barer Mannigfaltigkeit  Atembewegungen  auf,  als 
wirksame  Hilfsmittel,  um  den  Gasaustausch  an 
den  Atemflächen  der  Organismen  zu  fördern.  Bei 
den  niederen  Wirbellosen  wird  das  Atemmedium 
(Wasser)  vermittels  rhythmischer  Flimmertätigkeit 
an  der  Körperoberfläche  erneuert,  oder  durch  den 
Körper  bzw.  durch  gewisse  mit  mächtig  entwickel- 
ter Atemfläche  ausgestattete  Organe  —  Kiemen  — 
geleitet;  es  werden  aber  auch  scfion  hier  auffällige 
Muskelbewegungen  im  Dienste  des  Atemgeschäftes 
angetroffen,  inid  sie  erreichen  insbesondere  bei 
den  Insekten  und  Cephalopoden  eine  hohe  .Stufe 
der  Ausbildung.  Bei  den  Wirbeltieren  sind  die 
Atembewegungen  insgesamt  so  auffällig,  daß  man 
die  „Atmung"  allgemein  als  Kriterium  des  Lebens 
des  Tieres  (neben  der  Herztätigkeit)  aufzufassen 
sich  gewöhnt  hat.  Und  doch  handelt  es  sich  um 
eine  sekundäre  Einrichtung;  durch  Atembewegun- 
gen wird  nur  der  Atemgaswechsel  erleichtert,  in- 
dem die  zur  eigentlichen  (Gewebs-)  Atmung  nötige 
Sauerstoftzufuhr  und  die  Ausfuhr  des  bei  der  Ge- 
websatmung  entstehenden  Kohlendioxyds  ausgiebig 
beschleunigt  wird.  In  der  Tat  sehen  wir  oft  bei 
einem  und  demselben  Organismus,  daß  die  jungen 
Stadien  seiner  Entwicklung  keine  Atembewegun- 
gen aufweisen  (z.  B.  manche  Larven  der  Insekten 
oder  der  Amphibien),  während  das  entwickelte  Tier 
rhythmische  auffällige  Atembewegungen  aufzeigt: 
dies  scheint  mit  der  Intensität  der  Lebensprozesse, 
insbesondere  derGewebsatmungbei  denaufeinander- 
folgenden  Entwicklungsstadien  im  Zusammenhange 
zu  sein  (teilweise  auch  mit  der  Körpergröße,  d.  h. 
mit  der  relativen  Oberflächenentwicklung,  denn 
kleine  Körper  besitzen  verhältnismäßig  größere 
Oberflächen  als  große  Körper,  und  demzufolge 
auch  günstigere  Gaswechselbedingungen  usw.). 

Über  die  Regulation  der  primitivsten  Atem- 
bewegungseinrichtungen, der  Plimmerorgane  der 
wasserlebenden  Wirbellosen,  ist  bisher  wenig  be- 
kannt. Man  sieht  größtenteils  die  Flimmer- 
bewegung beständig  fortdauern,  aber  doch  zeugen 
manche  Beobachtungen  dafür,  daß  je  nach  den 
äußeren  Einflüssen  und  nach  den  inneren  Bedürf- 
nissen Änderungen  des  Flimmerschlages  Zustande- 
kommen. Neuerdings  haben  wir  bei  den  Muscheln 
nachgewiesen,  daß  gewisse  als  eigentliche  „respira- 


pern  in  den  Kiemen  je  nach  dem  Sauerstoffgehalte 
des  Wassers  stärker  und  rascher,  oder  schwächer 
und  langsamer  tätig  sind  und  auf  diese  Weise 
den  Atemstrom  regulieren.  Diese  Eigenschaft 
kommt  auch  den  betrefienden  aus  dem  Körper 
entfernten  P'limmerzellen  zu,  so  daß  es  wahrschein- 
lich ist,  daß  auch  bei  dem  unberührten  Tiere  durch 
lokale  Einwirkung  des  sauerstoffreichen  oder  sauer- 
stoffarmen Wassers  die  betreffenden  F"limmerhaare 
direkt  zu  schwacher  oder  mächtiger  Schwingung 
angeregt  werden,  ohne  Vermittelung  des  Nerven- 
systems (es  ist  bemerkenswert,  daß  es  bei  den 
Muscheln  aber  noch  andere  Arten  von  P"limmer- 
zellen  gibt,  denen  diese  Eigenschaft  nicht  zukommt: 
es  sind  dies  P'limmerorgane,  die  zur  Reinigung 
der  Körperoberfläche  usw.  dienen). 

Demgegenüber  wird  die  Regulation  der  Atem- 
bewegungen meistens  nervös  vollführt,  indem  je 
nach  den  (äußeren  oder  inneren)  Reizen  das  er- 
regte oder  gehemmte  Zentralnervensystem  Ver- 
stärkung oder  Abschwächung  des  Atemspieles 
anordnet.  Wir  wollen  uns  die  Verhältnisse  bei 
den  Wirbeltieren  beleuchten,  wo  sie  heutzutage 
weit  gründlicher  erkannt  sind;  aber  damit  ist  nicht 
gesagt,  daß  wir  da  zu  den  definitiven  Schlüssen 
gelangt  sind,  im  Gegenteile  —  auf  Grund  der  un- 
zähligen Einzelforschungen  ist  hier  die  ganze  Kom- 
pliziertheit der  Frage  über  die  Atemregulation 
dargetan,  und  es  scheint,  daß  wir  vielleicht  eher 
mit  Hilfe  der  an  primitiver  gebauten  Organismen 
ausgeführten  Untersuchungen  das  Problem  erfolg- 
reich anfassen  werden.  ^) 

Der  Atemrhythmus  des  Menschen,  der  Säuge- 
tiere usw.  wird  vermittels  der  afferenten  Nerven- 
bahnen (von  den  Sinnesorganen,  z.  B.  Seh-,  Geruchs-, 
Schmerzorganen  usw.  aus)  —  reflektorisch  —  ab- 
geändert, was  die  tägliche  Erfahrung  lehrt.  Aber 
es  scheint,  daß  der  ganze  Atemmechanismus  auf 
reflektorischer  Grundlage  basiert,  auf  die  Weise, 
daß  die  sämtlichen  mechanischen  (Bewegungs-, 
sowie  Lage-)  Bedingungen  der  peripheren  Atem- 
apparate (der  Atemwege,  der  Atemflächen,  der 
Atemmuskeln  usw.)  am  Ende  der  Einatmung  (In- 
spiration)   durch     zentripetale    Beeinflussung    des 


torische" 


Plimmerorgane 


anzusprechende    Wim- 


')  Siehe  die  zusammenfassende  Arbeit  des  Verfassers 
„Die  Mechanik  und  Innervation  der  Atmung"  in  Winter- 
st ein 's  Handb.  d.  vergl.  Physiologie  (Verlag  G.  Fischer-Jena). 


N.  F.  XIII.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


375 


Zentralnervensystems  (resp.  der  zentralen  Atem- 
organe) die  Ausatmung  (Exspiration)  auslösen,  und 
daß  umgekehrt  der  Ausatmungszustand  der  peri- 
pheren Atemorgane  vermittels  des  Gehirns  die 
Einatmungsbewegung  hervorbringt  usw.  Man  ist 
geneigt,  auf  Grund  von  vielen  eingehenden  experi- 
mentellen Ermittelungen,  heutzutage  insbesondere 
die  in  den  Bewegungsorganen  (den  Muskeln,  Seh- 
nen, Gelenken)  während  der  Bewegung  (oder  fixier- 
ten Lage)  entstehenden  Reize  als  wesentlich  für 
die  Atemregulation  anzusehen,  während  man  früher 
mehr  an  die  Schleimhäute  der  Atemwege  und  der 
eigentlichen  Atemorgane  (Kiemen,  Lungen)  als 
Quellen  der  „Atemreize"  dachte.  Dies  ist  die 
Reflextheorie  des  Atemrhythmus. 

Eine  andere  Gruppe  der  täglichen  Erfahrung 
lehrt,  daß  bei  ungenügender  Sauerstoffversorgung, 
insbesondere  unter  Erstickungsbedingungen,  die 
Atembewegungen  mächtig  angefacht  werden.  Ver- 
armung des  Blutes  an  Sauerstoff,  Bereicherung 
desselben  an  Kohlendioxyd  wirkt  reizend  auf  die 
zentralen  Atemorgane  oder  die  „Atemzentren". 
Es  handelt  sich  da  um  ,, innere",  oder  noch  besser 
zentrale  Reize,  im  Gegensatze  zu  den  bei  der 
reflektorischen  Atemregulation  tätigen  äußeren 
oder  peripheren  :  das  die  Gehirnapparate  der  Atem- 
bewegungen ernährende  Blut  wirkt  als  Regu- 
lator vermittels  seines  Sauerstoff-  und  Kohlen- 
dioxydgehaltes so,  daß  die  Steigerung  des  Sauer- 
stoffmangelsund Kohlendioxydgehaltes  Verstärkung 
des  Atemspieles  (Vertiefung  und  Vermehrung  der 
Atemakte  =  Dyspnoe),  die  Verringerung  des 
Kohlendioxydgehaltes  und  Bereicherung  des  Sauer- 
stoffgehaltes aber  Abschwächung  des  Atemrhyth- 
mus (bis  sogar  Einstellung  =  Apnoe)  hervor- 
bringt. Nach  Verallgemeinerung  dieser  Verhält- 
nisse hat  man  eine  Theorie  der  Blut-  oder 
Zentralreize  —  sogar  der  oben  skizzierten 
reflektorischen  entgegen  —  aufgestellt,  obgleich 
es  nicht  angemessen  ist,  beide  so  extrem  und  aus- 
schließlich zu  formulieren.  In  der  Tat  berührt  die 
reflektorische  Theorie  mehr  das  Zustandekommen 
der  einzelnen  unmittelbar  nacheinander  folgenden 
Ein-  und  Ausatmungen,  die  Theorie  der  zentralen 
Reize  aber  den  allgemeinen  Gang  des  Atemrhyth- 
mus, der  gefördert  oder  gehemmt  wird. 

Wir  halten  dafür,  daß  wahrscheinlicher  als  die 
ausschließliche  Theorie  des  ,,r  efl  ekt  orischen 
(nervösen)  A  u  t  oma  tism  us",  welche  den 
Atemrhythmus  durch  die  afferenten  Nervenbahnen 
von  der  Peripherie  aus  induzieren  läßt,  und  wahr- 
scheinlicher als  die  ausschließliche  Theorie  des 
durch  das  innere  Medium  (Blut)  zentral 
erzeugten  Automatismus  folgende  An- 
schauung gelten  kann.  Das  Atemzentrum  ist 
einer  „autochthon"  automatischen 
Tätigkeit  fähig  (bei  grobem  Vergleiche 
ähnlich  wie  das  ausgeschnittene  Herz) :  die  Inner- 
vationsimpulse,  welche  in  die  Atemmuskeln  ab- 
gesendet werden,  werden  in  den  zentralen  Atem- 
Organen  selbst  geboren,  zu  hohem  Grade  unab- 
hängig von  den  afferenten  Nervenbahnen  und  so- 


gar von  dem  inneren  Medium  (man  kennt  in  der 
Tat  auch  nach  der  weitgehendsten  Isolierung  des 
Gehirns  und  ohne  das  innere  Medium  fortgesetzte 
rhythmische  Atemzentrumtätigkeit).  Diese  von 
uns  gleichsam  als  „primär  e"  unterschiedene 
Automatic  würde  den  „sekundären"  A  t  e  m  - 
rhythmen  entgegenzuhalten  sein,  welche  infolge 
der  vermittels  der  Nervenbahnen  oder  des  inneren 
Mediums  ausgeübten  Beeinflussung  =  A  t  e  m  - 
regulation  zustande  gebracht  werden. 

Wir  wollen  nun  aus  unseren  vergleichenden 
Untersuchungen  über  den  Atemrhythmus  einige 
Beispiele  anführen,  welche  die  eben  skizzierte  Auf- 
fassung  stützen    und  weiter   zu  erörtern  erlauben. 

Die  Libellenlarven  weisen  rhythmische  Be- 
wegungen des  Abdomens  auf,  wodurch  Atem- 
wasser in  den  Hinterdarm,  wo  mächtig  entwickelte 
Tracheenkiemen  angebracht  sind,  eingesaugt  und 
wieder  nach  außen  entleert  wird;  in  gut  durch- 
gelüftetem Wasser  wird  ein  periodisches  Atembild 
beobachtet,  indem  Gruppen  von  kleinen  Atemakten 
durch  große  (apnoische)  Pausen  getrennt  sind. 
Wird  der  Sauerstoffgehalt  des  Wassers  erniedrigt, 
so  wachsen  die  Atemperioden  (sowie  die  einzelnen 
Atemakte  in  den  letzteren)  an  und  die  Atempausen 
nehmen  ab,  bis  sich  ein  ununterbrochener,  viele 
Stunden  lang  unermüdlich  fortgesetzter  ange- 
strengter Atemrhythmus  (=  Dyspnoe)  entwickelt. 
Dasselbe  sieht  man  an  den  außen  dem  Körper  auf- 
sitzenden Kiemenplättchen  der  Eintagsfliegenlarven 
(Ephemeriden).  Und  ähnliches  Verhalten  gibt  unter 
den  Fischen  z.  B.  der  Schlammpeitzger  (Cobitis 
s.  Misgurnus  fossilis)  kund;  der  Fisch  atmet  auch 
durch  die  Haut  und  den  Darm :  lassen  wir  ihn 
aus  reiner  Sauerstoffatmosphäre  den  Darm  füllen 
(oder  beobachten  wir  den  F'isch  in  kälterem  Wasser 
mit  Luftatmosphäre),  so  werden  bald  nachher  die 
Kiemenatembewegungen  eingestellt,  um  nur  vor 
erneuter  Gasverschluckung  als  eine  Periode  auf- 
zutauchen —  es  ibt  nämlich  das  Kiemenatem- 
zentrum von  dem  Darm  aus  mit  Sauerstoff  reichlich 
versorgt;  ventiliert  aber  der  Fisch  aus  einer  Stick- 
stoffatmosphäre, so  besteht  ein  ununterbrochener 
Kienienatemrhythmus  (ähnHches  Verhalten  sieht 
man  bei  den  Labyrinthfischen,  welche  ausgiebiger 
als  durch  die  Kiemen  aus  dem  luftatmenden  Laby- 
rinthorgane ihr  Blut  mit  Sauerstoff  versorgen,  usw.). 

Es  wird  also  die  unter  günstigen  Gaswechsel- 
bedingungen periodische  Atemzentrumtätigkeit 
durch  bloße  Erniedrigung  der  Saue  rst  of  f- 
zu  fuhr  in  den  ununterbrochenen  Atem- 
rhythmus  verwandelt,  wobei  alle  möglichen 
Übergänge  zu  verfolgen  sind.  Der  Mechanismus 
dieser  regulatorischen  Erscheinung  kann  allerdings 
bei  den  angeführten  Insekten  und  Fischen  wesent- 
lich verschieden  sein.  Während  wir  für  die  lösche 
mit  der  größten  Wahrscheinlichkeit  behaupten 
dürfen,  daß  der  Sauerstoffmangel  als  zentraler 
(=  Blut-)  Reiz  einwirkt,  indem  auch  unsere  neuen, 
bisher  nicht  veröffentlichten  speziellen  Unter- 
suchungen über  die  reflektorische  Wirkung  desSaucr- 
stoffmangels   in    demselben    Sinne    sprechen,   läßt 


3/6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  24 


sich  gewissen  Versuchsanordnungen  bei  den  Odo- 
natenlarven entnehmen,  daß  hier  das  sauerstoffarme 
Wasser  höchstwahrscheinlich  als  peripherer 
Reiz  (von  der  Haut,  Hinterdarmoberfläche  ?)  ver- 
mittels afferenter  Nervenbahnen  die  Atemzentren 
beeinflußt. 

Dieselben  Verhältnisse  legen  auch  die  (von 
uns  so  benannten)  „provisorischen"  Atemmechanis- 
men zutage,  welche  bei  den  Fischembryonen  vor 
der  Entwicklung  der  Kiemenatmung  angetroffen 
werden,  indem  (Cichliden)  der  Schwanz  oder  (Haplo- 
chilus  im  Ei)  die  Flossen  unter  günstigen  Gas- 
wechselbedingungen periodische,  im  Sauerstoff- 
mangel beständig  rhythmische  Atembewegungen 
vollführen.  Sogar  erwachsene  Fische  können  wir 
da  anführen:  Die  welsartige  Loricaria  atmet  in 
der  Norm  periodisch,  bei  niedrigem  Partial- 
druck  des  Sauerstoffs  aber  (zentraler  Reiz  I)  oder 
bei  starker  Beleuchtung,  schwachen  Erschütterungen 
usw.  (periphere  Reize!)  ununterbrochen 
rhythmisch. 

Bei  den  Amphibien  sehen  wir  die  Kaulquappen 
periodische  oder  ununterbrochen  rhythmische  Atem  - 
bewegungen je  nach  dem  Sauerstoffgehalte  des 
Wassers  vollführen;  und  der  Frosch  weist  in  der 
Ruhe  fast  überhaupt  keine  Lungenatmungen  auf 
(indem  ihm  die  Hautatmung  den  Sauerstoffbedarf 
deckt),  aber  nach  peripherer  (reflektorischer)  oder 
zentraler  (durch  Sauerstoffmangel  bewirkter)  Rei- 
zung bricht  sogar  ein  ununterbrochener  Lungen- 
atemrhythmus  aus. 

Bei  den  Fröschen  (sowie  auch  bei  den  ge- 
schwänzten Amphibien)  tritt  aber  noch  ein  be- 
sonderer Atemrhythmus  neben  der  Lungenatmung 
(welche  hier  durch  Luftverschluckung  zustande- 
kommt) auf,  nämlich  die  Kehloszillationen,  welche 
nur  die  Mundhöhle  durchlüften.  Auch  dieser 
Atemrhythmus  pflegt  periodisch  zu  sein,  wie 
man  sich  bei  vollkommen  ruhigem  (insbesondere 
in  rotem  Lichte  gehaltenem)  Tiere  überzeugen 
kann,  während  die  verschiedensten  Reizwirkungen 
ununterbrochene  Respiration  bedingen. 
Ähnliches  haben  wir  neuerdings  bei  den  Panzer- 
echsen nachgewiesen ;  der  Alligator  z.  B.  weist  in  der 
Norm  in  i  —  2  Min.  eine  Gruppe  von  zwei  Atem- 
akten auf,  wogegen  das  gereizte  Tier  (z.  B.  nach 
Fixierung  und  nach  Aufsetzen  der  Aiemkappe)  in 
regelmäßigen  Abständen  auftauchende  Atemakte 
(4 — 6  in   I   Min.)  zeigt. 

Das  eben  erwähnte  Beispiel  der  Kehl-  (oder 
Mund-)  Oszillationen  der  Amphibien,  durch  welche 
nur  der  Luftinhalt  der  blutreichen  Mundrachen- 
höhle erneuert  wird,  dient  zugleich  zur  Illustration 
des  Verhaltens,  wo  ein  Atemzentrum  sehr  feine 
Einstellung  auf  die  nervösen  Beeinflussungen 
besitzen  kann,  während  es  keine  Regulation 
in  Hinsicht  auf  die  Blut  reize  aufweist.  Dies 
legen  ausgezeichnet  deutlich  insbesondere  die 
lungenlosen  Salamandriden  zutage,  z.  B.  der  italie- 
nische Spelerpes  fuscus:  das  ruhige  Tier  zeigt  nur 
kleine,  langsame,  gruppenweise  erfolgende  Kehl- 
oszillationen,  die  aber  äußerst  fein  durch  nervöse 


Reize  beeinflußt  werden  und  dann  sogar  über  300 
in  I  Min.  betragen ;  ja  es  genügt  schon,  wenn  das 
Tier  (bei  vollkommener  äußeren  Ruhe)  spontan 
sich  zu  bewegen  anschickt :  schon  einige  Sekun- 
den, bevor  das  Tier  ein  Bein  oder  den  Kopf  be- 
wegt, werden  die  Kehlbewegungen  merklich  ver- 
größert und  vermehrt ;  aber  bei  den  Erstickungs- 
versuchen, von  den  Folgen  der  Muskelunruhe  ab- 
gesehen, konnte  keine  Regulation  dieser  Atem- 
bewegungen durch  den  Sauerstoffmangel  nach- 
gewiesen werden.  Ahnliche  Verhältnisse  wurden 
bei  den  Kiemenschwingungen  einiger  geschwänzter 
Amphibien  sichergestellt  usw. 

Man  könnte  den  Gedanken  fassen,  daß  die  Re- 
gulation des  Atemrhythmus  vermittels  des  Sauer- 
stoff- resp.  Kohlendioxydgehaltes  des  inneren 
Mediums  eine  höhere  Entwicklungs- 
stufe der  Regulationsmodi  vorstellt,  während  die 
nervös  vermittelte  primitiver  wäre.  Bei  kleinen 
.'\xolotln  konnten  wir  in  der  Tat  beobachten,  daß 
sie  zuerst  überhaupt  keine  Atembewegungen  be- 
sitzen (höchstens  wäre  es  denkbar,  daß  die  bei 
der  Schvvimmlokomotion  erscheinende  Schwingung 
der  äußeren  Kiemenbüschel  als  Atembewegung  zu 
deuten  sind);  wenn  dann  bei  etwas  größeren  Tier- 
chen die  ersten  das  Wasser  durch  die  Mundhöhle 
gegen  die  Kiemenlöcher  hin  treibenden  Kehlatem- 
laewegungen  zum  Vorschein  kommen,  werden  sie 
nur  reflektorisch  (nicht  aber  durch  den  Sauerstoff- 
gehalt des  Blutes)  reguliert;  erst  bei  weiterer  Ent- 
wicklung des  wachsenden  Tieres,  wenn  der  Sauer- 
stoffbedarf des  massigen,  fortschreitend  relativ 
kleinere  äußere  Oberfläche  aufweisenden  Körpers 
anwächst,  kommt  die  „chemische"  Regulation  dieser 
Atembewegungen  zum  Vorschein. 

Nicht  nur  die  Art  der  Regulation,  sondern 
auch  das  Bild  des  Atemrhythmus  kann  man  onto- 
genetisch  verfolgen.  Es  ist  z.  B.  bemerkenswert, 
daß  die  jungen  Forellcnembryonen  (sowie  andere 
Fischkeime)  zuerst  unregelmäßig  vereinzelte,  dann 
periodisch  gruppierte  Atembewegungen  aufweisen; 
der  spätere  ununterbrochene  Atemrhythmus  scheint 
sich  hier  erst  allmählich  als  ein  Produkt  der 
sich  entwickelnden  Regulationsmechanismen  ein- 
zustellen. 

Hier  können  wir  wiederum  an  die  Verhältnisse 
des  Atemrhythmus  bei  den  Säugetieren  anknüpfen. 
Die  Apnoe  ,(.'\temlosigkeit)  des  Fötus  steht  in 
schroffem  Gegensatze  zu  der  ununterbrochen  rhyth- 
mischen Atemtätigkeit  des  Neugeborenen.  Man 
hat  den  ersten  Atemzug  und  den  folgenden  Rhyth- 
mus einerseits  als  durch  äußere  Reize  ausgelöst 
aufgefaßt  (Kältereize,  mechanische  Reize  usw.), 
andererseits  hat  man  behauptet,  daß  die  Atem- 
bewegungen durch  die  Blutreize  (nach  Hinderung 
des  den  Gasaustausch  des  Fötus  vermittelnden 
Plazentarkreislaufes  während  des  Geburtsaktes)  aus- 
gelöst werden  (die  Apnoe  des  Fötus  resultiert 
aus  der  Abwesenheit  der  äußeren  Reize  und  aus 
hinreichendem  Gasaustausche  in  der  Plazenta). 
Es  ist  aber  wahrscheinlich,  daß,  wie  sich  dies 
Ahlfeld    auf  Grund    seiner    Untersuchungen   an 


N.  F.  Xm.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


377 


Schwangeren  vorstelh,  der  Fötus  in  der  zweiten 
Hälfte  des  intrauterinen  Lebens  periodische  „Atem- 
bewegungen" ausführt,  welche  allerdings  kein  Atem- 
medium  an  die  Lungenflächen  befördern  können, 
sondern  nur  gleichsam  eine  ,, Übung"  des  Atem- 
zentrums für  seine  unmittelbar  nach  der  Geburt 
in  Gang  zu  setzende,  lebenslang  dauern  sollende, 
ununterbrochen  rhythmische  Tätigkeit  darstellen. 
Bei  vorzeitig  geborenen  Kindern  hat  auf 
meine  Anregung  D  e  d  e  k  Beobachtungen  angestellt, 
wobei  es  ihm  gelungen  ist,  ähnliche  Atemperi- 
oden aufzuzeichnen,  wie  sie  nach  Ahlfeld 
intrauterin  vorkommen,  sowie  ihre  Weiterentwick- 
lung in  den  normalen  un  unterbrochen  rhyth- 
mischen Atemtypus  des  (reifen)  Neugeborenen 
zu  verfolgen :  es  sind  dies  wohl  die  nervösen  sowie 
Blutreize,  welche  diesen  Atemrhythmus  aus  der 
ursprünglichen  Periodik  entwickeln,  ähnlich  wie 
wir  dies  oben  bei  den  niederen  Wirbeltieren  und 
den  Wirbellosen  skizziert  haben.  Es  ist  wahr- 
scheinlich, daß  sich  auch  die  pathologischen  Fälle 
der  periodischen  Atmung  (Cheyne-Stokes- 
scher  Typus  usw.)  von  ähnlichem  Standpunkte 
auffassen  ließen. 

Auch  in  betreff  der  Atemregulation  durch 
Blutreize  lassen  sich  vergleichend  physiologische 
Tatsachen  anführen,  welche  die  Verhältnisse  bei 
den  Wirbeltieren  in  neues  Licht  stellen.  Es  gibt 
da  z.  B.  bei  den  Amphibien  gewisse  Atemmecha- 
nismen, wo  überhaupt  keine  Regulation  vermittels 
der  Blutreize  vorkommt  (s.  oben);  die  Kiemen- 
atembewegungen  der  Fische  und  Lungenatem- 
bewegungen  der  Amphibien  werden  aber  durch 
den  Sauerstoffgehalt  im  Blute  geregelt 
(obwohl  da  bedeutende  Unterschiede  zwischen 
den  verschiedenen  Arten  bestehen);  dagegen  liegt 
kein  unzweideutiger  Nachweis  vor,  welcher  dafür 
zeugen  würde,  daß  auch  dem  Kohlendioxyd- 
gehalte  des  Blutes  eine  regulatorische  Rolle  zu- 
kommt. Bei  den  Vögeln  und  Säugetieren 
dagegen  kann   man  nach  manchen  Autoren  gerade 


dem  Kohlendioxydgehalte  des  Blutes  die  Haupt- 
aufgabe in  dieser  Hinsicht  zuschreiben,  so  daß  der 
regelnde  Einfluß  des  Sauerstoffmangels  nebensäch- 
lich wäre;  unlängst  haben  wir  aber  bei  dem  winter- 
schlafenden Ziesel  sowohl  durch  Sauerstoffmangel 
als  auch  durch  Kohlendioxyd  in  der  Atemluft  starke 
dyspnoische  Zustände  hervorgerufen.  Von  beson- 
derer Bedeutung  ist  hier  das  Verhalten  der  Repti- 
lien, welche  man  gleichsam  als  Verwandten  der 
einstigen  Vorfahren  des  heutigen  Säugetierstammes 
ansprechen  kann.  Unsere  neuen  Untersuchungen 
an  Eidechsen  (Leguanen)  haben  da  nachgewiesen, 
daß  durch  Sauerstoflmangel  und  ebenfalls  durch 
Kohlendioxyd  der  Atemrhythmus  dyspnoisch  be- 
einflußt wird,  wobei  insbesondere  die  kombinierte 
Einwirkung  der  beiden  Faktoren  in  Betracht 
kommt;  eingehendere  Erforschung  hat  zu  den  Er- 
gebnissen geführt,  daß  in  diesen  Fällen  der  Sauerstoff- 
mangel die  Reizbarkeit  des  Atemzentrums  steigert, 
worauf  auch  durch  ganz  niedrige  Kohlendioxyd- 
mengen  mächtige  Anfachung  der  Ventilation  be- 
wirkt wird.  Es  bleibt  aber  zu  ermitteln,  wie  sich 
die  übrigen  Abteilungen  der  Reptilien  in  dieser 
Hinsicht  verhalten:  denn  die  Panzerechsen 
(Krokodilier),  welche  wir  zu  untersuchen  Gelegen- 
heit gehabt  haben,  weichen  schon  beträchtlich  von 
den  Eidechsen  darin  ab,  daß  bei  ihnen  von  einer 
regulatorischen  Rolle  des  Kohlen- 
dioxyds im  Blute  keine  Rede  sein  kann, 
und  was  den  Sauerstoffgehalt  betrifft,  ist  seine 
regulatorische  Bedeutung  deutlich  schwächer  als 
bei  den  Eidechsen.  Es  ist  also  wahrscheinlich, 
daß  die  Reptilien  erst  den  bedeutungsvollen 
Schritt  in  der  Entwicklung  der  Atemregulation 
vermittels  des  inneren  Mediums  vollbracht  haben, 
indem  der  Kohlendioxj-dgehalt  des  Blutes  als 
wichtiger  Faktor  derselben  gewonnen  worden  war. 
Dieser  Umstand  könnte  vielleicht  sogar  in  Be- 
ziehung sein  mit  der  phylogenetischen  Entstehung 
der  Vogelwelt  und  der  Säugetierwelt,  der  homoio- 
thermen  Wirbeltiere,  aus  den  Poikilothermen. 


Einzelberichte. 


Physik.  Mit  der  Beugung  des  Lichtes  an 
Raumgittern  beschäftigt  sich  eine  Arbeit  von 
E.  Buchwald  (Breslau),  die  in  der  Physikalischen 
Zeitschrift  15  (1914)  Seite  331  veröffentlicht  ist. 
Der  Verfasser  ist  zu  der  Arbeit  angeregt  worden 
durch  die  schönen  Beugungsbilder,  die  zuerst  Laue, 
Friedrich  und  Knipping^)  erhalten  haben 
beim  Durchgang  von  Röntgenstrahlen  durch 
Kristalle,  deren  Moleküle  nach  Bravais  ganz 
regelmäßig  raumgitterartig  angeordnet  sind.  Zur 
Herstellung  der  Gitter  benutzte  er  im  Papierhandel 
erhältliche,  weiße  Pappbogen,  Stramin  genannt,  die 
in  der  ganzen  Fläche  regelmäßig  mit  kreisförmigen 
Offnungen  von  0,58  mm  Durchmesser  und  1,06 mm 


')  Siehe    A.  Wenzel:     Kristallstruktur    und    Röntgen- 
strahlen in  dieser  Zeitschrift  13  (1914)  Seite  70. 


gegenseitigem  Abstand  besetzt  sind.  Durch  Photo- 
graphieren  erhielt  er  Kreuzgitter  von  beliebiger 
Gitterkonstanten ;  von  den  so  gewonnenen  Nega- 
tiven wurden  auf  gutem  Spiegelglas  Diapositive 
angefertigt,  die  demnach  undurchsichtige  Beugungs- 
scheibchen  auf  durchsichtigem  Grunde  enthielten. 
Da  es  nicht  gelang,  Interferenzerscheinungen  mit 
zweien  solcher  hintereinander  gestellten  Kreuzgilter 
zu  erhalten,  wandte  der  Verfasser  ein  schon  171 5 
vom  H  erzog  von  Cha  u  Ines  benutztes  Verfahren 
an,  um  ein  Raumgitter  zu  erhalten,  indem  er  in  ge- 
ringem Abstand  hinter  dem  Gitter  eine  auf  der  Vor- 
derseite versilberte  Glasplatte  aufstellte,  so  daß  das 
durch  einen  Z  e  i  ß  '  sehen  Monochromator  hindurch- 
gegangene Licht  einer  Bogenlampe  nach  dem  Durch- 
gang durch  das  Gitter  an  dem  Spiegel  in  sich  selbst 
reflektiert    wurde    und  dann  das  Gitter    nochmals 


378 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  24 


durchsetzte.  Das  zweite  Gitter  wurde  demnacli 
durch  das  Spiegelbild  des  ersten  ersetzt,  so  daß  er 
auf  diese  Weise  ein  Raumgitter  erhielt,  das  allerdings 
dem  von  Lane  verwendeten  insofern  nicht  voll- 
kommen entsprach,  als  es  nur  aus  zwei  Schichten 
bestand.  Die  Interferenzerscheinungen  wurden  ent- 
weder mit  dem  Fernrohr  beobachtet  oder  photogra- 
phisch festgehalten,  die  erhaltenen  Bilder  ausge- 
messen und  mit  der  Laue'schen  Theorie  verglichen. 
Die  Versuchsresultate  ergeben,  daß  die  Theorie  im 
vorliegenden  F"all  zwar  qualitativ,  nicht  aber  allge- 
mein quantitativ  anwendbar  bleibt,  daß  man  dem- 
nach aus  den  Photogrammen  keine  bindenden 
Schlüsse  über  Wellenlänge  und  Gitterkonstante 
ziehen  kann.  Der  Grund  der  Abweichungen  dürfte 
in  einer  Schattenwirkung  der  beugenden  Partikeln 
zu  suchen  sein.  K.  Schutt,  Hamburg. 

Zoologie.  Einen  neuen  Beitrag  zu  dem  Problem 
des  Vogelzuges  hat  jüngst  S.  Eckmann  ge- 
liefert ^).  Palmen  und  W  e  i  s  m  a  n  n  hatten  an- 
genommen, daß  die  heutigen  Zugstraßen  der  Vögel 
den  Bahnen  entsprechen,  auf  denen  sich  in  früheren 
Zeiten  die  Arten  von  Süden  nach  Norden  aus- 
breiteten. Daraufhin  hat  nun  Eckmann  die 
Einwanderungswege  einiger  schwedischer  Brutvögel 
untersucht,  um  die  Richtigkeit  dieser  Theorie  zu 
prüfen.  Es  zeigte  sich,  daß  von  den  sicheren,  nord- 
östlichen Einwanderern  Skandinaviens  nur  eine 
Art,  Anser  erythropus,  heute  der  alten  Be- 
siedlungsbahn auf  ihrem  jährlichen  Zuge  folgt. 
Aus  diesem  dürftigen  Beweismaterial  folgt  aber 
keineswegs  die  Nichtigkeit  der  Palmen'schen 
Theorie,  denn  nur  die  Vogelarten  können  beim 
Zuge  die  alten  Ausbreitungswege  ihrer  Ahnen  ein- 
schlagen, bei  denen  Alte  und  Junge  im  Herbste 
zusammenziehen.  Das  ist  gerade  bei  Anser 
erythropus  der  P'all,  nicht  aber  bei  den  übrigen 
schwedischen  Zugvögeln.  Eine  ähnliche  Theorie 
ist  von  Jäger  aufgestellt  worden  zur  Erklärung 
der  Wanderungen,  die  von  den  Lachsen  alljährlich 
flußaufwärts  unternommen  werden,  um  ihre  Eier 
in  den  klaren,  kalten  Ouellflüssen  der  großen  Ströme 
abzusetzen.  Der  Lachs  ist  ein  Winterlaicher,  er 
zieht  vor  allem  die  kurzläufigen,  raschströmenden 
Flüsse  vor,  wie  sie  von  den  schottischen  und  skandi- 
navischen Gebirgen  herabkommen,  er  liebt  also 
offensichtlich  kaltes  Wasser.  Daraus  kann  man 
auf  die  nordische  Herkunft  des  Lachses  schließen. 
Wenn  wir  uns  nun,  wie  Jäger  sagt,  in  die  Jura- 
zeit zurückversetzen,  als  die  Rheintalebene  ein 
Meerbusen  war  und  die  ganze  norddeutsche  Tief- 
ebene gleichfalls  Meer,  so  war  das  Aufsteigen  der 
Lachse  in  die  kurzen  Gebirgsflüsse  der  Schweiz 
und  der  deutschen  Mittelgebirge  ganz  dieselbe  Er- 
scheinung, wie  das  jetzige  Wandern  in  die  schot- 
tischen und  norwegischen  Bergströme.  Anderer- 
seits   hatten    die  Fische    keine    Veranlassung,    zur 


')  S.  Eckraann:  Sind  die  Zugstraßen  der  Vögel  die 
ehemaligen  Verbreitungsstraßen  der  Arten?  —  Zoolog.  Jahrb. 
.■\btlg.  f.  Systematik.     Bd.  33  p.  521—546. 


Eiszeit  in  den  Flüssen  zu  bleiben,  in  deren  kaltem 
Wasser  sie  keine  oder  nur  wenig  Nahrung  fanden, 
während  das  Salzwasser  solche  in  überreicher 
Menge  enthielt,  was  schon  daraus  hervorgeht,  daß 
der  Lachs  im  Meere  erstaunlich  rasch  wächst.  Als 
nun  das  Vorland  wuchs,  das  Meer  immer  weiter 
in  die  P'erne  rückte  und  der  Stromlauf  länger 
wurde,  zog  die  alte  Anhänglichkeit  den  Lachs 
immer  noch  nach  seiner  alten  Heimat.  So  steigen 
sie  noch  heute  die  Flüsse  empor,  der  Quelle,  dem 
Gebirge  und  somit  dem  kalten  Wasser  entgegen, 
uns  damit  ein  schönes  Beispiel  für  die  Macht  der 
Vererbung  bietend.  Ferd.  Müller. 

Astronomie.  Eine  sehr  auffallende  Beziehung 
zwischen  den  Elementen  der  bekannten  Monde 
unseres  Systems  gibt  Ol  live  (Comptes  rendus, 
Bd.  157,  S.  1501).  Ist  Rj  die  mittlere  Distanz 
eines  Satelliten  von  seinem  Hauptkörper,  \\  seine 
Geschwindigkeit  in  der  Bahn,  R  der  mittlere  Ab- 
stand des  betreffenden  Planeten  von  der  Sonne 
und  r  der  Radius  des  Planeten,  so  hat  man  die 
Beziehung:  r*  =  kRR,Vi-.  Ausgedrückt  in  c.  g.  s.  ist 
k  =  4,3i3  X  lO"**.  Die  Anwendung  dieser  Glei- 
chung auf  die  26  bisher  bekannten  Monde  unseres 
Systems  ist  in  einer  Tabelle  gegeben.  Für  die 
Erde  ist  der  Radius  aus  der  Mondbewegung  sehr 
genau  abgeleitet.  Der  berechnete  Radius  verhält 
sich  zu  dem  gemessenen  wie  i  :  1,0001.  Bei  Mars 
stimmen  die  aus  den  beiden  Monden  abgeleiteten 
Werte  unter  sich  genau,  ebenso  mit  der  Messung. 
Bei  Jupiter  und  Saturn  ist  die  Übereinstimmung 
ebenfalls  sehr  gut,  außer  den  bei  den  beiden  äußer- 
sten Saturnmonden,  wo  ein  Fehler  von  6  %  und 
2  '7o  übrig  bleibt.  Bei  Uranus  und  Neptun  stimmt 
die  E'ormel  gar  nicht.  Diese  beiden  Körper  nehmen 
ja  auch  in  anderer  Hinsicht  eine  Ausnahmestellung 
ein.  Riem. 

Über  Veränderungen  am  Mondkrater  Eimmart 
berichtet  Pickering  in  Astr.  Nachr.  4704.  Dieser 
Krater  liegt  am  NW-Rand  des  Mare  Crisium,  und 
hat  etwa  40  km  Durchmesser.  Früher  war  der 
Krater  beim  jedesmaligen  Aufgang  der  Sonne  an- 
gefüllt mit  einem  weißen  Material,  das  dann  über- 
lief, und  das  aus  einer  Quelle  am  Fuß  des  nörd- 
lichen Abhanges  stammte.  Jetzt  ist  das  nicht  mehr 
der  Fall.  Das  letzte  Mal  trat  die  Erscheinung  auf 
im  Januar  des  Jahres  191  3,  nahm  dann  zusehends 
ab,  und  war  im  Mai  kaum  noch  wahrzunehmen. 
Zwei  Zeichnungen  geben  die  Verhältnisse  wieder. 
Auch  der  Vergleich  mit  früheren  photographischen 
Aufnahmen  zeigt  die  Veränderung  gegen  die  heutige 
Ansicht  des  Kraters.  Es  kommt  nun  darauf  an, 
durch  oft  wiederholte  Aufnahmen  und  Zeichnungen 
diesen  Krater  unter  beständiger  Kontrolle  zu  halten, 
um  sofort  feststellen  zu  können,  wenn  sich  die 
Lage  der  Dinge  wieder  ändern  sollte.        Riem. 

Physiologie.  Die  Abweichungen  des  Stoff- 
wechsels von  der  Norm  bei  übermäßiger  Muskel- 
arbeit können  mitunter  bei  Sportveranstaltungen 
geprüft   werden.     Stoffwechseluntersuchungen  ge- 


•N.  F.  XIII.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


379 


legentlich  eines  Sechstagerennens,  welches  im  Januar 
d.  J.  im  Palais  des  Sports  in  Paris  stattfand,  wurden 
von  Dr.  H.  Aurenche  und  M.  G.  Loncheux 
(Contribution  ä  l'etude  des  rcactions  physiologiques 
ä  la  fatigue,  Biologica,  Nr.  39,  1914)  angestellt. 
In  dem  Rennen,  das  144  Stunden  dauerte, 
wurden  4500  km  zurückgelegt.  Auf  jeden  der 
4  Rennfahrer,  deren  Stoffwechsel  untersucht  wurde, 
entfallen  —  nach  Abzug  der  von  Ersatzmännern 
zurückgelegten  Strecke  —  3000  km.  Die  zwei 
ersten  Tage  wurden  stündlich  35  km,  die  anderen 
vier  Tage  30  km  zurückgelegt.  Die  Rennfahrer, 
ein  Franzose,  ein  Deutscher,  ein  Amerikaner  und 
ein  Italiener,  waren  29,  35,  36  und  28  Jahre  alt 
und  wohltraiiiierte  Berufsathleten  mit  einem  über- 
normalen Brustumfang.  Alle  nahmen  viel  Fleisch 
zu  sich,  1000 — 1500  g  täglich;  als  Getränk  Mineral- 
wasser, leichten  Tee  und  dünnen  Kaffee,  je  i  1  pro 
Tag.  Der  Preisträger  allein  aß  auch  gebackene  Fische. 
Verf.  sprechen  die  Vermutung  aus,  daß  er  der  phos- 
phorhaltigen  Nahrung  die  große  Ruhe  verdankte, 
welche  er  bis  zum  Schluß  bewahrte.  Auffallend  war 
die  Konstanz  des  Pulses.  Nach  144  Stunden  war  die 
Zahl  der  Pulsschläge  im  Vergleich  zu  der  bei  der 
Abfahrt  92  (80),  60  (60),  70  (76) ;  einer  hatte  nach 
120  Stunden  mit  104  Pulsschlägen  abbrechen 
müssen.  Von  den  24  Stunden  des  Tages  wurden 
14  Stunden  gefahren,  4  kamen  auf  den  Schlaf  und 
6  blieben  für  Massieren  und  Einnahme  der  Mahl- 
zeiten übrig. 

Bemerkenswert  sind  die  außerordentlich  hohen 
Dosen  von  Giften,  welche  ohne  Schaden  vertragen 
wurden.  Pro  24  Stunden  wurden  mit  den  Ge- 
tränken 5  g  Koffein  aufgenommen ;  am  letzten  Tag 
5  cg  schwefelsaures  Strychnin  in  Injektionen  von 
je  5  mg- 

Während  die  abgeschiedene  Urinmenge  während 
des  Rennens  immer  geringer  wurde,  stieg  das 
spezifische  Gewicht  des  Harns.  Die  Harnanalyse 
ergab  eine  Steigerung  des  Gehalts  an  Harnsäure 
und  auch  eine  Vermehrung  der  abgeschiedenen 
Fleischmilchsäure.  Der  Koeffizient  von  Bouchard 
(das  Verhältnis  von  Harnstoff  zu  den  übrigen  im 
Harn  enthaltenen  Verbindungen)  war  verkleinert, 
ebenso  das  Verhältnis  des  Chlornatriums  zum 
Harnstoff.  Kathariner. 

Botanik.  Die  Einwirkung  kolloidaler  Metalle 
auf  Zellen^    SchoiTvor  13  Jahren  hat  Galeotti 

den  Einfluß  kolloidaler  Kupferlösungen  auf  Spiro- 
gyren  mit  den  Wirkungen  von  Kupfersulfat  ver- 
glichen und  kolloidales  Kupfer  in  geringeren  Mengen 
tödlich  gefunden  als  das  ionische  Kupfer,  obschon 
die  Wirkung  des  ersteren  weniger  rasch  war;  er 
nahm  an,  das  ionische  Kupfer  übe  dadurch,  daß 
es  sich  mit  dem  Protoplasma  verbinde,  eine 
schnellere  Wirkung  aus,  während  das  kolloidale 
Metall,  wenigstens  in  niederen  Konzentrationen, 
langsam  als  Katalysator  wirke  und  gewisse  Ab- 
bauprozesse in  den  Zellen  beschleunige.  Die  Ent- 
wicklung   von    Bakterien    wird    nach    Foä    und 


-Aggazzotti    (1909)     durch    kolloidales    Platin, 
Gold    und    Silber   gehemmt,    doch    erwiesen    sich 
kolloidales   Pt    und  Au    nur    für    zwei    Arten    der 
untersuchten  Bakterien  als  tödlich,    während    fein 
zerteiltes  kolloidales  Ag  schon  in  geringerer  Kon- 
zentration alle  untersuchten  Bakterien  tötete.   Die 
ionischen    Lösungen   aller    dieser  Metalle    sind  für 
das    Protoplasma    giftig.       Max    Morse    (191 3) 
konnte  bei  Versuchen  mit  Infusorien,    Diatomeen 
und    Desmidiaceen    keine    merkliche    Schädigung 
des  Protoplasmas    durch  kolloidales  Pt  feststellen. 
W.  D.  Hoyt  bestätigt  auf  Grund  von  Versuchen, 
die  er  bei  Klebs   in  Heidelberg    mit  Spirogyren 
ausgeführt  hat,  die  starke  Giftigkeit  des  kolloidalen 
Ag,  das  noch  in  äußerst  geringen  Konzentrationen 
die  Spirogyrazellen  tötete.     Die  schwächeren  Lö- 
sungen wurden    fast    oder  ganz  ungiftig  gemacht, 
wenn  ihnen  kolloidales  Pt,  Tierkohle  oder  unorga- 
nische Salze  (0,5   proz.    Crone'sche  Nährlösung) 
zugesetzt    wurden.      Galeotti    hatte    bereits  ge- 
funden,   daß    Zusatz    von    Kochsalz    zu    höheren 
Konzentrationen    von  kolloidalem  Cu  diese  etwas 
weniger  giftig  machte  und  in  niederen  Konzentra- 
tionen   die  Giftigkeit    fast   ganz    aufhob;  anderer- 
seits wurde  die  Giftigkeit  von  ionischem  Cu  durch 
die  Gegenwart  von  NaCl  nicht  verändert.     Kollo- 
idale   Goldlösung   wirkte    viel    weniger   giftig   als 
die  Silberlösung.     Um  das  kolloidale  Gold  zu  ge- 
winnen und  in  Lösung    zu  erhalten,    hatte  Hoyt 
Natriumhydroxyd  dem  Wasser  zugesetzt,  mit  dem 
die  kolloidale  Lösung  hergestellt  war,  so  daß  diese 
NaHO  enthielt.*)     Diese  Lösung  war  nur  in  sehr 
geringem    Maße    schädlich,     während    eine    reine 
NaHO-Lösung   von   gleichem  Prozentgehalt  (0,02) 
alle  Algenfäden  tötete.  Die  kolloidalen  Pt-Lösungen 
waren  fast  unschädlich,    und    in   geringeren  Kon- 
zentrationen   hoben    sie    die    giftigen    Wirkungen 
des  Wasserleitungswassers,    des  gewöhnlichen  (in 
Kupfergefäßen  hergestellten)  destillierten  Wassers 
sowie  der  Lösungen  von  Chlorkalium,  Magnesium- 
sulfat und  kolloidalem  Ag  teilweise  auf.    Alle  drei 
kolloidalen    Metalle,    in    geringerem  Grade    selbst 
Ag,  wirkten  in  niederen  Konzentrationen  der  Gift- 
wirkung des  NaHO   entgegen;    Zusatz   von  Gold- 
chlorid zu  einer  toxischen  Lösung  von  NaHO  oder 
von  Platinchlorid  zu  einer   toxischen  Lösung  von 
MgSO^    machten    dagegen    diese    Lösungen    nicht 
weniger  giftig.    In  den  Lösungen,  die  kolloidales  Pt 
oder  Au    nebst    NaHO   enthielten,    schwollen    die 
äußeren  Teile  der  Zellwände  gallertartig  an,  was  be- 
sonders auffällig  wurde,  wenn  die  Fäden  aus  den 
alkalischen  Kolloidlösungen  in  nichtgiftiges  Wasser 
übertragen    wurden.      Die    angeschwollene,    durch 
die  Metalle   gefärbte  Masse    trennte    sich    oft  von 
der  übrigen  Wand    und    ließ  diese  ungefärbt  und 
anscheinend  unbeeinflußt  zurück.     Hoyt  erinnert 
an  analoge  Ergebnisse,    die   Klebs    erhalten  hat, 


')  Die  von  Hoyt  benutzten  Kolloidlösungen  wurden  im 
B  red  ig' sehen  Laboratorium  durch  Zerstäubung  von  Metall- 
eleklroden  im  elektrischen  Lichtbogen  unter  Wasser  hergestellt. 
Hierzu  diente  nichtgiftiges  Wasser,  das  durch  Destillation  in 
Glas  mit  Ticrkohle  in  der  Retorte  gewonnen  war. 


38o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  24 


als  er  gewisse  Salze  und  organische  Metallverbin-  vielen  Fällen  von  enzymatischer  Katalyse  in  die- 

dungen    in    den    gelatinösen    Scheiden    mehrerer  selbe    Kategorie    bringen    lassen.      (The  Botanical 

Zygnema-Arten    und   anderer  Algen  niederschlug,  Gazette   1914,  Vol.  57,  p.   193  —  212.) 

und  er  glaubt,  daß  beide  Erscheinungen  sich  mit  F.  Moewes. 


Bücherbesprechungen. 


L.  Lerch,  „Geologische  Wanderungen  in 
der  Umgegend  von  Hannover",  mit  38 
Lichtdrucktafeln  und  einer  Karte.  Hahn'sche 
Buchhdlg.,  Hannover  1913. 
Den  hohen  Anforderungen,  die  auch  an  popu- 
läre Darstellungen  nun  einmal  zu  stellen  sind,  kann 
das  vorliegende  Werk  leider  nicht  entsprechen. 
Von  den  128  Textseiten  des  Büchleins  halten 
eigentlich  nur  36  (S.  67 — 102),  was  der  Titel  ver- 
heißt, Seite  7—64  dagegen  sollen  die  nötigen  Vor- 
kenntnisse vermitteln,  wobei  Seite  61 — 63  noch 
für  eine  Übersicht  der  Autorennamen  abgehen ! 
17  Seiten  müssen  herhalten,  um  ein  Orts-  und 
Sachregister  zu  liefern,  auf  6  Seiten  endlich  wird 
anhangsweise  eine  recht  brauchbare  Skizzierung 
des  Kalibergbaues  bei  Hannover  gegeben.  Man 
könnte  in  dieser  immerhin  auffallenden  Disposition 
einen  äußerlichen  Schönheitsfehler  sehen.  Man 
kann  auch  den  im  Vorwort  beklagten  Tiefstand 
der  geologischen  Kenntnisse  im  breiteren  Publikum 
als  Erklärung  dafür  gelten  lassen,  daß  ein  Extrakt 
der  gesamten  Paläontologie  und  Stratigraphie  zur 
Einführung  für  nötig  erachtet  wird.  Aber  eine 
keinerlei  Vorkenntnisse  voraussetzende  Darstellung 
muß  schon  etwas  anziehender  gestaltet  sein,  um 
sich  einen  größeren  Leserkreis  zu  gewinnen.  Der 
tote  Wissensstoff  allein  mag  sich,  wie  das  manchem 
aus  der  Schulzeit  her  erinnerlich  sein  dürfte,  aus- 
gezeichnet zum  „Überhören"  eignen,  wenn  nur 
dies  Wort  nicht  so  eine  fatale  Doppelbedeutung 
hätte!  Aus  all  den  fleißig  zusammengestellten 
Fossilientafcln  gähnt  der  Tod  und  die  gewiß  sorg- 
same Aufzählung  der  Hauptfundorte  bei  Hannover 
oder  wichtiger  Eigenschaften  einzelner  Formationen 
erweckt  vielleicht  Begriffe,  aber  keine  lebendigen  Vor- 
stellungen. Es  ist  beschreibende  Naturwissenschaft 
in  ihrem  kältesten  Gewände:  Namen  und  Zahlen, 
Dinge,  mit  denen  man  sich  weiß  Gott  auch  heute 
schon  auf  den  .Schulen  den  Magen  überladen  kann. 
Sollte  es  wirklich  nur  der  ,, Lehrplan"  sein,  aus 
dem  sich,  „obwohl  das  Interesse  fast  überall  vor- 
handen ist,  (Tas  oft  mangelnde  Verständnis  erklärt''.? 
Könnte  man  wenigstens  die  Abbildungen  loben ! 
Aber  die  neuerdings  öfters  zu  beobachtende  Methode, 
Fossilien  in  einer  gewissen  impressionistisch  an- 
mutenden Weise  zu  zeichnen,  so  daß  bei  geschickter 
Zeichnung  (die  nicht  abgestritten  werden  soll)  zwar 
der  Gesamteindruck  gut  wiedergegeben  wird,  aber 
beim  genauen  Hinsehen  kaum  die  Umgrenzung, 
geschweige  denn  andere  Einzelheiten  zu  erfassen 
ist,  ist  ganz  entschieden  zu  bekämpfen.  Zum  ge- 
nauen Hinsehen  kann  ja  in  der  Naturwissenschaft 
gar  nicht  genug  erzogen  werden!  Und  wenn  ein 
geologischer  Führer  sich  mit  Karte  ankündigt,  so 


erwartet  man  gewiß  zunächst  etwas  mehr  als  eine 
rein  topographische,  obendrein  recht  schematische 
Schwarzdruckkarte  im  Maßstabe   1:200000. 

Wenigstens  wenn  das  nicht  sehr  umfangreiche 
Büchlein,  das  sich  an  einfachere  Kreise  zu  wenden 
scheint,  4,50  Mk.  (gebunden)  kostet! 

E.  Hennig. 

Dr.  Frhr.  von  Schrenck-Notzing :  „D  e  r  K  a  m  p  f 

um    die    Materialisationsphänomene". 

Eine  Verteidigungsschrift    mit    20  Abbildungen 

und    3  Tafeln.      München    1914,    Verlag    Ernst 

Reinhardt. 
Seinem  ersten  sensationellen  Buch  „Materiali- 
sations  Phänomene",  das  so  viel  Staub  aufgewirbelt 
hat  und  das  ich  am  29.  März  an  dieser  Stelle 
besprach,  läßt  der  Verfasser  eine  kürzere  zweite 
Schrift  folgen,  in  der  er  sich  mit  seinen  zahlreichen 
Gegnern  auseinandersetzt.  Zweifellos  hat  er  dies 
in  hervorragend  geschickter  Weise  getan,  und  ein 
großer  Teil  der  scheinbaren  Widerlegungen  und  Ein- 
wendungen ist  durch  den  Verfasser,  der  von  seinen 
ersten  Behauptungen  kein  Wort  zurücknehmen  zu 
müssen  erklärt,  endgültig  entkräftet  worden.  Das 
moiiatelange  Schweigen  v.  Schrenck's  auf  die 
von  allen  Seiten  erfolgenden  Angriffe  mufäte  man 
zunächst  wohl  oder  übel  als  eine  Anerkennung 
der  Einwände  deuten  und  deren  Richtigkeit  da- 
durch für  erwiesen  haken.  Die  jetzige  „Ver- 
teidigungsschrift" führt  aber  allerdings  den  bündigen 
Beweis,  daß  die  Publikationen  und  Thesen  seiner 
Gegner  z.  T.  auf  sehr  schwachen  P'üßen  stehen, 
teilweise  sogar  überhaupt  von  keiner  Kenntnis  des 
Tatbestands  getrübt  sind  und  in  ganz  vagen  Kom- 
binationen gipfeln. 

So  sei  denn  auch  an  dieser  Stelle,  entgegen 
den  Darlegungen  der  Besprechung  vom  29.  März, 
betont,  daß  von  einer  wirklich  geglückten  Wider- 
legung der  Schrenck'  sehen  Beweise  für  das  Vor- 
kommen echter  Materialisations-Phänomene  nach 
den  Ausführungen  der  „Verteidigungsschrifi"  bis- 
her nicht  die  Rede  sein  kann.  v.  Schrenck- 
Notzing  ist  ein  so  ausgezeichneter,  vorurteilsloser 
und  sachkundiger  Forscher  und  Wahrheitsucher, 
ist  seinen  Widersachern  an  langjähriger  psycholo- 
gischer Erfahrung,  Sachkenntnis  und  strengster 
Objektivität  so  unbedingt  überlegen,  daß  man  seine 
Erklärung,  die  erhobenen  Einwände  genügten  nicht 
zur  Widerlegung  seiner  unbegreiflichen  Beobach- 
tungen, rundweg  als  maßgebend  ansehen  muß. 
—  Und  dennoch,  dennoch  bleibt  bei  dem  un- 
parteiischen Betrachter  des  Streitfalls  ein  Gefühl 
des  Unbehagens,  des  absoluten  Nicht-Befriedigtseins 
zurück.      Mindestens  in   einem  Punkte  kann  ich 


N.  F.  Xm.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


381 


Dr.  V.  Schrencks  Widerlegunfj  der  Einwände 
nicht  als  unbedingt  geglückt  betrachten,  und  gerade 
dieser  Punkt  ist  von  höchster  Wichtigkeit:  die 
verblüffende  Ähnlichkeit  einzelner  seiner  „materiali- 
sierten" Köpfe  mit  gewissen  Bildern  berühmter 
Persönlichkeiten  in  der  Zeitschrift  „Le  Miroir"  ist 
schlechterdings  nicht  hinwegzuleugnen.  Der  Ver- 
fasser wendet  einen  großen  Apparat  auf,  um  zu 
zeigen,  daß  die  Ähnlichkeit  keine  absolute  ist, 
aber  der  Übereinstimmungen  bleiben  nach  meinem 
Gefühl  doch  allzu  viele.  Und  was  mich  noch  mehr 
stutzig  macht,  ist  die  Tatsache,  daß  die  materiali- 
sierten Gestalten  Kragen,  modernste  Krawatten 
und  Zwicker  tragen,  Warzen  aufweisen  usw.  Ich 
kann  mir  nicht  helfen,  auch  bei  weitherzigster  Be- 
reitwilligkeit zu  K^onzessionen  an  die  Lehre  von 
den  Materialisationen  muß  man  an  derartigen 
Erscheinungen  argen  Anstoß  nehmen!  Schrenck's 
Vorkehrungen,  um  sich  gegen  Betrug  zu  sichern, 
sind  schlechthin  als  mustergültig,  als  einzig  da- 
stehend in  ihrer  Gewissenhaftigkeit  zu  bezeichnen, 
ich  finde  keine  einzige  Lücke  darin,  durch  die  sich 
Fehlerquellen  einschleichen  könnten.  Und  dennoch 
muten  die  photographierten  Materialisationen 
großenteils  so  überaus  verdächtig,  so  kindlich  „ge- 
macht" an,  daß  die  Annahme  eines  trotz  aller  Vor- 
sichtsmaßregeln unentdeckt  gebliebenen  Tricks  des 
Mediums  mir  immerhin  noch  plausibler  erscheint 
als  die  Hypothese  materialisierter  Gestalten,  die 
nach  den  Moden  von  191 2  und  191 3  gekleidet 
gehen.  —  Das  Endurteil  über  die  höchst  sorgfältige 
Schrenck-Notzing'sche  Untersuchung  muß 
daher  doch  leider  wieder  lauten :  Non  liquet ! 

R.  Hennig. 

Jentscb,  Dr.  Ernst,  Julius  Robert  Mayer, 
seine  Krankheitsgeschichte  und  die 
Geschichte  seiner  Entdeckung.  Geb.4,8oM. 
Berlin  1914  Julius  Springer. 
Erfahrungsgemäß  ist  bei  geistigen  Krankheiten, 
die  Anstaltsbehandlung  notwendig  machen,  das 
große  Publikum  leicht  geneigt,  für  den  Kranken 
Partei  zu  nehmen.  Um  so  leichter,  wenn  es  sich 
um  eine  geistig  hervorragende  Persönlichkeit 
handelt,  weil  der  Laie  sich  gewöhnlich  ein  ganz 
falsches  Bild  von  Geisteskrankheit  macht  und 
glaubt,  daß  sie  immer  mit  kompletter  Verrückt- 
heit oder  Tollheit  identisch  sein  müsse.  So  hat 
sich  auch  um  die  geistige  Erkrankung  Jul.  Robert 
Mayer's,  des  genialen  Entdeckers  des  mecha- 
nischen Wärmeäquivalents  ein  Sagenkreis  gebildet, 
der  fast  ganz  von  medizinischen  Laien  herrührt  und 
den  großen  Kranken  als  das  Opfer  seiner  verständnis- 
losen Umgebung  hinstellt.  Dr.  E.  Jentsch  hat 
sich  nun  als  Anwalt  der  Psychiatrie  gegen  diese 
Art  von  Mayer's  Biographen  und  ihre  Nachbeter 
gewandt  und  in  einer  in  ihrer  ruhigen  Sach- 
lichkeit vertrauenerweckenden ,  auf  zuverlässiges 
Ouellenmaterial  gegründeten  Untersuchung  den 
Fall  „Mayer"  vom  irrenärztlichen  Standpunkte 
aus  studiert.  Er  kommt  etwa  zu  folgender  Auf- 
fassung: Auf  der  Grundlage  einer  manisch-depres- 


siven Veranlagung,  die  sich  in  starkem  Stimmungs- 
wechsel, Wunderlichkeiten  und  maßlos  heftigem 
Temperament  äußert  und  die  ihn  sein  ganzes 
Leben  nicht  verlassen  hat,  kommt  es  zu  wieder- 
holten Malen  zu  Ausbrüchen  starker  psychischer 
und  physischer  Erregung  maniakalischer  Natur, 
die  in  einer  Anstalt  überstanden  werden.  Mit 
einer  Ausnahme  hat  Mayer  selber  im  Vorgefühl 
des  Anfalles  die  Anstalt  freiwillig  aufgesucht.  Eine 
Schädigung  der  intellektuellen  Sphäre  hat,  abge- 
sehen von  den  Höhepunkten  der  Manien,  nicht 
stattgefunden.  Verf.  erörtert  dann,  auf  den  Spuren 
Lombrosos  und  Möbius,  aber  in  durchaus 
selbständiger  Weise  wandelnd,  die  Frage,  inwie- 
weit bei  Mayer  eine  Beziehung  zwischen  seiner 
genialen  Leistung  und  seiner  psychopathischen  Ver- 
anlagung anzunehmen  sei.  Seine  interessanten  Aus- 
führungen über  Genie  und  Irrsinn  gipfeln  im  Falle 
Mayer's  etwa  in  dem  Satze,  daß  seine  subpatho- 
logische Veranlagung,  das  mächtige  Temperament, 
die  unbeugsame  Hartnäckigkeit  die  Leistungen 
seines  Geistes  disponierend  begünstigt  habe,  daß 
diese  selbst  aber  die  Resultate  einer  hohen  intellek- 
tuellen Veranlagung  sind,  die  mit  der  Krankheit 
nichts  zu  tun  hat,  ja  die  durch  ihre  akuten  Aus- 
brüche nur  gehemmt  wurde. 

Wertvoll  und  lehrreich  sind  auch  die  histo- 
rischen Erörterungen  über  die  Entwicklung  der 
psychiatrischen  Behandlungsmethoden  im  Verlauf 
des  vorigen  Jahrhunderts,  sowie  besonders  die 
Entstchungs-  und  Entwicklungsgeschichte  der 
geistigen  Großtat  Rob.  Mayer's  (merkwürdiger- 
weise der  einzigen  wissenschaftlichen  Leistung 
seines  Lebens).  Miehe. 

Hirt,  Dr.  med.  Walther,  das  Leben  der  an- 
organischen Welt.  Eine  naturwissenschaft- 
liche Skizze.  München  1914.  Ernst  Reinhardt. 
Der  Versuch,  den  Verf.  in  dem  vorliegenden 
Buche  macht,  ist  nicht  neu.  Man  hat  immer 
wieder  getrachtet,  die  Grenze  zwischen  anorga- 
nischen und  organischen  Vorgängen  zu  verwischen. 
Dieses  dem  instinktiven  Empfinden  absurd  vor- 
kommende Unterfangen  erfahrt  durch  die  moderne 
wissenschaftlich-physiologische  Forschung  eine 
scheinbare  Unterstützung.  Das,  was  diese  nämlich 
an  den  Organismen  erforschen  kann,  muß  sie  mit 
den  Methoden  und  auf  Grund  der  Kenntnisse  der 
Chemie  und  Physik  tun.  Es  ist  deshalb  auch 
nicht  verwunderlich,  daß  man  allerlei  Ähnlichkeiten 
und  Analogien  konstatieren  kann,  wenn  man  ein- 
mal umgekehrt  die  anorganische  Welt  vom 
Standpunkte  der  organischen  zu  betrachten  Lust 
hat.  Das  da  ein  Fintenerfolg  herauskommt,  ist 
klar.  Man  setzt  Physik  und  Chemie  als  Grund- 
lage, um  überhaupt  etwas  Gesetzmäßiges  über  die 
Organismen  zu  finden  und  überträgt  dann  das, 
was  man  auf  diese  Weise  bekommt,  auch  auf 
solche  chemisch-physikalischen  Vorgänge,  die 
nicht  an  organischen  Wesen  verlaufen.  Jeder 
Physiologe  ist  sich  der  begrenzten  Leistungsfähig- 
keit  seiner  Methodik    gegenüber  den    letzten  Ge- 


382 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  24 


heimnissen  des  Lebens  bewußt.  „Ins  Innere  der 
Natur  dringt  kein  erschaffner  Geist,  glückselig, 
wem  sie  nur  die  äußere  Schale  weist",  zitiert  der 
Dichter,  den  der  Verf.  leider  nicht  in  diesem 
Punkte,  sondern  in  der  Frage  des  Lebens  von 
Elfenbein  als  Gewährsmann  anruft.  Dabei  ist  es 
eine  ganz  neue  h>age,  ob  der  Physiologe  von 
heute  glaubt,  daß  bei  fortschreitender  Erkenntnis 
schließlich  einmal  das  ganze  Leben  sich  in  seine 
chemischen  und  physikalischen  Komponenten 
auflösen  lasse  oder,  ob  er,  was  wohl  die 
philosophischeren  unter  ihnen  tun,  glaubt,  daß 
dieses  eine  über  die  Fähigkeiten  der  Naturwissen- 
schaften hinausgehende  Angelegenheit  ist,  die  in 
das  Gebiet  gewisser  letzter  erkenntnistheoretischer 
Fragen  gehört.  Einerlei,  wie  er  sich  zu  diesen 
Fragen  stellt,  wird  der  Physiologe  jeden  Versuch, 
die  Äußerungen  eines  so  unendlich  zusammen- 
gesetzten und  trotz  seiner  Zusammengesetztheit 
so  geschlossen  von  innen  heraus  einheitlich  re- 
agierenden Systemes,  wie  es  selbst  das  einfachste 
Bakterium  darstellt,  mit  irgendwelchen  Erschei- 
nungen an  leblosen  Massen  in  eine  ernsthafte  Pa- 
rallele zu  setzen,  nur  als  roh  bezeichnen.  Daß 
solche  Betrachtungen  aber  deshalb  ganz  zu  verwerfen 
wären,  soll  damit  nicht  gesagt  werden,  ja,  sie 
können  sogar,  wie  meinetwegen  das  Studium  der 
Kolloide  lehrt,  uns  wesentlich  klarere  Vorstellungen 
über  gewisse  Eigenheiten  der  lebendigen  Substanz, 
soweit  wir  sie  experimentell  zu  isolieren  trachten, 
verschaffen  und  sehr  wertvolle  Anregungen  zu 
neuen  Forschungen  geben,  aber  „das  Ganze  geht 
wiederum  in  euern  Kopf  so  wenig  wie  in  meinen" 
(Goethe).  Überhaupt,  man  kommt  auf  diesem 
Wege  gar  zu  leicht  zu  zwecklosen  Spielereien.  Es 
kommt  eben  ganz  darauf  an,  wie  weit  man  den 
Begriff  „Leben"  faßt,  um  dann  alles  irgend  wün- 
schenswerte in  ihn  hinein  zu  packen.  Und  da 
man  überhaupt  keine  vollständig  eindeutige  Defi- 
nition des  Lebens  aufstellen  kann,  so  kann  man 
ganz  nach  Wunsch  verfahren.  Zudem  werden 
in  dem,  übrigens  mit  vielem  Fleiß  zusammenge- 
stellten Buche  die  physiologischen  Vorgänge  zu 
oberflächlich  betrachtet  und  die  wissenschaftliche 
Analyse  fehlt.  Es  genügt  hier,  z.  B.  auf  das  Ka- 
pitel „Atmung  und  Ernährung"  hinzuweisen  und 
manche  andere  physiologische  Grobheiten.  Zu 
weilen  wird  auch  den  Tatsachen  Gewalt  angetan 
(Holz  soll  z.  B.  auch  ohne  Kontakt  mit  Plasma 
wachsen).  Miehe. 

Ewald    Banse,   Illustrierte    Länderkunde. 
335  S.  mit  Tafeln  und  Karte.    8".   Braunschweig, 
Berlin,  Hamburg,  George  Westermann  1914.  — 
Preis  5  Mk. 
Ein  interessanter  und  dankenswerter,  im  ganzen 
wohlgelungener  Versuch,   die    großen    natürlichen 
Einheiten   der    festen    Erdoberfläche    ohne    Rück- 
sicht auf  die  politischen  Grenzen  in  engem  Rahmen 
und   lesbarer  Form  weiteren  Kreisen  darzubieten. 
Als    eigentliches  Lehrbuch    für   den   Studierenden 
der    Geographie    dürfte    sich    das   Werk    weniger 


eignen  wie  zur  Lektüre  für  die  zahlreichen  Freunde 
der  Geographie,  einschließlich  der  Fachgeographen. 
Die  von  dem  Herausgeber  bereits  seit  längerer 
Zeit  mit  viel  Temperament  vertretene  Anschau- 
ung, daß  die  alte  Einteilung  der  Erde  in  5  Kon- 
tinente unzweckmäßig  sei,  hat  ihn  dazu  geführt, 
dieser  Länderkunde  seine  neue  Abgrenzung  der 
Erdräume  zugrunde  zu  legen.  Es  ist  ihm  gelungen, 
eine  Reihe  von  hervorragenden  Fachleuten  für 
die  Bearbeitung  der  einzelnen  Teile  zu  gewinnen. 
Da  der  Herausgeber  selbst  ein  guter  Kenner  des 
Orients  ist,  so  hat  er  diesen,  den  er  den  ältesten 
aller  Erdteile  nennt,  selbst  bearbeitet  und  hinter 
einer  kurzen  allgemeinen  Einleitung  an  die  Spitze 
der  Länderbeschreibung  gestellt.  Es  folgen  dann 
Europa  von  W.  Schjerning,  Groß-Sibirien, 
d.  h.  das  Russische  Reich  mit  Ausnahme  der  Ost- 
seeprovinzen und  Finlands,  von  F.  Zugmayer, 
Mongolien  und  Hochasien  von  demselben  Ver- 
fasser, Ostasien  von  E.  Tießen  und  Indien  von 
M.  Holz  mann.  Als  Groß-Australien  wird  dieser 
Erdteil  einschließlich  der  großen  Inseln  Neusee- 
land und  Neuguinea  sowie  der  Inselschwärme 
Mikronesiens  und  Polynesiens  bezeichnet,  ein  außer- 
ordentlich weit  ausgedehntes  Gebiet,  das  J.  V. 
D  a  n  e  s  bearbeitet  hat.  Während  Nordafrika  etwa 
nördlich  vom  17.  Grad  nördlicher  Breite  zum 
Orient  gerechnet  wird,  hat  der  übrige,  Nigritien 
genannte  Teil  eine  Darstellung  durch  K.  S  c  h  w  a  b  e 
gefunden.  Ost-Südamerika  und  Andina  (d.  h. 
West-Südamerika)  und  Mittelamerika  schildert  W. 
Ule,  Kordilleria  (d.  h.  West-Nordamerika)  und 
Amerika  (d.  h.  Ost-Nordamerika)  A.  Oppel.  Der 
Arktis  und  Antarktis  schließlich  sind  zusammen 
neun  Seiten  Text  von  O.  Nordenskjöld  ge- 
widmet. 56  meist  geschickt  ausgewählte  schöne 
Abbildungen  auf  17  Tafeln  tragen  viel  zur  Ver- 
anschaulichung bei.  Eine  Umrisskarte,  auf  der 
die  von  dem  Herausgebeber  abgegrenzten  natür- 
lichen Erdteile  durch  Flächenkolorit  unterschieden 
sind,  beschließt  das  Werk.  O.  Baschin. 


Neger,    Prof.    Dr.    F.    W.,    Die    Laubhölzer. 
Kurzgefaßte  Beschreibung   der    in    Mitteleuropa 
einheimischen  Bäume  und  Sträucher,  sowie  der 
wichtigeren     in    Gärten    gezogenen    Laubholz- 
pflanzen.    Mit   74  Textabbild,    und   6  Tabellen. 
Sammlung  Göschen   1914.  —  90  Pf. 
Das    kleine  Büchlein    kann    als   ein    sehr  nütz- 
liches  Hilfsmittel    bei    der   Bestimmung    der    ein- 
heimischen Laubhölzer  empfohlen  werden.     Recht 
praktisch  erscheinen  mir  die  die  Unterscheidung  der 
Arten    erleichternden,    hie    und    da    eingestreuten 
kleinen  Tabellen,  sowie  ganz  besonders  die  größe- 
ren Tabellen    am  Schluß,  zum  Bestimmen    i.  der 
wichtigsten   Laubholzsamen    und    -fruchte,    2.   der 
wichtigeren  Laubholzkeimlinge,  3.  der  wichtigeren 
Laubbäume  im  Sommer-  und  4.  im  Winterzustande 
und  schließlich  5.  des  Holzes  nach  mikroskopischen 
Merkmalen.     Ob  nicht  der  Verf.  später  auch  ein- 
mal den  Versuch    machen  könnte,   für   die    wich- 


N.  F.  XIII.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


383 


tigsten  VValdbäume  eine  Bestimmungstabelle  nach 
den  Eigenheiten  der  Rinde  und  der  Verzweigung 
auszuarbeiten?  Da  diese  Merkmale  bei  hohen 
Räumen  oft  die  allein  oder  hauptsächlich  zugäng- 


lichen sind,  wäre  eine  solche  Tabelle  besonders 
nützlich,  abgesehen  davon,  daß  sie  auch  sehr  lehr- 
reich in  bezug  auf  die  Physiognomik  des  Waldes 
sein  würde.  Miehe. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Tuberkulose  und  Milch.  Auf  der  letzten  in 
Berlin  abgehaltenen  Tuberkulose  -  Konferenz  er- 
stattete der  Direktor  der  Veterinär-Abteilung  im 
Kaiserl.  Gesundheitsamt  Geheimrat  v.  Ostertag 
einen  umfassenden  Bericht  über  die  Frage,  in 
welchem  Maße  durch  den  Genuß  von  Tiermilch 
Tuberkulose  auf  den  Menschen  übertragen  werden 
könne.  ^)  Er  führte  aus,  daß  schon  der  Umfang, 
in  dem  Milch  als  Nahrungsmittel  für  Menschen 
dient,  zeige,  um  welch  wichtige  Frage  es  sich 
hierbei  handele.  In  Deutschland  werden  im  Jahre 
rund  252  Millionen  Hektoliter  Milch  gewonnen, 
von  denen  ^/,o  als  F"rischmilch,  '^/jg  als  Butter  und 
nur  ^/lo  als  Futtermilch  für  Tiere  verwendet 
werden.  Die  Bedeutung  der  Tiermilch  als  mensch- 
liches Nahrungsmittel  tritt  erst  recht  hervor,  wenn 
man  bedenkt,  wie  das  Kind  auf  die  Tiermilch  als 
ausschließliches  oder  doch  an  erster  Stelle  stehen- 
des Nahrungsmittel  angewiesen  ist.  Die  Gefahr 
scheint  auf  den  ersten  Blick  eine  sehr  große  zu 
sein,  sobald  man  in  Betracht  zieht,  in  wie  hohem 
Maße  die  Tuberkulose  unter  den  Rindern  der 
Kulturstaaten  verbreitet  ist.  Wir  besitzen  seit  1904 
in  Deutschland  eine  Statistik  über  die  Ergebnisse 
der  amtlichen  Fleischbeschau.  Nach  dieser  sind 
im  Jahre  1910  als  Beispiel  30,88  "/'(,  der  geschlach- 
teten Kühe  mit  Tuberkulose  behaftet  gefunden 
worden.  Noch  schlechter  stellen  sich  die  Zahlen, 
wenn  man  die  Ergebnisse  der  Tuberkulin-Prüfun- 
gen  heranzieht.  Danach  kann  die  Zahl  der  auf 
Tuberkulin  reagierenden,  also  höchstwahrschein- 
lich an  Tuberkulose  erkrankten  Tiere  in  Hoch- 
zuchtbetrieben, in  die  häufig  zu  Verbesserungs- 
zwecken fremde  Tiere  gebracht  werden,  50 — 60 "/q, 
selbst  90  "/q  betragen.  Eine  Reihe  von  Unter- 
suchungen sind  über  den  Tuberkelbazillengehalt 
der  auf  den  Markt  gebrachten  Milch  und  Butter 
angestellt  worden.  Die  Häufigkeit  der  Funde  von 
Tuberkelbazillen  in  der  Milch  waren  sehr  ver- 
schieden; sie  schwankten  von  o — 61  "/^  der  Proben. 
Schon  daraus  ist  zu  schließen,  daß  bei  der  gleich- 
mäßigen Verbreitung  der  Tuberkulose  besondere 
Umstände  bei  der  Infektion  der  Milch  mitsprechen 
müssen.  Bollinger  war  wohl  der  erste,  der  auf 
den  starken  Tuberkelbazillengehalt  und  die  hohe 
Virulenz  der  aus  tuberkulösen  Eutern  stammenden 
Milch  hingewiesen  hat.  v.  Ostertag  stellte  fest, 
daß  außer  den  an  Eutertuberkulose  erkrankten 
Kühen,  die  mit  offener  Lungen-,  Gebär- 
mutter- oder  Darmtuberkulose  behafteten 
Tiere  tuberkelbazillenhaltige  Milch  liefern.    Jedoch 


')  Zeitschr.  f.  Fleisch-  und  Milchhygenie,   14.  Jahrg.,  Heft 
3.  4,  5.  6. 


gelangen  bei  den  letzteren  die  Bazillen  gewisser- 
maßen „von  außen"  in  die  Milch.  Der  Vortragende 
berichtet  dann  in  der  eingehendsten  Weise  über 
alle  auf  diesen  Gebieten  angestellten  Untersuchun- 
gen. In  eigenen  umfassenden  Versuchen  hat 
V.  Ostertag  nachgewiesen,  daß  die  Milch  von 
Tieren,  die  lediglich  auf  Tuberkulin  reagieren,  ohne 
klinische  Erscheinungen  zu  zeigen,  frei  von  Tuber- 
kelbazillen ist.  Demnach  darf  man  die  Gefahr, 
die  dem  Menschen  durch  die  Milch  tuberkulöser 
Tiere  droht,  auch  nicht  überschätzen.  Das  Euter- 
sekret der  an  Eutertuberkulose  erkrankten  Tiere 
ist  allerdings  stets  in  hohem  Maße  virulent  und 
kann  infolge  seines  hohen  Gehalts  an  Tuberkel- 
bazillen—  50  bis  100  000  Bazillen  in  i  ccm  Milch 
sind  nichts  seltenes,  bis  zu  i  Million  sind  schätzungs- 
weise festgestellt  worden  —  auch  die  Sammel- 
milch von  vielen  Kühen  in  hohem  Maße  infizieren. 
Es  wurden  0,1 — 0,3  "/g  aller  Kühe  an  Eutertuber- 
kulose erkrankt  gefunden.  Diese  Tiere  also  stellen 
die  Hauptgefahr  für  den  Menschen  dar.  Danach 
kommen  die  übrigen  mit  „offener"  Tuberkulose 
behafteten  Rinder  in  Betracht.  Da  es  feststeht, 
daß  die  Tuberkulose  der  Haustiere  durch  Milch- 
genuß übertragen  werden  kann,  sind  die  oben  ge- 
nannten Formen  der  Tiertuberkulose  zu  bekämpfen, 
in  der  Weise,  wie  es  in  dem  neuen  deutschen 
Viehseuchengesetz  vorgeschrieben  ist  (Änzeige- 
pflicht,  Tötungsbefugnis,  Verkehrsbeschränkungen 
für  die  Milch).  Diese  Maßnahmen  sollten  auch 
auf  die  anderen  Milchtiere,  insbesondere  die  Ziegen 
ausgedehnt  werden.  Bis  allgemein  eine  regelmäßige 
tierärztliche  Kontrolle  der  Milchviehbestände  zur 
Einführung  gelangt  ist,  sollte  zur  Verhütung  der 
Übertragungsgefahr  die  Milch  vor  dem  Gebrauch 
stets  abgekocht  werden.  W.  ligner. 

Wendehals  und  Sperber.  Am  16.  April  1914 
konnte  ich  in  Treis  a.  d.  Mosel  eine  Beobachtung 
machen,  zu  der  man  nicht  oft  Gelegenheit  hat. 
Schon  einige  Tage  vorher  hatte  mir  der  Wende- 
hals mit  dem  gleichförmigen  Frühlingsrufe  wiep, 
wiep,  wiep  .  .  .  seine  Ankunft  in  der  schon  älteren 
Obstbaumpflanzung  oberhalb  Treis  angemeldet. 

An  dem  bezeichneten  Tage  beobachtete  ich  in 
der  Morgenfrühe  zwei  dieser  Vögel,  welche  lebhaft 
hin  und  her  flogen.  Bald  trennten  sie  sich  und 
einer  setzte  sich  in  meiner  Nähe  quer  auf  einen 
Ast  und  ließ  fleißig  seine  charakteristische  Stimme 
erschallen.  Das  Gefieder  war  bei  dieser  Gelegen- 
heit stark  gelockert.  Plötzlich  wurde  es  glatt  an- 
gelegt, der  Ruf  ertönte  nicht  mehr  und  nach  einer 
schnell  ausgeführten  Viertelwendung  saß  er,  wie 
es  ja    für   die  Nachtschwalbe  bekannt    ist,   so  auf 


384 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  24 


dem  Aste,  daß  die  Längsrichtung  des  Vogels  mit 
der  des  Astes  zusammenfiel.  Gleichzeitig  hörte 
ich  in  der  Nachbarschaft  einen  kräftigen  Flügel- 
schlag: ein  Sperber  hatte  einen  kleineren  Vogel 
verfehlt. 

Längere  Zeit  wagte  der  dem  Aste  dicht  an- 
geschmiegte  Wendehals  sich  nicht  zu  rühren. 
Nahrungssuche  und  Neckereien  waren  unter  diesen 
Umständen  zur  Nebensache  geworden.  Das  ganze 
Streben  des  eingeschüchterten  Vogels  war  jetzt 
daraufgerichtet,  nur  nicht  als  Frühstück  im  Sperber- 
magen zu  verschwinden.  Zur  Erreichung  dieses 
Zieles  war  jedenfalls  ein  recht  zweckmäßiges  Ver- 
fahren beobachtet  worden. 

Prof.  Dr.  Brockmeier,  M.-Gladbach. 

Über  die  Verwendung  des  Kupfers  in  dem 
1898  gegründeten  Kabelwerk  Oberspree  der 
AEG  gibt  die  Mai  -  Nummer  der  von  dieser 
Gesellschaft  herausgegebenen  Zeitung  interessante 
Auskünfte.     Der  Verbrauch  betrug 

1898/99       5  103  t 

1904/05     14800  t 

1909/10     22948  t 

1912/13  33778  t 
Die  gesamte  deutsche  Kupferproduktion  würde 
nicht  genügen,  den  Jahresbedarf  des  Kabelwerkes 
zu  decken.  Das  Kupfer  wird  aus  Nordamerika 
bezogen.  Es  wird  als  reines  IVIetall  und  als  Bronze 
zu  Leitungsdraht  verarbeitet  und  in  I^egierung  mit 
Zink  als  Messing  zu  Konstruktionsmaterial  ver- 
wendet. Die  gesamte  seit  1898  verarbeitete  Kupfer- 
menge beträgt  über  eine  Viertelmillion  Tonnen 
(257631  t),  das  sind  29OOO  cbm.  Ein  Kupfer- 
würfel von  30  m  Kantenlänge  würde  etwa  das- 
selbe Volumen  haben.  Seh. 


Literatur. 

Findlay,  Dr.  Ale.'iander,  Der  osmotische  Druck,  .'auto- 
risierte deutsche  Ausgabe  von  Dr.  Guido  Scivessy  mit  einer 
Einführung  zur  deutschen  Ausgabe  von  Wilh.  Ostwald.  Dresden 
und  Leipzig  '14,  Th.  Steinljopff.     4  Mk. 

Simroth,  Prof.  Dr.  Heinrich,  Die  Pendulationstheorie. 
2.  Aufl.     Berlin  '14,  Konrad  Grethlein.     Geb.   10  Mk. 


gar  nichts.  Inzucht,  wozu  ja  aucli  die  Verwandtenheiraten 
gehören,  ist  bei  gesundem  Zuclitmaterial  gänzlich  unscliädlich. 
Sonst  wiire  eine  rationelle  Tierzucht  gar  nicht  möglich.  Wie 
hierbei,  der  mit  Auslese  verbundenen  Inzucht,  eine  Ansamm- 
lung wünschenswerter  Merkmale  statthat,  lindet  bei  Verwen- 
dung pathologischer  Individuen  zur  gegenseitigen  Befruchtung 
natürlich  eine  Häufung  pathologischer  Merkmale  statt.  Daß 
durch  die  Vereinigung  zweier  nahe  verwandter  Gameten  an 
und  für  sich,  oder  allein  die  Ursache  zum  Auftreten  eines 
]iathologischen  Merkmales  gegeben  wäre,  ist  weder  irgendwie 
erwiesen,  noch  wahrscheinlich.  Die  Ursachen  der  Hemmungs- 
mitibildungen  sind  wohl  vielfach  gar  nicht  in  der  Keimkonsli- 
tuüon  zu  suchen,  sondern  irgendwelche  während  der  Entwick- 
lung auftretenden  ungünstigen  Bedingungen ,  ,, Entwicklungs- 
störungen" rufen  sie  hervor.  Petersen. 


Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  stud.  rer.  nat.  G.  v.  B.,  Stuttgart.  —  Hasenscharte 
und  Wolfsrachen  rechnet  man  in  der  Tat  zu  den  „Degene- 
rationsmerkmalen". Vgl.  z.  B.  Ziehen,  Psychiatrie  (p.  212 
und  213,  3.  Aufl.  1908).  Über  die  eigentlichen  „Ursachen" 
dieser,    wie    der    meisten    Hemmungsmißbildungen    weiß    man 


Herrn  G.  v.  B.  in  Stuttgart.  Sind  Hühnereier  in  ihrem 
Innern  bakterienfrei?  Gemäß  der  Entstehung  der  Eier  ist  zu 
erwarten,  daß  sie  unter  Umständen  schon  dann  ,  wenn  sie  ge- 
legt werden,  von  Mikroorganismen  infiziert  sind.  Die  Eiweiß- 
hülle und  die  Schalen  werden  ja  erst  im  Eileiter  resp.  im 
Uterus  gebildet,  so  daß  falls  einmal  von  der  Kloake  aus  eine 
Infektion  dieser  Organe  stattgefunden  hat,  die  eingedrungenen  | 
Mikroorganismen  mit  in  das  Ei  eingeschlossen  werden.  Wenn 
nun  solche  Eindringlinge  oder  wie  man  besser  sagen  könnte 
Gefangene  sich  in  der  Substanz  des  Eies  zu  entwickeln  ver- 
mögen, verdirbt  dies  nach  einiger  Zvit.  Wahrscheinlich  wer- 
den die  meisten  faulen  Eier  auf  diese  Weise  faul.  Die  Art 
des  Fäulnisvorganges  kann  verschieden  sein.  In  den  meisten 
Fällen  werden  die  Eier  in  eine  mißfarbene  Jauche  verwandelt, 
wobei  viel  Gas,  hauptsächlich  H„S,  gebildet  wird,  oft  so  viel, 
daß  das  Ei  platzt.  In  anderen  werden  sie  breiig,  ockergelb 
und  riechen  stark  nach  menschlichen  Fäces.  Als  Ursachen 
dieser  Zersetzungsvorgänge  werden  verschiedene  Bakterien  an- 
gegeben. Es  können  aber  auch  Schimmelpilze  im  Ei  sich 
entwickeln.  Man  trifft  dann  lokale,  verfärbte  Herde  unter 
der  Schale.  Der  Geruch  ist  in  diesem  Falle  weniger  heftig. 
(Vgl.  Lafar,  Techn.  Mykologie,  2.  Aufl.,  Bd.  111,  p.  100  ff. 
und  Bd.  IV,  p.  274.) 

Die  Infektion  kann  aber  auch  nachträglich  am  fertigen, 
gelegten  Ei  erfolgen,  da  es  durch  verschiedene  Versuche  (vgl. 
z.B.  Lind,  Jahrb.  f.  wissensch.  Botanik,  Bd.  32,  1898,  sowie 
Buller,  Leipziger  phil.  Dissertation  1899)  erwiesen  wurde, 
daß  Pilze  und  Bakterien  durch  die  bekanntermaßen  poröse 
Eischale  hindurchzudiingen  vermögen.  Man  wird  aber  an- 
nehmen können,  daß  diese  Art  der  Infektion  nur  bei  älteren, 
feucht  und  dumpf  gelagerten  Eiern  eintritt,  da  für  gewöhnlich 
die  Oberfläche  der  Schale  zu  trocken  ist,  als  daß  die  Mikroben 
auf  ihr  Fuß  zu  fassen  vermöchten.  Immerhin  besteht  bei 
Eiern,  die  längere  Zeit  lagern  müssen,  diese  Gefahr  durchaus. 
Man  sucht  deshalb  solche  Eier  dadurch  zu  konservieren ,  dafl 
man  entweder  ihre  Oberfläche  imprägniert,  z.  B.  mit  Fett, 
Vaseline,  Paraffin,  Wasserglas,  Kollodium,  oder  sie  ganz  in 
antiseptische  Flüssigkeiten  eintaucht  (wie  Kalkwasser,  Wasser- 
glas), resp.  mit  Desinfektionsmitteln  bestreicht.  Ob  während 
des  Brütens  eine  Infektion  stattfinden  kann,  ist  mir  nicht  be- 
kannt, auch  scheint  die  Frage  bisher  noch  nicht  erörtert  zu 
sein,  ob  für  erfolgreiche  Ausbreitung  der  auf  diese  oder  jene 
Weise  in  das  Ei  gelangten  Keime  etwa  die  Eizelle  tot  sein 
muß,  was  ja  nicht  ganz  undenkbar  wäre.  Auch  wäre  zu  be- 
rücksichtigen, daß  die  hohe  Bruttemperatur,  die  für  sehr  viele 
Bakterien  bereits  ihre  obere  Wachstumsgrenze  darstellt,  die 
Infektion  erschwert.  Miche. 


Inhalt;  Kcyl;  Methoden  zur  Untersuchung  des  „Sehens"  der  Tiere.  Babak:  Zur  Frage  der  Atemregulation  in  der  Tier- 
reihe. . —  Einzelberichte:  Buchwald:  Beugung  des  Lichtes  an  Raumgittern.  Eckmann:  Problem  des  Vogelzuges. 
011  ive:  Elemente  der  bekannten  Monde.  Pickering:  Veränderungen  am  Mondkrater  Eimmart.  Aurenche  und 
Loncheux:  Die  Abweichungen  des  Stoffwechsels  von  der  Norm  bei  übermäßiger  Muskelarbeit.  Galeotti:  Die  Ein- 
wirkung kolloidaler  Metalle  auf  Zellen.  —  Bücherbesprechungen:  Lerch;  Geologische  Wanderungen  in  der  Um- 
gegend von  Hannover.  Schrenck-Notzing:  Der  Kampf  um  die  Materialisationsphänomene.  Jentsch:  Julius 
Robert  Mayer,  seine  Krankheitsgeschichte  und  die  Geschichte  seiner  Entdeckung.  Hirt:  Das  Leben  der  anorganischen 
Welt.  Banse:  Illustrierte  Länderkunde.  Neger:  Die  Laubhölzer.  —  Kleinere  Mitteilungen :  ligner:  Tuberkulose 
und  Milch.  Brockmeier:  Wendehals  und  Sperber.  Schutt:  Verwendung  des  Kupfers.  —  Literatur:  Liste.  — 
Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.Mi  ehe  in  Leipzig,  Marienstraße   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band; 
der  ganzen  Reihe  2g.  Band 


Sonntag,  den  21.  Juni  1914. 


Nummer  25. 


[Nachdruck  verboten.] 

Es  ist  eine  alte  Erfahrung,  daß  nicht  alle  Pflan- 
zen Samen  liefern,  welche  gleich  nach  der  Reife 
keimen.  Wenn  wir  einen  ausgereiften  Kohlsamen 
der  Schote  entnehmen  und  ihn  sogleich  wieder 
zur  Keimung  in  die  Erde  legen,  so  wird  er,  wenn 
nur  die  übrigen  notwendigen  Keimungsbedingun- 
gen vorhanden  sind,  alsbald  wieder  auskeimen. 
in  sehr  vielen  anderen  Fällen  ist  das  aber  nicht 
der  Fall.  Wir  kennen  aus  unserer  Kinderzeit  alle 
Beispiele  von  Kirschkernen,  die  wir  in  den  Boden 
steckten  und  welche  dann  lange  Zeit  zu  unserem 
eigenen  Leidwesen  ungekeimt  im  Boden  verblieben. 
Endlich  aber  lieferten  sie  doch  nach  langer  Zeit 
kleine  Pflänzchen.  Aber  auch  der  Gemüsezijchter 
weiß,  daß  der  Same  der  Möhre,  Daucus  Carola, 
lange  im  Boden  liegt,  ehe  er  keimt,  während  Erbsen 
bei  günstiger  Witterung  sehr  schnell  aufgehen. 
Und  wie  mancher  Blumenfreund  ist  nicht  auf  eine 
harte  Probe  gestellt  worden,  wenn  Blumensamen 
wie  Canna,  Primula,  manche  Phloxarten  usw.  nicht 
aufgehen  wollten.  Dabei  erhielten  sich  aber  alle 
diese  Samen  völlig  gesund  und  frisch,  und  wenn 
der  Züchter  nur  Geduld  genug  hatte,  dann  war 
er  endlich  auch  noch  in  der  Lage,  die  ausgelegten 
Samen  keimen  zu  sehen.  Wir  wollen  uns  im 
folgenden  derartige  Fälle  von  Keimverzug  etwas 
näher  betrachten. 

Da  sind  einmal  solche  Samen  zu  nennen,  welche 
trotz  günstiger  Keimungsbedingungen  durch  eine 
oder  auch  mehrere  Vegetationsperioden  hindurch 
im  Boden  liegen  können,  ohne  überhaupt  Keim- 
linge zu  ergeben.  So  berichtet  z.B.  Tittmann 
im  Jahre  1821,  daß  die  Früchte  der  Rosen  andert- 
halb Jahre  im  Boden  liegen,  ehe  die  Keimung 
der  eingeschlossenen  Samen  erfolgt.  Und  Nobbe 
(1876,  S.  352)  teilt  mit,  daß  die  Saalkörner  der 
Eibe,  der  Esche,  Kirsche,  des  Weißdornes,  über- 
haupt der  Pomaceen,  Amygdaleen,  mancher  Palmen 
regelmäßig  eine,  bisweilen  zwei  Vegetationsperioden 
über  liegen.  „Wenn  hier  im  Jahre  der  Aussaat 
trotz  günstiger  Witterung  keine  Pflanze  erscheint, 
ist  die  Hoffnung  nicht  aufzugeben,  der  nächste 
Lenz  werde  alles  einbringen,  wenn  wir  sonst  des 
Ursprungs  und  der  Aufbewahrung  des  Saatgutes 
sicher  sind."    Bei  diesen  Samen  ist  also  der  Keim- 


Über  Keimverzug. 

Von  Ernst  Lehmann. 


Verzug  sehr  ausgesprochen.  Und  so  verhalten  sich 
noch  die  Samen  vieler  unserer  Waldbäume,  vgl. 
dazu  Kienitz,  Forstl.  Blätter  (Grunert  und  Borg- 
greve,  l(j,   1886,  S.   1—6). 

In  vielen  anderen  Fällen  werden  nicht  alle 
Samen  einer  Ernte  gleichmäßig  vom  Keimverzug 
betroffen.  Es  keimen  vielmehr  einige  Samen  schon 
bald  nach  der  Ernte,  andere  erst  im  darauffolgen- 
den Jahre,  noch  andere  noch  später  und  so  kann 
sich  die  Keimung  solcher  Samen  über  viele  Jahre 
erstrecken.  Schon  1834  hat  Duvernoy  hierauf 
für  eine  Anzahl  von  Monokotylensamen  hinge- 
wiesen. Er  zeigte  z.  B.,  daß  Samen  der  Herbst- 
zeillose (Colchicum  autumnale),  welche  bald  nach 
der  Reife  in  Töpfe  gesät  werden,  die  den  Winter 
über  in  einem  mäßig  geheizten  Zimmer  gehalten 
wurden,  zum  nächsten  Frühjahr  erst  in  einigen 
wenigen  Exemplaren  keimten;  im  darauffolgen- 
den Frühjahre  erschienen  wieder  einige  Keim- 
linge und  wieder  andere  erst  im  dritten  Jahre. 
Dabei  war  merkwürdig,  daß  diese  Samen  ebenso 
wie  diejenigen  vieler  anderer  Monokotylen  gerade 
immer  —  trotz  dauernd  ungefähr  gleichmäßiger 
Wärme  —  im  Frühjahr  keimten.  Auch  durch 
neuere  Untersuchungen,  z.  B.  der  dänischen  Samen- 
kontrollstation, hat  sich  das  für  eine  Reihe  von 
Samen  immer  wieder  gezeigt.  Du  vern  oy  wollte 
dies  durch  einen  inneren  periodischen  Trieb  er- 
klären; Nobbe  wehrte  sich  dagegen  sehr  lebhaft. 
Dennoch  haben  wir  sicher  heute  für  viele  dieser 
Samen  noch  keinen  ausreichenden  Grund,  warum 
sie  immer  im  Frühjahr  auskeimen. 

Besonders  eingehende  Untersuchungen  mit 
langsam  keimenden  Samen  haben  daim  Nobbe 
und  Hänlein  (1877)  angeslelll.  Sie  geben  z.B. 
für  Kleesamen  folgende  Keimverhällnisse  an :  Es 
quollen  von  64  bei  18—20°  C  10  Tage  lang  feucht 
gehaltenen  Körnern 

am   12.,   14.,  63.,  75-.  79-.   167.,    18S.,   209.,   247.,  292.  Tage 
111221  3         2  I  2      Samen. 

Aus  einer  größeren  Anzahl  untersuchter  Un- 
kraulsamen seien  folgende  hierhergehörige,  beson- 
ders instruktive  Fälle  zahlenmäßig  angeführt.  Es 
keimten  nach 


3 

8 

•5 

20 

30 

40 

50 

70 

100 

200 

300 

400 

500 

640 

724 

Tagen 

Apera  spica  Venti 

— 

37 

31 

27 

39 

— 

10 

2 

— 

22 

I 

1 

Scleranthus  annus 

—    88 

50 

5 

63-4 

3 

3 

— 

— 

15 

I 

— 

Samen 

Myosotis  intermedia 

- 

.58 

■32 

3 

— 

I 

38 

5 

- 

4 

— 

- 

2Ü 

- 

— 

386 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  25 


Sehr  auffälüg  sind  diese  Nachkeimungen  auch 
bei  Tithymalus  Cyparissias,  der  Cypressenwolfs- 
milch,  wo  Winkler  zeigte,  daß  sie  innerhalb 
4 — 7  Jahren  zustande  kommen. 

Seit  den  Jahren  1898/99  durch  das  ganze  erste 
Dezennium  des  jetzigen  Jahrhunderts  sind  dann 
an  der  dänischen  Samenkontrollstation  in  Kopen- 
hagen mit  sehr  vielei\  Samen  Keimungsversuche 
angestellt  worden,  welche  immer  neue  Beispiele 
für  solche  langsame  Keimung  erbrachten. 

Schließlich  kennen  wir  noch  andere  Samen, 
welche  zwar  nicht  direkt  nach  der  Reife,  aber 
doch  innerhalb  ein  oder  weniger  Monate  nach 
derselben  vollständig  auskeimen.  Hierfiir 
brauche  ich  keine  besonderen  Beispiele  anzuführen, 
denn  so  verhalten  sich  sehr  zahlreiche  Samen. 

Dieser  Keimverzug  ist  naturgemäß  praktisch 
von  außerordentlicher  Bedeutung.  Der  Landwirt, 
Forstmann,  Gärtner,  wie  jeder,  der  sich  mit  der 
Anzucht  von  Sämlingen  beschäftigt,  will  einmal 
wissen,  in  wie  langer  Zeit  er  nach  der  Aussaat 
die  Keimung  seiner  Samen  erwarten  kann.  Dann 
aber  ist  es  noch  von  viel  größerer  Bedeutung, 
daß  er  erfährt,  von  einem  wie  großen  Prozentsatz 
er  innerhalb  einer  bestimmten  Zeit  Keimlinge  er- 
zielen kann.  Denn  von  diesem  Prozentsatz  an 
Keimlingen  hängt  für  ihn  der  Wert  seiner  Samen- 
probe ab.  Dieser  Prozentsatz  wird  im  Samen- 
handel vom  Händler  für  die  zu  verkaufende  Samen- 
menge angegeben  und,  soweit  es  der  Käufer  ver- 
langt, von  einer  staatlichen  Samenkontrollstation 
beglaubigt.  Für  diese  Samenprüfung  ist  aber,  wie 
leicht  ersichtlich,  eine  sichere  Kenntnis  des  Keim- 
verzugs unumgänglich  notwendig.  Und  so  ging 
denn  auch  die  Erforschung  dieses  Keimverzugs 
von  Samenprüfungsanstalten  aus,  während  sich 
heute  auch  die  theoretische  Pflanzenphysiologie 
der  Aufklärung  dieses  interessanten  Vorganges 
angenommen  hat. 

Nachdem  einmal  die  Tatsache  des  Keimver- 
zuges festgestellt  war,  handelte  es  sich  vor  allem 
um  die  Beantwortung  der  Frage,  auf  welche  Ur- 
sachen das  Zustandekommen  des  Keimverzuges 
zurückzuführen  ist.  Für  eine  ganze  Reihe  von 
Phallen  sind  diese  Ursachen  heute  in  befriedigender 
Weise  aufgehellt,  während  andere  noch  der  Auf- 
klärung harren. 

Man  könnte  nun  vielleicht  daran  denken,  daß  un- 
günstige äußere  Bedingungen  den  Keimverzug  be- 
wirken. Wir  wollen  von  der  Erörterung  solcher 
Fälle  hier  einstweilen  absehen  und  annehmen,  der 
Same  sei  unter  für  seine  Keimung  durchaus  gün- 
stige Bedingungen  verbracht  worden.  Unter  solchen 
Umständen  lägen  aber  noch  zweierlei  prinzipiell 
ganz  verschiedene  Möglichkeiten  vor,  welche  den 
Keimverzug  verursachen  könnten.  Wir  können 
uns  nämlich  dann  das  keimungshemmende  Prinzip 
entweder  in  der  Samenschale  liegend  denken, 
oder  es  käme  das  Sameninnere  in  Frage.  Betrach- 
ten wir  zuerst  den  Einfluß  der  Samenschale. 

Es  ist  einmal  sehr  wohl  denkbar,  daß  Samen, 
welche   mit    einer  sehr  harten  und  dicken  Schale 


umgeben  sind,  oder  welche  sogar  noch  von  einer 
festen  P'ruchtschaie  umschlossen  werden,  dem  Aus- 
tritt des  Würzelchens  und  der  Plumula  erheblichen 
Widerstand  in  den  Weg  setzen.  Das  kommt  natür- 
lich nur  für  solche  hartschalige  Samen  in  Frage, 
welche  nicht  über  eine  besonders  ausgebildete 
Durchtrittszone  für  das  Würzelchen  verfügen,  wie 
das  oftmals  der  Fall  ist. 

Dann  aber  kann  die  harte  Schale  auch  die 
Quellung  stark  hindern  und  damit  die  Aufnahme 
von  Wasser  und  Sauerstoff  hemmen.  Wir  wollen 
nun  einmal  einige  ältere  und  neuere  Untersu- 
chungen betrachten,  welche  sich  mit  dem  Keim- 
verzug bei  solchen  hartschaligen  Samen  beschäf- 
tigt haben. 

Hart-  und  dickschalige  Samen,  welche  Keim- 
verzug aufweisen,  kommen  beispielsweise  bei  Koni- 
feren und  Leguminosen  häufig  vor.  Schon  Nobbe, 
der  bekannte  Tharandter  Keimungsforscher  und 
Begründer  der  deutschen  Samenkontrolle  beschäf- 
tigte sich  mit  der  Untersuchung  dieser  Hartschalig- 
keit.  Wir  sahen  ja,  daß  er  gemeinsam  mit  Hän- 
lein  gezeigt  hatte,  daß  Leguminosensamen  ein 
teilweise  sehr  erheblicher  Keimverzug  zukommt. 
Gerade  von  diesen  Leguminosensamen  konnte  nun 
aber  gezeigt  werden,  daß  hier  die  Keimungs- 
hemmung in  der  Samenschale  liegt.  Die  Samen- 
schale der  Leguminosen  ist  von  sehr  vielen  For- 
schern eingehend  untersucht  worden.  Wir  können 
auf  die  Erörterung  dieser  Untersuchungen  hier  nicht 
weiter  eingehen.  Die  Schale  besteht  sehr  häufig 
aus  einer  Reihe  sehr  schwer  wasserdurchlässiger 
Schichten.  Das  Innere  des  Samens  bleibt  in  vielen 
Fällen  auch  nach  jahrelangem  Quellen  in  Wasser 
noch  völlig  trocken.  Der  Same  keimt  nicht.  Der 
Prozentsatz  dieser  nicht  bzw.  langsam  keimenden  — 
harten  —  Samen  ist  in  einzelnen  Samenproben 
sehr  verschieden,  aber  oftmals  recht  hoch.  Wenn 
aber  die  geringste  Verletzung,  ein  Riß  oder  etwas 
derartiges  der  Samenschale  zugefügt  wird,  wodurch 
das  Wasser  ins  Innere  vordringen  kann,  dann  be- 
ginnt der  Same  alsbald  zu  quellen  und  zu  keimen. 
Das  konnte  von  Nobbe  für  Klee,  Medicago, 
Acacia,  Robinia  und  viele  andere  Papilionaceen 
festgestellt  werden. 

Diese  Erkenntnis  wird  in  der  Praxis  heute  viel- 
fach benutzt,  indem  man  besonders  Kleesämereien 
einem  Ritzverfahren  unterwirft,  wodurch  die  be- 
treffenden Sämereien  mit  kleinen,  auch  mikro- 
skopisch kaum  wahrnehmbaren  Ritzen  versehen 
werden,  die  aber  genügen,  um  dem  Wasser  den 
Zugang  zum  Sameninnern  zu  ermöglichen  und 
so  die  Keimung  auch  der  harten  Samen  zustande 
zu  bringen.  Von  verschiedenen  Seiten  sind  allerlei 
Ritzmaschinen  zu  diesem  Zwecke  konstruiert  worden, 
welche  von  P  u  c  h  n  e  r  ausführlich  beschrieben 
wurden. 

Es  ist  aber  nicht  nur  möglich,  diese  Hart- 
schaligkeit  und  damit  den  Keimverzug  solcher 
Samen  auf  mechanischem  Wege  zu  beseitigen. 
Auch  auf  chemischem  Wege  gelingt  dies  in  vielen 
Fällen,    wie    von    verschiedenen  Forschern    —    es 


N.  F.  XIII.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


387 


seien  vor  allem  genannt  Todaro,  Wübbena, 
Miltner  —  gezeigt  wurde.  Vor  allem  eine  Be- 
handlung mit  konzentrierter  Schwefelsäure  wäh- 
rend verschieden  langer,  ungefähr  eine  Stunde 
betragender  Zeit  hat  sich  hierfür  geeignet  erwieseji. 
Durch  diese  Behandlung  werden  die  meisten  harten 
Samen  der  Leguminosen  keimfähig  gemacht.  Die 
Wirkung  der  Schwefelsäure  beruht  in  diesen  Fällen 
darauf,  daß  die  für  Wasser  schwer  durchlässigen 
äußeren  Schichten,  nach  Hiltner  besonders  die 
sogenannte  Lichtschicht,  abgebeizt  werden  und 
dadurch  dem  Wasser  ungehinderter  Eintritt  ver- 
schafft wird.  Auch  eine  Behandlung  solcher  harter 
Samen  mit  kochendem  Wasser  führt  zu  dem  Er- 
gebnis, daß  die  Samen  ihre  Keimunfähigkeit  ver- 
lieren. Nobbe  (S.  229)  hatte  früher  angenommen, 
daß  eine  Sprengung  der  Samenschale  verursacht 
wird;  Lakon  zeigt  neuerdings  für  Gleditschia, 
daß  diese  Behandlung  zu  gesteigerter  Imbibitions- 
fähigkeit  der  Samenschale  führt. 

In  ganz  spezieller  Weise  wurde  der  Keimverzug 
von  Glcditsdua  fnacaiithos  neuerdings  von  Ver- 
schaffelt untersucht.  Derselbe  brachte  diese  harten 
Samen  statt  in  Wasser  in  Äthylalkohol.  Wenn  man 
sie  dort  einige  Stunden  beläßt  und  dann  in  Wasser 
überführt,  beginnen  sie  alsbald  zu  quellen.  Ver- 
schaffelt  zeigt  nun,  daß  diese  Wirkung  des 
Alkohols  darauf  zurückzuführen  ist,  daß  der  Alkohol 
in  feine  Spalten  der  Samenschale  eindringt,  in 
welche  das  Wasser  nicht  einzudringen  vermag. 
Wenn  der  Alkohol  aber  einmal  vorangegangen 
ist,  kann  sich  das  Wasser  auf  dem  Wege  der 
Diffusion  mit  dem  Alkohol  vermischen  und  so 
ebenfalls  in  diese  feinen  Spalten  gelangen.  Übrigens 
beruht  dieser  Einfluß  des  Alkohols  in  diesem  Falle 
aber  nicht  etwa  darauf,  daß  er  verschließende 
Substanzen  aus  der  Wand  herauslöst,  denn  wenn 
man  mit  Alkohol  behandelte  Samen  trocknet  und 
dann  das  Wasser  etwa  direkt  eindringen  lassen 
möchte,  so  gelingt  das  nicht.  Es  müßte  das  aber 
doch  dann  der  Fall  sein,  wenn  der  Alkohol  hin- 
dernde Stoffe  aus  der  Samenschale  herausgelöst 
hätte. 

Recht  interessant  sind  sodann  die  Feststellungen, 
Wübbenas  und  Hiltner s,  daß  die  Hartschalig- 
keit  von  äußeren  Bedingungen  stark  beeinflußbar 
ist.  So  erhöht  z.  B.  starke  trockene  Erwärmung 
die  Hartschaligkeit  von  Lupinen,  Kleesamen  und 
anderen  nach  Hiltner  erheblich.  Zu  demselben 
Ergebnis  führte  Trocknung  der  Samen  über 
Schwefelsäure. 

Schon  Nobbe  (S.  364)  wollte  die  Ursache  des 
Keimverzugs  von  Koniferensamen  —  er  spricht 
von  der  Zirbelkiefer  —  auch  in  der  harten  Samen- 
schale suchen.  Hiltner  und  K  i  n  z  e  1  vertraten 
diese  Ansicht  dann  weiterhin  für  eine  ganze  Reihe 
anderer  Koniferensamen,  deren  Keimverzug  sich 
ebenfalls  durch  Abbeizen  mit  konzentrierter 
Schwefelsäure  beseitigen  lassen  soll.  Neuerdings 
aber  kommt  Lakon  zu  dem  Ergebnis,  daß  bei 
verschiedenen  Kiefernarten  (Pinus  Strobus,  Cembra 
usw.J  die  Ursache  des  Keimverzuges  nicht  in  der 


harten  Schale  zu  suchen  sei,  sondern  vielmehr  im 
Sameninnern.  Dagegen  werde  der  Keimverzug 
der  Samen  von  Taxus  baccata  durch  die  Hart- 
schaligkeit verursacht. 

Von  besonderem  Interesse  sind  dann  die  eben- 
falls in  neuerer  Zeit  besonders  lebhaft  untersuchten 
verschiedenartigen  Früchte  oder  Samen  e i  n 
und  derselben  Spezies.  Wir  kennen  be- 
sonders unter  Kompositen,  Chenopodiaceen  und 
Kruziferen  nicht  wenige  Arten,  welche  zweierlei 
verschiedene  Samen  ausbilden ;  es  sei  beispiels- 
weise an  unsere  bekannte  Ringelblume  (Calendula 
officinalis)  erinnert.  Die  umschließenden  Frucht- 
oder Samenhüllen  sind  bei  den  beiden  verschiede- 
nen Fruchtsorten  dieser  Arten  anders  ausgebildet 
und  hemmen  offenbar  einmal  den  Wasserzutritt, 
dann  aber  besonders  den  Sauerstoffzutritt  in  ver- 
schiedenem Maße.  Es  wurde  von  Crocker 
für  die  verschiedenartigen  Früchte  von  Xanthium, 
dann  neuerdings  von  Becker  für  sehr  vielerlei 
Kompositen,  Chenopodiaceen  und  Kruziferenfrüchte 
gezeigt,  daß  der  Keimverzug  der  minder  günstig 
gestellten  Früchte  dieser  Arten  durch  den  Mangel 
an  Sauerstoffzutritt   in  erster   Linie    bedingt  wird. 

In  einem  anderen  Falle,  nämlich  dem  der  weit- 
bekannten Pflanze  Chenopodium  album,  deren 
Samendimorphie  von  Baar  beschrieben  wird,  stellt 
dieser  Autor  fest,  daß  hier  nicht  der  geringe 
Sauerstoffzutritt,  sondern  die  durch  die  dicke  Schale 
veranlaßte  schwächere  Wasseraufnahme  den  Keim- 
verzug veranlaßt. 

Haben  wir  bisher  eine  Reihe  von  Fällen  be- 
trachtet, bei  denen,  sei  es  in  der  oder  jener  Weise, 
die  Samenschale  den  Keimvc^zug  verursacht,  so 
wenden  wir  uns  nun  zu  anderen,  wo  zweifelsohne 
das  hemmende  Prinzip  im  Innern  des  Samens  zu 
suchen  ist. 

Da  kennen  wir  vor  allem  einmal  eine  Anzahl 
von  Samen,  welche  zur  Zeit  des  Abfalls  wohl 
äußerlich  den  Eindruck  völliger  Reife  hervorrufen, 
innerlich  aber  schon  deswegen  keimunfähig  sind, 
weil  der  Embryo  entweder  noch  gar  nicht  geglie- 
dert oder  jedenfalls  noch  nicht  genugsam  heran- 
gewachsen ist,  um  auszukeimen. 

Solcher  Fälle  kennen  wir  schon  seit  langem 
eine  ganze  Reihe.  Goebel  stellt  deren  in  seiner 
Organographie  verschiedene  zusammen.  Man  kann 
unter  diesen  Samen  einmal  solche  unterscheiden, 
welche  ihren  Embryo  während  der  ganzen  Ruhe- 
periode der  Samen  nicht  weiter  entwickeln.  Es  han- 
delt sich  hier  in  der  Regel  um  Parasiten,  Saprophyten 
und  in  besonderer  Weise  organisierte  Pflanzen, 
auf  deren  Verhalten  wir  weiter  nicht  eingehen 
wollen. 

Dagegen  kennen  wir  viele  andere  Pflanzen, 
bei  welchen  der  Embryo  zur  Zeit  des  Samen- 
abfalles noch  ungegliedert  ist,  später  aber,  während 
der  äußerlichen  scheinbaren  Ruhe  —  also  losgelöst 
von  der  Mutterpflanze  —  geht  im  Samen  die 
Weiterentwicklung  des  Embryos  vonstatten.  Zu  den 
bekanntesten  Beispielen  hierfür  zählen  die  häufig 
vorkommenden  Frühlingsblumen,  Eranthis  hiemaüs 


388 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  25 


und  Ficaria  verna,  in  deren  reif  abgefallenen 
Samen  der  Embryo  noch  ohne  jede  Differenzierung 
ist,  noch  kein  Würzelchen  und  keine  Kotyledonen 
erkennen  läßt.  Bis  zum  nächsten  Frühjahr  aber 
ist  der  Embryo  auf  Kosten  des  Reservestoffmate- 
rials des  Samens  herangewachsen  und  ist  dann 
fähig  auszukeimen,  während  vorher  auch  die  gün- 
stigsten Keimungsbedingungen  den  Samen  eben 
nicht  zur  Keimung  hätten  bewegen  können,  aus 
dem  sehr  einfachen  Grunde,  weil  der  Embryo 
noch  nicht  in  differenziertem,  keimfähigen  Zustande 
sich  befand.  So  verhält  es  sich  noch  besonders 
bei  einer  Reihe  weiterer  Frülilingspflanzen.  Es 
erweist  sich  das  für  diese  auch  als  durchaus 
zweckmäßig.  Sie  keimen  so  erst  nach  längerer 
Ruhe  aus,  und  zwar  gerade  daim ,  wenn  es  für 
sie  besonders  vorteilhaft  ist,  nämlich  im  Frühling. 

Ein  nicht  ganz  so  extremer  Fall  unvollständiger 
Reife,  welcher  uns  zu  den  weiter  zu  besprechen- 
den Fällen  von  Keimverzug  hinüberleitet,  wurde 
neuerdings  von  Lakon  beschiieben.  Derselbe 
zeigte  nämlich,  daß  Eschensamen  nach  dem  Ab- 
fallen wohl  schon  einen  ausgebildeten  Embryo 
aufweisen;  derselbe  macht  aber  vor  dem  defini- 
tiven Keimen  erst  eine  Vorkeimung  innerhalb  der 
Samenschale  und  des  Endosperms  auf  Kosten  des 
letzteren  durch.  Erst  wenn  er  sich  so  vergrößert 
hat,  wird  die  Schale  gesprengt  und  das  Würzel- 
chen tritt  aus. 

Ganz  anders  liegen  nun  aber  wieder  die  Ver- 
hältnisse bei  Samen,  bei  denen  der  Keimling  völlig 
entwickelt  ist,  bei  denen  auch  die  Samenschale 
dem  Elintritt  des  Wassers  kein  Hindernis  entgegen- 
setzt, die  aber  dennoch,  trotzdem  das  Sameninnere 
im  Keimbett  von  Wasser  durchtränkt  ist,  lange 
nicht  zur  Keimung  gelangen.  Schon  Nobbe  und 
H  ä  n  1  e  i  n  (S.  80)  kannten  mancherlei  solche 
Samen.  Sie  wußten  aber  gar  nichts  damit  anzu- 
fangen. ,,Die  beharrliche  Regungslosigkeit  des 
wasserdurchtränkten  Embryo  steht  uns  zurzeit  als 
ein  Rätsel  entgegen.  Wir  müssen  uns  einstweilen 
begnügen,  die  Tatsachen  zu  registrieren",  schreiben 
sie  hierüber. 

Die  Neuzeit  beginnt  uns  aber  auch  für  diese 
Fälle  einen  Aufschluß  zu  erbringen.  Es  ist  ein- 
mal kaum  in  Abrede  zu  stellen,  daß  unter  solche 
Fälle  früher  durchaus  unverständlichen  Keimver- 
zugs eine  ganze  Menge  von  Samen  gehören,  für 
die  heute  sicher  festgestellt  ist,  daß  die  damals 
verwendeten  Keimungsbedingungen  doch  nicht 
zur  Keimung  genügten.  Die  Neuzeit  hat  gezeigt, 
daß  das  Licht  eine  früher  ungeahnte  Rolle  bei  der 
Keimung  vieler  Samen  spielt.  Legte  man  solche 
Samen  nun  bei  bestimmten  Temperaturen  ins 
Dunkle,  so  keimten  sie  eben  entweder  nicht  oder 
nur  sehr  langsam  und  man  hatte  einen  vermeint- 
lichen Keimverzug  vor  sich.  Temperaturwechsel, 
Lichtwechsel,  wechselweises  Befeuchten  und  Aus- 
trocknen sind  ebenfalls  Faktoren,  deren  Bedeutung 
man  erst  in  neuester  Zeit  vollauf  zu  würdigen  be- 
ginnt. 

Weiter   aber    erscheint  von  besonderer  Bedeu- 


tung für  den  Keimverzug  mancherlei  Samen  die 
Wirkung  von  Säuren  in  sehr  schwacher  Konzen- 
tration. So  hat  F"ischer  (1906)  gezeigt,  daß 
Wasserpflanzensamen,  welche  in  reinem  Wasser 
durch  Jahre  hindurch  nicht  zur  Keimung  zu  be- 
wegen waren,  nach  Behandlung  mit  schwachen 
Säuren  innerhalb  weniger  Tage  auskeimten.  Wenn 
C  r  o  c  k  e  r  diese  Säurewirkung  nicht  auf  das  Samen- 
innere, sondern  auf  die  Schale  beziehen  will,  so 
sind  doch  in  neuerer  Zeit  durch  Promsy,  den 
Verfasser  dieser  Zeilen,  und  O  t  ten  wälder  zahl- 
reiche Fälle  bekannt  geworden,  wo  kaum  noch  ein 
Zweifel  obwalten  kann,  daß  die  Säurewirkung  sich 
auf  das  Sameninnere  geltend  macht.  Um  Ver- 
wechslungen etwa  mit  der  oben  beschriebenen 
beizenden  Wirkung  konzentrierter  Schwefelsäure 
auf  die  Samenschale  von  harten  Leguminosensamen 
durchaus  auszuschließen,  sei  hervorgehoben,  daß 
die  Säurewirkungen,  von  denen  hier  die  Rede  ist, 
von  Salzsäure,  Salpetersäure  und  anderen  ausgeübt 
wird,  wobei  aber  die  Säuren  teilweise  nur  in  mole- 
kularen Verdünnungen  von  0,0I  oder  ähnlichem 
Gehalt  ausgeübt  werden.  Diese  Säurewirkungen 
sind  wohl  als  kataly tische  aufzufassen,  in  der  Art 
etwa,  daß  sie  den  L^msatz  der  ReservestofTe  be- 
schleunigen und  damit  in  die  Tätigkeit  der  En- 
zyme eingreifen  oder  die  Lebenstätigkeit  des  Em- 
bryo anregen,  während  die  starken  Säuren  natür- 
lich auf  den  Embiyo  selbst  sofort  tödlich  wirken 
würden. 

In  diese  Vorgänge  leuchtet  eine  jüngst  er- 
schienene Arbeit  von  Eckerson  in  recht  inter- 
essanter Weise  hinein.  Schon  1912  hatten  Davis 
und  Rose  gezeigt,  daß  die  Samen  von  Crataegus 
mollis  innerhalb  der  intakten  Fruchtschale  ein 
oder  mehrere  Jahre  zur  Keimung  brauchen.  Wenn 
die  Fruchtschale  aber  beseitigt  wird,  ist  die  Zeit 
der  Nachreife  bei  5 — 6"  C  auf  90—96  Tage 
abgekürzt.  Wird  dann  auch  noch  die  Samenschale 
beseitigt,  so  wird  die  Nachreifezeit  dennoch  nicht 
völlig  aufgehoben,  sie  beträgt  immer  noch  ungefähr 
28  Tage.  Dieser  Keimverzug  muß  also  sicher  auf 
Ursachen  im  Sameninnern  zurückgeführt  wei'den. 
Eckerson  versucht  deshalb  auf  mikrochemischem 
Wege  die  Veränderungen  festzustellen,  welche  vom 
reifen  lufttrockenen  Samen  bis  zur  Keimung  im 
Embryo  vor  sich  gehen. 

Eckerson  zeigte  auf  diese  Weise,  daß  der 
Embryo  zuerst  Fette  und  Öle,  dazu  Lezithin  ent- 
hält. Weder  Zucker  noch  Stärke  ist  derzeit  darin 
enthalten.  Die  Reaktion  der  Kotyledonen  ist  sauer, 
das  Hypokotyl  aber  ist  schwach  basisch.  Die  Ab- 
sorptionskapazität des  Hypokotyls  für  Wasser  ist 
geringer  als  25^/0  des  Frischgewichts. 

Während  der  Nachreife  beginnen  nun  bald 
Umsetzungen  im  Embryo.  Dieselben  nehmen 
ihren  Anfang  mit  Erhöhung  des  Säuregehaltes. 
Damit  Hand  in  Hand  geht  eine  Steigerung  der 
Wasserabsorptionskapazität  und  eine  Zunahme  der 
Aktivität  von  Katalase  und  Peroxydase. 

Gegen  Ende  der  Nachreifeperiode  tritt  dann  eine 
plötzliche  Zunahme  im  Säuregehalt  auf,  desgleichen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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wieder  in  der  Absorptionskapazität.  Jetzt  tritt 
auch  zuerst  Oxydase  auf.  So  stehen  die  Verhält- 
nisse ungefähr,  wenn  das  Hypokotyl  3 — 5  cm  lang 
ist.  Zu  dieser  Zeit  zeigt  sich  zugleich  mit  einer 
Verminderung  des  Fettes  ein  erstes  Auftreten  von 
Zucker. 

All  diese  Vorgänge  und  Umsetzungen  können 
nun  erheblich  beschleunigt  werden,  wenn  die 
Samen  mit  verdünnten  Säuren  behandelt  werden. 
Salzsäure,  Buttersäure  und  Essigsäure  werden  dazu 
mit  Erfolg  angewandt. 

Hier  sehen  wir  also  als  Ursache  des  Keim- 
verzugs offenbar  Stoffwechselverhältnisse  vorliegen. 
Erst  wenn  die  genügende  Menge  Säuren  oder 
auch  anderer  Substanzen  gebildet  ist,  kann  der 
Samen  aus  seiner  Keimruhe  erwachen  und  sich 
zum  Keimen  anschicken.  Jedenfalls  wird  eine 
genaue  chemische  Untersuchung  der  Samen  von 
der  Zeit  des  Abfalls  bis  zur  Keimung  noch  mancher- 
lei solche  interessante  chemische  Umsetzungsvor- 
gänge erbringen,  die  dann  auf  das  Problem  des 
Keimverzugs  weiter  klärend  wirken  werden. 

Ehe  wir  unseren  Gegenstand  verlassen,  sei  nur 
ganz  kurz  noch  auf  die  biologische  Bedeutung 
solcher  Nachreife  hingewiesen.  Es  ist  nicht  zu 
verkennen,  und  ist  auch  schon  seit  langem  ge- 
würdigt worden,  daß  diese  Bedeutung  eine  recht 
große  ist.  Wenn  Samen  jahrelang  ungekeimt 
im  Boden  liegen  können,  ohne  abzusterben,  so  hat 
das,  wie  leicht  einzusehen,  eine  sehr  große  Be- 
deutung für  die  Erhaltung  der  Art  an  diesem 
Platze.  Denn  wenn  auch  in  dem  einen  Jahre  die 
Bedingungen  zum  Fortkommen  dieser  Art  nicht 
günstig  waren,  so  sind  sie  es  vielleicht  im  folgen- 
den oder  einem  späteren.  Hätte  die  Pflanze  gleich 
im  ersten  Jahre  alle  ihre  Samen  keimen  lassen, 
so  würde  sie  die  Vorteile  im  folgenden  nicht  aus- 
nutzen können.  Wir  können  die  Wirkung  solchen 
Keimverzugs  am  besten  an  unseren  Unkräutern 
erkennen,  welche  oft  jahrelang  trotz  sorgfältigsten 
Ausjätens,  nicht  zu  vertreiben  sind,  weil  eben 
immer  wieder  neue  noch  im  Boden  verbliebene, 
ungekeimte  Samen  in  den  folgenden  Jahren  aus- 
keimen. 

Oder  man  denke,  alle  Samen  einer  Art  würden 
schon  durch  geringe  Erwärmung  zur  Keimung 
veranlaßt,  könnten  aber  unseren  Winter  nicht  über- 
stehen. Die  betreffende  Art  wäre  dann  rettungs 
los  dem  Untergange  in  unseren  Klimaten  geweiht. 


So  ließe  sich  die  biologische  Bedeutung  des  Keim- 
verzugs noch  an  manchem  Beispiel  klarlegen. 

Liter. itur  über  Keimverzug. 

H.  Baar,  Zur  Anatomie  und  Keimungspbysiologie  hete- 
romorpher  Samen  von  Chenopodium  albuni,  und  Atriplex  nitens. 
Sitzber.  Kais.  Akad.  Wien ,  Mathem.  -  naturw.  Klasse  122, 
I.   Abt.,   1913,  S.  21  ff. 

Becker,  Über  die  Keimung  verschiedenartiger  Früchte 
und    Samen    bei  derselben    Spezies.     Beib.  botan.  Ccntralblatt 

"913- 

Bergt  heil  and  Day,  On  the  cause  of  Hardness  in  the 
seeds  of  Indigofera  arrecta.     Ann.  Bot.  J907,    21,    S.  57 — 60. 

Crocker,  Hole  of  sccd  coats  in  delayed  germination. 
Bot.  Gaz.  I,  1906,  42.  —  Germination  of  seeds  of  water 
plants.  Ibid.   1907. 

Davis  and  Rose,  Bot.  Gaz.   1912. 

Duvernoy,  Untersuchungen  über  Keimung,  Bau  und 
Wachstum  der  Monokotyledonen.     Stuttgart   1S34. 

Eckerson,  A  physiological  and  chemical  study  of 
afterripening.    Bot.   Gaz.    1913,  286—299. 

Fischer,  Wasserstoff  und  Ilydroxylionen  als  Keimungs- 
reize.    Ber.  d.  deutsch,   bot.   Ges.  25,   1907. 

Goebel,  Organographie. 

Miltner,  Die  Keimungsverhältnisse  der  Leguminosen- 
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Arbeiten  der  kais.  biol.  Anstalt  f.  Land-  und  Forstwirtschaft 
nm   kaiserl.   Gesundheilsamte   Bd.   3,   H.   I,  S.    129. 

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wichtigeren  Samenarten.  Naturw.  Zeitschr.  f.  Land-  u.  Forst- 
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Kienitz,  M.,  Über  .Ausführung  von  Keimproben.  Forstl. 
Blätter,  hrsg.   v.   Grunert  u.   Borgcrcve   16,    1880,  S.    I  —  6. 

Lakon,  Der  Keimverzug  bei  den  Koniferen  und  hart- 
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1911,  S.  285.  —  Zur  Anatomie  und  Keimung  einiger  Koni- 
ferensamen.     Ibid.    1912,  401. 

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Nobbe,  Handbuch   der  Samenkunde   1876. 

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Tittmann,  Die  Keimung  der  Pflanzen.     Dresden   1S21. 

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Wübbena,  Untersuchungen  über  die  Änderung  der 
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Diss.   Kiel   1899. 


[Nachdruck  verboten.] 


Das  Naniioplaiikton. 

Von   H.  Bachmann. 


Die  Planktonforschung  hat  hauptsächlich  drei 
Fragen  zu  erledigen:  1.  Welches  sind  die  Lebe- 
wesen, die  in  einem  Gewässer  schwebend  oder 
frei  schwimmend  vorkommen?  Die  Beantwortung 
dieser  Frage  führte  zu  den  zahlreichen  F'anglisten, 
die  in  den  letzten  Jahrzehnten  publiziert  wurden. 
Jede  Fangmethode  ergab    ihre  eigenen  Resultate, 


die  eine  oberflächlichere,  gröbere,  die  andere  ein- 
gehendere, feinere.  Der  Gebrauch  der  feinma- 
schigen Seidennetze  (frühere  Nr.  20,  jetzt  Nr.  25) 
schien  genügend,  um  über  die  Zusammensetzung 
der  Bevölkerung  eines  Gewässers  Aufschluß  zu  er- 
halten. 

2.  Welches  ist  die  Lebensgeschichte   der   ein- 


390 


Naturwissenschaftliche  Woch  enschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  25 


zelnen  Planktonorganismen  ?  Wir  sind  noch  weit 
entfernt,  den  Lebenslauf  auch  nur  der  häufigsten 
Planktonten  zu  schildern.  Immerhin  haben  die 
Planktologen  jahrelange  Beobachtungen  einem  ein 
zelnen  Gewässer  zugewendet  und  dadurch  peri- 
odische Veränderungen  in  der  Population  festgestellt, 
die  von  großem  Interesse  sind.  Durch  Stufen- 
fänge, Schließnetze,  Pumpen  werden  die  ver- 
schiedensten Tiefenzonen  auf  ihre  Bewohner  hin 
untersucht.  Man  beobachtete  temporäre  morpho- 
logische Veränderungen  einzelner  Planktonten  und 
suchte  die  dabei  wirkenden  Ursachen  dadurch 
aufzudecken,  daß  man  die  physikalischen  und 
chemischen  Verhältnisse  der  Gewässer  studierte 
und  letztere  in  Verbindung  zu  bringen  trachtete 
mit  den  vorerwähnten  Veränderungen  der  Orga- 
nismen. Auch  das  Experiment  bemächtigte  sich 
der  Planktonorganismen.  Und  wenn  die  Erfolge 
noch  bescheiden  sind,  so  sind  diese  Experimente 
doch  am  ehesten  berufen,  in  die  Lebensverhältnisse 
der  Planktonten  Licht  zu  bringen.  Für  weitere 
Forschungen  ist  noch  ein  großes  Feld  offen. 

3.  Welches  ist  die  Quantität  der  in  einem  Ge- 
wässer auftretenden  Planktonten  ?  Die  Gewässer  sind 
nicht  nur  für  den  Wissenschaftsmann  interessant, 
sie  sind  ein  wichtiger  Faktor  in  der  Wirtschafts- 
lehre des  Menschen,  der  den  Gewässern  jährlich 
große  Mengen  organischer  Substanzen  entnimmt 
und  ein  Interesse  daran  hat,  zu  wissen,  welchen 
Ausgangspunkt  diese  organische  Substanz  besitzt. 
Da  hat  es  sich  nun  gezeigt,  daß  die  Plankton- 
organismen in  der  Entwicklungsreihe  organischer 
Substanzen  sich  befinden,  ja  geradezu  am  Anfange 
der  Reihe  stehen,  deren  Endglieder  der  Mensch 
ausnutzt.  Es  ist  daher  von  eminent  praktischem 
Interesse,  zu  wissen,  welche  Quantität  organischer 
Substanz  die  Planktonten  eines  Gewässers  repräsen- 
tieren. Mit  der  bloßen  Netzmethode  konnte  z.  B. 
Schröter  (1897)  zu  folgendem  Schlußsatze  für  den 
Zürichsee  kommen :  „Setzen  wir  für  den  ganzen 
See  nur  100  cm*  (unter  i  m-),  was  aber  jedenfalls 
zu  wenig  ist,  so  würde  das  für  den  Hektar  0,43 
Kilozentner  Trockensubstanz  ergeben,  und  für  den 
ganzen  Untersee  eine  Menge  von  2910,  sagen  wir 
rund  3000  Kilozentner ;  das  würde  einem  schwer- 
beladenen Güterzug  von  34  Wagen  entsprechen." 
Kofoid  (1897)  hatte  schon  1897  darauf  aufmerksam 
gemacht,  daß  das  feinste  Seidennetz  den  größten 
Teil  des  Planktons  durchfiltrieren  lasse  und  daß 
zu  gewissen  quantitativen  Studien  Pumpe,  Schlauch 
und  Filter  nötig  seien.  Lohmann  (1900)  wid- 
mete sich  mit  großer  Ausdauer  der  quantitativen 
Planktonbestimmung  des  Meeres,  bestätigte  die 
Resultate  Kofoid 's  und  zeigte,  wie  man  durch 
Filtration  des  gepumpten  Wassers  den  Netzverlust 
bestimmen  könne.  Auch  bei  den  Süßwasser- 
untersuchungen wurde  die  Pumpe  und  die  Filtration 
häufig  angewendet  (Frenzel  [1897],  Bachmann 
[1900]) ').    F'reilich  zeigt  die  Pumpmethode  nament- 


')  Als    Filter    verwendet    man:    gehärtete    Faltenfilter  von 
Schleicher  und  SchüU,  Seidenstoffe,  feines  Ziegenleder  usw. 


lieh  zwei  große  Fehler :  erstens  werden  die  mit 
genügender  freier  Bewegung  ausgerüsteten  Plank- 
lonten dann  nicht  gefangen,  wenn  ihre  Eigen- 
bewegung größere  Geschwindigkeit  hat,  als  die- 
jenige des  angesaugten  Wassers  ist.  Zudem  wird 
die  durch  die  Pumpe  verursachte  Strömung  des 
Wassers  schreckend  auf  die  Kruster  einwirken, 
und  diese  werden  vor  dem  Schlaucheingang  die 
Flucht  ergreifen.  Zweitens  wirkt  die  Ventilpumpe, 
wie  sie  gewöhnlich  gebraucht  wird,  auf  die  Or- 
ganismen zerstörend  ein. 

190J  erschien  von  Loh  mann  die  schöne 
Arbeit  „Neue  Untersuchungen  über  den  Reichtum 
des  Meeres  an  Plankton".  Loh  mann  untersuchte 
den  Darminhalt  verschiedener  Planktontiere,  be- 
sonders von  Tunicaten,  ,,um  ein  Bild  von  der  Zu- 
sammensetzung des  Planktons  an  dem  Fangorte 
der  Tiere  zu  gewinnen,  soweit  dasselbe  aus  Kiesel-, 
Kalk-  oder  Chitinskelett  besitzenden  Arten  besteht". 
Dabei  machte  er  die  Wahrnehmung,  daß  die  Appen- 
dicularien  in  ihren  Gehäusen  eine  Einrichtung  be- 
sitzen, welche  die  kleinsten,  skelettlosen  Organis- 
men des  Wassers  zurückhalten  und  in  vorzüglicher 
Erhaltung  dem  Studium  zugänglich  machen.  Vor 
allem  günstig  erwiesen  sich  die  Gattungen  Oiko- 
pleura  und  Fritillaria.  Oikopleura  z.  B.  stellt  Formen, 
die  wasserklar  durchsichtig  sind  und  eine  mikro- 
skopische Beobachtung  sehr  leicht  gestatten. 
Manteltiere  von  5 — 100  mm  Durchmesser,  be- 
stehen sie  aus  dem  eigentlichen  Tierkörper  und 
einer  farblosen  Gallerlhülle.  Das  Tierchen  besteht 
aus  einem  ovalen  Rumpfe  mit  einem  undulierten 
Schwanzanhange.  Eine  weite,  eiförmige  Gallert- 
blase mit  einem  schnabelförmig  verlängerten  Vorder- 
teile und  zwei  nachschleifenden  Schleppfäden  am 
Hinterende  umhüllt  den  gesamten  Tierkörper. 
Über  dem  Schnabel  liegen  die  2  großen  Ein- 
strömungsöffnungen, die  mit  aus  feinen  Fibrillen 
gebildeten  Gitterfenstern  abgeschlossen  sind  und 
wo  die  erste  Filtration  des  Wassers  stattfindet. 
Hier  werden  alle  Organismen,  die  über  30/*  Durch- 
messer haben,  zurückgehalten.  Diese  Gitterfenster 
filtrieren  also  noch  besser  als  die  feinste  Müllergaze. 
Und  doch  müssen  die  Oikopleuren,  so  schloß 
Lohmann,  noch  genug  Nahrung  in  dem  ein- 
tretenden Wasser  finden,  daß  sie  sich  ernähren 
und  zu  der  Üppigkeit  vermehren,  wie  sie  oft  im 
Mittelmeere  auftreten.  Durch  die  Undulationen 
des  Schwanzes  wird  das  Wasser  in  den  hinteren 
Teil  der  Gallerthülle  getrieben,  wo  ein  zweiter, 
noch  feinerer  Fangapparat  ausgebildet  ist,  in 
welchem  die  zweite  Filtration  des  Wassers  statt- 
findet, wo  also  die  kleinsten  Organismen  zurück- 
bleiben, die  noch  im  Wasser  enthalten  waren,  und 
die,  vom  Mundrohr  angesogen,  die  Nahrung  des 
Tieres  bilden.  Das  Wasser  verläßt  dann  am 
Hinterende  das  Gehäuse.  Ist  der  hintere  Fang- 
apparat verstopft,  so  verläßt  das  Tier  das  Gehäuse 
und  erzeugt  wieder  eine  neue  Wohnung.  (Die 
ausführliche  Beschreibung  der  Gallertblasen  der 
Appendicularien  hat  Lohmann  in  einer  kleinen 
Abhandlung   1899  gegeben.)     Da  die  Appendicu- 


N.  F.  XIII.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


391 


larien  mit  ihren  Gehäusen  sehr  verschwenderisch 
umgehen  und  sie  oft  nach  wenigen  Stunden  ab- 
werfen, und  da  sie  auch  nur  einen  Teil  der  im 
Fangfilter  zurückgehaltenen  Planktonten  verzehren, 
konnte  Loh  mann  ein  äußerst  interessantes  Re- 
sultat herausrechnen,  daß  der  Inhalt  des  Fang- 
apparates von  Oikopleura  albicans  stets  weniger 
repräsentiert  als  der  Filterrückstand  von  0,1  1. 
Und  doch  wurden  Gehäuse  beobachtet,  in  denen 
nicht  weniger  als    1674  Amöben  gezäiilt  wurden. 

In  den  Schlußbemerkungen  sagte  Loh  mann: 
„Durch  die  Filtration  von  weniger  als  100  cm^ 
Wasser  füllen  die  Appendicularien  ihren  F'ang- 
apparat  mit  großen  Mengen  von  Gymnodinien, 
Chrysomonadinen,  Flagellaten,  kleinsten  Diatomeen 
und  Bakterien."  „Es  stellte  sich  noch  deutlicher 
als  durch  die  früheren  Untersuchungen  in  der 
Ostsee  heraus,  daß  die  Fänge  mit  MüllergazeNetzen 
nur  einen  sehr  kleinen  Bruchteil  der  Plankton- 
organismen in  genügender  Menge  fangen  und  daß 
dieselben  nicht  imstande  sind,  uns  ein  zuverlässiges 
Bild  von  der  wirklichen  Menge  und  Zusammen- 
setzung des  Auftriebs  zu  geben."  In  einem  Vor- 
trage, den  Loh  mann  1909  in  der  Deutschen 
zoologischen  Gesellschaft  hielt,  bespricht  er  die 
Gewinnung  der  kleinsten  Planktonten  durch  die 
Zentrifuge  und  gibt  für  die  westliche  Ostsee  das 
verblüffende  Resultat :  „Im  Jahresdurchschnitt  ließen 
sich  in  i  cm^  Wasser  'j'^y']  Organismen  nachweisen, 
von  denen  722  Protophyten,  15  Protozoen  und 
nur  0,1  Metazoen  waren."  In  diesem  Vortrage 
schlug  er  vor,  diejenigen  Planktonformen,  ,,die 
uns  erst  durch  die  Zentrifuge  und  die  Fangapparate 
der  Appendicularien  erschlossen  werden",  NailllO- 
plauktou  zu  nennen.  1911  gab  Lohmann  eine 
hübsche  Zusammenfassung  über  Nannoplankton 
und    die    Zentrifugierung    kleinster   Wasserproben. 

Angeregt  durch  Lohmann's  Untersuchungen 
und  infolge  der  Diskussion  der  Pütt  er 'sehen 
Ernährungstheorien  prüfte  Woltereck  die  Zentri- 
fugensedimentation in  den  Lunzerseen.  Ihm  war 
schon  lange  aufgefallen,  daß  im  Lunzer  Obersee 
der  Ernährungszustand  von  Daphnia  longispina 
viel  besser  war  als  im  Lunzer  Untersee,  obschon 
der  erstere  See  eine  bedeutend  geringere  Menge 
an  Netzphytoplankton  aufwies.  Die  Untersuchung 
von  Wasserproben  mit  einer  Turbinenzentrifuge 
förderten  das  Resultat  zutage,  daß  im  Obersee 
ein  bedeutend  reicheres  Zentrifugenplankton  vor- 
handen war.  Ruttner  (1909)  führte  diese  Unter- 
suchungen weiter  fort  und  konstatierte  in  10  cm'' 
Wasser  nach  lo  Minuten  langem  Zentrifugieren 
600  nackte  Chrysomonadinen,  12  Mallomonas,  30 
Gymnodinium,  300  Cyclotella  comta,  i02oCyclotella 
sp.,  240  Staurastrum,  18  Oocystis,  72  Bakterien- 
zoogloen,  also  2190  Algenarten.  Brehm  (1910) 
vergleicht  das  Netzplankton  mit  dem  Zentrifugen- 
plankton eines  kleinen  Teiches  bei  Ellbogen  in 
Böhmen  und  konstatiert,  daß  die  Kurve  des  Netz- 
planktons stets  gleichartig  verläuft  mit  derjenigen 
des  Zentrifugenplanktons,  und  zwar  folgt  sie  der- 
selben stets  nach. 


Die  Methode  des  Zentrifu  giere  ns  ge- 
staltet sich  kurz  folgendermaßen.  Bis  jetzt  habe 
ich  mit  2  Zentrifugen  gearbeitet,  welche  von  der 
Firma  Hugershoff  in  Leipzig  geliefert  wurden. 
Die  erste  war  eine  Handzentrifuge,  Modell  Medico  F. 
Sie  gestattet  bei  geringer  aufzuwendender  Mühe 
eine  Geschwindigkeit  von  3000  Umdrehungen  in 
der  Minute.  Das  Vorteilhafte  dieser  Zentrifuge 
ist  auch  der  Umstand,  daß  die  Aufhänger  in  einem 
Verschluß  eingeschlossen  sind,  so  daß  bei  even- 
tuellem Losspringen  von  Teilen  des  rotierenden 
Apparates  der  Experimentator  keinen  Schaden 
leidet.  Die  zweite  Zentrifuge,  die  ich  gegenwärtig 
benutze,  hat  elektrischen  Betrieb.  Die  Zahl  der 
Umdrehungen  beträgt  ca.  4000  in  der  Minute. 
Die  Aufhänger  sind  auch  da  in  einen  Blechmantel 
eingeschlossen.  Diese  Zentrifuge,  die  an  jedem 
Steckkontakt  der  Lichtleitung  angeschlossen  werden 
kann,  arbeitet  außerordentlich  gut.  Schon  Loh- 
mann  hat  daraufhingewiesen,  daß  es  nicht  nötig 
ist,  große  Wassermengen  zu  zentrifugieren.  Meine 
Sedimentiergläser  fassen  22  cm'',  was  auch  für 
planktonarme  Gewässer  vollständig  genügt.  In 
den  meisten  Fällen  und  vor  allem  bei  bloß  quali- 
tativen Studien  reichen  10  Minuten  vollständig 
aus,  um  ein  Bild  über  die  Zusammensetzung  des 
Nannoplanktons  zu  erhalten.  Für  quantitative 
Untersuchungen  ist  das  Zentrifugieren  keine  so 
einfache  Sache.  Pascher  (191 2)  macht  darauf 
aufmerksam,  daß  im  Plankton  Organismen  existieren, 
die  zufolge  ihres  spezifischen  Gewichtes  nicht  sedi- 
mentiert  werden  können.  Um  auch  diese  Orga- 
nismen in  einer  Kalotte  aufzufangen,  benutzt  er 
ein  Sedimentierglas,  in  welches  ein  zweites  so  ein- 
geschoben wurde,  daß  sein  zugespitztes  Ende  beim 
Zentrifugieren  zentripetal  gerichtet  war.  Nach  dem 
Zentrifugieren  wurden  die  beiden  Gläser  rasch 
auseinander  gezogen  und  die  Flüssigkeit  ausge- 
gossen. Als  Pipetten  verwendet  man  am  besten 
solche  mit  lang  ausgezogenem,  dünnem  Ende  und 
einer  länglichen  oder  kugeligen  Erweiterung,  wo- 
durch die  Eichung  von  i  oder  wenigen  Kubik- 
zentimetern ein  leichtes  ist.  Der  Fang  wird  nun 
auf  einem  breiten  Objektträger,  der  in  Quadrate 
eingeteilt  ist,  ausgebreitet  und  ausgezählt.  Steht 
ein  beweglicher  Zähltisch  zur  Verfügung,  so  ist 
die  Zählung  bedeutend  erleichtert.  Für  tierische 
und  für  seltene  pflanzliche  Planktonten  ist  die 
Zählung  leicht;  für  Flagellaten  und  bei  Massen- 
entwicklung von  Phytoplanktonten  ist  die  Zählung 
sehr  mühsam.  Pascher  weist  in  der  obgenannten 
Abhandlung  darauf  hin,  daß  der  Zwischenraum 
zwischen  den  beiden  Spitzen  der  Sedimentiergläser 
immer  noch  Organismen  enthält.  Je  mehr  die 
spezifisch  leichteren  Organismen  vorherrschen, 
desto  größer  ist  die  Individuenzahl  der  im  Zwischen- 
raum schwebenden  Organismen,  so  daß  im  letz- 
teren Falle  mindestens  30  Minuten  zentrifugiert 
werden  muß. 

Noch  auf  einen  Punkt  muß  mit  Nachdruck  hin- 
gewiesen werden,  daß  nämlich  das  Zentrifugieren  und 
die  Untersuchung  rasch  nach  der  Wasserentnahme 


392 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   25 


vorgenommen  werden  sollen.  Schon  nach  wenigen 
Stunden  sind  die  zarten  Flagellaten  nicht  nur  ab- 
gestorben, sondern  ganz  aufgelöst  und  nicht  mehr 
nachweisbar.  Auch  auf  Temperaturänderungen 
der  Proben  muß  geachtet  werden.  Wenn  man 
im  Winter  Wasserproben  schöpft,  wo  der  be- 
treffende See  Wassertemperaturen  von  +4''  bis 
-|-  5  "  C,  die  Luft  dagegen  —  5  "^  C  aufweisen,  da 
ist  es  nötig,  die  Wasserprobe  vor  zu  starker  x-Xb- 
kühlung  zu  schützen,  sonst  wird  man  vergeblich 
nach  Flagellaten  fahnden. 

Es  dürfte  hier  auch  Gelegenheit  sein,  die 
Wasserentnahme  zum  Studium  des  Nanno- 
planktons  zu  besprechen.  Zur  Wasserentnahme, 
die  ja  auch  in  verschiedenen  Tiefen  gemacht 
werden  soll,  dienen  die  verschiedenen  Schöpf- 
flaschen, die  in  der  Planktonliteratur  schon  be- 
sprochen worden  sind,  und  die  Pumpe.  Die  letz- 
tere, meistens  in  der  Form  der  Flügelpumpe  ver- 
wendet, hat  den  großen  Übelstand,  daß  viele 
Planktonten  verstümmelt  und  getötet  werden. 
Einen  sehr  brauchbaren  Schöpfapparat  hat  (Jptiker 
Friedinger  in  Luzern  nach  den  Ideen  von  Dr. 
Theiler  konstruiert.  Der  Grundgedanke  dieses 
Apparates  ist  folgender:  Ein  Metallzylinder  von 
2  1  Inhalt  mit  offenem  Boden  und  offenem 
Deckel  wird  auf  die  gewünschte  Tiefe  versenkt. 
Da  die  Wassersäule  ohne  Strudelbewegung  durch 
die  Röhre  streicht,  so  wird  ein  Verscheuchen  der 
sensiblen  Kruster  viel  weniger  eintreten,  als  es 
durch  den  Wasserzug  der  Pumpe  geschieht.  Ein 
Ruck  genügt,  und  es  schließen  sich  Boden  und 
Deckel  so  dicht,  daß  kein  Tropfen  von  dem  ein- 
geschlossenen Wasser  beim  Heraufziehen  verloren 
geht.  Die  Wassermenge  kann  dann  leicht  durch 
einen  Hahn  abgelassen  werden.  So  stehen  2  1 
Wasser  zur  Verfügung,  wovon  die  größte  Menge 
filtriert  und  auf  die  größeren  Planktonten  unter- 
sucht werden  kann.  Der  kleinere  Teil  wird  zentri- 
fugiert. 

Überblicken  wir  die  Organismen,  die 
durch  die  Zentrifuge  aus  dem  Süßwasser  erhalten 
werden,  so  können  wir  folgende  Gruppen  nam- 
haft machen : 

1.  Von  den  größeren  Planktonten  treffen  wir 
hier  und  da  ein  Rotatorium.  Die  Kruster  ent- 
fliehen bei  der  Probeentnahme  durch  die  Sedi- 
mentiergläser.  Größere  Phytoplanktonten  sind 
dagegen  vertreten,  z.  B.  Peridinium,  Ceratium, 
Dinobryon,  Fragilaria  usw.  Diese  interessieren 
uns  hier  nicht.  Wir  wenden  unsere  Aufmerksam- 
keit vielmehr  zu 

2.  den  kleinsten  Formen,  von  denen  uns  das 
Netz  nur  wenige  liefert. 

Da  erwähnen  wir: 

a)  Flagellaten.  Wir  lernen  eine  Menge 
farbloser  Flagellaten  kennen,  die  zu  den  Ord- 
nungen der  Pantostomatineae  und  Protomastigineae 
gehören.  Die  Organismen  der  ersten  Ordnung 
sind  farblose,  nackte  Zellen,  die  an  allen  Stellen 
der  Oberfläche  durch  Pseudopodien  feste  Nahrung 
aufnehmen    können.      Da    ist    es    besonders    die 


Familie  der  Rhizomastigacee,  Zellen  mit  i  oder 
2  Geißeln,  die  im  Nannoplankton  vertreten  ist. 
Die  zweite  Ordnung  umfaßt  diejenigen  Flagellaten- 
zellen,  die  eine  zarte,  hautartige  Plasmabegrenzung 
haben  und  an  bestimmten  Stellen  die  Nahrungs- 
aufnahme besorgen.  Eine  bedeutende  Rolle  spielen 
die  farbigen  Flagellaten :  Chrysomonadinen  und 
Crj'ptomonadinen.  Erstere  zeigen  einen  regulären 
Körper  mit  meistens  braunen,  hier  und  da  grünen 
Chromatophoren.  I — 2  Geißeln  sind  terminal, 
selten  seitlich  stehend. 

Pascher(i9ii)  hat  folgende  Chrysomonadinen 
im  Nannoplankton  gefunden: 

Chrj'sapsis  agilis,  Länge  3 — 5  //,  Breite  2 — 3  /( 
mit  netzförmigem  Chromatophor.      i    Geißel. 

Chromulina-Arten,  metabolische,  oft  amöboide 
Zellen,  2 — 4  //  lang,  2  /<  breit. 

Chrysococcuspunctiformis,  2 — 3/*  Durchmesser 
haltende  kugelige  Zellen  mit  derber  Schale  und 
I   langen  Geißel. 

Kephyrion  sitta  und  Ovum,  die  kleine  Zelle 
sitzt  in  einem  zarten,  eiförmigen  oder  spindel- 
förmigen Gehäuse,     i   Geißel 

Kephyriopsis,  9  /«  lang,  mit  2  Geißeln,  in 
einem  eiförmigen,  breit  abgestutzten  Gehäuse. 

Chrysocapsa  planctonica,  kugelige  Zellen  von 
2 — 4  ((  Größe,  mit  muldenförmigem  Chromato- 
phor in  einer  Gallerthülle  von   20  /(  Durchmesser. 

Die  Cryptomonadinen  zeichnen  sich  durch 
den  dorsiventralen  Bau,  die  median  ventral  ge- 
legenen 2  Geißeln  und  durch  den  von  der  medianen 
Furche  in  den  Plasmaleib  führenden  Schlund  aus. 
Besonders  die  Gattung  Cryptomonas  ist  regelmäßig 
im  Nannoplankton  vertreten. 

b)  Peridineen.  Diese  an  der  Ouerfurche 
leicht  erkennbaren  Planktonten  sind  im  Nanno- 
plankton namentlich  durch  die  Gattung  Gymno- 
dinium  vertreten,  von  der  auch  farblose  Formen 
vorkommen. 

c)  Diatomeen.  Hier  sind  es  namentlich  die 
kleinen  Arten  der  Gattung  Cyclotella,  die  von  der 
Zentrifuge  in  weit  größerer  Zahl  nachgewiesen 
werden,  als  es  die  Netzfänge  vermochten. 

d)  Desmidiaceen.  Welch  ungenügende 
Resultate  Netzproben  ergeben,  zeigten  Unter- 
suchungen, die  am  Rotsee  am  25.  X.  1913  vor- 
genommen wurden.  Die  Proben  enthielten  ganz 
spärlich  ein  kleines  Cosmarium  von  12  //  Durch- 
messer. 20  ccm  geschöpftes  Wasser  wurden 
zentrifugiert  und  ergaben  ein  Sediment  dieses 
Cosmarium  pygmaeum,  daß  eine  Zählung  utimög- 
lieh  war. 

e)  C  h  1  oro  phy  ceen.  Nach  den  bisherigen 
Planktonuntersuchungen  traten  häufig  die  Chloro- 
phyceen  quantitativ  hinter  den  übrigen  Familien  stark 
zurück.  Auch  da  wird  die  Zentrifuge  noch  man- 
cherlei Korrekturen  vornehmen.  Lantzsch  hat 
das  Zentrifugenplankton  des  Zugersees  studiert 
und  dabei  konstatiert,  daß  eine  Bumilleria-Art,  die 
im  Netzplankton  sozusagen  verschwand,  zu  ge- 
wissen Zeiten  der  vorherrschende  Organismus 
war.     Die  vorerwähnte  Probe  vom  Rotsee    sowie 


N.  F.  XIII.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


393 


eine  Probe  vom  27.  November  1913  ergaben  so 
viele  Individuen  von  Phacotus  lenticularis,  Scene- 
desmus  bijugatus  und  Polyedrium  punctulatum,  daß 
sie  immer  noch  als  zahlreich  bezeichnet  werden 
mußten.  Auch  in  dieser  Familie  sind  Zellen  von 
bakterienartiger  Kleinheit  nachgewiesen  worden. 
So  fand  Pascher  neben  einer  Chlamydomonas 
von  2 — S  i-i  Länge  kugelige,  grüne  Zellen  von 
kaum  2  |((  Durchmesser. 

f)  Seh i z op h )'Cee n.  Sie  sind  meistens  spe- 
zifisch gleich  oder  leichter  als  Wasser  und  daher 
schwer  zu  zentrifugieren.  Über  ihre  Bestandteile 
am  Nannoplankton  liegen  noch  sehr  wenige  Mit- 
teilungen vor. 

Die  Nannoplanktonbestimmung  hat,  wie  wir 
oben  schon  erwähnten,  aucli  einen  großen  prak- 
tischen Wert.  Fütter  hat  daraufhingewiesen, 
daß  die  Planktonmengen  nicht  genügen,  um  den 
Kohlenstoffbedarf  derjenigen  Tiere  zu  decken,  die 
keine  größere  Nahrung  aufnehmen.  Er  kam  dann 
zum  Schlüsse,  daß  die  im  Wasser  gelösten  Kohlen- 
stoffverbindungen für  die  Ernährung  viel  wichtiger 
seien  als  die  geformten  Substanzen.  Pütt  er  hat 
bei  seinen  Untersuchungen  mit  denjenigen  Plankton- 
mengen  gerechnet ,  die  man  durch  die  früheren 
Methoden  konstatierte.  Die  Entdeckung  des 
Nannoplanktons  hat  die  Annahme  einer  so  unge- 
wohnten Ernährungsweise  der  Fische  (Aufnahme 
gelöster  organischer  Substanzen  durch  die  Kiemen) 
überflüssig  gemacht. 

Die  neuesten  Untersuchungen  vonLantzsch 
und  Colditz  über  die  Beziehungen  des  Zentri- 
fugenplankton zum  Zooplankton  haben  die  Ab- 
hängigkeit des  letzteren  vom  Nannoplankton  er- 
geben. Von  dem  P  ü  1 1  e  r  '  sehen  Ernährungsmodus 
für  diePlanktoncrustaceen  sehen  die  beiden  Autoren 
ab.  Sehr  interessant  sind  die  Untersuchungen  von 
Lantzsch  deswegen,  da  sie  die  ersten  Nanno- 
planktonstudien  an  einem  tiefen  Alpensee  dar- 
stellen. In  diesem  150  m  tiefen  Zugersee  ging 
die  Nannoplanktonzone  im  Sommer  bis  zur  Tiefe 
von  80  m ,  wobei  eine  deutliche  Schichtung  der 
Komponenten    zu    konstaüeren  war.     Die  winter- 


lichen Konvektionsströmungen  heben  nicht  nur 
die  Schichtung  der  Nannoplanktonten  auf  sondern 
sie  führten    letztere  auch    in  die  größeren  Tiefen. 

Ebenso  bestimmt  über  die  Beziehungen  zwi- 
schen Zentrifugen-  und  Netzplankton  spricht  sich 
Colditz  aus.  Der  Satz:  „Das  gesamte  tierische 
Plankton  der  pelagischen  Zone  eines  Sees  ist  an 
das  Vorhandensein  geformter  Nahrung  gebunden", 
läßt  an  Deutlichkeit  nichts  zu   wünschen  übrig. 

Jedem  Planktologen,  der  an  Gebirgsseen  Studien 
betrieben  hat,  ist  die  Tatsache  bekannt ,  daß  oft 
ein  äußerst  reiches  Crustaceenmaterial  vorhanden 
ist,  während  das  Phytoplankton  sehr  spärlich  auf 
tritt.  Die  wenigen  Nannoplanktonuntersuchungen, 
die  über  Gebirgsseen  vorliegen,  geben  Aufschluß, 
worin  die  Nahrung  jener  reichen  Planklonfauna 
besteht.  Es  ist  das  Nannoplankton,  dessen  Be- 
standteile dem  Mikroskopiker  noch  manch  harte 
Arbeit  schaffen  werden. 

Lileraturaugaben. 

Bachmann,  Die  Planklonfänge  mittels  der  Pumpe. 
Biol.   Cenlralbl.    1900. 

Brehm,  Einige  Beobachtungen  über  das  Zentrifugen- 
plankton.     Internat.   Revue    jgil. 

Colditz,  Beiträge  zur  Biologie  des  Mansfeldersees. 
Zeitsclir.  f.  wiss.  Zoologie    1914. 

Lantzsch,  Studien  über  das  Nannoplankton  des  Zuger- 
secs  und   seine  Beziehung  zum  Zooplankton.     Ebenda    1914. 

Loh  mann,  Über  das  Fischen  mit  Netzen  aus  Müllergaze. 
Nr.   20.      Wissensch.   Meeresuntersuchungen    1901, 

—  — ,  Neue  Untersuchungen  über  den  Reichtum  des 
Meeres  an   Plankton.     Ebenda   1902. 

,   Die  Gehäuse  und  Gallertblasen   der  Appendicularicn 

und  ihre  Bedeutung  für  die  Erforschung  des  Lebens  im  Meer. 
Verhandl.  d.   d.  zool.  Ges.   1909. 

—  — ,  Über  das  Nannoplankton  und  die  Zentrifugierung 
kleinster  Wasserproben  zur  Gewinnung  derselben  in  lebendem 
Zustande.      Internat.   Revue    1911. 

Pascher,  Versuche  zur  Methode  des  Zentrifugierens  bei 
der  Gewinnung  des  Planktons.     Internat.  Revue   1912. 

—  —  ,  Ober  Nannoplankton  des  Süßwassers.  Deutsche 
bot.   Ges.   191 1. 

Ruthner,  Über  die  Anwendung  von  Filtration  und 
Zentrifugierung  bei  den  planktologischen  Arbeiten  an  den 
Lunzer  Seen.      Internat.   Revue   1909. 

Schröter,  Die  Schwebeflora  unserer  Seen.  Neujahrsblatt 
der  Naturf.   Ges.  Zürich    1897. 


Einzelberichte. 


Chemie.  Über  das  Anemonin.  Beim  Destillieren 
von  Anemonen  und  Ranunculaceen  mit  Wasser- 
dämpfen erhält  man  ein  scharf  riechendes,  wenige 
Öltröpfchen  enthaltendes  Destillat,  aus  dem  man 
durch  Äther  oder  Chloroform  das  sog.  Ranunkel- 
oder Anemonenöl  extrahieren  kann.  Das  Ranunkelöl 
soll  nach  Beckurts  (Archiv  der  Pharmacie  230, 
182  [1892])  aus  zwei  Substanzen  bestehen:  aus 
dem  Anemonin,  einem  bei  150—152"  schmelzen- 
den, geschmack-  und  geruchlosen  Stoffe  von  der 
Zusammensetzung  C,„H,0,j,  und  dem  Anemonen- 
kampfer, der  oberhalb  300  <"  verkohlt  und  angeb- 
lich für  den  scharfen  brennenden  Geschmack  und 
die  reizende  Wirkung  frischer  Ranunculaceen  ver- 


antwortlich zu  machen  ist.  In  einer  Mitteilung  ') 
aus  dem  pharmazeutischen  Institut  der  Universität 
Tokio  berichtet  Yas  u  h  ik  o  Asahina  über  einige 
Versuche  zur  Aufklärung  der  Konstitution  des 
Anemonins,  das  er  in  größeren  Mengen  aus  dem 
frischen  Kraut  von  Ranunculus  japonicus  isolierte. 
Durch  Destillation  von  je  10  kg  der  in  Japan  als 
Unkraut  massenhaft  vorkommenden  Pflanze  mit 
VVasserdampf  wurden  nach  Extraktion  des  Destillats 
mit  Äther  und  Eindampfen  des  Extraktes  12  g 
eines  gelben  Öles  erhalten,  das  die  Schleimhäute 
heftig    angreift    und    blasenziehend    wirkt.       Beim 


')  Berichte  der  Deutsch.   Chem.   Ges.  47,  914. 


394 


Naturwissenschattliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  25 


Stehen  in  der  Kälte  scheidet  sich  daraus  allmäh- 
lich das  Anemonin  in  Form  von  tafelförmigen 
glänzenden  Kristallen  aus.  Durch  katalytische 
Reduktion  der  in  Eisessig  suspendierten  Substanz 
mittels  Platinschwarz  und  Wasserstoff  wurde  ein 
Tetrahydroanemonin  (CjuHj.^O^)  erhalten.  Das 
Anemonin  nimmt  also  hierbei  4  Atome  Wasser- 
stoff auf,  woraus  zu  schließen  ist,  daß  sein  Molekül 
zwei  doppelte  Bindungen  enthält.  Der  von 
Beckurtsals  Anemonenkampfer  bezeichnete  Stoff 
wurde  in  Kristallen  erhalten,  die  immer  etwas 
getrübt  vorkamen  und  beim  Kochen  mit  Alkohol 
erhebliche  Mengen  Anemonin  unter  Zurücklassung 
einer  amorphen  Substanz  (Isoanemonsäure)  ergaben. 
Vermutlich  ist  das  zuerst  aus  den  Pflanzenteilen 
destillierte  Ol  eine  labile  Form  des  Anemonins, 
die  sich  bei  der  Umlagerung  in  Anemonin  teil- 
weise polymerisiert.  Demnach  wäre  also  der 
Anemonenkampfer  von  Beckurts  nichts  anderes 
als  Anemonin,  verunreinigt  mit  seinem  Polymeri- 
sationsprodukt. Bugge. 

Anatomie.  Verhältnis  des  Binnenraums  des 
Schädels,  der  ,, Schädelkapazität"  zum  Gehirn.  So 
ist  es  z.  B.  bekannt,  daß  der  „Wasserkopf  (Hydro- 
cephalus)  der  geistigen  Entwicklung  durchaus  nicht 
hinderlich  zu  sein  braucht,  im  Gegenteil  förder- 
lich sein  kann,  weil  das  Gehirn  infolge  der  ver- 
späteten Verknöcherung  der  Schädelnähte  sich 
über  die  Norm  hinaus  vergrößert.  Ist  es  doch  von 
einer  Reihe  hochbegabter  Männer  bekannt,  daß 
sie  in  ihrer  Jugend  einen  mehr  oder  minder  aus- 
gesprochenen Hydrocephalus  hatten. 

Nach  Otto  Rudolph  (Untersuchungen  über 
Hirngewicht,  Hirnvolumen  und  Schädelkapazität, 
Beitr.  path.  Anat.,  1914)  ist  das  Verhältnis  des 
Gehirns  zur  Kopfhöhle  beim  Menschen  folgendes. 
Die  Differenz  zwischen  Hirnvolumen  und  Schädel- 
kapazität ist  am  geringsten  beim  Neugeborenen, 
nur  2,5  "/o  des  F"assungsraumes  der  Schädelhöhle. 
Sie  wächst  dann  —  3  ^%  im  sechsten  Jahre  — 
und  erreicht  bis  zum  Ende  der  Pubertät  einen 
konstanten  Wert,  beim  Erwachsenen  im  Durch- 
schnitt in  beiden  Geschlechtern  7,5  %;  individuelle 
Schwankungen  von  5  —  lO  "/^  sind  noch  normal. 
Mit  der  Involution  im  höheren  Alter  tritt  eine 
Verkleinerung  des  Gehirns  ein,  und  die  Differenz 
zwischen  Schädelkapazität  und  Gehirngröße  beträgt 
7,5 — 15  "/„.  Das  im  Laufe  des  Lebens  sich  ändernde 
Verhältnis  von  Gehirngröße  und  Schädelkapazität 
erklärt  es,  daß  die  Symptome  des  Hirndrucks  bei 
Kindern  sich  viel  schneller  und  stärker  bemerkbar 
machen  als  bei  Erwachsenen  und  daß  Hirnge- 
schwülste bei  alten  Leuten  eine  erstaunliche  Größe 
erreichen  können. 

Säugetiere  zeigen  ganz  andere  Verhältnisse  und 
können  daher  zum  Vergleich  nicht  herangezogen 
werden.  Kathariner. 

Botanik.  Barymorphose  und  StatoHthentheorie. 
Beim  Auswachsen    der  Brutknospen,    die    der    un 
geschlechtlichen     Vermehrung     der     Lebermoose 


Marchantia  und  L  u  n  u  1  a  r  i  a  dienen,  ent- 
scheiden äußere  Einflüsse  allein,  welche  Seite  des 
dorsiventral  gebauten  Thallus  Rücken-  und  welche 
Bauchseite  wird.  Auch  das  Auswachsen  der 
Initialzellen,  aus  denen  die  Wurzelhaare,  die 
Rhizoiden,  hervorgehen,  wird  durch  äußere 
Einflüsse  bestimmt.  Diese  Initialzellen  liegen 
entweder,  wie  bei  Marchantia,  auf  beiden  Seiten 
der  Brutknospe,  oder  sie  finden  sich,  wie  bei 
Lunularia,  nur  nahe  dem  Rande  der  Brutknospe 
und  durchsetzen  diese  ihrer  ganzen  Dicke  nach, 
so  daß  jede  Initialzelle  zwei  freie  Außenwände 
hat.  Wie  für  Marchantia  nachgewiesen  ist,  fördert 
die  Schwerkraft  die  Produktion  von  Wurzelhaaren 
auf  der  erdwärts  gewandten  Seite  der  Brutknospe, 
und  auch  ein  hoher  Feuchtigkeitsgehalt  der  Luft 
übt  einen  begünstigenden  Einfluß  auf  das  Aus- 
treiben und  das  VVachstum  der  Rhizoiden  aus, 
während  Belichtung  die  entgegengesetzte  Wirkung 
hat.  Für  Lunularia  liegen  keine  ausführlicheren 
Untersuchungen  über  den  Einfluß  dieser  Faktoren 
auf  die  Rhizoidbildung  der  Brutknospen  vor,  doch 
wird  angegeben,  daß  er  dem  bei  Marchantia  analog 
sei.  Die  bisher  nicht  behandelte  Frage,  worauf 
die  Wirkung  der  äußeren  Einflüsse  be- 
ruhe, hat  G.  Haberlandt  nunmehr,  vorzugs- 
weise durch  Untersuchungen  an  Lunularia 
cruciata  L.,  zu  lösen  gesucht.  Er  ging  dabei 
von  der  Annahme  aus,  „dafä  etwaige  Umlagerungen 
des  Zellinhaltes  der  Rhizoidinitialen,  ihrer  Plasma- 
körper, ihrer  Zellkerne,  Stärkekörner  —  Umlage- 
rungen, die  dem  Auswachsen  der  Rhizoiden  vor- 
ausgehen —  gewisse  Anhaltspunkte  dafür  bieten 
könnten,  auf  welche  Weise  die  den  Ort  der  An- 
lage bestimmenden  äußeren  Einflüsse  zur  Geltung 
kommen". 


Fig.  I. 


Fig.    2. 


Die  Lage  der  Initialzellen  zeigt  der  in  Fig.  1 
abgebildete  Querschnitt  durch  den  Randteil  einer 
Brutknospe  von  Lunularia.  Das  Plasma  in  der 
dargestellten  Initialzelle  hat  die  Lage,  die  es  erhält, 
wenn  man  Thallusstücke  mit  Brutbechern  und 
reifen  Brutknospen  in  Petrischalen,  die  mit  nassem 
Fließpapier  ausgekleidet  sind,  i — 3  Tage  lang  am 
Klinostaten  derart  rotieren  läßt,  daß  die  Brut- 
knospen der  einseitigen  Licht-  und  Schwerewirkung 
entzogen  sind.  Der  plasmatische  Wandbeleg  ver- 
dickt sich  in  der  Mitte  der  ausgebauchten  Innen- 
wand der  Zelle  zu  einer  mächtigen  Plasmaansamm- 
lung, in  deren  Mitte  der  Zellkern  liegt,  umgeben 
von  zahlreichen  kleinen  Stärkekörnern. 

Wurden  Brutknospen  auf  nasses  Fließpapier 
ausgesät,  mit  welchem  der  Boden  und  der  Deckel 
von  Petrischalen    ausgekleidet  waren,    so   bildeten 


N.  F.  XIII.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


395 


im  feuchten  Raum  und  bei  diffuser  Beleuchtung 
sowohl  die  dem  Deckel  innen  anhaftenden,  wie 
die  auf  dem  Boden  liegenden  Brutknospen  stets 
auf  der  physikalisch  unteren  Seite  weit  mehr 
Rhizoiden  als  auf  der  oberen.  Dies  zeigt  den 
übermächtigen  Einfluß  der  Schwerkraft  auf  die 
Anlage  der  Rhizoiden.  Er  bewirkt,  wie  die  Ver- 
suche und  Beobachtungen  zeigten,  daß  sich  die 
Plasmamasse  samt  Zellkern  und  Stärkekörnern 
erdwärts  bewegt  und  den  unteren  VVandteilen  an- 
legt (Fig.  2).  Diese  Umlagerung  vollzieht  sich 
schon  im  Laufe  von  1 '/.,  Stunden,  ein  Zeitraum, 
der  freilich  noch  beträchtlich  größer  ist  als  der 
für  die  Wanderung  der  Stärkekörner  in  den  Stato- 
lithenorganen  erforderliche.  Die  Umlagerung  er- 
folgt auch,  wenn  die  Brutknospen  auf  Chloroform- 
wasser oder  Eosinlösung  schwimmen,  woraus  hervor- 
geht, daß  sie,  wie  die  Umlagerung  der  Statolithen- 
stärke  ein  rein  physikalischer  Vorgang,  keine  geo- 
taktische  Reizbewegung   ist. 

Einige  Zeit  nach  der  erfolgten  Umlagerung 
slülpt  sich  die  Außenwand,  der  die  Plasmamasse 
anliegt,  papillös  vor;  in  die  so  entstandene  Rhi- 
zoidanlage  wandert  zuerst  feinkörniges  Plasma, 
später  erst  der  Zellkern  mit  den  Stärkekörnern 
ein.  Dreht  man  die  Brutknospen  um  180",  so- 
lange Zellkern  und  Stärkekörner  noch  außerhalb 
des  Rhizoids  verweilen ,  so  fallen  beide  auf  die 
entgegengesetzte  Außenwand  herab,  und  jetzt 
wächst  diese  zum  Rhizoid  aus.  Waren  aber  Zell- 
kern und  Stärkekörner  schon  in  das  Rhizoid  ein- 
gedrungen, so  bleiben  sie  darin,  und  die  andere, 
nunmehr  untere  Außenwand  wächst  nicht  mehr 
zu  einem  Rhizoid  aus.  Mithin  ist  die  Schwerkraft 
nur  dadurch  wirksam,  daß  sie  Plasma  samt  Kern 
und  Stärke  auf  die  physikalisch  unteren  Wände 
sinken  läßt. 

Werden  die  auf  Wasser  schwimmenden  Brut- 
knospen von  unten  kräftig  beleuchtet  und  oben 
verdunkelt,  so  entstehen  die  Rhizoiden  auf  der 
Oberseite,  wenn  auch  der  Plasmaklumpen  auf  der 
unteren  Außenwand  liegt.  Erst  später  wandert 
er  mit  Kern  und  Stärkekörnern  nach  aufwärts 
und  dringt  in  das  junge  Rhizoid  ein.  Worauf 
hier  die  Rhizoidbildung  an  der  Schattenseite  be- 
ruht, bleibt  völlig  ungewiß.  Daß  auf  der  physi- 
kalischen Unterseite  in  diesem  Falle  keine  Wurzel- 
haare entstehen,  beweist,  daß  das  Licht  eine  Um- 
stimmung  in  den  Rhizoidinitialen  herbeiführt,  die 
die  Wirkung  der  Plasmaansammlung  auf  der 
Unterseite  aufhebt.  Zur  Erklärung  der  Plasma- 
wirkung in  dem  normalen  Falle,  wo  die  Anlage 
der  Rhizoiden  unter  dem  Einflüsse  der  Schwer- 
kraft erfolgt,  ergibt  sich  nach  Haberlandt  aus 
dem  Ausfall  des  Lichtversuchs,  daß  sie  nicht  auf 
der  Herbeiführung  einer  besseren  Ernährung  oder 
auf  chemischer  Reizung  oder  auf  der  speziellen 
Funktion  des  Zellkerns  beruht,  sondern  daß  das 
Auswachsen  der  Außenwand  zum  Rhizoid  nur 
durch  den  Druck  der  Plasmaanhäufung 
und  ihrer  Einschlüsse  bedingt  sein  kann. 

Versuche     mit     wachsenden     Thallussprossen, 


deren  Rhizoidinitialen  stets  stärkefrei  sind,  lehren, 
daß  die  Stärkekörner  zur  Auslösung  des  Reizes, 
der  die  Rhizoidbildung  im  Gefolge  hat,  nicht 
immer  nötig  sind.  Bei  umgekehrter  Lage  der 
Thallussprosse  konnte  allerdings  die  Rhizoidbildung 
nur  durch  Zugabe  von  etwas  Traubenzucker  er- 
zielt werden,  was  das  Auftreten  von  Stärkekörnern 
in  den  Zellen  zur  Folge  hatte.  Anscheinend  ist 
die  Plasmahaut  hier  in  demjenigen  Teile  der 
Initialen,  wo  normal  die  Rhizoiden  entstehen  (dem 
basiskopen  Teil)  für  Druck  empfindlicher  als  in 
dem  gegenüberliegenden  (dem  akroskopen)  Ab- 
schnitt. 

Bei  Marchantia  spielen  sich  die  Dinge  in  ähn- 
licher, doch  weniger  leicht  zu  beobachtender 
Weise  ab. 

Die  mitgeteilten  Versuchsergebnisse,  durch  die 
„das  Prinzip  derStatolithentheorie  des 
Geotropismus  auf  das  Gebiet  derBary- 
morp  hosen  übertragen  wird",  d.  h.  auf 
diejenigen  Gestaltungsprozesse,  die  (nach  dem 
Ausdruck  von  Sachs)  durch  Reizbarkeit  gegen 
die  Einwirkung  der  Schwerkraft  hervorgerufen 
werden,  sind  von  hohem  Interesse  und  werden 
zweifellos  weitere  Untersuchungen  anregen.  (Sitz.- 
Berichte  d.  Kgl.  Preuß.  Akad.  d.  Wiss.  Mathem.- 
Naturw.  KL,   1914,   12,  S.  384 — 401.) 

F.  Moewes. 

Zoologie.  Über  die  experimentelle  Beein- 
flussung der  Dauereibildung  und  des  Geschlechts 
bei  Cladoceren.  Durch  eine  Reihe  von  Experi- 
menten suchte  v.  Scharfenberg^)  die  Faktoren 
zu  ergründen ,  die  ein  Daphnia- Weibchen  veran- 
lassen, bald  parthenogenetisch  sich  entwickelnde 
Eier  („Subitaneier"),  bald  befruchtungsbedürftige 
Eier  (,, Dauereier")  zu  bilden,  und  die  ein  Subitanei 
einmal  zu  einem  Weibchen,  ein  anderes  Mal  zu 
einem  Männchen  sich  entwickeln  lassen.  Zu  den 
Experimenten  wurden  Daphnia  magna  und  Daphnia 
pulex  benutzt.  Obwohl  diese  beiden  Arten  in 
ihrem  äußeren  Habitus  ^ie  überhaupt  anatomisch 
ganz  nahe  verwandt  sind,  kann  doch  die  Ei-  und 
Geschlechtsdifferenzierung  nicht  bei  beiden  durch 
äußere  Faktoren  in  gleicher  Weise  beeinflußt 
werden. 

Bietet  man  Daphnia  magna  grüne  Algen  als 
Nahrung  dar,  so  behalten  die  Weibchen  die  ein- 
geschlechtliche Fortpflanzung  bei,  sie  erzeugen 
nur  Jungferneier.  Durch  Passieren  des  Darmes 
der  Daphnien  werden  die  grünen  Algen  in  einen 
braunen  Detritus,  in  „Mudd"  verwandelt.  Führt 
man  nun  keine  frische  Algennahrung  der  Kultur 
zu,  so  fressen  die  Tiere  den  ,,Mudd",  und  diese 
Ernährung  hat  zur  P"olge,  daß  Daphnia  magna 
von  der  eingeschlechtlichen  Fortpflanzung  alsbald 
zur  zweigeschlechtlichen  übergeht,  sie  beginnt 
Dauereier    zu    produzieren.      Die    Dauereibildung 

')  Seh  arfenberg,  U.  v. ,  Weitere  Untersuchungen  an 
Cladoceren  über  die  experimentelle  Beeinflussung  des  Ge- 
schlechts und  der  Dauereibildung.  Internat.  Rev.  d.  ges. 
Hydrobiol.  u.  Hydrogr.,  Biol.  Suppl.  zu  Bd.  6,   1914- 


396 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  25 


läßt  sich  zu  jeder  Zeit  in  jeder  Generation  bei 
Ernährung  mit  Mudd  erzielen ,  in  späteren  par- 
thenogenetischen  Generationen  allerdings  leichter 
als  in  der  ersten.  In  der  ersten  Generation,  also 
bei  aus  dem  Dauerei  geschlüpften  Weibchen,  ist 
die  Tendenz,  sich  parthenogenetisch  fortzupflanzen, 
gewöhnlich  so  stark,  daß  trotz  Muddnahrung 
wenigstens  die  ersten  Brüten  aus  Subitaneiern 
bestehen.  Die  Tendenz  ist  aber  bei  den  ver- 
schiedenen Weibchen  sehr  verschieden  stark.  So 
gelang  es  v.  Seh  arfenbcrg,  einige  aus  Dauer- 
eiern stammende  Weibchen  sofort  zur  Dauerei- 
bildung  zu  veranlassen.  Bleibt  den  mit  Mudd  ge- 
fütterten Weibchen  auch  weiterhin  grüne  Algen- 
nahrung versagt,  so  erfolgt  offenbar  eine  Unter- 
ernährung. Nachdem  die  Weibchen  eine  Anzahl 
Dauereier  produziert  haben,  treten  die  Eierstöcke 
außer  Funktion,  die  Tiere  erhalten  ein  kränk- 
liches und  hyalines  Aussehen  und  gehen  schließ- 
lich zugrunde. 

Man  ist  zunächst  vielleicht  geneigt  zu  glauben, 
daß  der  Übergang  zur  Dauereibildung  lediglich 
auf  die  ungenügende  Ernährung  der  Tiere  zurück- 
zuführen ist.  Dem  ist  aber  nicht  so,  wie  sich 
durch  Hungerexperimente  zeigen  läßt.  Es  dürfte 
vielmehr  die  verschiedene  chemische  Zusammen- 
setzung der  Nahrung  in  dem  einen  und  dem 
anderen  Falle  von  Bedeutung  sein.  In  der  grünen 
Algennahrung  ist  stets  reichlich  Sauerstoff  vor- 
handen ,  während  der  Mudd  sicher  reich  ist  an 
Schwefelwasserstoff.  Lediglich  das  Vorhandensein 
von  O  und  H.,S  in  der  Kultur  kann  allerdings 
nicht  Ursache  der  Bildung  von  Jungfern-  bzw. 
Dauereiern  sein,  da  ein  Einleiten  von  O  bzw.  H^S 
in  das  Gläschen,  in  dem  sich  die  Tiere  befinden, 
erfolglos  ist.  Die  Reaktion  muß  vom  Darm  aus- 
gehen. 

Eine  Abhängigkeit  der  Produktion  von  Männ- 
chen von  der  Dauereibildung  konnte  v.  Scharfen- 
berg  nicht  feststellen.  Die  Männchen  entstehen 
aus  den  parthenogenetischen  Eiern  ganz  regellos. 
Gewöhnlich  nimmt  allerdings  die  Zahl  der  Männ- 
chen mit  der  Zahl  der  parthenogenetischen  Gene- 
rationen und  der  Zahl  der  Würfe  etwas  zu.  Durch 
verschiedene  Nahrung  läßt  sich  die  Geschlechts- 
differenzierung der  Jungferneier  in  keiner  Weise 
beeinflussen.  Auch  die  Temperatur  spielt  keine 
Rolle.  Sie  ist  —  übrigens  auch  bei  der  Dauer- 
eibildung —  nur  insofern  von  Bedeutung,  als  es 
ein  bestimmtes  Optimum  gibt;  bei  niedrigen 
Temperaturen  geht  die  Entwicklung  langsamer 
vor  sich.  Es  scheinen  lediglich  innere,  im  Orga- 
nismus selbst  gelegene  Faktoren  zu  sein,  die  die 
Geschlechtsdifferenzierung  der  parthenogenetischen 
Eier  veranlassen. 

Ganz  anders,  fast  umgekehrt,  verhält  sich 
Daphnia  pulex.  Eine  verschiedene  Nahrung  ver- 
ändert hier  die  Eibildung  nicht.  Für  die  Ge- 
schlechtsdifferenzierung aber  ist  die  Art  der  Flr- 
nährung  wichtiger.  Muddnahrung  begünstigt  in 
Verbindung  mit  hoher  Generations-  und  Wurfzahl 
ganz    unverkennbar    das     männliche    Geschlecht. 


Trotzdem  dürften  auch  bei  Daphnia  pulex  innere 
Faktoren  in  erster  Linie  den  Ausschlag  geben  bei 
der  Geschlechtsdifferenzierung. 

Den  Unterschied  in  dem  Verhalten  der  beiden 
Daphnienarten  führt  v.  Scharfe  nberg  auf  den 
verschiedenen  Wohnort  der  Tiere  zurück.  Daphnia 
magna  bewohnt  kleine  Teiche  und  Tümpel,  die 
gelegentlich  austrocknen  können,  der  Aufenthalts- 
ort von  Daphnia  pulex  hingegen  sind  größere 
Seen.  Das  erinnert,  wie  mir  scheint,  an  das  Ver- 
halten der  in  Pfützen,  Straßengräben  usw.  vor- 
kommenden Hydatina  senta,  das  auch  von  dem 
anderer,  ausgedehnte  Wasserflächen  bewohnender 
Rotatorien  sehr  verschieden  ist.  Während  bei  den 
letzteren  Rotatorien  fast  ausschließlich  innere  F"ak- 
toren  den  Ablauf  des  Generationszyklus  regeln, 
kann  er  bei  Hydatina  durch  äußere  Faktoren  sehr 
stark  beeinflußt  werden.  Für  Hydatina  senta  so- 
wohl wie  auch  für  Daphnia  magna  ist  eine  solche 
Reaktionsfähigkeit  auf  äußere  Veränderungen  der 
Umgebung  natürlich  äußerst  zweckmäßig.  Er- 
möglichen doch  die  Dauereier  beider  Spezies, 
Zeiten  der  Trockenheit  zu  überstehen. 

Nachtsheim. 

Neue  tropische  Planktonorganismen.  Die  Hydro- 
biologen  waren  lange  Zeit  der  Ansicht,  daß  die 
Mikrofauna  des  Süßwassers  ziemlich  kosmopolitisch 
sei  —  die  Art  ihrer  Verbreitung,  die  vorwiegend 
durch  sog.  ,, passive  Wanderung"  (d.  h.  die  Über- 
tragung von  Dauereiern  und  Cysten  durch  Wasser- 
vögel, Insekten  und  Luftströmungen)  vor  sich  geht, 
legte  diesen  Gedanken  nahe.  In  jüngster  Zeit 
wurde  er  indessen  sehr  ins  Wanken  gebracht,  und 
zwar  trugen  dazu  größtenteils  Untersuchungen 
über  tropische  Planktonten  bei.  Das  Plankton  der 
Tropenseen  ist  nicht  so  reichhaltig  an  Arten  und 
Individuen  wie  das  unserer  Seen.  Das  Wasser  zeigt 
dort,  wie  die  darüber  ruhende  Luft,  das  ganze  Jahr 
hindurch  eine  gleichmäßig  hohe  Temperatur,  meist 
über  20".  Doch  herrscht  eine  gewisse  Periodizität 
insofern,  als  Masse  und  Zusammensetzung  nach 
den  einzelnen  Monaten  ziemlich  wechseln,  was 
mehr  als  in  dem  verschiedenen  Entwicklungsgang 
der  einzelnen  Arten  darin  liegen  dürfte,  daß 
mit  dem  Wechsel  der  Trocken-  und  Regenzeiten 
der  Gehalt  an  Phytoplankton  und  damit  die  Nahrung 
für  die  tierischen  Planktonten  sehr  schwankt.  Einen 
interessanten  Beitrag  zu  diesen  Fragen  liefert  die 
in:  Voyage  d'Exploration  seien t.  en  Co- 
1  o  m  b  i  e  (Mem.  de  la  Soc.  Neuchäteloise  des 
Scienc.  natur.  V)  Neuchätel  1913  erschienene  Be- 
arbeitung tropischer  Cladoceren,  die  von 
der  Expedition  von  Dr.  O.  Fuhrmann  und  Dr. 
E.  Mayor  in  Kolumbien  gesammelt  worden  sind, 
durch  den  Schweizer  Planktologen  Stingelin. 
Die  34  gefundenen  Arten  geben  von  neuem  einen 
Beleg  dafür,  wie  vorsichtig  man  bei  der  Frage 
des  Kosmopolitismus'  der  Limnobionten  sein  muß. 
Arten,  die  bei  uns  gar  nicht  oder  nur  sehr  selten 
vorkommen,  scheinen  in  den  Tropen  häufig  auf- 
zutreten, während  andrerseits  solche,    die   bei  uns 


N.  F.  XIII.  Nr.   25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


397 


gewöhnlich  sind,  dort  vollständig  fehlen.  Die 
meisten  der  hier  festgestellten  Arten  gehören  bei 
uns  EU  den  selteneren.  Besonders  auffällig  ist 
das  sehr  zahlreiche  Vorkommen  von  Lynco- 
daphniden.  Interessant  ist  auch  der  Fund  von 
Sida  (cr)-stallina),  die  damit  nicht  nur  für  Süd- 
amerika, sondern  für  die  Tropen  überhaupt  zum 
erstenmal  festgestellt  wurde,  wie  ja  manche  Arten 
von  Cladoceren  —  so  Leptodora  und  Polyphemus 


und  die  Kosminiden  —  sowohl  in  Südamerika  als 
Zentral-Afrika  noch  immer  unbekannt  sind.  Neu  be- 
schrieben sind  eine  Art  und  vier  Varietäten. 
Männchen,  VVintereier,  Ephippien  fanden  sich 
außerordentlich  selten  vor.  Die  Cladoceren  wurden 
in  Lagunen  und  Sümpfen  in  den  Zentralkordilleren 
und  Ostkordilleren  bei  Bogota  in  Höhen  von 
1575  bis  3671   m  gesammelt. 

R.  V.  Aichberger. 


Bticherbesprechungen. 


Dr.   Jacob  Lorscheid,    Lehrbuch    der    an- 
organischen   Chemie.      20.    und    21.    Auf- 
lage, herausgegeben  von  Dr.  Friedrich  Leh- 
mann.    8",  VIII  und  336  Seiten   mit   153  Ab- 
bildungen   im   Text    und    einer  Spektraltafel    in 
Farbendruck.     Freiburg  i.  B.   1913,  Herder'sche 
Verlagsbuchhandlung.  —  Preis  geheftet  3,60  Mk., 
gebunden  4,20  Mk. 
Im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  hat  der  Charakter 
der  anorganischen  Chemie  dank  der  Entwicklung 
der   allgemeinen  Chemie    eine  vollkommene  Ver- 
änderung erlitten,  und  so  muß  auch  ein  Lehrbuch 
der  anorganischen  Chemie  heute  ganz  andere  Auf- 
gaben als  vor  20  oder  30  Jahren  lösen.    Das  Wich- 
tige   und  Wesentliche    der  anorganischen  Chemie 
sind  heute  die  allgemeinen  Gesetzmäßigkeiten,  und 
die   Einzeltatsachen,    die  jetzt    dem    Chemiker    in 
früher    ungeahnter   Fülle    entgegentreten,    sind    in 
kleineren  Lehrbüchern  in  erster  Linie  als  Beispiele 
und  Belege  für  die  allgemeinen  Gesetzmäßigkeiten 
zu  behandeln.    Daher  ist  ein  älteres  Lehrbuch  der 
anorganischen  Chemie  nach  dem  derzeitigen  Stand- 
punkte der  Wissenschaft  seiner  ganzen  Anlage  nach 
als  veraltet  anzusehen,  mag  es  auch  einst,  wie  der 
alte    Lorscheid,    ein    recht    gutes    und    zweckent- 
sprechendes Werk  gewesen  sein. 

Die  Neuauflage  des  Lorscheid  ist  besonders 
in  technischen  Einzelheiten  sinngemäß  ergänzt. 
Die  allgemeinen  Gesetzmäßigkeiten  aber,  die  das 
Werk  als  belebendes  Prinzip  durchdringen  sollten, 
sind  in  ziemlich  dürftiger  Weise  in  einem  Anhang 
zusammengestellt  worden.  Auch  in  Einzelheiten 
sind  die  Fortschritte  der  wissenschaftlichen  Chemie 
nicht  gebührend  berücksichtigt.  So  wird  bei  der 
Besprechung  des  Radiums,  bei  der  übrigens  von 
den  grundsätzlich  verschiedenartigen  «-,  ß  und  y- 
Strahlen  nicht  gesprochen  wird,  auch  die  Emanation 
behandelt  (S.  264):  „Trotz  dieser  beständigen  Emana- 
tionsabgabe hat  sich  erstaunlicherweise  (!)  bisher 
keine  Gewichtsverminderung  bei  den  Radiumsalzen 
aufweisen  lassen.  Es  muß  daher  weiteren  For 
schungen  überlassen  bleiben,  diese  auffällige  Er- 
scheinung sowie  die  der  fortgesetzten  selbsttätigen 
Energieentwicklung  bei  den  Radiumsalzen  mit  den 
Gesetzen  von  der  Erhaltung  der  Materie  und  der 
Energie  in  Einklang  zu  bringen."  Offenbar  ist 
also  die  ganze  Entwicklung,  die  die  Lehre  von 
der  Radioaktivität  im  Laufe  der  letzten  Jahre  ge- 


nommen hat,  dem  Bearbeiter  unbekannt  geblieben. 
Die  Angabe,  daß  über  die  Abweichungen  vom 
D  ulong-Petit'schen  Gesetz  nichts  bekannt  sei 
(S.  287),  beweist,  daß  der  Bearbeiter  die  neueren  Ar- 
beiten von  Nernst  nicht  verfolgt  hat.  Über  das 
absolute  Gewicht  der  Atome  ist  die  Wissenschaft 
jetzt  wesentlich  besser  unterrichtet,  als  man  nach 
den  Worten  auf  Seite  9  des  Lehrbuches  meinen 
möchte.  Wenn  auf  Seite  278  gesagt  wird,  daß 
die  Zusammensetzung  des  Ca ssius' sehen  Gold- 
purpurs nicht  bekannt  sei,  so  sind  die  klassischen 
Arbeiten  von  Zsigmondy  nicht  berücksichtigt. 
Von  Kolloidchemie  und  Metallographie,  zwei 
Forschungsrichtungen,  ohne  die  die  anorganische 
Chemie  heute  nicht  mehr  denkbar  ist,  erfährt  der 
Leser  des  Buches  nichts.  Wohl  aber  wird  ihm  mit- 
geteilt (S.  129),  daß  das  Molekül  des  „Kohlenstoffs" 
(Diamant?,  Graphit?)  aus  zwei  Atomen  besteht, 
das  Molekulargewicht  dieses  Elements  also  23,82^) 
sei,  während  in  Wirklichkeit  über  die  Molekular- 
größe des  Kohlenstoffs  bislang  nichts  Sicheres  be- 
kannt ist.  Kurz,  das  einst  ausgezeichnete  Lehr- 
buch der  anorganischen  Chemie  von  Lorscheid 
entspricht  in  der  neuen  Auflage  in  keiner  Weise 
mehr  den  Anforderungen,  die  man  heute  an  ein 
Lehrbuch  der  anorganischen  Chemie  zu  stellen 
berechtigt  und  —  als  Rezensent —  verpflichtet  ist. 
Clausthal  i.  FI.  Werner  Mecklenburg. 


E.  Rädl,  Geschichte  der  biologischen 
Theorien  in  der  Neuzeit.  I.Teil.  2.  Aufl. 
351  S.  Leipzig,  Engelmann,  1913.  —  8 — 9  Mk. 
Die  vorliegende  zweite  Auflage  des  Rädl- 
schen  Buches  wird  als  ,, gänzlich  umgearbeitet" 
bezeichnet,  und  mit  Recht.  Abgesehen  von  einer 
kleinen  Änderung  im  l'itel  sind  die  beiden  Ka- 
pitel über  Lamarck  und  Erasmus  Darwin, 
die  den  ersten  Band  der  ersten  Auflage  abschlössen, 
hier  fortgeblieben  und  für  den  zweiten  Band  be- 
stimmt;  aber  auch  alle  übrigen  Kapitel  sind  mehr 
oder  weniger  umgestaltet,  die  Reihenfolge  zum  Teil 
verändert,  ganze  Abschnitte  neu  eingefügt  usw., 
so  daß  das  Buch  sich  als  eine  völlige  Neubearbei- 
tung des  Stofi'es  darstellt. 


')  Als  Einheit  der  .Atomgewichte  wird  in  dem  Buch  — 
auch  das  erscheint  dem  Rezensenten  charakteristisch  —  noch 
immer  das  Atomgewicht  des  Wasserstoffs  H  =  1,000  genommen. 


398 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  25 


Einleitend  betont  Radi,  daß  eine  Geschichte 
der  wissenschaftlichen  Theorien  sich  nicht  geben 
läßt  ohne  den  konkreten  Subjekten  der  wissen- 
schaftlichen Persönlichkeiten ,  die  sich  mit  der 
Begründung  theoretischer  Ansichten  beschäftigten, 
gerecht  zu  werden.  „Die  Wissenschaft  lebt  nur 
in  den  Menschen  und  durch  dieselben,  ist  durch 
ihre  persönlichen  Eigenschaften  begrenzt,  sie  stellt 
sogar  ebenso  eine  Eigenschaft  des  Menschen  dar 
wie  sein  Gesicht  und  sein  Knochenbau ;  ihre 
Physiognomie  verändert  sich  je  nach  dem  Cha- 
rakter des  einzelnen  Menschen  oder  der  einzelnen 
Epoche.  Diese  Arten  der  Wissenschaft,  diese 
mannigfachen  Äußerungen  des  wissenschaftlichen 
Triebes,  die  Weise,  wie  sich  jede  einzelne  wissen- 
schaftliche Begebenheit  vom  dunkeln  Chaos  der 
Unendlichkeit  abhebt,  zu  beachten,  ist  die  Auf- 
gabe des  Geschichtsschreibers."  Nicht  als  eine 
„lineare  Entwicklung"  im  Sinn  eines  allmählich 
zunehmenden  Fortschritts  seit  dem  Anfange 
wissenschaftlichen  Denkens  will  Rädl  die  Ge- 
schichte der  Biologie  dargestellt  wissen ,  sondern 
als  eine  Abwechslung  verschiedener,  aufeinander- 
folgender Systeme,  deren  jedes  in  sich  seine  Be- 
rechtigung hatte;  diesen  objektiv,  ohne  Vorein- 
genommenheit durch  den  heute  herrschenden 
Standpunkt  gerecht  zu  werden ,  sei  die  Aufgabe 
des  Geschichtsschreibers  der  biologischen  Theorien. 
Der  in  diesen  Sätzen  kurz  dargelegte  Standpunkt 
des  Verfassers  wird  weiter  gekennzeichnet  durch 
die  —  unbestreitbar  richtige  —  Ausführung  im 
Anfange  des  ersten  Kapitels,  daß  gewisse  Grund- 
auffassungen des  Naturgeschehens,  wie  sie  z.  B. 
im  Piatonismus ,  in  der  Scholastik  usw.  zutage 
treten,  durch  individuelle  Anlage  des  Einzelnen 
bedingt  erscheinen,  daß  daher  keine  dieser  ver- 
schiedenen Hauptrichtungen  je  völlig  überwunden 
werden  kann.  Dies  gilt,  wie  Ref.  hinzufügen 
möchte,  auch  für  die  Frage  des  Monismus  und 
Dualismus,  des  Vitalismus  und  Mechanismus,  es 
ist  daher  keine  dieser  Grundauffassungen  an  sich 
als  besser  oder  tiefer  eindringend  zu  bezeichnen, 
es  sind  nur  verschiedene,  durch  die  persönliche 
Geistesanlage  bedingte  Anschauungsformen  für 
das  Naturgeschehen. 

Wenn  nun  Rädl  diese  Leitsätze  seinem  Buch 
voranstellte,  so  befremdet  es,  daß  in  der  Darstellung 
die  hier  geforderte  Objektivität  durchaus  nicht 
immer  waltet.  Daß  der  offenbar  dem  Vitalismus 
zuneigende  Standpunkt  des  Verfassers  deutlich  er- 
kennbar ist,  ist  selbstverständlich  des  Autors  gutes 
Recht;  wenn  aber  an  verschiedenen  Stellen  die 
vitalistische  Auffassung  als  die  tiefere,  phisolophi- 
schere  bezeichnet  und  die  entgegengesetzte  als 
Verflachung  betrachtet  wird,  so  ist  dies  schon  nicht 
mehr  eine  objektiv  dem  individuellen  Standpunkt 
des  einzelnen  Forschers  gerecht  werdende  Dar- 
stellung. Und  noch  in  einer  anderen  Beziehung 
vermißt  Referent  die  wünschenswerte  Objektivität. 
Es  ist  dies  die  geringe  Einschätzung  der  von  Rädl 
als  „Epigonenwissenschaft"  bezeichneten  Leistun- 
gen   der    Forscher    des    17.  Jahrhunderts.     Redi, 


Malpighi,  Swammerdam,  Leeuwenhoek, 
Rcaumur,  Spallanzani  —  in  diesen  Namen 
verkörpert  sich  doch  eine  so  gewaltige  Summe 
ernster  und  vielfach  grundlegender  Arbeit,  daß  die 
Abschätzung:  ,,Die  biologische  Forschung  aus  dem 
17.  und  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts 
bietet  ein  unerfreuliches  Bild",  nicht  als  gerecht 
anerkannt  werden  kann.  Daß  unter  dem  Einfluß 
der  als  neues  Beobachtungswerkzeug  in  Gebrauch 
genommenen  Mikroskope  und  ihrer  schrittweisen 
Vervollkommnung  zunächst  die  Bewältigung  des 
in  ungeahnter  Fülle  neu  sich  darbietenden  Stoffes 
in  den  Vordergrund  tritt,  ist  historisch  wohl  ver- 
ständlich,  und  die  sorgfältigen  Beobachter,  die 
denn  übrigens  doch  auch  manches  Ergebnis  von 
allgemeiner  Tragweile  erzielten  —  so  z.  B.  Redi 's 
Nachweis  der  Entstehung  der  Fliegenmaden  aus  Eiern, 
Leeuwenhoek's Entdeckung  der  mikroskopischen 
Lebewelt  usf.  —  werden  durch  den  wiederholten 
Hinweis  darauf,  daß  durch  sie  keine  neue  biolo- 
gische Disziplin  geschaffen,  keine  fruchtbaren 
Ideen  ausgesprochen  wurden,  zu  einseitig  beurteilt. 
Seltsam  berührt  in  einem  den  philosophischen 
Standpunkt  stark  betonenden  Buch  die  Bezeichnung 
der  Insekten  als  „fade  Tiergruppe".  Überhaupt 
neigt  Rädl  stark  zu  Schlagworten.  So  z.  B. 
S.  16:  „Während  Hippokrates  ein  großer  Prak- 
tiker, Plato  ein  genialer  Essayist,  Aristoteles  ein 
wissenschaftlich  gebildeter  Philosoph ,  Plinius  ein 
aristokratischer  Dilettant  war,  war  Galen,  der 
Sproß  der  Alexandrischen  Schule,  ein  Gelehrter  von 
Standesbewußtsein";  oder  die  Charakteristik  von 
Leibniz  als  typischer  Repräsentant  „des  nach  Viel- 
seitigkeit und  Genialität  strebenden,  aber  an  Klein- 
lichkeiten haftenden  Zeitalters" ,  des  „Zeitalters 
der  langen  Perrücken,  der  Jesuiten,  der  adeligen 
Wissenschaft ,  der  Blütezeit  der  Mathematik  und 
Mechanik,  des  Zeitalters,  wo  Newton  das  ein- 
fachste Gesetz  für  das  Sonnensystem  entdeckte 
und  wo  die  Völker  Europas  dreißig  Jahre  lang 
das  Gesetz  des  gegenseitigen  anständigen  Be- 
nehmens im  eigenen  Blute  gesucht  haben".  Wenn 
er  Leibniz's  Philosophie  einer  ,, unangenehm 
kompromißartigen,  alles  Echte,  Radikale,  wahrhaft 
Tiefe  und  Gesunde  beiseite  schiebenden  Tendenz" 
beschuldigt,  so  ist  ihm  Linne,  der  „sein  Leben 
lang  keine  einzige  biologisch  wichtige  Tatsache 
entdeckt"  [war  die  Einführung  des  Artbegriffes, 
die  Verfasser  einige  Seiten  später  als  „Linne's 
unsterbliches  Verdienst"  bezeiclinet,  nicht  biologisch 
wichtig?!,  (Jet-  „für  die  natürlichen  Beziehungen 
der  Tiere  und  Pflanzen,  für  ihre  natürliche  Er- 
scheinungsform ....  so  wenig  Verständnis  ge- 
zeigt hat",  ein  „stiller,  fleißiger,  weltberühmter, 
pedantischer"  Gelehrter,  ein  „vom  Staub  der  Ge- 
lehrsamkeit bedeckter  Forscher".  Solche  einseitigen 
Beurteilungen  finden  sich  in  dem  Werke  noch 
mehrfach. 

Diesen  Ausstellungen  gegenüber,  die  zur  Krhik 
und  teilweise  zum  Widerspruch  herausfordern,  sollen 
die  Vorzüge  des  Werkes  nicht  unerwähnt  bleiben. 
Es  ist  zunächst,    wie  schon  aus  dem  Mitgeteilten 


N.  F.  Xm.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


399 


hervorgehen  dürfte,  eine  durchaus  originelle  Arbeit. 
Manche  Persönlichkeit  —  so  z.B.  der  von  Rädl 
mit  besonderer  Ausführlichkeit  behandelte  Para- 
celsus  —  erscheint  hier  in  neuem  Licht;  die 
zahlreichen  Literaturangaben  setzen  den  Leser  in 
den  Stand  zu  weiterer  Nachprüfung;  die  ganze 
Darstellungsweise  des  Verfassers  ist  lebendig,  an- 
ret^end,  zum  Nachdenken  über  die  Probleme  und 
ihre  Entwicklung  stimmend,  wenn  auch,  wie  ge- 
sagt, ein  stark  subjektiver  Zug  hindurchgeht. 

Ausgehend  von  dem  „Vermächtnis  des  Alter- 
tums und  Mittelalters",  unter  dessen  Vertretern 
namentlich  Aristoteles  und  die  an  ihn  anknüpfende 
Scholastik  näher  besprochen  werden,  wendet  sich 
Verfasser  zunächst  zu  Paracelsus,  als  Vertreter  der 
Renaissance,  dem  allein  4  Bogen  gewidmet  sind, 
und  dem  etwas  kürzer  Vesal,  Leonardo  und  Seve- 
rino  angereiht  werden.  Den  Neu  -  Aristotelikern 
Caesalpin  und  Harvey  folgen  die  „Encyklopä- 
disten"  Wotton,  Gesner,  Aldrovandi  u.a.  Im  folgen- 
den Kapitel  wird  die  Begründung  der  mechanisti- 
schen Theorien  durch  Galilei,  Bacon.Descar- 
t  e  s ,  B  o  r  e  1 1  i  erörtert ;  es  folgt  die  schon  erwähnte, 
etwas  einseitige  Beurteilung  der  „Epigonenwissen- 
schaft des  17.  Jahrhunderts".  Zwei  weitere  Kapitel 
sind  dem  Paracelsisten  van  Helmont  und  den  Vita- 
listen (Stahl,  Bichat)  gewidmet.  Der  etwas  gering- 
schätzig bewerteten  „Entomologenbiologie"  des 
17.  Jahrhunderts  wird  die  durch  Leibniz,  Bonnet, 
v.  Haller  vertretene  Periode,  die  „die  Notwendigkeit 
der  Kompromisse  mit  vitalistischen  Systemen  an- 
erkannte", als  Aufschwung  der  Biologie  gegenüber- 
gestellt. C.  F.  Wolff  als  Hauptbegründer  der 
Epigenesis  leitet  über  zu  den  drei  abschließenden 
Kapiteln,  in  denen  Linne,  Buffon  und  Cu  vi  er 
behandelt  werden.  Der  Streit  Cuvier's  mit  Geofifroy 
de  St.  Hilaire  schließt  den  Band  ab. 

R.  V.  Hanstein. 


derzeitigen  Stand  der  Stereochemie  interessieren, 
um  so  mehr  empfohlen  werden,  als  sie  auch  die 
Ergebnisse  der  neuesten  Forschungen  gebührend 
berücksichtigt. 

Clausthal  i.  H.  Werner  Mecklenburg. 


E.  Wedekind,    Stereochemie.      Bd.    201    der 
„Sammlung  Göschen".     Kl.  8",   126  Seiten  mit 
42  Abbildungen   im  Text.     Berlin    und  Leipzig 
1914,  G.  J.  Göschen'sche  Verlagshandlung  m.b.H. 
In  Leinewand  gebunden  0,go  Mk. 
In  dem  vorliegenden  Büchlein,  dessen  Verfasser 
als  Forscher  eine  große  Reihe  wertvoller  Beiträge 
zur  Stereochemie  des  Stickstoffs  geliefert  hat,  wird 
nach    einer  Einleitung   zunächst  die  Stereochemie 
des  Kohlenstoffs,  dann  die  des  drei-  und  fünfwertigen 
Stickstoffs,  des  Schwefels,  Selens,  Zinns,  Siliziums 
und  Phosphors  besprochen.    Dann  folgt  eine  Dar- 
legung   der  äußerst    interessanten  Ergebnisse,   die 
Werner  bei  den  anorganischen  Komplexverbin- 
dungen erhalten    hat    und  die  in  der  Entdeckung 
des  asymmetrischen  Kobalt-,    Chrom-,   Eisen-  und 
Rhodiumatoms  gipfeln  (vgl.  Naturw.  Wochenschr., 
Bd.  II,  S.  657 — 666;   1912).    Ein  Kapitel  über  die 
sog.  sterische  Hinderung,    d.  h.    die  Beeinflussung 
chemischer  Reaktionen  durch  räumliche  Faktoren, 
schließt  das  Buch. 

Die  vorliegende    „Stereochemie"    ist   klar   und 
sachgemäß  und  kann  allen  denen,  die  sich  für  den 


Literatur. 

Klingelhöffer,  Dr.  W. ,  Augenarzt,  Das  Auge  und 
seine  Erkrankungen.  Nr.  113 — 114  der  „Thomas  Volks- 
bücher". Mit  22  Abbild.  Leipzig,  Theod.  Thomas.  Geb. 
65  Pf. 

Jentsch,  Dr.  Ernst,  Julius  Robert  Mayer,  seine  Krank- 
heitsgeschichte und  die  Geschichte  seiner  Entdeckung.  Berlin 
'14,  Julius  Springer.     Geb.  4,80  Mk. 

Voig  tländ  er 's  Quellenbücher.  Bd.  32:  .\us  der  Ent- 
deckungsgeschichte der  lebendigen  Substanz.  Herausgegeben 
von  Dr.  Gottfried  Brückner.  60  Pf.  Bd.  39:  Im  Kampf  um 
d.as  Weltsystem  (Kopernikus  und  Galilei).  Von  Adolf  Kistner. 
80  Pf.  Bd.  45:  Die  Entdeckung  des  Generationswechsels  in 
der  Tierwelt.  Von  Prof.  Dr.  Fr.  Klengel.  I  Mk.  Bd.  49: 
Geschichte  der  Dampfmaschine  bis  James  Watt.  Von  Max 
Geitel.  1,20  Mk.  Bd.  69:  Die  Lebenskraft  in  den  Schriften 
der  Vitalisten  und  ihrer  Gegner.     Von  Dr.  Alfr.  XoU.    80  Pf. 

Hegi,  Dr.  Gustav,  Aus  den  Schweizerlanden.  Natur- 
historischgeographische  Plaudereien.  Mit  32  Illustr.  Zürich, 
Orell  &  Füssli.     Geb.   2,50  Mk. 

Bauer,  Dr.  Hugo,  Geschichte  der  Chemie  I.  2.  verb. 
Aufl.     Berlin  und  Leipzig  '14,    G.  J.  Göschen.      Geb.  90  Pf. 

Parsons,  H.  Franklin,  Isolation  Hospitals.  Aus  der 
„Cambridge  Public  Health  Series".  Cambridge  '14,  University 
Press.     12  s.  6  d. 

Sa  vage,  William  G. ,  The  Bacteriological  Examination 
of  Food  and  Water.  Ebenda.  Mit  16  Illustr.  Cambridge 
University  Press  '14.     7  s.  6  d. 

Prof.  Dr.  Bastian  S  c  h  m  i  d  '  s  Naturw.  Schülerbibliothek. 
Leipzig   und    Berlin  '14,    B.   G.  Teubner. 

Bd.  24:  Prof.  Dr.  Konrad  Guenther,  Vom  Tierleben 
in  den  Tropen.  Für  12 — isjährige  Schüler  aller  Schulgattun- 
gen.    Mit  7  Abbild,  im  Text  und   I   färb.  Taf.     I   Mk. ; 

Bd.  25:  Prof.  Dr.  W.  May,  Große  Biologen.  Für  reife 
Schüler.     Mit  21   Bildnissen.     3  Mk. 

Hendschel's  Luginsland,  Heft  43  :  Dr.  Otto  G  o  e  b  e  1 , 
Über  Sibirien  nach  Ostasien,  St.  Petersburg  und  Moskau, 
Tscheljabinsk-Mandschuria ,  Wladiwostok  und  Dairen.  2 
Karten,  3  Streckenprofilen  und  80  Abbild.  Frankfurt  a.  M. 
'14.     5  Mk. 

Hoffman,  Prof.  Dr.  Curt,  Ältere  und  neuere  Ansichten 
über  das  Erdinnere.  Vortrag  bei  der  von  der  Oberrealschule 
in  Ravensburg  gemeinsam  veranstalteten  Feier  des  Geburts- 
tages S.  M.  des  Königs  Wilhelm  II.  am  26.  Februar  1914. 
Ravensburg  '14,  Fr.  Alber.     80  Pf. 

Rüst,  Prof.  Dr.  Ernst,  Grundlehren  der  Chemie  und 
Wege  zur  künstlichen  Herstellung  von  Naturstoffen.  Leipzig 
und  Berlin  '14,  B.  G.  Teubner.  —  Geb.  2  Mk. 

Seubert,  Prof.  Dr.  Karl,  Ira  Remsens  Einleitung  in  das 
Studium  der  Chemie.  5.  Aufl.  Mit  50  Abbild,  im  Text  und 
2  Tafeln.     Tübingen  '14,  H.   Laupp.      Geb.   7  Mk. 

Vol terra,  Vito,  Drei  Vorlesungen  über  neuere  Fort- 
schritte der  mathematischen  Physik ,  gehalten  im  September 
1909  an  der  Clark-University.  Mit  Zusätzen  und  Ergänzungen 
des  Verfassers.  Deutsch  von  Dr.  Ernst  Lamla.  Mit  19  Fig. 
und   2  Tafeln.     Leipzig  und  Berlin '14,  B.  G.  Teubner.     3  Mk. 

Palagyi,  Melchior,  Prof.  Dr.,  Die  Relativitätstheorie  in 
der  modernen  Physik.  Vortrag,  gehalten  auf  der  85.  Natur- 
forscherversammlung in  Wien.  Berlin  '14,  Georg  Reimer. 
1,50  Mk. 

Vorträge  über  die  kinetische  Theorie  der  Materie  und 
der  Elektrizität  von  M.  Planck,  P.  Debye,  W.  Nernst,  M.  v. 
Smoluchowski,  A.  Sommerfeld,  H.  A.  Lorentz  u.  a.  (Mathe- 
matische Vorlesungen  an  der  Universität  Göttingen:  VI.)  Mit 
7  Textfig.      Leipzig    und    Berlin  '14,    B.  G.  Teubner.     7  Mk. 

Dr.  L.  Rabenhorst's  Kryptogamenflora  von  Deutsch- 
land, Österreich  und  der  Schweiz.  Bd.  6:  Die  Lebermoose 
(unter  Berücksichtigung    der    übrigen  Länder    Europas).      Mit 


400 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  25 


vielen  Te.xtabbild.     Bearbeitet  von  Dr.  Karl  Müller.      19.  Lief. 
Leipzig  '14,  Ed.   Kummer.     2,40  Mk. 

Mäday,  Dr.  Stefan  von,  Gibt  es  denkende  Tiere?  Eine 
Entgegnung  auf  Krall's  „Denkende  Tiere".  Mit  6  Fig.  im 
Te.xt.     Leipzig  und  Berlin  '14,    VV.   Engelmann.    —    9,60  Mk. 

Wolff,  Prof.  Dr.  F.  v. ,  Der  Vulkanismus.  I.  Band: 
Allgemeiner  Teil.  2.  Hälfte.  Die  vulkanischen  Erscheinungen 
der  Oberfläche.  Lunarer  und  kosmischer  Vulkanismus.  Ge- 
schichte der  Vulkanologie.  Mit  141  Textabbild.  Stuttgart  '14, 
F.  Enke.     13,40  Mk. 

Stern,  Dr.  med.  Lina,  Über  den  Mechanismus  der  Oxy- 
dationsvorgänge im  Tierorganismus.  Mit  12  Abbild,  i.  Text. 
Jena  '14,   G.  Fischer.     2,20  Mk. 

Handbuch  der  Tropenkrankheiten.  Unter  Mitwirkung 
von  usw.  .  .  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Carl  Mense.  2.  Aufl 
II.  Band.  Mit  126  Abbild,  im  Text.  14  schwarzen  und  6 
farbigen  Tafeln.     Leipzig  '14,  J.  A.  Barth.     Geb.  42  Mk. 

Anzeiger  der  Kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften. 
Mathematisch -naturwissenschaftl.  Klasse.  I.  Jahrgang  1913. 
Nr.  I— XXVII.     Wien  '13,  K.   K.  Hof-   u.  Siaatsdruckerei. 

Sitzungsberichte  der  mathematisch-physikalischen  Klasse 
der  K.  B.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  München  19 13. 
Heft   III.     München  '13. 

Verhandlung.n  der  Schweizerischen  Naturforschenden  Ge- 
sellschaft. 96.  Jahresversammlung  vom  7. — 10.  September 
1913  in  Frauenfeld. 

Papers  and  Proceedings  of  the  Royal  Society  of  Tasmania 
for  the  year   1913. 

Rodway,  Leonhard ,  Tasmanian  Bryophyla  Vol.  1. 
Mosses.     Hobart  '14,  The  Royal  Society  of  Tasmania. 

Ostwald's  Klassiker  der  exakten  Wissenschaften.  Leipzig 
und  Berlin  '14,  W.   Engelmann. 

Nr.  191:  Abhandlungen  über  jene  Grundsätze  der  Mechanik, 
die  Integrale  der  Differentialgleichungen  liefern,  von  Isaac 
Newton  (1687),  Daniel  BernouUi  (1745)  ""^  I  '74^)  uod  Patrick 
d'Arcy  (1747).  Aus  dem  Lateinischen  und  Französischen 
übersetzt  von  A.  v.  Oettingen.  Herausgegeb.  von  Philip  E.  B. 
Tourdain.     Mit  34  Textfig.     2,80  Mk. 

Ni.  193;  Über  die  dynamische  Theorie  der  Wärme  usw. 
von  William  Thomson.  Ins  Deutsche  übertragen  und  heraus- 
gegeben von  Dr.   W.  Block.     Mit  6  Fig.  im  Text.      5,20  Mk 

Hentschel,  Dr.  E.,  Die  Meeressäugeliere.  Leipzig '14, 
Th.  Thomas,      i   Mk. 

Thoraas,  Prof.  Dr.  Friedrich  A.  W.,  Das  Elisabeth 
Linne-Phänoraen  (sog.  Blitzen  der  Blüten)  und  seine  Deutungen. 
Zur  Anregung  und  Aufklärung,  zunächst  für  Botaniker  und 
Blumenfreunde.  Mit  einer  kleinen  Farblafel.  Jena  '14,  G. 
Fischer.      1,50  Mk. 

Klein,  F.  und  Sommerfeld,  A.,  Über  die  Theorie 
des  Kreisels.  Heft  1.  Die  kinematischen  und  kinetischen 
Grundlagen  der  Theorie.  2.  durchgesehener  .Abdruck.  Leip- 
zig und  Berlin  '14,  B.  G.  Teubner.     Geb.  6,60  Mk. 

Bjerrum,  Dr.  Niels,  Die  Theorie  der  alkalimetrischen 
und  azidimetrischen  Titrierungen.  Mit  II  Textabbild.  Aus 
der  Sammlung  chemischer  und  chemisch-technischer  Vorträge. 
Stuttgart  '14,  F.  Enke.     4,50  Mk. 

Gräfe,  Dr.  Viktor,  Ernährungsphysiologisches  Praktikum 
der  höheren  Pflanzen.  Mit  186  Textabbild.  Berlin  '14,  P. 
Parey.      17   Mk. 

Fester,  Dr.  Gustav,  Die  chemische  Technologie  des 
Vanidins.     Ebenda.     3  Mk. 

Dr.  Julius  Hoffmann's  Alpenflora  für  Alpenwanderer 
und  Pflanzenfreunde.  Mit  283  farbigen  Abbild,  auf  43  Taf., 
meist  nach  Aquarellen  von  Hermann  Friese.  In  2.  Auflage 
mit  neuem  Text  herausgegeben  von  Prof.  Dr  K.  Giesenhagen. 
Stuttgart  '14,  Schweizerbart'sche  Verlagsbuchhandlung.  Geb. 
6  Mk. 


Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  Dr.  L.,  Essen.  —  I.  Zur  Ansiedlung  bedarf  die 
Auster  eines  festen  Substrats  und  zwar  bevorzugt  sie  sandigen 
oder  schlickigen  Untergrund ;  auf  felsigem  Boden  kommt  sie 
seltener  vor.  Sie  geht  nur  in  geringe  Tiefe,  bis  etwa  30  m, 
herab,  ist  also  eine  typische  Litoralform.  Zum  Gedeihen  be- 
nötigt sie  einen  Salzgehalt  von  mindestens  i,7°'o;  daher 
kommt  sie  in  der  salzarmen  Ostsee  nicht  vorwärts.  Sehr  gut 
wächst  sie  jedoch  in  der  Nähe  von  Flußmündungen,  da  hier 
die  Strömung  für  reichliche  Nahrungszufuhr  sorgt.  Als  Feinde 
kommen  hauptsächlich  der  Taschenkrebs,  Carcinus  maenas, 
sowie  Murex  erinaceus ,  eine  Verwandte  der  Purpurschnecke 
in  Betracht,  ferner  Seesterne,  die  sie  gerne  öffnen  und  ver- 
zehren; auch  Bohrschwämme  und  Bohrschnecken  spielen  eine 
Rolle,  da  sie  sich  in  die  Schalen  einbohren.  Auf  den  Austern- 
bänken siedeln  sich  gerne  noch  andere  Muscheln  wie  Cardium 
edulis  und  Mytilus  edulis,  die  Miesmuschel,  an;  Moebius 
hat  gerade  an  diesen  Beispielen  den  Begriff  der  Lebens- 
gemeinschaft oder  Biocoenose  geprägt. 

Literatur;  Moebius,  Die  Austern  und  die  Austernwirt- 
schaft     Berlin    1877. 

2.  Wenn  wir  hier  ganz  von  den  wenigen,  das  Süßwasser 
bewohnenden  Formen  absehen,  so  teilen  sich  die  marinen 
Fo  raminif  e  r  en  biologisch  in  die  frei  schwebenden,  pcla- 
gisch  lebenden  und  die  benthonisch,  d.  h.  am  Boden  lebenden 
Formen.  Erstere  sind  an  Artenzahl  bei  weitem  in  der  Minder- 
heit, indem  nur  einige  20  planktonischer  Foraminiferen  be- 
kannt sind  ;  doch  ersetzen  sie  diesen  Mangel  durch  die  unge- 
heure Individuenzahl,  so  daß  die  herabgesunkenen  Schalen  der 
toten  Tiere  den  bekannten  Globigerinenschlick  bilden,  der  in 
Tiefen  von  700 — 5000  m  den  Boden ,  hauptsächlich  des  At- 
lantic und  des  Indic  bedeckt.  Planktonisch  lebend  sind  einige 
Arten  der  Gattungen  Globigerina,  Pulvulina,  Orbiculina  u.  a. 
Die  meisten  Foraminiferen  leben  aber  am  Boden  und  zwar 
sind  hier  solche,  die  direkt  auf  Steinen,  Korallen,  Muschel- 
schalen mit  ihrer  Schale  feslgewachsen  sind,  zu  unterscheiden 
von  anderen,  die  an  Pflanzen  oder  auf  dem  Boden  leben,  und 
sich  nur  mit  ihren  Scheinfüßchen  befestigen.  Sie  kommen 
hier  in  allen  Tiefen  vor,  doch  nimmt  die  Arienzahl  in  der 
Tiefsee  bedeutend  ab.  Immerhin  hat  man  unterhalb  4500  m 
Tiefe  noch  19  Arten  gefunden  gegenüber  138  Arten  in  Tiefen 
von  o — 100  m.  Die  Temperatur  hat  insofern  einen  Einfluß 
auf  die  Gestalt,  als  bei  manchen  Arten,  deren  Schale  aus 
organischer  Substanz  —  nicht  aus  Kalk  —  besteht,  die  Kälte 
eine  Vergrößerung  der  Schalen  bewirkt,  so  daß  hier  die  Indi- 
viduen aus  der  Arktis  oder  der  Tiefsee  bedeutend  größer  sind 
als  die  des  tropischen  Litorals.  Bei  Arten  mit  Kalkschale  ist 
dies  Verhältnis  umgekehrt,  indem  hier  die  Wärme  die  Kalk- 
abscheidung  begünstigt  So  waren  die  Nummulitcn,  die  ja 
die  Größe  eines  Talers  erreichten,  Warmwasserbewohner,  so 
daß  man  nach  ihrem  Vorkommen  glaubt,  die  frühere  Richtung 
der  Meeresströmungen  feststellen  zu  können.  Bemerkenswert 
ist,  daß  manche  Arten  sich  an  Brackwasser  mit  bedeutend 
verringertem  Salzgehalt  anpassen  können;  bei  diesen  wird  dann 
auch  die  Kalkschale  bedeutend  reduziert.  Auch  der  Wellen- 
schlag scheint  einen  Einfluß  auf  die  Schalenbildung  zu  haben, 
indem  die  Schalen  um  so  kräftiger  werden,  je  flacher  und 
bewegter  das  Wasser  ist. 

Literatur;  Rhumbler,  L.  ,  Die  F'oraminifcren.  In  Er- 
gebnisse der  Planktonexpedition  Bd.  III,  Abt.  L,  1912.  Dof- 
lein.  F.,  Lehrbuch  der  Protozoenkunde.  Jena.  Steuer,  A., 
I'lanktonkunde.  Leipzig  1909.  Walther,  J,  Einleitung  in 
die  Geologie  als  historische  Wissenschaft.  Jena  1 892.  Stromer 
von  Reichenbach,  E.,  Lehrbuch  der  Paläozoologie.  Bd.  1. 
Leipzig  1910.  May,  W. ,  Korallen  und  andere  gesteinsbil- 
dende Tiere  (Aus  Natur  und   Geisteswelt.     Populär.) 

Dr.  H.  Balß,  München. 


Inhalt:  Lehmann;  Über  Keimverzug.  Bachmann;  Das  Nannoplankton.  —  Einzelberichte:  Vasuhiko  Asahina: 
l'ber  das  Anemonin.  Rudolph;  Verhältnis  des  Binnenraums  des  Schädels,  der  „Schädelkapazilät"  zum  Gehirn. 
Haberlandt;  Barymorphose  und  Statolithentheorie.  v.  Sc  h  ar  f  e  nber  g  ;  Über  die  experimentelle  Beeinflussung  der 
Dauereibildung  und  des  Geschlechts  bei  Cladoceren.  Stingelin;  Neue  tropische  Planktonorganismen  —  Bücher- 
besprechungen: Lorscheid;  Lehrbuch  der  anorganischen  Chemie.  Kadi:  Geschichte  der  biologischen  Theorien 
in  der  Neuzeit.     Wedekind;  Stereochemie.  —  Literatur:  Liste.  —  Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte   und  Zuschriften   werden  an   den   Redakteur  Professor  Dr.  H.Mi  ehe  in  Leipzig,   Marienslrafle    IIa,  erbeten. 

Verlag   von  Gustav   Fischer  in  Jena. 
Druck   der  G.  Pätz'schen  Buchdr.    Lippert   S  Co.   G.  m.  b.  H.,   Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band. 


Sonntag,  den  28.  Juni  1914. 


Nummer  26. 


Die  neuere  Entwicklung  der  Lehre  von  der  chemischen  Affinität. 


[Nachdiuck  verboten.] 


\^on  Werner 


I.  Einleitung.  Das  alte  und  vielbearbeitete 
Problem  der  chemischen  Affinität,  d.  h.  die  Frage 
nach  den  Gesetzen,  denen  das  Wechselspiel  der 
Atome  bei  der  Bildung  der  molekularen  Verbände 
gehorcht,  hat  in  den  letzten  Jahren,  besonders 
dank  den  umfassenden  Arbeiten  von  Walt  her 
Nernst  und  seinen  Schülern,  grundsätzliche  För- 
derung erfahren,  und  so  möge  denn  im  folgenden, 
gewissermaßen  zur  Feier  des  fünfzigsten  Geburts- 
tages von  Nernst,^)  ein  kurzer  Bericht  über  die 
Entwicklung  der  Lehre  von  der  chemischen  Affi- 
nität in  der  neueren  Zeit  erstattet  werden. 

Die  neuere  Affinitätslehre  ist  in  erster  Linie 
durch  die  Anwendung  der  Thermodynamik  auf 
chemische  Vorgänge  gekennzeichnet,  nachdem 
van't  Hoff  als  Maß  für  die  chemische  Affinität 
die  maximale  Arbeit  eingeführt  hatte,  die  der 
chemische  Vorgang  zu  leisten  vermag,  wenn  er 
bei  konstanter  Temperatur  („isotherm")  und  ohne 
Arbeitsverlust  durch  sekundäre  Vorgänge  („rever- 
sibel") verläuft.  Diese  maximale  Arbeit  A ,  die 
auch  als  „freie  Energie"  bezeichnet  wird,  weil  sie 
den  Teil  der  gesamten  umgesetzten  Energie  dar- 
stellt, die  der  Experimentator  ganz  beliebig  zur 
Leistung  äußerer  Arbeit  oder  zu  anderen  Zwecken 
verwenden  kann,  ist,  wie  die  Thermodynamik 
lehrt,  mit  der  Abnahme  /\U,  die  die  Gesamt- 
energie des  reagierenden  Systems  erfährt,  durch 
die  Fundamentalgleichung 


-AU  =  -a-KtQ^, 


(!) 


verbunden,  in  der  T  die  absolute  Temperatur  und 

l-5-=|      den    auf    konstantes    Volumen    bezogenen 

Temperaturkoeffizienten     der     maximalen    Arbeit 
darstellt.  ') 


')  Hermann  Walther  Nernst  wurde  am  25.  Juni 
1864  in  Briesen  in  Westpreußen  geboren.  P>  studierte  1S83 
bis  1887  in  Züricli,  Berlin,  Graz  und  Würzburg  und  ging 
nach  der  in  V\'ürzburg  eifolgten  Promotion  18S7  als  Assistent 
zu  Wilhelm  Ostwald  nach  Leipzig.  Im  Jahre  1889  habi- 
litierte er  sich  in  Leipzig,  wurde  1891  an  die  Universität 
Göttingen  in  das  neu  gegründete  Extraordinariat  für  physika- 
lische Chemie  berufen  und  wirkte  dort  —  seit  dem  Jahre 
1894  als  Ordinarius  —  bis  zum  Jahre  1905,  in  dem  er  als 
Nachfolger  von  Hans  Landolt  als  ordentlicher  Professor 
und  Direktor  des  Instituts  für  physikalische  Chemie  nach 
Berlin  berufen  wurde. 

^)  In  diesem  Bericht  werden  bei  der  Aufstellung  der 
Energiebilanz  sämtliche  dem  reagierenden  System  als  Arbeit 
oder  Wärme  oder  in  irgendeiner  anderen  B'orm  zugeführten 
Energiemengen  als  Gewinn  gebucht  und  darum  mit  dem  Plus- 
zeichen versehen,  während  alle  von  ihm  als  Arbeitsleistung 
oder  Wärmeentwicklung  an  die  .\ußenwelt  abgegebenen 
Energiemengen    auf    das   Verlustkonto  geschrieben  und   darum 


Mecklenburg. 

Die  Abnahme  der  Gesamtenergie  — /\JJ  läßt 
sich  leicht  messen:  sie  ist  gleich  der  Wärme- 
entwicklung —  Q  der  Reaktion,  sofern  bei  der 
Reaktion  auf  Arbeitsleistung  überhaupt  verzichtet 
und  sie  allein  zur  Abgabe  von  Wärme  nach  außen 
benutzt  wird: 

-AU  =  -Q  (2) 

Wir  können  Gleichung  (i)  also  auch  in  der  Form 

-Q  =  -A+Tg4)^  (la) 

schreiben. 

Nun  hatte  man  früher,  bevor  van't  Hoff 
als  Maß  für  die  Affinität  die  maximale  Arbeit 
der  Reaktion  eingeführt  hatte,  im  Anschluß  an 
Thomsen  und  vor  allen  Dingen  an  Berthe - 
1  o  t  die  Wärmeentwicklung  —  O  chemischer  Vor- 
gänge als  Maß  für  die  Affinität  angesehen.  Die 
Gleichung  (la)  zeigt,  daß  das  Berthelot- 
sche  und  das  van't  Hoff  sehe  Maß  im  allge- 
meinen nicht  identisch  sind;  Wärmeentwicklung 
und  maximale  Arbeit  sind  nur  dann  einander 
gleich,  wenn  das  zweite  Glied  auf  der  rechten 
Seite  der  Gleichung  (la) 

T-(dTl  =  ° 
ist,  d.  h.  wenn  entweder  der  Temperaturkoeffizient 
der  Affinität 

|dA\ 

(dT)v  =  ° 
ist  oder    wenn    die  Reaktion    sich  beim  absoluten 
Nullpunkt 

T  =  o 
abspielt.  In  allen  anderen  Fällen  geben  die  beiden 
Meßmethoden  verschiedene  Werte,  und  es  handelt 
sich  daher  um  die  Frage,  ob  die  van't  Hoff- 
sche  oder  ob  die  B  e  r  t  h  e  1  o  t '  sehe  Methode 
zweckmäßiger  ist.  Diese  Frage  ist  dahin  zu  be- 
antworten, daß  als  Maß  für  die  Affinität  nur  eine 
Größe  in  Betracht  kommen  kann,  die  bei  allen 
freiwillig  verlaufenden  Vorgängen  einen  negativen 
Wert  hat,  und  diese  Bedingung  wird  wohl  von 
der  freien  Energie  —  A ,  nicht  aber  von  der 
Wärmeentwicklung  —  O  erfüllt;  kein  einziger  frei- 
willig verlaufender  Vorgang  ist  init  Aufnahme 
von  freier  Energie  verknüpft,  während  viele  frei- 
willig verlaufende  Vorgänge  mit  einer  Aufnahme 
von  Wärmeenergie  verbunden  sind.  Demnach  ist 
die  Berthelot' sehe  Methode  der  Affinitäts- 
messung weniger  zweckmäßig  als  die  van't  Hoff- 


negativ gerechnet  werden.  Die  .^flinität  selbst  muß  darnach 
als  Arbeitsleistung  des  reagierenden  Systems  mit  dem  negativen 
Vorzeichen  versehen  werden. 


402 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  26 


sehe.  Im  folgenden  wird  daher  als  Affinität  einer 
Reaktion  allein  die  maximale  Arbeit  oder  die  freie 
Energie  bezeichnet;  die  drei  Ausdrücke  „Affinität", 
„maximale  Arbeit"  und  „freie  Energie"  werden 
unterschiedslos  nebeneinander  gebraucht  werden. 
2.  Die  Methoden  zur  Messung  der  chemi- 
schen Affinität.  —  Um  die  in  Gleichung  (i)  ent- 
haltene theoretische  Definition  der  chemischen 
Affinität  für  die  Chemie  nutzbar  zu  machen,  muß 
der  Chemiker  außer  der  Änderung  der  Gesamt- 
energie 

-AU  =  — Q  (2) 

vor  allen  Dingen  die  Affinität  A  selbst  auswerten, 
d.  h.  er  muß  erstens  dafür  sorgen ,  daß  die  Re- 
aktion vollkommen  isotherm  und  reversibel  ver- 
laufe, und  zweitens  die  bei  diesem  isothermen 
und  reversibelen  Verlauf  in  maximo  zu  gewinnende 
Arbeit  — A  messen. 

Hier  kommen  vor  allen  Dingen  zwei  Methoden 
in  Frage : 

Die  genaueste  und  bequemste,  leider  aber  nicht 
immer  anwendbare  Methode  der  Affinitätsmessung 
besteht  in  der  Messung  der  elektromotorischen 
Kraft  E,  die  ein  aus  den  reaktionsfähigen  Stoffen 
zweckmäßig  aufgebautes,  isotherm  und  reversibel 
arbeitendes  galvanisches  Element  liefert.  Werden 
in  dem  Element  m  Wasserstofifäquivalente  der 
wirksamen  Stoffe  umgesetzt,  so  ist,  da  bei  der 
Umsetzung  eines  WasserstofTäquivalents  96  540 
Coulomb  durch  das  Element  fließen,  die  maxi- 
male Arbeit  — A,  die  das  Element  bei  der  Um- 
setzung liefert, 

—  A=  —  m -96  540- E- Volt-Coulomb         (3) 
oder,  im  Wärmemaß  ausgedrückt, 
—  A  =  —  m  •  0,2388  •  96  540 •  E  =  —  23046  m  •  E  cal. 

(3a) 
E  ist  nach  bekannten  Methoden  leicht  meßbar, 
m  ist  durch  die  Gleichung  der  in  dem  Element 
ablaufenden  chemischen  Reaktion  gegeben ,  also 
läßt  sich  — A  aus  den  Gleichungen  (3)  oder  (3a) 
berechnen. 

Die  zweite  Methode  beruht  auf  der  Messung 
der  Gleichgewichtskonstanten  reversibler  chemi- 
scher Reaktionen  im  homogenen  System  und 
wird  hauptsächlich  bei  Gasreaktionen,  nicht  selten 
aber  auch  bei  Reaktionen  im  Lösungen  ange- 
wendet. Wenn  eine  Reaktion  im  homogenen 
System  nach  dem  Schema 

5^1     +    ^^2    +    ^'3    +    •    •    •       <=^      Xj     +    X.,    +    Xg     -f-    .    .    . 

bei  konstantem  Volumen  verläuft,  so  ergibt  sich, 
wie  van't  Hoff  gezeigt  hat,  die  maximale  Ar- 
beit, die  die  Reaktion  bei  isothermem  und  rever- 
siblem Verlauf  zu  leisten  vermag,  nach  der  Glei- 
chung (4) 


■A  =  — RTln 


■Cn-c, 


C,  -C^  -Cg 


-RTln 


Cj  •  Cj  -L-g  .. . 


in  der 


(4) 


A  die  Affinität  der  Reaktion 

R  die  Konstante  der  Gasgleichung 

T  die  absolute  Temperatur 


^17  ^2'  *^3 

Cj,C.,,C.,, 


c.,  c. 


C  '  C  '  C  ' 


i3  2 
TD  ^3 

O   a; 


\^,    X.i,    x^  .  .  . 

Molekularkonzen- 


die  Molekularkonzentrationen 
der  Molekülarten  Xj,x.2,x.j ... 
die  Molekularkonzentrationen 
derMolekülartenXj,X.,,X3  ... 
.    die     Molekularkonzen- 
trationen der  Molekül- 
arten  X, 
.     die 

trationen  der  Molekül- 
arten Xj,  X2,  Xg  . . . 
und    In    den    natürlichen    Logarithmus    bedeutet. 
Inir    die    Bildung    von    Wasserdampf   aus    seinen 
Elementen,  die  nach  der  Gleichung 

H2  +  H.3  +  0.3  <i±  H.,0  +  H.jO 
verläuft,  wäre  die  Affinität  also 

chj  •  chj  •  Co,      Ti  -T-1  _  C'h,o -^'hjO 
■c'h,-c'o. 


'S  Pi  _y    w 

j^  t/)  'C  4-1 
y  c  .2  S 

fj     CD 


bß 


-A  =  — RTln 


=  — RTln 


ChjO  •  Ch^o 

C-H,,  -Co,  

C-H..(l 


—  RTln 

Q2 


RTln 


H2O 


C'^H.-C'o, 

wenn  die  c  die  Molekularkonzentrationen  der  als 
Indices  angegebenen  Molekülarten  auf  der  linken 
Seite  der  Reaktionsgleichung,  die  C  die  auf  der 
rechten  Seite  der  Reaktionsgleichung  vor  Beginn 
der  Reaktion  und  die  c'  und  C'  in  entsprechen- 
derweise die  Molekularkonzentrationen  nach  Er- 
reichung des  Reaktionsgleichgewichtes  darstellen. 
Nach  dem  Massenwirkungsgesetz  '')  ist  der  Quotient 
aus  den  Produkten  der  Molekularkonzentrationen 
der  rechten  und  der  linken  Seite  der  Reaktions- 
gleichung im  Reaktionsgleichgewicht  konstant: 

c'    -c'    -c'  ~  ^^'' 

•-  1     <-  2    *-  8  •  •  • 

eine  wichtige  Gleichung,  die,  da  sie  nur  unter  der 
Voraussetzung  konstanter  Temperatur  T  gilt,  als 
Reaktionsisotherme  bezeichnet  wird. 

Setzen  wir  Gleichung  (5)  in  Gleichung  (4)  ein, 
so  erhalten  wir  die  Beziehung 


A  =  — RThw 


*  Co  ■  Co 


—  RTlnk     (6), 


C  .C  -C 

^1    ^2   "^s  •  •  • 

die  die  Affinität  einer  bei  konstantem  Volu- 
men verlaufenden  Gasreaktion  aus  den  Anfangs- 
konzentrationen der  reagierenden  Stoffe  und  der 
durch  die  chemische  Analyse  des  Reaktions- 
gemisches experimentell  zu  ermittelnden  Gleich- 
gewichtskonstanten k  der  Reaktion  zu  bestimmen 
gestattet. 

3.  Die  Integration  der  allgemeinen  Affinitäts- 
gleichung. Nach  dieser  Abschweifung  über  die 
Methoden,  die  der  Chemie  zur  Messung  der  chemi- 
schen Affinität  zur  Verfügung  stehen,  kehren  wir 
zur    allgemeinen   Affinitätsgleichung  (1)   oder  (la) 

-AU=-a+t(^)v=:-o 

zurück.  Die  vollständige  Integration  dieser  Differen- 
tialgleichung ist  offenbar  ohne  weiteres  nicht  mög- 
lich, weil  die  Wärmeentwicklung  Q  der  Reaktion 


')  Vgl.  A.  Orechow,  „Das  Massenwirkungsgesetz  und 
seine  Bedeutung"  (Naturw.  Wochenschrift,  N.  F.  Bd.  VI,  S.  536 
bis  541 ;   1907). 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


403 


ja  keine  Konstante  ist,  sondern  ähnlich  wie  die 
Affinität  selbst  auch  von  der  absoluten  Temperatur 
T  abhängt.  Wir  müssen  uns  also  zunächst  mit 
einer  partiellen  Integration  begnügen: 

(7) 


^      „  f  QdT      ,  „ 


In  dieser  Gleichung  ist  J  die  Integrationskonstante. 
Nun  läßt  sich  die  Abhängigkeit  der  Wärmetönung 
Q  der  Reaktion  von  der  Temperatur  leicht  aus  den 
Änderungen  berechnen,  die  die  spezifischen  Wärmen 
der  an  der  Reaktion  teilnehmenden  und  der  durch 
sie  gebildeten  Stoft'e  mit  der  Temperatur  erleiden: 
Nach  dem  ersten  Hauptsatz  der  Thermodynamik 
ist  der  Temperaturkoeffizient  der  Reaktionswärme 
gleich  der  algebraischen  Summe  der  spezifischen 
Wärmen  der  Reaktionsteilnehmer,  wenn  die  spezi- 
fischen Wärmen  der  reagierenden  Stoffe  auf  der  lin- 
ken Seite  der  Gleichung  mit  positivem,  die  der 
Reaktionsprodukte  auf  der  rechten  Seite  der  Glei- 
chung mit  negativem  Vorzeichen  versehen  werden. 
Da  nun  die  spezifische  Wärme  nur  verhältnismäßig 
langsam  und  vollkommen  kontinuierlich  mit  der 
Temperatur  ansteigt,    kann    die  Abhängigkeit  der 

spezifischen  Wärme       '!i     eines    Stoffes    von    der 

Temperatur  durch  eine  Interpolationsgleichung 
von  der  I'orm 


d.n_ 


dT 


=  a,+ftT  +  y,T^  + 


dargestellt  werden,  in  der  a^  die  spezifische  Wärme 
beim  absoluten  Nullpunkt,  ß^,  Yi  ■  ■  ■  die  Tempe- 
raturkoeffizienten   bedeuten.      Folglich    wird    der 

dQ 


Temperaturkoeffizient    der    Reaktionswärme 


dT 


^=«l+«2+«3+    •••+(A+A.2+,^3+   •    •    OT 


durch  die  Gleichung 

dQ 

dT" 

+  (yi+r-3  +  ;'3+  ...)t^+.  .. 

wiedeigegeben,  die  nach  der  Integration  die  Form 

Q  =  Q„  +  («,  +  a,  +  a,  +  .  .  . )  T  +  ^  (A  +  ß,  + 

ß,+  .  .  .)T^'  +  H;'i  +  J'2  +  ;':i  +  ---)T^+  •  •  • 

oder,  wenn  wir 

«1  +  «2  +  «3  +  •  •  •    =  « 

i  (/i  +  72  +  ^3  +  ■  •  •)  =y 

setzen,  die  Form 

Q  =  Qo  +  «T  +  /Sr^  +  yT3+...  (8) 

annimmt,  in  der  die  Integrationskonstante  Q,,  die 

Reaktionswärme  beim  absoluten  Nullpunkt  bedeutet. 

Durch  Einführung  dieser  Interpolationsgleichung 

(8)  in  die  partiell  integrierte  Affinitätsgleichung  (7) 
und  vollständige  Integration  erhalten  wir 

—  A  =  — Qo  +  öTlnT+,iT-^4-^T3+...— J.T 

Auf  der  linken  Seite  dieser  wichtigen  Gleichung 

(9)  steht  nur  die  chemische  Affinität,  auf  der 
rechten  Seite  aber  außer  den  thermischen  Größen 
Qo)  ''i  ß<  7  ■  •  •  und    T  noch    —    und    das  ist  das 


Wesentliche  —  die  Integrationskonstante  J :  Selbst 
wenn  die  Abhängigkeit  der  Wärmetönung  einer 
Reaktion  von  der  absoluten  Temperatur  bekannt 
ist,  läßt  sich  die  Affinität  der  Reaktion  doch  nicht 
allein  aus  den  thermischen  Größen  berechnen, 
weil  wir  den  Zahlenwert  der  Integrationskonstanten 
J  zunächst  nicht  kennen.  Diesen  können  wir 
nur  experimentell  bestimmen,  indem  wir  A  für 
eine  beliebige  Temperatur  T  messen  und  dann 
J  aus  der  Affinitätsgleichung  (9)  berechnen.  Da- 
gegen gibt  es  keine  Möglichkeit,  J  mit  den  Hilfs- 
mitteln der  klassischen  Thermodynamik,  d.  h.  den 
beiden  Hauptsätzen  allein  zu  berechnen:  Die  Integra- 
tionskonstante J  wird  von  der  klassischen  Thermo- 
dynamik unbestimmt  gelassen.  Um  den  Zahlen- 
wert von  J  auf  theoretischem  Wege  zu  ermitteln, 
bedürfen  wir  etwas  grundsätzlich  Neuem,  das  in 
der  klassischen  Thermodynamik  nicht  enthalten 
ist,  und  dieses  grundsätzlich  Neue  hat  N  e  r  n  s  t 
der  Wissenschaft  geschenkt.  Es  ist  das  N  ernst - 
sehe  Theorem. 

4.  Das  Nernst'sche  Theorem.  Den  Ausgangs- 
punkt für  Nernst's  Überlegungen  bildet  u.  a. 
die  Tatsache,  daß  die  Berthelot 'sehe  Regel, 
nach  der  die  Affinität  einer  Reaktion  ihr  Maß  in 
der  die  Reaktion  begleitenden  Wärmetönung  haben 
sollte,  zwar,  wie  bereits  weiter  oben  dargelegt 
wurde,  keineswegs  ein  allgemeingültiges  Gesetz  ist, 
daß  aber,  wie  N ernst  betont,  „im  großen  und 
ganzen  allerdings  der  Eintritt  von  Reaktionen, 
welche  Wärme  entwickeln,  mit  bedeutend  größerer 
Wahrscheinlichkeit  zu  erwarten  ist  als  derjenige 
endothermischer  Reaktionen,  daß  also  sehr  häufig 
der  Sinn  der  chemischen  Kräfte  mit  dem  zusammen- 
fällt, in  welchem  ein  chemischer  Vorgang  unter 
Wärmeentwicklung  verläuft.  Diese  Regel,  die 
wir  als  unbedingtes  Naturgesetz  durchaus  verwerfen 
mußten,  trifft  in  der  Tat  denn  doch  gar  zu  häufig 
zu,  als  daß  wir  sie  gänzlich  ignorieren  dürften; 
die  unbedingte  Anerkennung  wäre  daher  nicht  ver- 
kehrter als  ihre  gänzliche  Außerachtlassung." 

Versucht  man,  die  integrierte  Affinitäts- 
gleichung (9) 

-A  =  -Q,-|-  «TlnT+/^T'^+^T«+  .  .  .  -  JT 

(9) 
graphisch  wiederzugeben,  so  erhält  man  (vgl.  Abb.  i) 


1 

T3 

C 

<: 


-Ai 

"■■■■r^, 

-Ae: 

■■:A5 

••-A, 

->T 


Abb.   I. 


404 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


je  nach  dem  Zahlenwerte,  den  man  der  Integrations- 
konstanten J  beilegt,  unendlich  viele  Kurven,  Aj, 
A.,,  A.J  .  .  .,  die  nur  darin  übereinstimmen,  daß  sie 
sämtlich  gegen  die  Temperaturachse  konkav  ge- 
krümmt sind  und  sämtlich  im  absoluten  Nullpunkt 
init  der  Kurve  O  zusammentreffen,  die  die  Abhängig- 
keit der  Reaktionswärme  von  der  Temperatur 
darstellt.  Aus  den  unendlich  vielen  Kurven  Aj, 
A.i,  A.;  .  .  .  die  richtige  herauszusuchen,  vermag 
die  klassische  Thermodynamik  nicht. 

N ernst  traf  nun  eine  außerordentlich  glück- 
liche Auswahl  unter  den  A-Kurven.  Aus  der  Tat- 
sache, daß  die  Bert helot'sche  Regel  besonders 
häufig  bei  den  sogenannten  „kondensierten  Reak- 
tionen" zutrifft,  d.  h.  bei  solchen  Reaktionen,  die 
sich  nur  zwischen  reinen  festen  (oder  auch  flüssigen) 
.Stoffen,  also  „im  kondensierten  System"  abspielen, 
an  denen  aber  Gase  oder  Lösungen  nicht  beteiligt 
sind,  bildete  er  sich  die  Vorstellung,  daß  die  A- 
Kurve  und  die  0-Kurve  nicht  nur  beim  absoluten 
Nullpunkt  zusammenfallen,  sondern  daß  sie  sich  — 
diese  Hypothese  gilt  nur  für  kondensierteReaktionen ! 
—  schon  vorher  asymptotisch  nähern.  Da  die 
Krümmung  der  beiden  Kurven  mathematisch  ihr 
Maß  in  den  beiden  Differentialquotienten 

dA       j  dO 

dT  ""'^  df 

hat,  so  wäre  die  Nernst 'sehe  Vermutung  durch 

den  Satz  wiederzugeben,  daß  die  Grenzwerte 

,.      dA         ,  ,.       dQ 

lim  ^pi,    und   hm     -^ 

dT  dl 

für  T  =  O  einander  gleich  werden : 

,.       dA      ,.     dO     ....    T,        , 

hm  -:z^  =  hm  (für  I --o)  (10). 

Durch  diese  Hypothese,  das  Nernst'  sehe 
Theorem,  das,  im  Jahre  1906  aufgefunden,  seit- 
dem sowohl  in  physikalischer  als  auch  in  chemi- 
scher Hinsiclit  vielseitigster  experimenteller  Prüfung 
unterworfen  worden  ist  und  bislang  in  keinem 
einzigen  Falle  versagt  hat  oder  gar  als  unzutreffend 
befunden  worden  ist,  wird  unter  der  Gesamtzahl 
der  A-Kurven  eine  einzige  ausgewählt;  ihren  Ver- 
lauf im  Verhältnis  zur  OKurve  zeigt  das  Diagramm 
in  Abb.  2,  das  die  Abhängigkeit  der  Wärmetöiiung 
Q  und  der  Affinität  A  von  der  absoluten  Temperatur 
für  die  kondensierte  Reaktion  zwischen  kristall- 
wasserfreiem Ferrozyankalium  und  Eis 

KjFe(CN)«  +  3H,,0  =  K,Fe(CN),  •  3H.,( ) 
wiedergibt. 

5.  Die  Anwendung  des  Nernst'schen  Theo- 
rems auf  die  Affinitätsgleichung.  Um  das 
Nernst 'sehe  Theorem  auf  die  Affinitätsgleichung 
anwenden  zu  können,  müssen  wir  zunächst  die 
beiden  Difterentialquotienten 

dA        ,  dQ 

dT  ""^  dT 

berechnen,  in  den  beiden  Gleichungen  dann  T  =  o 

setzen  und  die  beiden  so  erhaltenen  Werte  einander 

gleichsetzen.     Aus    der   Affinitätsgleichung  (9),    in 


der  wir    die  Reihe  hinter  dem  dritten  Gliede  ab- 
brechen, also  der  Gleichung 

-  A  =  -  Qo  +  oTlnT  +  ^T  -'  -  J  F         (9a) 
folgt 

dA 

^y  =  —  ölnT  —  «  —  2/:?T  +  J  (11) 

und    aus    der  ebenfalls    hinter  dem  dritten  Gliede 
abgebrochenen  Interpolationsgleichung  (8) 

y  =  Qü  +  "T  +  ,i'T-^  (Sa) 

folgt 

g  =  «+2iST  (12) 

Für  T  =  0  gehen   die  Gleichungen  (ii)  und  (12) 
in  die  Grenzwerte  über 

dA       ,         , 

:  J  —  «InO—  « 


lim 


dT 


I  la 


und 


,•      dQ 
hm    ,.„=  c( 
d  1 


(12a) 


Diese  beiden  Werte  (iia)  und  (i2a)  sind  nach 
dem  Nernst'schen  Theorem  einander  gleich  zu 
setzen,  also  ist 

J  —  «  Ino  —  a  =  a  (13) 

oder  J  =  «  Ino  ('Sa) 

Nun    ist   der    Logarithmus    von  o   bekanntlich 
negativ  unendlich 

In  O  =  —  00 

Wenn  das  «  einen  endlichen  Wert  hätte,  so 
müßte  die  Integrationskonstante  J  ebenfalls  negativ 
unendlich  werden,  was  offenbar  unzulässig  ist. 
Also  muß  sein 

«  =  0  (14) 


-1500-f 


Abb.  2. 


d.  h.  die  algebraische  Summe  der  spezifischen 
Wärmen  der  Reaktionsteilnehmer  beim  absoluten 
Nullpunkt  ist  gleich  Null,  ein  sehr  überraschender 
Satz,  der  jedoch  durch  direkte  Messungen,  die  im 
Nernst'schen  Laboratorium  in  den  letzten  Jahren 
ausgeführt  worden  sind,  vollkommen  bestätigt 
worden  ist;  Die  spezifische  Wärme  aller  einzelnen 
Stoffe  wird  beim  absoluten  Nullpunkt  gleich  Null, 
also    ist    auch    ihre   algebraische    Summe    gleich 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


40s 


Null  0      Aus  (Tleicliung  (14)   folgt   ohne  weiteres 

J  =  o  (15) 

und  damit  muß  auch 

,.      dA       ,.      dO  .   ,, 

hm  ,^  =  hm;j-4r  =  o  (16) 

dl  dl 

sein,  d.  h.  die  A-  und  die  O-Kurve  triflt  im  Winkel 
von  90"  aut  die  A-  und  0-Achse  des  Koordinaten- 
systems. 

Die  von  der  klassischen  Thermod)-namik  un- 
bestimmt gelassene  Integrationskonstante  J  der 
allgemeinen  Affinitätsgleichung  (9)  hat  also  nach 
dem  N  e  r  n  s  t '  sehen  Theorem  den  Wert  Null,  und 
die  Gleichung  der  Wärmetönung  (Sa)  und  insbe- 
sondere die  Affinitätsgleichung  (9  a)  nehmen  darum 
die  h'ormen 

-Q  =  -Oo-,^T-^  (17) 

und  —  A  =  — Qo+^T^  (18) 

an:  Die  beiden  Kurven  sind  in  der  Nähe  des 
absoluten  Nullpunktes  symmetrisch,  wie  das  Bei- 
spiel in  Abb.  2  ja  auch  zeigt;  bei  höheren  Tempe- 
raturen, wenn  die  anderen  Glieder  hinter  dem 
;:?-Glied,  hinter  dem  die  beiden  Gleichungen  ab- 
gebrochen worden  sind,  nicht  mehr  vernachlässigt 
werden  dürfen,  verschwindet  die  Symmetrie,  wie 
schon  die  Betrachtung  der  Gleichungen  (8)  und  (9) 
erkennen  läßt. 

Das  Ergebnis  dieses  Abschnittes  läßt  sich  in 
folgende  Worte  zusammenfassen;  Durch  das 
Nernst'sche  Theorem  ist  die  Berechnung  che- 
mischer Affinitäten  allein  aus  thermischen  Größen 
wenigstens  für  kondensierte  Reaktionen,  für  die 
allein  ja  die  Gleichung 

dA       ,.     dO  ,...   _         ,  ,     , 

hm  ,^  =  hm     ~(furT=o)  (10) 


dT 


nur  gilt,  möglich  geworden.  Für  kondensierte 
Reaktionen  ist  danach  vom  Standpunkte  des 
Thermodynamikers  aus  das  Problem  der  chemischen 
.Affinität  gelöst,  und  daß  es  damit  im  Prinzip 
auch  für  homogene  Gasreaktionen  (und  Lösungen) 
und  weiter  auch  für  heterogene  Reaktionen  ge- 
löst ist,  werden  die  folgenden  Abschnitte  zeigen. 
6.  Die  Reaktionsisochore.  —  Wie  aus  der 
Gleichung  (6) 

—  A  =  — RTlnk  — RTln  " 


hervorgeht,  hängt  die  maximale  Arbeit,  die  eine 
bei  konstantem  Volumen  verlaufende  homogene 
Gasreaktion  zu  leisten  imstande  ist,  in  hohem 
Maße  von  den  zufälligen  Konzentrationsverhält- 
nissen ab,  in  denen  sich  das  reaktionsfähige  System 
vor  der  Reaktion  befunden  hat,  und  es  hat  daher 
auch  keinen  Sinn,  diese  maximale  Arbeit  zur  Grund- 
lage weiterer  Untersuchungen  zu  machen.  Un- 
abhängig von  den  zufälligen  Konzentrationsverhält- 
nissen aber  ist  die  Gleichgewichtskonstante  k,  und 
an  sie  haben  daher  die  weiteren  Überlegungen 
anzuknüpfen. 

■*)  Vgl.  die  demnächst  in  der  Naturw.  Wochenschrift  er- 
scheinende Besprechung  von  Estreicher,  ,,Die  Kalorimetrie 
der  niedrigen  Temperaturen". 


Um  zunächst  die  Gesetzmäßigkeit,  nach  der 
die  Gleichgerichtskonstante  k  von  der  Temperatur 
abhängt,  kennen  zu  lernen,  führen  wir  den  aus 
Gleichung  (6)  entnommenen  Wert  für  die  Affini- 
tät der  Gasreaktion  und  ihres  Differentialquotienten 

in  die  allgemeine  Affinitätsgleichung 

-Q  =  -A  +  Tp^  da) 

ein  und  erhalten  dann,    indem  wir,  um   Irrtümern 
vorzubeugen,     Qoas    anstatt    O    setzen,    sobald    es 


sich    um 
handelt. 


oder 


die    Wärmetönung    von    Gasreaktionen 


O 


Gas  ■ 


dlnk: 


+  RT- 

Qoas 

RT'- 


dlnk 
dT 

dT 


(19)- 


Um  diese  Gleichung,  die  sog.  „Reaktionsiso- 
chore",  die  die  Abhängigkeit  der  Gleichgewichts- 
konstanten k  von  der  Reaktionswärme  Qg;,^  und  der 
Temperatur  T  angibt,  zu  integrieren,  müssen  wir 
für  Qcas  wieder  eine  Interpolationsgleichung 

Qoas  =  QoGas    +  aT  +  bT'^  (20) 

einsetzen,  in  der  QuGas  wie  früher  die  Reaktions- 
wärme bei  der  absoluten  Temperatur  o  und  a  und  b 
wieder  die  algebraische  Summe  der  spezifischen 
Wärme  der  Reaktionsteilnehmer  und  ihrer  Tempe- 
turkoeffizienten  sind.  Die  integrierte  Form  der 
Reaktionsisochore  ist  dann 

QoGas a  .    „, b , 

RT   ~R  R 

wenn  mit  J'  die  auch  hier  wieder  von  der  klas- 
sischen Thermodynamik  unbestimmt  gelassene, 
mit  der  Konstanten  J  der  nur  für  kondensierte 
Reaktionen  geltenden  Gleichung  (9)  natürlich  nicht 
identische  Integrationskonstante  bezeichnet  wird. 
Die  Auswertung  dieser  Integrationkonstanten  ist 
die  nächste  Aufgabe. 

7.  Die  Auswertung  der  Integrationskon- 
stanten J'  der  Reaktionsisochore.  —  Die  Affinität 
einer  Gasreaktion  läßt  sich,  wie  weiter  oben  dar- 
gelegt worden  ist,  nach  der  Gleichung 


Ink: 


T  +  J'       (19a), 


A  =  — RTln 


c,  -c. 


Uj  •  L.2  •  V'S  ' 


RTlnk      (6) 


aus  den  Anfangskonzentrationen  c^,  c,,,  c. 


und 


C,,  C,  Cg  .  .  .  der  Reaktionsteilnehmer,  der  Gleich- 
gewichtskonstanten k,  der  absoluten  Temperatur  T 
und  der  Gaskonstanten  R  berechnen.  Diese 
Gleichung  (6)  gilt  —  darauf  wurde  bereits  hinge- 
wiesen —  unter  der  Annahme,  daß  die  Reaktion 
bei  konstantem  Volumen  verläuft.  Für  den  F^all, 
daß  die  Reaktion  nicht  bei  konstantem  Volumen, 
sondern  bei  konstantem  Druck  verläuft,  muß  die 
Gleichung  etwas  erweitert  werden,  da  ja  mit  dem 
Verschwinden    und    dem    Neuauftreten    von    Gas- 


406 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


molekülen  bei  konstantem  Druck  eine  Arbeits- 
leistung verbunden  ist:  Für  jedes  verschwindende 
Mol  wird  die  Arbeit  RT  gewonnen,  und  für  jedes 
neu  auftretende  Molekül  muß  die  gleiche  Arbeit 
RT  aufgewendet  werden.  Verschwinden  also  bei 
der  Reaktion  n  Mole  und  werden  gleichzeitig  n' 
Mole  neu  gebildet,  so  ist  der  Arbeitsgewinn 

nRT       n'RT  =  (n  ~  n')RT 
zu  buchen,    so  daß   sich  als   maximale  Arbeit  Ai 
der  Gasreaktion  bei  konstantem  Druck  der  Wert 


Ai 


RTln  ^  '- 


—  RTlnk -|- (n  —  n')RT  (21) 

ergibt. 

Nun  kann  dieselbe  Gasreaklion,  anstatt  sich 
direkt  im  Gaszustande  abzuspielen,  auf  einem  Um- 
wege über  das  kondensierte  System  verlaufen. 
Die  auf  diesem  Umwege  in  maximo  gewinnbare 
Arbeit  —  sie  werde  als  An  bezeichnet  —  be- 
rechnet sich  als  .Summe  folgender  Einzelarbeiten: 

a)  Zunächst  werden  die  Gase,  deren  .Anfangs- 
druck p  sein  möge,  bis  zum  Sättigungsdampfdruck 
p'  komprimiert;  dabei  haben  wir  für  jedes  Mol 
die  Arbeit 

A'i  =  RTln  P' , 
V 
für  alle  Gase  zusammen  also  die  Arbeit 


RTlnP'^  +  .. 

1>3 


A,  =RTlnP'    +RTlnl'-  4 
Pi  P2 

Pi-Ps-Pa--- 
zu  leisten. 

b)  Die  unter  dem  Sättigungsdampfdruck  stehen- 
den Gase  werden  zu  festen  Körpern  oder  reinen 
Flüssigkeiten  kondensiert;  das  bedeutet  für  n  Mole 
den  Arbeitsgewinn 

A.,  =  nRT. 

c)  Nunmehr  lassen  wir  die  Reaktion  im  konden- 
sierten System  vor  sich  gehen,    wobei  die  .Arbeit 

^H  =  Atond. 

geleistet  wird. 

d)  Die  Reaktionsprodukte  —  n'  Mole  —  lassen 
wir  so  verdampfen,  daß  sie  nach  der  Verdampfung 
gerade  wieder  unter  dem  .Sättigungsdruck  P'  stehen. 
Dieser  Vorgang  schenkt  der  Außenwelt  die  .Arbeit 

A,  =  —  n'RT. 

e)  Die  unter  dem  Sättigungsdruck  P'  stehenden 
Gase  werden  dilatiert,  bis  sie  wieder  unter  dem 
Anfangsdruck  P  stehen,  ein  \'organg,  bei  dem  das 
System  die  Arbeit 

?'  .P'  .P' 

^  1  ■  ^  2  ■  ^  3  •  •  • 
leistet. 

Der  Gesamtarbeitsertrag  An,  den  die  Reaktion 
auf  diesem  Umwege  leistet,  ist  also 

-  A„  ^  A,  +  A.,  +  A3  +  A,  +  A, 


RTln 


Pi-Po-Pa 


+  nRT  -  Ak 


Pi-P-2-p3  •  •  • 

P' 
RTln     ' 


n'RT 


P'  .P' 

P    .  P 


oder,  wenn  wir  an  Stelle  der  Anfangs-  und  End- 
dampfdrucke pj,  p.j,  pa  .  .  .  und  P],  P.,,  P.5  ...  die 
Konzentrationen  in  der  früheren  Bezeichnung 
Cj,  c.,,  C3  .  .  .  und  C, ,  Cj,  Co  .  .  .  und  an  Stelle  der 
Sättigungsdampfdrucke  p'j,  p',,,  p'g  . . .  und  V\,  V\, 
P'3  ...  die  Konzentrationen  der  gesättigten  Dämpfe 
J'i'  72'  "/i  ■■■  und  I\,  I'o,  Tg...  einführen  und  die 
zusammengehörigen  Glieder  zusammenfassen, 


-A, 


—  RTln 


•  c, -c. 


C  j  •  Ug  •  L3  , 


-RTln^ 

ri-j'2 


-Aucui. +  (n-n')RT 

Da  sich  nun  beide  Reaktionen ,  die  direkte 
wie  die  indirekt  über  das  kondensierte  System 
verlaufende,  bei  konstantem  Druck  isotherm  und 
reversibel  abgespielt  und  beide  vom  gleichen  An- 
fangs- zum  gleichen  Endzustand  geführt  haben, 
so  müssen  auch  die  maximalen  Arbeiten  gleich 
sein: 

— Ai  =  —  Au. 

Also  ist  auch 


-RTlnAlMj 


=  — RTln 


RTln 


c  .c  .r 
^1  ^2  ^3  •  • 

Ci-Cj-C,... 

r  .r  .r 

v,j    ^2   ^3  •  • 

i\-r,-i\.. 

RTlnk  -|-(n  — n')RT 
+  (n-  n')RT 


—  A 


kond. 


ode 


—  RTlnk  =  — RTln '^'■''i^:'^--Ako.j  (22) 

■/i-y-i-Y-i--- 

Die  Gleichgewichtskonstante  einer  Gasreaktion 
läßt  sich  also  aus  der  Affinität  der  kondensierten 
Reaktion  und  den  Konzentrationen  berechnen,  die 
die  bei  der  Reaktionstemperatur  T  gesättigten 
Dämpfe  der  Reaktionsteilnehmer  besitzen.  Um 
sie  allein  aus  thermischen  Daten  berechnen  zu 
können ,  müssen  wir  also  schließlich  noch  die 
Konzentration  der  gesättigten  Dämpfe  als  Funk- 
tion nur  thermischer  Größen  ausdrücken. 

Wenden    wir    die    Gleichung    der    Reaktions- 
isochore 

.<2oG3._a,_^.j._b^_^j,        (.9a) 


Ink^ 


RT         R 


R 


auf  den  Verdampfungsvorgang  an,  so  ist  k  gleich 
der  Konzentration  des  gesättigten  Dampfes  /', 
-(-OyGas  gleich  der  latenten  Verdampfungswärme 
—  L„  beim  absoluten  Nullpunkt,  während  die  Tem- 
peraturkoeffizienten a  und  b  der  Wärmetönung  Qc.ns 
gleich  den  Temperaturkoeffizienten  A  und  B  der 
Verdampfungswärmen  zu  setzen  sind.  Wenden  wir 
auf  die  Temperaturkoeffizienten  A  und  B  den  be- 
reits weiter  oben  benutzten  Satz  an,  daß  der 
Temperaturkoeffizient  der  Reaktionswärme,  hier 
also  der  Verdampfungswärme,  gleich  der  algebra- 
ischen Summe  der  spezifischen  Wärmen  der  Re- 
aktionsteilnehmer,   also    der    der    Flüssigkeit    und 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


407 


der  des  gesättigten  Dampfes  ist,  so  gilt  für  jeden 
einzehien  Stoft: 

dl 

=  (A*Uo,Kl.  —  A*r,as)  +(Bkond.  —  Bcas)  T, 

wenn  durcli  die  Indices  „kond."  und  „Gas"  der 
A'TCTregatzustand  bezeichnet  wird,  auf  den  sich  die 
Ternperaturkoeffizienten  beziehen  und  der  Stern 
bei  A*ko,ui.  und  A*Gas  davor  warnt,  die  Temperatur- 
koeffizienten A*kond.  und  A*Gas  rnit  den  Affinitäten 
Akond.  und  Aoas  z"  verwechsehi. 

^A/ir   erhalten    danach    für    das    erste    Gas    die 
Gleichung 

I     (Bjkond. BiGas)  . 


In/', 


R 


T  +  L 


(23) 


-RTln''   '^— ''-^-Akund.  (22) 

«-•-■•  =  ln/\+ln/,  +  lny,+   ... 


in  der  I,  wieder  die  von  der  klassischen  Thermo- 
dynamik unbestimmt  gelassene  Integrationskon- 
stante ist.  Analoge  Gleichungen  gelten  für  die 
anderen  Gase.  Führen  wir  alle  diese  Gleichungen 
(23)  in  die  Affinitätsgleichung 

/  1  ■  /'■_>  ■  /s  ■ 
ein,  so  erhalten  wir,  da 

—  Inj'i 
ist,  die  Gleichung 

-  RT  Ink  =  +  A,  —  (A*kond.  —  A*Gas)  T  In  T 
—  (Bk„„d.  —  BGas)  l'  —  I<-Ti  —  Akond.  (24) 

in  der 
'•0  ==  L,,,  -j-  L(,.,  -|-  Ly;5  -|-  •  • .        ''-ui       ''•02       '■US       •  ■  • 

(A^kond.  A'-"'Gas)  ^  (A'^jkoiul.  A*jGas)  -f"  ( A*.,kond. 

—  A*„Gas)   +    (A*3kond.    —    A^Gas)   +   •  .  .  —    (ajkond. 

3lGas) (a2kond.  SaGasj  (a3koiid.  ^^Gasj  •■   • 

(Bkond. Egss)  =  (Bl  kond. —  B,  Gas)  "T  (B2kond. B.,  Gas) 

+  (Bakond.  BgGas  )  +  ■  .  . (blkond. b,  Gas) 


'nj'2 


In  73 


—  (b.,k 


J2G, 


s) (bakond. 


■'s  Gas 


:)-•■• 


und 
ist. 


^Ii+l2+l3  +  - 


Nun  ist 

_  —  Akond.  =  -  Qokond.  +  ßT-'  (  1  S) 

oder,  da  ja  ß  gleich  der  Summe  der  Temperatur- 
koeffizienten der  spezifischen  Wärme  der  festen 
Stofie,  also  mit  dem  soeben  als  Bkond.  bezeichneten 
Gliede  identisch  ist, 

Akund.  = QoUund.  -|-  Bkond.  •  T  '  (  1  8a  ) 

also  ist 

—  RT  Ink  =  —  Q„kond.  +  A„  —  (Akond.  —  Acas)  TlnT 

(Bkond.  Bkond.  Bgis)  T" Rl  i 

oder,  da,  wie  wir  früher  gesehen  haben, 

Akond.  =  ö  =  0  (141 

ist 

-  R'I-  Ink  =  -  O.kond.  +  K  +  AGas  T  In  T  +  BnasT- 

-RTi  (24a) 

wenn    wir   mit    —  Q„kond.    die  Wärmetönung    der 


kondensierten  Reaktion   bezeichnen ;  dieses  Uokon.i. 
ist    natürlich    nicht  identisch    mit  dem  O, 


((Gas 


der 
Gleichung  (19  a),  denn  in  dieser  bedeutet  ja  QoGas 
die  Wärmeentwicklung  bei  der  Gasreaktion:  Die 
beiden  Wärmetönungen 

Qokond._  und    Qo  Gas 

müssen  scharf  unterschieden  werden. 

Sind  nunQiikond.  und  Qo  Gas  auch  nicht  identisch, 
so  stehen  sie  doch  in  sehr  engen  Beziehungen  zu- 
einander, wie  wir  sogleich  ersehen,  wenn  wir  die 
Wärmetönung  einer  Reaktion  einerseits  im  kon- 
densierten System,  andererseits  nach  Vergasung 
des  reaktionsfähigen  Systems  im  Gaszustande 
messen  und  die  Energiebilanz  der  beiden  Vorgänge 
aufstellen.  Im  ersten  Falle  ist  die  Änderung  der 
gesamten  Energie  — /\U  gleich  der  Wärme- 
entwicklung     Quond. 

,AU  ^  Qkond. 

Im  zweiten  Falle  haben  wir  zunächst  n  Mole- 
küle zu  vergasen,  was  erstens  die  Zuführung  der 
latenten  Verdampfungswärme 

erfordert  und  zweitens  mit  der  Arbeitsleistung 

—  nRT 
verknüpft   ist.      Nun    folgt    die  Reaktion    im  Gas- 
zustande mit  der  Wärmeentwicklung 

-  ÜGas 

und  schließlich  wird   wieder  kondensiert,  ein  Vor- 
gang,   bei    dem    die    latente  Verdampfungswärme 

-(Li+I..,  +  L, +...)  =  -L 
nach  außen  abgegeben  und  die  Arbeit 
-f  n'RT 

Enereiebilanz    der 


ganzen 


gewonnen    wird.      Die 
Rcaktionsfolge  ergibt  sich  also  zu 

;.  _  n  RT  —  QGas  —  I^  +  n'  RT 
Die  Energiebilanz  muß  in  beiden  Fällen  das  gleiche 
Endergebnis  haben,  d.  h.  es  ist 

-  Qkond  =  0^  -  L)  —  (n  -  n'i  RT  CjGas  (25  > 
Diese  Gleichung  gilt  für  jede  beliebige  Tempe- 
ratur T;  für  den  absoluten  Nullpunkt  folgt  aus  ihr 


Q„ 


Qn 


6) 


wenn  wir  wie  vorher  die  algebraische  Summe  der 
Verdampfungswärmen  l  — 
punkt  mit  /.„  bezeichnen. 
Gleichung  (24a)    geht 
Gleichung 


,  beim  absoluten  Null- 
demnach    über    in    die 


—  RTlnk 


-  K  -  Q, 


II  Gas 


oder 


-4-BGasT-^-RTi 


+  A„  4- AGas  TlnT 


Ink: 


Q, 


oGas 


Ar 


MnT- 


.^l^T  +  i 


(24  b) 


(24c). 


RT  R 

Diese  Gleichung  (24c)  ist  offenbar  identisch  mit 
der  integrierten  Gleichung  der  Reaktionsisochoren 

Ink^^^^^-|lnT-J^T  +  J'  (iga) 

denn  a  und  b  sind  ja  genau  wie  AGasUnd  Bgss 
die  Summe  der  spezifischen  Wärmen  der  an  der 
Reaktion  teilnehmenden  Gase 

a  =  A  Gas 

und  die  Summe  ihrer  Temperaturkoeffizienten 

b  =  BGas- 


4o8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


P'olglicli   ist 

J'=i  (26) 

d.  h.  die  thermodynamisch  unbestimmte  Inte- 
grationskonstante J'  der  Reaktionsisochore  ist  gleich 
der  algebraischen  Summe  der  Integrationskon- 
stanten der  Gleichungen,  die  für  die  einzelnen  an 
der  Reaktion  teilnehmenden  oder  durch  sie  ent- 
stehenden Gase  die  Konzentrationen  der  ge- 
sättigten Dämpfe  als  Funktion  der  Temperatur 
und  der  Verdampfungswärmen  beim  absoluten  Null- 
jjunkt  darstellen: 

J'  =  i  =  Ji+J-2+J3 +  ■•■-!,--!.-!.-•■■  (26a). 
Die  theoretische  Berechnung  der  Integrationskon- 
stanten i  selbst  ist  bisher  nicht  möglich  gewesen; 
wir  sind  also  auf  ihre  empirische  Bestimmung 
angewiesen. 

8.  Die  Berechnung  der  Gleichgewichts- 
konstanten heterogener  Reaktionen.  —  Nach- 
dem durch  das  Nernst'sche  Tlieorem  die  Be- 
rechnung der  Affinität  kondensierter  Reaktionen 
und  die  Affinität  homogener  Gas-  (oder  Lösungs-) 
Reaktionen  ermöglicht  worden  war,  bot  die  Be- 
rechnung der  Affinität  heterogener  Reaktionen,  d.h. 
solcher  Reaktionen,  die  sich,  wie  z.  B.  die  Ent- 
wicklung von  Gasen  aus  festen  Körpern,  im 
heterogenen  System  abspielen,  keine  -Schwierig- 
keiten mehr.  Wie  sich  die  Gleichgewichtskon- 
stante einer  Gasreaktion  beim  Übergang  zu  einer 
heterogenen  Reaktion  verändert  und  sich  die 
Gleichgewichtskonstante  der  heterogenen  Reaktion 
aus  der  der  homogenen  Reaktion  berechnen  läßt, 
soll  im  folgenden  gezeigt  werden. 

Bei  einer  heterogenen  Reaktion  ist  —  das  ist 
das  wesentliche  —  in  der  Gasphase  (oder  der 
Lösung)  die  Konzentration  derjenigen  Reaktions- 
teilnehmcr,  die  gleichzeitig  als  Bodenkörper  vor- 
handen sind,  konstant.  Die  Gleichgewichtskonstante 
der  reinen  Gasreaktion 

C  -C  -C 
k  = —^-—^— '---'- ''  (k) 

nimmt  also,  wenn  z.  B.  die  beiden  Stoffe,  deren 
Konzentration  in  der  Gasphase  C,  und  c'..  beträgt, 


gleichzeitig    Bodenkörper 
System  sind,  den   Wert 

C-K', 


dem     heterogenen 


c'i  •  C,  •  k'3 


an,  wenn   wir 


C,  =  konstant  ^  K'.^ 
und  c'.j  =  konstant  =  k'^ 
setzen.     Ziehen    wir   die    Konstanten  K',_,    und  k'., 
in  die  Gleichgewichtskonstante  k  hinein,  so  erhalten 
wir  die  Gleichgewichtskonstante  K  der  heterogenen 
Reaktion 


K  =  k 


3 


oder 


cV 


7) 


In  K  =  In  k  +  ( In  k'3  —  In  K'., )  (2;  a) 

Der  natürliche  Logarithmus  der  Gleichgewichts- 
konstanten einer  heterogenen  Reaktion  ist  dem- 
nach gleich  dem  natürlichen  Logarithmus  der 
Gleichgewichtskonstanten,    die    dieselbe    Reaktion 


besitzen  würde,  wenn  sie  als  reine  Gasreaktion 
verliefe,  plus  der  algebraischen  Summe  der  mit 
dem  richtigen  Vorzeichen  versehenen  natürlichen 
Logarithmen  derjenigen  Stoffe,  die  als  Boden- 
körper im  System  vorhanden  sind. 

9.  Schlu§bemerkungen.  —  In  den  vorstehen- 
den Abschnitten  ist  gezeigt  worden,  wie  sich,  dank 
der  zweckmäßigen  Definition  der  chemischen 
Affinität  als  maximaler  Arbeitsleistung  durch 
van't  Hoff  und  dank  insbesondere  der  Auffindung 
des  Nernst 'sehen  Theorems  die  Lehre  von  der 
chemischen  Affinität  in  neuerer  Zeit  entwickelt 
hat:  Die  klassische  Thermodynamik  hat  eine  Diffe- 
rcntialformel  für  die  chemische  Affinität  gegeben,' 
die  bei  der  Integration  dieser  Differentialformel 
auftretende  Integrationskonstante  aber  unbestimmt 
lassen  müssen.  Nernst  hat  den  beiden  Haupt- 
sätzen der  klassischen  Thcrmodj'namik  einen  neuen 
Hauptsatz,  das  Nernst 'sehe  Theorem,  beigesellt, 
der,  wohl  als  gleichberechtigt  neben  den  beiden 
ersten  Hauptsätzen  stehend,  die  Auswertung  der 
Integrationskonstanten  wenigstens  für  kondensierte 
Reaktionen  ermöglicht  hat.  h'ür  kondensierte 
Reaktionen  hat  die  Integrationskonstante  den  Wert 
Null.  Damit  ist  das  IVoblem  der  chemischen 
Affinität  kondensierter  Reaktionen  vom  Stand- 
punkte des  Tliermod)'namikers  aus  als  definitiv 
gelöst  anzusehen,  besonders  wenn  man  berück- 
sichtigt, daß  sich  an  Stelle  der  Interpolations- 
gleichung, die  wir  hier  aus  Bequemlichkcitsgründeii 
für  die  Abhängigkeit  der  Reaktionswärme  von  der 
Temperatur  benutzt  haben,  aus  der  Ouantenthcorie 
eine  rationelle  Formel  ergeben  hat.  Bei  Gas- 
reaktionen spielt  die  Affinität  an  sich  eine  geringere 
Rolle,  weil  die  maximale  Arbeit,  die  die  Reaktion 
zu  leisten  vermag,  in  hohem  Maße  von  den  zu- 
fälligen Konzentratioiisverhältnissen  abhängt,  unab- 
hängig von  den  zufälligen  Konzentrationen  aber 
ist  die  Gleichgewichtskonstante.  Für  Berechnung 
der  Abhängigkeit  der  Gleichgewichtskonstanten 
von  der  Temperatur  hat  die  klassische  Thermo- 
d\'namik  ebenfalls  eine  Differentialgleicliung  ge- 
liefert, die  bei  der  Integration  ebenso  wie  die 
allgemeine  Affinitätsgleichung  eine  Gleichung  mit 
einer  von  der  klassischen  Thermodynamik  wieder 
unbestimmt  gelassenen  Integrationskonstanten  er- 
gibt. Diese  Integrationskonstante  ist  gleich  der  alge- 
braischen Summe  der  natürlichen  Logarithmen  der 
Konzentrationen  der  gesättigten  Dämpfe  der  Re- 
aktionsteilnehmer bei  der  Reaktionstemperatur.  Sie 
läßt  sich  daher  auch  aus  den  uns  bis  jetzt  allein 
zur  Verfügung  stehenden  Interpolationsgleichungen 
berechnen,  die  die  Abhängigkeit  der  Konzentration 
der  gesättigten  Dämpfe  von  der  Temperatur  an- 
geben; diese  Interpolationsgleichungen  enthalten 
als  Integrationskonstanten  eine  Größe,  die  für  die 
betreffende  chemische  Molekülart  charakteristisch, 
unabhängig  aber  von  ihrer  Erscheinungsform,  also 
unabhängig  davon  ist,  ob  der  Stoff  flüssig  oder 
fest  ist,  ob  er  diesem  oder  jenem  Kristallsystem 
angehört.  Der  Wert  dieser  stoftlichen  Konstanten 
läßt    sich    aus    thermischen    Größen    bisher    nicht 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


409 


berechnen.  Für  den  rhcrniodynamiker  ist  also 
das  Problem  der  Affinitcät  für  nichtkondensierte 
Reaktionen  noch  nicht  vollständig  gelöst. 

Zum  Schluß  sei  darauf  hingewiesen,  daß  die 
thermodynamische  Betrachtung  chemische  Reak- 
tionen bisher  nicht  vollständig  zu  charakterisieren 
o-estattet.  Besonders  vermag  die  Thermodynamik 
nur  wenig  über  die  Geschwindigkeit  chemischer 
Reaktion  zu  sagen,  und  darum  entzieht  sich  vor 
allen  Dingen  die  Chemie  der  Kohlenstoffver- 
bindungen, die  durch  verhältnismäßig  sehr  große 
Beständigkeit  der  Komplexe  und  im  allgemeinen 
sehr  geringe  Umwandlungsgeschwindigkeit  ge- 
kennzeichnet ist,  der  auf  die  Thermodynamik  be- 
gründeten Erforschung.  Die  große  Mehrzahl  der 
organischen  Stoffe  lassen  sich  als  Xichtgleich- 
gewichtszustände  thermodynamisch  nicht  be- 
handeln, ja  sie  sind  vom  Standpunkte  des  Thermo- 
d3-namikers  aus  betrachtet  eigentlich  überhaupt 
nicht  existenzfähig,  haben  eigentlich  gar  nicht  das 
Recht   zu    existieren.     In  F^ällen    dieser  Art    führt 


eine  andere  Betrachtungsweise,  die  Atom-  und 
Molekulartheorie  weiter;  sie  hat  die  organische 
Chemie  geschaffen,  vor  der  die  Thermodynamik 
heute  noch  ratlos  steht. 

Literatur. 

Außer  der  Originalliteratur  und  dem  bekannten  Lehrbuch 
von 

Walt  her  Nernst  ,, Theoretische  Chemie  vom  Stand- 
punkte der  Avogadro'schen  Regel  und  der  Thermodynamik", 
VlI.   Auflage,  Stuttgart    1913, 

kommen  für  diejenigen,  die  sich  für  das  nähere  Studium  der 
Lehre  von  der  chemischen  Affinität  interessieren,  noch  folgende 
Werke  in  Betracht: 

Walther  Nernst,  ,,Experiniental  and  Theoretical  Ap- 
plications of  Thermodynamics  to  Chemistry",  X  und  123  Seiten 
kl.  8",   London   1907  ; 

lUto  Sackur,  „Die  chemische  Affinität  und  ihre  Messung", 
Vlll   und    129  Seiten,   kl.  S",   Braunschvvcig   1908; 

F.  Pollitzer:  „Die  Berechnung  chemischer  Affinitäten 
nach  dem  N  e  r  ns  t '  sehen  Wärmetheorem",  170  Seiten,  gr.  8°, 
Stuttgart   1912; 

Ivarl  Jellinek,  „Physikalische  Chemie  der  homogenen 
und  heterogenen  Gasreaktionen  unter  besonderer  Berücksich- 
tigung der  Stvahlungs-  und  (Juantcnlchre,  sowie  des  Nernst'schcn 
Theorems",  XIV  und  844  Seiten,  gr.  8",  Leipzig   1913. 


Eiuzelberichte. 

Anthropologie.     Die  „blonden  Eskimo".     Ge-      der    Existenz    eines  Eskimovolkes,    das    bis    dahin 
egentlich  seiner  ersten  Reiste  nach  dem^ktischen      "o^h    gar    nicht    mit   Weißen    in    Berührung    ge- 


.Amerika  erfuhr  Vilhjalmur  Stefansson  von 


kommen   war  und  augenscheinlich  manche  interes- 


.Abb.    I.      Eine   Gruppe   von   Victorialand-Eskimos. 
(Aus  Stefansson,   „My  Life  with  the  Eskimo";    Verlag  Macmillan,  London  und  Xew  York.) 


410 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


sante  Eigenarten  besaß.  Wo  diese  Eskimo  hausten, 
war  nicht  genau  festzustellen,  aber  Stefansson 
nahm  an,  es  müsse  sich  um  Bewohner  der  großen 
Victoria-Insel  handeln,  die  als  menschenleer  ge- 
golten hatte.  Um  mit  dem  unbekannten  Volk  in 
Verbindung  zu  treten,  unternahm  Stefansson 
mit  Unterstützung  des  amerikanischen  Museums 
für  Naturgeschichte  in  den  Jahren  1908  — 1912  eine 
zweite  Forschungsexpedition  nach  dem  fernen 
Norden,  auf  der  er  von  dem  Zoologen  Dr.  R.  M. 
Anderson  begleitet  wurde.  Über  diese  Reise 
berichtet  Stefansson  in  dem  Buch  „My  Life 
with  the  Eskimo",  das  eben  bei  Mac  mi  11  an  in 
London  und  New-York  erschien  (IX  u.  527  S.,  mit 


sie  mit  den  Eskimo  überein,  aber  ihre  helle  Pig- 
mentation  fällt  sofort  auf,  obzwar  sie  es  auch  er- 
klärlich macht,  warum  Eskimo,  die  mit  den  Leuten 
von  Victorialand  in  Verkehr  stehen,  nichts  Sonder- 
bares an  Stefansson 's  hellbraunem  Bart  und 
seinen  blauen  Augen  fanden,  sondern  ihn  einfach 
als  Eskimo  betrachteten  —  hatten  sie  docli  solche 
Eskimo  schon  gesehen ! 

Blaue  Augen  kommen  bei  den  Bewohnern  der 
Victoria-Insel  vor,  aber  sehr  selten.  Unter  einer 
Bevölkerung  von  fast  1000  Personen  wurden  nur 
etwa  10  beobachtet,  die  blaue  Augen  hatten. 
Doch  ist  zu  bedenken,  daf3  sonst  die  Irisfarbe  der 
Eskimo    tiefdunkelbraun    ist.      Das    Kopfhaar    ist 


Abb.   2.      Frauen  und   ein  Mann  vom  Prinz-Albert-Sund. 
[(Aus  Stefansson,  ,,My  Life  with  llie  Eskimo";   Verlag  Macmillan,  London  und  Xew  York.) 


vielen  Tafeln  und  2  Karten;  Preis  17  Schillinge) 
und  sich  durch  reichen  Inhalt  wie  gediegene  Schreib- 
weise auszeichnet,  so  daß  man  es  zu  den  besten 
.Stücken  der  Literatur  über  Polarreisen  zählen  darf. 
Das  Buch  trägt  wesentlich  zur  Bereicherung  und 
Berichtigung  unserer  anthropologischen,  ethno- 
graphischen und  geographischen  Kenntnis  der  ark- 
tischen Gebiete  .Amerikas  bei. 

Stefansson 's  wichtigstes  Ergebnis  ist  die 
Entdeckung  der  „blonden  Eskimo".  Sie 
leben  auf  der  Victoria-Insel,  an  der  Dolphin-  und 
Unionstraße  und  dem  Prinz  Albertsund,  in  einem 
äußerst  dürftigen  Kulturzustande.  In  ihrer  Klei- 
dung, ihrer  Sprache  und  ihren  Handlungen  stimmen 


niemals  goldblond,  wie  etwa  bei  typischen  Skan- 
dinaviern, aber  viele  Personen  haben  dunkelbraunes 
oder  rostrotes  Haar.  Die  Barthaare  zupfen  viele 
Männer  aus,  so  wie  es  die  Indianer  tun;  von  den 
bärtigen  Männern  hatten  jedoch  zahlreiche  hell- 
braune Barte.  Die  Augenbrauen  sind  bei  nahezu 
der  Hälfte  der  Personen  dunkelbraun  bis  ganz 
hellblond.  Doch  ist  nicht  allein  die  helle  Pigmen- 
tierung der  Victoria-Insulaner  auffallend,  sondern 
auch  ihre  Kopfform.  Bei  den  typischen  Eskimo 
ist  das  Gesicht  breiter  als  der  Plirnschädel ;  bei 
den  blonden  Eskimo  aber  ist  das  Verhältnis  um- 
gekehrt: die  Stirn  ist  breiter.  Auch  sonst  gemahnt 
die  Erscheinung  vieler  Personen  an  Europäer.    Der 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


411 


Gedanke  ist  naheliegend,  daß  man  es  hier  mit 
Nachkommen  verschollener  europäischer  Forscher 
zu  tun  haben  könnte,  namentlich  mit  Nachkommen 
von  Angehörigen  der  Franklin-  Expedition.  Aber 
von  allen  Stämmen  dieses  Gebiets  sind  wohl  nur 
drei  mit  jenen  Forschern  in  Berührung  gekommen 
und  es  leben  unter  ihnen  noch  Männer,  die  sich 
des  Ereignisses  erinnern,  ohne  daß  sie  von  einer 
Vermischung  berichten  könnten.  Überdies  wiirde 
eine  solche  Vermischung  so  wenig  ausgiebig  ge- 
wesen sein,  daß  sie  keine  auffallende  Änderung 
des  physischen  Typus  herbeizuführen  vermocht 
hätte.  Stefansson  sagt,  es  ist  nun  über  100 
Jahre,  seitdem  die  Eskimo  im  westlichen  Alaska 
mit  den  Russen  in  Kontakt  kamen.  Über  ein 
halbes  Jahrhundert  lang  stehen  sie  mit  den  ameri- 
kanischen Walfischfängern  in  Verkehr,  worunter 
sich  manchmal  an  1000  weiße  Männer  befanden; 
viele  von  diesen  ließen  sich  dauernd  im  Norden 
nieder  und  heirateten  Eskimofrauen;  doch  von 
ihren  Nachkommen  ist  ein  großer  Teil  vom  rein- 
blütigen  Eskimo  nicht  zu  unterscheiden  und  im 
ganzen  haben  die  Gruppen,  unter  denen  die  Misch- 
linge leben,  nichts  von  Europäerähnlichkeit.  —  Für 
wahrscheinlicher  hält  Stefansson,  daß  die  blon- 
den Eskimo  Nachkommen  der  ersten  europäischen 

—  nämlich  norwegischen  —  Ansiedler  auf  Grön- 
land sind.  Kurz  nach  870  wurde  Island  von  Nor- 
wegern besiedelt  und  über  ein  Jahrhundert  später, 
985,  zogen  isländische  Kolonisten  nach  dem  von 
Erich  dem  Roten  entdeckten  Grönland.  Jahr- 
hunderte hindurch  bestanden  rege  Handelsbeziehun- 
gen zwischen  Grönland  einerseits  und  Island  sowie 

■  Norwegen  andererseits;  ferner  ist  sicher,  daß  die 
Kolonisation  Grönlands  auch  zur  ersten  Entdeckung 
Amerikas  Anlaß  gab.  Doch  die  im  Jahre  1294 
erfolgte  Monopolisierung  des  Grönlandhandels  ver- 
nichtete nicht  bloß  den  Wohlstand  der  Kolonie, 
sondern  führte  schließlich  dazu,  daß  sie  ganz  von 

j  der  Verbindung  mit  Europa  abgeschnitten  wurde. 
Über  das  Schicksal  der  norwegischen  Kolonisten 
in  Grönland  ist  nichts  Sicheres  bekannt.  Soviel 
steht  fest,  daß  sie  um  die  Mitte  des  14.  Jahrhun- 
derts von  Eskimo  bedroht  wurden,  die  von  Norden 
her  vordrängten.  Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß 
die  in  den  Kämpfen  mit  den  Eskimo  überlebenden 
Kolonisten  es  schließlich  vorzogen,  auszuwandern 

—  und  das  Polareis  mag  ihnen  als  Weg  nach 
Westen  gedient  haben,  bis  die  Wanderung  auf  der 

,    Victoria-Insel  ihren  Abschluß  fand. 

Es  könnte  wohl  auch  gesagt  werden,  daß  die 
„blonden  Eskimos"  das  Ergebnis  einer  „Mutation" 
seien;  doch  bleibt  erst  abzuwarten,  ob  der  Nach- 
weis des  Auftretens  von  Mutationen  beim  Menschen 
und  der  Entstehung  neuer  Menschenrassen  durch 
Mutation  tatsächlich  erbracht  werden  wird.  S  t  e  f  ä n  s - 
son  bemerkt,  daß  auch  kein  Grund  für  die  An- 
nahme vorhanden  ist,  die  tellurischen  Bedingungen 
auf  der  Victoria-Insel  seien  der  Hervorbringung 
und  Erhaltung  einer  blonden  Variation  besonders 
günstig;  denn  die  Lebensbedingungen,  die  hier  die 
Erde  darbietet,    sind   in    keiner  Weise  von    denen 


verschieden,    wie    sie    in   den  von    echten   Eskimo 
bewohnten  Gebieten  herrschen. 

Stefansson  ist  noch  vor  dem  Erscheinen 
seines  hier  erwähnten  Buches  wieder  in  die  ark- 
tische Eiswelt  gezogen  und  man  darf  gespannt 
auf  die  weiteren  Resultate  seiner  Forschungen 
warten.  H.  Fehlinger. 

Physiologie.  Das  Verhältnis  der  nötigen 
Nahrungsmenge  zur  Außentemperatur.  Mira- 
mond de  Laroquette  (Variations  de  la  ration 
alimentaire  et  du  poids  du  corps  sous  l'action  du 
rayonnement  solaire  dans  les  diverses  Saisons. 
Nutrition  par  la  chaleur,  C.  R.  Ac.  sc.  Nr.  8,  23  fev. 
1914)  machte  diesbezüglich  genaue  Feststellun- 
gen an  Meerschweinchen.  Die  Tiere  wurden  in 
einem  Glaskäfig  auf  einer  Terrasse  in  Algier  ge- 
halten. Sie  bekamen  als  Futter  täglich  dieselbe 
Ration  von  100  g  Grünfutter.  Aus  einem  Rezi- 
pienten  konnten  sie  so  viel  Hafer  nehmen,  als  sie 
fressen  wollten.  Sie  wurden,  anfangs  täglich,  später 
an  jedem  vierten  Tage  gewogen.  Auf  100  g 
Körpergewicht  berechnet  wurde  Hafer  genommen: 
im  Frülijahr  und  Herbst  (bei  einer  Durchschnitts- 
temperatur von  22")  3  g,  im  Winter  (Temperatur 
15")  4  g.  irn  Sommer  (Temperatur  30")  2  g.  Das 
Körpergewicht  nahm  vom  Juni  an  ab  und  stieg  wieder 
im  Oktober.  Bemerkenswert  ist  die  Gewichts- 
zunahme vom  Februar  bis  Juni,  obgleich  die  Hafer- 
kurve von  4,2  auf  2,7  g  sank.  Es  scheint  L,  daß 
das  Steigen  der  Luftwärme  und  der  Sonnenstrah- 
lung ausgleichend  gewirkt  hat.  Im  Herbst  sank 
das  Körpergewicht,  obgleich  die  Haferkurve  stieg. 
Im  Sommer  war  die  Verminderung  des  Körper- 
gewichts nicht  proportional  zur  Haferkurve;  letz- 
tere fiel  auf  1,6.  Es  hat  die  Herabsetzung  des 
Körpergewichts  ihren  Grund  wahrscheinlich  in  der 
sehr  gesteigerten  Wasserabgabe. 

Die  Gewichts-  und  die  Haferkurve  kommen  sich 
am  nächsten  im  Mai  und  November,  gehen  dagegen 
am  weitesten  auseinander  in  der  Zeit  vom  20.  August 
bis  10.  September,  als  die  Temperatur  in  Algier 
durchschnittlich  34"  betrug.  L.  glaubt,  daß  auch  bei 
den  homöothermen  Tieren,  wie  bei  den  Pflanzen 
und  den  heterothermen  Tieren,  die  Schwankungen 
im  Nahrungsbedürfnis  der  Außentemperatur  ent- 
sprechen, weil  die  Strahlenenergie  der  Sonne 
von  den  Tieren  absorbiert  und  ausgenutzt  werde 
wie  von  den  Pflanzen.  Es  erkläre  dies  gewisse 
Wirkungen  der  Lichtbäder  und  entspreche  dem 
geringen  Nahrungsbedürfnis  des  Menschen  in  süd- 
lichen Ländern.  So  kämen  die  Eingeborenen  in 
Südalgerien  mit  200 — 300  g  Mehl  oder  Datteln 
aus,  entsprechend  1200 — 1500  Kalorien,  statt  3000 
Kalorien  in  Mitteleuropa.  In  Abessinien  und  Java 
genügten  1160  und  1240  Kalorien,  statt  140c  in 
den  südlichen  gemäßigten  Ländern.  Die  Wärme- 
strahlung, selbst  von  künstlichen  Wärmequellen, 
sei  imstande,  den  Geweben  direkt  Energie  zu 
liefern;  es  könnte  dadurch  die  Nahrung  teilweise 
ersetzt  werden.  In  hygienischer  Beziehung  werde 
die  Nützlichkeit    eines  verschiedenen  Regimes   im 


412 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


Winter  und  im  Sommer,  in  kalten  und  in  warmen 
Ländern,  bei  Arbeit  und  bei  Ruhe  verständlich. 
Im  ersten  Fall  muß  es  reichlicher  sein,  um  mehr 
Kalorien  zu  enthalten,  während  es  im  zweiten  Fall 
wasserreicher  sein  müsse,  um  dem  Wasserverlust 
bei  hoher  Temperatur  die  Wage  zu  halten.  \^om 
therapeutischen  Standpunkte  aus  würden  die  Liege- 
kuren in  der  Sonne  bei  gleichzeitiger  Herabsetzung 
des  Regimes  verständlich. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  Ausführungen  sieht 
Louis  L  a  p  i  c  q  u  e  (Sur  l'economie  d'aliment  rcali- 
sable  par  Fclcvation  de  la  tempcrature  exterieure, 
C.  R.  Äc.  sc.  Nr.  10,  9  mars  1914)  in  den  genannten 
Erscheinungen  durchaus  nichts,  was  uns  veranlassen 
könnte,  von  den  bisherigen  .•Anschauungen  abzu- 
weichen und  von  einer  direkten  Ausnutzung  der 
strahlenden  Wärme  zu  sprechen.  Die  homöother- 
men  Tiere  (V^ögel,  Säugetiere)  verlieren  fortwährend 
durch  Ausstrahlung  VVärme;  diese  Körperwärme 
muß  ersetzt  werden,  und  zwar  ist  der  Verlust  um 
so  größer,  je  kälter  die  Umgebung  ist.  Wird  sehr 
viel  Wärme  abgegeben,  so  muß  auch  entsprechend 
viel  Nahrung  aufgenommen  werden. 

Im  allgemeinen  ist  die  bei  der  Muskeltätigkeit 
erzeugte  Wärme  nicht  ausreichend,  um  die  Wärme- 
abgabe an  die  Umgebung  zu  decken.  Diese  muß 
daher,  um  die  Körperwärme  konstant  zu  erhalten, 
durcli  eine  erhöhte  Nahrungsaufnahme  gedeckt 
werden.  Es  kann  dies  auch,  außer  durch  die  bei 
der  Muskeltätigkeit  entstehende  Wärme,  auf  andere 
Weise  geschehen,  z.  B.  durch  den  elektrischen  Strom 
(Diathemie). 

Bei  warmem  Wetter  ist  weniger  Nahrung  nötig, 
weil  der  Wärmeverlust  des  Körpers  geringer  ist. 
Umgekehrt  muß  bei  Kälte  mehr  Nahrung  auf- 
eenommen  werden,  vor  allem  solche,  die  mög- 
liehst  viele  Kalorien  enthält.  Die  Bewohner  der 
Polargegenden  müssen  deshalb  viel,  namentlich 
fett  essen  (Tran),  während  der  Mensch  in  Süd- 
algerien, der  halb  nackt  in  der  Sonne  ausgestreckt 
liegt,  mit  200 — 300  g  Mehl  oder  Datteln  aus- 
kommen kann,  ungefähr  1200 — 1500  Kalorien  statt 
der  für  den  Europäer  nötigen  3000.  Larguier 
des  Bancels  fand,  daß  bei  einer  Taube  die  Tages- 
ration bei  9"  80  Kalorien,  bei  25  "  nur  55  Kalorien 
enthalten  mußte.  Lapicque  nahm  entsprechende 
Versuche  mit  einer  Reihe  von  Körnerfressern  vor. 
Der  Bengalifink,  der  nur  7 — 8  g  wiegt,  braucht 
bei  einer  Temperatur  von  39  "  nur  -/g  der  Futter- 
ration, die  er  bei   16"  nötig  hatte. 

Als  sekundäre  Geschlechtsmerkmale  bezeich- 
nete man  nach  H  u  n  t  e  r  alle  Verschiedenheiten 
zwischen  den  beiden  Geschlechtern  einer  Art, 
außer  den  Keimdrüsen  selbst,  welche  als 
primäre  davon  unterschieden  wurden.  Zahl- 
reiche V^ersuche  der  letzten  Zeit  haben  indes  er- 
geben, daß  man  damit  zwei  ganz  verschiedene 
Gruppen  von  Eigenschaften  unter  einem  gemein- 
samen Terminus  zusammenfaßte.  Es  ergab  sich 
nämlich,  daß  die  einen  Charaktere  von  Anfang  an 
unveränderlich    und    ebenso  primär    sind    wie    die 


Keimdrüsen  selbst,  während  die  anderen  vom  Vor- 
handensein der  Geschlechtsdrüsen  abhängen.  Sie 
werden  offenbar  durch  ein  „Hormon"  bestimmt,  das 
von  jenen  ausgeht.  Während  beim  kastrierten 
Hahn  der  Kamm  klein  bleibt  wie  beim  Huhn, 
entwickelt  sich  das  Gefieder  und  der  Sporn  wie 
beim  Hahn.  Dadurch  wird  bewiesen,  daß  der 
Kamm  vom  Vorhandensein  der  Geschlechtsdrüse 
abhängig  ist,  während  die  anderen  Geschlechts- 
charaktere davon  unabhängig  sind.  A.  P  e  z  a  r  d 
(Developpement  experimental  des  ergots  et  crois- 
sance  de  la  crete  chez  les  femelies  des  Gallinaces, 
C.  R.  .Ac.  sc,  Paris,  16  fev.  1914)  untersuchte  nun, 
ob  das  Fehlen  des  Sporns  beim  Huhn  durch 
einen  verhindernden  Einfluß  des  Eierstocks  bedingt 
würde.  Er  entfernte  bei  4  von  5  Hühnern  die  Eier- 
stöcke.    Beim    ersten  wurden    die    Eierstöcke   am 

1.  Juli  191 3  entfernt;  die  Sporen  erschienen  im 
Oktober  desselben  Jahres,  zu  derselben  Zeit,  wie 
bei  den  gleichalterigen  Hähnen  und  erreichten 
8  mm  Länge.  Die  Autopsie  im  Januar  19 14  er- 
gab ein  vollständiges  Fehlen  der  Eierstöcke.    Beim 

2.  Huhn,  das  im  Oktober  und  November  noch 
keine  Sporen  besessen  hatte,  erschienen  solche 
nach  der  Ovariotomie  am  9.  Dezember  und  hatten 
am  I.Februar  1914  bereits  eine  Länge  von  5  mm 
erreicht.  Beim  3.  Huhn,  das  am  3.  Oktober  1913 
kastriert  worden  war,  zeigte  sich  bis  zum  9.  Januar 
1914  keine  Spur  eines  Sporns.  Bei  einer  Wieder- 
holung der  Operation  fand  sich  ein  Rest  des  Ova- 
riums;  nach  dessen  Entfernung  erschienen  die 
Sporen  und  hatten  im  Februar  bereits  3  mm  Länge 
erreicht.  Das  4.  Huhn  wurde  nicht  operiert  und 
blieb  spornlos.  Ebenso  ein  5.  Tier,  bei  dem  die 
Eierstöcke    nur    teilweise    entfernt    worden   waren. 

Das  Erscheinen  der  Sporen  wird  beim  normalen 
Huhn  also  verhindert  durch  einen  vom  Eierstock 
ausgehenden  Einfluß. 

Bezüglich  des  Kamms  kann  man  nicht  das 
gleiche  sagen,  da  er  klein,  weich  und  wenig  ge- 
färbt blieb  wie  bei  normalen  Hühnern.  Beim 
4.  und  5.  Huhn  trat  eine  bemerkenswerte  Rück- 
bildung im  Dezember  ein,  während  bei  den  anderen 
der  Kamm  zu  wachsen  fortfuhr. 

Es  bildet  dies  eine  Bestätigung  der  Beobach- 
tungen von  G.  Smith,  wonach  der  Kamm  in 
Beziehung  zur  Tätigkeit  des  Eierstocks  steht. 

Kathariner. 

Astronomie.  Über  die  dunklen  Stellen  in 
der  Milchstraße  hat  Knox  Shaw  (Observatory 
471,  1914I  Untersuchungen  angestellt.  Die  An- 
sicht, daß  diese  Höhlen  oder  tunnelartige  Löcher 
seien,  hat  nur  für  wenige  Stellen  Gültigkeit.  Sehr 
oft  sind  die  schwarzen  Stellen  mit  Nebelmassen 
verbunden ,  und  diese  lagern  um  einen  helleren 
Stern  herum.  Neben  solchen  Nebeln  findet  sich 
oft  ein  starker  Mangel  an  Sternen,  die  paar  Sterne 
sind  dann  meist  veränderlich.  Auch  solche  Nebel 
sind  in  manchen  Fällen  veränderlich.  Bedenkt 
man,  daß  diese  Sternleeren  oft  in  Sternhaufen 
sich  finden,  .so  muß  man  zugeben,  daß  eine  große 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


413 


Wahrscheinlichkeit  vorliegt,  daß  von  den  helleren 
Sternen  Nebelmassen,  Gase  ausgestoßen  werden, 
die  sich  dann  abkühlen  und  nun  als  lichtabsor- 
bierendes Medium  wirken.  So  zeigt  eine  Auf- 
nahme des  großen  Sternhaufens  Messier  8  zahl- 
reiche kleine  Fleckchen,  die  noch  dunkler  sind  als 
der  dunkle  Himmelshintergrund,  so  daß  man  un- 
mittelbar den  Eindruck  eines  Schleiers  erhält,  der 
vor  diesem  Sternliaufen  liegen  muß ,  und  durch 
seine  flockige  Struktur  den  beschriebenen  Eindruck 
hervorruft.  Freilich  soll  diese  Erklärung  nicht  für 
alle  Löcher  in  der  Milchstraße  gelten,  aber  sicher 
dort,  wo  die  Sterne  in  oder  am  Rande  der  Stern- 
leere veränderlich  sind.  Riem. 

Die  Leistungsfähigkeit  des  großen  Lickrefrak- 
tors  wird  durch  die  Entdeckung  und  Ausmessung 
immer  engerer  Doppelsternpaare  bezeugt.  Die 
soeben  herausgegebene  21.  Liste  enthält  die 
Nummern  2601 — 2700  der  dortgemessenen  Sterne 
(Lick  Obs.  Bull.  251).  Es  befinden  sich  darunter 
Paare  von  0,16  Sek.  Distanz,  die  noch  gut  ge- 
trennt werden,  und  deren  Positionswinkel  ge- 
messen werden  kann.  Die  Paare  gehören  meist 
der  8. — 9.  Größe  an,  die  Begleiter  werden  bis  zu 
der  14.  Größe  geschätzt.  Riem. 

Botanik.  Ein  merkwürdiger  Mikroorganismus. 
In  leicht  schwefelwasserstoffhaltigen  Gewässern 
entdeckte  Buder  (Ben  d.  Deutsch.  Botan.  Gesell- 
schaft, Generalversammlungsheft  1913,  S.  80)  ein, 
gewöhnlich  in  Gesellschaft  von  Schwefelbakterien, 
namentlich  Chromatien  vorkommendes,  außer- 
ordentlich merkwürdiges  Kleinwesen.  Es  sind 
zylindrische,  winzige,  in  ihrer  Bewegung  sehr  an 
Chromatien  erinnernde  Gebilde  von  einer  eigen- 
tümlichen, durch  kleine  grüne  Körnchen  hervor- 
gerufenen, granulären  Struktur.  Ein  eingehendes, 
mit  geeigneter  Präparation  verbundenes  Studium 
bei  sehr  starker  Vergrößerung  hatte  das  über- 
raschende Ergebnis,  daß  es  sich  gar  nicht  um 
einen  einheitlichen  Organismus,  sondern  um  eine 
Symbiose  handelte.  Buder  konnte  (vgl.  die  Ab- 
bildung) ein  farbloses,  stäbchenartiges,    mit    einer 


1II 


a  b 

Chloronium  mirabilc. 
a  normale  .\nsicht,  b  die  isolierten  Symbiunten,   Geißelfärbung. 
3000 fache  Vergrößerung.    (Nach  Buder.) 

endständigen  Geißel  versehenes,  zentrales  Klein- 
lebewesen unterscheiden  und  auf  seiner  Oberfläciie, 
es  mit  einem  lockeren  Mantel  umgebend,  eine 
Anzahl    winzigster    grüner   Kügelchen    oder   Stäb- 


chen, über  deren  Struktur  sich  nichts  Näheres  fest- 
stellen ließ.  Wie  diese  Symbiose  zustande  kommt 
und  welche  physiologische  Bedeutung  sie  hat, 
wird  erst  durch  weitere  Untersuchungen  des  Ver- 
fassers endgültig  festgestellt  werden  können.  Die 
grünen  kokkenartigen  Gebilde  scheinen  Chloro- 
phyll zu  enthalten  und  auch  wirklich  assimilieren 
zu  können.  Miehe. 

Chemie.  Die  kolorimetrische  Bestimmung  des 
Schwefelwasserstoffs  in  Form  des  Methylenblaus 
ist  von  Werner  Mecklenburg  und  Felix 
Rosenkränzer  einer  eingehenden  Untersuchung 
unterzogen  worden,  über  die  im  folgenden  kurz 
berichtet  werden  möge  (Zeitschr.  f.  anorg.  Chem., 
Bd.  86,  S.   143—153,   1914). 

Als  bei  weitem  empfindlichste  Reaktion  auf 
Schwefelwasserstoff  ist  von  Emil  Fischer  die 
Bildung  des  von  H.  C  a  r  o  entdeckten  Methylenblaus 


empfohlen  worden,  das  bei  der  Oxydation  eines 
Gemisches  von  Schwefelwasserstoff  und  Dimethyl- 
p-phenylendiaminsulfat 


(CH3),N- 


H    H 


I      I 
H    H 


-NH.-HaSOi 


mittels   Ferrichlorid    in    ziemlich    stark    salzsaurer 
Lösung  nach  der  Gleichung 
2(CH3).,N-C6H3-NH2.H.2S04  +6FeCl3  +  H,S  = 


.N\v 
^S' 


(CH3),N .  C,H,\'yC,U, :  N(CH3  l^Cl  +  2  H,S0,  + 


NH,Cl  +  6FeCL+4HCl 
entsteht.  Da  sich  dasMethylenblau,  ein  äußerst  inten- 
siver, reinblauer  Parbstoff,  wie  die  meisten  anderen 
Farbstofi'e  gut  kolorimetrieren  läßt,  lag  es  nahe, 
die  Reaktion  auch  für  die  quantitative  Bestimmung 
des  Schwefelwasserstoffs  nutzbar  zu  machen.  Der 
Verwirklichung  dieses  Gedankens  treten  jedoch 
erhebliche  Schwierigkeiten  in  den  Weg:  Zunächst 
zeigte  sich,  daß  das  bei  der  Reaktion  entstehende 
Methylenblau  —  vermutlich  infolge  der  bei  der 
analytischen  Reaktion  allein  in  Frage  kommenden 
starken  Verdünnung  der  Lösungen  —  gegenüber 
dem  reinen  Blau  des  technischen  Methylenblaus 
einen  leicht  grünlichen  Ton  aufweist  und  sich  m.it 
wässerigen  Lösungen  des  reinen  Methylenblau  im 
Kolorimeter  überhaupt  nicht  vergleichen  läßt;  man 
muß  daher  an  Stelle  von  Lösungen  technischen 
Methylenblaus  zum  Vergleich  eine  Serie  von  Lö- 
sungen benutzen,  die  unter  den  für  die  analj-tischen 
Bestimmungen  in  Betracht  kommenden  Bedingungen 


414 


Naturwissenschaitliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


mit  bekannten  Schwefelwasserstoffmengen  her- 
gestellt sind.  Ferner  stellte  sich  heraus  —  und 
das  ist  das  Wichtigste  — ,  daß  die  Intensität  der 
Blaufärbung  nicht  nur  von  der  Menge  des  vor- 
handenen Schwefelwasserstoffs,  sondern  in  sehr 
erheblichem  Maße  auch  von  den  speziellen  Ver- 
suchsbedingungen, so  von  der  Reihenfolge,  in  der 
die  Reagentien  (Schwefelwasserstoffwasser,  Salz- 
säure, Dimethyl-p-phenylendiaminsulfat  und  Ferri- 
chlorid)  gemischt  werden,  von  der  Temperatur 
und  von  der  Konzentration  des  Diaminsulfats  und 
des  Ferrichlorids  abhängt,  eine  Tatsache,  die  auch 
ein    recht     beträchtliches    theoretisches    Interesse 


besitzt.  Hält  man  nun  aber,  was  praktisch  leicht 
zu  erreichen  ist,  die  angegebenen  Bedingungen 
konstant,  arbeitet  also  bei  konstanter  Temperatur 
und  mit  konstanter  Menge  von  Diaminsulfat  und 
Ferrichlorid ,  so  erweist  sich  die  Blaufärbung  als 
streng  proportional  der  Schwefelwasserstoffmenge 
und  ist  daher  als  deren  einfaches  und  sicheres 
Maß  anzusehen.  Es  gelang  so,  von  G  bis  3000  /<g  ^) 
Schwefelwasserstoff  im  Liter  mit  der  Normal- 
genauigkeit kolorimetrischer  Messungen  zu  be- 
stimmen. Mg. 


')  1  /lg  =  0,001  mg. 


Bücherbesprechungen. 


Planck,  Max,  Neue  Bahnen  der  physikali- 
schen Erkenntnis.  Rede,  gehalten  beim 
Antritt  des  Rektorats  der  Friedricli -Wilhelm- 
Universität  Berlin.  Leipzig,  Joh.  Ambr.  Barth, 
1914. 

Mit  besonderer  Freude  wird  es  stets  in  der 
gesamten  gebildeten  Welt  begrüßt,  wenn  einer 
von  denen,  die  ganz  vorn  in  der  ersten  Reihe 
der  Pioniere  der  Wissenschaft  arbeiten,  das  Wort 
ergreift,  den  Wesr  zu  weisen,  der  zur  letzteroberten 
Stelle  führt,  ohne  die  Schwierigkeiten  und  Um- 
wege zu  fordern ,  die  die  ersten  Kämpfer 
hatten  überwinden  müssen.  Max  Planck  hat 
in  seiner  Rektoratsrede  in  kurzen  kräftigen  Strichen 
das  Gebäude  der  modernen  Physik  gezeichnet  und 
es  muß  ein  hoher  Genuß  gewesen  sein  ihm,  der 
als  F"orscher,  Lehrer  und  Redner  gleich  bedeutend 
ist,  zuzuhören.  Im  folgenden  sei  kurz  sein  Ge- 
dankengang wiedergegeben : 

Er  geht  aus  von  dem  verwirrend  raschen  und 
wohl  noch  nicht  ganz  geklärten  Vorwärtsdringen 
der  neuesten  physikalischen  P'orschung.  Doch 
bedeuten  die  tiefgreifenden  prinzipiellen  Ände- 
rungen nichts  weniger  als  ein  Zusammenstürzen 
des  Gebäudes  der  Physik.  Im  Gegenteil  —  ge- 
rade die  wesentlichsten  und  wichtigsten  Funda- 
mente :  der  Energiesatz,  das  Prinzip  der  Erhaltung 
der  Bewegungsgröße,  das  Prinzip  der  kleinsten 
Wirkung,  die  Hauptsätze  der  Thermodynamik, 
haben  ungeahnte  glänzende  Bestätigungen  gefun- 
den. Die  Axt  wurde  nur  gelegt  an  meist 
als  selbstverständlich  empfundene  und  kaum  aus- 
gesprochene Annahmen.  So  hat  die  Entdeckung 
des  Radiums  den  Glauben  an  die  Unveränderlich- 
keit  der  Atome  zerstört,  die  Erkenntnis,  daß  die 
Lichtgeschwindigkeit  im  Räume  unabhängig  von 
der  Bewegung  der  Lichtquelle  konstant  ist,  hat 
mit  der  Annahme  der  Unabhängigkeit  von  Raum 
und  Zeit  aufgeräumt,  und  schließlich  hat  der  Satz 
von  der  Stetigkeit  der  dynamischen  Wirkungen 
fallen  müssen : 

,, Stellen  wir  uns  ein  Gewässer  vor,  in  welchem 
starke  Winde  einen  hohen  Wellengang  erzeugt 
haben.     Auch  nach  völligem  Aufhören  der  Winde 


werden  die  Wellen  noch  eine  geraume  Zeitlang 
sich  erhalten  und  von  einem  Ufer  zum  anderen 
wandern.  Aber  dabei  wird  sich  eine  gewisse 
charakteristische  Veränderung  vollziehen.  Die 
Bewegungsenergie  der  längeren,  größeren  Wellen 
wird  sich  besonders  beim  Aufschlagen  ans  Ufer 
oder  an  andere  feste  Gegenstände,  in  immer 
steigendem  Maße  in  Bewegungsenergie  von  kür- 
zeren und  feineren  Wellen  verwandeln,  und  dieser 
Prozeß  wird  so  lange  andauern,  bis  schließlich  die 
Wellen  so  klein,  die  Bewegungen  so  fein  geworden 
sind,  daß  sie  sich  dem  äußeren  Anblick  vollständig 
entziehen.  Das  ist  der  allbekannte  Übergang  der 
sichtbaren  Bewegung  in  Wärme,  der  molaren 
Bewegung  in  molekulare,  der  geordneten  Be- 
wegung in  ungeordnete;  denn  bei  der  geordneten 
Bewegung  haben  viele  benachbarte  Moleküle  eine 
gemeinschaftliche  Geschwindigkeit,  während  bei 
der  ungeordneten  jedes  Molekül  seine  besondere 
und  besonders  gerichtete  Geschwindigkeit  besitzt. 
Der  hier  geschilderte  Zersplitterungsprozeß  geht 
aber  nicht  ins  Unendliche  weiter,  sondern  er  findet 
seine  natürliche  Grenze  in  der  Größe  der  Atome. . . . 
Nun  denken  wir  uns  einen  anderen ,  ganz 
analogen  Vorgang  sich  vollziehen,  aber  nicht  mit 
den  Wellen  des  Wassers,  sondern  mit  solchen 
der  Licht-  und  Wärmestrahlung,  indem  wir  etwa 
annehmen,  daß  die  von  einem  stark  glühenden 
Körper  emittierten  Strahlen  durch  passende 
Spiegelung  in  einen  gut  abgeschlossenen  Hohl- 
raum eingesammelt  worden  sind  und  dort  zwischen 
den  reflektierenden  Wänden  des  Raumes  beständig 
hin  und  hergeworfen  werden.  Auch  hier  wird 
sich  eine  allmähliche  Umwandlung  der  Strahlungs- 
energie \'on  längeren  Wellen  zu  kürzeren,  von  ge- 
ordneter Strahlung  in  ungeordnete  vollziehen; 
den  längeren,  gröberen  Wellen  entsprechen  die 
ultraroten  Strahlen,  den  kürzeren ,  feineren  die 
ultravioletten  Strahlen  des  Spektrums.  Man  muß 
also  nach  der  klassischen  Theorie  erwarten,  daß 
die  ganze  Strahlungsenergie  sich  schließlich  auf 
den  ultravioletten  Teil  des  Spektrums  zurück- 
ziehen wird,  oder  mit  anderen  Worten,  daß  die 
ultraroten    und   auch   die   sichtbaren  Strahlen  all- 


N.  F.  Xni.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


415 


mählich  ganz  verschwinden  und  sich  in  unsicht- 
bare, vorwiegend  nur  chemisch  wirksame  ultra- 
violette Strahlen  verwandeln. 

„Von  einem  solchen  Phänomen  ist 
nun  aber  in  der  Natur  keine  Spur  zu 
entdecken.  Die  Umwandlung  erreicht  vielmehr 
früher  oder  später  ihr  ganz  bestimmtes,  genau 
nachweisbares  Ende"  ....  und  das  läßt  sich 
nur  erklären  durch  die  Annahme,  daß,  wie  die 
Atome  mechanisch  unteilbar  zusammenhalten, 
so  auch  gewisse  Elementarquanten  der  Strahlungs- 
energie nicht  mehr  sich  weiter  zersplittern,  son- 
dern gleichsam  als  Energieatome  beisammenbleiben. 

Eine  gewaltige  Stütze  erhält  diese  Theorie 
dadurch,  daß  auch  die  Thermodynamik  keinen 
anderen  Weg  zum  Verständnis  der  Temperatur- 
abhängigkeit der  spezifischen  Wärme  weiß  als 
den,  ebenfalls  diese  Elementarquanten  der  Energie 
anzunehmen.  Wenn  erst  ein  ganzes  solches 
Quantum  beisammen  sein  muß,  ehe  es  abgegeben 
werden  kann,  dann  ist  ohne  weiteres  ersichtlich, 
daß  bei  sehr  tiefer  Temperatur  die  Temperatur 
eines  Körpers  durch  eine  viel  kleinere  Energie- 
menge um  einen  Grad  gesteigert  werden  kann 
(denn  er  gibt  ja  eben  viel  schwerer  Wärme  wieder 
ab)  als  bei  hoher  Temperatur,  bei  der  stets  genug 
Energie  im  Atom  steckt,  daß  im  günstigen  Mo- 
ment ein  Quantum   ausgeschleudert  werden  kann. 

Bräuer. 

Eggeling,  H.,  Physiognomie  und  Schädel. 
Samml.  anat.  u.  physiol.  Vorträge  und  Aufsätze, 
2.  Bd.,  4.  Heft.  Jena,  Gustav  Fischer. 
Die  Grundlinien  des  Gesichtes  sind  zwar 
durch  die  Skelettunterlage  bedingt,  aber  viele  Be- 
obachtungen zeigen,  daß  für  die  Einzelheiten  der 
Gesichtsbildung  das  Verhalten  der  Weichteile  von 
größtem  Einfluß  ist.  An  einer  Reihe  von  Beispielen 
untersucht  der  Verfasser,  welchen  Anteil  die  den 
Schädel  bedeckenden  Weichteile  in  ihrer  Gesamt- 
heit und  in  einzelnen  ihrer  Bestandteile  an  der 
Gestaltung  des  Gesichtsausdruckes  besitzen.  Das 
Material,  das  für  den  Zweck  zur  Verfügung  steht, 
ist  noch  recht  spärlich  und  es  bedarf  dringend 
eines  regeren  Betriebes  der  Weichteileforschung. 
Man  kann  v.  E.  vollauf  zustimmen,  wenn  er  sagt, 
daß  neue  praktische  PVagen  und  wissenschaftliche 
Gesichtspunkte  uns  die  Unzulänglichkeit  der  viele 
Jahrhunderte  alten  Kenntnisse  menschlicher 
Anatomie  vor  Augen  führen  und  eine  intensive 
Wiederaufnahme  der  Forscherarbeit  auf  einem 
scheinbar  gründlich  bekannten  Gebiet  notwendig 
machen.  Das  Vorhandensein  von  Rassen- 
unterschieden  im  Bau  der  Kopfweichteile  ist 
ganz  gewiß,  aber  es  ist  erst  in  wenigen  Fällen 
an  ihre  wissenschaftlich  einwandfreie  Feststellung 
gegangen  worden.  Arbeiten  auf  dem  Gebiet 
sind  jedoch  mindestens  so  sehr  erforderlich  wie 
die  Pflege  der  Skelettmessung.        H.  Fehlinger. 


gegeben  von  W.  Lietzmann  und  A.  Witting  XlV.j. 

IV  und  67  Seiten  mit  82  Fig.  im  Text.     B.  G. 
Teubner,  Leipzig   19 14. 

Das  Bändchen  nimmt  eine  Zwischenstellung 
zwischen  den  Wissensgebieten  der  Mathematik, 
und  zwar  dem  Abschnitt  der  darstellenden  Geo- 
metrie und  der  Geographie  ein,  von  der  die 
Topographie  als  Unterabteilung  in  Frage  kommt. 
Es  werden  die  Prinzipien  der  kotierten  Projektionen 
besprochen  und  an  kurzen,  einfachen  Beispielen  er- 
läutert. Dann  werden  Anwendungen  auf  die 
Topographie  gemacht,  indem  ständig  das  Interesse 
des  Autors  bei  der  mathematischen  Darstellung 
bleibt,  auf  die  Schlußfolgerungen  aber  wenig  ein- 
gegangen wird.  So  werden  Aufgaben  wie  Auf- 
schüttung eines  Dammes,  Tunnelmündungen  usw. 
erläutert.  Der  folgende  Abschnitt  lehrt  die  Dar- 
stellung komplizierter  Raumgebilde,  teilweise  rein 
mathematischer  Flächen  oder  Kurven,  in  Isohypsen- 
form. Auch  die  Aufgaben  und  Anwendungen,  die 
der  Schlußabschnitt  bietet,  lassen  rein  mathema- 
tiche  Fragen  in  den  Vordergrund  treten.  So 
wird  der  Mathematiker  Anregungen  und  neue  Bei- 
spielsgruppen aus  dem  Schriftchen  ernten,  der 
Kartograph  aber  nur  wenige  ihn  interessierende 
Fragen  behandelt  sehen.  W.  Behrmann. 


Rothe,  R.,   Darstellende    Geometrie    des 
Geländes.    (Mathematische  Bibliothek,  heraus- 


Bronsart  v.  Schellendorf,  Fritz,  Novellen  aus 
der  afrikanischen  Tierwelt.  2.  Aufl., 
Leipzig  1914,  E.  Haberland. 
Der  Verfasser  macht  hier  den  eigenartigen 
Versuch,  die  ostafrikanische  Tierwelt  dadurch  zu 
schildern,  daß  er  einige  der  wichtigsten  Vertreter 
handelnd  als  „Helden"  einfacher  Naturromane  auf- 
treten läßt.  Wenn  solche  „Novellen"  nach  der 
Art  der  Tierfabeln  nicht  eben  rein  phantastische 
P^abeln  bleiben  sollen,  müssen  sie  der  Niederschlag 
eines  sorgfältigen  Studiums  sein.  Diese  Voraus- 
setzung trifft  für  den  Verfasser  durchaus  zu,  der 
viele  Jahre  im  intimsten  Verkehr  mit  der  afrika- 
nischen Natur  gestanden  hat  und  sich  durch  scharfe 
Beobachtungsgabe  und  fein  entwickeltes  Natur- 
gefühl auszeichnet.  Sehr  sympathisch  berührt  auch 
die  sich  in  seinen  Schilderungen  offenbarende  Liebe 
zur  Kreatur.  So  stellen  denn  die  beiden  Ge- 
schichten „Löwenleben"  und  „Eines  Nashorns 
Freud  und  Leid"  eine  wunderhübsche  und  dank 
der  novellistischen  Kunst  des  Verfassers  spannende 
und  gleichzeitig  belehrende  Lektüre  dar,  die  Alten 
und  Jungen  gleicherweise  warm  empfohlen  werden 
kann.  Desgleichen  sind  die  beiden  kürzeren  Kapitel 
„Streiflichter  aus  Steppe  und  Savanna"  und  „Urwald", 
die  Einzelbeobachtungen  und  Schilderungen  wieder- 
geben, interessant,  zumal  mancherlei  neues  (ebenso 
wie  in  den  Novellen)  mitgeteilt  wird. 

Miehe. 

Reicheno  w,  A.,  D  i  e  V  ö  g  e  1.  Handbuch  der  syste- 
matischen   Ornithologie.      In  2  Bänden.     Stutt- 
gart  1913.    Verlag  von  Ferdinand  Enke.    I.  Bd. 
15  Mk. 
Wenn  ein  Ornitholosje vom  Rufe  Reich enow's 


4i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  26 


ein  Handbuch  der  systematischen  Ornithologie  ver- 
öffentlicht, so  darf  man  mit  den  besten  Hoffnungen 
dieses  Werk  in  die  Hand  nehmen.  Und  in  der 
Tat  —  von  allen  mir  bekannten  ornithologischen 
Schriften  ist  keine  auch  nur  annähernd  mit  dem 
vorliegenden  Handbuch  vergleichbar.  Vollständig- 
keit und  Übersichtlichkeit,  die  wichtigsten  Erforder- 
nisse einer  systematischen  Arbeit,  lassen  in  keiner 
Hinsicht  zu  wünschen  übrig.  Das  Ziel,  das  sich 
\'erf.  gesetzt  hatte,  war:  „in  gemeinverständlicher 
Weise  in  die  Vogelkunde  einführen,  die  für  syste- 
matisches Unterscheiden  der  Formen  bedeutsamen 
Teile  des  Vogelkörpers  erläutern  und  sämtliche 
gegenwärtig  unterschiedenen  größeren  Gruppen, 
Ordnungen,  Familien  und  deren  Unterabteilungen 
kennzeichnen".  Auch  die  scharf  ausgeprägten 
Gattungen  sind  beschrieben,  auf  nebensächliche 
bei  den  nächstverwandten  Formen  wenigstens  hin- 
gewiesen worden.  Alle  „guten"  Arten,  die  in 
Europa  vorkommen  und  in  unseren  Kolonien 
heimisch  sind,  sowie  die  richtigen  außereuropä- 
ischen Spezies  sind  sicher  gekennzeichnet.  Der 
I.  Band  beginnt  mit  einer  anatomischen  Übersicht 
über  den  Vogelkörper,  wobei  besonders  die  syste- 
matisch bedeutsamen  Merkmale  hervorgehoben 
sind.  Auf  die  Biologie,  die  Verbreitung  und  die 
Phylogenie  wird  kurz  eingegangen  und  dann  im 
systematischen  Teil  die  Ratitae,  Natatores,  Gralla- 
tores,  Cutinares  und  Fibulatores  in  Bestimmungs- 
tabellen genau  beschrieben.  185  Textbilder,  von 
G.  Krause  gezeichnet,  ergänzen  den  Text  aufs 
glücklichste.  Auch  mehrere  Register  der  wissen- 
schaftlichen und  deutschen  Vogelnamen,  sowie 
vielfache  Hinweise  auf  die  einschlägige  Literatur 
tragen  zur  Brauchbarkeit  des  Buches,  dem  die 
weiteste  Verbreitung  zu  wünschen  ist,  bei.  Der 
Preis  ist  in  Anbetracht  der  vorzüglichen  Ausstattung 
durchaus  angemessen.  Ferd.  Müller. 


Fischer,  J. ,    Das  Problem  der  Brütung. 
Eine  thermo-biologische  Untersuchung.    Leipzig 
1913.     Verlag  von  Quelle  und  Meyer.  —  Preis 
3,80  Mk. 
In    dem  vorliegenden  Büchlein  stellt  Verfasser 
den  Satz  auf,  daß  bei  der  Brütung  die  Temperatur 
der  Eierunterseiten  wesentlich  niedriger  sein  muß 
als  die  der  Oberseite.    Die  Richtigkeit  dieses  Satzes 
wird  an  einem  außerordentlich  umfangreichen  Tat- 
sachenmaterial   nachgewiesen,   auch  die  Unzweck- 
mäßigkeit  der  meisten  Brutapparate  dargelegt  und 
die  dadurch  entstandenen  Mißerfolge  erklärt.     Das 


Buch  sollte  bei  Ornithologen  und  in  Züchterkreisen 
mehr  Beachtung  finden,  zumal  verschiedene  falsche 
Ansichten  über  das  Wesen  der  Brütung  und  die 
Wirkung  der  dabei  entstehenden  Wärme  in  ganz 
allgemein  gebräuchlichen  Lehrbüchern  vorhanden 
sind.     Der  Preis  des  Buches  ist  niedrig. 

F.  Müller. 

Bluntschli,    H.,    Über   die    individuelle    Variation 
im  menschlichen  Körperbau  und  ihre  Beziehungen 
zur  Stammesgeschichte.  Leipzig,  Quelle  u.  Meyer. 
In  kurzen  Skizzen  unterrichtet  Dr.  Bluntschli 
über  die  Arten  der  individuellen  Variation  und  ihre 
Bedeutung  für  die  Hervorbringung    neuer  Formen 
die  sehr  groß  ist,    angesichts    der   Tatsache,    daß 
die   stammesgeschichtliche    Entwicklung    stets    an 
indifferente    Formen    mit    geringer    Abweichung, 
das  heißt  geringer  Anpassung  an  bestimmte  Ver- 
hältnisse, anknüpft.     VVeit  nach  einer  bestimmten 
Richtung  abgeänderte  Formen  —  oder  Endformen 
—    sind    nach   allem ,    was  wir  wissen ,    stammes- 
geschichtlich steril.  H.  Fehlinger. 


Twenty-eight  Annual  Report  oft  he 
Bureau  of  American  Ethnology.  Washington 
191 2.  Government  Printing  Office. 
Dieser  über  300  Seiten  starke  und  mit  zahl- 
reichen Bildern  ausgestattete  Band  enthält  den 
Jahresbericht  des  Vorstands  des  amerikanischen 
ethnologischen  Instituts,  worin  der  Stand  ver- 
schiedener wissenschaftlicher  L'ntersuchungen  und 
die  Verwaltungsangelegenheiten  behandelt  werden; 
daran  schließen  sich  3  Abhandlungen.  In  der 
ersten  davon  beschreibt  J.  W.  F  e  w  k  e  s  die  Ruinen- 
stätte von  Casa  Grande  im  Staat  Arizona  und 
gibt  gute  Einblicke  in  eine  altindianische  Kultur. 
Derselbe  Autor  berichtet  in  der  zweiten  Abhand- 
lung über  die  Altertümer  vom  oberen  Walnutriver- 
und  Walnutcreekthal ,  und  T.  Michelson  hat 
einen  Bericht  über  die  linguistische  Einteilung  der 
Algonquinstämme  beigetragen,  der  durch  eine  Karte 
erläutert  wird.  Warum  diese  3  Abhandlungen 
zusammen  mit  einem  Verwaltungsbericht  in  einem 
Bande  veröffentlicht  werden,  ist  nicht  einzusehen. 
Praktischer  wäre  es,  wenn  das  ethnologische  In- 
stitut in  Washington  diese  Art  von  „Jahresberichten" 
endlich  abschaffen  und  die  einzelnen  Abhandlungen 
getrennt  veröffentlichen  würde,  geradeso  wie  die 
einzelnen  Bände  oder  Hefte  des  „Bulletins"  der- 
selben Anstalt.  H.  Fehlinger. 


Inhalts  Werner  Mecklenburg:  Die  neuere  Entwicklung  der  Lehre  von  der  chemischen  Affinität.  —  Einzelberichte: 
Stefansson:  Die  ,, blonden  Eskimo".  Miramond  de  Laroquette:  Das  Verhältnis  der  nötigen  Nahrungsmenge 
zur  Außentemperatur.  Pezard:  Sekundäre  Geschlechtsmerkmale.  Knox  Shaw:  Über  die  dunklen  Stellen  in  der 
Milchstraße.  Riem:  Immer  engere  Doppelsterupaare.  Buder:  Ein  merkwürdiger  Mikroorganismus.  Mecklenburg 
und  Rosenkränzer;  Die  kalorimetrische  Bestimmung  des  Schwefelwasserstoft's  in  Form  des  Methylenblaus.  —  Bücher- 
besprechungen: Planck:  Neue  Bahnen  der  physikalischen  Erkenntnis.  Eggeling;  Physiognomie  und  Schädel. 
Rothe:  Darstellende  Geometrie  des  Geländes.  Bronsart  v.  S  c  h  e  1 1  en  d  o  r  f :  Novellen  aus  der  afrikanischen  Tier- 
welt. Reichenow:  Die  Vögel.  Fischer:  Das  Problem  der  Brütung.  Bluntschli:  Über  die  individuelle  Varia- 
tion im  menschlichen  Körperbau  und  ihre  Beziehungen  zur  Stammesgeschichte.  Twenty-eight  Annual  Report  of  the 
Bureau  of  -American  Ethnology. 

Manuskripte   und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.Mi  ehe   in  Leipzig,  Marienstraße    IIa,   erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band  ; 
der  ganzen  Reihe  2g.  Band. 


Sonntag,  den  5.  Juli  1914. 


Nummer  37. 


Die  deutschen  Ausgrabungen  von  Dinosauriern  im  letzten  Jahrfünft. 


[Nachdruck  verboten.]  Dr-    Edw. 

Es  ist  wohl  niclit  nur  blinder  Zufall,  daß  die 
letzten  fünf  Jahre  Deutschland  einen  ganz  auf- 
fallenden Reichtum  fossiler  Reste  von  Dinosauriern 
an  mehreren  Stellen  beschert  haben,  während 
vordem  nur  ganz  vereinzelt  isolierte  und  keines- 
wegs immer  sehr  gut  erhaltene  Knochen  und 
Knochenbruchstücke  von  jenen  hochinteressanten 
Formen  in  unseren  Museen  aufbewaiirt  wurden. 
Die  in  der  Archäologie  so  erfolgreich  angewandte 
Methode  der  systematischen  Ausgrabung  bricht 
sich  erst  seit  kurzer  Zeit  allenthalben  auch  in  der 
Paläontologie  Bahn,  die  bisher  sich  mit  den  von 
des  Geologen  Tische  zufällig  abfallenden  Brocken 
begnügte.  L'nd  Deutschland  ist  durch  seinen  wirt- 
schaftlichen Aufschwung  jetzt  in  der  glückl'chen 
Lage,  die  für  solche  rein  wissenschaftlichen,  also 
geschäftlich  unrentablen  Unternehmungen  erforder- 
lichen Gelder  auftreiben  zu  können,  d.  h.  aber 
auch  in  kapitalkräftigen  Kreisen  ein  gut  Teil  Ver- 
ständnis und  Begeisterung  für  eine  dem  Einzelnen 
natürlicherweise  zunächst  recht  fernliegende  gute 
Sache  zu  finden.  Wie  sehr  sich  die  neue  Methode 
paläontologischer  Forschung  und  die  Bereitwillig- 
keit zu  ihrer  Unterstützung  durch  wissenschaft- 
liche Korporationen  und  ideal  gesinnte  Förderer 
belohnt  gemacht  hat,  geht  in  hohem  Maße  aus 
dem  nunmehr  vorliegenden  wissenschaftlichen 
Rechenschaftsablegungen  der  drei  Unternehmungen 
hervor,  die  nahezu  gleichzeitig  der  Bergung  fos- 
siler Saurierskelette  auf  deutschem  Boden  nach- 
gingen. ') 

Die  drei  Hauptfundstellen  der  letzten  Jahre 
dürften    bekannt    sein:    Es    ist    der    Keuper    von 


^)  E.  Fraas,  „Die  neuesten  Dinosaurierfunde  in  der 
schwäbischen  Trias."  Vortrag  auf  der  S5.  Versammlung  deut- 
scher Naturforscher  und  Arzte  in  Wien,  September  1913, 
Abt.  II  b  u.  13  und  Autorreferat  in  ,,Die  Naturwissenschaften" 
1913,  S.   1097 — iioo. 

U.  Jaekel,  ,,Über  die  Wirbclticrfundc  in  der  oberen 
Trias  von  Halberstadt."      Paläontolog.  Zeitschrift  Bd.  I  u.  II, 

s-  155-215- 

„Wissenschaftliche  Ergebnisse  der  Tendaguru-Expedition." 
Archiv   f.  Biontologie   Bd.  III,  Heft   I,    1914: 

Branca,  Allgemeines  über  die  Tendaguru-Expedition 
1909— 1911. 

—  — ,  Kurzer  Bericht  über  die  von  Dr.  Reck  erzielten 
Ergebnisse  im   vierten  Grabungsjahr  1912. 

—  — ,  Allgemeines  über  die  Nebenergebnisse  der  Tenda- 
guru-Expedition. 

—  —  ,  Die  Riesengröße  sauropoder  Dinosaurier  vom 
Tendaguru,  ihr  Aussterben  und  die  Bedingungen  ihrer 
Entstehung. 

Janensch,   Der  Verlauf  der  Tendaguru-E.\pedition  1909 

bis    1911. 
,  Übersicht  über  die  Wirbeltierfauna  der  Tendaguru- 

Schichten. 


Hennig. 

Halberstadt  und  die  gleiche  F'ormation  von  Tros- 
singen und  Pfaffenhofen  in  Württemberg,  sowie  die 
Grenzschichten  von  Jura  und  Kreide  im  südlichen 
Deutsch-Ostafrika,  im  Hinterlande  der  dortigen 
Hafenplätze  Lindi  und  Kilwa.  Im  letzteren  Falle 
war  es  natürlich  erforderlich,  nach  der  ersten  Er- 
kundung durch  Herrn  Prof.  Fraas  in  Stuttgart 
und  auf  seine  günstige  Beurteilung  der  Fundstelle 
hin  eine  besonders  für  den  Zweck  ausgerüstete 
F-xpediiion  zu  entsenden.  Bei  den  heimischen 
F\indorten  war  die  Organisationsfrage  natürlich 
wesentlich  leichter  zu  lösen,  dafür  aber,  wie 
Jaekel  in  seinem  interessanten  Fundberichte 
mitteilt,  manches  in  den  hochentwickelten  wirt- 
schaftlichen und  rechtlichen  V^erhältnissen  eines 
Kulturlandes  wurzelnde  Hindernis  zu  beseitigen. 
Daß  den  Eingeborenen  des  afrikanischen  Busches 
zur  Zeit  der  Ankunft  der  Expedition  die  Knochen- 
natur der  vielfach  herausgewitterten  Reste  nicht 
bekannt  war,  wird  niemand  wunder  nehmen.  Daß 
aber  in  der  reichhaltigen  Halberstädter  Fundstelle 
ca.  looooo  cbm  Ton  mit  nach  Jaekel's  Schätzung 
,, wenigstens  loo  Dinosaurierskeletten" (!)  Inhalt  zu 
Ziegeln  vermählen  wurden,  ehe  durch  das  Inter- 
esse eines  zufällig  aufmerksam  gewordenen  Samm- 
lers die  Aufmerksamkeit  wissenschaftlicher  Kreise 
auf  das  Knochenlager  gelenkt  wurde,  regt  in 
mehrfacher  Richtung  zum  Nachdenken  an.  Denn 
einmal  würde  der  Erfolg  eines  Ausgrabungsgesetzes, 
das  die  Meldung  wichtiger  Funde  zur  Pflicht 
machen  wollte,  höchst  zweifelhaft  bleiben, 
solange  weiteren  Kreisen  das  Leben  der  Ver- 
gangenheit eine  nie  gehörte  terra  incognita  bleibt 
und  selbst  Gebildete,  ja  akademisch  Gebildete 
von  der  Existenz  fossiler  Reste  nichts  ahnen,  wie 
das  mindestens  in  Norddeutschland  betrübend  oft 
festgestellt  werden  kann.  Kurze  Hinweise,  die 
sich  im  Schulunterrichte  gewiß  leicht  einstreuen 
lassen  ohne  großartige  Abänderung  des  Lehrplans, 
dürften  sich  zehnfach  besser  belohnt  machen  als 
theoretische  Vorschriften,  zu  denen  die  Voraus- 
setzung nicht  gegeben  ist.  Sodann  darf  wohl 
auch  die  Wissenschaft  selbst  aus  den  FJrgebnissen 
der  wenigen  bisher  vorliegenden  Beispiele  syste- 
matischer, organisierter  Nachforschung  unter  man- 
chem anderen  Wissenswerten  die  eine  wesentlich 
neue  Erfahrung  entnehmen,  daß  der  Reichtum  an 
Zeugen  der  Vergangenheit  bedeutend  größer  ist, 
als  die  allgemeine  Vorstellung  gewesen  sein  dürfte. 
Denn  wäre  die  Wahrheit  darüber  bekannt  gewesen, 
so  hätte  sie  die  aus  den  gewonnenen  Daten  sich 
durch  einfache  Überlegungergebende  ungeheure  Zer- 
störung wertvollster  Sciiätze  kaum  zugeben  können. 


4iS 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


27 


Die  paläontologischen  Ausgrabungen  der  letzten 
Jahre  werden  von  selbst  für  ihre  Fortsetzung 
sorgen,  doch  es  wäre  vielleicht  kein  Schaden, 
wenn  diese  Weiterführung  bewußt  und  rationell 
in  Angriff  genommen  würde !  *" 

Entdeckt  wurde  die  Dinosaurierlagerstätte  in 
der  deutschen  Kolonie  im  Jahre  1906  durch 
Herrn  W.  B.  Sattler,  der  in  der  Umgebung 
des  Fundbereichs  bei  einem  kleinen  Granaten- 
abbau tätig  war.  Während  soeben  die  Grabungs- 
arbeiten an  Ort  und  Stelle  in  Gang  gebracht 
waren,  wurde  der  seither  verstorbene  Herr  Zahn- 
arzt E.  Torger  aus  Halberstadt  auf  das  Vor- 
kommen von  Knochen  in  der  Bae  recke 'sehen 
Ziegelei  -  Tongrube  aufmerksam  und  lenkte  das 
Interesse  Professor  Jaekel's  auf  diesen  Schatz, 
dessen  I3edeutung  sich  natürlich,  wie  in  allen  ge- 
nannten Fällen,  erst  in  der  Folge  ergab.  Auch  der 
Plnder  der  Dinosaurier  von  Trossingen,  Hau[)t- 
lehrer  Münz,  ist  schon  gestorben.  Hier  in 
Württemberg  war  es  Herr  Professor  E.  Fr  aas, 
dem  wir  schon  vom  Tendaguru  erste  wissen- 
schaftliche Kunde  verdankten,  welcher  sich  haupt- 
sächlich um  die  Bergung  der  Funde  von  Trossingen 
und  Pfaffenhofen  verdient  gemacht  hat.  Freiherr 
von  Huene,  der  ausgezeichnete  Kenner  gerade 
der  triassischen  Dinosaurier  hat  gleichfalls  an  der 
Ausbeutung  Anteil  genommen,  auch  in  Aixheim 
neues  Material  gewonnen.  Die  beiden  württem- 
bergischen Landesmiiseen  von  Stuttgart  und  Tü- 
bingen sind  denn  auch  in  den  Besitz  der  Ausbeute 
gelangt.  Die  Ergebnisse  der  Tendaguru-Expedition 
sind  zunächst  der  einheitlichen  Verarbeitung  halber 
im  Berliner  Naturkunde-Museum  im  ganzen  Um- 
fange vereinigt,  dem  auch  tunlichst  die  in  Grcifs- 
wald  fertig  präparierten  Skelette  von  Halberstadt 
zugute  kommen,  da  durch  Professor  Jaekel's 
Vermittlung  an  allen  I'^ossilfunden  aus  der  dortigen 
in  Privatbesitz  befindlichen  Tongrube  der  preußi- 
sche Staat  das  Anrecht  erworben  hat. 

Die  Bereicherung,  welche  unseren  heimischen 
Sammlungen  und  der  Wissenschaft  aus  den  drei 
Unternehmungen  erwachsen  ist,  ist  überraschend, 
ja  überwältigend  zu  nennen.  Die  Ausbeute  in 
der  noch  keineswegs  erschöpften  Fundgrube  von 
Halber  Stadt    beträgt    nach   J  aekel   (bis  Ende 

1913): 

Reptilien. 

Dinosaurier:    ca.     40  Individuen ,    darunter 

einige  nahezu  vollständige  Skelette   und  ,,der 

vollständigste  Schädel,  der  wohl  je  bei  einem 

Dinosaurier  gefunden  wurde". 

Phytosauria:      Reste     verschiedener     Belo- 

donten. 
Schildkröten:  2  l'ormen  in  je  2  Individuen. 

Stegocephalen.  4  Exemplare  eines  gepanzerten 
Miosauriers,  i  neuer  Labyrinthodont  mit  ge- 
kielten Zähnen. 

Fische.  2  Selachier,  2  Ganoiden,  2  Teleostier, 
I   Dipnoer. 

Wirbellose.  2  Süßwassermuschelformen,  i  Süß- 
wasserschneckentypus. 


In   Württemberg    ergaben    die    Grabungen 
seit   1908  nach  Fr  aas: 

A.  Bei  Pfaffenhofen: 

a)  im  unteren  Horizonte,  dem  sog.  S  t  u  ben- 
sandstein: 

Stegocephalen.     Labjrinthodonten-.Schädel. 
Reptilien. 

P  h\- 1  osau  ria:  „Isolierte  Knochen  und  Zähne, 
zuweilen    sogar    ganze    Schädel    von    Pliyto- 
sauriern",    wie    Belodon    Plieningeri    und  My- 
stiosuchus  planirostris. 
Dinosaurier:   i  annähernd  vollständiges  Ske- 
lett von  Thecodontosaurus  diagnosticus  n.  sp. 
Zusammenhängende    Teile    von    Thecodonto- 
saurus posthumus  von  Huene. 
Sciiädel  von  Halticosaurus  longotarsus. 
Ein    großenteils     vollständiges    Skelett    einer 
neuen    höchst    wichtigen    Form;    Procomp- 
sognathus  triassicus  n.  g.  n.  sp. 

b)  Im  oberen  Horizonte,  dem  sog.  Knollen- 
mergel: 

Teratosaurus  minor  von  Huene. 

,, Zahlreiche  Reste  von  Sellosaurus,  mindestens 
von  4  Individuen  herrührend"  (darunter 
Sellosaurus  F'raasii,  der  nach  gütiger  Privat- 
miltcilung  mit  S.  gracilis  identisch  ist). 

B.  Bei  Trossingen,    gleichfalls  im  Knollen- 
mergel: 

I     vollständiges     Skelett      von     Plateosaurus 
Trossingcnsis    (das   auch  einen  neuen  Art- 
namen erhalten  dürfte). 
Wichtige     und     ergänzende    Überreste     von 
Plateosaurus    Reiniger!    und  Erlenbergcnsis 
V  o  n  H  u  e  n  e. 
Über  die  von  der  Tendaguru-Expedition 
erzielte  Ausbeute    ist   vielfach  Berufenes   und  Un- 
berufenes   berichtet    worden.      Janensch    führt 
folgende  Liste  bisher  festgestellter  Wirbeltiere  aus 
den    Dinosauiierschichten    Deutsch  -  Ostafrikas   an. 
Mammalia.     i   kleiner,    ca.    2  cm    langer    Unter- 
kiefer (Polyprotodontier?) 
Dinosauria. 

.S  a  u  r  o  p  o  d  a :     Außer    mindestens    zwei    noch 
nicht  genauer  definiei baren  Formen: 
Gigantosaurus   africanus  P'raas,    wahrschein- 
lich Diplodocus  sehr  nahestehend. 
Gigantosaurus  robustus  Fr  aas. 
Brachiosaurus  Brancai  nov.  sp. 
Brachiosaurus  Fraasii  nov.  sp. 
Dicraeosaurus  Hansemanni  nov.  gen.  nov.  sp. 
Dicraeosaurus  Sattleri  nov.  sp. 
Stegosauria:  Zwei  Arten  mit  kräftiger  Stachel- 

bewehrung. 
Ornithopoda:    Eine    recht    kleine  P'orm  aus 
der  Verwandtschaft  des  amerikanischen  Lao- 
saurus    und     des    englischen    Hypsilophodon 
(Oberschenkel  nur  30  cm!) 
Theropoda:    Skeletteile    von    wahrscheinlich 
zwei  Arten.     Zähne  überaus  häufig. 
Aves.    Vereinzelte  Reste,  vielleicht  Archaeopteryx 

nicht  allzufern  stehend. 
Pterosauria.    Einzelknochen  und  Knochengruppen 


N.  F.  XIII.  Nr.  27 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


419 


in  beträchtlicher  Zahl,  besonders  in  der  Aus- 
beute des  Herrn  Dr.  Reck. 
Crocodilia.     Wenige  kleine  Zä!:;;e. 
Pisces. 

G  a  n  o  i  d  e  n  :  Lepidotus  äff.  minor  in  zahlreichen 
Exemplaren,  Einzelschuppen  einer  zweiten  Art. 

Sclachier;  Einige  Zähne  von  Orthacodus  sp. 
Über  die  Zahl  der  in  dieser  Aufzählung  ver- 
tretenen Dinosaurierindividuen  einigermaßen  zu- 
treffende Angaben  zu  machen,  geht  nun  sclilecliter- 
dings  nicht  an.  Es  erscheint  keineswegs  ausge- 
schlossen, daß  sie,  wenn  überhaupt  eine  BerccJi- 
rechnung  möglich  wäre,  vierstellig  sein  würde. 
Mit  Sicherheit  darf  man  von  Hunderten  von  Ske- 
letten sprechen,  von  denen  Reste  geborgen  wurden. 
Betrug  doch  die  Ausbeute  eines  einzigen  Grabens 
während  zweier  Jahre  schätzungsweise  20000 
Einzelknochen,  die  von  entsprechend  zahlreichen 
Individuen  einer  großen  Herde  kleiner  Ornitho- 
poden  herrühren  müssen.  In  einem  anderen  nahe 
benachbarten  Graben  fanden  sich  in  gleicher 
herdenweiser  Anhäufung  gegen  1000  Stegosaurier 
Knochen.  Sind  dies  auch  die  bei  weitem  ertrags- 
reichsten Arbeitsstellen  der  bloßen  Zahl  nach  ge- 
blieben, so  gab  es  doch  andere  genug,  deren  Inhalt 
nach  der  Freilegung  nur  als  wahres  Knochcnfeld 
zu  bezeichnen  war,  und  erstreckten  sich  die  Aus- 
grabungen doch  auf  ein  Gebiet,  das  in  Nord-Süd- 
richtung einen  Breitengrad  ausfüllte  I  Naturgemäß 
wurde  bei  weitem  nicht  alles  gefundene  Knochen- 
material als  verwertbar  befunden  und  geborgen, 
doch  ist  andererseits  nicht  minder  selbstverständ- 
lich, daß  einige  erste  Grabungsjahrc  in  solchem 
Gebiete  wohl  das  leicht  Erreichbare  einigermaßen 
erschöpfen,  aber  den  wahren  Gehalt  der  Erd- 
schichten wohl  kaum  annähernd  erfassen  lassen. 
Am  Tendaguru  selbst  waren  übereinander  drei 
sich  auf  oberen  Jura  und  untere  Kreide  verteilende 
Knochenhorizonte  am  Erosionsrande  des  Plateaus 
erschlossen,  nur  die  oberste  konnte  auf  große 
Flächen  hin  verfolgt  werden,  alle  aber,  oder  doch 
mindestens  die  eine  hauptsächlich  ausgebeutete, 
ziehen  sich  nachweislich  unter  ca.  300  m  hohen, 
in  Teilstücken  aufgesetzten  Plateaus  hindurch.  Es 
ist  klar,  daß  bis  zu  höchstens  lo  m  in  das  Erd- 
reich hinabgreifende  Schürfgräben  niemals  den 
ganzen  Schichtkörper  einigermaßen  werden  aus- 
beuten können,  daß  für  den  praktisch  nicht  ver- 
wertbaren Gewinn  aber  keine  Bergwerke  angelegt 
werden  können  und  somit  gewaltige  Areale  mit 
gewiß  nicht  geringerer  Knochenführung  für  immer 
unangetastet  werden  bleiben  müssen.  Wenn  man 
bedenkt,  in  welcher  großzügigen  Weise  die  unge- 
heuren Gebiete  Nordamerikas,  aus  denen  man 
schon  Dinosaurier  in  Mengen  kennt,  seit  Jahr- 
zehnten durchforscht  werden  und  wie  sich  mit 
fortschreitender  Erfahrung  die  Ergebnisse  eher 
verbessert  als  verringert  zu  haben  scheinen,  wird 
man  mit  einem  endgültigen  Urteil  über  die  Mög- 
lichkeitweiterer brauchbarer  F'undplätze  in  Deutsch- 
Ostafrika    auch    noch    nach    der    großen    Ausfuhr 


durch  die  Tendaguru-Expedition  recht  zurück- 
haltend sein  müssen. 

Daß  die  bisher  bekannt  gewordenen  h'und- 
stellen  vollständiger  Dinosaurierskelette  im  deut- 
schen Keuper  nun  auf  immer  die  einzigen  bleiben 
sollten ,  wird  man  wohl  ebenfalls  nicht  voraus- 
setzen dürfen.  Nicht  der  krönende  Schlußstein 
jahrzehntelanger  Forschung  ist  in  all  diesen  Fun- 
den zu  sehen,  sondern  viel  eher  der  Übergang 
zu  einer  Periode,  die  von  sicheren  Voraussetzungen 
ausgehend  mehr  finden  wird,  weil  sie  mehr  suchen 
wird.  Ein  Teil  des  erforderlichen  systematischen 
Vorgehens  in  Zukunft  wird  freilich,  wie  oben  dar- 
gelegt wurde,  in  weitgehender  gewissenhafter 
Popularisierung  der  Paläontologie  bestehen  müssen. 

Es  ergibt  sich  jedenfalls  aus  dieser  kurz  ge- 
faßten Übersicht,  daß  uns  an  allen  drei  Fundplätzen 
die  Ausgrabungen  nicht  fossile  Reste,  wie  sie  früher 
das  Arbeitsmaterial  bildeten,  auch  nicht  allein  eine 
große  Reihe  vollständiger  Wirbeltierskelette,  son- 
dern wahre  fossile  F'aunen  geliefert  haben,  in  denen 
sich  auch  der  geologische  Zustand  der  betreffenden 
Zeiten  widerspiegelt.  Die  Ursachen  der  Auf- 
S])eicherung  so  großer  Schätze  an  immerhin  lokal 
begrenzten  Stellen  sind  noch  keineswegs  restlos 
zu  überblicken.  Von  der  Landschaft  im  Gebiete 
des  heutigen  Halberstadt  zur  Zeit  des  Keuper 
entwirft  Jaekel  ein  anschauliches  Bild.  Daß  man 
neuerdings  weit  mehr  mit  kontinentalen  Ablage- 
rungen rechnet  als  früher,  wo  man  mehr  bereit 
war,  jedes  Sediment  dem  Meere  zuzuschreiben, 
wird  ja  durch  die  Auffindung  reicher,  dem  Binnen- 
landc  nebst  seinen  Seen  und  Müssen  angehörigen 
Tiergemeinschaften  nur  gerechtfertigt.  Um  so  er- 
staunlicher ist  es,  daß  die  Saurierschichten  Deutsch- 
Ostafrikas,  die  so  große  Ähnlichkeit  mit  den  für 
kontinentale  Bildungen  zu  haltenden  nordamerika- 
nischen haben,  ohne  die  Annahme  einer  Mitwirkung 
des  Meeres  unverständlich  bleiben  müßten.  Fanden 
sich  doch  an  verschiedenen  Stellen  Dinosaurier- 
Knochenansammlungen  mit  zahlreichen  Belemniten 
zusammen!  Fisch-  und  Muschelreste  erinnern 
überall  an  das  Vorhandensein  von  Gewässern  und 
lassen  sich  nicht  als  Süßwasserbewohner  deuten. 
Interessant  ist  es  daher,  daß  auch  Jaekel  eine  Nähe 
des  Meeres  anzunehmen  sich  genötigt  sieht,  selbst 
da,  wo  er  Wüstenbildungen  vermutet.  Wenn  die 
Voraussetzung,  es  handle  sich  in  gewissen  Hori- 
zonten um  Absätze  in  einem  Deltagebiet,  zutrifft, 
so  ist  damit  freilich  noch  nicht  unbedingt  gesagt, 
daß  die  Mündung  des  betreffenden  Stromes  ins 
Meer  sich  ergossen  habe.  Als  „marine  Küsten- 
bewohner" in  der  Halberstädter  Fauna  werden 
angeführt  „ein  Sauropterygier,  einige  Haifische  und 
vielleicht  auch  ein  großer  Teleostier".  Es  sei  aber 
betont,  daß  der  anscheinend  besonders  beweis- 
kräftige Selachier  der  Gattung  Hybodus  angehört, 
die  auch  aus  etwa  gleichaltrigen  und  faziell  recht 
ähnlichen  Bildungen  des  südafrikanischen,  ohne 
Zweifel  kontinentalen  Karroo  angeführt  wird ! 
Man  braucht  deswegen  vielleicht  nicht  einmal  un- 
bedingt Mündungsgebiete,  sondern  überhaupt  nur 


420 


Naturwisscnschaftliclic   Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


27 


Niederungen  des  Stromlaufes  anzunehmen,  für  die 
ganz  ähnliche  Absatzbedingungen  gelten.  Wichtig 
dagegen  ist  der  Nachweis,  daß  die  höheren  Ab- 
lagerungen der  Halberstädter  Grube  an  Stelle  des 
Tons  mehr  und  mehr  sandiges,  oft  taschenförmig 
in  die  Unterlage  eingreifendes  Material  und  auch 
eine  entsprechend  andere  Fauna  führen.  An  sie 
hauptsächlich  sind  die  Reste  der  Flußbewohner 
(Krokodile,  Fische)  gebunden,  während  die  Dino- 
saurier sich  in  den  tieferen  Tonlagen  finden  und 
demnach,  wie  Jaekel  meint,  ,, offenbar  vom  Ufer 
her  in  den  Schlammsumpf  geraten  waren".  Es 
mögen  des  öfteren  nachträgliche  Umlagerungen  und 
teilweise  Verwesungsvorgänge  an  nicht  genügend 
eingebetteten  Körperleilen  mitgespielt  haben  und 
die  Schuld  tragen,  wenn  ganz  und  gar  unversehrte 
Skelette  auch  hier  nicht  vorliegen. 

l'ür  die  gleichzeitigen  Dinosaurierlager  in  Württem- 
berg darf  man  wohl  sehr  ähnliche  Verhältnisse 
voraussetzen,  natürlich  unter  Beachtung  der  großen 
Mannigfaltigkeit  heutiger  Oberflächenformen.  Nur 
ist  dort  die  entgegengesetzte  Überlagerung  der 
Sandsteine  mit  Flußbewolincrn  durch  die  haupt- 
sächlich Dinosaurier  führenden  mehr  mergligen 
höheren  Lagen  zu  beobachten.  Hier  wie  dort 
aber  handelt  es  sich  um  die  mittleren  Partien  des 
germanischen  Keupers. 

Fraas  stellt  für  die  württembergischen  Ab- 
lagerungen die  Mitwirkung  mariner  Kräfte  durch- 
aus in  Abrede  und  rechnet  sogar  vorwiegend  mit 
äolischen,  lößähnlichen  Bildungen,  die  durch  Regen- 
fluten zu  Schlamm  verwandelt  den  Dinosauriern 
ein  Grab  bereiteten.  Im  übrigen  verweist  er  nicht 
nur  auf  die  Unterschiede  der  Fossilführung  inner- 
halb des  Stubensandsteinhorizonts,  wo  die  Dino- 
saurier lediglich  auf  die  Tonlinsen  („Fäule")  be- 
schränkt sind,  sondern  auch  auf  den  Gegensatz 
der  darin  auftretenden  durchweg  kleinen  Dino- 
saurierformen zu  den  weit  größeren  des  über- 
lagernden Knollenmergels. 

Sehr  bemerkenswert  demgegenüber  ist  eine 
den  Gesamthabitus  betreffende  Übereinstimmung 
der  Gesteinsfazies  der  drei  Dinosaurierlagen  unter- 
einander, wie  auch  nach  F'raas'  Zeugnis  rnit  den 
nordamerikanischen  Atlantosaurus-beds.  Überall 
finden  sich  die  bunten  Mergel,  nicht  nur  in  unserem 
Keuper;  rote  und  grünliche  Farben  herrschen  vor. 
Reine  Tone  kommen  wohl  nur  gelegentlich  vor. 
Ich  sah  in  den  höher  gelegenen  Straßen  Stuttgarts 
beispielsweise  eine  frische  Ausschachtung  zu  Kanali- 
sationsanlagen und  konnte  mich  beim  Anblick  der 
Grubenwände  durchaus  an  einen  Grabungsplatz 
des  Tendaguru-Gebiets  versetzt  fühlen;  fast  über- 
raschend war  es  mir,  daß  sich  nirgends  Knochen 
darin  zeigen  wollten.  Diese  Faziesgleichheit  zu- 
sammen mit  der  allgemeinen  faunistischen  Über- 
einstimmung in  so  verschiedenaltrigen  Formationen 
und  auf  so  weit  getrennten  drei  Kontinenten  ist 
ganz  gewiß  höchster  Beachtung  wert  und  scheint 
darauf  hinzudeuten,  daß  die  endgültige  Entscheidung 
über  die  Entstehung  der  Schichten  nicht  in  einem 
Gebiete   allein    zu-  treffen    ist,    sondern    unter  Be- 


achtung aller  lokalen  Eigenheiten  nur  im  Hinblick 
auf  die  Gesamtheit. 

Die  lokalen  Abweichungen,  von  denen  ja  einige 
wichtige  schon  genannt  wurden,  üben  natürlich, 
soweit  sie  das  Gestein  und  den  Erhaltungszustand 
der  Knochen  betreffen,  einen  entscheidenden  Ein- 
fluß aus  auf  die  Art  und  Weise  der  Bergung. 
So  berichtet  Fraas  von  Trossingen,  daß  es  nicht 
möglich  gewesen  sei,  das  dort  gefundene  vielleicht 
vollständigste  aller  bekannten  Dinosaurierskelette 
schon  am  Fundplatze  frei  zu  präperieren  und  so 
einen  Einblick  in  die  Vollständigkeit  und  Lagerung 
des  Tieres  zu  erhalten,  da  das  Gestein  an  jener 
Stelle  zu  hart  und  mit  dem  Knochen  zu  fest  ver- 
wachsen war.  Erst  in  den  Museumsräumen  zu 
Stuttgart  konnte  dieser  Teil  der  Arbeit  erfolgen, 
nachdem  alle  knochenführenden  Bestandteile  des 
Grabens  in  großen  Blöcken  abgehoben  und  trans- 
portiert worden  waren.  Um  so  bewundernswerter 
freilich  ist  die  Leistung,  daß  nicht  ganz  ein  halbes 
Jahr  für  Präparation  und  Montierung  des  Skeletts 
in  seiner  natürlichen  Lage  genügte.  P'rcilich  han- 
delt es  sich  in  der  Trias  noch  nicht  um  jene  ab- 
sonderlichen Riesengestalten,  die  man  bei  dem 
Namen  Dinosaurier  gern  im  Sinne  hat. 

Auch  am  Tendaguru  war  es  in  einigen  Fällen 
erforderlich,  das  Rohmaterial  mit  den  Knochen 
in  ganzen  Blöcken  zu  verpacken  und  zu  trans- 
portieren. Nur  war  hier  der  Grund  ein  anderer: 
der  embarras  de  sichesse  in  jenem  oben  genannten 
Graben,  der  viele  Tau?ende  einzelner  Knöchelchcn 
enthielt,  ließ  den  Gedanken  an  Präparation  gar 
nicht  aufkommen. 

Der  würflich  zerbrechende  übliche  Mergel  hat 
im  übrigen  die  beiden  guten  Eigenschaften,  daß 
er  sich  verhältnismäßig  leicht  abpräparieren  läßt 
und  andererseits  doch  die  Knochen  einigermaßen 
fest  umschließt.  Je  fester  und  widerstandsfähiger 
das  Gestein,  imi  so  günstiger  ist  oft  die  Erhaltung 
der  Knochen.  Im  lockeren  Material  zerfallen  sie 
zu  leicht  in  ein  winziges  Mosaik  kleiner  Teilchen. 
Es  bedarf  dann  langwieriger  Härtungen  und  be- 
sonders sorgsamer  Verpackung.  Zumal  die  ex- 
tremen Riesenformen  Dcutsch-Ostafrikas  neigen 
infolge  des  hohen  Gewichtes  einzelner  Knochen 
(bis  zu  5  Zentner!)  in  dem  während  der  Regenzeit 
tief  durchweichten  Erdreich  zu  einem  Auseinander- 
brechen und  werden  dort  in  dem  kalkarmen  Boden 
obendrein  mit  Vorliebe  von  den  Wurzeln  der 
üppigen  Vegetation  (selbst  noch  in  10  m  Tiefe I) 
aufgesucht,  angebohrt,  ja  völlig  gesprengt.  Es 
sind  demnach  bei  all  diesen  Ausgrabungen  mancher- 
lei technische  Schwierigkeiten  zu  überwinden  und 
entsprechend  bedeutende  Mittel  erforderlich.  Aber 
sie  haben  sich  in  allen  Fällen  auf  das  glänzendste 
belohnt  gemacht! 

Es  ist  nicht  möglich,  über  den  rein  paläozoolo- 
gischen  Gewinn  der  Saurierausgrabungen  an  dieser 
Stelle  mit  einiger  Vollständigkeit  Übersicht  zu  ver- 
schaffen. Liegt  doch  noch  keine  einzige  der  zu 
erwartenden  ausführlicheren  Bearbeitungen  über- 
haupt bisher  vor  und  ist  doch  an  eine  annähernde 


N.  F.  XIII.  Nr.  27 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


421 


Erschöpfung  in  diesem  Sinne  vielleicht  erst  nach 
Jahrzehnten  zudenken!  Branca  erinnert  daran, 
daß  die  Bergung  und  Aufstellung  eines  Bronto- 
saurusskelettes  im  New -Yorker  Museum  nicht 
weniger  als  9  Jahre  gedauert  hat. 

Die  triassischen  Dinosaurier  waren  uns  nach 
allerdings  unvollkommenem  Material  doch  durch 
eine  um  so  verdienstvollere  Monographie  v  o  n 
Huene's  bekannt.  Hier  ist  nun  mancherlei  nach 
den  neuen  Funden  zu  berichtigen  und  zu  ergänzen, 
das  Gesamtbild  gestaltet  sich  reicher.  Die  jüngere 
Diiiosaurierfauna  der  Jura-Kreidezeit  ist  in  einer 
seiner  Großartigkeit  nicht  immer  entsprechenden 
Weise  durch  die  Arbeiten  nordamerikanischer 
Forscher  immerhin  in  weitem  Umfange  bekannt 
geworden  und  wirkte  durch  die  zahlreichen  Ab- 
bildungen ganzer  rekonstruierter  Exemplare  viel 
unmittelbarer  als  jenes  nur  durch  intensivstes 
Studium  verständliche  Material.  Hier  haben  die 
ostafrikanischen  Grabungen  in  erster  Linie  über- 
raschendes Licht  auf  die  \'erbreitung  und  den 
ungeheuren  Individuum-Reichtum  dieser  F'ormen 
geworfen,  einen  gewiß  unerwarteten  neuen  Fundort 
kennen  gelehrt.  Aber  die  weitgehende  Überein- 
stimmung des  Faunenbildes,  die  sich,  soweit  man 
bisher  übersehen  kann,  selbst  auf  einige  in  beiden 
Kontinenten  vertretene  Gattungen  (Brachiosaurus, 
?Diplodocus,  Stegosaurus)  erstreckt,  ist  fast  er- 
staunlicher als  das  Auftauchen  ganz  neuer  Typen, 
wie  sie  z.  B.  in  seltsamen  Formen  mit  tiefgeteil- 
tem Dornfortsatz  (Dicraeosaurus  Janensch)  gegeben 
sind.  Die  Stegosaurier  treten  uns  hier  überhaupt 
zum  ersten  Male  mit  Bestimmtheit  auf  der  Süd- 
hemisphäre entgegen.  Es  ist  geradezu  überraschend, 
wie  sehr  sie  Einzelheiten  des  Körperbaues,  so  das 
Verhältnis  des  Gehirns  zu  der  Anschwellung  des 
Rückenmarks  in  der  Beckenregion,  wiederholen. 
Auch  daß  wir  in  Afrika  absonderlich  riesenhaften 
Gestalten  begegnen,  die  beispielsweise  den  Diplo- 
docus  um  etwa  das  Doppelte,  wenigstens  an  Höhe 
übertreffen,  ist  richtig.  Nur  ist  eben  der  Diplo- 
docus  auch  in  Nordamerika  durchaus  noch  nicht 
die  größte  F'orm.  Vielmehr  ist  es  gerade  die 
imposanteste  der  ostafrikanischen  Gattungen,  der 
bisher  mit  einiger  Gewißheit  der  Name  eines 
nordamerikanischen  \'etters  (Brachiosaurus)  von 
ganz  ähnlichen  Dimensionen  beigelegt  werden 
konnte.  Aber  allerdings  beruhte  die  Kenntnis 
dieser  P^orm  bisher  lediglich  auf  ganz  wenigen 
Knochenelementen,  während  am  Tendaguru  das 
größte  Exemplar  merkwürdigerweise  auch  eins 
der  vollständigsten  und  obendrein  besonders  vor- 
trefflich erhalten  war. 

Hinsichtlich  der  Trias-Dinosaurier  ist  besonders 
bemerkenswert  die  P^ntdeckung  des  Procompso- 
gnathus,  der  in  die  Ahnenreihe  des  Compsognathus- 


Skelettchens  aus  den  lithographischen  Schiefern 
Bayerns  zu  stellen  ist  und  damit  das  Alter  einer 
weit  abgezweigten  Gruppe  sehr  hoch  hinaufrückt. 
Fr  aas  möchte  darin  eine  Art  Ursprungstj-pus  der 
Vögel,  wenigstens  der  Laufvögel  sehen.  Haltico- 
saurus,  den  man  auch  hier  eingereiht  hat,  zeigt 
nach  Fraas  eher  Anklänge  an  die  gleichfalls 
„springenden''  Coeluriden  und  würde  dann  eine 
zweite  wichtige  Gruppe  schon  in  so  früher  Zeit 
vertreten.  Nur  entfernt  verwandt  mit  jenen  ist 
die  hauptsächlich  vertretene  Abteilung  der  Plateo- 
sauriden,  der  die  große  Mehrzahl  aucli  der  neuen 
Württemberger  und  Halberstädter  Dinosaurier  an- 
gehört. Sie  zeigen  etwas  indifferenteren  Bau  und 
könnten  außer  für  die  echten  jüngeren  Theropoden 
auch  fürdieeinseitigentwickeltengigantischenSauro- 
poden  der  Ausgangspunkt  gewesen  sein  oder  ihnen 
doch  nahe  stehen,  wie  sie  andererseits  noch  Merk- 
male primitiverer  Reptilien  bewahrt  haben.  Ihr 
Bau  ist  nunmehr  ganz  wesentlich  besser  bekannt  ge- 
worden und  das  verspricht  weitere  wichtige  Resultate. 
Über  die  wahre  Anzahl  der  Wirbel  bei  ihnen,  die 
bisher  nur  vermutungsweise  errechnet  werden 
konnte,  über  den  feineren  Bau  und  die  Zahl  der 
Halswirkel  hat  J aekel  schon  wichtiges  Material 
beigebracht.  Die  etwas  kleineren  und  primitiveren 
Thecodontosaurier  gehen  den  Plateosauriden  nach 
den  bisherigen  P'unden  auch  im  Alter  wenig  voran. 
Es  besteht  also  in  dieser  Hinsicht  jetzt  ein  ge- 
wisser Übergang.  Dagegen  tritt  die  Gesamtheit 
der  Dinosaurier  uns  nunmehr  in  der  Trias  schon 
vielgestaltiger  und  verzweigter  entgegen.  Es  ist 
das  ja  ein  Problem,  das  sich  so  oft  in  den  Palä- 
ontologie darbietet,  daß  eine  soeben  erst  auf- 
tauchende Tiergruppe  auch  alsbald  eine  schwer 
verständliche  große  Mannigfaltigkeit  aufweist. 

L^ber  eine  wichtige,  durch  Tornier  aufge- 
rollte Frage,  diejenige  nach  der  Gangart  und  Fuß- 
stellung der  Dinosaurier,  sind  die  Ansichten  offen- 
bar noch  im  Fluß.  Schematisieren  ist  auch  hier 
das  größte  Übel.  Es  darf  wohl  angenommen 
werden,  daß  so  reichhaltiges  neues  Material  auch 
hierin  manche  neue  Anregung  und  Vertiefung  des 
Problems  uns  bringen  wird.  Wie  nämlich  aus 
neueren  Arbeiten  von  Huene's^)  hervorgeht, 
werden  wir  uns  wohl  sogar  bequemen  müssen 
den  Namen  Dinosaurier  ganz  fallen  zu  lassen. 
Denn  es  scheinen  unter  diesem  Namen  zwei  ge- 
netisch zu  scheidende  Entwicklungszweige,  Sau- 
rischia  und  Ornithischia  nach  von  Huene,  zu- 
sammengefaßt worden  zu  sein ! 


')  von  Huene,  Über  die  Zweistümmigkeit  der  Dino- 
saurier usw.     Neues  Jahrb.  f.  Min.     Beil.  Bd.  37,  1914- 

—  — ,  Das  natürliche  System  der  Saurischia.  Zcntralbl. 
f.  Min.   1914. 


422 


Naturwissenschaft lirhc  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  2 


[Machdruck  verboten.' 


Das  Fußskelett  des  Tapirs. 

Von 

Univ. -Prof.  Dr.   phil.  et  med.  L.  Kathariner,  Frcihurg  (Schweiz). 

Mit  4  Te.Kttiguren. 


Im  Gegensatz  zu  den  Paarzehern,  Artiodactyla, 
zu  denen  unter  anderen  die  Schweine,  Schafe, 
Rinder,  Hirsche  usw.  gehören,  faßte  R.  ( )  w  e  n 
die  Pferde,  Tapire  und  Nashörner  als  Unpaarzeher, 
Perissodactyla,  zusammen.  IVIarsh  bezeichnete 
sie  als  Mesaxonia  im  Gegensatz  zu  jenen,  den 
Paraxonia.  Die  Richtung,  in  der  die  Körperlast 
auf  die  Extremitäten  wirkt,  fällt  nämlich  in  die 
Richtung  der  Längsachse  der  Gliedmaße,  die  nur 
mit  der  dritten  Zehe  den  Boden  berührt;  bei  den 
Paarzehern  dagegen  fällt  sie  zwischen  die  dritte 
und  vierte  Zehe.  Die  dritte  Zehe  ist  bei  den 
Unpaarzehern  weitaus  am  stärksten  entwickelt; 
die  anderen  sind  entweder  gänzlich  verschwunden 
oder  mehr  oder  minder  rudimentär.    Die  Rhinoce- 


Nordamerika.  In  Europa  reichen  sie  bis  in  das 
Pliozän.  Die  jetzt  lebenden  vier  Arten  sind  auf 
die  Tropen  beschränkt.  Drei  davon :  Gemeiner 
amerikanischer  Tapir,  Anta  (T.  americanus  L),  T. 
pinchacus  Blainv.  und  T.  Bairdii  Gill.  kommen  in 
IVlittcl-   und  Südamerika,    eine,  der  indische  Tapir, 


F 


««; 


t 


Fig.    I.      Linker  Vorderfuß:   K  =  Radius,   U  ^  Ulna, 

Mpli   2,   3,  4,   5    =   2.,   3.,  4.  und   5.   Mittelhandknochcn ; 

-1  3i  4.  5  =  -•!  3>  4-  ""J  5-  Finger. 


Fig.  2.  Linker  Hinterfuß:  T  =  Tibia,  F  =  Fibula,  C  =  Calcancus, 
Mt  2,  3,  4  =  2.,  3.  und  4.  Mittelfußknochen  ;  2,  3,  4  ^  2.,  3.  und  4.  Zelic 
Beide  I'"iguren  beziehen  sich  auf  den  Knibryo  von  Tajiirus  americanus  L 


rotidae  haben  am  vorderen  und  hinteren  Fuß  drei 
Zehen,  2.,  V  und  4.,  die  Tapiridac  vorn  vier,  2.,  3  , 
4.  und  5.;  hinten  drei,  2.,  3.  und  4.  Am  weitesten 
geht  die  Reduktion  des  P'ußskeletts  bei  den  Equidae. 
Vorn  und  hinten  kommt  nur  eine  einzige,  die 
dritte  Zehe  zur  Ausbildung.  Die  den  Metacarpalia 
bzw.  den  Metatarsalia  2  und  4  entsprechenden 
sog.  Griffelbeine  erreichen  bei  den  jetzt  lebenden 
Equiden  nicht  den  Boden. 

Die  rezenten  Perissodactyla  gehören  zu  den 
drei  Familien  der  Rhinocerotidae,  Tapiridae  und 
Equidae.  Fossile  F"amilien  sind  die  Titanotheriidae 
und  die  Chalicotheriidae.  Fossile  Tapiriden  sind 
bekannt    aus    dem    Untereozän    von    Europa    und 


Schabrackentapir,  Maiba  (T.  indicus  Desm.)  in 
Hintcrindien,  dem  südlichen  China  und  Sumatra  vor. 
Von  einem  Sammler  erhielt  ich  den  Embryo 
eines  amerikanischen  Tapirs  aus  dem  Amazonen- 
gebiet. In  Beistehendem  gebe  ich  zwei  Röntgen- 
aufnahmen des  F"ußskeletts  der  vorderen  und 
hinteren  Extremität.  Die  Maße  des  Tieres  von 
der  Schnauzenspitze  bis  zur  Schwanz wurzel  sind  der 
Krümmung  nach  gemessen  39,5  cm,  die  direkte 
Länge  32,5  cm.  Von  den  Carpalia  ist  nocii  nichts 
zu  sehen,  in  der  I-'iißwurzel  ist  dasegen  das  h^rsen- 


(NB.   Fig.  I    und   2   ist  in  je  einem  Exemplar  gegeben,  von 
denen   auf  dem   einen   die   Hinweisstriclie  eingetragen  sind.) 


N.  I''.  .Mir.  Nr.  27 


Naturwissenschaftliche   VVocliciischrift. 


bein  (Calcaneus  c)  bereits  deutlich.  Von  den 
fehlenden  iMngern  und  Zehen  ist  keine  Spur  vor- 
handen. VV'ie  beim  au.sgewachsenen  Tier  sind  auch 
hier  Radius  (R)  und  Ülna  (U)  bzw.  Tibia  (T)  und 
Fibula  (F)  deutlich  selbständige  Stücke.  Zwischen 
Unterarm  bzw.  Unterschenkel  und  Mittclhand-(Mi>h  I 


bzw.  Miitelfußknochen  (Mt)  ist  eine  weite  knochen- 
lose Uücke.  Kine  Abbildung  vom  Fuf'i  des  mensch- 
lichen Embrj'os  aus  der  Mitte  des  4.  Monats 
( J.  Kollmann,  Handatlas  der  Entwicklungsgeschichte 
des  Menschen,  Bd.  I,  Jena  1907,  Fig.  300)  zeigt 
ein  ganz  entsprechendes  Verhalten. 


Einzelberichte. 

Physik.     El  u  c  k  e  n ')    ist  es  geglückt,  die  Ad-      ling^l  nachgeprüft  und  ihre  Kenntnis  auf  Hohen 

bis  zu  9000  m  ausgedehnt  worden.  Die  Messungen 
wurden  im  bemannten  Freiballon  ausgeführt.  Da 
der  Ballon  fast  stets,  besonders  bei  raschem  Steigen 
oder  Fallen  und  bei  Ballastabgabe,  eine  Eigen- 
ladung besitzt,  stört  er  elektrische  Messungen  er- 
heblich. Um  ihn  mit  der  Umgebung  ins  elektrische 
Gleichgewicht  zu  setzen,  wurden  in  einigen  Fällen 
blanke  Magnaliumbleche  benutzt,  die,  von  der 
Sonne  bestrahlt,  einen  genügend  starken  Photo- 
effekt zeigten,  um  die  Ballonladung  zu  zerstreuen. 
Außerdem  waren  bei  den  meisten  Fahrten  ständig 
tropfende,  mit  Kalziumchloridlösung  gefüllte 
Gummisäcke  am  Ballon  angebracht.  Die  Resultate 
sind  interessant  genug.  Es  nimmt  nämlich  die 
Leitfähigkeit  nach  ihnen  in  etwa  exponentiellem 
Verhältnisse  mit  wachsender  Höhe  zu ,  was  auf 
eine  außerordentlich  starke  Ionisation  der  Luft  in 
höchsten  Schichten  durch  die  Sonnenstrahlung 
deutet.  Li  9000  m  ist  die  Leitfähigkeit  wenigstens 
40  mal  so  groß  wie  an  der  Erdoberfläche.  Der 
erhöhten  Leitfähigkeit  entsprechend,  aber  vielleicht 
nicht  allein  durch  sie  bedingt,  sinkt  das  Spannungs- 
gefälle. Es  beträgt  nur  noch  3 — 4  Volt  pro  m  in 
90CO  m  Höhe.  Interessant  ist  es,  daß  die  an  der  Erd- 
oberfläche häufigen  starken  Störungen  in  größeren 
Höhen  fast  oder  ganz  verschwinden.  Br. 


Sorptionserscheinungen  in  die  allgemeine  kinetische 
Theorie  der  Materie  einzureihen,  wenigstens  für 
die  Fälle,  bei  denen  sie  nicht  mit  chemischen  Vor- 
gängen (wie  z.  B.  beim  Färben)  verknüpft  sind. 
E  u  c  k  e  n  geht  von  der  allgemeinen  Attraktionskraft 
aus,  die  zwischen  gleichartigen  und  ebenso  zwischen 
ungleichartigen  Molekülen  herrscht  und  die  sich 
vor  allem  durch  das  Vorhandensein  einer  Ver- 
dampfungswärme und  der  Oberflächenspannung 
bemerkbar  macht.  F'ür  diese  Attraktion  ist  rech- 
nerisch charakteristisch  das  Attraktionspotential, 
das  sich  bei  gleichartigen  Molekülen  nahe  gleich 
dem  Siedepunkt  bei  Atmosphärendruck  ergibt. 
Wird  nun  in  dem  Falle  der  Adsorption  von  Gasen 
(Stickstoff,  Argon  und  andere  Gase)  für  Kohle 
dieses  Attraktionspotential  =  3600,  und  außerdem 
der  Exponent  des  Abstandes,  mit  dem  die  Kraft 
abnehmen  soll,  gleich  4  gesetzt,  so  ergibt  sich  für 
nicht  allzu  tiefe  Temperaturen  eine  geradezu 
glänzende  Übereinstimmung  zwischen  Theorie  und 
Beobachtung.  Die  Abweichungen,  die  sich  bei 
sehr  tiefen  Temperaturen  ergeben,  lassen  sich 
zwanglos  dadurch  erklären,  daß  bei  der  sehr  ge- 
ringen Geschwintligkeit  mit  der  in  diesen  F'ällen 
die  Adsorption  vor  sich  geht,  das  Gleichgewicht 
noch  nicht  erreicht  war.  Größere,  nicht  restlos 
zu  erklärende  Abweichungen  ergeben  sich  aller- 
dings bei  Wasserstoff,  der  sich  ja  aber  auch  sonst 
in  seinen  molekularen  Erscheinungen  abweichend 
verhält.  Sehr  gut  ist  auch  die  Übereinstimmung 
für  die  Adsorptionswärme,  die  sich  natürlich  auch 
aus  der  Rechnung  ergibt. 

Ferner  zeigt  die  Beobachtung,  daß  bei  mäßigen 
Drucken  die  adsorbierle  Menge  dem  (iasdrucke 
proportional  ist.  Dasselbe  ergibt  die  Theorie  und 
auch  die  Temperaturabhängigkeit  der  Adsorption 
wird  durch  die  Theorie  im  allgemeinen  richtig 
wiedergegeben.  Betreffs  der  Adsorptionserscheinun- 
gen bei  Dämpfen  muß  auf  die  Originalarbeit  ver- 
wiesen werden. 

Die  beiden  wesentlichsten  elektrischen 
Daten  der  Erdatmosphäre,  die  Leitfähig- 
keit und  das  Spannungsgefälle,  sind 
von  Wigand-},Lutze,BongardsundEver- 


')  A.  Eucken,  Zur  Theorie  der  Adsorption.  Ber.  d.  D. 
Phys.   Ges.    1914,  345. 

'')  Wigand,  Messungen  der  elektrischen  Leitfähigkeil  in 
der  freien  Atmosphäre  bis  9000  m  Höhe.  Ber.  d.  D.  Hiys. 
Ges.    1914,   232. 


Astronomie.  Eine  Beziehung  zwischen  Durch- 
messer und  Temperatur  der  Sterne  sucht  Hnatek 
aufzustellen  (Astr.  Nachr.  4731).  Aus  den  bekann- 
ten Strahlungsgesetzen  ist  die  Sterntemperatur  zu 
ermitteln,  und  diese  in  Verbindung  mit  der  Ent- 
fernung des  Sternes  muß  die  scheinbare  Größe 
ergeben.  Das  nicht  sehr  zahlreiche  Material  zeigt 
zunächst,  daß  bei  5500  Grad  ein  kritischer  Punkt 
liegt.  Die  heißeren  Sterne  sind  alle  von  der  Größe 
unserer  Sonne,  die  selber  etwa  6600  Grad  hat, 
während  die  kühleren  Sterne  sehr  groß  sind.  Hier 
gehen  die  Temperaturen  bis  2800  Grad  herunter, 
und  die  Durchmesser  bis  zum  100  fachen  der  Sonne, 
ja  bei  ß  Ursae  minoris  bis  zum  330  fachen  der  Sonne. 
Dieser  Kör[)er  ist  also  der  Größe  der  Erdbahn  ver- 
gleichbar und  hat  das  36  Millionenfache  der  Sonne 
an  Oberfläche.  Es  erscheint  dem  Autor  fraglich, 
ob  diese  riesigen  Durchmesser  reell  sind,  da  doch 
die  Sterne  sich  mit  zunehmender  Abkühlung 
zusammenziehen  sollten.  Er  meint  daher,  daß 
diese  Ausmaße  nur  zum  Teil  reell  seien.    Bei  der 


*)  Everling,    Messungen    des    elektrischen    Spannungs- 
gefälles in   der  freien   Atmosphäre  bei    goo  m.      licr.  1914,250. 


424 


Naturvviescnschaftli 


VVochcnsclirift. 


N.   F.  XIII.  Nr. 


kritischen  Temperatur  fangen  chemisclie  Verbin- 
dungen an  sich  zu  bilden.  Dies  geschielit  bei 
starker  WärmeentwickUiiig  und  gewaltigen  Ex- 
plosionen, die  die  großen  Durchmesser  erzeugen. 
Auf  der  anderen  Seite  wirken  diese  Verbindungen 
als  stark  lichtabsorbierende  Gase,  und  zwar  zu- 
nächst auf  die  kurzwelligen  Strahlen,  so  daß  wir 
im  Spektrum  das  Knergicmaximum  an  die  ialsche 
Stelle  legen,  also  auch  zu  niedrige  Temperaturen 
bestimmen  und  daraus  auf  zu  große  Durchmesser 
schließen.  Vielleicht  wirken  beide  Ursachen  zu- 
sammen. Riem. 

Zoologie.  Die  Fortpflanzung  der  Süßwasser- 
ostrakoden.  Einen  wesentlichen  Beitrag  zur  Kennt- 
nis der  Biologie  der  Sijßwasseroslrakoden  liefert 
Wohlgemuth  mit  einer  kürzlich  erschienenen 
Arbeit  ').  Von  besonderem  Interesse  scheinen  mir 
die  von  dem  Verfasser  angestellten  Beobachtungen 
und  Untersuchungen  über  die  Fortpflanzung  dieser 
Entomostraken  zu  sein. 

Unsere  bisherigen  Kenntnisse  über  die  Ver- 
mehrungsweise der  Süßwasserostrakoden  sind  recht 
lückenhaft.  Wohlgemuth  suchte  diese  Lücken 
auszufüllen  nicht  nur  durch  die  Untersuchung  mög- 
lichst zahlreicher  F"änge  zu  verschiedenen  Jahres- 
zeiten, sondern  er  beobachtete  auch  eine  größere 
Anzahl  .'\rten  längere  Zeit  in  der  Kultur.  Die 
Zucht  mancher  besonders  empfindlicher  Arten 
macht  allerdings  große  Schwierigkeiten,  immerhin 
konnte  Wohlgemuth  von  30  beobachteten 
Arten  21  züchten,  eine  Anzahl  von  diesen  wurde 
ein  bis  zwei  Jahre  hindurch  auf  ihre  Fortpflanzungs- 
weise untersucht. 

Nach  ihrer  F'ortpflanzung  teilt  W  o  h  1  g  e  m  u  t  h 
die  Süßwasserostrakoden  in  zwei  große  Gruiipen 
ein.  Die  einen  pflanzen  sich  rein  zweigeschleciit- 
lich  fort,  bei  den  anderen  fehlt  das  männliche 
Geschlecht  vollständig,  sie  vermehren  sich  aus- 
schließlich parthenogenetisch.  Durch  Übergänge 
sollen  diese  beiden  Typen  verbunden  sein.  Nach 
den  Beobachtungen  VVohlgemuth's  erscheint 
es  mir  richtiger,  drei  Gruppen  zu  bilden,  ähnlich 
der  von  Lange')  für  die  Rotatorien  gegebenen 
Einteilung.  Der  ersten  Gruppe  sind  dann  die 
Formen  mit  ausschließlich  bisexueller  Fortpflanzung 
einzureihen,  der  dritten  die,  welche  sich  rein 
parthenogenetisch  vermehren.  Einen  Übergang 
von  dem  einen  zu  dem  anderen  Extrem  stellt  die 
zweite  Gruppe  dar,  Formen,  die  einen  Wechsel 
zwischen  pnrthcnogenetischer  und  bisexueller  Fort- 
pflanzung, eine  Heterogonie,  aufweisen.  Für  Ostra- 
koden  hat  W  o  h  1  g  e  m  u  t  h  diesen  Fortpflanzungs- 
modus als  erster  nachgewiesen.    Diese  Einteilung 

')  Wohlgemuth,  R.,  Beobachtungen  und  Untersuchun- 
gen über  die  Biologie  der  Süi3wasserostrakoden ;  ihr  Vorkom- 
men in  Sachsen  und  Böhmen,  ihre  Lebensweise  und  ihre  Fort- 
pflanzung. Intern.  Rev.  d.  ges.  Hydrobiol.  u.  liydrogr.,  Biol. 
Suppl.  z.  Bd.  6,    1914. 

^)  Lange,  A. ,  Unsere  gegenwärtige  Kenntnis  von  den 
Fortpfl.inzungsverhältnissen  der  Kädertiere.  Kritisches  Sammel- 
referat. Intern.  Rev.  d.  ges.  Hydrobiol.  u.  Hydrogr.,  Bd.  6, 
1913- 


läßt  sich  freilich  bei  den  Ostrakodeii  nicht  in 
gleicher  Weise  durchführen  wie  bei  den  Rotatorien. 
Während  bei  den  Rädertieren  die  drei  Gruppen 
mit  den  von  Plate  aufgestellten  drei  Familien 
einigermaßen  zusammenfallen,  gibt  es  bei  den 
Ostrakoden  einzelne  Arten,  die  je  nach  der  Ürt- 
lichkeit,  wo  sie  vorkommen,  verschiedenen  Gruppen 
zugewiesen  werden  müssen.  Rotatorien  sowohl 
wie  Ostrakoden  zeigen,  phylogenetisch  gesprochen, 
die  Tendenz  zu  einer, .progressiven  Parthenogenese", 
bei  den  Ostrakoden  aber  ist,  möchte  ich  sagen, 
der  Zustand  mancher  rezenten  Arten  ein  labilerer 
als  bei  den  Rotatorien.  Cypris  virens  z.  B.  wurde 
von  Wohlgemuth,  genau  wie  von  allen  früheren 
Untersuchern,  nur  in  weiblichen  Exemplaren  be- 
obachtet. In  Afrika  (Algier)  hingegen  —  und 
wahrscheinlich  auch  in  Nordamerika  —  pflanzt 
sich  diese  Spezies  zum  mindesten  zeitweise  zwei- 
geschlechtlich fort.  Ähnliche  Beobachtungen  liegen 
auch  für  andere  Arten  vor.  Von  manchen  Arten 
allerdings  mögen  die  Männchen  noch  gefunden 
werden  bei  ausgedehnteren  Untersuchungen,  als 
sie  bisher  vorliegen. 

Besonders  eingehend  hat  sich  W  ohl  gcni  ut  h 
mit  der  F'ortpflanzungsweise  von  Cj'prinotus  incon- 
gruens  befaßt.  FIs  ist  dies  auch  die  Art,  für  welche 
er  einen  Generationswechsel  mit  Sicherheit  nach- 
weisen konnte.  Cyprinotus  incongruens,  ein  sehr 
weit  verbreiteter  und  außerordentlich  häufiger 
Ostrakode,  lebt  in  Pfützen,  Straßengräben,  Dorf- 
teichen ohne  Vegetation,  in  Gewässern  also,  die 
gelegentlich  austrocknen.  Die  meisten  Beobachter 
haben  diese  Art  nur  in  weiblichen  Exemplaren 
gefunden,  an  gewissen  Stellen  aber  —  z.  B.  in 
Böhmen  —  sind  auch  Männchen  beobachtet  worden. 
Man  kam  infolgedessen  zu  der  Ansicht,  daß  die 
Artsich  gewöhnlich  parthenogenetisch,  an  manchen 
Orten  aber  zweigeschlechtlich  vermehrt,  ähnlich  wie 
die  oben  genannte  Cj'pris  virens.  Man  unterschied 
also  zwei  hinsichtlich  ihres  Fortpflanzungsmodus 
verschiedene  Rassen.  Wohlgemuth  versuchte 
nun,  die  eine  ,, Rasse"  in  die  andere  überzuführen. 
Eine  lehmige  Pfütze  vor  dem  Dorfe  Bösig  bei 
Llirschberg  in  Böhmen  wurde  vom  August  191 1 
bis  Finde  März  1913  beobaclitet.  Sie  enthielt  aus- 
schließlich weibliche  Individuen.  Die  Pfütze  trock- 
nete im  Sommer  ab  und  zu  aus,  fror  im  Winter 
bis  zum  Grund  vollkommen  zu,  immer  traten  aber 
hernach  wieder  die  parthenogenetischen  Weibchen 
von  Cyprinotus  auf.  Mehrere  Dorftümpel  in  Alt- 
Kalken  ebenfalls  bei  Hirschberg  wiesen  während 
der  ganzen  Zeit,  wo  sie  beobachtet  wurden  — 
die  gleiche  Zeit,  wie  die  obige  F"orm  —  Weibchen 
und  Männchen  auf.  Die  eingeschlechtliche  Form 
wurde  2''.,  Jahre  lang  —  zeitweise  unter  den  ver- 
schiedensten Bedingungen  —  in  Kultur  gehalten.  Die 
einen  Tiere  wurden  bei  Zimmertemperatur  gezüchtet 
und  reichlich  mit  Schneckenfleisch  gefüttert,  andere 
kamen  in  28—30",  in  17 — 19",  in  9—1 1"  C,  wieder 
andere  in  ^/m  und  ^Z.,  normal  Nordseewasser,  die 
einen  wurden  reichlich  mit  Schneckenfleisch  ge- 
füttert,   andere  knapp    mit   Schlamm.       Alle  Ver- 


N.  F.  Xlll.  Nr.  27 


Natur wisscnscliaftlichc  Wochenschrift. 


425 


suche —  auch  Hintrocknungsversuche  wurden  unter- 
nommen —  blieben  erfolglos :  Es  entstanden  aus- 
schließlich patthenogeneiische  Weibchen.  Mehr 
Glück  hatte  Wollige  muth  hei  Versuchen  mit 
der  zweigeschlechilichen  Form  von  Kalken.  Auch 
diese  wurde  unter  ähnlich  verschiedenen  Be- 
dingungen gezüchtet  wie  die  eingeschlechtliche 
Form,  hinzu  kam  noch  eine  Kultur,  welche  mit 
Schlamm  von  der  Fundstelle  der  parthenogene- 
lischen  Form  in  Bösig  versehen  wurde  ider  Schlamm 
wurde  vorher  erhitzt,  um  etwa  noch  vorhandene 
Eier  abzutöten).  Alle  Kulturen  wurden  am 
5.  Dezember  191 1  mit  kopulierenden  Pärchen  be- 
setzt. Nach  der  Kopula  wurden  die  Männchen 
entfernt  und  nur  die  begatteten  Weibchen  weiter- 
gezüchtet. Während  bis  dahin,  wie  gesagt,  alle 
beobachteten  Generationen  von  Kalken  aus  Weib- 
chen und  Männchen  bestanden,  wurden  jetzt  plötz- 
lich von  den  begatteten  Weibchen  nur  noch 
W  e  i  b  c  h  e  n  erzeugt,  ganz  gleichgültig,  unter 
welchen  Bedingungen  sich  die  Tiere  befanden. 
Die  verschiedenen  Lebensbedingungen  waren  nur 
insofern  von  Bedeutung,  als  die  Entwicklungsdauer 
eine  verschiedene  war.  Am  22.  F"ebruar  191 2 
war  in  allen  Kulturen  die  rein  weibliche  Nach- 
kommenschaft vorhanden.  Die  Weibchen  lieferten 
parthenogenetisch  sich  entwickelnde  Eier,  aus 
denen  auch  in  den  nächsten  Generationen  immer 
wieder  nur  Weibchen  entstanden.  Die  in  der 
Kultur  parthenogenetisch  gewordene  Kalkencr 
Form  versuchte  sodann  Wohlgemut  h  in  den 
zvveigeschlechtlichen  Zustand  zurückzuführen.  Aber 
das  Resultat  aller  Versuche  war  ebenso  negativ 
wie  das  bei  den  Versuchen  mit  der  Form  von 
Bösig  erhaltene. 

Ist  der  beobachtete  Generationswechsel  nun 
ausschließlich  ein  Produkt  der  künstlichen  Züchtung, 
oder  kommt  er  auch  in  der  Natur  vor?  Die 
höchst  interessante  Tatsache,  daß  die  Kalkener 
Form  in  der  Natur  nicht  zur  Parthenogenese 
überging,  sondern,  solange  sie  beobachtet  wurde, 
die  zweigeschlechtliche  F'ortpflanzung  beibehielt, 
scheint  für  die  erstere  Alternative  zu  sprechen. 
Es  gelang  indessen  Wohlgemuth,  an  anderen 
Stellen  auch  in  der  Natur  einen  Generationswechsel 
bei  Cyprinotus  festzustellen,  dreimal  in  Böhmen, 
sowie  sehr  genau  in  Maßlau  bei  Leipzig.  Während 
des  Jahres  loii  fand  er  dort  ausschließlich  Weib- 
chen. Im  Spätherbst  (November)  verschwand  die 
Art.  Überwinterte  Eier  wurden  im  März  1912 
gesammelt:  Es  entstanden  aus  ihnen  überraschender- 
weise Weibchen  und  Männchen.  Das  ganze  Jahr 
191 2  vermehrte  sich  die  Maßlauer  F"orm  zwei- 
geschlechtlicb,  auch  im  F'rühjalir  1913  traten  wieder 
beide  Geschlechter  auf.  Ob  auch  an  anderen  Orten 
Cyprinotus  incongruens  einen  Generationswechsel 
besitzt,  muß  vorläufig  unentschieden  bleiben.  Da 
nach  den  Beobachtungen  Wohlgemuth 's  der 
Wechsel  in  der  Fortpflanzungsart  nur  nach  längeren 
Zeiträumen  eintritt,  sind  ausgedehnte  Unter- 
suchungen notwendig,  um  auf  diese  Frage  eine 
sichere  Antwort  geben  zu  können.     In  Nordafrika 


scheint  sich  Cyprinotus  incongruens  ausschließlich 
zweigeschlechtlich  fortzupflanzen,  im  Westen 
Europas  ausschließlich  parthenogenetisch.  Lassen 
sich  diese  Angaben  be.'^tätigen,  so  haben  wir  in 
diesem  Ostrakoden  eine  Spezies  vor  uns,  die  alle 
bei  den  Ostrakoden  überhaupt  vorkommenden 
F'ortpflanzungsmodi  aufweist.  Es  ist  möglich  oder 
vielmehr  sogar  wahrscheinlich,  daß  auch  noch  bei 
anderen  Ostrakoden  ein  solcher  Generationswechsel 
vorkommt.  Über  die  Ursachen  des  Generations- 
wechsels bei  den  Ostrakoden  sind  wir  bisher  ganz 
im  unklaren.  Ähnlich  wie  bei  den  Rotatorien, 
Cladoceren  usw.  mögen  in  erster  Linie  innere 
F'aktoren  maßgebend  sein  für  den  Ablauf  des 
Generationszyklus.  Aber  gerade  die  Tatsache, 
daß  die  zweigeschlechtliche  F'orm  von  Kalken 
nur  in  d  e  r  K  u  1 1  u  r  zur  Parthenogenese  über- 
ging, zeigt,  daß  die  äußeren  Bedingungen  keines- 
wegs gleichgültig  sind.  Die  Faktoren  freilich, 
welche  von  Bedeutung  sind,  lassen  sich  aus  den 
Angaben  Wohlgemuth's  nicht  erkennen.  Zu- 
künftige Untersuchungen  werden  uns  wohl  auch 
darüber  noch  Aufschluß  bringen. 

Nachtsheim. 

Entwicklungsmechanik.  MerkwürdigeDoppel- 
bildungen  bei  den  Nemertinen  ^)  beschreiben 
Nusbaum  und  Oxner  (Archiv  für  Entwicklungs- 
mechanik der  Organismen,  i.  H.,  39.  Bd.,  1914). 
Verf  haben  schon  früher  von  Lineus  ruber  Müll, 
die  merkwürdige  Tatsache  beschrieben,  daß  es  in 
den  sog.  Kolben,  welche  je  2,  3,  4—8  Eier  ent- 
halten, sehr  oft  zum  Zusammenfließen  von  zwei 
benachbarten  Eiern  kommt,  wobei  aus  einem  solchen 
Komplex  ein  einziges  Individuum  sich  entwickelt. 
Ein  solcher  „diovogonischer"  Embryo  zeichnet 
sich  nur  durch  seine  Größe  aus,  ist  aber  unzweifel- 
haft nur  ein  Individuum.  Bei  der  Bearbeitung 
des  embryologischen  Materials  fanden  sich  indes 
auch  durch  das  Zusammenfließen  entstandene 
Doppelbildungen.  Es  werden  zwei  Typen  solcher 
Doppellarven  unterschieden.  Bei  dem  einen  Typus 
sind  zwei  Köpfchen  vorhanden  mit  je  einem  Ge- 
hirn, Augen,  Rüssel  usw.  Der  Schlund  eines 
jeden  führt  in  einen  gemeinsamen  Darm,  der  mit 
einer  unpaaren  Afteröffnung  mündet.  Beim  anderen, 
,, Kreuztypus",  sind  zwei  Mund-  und  zwei  After- 
öffnungen vorhanden,  die  je  an  einem  Ende  des 
kurzen  bzw.  des  langen  Kreuzarms  liegen. 

Was  die  Entstehung  solcher  Doppelindividuen 
angeht,  so  ist  sie  oftenlDar  auf  die  Verschmelzung 
späterer  Entwicklungsstadien  zurückzuführen,  wäh- 
rend die  frühzeitige  Verschmelzung,  bis  zum 
Blastulastadium,  die  Bildung  eines  Riesenembryos 
zur  Folge  hat. 

Ganz  allgemein  können  die  auch  bei  ver- 
schiedenen anderen  Tieren  —  besonders  Strudel- 
und  Regenwürmern  —  beobachteten  Zwillings- 
bildungen   auf  zweierlei  Art    entstehen    und    dem- 

')  Eine  hauptsächlich  im  Meere  vertretene  Gruppe  von 
Würmern. 


426 


Naturwisscnscliaftliche  Wocliensclirift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  27 


nach  als  „fissiembryonale''  und  „diovogonische" 
Doppelbildungen  bezeichnet  werden.  Erstere  wird 
durch  eine  Spaltung  der  Keimblättcranlageii  ver- 
anlaßt. So  fand  V  e j  d  o  v  s  k  )•  die  Spaltung  eines 
Eies  in  zwei  Blastoineren  beim  Regenwurm.  Doch 
ist  die  Verallgemeinerung  dieser  Entstehungsart, 
wie  esSekera  will,  nicht  berechtigt.  Es  können 
vielmehr,  wie  das  namentlich  an  den  Keimen  von 
Seeigeln  gefunden  wurde,  auch  aus  einer  Ver- 
schmelzung, je  nach  der  Lage  der  Keime  zuein- 
ander, solche  Zwillinge  hervorgehen.  Namentlich 
entscheidet  die  Lage  und  der  Winkel  der  Achsen 
zweier  Keime  zueinander,  ob  eine  große  Einheits- 
oder eine  Zwillingsbildung  entstehen  soll. 

Hei  den  Nemertincn  scheint  es  außerdem  davon 
abzuhängen,  in  welchem  Stadium  die  Eier  oder 
Keime  miteinander  verschmelzen. 

Besonders  bemerkenswert  ist,  daß  sich  beim 
Zusammenfließen  von  zwei  bilateralen  Individuen 
eine  Bilateralität  des  Ganzen  wieder  herstellen 
kann,  während  von  den  zwei  Individuen  jedes 
seine  Bilateralität  verliert.  Letztere  scheint  eine 
kardinale  Eigentümlichkeit  der  lebendigen  Sub- 
stanz zu  sein.  Kathariner. 

Geographie.  „Über  Abtragungsvorgänge  in 
den  regenfeuchten  Trojien  und  ihre  morphologischen 
Wirkungen"  veröffentlicht  Karl  Sapper  in  der 
G.  Z.  1914,  H.  1/2   eine  ausführliche  Lhitersuchung. 

In  den  Tropen  muß  unterschieden  werden 
zwischen  Gebieten  mit  regelmäßiger  Trockenzeit 
und  Gebieten  mit  Rcgenfall  das  ganze  Jahr  über, 
und  in  jedem  dieser  Gebiete  zwischen  den  höheren 
Regionen  mit  Frost  und  den  tieferen  frost freien 
Regionen,  die  allein  betrachtet  werden.  Während 
der  Zeit  des  üppigsten  Pflanzenwuchses  erreichen 
beide  Regionen  ähnlich  starken  Vegetationsschutz, 
aber  je  liöher  man  kommt,  desto  mehr  erinnern 
die  Bergformen  unmittelbar  an  die  der  gemäßigten 
Zone.  Im  tropischen  Regenwald  hingegen  fällt 
die  außerordentliche  Üppigkeit  der  Vegetation  auf 
durch  die  das  Eindringen  des  Regenwassers  er- 
leichtert und  die  oberflächliche  Abspülung  erschwert 
wird.  Dadurch  wird  der  Untergrund  rasch  zer- 
setzt, die  große  Mehrzahl  der  Gesteine  unterliegt 
in  gleicher  Weise  der  chemischen  Umsetzung; 
nur  Kalksteine,  Quarzite  oder  Sandsteine  findet 
man  bisweilen  anstehend.  Der  Zersetzungsboden 
neigt  zur  Herausbildung  ähnlicher  Geländeformen, 
die  aber  der  Waldbedeckung  wegen  meist  sehr 
schwer  zu  studieren  sind. 

I.  Die  Abtragungsvorgänge.  Das  Maß 
der  Abspülung  ist  jahreszeitlich  verschieden,  doch 
scheinen  Messungen  der  Sedimenlführung  reiner 
ürwaldflüsse  noch  nicht  ausgeführt  zu  sein.  Die 
Abtragung  steigert  sich  außerordentlich  bei  Herab- 
setzung des  Vegetationsschutzes  durch  grabende 
Tiere,  Wildpfade  und  Fußpfade  der  Menschen. 
Auch  die  Erosionswirkung  der  Flüsse  ist  bedeutend ; 
da  aber  wenig  festes  Gesteinsmaterial  in  die  F'luß- 
betten  gelangt,    so    sind  die  LTrvvaldflüsse  arm  an 


Gerollen.  Die  Seitenerosion  ist  durch  die  dichte 
X'egetation  entschieden  erschwert.  Der  Boden 
selbst  f  1  i  e  ß  t  mehr  als  daß  er  abwärts  rückt,  doch 
nur  in  den  unteren  Lagen,  wo  das  Wurzclwerk 
der  Bäume  nicht  stört.  Diese  beiden  Boden- 
regionen, die  \  bis  i  m  mächtige  Wurzel- 
region  und  die  wurzelarme  müssen  unter- 
schieden werden.  Schlammausflüsse  bei  Verletzung 
der  Wurzelregion  sind  ab  und  zu  zu  beobachten. 
Häufiger  sind  während  der  Regenzeit  Erd- 
schlipfe, die  mit  ihren  Abrißstellen  und  Lauf- 
bahnen den  bekannten  Erscheinungen  der  ge- 
mäßigten Zone  gleichen.  Sie  bewegen  sich  vor- 
zugsweise innerhalb  des  Verwitterungsbodens '). 
Wesentlich  anders  sind  die  Abtragungsvorgänge 
im  Gebiet  löslicher  Gesteine  (Gipse,  Kalk- 
steine und  Dolomite),  die  der  Abspülung  einen 
bemerkenswerten  Widerstand  entgegensetzen,  aber 
die  Höhlenbildung  und  Versickerung  fördern.  In 
ausdauernden  Flüssen  bilden  sich  an  Gefällsknicken 
nicht  selten  K  a  1  k  t  u  f  f  d  ä  m  m  e  aus.  Im  allge- 
meinen sind  hier  die  Erscheinungen  der  Abtragung 
ähnlich  denen  der  gemäßigten  Zone. 

II.  Die  Gelände  formen  im  Gebiet  des 
regenfeuchten  T  r  o  p  e  n  w  a  1  d  e  s.  Im  Gegen- 
satz zu  den  ariden  und  semiariden  Gebieten  der 
gemäßigten  Zone  und  dem  Zurücktreten  der  Vege- 
tation in  denselben,  gewinnt  diese  in  den  Tropen 
eine  große  Bedeutung  für  die  Entstehung  der 
h'ormen  ;  sie  setzt  die  mechanische  Verwitterung 
herab,  begünstigt  aber  sehr  die  chemische  Ver- 
witterung, erhält  die  Geländeformen  durch  ihren 
intensiven  Schutz,  ohne  aber  die  Abtragung  hindern 
zu  können.  In  Guatemala  und  Neu-Mecklenburg, 
den  Gebieten,  in  denen  Sapper  derartige  morpho- 
logische Beobachtungen  anstellen  konnte,  zeigen 
sich  Tatsachen,  die  auf  bedeutende  Hebungen 
aus  tiefem  Niveau  schließen  lassen.  Wenn  auch 
in  Guatemala  die  Abtragung  erst  mäßig  gewirkt 
hat,  so  konnten  in  Nikaragua  und  Britisch  Hon- 
duras Rumpfflächen  beobachtet  werden,  die 
erst  vor  kurzem  gehoben  und  erst  teilweise  wieder 
durch  Erosion  zerschnitten  wurden.  S  a  p  p  e  r 
glaubt  deshalb,  daß  auch  in  den  regenfeuchten 
Tropen  die  Abtragung  (xebirge  und  Hochländer 
in  Rumpfflächen  verwandeln  kann. 

Es  liegt  nun  nahe,  die  Formen  reihen  zu 
skizzieren,  die  bei  der  allmählichen  Abtragung  im 
feuchten  Tropenland  entstehen  dürften.  Sofern 
die  Hebung  einer  Scholle  nicht  bis  in  die  Region 
regelmäßiger  Fröste  geschieht,  dauern  auch  die 
vorhin  geschilderten  Abtragungsvorgänge  in  der 
neuen  Ilage  fort.  Gegen  die  ungemein  bedeut- 
samen Rau  mbeziehungen  zu  den  Hauptwegen 
der  Abtragung,  den  Flußtälern,  tritt  wesentlich 
zurück  der  in  trockenen  Gebieten  bedeutsame 
Gegensatz  der  Gesteine  gegeneinander;  harte 
Gesteinsschichten  als  Leisten  oder  Terrassen  sind 


M  W.   Volz,   Bodcniluß  in   den  Tropen  (Z.   Ges.   lüdkde 
1913,   II.   2). 


N.  F.  XIII.  Nr.  27 


Naturvvisscnscliaftliclic  Wochenschrift. 


427 


nirgends  an  den  Hängen,  sondern  nur  in  den  Fliiß- 
tälern  angedeutet.  So  ist  die  Rücke  nforni 
der  Kämme  nicht  nur  eine  Folge  der  Zeiteinflüsse, 
sondern  viehnehr  der  Raumeinflüsse,  indem  sie 
sich  zur  Grat  form  umwandelt,  wo  die  den  Kamm 
begleitenden  Flußläufe  sich  nähern.  Der  zu- 
schärfende Einfluß  beiderseitiger  Rutschungen  ist 
dabei  unverkennbar.  Durch  diese  geht  die  Ab- 
tragung gehobener  Landstriche  in  den  feuchten 
Tropen  ziemlich  rasch  vor  sich. 

Doch  ist  die  Rückenform  in  Mittel  Amerika 
weit  häufiger;  sie  bringt  es  mit  sich,  daß  trotz 
der  gewaltigen  Höhenunterschiede  die  Gebirge 
den  Eindruck  von  Mittelgebirgen  machen.  Trotz 
starker  Abtragung  sind  die  Flußtäler  noch  kerb- 
förmig  ohne  Sohle. 

Dagegen  ist  Borneo  (nach  Molengraaff) 
schon  ein  Gebiet  von  greisenhafter  Gestaltung: 
ein  abgerundetes  Bergland,  breit  von  Tiefland  um- 


säumt.   Es  scheint  sich  dem  Zustande  einer  Rumpf- 
fläche stark  zu  nähern. 

So  zeigt  sich,  daß  im  Gebiet  der  feuchten 
Tropen  die  Formenreihen  vielfach  geringeren 
Reichtum  aufweisen  als  in  Gebieten  der  ge- 
mäßigten Zone;  die  größere  Üppigkeit  der  Vege- 
tation erlaubt  auch  weit  stärker  bewaldete  Hänge 
als  hierzulande.  Das  Mäandrieren  der  Flüsse  da- 
gegen ist  ziemlich  gleichartig  mit  den  Erscheinun- 
gen in  unseren  Klimaten.  Auch  die  Erreichung 
des  Reifezustandes  bringt  ähnliche  Formen  in  beiden 
Gebieten  zustande. 

In  den  Gebieten  durchlässiger  Gesteine 
(Sandsteine  usw.)  dürften  ähnliche  Formen  ent- 
stehen wie  in  der  gemäßigten  Zone,  besonders 
aber  in  denen  löslicher  Gesteine  (Kalksteine),  in 
denen  auch  hier  die  auffälligen  Dolinen-  und 
Höhlenformen  vorherrschen 

Dr.  (lottfried  Hornig. 


Bücherbesprechungen. 


Eberhard  Zschimmer,  Philosophie  der 
Technik.  1S4  Seiten.  Jena  19 14,  Verlag  von 
Eugen  Diederichs.  —  Preis  brosch.  3  Mk. ,  geb. 
4  Mk. 
Die  Technik,  ein  Kind  der  modernen  Natur- 
wissenschaften ,  deren  Fortschritte  sie  groß  ge- 
macht haben,  hat  sich  in  kurzer  Zeit  selbst  zu 
einer  Wissenschaft  entwickelt.  Ihre  Arbeits- 
methoden sind  dieselben  geworden  wie  die  der 
Naturforschung,  die  Männer,  die  an  ihren  Erfolgen 
arbeiten,  sind  exakte  Naturwissenschaftler,  und 
während  früher  die  Technik  in  der  gegenseitigen 
Wechselwirkung  mit  der  Wissenschaft  mehr  der 
empfangende  als  der  gebende  Teil  war,  liefert  sie 
jetzt  täglich  der  Wissenschaft  immer  mehr  neue 
Hilfsmittel,  neue  Anregungen  und  neue  Problem- 
stellungen. Wenn  auch  heute  noch  wichtige 
Fragen  der  Naturwissenschaft  ungelöst  sind  und 
weite  Gebiete  unseres  Wissens,  die  nur  in  den 
äußersten  Umrissen  abgesteckt  sind,  des  Ausbaues 
harren,  so  scheint  doch  zunächst  ein  gewisser 
Abschluß  erreicht  zu  sein.  Diese  Bekenntnis 
kommt  in  verschiedenen  Symptomen  zu  Ausdruck; 
einmal  in  dem  neu  erwachten  Sinn  für  die  Ge- 
schichte der  Wissenschaft ,  dann  aber  vor  allem 
in  dem  Bestreben,  sich  Rechenschaft  über  das 
Gesamtresultat  des  bisher  Erreichten  zu  geben  und 
sich  über  den  eigentlichen  Wert  der  Wissenschaft 
klar  zu  werden.  Die  Zahl  der  Skeptiker,  denen 
die  Motivierung  der  Wissenschaft  als  Drang  zur 
„Wahrheit"  Anlaß  zur  Kritik  gibt,  ist  gewachsen, 
und  gerade  aus  den  Reihen  der  Fachwissen- 
schafiler  kam  jene  bescheidenere,  aber  positivere 
Definition,  daß  sie  irn  besten  Fall  eine  „Ökonomie 
des  Denkens"  sei.  Ähnliche  Erscheinungen  be- 
obachten wir  in  der  Entwicklung  der  Technik. 
Auch  sie  hat  jetzt  einen  Reifezustand  erreicht, 
der    es    angebracht    erscheinen    läßt,     eine    Weile 


von  der  Arbeit  aufzusehen  und  darüber  nachzu- 
denken, welchen  Sinn  die  Technik  hat  und  wohin 
sie  uns  führt.  Bedeutet  sie  weiter  nichts  als  die 
Anwendung  der  Ergebnisse  der  Naturwissenschaft 
auf  die  Lösung  nüchterner  Nützlichkeitsfragen  ? 
Erschöpft  sich  ihr  Sinn,  wie  Pessimisten  meinen, 
in  der  animalischen  Notdurft  der  Millionen  Ar- 
beiter und  in  der  zwecklosen  Profitsucht  einiger 
Tausend  Unternehmer?  Oder  liegt  ihr  irgendeine 
höhere  Idee  zugrunde,  die  über  das  Prinzip 
der  Zweckmäßigkeit  und  Nützlichkeit  hinausgeht? 
Diese  Fragen ,  die  in  zunehmendem  Maße 
unsere  Zeit  bewegen,  behandelt  E.  Zschimmer 
in  seinem  lesenswerten  Buch  über  die  „Philosophie 
der  Technik".  Der  Verfasser,  der  selbst  in  der 
Industrie  tätig  ist  und  durch  Veröffentlichungen 
über  verwandte  Themata  schon  früher  mehrfach 
hervortrat,  ist,  um  es  vorweg  zu  nehmen,  ein 
Lobredner  der  Technik.  Aber  seine  Wertschätzung 
der  Technik  entspringt  einem  Standpunkt,  der 
nichts  gemein  hat  mit  der  mehr  oder  weniger 
materialistischen  Begründung,  die  man  gerade  bei 
..philosophierenden"  Technikern  so  häufig  antrift't. 
Auch  der  Stil  des  Buches  unterscheidet  sicli  durch 
seine  stets  anschauliche,  nie  langweilende  Eigen- 
art vorteilhaft  von  der  Form ,  in  der  das  Thema 
,, Kultur  und  Technik"  in  manchen  technisch  orien- 
tierten Abhandlungen  schon  vorgetragen  worden 
ist.  Zschimmer  betrachtet  die  Technik  als  die 
,, organische  Teilerscheinung  eines  größeren  Phä- 
nomens, der  Kulturentwicklung  überhaupt".  Da- 
durch ,  daß  sie  unsere  Sinne  erweitert  und  uns 
eine  immer  größere  Macht  über  die  Stofile  und 
Kräfte  der  Natur  verschafft,  ist  sie  berufen,  dem 
Menschengeschlecht  die  materielle  Freiheit  zu 
sichern,  die  es  braucht,  um  seine  organische  Fort- 
entwicklung bewußt  -  schöpferisch  zu  vollenden. 
Diesem  in  seiner  Vollkommenheit  zur  „Idee"    er- 


428 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


N.  V.  XIII.  Kr.  27 


hobenen  Ziel  dient  der  Techniker,  dessen  Tätig- 
keit im  letzten  Grunde  mit  dem  Schaffen  des 
Künstlers  zu  vergleichen  ist.  Allerdings  läßt  sich 
hier  einwenden ,  daß  gewisse  Arbeitsformen,  wie 
Teilarbeit  und  Mechanisierung,  die  als  Folge  tech- 
nischer Kulturentwicklung  immer  stärker  hervor- 
getreten sind,  so  sehr  die  Idee  der  Technik  be- 
einträchtigen, daß  ihr  ideeller  Wert  unter  diesen 
schädigenden  Begleiterscheinungen  kaum  noch 
zu  erkennen  ist.  Daß  derartige  unerfreuliche 
Nebenfolgen  tatsächlich  existieren ,  leugnet  auch 
der  Idealist  Z  s  c  h  i  m  m  e  r  nicht  ab ;  aber  er  glaubt 
nicht,  daß  sie  notwendigerweise  zu  einem  alle 
Lebensfunktionen  des  IVIenschen  unterjochenden 
Vernützlichungsprinzip  ausarten  müssen ,  und  er 
deutet  an,  auf  welchen  Wegen  dieser  ,,Verameisung" 
des  Menschen  —  wie  es  ein  spöttischer  Kritiker 
genannt  hat  —  erfolgreich  entgegengearbeitet 
werden  kann.  Aus  jeder  Zeile  seiner  Ausführungen 
spricht  der  starke  Glaube  an  das  neue  Geschlecht, 
dem  die  Technik  den  Boden  bereitet;  und  in  der 
Überzeugungskraft  dieser  echten  Begeisterung 
liegt,  mehr  noch  als  in  der  Beweiskraft  der  philo- 
sophischen Deduktionen,  der  Hauptwert  dieses 
tapferen  Bekenntnis-Buches.        Günther  Bugge. 


Dr.  C.  H.  Stratz,  Die  Darstellung  des 
menschlichen  Körpers  in  der  Kunst. 
Mit  252  Textfiguren.  Berlin,  Verlag  von  Julius 
Springer,  19 14.  — •  Preis  geb.  12  Mk. 
Die  von  dem  bekannten  Verfasser,  dem  wir 
bereits  mehrere  verbreitete  Monographien  über 
den  menschlichen  Körper  verdanken,  in  dem  vor- 
liegenden Werke  verfolgte  Absicht  kennzeichnet 
er  selbst  im  Vorwort  als  eine  „naturwissenschaft- 
liche Kunstbetrachtung".  Der  etwas  gewagte 
Ausdruck  meint,  daß  das  Buch  durch  Text  und 
Illustratlonsmaterial  dem  Leser  die  Möglichkeit 
geben  soll,  sich  darüber  klar  zu  werden,  welche  Rolle 
der  menschliche  Körper  als  Naturmaterial 
für  die  bildende  Kunst  (Plastik  und  Malerei)  bei 
den  verschiedensten  X^ölkern  und  in  den  verschieden- 
sten Entwicklungszuständen  der  Kunst  gespielt 
hat.  Dies  Thema  ist  im  einzelnen  fast  unüber- 
sehlich,  und  demgemäß  hat  der  Verfasser  sich  in 
dankenswerter  Weise  bemüht,  die  großen  Haupt- 
linien des  Bildes  zu  unterstreichen.  Nach  einer 
kurzen  Einleitung,  in  der  man  den  Satz  nicht 
überlesen  sollte,  daß  der  Verfasser  nur  die  Ab- 
sicht hat,  den  menschlichen  Körper,  wie  er  in 
den  Kunstvverken  erscheint,  vom  Standpunkte  des 
Naturforschers  resp.  Arztes  zu  beurteilen  und  aus- 
drücklich feststellt,  daß  dieses  Urteil  von  dem 
künstlerischen  oder  kunsthistorischen  Wert  der 
betreffenden  Werke  unabhängig  ist,  folgen  vier 
Kapitel.  Das  erste  enthält  allgemeine  Bemerkungen 
über  die  künstlerische  Wiedergabe  des  Menschen 
und  stellt  dabei  besonders,  mit  einer  glücklichen 
Prägnanz,  den  einschneidenden  Unterschied  der 
vorchristlichen  und  nachchristlichen  Epochen  her- 
aus —  ein  Punkt,  über  den  sich  noch  viel  sagen 
ließe.      Es    folgt    sodann    ein    instruktives    Kapitel 


über  die  Normalgestalt  und  den  Kanon  des  Men- 
schen, wobei  es  interessant  ist,  sich  von  dem 
Oszillieren  um  gewisse  Mittelmaße  nähere  Rechen- 
schaft zu  geben.  Im  Anschluß  an  diesen  allge- 
meinen Teil  kommen  dann  die  beiden,  mit  mehr- 
fachen Unterabteilungen  versehenen  Hauptkapitel: 
Der  Mensch  in  der  Plastik,  und  der  Mensch  in  der 
Malerei.  Besonders  in  diesem  Teile  sind  schon 
die  Illustrationen  von  großem  Interesse,  indem  oft 
neben  das  Kunstwerk  ein  lebendes  Modell  in 
gleicher  oder  doch  ähnlicher  Stellung  gesetzt  ist. 
Diese  sehr  glückliche  Veranschaulichungsmethode 
ist  übrigens  bekanntlich  auch  schon  anderweitig, 
so  in  L.  V  o  1  k  m  a  n  n '  s  Buche  „Naturprodukt 
und  Kunstwerk"  zur  Anwendung  gekommen. 

Besonderen  Nachdruck  legt  der  Verfasser,  wie 
natürlich ,  auf  die  griechische  Kunst,  sodann  auf 
Michelangelo,  und  unter  den  Neueren  auf  Rodin. 
Auf  die  vielen  interessanten  Einzelheiten  kann 
natürlich  in  einer  Anzeige  nicht  näher  eingegangen 
werden,  auch  würde  es  unvermeidlich  sein,  damit 
das  eigentlich  künstlerische  Gebiet  zu  betreten. 
Doch  wird  man  gut  tun,  sich  stets  an  den  oben 
erwähnten  Ausspruch  des  geistreichen  Autors  zu 
erinnern,  daß  nämlich  anatomische  Korrektheit 
und  künstlerischer  Wert  zwei  sehr  verschiedene 
und  in  hohem  Maße  voneinander  unabhängige 
Begriffe  sind. 

Als  besonders  interessant  soll  hier  nur  die 
Erörterung  S.  146 — 158  über  Michelangelos  be- 
rühmte vier  Tageszeiten  in  der  Medicikapelle  von 
San  Lorenzo  (Florenz)  erwähnt  werden ,  speziell 
der  Nachweis,  in  wie  hohem  Grade  sämtliche  so 
verschieden  wirkende  Figuren  aus  demselben 
Grundmotiv  entwickelt  sind. 

Noch  einige  beim  Lesen  Ref.  aufgefallene  Einzel- 
heiten. —  S.  195  müßte  neben  Klinger  vor 
allem  ArturVolkmann  als  Vertreter  moderner 
farbiger  Plastik  genannt  werden.  —  Adam  und 
Eva  auf  Dürer's  Stich  von  1 504  (Fig.  167)  haben 
doch  wohl  eher  8  und  nicht  beinahe  9  Kopf  höhen,  wie 
Verf.  S.  217  angibt.  —  Für  die  Entwicklung  des 
Barock  ist  Michelangelo,  wenn  nicht  in  höherem 
Maße,  so  doch  sicher  mindestens  ebenso  aus- 
schlaggebend geworden  wie  Tizian  (zu  S.  230 
oben).  —  Die  Decke  der  sixtinischen  Kapelle  ist, 
soweit  Ref.  bekannt ,  niemals  übermalt  worden, 
es  handelt  sich  S.  234  um  eine  Verwechslung  mit 
dem  im  gleichen  Räume  befindlichen  jüngsten 
Gericht  Michelangelo's. 

Dr.   Waldemar  v.  Wasielewski. 


R.  R.  Schmidt,    Der    Sirgenstein    und    die 

diluvialen       Kulturstätten     W'ürttem- 

b  e  r  g '  s.  47  S.  u.  I  Tafel.  Stuttgart,  E.  Seh  weizer- 

barth'sche  Verlagsbuchh. 

R.  R.  Schmidt  beschreibt  in  dieser  Broschüre 

die  prähistorischen  P"unde  vom  Sirgenstein  (zwischen 

Schelklingen    und    Blaubeuren)    und    von    einigen 

anderen    Orten,    worauf    er    eine    Einreihung    der 

älteren    paläolithischen    Funde    Württemberg's    in 

das  System    der  älteren  Steinzeit  vornimmt.     Die 


N.  F.  XIII.  Nr.  27 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


429 


Darstellung,  die  auf  gründlicher  eigner  Kenntnis 
der  vorgeschichtlichen  Fundstellen  Süddeutschlands 
wie  der  einschlägigen  Literatur  beruht,  ist  sehr 
leicht  verständlich  und  man  kann  die  Schrift  bestens 
empfehlen.  H.  Fehlinger. 

Tad.  Estreicher,  Über  die  Kalorimetrie 
der  niedrigen  Temperaturen.  (Sonder- 
ausgabe aus  der  „Sammlung  chemischer  und 
chemisch-technischer  Vorträge"  von  A  h  r  e  n  s  (f) 
und  Herz.)  Gr.  8'\  66  Seiten  mit  6  Abbil- 
dungen im  Text.  Stuttgart  1914,  Verlag  von 
Ferdinand  Enke.  —  Treis  geh.  1,50  Mk. 
Kalorimetrische  Messungen  bei  niedrigen  Tem- 
peraturen sind  erst  durchführbar  geworden,  nach- 
dem durch  die  Gewinnung  flüssiger  Gase,  zunächst 
von  flüssiger  Kohlensäure,  die,  mit  Alkohol  oder 
Äther  zu  einer  Paste  angerührt,  eine  konstante 
Temperatur  von  — 78,3"  C  liefert,  dann  von  flüssi- 
gem Äthylen  vom  Siedepunkt  —  103"  G  und 
weiter  von  flüssiger  Luft  und  flüssigem  Wasser- 
stoff die  bequeme  Erreichung  niedriger  Tempera- 
luren ermöglicht  worden  war.  Die  große  Mehr- 
zahl der  bei  diesen  niedrigen  Temperaturen  aus- 
geführten kalorimetrischen  Messungen  knüpfen  in 
der  Hauptsache,  wenn  auch  nicht  ausschließlich, 
an  das  Dulo  n  g-Petit'sche  Gesetz  an,  nach 
dem  die  Atomwärme  der  festen  Elemente,  d.h. 
das  Produkt  aus  der  spezifischen  Wärme  und  dem 
Atomgewicht  etwa  6  Kalorien  betragen  soll.  Von 
diesem  Gesetze  machen  einige  Elemente,  beson- 
ders Silizium,  Bor  und  Kohlenstoff  insofern  eine 
Ausnahme,  als  ihre  Atomwärmen  viel  zu  niedrig 
sind.  Es  ist  das  Verdienst  von  H.  F.  Weber, 
im  Jahre  1875  festgestellt  zu  haben,  daß  die 
Atomwärme  im  allgemeinen  keine  Konstante  ist, 
sondern  in  der  Weise  von  der  Temperatur  ab- 
hängt, als  die  Atomwärme  bei  niedrigen  Tempe- 
raturen kleiner  als  bei  hohen  Temperaturen  ist, 
und  daß  sich  insbesondere  die  Atomwärme  der 
drei  Elemente  Silizium,  Bor  und  Kohlenstoff  mit 
steigender  Temperatur  mehr  und  mehr  der  Normal- 
zahl 6  nähert.  Ihre  theoretische  Deutung  und 
deren  experimentelle  Verifizierung  hat  diese  Tat- 
sache in  neuerer  Zeit  durch  die  Arbeiten  zunächst 
von  Boltzmann,  dann  besonders  von  Einstein 
und  von  Nernst  und  seinen  .Schülern  gefunden: 
Die  Atomwärmen  sämtlicher  Elemen-te  fallen,  wenn 
man  sich  dem  absoluten  Nullpunkte  nähert,  äußerst 
rasch.  Die  folgende  Tabelle,  die  einige  im 
Nernst 'sehen  Institut  experimentell  bestimmte 
Daten  enthält,    diene    als  Beleg   für  das  Gesagte: 

Element      Beobachtungstemperatur     Atomwärme 
Schwefel 


Silber 


—71»  c 

4,88 

— 190 

2,68 

-216 

2,06 

—250,4 

0,96 

-65«  c 

5,92 

-187 

4,35 

— 219,2 

2,90 

-238 

1,58 

Element       Beobachtungstemperatur     Atmosphäre 

Diamant  —53"  C  oj2 

—  181  0,03 

— 226,8  0,00 

— 249,7  0,00 

Für  den  Diamanten  wird  also  schon  bei 
—  226,8"  die  Atomwärme,  d.  h.  auch  die  spezifische 
Wärme  gleich  Null ,  bei  dieser  Temperatur  ver- 
liert der  Temperaturbegriff  für  den  Diamanten 
seinen  Sinn.  Diese  Tatsachen  sowie  ihr  Zusam- 
menhang mit  dem  Nernst 'sehen  Theorem  und 
damit  mit  den  fundamentalen  F'ortschritten,  die 
die  Theorie  der  chemischen  Affinität  in  jüngster 
Zeit  gemacht,  lassen  die  „Kalorimetrie  der  niedri- 
gen Temperaturen"  als  ein  interessantes  und 
wichtigesKapitel  moderner ])hysikalisch  chemischer 
F'orschung  erscheinen,  das  auch  schon  die  Auf- 
merksamkeit weiterer  Kreise  des  naturwissenschaft- 
lich   gebildeten    Publikums   auf   sich   gelenkt    hat. 

Estreich  er's  Schrift  gibt  eine  gewissenhafte 
historische  Darstellung  der  Fintwicklung,  die  die 
experimentelle  Technik  der  kalorimetrischen  Mes- 
sungen bei  niedrigen  Temperaturen  gefunden  hat, 
die  Ergebnisse  der  mittels  dieser  Technik  durch- 
geführten Untersuchungen  aber  und  ihre  theore- 
tische und  praktische  Bedeutung  werden  leider 
nur  kurz  gestreift.  Trotz  dieser  Beschränkung  im 
Umfange  des  abgehandelten  Stoffes  wird  sie  in 
den  Kreisen  der  Physiker  und  Chemiker  lebhaftes 
Interesse  und  die  verdiente  Beachtung  finden,  und 
zwar  um  so  mehr,  als  Est  reich  er  selbst  als 
erfolgreicher  F'orscher  auf  dem  von  ihm  be- 
sprochenen Gebiete  tätig  war  und  so  manche 
wertvolle  kritische  Bemerkung  in  den  Gang  der 
Darstellung  einflechten  konnte. 

Clausthal  i.  H.  Werner  Mecklenburg. 


Dr.   Carl    Hern,    Goethe    als    Energetiker, 
verglichen  mit  den  Energetikern  Robert  Mayer, 
Ottomar  Rosenbach,  Ernst  Mach.    Lei])zig,' Ver- 
lag   von    Johann    Ambrosius    Barth,     1914.    — 
Preis  Mk.  2.— 
Referent  hat  die  kleine  Schrift  mit  besonderem 
Interesse  gelesen,  da  auch  er  zu  der  (immer  mehr 
anwachsenden)   Zahl    derer   gehört,    die    eine  ein- 
dringliche Beschäftigung  unserer  Zeit  mit  Goethes 
Naturansichten  und  naturwissenschaftlichen  Arbeiten 
für  eine    höchst  wünschenswerte   und  reiche  Aus- 
beute verheißende  Angelegenheit  halten.  Trotzdem 
hat    er   sie    mit   zwiespältigen  Empfindungen    aus 
der  Hand  gelegt. 

Einerseits  ist  unbestreitbar,  daß  Goethe  auf 
die  Prinzipien  der  Polarität  und  der  Analogie  ent- 
scheidendes Gewicht  legt,  und  in  diesem  Umstände 
sind  zum  mindesten,  um  uns  vorsichtig  auszu- 
drücken, Beziehungen  zu  einer  energetischen  Welt- 
auffassung gegeben.  Ähnlich  steht  es  mit  dem 
Prinzip  der  Ökonomie.  Goethe  redet  nicht  selten 
von  der  (Ökonomie  in  der  Natur,  z.  B.  bei  der 
Ausgestaltung  des  tierischen  Organismus.  Erkennt 
auch  den  ökonomischen  Gedanken    in    der  Natur- 


430 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr 


27 


forschung  und  tritt  damit  Mach  merkwürdig  nahe. 
Klarer  übrigens  als  in  der  vom  Verfasser  S.  "]"]  ff. 
zitierten  Stelle  finde  ich  das  Letztere  von  Goethe 
in  den  meteorologischen  Schriften,  besonders  am 
Schlüsse  des  „Versuchs  einer  VVitterungslehre" 
ausgesprochen  und  habe  auch  seinerzeit  auf  dieses 
merkwürdige  und  nachdenkenswerte  Phänomen 
aufmerksam  gemacht  ^). 

Rückt  also  Goethe  mit  derartigen,  seiner 
Zeit  höchst  genial  vorgreifenden  Ideen  einer  energe- 
tischen Weltanschauung  unverkennbar  nahe,  so  er- 
geben sicii  doch  auf  der  anderen  Seite  gewichtige 
Bedenken,  ob  wir  ihn  mit  Hörn  kurz  und  gut 
zum  „Energetiker"  stempeln  dürfen.  Ganz  davon  ab- 
gesehen, daß  bei  einem  Geiste  wie  dem  G  o  e  t  h  e '  s , 
weit  und  unermeßlich,  wie  die  Natur  selber,  jede 
unbedingte  Inanspruchnahme  für  diese  oder 
jene  Auffassung  ihr  Bedenkliches  hat.  Goethe 
als  Monist  (Häckel),  Goethe  als  Okkultist  (Sei- 
ling),  Goethe  der  Heide,  Goethe  der  Christ 
—  wer  dürfte  sich  anmaßen,  die  Formel  gefunden 
zu  haben,  vor  der  alle  diese  scheinbaren  oder 
wirklichen  Widersprüche  verschwinden  —  wenn 
sie  nicht  in  der  einfachen  Anerkenntnis  liegt,  daß 
alles  dies  und  noch  mehr  in  ihm  war,  weil  er  ein 
Mensch  war  und  weil  wir  nie  erschöpfend  wissen 
werden,  was  dies  bedeutet  und  in  sich  schließt: 
ein  Mensch  sein.  Aber  davon  soll  hier  nicht  ge- 
redet werden. 

Ich  vergegenwärtige  mir,  welches  die  Grund- 
lagen der  energetischen  Auffassung  sein  müssen 
und  sage;  Prinzip  der  Erhaltung  der  Energie, 
und  Prinzip  der  kleinsten  VVirkung.  Und 
ich  sage  mir:  Goethe  war  kein  Energe- 
tiker, oder  doch  nicht  in  dem  gebräuchlichen 
Sinne  des  Wortes,  schon  weil  er  wenigstens  den 
ersten  dieser  Sätze  nicht  besaß,  und  auch  den 
zweiten  nicht  in  irgendwie  umfassender  und  strenger 
Weise.  Streiche  ich  aber  speziell  den  ersten  Satz, 
habe  ich  nicht  die  klare  \'orstellung,  daß  bei  allen 
Vorgängen  in  der  Welt  ein  Etwas  unverändert 
bleibt  —  und  ich  sehe  nicht  ein,  wie  man  vor 
Entdeckung  der  Beziehungen  zwischen  Wärme 
und  Arbeit  eine  klare  Vorstellung  hiervon  haben 
konnte,  so  scheint  mir  die  notwendigste  Vor- 
bedingung, Goethe  einen  Energetiker  zu  nennen, 
zu  fehlen. 

Der  Verfasser  weiß  zwar  ebenfalls,  daß  Goethe 
den  Satz  von  der  Erhaltung  der  Energie  nicht 
hat,  er  sagt  S.  32  sogar,  er  (G.)  könne  ihn  seinen 
Anschauungen  nach  nicht  anerkennen.  Wenn  er 
ihn  trotzdem  als  Flnergetiker  zu  bezeichnen  fort- 
fahrt, so  meint  er  das  Wort  eben  in  einem  weit 
allgemeineren,  lockereren  Sinne.  Von  diesem  Ge- 
sichtspunkte aus  nun  versciiwinden  die  Schwierig- 
keiten zum  Teile  allerdings.  Vielleicht  wird  man 
sich  dahin  einigen  können,  daß  Goethe  hier  wie 
auch  anderswo  (z.  B.  in  der  Deszendenzfrage)  durch 


')  W.  V.  Wasielewski,  Goethc's  meteorologische 
Studien.  Leipzig,  Inselverlag  1910.  Seite  44,  und  besonders 
52-54. 


tiefgreifende  geniale  Intuition  Erkenntnisse  voraus- 
nahm, auf  die  der  forschende  Menschengeist  lang- 
samer und  schrittweise,  dafür  aber  in  mehr  durch- 
gebildeter und  systematischer  Form  mittlerweile 
ebenfalls  gekommen  ist.  Dabei  aber  schwebt  die 
intuitive  Erkenntnis,  gerade  weil  teilweise  mehr 
in  Andeutungen  als  in  genau  umgrenzten,  in  System 
gebrachten  Begriffen  sich  ergehend,  auch  uns  noch 
wie  ein  Leitstern  vor.  So  glaube  ich  persönlich, 
daß  in  G  o  e  t  h  e '  s  Begriff  der  Steigerung,  mit 
dem  die  heutige  Energetik  imgrunde  nichts  anzu- 
fangen weiß,  ebenfalls  ein  wichtiges  Element  steckt, 
das  eines  Tages  naturwissenschaftlich  in  Beleuch- 
tungen treten  wird,  von  denen  wir  noch  nichts 
ahnen.  Vielleicht  bringt  uns  die  Entwicklung  der 
organischen  Energetik,  die  Hörn  im  Anschluß 
an  Mayer  und  Rosenbach  ankündigt,  schon 
in  Bälde  Überraschungen  in  dieser  Hinsicht. 

Der  Verfasser  stellt  eine  ausführlichere  Gesamt- 
darstellung von  Goethe  als  Energetiker  —  oder 
wie  wir  es  nennen  möchten:  von  Goethe's 
Verhältnis  zur  energetischen  Naturanschauung  — 
in  Aussicht.  Es  wird  also  seinerzeit  auf  die  Materie 
zurückzukommen  sein.  Jedenfalls  ist  weiteres 
Durcharbeiten,  und  in  seinem  Gefolge  weitere 
Klärung  des  ebenso  interessanten  wie  schwer  zu 
durchdringenden  Stoft'es  sehr  erwünscht.  Sjiäße 
wie  auf  Seite  25,  wo  die  Energie  mit  dem  Logos 
des  Johannisevangeliums  oder  gar  Seite  45,  wo 
sie  in  allem  Ernste  mit  der  —  Jungfrau  Maria  (!) 
identifiziert  wird,  würden  aber  wohl  auf  jeden  Fall 
besser  vermieden.  Überhaupt,  hier  und  da  etwas 
mehr  Klarheit,  und  weniger  Argumentieren  mit 
Erwägungen,  wie  die,  daß  Goethe  in  der  Sonne 
die  allgemeine  Kraftquelle  für  die  Erde  erkannt 
und  bekannt  habe.  Das  ist  noch  keine  Energetik, 
oder  man  gerät  in  Gefahr,  den  Begriff  überhaupt 
aufzulösen.  Es  kommt  ja  doch  nicht  darauf  an, 
Goethe  ä  tout  prix  zu  einem  -etiker  dieser 
oder  jener  Art  zu  stempeln,  sondern  diesen 
machtvollen  Geist  immer  besser  in  seiner  ureignen 
Wesenheit  verstehen  zu  suchen,  um  i  h  n  besser 
zu  lieben  und  uns  mehr  zu   fördern. 

Ich  möchte  auch  diese  Gelegenheit  nicht  ohne 
ein  bescheidenes  Ceterum  censeo  vorbeigehen  lassen : 
Möchten  alle,  die  über  die  Natur  nachdenken, 
Goethe's  naturwissenschaftliche  Schriften  und 
besonders  die  Farbenlehre  lesen  —  aber  mindestens 
dreimal. 

Noch  ein  Wort.  In  der  Literaturübersicht 
(S.  84 — 86)  zitiert  Hörn  Goethe's  Werke  nach 
der  Co tta 'sehen  Ausgabe  von  1868  nach  Band 
und  Seitenzifi'er,  ohne  den  geringsten  anderweiten 
Hinweis,  auch  ohne  den  Titel  der  betr.  Arbeit 
anzugeben.  Es  ist  also  für  jeden,  der  nicht  zufällig 
das  Glück  hat,  dieselbe  Ausgabe  benutzen  zu 
können,  fast  unmöglich  gemacht,  die  Zitate  bei 
Goethe  selbst  zu  finden.  Dies  ist  —  man  kann 
es  unmöglich  anders  ausdrücken  —  eine  Rücksichts- 
losigkeit gegenüber  der  Zeit  und  Geduld  des 
Lesers,  die  unbedingt  hätte  vermieden  werden 
müssen.  Dr.  Waldemar  v.  Wasielewski. 


N.  F.  XIII.  Nr.  27 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


431 


Friedrich  A.  W.  Thomas,  Das  Elisabeth 
Linne-Phänomen  (sog.  Blitzen  der  Blüten) 
und  seine  Deutungen.  Zur  Anregung  und 
Aufklärung,  zunächst  fiir  Botaniker  und  Blumen- 
freunde. Mit  einer  kleinen  Farbtafel.  53  S. 
Jena,  Gustav  Fischer,  191 4.  —  Preis  1,50  Mk. 
Im  Jahre  1762  sah  Linne's  Tochter  Elisa- 
beth eines  Abends,  wie  die  Kapuzinerkressen 
im  Garten  des  väterlichen  Gutes  Hammarby  auf- 
leuchteten, und  sie  beschrieb  diese  Erscheinung, 
die  sie  noch  wiederholt  beobachtete  und  anderen 
Personen,  darunter  Lin  ne  selbst,  zeigte,  in  einem 
Bericht,  der  in  den  Verhandlungen  der  Schwedi- 
schen Akademie  erschien.  Später  haben  sich 
noch  zahlreiche  Beobachter  und  Beurteiler  mit 
diesem  „Blitzen  der  Blüten"  (das  auch  an  anderen 
Blumen  wahrgenommen  wurde)  beschäftigt,  ohne 
daß  die  Frage  nach  seiner  Ursache  zum  Austrag 
gebracht  worden  wäre.  Die  einen  betrachteten 
die  Erscheinung  als  objektiv  und  führten  sie  zu- 
meist auf  elektrische  Ursachen  zurück;  die  anderen, 
an  ihrer  Spitze  Goethe,  erklärten  sie  für  sub- 
jektiv und  physiologischer  Natur.  Nachdem  1908 
schon  A.  Schi  ei  e  r  mach  e  r  auf  Grund  von 
Beobachtungen  für  die  letztgenannte  Deutung  ein- 
getreten war,  beschrieb  Friedrich  Thomas 
1910  in  der  „Naturw.  Wochenschr."  (Bd.  9,  S.  573) 
einen  interessanten  Versuch,  der  die  Möglichkeit 
bot,  zu  einem  besseren  Verständnis  des  Phäno- 
mens zu  gelangen.  Thomas  klebte  auf  einen 
blauen  Untergrund  einige  Stückchen  feuerroten 
Papiers  und  zeigte,  daß  diese,  die  in  der  Dämme- 
rung schwarz  auf  hellgrau  erscheinen,  nachein- 
ander rot  und  lichtstark  werden ,  wenn  man  sie 
(in  der  Dämmerung,  die  noch  eben  das  Lesen 
gewöhnlicher  Druckschrift  gestattet)  der  Reihe 
nach  fixiert.  In  der  Tat  wird  jeder,  der  den 
Versuch  angestellt  hat,  durch  das  prompte  Auf- 
leuchten der  roten  Flecke  überrascht  worden  sein. 
Inzwischen  hat  Thomas  den  Gegenstand  lite- 
rarisch und  experimentell  weiter  verfolgt,  und  er 
gibt  in  der  jetzt  veröffentlichten  Schrift  eine 
historische  und  kritische  Darstellung  sowie  die 
eingehende  Begründung  seiner  Erklärung  der  Er- 
scheinung, die  er,  um  sie  präzis  zu  bezeichnen, 
das  Elisabeth  Linne-Phänomen  nennt.  Er 
kommt  auf  Grund  seiner  Versuche  zu  folgenden 
Schlüssen:  i.  Das  ursprüngliche  El.  L.-Ph.  ist  nur 
wahrnehmbar,  wenn  bei  geeignetem  Grade  der 
Dämmerung  das  Bild  der  roten  Blume  von  den 
peripherischen  Teilen  der  Netzhaut  auf  die  Netz- 
hautgrube wandert.  2.  Die  im  peripherischen 
Teile  der  Netzhaut  vorherrschenden  Stäbchen  sind 
rotblind.  Sobald  das  Bild  von  ihnen  auf  die  (von 
Stäbchen  nicht  durchsetzten)  Zapfen  der  Fovea 
wandert,  wird  das  Rot  schon  darum  etwas  leb- 
hafter als  vorher  empfunden.  3.  Der  Eindruck 
dieses  Bildes  fällt  zusammen  mit  dem  Purkinje- 
schen  Nachbild  der  Umgebung.  Ist  dieses  ein 
helles,  wie  bei  blauem  und  grünem  Untergrund, 
so  summiert  sich  die  Empfindung  seiner  Hellig- 
keit mit  der  Rotempfindung  zu  einem  Aufleuchten. 


Daß  diese  Erklärung  in  jeder  Richtung  und  für 
alle  an  das  ursprüngliche  El.  L.-Ph.  sich  an- 
schließenden Erscheinungen  restlos  erschöpfend  sei, 
nimmt  der  Verf.  nicht  an;  doch  meint  er,  daß 
sie  die  hauptsächlichsten  Momente  enthalte.  Nach 
seinen  Beobachtungen  ist  das  El.  L.-Ph.  nur  an 
roten,  besonders  feuerroten,  vielleicht  auch  an  ge- 
wissen gelben  Blüten  wahrzunehmen.  Anhangs- 
weise macht  Verf.  einige  Angaben  über  Erschei- 
nungen, die  häufig  mit  dem  El.  L.-Ph.  zusammen- 
geworfen worden  sind  (St.  Elmsfeuer  an  Pflanzen, 
Aufflammen  der  Blütenstände  von  Diclamnus 
Fraxinella  bei  Entzündung  ihres  ätherischen  C  )les, 
Blütenfunkeln  infolge  der  Anwesenheit  leuchten- 
der Collembolen).  Das  Literaturverzeichnis  weist 
66  Nummern  auf.  Mit  der  lose  beigefügten  Farb- 
tafel kann  man  in  einer  halbdunklen  Zimmerecke 
auch  bei    Tage  den  Versuch  leicht  ausführen. 

F.  Mocwes. 


Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  Prof.  E  Weise,  Plauen  i.  V.  —  ,,Sind  außer  der 
Arbeit  von  H.  B.  Brady  in  den  Veröffentlichungen  der  Palae- 
ontographical  Society  1876  und  derjenigen  von  V.v.  Möller 
in  den  Memoires  de  l'Acad.  Imp.  Sc.  St.  Petcrsbourg  187S 
neuere    Arbeiten    über    karbonische  Foraminiferen  erschienen? 

Uer  wichtigste  Beilrag  zur  Kenntnis  karbonischer  Kora- 
rniniferen  in  der  angegebenen  langen  Zeit  dürfte  die  „Mono- 
graphie der  Fusulinen"  sein.  Sie  wurde  von  Schellwien 
geplant  und  begonnen,  nach  seinem  Tode  fortgeführt  von 
5'rech  und  seinen  Schülern  von  Staff  und  Dyhrenfurth 
und  findet  sich  in  den  „Palaeontographica"  (Schweizerbart- 
Stuttgart):  Teil  I  ,,Die  Fusulinen  des  russisch-arktischen  Meeres- 
gebietes" in  Band  55  (1908,09);  Teil  II  ,,Dic  asiatischen  Fusu- 
linen" in  Band  56  (190g!;  Teil  111  „Die  Fusulinen  (Schell- 
wicnien)  Nordamerikas"  in  Band  59  (1912).  Zu  letzterem  ver- 
gleiche die  nomenklatorischen  Einwände  vonGirty  in  Journal 
of  Geology  Bd.  22,  April-Mai-Heft  1914,  S.  237.  v.  Staff 
berichtete  noch  besonders  ,,Über  Schalenverschmelzungcn  und 
Dimorphismus  bei  Fusulinen"  in  Sitz.-Ber.  Ges.  Naturf.  Freunde 
Bln.  190S  und  über  ,, Die  Anatomie  und  Physiologie  der  Fusu- 
linen" in  „Zoologica"  H.  58  (Stuttgart  1910),  sowie  zusammen 
mit  Wedekind  über  den  ,,oberkarbonen  Forarainiferensa- 
propelit  Spitzbergens"  im  Bull.  Geol.   Inst.   Upsala   1910. 

Es  ist  aber  naturgemäß  nicht  möglich  über  derartige  klei- 
nere Beiträge  hier  Vollständigkeit  zu  erzielen.  Gute  Führer- 
dienste in  der  Literatur  leistet  das  „Geologische  Zentralblalt" 
(Borntraeger-Berlin)  und  die  Repertorien  des  „Neuen  Jahr- 
buchs"  für  Min.,  Geol.,  Pal.  (Schweizerbart-Stuttgart). 

E.  Hennig. 


Wettei'-Monatsuberslclit. 

Während  des  diesjährigen  Mai  änderte  das  Wetter  in 
Deutschland  zweimal  von  Grund  aus  seinen  Charakter.  Bis 
gegen  Mitte  des  Monats  und  dann  wieder  vom  25.  bis  fast 
zum  Schlüsse  war  es  größtenteils  külil,  trübe  und  regnerisch, 
wogegen  in  der  Zwischenzeit  überaus  freundliches,  trockenes 
Sommerwetter  herrschte.  .\m  2.  und  3.  Mai  kamen  im  größ- 
ten Teile  des  Landes  Nachtfröste  vor,  die  in  vielen  Gegen- 
den, namentlich  an  der  Obstblute,  Kartoffeln  und  Frühgemüse 
erheblichen  Schaden  anrichteten;  in  der  Nacht  zum  3.  brach- 
ten es  z.  B.  Eberswalde  und  Glinau  bei  Neutoniischel  auf  5, 
Tremessen  auf  6"  C  Kälte.  Nach  vorübergehender  Zunahme 
gingen  die  Temperaturen  dann  seit  dem  8.  wieder  mit  jedem 
Tage  liefer  herab,  auch  die  Nachtfröste  und  Reif bildungen 
wiederholten  sich   zwischen   dem    11.  und    15.    noch   mehrmals, 


432 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  27 


waren    aber   jetzt    weniger    verbreitet    und   im  allgemeinen  nur 
leicht. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  Monats  trat  überall  eine  starke 
Erwärmung  ein.  Seit  dem  19.  wurden  im  größeren  Teile  des 
Binnenlandes  25°  C  überscliritten ;  am  23.  stieg  das  Thermo- 
meter in  Magdeburg  bis  auf  31,  in  Halle  und  Ludwigshafen 
bis  30°  C.  Aber  bereits  am  folgenden  Tage  erfolgte  bei 
frischen  nördlichen  Winden  in  Nordwest-,  Süd-  und  Mittel- 
deutschland ein  jäher  Temperatursturz,  während  östlich  der 
Oder  das  warme  Wetter  noch  mehrere  Tage  länger  anhielt. 
Auch  die  mittleren  Monatstemperaturen  überschritten  in  den 
nordöstlichsten  preußischen  Provinzen  um  ungefähr  einen  Grad 
ihre    normalen    Höhen,    im    übrigen    waren    sie    allgemein  zu 


5ßifflereTsmpcrafurcn  ciniaer  ©rfe  im  5Bai  1914 . 


BcrIinerWeffertureau. 


niedrJCT,  bis  zu  2  Grad  in  Süddeutschland.  Ebenso  nahm  die 
Anzahl  der  Sonnenscheinstunden  von  Nordosten .  nach  Süd- 
westen ziemlich  gleichmäßig  ab  und  war  im  Durchschnitt  etwas 
kleiner  als  gewöhnlich.  Beispielsweise  hat  in  Berlin  die  Sonne 
im  vergangenen  Mai  an  1S9  Stunden  geschienen,  während  hier 
im  Mittel  der  früheren  Maimonate  226  Stunden  mit  Sonnen- 
schein verzeichnet  worden  sind. 

Fast  täglich  fanden  bis  zur  Mitte  des  Monats  in  den 
meisten  Gegenden  ausgedehnte  Regonfälle  statt,  die  in  der 
ersten  Woche  von  zahlreichen  Gewittern  und  Hagelschauern 
begleitet  waren.  An  einzelnen  Orten  im  Osten,  z.  B.  in 
Königsberg  i'Pr.,  Landsberg  a/W.,  Cottbus,  Görlitz,  Oppeln 
fiel  am  2.  auch  etwas  Schnee.  Am  16.  stellte  sich  im 
größten  Teile  Norddeutschlands  heiteres,  trockenes  Wetter  ein, 
während  sich  im  Süden,  anfangs  auch  in  Schlesien  und  im 
Königreich  Sachsen,  die  Niederschläge  weiter  fortsetzten  ;  be- 
sonders kamen  im  östlichen  Bayern  noch  starke  Kcgenfälle 
vor,   die  z.   B.   am    19.  in  Passau   26  mm  ergaben. 

Nachdem  der  durch  trockene  östliche  Winde  noch  ver- 
schärfte Regenmangel,  der  sich  seit  dem  21.  auch  auf  ganz 
Süddeutschland  erstreckte,  zuletzt  schon  sehr  empfindlich  ge- 
worden war,  leiteten  zwischen  dem  23.  und  24.  Mai  weitver- 
breitete Gewitier  in  West-  und  Mitteldeutschland   neues  Regen- 


wetter ein,  das  sich  allmählich  ostwärts  fortpflanz'.e  und  fast 
ununterbrochen  bis  kurz  vor  Schluß  des  Monats  anhielt.  In 
vielen  Gegenden  gingen  außerordentlich  starke  Regengüsse 
hernieder,  die  sich  öfter  wiederliolten,  z.  B.  fielen  vom  24. 
zum  25.  in  Torgau  45,  in  Frankfurt  a/M.  und  in  Zittau 
38  mm  Regen.  Erst  gerade  zum  Pfingstfeste  ließen  die 
Regenfälle  überall  nach  und  klärte  sich  der  Himmel  im  größten 
Teile  des  Landes  wieder  auf.  Die  Niederschlagssumme  des 
Monats  ergab  sich  für  den  Durchschnitt  aller  berichtenden 
Stationen  zu  78,4  mm  und  übertraf  um  21,7  mm  die  Regen- 
mengen, die  die  gleichen  Stationen  seit  dem  Jahre  1891  durch- 
schnittlich geliefert  haben. 


Ißisferjgc^racj^^ö^cn  im  5Bai  1914. 

(yiitrierer  Wertfär 
PeuFschland. 

1911.13. 12.11. 1D.Ü9. 


BErlmerWetoburMi.. 


Auch  die  allgemeine  Anordnung  des  Luftdruckes  in 
Europa  wies  im  Laufe  des  vergangenen  Monats  mehrmals 
stärkere  Änderungen  auf.  Ein  in  den  ersten  Tagen  von  Island 
über  Schottland  und  die  Nordsee  nach  Mitteleuropa  gelangtes, 
sehr  hohes  barometrisches  Maximum  wurde  bald  durch  eine 
nachfolgende  umfangreiche  atlantische  Depression  nach  Süd- 
rußland getrieben.  Das  Minimum  drang  dann  aber  nur  ziem- 
lich langsam  nordostwärts  vor  und  verbreitete  im  größten 
Teile  West-  und  Mitteleuropas  dampfgesättigte  westliche  Winde, 
die  sich  später,  als  bei  Irland  ein  neues  Hochdruckgebiet  er- 
schien, mehr  nach  Norden  hin  drehten. 

Um  Mitte  des  Monats  rückte  auch  das  neue  Maxiraum 
ostwärts  vor.  Am  22.  befand  es  sich  mitten  in  Deutschland, 
jedoch  schon  am  folgenden  Tage  gelangte  eine  llache  Baro- 
meterdepression  vom  biscayischen  Meere  nach  der  südlichen 
Nordsee  hin  und  schob,  nordostwärts  weiterziehend,  wiederum 
das  ganze  Hochdruckgebiet  rasch  vor  sich  her,  worauf  bald 
verschiedene  flache  Minima,  größtenteils  von  Süden  her,  ins 
Innere  des  europäischen   Festlandes  eindringen  konnten. 

Dr.  E.  Leß. 


Inhalt:  Hennig:  Die  deutschen  Ausgrabungen  von  Dinosauriern  im  letzten  Jahrfünft.  Kathariner:  Das  Fußskelett  des 
Tapirs.  —  Einzelberichte:  Eucken:  Adsorptionserscheinungen.  Hnatek:  Durchmesser  und  Temperatur  der  Sterne. 
Wohlgemuth:  Die  Fortpflanzung  der  Süßwasserastrakoden.  Nusbaum  und  Oxner:  Merkwürdige  Doppelbildungen 
bei  den  Nemertinen.  Sa  p  per:  Über  Abtragungsvorgänge  in  den  regenfeuchten  Tropen  und  ihre  morphologischen 
Wirkungen.  —  Bücherbesprechungen:  Zschimmer:  Philosophie  der  Technik.  Stratz:  Die  Darstellung  des  mensch- 
lichen Körpers  in  der  Kunst.  Schmidt:  Der  Sirgenstein  und  die  diluvialen  Kulturstätten  Württembergs.  Estreicher: 
Über  die  Kalorimetrie  der  niedrigen  Temperaturen.  Hörn:  Goethe  als  Energetiker.  Thomas:  Das  Elisabeth  Linne- 
Phänomen.  —  Anregfungen  und  Antworten.  —  Wetter-Monatsübersicht. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.Mi  ehe  in  Leipzig,  Marienstrafle   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schcn   Buchdr.   Lippert   &   Co.   G.  m.  b.  H.,   Naumburg   a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.    Band  ; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band 


Sonntag,  den  12.  Juli  1914. 


Nummer  28. 


Vererbung  bei  vegetativer  Vermehrung. 


Von  Paul  Vogler,  St.  Gallen. 


[Nachdruck  verboten.]  M''   2   Tex 

Das  Problem  der  Vererbung  ist  bekanntlich 
eines  der  praktisch  und  theoretisch  wichtigsten 
Probleme  der  Biologie.  Denken  wir  nur  daran, 
welche  Bedeutung  es  für  die  Tier-  und  Pflanzen- 
zucht und  für  die  Rassenhygiene  des  Menschen 
hätte,  wenn  wir  die  Gesetze  der  Vererbung  genau 
kennen  würden  und  dann  zielbewußt  anwenden 
könnten,  ferner  aber  auch  daran,  daß  es  in  der  Bio- 
logie von  heute  eine  Frage  nach  der  Entstehung 
der  Arten  aus  anderen  gibt,  von  der  ein  wesent- 
licher Teil  diejenige  nach  der  Vererbung  der  auf 
irgendeine   Weise    entstandenen   Unterschiede    ist. 

Während  die  zweite  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
sehr  reich  ist  an  Versuchen,  das  Problem  der 
Vererbung  großzügig  zu  lösen  durch  theoreti- 
sche Spekulation,  ist  die  Vererbungswissenschaft 
im  20.  Jahrhundert  erst  zu  einer  experimen- 
tellen Wissenschaft  geworden.  Die  Resultate 
dieser  eigentlich  noch  so  kurzen  Spanne  exakter 
Forschung  sind  bekanntlich  großartig:  wir  brau- 
chen nur  zu  erinnern  an  all  das,  was  man  zu- 
sammenfaßt unter  der  Bezeichnung:  Mendel  Is- 
mus und  an  das,  was  steckt  hinter  der  scharfen 
Fassung  der  Begriffe:  Population  und  reine 
Linie,  Phänotypus  und  Genotypus. 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,  hier  des  näheren 
auf  die  Erfolge  der  Erblichkeitsforschung  der  letzten 
zwanzig  Jahre  einzutreten.  Ich  begnüge  mich 
mit  einigen  Erinnerungen ,  die  notwendig  sind, 
um  die  Fragestellung,  die  meinen  Untersuchungen 
zugrunde  liegt,  klar  zu  legen. 

Mit  Population  bezeichnen  wir  jede  Gruppe 
von  Individuen  einer  Art  oder  Rasse,  deren  Ab- 
stammung nicht  näher  bekannt  ist.  Die  Individuen 
einer  solchen  Population  sind  niemals  einander 
vollständig  gleich  :  sie  variieren.  Ihre  Verschieden- 
heiten können  aber  verschiedenen  Ursprungs  sein : 
Entweder  sind  sie  bedingt  durch  verschiedene, 
von  den  Eltern  mitgebrachte  innere  Anlagen,  oder 
sie  sind  bei  gleichen  Anlagen  bedingt  durch  äußere 
Einflüsse.  Die  bloße  vergleichende  Betrachtung 
wird  uns  nie  Aufschluß  über  die  Ursache  der 
Verschiedenheit  in  einem  bestimmten  Falle  geben 
können.  Geht  man  von  einer  solchen  Population 
aus  und  wählt  zur  Fortpflanzung  jeweils  nur  die 
extremsten  Formen  aus,  etwa  die  größten  und  die 
kleinsten  Individuen,  so  kann  man  meist  durch 
solche  Selektion  zwei  verschiedene  Gruppen  von 
Individuen  erhalten,  deren  Unterschiede  erblich 
konstant  bleiben.  Darauf  beruhen  bekanntlich  die 
meisten  Erfolge  der  gewöhnlichen  Tier-  und 
Pflanzenzucht. 


tfiguren. 

Unter  reiner  Linie  dagegen  faßt  man  zu- 
sammen die  Gesamtheit  der  bei  engster  Inzucht, 
womöglich  bei  Selbstbefruchtung,  erhaltenen  Nach- 
kommen eines  einzigen  Individuums  oder  eines 
Elternpaares.  Dabei  wird  noch  die  Voraussetzung 
gemacht,  daß  das  Ausgangsindividuum,  nach  dem 
Sprachgebrauch  des  Mendelismus,  ein  Homo- 
zygot sei,  daß  also  vorausgehend  keinerlei 
Bastardierung  stattgefunden  habe. 

Auch  die  Individuen  einer  Generation  inner- 
halb einer  solchen  reinen  Linie  sind  untereinander 
nicht  vollständig  gleich.  Da  sie  aber  von  den 
Eltern  alle  gleiche  Anlagen  mitbringen,  so 
können  ihre  Unterschiede  nur  durch  äußere  Ein- 
flüsse (Nahrung,  Luft,  Licht,  Temperatur  usw.) 
hervorgebracht  sein.  Daß  dem  so  ist,  lehrt  der 
Vererbungsversuch:  Lesen  wir  aus  einer  Generation 
einer  reinen  Linie  etwa  die  größten  und  kleinsten 
Individuen  zur  Fortpflanzung  aus,  so  ist  diese 
Selektion  vollständig  wirkungslos.  D.  h. :  die 
Mittelwerte  der  Nachkommen  der  beiden  extremen 
Gruppen  fallen  wieder  zusammen.  Dabei  ist  selbst- 
verständliche Voraussetzung,  daß  die  Nachkommen 
unter  möglichst  gleichen  Bedingungen  aufwachsen. 

So  können  wir  also  auf  dem  Wege  des  Ver- 
erbungsversuches die  beiden  verschiedenen  Arten 
von  Variabilität  trennen  :  die  durch  innere  Anlagen 
und  die  durch  äußere  Einflüsse  bedingte.  Die 
aus  der  ersten  Ursache  hervorgehenden  Verschie- 
denheiten sind  vererbbar,  die  aus  der  zweiten 
hervorgehenden  sind  nicht  vererbbar.  Die  letzte- 
ren nennt  man  heute  auch  Modifikationen. 
p;in  durch  vielfache  Experimente  festgelegter  Satz 
der  modernen  Vererbungslehre  lautet  nun  :  M  o  d  i  - 
fikationen  sind  nicht  vererbbar.  Das  ist 
eigentlich  nur  eine  andere  Ausdrucksweise  für  die 
Tatsache,  daß  Auslese  nach  Plus-  und  Minus- 
varianten innerhalb  einer  reinen  Linie  nicht  wirk- 
sam ist,  oder  auch  für  die  Tatsache,  daß  die  auf 
die  Eltern  verändernd  wirkenden  äußeren  Lebens- 
bedingungen nur  den  Körper  beeinflussen ,  nicht 
aber  die  Keimzellen. 

Soweit  mehrzellige  Pflanzen  und  Tiere  in  Be- 
tracht kommen,  sind  diese  Sätze  das  Ergebnis 
von  Versuchen  bei  sexueller  Fortpflanzung. 

Im  Pflanzenreich  sehr  häufig,  im  Tierreich  auf 
einzelne  Abteilungen  beschränkt,  gibt  es  aber 
neben  der  sexuellen  Fortpflanzung  noch  eine 
asexuelle  oder  vegetative  Vermehrung. 
Es  entsteht  nun  die  Frage,  ob  der  Satz  von  der 
Nichtvererbbarkeit  der  Modifikationen  auch  gültig 
sei  bei  asexueller  Fortpflanzung. 


k 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  28 


Zunächst  haben  wir  uns  Rechenschaft  zu  geben 
über  die  wesentlichsten  Unterschiede  zwischen 
sexueller  und  asexueller  Fortpflanzung.  Bei  der 
sexuellen  steht  am  Anfang  des  neuen  Individuums 
eine  befruchtete  Eizelle,  eine  Zygote,  also 
ein  Verschmelzungsprodukt  zweier  Zellen,  deren 
Bildung  eine  Reduktionsteilung  vorausgegangen 
ist.  Ist  nun  diese  Zelle  prinzipiell  verschieden 
etwa  von  einer  Zelle  in  einem  noch  nicht  difte- 
renzierten  Vegetationspunkt  einer  Pflanze?  Da  die 
beiden  Komponenten  der  Zygote  häufig  verschie- 
dener Abstammung  sind,  so  kann  sie  in  ihren 
Anlagen  von  den  Zellen  der  Eltern  verschieden 
sein,  weil  jedes  der  beiden  Eltern  sich  selbst  vom 
andern  unterscheiden  kann.  Stammen  aber  Ei- 
und  Samenzelle  vom  gleichen  Individuum,  aus 
derselben  Blüte,  so  kommt  bei  homozygoten 
Individuen    dieser    Unterschied    nicht    in  Betracht. 

Da  nun  ein  Vegetationspunkt  durch  Differen- 
zierung stets  neue  Wurzeln,  Stengel,  Blätter  und 
Blüten  erzeugen  kann,  also  seine  Zellen  die  sämt- 
lichen für  die  Art  charakteristischen  Anlagen  be- 
sitzen müssen  und  die  befruchtete  Eizelle  ebenso 
diese  sämtlichen  Anlagen  und  nur  diese  enthält, 
so  ergibt  sich,  daß  prinzipiell,  soweit  die  vererb- 
baren Anlagen  in  Betracht  kommen,  kein  Unter- 
schied besteht  zwischen  einer  noch  nicht  differen- 
zierten Zelle  eines  Vegetationspunktes  und  einer 
befruchteten  Eizelle  eines  homozygolischen  Indivi- 
duums derselben  Art.  (Natürlich  können  Unter- 
schiede anderer  Art  zwischen  den  beiden  Zellen 
bestehen,  die  sich  z.  B.  in  der  Tatsache  äußern 
können,  daß  manche  nur  auf  vegetativem  Wege 
vermehrte  Pflanzen  schließlich  degenerieren.) 

Neben  der  bisexuellen  Forlpflanzung  gibt  es 
eine  unisexuelle,  die  jedenfalls  als  eine  Rückbildung 
zu  betrachten  ist.  Die  Eizelle  ist  imstande, ohne  vorher- 
gehende Befruchtung  zu  einem  neuen  Individuum 
auszuwachsen.  Diese  Parthenogenese  leitet  sich  zwar 
von  einer  echten  sexuellen  Fortpflanzung  ab,  ist 
aber  im  Prinzip  bereits  eine  asexuelle.  Da  hier 
keine  Mischung  der  Anlagen  zweier  verschiedener 
Individuen  stattfinden  kann,  ist  die  Vererbung  der 
Anlagen  und  damit  der  Eigenschaften  des  Mutter- 
individuums eine  sehr  „strenge". 

Zwischen  der  parthenogenelischen  Fortpflanzung 
durch  eine  unbefruchtete  Eizelle  und  der  vegeta- 
tiven Vermehrung  im  gewöhnlichen  Sinne  gibt 
es  keinen  prinzipiellen  Gegensatz  mehr.  Denn 
ob  schließlich  die  Zelle,  aus  der  das  neue  Indivi- 
duum entsteht,  als  Eizelle  in  einem  Fruchtblatt 
erzeugt  wird,  oder  irgend  eine  nicht  differenzierte 
Zelle  eines  Vegetationspunktes  darstellt,  die  ja  in 
ihren  Anlagen  vollständig  mit  einer  befruchteten 
oder  unbefruchteten  Eizelle  übereinstimmen  muß, 
konmit  weiter  nicht  in  Betracht. 

Bei  der  asexuellen  oder  vegetativen  Ver- 
mehrung der  Pflanzen  kommt  es  bekanntlich  nur 
darauf  an,  daß  sich  irgend  ein  Sproß  oder  Sproß- 
teil oder  auch  nur  eine  einzelne  Zelle  von  der 
Mutterpflanze  auf  natürlichem  Wege  loslöst  oder 
vom    Menschen    losgelöst   und    unter  Verhältnisse 


gebracht  wird,  wo  er  weiter  wachsen  kann.  Dieser 
Sproß  mag  nun  ein  abgeschnittener  Zweig  sein 
oder  ein  Ausläufer  oder  eine  Knolle  oder  eine 
Brutzwiebel,  das  macht  keinen  Unterschied;  das, 
worauf  es  ankommt,  ist  immer  der  dort  vorhan- 
dene Vegetationspunkt.  Seine  noch  nicht  differen- 
zierten Zellen  sind  in  diesen  Fällen  die  Träger 
der  Vererbung. 

Aus  diesen  Überlegungen  folgt  also  als  theo- 
retisch wahrscheinlich,  daß  zwischen  der  Ver- 
erbung bei  sexueller  Fortpflanzung  eines  Homozy- 
goten einer  reinen  Linie  und  bei  der  vegetativen 
P'ortpflanzung  kein  Unterschied  besteht. 

Anders  verhält  es  sich  bei  heterozygoten  In- 
dividuen, also  bei  Bastarden.  Diese  spalten  be- 
kanntlich bei  sexueller  Fortpflanzung  nach  den 
Gesetzen  des  Mendelismus.  Die  Praxis  hat  aber 
schon  längst  gelehrt,  daß  bei  vegetativer  F"ort- 
pflanzung  die  Bastarde  in  der  Regel  nicht  spalten. 
Darauf  beruht  ja  die  große  Bedeutung  dieser  Art 
der  Vermehrung  für  unsere  Kulturpflanzen.  Ge- 
legentlich mag  allerdings  auch  vegetative  Spaltung 
vorkommen,  die  dann  in  Erscheinung  tritt  als 
Knospenmutation.  Normalerweise  aber  verhalten 
sich  bei  vegetativer  Vermehrung  heterozygotische 
Individuen  ganz  wie  homozygotische. 

Aus  rein  theoretischen  Überlegungen  definitive 
Schlüsse  zu  ziehen,  ist  aber  in  der  Biologie  ge- 
fährlich. So  steht  also  noch  nicht  ohne  weiteres 
fest,  daß  die  Gesetze  der  Vererbung  bei  sexueller 
Fortpflanzung  auch  für  die  asexuelle  Fortpflanzung 
gelten.  Man  kann  nämlich  aus  anderen  theoretischen 
Überlegungen  auch  zum  gegenteiligen  Schluß 
kommen.  Die  Reduktionsteilung,  die  der  Bildung 
der  Sexualzellen  vorausgeht,  ist  ein  in  die  Organi- 
sation der  Zelle  sehr  tief  eingreifender  Vorgang. 
Wenn  nun  auf  eine  Pflanze  während  ihres  vegeta- 
tiven Lebens  allerlei  äußere  Einflüsse  wirken,  die 
sich  eben  in  den  Modifikationen  äußern,  so  kann 
das  vielleicht  auch  so  aufgefaßt  werden,  daß  davon 
die  Zellen  des  Vegetationspunktes  sogar  in  ihren 
Anlagen  verändert  weiden.  Bei  der  Reduktions- 
teilung aber  und  der  späteren  Wiedervereinigung 
zweier  Sexualzellen  wäre  die  Möglichkeit  vorhanden, 
die  früher  durch  äußere  Einflüsse  erzeugten  Störun- 
gen wieder  auszumerzen.  Bei  der  asexuellen  Ver- 
mehrung aber,  wo  es  sich  in  Wirklichkeit  doch 
um  ein  bloßes  Fortwachsen  eines  Vegetations- 
punktes handelt,  kommt  es  nicht  zu  einer  solchen 
Regeneration  der  beeinflußten  Zellen.  Aus  der- 
artigen Überlegungen  heraus  könnte  man  also  eine 
Vererbung  von  Modifikationen  bei  asexueller  Ver- 
mehrung prinzipiell  für  möglich  erklären.  In  der 
Praxis  ist  man  sogar  geneigt,  das  als  Tatsache  hin- 
zunehmen, und  man  versucht  durch  direkte  Ein- 
wirkungen auf  die  Mutterpflanze  extreme  Formen 
zu  bekommen,  wobei  man  hofft,  daß  sich  diese 
Einflüsse  auch  in  den  folgenden  Generationen, 
wenn  sie  nicht  mehr  direkt  wirken,  geltend  machen 
werden,  daß  also  eine  Vererbung  der  erworbenen 
Eigenschaften  stattfinden  wird. 


N.  F.  Xm.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


435 


Es  kann  also  auch  diese  Frage  nur  durch  das 
Experiment  gelöst  werden. 

Sehen  wir  uns  in  den  zusammenfassenden  Wer- 
ken über  Vererbungslehre  um,  so  suchen  wir  ver- 
geblich nach  exakten  Daten  über  die  Vererbung 
bei  vegetativer  Vermehrung  mehrzelliger  Organis 
men.  Suchen  wir  nach  Spezialarbeiten,  so  ist 
unsere  Ausbeute  auch  sehr  gering.  Als  ich  vor 
Jahren  anfing,  mich  mit  diesem  Problem  näher 
zu  befassen,  war  mein  Suchen  danach  sogar  voll- 
ständig ergebnislos ').  So  kam  ich  dazu,  eine 
eigene  Versuchsreihe  anzufangen,  die  nun,  trotz- 
dem ich,  unter  ungünstigen  Verhältnissen  arbeitend, 
die  Versuche  nur  in  verhältnismäßig  kleinem  Maß- 
stabe ausführen  konnte,  schon  nach  vier  Jahren, 
eigentlich  fast  wider  Erwarten,  zu  einigen  klaren 
Resultaten  geführt  hat,  über  die  ich  an  dieser 
Stelle  auch  berichten  möchte ''). 

Zunächst  muß  aber  noch  eine  Frage  der  Ter- 
minologie kurz  erledigt  werden.  Dürfen  wir  die 
Bezeichnungen  Population  und  reine  Linie  auch 
übertragen  auf  Individuengruppen,  die  durch  vege- 
tative Vermehrung  erhalten  wurden?  Was  Be- 
zeichnung und  Begrift'  Population  anbetrifft,  so  be- 
steht kein  Zweifel,  denn  unter  Population  verstehen 
wir  ja  einfach  eine  Gruppe  von  Individuen  gleicher 
Art  oder  Rasse,  ganz  unbekümmert  um  ihre  Ab- 
stammungsverhältnisse. 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  reinen  Linie. 
Gewiß  ließe  sich  dieser  Begriff  so  definieren,  daß 
auch  die  durch  asexuelle  Fortpflanzung  erhaltene 
Generationenfolge  eines  einzigen  Individuums 
darunter  fallen  würde.  Aber  es  ist  zu  beachten, 
daß  mit  dem  Begriff  der  reinen  Linie  der  der 
Homozygote  eng  verbunden  ist.  Wie  wir  ausge- 
führt haben,  spielt  aber  die  Frage:  Homo-  oder 
Heterozygot  bei  der  asexuellen  Fortpflanzung 
keine  Rolle.  Daraus  ergibt  sich,  daß  man  besser 
eine  neue  Bezeichnung  einführt. 

Die  richtigste  wäre  wohl  ,,p  h  y  s  i  o  1  o  g  i  s  c  h  e  s 


')  Natürlich  habe  ich  mir  auch  weiterhin  Mühe  gegeben, 
Spezialarbeiten  über  dieses  Thema  zu  finden.  Was  ich  auf- 
finden konnte,  sind   folgende  zwei  Arbeiten: 

Hanel,  Elise,  Vererbung  bei  ungeschlechtlicher  Fort- 
pflanzung von  Hydra  grisea.  (Disserl.  der  philosophischen 
Fakultät  II,  Zürich  1907.)  Das  Resultat  dieser  Arbeit  ist  ganz 
kurz  gesagt  folgendes:  .Auch  bei  asexueller  Fortpflanzung  ist 
Selektion  der  Modifikationen  wirkungslos. 

East  E.  M.,  The  transmission  of  variations  in  ihe  Potato 
in  asexual  reproduction  (Agr.  Station  Report,  Connecticut  1910 
pp.  119  — 160).  Mir  im  Original  nicht  zugänglich.  Nach  dem 
Referat  in  der  Zeitschrift  für  induct.  Abstammungs-  und  Ver- 
erbungslehre 191 1  wird  das  Ergebnis  dieser  .Arbeit  in  folgenden 
Satz  zusammengefaßt:  This  paper  stows  the  Similarity  between 
the  inheritance  of  flucluations  in  asexual  reproduktion  in  multi- 
cellular  Organismus  and  that  in  the  pure  Lines  of  Johannsen 
and  Jennings. 

'-)  Siehe  meine:  Vorläufige  Mitteilung  über  , .Versuche  über 
Selektion  und  Vererbung  bei  vegetativer  Vermehrung  von 
AUium  sativum  L.  Zeitschrift  für  induktive  Abstammungs-  und 
Vererbungslehre   1914,  Bd.   XI,  H.   3. 

Ferner  meine  ausführlichere  Arbeit  im  Jahrbuch  1913, 
Bd.  53  der  naturw.  Gesellschaft  St.  Gallen,  St.  G.allen  1914: 
Vererbung  und  Selektion  bei  vegetativer  Vermehrung  von 
AUium  sativum  L.  Experimentelle  Untersuchungen.  44  S. 
mit  9  Textfiguren. 


I  n  d  i  V  i  d  u  u  m".  Denn  nach  dem  strengen  Sprach- 
gebrauch der  Physiologie  bilden  alle  Pflanzen,  die 
durch  bloß  vegetative  Vermehrung  von  einem  aus 
einer  befruchteten  Eizelle  hervorgegangenen  In- 
dividuum abstammen,  in  Wirklichkeit  ein  einziges 
Individuum.  Das  kann  sich  oft  physiologisch 
im  Altern  und  Degenerieren  der  stets  nur  vege- 
tativ vermehrten  Kulturpflanzen  äußern.  Deut- 
licher noch  in  der  Erscheinung  der  Stocksterilität. 
Diese  wirkt  ganz  unabhängig  davon,  ob  die  ein- 
zelnen Teilstücke  eines  solchen  Individuums  einer 
bestimmten  Apfelsorte  z.  B.  als  Zweige  auf  einem 
Stamm  stehen  oder  durch  Pfropfung  auf  ver- 
schiedene Stämme  verteilt  sind. 

Aber  ,, physiologisches  Individuum"  ist  ein 
recht  schwerfälliger  Ausdruck.  Dazu  kommt  noch, 
daß  es  dem  natürlichen  Sprachgefühl  wider- 
spricht, von  einem  Individuum  zu  sprechen, 
wenn  man  ein  paar  hundert  einzelne  Pflanzen  meint. 

Vergeblich  suchte  ich  aber  nach  einem  kurzen 
treffenden  deutschen  Ausdruck.  Shull  (Science 
XXXV,  191 2)  möchte  die  Bezeichnung  Clone 
einführen,  die  er  definiert  als  „.A  group  of  indi- 
viduals  traceable  through  asexual  reproductions 
to  a  Single  ancestral  Zygote,  or  eise  perpetually 
asexual".  Vielleicht  bürgert  sich  diese  Bezeichnung 
mit  der  Zeit  ein.  Vorläufig  möchte  ich  sie  noch 
nicht  brauchen.  Für  diese  Arbeit  genügt  ein  neu- 
trales deutsches  Wort,  das  sich  einschränkend 
definieren  läßt.  Ich  spreche  im  folgenden  einfach 
von  Stämmen.  Unter  der  Bezeichnung  Stamm 
verstehe  ich  also  die  durch  vegetative  Ver- 
mehrung erhaltenen  Nachkommen  eines 
einzigen   Individuums. 

Die  F"ragestellung  für  die  Versuche  lautet 
nun  : 

1.  Bleiben  quantitative  Unterschiede  zwischen 
verschiedenen  Stämmen  erhalten  auch  bei  vege- 
tativer Vermehrung  und  Kultur  unter  gleichen 
äußeren  Bedingungen?.  D.  h.  mit  andern  Worten  : 
Läßt  sich  eine  Population  durch  Selektion  bei 
vegetativer  Vermehrung  in  dauernd  unterscheidbare 
Stämme  zerlegen? 

2.  Ist  Selektion  nach  Plus-  und  Minusvarianten 
innerhalb  eines  Stamines  wirksam  oder  nicht  ? 
Oder  anders  ausgedrückt :  Vererben  sich 
Modifikationen  bei  vegetativer  Ver- 
mehrung? 

Zunächst  handelte  es  sich  darum,  ein  für 
solche  Untersuchungen  günstiges  Untersuchungs- 
material zu  finden.  Ein  solches  glaube  ich  ge- 
funden zu  haben  in  unserem  gewöhnlichen  Knob- 
lauch (Allium  sativum  L.).  Eine  sogenannte 
Knoblauchzwiebel  besteht  bekanntlich  aus  meist 
ziemlich  zahlreichen  „Brutzwiebeln",  die  einzeln 
ausgepflanzt,  wieder  eine  zusammengesetzte  Zwiebel 
ergeben.  Dazu  kommen  zwei  leicht  exakt  quan- 
titativ feststellbare,  stark  variable  Eigenschaften : 
das  Gewicht  der  Zwiebeln  und  die  Anzahl  ihrer 
Brutzwiebeln. 

Über  die  Anordnung  der  Versuche  sei  folgen- 
des   mitgeteilt.      Im  Frühjahr    1910    wurden    von 


436 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.   Nr.  28 


10  Knoblauchzwiebeln  verschiedener  Größe  (die 
schwerste  wog  61,  die  leichteste  12  g;  das  Maxi- 
mum der  Brutzwiebeln  betrug  20,  das  Minimum 
8  g)  und  verschiedener  Herkunft  die  sämtlichen 
auf  0,1  g  genau  ausgewogenen  Brutzwiebeln  aus- 
gepflanzt. Im  folgenden  Winter  wurden  von  jeder 
erhaltenen  Zwiebel  bestimmt:  das  Totalgewicht 
der  sämtlichen  aus  den  alten  Hüllen  herausge- 
schälten Brutzwiebeln  und  die  Anzahl  der  Brut- 
zwiebeln. Dabei  ergab  sich,  was  von  vornherein 
zu  erwarten  war:  Aus  den  großen  Brutzwiebeln 
erhielt  ich  größere  Zwiebeln  mit  zahlreicheren 
Brutzwiebeln  als  aus  den  kleinen  Brutzwiebeln. 
Die  Erklärung  dafür  ist  sehr  einfach.  Je  größer 
die  Brutzwiebel  ist,  mit  der  die  neue  Pflanze  be- 
ginnt, um  so  kräftiger  wird  diese  Pflanze,  um  so 
mehr  organische  Substanz  wird  sie  zum  Aufspeichern 
produzieren  können. 

Für  die  weitere  Untersuchung  aber  sagt  dieses 
Resultat:  Bei  vergleichend  enUnt  ersuch  un- 
gen  dürfen  nur  aus  Brutzwiebel  11  glei- 
chen Gewichts  erhaltene  Zwiebeln 
direkt  miteinander    verglichen  werden. 

Im  folgenden  Frühjahr  191 1  wurde  nun  mit 
allen  zehn  Stämmen  in  der  Weise  weiter  gearbeitet, 
daß  je  etwa  von  der  Hälfte  der  Zwiebeln  jedes 
Stammes  2  Brutzwiebeln  von  2  g  und  2  Brut- 
zwiebeln von  I  g  Gewicht  in  gleicher  Weise  in 
ein  möglichst  ausgeglichenes  Gartenbeet  wie  1910 
ausgepflanzt  und  auch  sonst  in  gleicher  Weise 
weiterbehandelt  wurden.  Jetzt  ergaben  sich  ver- 
gleichbare Zahlen.  1912  und  1^13  wurde,  um 
für  die  einzelnen  Stämme  größere  Zahlen  zu  er- 
halten, nur  noch  mit  4  Stämmen  und  mit  Brut- 
zwiebeln von  2  g  Gewicht  weitergearbeitet.  (Das 
ganze  Zahlenmaterial,  auf  das  sich  die  folgenden 
Schlüsse  stützen,  findet  sich  in  der  erwähnten 
Publikation  im  St.  Galler  Jahrbuch.) 

Die  wichtigsten  Resultate  meiner  Unter- 
suchungen lassen  sich  folgendermaßen  in  Kürze 
zusammenfasse'n  und  erläutern : 

Als  ich  191 1  die  Stämme  nach  dem  mittleren 
Gewicht  der  aus  den  Eingramm  Brutzwiebeln  er- 
haltenen Zwiebeln  ordnete,  ergaben  sich  für  die 
in  der  Reihe  unmittelbar  aufeinanderfolgenden 
nur  sehr  kleine  Difterenzen,  die  ihren  mittleren 
F'ehler  meist  nicht  überstiegen.  Betrachtete  man 
aber  nur  die  beiden  Extreme,  so  zeigle  sich  eine 
Maximaldifferenz  von  4,217  ±  1,834  g.  Ordnete 
ich  sie  in  gleicher  Weise  nach  dem  mittleren 
Gewicht  der  aus  den  Zweigramm-Brutzwiebeln 
erhaltenen  Zwiebeln,  so  erhielt  ich  im  wesent- 
lichen die  gleiche  Reihenfolge.  Die  Differenz  der 
beiden  zitierten  Stämme  (sie  mögen  hier  mit  A 
und  B  bezeichnet  werden)  beträgt  jetzt  6,727  ± 
1,400  g.  191 2  beträgt  diese  Differenz  A — B 
4,066  ±  0,949  g,   191 3  4,238   ±  0,775  g. 

Wir  haben  also  in  den  drei  aufeinanderfolgen- 
den Jahren  zwischen  den  beiden  Stämmen  A  und 
B  gleichsinnige,  im  Vergleich  mit  ihrem  mittleren 
Fehler  ziemlich  große  Differenzen.  Mit  anderen 
Worten:  In  drei  aufeinanderfolgenden  Jahren  haben 


die  Stämme  A  und  B  ihren  Unterschied  im  Ge- 
wicht der  aus  Brutzwiebeln  gleichen  Gewichts 
erhaltenen  Zwiebeln  beibehalten.  Dieser  Unter- 
schied ist  also  vererbbar.  Die  beiden  Stämme 
verhalten  sich  also  zueinander  wie  zwei  reine 
Linien  bei  sexueller  Fortpflanzung. 

Die  Versuche  gaben,  wenn  auch  etwas  weniger 
scharf  ausgeprägt,  das  gleiche  Resultat  für  die 
Anzahl  der  Brutzwiebeln.  Unsere  hrage  i. 
kann  also  für  Allium  sativum  mit  Ja 
beantwortet  werden. 

Es  seien  hier  für  das  Gewicht  der  beiden 
Stämme  noch  die  Zahlen  aufgeführt  und  zwar 
zunächst  die  absoluten  Werte.  Daneben  stelle 
ich  die  zur  Ausschaltung  des  „Einflusses  des  Jahr- 
gangs" jeweils  auf  das  Mittel  gleich  100  umge- 
rechneten Werte,  die  den  in  der  F'ig  i.  gegebenen 
graphischen  Darstellungen  zugrunde  liegen. 


Fig.    1. 

Mittleres  Gewicht  der  Zwiebeln  der  Stämme   A  und   B 

in  den  Jahren   igii  — 1913. 


A  B 

Fig.  2. 

Selektion  nach   Plus-  und  Minusmodifikationen   innerhalb 

der  Stämme   A  und  B. 
(Links  jeweils   Mutterzwiebeln,   rechts  Tochterzwiebeln.) 


Stamm 

A 

Stamm  B 

absolut 

relativ 

absolut 

relativ 

QU 

24,1   g 

58,1 

17.4  S 

41,9 

912 

26,8 

54 

22,8 

46 

914 

18,7 

56,5 

14.4 

43.5 

Wie  verhält  es  sich   nun  init  unserer  Frage  2.f 
Ist  Auslese  innerhalb  eines  Stammes  wirksam  oder 


N.  F.  XIII.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


437 


nicht?  Schon  die  Versuche  von  191 1  ergaben 
wichtige  Anhaltspunkte.  Damals  wurden  in  jedem 
Stamm  von  mehreren  Zwiebeln  der  Ernte  1910 
Brutzwiebeln  von  i  g  Gewicht  ausgepflanzt.  Die 
Untersncbung  der  Ernte  mußte  dann  sofort  er- 
geben, ob  ein  Zusammenhang  besteht  zwischen 
Gewicht  und  Brutzwiebelzahl  der  Mutterzwiebeln 
einerseits  und  Gewicht  und  Brutzwiebelzahl  der 
Tochterzwiebel  andererseits.  Das  Resultat  war  in 
allen  Stämmen  durchaus  negativ.  Das  Gewicht 
der  Mutterzwiebel  hat  keinen  Einfluß  auf  das  Ge- 
wicht der  Tochterzwiebel  und  das  gleiche  gilt  für 
die  Anzahl  der  Brutzwiebeln.  Das  mag  für  das 
Gewicht  belegt  werden  mit  den  Zahlen  der  beiden 
Stämme  A  und  B. 


Stamm 

A 

Stamm  B 

Gewicht 

der 

Tochter- 

Mutter- 

Tochter 

Mutterzwiebel 

zwiebel 

zwiebel 

Zwiebel 

16,8 

15,3 

30,4 

12,9 

13,1 

20,1 

27,2 

12,9 

11,2 

18 

25,7 

16,3 

6,9 

12,7 

23,6 

11,9 

— 

— 

18,4 

10,6 

Das  weist  schon  darauf  hin,  daß  innerhalb 
eines  Stammes  die  Selektion  kaum  wirksam  sein 
dürfte. 

Erst  die  Versuche  von  191 3  wurden  wieder 
so  angelegt,  daß  eine  definitive  Antwort  auf  unsere 
Frage  2.  zu  erwarten  war.  Die  Ernte  von  191 2 
wurde  in  jedem  der  vier  Stämme  je  in  drei  Gruppen 
geteilt:  Schwerste,  mittlere  und  leichteste  Zwiebeln. 
Bei  Aussaat  und  Ernte  19 13  wurden  die  drei  Gruppen 
scharf  auseinander  gehalten.  Das  Resultat  war 
in  allen  vier  Stämmen  genau  gleichsinnig.  Die 
großen  Differenzen  der  beiden  extremen  Gruppen 
a  und  c  bei  den  Mutterzwiebeln  sind  bei  den 
Tochterzwiebeln  vollständig  verschwunden.  Auch 
hierfür  seien  die  Zahlen  unserer  Stämme  A  und  B 
aufgeführt,  und  zwar  wiederum  die  absoluten  und 
die  der  graphischen  Darstellung  zugrunde  liegenden 
relativen. 


Stamm  A 

Mutterzwiebeln         Tochterzwiebeln 

absolut    relativ  absolut    relativ 

29.5   g     56,0  17,4  g     48,6 

23,2         44,0  18,4         51,4 

—  I         —  2,8 


Differenz     -\-6,2     +12 

Stamm   B 

Mutterzwiebeln  Tochterzwiebeln 

absolut    relativ  absolut    relativ 
a                25,3  g     56,6  14      g     47,6 

c  19,4         43,4  15,4         52,3 

Differenz      +5,9     +13,2  —1,4      —4,7 

Mit  Worten  ausgedrückt:  Selektion  innerhalb 
eines  Stammes  erwies  sich  als  vollständig  wirkungs- 
los. Modifikationen  vererben  sich  also 
bei  vegetativer  Vermehrung  von  Allium 
sativum  nicht. 

So  hätten  wir  unsere  beiden  Hauptfragen  beant- 
wortet. Wir  kommen  zu  dem  Schluß,  daß  auch  bei 
vegetativer  Vermehrung  die  Unterscheidung  zwi- 
schen Populationen  und  Stämmen  notwendig  ist  und 
daß  die  Ergebnisse  der  Versuche  über 
Vererbung  in  Populationen  und  in 
reinen  Linien  bei  sexueller  Fortpflan- 
zung auch  Gültigkeit  haben  für  vege- 
tative Vermehrung,  soweit  bis  jetzt 
exakte  Untersuchungen  vorliegen. 

Damit  erhält  unser  aus  theoretischen  Über- 
legungen hervorgegangener  weiterer  Schluß,  daß 
zwischen  der  Vererbung  bei  sexueller  und  asexueller 
P"ortpflanzung  keine  prinzipielle  X'erschiedenheit 
besteht,  eine  experimentelle  Stütze. 

Endlich  noch  eine  kurze  Schlußbemerkung. 
Ich  bin  mir  voll  bewußt,  daß  vier  Versuchsjahre 
noch  eine  etwas  kurze  Dauer  vorstellen,  und  daß 
die  Anzahl  der  Individuen  jedes  Stammes  selbst 
1913  mit  50  noch  klein  genannt  werden  muß. 
Zur  absoluten  Sicherstellung  der  Ergebnisse  ist 
eine  Fortsetzung  der  Versuche,  womöglich  in 
größerem  Maßstabe,  erforderlich.  Das  soll  in 
den  nächsten  Jahre   geschehen. 


Reflexion  uud  spektrale  Zeii 


[Nachdruck  verboten.] 


Sammelreferat  von  K, 


Das  Dunkel,  das  über  dem  Wesen  der  Röntgen- 
strahlen geruht  hat,  ist  durch  die  schönen  Ver- 
suche von  Laue,  Friedrich  und  Knipping, 
über  welche  schon  in  dieser  Zeitschrift  berichtet 
wurde,  gelichtet  worden.  Die  Beugungs-  und 
Interferenzerscheinungen ,  die  die  Strahlen  beim 
Durchgang  durch  das  Raumgitter  eines  Kristalls 
zeigen,  beweisen ,  daß  sie  elektromagnetische 
Strahlen,  also  dem  Lichte  wesensgleich  sind,  daß 
sie  ferner  eine  außerordentlich  kurze  Wellenlänge 
(etwa  0,01  —  1  fi/x)  haben.  Fast  gleichzeitig  ist 
zwei  englischen  Forschern,  W.  H.  und  W.  L. 
BraggM  (Vater  und  Sohn)  der  Nachweis  ge- 
lungen, daß  die  R-Strahlen  an  der  Oberfläche  von 


egiing  der  ßöntgenstrahleii. 

.  Schutt,  Hamburg. 

Kristallen  eine  regelmäßige  Reflexion*)  er- 
leiden, die  sich  allerdings  in  wesentlichen  Punkten 
von  der  des  Lichtes  unterscheidet,  ferner  daß  man 
die  Reflexion  zur  Bestimmung  des  Spektrums 
der  Strahlen  benutzen  kann  und  daß  man  aus 
dem  Spektrum  wiederum  wertvolle  Schlüsse  über 
die  Anordnung  der  Moleküle  in  den 
Kristallen  ziehen  kann. 

Nach  der  schon  von  Bravais  vor  etwa 
60  Jahren  ausgesprochenen  Theorie  sind  die  Mole- 
küle in  einem  Kristalle  ganz  regelmäßig  in  einem 


*)   Die  Theorie    nimmt    eine    Beugung    an   den  Molekülen 
an,  deren  Ergebnis  aber  mit  einer  Reflexion  identisch  ist. 


438 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  28 


Raumgitter  angeordnet:  stellen  wir  uns  einen 
Kochsalzwürfel  viele  Millionen  mal  vergrößert  vor 
und  nehmen  wir  nun  an,  daß  wir  senkrecht  zu 
den  Flächen  in  den  Kristall  hineinblicken,  so  sind 
die  Moleküle  stets  ausgerichtet,  sie  liegen  auf 
einer  Geraden,  stehen  also  auf  Vordermann.  Denkt 
man  sich  auf  einer  Würfelflache  durch  die  Mitten 
der  Moleküle  die  Parallelen  zu  den  Seiten  der 
Ouadratfläche  gezogen,  so  wird  dadurch  die  Würfel- 
fläche in  lauter  gleich  große  Quadrate  zerlegt,  in 
deren  Ecken  je  ein  Molekül  sitzt.  Man  nennt 
eine  solche  mit  Molekülen  besetzte  Plbene  eine 
„Netzebene".  Der  Kristall  baut  sich  aus  äqui- 
distanten  Netzebenen  auf.  Während  die  Laue- 
schen  Versuche  Aufschluß  gaben ,  wie  sich  ein 
Bündel  R- Strahlen  beim  senkrechten  Auf- 
treffen  auf  die  Netzebenen  des  Raumgitters  (Ein- 
fallswinkel o")  verhält,  untersuchten  die  beiden 
englischen  Forscher  ein  streifend  (Einfallswinkel 
nahezu  90")  auffallendes  Bündel;  sie  fanden,  daß 
es  reflektiert  wird. 


Abb.   I. 

Man  kann  sich  jede  Netzebene  des  Kristalls 
als  spiegelnde  Fläche  vorstellen :  in  Abb.  i  sind 
nur  2  nämlich  Fj  und  F.,  gezeichnet,  die  etwa  der 
Vorder-  und  I  linterfläche  einer  planparallelen  Glas- 
platte entsprechen.  Die  unter  dem  Winkel  (p  ein- 
fallenden Strahlen  i  und  2  werden  zum  Teil  an 
Fj  reflektiert,  zum  Teil  dringen  sie  ein  und  wer- 
den an  F"»,  F3  usw.  zurückgeworfen.  Fi  Richtung  3 
fallen  mithin  zwei  Strahlen  aus,  die  miteinander 
interferieren  und  sich  verstärken  oder  schwächen 
je  nach  ihrem  Ganguntcrsclüed  a.  a  ist  gleicii 
AB-|-BC  —  DC.  Eine  einfache  Rechnung  ergibt, 
daß  a  =  2d  •  cos ij  ist,  wo  d  der  Abstand  der 
Netzebenen  ist.  Die  in  Richtung  3  ausfallenden 
Strahlen  zeigen  maximale  Intensität,  wenn  ihr 
Gangunterschied  a  ein  ganzes  Vielfaches  n  von  / 
ist,  da  dann  die  beiden  interferierenden  Strahlen 
die  gleiche  Phase  haben.  Es  ist  demnach  in  allen 
den  Richtungen  verstärkte  Helligkeit  zu  erwarten, 
für  welche  2  d  ■  cos  71  =  n  •  /  ist,  wo  n  =  i,  2,  3  usw. 
ist.  Nehmen  wir  nun  an,  daß  monochromatische 
Strahlen,  die  also  nur  die  Wellenlänge  /.„  entlialten, 
unter    allmählich    abnehmendem    Einfallswinkel  '/ 


auf  die  Kristallfläche  fallen,  so  tritt  das  erste  Maxi- 
mum für  den  Winkel  '/j  ein,  wenn  2d-cos'/ 
=  I  )<  ■^0'  '^^^  zweite  und  dritte  für  den  Winkel 
</).,  resp.  f/'.j ,  wenn  2  d  •  cos  rp  =  2  >(  ^n  resp.  =^ 
3  X  ^(1  ist.  Besteht  das  einfallende  Strahlenbündel 
aus  mehreren  Wellenlängen,  z.  B.  aus  dreien  A,, 
/„  und  /,,  (Aj  ■  Ag  f.,,),  so  wird  zunächst  bei  großem 
Einfallswinkel  die  kleinste  Wellenlänge  /.j  ,  dann 
bei  etwas  kleineren  der  Reihe  nach  '/.„  und  A^  ver- 
stärkt, so  daß  demnach  zu  beiden  Seiten  des  oben 
erwähnten ,  in  Richtung  r/j  liegenden  Maximum 
von  /„  je  ein  Maximum  von  A,  und  A.,  liegt. 
Für  alle  drei  Maxima  ist  der  Gangunterschied 
I  >;  A,  die  drei  Maxima  bilden  zusammen  das 
Spektrum  erster  Ordnung.  Ebenso  liegen  zu 
beiden  Seiten  des  zweiten  Maximums,  das  in 
Richtung  (p^  hegt  und  das  zur  Wellenlänge  A„ 
gehört,  die  Maxima  von  A,  und  /.,,.  Der  Gang- 
unterschied der  Wellen ,  die  diese  drei  Maxima 
durch  Interferenz  erzeugen ,  ist  2  X  ^,  sie  bilden 
das  Spektrum  zweiter  Ordnung.  Auf  dieselbe 
Weise  entstehen  bei  weiterer  Verkleinerung  des 
Einfallswinkels  Spektren  höherer  Ordnung,  die 
aber  sehr  bald  sehr  lichtschwach  werden.  Man 
sieht,  daß  die  Reflexion  der  Strahlen  nach  ganz 
ähnlichen  Gesetzmäßigkeiten  erfolgt,  wie  beispiels- 
weise die  Reflexion  des  Lichts  an  der  Vorder- 
und  Hinterfläche  einer  Seifenlamelle  (nur  findet 
hier,  da  die  Reflexionen  einmal  am  dichteren  und 
zweitens  am  dünneren  Medium  erfolgen,  bei  der 
einen  eine  Phasenverschiebung  statt)  oder  wie  die 
Spiegelung  des  Lichtes  an  den  planparallelen 
Silberschichten  einer  Lippmann'schen  farbigen 
Photographie. 

Die  \' e  rs  u  ch  sa  n  o  r  d  n  u  n  g,  mit  welcher 
die  beiden  Bragg  die  Helligkeitsunterschiede  in 
den  reflektierten  Strahlen  feststellen  konnten,  war 
die  folgende:  Durch  zwei  schmale  spaltartige  Blei- 
blenden wird  ein  Strahlenbündel  von  einer  Röntgen- 
röhre ausgeblendet,  fällt  auf  die  vertikale  Fläche 
des  Kristalls,  der  auf  dem  Tische  eines  Gonio- 
meters montiert  ist,  wird  von  dieser  unter  dem- 
selben Winkel  reflektiert  und  fällt  in  eine  mit 
Schwefeldioxyd  gefüllte  Ionisationskammer,  die 
auf  dem  einen  drehbaren  Arm  des  Goniometers 
befestigt  ist.  Mittels  eines  Elektrometers  wird  die 
ionisierende  Wirkung  der  reflektierten  Strahlen 
gemessen;  sie  dient  als  Maß  für  ihre  Intensität. 
Durch  Drehen  des  Tischchens  läßt  sich  der  P^in- 
fallswinkel  ändern  und  die, .Helligkeit"  der  unter  ver- 
schiedenen Richtungen  zurückgeworfenen  Strahlen 
messen.  In  Abbildung  2  ist  auf  der  horizontalen 
Achse  der  Einfalls-(Ausfalls-)winkel  (p,  auf  der 
vertikalen  die  zugehörige  Intensität  der  gespiegel-  I 
ten  Strahlen  angegeben.  Bei  nahezu  streifendem 
Einfall,  also  großem  Winkel  if,  ist  die  Intensität 
beträchtlich  (doch  wird  nur  etwa  '/js,,,,  der  die 
Kristallflächen  treffenden  Strahlen  reflektiert);  sie 
nimmt  mit  abnehmendem  (/'  schnell  ab.  Das  | 
Spektrum  der  Strahlen  ist  kontinuierlich  (die  ge-  ' 
strichelte  Linie),  darüber  lagert  sich  ein  diskon- 
tinuierliches Spektrum  mit  drei  scharfen  Maxima, 


N.  F.  XIII.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


439 


denen  je  eine  ganz  bestimmte  Wellenlänge 
(Ap  A„  und  L)  entspricht.  Bis  zur  3.  Ordnung 
war  das  Spektrum  noch  festzustellen.  Die  Lage 
der  Maxima  (die  Winkel  */)  und  mithin  die  Wellen- 
länge hängt  vom  Material  der  Antikathode  ab, 
die" bei  den  ersten  Bragg' sehen  Versuchen  aus 
Platin  bestand.  Die  Maxima  geben  uns  mithin 
Aufschluß  über  die  charakteristische 
Röntgenstrahlung  des  Antikathoden- 
m  e  t  a  1 1  s. 


1 

2 

3  Ordnung 

V 

^ 

1        I  1  1  1 



-^Ts      /iv 

90  80  70  60 

^jAflAo          A,    /li)    ^,      A ,     Aq     (A;) 
< ^  *^ *      -e — > 

Sangunrerschied  1  x/t  2  «d  ixA 

Abb.  2. 


Als  die  Bragg'  sehen  Versuche  bekannt 
wurden,  glaubte  man  die  Reflexions-  und  Inter- 
ferenzerscheinungen auf  feine,  im  Glimmer  wirklich 
vorhandene  Spaltflächen  zurückführen  zu  können  '-). 
Doch  ließ  sich  zeigen,  daß  dieselben  Erscheinungen 
bei  einer  ganzen  Reihe  anderer  Kristalle,  wie 
NaCI,  KCl,  Pyrit,  Diamant  auftreten.  Ein  weiterer 
Beweis  für  die  Richtigkeit  liegt  in  folgendem: 
Die  Richtungen,  in  denen  die  3  Maxima  der 
Wellenlänge  /„  liegen,  sind  bestimmt  durch  die 
Gleichungen: 

jd-cosf/i  =  I  -Aj, 

2  d  •  cos  fPi^  -•  ^0 

2d.cos</'3  =  3-/t„ 

Mithin  muß  sein  cos  r/i,  :  cos  71.3 :  cos  <f.-=  1:2:3 
Die  beiden  Bragg's  haben  die  Winkel  für  eine 
Würfelfläche  (100)  des  Steinsalzes  gemessen  und 
fanden  für  die  Kosinus  0,200,  0,401  und  0,597. 
F'erner  gelang  ihnen  die  Feststellung,  daß  die 
Massenabsorptionskoeffizienten  der  drei  für  Platin 
charakteristischen  Wellenlängen  in  Aluminium  an- 
nähernd II,  18  und  26  sind.  Hierdurch  wurde 
zum  ersten  Mal  bewiesen,  daß  der  Absorp- 
tionskoelfizient  mit  abnehmender 
Wellenlänge  kleiner  wird,  daß  also  kurz- 
wellige Strahlen  weniger  verschluckt  werden. 

Mit  Hilfe  der  Reflexion  der  R-Strahlen  sind 
wir  imstande,  Aufschluß  über  die  Lagerung  der 
Moleküle  in  den  Kristallen  und  über  die  Abstände 
der  Netzebenen  zu  bekommen.  Dadurch,  daß  die 
beidenBragg's')die  an  den  Flächen  eines  Diamants 
durch  Reflexion  entstandenen  Spektren  verschie- 
dener Ordnung  (Rhodiumantikathode:  ihr  Spek- 
trum besteht  im  wesentlichen  aus  einer  Wellen- 
länge A  =  0,607- 10   '^  cm)  untersuchten,  gelanges 


ihnen,  ein  eingehendes  Bild  von  dem  Raumgitter 
dieses  Körpers  zu  erhalten,  das  sie  in  einem  räum- 
lichen Modell  auf  der  Tagung  der  British  Associa- 
tion in  Birmingham  im  September  1913  vorgeführt 
haben.  Bezüglich  der  Einzelheiten  sei  auf  die 
Originalabhandlung  •')  verwiesen,  in  der  sich  auch 
eine,  allerdings  schwer  zu  übersehende  .Abbildung 
des  Modells  befindet.  Das  Interessante  dabei  ist, 
daß  von  jedem  Kohlenstofifatom  je  4  gleich- 
lange Arme  durch  die  Ecken  eines  Tetraeders, 
in  dessen  Mitte  das  C-Atom  gedacht  ist,  ausgehen, 
und  daß  die  C-Atome  sich  zu  regulären  Sechs- 
ecken gruppieren,  wie  sie  dem  Chemiker  aus  der 
Strukturformel  des  Benzols  geläufig  sind. 

Das  Spektrum  der  R-Strahlen  läßt  sich  auch 
photographisch  fixieren:  ersetzt  man  die  Bragg- 
sche  lonisierungskammer  durch  eine  feststehende 
photograpliische  Platte  und  dreht  jetzt  das  Gonio- 
metertischchen mit  dem  Kristall,  so  erhält  man 
auf  der  Platte  das  Spektrum.  J.  Herweg^) 
(Greifswald)  hat  einen  Spekt r ographen  für 
R-Strahlen  konstruiert,  der  auf  diesem  Prinzip 
beruht.  Auf  dem  Tischchen  stehen  eine  Gipsplatte 
(3,5X2  cm-,  I  mm  dick)  und  dahinter  senkrecht 
zur  Fläche  des  Kristalls  die  photographische  Platte. 
Mittels  PHektromotor,  Schneckenrad,  Schlitten- 
verschiebung und  eines  automatischen  Umschalters 
wird  es  erreicht,  daß  das  Tischchen  mit  Kristall 
und  Platte  eine  langsame,  gleichförmige,  hin-  und 
hergehende  Bewegung  um  eine  vertikale  Achse 
ausführt  (Drehwinkel  10",  Dauer  eines  Hinganges 
ca.  5  Minuten).  Dadurch  ändert  sich  der  Einfalls- 
winkel des  R-Strahlenbündels;  nach  5-  bis  6 stün- 
diger Exposition  erhält  man  das  Spektrum  des 
Antikathodenmaterials  auf  der  Platte.  Herweg 
findet  für  das  Platin  fünf  Linien,  deren  Lage 
(Winkel  '/)  er  mißt;  seine  Messung  ist  in  guter 
Übereinstimmung  mit  der  von  Mosel ey  und 
Darwin  •"').  Das  Wolframspektrum  ließ  sich  nicht 
mit  ganz  scharfen  Linien  herstellen.  Doch  ist  es 
wahrscheinlich,  daß  es  dasselbe  charakteristische 
Spektrum  nur  in  anderer  Intensitätsverteilung  hat. 
—  M.  de  Broglie  und  F.  A.  Linde  man  n  •') 
(Paris)  fanden,  daß  sich  die  Spektren  auch  auf  einem 
iiarium-Platincyanier- Schirm  zeigen  lassen.  Sie 
photographierten  die  Spektren  von  Platin,  Wolfram 
und  Kupfer.  Die  Bilder  sind  sehr  schön.  Die  charak- 
teristischen Wellenlängen  heben  sich  als  schmale, 
scharf  begrenzte  dunkle  Linien  von  dem  weniger 
geschwärzten  Hintergrund  ab.  Als  interessantes 
Phänomen,  welches  indessen  noch  nicht  als  sicher 
hingestellt  werden  darf,  sei  erwähnt,  daß  beim 
Durchgang  der  von  einer  Platin-Antikathode  aus- 
gehenden Strahlen  durch  ein  dünnes  (io.h)  Platin- 
blech ,  die  Zentren  sämtlicher  Linien  ausgelöscht 
waren,  was  auf  eine  den  Frauen  hofer'schen 
Linien  ähnliche  Erscheinung  hindeutet. 

Literaturnachweis. 

1.  Physika!.  Zeitschrift  XIV  (1913)  472:  Bragg,  Die 
Rellexion  der  Röntgenstrahlen  an   Kristallen. 

2.  Physikal.  Zeitschrift  XIV  (1913)  220:  Mandelstam 
und  Rohmann,  Reflexion  der  R-Strahlen. 


440 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  28 


3.  Proc.   Roy.  Soc.   London   Vol.  89,  Xr.  610  u.  l'hysikal. 
Zeitschr.  XIV.   1303. 

4.  Verh.    d.    Deutsch.   Physikal.   Ges.  XVI    (1914)   73;    J. 
Herweg,   Über  das  Spektrum  der  R-Strahlen. 


5.  Phil.   Magazine  (6)  26,   210  (1913). 

6.  Verh.  d.  Deutsch.  Physikal.  Ges.  XVI  (1914)  195;  M. 
de  Broglic  und  F.  A.  Linde  mann,  Einige  Bemerkungen 
über  R-Strahlspektren. 


Einzelberichte. 


Physik.  Die  Krweiterungen,  die  unsere  Kennt- 
nisse und  Anscliauungen  über  die  (5-Strahlen  in 
der  letzten  Zeit  erfahren  haben,  lassen  wohl  einen 
Überblick  über  unsere  gegenwärtigen  Kenntnisse 
über  die  Delta-Strahlen  als  angebracht  erscheinen.  ^ 
Zum  besseren  Verständnis  der  jetzigen  Definitionen 
seien  zuerst  einige  geschichtliche  Tatsachen  mit- 
geteilt.-)  Den  Namen  (5- Strahlen  hat  J.  J. 
Thomson  geprägt  und  ihn  den  negativ  geladenen 
Strahlen  beigelegt,  die  er  nach  seinen  Unter- 
suchungen als  Elektronen  erkannte,  welche  zu- 
sammen mit  «-Strahlen  vom  Polonium  emittiert 
werden.  Rutherford  bestätigte  diese  Beobach- 
tungen und  zeigte  weiter,  daß  die  sich  langsam 
bewegenden  Elektronen,  die  rf-Strahlen,  nicht  nur 
von  dem  radioaktiven  Körper  ausgesandt  wurden, 
sondern  auch  von  jedem  beliebigen  anderen  Körper, 
der  von  «-Strahlen  getrofi'en  wird  und  vermutete, 
daß  die  d-Strahlen  teilweise  eine  seitens  der  a- 
Strahlen  erregte  Sckundärstrahlung  wären.  Ge- 
schwindigkeitsmessungen wurden  seitens  mehrerer 
Forscher  ausgeführt,  die  aber  zu  wenig  miteinander 
übereinstimmenden  Resultaten  führten,  immerhin 
waren  sie  noch  gut  genug,  um  die  d-Strahlen  als 
Elektronen  erkennen  zu  lassen  von  einer  Anfangs- 
geschwindigkeit, die  jedenfalls  nicht  viel  größer 
ist  als  die,  welche  zur  Ionisierung  der  Atome  eines 
Gases  erforderlich  ist.  Wenn  die  Eigenschaften 
der  dStrahlen  dieselben  sind  wie  jene  der  aus 
den  Atomen  eines  Gases  bei  dessen  Ionisierung 
entbundenen  Elektronen,  so  vermag  vielleicht  das 
Studium  der  d  Strahlen  wertvolles  Licht  auf  die 
wichtige  Frage  nacii  dem  Mechanismus  der  Ioni- 
sierung zu  werfen. 

Nachdem  jetzt  neuere  Untersuchungen  gezeigt 
haben,  daß  d-Strahlen  nicht  nur  zusammen  mit 
«-Strahlen  von  radioaktiven  Körpern  ausgestrahlt 
oder  von  den  «-Strahlen  an  festen  Körpern  erzeugt 
werden,  sondern  daß  auch  andere  Strahlen  eben- 
solche langsame  negative.Sekundärstrahlen  erzeugen, 
kann  man  nach  Hauser  zurzeit  die  d-Strahlen 
vielleicht  am  besten  folgendermaßen  definieren''): 
d-Strahlen  sind  eine  aus  Elektronen  be- 
stehende Sekundärstrahlung,  deren  Ge- 
schwindigkeiten  sich  von  o— 10"  cm/sek. 
erstrecken.  Die  Geschwindigkeitsverteilung  in 
den  (5 -Strahlen  ist  unter  denselben  Versuchs- 
bedingungen unabhängig  von  der  Geschwindigkeit 


')  Jahrbuch  der  Radioaktivität  und  Elektronik  10,  p.  447 
(1913)- 

')  Jahrbuch  der  Radioaktivität  und  Elektronik  Q,  p.  419 
(1912). 

')  Jahrbuch  der  Radioaktivität  und  Elektronik  10,  p.  447 
(1913)- 


der  erzeugenden    Straiilcn    und    vom  Material  der 

aussendenden  Elektrode. 

Daß    die    ()  Strahlen    nichts    anderes   sind    als 

langsame    Elektronen,    ließen    die    früher    für    das 

e 
Verhältnis       und  für  die  Geschwindigkeit  erhalte- 
m  ^ 

nen  Resultate  erkennen.  Diese  Schlüsse  früherer 
h'orscher  sind  jetzt  selir  gut  bestätigt  worden. 
Während  man  weiter  früher  zwischen  primären 
und  sekundären  (3-Strahlen  je  nach  ihrem  Ursprung 
unterschied,  betrachtet  man  alle  (5-Strahlen  jetzt 
zutreftender  als  Strahlen  sekundären  Ciiarakters. 
Was  den  Ursprung  der  (5-. Strahlen  betrifft, 
so  hat  Campbell  gefunden'),  daß  dieselben 
nicht  nur  von  den  «-.Strahlen  aussendenden  Stoffen 
und  den  von  «  Strahlen  getroffenen  Körpern  aus- 
gesandt werden,  sondern  auch  von  festen  Körpern, 
die  von  /i?-Strahlen  oder  Kathodenstrahlen  getroffen 
werden.  Es  wurden  Stromspannungskurven  von 
(5-StrahIen  aufgenominen,  einmal,  wenn  sie  durch 
«  Strahlen,  das  andere  mal,  wenn  sie  durch  ;:i- 
Strahlen,  welche  selbst  wieder  durch  Bestraiilung 
mit  Röntgenstrahlen  an  den  Elektroden  hervor- 
gerufen wurden,  erzeugt  waren.  Aus  der  guten 
Übereinstimmung  der  erhaltenen  Kurven  kann 
geschlossen  werden,  daß  auch  bei  Bestrahlung 
mit  Röntgenstrahlen  eine  sekundäre  Elektronen- 
Strahlung  auftritt,  welche  den  von  «-Strahlen  er- 
zeugten rf-Strahlen  wesensgleich  ist,  und  da  nach- 
gewiesen werden  konnte,  daß  diese  Sekundär- 
strahlung nicht  direkt  durch  die  Röntgenstrahlen, 
sondern  erst  durch  die  von  diesen  ausgelösten 
Kathodenstrahlen  erzeugt  wird,  so  ist  die  Wesens- 
gleichheit der  Sekundärstrahlen  der  ß-  und  Kathoden- 
strahlen mit  den  durch  «-Strahlen  erzeugten  ö- 
Strahlen  erwiesen. 

Zahlreiche  Versuche  hatten  früher  gezeigt,  daß 
es  jedenfalls  ein  Hauptmerkmal  der  t)Strahlen  sei, 
daß  sowohl  ihre  Maximalgeschwindigkeit 
als  auch  ihre  Geschwindigkeitsverteilung 
unabhängig  vom  Material  der  aussendenden  Elek- 
trode sei.  Dieses  Resultat  wurde  in  neuerer  Zeit 
bestätigt')  bei  Verwendung  eines  Apparates, 
welcher  gestattete,  die  von  der  Elektrode,  auf 
welche  «-Strahlen  auftreffen,  kommenden  d'-Strahlen 
für  sich  zu  untersuchen.  Aus  den  Resultaten  der 
einzelnen  Forscher  können  wir  folgendes  sciilicßen, 
wenn  wir  die  Abhängigkeit  von  der  Apparatforni 
berücksichtigen:  Fallen  «-Strahlen  unter  verhältnis- 
mäl3ig  stumpfen  Winkeln  auf  ein  Metall  auf,  oder 
durchdringen  sie  eine  dünne  Schicht  desselben,  so 


')  N.   R.   Campbell,   Phil.   Mag.   24,   783— 7SS  (1912), 
-)  Phil.   Mag.  24,  527—540  (1912). 


N.  F.  XIII.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


441 


ergibt  sich  als  Maximalgeschwindigkeit  der  ö- 
Strahlen  im  allgemeinen  eine  solche,  wie  sie  ein 
Elektron  beim  Durchfallen  einer  Potentialdifterenz 
von  20  bis  40  Volt  annehmen  würde,  bei  ganz 
empfindlichen  lonisationsmessungen  sogar  im 
Maximum  von  75  Volt.  Eine  große  Zahl  schneller 
d-Strahlen  tritt  auf,  wenn  die  erzeugenden  a- 
Strahlen  ein  Röhren-  oder  Kästchensystem  durch- 
fliegen und  daher  die  Oberflächen  unter  ziemlich 
spitzen  Winkeln  treften. 

Die  Frage,  ob  es  d-Strahlen  gibt,  welche  zu 
ihrem  Austritt  ein  kräftiges  elektrisches  Feld  be- 
nötigen oder  nicht,  ist  dahin  zu  beantworten,  daß 
bei  glatten  Metalloberflächen  zum  Austreiben 
der  dStrahlen  kein  beschleunigendes  elektrisches 
Feld  nötig  ist,  während  die  an  den  rauhen  Ruß- 
und  Kohleiiflächen  erzeugten  ()  Strahlen  nicht  alle 
ohne  elektrisches  Feld  die  Elektroden  verlassen. 
Hieraus  läßt  sich  schließen,  daß  für  das  Austreten 
der  d-Strahlen  aus  einer  Elektrode  nicht  deren 
Material,  sondern  die  t>berflächenbeschaffenheit 
in  Betracht   kommt. 

Eng  \erknüpft  mit  der  Geschwindigkeit  der 
(3'-Strahlen  ist  ihre  I-'ähigkeit,  Gase  zu  ionisieren, 
Sekundärstrahlen  zu  erzeugen  und  Materie  zu 
durchdringen.  Der  Nachweis  einer  Ionisation 
durch  (J-Strahlen  mißlang  früher,  da  die  Versuche 
bei  zu  hohem  Gasdruck  durchgeführt  wurden,  bei 
dem  die  durch  die  (J-Strahlen  hervorgebrachte 
Wirkung  im  Vergleich  zu  dem  lonisationsstrom 
der  «-Strahlen  unmerkbar  ist.  Es  wurde  nun  zu- 
erst der  lonisationsstrom  mittels  des  Bragg'schen 
Apparates  gemessen  bei  solchen  Drucken,  bei 
denen  die  «Strahlen  allein  zur  Wirkung  kommen. 
Hieraus  wurde  der  durch  die  a-Strahlen  erzeugte 
lonisationsstrom  für  die  kleinsten  Drucke  berechnet 
und  es  ließen  sich  die  Abweichungen,  welche  die 
bei  kleinsten  Drucken  gemessenen  Ströme  von 
den  bereclmeten  zeigten,  auf  Ionisation  durch  eine 
leicht  absorbierbare  Strahlung  zurückführen.  Da 
der  durch  letztere  erzeugte  Strom  im  Magnetfelde 
etwas  abnahm,  so  muß  diese  leicht  absorbierbare 
Strahlung  aus  einem  magnetisch  nicht  ablenkbaren 
und  einem  magnetisch  ablenkbaren  Teil  bestehen, 
von  denen  der  erste  Teil  als  aus  Atomen  des 
Zerfallproduktes  der  benutzten  radioaktiven  Sub- 
stanz bestehend  erkannt  wurde,  während  der  andere 
den  an  den  Innenwänden  des  Rohres  erzeugten 
(5-Strahlen  seine  Entstehung  verdankt.  Schnelle 
(5-Strahlen  sind  auch  imstande,  Sekundär- 
strahlen geringerer  Geschwindigkeit  auszu- 
lösen, und  da  schätzungsweise  bei  obigem  loni- 
sationsversuch  'V^j  der  Sekundärstrahleu  nicht 
durch  die  «-Strahlen,  sondern  durch  jene  schnellen 
(5-Strahlen  erzeugt  wurden,  so  sind  einige  Forscher 
der  Ansicht,  daß  die  Ionisation  der  Gase  möglicher- 
weise nicht  direkt  durch  c(-Strahlen,  sondern  durch 
Vermittlung  von  an  den  Gasmolekülen  erzeugten 
(5-Strahlen  stattfinde.  Die  D  u  rchd  r  i  n  gu  n  gs - 
fähigkeit  der  ()'-Strahlen  ist  keine  sehr  große. 
Die  Grenze  ihrer  Durchdringungsfähigkeit  ist  er- 
reicht, wenn  sie  bei  760  mm  Druck  in  Luft  eine 


Strecke  von  0,13  mm  durchlaufen  haben,  was 
einer  Aluminiumdicke  von  etwa  0,08  /t  entspricht. 
Zahlreiche  Untersuchungen  galten  der  Zahl 
der  ausgesandten  (5-Strahlen  in  ihrer  Ab- 
hängigkeit von  den  verschiedensten  Größen.  Ver- 
suche über  die  Abhängigkeit  von  der  Geschwindig- 
keit der  erzeugenden  ((-Strahlen,  bei  verschiedenem 
Elektrodenmaterial  bei  den  verschiedenartigsten 
Gasfüllungen  und  Drucken  und  im  Vakuum  lassen 
einen  starken  Einfluß  der  im  Innern  oder  an  der 
Oberfläche  der  aussendenden  Elektrode  okkludier- 
ten  Gasmengen  erkennen,  so  daß  Bumstead  zu 
dem  Schluß  kommt,  daß  möglicherweise  die  festen 
Körper  überhaupt  keine  (5-Strahlen  aussenden, 
sondern  daß  die  ganze  (5-Strahlung  nur  von  nicht 
entfernbaren  Resten  anhaftender  Gasschichten  her- 
rühre. Sollten  die  (5  Strahlen  also  wirklich  aus 
anhaftenden  Gasschichten  stammen,  so  würde  die 
Ionisation  eines  Gases  in  der  Weise  vor  sich  gehen, 
daß  die  Elektronen  aus  den  Gasmolekülen  mit  be- 
trächtlicher Anfangsgeschwindigkeit  ausgeschleu- 
dert werden.  Für  die  Anzahl  cler  pro  «-Teilchen 
eine  radioaktive  Schicht  verlassenden  cl-Strahlen 
hat  man  gefunden,  daß  dieselbe  um  so  kleiner 
ist,  je  dicker  die  aktive  Schicht  ist,  infolge  der 
großen  Durchdringungsfähigkeit  der  «-Teilchen 
und  der  geringen  der  (5-Strahlen.  Die  Zahl  liegt 
zwischen  60  und  125.  Die  Zahl  der  pro  «-Teilchen 
austretenden  Aufprall-  und  Austrittsstrahlen  hängt 
sehr  von  der  Geschwindigkeit  der  erzeugenden 
«-Strahlen  ab,  zwischen  7  und  17,  und  muß  daher 
auch  von  dem  mittleren  Winkel  abhängen,  unter 
dem  die  «-Strahlen  die  Elektrodetioberfläche  treffen, 
welche  Abhängigkeit  bei  sekundären  und  primären 
/:?-Strahlen  auch  in  der  Tat  gefunden  ist. 

H.  Schönborn. 

Völkerpsychologie.  Die  Anfänge  von  Kunst 
und  Religion  in  der  Urmenschheit  behandelt  Prof 
Dr.  H.  Klaatsch  in  der  ihm  eigenen  geistvollen 
Weise  in  einer  eben  im  Verlag  Unesma  zu  Leipzig 
erschienenen  Schrift. ')  Die  ältesten  Bewohner 
Europas,  die  einen  auffällig  hohen  Kunstsinn  ver- 
raten, waren  paläolithische  Jäger,  die  sonst  nach 
unseren  heutigen  Begriffen  sehr  wenig  Kultur  be- 
saßen, nämlich  die  Menschen  vom  „Aurignactypus". 
In  den  von  ihnen  hinterlassenen  Schnitzereien  aus 
Knochen,  Einritzungen,  sowie  Malereien  von  Tieren 
auf  Felswänden,  die  man  vorzugsweise  in  Spanien 
und  Südfrankreich  fand,  kommt  eine  Naturtreue 
zum  Ausdruck,  die  in  späteren  Perioden  vergeb- 
lich gesucht  wird;  Man  muß  einen  Zeitraum  von 
mindestens  zwanzigtausend  Jahren  überspringen, 
vom  Ende  der  Eiszeit  bis  zur  Entfaltung  myke- 
nischer  und  hellenischer  Kunst,  um  wieder  auf 
jenen  großen  Zug  in  Malerei  und  Plastik  zu  stoßen, 
der  den  ,, geborenen"  Künstler  kennzeichnet. 

Bemerkenswert  ist  ferner,  daß  den  Zeitgenossen 
der  Aurignacmenschen,  den  Neandertalern,  jeder 
Kunstsinn  mangelte;    man    hat    in    ihrem  Kultur- 


63  S.   mit  30  Abb.     Preis  2  Mk. 


442 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  28 


inventar  bisher  gar  nichts  gefunden,  was  auf  faltung  nicht  der  von  Malerei  zur  Skulptur  ge- 
künstlerische Betätigung  hinwiese.  wesen  sein  dürfte ,  sondern  daß  umgekehrt  das 
Die  Schichten  des  Aurignacien  lassen  eine  scheinbar  kompliziertere,  die  plastische  Form- 
deutliche  Gliederung  in  einen  unteren,  mittleren  gebung,  älter  ist  als  flächenhafte  Darstellung, 
und  oberen  Horizont  unterscheiden.  Die  älteste  I'^rner  lenkt  die  Tatsache,  daß  nicht  tierische, 
Schicht    enthält    neben   schön  bearbeiteten  Werk-  sondern    mcnscliliche    Körper   das    älteste    Objekt 


Abb.   1.     Skulpturen  und  Einritzungen  der  Aurignacmensclicn. 

(Aus  Klaatsch,  Die  .Anfänge  von   Kunst  usw., 

Verlag  Unesma,  Leipzig.) 


Abb.  2.      Aurignacienkunst.      Speerwerfer  mit  Raubtierkopf 

und  Geweihstück  worauf   der  Kopf  eines  Huftieres  graviert 

ist.     (Aus  Klaatsch,  Die  .Knfänge  von  Kunst  usw.,  Verlag 

Unesma,  Leipzig.) 


zeugen  und  Geräten  Schnitzereien  aus  Knochen, 
die  den  weiblichen  Körper  darstellen.  Wohl 
kommen  solche  auch  in  den  späteren  Horizonten 
vor,  aber  in  den  früheren  sind  sie  allein  da  ohne 
Begleitung  von  Tierdarstellungen  —  Skulptur 
allein  und  noch  nichts  von  Malerei.  Diese  Er- 
scheinung hält  K.  für  sehr  beachtenswert ;  Sie  be- 
lehrt   uns    darüber,    daß  der  Gang  der  Kunstent- 


■\bb.   3.      Aurignacienkunst.    Farbige  Halbreliefdarstellung 

eines  Wisent   mit  Benutzung    eines   Felsvorsprungs. 

(Aus  Klaatsch,  Die  Anfänge  von  Kunst  usw., 

Verlag  Unesma,   Leipzig.) 


Abb.  4.      Farbige  Tierdarstellungen   der  Aurignacmenschen. 

(Aus   Klaatsch,   Die  Anfänge  der  Kunst  usw., 

Verlag  Unesma,   Leipzig.) 

künstlerischer  Darstellung  gewesen  zu  sein  scheinen, 
unsere  Aufmerksamkeit  darauf,  daß  möglicher- 
weise die  älteste  Betätigung  des  Triebes,  Dinge, 
die  die  Phantasie  beschäftigen ,  mit  Händen  zu 
formen,  mit  dem  Sexualtrieb  in  genetischen  Zu- 
sammenhang zu  bringen  ist.  Das  frühe  Auftreten 
menschlicher  Figuren  ist  um  so  erstaunlicher,  als 
späterhin  die  Darstellung  solcher  keinen  wesent- 
lichen P'orlschritt  macht  und  gegen  die  Tierbilder 
entschieden  zurückbleibt. 

Die  Darstellungen  von  Tieren  an  den  Wänden 
von  Grotten  sind  oft  dem  beschränkten  Raum  in 
merkwürdig  geschickter  Weise  angepaßt,    freilich 


N.  F.  XIII.  Nr.  2S 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


443 


ist  dabei  vielfach  der  Darstellung  von  Einzelheiten 
Zwang  angetan,  wie  z.  B.  den  Zähnen  und  dem 
Rüssel  des  Mammuts,  dem  Geweih  der  Huftiere  usw., 
aber  gerade  in  dieser  Kinschachtelung  liegt  ein 
Beweis  für  künstlerischen  Scharfsinn.  Es  ist  sehr 
schwer  verständlich ,  wie  die  Künstler  jener  Zeit 
mit  einfachen  Steininstrumenten  solche  Wunder- 
werke herstellen  konnten;  besonders  erstaunlich 
ist,  daß  man  keine  Fehlgriffe  findet,  die  ja  gar 
nicht  wieder  gut  gemacht  werden  konnten.  Zu 
bedenken  ist  überdies,  daß  in  diese  unterirdischen 
Stätten  künstlerischen  Schaffens  nie  ein  Sonnen- 
strahl fiel,  daß  die  Leute  bei  künstlicher  Beleuch- 
tung zu  arbeiten  hatten. 

Bei  den  Darstellungen  an  den  Felswänden 
wurden  zwei  auch  lokal  gesonderte  Methoden  an- 
gewendet :  nämlich  erstens  einfache  Einritzung 
ohne  Bedacht  auf  natürliches  Relief  und  ohne 
Farbengebung;  und  zweitens  die  Kombination  der 
Umrißzeichnung  mit  Malerei  auf  P'elsvorsprüngen. 

Was  mag  nun  aber  der  Ansporn  gewesen 
sein,  der  die  Aurignacmenschen  zu  ihren  Kunst- 
leistungen trieb?  Klaatsch  verweist  darauf,  daß 
die  sonst  nicht  sehr  kunstsinnigen  Neger  Tier- 
figuren herstellen,  um  durch  sie  Zaubereinfluß  auf 
bestimmte  Jagdbeute  zu  gewinnen.  Ähnliche 
Regungen  können  gewiß  auch  die  Eiszeitmenschen 
Europas  beherrscht  haben.  Mit  ihren  Venus- 
statuetten und  Tierbildern  strebten  sie  etwas  zu 
beherrschen,  zu  gewinnen;  in  beiden  Fällen  han- 
delt es  sich  um  eine  Jagd,  nur  die  Art  der  Beute 
ist  verschieden.  Die  Grundidee,  um  die  es  sich 
hier  handelt ,  ist  dieselbe  wie  bei  der  „Fern- 
zauberei" lebender  primitiver  Völker.  Es  ist  auch 
möglich,  daß  die  europäischen  Steinzeitmenschen, 
gleich  den  Australiern,  an  eine  direkte  Verwandt- 
schaft zwischen  Menschen  und  Tieren,  an  das 
Stattfinden  einer  Seelenwanderung,  glaubten.  Bei 
den  Australiern  geht  dieser  Glaube  auf  ihre  Un- 
fähigkeit zurück ,  die  Entstehung  des  Menschen 
zu  erklären.  Sie  meinen,  das  Kind  dringe  in  den 
Körper  der  Mutter  ein,  kurz  bevor  seine  ersten 
Bewegungen  verspürt  werden.  Aber  woher  kommt 
es?  Von  irgendeinem  Tier,  das  sich  zufällig  in 
der  Nähe  befindet.  Auf  diese  Weise  wäre  die 
Tierverehrung  und  die  Vorliebe  für  Darstellung 
von  lierkörpern  seitens  der  Aurignacmenschen 
ebenfalls  zu  erklären,  obzwar  es  schwer  sein  wird, 
den  Nachweis  zu  führen,  daß  bei  ihnen  tatsäch- 
lich ein  dem  australischen  ähnlicher  Seelen- 
wanderungsglaube bestand. 

Auf  jeden  Fall  aber  spielt  die  Furcht  vor  umher- 
wandernden Seelen  bei  primitiven  Menschen  eine 
große  Rolle.  Wer  im  Leben  als  großer  Krieger  ge- 
fürchtet war,  bleibt  es  auch  nach  dem  Tode.  Das  ist 
noch  nicht  Ahnenkultus  (denn  es  mangelt  das  Bestre- 
ben, den  Toten  versöhnlich  zu  stimmen),  sondern 
einfach  reale  Furcht  vor  Schädigungen,  die  von  dem 
Tolen  ausgehen  könnten;  denn  das  der  Tod  ein 
Ende  ist,  begreift  der  Wilde  nicht,  er  stellt  ihn 
vielmehr  mit  dem  Schlaf  auf  eine  Stufe.  Wegen 
seiner  Unfähigkeit,  sich  komplizierte  Vorstellungen 


über  sog.  übernatürliche  Kräfte  zu  machen,  hält 
der  Wilde  ferner  jedes  Naturereignis  für  die  I''olge 
menschlicher  Wirkung,  und  die  h'urcht  vor  dem 
Einfluß  des  mächtigen  Mannes  —  des  lebenden 
wie  des  toten  —  darf  man  als  Vorstufe  der 
Gottesfurcht  der  höheren  Religionssysteme  be- 
trachten. Je  nach  der  Macht ,  die  ein  Krieger, 
Zauberer  usw.  im  Leben  besaß,  wird  die  Furcht- 
enipfindung,  die  er  hinterläßt,  kürzer  oder  länger 
andauern.  Je  länger  sich  die  Erinnerung  an  je- 
mand und  die  Furcht  vor  ihm  hält,  desto  größer 
ist  die  Wahrscheinlichkeit  der  Vergöttlichung. 
Klaatsch  legt  das  Hauptgewicht  seiner  l^rklä- 
rung  darauf,  daß  das  Persönliche  als  das  älteste 
und  primitivste  am  Gottesbegrift' erscheint ,  wäh- 
rend früher  allgemein  darin  die  mühsam  erklom- 
mene höchste  Stufe  der  Gotteserkenntnis  erblickt 
wurde.  Durch  Herstellung  von  Götzenbildern 
suchen  die  primitiven  Menschen  auf  die  gefürchteten 
Verstorbenen  geradeso  einzuwirken,  wie  auf  Tiere 
durch  Tierbilder.  Es  ist  sehr  interessant,  sagt 
Klaatsch,  wie  der  alttestamentarische  Gott 
gegen  die  Anfertigung  von  Bildnissen  eifert.  Durch 
solche  würde  ja  der  Mensch  Einfluß  auf  seinen 
Gott  gewinnen  können.  Ganz  leicht  verständlich 
wird  uns  auch  die  Verehrung  von  Tieren  nach 
allem,  was  Klaatsch  über  den  Totemismus  vor- 
bringt. Man  wird  geradezu  an  die  Gemälde- 
grotten der  Aurignacmenschen  mit  den  Stieren 
und  Wisents  erinnert,  wenn  man  an  die  vielfache 
göttliche  Verehrung  gerade  stierähnlicher  Wesen 
bei  den  ältesten  Kulturvölkern  denkt.  Es  ist 
immerhin  möglich,  daß  bereits  bei  den  Gemälde- 
grotten auch  die  Anfänge  solcher  Tiervergötterung 
in  Frage  kommen. 

Wie  schon  aus  den  hier  angeführten  Beispielen 
hervorgeht,  ist  Klaatsch 's  Schrift  an  neuen 
Gedanken  und  Anregungen  über  Probleme  der 
Völkerpsychologie  ungemein  reich. 

H.  Fehllnger. 

Mineralogie.  Mit  den  Namen  Custerit  be- 
legen J.  B.  Umpleby,  W.  T.  Schall  er  und 
E.  S.  Larsen  in  Washington  ein  neues  kontakt- 
metamorphes  Mineral,  das  der  erstgenannte  Autor 
in  einem  großen  Kalkeinschluß  südwestlich  von 
Mackay,  Custer  County,  Idaho,  gefunden  hat 
(Zeilschr.  f  Krist.  u.  Mineral,  Bd.  53,  1914,  H.  4). 
Der  Custerit  tritt  in  feinkörnigen  Massen  auf,  die 
leicht  für  grünlichen  Marmor  gehalten  werden 
können.  Auf  verwitterten  Oberflächen  ist  eine 
hauptsächlich  aus  Karbonat  bestehende  kreidige 
Kruste  nicht  selten.  Die  Härte  ist  ungefähr  5 ; 
die  Dichte  =  2,91;  Glanz:  fettig  bis  glasartig; 
Strich  weiß;  Farbe:  grünlichgrau,  spröde,  durch- 
scheinend. Das  Mineral  hat  drei  Spaltrichtungcn, 
die  sich  nahezu  rechtwinklig  schneiden.  Parallel 
zu  einer  Spaltungsrichtung,  der  vollkommensten, 
ist  polysynthetische  Zwillingsbildung  sehr  schön 
ausgebildet.     Die  Doppelbrechung  ist  gering. 

Im  geschlossenen  Rohr  gelinde  erhitzt,  wird 
der   Custerit    vorübergehend    gelb    und    phospho- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  28 


resziert  mit  goldgelbem  Licht.  Im  verdunkelten 
Zimmer  gleicht  die  Piiosphoreszenzfarbe  der  eines 
tief  goldgelb  gefärbten  Berylls.  Bei  zunehmender 
Temperatur  wird  die  Phosphoreszenz  zerstört  und 
Wasser  abgegeben.  Das  Mineral  dekrepitiert  dabei 
nicht.  Wenn  man  schließlich  das  Mineral  bis  zum 
Schmelzen  des  Rohres  erhitzt,  erhält  man  einen 
weißen  Ring,  der  von  Fluordämpfen  herrührt. 
Vor  dem  Lötrohr  schmilzt  Custerit  nur  schwer 
zu  einer  trüben,  weißen,  Emaille.  Von  Säuren 
wird  er  leicht  zersetzt,  mit  HCl  befeuchtet,  scheidet 
sich  gallertartige  Kieselsäure  ab.  Das  Mittel  aus 
zwei  Analysen  ist  folgendes: 

SiO., 

CaÖ 

H„0 

F         = 

MgO    = 

Fe^O,  = 

102,89 
Überschuß  von  O  wegen  F  =  — 3,42 

99,47 
Aus  dieser  Analyse  leiten  die  Verfasser  folgende 

Strukturformel  ab 

CaOH 


=  3^-17 
=  55,11 
=  5.30 
=    8,12 

=    1,19 
1,00 


Si03< 


CaF 


Es  ist  nicht  anzunehmen,  daß  der  Custerit  ein 
weitverbreitetes  Mineral  ist,  denn  seine  optischen 
Eigenschaften  sind  so  charakteristisch,  daß  er 
wohl  kaum  übersehen  worden  wäre.  In  den  Hand- 
stücken sieht  er  jedoch  so  wenig  auffallend  aus, 
daß  bisher  vielleicht  Dünnschliffe  noch  nie  her- 
gestellt worden  sind.  Jedenfalls  müßte  man  das 
Mineral  in  fluorhaltigen  Kontaktzonen  besonders 
gegen  den  Rand  der  metamorphischen  Bildungen 
hin  suchen.  V.  H. 

Zoologie.  H.  Ch.  Bryandt  behandelt  in 
einer  gründlichen  Arbeit  (University  of  California 
publications  in  zoology)  die  Frage  nach  dem  Nutzen 
und  Schaden  der  westlichen  Wiesenlerche  (Stur- 
nella  neglecta),  eines  Vogels,  der  in  dem  west- 
lichen Teile  der  Vereinigten  Staaten  etwa  die 
ökonomische  Bedeutung  hat  wie  bei  uns  der  Star. 
Er  geht  dabei  in  ähnlicher  Weise  zu  Werke,  wie 
Kör  ig  in  seinen  grundlegenden  Untersuchungen 
über  die  Nahrung  unserer  einheimischen  Vögel. 
Veranlaßt  wurde  der  Verfasser  zu  seiner  Studie 
durch  die  California  Fish  and  Game  Com- 
mission,  von  welcher  evtl.  die  Aufhebung  der 
Gesetze  zum  Schutze  gewisser  Vögel,  u.  a.  der 
Wiesenlerche,  geplant  wurde.  Diese  Vögel  schaden 
gerade  zur  Zeit  des  keimenden  Getreides;  es  wurden 
daher  Untersuchungen  über  die  Verdauungszeiten 
und  die  Art  und  Menge  der  Nahrung  angestellt 
und  ca.  2000  Magenuntersuchungen  angestellt. 
Die  Größe  des  Schadens  ist  abhängig  von  der 
Zahl  der  Vögel  und  davon,  wie  tief  die  Saat  liegt. 
Junge  Vögel  werden  mit  Insekten  gefüttert.  Als 
Verdauungszeit  für  Körner  ergaben  sich  4 — 6,  für 
Insekten  3 — 4  Stunden.   Der  Nahrungsbedarf  stellt 


sich  pro  Jahr  auf  63,3  "/q  animalische  und  36,7  "/„ 
vegetabilische  Nahrung.  Das  Maximum  der  Körner- 
nahrung fiel  in  die  Monate  November,  Dezember, 
Januar,  der  Insektennahrung  auf  den  Frühling  und 
■Sommer.  Bei  abnormem  Auftreten  der  hisekten 
vergrößert  sich  auch  die  Aufnahme  animalischer 
Nahrung.  Alles  in  allem  verdient  die  VN'iesenlerche 
Schonung,  da  sie  mehr  Nutzen  wie  Schaden  bringt. 
Die  Saat  könnte  man  durch  Tieferlegen  schützen. 
Als  Nebenergebnisse  seiner  Untersuchungen  fand 
Bryandt  noch  folgendes:  Die  Schutzvorrichtungen 
der  Insekten,  wie  Stachel,  schädliche  Ausscheidun- 
gen, Haare  usw.  sind  als  schützende  h'aktoren 
gegenüber  den  Angriffen  von  Vögeln  überschätzt 
worden.  Bei  den  Coccinelidcn  (Blattlauskäfern) 
scheinen  aber  die  Ausscheidungen  derart  übel  zu 
wirken,  daß  die  Käfer  von  den  Vögeln  nicht  gefressen 
werden.  Im  übrigen  beeinflußt  der  Nährwert  der 
Insekten  zumeist  die  Nahrungsgewohnheiten  der 
Vögel.  Insekten  mit  Schutzfärbung  im  Ruhe- 
zustande werden  von  Vögeln  und  anderen  Feinden 
entdeckt,  sobald  sie  sich  bewegen.  Ein  Insekt 
außerhalb  seines  gewöhnlichen  Wohnorts  wird 
leicht  entdeckt.  Beides  erklärt  das  Vorkommen 
von  Insekten  mit  Schutzfärbung  unter  der  Nahrung 
der  Wiesenlerche.  Der  115  Seiten  umfassenden 
Abhandlung  sind  noch  ein  Literaturverzeichnis, 
das  bez.  der  deutschen  Literatur  indes  auf  Voll- 
ständigkeit keinen  Anspruch  machen  kann,  sowie 
vier  Tafeln  beigegeben.  Letztere  veranschaulichen 
zumeist  den  Mageninhalt  pflanzlicher  oder  anima- 
lischer Provenienz.  Dr.  Koepert. 

Astronomie.  Die  Beziehungen  zwischen 
Farbe,  Spektrum  und  Parallaxe  der  Fixsterne  hat 
Nashan  untersucht  (.Astr.  Nachr.  Nr.  4722).  Da 
der  Mangel  an  genügend  vielen  und  gut  bestimmten 
Parallaxen  immer  bei  solchen  Aufgaben  eine  sehr 
fühlbare  Rolle  spielt,  so  ist  das  Material  nicht 
sehr  reichhaltig,  aber  doch  ausreichend ,  so  daß 
loi  Sterne  benutzt  werden  konnten.  Daß  sich 
die  roten  und  weißen  Sterne  am  Himmel  gesetz- 
mäßig verteilen,  war  schon  bekannt,  und  zwar  in 
bezug  auf  die  Milchstraße.  Hier  sind  12  weiße 
Sterne,  48  gelbe  und  41  rote  Sterne  verarbeitet 
worden.  Es  zeigt  sich  zunächst,  daß  die  Anzahl 
der  Sterne  von  weißer  Farbe  um  so  größer  ist, 
je  weitere  Entfernungen  vorkommen.  Die  roten 
Sterne  verhalten  sich  umgekehrt,  sie  stehen  ver- 
hältnismäßig nahe.  Für  die  gelben  Sterne  ist  ein 
solcher  Satz  nicht  auszusprechen.  Nun  ist  be- 
kannt, daß  die  Reihe  der  Spektralklassen  der 
Farbenreihe  parallel  läuft,  so  daß  also  die  Gesetz- 
mäßigkeit zwischen  Spektrum  und  P'arbe  und  die 
zwischen  F'arbe  und  Parallaxe  auch  eine  zwischen 
Spektrum  und  Parallaxe  hervorrufen  muß.  Das 
hier  zur  Verfügung  stehende  Material  ist  reicher, 
es  umfaßt  246  Sterne.  Auch  hier  wird  das  kos- 
mologisch  wichtige  Verhältnis  festgestellt,  daß  die 
relative  Anzahl  der  weißen  Sterne  und  die  Spektral- 
tyjien  B  und  A  nach  Picke  ring  mit  wachsen- 
der Parallaxe    abnimmt,    während    die  Relativzahl 


N.  F.  Xin.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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der  roten,  Typ  K  und  M  mit  steigender  Parallaxe 
wächst.  '  l^iem. 

Eine  bisher  unbekannte  Form  von  Stern- 
schnuppen hat  Ho  ff  meist  er  mehrfach  be- 
obachtet 7Astr.  Nachr.  Nr.  4733),  die  in  der 
Literatur  nicht  beschrieben  werden.  Das  Meteor 
besteht  aus  einem  mehrere  Grad  langen  schweif- 
artigen Streifen,  der  sich  in  seiner  Längsrichtung 
fortbewegt,  ohne  daß  ein  helleres  Kopfstück  zu 
sehen  ist.  Die  Bewegung  ist  langsam  und  lang- 
dauernd. Ein  Meteor  dieser  Art  dauerte  4  Se- 
kunden und  war  von  rötlicher  F'arbe.  Es  blieb 
schließlich  in  der  Luft  stehen,  verlor  seine  Farbe 
und  verlosch  wie  ein  gewöhnlicher  Meteorschweif, 
indem  die  rötliche  Farbe  in  ein  mattes  Silbergrau 
überging.  Da  die  Meteore  diese  Gestalt  schon 
vom  Moment  des  Aufleuchtens  an  besitzen,  so 
kann  sie  nicht  eine  Folge  des  Widerstandes  der 
Luft  sein.  Der  Beobachter  glaubt,  daß  es  sich 
hier  um  staubförmige  Massen,  also  Siaubmeteore 
handelt,  die  schon  in  diesem  Zustande  in  die 
Atmosphäre  eindringen.  Sie  sind  sehr  selten, 
unter  5600  beobachteten  Meteoren  nur  4  dieser 
Art.  Aufmerksame  Beobachtungen  auch  von 
anderer  Seite  sind  wünschenswert.  Riem. 

Meteorologie.  Über  Aufgaben  und  Probleme 
der  meteorologischen  I""orschung  in  der  Antarktis 
spricht  Wilhelm  Meinardus  in  der  Geogr. 
Ztschr.  (Bd.  20,   19 14,  H.   i). 

Die  bisherigen  meteorologischen  Beobachtungen 
aus  der  Antarktis  rühren  her  von  festen  Stationen, 
Schlittenreisen  und  Eistriften,  daneben  auch  Ballon- 
und  Drachenaufstiegen.  Besonders  der  „Deutschen 
Antarktischen  Expedition"  unter  Filchner  ge- 
langen im  Weddellmeer  255  Aufstiege  von  Drachen 
und  Ballons.  Aus  allen  diesen  Beobachtungen 
ist  es  möglich,  allgemeine  Schlüsse  zu  ziehen. 

Für  die  Te  m  pera  t  u  r  verte  il  u  ng  im  Süd- 
polargebict  ist  die  niedrige  S  o  m  m  e  r  t  e  ni  p  e  r  a - 
tur  kennzeichnend.  Schon  die  mittlere  Temperatur 
des  wärmsten  Monats  liegt  am  Rande  der  Antark- 
tis fast  überall  unter  o".  Die  Isotherme  von 
0°  fällt  ungefähr  mit  dem  südlichen  Polarkreise 
zusammen.  Im  Nordpolargebict,  das  ungleich 
günstiger  gestellt  ist,  liegt  die  eben  bezeichnete 
Linie  jenseits  85"  Nord.  Je  weiter  nach  Süden 
im  inneren  Südpolargebiet,  desto  mehr  sinkt  die 
Temperatur.  Wenn  auch  das  Innere  mehr  als 
3000  m  hoch  liegt,  so  können  dadurch  doch  nicht 
Sommertemperaturen  von  — 50"  erklärt  werden. 
Die  Ursache  für  diese  Erscheinung  ist  noch  zu 
finden!  Die  Wintertemperatur  ist  recht 
gleichmäßig.  Ganz  im  Gegensatz  zur  nördlichen 
Halbkugel  erscheint  die  Temperaturkurve  hier 
abgeflacht.  Auch  in  dem  Verhalten  einzelner 
Stationen  ergeben  sich  ganz  überraschende  Ab- 
weichungen. Amundscn's  Framheim  und  die 
englische  Station  am  Mac  MurcoSund  unter  der- 
selben Breite  im  Meeresniveau  zeigen  einen  Unter- 
schied der  Jahresmitte  von  /^a"-    Auch  die  Lage 


des  Kältepols,  der  vielleicht  exzentrisch  nach  dem 
Indischen  Ozean  liegt,  ist  noch  zu  bestimmen. 

Luftdruck  und  W  i  n  d  v  e  r  t  e  i  1  u  n  g  weisen 
im  Südpolargebiet  im  allgemeinen  die  theoretisch 
erwarteten  Züge  auf.  Aus  den  Windverhältnissen 
konnte  man  schließen,  daß  das  Südpolargebiet 
zwischen  60"  und  70"  Breite  von  einer  F'urche 
niederen  Druckes  durchzogen  wird,  die  man  als 
subantarktische  Windscheide  bezeichnen 
kann.  Die  Ostwinde  südlich  davon  hielt  man 
früher  für  antarktischen  Lirsprungs,  aber  sie  sind 
feucht  und  warm.  Sie  tragen  zyklonalen  Charakter, 
ihr  Ursprungsgebiet  ist  der  südliche  Indische  Ozean. 
Die  Subantarktische  Luftdruckfurche  gilt  als  Zug- 
straße für  Depressionen,  die  in  der  Richtung  des 
Uhrzeigers  das  Südpolargebiet  umkreisen.  Die 
Ostwinde  an  der  Südseite  dieser  Depressionen 
kommen  aus  wärmeren  Gegenden  und  vom  Meere 
her,  wodurch  sich  ihre  Eigenschaften  erklären. 
Der  Mechanismus  dieser  Depressionen  ist  zwar 
viel  verwickelter,  als  man  früher  annahm  —  L'm- 
bildungen  der  Tief-  und  Hochdruckgebiete  finden 
auch  hier  in  buntem  Wechsel  statt.  Eine  Frage, 
die  noch  gelöst  werden  muß,  ist  die  der  großen 
Konstanz  der  Ostwinde.  So  wehten  sie  in  der 
Winterstation  der  „Gauß"  fast  ununterbrochen. 

Die  Niederschläge  im  Südpolargebiet  fallen 
fast  nur  als  Schnee.  Lls  ist  deshalb  schwer,  einen 
genauen  Wert  der  Niedersclilagsmenge  zu  finden. 
\IVenn  die  Ostwinde  zyklonalen  Charakter  haben, 
so  ist  es  wahrscheinlich,  daß  sie  besonders  nieder- 
schlagsreich sind.  An  der  Grenze  zwischen  zyklo- 
nalem  und  antizyklonalem  Gebiet  findet  die  Nieder- 
schlagsbildung infolge  der  Abkühlung  meist  als 
Schnee  statt.  An  der  „Gauß  Station"  beträgt  die 
Niederschlagshöhe  wahrscheinlich  mehr  als  800  mm 
im  Jahr;  dagegen  ist  sie  kleiner  im  Weddellmeere, 
da  hier  trockene  Südwestwinde  vorherrschen,  die 
aus  dem  Inneren  kommen. 

Von  großer  Bedeutung  sind  diese  Unter- 
suchungen für  die  Frage:  durch  welche 
meteorologischen  Verhältnisse  wird  die 
Ernährung  des  Inlandeises  bewirkt? 
Aus  der  inneren  Antarktis  findet  ein  beständiger 
Abfluß  von  Eis  statt.  Daraus  muß  geschlossen 
werden,  daß  die  Niederschlagsmenge  im  Ganzen 
größer  ist  als  die  Verdunstung.  So  muß  durch 
Luftströmungen  eine  entsprechende  Zufuhr  von 
Wasserdampf  stattfinden.  Um  diese  zu  erklären, 
müssen  wir  auf  die  Frage  eingehen:  wie  ist 
die  Luftdruckverteilung  in  höherem 
Niveau?  Das  Randgebiet  der  Antarktis  steht 
unter  zykloiialer  Luftbewegung,  die  antarktische 
Antizyklone  könnte  also  nur  die  inneren  Teile 
einnehmen.  Dann  ist  es  aber  schwierig,  die  Schnee- 
bedeckung des  Inneren  zu  erklären.  Diese  Über- 
legung führte  Meinardus  zu  einer  Revision  der 
Ansicht,  daß  die  Antarktis  von  einer  Antizyklone 
bedeckt  wäre,  die  nur  im  Meeresniveau  in  Er- 
scheinung tritt.  Wegen  der  niedrigen  Temperatur 
des    Kontinents    muß    oberhalb     eines    gewissen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Niveaus  der  Luftdruck  niedriger  sein  als  in  seiner 
Umgebung.  Über  der  unteren  Antizyklone  liegt 
also  eine  Zyklone,  der  Polarwirbel,  der  über 
2000  m  seinen  Anfang  nimmt.  Der  südpolare 
Kontinent  läßt  nur  einen  Teil  der  Antizyklone 
und  der  östlichen  Winde  in  Erscheinung  treten 
und  ragt  selbst  in  das  Gebiet  der  Zyklone  und 
der  westlichen  Winde  hinein.  In  Ostantarktis, 
wo  das  Land  steil  ansteigt,  ist  das  Gebiet  der 
Ostwinde  am  kleinsten,  im  Roßmeere  am  aus- 
gedehntesten.   Im  Bereich  des  obei'en  Polarwirbels 


findet  nun  ein  Zuströmen  von  Luft  und  Wasser- 
dampf in  die  Antarktis  statt.  Diese  Auffassung, 
die  durch  mehrere  Figuren  erläutert  wird,  daß  die 
Landmassen  des  Südpolargebietes  in  das  Gebiet 
der  oberen  Zyklone  emporragen,  löst  die  Schwierig- 
keiten der  Erklärung  der  zentralen  Eisbedeckung 
leiciit.  Im  einzelnen  muß  die  zukünftige  P'orschung 
diese  H)'pothese  weiter  begründen,  die  auch  wichtig 
erscheint  für  die  Erklärung  der  Inlandeisdecken 
von  Nordeuropa  und  Kanada  während  der  dilu- 
vialen Eiszeit.  Dr.  G.  Hornig. 


Bücherbesprechimgen. 


A.  Li.  Hughes,  Phot  o -Elec  trici  ty.  Cam- 
bridge, Universiiy  Pres,  19 14. 
Das  Buch  erhebt  den  Anspruch  auf  Vollstän- 
digkeit in  seinem  Gebiete;  es  will  den  gegen- 
wärtigen Stand  der  photoelektrischen  Forschung 
darstellen.  Das  ist  auch  zweifellos  erreicht  bei 
dem  ersten  wesentlichen  Teile,  der  sich  auf  die 
lonisationserscheinungcn  bezieht,  die  Licht  in 
Gasen  hervorruft.  Auch  die  IMessungen  der  Ge- 
schwindigkeit der  Photoelektronen  sind  wohl  voll- 
ständig da.  .Aber  das  Kajjitel  über  den  selektiven 
Photoeffekt,  der  doch  augenblicklich  im  Vorder- 
grund des  Interesses  steht,  mit  seinen  schönen 
Aufschlüssen  über  die  Eigenschwingungen  der 
Moleküle  und  seinen  ungeheuer  weittragenden 
Beziehungen  zur  Thermodynamik  usw.,  kommt 
recht  stiefmütterlich  weg.  Bräuer. 


H.  Wölbling,  Die  Bestimm  ungsmethoden 
des  Arsens,    Antimons    und  Zinns  und 
ihre  Trennung  von    den    anderen   Ele- 
menten   (Bd.  XVII  und  XVIII   der  von  B.  M. 
Margosches  herausgegebenen  Sammlung  ,,Die 
chemische  Analyse").      Gr.    8",    377  Seiten   mit 
39  -Abbildungen  im  Text.    Stuttgart   1914,  V^er- 
lag  von  Ferdinand  Enke.  —  Preis  geheftet  13  Mk  , 
gebunden   13,80  Mk. 
Das  vorliegende  Werk,    zu   dem  der  Verfasser 
nicht    nur    die    zurzeit    vorliegende    Literatur    zu- 
sammengetragen, sondern  auch  mancherlei  eigene 
Erfahrungen    beigesteuert    hat,    wendet    sich,    der 
Tendenz    der    ganzen  Sammlung   entsprechend,  in 
erster  IJnie  an  die  Analytiker  von  Fach.     Nur  der 
Fachmann  wird  die  P'ülie  der  in   ihm  enthaltenen 
Einzelheiten  zu  würdigen  und  nach  den  jeweiligen 
Anforderungen,    die   die  Praxis   an  ihn  stellt,  aus- 
zunutzen   verstehen,    während    der    weniger    Ge- 
wandte   eher    Gefahr    läuft,    von    ihr   erdrückt    zu 
werden.     Die   in  dem  Buch  enthaltenen  .Angaben 
sind,  wie  ja  bei  dem  fast  ausschließlich  analytisch 
tätigen    Verfasser    nicht    anders    zu    erwarten    ist, 
sachgemäß    und    klar    dargelegt,    und    so    scheint 
das  Werk  wohl  geeignet,  die  Aufgabe  zu  erfüllen, 
die  ihm  im  Rahmen  der  Sammlung  zugefallen  ist. 
Clausthal  i.  M.  Werner  Mecklenburg. 


Geologische  Karte   von  Preußen   und  benach- 
barten   Bundesstaaten.      Herausgegeben    von 
der  Königlich  Preußischen  Geologischen  Landes- 
anstalt.   Lieferung  188.    Wriedel,  Eimke,  Unter- 
lüß.     Berlin   191 J— 191 3.  —  Preis  6  Mk. 
Die  Lieferung  umfaßt  einen  Ausschnitt  aus  dem 
Gebiet  der  Zentralheide  westlich  der  Bahnstrecke 
Ülzen — Lüneburg  und  gehört  der  äußersten  Zone 
an,    bis    zu  welcher   das  Landeis  der  letzten  Ver- 
gletscherung  in    die   Lüneburger   Heide  vordrang. 
Von  hohem  Interesse  ist  die  diluviale  Hydrographie 
des  Gebietes,  die  zwei  Hauptphasen  der  glazialen 
Entwässerung    unterscheiden    läßt:    in    der    ersten 
geschah  sie  vollständig  in  südlicher  Richtung  durch 
das  Talnetz  der  Ortze  zum  Allerurstromtal,  in  der 
zweiten  konnte    sich   ein  Teil  der  Schmelzwasser, 
die  den  toten,  schwimmenden  Eisschollen  des  Ge- 
l)ietes  entströmten,  unter  vorübergehender  Bildung 
von  Eisstauen  nordwärts  zu  dem   inzwischen  vom 
Eise    ausgekehrten    Eibtal     einen    Weg     bahnen. 
Von  altern  Diluvialbildungen,    die  im  Gebiet  auf- 
geschlossen sind  und  studiert  werden  konnten,  sind 
namentlich  die  interglazialen  Süßwassermergel  und 
die  interglaziale  Kieselgur  zu  neiuien. 

Lieferung    177.     Zu    beziehen    durch    die  Ver- 
triebsstelle,   Berlin    N  4,    Invalidenstraße    44,   zum 
Preise    von   10  Mk.    für    die   ganze  Lieferung,   von 
2  Mk.  für  das  einzelne  Blatt. 
Blatt  Calbe  a.  S.  | 

Blatt  Staßfurt        J  bearbeitet  von  K.  Keil  hack. 
Blatt  Güsten  ) 

Blatt  Nienburg  (    bearbeitet  von  K.  Keil  hack 
Blatt  Bernburg  )  und  B.  Damm  er. 

Die  Lieferung  umfaßt  das  Gebiet  zwischen 
dem  nordöstlichen  Harzrande  und  der  Elbe  und 
gehört  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  jener  frucht- 
baren Lößlandschaft  an,  deren  nördlicher  Teil  unter 
dem  Namen  der  Magdeburger  Börde  bekannt  ist. 
An  seinem  .Aufbau  beteiligen  sich  die  Formationen 
vom  Oberrotliegenden  bis  zum  Mittleren  Keuper 
lückenlos;  vom  Tertiär  finden  sich  Eocän,  Unter- 
und  Mitteloligocän,  vom  Quartär  Vertreter  aller 
drei  Eiszeiten  und  jugendliche  Bildungen  der  heutigen 
Gewässer. 

Die  glazialen  .Ablagerungen  gehören  ausschließ- 
lich   der  vorletzten  Eiszeit  an,  jungglaziales  Alter 


N.  F.  Xni.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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besitzen    nur   der  Löß  und  die  Talsande  der  Elb- 
talterrassen. 

Die  Tektonik  dieses  Gebietes  ist  verhältnis- 
mäßig einfach.  Die  gesamte  2000  m  mächtige 
Schichtenfolge  permo-triassischcn  Alters  bildet  ein 
System  flacher  Mulden  und  Sättel,  die  teils  von 
SO  nach  NW  teils  von  O  nach  W  streichen.  Die 
Einfachheit  dieses  Baues  erfährt  eine  Beeinträch- 
tigung durch  die  Herausbildung  steil  aufgerichteter, 
schmaler  Sättel,  in  deren  Kern  die  Zechsteinsalze 
emporgepreßtsind,  und  sodann  durch  Verwerfungen, 
die  den  Faltenbau  teils  im  Streichen,  teils  spieß- 
eckig durchsetzen.  Unter  den  vier  in  unserm  Ge- 
biet auftretenden  Zeclisteinsätteln  ist  der  seit  alters- 
her  bekannte  Staßfurter  Rogensteinsattel  der 
längste.  Vom  Ascherslebener  Sattel  fällt  nur  ein 
kurzes  Stück  in  unser  Blatt;  der  Calber  Sattel  er- 
scheint nicht  an  der  Oberfläche  und  der  Beesen- 
laublinger  Sattel  nur  in  einer  domförmigen  Auf- 
wölbung von  Zechsteingips. 

Unter  den  Verwerfungen,  von  denen  die  Sättel 
selbst  nicht  betroffen  zu  sein  scheinen,  spielen  die 
Grabenbrüche  eine  wichtige  Rolle.  Sie  verlaufen 
im  allgemeinen  den  Sätteln  parallel  und  enthalten 
in  sich  die  einzigen  heute  noch  vorhandenen  Ab- 
lagerungen des  Keupers,  in  den  dann  wiederum 
in  Spezialgräben  Streifen  von  Tertiär  eingesenkt  sind. 

Die  Lagerungsbeziehungen  des  Tertiär  zu  den 
Verwerfungen  lassen  erkennen,  daß  ein  Teil  der 
Störungen  voreocän,  wahrscheinlich  cretaceisch, 
ein  anderer  Teil  postmitteloligocän,  wahrscheinlich 
miocän  ist. 

Im  bodenkundlichen  Teil  der  Erläuterungen 
ist  insofern  eine  Neuerung  eingeführt,  als  die  sämt- 
lichen mechanischen  und  chemischen  Analysen  zu 
Tabellen  zusammengestellt  und  in  den  Text  ein- 
gearbeitet sind. 

Im  bergbaulichen  Teil  werden  einerseits  die 
Braunkohlen,  anderseits  die  Salzablagerungen  be- 
handelt. 

In  der  Kartendarstellung  sind  zum  erstenmal 
in  größtem  Umfang  die  Untergrundverhältnisse 
berücksichtigt.  Zunächst  sind  alle  unter  dem  Löß 
auftretenden  Schichten,  mit  Ausnahme  weniger 
Gebiete,  in  denen  seine  IVIächtigkeit  4  —  5  m  über- 
schreitet, durch  farbige  SchrafTen,  Punkte,  Ringe 
oder  Balken,  letztere  im  Tertiär  und  Mesozoikum 
dargestellt.  Außerdem  sind  die  unterirdischen 
Grenzen  der  einzelnen  P'ormationen  und  ihrer 
wichtigeren  Stufen  durch  breite  farbige  Linien  be- 
zeichnet. 

Farbige  Profile  am  unteren  Kartenrande  stellen 
die  Lagerungsverhältnisse  eines  bis  2000  m  mäch- 
tigen Schichtenkomplexes  dar,  und  lassen  beson- 
ders die  verschiedenartigen  Lagerungsverhähnisse 
des  Salzgebirges  überaus  klar  erkennen. 

Alle  künstlichen  Aufschlüsse  der  einzelnen 
Blätter  sind  in  der  Karte  numeriert  und  diese 
Zahlen  entsprechen  kurz  gehaltenen  Aufschluß- 
beschreibungen in  der  Erläuterung.  Hierdurch 
wird  das  Studium  der  Aufschlüsse  in  der  Natur 
erleichtert. 


Vanino,  Prof.  Dr.  L.,  Handbuch  der  präpa- 
rativen  Chemie,  ein  Hilfsbuch  für  das  Arbeiten 
im  chemischen  Laboratorium,  unter  Mitwirkung 
verschiedener  Fachgenossen. 

I.  Band:  Anorganischer  Teil;  mit  82  Abbil- 
dungen. Stuttgart  191 3,  Verlag  von  Ferdinand 
Enke. 
Der  nahezu  760  Seiten  umfassende  I.  Band 
des  Werkes  behandelt  eingehend  die  Darstellungs- 
methoden der  anorganischen  Präparate.  Das  Werk 
ist  nicht  wie  z.  B.  Gattermann  „Methoden  des 
organischen  Chemikers"  in  erster  Linie  ein  Lehr- 
buch, sondern  in  ihm  wird  jeder  Chemiker,  sei  es 
in  wissenschaftlicher  oder  in  technischer  Praxis, 
eine  große  Unterstützung  und  Erleichterung  für 
viele  präparative  Arbeiten  finden.  Daher  hat 
Verf.  fast  ausschließlich  die  Herstellungsmethoden 
der  anorganischen  Präparate  beschrieben,  während 
er  über  die  Eigenschaften  und  das  Aussehen  der 
Präparate  nur  das  Wichtigste  gesagt  hat.  Nicht 
erwähnt  sind  einerseits  Präparate,  die  in  der  Groß- 
industrie billig  hergestellt  werden,  andererseits 
solche,  die  zu  spezieller  Art  sind.  Aber  von 
sämtlichen  billigen  Präparaten  der  Großindustrie 
sind  eingehend  die  speziellen  Reinigungs-  und 
Prüfungsmethoden  behandelt.  Auch  finden  wir 
in  dem  Werke  viele  gründlich  geprüfte  Literatur- 
angaben, wodurch  es  Spezialinteressenten  möglich 
ist,  über  ein  bestimmtes  Präparat  und  dessen 
Pligenschaften  usw.  Ausführlicheres  zu  finden.  Im 
Anhang  gibt  uns  der  Herausgeber  in  klarer,  kurzer 
und  übersichtlicher  Form  Ratschläge  und  Hilfs- 
präparate für  das  Laboratorium. 

Mit  diesem  Werk  ist  es  dem  Verfasser  glän- 
zend gelungen ,  dem  Chemiker  ein  äußerst  prak- 
tisches Hilfsbuch  an  die  Hand  zu  geben,  weshalb 
es  jedermann  nur  empfohlen  werden  kann. 

Parzival  Runze,  BerlinLichterfelde. 


Pole,    J.  C. ,    Die    Quarzlampe,    ihre    Ent- 
wicklungundihr  heutigerStand.    S4  S. 
Berlin   1914,    Julius  Springer.    —    Preis    ungeb. 
4  Mk. 
Das  Buch,  das  von  dem  früheren  Chefingenieur 
der  Cooper  Hewitt  Electric  Co  (Hoboken  U.  S.  A.) 
verfaßt  ist,  gibt  eine   ausführliche    und  gründliche 
Darstellung    über    die    Entwicklung,    die    wissen- 
schaftlichen Grundlagen  und  die  technischen  Typen 
der    Quecksilber-Quarzlampe.     Eine    große  Reihe 
von    Figuren ,    Kurven    und    Tabellen    stellt    eine 
wertvolle  Bereicherung  des  Textes  dar;  zahlreiche 
Literaturangaben    weisen    auf  die  Originalarbeiten 
hin.     Allen  denen,    die  sich  eingehend  über  diese 
neue  Beleuchtungsart ,    deren  zukünftige  Entwick- 
lungsmöglichkeit sich  heute  noch  nicht  übersehen 
läßt,  informieren  wollen,  sei  es  zum  Studium  an- 
gelegentlich empfohlen.  K.  Seh. 


Prof  Dr.  August  Forel,  Die  sexuelle  Frage. 
Gekürzte  Volksausgabe,  I.  bis  20.  Tausend. 
Verlag  von  Ernst  Reinhardt  in  München,  1913- 
—  Preis  kartonniert  Mk.  2.80. 


448 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  28 


Forel 's  Buch  über  die  sexuelle  Frage  ist  ein 
so  kekanntes  und  in  vielen  Auflagen  so  allgemein 
verbreitetes  Werk,  daß  eine  Besprechung  seines 
Inhalts  an  dieser  Stelle  weder  vonnölen  noch  selbst 
angebracht  erscheinen  kann.  Die  Volksausgabe 
ist  in  den  mehr  wissenschaftlichen  Erörterungen 
vielfach  gekürzt  und  auch  im  übrigen,  z.  B.  durch 
ein  Fremdwörterverzeichnis  am  Schlüsse,  dem 
Verständnis  möglichst  weiter  Kreise  näher  gerückt 
worden. 

Forel's  hauptsächlichster  Beweggrund  für  die 
Schaffung  einer  derartigen  billigen  und  allgemein 
verständlichen  Ausgabe  ist  ein  sozialer.  Die  gegen- 
wärtige gesellschaftliche  und  gesetzliche  Regelung 
der  ganzen  Materie  erscheint  ihm  in  vieler  Hin- 
sicht derartig  verfehlt  und  —  bestenfalls  —  ver- 
altet, daß  er  nur  in  einer  Änderung  der  gesamten 
öffentlichen  IVleinung,  die  dann  neue  und  bessere 
Sitten  und  Gesetze  nach  sich  ziehen  müsse,  den 
Weg  zu  einer  Gesundung  erblickt  und  erhofft. 
Man  weiß,  daß  der  Gelehrte  mit  dieser  Auffassung 
vielen  unter  uns  aus  dem  Herzen  redet.  Wenige 
werden  heute  tatsächlich  so  glücklich  sein,  daß 
sie  nicht  die  immer  noch  steigende  Misere  unserer 
sexuellen  Verhältnisse  irgendwie  am  eigenen  Leibe 
und  eigener  Seele  zu  fühlen  bekommen  hätten. 
Die  Erschwerung  und  daher  Verzögerung  der 
Eheschließung  speist  direkt  oder  auf  dem  Umwege 
über  das  „Verhältnis"  den  Sumpf  der  Prostitution, 
dieser  erhält  und  verbreitet  neben  anderen  Scheuß- 
lichkeiten die  venerischen  Krankheiten  in  üppigem 
Flor,  von  dort  aus  werden  diese  wiederum  in  die 
Familien  verschleppt  und  oft  unbeschreibliches 
Unheil  angerichtet  —  und  so  steigern  sich  die 
Mißgeschicke,  die  recht  eigentlich  am  Marke  der 
zivilisierten  Menschheit  zehren,  gegenseitig.  Von 
der  Rolle,  die  (lold,  sozialer  Ehrgeiz  usw.  usw. 
in  der  ganzen  Erage  spielen,    gar   nicht  zu  reden. 

Ob  bloße  Belehrung  viel  helfen  kann?  Dies 
ist  die  Frage,  die  zweifelnd  ein  jeder  tun  möchte, 
dem  es  gegenwärtig  ist,  wie  tief  jene  Schäden 
mit  der  gesamten  Gestaltung  unserer  gesellschaft- 
lichen Ordnung  zusammenhängen,  und  der  be- 
gründeten Zweifel  hegt,  ob  irgendeine  gesellschaft- 
liche Ordnung,  die  mit  vielen  Millionen  Einzelner 
zu  rechnen  gezwungen  ist,  gerade  auf  diesem  Ge- 
biete eine  völlige  Wandlung  zu  schaffen  vermögen 
könnte.  Bisher  wenigstens  gehören  alle  diesbe- 
züglichen Spekulationen  dem  Gebiete  der  Uto- 
pien an. 

Diesem  skeptischen  Gefühle  gegenüber,  dem 
sich  weniestens  der  Referent  nicht  entziehen  kann. 


darf  jedoch  mit  Zuversicht  behauptet  werden,  daß 
Belehrung  ein  erster  Schritt  ist,  und  daß  sie  auch 
wohl  vermag,  dem  und  jenem  wirklich  zu  helfen, 
sei  es,  daß  sie  ihn  in  dem  Entschlüsse  stählt,  sich 
der  Prostitution  in  jeder  Weise  fern  zu  halten,  sei 
es,  daß  sie  seine  Energie  anspornt,  möglichst  bald 
den  Hafen  einer  gesunden  Ehe  zu  erreichen.  Und 
so  sei  denn  dem  Werke,  das  im  einzelnen,  wie 
bekannt,  reiche  Belehrung  und  reichen  Stoff  zum 
Nachdenken  enthält,  auch  in  dieser  Form  weiteste 
Verbreitung  und  soviel  Nutzen,  als  ein  Buch  über 
diesen  Gegenstand  nur  zu  stiften  vermag,  von 
Herzen  angewünscht. 

Dr.  Waldemar  v.  Wasielewski. 


Literatur. 

Lehrbuch  der  vergleichenden  mikroskopischen  Anatomie, 
lierausgegeben  von  Prof.  Dr.  A.  Oppel.  S.  Teil :  Die  Hypo- 
physis  cerebri  von  Dr.  W.  Siendell.  Mit  92  Textabbildungen. 
Jena  '14,  G.   Fischer.     S  Mk. 

Ostwald's  Klassiker  d.  exakt.  Wissensch.  Nr.  194.  Die 
erste  Integralrechnung.  Eine  .Auswahl  aus  Job.  Bernoulli's 
Mathematischen  Vorlesungen  über  die  Methode  der  Integrale 
und  anderes.  Aus  dem  lateinischen  übersetzt  und  herausge- 
geben von  Dr.  Gerh.  Kowalewski.  Mit  119  Texlfig.  Leipzig 
und   Berlin,   W.  Engelmann.      Geb.   5   Mk. 

Kryptogamenflora  für  Anfänger.  Bd.  IV,  I.  Die  Algen. 
I.  Abteil,  von  Prof.  Dr.  Gustav  Lindau.  Mit  489  Fig.  i.  Text. 
Berlin  '14,  J.  Springer.     Geb.  7,80  Mk. 

Meyer,  Friedrich,  Der  deutsche  Ubstbau.  Mit  79  Abb. 
und  3  Tafeln.     Leipzig '14,  Quelle  &  Meyer.     Geb.   1,80  Mk. 

Verhandlungen  der  k.  k.  zool.-botan.  Gesellschaft  in 
Wien.  LXIV.  Band.  '14.  I.  und  2.  Heft.  Enthalt  u.  a. : 
Uandlirsch,  Anton,  Eine  interessante  Crustaceenform  aus 
der  Trias  der  Vogesen.  Michaelsen,  Prof.  Dr.  W. ,  Ein 
neuer  Regenwurm  aus  Griechenland.  Heikertinger,  Franz, 
Untersuchungen  über  das  Käfcrleben  der  Mediterranflora 
Österreichs.  Karny,  H.,  Beilrag  zur  Thysanopterenfauna  des 
Medilerrangebietes.  Verhoeff,  Dr.  K.  W. ,  Einige  Chilo- 
gnalhen  aus  Palästina. 

Schlechter,  Dr.  Rudolf,  Die  Orchideen,  ihre  Beschrei- 
bung, Kultur  und  Züchtung.  Handbuch  für  Orchideenlieb- 
haber, Kultivateure  und  Botaniker.  Lieferung  I  (vollständig 
in  10  Lieferungen).  Mit  12  in  Vierfarbendruck  nach  farbigen 
Naturaufnahmen  hergestellten  Tafeln  und  über  200  Texlabbild. 
Berlin   '14,   P.   Parey.  —  2,50  Mk. 

Dahl,  Prof.  Dr.  F'r.,  Kurze  Anleitung  zum  wissenschaft- 
lichen Sammeln  und  Konservieren  von  Tieren.  3.  verb.  und 
vermehrte  Auflage.  Mit  274  Abbild,  im  Text.  Jena  '14, 
G.  Fischer.     Geb.  4,80  Mk. 

Ostwald,  Wilhelm,  Die  Schule  der  Chemie.  Erste 
Einführung  in  die  Chemie  für  jedermann.  3.  verb.  Aufl.  Mit 
74  Tcxttig.  Braunschweig  '14,  Fr.  Vieweg  &  Sohn.  Geb. 
5,50  Mk. 

Ulmer,  Dr.  Georg,  Aus  Seen  und  Bächen.  Die  niedere 
Tierwelt  unserer  Gewässer.  Mit  zahlr.  Textabbild,  und  3  Taf. 
I^eipzig  '14,  Quelle  &  Meyer.     Geb.   i,So  Mk. 

Sticker's  J.,  Monistische  Möglichkeiten.  Haeckel,  l->st- 
wald   und   der  Monistenbund.     Dresden  '14,   B.  Sturm. 


Inhalt;  Vogler;  Vererbung  bei  vegetativer  Vermehrung.  Schutt:  Reflexion  und  spektrale  Zerlegung  der  Röntgenstrahlen. 
—  Einzelberichte:  Schönborn:  Überblick  über  unsere  gegenwärtigen  Kenntnisse  über  die  Delta-Strahlen.  Klaalsch: 
Anlange  von  Kunst  und  Religion  in  der  Urmenschheit.  Umpleby,  Schaller  und  Larsen:  Custcril.  Bryandt: 
Nutzen  und  Schaden  der  westlichen  Wiesenlerche.  Nashan:  Beziehungen  zwischen  Farbe,  Spektrum  und  Parallaxe 
der  Fixsterne.  II  o  f  f  m  e  is  t  er  :  Sternschnuppen.  Meinardus:  über  Aufgaben  und  Probleme  der  meteorologischen 
Forschung  in  der  Arktis.  —  Bücberbesprechungen :  Hughes:  Photo-Eleclricity.  Wölbung:  Die  Bestimmungs- 
melhoden  des  Arsens,  Antimons  und  Zinns  und  ihre  Trennung  von  den  anderen  Elementen.  Geologische  Karle  von 
Preußen  und  benachbarten  Bundesstaaten.  Van  in  o:  Handbuch  der  präparativen  Chemie.  Pole:  Die  Quarzlampe, 
ihre   Entwicklung   und   ihr  heutiger  Stand.      F'orel:   Die  sexuelle   Frage.  —  Literatur:  Liste. 

Manuskripte  und   Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  M  i  e  h  e  in  Leipzig,  Marienstraße    IIa,   erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lipperl  &  Co.   G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band. 


Sonntag,  den  19.  Juli  1914. 


Nummer  29. 


Grundzüge  einer  vergleichenden  Geo-  und  Aphroditographie. 
(Erd-  und  Abendsternkunde.) 


Von  ®r.  Dr.  C.  Schoy. 


[Nachdruck  verboten.]  Mit    I    Ti 

Im  Jahrgang  191 3,  Heft  Nr.  11  dieser  Zeit- 
schrift habe  ich  versucht,  aus  unseren  wenigen 
einigermaßen  als  gesichert  geltenden  Kenntnissen 
vom  Planeten  Venus  insbesondere  den  Schluß  zu 
ziehen,  daß  ihm  ebenfalls  ein  Achsenumschwung 
eignet  wie  unserer  Erde.  Gleichzeitig  habe  ich 
darauf  hingewiesen,  daß  es  nicht  immer  ratsam 
ist,  irdische  Analoga  da  zu  suchen,  wo  sie  möglich 
oder  gar  wahrscheinlich  sind.  Allein  weiteres 
Nachdenken  hat  mich  zu  der  Ansicht  geführt,  daß, 
solange  uns  keine  anderen  als  irdische  Erfahrungs- 
tatsachen zur  Seite  stehen,  wir  unmöglich  anders 
als  vergleichend  und  spekulativ  vorgehen 
können;  mithin  diese  Methode  zunächst  wissen- 
schaftliche Berechtigung  hat.  Freilich  sind  ihre 
Ergebnisse  dafür  auch  nur  hypothetischer  Art. 

Zunächst  sei  in  Kürze  hier  alles  aufgeführt, 
was  wir  von  Venus  wissen :  Größe  und  Dichte 
sind  nahezu  gleich  der  der  Erde.  Die  Entfernung 
von  der  Sonne  ist  rund  14  Mill.  Meilen,  diejenige 
der  Erde  hingegen  20  Mill.  Meilen.  Aus  dieser 
Tatsache  folgt,  daß  die  Sonnenbestrahlung  am 
oberen  Rand  der  Venusatmosphäre  4  mal  stärker 
ist,  als  an  der  Grenze  der  Erdatmosphäre  ^). 

Daraus  ergibt  sich,  auf  dem  Abendstern,  ein 
Luftmeer  ganz  ähnlich  dem  unsrigen  vorausgesetzt, 


extügur. 

eine  etwa  4  mal  stärkere  Beleuchtung  und  Er- 
wärmung seiner  Oberfläche,  also  am  Äquator  eine 
mittlere  Jahreswärme  von  ca.  100"  C.  Aber  diese 
Zahl  wird  ganz  erheblich  modifiziert  durch  den 
zweifellos  viel  dichteren  Luftmantel,  in  den  sich 
Venus  hüllt.  Ich  habe  für  dessen  Existenz  in  dem 
schon  erwähnten  Aufsatz  mehrere  Belege  gegeben; 
hier  sei  noch  hinzugefügt,  daß  C.  H.  Vogel  1871 
in  Bothkamp  eine  30 — 40  Grad  breite  sich  an  die 
Lichtgrenze  anschließende  Zone  im  Dämmerlicht 
erblickte,  und  nach  den  neuesten  Beobachtungen 
von  A.  Fock  in  Kopenhagen  (Astron.  Nachrichten 
191 3)  ragte  die  eine  Spitze  der  schmalen  Sichel 
ungefähr  1 5  Grad,  die  andere  bis  zu  60  Grad  über 
ihre  mathematische  Grenze  hinaus  in  die  dunkle 
Nachtseite  des  Planeten  hinein.  Wenn  solche  be- 
trächtlichen Partien  der  Atmosphäre  noch  vom 
Sonnenlicht  auf  direktem  Wege  erreicht  werden 
sollen,  so  muß  man  der  letzteren  eine  außerordent- 
lich große  lichtbrechende  Kraft  zuschreiben,  ver- 
möge deren  sie  imstande  ist,  einen  Lichtstrahl 
unter  Umständen  in  eine  stark  gekrümmte  Kurve 
umzuwandeln.    Dazu  muß  aber  das  Luftmeer  ent- 


•)  Nicht  2'/-)  mal,  wie  ich  in  meinem  Aufsatz  angab  und 
wie  sich  in  vielen  Büchern  findet.  Ist  nämlich  in  der  Figur  o 
der  Sonnenradius  und  sind  y  und  i/-  die  Winkel,  unter  denen 
derselbe  von  der  Erde,   resp.   Venus  aus  gesehen  wird,    so  ist 

^  '        20  ^  '        14 

mithin 

tgy^U^  7 

tg  <!■        20         10' 
und    da   bei    so   kleinen  Winkeln    die    Bogen  '/    und   1"  selbst 
statt  der  Tangenten  gesetzt  werden  dürfen: 
10 

V'  =  yy 

Also    erblickt  das  Auge  von  9    aus    den  Sonnenradius  —  mal 

größer   als  von  g  aus.     Der    Inhalt    der    scheinbaren  Sonnen- 

/io\2 
Scheibe  ist  in  5  :  F  =  </V,  in  9  :  Fj  =   —     p^n;     mithin     ist 

/I0\2 

Fl  =  I —     -F^zF  (rund).     Nach  dem  Grundsatz  der  Photo- 
metrie verhalten  sich  aber  die  Beleuchtungsintensitüten  Ji   und 

J  in  9  und   A  wie    '''     :     ''„   d.  i.  ^'  =  ^,    also 
14"      20^  J 


JO' 


Ji=J-2-     2  =4-J   (--nnd). 


weder  sehr  hoch  und  dicht  oder  sehr  kalt  sein. 
So  würde  ein  Lichtstrahl  in  der  Luft  die  ganze 
Erde  umkreisen  können,  wenn  jene  eine  Tempe- 
ratur von  — 209"  C  besäße.  Das  gleiche  würde 
auch  eintreffen,  wenn  die  Masse  der  Atmosphäre 
bei  o"  C  um  das  4,2866  fache  vermehrt  würde. 

Eine  so  dichte  Atmosphäre  muß  natürlich 
einen  großen  Teil  des  Sonnenlichts  beim  Durch- 
gang verschlucken,  selbst  wenn  sie  wolkenfrei  ist. 
Daß  sie  umgekehrt  bei  reichlichem  Wasserdampf- 
gehalt —  und  dieser  ist  in  der  Atmosphäre  der 
Venus  nachgewiesen  —  besonders  in  größeren 
Höhen  häufig  Kondensationsprodukte  enthalten 
wird,  ist  fast  unausbleiblich.  Die  große  Albedo 
der  Venus  wird  ja  eben  damit  erklärt,  daß  das 
Sonnenlicht  zum  größten  Teil  schon  an  der 
Wolkenhülle  reflektiert  werde.  Wenn  Venus  aber 
gar  eine  spiegelnde  Kugel  wäre,  wie  Christie 
(vgl.  meinen  ersten  Aufsatz)  anzunehmen  geneigt 
ist,    so    müßte    die    Reflexion    des    Sonnenlichtes 


i 


450 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr.  29 


höchstwahrscheinlich  an  einer  flüssigen  Oberfläche 
erfolgen.  Daß  jedoch  ein  reflektiertes  Sonnen- 
bildchen, dessen  Größe  und  Intensität  gleich  der 
scheinbaren  Größe  und  Helligkeit  der  Sonne  auf 
der  Venus  sein  müßte,  hier  auf  Erden  noch  sicht- 
bar sein  würde,  ist  kaum  glaublich. 

Was  läßt  sich  nun  als  physikalisch  möglich 
aus  diesen  Prämissen  deduzieren?  Welche  meteo- 
rologischen und  klimatischen  Möglichkeiten  können 
wir  aus  denselben  erschließen?  Hierzu  müssen 
wir  in  erster  Linie  wieder  auf  irdische  Verhält- 
nisse zurückgreifen.  Nach  vielen  Beobachtungen 
auf  den  verschiedensten  Höhenstationen  hat  sich 
ergeben,  daß  die  Erdatmosphäre  von  senkrecht 
aus  dem  Zenit  des  Beobachters  einfallendem  Licht 
nur  83,5  %  durchläßt  und  nahezu  17  %  verschluckt 
oder  reflektiert.  Nach  Hann  (Handbuch  der 
Klimatologie  i.  Bd.,  3.  Aufl.  1908,  S.  105)  ist  der 
Transmissionskoeffizient  der  gegenwärtigen  Atmo- 
sphäre für  Wärmestrahlen  nur  0,7 ,  so  daß  also 
30  "/o  tlcr  Sonnenwärme  nicht  zum  Erdboden  ge- 
langen können.  Je  schiefer  die  Sonnenstrahlen 
einfallen ,  desto  länger  ist  ihr  Weg  in  der  Luft 
und  desto  mehr  wird  ihre  Licht-  und  Wärme- 
menge geschwächt. 

Verdoppeln  wir  nun  einmal  diese  2  Zahlen- 
werte für  die  Atmosphäre  der  Venus,  so  würden 
also  aus  dem  Zenit  66  "j^  Sonnenlicht  hernieder- 
fluten, hingegen  60  "/(,  der  Wärmemenge  verloren 
gehen,  d.  h.  die  Tageshelligkeit  wäre  bei  zenitalem 

Sonnenstand     „    -  =  ^ —  =  3,1  mal    so  groß    als 

83-S        835 
auf  der  Erde,  die  augenblickliche  Erwärmung  bei 

demselben  Sonnenstand  =  i^  2   -     derjeni- 

70  7 

gen  auf  der  Erde.  Setzt  man  den  Transmissions- 
koeffizienten der  Erdatmosphäre  für  Wärme  =  0,78 
(der  nur  für  rote  Strahlen  gilt),  so  entsprechen 
sich  folgende  Zahlenwerte: 

durchgelassene  Wärme 
in  Prozenten: 

0% 
5% 
17  "/o 
31% 
44  »/o 
55  7« 
65  7o 
72»/« 
76  7o 
90"  78  \ 

Wir  sehen  hieraus,  daß  auch  auf  der  Venus  bei 
tieferen  Sonnenständen  sehr  viel  Licht  (und  noch 
mehr  Wärme)  durch  die  Atmosphäre  zurück- 
gehalten wird,  und  dies  um  so  mehr,  als  schiefer 
auffallende  Sonnenstrahlen  infolge  starker  Krüm- 
mung einen  verhältnismäßig  viel  weiteren  Weg 
zurücklegen  müssen  als  auf  der  Erde.  Freilich 
steht  diesen  großen  Licht-  und  Wnrmeverlusten 
wieder  ein  stark  kompensierender  h^aktor  gegen- 
über: die  diffuse  Strahlung  des  Tageshimmels.  Das 


So 

nnenhöhe 

0« 

20» 

30« 
40» 

so« 
60" 

700 

80" 


von  der  Luft  verschluckte  Licht  wird  Ursache 
einer  sekundären  Licht-  und  Wärmequelle,  und 
besonders  in  höheren  Breiten,  wo  die  Zerstreuung 
und  Absorption  der  direkten  Strahlung  bei  tiefe- 
rem Sonnenstand  sehr  groß  ist,  wird  die  diffuse 
Strahlung  des  Himmels  von  großer  Wichtigkeit. 
Es  ist  das  Licht,  das  wir  auch  im  Schatten  und 
in  unseren  Wohnräumen  haben,  und  das  bei  Ab- 
wesenheit der  Atmosphäre  fehlen  würde. 

Folgende  Zahlen  geben  das  Verhältnis  zwischen 
der  Intensität  des  direkten  Sonnenlichts  und  dem 
diffusen  Himmelslicht  für  verschiedene  Sonnen- 
höhen (auf  die  Erde  bezogen): 

höhe"'      '°"     ^°"      3°°     4°"     5°°     ^°"     7°" 
sl°aWung       37o  iS7o  ^S«/«  4i7o  52''/o  62%  690/„ 

"hcht"'''  77o  ii7o  14%  16%  I7'V„  18"/,,  .80/„ 
Je  stärker  absorbierend  die  Venusatmosphäre  wirkt, 
desto  mehr  verschieben  sich  vorstehende  Zahl- 
verhältnisse zugunsten  der  diffusen  Himmelsstrah- 
lung. Nimmt  man  noch  hinzu,  daß  wahrschein- 
lich auch  die  Venusatmosphäre  die  blauen  Strahlen- 
gattungen des  Sonnenlichts  stark  verschluckt,  die 
roten  aber  am  meisten  durchläßt,  so  könnte  man 
auf  der  Oberfläche  des  Abendsterns  —  wolken- 
losen oder  nur  teilweise  bedeckten  Himmel  voraus- 
gesetzt —  sich  folgendes  Bild  ausmalen :  Als  trüb- 
roter und  durch  starke  Horizontalrefraktion  sehr 
verzerrter  Ball  erhebt  sich  die  Sonne,  briciit  viel- 
leicht erst  in  größerer  Höhe  über  dem  Horizont 
aus  dem  Dunstschleier  hervor,  von  überwältigen- 
dem Morgenrot  begleitet,  das  über  einen  großen 
Teil  des  Himmels  hinflutet.  Erst  um  Mittag,  und 
auch  dann  nur  wenige  Stunden,  glänzt  und  gleißt 
das  gewaltige  Tagesgestirn  und  der  ganze  Himmel 
in  weißem  Lichte,  so  daß  die  Schatten  fast  gänz- 
lich schwinden,  wie  diese  überhaupt  nur  schwache 
und  verschwommene  „Halbschatten"  sein  werden. 
Schon  bei  viel  höherem  Sonnenstand  als  auf  der 
Erde  wird  die  starke  Absorption  der  Venusatmo- 
sphäre in  Erscheinung  treten  und  sehr  zeitig  das 
Abendrot  herbeiführen,  hinter  dem  sich  zuletzt  die 
sinkende  Sonne  vollständig  verbirgt.  Aber  selbst 
aus  zenitnahen  Teilen  des  Firmaments  grüßen 
ihre  in  gewaltigem  Bogen  herumgeführten  Strahlen 
noch  lange  herab,  sodaß  das  Dämmerungsphänomen 
auf  dem  Abendstern  nicht  nur  durch  ein  gut  Teil 
der  Nacht  hindurch  währt,  sondern  evtl.  auch  in- 
folge des  sicher  sehr  kräftigen  Gegenscheins  am 
Osthimmel  ein  an  Intensität  ab-  und  wieder  zu- 
nehmendes Farbenspiel  darstellt. 

Hingegen  dürfte  der  Anblick  des  Sternhimmels 
weniger  majestätisch  sein.  Auf-  und  Untergänge 
der  Sterne  sind  wohl  nicht  sichtbar;  nur  der 
zenitale  Teil  des  Nachthimmels  läßt  das  Sternen- 
licht zum  Auge  des  Beobachters  gelangen.  Ent- 
sprechend ihrer  Helligkeit  verschwinden  sie  in 
einer  gewissen  Höhe  über  dem  Horizont  im  Dunst- 
kreis. 

Die    Erwärmung   der    Luft    wird    sich    infolge 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


451 


der  reichlichen  dift'usen  Himnielsstrahlung  durch 
große  Gleichmäßigkeit  auszeichnen  und  die  Tem- 
peratur im  Schatten  fast  dieselbe  sein  wie  in  der 
Sonne.  Die  nächtliche  Abkühlung  kann  nicht 
merklich  sein,  da  VVasserdampf  auf  die  Ein-  und 
Ausstrahlung  verhindernd  wirkt.  Aus  diesen  An- 
nahmen würde  ein  Zustand  großer  Windstille  folgen. 
Das  barometrische  Gleichgewicht  muß  aber  sehr 
gestört  werden,  wenn  eine  Gegend  bei  hohem 
Sonnenstand  zur  Mittagszeit  klaren,  die  andere 
bedeckten  Himmel  hat;  die  elektrischen,  barischen 
und  thermischen  Ausgleichungen  werden  dann 
wohl  viel  heftiger  sein  als  bei  uns. 

Und  welche  Niederschlagsverhältnisse  werden 
dort  oben  voraussichtlich  statthaben  ?  Um  diese 
Frage  einigermaßen  richtig  beantworten  zu  können, 
müßte  man  irgendetwas  von  der  Wasser-  und 
Landverteilung  auf  der  Oberfläche  unseres  Nachbar- 
planeten wissen.  Eine  warme  Luft  vermag  viel 
mehr  Wasserdampf  aufzunehmen  als  eine  kühlere. 
Die  sehr  dichten  unteren  Luftmassen,  die  zudem 
unter  mindestens  doppeltem  Atmosphärendruck 
stehen,  werden  über  Wassern  lagernd  einen  ganz 
enormen  Feuchtigkeitsgehalt  aufweisen.  Andrer- 
seits steht  dem  Herabfallen  der  Regentropfen  die 
Dichte  der  Luft  im  Wege,  die  Wasserkugeln  von 
nicht  unbeträchtlichen  Dimensionen  noch  zu  tragen 
vermag.  Ob  herabfallender  Regen  überhaupt  den 
Boden  in  Tropfenform  erreicht,  ist  eine  Frage; 
vielleicht  zerstiebt  er  vorher   als  triefender  Nebel. 

Für  die  meteorologische  Optik  dürfte  das 
Studium  der  Venusatmosphäre  ganz  besonders 
interessant  sein.  Brechungen  und  Dispersionen 
des  Lichtes  und  optische  Anomalien  werden  hier 
gar  oft  zu  den  merkwürdigsten  Regenbogen- 
erscheinungen und  Luftspiegelungen,  zu  kräftigem 
Wasserziehen  der  Sonne  und  Hofbildung  um 
dieselbe  führen. 

In  den  dichten  Luftschichten  können  allerlei 
Fremdkörper  sich  schwebend  erhalten,  die  bei  uns 
bald  zu  Boden  sinken.  Hier  sei  nur  an  die  Rauch- 
und  Aschenprodukte  eines  Vulkanausbruchs  er- 
innert. Wenn  dort  oben  die  inneren  Gluten  in 
Wallung  geraten  und  Feuersäulen  himmelan  schleu- 
dern, dann  werden  noch  viel  mehr  als  bei  uns 
beim  Ausbruch  des  Krakatau  (1883)  starke  Trübun- 
gen der  Venusatmosphäre  in  anormalen  Dämme- 
rungserscheinungen lange  nachwirken.  Ob  nicht 
das  öfters  wahrgenommene  schwache  Leuchten 
der  Nachtseite  des  Planeten  hiermit  zusammen- 
hängen mag? 

Auch  lassen  sich  leicht  zahlreiche  physikalische 
Konsequenzen  aus  der  großen  Dichte  der  Luft 
ziehen.  Nicht  nur  der  fallende  Regentropfen, 
sondern  sämtliche  fallenden  oder  in  der  Luft  fliegen- 
den Körper  erfahren  einen  so  bedeutenden  Wider- 
stand, daß  die  Endgeschwindigkeit  beim  freien 
Fall,  auch  aus  großen  Höhen,  bei  den  meisten 
Körpern  nur  eine  ganz  mäßige  sein  wird.  Die 
parabolische  Bahn  geworfener  Steine,  abgeschosse- 
ner Projektile  oder  springender  Wasserstrahlen 
wird  in  eine  ganz  ausgesprochen  ballistische  Kurve 
umgewandelt,    so    daß    die  Wurfweite   und   -höhe 


unter  den  gleichen  Anfangsbedingungen  wie  auf 
Erden  viel  geringer  sein  müssen.  Der  Steilwinkel 
beim  Niedergang  übertrifft  stets  den  Elevations- 
winkel  um  ein  Beträchtliches.  Der  große  Atmo- 
sphärendruck verzögert  das  Verdunsten  und  Kochen 
des  Wassers.  Schallstärke  und  Schallgeschwindig- 
keit werden  in  der  Luft  größer  sein  als  bei  uns; 
hingegen  ist  die  Durchsichtigkeit  derselben  wahr- 
scheinlich geringer  trotz  der  —  übrigens  nicht 
immer  zutreffenden  —  Annahme,  daß  Wasser- 
dampf dieselbe  erhöht. 

'  ;  So  reizvoll  es  nun  erscheinen  mag,  die  Frage 
nach  der  Bewoh  n barkeit  unseres  Nachbar- 
planeten im  Detail  auszumalen,  uns  mit  Vernunft 
begabte  menschliche  Wesen  in  einer  reichen  F'auna 
und  üppigen  Flora  zu  denken,  so  möchten  wir 
trotzdem  diesem  so  beliebten  Thema  hier  grund- 
sätzlich keinen  Raum  geben.  Nur  einigen  bei 
näherem  Zusehen  ganz  haltlosen  aber  viel  ver- 
breiteten Ansichten  möchten  wir  entgegentreten. 
Unser  Versuch,  Licht-  und  Wärmeverhältnisse  auf 
dem  Abendstern  etwas  näher  zu  illustrieren,  hat 
ergeben,  daß  eine  Bewohnbarkeit  durchaus  mög- 
lich ist.  Die  stets  wiederkehrende  Lesart,  organi- 
sches Leben  sei  dort  oben  unmöglich  wegen  der 
100"  Hitze,  die  Zeit  der  Bewohnbarkeit  des  Pla- 
neten sei  noch  nicht  gekommen,  die  Erde  sei 
diesbezüglich  das  Mittelglied  zwischen  Venus  und 
Mars  usw.  entbehrt  jeglicher  wissenschaftlichen 
Begründung.  Wir  haben  es  unterlassen,  unter 
Annahme  eines  möglichen  Transmissionskoeffi- 
zienten für  die  Venusatmosphäre  eine  Berechnung 
der  daraus  folgenden  Wärmezonen  vorzunehmen, 
weil  sich  bei  der  Unsicherheit  dieses  Koeffizienten 
die  mühevolle  Arbeit  nicht  lohnen  würde.  Aber 
es  ist  ein  Leichtes,  diese  Zahl  so  zu  wählen,  daß 
für  das  organische  Leben  auf  Venus  durchaus 
günstige  Bedingungen  resultieren,  wenn  nur  auch 
dort  oben  Land-  und  Wasserfläclien  abwechseln. 
Würden  die  ganze  Oberfläche  ziemlich  tiefe  Ozeane 
umlagern,  so  wäre  die  Hutreibung  infolge  der 
großen  Sonnennähe  so  beträchtlich ,  daß  sie  die 
Rotation  des  Planeten  sehr  verlangsamt,  wenn 
nicht  gar  schon  zum  ewigen  Stillstand  gebracht 
hätte.  Diesem  Zustand  widerspricht  aber  das  in 
meinem  ersten  Aufsatz  Ausgeführte.  Lebende 
Wesen,  deren  Fortbewegung  keine  kriechende  ist, 
haben  in  der  Luft,  besonders  wenn  die  Bewegung 
eine  lebhafte  ist,  wie  die  unserer  Schnellläufer 
und  Flieger,  einen  enormen  Widerstand  zu  über- 
winden. Dazu  wird  sie  die  Natur,  die  ja  „mehr 
Mittel  hat  als  der  arme  Mensch  ahnen  kann"  aus- 
gerüstet haben  durch  eigenartige  Flug-  und  At- 
mungsorgane und  durch  eine  zweckentsprechende 
Körpergestalt. 

Ganz  von  selbst  wird  dieses  Luftmeer  denkende 
Wesen  zur  Luftschiffahrt  geführt  haben,  in  der 
uns  der  Venusbewohner  vielleicht  in  jeder  Weise 
voraus  ist.  Und  will  er  sich  an  dem  ungetrübten 
Anblick  unserer  Mutter  Erde  und  ihres  lieblichen 
Begleiters,  des  Mondes,  erfreuen,  so  steigt  er  als 
Aeronaut  hinauf  über  den  trüben  Dunstkreis  ins 
lichte  Blau. 


4S2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  29 


Das  Verhalteu  der  Bieuciiköiiigiii  und  anderer  Hj  nienoptereuweibclieu  bei  der  Eiablage. 


[Nachdruck  verboten.] 

Seit  Dzierzon  und  Siebold  um  die  Mitte 
des  vorigen  Jahrhunderts  den  Beweis  erbrachten, 
daß  die  männlichen  Tiere  im  Bienenstaat,  die 
Drohnen,  aus  unbefruchteten  Eiern  ihren  Ursprung 
nehmen,  sind  unsere  Kenntnisse  über  die  Fort- 
pflanzungsverhältnisse der  Hymenopteren  durch  zahl- 
reiche biologische  und  zytologische  Untersuchungen 
sehr  erweitert  worden.  Es  hat  sich  ergeben,  daß 
die  Dzierzon'  sehe  Lehre  nicht  nur  für  die  Bienen 
gilt.  Nicht  nur  bei  der  Honigbiene  entsteht  das 
männliche  Geschlecht  parthenogenetisch,  es  ist 
ebenso  bei  den  solitären  Bienen,  bei  den  Hummeln, 
Wespen,  Ameisen  usw.,  d.  h.  wahrscheinlich  in 
der  ganzen  Gruppe  der  Hymenopteren.  ^j 

Das  Sperma,  das  die  Hj-menoptcrenweibchen 
bei  der  Begattung  empfangen,  gelangt  in  das 
Samenbläschen,  das  Receptaculum  seminis,  und 
kann  hier  bei  manchen  jahrelang  am  Leben  bleiben. 
Ein  sehr  komplizierter  Apparat,  die  „Spermapumpe", 
ermöglicht  es  dem  Hymenopterenweibchen,  kleinere 
Portionen  von  Sperma  aus  dem  Receptaculum  in 
den  Eileiter  zu  befördern,  und  diese  Samenfäden 
befruchten  dann  die  abzulegenden  Eier.  Tritt 
aber  bei  der  Eiablage  die  Spermapumpe  nicht  in 
Funktion,  so  verläßt  das  Ei  unbefruchtet  die  Scheide. 

Wie  aber,  so  fragen  wir  uns  bei  diesen  Tat- 
sachen, ist  es  möglich,  daß  die  Spermapumpe 
während  der  Eiablage  bald  funktioniert,  bald  nicht 
funktioniert?  Vermag  das  Hymenopterenweibchen 
willkürlich  die  Spermapumpe  in  Tätigkeit  zu 
versetzen,  oder  wird  es  durch  die  äußeren  Ver- 
hältnisse —  die  Bienenkönigin  etwa  durch  die 
Form  der  Zelle,  die  sie  gerade  „bestiftet"  ■ — ge- 
zwungen, ein  befruchtetes  bzw.  ein  unbefruch- 
tetes Ei  abzusetzen? 

Es  ist  nicht  verwunderlich,  daß  bereits  Dzier- 
zon und  S  i  e  b  o  1  d  sich  diese  Fragen  vorlegten 
und  eine  Antwort  auf  sie  zu  geben  versuchten. 
Während  die  beiden  Begründer  der  Dzierzon- 
schen  Lehre  aber  überzeugt  waren,  daß  die  Bienen- 
königin die  Fähigkeit  besitzt,  ,,nach  Willkür  männ- 
liche oder  weibliche  Eier  zu  legen",  -)  stellten  sich 
viele  ihrer  Nachfolger  auf  den  entgegengesetzten 
Standpunkt.  Die  Größe  der  verschiedenen  Zellen 
sollte  es  sein,  die  das  Verhalten  der  Königin  be- 
stimmt. Steckt  die  Königin  ihren  Hinterleib  in 
eine  enge  Arbeiterinnenzelle,  sagte  man,  so  wird 
auf  diesen  ein  Druck  ausgeübt,  durch  den  ein 
Reflex  ausgelöst  wir,  die  Spermapumpe  tritt  in 
Funktion.  Bestiftet  die  Königin  hingegen  eine 
weite  Drohnenzelle,  so  unterbleibt  dieser  Druck 
auf  den  Hinterleib,  das  Ei  wird  unbefruchtet  ab- 
gelegt. So  schreibt  z.  B.  Petrunkewitsch  in 
seiner   Arbeit    über    die    Reifune   des   Bieneneies: 


Von  Dr.  Hans  Nachtsheim,  Freiburg  i.  B. 

„Je  nach  dem  Eindruck  wird  also  die  Königin 
reflektiv  die  Wirkung  des  den  Ausführungsgang 
des  Receptaculums  schließenden  Sphinkters  ^)  auf- 
heben oder  denselben  in  tonischer  Kontraktion 
lassen,  und  ihr  Wille  wird  dabei  gar  nicht  in  An- 
spruch genommen,  ebenso  wie  beim  Menschen 
z.  B.  der  Geruch,  ja  selbst  der  Anblick  einer  schmack- 
haften Speise  die  Absonderung  des  Magensaftes 
hervorrufen  kann,  während  der  Geruch  oder  der 
Anblick  von  etwas  Ekelhaftem  nicht  nur  keinen 
sekretorischen  Eindruck  auf  die  Tätigkeit  der 
Magenschleimhaut  ausübt,  sondern  vielmehr  oft 
Brechbewegungen  des  Zwerchfells  und  der  Bauch- 
muskeln bewirkt.  Von  einer  bewußten  Verschieden- 
heit in  der  Art  der  Eiablage  der  Königin  kann 
also  keine  Rede  sein."  -') 

Zahlreiche  Beobachtungen  und  Experimente 
am  Bienenstand  zeigen  indessen  die  Unhaltbarkeit 
dieser  Ansicht.  Die  Bienenkönigin  vermag  in  der 
Tat  über  den  Charakter  des  abzulegenden  Eies 
zu  entscheiden,  und  auch  hier  wieder  hat  es  sich 
gezeigt,  daß  nicht  die  Bienenkönigin  allein  diese 
Fähigkeit  besitzt,  sie  kommt  vielmehr  auch  anderen 
Hymenopterenweibchen  zu. 

Ein  bereits  des  öfteren  ausgeführtes  Experiment 
beweist  sehr  schön,  daß  nicht  die  Größe  der 
Zelle  die  Bienenkönigin  zur  Ablage  eines  befruch- 
teten resp.  unbefruchteten  Eies  zwingt.  Setzt 
man  ein  Bienenvolk  auf  lauter  Drohnenbau,  so 
ist  die  Königin  gezwungen,  alle  ihre  Eier  in  Drohnen- 
zellen abzulegen.  Wenn  Petrunkewitsch's 
Ansicht  richtig  wäre,  müßten  dann  lauter  Drohnen 
entstehen,  da  ja  die  Königin  nur  unbefruchtete 
P^ier  absetzen  kann.  Das  ist  aber  durchaus  nicht 
der  P"all.  Besonders  schlagend  wird  das  Resultat 
dieses  Experimentes  sein,  wenn  wir  es  im  Herbst 
anstellen.  Der  Trieb,  die  Drohnenzellen  zu  be- 
stiften,  ist  normalerweise  um  diese  Jahreszeit  nicht 
mehr  vorhanden,  und  die  auf  Drohnenzellen  ge- 
setzte Königin  zaudert  zunächst  mit  der  Eiablage. 
Je  nach  den  gegebenen  Verhältnissen  wird  aber 
der  Legedrang  früher  oder  später  doch  so  groß, 
daß  sie  schließlich  die  Drohnenzellen  bestiftet. 
Und  was  entsteht?  Größtenteils  Arbeiterinnen, 
nur  wenige  Drohnen  entschlüpfen  den  Drohnen- 
zellen. Die  Königin  hat  also  befruchtete  Eier  in 
die  Drohnenzellen  gelegt,  die  Spermapumpe  ist 
in  Tätigkeit  getreten,  ohne  daß  ein  Druck  auf 
den  Hinterleib  der  Königin  von  den  Zellwänden 
ausgeübt  worden  ist. 

Ein  ähnliches  Resultat  erhalten  wir  bei  einem 
anderen  Experiment.  Hängt  man  im  Frühjahr, 
wenn  die  Bienen  große  Baulust  zeigen,  eine  so- 
genannte künstliche  Mittelwand,  wie  man  sie  den 


')  Siehe  Nach  tsh  eim,  H.,  Cytologische  Studien  über  die 
Geschlechtsbestimmung  bei  der  Honigbiene  (Apis  mellilica  L.). 
Arch.  f.  Zellf.,   II.  Bd.,   1913. 

■')  Siebold,  C.  Th.  E.  v. ,  Wahre  Parthenogenesis  bei 
Schmetterlingen  und  Bienen.  Ein  Beitrag  zur  Fortpflanzungs- 
geschichte der  Tiere.     Leipzig  1856. 


')  Der  hier  erwähnte  Sphinkter  existiert  nicht;  Petrun- 
kewitsch war  die  Einrichtung  der  Spermapumpe  noch  un- 
bekannt. 

2)  Petrunkewitsch,  A. ,  Die  Richtungskörper  und  ihr 
Schicksal  im  befruchteten  und  unbefruchteten  Bienenei.  Zool. 
Jahrb.,  Abt.  f.    Anat.,    14.   Bd.,    1901. 


N.  F.  Xin.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


453 


Bienen  gibt,  um  ihnen  einen  Teil  der  Bauarbeit 
zu  ersparen,  mitten  in  das  Brutiiest,  so  beginnen 
die  Bienen  sogleich,  die  Wabe  auszubauen.  Im 
Brutnest  wird  jedoch  keine  leere  Wabe  geduldet, 
und  zugleich  ist  der  Legedrang  der  Königin  im 
Frühjahr  so  groß,  daß  sie  alsbald  anfängt,  die 
Wabe  zu  bestiften.  Noch  sind  die  Arbeiterinnen 
eifrig  mit  Bauen  beschäftigt,  und  schon  sehen  wir 
die  wei(3en  „Stiftchen"  in  den  noch  unfertigen 
Zellen.  Häufig  habe  ich  bestiftete  Zellen  gefunden, 
welche  die  Bienen  zwar  zu  bearbeiten  begonnen 
hatten,  deren  Seitenwände  aber  kaum  bis  zur 
Hälfte  der  normalen  Zellhöhe  fertiggestellt  waren. 
Die  aus  diesen  Eiern  ausschlüpfenden  Larven  ent- 
wickelten sich  zu  normalen  Arbeiterinnen ;  die 
Eier  waren  also  befruchtet,  obwohl  von  der  Aus- 
übung eines  Druckes  auf  den  Hinterleib  der  Königin 
auch  hier  nicht  die  Rede  sein  konnte. 

Auch  Königinnenzellen  werden  nicht  selten  in 
unfertigem  Zustande  bestiftet,  als  sogenannte 
„Weiselnäpfchen".  Diese  besitzen  die  charak- 
teristische eicheiförmige  Gestalt  der  VVeiselwiegen 
noch  nicht,  es  ist  nur  der  Boden  der  Wiege  vor- 
handen, die  „Cupula"  der  Eichel,  wenn  man  im 
Bilde  bleiben  will. 

Daß  eine  Königin  in  diesem  Augenblick  eine 
.\rbeiterinnenzelle,  im  nächsten  Moment  eine 
Drohnenzelle  normal  zu  bestiften  vermag,  ist  von 
verschiedenen  Seiten  behauptet  worden ;  vom 
theoretischen  Standpunkte  aus  ist  ein  solches  Ver- 
halten auch  durchaus  als  möglich  zu  betrachten. 
Gewöhnlich  pflegt  indessen,  soweit  meine  Be- 
obachtungen reichen,  ein  solcher  schroffer  Wechsel 
der  Zellart  bei  der  Eiablage  nicht  stattzufinden. 
Die  Königin  legt  ihre  Eier  periodenweise  ab,  eine 
Zeitlang  bestiftet  sie  Arbeiterinnenzellen,  dann 
kommt  vielleicht  eine  Periode,  in  der  sie  unbe- 
fruchtete Eier  absetzt.  Daß  normalerweise  nicht 
Drohnen-  und  .'^rbeiterinneneier  in  buntem  Wechsel 
gelegt  werden,  wird  schon  durch  die  Verteilung 
der  einzelnen  Zellen  im  Stocke  unmöglich  gemacht. 
Die  meisten  Waben  setzen  sich  ja  überhaupt  nur 
aus  Arbeiterinnenzellen  zusammen,  wo  Drohnen- 
zellen vorhanden  sind,  stehen  diese  in  kleineren 
oder  größeren  Gruppen  beisammen,  bilden  mit- 
unter auch  einmal  eine  ganze  Wabe.  Der  Bienen- 
züchter allerdings,  der  möglichst  viel  Honig  ernten 
möchte,  sieht  solche  Waben  ohne  große  Freude 
entstehen,  er  betrachtet  ein  Heer  von  Drohnen 
als  lästigen  Konsumenten  und  sucht  ihre  Zahl 
nach  Möglichkeit  zu  beschränken.  Vollständig 
jedoch  —  es  wäre  das  ja  aber  auch  wieder 
nicht  im  Interesse  des  Bienenzüchters  gelegen  — 
läßt  sich  unter  gewissen  Verhältnissen  die  Drohnen- 
produklion  nicht  unterdrücken.  Es  ist  allgemein 
bekannt,  daß  nicht  zu  allen  Zeiten  im  Bienenstaat 
männliche  Tiere  erzeugt  werden,  aber  wenn  im 
Frühjahr  das  Volk  sehr  individuenreich  ist,  wenn 
die  Tracht-  und  Temperaturverhältnisse  günstige 
sind,  so  regt  sich  bei  der  Bienenkönigin  der  Trieb 
zur  Erzeugung  von  Drohnen.  Wie  mächtig  dieser 
Trieb  zu  solchen  Zeiten  werden  kann,  davon  kann 
man  sich  durch  einen  Versuch  überzeugen.     Ent- 


fernt man  nach  Möglichkeit  die  Drohnenwaben, 
so  sucht  die  Königin  im  ganzen  Stocke  nach 
Drohnenzellen,  und  häufig  bestiftet  sie  dann  ganz 
abseits  gelegene,  z.  B.  ganz  am  Rande  der  Wabe 
gelegene  Zellen,  die  normalerweise  überhaupt  nicht 
benutzt  werden.  Die  Sucht  der  Königin,  in  der 
Schwarmzeit  Drohneneier  abzulegen,  wird  sogar, 
wie  mir  ein  Imker  mitteilt,  in  der  Praxis  ausgenützt, 
um  sich  das  Ausfangen  der  Königin  zu  erleichtern. 
Hängt  man  eine  Drohnenwabe  als  letzte  oder 
vorletzte  Wabe  zur  Schwarmzeit  in  den  Stock  und 
nimmt  sie  nach  12 — 16  Stunden  vorsichtig  wieder 
heraus,  so  findet  man  sehr  oft  die  Königin  auf 
der  Wabe. 

Die  Hauptfaktoren,  die  bei  der  Bestiftung  der 
Drohnenzellen  eine  Rolle  spielen,  sind,  wie  gesagt, 
Temperatur  und  Ernährung.  Je  günstiger  die 
Witterung  ist,  je  länger  infolgedessen  die  Tracht 
dauert  und  im  Bienenstock  sich  flüssiger,  frisch 
eingetragener  Honig  findet,  desto  länger  hält  der 
Trieb  an,  Drohnen  zu  erzeugen,  fast  zu  gleicher 
Zeit  hört  in  den  verschiedenen  Stöcken  einer 
Gegend  dieser  Trieb  auf,  fast  zu  gleicher  Zeit 
findet  die  „Drohnenschlacht"  statt.  Füttern  wir 
im  Spätsommer,  zu  einer  Zeit,  wo  die  Drohnen- 
schlacht normalerweise  schon  vorüber  ist,  ein 
Bienenvolk  stark  mit  Honig  oder  aufgelöstem 
Zucker,  so  werden,  falls  auch  die  übrigen  Be- 
dingungen erfüllt  sind,  die  Drohnenwaben  trotz 
der  vorgeschrittenen  Jahreszeit  bestiftet.  So  er- 
hielt ich  z.  B.  im  Jahre  191 1  durch  intensives 
Füttern,  begünstigt  durch  das  anhaltend  gute 
Wetter  im  Sommer  dieses  Jahres,  noch  Ende 
August  fast  täglich  zahlreiche  Drohneneier,  indem 
ich  eine  Drohnenwabe  mitten  in  das  Brutnest 
hing.  Daß  es  sich  hier  tatsächlich  um  „Drohnen- 
eier" handelte  und  nicht  etwa  um  befruchtete 
Eier  in  Drohnenzellen  —  vgl.  das  oben  erwähnte 
Experiment  — ,  wurde  zunächst  einmal  durch  die 
mikroskopische  Untersuchung  der  Eier  bewiesen, 
dann  aber  auch  durch  die  Beobachtung,  daß  den 
Eiern,  wenn  sie  in  den  Zellen  belassen  wurden, 
eben  nur  Drohnenlarven  entschlüpften.  Während 
jedoch  die  Drohnen eier  von  den  Arbeiterinnen 
genau  ebenso  gepflegt  wurden  wie  die  Eier  in 
Arbeiterinnenzellen,  verhielten  sie  sich  den  Larven 
gegenüber  anders.  Schon  in  den  ersten  Tagen, 
nachdem  sie  ausgeschlüpft  waren,  wurden  die 
Drohnenlarven  aus  den  Zellen  entfernt,  keine 
einzige  wurde  aufgezogen.  Der  Trieb  zur  Auf- 
zucht von  Drohnen  war  also  trotz  des  reichlichen 
Futters  bei  den  Arbeiterinnen  nicht  mehr  vor- 
handen '). 

Bei  den  Wespen  liegen  die  Verhältnisse  insofern 
etwas  anders,  als  hier  die  männlichen  Tiere  nicht 
im  Frühjahr,  sondern  im  Herbst  erzeugt  werden. 
Im  übrigen  dürfte  aber  auch  die  Wespenkönigin 
ebensowenig  zur  Ablage  eines  bestimmten  Eies 
gezwungen    sein    wie    die   Bienenkönigin.     Die 

')  Das  Verhalten  der  Arbeiterinnen  spricht  dafür,  daß  sie 
die  „Drohneneier"  nicht  von  „Arbeiterinneneiern"  zu  unter- 
scheiden vermögen,  erst  die  Larven  lassen  sie  das  Geschlecht 
der  Tiere  erkennen. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xffl.  Nr.  29 


Spermapumpe    zeigt    nach    den    Untersuchungen 
Adam 's')    im    Prinzip    die    gleiche    Einrichtung, 
daß    aber   die    oben    erwähnte   Theorie   Petrun- 
kewitsch's  auch  für  die  Wespen  keine  Gültig- 
hat, wird  schon  allein  dadurch  bewiesen,    daß  im 
Wespenstaat    überhaupt    keine   besonderen  Zellen 
für  die  männlichen  Tiere  vorhanden  sind.  Während 
des    Sommers    finden    wir   in    einem  Wespennest, 
z.  B.    einem  Nest    unserer  gewönlichen  Erdwespe, 
Vespa  germanica,  nur  eine  Sorte  von  Zellen,  in 
denen    sich    die    Arbeiterinnen    entwickeln.      Bis 
Mitte    August   besteht    die    Kolonie    nur   aus    der 
Königin    und    den    Arbeiterinnen.     In    der    ersten 
Hälfte    des    August    beginnen    die    Arbeiterinnen, 
eine    oder    zwei   Waben    mit   größeren    Zellen    zu 
bauen.      Diese    sind    für    die  jungen    Königinnen 
bestimmt,    welche    überwintern,    um    im    nächsten 
Frühjahre  neue  Kolonien  zu  gründen.     Zu  gleicher 
Zeit   wie    die  jungen  Königinnen  erscheinen  auch 
die   ersten    Männchen.     Diese    entwickeln   sich  in 
den  gleichen  Zellen  wie  die  Arbeiterinnen.  Während 
also  die  Wespenkönigin  bis  Mitte  .August  ungefähr 
—  es  wechselt  das  natürlich  in  den  verschiedenen 
lahren    und    auch    in  verschiedenen  Gegenden   — 
nur  befruchtete  Eier  abgelegt  hat,  beginnt  sie  um 
diese  Zeit,    dieselben  Zellen    auch    mit  unbefruch- 
teten Eiern  zu  besetzen.    Aber  auch  hier  enthalten 
dann  benachbarte  Zellen  nicht  männliche  und  weib- 
liche   Larven    in    buntem    Gemisch.      Wir    finden 
vielmehr    in    einem  Bezirke  von  ungefähr  30 — 40 
Zellen    in    der   Regel    nur  eine  Sorte    von   Eiern 
bzw.  Larven  oder  Puppen.    Liegen  einmal  zwischen 
Arbeiterinnenlarven    einige    Drohnenlarven     oder 
-puppen,    so    lassen    die    Umstände    meist    darauf 
schließen,  daß  diese  von  einer  eierlegenden  .Arbeiterin 
stammen.    Bei  den  Wespen  scheinen  ja  überhaupt 
,, Drohnenmütterchen"  viel  häufiger  zu  sein  als  bei 
den  Bienen. 

Über  die  Verteilung  der  Geschlechter  und  das 
Verhalten  der  solitärcn  Bienen  bei  der  Eiablage 
besitzen  wir  höchst  interessante  Beobachtungen 
des  ausgezeichneten  Insektenforschers  I.  H.  Fabre, -) 
Beobachtungen,  die  jüngst  von  Armbruster^) 
größtenteils  bestätigt  und  erweitert  worden  sind. 
Die  Untersuchungen  Fabre's  führen  uns  zunächst 
einmal  zu  dem  Schluß,  daß  auch  hier  die  Männchen 
wie  bei  der  Honigbiene  und  den  Wespen  aus  un- 
befruchteten Eiern  entstehen.*)   Sodann  aber  zeigen 


')  Adam,  A.,  Bau  und  Mechanismus  des  Receptaculum 
seminis  bei  den  Bienen,  Wespen  und  -Ameisen.  Zool.  Jahrb., 
.Abt.  f.  Anat.,  35.  Bd.,   1912. 

')  Fabre,  J.  H,  Souvenirs  entomologiques.  Etudes  sur 
l'instinct  et  les  moeurs  des  lusectes    (3.  serie).     Paris   1890. 

')  Armbruster,  L. ,  Chromosomenverhältnisse  bei  der 
Spermatogenese  solitärer  .Apiden  (Osmia  cornuta  Catr.).  Bei- 
träge zur  Geschechtsbestimmungsfrage  und  zum  Reduklions- 
problem       .\rch.   f.  Zellf.,    II.   Bd.,    1913. 

*)  Fabre  freilich  zog  diesen  Schluß,  so  naheliegend  er 
war  und  so  gut  dadurch  die  Tatsachen  erklärt  wurden,  ledig- 
lich infolge  eines  ganz  unbegründeten  Vorurteiles  gegen  die 
D  zierz  on 'sehe  Theorie  nicht.  ,,Die  Theorie  ist  sehr  ein- 
fach, klar,  bestechend"  gesteht  er,  aber  ,,da  sie  von  Deutsch- 
land kommt",  kann  er  sie  nur  ,,mit  großem  Mißtrauen"  be- 
trachten. Die  F,.\istenz  entwicklungsunfähiger  Eier  ist  schließ- 
lich   für    ihn    Grund    genug,    die  Theorie  abzulehnen :     damit 


sie  uns,  daß  auch  hier  die  Weibchen  willkürlich 
ein  befruchtetes  oder  ein  unbefruchtetes  Ei  zu 
legen  vermögen. 

Die  Osmien  —  speziell  diese  solitären  Bienen 
wurden  eingehender  untersucht  —  lieben  als  Nist- 
plätze schachtartige  Höhltingen,  wie  hohle  Zweige, 
Schilfrohr  usw.,  auch  ein  Gartenschlauch  erscheint 
ihnen  brauchbar,   wie  ich  einmal  sah.     In  solchen 
Höhlungen   bringen    sie    dann   in    einzelnen  über- 
einander   liegenden     Zellen     ihre      ganze     Nach- 
kommenschaft   unter,    etwa    15  Junge,    normaler- 
weise Männchen  und  Weibchen  in  ungefähr  glei- 
cher   Zahl.      Bei    Osmia   tridentata,    deren  Männ- 
chen   und  Weibchen    ungefähr    gleich    groß    sind, 
haben    alle  Zellen    die  gleiche  Größe,    und    es  ist 
in    der  Verteilung   der  Männchen    und    Weibchen 
im  Nest   keine    Regel    zu    konstatieren.     Bei    den 
übrigen  Osmienarten  und  anderen  solitären  Bienen 
hingegen  sind  die  Weibchen  größer  als  die  Männ- 
chen,   diese    entwickeln    sich    in    kleineren  Zellen, 
die  viel  kärglicher  mit  Pollen  und  Honig  versehen 
werden  als  die  großen  für  die  Weibchen  bestimmten 
Zellen.    Es  ist  nun  eine  interessante  Tatsache,  daß 
diese  Osmien  in  der  Regel  zuerst  die  großen  Zellen 
bauen,  eine  über  der  anderen,  und  sie  mit  —  be- 
fruchteten —  Eiern  versehen.    Erst  dann  kommen 
die  kleinen  Zellen    mit  den  unbefruchteten  Eiern. 
Ich  sagte  „in  der  Regel"    ist   es  so.     Nicht  selten 
aber  kommt  es  vor,  daß  der  Platz,  den  die  Osmia 
sich    für    ihr   Brutgeschäft    ausgesucht    hat,    nicht 
reicht  für  die  ganze  Nachkommenschaft,    sie  muß 
diese  dann  auf  zwei  oder  mehrere  Plätze  verteilen. 
Die    Osmien,    die    Fabre    züchtete,    legten    ihre 
Eier  in  leere  Kammern  von  Nestern  anderer  Bienen 
ab,    sodann    in    kurze    Glasröhrchen,    Schnecken- 
häuschen   u.  dgl.,     das     er    ihnen    darbot.      Und 
wie  verhielten    sie  sich  jetzt  hinsichtlich  der  Ver- 
teilung   di.r    Geschlechter?      Es    zeigte    sich,    daß 
die    Osmia    durchaus    nicht    einem    Zwange  folgt, 
wenn  sie  in  der  Regel  zuerst  nur  die  befruchteten 
Eier  absetzt,  dann  die  unbefruchteten.    Man  könnte 
ja   daran   denken,    ihr   Spermienvorrat   sei   außer- 
ordentlich gering,  erschöpfe  sich  bereits  durch  die 
Ablage  weniger  Eier,  und  es  müßten  dann  natür- 
lich   die    weiteren    Eier     unbefruchtet     abgesetzt 
werden;    wenn    auch   die  verschiedene  Größe  der 
Männchen-  und  Weibchenzellen,  sodann  die  Größe 
des  Hodens  der  Männchen  und  des  Receptaculum 
seminis  der  Weibchen  sehr  gegen  diese  Erklärung 
spricht,  so  ist  immerhin  damit    ihre  Unrichtigkeit 
noch    nicht    bewiesen.      Bewiesen    wird    sie    aber 
dadurch,  daß  die  Osmien  in  die  kurzen  Glasröhrchen 
nicht    etwa    in    die  ersten  beiden    nur  befruchtete 
fclier,  in  drei  und  vier  aber  unbefruchtete  Eier  ab- 
legten,   sie    bauten    vielmehr    in   jedem    Röhrchen 
zunächst     einige     Weibchenzellen,     dann     einige 
Männchcnzellen,    und    eine   jede    wurde    mit    dem 
entsprechenden  Ei  versehen.     Die  leeren  Kammern 
der  verlassenen  Nester  wurden  jede  entsprechend 
ihrer  Größe  gefüllt,  die  großen  mit  einem  „Weib- 


„stürzt  die  deutsche  Theorie  in  sich  zusammen",    und    er  ver- 
zichtet lieber  auf  jede  Erklärung  seiner  Beobachtungen. 


N.  F.  Xm.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


455 


chenei",  die  kleinen  mit  einem  „Männchenei". 
Stellte  Fahre  den  Osmien  nur  ganz  kleine  Höh- 
lungen zur  Ablage  ihrer  Eier  zur  Verfügung,  so 
konnte  das  Geschlechtsverhältnis  in  ganz  auffälliger 
Weise  verschoben  werden :  die  Osmien  bauten 
fast  nur  kleine  Zellen,  es  entstanden  fast  aus- 
schließlich Männchen.  Alle  diese  Beobachtungen 
zeigen,  daß  die  Osmien  sich  ganz  nach  den  ge- 
gebenen Verhältnissen  zu  richten  vermögen  und 
ganz  nach  Belieben  die  Spermapumpe  können 
in  Funktion  treten  lassen  oder  nicht. 

Untersuchungen  über  die  Eiablage  bei  Ichneu- 
moniden,  die  Chewyreuv')  angestellt  hat,  er- 
innern in  ihren  Resultaten  sehr  an  die  obigen 
Beobachtungen  F a b r e ' s.  Die  von  Chewyreuv 
benutzten  Ichneumoniden  gehörten  der  Gattung 
Pimpla  an.  Diese  Schlupfwespen  pflegen  ihre 
Eier  in  Raupen  von  verschiedenen  Schmetter- 
lingen abzulegen,  in  denen  und  auf  Kosten  deren 
sie  sich  entwickeln.  Als  den  isolierten  begatteten 
Pimpla-Weibchen  zur  Ablage  ihrer  Eier  nachein- 
ander verschiedene  Raupen  dargeboten  wurden, 
zeigte  es  sich,  daß  diese  Schlupfwespen  in  ganz 
bestimmter  Weise  befruchtete  und  unbefruchtete 
Eier  verteilen.  Erhält  die  Schlupfwespe  eine 
große  Raupe  -  eine  solche  von  Sphinx,  Saturnia 
oder  Gastropacha  — .  so  legt  sie  ein  befruchtetes 
Ei  hinein :  es  entsteht  ein  Weibchen.  Ist  die 
Raupe  klein  —  von  Pieris,  Bupalus  oder  Panolis  — , 
so  legt  das  Pimpla-Weibchen  ein  unbefruchtetes 
Ei  ab:  es  entsteht  ein  Männchen.  Gibt  man  den 
Schlupfwespen  nur  große  Larven,  so  kann  man 
hier  das  Geschlechtsverhältnis  vollkommen  um- 
stoßen: man  erhält  eine  rein  weibliche  Nach- 
kommenschaft. Zwingt  man  eine  Schlufwespe, 
alle  ihre  Eier  in  kleine  Larven  abzulegen,  so  ist 
zwar  die  Mehrzahl  der  Nachkommen  männlichen 
Geschlechts,  aber  das  weibliche  Geschlecht  läßt 
sich  nicht  ganz  unterdrücken,  wenn  auch  die  ent- 
stehenden Weibchen  infolge  mangelhafter  Ernäh- 
rung kleiner  als  gewöhnlich  sind.  Bei  Verwendung 
von  Schmetterlingsraupen  mittlerer  Größe  ist  das 
Resultat  verschieden,  je  nachdem  die  Schlupf- 
wespe vorher  eine  große  oder  eine  kleine  Raupe 
infiziert  hatte. 

Aus  den  Lüern  unbegattet  gebliebener  Ichneu- 
moniden entwickelten  sich  ausschließlich  Männ- 
chen. Die  Größe  der  Raupe  war  für  den  Para- 
siten   nur    insofern    von    Bedeutung,    als   die    aus 

')  Chewyreuv,  J.,  Le  nMe  des  femelies  dans  la  deter- 
mination  du  sexe  de  leur  descendance  dans  le  groupe  des 
Ichneumonides.  Comptes  rend.  hebd.  d.  s.  de  la  Soc.  de 
Biol.,  Tome  74,   19 13. 


großen  Raupen  ausschlüpfenden  Männchen  größer 
waren  als  die,  welche  sich  in  kleinen  Raupen  ent- 
wickelt iiatten.  Eine  nachträgliche  Begattung  der 
Pimpla-Weibchen  hatte  zur  Folge,  daß  sie  von 
jetzt  ab  in  normaler  Weise  Männchen  und  Weib- 
chen erzeugten. 

Für  eine  Reihe  von  Hymenopteren  haben  wir 
ihr  Verhalten  bei  der  Eiablage  kennen  gelernt. 
Die  Beobachtungen  berechtigen  zu  dem  Schluß, 
daß  die  Hymenopterenweibchen  den 
Charakter  des  abzulegenden  Eies  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  willkürlich 
zu  bestimmen  vermögen.  Zwar  legt  die 
Bienenkönigin  normalerweise  in  die  Drohnenzellen 
nur  unbefruchtete  Eier,  fehlen  ihr  aber  Arbeite- 
rinnenzellen gänzlich,  so  bestiftet  sie  auch  die 
Drohnenzellen  mit  befruchteten  Eiern.  Die  soli- 
täre  Biene  legt  zwar  gewöhnlich  zuerst  die  be- 
fruchteten Eier  ab,  dann  die  unbefruchteten,  sind 
aber  besondere  Verhältnisse  gegeben,  so  geht  auch 
sie  von  ihrer  Gewohnheit  ab  und  legt  unter  Um- 
ständen zuerst  die  unbefruchteten  Eier.  Wenn 
es  nun  aber  auch  von  dem  „Willen"  des  Weibchens 
abhängig  ist,  ob  ein  Ei  befruchtet  wird  oder  nicht, 
so  heißt  das  natürlich  nicht,  daß  das  Weibchen 
auch  „Kenntnis"  davon  hat,  was  aus  diesem  oder 
jenem  Ei  entstehen  wird,  wie  Jakob  Christian 
Schäffer')  im  18.  Jahrhundert  glaubte.  Nicht 
weil  sie  weiß,  daß  nur  Arbeiterinnen  dem  Volke 
nützlich  sein  können,  legt  die  im  Herbste  auf 
Drohnenbau  gesetzte  Bienenkönigin  in  die  Drohnen- 
zellen befruchtete  Eier,  sie  tut  es  vielmehr  instink- 
tiv, es  ist  eine  Instinkt handlung,  die  wir 
mit  Morgan")  definieren  können  als  „fix  und 
fertig  auftretende  Handlung,  die  für  das  Individuum 
zweckmäßig  ist,  zur  Erhaltung  der  Art  beiträgt  und 
die  von  allen  Vertretern  einer  mehr  oder  minder 
geschlossenen  Tiergruppe  in  gleicher  Weise  aus- 
geführt wird  und  durch  Erfahrung  modifizierbar  ist". 
Freilich  haben  wir,  wenn  wir  das  Verhalten  der 
Hymenopterenweibchen  bei  der  Eiablage  als  In- 
stinkthandlung bezeichnen,  das  Problem  keines- 
wegs gelöst.  Mit  der  Bezeichnung  „Instinkthand- 
lung" bringen  wir  zum  Ausdruck,  daß,  obwohl 
unter  bestimmten  äußeren  Verhältnissen  die  Sperma- 
pumpe z.  B.  nicht  notwendigerweise  in  F"unktion 
treten  muß,  trotzdem  ein  gewisser  Zwang  die  Hand- 
lungen des  Tieres  beherrscht,  ohne  daß  es  uns  mög- 
lich wäre,  den  Eiablageinstinkt  genau  zu  analysieren. 


')  Schaeffer,    J.    Chr.,     Abhandlungen     von    Insekten, 
Bd.  2.     Regensburg   1764. 

^)  Morgan,  C.  L.,  Instinkt  und  Erfahrung.    Berlin   1913. 


Einzelberichte. 


Mineralogie.  Über  die  Unterschiede  zwischen 
Birma-  und  Siamrubinen  berichtet  H.  Michel 
(Wien)  in  Heft  6,  Bd.  53,  1914  der  „Zeitschr.  f. 
Krist.  u.  Mineralogie".  Die  Hauptmenge  der  im 
Handel  befindlichen  Rubine  stammt  aus  Birma 
und   Slam.     Zwischen    beiden   bestehen    empfind- 


liche Preisunterschiede,  die  zumeist  in  der  ins 
bräunlich-orange  spielenden  Farbe  des  Siamrubins 
ihre  Ursache  haben.  Dieser  Farbunterschied  und, 
in  Zweifelsfällen,  die  mikroskopische  Untersuchung 
ermöglichen  es,  eine  Unterscheidung  herbeizuführen. 
Bei  den  Birmarubinen  finden  sich,  in  der  Rieh- 


456 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  29 


tung  der  optischen  Achse  betrachtet,  ein  System 
von  langen,  äußerst  zarten  Nadeln,  die  sich  unter 
60"  schneiden  und  wohl  Rutil  sind.  Die  Licht- 
brechung dieser  Gebilde  ist  so  hoch,  daß  sie  ganz 
schwarz  erscheinen.  Stets  ist  ihre  Orientierung 
im  ganzen  Stein  dieselbe,  und  es  ist  festzustellen, 
daß  die  Nädelchen  parallel  der  Basis  eingelagert  sind. 
Außer  diesen  feinen  Nädelchen  treten  noch  gröbere 
Rutileinschlüsse  auf,  die  die  Kombination  eines 
stark  horizontal  gerieften  Prismas  und  einer  Pyra- 
mide darstellen  und  meist  in  Reihen  geordnet  sind. 
Seltener  sind  rölirenförmige,  ungleichmäßig  krumm 
verlaufende  Hohlräume,  die  teils  mit  Flüssigkeit, 
teils  mit  Gas  angefüllt  zu  sein  scheinen  und  ferner 
schwach  lichtbrechende  Flüssigkeitseinschlüsse,  die 
bisweilen  die  Form  des  Wirtes  haben  oder  un- 
regelmäßig begrenzt  sind. 

In  den  Siamrubinen  fehlen  derartige  Einschlüsse 
nahezu  ganz.  In  diesen  treten  dünne,  dafür  breiter 
ausgedehnte  Hohlräume  auf,  die  vielfach  geradlinige 
Umgrenzung  zeigen  oder  aber  vollkommen  regellos 
umgrenzt  erscheinen.  Nahezu  immer  aber  sind 
im  Innern  zarte,  meist  sechsseitig  umgrenzte 
Täfelchen  zu  sehen,  die  einander  parallel  sind  und 
zwischen  denen  verschieden  breite  Kanäle  hinziehen, 
die  mit  Flüssigkeit  gefüllt  sind.  Die  Täfelchen 
dürften  auch  Rubin  sein.  Außerdem  zeigt  der 
Siamrubin  noch  reichlichere  I'lüssigkeitseinschlüsse, 
die  häufig  ganze  Fahnen  bilden  und  in  Reihen 
geordnet  sind.  Des  weiteren  scheinen  bei  den 
Siamrubinen  die  Zwillingsbildungen  häufiger  und 
die  einzelnen  Lamellen  dünner  und  zahlreicher 
zu  sein. 

Der  Unterschied  in  der  Färbung  rührt  wohl 
von  einer  Beimengung  von  Eisen  her,  der  den 
Birmarubinen  zu  fehlen  scheint,  denn  die  Erfahrungen 
bei  der  künstlichen  Darstellung  des  Rubins  haben 
gezeigt,  daß  das  Ausgangsprodukt  absolut  eisenfrei 
sein  muß,  um  die  reinrote  Farbe  der  Birmarubine 
zu  erzielen.  Die  Analysen  von  Pfeil  geben  zwar 
für  Birma-  und  Siamrubine  einen  Gehalt  an  FejO^ 
in  der  Höhe  von  ungefähr  1"/^  an,  doch  scheint 
das  Färbemittel  des  Birmarubins  hauptsächlich 
Chrom  zu  sein,  das  bei  den  Analysen  nicht  ge- 
sucht wurde.  F.  H. 

Physiologie.  Der  Cholesteringehalt  des  Blutes 
ist  nach  den  Arbeiten  von  Chauffard,  Guy 
Larocheund  Grigaut  während  der  Schwanger- 
schaft erhöht.  Nach  den  Untersuchungen  von  P. 
Mauriac  und  M.  Strymbau,  die  sich  auf  50 
Schwangere  erstreckten  (C.  R.  Soc.  Biol.,  Bordeaux, 
6  janv.  19 14),  schwankt  der  Prozentsatz  im  Laufe 
der  Schwangerschaft,  und  zwar  zeigen  sich  in  den 
Schwankungen  zwei  Perioden.  In  der  ersten,  vom 
Beginn  der  Schwangerschaft  bis  zum  Ende  des 
2.  Monats,  steigt  der  Gehalt  sehr  rasch,  um  dann 
wieder  bis  zum  Anfang  des  5.  Monats  zu  sinken. 
Dann  steigt  der  Cholesteringehalt  wieder  bis 
zur  Geburt.  Bisweilen,  gegen  das  Ende  der 
Schwangerschaft,  tritt  abermals  eine  Verminderung 
ein.      Die    Kurve    deckt   sich    im    großen    ganzen 


mit  der,  welche  Bar  bezüglich  des  Stoffwechsels 
an  Stickstoff,  Kalk,  Schwefel  usw.  im  Laufe  der 
Schwangerschaft  entworfen  hat. 

Diese  Resultate  sind  aber  nur  gültig  für  die 
normale  P'rau,  während  gewisse  Infektionskrank- 
heiten, wie  die  Tuberkulose  und  die  Syphilis,  den 
Gehalt  des  Blutes  an  Cholesterin  von  Grund  aus 
ändern  können,  indem  sie  ihn  bis  auf  den  nor- 
malen Gehalt  oder  darunter  herabsetzen. 

Kathariner. 

Zoologie.  Die  im  Körper  des  Menschen 
lebenden  Parasiten  schaden  nicht  nur  dadurch,  daß 
sie  die  von  ihnen  befallenen  Organe  in  ihrer  Funk- 
tion beeinträchtigen,  sondern  sie  geben  auch  Ver- 
anlassung dazu,  daß  gewisse  Stoffe  in  den  Kreis- 
lauf gelangen,  die  als  Gifte  auf  die  lebenden  Zellen 
des  Körpers  wirken.  Teils  werden  diese  als  Neben- 
produkte des  Stoffwechsels  des  Parasiten  gebildet, 
teils  sind  sie  Zerfallsprodukte  zerstörter  Gewebe 
des  Wirtskörpers.  Dr.  Georg  B.  Gruber  (Straß- 
burg i.  E.)  beschäftigt  sich  (Neue  Studien  über  die 
Pathologie  der  Trichinose,  Münchener  med.  Wochen- 
schrift, Nr.  12,  1914)  mit  den  Toxinwirkungen, 
welche  die  Anwesenheit  der  Trichinen  im  Körper 
bedingt.  Als  Gifte  wirken  sowohl  die  Zerfalls- 
produkte der  Muskulatur  als  auch  von  den  Tri- 
chinen selbst  herrührende  Absonderungen.  Bekannt 
ist  schon  die  Steigerung  der  Zahl  der  ,, eosinophilen" 
Zellen. ')  Deren  Bildungsstätte  ist  vorzüglicii  im 
Knochenmark  zu  suchen,  dagegen  ist  die  direkte 
Bildung  der  eosinophilen  Granula  aus  Muskel- 
hämoglobin nicht  zu  erweisen.  Eine  von  Romano- 
witsch  behauptete  Gifiigkeit  des  Serums  trichi- 
nöser Tiere  konnte  nicht  nachgewiesen  werden. 
Auch  ist  die  Angabe  von  R.,  daß  die  Wanderungen 
der  Trichinenlarven  das  Eindringen  von  Bakterien 
aus  dem  Darm  in  die  Blutbahn  veranlassen,  höchst 
unwahrscheinlich.  Seine  diesbezüglichen  Angaben 
konnten  nicht  bestätigt  werden.  Ebensowenig 
können  pathologische  Erscheinungen  an  der  Leber 
und  der  Niere  bis  jetzt  mit  Sicherheit  auf  die  In- 
fektion mit  Trichinen  zurückgeführt  werden. 

Kathariner. 

Astronomie.     Ein  neues  Glied  der  Kometen- 

familie  des  Neptun  ist  durch  die  Entdeckung  des 
Kometen  Delavan  vom  26.  September  191 3  fest- 
gestellt worden.  Dieser  Komet  erweist  sich  als 
identisch  mit  dem  Kometen  von  1852  Westphal, 
dessen  Umlaufzeit  nur  sehr  ungenau  bekannt  war. 
Nun  ist  sie  zu  61,6  Jahren  bestimmt  worden.  Der 
Neptunsfamilie  gehören  nun  an  die  Kometen 
Westphal,  PonsBrooks  mit  71,6  Jahren  Umlauf, 
Olbers  mit  72,7  und  Halley  mit  76,0  Jahren. 
Neptun  selber  hat  64,8  Jahre  Umlaufzeit.  Wäh- 
rend also  die  Umlaufzeiten  ziemlich  gleich  sind, 
sie  sind  das  charakteristische    für  die  Zusammen- 


')  Man  versteht  darunter  weifle  Blutkörperchen,  welche 
sich  mit  sauren  Farbstoffen  intensiv  färben.  Ihre  Zahl,  nor- 
malerweise 2 — 4  %,  ist  bei  der  Trichinenl<rankheit  erheblich 
gesteigert.     Diese  Steigerung  wird  diagnostisch  verwertet. 


N.  F.  XIII.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


457 


gehörigkeit  zu  derselben  Familie,  sind  die  Neigun- 
gen der  Bahn  gegen  die  Ekliptik  sehr  verschieden, 
sie  betragen  41—74—45  —  162  Grad,  während 
Neptun  nur  1,8  Grad  hat.  Man  sieht  hieraus,  daß 
unter  den  Kometen  selber  keine  innere  Verwandt- 
schaft sein  kann,  sie  sind  aus  ihren  ursprünglich 
ganz  anderen  Bahnen  durch  den  Neptun  in  die 
jetzigen  gelenkt  worden,  die  an  Größe  der  Neptuns- 
bahn ähnlich  sind.  Riem. 

Chemie.  Neue  Beiträge  zur  Chemie  d^^ 
Tabaks.  W.  Halle  und  E.  Pfibram  veröffent- 
lichen in  den  Berichten  d.  Deutsch.  Chem.  Ges. 
[47,  1394]  die  Ergebnisse  einer  Untersuchung  über 
die  ätherischen  Öle  des  Tabaks.  Sie  extrahierten 
ca.  300  kg  ungarischen  Tabak  mittels  organischer 
Lösungsmittel  in  der  Wärme  und  erhielten  aus 
diesem  Extrakt  ca.  140  g  eines  gelben  Öles,  das 
sehr  stark  nach  Tabak  roch;  es  erwies  sich  als 
stickstoffrei  und  reagierte  sauer.  Dieses  Öl  wurde 
in  Äther  aufgenommen,  mit  verdünnter  Sodalösung 
behandelt  und  mit  Wasser  geschüttelt;  die  zurück- 
bleibende ätherische  Lösung  wurde  nach  Ver- 
dampfen des  Äthers  im  Vakuum  destilliert.  Aus 
einem  Teil  der  so  erhaltenen  Fraktionen  konnte 
durch  Ausschütteln  mit  Sodalösung,  Ansäuern  und 
Ausäthern  eine  Säure  gewonnen  werden,  die  durch 
Geruch,  Siedepunktsbestimmung,  Titration  usw. 
als  Isovaler iansäure  identifiziert  wurde.  Aus 
140  g  Öl  resultierten  1,5  — 1,7  g  dieser  Säure. 
Ein  anderer  Teil  der  Fraktionen,  der  zwischen 
170 — 185"  (755  mm)  überdestillierte,  ergab  nach 
mehrmaliger  Vakuumdestillation  eine  Flüssigkeit, 
deren  Zusammensetzung  C,  ,H.>„  (oder  vielleicht 
auch  CjgHjs)  ist.  Um  die  Konstitution  dieses 
Kohlenwasserstoffes,  der  offenbar  der  Reihe  CnH_)„-L' 
angehört,  weiter  aufzuklären,  wurde  sein  Abbau 
durch  Kaliumpermanganat  bei  verschiedenen  Tem- 
peraturen in  wässerigalkalischer  Lösung  genauer 
untersucht.  Die  sauer  reagierenden  Oxydations- 
produkte  ließen  sich  durch  Cliloroform  in  zwei 
Teile  zerlegen :  der  in  Chloroform  unlösliche  Teil 
enthält  eine  Substanz,  die  beim  Erhitzen  ohne  zu 
schmelzen  sublimiert  und  mit  Terephthalsäure 
(CgH^Oj)  identisch  zu  sein  scheint;  der  in  Chloro- 
form lösliche  Bestandteil  schmilzt  bei  40 — 42", 
riecht  nach  Schweiß  und  ist,  nach  der  Anah'se 
des  Calciumsalzes  zu  schließen,  wahrscheinlich 
Isobut)lessigsäure. 

Über  den  Ätherextrakt  von  Tabakblättern  hat 
auch  E.  Traetta  Mosca  einige  neue  Resultate 
publiziert  (Gazzetta  chim.  ital.  43,  II,  440).  Dieser 
Autor  erhielt  beim  Ausziehen  von  20  kg  Kentucky- 
tabak mit  Äther  ca.  i  kg  eines  Extraktes,  der 
mit  kaltem  Alkohol  behandelt  wurde.  Aus  dem 
in  Alkohol  unlöslichen  Teil  konnte  eine  weiße, 
schuppige  Substanz  vom  Schmelzpunkt  62—63" 
isoliert  werden.  Dieses  Harz  gibt  die  Lieber- 
mann-Burchard' sehe  Reaktion  auf  Phytosterin- 
ester  und  enthäh  77,9%  Kohlenstoff,  10,7  "/n 
Wasserstoff  und  ii,4"lo  Sauerstoff.  Es  lieferte 
ein  sauerstoffreies  Bromderivat  und  ein  Oxydations- 


produkt vom  Typus  der  Hexahydrophthalsäuren. 
Offenbar  ist  die  Substanz  der  eigentliche  Träger 
des  Tabakaromas. 

In  einer  weiteren  Arbeit  (Gazzetta  chim.  ital. 
43,  II,  431  u.  451)  beschäftigt  sich  Traetta 
Mosca  mit  den  Fermenten,  die  in  der  Pflanze 
des  in  Italien  angebauten  Kentuckytabaks  enthalten 
sind.  Aus  seinen  Versuchen  geht  hervor,  daß  die 
grünen  Blätter  zahlreiche  hermente  enthalten 
(Oxydasen,  Katalasen,  Invertin,  Emulsin,  proteo- 
lytische Fermente  und  andere),  daß  aber  in  den 
getrockneten  Blättern  keine  Fermente  vorhanden 
sind.  Den  Prozeß  der  Fermentation  bei  der  Gärung 
führt  der  Verfasser  auf  die  in  der  Umgebung  vor- 
handenen Keime  zurück,  aus  denen  sich  im  gären- 
den Tabak  die  verschiedensten  Mikroorganismen 
entwickeln.  Durch  Innehalten  der  günstigsten 
Bedingungen  läßt  sich  eine  gewisse  Auswahl  der 
Gärungserreger  erreichen.  Es  erscheint  daher  nicht 
aussichtslos,  zu  versuchen,  die  nützlichen  Gärungs- 
erreger bzw.  Fermente  in  reinem  Zustande  zu  ge- 
winnen und  so  die  Qualität  der  Gärungsprodukte 
erheblich  zu  verbessern. 

In  den  Aschen  von  Tabakblättern  fand  Traetta 
Mosca  (Gazzetta  chim.  ital.  43,  II,  437)  außer  den 
schon  früher  bekannten  Metallen  noch  Lithium, 
Caesium  und  Titan.  Von  dem  letzteren  Element 
nimmt  er  an,  daß  es  ein  wesentlicher  Bestandteil 
ist  und  bei  dem  Stoffwechsel  der  Zelle  als  Kataly- 
sator eine  wichtige  Rolle  spielt.  Dasselbe  gilt 
wahrscheinlich  für  das  Barium,  das  McHargue 
(vgl.  Journ.  of  the  Americ.  Chem.  Soc.  35,  826) 
aus  Tabakblättern  mit  Wasser  extrahieren  konnte. 

Bugge. 

Das  Hexanitroäthan.  Die  große  Flüchtigkeit 
des  Tetranitroäthans  macht  eine  sprengtech- 
nische Verwendung  dieser  Substanz  unmöglich. 
W.  W  i  1  P)  hat  daher  (zusammen  mit  Knöffler 
und  Beetz)  die  nächsthöhere,  völlig  nitrierte, 
homologe  Verbindung,  das  Hexanitroäthan,  her- 
gestellt. Diese  Substanz  läßt  sich  aus  dem  Kalium- 
salz des  Tetranitroäthans  durch  Behandeln  mit 
einem  Gemisch  von  Salpetersäure  und  Schwefel- 
säure erhalten;  Voraussetzung  für  eine  gute  Aus- 
beute ist  die  Verwendung  eines  sehr  reinen  Kalium- 
Tetranitromethans.  Die  letztere  Verbindung,  die 
in  bezug  auf  Empfindlichkeit  gegen  Stoß  etwa 
dem  Kaliumpikrat  gleichkommt,  wird  neben  Brom- 
kalium gebildet,  wenn  man  eine  Lösung  von  Cyan- 
kalium  und  KaHumnitrit  in  eine  solche  von  Brom- 
pikrin  (aus  Calciumpikrat,  Kalkwasser  und  Brom) 
in  Methylalkohol  unter  Kühlung  einträgt.  Das 
Hexanitroäthan  bildet  farblose  Kristalle,  schmilzt 
bei  142",  riecht  ähnlich  wie  Kampfer,  ist  unlöslich 
in  Wasser  und  leicht  löslich  in  Benzol,  Chloroform, 
Äther  und  Petroläther.  An  der  Luft  verflüchtigen 
sich  in  18  Stunden  bei  20—22"  1,5—1,8"/,,  Hexani- 
troäthan (gegenüber  iOO"/o  Tetranitroäthan).  Mit 
Naphthalin  bildet  die  Substanz  eine  charakteristische 


')  Berichte  der  Deutsch.  Chem.  Ges.,  47,  961 ;  vgl.  Naturw. 
Wochenschr.   1914,  S.  263. 


4S8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr.  29 


rote  Doppelverbindung.  Plötzliches  Erhitzen  be- 
wirkt eine  schwache  Verpuffung,  gegen  Stoß, 
Schlag  und  Reibung  ist  die  Verbindung  sehr  un- 
empfindlich.      Mischt     man    Hexanitroäthan    mit 


wasserstoffhaltigen  organischen  Substanzen,  so  er- 
hält man  je  nach  dem  Mischungsverhältnis  und 
der  Art  der  Bestandteile  sehr  kräftig  wirkende 
Sprengstoffe  oder  Zündmittel.  Bugge. 


Bticherbesprechimgen. 


Andr^e,    K.,    ,,Über    die    Bedingungen   der 
Gebirgsbildun g",  mit  1 6  Textabbild.    Born- 
traeger,  Berlin   1914.  —  Preis  3,20  Mk. 
Das  Werk  ist  aus  Vorträgen    hervorgegangen, 
wie   so    manches   andre  Buch   auch.     Man    würde 
ihm  aber  ohne  die  Versicherung  des  Autors  eine 
solche  Herkunft  kaum  anmerken.     Denn    es   han- 
delt sich  keineswegs  um  einen  behaglich  anzuhören- 
den   oder    auch    nur    leichthin    zu    lesenden    Text 
über  das  Thema,    sondern  um  eine  recht  konzen- 
trierte Abhandlung,  deren  ganzer  Inhalt  sich  wohl 
nur  dem   mit  den  betreffenden  Problemen  bereits 
einigermaßen  vertrauten  Leser  erschließt. 

Die  Geologie  im  üblichen  Sinne  des  Wortes 
hat  gegenüber  den  in  den  Gebirgsfaltungen  ge- 
fundenen Aufgaben,  je  emsiger  sie  ans  Werk  ging, 
um  so  mehr  ein  Gefühl  der  (Minmacht  beschlichen. 
Wie  immer  man  die  durch  eifrigstes  Beobachten 
aufgedeckten  Phänomene  zu  erklären  trachtete,  die 
Schwierigkeiten  und  Gegengründe,  die  sich  jedem 
Deutungsversuche  entgegenstellten,  schwollen  stets 
sofort  in's  Unermeßliche  und  ließen  kaum  eine 
Theorie  wirklich  zur  Entfaltung  kommen.  Nun 
zieht  man  sich  in  die  Tiefen  der  Erde  zurück, 
sucht  sich  die  dortigen  Vorgänge  vorzustellen  und 
faßt  die  Umformungen  der  Erdoberfläche  nur  als 
eine  für  sich  allein  garnicht  verständliche,  dem 
Ganzen  gegenüber  mehr  untergeordnete  Begleit- 
erscheinung auf.  .\mpferer  machte  in  seiner 
Theorie  der  Erdhaut  den  Anfang  und  auf  der 
von  ihm  geschaffenen  Grundlage  baut  Andree 
weiter. 

Gewiß:  Das  Gebiet  der  unmittelbaren  geolo- 
gischen Beobachtungen  verlassen  wir  auf  diese 
Weise  und  die  Gefahr  des  ,,SpekurLerens"  wächst 
dabei  natürlich.  Aber  doch  nur  für  den,  der  da 
glaubt,  dat5  jedes  geologische  Phänomen  auch 
einzig  und  allein  innerhalb  der  engsten  Grenzen 
des  einen  Wissenszweiges  seine  Erklärungsgrund- 
lagen finden  muß.  Das  Reich  exakter  I3eobach- 
tung  überhaupt  brauchen  wir  keineswegs  zu  ver- 
lassen, wenn  wir  der  Geologie  als  selbstverständ- 
liches Operationsfeld  den  ganzen  Erdball,  nicht 
nur  seine  äußere  Kruste  zuerteilen.  Nur  werden 
wir  die  Beihilfe  anderer  Disziplinen  nicht  ver- 
schmähen dürfen,  wenn  wir  in  den  tiefen  Schoß 
der  Erde  hinabsteigen,  ja  wir  werden  den  Interessen- 
kreis garnicht  weit  genug  spannen  können.  ') 
Ohne  Physik    und  Chemie,    Petrographie   und    die 

')  In  einem  Referat  „Neues  aus  der  Geophysik"  (diese 
Zeitschrift  1909,  S.  309 — 312)  suchte  ich  bereits  Iturz  auf  den 
hohen  Wert  hinzuweisen,  den  gewisse  Nachbarwissenschaften 
bei  rechter  .Anwendung  für  die  Geologie  haben  können. 


gesamte  sog.  „allgemeine"  Geologie  (Vulkanismus, 
Erdbcbenlehre,  Tektonik,  auch  Regionalgeologie 
usw.),  d.  h.  also  auch  ohne  ein  sehr  umfassendes 
Literaturstudium  insbesondere  auf  allen  Grenz- 
gebieten läßt  sich  die  Aufgabe  nicht  erfolgreich 
anfassen.  Es  muß  dem  Verfasser  nachgerühmt 
werden,  daß  er  in  dieser  Beziehung  hervorragend 
gerüstet  ans  Werk  geht.  Nicht  minder  anerkennens- 
wert ist  bei  einem  derartig  mannigfaltigen,  nach 
allen  Seiten  überquellenden  Stoff,  die  unbeirrte 
Verfolgung  des  Themas,  wobei  es  der  Natur  der 
Sache  nach  unvermeidlich  ist,  daß  die  F'üUe  und 
der  Umfang  der  P'ußnoten  zuweilen  den  Satz- 
spiegel zu  sprengen  droht.  Diese  starke  Erweite- 
rung des  eigentlichen  Textes  enthält  nicht  nur 
die  zahlreichen  Literaturhinweise  und  Zitate,  son- 
dern auch  manche  interessante  Auseinandersetzung 
mit  wichtigen  Einzelproblemen  der  Gegenwart. 

Der  Verfasser  befaßt  sich  zunächst  mit  den 
hergebrachten  Theorien  über  Gebirgsbildung,  läßt 
insbesondere  die  Kontraktionstheorie  vom 
Schauplatze  der  Tektonik  verschwinden.  Dann 
schürft  er  tiefer,  läßt  den  Leser  Vorstellungen 
gewinnen  vom  inneren  Bau  der  Erde  nach 
dem,  was  neuere  Forschungen,  insbesondere  die 
Seismologie  darüber  gelehrt  haben.  Die 
Kontinente  erscheinen,  roh  gesprochen,  als 
schwimmende  Schollen  auf  einer  schwereren, 
aber  plastischen  Unterlage  wie  Eisberge  auf  dem 
Wasser.  Mit  solchen  Anschauungen  gerüstet  wird 
der  Leser  ohne  bedeutende  Schwierigkeiten  zu 
dem  für  den  Uneingeweihten  wohl  schwer  zu- 
gänglichen Begriff  der  „Unterströmungen", 
d.  h.  Zustandsänderungen  in  der  liefe,  die  trotz 
des  festen  Gesteins  als  ein  Fließen  aufzufassen 
sind,  hinübergeleitet.  Die  Petrographie  der  meta- 
morphen  Gesteine,  die  Erfahrungen  des 
Vulkanismus,  die  Beobachtung  erd  magne- 
tisch er  A  nomalien  im  Zusammenhange  mit 
Erdbeben,  werden  zur  Stütze  für  diese  Vorstellun- 
gen herbeigerufen.  Jene  Zustandsänderungen 
haben  auch  Volumenvermehrung  und  -Verminde- 
rung zur  Folge,  die  durch  die  Schwerkraft  im 
Verein  mit  der  „Flüssigkeit"  der  Lithosphäre 
wieder  ausgeglichen  werden  können  (Lehre  der 
Isostasie).  Gleichgewichtsstörungen  solcher 
Art  sind  durch  die  systematischen  Schwere- 
messungen zu  Wasser  und  zu  Lande  klargestellt 
worden,  doch  spielen  die  isostaslschen  Verschie- 
bungen keine  führende  Rolle  bei  der  Gebirgs- 
bildung, sondern  sind  lediglich  Begleiterscheinungen. 
Am  Rande  der  Kontinentalmassen  müssen  die 
Gegensätze  am  ehesten  in  Berührung    treten  und 


N.  F.  XIII.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


459 


diese  Frage  führt  über  zu  den  eigentümlichen 
durch  eine  derartige  Lage  gekennzeichneten  Zonen 
namens  Geosy  nkli  nale  n,  deren  geologische 
Geschichte  sie  als  besonders  wechselreiche,  labile 
Streifen  der  Erdoberfläche  erscheinen  läßt  und  aus 
deren  Schöße  ja  tatsächlich  bekanntermaßen  die 
großen  Faltengebirge  erwachsen  sind.  Alsbald 
stellen  sich  weitere  vielbehandelte  Fragen  ein, 
wie  die  nach  dem  Wandern  der  Gebirgs- 
faltung,  dem  Vorhandensein  und  der  Erklärung 
der  „Einseitigkeit"  des  Gebirgsdrucks 
oder  besser  gesagt  des  Gebirgsbaues,  nach  dem 
Auftreten  von  Zerrungen  und  ihrem  Verhältnis 
zu  den  Schubkräften,  der  Deck  e  nbild  u  ng,  der 
Bogenform  in  den  Faltengebirgen.  So  sieht 
sich  der  Leser  (stets  nur  mit  wenigen  Sätzen  oder 
gar  nur  durch  eine  Abbildung)  über  alle  Teile 
der  Erde  geführt,  in  die  Appalachien,  in  die  Alpen, 
nach  Ostasien. 

Endlich  wird  —  es  handelt  sich  nicht  allein 
um  Faltengebirge!  —  die  sehr  schwierige  Frage 
nach  dem  Verhältnis  epeirogenetischer^) 
Bewegungen  zu  orogenetischen ,  wie  auch  die 
Spaltung  in  eine  pazifische  und  eine  atlan- 
tische Eruptivgesteinsprovinz  seit  dem 
Tertiär  in  ihrem  Zusammenhange  mit  der  Tektonik 
behandelt  und  auch  die  Unterscheidung  von 
Bruch-  und  Faltungsbeben  andeutungsweise 
damit  in  Parallele  gesetzt.  Zusammenfassend 
skizziert  der  Verf  am  Schluß  seine  Auffassung 
„des  Zyklus  der  Bewegungsvorgänge,  welche  die 
Lithosphäre  durchmacht". 

Gewiß  war  hier  in  der  Beschränkung  wahre 
Meisterschaft  erforderlich;  der  Raum  ist  fast  all- 
zuknapp bemessen,  und  doch  :  wo  wäre  bei  jedem 
einzelnen  dieser  Themata  überhaupt  ein  Ende  ab- 
zusehen? Hier  sind  ihre  gegenseitigen  Beziehungen 
ins  rechte  Licht  gerückt  und  das  ist  verdienstlich 
genug.  Eine  endgültige  „Erledigung"  des  Problems 
oder  der  Probleme  wird  gerechterweise  niemand 
erwarten  wollen.  Der  sorgsam  gefaßte  Titel 
spricht  nicht  von  „Wesen"  und  „Ursachen",  son 
dern  von  Bedingungen  der  Gebirgsbildung! 

Der  Hauptwert  der  Arbeit  ist  in  der  kritisch 
würdigenden  Vereinigung  all  der  Bestrebungen  zu 
suchen,  aus  denen  der  Erforschung  der  Gebirgs- 
bildung Hilfsquellen  zufließen  können,  woraus  eine 
starke  Vertiefung  des  Problems  hervorgeht. 

E.  Hennig. 


Kalähne,  Prof  Dr.  Alfred,  Grundzüge  der 
mathematisch -physikalischen  Akustik. 
2.  Teil,  8",  225  S.  mit  57  Abb.  Leipzig  und 
Berlin  1913,  B.G.  Teubncr.     Geb.  6  Mk.  (Samm- 

)  Wenn  auf  S.  72  die  cpeirogenetischen  Bewegungen 
ausdrücklich  als  Abwärtsbewegungen  definiert  erscheinen  und 
in  diesem  Sinne  den  orogenelischcn  gegenüberstehen  sollen 
(Stille),  so  ist  damit  doch  wohl  der  ursprüngliche  Sinn  des 
Wortes  fast  in's  Gegenteil  umgedreht  und  wir  erhalten  nur 
emen  neuen  Namen  für  den  Begriff  der  säkularen  Hebungen 
und  Senkungen,  statt  einer  wirklichen  Bereicherung  des  geologi- 
schen Anschauungsschatzes. 


lung  mathematisch  -  physikalischer  Schriften, 
herausgegeb.  von  E.  Jahnkc,  II,  2.) 
Der  zweite  Teil  des  vortreftlichen  Kalähne- 
schen  Werkes  über  Akustik  enthält  die  Theorie 
der  Schwingungen  elastischer  Körper.  Nach  einer 
kurzen  Einleitung  über  die  Grundlagen  der  Elastizi- 
tätstheorie werden  der  Reihe  nach  die  Saiten,  die 
zylindrischen  und  konischen  Pfeifen,  die  Stäbe, 
die  Membranen  und  die  Platten  behandelt;  ein 
Schlußkapitel  bringt  die  von  Helmholtz  stam- 
mende vervollkommnete  Theorie  der  offenen 
Pfeifen.  Das  Buch  stellt  beträchtliche  Anforde- 
rungen an  die  inathematische  Vorbildung  der 
Leser;  sein  Schwerpunkt  liegt  in  der  streng  mathe- 
matischen Durchrechnung  der  Probleme  und  in 
der  eingehenden  Diskussion  der  Ergebnisse  der 
Theorien.  Die  Darstellung  ist  überall  sehr  klar, 
geschickt  und  gründlich.  Wallot. 


Gesellschaft  für  Linde's  Eismaschinen,  Abtei- 
lung für  Gasverflüssigung.  Technik  der 
tiefen  Temperaturen,  gr.  8".  63  S.  mit 
34  Abb.  München  und  Berlin  191 3,  R.  Olden- 
bourg.  —  Geb.  3  Mk. 
Das  vorliegende  kleine  Werk  ist  von  der  Ge- 
sellschaft Linde  für  die  Teilnehmer  an  dem  3.  inter- 
nationalen Kältekongreß  in  Chikago  1913  verfaßt 
worden.  In  einem  ersten  Teil  behandelt  C.  Linde 
die  physikalischen  und  technischen  Grundlagen; 
in  einem  zweiten  setzt  R.  Wucherer  ausein- 
ander, wie  sich  in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  aus 
dem  Linde 'sehen  Verfahren  zur  Verflüssigung 
der  Luft  eine  bedeutende  Industrie  entwickelt  hat, 
die  schon  jetzt  die  drei  für  die  Technik  so  wich- 
tigen Gase  Sauerstoff,  Stickstoff  und  Wasserstoff 
in  einer  großen  Zahl  von  Anlagen  technisch  rein, 
billig  und  in  großen  Mengen  gewinnt.  Dem  ur- 
sprünglichen Zweck  des  Büchleins  entsprechend 
ist  sein  physikalischer  und  technischer  Inhalt  für 
den  Laien  teilweise  schwer  verständlich;  der 
Fachmann  dagegen  wird  es  als  eine  knappe,  durch 
die  zahlreichen  beigegebenen  Abbildungen  sehr 
anschauliche  Übersicht  über  die  Technik  der  tiefen 
Temperaturen  begrüßen.  Wallot. 


Abderhalden,    Emil,    Abwehrfermente   des 
tierischen  Organismus  gegen  körper-, 
blutplasma-     und     zell  fremde    Stoffe, 
ihr  Nachweis    und    ihre  diagnostische 
Bedeutung    zur  Prüfung  der  Funktion 
der  einzelnen  Organe.    Mit  1 1  Textfiguren 
und    I    Tafel.       2.  vermehrte    Auflage.      Berlin 
1913,  J.  Springer.  —  Geb.  6  Mk. 
Bereits  nach  Jahresfrist  erscheint  das  Büchlein, 
in  welchem  der  Verf  eine  übersichtliche  und  les- 
bare Darstellung   der   vorwiegend    auf  seine    und 
seiner    Schüler    zurückgehenden    LIntcrsuchungen 
über  die    spezifischen  Gegenreaktionen    des  Orga- 
nismus   gibt,    in    einer    neuen   Auflage.      Da    der 
Inhalt  seinerzeit  in  der  Naturw.  Wochenschrift  be- 
reits ausführlich  charakterisiert  ist  (vgl.  Jahrg.  1912, 
S.  749),    so    sei    hier    darauf  verwiesen.     Erwähnt 


460 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  29 


sei  nur,  daß  Verf.  den  Namen  Schutzfermente  gegen- 
über dem  etwas  neutraleren  Abwehrfermente  hat 
fallen  lassen.  Das  Buch  ist  für  den  Physiologen 
von  gleichem  Interesse  wie  für  den  Kliniker,  der 
hier  z.  B.  eine  Schilderung  der  biologischen 
Diagnose  der  Schwangerschaft  und  mannigfache 
Hinweise  auf  weitere  Anwendungsmöglichkeiten 
auf  dem  Gebiete  der  Pathologie  (so  z.  B.  beim 
Karzinom)  findet.  Besonders  wertvoll  ist  die  am 
Schluß  gegebene  ausführliche  Darstellung  der 
Methodik  Miehe. 

Verworn,  Max,  Erregung  und  Lähmung 
eine  allgemeine  Physiologie  der  Reizwirkungen. 
304  S.  mit  113  Abb.  im  Text.  Jena,  G.  Fischer, 
1914. 

Verworn  gibt  in  diesem  Buche  eine  allen 
Physiologen  sicher  sehr  willkommene  Zusammen- 
fassung der  von  ihm  und  unter  seiner  Leitung 
ausgeführten  Versuche,  soweit  sie  zu  einer  Er- 
kenntnis der  Reizwirkungen  im  Allgemeinen  bei- 
tragen können. 

Nach  einer  Analyse  und  Definition  des  Reiz- 
begriffes werden  die  einzelnen  Reizarten  im 
Speziellen  charakterisiert  und  ihre  allgemeinen 
VVirkungen  erörtert.  Der  übrige  Teil  des  Buches 
ist  den  mannigfaltigen  Problemen  des  Erregungs- 
vorganges gewidmet.  (Die  Analyse  des  Erregungs- 
vorganges, die  Erregungsleitung,  Refraktärstadium 
und  Ermüdung,  die  Interferenz  von  Reizwirkungen, 
rhj'thmische  Entladungen,  die  Lähmungsvorgänge 
und  die  spezifischen  Leistungen  der  lebendigen 
Systeme.) 

Die  klare  und  präzise  Darstellung  der  einzelnen 
Probleme  dürfte  diesem  Werke  Verworn's  auch 
unter  den  Nichtfachleuten  manchen  Freund  ge- 
winnen. Für  den  Physiologen  liegt  ein  besonderer 
Reiz  des  Buches  in  der  konsequenten  Durchführung 
des  Versuches,  ein  großes  und  mannigfaltiges 
Tatsachenmaterial  auf  einige  wenige  allgemeine 
Grundsätze  der  Erregungsphysiologie  zurück- 
zuführen. Bei  der  großen  Rolle,  welche  hierbei 
rein  theoretische  Betrachtungen  spielen  müssen, 
werden  sich  wohl  manche  Leser  den  Ansichten 
des  Verfassers  nicht  immer  anschließen  können, 
aber  auch  in  dieser  Anregung  zur  Diskussion  möchte 
der  Referent  eher  einen  Vorzug  als  einen  Nachteil 
des  Buches  erblicken. 

El.  Th.  V.  Brücke,  Leipzig. 


Barthel,  Dr.  Ernst,  DieErdealsTotalebene, 
hyperbolische  Raumtheorie  mit  einer  Vorunter- 
suchung über  die  Kegelschnitte.     Leipzig  1914, 
O.  Hillmann.  —  Preis  2,50  Mk. 
Der  Verfasser,    der    offenbar   ernst  genommen 
werden    will,    läßt    bei    einer    Kugel    und    einem 
Kreise     den     Krümmungsradius     über    unendlich 
wachsen ,    und    erhält    so    einen    hyperbolischen 
Raum,  ein  Hyperboloid,  das  eine  Fläche  ist.    Die 
Erde  ist  ihm  dann  der  Raum  selbst,  kein  Körper, 
und  zwar  eine  absolute  Fläche !    Sie  ist  kreisförmig, 
mit  dem  Radius  unendlich,  und  zwar  ist  die  Größe 


unendlich  gleich  der  Entfernung  Pol — Äquator, 
gleich  40000  km,  da  es  größere  Entfernungen 
nicht  geben  kann.  Auch  die  astronomisch  ge- 
messenen Abstände  der  Sterne  sind  LInsinn.  Die 
Erde  bewegt  sich  auch  nicht,  sie  ist  eine  „absolut 
flache  Totalität,  auf  welcher  jeder  Ort  als  ein 
biologisches  Zentrum  angesehen  werden  kann,  die 
aber  selbst  kein  Zentrum  ist,  sondern  das  unvor- 
stellbar Weitgebreitete". 

Für  uns  ist  der  Unsinn  dieses  Buches  auch 
unvorstellbar  weitgebreitet.  Die  Sonne  steht  z.  B. 
auch  nachts  nicht  unter  dem  Horizont,  da  es  kein 
„Unten"  bei  der  Erde  gibt,  und  daher  werden  die 
Mondfinsternisse  durch  eine  Dunkelsonne  hervor- 
gerufen.    Diese  Proben  genügen  wohl. 

Riem. 

"Doliarius,    Dr.,     Alle    Jahres kalender    auf 
einem  Blatt.     Leipzig,  Teubner.    —    Preis  in 
Tasche  30  Pf. 
Eine  Tabelle  enthält  alle  Osterdaten  julianisch 
und   gregorianisch,    von    1470    bis    2000.      Indem 
man  für  ein  bestimmtes  Jahr  das  Osterdatum  ent- 
nimmt,   und    mit    diesem  Datum    in    eine  zweite 
Tafel  eingeht,  kann  man  sofort  für  dies  Jahr  den 
Wochentag   jeden    Datums    feststellen,    sowie    an- 
geben, auf  welches  Datum  ein  beliebiger  Sonntag 
des  Jahres  fällt.     Ein    außerordentlich    sinnreiches 
und  brauchbares  Werkchen.  Riem. 


Swart,  Dr.  Nicolas,  Die  Stoffwanderung  in 
ablebenden  Blättern.  Jena  1914,  Gustav 
Fischer.  117  S.,  5  Tafeln.  —  Preis  6  Mk. 
In  vorzugsweise  historisch-kritischer  Darstellung 
behandelt  Verf.  die  Frage,  ob  während  der  herbst- 
lichen Verfärbung  des  Laubes,  kurz  vor  bis  un- 
mittelbar nach  der  beendigten  Vergilbung,  eine 
Auswanderung  der  für  die  Pflanze  wichtigen  Nähr- 
stoffe aus  den  Blättern  in  den  Stamm  erfolgt. 
Seitdem  diese  Lehre  zum  ersten  Male  von  Sachs 
vor  40  Jahren  deutlich  ausgesprochen  wurde,  hat 
man  an  ihr  ganz  allgemein  festgehalten,  bis 
Weh  m  er  1892  die  experimentellen  Arbeiten, 
auf  die  sie  sich  gründete,  einer  scharfen  Kritik 
unterwarf  und  namentlich  auf  die  Unzulässigkeit 
der  Verwendung  von  Prozentzahlen  der  Aschen- 
analysen hinwies.  Swart  bespricht  eingehend 
die  vorWehmer's  Kritik  erschienenen  Arbeiten 
und  kommt  mit  diesem  zu  dem  Ergebnis,  daß  sie 
einen  einwandfreien  Beweis  für  die  herbstliche 
.Auswanderung  der  Nährstoffe  in  ihrer  Gesamtheit 
nicht  liefern  können.  Indessen  pflichtet  er 
Wehmer  nicht  bei,  wenn  dieser  behauptet,  daß 
die  in  Frage  stehenden  Untersuchungen  gerade 
gegen  die  Theorie  sprächen;  vielmehr  kommt  er 
zu  dem  Schluß,  daß  die  gewonnenen  Ergebnisse 
eher  eine  Bestätigung  als  eine  Widerlegung  der 
Theorie  durch  die  späteren  .Arbeiten  erwarten 
lassen.  Diese  Annahme  findet  dann  in  der  kriti- 
schen Darstellung  der  neueren  Untersuchungs- 
ergebnisse und  in  den  eigenen  Versuchen  des 
Verfassers  ihre  Begründung. 


N.  F.  Xni.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


461 


Swart  gewann  sein  Versuchsmaterial  nach 
einer  von  Stahl  (1909)  angegebenen  Methode. 
Um  nämlich  gleiche  Blattflächen  der  grünen  und 
der  gelben  Blätter  zum  Vergleiche  zu  erhalten, 
wurde  das  IVIaterial  zu  den  Analysen  mittels  einer 
Schablone  (Korkbohrer)  aus  den  Blättern  heraus- 
gestanzt. Die  Blätter  wurden  einmal  kurz  vor 
der  herbstlichen  Verfärbung  und  dann  wieder,  als 
die  Gelbfärbung  ihren  Höhepunkt  erreicht  hatte, 
geerntet;  die  Frist  zwischen  beiden  Terminen  be- 
trug im  Durchschnitt  drei  Wochen.  Außer  den 
Blättern  von  Bäumen  und  Sträuchern  wurden 
einige  perennierende  Kräuter  zu  den  Versuchen 
verwendet.  Im  ganzen  kamen  25  Arten  zur  Unter- 
suchung; alle  entstammten  einem  ausgesprochenen 
Kalkboden.  Wie  die  meisten  Autoren  hat  sich 
Verfasser  auf  die  Bestimmung  des  Stickstoffs  und 
der  Aschenbestandteile  beschränkt. 

Die  Analysen  ergaben  übereinstimmend,  daß 
die  Blätter  in  der  kurzen  Zeit  vor  ihrem  Abfall 
—  während  der  Verfärbung  —  einen  Verlust  an 
Stickstoff,  Phosphorsäurc  und  Kali  erlitten  hatten, 
und  daß  dieser  Verlust,  im  besonderen  der  an 
Stickstoff  und  Phosphorsäure,  zumeist  recht  be- 
deutend war.  Hierdurch  werden  die  Angaben  der 
früheren  Beobachter  über  die  Auswanderung  jener 
Stoffe  bestätigt.  Kalk  und  Kieselsäure  (auch 
Schwefelsäure  und  Chlor),  Stoffe,  die  sonst  in  den 
Blättern  angereichert  werden,  nehmen  wenig  oder 
gar  nicht  zu,  woraus  zu  schließen  ist,  daß  die 
Blätter  in  dieser  letzten  Lebensperiode  nur  noch 
wenig  Nährsalze   aus  dem  Boden  aufnehmen. 

Verf  diskutiert  dann  die  Frage,  was  mit  dem 
Chlorophyll  und  den  anderen  geformten  Inhalts- 
stoffen der  Zelle  beim  Vergilben  geschieht.  Ge- 
■Btützt  auf  Versuche  Stahls,  die  er  selbst  zumeist 
mit  gleichem  Erfolge  wiederholte,  pflichtet  er  der 
Ansicht  seines  Lehrers  bei,  daß  der  grüne  Farb- 
stoff zersetzt  und  in  Form  seiner  Abbauprodukte 
in  den  Stamm  übergehe,  während  die  gelben  Farb- 
stoffe, die  das  Chlorophyll  begleiten  (Carotin, 
Xanthophylle),  im  Blatte  verblieben.  An  der  Aus- 
wanderung der  Bestandteile  des  grünen  Farbstoffs 
scheine  allerdings  das  Magnesium  nicht  teilzu- 
nehmen. Die  Stärke  verschwinde  nahezu  voll- 
ständig aus  dem  Blatte.  Plasmaschlauch  und 
Zellkern  bleiben  in  den  vergilbenden  Blättern 
erhalten,  doch  werden  Zerfallsprodukte  des 
Plasmas  augenscheinlich  durch  die  Gefäßbündel 
des  Blattes  abgeleitet. 

Die  Einwände  gegen  die  Auswanderungstheorie, 
die  sich  darauf  gründen,  daß  die  Bildung  der  den 
Laubfall  bedingenden  Trennungsschicht  im 
Blattstiel  vor  dem  Vergilben  des  Blattes  stattfinde, 
wird  vom  Verf  zurückgewiesen,  einerseits  auf  Grund 
von  Versuchen,  die  zeigen,  daß  Farbstofflösungen 
(Indigokarmin)  in  abgeschnittene  Zweige  mit  ver- 
gilbenden Blättern  bis  in  die  Blattspreite  vordringen, 
andererseits  durch  den  Hinweis  auf  den  Verlauf 
des  Vergilbens  und  der  Stärkeauflösung,  auf  die 
Versuche  Stahls  und  das  mikroskopische  Bild 
der  Leptomelemente,    die    zweifellos  während  der 


Vergilbung  den  Durchtritt  der  plastischen  Nähr- 
stoffe gestatten.  Unter  gewissen  Bedingungen  er- 
folgt allerdings  der  Trennungsprozeß  so  rasch,  daß 
eine  Auswanderung  der  Stoffe  nicht  mehr  möglich 
ist.  Der  Fall,  daß  eine  Pflanze  in  ihrer  Heimat 
die  Blätter  normalerweise  grün  und  unver- 
ändert abstößt,  gehört  zu  den  Seltenheiten.  Die 
umgekehrte  Erscheinung,  daß  die  Blätter  vergilbt 
und  abgestorben  noch  längere  Zeit  am  Baume 
verbleiben,  beruht,  wie  Verf.  ausführt,  darauf,  daß 
die  Ausbildung  der  Trennungsschicht  in  diesen 
Fällen  durch  die  niedrige  Temperatur  verhindert 
und  erst  im  nächsten  Frühjahr  bewerkstelligt  wird. 
Nach  allem  kommt  Swart  zu  dem  Schluß,  ,,daß 
die  anatomischen  Veränderungen  im  Blattgrunde, 
welche  die  Abtrennung  der  Blätter  herbeiführen, 
zwar  unter  bestimmten  Bedingungen  unabhängig 
von  dem  Verfärbungsprozeß  erfolgen  können,  daß 
aber  beim  normalen  Laubfall  die  beiden  Prozesse 
mit  wenigen  Ausnahmen  so  eng  miteinander  ver- 
knüpft sind,  daß  auch  der  eigentliche  Trennungs- 
akt nicht  eher  erfolgt,  als  bis  die  Verfärbung  des 
Blattes  eine  vollständige  ist". 

Den  Einfluß  des  in  den  Herbstblättern  einiger 
Arten  auftretenden  Anthokyans  auf  die  Stoff- 
wanderung, den  Stahl  annimmt  und  auf  die 
Wärmeabsorption  des  Blattrots  zurückführt,  hat 
Verf  durch  vergleichende  Versuche  an  grünen, 
gelben  und  roten  Blättern  von  Parottia  persica 
nachzuweisen  gesucht.  Die  Stickstoffbestimmungen 
ergaben  aber  einen  fast  gleichen  Gehalt  in  roten 
und  in  gelben  Blättern  (2,024  "/o  N,  auf  Trocken- 
substanz bezogen,  in  grünen,  0,532  "/g  in  gelben, 
0,5  1 3  "/o  ir*  roten  Blättern).  Verfasser  hält  es  jedoch 
für  ,, zumindest  verfrüht",  wenn  man  hiernach  den 
Einfluß  des  Anthokyans  auf  die  Stoffwanderung 
leugnen  wollte. 

Schließlich  erörtert  Swart  eingehend  die  in 
neuerer  Zeit  so  viel  behandelte  Frage  nach  den 
Ursachen  des  Laubfalls.  Er  kommt  zu  dem 
Ergebnis,  daß  der  Laubwechsel  sowohl  in  Gegenden 
mit  gleichmäßigem,  wie  in  solchen  mit  periodischem 
Klima  in  erster  Linie  von  inneren  Ursachen 
bedingt  werde  und  als  eine  Alt  erser  schein  ung 
betrachtet  werden  müsse,  obwohl  auch  ein  direkter 
Einfluß  des  Klimawechsels  auf  den  Laubfall  zu 
beobachten  sei.  Der  Stoffverlust,  den  die  Blätter 
vor  dem  Abfallen  erleiden,  charakterisiert  sich  als 
eine  Folge  derjenigen  Prozesse,  die  mit  der  Alters- 
degeneration des  Blattes  verknüpft  sind.  Wieder- 
holt hebt  der  Verf.  hervor,  daß  die  vergilbten 
Blätter  keineswegs  tot  seien.  Der  Assimilations- 
prozeß kommt  in  ihnen  zum  Stillstand;  die  Dissi- 
milation schreitet  ruhig  fort,  und  die  Spaltungs- 
produkte   werden  weiter    dem  Stamme  zugeführt. 

Auf  den  fünf  Tafeln  ist  die  Zu-  und  Abnahme 
der  Nährstoffe  in  den  Blättern  während  des  Sommers    » 
und  des  Herbstes  auf  Grund  der  Analysenresultate 
verschiedener  Autoren  graphisch  dargestellt. 

¥.  Moewes. 


462 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  29 


Smiles,  S.,    Chemische  Konstitution    und 
Physikalische  Eigenschaften.     Aus  dem 
Englischen    von     P.    Krassa,    bearbeitet    und 
herausgegeben  von  O.  Herzog.     XII  u.  676  S. 
Dresden,  1914,  Steinkopf.  —  20  Mk. 
Von    dem    vorliegenden    Gegenstande    ist    seit 
der  Darstellung,  die  derselbe  1889  in  dem  großen 
Werke    der    „Allgemeinen    Chemie"    von    Willi. 
O  s  t  w  a  1  d   gefunden    hat,    keine  umfassende  Be- 
arbeitung   in   der  deutschen  chemischen  Literatur 
erschienen.  Die  seither  verflossenen  fünfundzwanzig 
Jahre  haben  nun  zwar  den  Wissensbesitz  auf  diesem 
Gebiete  nicht  gerade  groß  verschoben,  wenigstens 
nicht  groß,  wenn  man  die  Veränderung  in  vielen 
anderen    Gebieten    der   Physik    und    Chemie   zum 
Vergleich  nimmt.     Immerhin    sind    natürlich  auch 
hier    wenigstens    viele    neue    Messungen    hinzuge- 
kommen.    Somit   wird    eine    Darstellung,    die    die 
neue  Literatur   verarbeitet    enthält,    von    allen   In- 
teressenten gern  ergriffen  und  benutzt  werden. 

Das  Wissensgebiet,  um  das  es  sich  hier  handelt, 
läuft  auf  die  PVage  hinaus,  wieweit  kann  man 
einem  Stoffe  sein  chemisches  Verhalten,  das  es 
doch  erst  bei  Umwandlungen  und  im  Verkehr  mit 
anderen  Stoffen  äußern  kann,  schon  zuvor  ansehen  ? 
Das  ist  natürlich  eine  sehr  interessante  Frage,  die 
man  auch  so  ausdrücken  kann:  Wiewe't  kann 
Chemie  physikalisch  begründet  werden?  Oder 
wieweit  kann  das  Ergebnis  der  Wechselwirkung 
der  Stoffe  aus  deren  persönlichen  Eigenschaften 
ermessen  werden  ? 

Die  chemische  Natur  der  anorganischen  Stoffe 
ist  von  so  großer  Mannigfaltigkeit,  daß  sie  sich 
nur  unvollkommen  in  abgestufte  Reihen  ordnen 
läßt.  Nur  das  Periodengesetz  der  Elemente  bringt 
ein  System  in  deren  Oualitäten.  Viel  besser  steht 
es  in  dieser  Hinsicht  mit  den  zahllosen  Stoffen 
der  organischen  Chemie.  Ihre  chemische  Natur 
findet  systematischen  Ausdruck  in  den  Konstitu- 
tionsformeln. Sie  vermitteln  eine  scharf  umgrenzte 
und  abgestufte  Definition  chemischer  Oualitäten. 
Daher  ist  die  Chemie  der  Kolilenstoffverbindungen 
der  eigentliche  Übungsboden  für  das  gestellte 
Problem,  und  es  lautet  dann  die  experimentelle 
Fragestellung  dahin,  es  seien  die  physikalischen 
Eigenschaften  der  Verbindungen  mit  deren  Kon- 
stitution zu  vergleichen. 

Solches  kann  nun  mit  allen  möglichen  mecha- 
nischen Eigenschaften,  wie  Gewicht,  Dichte, Reibung 
usw.  geschehen,  vor  allem  aber  mit  den  optischen 
Eigenschaften.  In  diesen  steckt  die  individuellste, 
reichste,  intimste,  innerste  Art  und  Weise,  wie  ein 
Körper  zu  uns  sprechen  kann;  sie  führen  daher 
am  weitesten  in  die  Verborgenheiten  seiner  che- 
mischen Natur  hinein.  Dementsprechend  füllt  die 
Abhandlung  die  optischen  Merkmale  etwa  die 
Hälfte  und  den  interessanteren  Teil  des  vorliegen- 
den Bandes  aus. 

Man  wird  nicht  fehlgehen  in  der  Vermutung, 
daß  wir  hier  knapp  vor  der  Einsicht  in  allgemein 
gültige,  quantitative  Gesetze  stehen.  Seit  etwa 
zehn  Jahren,  seit  Drude's  letzten  Arbeiten  (1904), 


hat  sich  immer  mehr  Material  angehäuft  für  den 
Satz,  daß  die  Reaktionsfähigkeit  von  den  Frequen- 
zen gewisser  Valenzelektronen  im  Molekül  ab- 
hängt. Zweifellos  wird  es  gelingen,  die  Konstanten 
der  Reaktionsgeschwindigkeit  mit  den  Wellenlängen 
die  Lichtabsorption  in  einen  quantitativen  Zu- 
sammenhang zu  bringen.  Es  fehlt  dazu  nur  noch 
ein  ausgiebigeres  Material  reaktionskinetischer 
Messungen. 

Bei  dieser  bevorstehenden  Entwicklung  dürfte 
nun  das  vorliegende  Handbuch  ein  recht  nützliches 
Nachschlage-Hilfsmittel  werden.  Es  ist  zwar,  wie 
die  meisten  englischen  Bücher,  reichlich  trocken 
geschrieben.  Die  englischen  Autoren  lassen  ge- 
meinhin vermissen,  was  wir  in  Deutschland  von 
einer  richtigen  Darstellung  verlangen.  Wie  das 
englische  Recht  nur  Kasuistik,  so  ist  ein  englischer 
wissenschaftlicher  Traktat  nur  eine  chronologische 
Aufreihung  einzelner  Arbeiten.  Das  hindert  in- 
dessen nicht,  daß  das  Buch  durchaus  klar  ge- 
schrieben und  entsprechend  zuverlässig  zu  hand- 
haben ist.  Auch  finden  sich  kurze,  eigens  gekenn- 
zeichnete Zusammenfassungen,  die  sehr  zweck- 
mäßig erscheinen. 

Der  deutsche  Herausgeber  hat  von  verschie- 
denen Bearbeitern  noch  eine  Anzahl  Kapitel  hinzu- 
fügen lassen,  die  den  Umfang  des  Buches  gegen- 
über dem  englischen  Original  um  ein  Viertel  er- 
weitert haben.  Um  die  im  Titel  gegebene  In-age- 
stellung  zu  erschöpfen,  war  dies  durchaus  geboten. 

Baur. 

Lehrbuch  der  vergleichenden  mikroskopischen 
Anatomie    der    Wirbeltiere.      Herausgegeben 
von  A.  Oppel.    8.  Teil.   Die  Hypophysis  cerebri 
von  Dr.  phil.  Walter  Stendell.     168  S.    Mit 
92  Textabb.     Jena    19 14,    G.  Fischer.    —    Preis 
brosch.  8  Mk. 
Das  Werk  bildet  die  8.  Fortsetzung  des  rühm- 
lichst     bekannten      Oppel'  sehen      Lehrbuches, 
welches  nach    unserer  jetzt    geltenden  Ausdrucks- 
weise   eigentlich    mehr    den    Namen    eines   Hand- 
buches der  vergl.  mikr.  Anatomie  verdient,  da  von 
dem  Herausgeber  und  seinen  Mitarbeitern  so  ziem- 
lich   alles    darin    zusammengetragen    und    kritisch 
beleuchtet  wird,  was  auf  diesem  gewaltigen  Gebiete 
bekannt  ist. 

Es  war  ein  guter  Gedanke,  die  vergl.  mikr. 
Anatomie  der  Hypophyse  als  einen  besonderen 
Abschnitt  erscheinen  zu  lassen,  da  dieses  merk- 
würdige Organ,  vor  allem  seit  den  Entdeckungen 
der  letzten  Jahre  auf  physiologischem,  patholo- 
gischem und  pharmakologischem  Gebiete,  ge- 
steigertes Interesse  für  sich  in  Anspruch  nimmt. 
Trotzdem  eine  fast  unübersehbare  Fülle  von  medizi 
nischer  Literatur  über  sie  entstanden  ist,  wurde 
ihre  vergleichende  Histologie  bisher  sehr  stief 
mütterlich  behandelt,  so  daß  ein  großer  Teil  der 
Darstellung  auf  eigenen  Untersuchungen  des  Ver- 
fassers basiert.  Als  sehr  angenehme  Zugabe  ist 
das  ausführliche  Literaturverzeichnis  zu  bezeichnen, 
welches  auch  viele  pathologische  und  physiologische 


N.  F.  XIII.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


463 


Arbeiten  aufzählt  und  geeignet  ist,  es  späteren 
Untersuchern  zu  erleichtern,  sich  auf  dem  Gebiete 
der  Hypophysenforschung  einzuarbeiten. 

Das  Buch  beginnt  mit  einer  Darstellung  der 
Embryonalentwicklung  der  Hypophyse,  welche 
bei  den  verschiedenen  Gruppen  der  Wirbeltiere 
im  allgemeinen  ziemlich  gleichartig  verläuft.  Das 
Organ  entsteht  bekanntlich  aus  zwei  gesonderten 
Anlagen,  von  denen  die  eine  vom  Gehirn  geliefert 
wird,  während  sich  die  andere  aus  dem  Epithel 
der  ektodermalen  Mundbucht  entwickelt.  Der  von 
der  Mundbucht  herstammende  Abschnitt  sondert 
sich  später  in  Zwischenlappen  und  Hauptlappen. 
Verf.  ist  der  Ansicht,  daß  der  Zwischenlappen 
später  in  den  Zwischenhirnboden  hinein  sezerniere, 
während  der  Hauptlappen  zu  einer  echten  Epithel- 
körperdrüse wird,  deren  Sekret  von  reichlichen 
Blutkapillaren  in  die  Karotiden  abgefiihrt  wird. 
Dem  sollen  die  Lagebeziehungen  dieser  Teile  ent- 
sprechen. Der  Zwischenlappen  bleibt  meistens 
solide  und  liegt  dem  Boden  des  Zwischenhirns 
fest  an.  „Dafür  aber  geht  der  Boden  des  Zwischen- 
hirns seinerseits  verschiedene  Bildungen  ein,  um 
zur  Aufnahme  des  Zwischenlappensekretes  geeignet 
zu  sein."  Dementsprechend  soll  dieser  Teil  der 
Hirnwand  zu  demjenigen  Gebilde  werden,  welches 
als  Hirnteil  der  Hypophyse  bezeichnet  wird. 

Auf  der  Einteilung  in  drei  verschiedene  Lappen 
beruht  die  Disposition  der  Darstellung.  Von  jedem 
der  drei  Teile  wird  zuerst  Form  und  Lage,  dann 
der  histologische  Aufbau  in  der  Reihe  der  Wirbel- 
tiere besprochen. 

Es  folgen  dann  einige  Abschnitte  über  die 
Rachendachhypophyse ,  über  Drüsenskapsel  usw., 
zuletzt  ein  Kapitel  über  die  Phylogenie  des  Organs. 
Auch  dieses  gründet  sich  auf  die  im  ganzen  Buche 
leitende  Hypothese  des  Verfassers,  nach  welcher 
der  Zwischenlappen  sein  Sekret  in  den  Hirnteil 
ergießen  soll,  während  der  Hauptteil  eine  echte 
Drüse  mit  innerer  Sekretion,  d.  h.  mit  Sekretion 
in  die  Blutgefäße  herein,  ist.  Als  Stütze  dieser 
Anschauung  werden  die  Untersuchungen  einiger 
Autoren  über  die  mutmaßliche  Wirkung  der  Sekrete 
kurz   herangezogen. 

Diese  Ansicht,  welche  der  Verf.  sich  über  die 
Sekretionsweise  des  Zwischenlappens  und  über  seine 
funktionellen    Beziehungen    zum    Hirnteil   gebildet 


hat,  ist  einstweilen  noch  eine  weitgehende  Hypo- 
these, deren  Bestätigung  durch  eingehende  physio- 
logische und  vor  allen  Dingen  chemische  Unter- 
suchungen erst  noch  abgewartet  werden  muß. 
Dadurch  fällt  die  Darstellung  aus  dem  Rahmen 
eines  Lehrbuches  heraus. 

Wenn  man  diesen  Teil  des  Oppel'schen 
Lehrbuches  aber  lediglich  als  eine  wissenschaft- 
liche Arbeit  betrachtet,  so  ist  er  als  eine  Neu- 
erscheinung, welche  eine  Lücke  in  der  vergleichend- 
anatomischen Literatur  ausfüllt,  zu  begrüßen, 
von  Berenberg  Goßler,  F'reiburg  i.  B. 


Bragg,  Durchga  ngder  «-,/!?-,  y-undRöntgen- 
Strahlen  durch  Materie;  deutsch  von 
Max  Ikle;  mit  70  Figuren.  Leipzig  1913, 
Verlag  von  J.  A.  Barth.  —  Preis  6,80  Mk.,  geb. 
7,80  Mk. 
Verf  hat  in  seinem  Werk  einen  allgemeinen 
Überblick  über  den  Durchgang  der  verschiedenen 
Strahlen  durch  die  Materie  gegeben.  Er  hat  die 
Strahlen  einzeln  beschrieben  und  deren  Beziehun- 
gen zueinander  erörtert.  So  z.  B.  die  von  «-Teil- 
chen erzeugte  Ionisation  in  verschiedenen  Gasen, 
das  Zerstreuungsgesetz,  der  Energieverlust  und 
die  Absorption  des  /i-Strahles,  als  auch  seine 
sekundäre  Erzeugung  durch  den  Röntgenstrahl. 
Er  geht  auf  die  korpuskulare  Gestalt  und  Energie 
des  Röntgenstrahles  ein,  ferner  auf  die  Natur  und 
Zerstreuung  der  Röntgen-  und  j'-Strahlen.  Der 
Verfasser  legt  also  nicht  nur  das  Ergebnis  seiner 
Forschungen  auf  diesem  Gebiete  klar,  sondern 
bringt  sie  in  nahe  Beziehung  zu  den  z.  T.  von 
seinen  Arbeiten  unzertrennlichen  F"orschungen  an- 
derer Gelehrter,  wodurch  das  Werk  an  Wert  be- 
deutend zunimmt.  Besonderes  Gewicht  hat  Verf. 
darauf  gelegt,  eine  Brücke  zwischen  ß-  und  y- 
Strahlen  herzustellen,  wodurch  er  seine  eigene 
Korpuskulartheorie  der  y-  oder  Röntgenstrahlen 
uns  wesentlich  verständlicher  macht.  Verf.  gibt 
der  Anschauung  Ausdruck,  daß  bezüglich  der 
Strahlungsvorgänge  sowohl  der  Begriff  der  Welle 
mit  ihrer  regelmäßigen  Periodizität,  als  auch  seine 
Korpuskulartheorie  richtig  sein  und  schließlich  in 
eine  Theorie  übergehen  können.  —  Auch  der 
Übersetzer  hat  den  Verf.  inhaltlich  richtig  ver- 
standen. P.  Runze. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Weitere  Zerealienfunde  vorgeschichlicher  Zeit 
aus  den  thüringisch  -  sächsischen  Ländern.  Nach 
Erscheinen  meines  Aufsatzes  „Zerealienfunde  vor- 
geschichtlicher Zeit  aus  den  thüringisch-sächsischen 
Ländern"  (Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 
1914,  Heft  19,  S.  294—297)  sind  mir  einige  neue 
Zerealienfunde  aus  den  thüringisch  -  sächsischen 
Ländern  bekannt  geworden,  die  ich,  um  die  in 
meinem  Aufsatz  gegebene  Übersicht  zu  vervoll- 
ständigen, im  folgenden  kurz  bekannt  machen 
möchte: 


I.  Braunsdorf,  Kr.  Quer  fürt. 
Von  Herrn  Rentier  O  r  t  m  a  n  n ,  dem  Leiter 
des  Museums  des  Merseburger  Geschichtsvereins, 
ist  ein  sehr  interessanter  hallstattzeitlicher  I'und 
mit  Kulturpflanzen-  und  Unkrautresten  in  einer 
Herdgrube  bei  Braunsdorf,  Kr.  Querfurt  gemacht 
worden.  In  dem  Funde  befanden  sich  Weizen, 
Gerste,  Vicia  Faba  (Saubohne),  Linum  usitatissi- 
mum  (Flachs),  Camelina  sativa  (Gebauter  Lein- 
dotter oder  Butterraps;  auf  Äckern  als  schädliches 
Unkraut  hauptsächlich  bei  Lein  vorkommend,  aber 


464 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  29 


auch  zur  Ölgewinnuiig  gebaut),  Avena  fatua  (Wild- 
hafer), der  hier  wohl  zum  ersten  Male  prähistorisch 
sicher  nachgewiesen  und  im  Hinblick  auf  die 
Frage  nach  der  engeren  Heimat  des  Kulturhafers 
von  ungeheurer  Bedeutung  ist,  ^)  und  schließlich 
Agustemma  Githago  (rote  Kornrade),  die  aus  prä- 
historischen Funden  nur  zweimal  bekannt  war. 

Herr  Prof.  Dr.  August  Schulz  hat  diese 
Braunsdorfer  Pflanzenreste  sorgfältig  untersucht 
und  bestimmt;  wir  dürfen  von  ihm  eine  ausführ- 
liche Abhandlung  hierüber  im  85.  Bande  der  Zeit- 
schrift für  Naturwissenschaften  erwarten. 
2.  Gleichberg  bei  Römhild  (Sachsen - 
M  ei  ni  n  gen). 

Am  kleinen  Gleichberge  bei  Römhild  —  vgl. 
Naturw.  Wochenschrift  1914,  S.  295  —  hat  Herr 
Technikumslehrer  Kumpel  aus  Hildburghausen 
einen  zweiten  Fund  von  Getreide  in  einer  Wohn- 
grube —  wohl  aus  der  Latenezeit  (500  v.  Chr. 
Geb.  bis  um  Chr.)  —  entdeckt.  Der  Fund  ent- 
hält —  nach  einer  freundlichen  Mitteilung  des 
Herrn  Kumpel  —  ,, nur  Weizen  einer  Sorte  und 
zwar  in  ganz  anderen  Körnern  als  der  erste  Fund". 
Herr  Kumpel  wird  darüber  selbst  ausführlich 
—  hoffentlich  bald  —  berichten. 

Herr  Kumpel  hat  übrigens  brieflich  seine 
von  mir  angezweifelte  Datierung  des  ersten  Ge- 
treidefundes am  kleinen  Gleichberge  in  die  Bronze- 
zeit aufrecht  gehalten.  Mir  persönlich  fehlt  jeg- 
liche nähere  Kenntnis  des  Geländes  und  ich  ver- 
mag mich  deshalb  über  die  sichere  Zeitstellung 
des  Fundes  nicht  bestimmt  zu  äußern.  Es  steht 
aber  zu  erwarten,  daß  der  beste  Kenner  des 
Gleichberges,  Herr  Prof.  Dr.  A.  Götze,  dem- 
nächst ausführlich  zu  dieser  Frage  Stellung  nehmen 
wird. 

3.  Burg  Kyffhäuser  bei  Kelbra, 
Kr.  Sangerhausen. 

Herr  Klempnermeister  Ed.  Gü  nth  er-Roßla 
hat  in  der  l'luine  der  Burg  Kyffhäuser,  die  nach 
Zerstörung  einer  früheren  (von  Heinrich  V.  er- 
bauten) Burg  II 52  durch  Friedrich  Barbarossa 
wiederhergestellt  wurde,  einen  Getreidefund  ent- 
deckt, der  ebenfalls  von  Herrn  Prof.  Dr.  Schulz 
untersucht  ist  und  über  den  wir  von  diesem  be- 
rufenen Forscher  gleichfalls  einen  Bericht  erwarten 
dürfen.     Ich  erwähne  nur,    daß  das  Getreide  zum 


Roggen  und  zu  Triticum  compactum  globiforme 
gehört,  eine  Sorte,  die  bisher  nur  prähistorisch 
bekannt  war. 

Dieser  P"und  vom  Kyffhäuser  gehört ,  da  er 
mittelalterlich  ist,  eigentlich  nicht  in  den  Rahmen 
dieses  Aufsatzes  hinein;  ich  hielt  es  jedoch  für 
angebracht,  auf  ihn  infolge  seiner  Wichtigkeit  auch 
in  diesem  Zusammenhange  hinzuweisen. 

Durch  die  zwei  neuen  Funde  von  Braunsdorf 
und  Römhild  ist  die  Zahl  der  vorgeschichtlichen 
Getreidefunde  aus  den  thüringisch  -  sächsischen 
Ländern  auf  zehn  gestiegen.  Hoffentlich  vermehrt 
sich  das  Material  im  Laufe  der  Jahre  entsprechend 
weiter!  Hugo  Mötefindt,  Wernigerode. 


Literatur. 

Schrenck-Notzing,  Dr.  Freiherr  v.,  Der  Kampf  um 
die  Materialisationspliänomene.  Eine  Verteidigungsschrift.  Mit 
20  Abbild,  u.   3  Tafeln.    München '14,   E.Reinhardt.    I,6oMk. 

Brauns,  Prof.  Dr.  Reinhard,  Vulkane  und  Erdbeben. 
Mit  74  Abbild,  u.  6  Tafeln.  Leipzig  '14,  Quelle  &  Meyer. 
Ueb.   1,80  Mk. 

Himmel  und  Erde.  Volksausgabe.  Lieferung  12.  Berlin- 
München-Wien,   .Allgemeine  Verlagsansialt.     60  Pf. 

Beiträge  zur  Kenntnis  der  Land-  und  Süßwasserfauna 
Deutsch-Südwestafrikas.  Ergebnisse  der  Hamburger  Studien 
reise  1911.  Herausgegeben  von  W.  Michaelsen.  Lieferung  I 
12  Mk.  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Meeresfauna  Westafrikas, 
Herausgegeben  von  demselben.  Lieferung  I.  Hamburg  '14, 
L.   Friederichsen.     6  Mk. 

Jahrbuch  f.  d.  Gewässerkunde  Norddeutschlands.  Her^ 
ausgegeben  von  der  Preuß.  Landesanstalt  f.  Gewässerkunde 
Besondere  Mitteilungen  Bd.  2  (Heft  4).  Der  Zusammenhang 
der  Rhumei)uelle  mit  der  Oder  und  Sieber  von  Karl  Thürnau, 
Berlin  '14,  S.  Mittler.     2  Mk. 


')    ^'s'-    H  o  o  p  s  ,     Waldbäume     und    Kulturpflanzen    im 
germanischen  Altertum.     S.  300. 


Am'egungen  und  Antworten. 

Herrn  Lehrer  Hauerstein,  Nürnberg.  —  Werke  über  die 
fossilen  Reptilien  bzw.  über  das  „Zeitalter  der  Reptilien".  — 
Besonders  reiches  Bildermaterial ,  und  zwar  von  ganzen  Ske- 
letten, also  Rekonstruktionen  findet  man  in  A.  Smith- 
Wood  ward's  ,, Outlines  of  Vertebrate  Palaeontolugy"  (Cam- 
bridge 1898).  Wie  der  Titel  sagt,  beschränkt  das  Werk  sich 
nicht  auf  Reptilien.  Eine  derartige  Darstellung  von  allge- 
meinverständlichem Charakter  ist  mir  in  der  Paläontologie 
überhaupt  bisher  nicht  bekannt.  Auch  nicht  in  geologischer 
Abgrenzung  („Zeitalter  der  Reptilien").  Die  Themata  pflegen 
weiter  gefaßt  zu  werden.  Ich  erwähne  die  ausgezeichnete, 
wenn  auch  nicht  ganz  neue  Arbeit  von  E.  Koken:  „Die  Vor- 
welt" (Leipzig  1893).  D'^  neueren  Lehrbücher  in  deutscher 
und  französischer  Sprache  sind  naturgemäß  für  den  Fachmann, 
aber  doch  für  den  studierenden  abgefaßt  (Zittel,  Kayser,  Hang). 
Eine  Sammlung  paläontologischer  Projektionsbilder  war  vor 
kurzem  in  Vorbereitung,  doch  ist  mir  über  den  Stand  des 
Unternehmens  nichts  bekannt.  E.  Hennig. 


InhaDt;  Schoy;  Grundzüge  einer  vergleichenden  Geo-  und  Aphroditographie  (Erd-  und  Abendsternkunde).  Nachtsheim; 
Das  Verhalten  der  Bienenkönigin  und  anderer  Hymenopterenweibchen  bei  der  Eiablage.  —  Einzelberichte:  Michel: 
Unterschiede  zwischen  Birma-  und  Siamrubinen.  Mauriac  undStrymbau:  Der  Cholesteringehalt  des  Blutes. 
Gruber;  Toxinwirkungen,  welche  die  Anwesenheit  der  Trichinen  im  Körper  bedingt.  Riem:  Kometenfarailie  des 
Neptun.  Halle  und  Pribram:  Neue  Beiträge  zur  Chemie  des  Tabaks.  Will:  Das  Hexanitroäthan.  —  Bücher- 
besprechungen: Andree:  Über  die  Bedingungen  der  Gebirgsbildung.  Kalähne:  Grundzüge  der  mathematisch- 
physikalischen  Akustik.  Gesellschaft  für  Linde's  Eismaschinen,  Abteilung  für  Gasverflüssigung.  Abderhalden:  Ab- 
wehrfermente des  tierischen  Organismus  gegen  körper-,  blutplasma-  und  zellfremde  Stofl'e.  Verworn:  Erregung  und 
Lähmung.  Barthel:  Die  Erde  als  Totalebene.  Doliarius:  Alle  Jahreskalender  auf  einem  Blatt.  Swart:  Die 
Stoffwanderung  in  ablebenden  Blättern.  Smiles:  Chemische  Konstitution  und  Physikalische  Eigenschaften.  Lehrbuch 
der  vergleichenden  mikroskopischen  Anatomie  der  Wirbeltiere.  Bragg:  Durchgang  der  a-,  3-,  •/■  und  Röntgenstrahlen 
durch  Materie.  —  Kleinere  Mitteilungen:  Mötefindt;  Weitere  Zerealienfunde  vorgeschichtlicher  Zeit  aus  den  thü- 
ringisch-sächsischen Ländern.  —  Literatur;  Liste.  —  Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  M  i  e  h  e  in  Leipzig,  Marienstraße   1 1  a,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Nene  Folge   13.    Band; 
der  ganzen  Reihe  29    Band, 


Sonntag,  den  26.  Juli  1914. 


Nummer  30. 


Neuere  Untersuchungen  über  den  Farbensinn  der  Fische. 


[Nachdruck  verboten.] 

Die  Sinnespsychologie  der  Fische  gehört  zwar 
zu  den  am  gründlichsten  bearbeiteten  Gebieten 
der  Tierpsychologie,  dennoch  aber  ist  diese  Ar- 
beit bisher  nicht  in  dem  Sinne  von  Erfolg  gekrönt 
gewesen,  daß  sie  zu  feststehenden  positiven  Re- 
sultaten geführt  hätte,  vielmehr  hat  sie  bisher  zur 
Entwicklung  recht  widersprechender  Theorien 
Anlaß  gegeben.  Man  braucht  nur  an  die  ver- 
schiedenen Hypothesen  über  die  Funktion  der 
Seitenorgane  zu  denken  — ,  obzwar  gerade  dieses 
Problem  dank  den  Untersuchungen  Hofer 's 
neuerdings  geklärt  zu  sein  scheint,  —  an  den 
Streit  über  den  Einfluß  des  Labyrinthes  auf  die 
Regulation  des  Gleichgewichtes,  an  die  lebhaften 
Diskussionen  über  das  Hörvermögen,  über  die 
Verbreitung  und  die  Bedeutung  des  Geruchs- 
sinnes usw.,  um  zu  erkennen,  wieweit  alle  diese 
PVagen  noch  von  einer  endgültigen  Lösung  ent- 
fernt sind. 

Der  Farbensinn  der  Fische  ist  erst  relativ  spät 
einer  Analyse  unterzogen  worden,  deren  Methodik 
den  Erfordernissen  einer  wissenschaftlichen  Farben- 
lehre genügt,  und  V.Heß,  dessen  Untersuchungen 
auf  diesem  Gebiet  bahnbrechend  gewirkt  haben, 
glaubt  auf  Grund  zahlreicher  Beobachtungen  be- 
haupten zu  können,  daß  der  Lichtsinn  der  Fische 
ebenso  wie  derjenige  der  Wirbellosen  dem  des 
total  farbenblinden  Menschen  entspricht,  daß  die 
Fische  also  die  einzelnen  Farben  nicht  nach  ihrer 
spezifischen  Farbqualität,  sondern  nur  nach  ihrem 
farblosen  Helligkeitswert  zu  unterscheiden  ver- 
mögen. Den  Beobachtungen  von  v.  H  e  ß  stehen 
jedoch  zum  Teil  die  Angaben  anderer  Forscher 
entgegen,  über  deren  Beweiskraft  man  verschie- 
dener Ansicht  sein  kann,  die  jedoch  in  einem 
objektiven  Bericht  über  den  gegenwärtigen  Stand 
des  Problems  keineswegs  mit  Stillschweigen  über- 
gangen werden  dürfen. 

Eine  brauchbare  Handhabe  zur  Erforschung 
des  Farbensinnes  bieten  in  erster  Linie  die  sog. 
„phototaktischen"  Erscheinungen,  deren  Vorhanden- 
sein bei  Larven  und  Jungfischen  namentlich  von 
Franz  (0)  festgestellt  wurde.  Geht  man  nämlich 
von  der  Tatsache  aus,  daß  bestimmte  Arten  stets 
die  hellsten,  andere  die  dunkelsten  Stellen  ihrer 
Umgebung  aufsuchen,  so  läßt  sich  aus  dem  Ver- 
halten der  Tiere  gegen  Strahlen  von  verschiedener 
Wellenlänge  ein  Schluß  auf  die  Helligkeit  ziehen, 
in  der  sich  ihnen  die  verschiedenen  Farben  dar- 
stellen, —  vorausgesetzt  natürlich,  daß  die  Farben 
keine  spezifische,  von  der  Helligkeit  unabhängige 
Wirkung  ausüben.  Unter  Anwendung  dieser 
Methode    gelangte   v.  Heß    (16,  18,   19)    zu    dem 


Von  Privaldozent  Dr.   Gustav  Kafka,  München. 


bereits  angedeuteten  Ergebnis,  daß  besonders  die 
Jungfische  gewisser  positiv  phototaktischer  Arten 
(von  Seefischen  namentlich  Atlicn'iia  Jirpsd/ts, 
A/iigü  und  Sargus  (?),  von  Süßwasserfischen 
Lrncisciis ,  Alburnus,  Squalnis  (.?)  und  Karpfen), 
das  Spektrum  in  der  gleichen  Hellig- 
keitsverteilung perzipieren,  wie  das  dunkel- 
adaptierte oder  total  farbenblinde  mensch- 
liche Auge,  d.  h.  am  hellsten  in  der  Gegend  des 
Grüngelb,  und  das  Blau  erheblich  heller  als  das 
Rot.  V.  Heß  stützt  seine  Hypothese  auf  die 
Beobachtung,  daß  die  Tiere,  wenn  man  in  dem 
allseitig  verdunkelten  Aufbewahrungsgefäß  ein 
Spektrum  entwirft,  stets  in  die  Gegend  des  Grün- 
gelb schwimmen  und,  wenn  sie  durch  Vorschieben 
eines  schwarzen  Kartons  in  andere  Gegenden 
des  Spektralstreifens  gedrängt  werden,  nach  dem 
Fortziehen  des  Kartons  alsbald  wieder  in  das 
Grüngelb  zurückkehren,  und  daß  sie  von  zwei 
verschiedenfarbig  beleuchteten  Bassinhälften  stets 
diejenige  aufsuchen,  welche  für  das  dunkeladap- 
tierte menschliche  Auge  den  größten  Helligkeits- 
wert besitzt. ')  Die  Annahme  einer  spezifischen 
Wirkung  bestimmter  Strahlen  widerlegt  v.  Heß 
durch  den  Nachweis,  daß  man  die  Tiere  zum 
Aufsuchen  jeder  beliebigen  Farbe  veranlassen 
kann,  wenn  man  deren  Intensität  genügend  erhöht. 
Umgekehrt  gelingt  es  nur  dann,  zwischen  zwei 
verschiedenen  Farben  oder  zwischen  farbigen  und 
farblosen  Lichtern  Helligkeitsgleichungen  herzu- 
stellen, d.  h.  eine  gleichmäßige  Verteilung  der 
F'ische  in  beiden  Bassinhälften  herbeizuführen,  wenn 
die  Helligkeitswerte  der  Versuchslichter  für  das 
dunkeladaptierte  Auge  übereinstimmen.  Weiterhin 
konnte  v.  Heß  feststellen,  daß  die  für  das  farben- 
blinde menschliche  Auge  charakteristische  Ver- 
kürzung im  roten  Ende  des  Spektrums  auch  für 
das  Fischauge  besteht,  weil  sich  die  Fische  durch 
das  Vorschieben  eines  Kartons  von  dem  kurz- 
welligen gegen  das  langwellige  Ende  des  Spek- 
trums nur  bis  ins  Gelbrot  drängen  lassen,  sich 
dagegen  regellos  im  Gefäß  verteilen,  sobald  der 
Karton  nur  mehr  das  äußerste  rote  Ende  des 
Spektrums  frei  läßt.  Beim  Antpliioxus  fand 
v.  Heß  ebenfalls,  daß  die  Kurve  der  photokineti- 
schen Reizwerte  der  homogenen  Lichter  annähernd 
der  Kurve  ihrer  farblosen  Helligkeitswerte  ent- 
spricht. Diese  Übereinstimmungen  zwischen  dem 
Lichtsinn  der  Fische  und  des  farbenblinden  Men- 


')  In  einer  primitiveren  Form  wurde  diese  ,,Walilmctliode" 
(vgl.  22,  370)  bereits  von  Graber  angewendet,  doch  sind 
seine  Resultate  wegen  der  Vernachlässigung  des  farblosen 
Ilelligkeitswerles    der    verwendeten    Lichter    wenig  verwertbar. 


466 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr. 


30 


sehen  betrachtet  v. Heß  als  ebensoviele  Argumente 
gegen  das  Vorhandensein  einer  qualitativen 
FarBenunterscheidung  bei  dem  untersten  Stamm 
der  Wirbeltiere. 

Eigentümlicherweise  gelangte  Bauer  bei 
seinen  Versuchen  über  den  Farbensinn  der  Fische 
(I,  3)  zu  Resultaten,  die  zum  Teil  erheblich  von 
denen  v.  Heß'  abweichen.  Bauer  verwendete 
nicht  ganz  dieselbe  Methode  wie  v.  Heß,  indem 
er  die  Tiere  in  einem  sog.  „Phototaxistrog"  be- 
obachtete, einem  innen  geschwärzten,  aber  oben 
unbedeckten  Gefäß ,  das  von  einer  Schmalseite 
her  durch  Vorhalten  verschiedenfarbiger  Papiere 
oder  durch  Einschaltung  verschiedenfarbiger  Gläser 
verschiedenes  Licht  empfangen  konnte.  Während 
nun  die  Reaktionen  der  dunkeladaptierten  Tiere 
im  wesentlichen  mit  den  Angaben  von  v.  Heß 
übereinstimmten,  fand  Bauer,  daß  sich  Charax 
funtnz::o,  wenn  er  sich  zuvor  längere  Zeit  im 
Hellen  befunden  hatte,  gegen  rotes  Licht  nicht 
bloß  indifferent  verhielt,  sondern  sich,  trotz  seiner 
positiven  Phototaxis,  von  der  roten  Lichtquelle 
fortbewegte;  desgleichen,  daß  helladaptierte 
Atherinen  im  Spektrum  stets  vom  Rot  weg- 
flohen, sich  durch  Vorschieben  eines  schwarzen 
Schirmes  niemals  ins  Rot  treiben  ließen,  sondern 
die  verdunkelten  Bassinteile  den  rot  beleuchteten 
vorzogen,  und  sich  bei  Anwendung  der  ,, Wahl- 
methode" in  einem  Blau  ansammelten,  das  ihnen 
im  Zustand  der  Dunkeladaptation  —  ihren  photo- 
taktischen Reaktionen  nach  zu  schließen  —  er- 
heblicher dunkler  erschien  als  ein  gleichzeitig 
dargebotenes  Rot.  Auch  konnte  Bauer  bei 
helladaptierten  (.7/()';'(7.v-Individuen  eine  Verkürzung 
des  Spektrums  im  Rot  nicht  beobachten.  Bi>x 
salpa  wiederum  zog  zwar  im  dunkeladaptierten 
Zustand,  seiner  negativen  Phototaxis  zufolge ,  das 
hellere  Weiß  der  blauen  Farbe  vor,  im  helladap- 
tierten Zustand  dagegen  begab  er  sich  ins  Blau, 
obgleich  dieses  naturgemäß  weniger  lichtstark 
war  als  das  Weiß,  und  suchte  auch  im  Spektrum 
stets  die  Gegend  des  Blau  auf. 

Der  Gegensatz  zwischen  der  Phototaxis  der 
untersuchten  Fische  und  ihrer  „Rotscheu"  oder 
„Blauvorliebe"  läßt  sich  nach  Bauer  nur  durch 
eine  spezifische  Wirkung  der  genannten  Farben 
erklären.  Daß  dieser  Gegensatz  im  Zusammen- 
hang mit  Adaptationsphänomenen  stehe ,  scheint 
Bauer  auch  deshalb  wahrscheinlich,  weil  er  bei 
Aliigil ,  Athcriiia  und  Sargiis  ein  Analogon  des 
Pu  rkin  j  e'schen  Phänomens,  d.  h.  ein  Über- 
wiegen der  Wirkung  kurzwelliger  über  langwellige 
Strahlen  im  dunkeladaptierten  Auge,  nachweisen 
zu  können  glaubte.  Die  Tiere  nämlich ,  die  im 
Zustand  der  Helladaptation  ein  bestimmtes  Grün 
einem  bestimmten  Blau  vorzogen,  trafen  im  Zu- 
stand der  Dunkeladaptation  die  entgegengesetzte 
Wahl  zwischen  beiden  Farben. 

Den  Angaben  Bauer's  gegenüber  verharrte 
V.  Heß  (17,  18)  auf  seinen  früheren  Befunden 
und  betonte  insbesondere,  daß  seine  Beobachtungen 
sowohl  an  dunkel-  wie  an  helladaptierten  Fischen 


angestellt  worden  seien,  und  daß  es  bei  den  hell- 
adaptierten Individuen  nur  einer  Verstärkung  der 
Gesamthelligkeit  des  Spektrums  bedürfe,  um  die- 
selben Reaktionen  hervorzurufen  wie  bei  den 
dunkeladaptierten.  Von  den  Einwänden,  die  er 
gegen  die  Methodik  Bauer's  erhob,  ist  der  eine 
zweifellos  berechtigt,  daß  Bauer  nicht  im  Dunkel- 
zimmer experimentierte  und  daher  eine  gewisse 
Unübersichtlichkeit  der  Versuclisbedingungen 
schuf  Auch  die  Heranziehung  des  Purkinje- 
schen  Phänomens  will  v.  Heß  nicht  gelten  lassen, 
vielmehr  sieht  er  die  Bedeutung  des  Adaptations- 
zustandes für  die  Farbenwahrnehmung  der  F"ische 
lediglich  darin  (18),  daß  im  dunkeladaptierten 
Auge  das  bräunlich-gelbe  Pigment  zwischen  die 
perzipierenden  Elemente  vorrückt,  die  kurzwelligen 
Lichtstrahlen  stärker  absorbiert  und  dalier  ihre 
Wirksamkeit  beeinträchtigt.  Dieser  geringere 
Helligkeitswert,  den  das  Blau  für  das  dunkel- 
adaptierte Fischauge  besäße ,  wäre  aber  natürlich 
eine  dem  Purk  inj  e'schen  Phänomen  entgegen- 
gesetzte Erscheinung.  Im  übrigen  bestreitet 
v.  Heß  die  Richtigkeit  der  Angaben  Bauer's, 
so  daß  sich  auf  diesem  Gebiet  die  Anschauungen 
beider  Forscher  über  die  beobachteten  Tatsachen 
schroff  gegenüberstehen  und  daher  vorläufig  keine 
einheitliche  theoretische  Deutung  zulassen. 

Eine  andere  Methode  zur  Analyse  des  Farben- 
sinnes besteht  in  der  Feststellung  der  synchro- 
matischen  Farbenänderungen ,  welche  gewisse 
Fische  auf  verschieden  gefärbten  Unterlagen  er- 
leiden. Dieses  Phänomen  wurde  bereits  von 
Pouchet  (28)  zum  Gegenstand  eingehender  Be- 
obachtungen gemacht  und  hat  seither  das  Inter- 
esse der  Forscher  immer  Avieder  auf  sich  gezogen. 
Das  Ergebnis  der  bisherigen  Lhitersuchungen  — 
die  Literatur  bis  1906  siehe  bei  v.  Rynberk  (31), 
die  spätere  wird  sich  vollständig  bei  Fuchs  (1-1) 
finden  —  läßt  sich  kurz  folgendermaßen  zu- 
sammenfassen: Die  Farbenänderungen  kommen 
durch  die  Tätigkeit  von  Ciiromatophoren  zustande, 
pigmentierter  Zellen ,  die  sich  meist  in  einer  für 
die  betreffende  Art  charakteristischen  Anordnung 
in  der  Haut  verteilen,  mit  verschiedenfarbigem 
Pigment  versehen  sind  und  sowohl  von  einem 
zerebralen  wie  von  einem  medullären  Zentrum 
aus  auf  dem  Weg  über  das  sympathische  Nerven- 
system in  einem  tonischen  Kontraktionszustand 
erhalten  werden.  Die  Erregung  der  Kolorations- 
zentren  bewirkt  eine  verstärkte  Kontraktion,  ihre 
Zerstörung  eine  Expansion  der  l'igmentzellen. 
Die  beschriebenen  Innervationsverhältnisse  dürften 
nach  den  Untersuchungen  v.  Frisch's  (7,9)  für 
alle  Teleostier  und  für  alle  Arten  von  Pigment- 
zellen die  gleichen  sein. 

Auch  die  adaptativen  Farbenänderungen  scheinen 

wenigstens  zum  Teil  nur  von  der  Helligkeit  und 
nicht  von  der  Farbqualität  der  Umgebung  abzu- 
hängen und  werden  in  diesem  Fall  vornehmlich 
durch  Veränderungen  im  Kontraktionszustand  der 
schwarzen  Pigmentzellen  oder  Melanophoren  her- 
beigeführt.  Über  den  Zusammenhang  der  Farben- 


N.  F.  XIII.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


46 


/ 


Labriden   (Crciiüahrus) 
Karauschen  und  Fluß- 


regulation mit  dem  optischen  Apparat  liegen  be- 
reits ijenügend  zahlreiche  Beobachtungen  vor,  um 
feststellen  zu  können,  daß  eine  Anpassung  der  Tiere 
an  ihre  Unterlage  nur  durch  die  Augen  vermittelt 
wird,  da  nach  Blendung  bei  Hechten  (24),  Bart- 
grun'deln  (33),  Schollen  (36),  Cyprinoiden,  Salmo- 
niden (7)  und  Labriden  (S,  11)  die  Tiere  stets  eine 
dunklere  Färbung  annehmen  und  die  Fähigkeit 
zur  .Anpassung  an  die  Unterlage  verlieren.  Diese 
Dunkelfärbung  kann  jedoch,  wie  v.  Frisch  an 
seinen  Versuchstieren  konstatierte,  einige  Wochen 
nach  der  Operation  wieder  verschwinden  oder 
sogar  einer  helleren  Färbung  Platz  machen,  ohne 
daß  sich  allerdings  die  Fähigkeit  der  Farben- 
anpassung wieder  herstellte.  Auch  der  Farben- 
wechsel, mit  dem  die  Tiere  jede  Beunruhigung 
beantworten  (s.  u.),  wird  durch  die  Operation 
nicht  beeinträchtigt.  Bei 
und  Cyprinoiden  (Pfrillen, 
barschen),  weniger  deut- 
lich bei  Salmoniden  und 
Aalen,  besteht  ferner  ein 
direkter  Einfluß  des 
Lichtes  auf  die  Färbung, 
indem  die  geblendeten 
Tiere  im  Licht  einen  dunk- 
leren, im  Dunkel  einen 
helleren  Farbton  anneh- 
men. Bei  den  Pfrillen  konn- 
te v.  Frisch  nachweisen 
(7),  daß  die  Farbwechsel- 
reaktionen der  geblende- 
ten Tiere  von  der  Pineal- 
gegend  des  Gehirnes  aus- 
gelöst werden,  an  welcher 
das  seiner  Funktion  nach 
sonst  wenig  erforschte 
unpaare  Medianauge  liegt. 
Wie  es  sich  bei  den 
übrigen  Arten  verhält, 
ist  noch  nicht  bestimmt, 
doch  scheint  eine  un- 
mittelbare Einwirkung  des 

Lichtes  auf  die  Chromatophoren  nicht  stattzufinden. 
Insbesondere  konnte  v.  Lyrisch  (9)  auf  Grund 
histologischer  Untersuchungen  die  Hypothese 
SeO  erov's  (33)  nicht  bestätigen,  daß  die  Farben- 
anpassung bei  den  Bartgrundeln  eine  mechanische 
im  Sinne  Wiener's  (38,  vgl.  22,  448)  sei,  indem 
sich  der  schwarze  Farbstoff  der  Melanophoren 
unter  der  Einwirkung  einer  bestimmten  P'arbe 
so  lange  zersetze,  bis  er  die  Beleuchtungsfarbe  an- 
genommen habe,  die,  da  sie  nicht  mehr  absorbiert 
werde,  auch  keine  chemischen  Veränderungen 
hervorzurufen  vermöge.  Die  gegen  v.  Frisch 
gerichtete  Antikritik  Sererov's  (35)  erscheint 
nicht  überzeugend. 

Auffallenderweise  sind  die  Reaktionen  der  ge- 
blendeten Fische  auf  Intensitätsänderungen  der 
Beleuchtung  den  Farbwechselreaktionen  gerade 
entgegengesetzt,  welche  unter  Vermittlung  der 
Augen  durch  die  Beschaffenheit  der  Unterlage  be- 


stimmt werden,  da  sich  die  Tiere  an  einen  hellen 
und  an  einen  dunklen  Grund  in  der  Helligkeit 
ihrer  Körperfärbung  zweckmäßig  anzupassen  ver- 
mögen (Fig.  i).  Zugleich  hat  sich  aus  den  oben 
angeführten  Versuchen  Mayerhofe r's,  Sece- 
rovs,  Sumners  und  v.  Frisch 's  überein- 
stimmend ergeben,  daß  der  P'arbwechsel  tatsäch- 
lich durch  die  Farbe  des  Grundes  und  nicht  durch 
die  Farbe  des  oberhalb  liegenden  Teils  der  Um- 
gebung modifiziert  wird.  So  stellten  Mayerhofe r 
und  Secerov  fest,  daß  beim  Hecht  und  bei  der 
Bartgrundel  die  charakteristische,  durch  Expansion 
der  Chromatophoren  bewirkte  Anpassung  an  einen 
dunklen  Grund  nur  dann  eintritt,  wenn  sich  das 
Tier  auf  einer  dunklen  Unterlage  befindet  und  von 
oben  beleuchtet  wird,  aber  nicht,  wenn  das  Licht 
von  unten  einfällt  und  das  Gefäß  mit  einer  schwarzen 
Kappe  bedeckt  ist,  und  Sumner  beobachtete, 
daß  bei    den  Schollen  infolge  der  eigenartigen  An- 


Fig.    I. 


Rhomboiduhthys  pcitlas ,    /\  nach   4  tägigem  Aufenthalt  auf  schwarzem  Sand,    B   nach 
I4tägigem  Aufenthalt  auf  einem  weißen  Marmorboden.     Nach  Sumner. 


Ordnung  ihrer  Augen  zwar  nicht  der  Grund  allein, 
sondern  auch  die  unteren  Teile  der  vertikalen  Ge- 
fäßwände die  Färbung  beeinflussen,  daß  sich  aber 
dieser  Einfluß  der  Gefäßwände  selbst  im  günstigsten 
P^all  nicht  weiter  als  bis  zu  einer  Höhe  von  ca. 
4'/2  cm  erstreckt. 

v.  Frisch  fand  (7),  daß  bei  Forellen  ein  Ver- 
kleben der  unteren  Augenhälften,  also  eine  Aus- 
schaltung der  oberen  Netzhautpartien,  stets  den 
gleichen  oder  sogar  noch  einen  stärkeren  Erfolg 
hatte  wie  das  Versetzen  auf  einen  dimkeln  Boden, 
daß  dagegen  auf  einem  weißen  Boden  das  Ver- 
kleben der  oberen  Augenhälften,  also  die  Aus- 
schaltung der  unteren  Netzhautpartien,  ohne  Wir- 
kung auf  die  (helle)  Färbung  der  Tiere  blieb. 
Daß  die  Forellen  im  ersteren  Fall  eine  dunklere 
P"ärbung  annahmen  als  nach  totaler  Verdunklung 
der  Augen,  führt  v.  F  r  i  s  c  h  auf  Kontrastphä- 
nomene zurück,  welche  zwischen  den  durch  Ver- 


468 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  30 


kleben  der  unteren  Augenhälften  verdunkelten 
oberen  Netzhautpartien  und  den  durch  direkte 
Beleuchtung  von  oben  erhellten  unteren  Netzhaut- 
partien auftreten,  und  stützt  diesen  Schluß  auf  die 
Beobachtung,  daß  auf  dunklem  Boden  auch  die 
totale  Verdunklung  eines  einzigen  Auges  eine 
dunklere  Färbung  der  Fische  herbeiführt  als  die 
totale  Verdunklung  beider  Augen.  Denn  wenn 
man  von  der  Annahme  einer  (konsensuellen) 
Kontrastwirkung  zwischen  oberen  und  unteren 
Netzhautpartien  ausgeht,  wird  bei  totaler  Verdunk- 
lung des  linken  Auges  die  Wirkung,  welche  die 
Verdunklung  der  oberen  Netzhautpartien  des  linken 
Auges  auf  die  Chromatophorentätigkeit  ausübt, 
durch  die  Erhellung  unterstützt,  welche  die  unteren 
Netzhautpartien  des  rechten  Auges  erfahren,  wäh- 
rend das  diffuse  Licht,  welches  von  der  schwarzen 
Unterlage  und  dem  Glasboden  des  Aquariums  in 
die  oberen  Netzhautpartien  des  rechten  Auges 
reflektiert  wird,  die  Kontrastwirkung  nicht  erheb- 


Fig.   2.     Schema   der  Kontrastwirkungen    im   Fischauge. 

Die  schraffierten  Felder  bedeuten  verdunkelte,   die   punktierten 

diffus  und  die   weißen  direkt  beleuchtete  Netzhautpartien. 

Das  Nähere  siehe  im  Text. 


lieh  beeinträchtigt  (Fig.  2  A).  Eine  Herabsetzung 
der  Kontrastwirkung  und  damit  eine  Aufhellung 
der  Körperfärbung  tritt  vielmehr  erst  dann  ein, 
wenn  die  obere  Hälfte  des  rechten  Auges  ver- 
klebt wird  und  die  Verdunklung  der  unteren  Netz- 
hautpartien des  rechten  Auges  der  Verdunklung 
der  oberen  Netzhautpartien  des  linken  Auges  ent- 
gegenwirkt (Fig.  2B).  Dagegen  wird  der  anta- 
gonistische Effekt  einer  diffusen  Beleuchtung  der 
rechten  oberen  Netzhautpartien  vollkommen  aus- 
geschaltet und  dadurch  eine  maximale  Verdunk- 
lung der  Körperfärbung  herbeigeführt,  wenn  die 
rechte  untere  Augenhälfte  verklebt  wird,  so  daß 
die  oberen  Netzhautpartien  des  rechten  Auges 
maximal  verdunkelt,  die  unteren  maximal  erhellt 
erscheinen  (Fig.  2C).   Es  besteht  also  offenbar  in 


der  funktionellen  Ausbildung  der  Augen  eine  analoge 
Wechselwirkung  der  verschiedenen  Netzhautstellen 
wie  bei  gewissen  Crustaceen  (vgl.  22,  449),  nur 
daß  es  sich  dabei  nicht  um  Kontrastphänomene 
zwischen  beliebigen  Netzhautpartien  handelt,  son- 
dern die  Reaktion  stets  durch  die  obere,  biologisch 
wichtigere  Augenhälfte  bestimmt  wird. 

Nach  den  Angaben  Buytendyk's  (5)  hat  bei 
Tarbutten  eine  allgemeine  Verdunklung  des  Ge- 
sichtsfeldes sogar  überhaupt  keinen  Erfolg,  adap- 
tative  Änderungen  der  Körperfarbe  sind  vielmehr 
nur    nach    partieller  Verdunklung    wahrzunehmen. 

Die  Wichtigkeit  der  Kontrastphänomene  für  die 
Regulation  der  Körperfärbung  wird  durch  eine 
weitere  Beobachtung  Sumners  an  Schollen  be- 
stätigt (36),  daß  die  Wirkung  des  Grundes  in 
weitem  Umfange  von  der  absoluten  Intensität  der 
Beleuchtung  unabhängig  ist,  daß  also  ein  grauer 
Grund  unter  allen  Umständen  eine  Verdunklung, 
ein  weißer  Grund  unter  allen  Umständen  eine 
Aufhellung  der  Körperfarbe  hervorruft,  selbst  wenn 
die  Lichtintensitäten,  mit  denen  man  beide  Unter- 
lagen beleuchtet,  in  der  Weise  abgestuft  sind,  daß 
der  graue  Grund  eine  größere  absolute  Lichtmenge 
reflektiert  als  der  weiße.  Diese  Tatsache  ist  ver- 
mutlich dem  aus  der  Lehre  vom  menschlichen 
Lichtsinn  bekannten  Phänomen  der  „Gedächtnis- 
farben" (Hering)  zu  subsumieren,  und  es  bedarf 
daher  zu  ihrer  Erklärung  nicht  der  Hypothese 
eines  „Vergleiches",  den  der  P'isch  zwischen  seiner 
Körperoberfläche  und  der  LTnterlage  oder  zwischen 
der  Intensität  des  einfallenden  und  des  reflektierten 
Lichtes  zu  ziehen  hätte;  vielmehr  dürfte  sie  sich 
in  derselben  Weise  wie  die  Gedächtnisfarben  auf 
eine  Wechselwirkung  der  verschiedenen  Netzhaut- 
stellen zurückführen  lassen,  welche  durch  adapta- 
tive  Veränderungen  im  Sinne  der  Gültigkeit  des 
Web  er 'sehen  Gesetzes  unterstützt  würde. 

Die  Frävalenz  der  oberen  Netzhautpartien 
scheint  ferner  darauf  hinzudeuten,  daß  von  hier 
aus  die  wichtigsten  afferenten  Bahnen  zu  den 
Kolorationszentren  führen.  Ein  weiterer  Hinweis 
auf  die  Innervationsverhältnisse  liegt  in  den  Be- 
obachtungen über  die  Wirkung  einseitiger  Blendung. 
Diese  Operation  hat  nach  v.  Frisch  (7)  bei 
Cyprinoiden  eine  beiderseitige  Verdunklung  (die 
in  kürzerer  Zeit  abklingt  als  nach  beiderseitiger 
Blendung),  bei  den  Salmoniden  eine  auf  die  ge- 
kreuzte Körperseite  beschränkte  Verdunklung  zur 
Folge,  was  vermutlich  mit  einer  verschiedenen  Aus- 
bildung   zentraler    Kommissuren    zusammenhängt. 

Interessant  ist  ferner  die  von  Mast  (23)  be- 
stätigte Beobachtung  Sumner's  (3G),  daß  sich 
die  Schollen  nicht  nur  in  ihrem  Farbton  an  die 
Helligkeit  der  Umgebung  anpassen,  sondern  auch 
die  Musterung  des  Grundes  bis  zu  einem  gewissen 
Grad  nachzuahmen  vermögen;  zwar  ist  die  Varia- 
bilität ihrer  Zeichnung  durch  die  Konstanz  der 
Punkte  beschränkt,  an  denen  eine  Aufhellung  oder 
Verdunklung  eintreten  kann,  dennoch  pflegt  aber, 
durch  eine  verschieden  weit  gehende  Kontraktion 
oder   Expansion  des   Pigmentes,    auf    einem    grob 


N.  F.  Xm.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


469 


gemusterten  Grund  eine  grobe,  auf  einem  fein  ge- 
musterten eine  feinere  Zeichnung  zu  entstehen 
(F'S-  3)-  ^s  "^'J'^  daher  die  ÜLialität  der  von  den 
Kolorationszentren  ausgehenden  Erregungen  auch 
durch  die  Abstände  der  gereizten  Netzhautpartien 
voneinander  in  irgendeiner  Weise  modifiziert 
werden. 

Ein  von  v.  Rynberk  (32)  behaupteter,  von 
Suniner  (30)  geleugneter  Einfluß  der  von  der 
Bodenfläche  ausgehenden  taktilen  Reize  auf  die 
Körperfärbung  scheint  sich  nach  den  Untersuch- 
ungen von  P  o  1  i  in  a  n  t  i  (27)  darauf  zu  beschränken, 
daß  ein  ganz  ebener  oder  ein  mit  größeren  Steinen 
bedeckter  Boden  einen  lästigen  Reiz  ausübt,  der 
die  Tiere  zu  beständigem  Umherschwimmen  ver- 
anlaßt, und  daß  diese  dynamogene  Wirkung  in- 
direkt auf  den  Chromatophorenmechanismus  über- 
greift. 

Wie  bereits  im  frühe- 
ren angedeutet  wurde, 
sind  die  Reaktionen  der 
farbigen  Pigmentzclien 
im  wesentliclien  mit 
denen  der  Melanoplioren 
identisch.  Ihr  Tonus 
wird  ebenfalls  durch  ein 
zerebrales  und  ein  medul- 
läres Kolorationszentrum 
in  der  Weise  reguliert, 
daß  Erregung  des  Zen- 
trums eine  Kontraktion, 
seine  Ausschaltung  eine 
Expansion  der  Pigment- 
zellen bewirkt,  und  die 
synchromatische  Anpas- 
sung an  die  Unterlage  wird 
nur  durch  Impulse  vermit- 
telt, die  dem  Kolorations- 
zentrum vom  Auge  aus  zu- 
fließen, da  nach  Blendung 
die  adaptativen  Verände- 
rungen verschwinden  ') 
und  nur  mehr  ein  durch 
„psychische    Erregungen" 

(v.  Erisch),  d.  h.  durch  störende  Einwirkungen 
beliebiger  Art  bedingter  Farbwechsel  erhalten 
bleibt.  Dieser  „emotionale"  I<"arb\vechsel  kann 
sich  bei  gewissen  Arten  in  einer  Aufhellung,  bei 
anderen  wieder  in  einer  Verdunklung  äußern,  und 
besonders  bei  den  Pfrillen  unterscheiden  sicli  die 
sehenden  Individuen  von  den  geblendeten  dadurch, 
daß    bei  jenen    die    „psychische    Erregung"    eine 


Aufhellung,  bei  diesen  dagegen  eine  Verdunklung 
und  meist  auch  eine  Rotfärbung  zur  P^olge  hat  (9). 
Ein  charakteristischer  Unterschied  zwischen  farbigen 
und  schwarzen  Pigmentzellen  besteht  nur  darin, 
daß  die  Reaktionen  der  ersteren  bedeutend  lang- 
samer verlaufen. 

Die  Untersuchung  der  synchromatischen  Phäno- 
mene hat  nun  zugleich  zu  Resultaten  geführt,  welche 
gewisse  Aufschlüsse  über  den  P'arbensinn  der 
Fische  zu  erteilen  scheinen,  v.  Frisch  beobach- 
tete nämlich  (8,  9),  daß  sich  Pfrillen  (Plioxüms 
lacvis)  an  roten  und  gelben  Grund  durch  Expan- 
sion ihrer  gelben  und  meist  auch  ihrer  roten 
Chromatophoren  adaptieren,  auf  blauem,  grünem 
und  violettem  Grund  dagegen  die  gleiche  Färbung 
zeigen  wie  auf  einer  farblosen  Unterlage,  indem 
sie  die  farbigen  Chromatophoren  kontrahieren. 
Daß    es    sich    dabei  um  eine  spezifische  Wirkung 


m 

m 


Fig.   3.     KhomhoUlichthys  poi 
betreuenden  Muster. 


')  Daß  eine  gelegentlich  beobachtete  Farbenanpassung 
geblendeter  Bartgrundeln  durch  eine  Erregung  des  Opticus- 
stumpfes  zustande  kommen  könnte  (34),  erscheint  mehr  als 
fraglich;  vielleicht  handelt  es  sich  in  diesem  Falle,  der  sich 
noch  dazu  bei  einer  Wiederholung  der  Versuche  nicht  be- 
stätigen ließ,  um  eine  Perseverationstendcnz  der  Anpassung  an 
eine,  kürzere  oder  längere  Zeit  vor  der  Operation  verwendete 
Unterlage,  wie  sie  von  Bauer  (2),  Buytendyk  (5)  und 
Sumner  (.36)  bei  Schollen  nachgewiesen  wurde,  oder  um  zu- 
fällige Erscheinungen,  wie  sie  y.  Frisch  (!))  bei  Crciiüabnis 
roissa/i  beobachtete, 


las,  A  nach  ötägigem,  B  nach  3t3gigem  Aufenthalt  auf  dem 
(Verkl.  in  beiden  Fällen  ca.  '/a)-     Nach  Sumner. 

der  gelben  und  der  roten  Farbe  und  nicht  etwa 
bloß  um  die  Wirkung  verschiedener  flelligkeits- 
werte  der  verwendeten  Farben  handelt,  erschließt 
V.  Frisch  aus  folgendem  Experiment.  Er  suchte 
eine  Helligkeitsgleichung  zwischen  gelben  oder 
roten  und  grauen  Papieren  in  der  Weise  herzu- 
stellen, daß  er  zwei  Fische,  deren  Chromatophoren- 
mechanismus mit  der  gleichen  Präzision  funk- 
tionierte und  die  auf  HelHgkeitsänderungen  durch 
übereinstimmende  adaptative  Veränderungen  re- 
agierten, abwechselnd  auf  eine  farbige  und  eine 
farblose  Unterlage  versetzte  und  die  Helligkeit 
der  farblosen  Unterlage  durch  Verwendung  einer 
Serie  grauer  Papiere  so  lange  variierte,  bis  die 
Fische  beim  Übertragen  von  der  einen  auf  die 
andere  Unterlage  ihre  Helligkeit  nicht  mehr  ver- 
änderten. Unter  diesen  Bedingungen  zeigten  die 
tische    auf   der  farbigen   Unterlage    nach    einiger 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Zeit,  im  Gegensatz  zu  den  auf  dem  farblosen 
Grunde  gehaltenen  Kontrolltieren,  immer  eine 
deutliche  gelbe  und,  wenn  sie  zur  Expansion  der 
roten  Chromatophoren  überhaupt  befähigt  waren, 
an  bestimmten  Stellen  (Maul,  Rücken,  Augen- 
gegend, Unterflossen)  auch  eine  rötliche  F"ärbung. 
Bei  allmählicher  Aufhellung  eines  gelben  und 
eines  blaugrünen  Grundes  (durch  Verdünnung  der 
verwendeten  Strahlenfilter)  trat  die  Gelbfärbung 
ebenfalls  nur  auf  der  gelben  Unterlage  auf,  wäh- 
rend sie  doch  offenbar  auch  auf  dem  blauen 
Grunde  bei  einer  bestimmten  Lichtstärke  hätte 
stattfinden  müssen,  wenn  bloße  Helligkeitsdifferen- 
zen für  die  Färbung  maßgebend  wären. 

Gegen  die  Versuche  v.  Frisch 's  erhob  je- 
doch V.  Heß  ("20)  verschiedene  Einwände,  die 
sich  zum  Teil  gegen  die  Methodik,  zum  Teil 
gegen  die  Interpretation  der  Beobachtungen 
V.  Fr  isch's  richteten.  Die  Methodik  v.  Frisch 's 
erschien  v.  Heß  deshalb  ungeeignet,  weil  in 
seinen  eigenen  Experimenten  die  Helligkeits- 
anpassung der  Pfrillen  an  farblose  Unterlagen  so 
ungenau  war,  daß  sich  Helligkeitsgleichungen  aus 
der  Färbung  der  Tiere  überhaupt  nicht  ableiten 
ließen.  Überdies  leugnete  v.  Heß  den  Eintritt 
einer  Gelbfärbung  auf  gelbem  Untergrund. 
V.  Frisch  stellte  jedoch  in  seiner  ersten  Replik 
(10)  fest,  daß  v.  Heß  eine  Versuchsanordnung 
verwendet  hatte,  in  welcher  den  Fischen  die  Farbe 
nur  unter  einem  relativ  kleinen  Gesichtswinkel  in 
einer  farblosen  Umgebung  erscheinen  konnte,  und 
wies  zugleich  nach,  daß  die  Helligkeitsanpassung 
der  Pfrillen  keineswegs  so  ungenau  sei,  wie 
v.  Heß  behauptet  hatte,  sondern  sich  bereits  bei 
Helligkeitsdifferenzen  deutlich  äußere,  die  für  das 
menschliche  Auge  nur  eben  merklich  seien.  Als 
weitere  Bestätigung  seiner  früheren  Beobachtungen 
führte  er  an,  daß  Pfrillen,  die  nach  Herstellung 
einer  Helligkeitsgleichung  zwischen  einem  hell- 
gelben und  einem  grauen  Papier  auf  ein  dunkel- 
gelbes Papier  versetzt  werden,  eine  deutliche  Ver- 
dunkelung erfahren,  daß  also  der  Helligkeitsunter- 
schied lediglich  die  Helligkeit ,  aber  nicht  den 
Farbton  modifiziere,  weil  sich  die  gelbe  Färbung 
auf  allen  gelben  Papieren,  aber  nur  auf  diesen 
und  niemals  auf  den  grauen  Papieren  einstelle. 

Dieser  Replik  v.  P"r isch's  gegenüber  hielt 
V.  Heß  (21)  seine  Behauptung  aufrecht,  daß  ein 
gelber  Grund  keinen  eindeutigen  Einfluß  auf  die 
Färbung  der  Pfrillen  ausübe,  die  Gelbfärbung  viel- 
mehr auch  auf  farblosen  Gründen  eintreten  und 
auf  gelbem  und  rotem  Grund  ausbleiben  könne. 
Gegen  die  Methodik  v.  Frisch's  erhob  er  ein 
weiteres  Bedenken,  daß  nämlich  der  durch  „psy- 
chische Erregung"  hervorgerufene  Farbwechsel  die 
Schlüsse  illusorisch  mache,  die  man  aus  der 
Körperfärbung  auf  den  Farbensinn  zu  ziehen  ge- 
neigt sein  möchte.  ^) 

')  Neuerdings  leugnet  auch  Frey  tag  auf  Grund  eigener 
Experimente  das  Bestehen  einer  gesetzmäßigen  l'arbenanpassung 
bei  der  Pfrille  (Lichtsinnesuntersuchungen  bei  Tieren,  1.,  Arch. 
f.  vergl.  Liphth.  4,   1914). 


V.  Frisch  hinwiederum  (12)  erkannte  diesen 
Einwand  nicht  als  beweiskräftig  an,  weil  man  die 
Fehlerquelle,  die  in  dem  „emotionalen"  Farb- 
wechsel liege,  durch  Verwendung  genügend  ,, ein- 
geübter" Tiere  und  häufige  Wiederholung  der 
Versuche  ausschalten  könne.  Seine  Behauptung 
einer  spezifischen  Wirksamkeit  der  gelben  und 
der  roten  Farbe  stützte  er  ferner  durch  Herstel- 
lung von  Helligkeitsgleichungen  zwischen  farbigen 
und  farblosen  Papieren,  die  für  das  dunkeladap- 
tierte menschliche  Auge  den  gleichen  Helligkeits- 
wert besaßen  und  von  denen  trotzdem  nur  die 
farbigen  Papiere  zu  einer  bunten  Körperfärbung 
Anlaß  gaben. 

Die  zweite  Reihe  der  Einwände,  die  v.  Heß 
gegen  die  Versuche  v.  Frisch's  erhebt,  richtet 
sich  gegen  die  teleologische  Bedeutung  einer 
adaptativen  Körperfärbung  für  die  Fische.  Da  die 
gelben  und  roten  Chromatophoren  oft  Stunden 
lang  bis  zu  ihrer  vollen  Expansion  brauchen, 
scheint  ihm  dieser  Prozeß  viel  zu  langsam  vor 
sich  zu  gehen,  als  daß  er  den  Tieren  einen  wirk- 
samen Schutz  durch  Anpassung  an  die  Unterlage 
gewähren  könnte,  und  er  findet  zugleich  einen 
Widerspruch  darin,  daß  die  spezifische  Wirkung 
der  P'arben  auf  das  Auge  mit  zunehmender  Adap- 
tation abnehme,  während  die  Farbenänderungen 
gerade  erst  nach  einer  Zeit  auftreten,  in  der  sich 
eine  Adaptation  an  die  Farbqualität  bereits  voll- 
zogen haben  müßte.  Überdies  erklärt  er  es  für 
eine  physikalische  Unmöglichkeit,  daß  rote  und 
gelbe  Farben  in  größerer  Wassertiefe  überhaupt 
noch  perzipiert  werden  könnten,  da  natürlich  im 
Wasser  die  langwelligen  Strahlen  besonders  stark 
absorbiert  werden  (20). 

Aufden  ersten  Einwand  erwiderte  v.  F"  r  i  s  c  h  (10), 
daß  der  Nachteil,  der  den  Fischen  aus  dem  lang- 
samen Funktionieren  der  farbigen  Chromatophoren 
erwachse,  durch  die  schnelle  Anpassung  der 
Melanojjhoren  ausgeglichen  werde ,  zumal  eine 
genauere  Adaptation  an  die  Farbqualität  des  Grundes 
nur  dann  erforderlich  sei,  wenn  sich  die  Plsche 
länger  an  derselben  Stelle  aufhalten.  Ferner  sei 
das  Abklingen  der  farbigen  Erregung  im  Auge 
mit  der  zunehmenden  Expansion  der  farbigen 
Chromatophoren  im  Laufe  einer  länger  dauernden 
Adaptation  sehr  wohl  zu  vereinigen,  wenn  die  Ver- 
zögerung in  der  Funktion  des  Chromatophoren-  1 
mechanismus  nicht  auf  den  Verhältnissen  der  Reiz-  i' 
perzeption,  sondern  auf  der  durch  die  eigentüm- 
liche Physiologie  der  Pigmentzellen  bedingten 
Reizübertragung  beruhe.  Insbesondere  aber  weist 
er  darauf  hin,  daß  die  Bedeutung  eines  P'arbkleides 
bei  den  F'ischen  nicht  nur  in  dem  adaptativen  Schutz 
liege,  den  es  ihnen  in  einer  bestimmten  Umgebung 
biete,  sondern  daß  namentlich  die  rote  Farbe 
eine  Schmuckfarbe  sei  und  sich  daher  von  32 
darauf  untersuchten  Arten  bei  18  Arten  finde,  die 
an  der  Oberfläche  des  Wassers  oder  in  geringen 
Tiefen  laichen,  während  sie  bei  anderen  14. Arten, 
die  zur  Naclit  oder  in  größeren  Tiefen  laichen, 
nicht  zur  Ausbildung  gelange. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


471 


Eine  weitere  Duphk  von  v.  Heß  (21)  be- 
schränkte sich  auf  die  experimentelle  Feststellung, 
daß  eine  rötliche  Farbe  in  einer  Wassertiefe  unter 
6 — 8  ixi  nicht  mehr  ihrem  Farbwerte  nach  erkannt 
werde,  und  auf  die  Anführung  eines  Fisches  (des 
Königsseesaiblings),  der  trotz  eines  prächtigen 
roten  Hochzeitskleides  in  beträchtlichen  Tiefen 
(20-80  m)  laiche.  Auch  fragt  v.  Heß,  in  wel- 
cher Weise  wohl  die  Schmuckfarben  als  sexuelle 
Anlockungsmittel  zu  wirken  vermögen,  wenn  sie 
auf  der  Bauchseite,  also  gerade  unter  den  un- 
günstigsten Lichtverhältnissen  angebracht  sind. 

Demgegenüber  betont  v.  Frisch  (12),  daß 
der  experimentelle  Beweis  des  geringen  Farb- 
wertes langwelliger  Strahlen  im  Wasser,  den 
v.  H  e  ß  für  das  menschliche  Auge  erbracht  habe, 
nicht  auch  für  das  Fischauge  unbedingte  Gültig- 
keit besitzen  müsse,  daß  ferner  die  Färbung  des 
Königsseesaiblings  eine  Ausnahme  bilde,  die  nicht 
hinreiche,  um  eine  aus  der  Beobachtung  von 
32  Arten  gewonnene  Regel  umzustoßen ,  zumal 
sie  sich  als  eine  gewissermaßen  rudimentär  ge- 
wordene Erbschaft  strandlaichender  Vorfahren  er- 
klären ließe,  und  daß  sich  endlich  Schmuckfarben 
überall  nur  an  den  Körperstellen  finden  können, 
wo  sie  nicht  den  Zwecken  der  Schutzfärbung  zu- 
widerlaufen. 

Auch  über  die  Farbenanpassung  des  Crc)iilahrns 
hat  sich  zwischen  v.  Frisch  und  v.  Heß  eine 
heftige  Polemik  entsponnen.  Der  Farbenwechsel 
bei  Crciiilabrus  kommt  in  derselben  Weise  zu- 
stande wie  bei  Plwxiiius,  nur  daß  hier  außer  dem 
in  Chromatophoren  eingeschlossenen  roten  und 
gelben  Pigment  noch  ein  blaugrüner  Farbstoff 
diffus  in  der  Haut  verteilt  ist,  der  sich  in  blauem 
und  grünem  Licht  zu  vermehren  scheint.  Nach 
der  Blendung  geht  jede  gesetzmäßige  P'arben- 
anpassung  verloren,  obgleich  die  Reaktionen  der 
Chromatophoren  auf  partielle  Belichtung  oder  auf 
sonstige  Reize  nicht  beeinträchtigt  erscheinen. 

Die  ersten  Versuche  an  Crciiilabrus  wurden 
von  Gamble  (15)  an  der  Species  iiuiops  ange- 
stellt und  führten  zu  dem  Ergebnis ,  daß  die 
Wirkung  allseitiger  monochromatischer  Belichtung 
und  die  Wirkung  eines  farbigen  Grundes  einander 
insofern  entgegengesetzt  sind,  als  sich  die  Fische 
einem  farbigen  Grund  im  allgemeinen  anpassen, 
also  auf  schwarzem  Grund  dunkelbraun,  auf  weißem 
hellgrün,  auf  braunem  (durch  Expansion  der 
Chromatophoren)  braun,  auf  grünem,  allerdings 
aber  auch  auf  rotem  Grund  (durch  Expansion  des 
gelben  Pigments  in  Verbindung  mit  der  Wirkung 
des  diffusen  blauen  Farbstoffes)  grün  erscheinen, 
in  allseitiger  monochromatischer  Belichtung  da- 
gegen die  Komplementärfarbe,  also  in  grünem 
Licht  (durch  Expansion  des  roten  Pigments)  eine 
braune,  in  rotem  Licht  (durch  Expansion  des  gelben 
Pigments)  eine  grüne  Färbung  annehmen  sollen. 
Eine  analoge  Komplementärwirkung  allseitiger 
monochromatischer  Belichtung  hatte  Gamble 
für  gewisse  Crustaceen  nachgewiesen  (vgl.  22,  449). 

v.  Frisch  (8,  9,  11)  konnte  jedoch  weder  bei 


Criiti'labnis  roissali  noch  bei  Crcnilabnis  occllahis 
das  Auftreten  einer  Komplementärfarbung  in  mono- 
chromatischem Lichte  bestätigen.  Allerdings  setzte 
er  die  Fische  keiner  im  strengen  Sinn  allseitigen 
Beleuchtung  aus,  da  bei  seiner  Versuchsanordnung 
von  oben  her  überhaupt  kein  Licht  in  das  Gefäß 
eindrang,  doch  läßt  sich  aus  den  Angaben  Gam- 
bles  nicht  entnehmen,  ob  diese  Bedingung  für 
den  Ausfall  der  Versuche  wesentlich  ist.  Andrer- 
seits gelang  es  v.  P'risch  nicht,  eine  Farben- 
anpassung zu  erzielen,  wenn  er  das  monochroma- 
tische Licht  nur  vom  Boden  und  nicht  auch  zu- 
gleich von  den  Seiten  her  einfallen  ließ,  was  er 
auf  die  Lichtschwäche  der  verwendeten  Strahlen- 
filter zurückführt.  Dagegen  beobachtete  er,  daß 
sich  Crciiilabrus  roissali  durch  Expansion  der 
roten  und  gelben  Pigmentzellen  an  rotes  und 
gelbes  Licht,  durch  Kontraktion  der  farbigen 
Chromatophoren  und  eine  besonders  im  Grün 
erfolgende  Vermehrung  des  blaugrünen  Pigmentes 
an  grünes  und  blaues  Licht  adaptierte.  Bei 
Crciiilabrus  uccllatus  war  die  Farbenanpassung 
nicht  so  genau  (die  Tiere  reagierten  auf  rotes, 
gelbes  und  grünes  Licht  in  gleicher  Weise  und 
nur  auf  blaues  Licht  deutlich  synchromatisch)  und 
bei  Crciiilabrus  iiiassa  blieb  sie  überhaupt  ganz 
aus.  Da  sich  nun  die  von  v.  Frisch  verwendeten 
Farben  ihrem  farblosen  Helligkeitswert  nach  in 
der  gleichen  Reihenfolge  anordnen  ließen  wie  die 
Spektralfarben  für  das  dunkeladaptierte  menschliche 
Auge,  nämlich  zuerst  Gelb  und  Grün,  dann  Blau, 
dann  Rot,  ist  es  wenig  wahrscheinlich,  daß  die 
F"arbenanpassung  lediglich  durch  die  farblosen 
Helligkeitswertc  bestimmt  wurde;  sonst  müßten 
nämlich  maximale  und  minimale  Helligkeit  im 
gleichen,  die  Zwischenstufen  dagegen  im  entgegen- 
gesetzten Sinne  wirken.  Einen  stringenten  Schluß 
auf  das  Vorhandensein  eines  F"arbensinnes  beim 
Crciiilabrus  glaubt  allerdings  auch  v.  Frisch 
nicht  aus  dieser  Tatsache  ziehen  zu  dürfen,  doch 
bestreitet  er  die  Beweiskraft  eines  Gegenversuches 
von  V.  H  e  ß  (20),  in  dem  Crciiilabrus  (sp.  ?)  auf 
rotes  Licht  und  Lichtabschluß  in  der  gleichen 
Weise  reagierte,  weil  v.  H  e  ß  selbst  zugibt,  daß 
die  von  ihm  verwendeten  Tiere  zu  farbenphysio- 
logischen Experimenten  wenig  geeignet  erschienen. 
Auch  der  negative  Ausfall  der  Versuche 
v.  Frisch's  mit  einer  monochromatischen  Unter- 
lage bietet  dem  Einwände  von  v.  H  e  ß  (21)  keine 
Stütze,  daß  eine  Anpassung  der  Körperfarbe  in 
der  Natur  immer  nur  an  die  Unterlage,  aber  nicht 
an  allseitiges  monochromatisches  Licht  erfolgen 
könne,  da  sie  sonst  nutzlos  wäre.  Denn  einerseits 
sprechen  die  Versuche  mit  farblosen  Helligkeiten 
infolge  der  Prädominanz  der  oberen  Netzhaut- 
partien (s.  o.)  für  eine  identische  Wirkung  des 
allseitig  und  des  von  unten  her  einfallenden  Lichtes 
auf  die  Fische  ^),  andrerseits  wäre  es  natürlich  für 
ein  Tier,  das  überhaupt  ein  Farbkleid  besitzt,  von 
der  größten  Wichtigkeit,   nicht    etwa    durch    eine 


')  Anders  verhält  es  sich  bei  Crustaceen  (vgl.  22,  449). 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  30 


zur    Beleuchtungsfarbe     komplementäre    Körper- 
färbung schwarz  zu  erscheinen. 

Über  eine  synchromatische  Farbenanpassung 
bei  Flundern  hat  neuerdings  Mast  (23)  eine  kurze 
Notiz  veröffentlicht,  in  der  er,  im  Gegensatz  zu 
Sumner's  (30)  Angaben  über  die  Beschränkung 
der  adaptativen  Veränderungen  bei  Schollen  auf 
eine  Helligkeitsanpassung,  über  das  Bestehen  einer 
Farbenanpassung  an  gelbe,  blaue  und  rote  Unter- 
lagen berichtet  und,  wiederum  im  Gegensatz  zu 
Sumner,  behauptet,  daß  die  Tiere,  wenn  sie, 
nacli  eingetretener  Adaptation  an  eine  bestimmte 
Unterlage,  in  eine  neue  Umgebung  versetzt  werden, 
mit  Vorliebe  einen  der  früheren  Unterlage  gleich- 
gefärbten Grund  aufsuchen. 

Für  das  Vorhandensein  eines  Farbensinnes 
sprechen  auch  die  bei  gewissen  Teleostieren  in 
regelmäßiger  Zahl  und  Anordnung  über  den  Rumpf 
verteilten  Leuchtorgane,  die  nach  Brauer  (4) 
verschiedenfarbiges  Licht  laterad  und  ventrad  oder 
candad  und  dorsad  entsenden  und  daher  nicht, 
wie  die  am  Kopf,  an  den  Tentakeln  oder  an  der 
Rückenflosse  angebrachten  Leuchtorgane  alsSchein- 
vverfer  zur  Erhellung  desGesichtsfeldes  funktionieren 
können,  sondern  vermutlich  zum  Anlocken  der 
Artgenossen  dienen  und  das  Aufsuchen  der  Ge- 
schlechter vermitteln.  Speziell  bei  den  Mycto- 
phyiden  entwickeln  sich  die  Leuchlorgane  erst 
mit  der  Differenzierung  der  Geschlechtsorgane 
und  stellen  somit  charakteristische  sekundäre  Ge- 
schlechtsmerkmale dar. 

Wieweit  allerdings  die  Schutz-  und  Schmuck- 
farben ihren  biologischen  Zweck  tatsächlicJi  er- 
füllen, steht  noch  keineswegs  mit  genügender 
Sicherheit  fest.  Insbesondere  hatReighard  (30) 
bei  den  lebhaft  gefärbten  Korallenrifffischen  kon- 
statiert, daß  der  Färbung  vi'eder  eine  adaptative 
noch  eine  sexuelle  Bedeutung  zukommt,  ja  I' uchs 
(13)  sucht  sogar  den  Nachweis  zu  erbringen,  daß 
der  Chromatophorenapparat  nur  zur  Wärmeregu- 
lation des  Organismus  diene.  Allerdings  erscheinen 
die  Argumente,  die  er  in  seiner  vorläufigen  Mit- 
teilung gegen  die  Annahme  einer  Schutzfärbung 
und  eines  Farbensinnes  der  Fische  vorbringt,  nicht 
gerade  überzeugend. 

Aufschlüsse  über  den  Farbensinn  der  Fische 
lassen  sich  endlich  auf  Grund  einer  dritten  Me- 
thode, nämlich  durch  hütterungsversuche  mit 
Nahrungsstoffen  von  bestimmter  Farbe,  gewinnen. 
Die  älteren  Experimente  dieser  Art  sind  jedoch 
sämtliche  dem  Einwand  ausgesetzt,  daß  die  be- 
obachteten Unterschiede  im  Verhalten  der  Fische 
gegen  verschiedene  Farben  nur  auf  L'nterschieden 
im  farblosen  Helligkeitswert  der  verwendeten 
Lichter,  nicht  aber  auf  einer  spezifischen  Wirkung 
der  einzelnen  Farbqualitäten  beruhen,  und  v.  Heß 
suchte  diesen  Einwand  in  seiner  Besprechung  der 
früheren  .Arbeiten  (17)  ausführlich  zu  begründen. 
Wenn  nämlich  Zolotnitsky  (39)  fand,  daß 
Makropoden,  insbesondere  Schleien,  die  er  mit 
roten  C/iiroitoiiii/sA^zvvcn  gefüttert  hatte,  nur  auf 
rote,    aber    nicht    auf    wei(3e,    grüne    und    gelbe 


Wollfäden  losfuhren,  die  er  an  die  Aquariumwand 
heranbrachte,  —  Ähnliches  berichtet  Pieron  ("26) 
vom  Goldfisch,  Carassms  auratus,  —  so  läßt  sich 
dieses  Resultat  ohne  weiteres  aus  dem  geringen 
farblosen  Helligkeitswert  der  langwelligen  Strahlen 
erklären,  zumal  auch  total  farbenblinde  Menschen 
aus  eben  diesem  Grund  im  allgemeinen  zu  einer 
hinreichend  genauen  Erkennung  der  roten  F"arbe 
befähigt  sind.  Wenn  ferner  Washburn  und 
Bentley  (37)  bei  Semotihis  atromacitlatiis  eine 
Assoziation  zwischen  der  Nahrung  und  der  Farbe 
einer  Pinzelte  herzustellen  vermochten,  mit  der 
dem  Fische  die  Nahrung  dargeboten  wurde,  und 
die  Ausbildung  dieser  Assoziation  durch  die 
wechselweise  Verwendung  verschieden  gefärbter 
Pinzetten  prüften,  so  genügt  die  Differenz  zwischen 
den  farblosen  Helligkeitswerten  von  Dunkelrot  und 
Grün  einerseits  und  von  Hellrot  und  Hellblau 
andererseits,  um  die  Grundlage  der  Unterscheidung 
zu  bilden,  während  sich  allerdings  über  das  Ver- 
hältnis von  Hellrot  zu  Grün,  die  von  den  Fischen 
ebenfalls  auseinandergehallen  wurden,  ohne  Kennt- 
nis der  verwendeten  Farbengrade  a  priori  nichts 
aussagen  läßt.  Wenn  endlich  nach  R  e  i  g  h  a  r  d  (30) 
Lutiaiitis  i^risf/zs,  dessen  gewöhnliches  Futter 
die  farblos  silberglänzenden  Atherinen  bilden,  bei 
gleichzeitiger  Darbietung  von  weißen  und  blau 
gefärbten  Atherinen  zuerst  nach  den  weißen,  bei 
gleichzeitiger  Darbietung  blauer  und  roter  Athe- 
rinen zuerst  nach  den  blauen  schnappte,  und  wenn 
er  rote  Atherinen,  die  durch  die  Einführung  von 
Nesselquallen  ungenießbar  gemacht  wurden ,  von 
weißen  Atherinen  zu  unterscheiden  lernte,  so  steht 
einer  Zurückführung  dieser  Erscheinungen  auf  die 
farblosen  Helligkeitswerte  der  verwendeten  Farben 
nichts  im  Wege.  Weniger  gut  stimmt  es  dagegen 
zu  dieser  Erklärung,  daß  Liitiaiius  keinen  Unter 
schied  zwischen  blauen  und  grünen  Atherinen 
machte,  zumal  neben  einem  dunkleren  auch  ein 
sehr  helles  Grün  benutzt  wurde,  und  die  relative 
Aufhellung,  die  das  Blau  dem  Grün  gegenüber 
beim  Übergang  vom  Tages-  zum  Dämmerungs- 
sehen erfährt,  vermutlich  zu  gering  gewesen  wäre, 
um  das  Helligkeitsverhältnis  zu  invertieren.  Auch 
zog  der  Fisch  die  blauen  den  gelben  Atherinen 
vor,  obzwar  das  verwendete  Gelb  noch  erheblich 
heller  erschien  als  das  Hellgrün. 

V.  H  e  ß  versuchte  aber,  ebenfalls  auf  Grund 
der  Fütterungsmethode,  einen  direkten  Nachweis 
für  die  Farbenblindheit  der  Fische  zu  erbringen 
(16,18).  Er  beobachtete  nämlich,  daß  Jiili's  pavo, 
Mt(gil  und  Phoxinns  Oüro>iomus-\jix\zr\,  die  in 
dem  rot  belichteten  Teil  des  Aquariums  zu  Boden 
sanken,  nicht  mehr  zu  sehen  vermochten,  wenn 
die  Intensität  der  Beleuchtung  nicht  allzusehr  ge- 
steigert wurde,  was  er  auf  den  geringen  farblosen 
Helligkeitswert  der  langwelligen  Strahlen  zurück- 
führt. Er  beobachtete  ferner,  daß  Mugil  und 
Plwxinus,  die  mit  (roten)  CIiironotints-L^rven  ge- 
füttert zu  werden  pflegten,  ohne  Unterschied  auf 
rote,  schwarze,  dunkelgelbe,  dunkelgrüne  und 
dunkelblaue  Attrappen  von   der  Form  der  Üiiro- 


N.  F.  Xin.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


473 


nomus-LüTvcn  losschwammen,  die  an  die  Glas- 
wände herangebracht  oder  zwischen  Glasplatten 
in  das  Aquarium  eingetaucht  wurden,  und  es  ge- 
lang ihm  endlich,  Helligkeitsgleichungen  zwischen 
farbigen  Unterlagen  und  Attrappen  herzustellen, 
deren  Bestehen  sich  daraus  erschließen  ließ,  daß 
die  Fische  niemals  auf  Attrajipen  losfuhren,  die 
den  gleichen  farblosen  Helligkeitswert  besaßen 
wie  die  Unterlage,  während  jede  Differenz  der 
farblosen  Helligkeitswerte  genügte,  um  die  Fische 
zum  Angriff  auf  die  Attrappen  zu  veranlassen. 
Auch  bei  diesen  Experimenten  vermochte  v.  Heß 
festzustellen,  daß  der  Helligkeitswert  des  Blau 
durch  die  Absorption  der  kurzwelligen  Strahlen 
im  innenständigen  Pigment  (s.  o.)  nicht  wesentlich 
beeinflußt  wurde. 

Wiederum  aber  war  es  v.  Frisch,  der  bei  der 
Untersuchung  von  PJwxiiuis  zu  abweichenden 
Resultaten  gelangte  (9).  Wenn  er  nämlich  Pfrillen 
längere  Zeit  hindurch  mit  gelb  gefärbtem  Schab- 
fleisch gefüttert  hatte,  fuhren  die  Tiere  stets  auf 
gelbe  Papierflecke  los,  die,  auf  einen  grauen  Karton 
geklebt,  an  die  Aquariumswand  herangebracht 
wurden,  selbst  wenn  dieses  Gelb  den  gleichen 
farblosen  Helligkeitswert  besaß  wie  die  graue  Unter- 
lage, ließen  dagegen  hellere  und  dunklere  graue 
Papierstückchen,  die  auf  dieselbe  Unterlage  aufge- 
klebt waren,  ausnahmslos  unberücksichtigt,  v.  H  e  ß 
bestritt  allerdings  wieder  die  Richtigkeit  dieser 
Beobachtung  und  behauptete  (21),  daß  bei  An- 
wendung farbiger  Attrappen  unter  Glas  selbst 
Tiere,  die  auf  die  gelbe  Farbe  dressiert  waren, 
keinerlei  Bevorzugung  des  Gelb  erkennen  ließen. 
Demgegenüber  wiederholte  v.  Frisch  seine  Ver- 
suche und  gelangte  zu  dem  Ergebnis  (12),  daß 
sowohl  die  auf  Gelb  wie  die  auf  Rot  dressierten 
Fische  nicht  nur  Gelb,  sondern  auch  Rot  auf  einem 
Grund  von  gleichem  farblosem  Helligkeitswert 
erkennen  und  nur  auf  diese  Farben  losfahren,  daß 
sie  dagegen  Gelb  und  Rot  miteinander  verwech- 
seln. Eine  Anziehung  der  auf  Gelb  und  Rot 
dressierten  Individuen  durch  Grün  und  Blau  war 
nur  in  Ausnahmefällen  zu  beobachten.  Endlich 
vervollkommnete  v.  Frisch  seine  Methode,  indem 
er  die  Pfrillen  daran  gewöhnte,  ihr  Futter  aus 
Glasnäpfchen  zu  holen,  die  durch  eingeschmolzene 
graue  und  bunte  Papiere  eine  verschiedene  Färbung 
erhalten  hatten.  Dabei  zeigte  sich,  daß  die  Fische 
nicht  nur  Gelb  und  Rot,  sondern  auch  Grün  und 
Blau  von  allen  Abstufungen  des  Grau  unterschieden, 
daß  sie  ferner  imstande  waren,  Blau  un'd  Grün  von- 
einander und  von  den  übrigen  Farben  zu  sondern, 
daß  sie  dagegen  Rot  und  Gelb  wie  in  den  früheren 
Experimenten  miteinander  verwechselten.  Über 
die  farblosen  Helligkeitswerte  der  verwendeten 
Papiere  gibt  v.  Frisch  allerdings  ebensowenig 
Auskunft  wieOxner(25)  in  seinem  Bericht  über 
analoge  Versuche  mit  Seefischen. 

Wie  sich  aus  diesem  kurzen,  nur  die  wichtig- 
sten Streitpunkte  berücksichtigenden  Überblick  er- 
gibt, besteht  vorläufig  noch  keine  IVlöglichkeit,  die 
vielen    einander  widersprechenden  Beobachtungen 


und  Behauptungen  über  den  Farbensinn  der  Fische 
zu  einem  befriedigenden  Gesamtbilde  zu  vereinigen. 
Die  anatomischen  Daten  können  natürlich  zur 
Klärung  der  Frage  keinen  entscheidenden  Beitrag 
liefern.  Doch  ist  zu  beachten,  daß  sich  bei  den 
meisten  Fischen  „Stäbchen"  und  „Zapfen"  (von 
denen  die  ersteren  im  menschlichen  Auge  als 
Träger  der  farblosen,  die  letzteren  als  Träger  der 
farbigen  Empfindung  betrachtet  werden)  nicht  nur 
ihrer  Gestalt  nach  unterscheiden  lassen ,  sondern 
daß  bei  den  Sehzellen  der  Selachier  und  der 
Teleostier  auch  die  P'orm  der  Fußstücke  und  die 
nervöse  Versorgung  Differenzen  aufweisen,  welche 
nach  Puetter  (29)  den  eigentlichen  Unterschied 
zwischen  Stäbchen  und  Zapfen  begründen,  indem 
sich  das  Fußstück  der  Zapfen  dendritisch  ver- 
zweigt und  nur  mit  einer  einzigen  Nervenfaser  in 
Verbindung  steht,  während  das  Fußstück  der 
Stäbchen  knopfförmig  endigt  und  zugleich  mit 
den  Fußstücken  mehrerer  anderer  Stäbchen  von 
den  Ausläufern  derselben  Nervenzelle  umsponnen 
wird.  Daneben  kommen  aber  bei  den  Selaclüern 
auch  dendritisch  endigende  Stäbchen  und  bei  den 
Teleostiern    summierend    abgeleitete    Zapfen    vor. 

Literaturverzeichnis. 
1)  Bauer,  V.,  Über  das  Farbenunterscheidungsvermögen 
der  Fische.  Pflüger's  Arch.  133,  1910.  —  2)  Ders.,  Über  die 
tonische  Innervation  der  Pigmentzcllen  bei  den  Fischen.  Zcn- 
tralbl.  f.  Physiol.  24,  19 10.  —  ;{)  Ders.,  Zu  meinen  Versuchen 
über  das  Farbenunterscheidungsvermögen  der  Fische.  Pflüger's 
Arch.  137,  1911.  —  4)  Brauer,  A.,  Über  die  Leuchtorgane 
der  Knochenfische.  Verh.  d.  deutsch,  zool.  Ges.  1904.  — 
5)  Buytendyk,  F.,  Über  die  Farbe  der  Tarbutten  nach 
Exslirpation  der  Augen.  Biol.  Zentralbl.  31,  igi  I.  —  6)Franz, 
V.,  Phototaxis  und  Wanderung.  Intern.  Rev.  f.  d.  ges.  Hy- 
drobiol.  3,  1910.  —  7)  v.  Frisch,  K. ,  Beiträge  zur  Physio- 
logie der  Pigmentzellen  in  der  Fischhaut.  Pflüger's  .Arch.  138, 
191 1.  —  S)  Ders.,  Über  den  Farbensinn  der  Fische.  Verh. 
d.  deutsch,  zool.  Ges.  191 1.  —  9)  Ders.,  Über  farbige  An- 
passung bei  Fischen.     Zool.  Jahrb.  (Allg.  Zool.)  32,   1912.  — 

10)  Ders.,    Sind  die  Fische  farbenblind?     Ibid.  33,    1912.  — 

11)  Ders.,   Über  die  Farbenanpassung    des    Cieniiabnis.     Ibid. 

—  12)  Ders.,  Weitere  Untersuchungen  über  den  Farbensinn 
der  Fische.  Ibid.  34,  1913.  —  13)  Fuchs,  R.  F.,  Die  phy- 
siologische F\mktion  des  Chromatophorensyslems  als  Organs 
der  physil<alischen  Wärmeregulierung  der  Poikilolhermen. 
Sitzungsber.    d.    physik.-raed.    Sozietät    Erlangen    44,   1912.  — 

14)  Ders.,  Der  Farbenwechsel  und  die  chromatische  Haut- 
funktion der  Tiere  (in  Win  ters  te  in 's  Handb.  der  vergl. 
Physiologie,     im    Erscheinen    begrift'en).       Jena,    igißf.     — 

15)  Gamble,  F.  W. ,  The  relation  between  light  and  pig- 
ment  formation  in  Crenilahrns  and  Hippolyte.  Qu.  Journ. 
niicr.  science  55,  1910.  —  l(i)  v.  Hefl,  C,  Untersuchungen 
über  den  Lichtsinn  bei  Fischen.  Arcli.  f.  Augenheilkunde  64 
(Erg.  -  Heft) ,  1909.  —  IT)  Ders.,  Über  den  angeblichen 
Nachweis  von  F'arbensinn  bei  Fischen.  Pflüger's  Arch.  134, 
1910.  —  18)  Ders.,  Experimentelle  Untersuchungen  zur  ver- 
gleichenden Physiologie  des  Gesichtssinnes.     Ibid.   142,    1911. 

—  1!))  Ders.,  Gesichtssinn  (inWinterstein's  Handbuch  d. 
vergl.  Physich).  Jena  1912.  —  20)  Ders.,  Untersuchungen  zur 
Frage  nach  dem  Vorkommen  von  Farbensinn  bei  Fischen. 
Zool.  Jahrb.  (Allg.  Zool.)  31,  1912.  —  21)  Ders.,  Neue  Unter- 
suchungen zur  vergleichenden  Physiologie  des  Gesichtssinnes. 
Ibid.  33,  1913.  —  22)  Kafka,  G.,  Einführung  in  die  Tier- 
psychologie. I.  L.,  1913.  —  23)  Mast,  S.  Ü.,  Changes  in 
pattern  and  color  in  fishes  with  special  reference  to  floundcrs. 
(Ref.)  Science  38,  1913.  —  24)  M  a  y  e  r  h  o  f  e  r ,  F.,  Farb- 
wechselversuche am  Hecht.  .Arch.  f.  Entwicklungsmech.  28, 
1909.  —  25)  Oxner,  M.,  Resultat  des  expericnces  sur  la 
memoire,  sa  duree  et  sa  nature  chez  les  poissons  marins.    Bull. 


474 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  30 


inst,  oceanogr.  Monaco  232,  1912.  —  26)  Pieron,  H.,  Con- 
tribution  a  l'ctude  des  phfnomcnes  sensoriels  et  du  comporle- 
ment  des  vertc-bres  inferieurs.  Bull.  inst.  gen.  psychol.  8, 
1908.  —  27)  Polimanti,  O.,  Über  den  Einfluß  der  .\ugen 
und  der  Bodenbcschaffenheit  auf  die  Farbe  der  Pleuronectiden. 
Biol.  Zentralbl.  32,  1912.  —  2S)  Pouchet,  G.,  Des  change- 
ments  de  coloration  sous  l'intluence  des  nerfs.  Journ.  anat. 
et  physiol.  12,  1S76.  —  29)  Puetter,  A.,  Org.inologie  des 
Auges  (in  Graefe-Saemisch's  Handb.  d.  ges.  .Augenheil- 
kunde) 3.  Aufl.,  L.  1912.  —  30)  Reighard,  J.,  An  experi- 
mental  field-study  of  warning  coloration  in  coral-reef-fishes. 
Publ.  Carnegie  Inst.  103,  190S.  —  31)  v.  Rynberk,  G.,  Über 
den  durch  Chromatophoren  bedingten  Farbwechsel  der  Tiere. 
Ergebn.  d.  l'hysiol.  5,  1906.  —  32)  Ders.,  Kleinere  Beiträge 
zur    vergleichenden    Physiologie.       Zentralbl.    f.    Physiol.    24, 


1910.  —  33)  Secerov,  S.,  Farbwechsclversuche  an  der 
Bartgrundel.  Archiv  für  Entwicklungsmechanik  28,  1909.  — 
34)  Ders.,  Weitere  Farbwechsel-  und  Hauttransplantations- 
versuche an  der  Bartgrundel.  Ibid.  33,  1912.  —  3.5)  Ders., 
Über  einige  Farbwechselfragen.  Biol.  Zentr.albl.  33,  I9I3-  — 
3())  Sumncr,  Fr.,  The  adjustment  of  flatlishes  to  various 
backgrounds.  Journ.  exp.  zool.  lo,  191 1.  —  3")  Wash- 
burn,  M.  F.,  and  Bentley,  J.  M.,  The  establishment  of  an 
association  involving  color  discrimination  in  the  creek-chub 
Saiiotil:is  alromaculatus.  Journ.  comp,  neurol.  and  psychol. 
16,  1906.  —  38)  Wiener,  O. ,  Farbenphotographie  durch 
Körperfarben  und  mechanische  Farbenanpassung  in  der  Natur. 
Wiedemann's  Ann.  N.  F.  55,  1895.  —  39)  '^  ol  o  t  nitsky ,  N., 
Les  poissons  distinguent-ils  les  couleurs?  .Arch.  zool.  exp. 
(Notes  et  Revues)  ser.  3,  t.  9,   1895. 


Einzelberichte. 


Mineralogie.  Neue  Mineralien.  Hodgkinsonit 
benennen  C.  Palache  (Cambridge,  Mass.)  und 
W.  T.  Sc  ha  11  er  (Washington)  ein  neues  Mineral, 
das  vom  Bergwerksinspektor  H.  H.  H  o  d  g  k  i  n  s  o  n 
in  der  Parkcr-Mine,  Franklin  Furnace,  N.  J.,  auf- 
gefunden wurde,  und  das  sie  in  Heft  6,  Bd.  53, 
1914  der  ,,Zeitschr.  f.  Kristallographie  u.  Minera- 
logie" beschreiben.  Hodgkinsonit  ist  ein  mono- 
klines,  wasserhaltiges  Zink-Mangansiiikat  und  kommt 
in  Spalten  in  derbem,  körnigem  Erz  immer  ver- 
gesellschaftet mit  weißem  Baryt  und  nicht  selten 
mit  Blättchen  von  gediegenem  Kupfer  vor.  Die 
Paragenesis  und  die  Art  des  Vorkommens  weisen 
beide  auf  pneumatolytische  Entstehung  hin. 

Kristalle  sind  nicht  häufig  und  sind  teilweise 
durch  Lösung  stark  angegriffen,  ihre  flächen  sind 
im  allgemeinen  matt  oder  fazettiert.  Sie  gehören 
der  monoklinen  Holoedrie  an.  Das  Achsenverhält- 
nis ist  a:  b  :  c  ^  1,539  :  I  :  1,1165,  ß^'^'i'*  ll^'.i'- 
Beobachtet  wurden  hauptsächlich  Basis,  Prisma, 
Klinodoma  und  verschiedene  P)-ramiden.  Die 
Kristalle  sind  spitzpyramidal.  Die  Spaltbarkeit  ist 
voUkoinmen  und  geht  parallel  der  Basis.  Die 
Dichte  beträgt  3,91,  die  Härte  ist  etwas  geringer 
als  5.  Die  optischen  Eigenschaften  konnten  nur 
unvollkommen  bestimmt  werden,  der  mittlere 
Brechungsexponent  (bestimmt  mit  der  Immersions- 
methode) ist  1,73.  Die  Farbe  des  Minerals  wechselt 
von  hellem  Blaßrosa  bis  zum  blassen  Rötlichbraun. 
Der  Glanz  ist   glasartig,  der  Strich  weiß. 

Das  Mineral  verknistert  vor  dem  Lötrohr  und 
schmilzt  leicht  und  ruhig  zu  einer  braunen  Schmelze. 
Im  geschlossenen  Rohr  erhitzt,  dekrepitiert  es 
heftig  und  zersplittert  in  zahlreiche  dünne  Spalt- 
blättchen,  die  beim  weiteren  Erhitzen  Wasser  ab- 
geben und  braun  werden.  Es  löst  sich  ferner 
leicht  in  Säuren  unter  Bildung  gelatinöser  Kiesel- 
säure. Das  Mittel  aus  drei  Analysen  ergab  folgende 
Zusammensetzung : 

SiO.,  =  19,86 

MnÖ  =  20,68 

ZnO  =  52,93 

CaO  =    0,93 

MgO  =    0,04 

H,,0=    5,77„ 
100,21 


Außerdem  fand  sich  noch  eine  zweifelhafte 
Spur  von  Blei.  Bei  1 10"  gab  das  Mineral  kein 
Wasser  ab.  Die  Verfasser  leiten  aus  der  Analyse 
folgende  Formel  ab:  Mn-(ZnOH)-SiOi. 

F.  H. 

Astronomie.  Den  Druck  in  der  umkehren- 
den Schicht  der  Sonne  versucht  Evershed  ab- 
züschätzen  (Kodaikanal  Obs.  Bull.  Nr.  18  und  36), 
indem  er  die  Annahme  macht,  daß  die  hier  vor- 
kommenden Linien,  die  die  größte  und  die 
schwächste  Einwirkung  des  Druckes  zeigen,  sich 
auf  der  Sonne  ebenso  verhalten,  wie  im  Labora- 
torium. Unter  der  Erwägung,  daß  die  wahrschein- 
lich vorkommenden  Unterschiede  in  der  Höhe 
der  Schichten  Druckunterschiede  hervorrufen,  zeigt 
er,  daß  die  Bewegungen  der  Linien  gegen  das 
rote  Ende  ganz  gut  als  Bewegungen  in  der  Ge- 
sichtslinie erklärt  werden  können.  Es  handelt 
sich  um  sehr  geringe  Größen,  so  daß  große  wahr- 
scheinliche Fehler  vorkommen,  aber  es  scheint 
doch ,  daß  der  Druck  nicht  der  Hauptfaktor  ist. 
An  manchen  Stellen  kommen  sogar  sehr  geringe 
Drucke  vor,  geringer  als  beim  elektrischen  Licht- 
bogen. Es  müssen  also  aufsteigende  Strömungen 
vorkommen,  die  dem  Druck  entgegen  wirken. 
Die  starken  Linien  zeigen  auch  stärkere  Bewegung, 
wie  die  schwächeren.  Riem. 

Meteore  in  sehr  bedeutenden  Höhen  hat 
Denning  teleskopisch  häufig  bei  der  Suche 
nach  Kometen  beobachtet.  Nimmt  man  an, 
daß  sie  etwa  ebenso  schnell  sich  bewegen, 
wie  die  mit  bloßem  Auge  sichtbaren,  so  findet 
man  Höhen  von  über  2000  —  3000  km.  Schon 
Mason  hatte  in  einem  Falle  eine  Höhe  von  über 
2000  km  festgestellt.  Leider  hat  man  noch  keinen 
Fall,  wo  ein  solches  teleskopisches  Meteor  an 
zwei  Stationen  gleichzeitig  beobachtet  worden  ist, 
um  die  genaue  Höhe  festzustellen.  Bei  unserer 
Kenntnis"  der  Abnahme  der  Dichtigkeit  der  At- 
mosphäre scheint  es,  daß  so  hoch  fliegende  Kör- 
per, um  leuchtend  zu  sein,  sich  von  den  gewöhn- 
lichen Meteoren  erheblich  unterscheiden  in  ihrem 
Wesen,  ihrem  Material  und  ihrer  Bewegung.  Jeden- 
falls verdient  diese  Erscheinung  ein  eingehendes 
Studium.     (Observatory  Mai   1914-)  Riem. 


N.  F.  Xni.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


475 


Chemie.  Das  Kahumcarbonyl.  Geschmolzenes 
Kalium  absorbiert  Kohlenoxyd  unter  Bildung  des 
sog.  Kohlenoxydkaliums,  das  zuerst  von  Liebig 
1834  untersucht  wurde.  Dieses  Kohlenoxydkalium 
ist  ein  Hexaoxybenzolkalium  Co^OK)^.  Von  dieser 
Kohlenoxydverbindung  verschieden  ist  eine  Sub- 
stanz, die  Joannis  (Compt.  Rend.  11(5,  1518) 
dadurch  erhalten  hat,  daß  er  in  eine  Lösung  von 
Kaliumammonium  in  kaltem  flüssigem  Ammoniak 
bei  — 50"  trockenes  Kohlenoxyd  einleitete.  Das 
so  entstehende  Kalium  carbonyl,  dem  die 
Bruttoformel    KCO    zukommt,    ist    sehr    explosiv, 


detoniert  bei  loo"  und  zersetzt  sich  bei  Zutritt 
von  Luft  oder  einem  Tropfen  Wasser  schon  bei 
gewöhnlicher  Temperatur.  Über  die  Konstitution 
dieser  Verbindung  berichtet  Joannis  (Compt. 
Rend.  de  rAcademie  des  Sciences  158,  874). 
Bringt  man  das  Kahumcarbonyl,  am  besten  in 
flüssigem  Ammoniak  suspendiert,  sehr  vorsichtig 
mit  Wasser  zusammen,  so  bildet  sich  Glykolsäure. 
Die  Reaktion  verläuft  nach  dem  Schema 
K .  CO  •  CO  •  K  -f  2  H.3O  =  CH.,OH  •  COOK  +  KOH. 
Das  Kahumcarbonyl  ist  also  als  Dikaliumglyoxal 
[(KCOjä]  aufzufassen.  Bugge. 


Bücherbesprechungen. 


Dr.  A.  Goldhammer,  Dispersion  und  Ab- 
sorption des  Lichtes.  Mit  28  Figuren. 
Leipzig  1913,  Verlag  von  Teubner.  —  Preis 
3,60  Mk. 

Ausgehend  von  der  Planck' sehen  Theorie 
hat  sich  Verfasser  damit  beschäftigt,  die  Theorie 
über  die  verwickelten  Erscheinungen  der  Disper- 
sion und  Absorption  des  Lichtes  in  ruhenden  iso- 
tropen Körpern  zu  erklären.  Von  den  drei 
Theorien  von  Drude,  Lorentz  und  Planck, 
hat  sich  die  erste  in  ihren  Grundlagen  als  un- 
richtig herausgestellt.  Die  beiden  anderen  sind 
insofern  nur  zu  speziell,  weil  sie  nur  für  die  Nicht- 
leiter mit  einem  Absorptionsstreifen  hinreichend 
geklärt  sind.  Verfasser  verallgemeinert  nun,  wie 
oben  erwähnt,  die  Pia  nck 'sehe  Theorie,  so  daß 
sie  auch  die  Erscheinungen  in  den  Nichtleitern 
mit  mehreren  Absorptionsstreifen  und  in  den 
Metallen  erklärt,  indem  die  elektromagnetischen 
Schwingungen  elektrischer  Dipole  in  einer  Form 
dargestellt  werden,  in  welcher  die  Leiter  als  Grenz- 
fall der  Nichtleiter  erscheinen.  Eingehend  berück- 
sichtigt sind  die  Folgerungen  der  Dispersions- 
theorie für  die  durchsichtigen  und  lichtabsorbieren- 
den Körper,  ferner  für  Körper  in  verschiedenen 
Aggregatzuständen,  für  Lösungen  und  chemische 
Verbindungen ,  wobei  Verfasser  zu  interessanten 
neuen  Resultaten  gelangt  ist.  Die  elektromagne- 
tischen Schwingungen  der  Dipole  wurden  dabei 
als  mechanische  Schwingungen  gewisser  elektri- 
scher Kerne  betrachtet.  Diese  Theorie  lehnt  sich 
an  die  modernen  Theorien  an,  da  man  aus  den 
Konstanten  der  Kerne  schließen  kann ,  daß  die- 
jenigen Kerne,  durch  deren  Schwingungen  die 
Absorption  der  ultravioletten  und  sichtbaren 
Strahlen  veranlaßt  werden,  Elektronen  sind.  Die 
Beweisführung  dieser  Theorie  ist  gründlich  durch- 
geführt, wie  auch  ihre  Ausdehnung  auf  die  allge- 
meine Elektronentheorie  der  elektromagnetischen 
Erscheinungen  in  den  Metallen.  P.  Runze. 


Dr.  Bryk,  Kurzes  Repetitorium.  II.  Orga- 
nische Chemie  nach  den  Werken  und  Vor- 
lesungen von  Arnold,  Bernthsen ,  Erdmann, 
P'ischer,    Graham-Otto,   Krafft,    Lieben,  Ludwig, 


E.  v.  Meyer,  Nernst,  Oppenheimer,  Ostwald, 
Pinner,  Richter,  Roscoe-Schorlemmer,  E.  Schmidt 
usw.  IV.  Auflage.  Breitenstein's  Repetitorium 
Nr.  8.  Leipzig  1913,  Verlag  von  J.  A.  Barth. 
—  Preis  6  Mk.,  geb.  6,45  Mk. 
Erwähntes  Repetitorium  ist  eine  kurze  Zusam- 
menstellung möglichst  viel  organisch- chemischer 
Stoffe,  die  technisch  oder  rein  wissenschaftlich 
wichtig  sind ,  ihrer  Beziehungen  zueinander  und 
deren  Darstellungsmethoden.  Verf.  hat  besonders 
Wert  darauf  gelegt,  von  allen  angeführten  Ver- 
bindungen die  allgemeinen  Eigenschaften  zu  be- 
schreiben und  meistens  auch  gut  gewählte  Bei- 
spiele der  betreffenden  Körperklasse  anzuführen. 
Vor  allem  bietet  das  Wiederholungsbüchlein  viel 
in  bezug  solcher  Körper,  die  technologisch  oder 
pharmazeutisch  von  Bedeutung  sind,  ferner  solcher, 
die  in  der  Färb-  und  Riechstoft'industrie  eine 
Rolle  spielen.  Der  Vorteil  des  Werkes,  durch  die 
Berücksichtigung  zahlreicher  Lehrbücher  und  Vor- 
lesungen erster  Gelehrten  sehr  vielseitig  zu  sein, 
hat  natülich  den  Nachteil  zur  Folge,  daß  das 
Buch  als  Repetitorium  viel  zu  umfangreich  er- 
scheint. Dieser  Vorwurf,  den  man  dem  Buche 
bei  oberflächlicher  Betrachtung  machen  kann,  ist 
aber  unbegründet,  da  das  wichtigste  durch  größeren 
Satz  hervorgehoben  und  sehr  übersichtlich  darge- 
stellt ist.  Das  Werk  dient  daher  auch  als  Nach- 
schlagewerk, das  die  wichtigsten  Forschungen  und 
Erfahrungen,  auch  in  Einzelheiten,  der  organischen 
Chemie  schildert.  Auch  sind  überall  deutlich  die 
Konstitutionsformeln  angegeben. 

Nicht  nur  der  Examenskandidat,  sondern  der 
wissenschaftlich,  theoretisch  oder  praktisch  arbei- 
tende Chemiker  wird  es  viel  benutzen  können. 

P.  Runze. 

Magnus,  Prof.  Dr.  Werner,    Die  Entstehung 
der    Pflanzengallen,    verursacht    durch 
Hymenopteren.      Mit  32  Abbild,    im  Text    und 
4  Doppeltafeln.     Jena  '14,  G.  Fischer.  —  9  Mk. 
Der    Autor    gibt    in    dieser   Schrift    einen    zu- 
sammenfassenden   Bericht    über    seine    bisherigen 
Untersuchungen,  die  das  Ziel  hatten,  die  „näheren 
Ursachen  aufzuhellen,    welche  die  Entstehung  der 


476 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  30 


Pflanzengallen  bedingen",  und  versucht  am  Schluß 
auf  breiter  spekulativer  Grundlage  eine  allgemeine 
theoretische  Erörterung  des  Gallenproblems  zu 
geben.  Seine  neuen  I^eobachtungen  erstrecken 
sich  vornehmlich  auf  die  Schlafäpfel  der  Rose,  die 
Triebspitzengalle  der  Eiche,  auf  Isosomagallen,  auf 
Luftwurzeln  von  Ficus  und  Orchideen,  sowie  auf 
etliche  Pontaniagallen  der  Weide,  besonders  die 
von  Pontania  proxima  hervorgerufenen. 

Bei  der  Rhodites  rosea-Galle  stellt  er  fest,  daß 
das  Ei  des  Insektes  mit  seinem  Ende  in  eine 
Epidermiszelle  hineingedrückt  wird,  also  doch  eine 
Verwundung  eintritt.  In  der  Nachbarschaft  des 
Eies  tritt  dann  eine  auf  Giftwirkung  zurück- 
zuführende Auflösung  des  Gewebes  ein,  so  daß 
das  Ei  allmählich  in  diese  Höhlung  hineinsinkt. 
Erst  jetzt  beginnen  die  angrenzenden  Zellen  zu 
wuchern,  bis  die  durch  die  Auflösung  des  vom 
Verf.  als  Lysenchym  bezeichneten  Gewebes  hervor- 
gerufene Höhlung  geschlossen  ist.  Er  hält  also, 
indem  er  dem  Lysenchym  eine  allgemeine  Be- 
deutung zuschreibt,  die  .Annahme,  daß  eine  Um- 
wallung des  Eies  oder  der  Larve  erfolge,  nicht 
für  erwiesen.  In  ganz  ähnlicher  Weise  konstatiert 
der  Verf.  bei  den  Triebspitzengallen  der  Eiche, 
daß  nach  dem  Durchbruch  der  EihüUe  von  der 
Larve  zunächst  eine  destruktive  Wirkung  auf  die 
ihr  zunächst  liegenden  Zellen  der  Knospe  ausgeübt 
wird,  worauf  ein  ähnlicher  Auflösungsprozeß  und 
eine  L'mwalluiig  der  lysenchymatisch  entstandenen 
Larvenhöhle  stattfindet,  wie  oben.  Er  versucht 
hier  nun,  die  von  der  Larve  ausgehenden  Wirkungen, 
die  an  diejenigen  von  Enzymen  proteolytischer 
oder  diastatischer  Art  erinnern,  zu  präzisieren,  indem 
er  mittels  der  Diffusionsmethode  Eier  und  Larven 
auf  etwaige  .'\usscheidung  von  Diastase  und  pro- 
teolytischen Enzymen  untersucht.  Wie  zu  er- 
warten war,  zeigten  zerquetschte  Eier  und  Larven 
derartige  Ausscheidungen,  dagegen  wurden  sie  bei 
ungeöffneten  Eiern  vermißt.  Wie  sich  die  aus- 
geschlüpften Larven  in  dieser  Hinsicht  verhalten, 
ist  nicht  angegeben.  \'erf.  meint,  daß  Enzyme 
nicht  in  Frage  kommen,  vielmehr  irgendein  Gift- 
stoff die  Auflösung  bewirke.  Auch  bei  den 
Isosomagallen  weist  Verf.  einen  spezifischen  auf 
etwaiger  Sekretion  eines  gallenbildenden  Sekretes 
von  Seiten  des  Eies  zurückzuführenden  Reiz  ab. 
Von  besonderen-!  Interesse  ist  dann  die  erneute 
Untersuchung  der  durch  Beyerincks  klassische 
Studien  bekannt  gewordenen ,  von  Pontania  be- 
wirkten Weidengallen.  Verf. bestätigt  Beyerincks 
Angabe,  daß  das  Ei  nicht  die  Entwicklung  der 
Galle  bewirkt,  indem  er  beobachtet,  daß  nach  dem 
Herauspräparieren  der  eben  abgelegten  Eier  nor- 
male, allerdings  etwas  kleinere  Gallen  entstehen, 
daß  also  der  Stich  allein  genügt.  Da  jedoch 
Injektion  des  Sekretes  der  Giftdrüse  des  Insektes 
in  künstliche  Wunden  erfolglos  blieb,  ist  er  geneigt, 
der  Art  der  Verwundung  den  Haupterfolg  zuzu- 
schreiben. 

In  dem  allgemeinen  Teil    faßt   der  Verf.  seine 
Ansicht  über  die  Entstehung   der  Hymenopteren- 


gallen  zusammen,  indem  er  scharf  zwischen  einem 
ersten,  im  Anschluß  an  die  stets  vorhandene  Wunde 
auftretenden  „unspezifischen  Entwicklungsstadium" 
unterscheidet  und  einem  zweiten  „spezifischen", 
das  von  der  ständigen  Beeinflussung  durch  die 
lebende  und  sich  fortentwickelnde  Larve  abhängt. 
Wie  nun  diese  letztere  zu  denken  ist,  erörtert 
Verf.  in  längeren  spekulativen  Auseinandersetzungen, 
wegen  derer  auf  das  Original  verwiesen  sei.  Er- 
wähnt sei  nur,  daß  er  die  z.  B.  von  Küster  scharf 
formulierte  Ansicht,  jede  hochentwickelte  Galle 
sei  eine  durch  spezifische  Giftstoffe  hervorgerufene 
Chemomorphose  ablehnt  und  betont,  daß  die  all- 
gemein-physiologischen Beziehungen  der  in  engem 
Kontakt  miteinander  lebenden  Komponenten  ebenso 
gut  zur  Erklärung  ausreichen  könnten. 

Miehe. 

Die  Kultur  der  Gegenwart.  3.  Teil,  4.  Abteil., 
4.  Band.  R.  Hertwig  und  R.  v.  Wet  t  ste  in: 
Abstammungslehre,  Systematik,  Paläontologie, 
Biogeographie.  620  S.  mit  112  Fig.  Leipzig 
1914,  Verlag  von  B.  G.  Teubner. 

1)  Die  Abstammungslehre  von  R.  Hertwig. 

2)  Prinzipien  der  Systematik  mit  besonderer 
Berücksichtigung  des  Systems  der  Tiere  von 
L.  Plate. 

3)  Das  System  der  Pflanzen  von  R.  v.  Wett- 
stein. 

4)  Biogeographie  von  A.  Brauer. 

5)  Pflanzengeographie  von  A.  Engler. 

6)  Tiergeographie  von  A.  Brauer. 

7)  Paläontologie  und  Paläozoologie  von  O. 
Abel. 

8)  Paläobotanik  von  W.  J.  Jongmans. 

9)  Phylogenie  der  Pflanzen  von  R.  v.  Wett- 
stein. 

10)  Phylogenie  der  Wirbellosen  von  K.  He id er. 

1 1)  PhylogeniederWirbeltierevonJ. E.V.Boas. 

12)  Namen-  und  Sachregister  von  E.Janchen. 

1)  In  klarer  und  umfassender  Weise  behandelt 
der  Autor  das  schwierige  Gebiet,  indem  er  sich 
über  den  Artbegriff,  die  Variabilität,  die  vermut- 
lichen Ursachen  der  .'Artbildung  und  über  die 
Stammesgeschichte  verbreitet.  Zu  strittigen  Fragen 
nimmt  er  dabei  sehr  vorsichtig  Stellung. 

2)  Von  großem  Wert  für  jeden,  der  sich  mit 
Systematik  beschäftigt,  sind  die  folgenden  Aus- 
führungen, die  sich  mit  den  Aufgaben  der  Syste- 
matik und  den  Begriffen,  mit  welchen  dabei  ope- 
riert wird,  beschäftigen.  Erwähnenswert  ist,  daß 
der  Autor  nicht  nur  die  Individuen,  sondern  auch 
die  Arten  im  Gegensatz  zu  den  höheren  syste- 
matischen Kategorien  als  real  ansieht,  und  sehr 
beachtenswert  sind  seine  praktischen  Vorschläge 
für  Nomenklatur.  Eine  etwas  eingehendere  Be- 
handlung der  morphologischen  Artmerkmale  und 
des  Gegensatzes  der  paläontologischen  zur  zoolo- 
gischen und  botanischen  Systematik  wäre  wün- 
schenswert gewesen. 

3)  Die  sehr  kurzgefaßte  Geschichte  der  Grund- 
züge   des   jetzt    herrschenden  Pflanzensystems   ist 


N.  F.  Xm.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


477 


für    nicht    mit    der  Botanik    schon    gut  Vertraute 
schwer  verständlich. 

4)  Die  ausschlaggebende  Bedeutung  der  Bio- 
logie wird  hervorgehoben;  als  Hauptaufgaben 
werden  die  Klarlegung  der  heutigen  Verbreitung, 
der  Wechselwirkung  zur  Umgebung  und  der  Ent- 
stehung der  jetzigen  Verbreitung  bezeichnet,  auch 
werden  die  für  die  Verbreitung  wichtigen  Faktoren 
erörtert.  Daß  je  nach  dem  verschiedenen  geolo- 
gischen Alter  die  Verbreitung  einer  Organismen- 
gruppe verschieden  sein  muß,  wäre  dabei  nach- 
zutragen, schon  weil  daraus  die  große  Bedeutung  der 
Paläogeographie  für  die  Biogeographie  hervorgeht. 

5)  Bei  der  Erörterung  der  Geschichte  der 
Pfianzengeographie  werden  relativ  viele  Abhand- 
lungen aufgezählt,  eingehender  werden  die  Grund - 
züge  dieser  Wissenschaft  erörtert.  Die  außerordent- 
liche Vielseitigkeit  und  großeBedeutungder Pflanzen- 
geographie  erhellt   klar  aus  diesen  Ausführungen. 

6)  Wenn  auch  nicht  so  vielseitig,  so  doch  sehr 
instruktiv  ist  die  Tiergeographie  behandelt.  Die 
Erörterung  der  Aufgaben  ist  allerdings  —  wohl 
wegen  der  Ausführungen  des  Autors  in  Nr.  4  — 
sehr  kurz  ausgefallen  und  die  der  Landfaunen 
berücksichtigt  die  Wirbellosen  zu  wenig.  Sehr 
klar  und  belehrend  ist  aber  die  Besprechung  der 
marinen  Tiergeographie. 

7)  In  der  ausführlichen  Geschichte  seiner 
Wissenschaft  bringt  der  Verf  sehr  viel  Interessantes, 
z.  B.  seine  Erklärung  der  Polyphemsage.  (Zwerg- 
elefantenschädel aus  sizilischen  Höhlen,  deren 
Nasenöffnung  für  das  Stirnauge  gehalten  wurde, 
sollen  Anlaß  zu  ihr  gegeben  haben.)  Die  Haupt- 
epochen sind  gut  charakterisiert,  aber  des  mehr 
Anekdotischen  ist  doch  wohl  zu  viel  gegeben, 
auch  vermißt  man  bei  der  Geschichte  des  19.  Jahr- 
hunderts manche  sehr  wichtige  Namen,  z.  B.  M. 
Neumayr  bei  der  Abstammungslehre,  endlich 
wird  der  Nutzen  der  Faunenbeschreibungen  und 
der  rein  deskriptiven  Arbeit  bei  einer  noch  so  jungen 
beschreibenden  Naturwissenschaft  zu  gering  ein- 
geschätzt und  der  gegenwärtige  Wissensstand  im 
einzelnen  viel  zu  kurz  behandelt.  Sehr  viel  An- 
regung geben  aber  die  Ausführungen  über  die 
Aufgaben  und  Ziele  sowie  über  die  heutigen 
Arbeitsmethoden  der  Wissenschaft.  Mit  Recht 
wird  betont,  daß  die  bei  uns  übliche  Behandlung 
der  Paläozoologie  als  bloße  Anhangswissenschaft 
der  Geologie  verfehlt  ist,  weil  sie  engen  Anschluß 
an  die  Zoologie  bedarf.  Manch  interessante  Einzel- 
heiten werden  endlich  über  die  Fossilfunde  erzählt. 

8)  Etwas  trocken  erscheint  dagegen  die  Be- 
handlung der  Paläobotanik,  dafür  gibt  sie  uns 
viele  exakte  Daten  über  den  .Stand  des  Wissens 
über  die  einstigen  Floren  und  deren  Entwicklung, 
wobei  allerdings  das  Tertiär  sehr  kurz  weg- 
kommen muß,  da  eben  hier  moderne  Bearbeitun- 
gen fehlen.  Der  Mangel  an  Abbildungen  macht 
sich  stark  fühlbar. 

9)  Sehr  kurz,  aber  klar  und  großzügig  ist  die 
Phylogenie  der  Thallophyten  und  Kormophyten 
nach  den  heute  herrschenden  Ansichten  dargestellt. 


10)  Dadurch,  daß  der  Verf.  sich  vor  allem  auf 
die  Ontogenie  stützt  und  möglichst  monophyleti- 
sche  Abstammung  vertritt,  ist  eine  gewisse  Ein- 
seitigkeit gegeben ,  dafür  gewinnt  aber  die  Dar- 
stellung, die  natürlich  stark  hypothetisch ,  aber 
hochinteressant  ist,  sehr  an  Einheitlichkeit,  auch 
erleichtern  instruktive  Abbildungen  das  Verständ- 
nis. Wünschenswert  wäre  eine  kurze  Ausführung 
über  die  Methoden,  die  Phylogenie  zu  erschließen. 

11)  Hauptsächlich  auf  Grund  des  Tierbaues 
wird  unter  Beigabe  zahlreicher  Figuren  die  Stam- 
mesgeschichte der  einzelnen  Wirbeltiergruppen 
erörtert.  Diese  sind  aber  sehr  ungleichmäßig  be- 
handelt, so  die  Säugetiere  sehr  viel  ausführlicher 
als  die  niederen  Wirbeltiere,  bei  welchen  auch  die 
Paläontologie  zu  wenig  berücksichtigt  ist;  auch 
sind  speziell  bei  jenen  zu  viele  Details  besprochen, 
statt  daß  die  Leitlinien  der  Entwicklung,  z.  B. 
in  der  Umbildung  des  Gebisses,  des  Schädels  und 
der  Gliedmaßen  dargestellt  werden. 

Alles  in  allem  kann  man  sagen,  daß  das  Werk 
manch  Heterogenes  und  Ungleichwertiges  enthält, 
wie  bei  der  Beteiligung  mehrerer  Mitarbeiter  kaum 
anders  zu  erwarten  war.  Der  Aufgabe,  eine  groß- 
zügige und  wirklich  sachkundige  Darstellung  des 
gewaltigen  Gesamtstoffes  zu  geben,  ist  eben  kein 
einzelner  Forscher  mehr  gewachsen.  Den  Heraus- 
gebern ist  es  aber  gelungen,  für  die  Bearbeitung 
jedes  Faches  ausgezeichnete  Vertreter  zu  finden. 
Jedenfalls  enthält  das  Buch  eine  Fülle  des  Wissens- 
werten und  gibt  reichliche  Anregung,  auch  ver- 
meidet es  Oberflächlichkeit,  ohne  —  im  ganzen 
genommen  —  für  einen  Gebildeten  unverständlich 
zu  sein.  Es  erfordert  jedoch  seine  Lektüre  ein 
ernstes  Studium.  Erleichtert  wird  eine  Vertiefung 
in  den  Stoff  durch  Angabe  der  wichtigsten  Lite- 
ratur am  Schlüsse  jeden  Abschnittes  und  durch 
ein  ausführliches  Namen-  und  Sachregister. 

Ernst  Stromer  (München). 


Hay,    Oliver,    P. ,    The    extinct    Bisons    of 
North  America;  with  description  of  a 
new  species,  Bison  regln s.     Proceed.  Un. 
St.  nation.  Mus.,    Vol.  46,    p.    161 — 200,    Taf.  8 
bis   19,  Washington   1913. 
Über  fossile  altweltliche  und  speziell  europäische 
Wisente    sind    in  den  letzten  Jahren  mehrere  Ab- 
handlungen erschienen,  vor  allem  von  La  Baume 
1909  und  von  Hilzheimer  1910.    Der  Umstand, 
daß    die    Hornzapfen  des    noch   lebenden  europäi- 
schen Wisents  in    ihrer  Form    sehr  konstant  sind, 
gab  Veranlassung,  auf  Unterschiede  fossiler  Horn- 
zapfen Arten  zu  begründen.     In  Nordamerika  nun 
wurden    schon    seit    längerer    Zeit    auf  z.  T.    sehr 
dürftige    Reste    neue    Arten    aufgestellt    und    der 
Autor,    der    großenteils    schöne    Schädelreste    be- 
schreibt und  abbildet,  bemüht  sich,  sie  mit  solchen 
zu    identifizieren;    höhere    tiergeographische    oder 
stammesgeschichtliche    Gesichtspunkte    sind    aber 
in  der  Abhandlung  nicht  zu  finden. 

Ernst  Stromer  (München). 


478 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  30 


Hoffmann,  C,  „Ältere  und  neuere  Ansich- 
ten über  das  Erdinnere."  (^Festvortrag. 
1914,  Alber-Ravensburg.) 

Der  Vulkanismus  ist  zu  den  Erdoberflächen- 
erscheinungen zu  rechnen  und  kommt  für  die 
Erforschung  des  Erdinnern  wenig  oder  gar  nicht 
in  Frage.  Die  keineswegs  wenigen  Mittel  und 
Wege,  deren  sich  demgegenüber  die  Physik  zu 
bedienen  weiß,  um  über  das  große  Problem  ins 
Klare  zu  kommen,  werden  übersichtlich  und  klar 
auch  in  ihren  wechselseitigen  Beziehungen  und 
Ergänzungen  dargestellt.  Unter  diesen  Mitteln 
stehen  zurzeit  die  Methoden  der  Seismologie  im 
Vordergrunde.  Ausführlichkeit  konnte  in  einem 
Vortrage  bei  Gelegenheit  einer  Schulfeier  nicht 
angestrebt  werden.  Durch  zahlreiche  Anmerkungen 
hat  Verf.  einiges  nachzuholen  gesucht.  Auch 
ohne  diese  ist  aber  die  Zusammenstellung  der 
wichtigsten  einschlägigen  Daten  vollauf  gelungen 
und  wird  gewiß  von  manchem  Interessenten  dank- 
bar begrüßt  werden.  E.  Hennig. 


Gönner,    B.,    Kristallberechnung    und 
K  r  i  s  t  a  1 1  z  e  i  c  h  n  u  n  g.     Ein    Hilfsbuch    der 
Kristallographie   mit  Betonung  der  graphischen 
Verfahren,   sowie   der  analytischen  und  zonalen 
Beziehungen.    Leipzig  u.  Berlin,  1914,  W.  Engel- 
mann.    4".     VII  und   128  S.,   I  Tafel,   109  Abb. 
im  Text,  geh.  8  Mk. 
Kristallberechnung    und  Kristallzeichnung    ent- 
halten neuerdings  eine  Vielseitigkeit  von  Methoden 
und    eine    Mannigfaltigkeit  von    Aufgaben,    die    in 
einem    Lehrbuch    der    Kristallographie    höchstens 
in  einzelnen  Beispielen  angedeutet  werden  können. 
Das  übrige  bleibt   in  den  einzelnen,  oft   schwer  zu- 
gänglichen   Abhandlungen    zerstreut.     Dazu    hatte 
P.  von  Groth   den  Wunsch  geäußert,    seine  be- 
kannte „Physikalische  Kristallographie"  zu  entlasten 
und  insbesondere    den    Teil    fortzulassen,    den  der 
Autor   nunmehr   zu    einem    besonderen    Hilfsbuch 
hat  werden  lassen.    Dasselbe  soll  der  leichten  und 
bequemen  Ausnutzung  der  sich  aus  den  graphischen 
Verfahren    und    der    erweiterten    Nutzbarmachung 
analytischer   und  zonaler  Beziehungen  ergebenden 
Hilfsmittel  dienen.     In    der  besonderen    Betonung 
dieser  Hilfsmittel  will    das  Buch    nicht   allein    der 
angewandten  Wissenschaft  dienen;  auch  beim  Stu- 
dium  der  Kristallographie  gebührt    den  einfachen 
Verfahren  erweiterte  Verwendung. 

K.  Andree. 

Freundlich,  H.,   Kapillarchemie  und  Phy- 
siologie.    Zweite  erweiterte  Auflage.      48  S. 
Dresden  und  Leipzig  1914,  Verlag  von  Theodor 
Steinkopff.  —  Preis   1,50  Mk. 
Ein    Vortrag,    dessen    Text    nach    der    ersten 
Auflage    unverändert    wiedergegeben    wird.     Eine 
Reihe  von   Anmerkungen    am  Schluß    berücksich- 
tigen den  neuesten  Stand  der  rasch  fortschreiten- 
den Wissenschaft  von  den  Kolloiden,    in    welcher 
der     Verfasser      einen      ehrenvollen      Platz      ein- 
nimmt.     Da    das    die    beiden  Hauptgruppen    der 


Kolloide,  die  Gele  und  Sole  in  jeder  Beziehung 
charakterisierende  ihre  hohe  Oberflächenentwick- 
lung ist,  so  gebraucht  der  Verfasser  statt  des 
meist  üblichen  Begriffes  „Kolloidchemie"  den 
weiteren  „Kapillarchemie",  deren  Aufgabe  da- 
hin definiert  wird,  daß  sie  die  Eigentümlichkeiten 
der  Oberflächenenergie  an  irgendeiner  Grenzfläche 
zweier  Phasen  und  die  Zusammenhänge  mit  an- 
deren Energiearten,  vor  allem  der  thermischen, 
chemischen  und  elektrischen  Energie  kennen 
lehren  soll.  Leider  sind  diese  Zusammenhänge 
und  Wechselwirkungen  noch  wenig  geklärt,  am 
besten  noch  die  zwischen  der  chemischen  und 
der  Oberflächenenergie,  deren  Phänomene  unter 
der  Bezeichnung  ,, Adsorption"  zusammengefaßt 
werden.  Die  Anwendung  und  weitere  Anwend- 
barkeit dieser  für  die  Physiologie  wird  vom  Verf. 
kurz  besprochen,  und  unter  dieser  Rubrik  auch 
der  physiologisch  so  wichtigen  Quellung  gedacht. 
Als  das  für  die  Zukunft  wichtigste  Kapitel  be- 
trachtet der  Verf.  aber  die  Wechselwirkung  der 
Oberflächenenergie  mit  der  chemischen  und  elek- 
trischen Energie,  wobei  besonders  die  fällende 
und  suspendierende  Wirkung  der  Ionen  besprochen 
wird.  Die  physiologischen  Beispiele  des  Verf. 
sind  ausschlitßlich  der  Tierphysiologie  entnommen, 
obwohl  gerade  die  neuere  Pflanzenphysiologie 
noch  manches  Interessante  hätte  beisteuern  können. 

Ruhland  (Halle  a.  S.). 


Weinschenk,  E.,  Petr ographisches  Vade- 
mekum.    2.  Aufl.     Schmal-8«.   (VIII  u.  210  S.). 
Mit   I   Tafel  und   lOi   Abbildgn.     Freiburg  i.  B. 
191 3,    Herder'sche    Verlagshandlung.    —    Preis 
geb.  in  Leinw.  3,20  Mk. 
,,Ein  Hilfsbuch  für  den  Geologen"    auf  seinen 
Wanderungen    ist     die    richtige    Bezeichnung    für 
diese    handliche    „Petrographie    ohne    Mikroskop", 
die    nunmehr    zum    zweiten    Male    die  Presse  ver- 
lassen hat.    Format  und  Ausstattung  sind  dieselben 
wie    bei    der    ersten  Auflage    und  durchaus  prak- 
tisch und  gut.     Lim  eine  Vergrößerung   des  Um- 
fanges,    welche    bei  dem  praktischen  Zweck  nicht 
angängig   gewesen    wäre,    zu  vermeiden,   sind  an 
Stelle  notwendiger  Neueinfügungen  Kürzungen  an 
anderer   Stelle    vorgezogen.      Mag    der   Spezialist 
im  einzelnen  auch  hier  oder  da  anderer  Anschauung 
sein,  als  der  Autor,  welcher   bekanntlich  in  man- 
chen Dingen  von  der  Mehrheit  der  Petrographen 
nicht    geteilten    theoretischen  Anschauungen    hul- 
digt,   so    kann    das  Büchlein  doch    nur   als  seinen 
Zweck  wohl  erfüllend  bezeichnet  werden. 

K.  Andree. 

Prof.  Dr.  Haenlein,  „Das  Alter  der  Erde", 
(F"estvortrag  anläßlich  der  Feier  des  50jährigen 
Bestehens  des  Naturwissenschafil.  Vereins  zu 
Freiberg  in  Sachsen).  Graz  u.  Gerlach,  Freiberg 
1914  (Preis  80  Pfg.). 

Gegenüber  der  gewiß  noch  recht  verbreiteten, 
vielfach  vielleicht  unbewußten  oder  unklaren  Vor- 
stellung von  einer  ca.  5675  Jahre  (jüdische  Zeitrech- 


N.  F.  XIII.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


479 


nung)  alten  Erde  bzw.  „Welt"  gibt  der  Verfasser  hier 
eine  übersichtliche  Zusammenstellung  der  bisher 
seitens  der  Wissenschaft  gemachten  Anstrengungen, 
vom  wirklichen  Alter  der  Erde  eine  wenigstens 
angenäherte  Vorstellung  zu  erlangen  oder  doch 
we^nigstens  eine  I\Iethode  allmählich  zu  gewinnen, 
mittels  derer  dereinst  dem  hohen  Ziele  näher  zu 
kommen  wäre.  Nach  interessanten  Vorbemerkungen 
über  die  Möglichkeit  einer  derartigen  Methode 
überhaupt  (woher  die  Zeiteinheit  nehmen,  falls  bei- 
spielsweise die  Umlaufs-  und  Drehungsgeschwindig- 
keiten der  Erdkörper  nicht  von  Anbeginn  stetig 
geblieben  sein  sollten?)  werden  die  z.  T.  kaum 
oder  nur  für  beschränkte  zeitliche  Grenzen  brauch- 
baren Schätzungen  nach  der  chemischen  und 
mechanischen  Tätigkeit  des  Wassers,  nach  den 
Wirkungen  des  Eises,  nach  beobachteten  Hebungen 
oder  Senkungen  des  Landes,  nach  der  Dünen- 
fortbewegung, die  besonders  wichtigen  Berech- 
nungen, die  die  Radiumforschung  uns  jüngst  be- 
schert hat,  etwa  mögliche  Herleitungen  aus  dem 
organischen  Leben  der  Erde  kurz,  klar  und  mit 
der  nötigen  kritischen  Dämpfung  des  Urteils  zu- 
sammengestellt. Dabei  wird  Gelegenheit  genommen, 
wichtige,  die  Einzelwissenschaften  beschäftigende 
Probleme  allgemeiner  Art  mit  scharfen  Streiflichtern 
zu  beleuchten.  Zuletzt  wird  die  Fragestellung  noch 
erweitert  und  auf  die  Zeit  der  Erdwerdung  über- 
haupt, nicht  nur  die  Entwicklung  seit  Beginn  der 
Sedimentation  und  des  Lebens  übertragen.  Um 
nicht  mit  für  das  übliche  Vorstellungsvermögen 
wesenlosen  hohen  Zahlen  zu  jonglieren,  werden 
endlich  die  gewonnenen  Ergebnisse,  soweit  man 
von  solchen  zurzeit  schon  sprechen  darf,  veran- 
schaulicht, indem  ihr  relatives  Verhältnis  mit 
den  entsprechenden  Bruchteilen  einer  Stunde  oder 
eines  Tages  verglichen  werden.  Der  Versuch 
(nach  Häckel  und  Arldt)  dürfte  für  viele  etwas 
Verblüffendes  haben. 

Die  Darstellung  bleibt  dauernd  allgemeinver- 
ständlich, so  daß  die  dankenswerte  Zusammen- 
stellung der  Daten  in  weitesten  Kreisen  anregend 
zu  wirken  berufen  wäre,  wenn  ihr  die  durchaus 
wünschenswerte  Verbreitung  zuteil  werden  sollte. 

E.  Hennig. 

Findlay,  Alexander,  Der  osmotische  Druck. 
Autorisierte    deutsche  Ausgabe    von  Dr.  Guido 
Szivessy,    mit    einer  Einführung    zur   deutschen 
Ausgabe  von  Geh.  Hofrat  Dr.  Wilhelm  Ostwald. 
96  Seiten.     Dresden  und  Leipzig  1914,    Verlag 
von  Theodor  Steinkopff.  —  Preis  4  Mk. 
Mit  Hilfe  des  Begriffes  des  osmotischen  Druckes 
ist    bekanntlich    von    van't   Hoff   die    Analogie 
zwischen  Lösungen  und  Gasen    durchgeführt  und 
damit    einer   der  wichtigsten  Teile    der  physikali- 
schen Chemie    geschaffen    worden.      Die    Physio- 
logie, speziell  die  der  Pflanzen,  hat  zu  den  Grund- 
lagen  der    auf   diese  Weise   geschaffenen  Theorie 
der  Lösungen  einen  Hauptanteil  beigesteuert  und  an 
der  weiteren  Entwicklung  dieses  Zweiges  der  all- 
gemeinen    Chemie      ein      hervorragendes      Inter- 


esse gehabt.  Deshalb  ist  die  vortreffliche  Dar- 
stellung des  Verfassers  auch  besonders  vom  Stand- 
punkt des  Physiologen  zu  begrüßen.  Es  werden 
in  klarer  und  einfacher  Weise,  die  auch  dem  An- 
fänger das  Einarbeiten  in  den  schwierigen  Stoff 
ermöglicht,  die  Theorie  und  das  wichtigste  experi- 
mentelle Material  in  ihrem  neuesten  Stande  .Schritt 
für  Schritt  besprochen,  wobei  man  auf  jeder  Zeile 
den  ausgezeichneten  Lehrer  spürt.  Für  den  Phy- 
siologen ist  u.  a.  das  letzte  Kapitel,  das  die  An- 
schauungen über  das  Wesen  der  Osmose  und 
die  Wirkung  der  halbdurchlässigen  Membranen 
behandelt,  besonders  interessant.  Es  zeigt,  daß 
der  Verfasser  auch  die  physiologische  Literatur 
kritisch  durcharbeitet  hat,  obwohl  ihm  natürlich 
hier  manches  entgangen  ist. 

Ruhland  (Halle  a.  S.). 


Wetter-Monatsübersicht. 

Während  des  vergangenen  Juni  hatte  das  Wetter  in  ganz 
Deutschland  einen  sehr  veränderlichen  Charakter.  Anfangs 
war  es  größtenteils  trübe  und  für  die  Jahreszeit  überall  sehr 
kühl.  In  der  Nacht  zum  4.  sank  das  Thermometer  in  Coburg 
bis  auf  einen,  in  Bamberg  auf  zwei  Grad  über  Null;  an 
freigelegenen  Stellen,  besonders  in  den  Provinzen  Ostpreußen 
und  Posen,  bildete  sich  Reif  und  kamen  Bodenfröste  vor. 
Selbst  die  Nachmittagstemperaturen  gingen  um  diese  Zeit  in 
vielen  Gegenden  nicht  über  12,  am  7.  in  Cleve  und  Remscheid 
sogar  nicht  über   lo"  C  hinaus. 


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Zwischen  dem  8.  und  g.  Juni  trat  bei  trockenen  Ostwinden 
zunächst  in  Nordostdeutschlaud  eine  stärkere  Erwärmung  ein, 
die  sich  allmählich  weiter  nach  Westen  und  Süden  forlptlanzte. 
Dann  blieb  das  Wetter  bis  zur  Mitte  des  Monats  im  allge- 
meinen warm ,  während  in  seiner  zweiten  Hälfte  die  Tempe- 
raturen bedeutende  Schwankungen  aufwiesen.  In  Norddeutsch- 
land wurden  oftmals  25"  C  überschritten,  stärkere  Hitze  kam 
aber  nur  an  wenigen  Tagen  und  allein  im  Nordosten  vor,  am 
16.  lirachte  es  Königsberg  i/Pr. ,    am   22.  Memel  auf  31°  C. 

Auch  die  mittleren  Temperaturen  des  Monats  überschritten 
in  den  nordöstlichsten  preußischen  Provinzen  bis  zu  2  Grad 
ihre  normalen  Werte,  wogegen  sie  in  Nordwest-  und  Süd- 
deutschland   durchschnittlich    um   2  Grad    zu    niedrig    waren. 


48o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  30 


Desgleichen  nahm  die  Zeit  der  Sonnenstrahlung,  wie  schon 
im  vergangenen  Mai,  in  der  Richtung  von  Nordost  nach  Süd- 
west ziemlich  gleichmäßig  ab.  Im  allgemeinen  Durchschnitt 
war  sie  bedeutend  kürzer  als  gewöhnlich.  Beispielsweise 
halte  Berlin  im  diesjährigen  Juni  nicht  mehr  als  207  Stunden 
mit  Sonnenschein,  während  hier  im  Mittel  der  früheren  Juni- 
monate 245  Sonnenscheinstunden   verzeichnet  worden  sind. 

Die  in  der  nebenstehenden  Zeichnung  wiedergegebenen 
Niederschläge  w.iren  auf  die  einzelnen  .Abschnitte  des  Monats 
und  die  verschiedenen  Landesteile  sehr  ungleich  verteilt.  In 
den  ersten  vier  Tagen  waren  sie  zwar  im  Norden  ziemlich 
häufig,  jedoch  überall,  außer  im  östlichen  Ostseegebiele,  nur 
gering.  Mit  dem  5.  Juni  begann  eine  längere  Regenzeit,  in 
der  namentlich  auf  der  Strecke  zwischen  der  Oder  und  Weser 
überaus'^zahlreiche  Gewitter,    heftige  Regengüsse   und  an  vcr- 


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schiedenen  Orten  mehr  oder  weniger  starke  Hagelschauer  her- 
niedergingen. Am  9.  fielen  z.  B.  in  Borkum  47,  in  Neu- 
münster 36,  in  Eberswalde  34  mm ,  am  11.  Juni  während 
mehrerer  schwerer  Gewitter  in  Neumünster  84  mm  Regen. 
Seit  dem  13.  Juni  ließen  die  Regenfälle  im  Norden  bis 
zum  22.  größtenteils  nach,  wogegen  sie  im  Süden,  zunächst 
auch  in  Mitteldeutschland  und  im  Niederrheingebiete  noch 
zunahmen ;  z.  B.  wurden  am  13.  in  Kissingen  87,  in  Plauen 
82,  in  Cöln  44,  am  17.  in  Worms  46  mm  Niederschlag  ge- 
messen. Neue  starke  Gewitterregen,  die  am  23.  beispiels- 
weise in  Erfurt  59,  in  Torgau  41  mm  ergaben ,  kamen  auch 
im  größten  Teile  Norddeutschlands  bis  zum  26.  Juni  vor.  Erst 
in  den  letzten  Tagen  des  Monats  blieb  das  Wetter  fast  un- 
unterbrochen trocken  und  ziemlich  heiter.  Seine  Niederschlags- 
summe  ergab  sich  lür  den  Durchschnitt  aller  berichtenden 
Stationen  zu  63,8  mm,  während  die  gleichen  Stationen  in  den 
früheren  Junimonaten  seit  dem  Jahre  1S91  im  Mittel  67,1  mm 
Regen  geliefert  haben. 

«  • 

In  der  allgemeinen  Luftdruckverteilung  Europas  vollzogen 
sich    die   Änderungen    von   einem  Tage  zum    anderen   im  dies- 


jährigen Juni  größtenteils  langsam.  In  seinen  ersten  Tagen 
breitete  ein  westlich  von  Irland  gelegenes  ziemlich  hohes 
barometrisches  Maximum  sein  Gebiet  allmählich  weiter  sud- 
ostwärts  aus,  während  eine  mäßig  tiefe  Depression  vom  Nord- 
meer durch  die  skandinavischen  Länder  ins  Innere  Rußlands 
zog.  Ein  am  6.  Juni  bei  Island  erschienenes  Minimum  drang 
aber  rasch  in  südöstlicher  Richtung  vor  und  gelangte  am  8. 
auf  das  westeuropäische  Festland ,  wo  es  dann  längere  Zeit 
hindurch  verweilte,  sich  verschiedentlich  umgestaltete  und 
durch  neue  Minima  von  Südwesten  her  Zuzug  erhielt.  In  der 
nördlichen  Hälfte  Deutschlands  wurden  daher  die  anfänglichen 
kühlen  Nordwestwinde  durch  wärmere  östliche  Winde  abge- 
löst, während  weiter  im  Süden  selir  veränderliche,  aber  vor- 
herrschend  westliche  Luftströmungen  wehten. 

Erst  nach  Mitte  des  Monats  wurde  durch  ein  aus  Nord- 
rußland heranziehendes  Barometermaximum  das  Tiefdruck- 
gebiet aus  Mitteleuropa  vertrieben.  Aber  wenige  Tage  später 
rückten  von  Schottland  ein  neues  Minimum,  vom  Atlantischen 
Ozean  ein  Maximum  südostwärts  vor.  Von  da  an  wurden 
Südwest-  und  Nordosteuropa  gewöhnlich  von  Hochdruck- 
gebieten eingenommen,  während  der  Nordwesten  von  ver- 
schiedenen Depressionen  durchzogen  wurde,  die  nicht  selten 
nach  dem  Nordsee-  und  Ostseegebiete  flache  Teilminima  ent- 
sandten. Dr.  E.  Leß. 


Literatur. 

Festgabe  der  Philosoph.  Fakultät  II  zur  Einweihungsfeier 
der  Universität  Zürich.  Enthält  folgende  Abhandlungen; 
Kleiner,  Über  die  Bedeutung  leitender  Prinzipien  im  Aus- 
bau der  Physik.  Lang,  Geschlechtlich  erzeugte  Organismen 
mit  ausschließlich  väterlichen  oder  mit  ausschließlich  mütter- 
lichen Eigenschaften.  Grubenmann,  Der  Gr,anat  aus  dem 
Maigelstal  im  Bündneroberland  und  seine  Begleitmineralien. 
Werner,  Über  die  asymmetrisch  gebauten  chemischen  Mole- 
küle. Hescheler,  Über  die  Bedeutung  einiger  Ergebnisse 
der  Paläontologie  für  die  Ausgestaltung  einer  zoologischen 
Schau-  und  Lehrsammlung.  Ernst,  Frucht-  und  Samen- 
bildung  bei  den  Blütenpflanzen.  Schardt,  Die  geothermi- 
schen  Verhältnisse  des  Simplongebirgcs  in  der  Zone  des  großen 
Tunnels.  Pfeiffer,  Moderne  Ergebnisse  der  Eiweißforschung. 
Schlaginhaufen,  Über  die  Pygmäenfrage  in  Neu-Guinea. 
Laue:  Die  Interferenzerscheinungen  an  Röntgenstrahlen,  her- 
vorgerufen  durch  das  Raumgitter  der  Kristalle. 

Hesse-Doflein,  Tierbau  und  Tierleben,  in  ihrem  Zu- 
sammenhang betrachtet.  II.  Bd. :  Das  Tier  als  Glied  des 
Naturganzen  von  Fr.  Dof  lein.  Mit  740  Abb.  im  Text  und  20 
Tafeln  in  Schwarz-  und  Buntdruck.  Leipzig  und  Berlin  '14, 
B.  G.  Teubner.     Geb.   20  Mk. 

Rinne,  Prof.  Dr.  F.,  Gesteinskunde  für  Studierende  der 
Naturwissenschaft,  Forstkunde  u.  Landwirtschaft,  Bauingenieure, 
Architekten  und  Bergingenieure.  4.  vollständig  durchgearbeitete 
Auflage.     Leipzig  '14,  Dr.  M'.  Jänecke.     Geb.   14  Mk. 

Kassowitz,  Prof.  Dr.  Max,  Gesammelte  .Abhandlungen. 
Mit  einem  vollständigen  Verzeichnis  der  Arbeiten  des  Ver- 
fassers, einem  Porträt  und  2  Figuren  im  Text.  Berlin  '14, 
J.  Springer.     Geb.   14  Mk. 

Synopsis  der  mitteleuropäischeu  Flora  von  P.  Ascherson 
und  P.  Graebner.  84.  und  85.  Lieferung.  Bd.  VII,  Bogen  6 
bis  15.  Preis  4  Mk.  86.  Lieferung.  Bd.  V,  Bogen  15  —  19. 
Preis  2  Mk.      Leipzig  und   Berlin  '14,   W.   Engclmann. 

Wettstein,  Prof.  Dr.  Richard  von,  Leitfaden  der  Bo- 
tanik für  die  oberen  Klassen  der  Mittelschulen.  Mit  9  Farben- 
drucktafeln und  1030  Figuren  in  216  Textabbildungen.  5.  AuH. 
Wien  '14,   E.  Tempsky.     Geb.  3  K.  9  h. 


Inhalt;  Kafka;  Neuere  Untersuchungen  über  den  Farbensinn  der  Fische.  —  Einzelberichte:  I'alache  und  Schaller; 
Neue  Mineralien.  Evershed;  Druck  in  der  umkehrenden  Schicht  der  Sonne.  Denning;  Meteore.  Joannis;  Das 
Kaliumcarbonyl.  —  Bücherbesprechungen:  Goldhammer:  Dispersion  und  Absorption  des  Lichtes.  Bryk:  Kurzes 
Repititorium.  Magnus:  Die  Entstehung  der  Pflanzengallen.  Die  Kultur  der  Gegenwart.  Hay:  The  extinct  Bisons 
of  North  America;  with  dcscription  of  a  new  species,  Bison  regius.  Hoffmann;  .Ältere  und  neuere  Ansichten  über 
das  Erdinnere.  Goßner:  Kristallberechnung  und  Kristallzeichnung.  Freundlich;  Kapillarchemie  und  Physiologie. 
Weinschenk:  Petrographisches  Vademekum.  Haenlein:  Das  Alter  der  Erde.  F'indlay:  Der  osmotische  Druck. 
—  Wetter-Monatsübersicht.  —  Literatur ;   Liste. 

Manuskripte  und  Zuschritten  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.Mi  ehe  in  Leipzig,  Marienstraße   lia,  erbeten. 

Verlag  von   Gustav  Frischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.   Band; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band. 


Sonntag,  den  2.  August  1914. 


Nummer  31. 


Der  Einfluß  äußerer  Schallempfindungen 
auf  die  Tonhöhe  der  menschlichen  Sprache. 


[Nachdruck  verboten.]  Von    S.    Bagl 

Unter  den  F"aktoren,  durch  welche  wir  imstande 
sind,  die  verschiedenen  elementaren  Eigenschaften 
der  gesprochenen  Worte  (Höhe,  Stärke  und  Dauer) 
zu  ändern  und  zu  regeln,  spielt  derjenige  der  vom 
Ohre  dabei  vermittelten  Schallempfindungen  eine 
Hauptrolle.  Dies  wird  ganz  deutlich  schon  im 
Falle  der  geborenen  Taubstummen  bewiesen, 
die  eben  taub  sind,  nur  weil  sie  keine  Gehör- 
enipfindungen  vernehmen  können. 

Daß  diese  Regelung  eine  durchgreifende  Be- 
deutung auch  für  den  Fall  der  normalen  gewöhn- 
lichen gesprochenen  Sprache  hat,  und  daß  durch  die- 
selbe eine  Anzahl  wichtiger  Fragen  der  Phonetik 
und  der  Sprachwissenschaften  gelöst  werden 
dürfte,  wird,  meiner  Ansicht  nach,  durch  folgende 
Beobachtungen  und  experimentellen  Versuche 
demonstriert. 

Der  Däne  G.  Forchhammer  hatte  schon 
beobachtet  (1903),  daß,  wenn  man  eben  ein  Musik- 
stück gehört  hat,  man  in  derselben  oder  nahe 
verwandter  Tonart  spricht.  Bei  mehreren  Ver- 
suchen gelang  es  ihm,  die  Tonart  eines  von  ihm 
selbst  nicht  gehörten  Musikstückes  einzig  dadurch 
zu  bestimmen,  daß  er  auf  die  Sprechweise  seines 
Bruders  lauschte,  der  eben  aus  dem  Musikzimmer 
kam;  in  einigen  Fällen  war  das  Resultat  nicht 
ganz  genau ,  jedoch  immer  annähernd  richtig. 
Bisweilen  kann  die  Melodie  eines  gesprochenen 
Satzes  so  stark  an  ein  Lied  erinnern ,  das  man 
gut  erkennt,  daß  zwei  Personen,  ohne  den  Grund 
dazu  zu  wissen,  plötzlich  dieselbe  Melodie  durch 
den  Kopf  geht  und  sie  dieselbe  vor  sich  hin  zu 
trällern  anfangen.  Wenn  zwei  Personen  zusammen 
sprechen,  suchen  sie  immer  in  derselben  Tonart 
zu  sprechen,  vielfach,  wie  es  scheint,  so,  daß  der 
musikalische  sich  nach  dem  weniger  musikalisclien 
richtet.  Sonst  wird  wohl  in  der  Regel  die  Tonart 
von  dem  bestimmt,  der  das  Gespräch  einleitet; 
jedermann  kann  es  aber  nach  Belieben  ändern. 
„So  habe  ich  selbst  wiederholt  den  Versuch  ge- 
macht, die  Tonart  willkürlich  in  der  Mitte  eines 
Gespräches  zu  ändern,  und  jedesmal  mit  dem 
Ergebnis,  daß  die  anderen  Stimmen  mir  folgten."  ') 
Seit  Jahren  hatte  ich  (sowie  C.  Biaggi)  ähn- 
liche zufällige  Beobachtungen  gemacht.  Nachdem 
ich  am  Harmonium  ein  Musikstück  ausgeführt 
oder  eine  Folge  von  Melodien  oder  Akkorde,  die 
einer  bestimmten  Tonart  gehörten,  improvisiert 
hatte,  begann  ich  (ohne  an  das  Vorhergespielte  im 


')  Zitiert  nach  O.  Jespcrsen,    Lehrbuch  der  Phonetik, 
IV.  Aufl.     Teubner,   1913,  S.  241  ff. 


ioni  (Sassari). 

geringsten  zu  denken)  in  derselben  Tonart  zu  reden, 
d.  h.  es  war  die  Tonhöhe  der  Mehrzahl  der  von 
mir  gesprochenen  Worte  dieselbe  wie  die  des 
Haupttones  des  eben  gespielten  Musikstückes. 
Dasselbe  galt  auch  für  die  Sprache  meiner  Kinder, 
die  die  Musikübung  gehört  hatten. 

Ferner  hatte  ich  bei  Eisenbahnreisen  oft  be- 
obachtet, daß,  wenn  der  Zug  in  Bewegung  war 
und  ich  oder  die  Mitreisenden  zu  reden  oder  zu 
trällern  anfingen,  die  Stimme  dem  eigentümliclien 
Akkorde  des  von  den  erschütterten  Rädern,  Achsen 
und  Geleise  erzeugten  Geräusches  sich  intoniert. 
In  diesem  Akkorde  (wie  ich  vor  kurzem  feststellen 
konnte)  herrschen  a — c  vor. 

Wenn  ich  in  verschiedenen  Sälen  oder  Audi- 
torien spreche,  habe  ich  oft  beobachtet,  daß  die 
Höhe  meiner  Stimme,  d.  h.  der  Mehrzahl  der  ge- 
sprochenen Vokale,  verschieden  ist  und  zwar  je 
nacli  den  Schallen,  die  in  den  entsprechenden 
Sälen  am  besten  wiederhallen. 

Obige  zufälligen  Beobachtungen  veranjaßten 
mich,  die  Frage  nach  dem  Einfluß  der  äußeren 
Schallempfindungen  auf  die  Tonhöhe  der  ge- 
sprochenen Sprache  unter  Anwendung  einer 
strengeren  Untersuchungsmethode  experimentell 
zu  ergründen.  Die  Methode,  die  mich  dabei  zum 
Ziele  führte,  besteht  darin,  daß  ich  die  Versuchs- 
person einen  Passus  aus  irgendeinem  Buche  oder 
einer  Zeitung  laut  vorlesen  lasse,  während  ein 
bestimmter  Ton  eines  graduierten  Harmoniums 
ertönt.  Ich  stelle  nun  fest,  ob  und  wie  der  Leser 
die  Höhe  seiner  Stimme  dabei  ändert.  Die  äußere 
Schallempfindung  wirkt  hier  also  auf  eine  eigen- 
tümliche Redeart  (die  laute  Lektüre),  die  zwar 
nicht  zu  den  gewöhnlichsten  Redearten  ge- 
hört, die  aber  sich  mir  für  derartige  Versuche  am 
besten  zu  eignen  schien,  weil  die  Aufmerksam- 
keit des  Lesers  (dem  übrigens  die  Bedeutung  und 
die  Tragweite  des  Experiments  unbekannt  waren) 
vom  Texte  gefesselt  wird  und  keine  Gelegenheit 
hat,  sich  nach  der  Schallempfindung  zu  richten. 
In  der  F^olge  beabsichtige  ich  jedoch,  die  Unter- 
suchungen noch  auf  die  übrigen  Arten  des  Reden 
(freien  Vortrag,  Zwiegespräch,  Vorlesung  usw.) 
auszudehnen. 

Die  Lektüre  wird  in  der  Mehrzahl  der  Per- 
sonen dadurch  charakterisiert,  daß  die  Stimmhöhe 
eine  geringe  Anzahl  Schwankungen  (Modulationen 
oder  Kadenzen)  erfährt.  Selbst  dem  Laien  er- 
scheint sie  eintöniger  als  irgend  jede  andere  Sprech- 
weise. Davon  hängt  es  wenigstens  zum  Teil  ab, 
daß  das  Hören  eines  vorgelesenen  Vortrages  gewöhn- 


482 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  31 


hch  weniger    genußreich    und    langweiliger    wirkt, 
als  das  Hören  eines  freien  Vortrages. 

Über  die  Tonhöhe  und  deren  Variationen  bei 
der  gesprochenen  Sprache  besitzen  wir  allerdings 
noch  nicht  klare  und  übereinstimmende  Kennt- 
nisse, obwohl  mehrere  diesbezügliche  Unter- 
suchungen schon  vorliegen,  deren  Resultate 
O.  Jespersen')  neuerdings  zusammengefaßt 
hat.  Bei  den  europäischen  Sprachen  dienen  die 
Schwankungen  der  Tonhöhe  vor  allem  zum  Aus 
druck  der  Empfindungen  und  Affekte,  die  die  von 
den  Worten  bezeichneten  Begriffe  begleiten:  Frage, 
Zweifel,  Bewunderung,  Erwartung,  Schmerz,  Reue 
und  alle  übrigen  mannigfaltigen  Nuanzen  der  Ge- 
fühle werden  eben  durch  besondere  Variationen 
der  Stimmhöhe  ausgedrückt.  ,,Wir  sehen  (schreibt 
Jespersen),  daß  der  Ton,  außer  einem  Gefühls- 
thermometer und  Stimmungsbarometer  auch  ein 
Seziermesser  vom  feinsten  Stahle  für  unsere  Ge- 
danken ist."  Von  dem  Redner,  welcher  derartige 
Modulationen  stark  betont,  sagt  man,  daß  er  mit 
Pathos  spricht. 

Wird  von  dieser  hohen  Aufgabe  der  Tonhöhe 
der  Sprache  (worin  eigentlich  die  Sprach- 
melodie besteht)  abgesehen,  so  gibt  es  in 
unserer  gewöhnlichen  Sprache  noch  typische  und 
immer  wiederkehrende  regelmäßige  Modulationen 
der  Stimmhöhe,  die  man  als  grammatische  Ka- 
denzen bezeichnen  könnte,  durch  welche  wir  ge- 
wisse Phasen  der  Perioden  oder  Sätze  aus- 
zeichnen. .Sie  sind  die  eigentümlichen  Kadenzen 
oder  Modulationen,  welche  den  verschiedenen 
Pausen  (die  von  dem  Bedürfnis,  nach  dem  langen 
Expirationsakte,  der  die  Phonation  bedihgt,  einzu- 
atmen, oder  von  dem  Bedürfnis,  dem  Muskelnerven- 
system der  Stimmorgane  einen  Augenblick  Ruhe 
zu  gönnen,  geboten  werden)  vorhergehen  und 
dieselben  angeben.  Dabei  unterscheidet  man  zu- 
nächst die  Kadenz  (Tonfall),  welche  der  Pause 
des  Punktes,  d.  h.  des  Endes  eines  Satzes  voran- 
geht. Sie  ist  eine  absteigende  Kadenz,  indem  die 
Stimmhöhe  um  ein  veränderliches  (übrigens 
noch  nicht  genau  in  allen  Fällen  festgestelltes) 
Intervall  heruntersinkt,  das  jedoch  meist  eine 
musikalische  Quart  oder  Ouint  beträgt. 

Die  Kadenzen  oder  Modulationen,  welche  kür- 
zeren Pausen  (die  den  Satzsinn  unterbrechen  und 
durch  die  übrigen  Interjuinktionszeichen,  d.  h. 
Komma,  Semikolon  i;].  Kolon,  Fragezeichen  in  der 
gewöhnlichen  Schreibweise  angegeben  werden), 
vorangehen,  sind  dagegen  aufsteigend;  die  Stimm- 
höhe erhöht  sich  um  veränderliche  Intervalle  (die 
ebenfalls  noch  nicht  genau  in  allen  Fällen  fest- 
gestellt wurden),  die  jedoch  zwischen  einer  musika- 
lischen Sekunde,  Terz,  Quart  und  Quint  schwanken. 
Schon  Helmholtz  hatte  diese  allgemeinen 
Merkmale  der  grammatischen  Kadenzen  deutlich 
gekennzeichnet. 

„Übrigens   (schrieb   er   in    seinem  Meisterwerk 


„Die  Lehre  von  den  Tonempfindungen" 
S.  391  f.  V.  Ausgabe,  Braunschweig  1896)  lehrt  eine 
etwas  aufmerksamere  Beobachtung  bald,  daß  auch 
beim  gewöhnlichen  Sprechen,  wo  der  singende  Ton 
der  Stimme  hinter  den  Geräuschen,  welche  die 
einzelnen  Buchstaben  charakterisieren,  mehr  ver- 
steckt wird,  wo  ferner  die  Tonhöhe  niciit  genau 
festgehalten  wird  und  schleifende  Übergänge  in 
der  Tonhöhe  häufig  eintreten,  sich  dennoch  ge- 
wisse, nach  regelmäßigen  musikalischen  Intervallen 
gebildete  Tonfälle  unwillkürlich  einfinden.  Wenn 
einfache  Sätze  gesprochen  werden  ohne  Affekt 
des  Gefühls,  so  wird  meist  eine  gewisse  mittlere 
Tonhöhe  festgehalten,  und  nur  die  betonten  Worte 
und  die  Enden  der  Sätze  und  Satzabschnitte  werden 
durch  einen  Wechsel  der  Tonhöhe  hervorgehoben. 
Das  Ende  eines  bejahenden  Satzes  vor  einem 
Punkte  pflegt  dadurch  bezeichnet  zu  werden, 
daß  man  von  der  mittleren  Tonhöhe  um  eine 
Quarte  fällt.  Der  fragende  Schluß  steigt  empor, 
oft  um  eine  Quinte  über  den  Mittelton.  Zum 
Beispiel  eine  Baßstimme  spricht: 


Ich  bin  spazieren  gegangen. 


Bist  du  spazieren  gegangen  ? 

Akzentuierte  Worte  werden  ebenfalls  dadurch 
hervorgehoben,  daß  man  sie  etwa  einen  Ton  höher 
legt  als  die  übrigen,  und  so  fort." 

Sämtliche  Wortsilben,  welche  den  erwähnten 
Kadenzen  vorangehen  (wahrscheinlich  mit  Aus- 
nahme der  Anfangsworte,  deren  Aussprache  mir 
Schwankungen  der  Tonhöhe  zu  erfahren  scheint), 
werden  in  einer  konstanten  mittleren  Höhe  aus- 
gesprochen, welche  nur  individuell  verschieden  ist.') 
Die  Mehrzahl  der  zwischen  Einsetzen  und  Enden 
jedes  Satzes  gesprochenen  Worte,  welchen  eine 
konstante  Tonhöhe  entspricht,  kann  man  also 
leicht  mittels  eines  Tonometers  messen  und  die 
Zahl  ihrer  Schwingungen  genau  angeben.  Auf 
diese  Tonhöhe,  die  man  als  konstante  spon- 
tane oder  individuelle  beherrschende 
(dominierende)  Stimmtonhöhe  bezeichnen 
kann,  lenkte  ich  eben  bei  meinen  Untersuchungen 
die    Aufmerksamkeit,    folgenderweise    verfahrend. 

Die  neben  dem  geeichten  Harmonium  sitzende 
Versuchsperson  bat  ich  bei  mittlerer  Stimm- 
stärke, bei  aller  Ruhe  und  ohne  jegliche  An- 
strengung, der  eigenen  Gewohnheit  gemäß,  einen 
Passus    irgendeiner    Zeitung    oder     eines    Buches 


')  O.  Jespersen,  Lehrbuch  der  Plionelik  ,  2.  Aufl. 
Teubner,    1913,   Kap.    15,  Ton  (S.   224 — 245). 


')  Auch  bei  derselben  Person  kann  sie  übrigens,  abgesehen 
von  den  unten  besprochenen  Änderungen,  unter  verschiedenen 
Umständen,  2.  B.  bei  den  verschiedenen  Tagesstunden,  Änderun- 
gen crfaliren.  Wenn  aber  die  Beobachtung  nicht  für  längere 
Zeit  fortgesetzt  wird,  dann  tritTt  die  Konstanz  der  mittleren 
Tonhöhe   durchaus  zu. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


483 


laut  zu  lesen  und  dabei  die  Aufmerksamkeit  aus- 
schließlich auf  den  Text  zu  konzentrieren,  ohne  auf 
meine  Handlungen  acht  zu  geben.  Letzteres,  das 
von  wesentlicher  Bedeutung  ist,  wenn  man  aus 
dem  Versuche  das  Eingreifen  bewußter  Vorgänge 
möglichst  ausschließen  will,  kontrollierte  ich  am 
Ende,  indem  ich  den  Inhalt  des  gelesenen  Stückes 
auswendig  wiederholen  ließ. 

Den  mit  der  spontanen  individuellen  Stimm- 
höhe der  Zwischenworte  übereinstimmenden  Ton 
des  Harmoniums  heraussuchend,  stellte  ich  am 
Beginne  der  Lektüre  die  Tonhöhe  der  Mehrzahl 
der  ausgesprochenen  Worte  (dominierende 
Tonhöhe)  fest.  Hierauf  ging  ich  zum  eigent- 
lichen Versuch  über,  welcher  darin  bestand,  einen 
anderen  Ton  des  Harmoniums  für  einige  Minuten 
zu  einer  kleinen  oder  mäßigen  Stärke  (nie  sollte 
dadurch  die  Stimme  des  Lesers  verdeckt  werden) 
zu  erzeugen  und  zu  ermitteln,  ob  und  wie  dadurch 
der  eigene  Stimmton  beeinflußt  wurde.  Hiernach 
prüfte  ich  den  Einfluß  eines  anderen  Tones  des 
Harmoniums  und  so  weiter,  so  daß  bei  jedem  Ver- 
such vier  oder  fünf  verschiedene  Töne  angewendet 
wurden.  Am  Ende  ließ  ich  mir  evtl.  angeben,  ob 
und  welche  Gehörsempfindungen  während  des  Ver- 
suches zu  Wahrnehmungen  kamen;  ferner  stellte 
ich  den  Umfang  sowohl  der  Brust-  wie  der  Kopf- 
stimme fest. 

Den  Untersuchungen  dienten  zwei  Arten  Har- 
moniums; die  eine  war  ein  gewöhnliches  mit  tem- 
periertem Leiter  versehenes  Harmonium,  dessen 
Stimmen  ich  jedoch  geeicht  hatte;  die  andere  war 
ein  Harmonium,  das  ich  in  einen  kontinuierlichen 
Tonmesser  umgewandelt  hatte,  indem  jede  Stimme 
mit  einer,  im  Prinzip  der  des  Reisetonometers  von 
V.  Hornbostel  ähnlichen  Vorrichtung  versehen 
war.  Letzteres  Harmonium  gestattete  die  Erzeugung 
jeder  beliebigen  Töne,  auch  derjenigen,  die  nicht 
den  musikalischen  Leitern  gehören.  Für  einige 
Versuche  diente  die  kontinuierliche  Tonreihe 
Bezolds  (Edelmann,  München)  von  Stimmgabeln, 
die  ich  ebenfalls  für  alle  Töne  graduiert  hatte. 
Schließlich  sah  ich  gelegentlich,  daß  für  die  Ver- 
suche auch  der  kleine  Tonmesser  von  v.  Horn- 
bostel innerhalb  seiner  Grenzen  gut  angewendet 
werden  kann. 

Zahlreiche  Personen  verschiedenen  Alter?, 
beider  Geschlechter,  mit  musikalischer  und  ohne 
musikalische  Begabung,  verschiedenen  Standes 
(Kollegen,  Schüler,  Kinder,  Diener)  unterzogen 
sich  gern  den  Untersuchungen,  die  zu  den  folgen- 
den kurz   zusammengefaßten  Ergebnissen  führten. 

Die  Höhe  des  eigenen  spontanen  Stimmtones 
wird  fast  ausnahmslos  nach  verschiedener  Zeit 
geändert;  die  Änderungen  gestalten  sich  jedoch 
verschieden  nach  mehreren  Faktoren,  von  denen 
die  Höhe  des  fremden  beeinflussenden  Tones  am 
wichtigsten  ist. 

a)  Liegt  dieser  Ton  innerhalb  des  Umfanges 
des  mittleren  Stimmregisters  des  Lesers,  d.  h. 
schwankt  sein  Intervall  zu  dem  spontanen  Slinim- 
ton  zwischen  einer  absteigenden  oder  aufsteigenden 


Sekunde,  Per/,,  Uuart,  (Juint  bis  mitunter  einer 
Sext  (je  nach  den  Individuen),  so  intoniert  der 
Leser  unwillkürlich  seinen  Stimmton  einstimmig 
mit  dem  fremden  erklingenden  Ion,  indem  er  die 
Höhe  seines  eigenen  mittleren  Slimmtones  deni- 
ents[)rechend  ändert.  Diese  Änderung  findet  ge- 
wöhnlich dann  statt,  wenn  der  Leser  nach  der  Pause 
am  Ende  eines  Satzes  zu  dem  folgenden  Satze 
überschreitet.  Auf  die  Weise  gelingt  es,  die  kon- 
stante Stimmtonhöhe  um  einen,  zwei,  drei,  fünf 
und  mehr  Halbtöne  experimentell  erhöhen  bzw. 
erniedrigen  zu  lassen,  um  so  leichter,  je  mehr  die 
aufeinanderfolgenden  Variationen  des  beeinflussen- 
den Tones  langsam  ,  stufenweise  oder  nach  kon- 
sonanten  Intervallen  erfolgen.  Dasselbe  gilt  auch 
für  Intervalle  und  Töne,  die  der  musikalischen 
(diatonischen  oder  chromatischen)  Tonleiter  fremd 
sind. 

b)  Liegt  der  beeinflussende  Ton  außerhalb 
(ober-  oder  unterhalb)  des  Umfanges  des  mittleren 
Stimmregisters  des  Lesers,  so  wird  auch  dann 
(jedoch  mit  geringerer  Frequenz)  die  Höhe  des 
eigenen  Stimmtones  geändert,  der  in  einem  kon- 
sonanten  Intervalle  (meist  Oktav,  minder  häufig 
Quint  oder  Quart)  zu  dem  fremden  Ton  akkordiert 
wird.  Wenn  der  P'remdton  zu  hoch  oder  zu  tief 
liegt,  so  daß  es  dem  Leser  nicht  leicht  gelingt,  seine 
Stimme  mit  ihm  zu  akkordieren,  dann  können 
mannigfaltige  Schwierigkeiten  in  der  Fortsetzung 
der  Lektüre  entstehen,  die  langsamer  oder  mühsamer 
wird.  In  der  Schwierigkeit,  bzw.  Unmöglichkeit, 
den  eigenen  Stimmton  mit  einem  außergewöhn- 
lich hohen  oder  tiefen  Premdton  in  Einklang  zu 
bringen,  ist  meiner  Ansicht  nach  die  Erklärung 
der  von  v.  Urbantschitsch')  bei  ähnlichen 
Bedingungen   beobachteten   Störungen    zu  suchen. 

c)  Auch  bei  den  vorliegenden  Untersuchungen 
spielt  der  individuelle  Faktor  eine  wichtige  Rolle. 
Im  allgemeinen  gelingen  die  Versuche  bei  allen, 
sowohl  musikalischen  wie  nichtmusikalischen 
Italienern;  nicht  alle  eignen  sich  jedoch  dazu  in 
gleichem  Maße,  die  musikalischen  besser  als  die 
unmusikalischen.  Einige  sind  gehorsamer  als 
andere.  Auch  in  diesem  Verhalten  äußert  sich 
wahrscheinlich  die  verschiedene  Stärke  des  Selbst- 
gefühls der  eigenen  Personalität.  Um  jedoch 
etwas  Näheres  über  das  individuelle  Verhalten 
anzugeben,  ist  eine  größere  Anzahl  Versuche 
nötig,  die  ich  vorläufig  noch  nicht  besitze.  Übri- 
gens hat  dabei  der  Redeton  (der  oben  erwähnte 
Ausdruckston)  einen  beträchtlichen  Einfluß,  indem 
je  mehr  derselbe  zur  Geltung  kommt,  desto  weniger 
die  Stimmtonhöhe  geändert  wird. 

Vielleicht  hat  dabei  auch  die  Nationalität  eine 
durchgreifende  Bedeutung.  Die  Italiener,  an  denen 
ich  meine  Versuche  fast  ausschließlich  bisher  an- 
gestellt habe,  eignen  sich  dazu  vortrefi'lich,  weil 
ihre     gewöhnliche     Sprache     reich     an     Modula- 


')  V.  Urbantschitsch,  Über  den  Einfluß  von 
Schall  empfindungen  auf  dieSp  räche,  Ptlüger's  .\rch. 
Bd.   137,   191 1,  S.  422—434. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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tionen  ist  und  die  Stimmtonhöhe  dank  der  zahl- 
reichen mit  Vokalen  versehenen  Silben  sehr  rein 
und  deutlich  zum  Ausdruck  kommt.  Ein  junger 
Engländer,  Professor  der  Biologie,  zeigte  dagegen 
fast  ein  völlig  negatives  Verhalten. 

d)  Einen  deutlichen  Einfluß  hat  auch  die  Natur 
des  beeinflussenden  Tones,  indem  er  je  mehr  er, 
nicht  nur  in  der  Höhe,  sondern  auch  in  den  übrigen 
Eigenschaften  (Tonfarbe),  der  menschlichen  Stimme 
nahekommt  und  je  stärker  und  dauernder  er  ist,  desto 
besser  Änderungen  in  der  Stimmtonhöhe  erzeugt. 
Deswegen  liefern  die  Klänge  der  Kontroktave,  der 
kleinen  und  ersten  Oktave  des  Harmoniums,  bedeu- 
tend bessere  Resultate  als  die  entsprechenden 
Stimmgabeln. 

Diesbezüglich  sei  jedoch  hinzugefügt,  daß  es 
zur  Herbeiführung  der  genannten  Variationen  der 
Stimmtonhöhe  gar  nicht  nötig  ist,  einen  sehr 
starken  Ton  zu  gebrauchen.  Es  genügt  auch  ein 
so  schwacher  Ton,  den  der  Leser  eben  vernehmen 
kann.  Dies  schließt  den  Verdacht  aus,  daß  der  Eeser 
seine  Stimme  instinktiv  zu  erhöhen  sucht,  um  den 
PVemdton  zu  beherrschen.  Dieser  Einwand  wird 
übrigens  auch  von  dem  Umstand  widerlegt ,  daß 
der  eigene  Stimmton  sinkt,  wenn  der  Fremdton 
tiefer  ist,  auch  wenn  die  Stärke  des  letzteren  sehr 
groß  ist. 

Die  Leser,  welche  eine  nähere  Kenntnis  der 
bisher  bei  diesen  Versuchen  erzielten  Resultate 
haben  möchten ,  verweise  ich  auf  die  italienische 
ausführliche  Mitteilung. ')  Hier  gebe  ich  noch  das 
Gesamtergebnis  wieder. 

Wenn  man  laut  spricht  (liest)  und 
zugleich  ein  Fremdton,  der  in  einem 
dissonanten  oder  diskordanten^)  Inter- 
valle bezüglich  der  eigenen  Stimm  töne 
liegt,  das  Ohr  trifft,  strebt  man  unwill- 
kürlich und  unwiderstehlich  dahin,  die 
Höhe  seiner  Stimme,  namentlich  die 
Höhe  der  am  häufigsten  wiederkehren- 
den Phoneme  (sog.  mittlere  oder  kon- 
stante bzw.  dominierende  Stimmton- 
höhe) zu  ändern  und  dadurch  an  dieHöhe 
des  Fremdtones  anzupassen,  indem 
die  erstere  mit  letzterer  im  Einklänge, 
oder  in  einem  konsonanten  Intervalle 
(je  nachdem  der  Fremdton  innerhalb  oder  außer- 
halb des  mittleren  Stimmregisters  der  Versuchs- 
person liegt)  akkordiert  wird.  Wurde  somit 
eine  gewisse  Stimmtonhöhe  erreicht,  die  von  der 
anfänglichen  spontanen  abweicht,  so  hat  man  die 
Neigung,  dieselbe  für  eine  gewisse  Zeit  beizube- 
halten, auch  nachdem  der  beeinflussende  Fremd- 
ton aufgehört  hat. 


')  ,,Vox"  Internat.  Zentralbl.  f.  experim.  Phonetik,  24.  Jahrg. 
Heft  2,  1914. 

^)  Als  ,, dissonante"  Intervalle  sind  die  musikalischen 
Intervalle  Sekunde.  Sexte,  Septime,  als  ,,diskordante"  Intervalle 
alle  übrigen  unzähligen  niclitmusikalischen  Intervalle  zu  ver- 
stehen. 


Für  die  somit  erwiesene  Tatsache  wollen  wir 
zunächst  eine  theoretische  Erklärung  suchen  und 
dann  einige  praktische  Folgen  erwähnen. 

Biologen  werden  darin  ein  schönes  Beispiel 
der  immer  mehr  an  Zahl  und  Kenntnis  zunehmen- 
den Erscheinungen  von  Anpassungsfähigkeit 
an  die  LTmgebung  erblicken,  wodurch  die 
Lebewesen  dank  der  großen  Funktionsvariabilität 
ihrer  verschiedenen  Organe  imstande  sind,  die 
eigenen  funktionellen  Eigenschaften  und  Bedürf- 
nisse nach  den  mannigfachen  äußeren  Bedingungen, 
unter  denen  sie  leben,  so  zu  modifizieren  und  ein- 
zuschränken, daß  der  normale  Ablauf  der  Lebens- 
vorgänge dadurch  nicht  gehindert,  sondern  viel- 
mehr begünstigt  wird. 

Der  introspektiven  Analyse  der  Selbstbeob- 
achtung würde  diese  Anpassung  als  ein  Beispiel 
jener  psychischen  Vorgänge  erscheinen,  die  unter 
dem  Namen  Einfühlung  heute  hervorgehoben 
werden,  wodurch  unsere  Psyche  instinktiv  dahin 
strebt,  einem  äußeren  Einflüsse  zu  folgen  und  sich 
mit  ihm  übereinzustimmen. 

Eine  andere,  vielleicht  überzeugendere  Erklärung 
wird  von  der  physiologischen  Analyse  geliefert. 
Die  Versuchsperson  wird  zu  gleicher  Zeit  von 
zwei  verschiedenen  (dissonanten  und  diskordanten) 
Schallempfindungen  getroffen,  die  eine  stammt  von 
der  eigenen  Stimme,  die  zweite  von  dem  Fremdton. 
Wie  es  immer  unter  ähnlichen  Bedingungen  der  Fall 
ist,  wenn  also  beide  Schallempfindungen  den  gleichen 
Entstehungsort  haben,  d.  h.  wenn  zweistimmige 
dissonante  oder  diskordante  Akkorde  von  Instru- 
menten oder  Stimmen  erzeugt  werden,  empfinden 
alle  Menschen  (selbst  die  Unmusikalischen)  einen 
unangenehmen  Eindruck  und  infolgedessen  suchen 
alle  dem  Verdruß  sich  zu  entziehen,  indem  ange- 
nehme, d.  h.  konsonante  Intervalle  (Einklang, 
Oktav,  Quint,  Quart)  verlangt  werden.  Der  Leser 
vernimmt  in  unserem  Falle  mit  der  Schall- 
empfindung seiner  Stimme  die  Schallempfindung 
des  Fremdtones.  Wenn  diese  zwei  Empfindungen 
nicht  übereinstimmen,  erlebt  er  die  unangenehme 
Wirkung  der  dissonanten  oder  diskordanten  zwei- 
stimmigen Akkorde  (wie  es  übrigens  von  allen 
einer  genauen  Selbstbeobachtung  fähigen  Versuchs- 
personen tatsächlich  angegeben  wird)  und  er  sucht 
sich  instinktiv  dem  Verdruß  zu  entziehen,  eben 
indem  er  den  dissonanten  oder  diskordanten  Akkord 
in  einen  konsonanten  umwandelt.  Da  er  dabei 
den  beeinflussenden  Fremdton  nicht,  sehr  wohl 
dagegen  die  Tonhöhe  seiner  Stimme  zu  ändern 
vermag,  dank  jener  innigen  Beziehung,  welche 
die  sensoriellen  Gehörszentren  der  Hirnrinde  mit 
den  motorischen  Sprachzentren  verbindet,  modi- 
fiziert er  die  Höhe  seiner  Stimme,  d.  h.  die  Höhe 
der  von  derselben  erzeugten  Schallempfindung 
derart,  daß  sie  ein  konsonantes  Intervall  (Einklang 
oder  Oktav)  mit  der  fremden  Schallempfindung 
bildet.  Somit  verschwindet  die  unangenehme 
Wirkung;  ja  sogar,  wenn  die  neue  Tonhöhe  dem 
Sprachorgane  angemessen  ist,  entsteht  dagegen 
Lust    und    Erregung   weiter    zu   sprechen,   wie  es 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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ebenfalls  von  den  Versuchspersonen  behauptet 
wird. 

Von  dem  Kinflusse,  den  die  äußeren  Schall- 
empfindungen auf  die  Eigenschaften  (Tonhöhe) 
der  gesprochenen  Sprache  ausüben  oder  auszuüben 
vermögen,  stammen  einige  praktische  Folgen  !ier. 

Zunächst  verstehen  wir  den  Grund  für  den 
Brauch  alter  römischer  Redner,  die  am  Anfange 
ihrer  Reden  den  Sprachton  von  einem  Fistula 
blasenden  Sklaven  geben  ließen.  A  m  n  i  e  n  u  s 
Marcellinus  (Schriftsteller  des  4.  Jahrb.  n.  Ch.) 
erwähnt  z.  B.  die  F"  i  s  t  u  1  a  c  o  n  t  i  o  n  a  t  o  r  i  a 
Gracchi.  Wahrscheinlich  ließ  sich  jeder  Redner 
den  Ton  geben,  der  am  besten  dem  eigenen 
Stimmregister  entsprach. 

Die  Tatsache  hat  aber  eine  wichtige  pädago- 
gische Bedeutung.  Die  Schüler  passen  ihre  Stimme 
an  diejenige  der  Lehrer  an  oder  (minder  häufig)  um- 
gekehrt. Dies  wird  am  leichtesten  vorkommen,  weil 
diebeeinflussenden  PVemdtöne  auch  in  der  Stärke  und 
Klangfarbe  der  beeinflußten  Stimme  nahekommen. 
Denn  es  handelt  sich  hier  um  zwei  menschliche 
Stimmen.  Somit  wird  es  verständlich,  daß  bei 
einer  Unterhaltung  nach  den  ersten  Worten  alle 
Redner  sich  gegenseitig  beeinflussen  und  die  mitt- 
lere Tonhöhe  ihrer  Sprache  im  Einklang  oder 
nach  konsonanten  Intervallen  intonieren.  C.  B  i  a  g  g  i 
hat  unabhängig  von  mir  mittels  des  v.  Horn- 
bostel 'sehen  Tonometers  experimentell  festge- 
stellt, daß  die  Höhe  der  Stimme  der  Kinder  einer 
Mailänder  Volksschule  und  diejenige  ihrer  Lehrerin 
sich  tatsächlich  gegenseitig  beeinflussen  und  parallel 
gehende  Schwankungen  zeigen. 

Obwohl  nun  der  Umfang  des  mittleren  bei 
der  gewöhnlichen  Aussprache  am  meisten  ge- 
brauchten Stinimregisters  innerhalb  ziemlich  weiter 
(irenzen  (etwa  einer  Ouint,  Quart  oder  Terz) 
schwanken  kann,  ist  es  doch  eine  Tatsache,  daß 
nicht  jeder  innerhalb  dieser  Grenzen  ausgewählte 
Tonhöhenwert  den  einzelnen  Stimmen  im  gleichen 
Maße  gut  paßt.  Für  jede  Person  scheint  vielmehr 
nur  eine  bestimmte  Tonhöhe  die  geeignetste,  die 
den  Sprechorganen  am  besten  angemessen  ist,  die 
geringste  Anstrengung  erfordert  und  die  geringste 
Ermüdung  erzeugt.  Es  leuchtet  dann  ein,  daß  die 
eine  angemessene  Stimmtonhöhe  besitzenden  Lehrer 
die  Sprache  ihrer  Zöglinge  günstig  beeinflussen 
können,  während  die  mit  einer  zu  hohen  oder 
zu  tiefen  oder  rauhen  Stimme  begabten  Lehrer 
einen  schädlichen  Einfluß  auf  die  Sprache  der 
Schüler  notwendig  ausüben  werden.  Von  den 
Lehrern  ebenso  wie  von  den  Eltern,  Brüdern  und 
Freunden,  mit  denen  wir  am  häufigsten  nament- 
lich in  den  ersten  Jahren  verkehrt  haben,  erwerben 
wir  Redearten,  Sprachfehler  und  Tonhöheneigen- 
schaften (ebenso  wie  Kadenzen  und  Modulationen), 
die  uns  das  ganze  Leben  begleiten  und  unsere 
Sprache  kennzeichnen. 

Auf  die  Weise  kann  die  tägliche  Erfahrung 
von  den  allen  .Angehörigen  einer  Familie  oder  einer 
Schule  gemeinsamen  Spracheigenschaften  (familiäre 
Sprachgruppen)  erklärt  werden,  wenigstens  soweit 


sie  sich  auf  die  Tonhöheneigenschaften  beziehen. 
Ahnlicherweise  gewinnen  wir  auch  eine  Erklärung 
für  die  ebenfalls  tägliche  Beobachtung,  daß  die  Ein- 
wohner eines  Dorfes,  einer  Stadt,  einer  Gegend 
und  selbst  einer  Nation  übereinstimmende  Charak- 
tere ihrer  .Sprache  besitzen.  Durch  diese  Tatsache 
behaupten  wir  freilich,  weder  alle  Eigenschaften 
noch  den  Ursprung  der  besonderen  Modulationen 
der  Stimmtonhöheder  verschiedenen  Sprachgruppen 
erklären  zu  dürfen.  Es  ist  nur  ein  Faktor  der 
Sprache,  den  wir  hier  betrachten,  d.  h.  die  Ton- 
höhe. Bezüglich  seines  ersten  Auftretens  sind  wir 
zwar  immer  noch  im  Dunkel;  auf  Grund  der  mit- 
geteilten Beobachtungen  sind  wir  jedoch  imstande 
zu  behaupten,  daß  sich  derselbe,  nachdem  er  einmal 
entstanden  ist,  von  Generation  zu  Generation  er- 
halten und  übermittelt  werden  konnte  durch  den 
Einfluß,  den  er  auf  die  Stimme  aller  Glieder  der 
Gesellschaft  ausgeübt  hat. 

Obige  Betrachtungen  gelten  nicht  nur  für  die 
europäischen  Sprachen,  bei  denen  die  Tonhöhe 
fast  nur  zum  Ausdruck  der  Gefühle  dient,  sondern 
auch  (vielleicht  in  einem  höheren  Maße)  für  die- 
jenigen Sprachen  (chinesische  und  einige  afrika- 
nische Sprachen),  bei  denen  durch  die  verschie- 
dene Tonhöhe  der  Silben  eine  verschiedene  Inhalts- 
bedeutung des  Wortes  angegeben  wird. 

Es  gibt  ferner  noch  eine  andere  Möglichkeit,  die 
hierher  gehört  und  die  wir  nicht  vergessen  wollen, 
die  Möglichkeit  nämlich,  daß  die  verschiedenen 
Schallquellen  der  äußeren  Umgebung  auf  die  Ton- 
höhe der  menschlichen  Sprache  einen  ähnlichen 
Einfluß  ausüben  können.  Von  den  Schallquellen 
der  Llmeebune  seien  die  Tierstimmen,  namentlich 
aber  die  Klänge  oder  Geräusche  erwähnt,  welche 
einige  Naturerscheinungen  begleiten,  wie  z.  B.  die 
Wasserfälle,  die  Flußläufe,  die  Meereswellen,  das 
Windrauschen,  welches  verschiedene  Höhe  und 
Klangfarbe  je  nach  der  Art  und  Zahl  der  Bäume 
zeigt  usw.  Daß  alle  solche  Naturerscheinungen 
durch  ihre  Schalhvirkungen  am  meisten  charak- 
terisiert und  vom  Menschen  erkannt  werden,  ist 
zweifellos.  Die  zu  ilirer  Bezeichnung  erfundenen 
Si^rachworte  enthalten  selbst  bei  den  verschiedenen 
Sprachen  Klänge  oder  Geräusche,  die  an  dieselben 
stark  erinnern  (sog.  onomatopoetisciie  Nachahmung). 
Doch  gehört  diese  Besonderheit  nicht  zu  unserem 
Gegenstande;  dagegen  gehört  hierher  die  Tatsache, 
daß  die  Menschen,  welche  Gegenden  oder  Ort- 
schaften bewohnen,  wo  solche  Schallwirkungen 
stets  vorkommen  (wie  z.  B.  die  Einwohner  der 
Meeres-  oder  der  Flußiifer),  dem  Einfluß  dieser 
Schallempfindungen  beständig  ausgesetzt  sind.  Die 
besonderen  Tonhöhenwerte,  welche  in  diesen  Ge- 
räuschen immer  vorkommen,  werden  schließlich 
auf  die  Tonhöhe  der  Sprache  einen  dem  oben 
erwähnten  ähnlichen  Einfluß  ausüben,  so  daß 
schließlich  die  Stimmtonhöhe  dieser  Einwohner 
den  äußeren  Klängen  akkordiert  wird. 

Ähnlicherweise  glaube  ich,  daß  die  Sprache 
der  Einwohner  eines  Dorfes  von  den  besonderen 
Klangtönen    der  Glocken    ihrer  Kirche    beeinflußt 


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werden  kann  und  daß  vielleicht  in  einem  größeren 
IVIaße  die  Sprachlaute  der  Bauhandwerker,  der  Tisch- 
ler, der  Schreiner,  der  reisenden  Eisenbahnbeamten 
usw.  von  den  Schallempfindungen,  die  von  ihren 
Gewerben  erzeugt  werden,  beeinflußt  werden.  Es 
sind  also  vielleicht  nicht  nur  die  rhythmischen 
Eigenschaften  (Bücher),  sondern  auch  die  melo- 
dischen Eigenschaften  (Tonhöhe)  dieser  Gewerbe, 
welche  die  physiopsychologischen  Äußerungen  der 
betreffenden  Individuen  modifizieren  und  regeln 
und  in  den  Merkmalen  ihrer  Sprachen  sich  wider- 
spiegeln. 

Schließlich  wollen  wir  den  Einfluß  erwähnen, 
welcher  die  Umgebung  durch  ihre  Resonanz  auf 
die  Sprachtonhöhe  ausüben  kann.  Bekanntlich 
besitzen  die  verschiedenen  Zimmer  und  Säle,  wo 
man  spricht,  ganz  verschiedene  Resonanzfähigkeiten. 
Es  gibt  einige,  welche  fähig  sind,  alle  Töne  gleich- 
mäßig zu  verstärken ,  während  andere  dagegen 
nur  bestimmte  Töne  und  andere  schließlich  keinerlei 
Töne  zu  verstärken  vermögen.  Es  leuchtet  ein, 
daß  die  S[>rache  eines  Redners,  der  in  diesen 
verschiedenen  Räumen  zu  sprechen  hat,  ganz  ver- 
schieden   von    der   Resonanz   derselben  beeinflußt 


werden  muß.  Im  ersteren  Falle,  wo  alle  Ton- 
höhenwerte gleichmäßig  verstärkt  werden ,  wird 
der  Redner  am  wenigsten  gestört.  Er  kann  seine 
[lersönliche  beste  Stimmtonhöhe  auswählen  und 
fortsetzen,  ohne  daß  die  Umgebung  ihn  auf  eine 
andere  Tonhöhe  lenkt.  Der  zweite  Fall  kann 
dagegen  schlimme  Folgen  haben ,  wenn  der 
Raum  Töne  verstärkt,  welche  der  Sprache  der 
Redner  nicht  adäquat  sind.  Er  wird  daini  auf 
diese  Tonhöhe  von  der  Umgebung  unwillkürlich 
gebracht,  die  zu  tief  oder  zu  hoch  für  seine  Sprach- 
organe ist ;  infolgedessen  verliert  seine  Stimme 
die  gewohnte  Wirkung,  und  er  wird  dadurch 
ziemlich  bald  müde. 

Auf  Grund  der  Tendenz  und  Fähigkeit,  die 
der  Mensch  in  so  ausgesprochenem  Maße  besitzt, 
die  Höhe  seiner  mittleren  Stimme  beim  Sprechen 
durch  die  Schallempfindungen  der  Umgebung  zu 
regeln,  können  wir  also  eine  Anzahl  auffälliger 
Tatsachen  und  täglicher  Erfahrungen  verstehen; 
vielleicht  kann  daraus  in  der  Zukunft  auch  ein 
Mittel  zur  pädagogischen  Bildung  der  Stimme  und 
Heilung  von  Sprach-  und  Gesangfehlern  gewonnen 
werden. 


SteinwerkzeHge  aus  dem  noiMlischcu  (Jletscliermergel. 

Von  Prof.   Dr.  Ferd.  Richters  f. 
Mit  6  Textliguren. 


[Nachdruck  verboten.] 

Der  nordische  Gletscher  der  Eiszeit  hat  ge- 
waltige Massen  Gebirgstrümmer  mit  sich  geführt 
und  über  Norddeutschland  ausgestreut.  Teils  sind 
es  ungeschichtete  Mergel  mit  Geschieben  von  allen 
Größen,  teils  in  Zwischen  -  Eiszeiten  sortierte 
Schwemmprodukte  der  Gletschermergel :  ge- 
schichtete Sand- ,  Lehm-,  Mergel-,  Kieslager  und 
Blockpackungen. 

Außer  natürlichen  Gesteinsbrocken  schloß  der 
Gletschermergel  auch  solche  ein,  die  Spuren 
menschlicher  Tätigkeit  erkennen  lassen.  Die  hoch- 
nordischen Gefilde  müssen  schon  während,  ver- 
mutlich sogar  schon  vor  der  Eiszeit  von  Menschen 
bewohnt  gewesen  sein,  dafür  liefern  eben  die  im 
Gletschermergel  sich  findenden  Manufakte  den 
unumstößlichen  Beweis. 

Eine  besonders  wichtige  Rolle  spielen  bei 
der  Untersuchung  der  Geschiebe  die  Gletscher- 
schrammen, das  sind  Verletzungen,  welche  dieselben 
beim  Abwärtsrutschen  des  Gletschereises,  durch 
Berührung  untereinander  oder  mit  der  Sohle  und 
den  Wandungen  des  Gletscherbetts  erhalten  haben. 
Nach  Maßgabe  des  Härleverhältnisses  zwischen 
dem  ritzenden  und  dem  geritzten  Gestein  sind  sie 
verschieden  kräftig  ausgebildet.  Weiche  Kalksteine 
werden  leichter  ..gekritzt"  als  harte,  kristalline 
Gesteine  oder  gar  Feuersteine.  Meistens  sind  es 
schnurgerade  .Striche  und  Schrunden,  oft  zu  vielen 
untereinander  jiarallel,  die  unter  dem  gewaltigen 
Druck  Hunderte  von  Metern  hoher  Eismassen, 
durch     Ecken    und     Kanten     von    Kristallen     und 


Körnern  eines  harten  Minerals  auf  der  ( )berfläclie 
eines  weniger  harten  Gesteines  erzeugt  werden. 
Früher  oder  später  gelangen  die  geschrammten 
Geschiebe  auf  der  Gletschersohle  in  die  schlam- 
migen Abwässer  des  Gletschers  und  werden  durch 
diese  poliert.  Gletscherschrammen  haben  daher 
ein  mehr  oder  weniger  verwaschenes  Aussehen 
und  unterscheiden  sich  dadurch  von  anderen  Druck- 
spuren. So  ist  es  auch  bei  dem  Feuerstein,  dem 
Material,  aus  dem  fast  ausschließlich  die  Manufakte 
bestehen.  Auf  dem  Acker  und  am  Wege  liegende 
Feuersteine  können  auch,  unter  Umständen,  durch 
menschliche  Tätigkeit,  durch  Ackergeräte,  Wagen- 
räder usw.  Druckspuren  annehmen ;  diese  sind 
aber  ganz  anderer  Art.  Die  Feuersteine,  die  von 
derartigen  Eingriffen  betroffen  werden,  sind  im 
Laufe  der  Zeit  meistens  mit  einer  Kruste  von 
„Patina"  überzogen.  Diese  schilfert  in  flachen 
Druckspuren  auch  noch  unter  dem  Druck  eines 
Wagenrades  ab,  vgl.  „Umschau"  Nr.  16  19 14; 
friscli  zerschlagene  Steine  mit  gesunder  Oberfläche 
nehmen  auf  diese  Weise  keine  Schrammen  an. 
Finden  wir  daher  ein  Feuersteingerät  mit  deut- 
lichen Gletscherschrammen  auf  den  geschlagenen 
Flächen,  so  dürfen  wir  sicher  sein,  daß  es  den 
Gletschertransport,  schon  bearbeitet,  mitgemacht 
hat,  also  sicherlich  der  Alt-Steinzeit  angehört.  Für 
den  Archäologen  ist  dieses  Erkennungsmittel  manch- 
mal von  hoher  Bedeutung,  denn  gar  oft  liegen  die 
Inmdstücke  nicht  an  der  Stelle,  wo  der  Gletscher 
sie  deponierte:  sie  sind  verschwemmt,  vom  Regen 


N.  F.  XIII.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


487 


ausgewaschen,    vom    Menschen  verschleppt.     Alle 
solche  Oberflächenfunde  wertete   man  früher  sehr 


Fig.  I.     Faustkeil  von  Labö.     10  cm. 


wenig,  weil  sich  nichts  über  ihr  geologisches  Alter 
sagen  lief5.  Darauf  müssen  wir  eben  bei  Gletscher- 
mergel-Vorkommnissen verzichten,  denn  selbst 
wenn  wir  ein  Stück  in  einer  geologisch  noch  so 
sicher  festgestellten  interglazialen  Kiesschicht  finden, 
so  wissen  wir  über  sein  Alter  doch  noch  nichts 
Sicheres.  Trägt  es  Gletscherschrammen  auf  ge- 
schlagenen Flächen,  so  wissen  wir  wenigstens, 
daß  es  altsteinzeitlich  ist;  trägt  es  keine,  so  kann 
es  immerhin  doch  den  Gletschertransport  mit- 
gemacht haben;  nicht  alle  Geschiebe  werden  ge- 
schrammt. Aber  das  steht  fest,  daß  ein  ge- 
schrammtes Werkzeug  nicht  neusteinzeitlich  sein 
kann. 

Zurzeit  wird  angenommen,  daß  der  sog.  „Obere 
Geschiebelehm"  Norddeutschlands  der  vierten  Eis- 
zeit Penck's,    der  „Würmeiszeit",    angehört    und 


Fig-  3- 

Faustkeil   von  Strande. 
13   cm. 


Fig.  4. 

Keule  von  IloUenau. 

16,5   cm. 


Fig.  2.     Faustkeil  von  Kitzeberg.     Natürl.  Größe. 


urgeschichtlich  in  die  Zeit  der  Mousterienperiode 
fällt.  Demgemäß  dürften  wir  in  den  unteren 
Schichten  des  Diiuviallehms  noch  Werkzeuge  aus 
den  Perioden  des  Acheulcen,  Chelleen  und  Stre- 
pyien  und  des  Eolitiiicums  erwarten.  Und  darin 
werden  wir  nicht  getäuscht,  wie  ich  durch  Funde 
aus  der  Umgebung  der  Kieler  Förde  glaube  er- 
weisen zu  können. 

Als  Eolithe  habe  ich  in  meiner  Sammlung 
mehrere  Oberflächenfunde  aufgelegt,  die  mit  großer 
Wahrscheinlichkeit  als  solche  aufzufassen  sind. 
Es  sind  natürliche  Steinknollen  und  -brocken  von 
handlicher  Form  mit  Verletzungen,  die  man  für 
das  Produkt  menschlicher  Tätigkeit  halten  kann; 
volle  Gewißheit  kann  bei  keinem  Eolithen,  in 
diesem  engeren  Sinne  des  Wortes,  gegeben  werden. 

Absichtlich  geformte  Stücke  finden  sich  im 
,, Untern  (jeschiebelehm",  in  dem  wir  mal  ein 
Produkt  der  Rißeiszeit  erblicken  dürfen;  ich  habe 


488 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  31 


solche  eigenhändig  dem  intakten  Gletschermergcl 
mit  seinen  zahlreichen,  schön  geschrammten  und 
polierten  Silurkalkgeschieben  und  seinen  vorwiegend 


Fi?- 

■;. 

a 

Sar^cac, 

Aurignacien ; 

b 

Haffkam 

p;  c 

le 

Moustier, 

Mo 

lusterien ; 

Labo 

e 

le 

Moustier, 

,  Moust 

crien ; 

;  f 

Labö;  g 

Labö ; 

h  le  Moustier, 

Mouslericn. 

'/5 

nat.  Größe. 

e 

Fig.  6.     a  Labö 
e  Haff kamp ; 


b  le  Moustier,  Aclieuleen;  c  Haffkarap;  d  Longueroche,   Magdalenien; 
f  le  Moustier,  Mousteriea  ;  g  Brodersdorf;  h  le  Moustier,  Mousterien. 
^/j  nat.  Größe. 


tiefschwarzen  heuersteinknollen  entnommen.     Die 
Bearbeitung  ist  noch  eine  sehr  rohe;  man  begnügte 
sich  damit,    einer   Feuersteinknolle    durch    wenige 
Schläge    eine    Spitze    (Fig.    i) 
d  oder  eine  Schneide  (Fig.  2)  zu 

geben.  Die  Kruste  der  Knolle 
wurde  im  übrigen  nicht  ent- 
fernt. Solche  Stücke  ent- 
sprechen den  Strepyien  Belgiens. 
Die  abgebildeten  sind  Ober- 
flächenfunde; Fig.  I,  ein  typi- 
scher coupde  poing,  den  ich 
auf  einer  Straße  in  Labö,  Fig.  2, 
ein  Faustkeil  mit  zickzackför- 
migcr  Schneide,  und  hinten 
mit  Anpassung  an  die  Hand 
durch  Abrundung,  den  ich  im 
Walde  bei  Kitzeberg  auflas. 

Typische    Stücke    aus    dem 
Clielleen,  die  künstlich  entkrustet 
waren,    hat    mir  besonders  der 
Strand    von    Strande    bis    Büjk 
geliefert.     Fig.  3,  ein  Faustkeil 
von  Strande  von  13  cm  Länge, 
entspricht  auf  das  genaueste  dem 
in  allen  Lehrbüchern  der  Urge- 
schichte wiedergegebenen  Bild 
eines    h'austkeils     von    ChcUes 
aus  Mortillet,    Musce   prae- 
historique  pl.  V.,  Fig.  28.     Die 
in  Fig.  4  dargestellte,    16,5  cm 
lange    Keule    (casse-tete)    aus 
einer    Sandgrube   in  Hol- 
tenau,    ist    durchaus    das 
Ebenbild  eines  im  Bulletin 
de    la    societe    d'anlhro- 
pologie       de       Bruxelles, 
1 89S,  Fig.  I  5  abgebildeten 
h'undstückes  vonTrien  im 
Hennegau,    von    11,5  cm 
Länge. 

Besonders  reich  sind 
h'ormen  des  Acheuleen 
und  Moustcrien  unter  den 
Funden  aus  der  Umge- 
bung der  Kieler  h'örde 
vertreten.  In  Heft  12  der 
,, Prähistorischen  Zeit- 

schrift" 1914  habe  ich 
bereits  je  drei  Manufakte 
von  Labö  und  Umgegend 
neben  Fundstücken  aus 
dem  Acheuleen  und  Mou- 
sterien  des  Vezere-Tals 
abgebildet.  Unsere  Ab- 
bildungen 5  und  6  zeigen 
weiter  e  i  n  solches  Paar 
von  Pendants  aus  dem 
Acheuleen,  P"ig.  6  a,  b,  fünf 
aus  dem  Mousterien,  Fig. 
5c  -h,  Fig.  6  c — h.  Es 
sind    Schaber     von    ver- 


N.  F.  XIII.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


489 


schiedener  Gestalt,  alle  mit  Retuschen,  resp.  mit 
Gebrauchsspuren  ;  drei  von  diesen  haben  Gletscher- 
schrammen. 

Mit  dem  diluvialen  Mousterien  aber  sind  die 
Funde  in  der  Kieler  I-'örde  nicht  erschöpft;  Aurig- 
nacien,  Solutreen,  Magdalenien  schließen  sich  an. 
In  der  Prähistorischen  Zeilschrift  veröffentlichte  ich 
vier  Fundstücke  aus  dem  französischen  Aurignacien 
und  entsprechende  Gegenstücke  zu  diesen  von 
der  Kieler  Förde.  In  Fig.  5  a,  b  füge  ich  ein 
fünftes  Paar  hinzu    und  gebe    auch  ein  Bild  eines 


Stichels  (burin)  aus  den  Magdalenien  von  Longue- 
roche,  F"ig.  5  d,  verglichen  mit  einem  solchen  von 
Haffkamp  bei  Labö,  Fig.  5  c. 

Aus  allen  Perioden  des  französischen  Palaeo- 
lithicums  finden  sich  typische  Fundstücke  an  den 
Ufern  der  Kieler  Förde;  ob  dieselben  den  franzö- 
sischen durchaus  gleichalterig  sind,  ist  eine  andere, 
noch  eingehender  zu  prüfende  h'rage.  Die  Gletscher- 
schrammen tragenden  Werkzeuge  aber  sind  von 
nördlichen  seßhaft  gewesenen  Nachbarn  herge- 
stellt. 


Einzelberichte. 


Anatomie.  Aniphibienlarven  können  längere 
Zeit  ohne  Kopf  leben.  C.  Eycleshymer  (Some 
observations  on  ihe  decapitated  young  Necturus. 
Anat.  Anzeiger,  46.  Bd.,  1914)  fand,  daß  von  10 
bis  15  mm  langen  Necturuslarven,  die  bei  einem 
Versuch  infolge  heftiger  Bewegungen  des  Wassers 
in  Stücke  gegangen  waren,  3  kopflose  Individuen 
am  Lieben  blieben ;  zwei  noch  einige  Wochen,  ein 
drittes  3  Monate.  Fs  wurde  in  einem  weiteren 
\^ersuch  eine  größere  Zahl  von  Larven  absichtlich 
durch  einen  scharfen  Schnitt  enthauptet.  Die 
Schnittlinie  lag  vor  den  Kiemen,  direkt  hinter  dem 
Kleinhirn.  Einige  von  den  Larven  überlebten  den 
Eingriff  um  ungefähr  3  Monate,  bis  der  Dotter 
gänzlich  aufgebraucht  war.  Das  Wachstum  war 
langsamer  als  bei  der  unverletzten  Larve.  Die 
Differenzierung  der  Organe  dagegen  verlief  in  dem- 
selben Tempo.  Die  Bewegungen  waren  weniger 
häufig,  zeigten  im  übrigen  aber  keine  Veränderung. 
Die  Verteilung  des  F'arbstofls  war  normal,  ob- 
gleich die  Chromatophoren  stark  zusammengezogen 
waren.  Die  ersten  Pigmentstreifen  fielen  mit  den 
großen  dorsolateralen  Venen  zusammen.  Die 
anderen  Bänder  und  Flecken  zeigten  keine  Be- 
ziehung zu  den  Blutgefäßen,  weder  in  ihrer  Ent- 
stehung noch  in  ihrer  Entwicklung.  Von  den 
Hautsinnesorganen  war  das  Auftreten  des  Pig- 
ments unabhängig.  Die  beiden  Pfoten  bildeten 
sich  wie  bei  den  normalen  Larven,  nur  langsamer. 
Die  Reaktion  auf  Licht  war  im  wesentlichen 
dieselbe  und  zeigte,  daß  der  Hautlichtsinn  den 
durch  die  Entfernung  der  Augen  entstandenen 
Verlust  decken  kann.  Katharincr. 

Geographie.  Walter  Behrmann  faßt  die 
„Geographischen  Ergebnisse  der  Kaiserin-Augusta- 
Fluß-Expedition" in  derZeitschr.  Ges.  Erdkde.,  1914, 
H.  4,  zusammen. 

Die  F.xpedition,  die  Ende  191 1  ihre  Ausreise 
nahm  und  September  1913  aufgelöst  wurde,  halte 
die  Hauptaufgabe,  den  westlichen  Anteil  des 
deutschen  Gebietes  zu  erforschen  und  besonders 
die  Nebenflüsse  des  Sepik,  wie  der  Kaiserin- 
Augusta-Fluß  kurz  genannt  wird,  zu  erkunden,  von 
diesen  aus  in  das  unbekannte  Innere  einzudringen, 
um    die    Gebirge    desselben    zu    erforschen.      Der 


Sepik,  der  in  seiner  Größe  dem  Rhein  vergleich- 
bar ist,  fließt  in  großen  Windungen  dahin,  aber 
das  Fahrwasser  ist  sehr  wechselnd.  Es  kommt 
sehr  häufig  zu  Flußverlegungen,  der  F'luß  wird 
deshalb  von  vielen  abgeschnittenen  Schleifen  be- 
gleitet. Auch  durch  Änderungen  des  Pegelstandes 
—  der  größte  Unterschied  betrug  7,25  m  —  wegen 
der  häufigen  Hochwasser,  können  bedeutende 
Flußverlegungen  zustande  kommen.  Die  jährliche 
Regenhölie  in  Malu  betrug  2919  mm.  Das  Hoch- 
wasser lagert  viel  schwebende  Erdteilchen  seitlich 
am  Ufer  ab,  sie  erhöhen  das  umliegende  Land  und 
bilden  einen  natürlichen  Damm,  der  bei  einer 
Breite  von  200  m  eine  Höhe  von  3 — 4  m  erreichen 
kann.  Bei  Niedrigwasser  dagegen  erodiert  der 
Fluß  seitlich  stark  und  führt  große  Schlamm-  und 
Vegetationsmassen  mit  sich,  die  ein  Anwachsen 
des  Landes  in  der  Nähe  der  Küste  bedingen. 
Aber  der  Fluß  baut  trotzdem  kein  regelmäßiges 
Delta  auf,  denn  alle  Sedimente  werden  seitlich 
verlagert.  Nicht  nur  an  der  Mündung,  sondern 
auch  zu  beiden  Seiten  sucht  der  Fluß  Land  zu 
erobern;  die  Grasflächen  hier  sind  fast  nie  passier- 
bar. Die  Entdeckungen  der  Nebenflüsse,  die  Haupt- 
aufgabe der  Expedition,  fielen  in  ihre  erste  Zeit. 
Der  Maifluß  und  der  Leonhard  Schnitze -Fluß 
brachten  die  P'orscher  mit  Eingeborenen  in  Be- 
rührung, die  noch  niemals  Weiße  gesehen  hatten. 
Der  interessanteste  Nebenfluß  war  der  Töpferfluß, 
der  in  die  hochkultivierten  Zentren  der  Topf- 
industrie führte  und  weiter  zu  Eingeborenen,  die 
kein  Eisen  kannten  und  vor  Streichhölzern  die 
Weiter  im  Osten  war  wieder 
ganz  andere  Kulturzone;  eine  zeitweilige 
Wasserverbindung  zwischen  Ramu  und  Töpferfluß 
wurde  hier  festgestellt.  Sepik  und  Ramu  haben 
ein  weites  Delta  aufgeschüttet.  Dem  zweiten 
Ethnologen,  Dr.  Thurwald  ist  es  gelungen, 
auf  seiner  Durchquerung  des  Landes  noch  viele 
primitive  Eingeborene  auch  fern  vom  Fiußdamm 
zu  finden.  Beide  Geschlechter  gehen  unbekleidet, 
schmücken  sich  aber  schön  durch  F'rüchte.  Zwischen 
den  einzelnen  Stämmen,  die  nicht  volkreich  sind, 
liegen  weite  unbewohnte  Gebiete  gewissermaßen 
als  Schutzzonen.  Am  oberen  Fluß  bilden  Bogen 
und  Pfeil,    am    unteren  Speerschleuder  und  Lanze 


Flucht    ergriftVn. 
eine 


490 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  31 


die  Bewaffnung.  Den  Ilaustyi)  bilden  am  oberen 
Fluß  das  große  Pfahlhaus  (Breithaus),  weiter  strom- 
abwärts hohe  viereckige  spitze  Häuser  (bei  Tsenap). 
Die  gemeinsamen  Versammlungshäuser  sind  mit 
kunstvoller  Bemalung  und  Schnitzereien  versehen ; 
hohe  Dächer  mit  schöngeschwungenen  Giebeln 
sind  nicht  selten.  Gegen  diese  hohe  Kultur  am 
Malu  stechen  die  jirimitiven  Häuser  an  der  Küste 
und  am  Ramu  sehr  ab. 

Von  Malu  aus  wurden  Vorstöße  ins  de- 
birge  unternommen.  Es  erheben  sich  hier  links 
und  rechts  des  P'lusses  Gebirge,  südlich  aus  Gneis 
und  Schiefer,  nördlich  aus  Glimmerschiefer  be- 
stehend. Sie  tauchen  unter  die  AUuvionen  des 
Sepik  unter.  Bis  zur  Umgebung  des  Südflusses 
zeigt  sich  diese  Erscheinung,  daß  das  Gebirge  sich 
in  Ketten  auflöst,  die  von  Alluvialebenen  beinahe 
erstickt  werden.  Vier  Vorstöße  ins  Gebirge  ge- 
langen der  Expedition.  Der  eine  führte  auf  die 
Hunsteinspitze,  ein  zweiter  an  die  Wasserscheide 
im  zentralen  Guinea,  der  dritte  wurde  dem  Zwischen- 
gebiet  zwischen  Ramu  und  Sepik  gewidmet  und 
im  letzten  sollte  Anschluß  an  die  Arbeiten  von 
Leonhard  Schnitze  gesucht  werden.')  Da 
das  Gebirge  so  gut  wie  unbewohnt  ist,  muß  man 
sich  mit  dem  Messer  erst  selbst  den  Weg  bahnen. 
So  ist  die  Maximalleistung  des  Tages  höchstens 
7  km;  auch  die  Proviantversorgung  verlangsamt 
das  Vordringen  sehr.  Nur  wenige  Stunden  des 
Tages  stehen  zur  Arbeit  zur  Verfügung,  bis  8  Uhr 
des  Morgens  lagert  der  Nebel  in  den  Tälern,  mit 
der  höher  steigenden  Sonne  hob  sich  die  Nebel- 
decke. Der  Vorstoß  zur  Zentralkette  führte  über 
Bergstürze,  die  eine  häufige  Erscheinung  im  Inneren 
sind.  Das  Zentralgebirge  fällt  mit  hoher  Kette 
gegen  das  Vorland  ab,  das  durch  eine  alte  durch 
Korallenkalk  bezeichnete  Küstenlinie  vom  Meere 
getrennt  ist.  Kurz  zusammengefaßt  ergibt  sich 
folgendes: 

Von  Holländisch -Neuguinea  streicht  ein  bis 
über  die  Schneegrenze  reichendes  Gebirge  in  unsere 
Kolonie;  es  teilt  sich  östlich  der  Grenze  in  einzelne 
Ketten,  die  an  Höhe  abnehmen  und  unter  die 
AUuvionen  des  Kaiserin  Augusta-Flusses  tauchen. 
Das  aus  altem  Gesiein  und  Vulkanen  bestehende 
Gebirge  hat  in  der  Schatteburgketie  eine  unge- 
faltete Sandsteinauflageruiig.  Während  nun  der 
Ostteil  langsam  versinkt,  steigt  der  Westteil  empor, 
Schollen  Landes  werden  gegeneinander  verschoben. 
Auf-  und  .'\bbewegungen  bildeten  das  Gebirge. 
Die  P'lüsse  schmiegen  sich  dem  Gebirgsverlauf 
an  und  gestalten  im  Inneren  das  Relief  aus. 

Dr.  Gottfried  Hornig. 

Physiologie.  Der  Cholesteringehalt  der  Neben- 
nierenkapscln  unterliegt  bei  den  verschiedenen 
Krankheiten  großen  Schwankungen.  Nach  C  h  a  u  f - 
fard,  La  rose  he  und  A.  Grigaud  (C.  Soc. 
biol.,    28.  März    1914)   beträgt  er  bei:    Septikämie 


^)  Forschungen  im  Inneren   (_ler  Insel  Neuguinea.      (Mitteil, 
dtsch.  Scliutzgeb.,   Erg.-Heft  Nr.    11),   Berlin    1914. 


4,io"||||.    Lungentuberkulose   4,16  "/„n,    Lungenent- 

zundiuig  4,44  "/ Krebs  (des  Uterus  und  der  Leber) 

7,21  "/(,(,,  Chronische  tuberkulöse  Nephritis  22,8o''/„j, 
Geschwür  des  Zwölffingerdarms  31,20  "/„„,  Nephritis 
mit  Retinitis  (Nieren-  und  Netzhautentzündung) 
72,^4"'iji,,  Gehirnblutung  und  Netzhautentzündung 
78,74  ",,:„r- 82,86  "„„. 

Der  mittlere  Gehalt  ist  (20— 25  "/„„) ;  die  ge- 
ringste Quantität  findet  sich  bei  Infektionskrank- 
heiten und  der  Tuberkulose.  Katluuiner. 

Physik.  Ein  Röntgenspektroskop  beschreibt 
H.  Roh  mann  (Straßburg)  in  der  Physikalischen 
Zeitschrift  XV  (1914)  Seite  510.  Wie  früher  in 
dieser  Zeitschrift  auseinandergesetzt  ist,  werden 
Röntgenstrahlen,  die  unter  dem  Winkel  (f  eine 
Kristallfläche  treffen,  in  derselben  Weise  gebeugt, 
als  wenn  sie  an  den  im  Abstände  d  hintereinander 
liegenden  Netzebenen  (Molekülschichten)  reflektiert 
würden.  Die  an  den  parallelen  Ebenen  zurück- 
geworfenen Strahlen  interferieren  und  zwar  ergibt 
sich  in  der  Richtung  fp  ein  Maximum,  für  welche 
die  Beziehung  besteht  n-/  =  2d  sin  fp,  wo  n  eine 
kleine  ganze  Zahl  und/  die  Wellenlänge  der  Strahlen 
bedeutet.  Die  Braggs,  Moseley  und  Darwin, 
de  Broglie  und  Herweg  haben  dadurch,  daß  sie 
den  Kristall  drehten  und  dabei  den  Winkel  (p 
änderten,  das  Spektrum  der  Röntgenstrahlen  ent- 
weder photographisch  oder  mit  Hilte  der  ionisieren- 
den Wirkung  untersucht.  Ein  viel  einfacheres  Ver- 
fahren benutzt  Roh  mann.  Er  läßt  ein  schmales 
Bündel  Röntgenstrahlen  (Spaltbreite  0,7  mm)  auf 
ein  zylindrisch  gebogenes  Glimmerblatt 
fallen  (Krümmungsradius  =  5  cm).  Trifft  der  mitt- 
lere Strahl  des  Bündels  das  Blättchen  z.  B.  unter 
einem  Winkel  von  45",  so  ist  es  ohne  weiteres 
klar,  daß  die  links  und  rechts  von  ihm  liegenden 
Strahlen  unter  größeren  resp.  kleineren  Winkeln 
auffallen,  so  daß  auf  diese  Weise  ohne  Drehung 
des  reflektierenden  Kristalls  für  eine  Änderung  des 
Winkels  <p  gesorgt  ist.  Die  zurückgeworfenen 
Strahlen  fallen  auf  eine  photographische  Platte  und 
ergeben  nach  einstündiger  Belichtung  das  Spek- 
trum. Die  mit  einer  G  u  n  d  el  ac  h 'sehen  Patent- 
röhre c  mit  Platinantikathode  erhaltene  Aufnahme 
zeigt  neben  dem  bei  kleinen  Wellenlängen  liegen- 
den kontinuierlichen  Spektrum  zwei  Gruppen  (i.und 
2.  (Ordnung)  von  je  vier  Linien,  also  im  wesent- 
lichen dasselbe  Resultat,  wie  es  auch  de  Broglie 
erhalten  hat.  K.  Schutt. 

Geologie.  Über  die  niederschlesischen  Gold- 
vorkommen berichtet  Dr.  H.  O  u  i  r  i  n  g  in  Heft  6, 
Jahrgang  XXII,  1914,  der  „Zeitschr.  i.  praktische 
Geologie".  Oitsnamen,  Urkunden  und  Chroniken, 
sowie'  ausgedehnte  Halden-  und  Pingenzüge  in 
dem  Hügelgebiet,  das  dem  niedersclilesischen 
Berglande  vorgelagert  ist,  zeigen  den  Umfang  des 
einstigen  Bergbaues  an.  Es  können  örtlich  drei 
Gruppen  von  Goldseifenlagerstätten  unterschieden 
werden:  um  Löwenberg  (Vorkommen  von 
Buiizlau,    Hohlstein,    Deutmannsdorf    und    Höfel), 


N.  F.  Xm.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


491 


Goldberg  (Vorkommen  von  Kopatsch  und 
Geiersberg)  und  Nickolstadt  (Vorkommen  von 
Wahlstatt  und   Wandrisl. 

Wann  der  Goldbergbau  eingesetzt  hat,  läßt 
sich  nicht  mit  Sicherheit  angeben.  Nach  den 
Untersuchungen  des  Verfassers  kann  als  sicher- 
gestellt gelten,  daß  schon  der  slawischen  Be- 
völkerung einzelne  Goldvorkommen,  insbesondere 
die  Lagerstätte  von  Goldberg-Kopatsch,  bekannt 
waren.  Bereits  am  Ende  des  12.  Jalirliunderts 
übernahmen  deutsche  Bergleute  die  Ausbeute  der 
Seifen,  nur  das  Goldvorkommen  von  Nickolstadt 
wurde  erst  im  Jahre  1 340  entdeckt,  zu  einer  Zeit, 
als  die  Lagerstätten  von  Löwenberg  und  Bunzlau 
bereits  erschöpft,  und  die  Ausbeute  des  Vor- 
kommens von  Goldberg  im  Absteigen  war.  Im 
Jahre  1404  war  der  Goldbergbau  in  Schlesien  er- 
loschen, und  zwar  infolge  Erschöpfung  der  Gruben, 
mit  Ausnahme  des  Vorkommens  von  Nickolstadt, 
das  den  nicht  mehr  zu  haltenden  Wasserzugängen 
erlag.  Jedenfalls  ist  nicht  der  Einfall  der  Mon- 
golen um  1240  an  dem  Eingehen  schuld,  wie 
vielfach  berichtet  wird.  Später,  vom  Ende  des 
18.  bis  Mitte  des  19.  Jahrhunderts,  sind  verschiedent- 
lich Wiederaufnahmeversuche  gemacht  worden, 
so  bei  Goldberg  in  den  Jahren  1775 — 1784,  1842 
bis  1843  und  1853  von  der  preußischen  Berg- 
verwaltung. Die  Untersuchungen  sind  insofern 
von  Wert  gewesen,  als  sie  über  die  Art  des  Gold- 
vorkommens und  das  Wesen  des  alten  Bergbaues 
einigermaßen  Klarheit  brachten.  Die  Ergebnisse 
waren  bei  den  Versuchsarbeiten  von  1775 — 1784 
und  1842 — 1S43  sehr  unbefriedigend.  Die  letzten 
Versuchsarbeiten  von  1853  hatten  insofern  einen 
Erfolg,  als  ein  Fabrikbesitzer  aus  Reichenstein 
Mutung  einlegte  und  ihm  auch  ein  Goldsand- 
distriktsfeld verliehen  wurde.  Einen  Betrieb  er- 
öffnete er  jedoch  nicht.  Soviel  bekannt,  hat  seit 
1853  eine  Erschürfung  der  Goldberger  Lagerstätte 
nicht  mehr  stattgefunden. 

Zu  gleicher  Zeit  wie  in  Goldberg  bzw.  im 
Anschluß  daran  wurden  Wiederaufnahmeversuche 
in  der  Umgegend  von  Nickolstadt  vorgenommen; 
die  Schürfschächte  mußten  jedoch  sehr  bald  wieder 
wegen  beträchtlicher  Wasserzugänge  verlassen 
werden.  Nachhaltiger,  jedoch  mit  demselben  nega- 
tiven Ergebnis,  nahm  man  1844  die  Versuche 
wieder  auf,  und  zwar  infolge  des  mysteriösen 
Fundes  einiger  Goldstufen,  die  aber  wahrscheinlich 
gar  nicht  der  Gegend  entstammten.  Bei  Löwen- 
berg haben  Untersuchungsarbeiten  größeren  Um- 
fanges  soweit  bekannt  nicht  stattgefunden. 

Geologisch  eingehender  bekannt  ist  nur  die 
Lagerstätte  von  Goldberg-Kopatsch.  Von  den 
Alten  ist  ein  sedimentäres,  i — 2  m  mächtiges 
Sandlager  abgebaut  worden,  das  an  einzelnen 
Punkten,  so  bei  Kopatsch,  zutage  ausgeht,  meist 
jedoch  unter  20—30  m  mächtigen  diluvialen  Sauden 
und  Mergeln  liegt.  Das  Gold  tritt  in  Form  von 
kleinen,  bis  erbsengroßen  Körnern,  Blättchen  und 
Schüppchen  auf,  an  denen  Quarzteilchen  haften. 
Mit  dem  Golde  sonderten  sich  bei  der  Aufbereitung 


zahlreiche  Magnet-  und  Titaneisenkörnchen,  sowie 
Edelsteine  (Rubin,  Saphir,  .Spinell,  Hyazitith,  Topas, 
Cyanit,  Granat)  ab.  Der  Verf.  betrachtet  das 
Goldsandlager  als  eine  normale  fluviatile  -Seife, 
eine  goldführende  Terrasse,  die  aus  erodierten, 
talabwärts  geführten,  aufbereiteten  und  wieder 
abgesetzten  Trümmern  einer  Ouarzgoldlagerstättc 
besteht,  die  in  wahrscheinlich  granitischem  Gestein 
(?  (iranitstock  Hirschberg  -  .Schmiedeberg  -  Kupfer- 
berg) aufgesetzt  hat.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß 
die  Ablagerung  der  Sande  im  Tertiär  erfolgt  ist. 
Der  Goldgehalt  erwies  sich  bei  gewöhnlicher 
Sieb-  und  Wascharbeit  als  sehr  niedrig,  nämlich 
nur  rund  0,20  g  in  I  t  Sand  (0,020  g  Feingold). 
Durch  Siebarbeit  und  Amalgamation  stieg  die 
Ausbeute  auf  0,045  g  Feingold  in  i  t  Sand.  Im 
Jahre  1853  betrug  die  Ausbeute  bei  Siebarbeit  und 
Chlorierung  0,823  S?  Feingold  in  i  t  Sand.  Welche 
Höhe  der  Rohgoldgehalt  in  den  von  den  Alten 
abgebauten  Teilen  der  Lagerstätten  besessen  hat, 
läßt  sich  nur  mit  geringer  Sicherheit  schätzen. 
Jedenfalls  kann  er  erheblich  höher  angenommen 
werden  und  dürfte  mindestens  i  g  in  der  Tonne 
betragen  haben.  F.  H. 

Chemie.  Die  Stabilitätsbeziehungen  der  Kiesel- 
säuremineralien sind  im  geophysikalischen  Labo- 
ratorium der  Carnegie  Institution  in  Washington, 
einem  Institut,  dem  wir  bereits  eine  Fülle  der 
wertvollsten  Beiträge  zur  chemischen  Experimental- 
Geologie  und  -Mineralogie  zu  verdanken  haben, 
von  neuem  einer  eingehenden  Untersuchung  von 
Clarence  N.  Fenn  er  unterworfen  worden. 
Über  die  wichtigsten  Ergebnisse  dieser  Unter- 
suchung (Zeitschr.  f.  anorg.  Chem.,  Bd.  85,  S.  133 
bis  197,  1914),  die  eine  wesentliche  Klärung  des 
schwierigen  Sachverhaltes  bedeuten,  möge  im  fol- 
genden kurz  berichtet  werden. 

Abgesehen  vom  Chalcedon,  der  sich  noch  mehr 
durch  den  Habitus  als  durch  die  eigentliche  Kristall- 
form der  wahrscheinlich  kryptokrislallinen  Masse 
von  den  anderen,  in  wohldefinierter  Kristallform 
vorkommenden  Erscheinungsformen  der  wasser- 
freien Kieselsäure  unterscheidet,  kann  das  Silicium- 
dioxyd  SiOj,  sowohl  das  künstlich  hergestellte, 
als  auch  das  natürlich  vorkommende  in  drei  Formen 
auftreten,  als  hexagonaler  (trapezoedrisch-tetar- 
toedrischer)  Quarz,  als  ebenfalls  hexagonaler 
Tridymit  und  als  tetragonaler  Cristobalit.  Bei  viele 
Stunden  lang  fortgesetztem  Erhitzen  der  drei 
Mineralien  bei  konstanter  Temperatur  und  mit 
geringen  Mengen  von  Natriumwolframat,  das  als 
Katalysator  die  sonst  extrem  langsam  verlaufende 
Umwandlung  der  drei  Mineralien  ineinander  be- 
schleunigte, ergaben  sich  nun,  daß  sowohl  die 
Umwandlung 

Quarz  ~>  Tridymit  bei  870°  f  10" 
als  auch  die  L'mwandlung 

Tridymit  ^r*:  Cristobalit  bei   1470"+  10" 
enantiotrop  verläuft,  d.  h.,  daß  oberhalb  der  Llm- 
wandlungstemperatur  von  870"  Quarz  sich  immer 
in  Tridymit    und  unterhalb   dieser  selben  Tempe- 


492 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  31 


ratur  Iridymit  immer  in  Quarz  und  oberhalb  der 
Umwandlungslemperatur  von  1470"  Trid)-mit  sich 
immer  in  Cristobalit  und  unterhalb  dieser  selben 
Temperatur  Cristobalit  immer  in  Tridymit  um- 
wandelt. Man  erhält  also,  von  welchem  der  drei 
Mineralien  man  auch  ausgehen  möge,  unterhalb 
870"  inmTcr  Quarz,  zwischen  870"  und  1470" 
immer  Tridymit  und  zwischen  1470"  und  1625" 
—  dem  Schmelzpunkte  des  Cristobalits  —  immer 
Cristobalit  als  kristalline  Erscheinungsform  des 
Kieselsäureanhydrids.  Unerläßliche  Voraussetzung 
für  den  Erfolg  ist  aber  die,  daß  man  auch  wirk- 
lich bis  zur  Einstellung  des  Gleichgewichtes  wartet. 
Erhitzt  man  z.  B.  etwas  Kieselsäureglas  oder  ge- 
fällte Kieselsäure  unter  Zusatz  von  Natrium- 
wolframat  während  einiger  Stunden  auf  800"  bis 
850",  so  erhält  man  nicht,  wie  man  erwarten 
sollte,  Quarz,  sondern  Tridymit,  obwohl  der  Tridy- 
mit in  diesem  Temperaturgebiet  dem  Quarz  gegen- 
über instabil  ist,  und  erst,  wenn  man  das  Erhitzen 
erheblich  länger  fortsetzt,  verwandelt  sich  der 
zunächst  entstandene  Tridymit  in  Quarz.  .Ahn- 
liche Erscheinungen  sind  auch  bei  anderen  Tem- 
peraturen beobachtet  worden.  Wir  haben  hier 
ein  Beispiel  der  bekannten  ,, Stufenregel"  von  Ost- 
wald,  nach  der  wenigstens  in  vielen  Fällen  die 
Umwandlung  eines  Stoffes  A  in  einen  zweiten 
Stoff  B  nicht  direkt,  sondern  über  eine  Reihe  von 
Zwischenstufen  Aj,  A.,,  A..  .  .  .  A„  erfolgt,  von  dem 
Aj  weniger  stabil  als  A.,,  A.,  weniger  stabil  als 
A3  sind  und  A,,  endlich  weniger  stabil  als  B  ist. 
Im  vorliegenden  Fall  ist  zwischen  800"  und  850" 
der  Tridymit  zwar  —  das  ist  die  Bedingung  dafür, 
daß  er  überhaupt  zunächst  entsteht  —  stabiler  als 
das  Kieselsäureglas,  aber  weniger  stabil  als  der 
Quarz,  und  er  tritt  als  Zwischenprodukt  auf,  weil 
seine  Bildungsgeschwindigkeit,  die  mit  der  Stabilität 
in  keinem  einfachen  Zusammenhange  steht,  größer 
als  die  des  stabileren  Quarzes  ist. 

Beweise  dafür,  daß  die  von  Fenn  er  erhaltenen 
Kristalle  rein  (insbesondere  frei  von  einem  Gehalt 
etwa  in  Form  einer  festen  Lösung  aufgenommenen 
Natriumwolframats)  und  identisch  mit  den  natür- 
lichen Mineralien  Quarz,  Tridymit  und  Cristobalit 
waren,  wurde  durch  die  chemische  und  vor  allen 
Dingen  durch  die  kristallographisch-optische  Ana- 
lyse erbracht. 

Die  Umwandlungen 

Quarz  ^  >  Trid)'mit  "^zt.  Cristobalit 
finden  selbst  unter  den  günstigsten  Bedingungen 
nur  langsam  statt,  und  jedes  einzelne  Mineral  kann 
Temperaturen  außerhalb  seiner  Stabilitätsgrenzen 
ausgesetzt  werden,  ohne  daß  die  Umwandlung 
auch  wirklich  stattfindet.  Von  einem  ganz  anderen 
Charakter  sind  nun  eine  Reihe  von  anderen  Um- 
wandlungen, die  sich,  ebenfalls  reversibel,  bei  der 
Über-  und  Unterschreitung  bestimmter  Temiiera- 
turen  ohne  jede  Verzögerung  und  praktisch  momen- 
tan vollziehen.  Während  es  sich  bei  den  zuerst 
besprochenen  L^mwandlungen  um  eine  vollkommene 
Änderung  der  Kristallsj-steme  handelt,  treten  hier 
nur  geringe  .Änderungen  in  den  optischen  Eigen- 


schaften auf  Man  sieht  daher  die  Erscheinungs- 
formen des  Kieselsäureanhydrids,  zwischen  denen 
sich  die  rasch  verlaufende  Umwandlungsreaktion 
abspielt,  nicht  als  besondere  Mineralien  wie  Quarz, 
Tridymit  und  Cristobalit,  sondern  nur  als  ver- 
schiedene Modifikationen  desselben  Minerals  an 
und  unterscheidet  sie  durch  Hinzufügung  der 
griechischen  Buchstaben  a  und  ß  voneinander, 
wobei  sich  der  Buchstabe  a  auf  die  Modifikation 
bezieht,  deren  Existenzgebiet  bei  niedrigerer  Tem- 
peratur liegt.  So  geht  der  gewöhnliche  «Quarz 
beim  Erhitzen  über  575"  in  den  /t^-Quarz  und 
der  /i'-Quarz  beim  Abkühlen  unter  570"  wieder  in 
«•Ouarz  über: 

575" 
ß-Quarz  ^z^  /^-CHiarz. 

5/-0" 
Ein    ähnliches  Umwandlungsschema    gilt    für    den 
Tridymit 

I170  163« 

«-Tridymit — >  /t^j-Tridymit  — >■  /?.,  Tridymit, 
nur  ließen  sich  hier  die  Temiieratureti,  bei  denen 
sich  der/y.,-Trid\'mit  während  der  .Abkühlung  wieder 
in  ;i, -Tridymit  und  in  «-Tridymit  verwandelt,  nicht 
mit  genügender  Sicherheit  festlegen.  Tlieoretisch 
müßte  ja  die  Umwandlung  der  einen  Modifikation 
in  die  andere  unabhängig  von  der  Richtung,  in 
der  sich  der  Wärmegrad  des  Systems  ändert,  bei 
durchaus  konstanter  Temperatur  erfolgen.  Die 
beim  Quarz  angegebenen  Umwandkingstempera- 
turen  570"  und  575"  sollten  also  eigentlich  iden- 
tisch sein,  indessen  treten  wohl  auch  bei 
diesen  rasch  verlaufenden  Umwandlungen  kleine 
Verzögerungen  auf,  die  beim  Quarz  nur  geringe 
Bedeutung  haben,  bei  Tridymit  die  Beobachtung 
der  Umwandlungspunkte  bei  fallender  Temperatur 
aber  doch  merklich  erschweren. 

Erheblich  verwickelter  ist  die  Sachlage  beim 
Cristobalit,  bei  dem  Fenner  ähnliche  Erscheinun- 
gen beobachtet  hat,  wie  sie  schon  seit  langem 
beim  Schwefel  bekannt  sind.  Der  Erstarrungs- 
l)unkt  des  Schwefels  ist  keine  Konstante,  sondern 
hängt  von  den  Bedingungen  ab,  unter  denen  die 
.Schmelze  vor  dem  Erstarren  gestanden  hat,  vor 
allen  Dingen  von  der  Temperatur,  auf  die  sie  er- 
hitzt worden  war,  und  von  der  Zeitdauer  der 
Reaktion.  Eine  Erklärung  für  diese  Erscheinung 
hat  A.  Smits  gefunden.  Nach  Smits  besteht 
eine  Schwefelschmelze  aus  einem  Gemisch  zweier 
Molekülarten,  zwischen  denen  .sich  ein  Gleich- 
gewicht nur  langsam  und  allmählich  einstellt, 
und  der  Erstarrungspunkt  der  Schmelze  wird  je 
nach  dem  zufälligen  Mengenverhältnis,  in  dem  die 
beiden  Molekülaiten  in  der  Schmelze  gerade  vor- 
handen sind,  verschieden  gefunden.  Ganz  ähnlich 
liegen  nun  nach  Fenn  er  die  Verhältnisse  beim 
Cristobalit:  „Cristobalit  besteht  nicht  aus  einer 
einzigen,  sondern  wenigstens  aus  zwei  verschiede- 
nen Molekülartcn  in  demselben  Kristalle.  Die 
relativen  Mengen  dieser  Molekel  hängen  von  den 
Bedingungen  zur  Zeit  der  Kristallisation  ab,  z.  B. 
von    der  Natur   der  Lösung,    wenn  der  Cristobalit 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


493 


aus  einer  Schmelze,  und  von  der  Temperatur  zur 
Zeit  der  Umwandlung,  wenn  er  auf  trockenem 
Wege  gebildet  wurde.  Die  relativen  Mengen  der 
polymeren  Molekel,  die  durch  die  Bildungsbedin- 
o-ungcn  festgelegt  sind,  werden  nicht  beeinflußt 
durch  schnelles  Abkühlen  aut  Zimmertemperatur, 
aber  durch  ein  zweites  starkes  Erhitzen  wird  eine 
Umwandlung  von  Molekeln  der  einen  Art  in  die 
der  anderen  Art  und  damit  eine  Änderung  ihrer 
relativen  Menge  herbeigeführt,  und  beim  Abkühlen 
findet  man  dementsprechend  wieder  andere  Eigen- 
schaften". 

Die  Erscheinungen  bei  der  Umwandlung  des 
«-Cristobalits  in  die  /i-Form  haben  folgenden  all- 
tremeinen  Charakter:  Ist  der  Cristobalit  bei  sehr 
hoher  Temperatur  entstanden,  so  tritt  die  Um- 
wandlung bei  der  Abkühlung  bei  etwa  240"  und 
bei  der  Wiedererwärmung  bei  etwa  270"  ein; 
läßt  man  nun  aber  den  Cristobalit  bei  niedrigerer 
und  niedrigerer  Temperatur  entstehen,  so  fallen 
auch  die  beiden  Umwandlungspunkte,  und  zwar 
bei  der  niedrigsten  Grenze,  bei  der  der  Cristobalit 
überhaupt  noch  entstehen  kann,  bis  auf  198"  resp. 
220" :  Die  Umwandlungstemperatur  des  Cristobalits 
ist  eine  Funktion  seiner  Bildungstemperatur 

2 19,7"- 274,6" 


«-Cristobalit 


/5-Cristobalit. 


198,1° — 240,5" 

Betreffs  zahlreicher  weiterer  Einzelheiten  bei  der 
Umwandlung  der  verschiedenen  Erscheinungs- 
formen des  Siliciumdioxyds  sei  auf  die  Original- 
arbeit F  e  n  n  e  r '  s  verwiesen.  Mg. 

Botanik.  Die  Parthenokarpie  der  Eßbananen. 
Zu  den  ersten  Pflanzen,  für  die  man  Parthenokarpie 
(Jungfernfrüchtigkeit)  angegeben  hat,  gehören  die 
Kulturformen  der  Bananen,  die  fast  alle  samenlose 
Früchte  und  nach  Fritz  Müller  „untauglichen" 
Pollen  haben.  Der  experimentelle  Nachweis  aber, 
daß  die  Früchte  tatsächlich  ohne  Mitwirkung  des 
Pollens  gebildet  werden,  ist  erst  von  A.  d '  A  n  g  r  e  - 
mond  geliefert  worden,  der  seine  Versuche  1909 
bis  191 1  in  Surinam  ausführte  und  in  den  nächsten 
Jahren  im  Botanischen  Institut  von  Prof.  Ernst 
in  Zürich  die  Entwicklungsgeschichte  und  Zytologie 
der  Sexualorgane  an  fixiertem  Material  studierte. 
Zu  den  Versuchen  dienten  drei  Kulturbananen : 
Gros-Michel  und  Appelbacove,  beides  Varietäten 
von  Musa  paradisiaca  L.  subsp.  sapientum  (L.) 
O.  Ktze.,  sowie  Musa  Cavendishii  Lamb.  Zum 
Vergleich  wurden  zwei  samenerzeugende  Bananen 
untersucht,  nämlich  Musa  basjoo  Sieb,  et  Zucc. 
und  eine  im  Botanischen  Garten  zu  Paramaribo 
als    Musa    ornata    chittagong    bezeichnete    Form. 


Durch  Einhüllen  der  Blütenstände  in  Säcke  sowie 
durch    frühe    Entfernung    der    männlichen    Blüten 
in    den    einzelnen    Blutenständen    wurde   jede  Be- 
stäubung   ausgeschlossen.      Trotzdem    entwickelte 
sich   jeder    der  2914  PVuchtknoten  in  den  20  be- 
handelten Blütenständen    der    drei    Eßbananen    zu 
einer  völlig  normalen  Frucht.     Damit  ist  nachge- 
wiesen, daß  bei  diesen  Varietäten  die  P'ruchtbildung 
von    der   Bestäubung    ganz   unabhängig   ist.     Da- 
gegen   ergaben    alle  derartigen  Versuclie  mit  den 
beiden  andern  Musaarten  Fruchtbildung  nur  nach 
Bestäubung.    Bei  der  Pollenenlvvicklung  der  Appel- 
bacove tritt  frühzeitig  Degeneration  ein,    und    die 
Antheren    zeigen   sich    fast    leer.      Auch    bei    der 
Gros-Michel    ist    die  Entwicklung   des  Pollens  ab- 
norm ;    es    entstehen    Tetraden    mit    überzähligen 
Kernen  und  Zellen,  und  die  Pollenkörner  sind  un- 
gleicli  groß,  häufig  plasmaarm  und  selten  keimungs- 
fähig.    Musa  basjoo  und  M.  orn.  chitt.  zeigen  da- 
gegen normale  Pollenentwicklung.    Die  künstliche 
Bestäubung  von  Eßbananen  mit  solchem  normalen 
Pollen    hatte    keinen    Einfluß    auf   die   Gestaltung 
der  Früchte,  wohl    aber  wurde   die  Samenbildung 
beeinflußt.      1539  so  bestäubte  Gros-Michel-Blüten 
bildeten  nur  4  Samen;  die  Bestäubung  von   11 56 
Appelbacove-Blüten  ergab  die  Ausbildung  von  38 
vollen,  nebst  10  tauben  Samen.    Die  mikroskopische 
Untersuchung   der    Ovula    zeigte,    daß    bei    Gros- 
Michel    fast    nie  ein  entwickelter  Embryosack  ge- 
bildet   wird;    bei    der    Appelbacove    fanden    sich 
neben  früh  degenerierten  auch  weiter  entwickelte 
Embryosäcke    mit  Andeutung  von   Eiapparat  und 
Antipodenkernen.     Die  Verfolgung   der   einzelnen 
Entwicklungsstadien    ließ    erkennen,    daß    bei    der 
Bildung  der  Embryosäcke  abnorme  Teilungen  auf- 
treten.    Bei   Musa    orn.    chitt.    war    die    zum  Ver- 
gleich     geprüfte     Embryosackentwicklung     völlig 
regelmäßig.      Die    diploide    Chromosamenzahl    ist 
bei  Gros-Michel  allem  Anschein  nach  32,  während 
sie   bei   den    beiden    samenerzeugenden    Arten  22 
beträgt;    für    die    Appelbacove    konnte    sie    nicht 
genau    festgestellt  werden   (Schätzungen    zwischen 
22  und  24).     Über  die  vermutete  (von  Tischler 
bezweifelte)    Bastardnatur    der   Kulturformen    läßt 
sich    aus    diesen    Beobachtungen    nichts    Sicheres 
schließen.     D'Angremond  ist  aber  zu  der  An- 
nahme geneigt,  daß  die  Eßbananen  durch  Kreuzung 
in  freier  Natur  entstanden  seien,  sich  durch  vege- 
tative Sprößlinge  vermehrt  hätten  und  dann  vom 
Menschen  weiter  verbreitet  worden   seien.     (Fest- 
schrift zur  Eröffnung  des    neuen  Instituts    für  all- 
gemeine Botanik  an  der  Universität  Zürich.    Jena, 
Gustav  Plscher,   1914,  S.  233 — 286.     Auch:  Flora, 
N.  F.,  Bd.  7,   1914,  H.  I,  S.  57—110.) 

F.  Moewes. 


Bücherbesprechungen. 


I      Friedländer,  J.,  Beiträge  zur  Kenntnis  der 
I  Kapverdischen    Inseln.     Mit    einer  Über- 


sicht über  die  Gesteine  der  Inseln  von  W.  Bergt. 
Berlin   1913,  Dietrich  Reimer. 


494 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  31 


Friedländcr  hat  im  Jahre  1912  während 
vier  Monaten  sämtliche  Inseln  der  Kapverden 
durchwandert.  Galt  der  Hauptzweck  der  Reise 
auch  vulkanologischen  Studien,  so  hat  der  Verf. 
doch  stets  einen  offenen  Blick  für  allgemeine 
Fragen  gehabt  und  sie  dankenswerterweise 
auch  in  dem  vorliegenden  Buche  vereinigt.  Es 
folgen  dem  flott  beschriebenen  Verlauf  der  Reise 
kurze  Abschnitte  über  die  Geschichte  des  Archi- 
pels, sein  Klima,  über  Flora  und  Fauna  sowie 
über  die  Bevölkerung  und  die  Gesundheilsverhält- 
nisse, so  daß  ein  guter  geographischer  Überblick 
gegeben  wird.  Der  zweite  Teil  des  Buches  bietet 
dann  im  einzelnen  die  geologischen  Beobachtungen. 
Den  Schluß  bildet  eine  Denkschrift  über  die 
Wasserverhältnisse  der  Inseln  sowie  eine  Über- 
sicht der  Gesteine,  die  von  W.  Bergt  herrührt 
und  auchStübel's  Anscliauuiigen  von  1863  be- 
rücksichtigt. 

Dem  gut  ausgestatteten  Werke  sind  neben 
zahlreichen  photographischen  Originalaufnahmcn 
zehn  Spczialkarten  der  einzelnen  Inseln  und  eine 
geologische  Übersichtskarte  beigegeben ,  die  die 
besten  kartographischen  Darstellungen  des  Archi- 
pels, die  gegenwäicig  existieren,  geben. 

Hans  Spethmann. 


Mitchell,    P.C.,    Die   Kindheit    der  Tiere. 

Deutsche    Übersetzung     von    Hans    Pander. 

Stuttgart,  Verlag  von  Julius  Hoffmann. 
In  dem  vorliegenden  Buche,  dessen  Übersetzung 
ins  Deutsche  von  H.  Pander  eben  erschienen 
ist,  hat  der  Verf.  versucht,  alles,  was  über  die 
Kindheit  der  Tiere  im  weitesten  Sinne  bekannt 
ist,  in  allgemeinverständlicher  Form  zur  Darstel- 
lung zu  bringen.  Der  überaus  anziehende  und 
reichhaltige  Gegenstand  ist  in  der  umfassendsten 
Weise  beliandelt;  alles,  was  aus  den  Lebensstadien 
der  Tiere  von  der  Entwicklung  aus  dem  Ei  bis 
zum  erwachsenen  Alter  von  Wichtigkeit  erscheint, 
findet  eine  Erwähnung. 

Wenn  auch  die  Kindheit  der  Tiere  aus  allen 
Gruppen  des  Tierreiches  in  dem  Buche  besprochen 
wird,  so  ist  doch  der  weitaus  größte  Teil  des 
Textes  den  Wirbeltieren,  und  unter  diesen  vor- 
nehmlich den  Vögeln  und  Säugern  gewidmet, 
deren  Junge  Mitchell  in  seiner  Eigenschaft  als 
Sekretär  der  Londoner  Zoologischen  Gesellschaft 
im  Zoologischen  Garten,  aber  auch  an  eignen 
zahmen  Tieren,  zu  beobachten  reiche  Gelegenheit 
hatte. 

Verf.  bespricht  nicht  nur  die  Entwicklung  der 
jungen  Tiere,  die  Dauer  ihrer  Jugend,  sondern 
auch  die  Mauserung,  den  Haarwechsel,  die  Unter- 
schiede im  Aussehen  zwischen  jungen  und  erwach- 
senen Tieren,  woran  sich  ein  Kapitel  über  Färbung 
und  Zeichnung  schließt,  ferner  die  Größe  der 
Familie,  die  Anzahl  der  Nachkommenschaft,  die 
Entwicklung  der  Familie  durch  die  Stufenleiter 
des  Tierreichs  hindurch ,  die  Brutpflege  und  Be- 
schränkung der  Nachkommenschaft,  die  Ernährung 
der  jungen  Tiere  und  anderes  mehr.    Dabei  sucht 


Verf.  auch  den  Zweck  der  Jugend  und  die  Er- 
ziehung der  jungen  Tiere  durch  die  Alten  ver- 
ständlich zu  machen. 

Bei  dem  allgemeinen  Interesse,  das  man  neuer- 
dings dem  Verhalten  der  Tiere  zuwendet,  wird 
nicht  nur  der  naturwissenschaftlich  interessierte 
Laie,  sondern  auch  der  Fachmann  manche  An- 
regung und  Belehrung  aus  dem  Buche  schöpfen 
können.  Besondere  Beachtung  verdienen  die 
durch  eine  eigenartige,  nicht  unschöne  Manier 
auffallenden  Farbentafeln  von  E.  Yarrow  Jones, 
welche  die  dargestellten  Tiere  in  äußerst  markanten 
und  charakteristischen  Umrissen  und  in  vortreff- 
lich beobachteter  Stellung  wiedergeben. 

F.  Hempelmann. 


Bavink,  Allgemeine  Ergebnisse  und  Pro- 
bleme der  Naturwissenschaft.  Eine 
Einführung  in  die  moderne  Naturphilosophie. 
Leipzig  1914,  Hirzel.  —  Preis  geh.  6  Mk.,  geb. 
7  Mk. 
Bavink  bezeichnet  als  Naturphilosophie  das 
Streben  nach  Erkenntnis  desjenigen  Allgemeinen, 
das  der  Naturwissenschaft  zugrunde  liegt  oder 
aus  ihr  sich  ergibt.  Damit  ist  zugleich  die  wesent- 
liche Absicht  des  Buches  bezeichnet.  Bavink 
geht  bei  der  Darstellung  von  den  Naturwissen- 
schaften selber  aus  und  versucht,  die  allge- 
meinen Probleme ,  die  über  die  Behandlung  der 
Vorgänge  selber  hinausführen,  herauszuschälen. 
Vielfach  ist  ihm  das  recht  gut  gelungen.  Der 
reiche  Inhalt  des  Buches  gliedert  sich  in  4  Kapitel: 
Kraft  und  Stoff,  das  die  Grundlagen  der  Chemie 
und  Physik  behandelt;  Weltall  und  Erde;  Materie 
und  Leben ;  das  Problem  der  Artbildung.  Bavink 
will  eine  Einführung  in  die  moderne  Natur- 
philosophie geben  und  so  setzt  er  im  allgemeinen 
auch  keine  größeren  Kenntnisse  in  den  Einzel- 
fächern voraus.  Trotz  dieser  gewissen  Populari- 
sierung in  der  Darstellung  ist  diese  jedoch  stets 
sachlich  und  kritisch  und  hält  sich  von  der  Art 
naturphilosophischen  Schrifttums,  wie  sie  etwa 
im  „monistischen  Jahrhundert';  verbreitet  wird,  einer 
Katogorie,  an  die  man  durch  das  Wort  „Natur- 
philosophie" zunächst  zu  denken  verführt  wird, 
durchaus  fern.  Denn  was  Bavink  bringen  will, 
und  auch  bringt,  ist  keine  Naturphilosophie  als 
System,  sondern  eine  Philosophie  der  Naturwissen 
schaffen.  Hervorzuheben  ist,  daß  auch  dort, 
Bavink  kritisch  aburteilt,  andere  Ansichten 
kämpft,  ein  vornehmer  und  sachlicher  Ton 
wahrt  wird.  Natürlich  gibt  es  eine  Menge 
einzelnen  Anschauungen  und  Darstellungen 
denen  der  nicht  einverstanden  ist,  der 
über      ausgebildete      Anschauungen      in 


wo 
be- 

ge- 
von 
mit 
selber 
diesen 


Punkten  verfügt.  Von  mehr  prinzipiellen  Dingen 
wäre  vielleicht  auszusetzen,  daß  Bavink  nicht 
zu  den  eigentlichen  Problemen  der  Erkenntnis- 
theorie durchdringt.  Vielleicht  ist  das  beabsich- 
tigt; daß  der  Verfasser  selbst  diesen  Problemen 
nicht  fernsteht,  beweist  die  Auswahl  der  im  Lite- 
raturverzeichnis  angeführten    Schriften,   die   wohl 


N.  F.  XIII.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


495 


den  Leser  nach  erfoljjreichcm  Studium  der  „Ein- 
führung" weiterführen  sollen.  In  dem  letzten  Teil, 
dem  Abschnitt  von  dem  Ursprung  und  der  Stel- 
lung des  Menschen  rennt  Bavink  wohl  größten- 
teils offene  Türen  ein,  denn  bei  einer  Stellung- 
nahme zu  dem  besagten  Problem  spielt  wohl 
nirgends  mehr  die  Genesis  eine  Rolle. 

Petersen. 

Bateson,  William,    Problems    of   Genetics. 

I,\  u.  258  Seiten,  mit  Tafeln  und  Abbildungen. 

New  Haven    (V.  St.  v.  Am.)    191 3.      Yale  Uni- 

versity  Press.  —  4  Dollars. 
Das  Buch  enthält  die  im  Jahre  1907  von  dem 
bekannten  englischen  Biologen  Prof  Bateson 
gehaltenen  Silliman- Vorlesungen,  die  vor  der 
Drucklegung  auf  die  Höhe  der  Zeit  gebracht  wur- 
den. Der  Inhalt  gliedert  sich  wie  folgt:  Das 
Problem  der  Art  und  Varietät;  meristische  Pheno- 
mena;  organische  und  mechanische  Segmentation  ; 
die  Klassifikation  der  Variation  und  die  Natur  der 
Substantiven  Variation;  die  Mutationstheorie;  Va- 
riation und  Örtlichkeit;  Lokale  Differenzierung; 
die  Wirkungen  veränderter  Lebensbedingungen; 
die  Sterilität  der  Hybriden.  Bateson  hat  eine 
Masse  Material  aus  den  verschiedensten  Quellen 
zusammengetragen,  an  Hand  dessen  er  sich  be- 
müht, die  grundsätzliche  Richtigkeit  der  Lehren 
Mendel's  und  die  Unrichtigkeit  der  Selektions- 
lehre, namentlich  der  Annahme  vom  Selektions- 
wert kleinster  Variationen ,  darzutun.  Allerdings 
weiß  er  nichts  an  die  Stelle  dieser  Lehre  zu  setzen, 
er  vermag  den  Mechanismus  der  Variation  nicht 
zu  erklären.  Die  Darstellungsweise  ist,  wie  in 
allen  Schriften  Bateson's,  äußerst  schwer  ver- 
ständlich und  es  kostet  nicht  geringe  Mühe,  dem 
Gedankengang  des  Verfassers  zu  folgen. 

Hans  Fehlinger. 


Lundegardh,  Henrik,  Grundzüge  einer  che- 
misch-physikalischen Theorie  des 
Lebens.  Jena  1914,  Verlag  von  Gustav 
Fischer.  —  Preis  2  Mk. 

Der  Verfasser  versucht  in  dieser  kleinen  Schrift 
eine  „Maschinentheorie"  des  Lebens  zu  entwickeln, 
und  zwar  auch  die  Lebensäußerungen,  welche  der 
Vitalismus  als  spezifische  ansieht,  also  die  Regu- 
lationserscheinungen, die  organische  Formbildung 
und  die  Regeneration  aus  dem  Gesetz  der  Massen- 
wirkung zu  erklären.  Die  Beispiele,  an  welche 
diese  rein  chemisch  physikalische  Theorie  anknüpft, 
und  mit  denen  der  Verfasser  seine  Auffassung 
annehmbar  zu  machen  sucht,  sind  fast  durchweg 
der  modernen  Pflanzenphysiologie  entnommen. 
Diese  wird  als  bekannt  vorausgesetzt  und  alles 
sehr  knapp  auf  nur  63  Seiten  angedeutet,  so  daß 
die  interessante  Schrift  für  den  Anfänger  kaum 
j    in  Frage  kommt. 

Eine  kritische  Würdigung,  wobei  man  sich 
auch  vielfach  über  Begriffe  mit  dem  Verfasser 
auseinandersetzen  müßte,  würde  erheblichen  Raum 
beanspruchen,  und  kann  somit  nicht  Zweck  dieser 


kurzen  Zeilen  sein;  deshalb  sei  nur  folgendesbemerkt : 
Am  gelungensten  erscheint  die  rein  chemisch-physi- 
kalische Betrachtung  des  Stoffwechsels,  die  auch 
manches  Neue  bringt.  Mit  Recht  wird  die  Be- 
deutung der  komplizierten  physikalischen  Organi- 
sation, der  physikalischen  Hcterogenität  des  Proto- 
plasmas für  die  sehr  komplexen  chemischen  Gleich- 
gewichte in  demselben  besonders  hervorgehoben 
und  etwas  eingehender  behandelt.  Zu  den  Regu- 
lationen leitet  der  Verfasser  nun  über,  indem  er 
die  Auffassung  zugrunde  legt,  daß  sie  „ihren 
eigentlichen  Sitz  im  Stoffwechsel  haben"  und  also 
durch  die  gegenseitige  Anpassung  der  chemischen 
und  physikalischen  Organisation  des  Protoplasmas 
zustande  kommen.  Scheint  dem  Ref  schon  die 
Durchführung  dieses  Gedankens  nicht  besonders 
geglückt,  so  gilt  dies  noch  mehr  von  den  folgenden 
Kapiteln,  die  die  „ontogenetische  Formbildung" 
und  die  Regeneration  in  eine  solche  chemisch- 
physikalische Theorie  zwängen  wollen. 

Als  Ganzes  ist  der  Versuch  des  Verfassers  auch 
für  den  interessant,  der  in  allem  Wesentlichen, 
wie  der  Ref,  auf  anderem  Standpunkt  steht.  Er- 
schwert wird  das  Verständnis  der  Schrift  leider 
durch  das  ziemlich  fehleriiafte  „Ausländer-Deutsch", 
sowie  durch  eine  gerade  bei  schwierigen,  prinzipiellen 
Fragen  unangebrachte  Kürze.  So  ist  dem  Ref 
z.  B.  nicht  klar  geworden,  wie  die  „generative 
Kraft"  des  Protoplasmas  (S.  6,  17)  sich  in  die 
Theorie  des  Verfassers  fügen  soll. 

Ruhland-Halle  a.  S. 


Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  Gymnasiallehrer  H.  A.  in  Bern.  —  Der  llöhen- 
gewinn  beim  fiügelschlaglosen  Flug,  d.  i.  beim  Segelflug, 
den  Sie  an  einem  über  dem  Haslital  in  Spiralen  aufsteigenden 
Raubvogel  beobachteten,  lätit  sich  folgenderinaßcn  erklären: 
Voraussetzung  für  die  Ausführung  der  oft  bewunderten  Flugart 
ist  Windbewegung.  Aufsteigende  Luftströme,  wie  sie  manch- 
mal hinter  Schiften,  an  Waldrändern  oder  an  Felswänden 
(Helgoländer  Windphänomen)  beobachtet  werden,  sind  dazu 
nicht  erforderlich,  nur  ein  irgendwie  pulsierender  Wind  über- 
haupt. In  gewisser  Höhe  ist  der  ja  fast  immer  vorhanden, 
und  deshalb  kann  der  Vogel  erst  von  hier  ab  ausschließlich 
zum  Segelflug  übergehen.  Auch  der  beste  Segler  muß  den 
Ruderflug  anwenden,  solange  er  nicht  in  die  Kegion  der 
Windpulsationen  gelangt  ist.  Die  beim  Rudeiflug  durch  die 
Flügelschläge  erzeugte  Hubkraft  wird  durch  einen  Geschwindig- 
keitsgewinn ersetzt,  den  sich  der  Segler  durch  den  Kurvenflug 
schafft.  Es  gibt  kein  Segeln  ohne  Kurve,  immer  geschieht 
es  bei  Wind  in  kreisförmiger,  elliptischer,  schleifenförmiger, 
spiraliger  oder  sonst  irgendwie  gekrümmter  Bahn.  Im  Luvbogen 
der  Kurve,  die  konvex  gegen  die  Windrichtung  gewendet  ist, 
führt  der  Segler  seine  Flugflächen  proniert  gegen  den  Flugwind 
an.  Dabei  nimmt  der  Körper  eine  schräge  Haltung  ein;  der 
eine  Flügel  ist  gegen  die  Horizontale  gehoben,  der  andere 
gesenkt,  der  Vogelrücken  ist  dem  Zentrum  der  Kurve  zuge- 
wandt. Deshalb  trifft  der  Flugwind  die  Flugflächen  etwas  von 
unten.  Der  Widerstand,  der  sich  dabei  an  den  parabolisch 
gekrümmten,  in  Fronation  verharrenden  Flügeln  ergibt,  verleilit 
dem  Segler  einen  Vortrieb,  und  damit  einen  Gewinn  an  Ge- 
schwindigkeit. Dieser  Geschwindigkeitsgewinn  wird  noch  ver- 
größert durch  das  Auftreten  der  Zentrifugalkraft,  die  den  im 
Bogen  segelnden  Vogel  aus  der  Bahn  zu  werfen  strebt  wie 
den  Reiter  im  Zirkus,  wenn  er  sich  nicht  nach  der  Bahnniitte 
neigt,  also  keinen  zentripetalen  Gegendruck  ausübt.  Denselben 
Gegendruck  wie  der  Zirkusreiter  erzeugt  der  Vogel  durch  seine 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  31 


schräge  Haltung;  er  stützt  sich  gewissermaßen  auf  die  Zentri- 
fugalkraft, sich  mit  ihrer  Hilfe  einen  größeren  Schwung  ver- 
leihend. Die  so  auf  doppelte  Weise  gewonnene  Geschwindig- 
keit kann  er  im  Leebogen  der  Kurve  zum  Steigen  verwenden. 
Nur  muß  er  dabei  traversieren,  d.  h.  seine  Längsachse  unter 
einem  kleinen  Winkel  zur  Klugrichtung  einstellen,  so  daß  der 
Schnabel  im  Winde  bleibt.  Denn  sonst  würde  ihn  der  Wind 
nicht  auf  der  Unterseite  der  in  vortreibender  Vorneigung  ge- 
haltenen Flügel  treften,  sondern  direkt  im  Rücken,  was  seinen 
Absturz  zur  Folge  hätte.  Das  Geheimnis  des  Segeins  beruht 
also  darin,  daß  der  Vogel  im  Bogenflug  den  Wind  als  arbeits- 
fähige Kraftquelle  geschickt  auszunutzen  weiß ,  selbstverständ- 
lich reflektorisch-instinktmäßig.  —  Zur  Orientierung  seien  Sie 
auf  zwei  Veröffentlichungen  des  Unterzeichneten  verwiesen: 
I.  Die  Atmung  der  Vögel  während  des  Fluges,  2.  Der  Ruder- 
flug der  Vögel.  Wissenschaftliche  Beilage  der  Leipziger  Zeitung 
Jahrgang  1912  Nr.  I  und  Jahrgang  1913  Nr.  21.  Preis  je 
10  Pfennige. 
Leipzig. 


Prof.  Dr.  William   Fritzsche. 


In  der  Besprechung  meines  Werkchens  „Entwicklungs- 
geschichte des  Menschen",  Aus  Natur  und  Geisteswelt,  Bd.  388, 
(Nr.  19  [10.  5.  14]  der  Naturw.  Wochcnschr.  S.  302)  bemerkt  der 
Referent,  mein  „Büchlein  schöpfe  wesentlich  aus  älteren  Quellen". 
Das  muß  auf  den  Leser  des  Referats  den  Eindruck  machen,  das 
von  mir  in  meinem  Büchlein  Vorgetragene  sei  veraltet.  Ich  sehe 
mich  deshalb  genötigt,  in  Kürze  zu  konstatieren  wie  folgt: 
Zugrunde  legte  ich  meiner  Darstellung,  die  für  ein  in  das  Ge- 
biet der  Keimesgeschichte  des  Menschen  einzuführendes 
Laienpublikum  (was  man  nicht  übersehen  wolle !)  bestimmt 
ist,  die  klassischen  Arbeiten  Oskar  Hertwig's  und  zwar 
vornehmlich,  wie  ich  mehrfach  betont  habe  (siehe  z.  B.  S.  3, 
47  usf.)  das  „Lehrbuch"  in  der  9.  Aufl.  (1910)  und  die  „Ele- 
mente" in  der  4.  Aufl.  (1910).  Aus  zahlreichen  Zitaten  geht 
dann  weiter  hervor,  daß  ich  die  Fachliteratur  der  allerletzten 
Jahre,  soweit  sie  für  meine  besonderen  Zwecke  in  Frage  kam, 
recht  ergiebig  benutzt  habe.  Ich  verweise  dafür  z.  B.  auf 
S.  15,  25,  27,  28,  29,  33,  34,  35,  36,  37,  39,  43.  49,  58,  68, 
71,  72,  76,  81,  82,  wo  Arbeiten  (Spezialwerke  und  Aufsätze 
in  Archiven  usf.)  aus  dem  Jahrfünft  1909 — 1913  zitiert  sind. 
Der  Leser  mag  danach  selbst  beurteilen,  ob  Petersen's 
Behauptung  berechtigt  ist. 

Daß  ich  im  historischen  Teile  (S.  :  — 14)  auf  die  frühesten 
Schriften  zurückgreifen  mußte ,  versteht  sich  doch  wohl  von 
selbst.  Schließlich  sei  mir  gestattet,  in  diesem  Zusammenhange 
zu  bemerken,  daß  die  vom  Referenten  als  „recht  minderwertig" 
monierten  Embryonenbildcr  (Abb.  42,  S.  55)  Kopien  (für 
Strichätzung)  aus  Ranke  („Der  Mensch"  191 1,  Bd.  1,  Tafel 
auf  S.  141  Nr.  10  u.  24)  bzw.  nach  Bis  („Menschliche  Em- 
bryonen", i8So)sind,  was  in  meinem  Büchlein  anzugeben  leider 
übersehen  wurde  —  die  einzige  Abbildung  ohne  Quellen- 
vermerk. Dr.  A.   Heilborn  (Steglitz). 


Herrn  Oberlehrer  Lud.  Frölich,  Colmar  i.  Eis.  Ein 
modernes  Werk ,  welches  Bestimmungstabellen  für  das  ganze 
Tierreich  enthält,  gibt  es  leider  nicht.  Der  alte  Leunis- 
Ludwig  (letzte  Auflage,  die  III.  von  1883/S6)  ist,  obwohl 
in  bezug  auf  die  Nomenklatur  als  auch  manche  systematische 
Einzelheiten  veraltet,  doch  immer  noch  das  einzige  Buch, 
welches  in  dieser  Art  existiert.  Als  Bestimmungswerke,  welche 
der  modernen  Systematik  und  Nomenklatur  gerecht  werden, 
siud  u.  a.  zu  empfehlen,  fürSüflwassertiere:  Brauer,  Die 
Süßwasserfauna  Deutschlands,  Lampert,  Das  Leben  der 
Binnengewässer.     Für  Mollusken:   Geyer,  Die  Weichtiere 


Deutschlands. 
IV.  Aufl. 


Für    Wirbeltiere:      Brehm's     Tierleben, 
Hempelmann. 


Herrn  J.  Seh.  in  O, 
oberirdischen    Stamm,     sondern    ein 


Die  Banane  hat  keinen  eigentlichen 
unterirdisches 


Rhizom. 

Aus  diesem  treten  die  riesigen  Knospen  über  die  Erde,  die 
aus  umeinandergewickelten  Blättern  bestehen.  Bei  ihrer  wei- 
teren Entwicklung  bleiben  die  Blattscheiden  umeinandergerollt, 
so  daß  der  Stamm  nur  aus  diesen  Scheiden  besteht  und  z.B. 
mit  einem  scharfen  Buschmesser  auf  einen  Streich  durchhauen 
werden  kann.  In  dieser  Rolle,  dem  Scheinstamm,  schiebt 
sich  nun  in  einem  gewissen  Entwicklungsstadium  der  Schaft 
des  Blütenstandes  in  die  Höhe  und  kommt  schließlich  aus  dem 
riesigen  Blattbüschel  zutage;  er  ist  also  nicht  seitlich  am 
Scheinstamm  ,, befestigt".  Er  biegt  sich  dann  im  Bogen  um, 
so  daß  der  Fruchtstand  nachher  abwärts  hängt.  Die  Kämme, 
d.  h.  die  Gruppen  der  in  der  Achsel  großer  Hüllblätter  neben- 
einander angelegten  Früchte  stehen  bei  der  natürlichen  t)rien- 
tierung  aufrecht.  Im  Obstladen  ist  der  Fruchtstand  also 
dann  richtig  aufgehängt,  wenn  die  Früchte  auf  ihren  Stielen 
stehen.  Die  Abbildung  im  Schmeil  ist  richtig,  aber  insofern 
nicht    instruktiv,    als    nicht    zu  sehen  ist,  wie  die  Früchte  be- 


festigt sind. 


Literatur. 


Miehe. 


im  mittleren 


von    Mittel- 
F.   Lehmann. 


Hundt,   Rudolf,   Geologische  Wanderungen 
Elstertale.     Lobenstein,  Fr.  Krüger. 

H  e  g  i ,  Prof.  Dr.  Gustav  ,  Illustrierte  Flora 
europa.  VI.  Band,  5.  Lieferung.  München,  J. 
1,50  Mk. 

Himmel  und  Erde,  Volksausgabe,  Lieferung  10 — 15. 
Berlin- München-Wien,  Allgem.  Verlagsgesellsch.  m.b.H.  aöoPf. 

Karsten  -Schenck,  Vegetationsbilder.  12.  Reihe. 
Heft  2  u.  3 :  Vegetationsbilder  vom  Kilimandscharo  von  Ger- 
trud Tobler-Wolff  und  Fr.  Tobler.  Jena  '14,  G.  Fischer. 
8  Mk. 

Gebbardt,  Paul,  Mit  der  Kamera  auf  Reisen,  Ratschläge 
für  die  Ausrüstung  und  Ausübung  der  Photographie  fern  von 
der  Heimat.  Mit  eingehender  Erörterung  der  Zollverhältnisse 
und  Photographieverbote.  Mit  38  Abbild,  im  Text  u.  3  An- 
lagen.    Leipzig,  Liesegang's  Verlag,  M.  Eger.     Geb.  3  Mk. 

Keller,  H.,  Ursprung  und  Verbleib  des  Festland-Nieder- 
schlags. Mit  I  Tafel.  Berlin  '14,  E.  S.  Mittler  und  Sohn. 
1,25   Mk. 

Schaefer,  Prof.  Dr.  Clemens,  Einführung  in  die  theo- 
retische Physik  in  zwei  Bänden.  I.  Bd.  Mechanik  materieller 
Punkte,  Mechanik  starrer  Körper  und  Mechanik  der  Kontinua 
(Elastizität  und  Hydrodynamik).  Mit  249  Textfig.  Leipzig 
■14,  Veit  &  Co.     Geb.  20  Mk. 

Viel  Weber,  Tafel  der  Steinobst-  und  Beerensorten. 
1,20  Mk.;  Prof.  Dr.  Rasch  ke,  Tafel  der  Bäume  und  Sträucher. 
90  Pf.     Graser's  Verlag  (R.  Liesche),  Annaberg  i.  S. 

Weimarn,  Prof.  Dr.  P.  von.  Zur  Lehre  von  den  Zu- 
ständen der  Materie.  2  Bde.  Dresden  und  Leipzig  '14,  Th. 
Steinkopff'.     Geb.  9  Mk. 

Pohl,  Dr.  R.  und  Pringsheim,  Dr.  P.,  Die  licht- 
elektrischen Erscheinungen.  Heft  i  der  Sammlung  Vieweg. 
Tagesfragen  aus  den  Gebieten  der  Naturwissenschaften  und 
Technik.     Braunschweig  '14,  Fr.  Vieweg  &  Sohn.     3  Mk. 

Hägglund,  Lic.  E.,  Hefe  und  Gärung  in  ihrer  Ab- 
hängigkeit von  Wasserstoff-  und  Hydroxylionen.  Mit  4  Text- 
abbild.    Stuttgart  '14,  F.  Enke.      1,50  Mk. 


Inhalt;  Baglioni:  Der  Einfluß  äußerer  Schallemptindungen  auf  die  Tonhöhe  der  menschlichen  Sprache.  Richters: 
Steinvi-erkzeuge  aus  dem  nordischen  Gletschermergel.  —  Einzelberichte:  Eycleshymer:  Amphibienlarven  können 
längere  Zeit  ohne  Kopf  leben.  Behrmann:  Geographische  Ergebnisse  der  Kaiserin-Augusta-Fiuß-Expedition.  Chauf- 
fard,  Larosche  und  Grigaud:  Der  Cholesteringehalt  der  Nebennierenkapseln  unterliegt  bei  den  verschiedenen 
Krankheiten  großen  Schwankungen.  Roh  mann:  Röntgenspektroskop.  Quiring:  Über  die  niederschlesischen  Gold- 
vorkommen. Fenn  er:  Die  Stabilitätsbeziehungen  der  Kieselsäuremineralien.  d'Angremond:  Die  Parthenokarpie  der 
Eßbananen.  —  Bücherbesprechungen:  Friedländer:  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Kapverdischen  Inseln.  Mitchell: 
Die  Kindheit  der  Tiere.  Bavink:  Allgemeine  Ergebnisse  der  Probleme  der  Naturwissenschaft.  Bateson;  Problems 
of  Genetics.  Lundegardh:  Grundzüge  einer  chemisch-physikalischen  Theorie  des  Lebens.  —  Anregungen  und 
Antworten.  —  Literatur :  Liste. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstrafie   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band; 
der  ganzen  Reihe  2g.  Band. 


Sonntag,  den  9.  August  1914. 


Nummer  33. 


Das  geologische  Alter  der  Angiospermen. 


[Naclidnick  verboten.] 

Eine  der  überraschendsten  Tatsachen,  die  uns 
im  Laufe  der  Entwicklung  der  Pflanzenwelt  in 
den  geologischen  Epochen  entgegentreten,  bildet 
das  anscheinend  plötzliche  Erscheinen  der  höch- 
sten Pflanzengruppen,  der  Angiospermen,  und 
zwar  sowohl  der  Monokotylen  wie  Dikotylen  mit 
dem  Beginn  der  oberen  Kreidezeit,  im  Cenoman. 
Dieses  Verhältnis  finden  wir  wenigstens  in  Deutsch- 
land, Österreich  und  der  Überzahl  der  übrigen 
Länder  deutlich  ausgeprägt.  In  der  unterhalb  des 
Cenomans  lagernden  Abteilung  der  Kreide- 
formation, dem  Gault,  hatte  sich  bisher  bei  uns 
niemals  eine  Spur  dieser  seit  dem  Cenoman  mit 
so  elementarer  Gewalt  die  früheren  Pflanzentypen 
zurückdrängenden  Gewächsgruppen  gefunden.  Ist 
doch  von  da  an  in  den  meisten  Fällen  das  Ver- 
hältnis der  Überreste  der  mesozoischen  Pflanzen- 
welt zu  den  Angiospermen  ungefähr  dasselbe  wie 
heute.  Auch  heute  haben  wir  ja  noch  eine  An- 
zahl solcher  Überbleibsel  der  Juraflora,  wie  z.  B. 
den  Ginkgobaum,  verschiedene  Farne  (Mahonia, 
Dipteris,  Todea  u.  a.),  die  in  ähnlicher  Weise  wie 
jetzt  lokal  in  der  oberen  Kreide  und  zum  Teil 
noch  in  der  Braunkohlenformation  ganz  unterge- 
ordnet auftreten.  Von  einem  allmählichen  Ein- 
treten einer  neuen  Ära  der  Pflanzenwelt,  etwa 
von  dem  allmählichen  Auftreten  einzelner  zer- 
streuter Vorkommnisse  von  Dikotylen  in  der 
oberen  Juraformation  scheint  nichts  zu  spüren  zu 
sein.  Betrachtet  man  dagegen  den  Übergang  der 
alten  Zeit  der  Pflanzenwelt,  also  das  Ende  der 
Steinkohlenformation  im  Verhältnis  zu  der  Flora  des 
Zechsteins,  so  ist  der  Schritt  hier  keineswegs  so  un- 
vermittelt, indem  einige  Vorläufer  der  Zechsteinflora, 
z.  B.  Ulmannia  Baiera  u.  a.,  in  den  ersten  Spuren 
bereits  im  Rotliegenden  auftreten.  Betrachtet  man 
den  nächstfolgenden  ziemlich  fühlbaren  Schritt  im 
Laufe  der  Entwicklung  der  Pflanzenwelt,  so  liegt 
dieser  im  allgemeinen  in  den  obersten  Schichten 
der  Keuperformation,  den  sog.  Rhätschichten. 
Auch  hier  stellen  sich  speziell  in  der  Gruppe  der 
cykadeen-ähnlichen  Gewächse,  dann  in  der  Farn- 
welt anscheinend  ziemlich  plötzlich  eine  große 
Menge  neuer  Formen  ein;  ihr  Auftreten  verliert 
jedoch  dadurch  bedeutend  an  der  Unvermittelt- 
heit, daß  an  einigen  Stellen,  nämlich  z.  B.  in  dem 
Keuper  von  Lunz  in  Niederösterreich  und  von 
Basel  (Schweiz)  ähnliche  nahe  verwandte  Typen 
bereits  etwas  früher  auftreten. 

In  neuerer  Zeit  hat  nun  die  Frage  des  Er- 
scheinens der  Angiospermen  verschiedentlich  neue 
Beleuchtung  und  Klärung  erfahren,  und  verschie- 
dene an    mich   direkt    oder  indirekt  gelangte  An- 


Von  W.  Gothan. 


fragen  geben  mir  Veranlassung  im  folgenden  den 
Stand  des  Problems  im  Augenblicke  kurz  in  den 
wesentlichen  Zügen  auseinanderzusetzen,  um  so 
mehr,  da  die  Lehrbücher,  die  sich  mit  der  fossilen 
Pflanzenwelt  beschäftigen,  diese  neuen  Ergebnisse 
noch  nicht  enthalten. 

Bei  uns  in  Deutschland,  in  Österreich  und 
vielen  anderen  Gegenden  steht  die  Frage  noch 
auf  dem  alten  Standpunkt:  wir  haben  einerseits, 
wie  schon  oben  gesagt,  in  der  oberen  Kreide  eine 
erdrückende  Menge  dieser  höheren  Pflanzen,  ande- 
rerseits in  der  unteren  Kreide  und  zwar  speziell 
den  VVealden-  und  Neokom  Schichten  eine  noch 
total  mesozoische,  d.  h.  angiospermenlose  Pflanzen- 
welt, der  dazwischenliegende  Gault  enthält  da- 
gegen bedauerlicherweise  außer  einigen  überaus 
traurigen  Holzresten  sozusagen  absolut  keine 
Pflanzenreste. 

Eine  andere  Sachlage  schien  in  Nordamerika 
nach  den  Untersuchungen  von  F"ontaine  vorzu- 
liegen, wo  an  der  atlantischen  Küste  von  Mary- 
land usw.  Schichten  der  unteren  Kreide  mit  reicher 
Flora  bis  zur  oberen  Kreideformation  hinauf  ent- 
wickelt sind.  Die  Formation,  die  früher  allgemein 
unserem  Neokom  und  Wealden  als  gleichaltrig 
angesehen  wurde,  wurde  nach  dem  Namen  eines 
dortigen  Flusses  als  Potomac-Formation  bezeichnet. 
Diese  enthielt  nun  nach  der  Darstellung  Fon- 
ta ine's  ein  Gemisch  von  Typen  der  früheren 
jurassischen  (oder  genauer  Wealden-Flora),  wie 
Sphenopteris  mantelli,  gewisse  Koniferen  (Brachy- 
phyllum,  P'renelopsis ,  Sphenolepidium),  Ginkgo- 
phyten,  Nilssonien,  Bennettiteen  usw.  und  daneben 
eine  große  Masse  von  Angiospermen,  speziell 
Blätter  von  Dikotylenbäumen,  deren  nähere  Ver- 
wandtschaft allerdings  in  vielen  Fällen  fragwürdig 
erscheint.  Wenn  diese  Darstellung  einer  aus 
älteren  und  jüngeren  Typen  derart  gemischten 
Flora  richtig  gewesen  wäre,  so  hätte  sich  daraus 
zweierlei  entnehmen  lassen:  nämlich  erstens,  daß 
in  gewissen  Gebieten  der  Erde  die  Angiospermen 
ganz  bedeutend  früher  erschienen  als  bei  uns  und 
dann  wahrscheinlich  von  hier  aus  ihren  Eroberungs- 
zug über  die  noch  unbesiedelten  Gebiete  antraten, 
und  zweitens,  daß  in  dem  genannten  amerikanischen 
Gebiet  und  vielleicht  noch  anderswo  sich  gewisser- 
maßen ein  Kampf  zwischen  beiden  Vegetations- 
formen abgespielt  habe,  der  mit  dem  baldigen  und 
vollständigen  Siege  der  Angiospermen  endete. 

Es  war  dies  jedoch  nicht  die  einzige  .Stelle, 
von  wo  aus  tieferen  Schichten  der  Kreideformation 
das  Auftreten  dieser  Gewächse  angegeben  wurde. 
Schon    vorher    hatte    O.  Heer    aus    der   unteren 


498 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  32 


Kreide  von  Grönland  ebenfalls  neben  einer  An- 
zahl von  mehr  mesozoischen  Formen  das  Auf- 
treten einiger  dikotyler  Blätter,  z.  B.  einer  Pappel- 
art, angezeigt.  Fs  handelt  sich  hier  um  die  sog. 
Komeschichten ,  deren  reiche  Flora  namentlich 
durch  das  Auftreten  zalilreicher  Gleichenien,  C}-- 
cado]ihytcn,  Ginkgogewächsen  einen  recht  meso- 
zoischen Anstrich  erhielt.  Weiterhin  hatte  Sa- 
porta  aus  Portugal  eine  Flora  beschrieben,  in 
der  ebenfalls  eine  größere  Anzahl  von  Angiospermen 
auftreten,  die  etwa  als  in  die  Stufe  des  Gault 
gehörig  angesehen  wurden.  Doch  haben  diese 
beiden  letzteren  Vorkommnisse  anscheinend  auf 
die  Anschauung  über  das  Alter  der  Angiospermm 
bei  uns  nur  geringen  fc^influß  gehabt. 

In  neuerer  Zeit  hat  nun  diese  Frage  eine  ganz 
neue  Beleuchtung  erfahren  durch  die  Unter- 
suchungen des  Amerikaners  E.  W.  Berry,\)  der 
die  von  Fontaine  im  Jahre  1889  veröffentlichte 
Potomacflora  einer  Revision  unterzog  und  darüber 
eine  Reihe  von  kleineren  Mitteilungen  und  beson- 
ders 191 1  eine  zusammenfassende  Abhandlung 
verfaßt  hat,  in  der  er  zu  ganz  anderen  Resultaten 
als  Fontaine  kommt.  Das  Abweichende  seiner 
Resultate  mit  Beziehung  auf  die  Benennung  und 
nähere  systematische  Stellung  der  einzelnen  F"or- 
men  interessiert  uns  hier  nicht  weiter;  der  für 
uns  bedeutungsvollste  Punkt  ist,  daß  das  Vor- 
handensein der  von  Fontaine  behaupteten 
Mischflora  im  Neokom  sich  als  ein 
höchst  bedauerlicher  Irrtum  heraus- 
stellte. Es  zeigte  sich  nämlich  bei  genauerer 
Untersuchung,  daß  die  als  mesozoische  Formen 
aufzufassenden  Gewächse  sich  meistens  auf  eine 
untere  .Abteilung  der  Potomacformation  beschränk- 
ten, die  als  Patuxentformation  bezeichnet  wiid 
und  etwa  unserem  Neokom  entspricht;  eine  An- 
zahl dieser  geht  zwar  noch  in  die  höhere  Etage 
der  Potomac  hinauf,  die  sog.  Patapscostufe,  aber 
in  dieser  erscheinen  erst  die  Angio- 
spermen, die  früher  angeblich  in  der 
ganzen  Potomacformation  auftreten 
sollten.  Die  Patapscoformation  entspricht  etwa 
unserem  Gault,  und  mit  dieser  Verschiebung 
werden  die  Verhältnisse,  wie  wir  gleich  sehen 
werden,  für  eine  ganze  Reihe  von  Gegenden  der 
Erde,  die  darauf  untersucht  sind,  sofort  bedeutend 
Iiomogencr.  Wir  hatten  schon  oben  erwähnt,  daß 
aus  Europa  von  Portugal  aus  demselben  Horizont 
die  ersten  Angiospermen  angegeben  waren;  vor 
einiger  Zeit  wurde  nun  aus  dem  gleichen  Horizont 
der  Insel  Madagaskar  ein  Laubholz  angegeben, 
das  von  dem  LIntersucher  der  Lorbeerfamilie  zu- 
gewiesen wurde  (Fliehe  1905).  In  außerordent- 
lich wertvoller  Weise  sind  nun  diese  Funde  ergänzt 
worden  vor  kurzer  Zeit  durch  die  Untersuchungen 
von  M.  Stopes  in  London,  die  aus  einem  unse- 
rem Gault  entsprechenden  Horizont  Südenglands, 
dem    Lower    Greensand,    zwei    ganz    zweifellose 


M    ^^gJ-    besonders    seine    Arbeiten    in    Geolog.  Survey  of 
Maryland,  Lower  cretaceous,  Baltimore   1911. 


Dikotylenhölzer  beschrieb  unter  dem  Namen 
Aptiana  und  Woburnia  (Thil.  Trans.  Roy.  Soc. 
London,  B,  Vol.  203,  p.  75—100,   1912). 

Überblicken  wir  die  hieraus  sich  ergebende 
Folgerung,  nämlich  daß  an  einer  ganzen  Reihe 
von  Lokalitäten  der  Erde  die  ersten  Angio- 
spermen in  Horizonten  auftreten,  die  etwa  unserem 
Gault  entsprechen,  so  sehen  wir  einerseits,  daß 
die  früher  so  befremdend  erscheinende  Ungleich- 
mäßigkeit  in  dem  Auftreten  dieser  Pflanzen  z.  B. 
bei  uns  und  in  Nordamerika  so  gut  wie  ausge- 
glichen erscheint,  daß  aber  bei  uns  die  Verhält- 
nisse offenbar  nur  deswegen  anders  erscheinen, 
weil  der  Pflanzengehalt  des  Gault  bei  uns  eben  ein 
überaus  minimaler  und  erbärmlicher  ist.  Anderer- 
seits war  oben  darauf  hingewiesen  worden,  daß 
in  Nordamerika  ein  Teil  der  Repräsentanten  der 
unteren  Potomacformation,  also  den  mesozoischen 
Typen  noch  in  den  Angiospermenhorizont,  die 
Patapscostufe  hinaufreicht  und  dort  also  in  Mischung 
mit  den  Repräsentanten  der  neuzeitigen  Pflanzen- 
welt auftritt.  Der  alte  Charakter  der  Potomacflora 
als  einer  Übergangs  und  Mischflora  älterer  und 
neuerer  Pflanzenform  bleibt  also  mehr  oder  weniger 
erhalten,  nur  daß  diese  Mischflora  eben  in  Horizon- 
ten auftritt,  in  denen  auch  anderwärts  Angio- 
spermen bereits  vorhanden  waren,  leider  aber 
durch  die  Ungunst  der  Verhältnisse  sich  nebst 
der  älteren  Flora  weniger  zahlreich  erhielten. 
Die  Periode  des  Gault  ist  also  als  diejenige  auf- 
zufassen, in  der  sich  der  Daseinskampf  der  meso- 
zoischen und  neuzeitlichen  Pflanzenelemente  im 
wesentlichen  abspielte ;  der  Ausgang  dieses  Kampfes 
ist  ja  bekannt  und  wurde  auch  oben  bereits 
berührt. 

(Ib  nicht  in  noch  früheren  Zeiten  ausnahmsweise 
und  lokal  bereits  Spuren  der  Angiospermen  vor- 
handen gewesen  sind,  ist  eine  Frage,  die  oft  auf- 
geworfen, aber  noch  nicht  völlig  beantwortet  worden 
ist.  Von  der  Hand  zu  weisen  ist  diese  Möglich- 
keit ja  nicht,  da  man  daran  denken  kann,  daß  in 
ähnlicher  Weise,  wie  im  Rhät  Bonebed  die  ersten 
Spuren  primitiver  Säugetiere  auftreten,  auch  die 
höchsten  Pflanzengruppen  solche  zerstreuten  Vor- 
läufer gehabt  haben  könnten.  Sichere  Hinweise 
darauf  fehlen  nun  zwar,  doch  hat  man  z.  B.  im  Lias 
vonStonesfield  in  England  einigeBlattreste  gefunden, 
die,  wenn  es  sich  um  Tertiärflora  handeln  würde,  an 
standslos  als  Dicotyle  passieren  würden,  so  aber 
mit  Vorsicht  aufgenommen  sind,  um  so  mehr,  da  die 
Blätter  von  Gnetum,  einer  Gruppe,  die  zwar  zu 
Gymnospermen  gestellt  wird,  aber  eine  ganze 
Reihe  von  Angiospermencharakteren  zeigt,  durch- 
aus dikotylenartig  aussehen.  Daherwird  es  schwierig, 
die  Gnetacecn  überhaupt  in  der  fossilen  Flora 
nachzuweisen.  Vorhanden  müssen  sie  aber  sein 
und  sehr  alt  muß  diese  Gruppe  auch  sein,  da  sie 
so  außerordentlich  inhomogene  Angehörige,  wie 
Welwitschia,  Ephedra  und  Gnetum  enthält.  Vor 
einiger  Zeit  haben  übrigens  zwei  Franzosen  (Li- 
g  n  i  e  r  und  T  i  s  o  n)  sie  für  primitive  Angiospermen 
erklärt. 


N.  F.  Xni.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


499 


Recht  auffallend  ist  ferner  der  Fund  von  H.  H.  ration  mit  HNO., -j-KClOj)  sich  als  mehrere  Samen 
Thomas')  im  Brauiijura  von  Yorkshire,  wo  er  enthaltend  entpuppten;  diese  Caytonia  genann- 
geschlossene Früchte  fand,  die  bei  Präparation  ten  Früchte  weisen  also  auch  auf  Angiospermen, 
mit  bleichenden  und  oxydierenden  Mitteln  (Maze-  Es  ist  also  möglich,  daß  in  der  Tat  schon  im  Jura 
einzelne  Spuren  der  höchsten  Pflanzengruppen  auf- 

')  Report  Brit.  .^ssoc.  Adv.  .Sciences.     Portsmouih  191 1.  tauchen,  sicher  ist  CS  aber  noch  nicht. 


Die  Entstehung  der  Erstarrnngsgesteine. 


[Nachdruck  verboten.]  Von   Adolf 

Wenige  Wissenschaften  sind  noch  so  vollständig 
im  Stadium  der  bloßen  Erfahrung  befangen,  wie 
die  Gesteinskunde,  die  Petrographie.  Nimmt  man 
eines  ihrer  Kompendien  zur  Hand,  so  stößt  man 
auf  eine  Unsumme  von  Einzelerscheinungen,  die 
man  alle  seinem  Gedächtnisse  einprägen  muß,  um 
mitreden  zu  können,  und  die  Regeln,  die  man 
sich  im  Interesse  der  Übersichtlichkeit  bilden 
möchte,  erleiden  alle  viele  Ausnahmen.  Selbst  ein 
gemeinschaftlicher  Name,  wie  z.  B.  der  des  Melaphyrs, 
umschließt  manchmal  noch  recht  Ungleichartiges 
und  Wechselndes,  nicht  bloß  in  bezug  auf  die 
hier  und  da  vorkommenden,  sog  akzessorischen 
mineralogischen  Bestandteile  (was  beinahe  für 
jedes  Gestein  gilt)  sondern  —  sogar  in  bezug  auf 
die  mineralogischen  Grundbestandteile,  die  man 
sonst  die  charakteristischen  nennt.  Da  wird  zwar 
Plagioklas  und  Augit  als  Hauptbestandteil  genannt, 
aber  dieser  letztere  tritt  oft  stark  zurück  und  wird 
lokal  durch  Hornblende  ersetzt,  und  Plagioklas 
ist  überhaupt  keine  einzelne  Mineralspezies  sondern 
eine  ganze  Familie,  in  der  bald  natronreiche  und 
kalkreiche  Formen  aus  lediglich  kristallographischen 
Gründen  zusammengefaßt  werden.  Ja  man  würde 
die  rein  mineralogische  Beschreibung  manches 
Melaphyres  mit  der  mancher  Basalte  oder  Dolerite 
vertauschen  können,  ohne  es  zu  merken,  und  man 
muß  die  feinere  mikroskopische  oder  die  Mandel- 
struktur des  Melaphyrs  zu  Hilfe  nehmen,  um  den 
Unterschied  einigermaßen  greifbar  zu  machen,  was 
für  den  Lernenden,  der  die  Verhältnisse  nach  ein- 
fachen Gesichtspunkten  übersehen  möchte,  keine 
angenelime  Sache  ist.  Und  wirklich  hat  man 
neuerdings  in  der  Gesteinskunde  die  Konsequenzen 
dieses  unhaltbaren  Zustandes  gezogen  und  faßt 
die  Melaphyre  einfach  als  ältere  Basalte  mit  nur 
etwas  modifizierter  Ausbildung. 

Solche  einfachen  großen  Gesichtspunkte,  durch 
welche  die  geschichteten  Gesteine  längst  von  den 
Erstarrungsgesteinen  und  jene  unter  sich  geschie- 
den wurden,  fehlen  für  die  Petrographie  der  Er- 
starrungsgesteine noch  beinahe  ganz.  Wohl  hat 
man  gelernt,  die  Ergußgesteine  oder  Laven  von 
den  Tiefengesteinen  zu  unterscheiden.  Man  glaubt 
jetzt  —  hauptsächlich  auf  Grund  der  mikroskopi- 
schen Beobachtungen  der  Dünnschliffe,  aber  auch 
auf  Grund  der  Gebirgsformen  —  zu  wissen,  daß 
der-  Quarzporphyr,  ehedem  als  selbständiges  Ge- 
stein behandelt,  nur  die  Lava  des  Granits  ist,  der 
quarzfreie  Porphyr  die  Lava  des  Syenits  und  der 
Porphyrit    die    Lava   des   Diorits,    daß    also    diese 


Mayer. 

Gesteine  in  flüssiger  P'orm  sich  ergossen  haben, 
wie  noch  heutzutage  basaltische  und  andesitische 
Laven  sich  ergießen  oder  in  Bimssteinstruktur 
von  den  Vulkanen  in  die  Luft  geblasen  werden 
und  nach  dem  Niederfallen  lose  Tuffe  bilden. 
Hier  besteht  eben  bei  aller  Verschiedenheit  des 
Aussehens  und  der  äußeren  Struktur  eine  so  auf- 
fällige Gleichförmigkeit  der  elementaren  chemischen 
Zusammensetzung  zwischen  Tiefengestein  und  dem 
dazu  gehörigen  Ergußgestein,  dazu  ist  die  Gebirgs- 
form  der  beiden  zueinander  gehörigen  Gesteins- 
arten so  charakteristisch,  daß  hier  nur  die  einfache 
Kenntnis  dieses  leicht  übersichtlichen  Sachver- 
haltens nötig  war,  um  eine  greifbare  und  leicht 
zu  erhärtende  Hypothese  aufzustellen. 

Auch  in  einer  anderen  Richtung  hat  man 
schon  lange  einen  theoretischen  Fortschritt  ver- 
sucht. Es  ist  natürlich,  sobald  die  ersten  chemi- 
schen Analysen  der  hauptsächlichsten  Gesteins- 
arten vorlagen,  aufgefallen,  daß  man  die  Erstar- 
rungsgesteine auch  nach  ihrer  Zusammensetzung 
gruppieren  kann,  in  kieselsäurereichere,  sog.  Acidite 
und  ärmere  (die  an  Stelle  der  Kieselsäure  mehr 
basische  Bestandteile  besitzen)  Basite.  Für  die 
ersteren  ist  der  Granit  (mit  seiner  zugehörigen 
Lava,  dem  Quarzporphyr)  der  beste,  für  die  letz- 
teren der  Olivin  -  Gabbro  mit  der  gewöhnlichen 
dunkeln  Basaltlava  der  beste  Vertreter.  Granit 
besteht  zu  ungefähr  -/g  aus  Kieselsäure,  Basalt 
kaum  zur  Hälfte,  hat  aber  dafür  10  "/o  Kalk  und 
noch  mehr  Eisenoxydul,  von  dem  im  Granit  nur 
I  oder  wenige  Prozente  anwesend  ist.  Das  sind 
die  greifbaren  Unterschiede.  Worauf  aber  sind 
diese  Unterschiede  zurückzuführen  ? 

Der  erste  Forscher,  der  sich  mit  dieser  Frage 
ernstlich  beschäftigte  und  auf  Grund  seiner  eigenen 
Studien  eine  (freilich  nur  für  das  beschränkte  Ge- 
biet dieser  bezügliche  Theorie)  aufstellte,  war 
Robert  Bunsen.  Er  hatte  um  die  Mitte  des 
vorigen  Jahrhunderts  Island  bereist,  die  dortigen 
vulkanischen  Gesteine  gesammelt  und  analysiert 
und  meinte  aus  seinen  Analysen  zu  dem  Schlüsse 
berechtigt  zu  sein,  daß  alle  diese  vulkanischen 
Gesteine  Mischlinge  seien  aus  zwei  feuerflüssigen 
Massen,  sog.  Magmen,  von  denen  die  eine  die 
Zusammensetzung  eines  Trachyts,  die  andere  die 
eines  augithaltigen  Gesteines '),  etwa  des  Basaltes 


')  Bunsen  sprach  von  normaltrachytisch  und  normal- 
pyroxenisch.  Pyroxen  ist  eine  Mineralspezies,  zu  der  der 
Augit  gehört. 


500 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xra.  Nr.  32 


hatte,    Mischungen    in    den    verschiedensten    Ver- 
hältnissen von   I   bis   100  fortschreitend. 

Man  erkennt,  welche  Vorteile  die  Bestätigung 
dieser  Theorie  gehabt  haben  würde,  obgleich  es 
an  sich  wenig  plausibel  erscheint,  daß  die  feuer- 
flüssige Masse  des  Erdinnern,  die  doch  als  die 
letzte  Ursache  aller  vulkanischen  Erscheinungen 
aufgefaßt  wird,  gerade  in  zwei  Sorten  vorhanden 
sein  könne,  wie  Sodawasser  und  Himbeersyrup 
in  dem  Ausschank  von  Limonaden.  —  Warum  zwei 
Sorten  ?  Das  Magma  des  Erdinnern  müßte  doch 
eigentlich  ganz  gleichartig  sein.  Genug  Zeit  zum 
Mischen  hat  es  doch  gehabt,  wenn  es  nicht  schon 
bei  seiner  Entstehung  gleichartig  war.  Und,  wenn 
nicht,  warum  gerade  zwei  Mutterlaugen?  Dafür 
gab  es  keine  theoretischen  Gründe.  Es  war  ledig- 
lich Erfahrungssatz,  und  als  solcher  blieb  er  — 
ohne  Bestätigung. 

Infolge  dieser,  namentlich  durch  die  massen- 
haften Analysen  des  großen  geologischen  Instituts 
zu  Washington  mehr  und  mehr  sich  zeigender 
Unstimmigkeit  kam  selbst  gegen  Ende  des  Jahr- 
hunderts die  ganze  Einteilung  von  Aciditen  und 
Basiten  in  Mißkredit.  Die  Mannigfaltigkeit  der 
Gesteine  war  viel  zu  groß,  um  sie  in  solche  enge 
Formeln  zu  bannen. 

Aber  Theorien  sind  keine  Spielereien  unseres 
müßigen  Geistes.  Sie  sind  bekanntlich  notwendig 
für  den  Forlschritt  der  Wissenschaft,  die  ohne 
dieselben  jede  Übersichtlichkeit  über  das  endlos 
sich  dehnende  Tatsachenmaterial  verlieren  würde, 
und  ebenso  für  die  Befähigung  zur  Stellung  von 
Fragen  nach  neuen  besonders  wichtigen  Tatsachen. 
Nach  einer  aus  der  Reaktion  gegen  Mißbrauch 
der  Phantasie  entstehenden  Periode  der  Empirie 
folgt  immer  wieder  der  Hunger  nach  vielumfassen- 
den Theorien,  genau  wie  in  der  Geschichte  der 
Kunst  naturalistische  und  idealistische  Perioden 
einander  ablösen  nach  den  bekannten  Gesetzen 
von  Aktion  und  Reaktion,  von  These  und  Anti- 
these. So  tauchen  jetzt  auch  wieder  in  der  Wissen- 
schaft der  Geologie  Hypothesen  auf,  die  die  Ver- 
schiedenheit der  Erstarrungsgesteine  zu  erklären 
suchen,  ohne  in  die  Fehler  der  verlassenen  Theorien 
zu  verfallen.  Man  ist  vorsichtiger  geworden  und 
baut  nicht  mehr  auf  wenige,  noch  so  feststehende 
Tatsachen  allein,  sondern  auf  viele,  die  sich  nicht 
bloß  bei  den  im  engeren  Sinne  des  Worts  vulka- 
nischen Gesteinen,  sondern  bei  allen  Erstarrungs- 
gesteinen wiederholen. 

Eine  solche  Tatsache  ist  die  der  Differen- 
zierung vieler  Gesteine  von  ihrer  massigen 
Mitte  aus  nach  den  Rändern  zu,  Erscheinungen, 
die  sich  meist  in  der  Weise  wiederholen,  daß  die 
Gesteine  nach  den  letzteren  zu  basischer,  in  Sonder- 
heit reicher  an  Kalk  und  Eisen  und  ärmer  an 
Kiesel  werden.  Als  solche  Tatsachen  werden  z.  B. 
die  folgenden  genannt.  DieGranitmassedesBrockens 
wird  überall  da,  wo  sie  an  andere  Gesteine  grenzt, 
zu  Diorit  oder  Gabbro.  Ebenso  zeigt  das  Meißner 
Granitmassiv  eine  breite  Randzone  von  Syenit, 
und  dieselbe  Erscheinung  konnte  auch  im  Schwarz- 


walde beobachtet  werden  ^).  Gabbro,  Diorit  und 
Syenit  sind  aber  alle  basischere  Gesteine  als  der 
Granit. 

Dieselbe  Erscheinung  findet  sich  im  kleineren 
Maßstabe  in  Gängen,  wo  Porphyr  am  Rande  des 
Ganges  in  sog.  Salbänder  von  Melaphyr  oder 
Diabas  übergeht.  Melaphyr  und  Diabas  sind  aber 
wieder  basischere  Gesteine  als  der  Porphyr. 

Also,  wie  es  den  Anschein  hatte,  eine  ganz 
allgemeine  Regel,  die  bei  der  natürlichen  Annahme, 
daß  ursprünglich  das  Magma  doch  überall  chemisch 
gleichgewesen  sein  muß  oder  vielleicht  höchstens 
infolge  der  Einwirkung  der  Schwerkraft  von  oben 
nach  unten  differenziert,  zu  einem  Erklärungs- 
versuche herausfordert.  Eisen  und  Kalk  wandern 
nach  außen ;  Kieselsäure  und  Kali  bleiben  mehr 
im  Kern  der  Gesteinsmasse.  Was  kann  davon 
die  Ursache  sein? 

An  zwei  ^)  differenzierende  Ursachen  war  hier 
zu  denken  ;  Die  eine  ist  die  Temperaturdifferenz.  An 
den  Rändern  stößt  die  Masse  an  schon  erhärtetes 
Gestein,  das  schon  Abkühlung  erlitten  hat,  oft 
gar  an  geschichtetes,  das  schon  mit  der  stark  ab- 
gekühlten Luft  und  den  atmosphärischen  Nieder- 
schlägen in  Berührung  war.  Hier  in  den  äußeren 
Teilen  der  Masse  wird  also  die  Kristallisation  zuerst 
beginnen,  und  was  kristallisiert  zuerst?  Das 
Studium  der  Dünnschliffe  gibt  hierüber  Auskunft. 
Die  mikroskopische  Beobachtung  derselben  lehrt, 
welche  Mineralien  ungestört  durch  andere  Minera- 
lien ihre  nach  den  Regeln  der  Kristallographie 
erfolgende  Ausbildung  finden.  Das  sind  die  E^rst- 
linge.  Die  Nachkömmlinge  müssen  sich  einrichten 
in  dem  Räume,    den  jene    übrig   gelassen    haben. 

Die  Reihenfolge  ist  nun  diese  :  „Die  Verfestigung 
beginnt  .  .  .  mit  der  Kristallisation  der  Erze,  des 
Apatits  .  .  .,  darauf  folgt  die  Ausscheidung  der 
eisen-  und  magnesiahaltigen  Silikate:  Hornblende, 
Pyroxen,  Glimmer,  dann  diejenige  der  Feldspäte 
und  endlich  des  Quarzes".  ^)  Freilich  ist  das  kein 
allgemein  gültiges  Gesetz,  sondern  nur  eine  Regel 
mit  ihren  Ausnahmen. 

Also  erst  —  der  Gehalt  an  Erzen  ist  ja  nur 
gering  —  die  eisen-  und  magnesiahaltigen  SiHkate, 
die  meist  auch  kalkreich  sind;  dann  erst  die  Feld- 
späte, die  kieselsäurereicher  und  eisenarm  sind, 
mehr  Kali  und  weniger  Kalk  enthalten  und  zuletzt 
die  kristallisierte  reine  Kieselsäure  selber.  Hier- 
durch ist  aber  ein  Impuls  zur  Wanderung  gegeben, 
und  zwar  zur  Wanderung  in  einem  ganz  bestimm- 
ten Sinne,  in  einem  Sinne,  der  mit  dem  tatsäch- 
lichen Befunde  derselbe  ist.  Denn  jeder  Punkt, 
wo  Kristallisation  statthat,  dient  ja  als  Anziehungs- 


')  Crcdn  er,  Geologie,  10.  Auflage,  S.  1S7.  Gute  Belege 
bei  Rosenbusch,   Elemente  der  Gesleinslehre,  S.   183. 

^)  Wenn  wir  nämlich  die  Hypothese  einer  Verwandlung 
der  sog.  chemischen  Elemente  selber  zur  Seite  lassen  (eine 
Hypothese,  die  in  unserer  Zeit  der  zerfallenden  Elemente  und 
bei  den  ungeheuren  Zeiträumen,  die  in  geologischen  Dingen 
zur  Verfügung  stehen,  nicht  völlig  ungereimt  erscheint,  so 
wenig  auch  die  gerade  in  Frage  kommenden  Elemente  Ver- 
anlassung zu  solchen  Vermutungen  geben). 

')  Credner,  Geologie  a.  a.  O.  S.  286. 


N.  F.  Xm.  Nr.  3: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrilt. 


501 


punkt  für  die  durch  dieses  Festwerden  sich  der 
Diftusionsmöglichkeit  entziehenden  chemischen 
Bestandteile,  genau  wie  der  in  den  Zwischenzell- 
räumen sich  bildende  Eiskristall  dem  ganzen 
Pflanzengewebe  langsam  das  Wasser  entzieht,  weil 
hier  das  Wasser  mit  der  Tendenz  zur  Gegen- 
bewegung ausscheidet.  Und  der  Umstand,  daß 
es  sich  bei  geologischen  Prozessen  um  große  Ab- 
stände handelt,  legt  der  Langsamkeit  der  Diffusions- 
bewegung keine  weitere  Schwierigkeiten,  als  Er- 
klärungsprinzip dienen  zu  können,  in  den  Weg,  da 
auch  groi3e  geologische  Zeiträume  für  solche  Prozesse 
zur  Verfügung  stehen.  In  den  Klüften  und  Gängen 
aber,  in  denen  wir  die  gleiche  Differenzierung 
vor  sich  gehen  sahen,  handelt  es  sich  gar  nicht 
um  große  Abstände,  und  hier  genügen  kürzere 
Zeiten,  wenn  hier  die  Erstarrung  rasch  von  außen 
nach  innen  fortschreitet,  so  daß  auch  hier  von 
einem  Mißverhältnis  von  Weglängen  und  Zeiten 
nicht  die  Rede  sein  kann. 

Neben  der  allerdings  sehr  plausiblen  Tem- 
peraturdifferenz gibt  es  noch  ein  anderes  Moment, 
das  manchmal  in  derselben  Richtung,  manchmal 
modifizierend  auf  die  erste  Ausscheidung  wirken 
könnte,  so  daß  auf  diese  Weise  vielleicht  die 
Verschiedenheiten  der  jungen  und  alten  Erstarrungs- 
gesteine zu  erklären  wären.  Freilich  könnten  auch 
wohl  die  Temperaturen  an  sich  in  dieser  letzteren 
Richtung  modifizierend  wirken,  indem  die  Stärke 
der  seitlichen  Abkühlung  nicht  immer  dieselbe 
und  mit  der  fortdauernden  Abkühlung  unseres 
ganzen  Planeten  eine  mit  der  Zeit  größere  zu 
werden  die  Aussicht  haben  muß.  Denn  man 
weiß  (z.  B.  aus  den  klassischen  Untersuchungen 
van't  Hoff 's)  über  die  Salzwasserausscheidungen, 
daß  schon  ein  Temperaturunterschied  von  wenigen 
Graden  aus  einer  komplizierten  Lösung  die  Erst- 
ausscheidung eines  anderen  Minerals  (z.  B.  des 
Natronsulfats  statt  des  Kochsalzes  bei  gewissen 
asiatischen  Ablagerungen)  veranlassen  und  damit 
der  ganzen  Geologie  eines  Salzlagers  eine  andere 
Richtung  geben  kann.  Man  hat  daraus  selbst  auf 
die  bei  geologischen  Ablagerungen  herrschenden 
Temperaturen  Rückschlüsse  gemacht.  —  Und 
warum  sollte  es  bei  einem  Magma  anders 
sein? 

Trotzdem  ist  jener  andere  Gesichtspunkt  doch 
wohl  noch  von  größerem  Interesse.  Ich  meine  jenen, 
der  sich  uns  durch  das  Studium  der  Kontaktmeta- 
morphosen auftut.  Unter  Kontaktmetamorphosen 
versteht  man  die  Veränderungen ,  welche  schon 
erkaltete  oder  vielleicht  schon  geschichtete,  also 
umgebildete  Gesteine  durch  die  direkte  Berührung 
mit  Laven  oder  nicht  zum  Ausbruch  gelangenden 
Schmelzmassen  erleiden.  Diese  Veränderungen 
sind  äußerlich  oft  sehr  bedeutend,  und  auf  hun- 
derte von  Metern,  ja  über  tausend  Meter,  sich  er- 
streckend (wenn  auch  gering  in  bezug  auf  die 
elementare  Zusammensetzung),  aber  wir  haben 
direkt  mit  denselben  nichts  zu  tun.  Ich  will  also 
nur  erwähnen,  daß  Kalksteine  sich  in  Marmor 
verändern,  Braunkohlen  in  anthrazitähnliche  Koke, 


Tonschiefer  in  Glimmerschiefer  oder  glasartige 
Massen  u.  dgl.  mehr. 

Weniger  beachtet  wurde  bisher  der  umge- 
kehrte Einfluß,  der  natürlich  auch  nicht  ausbleibt. 
—  D.  h.  wohl  wird  überall  beschrieben,  daß 
Bruchstücke  des  anstehenden  Gesteines,  natürlich 
gleichfalls  in  der  angedeuteten  Weise  umgewan- 
delt, in  der  Schmelzmasse  eingebettet  sich  finden, 
seltener  jedoch  von  einer  Veränderung  dieser 
selbst  durch  die  Berührung  gesprochen.  Und 
doch  ist  anzunehmen,  daß  ein  derartiger  Einfluß 
vorhanden  sein  muß.  Und  wirklich  dergleichen 
Fälle  sind  bekannt.  Selbst  der  Fall  ist  beobachtet, 
daß  so  viel  von  den  anstoßenden  Gesteine  ab- 
geschmolzen und  mit  der  Schmelzmasse  vermischt 
wird,  daß  dadurch  eine  wesentliche  Veränderung 
in  deren  Zusammensetzung  und  durch  diese 
Resorption  schließlich  ein  wesentlich  differenziertes 
Erstarrungsgestein  aus  dieser  Mengung  hervor- 
gegangen ist.  Dafür  stehen  zuverlässige  Daten 
zur  Verfügung.  Um  so  mehr  aber  erscheint  es 
als  eine  Konsequenz  aller  unserer  auf  dieses  Ge- 
biet bezüglichen  Anschauungen,  daß  solche  Ein- 
dringlinge unter  Umständen  auf  die  Anregung  zur 
Erstkristallisation  gewisser  Mineralien  wirken 
müssen,  deren  Ausbildung  dem  vorhin  erwähnten 
Diffusionsstrome  der  chemischen  Körper,  die  an 
dem  Aufbau  dieser  Mineralien  sich  beteiligen,  zum 
Zielpunkte  dient.  Ist  doch  bekannt,  dal3  man  in 
übersättigten  Lösungen  von  Gemischen  von  ver- 
schiedenen chemischen  Stoffen  durch  „Impfen" 
(mit  dem,  den  man  zu  haben  wünscht)  die  Kristalli- 
sation dieses  zwingen  kann,  ja,  daß  man  in  Labo- 
ratorien, in  denen  man  aus  einem  gemischten  Syrup 
Fruchtzucker  erzielen  will,  den  unsichtbaren  Staub 
von  Traubenzucker  (als  Aussaat  in  der  unwillkom- 
menen Richtung)  meiden  muß  genau  wie  Wund- 
fieberkeime enthaltende  Luft  in  einem  Operations- 
raume. 

Es  handelt  sich  einfach  darum,  die  Konse- 
quenzen dieser  Erscheinungen  für  die  Erstarrungs- 
vorgänge der  Gesteine  zu  ziehen,  und  wirklich 
sind  gewisse  Anzeichen  dafür  vorhanden,  daß 
gerade  bei  der  Berührung  zweier  ungleichartigen 
Gesteine  bei  hohen  Temperaturen  das  eine  durch 
die  Struktur  des  anderen  —  angesteckt  wird. 
Aber  so  weit  brauchen  wir  nicht  einmal  zu  gehen 
und  wollen  es  nicht,  weil  auch  hier  noch  zu  viel 
F'ußangeln  und  Selbstschüsse  liegen  und  zu  wenig 
Tatsächliches  auf  dem  Gebiete  bekannt  (wenig- 
stens uns)  ist.  Aber  der  naheliegende  Schluß 
ist  doch  wohl  erlaubt,  daß,  wenn  auch  in  den 
anstehenden  geschichteten  Gesteinen,  die  ja  in  der 
Geschichte  ihres  Entstehens  schon  tiefgreifende 
Verwitterungsprozesse  durchgemacht  haben,  auch 
gewöhnlich  keine  Mineralien  mehr  vorhanden  sind, 
die  als  Impfstoff  im  eben  angedeuteten  Sinne 
wirken  können,  doch  die  bloße  lokale  Anreiche- 
rung an  Kieselsäure  aus  einem  benachbarten 
Sandsteine,  an  Ton  aus  einem  Schiefer,  an  Kalk 
aus  einer  nach  diesem  Stoffe  genannten  Gebirgs- 
art  Veranlassung  geben  kann  zu  der  Bildung  eines 


502 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  32 


besonderen  Minerals,  dessen  Entstehen  der  Aus- 
gangspunkt für  den  Differenzierungsprozeß  abgibt, 
mit  dem  wir  es  hier  zu  tun  haben.  Und  bei 
dieser  Überlegung  steht  die  nicht  wegzuleugnende 
Tatsache  vor  Augen,  daß  die  neueren  basischen 
Gesteine,  die  Basalte  und  Dolerite,  reicher  an 
Augit,  die  älteren  Syenite,  M  Gabbros  und  Diorite 
im  allgemeinen  reicher  an  Hornblende  sind.  Augit 
aber  ist  das  kalkreichere  IVIineral,  und  es  könnte 
gar  wohl  zur  Ausbildung  dieses  aus  ein  und  der- 
selben Schmelzmasse  durch  die  lokale  Zufügung 
von  etwas  Kalk  Veranlassung  gegeben  werden. 
Und  die  Tatsache  des  stärkeren  Überwiegens 
des  Augits  in  den  neueren  Erstarrungsgesteinen 
wäre  dann  zusammenzuhalten  mit  der  anderen 
Tatsache,  daß  Kalkgebirge  unter  den  geschichteten 
Gesteinen  erst  auftreten  nach  Auftreten  einer 
Organismenwelt,  die  sich  aus  dem  kohlensauren 
Kalke  ihre  Panzer  baut,  also  nicht  zu  Anfang  der 
Erdgeschichte,  wo  vielmehr  eine  Erstarrungsmasse 
nur  Aussicht  hatte,  außer  mit  erstarrten  Gesteinen 
von  verwandter  Zusammensetzung  mit  mehr 
kieseligen  oder  tonigen  Gesteinen  in  Berührung 
zu  kommen,  während  der  bei  d.-r  Verwitterung 
ausgelaugte  Kalk  gewiß  zum  größten  Teile  noch 
Bestandteil  des  Weltmeeres  war. 

Und  nun  kommen  allerdings  Einwürfe,  die  für 
das  eben  Entwickelte  vernichtend  zu  sein  scheinen. 
Die  sich  in  der  Wissenschaft  häufenden  Erfahrun- 
gen haben  neuerdings  den  Satz  erschüttert  von 
der  Regel  des  sauren  Kerns  und  der  basischen 
Randfazies.  Es  gibt  auch  eine  Reihe  von  umge- 
kehrten Fällen :  in  Amerika,  in  den  südlichen 
Alpen,  überall.  Auch  die  Hilfsh)-pothese,  von  der 
wir  ausgegangen  sind,  ist  unsicher.  Ich  meine 
die  Reihenfolge  der  zuerst  kristallisierenden  Mine- 
ralien. Es  gibt  auch  Ausnahmen  von  dieser 
Regel.  Es  gibt  auch  Fälle,  wo  die  Feldspäte  zu- 
erst kristallisiert  sind  vor  den  schwarzen  basischen 
Mineralien.  Das  Studium  der  Dünnschliffe  zeigt 
das  deutlich. 

Aber  gerade  weil  dies  alles  noch  unsicher 
ist,  ist  freilich  nichts  bewiesen  aber  auch  nichts 
widerlegt.  Es  fragt  sich  nun,  ob  sich  das  eine 
mit  dem  anderen  kombinieren  ließe,  so  daß  die 
Sache  in  allen  Phallen  zum  klappen  kommt.  In 
jedem  Falle  ist  ein  neues  Erklärungsprinzip  aufge- 
stellt, um  das  sich  die  Tatsachen  grui)pieren 
können,  und  das  unwiderstehlich  neue,  entscheidende 
Tatsachen  hervorlockt. 

Natürlich  wird  es  nicht  genau  so  gewesen  sein, 
wie  wir  es  uns  hier  vorstellen;  aber  etwas  der  Art, 
wie  wir  es  uns  vorstellen,  muß  gewesen  sein.    Es 


gibt  also  voraussichtlich    für    die   Verschiedenheit 
der  Erstarrungsgesteine  eine  ganze  Reihe  von  Ur- 
sachen :  Temperaturdifferenzen  einer  empordrängen- 
den Erstarrungsmasse  zwischen  außen  und  innen, 
die  spezifische  Anregung  durch  das  Kontaktgestein 
zu    ganz    bestimmten    Mineralindividuen,    wodurch 
eine  Wanderungstendenz  der  zuerst  sich  verfestigen- 
den  Verbindungen    angeregt    wird.      So    ist    doch 
vielleicht  die  große  Mannigfaltigkeit  der  Erstarrungs- 
gesteine  bei    der    großen  Anzahl  von  chemischen 
Körpern,  die  das  Magma  enthält,    und   mit  deren 
Potenz  die  Anzahl  von  möglichen  Mineralien  wächst, 
erklärlich    auch    bei   dem  Ausgang  von  einer  ein- 
heitlichen Urschmelzmasse.     Diese   kann    der  Zu- 
sammensetzung des  Granits  ähnlich  gewesen  sein 
mit    einer   Abweichung    nach    den    basischen    Ge- 
steinen zu,  wiewohl  keineswegs  ein  arithmetisches 
Mittel    zwischen    den    äußersten    Typen,    da    der 
Granit    in    seiner    gesamten    Masse    den    anderen 
und  namentlich  den  basischen  Gesteinen  gegenüber 
so  ungeheuer  erscheint,  und  auch  theoretisch  klar 
ist,    daß    diese    letzteren    sich    in    ihrer   Masse   zu 
jenem  Verhalten    müssen  etwa  wie  die  Schale  zu 
dem   Kern,  von    denen  wir  Bewohner   der  Schale 
nur  immer  relativ  viel  von  dieser  ansichtig  werden. 
Dazu    ist  dann  die  Komjilikation  zu  beachten, 
die  die  Stübel'schen    und  ähnliche   z.  T.  ältere, 
z.  T.    neuere  Anschauungen,   für    welche    der    ge- 
nannte Geologe   gern    seinen  Namen  lieh,    in    das 
Verständnis  des  Vulkanismus  hineingebracht  hatten. 
Die   Eruptionen,   aus   denen    die    neuen    Gesteine 
entstehen,  geschehen  nicht  mehr,  wie  man  früher 
glaubte,  aus  dem  allgemeinen  zentralen  P'euerherde 
des  Erdinnern,   sondern  aus  kleinen,    zwischen  er- 
starrten Gesteinen  eingeschlossenen  Magmaherden, 
und  die  Eruption  erfolgt  nicht  so  sehr  unter  dem 
Druck    der    sich    zusammenziehenden    Erdkruste, 
sondern    durch   den   des  gerade  erstarrenden  und 
dabei  sich  ausdehnenden  Magmas,    oder  vielmehr 
durch  komplizierte  physikalische  Reaktionen,  über 
deren    Mitwirkung    die    Wissenschaft    noch    nicht 
entschieden  hat  ^),  wodurch  der  noch  flüssige  Teil 
partiell  ausgepreßt  wird.     Durch  diese  Komplika- 
tion und  durch  die  allseitige  Berührung  der  Lava 
mit  sehr  verschiedenen  Erstarrungs-  und  geschich- 
teten   Gesteinen    entstehen    so    viel    verschiedene 
Möglichkeiten,    daß  wir    uns  nicht  mehr  wundern 
dürfen    über    das    überaus    bunte    Bild,    das    eine 
Sammlung    der  verschiedenen  Erstarrungsgesleine 
uns  darbietet. 


')  Obgleich  es  auch  junge  Syenite  usw.  gibt. 


')  Namentlich  kommt  hierfür  das  bekannte  Henry 'sehe 
Gasabsorplionsgesetz  in  Betracht,  aus  dem  zu  berechnen  ist, 
bei  welciicn  Temperaturen  und  Drucken  Gasabscheidungen 
stattlinden  müssen,  um  ihrerseits  Druckerhöliungen  zu  liefern, 
die   als  vulkanische  Kraft  in   Betracht  kommen. 


Einzelberichte. 


Botanik. 


Die    mechanischen    Eieenschaften 


der  Pflanzengewebe.    W.  Rasdorsky  hat  die  bis- 
herigen   Untersuchungen    über   die   mechanischen 


Eigenschaften  der  Pflanzengewebe,  die  in  den  be- 
rühmten Arbeiten  Schwendener's  ihren  Aus- 
gangspunkt und  ihre  Grundlage  haben,  einer  kriti- 


N.  F.  XIII.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


503 


sehen  Prüfung  unterworfen.  Dabei  ist  er  einmal  zu 
dem  Ergebnis  gekommen,  daß  die  bisherigen  Ver- 
suche lückeniiaft  sind,  da  nur  der  Widerstand  auf  Zug 
und  auch  dieser  nur  bei  dem  eigentlich  mechanisciien 
Gewebe  (Stereom)  eine  eingehende  Untersuchung 
erfahren  hat.  Sodann  findet  er  die  Grundlagen 
unzureichend,  auf  denen  die  drei  S  c  h  w  e  n  d  e  n  e  r  - 
sehen  Regeln  ruhen:  i.  Das  Tragvermögen  des 
Bastes  bei  der  Elastizitätsgienze  ist  selbst  dem 
Schmiedeeisen  und  in  den  besten  Fällen  sogar 
dem  Stahl  ebenbürtig;  2.  der  Bast  unterscheidet 
sich  aber  von  den  Metallen  durch  die  ungleich 
größere  Dehnbarkeit  und  durch  den  Umstand,  daß 
3.  zwischen  Tragmodul  und  Pestigkeitsmodul  des 
Bastes  (d.  h.  zwischen  den  Zugkräften,  die  bloß 
eine  Verlängerung  bis  zur  Elastizitätsgrenze,  und 
denen,  die  ein  sofortiges  Zerreißen  bewirken)  eine 
ganz  geringe  Differenz  vorhanden  ist.  Die  bisherigen 
Versuchseinrichtungen  zur  Bestimmung  des  Zug- 
widerstandes sind,  wie  Rasdorsky  im  Verein 
mit  J.  A.  K  a  1  i  n  n  i  k  o  w  ausführt,  zu  unvollkommen 
gewesen,  um  die  Aufstellung  allgemeiner  Sätze 
zu  rechtfertigen.  Der  Festigkeitsmodul  und  die 
Ausdehnung  der  mechanischen  Gewebe  sind  infolge 
der  Beschädigung  der  geprüften  Pflanzenteile  durch 
die  Klemmen,  in  die  sie  eingespannt  wurden,  kleiner 
als  es  in  Wirklichkeit  der  Fall  ist.  Eine  genaue 
Bestimmung  der  Elastizitätsgrenze  ist  nach  dem 
bisherigen  Verfahren  der  „mittelbaren"  Bestimmung 
der  Längenänderung  nicht  möglich,  da  sie  auf  der 
Bestimmung  der  Längenänderung  zwischen  zwei 
Marken  auf  den  Klemmen  beruht,  wobei  insbe- 
sondere das  Herausrücken  des  Probestückes  aus 
den  Klemmen  nicht  berücksichtigt  wird.  Um 
diese  Übelstände  zu  beseitigen,  halDcn  die  beiden 
Moskauer  Herren  sowohl  die  Längenänderungen 
unmittelbar  gemessen  mit  Hilfe  von  Apparaten, 
deren  einer  (von  Kalinnikow  konstruiert)  die 
Messung  größerer  Längeiiänderungen  mit  einer 
Genauigkeit  von  i/j^  mm  gestattete,  als  auch 
den  Probestücken  eine  Form  gegeben,  durch  die 
die  erwähnte  schädliche  Wirkung  der  Klemmen 
beseitigt  (Köpfchen  an  beiden  Enden),  sowie  eine 
ungleiche  Beanspruchung  der  Probestücke  ver- 
mieden wurde  (möglichst  großer  Querschnitt). 
Die  genaue  Messung  der  Zugbelastung  war 
durch  Benutzung  der  in  der  technischen  Hoch- 
schule in  Moskau  vorhandenen  Maschinen  gesichert. 
Eine  sorgfältige  Bestimmung  der  Querschnitts- 
fläche der  Stereidenwände  in  den  untersuchten 
Pflanzenobjekten  mit  Hilfe  des  Zeichenapparates 
und  eines  Zeiß'schen  Projektionsapparates  vervoll- 
ständigte die  experimentellen  Maßnahmen.  Die 
Zugversuche  wurden  an  Blattstielen  und  Blatt- 
spreiten von  Palmen,  an  den  Blättern  von  Phor- 
mium  tenax  und  Pandanus,  dem  Stengel  von 
Cyperus  Papyrus  und  einjährigen  Stengeln  einiger 
dikotylen  Pflanzen  vorgenommen.  Bei  der  Ver- 
gleichung  der  an  Phormium  tenax  erhaltenen  Re- 
sultate mit  den  von  Schwendener  und  andern 
für  diese  Pflanze  gewonnenen  Zahlen  ergibt  sich, 
daß    die  Zugfestigkeit    und  die  Normaldehnung  2 


und  I  ','2  mal  so  groß  erhalten  wurden  als  bei  den 
früheren  Versuchen.  Bezüglich  des  Verhältnisses 
der  mechanischen  Eigenschaften  der  Stereiden  zu 
denen  des  Pilsens  und  Stahls  stellen  die  Ver- 
fasser folgendes  fest:  Die  mechanischen  Gewebe 
der  Pflanzen  im  frischen  Zustande  geben  an  Zue- 
festigkeit  durchschnittlich  dem  Schmiede-  und 
Plußeisen  wenig  nach,  in  einzelnen  Pällen  aber 
kommen  sie  dem  Stahl  nahe.  Die  Zähigkeit 
(Duktilität),  die  durch  die  Fähigkeit  des  Materials, 
beim  Bruch  dauernde  Verlängerungen  zu  geben, 
charakterisiert  und  durch  die  Größe  der  nach  dem 
Bruch  verbleibenden  Dehnung  des  Probestücks 
gemessen  wird,  ist  bei  den  Pflanzengeweben  im 
Vergleich  mit  Eisen  und  Stahl  äußerst  gering. 
Andererseits  unterscheiden  sie  sich  durch  ihre 
sehr  große  Elastizität  von  diesen  Metallen.  Die 
Elastizitätsgrenze  nimmt  wahrscheinlich  in  bezug 
auf  den  Zugfestigkeitskoeffizienten  bei  den  in 
Warmhäusern  kultivierten  und  den  unter  natür- 
lichen Bedingungen  wachsenden  Pflanzen  eine 
verschiedene  Lage  an.  —  Die  Stereiden  in  den 
verschiedenen  Strecken  des  Blattstiels  und  der 
Blattstiele  zeigen  ungleiche  mechanische  Eigen- 
schaften, die  z.  B.  bei  den  Blattstielen  der  Palmen 
eine  Beziehung  zu  ihrer  Beanspruchung  unter  der 
Einwirkung  starker  Winde  erkennen  lassen.  (Bulle- 
tin de  la  Soc.  imper.  des  Naturalistes  des  Moscou, 
Annee  191 1,  N.  S.,  T.  25,  p.  351  —  523,  Moskau 
1913.     In  deutscher  Sprache).  F.  Moewes. 

Zoologie.  Zur  Frage  der  konjugierenden  und 
nichtkonjugierenden  Rassen  von  Paramäcium.  — 
Die  Veröffentlichungen  Jennings',  die  kürzlich 
an  dieser  Stelle  schon  besprochen  wurden,  haben 
einer  Gruppe  der  ziliaten  Infusorien,  den  Paramä- 
cien,  allgemeines  Interesse  zugewendet.  In  neuester 
Zeit  sind  zwei  Mitteilungen  von  Woodruff 
erschienen,  die  unerwartet  neue  und  wichtige  Ge- 
sichtspunkte speziell  über  die  Konjugation  dieser 
Tiere  bringen. 

Es  ist  eine  bekannte  Tatsache,  daß  die  Para- 
mäcien  sich  unter  gewissen  künstlichen  Bedingungen 
oft  sehr  leicht  zur  Konjugation  bringen  lassen, 
und  daß  andererseits,  oft  bei  gleichen  Bedingungen, 
jeder  Versuch,  sie  zur  Konjugation  zu  bringen, 
vollkommen  erfolglos  bleibt.  Jennings  schreibt 
dieses  Verhalten  den  Rassenunterschieden  zu : 
„Some  races  conjugate  frequently  and  under  con- 
ditions  readily  supplied  in  experimentation.  Others, 
under  the  same  conditions,  conjugate  very  rarely 
or  not  at  all".  '■) 

Diese  Veränderlichkeit  der  Konjugationstendenz 
hatCalkins  zu  der  Äußerung  veranlaßt,  daß  „die 
übliche  Annahme,  daß  jedes  Paramäcium  eine 
potentielle  Keimzelle  ist,  nicht  richtig  ist".  Er 
vermutet,  daß  es  Paramäcienrassen  gibt,  die  unter 
keinen  Umständen  konjugieren,  und  überhaupt 
ihre    Konjugationsfähigkeit    verloren    haben,    also 

')  Einige  Rassen  konjugieren  häufig  und  unter  im  Experi- 
ment leicht  zu  beschaffenden  Bedingungen.  Andere  lionjugieren 
unter  gleichen  Bedingungen  sehr  selten  oder  gar  nicht. 


504 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  32 


rein  somatische  ungeschlechtliche  Zellen  darstellen. 
Woodruff  bestätigte  anfangs  diese  Ansicht,  da 
er  eine  Paramäcienrasse,  die  von  einem  einzigen 
Individuum  stammte,  über  6^/4  Jahre  kultivierte, 
ohne  sie  zur  Konjugation  zwingen  zu  können. 
Eine  neue  Serie  von  Experimenten  jedoch,  die 
am  12.  Januar  1913  mit  der  4162.  Generation 
dieser  Tiere  begonnen  wurde,  lieferte  unerwatteter- 
weise  mehrere  Konjugationspärchen.  Cytologische 
Untersuchungen  der  Präparate  von  konservierten 
Tieren  dieser  Rasse  brachten  weitere  Klärung  der 
Tatsachen.  Es  stellte  sich  nämlich  heraus,  daß 
bei  Paramäcien,  die  von  der  normalen  Konjugation 
durch  irgendwelche  unbekannten  äußeren  Lebens- 
bedingungen abgehalten  werden,  eine  vollstän- 
dige Reorganisation  des  gesamten 
Kernapparates  und  vor  allem  der  Neuaufbau 
des  großen  vegetativen  Kerns  (Makronukleus)  mit 
Hilfe  gewisser  Veränderungen  an  dem  kleinen  ge- 
schlechtlichen Kern  (Mikronukleus),  innerhalb 
eines  einzigen  Individuums  stattfinden 
kann!  Ein  Prozeß,  der  in  seinem  Resultat  voll- 
ständig der  Konjugation  äquivalent  zu  setzen  wäre! 
—  Auf  diese  Weise  scheint  also  die  alte,  in  der 
letzten  Zeit  von  verschiedenen  Seiten  sehr  heftig 
angefochtene  Annahme  R.  Hertwig's,  daß  das 
Endziel  der  Konjugation  in  einer  Reorganisation 
und  damit  in  einer  Auffrischung  sämtlicher  Lebens- 
funktionen der  tierischen  Zelle  bestehe,  wieder 
zur  Geltung  zu  kommen;  im  Gegensatz  zu  Jen- 
nings,  der  zu  behaupten  geneigt  ist,  daß  das 
Endziel  der  Konjugation  in  der  Vereinigung  der 
Anlagen  zweier  Individuen  und  dadurch  in  einer 
eventuellen  Verbesserung  der  Rasse  beruhe. 

Durch  diese  Ergebnisse  wäre  uns  aber  auch 
die  Möglichkeit  genommen,  an  normalen  Paramä- 
cien zu  beweisen,  daß  diese  Reorganisation,  diese, 
wie  man  oft  sagt,  Verjüngung  des  gesamten  tierischen 
Apparates,  unter  Umständen  für  ihre  Lebensfähig- 
keit nicht  unbedingt  notwendig  wäre,  d.  h.  zu  be- 
weisen, daß  die  Paramäcien  sich  auf  einem  rein 
vegetativen  Wege,  durch  unzählige  Generationen 
hindurch,  vermehren  können. 

Um  dieser  Frage  näher  zu  treten,  muß  man 
sich  einer  komplizierten  Experimentanordnung  be- 
dienen, und  die  Funktion  des  in  dieser  Richtung 
tätigen  Faktors,  des  geschlechtlichen  IVlikronukleus, 
paralysieren.  Um  dies  zu  erreichen,  habe  ich  schon 
im  April  191 3  Radium  angewendet.  Mit  Hilfe 
günstig  konstellierter  Radiumbestrahlungen  gelang 
es  mir  auch  (wie  schon  Herr  Geheimrat  Prof. 
Boveri  in  einem  Vortrag  in  der  physikalisch- 
medizinischen Gesellschaft  Würzbürg  im  November 
1913  berichtete),  die  chromatischen  Teile  des 
Mikronukleus,  die  allein  als  Träger  der  geschlecht- 
lichen Funktion  gelten,  zu  vernichten,  ohne  den 
Makronukleus  oder  das  Plasma  im  geringsten  zu 
schädigen.  Die  gemischten  Kulturen  und  die 
reinen  Linien,  die  von  so  bestrahlten  Tieren 
stammen,  gedeihen  bis  jetzt  (Juni  1914),  ohne  daß 
ich  sie,  trotz  der  sorgfältigsten  Versuche,  zur 
Konjugation    veranlassen   konnte.     Voraussichtlich 


wird  mir  dies  auch  nicht  gelingen,  da  die  Zellen  be- 
kanntlich nicht  imstande  sind,  das  Idiochromatin, 
und  von  einem  solchen  wäre  hier  hauptsächlich 
die  Rede,  zu  regenerieren.  Es  ist  nur  die  Frage, 
ob  die  Lebensdauer  dieser  Kulturen  beschränkt 
ist,  was  sich  in  der  Folge  ja  noch  ergeben  wird. 
Literatur. 

Woodruff:  So-called  Conjugaling  and  non-Conjugating 
Races  of  Paramaecium. 

Rcprinted  from  The  Journal  of  Experimental  Zoology 
Vol.   16,  Nr.  2,    ]9i4. 

Woodruff  and  Erdmann:  Complete  periodic  nuclear 
reorganization  wilhout  cell  fusion  in  a  pedigreed  race  of 
Paramaecium. 

Reprinted  from  tlie  Proceedings  of  the  society  for  Ex- 
perimental Biologie  and  Medicine,  Vol.  XI,  Nr.  3,   1914. 

Dr.  L.  V.  Dobkiewicz  (Würzburg). 

Geologie.  Die  preußische  Geologische  Landes- 
anstalt beging  am  29.  November  1913  das  Fest 
ihres  40jährigen  Bestehens,  verbunden  mit  der 
Einweihung  des  Erweiterungsbaues  ihres  Dienst- 
gebäudes, wobei  ihr  derzeitiger  Direktor,  Geh. 
Oberbergrat  Professor  Dr.  F.  Beyschlag  die 
Festrede  hielt  über  Entwicklung  und  Leistun- 
gen, Aufgaben    und  Ziele  der  Anstalt.') 

Anfänglich  ein  bescheidenes  Institut  mit  19 
Beamten,  wurden  mit  dem  raschen  Fortschreiten 
von  Wissenschaft  und  Technik  wie  auch  der  wirt- 
schaftlichen Verhältnisse  zahlreiche  Erweiterungen 
und  Ergänzungen  der  ursprünglichen  Aufgaben 
nötig,  die  einen  fortwährenden  Ausbau  zur  Folge 
hatten,  so  daß  der  heutigen  Landesanstalt  mit 
ca.  170  Beamten  und  einem  Etat  von  900000  Mk. 
eine  führende  Rolle  unter  den  Schwesteranstalten 
der  Welt  zukommt. 

Die  Haupttätigkeit  einer  geologischen  Landes- 
anstalt liegt  naturgemäß  in  der  Herstellung  einer 
geologischen  Karte.  Bereits  1866  begann 
man  als  Grundlage  der  aufzunehmenden  und  zu 
veröffentlichenden  Kartenblätter  den  Maßstab 
1:25000  der  Meßtischblätter  des  Generalstabes 
zu  benutzen.  Damals  war  die  topographische 
Unterläge  nicht  selten  mangelhaft,  was  die  geolo- 
gische Arbeit  wesentlich  erschwerte. 

Das  Gesamtaufnahmegebiet  wird  in  das  Ge- 
birgsland  (Mitteldeutschland)  und  das  Flachland 
(norddeutsche  Tiefebene)  geschieden. 

Am  weitesten  vorangeschritten  sind  die  Ge- 
birgslandsaufn ahmen.  Von  den  insgesamt 
veröffentlichten  93 1  Blättern  im  Maßstab  1:25000 
entfallen  allein  406  auf  dieses  Gebiet,  ebenso  auch 
die  Mehrzahl  der  Übersichtskarten.  Kartierung 
und  Sammlung  von  Belegmaterial  waren  anfangs 
die  alleinigen  Aufgaben.  Allmählich  ging  man 
auch  zu  vergleichenden  Untersuchungen  der  ein- 
zelnen Gebiete  Mitteldeutschlands  über.  Außer- 
ordentliche Schwierigkeiten  bereiteten  infolge  der 
Zerrissenheit  des  Schichtenbaues  und  der  vielfach 


')  F.  Beyschlag,  Die  preußische  Geologische  Landes- 
anstalt. Entwicklung  und  Leistungen,  Aufgaben  und  Ziele. 
P'estrede  am  29.  XI.  1913.  Zeitschrift  für  praktische  Geologie, 
1914,  H.   I,  S.  22. 


N.  F.  XIII.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


505 


eintönigen  Gesteinsbeschaffenheit  das  Rheinische 
Schiefergebirge,  der  Harz  und  das  Niederschlesische 
Schiefergebirge.  Die  anderen  Gebiete  boten  ein 
verhältnismäßig  klareres  Bild.  Doch  immerfort 
beginnt  sich  auch  in  den  strittigen  Gebieten  das 
Bild  zu  klären  und  man  darf  unumwunden  zuge- 
stehen, daß  Großes  getan  ist.  Von  außerordent- 
licher volkswirtschaftlicher  Bedeutung  waren  die 
Gebiete  des  Steinkohlen-,  Braunkohlen-  und  Salz- 
bergbaues, die  auch  der  Hauptsache  nach  unter- 
sucht und  veröffentlicht  sind. 

p"ür  die  Flach  landsau  fnahmen  war  der 
wenige  Jahre  nach  der  Gründung  am  3.  November 
1875  zu  Berlin  in  der  Deutschen  Geologischen 
Gesellschaft  gehaltene  Vortrag  Otto  Torrel's 
von  weittragender  Bedeutung.  Torr  eil  erklärte 
den  im  norddeutschen  Flachlande  weit  verbreiteten 
Geschiebemergel  als  Grundmoräne  des  aus  seiner 
skandinavischen  Heimat  stammenden  flächenhaften 
Inlandeises,  das  er  an  den  Gletscherschrammen 
der  Rüdersdorfer  Kalkberge  zu  beweisen  vermochte. 
Damit  fiel  die  alte  Drifttheorie  (Verfrachtung  durch 
kalbende  Gletscher).  Rasch  wurden  die  Urstrom- 
täler Norddeutschlands  als  Randgewässer  des 
einstigen  Binneneises  gedeutet,  die  weithin  zu- 
sammenhängenden Endmoränenzüge  als  Stillstands- 
lagen des  Eises  erkannt.  Schwieriger  indessen 
arbeitete  sich  die  Erkenntnis  verschiedenaltriger 
Glazialablagerungen  durch,  wenngleich  heute  die 
Vorstellung  einer  dreimaligen  diluvialen  Ver- 
gletscherung Norddeutschlands  eine  fast  allgemeine 
ist.  Mancherlei  Schwierigkeiten  dürften  die  viel- 
fachen Oszillationen  und  Schwankungen  des  sich 
zurückziehenden  Eises  und  die  dabei  unter  wech- 
selnden klimatischen  Bedingungen  entstandenen 
interglazialen  und  interstadialen  Faunen  und  Floren 
bieten.  Die  weitere  Festlegung  der  interglazialen 
Meerestransgressionen  in  Westpreußen  wie  der 
jüngeren  Meeresüberflutung  des  südlichen  Holstein 
und  Hannovers  harrt  noch  der  Lösung.  Tekto- 
nische  Erdbewegungen  zur  Diluvialzeit  haben  dazu 
noch  das  Bild  verwirrt.  Die  Beziehungen  zwischen 
den  Ablagerungen  vergletscherter  Gebiete  und 
gleichzeitigen  eisfreien  Ablagerungen  sind  weiter- 
hin festzustellen.  Für  die  Geschichte  der  Ost- 
und  Nordsee  ist  von  einer  sorgfältigen  und  aus- 
gedehnten Grundprobenuntersuchung  wichtige 
Förderung  zu  erwarten.  Die  Aufklärung  des  Fels- 
gerüstes des  norddeutschen  Flachlandes  bleibt 
eine  der  größten  Aufgaben.  Es  ist  sehr  wahr- 
scheinlich, daß  mancherorts  unter  der  Bedeckung 
von  Tertiär  und  Quartär  aus  der  weiten  Kreide- 
bedeckung Salzpfeiler  wie  in  der  Lüneburger 
Heide  und  Mecklenburg  oder  bei  Hohensalza  in 
bergmännisch  erreichbare  Höhen  aufragen. 

Von  besonderer  Bedeutung  sind  die  Flachlands- 
karten (geologisch  -  agronomische  Karten)  für  die 
Land-  und  F"orstwi  rtschaft.  Durch  Fest- 
stellung des  Bodenprofils  bis  zu  2  m  Tiefe  wird 
auf  einem  Meßtischblatt  in  mehreren  Tausend 
2  m  -  Bohrungen  der  Befund  der  Oberflächen- 
kartierung   vervollständigt.     Damit   der   Landwirt 


in  das  richtige  Verhältnis  zur  geologisch-agrono- 
mischen Karte  kommt,  ist  alljährlich  eine  Aus- 
bildung von  Kulturtechnikern  in  bodenkundlichen 
Aufnahmen  geplant,  die  alsdann  in  der  Praxis  die 
Karten  dem  Landwirt  verständlicher  machen  sollen. 

In  den  letzten  Jahren  erschienen  jährlich  40 
Kartenblätter  und  in  den  nächsten  Jahren 
sollen  45  Blätter  erscheinen. 

Alljährlich  werden  in  2  Jahrbuchsbänden 
und  zahlreichen  größeren  Abhandlungen,  von 
denen  bisher  über  lOO  erschienen  sind,  die  Er- 
gebnisse geologischer,  paläontologischer  und  petro- 
graphischer  Forschung  niedergelegt. 

Arbeiten,  die  sich  mit  der  Schilderung  der 
Lagerstätten  nutzbarer  Mineralien  befassen ,  sind 
unter  dem  Titel  „Archiv  für  Lagerstätten- 
Forschung"  zusammengefaßt. 

Die  immer  weiter  wachsende  Inanspruchnahme 
der  Geologischen  Landesanstalt  durch  das  Reichs- 
kolonialamt und  aus  den  deutschen  Kolonien  führte 
zur  Gründung  einer  besonderen  vom  Reich  sub- 
ventionierten Abteilung  unter  dem  Namen  „Geo- 
logische Zentralstelle  für  die  deut- 
schen Schutzgebiete". 

Außerordentlicher  Wertschätzung  erfreut  sich 
die  Geologische  Landesanstalt  im  Ausland.  Der 
Internationale  Geologenkongreß  zu  Bologna  im 
Jahre  1881  beauftiagte  die  damaligen  Direktoren 
der  Kgl.  Preußischen  Geologischen  Landesanstalt 
Hauchecorne  und  Beyrich  mit  der  Bear- 
beitung und  Herausgabe  einer  geologischen 
Karte  von  Europa  (i  :  i  500000),  die  nunmehr 
nach  30jähriger  Arbeit  unter  alleiniger  Leitung 
von  Geh.  Oberbergrat  Prof  Dr.  Beyschlag  im 
Herbst  191 3  vollendet  wurde.  In  ihrer  schmucken 
Ausführung  mit  ihren  farbenprächtigen  Tönen 
gibt  sie  einen  guten  Überblick  der  geologischen 
Verhältnisse  von  Europa.  Die  das  zentrale  Europa 
darstellenden  Blätter  sind  bereits  für  eine  2.  .'\uf- 
lage  vorbereitet.  Eine  noch  größere  Ehre  wurde 
Geh.  Oberbergrat  Beyschlag  und  damit  der 
Geologischen  Landesanstalt  vom  Internationalen 
Geologenkongreß  zu  Stockholm  19 10  zuteil  durch 
Übertragung  der  Herstellung  einer  inter- 
nationalen geologischen  Karte  der  Erde 
(i  :  5000000),  eine  hohe  Anerkennung  deutscher 
Arbeit,  die  nicht  ohne  Neid  geblieben  ist. 

Das  bei  den  Aufnahmen  gewonnene  Material 
gelangt  im  Geologischen  Landesmuseum 
zur  Aufstellung  (Erweiterung  desselben  nach  Frei- 
gabe der  Räume  der  Bergakademie).  Einerseits 
soll  es  ein  Belegmaterial  der  gedruckten  Arbeiten 
sein,  andererseits  mit  einer  gewissen  Auswahl  der 
Belehrung  des  Publikums  dienen.  An  die  strati- 
graphische  und  nach  Landschaften  geordnete 
Heimatsammlung  schließt  sich  die  paläontologische 
Vergleichssammlung  mit  den  für  die  Bearbeitung 
der  heimischen  Objekte  nötigen  fremdländischen 
Vorkommen  an,  daran  die  paläobotanische  Samm- 
lung hauptsächlich  mit  den  Floren  unserer  Stein- 
kohlen- und  Braunkohlengebiete,  dann  die  Samm- 
lung der  Lagerstätten  nutzbarer  Mineralien,  wobei 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  32 


das  ausländische  Vergleichsmaterial  dem  heimi- 
schen zwischengeordnet  ist,  endlich  eine  Bau- 
materialiensanimlung  und  schließlich  die  Samm- 
lung aus  den  deutschen  Schutzgebieten.  Weiter- 
hin soll  auch  die  wissenschaftliche  und  praktische 
Tätigkeit  der  Geologischen  Landesanstalt  veran- 
schaulicht werden. 

Neben  der  rein  wissenschaftlichen  Tätigkeit 
hat  die  Geologische  Landesanstalt  auch  prakti- 
schen Interessen  zu  dienen  zur  Wohlfahrt  und 
Förderung  unseres  Vaterlandes,  ohne  indessen  in 
wirtschaftliche  Abhängigkeit  irgendwelcher  Unter- 
nehmen zu  geraten.  Im  letzten  Jahrzehnt  hat 
sich  die  Zahl  der  amtlich  gelösten  praktischen 
Arbeiten  wesentlich  gesteigert.  (Gutachten  für 
Wasserversorgungsprojekte,  Talsperren,  Stau- 
anlagen, Heilquellen,  Wasser-  und  Kanalbauten, 
Eisenbahn-  und  Tunnelbauten,  bergbauliche  Unter- 
nehmungen.) 

Die  Rolle  Deutschlands  in  der  Weltwirtschaft 
zwingt  zu  einer  kritischen  Beobachtung  aller  die 
mineralische  Urproduktion  der  übrigen  Länder  be- 
treffenden Vorgänge.  In  diesem  Jahre  ist  die 
Herausgabe  einer  mit  lehrreichen  graphischen  Dar- 
stellungen ausgestatteten  Wel  t  mo  n  t  a  ns  t  at  i - 
stik  in  Aussicht  genommen,  ähnlich  wie  es  von 
Amerika  und  England  bereits  geschehen  ist.  Mit 
der  Ermittlung  der  Weltvorräte  an  Steinkohlen 
und  Eisenerzen  haben  sich  die  beiden  letzten 
Internationalen  Geologenkongresse  zu  Stockholm 
und  Toronto  (Canada)  beschäftigt,  woran  die 
Geologische  Landesanstalt  wesentlich  mitarbeitete. 
Den  Versuch  einer  h'esistcllung  des  heimischen 
Kalireichtums  hatte  die  Geologische  Landesanstalt 
bereits  vorher  gemacht. 

Angestrebt  ist  fernerhin  eine  objektive  und 
zuverlässige  Informationsstelle  über  die 
nutzbaren  Mineralschätze  der  Erde,  so- 
wie die  Bedingungen  ihrer  Gewinnung  und  Ver- 
wertung, die  sowohl  dem  Privatmann  als  auch 
den    staatlichen    Behörden    Auskunft    erteilen  soll. 

Zur  Vertiefung  geologischer  Kenntnisse  werden 
Lehrkurse  für  Bergassessoren  und  -referendare, 
Markscheider,  Landwirtschaftslehrer,  Meliorations- 
baubeamte, Forstleute  abgehalten.  Durch  popu- 
läre Vorträge,  Exkursions-  und  Museumsführungen 
soll  mehr  wie  bisher  den  Bedürfnissen  des  ein- 
fachen Mannes  entgegengekommen  werden.  Um 
das  Verhältnis  zur  Schule  zu  festigen ,  werden 
Karten  zu  ermäßigten  Preisen  abgegeben,  außer- 
dem Steinsammlungen  zum  Selbstkostenpreis  und 
unter  besonderer  Berücksichtigung  des  Lehrzweckes 
zusammengesetzt.  Damit  dürften  derartige  Schul- 
sammlungen gut  und  billig  werden. 

V.  Hohenstein,  Halle  a.  S. 

Physiologie.  Die  Abhängigkeit  der  Haut- 
färbung von  äußeren  Faktoren  bei  den  Wirbel- 
tieren. Als  besonders  geeignet  zur  Prüfung  der 
Frage,  inwiefern  ihre  Hautfarbe  durch  äußere  Ein- 
flüsse bedingt  wird,  haben  sich  die  Fische  und 
Amphibien  erwiesen. 


Über    die    Abhängigkeit    der 


Hautfarbe    von 
P. 


äußeren  Einflüssen  bei  Amphibien  hat  P.  Muri- 
sier  (Notes  sur  les  Chromatocytes  intracpidermi- 
ques  des  Amphibiens,  extrait  des  C.  R.  de  l'Asso- 
cialion  des  anatomistes,  quinz.  reunion,  Lausanne 
191 3)  Beobachtungen  am  Axolotl  angestellt.  Bei 
niederer  Tem])eratur  gehalten  und  schlecht  ge- 
nährt, verfärbten  sich  vorher  dunkelgrau  und  schwarz 
gefleckte  Tiere  zu  partiellen  Albinos.  Das  Haut- 
pigment wurde,  wie  schon  E.  J.  Ogneff  (1908) 
beobachtet  hatte,  resorbiert  und  die  Entfärbung 
geschah  durch  Zerstörung  der  Chromatocyien 
(Chromatophoren)  der  äußeren  Haut  und  der 
Schleimhäute  auf  dem  Wege  der  Phagocytose. 
Eingehend  behandelt  M.  die  P>age  des  Ursprungs 
von  Pigment  in  der  Epidermis  selbst.  Ehr  mann 
(1885,  1892)  und  Borel  (1913)  hatten  eine  ent- 
sprechende von  M.  bestätigte  Aufstellung  gemacht. 
Danach  ist  es  unzweifelhaft  in  der  Epidermis  ge- 
bildet. In  den  Zellen  selbst  treten  beim  Axolotl, 
Salamander  und  Triton  schwarze  Farbstoffkörnchen 
auf  Bei  den  jungen  Larven  der  beiden  ersten 
P'ormen  kann  ihre  Entwicklung  verfolgt  werden, 
da  sie  sich  schon  im  Leben  mit  Neutralrot  färben. 
Sie  liegen  um  die  von  den  Zellen  eingeschlossenen 
Eiweißschollen  und  P"etttröpfchen  herum.  Bei  in 
Teilung  begriffenen  Zellen  umgeben  sie  den  Kern. 
Wenn  sich  infolge  eines  Lichtreizes,  welcher  die 
Netzhaut  trifft,  die  Chromatophoren  zusanmien- 
ziehen,  so  sitzt  das  Pigment  dem  Pole  der  Zelle 
in  Form  einer  Kalotte  auf  Auf  den  ersten  An- 
blick bei  der  Entfärbung  der  Haut  des  Axolotls 
scheint  es  zunächst,  daß  die  rapide  Entfärbung 
dadurch  verursacht  werde,  daß  die  Pigmenlkörn- 
chen  in  die  interzellulären  Zwischenräume  aus- 
treten.   In  Wirklichkeit  aber  liegen  sie  gar  nicht  frei. 

Die  äußeren  Ausläufer  der  Chromatocyten 
verlieren  sich  zwischen  den  abgeplatteten  Zellen 
der  äußeren  Lage  der  Haut,  während  die  inneren 
die  Basalmembran  erreichen,  bisweilen  durchsetzen. 
M.  sagt,  die  Phagocyten  entstammten  nicht  dem 
Bindegewebe,  sondern  seien  Epidermiszellen,  mit 
denen  sie  auch  bei  ihrer  Entstehung  durch  Zell- 
brücken zusammenhängen.  Mit  Kodis  (1889) 
und  P  r  o  w  a  z  e  k  ( 1 900)  hält  er  die  F"arbstoffkugeln 
für  Zerfallprodukte  der  Zellen.  Es  würde  sich 
damit  ihr  Auftreten  bei  Tieren  erklären,  die  durch 
langes  Fasten  geschwächt  sind.  Als  M.  aufmerk- 
sam die  Haut  an  den  Stellen  untersuchte,  wo 
beim  Axolotl  die  Wanderzellen  in  größerer  Zahl 
erscheinen,  fand  er  eine  andere  Art  des  Durch- 
dringens  des  Blutfarbstoffs  in  die  Epidermis,  als 
es  Rabl  beschrieben  hat.  In  den  tiefen  Schichten 
der  Haut  bilden  sich  kleine  Anhäufungen  von 
Blutkörperchen,  welche  durch  Verschwinden  oder 
Bersten  der  Kapillaren  in  Freiheit  gesetzt  werden. 
Die  stark  verdünnte  Basalmembran  verschwindet 
an  der  Stelle  des  Extravasats  und  es  bildet  sich 
ein  enger  Durchgang  für  die  roten  Blutkörperchen. 

In  einem  früheren  Versuche  untersuchte  M.  die 
Abhängigkeit  der  Färbung  der  Seeforelle  (Trutta 
lacustris  L.)  von  Licht  und  Temperatur.    Die  von 


N.  F.  Xm.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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denselben  Kitern  stammenden  Tiere  wurden  vom 
Ausschlüpfen  aus  dem  Ei  an  9  Monate  lang  unter 
verschiedener  Beleuchtung  und  bei  verschiedener 
Temperatur  gehalten.  Die  chemische  Zusammen- 
setzung des  Wassers,  seine  Gasspannung,  sowie 
die  Menge  und  die  Qualität  des  Futters  waren 
die  gleichen. 

Bei  hoher  Temperatur  (18 — 20")  bewirkte  das 
Licht,  welches  von  einem  weißen  Untergrund 
reflektiert  wurde,  nicht  nur  eine  dauernde  Zu- 
sammenziehung der  Pigmentzellen,  sondern  auch 
einen  Stillstand  in  der  Bildung  von  Hautpigment. 
Am  Ende  der  9  Monate  hatten  sich  zwei  Varie- 
täten gebildet,  eine  sehr  blaß  gefärbte,  auf  weißem 
Untergrund,  und  eine  dunkel  gefärbte  mit  stark 
markierten  schwarzen  Flecken  auf  dunklem  Grund 
und  in  der  Dunkelheit.  Die  Verschiedenheit  in 
der  Färbung  beruht  auf  der  Menge  der  Melano- 
phoren  und  der  Quantität  des  gebildeten  Pigments. 
Sie  ist  nicht  die  Folge  einer  direkten  I.ichtwirkung 
auf  die  Farbstoffträger.  Auf  weißem  Grund  werden 
blinde  Forellen  dunkel.  Der  von  der  Netzhaut 
ausgehende  Reiz  bedingt  nicht  allein  die  Zu- 
sammensetzung der  Chromatophoren,  sondern  ver- 
hindert auch  die  Bildung  des  Pigments  in  ihnen 
und  die  Umwandlung  von  Bindegewebszellen  in 
Melanophoren. 

In  einer  Untersuchung:  Über  den  Einfluß 
chemischer  Faktoren  auf  die  Farbveränderung  des 
P'euersalamanders  (Archiv  fiir  Entwicklungsmecha- 
nik, 39.  Bd.,  1914)  behandelt  Irena  Pogonoska 
(Lemberg)  jenen  von  Kochsalzlösung.  In  der 
Haut  treten  zwei  P'arbstoffe  auf,  eine  schwarze 
Grundfarbe  und  eine  gelbe  Zeichnungsfarbe.  Nach 
dem  gegenseitigen  Verhältnis  beider  unter- 
scheidet man  zwei  P"ormen,  Salamandra  maculosa 
var.  typica  und  maculosa  taeniata.  Während  die 
erstere  auf  der  ganzen  Körperoberfläche  unregel- 
mäßige gelbe  Flecken  auf  schwarzem  Grund  zeigt, 
sind  bei  letzterer  die  gelben  Flecken,  zu  schmäleren 
oder  breiteren  Längsstreifen,  beiderseits  der  Mittel- 
linie des  Rückens  verschmolzen.  Jede  der  beiden 
Formen  bewohnt  bestimmte  Gebiete:  Salamandra 
typica  die  Gebirge  Österreich-Ungarns,  S.  taeniata 
Frankreich,  die  Niederlande,  Deutschland,  die 
Schweiz  und  die  Pyrenäen.  Nach  Kammerer 
erwies  sich  die  Färbung  in  hohem  Maße  abhängig 
von  jener  des  Untergrunds  und  dem  l-'euchtigkeits- 
gehalt.  Auf  hellem  Untergrund  (Lehmerde,  gelbes 
Papier)  und  in  feuchter  Luft  trat  eine  stärkere 
Entwicklung  des  gelben  P'arbstofifes  auf,  dunkler 
Untergrund  (schwarze  Gartenerde,  schwarzes  Papier) 
und  Trockenheit  verhinderten  seine  Ausbildung. 
Von  der  Annahme  ausgehend,  daß  eine  verschie- 
dene chemische  Beschaffenheit  des  Wassers,  in 
dem  die  Larven  groß  geworden  sind,  für  die 
Färbung  des  alten  Tieres  maßgebend  ist,  hielt 
Verf  die  Larven  in  drei  verschieden  starken 
Lösungen  von  Kochsalz:  0,15  7o,  0,3  »/(,  und  0,6%. 
Einige  Larven  wurden  zur  Kontrolle  in  Leitungs- 
wasser gehalten. 


Das  Vorhandensein  von  Natrium  chloratum 
im  Wasser  wirkt  ungünstig  einerseits  auf  die 
Bildung  des  gelben  Farbstoffs,  andererseits  auf  die 
Entwicklung  und  das  Wachstum.  Die  Ursache 
für  die  Beeinflussung  der  Hautfarbe  ist  nach  Verf. 
die  chemische    Wirkung    des    Natrium   chloratum. 

Weitere  Versuche  bezüglich  anderer  chemischei' 
Bestandteile,  die  im  Gebirgswasser  vorkommen, 
in  verschiedenen  Prozenten,  des  Calcium  carboni- 
cum,  sulfuricum,  der  Ferrum-  und  Aluminium- 
verbindungen  sind  in  Aussicht  genommen. 

Während  die  Versuche  von  Paul  Kammerer 
sich  auf  die  Änderungen  in  der  Hauifärbung  des 
verwandelten  Tieres  beziehen,  hat  Secerov  (Über 
das  Farbkleid  von  P^euersalamandern,  deren  Larven 
auf  gelbem  oder  schwarzem  Untergrund  gezogen 
waren,  Biol.  Zentralbl.,  Bd.  34,  1914)  ein  ent- 
sprechendes Verhalten  schon  bei  den  verschiedenen 
Lichteinwirkungen  auf  die  Larven  festgestellt. 

Er  faßt  seine  Resultate  folgendermaßen  zu- 
sammen: 

1.  Die  Salamanderlarven  von  der  gelbgestreiften 
Varietät  zeigten  Farbenanpassungsersclieinungen 
wie  die  metamorphosierten; 

2.  sie  werden  auf  dem  gelben  Untergrunde, 
sobald  sie  sich  zu  verwandeln  beginnen,  mehr 
gelb  gefärbt  als  die  Mutter;  die  Flecken  werden 
größer,  die  Streifen  zeigen  eine  Tendenz  zum  Zu- 
sammenfließen an  den  beiden  Seiten ;  die  Unger 
werden  ebenso  reichlicher  gelb  gefärbt  als  bei  der 
Mutter; 

3.  dieSalamanderlarven  zeigen  auf  dem  schwarzen 
Untergrunde  eine  Vergrößerung  der  Zahl  der  gelben 
F"lecken,  die  etwa  nicht  durch  Vermehrung  des 
Gelb  entsteht,  sondern  durch  Zerstückelung  der 
Längsstreifen  in  Plecken,  Verschwinden  kleiner 
mütterlicher  P'lecken,  also  überhaupt  eine  Reduk- 
tion des  Gelb. 

Nach  photometrischen  Messungen  wirft  —  wie 
in  den  Versuchen  von  Kammerer  — das  glän- 
zende Versuchspapier  '30  des  auffallenden  Lichtes, 
das  glänzend  schwarze  '/go  zurück.  Die  Versuchs- 
papiere   sind    die    gleichen   bei  beiden  Versuchen. 

Kathariner. 

Physik.  Mit  den  sogenannten  Cyanbanden 
beschäftigt  sich  eine  Arbeit  von  G  r  o  t  i  a  n  und 
Runge  (Göttingen)  in  der  Physikalischen  Zeit- 
schrift XV  (1914)  Seite  545  —  548.  Untersucht 
man  spektroskopisch  einen  kurzen  Kohlelichtbogen 
in  Luft,  so  findet  man,  wie  eine  ganze  Reihe 
von  Beobachtern  festgestellt  hat,  im  ganzen  Bogen 
Banden,  deren  Hauptkanten  bei  4606,  4216,  3883, 
3590  und  3360  liegen.  Da  man  die  Anwesenheit 
und  N  und  C  für  ihr  Auftreten  für  nötig  hielt  und 
sie  sich  andererseits  in  der  Cyanflamme  zeigen, 
so  schrieb  man  sie  dem  C  y  a  n  zu.  In  der  ge- 
nannten Arbeit  wird  gezeigt,  daß  die  Banden 
nicht  dem  Cyan,  sondern  dem  Stickstoff 
angehören.  Zu  den  Versuchen  verwenden  die 
Verfasser  bis   100  cm    lange   Hochspannungslicht- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  32 


bögen  in  Luft  von  Atmosphärendruck,  wie  sie  die 
badische  Anilin-  und  Sodafabrik  in  einer  Länge 
von  8  m  zur  Stickstoffgewinnung  aus  Luft  benutzt. 
Um  den  gegen  ungleichmäßige  Luftströmungen 
empfindlichen  Bogen  zu  stabilisieren,  läßt  man 
ihn  nach  Schönherr  in  einem  zylindrischen 
Rohr  brennen,  in  welches  man  unten  tangential 
einen  Luftstrom  hineinbläßt;  in  der  Mitte  des 
schraubenförmig  aufsteigenden  Wirbels  brennt  dann 
der  Lichtbogen  völlig  ruhig.  Geht  der  Bogen 
in  Stickstoff  über,  so  treten  die  „Cyanbanden" 
auf,  ohne  daß  eine  Spur  von  Cyan,  Kohlenstoff 
oder  Kohlcnstoffverbindungen  zugegen  ist.  Ersetzt 
man  die  Metallelektroden  durch  solche  aus  Kohle, 
so  werden  dadurch  die  Banden  nicht  heller.  Bringt 
man  in  den  zwischen  Metallelektroden  übergehen- 
den N-Lichtbogen  kleine  Luftmengen,  so  ver- 
schwinden die  „Cyanbanden"  sofort;  sie  werden 
von  dem  Sauerstoff-Spektrum  überdeckt 
und  verdrängt,  wie  man  auch  nur  das  0-Spek- 
t  r  u  m  sieht,  wenn  ein  langer  Lichtbogen  zwischen 
Metallelektroden  in  Luft  brennt,  während  vom 
Stickstoffspektrum    nichts  zu  merken  ist.     Nimmt 


man  im  letzten  Fall  aber  Elektroden  aus  Kohle, 
so  bindet  diese  bei  der  hohen  im  Bogen  herr- 
schenden Temperatur  den  Sauerstoff,  so  daß  das 
Spektrum  des  Stickstoffs,  zu  dem  auch 
die  sogenannten  Cyanbanden  gehören, 
herauskommt.  In  einem  langen  Bogen  treten 
sie  nur  in  der  Nähe  der  Kohleelektroden  auf,  in 
der  Mitte  überwiegt,  weil  hier  nicht  genügend  C 
zur  Bindung  des  O  vorhanden  ist,  das  0-Spek- 
trum.  Kurze  Kohlelichtbögen  in  Luft  zeigen  sie 
dagegen  in  ihrer  ganzen  Länge.  Leitet  man  den 
Luftstrom  vorher  durch  einige  mit  Pyrogallussäure 
gefüllte  Waschfiaschen,  so  zeigt  der  (zwischen 
Metallelektroden  übergehende)  Bogen  die  „Cyan- 
banden", da  der  Sauerstoff  in  den  Flaschen  ab- 
sorbiert wird.  Sie  verschwinden  aber  sofort,  wenn 
Sauerstofi(  zugeführt  wird.  In  der  Cyanflamme 
findet  eine  Verbrennung  des  Kohlenstoffs  statt; 
es  wird  demnach  auch  hier  der  Sauerstoff  ge- 
bunden, so  daß  das  N-Spektrum  herauskommen 
kann.  Die  Versuche  lassen  wohl  keinen  Zweifel 
darüber,  daß  die  „Cyanbanden"  dem  Stickstoff 
zuzuschreiben  sind.  K.  Schutt,  Hamburg. 


Kleinere  Mitteilungen. 


„Was  ist  Schweinepest?"  Diese  Frage  hat  in  den 
letzten  Jahren  in  hervorragendem  Maße  die  For- 
scher und  Fachleute  und  wohl  auch  schon  man- 
chen durch  diese  Seuche  schwer  geschädigten 
Tierbesitzer  beschäftigt.  In  der  jüngeren  Zeit  ist 
die  Schweinepest  in  erheblichem  Umfange  be- 
sonders in  Preußen  und  ganz  besonders  in  den 
viehreichen  östlichen  Provinzen  aufgetreten  und 
hat  dort  gewaltigen  Schaden  angerichtet.  Fast 
allgemein  entschlossen  sich  die  Besitzer  großer 
Schweinemästereien  sofort  nach  dem  Auftreten 
der  Pest  in  ihren  Ställen  die  gesamten,  oft  viele 
Hundert  Stück  zählenden  Bestände  der  Schlacht- 
bank zu  überliefern,  nur  um  den  Fleischwert  der 
noch  gesunden  Tiere  zu  retten,  da  alle  Tilgungs- 
versuche erfolglos  blieben.  Über  den  Begriff 
„Schweinepest"  herrscht  augenblicklich  in  der 
Veterinärmedizin  ziemliche  Verwirrung.  Vielleicht 
trägt  eine  kürzlich  von  Prof.  Dr.  Sehern  und 
Prof.  Dr.  Stange  auf  Grund  ihrer  in  Jowa  ge- 
machten Erfahrungen  veröffentlichte  Arbeit')  zur 
Klärung  bei.  Die  Verff  erinnern  daran,  daß  im 
Jahre  1S85  von  Salmon  eine  Schweinekrank- 
heit, die  Hogcholera,  beschrieben  wurde,  als 
deren  Erreger  er  den  Bacillus  suipestifer  isolierte. 
Auf  Grund  der  bei  dem  Sektionsbilde  im  Vorder- 
grunde stehenden  schweren  Darmveränderungen 
(Diphtherie  und  Nekrosen)  bezeichnete  man  die 
Krankheit    als  eine   infektiöse    Darmkrank- 


')  Zeitschr.    f.    Infektionskrankheiten    usw.   der  Haustiere, 
XV.  Band,  Heft  2,  S.   107. 


heit.  Diese  Befunde  sind  auch  in  Dänemark 
und  Deutschland  bestätigt  worden.  In  neuerer 
Zeit  ist  man  nun  mehr  und  mehr  zu  der  Über- 
zeugung gekommen,  daß  die  primäre  Ursache  der 
Schweinepest  ein  filtrierbares  Virus  sei,  das  in 
erster  Linie  bei  der  Erkrankung  der  Tiere  das 
Bild  einer  hämorrhagischen  Septikämie 
hervorrufe.  Erst  sekundäre  Bedeutung  wohne 
dem  Bacillus  suipestifer  bei,  der  im  wesentlichen 
die  Darmnekrosen  verursache.  Über  die  Rolle, 
die  der  Bacillus  suispestifer  spielt,  wogt  der  Streit 
ganz  besonders  hin  und  her.  Die  Verft".  glauben 
nun  behaupten  zu  können,  daß  man  drei  ver- 
schiedene Formen  der  „Schweinepest"  auseinan- 
der zu  halten  habe.  Und  zwar  i.  die  alte,  durch 
den  Bacillus  suipestifer  erzeugte  „klassische" 
Schweinepest,  2.  eine  mit  ähnlichem  Bilde  ver- 
laufende, durch  eine  „Mischinfektion"  hauptsäch- 
lich des  Bacillus  suipestifer  mit  einem  filtrier- 
baren Virus  hervorgerufene  Schweineseuche,  und 
3.  eine  ganz  unter  dem  Bilde  einer  hämorrha- 
gischen Septikämie  verlaufende  , .Viruspest".  Die 
unter  2  genannte  ,, Mischinfektion"  ist  die  in  der 
Praxis  am  häufigsten  beobachtete  Form  der  sog. 
„Schweinepest".  Sie  wollen  die  Verff.  daher  mit 
dem  Namen  „Pest"  bezeichnet  wissen.  Für  die 
erste  „klassische"  Form  schlagen  sie  den  Namen 
„Parapest"  vor  und  für  die  letzte  den  Namen 
„X'iruspest".  Auf  dem  nächsten  internationalen  tier- 
ärztlichen Kongreß  wird  die  F'rage  „Schweinepest" 
weiter  diskutiert  werden. 

W.  ligner. 


N.  F.  Xm.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


509 


Bücherbesprechiingen. 


Weimarn,  Prof.  Dr.  P.  P.  von,  Zur  Lehre  von 
den  Zuständen  der  Materie.  2  Bände. 
Dresden  und  Leipzig  1914,  Verlag  von  Theodor 
Steinkopff.  —  Preis  7  Mk.,  geb.  9  Mk. 
Nach  einem  Buche  „Zur  Lehre  von  den  Zu- 
ständen der  Materie"  von  P.  P.  von  Weimarn 
wird  ein  Jeder  greifen ;  auch  den  Lesern  dieser 
Zeitschrift  sind  die  Ideen  dieses  Forschers  bekannt. 
Vorhegendes  Buch  bringt  in  etwas  gekürzter  und 
umgearbeiteter  Form  eine  Reihe  von  .Abhandlungen, 
die  ursprünglich  in  der  Kolloid-Zeitschrift  erschie- 
nen sind.  Es  handelt  sich  um  die  Untersuchungen 
und  Betrachtungen  des  Verfassers  über  den  kristal- 
loiden  und  kolloiden  Zustand  der  Materie,  in  denen 
er  nachweist,  daß  zwischen  beiden  kein  prinzipieller, 
sondern  nur  ein  gradueller  Unterschied  besteht, 
nämlich:  Verkleinerung  der  Korngröße  und  zu 
gleicher  Zeit  Vergrößerung  der  Oberfläche.  Die 
Darstellung  jedes  beliebigen  Körpers  in  deutlich 
kristallinischer  oder  in  kolloidamorpher,  gallert- 
artiger Form,  je  nach  den  Konzentrationsbedingun- 
gen beim  Entstehen  —  die  Änderung  nicht  nur 
der  physikalischen,  sondern  auch  der  chemischen 
Eigenschaften  mit  der  Korngröße  —  die  Nicht- 
existenz  spezieller  Adsorptionsverbindungen,  die 
den   stöchiometrischen  Gesetzen    nicht  gehorchen 

—  die  Betrachtung  der  Kolloide  als  Dispersoide, 
Systeme  von  allerkleinsten  Kriställchen,  worin  die 
Eigenschaften    der  Oberfläche  vorherrschend  sind 

—  dies  sind  nur  die  am  meisten  hervorragenden 
aus  der  h'üUe  von  neuen  Ideen ,  die  dieses  Buch 
behandelt.  Mag  für  den  NichtSpezialist  auf  diesem 
Gebiet  das  Buch  vielleicht  noch  etwas  zuviel  die 
Zeichen  tragen  von  dem  Stürmen  und  Drängen 
in  der  Entstehungsperiode  dieser  neuen  Ideen,  und 
wäre  ihm  die  klare  Ruhe  einer  fest  gewonnenen 
Überzeugung  vielleicht  lieber,  so  wird  man  Ver- 
fasser und  Verleger  doch  nur  dankbar  sein,  daß 
sie  diese  wichtigen  Untersuchungen  durch  diese 
Ausgabe  dem  Studium  leichter  zugänglich  gemacht 
haben,  um  so  mehr  als  der  zweite  Band  in  einer 
Reihe  ausgezeichneter  Mikro-  und  Makrophoto- 
graphien  den  Gedankengang  des  Verfassers  in 
schönster  Weise  illustriert.  O.  de  Vries. 


Neophilosophos  Tis,  DerMensch  und  seine 
Kultur.     100  Seiten.     Konstanz,  Ernst  Acker- 
mann. —  Preis  3  Mk. 
Nach  einer  kurzen  Einführung  werden  in  dieser 
Schrift   die   nach    Ansicht    des  Verfassers    bei  der 
Menschwerdung   wirksamen  Kräfte  dargelegt  und 
in  der  Entwicklung  der  menschlichen  Kultur  wird 
das  Fortwirken  der  gleichen  Kräfte  verfolgt.     Im 
Schlußabschnitt    werden  Mensch    und    Kultur    als 
Naturerscheinungen  betrachtet.        H.  Fehlinger. 


Lenz,  Fritz,  Über  die  krankhaften  Erb- 
anlagen des  Mannes  und  die  Bestim- 
mungdesGeschlechtsbeimMenschen. 


170  Seiten  mit  23  Abbild.     Jena,  Gustav  Fischer. 

—  Preis  4,50  Mk. 
In  den  ersten  Kapiteln  veranschaulicht  Dr. 
Lenz  die  Vererbung  gewisser  Abnormitäten  oder 
Kränkelten,  von  denen  die  Bluterkrankheit  (Hämo- 
philie) am  ausführlichsten  behandelt  wird.  Die 
Krankheit  tritt  nur  bei  männlichen  Personen  her- 
vor. Von  den  Kindern  der  Kranken  aber  erben 
nur  die  weiblichen,  nicht  auch  die  männlichen  die 
Krankheitsanlage,  denn  nur  unter  der  männ- 
lichen Nachkommenschaft  der  weiblichen  Linien 
kommt  die  Krankheit  wieder  zum  Vorschein. 
Hierfür  vi'urden  verschiedene  Erklärungen  gegeben, 
aber  sicher  festgestellt  ist  die  Ursache  dieser  Er- 
scheinung noch  keineswegs.  Die  betreffenden 
Krankheiten  stehen  zum  männlichen  Geschlecht 
bloß  in  somatischer,  zum  weiblichen  jedoch  in 
idioplasmatischer  Beziehung.  Die  idioplasmatische 
Korrelation  zwischen  Geschlecht  und  pathologi- 
scher Anlage  ist  nicht  auf  die  Menschheit  be- 
schränkt, sondern  sie  findet  sich  auch  sonst  im 
Reiche  der  Organismen.  Lenz  zeigt  ferner,  daß 
die  Vererbung  der  pathologischen  Anlagen  den 
M  e  nde  Ischen  Regeln  folgt  und  in  Einklang  mit 
der  Sutton-Boveri' sehen  Chromosomentheorie 
steht.  In  folgenden  Abschnitten  stellt  der  Ver- 
fasser Betrachtungen  über  die  allgemeine  Ätiologie 
und  die  Therapie  der  krankhaften  Erbanlagen  an. 
Es  ist  zu  bemerken,  daß  Lenz  die  ,, einzige  Mög- 
lichkeit der  Beseitigung  erblicher  Krankheiten  in 
der  negativen  Selektion  der  pathologischen  Ein- 
heiten des  Idioplasmas"  erblickt.  Jedoch  kann 
„eine  positive  Gesundung  der  Rasse  nicht  ohne 
die  damit  nur  teilweise  zusammenfallende  positive 
Selektion  gesunder  Idioplasmastämme  erreicht 
werden".  In  bezug  auf  die  Bestimmung  des  Ge- 
schlechts beim  Menschen  ist  Lenz  der  An- 
sicht, daß  das  Zustandekommen  der  primären 
Sexualcharaktere  beim  Menschen  wie  bei  allen 
Tieren  mit  intrauteriner  Fetalentwicklung  von 
äußeren  Einflüssen  kaum  bestimmt  werden  kann; 
„denn  es  ist  nicht  recht  denkbar,  wie  es  derart 
gesetzmäßige  Schwankungen  des  die  Keimzellen 
oder  den  Fötus  beeinflussenden  Milieus  geben 
sollte,  daß  immer  gerade  die  empirische  feste 
Sexualproportion  .sich  im  Durchschnitt  ergeben 
sollte".  Die  Tatsachen  sprechen  hingegen  dafür, 
daß  die  Vererbung  der  primären  Sexualcharaktere 
durch  Mendeln  geschlechtsbestimmender  Erbein- 
heiten zu  erklären  ist.  —  In  den  Schlußabschnitten 
des  Buches  befaßt  sich  Lenz  mit  den  Problemen 
der  Erblichkeit  der  geistigen  Begabung  und  der 
pathologischen  Geschlechtsdisposition. 

H.  Fehlinger. 

Hundt,  Rudolf,  Geo  logische  Wandern  ngen 
im    mittleren    Elstertale.        Fr.    Krüger- 
Lobenstein  R.  j.  L.  (1914?) 
,,Nur   in    der    Natur   selber   läßt  sich  Geologie 

treiben."      Das  ist  der  Leitsatz  dieser  ausgezeich- 


5IO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  32 


neten,  populären  und  doch  auch  für  den  orts- 
fremden Fachmann  äußerst  brauchbaren  Einführung 
in  die  Stratigraphie  und  Paläontologie  eines  eng- 
umgrenzten Bezirkes,  der  weiteren  Umgebung  von 
Gera.  Die  Tektonik  mag  mit  Absicht  bei  Be- 
handlung eines  verhältnismäßig  so  kleinen  Ge- 
bietes fast  ganz  außer  Betracht  geblieben  sein. 
„Nach  einer  Übersicht  der  in  der  Geraer  Gegend 
vorhandenen  Schichten  .  .  .  folgen  zwölf  geologi- 
sche Wanderungen,  auf  denen  alle  in  I'rage  kom- 
menden Schichten  an  Ort  und  Stelle  ihres  An- 
stehens  studiert  werden  können."  Dazwischen 
findet  sich  ein  sorgfältiges  Literaturverzeichnis, 
auf  das  im  Text  fleißig  verwiesen  wird,  und  An- 
leitungen zum  Sammeln  für  Anfänger  nebst  sehr 
dankenswerten  Hinweisen  auf  Belehrungsmittel  und 
■Stätten.  Kincn  interessanten  Beitrag  hat  Soergel 
über  die  Lindentaler  Hyänenhöhle  beigesteuert. 

Eine  Anzahl  lehrreicher  und  z.  T.  sehr  wohl- 
gelungener Aufnahmen  erläutert  den  Text.  Da- 
gegen vermag  ich  dem  „Buchschmuck"  (von 
Kunstmaler  P  a  s  c  h  o  1  d  gezeichnet )  gar  keinen  Ge- 
schmack abzugewinnen.  Soweit  er  sich  auf  Leisten 
beschränkt,  stört  er  wenigstens  nicht,  einige  wenige 
Textfiguren  aber,  besonders  die  Fossiltafeln  auf 
S.  130  und  138  können  neben  der  wesentlich 
wertvolleren  Tafel  der  Zechsteinversteinerungen 
auf  S.  48  schwerlich  bestehen.  DemgegenüJDer 
gewährt  eine  aus  Pfeiffer's  Werk  übernonmiene 
Abbildung  der  prähistorischen  Zeichnung  eines 
Hasenkopfes  auf  Renntiergeweih  aus  der  erwähnten 
Höhle  wahrhaft  ungetrübten  Genuß.  Sie  ist  wert, 
allgemeiner  bekannt  zu  werden. 

[NB.  Die  Ansicht,  daß  die  Graptolithen  den 
Echinodermen  zuzuzählen  seien,  kann  wohl  kaum 
als  die  „bisher  gültige"  (S.  16)  bezeichnet  werden!! 

E.  Hennig. 

Brandt,    Bernhard,     Studien     zur     Talge- 
schichte der  Großen  Wiese  im  Schwarz - 
wald.     Abh.  z.  badischen  Landeskunde.  Heft  3. 
Mit    2  Karten    und    3  Tafeln.     Karlsruhe   1914. 
—  Preis  geh.  2,40  Mk. 
Kennern  und  Freunden  des  lieblichen  Wiesen- 
tals  im    südlichen    Schwarzwald    wird  die  genaue 
Analyse  des  Formenschalzes  und  die  aus  ihr  sich 
ergebende      Entwicklungsgesciiichte     dieses     Tal- 
systems   willkommen    sein.      Den    einzelnen    Ab- 
schnitten   folgt    jedesmal    eine    Zusammenstellung 
der    wichtigsten    Ergebnisse,    die    gesamte  Talge- 
schichte   erscheint    zum  Schluß    noch    einmal    in 
einer  klaren  Tabelle. 

Auch  die  reiche  Ausstattung  des  Heftes  erhöht 
den  Wert  der  Ausführungen.  E.  Hennig. 

Handbuch  der  naturgeschichtlichen  Technik, 
für  Lehrer  und  Studierende  der  Natur- 
wissenschaften, herausgegeben  von  B.  Sc  hm  id. 
555  S.  S".  Leipzig  und  Berlin  1914,  B.  G. 
Teubner.  —  Preis  geb.  16  Mk. 
Seitdem    die   Biologie    in    den   oberen  Klassen 

der  höheren  Schulen  einer».,    wenn   auch  zunächst 


noch  bescheidenen  Platz  errungen  hat,  sind  eine 
ganze  Reihe  von  Leitfäden ,  Lehrbüchern  und 
methodischen  Schriften  erschienen,  die  sich  mit 
diesem  Lehrfach  befassen.  Auch  der  Herausgeber 
des  vorliegenden  Handbuches  hat  sich  an  dieser 
Arbeit  mehrfach  mit  wertvollen  Schriften  beteiligt. 
Die  Aufgabe,  die  er  sich  bei  der  Herausgabe 
dieses  Buches  gestellt  hat,  ist  aber  eine  andere. 
Die  Anforderungen,  die  der  biologische  Unter- 
richt heute  an  den  Lehrer  stellt,  sind  umfassen- 
dere als  die,  mit  denen  noch  vor  wenigen  Jahr- 
zehnten gerechnet  wurde.  Nicht  mehr  der  kon- 
servierte, in  der  Sammlung  aufbewahrte,  sondern 
der  lebende  Organismus  mit  all  seinen  Lebens- 
äußerungen und  Wechselbeziehungen  tritt  mehr 
und  mehr  in  den  Vordergrund  des  Unterrichts; 
nicht  das  fertige  Präparat  allein  soll  den  Schülern 
den  Einblick  in  den  Aufbau  der  Lebewesen  ver- 
mitteln, sondern  sie  sollen  zu  eigner  Mitarbeit,  zu 
eignem  Präparieren,  Experimentieren  und  Beobach- 
ten angeleitet  werden.  Neben  der  Schulsammlung 
sind  der  Übungsraum,  der  Schulgarten,  das  Aqua- 
rium und  Terrarium,  neben  dem  Klassenunterricht 
die  Übungen  und  Exkursionen  zu  wesentlichen 
Hilfsmitteln  geworden.  Aus  alledem  erwachsen  dem 
Lehrer  der  Biologie,  der  zudem  in  der  Regel  auch 
noch  chemischen,  mineralogischen,  geologischen, 
eventuell  auch  physikalischen,  geographischen 
oder  mathematischen  Unten-icht  zu  erteilen  hat, 
neue  Aufgaben,  denen  gerecht  zu  werden  nament- 
lich an  kleinen  Orten,  fern  von  den  Universitäten 
und  anderen  Zentren  der  fortschreitenden  Wissen- 
schaft durchaus  nicht  leicht  ist.  Der  Gedanke, 
die  gesamte  Technik  des  naturge^chichtlichen 
Unterrichtsbetriebes,  wie  sie  in  all  den  angedeu- 
teten Einzelzweigen  erfordert  wird,  zum  Gegen- 
stand einer  einheitlich  zusammenfassenden  Dar- 
stellung zu  machen,  ist  daher  ein  wohl  berech- 
tigter. 

Sollte  nun  das  Buch  seinen  Zweck,  so  weit 
dies  einem  Buche  auf  diesem  Gebiet  überhaupt 
möglich  ist,  erfüllen,  so  mußten  die  Grenzen  weit 
gezogen  werden.  Auch  konnte  bei  der  weiten 
Ausdehnung  der  biologischen  Wissenschaften  etwas 
allen  Anforderungen  Entsprechendes  nur  durch  die 
vereinigte  Arbeit  einer  Anzahl  erfahrener  Spezial- 
forscher geschaffen  werden.  Da  nun  erfreulicher- 
weise auch  unter  den  Universitätslehrern  die  Zahl 
derer,  die  dem  naturwissenschaftlichen  Scliulunter- 
rieht  ihr  Interesse  zuwenden,  in  stetem  Wachsen 
begriffen  ist,  so  ist  es  dem  Herausgeber  gelungen, 
eine  Anzahl  namhafter  Fachmänner  zur  Mitarbeit 
heranzuziehen. 

Die  ersten  Abschnitte  des  Buches  betreffen  die 
im  Laboratorium  auszuführenden  Arbeiten.  Die 
zoologisch-mikroskopische  Technik  wird  von  H. 
Po  11,  die  botanische,  nebst  Pilz-  und  Bakterien- 
kultur von  H.  Fischer  behandelt.  Beide  Ab- 
schnitte gehen,  und  zwar  wohl  mit  voller  Absicht, 
nicht  unerheblich  über  das  hinaus,  was  günstigsten 
Falls  in  Schülerübungen  behandelt  und  geleistet 
werden  kann.     Den  Verfassern  schwebte  als  Ziel 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


5" 


offenbar  auch  die  Einführung  des  Lehrers  in  die 
neuere  mikroskopische  Technik  vor,  und  vielen, 
deren  Studienjahre  bereits  um  einige  Jahrzehnte 
zurückhegen,  dürfte  diese  kurz  gehaltene  und  da- 
bei doch  sehr  viel  bietende  Anlehung  für  eigene 
Arbeiten  von  hohem  Wert  sein.  Neben  der  tech- 
nischen Anleitung  geben  beide  Verfasser  auch 
dankenswerte  Hinweise  auf  die  Beschaffung  des 
Untersuchungsmaterials. 

Den  Anleitungen  zur  Mikroskopie  schließen 
sich  zwei  Kapitel  über  physiologische  Versuche 
an.  Die  Verfasser,  der  Botaniker  P.  Clausscn 
und  der  Physiologe  R.  R  o  s  e  m  a  n  n ,  haben  schon 
in  früheren  Veröffentlichungen  Winke  und  Rat- 
schläge für  Schulversuche  erteilt,  die  hier,  etwas 
erweitert  und  teilweise  anders  gruppiert,  wieder- 
holt werden.  Soweit  die  von  den  Verfassern  hier 
angegebenen  Versuch^anordnungen  Neues  bieten, 
kann  Referent  auf  Grund  eigner  mehrfacher  Nach- 
prüfung deren  Zweckmäßigkeit  bestätigen. 

Eine  Reihe  weiterer  Kapitel  behandeln  das 
.Aufsuchen  und  Sammeln  der  Tiere  und  Pflanzen 
im  Freien.  Über  hydrobiologische  Sammelmetho- 
den berichtet  E.  Wagler,  über  Sammeln  und 
Präparieren  von  Insekten  O.  St  ec h e,  über  Fund- 
plätze, Fang  und  Transport  der  Weich-  und 
Wirbeltiere  P.  Kamm  er  er.  Diesen  Abschnitten 
sind  auch  Literaturangaben ,  sowie  Mitteilungen 
über  Anfertigung  und  Bezug  der  notwendigen 
Sammel-  und  Fangapparate  beigefügt.  Wie  das 
heimgebrachte  Material  zu  konservieren  und 
sammlungsmäßig  aufzubewahren  ist,  erörterte  für 
die  Pflanzen  B.  Schorler,  für  Tiere  B.  Wan- 
dolleck. Auch  diese  beiden  Abschnitte  sind 
recht  vielseitig,  es  werden  die  für  die  verschiede- 
nen Tier-  und  Pflanze nteile  geeignetsten  Methoden 
der  Präparation,  Konservierung,  Aufstellung,  die 
Konservierungsflüssigkeiten,  Verschlußmassen  usw. 
unter  Angabe  von  Bezugsquellen  besprochen. 

Die  Beobachtung  lebender  Organismen  ermög- 
lichen einerseits  Vivaricn  aller  .Art,  andererseits 
Schulgärten.  Die  ersteren  haben  in  F.  Urbahn 
einen  kundigen  und  erfahrenen  Bearbeiter  gefun- 
den; betreffs  der  Schulgärten  hat  F.  Esser,  der 
Leiter  des  botanischen  Gartens  der  Stadt  Köln, 
für  die  allgemeine  Anlage,  sowie  für  die  verschie- 
denen in  Betracht  kommenden  Formen  desselben 
leitende  Gesichtspunkte  aufgestellt.  Er  unter- 
scheidet zwischen  Zentralzuchtgarten,  der  wesent- 
lich zur  Anzucht  des  für  die  Schulen  erforderlichen 
Materials  dient,  Zentralschulgarten,  der  der  Be- 
obachtung dienen  soll  und  daher  neben  systema- 
tischen auch  ökologische  und  ökonomische  Ge- 
sichtspunkte im  .'\uge  behalten  muß,  und  Einzel- 
schulgarten, und  erörtert  im  einzelnen  die  Anlage, 
die  Bepflanzung,  die  Unterhaltung  und  die  Kosten. 
Auch  diesem  Abschnitt  sind  Literaturangaben  bei- 
gefügt. 

Der  folgende,  von  H.  Fischer  bearbeitete 
Abschnitt  über  das  Mikroskop,  seine  optischen 
Leistungen,  seine  Teile  und  seine  Behandlung,  mit 
Fingerzeigen  für  Auswahl,  Prüfung  und  Aufstellung 


der  Instrumente  hätte  wohl  besser  am  Anfang 
des  Buches,  vor  den  Kapiteln  über  die  mikrosko- 
pischen Arbeiten  seinen  Platz  gefunden,  während 
die  von  B.  Wandoll  eck  verfaßte  Anleitung  zur 
Photographie  besser  hinter  das  von  K.  Fr  icke 
geschriebene  Kapitel  über  Exkursionen  gestellt 
wäre.  Es  wäre  dann  eine  natürlichere  Reihenfolge 
der  einzelnen  Abschnitte  gewonnen  worden. 

Ein  vom  Herausgeber  selbst  bearbeiteter  Ab- 
schnitt behandelt  „zeitgemäße  Einrichtungen  für 
den  naturgeschichtlichcn  Unterricht";  unter  Hin- 
weis auf  neuere,  namentlich  in  Schulprogrammen 
enthaltene  Mitteilungen  und  Illustrationen  wird 
die  Einrichtung  des  Unterrichtszimmers ,  der  Vi- 
varien ,  des  Übungsraumes,  der  Schulsammlung 
erörtert,  anhangsweise  finden  sich  noch  einige  be- 
sondere Einrichtungen  —  Schaukasten,  Pflanzen- 
kulturschrank,  Vorrichtungen  für  Baktcrienkultur, 
Stoffwech'^elkäfig  —  erwähnt.  Mit  Recht  betont 
der  Verfasser  am  Schluß  seiner  Ausführungen 
nachdrücklich  die  Notwendigkeit  ausreichender 
Etatsmiitel    für    einen    nutzbringenden    Unterricht. 

Beschäftigen  sich  die  bisher  erwähnten  Kapitel 
wesentlich  mit  dem  biologischen  Lehrstoff,  so  be- 
handelt ein  von  A.  Berg  bearbeiteter  weiterer 
Abschnitt  die  Errichtung  geologischer,  paläonto- 
logischer und  mineralogischer  Schulsammlungen. 
Ausrüstung  für  geologische  Exkursionen,  Ausstat- 
tung des  Arbeitsraumes,  Einrichtung  und  Auf- 
stellung der  Sammlungen  finden  Berücksichtigung, 
ebenso  die  —  neben  der  Beobachtung  im  Freien 
—  zu  benutzenden  Anschauungsmittel  —  Bilder, 
Karten,  Reliefs,  Modelle,  Zeichnungen,  sowie  aus 
Gesteinen  aufgebaute  Profile  und  andere  Frei- 
luftanlagen. Auch  auf  Übungsarbeiten  und  Ex- 
perimente wird  kurz  hingewiesen.  Außer  einer 
Reihe  von  Literaturangaben  findet  sich  hier  end- 
lich noch  ein  Hinweis  auf  Bezugsquellen. 

Den  Abschluß  des  ganzen  Bandes  bildet  ein 
Kapitel  über  Pflege  der  Naturdenkmäler  von  W. 
Bock. 

Von  einem  näheren  Eingehen  auf  den  Inhalt 
der  einzelnen  Abschnitte  muß  hier,  schon  mit 
Rücksicht  auf  den  verfügbaren  Raum,  abgesehen 
werden.  Es  konnte  nur  Zweck  dieser  Besprechung 
sein ,  dem  Leser  eine  Vorstellung  zu  geben  von 
dem,  was  dieses  Handbuch  enthält.  Daß  natür- 
lich manches  an  mehreren  Stellen  Erwähnung  und 
Besprechung  findet,  daß  z.  B.  auch  die  den  mikro- 
skopischen und  physiologischen  Arbeiten  gewid- 
meten Kapitel  sich  mit  der  Einrichtung  und  Aus- 
stattung der  Arbeitsräume  beschäftigen  u.  dgl.  m., 
liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Wo  die  einzelnen 
Bearbeiter  in  ihren  Ratschlägen  voneinander  ab- 
weichen, wird  dies  kein  Fehler  sein.  Kann  es 
sich  doch  bei  diesen  Fragen,  wo  so  vielfache 
Rücksichten  auf  den  verfügbaren  Raum,  die  Lage 
der  Zimmer,  die  Etatsverhältnisse  usw.  mitsprechen, 
immer  nur  um  Vorschläge  handeln.  Sehr  viele 
Anstalten  werden  noch  auf  lange  Zeit  hinaus  ge- 
nötigt sein,  sich  mit  relativ  einfachen  Mitteln  zu 
behelfen.     Allen   aber  wird  dieses  Handbuch,  das 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  32 


eine  wesentliche  Lücke  unserer  biologisch-uiiter- 
richtlichen  Literatur  ausfüllt,  viele  wertvolle  An- 
regungen geben.  Zur  Anschaffung  für  Schul- 
bibliotheken sei  es  in  erster  Linie  empfohlen. 

R.  V.  Hanstein. 


Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  X.  D.  in  A.  —  Ist  es  möglich ,  aus  dem  Atom- 
gewicht eines  Elementes  sein  spezifisches  Gewicht  zu  berechnen? 

Eine  einfache,  exakt  formulierbare  Beziehung  zwischen 
dem  Atomgewicht  eines  Elementes  und  seinem  spezifischen 
Gewicht  ist  nur  für  die  einatomigen  Gase  bekannt.  Nach 
dem  Satz  von  Avogadro  enthalten  nämlich  die  gleichen 
Volumina  der  verschiedenen  Gase  beim  gleichen  Druck  und 
gleicher  Temperatur  die  gleiche  Anzahl  von  Molekülen  ,  also 
wenn  die  Moleküle  aus  je  einem  Atom  bestehen,  was  bei  den 
Edelgasen,  beim  Quecksilberdampf,  beim  Natriumdampf  usw. 
der  Fall  ist,  auch  gleich  viele  Atome.  Die  spezifischen  Ge- 
wichte der  G.ase  sind  demnach  proportional  den  Molekular- 
gewichten und  bei  den  einatomigen  G.asen  proportional  den 
Atomgewichten. 

Für  feste  und  flüssige  Elemente,  die  in  der  Anfrage  wohl 
in  erster  Linie  gemeint  sind,  ist  ein  analoges  Gesetz  nicht  be- 
kannt. Wohl  aber  weist,  wie  Lothar  Meyer  schon  im 
Jahre  1869  gezeigt  hat,  die  Kurve,  welche  die  Atomvolumina 
der  Elemente,  d.  h.  die  Produkte  A  v  der  Atomgewichje  A 
und  der  spezifischen  Volumina  v  oder,  was  d.asselbe  ist,  die 
Quotienten  A/s  aus  den  Atomgewichten  .\  und  den  spezifischen 
Gewichten  s  als  Funktion  der  Atomgewichte  darstellt,  unver- 
kennbare Kegelmäfligkeilen  auf.  Dank  diesen  Regelmäßig- 
keiten ließen  sich,  wie  besonders  D.  Mendelejeff  bewiesen 
hat,  in  ähnlicher  Weise  wie  andere  Eigenschaften  auch  die 
spezifischen  Gewiclite  einzelner,  damals  nicht  bekannter,  aber  bei 
der  Anordnung  der  chemischen  Elemente  im  periodischen  System 
vermißter  und  später  tatsächlich  aufgefundener  Elemente  voraus- 
sagen. So  sagte  M  en  d  el  ej  e  ff  im  Jahre  1871  für  das  „Ekalalu- 
minium"  mit  dem  hypothetischen  Atomgewicht  6S  und  das  ,,Eka- 
silicium"  mit  dem  hypothetischen  Atomgewicht  72  die  spezifischen 
Gewichte  6,0  und  5,5  voraus,  während  das  1875  von  Lecoq 
de  Boisbaudran  entdeckte  Gallium  mit  dem  Atomgewicht 
69,9  und  das  1886  von  Gl.  Wink  1er  entdeckte  Germanium 
mit  dem  Atomgewicht  72,3  die  spezifischen  Gewichte  5,96  und 
5,469  besitzen.  Es  handelt  sich  in  allen  Fällen  dieser  Art 
aber  nicht  um  eine  strenge  Berechnung,  sondern  nur  um  eine 
auf  mathematisch  nicht  streng  formulierbaren  Überlegungen 
beruhende  Schätzung.  W.  Borchers  (Die  Beziehungen 
zwischen  .\quivalentvolumen  und  .Atomgewicht;  Halle  1904) 
fand,  daß  die  Kurve  regelmäßiger  wird,  wenn  man  an  Stelle 
der  Atomvolumina  die  Äquivalentvolumina,  d.  h.  die  Quotienten 
.\tomvolumina 

^ i — r^— r — ,    als   Funktion    der    Atomgewichte    graphisch 

maximale  Valenz  ' 

darstellt.  Mg. 

Zur  Frage  der  Schädlichkeit  einiger  Beeren.  —  Auf  meine 
diesbezüglichen  Notizen  in  Nr.  37  und  46  Jahrg.  1913  dieser 
Zeitschrift  hatte  Herr  Apotheker  A.  Müller  (Kreuznach)  die 
Freundlichkeit  mir  mitzuteilen ,  daß  er  schon  nach  Genuß 
weniger  Nachtschattenbeeren  Herzschwäche,  Übelkeit  und  Er- 
brechen bekomme.  Die  Beeren  von  Solanum  nigrum  werden 
also    mit    Recht    als    giftig    bezeichnet,    was    nicht  ausschließt. 


daß  sie  von  manchen  anstandslos  vertragen  werden.  Auch 
über  die  Giftigkeit  der  Einbeere  (Paris  quadrifolia)  sind  die 
Meinungen  geteilt.  In  botanischen  Büchern  werden  sie  als 
stark  betäubend,  abführend  und  brechenerregend  bezeichnet. 
Nach  Kunkel  ist  bei  Kindern  nach  größeren  Mengen  Schwin- 
del, Kopfweh,  Leibschmerzen  und  heftiges  Erbrechen  be- 
obachtet worden.  Heim  beobachtete  nach  Verschlucken 
zweier  Beeren  Übelkeit,  Konstriktionsgefühl,  Stuhl-  und  Harn- 
zwang, Herzdelir,  Sensibilitätsstörungen  und  Verkleinerung  der 
Pupillen.  Husemann  hat  von  6  genossenen  Einbeeren  gar 
keine  Wirkung  verspürt.  Ich  selbst  schluckte  25  Einbeeren, 
die  ich  vorher  zerkaut  hatte,  herunter.  Brennender  und  wider- 
licher Geschmack  im  Mund,  den  ich  dieserhalb  mit  Wasser 
ausspülte.  Außer  einem  Biechreiz  beim  Herunterschlucken 
der  Beeren  und  außer  wiederholtem  Aufstoßen  bald  nach  Ge- 
nuß verspürte  ich  keinerlei  weitere  Symptome.  In  den  Binde- 
hautsack des  Auges  geträufelt  macht  der  spärliche  Beeren- 
saft, wie  ich  zweimal  an  mir  selbst  konstatierte.  Brennen  und 
wohl  lediglich  infolge  des  Brennens  leichte  Verkleinerung  der 
Pupille.  Vielleicht  haben  gütige  Leser  die  Liebenswürdigkeit 
mich  durch  Mitteilungen  über  Giftbceren  und  Idiosynkrasien 
gegen  eßbare   Beeren  zu   erfreuen. 

Dr.  med.  et  phil.  F.  Kanngießer  (Braunfels  ob  der  Lahn). 


Literatur. 

Gaupp  -Trendelenburg,  Sammlung  anatomischer 
und  physiologischer  Vorträge  und  Aufsätze.  Heft  25 :  Die 
Erregungsleitung  im  Wirbellierherzen  von  Prof.  Dr.  E.  Man- 
gold. 1,20  Mk.  Heft  2ö:  Das  Herzflimmern  usw.  von  Priv.- 
Doz.  Dr.  L.   llaberlandt.     40  Pf.     Jena  '14,  G.   ?~ischer. 

Handwörterbuch  der  .Naturwissenschaften.  Lieferung  76 
und  77  (Wärmehaushalt— Zellteilung).  Jena  '14,  G.  Fischer. 
:i  2,50  Mk. 

Güldi,  Prof.  Dr.  Emil  August,  Die  Tierwelt  der  Schweiz 
in  der  Gegenwart  und  in  der  Vergangenheit.  Bd.  I.  Wirbel- 
tiere. Mit  2  Karten  und  5  farbigen  Tafeln.  Bern  '14,  A. 
Francke.      Geb.    14,40  Mk. 

Sieghardt,  Erich,  Vom  Leben  in  Wald  und  Feld. 
Biologische  Bilder  aus  der  Pflanzenwelt.  Ravensburg  '14, 
Otto  Maier. 

Biologen- Kalender.  Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  B. 
Schmid  und  Dr.  C.  Thcsing.  I.  Jahrgang.  Mit  einem  Bildnis 
von  August  Weismann  und  5  Abbild,  und  2  Karten.  Leipzig- 
Berlin   '14,   B.   G.   Teubner.      Geb.   7  Mk. 

Soddy,  Frederick,  Die  Chemie  der  Radioelemente. 
Deutsch  von  Max  Ikle.  2.  Teil;  Die  Radioelemente  und  das 
periodische  Gesetz.     Leipzig  '14,  J.  A.  Barth.      Geb.   2,So  Mk. 

Lodgc,  Sir  Oliver,  Radioaktivität  und  Kontinuität.  Zwei 
Vorträge.     Leipzig  '14,  J.  A.   Barth.     Geb.  6  Mk. 

Tornquist,  Prof.  Dr.  A.,  Die  Wirkung  der  Sturmflut 
vom  9. — 10.  Januar  1914  auf  Samland  und  Nehrung.  Sonder- 
abdruck aus  den  Schriften  der  Physik. -ökonomischeu  Gesell- 
schaft zu  Königsberg  i.  Pr.  LIV.  Jahrg.  19 13.  III.  Leipzig- 
Berlin  '13,  B.   G.  Teubner.      1,20  Mk. 

Mangold,  Prof.  Dr.  Ernst,  Hypnose  und  Katalepsie 
bei  Tieren  im  Vergleich  zur  menschlichen  Hypnose.  Mit  18 
Abbildungen  im   Text.     Jena  '14,   G.    Fischer.      2,50  Mk. 

Hann,  Prof.  Dr.  Julius,  Lehrbuch  der  Meteorologie. 
3.  .Aufl.  Lieferung  4 — 7.  Leipzig  '14,  Chr.  Hcrm.  Tauchnitz. 
Jede  Lief.  3,60  Mk. 

Annuario  Meteorologico  de  Chile.  Primera  Parte  {30  esta- 
ciones  in   extenso)    1912.      Santjago   de   Chile  '14. 


Inhalt;  Gothan;  Das  geologische  Alter  der  .Angiospermen.  Mayer:  Die  Entstehung  der  Erstarrungsgesteine.  —  Einzel- 
berichte: Rasdorsky:  Die  mechanischen  Eigenschaften  der  Pflanzengewebe.  v.  Dobkiewicz;  Zur  Frage  der  konju- 
gierenden und  nichtkonjugierenden  Rassen  von  Paramäcium.  Bey  schlag:  Die  preußische  Geologische  Landesanstalt. 
Murisier:  Über  die  Abhängigkeit  der  HauU'arbe  von  äußeren  Einflüssen  bei  Amphibien.  Pogonoska:  Über  den 
Einfluß  chemischer  Faktoren  auf  die  Farbveränderung  des  Feuersalamanders.  Grotian  und  Runge:  Sogenannte 
Cyanbanden.  —  Kleinere  Mitteilungen:  Sehern  und  Stange:  Was  ist  Schweinepest?  —  Bücherbesprechungen: 
Weimarn:  Zur  Lehre  von  den  Zuständen  der  Materie.  Neophilosophos  Tis:  Der  Mensch  und  seine  Kultur. 
Lenz:  Über  die  krankhaften  Erbanlagen  des  Mannes  und  die  Bestimmung  des  Geschlechts  beim  Menschen.  Hundt: 
Geologische  Wanderungen  im  mittleren  Elstertale.  Brandt:  Studien  zur  Talgeschichte  der  Großen  Wiese  im  Schwarz- 
wald. Handbuch  der  naturgeschichtlichen  Technik,  für  Lehrer  und  Studierende  der  Naturwissenschaften.  —  Anregungen 
und  Antworten.  —  Literatur :   Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Mi  ehe  in   Leipzig,  Marienstrafie    II  a,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.    liniiJ ; 
der  ganzen  Reihe  29.  Baiul. 


Sonntag,  den  i6.  August  1914. 


Nummer  33. 


Einige  bemerkenswerte  Registrierungen  und  Beobachtungen 
vom  deutschen  Spitzbergen-Observatorium  1912—13. 


[Nachdruck  verboteu.  1 


Von   I>r.   Max  Robitzsch,   Marburg  in   Hessen. 


Das  von  I  Icrni  Geheimrat  H  e  r  g  e  s  e  1 1  -  Straß- 
burg ins  Leben  gerufene  Observatorium  auf  Spitz- 
berffen  wurde  1912  am  Ebeltoflliafen,  einer  kleinen 
Lagune  der  Crossbay,  Nordwest  Spitzbergen,  er- 
baut, naclidem  im  Winter  zuvor  die  Herren  Dr. 
Rempp  und  Dr.  Wagner  in  Adventbay-Eisfjord 
überwintert  hatten,  um  die  nötigen  Erfahrungen 
für  den  Betrieb  eines  definitiven  Observatoriums 
zu  sammeln.  Die  Nachfolger  genannter  Herren, 
Dr.  Kurt  Wegen  er  und  der  Verfasser,  über- 
winterten 1912  — 13  auf  dem  neuen  Observatorium. 
Die  Observatoriumsarbeiten  hatten  in  der  Haupt- 
sache den  Charakter  geophysikalischer  Unter- 
.suchungen. 

Es  mögen  in  folgenden  Zeilen  einige  meteo- 
rologisch interessante  Fälle  berührt  werden. 

I.  Gewitterbeobachtung. 
Zunächst  mag  erwähnt  werden,  daß  die  im 
Oktoberheft  1912  der  Meteorologischen  Zeitschrift 
beschriebenen  Gewittererscheinungen  ^)  auch  vom 
Verfasser  vor  dem  Eingange  des  Eisfjords  in  der 
Nacht  vom  13.  auf  14.  August  1912  beobachtet 
wurden.  Auch  in  Kingsbay  wurden  von  den  dort 
stationierten  Engländern  auf  dem  Observatorium 
Gewittermeidungen  gemacht.  Auf  der  Funken- 
station Greenharbour  wurden  an  genanntem  Tage 
starke  atmosphärische  Störungen  bemerkt. 

2.   „Talphänomen." 

Seit  Anfang  August  191 2  wurden  neben  den 
Registrierungen  der  meteorologischen  Elemente 
beim  Observatorium  Temperaturregistrierungen 
auf  dem  596  m  hohen  Mt.  de  la  Brise  (S  km  nord- 
westlich des  Observatoriums)  gewonnen,  seit  An- 
fang 191 3  solche  an  dem  am  Eingange  der  Cross- 
bay gelegenen  Kap  Mitra  (7  km  südwestlich  des 
Observatoriums)  {Vig.   i). 

Der  Vergleich  der  gewonnenen  Temperatur- 
kurven ist  recht  interessant,  zumal  während  der 
Perioden  des  „Talphänomens".  Diese  Erscheinung, 
bekanntlich  hervorgerufen  durch  eine  bei  stillem, 
klarem  Wetter  dem  Talboden  auflagernde,  hin- 
und  herpendelnde  kältere  Luftschicht,  deren  Be- 
wegung zeitweise  das  Registrierinstrument  mit 
einer  darüber  lagernden  wärmeren  Schicht  in  Be- 
rührung bringt,  ist  charakterisiert  durch  mehr 
oder  weniger  starke,  in  unregelmäßiger  Periode  auf- 
tretende Schwankungen  der  Temperaturkurve.  ^) 
Diese    Temperaturschwankungen,     die     übrigens 


nicht  nur  in  der  Arktis  auftreten,  bei  geschützter 
Lage  des  Beobachtungsortes  aber  für  diese  und 
vornehmlich  für  die  dunkle  Zeit  charakteristisch 
sind,  dürfen  naturgemäß  in  den  Registrierungen 
der  Bergsiation  nicht  auftreten.  Fig.  2  zeigt 
dieses  an  einem  beliebig  gewählten  Beispiele  vom 
Dezember  1912.  Die  Basisstalion  beim  Obser- 
vatorium zeigt  Schwankungen  bis  7  Grad,  wäh- 
rend die  Registrierung  auf  dem  Mt.  de  la  Brise 
eanz  glatt  verläuft  und  nur  hier   und  da  schwach 


5iruation5pian 


Fig.  I. 

Orienlierungskarte  für  die  Umgebung  des  Observatoriums. 

I  ;  200000. 

ausgeprägte  Zacken  zeigt.  Die  mittlere  Tempe- 
ratur auf  dem  Berge  ist  bei  den  Kurven  höher 
als  die  des  Tales,  auch  die  mittlere  Temperatur 
der  Bergstation  über  größere  Zeitintervalle  ge- 
nommen, liegt  um  etwa  2  Grad  über  dem  Mittel 
der  Basisstation. 

Registrieraufstiege ,  die  während  der  Dauer 
der  Erscheinung  des  „Talphänomens"  ausgeführt 
wurden,  zeigten,  wenn  Auf-    bzw.  Abstieg  gerade 


')    Rudolf    Jamojlowitz,     Gewitter    auf   Spitzbergen. 
M.  Z.  29  p.  485. 


')  Vgl.  hierüber  A.  W  e  g  e  n  e  r ,  Terminbeobaclitungen  am 
Danmarljs-Havn.  Kopenhagen  1911,  sowie  seine  ,, Thermo- 
dynamik der  Atmosphäre".  Auch  in  den  Temperaturkurven 
von  dreenharbour  und  Advcntbay  treten  diese  Schwankungen 
in  typischer  Weise  auf. 


SI4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  33 


in  entgegengesetzten  Phasen  der  Ersclieinung 
stattfanden,  bis  zu  einer  gewissen  Höhe  vom  Erd- 
boden beim  Vergleich  der  Angaben  des  Registricr- 
instrumentes  beim  Auf-  und  Abstieg  zweideutige 
Temperaturen.  Da  während  der  dunklen  Zeit 
eine  Fälschung  der  Angaben  durch  Strahlung 
ausgeschlossen    ist,    ist  auf  diese  Weise  die  Mög- 


3.  Temperaturverhältnisse. 
Die  Temperaturverhältnisse  Nordwest -Spitz- 
bergens, hauptsächlich  die  der  Küste,  sind  im 
Vergleich  zu  der  nördlichen  Lage  des  Landes  recht 
wenig  arktisch.  Wir  haben  es  hier,  um  ein  Schlag- 
wort zu  gebrauchen,  mit  einem  ,,Gollstromklima" 
zu  tun,    denn  der  Tempcraturverlauf  ist  zeilweise 


Observcit. 


Mt.   Brise 


DezemDer  1912 
17 


-10 


18 


,,r^YwV--^,_,,..^~^A, 


Temperatur 
19 


X^^vW 


ZO 


KA^Vv^iA/^^'V^^lW" 


21 


Fig.   2.     Teniperaturscliwankungen   des   , .Talphänomens"  sowie  gleichzeitige  Registrierung  auf  dem   de  la  lirise-Berg. 


daß  obiges  Schlagwort  die  Verhältnisse  recht  gut 


2?  Mar;  1913 


Mt.   Brise 


Kap   Mitra 


März  1913 
0               15 

16 

Ol 

-10                  ^--0   .       />J 

1^AA./\    y ^       j, -10 

0 

0 

?;T! -— ' 

_____^ 

0 

0 

-10 

— -.__ 

-10 

Fig.   3.      (Ueichzeitige  Temperaturkurven  am   Obseratorium, 
dem  de  la  Brise-Berg  und  Kap  Mitra 


phänomens"  nicht  zeigen.  Das  in  Fig.  3  gege- 
bene Beispiel  vom  März  191 3  zeigt  neben  den 
Kurven  der  Temperatur  beim  ( )bservatorium  und 
auf  dem  la  Brise-Berge  noch  die  gleichzeitige 
Kurve  vom  Kap  Mitra.  Diese  weist  allgemein 
denselben  Gang  der  Temperatur  auf,  wie  die  des 
Observatoriums,  zeigt  aber  nicht  die  typischen 
Schwankungen,  die  auch  auf  dem  la  Brise-Berge 
fehlen. 


?■'     lt>  Man 


lichkeit    gegeben,    die    Höhenerstreckung    der  Kr-      derartig  von  der  Wirkung  der  Ausläufer  des  noch 
scheinung  des  „Talphäiiomens"   in    der  freien   At-      in  diese  Breite  eindringenden  Golfstroms  abhängig, 
mosphäre  zu  bestimmen.    In  den  zur  Untersuchung 
brauchbaren  Plillen  ergab   sich  für  diese  etwa  die 
Höhe  der  umliegenden  Berge  (500  ml). 

Am  Ausgange  des  Tales,  wo  die  Bildung  einer 
stagnierenden    Luftschicht    am    Erdboden    infolge 
der  exponierten  Lage  erschwert  ist,  darf  natürlich 
ein  Thermogramm    die    Schwankungen    des   „Tal- 
Temperatur 


Observat. 


Ipmperaturshdia 
ü  -1 


Fig.   4.      Gleichzeitige  Registrierungen  des  Luftdruckes,   Windes 

und    der    Temperatur    gelegentlich    des    Vorüberziehens    einer 

barometrischen  Depression  am   27.  März    1913. 


N.  F.  XIII.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


515 


charakterisiert.  Zu  Zeiten  vorherrschender  Winde 
aus  südlichen  Gegenden  ist  die  Lufttemperatur 
auch  während  des  eigentlichen  Winters  recht 
hoch,  zeitweise  einige  Grade  über  Null,  während 
bei  Perioden  nördlicher  Winde  oder  Wind- 
stille die  Temperatur  mehr  an  arktische  Ver- 
hältnisse erinnert  und  im  Mittel  —  20 — 30  Grad  be- 
trägt. Diese  Abiiängigkeit  der  Luftwärme  von 
der*^  Windrichtung  ist  der  Grund  für  die  enormen 
Temperaturschwankungen,  die  vornehmlich  an  der 
Nordwestküste  Spitzbergens  im  Laufe  des  Winters 
auftreten.  Ob  diese  Verhältnisse  allerdings  als 
Norm  anzusehen  oder  nur  als  Eigentümlichkeit 
des  Winters  191 2 — 13  mit  seinem  anomalen 
Witterungsverlauf  aufzufassen  sind,  muß  noch 
dahingestellt  bleiben. 

Ein  Beispiel  vom  27.  März  191 3  möge  zeigen, 
daß  sich  diese  Verhältnisse  nicht  nur  bei  größeren 
W  i  1 1  e  r  u  n  g  s  [)  e  r  i  o  d  e  n  bemerkbar  machen,  son- 
dern sich  auch  im  Detail  widerspiegeln.  In  den 
Nachmittagsstunden  genannten  Tages  passierte 
eine  kleine  barometrische  Depression  das  Obser- 
vatorium. Die  Luftdruckkurve  des  R  i  c  h  a  r  d '  sehen 
Barographen  gibt  Fig.  4  wieder.  Die  Schwankung 
betrug  nur  wenig  über  2  mm.  Der  relativ  langsam 
fallende  Luftdruck  brachte,  wie  aus  der  Kompo- 
nentendarstellung des  Windes  in  der  Figur  hervor- 
geht, langsam  an  Stärke  zunehmenden  SSE-Wind. 
Die  Kurven  der  Windrichtung  und  Stärke  wurden 
gewonnen  mit  einem  einfachen  Instrument.  Ein 
vertikal  hängendes  Pendel  wird  vom  Winde  aus 
seiner  Ruhelage  abgelenkt  und  seine  Bewegungen 
werden  vermittelst  eines  „Pantographen"  in  N-S 
bzw.  W-E  Komponenten  des  Windes  auf  rotieren- 
dem Zylinder  und  berußtem  Papierstreifen  dar- 
gestellt. Der  langsam  an  Stärke  gewinnende  SSE 
bringt  bei  allen  Stationen  für  Temperaturregistrie- 
rung Erwärmung  um  ungefähr  2  Grad.  Kurz  vor 
10 p  steigt  der  Luftdruck  ziemlich  plötzlich,  ebenso 
plötzlich  schlägt  der  Wind  bei  zunehmender  Stärke 
nach  NNW  um;  die  Temperatur  fällt  an  allen 
drei  .Stationen  um  ungefähr  6  Grad.  Der  Tem- 
peraturabfall beginnt  natürlich  zuerst  bei  der  Berg- 
station, an  der  exponiertesten  Stelle,  folgt  dann 
zeitlich  an  zweiter  Stelle  am  Kap  Mitra,  das  eben- 
falls für  NNW  leichter  erreichbar  als  das  relativ 
geschützt  liegende  Observatorium. 

4.  T  r  i  e  b  s  c  h  n  e  e. 

Bei  trockener  Schneedecke  und  bewegter 
Luft  finden  sich  in  den  dem  Erdboden  zunächst 
liegenden  Luftschichten  fast  zu  jeder  Zeit  Schnee- 
kristalle, die  als  Triebschnee  vom  Winde  fort- 
geführt werden.  Es  sind  dieses  nicht  vollständige 
Kristalle  von  der  bekannten  Form  sechsstrahliger 
Sterne,  sondern  zumeist  Eis  nadeln,  die  teils  in 
dieser  Form  in  der  Luft  entstanden,  teils  sich  in- 
folge eines  Sublimationsprozesses  an  der  Oberfläche 
der  Schneedecke  bildeten.  Auch  Trümmer  der 
Schneesterne  finden  sich  im  Triebschnee. 

Der  Triebschnee  ist  nur  eine  spezifische  Er- 
scheinung   in   der   dem    Erdboden    naheliegenden 


Luft.  Je  nach  der  Windstärke  ist  seine  Höhen- 
erstrcckung  verschieden.  Bei  geringen  Wind- 
geschwindigkeiten, bis  etwa  6  m/sek.,  werden  bei 
ebenem  Terrain  nur  die  untersten  zehn  Dezimeter 
der  Luft  Triebschnee  führen,  bei  größeren  W'ind- 
stärken  reicht  die  Erscheinung  unter  sonst  gleichen 
Bedingungen  bis  zu  etwa  5  —  10  Meter  Möhe. 

Die  Zone  des  Triebschnecs  schmiegt  sich  im 
allgemeinen  den  Terrainverhältnissen  an.  Im  Lee 
von  flachen  Hügeln,  wo  man  in  größerer  Nähe 
eine  größere  Höhe  des  Triebschneebereiches 
findet,  trifft  man  in  einiger  Entfernung  wieder 
normale  Verhältnisse  an.  Infolge  des  Windschutzes, 
der  eine  geringere  Windgeschwindigkeit  bedingt, 
sammeln  sich  nahe  dem  Hügel  größere  Trieb- 
schneemengen an,  die  einen  flach  auslaufenden 
Wall  bilden,  dessen  Längsrichtung  mit  der  Rich- 
tung des  beim  Triebschnee  herrschenden  Windes 
identisch  ist.  Auf  diese  Weise  entstehen  die  auch 
bei  uns  bekannten  eigentümlichen  Gebilde  an  der 
Oberfläche  einer  Schneedecke,  bei  denen  ein  kleiner 
störender  Körper  lange,  in  keinem  Verhältnis  zu 
der  Größe  der  Störung  stehende  Schneewälle  ver- 
ursachen kann.  Bei  uns  in  Norddeutschland  bilden 
sich  aber  diese  Formen  zumeist  nur  während  der 
Schneefälle  selbst  („Sclineetreiben"),  während  in 
der  Arktis  und  im  Hochgebirge  das  eigentlich 
bildende  Element  der  „Triebschnee"  ist,  da 
hier  sich  auch  ohne  Schneefall  Form  und  Rich- 
tung der  Wälle  ändert. 

Fallen  die  Hindernisse  im  Lee  steil  ab,  wie  es 


Fig.   5.     Schneefalinen    über    den    Gipfeln    der  Berge  nördlich 
Mt.  Scoresby  am  26.  Februar  191 3. 

bei  hohen  felsigen  Bergen  der  Fall  ist,  so  wird 
auf  der  dem  Winde  abgewandten  Seite  nahezu 
Windstille  herrschen;  ja  es  wird  sich  hier  eine  Art 
Wirbel  bilden,  der  im  Tale  eine  Luftbewegung 
entgegen  der  allgemeinen  Windrichtung  zur 
Folge  hat,  und  die  Luft  nahe  dem  Steilabfalle  des 
Berges  zwingt,  vertikal  emporzusteigen.  Die  mit 
Triebschnee  angefüllte  Luftmasse  im  Luv  des 
Berges  gleitet  den  Bergabhang  hinauf  und  strömt 
an  der  Bergspitze  in  der  Richtung  der  allgemeinen 
Luftströmung  ab;  die  Folge  hiervon  ist  die  Bildung 
von  Schnee fahnen,  die  von  dem  Berggipfel 
ausgehen,  deren  Bestand  aber  wesentlich  mitbe- 
dingt wird  durch  die  Existenz  der  aufsteigenden 
Luftbewegung  im  Lee  des  Hindernisses.  Fig.  S 
stellt  eine  Zeichnung  dieser  Erscheinung  dar,  die 


5i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  33 


am  26.  I'^ebruar  191 3  mittags  über  den  Bergen 
nordwestlich  des  Observatoriums  beobachtet  wurde. 
In  der  freien  Atmosphäre  herrschte  damals  in  der 
Höhe  der  Berge  ein  Wind  von  6 — 7  m  pro  Sek. 
aus  NNK. 

Der  Schnee  dieser  Windfahnen  treibt  häufig 
sehr  weit  mit  dem  Winde  fort  und  kann  Anlaß 
geben  zu  „Schneefällen  aus  heiterem  Himmer',  wie 
sie  oft  beobachtet  wurden  und  die  häufig  optische 
Erscheinungen  (Nebensonnen)  verursachen. 

5.  Schneekristalle. 
Was  die  Form    der  S  c  h  n  e  e  k  r  i  s  t  a  1 1  e  be- 
trifift,    so  fand  Verfasser    die  bekannten  Schnee- 
s  t  e  r  n  e  in  Spitzbergen  in  der  Regel  nur  bei  Tcmpe- 


Robitzsch  phot.   15.  3. 
12  strahliger  Schneestern.     16  ;  I. 


13- 


Robitzsch  phot.   15.  3.   13. 
I2strahligcr  Schneestern.     16  :  I. 

raturen  bis  zu  etwa  — 10  Grad.  Bei  tieferen  Tem- 
peraturen, bei  denen  die  Schneefälle  selten  und 
wenig  ergiebig  waren,  ist  die  vorherrschende  Form 
die  „Eisnadel"  (das  sechsseitige  Prisma)  und  das 
„Plättchen".     Die  Größe    der  Kristalle  nahm,   wie 


bekannt,  auch  hier  in  Spitzbergen  mit  der  Tem- 
peratur ab.  Eigentlich  schön  ausgeprägte  Sterne 
fanden  sich  nur  bei  Temperaturen  unter  Null, 
da  bei  höherer  Luftwärme  naturgemäß  die 
l'lockenbildung  es  fast  unmöglich  macht,  die 
Kristalle  zu  isolieren.  Deshalb  gehören  auch  die 
meisten  Kristallformen,  die  mikrophotographisch 
aufgenommen  wurden,  zu  den  bei  — 4  bis  — 10 
Grad  auftretenden  Formen. 


Robitzsch  phot.    15.  3. 
Schneekristall-Zwilling.      16  :  1. 


Robitzsch  phot.   15.  3.   13. 
Normaler  Schneestern.     8:1. 

Die  Größe  der  Flocken  war  im  allgemeinen 
die  auch  bei  uns  für  normal  geltende.  Nur  einzelne 
Schneefälle,  so  z.  B.  ein  am  10.  Dezember  1912 
bei  +4  Grad  auftretender,  brachten  ungewöhnlich 
große  Flocken  von  etwa  4  cm  Durchmesser. 

Die  große  Menge  der  Mikrophotographien, 
speziell  angefertigt  zum  Studium  der  Abhängigkeit 
der  Kristallform  von  den  Witterungsfaktoren,  vor- 
nehmlich der  Luftfeuchtigkeit  (Sättigung  in 
bezug  auf  Eis),  bietet  viele  interessante  Details, 
deren  Besprechung  aber  einer  anderen  Notiz  vor- 
behalten werden  muß.  Es  mag  hier  nur  erwähnt 
werden,  daß  die  Kristallform  in  der  Hauptsache 
wohl  eine  Funktion  des  Ortes  im  barome- 
trischen Minimum    ist,    an    welchem    die 


N.  F.  XIII.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


517 


Bildung  der  Iv ristalle  vor  sich  ging,  und 
daß  man  möglicherweise  von  einer  der  Vorderseite 
bzw.  Rückseite  der  Depression  typischen  Kristall- 
form sprechen  kann.  Die  prinzipielle  Entscheidung 
dieser  Frage  erfordert  aber  noch  weit  mehr  syste- 
matisch gewonnenes  Material,  wie  bisher  vorliegt. 

In  dem  Folgenden  mögen  nur  einige  interes- 
sante Anomalien  der  Form  der  Schneekristalle 
berührt  werden.  Zwar  sind  die  beobachteten 
Formen  schon  in  der  Literatur  bekannt,  doch  ist 
es  wohl  nicht  unangebracht,  zu  den  beigelegten 
Bildern  einige  erläuternde  Worte  zu  geben. 

Während  weitaus  die  größte  Zahl  der  Schnee- 
fälle normale  Kristall  formen  zeigen,  die  zwar 
hier  und  da  „Mißbildungen"  und  ,, Verwachsungen" 
aufweisen,  so  wird  man  bei  aufmerksamer  Ver- 
folgung der  Erscheinung  bald  zu  der  Überzeugung 
i^elangen,  daß  diese  Mißbildungen  bei  dem  einen 
Schneefalle  häufiger  sind,  wie  bei  dem  anderen. 
Die  Tatsache,  daß  die  Schneeform  überhaupt  von 
den  äußeren  Bedingungen  für  die  Kristall- 
bildung abhängig  ist  wie  auch  die  Verschiedenheit 
der  Kristallfonn  selbst,  läßt  ohne  weiteres  eine 
Erklärung  hierfür  zu.  Es  sind  eben  nicht  immer 
die  für  die  Bildung  der  Anomalien  notwendigen 
äußeren  Bedingungen  vorhanden;  sind  diese  ge- 
geben, so  muß  notwendigerweise  das  Auftreten 
anomaler  Formen  häufiger  sein. 

Ein  in  den  Nachmittagsstunden  des  15.  März 
191 3  stattfindender  Schneefall  war  sehr  reich  an 
ungewöhnlichen  Formen.  Leider  waren  die  Be- 
leuchtungsverhältnisse  sehr  schlecht,  so  daß  von 
den  zahlreichen  mikrophotographischen  Aufnahmen 
nur  wenige  brauchbar  wurden.  Es  war  unsichtiges 
Wetter,  die  Luft  war  mit  Feuchtigkeit  (in  bezug 
auf  Wasser)  gesättigt.  Die  Temperatur  betrug 
— 7,5  Grad.  Die  Übersättigung  in  bezug  auf  Eis 
betrug  also  etwa  0,2  mm  Hg.  Es  herrschte  fast 
Windstille,  so  daß  die  Kristalle  leicht  und  unver- 
letzt aufgefangen  werden  konnten. 

Unter  diesen  Verhältnissen  beobachtete  man 
neben  normalen  Kristallformen  sehr  häufig 
„Zwillingskristalle".  Die  Plättchen  im 
Zentrum  des  Sternes,  an  die  sich  normal  die 
Strahlen  des  Schneekristalls  ansetzen  und  sich 
dann  weiter  ausbilden,  lagen  bei  diesen  Formen 
mit  einer  Seite  aneinander.  Nur  an  den  „freien 
Nebenachsen"  des  so  entstandenen  Kristallaggre- 
gates war  es  zu  einer  Ausbildung  von  Strahlen 
gekommen.  Die  Richtung  der  kristallographischen 
Hau[)tachsen  der  Kristallzwillinge  war  in  den 
meisten  Fällen  parallel,  d.  h.  die  Ebenen  der 
Zentralplättchen  fielen  zusammen.  Weniger  häufig 
lagen  diese  in  einem  stumpfen  Winkel  zueinander, 
so  daß  die  eine  Zwillingskomponente  nicht  in 
der  Ebene  der  anderen  lag.  Unser  Bild  zeigt 
einen  Vertreter  der  letzterwähnten  Form.  Infolge 
der  ungleichen  Reflexion  des  Lichtes  an  den 
Kristalloberflächen  erscheint  auf  der  Mikrophoto- 
graphie die  eine  Komponente  lichtschwächer  wie 
die  andere  und  tritt  deshalb  weniger  hervor. 

Während  die  meisten  Sterne    sich    nur  in  der 


Richtung  der  Nebenachsen  des  Kristalls  aus- 
bilden und  nur  relativ  wenige  andeutungsweise 
oder  doch  weniger  ausgebildet  Ansätze  zeigen, 
deren  Richtung  mit  der  Winkelhalbierenden 
der  Nebenachsen  zusammenfällt,  so  daß  man  von 
einem  ungleich  ausgebildeten  zwölfstrahligen 
Sterne  sprechen  kann ,  so  brachte  der  erwähnte 
Schneefall  völlig  ausgebildete  Vertreter  dieser 
Formen.  Zwei  Photographien  dieser  Reihe  mögen 
diese  Kristallform  repräsentieren.  Die  Strahlen 
sind  recht  gleichmäßig  ausgebildet  und  sind  „nackt", 
d.  h.  ohne  seitliche  Abzweigungen. 

Die  letzte  Mikrophotographie  zeigt  ein  unge- 
wöhnlich großes  Kristall,  das  bei  einer  Temperatur 
von  — 9  Grad  am  9.  März  191 3  aufgenommen 
wurde.  Nach  Hell  mann  beträgt  der  mittlere 
Durchmesser  strahliger  Sterne  in  Europa  bei 
dieser  Temperatur  etwa  2  mm.  Unser  der  Form 
nach  wenig  auffallendes  Kristall  ist  nur  8  fach  ver- 
größert, besaß  also  in  Wirklichkeit  einen  Durch- 
messer von  rund  6  mm  und  übertrifft  also  an 
Größe  die  Norm  um  das  dreifache. 

6.    Vergletscherung. 

Die  meisten  Schneefälle  traten  bei  einer  Wind- 
richtung aus  NW  auf  Hierdurch  erklärt  sich  eine 
Tatsache,  die  Dr.  Kurt  Wegener  auf  seiner 
Schlittenreise  nach  Wijdebay  beobachtete.  Je 
weiter  man  nach  Osten  in  das  Innere  Spitzbergens 
eindringt,  um  so  geringer  ist  die  Höhe  der  Neu- 
schneedecke. Die  von  der  See  kommende  feuchte 
Luft  verliert  beim  Übersteigen  der  verschiedenen 
Parallclplateaus  Nordwest  -  Spitzbergens  durch 
Niederschlagsbildung  immer  mehr  von  ihrem 
Feuchtigkeitsgehalt.  Bedingt  wird  hierdurch  die 
schwächere  Entwicklung  der  Gletscher  im  Land- 
inneren, wo  Täler  ohne  Gletscher  angetroffen 
werden  (Nebentäler  der  Wood  und  Wijdebay),  eine 
Tatsache,  die  in  den  Küstengegenden  unbekannt 
ist.  Auch  die  Vergletscherung  des  Nordostlandes 
wird  so  wieder  erklärlich,  da  zu  ihm  die  aus  NW 
kommenden  Winde,  ohne  vorher  Berge  zu  pas- 
sieren, freien  Zutritt  haben  und  ihren  Feuchtig- 
keitsgehalt dort  in  P'orm  von  Schnee  nieder- 
schlagen können. 

7.    Fall  winde. 

Die  Windregistrierungen  waren  häufig  charak- 
terisiert durch  plötzliches  Einsetzen  der  Wind- 
strömungen, die  gleich  von  vornherein  ihre  volle 
Stärke  besaßen.  Auf  dem  Observatorium  war 
dieses  nur  bei  Nordwinden  der  Fall.  Schon  im 
Herbst  191 2  hatte  es  sich  bei  Pilotballonaufstiegen 
herausgestellt,  daß  in  Höhe  der  Berge  gelegent- 
lich solcher  Nordwinde  eine  starke  Geschwindig- 
keitsabnahme des  Windes  vorhanden  war.  Als 
am  30.  Oktober  191 2  eine  Exkursion  nach  dem 
nördlichen  Bergplateau  unternommen  wurde, 
herrschte  unten  im  Tal  seit  etwa  7  a  ein  scharfer 
NE  bei  — 25  Grad  Celsius.  Je  näher  man  (gegen 
10  a)  dem  Plateau  kam,  das  um  etwa  200  m  den 
Talboden  überragt,  um  so  mehr  ließ  der  Wind  an 


5i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  33 


Stärke  nach.  Oben  auf  dem  exponierten  Plateau 
selbst  herrschte  völlige  Windstille.  Dieser  Befund 
spricht  dafür,  daß  die  erwähnten,  plötzlich  ein- 
setzenden Nordwinde  den  Charakter  von  typischen 
Fallwinden  tragen,  deren  Bildungsgebiet  die  nörd- 
lich des  Observatoriums  gelegenen 
ausgedehnten  l'latcaus  darstellen. 


8.  F  ö  h  n  e  r  s  c  h  e  i  n  u  n  g  e  n. 

Im  Frülisommer  zur  Zeit  der  Schnee- 
schmelze hält  sich  die  Lufttemperatur 
tagelang  um  Null  Grad ;  die  durch  die 
immer  höher  steigende  Sonne  wach- 
sende Wärmezufuhr  wird  aufgebraucht 
zur  Schmelze  des  Schnees.  Je  mehr 
sich  schneefreie  Bodenflächen  ausbilden, 
um  so  mehr  wird  die  Sonnenstrahlung 
eine  Erhöhung  der  Lufttemperatur  über 
dem  Lande  herbeiführen,  welche  ihrer- 
seits wiederum  Luftzufuhr  von  der 
kälteren  Meeresoberfläche  —  See- 
winde —  bedingt.  Diese  Seewinde 
haben  im  allgemeinen  nur  eine  geringe 
Stärke,  geben  aber  Anlaß  zu  Föhnerscheinungen, 
die  zwar  im  kleinen  aber  recht  typisch  vor  sich 
gehen.  Ein  Bild  von  Ende  Juni  19 13  zeigt  die 
schön  ausgeprägten  „Föhnwolken"  über  den  Bergen 


seewärts  vom  Observatorium.  Mehr  im  Land- 
inneren bildeten  sich  dann  gelegentlich  solcher 
Föhntage,  allerdings  nur  über  höheren  Erhebungen, 
die  bekannten  ,, Hinderniswolken"  oder  „Wind- 
fahnen"   aus,    die    recht    weit  über  den  störenden 


Robitzsch  pliot.  Juni   1913. 
FöluiiiKuier  über  den  Bergen  im  Westen  des  Ebcltofthafens. 


Berggipfel  hinaus  verfolgt  werden  konnten.  Nahe 
am  Horizont  erschienen  sie  dann  als  System 
paralleler  Wolkenstreifen,  deren  Anfang  bestimmt 
war  durch  die  Lage  der  störenden  Berge. 


AiiiinoiiiaUsyiillieseu. 


[Naclidiuclc  verboten.]  Von    Otto 

Bei  der  Eröffnungsversammlung  der  British 
Association  in  Bristol  im  Jahre  1898  sprach  Sir 
William  Crookes  die  Befürchtung  aus,  daß  es  auf 
die  Dauer  unmöglich  sein  würde,  der  stetig  an- 
wachsenden Bevölkerung  der  Erde  Brot  zu  be- 
schaffen, wenn  es  nicht  gelänge,  auf  künstlichem 
Wege  dem  Boden  die  erforderliche  Stickstofif- 
düngung  zu  geben,  und  daß  es  eine  der  größten 
Erfindungen  wäre,  den  Stickstoff  der  Luft  zu  binden. 

In  der  Tat  hat  man,  während  der  Bedarf  an 
stickstoffhaltigen  Düngemitteln  in  ständiger  Steige- 
rung begriffen  ist,  mit  aller  Wahrscheinlichkeit  mit 
einer  relativ  rasch  fortschreitenden  Erschöpfung 
der  natürlichen  Vorräte  an  Chilisalpeter  zu  rechnen. 
Andererseits  kann  auf  einen  Ausgleich  durch  rasche 
Steigerung  der  Produktion  von  Ammoniak  bzw. 
schwefelsaurem  Ammoniak  nicht  gerechnet  werden, 
da  sie  vom  Betriebe  der  Gasfabriken  und  Kokereien 
abhängig,  als  Selbstzweck  auf  diesem  Wege  aber 
unmöglich  ist.  Das  Problem,  den  elementaren 
Stickstoff  dennoch  zu  bezwingen,  wirft  sich  daher 
immer  gebieterischer  auf  und  hat  seit  einiger  Zeit 
eine  sehr  aktuelle  Bedeutung  gewonnen. 

Die  Natur  bietet  uns  den  freien  Stickstoff 
überall  auf  der  Erde  an;  die  uns  umgebende  Luft- 
schicht enthält  neben  20,833  "/^  Sauerstoff  und 
geringen    Mengen    sog.    Edelgase  79,167  "/„  Stick- 


Bürger. 

stoft'.  Über  einem  einzigen  Ouadratkilometer  unserer 
Erde  lagern  solche  Mengen  Stickstoff  (ca.  8  Millio- 
nen Tonnen),  wie  sie  25  Jahre  hindurch  den  Welt- 
bedarf an  gebundenem  Stickstoff  decken  würden. 
Die  Natur  hat  es  uns  überlassen,  die  richtigen 
Methoden  zu  finden,  den  freien  Stickstoff  in  ge- 
btindene  Form  überzuführen. 

Außer  dem  schon  erwähnten  Stickstoff  des 
Chilisalpeters  ist  noch  der  Stickstoff  von  Bedeutung, 
der  sich  in  der  Kohle  vorfindet.  Der  durchschnitt- 
liche Stickstoffgchalt  der  Kohle  beträgt  etwa  i  %, 
und  wenn  auch  hiervon  nur  etwa  70 "  „  bei  der 
gewöhnlichen  Form  der  Vergasung  gewonnen 
werden  können,  so  bildet  doch  die  Kohle  heute 
noch  die  Hauptquelle  unseres  Bedarfs  an  Ammoniak. 

Von  einer  eigentlichen  Ammoniakindustrie  war 
um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  noch  nichts 
zu  bemerken.  J.  Dumas  sagt  in  seinem  von 
L.  A.  Buchner  übersetzten  Handbuch  der  an- 
gewandten Chemie')  folgendes: 

„Die  Zeit  kann  nicht  mehr  fern  sein,  wo  die 
Ammoniaksalze  eine  bedeutende  Rolle  spielen 
werden.  Gegenwärtig  gebraucht  man  sie,  um 
das  Verzinnen  von  Eisen,  Kupfer,  Messing  und 
Hausgeräten  zu  erleichtern.    Auch  zur  Gewinnung 


')  Nürnberg   1S4Ö,  7,  7 16  ff. 


N.  F.  Xni.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


519 


des  Platins  werden  sie  gebraucht.  In  der  Medizin 
wird  der  Salmiak  als  Reizmittel  und  Auflösungs- 
mittel angewendet.  Das  schwefelsaure  Ammoniak 
nimmt  man  zur  Bereitung  des  Ammoniakalauns, 
welcher  mit  Vorteil  in  mehreren  I'^ällen  den  Kali- 
alaun ersetzt,  und  für  diese  einzige  Anwendung  ist 
'  der  Verbrauch  des  seil  wefelsauren  Ammoniaks  schon 
'  beträchtlich.  Einen  viel  größeren  Verbrauch  würde 
die  Benutzung  des  schwefelsauren  Ammoniaks  als 
Düngemittel  in  der  Landwirtschaft  zur  Folge  haben, 
(legenwärtig  macht  man  in  mehreren  Ländern 
Versuche  im  großen  hierüber,  und  es  ist  beinahe 
gewiß,  daß  sie  für  die  Kultur  einiger  wichtiger 
Gewächse  ein  sehr  gutes  Resultat  geben  werden."  ') 
Auch  die  allgemeine  Einführung  der  I^euchtgas- 
fabrikation  aus  Steinkohlen  ließ  es  zu  keinem 
Aufschwung  der  Ammoniakindustrie  kommen;  sie 
war  vielmehr  lange  Jahre  liindurch  eine  Ouelle  von 
Unannehmlichkeiten  für  die  Leuchtgasfabrikanten, 
sei  es  wegen  zu  geringen  Nutzens,  sei  es,  daß  die 
Behörden  die  Verarbeitung  des  Gaswassers  wegen 
der  Belästigung  der  Anwohner  durch  den  „üblen 
Geruch"  verboten. 

Genau  so,  wie  man  die  ersten  Schiffsladungen 
Salpeter  ins  Meer  versenken  mußte,  weil  man  sie 
auf  dem  Markt  nicht  unterbringen  konnte,  so  war 
man  glücklich ,  wenn  man ,  unbehelligt  von  den 
Behörden,  die  Gaswässer  auf  dem  kürzesten  Wege 
im  nächsten  Flusse  zum  Abfließen  bringen  konnte. 
Erst  Ende  der  70er  Jahre,  nachdem  man 
schon  längst  dmch  Liebig  und  dessen  Schüler 
auf  den  Wert  des  schwefelsauren  Ammoniaks  als 
Düngemittel  aufmerksam  gemacht  worden  war, 
wurde  von  den  Gaswerken  mit  der  Verarbeitung 
des  Ammoniakwassers  begonnen  und  .Anfang  der 
80  er  Jahre  nimmt  die  Ammoniakindustrie  einen 
nahezu  ungeahnten  Aufschwung,  da  neben  der 
I^andwirtschaft  auch  die  chemische  Großindustrie 
Massenabnehmerin  geworden  ist.  Auch  die  Eisen- 
industrie ist  neuerdings  der  Ammoniakgewinnung 
nähergetreten,  so  daß  in  Deutschland  die  Ver- 
wertung des  Kohlenstickstoffs  ihr  Maximum  an- 
nähernd erreicht  haben  dürfte.  Anders  steht  es 
in  Nordamerika.  Dort  ist  man  jetzt  erst  in  den 
großen  Eisenwerken  daran ,  den  Kohlenstickstoff 
auszunutzen,  so  daß  wir  innerhalb  2  Jahren  etwa 
mit  einer  Jahresproduktion  von  500000  Tonneu 
Ammoniumsulfat  von  selten  Nordamerikas  zu 
rechnen  haben. 

Diese  Tatsache  konnte  den  Anschein  erwecken, 
die  synthetische  Ammoniakherstellung  habe  nun- 
mehr nicht  die  volkswirtschaftliche  Bedeutung,  die 
ihr  von  manchen  .Seiten  zugeschrieben  wird.  Wenn 
wir  jedoch  bedenken,  daß  die  Bevölkerungszunahme 
eine  beträchtliche  Konsumzunahme  von  Ammoniak 
bedingt,  und  daß  wir  die  Summen,  die  jährlich 
an  das  Ausland  für  den  Salpeterbezug  bezahlt 
!  werden,  dem  Lande  erhalten  möchten,  so  recht- 
fertigt sich  schon  das  Streben  nach  einer  praktisch 


')  Zeitschrift  für  angewandte  Chemie,  27,  Nr.  S,  S.  41—48. 
')  J.  Soc.  Chem.   n,  Nr.  I   und  z. 


durchführbaren,  rentablen  Ammoniaksynthese.  Zum 
Schluß  ist  dann  auch  das  Ammoniak  dazu  be- 
rufen, das  Rohmaterial  zur  Herstellung  von  .Salpeter- 
säure zu  liefern. 

1835  machte  Dawes")  die  Beobachtung,  daß 
sich  in  den  Schmelzen  von  Hochöfen  Cyankalium 
bildet  und  1839  gelang  es  Lewis  Thompson 
durch  Erhitzen  von  Koks,  Pottasche  und  Feil- 
spänen bei  Gegenwart  von  Luft  Cyankalium  her- 
zustellen. Auf  diesen  Beobachtungen  fußend,  er- 
hielt Swindells  1844  ein  englisches  Patent  auf 
die  Erzeugung  von  Ammoniak  durch  l'berleiten 
von  Wasserdampf  über  erhitzte  Cyanide.  Die 
.Ammoniakabgabe  der  Cyanide  erklärt  sich  aus 
folgender  Gleichung : 

KCN  +  2H.,0  =  NH.,  +  HCOOK 
Margueritte  und  Sourdeval  benutzten  das  Barium- 
cyanid  zur  Ammoniakerzeugung: 

Ba(CN).3  -|-  4H.,0  =  l^U,,  +  Ba(OH).,  +  2CO 
Mond')  änderte  dieses  Verfahren  etwas  um.  Er 
formte  aus  32  T.  Bariumkarbonat,  8  T.  Koks  und 
1 1  T.  Pech  Briketts,  die  nach  dem  Ausglühen 
unter  Luftabschluß  in  Stücke  gebrochen  werden. 
Die  Stücke  kommen  in  Retorten,  die  in  Kammern 
eines  Ringofens  eingebaut  sind  und  von  außen 
geheizt  werden.  In  die  Retorten  wird  Stickstoff 
eingeleitet.  Diese  Verfahren  hatten  sehr  unter 
dem  ('beistände  zu  leiden,  daß  kein  reiner  Stick- 
stoff verwendet  wurde,  sondern  durch  CO  verun- 
reinigter. 

Auch  die  Badische  Anilin-  und  Sodafabrik  er- 
hielt auf  ein  Ausführungsverfahren  der  Margue- 
ritte- und  S  ou  rde  val'schen  Reaktion  ein 
Patent,  wonach  die  Bariumoxydkohlemischung  in 
senkrecht  aufeinander  gesetzten  Kapseln  durch 
Flammgase,  die  parallel  zur  Achse  der  Kapsel- 
stöße geführt  sind,  erhitzt  wird,  während  reiner 
Stickstoff  zuströmt.  In  fast  quantitativer  Weise 
entsteht  nachher  Ammoniak,  wenn  die  Erdalkali- 
cyanide  mit  Wasser  im  Autoklaven  bei  etwa  150" 
behandelt  werden  ;  als  Nebenprodukt  entsteht  dabei 
ameisensaures   Barium. 

Dieses  Alkalicyanidverfahren  ist  das  erste,  das 
zur  synthetischen  Ammoniakgewinnung  in  Vor- 
schlag gebracht  wurde.  Jedoch  ist  aus  dieser 
Ouelle  bis  heute  noch  nicht  viel  Ammoniak  ge- 
flossen. Wichtiger  ist  das  Cyanamid-  oder  Kalk- 
stickstoffverfahren, das  auf  der  Verwendiuig  von 
Calciamkarbid  beruht,  einem  ausgezeichneten  Ab- 
sorptionsmittel für  Stickstoff.  In  der  ersten  Karbid- 
fabrik (Spray  in  Nordcarolina)  wurden  1895  von 
Wilson  die  ersten  Versuche  zur  Bindung  von 
Stickstoft'  mittels  Calciumkarbid  unternommen. 
Frank  und  Caro  fanden  dann,  daß  fein  gepulfer- 
tes  Karbid  bei  ca.  looo"  mit  Stickstoff  im  Sinne 
der  Gleichung 

CaCo  +N,,  =  CN.CNCa 
reagiert,  welches  Produkt  als  Salz  des  Cyanamides 
CNNL1._,  anzusehen  ist.     Die  Stickstoffbindung  auf 
Calciumkarbid   vollzieht   sich   jedoch    nur  dann  in 


»)  D.  R.  P.  21 175. 


520 


Naturwissenschaltliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  33 


glatter  Weise,  wenn  man  äußerst  reinen  Stickstoff 
anwendet.  Ein  kleiner  Zusatz  von  Metallchloriden 
zum  gepulverten  Karbid  beschleunigt  jedoch  die 
Reaktion.  Nach  diesem  \-on  Polzenius  gefun- 
denen Verfahren  wunle  der  erste  auf  dem  Markte 
erschienene  Kalkstickstoff  hergestellt.  Das  heute 
im  großen  mit  Erfolg  durchgeführte  Verfahren 
beruht  darauf,  daß  das  in  einem  isolierten  Gefäß 
befindliche  zerkleinerte  Karbid  durch  einen  im 
Inneren  befindlichen  elektrisch  geheizten  Kohlen- 
Stab  erhitzt  und  der  Stickstoff  direkt  in  die  Meiz- 
zone  zugeführt  wird.  Nach  diesem  Verfahren  sollen 
pro  Pferdestärkenjahr  2000  kg  Calciumcyanamid 
herzustellen  sein. 

Eine  ganze  Reihe  von  iMetallen  hat  bei  mehr 
oder  weniger  erhöhter  Temperatur  die  h'ähigkeit, 
elementaren  Stickstoff  zu  binden;  diese  Metall- 
Stickstofifverbindungen  nennt  man  Nitride.  Einige 
von  diesen  Nitriden  haben  die  Eigenschaft,  ihren 
Stickstoff  mittels  Wasser  als  Ammoniak  abspalten 
zu  lassen,  diese  Nitride  kommen  denn  auch  haupt- 
sächlich für  die  synthetische  Gewinnung  von 
Ammoniak  in  Frage.  Für  den  Großbetrieb  eignen 
sich  natürlich  nur  diejenigen  Nitride,  die  billig 
hergestellt  werden  können,  infolgedessen  schrumpft 
die  Zahl  der  verwendbaren  Nitride  auf  einige 
wenige  zusammen.  Zuerst  wurde  hauptsächlich 
das  Bornitrid  (BN)  angewendet,  das  man  durch 
Erhitzen  von  mit  Borsäure  getränkter  Kohle  in 
Gegenwart  von  Stickstoff  herstellte  (Banet,  1879, 
Engl.  Fat.  4338).  L  y  o  n  s  und  B  r  o  a  d  w  e  1 1  stellen 
BN  durch  Elektrolyse  eines  auf  looo"  erhitzten 
Bades  von  Boraten  her,  in  Gegenwart  von  Stick- 
stoff. Durch  Behandlung  mit  Wasser  erhält  man 
aus  dem  Bornitrid  Ammoniak,  nach  der  Gleichung: 

BN  -j-  3H.,0  =  B(0H)3  +  NHo 
Behandelt    man  Bornitrid  mit  einer  Säure,    so  er- 
hält man  Borsäure  und  das  entsprechende  Ammo- 
niaksalz. 

Auch  Silicium  verbindet  sich  bei  1250 — 1300" 
mit  Stickstoft'  zu  Siliciumnitrid ;  da  jedoch  dieses 
hauptsächlich  nur  durch  Alkali  und  zwar  sehr 
langsam  in  Ammoniak  übergeführt  wird,  so  hat 
es  für  die  Ammoniaksynthese  keine  große  Be- 
deutung. 

Wichtiger  für  die  Ammoniakerzeugung  ist  das 
Aluminiumnitrid  AIN.  Matignon  beobachtete, 
daß  beim  starken  Erhitzen  von  Aluminiumpulver 
das  Aluminium  verbrennt,  und  daß  sich  neben 
Al.^Og  stets  auch  Aluminiumnitrid  bildet.  Die 
Vereinigung  von  Aluminium  und  Stickstoff  geht, 
wie  Fichter  1907  gezeigt  hat,  bei  einer  Tem- 
peratur von  720 — 740^'  vor  sich.  Da  jedoch 
metallisches  Aluminium  zu  teuer  ist,  so  läßt  sich 
diese  Methode  zur  technischen  Gewinnung  des 
Nitrids  nicht  anwenden.  Es  lag  jedoch  nahe,  statt 
des  Metalles  das  Oxyd  (Al.,Og)  anzuwenden,  was 
auch  Ende  der  90er  Jahre  von  Willson,  Chal- 
mott  und  Mehner  in  ihren  Patenten  zur  Nitrid- 
herstellung benutzt  wurde.  Die  Schwierigkeiten 
bei  der  Ausführung  dieser  Patente  überwandt  jedoch 
erst  O.  Serpek,  der  extrem  hohe  Temperaturen 


vermied  und  die  Bildung  von  Aluminiumkarbid 
Alj^Cg  schon  im  Keime  vermied.  Wohl  läßt  sich 
AljCg  zur  Nitridherstellung  heranziehen,  gemäß 
der  Gleichung:  AL.Og  +  A1.,C.  -f  6N  =  6  AIN  + 
3CO.  Diese  Reaktion  vollzieht  sich  bei  einer 
Temperatur  von  etwa  1500";  erhöht  man  jedoch 
die  Reaktionstemperatur  nur  um  etwa  50  "1  so 
kann  man  ohne  Karbidzusatz  allein  aus  Tonerde 
und  Kohle  das  Aluminiumnitrid  herstellen  (D.  R.  P. 
224628  vom  16.  3.  1909).  Am  vorteilhaftesten 
verwendet  man  als  Ausgangsprodukt  Bauxit.  Setzt 
man  jedoch  der  Tonerde  Katalysatoren  wie  Eisen, 
Kieselsäure,  Titansäure,  Mangan  usw.  zu,  so  kann 
diese  ebenso  leicht  wie  der  Bauxit  in  das  Nitrid 
übergeführt  werden. 

Eine  Erniedrigung  der  Reaktionstemperatur 
erreichte  Serpek  dadurch,  daß  er  dem  Stickstoff 
etwa  5  Vol.-"/,,  Wasserstoff  beimischte.  Bei  dieser 
Versuchsanordnung  ist  es  erforderlich  5 — 6  Stun- 
den bei  nur  1250 — 1300"  zu  erliitzen  und  zwar 
bei  einem  ca.  5  fachen  N-Uberschuß ,  da  das  sich 
bildende,  die  Reaktion  hemmende  CO  stark  ver- 
dünnt werden  muß. ')  Dieser  Vorteil  kommt  je- 
doch erst  bei  einer  Erhöhung  der  Temperatur 
zum  richtigen  Ausdruck;  so  kann  man  z.B.  schon 
durch  ein  halbstündiges  Erhitzen  von  Bauxit  auf 
iCoo"  in  richtig  konstruierten  Apparaten  sämt- 
liche Tonerde  in  Nitrid  umwandeln.  Bei  weiterer 
Erhöhung  der  Temperatur  läßt  sich  die  Reaktions- 
zeit noch  bedeutend  abkürzen  und  bei  einer  Tem- 
peratur von  1900"  endlich  erreicht  man  eine  voll- 
ständige LImwandlung  von  Tonerde  in  Nitrid  inner- 
halb 5  Minuten  ja  sogar,  in  letzter  Zeit,  innerhalb 
von   Bruchteilen  von  Sekunden. 

Das   Aluminiumnitrid    wird    durch    Wasser    in 
Ammoniak  und  Tonerdehydrat  gespalten: 
2AIN  +  6H,0  =  2NH3  +  Al.,(OH)ß. 

Diese  Zerlegung  findet  im  Rührautoklaven 
statt.  Um  reine  Tonerde  zu  erzeugen,  zerlegt  man 
das  Nitrid  nicht  mit  Wasser ,  sondern  mit  Alu- 
minatlösung  (2o''Be).  Bei  einem  Druck  von  2  Atmo- 
sphären vollzieht  sich  die  Zersetzung  in  i '/.,  bis 
2  Stunden.  Durch  Dekantation  läßt  sich  die  Ton- 
erdelösung leicht  von  den  ungelösten  Verunreini- 
gungen trennen  und  man  erhält  aus  ihr  nach 
Bayer 's  Vorschrift  durch  Autoausfällung  reine 
Tonerde.  Die  zurückbleibende  Aluminatlauge 
kann  zur  Zerlegung  neuer  Mengen  AUmiinium- 
nitrid  benutzt  werden. 

Bei  den  oben  besprochenen  Verfahren  der 
synthetischen  Ammoniakerzeugung  wurde  Wasser 
oder  Wasserdampf  bei  höherer  Temperatur  in 
Gegenwart  von  Cyaniden  oder  Nitriden  zerlegt, 
so  daß  der  Stickstoff  aus  diesen  Körpern  sich 
mit  dem  frei  gewordenen  Wasserstoff  zu  Ammoniak 
vereinigte.  Jetzt  wenden  wir  uns  einer  Methode 
zu,    bei    der  Wasserstoff  und   Stickstoff  direkt    in 


')  Man  vgl.  auch;  Adolph  Sprengel,  Über  Aluminium- 
nitrid (Diss.  Basel  1912)  und  W.  Fränkel's  Studie  über  die 
Bildung  von  Aluminiuninitrid  aus  Tonerde,  Kohle  und  Stick- 
stoff (Zeitschrift  für  Elektrochemie   19,  Nr.  8,  362). 


N.  F.  Xm.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


521 


Reaktion  gebracht  werden,  es  ist  dies  die  Haber- 
sche  Ammoniaksynthese. 

Bei  gewöhnlicher  und  auch  bei  erhöhter  Tem- 
peratur vereinigen  sich  Sticksioft'  und  Wasserstoff 
kaum  merklich  miteinander.  Bei  fast  genau  looo" 
zerfällt  Ammoniak  in  seine  Elemente,  umgekehrt 
sollte  man  meinen,  müßte  bei  dieser  Temperatur 
auch  Ammoniak  aus  Stickstoff  und  Wasserstoff 
herstellbar  sein.  In  der  Tat  bildete  sich  auch 
hierbei  0,0048 1  ";„  (Habe  r),  bzw.  0,0032  "/„  (J  o  s  t) ; 
bei  700"  betragen  diese  Mengen  0,0221  und 
0,0174  '%.  Hiernach  scheint  also  das  Problem  der 
synthetischen  Ammoniakerzeugung  aus  den  Ele- 
menten mehr  denn  je  ein  schöner  Traum.  Den- 
noch gelang  es  Haber  zusammen  mit  der  Badi- 
schen Anilin-  und  Sodafabrik  (Dr.  Bosch  und 
Mittasch)  dieses  schwierige  und  wichtige  Pro- 
blem zu  lösen.  Das  Verfahren  wird  wohl  am 
besten  durch  das  D.  R.  P.  235429  charakterisiert, 
dessen  Patentanspruch  lautet: 
I  „Verfahren   zur   synthetischen  Darstellung  von 

Ammoniak  aus  den  Elementen,  wobei  ein  geeig- 
netes Gemenge  von  Stickstoff  und  Wasserstoff 
kontinuierlich  der  Ammoniakbildung  mittels  er- 
hitzter Katalysatoren  und  nachfolgender  Ammoniak- 
entziehung  unterworfen  wird,  dadurch  gekenn- 
zeichnet, daß  hierbei  unter  dauerndem  Druck  und 
unter  jeweiligem  Ersatz  des  zu  Ammoniak  ver- 
bundenen und  zweckmäßig  durch  Abkühlung  und 
Abscheidung  in  flüssiger  oder  fester  Form  ent- 
fernten Anteiles    durch   neue  Stickstoffwasserstoff- 


mischung  gearbeitet  untl  dafür  gesorgt  wird,  daß 
die  Wärme  der  ammoniakhaltigen  Reaktionsgase 
auf  das  von  neuem  der  Reaktion  zu  unterwerfende 
ainmoniakfreie  Gasgemisch  übertragen  wird." 

Einen  besonderen  Fortschritt  erzielte  Haber 
durch  die  Auffindung  von  Katalysatoren,  die  schon 
bei  weit  niedrigeren  Temperaturen  als  den  bisher 
erforderlichen  eine  genügend  schnelle  Vereinigung 
von  Stickstoff  und  Wasserstoff  zu  Ammoniak  be- 
wirken. So  entfaltet  Osmium  schon  bei  550"  eine 
derart  günstige  Wirkung,  daß  bei  einem  Druck 
von  175  Atni.  8  Vol.-"/,,  Ammoniak  erhalten  wurden. 
Ein  sehr  guter  Katalysator  ist  auch  das  Uran, 
hierbei  ist  jedoch  Abwesenheit  von  Wasser  Haupt- 
bedingung. Setzt  man  dem  Katalysator  gewisse 
Oxyde,  Hydroxyde  oder  Salze  der  Alkalien,  alka- 
lische Erden  und  Erdmetalle  usw.  zu,  so  wird  er 
aktiviert,  d.  h.  in  seiner  Wirksamkeit  außerordent- 
lich verbessert.  Andererseits  gibt  es  jedoch  auch 
sogenannte  Kontaktgifte,  welche  die  Reaktion  be- 
einträchtigen oder  verhindern,  so  z.  B.  Schwefel, 
Selen,  Tellur,  Arsen,  Phosphor,  Bor,  Schwefelwasser- 
stoff usw. 

Zum  Schluß  sei  die  dritte,  bekannteste  Stick- 
stoffverwertungsmöglichkeit angeführt,  die  Oxyda- 
tion des  Luftstickstoffs  unter  Bildung  von  Salpeter- 
säure, auf  die  einzugehen  nicht  hierher  gehört. 

So  haben  unsere  Chemiker  und  Ingenieure  auch 
dieses  Problem  gelöst,  und  unseren  Ländereien 
neuen  Stickstiff  gesichert,  ehe  die  von  Chile  drohende 
Stickstoffnot  an  unsere  Türen  pocht. 


Einzelberichte. 


Botanik.  Sind  die  Wurzeln  der  Pflanzen  fähig, 
Temperaturunterschiede  wahrzunehmen  ?  Bekannt- 
lich kommt  den  Wurzeln  die  Fähigkeit  zu,  auf 
Licht-,  Schwere-  und  F'euchtigkeitsreize  durch 
Krümmungen  zu  reagieren.  Sachs,  van  Tieg- 
hem.  Wortmann,  afKlercker  glaubten  nun 
auch  eine  Empfindlichkeit  für  Temperaturdifferen- 
zen nachgewiesen  zu  haben,  dergestalt,  daß  sich  die 
Wurzeln  von  zu  hoher  Temperatur  fort-  und  nach 
günstiger  Temperatur  zukrümmen.  Da  aber  die 
Versuche  noch  kritische  Einwände  zuließen,  hat 
neuerdings  H.  D.  Hook  er  (The  Plantworld,  Vol.  17, 
Nr.  5,  1914)  auf  Veranlassung  von  L.  Jost  in 
Straßburg  die  P'rage  von  neuem  aufgenommen. 
Steckte  er  Keimlinge  in  ein  zweifächriges  Gefäß, 
dessen  eine  Hälfte  mit  feuchten  Sägespänen  aus- 
gefüllt war,  und  dessen  durch  eine  Scheidewand 
abgetrennte  andere  von  kühlem  strömendem  Wasser 
durchflössen  wurde  und  erhitzte  er  dann  die  Außen- 
wand des  die  Wurzeln  bergenden  Sägemehlfaches, 
so  entstand  hier  ein  Temperaturgefälle,  das  nun 
tatsächlich  die  Wurzeln  zu  Krümmungen  ver- 
anlaßte.  ¥.s  stellte  sich  aber  bald  heraus,  daß  der 
Erfolg  nicht  auf  den  Temperaturabfall,  sondern 
auf  das  mit  ihm  bei  dieser  Versuchsanordnung 
notwendigerweise  verbundene  Feuchtigkeitsgefälle 


zurückzuführen  war.  Wurden  nämlich  die  Wurzeln 
in  Agar-Gallerte  eingeführt  und  wiederum  in  dieser 
ein  Wärmeabfall  hergestellt,  so  blieb  jede  Art  von 
Krümmung  aus,  trotzdem  das  Wachstum  und  die 
P'ähigkeit,  z.  B.  geotropische  Krümmungen  aus- 
zuführen, nicht  beeinträchtigt  waren.  Es  muß  also 
den  Wurzeln  die  Fähigkeit  abgesprochen  werden, 
mit  Hilfe  einer  besonderen  Empfindlichkeit  die 
Orte  günstiger  Wärme  im  Erdboden  aufzusuchen. 

Miehe. 

Zoologie.  Ein  fremder  Ansiedler  der  Warm- 
häuser (Branchiura  Sowerbyi  Beddard).  Seit  dem 
Jahre  1892,  in  dem  Beddard  als  Erster  den  am 
Hinterende  dorsiventral  stehenden,  zirrenförmigen, 
Kiemen  tragenden  oligochäten  Wurm  Branchiura 
Sowerbyi  im  Schlamm  des  Victoria  regia-Beckens 
des  Royal  Botanical  Socicty's  Garden,  Regents 
Park  in  London  fand,  ist  dieser  Wurm  des  öfteren 
in  unseren  Warmhäusern  beobachtet  worden.  So 
in  Dublin,  Hamburg,  P>ankfurt  a.  M.  und  Göttingen. 
Stephenson  gibt  als  außer  europäische  Fund- 
orte an:  ein  kanalartiges  Behältnis  in  den  Agri- 
horticultural  Gardens  in  Madras,  einen  Teich  des 
Museumsgartens  in  Kalkutta  und  eine  „nullah" 
(d.    i.    ein    Wasser,    das   zeitweilig    trocken    liegen 


c  22 


Naturwissenschaftliche  Wochensclirift. 


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kann)  in  Lahore.  Nach  einer  mir  durch  Herrn 
Dr.  Annandale  (Superintendent  Indian  Museum, 
Kalkutta)  zugeg-angenen  Mitteilung,  daß  Brancliiura 
Sowerbyi  in  Indien  in  Teichen  gemein  ist,  glaube 
ich  annehmen  zu  dürfen,  daß  Indien  wohl  die 
Heimat  dieses  Oligochäten  ist  und  er  mit  Pflanzen 
bei  uns  eingeschleppt  wurde.  Einmal  in  einem 
oder  einigen  unserer  Warmhäuser  angesiedelt, 
war  seine  Weiterverbreitung  möglicii  durch  den 
Pflanzenaustauschverkehr,  in  dem  unsere  Gärten 
untereinander  stehen. 

Daß  Branchiura  die  Strapazen  einer  solchen 
Verschickung,  wie  evtl.  Trockenheit  und  große 
Temperaturunterschiede  gut  verträgt,  das  zeigten 
mir  meine  Beobachtungen  in  Göttingen  nur  zu 
deutlich. 

Im  November  1909  beim  Entleeren  des  Victoria 
regia  Hauses  wurden  Branchiuren  zum  ersten  Male 
dort  beobachtet.  Ich  holte  mir  eine  Anzahl  der- 
selben ins  Laboratorium  und  hielt  sie  dort  den 
ganzen  Winter  hindurch  sehr  gut  bei  einer  Tem- 
peratur, die  immerhin  bedeutend  unter  der  tropi- 
schen Temperatur  des  Warmhauses  lag.  Im  Früh- 
jahr 1910  trat  unser  Wurm  wieder  in  sehr  großen 
Mengen  im  Warmwasserbecken  auf.  Wie  ist  er 
dorthin  gekommen,  da  doch  den  Winter  über  die 
Becken  vollständig  geleert  waren  und  man  die 
Erde  im  I-'reien  hatte  durchfrieren  lassen.?  Die 
Erklärung  fand  sich  bald.  Einen  Teil  der  Pflanzen 
hatte  man  in  einem  anderen  Warmhause  in  Töpfen 
überwintert  und  in  den  von  mir  davon  untersuchten 
fanden  sich  einheimische  Tubifexformen  und  auch 
Branchiuren.  Die  Überwinterung  war  so  erklärt, 
und  wenn  dann  die  Tiere  in  die  günstigeren  Ver- 
hältnisse der  Warmasserbecken  kamen,  konnten 
sie  sich  besser  entwickeln  und  rascher  vermehren. 
Nun  aber  zeigte  sich  im  März  1911  nur  2  Wochen 
nach  dem  Beschicken  eines  Beckens  mit  der  im 
Freien  überwinterten  Erde  Branchiura  in  großer 
Zahl  und  in  fast  völlig  geschlechtsreifen  Exemplaren. 
Der  leitende  Obergärtner  versicherte  mir,  es  sei 
noch  keine  überwinterte  Pflanze  im  Becken  ge- 
wesen. Diese  Tatsache  bewog  mich  nun,  den 
kleinen  Rest  der  noch  im  P'reien  lagernden  P>de 
zu  durchsuchen.  Ich  fand  auch  bald  in  einem 
Erdballen  ein  lebendes  Teilstück  von  Branchiura. 
Damit  war  gezeigt,  daß  Branchiura  in  fast  trockener 
Erde,  ohne  sich  in  einen  Kokon  einzuschließen, 
bei  uns  im  Freien  überwintert  hatte.  Diese  an 
und  für  sich  für  eine  tropische  Form  zuerst  er- 
staunende Anpassungsfähigkeit  wurde  durch  weitere 
Beobachtungen  auch  solcher  anderen  Autoren  ge- 
stützt. So  korrespondiert  das  Vorkommen  von 
Branchiura  in  der  zeitweilig  trocken  liegenden 
Nullah  von  Lahore  mit  meinem  Fund  des  Bran- 
chiurateilstückes  in  der  trockenen  Erde.  Die  Eury- 
thermie  wird  dann  auch  noch  durch  die  Tatsache  be- 
wiesen, daß  der  Wurm  in  Göttingen  in  den  im 
Winter  zwar  überdeckten  aber  nur  auf  einer  Tem- 
peratur von  1 5  "  C  erhaltenen  Becken  im  Freien 
auch  vorkommt,  ohne  seine  Lebensweise  irgendwie 
merkbar    zu    ändern.      Damit    kommt    ein    neuer 


Gesichtspunkt  zu  der  Beurteilung  unseres  Wurmes 
hinzu,  nämlich  der,  daß  er  als  tropischer  Oligochäte 
doch  auch  in  unserem  Klima  im  Freien  leben 
kann.  Für  Frankfurt  liegen  mir  noch,  allerdings 
nicht  selbst  geprüfte  Angaben  vor,  daß  im  heißen 
Sommer  191 1  Branchiura  im  P'reien  in  einem 
Teiche  mit  tropischen  Wasserpflanzen  vorgekom- 
men sein  soll. 

Diese  Beobachtungen  finden  nun  eine  Parallele 
in  den  Angaben  Perrier's.  Dieser  fand  Bran- 
cliiura Sowerbyi  in  den  Jahren  1906  und  1907  in 
einem  Altwasser  der  Rhone  nahe  der  Einmündung 
des  Doux  in  der  Nähe  von  Tournon.  Dieses  Alt- 
wasser stand  mit  dem  Strom  durch  einen  unter- 
irdischen Zufluß  in  Verbindung,  war  nicht  tief 
und  sein  Boden  war  mit  dichtem  Schlamme  be- 
deckt. Hier  fand  Perrier  die  Tiere  entweder 
tief  im  Schlamme  versteckt  oder  frei  mit  ihren 
Hinterenden  im  Wasser  flottierend.  Im  nächsten 
Jahre  war  dieser  Fundort  leider  ausgetrocknet 
und  seitdem  auch  ausgestorben.  Perrier  fand 
aber  ganz  in  der  Nähe  am  Ufer  des  Doux  einen 
neuen  P^undort,  der  von  besonderer  biologischer 
Bedeutung  ist.  Das  Wasser  hatte  hier  einen 
ziemlich  raschen  Lauf  und  daher  war  der  Grund 
auch  zum  größten  Teil  rein  sandig  und  nicht  mit 
.Schlamm  bedeckt,  der  sich  nur  an  einzelnen  Ufer- 
stellen ansetzen  konnte  aber  dann  immer  sehr 
mit  granitischem  Sandmaterial  vermischt  war. 
Gegenüber  dem  ersten  Beobachtungsorte  war  die 
Zahl  der  gefundenen  Individuen  geringer.  Rhone- 
abwärts  fanden  sich  noch  zwei  weitere  Verbrei- 
tungsstelleii,  die  der  erst  beschriebenen  völlig 
gleich  kamen.  Auch  hier  wirft  sich  nun  die 
Frage  auf,  ob  Branchiura  in  der  Rhone  autoch- 
thon  oder  eingeschleppt  ist.  Perrier  gibt  hier- 
über keine  abschließende  Antwort,  immerhin  er- 
scheint es  ihm  möglich  und  ist  auch  wohl  wahr- 
scheinlich, daß  der  Wurm  durch  mit  der  Rhone 
in  Verbindung  stehende  Abzugskanäle  von  Warm- 
häusern zahlreicher  an  ihren  Ufern  liegender 
Gärten  in  die  Rhone  gelangte.  Dem  wäre  natür- 
lich weiter  nachzuforschen;  auch  wäre  zu  prüfen, 
ob  die  jährliche  Wiederkehr  auf  erneuter  Ein- 
schleppung oder  auf  Überwinterung  beruht.  Das 
letztere  ist  nach  den  in  Göttingen  gemachten 
Befunden  ja  keineswegs  von  der  Hand  zu  weisen. 

Seit  ihrem  zum  ersten  Male  beobachteten  Auf- 
treten hat  sich  Branchiura  in  Göttingen  ständig 
vermehrt  und  ich  schätze  ihre  Anzahl  auf  viele 
Tausende.  Durch  dieses  massenweise  Auftreten 
und  durch  ihre  Lebensweise  ist  sie  zu  einem 
Schädling  geworden.  Branchiura  baut  nämlich 
ganz  ähnlich  wie  der  ihr  verwandte  heimische 
Tubifex  tiefgehende  Wohnröhren  in  den  Grund 
der  Wasserbecken.  Dieser  besteht  nun  z.  B.  in 
Göttingen  aus  guter  Gartenerde,  in  der  die  Pflanzen 
wurzeln  und  einer  darüber  liegenden  Kiesschicht. 
Diese  wird  durch  die  zahlreichen  Wohnröhren 
unterminiert,  was  oft  zu  unliebsamen  Senkungen 
Veranlassung  gibt.  Weiter  schaff":  sie  die  Erde, 
die    vorher    die    Röhren    ausfüllte    und   die   beim 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Bau  den  Darm  des  Wurmes  passiert  hat ,  als 
speckigen  Mutt  in  kurzer  Zeit  über  den  Kies. 
Dadurch  werden  oft  junge  Pflänzchen  verschüttet, 
am  Fortkommen  gehindert  oder  gar  getötet. 

Natürlich  ist  es  das  Bestreben  des  Gärtners, 
diesen  schlechten  Gast  aus  seinem  Behälter  zu 
entfernen.  Obwohl  der  Wurm  gegen  chemische 
Reagenzien  und  Gifte,  wie  z.  B.  Coccain,  Chloro- 
form, Nikotin  sehr  empfindlich  ist,  so  vermag  er 
sich  doch  durch  Zurückziehen  in  seine  Röhren 
dagegen  zu  schützen,  auch  ist  ja  stets  zu  beachten, 
inwieweit  diese  Gifte  nicht  auch  den  Pflanzen 
schaden.  Zahlreiche  in  die  Becken  eingesetzte 
Fische  scheinen  sich  auch  nicht  als  ihre  Veniichler 
zu  erweisen;  denn  sie  vermögen  ja  auch  nicht 
den  Würmern  in  ihren  Röhren  zu  folgen.  Das  ein- 
zige mir  bis  jetzt  als  wirksam  bekannt  gewordene 
Mittel,  unter  den  Branchiuren  aufzuräumen,  ist  das 
Einsetzen  von  Planarien.  Diese  haben  sich  näm- 
lich in  meinen  Kulturen  als  die  gefährlichsten 
Vernichter  der  Würmer  erwiesen. 

Hiermit  ist  vielleicht  der  Weg  angegeben,  wie 
man  Branchiura  Sowerbyi  Bedd.  wieder  aus  dem 
Warmhause  entfernen  kann.  Selbstverständlich 
muß  dann  erst,  ehe  man  Planarien  in  großer  Zahl 
in  die  Becken  einsetzt,  geprüft  werden,  ob  diese 
wiederum  selbst  nicht  in  irgendeiner  Weise 
schädlich  auf  den  Pflanzenwuchs  einwirken.  \) 

Keyl. 

Nahrungswahl  bei  Infusorien.  M.  S.  Metal- 
nikov  stellt  in  seiner  vor  einiger  Zeit  er- 
schienenen Arbeit:  Contribution  k  l'etudc 
de  la  digestion  intracellulaire  (Arch. 
Zool.  exper.  T.  9)  die  Ansicht  auf,  daß  die  Infu- 
sorien imstande  sind,  zur  Nahrung  ungeeignete 
Stoffe  von  nahrhaften  zu  unterscheiden.  Er  erwies 
ihre  Richtigkeit  durch  eine  Anzahl  von  Versuchen, 
die  im  Archiv  für  Protistenkunde,  Bd.  34, 
H.  I,  1914  beschrieben  sind.-)  Es  wurde  mit  der 
Gattung  Paramaecium  experimentiert  und  zwar 
gab  man  in  die  verschiedenen  diese  Infusorien  ent- 
haltenden Kulturen  Giftstoffe,  im  Wasser  un- 
lösliche Blei-  und  Arseniksalze.  Es  bildeten  sich 
wie  gewöhnlich  bei  der  Aufnahme  fester  Stoffe 
Nahrungsvakuolen,    nach    deren    Anzahl    Metal- 


')  Beddard,  F.  K. ,  A  new  brancliiate  Oligochactc. 
Journ.  of  microscopical  Science.     Vol.  33,   1892. 

Keyl,  F.,  Beiträge  zur  Kenntnis  von  Branchiura  Sower- 
byi Beddard.      Zeitschrift  f.   wiss.  Zoologie  Bd.    107,   2,    1913. 

— ,  Zur  Verbreitung  von  Branchiura  Sowerbyi  Beddard. 
Zool.  Anzeiger  Bd.  43,   1914. 

Michaelscn,  W.,  Zur  Kenntnis  der  TubiBciden.  Arch. 
f.  Naturg.  74.  Jahrg.  Bd.   I. 

Perrier,  L. ,  Une  Station  rhodanienne  de  Branchiura 
Sowerbyi  Bedd.      .^nn.  Univ.  Grenuble.      Vol.   21,    1909. 

Stephenson,  J. ,  Ün  Branchiura  sowerbyi  Beddard, 
and  on  a  new  species  of  Limnodrilus  with  distinctiv  charac- 
ters.     Trans.  Roy.  Soc.  Edinb.  Vol.  48,   1912. 

-—,  On  a  new  species  of  Branchiodrilus  and  certain  other 
aquatic  Oligochaeta,  with  remarks  on  cephalization  in  thc 
Naididae.  Kecords  of  the  Indian  Museum  Vol.  7,  Part.  3, 
Nr.  21,   igi2. 

")  Les  infusoires  peuvent-its  apprendre  a  choisir  leur 
nourriture  ? 


n  i  k  o  V  die  Menge  der  aufgenommenen  Substanzen 
festzustellen  versuchte:  einige  Minuten  nach  Plin- 
zufügung  der  betr.  Substanz  wurden  die  Tiere 
durch  Osmiumdämpfe  getötet,  bei  20  Individuen 
die  Vakuolen  gezählt  und  das  ganze  durch  20  ge- 
teilt, so  daß  ein  Durchschnittswert  erhalten  wurde. 
Ebenso  wie  bei  diesen  Kulturen  mit  den  Arsenik- 
resp.  Bleisalzen,  deren  Bewohner  kurze  Zeit  nach 
Aufnahme  der  Stoffe  eingingen,  xerfulir  der  Ver- 
fasser bei  den  Kulturen,  denen  er  Substanzen  von 
geringerer  Giftigkeit  oder  solche,  die  vollkommen 
unschädlich,  aber  ohne  Nährwert  für  die  Tiere 
waren,  beigegeben  hatte.  Wie  die  trifte,  so  wurden 
auch  diese  Stoffe  zuerst  sämtlich  wahllos  aufge- 
nommen. Nach  einiger  Zeit  zeigte  sich  jedoch 
eine  Auswahl  nach  Wert  der  betr.  Substanzen.  So 
wurden  z.  B.  Individuen  20  .Stunden  nach  Ver- 
bringen in  einer  Kultur  mit  beigefügtem  A  1  u  m  i- 
n  i  u  m  aus  dieser  herausgenommen  und  in  eine 
andere  versetzt,  wo  sie  nichts  mehr  davon  berühr- 
ten. Schneller  als  bei  dem  Aluminium,  das  keinen 
Nährwert  hat,  geht  die  Reaktion  bei  Sepia  und 
Carmin,  die  als  organische  Substanzen  ihrer  ge- 
wöhnlichen Nahrung  ähnlich  sind,  vor  sich.  Die 
dargereichten  Bakterien  und  Albumin  wurden 
immer  aufgenommen.  Ebenso  ein  Gemisch  von 
Nahrungsstoffen  und  neutralen  Stoffen.  Bei  der 
Darbietung  dieser  Mischungen  zeigte  sich  die  sehr 
interessante  Erscheinung,  daß  ihre  Aufnahme  ganz 
von  der  Zusammensetzung  des  Gemisches  abhängt. 
Befanden  sich  giftige  Substanzen  darunter  oder 
auch  solche  ohne  Nährwert,  so  nahm  die  Zahl  der 
Vakuolen  bald  ab  und  verschwand  schließlich  ganz. 
Bei  Menschen  und  höheren  Tieren  würde  man 
in  diesem  Falle  von  einer  Lernfähigkeit 
sprechen,  welche  die  nach  einiger  Zeit  getroffene 
Auswahl  der  Nahrung  im  Gefolge  hat,  somit  an- 
nehmen, dal3  sich  die  Tiere  in  ihren  Handlungen 
von  einer  vorhergehenden  P^fahrung  leiten  lassen. 
Das  setzt  aber  die  P'ähigkeit  der  Erinnerung,  des 
Vergleichs,  der  Folgerung  voraus,  wenigstens  wenn 
wir  den  Ausdruck  „lernen"  im  psychologischen  Sinne 
nehmen.  Kann  man  somit  von  einem  Gedächt- 
nis bei  den  Infusorien  sprechen  nach  dem  Schluß, 
daß,  weil  wir  hier  bei  niederen  Organismen  ähn- 
liche Handlungen  wahrnehmen  wie  bei  uns,  auch 
ihre  psychische  F'ähigkeiten  nur  graduell  von  den 
unseren  verschieden  sind  (Jennings)  oder  muß 
man  mit  Bohn,  der  die  Lebenstätigkeit  der 
niederen  Tiere  durch  Anwendung  der  Begriffe 
Tropismen  und  Unterschiedsemiifindlichkeit  analy- 
siert, diese  Wahlfähigeit  einfach  als  einen  Fall 
von  physiologischer  Anpassung  auffassen? 

V.  Aichberger. 

Vererbungslehre.  Vererbung  bei  Kreuzung 
von  Knochenfischen.  Während  die  Echinodermen, 
speziell  die  Seeigel,  von  jeher  zu  Bastardie- 
rungsexperimenten und  Vererbungsstudien  viel 
benutzt  worden  sind,  hat  man  die  Knochenfische 
bisher  verhältnismäßig  wenig  zu  Versuchen  dieser 
Art  verwandt.     Und    doch    sind  gerade  bei  ihnen 


524 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  33 


Kombinationen  in  fast  unbescliränkter  Zahl  mög- 
lich, und  in  mancher  Hinsicht  stellen  sie  ein  viel 
geeigneteres  IVIaterial  als  die  Echinodermen  dar. 
In  der  letzten  Zeit  scheint  man  nun  allgemein 
zu  dieser  Erkenntnis  gekommen  zu  sein,  denn  es 
liegt  uns  in  diesem  Jahre  bereits  eine  ganze  Reihe 
von  Untersuchungen  vor,  die  an  Teleostierbastarden 
ausgeführt  wurden.  Während  die  einen  das  Ver- 
halten des  fremden  Spermiums  im  Ei  und  der 
väterlichen  Chromosomen  während  der  Furchung 
untersuchten,  wandten  die  anderen  ihre  Aufmerk- 
samkeit den  verschiedenen  Eigenschaften  zu,  die 
die  Bastardtiere  bzw.  -larven  zeigten.  Hier  soll 
von  den  Untersuchungen  NewmansM  die  Rede 
sein,  dem  wir  bereits  mehrere  ähnliche  Arbeiten 
verdanken. 

Newman  benutzte  zu  seinen  Experimenten 
drei  Vertreter  der  Gattung  h'undulus:  F.  hetero- 
clitus,  V.  majalis  und  F.  diaphanus,  außerdem 
Cyprinodon  variegatus.  Die  zwischen  diesen  vier 
Spezies  theoretisch  möglichen  Kreuzungen  lassen 
sich  alle  ausführen,  aber  die  Embryonen  der  ver- 
schiedenen Kreuzungen  zeigen  eine  sehr  verschie- 
dene Entwicklungs-  und  Lebensfähigkeit.  Am 
erfolgreichsten  ist  die  Kreuzung  F.  diaphanus  >; 
F.  heteroclitus,  was  um  so  merkwürdiger  erscheinen 
muß,  als  die  erstere  Spezies  im  Süßwasser  heimisch 
ist,  während  F.  heteroclitus  im  Meere  lebt.  Es 
ist  behauptet  worden,  daß  die  Kreuzungen  um  so 
leichter  gelingen,  je  mehr  die  Lebensgewohnheiten 
und  Aufenthaltsorte  der  verwandten  Spezies  über- 
einstimmen. Daß  diese  Ansicht  zum  mindesten 
keine  allgemeine  Gültigkeit  haben  kann,  beweist 
Newman  mit  seinen  Experimenten.  Bei  Kreuzung 
ausschließlich  mariner  Fundulusarten  entstanden 
weniger  lebenskräftige  Larven  als  bei  der  oben 
genannten  Kreuzung,  und  zwar  war  es  bei  dieser 
Kreuzung  gleichgültig,  welcher  Spezies  der  Vater 
angehörte.  Die  Entwicklung  dieser  Bastard- 
embryonen geht  schneller  vor  sich  als  die  der 
reinen  Embryonen  der  elterlichen  Spezies,  die 
Bastardlarven  schlüpfen  früher  aus,  sie  sind  sehr 
kräftig  und  wachsen  schneller  als  die  reinen  Larven. 
Die  Beschleunigung  des  Entwicklungsprozesses 
bei  den  Bastardlarven  möclite  Newman  auf  die 
Wirkung  eines  fremden  Enzyms,  das  durch  das 
Spermatozoon  eingeführt  wird,  zurückführen.  Die 
Angabe,  daß  die  Entwi('klung  durch  fremdes  Sperma 
immer  verlangsamt  wird,  ist  nicht  richtig.  Ver- 
schiedene (Objekte  können  sich  hier  ganz  verschieden 
verhalten.  Befruchtet  man  z.  B.  drei  Portionen  von 
F.  diaphanus-Eiern,  die  eine  mit  Sperma  der  eigenen 
Art,  die  zweite  mit  Sperma  von  ¥.  majalis  und 
die  dritte  mit  F.  heteroclitus-Sperma,  so  wird  in 
dem  einen  Falle  von  Bastardierung  (F.  majalis- 
Sperma)  die  Entwicklung  verlangsamt,  während 
sie  in  dem  anderen  Falle  (F.  heteroclitus-Siierma) 
beschleunigt  wird.  Es  scheint,  daß  im  allgemeinen 
bei  Kreuzung    sehr    nahe  verwandter  Formen  die 


')   Newman,    H.   H.,    Modes    of    inheiitance    in    Teleost 
hybrids.  Journ.   of.  Exper.  Zoöl.,   WA.    Ib,    1914, 


Entwicklung  beschleunigt  wird,  bei  entfernt  ver- 
wandten verlangsamt,  ohne  daß  notwendigerweise 
hier  ein  bestimmtes  Verhältnis  zu  bestehen 
braucht.  Die  Entwicklungsgeschwindigkeit  wird 
also  nicht  durch  Vererbung  bestimmt,  sondern 
beruht  auf  physiologisch-chemischen  Wirkungen. 
Die  Erbmasse,  die  das  Spermatozoon  mitbringt, 
tritt  während  der  Furchuiig  überhaupt  noch  nicht 
in  Funktion,  erst  wenn  sich  der  Embrj-o  zu  differen- 
zieren beginnt,  fängt  auch  die  väterliche  Erbmasse 
an,  ihren  Einfluß  auf  die  Entwicklung  geltend  zu 
machen.  Damit  hängt  es  zweifellos  auch  zu- 
sammen, daß  mit  Beginn  oder  während  der  Ga- 
strulation  viele  Bastardembryonen,  die  sich  in  ganz 
noimaler  Weise  gefurcht  haben,  absterben. 

Von  großer  Bedeutung  ist  es  nach  Newman 
für  das  Resultat  der  Kreuzung,  ob  die  benutzten 
Geschlechtsprodukte  ganz  frisch  gewesen  sind. 
Bei  der  Kreuzung  F.  heteroclitus  X  F.  majalis 
wird  die  Entwicklung  nur  verzögert,  wenn  frisches 
Sperma  verwandt  wird.  Bewahrt  man  das  Sperma 
aber  einige  Zeit  auf,  so  erfolgt  eine  ganz  normale 
Entwicklung,  und  die  Larven  zeigen  kaum  Sjjuren 
eines  väterlichen  Einflusses,  während  die  mit 
frischem  Sperma  befruchteten  Eier  typische  Hybri- 
den liefern.  Es  liegt  nahe,  hier  die  Versuche  über 
Entwicklungserregung  mit  künstlichen  IVIitteln  oder 
über  Besamung  von  Seeigeleiern  z.  B.  mit  Mollusken- 
oder Wurmsperma  zum  Vergleich  heranzuziehen. 
Das  Sperma  s]iielt  hier  nur  die  Rolle  wie  dort  das 
künstliche  Mittel,  es  ist  nur  Entwicklungserreger, 
das  Ei  entwickelt  sich  trotz  Besamung  —  von 
„Befruchtung"  dürfen  wir  hier  nicht  sprechen  — 
parthenogenetisch,  und  infolgedessen  zeigt  die 
„Bastardlarve"  nur  mütterliche  Eigenschaften,  sie 
ist  in  Wirklichkeit  gar  kein  Bastard.  Ob  in  diesen 
mit  abgestandenem  Sperma  ,, befruchteten"  P'un- 
duluseiern  das  Spermatozoon  eine  ähnliche  Rolle 
spielt,  kann  nur  durch  eine  cytologische  Unter- 
suchung entschieden  werden. 

Bei  den  Kreuzungen  F.  majalis  $  >(  V.  diapha- 
nus (J  und  F.  majalis  $  >  F.  heteroclitus  (J  ent- 
wickeln sich  die  Eier  zwar,  aber  es  entstehen  nie 
ausschlüpfende  Larven.  Zurückzuführen  ist  dies 
offenbar  auf  die  Unfähigkeit  der  Larven,  den  Dotter 
zu  verarbeiten.  In  den  letzten  Stadien  der  Ent- 
wicklung ist  regelmäßig  noch  ein  großer  Sack 
voll  unverdauten  Dotters  vorhanden.  Bei  Kreuzung 
von  Cyprinodon  mit  einer  Fundulusspezies  ent- 
steht nie  eine  Larve  oder  auch  nur  ein  weiter 
fortgeschrittener  Embryo  mit  spezifischen  Charak- 
teren. Verschiedene  Kreuzungen  sowie  reziproke 
Kreuzungen  führen  aber  auch  hier  zu  sehr  ver- 
schiedenen Resultaten.  Überhaupt  darf  man  aus 
diesen  Angaben  nicht  den  Schluß  ziehen,  daß  die 
Entwicklung  des  Bastards  bzw.  seine  Entwicklungs- 
fähigkeit in  einem  bestimmten  Verhältnis  steht 
zu  dem  Verwandtschaftsgrade  der  elterlichen  Tiere. 
Schon  die  häufig  konstatierte  Tatsache,  daß  selbst 
nahe  verwandte  Formen  sich  in  ihren  reziproken 
Kreuzungen  sehr  verschieden  verhalten,  beweist  die 
Irrigkeit  dieser  Annahme.    Nicht  selten  lassen  sich 


N.  F.  XIII.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


525 


Knochenfische,  die  verschiedenen  Ürdnungen  an- 
gehören, leichter  kreuzen  als  solche  aus  verschie- 
denen Familien  derselben  Ordnung  oder  sogar  aus 
verschiedenen  Gattungen  derselben  Familie. 

Von  erblichen  Merkmalen  untersuchte  New- 
man  eingehend  Farbe  und  X'erteilung  des  Pig- 
ments bei  den  Bastardlarven,  und  zwar  bei  den 
Larven  der  vier  Kreuzungen  F.  diaphanus  >;  F. 
heteroclitus  und  F.  diaphanus  X  F.  majalis.  Jede 
dieser  drei  Arten  weist  eine  ganz  charakteristische 
Verteilung  des  Pigments  auf,  so  hat,  um  nur  ein 
Beispiel  herauszugreifen,  ¥.  heteroclitus  am  Kopf 
rote  Chromatophoren,  V.  majalis  gar  keine  und 
F.  diaphanus  rotbraune.  Das  wichtige  Resultat, 
zu  dem  Newman  kommt,  ist:  Bei  der  Vererbung 
des  Pigmentcharakters  kann  man  alle  gut  bekann- 
ten Vererbungsmodi  konstatieren,  d.  h.  der  Bastard 
zeigt  nicht  etwa  allgemein  die  Pigmentierung  des 
Vaters  oder  aber  die  der  Mutter  oder  eine  Mischung, 
sondern  in  dem  einen  Merkmal  der  Pigmentierung 
kann  der  Bastard  rein  dem  Vater  ähnlich  sein, 
in  einem  anderen  rein  der  Mutter,  wieder  eine 
andere  Gruppe  von  Pigmentzellen  kann  hinsichtlich 
der  Farbe  z.  B.  eine  Mittelstellung  einnehmen 
zwischen  den  entsprechenden  Pigmentzellen  des 
Vaters  und  der  Mutter,  sodann  kommt  Mosaik- 
vererbung vor  usw.  Die  genaue  Analyse  des 
Pigments  der  Bastardlarven  deckt  also  äußerst 
komplizierte  Verhältnisse  auf.  Es  wäre  für  unsere 
theoretischen  Vorstellungen  über  die  Vererbung 
natürlich  von  größtem  Interesse,  ließe  sich  das 
Verhalten  der  Pigmentzellen  auch  in  der  zweiten 
Bastardgeneration  studieren.  Hier  scheinen  indessen 
andere  Kreuzungen  als  die  Newman 's  mehr 
Aussicht  auf  Frfolg  zu  versprechen. 

Nachtsheim. 

Physik.  Die  optischen  Konstanten  dünner 
Kupferschichten  werden  in  einer  Arbeit  von 
W.  Planck  (Göttingen)  bestimmt,  die  in  der 
physikalischen  Zeitschrift  XV  (1914J  Seite  564 
bis  569  veröffentlicht  ist.  Die  Metallschichten, 
deren  Dicke  zwischen  46  und  1,3  ;((/<  liegt,  wurden 
durch  Kathodenvcrstäubung  auf  Glas  hergestellt 
und  ihre  Dicke  aus  dem  Polarisationszustande  des 
durchgegangenen  Lichtes  dreier  verschiedener 
Farben  berechnet.  Aus  den  Azimuten  und  Phasen- 
verzögerungen des  reflektierten  und  durchgelassenen 
Lichtes,  die  mit  Hilfe  eines  Polarisationsspektro- 
meters  in  Verbindung  mit  einem  Monochromator 
(das  Licht  lieferte  eine  Bogenlampe)  bestimmt 
wurden,  lassen  sich  nach  von  Försterling  auf- 
gestellten Formeln  Brechungs-  und  Absorptions- 
index bestimmen.  Der  ersterc  nimmt  mit  ab- 
nehmender Dicke  der  Kupferschicht  beträchtlich 
zu,  während  der  letztere  beträchtlich  abnimmt,  so 
daß  mithin  die  Schichtdicke  von  wesentlichem 
Einfluß  auf  die  optischen  Parameter  ist. 

K.  Schutt,  Hamburg. 

J.  R.  Partington  (Manchester)  berichtet 
in      der      Physikalischen     Zeitschrift    XV     (1914) 


Seite    601 — 605    über    die    Bestimmung   des    Ver- 


hältnisses der  spezifischen  Wärmen  des  Chlors 
nach  der  von  K  u  n  d  t  angegebenen  und  von 
Behn  und  Geiger  modifizierten,  hübschen  Me- 
thode. Ein  125  cm  langes  und  4  cm  dickes  Glas- 
rohr wird  nach  sorgfälliger  Reinigung  und  Trock- 
nung mit  reinem  Chlor  von  Atmosphärendruck 
gefüllt,  dann  wird  etwas  Kieselsäurepulver  hinzu- 
gegeben und  das  Rohr  auf  beiden  Seiten  zuge- 
schmolzen. Klemmt  man  es  jetzt  in  der  Mitte 
ein  und  reibt  das  eine  Ende  mit  einem  angefeuch- 
teten Tuch,  so  werden  im  allgemeinen  im  Rohre 
keine  Kundt'schen  Staubfiguren  auftreten,  da 
die  Rohrlänge  kein  ganzes  Vielfaches  der  Halb- 
wellenlänge des  betreffenden  Tones  darstellt.  Ver- 
größert man  aber  hinreichend  die  Masse  des 
Rohres  dadurch,  daß  man  mittels  Siegellack  Blei- 
scheiben auf  seine  Enden  kittet,  so  spricht  die 
Chlorsäule  im  Rohr  an  und  man  kann  durch 
Messung  an  den  Staubfiguren  die  Wellenlänge 
des  Rohrtones  in  Chlor  feststellen.  Um  die 
Wellenlänge  dieses  Tones  in  Luft  zu  finden,  be- 
nutzt man  ein  150  cm  langes  und  4,25  cm  weites 
Glasrohr,  das  einen  Korkstempel  enthält,  so  daß 
die  Länge  der  Luftsäule  verändert  werden  kann. 
Auch  in  dieses  Rohr  bringt  man  in  einem  langen 
schmalen  Streifen  Kieselsäurepulver  und  hält  vor 
das  offene  Ende  das  Chlorrohr.  Bringt  man  dieses 
zum  Tönen,  so  treten  auch  in  dem  Luftrohr  bei 
geeigneter  Einstellung  des  Kolbens  Staubfiguren 
auf,  deren  Ausmessung  die  Wellenlänge  in  Luft 
gibt.  Aus  den  beiden  Wellenlängen  läßt  sich  das 
Verhältnis  der  spezifischen  Wärmen  berechnen ; 
es  ergibt  sich  für  Chlor  von  16"  und  i  Atmosphäre 
1,329  +  0,001,  Cv  =  6,39  cal  u.  C,,  =  8,49  cal. 

K.  Schutt,  Hamburg. 
Chemie.  Kolloidale  Lösungen  von  Mono- 
natriumurat. Auf  der  21.  Hauptversammlung  der 
Deutschen  Bunsengesellschaft  in  Leipzig  (21. — 24. 
Mai)  berichtete  Professor  Bechhold  über  Ver- 
suche, welche  die  Frage  entscheiden  sollten,  ob 
es  kolloidale  Lösungen  von  Mo  nonatriumu  rat 
gibt.  Dieser  Frage,  die  nach  den  Untersuchungen 
von  Bechhold  bejahend  zu  beantworten  ist, 
kommt  eine  große  biologische  Bedeutung  zu,  weil 
das  Natriumsalz  der  Harnsäure  im  Organismus 
des  gesunden  und  kranken  Menschen  eine  wich- 
tige Rolle  spielt.  Bei  der  normalen  Bildung  von 
Natriumurat  im  gesunden  Körper  wird  das  gelöste 
harnsaure  Natrium  teils  durch  die  urikolytischen 
Fermente  zerstört,  teils  durch  die  Niere  ausge- 
schieden. Der  Teil  des  Mononatriumurats,  der  in 
kolloidem  Zustande,  also  nicht  in  echter  Lösung 
vorliegt,  vermag  infolge  der  relativen  Größe  seiner 
Teilchen  die  Niere  nicht  zu  passieren  und  kann 
daher  nur  durch  die  Tätigkeit  der  urikolytischen 
Fermente  aus  dem  Körper  entfernt  werden.  Ver- 
sagen diese  —  wie  es  beim  Gichtiker  der  Fall  ist 
— ,  so  scheidet  sich  die  I  larnsäure  in  fester  L'orm 
in  den  Gichtknoten  aus.  Der  Nachweis,  daß 
kolloidale  Lösungen  von  Mononatriumurat  existie- 


526 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  33 


ren,  gelang  Bechhold  dadurch,  daß  er  Lösungen 
dieses  Salzes  von  bestimmter  Konzentration  unter 
StickstofTdruck  ein  sogenanntes  Ultrafiltcr  passieren 
ließ  und  durch  Titration  mit  Kaliumpermanganat 
den  Uratgehalt  in  der  Lösung  und  im  F"ilterrück- 


stand  ermittelte.  Es  ergab  sich,  daß  die  ursprüng- 
liche Lösung  ca.  15";,,  des  Mononatriumurats  in 
kolloider  Lösung  enthielt,  und  daß  durch  die  Ultra- 
filtration eine  Anreicherung  der  kolloiden  Form 
auf  25  ",;,  erzielt  worden  war.  Bugge. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Eine  Austerbank  aus  der  Litorinazeit.  In 
Nr.  15  dieser  Zeitschrift  wurde  bereits  von  einem 
wichtigen  h'und  aus  der  Ancyluszeit  im  Flens- 
burger Hafen  berichtet  und  zugleich  einer  Auster- 
bank erwähnt,  die  über  der  Kulturschicht  sich 
befindet.  Inzwischen  habe  ich  Zeit  und  Gelegen- 
heit gehabt,  alle  Schichten  eingehend  zu  unter- 
suchen und  dabei  mancherlei  interessante  Funde 
gemacht,  auch  in  der  Austerschicht. 

Die  alte  Austerbank  zeigte  manche  Ähnlich- 
keit mit  den  lebenden  Bänken  der  Nordsee.  Die 
Schalen  bedeckten  förmlich  den  Boden,  bildeten 
aber  nie  Klumpen,  obwohl  mehrere  Schalen  An- 
wachsstellen von  anderen  Muscheln  zeigten.  Die 
Schalen  selbst  waren  etwas  kleiner  und  dünner 
als  von  den  Austerbänken  bei  Sylt,  vermutlich 
weil  sie  in  einer  verhältnismäßig  ruhigen  Meeres- 
bucht mit  geringem  Salzgehalt  wuchsen.  r-"ast 
alle  Schalen  zeigen  die  bekannten  Bohrlöcher  des 
Wurmes  Dodecaceraea  concharum ,  genau  so  wie 
auf  den  Nordseebänken.  Aber  merkwürdieer- 
weise  ist  bisher  noch  keine  Auster,  überhau|it  keine 
Muschel  mit  Ansätzen  der  sonst  so  häufigen 
Baianusarten  gefunden.  In  einer  Schale  fanden 
sich  mehrere  größere  Perlenansätzc,  die  größten 
Perlen  noch  recht  gut  erhalten.  Vielleicht  ist 
dies  der  erste  Fund  von  Perlen  aus  der  Urzeit, 
sicher  aus  der  Litorinazeit. 

Der  sonstige  Muschelreichtum  der  Austerbank 
war  ganz  enorm ,  freilich  von  etwas  anderer  Zu- 
sammensetzung als  gewöhnlich,  da  alle  Hochsee- 
arten fehlten.  Die  Miesmuscheln,  Mytilus  eduU 
waren  außerordentlich  häufig,  davon  kamen  eigen- 
artig gekrümmte  Schalen  vor;  aber  Perlen  suchte 
ich  bisher  vergebens,  obwohl  man  solche  in  der 
Nordsee  fast  in  jeder  anderen  Miesmuschel  finden 
kann.  Noch  zahlreicher  kamen  die  Herzmuscheln, 
Cardium  edule  vor,  bei  denen  man  noch  klarer 
eine  ganze  Reihe  von  Varietäten  unterscheiden 
konnte  als  bei  den  jetzt  lebenden  Arten.  Auch 
die  kleinen  Arten  Cardium  fasciatum  und  exignum 
waren  nicht  selten.  Die  größere  Herzmuschel 
erreichte  eine  Größe,  wie  man  sie  lebend  in  der 
Ostsee  jetzt  vergebens  sucht,  und  es  ist  mir  wäh- 
rend meines  siebzehnjährigen  Aufenthalts  an  der 
Nordsee  auch  nicht  möglich  gewesen,  dort  jemals 
eine  lebende  Muschel  von  dieser  Größe  zu  be- 
kommen. Besonders  die  schiefe  Varietät,  als 
Cardium  rusticum  bekannt,  zeichnete  sich  durch 
besondere  Größe  aus.  Die  verschiedenen  Arten 
der  Uferschnecken,  Litorina,  waren  natürlich  häufig 
vertreten,  alle  großen  Gehäuse  aber  an  der  Spitze 


von  dem  kleinen  Bohrwurm  zerstört.  Dieser 
Wurm  scheint  im  Litorinameer  eine  bedeutende 
Rolle  gespielt  zu  haben,  da  er  in  der  jetzigen 
Nordsee  nicht  so  häufig  zu  sein  scheint,  wie  da- 
mals hier.  Ziemlich  häufig  waren  Nassa  reticulata 
und  pygmaea;  wahrscheinlich  stammen  alle  an 
der  Ostsee  gefundenen  Gehäuse  aus  jener  Zeit, 
wenigstens  war  es  mir  bisher  nicht  möglich, 
lebende  Tiere  zu  bekommen. 

Ein  gewisses  Kopfschütteln  wird  in  den  Kreisen 
der  Gelelirten  vielleicht  das  Vorkommen  von 
Scrobicularia  und  Mya  verursachen.  Die  Scrobi- 
cularia  war  sehr  häufig  und  hat  mit  den  Austern 
in  derselben  Schicht  gelebt,  habe  ich  doch  Auster- 
schalen bekommen,  die  zwischen  den  Klappen 
die  andere  Art  bargen,  die  dort  eingeschwemmt 
lag.  Aber  die  Mya.  Wer  weiß  genauer  über  die 
Zeit  der  Einwanderung?  Sie  muß  früher  hier 
eingedrungen  sein,  als  man  bisher  angenommen 
hat.  Mehrere  verkrüppelte  Schalen  zeigen,  daß 
sie  in  der  harten  Kulturschicht  bohrte,  also  ihre 
Bohrlöcher  durch  die  untersten  noch  schwachen 
Litorinaschichten  führte.  Sonst  erreichten  ihre 
Schalen  eine  bedeutende  Größe  wie  jetzt  in  der 
Nordsee,  während  sie  in  der  Ostsee  lebend  nur 
bis  etwa  5  cm  lang  wird.  Zahlreiche  kleinere 
Gehäuse  von  Hydrobia  baltica  und  stagnalis,  so- 
wie Rissoa  labiata  und  turris  lagen  im  Sande 
verschwemmt. 

Merkwürdigerweise  scheinen  Tapes  undModiola 
gefehlt  zu  haben  da  keine  einzige  Schale  davon 
gefunden  wurde;  wahrscheinlich  aber  liegt  der 
Grund  darin,  daß  die  Bank  zu  geschützt  lag, 
kommen  doch  beide  Arten  in  den  Resten  eines 
Abfallhaufens  derselben  Zeit  vor,  der  freilich  etwas 
weiter  nach  der  offenen  See  liegt. 

Die  Litorinaschichten  waren  2  m  stark.  Nach 
oben  zu  nahmen  allmählich  die  Austerschalen  ab; 
die  Schalen  von  Cardium  und  M\-a  wurden  kleiner, 
bis  sie  in  den  oberen  Schichten  die  Größe  zeigten, 
wie  die  jetzt  lebenden.  Eine  genaue  Grenze 
zwischen  Litorina-  und  Myaablagerung  ist  nicht 
möglich.  Eine  Grabung  würde  die  allmähliche 
Veränderung  freilich  deutlicher  zeigen,  als  dies 
beim  Ausbaggern  geschehen  kann,  leider  aber  ist 
diese  Untersuchung  hier  unmöglich ;  doch  ist  die 
Arbeit  so  sorgfältig  ausgeführt  worden,  daß  an 
dem  Ergebnis  nichts  geändert  werden  könnte. 

Philippsen,  Flensburg. 

Die  Juni-Nummer  der  A.  E.  G.- Zeitung  be- 
richtet über  den  A.  E.  G.-Zweidecker,  der  in  der 
1910  begründeten    Flugtechnischen  Abteilung  der 


N.  F.  XIII.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


527 


Allgemeinen  Elektrizitäts  -  Gesellschaft  gebaut  ist. 
Der  Rumpf  der  Maschine  ist  aus  nahtlos  gezogenen 
Stahlrohren  hergestellt,  die  mittels  autogener 
Schweißung  miteinander  verbunden  werden.  Sein 
Gewicht  (70  kg)  ist  nicht  höher  als  das  eines 
solchen  aus  Holz  von  gleicher  Festigkeit.  Der 
besondere  Vorzug  des  Stahls  liegt  in  seiner  VVetter- 
beständigkeit ;  VVerfen  und  Verziehen  durch  Luft- 
feuchtigkeit ist  ausgeschlossen.  Das  Flugzeug  hat 
eine  Spannweite  von  15,5  m  und  ein  Gewicht 
von  650  kg.  Der  Antrieb  geschieht  durch  einen 
4zylindiigen  N.  A.  G.-Motor,  der  bei  einer  Leistung 
von  95  PS  nur  180  kg  wiegt.  Die  im  Luftstrom 
liegenden  Streben  und  Drähte  sind  auf  ein  Mindest- 
maß beschränkt;  die  schädliche  Stirnfläche  beträgt 
nur  2,2  qm.  Die  Geschwindigkeit  beträgt  92  km 
pro  Stunde.  Ein  besonderer  Vorzug  des  Zwei- 
deckers ist  die  Möglichkeit  ihn  leicht  zu  trans- 
portieren: Die  Flügel  können  um  ihren  Holm  ge- 
dreiit  und  nach  hinten  fächerartig  übereinander 
geklappt  werden,  so  daß  das  Eisenbahnprofil  so- 
wohl in  der  Höhe  als  auch  seitlich  eingehalten 
wird.  Für  kürzere  Transporte  wird  das  im  F'luge 
vorn  sitzende  Sturzrad  durch  einige  Handgriffe 
herausgezogen  und  an  die  Stelle  der  Kufe  am 
Schwanz  eingesteckt.  Für  lange  Transporte  ist 
eine  auf  2  Rädern  ruhende  Hinterachse  vorhanden. 
Auf  diese  Weise  hat  ein  Doppeldecker  durch  ein 
Automobil  gezogen  700  km  zurückgelegt,  ohne 
daß  sich  Mängel  zeigten.  Alle  lösbaren  Teile 
lassen  sich  ohne  Hilfe  irgendeines  Werkzeuges 
herausnehmen  und  einsetzen.  Diesem  Zweck 
dient  ein  besonderer  Steckbolzen,  der  durch  eine 


herausklappbare  Zunge  in  seiner  Lage  festgehalten 
wird.  Die  fertige  Maschine  wird  durch  Belastung 
der  Flügel  mit  Sand  auf  ihre  Bruchfestigkeit  ge- 
prüft. Das  A.  E.  G.-Flugzeug  besitzt  eine  sechs- 
fache Sicherheit.  K.  Seh. 

In  der  Zeitschrift  für  experimentelle  Patho- 
logie und  Therapie  (Bd.  14,  Heft  3)  bringt  Dr. 
Grumme  interessante  Angaben  über  die  Mög- 
lichkeit den  Fettgehalt  der  Milch  zu  steigern. 
Man  weiß  schon  längere  Zeit,  daß  es  möglich 
ist,  die  Menge  der  Milch  durch  die  den  betreffen- 
den Milchtieren  verabreichte  Nahrung  zu  beein- 
flussen. Bekanntlich  wird  in  landwirtschaftlichen 
Betrieben  eine  Zunahme  der  Miclimenge  durch 
Kraftfutter  erreicht.  Der  Verf.  legte  bei  seinen 
Versuchen  nicht  nur  auf  die  Menge,  sondern  auch 
auf  die  Zusammensetzung  der  Milch,  besonders 
ihren  Fettgehalt  Wert.  Er  ging  folgendermaßen 
vor:  die  zu  den  Versuchen  verwandten  3 — 4 
Ziegen  erhielten  wochenlang  ein  stets  gleich- 
mäßiges, täglich  abgewogenes  Futter,  daneben 
zeitweise  täglich  200  g  Malztropon.  Die  alle 
zwölf  Stunden  gemolkene  Milch  wurde  sofort 
zentrifugiert ,  der  Rahm  nach  3  bis  4  Tagen  als 
saurer  Rahm  verbuttert.  Dabei  zeigte  sich ,  daß 
durch  das  Malztropon  eine  durchschnittliche  Ver- 
mehrung der  Milchmenge  um  i8"/(|  und  eine  Er- 
höhung des  prozentualen  F'ettgehaltes  der  Milch 
um  fast  ein  Drittel,  eine  Steigerung  der  Tages- 
leistung an  P'ett  um  mehr  als  die  Hälfte  gegen- 
über   der   gewöhnlichen    F'ütterung    erzielt  wurde. 

v.  Aichberger. 


Bücherbesprechungen. 


Bauer,    Hugo,     Geschichte   der    Chemie  I 
von  den  ältesten  Zeiten  bisLavoisier. 
Zweite    verbesserte    Auflage.       Band    264    der 
„Sammlung  Göschen",   kl.  8".     96  Seiten.    Berlin 
und  Leipzig   1914,  G.  J.  Göschen'sche  Verlags- 
buchhandlung m.  b.  H.  —  In  Leinw.  geb.  90  Pf 
Die  vorliegende   ,, Geschichte   der  Chemie  von 
den    ältesten  Zeiten    bis  Lavoisier"    kann  als  Ein- 
leitung in  das  Studium  der  Geschichte  der  Chemie 
empfohlen   werden,    weil  es  bei   klarer  und  sach- 
gemäßer  Darstellung    auch    die  interessanten   und 
wichtigen  Ergebnisse  neuerer  geschichtlicher  P'or- 
schungen    gebührend    berücksichtigt.      Auf    S.  50 
muß  es  auf  der  6.  Zeile   von  unten  „Zinnchlorid" 
anstatt  „Zinnchlorür"  heißen. 

Clausthal  i.  H.  Werner  Mecklenburg. 


The  Cambridge  British  Flora.  By  G.  E.  Moss, 
assisted  by  specialists  in  certain  genera.  lUu- 
strated  from  drawings  by  E.  W.  Hunnybun. 
Vol.  II  Salicaceae  to  Chenopodiaceae.  Mit 
einem  Band  Tafeln.  Cambridge  1914,  Univer- 
sity  Press.  —  Einfach  geb.  2  ^^^  10  sh. 
Im  Verlage  der  Cambridger  Universitäts- 
druckerei   beginnt   ein   großes  Florenwerk    zu  er- 


scheinen, auf  das  wir  die  Leser  der  Naturwissen- 
schaftlichen Wochenschrift  hinzuweisen  niciit  ver- 
fehlen möchten.  Das  große  P'oliowerk  soll  die 
gesamte  Flora  der  Britischen  Inseln  umfassen  und 
zwar  sowohl  die  einheimischen,  wie  die  einge- 
bürgerten Arten  und  ist  auf  10  Bände  berechnet, 
die  in  jährlichen  Abständen  erscheinen  sollen. 
Der  Text  ist  von  dem  Kurator  des  Cambridger 
LIniversitätsherbariums,  Dr.  C.  E.  Moss  über- 
nommen, der  von  einer  größeren  Zahl  von  Spe- 
zialisten unterstützt  wird ;  die  Illustrationen  sind 
ganzseitige  klare  Federzeichnungen ,  die  E.  VV. 
Hunnybun  in  natürlicher  Größe  nachlebenden, 
genau  charakterisierten  Exemplaren  entworfen  hat. 
Augenblicklich  liegt  der  zweite  Band  vor,  der 
einen  Einblick  in  das  weitausgreifende  L^nterneh- 
men  gestattet.  Er  umfaßt  die  Archichlamydeen 
bis  zu  den  Chenopodiaceen  einschließlich  und  ist 
mit  206  Tafeln  illustriert,  die  entweder  in  den 
Text  eingefügt  oder  in  einem  besonderen  Bande 
beigegeben  sind.  Als  allgemeine  Grundlage  ist 
das  sich  immer  mehr  einbürgernde  Engl  ersehe 
System  gewählt.  Auf  analytische  oder  künstliche 
Bestimmungsschlüssel  ist  verzichtet  worden.  Die 
Sprache    ist    nicht    Lateinisch,    sondern    Englisch. 


528 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  33 


Bei  vielen  Arten  ist  die  Verbreitung  durch  kleine 
Kärtchen  veranschaulicht.  Der  I.  Band  soll  die 
Koniferen,  Farne  und  Schachtelhalme  und  viel- 
leicht auch  die  Lebermoose  und  Moose  enthalten, 
während  der  Einschluß  von  Algen,  Pilzen  und 
Flechten  in  Anhängen  einer  späteren  Berück- 
sichtigung vorbehalten  ist. 

Bei  der  Ähnlichkeit  der  deutschen  und  der  briti- 
schen Flora  werden  auch  bei  uns  sich  viele  Lieb- 
haber für  dies  moderne  und  wissenschaftlich- 
kritische, so  vorzüglich  illustrierte  Werk  finden. 

Miehe. 

Entwurf  einer  verallgemeinerten  Relativitäts- 
theorie und  einer  Theorie  der  Gravitation. 

I.  Physikalischer  Teil  von  Albert  Einstein 
in  Zürich.  II.  Mathematischer  Teil  von  Marcel 
Großmann  in  Zürich.  Tcubner,  1913. 
Erstgenannter  Verf.  hat  schon  früher  der  Über 
Zeugung,  daß  die  schwere  Masse  sich  auf  die 
träge  Masse  zurückführen  läßt,  Ausdruck  gegeben 
in  der  „Äquivalenz-Hypothese".  Dabei  sieht  er 
sich  allerdings  genötigt,  die  Grundlage  der  bis- 
herigen Relativitätstheorie,  nämlich  den  Satz  von 
der  Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit  aufzugeben. 
Es  ergibt  sich,  daß  die  Lichtgeschwindigkeit  ab- 
hängig ist  von  dem  Gravitationspotential.  Die 
weitere  Verfolgung  dieses  (iedankens  führt  zu  dem 
überraschenden  Schluß,  daß  die  Lichtgeschwindig- 
keit geradezu  identisch  ist  mit  dem  Gravitations- 
potential. War  nun  in  der  alten  Relativitäts- 
theorie der  Abstand  zweier  Raumzeitpunkte  (d.  h. 
die  Geschwindigkeit  eines  Körpers)  durch  den 
Bewegungszustand  des  Beobachters  eindeutig  ge- 
geben, so  hängt  dieser  in  der  neuen  Theorie  noch 
vom  Schwerefelde  ab,  „das  Gravitationsfeld  be- 
einflußt die  Uhren  und  Meßkörper  in  bestimmter 
Weise".  Der  Einfluß  des  Gravitationsfeldes  auf 
physikalische  Vorgänge,  besonders  elektromagne- 
tische, wird  alsdann  eingehender  untersucht.  Alle 
Resultate  gehen  für  den  speziellen  Fall  des  schwere- 
freien Feldes  in  die  der  alten  Relativtheorie  über. 
Die  z.  T.  recht  komplizierten  Rechnungen  sind 
im  II.  Teil  von  dem  zweitgenannten  Verf  zu- 
sammengestellt. 

Parzival  Runze,  Berlin-Lichterfelde. 


Laue,  M.,  Das  Relativitätsprinzip.    Zweite 

vermehrte  Auflage.     Friedr.  Vieweg  u.  Sohn  in 

Braunschweig   191 3   (Die  Wissenschaft,  Bd.  38). 

Das  Buch  hat  sich  längst  als  eine  kurzgefaßte, 

übersiclitliche    Darstellung    der   Relativitätstheorie 


eingebürgert.  Das  starke  Anwachsen  der  Literatur 
in  den  letzten  Jahren  rechtfertigt  eine  Neuauflage. 
Dabei  hat  sich  Verf  erfreulicherweise  bemüht,  den 
ursprünglichen  Rahmen  des  Werkchens  nach  Mög- 
lichkeit nicht  zu  durchbrechen.  Trotzdem  schien 
eine  vollständige  Umarbeitung  und  Erweiterung 
des  Abschnittes  „Dynamik"  geboten.  Der  grund- 
legenden Bedeutung  der  Arbeiten  von  Herglotz 
über  die  Elastizitätslehre  in  der  Relativtheorie  ist 
dabei  vielleicht  nicht  vollauf  Rechnung  getragen. 
Einen  breiten  Raum  nehmen  dagegen  die  äußerst 
interessanten  hydrodj'namischcn  Folgerungen  des 
Relativitätsprinzips  ein.  Dieses  Gebiet  ist  erst  vor 
kurzem  durch  die  aus  der  Planck'schen  Schule 
hervorgegangene  Dissertation  von  L  a  m  1  a  er- 
schlossen worden.  Auch  den  Erörterungen  über 
den  T  r  o  u  t  o  n  -  N  o  b  1  e '  sehen  Versuch  ist  ein 
längerer  Abschnitt  gewidmet.  Sehr  zu  begrüßen 
sind  die  neuen  Beispiele,  an  denen  der  sonst  der 
Anschauung  so  schwer  zugängliche  Begriff  des 
Weltvektors  erläutert  ist. 

Parzival  Runze,  Bcrlin-Lichterfelde. 


Literatur. 

Geyer,  Franz  Xaver,  Apostolischer  Vikar  von  Zentral- 
afrika, Durch  Sand,  Sumpf  und  Wald.  Missionsreisen  in 
Zentralafrika.  Mit  395  Bildern  und  9  Karten.  Neue  Ausgabe. 
Freiburg  '14,  Herder'sche  Verlagshandlung.     Geb.  6  Mk. 

Bateso  n,  W.,  Mendel's  Vererbungstheorien.  Aus  dem 
Englischen  übersetzt  von  Alma  Wincklcr.  Mit  einem  Beglcit- 
wort  von  R.  v.  Wettstein  sowie  41  Abbild,  im  Text  u.  6  Taf. 
Leipzig-Berlin  '14,  B.  G.  Teubner.     Geb.   13  Mk. 

Fall  ad  in,  W.  I.,  Pflanzenanatomie.  Nach  der  5.  russi- 
schen Auflage  übersetzt  und  bearbeitet  von  Dr.  S.  Tschulok. 
Mit  174  Abbild,  im  Text.  Leipzig-Berlin  '14,  B.  G.  Teubner. 
Geb.  5   Mk. 

Bolk,  Prof.  Dr.  L.,  Die  Morphogcnie  der  Primatenzähne. 
Eine  weitere  Begründung  und  Ausarbeitung  der  Dimertheorie. 
Mit  61  Abbild,  im  Text  und  3  Tafeln.  Jena  '14,  G.  Fischer. 
7    Mk. 

C  o  h  en  -  K  y  s  p  e  r ,  Adolf,  Die  mechanistischen  Grund- 
gesetze des  Lebens.     Leipzig   '14,  J.  A.  Barth.     8  Mk. 

Scheiner,  Prof.  Dr.  J.,  Der  Bau  des  Weltalls.  4.  Aufl. 
Mit  26  Fig.  im  Text.  Aus  Natur  und  Geisteswelt  Band  24. 
Leipzig-Berlin  '14,  B.   G.  Teubner.     Geb.    1,20  Mk. 

Johnstone,  James,  The  Philosophy  of  Biology.  Cam- 
bridge '14,  University  Press. 

Fortschritte  der  Mineralogie,  Kristallographie  und  l'etro- 
graphie.  Herausgegeben  von  der  Deutschen  Mineralogischen 
Gesellschaft  unter  der  Redaktion  von  Prof.  Dr.  G.  Linck. 
4.   Bd.      Mit  23  Abbild.      Jena  "14,  G.   Fischer.      12   Mk. 

Osburn,  R.  C,  The  care  of  Home-aquaria.  New  York. 
Published  by  the  New   York  Zoological  Society  March,    1914. 

Rusch,  Franz,  Winke  für  die  Beobachtung  des  Himmels 
mit  einfachen  Instrumenten.  Mit  6  Abbild.  Leipzig-Berlin  '14, 
B.    G.    Teubner.      1,50  Mk. 


Inhalt;  Robitzsch:  Einige  bemerkenswerte  Registrierungen  und  Beoliachtungen  vom  deutschen  Spitzbergen-lJbservatorium 
1912 — 13.  Bürger:  Ammoniaksynthesen.  —  Einzelberichte:  Hooker;  Sind  die  Wurzeln  der  Pflanzen  fähig,  Tem- 
]ieraturunterschiede  wahrzunehmen?  Keyl:  Ein  fremder  Ansiedler  der  Warmhäuser  (Branchiura  Sowerbyi  Beddard). 
Metalnikov:  Nahrungswahl  bei  Infusorien.  Newman:  Vererbung  bei  Kreuzung  von  Knochenfischen.  Planck: 
Optische  Konstanten  dünner  Kupferschichten.  Partington;  Bestimmung  des  Verhältnisses  der  spezifischen  Wärmen 
des  Chlors.  Bechhold:  Kolloidale  Lösungen  von  Mononatriumurat.  —  Kleinere  Mitteilungen:  Philippsen:  Eine 
Austerbank  aus  der  Litorinazeit.  Schutt:  A.  E.  G. -Zweidecker.  Grumme:  Möglichkeit,  den  Fettgehalt  der  Milch  zu 
steigern.  —  Bücherbesprechungen:  Bauer:  Geschichte  der  Chemie  I  von  den  ältesten  Zeiten  bis  Lavoisier.  The 
Cambridge  British  Flora,  lüitwurf  einer  verallgemeinerten  Relativitätstheorie  und  einer  Theorie  der  Gravitation.  Laue: 
Das  Relalivitlitsptinzip.  —  Literatur:   Liste. 

Manuskripte  und  Zuschrilten   werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstrafie   IIa,  erbeten. 

Verlag  von   Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Baiul ; 
der   ganzen  Reihe   29,  band. 


Sonntag,  den  23.  August  1914. 


Nummer  34. 


Neuere  Ergebnisse  und  Streitfragen  der  Raiichschadenforschung. 


(Hin  Sammelrefcrat.) 

Von  F.  W.  Neger  (Tharandt). 

Verbrennungsgase,      besten  tun , 


[Nachdruck  verboten,] 

Die  Wirkung  der  sauren 
sowie  anderer  in  industriellen  Betrieben  entstehen 
der  und  in  die  Atmosphäre  entweichender  giftiger 
Gase  auf  die  Pflanzenwelt  —  eine  wenig  erfreu- 
liche Nebenerscheinung  der  gewaltigen  Entwick- 
lung menschlichen  Könnens  auf  technischem  Ge- 
biet —  beschäftigt  seit  mehr  als  einem  Menschen- 
alter sowohl  Forscher  wie  Praktiker.  Gleichwohl 
ist  diese  Frage  weit  entfernt  nach  jeder  Richtung 
hin  gelöst  und  geklärt  zu  sein. 

Daß  jene  Gase  für  die  Pflanzen  mehr  oder 
weniger  schädlich  sind,  darüber  kann  kein  Zweifel 
mehr  bestehen.  Wohl  aber  gehen  die  Anschau- 
ungen der  beteiligten  Kreise  noch  sehr  auseinan- 
der über  eine  Reihe  von  Einzelvorgängen,  welche 
eben  diese  Schädigung  ausmachen. 

Die  Punkte,  welche  noch  als  strittig  oder  gar 
als  ungeklärt  gelten  können,  lassen  sich  in  folgen- 
den Fragestellungen  zusammenfassen: 

1.  Bei  welchem  Verdünnungsgrad  hört  ein 
Abgas  auf,  giftig  zu  sein.? 

2.  Wirken  die  giftigen  Gase  als  solche,  oder 
nachdem  sie  durch  die  Niederschläge  —  Regen, 
Schnee,  Nebel  —  in  Wasser  gelöst  wurden  ?  In 
engstem  Zusammenhang  hiermit  steht  die  P'rage : 

3.  Wirken  die  Abgase  nur  oberirdisch  indem 
sie  ausschließlich  die  in  der  Atmosphäre  befind- 
lichen Organe  schädigen,  oder  liegt  der  Schwer- 
punkt ihrer  Giftigkeit  darin,  daß  sie  durch  die 
Niederschläge  niedergerissen,  in  den  Boden  gespült 
werden  und  nun  das  Wurzelsystem  in  seiner 
Leitungsfähigkeit  stören.' 


die  Frage  3  ganz  oder 
ersten  Alternative  ent- 
noch  die  P'ragen  zu  be- 


4.  In  dem  P'all ,  daß 
teilweise  zugunsten  der 
schieden  wurde,  bleiben 
antworten: 

a)  Dringt  das  gasförmige  Gift  durch  die  Spalt- 
öffnungen der  Blätter  in  das  Innere  ein  oder  zer- 
stört dasselbe  —  etwa  in  Wasser  gelöst  —  infolge 
äußerlicher  Ätzung  das  Hautgewebe,  um  so  den 
Weg  in  die  tieferlicgenden  Gewebeteile  zu  finden  ? 

b)  Welchen  Einfluß  haben  die  giftigen  Gase 
auf  die  verschiedenen  P'unktionen  des  Lebens: 
Assimilation,  Atmung,  Transpiration  ? 

5.  Gibt  es  ein  untrügliches  Merkmal  auf  (irund 
dessen  die  Rauchwirkung  auf  Pflanzen  erkannt 
und  von  anderen,  äußerlich  ähnlichen  Absterbe- 
vorgängen —  Wirkungen  des  Frostes,  der  Hitze 
usw.  —  unterschieden  werden  kann? 

Wir  werden,  wenn  wir  die  so  angedeuteten 
Probleme  auf  Grund  der  vorliegenden  Unter- 
suchungsergebnisse kritisch  beleuchten  wollen,  am 


die  obigen  Fragen  der  Reihe  nach 
zu  beantworten  zu  suchen,  und  werden  so  finden, 
was  einigermaßen  sichergestellt,  und  was  der 
weiteren  Klärung  noch  harrt. 

I.   Die    Schädlichkeitsgrenze. 

Naturgemäß  richtet  sich  die  Schädlichkeits- 
grenze nach  der  Natur  bzw.  dem  Giftigkeitsgrad 
des  in  Betracht  kommenden  Gases.  Wir  wissen, 
daß  die  Fluorwasserstoffsäure  bei  akuten  Vergif- 
tungen viel  intensiver  wirkt  als  beispielsweise  die 
schweflige  Säure.  Da  aber  gerade  die  letztere 
Säure  bei  chronischen  Rauchschäden  die  größte 
Rolle  spielt  und  überhaupt  das  in  der  Atmosphäre 
am  meisten  verbreitete  giftige  Gas  ist,  so  haben 
sich  ganz  besonders  zahlreiche  und  sorgfältige 
Untersuchungen  mit  der  L'rage  beschäftigt,  bei 
welcher  Verdünnung  das  Schwefeldioxyd  aufhört 
giftig  zu  wirken.  Auf  Grund  der  in  der  freien 
Natur  gemachten  Beobachtungen  wurde  bis  vor 
kurzem  die  Schädlichkeitsgrenze  von  SO.,  bis 
TiTiTFD-inT  bis  ^tiVti-^tt  angenommen  (d.  h.  i"  Vol. 
Teil  SO2  auf  200000 — 500000  Teile  Luft). 

Bei  den  sorgfältigen  Untersuchungen ,  die 
H.  Wislicenus  (12)  in  einem  eigens  für  diese 
Zwecke  gebauten  Rauchversuchhaus  angestellt 
hat,  ergab  sich  aber,  daß  dieser  Wert  zu  niedrig 
angesetzt  ist,  d.  h.  es  zeigte  sich,  daß  die  Schäd- 
lichkeitsgrenze der  schwefligen  Säure  bei  noch 
weitergehenden  Verdünnungen  zu  suchen  ist,  näm- 
lich zwischen   ;,-nV(n5ü  ""d  y-ß-^U-a  ir- 

Gleichzeitig  ergab  sich  aber  bei  diesen  Ver- 
suchen die  bemerkenswerte  Tatsache,  daß  der 
Verdünnungsgrad  allein  nicht  maßgebend  ist  für 
das  Zustandekommen  oder  Ausbleiben  einer 
Rauchbeschädigung.  Vielmehr  spielt  dabei  der 
Zustand  der  Pflanzen  eine  sehr  große  Rolle,  indem 
bei  aktiver  Assimilation  sowie  überhaupt  bei 
energischer  Lebenstätigkeit  die  Gefahr  der  Schä- 
digung viel  größer  ist  als  im  Zustand  der  Vege- 
tationsruhe. Demgemäß  ertragen  die  meisten 
Nadelhölzer  (z.  B.  Fichte)  während  der  Winter- 
ruhe weit  höhere  Konzentrationen  von  SO.,  als 
während  der  Vegetationszeit,  nämlich  bis  zu  yy.-ü'onTTi 
aber  auch  im  Sommerzustand  befindliche  Bäume 
werden  durch  sonst  gefährliche  Konzentrationen 
nicht  geschädigt,  wenn  sie  sich  im  Dunkelraum 
befinden,  also  nicht  assimilieren  köimen. 

Daß  dabei  nicht  nur  die  verschiedenen  Baum- 
arten, sondern  sogar  die  einzelnen  Individuen 
einer  Art  beträchtliche  Verschiedenheiten  auf- 
weisen,   kann    als    bekannt   vorausgesetzt  werden, 


530 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  34 


erschwert  aber  außerordentUch  die  Gewinnung 
eines  allgemeinen  Urteils  über  die  Grenze  der 
Schädlichkeit  eines  giftigen  Gases. 

Man  bringt  diese  Verschiedenheit  dadurch  zum 
Ausdruck ,  daß  man  eine  Empfindlichkeitsskala 
aufgestellt  hat,  welche  mit  Fichte,  Tanne,  Douglas- 
tanne (sehr  empfindlich)  beginnt  und  mit  der 
Kiefer,  Schwarzkiefer,  Buche,  Eiche  schließt. 

Jedenfalls  ist  es  unmöglich  einen  eindeutigen 
Schwellenwert  der  Giftigkeit  für  die  SO.,  aufzu- 
stellen, indem  selbst  der  geringe  Wert  von -j^j-jy^YiiiTi 
unter  Umständen ,  nämlich  bei  intensivster  Assi- 
milationstätigkeit, während  des  Hochsommers,  an 
den  besonders  empfänglichen  Individuen  rauch- 
empfindlicher Holzarten  noch  schwere  Schädigun- 
gen hervorbringen  kann. 

Fluorsilicium  und  Fluorwasserstoffsäure  stehen 
an  Giftigkeit  der  SO.,  kaum  nach ,  ja  sie  über- 
treffen die  letztere  häufig,  und  dementsi>rechend 
ist  die  Giftigkeitsgrenze  bei  diesen  Verbindungen 
in  ähnlicher  Verdünnung  zu  suchen  wie  bei  der 
schwefligen  Säure.  Dagegen  erweisen  sich  Nebel 
von  SO.,  merkwürdig  wenig  wirksam.  So  ertrug 
bei  den  Versuclien  von  H.  Wislicenus  eine 
Fichte  dicke  SOg-Nebel  14  Tage  lang  ohne  irgend- 
welche Schädigung  erkennen  zu  lassen.  Es  ist 
anzunehmen,  daß  das  SO.j  durch  Vereinigung  mit 
Wasserdampf  (aus  der  Euft)  derartig  große  Nebel- 
bläschen bildet,  daß  höchstens  äußerliche  Atz- 
wirkungen zustande  kommen,  nicht  aber  das  Gift 
durch  die  Spaltöffnungen  eindringt. 

3.    In    welcher    Form    wirken    die    Gifte, 
als    Gas    oder    in    Wasser    gelöst,    ober- 
irdisch oder  unterirdisch? 

Man  macht  häufig  die  Beobachtung,  daß  in 
nassen  Jahren  die  Rauchbeschädigung  der  Vege- 
tation durch  SO.,  viel  intensiver  ist  als  in  trockenen. 
Diese  Erfahrung  deckt  sich  mit  der  Tatsache,  daß 
bei  künstlichen  Räucherversuchen  benetzte  h'ichten 

—  gleiche  Konzentration  des  Giftes  vorausgesetzt 

—  weit  mehr  geschädigt  werden  als  trocken  ge- 
haltene. Diese  Erscheinung  wurde  in  der  Regel 
so  gedeutet,  daß  die  schweflige  Säure  durch  das 
Benetzungswasser  niedergeschlagen  werde,  und 
nachdem  sie  —  große  Überfläche !  —  zu  Schwefel- 
säure oxydiert  wurde,  äußerlich  ätzend  wirke  und 
so  durch  die  zerstörte  Epidermis  in  das  Blatt- 
gewebe eindringt. 

Um  diese  Vermutung  auf  ihre  Richtigkeit  zu 
prüfen,  stellte  ich  (3)  folgende  Versuche  an:  .'\b- 
geschnittene  Zweige  von  h'ichte,  Tanne,  Kiefer 
und  anderen  Nadelhölzern  wurden  in  verschiedene 
Konzentrationen  von  Schwefelsäure  eingetaucht, 
darin  kürzer  oder  länger  gelassen,  dann  abgespült 
und  beobachtet.  Es  zeigte  sich  bei  diesen  Ver- 
suchen, daß  die  Widerstandsfähigkeit  der  Koniferen- 
nadeln gegen  benetzende  Schwefelsäure  auffallend 
groß  ist,  z.  B.  ertragen  Fichtenzweige  das  Ein- 
tauchen in  5  ";„  Schwefelsäure  InH.iSO,)  24  Stunden 
lang  ohne  nennenswerte  Schädigung. 

Wenn    eine    solche    eintritt,    so    ist  sie  auf  die 


Anwesenheit  mechanischer  Wunden  zurückzuführen, 
und  so  erklärt  sich,  daß  die  Tanne  mit  ihren  viel 
weicheren  Nadeln  gegen  Benetzung  mit  verdünnter 
Schwefelsäure  weit  empfindlicher  ist  als  die  F'ichte 
mit  ihren  derben,  harten  Nadeln,  sowie  daß  die 
Empfindlichkeit  gegen  wässerige  Schwefelsäure 
bei  allen  Nadelhölzern  mit  steigendem  Nadelalter 
zunimmt,  indem  offenbar  jüngere  Nadeln  viel 
weniger  mechanische  Wunden  aufweisen  als  etwa 
6—  8jährige,  welche  schon  eine  Anzahl  von  Win- 
tern, und  damit  Sturm,  Frost  und  Duftanhang  über 
sich  haben  ergehen  lassen  müssen.  Die  Bilder 
in  Fig.  I  veranschaulichen  diese  Verhältnisse. 
Jedenfalls  beweist  die  Erfahrung,  nach  welcher 


Kig.   I.       Tannen-    (links)    und    Fichtenzweige    (rechts),    nach 

(n  n  n  \ 
~i  "p  »  — )• 
2         b        32/ 

Die  Fichte  leidet  viel   weniger  als  die  Tanne. 


5  "Z,,  Schwefelsäure  unter  Umständen  keinerlei 
Schädigung  hinterläßt,  daß  auf  äußere  Benetzung 
wohl  nur  wenige  Rauchschäden  zurückzuführen 
sind  und  wir  müssen  somit  annehmen,  daß  die 
giftigen  Gase  als  solche  —  und  nicht  in  Wasser 
gelöst  —  in  das  Innere  der  Blattorgane  eindringen; 
auf  welchem  Wege  dies  geschieht,  werden  wir  im 
nächsten  Abschnitt  sehen. 

Vorher  wäre  allerdings  noch  kurz  an  eine 
andere  Hypothese,  die  kürzlich  Wieler  (10)  auf- 
gestellt   hat,    zu    erinnern.     Wieler    meint,    daß 


N.  F.  XIII.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


531 


durch  die  mit  den  Niedersclilägen  in  den  Boden 
gewasclienen  Säuren  der  Abgase  dem  Boden  der 
darin  enthaltene  Kalk-  entzogen  werde  und  die 
Pflanzen  dann  infolge  von  Kalkmangel  zugrunde 
gingen.  So  beachtenswert  die  von  Wieler  an- 
gestellten Versuche  auch  sind  —  sie  scheinen  die 
Richtigkeit  seiner  Erklärung  in  der  Tat  zu  be- 
weisen — ,  so  liegt  doch  kein  Grund  vor,  diese 
indirekte  Art  von  Schätligung  als  die  allein  be- 
stehende und  die  direkte  Vergiftung  der  ober- 
irdischen (Organe  durch  giftige  Gase  als  unter- 
geordnet anzusehen.  Denn  einerseits  kommen 
schwere  Rauchschäden  auch  auf  reinem  Kalkboden 
vor,  wo  von  Bodenentkalkung  wohl  nicht  die  Rede 
sein  kann,  andererseits  macht  man  die  Beobachtung, 
daß  bei  Beseitigung  der 
Rauchquelle  die  Schädi- 
gungen der  Vegetation 
in  der  Regel  aufhören, 
was  unverständlich  wäre, 
wenn  nur  indirekte  Schä- 
digung durch  Bodenent- 
kalkung vorläge.  Endlich 
nützt  sehr  häufig  die  Zu- 
führung von  Kalk  auf 
Rauchblößen  nichts  oder 
nur  sehr  wenig,  weil  eben 
die  direkte  Vergiftung 
intensiver  ist  als  die  in- 
direkte (durch  Bodenent- 
kalkung). 

Die  Wieler 'sehe 
Hypothese  ist  daher  in 
der  von  ihm  ge- 
dachten Ausdehnung 
zurückzuweisen ,  womit 
allerdings  nicht  gesagt 
sein  soll,  daß  sie  nicht 
unter  gewissen  besonderen 
Umständen  wertvolle 

Dienste  leiste. 

3  a.      Die     Eintritts- 
pforten der  giftigen 
Gase. 

Die  von  Reuß  und 
von  Schröder  (4)  ver- 
tretene Ansicht,  dieschwef- 
liche  Säure   (und  andere 

giftige  Gase)  trete  nicht  durch  die  Spaltöffnungen, 
sondern  durch  die  Epidermis  —  also  auf  osmo- 
tischem Weg  —  in  das  Innere  der  Blätter  ein, 
ist  für  die  Laubhölzer  von  Wieler  (9)  endgültig 
als  nicht  zutreffend  nachgewiesen  worden. "  Nur 
bezüglich  der  Nadelhölzer  hat  sich  Wieler  nicht 
in  bestimmter  Weise  ausgesj^rochen.  Er  rechnete 
noch  mit  dem  von  Schwab  ach  (5)  behaupteten 
dauerndem  Geschlossensein  der  Stomata  an  Koni- 
ferennadeln. 

Diese  Darstellung  beruht  aber  auf  einer  falschen 
Beobachtung.  Denn  auch  die  Koniferenschließ- 
zellen   sind    ebenso  bewegüch  wie  diejenigen  der 


Laubgehölze  und  bei  hohem  Turgor  mehr  oder 
weniger  weit  geöffnet.  Dies  kann  sowohl  direkt 
mittels  der  Infiltrationsniethode  (nach  vorhergehen- 
der Evakuierung)  als  auch  auf  indirektem  VVeg  — 
Ermittelung  des  Wasserverlustes  durch  Wägung 
verdunstender  Zweige  —  ermittelt  werden.  Aller- 
dings ist  —  wie  sich  durch  beide  Methoden  über- 
einstinmiend  ergab  —  der  Grad  der  Beweglichkeit 
verschieden  groß  bei  den  verschiedenen  Nadel- 
jahrgängen, d.  h.  mit  zunehmendem  Alter  nimmt 
die  Beweglichkeit  der  .Stomata  ab,  derart,  daß  die 
Spaltöffnungen  an  älteren  Nadeln  fast  andauernd 
offen  sind  und  sich  nur  noch  unvollkommen  zu 
schließen  vermögen. 

In    eklatanter  Weise    zeigt    sich    die    Fähigkeit 


Fig.  2.      Geknickter  Zweig  eioer  mit  SUo  behandelten   Kiclite. 


der    Spaltöffnungen    sich     bei    Wassermangel    zu 
schließen,  an  folgendem  Versuch: 

Man  knicke  an  einer  bewurzelten  und  gut  be- 
wässerten Fichte  einige  Zweige,  dann  bringe  man 
die  Pflanze  (in  i — 2  Tagen)  in  eine  SO.,  atmosphäre 
(durch  Abdampfen  aus  wässeriger  Lösung  erhalten); 
nach  einiger  Zeit  sind  alle  Triebe,  mit  Ausnahme 
der  geknickten,  rauchkrank  und  demgemäß  fahlgrün. 
Die  geknickten  Triebe  dagegen  haben  ihre  frisch- 
grüne Färbung  beibehalten.  Indem  sie  ihre  Spalt- 
öffnungen unter  dem  Einfluß  der  VVassernot 
schlössen,  ließen  sie  kein  Gift  in  das  Innere  der 
Nadeln  eintreten  (Fig.  2). 


532 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  34 


Ähnlich  verläuft  der  Versuch ,  wenn  abge- 
schnittene Triebe  von  Nadel-  (und  Laubhölzern) 
teils  in  Wasser  eintauchend,  teils  trockengehalten 
einer  SO.,- Atmosphäre  ausgesetzt  werden;  erstere 
werden  rauchkrank,  letztere  bleiben  gesund. 

Die  oben  angedeutete  Erscheinung,  daß  die 
Nadelhölzer  im  beregneten  Zustand  sehr  viel  emp- 
findlicher sind  als  bei  Trockenheit,  ist  also  ein- 
fach so  zu  erklären:  Wenn  die  Nadeln  benetzt 
sind,  öfTnen  sich  die  Spaltöffnungen  weit  und 
lassen  das  giftige  Gas  eintreten;  bei  Wasser- 
mangel erfolgt  Schluß  der  Stomata,  wodurch  der 
Eintritt  des  Gases  verhindert  wird. 


3b.      Die    Beeinflussung    der    Lebens- 
funktionen durch  die  schweflige  Säure 
(und    andere    giftige  Gase). 

Es  sind  hauptsächlich  zwei  Lebensfunktionen, 
welche  durch  die  in  den  Rauchgasen  entlialtenen 
flüchtigen  Säuren  in  sehr  ungünstigem  Sinne  be- 
einflußt werden:  die  Assimilation  und  die  Tran- 
spiration. 

Schon  früher  hat  Wislicenus  (i  i)  den  Nach- 
weis geliefert,  daß  bei  ruhender  Assimilation  (d.  h. 
im  Dunkelraum  sowie  während  der  winterlichen 
Vegetationsruhe)  von  den  grünen  Pflanzen  be- 
trächtliche Mengen  von  SO._,  aufgenommen  werden 
können,  ohne  daß  eine  Schädigung  zu  beobachten 
ist  (vgl.  oben).  Diese  Versuche  wurden  im  neuen 
Rauchversuchshaus  mit  dem  gleichen  Ergebnis 
wiederholt.  Gleichzeitig  wurde  mittels  der  Eva- 
kuationinfiltrationsmethode  nachgewiesen,  daß  bei 
den  im  Dunkelraum  befindlichen  Pflanzen  kein 
vollkommener  Spaltöftnungsschluß  stattgefunden 
hatte,  daß  also  das  Ausbleiben  der  Schädigung 
nicht  auf  Ausschluß  des  Giftes  beruhen  kann, 
sondern  daß  die  schweflige  Säure  eben  gerade 
in  den  Assimilationsvorgang  störend  eingreift. 
Man  könnte  versucht  sein  das  SO.,  geradezu  als 
ein  Reagens  auf  tätige  Assimilation  anzusehen. 

Daß  dies  tatsächlich  zutrifl't,  geht  namentlich 
noch  aus  folgendem  —  sich  auch  für  Vorlesungs- 
zwecke  zur  Demonstration  eignenden  —  Labora- 
toriumsversuch hervor. 

Junge  kräftige  Sprosse  von  Elodea  cana- 
densis  wurden  (in  zwei  Gefäßen)  in  Wasser  ge- 
bracht, welches  verdünnte  schweflige  Säure  gelöst 
enthielt,  und  zwar  ^/.,|,g  "  ,^  SO.,.  Das  eine  der 
beiden  Gefäße  wurde  dem  dift'usen  Tageslicht 
ausgesetzt,  das  andere  mit  einer  schwarzen  Glas- 
glocke bedeckt.  Nach  24  Stunden  war  der  Sproß 
im  ersten  Gefäß  (Licht)  stark  gebleicht ,  der  im 
zweiten  (Dunkel)  frisch  grün  und  vollkommeti 
intakt  (Fig.  3). 

Die  Giftwirkung  der  schwefligen  Säure  auf 
assimilierende  grüne  Pflanzen  beruht  wahrschein- 
lich auf  ihren  stark  reduzierenden  Eigenschaften, 
vermöge  welcher  diese  Verbindung  in  den  Che- 
mismus der  Assimilation  eingreift,  etwa  durch 
Anlagerung  an  die  intermediär  entstehenden  Alde- 
hyde.   Sonst  wäre  nicht  zu  verstehen,  warum  die 


gesättigte    Schwefelsäure    so    viel     weniger    giftig 
wirkt  als  die  ungesättigte  schweflige  Säure. 

Auch  dies  läßt  sich  mittels  E 1  o  d  e  a  sprosse 
in  einem  einfachen  Laboratoriumsversuch  nach- 
weisen. 

El  odeasprosse  wurden  in  zwei  Reihen  von 
Gefäßen  gebracht,  in  welchen  sich  SO.,  bzw.  H.,S(  \ 
befand,  und  zwar  in  den  Konzentrationen  '/m,,, 
Vjoo.    Vjpo.   '/MIO.    Viüdo"/.!.  alles  am  dift'usen  Licht. 

H,,SOj  wirkte  noch  giftig  bei  der  Konzentration 
'/iii"  "io<  während  bei  '/.,,,„  *'/(i  keinerlei  Schädigung 
wohl  aber  intensive  Assimilation  (0-Entwicklung) 
zu  beobachten  war.  Anders  bei  SO.j.  Hier 
wirkte    noch    die    Konzentration    ^/j^^  %    überaus 


Fig.  3.      Elodea  ranadensis    in    verdünnter    schwefliger    S.iure. 

Links  im   Dunkelraum:   dunkelgrün. 

Rechts  dem  Licht  ausgesetzt;  gebleicht. 


giftig  (vgl.  oben),  und  der  Grenzwert  der  Giftig- 
keit wurde  zwischen    '/,,||(|   und   '/, „o,,  "/„  gefunden. 

Wir  können  demnach  sagen,  daß  die  SO2 
rund  zehnmal  giftiger  ist  als  die  H.^SO^  —  soweit 
die  Assimilation  in  Betracht  kommt.  Auch  diese 
Versuche  beweisen  klar,  daß  die  Giftwirkung  der 
SO.,  weniger  in  einer  Atzwirkung  des  (Xxydations- 
Produktes,  der  Schwefelsäure,  wie  so  vielfach  an- 
genommen wurde,  als  viel  mehr  in  einer  direkten, 
von  der  SO.,  ausgehenden  Störung  des  Assimila- 
tionsvorganges zu  suchen  ist. 

Auch  die  Beeinflussung  der  Wasseraufnahme 
und    -abgäbe  durch  die  schwefliche  Säure  ist  viel- 


N.  I^  XIII.  Nr.  34 


NaturwissenschafUichc  Wochenschrift. 


533 


fach  Gegenstand  sorgfältiger  Untersuchungen  ge- 
wesen. 

Während  Reuß  und  v.  Schröder  gefunden 
haben  wollten,  daß  bei  rauchkranken  Sprossen 
die  Wasseraufnahnie  größer  sei  als  die  Wasser- 
abgabe, demnach  in  solchen  Sprossen  eine  Saft- 
stauung zustande  komme,  kam  Wieler  auf  Grund 
seiner  allerdings  äußerst  komplizierten  und  daher 
bezüglich  der  Beseitigung  der  Fehlerijuellen  wenig 
Vertrauen  erweckenden  Versuchsanstellung  zu  dem 
Resultat,  daß  bei  schwacher  Einwirkung  der  schwef- 
ligen Säure  —  die  äußerlich  sichtbare  Schädigungen 
nicht  hinterläßt  —  eine  Beeinflussung  der  Wasser- 
druckstrümung  überhau])t  nicht  nachweisbar  sei. 
Man  wird  dem  gegenüberstellen  müssen,  daß  es 
sich  dann  eben  auch  nicht  um  rauchkranke  Sprosse 
handelte,  und  somit  das  Resultat  der  Wiel  er- 
sehen Untersuchung  nichts  besagt.  Wo  Wieler 
stärkere  —  äußerlich  sichtbare  Schädigungen  ver- 
ursachende —  Konzentrationen  anwandte,  da  fand 
er  auch  eine  Herabsetzung  der  Wasserbilanz. 

Wie  sich  diese  Beeinflussung  der  Wasserdruck- 
strömung im  einzelnen  gestaltet,  ergibt  sich  aus 
unseren  (3)  Untersuchungen,  bei  welchen  ein  be- 
sonderes, die  individuellen  Verschiedenheiten  der 
Vergleichspflanzen  möglichst  ausschließendes  Ver- 
fahren angewendet  wurde.  Eine  genaue  Dar- 
stellung dieser  Methode  würde  zu  viel  Raum  in 
Anspruch  nehmen ;  es  muß  in  dieser  Hinsicht  auf 
die  Originalunlersuchung  verwiesen  werden. 

Das  Ergebnis  der  Untersuchung  läßt  sich  in 
folgender  Weise  kurz  zusammenfassen.  Rauch- 
kranke Triebe  (von  Laub  und  Nadelhölzern)  ver- 
lieren mehr  Wasser  als  gesunde,  ofifenbar,  weil  das 
kranke  Plasma  das  Wasser  leichter  und  schneller 
abgibt  als  gesundes.  Sehr  bald  aber  erfolgt  eine 
Umkehrung  des  Verhältnisses,  indem  die  kranken 
Sprosse  das  Wasser  viel  langsamer  aufnehmen  als 
gesunde,  und  daher  bald  Wassernot  eintritt  (Fig.  4). 
Diese  äußert  sich  in  einer  schnellen  Vertrocknung 
der  kranken  Triebe.  Außerdem  haben  die  kranken 
Triebe  die  Fähigkeit  des  Deplacements  des  Wassers 
aus  der  Achse  in  die  Blätter  verloren,  was  sich  in 
einer  daucrndenTurgeszenz  der  (noch  nicht  verholzten 
Achsenteile  erkennen  läßt  (Fig.  5).  Kurz  gesagt: 
Rauchkranke  Triebe  nehmen  weniger  Wasser  auf 
als  gesunde,  verlieren  aber  auch  das  ihnen  eigene 
Wasser  schneller  und  erwecken  daher  sehr  bald 
den  Eindruck  von  durch  Frost  getöteten  und  dann 
vertrockneten  Trieben. 

10.  K  r  a  n  k  h  e  i  t  s  b  i  1  d  e  r ,  welche  der  Rauch- 

erkrankung    zum    Verwechseln    ähnlich 

sind. 

Wir  kommen  damit  zu  der  für  die  praktische 
Rauchexpertise  äußerst  wichtigen  Frage,  ob  es 
niöglich  ist,  auf  Grund  makro-  oder  mikrosko- 
pischer Merkmale  die  Rauchschäden  von  anderen 
Todes-  oder  Krankheitsursachen  zu  unterscheiden. 

Als  R.  Hart  ig  (i)  vor  fast  20  Jahren  mitteilte, 
ein  solches  Mittel  gefunden  zu  haben,  schien  diese 
Frage   gelöst  zu  sein.     Hart  ig  behauptete  näm- 


lich, daß  Raucherkrankung  an  einer  intensiven 
Rötung  der  Schließzellen  erkennbar  sei.  Sehr 
bald  aber  erhoben  sich  Stimmen,  welche  dieses 
Merkmal  als  durchaus  unzuverlässig  darstellten. 
So  führte  Wieler  (8)  aus,  daß  Rötung  der  Schließ- 


Kig.  4.    Schematische  Darstellung  des  Verlaufs  der  Transpiration 
bei  einem  rauchl<rankcn  (A)  und  gesunden  (BJ  Sproß. 


Fig.  5.  Ahornsprosse,  im  welkenden  Zustand,  links  nach  Be- 
handlung mit  SO.,,  mit  aufrechter  Achse  (kein  Deplacement 
des  Wassers),  rechts  mit  schlaffer  turgorlosen  Achse  und  wonig 
geweihten  Blättern  (es  erfolgte  Deplacement  des  Wassers  aus 
der  Achse  in  die  Blätter). 


Zellen  durchaus  nicht  immer  nach  Rauchbeschä- 
digung (auch  nicht  bei  allen  Nadelholzarten,  son- 
dern nur  bei  jenen,  deren  Schließzellen  Gerbstoff 
enthielten)  zu  beobachten  sei,  ferner  daß  sie  auch 
nach  anderen  Todesursachen  auftrete  (Hitze, 
Trockenheit). 


534 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  34 


Sorauer  (7)  wieder  meinte,  daß  die  Schheß- 
zellenrötung  sich  stets  einstelle,  wenn  Fichten- 
iiiid  Tannennadeln  ,, unter  Lichtgenuß  sich  langsam 
ausleben". 

Jedenfalls  ging  schon  aus  diesen  Untersuchun- 
gen hervor,  daß  die  Rötung  der  Stomata  kein 
Kriterium  für  Rauchschaden  bildet.  Ich  habe 
neuerdings  —  wie  an  anderer  .Stelle  ausführlicher 
berichtet  werden  soll  —  Rötung  der  Schließzellen 
auch  unabhängig  vom  Licht  sowie  bei  plötzlichem 
Tod  der  Fichtennadeln  beobachtet,  so  daß  also 
auch  die  Sorauer 'sehe  Beobachtung  einer  Hin- 
schränkung  bedarf. 

Eine  Erscheinung,  welche  ganz  besonders  häufig 
mit  Rauchwirkung  verwechselt  wird,  ist  die  fuchs- 
rote Färbung  der  Fichtennadeln,  wie  sie  nament- 
lich in  der  Übergangszeit  vom  Winter  zum  Früh- 
jahr, nach  sehr  heißen  Frühlingstagen  auftritt. 
Es  ist  hier  nicht  der  Platz,  auseinanderzusetzen, 
auf  welche  Faktoren  diese  Nadelrötung  zurück- 
zuführen ist  —  man  bezeichnet  sie  häufig  als 
Frosttrocknis  oder  auch  als  Frostschütte,  weil  die 
geröteten  Nadeln  häufig  in  der  Folge  massenhaft 
zu  Boden  fallen  —  schütten.  Nur  das  sei  erwähnt, 
daß  es  häufig  überaus  schwer  ist  zu  entscheiden, 
ob  in  einem  bestimmten  Fall  Frosttrocknis  oder 
Rauchwirkung  vorliegt.  Aus  meinen  Erfahrungen 
möchte  ich  nur  zwei  Beobachtungen  anführen,  die 
häufig  imstande  sind,  die  Sachlage  zu  klären 
(allerdings  nicht  immer  1). 

Die  Frosttrocknis  (der  Fichte)  tritt  namentlich 
an  Süd-  und  Westhängen  auf,  wo  infolge  starker 
Insolation  die  überwinterten  Nadeln  früher  zur 
Lebenstätigkeit  erreichen,  um  dann  durch  nach- 
folgende Fröste  getötet  zu  werden,  .^n  Nord-  und 
Osthängen  ist  die  Frosttrocknis  eine  überaus  seltene 
Erscheinung  (späte  Erwirkung  der  Triebe  zur 
Lebenstätigkeit).  Allerdings  sind  auch  die  Rauch- 
schäden —  entsprechend  dem  Vorherrschen  von 
Westwinden  —  an  Westhängen  besonders  häufig. 
Wenn  aber,  was  in  Tallagen  infolge  der  Beein- 
flussung der  herrschenden  Windrichtung  durch  die 
Talrichtung  öfter  vorkommen  kann,  Ost-  und  Nord- 
hang die  verhängnisvolle  Rötung  der  Nadeln  zeigen, 
dann  kann  kaum  je  von  Frosttrocknis,  wohl  aber 
von  Rauchwirkune  die  Rede  sein. 


Ein  zweites  zu  beobachtendes  Symptom  für 
Frosttrocknis  ist,  daß  hauptsächlich  der  jüngste 
Nadeljahrgang  (der  im  vorhergehenden  Jahr  ent- 
standen ist)  der  Rötung  durch  Frost  anheimfällt, 
während  die  Nadeln  früherer  Jahrgänge  —  infolge 
späteren  Erwachens  zur  Lebenstätigkeit  —  grün 
bleiben. 

Bei  Rauchwirkungen  —  namentlich  bei  chro- 
nischen —  zeigt  sich  dagegen  gerade  umgekehrt, 
daß  die  ältesten  Nadeln  früher  als  unter  normalen 
Verhältnissen  zu  Boden  fallen.  Ist  doch  die  Ab- 
kürzung der  Nadellebensdauer  bei  den  meisten 
Nadelhölzern  —  bei  Tanne  von  10 — 12  auf  4 — 5 
Jahre,  bei  Fichte  von  6  auf  i — 2  Jahre  —  ein 
ziemlich  sicheres  Anzeichen  für  durch  Abgase 
stark  verunreinigte  Luft. 

Bei  alledem  bedarf  es  doch  sorgfältiger  und 
kritischer  Überlegung  und  Berücksichtigung  aller 
Nebenumstände,  wenn  in  einem  bestimmten  Fall 
die  Diagnose  auf  Rauch-  oder  Frostschaden  ge- 
stellt werden  soll  und  gar  nicht  selten  steht  ge- 
rade der  gewissenhafte  Gutachter  vor  einem  un- 
lösbaren Rätsel. 

Literatur. 

1)  Hartig,  Rob.,  Über  die  Einwirkung  des  Hütten-  und 
Steinkohlenrauclics  auf  die  Gesundheit  der  Nadelbäume. 
München    1896. 

2)  Hasselhoff  und  Lindau,  Die  Beschädigung  der 
Vegetation   durch   Rauch.      Berlin    1903. 

3)  Neger  und  Lakon,  Studien  über  den  EinHuß  von 
Abgasen  auf  die  Lebensfunktionen  der  Bäume  (Mitt.  d.  forstl. 
Versuchsanstalt  zu  Tharandt    1914). 

4)  Reuß  und  v.  Schröder,  Die  Beschädigung  der 
Vegetation  durch   Rauch.      18S3. 

5)  Schwabach,  Zur  Entwicklung  der  Spaltöffnungen 
bei  Koniferen  (Ber.   d.  D.  Bot.  Ges.   1902). 

6)  Sorauer,  Über  die  Rotfärbung  der  Spaltöffnungen 
bei  Picea  (Notizbl.   des   Kgl.   Bot.   Gartens  Berlin    1898). 

7)  — ,  Die  mikroskopische  Analyse  rauchbeschädigter 
Pflanzen  (Sammlung  von  Abh.  über  Abgase  und  Rauchschäden, 
herausgeg.  von   H.   Wisiicenus;   tieft  7,    I9t0* 

8)  Wieler,  Über  unsichtbare  Rauchschäden  {Zeitschr.  f. 
l'orst-   und  Jagdwesen,   1897). 

9)  — ,  Untersuchungen  über  die  Einwirkungen  schwefliger 
Säure  auf  die  Pflanzen.     Berlin   1905. 

10)  — ,    Pflanzenwachstum  und   Kalkmangel.     Berlin   1912. 

11)  Wisiicenus,  Die  Resistenz  der  Fichte  bei  ruhen- 
der und  tätiger  Assimilation.  Tharandter  forsll.  Jahrbuch 
1898. 

12)  — ,  Über  die  inneren  und  äußeren  Vorgänge  der  Ein- 
wirkung stark  verdünnter  saurer  Gase  und  saurer  Nebel  auf 
die  Pflanzen  (Mitt.  d.  forstl.  Versuchsanstalt  Tharandt,    1914). 


[Nachdruck  verboten.] 

Der  Löß,  diese  äußerst  feine,  gelbliche,  im 
Wasser  leicht  zerfallende  Trümmermasse  ver- 
schiedener Mineralien,  unter  denen  der  Quarz  vor- 
herrscht, ist  in  dieser  Zeitschrift  schon  wiederholt 
behandelt  worden.  In  China  ist  er  bekanntlich 
in  großer  Mächtigkeit  entwickelt.  In  der  südlichen 
Randzone  des  norddeutschen  Glazialgebietes,  ebenso 
im  Rhein-  und  Donaugebiete,  ist  er  weit  verbreitet. 
Der  Bördelöß  in  der  Magdeburger  Gegend  und  die 


Kritische  Betraclifniiiien  über  den  Löß. 

Von  Prof.  Dr.  H.  Brockmeier,  M.-fUadbach. 


Schwarzerde    in    Südrußland    stellen    einen    durch 
Humussubstanzen  schwarz  gefärbten  Löß  dar. 

Die  Fruchtbarkeit  dieser  Bodenart  schätzt  der 
Landwirt;  die  Entstehung  derselben  hat  schon 
manchen  Geologen  beschäftigt,  aber  Einigkeit  in 
der  Anschauung  ist  zurzeit  noch  nicht  erzielt 
worden.  Die  einen  erblicken  in  dem  Löß  den 
Niederschlag  der  Flußtrübe,  während  die  anderen 
eine  Wirkung  des  Windes  mit  Sicherheit  erkennen 


N.  F.  XIII.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


535 


wollen.  Es  ist  recht  gut  denkbar,  daß  man  mit 
beiden  Faktoren  rechnen  muß.  In  der  einen 
Gegend  kann  ein  Absatz  aus  dem  Wasser  vor- 
liegen, während  in  einer  anderen  der  Wind  feinen 
Staub  abgelagert  hat.  Die  Frage  nach  der  Knt- 
stehungsursache  muß  also  von  Fall  zu  h'all  geprüft 
werden. 

Die  Mehrzahl  der  Geologen  ist  geneigt,  den 
Löß  als  ein  Patenkind  des  Aeolus  anzusprechen. 
Schon  seit  Jahren  habe  ich  mich  vergeblich  be- 
müht, für  den  Löß  im  Rheingebicte  die  Berech- 
tigung zu  einer  derartigen  Auffassung  zu  erkennen. 
In  solchen  P'ragen  entscheiden  Gründe,  und  nicht 
Stimmenmehrheit.  Niemand  wird  bestreiten,  daß 
die  Mollusken  für  den  Geologen  von  großer  Be- 
deutung sind,  und  sicher  ist,  daß  ein  eingehendes 
Studium  der  lebenden  Formen  für  eine  frucht- 
bringende Beurteilung  der  fossilen,  namentlich  der 
jüngeren,  unerläßlich  ist.  Wird  dies  unterlassen, 
so  sind  P'ehlschlüsse  unvermeidlich.  —  Lößbeobach- 
tungen habe  ich  besonders  im  Rlieingebiete  ge- 
macht und  meine  Betrachtungen  will  ich  an  die 
Ausführungen  knüpfen,  welche  Em.  Kays  er  in 
seinem  Lehrbuche  der  Geologie  gegeben  hat.  In 
diesem  Werke  wird  erwähnt,  daß  G  ü  m  b  e  1  und 
Sandberger  den  Rhein-  und  Mainlöß  für  das 
Erzeugnis  ehemaliger  Hochfluten  jener  Ströme 
halten,  und  Kayser  hebt  nun  hervor:  „Das  Fehlen 
von  Süßwasserconchylien,  die  meist  mangelnde 
Schichtung,  die  kapillare  Struktur,  sowie  besonders 
die  auf  kurze  Entfernung  sehr  wechselnde  Höhen- 
lage des  Lößes  und  sein  Hinübergreifen  über  die 
Wasserscheiden  machen  indes  jene  Erklärung  un- 
befriedigend." 

Zunächst  kann  von  einem  Fehlen  der  Süß- 
wasserconchylien in  dem  Löß  keine  Rede  sein. 
In  dem  Löß  vom  Rheindahlen  bei  M. -Gladbach 
wurde  von  Wunstorf*)  ein  Planorbis  nach- 
gewiesen. Ich  kann  dieses  Vorkommen  nur  be- 
stätigen. In  einer  Lößgrube  bei  Koblenz  (Metter- 
nich)  wurde  bei  Gelegenheit  einer  geologischen 
Exkursion  (Mai  191 1)  von  einer  Dame  eine  andere 
Süßwasserschnecke  (Limnaea  palustris)  gefunden. 
Man  hat  also  mit  der  Tatsache  zu  rechnen,  daß 
die  Süßwasserschnecken  den  Landschnecken  gegen- 
über sehr  zurücktreten.  Es  klingt  nun  sehr  ein- 
leuchtend, wenn  für  eine  Süßwasserablagerung  das 
umgekehrte  Verhältnis  verlangt  wird,  trotzdem  ist 
das  nicht  immer  richtig.  Es  trifft  zu  für  die  Kies- 
und  Sandablagerungen  eines  Flusses;  aber  in  seinem 
Überschwemmungsgebiete  werden  an  den  ruhigen 
Stellen  die  im  Wasser  schwebenden  Mineralbestand- 
teile und  zahlreiche  Landschneckengehäuse  abge- 
lagert, denen  Süßwassermollusken  nur  in  geringer 
Menge  beigemischt  sind.  Seit  einer  Reihe  von 
Jahren  habe  ich  den  Rhein,  die  Mosel  und  die 
Isar  bei  Hochwasser  daraufhin  untersucht  und 
unter    den   vorherrschenden    Landschnecken    auch 


')  \V  u  n  s  t  o  r  f :  Über  Löß  und  SchoUcrlehm  im  Niederrliein. 
Tiefland  (Verhandl.  des  Naturhisl.  Vereins  d.  preuß.  Kheinlande 
und   Westfalens,    19 12,  Seite  298). 


die  typischen  Lößschnecken:  Helix  hispida,  Suc- 
cinea  oblonga  und  Pupa  muscorum  angetroffen. 
Das  Zurücktreten,  ja  das  gänzliche  Fehlen  von 
Süßwassermollusken  bietet  demjenigen,  der  mehr 
in  der  grünen  Natur  als  am  grünen  Tische  zu 
arbeiten  gewohnt  ist,  keinerlei  Schwierigkeiten. 
Oberhalb  Treis  münden  verschiedene  Bäche, 
welche  z.  B.  Limnaea  ovata  und  Ancylus  fluviatilis 
enthalten,  in  die  Mosel.  Ein  Fluß  pflegt  schwim- 
mende Bestandteile  bald  an  die  Üferzone  abzu- 
geben. Bei  Hochwasser  sollte  man  also  unterhalb 
Treis  die  Gehäuse  die  eben  bezeichneten  Wasser- 
schnecken an  den  ruhigen  Stellen  der  Mosel  er- 
warten, aber  selbst  ein  mehrtägiges  Suchen  lieferte 
mir  nicht  eine  einzige  Schale  dieser  Arten.  Die 
Erklärung  ist  einfach.  Zunächst  sei  hervorgehoben, 
daß  Wasserschnecken  und  auch  manche  Muscheln 
an  der  Oberfläche  des  Wassers  kriechen  können, 
was  ich  früher  schon  einmal  in  dieser  Zeitschrift 
(1909,  Nr.  21)  näher  ausgeführt  habe.  Abgestorbene 
Tiere  (Lungen-  und  Kiemenschnecken  und  auch 
Muscheln)  können  ebenfalls  an  der  Oberfläche 
schwimmen,  wenn  sie  durch  die  bei  der  Fäulnis 
sich  bildenden  Gase  emporgehoben  werden.  Für 
Lungenschnecken  ist  hierzu  eine  Fäulnis  nicht 
einmal  nötig:  die  lufthaltige  Lunge  hat  hinreichende 
Tragkraft.  Was  nicht  schwimmt,  könnte  am 
Boden  des  Baches  fortgeführt  werden.  In  beiden 
Fällen  kommen  die  Schalen  nicht  weit.  Ein  Bach 
gibt  schwimmendes  Material  sehr  schnell  an  die 
Uferzone  ab,  und  diese  zeigt  an  zahlreichen  Stellen 
vorspringende  Erlen,  Weiden  usw.  Unmittelbar 
hinter  jedem  dieser  Vorsprünge  ist  eine  Sammel- 
stelle für  schwimmende  Körper.  Am  Boden  des 
Baches  sind  größere  Steine  nicht  selten,  und  in 
der  ruhigen  Wasserzone  hinter  diesen  Blöcken 
habe  ich  ganze  Sammlungen  von  den  am  Boden 
fortgeführten  Schnecken-  und  Muschelschalen  an- 
getroffen. Für  lebende  Tiere,  die  von  einer  festen 
Unterlage  fortgespült  werden  sollten,  gilt  natürlich 
dasselbe,  wobei  allerdings  zu  bemerken  ist,  daß 
gewarnte  Tiere  sich  fest  ansaugen  und  nicht  leicht 
losgerissen  werden.  Das  ist  jedem  Sammler  be- 
kannt. Das  Sieb  oder  Netz  muß  ganz  plötzlich 
durch  ein  Pflanzengewirr  geführt  werden,  wenn 
man  gute  Ausbeute  haben  will.  Die  bei  Hoch- 
wasser und  Stürmen  auftretende  stärkere  Wasser- 
bewegung tritt  nicht  so  ganz  plötzlich  auf.  Die 
Schnecken  brauchen  sich  nicht  einmal  fest  anzu- 
saugen: sie  haben  noch  Zeit,  geschütztere  Wasser- 
stellen aufzusuchen.  Hierfür  2  Beispiele.  In  der 
Uferzone  des  Großen  Plöner  Sees  sah  ich  eineine 
größere  Steine  und  darauf  Vertreter  der  Gattung 
Limnaea.  Bei  starkem  Wellenschlage  traf  ich  die 
Gesellschaft  friedlich  versammelt  an  der  gegen 
den  Wellenschlag  geschützten  Seite  der  Steine. 
An  der  Granitküste  Bornholms  krochen  dünn- 
schalige Limnaeen  neben  den  dickschaligen  Neri- 
tinen  umher.  Auch  nach  starken  Stürmen  hatten 
die  Limnaeen  ihren  Platz  behauptet.  Zwischen 
den  großen  Blöcken,  die  auch  bei  Stürmen  nicht 
fortbewegt  wurden,  waren  zahlreiche  Schlupfwinkel, 


536 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  34 


in  denen  die  Tiere  in  aller  Ruhe  bessere  Verhält- 
nisse abwarten  konnten.  Diese  .Ausführungen 
zeigen,  daß  ein  Bach  mit  zahlreichen  Sammelstellen 
in  der  Uferzone  und  am  Boden  Mollusken  ent- 
halten kann,  ohne  die  Schalen  derselben  dem 
Hauptstrome  zuzuführen.  Selbst  bei  einer  be- 
schränkten Zahl  solcher  Sammelstellen  kann  immer 
noch  kurz  vor  der  Einmündung  des  Baches  ein 
Halt  für  abwärts  wandernde  Schalen  dadurch  zu- 
stande kommen,  daß  durch  das  Hochwasser  des 
Hauptflusses  eine  Stauzone  mit  ruhigem  Wasser 
an  der  Mündung  des  Baches  gebildet  wird. 
Schwimmendes  Material  könnte  dann  höchstens 
durch  den  Wind  in  den  Fluü  hiiiausgefüiirt  werden. 
Hieraus  dürfte  hervorgehen,  daß  das  Zurücktreten 
der  Süßwasserniollusken  im  Löß  noch  keineswegs 
die  äolische  Natur  desselben  wahrscheinlich  macht. 

Weiter  wird  die  meist  mangelnde  Schichtung 
und  die  kapillare  Struktur  (von  Pflanzen  wurzeln 
herrührend)  von  den  Aolikern  ins  Feld  geführt. 
Das  Wasser  lagert  allerdings,  der  stärkeren  oder 
schwächeren  Strömung  entsprechend,  bald  grobes, 
bald  feines  Material  ab  und  ruft  dadurch  deut- 
liche Schichtung  der  Ablagerungen  hervor.  Jedem 
Äolikcr  dürfte  nun  bekannt  sein,  daß  auch  der 
Wind  wechselnde  Stärke  hat.  Die  Bimstein- 
ablagerungen  auf  dem  Vogclsberge  sind  vom 
Winde  dorihin  geführt  worden  und  zeigen  deut- 
liche Schichtung.  Dieser  Punkt  müßte  also  eigent- 
lich bei  der  Plrörterung  ausscheiden ;  aber  gerade 
die  meist  mangelnde  Schichtung  möchte  ich  für 
die  neptunische  Natur  des  Lößes  in  Anspruch 
nehmen.  Den  Mangel  an  Schichtung  führe  ich 
auf  das  außerordentlich  feine  und  gleichartige 
Material  zurück,  welches  der  ti übe  h'luß  bei  Hoch- 
wasser an  ruhigen  Stellen,  z.  B.  in  beckenartigen 
Erweiterungen  oberhalb  von  Talverengerungen, 
an  der  Vereinigungsstelle  zweier  Flüsse  usw.,  ab- 
setzt. Jedes  folgende  Hochwasser  wird  neue 
Schwebstofife  von  derselben  Feinheit  dort  ablagern, 
während  die  völlige  Durchtränkung  mit  Wasser 
überdies  noch  eine  Mischung  der  abgelagerten 
Massen  zur  Folge  hat.  Eine  Schichtung  kann 
unter  Umständen  durch  eingelagerte  Schnecken- 
gehäuse, die  schwimmend  dorthin  gelangten,  her- 
vorgerufen werden. 

Warum  die  durch  Pflanzenwurzeln  Iiervor- 
gerufene  kapillare  Struktur  gegen  den  Lößabsatz 
aus  dem  Wasser  sprechen  soll,  ist  mir  unverständ- 
lich. Wird  ein  so  fruchtbarer  Boden  häufig  vom 
Wasser  durchtränkt,  so  trägt  er  allerlei  Pflanzen, 
und  man  braucht  nicht  zu  Steppengräsern  seine 
Zuflucht  zu  nehmen. 

Um  die  auf  kurze  Entfernung  sehr  wechselnde 
Höhenlage  des  Lößes  und  sein  Hinübergreifen 
über  die  Wasserscheiden  zu  erklären ,  möchte  ich 
in  erster  Linie  auf  Stauungen  der  Flüsse  hinweisen. 
Hier  in  M. -Gladbach  ist  im  vergangenen  Jahre 
ein  Sandsteinblock  (Häseler  Stein)  von  nahezu 
lO  m  Umfang  aufgestellt  worden.  Von  Eis  ein- 
geschlossen, ist  er  in  diluvialer  Zeit  mit  zahlreichen 
anderen     Blöcken      schwimmend     hierhergelangt. 


Ehe  diese  Eismassen  die  Kölner  Bucht  erreichten, 
waren  sie  in  engen  Flußtälern.  Die  Vorbedingun- 
gen für  allerlei  Stauungen  waren  somit  gegeben. 
Auch  die  Möglichkeit  von  tektonischen  Störungen 
sei   nur  kurz  erwähnt. 

Weiter  schreibt  K  a  y  s  e  r  in  seinem  Lehrbuche  : 
„der  Löß  ist  sehr  häulig  nur  an  einem  Talgehänge, 
und  zwar  auf  der  im  Schatten  der  herrschenden 
Winde  liegenden,  also  nach  W,  NW  und  SW  ge- 
kehrten, meist  zugleich  flacheren  Talseite  vorhan- 
den, während  die  gegenüberliegende  Steilseite  des 
Tales  lößfrei  zu  sein  ])flegt."  Eine  befriedigende 
Erklärung  muß  alle  h'älle  umfassen.  Mir  ist  auf- 
gefallen, daß  man  den  Löß  oft  da  findet,  wo  er 
nach  der  Windtheorie  nicht  sein  sollte.  Vergegen- 
wärtigt man  sich  aber  die  Wasserverhältnisse  zur 
Diluvialzeit,  so  trifft  man  ihn  —  nach  meinen 
bisherigen  Erfahrungen  —  immer  da,  wo  ruhiges 
Wasser  angenommen  werden  muß.  Dies  bestätigt 
auch  Kays  er.  Es  weist  ja  hin  auf  die  meist 
flachere  Talseite,  während  die  gegenüberliegende 
Steilseite  lößfrei  zu  sein  pflegt.  Die  Steilseite 
ist  die  Stoßseite  des  Flusses;  dort  äußert  er  die 
kräftigste  Wirkung  und  räumt  fort.  Die  flache 
gegenüberliegende  Seite  hat  ruhiges  Wasser;  sie 
erhält  dementsprechend  die  Lößauflagerung.  Sollte 
in  der  Randzone  des  norddeutschen  (xlazialgebietes 
das  Auftreten  des  Lößes  mehr  der  Windtheorie 
entsprechen  —  ich  kenne  es  nicht  aus  eigener 
Anschauung  — ,  so  gebe  ich  zu  bedenken,  daß  die 
diluvialen  Urströme  nahezu  von  Osten  nach 
Westen  flössen.  Aeoliker  und  Neptunisten  würden 
also  den  Löß  an  derselben  Stelle  zu  suchen  haben. 

Als  glänzende  Stütze  für  die  äolische  Lößtheorie 
führt  Kayser  die  Steppenfauna  im  Löß  von 
Thiede  (Braunschweig)  an.  Bei  der  Untersuchung 
der  Stoffe,  welche  ein  Muß  bei  Hochwasser  an 
ruhigen  Stellen  absetzt,  habe  ich  oft  genug  tote 
Katzen  und  Hunde  neben  den  ty])ischen  Löß- 
schnecken angetroffen.  Ein  im  Wasser  verun- 
glückter Nichtschwimmer  kann  btkaniulich  schwim- 
men, wenn  er  es  nicht  mehr  nötig  hat.  Die 
Steppentiere  werden  sich  nicht  anders  verhalten 
haben.  Hiernach  kann  jeder  Leser  sich  selbst  ein 
Urteil  über  diese  glänzende  Stütze  bilden. 

Schließlich  erwähnt  Kayser  noch;  „Was  in- 
des vorläufig  noch  keine  genügende  Erklärung 
gefunden  hat,  das  ist  der  fast  überall  auftretende 
Kalkgehalt  des  Lößes."  (ianz  ungezwungen  er- 
hält man  hierfür  eine  Erklärung,  wenn  eine  Löß- 
ablagerung aus  dem  Wasser  angenommen  wird. 
F'lußwasser  ist  kein  Aqua  destillata.  Es  enthält 
die  verschiedensten  Stofte,  auch  Kalk,  in  Lösung. 
Der  vom  Flußwasser  durchtränkte  Löß  wird  bei 
tiefcrem  Wasserstande  das  Wasser  durch  Ver- 
dunstung aljgeben,  aber  die  darin  gelösten  Stofi'e 
zurückhalten.  Die  nächste  Überschwemmung 
liefert  neue  Minerallösungen  u.  s.  f  Findet  längere 
Zeit  keine  Überschwemmung  statt,  so  erfolgt 
durch  den  Regen  eine  Auslaugung  der  oberen 
Schichten.  Der  Löß  geht  in  Lehm  über.  -  Das 
sind  kurz  meine  Haupibedenken  gegen  die  äolische 


N.  F.  XIII.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


537 


Lößtheorie  für  das  Rheingebiet  und  höchst  wahr- 
scheinüch  auch  für  eine  Reihe  anderer  Gegenden. 


Auf  weitere  Punkte  gedcnt:e  ich  bei  anderer  Ge- 
legenlieit  näher  einzugehen. 


Einzelberichte. 


Geologie.  Über  einen  Lößregen  berichten 
A.  Dambergis  und  T.  Komnenos  im  letzten 
Hefte  von  „Tschermak's  Mineral,  und  Petrograph. 
Mitteilungen"  (N.  F.  Bd.  3'2,  4.  u.  5.  Heft,  S.  448). 
Das  Phänomen  wurde  in  Athen,  Andros.  Thera, 
Kalamata  und  Kreta,  sowie  von  einem  von  Ägypten 
nach  Kreta  fahrenden  Dampfer  beobaclitet.  In 
Athen  wurde  am  :;3.  .April  191 3  um  4''  nach- 
mittags der  Himmel  dunkel  und  mit  Nebel  be- 
deckt. Die  Atmosphäre  zeigte  einen  eigentüm- 
lichen, goldgelblichen  Schimmer.  Ein  starker 
SW-VVind  wehte,  und  nach  kurzer  Zeit  begann 
ein  schlammartiger  Regen.  Später  zeigten  dann 
die  Straßen  von  Athen  und  Umgebung  eine  ocker- 
gelbe Farbe,  was  darauf  hinwies,  daß  der  gefallene 
Schlammregen  keinen  inländischen  Staub  enthielt. 
Der  gesammelte  Staub  wurde  der  chemischen 
Analyse  unterworfen  und  aus  deren  Ergebnis  die 
mineralogische  Zusammensetzung  berechnet.  Zu- 
gleich wurde  eine  Probe  des  gewöhnlichen  Staubes 
von  Athen  auf  gleiche  Weise  untersucht. 

Nachfolgend  ist  die  mineralogische  Zusammen- 
setzung angeführt,  und  zwar  unter  A  die  des 
gewöhnlichen  Staubes  und  unter  B  die  des  ocker- 
gelben. 


A 

B 

MgCO, 

=     2,52 

1,55 

CaC03 

=  48,64 

33,43 

CaS0,.2H.,0 

=     0,83 

1,07 

Ca,(PO,)., 

=     0,55 

0,46 

CaSiOa 

=     3.5s 

Al^SiO, 

=     2,81 

11,19 

SiO., 

=  36,81 

4443 

Fe(OH), 

=     2,66 

4,19 

NaC! 

=     0,11 

0,80 

H.,0 

=     0,79 

2,14 

Org.  Subst.  u.  Verl. 

=     0.73 

0,74 

100,00 

100,00 

Aus  der  Zusammensetzung  ziehen  die  Verfasser 
den  Schluß,  daß  der  Staub  B  kein  Saharasand  ist, 
da  dieser  einen  viel  höheren  Kieselsäuregehalt 
aufweist  als  der  Staub  B.  Die  Analyse  sowie 
auch  die  mikroskopische  Untersuchung,  bei  der 
Prof  Ktenas,  Athen,  abgerundete  Körnchen  von 
Quarz,  Kalkspat,  seltener  Feldspat,  Glimmer, 
Magneteisen  und  Turmalin  fand,  lassen  vielmehr 
den  Schluß  zu,  daß  der  Schlammregen  aus  Löß 
bestand,  der  wahrscheinlich  den  Steppen  an  der 
Nordküste  Afrikas  entstammte.  F.  H. 


Jahrgang  V,  1914,  der  „Zeitschr.  für  Flugtechnik 
und  Motorluftschiffahrt",  dem  Organ  der  „Wissen- 
schaftlichen Gesellschaft  für  Luftfahrt".  Die  Ver- 
suche wurden  mit  der  Absicht  ausgeführt,  Anhalts- 
punkte über  die  Größe  des  Luftwiderstandes,  den 
ein  Freiballon  beim  Steigen  bzw.  Sinken  erfährt, 
zu  gewinnen.  Als  Modell  diente  ein  dem  Nieder- 
sächsischen Verein  für  Luftschiffahrt  gehöriges 
Freiballonmodell  mit  rund  352  mm  Kugeldurch- 
messer, das  in  seinen  Einzelheiten  ziemlich  gut 
einem  (~)riginalballon  nachgebildet  war  bis  auf  die 
Schnüre  des  Netzes,  die  im  Verhältnis  etwas  zu 
dick  waren.  Für  die  wagerechte  Aufhängung  des 
Modells  im  Versuchskanal  erwies  es  sich  als  not- 
wendig, es  mit  einer  durchgehenden  Metallstange 
zu  versehen,  durch  die  der  Korb  in  wagerechter 
Lage  gehalten  und  die  Schnüre  gespannt  wurden. 
Der  Ballonkörper  selbst  bestand  aus  einer  mit 
Ballonstoff  überzogenen  Metallkugel.  Die  Messun- 
gen, die  in  einem  Geschwindigkeitsbereich  von 
5  bis  15  m/sec  stattfanden,  wurden  zunächst  — 
entsprechend  dem  Steigen  des  Ballons  —  mit 
vorangehendem  Ballonkörper  und  hierauf  mit  vor- 
angehendem Korb  ausgeführt,  welch  letzteres  dem 
Sinken  entspricht.  Schließlich  wurde  auch  noch, 
nachdem  Netz  und  Korb  entfernt  worden  waren, 
der  Widerstand  der  Kugel  für  sich  gemessen. 
Die  Versuchsergebnisse  wurden  in  einer  Kurven- 
tafel wiedergegeben.  Es  zeigt  sich,  daß  das  qua- 
dratische Widerstandsgesetz  keine  genaue  Gültig- 
keit in  diesem  Falle  besitzt.  Der  Widerstand  des 
Ballons  mit  vorangehendem  Korb,  also  beim 
Sinken,  ist  größer  als  im  umgekehrten  Pralle.  Im 
letzteren  Falle,  also  beim  Steigen,  befindet  sich 
nämlich  der  Korb  im  Windschatten  der  Kugel 
und  erleidet  dadurch  nur  einen  geringen  Wider- 
stand. Die  Ablösung  der  Strömung  erfolgte,  wie 
zu  erwarten  war,  erst  hinter  dem  Äquator  der 
Kugel.  Am  Schluß  spricht  der  Verf  den  Wunsch 
aus,  diese  A'^erhältnisse  an  einem  wirklichen  Frei- 
ballon zu  untersuchen.  Durch  Abgabe  einer  be- 
stimmten, abgewogenen  Menge  Ballast  ist  der 
freie  Auftrieb  bekannt.  Dieser  nimmt  allerdings 
mit  der  Höhe  ab;  unter  Zugrundelegung  einer 
linearen  Abnahme  des  Auftriebes  mit  der  Höhe 
und  des  quadratischen  Widerstandsgesetzes  ließe 
sich  jedoch  alles  Nötige  aus  der  Steiggeschwindig- 
keit   und    der   Vertikalbeschleunigung    berechnen. 

F.  H. 


Aeromechanik.       Den    Luftwiderstand    eines  Chemie.     Über  einen  Versuch  zur  Bestimmung 


Freiballonmodelles  untersuchte  im  Anschluß  an 
Beobachtungen  über  den  Luftwiderstand  von  Kugeln 
C.  Wiesel  sberger  in  der  Göttinger  Modell- 
versuchsanstalt.    Er  berichtet  darüber  in  Heft  1 1, 


des  Hydratationsgrades  von  Salzen  in  konzentrier- 
ten wässerigen  Lösungen  berichtet  E.  H.  Riesen- 
feld in  Gemeinschaft  mit  C.  Milchsack  in  der 
Zeitschr.  f.  anorg.  Chem.,  Bd.  85,  S.  401 — 429. 


538 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  34 


Daß  bei  den  Lösungsvorgängen  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  chemische  Verbindungen  zwischen 
Lösungsmittel  und  gelöstem  Stoff,  die  sogenannten 
„Solvate"  (Hydrate,  wenn  Wasser,  Alkoholate,  wenn 
Alkohol  das  Lösungsmittel  ist)  entstehen,  kann 
nach  den  Untersuchungen  der  letzten  Jahre  kaum 
mehr  bezweifelt  werden.  In  wässerigen  Salz- 
lösungen wird  man  demnach  einerseits  hydratisierte 
Ionen,  andrerseits  hydratisierte  Salzmoleküle  zu 
erwarten  haben,  und  zwar  werden  in  verdünnten 
Lösungen  jene,  in  konzentrierten  Lösungen  diese 
überwiegen.  Eine  Vorstellung  über  den  Teil  von 
der  Gesamtmenge  des  Salzes,  der  in  der  Lösung 
als  Hydrat  vorliegt,  läßt  sich,  wie  Riesen  feld 
und  Milchsack  zeigen,  wenigstens  für  konzen- 
trierte Lösungen  in  folgender  Weise  gewinnen: 
Man  bestimmt  den  Schmelzpunkt  des  reinen 
kristallisierten  Hydrats,  z.  B.  den  des  Zinknitrat- 
hexahydrats  ZntNOglj -öRjO.  Dieser  Schmelz- 
punkt ist  der  Temperaturpunkt,  bei  dem  das 
Hexahydrat  unter  Abspaltung  von  drei  Mole- 
külen Wasser  in  das  nächstniedrigere  Trihydrat 
Zn(NO,),-3H.,0  übergeht: 

Zn(NO;).,  ■6H.,0  :^  Zn(NO,).,  ■  3H,,0  +  3H.,0. 
Nun  wird  nach  den  bekannten  van't  Ho  ff  sehen 
Gesetzen  ')  der  Schmelzpunkt  eines  Stoffes,  z.  B. 
des  Eises,  durch  Anwesenheit  solcher  Fremdstoffe, 
welche  sich  in  der  Schmelze  zu  lösen  vermögen, 
erniedrigt.  Dieser  Fall  tritt  beim  Zinknitrathexa- 
hydrat  ein :  Der  eigentliche,  der  „theoretische" 
Schmelzpunkt  des  Salzes,  d.  h.  der  Temperatur- 
punkt, bei  dem  das  Salz  schmelzen  würde,  wenn 
es  sich  nicht  gleichzeitig  zersetzte,  muß  höher 
liegen  als  der  tatsächlich  gefundene,  der  „wirk- 
liche" Schmelzpunkt,  denn  bei  diesem  wirken  ja 
als  Fremdbestandteile,  die  sich  in  der  Schmelze 
zu  lösen  vermögen,  das  Zinknitrattrihydrat  und 
das  Wasser  mit.  Diese  Schmelzpunktserniedrigung 
ist  proportional  der  Anzahl  der  in  der  Schmelze 
gelösten  fremden  Moleküle,  aber  unabhängig  von 
ihrer  chemischen  Natur.  Bezeichnet  man  daher 
die  molekulare  Schmelzpunktserniedrigung,  d.  h. 
die  Anzahl  Grade,  um  die  der  Schmelzpunkt  sinkt, 
wenn  in  loo  Molen  des  schmelzenden  Stoffes  ein 
Mol  eines  Fremdstoffes  aufgelöst  ist,  mit  E,  so 
wird,  wenn  n  fremde  Mole  in  lOO  Molen  aufgelöst 
sind,  die  Erniedrigung  /\  beobachtet  werden: 

^  =  nE  oder  n  =^ 

Kennt  man  also  im  Falle  der  schmelzenden  Hydrate 
die  molekulare  Schmelzpunktserniedrigung  E  und 
außer  dem  wirklichen  auch  den  theoretischen 
Schmelzpunkt  und  damit  die  beobachtete  Schmelz- 
punktserniedrigung /\,  so  kann  man  den  Dissozia- 
tionsgrad des  Hydrates  berechnen. 

Um  A^  und  E  zu  erhalten,  verfuhren  Riese  n - 
feld  und  Milchsack  in  folgender  Weise:  Sie 
ermittelten  zunächst  den  Schmelzpunkt  des  reinen 


Hydrats,  setzten  dann  etwas  Wasser  hinzu  und 
ermittelten  den  Schmelzpunkt  wieder  und  so  fuhren 
sie  einige  Male  fort.  Trugen  sie  die  so  gewonnenen 
Zahlen  als  Funktion  der  dem  Hydrate  zugesetzten 
Wassermenge  in  ein  Koordinatensystem  ein,  so 
erhielten  sie  die  in  der  nebenstehenden  Abbildung 
dargestellte  typische  Kurve;  Mit  steigendem  Wasser- 
zusatz sinkt  der  Schmelzpunkt  des  Hydrats  erst 
langsam,  dann  etwas  rascher  und  nimmt  schließ- 
lich streng  proportional  mit  der  zugefügten  Wasser- 
menge ab.  Die  Deutung  dieser  Kurve  ist  die 
folgende:  In  der  Schmelze  besteht,  wie  bereits 
weiter  oben  angegeben  wurde,  das  Gleichgewicht 
Zn(N0J.,-6H.;0  ^=>:  ZnlNOg).,  ■  3H.,0  +  3H.3O. 
Die  Lage  des  Gleichgewichts  ist  also  nach  dem 
Massenwirkungsgesetz  ')  durch  die  Gleichung 
[Zn(NO,)o-6H..O] 
[Zn(N03),.3H;ö:[H.,0]«^ 


konstant, 


gegeben,  wenn  die  eckigen  Klammern  die  Mole- 
kularkonzentrationen der  in  ihnen  angegebenen 
Stoffe  darstellen.  Wird  nun  mehr  und  mehr 
Wasser  zu  der  Schmelze  gefügt,  so  wird  der  Zer- 
fall des  Hexahydrats  mehr  und  mehr  zurück- 
eedränet,  bis  schließlich  bei  starkem  Wasserzusatz 
der  Zerfall  des  Hydrats  praktisch  überhaupt  aus- 
bleibt. Anfangs  wird  also  ein  Teil  des  Wassers 
zur  Rückbildung  des  Hexahydrats  verbraucht,  und 
darum  bleibt  die  wirkliche  Schmelzpunktserniedri- 
gung hinter  derjenigen  zurück,  die  man  der  Größe 
des  Zusatzes  nach  eigentlich  erwarten  sollte.  Mit 
wachsendem  Zusatz  von  Wasser  spielt  dieser  Ver- 
brauch an  Wasser  eine  geringere  und  geringere 
Rolle,  und  wenn  schließlich  die  Dissoziation  des 
Hexahydrats  vollständig  zurückgedrängt  ist,  wird 
die  Schmelzpunktserniedrigung  einfach  proportio- 
nal der  zugesetzten  Wassermenge,  die  Schmelz- 
punktskurve wird  zu  einer  Geraden.  Das  zeigt 
nun    das    Diagramm.       Würde    der    Zusatz    von 


ZOO 


wo 


600 


800 


äi  0 

E 


I  I  I  '  1  .  V 


Mol  ri;0  in  100  Hol  (lexahydrar 


Wasser  zur  Schmelze  keinen  Verbrauch  an  Wasser 
zur  Folge  haben,  so  würde  die  Erniedrigung  des 
Schmelzpunktes,  wie  es  die  gestrichelte  Kurve 
andeutet,  vom  Schmelzpunkt  des  Hexahydrats 
(36,4"   C)    proportional    der    zugesetzten    Wasser- 


')  Vgl.  z.  B.  W  e  r  n  e  r  M  e  c  k  1  e  n  b  u  r  g ,  ,,Die  verdünnten 
Lösungen",  Naturw.  Woclienschr.  X.  F.  Bd.  II,  S.  15  —  20; 
1903. 


')  Vgl.  A.  Orechow,  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  Bd.  VI, 

s.  536— .>4i;  1907. 


N.  F.  XIII.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


5,^9 


menge  sinken.  Tatsächhch  aber  ist  die  beobach- 
tete Erniedrigung  des  Schmelzpunktes  infolge  des 
Wasserverbrauchs  geringer,  wie  der  Verlauf  der 
die  wirklichen  Beobachtungsdaten  zusanmien- 
fassenden  ausgezogenen  Kurve  zeigt.  Verlängert 
man  nun  das  gerade  Stück  der  ausgezogenen  Kur\c, 
ohne  Rücksicht  auf  die  Krümmung  zu  nehmen, 
bis  zum  Schnittpunkt  mit  der  Ordinate  (46"  C), 
so  erhält  man  den  theoretischen  Schmelzpunkt 
des  Hexahydrats,  denn  dieser  Schnittpunkt  ent- 
spricht ja  demjenigen  Temperaturpunkte,  bei  dem 
das  reine  Hexahydrat  ohne  Wasservusatz  schmelzen 
würde,  wenn  kein  Zerfall  in  Trihydrat  und  Wasser 
stattfände.     In  der  Gleichung 

ist  also 

A  =  46,0  -  36,4  =  9,6"  c. 

Die  molekulare  Schmelzpunktserniedrigung  E  er- 
gibt sich  aus  dem  Winkel  «  =  47,5,  den  die  Ge- 
rade mit  der  Ordinate  bildet,  zu  0,93 ;  es  ist  also, 
da  die  Abszisse  einen  zehnmal  kleineren  Maßstab 
als  die  Ordinate  hat, 

E  =  0,093. 
Nun    verläuft    der    Zerfall    des    Hexahydrats    nach 
der  Gleichung 

Zn(N03).,  -öRjO  =  ZnlNOgl,  •  3H,0  +  sH.O, 
d.  h.  aus  einem  Molekül  Hexahydrat  entstehen 
4  andere  Moleküle.  Wenn  also  beim  Schmelz- 
punkt von  100  Molekülen  Hexahydrat  x  Moleküle 
zerfallen,  so  sind  4x  „verunreinigende  Moleküle" 
vorhanden.     Es  gilt  demnach  die  Proportion 

4x     n 

100 — X       100' 

in  der  n  wie  früher  die  Anzahl  der  Fremdmole- 
küle in  100  nichtzersetzten  Molekülen  Hexahydrats 
angibt.  Setzen  wir  diesen  Wert  von  n  in  unsere 
Gleichung  ein,  so  erhalten  wir 


oder 


0,092 
9,6  •  1 00 


400  X 
100— X 


=  19. 


400-0,092  -f-  9,6 
d.  h.  im  Schmelzpunkt  sind  von  100  Molekülen 
Zinknitrathexahydrat  19  Moleküle  in  Trihj-drat 
und  Wasser  zerfallen. 

Nach  demselben  Schema  sind  von  Riesen- 
feld und  Milch  sack  noch  eine  Reihe  anderer 
Nitrate  untersucht  worden.  Alle  von  ihnen  er- 
haltenen Ergebnisse  sind  in  der  folgenden  Tabelle 
zusammengestellt,  wozu  nur  zu  bemerken  ist,  daß 
die  berechneten  Werte  für  die  prozentische  Disso- 
ziation beim  Cadmiumnitrat  und  beim  Kupfernitrat 
unsicher  sind,  weil  die  Voraussetzung  für  die  Rech- 
nungen ,, glatter  Zerfall  des  Hydrats  in  ein  nie- 
drigeres Hydrat  und  Wasser  ohne  Nebenreaktion" 
bei  ihnen  wohl  kaum  zutrifft. 


Salz 

V  a 

■sg. 

°  B 

Molekulare 
Schmelz- 
punkts- 
erniedrigung 

Betrag  der 

Dissoziation 

beim 

Schmelzpunkt 

Mg(N03)„.6H2  0 

90»  C 

9S»  r 

0,1550  c 

11% 

Mn(N03)2.öH20 

25,8 

28,5 

0,076 

9 

Zn(N03)2-6H.20 

36,4 

46 

0,093 

19 

Co(N03)2.6H20 

57 

63,5 

0,105 

13 

Ni(N03)2.6HoO 

56,7 

60 

0,0875 

8 

Cu(N03)2-6H20 

244 

45 

0,070 

(39?) 

Cd(N03).,.4H20>) 

59,5 

90,5 

0,113 

(48?) 

')    Das    Cadmiumnitrat    kristallisiert    mit    vier    Molekülen 
Wasser;  la  der  Schmelze  wird   das   Gleichgewicht 

Cd(N03)2-4H.>Ü  -^  Cd^NOala-sHaO  +  aH-^ö 
angenommen. 

Msj. 


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erschienenen     Bändchen     über     „unsere    Wasser- 
insekten"   hat  Ulm  er    jetzt    ein    zweites    folgen 
lassen,    das   die  gesamte  niedere  Tierwelt  unserer 
Gewässer    (exkl.    Einzeller)    behandelt.      Auf  eine 
kurze  historische  Einleitung,  die  auch  die  wichtigste 
zusammenfassende  Literatur  über  die  Hydrobiologie 
der    Binnengewässer    bringt,    folgen    Einzelkapitel 
über  Bau  und  Lebensweise    der  Mollusken,  Moos- 
tierchen, Würmer,    Schwämme,  Polypen,  Spinnen, 
Krebse  und  Insekten.      Im    zweiten  Teil  wird  ein 
allgemeiner    Überblick    über    die  niedere  Tierwelt 
unserer   Gewässer   gegeben,    und    hierbei  nachein- 


ander die  Tierwelt  des  Baches,  die  Tierwelt  der 
stehenden  Gewässer  sowie  speziell  das  Plankton 
besprochen.  Das  trefflich  ausgestattete  Büchlein 
berücksichtigt  überall  die  neuesten  Untersuchungen ; 
nirgends  zählt  es  nur  die  Einzelformen  auf,  sondern 
verknüpft  sie  im  Sinne  ökologischer  P'orschung 
und  ist  dabei  in  dem  flotten,  flüssigen  Stil  ge- 
schrieben, der  uns  überall  in  den  Arbeiten  U 1  m  e  r '  s 
so  ansprechend  entgegentritt.  Es  bietet  weit 
mehr,  als  man  in  einer  Naturwissenschaftlichen 
Bibliothek  „für  Jugend  und  Volk"  wohl  erwartet 
und  sollte  in  keiner  biologischen  Bibliothek  fehlen. 
Besonders  den  Zoologie-Studierenden  kann  es  zur 
Anschaffung  nur  wärmstens  empfohlen  werden. 
Denn  es  regt  zu  eigner  Weiterarbeit  an. 

Thienemann. 

Auerbach,  Felix,    Die  Weltherrin    und  ihr 
Schatten.      Ein    Vortrag    über    Energie    und 


540 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  35 


Entropie.  Zweite  ergänzte  und  durchgesehene 
Auflage.  Jena,  Verlag  von  Gustav  Fischer,  1913. 
Die  kleine  Schrift  versucht  mit  viel  Glück, 
einem  gebildeten  Laienpublikum  das  Wesen  und 
die  Bedeutung  der  beiden  Begriffe  klarzumachen, 
welche  das  moderne  System  der  l'hysik  beherrschen. 
Als  „Einlauftour"  vor  der  eigentlichen  „Hochtour" 
wird  das  erste  Erhaltungsgesetz,  das  der  Materie 
kurz  behandelt.  Sodann  leitet  Verf  zum  Energie- 
prinzip über,  wobei  er  sich  als  x^nhänger  der 
Ostwald'schen  Energetik  zeigt.  Aber  das  Energie- 
prinzip ist  nicht  eigentlich  das,  was  das  Welt- 
geschehen eindeutig  bestimmt,  es  spielt  nur  die 
Rolle  einer  „Aufsichtsbehörde".  Seine  notwendige 
Ergänzung  ist  der  zweite  Hauptsatz,  der  Satz  von 
der  beständigen  Zunahme  der  Entropie  eines  voll- 
ständigen Systems.  Das  Dämonische,  welches  dem 
Entropiebegriffe  innewohnt,  ist  treffend  zum  Aus- 
druck gebracht,  wie  überhaupt  Verf  durch  treffende 
Vergleiche  diese  recht  abstrakten  Dinge  dem  Ver- 
ständnis näherzubringen  weiß.  Auch  an  interessan- 
ten Abschwenkungen  auf  das  psychologische  Ge- 
biet fehlt  es  nicht. 

l'arzival   Runzc,  Berlin-Eichterfelde. 


Bolk,  L.,  DieOntogenie  derl'rimaten- 
z  ä  h  n  e.  Versuch  einer  Lösung  der  Gebiß- 
probleme. VII  und  122  Seiten  mit  2  Tafeln 
und  74  Abbildungen  im  Text.  Jena  191 3, 
Gustav  Fischer.  —  Preis  5  Mk. 
Prof.  Bolk  befaßt  sich  seit  mehreren  Jahren 
mit  Studien  über  die  Ontogenie  des  Primatur- 
gebisses.  Eine  abschließende  Darstellung  seiner 
Ergebnisse  ist  bisher  nicht  erfolgt,  weil  es  dem 
Forscher,  wie  er  selbst  zugibt,  an  einer  klaren 
Einsicht  mangelt,  wie  er  die  Elementarerscheinungen 
zu  einem  organischen  Ganzen  zusammenfügen  soll. 
Denn  in  der  Ontogenese,  auch  des  Menschen- 
gebisses, machen  sichErscheinungen  geltend,  welche 
merkwürdigerweise  bis  jetzt  unbeachtet  blieben, 
obzwar  deren  Kenntnis  die  mit  dem  Gebiß  in 
Zusammenhang  stehenden  Probleme  ihrer  Lösung 
wesentlich  näher  bringen  könnte.  Die  vorliegende 
Schrift  enthält  nur  Teilergebnisse.  Unmittelbaren 
Anlaß  zu  ihrer  Veröffentlichung  liot  Bolk's  Be- 
fürchtung, daß  ohne  Kenntnis  der  von  ihm  fest- 
gestellten Tatsachen  die  Anschauung  über  die 
Entwicklungsgeschichte  unseres  Gebisses  in  falsche 
Bahnen  gelenkt  werden  könnte.  Die  einzelnen 
Abschnitte  behandeln  die  laterale  Schmelzleiste 
und  die  Schmelznische,  das  Schmelzseptum  und 
den  Schmelznabel,  die  Beziehungen  des  Säuger- 
zahnes und  Säugergebisses  zum  Zahn  und  Gebiß 
der  Reptilien.  Im  Schlußabschnitt  werden  auch 
die  auf  die  Entwicklung  des  Gebisses  bezüglichen 
Theorien  anderer  Forscher  kritisch  betrachtet. 
Bolk's  Schrift  ist  deshalb  wichtig,  weil  sein 
Versuch  einer  Lösung  des  Gebißproblems  von 
den  geläufigen  Ansichten  stark  abweicht  und  dabei 
ein  logisches  Ergebnis  aus  wahrgenommenen  Tat- 
sachen ist.  Hans  Fehlinger. 


Eisenlohr,  Dr.  F.,  Die  Spcktrochemie  or- 
ganischer Verbindungen,  Molekular- 
refraktion und -Dispersion,  mit  15  Fig., 
aus  Chemie  in  Einzeldarstellungen.  Herausgegeb. 
von  Prof  J.  Schmidt,  III.  Bd.  Verlag  von 
Enke,  Stuttgart,  19 12.  —  Preis  7  Mk. 
Verfasser  gibt  uns  in  seinem  vorliegenden 
Werke  einen  Überblick  über  die  Molekularrefrak- 
tion und  -Dispersion  organischer  Verbindungen. 
Die  Bezeichnung  „Spektrochemie  organischer  Ver- 
bindungen" entspricht  allerdings  nicht  den  modernen 
Anschauungen,  sondern  denen  von  J.W.  Brühl, 
der  diesen  Ausdruck  für  die  Beziehungen  zwischen 
den  Refraktions-  und  Dispersionserscheinungen 
der  Körper  und  ihrer  Konstitution  geprägt  hat. 
Die  Methoden,  die  Konstitutionen  der  Substanzen 
auf  diesem  Wege  zu  bestimmen,  sind  jetzt  für 
jeden  Chemiker  von  größter  Bedeutung  geworden. 
Verfasser  hat  hier  gezeigt,  wie  die  vielen  scheinbar 
z.  T.  auseinandergehenden  Gesetzmäßigkeiten,  die 
in  den  letzten  Jahren  aufgedeckt  sind,  in  einer 
eng  zusammenhängenden  Entwicklung  stehen. 
Nach  einer  Einleitung  über  die  diesbezüglichen 
Grundbegriffe  gibt  uns  Verfasser  ein  klares  Bild 
von  der  Molekularrefraktion  und  -Dispersion  als 
additive  Eigenschaft,  von  dem  optischen  Verhalten 
der  Ringbildung  und  von  den  spektrochemischen 
Wirkungen  von  sich  gegenseitig  beeinflussenden 
Gruppen.  Ferner  gewährt  uns  das  Werk  einen 
Überblick  über  das  Wesen  des  Drei-  und  Vier- 
ringes, über  Stoffe  mit  Doppelbindung,  über  die 
spektrochemischen  Wirkungen  ungesättigter  Ele- 
mente und  andere  spektrochemische  Erscheinungen. 
Zum  Schluß  geht  Verfasser  ein  auf  die  Anwendung 
spektrochemischer  Gesetzmäßigkeiten  zur  Kon- 
stitutionsbestimmung und  auf  das  Brechungs- 
vermögen der  gasförmigen,  festen  und  flüssigen 
Körper  und  Mischungen.  —  Das  Werk  bietet  also 
vieles  über  die  Gesetzmäßigkeiten  der  Molekular- 
refraktion und  -Dispersion  im  Zusammenhang  mit 
der  Konstitution  der  Körper  und  läßt  den  Chemiker 
Leistungsfähigkeit  und  Grenzen  der  Anwendbarkeit 
dieser  Hilfsmethode  erkennen,  sowie  den  inneren 
Zusammenhang  dieser  Methoden  mit  einigen  anderen 
physikalischen  Hilfsmethoden.  —  Somit  hat  Ver- 
fasser, der  alle  diesbezüglichen  Fragen,  wenn  auch 
manche  nur  kurz,  soweit  sie  für  den  Chemiker  in 
Betracht  kommen,  erwähnt,  durch  diese  Schrift 
eine  Lücke  in  der  Literatur  ausgefüllt. 

P.  Runze,  Berlin-Lichterfelde. 


Urbain,    Prof.   an    der  Sorbonne,  Paris,  Einfüh- 
rung   in    die    Spektrochemie,    übersetzt       ij 
von  Ülfilas  Meyer,  wissenschaftlicher  Hilfs-       'fl 
arbeiter    an    der  Physikal.  Techn.  Reichsanstalt. 
Mit  67  Figuren  und  9  Tafeln.  Verlag    von   Th. 
Steinkopfif,  Dresden  und  Leipzig,   191 3.  —  Preis 
9  Mk.,  geb.   10  Mk. 
Der  Verfasser  befaßt  sich  im  vorliegenden  Werke 
mit  einem  Gebiet,  der  Spektrochemie,  das  für  die 
moderne  Wissenschaft  von  der  größten  Bedeutung 
ist.     Sie  ermöglicht    es  uns,   die  Konstitution   der 


N.  F.  XIII.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


541 


Materie  experimentell  festzustellen.  Dieses  neue 
Gebiet,  eine  Wissenschaft  für  sich,  wenn  auch  noch 
im  Kntwicklungsstadium,  dient  den  meisten  Natur- 
wissenschaften als  unentbehrliches  Hilfsmittel,  wie 
z.  B.  der  Chemie  und  Astronomie.  So  hat  z.  B. 
die  Spektralanalyse,  eine  technisch  experimentelle 
Wissenschaft,  zu  der  Entdeckung  der  meisten 
seltenen  Elemente  geführt,  die  z.  T.  für  Technik 
und  Industrie  von  unvergleichlichem  Werte  sind. 
Nur  mit  Hilfe  der  Spektroskopie  war  es  möglich, 
sich  in  dem  Chaos  der  vielen  seltenen  Erden  zu- 
recht zu  finden  und  sie  scharf  voneinander  zu 
trennen.  Dem  Verfasser,  der  selbst  die  Methoden 
der  Spektrochemie  sehr  verbessert  hat,  ist  es  ge- 
lungen, die  Trennung  bekannter  und  Auffindung 
neuer  seltener  Erden,  wie  das  Neoytterbium  und 
lAitetium,  in  dem  früheren  Ytterbium  usw.  zu 
ermöglichen.  Eine  Einführung  ist  das  Werk  im 
wahren  Sinne  des  Wortes,  da  man  ohne  besondere 
Vorkenntnisse  die  Abschnitte  versteht,  und  viele 
elementare  Gesetze  usw.  kurz  erörtert  werden, 
wobei  die  Max  wel  1  -  Theorie  etwas  sehr  knapp 
behandelt  ist. 

In  ausführlicher  Weise  erhalten  wir  hier  Auf- 
schluß über  Licht  und  Spektrum,  über  die  durch 
Wärme  verursachte  Emission  und  über  die  Flammen. 
Ferner  beschreibt  er  eingehend  das  Leuchten  der 
Gase  bei  geringerem  Druck,  sowie  Herstellung 
und  Füllung  der  Geißlerröhren.  Nachdem  die 
Vorgänge  im  Lichtbogen  und  das  Bogenspektrum 
behandelt  sind,  finden  wir  eine  kurze  klare  Ab- 
handlung über  den  elektrischen  Funken,  seine 
Erzeugung,  Beschaffenheit  und  Zerlegung  durch 
den  Luftstrom,  Beschreibung  der  Funkenspektren. 
Das  folgende  Kapitel  über  Phosphoressenz  ist 
gründlich  durchgearbeitet  und  enthält  viele  neue 
Fragen  behandelt  und  neue  Beobachtungsmethoden, 
ferner  eine  ausführliche  Darlegung  der  Erscheinun- 
gen, die  von  der  Lichtquelle  herrühren,  wodurch 
auf  diesem  Gebiete  unerfahrene  Beobachter  vor 
vielen  Illusionen  und  Irrtümern  bewahrt  werden. 
Sehr  klar  ist  in  dem  Kapitel  über  die  Absorption 
das  Lambert 'sehe  und  Beer 'sehe  Gesetz  ab- 
geleitet. Die  Bemerkungen  des  Verfassers  über 
den  Zweck  des  Buches  und  Zukunft  der  Spektro- 
chemie sind  sehr  einleuchtend.  Er  zeigt,  wie 
wichtig  sie  für  den  Chemiker  ist,  der  noch  immer 
zu  ungern  sich  mit  den  spektrographischen  und 
spektroskopischen  Methoden  befaßt,  weil  ihm  die 
Apparate  und  Resultate  zu  kompliziert  erscheinen. 
Wir  sehen  hier,  wie  die  Methoden  schneller  und 
exakter  zum  Ziele  führen  als  die  Gewichtsanalyse. 
Allerdings  vergißt  Verfasser  die  bedeutend  höheren 
Ausgaben,  die  mit  Anschaffung  der  Spektralapparate 
verbunden  sind  und  daher  manchen  Laboratoriums- 
vorstand davon  zurückhalten. 

Durch  die  vielen  Figuren  im  Text  erleichtert 
uns  der  Verfasser  das  Verständnis  des  Werkes 
in  sehr  anschaulicher  Weise,  die  es  gestattet,  an 
ihrer  Hand  die  Apparate  leicht  zu  handhaben. 

Erwähnt  sei  noch  der  Übersetzer  Dr.  U 1  fi  1  a  s 
Meyer,  dem  es  glänzend  gelungen  ist,  die  Über- 


setzung so  zu  gestalten,  daß  sich  das  Werk  wie 
ein  deutsches  Buch  liest,  das  seinen  vom  Verfasser 
beabsichtigten  einheitlichen  Charakter  bewahrt. 
Er  hat  viele  Literaturangaben  hinzugefügt,  um  für 
Spezialinteressentcn  das  Nachschlagen  erwähnter 
Arbeiten  zu  erleichtern. 

Der  Chemiker  wird  aus  dem  Werke,  zu  dessen 
Schöpfung  Verfasser  durch  seine  über  diesen  Gegen- 
stand gehaltenen  Vorlesungen  an  der  Sorbonne 
veranlaßt  wurde,  die  wesentlichen  Grundlagen 
lernen,  die  nötig  sind,  um  das  theoretische  und 
experimentelle  Studium  der  Chemie  anzugreifen 
und  die  aussichtsvollen  Methoden  kennen  zu  lernen. 
P.  Kunze. 

Poincar^,  Henri,  Wissenschaft  und  Me- 
thode. Autorisierte  deutsche  Ausgabe  mit 
erläuternden  Anmerkungen  von  V.  u.  L.  Linde- 
m  a  n  n.  Druck  und  Verlag  von  B.  G.  Teubner, 
Leipzig  und  Berlin,  1914.  —  Preis  in  Lwd.  geb.  5  Mk. 
Die  bekannte  Sammlung  „Wissenschaft  und 
Hypothese",  die  mit  zwei  Werken  Poincare's, 
derem  ersten  sie  ihren  Namen  verdankt,  begann, 
bringt  als  17.  Band  eine  dritte  und  leider  wohl 
letzte  dieser  eigenartigen  Darstellungen,  die  man 
—  freilich  muß  das  Wort  erst  aus  dem  Schmutz 
gezogen  werden,  in  den  es  gedankenloser  Miß- 
brauch getreten  —  im  eigentlichen  Sinne  geist- 
reich nennen  dürfte.  Vielleicht  ist  es  wirklich 
nur  gallischem  Geist  möglich,  in  dieser  Art  und 
in  dieser  Materie,  als  sei  es  nur  ein  Spiel,  sach- 
liche Gründlichkeit  mit  dem  liebenswürdigsten 
und  graziösesten  Plauderton  zu  verbinden.  Ein 
scharfsinniger,  tiefgelehrter  Geist,  der  gleichzeitig 
anmutig  ist  —  man  darf  wohl  einen  Augenblick 
darüber  nachdenken.  Unwillkürlich  kommt  der 
Vergleich  mit  den  populären  Arbeiten  eines  deut- 
schen großen  Gelehrten,  der  ebenfalls  Mathema- 
tiker war,  Hermann  v.  Helmholtz  —  es 
ist  sehr  lehrreich,  ihn  weiter  zu  verfolgen. 

Das  Buch  zerfällt  in  vier  Abteilungen,  deren 
Verbindendes  ein  gemeinsamer  Grundgedanke  ist: 
die  Welt  ist  unendlich;  die  uns  Menschen  zuge- 
messene Zeit  und  Kräfte  dagegen  sind  sehr  endlich 
und  beschränkt:  wie  müssen  wir  sie  anwenden, 
um  der  Welt  den  möglichsten  Gehalt  abzugewinnen. 
Natürlich  behandelt  Poincarc  diese  Frage  nur 
für  das  Gebiet  der  Wissenschaft  (Naturwissenschaft), 
aber  er  selbst  macht  darauf  aufmerksam,  daß  sie, 
wie  auch  teilweise  die  speziellen  Probleme  des 
Buches,  etwa  das  der  mathematischen  Erfindung, 
einer  Anwendung  auf  andere  Gebiete  fähig  sind: 
„so  ist  z.  B.  der  Mechanismus  der  mathematischen 
Erfindung  von  dem  Erfindungsmechanismus  über- 
haupt nicht  wesentlich  verschieden".  Dies  ist 
einer  der  F"aktoren,  die  das  Buch  für  jeden  lesens- 
wert machen,  auch  wenn  er  zur  Mathematik  kein 
unmittelbares  Verhältnis  hat. 

Das  Buch  erschöpfend  zu  beurteilen,  müßte 
man  eine  Broschüre  schreiben,  und  der  sie  schriebe, 
müßte  selbst  ein  hervorragender  Gelehrter  sein, 
der   die    Elemente   seiner,    und    der    Wissenschaft 


54: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  34 


überhaupt,  gleich  gründlich  durchdacht  hätte  wie 
ihre  derzeit  letzten  umstrittensten  Konsequenzen. 
Denn  im  selben  Hauptabschnitte  (dem  2.)  finden 
sich  Ausführungen  über  den  mathematischen 
Elementarunterricht  neben  kritischen  Behandlungen 
einer  neuesten  und  verwickeltsten  Frage  hochge- 
steigerter mathematischer  Kultur,  der  Beziehungen 
zwischen  Mathematik  und  Logik  nämlich,  und  der 
Versuche,  die  sich,  wie  es  scheint,  hauptsächlich 
an  die  Arbeiten  Cantor's  anschließen,  in  diesem 
abstrakten  und  verwickelten  Gebiete  weiter  und 
ins  klare  zu  kommen.  Über  beide  so  weit  von- 
einander abliegenden  Themata  äußert  sich  Poin- 
care  mit  der  gleichen  Klarheit  und  Eleganz,  und 
es  gewährt  ein  intellektuelles  Vergnügen  beson- 
derer Art,  unter  seiner  hühruiig  als  Nichtmathe- 
matiker  von  den  abstrusen  .-arbeiten  (?outurat's, 
Peano's,  Russel's  und  anderer  nicht  nur  eine 
Vorstellung  zu  erhalten,  sondern  bis  zu  der  an- 
genehmen Täuschung  gebracht  zu  werden,  man 
habe  sogar  ein  Urteil  darüber.  Täuschung  sage 
ich,  weil  zu  einem  wirklichen,  d.  h.  eigenen  Urteil 
in  diesen  Materien  nur  eine  geringe  Anzahl  Spezia- 
listen derzeit  befähigt  sein  dürfte  —  Poincarc 
war    es    anscheinend    in    besonders    hohem    Maße. 

Von  den  vier  Hauptabschnitten  des  Buches 
heißt  der  erste :  Forscher  und  Wissenschaft.  Außer 
interessanten  Erörterungen  zur  Psychologie  des 
gelehrten  Arbeiters  und  der  Wissenschaft  selbst 
(wenn  man  sie  als  lebendigen  (Organismus  betrach- 
tet) findet  sich  auch  hier  ein  Kapitel  über  den 
Zufall,  dessen  Probleme  Poincarc,  wie  es  scheint, 
besonders  interessierten,  da  er  schon  früher  darauf 
zu  sprechen  kam  (in  ,, Wissenschaft  und  Hypothese"). 
—  Von  der  zweiten  Abteilung,  betitelt  ,,Die  mathe- 
matische Schlußweise",  war  schon  die  Rede,  sie 
enthält  die  Auseinandersetzungen  über  den  mathe- 
matischen Unterricht  und  die  Kritik  der  ,, Logistik", 
außerdem  ein  Kapitel  über  die  Relativität  des 
Raumes. 

Das  dritte  Buch  „Die  neue  Mechanik"  mit  den 
Kapiteln  „Mechanik  und  Radium",  ,, Mechanik  und 
Optik"  und  ,,Die  neue  Mechanik  und  die  Astro- 
nomie" stellt  mit  ihren  Erörterungen  über  die 
Loren  tz'sche  Theorie,  das  Relativitätsprinzip 
usw.  ziemlich  hohe  Anforderungen  an  den  Leser, 
und  vielleicht  ist  Poincare's  Präzision  und  Klar- 
heit diesem  Abschnitte  am  meisten  zustatten  ge- 
kommen. Es  dürfte  manchem  fast  unmöglich  er- 
scheinen, ziemlich  ausführlich  über  diese  Dinge  zu 
handeln,  ohne  eine  einzige  Gleichung  niederzu- 
schreiben. —  Das  letzte  Buch  endlich,  „Die  Wissen- 
schaft der  Astronomie",  enthält  eine  höchst  an- 
regende Betrachtung  über  die  ursprünglich  von 
Lord  Kelvin  ausgesprochene  Idee  einer  Betrach- 
tung der  Milchstraße  vom  Standpunkte  der  kine- 
tischen Gastheorie  aus.  Poincare  sagt  darüber, 
er  ,,habe  hier  keine  neuen  Resultate  zu  verkündigen", 
er  könne  ,, nichts  anderes  tun  als  eine  Vorstellung 
von  den  Problemen  geben,  die  sich  darbieten, 
die  zu  lösen  aber  bis  heute  noch  niemand  ver- 
sucht hat".     Wir  befinden  uns  also  hier  dicht  am 


Rande  des  dunklen  und  ungeheuren  Gebietes  unserer 
Unwissenheit,  in  einer  Region,  die  die  Strahlen  der 
gegenwärtigen  Wissenschaft  nur  erst  mit  einem 
schwachen  Dämmerlicht  zu  erleuchten  beginnen. 
Ein  zweites  Kapitel  entwirft  eine  kurze,  wie  das 
ganze  Buch  sehr  gut  geschriebene  Skizze  des  rühm- 
lichen Anteils,  den  Frankreich  an  der  geodätischen 
P^orschung  genommen  hat. 

Bei  diesen  kurzen  Andeutungen  des  Inhalts 
muß  es  an  dieser  Stelle  sein  Bewenden  haben, 
wenigstens  geht  aus  ihnen  so  viel  hervor,  daß  das 
Buch  in  jedem  Sinne  lesenswert  ist,  und  keines- 
wegs nur,  ja  nicht  einmal  hauptsächlich,  für  den 
eigentlichen  Fachmann.  Die  Anmerkungen  von 
¥.  Lindemann  geben  erwünschte  Möglichkeiten, 
durch  erläuterte  Literaturangaben  ein  tieferes  Ein- 
dringen in  die  von  Poincare  behandelten  Pro- 
bleme zu  ermöglichen.  Leider  fehlt  diesmal  ein 
Autoren-  und  Sachregister,  das  z.  B.  der  ersten  in 
der  Sammlung  erschienenen  Arbeit  Poincare's 
beigegeben  war  und  das  Referent  als  so  nützlich 
zum  Studium  befunden  hat,  daß  er  den  Wunsch 
nicht  verschweigen  kann,  es  möchte  auch  dem 
vorliegenden  Werke  bei  einer  zweiten  Auflage 
ein  Register  angehängt  werden. 

Noch  einige  Worte  über  ein  drolliges  Ouid- 
proquo.  In  dem  höchst  interessanten  Kapitel  über 
die  mathematische  Erfindung  ist  (auf  Seite  46) 
öfters  von  dem  ,, sublimen  Ich"  die  Rede.  Ich 
weiß  nicht,  welches  Wort  im  französischen  Text 
steht,  da  ich  ihn  nicht  vergleichen  kann.  Im 
Deutschen  kann  der  Ausdruck  sublim  jedenfalls 
nur  irreführend  wirken.  Bei  seiner  ersten  An- 
führung ist  zwar  gesagt :  „das  unbewußte,  oder 
wie  man  sagt ,  das  sublime  Ich"  —  aber  das 
können  wir  eben  nicht  sagen.  Das  Fremdwort 
sublim  bedeutet  im  Deutschen  schlechtweg  hoch, 
erhaben,  vergeistigt  u.  dgl.  Sachlich  handelt  es 
sich  aber  nicht  um  ein  erhabenes  Ich,  sondern 
offenbar  um  das  sublim  i  11  ale  Ich,  das  Ich  sub 
limine,  unter  der  Schwelle  —  des  Bewußtseins 
nämlich.  Die  Engländer  nennen  es  subliminal, 
auch  wohl  subconscious  mind,  der  Ausdruck  ist 
in  der  modernen  psychologischen,  speziell  der 
okkultistischen  Literatur  häufig.  Wollen  wir  das 
Wort  subliminal  oder  auf  deutsch  „unterschwellig" 
nicht  brauchen,  so  wäre  ,, unbewußtes  Ich"  ein 
leidlicher,  obwohl  nicht  unmißverständlicher  Aus- 
druck. —  Da  weiterhin  an  der  betreffenden  Stelle  von 
dem  sublimen  Ich  ohne  Zusatz  die  Rede  ist,  werden 
viele  Leser  an  ein  besonders  hochstehendes  und 
feierliches  Ich  in  uns  denken,  wozu  dann  der  letzte 
Absatz  der  Seite  46,  der  beginnt:  „Das  sublime 
Ich  steht  keineswegs  tiefer  als  das  bewußte  Ich",  ||l 
einen  unbeabsichtigt  belustigenden  Kommentar  H 
bildet.  Wasielewski. 


Hegi,  Gustav,  Dr.,  Aus  den  Schweizer- 
landen. Naturhistorisch-geographische  Plau- 
dereien. Mit  32  Illustrationen.  Druck  und  Ver- 
lag:   Art.  Institut  Orell  Füßli,    Zürich   191 4.    — 


N.  F.  XIII.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


543 


In  farbigem  Umschlag  brosch.  Fr.  2,50  (Mk.  2), 

geb.  in  Lwd.  Fr.  3  (Mk.  2,50). 
Das  kleine,  angenehm  geschriebene  und  hübsch 
ausgestattete  Buch,  dessen  Illustrationen  z.  T. 
Originalaufnahmen  des  Verfassers  sind,  enthält  9 
Abhandlungen  verschiedenen  Umfanges  und  In- 
teresses. \Vährend  der  Bericht  über  Zerfall  und 
Erhaltung  der  Utlibergkuppe,  über  eine  Hochwasser- 
katastrophe im  Misoxtal,  sowie  einige  andere, 
lediglicii  oder  hauptsächlich  ein  schweizerisches 
Lokalinteresse  haben,  verdienen  andere  unsere 
ungeteilte  Aufmerksamkeit.  So  vor  allem  gleich 
die  erste  und  (mit  einer  Ausnahme)  längste  Ab- 
handlung, ein  Bericht  über  den  ganz  neuerdings 
angelegten  ,, Schweizerischen  Nationalpark".  Da 
die  Naturschutzbewegung  eine  P>age  von  größter 
Bedeutung  hinter  sich  hat,  nämlich  ob  der  Begriff 
der  „freien  Natur"  wenigstens  in  Europa  und  Nord- 
amerika ein  bloßer  Klang  zu  werden  bestimmt  ist, 
dem  nichts  Lebendiges  mehr  entspricht,  oder  ob 
wir  diese  (Juellc  edelsten  Genusses  und  wahrhaften 
Lebensgewinns  uns  und  unseren  Nachkommen 
wenigstens  an  einigen  Punkten  rein  und  unver- 
fälscht erhalten  wollen,  sei  auf  Hegi's  klaren  und 
verständnisvollen  Bericht  besonders  aufmerksam 
gemacht.  Die  Reservation  liegt  in  der  Südostecke 
von  Graubünden,  zwischen  Ober-  und  Unterengadin 
und  umfaßt  das  sogenannte  Ofengebiet.  Nach 
einigen  klimatischen  und  geologischen  Angaben 
behandelt  der  Verfasser  ausführlicher  die  sehr  in- 
teressante l'lora  des  Gebietes,  sodann  die  Tierwelt, 
bei  der  die  hocherfreuliche  Möglichkeit  bemerkens- 
wert ist,  daß  der  Bär,  der  in  diesen  wilden  und 
einsamen  Tälern  immer  noch,  wenngleich  ver- 
einzelt, beobachtet  wurde,  nunmehr  im  Schutze 
des  Nationalparkes  hofientlich  der  mitteleuropä- 
ischen E'auna  dauernd  erhalten  bleiben  wird.  Es 
folgt  eine  Schilderung  der  Straßen,  der  Täler  selbst, 
der  mit  den  betr.  Gemeinden  geschlossenen  Ab- 
kommen, sowie  der  getroffenen  Maßregeln,  die 
naturgemäß  auf  den  Ausschluß  jeder  wirtschaft- 
lichen Nutzung  und  ähnlicher  Eingriffe  in  das 
Naturleben,  sowie  auf  die  sehr  nötige  Überwachung 
des  Gebietes  durch  besonders  angestellte  Wärter 
hinauslaufen.  Auch  der  Steinbock,  über  dessen 
versuchte  und,  wie  es  scheint,  glückende  Wieder- 
einbürgerung in  der  Schweiz  der  letzte  Aufsatz 
des  Buches  ausführlich  berichtet,  soll  in  den  Natur- 
park, in  dessen  Gebiet  er  nach  Hegi's  Mitteilungen 
früher  einheimisch  war,  eingesetzt  werden.  Schließ- 
lich s^oll  Italien  beabsichtigen,  das  unmittelbar  an 
den  Schweizer  Park  anstoßende  obere  Livignotal 
als  „Italienischen  Nationalpark"  anzugliedern,  was, 
da  die  Natur  keine  politischen  Grenzen  kennt, 
einer  sehr  dankenswerten  und  zu  begrüßenden 
Verdoppelung  des  geschützten  Gebietes  gleich- 
kommen würde.  Hoffentlich  gedeiht  die  ganze 
erfreuliche  Unternehmung  aufs  beste.  Übrigens 
ist  aus  leicht  verständlichen  Gründen  für  Italien 
ein  Naturpark  im  Süden  des  herrlichen  Landes 
ein  noch  weit  nötigeres  und  wünschenswerteres 
Unternehmen,  als  jener  alpine. 


Von  den  übrigen  Aufsätzen  des  Büchleins  ist 
für  Deutschland  der  fünfte:  „Unsere  Blutbuchen" 
von  besonderem  Interesse,  da  auch  hier  die  alte 
oft  behandelte  Frage  erörtert  wird,  ob  die  be- 
rühmte Blutbuche  der  Thüringer  Hainleite,  nahe 
bei  Sondershausen,  ihren  Ruhm  als  Stammutter 
sämtlicher  Blutbuchen,  der  ihr  verschiedentlich  zuge- 
sprochen wurde,  wirklich  verdient.  Da  Referent 
zufällig,  in  Sondershausen  wohnhaft,  diesen  Baum 
und  den  von  Hegi  zitierten  Verfechter  obiger 
Anschauung,  Herrn  Oberlehrer  G.  Lutze,  per- 
sönlich kennt,  und  noch  jüngst  auf  einer  Radfahrt 
sich  von  dem  Wohlergehen  des  berühmten  und 
um  die  Pfingstzeit  besonders  schönen,  in  tief- 
dunkelrotem  Laubschmucke  prangenden  Baumes 
überzeugt  hat,  darf  er  sich  vielleicht  noch  eine 
kurze  Mitteilung  über  ihn  gestatten. 

Der  bekannte  Porstmann  und  Ornithologe 
Joh.  Matthäus  Bechstein  in  seiner  „Forst- 
botanik" und  R  e  u  m  in  einem  gleichnamigen 
Werke  waren  wohl  die  ersten,  die  diese  Buche  in 
die  Literatur  einfüiirten,  kurz  nach  Begitm  des 
19.  Jahrhunderts.  Sie  scheint  auf  Autorität  dieser 
Werke  hin  bei  uns  lange  Zeit  unbestritten  als  die  ein- 
zige Originalblutbuche  gegolten  zu  haben.  Neuerdings 
aber  haben  Nachrichten  über  Blutbuchen  in  der 
Schweiz  (Dorf  Buch  im  Kanton  Zürich)  und  be- 
sonders in  Südtirol  (bei  Rovereto  und  an  anderen 
Orten),  die  zum  Teil  viel  weiter  hinaufreichen,  als 
das  Alter  des  Sondershäuser  Exemplars  betragen 
kann,  sowohl  diesem  als  auch  den  Schweizer  Buchen 
jenen  Ruhm  endgültig  entrissen.  Es  gab  nämlich 
im  Mittelalter  in  Bozen  ein  Geschlecht  der  „Rodten- 
puecher",  welches  ein  rotes  Buchenblatt  im  Wappen 
führte  und  im  Mannesstamme  schon  1471  ausstarb. 
Die  Sondershäuser  Buche  wird  nur  auf  etwa  200 
Jahre  geschätzt. 

Ist  damit,  wie  schon  aus  Gründen  allgemein 
botanischer  Natur  von  vornherein  wahrscheinlich 
war,  als  so  gut  wie  erwiesen  anzusehen,  daß  es  eine 
Originalblutbuche  nicht  gibt,  sondern  daßdiese Varie- 
tät unabhängig  voneinander  an  sehr  verschiedenen 
Orten  aufgetreten  ist,  so  bleibt  doch  derSondershäuser 
Buche  der  Vorzug,  eins  der  wohl  zweifellos  autoch- 
thonen  Exemplare  zu  sein,  und  zweitens,  wenigstens 
in  Deutschland,  aber  auch  auswärts  (es  wird  an- 
gegeben, daß  u.  a.  sehr  viele  Pfropfreiser  nach 
Nordamerika  gegangen  seien)  den  Ursprung  vieler 
anderer  Blutbuchen  abgegeben  zu  haben.  Der 
Baum,  der  inmitten  der  wundervollen  Buchen- 
bestände der  Hainleite  nicht  ganz  frei,  sondern 
umschlossen  von  einer  Gruppe  ebenfalls  sehr 
schöner  und  z.  T.  noch  höherer  gewöhnlicher 
Buchen  steht,  soll  (nach  Lutze)  27  Meter  hoch  sein. 
Sein  Stammumfang  beträgt  in  Schulterhöhe  etwa 
3,50  Meter,  der  Durchmesser  danach  etwas  über 
einen  Meter.  Übrigens  pflichtet  auch  Herr  Lutze 
jetzt  der  Ansicht  bei,  daß  der  thüringer  Baum 
nicht  die  Stammutter  sämtlicher  Blutbuchen  sein 
kann.  Wasielewski. 


544 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.   XlII.  Nr.  34 


Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  D.  K.  in  E.  —  Über  das  Gebiet  der  Regierungs- 
bezirke Cöln  und  Aachen  unierrichtet  vollständig  v.  Dechen 
mit  der  geologischen  Spezialkarte  von  Rheinland  und  West- 
falen (l  :  80000)  und  den  zugehörigen  Erläuterungen.  Über 
besondere  Teile  der  Eitel,  des  Siebengebirges  usw.  sind  spe- 
zielle Führer  vorhanden  (z.  T.  allerdings  aus  älterer  Zeit). 
Außerdem  ist  bereits  ein  Teil  der  Regierungsbezirke  von  der 
Kgl.  Preuß.  Geologischen  Landesanstalt  zu  Berlin  im  Maß- 
stabe I  :  25  000  kartiert  worden.  Ein  Verzeichnis  der  bereits 
erschienenen  Blätter  können  Sie  von  der  Vertricbsstelle  der 
Landesanstalt,  Berlin  N4,  Invalidenstraße  44,  kostenlos  be- 
ziehen. Str. 

Herrn  Dr.  W.  in  F.  —  Ist  in  der  Literatur  bereits  etwas 
Näheres  bekannt  über  die  Löslichkeit  einzelner  Karbide,  spez. 
der  Alkali-  und  Erdalkalikarbide,  in  verschiedenen  Lösungs- 
mitteln, besonders  in   Metallen- 

Systematische  Llntersuchungcn  über  die  Löslichkeit  von 
Alkali-  und  Erdalkalikarbiden  in  solchen  Lösungsmitteln,  in 
denen  die  Karbide  keine  Zersetzung  erleiden,  liegen  nicht  vor. 
Über  das  Verhalten  von  Calciumkarbid  gegen  Metalle  hat 
insbesondere  M  o  i  s  s  a  n  (vgl.  G  m  e  1  i  n  -  K  r  a  u  t  ■  E  r  i  e  d  h  e  i  m  - 
Peters  ,, Handbuch  der  anorganischen  Chemie",  Bd.  II,  Ab- 
teil. 2,  S.  322;  Heidelberg  1909)  einige  wenige  Angaben  ge- 
macht, die  für  Sie  aber  wohl  kaum  von  größerem  Interesse 
sind.  Übrigens  finden  Sie  wohl  alles,  was  über  die  Karbide 
auch  der  Leichtmetalle  bekannt  geworden  ist,  außer  in  dem 
angeführten  Handbuche  auch  in  der  sorgfältig  bearbeiteten 
Monographie  von  O.  H  ö  nigsc  h  mi  d  „Karbide  und  Suizide" 
(Halle  1914).  Auch  sei  auf  das  im  Erscheinen  begriffene 
,, Handbuch  der  Metallographie"  von  Guertler  verwiesen, 
das  in  ungemein  sorgfältiger  Weise  die  gesamte,  sehr  zer- 
splitterte melallographische  Literatur  zusammenfaßt;  das  Heft, 
das  die  Eisen-KohlenstolTlegierungcn  bespricht,  ist  vor  einiger 
Zeit  veröffentlicht  worden,  das  Hell,  in  dem  die  Legierungen 
des  Kohlenstoffs  mit  den  anderen  Metallen  behandelt  werden, 
muß  in  nächster  Zeit  erscheinen;  vielleicht  können  Sie  dann 
den  in  dem  Werke  gegebenen  Zustandsdiagrammen  der  frag- 
lichen Systeme   einige  Sie   interessierende   Daten  entnehmen. 

Mg. 

Herrn  Dr.  W.  in  Gießen.  —  Über  das  Keimen  der  Mistel 
wurde  in  dem  namhaft  gemachten  Aufsatze  nichts  berichtet, 
weil  wir  über  die  Ursachen  des  Keimverzuges  bei  dieser 
Pflanze  noch  nicht  genügend  orientiert  sind  und  es  gerade 
dort  vorzüglich  darauf  ankam,  diese  zu  untersuchen.  Zweifel- 
los gehört  die  Mistel  zu  den  ersten  Beispielen,  bei  welchen 
—  durch  Wiesner  —  der  Keimverzug  festgestellt  wurde. 
Im  Herbst  gesammelte  Samen  keimen  nach  diesem  Autor  nicht 
oder  nur  zu  ganz  geringen  Prozentsätzen  vor  dem  nächsten 
Frühjahre.  In  neuerer  Zeit  hat  Heinrich  er  durch  Ver- 
bringung der  Mistelsamen  unter  erhöhte  Temperatur  die  Ruhe- 
zeit der  Mistelsamen  erheblich  abzukürzen  vermocht.  Über 
neuere  Untersuchungen ,  welche  sich  mit  der  Wirkung  des 
Passierens  von  Vogelmagen  bei  den  Mistelsamen  beschäftigen, 
ist  mir  nichts  bekannt.  Dagegen  liegen  andere  solche  Unter- 
suchungen vor.  Es  soll  hier  nur  beispielsweise  an  die  Mit- 
teilung Ostenfeld 's  erinnert  werden,  welcher  zeigt,  daß  im 
Kote  von  Schwänen  aufgefundene  Samen  bzw.  Früchte  von 
Potamogeton  natans  schneller  und  reichlicher  keimer,  als  un- 
gefähr gleichzeitig  am  selben  f  )rte  gesammelte  frische  F'rüchte. 
Dabei  zeigte  sich,  daß  zeitsveis  erhöhte  Temperatur  die  Keim- 
geschwindigkeit in  beiden  Fällen  steigerte.  Diese  Keimbe- 
schleuniguug  durch   Passieren   des  Vogelmagen   ist  nun  in  ver- 


schiedener Weise  erklärbar.  Einmal  kann  man  eine  chemische 
Wirkung  des  Magensaftes  auf  das  Sameninnere  annehmen,  sei 
es,  daß  Säuren  oder  Enzyme  verantwortlich  gemacht  würden. 
Weiter  wäre  an  eine  mechanische  oder  chemische  Veränderung 
der  Schale  zu  denken ,  welche  ein  Sprengen  erleichtert  oder 
den  Wasserzutritt  beschleunigt.  Schließlich  wäre  an  die  Tem- 
peraturwirkung zu  denken.  Eine  sichere  Entscheidung  in  der 
einen  oder  anderen  Richtung  ist  aber  heute  noch  nicht  zu 
erbringen.  E.   Lehmann. 


1 ,     Der    die    Fliegen    be- 
Nähercs    findet    sich    in 


Herrn  F.  Br.  in  Elberfeld.  — 
fallende  Pilz  heißt  Empusa  muscae. 
jedem  Lehrbuch   der  Botanik. 

2.  Die  Frage  wegen  des  schnelleren  Welkens  von  Blumen, 
die  von  menstruierenden  Frauen  getragen  werden ,  ist  nicht 
einmal   diskutabel.  Miehe. 

3.  Über  die  Ursache  der  von  Ihnen  beobachteten  Unregel- 
mäßigkeiten läßt  sich   aus  der  Ferne  nichts   Bestimmtes  sagen. 

Mecklenburg. 


Literatur. 

Annalen  des  k.  k.  Naturhislorischen  Ilofmuseums,  Band 
XXVII,  Nr.  4.     Wien   1913. 

Frech,  Prof.  Dr.  Fritz,  Allgemeine  Geologie  III.  Die 
Arbeit  des  fließenden  Wassers.  Eine  Einleitung  in  die  physi- 
kalische Geologie.  3.  erweiterte  Auflage  von  „Aus  der  Vor- 
zeit der  Erde".  Mit  einem  Titelbilde  sowie  56  Abbildungen 
im  Text  und  auf  3  Tafeln.  209.  Bd.  der  Sammlung  ,,Aus 
Natur  und  Geisteswelt".  Leipzig  und  Berlin '14,  B.  G.Tcubner. 
Geb.    1,25  Mk. 

Buchner,  Prof.  Dr.  H,  Acht  Vorträge  aus  der  Gesund- 
hcitslehre.  4.  durchgesehene  Auflage,  besorgt  von  Prof  Dr. 
M.  V.  Gruber.  Mit  zahlreichen  Textabbildungen.  Ebenda. 
I.  Bd. 

Unwin,  Ernst,  E. ,  Pond  Problems.  Cambridge  '14, 
University  Press. 

Ramsay,    Sir    William,     Moderne     Chemie.       II. 
Systematische   Chemie.      Ins  Deutsche   übertragen   von  Dr.  Max 
Ilulh.     2.  Aufl.      Halle   '14,   W.  Knapp.      3,50  Mk. 

Ruß,  Dr.  Karl,  Die  Amazonen,  ihre  Naturgeschichte, 
Pflege  und  Züchtung.  2.  gänzlich  neubearbeitete  und  ver- 
mehrte Auflage  von  Karl  Neunzig.  Mit  einem  Aquarelldruck 
und   21   Abbildungen  im  Text.     Magdeburg  '14,  Creutz.    Geb. 

3  Mk. 

Tangl,  Prof  Franz,  Energie,  Leben  und  Tod.  Vortrag, 
gehalten  in  der  Wiener  Urania  am  7.  Februar  1914.  Berlin 
'14,  J.  Springer.      1,60  Mk. 

NöUer,  Tierarzt  Wilhelm,  Die  Übertragungsweise  der 
Rattenlrypanosomen.  Ein  experimenteller  und  kritischer  Bei- 
lrag zur  Kenntnis  des  Übertragungsproblems  der  Trypano- 
somen überhaupt.  Mit  besonderer  Berücksichtigung  der  para- 
sitischen Protozoen  einiger  Hauslierflöhe.  Mit  S  Textabbild, 
und  2  Tafeln.  Abdruck  aus  ,, Archiv  für  Prolistenkunde". 
Jena  '14,   G.   Fischer.      3   Mk. 

Svedberg,  The,  Die  Materie.  Ein  Forschungsproblem 
in  Vergangenheit  und  Zukunft.  Deutsche  Übersetzung  von 
Dr.  H.  Finkelstein.  Mit  15  Abbildungen.  Leipzig  '14,  Aka- 
demische  Verlagsgesellschaft  m.b.H.      Geb.   7,50  Mk. 

Pearson,  Karl,  The  Life,  Letters  and  Labours  of  Francis 
Galton.  Vol.  I.  Birth  1S22  to  marriage  1853.  Cambridge 
'14,  University  Press. 

Brehm's  Tierleben.  Allgemeine  Kunde  des  Tierreichs. 
4.  vollständig  neubearbeitete  Auflage,  herausgegeben  von  Prof 
Dr.  Otto  zur  Strassen.  Säugetiere  2.  Band.  Leipzig  und 
Wien   '14,   Bibliographisches  Institut.      Geb.    12  Mk. 


Teil. 


Inhalt:  Neger:  Neuere  Ergebnisse  und  Streitfragen  der  Rauchschadenforschung.  Brockmeier;  Kritische  Betrachtungen 
über  den  Löß.  —  Einzelberichte:  Dambergis  und  Komnenos;  Lößregen.  Wieselsberger;  Luftwiderstand 
eines  Frciballonmodelles.  Riesen  feld  und  Milchsack;  Über  einen  Versuch  zur  Bestimmung  des  Hydratations- 
grades von  Salzen  in  konzentrierten  wässerigen  Lösungen.  —  Bücherbesprechungen:  Ulmer;  Aus  Seen  und  Bachen. 
Die  niedere  Tierwelt  unserer  Gewässer.  Auerbach;  Die  Wcltherrin  und  ihr  Schatten.  Bolk;  Die  Ontogenie  der 
Primalenzähne.  Eisenlohr;  Die  Speklrochemie  organischer  Verbindungen,  Molekularrcfraktion  und  -Dispersion. 
Urbain;  Einführung  in  die  Speklrochemie.  Poincare;  Wissenschaft  und  Methode.  Hegi;  Aus  den  Schweizer- 
landen.  —  Anregungen  und  Antworten.  —  Literatur ;   Liste.  


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an   den   Redakteur  Professor  Dr.  H.  M  i  e  h  e  in  Leipzig,  Marienstraße    IIa,  erbeten. 

Verlag  von   Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck   der   G.  Pätz'schen   Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band; 
der  ganzeil  Reihe  29.  Band. 


Sonntag,  den  30.  August  1914. 


Nummer  35. 


Tierische  Farbstoffe. 


[Nachdrack  verboten.]  Von   Dr.   Emil 

Den  zahlreichen  Farben,  die  uns  im  Tierreiche 
begegnen,  entspricht  auch  eine  große  Mannigfaltig- 
l<eit  im  chemischen  Aufbau  der  entsprechenden 
Farbstoffe.  Sämtliche  Regenbogenfarben  sind  ver- 
treten, vom  hellsten  Gelb  bis  zum  tiefsten  Blau 
und  überdies  die  weiße  und  außerordentlich  weit 
verbreitet  die  schwarze  Farbe.  Leider  ist  die 
chemische  Natur  dieser  Farbstoffe  noch  viel  zu 
ungenau  studiert,  um  ein  allgemeines  Einteilungs- 
prinzip walten  zu  lassen.  Es  muß  uns  vielmehr 
genügen  in  großen  Farbengruppen  diese  Farb- 
stoffe abzutun,  die  vom  chemischen  Standpunkt 
meistens  nicht  zusammengehören.  Aber  auch 
hier,  wie  überall  in  der  Biochemie,  stellt  sich 
zuerst  der  Name  ein,  wo  längst  noch  die  Begriffe 
fehlen. 

Die  Farbstoffe  sind  im  Tierkörper  entweder 
in  den  Körperflüssigkeiten  gelöst  (Blut-,  Gallen-, 
Harnfarbstoffe)  oder  als  Gewebsfarbstoffe  in  den 
Integumenten,  Federn  usw.  aufgespeichert. 

A.    Gelbe  und  rote  Farbstoffe. 

In  sämtlichen  Tierklassen  finden  wir  eine  große 
Anzahl  gelber  und  roter  Farbstoffe  (Lipoch  rome), 
die  zu  gewissen  Pflanzenfarbstoffen  in  Beziehung 
stehen.  Auf  diesem  Gebiete  sind  besonders  die 
Arbeiten  Krukenbergs  zu  erwähnen,  der  mit 
anderen  Autoren  die  Klasseneinteilung  der  Lipo- 
chrome  auf  Grund  verschiedener  Lösungsbedin- 
gungen und  auf  das  abweichende  spektrale  Ver- 
halten traf.  Diese  Einteilung  bleibt  natürlich  so 
lange  ungenügend,  bis  ein  tieferes  chemisches 
Studium  dieses  Prinzip  durch  ein  neues,  dem 
chemischen  Bau  der  Farbstoffe  entsprechendes, 
ablösen  wird.  Die  Lipochrome  sind  lichtempfind- 
lich und  verblassen  im  isolierten  Zustande  bald; 
einige  sind  in  schönen,  roten  Kristallen  erhalten 
worden,  die  sich  als  stickstofffrei  erwiesen  haben, 
in  Wasser  unlöslich ,  dagegen  löslich  in  orga- 
nischen Lösungsmitteln  sind.  Zu  diesen  Lipo- 
chromen  gehört  der  Farbstoff  des  roten  Flagel- 
latten  Euglena  sanguinea,  die  F"arbstoffe  zahl- 
reicher roter  und  rotgelber  Schwämme,  Korallen, 
Seerosen,  Seeigel,  Seesterne,  die  rotgefärbten  Ova- 
rien, der  Verdauungsdrüsen  der  Seewalzen  usw. 
Unter  den  Crustaceen  (Krebstieren)  sind  Lipo- 
chrome auch  weitverbreitet;  man  erhält  sie  z.B. 
beim  Kochen  von  Krebsen  oder  Hummern,  die 
dabei  die  bekannte  rote  Färbung  annehmen  (krebs- 
rot). Dieser  rote  Farbstoff  (Crustaceorubin)  ent- 
steht aus  einem  blauen  Cyanokristallin  genannt, 
der  in  den  Panzern  der  genannten  Tiere  an  Kalk 
gebunden  zu  sein  scheint  und  auch  in  roten 
Kriställchen    rein    erhalten,    aber   außerordentlich 


Lenk  (Darmstadt). 

wenig  studiert  wurde.  —  Betrachten  wir  die 
höheren  Tierklassen  der  Zoologen  weiter,  so  treffen 
wir  Lipochrome  bei  Insekten  (z.  B.  in  den  Flügel- 
decken der  Marienwürmchen,  der  Feuerwanzen 
usw.)  an,  bei  Fischen  (z.  B.  beim  Goldfisch  (Zoone- 
rythrin  genannt)),  bei  Amphibien  (Gelb-  oder  Rot- 
färbung von  Salamandern,  Fröschen  usw.),  bei 
Reptilien  (z.  B.  Schlangen  und  Eidechsen),  bei 
Vögeln  (Schnäbel  zahlreicher  Vögel,  Flamingo, 
rote  Ibis,  Papagei,  Eidotter  usw.).  Auch  in  der 
Klasse  der  Säugetiere  sind  Lipochrome  nicht  selten 
anzutreffen ;  zu  erwähnen  wären  nur  die  gelben 
Farbstoffe  des  Blutserums,  des  Fettgewebes,  des 
Corpus  luteum,  die  unter  dem  Namen  Luteine 
zusammengefaßt  werden  und  sich  als  aus  zwei 
Farbstoffen  bestehend  erwiesen  haben. 

Von  den  Lipochromen  unterscheidet  Kruken- 
berg  die  Uranidine,  gelbe  Farbstoffe,  die  auf 
Alkalizusatz  grün  oder  blaugrün  fluoreszieren  und 
sich  weiter  leicht  zu  dunkelgefärbten  Farbstoffen 
umwandeln  können.  Auch  die  Uranidine  sind  in 
Wasser  unlöslich  und  in  organischen  Solventien, 
wie  in  Alkohol  oder  Äther  löslich,  welche  Lösungen 
bei  Luftzutritt  dunkelviolett  bis  schwarz  werden. 
Speziell  bei  niederen  Tieren  finden  sich  diese 
Farbstoffe  weit  verbreitet.  Nimmt  man  z.  B.  den 
Schwamm  Aplysina  aerophoba  oder  sulfurea  aus 
dem  Wasser,  so  bemerkt  man  ein  prächtiges 
Farbenspiel:  Er  wird  erst  an  der  Oberfläche  grün- 
lich, dann  blau  und  allmählich  tief  dunkelblau; 
beim  Erwärmen  auf  70"  färbt  sich  der  Schwamm 
dunkelviolett.  Zu  den  Uranidinen  gehört  auch 
noch  eine  Reihe  gelber  Korallenfarbstoffe,  die  sich 
beim  Absterben  der  Tiere  dunkel  färben  und  die 
Farbstoffe  einiger  Seewalzen  und  Würmer  (Are- 
nicola),  welche  sich  in  Lösung  oder  besser  beim 
Ansäuern  in  dunkle  Pigmente  umwandeln. 

Außer  den  gelben  und  roten  Farbstoffen,  die 
zur  Klasse  der  Lipochrome  oder  Uranidine  ge- 
hören, finden  wir  in  den  verschiedenen  Tierklassen 
noch  andere  rote  Farbstoffe,  von  welchen  einzelne 
chemisch  geklärt  sind.  Es  gehören  dazu  die 
Floridine,  die  sich  durch  ihre  Wasserlöslich- 
keit und  Unlöslichkeit  in  organischen  Lösungs- 
mitteln von  den  Lipochromen  und  Uranidinen 
scharf  unterscheiden.  Sie  sind  bei  Spongien 
(Schwämmen)  und  Korallen  anzutreffen  und  fluores- 
zieren in  Lösung  grün  bis  violett.  Einen  ähnlichen 
roten  F"arbstoff  treffen  wir  im  wasserlöslichen  An- 
tedonin  bei  den  Haarsternen. 

Zu  einer  anderen  Gruppe  von  roten  Farb- 
stoffen gehört  der  Kermesfarbstoff  (Schar- 
lach), der  in  Deutschland  besonders  im  Mittel- 
alter beliebt  war,  und  aus  deutschem  oder  levan- 


546 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  35 


tischen!  Kermes  erzeugt  wurde.  Der  deutsche 
Kermes  ist  der  getroct:nete  Körper  einer  Schild- 
laus (Lecanium  ilicis),  die  von  den  Wurzeln  ver- 
schiedener Pflanzen,  wie  Weggras,  Dünnkraut, 
Scleranthus  perennis  usw.  gesammelt  wurde.  Spe- 
ziell zur  Zeit  der  Hohenstaufen  war  die  Scharlach- 
rotfärberei in  Deutschland  sehr  in  der  Blüte  und 
Heinrich  der  Löwe  schenkt  dem  griechischen 
Kaiser  Scharlachkleider,  die  in  Deutschland  ge- 
färbt waren.  In  der  IVlark  Brandenburg,  in  Sachsen, 
Pommern  und  Preußen  wurde  so  viel  Kermes 
gesammelt,  daß  er  exportiert  werden  konnte. 
Nach  einem  alten  Rezept  brauchte  man  zum 
Färben  eines  Pfundes  Seide  6 — 8  Pfund  märki- 
schen oder  10 — 12  Pfund  levantischen  Kermes; 
der  letztere  besteht  aus  dem  getrockneten  weib- 
lichen Insekt  der  auf  Eichen  lebenden  Kermes- 
schildlaus,  die  speziell  in  Italien,  Spanien  und 
Frankreich  gesammelt  wurde.  Der  Kermesfarb- 
stoff,  dessen  chemische  Konstitution  zu  erforschen 
noch  der  Zukunft  vorbehalten  bleibt  ist  ebenso 
stickstofffrei,  wie  die  Karminsäure,  der  P'arbstoff 
der  Cochenille,  der  merkwürdigerweise  zur 
selben  Zeit  den  deutschen  Kermes  stark  zurück- 
drängte, als  man  den  Indigofarbstoff  aus  Indien 
bezog  und  der  deutsche  Waidbau  seinem  Nieder- 
gang entgegenging.  Die  Cochenille,  die  getrock- 
neten weiblichen  auf  bestimmten  Kaktusarten 
lebenden  Nepolschildläuse  (Coccus  cacti)  wurde  bei 
der  Entdeckung  Mexikos  den  Europäern  bekannt. 
Karminsäure  enthält  einen  Naphtalinkern  in  Ver- 
bindung mit  einem  noch  unaufgeklärten  Rest 
Cj(|H|r,0-  und  ist  ein  Beizenfarbstoff,  dessen  Zinn- 
oxydlack lichtecht,  karminrot  ist  und  früher  na- 
mentlich in  der  VVollfärberei  benutzt  wurde;  heute 
ist  er  völlig  ersetzt  durch  rote  Azofarbstoffe,  na- 
mentlich Echtrot,  Biebricher  Scharlach  und  ähn- 
liche. Die  schöne,  lichtemjifindhche  Malerfarbe 
Karmin  ist  der  Aluminiumlack  der  Karminsäure, 
die  auch  noch  in  der  mikroskopischen  Technik 
zum  Färben  bestimmter  Präparate  benutzt  wird. 
Ein  anderer  roter  kupferhaltiger  Farbstoff  fin- 
det sich  in  den  P'edern  von  Musophagiden,  der 
mit  dem  Blutfarbstoff  (s.  u.)  verwandt  ist.  Ähn- 
liche rote  und  grüne  Farbstoffe  erhält  man  aus 
einigen  Molluskengehäusen,  die  mit  dem  Gallen- 
farbstoff zusammenhängen  sollen.  In  die  Klasse 
der  roten  Farbstoffe  gehört  noch  ein  Farbstoff, 
der  im  Altertum  alle  anderen  an  Feuer,  Schön- 
heit und  Echtheit  übertraf,  aber  dessen  Herstel- 
lung so  schwierig  und  kostspielig  war,  daß  er 
stets  nur  ein  Vorrecht  der  Reichen  und  Mächtigen 
blieb.  Es  ist  der  Purpur farbsto ff,  dessen 
Verwendung  im  späten  Mittelalter  aufhörte  und 
seitdem  nur  noch  als  Symbol  der  Herrscherwürde 
in  Staat  und  Kirche  ein  Scheindasein  ohne  reale 
Bedeutung  führt.  Die  ältesten  Urkunden  scheinen 
darauf  hinzuweisen,  daß  die  semitischen  Völker 
die  Kunst  der  Purpurfärberei  ausübten;  Moses 
ließ  aus  Purpur  und  doppelt  gewirktem  Byssus 
den  Vorhang  des  Allerheiligsten  in  der  Stiftshütte 
herstellen.       Hohepriester     hüllten    sich    in    blau- 


oder  purpurrote  Gewänder,  und  in  der  salomoni- 
schen Zeit  findet  auch  das  weibliche  Geschlecht 
Gefallen  an  dieser  Farbe.  Auch  den  Ägyptern 
scheint  das  Färben  mit  Purpur  bekannt  gewesen 
zu  sein;  in  dieser  Beziehung  ist  ein  Gedicht  aus 
der  Zeit  Ramses  II.  (1400  v.  Chr.)  interessant, 
worin  der  Verfasser  die  Schattenseiten  der  ver- 
schiedenen Berufe  diskutiert.  Vom  Färber  heißt 
es:  ,, Seine  Hände  stinken,  sie  haben  den  Geruch 
fauler  Fische ,  er  verabscheut  alles  Tuch."  Man 
wird  kaum  an  einen  anderen  Zweig  der  Färberei 
denken  können ,  da  der  beschriebene  Geruch  für 
die  Purpurfärberei  charakteristisch  ist.  Speziell  in 
der  letzten  republikanischen,  wie  in  der  Kaiser- 
zeit, erreichte  die  Purpurfärberei  ihre  höchste 
Blüte.  Senatoren  trugen  einen  breiten  Purpur- 
saum um  den  Ausschnitt  der  Tunica  (Latus  clavus), 
der  Ritterstand  war  durch  einen  schmäleren  Streifen 
gekennzeichnet  (Angustus  clavus).  Höhere  Staats- 
beamte und  Priester  trugen  die  purpurumsäumte 
Toga  praetexta;  in  ganz  purpurne  Gewänder,  im 
Ornat  des  kapitolinischen  Jupiter  zogen  siegreiche 
Feldherren  durch  den  Triumphbogen.  Als  die 
antike  Kunst  nach  dem  Zusammenbruche  des 
weströmischen  Reiches  in  Byzanz  noch  späte 
Früchte  trug,  wurde  die  Purpurfärberei  verstaat- 
licht und  die  Purpurfabriken  in  Tyrus,  Byzanz 
und  an  anderen  Orten  färbten  nur  Gewänder,  die 
für  die  kaiserliche  Familie  bestimmt  waren.  Mit 
dem  Untergang  des  byzantinischen  Reiches  war 
es  auch  um  die  Purpurfärberei  geschehen.  Mit 
der  Eroberung  Konstantinopels  durch  die  Türken 
waren  auch  für  die  Purpurfabriken  die  letzten 
Tage  gekommen.  Aber  nicht  nur  das  Gewand 
der  Begüterten  wurde  mit  dem  Farbstoff  der 
Purpurschnecke  gefärbt,  sondern  auch  kostbare 
Bücher,  die  Codices  purpurci,  und  Urkunden, 
Handschriften,  wie  der  Codex  argentcus,  die  Goti- 
sche Bibelversion  Ulfilas  und  die  Wiener  Genesis. 

Bei  der  Betrachtung  der  uns  überlieferten 
Reste  von  purpurnen  Stoffen  oder  Pergament 
werden  wir  vergebens  in  den  mattroten  und  blau- 
violetten Tönen  die  einstige  Pracht  und  Schönheit 
suchen.  Aus  der  Färbe  Vorschrift,  die  uns  Plinius 
hinterlassen  hat,  wissen  wir,  daß  der  Farbstoff 
den  Purpurschnecken  Murex  brandaris,  Murex 
trunculus  und  Purpurea  haemostoma  entnommen 
wurde.  Die  Purpurdrüse,  ein  kleines  Organ  der 
Purpurschnecke,  liefert  in  winzigster  Quantität 
einen  zu  Anfang  weißen  Schleim,  der  durch  Salz- 
zusatz und  Erwärmen  in  den  Farbstoff  umgewan- 
delt wurde.  Die  geringe  Menge  des  P'arbstoffes, 
die  eine  Purpurschnecke  besitzt,  macht  es  uns 
erklärlich,  daß  zum  Färben  eines  Tuches  o.  dgl. 
eine  Unzahl  von  Schnecken  benutzt  werden  mußten, 
und  in  der  Zeit  Dioclelians  ein  Pfund  Purpur- 
wolle   in    unserem    Gelde    auf  ca.  940  Mark  kam. 

Die  Aufklärung  des  chemischen  Baues  und 
die  künstliche  Darstellung,  die  Synthese  des  Purpur- 
farbstoffes glückte  vor  mehreren  Jahren  Paul 
P'riedländer.  Aus  der  Baeyerschen  Schule  her- 
vorgegangen,   isolierte    er  aus    ca.   12  000  Purpur- 


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Schnecken  (Murex  brandaris)  1,5  g  Purpurfarbstofif. 
Die  Analyse  verbunden  mit  S)-nthetischen  Versuchen 
hat  die  große  Überraschung  gebracht,  daß  der 
antike  Purpur  ein  Bromderivat  des  Indigofarbstoffes 
ist.  In  der  Purpurdriise  erfolgt  bei  diesen  Schnecken 
die  Assimilierung  des  Broms  des  Meerwassers  an 
den  Indigokomplex,  der  auch  sonst  in  verschiedenen 
Eiweißstoffen  anzutreffen  ist.  Wir  müssen  somit 
den  Purpurfarbstoff  als  Eiweißabkömmling  ansehen. 
Leider  haben  diese  Forschungen  die  eine  schmerz- 
liche Enttäuschung  gebracht,  daß  die  Schönheit 
des  Purpurfarbstoffes  unseren  Ansprüchen  gar  nicht 
mehr  genügt,  obzwar  sich  sein  Preis  ca.  1000  mal 
billiger  stellen  würde  als  in  der  antiken  Welt. 
Die  Farbe  des  „Purpurs"  ist  ein  mattes  Rotviolett, 
daß  unseren  an  die  lebhaften  und  reinen  Töne 
der  Anilinfarben  gewöhnten  Augen  nicht  mehr  zu 
imponieren  vermag.  Die  Begeisterung  der  Alten 
an  der  „herrlichen  Pracht"  des  Purpurfarbstoff 
können  wir  nicht  mehr  teilen  und  es  könnte  viel- 
leicht manchem  Glänze  der  Antike  so  ergehen, 
wenn  er  mit  ähnlichen  exakten  Methoden,  wie  sie 
die  Chemie  besitzt,  vor  uns  neu  erstehen  könnte. 
Der  vielleicht  wichtigste  rote  Farbstoff  ist  der 
Blutfarbstoff,  von  dem  man  schon  vor  der 
Erkenntnis  seiner  physiologischen  Funktion  über- 
zeugt war,  daß  er  eines  der  wichtigsten  Lebens- 
elemente, wenn  nicht  das  Leben  selbst  sei.  Die 
rote  Färbung  des  Blutes  rührt  vom  Hämoglobin 
her,  das  bei  den  Wirbeltieren  an  die  roten  Blut- 
körperchen gebunden  ist;  dieser  Farbstoff  findet 
sich  aber  auch  sonst  in  den  Körperflüssigkeiten 
zahlreicher  Wirbellosen  und  zwar  zumeist  in  freier 
Form  im  Plasma  gelöst.  Wir  finden  das  Hämo- 
globin im  Blute  zahlreicher  Würmer  und  bei 
niederen  Crustaceen.  Die  meisten  Insekten  haben 
farbloses  Blut  und  ebenso  in  der  Klasse  der  Wirbel- 
tiere der  Amphioxus  und  die  Larvenform  der 
aalarligen  Fische,  die  Leptocephaliden.  Das  Hämo- 
globin ist  eine  eivveißartige  Substanz,  die  man  in 
Kristallform  isolieren  und  in  2  Bestandteile  spalten 
kann,  in  den  Eiweißstoff  Globin  und  den  F"arb- 
stoff  Hämatin.  Das  Globin,  das  an  Quantität 
das  Hämatin  weit  überragt  ist  für  die  physio- 
logische Funktion  des  Farbstoffes  belanglos.  Das 
Hämatin  enthält  Eisen,  das  in  sog.  komplexer 
F'orm  darin  vorkommt,  also  mit  den  gewöhnlichen 
analytischen  Methoden  nicht  direkt  nachweisbar 
ist.  In  seiner  Bestimmung  muß  die  Substanz  zu- 
erst verbrannt  werden,  wobei  das  Eisen  als  Eisen- 
oxyd zurückbleibt,  da  die  anderen  Stoffe  vergasen. 
Es  ist  eigenartig,  daß  die  außerordentlich  mini- 
male Eisenmenge,  welche  im  riesigen  Hämoglobin- 
komplex nahezu  verschwindet,  mit  der  funda- 
mentalen Funktion  des  Blutes,  mit  seinem  Ver- 
mögen den  Sauerstoff  der  Luft  festzuhalten  und 
an  die  Gewebe  abzugeben  in  unmittelbarem  Zu- 
sammenhang steht.  Dadurch  wird  das  Hämoglobin 
zum  Repräsentanten  der  respiratorischen 
Farbstoffe.  Durch  die  Sauerstoffaufnahme  färbt 
es  sich  hellrot,  wird  zum  Oxyhämoglobin,  das  bei 
seiner   Sauerstoffabgabe    an    die    Gewebe    wieder 


zum  dunkelrot  gefäibten  Hämoglobin  reduziert 
wird.  Der  Farbstoff  Hämatin  ist  sauerstoffhaltig, 
den  sauerstofffreien  Farbstoff  nennt  man  Hämo- 
chro  mögen.  Durch  Behandlung  mit  starken 
Säuren  gelangt  man  vom  Hämatin  ausgehend  zum 
schön  gefärbten  Hämotoporphyrin,  das  ein 
prächtiges,  vierstreifiges  Spektrum  zeigt.  Wird 
das  Hämatin  mit  konzentrierter  Jodwasserstoff- 
säure energisch  reduziert,  so  erhält  man  ein  un- 
angenehm riechendes  Ol,  das  Hämopyrrol, 
dessen  chemischen  Bau  der  Münchner  Chemiker 
Piloty  vollkommen  aufgeklärt  hat.  Von  be- 
sonderer allgemein  biologischer  Bedeutung  ist  die 
Tatsache,  daß  der  grüne  Blattfarbstoff,  das  Chloro- 
phyll zu  denselben  Abbauprodukten  führt,  wie 
der  Blattfarbstoff.  So  sehen  wir  in  diesen  zwei 
weitverbreiteten  Farbstoffen  eine  innere  Verwandt- 
schaft. Sowie  der  rote  Blutfarbstoff  für  den  Tier- 
körper eine  Rolle  spielt,  so  hat  das  Chlorophyll 
für  die  Pflanze  eine  ähnliche,  wenn  auch  entgegen- 
gesetzte Bedeutung;  denn  während  das  Hämo- 
globin als  Sauerstoffüberträger  den  unentbehrlichen 
Sauerstoff  allen  Zellen  liefert  (respiratorischer 
Farbstoff),  hat  das  Chlorophyll  die  Aufgabe, 
die  Kohlensäure  der  Luft  zu  assimilieren  und  sie 
zum  Aufbau  komplizierter  Stoffe  zu  verwerten 
(assimilatorischer  Farbstoff).  Das  Chloro- 
phyll enthält  als  anorganischen  Bestandteil  Ma- 
gnesium, das  sich  im  Chlorophyll,  ebenso  wie  das 
Eisen  im  Hämoglobinmolekül,  in  komplexer  Form 
befindet.  Es  ist  also  sowohl  die  assimila- 
torische Fähigkeit  des  Chlorophylls, 
als  auch  die  respiratorische  des  Hämo- 
globin an  die  Gegenwart  von  Metallen 
geknüpft. 

Das  Studium  der  Hämatinderivate  wurde  in 
den  letzten  Jahren  noch  beträciitlich  erweitert,  als 
Hausmann  im  früher  erwähnten  Hämatopor- 
pliyrin  einen  photobiologischen  Sensibilisator  fand. 
Wenn  man  weißen  Mäusen  eine  geringe  Menge 
einer  Hämatoporphyrinlösung  einführt,  so  ver- 
halten sie  sich  im  Dunkeln  noch  nach  Wochen 
normal.  Im  Lichte  entwickelt  sich  aber  sehr  bald 
ein  charakteristisches  Vergiftungsgebilde,  welches 
mit  Lichtscheu,  Rötung  und  Schwellung  der 
Ohren  sowie  mit  Hautödemen  einhergeht  und 
sehr  bald  zum  Tode  führt.  Dieselben  Vorgänge 
findet  man  auch  bei  einigen  pathologischen  Pro- 
zessen ,  wie  bei  der  bekannten  Hautkrankheit 
Hydroa  aestiva,  die  mit  einer  starken  Einwirkung 
des  Sonnenlichtes  zusammenhängt.  Eine  ganz 
eigenartige  Vergiftung  ist  die  Buchweizenkrankheit, 
die  Ähnlichkeiten  mit  der  Hämatoporphyrinsensi- 
bilisation  hat.  Es  ist  auch  wahrscheinlich,  daß 
eine  weit  verbreitete  Geißel  der  Menschheit  die 
Pellagra  ebenfalls  zu  den  Sensibilisationskrank- 
heiten  gehört,  da  z.  B.  auch  die  Hautaffektionen 
der  an  dieser  Krankheit  Leidenden  im  Frühjahr 
zu  beginnen  pflegen,  wenn  sie  sich  mehr  dem 
Sonnenlichte  aussetzen.  Es  ist  noch  fraglich  ob 
allzugroße  Maisernährung  mit  der  Pellagra  zu- 
sammenhängt;   aber   so  viel  ist   sicher,    daß   sich 


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bei   mit    Mais    ernährten    Tieren    charakteristische 
Hautveränderungen  bei  Behchtung  einstellen. 

Blaue    Farbstoffe. 

Der  blaue  Farbstoff  findet  sich  in  der  Tier- 
reihe weit  weniger  verbreitet  als  der  rote.  Er 
ist  als  Cyanein  im  Schirme  blauer  Medusen 
anzutreffen,  der  nur  im  Wasser  löslich,  unlöslich 
in  organischen  Solventien  ist  und  auf  Säurezusatz 
oder  beim  bloßen  Erwärmen  auf  ca.  50"  eine 
rote  Färbung  annimmt.  Bei  einigen  dekapoden 
Crustaceen  findet  man  in  den  Tegumenten  eben- 
falls einen  blauen  wasserlöslichen  Farbstoff,  das 
Cyano kristallin,  bei  einem  Fisch  Crenilabrus 
pavo  auch  einen  prächtigblauen  Farbstoff,  der  je- 
doch beim  Fisch  nur  im  Frühjahr  als  Hochzeits- 
kleid auftritt.  Einige  dieser  Farbstoffe  studierte 
der  Frager  Physiologe  v.  Zeynek;  fast  unbekannt 
ist  das  Pigment  der  blauen  Koralle,  der  blaue 
Farbstoff  des  Seeigels,  der  Meduse  Pelagia  usw. 
Besser  bekannt  ist  das  Blut  gewisser  Mollusken 
und  Crustaceen,  das  sauerstoffhaltig  eine  blaue 
Farbe  besitzt  und  bei  Sauerstoffmangel  farblos  er- 
scheint. Diese  Eigenschaft  verdankt  es  dem 
Eiweißköper  Hämocyanin,  der  bereits  kristal- 
linisch erhalten  wurde  und  ebenso  wie  das  Hämo- 
globin der  Wirbeltiere  Sauerstoff  locker  zu  binden 
vermag.  Das  Hämocyanin  enthält  aber 
merkwürdigerweise  Kupfer  statt  Eisen  in  seinem 
Molekül. 

Grüne  Farbstoffe. 

Grüne  Farbstoffe  sind  als  Pigmente  nur  bei 
einigen  Würmern  und  Arthropoden  anzutreffen. 
Das  Bonellein  der  Würmer  ist  am  genauesten 
studiert.  Es  ist  wasserlöslich;  die  alkoholische 
Lösung  ist  im  durchfallenden  Lichte  grün,  im  auf- 
fallenden blutrot;  beim  Ansäuern  der  grünen 
Lösung  wandelt  sich  die  grüne  Farbe  in  eine  rote 
um.  Der  grüne  P'arbstoff  der  Arthropoden  wurde 
lange  Zeit  als  „tierisches  Chlorophyll"  aufgefaßt; 
er  ist  z.  B.  bei  den  Flügeldecken  der  Canthariden, 
bei  bestimniten  Heuschrecken  usw.  anzutreffen. 
Es  ist  jedoch  in  den  letzten  Jahren  von  Przibram 
in  Wien  der  Nachweis  geführt  worden,  daß  das 
Heuschreckengrün  nicht  dem  pflanzlichen  Chloro- 
phyll entspricht.  —  Eine  weitere  Gruppe  grüner 
Farbstoffe  finden  wir  in  der  Klasse  der  Gallen- 
farbstoffe, die  mit  dem  roten  Blutfarbstoff,  dem 
Hämoglobin  in  naher  chemischer  Verwandtschaft 
stehen  und  das  wichtigste  physiologische  Abbau- 
produkt des  Blutfarbstoffes  darstellen,  welcher 
Prozeß  sich  in  der  Leber  vollzieht.  Die  Gallen- 
farbstoffe treten  in  zwei  Formen  auf,  im  rotgelben 
Bilirubin  und  in  seinem  Oxydationsprodukt, 
dem  grünen  Biliverdin.  Das  Biliverdin  bewirkt 
die  grüne  Farbe  der  Galle.  Überwiegt  seine 
Menge,  dann  zeigt  die  Galle  eine  olivgrüne  Farbe; 
wenn  dagegen  mehr  Bilirubin  zugegen  ist,  dann 
finden  sich  rote  resp.  braune  Töne.  Jede  Tierart 
hat  im  allgemeinen  eine  bestimmt  gefärbte  Galle. 
Der  Gallenstoff  tritt   manchmal  in  großer  Menge 


in  Gallensteinen  auf;  beim  Rinde  gibt  es  fast  reine 
Bilirubinsteine.  Das  Bilirubin  steht  der  chemischen 
Zusammensetzung  des  Hämatoporphyrins  nahe 
und  ein  Abbau  führt  zu  denselben  chemischen 
Substanzen,  wie  beim  Blutfarbstoff.  Durch  Oxy- 
dation geht  das  Bilirubin  leicht  in  grüne  (Biliverdin), 
blaue  (Bilicyanin),  rote  und  gelbe  (Choletelin) 
Farbstoffe  mit  ihren  unzähligen  Modifikationen 
über,  eine  Tatsache,  die  man  als  Gmelinsche 
Reaktion  zum  Nachweis  des  BiHrubins  benutzt. 
Die  Einwirkung  des  Luftsauerstoffes  führt  zum 
grünen  Biliverdin,  welcher  auch  sonst  in  Gallen- 
steinen, im  Darminhalt,  im  ikterischen  Harn,  in 
der  Leichengalle  usw.  anzutreffen  ist.  Ein  anderer 
Gallenfarbstoff  des  Bilipurpurin  erscheint  in 
Lösung  im  durchfallenden  Lichte  rotviolett  und 
im  auffallenden  saftgrün,  und  wird  als  Um- 
wandlungsprodukt des  Chlorophylls  aufgefaßt. 

Wenn  der  Abfluß  der  Galle  aus  irgendeiner 
Ursache  erschwert  und  verhindert  wird,  sei  es 
durch  ein  Konkrement,  eine  Geschwulst  usw.,  so 
kommt  es  zu  einem  Symptomenkomplex,  der  .in 
die  Augen  fallend  ist.  Die  Haut  und  besonders 
auch  die  Konjunktiva  nehmen  eine  gelbe  Farbe 
an,  die  durch  Gallenfarbstoff  bedingt  ist.  Die 
Galle  staut  sich,  die  Lymphbahnen  tragen  die 
Gallenbestandteile  dem  Blute  zu,  wobei  das  Blut- 
plasma intensiv  gelb  gefärbt  ist;  es  kommt  dabei 
zur  Abscheidung  von  Gallenfarbstoff  in  den  Ge- 
weben und  auch  in  der  Haut.  Der  Urin  ist  auch 
sehr  gelb  gefärbt  und  zeigt  Gmelinsche  Reaktion. 
Diesen  Symptomenkomplex  nennt  man  Ikterus 
(Gelbsucht). 

Eng  mit  der  Frage  der  Gallenfarbstoffbildung 
aus  dem  Blutfarbstoff,  hängt  das  Problem  des 
U  r  o  b  i  1  i  n  s  zusammen,  als  eines  Farbstoffes,  der 
einer  Reduktion  des  Gallenfarbstoffes  seine  Ent- 
stehung verdankt.  Das  Urobilin  wurde  von  dem 
ausgezeichneten  Königsberger  Physiologen  Jaffe 
in  den  60  er  Jahren  im  Harn  aufgefunden  und 
verdankt  seine  Entstehung  seiner  farblosen  Vor- 
stufe Urobilinogen,  das  sich  außerordentlich 
leicht  in  Urobilin  umwandelt.  Im  normalen  Or- 
ganismus wird  das  Bilirubin  der  Galle  im  Darme 
durch  einen  Reduktionsprozeß,  der  sich  zumeist 
im  Dickdarm  vollzieht,  infolge  des  Zusammen- 
wirkens der  Darmbakterien  mit  der  Schleimhaut, 
zu  Urobilinogen  umgewandelt.  Ein  Teil  des  im 
Darm  gebildeten  Urobilinogens  gelangt  mit  den 
Fäzes  zur  Ausscheidung,  das  in  Urobilin  um- 
gewandelt wird.  Ein  anderer  Teil  des  Urobilinogens 
wird  aber  vom  Körper  aufgenommen  (resorbiert), 
gelangt  durch  den  Blutkreislauf  in  die  Leber,  dann 
aus  der  Galle  in  den  Darm  zurück  und  vollführt 
so  einen  vollständigen  Kreislauf.  Ob  sich  das 
Urobilin  wieder  in  Bilirubin,  den  Gallenfarbstoff, 
verwandeln  kann  oder  vielleicht  Blutfarbstoff  direkt 
in  Urobilin  übergeht,  steht  heute  noch  nicht  fest. 
—  Der  typische  Harnfarbstoff,  welchem  der  Harn 
seine  Färbung  verdankt,  ist  fast  ausschließlich 
dasUrochrom,  dem  sich  in  kleiner  Menge  das 
Uroerythrin    usw.    gesellt;    diese    F'arbstoffe    sind 


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jedoch  noch  viel  zu  wenig  studiert,    um  ihre  Bil- 
dung im  Organismus  erklären  zu  können. 

Farbstoffe   der    Harnsäuregruppe. 

Zu  diesen  Farbstoffen  gehört  z.  B.  das  gelbe 
Pigment  des  Zitronenfalters,  das  typische  Harn- 
säurereaktion gibt  und  sich  beim  Erwärmen  mit 
Schwefelsäure  in  eine  purpurrote  Substanz  um- 
wandelt. Auch  das  weiße  F"lugpigment  des  Kohl- 
weißlings besteht  aus  Harnsäure  und  ebenso  ver- 
dankt die  „Silbersubstanz"  in  den  Schuppen  der 
Knochenfische  einem  Körper  aus  der  Harnsäure- 
gruppe, dem  Guanin,  seinen  Glanz,  das  auch 
z.  B.  das  gelbe  Hautpigment  der  Borstenwürmer 
bildet  und  ein  typischer  Bestandteil  des  Zellkernes 
ist.  Auch  das  rote  Pigment  der  amerikanischen 
Eidechse  Diemyctylus  viridescens  wandelt  sich 
mit  kochender  Salzsäure  in  Harnsäure  um. 

Schwarze  Farbstoffe  (Melanine). 
Die  Gruppe  der  schwarzen  oder  schwarzbraun 
gefärbten  Farbstoffe  wird  unter  dem  Sammel- 
begriff M  e  1  a  n  i  n  e  zusammengefaßt,  die  bei  Wirbel- 
tieren und  Wirbellosen  außerordentlich  weit  ver- 
breitet sind.  Unter  normalen  Bedingungen  kom- 
men sie  als  Pigmente  der  Haut  (z.  B.  bei  Negern), 
Haare,  Chorioidea,  als  Farbstoff  des  Tintensekretes 
der  Kopffüßler,  bei  pathologischen  Neubildungen 
vor,  im  Harn,  der  frisch  gelassen  schwarz  gefärbt 
sein  kann  usw.  Die  Melanine  sind  amorph,  in 
Wasser,  organischen    Lösungsmitteln,  ja  selbst  in 


den  stärksten  Säuren  unlöslich,  weshalb  es  sehr 
schwer  ist,  ein  einheitliches  Produkt  zu  erhalten, 
das  als  Ausgangsmaterial  für  die  Konstitutions- 
ermittlung des  Melanins  dienen  könnte.  Die  Re- 
sultate der  Analysen  und  Abbauversuchc  sind  bei 
diesen  schwarzen  Pigmenten  sehr  notdürftig  und 
vermögen  durchaus  nicht  ihre  komplizierte  Ent- 
stehung im  Tierkörper  zu  erklären.  Man  nimmt 
heute  mit  v.  Fürth  an,  daß  diese  Melanine  aus 
Eiweißprodukten  stammen ,  von  welchen  sich  be- 
stimmte Bruchstücke  (Tyrosin)  unter  der  Wirkung 
oxydativer  Fermente  zu  den  schwarzen  Farbstoffen 
umwandeln.  Vor  allem  ist  diese  Erkenntnis  dem 
französischen  Forscher  Gabriel  Bertrand  zu 
danken,  der  das  bekannte  Nachdunkeln  der  Bruch- 
flächen mancher  Pilze  auf  die  Umwandlung  des 
chemisch  einfach  gebauten  Eiweißbruchstückes 
Tyrosin  mit  Hilfe  oxydativer  Fermente,  der 
„Tyrosin äsen"  zurückführen  konnte.  Später 
ist  es  dann  v.  Fürth  gelungen,  die  Eigenschaft 
des  farlosen,  aber  an  der  Luft  sich  schnell  schwarz 
färbenden  Insektenblutes  auf  die  Anwesenheit  von 
Tyrosinasen  zu  basieren ;  auf  Grund  dieser  Ar- 
beiten ist  dann  der  Reihe  nach  der  Beweis  für 
die  Bildung  fast  sämtlicher  schwarzer  Pigmente 
infolge  der  Anwesenheit  dieser  Fermente  erbracht 
worden.  Ja  kürzlich  ist  es  Bertrand  gelungen, 
den  Vorgang  der  Dunkelfärbung  des  Schwarz- 
brotes auf  das  Prinzip  der  Melaninbildung  zurück- 
zuführen. 


Das  Hiiugerii  als  fördernder  Faktor  der  organischen  Entwicklung. 

[Nachdruck  verboten.]  Von  Jar.  Kiizeneckj'  (Prag). 


Es  könnte  geradezu  als  paradox  erscheinen, 
wenn  das  Hungern  als  fördernder  P"'aktor  der 
organischen  Entwicklung  bezeichnet  wird,  wie  dies 
z  B.  Jickeli')  getan  hat.  Das  Lebensgeschehen, 
als  dessen  bezeichnetstes  Charakteristikum  der  Stoff- 
wechsel zu  gelten  hat,  dessen  mechanische  und 
bei  den  meisten  Organismen  (die  autotrophen 
Pflanzen,  welche  mittels  ihres  Chlorophylls  die 
Sonnenstrahlenenergie  zur  Assimilation  benützen) 
auch  chemische  Tätigkeit  sich  auf  Grund  der 
Verbrennung  des  größten  Teiles  der  Nahrung  ab- 
spielt, soll  nun  durch  Hungern,  durch  Mangel 
an  Ernährung,  beschleunigt  werden? 

Auf  diese  Frage  gibt  uns  eine  Reihe  von  Be- 
obachtungen und  Experimenten  eine  so  über- 
zeugende Antwort,  daß  man  darüber  nicht  mehr 
im  Zweifel  bleiben  kann.  Es  handelt  sich  um 
Einwirkung  des  Hungerns  auf  die  Vorgänge  der 
Morphogenese,  der  Entwicklung  und  Metamorphose 
der  organischen  Formen  und  Strukturen  und  ihrer 
Veränderung. 

Zum  ersten  Male  wurde  das  Hungern  als 
förderndes  Prinzip   in    der   Natur   im    Jahre    1887 

1)  Jickeli,  F.  C. :  Die  Unvollkommenhcit  des  Stoff- 
wechsels als  Veranlassung  für  Vermehrung,  Wachstum,  Diffe- 
renzierung, Rückbildung  und  Tod  der  Lebewesen  im  Kampf 
ums  Dasein.     Berlin,  R.  Friedländer,   1902. 


von  B  a  r  f  u  r  t  h  bezeichnet,  nachdem  dieser  Forscher 
bewiesen  hat,  daß  die  normale  Metamorphose  von 
Fröschen  durch  das  Hungern  der  Kaulquappen 
beschleunigt  werden  kann. ')  Etwas  Ahnliches  hat 
in  demselben  Jahre  auch  Keller")  für  Insekten 
gefunden:  diesem  Forscher  ist  es  nämlich  gelungen, 
durch  das  Hungern  die  Metamorphose  von  Reb- 
läusen (Pkylloxcra  vastatrix)  zu  beschleunigen. 
Später  unternahmen  in  dieser  Richtung  Pict et 
und  K  e  1 1  o  g  g  mit  Bell  direkte  Versuche  an  einigen 
Schmetterlingen;  leider  gelangten  sie  zu  ganz  ent- 
gegengesetzten Resultaten:  während  es  Bietet^) 
gelungen  ist,  die  Metamorphose  der  Raupen  durch 
das  Hungern  zu  beschleunigen,  konnten  Kellogg 
und  Bell*)  eine  solche  Beschleunigung  nicht  finden. 
Durch    einige   zufällige    Beobachtungen   wurde 


')  Vgl.  darüber:  Barfurth,  D. :  Versuche  über  die  Ver- 
wandlung der  Froschlarven,  und  ders. :  Der  Hunger  als  för- 
derndes Prinzip  in  der  Natur.  Arch.  f.  mikroskop.  Anatomie. 
Bd.  29. 

*)  Keller,  C. :  Die  Wirkung  des  Nahrungsentzuges  auf 
Phylloxera  vastatrix.  —  Zoolog.   Anzeiger  Bd.    lo.    1S87. 

')  Pictet,  A.:  Des  Variations  des  Papillons  provenant 
des  cliangements  d'alimentation  de  leurs  chcmilles  et  de  l'hu- 
midite  —  Comt.  rendu  VI.  Congr.  intern,  de  Zoologie.  Geneve 
1904. 

*)  Kellogg,  V.  L.  und  Bell,  R.  G. :  Notes  on  Insect 
Bionomics.  —  Journ.  of  exper.  Zoology.   I.   1904. 


550 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  35 


ich  in  letzter  Zeit  dazu  geführt,  dieser  Frage  an 
den  Larven  von  Toicbrio  luolitor,  die  allgemein 
unter  dem  Namen  ,, Mehlwürmer''  bekannt  sind, 
näher  zu  treten.  Dabei  gelangte  ich  zu  Resultaten  '), 
die  mich  dazu  berechtigen,  der  Ansicht  Pictet's, 
daß  nämlich  auch  bei  den  Insekten,  ähnlich  wie 
bei  den  Fröschen,  die  Metamorphose  durch  das 
Hungern  beschleunigt  werden  kann,  beizustimmen. 
Ich  habe  nämlich  gefunden,  daß  Larven,  welche 
ein  gewisses  Alter  überschritten  haben  und  danach 
absoluter  Hungerung  ausgesetzt  worden  waren, 
ihre  Metamorphose  recht  früher  beendigen,  als 
gleich  alte  Kontrollarven,  welche  normalerweise 
gefüttert  wurden. 

Aus  dem  Angeführten  geht,  glaube  ich,  ohne 
Zweifel  hervor,  daß  die  Metamorphose,  wie  der 
Amphibien,  so  auch  der  Insekten,  in  einem  Zu- 
sammenhange mit  Ernährung  steht.  Diese  Er- 
scheinung tritt  auch  bei  normaler  Entwicklung 
dieser  Tiere  in  der  Natur  zutage.  Schon  Bar- 
furth  wies  darauf  hin,  daß  nach  Marie  von 
Chauvins  Versuchen''),  „die  Urodelen  überall 
während  ihrer  Metamorphosen  fasten".  Neuerdings 
wurde  dann  direkt  von  Po  wers  ")  bewiesen,  daß 
die  Metamorphose  des  Axololl's  in  voller  Un- 
abhängigkeit von  den  äußeren  Lebensbedingungen, 
wie  z.  B.  Feuchtigkeit  des  Mediums  steht  und 
nur  durch  Ernährung  sich  regulieren  läßt.  Dieser 
in  der  freien  Natur  vorkommende  Zusammenhang 
führte  Barfurt h^)  zu  einer  Erklärung  der  von 
ihm  beobachteten  Beschleunigung:  er  weist  darauf 
hin,  daß  bei  der  Metamorphose  von  Fröschen  es 
sich  in  erster  Reihe  um  eine  Resorption  verschie- 
dener Gewebe  handelt,  z.  B.  des  Schwanzes  und 
des  die  hinteren  Füße  bedeckten  Häutchens.  Da 
diese  Resorptionen  im  Falle  des  Hungerns  schneller 
vor  sieh  geht  (wobei  die  Tiere  diesen  Vorgang 
selbst  fördern,  indem  sie  gegen  das  Ende  ihrer 
Metamorphose  fasten),  so  handelt  es  sich  bei  der 
Beschleunigung  der  Metamorphose  durch  das 
Hungern  um  keine  direkte,  sondern  um  eine 
indirekte  Wirkung  derselben,  indem  der 
natürliche  Hungerungsvorgang  durch  den  künst- 
lichen verstärken  wird. 

Es  scheint  aber,  daß  diese  Erklärung  Bar- 
furth's  sich  nicht  leicht  verallgemeinern  läßt.  Z.B. 
bei  den  Insekten,  wo  auch  die  Metamorphose 
durch  das  Hungern  sich  beschleunigen  läßt,  sind 
die  bei  derselben  vorkommenden  inneren  histolo- 
gischen Umwandlungen  grundsätzlich  von  den  bei 
der  Metamorphose  von  Kaulquappen  verschieden. 
Hier  findet  keine  Resorption  statt,  sondern  alle 
Gewebe    zerfallen    und    die     imaginalen    Organe 


')  Kfizenecky,  Jar. :  Über  die  beschleunigende  Ein- 
wirkung des  Hungerns  auf  die  Metamorphose.  —  Biolog. 
CeütralblaU.  Bd.   34.  Nr.    i.   1914. 

^)  von  Chauvin,  Marie:  Über  die  Verwandlung  der 
me.Nikanischen  A.solotl  in  Amblystoma.  —  Zeitschr.  f.  wiss. 
Zoologie.  Bd.  27.   1876. 

')  Powers,  J.  H.:  The  causes  of  acceleration  and  retard 
in  the  metamorphosis  of  Amblystoma  tigrinum;  a  preliminary 
raport.  —  American  Naturlist.   37.    1 903. 

*)  Barfurth:  Der  Hunger  als  förderndes  Prinzip.  — 


differenzieren  sich  dann  von  neuem  mit  Hilfe  von 
gewissen  Bildungszentren,  den  sog.  Imaginal- 
scheiben.  In  diesem  Falle  ist  es  also  nicht  gut 
möglich ,  Barfurth's  Erklärung  einzuwenden. 
Und  übrigens  ist  auch  bei  den  Amphibien 
der  ganze  Vorgang  nicht  so  einfach,  wie  ihn 
Bar  fürt  h  schildert.  Dieser  Umstand  führte  mich 
dazu,  den  Grund  aller  dieser  Erscheinungen  tiefer 
zu  suchen. 

Man  muß  erwägen,  daß  hier  nicht  nur  eine 
Beschleunigung  der  Entwicklung  äußerer  mor- 
phologisch erMerk  male,  sondern  auch  Ent- 
wicklung des  ganzen  Tieres,  welche  sich 
nicht  in  letzter  Reihe  durch  Erreichung  der  Ge- 
schlechtsreife auszeichnet,  stattfindet.  Besonders 
klar  kommt  dieser  Umstand  bei  den  Insekten  zu- 
tage, wo  die  Imagen  aus  den  beschleunigt  sich 
entwickelten  Puffen  immer  geschlechtsreif  liervor- 
kommen;  z.B.  Keller  gibt  ausdrücklich  von  den 
durch  die  Hungerkur  zur  Verwandlung  gezwunge- 
nen Rebläusen  an,  daß  sie  in  den  Zuchtgefäßen 
bereits  Eier  abgelegt  haben,  welche  sich  als  voll- 
kommen entwicklungsfähig  erwiesen  haben. 

Wenn  wir  nun  die  Beschleunigung  der  Meta- 
morphose durch  das  Hungern  von  diesem  Stand- 
punkte aus  betrachten,  so  finden  wir  zu  dieser 
Erscheinung  Parallelen  und  Analogien  nicht  nur 
unter  den  anderen  mehrzelligen  Tieren,  sondern 
auch  bei  den  Protozoen,  Bakterien,  Pilzen  und 
endlich  auch  bei  den  höheren  Pflanzen. 

Als  Beispiel  können  Schultz's^)  Unter- 
suchungen an  den  Hydren  angeführt  werden; 
dieser  Forscher  hat  nachgewiesen,  daß  bei  diesen 
Polypen  während  des  Hungerns  die  Geschlechts- 
zellen nicht  nur  unberührt  bleiben,  sondern  sich 
sogar  mächtig  entwickeln,  so  daß  sich  die  hungern- 
den Tiere  viel  früher  geschlechtlich  vermehren, 
zu  einer  Zeit,  wo  in  der  freien  Natur  die  Indivi- 
duen sich  noch  durch  Knospung  fortpflanzten. 
„Hunger  und  Reduktion",  schreibt  Schultz 
wörtlich  -) ,  „scheinen  also  nicht  nur  eine  Reifung 
zu    ermöglichen,    sondern    sie    sogar    anzuregen". 

Zu  dieser  Erscheinung  besitzen  wir  Analogien 
auch  bei  den  höheren  Tieren ;  es  ist  allgemein 
bekannt,  daß  bei  Lachs  die  Reifung  der  Geschlechts- 
zellen Hand  in  Hand  mit  monatelangem  Hungern 
vor  sich  geht.  Und  auch  bei  den  meisten  anderen 
Vertebraten  fällt  die  Brunstzeit  in  das  F"rühjahr 
resp.  in  die  Regenzeit,  als  einem  Zeitpunkt,  in 
welchem  die  Tiere  nach  Ablauf  des  Winters-  oder 
Trockenschlafes  mehr  oder  weniger  ausgehungert 
sind.  In  allen  solchen  Fällen  handelt  es 
sich  um  Forderung  oder  frühzeitige 
Hervorrufung  der  Entwicklung  von 
Geschlechtszellen    durch   das    Hungern. 

Etwas  Ähnliches  kann  man  auch  beim  Menschen 
beobachten.    Es  ist  eine  allgemeine  bekannte  Tat- 


')  Schultz,  Eug. :  Über  umkehrbare  Entwicklungspro- 
zesse und  ihre  Bedeutung  für  eine  Theorie  der  Vererbung.  — 
Vortr.'  u.  Aufs,  über  Entw.-Mech.  d.  Org.  Heft  IV.  Leipzig, 
Engelmann,    1908. 

«)  1.  c.  S.  21—22. 


N.  F.  XIII.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


551 


Sache,  daß  sich  durchschnittlich  die  Stadtkinder 
viel  flüher  entwickeln  als  die  Landkinder.  Nicht 
in  letzter  Hinsicht  zeigt  sich  dies  durch  die  Ge- 
schlechtsreife und  am  klarsten  ist  es  an  der  Ge- 
schlechtsreife evtl.  der  Zeit  des  Menstruations- 
beginnes der  Mädchen  zu  sehen.  Nach  Schaeffer's 
Statistischen  Untersuchungen  erscheint  bei  den 
Städterinnen  die  erste  Menstruation  früher  als  bei 
den  Länderinnen. ') 

Erwägen  wir,  daß  zur  normalen  Ernährung 
nicht  nur  genügende  Nahrung  nötig  ist,  sondern 
auch  ihre  gute  Ausnützung,  die  nur  bei  richtigem 
Stoffwechsel  und  Bewegung  möglich  ist,  so  muß 
man  gestehen,  daß  die  Stadtkinder  viel  schlechter 
ernährt  werden,  als  die  Landkinder,  besonders  aus 
den  ärmeren  Kreisen.  Denn  selbst  wenn  wir 
annehmen,  daß  beide  eine  gleichartige  Nahrung 
bekommen  (was  aber,  besonders  hinsichtlich  ihres 
Nährwertes,  sehr  fraglich  ist),  doch  gibt  es  einen 
großen  Unterschied  in  den  äußeren  Bedingungen 
ihres  Lebens:  das  Landkind  befindet  sich  fast  fort- 
während in  Bewegung  und  an  freier  Luft,  wogegen 
das  Stadikind  gezwungen  ist,  sein  Leben  in  ge- 
schlossenen Stuben  ohne  Bewegung  zu  verbringen, 
und  manchmal  auch  bei  der  Arbeit,  was  alles  die 
normale  Ausnutzung  der  angenommenen  Nahrung 
nicht  befördert.  Und  der  Mensch  lebt  doch  nicht 
davon,  was  er  ißt,  sondern  davon,  was  er  von  den 
Nahrungsstoffen  in  richtiger  Weise  ausnützt. 

Mit  Rücksicht  auf  das  Angeführte  kann  man 
sagen,  daß  das  Stadtkind  schlechter  ernährt  wird, 
als  das  Landkind.  Und  in  dieser  schlechten  Er- 
nährung bin  ich  sehr  geneigt,  eine  von  den  Ur- 
sachen der  frühzeitigen  Entwicklung  der  Stadt- 
kinder entgegen  den  Landkindern  zu  sehen.  Ich 
sage  ausdrücklich  „eine  von  den",  da  ich  mir 
gut  bewußt  bin,  daß  dabei  viele  andere  Einflüsse 
mitwirken  und  daß  dabei  die  Geschlechtsreifung 
beim  Menschen  ein  viel  komplizierterer  Vorgang  ist. 
Bezüglich  des  Menstruationsbeginnes  weise  ich 
nur  auf  Engelmann's'')  Untersuchungen,  nach 
welchen  auch  die  frühzeitige  geistige  Arbeit  der 
Studentin  den  Eintritt  der  Menstruation  beschleu- 
nigt. Doch  glaube  ich,  daß  dabei  aber  auch  der 
Ernährung  eine  wichtige  Rolle  zukommt. 

Eine  Beschleunigung  resp.  Produktion  von  Ver- 
mehrungselementen als  Folge  des  Hungerns  kann 
man  auch  bei  den  Bakterien  beobachten.  Bei  diesen 
wurde  von  R  f i  z  i  c  k  a  zwar  fehllos  festgestellt  ■'), 
daß  die  Bildung  von  Sporen  auf  Grund  autogamer 
Vorgänge  eine  Reaktion  auf  ungünstigere  Er- 
nährungsbedingungen ist  und  durch  Überpflanzung 
der  Bakterien  auf  wenig  ernährendes  Substrat  sich 
künstlich  hervorrufen  läßt.  Ähnlich  findet  auch 
bei  den   Protozoen   die  Sporenbildung    unter  den 

')  Vgl.  darüber:  Schaeffer,  R. :  Die  Menstruation.  In 
Veit 's  Handbuch  der  Gynäkologie.  Zweite  Auflage.  Bd.  III. 
I.  Hälfte.     Wiesbaden,  Bergmann,   1908.     S.  68 — 69. 

2)  Zitiert  von  Schaeffer:  1.  c.  S.  69. 

')  Ruzicka,  Vlad.:  Experimentelle  Autogamie  bei  den 
Bakterien.  —  Arch.  f.  Entwickl.-Mech.  Festschrift  für  Roux. 
1910. 


dem  vegetativen  Wachstum  ungünstigen  Ernäh- 
rungsbedingungen statt. 

Sehr  interessante  Versuche  hat  in  dieser  Rich- 
tung Klebs  bei  den  Pilzen  und  auch  höheren 
Pflanzen  ausgeführt.  Postens  stellte  er  für  ver- 
schiedene, auf  flüssigem  Substrate  wachsende  Pilze 
fest,  daß  bei  ihnen  die  Abnahme  der  organischen 
Nahrung  die  Bildung  der  Sporen  zur  Folge  hat. 
Später  untersuchte  Klebs,  ob  sich  ähnliche  Er- 
scheinungen auch  bei  den  höheren  [pflanzen  be- 
weisen lassen.  Seine  Versuche  blieben  nicht  er- 
folglos. Es  gelang  ihm  zu  finden,  daß  auch  bei 
diesen  die  Art  und  Weise  der  Fortpflanzung  durch 
die  Ernährung  reguliert  werden  kann  und  daß 
eine  schlechte  Ernährung  eine  verfrühte  Geschlechts- 
vermehrung zur  Folge  hat. ') 

Aus  den  angeführten  Tatsachen  geht  hervor, 
daß  die  Bildung  der  Geschlechtszellen  dann  statt- 
findet, wenn  die  äußeren  Bedingimgen  dem  Wachs- 
tum oder,  weiter  gefaßt,  dem  normalen  Stoff- 
wechsel, welcher  durch  gute  Ernährung  bedingt 
ist,  ungünstig  sind.  Weil  nun  mittels  des  regel- 
mäßigen Stoffwechsels  das  Leben  des  Indivi- 
duums bedingt  ist,  kann  man  sagen,  daß  die  be- 
schleunigte oder  erhöhte  Produktion 
von  Geschlechtszellen  unter  solchen 
Bedingungen  hervorgerufen  wird, 
welche  das  Leben  des  Individuums  be- 
drohen. 

Vv'elche  Bedeutung  hat  nun  diese  Erscheinung, 
welche  ist  ihre  letzte  Ursache  ? 

In  jedem  Lebewesen  gibt  es  zwei  Grund- 
instinkte: erstens  sich  selbst  zu  erhalten, 
zweitens  die  Art  zu  erhalten.  Zur  Selbsterhaltung 
dient  dem  Organismus  die  Ernährung  und  der 
daran  anschließende  Stoffwechsel;  zur  Erhaltung 
der  Art  die  Produktion  von  Geschlechtszellen, 
seien  dies  Sporen  oder  Spermatozoiden  und  Eier. 
Die  Selbsterhaltung  dient  dem  Organismus  zur 
Erfüllung  seiner  persönlichen  Aufgabe.  Der  Be- 
griff „persönliche  Aufgabe  des  Organismus"  ist 
in  keinem  metaphysisch-teleologischen  Sinne  an- 
zunehmen; ich  meine  damit  etwas  Ähnliches  wie 
die  Wirkung,  welche  der  Organismus  auf  die  um- 
gebende Außenwelt  ausübt,  seine  Funktion  als 
eines  Differentiales  im  Wesen  des  Ganzen.  Ob 
solche  Funktion  des  Organismus  einer  rein  mecha- 
nischen oder  vitalisch-zweckmäßigen  Natur  ist,  ist 
eine  andere  Frage. 

Außer  der  Erfüllung  seiner  persönlichen  Auf- 
gabe hat  jeder  Organismus  noch  die  Aufgabe, 
Nachkommen  zu  produzieren.  Die  Erfüllung  der 
persönlichen  Aufgabe  hat  für  den  Organismus  nur 
individuelle  Bedeutung,  die  Produzierung  der  Nach- 
kommenschaft aber  Bedeutung  für  die  ganze  Art. 

Wird  durch  ungünstige  Bedingungen,  wie  z.  B. 
Hungern,  das  Leben  des  Individuums  bedroht, 
so  tritt  die    zweite  Aufgabe    in  den  Vordergrund, 


M    Über     Klebs'     Versuche    vergleiche:      Klebs,    G.: 
Willkürliche  Entwicklungsänderungen  bei  PHanzen.     Jena   1903. 


552 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIÜ.  Nr.  35 


durch  Entwicklung  und  Reife  der  Geschlechts- 
produkte, um  die  Existenz  der  Art  zu  sichern. 
Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  erweist  sich  die 
Beschleunigung  der  Metamorphose  und  damit  auch 
der  Geschlechtsreife  durch  das  Hungern   als  eine 


zweckmäßige  Reaktion  des  Organismus  im  Inter- 
esse der  Erhaltung  der  Art.  ^) 


*)  Vgl.  d.-irüber  auch    meine  oben  zitierte  Abhandlung 
Biolog.  Zentralblatt,  Nr.   I,   1914. 


Einzelberichte. 


Botanik.  Zellumlagerung  unter  polarem  Rich- 
tungsreiz. Jo st  hatte  beobachtet,  daß  bei  Bäumen 
nach  dem  Abschneiden  des  Haupttriebes  oberhalb 
eines  Seitenzweiges  die  Holzelemente  an  der 
Verzweigungsstelle  sich  derart  umlagern  können, 
daß  die  Fasern  nunmehr  in  der  Richtung  des 
Seitentriebes  verlaufen.  Diese  und  verwandte 
Plrscheinungen  hat  Fritz  Nee  ff  im  Botanischen 
Garten  und  Institut  zu  Straßburg  näher  unter- 
sucht. Zur  Zeit  des  Dickenwachstums  oder  kurz 
vor  dessen  Eintritt  wurden  die  Haupttriebe  von 
Linden,  Roßkastanien,  Ahornen,  Weiden,  Fichten 
und  Pappeln  (auch  von  Ricinus  und  Phytolacca) 
entweder  unmittelbar  über  der  Verzweigungsstelle 
oder  2 — 30  cm  über  ihr  dekapitiert.    Die  Schnitt- 


H  dekap. 


Fig.   I. 


Fig.  2. 


stellen  wurden  mit  Baumwachs  verklebt.  Nach 
kürzerer  oder  längerer  Zeit  (eine  Woche  bis 
mehrere  Monate)  kamen  die  Objekte  zur  mikro- 
skopischen Untersuchung.  Immer  zeigte  sich  eine 
Veränderung  des  Faserverlaufs  im  Kambium,  die 
zu  Zuständen  führen  kann,  wie  sie  durch  die 
schematischen  Figuren  i  (normal)  und  2  (nach 
Dekapitation  des  Haupttriebes)  veranschaulicht 
wird.  Bei  a  in  Fig.  2  haben  sich  die  Elemente 
des  Haupttriebes  H  in  die  Richtung  des  Seiten- 
triebes S  um  45",  bei  b  um  90",  bei  c  um  180" 
umgelagert.  Nahe  dem  Seitentrieb  beginnt  die 
Umlagerung  zuerst;  von  da  schreitet  sie  immer 
weiter  nach  den  Seiten  hin  fort.  Sie  erfolgt  be- 
sonders rasch  bei  Pflanzen  mit  starkem  Dicken- 
wachstum (in  einem  Sommer  völlige  Umlagerung 
bei  Linden,  Roßkastanien  usw.);  sie  geht  um  so 
schneller  vor  sich,  je  stärker  der  Seitentrieb  im 
Verhältnis  zum  Haupttrieb  entwickelt  ist,  und  je 


kleiner  die  Entfernung  der  Verzweigungsstelle 
von  der  Dekapitationsstelle  ist. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  tangentialer 
Serienschnitte  ließ  erkennen,  daß  in  den  Kam- 
biumzellen unterhalb  der  Dekapitationsstelle,  so- 
weit sie  in  der  Richtung  des  Haupttriebes  orien- 
tiert sind,  reichlich  Ouerteilungen  auftreten, 
die  teils  die  unmittelbare  Folge  der  Dekapitation 
sind,  teils  durch  einen  vom  Seitentrieb  ausgehen- 
den Reiz  hervorgerufen  werden  müssen.  Die 
ziemlich  isodiametrischen  Teilzellen  runden  sich 
ab,  verschieben  sich  gegeneinander,  nehmen  eine 
ovale  Form  an,  spitzen  sich  an  beiden  Enden  zu 
und  gelangen  durch  Spitzenwachstum  und  Flächen- 
wachstum in  die  neue  Richtung,  wobei  sie  sich 
zwischen  die  Nachbarzellen  eindrängen  und  sie 
voneinander  trennen.  Die  Zellen  gleiten  dabei 
an  den  Wänden  der  Zellen  entlang  (gleitendes 
Wachstum).  Die  einzelnen  Kambiumzellen  offen- 
baren eine  polare  Struktur,  indem  sie  stets  mit 
dem  ursprünglich  nach  oben  gekehrten  Ende  dem 
Seitentrieb  zustreben.  Viele  Kambiumzellen,  ins- 
besondere solche  von  kurzer  Form,  werden  von 
den  anderen  aus  der  Kambiumzone  ganz  verdrängt, 
andere  wandeln  sich  in  sekundäre  Markstrahlen 
um.  Die  schon  vorhandenen  Markstrahlen  werden 
von  dem  Reiz,  den  der  Seitentrieb  ausübt,  nicht 
beeinflußt;  sie  scheinen  sogar  die  hinter  ihnen 
liegenden  Kambiumzellen  eine  Weile  vor  diesem 
Reize  zu  schützen.  Später  aber  werden  sie  von 
ihnen  an  vielen  Stejlen  durchbrochen  und  zerteilt. 
Vielfach  lagern  sich  die  aus  Kambiumteilzellen 
neu  hervorgehenden  Markstrahlen  an  Zellgruppen 
der  zerteilten  Markstrahlen  an;  hierdurch  und 
durch  die  Wirkung  der  sich  streckenden  Kambium- 
fasern erhalten  dann  auch  die  Markstrahlen  die 
neue  Orientierung  in  der  Richtung  des  Seiten- 
triebes. 

Im  Holzteile  der  Verweigungsstelle  läßt 
sich  ein  plötzlicher  Übergang  von  normalem  Holz 
mit  langgestreckten  Elementen  zu  lauter  kleinen, 
parenchymatischen  Zellen  feststellen,  die  ijnmittel- 
bar  nach  der  Dekapitation  aus  dem  zuletzt  vom 
Kambium  gebildeten  Jungholz  durch  fortgesetzte 
Ouerteilung  entstanden  sind.  Die  nächst  jüngeren 
Bildungen  zeigen  bereits  gestrecktere,  mehrzellige 
Elemente,  die  mit  ihren  neugebildeten  Spitzen 
schon  in  der  Richtung  des  Seitentriebes  orientiert 
sind.  Weiterhin  nimmt  die  Länge  der  Holzelemente 
zu,  und  nach  völliger  Umlagerung  des  Kambiums 
erhalten  sie  wieder  die  normale  Gestalt,  nur  daß 
sie  gegen  den  Seitentrieb  orientiert  sind.     Bemer- 


N.  F.  Xin.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


553 


kenswert  ist,  daß  schon  auf  früheren  Stadien  aus 
Kambiumteilzellen,  die  noch  ihre  ursprüng- 
liche Lage  bewahrt  haben ,  durch  Resorption 
der  Längs  wände  (statt  der  Querwände  bei  nor- 
maler Entstehung)  Gefäßstränge  hervorgehen, 
die  das  andere,  noch  nicht  umgelagerte  Gewebe 
quer  in  der  Richtung  nach  dem  Seitentriebe 
durchsetzen;  das  Kambium  findet  also  sehr  zeitig 
die  Mittel,  in  der  Richtung  des  neuen  Reizes 
Gefäßbahnen  auszubauen.  Später  verschwinden 
diese  queren  Gefäßverbindungen ,  während  aus 
den  umgelagerten  Kambiumzellen  Gefäßelemente 
hervorgehen,  die  von  vornherein  in  der  neuen 
Richtung  der  Wasserleitung  orientiert  sind.  „Die 
Pflanze  ist  also  bestrebt,  die  Polaritätsachse  ihrer 
Elemente  gleichsinnig  mit  der  Stoffbewegung  zu 
regulieren."  Eine  den  queren  Gefäßen  analoge 
Erscheinung  wurde  im  Bast  teil  festgestellt,  wo 
sich  quere  Siebröhren  bilden,  in  denen  die 
Stoffwanderung  senkrecht  zur  ursprünglichen  Pola- 
ritätsrichtung der  Zellen  erfolgt;  Zellen  durch- 
brochener Markstrahlen  bilden  sich  dabei  zu  Sieb- 
röhrengliedern und  Geleitzellen  um. 

Bei  der  Umlagerung  der  Zellen  müssen  fort- 
gesetzt Plasmaverbindungen  zwischen  Nach- 
barzellen unterbrochen  werden.  Im  Kambium 
konnten  solche  Unterbrechungen  nicht  beobachtet 
werden;  wohl  aber  hat  Verfasser  in  den  jüngsten 
Kambiumtochterzellen  im  Holzteil,  deren  Wände 
schon  verdickt  sind  und  Tüpfel  führen,  die 
Spaltung  der  Schließhaut  eines  Tüpfels  (die  ja 
gewöhnlich  von  Plasmaverbindungen  durchsetzt 
wird)  durch  eine  vordringende  Zellspitze  beschrieben 
und  abgebildet.  Ähnliche  Tüpfelspaltungen  wurden 
auch  bei  den  Bastfasern  beobachtet. 

Im  Bastteile  bildet  sich  wie  im  Holzteile  in- 
folge der  Dekapitation  zuerst  viel  Parenchym.  An 
den  Bastparenchymzellen  wie  auch  an  den  Holz- 
parenchymzellen  wurden  Wandfaltungen  beob- 
achtet, die  anscheinend  auf  lokalisiertem  Flächen- 
wachstum der  zwischen  zwei  Tüpfeln  gelegenen 
Wandstellen  beruhen;  die  Tüpfel  selbst  sichern 
den  Zusammenhang  der  einander  benachbarten 
Zellwände.  Ob  wir  es  hier  mit  Wachstumsvor- 
gängen zu  tun  haben,  die  nach  Beendigung  des 
Wachstums  der  Kambiumzellen  noch  von  deren 
Tochterzellen  im  Holz  und  in  der  Rinde  weiter- 
geführt werden,  entscheidet  Verf.  nicht.  Er  nimmt 
aber  an,  daß  auch  an  den  Kambiumzellen  die 
Wände  sich  durch  lokales  Wachstum  und  Ein- 
buchtung voneinander  trennen  und  nach  gegen- 
seitiger lokaler  Verschiebung  wieder  aneinander- 
legen  können.  „Auf  solche  Weise  könnte  ein 
Gleiten  ganzer  Zellen  aneinander  vorbei 
stattfinden  durch  eine  Wachstumsbewegung,  die 
sich  beinahe  mit  einer  Kriechbewegung  einer 
Raupe  vergleichen  ließe." 

Wenn  unter  natürlichen  Verhältnissen  der 
Haupttrieb  sein  Wachstum  einstellt,  dann  treten 
ähnliche  Zellumlagerungen  am  Astansatz  ein,  so 
bei  Trauerbäumen,  wie  Salix  babylonica  und 
Sophora  japonica  var.  pendula,  sowie  bei  sympo- 


dialer  Ausbildung  der  Verzweigungssysteme  (Ho- 
lunder, Zitterpappel,  Ulme). 

Auch  bei  Verwundungen  können  Zell- 
umlagerungen erfolgen,  die  denen  in  dekapitierten 
Haupttrieben  entsprechen.  Bei  querer  Unter- 
brechung des  Kambiums  treten  oberhalb  und  unter- 
halb der  Wunde  reichlich  Querteilungen  ein.  .'\n 
Querwunden,  die  durch  eingeschobene  Zinkblech- 
streifen am  Verwachsen  gehindert  waren,  ließ  sich 
beobachten,  daß  Kambiumteilzellen  sich  durch 
Spitzenwachstum  verlängerten  und  den  Rändern 
der  queren  Einchnitte  zuwandten.  „So  be- 
kommen die  Kambiumzellen  Anschluß  an  die  zu 
beiden  Seiten  der  Wunde  verlaufenden  Fasern. 
Diese  Umlagerungen  gehen  ganz  analog  denen  an 
Verzweigungsstellen  nach  Dekapitation  des  Haupt- 
triebs vor  sich,  und  sie  haben  offenbar  ähnliche 
Ursachen  wie  dort.  Dem  Richtungsreiz  des  Seiten- 
triebs entspricht  in  diesem  P~all  der  Richtungsreiz 
des  Sprosses,  dem  die  Zellen  selber  angehören; 
dieser  kann  aber  nur  von  der  Seite  her  wirksam 
sein,  da  die  direkte  Verbindung  nach  oben  bzw. 
unten  infolge  des  queren  Einschnitts  unterbrochen 
ist."  Auch  der  Reiz  eines  Kallus,  der  an  einer 
Stelle  der  Schnittwunde  bei  dekapitierten  Trieben 
entsteht,  kann  zur  Umlagerung  der  Zellen  führen. 
An  schiefen  oder  an  schraubigen  Wunden  lagern 
sich  die  Kambiumzellen  derart  um,  daß  sie  nach- 
her in  schiefer  oder  schraubiger  Richtung  verlaufen. 

Wenn  der  polare  Richtungsreiz  des  Sprosses 
ausgeschaltet  ist,  so  fehlt  auch  die  einheitliche 
Umlagerung  der  Zellen  in  bestimmter  Richtung. 
Als  Beispiel  hierfür  wird  vom  Verfasser  das  Ver- 
halten der  Zellen  in  einem  Tannenstumpf  be- 
schrieben, der  sein  Dickenwachstum  noch  31  Jahre 
nach  Fällung  des  (127  Jahre  alten)  Stammes  fort- 
gesetzt und  dabei  nicht  nur  eine  1V2  cm  breite 
Holzschicht  angesetzt,  sondern  auch  die  Wunde 
mit  einem  kappenförmigen  Kallus  bedeckt  hatte. 
In  der  Zuwachszone  sowohl  wie  in  der  Über- 
wallungszone war  der  Verlauf  der  Fasern  völlig 
gestört  worden  (Wirbelbildung). 

In  abgeschnittenen,  mit  der  Spitze  in  Erde  ge- 
pflanzten Trieben  (Weiden)  erfährt  der  ursprüng- 
liche polare  Richtungsreiz  eine  Umkehrung,  da 
am  früheren  apikalen  Ende  Wurzeln,  am  basalen 
Seitentriebe  entstehen.  An  den  Verzweigungs- 
stellen bilden  sich  Geschwülste,  in  denen  sich  die 
Zellen  im  Sinne  des  neuen  polaren  Richtungsreizes 
umlagern. 

Im  ganzen  haben  die  Untersuchungen  gezeigt, 
daß  die  Zellen  bei  ihren  Wachstumsbewegungen 
eine  gewisse  Unabhängigkeit  von  ihren  Nachbar- 
zellen aufweisen,  daß  aber  diese  relative  Selb- 
ständigkeit der  Elementarorgane  durch  die  Pola- 
rität eingeschränkt  wird,  die  die  Bewegungen 
einheitlich  in  bestimmte  Richtungen  lenkt.  Der 
nach  Dekapitation  oder  Verwundung  eintretende 
Zerfall  der  langgestreckten  Kambiumzellen  in  kurze 
Elemente  (Kambiumteilzellen)  hat  den  Erfolg,  daß 
Zellen  entstehen,  die  leichter  eine  Ortsänderung 
erfahren    und    leichter    polar    beeinflußt    werden 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr.  35 


können.  Vermöge  ihrer  polaren  Struktur  vermag 
sich  die  Einzelzelle  gegenüber  dem  polaren  Rich- 
tungsreiz, der  von  den  Vegetationspunkten  aus- 
geht, zu  orientieren.  Dadurch  ist  es  möglich,  daß 
eine  Gesamtheit  von  Zellen  einer  gemeinsamen 
polaren  Richtung  folgt.  (Zuschritt  für  Botanik, 
1914,  Jahrg.  (5,  H.  6.)  F.  Moewes. 

Physiologie.  Bei  der  Bleivergiftung  lagert 
sich  bekanntlich  das  giftige  Metall  in  der  Leber 
ab.  A.  Roncato  et  P.  D.  Siccardi  (Archivio 
di  fisiologia  19 13)  haben  mehrere  Versuche  mit 
Hunden  angestellt,  welche  mit  essigsaurem  Blei 
behandelt  wurden,  das  ihnen  injiziert  wurde.  Bei 
der  mikroskopischen  Untersuchung  des  Leber- 
gewebes fanden  sich  schwarze  Körnchen,  welche 
zum  größten  Teil  aus  metallischem  Blei  bestanden, 
in  den  Ku  pffer 'sehen  Vakuolen.  Die  Leber- 
zellen sind  demnach  imstande,  Blei  zu  reduzieren 
und  das  Metall  zurückzuhalten.  Die  Resultate 
dieser  Untersuchungen  würden  gewisse  bisher 
dunkle  Erscheinungen  der  Bleivergiftung  erklären. 
Die  Vergiftung  verläuft  immer  mit  einer  gewissen 
Langsamkeit;  damit  sie  eintreten  kann,  muß  die 
aufgenommene  Giftmenge  im  richtigen  Verhältnis 
zum  Organismus  stehen.  Diese  Bedingung  ist 
erfüllt,  wenn  das  Blei  in  genügender  Menge  in 
metallischer  Form  frei  geworden  und  in  den 
Ku  pffe  r 'sehen  Vakuolen  abgelagert  worden  ist. 
Andererseits  beobachtet  man  gewöhnlich,  daß  der 
Patient  erst  Krankheitserscheinungen  zeigt,  längere 
Zeit  nachdem  er  die  Leberzelle  unter  gewissen 
Bedingungen,  die  Fähigkeit  verlieren,  das  reduzierte 
Blei  zurückzuhalten  und  sie  dann  wieder  gewinnen. 

Kathariner. 

Geographie.  Unter  dem  Titel  „Der  Mensch 
im  Wald  und  Grasland  von  Kamerun"  gibt 
Leo  Waibcl  in  der  G.  Z.  1914,  H.  3 — 5  eine 
ausführliche  Darstellung  der  vorläufigen  Ergebnisse 
der  Forschungsreise  der  deutschen  Kolonialgesell- 
schaft nach  Kamerun  1911/12  unter  Leitung  von 
Prof  F.  Thorbecke  (Mannheim).  Da  die  ausführ- 
liche Publikation  in  kurzem  erscheinen  wird,  können 
nur  einige  wenige  Gesichtspunkte  des  allseitig  be- 
leuchteten Themas  im  Rahmen  eines  Referates  der 
interessanten  Arbeit  wiedergegeben  werden. 

Dem  ,,WaId",  dem  immergrünen,  feuchten  Tropen- 
wald  steht  das  „Grasland"  gegenüber,  und  zwar  die 
Grassavanne,  unter  deren  Grasbestände  sich  zahl- 
reiche Bäume  mischen,  im  Gegensatz  zur  Dorn- 
busch- und  niederen  Grassteppe,  die  ganz  außer 
Betracht  bleibt.  So  ist  das  Grasland  ein  Über- 
gangsland ;  aber  die  Grenze  gegen  den  Wald  ist 
schroff.  —  Wie  haben  nun  der  Wald  und  das 
Grasland  physiologisch  den  Menschen  und  seine 
Kultur  beeinflußt? 

Der  „Urwald"  mit  seiner  immerwährenden 
Feuchtigkeit  und  Wärme  ist  die  Ursache  eines 
reichen  Pflanzenlebens,  das  beständig  zur  Sonne 
drängt.  Auch  die  Tierwelt  hat  diesen  Drang; 
reicher  als  das  Leben  am  Boden  ist  das  Tierleben 
der  Bäume;  so  sind  Raubtiere  selten,  Klettertiere, 


Vögel,  Insekten  sind  die  Bewohner  des  Waldes. 
Der  andere  Vegetationscharakler  des  Graslandes 
ist  bedingt  durcli  andere  klimatische  Verhältnisse, 
durch  das  Auftreten  der  Trockenzeit.  Deshalb  sind 
die  Bäume  niedrig  und  verkrüppelt,  meist  werfen 
sie  ihr  Laub  in  der  Trockenzeit  ab,  andere  Pflanzen 
überdauern  in  Zwiebeln  und  Knollen  diese  Periode. 
Lauftiere  und  Grasfresser  sowie  Höhlentiere  haben 
sich  diesen  veränderten  Lebensbedingungen  an- 
gepaßt. 

Auch  im  Körperbau  und  in  der  Lebens- 
weise des  Menschen  macht  sich  der  Unter- 
schied geltend.  Die  geringe  Größe  und  „Duck- 
nackigkeil" der  Bagielli  oder  Bequelle  ist 
für  das  Waldland  so  bezeichnend.  Im  Klettern 
auf  den  Bäumen  haben  sie  es  zu  einer  unglaub- 
lichen Fertigkeit  gebracht.  Der  Wald  selbst  gibt 
keine  Nahrungsmittel  her;  ist  er  aber  einmal  ge- 
rodet, dann  gedeihen  die  herrlichsten  Produkte 
zu  jeder  Jahreszeit;  Planten  (Mehlbananen)  sind 
ein  Hauptnahrungsmittel  der  Waldbewohner,  da- 
neben das  Ol  und  die  Früchte  der  Ölpalme, 
Knollen  und  Wurzeln  mannigfacher  Gewächse. 
Ackerbau  ist  also  die  Hauptbeschäftigung,  die 
Jagd  tritt  wegen  des  Mangels  an  jagdbarem  Wild 
sehr  zurück.  (Die  Pygmäen  Südkameruns  dagegen 
sind  ein  auf  niedriger  Kulturstufe  stehendes  Jäger- 
und  Waldvolk  ohne  feste  Wohnsitze.) 

Die  Graslandbewohner,  die  Bali,  sind  ganz 
anders  kör[)erlich  entwickelt  und  geistig  geweckt. 
Es  sind  große  schlanke  Gestalten  mit  aufrechter 
Haltung;  die  Länge  der  Beine  ist  vor  allem  auf- 
fallend. Die  Lebensweise  dieser  Menschen  zeigt 
eine  •  ausgesprochene  Periodizität.  Die  Früchte 
des  Graslandes  sind  besonders  Körnerfrüchte,  die 
in  großen  Mengen  gesammelt  werden  und  auf- 
bewahrt werden  können.  Neben  dem  Ackerbau 
spielen  Jagd  und  Viehzucht  doch  eine  viel 
größere  Rolle  im  Graslande  als  im  Walde.  Der  Büffel, 
das  Charaktertier  des  Graslandes,  wird  nicht  selten 
von  einem  einzelnen  Manne  mit  der  Lanze  erlegt. 

Während  die  innere  Urwaldregion  zur  Zeit  des 
ersten  europäischen  Eindringens  fast  gänzlich  un- 
bewohnt war,  machte  sich  in  der  Parklandschaft 
eine  allmählichere  Zunahme  der  Bevölkerungs- 
dichte geltend;  im  Gebiet  der  Stadtstaaten  gab 
es  Siedelungen,  die  8— lOOOO  Einwohner  hatten. 
Auch  noch  in  neuerer  Zeit  ist  das  Grasland  viel 
dichter  bevölkert  als  der  Wald.  Dieser  selbst 
ist  von  der  Küste  aus  verhältnismäßig  stark  be- 
siedelt worden.  Während  im  Graslande  große 
geschlossene  Ortschaften,  ja  ganze  Städte  liegen, 
treffen  wir  im  Walde  nur  kleine  zerstreut  liegende 
Dörfer.  Die  schwierige  Urbarmachung  und  die 
häufige  Verlegung  hindert  ihr  Wachstum  im  Walde. 
Auch  die  Form  der  Siedelungen  wird  da- 
durch beeinflußt.  Lang  hingestreckte  Reihendörfer, 
längs  der  Wege  die  Felder,  das  ist  der  Siedelung- 
typ  im  Walde;  im  Grasland  herrscht  „offene  Bau- 
weise", die  Dörfer  sind  weilläufig  angelegt  und 
oft  sehr  groß,  indem  ganze  Stämme  sich  zu  einer 
Stadt  vereinigen. 


N.  F.  XIII.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


555 


Natürlich  hat  die  Siedelungsweise  (und  die  Art 
des  Baumaterials)  auf  den  Hausbau  Einfluß  ge- 
habt. Die  Langhäuser  des  Waldes  sind  aus  Baum- 
rinde, geflochtenen  Matten  von  Palmblättern  und 
aus  Lianen  hergestellt;  das  wasserdichte  Blätter- 
dach hindert  auch  den  stärksten  Regen  am^  Ein- 
dringen. Viel  sorgfältiger  ist  das  runde  Kegel- 
dachhaus des  Grasländers  hergestellt;  es  ist  eben- 
falls ein  Holzgerüst  mit  Lehmbewurf,  ein  hohes 
Grasdach  ermöglicht  in  der  Regenzeit  rasches 
Abfließen  des  Wassers.  Auch  gegen  die  in  der 
Steppe  häufigen  Tornados  bieten  die  Rundhäuser 
eine  geringere  Angriffsfläche  als  Langhäuser. 

Natürlich  spiegelt  sich  in  den  staatlichen 
und  sozialen  Verhältnissen,  im  geisti- 
gen und  materiellen  Kulturbesitz  eben- 
falls der  Gegensatz  von  Wald  und  Grasland. 
Während  im  Walde  die  größte  Zersplitterung 
herrscht,  haben  wir  es  im  Graslande  mit  fest  ge- 
schlossenen Verbänden  oder  Stämmen  zu  tun, 
in  denen  eine  gewisse  soziale  Gliederung  aus- 
gebildet ist.  Handel  und  Verkehr  zeigen  im  Gras- 
land einen  freieren  und  größeren  Zug  als  in  dem 
schwer  zugänglichen  Walde,  in  dem  sich  die  zer- 
splitterten kleinen  Staatswesen  außerdem  feindlich 
gegenüberstehen.  Den  scheuen  Waldbewohnern 
gegenüber  bilden  die  freien  und  offenen  Gras- 
länder einen  angenehmen  Gegensatz.  Ihrer  Kultur- 
stufe entsprechen  P'ell  und  Leder  in  Kleidung, 
Schmuck  und  Waffen,  während  im  Wald  das 
Holzmaterial  (Faser,  Bast,  Rinde)  vorherrscht. 

Durch  die  europäische  Einwanderung 
ist  nun  in  vieler  Beziehung  ein  Wandel  eingetreten. 
Hand  in  Hand  mit  der  I'^rschließung  der  Kolonie 
durch  Eisenbahnen  und  Telegraphenlinien  ging 
die  wirtschaftliche  Ausnutzung.  Nun  ist  vor  allem 
der  Kautschuk  das  wichtigste  Produkt  des 
Waldes.  Damit  hat  der  Wald  den  Vorrang  über  das 
Grasland  errungen.  Auch  Elfenbein,  Bau-  und 
Nutzhölzer  entstammen  fast  ganz  dem  Walde.  So 
entfallen  von  der  Gesamtausfuhr  der  Kolonie  auf  den 
Wald  heut  99  "/„.  auf  das  Grasland  nur  i  %  1  Das 
Grasland  wird  sich  vor  allem  als  Ackerbau- 
land entwickeln.  Getreide,  Zuckerrohr  und  Baum- 
wolle finden  hier  ihre  Lebensbedingungen.  Auch 
europäische  Gemüse  werden  im  Grasland  gedeihen. 
So  wird  das  Grasland  in  wirtschaftlicher  Beziehung 
sich  entsprechend  seinen  natürlichen  Kräften  ent- 
wickeln und  den  Deutschen  Gelegenheit  zum 
)  dauernden  Wohnen  geben.  Durch  die  zwei  so 
I  verschiedenen  Naturgebiete  wird  sich  Kamerun 
als  unsere  schönste  und  beste  Kolonie  zeigen ! 

Dr.  Gottfried  Hornig. 
Zoologie.  Die  Geschlechtsbestimmung  bei 
Bonellia.  Bonellia  viridis,  eine  im  Mittelmeer  unter 
F"elsen  und  in  Höhlungen  in  Steinen  —  z.  B.  in 
Bohrlöchern  von  Bohrmuscheln  —  lebende 
Gephyree '),    besitzt   einen    ausgesprochenen    Ge- 

^)  Die  Gephyreen  oder  Brückentiere,  eine  Klasse  der 
Würmer,  hielt  man  früher  für  nahe  verwandt  mit  den  Echino- 
dermen.    Sie  sollten  im  besonderen  eine  Übergangsgruppe  von 


schlechtsdimorphismus.  Das  Weibchen  besteht 
aus  einem  ca.  6— 8  cm  langen  Sack  und  einem 
außerordentlich  dehnbaren  Kopflappen  oder  Rüssel, 
der  an  seinem  Ende  gegabelt  ist  und  in  aus- 
gestrecktem Zustande  eine  Länge  von  über  %  m 
erreichen  kann.  Das  Männchen  hingegen  ist  fast 
mikroskopisch  klein.  Es  erreicht  eine  Größe 
von  ungefähr  1  —  2  mm  und  gleicht  in  seinem 
Äußeren  einem  Turbellar.  Auch  in  seiner  ganzen 
Organisation  ibt  das  Männchen  im  Vergleich  zum 
Weibchen  äußerst  rudimentär.  Während  letzteres 
durch  Pigment  dunkelgrün  gefärbt  ist,  fehlt  dem 
Männchen  dieses  fast  vollkommen.  Es  fehlen  dem 
Männchen  ferner  die  Augen,  das  Blutgefäßsystem, 
sodann  die  im  weiblichen  Geschlechte  zu  beiden 
Seiten  des  Afters  vorhandenen  paarigen  Anal- 
blasen. Bauchmark,  Cöiom  und  Darmtraktus  sind 
stark  rückgebildet.  Dem  Darm  fehlen  ( )sophagus 
und  After.  Ein  typisch  männliches  Organ,  das 
dem  Ösophagus  homolog  zu  sein  scheint,  ist  der 
Samenschlauch.  Merkwürdig  ist  die  Lebensweise 
der  Männchen  von  Bonellia.  Zunächst  schmarotzen 
sie  auf  dem  Rüssel  der  Weibchen,  dann  wandern 
sie  —  es  sind  immer  beträchtlich  mehr  Männchen 
vorhanden  als  Weibchen  —  in  den  Uterus,  wo  sie 
die  Eier  befruchten. 

Bei  einer  Untersuchung  der  Frage,  in  welcher 
Weise  die  am  Rüssel  der  Weibchen  sich  ent- 
wickelnden männlichen  Larven  vom  Rüssel  ab- 
hängig sind,  wurde  Baltzer'-)  darauf  aufmerksam, 
daß  die  parasitische  Lebensweise  der  Larve  für 
die  Geschlechtsbestimmung  von  wesentlicher  Be- 
deutung ist.  Durch  eine  Reihe  von  Experimenten 
untersuchte  er  hierauf  diese  Verhältnisse  genauer 
und  konnte  einen  höchst  eigenartigen  Modus  der 
Geschlechtsbestimmung  ermitteln. 

Zunächst  einiges  über  die  Experimente 
Baltzer's,  durch  die  er  Aufschluß  zu  bekommen 
suchte  über  die  Beziehungen  zwischen  der  sich 
entwickelnden  Larve  und  dem  Rüssel  des  Weib- 
chens. Eine  Verbindung  der  Larve  mit  dem 
Rüssel  durch  besondere  (Organe  existiert  nicht. 
Auch  die  Epidermis  der  Larve,  mit  der  sie  sich 
an  den  Rüssel  anschmiegt,  bleibt  ebenso  wie 
dieser  unverändert.  Trotzdem  haftet  die  Larve 
so  fest  an  ihrer  Unterlage,  daß  nur  ein  starker 
anhaltender  Wasserstrahl  sie  von  ihr  zu  lösen  ver- 
mag. Daß  die  festsitzende  Larve  Stoffe  aus  dem 
Rüssel  aufzunehmen  vermag,  beweisen  Versuche 
mit  Vitalfärbungen.  Von  dem  Rüssel  eines  Weib- 
chens wurden  größere  Stücke  abgeschnitten  und 
mit  Methylenblau  oder  Bismarckbraun  intravital 
gefärbt.  Solche  Stücke  können  wochenlang  am 
Leben  erhalten  werden.  Nach  der  Färbung  wurden 
die  Stücke  in  fließendem  Seewasser  sorgfältig  von 
dem  anhaftenden  Farbstoffe  befreit  und  dann  in 
Schalen    gebracht.       Bei    mikroskopischer    Unter- 


den  Anneliden  zu  den  Holothurien  darstellen,    eine  irrige  An- 
sicht,  der  aber  die  Gruppe  ihren  Namen   verdankt. 

^)  Baltzer,  F.,  Die  Bestimmung  des  Geschlechts  nebst 
einer  Analyse  des  Geschlechtsdimorphismus  bei  Bonellia. 
Mitteil,  aus  d.  zool.  Stat.  z.  Neapel,  22.  Bd.,   1914. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  35 


suchung  zeigte  es  sich,  daß  der  Farbstoff  in  Form 
kleinerer  oder  größerer  Kugeln  in  den  Zellen  der 
Epidermis  und  der  darunter  liegenden  Gewebe 
angehäuft  war.  Zu  den  gefärbten  Rüsselstücken 
wurden  indifferente  Larven  gebracht.  Diese  setzten 
sich  an  den  Stücken  fest,  die  einen  gleich  am 
ersten  Tage,  andere  am  nächsten  Tage,  wieder 
andere  noch  später  oder  überhaupt  nicht.  Nach 
einigen  Tagen  wurden  die  festsitzenden  Tiere  so- 
wie auch  die  noch  frei  schwärmenden  untersucht. 
Erstere  hatten  mehr  oder  weniger  große  Mengen 
des  Farbstoffes  —  je  nach  der  Dauer  ihres  Fest- 
sltzens  —  aufgenommen,  die  noch  frei  schwärmen- 
den waren  vollkommen  farblos  geblieben.  Daß 
der  Farbstoff  tatsächlich  aus  den  Geweben  des 
Rüssels  übernommen  wird,  ist  auch  durch  die 
Beobachtung  erwiesen,  daß  sich  stets  die  Epider- 
mis der  Larve  zuerst  dort  färbt,  wo  das  Tier  fest- 
haftet. Die  Möglichkeit  eines  Übertritts  von  Sub- 
stanzen aus  dem  Weibchen  in  die  Larve  ist  da- 
mit jedenfalls  festgestellt,  was  im  Hinblick  auf 
die  nunmehr  zu  besprechenden  weiteren  Resultate 
Baltzer's  von  Wichtigkeit  ist.  Es  handelt  sich 
„bei  den  männlichen  Larven  während  des  F"est- 
sitzens  um  eine  Art  Parasitismus".  Nahrungs- 
stoffe allerdings  werden  von  den  Männchen  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  nicht  aufgenommen,  da 
diese  in  Form  von  Öltropfen  selbst  ausreichendes 
Nährmaterial  besitzen.  VVas  aber  übertritt,  müssen 
geschlechtsbestimmende  Substanzen  sein,  Sub- 
stanzen, die  die  bis  dahin  indifferente  Larve  zu 
einem  Männchen  werden  lassen. 

Daß  der  „Parasitismus"  der  indifferenten  Larven 
in  der  Tat  der  ausschlaggebende  Faktor  für  die 
Geschlechtsbestimmung  ist,  zeigt  Baltzer  durch 
mehrere  Versuchsserien.  Eine  größere  Anzahl 
Eier,  die  von  einem  einzigen  Weibchen  stammten, 
wurde  in  mehrere  Portionen  von  je  loo  Eiern 
eingeteilt.  Den  Larven,  die  aus  den  Eiern  der 
einen  Portion  ausschlüpften,  wurden  erwachsene 
Weibchen  beigegeben,  an  deren  Rüssel  sie  sich 
festsetzen  konnten,  die  Larven  aus  Eiern  einer 
anderen  Pottion  erhielten  die  Möglichkeit  sich 
festzusetzen  nicht,  sie  wurden  in  Glasschalen  ohne 
Weibchen  weitergezüchtet.  Während  die  Larven 
am  Rüssel  der  Weibchen  sich  ausnahms- 
los — ■  einige  Larven  gingen  während  des  Ver- 
suchs verloren  —  zu  Männchen  entwickelten, 
entstanden  aus  den  Larven  der  zweiten  Por- 
tion fast  ausschließlich  Weibchen.  Die 
Larven,  denen  -  die  Möglichkeit  zu  parasitieren 
fehlt,  bleiben  zunächst  eine  Zeitlang  auf  dem  in- 
differenten Stadium  stehen,  die  Entwicklung  wird 
sistiert,  erst  dann  werden  sie  in  der  Regel  zu 
Weibchen.  Es  ist  aber  der  Parasitismus  zur  Ent- 
stehung von  männlichen  Individuen  nicht  unbe- 
dingt notwendig,  denn  auch  in  den  Kulturen  mit 
isoliert  gehaltenen  Larven  entwickelten  sich  einige 
Männchen,  wenn  auch  nur  2 — 6,6  "/„.  Neben  den 
Männchen  und  Weibchen  traten  in  diesen  Kulturen 
sodann  noch  einige  Tiere  auf,  die  männliche  und 
weibliche    Charaktere    zugleich    besaßen.      Solche 


Zwitter  erhält  man  in  größerer  Zahl,  wenn  man 
die  zum  Parasitismus  übergegangenen  Larven  von 
ihrem  Wirt  trennt.  Der  Parasitismus  darf  in- 
dessen noch  nicht  länger  als  zwei  Tage  gedauert 
haben,  andernfalls  hat  die  Tendenz  zu  männlicher 
Entwicklung  bereits  so  sehr  die  Oberhand  ge- 
wonnen, daß  auch  bei  isolierter  Weiterzüchtung 
nur  reine  Männchen  entstehen.  Die  Zwitter  sind 
sehr  verschieden  gestaltet,  bei  den  einen  über- 
wiegen die  männlichen  Charaktere,  andere  zeigen 
stark  weiblichen  Einschlag,  bei  wieder  anderen 
sind  männliche  und  weibliche  Merkmale  annähernd 
gleichmäßig  gemischt  vorhanden.  Erwähnenswert 
ist  noch,  daß  auch  ein  kurzer  Parasitismus  genügt, 
um  die  sofortige  Weiterentwicklung  der  indiffe- 
renten Larve  zu  veranlassen. 

Das  befruchtete  Ei  und  auch  noch  die  junge 
Larve  ist,  so  schließt  Baltzer  aus  den  fest- 
gestellten Tatsachen,  ebenso  zur  Bildung  eines 
Männchens  wie  eines  Weibchens  fähig.  Während 
bei  den  meisten  Tieren  das  Geschlecht  mit  der 
Befruchtung  festgelegt  wird  (syngame  Geschlechts- 
bestimmung), ist  die  junge  Larve  von  Bonellia 
noch  indifferent,  sie  besitzt  beide  Geschlechts- 
tendenzen, und  äußere  Faktoren  lassen  erst  im 
Laufe  der  weiteren  Entwicklung  die  eine  Tendenz 
über  die  andere  dominant  werden  (metagame  Ge- 
schlechtsbestimmung). Einen  dritten  Modus  der 
Geschlechtsbestimmung,  gewissermaßen  das  ent- 
gegengesetzte Extrem  zu  dem  letztgenannten, 
finden  wir  ebenfalls  bei  einem  Wurm  mit  Zwerg- 
männchen verwirklicht,  bei  Dinophilus.  Hier  ent- 
hält bereits  das  Ovar  „männliche"  und  „weibliche" 
Eier,  beide  Sorten  von  Eiern  werden  befruchtet, 
aber  die  Befruchtung  hat  ebensowenig  einen  Ein- 
fluß auf  den  Geschlechtscharakter  des  zukünftigen 
Tieres  wie  metagam  auf  den  Embryo  einwirkende 
Faktoren  (progame  Geschlechtsbestimmung). 

Die  indifferente  Larve  von  Bonellia  „müssen 
wir  als  hermaphrodit  mit  überwiegend  männlicher 
Tendenz  bezeichnen".  Ist  der  Larve  die  Möglich- 
keit gegeben,  sich  am  Rüssel  eines  alten  Weibchens 
festzusetzen,  so  erhält  die  männliche  Tendenz  das 
Übergewicht  über  die  weibliche.  Zurückzuführen 
ist  dieses  Dominantwerden  der  männlichen  Ten- 
denz auf  die  Übernahme  „geschlechtsbestimmen- 
der Substanzen"  aus  dem  Rüssel  des  Weibchens, 
Substanzen,  die  zugleich  ganz  allgemein  auf  die 
Entwicklung  anregend  wirken.  Fehlt  den  Larven 
die  Gelegenheit  zu  ,, parasitieren",  so  steht  die  Ent- 
wicklung zunächst  längere  Zeit  nahezu  still.  Dann 
beginnt  allmählich  bei  der  Mehrzahl  der  Larven 
die  weibliche  Tendenz  die  Oberhand  zu  gewinnen. 
Einige  wenige  Larven  aber  werden  trotz  des 
Fehlens  der  „geschlechtsbestimmenden  Substanzen" 
nach  längere  Zeit  dauerndem  indifferentem  Zu- 
stande zu  Männchen.  Wie  stark  überhaupt  die 
männliche  Tendenz  ist,  zeigt  die  Tatsache,  daß  die 
spät  auftretenden  Weibchen  vorübergehend  im 
Cölom  Spermien  ausbilden.  Bei  manchen  Tieren 
—  durch  kurzen  „Parasitismus"  läßt  sich  die  Zahl 
dieser  Tiere   sehr    vermehren  —  erlangt  die  eine 


N.  F.  Xm.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


557 


Geschlechtstendenz  keine  volle  Dominanz  über 
die  andere,  es  entstehen  Zwitter  verschiedenen 
Grades,  neben  schwach  oder  stark  gynandro- 
morphen  Individuen  kommen  echte  Hermaphro- 
diten vor. 

Zum  Schluß  noch  einige  Worte  über  die 
biologische  Bedeutung  dieses  besonderen  Modus 
der  Geschlechtsbestimmung  für  Bonellia.  Der 
ausgeprägte  Geschlechtsdimorphismus,  wie  wir  ihn 
bei  Bonellia  finden,  ist  sicher  ebenso  wie  der 
Modus  der  Geschlechtsbestimmung  ein  sekundär 
erworbener  Zustand.  Bonellia  ist  nach  Baltzer 
ein  nur  an  wenigen  Stellen  im  Neapler  Golf 
häufiger  vorkommendes  Tier.  Wäre  nun  das  Ge- 
schlecht im  befruchteten  Ei  bereits  unabänderlich 
festgelegt,  so  müßten  alle  männlichen  Tiere,  die 
kein  altes  Weibchen  auffinden  —  die  Existenz 
eines  Parasitismus  der  Männchen  an  den  Weibchen 
sei  vorausgesetzt  —  zugrunde  gehen.  So  aber 
werden  fast  alle  diese  Tiere  zu  Weibchen.  Da 
die  aus  den  Eihülien  ausschlüpfenden  Larven  an- 
fangs sehr  stark  positiv  phototaktisch  sind,  steigen 
sie  zur  Überfläche  des  Meeres  auf,  verbreiten  sich 
so  über  eine  größere  Eläche  und  sorgen  damit 
zugleich  für  die  Verbreitung  der  Art.  Wenn 
sie  dann  zu  Weibchen  geworden  sind,  können  sie 
der  Erhaltung  der  Art  allerdings  erst  dann 
dienen,  wenn  noch  indifferente  Larven  sie  ge- 
funden haben,  die  in  wenigen  Tagen  sich  zu  ge- 
schlechtsreifen  Männchen  entwickeln.  Da  immer 
wieder  neue  Larven  ausschwärmen,  ist  die  Wahr- 
scheinlichkeit, daß  die  noch  unbemannten  Weib- 
chen aufgefunden  werden,  sehr  groß,  und  in  der 
Tat  birgt  ja  der  Uterus  eines  erwachsenen  Weib- 
chens denn  auch  mehrere,  oft  sogar  zahlreiche 
Männchen.  Nachtsheim. 

Seine  interessanten  Untersuchungen  über  die 
Stirnaugen  der  Ameisen  bespricht  C.  J.  Caesar 
im  35.  Band  der  Zoologischen  Jahrbücher 
Heft  2,  191 3.  Die  Stirn-  oder  Medianaugen, 
jene  einfach  gebauten  Organe,  die  sich  zwi- 
schen den  großen  Fazettenaugen  auf  der  Stirn- 
platte der  meisten  Hautflügler  finden,  sind  zwar 
schon  vielfach  untersucht,  aber  die  Frage  nach 
ihrer  eigentlichen  Bedeutung  und  Funktion  war 
bis   jetzt    noch    immer    offen.      August   Forel 


hatte  bekanntlich  angenommen,  daß  sie  zum  Sehen 
in  die  Nähe  dienten.  Fast  nur  fliegende  Insekten 
sind  bekanntlich  im  Besitze  dieser  Ocellen.  Der 
Verf.  weist  nun  nach,  daß  ihre  mehr  oder  weniger 
gute  Ausbildung  in  einem  bestimmten  Verhältnis 
zu  der  des  Flugvermögens  steht.  Je  nach 
der  mehr  oder  minder  schnellen  Art  der  Fort- 
bewegung lassen  sich  Unterschiede  konstatieren, 
sogar  in  der  Ausbildung  der  Stirnaugen  von 
Männchen  und  Weibchen  derselben  Art,  die  ver- 
schieden fliegen,  treten  oftmals  welche  zutage. 
Bei  der  Arbeiterkaste,  die  nur  Naharbeit  verrichtet, 
sind  die  Stirnaugen  reduziert,  bei  den  Männchen 
besonders  gut  ausgebildet  (Hochzeitsflug!).  Ge- 
naue Untersuchungen  verwandter  Arten  mit  ver- 
schieden reduzierten,  resp.  rudimentären  Stirn- 
augen sind  deshalb  so  interessant,  „weil  sie  uns 
zeigen,  wie  eine  solche  Reduktion  morphologisch 
sich  gestaltet  und  weil  es  andererseits  unter  Be- 
rücksichtigung der  biologischen  Verhältnisse  nicht 
unmöglich  erscheint,  aus  der  Art  der  Faktoren, 
die  eine  Reduktion  veranlassen,  rückzuschließen 
auf  die  Bedeutung  der  Ocellen".  Die  Ameisen 
eignen  sich  nach  Ansicht  des  Verf.  am  besten  zu 
diesen  Untersuchungen,  da  ihre  Stirnaugen  nach 
Art  und  Kaste  verschieden  ausgebildet  sind  und 
ihre  Biologie  verhältnismäßig  gut  bekannt  ist. 

Den  Beweis,  daß  auch  bei  ihnen  wie  bei  allen 
Hymenopteren  die  Ausbildung  der  Stirnaugen  ur- 
sprünglich gleichförmig  ist,  wie  daß  die  meisten 
Formen  Reduktionsformen  sind,  erbrachte  die 
Entwicklungsgeschichte  und  die  vergleichende  Be- 
trachtung der  Augen  der  fertigen  Tiere.  Aus 
der  Phylogenie  der  Rückbildung  lassen  sich  Schlüsse 
ziehen  auf  Bedeutung  und  Funktion  der  Ocellen. 
Der  Verfasser  weist  nach,  daß  während  die  Fazetten- 
augen dem  Sehen  in  der  Nähe  dienen,  die  Median- 
augen nur  für  den  Flug  von  Bedeutung  sind  und 
so  jene,  indem  sie  eine  Orientierung  auf  größere 
Entfernung  hin  möglich  machen,  in  wichtiger 
Weise  ergänzen.  Mit  den  Aufgaben  des  Fluges 
und  der  damit  Hand  in  Hand  gehenden  Ein- 
schränkung des  notwendigen  Gesichtsfeldes  tritt 
regelmäßig  eine  Rückbildung  der  Ocellen  ein,  die 
bei  vielen  Arten  sogar  zum  vollständigen  Verlust 
geführt  hat. 

R.  V.  Aichberger. 


Bücherbesprechungen. 


Fortschritte  der  Mineralogie,    Kristallographie 
und    Petrographie.      Herausgegeben    von    der 
Deutsch.  Mineralog.  Ges.  (Red.  Dr.  G.  Linck). 
IV.  Bd.,   4»,   384  S.,    23  Abbildgn.,   Jena    1914, 
G.  Fischer.  —  Preis  brosch.   12  Mk. 
Das    Organ    der    Deutschen    Mineralogischen 
Gesellschaft  wird  mit  jedem  Bande  ein  wichtigeres 
Hilfsmittel,  wenn  es  gilt,  sich  über  besondere  Ge- 
biete und  deren  F"ortschrUte  zu  unterrichten. 

Einen  Bericht  über  die  Hauptversammlung  der 
Gesellschaft   in  Wien   19 13    und  die  im  Anschluß 


daran  ausgeführten  Exkursionen  folgt  eine  dankens- 
werte Übersicht  von  K.  A.  Redlich  über  die 
Bildung  des  Magnesits  und  sein  natürliches  Vor- 
kommen. Darauf  berichtet  M.  von  Laue  über 
jenen  Triumph  moderner  Wissenschaft,  den  der- 
selbe im  Verein  mit  Friedrich  und  K  n  i  p  p  i  n  g 
durch  Sichtbarmachung  des  Raumgitters  der 
Kristalle  durch  Röntgenstrahlen  zeitigte.  Es  folgt 
eine  Mitteilung  von  M.  B  e  r  e  k  über  Zirkular- 
polarisation. Arthur  L.  Day,  das  bekannte 
Mitglied  des  Carnegie- Geopsysischen  Laboratoriums 


558 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  35 


in  Washington,  schreibt  (in  deutscher  Übersetzung 
von  A.  Ritzel)  über  „Das  Studium  der  Mineral- 
schmelzpunkte", ein  Thema,  das  im  Zentrum  des 
Interesses  der  Mehrzahl  der  heutigen  Mineralogen 
und  Pelrographen  steht.  Endlich  stellt  Arthur 
Schwantke  die  „Neuen  Mineralien"  des  letzten 
Jahres  zusammen.  In  der  Abteilung  für  Petrographie 
berichtet  L.  Milch  über  die  Bedeutung  der  che- 
mischen Zusammensetzung  der  Eruptivgesteine  für 
die  Systematik.  Eine  sehr  wertvolle  Übersicht 
gibt  M.  Stark  über  die  „Petrographischen  Pro- 
vinzen", ein  Thema,  welches  ja  nicht  nur  den 
Petrographen,  sondern  auch  den  Geologen  und 
zwar  besonders  den  Geotektoniker  lebhaft  be- 
schäftigt. Die  Stark 'sehe  Übersicht,  welche  das 
Fazit  aus  über  500  einschlägigen  Arbeiten  zieht, 
wird  es  zusammen  mit  der  Darstellung,  die  von 
Wolff  in  seinem  Buche  über  den  Vulkanismus 
gegeben  hat,  ermöglichen,  die  Frage  der  „Petro- 
graphischen Provinzen"  und  der  verschiedenen 
„Gesteinssippen"  der  Lösung  näher  zu  führen,  ins- 
besondere auf  die  I<"rage  zu  diskutieren,  in  welcher 
Weise  diese  Verhältnisse  im  Laufe  der  geologischen 
Vorzeit  Veränderungen  unterlegen  gewesen  sind. 
Den  Schluß  des,  wie  aus  diesen  kurzen  Angaben 
hervorgeht,  sehr  wichtigen  Bandes  bildet  eine 
Arbeit  von  K.Schulz  über  die  Koeffizienten  der 
thermischen  Ausdehnung  der  Mineralien  und  Ge- 
steine usw.,  die  im  folgenden  Bande  ihre  Fort- 
setzung finden  wird.  K.  Andree. 

Remsen,  Ira,    Einleitung  in  das  Studium 
der  Chemie.     Autorisierte  deutsche  Ausgabe, 
selbständig    bearbeitet     von    Karl    Seubert, 
V.  Auflage.      XVIII  u.  482  S.  8"    mit  50  Abb. 
im  Text  und  2  Tafeln.     Tübingen  19 14,  Veriag 
der  H.  Laupp'schen  Buchhandlung.  —  Preis  geh. 
6  Mk.,    in  Schulband    geb.  6,60  Mk.,  in  Leinw. 
geb.  7  Mk. 
Die  Seubert 'sehe  Ausgabe  der  „Introduction 
to   the   Study   of  Chemistry"    von    Ira  Remsen 
ist  in  Deutschland  als  ein  ausgezeichnetes  elemen- 
tares   Lehrbuch    der    Ciiemie  wohl    bekannt    und 
beliebt.     Die  Darstellung  ist  klar  und  sachgemäß, 
die  allgemeinen  Gesichtspunkte  sind  scharf  heraus- 
gearbeitet, und  zahlreiche,  in  den  Text  eingestreute 
Vorschriften    zu    einfachen    Übungen    tragen    zum 
tieferen    Verständnis    des    Ganzen    bei.      Die    Be- 
merkung auf  S.  337,  daß  die  /Strahlen  der  radio- 
aktiven Stoffe  den  „Kanalsirahlen  der  Röntgenröhre" 
entsprechen,    ist    nicht    ganz    verständlich ,    denn 
„Kanalstrahlen"  treten  in  der  eigentlichen  Röntgen- 
röhre überhaupt  nicht  auf;  es  muß  vielmehr  heißen, 
daß  die  y-Strahlen  etwa  den  eigentlichen  Röntgen- 
strahlen entsprechen.     Außer  dem  Abschnitt  über 
die    Radioaktivität    ist    bei    der    Bearbeitung    der 
neuen   Auflage    auch    ein    Kapitel    über    „Kohlen- 
wasserstoffe als  Grundlage  organischer  Substanzen" 
hinzugekommen  (S.  440  bis  452).     Wünschenswert 
und  ohne  Schaden  für  den  elementaren  Charakter 
des  Buches  wäre  es,    wenn  der  deutsche  Heraus- 
geber bei  der  nächsten  Auflage   auch  noch  kurze 


Abschnitte  über  die  Kolloidchemie  und  die  Metallo- 
graphie in  das  Werk  einfügte,  zwei  neuere  For- 
schungsrichtungen, die  nach  Methodik  und  Ergeb- 
nissen viel  Besonderes  bieten  und  auch  dem  An- 
fänger auf  dem  Gebiete  nicht  mehr  vorenthalten 
werden  dürfen. 

Clausthal  i.  H.  Werner  Mecklenburg. 


Pohl,  R.  und  Pringsheim,  P.,  Die  licht  elek- 
trischen    Erscheinungen.       Heft    i     der 
„Sammlung  Vieweg".     114  Seiten  mit  36  Text- 
abbildungen.     Braunschweig    1914,    F.  Vieweg 
&  Sohn.  —  Preis  geh.  3  Mk. 
Die  „Sammlung  Vieweg"  will  spezielle  Wissens- 
und Forschungsgebiete,  Theorien,    chemisch-tech- 
nische Verfahren  usw.,    die    im  Stadium  der  Ent- 
wicklung  stehen    und    ihrer  Bedeutung    nach  von 
allgemeinerem  Interesse    sind,    durch    zusammen- 
fassende   Behandlung    unter  Beifügung    der    wich- 
tigsten   Literaturangaben    weiteren,    der    wissen- 
schaftlichen Forschung  nahestehenden  Kreisen  zu- 
gänglich machen  und  ihren  augenblicklichen  Ent- 
wicklungsstand beleuchten. 

Ihr  vorliegendes  i.  Heft  gibt  in  diesem  Sinne 
eine  vorzügliche  Darstellung  der  gegenwärtigen 
Kenntnis  der  lichtelektrischen  Erscheinungen,  deren 
Studium  nicht  lediglich  der  Lösung  eines  be- 
grenzten physikalischen  Spezialproblems  gilt,  son- 
dern ständig  wachsende  allgemeine  Bedeutung 
gewinnt  für  die  Beantwortung  der  wichtigen 
Fragen  nach  der  Struktur  der  Atome,  der  Natur 
der  chemischen  Kräfte,  der  Verteilung  der  Energie 
und  dem  Wesen  der  Strahlung. 

Die  Verff.,  die  selbst  an  der  Erweiterung  des 
Gebietes  lebhaften  Anteil  genommen  haben,  legen 
besonderen  Wert  auf  die  Mitteilung  der  experi- 
mentellen Ergebnisse.  Hervorzuheben  ist  ihre 
eingehende,  mit  zahlreichen  quantitativen  Angaben 
belegte  Behandlung  des  normalen  und  des  selek- 
tiven Photoeffekts  der  Metalle  und  die  Betrachtung 
über  die  Anfangsgeschwindigkeiten  der  beim  nor- 
malen Effekt  ausgelösten  Elektronen.  In  beson- 
deren Kapiteln  werden  außerdem  behandelt  der 
lichtelektrische  Effekt  an  nichtleitenden  Körpern 
und  die  hierhergehörigen  Untersuchungen  Le  nard's 
an  Phosphoren,  die  Bedeutung  von  Oberflächen- 
schichten für  den  Photoeffekt  und  kurz  die  licht- 
elektrischen Erscheinungen  in  Gasen.  Einige 
theoretische  Betrachtungen  finden  sich  im  letzten 
Kapitel.  Besonders  zu  begrüßen  ist  die  Anfügung 
eines  ausführiichen  Literaturverzeichnisses,  das 
alle  das  Gebiet  betreffenden  wesentlichen  Arbeiten 
der  letzten  3  Jahre  —  bis  September  191 3  — 
enthält.  A.  Becker. 


Anregungen  und  Antworten. 

Das  Blitzen  der  Blüten.  In  seiner  vor  kurzem  erschie- 
nenen SchriTtriDas^Elisabeth  Linne-Phänomen  (sog.  Blitzen 
der  Blüten)  gibt  Prof.  Dr.  Fr.  Thomas  im  .Anschluß  an 
seinen  in  dieser  Zeitschrift  (1910,  S.  573)  erschienenen  Auf- 
satz die  Ergebnisse  seiner  seriösen  Literaturstudien  über  diese 


N.  F.  XIII.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


559 


Erscheinung  und  seiner  eigenen  nachlicrigcn  Versuche  mit 
Blüten  und  mit  Farben  und  farbigen  Papierstückchen  bekannt.  Er 
kommt  zu  dem  Resultate,  daß  die  von  ihm  damals  gegebene 
Erklärung  der  Erschi  inung  des  plötzlichen  Hervorlcuchtens  ge- 
wisser feuerroter  Blüten  in  der  Abenddämmerung  zwar  richtig 
aber  nicht  ausreichend   war. 

Diese  Erklärung  lautete  kurz:  In  der  Dämmerung  zu  einer 
Zeit,  in  welcher  man  gewöhnliche  Druckschrift  eben  noch 
lesen  kann,  zeigen  gewisse  feuerrote  Blüten  (Tropaeolum, 
Papaver  Orientale,  Pelargonium  usw.)  ein  plötzliches  Aufleuch- 
ten, wenn  man  die  Augen  beim  Hinsehen  so  bewegt,  daß  das 
Bild  der  Blüte  zuerst  auf  die  Netzhaut  außerhalb  des  gelben 
Flecks  trifft,  dann  aber  auf  den  gelben  Fleck  liinüberspringt, 
also  z.  B.  wenn  man  den  Blick  von  der  einen  zur  anderen 
der  Blüten  hinübergleitcn  läßt.  Die  physiologische  Erklärung 
wäre  dann;  Bei  dem  angegebenen  Grad  der  Dämmerung  funk- 
tionieren die  zum  Sehen  im  Dunkeln  angepaßten  Stäbchen 
der  Netzhaut  gleichzeitig  mit  den  nachtblinden  Zapfen.  Die 
Stäbchen  sind  rotblind,  die  Zapfen  noch  sehr  empfindlich  für 
rotes  Licht.  Auf  dem  gelben  Fleck  befinden  sich  nur  Zapfen, 
keine  Stäbchen.  Fällt  das  Bild  der  roten  Blüte  auf  die  peri- 
phere Netzhaut,  wo  die  rotblinden  Stäbchen  vorherrschen,  so 
erscheint  sie  dunkel,  fast  schwarz,  läßt  man  nun  aber  das 
Bild  auf  den  gelben  Heck  hinUberspringen ,  wo  die  rotcmp- 
findlichfn  Zapfen  allein  anwesend  sind,  so  leuchtet  die  rote 
Farbe  plötzlich  hervor. 

Indes  war  schon  1908  (Herrn  Prof.  Thomas  aber  erst 
später  bekannt  geworden)  von  A.  Schleiermacher  in 
Karlsruhe  eine  ganz  and'  re  Beschreibung  und  Erklärung  ge- 
geben worden.  Schleier  m  acher  sah  die  Erscheinung  als 
ein  weißliches  momentanes  Aufhellen  seitwärts  an  einzelnen 
der  Blüten  (Papaver  Orientale),  als  er  hoch  über  die  Blüten 
hinweg  sah  und,  ohne  dieselben  zu  fixieren,  die  Augen 
hin  und  her  bewegte.  Er  erklärt  es  als  ein  Nachbild  der 
loleii  Blüte  auf  dem  griinen  Hintergrunde. 

Auf  Grund  seiner  neuen  Versuche  gibt  Prof.  Thomas 
jetzt  an,  daß  das  Phänomen  zwar  auf  ganz  schwarzem  Grunde 
noch  wahrzunehmen  ist,  aber  außerordentlich  verstärkt  wird 
durch  den  Einfluß  des  grünen  (oder  noch  besser  blauen) 
Hintergrundes.  Diesen  Einfluß  des  Hintergrundes  betrachtet  er 
(ob  mit  Recht?)  als  ein  P  u  r  k  i  nj  e  '  sches  Nachbild  des  an 
das  Objekt  anstoßenden  Teils  des   Hintergrundes. 

Der  anderen  Angabe  S  c  h  1  e  i  e  r  m  ac  h  e  r '  s  aber,  daß  die 
Blüte  nicht  fi.xiert,  sondern  e.'ctrafoveal  gesehen  werden  soll, 
kann  Th.  ganz  und  gar  nicht  beistimmen,  denn  es  gelang  ihm 
niemals  die  Erscheinung  zu  sehen,  wenn  er  nicht  die  Blüte  so- 
fort nachher  fixierte.  Er  kommt  daher  in  einer  viele  Seiten 
langen  Ausführung  zu  dem  etwas  gezwungenen  Resultate, 
Schleiermacher  habe  beim  binokularen  unscharfen  Sehen 
Doppelbilder  der  Blüte  bekommen  und  unbemerkt  mit  dem 
einen  Auge  fixiert. 

Als  ich  eben  mit  dem  Lesen  dieses  Teiles  des  Schrift- 
chens beschäftigt  war,  hatte  ich  unabsichtlich  das  beigegebene 
Farbtäfelchen  (blau  mit  roten  Papierstückchen)  auf  der  unteren 
Hälfte  der  Seite  liegen.  Es  war  in  der  Dämmerung  aber 
kurz  nach  Sonnenuntergang,  als  man  im  Zimmer  noch  ganz 
gut  lesen  konnte;  da  traf  mich  beim  Lesen  der  oberen  Zeilen 
plötzlich  das  wiederholte  Hervorblilzen  eines  weißlichen  Nach- 
bildes seitlich  an  den  roten  Papierstückchen.  Beim  Lesen 
einer  Zeile  trat  es  etwa  sechsmal  auf,  offenbar  weil  man,  wie 
bekannt,  beim  Lesen  den  Blick  nicht  regelmäßig  gleitend, 
sondern  in  einigen  Sätzen  springend  der  Zeile  entlang  bewegt. 
Das  war  also  gewiß  die  von  Schleiermacher  und  auch 
von  Goethe  bei  Papaver  Orientale  beschriebene  Erscheinung 
und  etwas  anderes   als    die    von  Thomas    gemeinte. 

In  der  angegebenen  Weise  wurde  die  Erscheinung  von  jedem, 
der  es  auf  meine  Veranlassung  versuchte,  sofort  wahrgenommen. 
Bei  der  richtigen  Blicküberhöhung  und  dem  geeigneten,  ganz  hellen 
Grad  der  Dämmerung  (Ende  Mai  vor  dem  Fenster  etwa  um  8  Uhr) 
ist  es  so  stark,  daß  es  beim  Lesen  sehr  störend  wirkt.  Es 
ist  ganz  deutlich  ein  hellgrünes  Nachbild  in  der  Form  der 
roten  Quadrate  odi  r  der  aufgelegten  Blumenblätter.  Mit  einem 
Auge  wird  es  ebensogut  wahrgenommen  wie  mit  beiden. 
Damit  wird  also  die  ganze  gegen  Schleiermacher  (und 
Goethe)  gerichtete  Ausführung  (S.  29  und   32 — 38)   hinfällig. 

Es  ist  also  wohl  gewiß,  daß  man  beim  ,, Blitzen  der 
Blüten"    zu     unterscheiden     hat     zwischen    (wenigstens)    zwei 


vers  ch  ie  denen  Erscheinungen,  die  eine  von  Thomas  und 
vielleicht  auch  wohl  von  E  1  i  sa  b  e  t  h  Linne  gemeinte,  sagen 
wir  also  das  Elisabeth-Linne-Thomas-Phänomen,  die  beim 
flüchtigen  Fixieren  auftritt,  und  die  andere,  die  wir  das 
Goethe-Schleiermacher-Phänomen  nennen  mögen,  beim  peri- 
pheren Sehen.  Daß  es  Herrn  Prof.  Thomas  und  seinen 
17  Helfern  niemals  gelungen  ist  das  andere  Phänomen  zu  be- 
obachten, kommt  wohl  daher,  daß  sie  es  zu  spät,  d.  h.  bei 
zu  tiefer  Finsternis  versuchten.  Denn  je  dunkler  es  wird,  je 
geringer  man  die  Blicküberhöhung  wählen  muß,  um  es  zu 
sehen  und  zu  der  Zeit,  als  das  Elisabeth-Linne-Thonias-Phäno- 
men  deutlich  wahrzunehmen  ist,  ist  von  dem  anderen  längst 
nichts  mehr  zu  sehen. 

Thomas  gibt  an:  das  Aufhellen  durch  Übergang  auf 
die  Fovea  fällt  zusammen  mit  einem  hellen  ,,Purkinje- 
schen  Nachbild"  des  Hintergrundes,  aber  weil  ein  Purkinje- 
sches  Nachbild  nicht  auf  die  Fovea  kommen  kann ,  können 
die  beiden  Bilder  auch  nicht  zusammenfallen  (höchstens  bei- 
nahe, am  Rande  der  Fovea). 

Auch  für  die  andere  —  periphere  —  Erscheinungsweise 
des  Phänomens  trifft  die  Erklärung  der  Pu  r  k  in  j  e '  sehen 
Nachbilder,  wie  sie  Thomas  S.  28  gibt,  nicht  zu.  Denn  ich 
sehe  beim  Lesen  das  Nachbild  stets  rechts  vom  roten  Objekt 
erscheinen,  da  würde  also  das  primäre  Zapfenbild  des  blauen 
Grundes  mit  dem  Stäbchen-Nachbilde  des  roten  Objektes  zu- 
sammenfallen, diese  sind  aber  beide   dunkel  statt  hell  1 

F'"ür  diese  Erscheinungsweise  am  plausibelsten  ersclieint 
noch  die  Erklärung  als  gewöhnliches  negatives  Nachbild,  wie 
Schleiermacher  es  zuerst  auch  gemeint  zu  haben  scheint, 
dann  wohl  wegen  ,, Ermüdung"  nur  der  Stäbchen,  die,  nicht 
ermüdet  an  der  Stelle,  wo  das  für  sie  schwarze  Bild  des 
roten  Objekts  im  Augenblick  vorher  auftraf,  nur  dort  den 
blauen   Untergrund  hell  sehen. 

Aus  welchem  Grund  Schleiermacher  aber  dazu  an- 
nimmt, daß  damit  das  nachlaufende  Bild  des  Untergrundes 
gerade  zusammenfallen  würde,  verstehe  ich  nicht.  V^'enn  die 
Erklärung  als  einfaches  negatives  Nachbild  die  richtige  sein 
würde,  wäre  Goethe  der  Wahrheit  noch  am  nächsten  ge- 
kommen !  J.  Heimans. 

Wetter-Monatsübersicht. 

Während  des  größeren  Teiles  des  Monats  Juli  herrschte 
in  den  meisten  Gegenden  Deutschlands  starke  Hitze  und 
Trockenheit,  die  jedoch  oft  durch  kurze,  mehr  oder  weniger 
heftige  Gewitterregen  unterbrochen  wurde.  Schon  am  3.  Juli 
wurden  im  östlichen  Binnenland  an  vielen  Orten  30^*  C  über- 
schritten. Zwischen  dem  =;.  und  8.,  später  wieder  um  Mitte 
des  Monats    stellte    sich    zwar  bedeutend  kühleres  Wetter  ein. 


Tsm^crafur- Sßaxima  einiger  ©rie  im  öuli  191^ 


BerllntrWeftirbui 


56o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  35 


doch  kehrte  in  beiden  Fällen  die  Hitze  rasch  zurück  und 
nahm  gegen  früher  sogar  noch  etwas  zu.  Ihren  Höhepunkt 
erreichte  sie  im  größten  Teile  des  Landes  in  den  Tagen 
zwischen  dem  20.  und  22.,  in  denen  es  viele,  namentlich  ost- 
deutsche Orte  wie  zum  Teil  auch  schon  eine  Woche  vorher 
auf  32  bis  33°  C  brachten.  In  den  Provinzen  Ost-  und  West- 
preußen, wo  die  glühende  Hitze  seit  Anfang  des  Monats  fast 
ohne  jede  Milderung  angehalten  hatte,  stieg  das  Thermometer 
in  Memel,  Insterburg  und  Marienburg  bis  auf  34,  in  Königs- 
berg sogar  bis  auf  34V.>"  f-' 

Zwischen  dem  21.  und  23.  Juli  fand  in  Nordwest-,  Süd- 
und  Mitteldeutschland  plötzlich  eine  starke  Abkühlung  statt, 
die  in  den  nächsten  Tagen  zunahm  und  sich  mit  frischen 
westlichen  Winden  allmählich  weiter  nach  Osten  fortpflanzte. 
Bis  zum  Schlüsse  des  Monats  herrschte  dann  für  die  Jahres- 
zeil sehr  kühle,  überwiegend  trübe,  regnerische  Witterung. 
Die  mittleren  Temperaturen  des  Monats  lagen  deshalb  in 
Nordwestdcutschland  durchschnittlich  nur  etwa  einen  Grad 
über  und  in  Süddeutschland  sogar  ein  wenig  unter  ihren  nor- 
malen Werten,  wogegen  östlich  der  Elbe  der  Temperaturüber- 
schuß 2  bis  3,  in  Ostpreußen  sogar  volle  4  Celsiusgrade  be- 
trug. Auch  der  Sonnenschein  war  wiederum  im  Nordosten 
Deutschlands  reichlicher  als  im  Südwesten,  im  Durchschnitt 
aber  etwas  zu  gering  bemessen.  Beispielsweise  hatte  Berlin 
im  letzten  Monat  209  Sonnenscheinstunden  und  233  im  Mittel 
der  22  früheren   lulimonate. 


üicdors'cblaaöl&c^cn  im  Suii  1914. 

-^  "        -'-    ^.fflererWerrrür 
Ceufschinnd. 


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1.  bis  3.  Juli 

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L  '     "H.'bisS' Juli.  "       


9.bisZ2.Juli 


blii^iikHB 


[llonatssummc.mJuli 

19R13.IZ.11.10.09 


Wie  es  in  Gewitterzeiten  nicht  selten  vorkommt,  gab  es 
im  Laufe  des  Monats  fast  überall  einen  mehrmaligen  Wechsel 
zwischen  großem  Mangel  und  Überfluß  an  Niederschlägen. 
Nach  wenigen  trockenen  Tagen  setzten  zunächst  im  oberen 
Rheingebieten  die  ersten  Gewitterregen  ein,  die  sich  zwischen 
dem  4.  und  8.  Juli  öfter  wiederholten  und  nach  Norden  und 
Osten  weiterverbreiteten.  Besonders  in  einigen  Gegenden 
Süddeutschlands,  ferner  an  verschiedenen  Stellen  zwischen  der 
Weser  und  unteren  Oder  gingen  in  dieser  Zeit  außerordentlich 
heftige  Regengüsse  hernieder,  die  am  4.  Juli  in  Nürnberg 
78,  in  Fulda  57,  am  8.  in  Hamburg  76,  in  Hildesheim  44, 
in  Stettin  42  mm  ergaben. 


Vom  9.  bis  22.  Juli  hatte  das  Wetter  überwiegend  einen 
trockenen  Charakter.  Zwar  kamen  noch  sehr  zahlreiche  Ge- 
witter vor,  die  an  einzelnen  Orten  mit  starken  Regenfällen 
und  auch  vielfach  mit  Hagelschlägen  verbunden  waren,  jedoch 
immer  häufiger  mit  nur  ganz  geringem  Regen  oder  ohne  alle 
Niederschläge  auftraten.  Mit  dem  23.  begann  aber  eine  all- 
gemeine Regenzeit,  die  überall  bis  Ende  Juli  fortdauerte.  Die 
Niederschläge  fielen  jetzt  zwar  weniger  heftig  als  früher,  hielten 
dafür  aber  jedesmal  um  so  länger  an  und,  obwohl  sie  mehr 
den  Charakter  starker  Landregen  hatten,  waren  sie  trotz  der 
eingetretenen  Kühle  wieder  oft  von  Gewittern  begleitet.  Die 
Niederschlagssumme  des  ganzen  Monats  belief  sich  für  den 
Durchschnitt  aller  berichtenden  Stationen  auf  ni,4  mm  und 
übertraf  die  Regenmengen,  die  die  gleichen  Stationen  in  allen 
früheren  Julimonaten  seit  dem  Jahre  1891  geliefert  haben;  im 
Mittel  betrug  der  Überschuß  33,4  mm. 

»  • 

* 

Die  allgemeine  Anordnung  des  Luftdruckes  in  Europa 
änderte  sich  von  einem  Tage  zum  anderen  im  Juli  meistens 
nur  sehr  langsam.  Zunächst  wurde  ein  barometrisches  Maxi- 
mum, das  mit  seinem  Gebiete  fast  ganz  West-  und  Mittel- 
europa bedeckte,  durch  eine  vom  Atlantischen  Ozean  heran- 
ziehende Depression  nach  Nordrufiland  verschoben,  wo  es  an 
Höhe  zunahm  und  längere  Zeit  verweilte.  Ein  Teil  der  at- 
lantischen Depression  drang  am  4.  in  das  Innere  Deutschlands 
ein  und  trennte  das  nordöstliche  Hochdruckgebiet  von  einem 
neuen,  das  inzwischen  von  Südwesteuropa  vorgedrungen  war. 

Auch  später  rückten  mehrmals  Barometerma.xima  von 
Südwest-  nach  Nordwest-  und  Nordosteuropa  vor,  während 
verschiedene  flache  Teildepressionen  vom  Ozean  und  vom 
Adriatischen  Meere  her  nach  Mitteleuropa  gelangten.  In  der 
nordöstlichen  Hälfte  Deutschlands  wehten  daher  größtenteils 
sehr  warme,  trockene  östliche  Winde,  während  in  Süd-  und 
Westdeutschland  auch  kühle,  feuchte  Südwestwinde  nicht  selten 
waren.  Erst  am  23.  Juli  breitete  ein  tiefes  und  außerordent- 
lich umfangreiches  barometrisches  Minimum,  das  aus  der  Ver- 
einigung zweier  flacherer  Depressionen  hervorgegangen  war, 
über  ganz  Mitteleuropa  eine  dampfgesättigte ,  frische  West- 
strömung aus  und  machte  damit  der  Hitze  und  Dürre  überall 
ein  Ende.  Dr.  E.  Leß. 

Literatur. 

Zenelti,  Prof.  Dr.  Paul,  Die  Entstehung  der  schwäbisch- 
bayerischen Hochebene.  Rede  beim  Antritt  des  Rektorates 
des  Kgl.  Bayerischen  Lyzeums  Dillingen,  gehalten  am  20.  Jan. 
1914.     Verlag  Natur  und  Kultur.     75   Pf. 

Weinschenk,  Prof.  Dr.  Ernst,  Bodenmais-Passau.  Petro- 
graphische  Exkursionen  im  bayerischen  Wald.  Mit  einem 
Titelbild,  5  Tafeln  und  47  Textfig.  München  '14,  Verlag 
Natur  und  Kultur.     2,70  Mk. 

Jellinek,  Priv.-Doz.  Dr.  Karl,  Lehrbuch  der  Physikali- 
schen Chemie.  4  Bände.  Erster  Band.  Die  Lehre  von  den 
Aggregatzuständen  (i.Teil).  Mit  81  Tabellen,  253  Textabb. 
und  4  Bildnissen.     Stuttgart  '14,  F.   Enke.     24  Mk. 

Rosenthaler,  Prof.  Dr.  L.,  Der  Nachweis  organischer 
Verbindungen.  Ausgewählte  Reaktionen  und  Verfahren.  XIX. 
bis  XX.  Band  der  Sammlung  „Die  chemische  Analyse". 
Stuttgart  '14,  F.  Enke.     34  Mk. 

Brunswig,  Dr.  H.,  Die  Explosivstoft'e.  Einführung  in 
die  Chemie  der  explosiven  Vorgänge.  2.  verbesserte  und  ver- 
mehrte Aufl.  Mit  9  Abbildungen  u.  12  Tabellen.  Sammlung 
Göschen.     Berlin  u.  Leipzig  '14.     90  Pf. 

Jahrbuch  der  Naturwissenschaften  1913 — 1914.  29.  Jahr- 
gang. Unter  Mitwirkung  von  Fachmännern  herausgegeben  von 
Josef  Plaßmann.  Mit  96  Bildern  auf  10  Tafeln  und  im  Text. 
Freiburg  i.  Br.  '14,  Herder'sche  Verlagshandlung.     Geb.  8  Mk. 


Inhalt;  Lenk:  Tierische  Farbstoffe.  Krizenecky:  Das  Hungern  als  fördernder  Faktor  der  organischen  Entwicklung. — 
Einzelberichte:  Neeff:  ZellumlagerungunterpolaremRichtungsreiz.  Roncato  und  Si  ccard  i;  Bleivergiftung.  Waibel: 
Der  Mensch  im  Wald  und  Grasland  von  Kamerun.  Baltzer;  Die  Geschlechtsbestimmung  bei  Bonellia.  Caesar; 
Die  Stirnaugen  der  Ameisen.  —  Bücherbesprechungen:  Fortschritte  der  Mineralogie,  Kristallographie  und  Petrographie. 
Remsen:  Einleitung  in  das  Studium  der  Chemie.  Pohl  und  Pringsheim:  Die  lichtelekirischen  Erscheinungen.  — 
Anregrungen  und  Antworten.  —  Wetter-Monatsübersicht  —  Literatur:   Liste. ^ 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstraße   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.  Band; 
der  ganzen  Reihe   29.  Band. 


Sonntag,  den  6.  September  1914. 


Nummer  36. 


[Nachdruck  verboten.' 


Physiognomik  der  Tropenlandschaft. 

Studien  auf  Ceylon  von  Dr.  Konrad  Guenther, 
Professor  an  der  Universität  Freiburg  i.  Br. 


Es  war  kein  Geringerer,  als  Alexander  von 
Humboldt,  der  zu  der  Erkenntnis  kam,  daß, 
wie  die  Menschen  und  die  Tiere,  so  auch  die 
Pflanzen  ihre  bestimmte  Physiognomie  hätten. 
Immer    wieder    bewunderte    er   auf  seinen  Reisen 


des  Naturschutzes.  Ich  versuchte,  der  bisher  vor- 
wiegend geübten  Naturdenktnalpflege  einen  Schutz 
aller  erhaltbaren  Gestalten  der  Natur  über  die  ge- 
samte Kulturerde  hinweg  an  die  Seite  zu  stellen 
und    wissenschaftlich    zu    begründen.      Es   mußte 


im    tropischen    Südamerika    das    charakteristische      dazu    untersucht    werden,     welche    Lebensbedin- 
Aussehen    der    Bäume    und    die    Mannigfaltigkeit      gungen    das    oder  jenes  Tier  unbedingt  brauchte, 


ihrer  Formen.  Gerade  diese  Mannigfaltigkeit  suchte 
er  verstehen  zu  lernen,  und  um  sich  in  ihr  zu- 
rechtzufinden, unternahm  er  es,  alle  verschiedenen 
Pflanzenformen  auf  17  Grundgestalten  zurück- 
zuführen. Je  mehr  nun  seit  Humboldt  unsere 
Kenntnis  von  der  Pflanzenwelt  wuchs,  um  so 
weiliger  glaubte  man  mit  solch  einer  geringen 
Zahl  von  Grundformen  auskommen  zu  können. 
So  fand  sich  Grisebach  genötigt,  die  1 7  Grund- 
gestalten Humbold t's  auf  60  zu  vermehren. 
Noch  andere  Forscher  arbeiteten  an  der  Pflanzen- 


und  ob  diese  Lebensbedingungen  in  Wald-,  Feld- 
und  Wasserwirtschaft  geduldet  oder,  wenn  ver- 
loren, neu  geschaffen  werden  könnten,  ohne  die 
Ertragsfähigkeit  des  betreffenden  Kulturgeländes 
zu  schmälern.  Es  zeigte  sich,  daß  in  der  Tat 
Teile  der  Natur  oder  einzelne  Tiere  und  Pflanzen 
sehr  wohl  auf  einem  vollkommen  kultivierten 
Boden  sich  erhalten  lassen.')  Bei  dem  Studium  der 
Frage,  welche  Lebensbedingungen  für  Tiere  und 
Pflanzen  unsere  Kultur  noch  bieten  könne,  lag 
der   Wunsch    nahe,    zum    Vergleich    die    Lebens- 


physiognomik, soWarming,  Drude,  Engler;      bedingungen  einer  noch  unberührten  Natur  herbei- 


in  derartig  umfassender  und  vor  allem  künstleri- 
scher Weise,  wie  Humboldt  diesen  Zweig  der 
Wissenschaft  schuf  und  ausbaute,  ist  es  aber  seit- 
dem nicht  wieder  geschehen. 

Die  Pflanzen  bedecken  die  Oberfläche  der  Erde. 


zuziehen.  Eine  solche  fand  ich  am  ehesten  in 
den  Tropen,  von  denen  wieder  Ceylon  am  leich- 
testen zu  erreichen  war.  Die  Summe  der  Lebens- 
bedingungen einer  Landschaft  kommt  aber  in 
ihrer  Physiognomie  zum  Ausdruck.    Und  so  erstand 


Sie  geben  ihr  Farbe  und  Abwechslung  und  haben      die    Aufgabe,    die  Physiognomie    der  Tropenland 
daher    an    der    Physiognomie    der    Landschaft    in  " 

erster  Linie  teil.    Für  das  einzelne  Landschafts- 


bild kommen  freilich  bestimmend  auch  noch  die 
Bergformationen,  P'lüsse  oder  Seen  in  Betracht. 
Der  Leser  wird  sich  erinnern,  mit  welch  hübschen 
Worten  Scheffel  in  seinem  Ekkehard  von  dem 
„deutschen  Antlitz",  dem  das  Land  der  Alamannen 
gleiche,  gesprochen  hat.  Will  man  aber  die 
Physiognomie  eines  ganzen  Landschaftskomplexes 
oder  gar  eines  großen  klimatischen  Gebietes 
schildern,  so  wird  man  den  Pflanzen  eine  größere 
Rolle  zuweisen  müssen,  als  den  Bergen  und  dem 
Wasser,  weil  sie  unter  denselben  klimatischen 
Bedingungen    einem    einheitlichen    Charakter      haben    auf  Ceylon    nämlich    sowohl    eine  Küsten- 


schaft mit  der  der  unseren  zu  vergleichen  und 
die  Gründe  für  die  Verschiedenheiten  aufzudecken. 
Es  wird  wenig  Tropenländer  geben,  die  so 
geeignet  sind,  wie  Ceylon,  dem  Neuling  das 
Charakteristische  der  Tropenlandschaft  zu  zeigen. 
Nicht  nur  wegen  der  leichten  Erreichbarkeit,  dem 
verhältnismäßig  gesundheitszuträglichen  Klima, 
den  guten  Verbindungen,  die  den  Reisenden  an 
alle  Teile  der  Insel  heranführen  und  der  sauberen 
Unterkunftshäuser,  der  ,, Rasthäuser"  ist  die  Insel 
für  das  Studium  empfehlenswert,  sondern  vor 
allem  auch  deshalb,  weil  sie  die  wichtigsten 
Formen  der  Tropenlandschaft  in  sich  vereint.    Wir 


zustreben,  während  die  geologischen  Formationen 
mehr  oder  weniger  durch  örtliche  Erderschei- 
nungen bestimmt  wurden,  wie  sie  auch  in  ganz 
verschiedenen  klimatischen  Gebieten  wiederkehren 
können,  mithin  nicht  für  eines  derselben  charakte- 
ristisch sind.  So  geht  es  nicht  an,  von  einer 
tropischen  Gebirgsform  zu  reden  —  diese  ent- 
spricht z.  B.  auf  Ceylon  durchaus  der  der  deutschen 
Mittelgebirge  —  wohl  aber  kann  man  von  einer 
tropischen  Pflanzenwelt  sprechen. 


region,  als  auch  Brackwasserseen  mit  Mangrove- 
vegetation,  feuchtes  und  trockenes  Tiefland  und 
Berge  in  Höhenlagen  bis  zu  2500  Meter.  Am 
Westabhange    des  Gebirges  wächst   prachtvollster 


•)  Die  allgemeinen  Resultate  dieser  Reise,  Tiere,  Pflanzen 
und  Völker  betreffend,  sind  geschildert  in  meinem  Buche: 
Einführung  in  die  Tropenwelt.  Erlebnisse,  Beobachtungen 
und  Betrachtungen  eines  Naturforschers  auf  Ceylon.  Leipzig, 
W.   Engelmann,    1911. 


-)    Ich    habe    solches    dargelegt    in    meinem    Buche    „Der 

Es    war    der    Wunsch,     die   Physiognomie    der       Naturschutz"     Freiburg    i.    Br.    igio.       Der    wissenschaftliche 

Tropenlandschaft     zu    studieren       der     mich     veran-        Naturschutz     ist    ein     noch    jungfräuliches    Gebiet,     das    aber 

InRtn   Anr,  \A?:„i       -.^,^1..        f /^'    1  i_   •  i\        'J'ic  große  Zukunft  hat.    Mir  wenigstens  scheint  die  Arbeit  in 

laßte,  den  Wmter  1910/1 1  auf  Ceylon  zuzubringen.^)       ji,,,^  Gebiet  so  wichtig,   daß  ich  dem  Naturschutz  ein  eigenes 

Ich    kam    dazu  durch  Beschäftigung  mit  Fragen        Institut  und  einen  Lehrstuhl  wünsche. 


562 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


Regenwald,  hier  regnet  es  das  ganze  Jahr,  auch 
zur  schönen  Jahreszeit  entlad  sich  fast  jeden  Tag 
am  Nachmittag  ein  Gewitter.  Den  Gegensatz  dazu 
bildet  die  Südostecke  der  Insel,  auf  der  es  nur 
in  einem  Monat  Niederschläge  gibt,  und  auch  in 
diesem  nur  selten.  Die  Landschaft  zeigt  an  dieser 
Stelle  daher  das  Bild  einer  Trockensteppe  oder 
eines  dornigen  Busches,  charakterisiert  durch 
Kakteen,  Euphorbien  und  versehen  mit  Salz- 
inkrustrierungen.  Alles  in  allem  sind  die  Gegen- 
sätze der  Landschaften  auf  Ceylon  so  groß,  daß 
man  kaum  glaubt,  in  demselben  Kontinent,  ge- 
schweige denn  auf  derselben  Insel  zu  weilen,  wenn 
man  von  einer  in  die  andere  kommt.  Immer  aber  ist 
es  außer  dem  Klima  die  Pflanzenwelt,  die  dem 
Bilde  den  Stempel  aufdrückt.  Die  geologischen 
Formationen  bieten  uns  nichts  Fremdartiges,  die 
Formen  des  Gebirges  erinnern,  wie  schon  er- 
wähnt, immer  wieder  an  unsere  Mittelgebirge.  Nur 
die  Farbe  des  Bodens  ist  im  Tiefland  eigenartig. 
Sie  ist  nämlich  kräftig  dunkelrot;  schon  wenn 
man  in  Colombo  ans  Land  tritt,  fällt  einem  die 
durch  ihre  rote  Farbe  ordentlich  festlich  aus- 
sehende Straße  auf.  Auf  dem  Lande  aber  wirkt 
das  Rot  der  Straße  noch  schöner,  weil  Palmen 
hier  den  Boden  überschatten,  durch  deren  glitzernde 
Fiederblätter  Sonnensterne  auf  die  Straße  fallen 
und  ihn  auf  das  zarteste  marmorieren.  Es  ist  der 
Laterit,  der  dem  tropischen  Boden  die  rote  Farbe 
gibt.  Der  Laterit  ist  ein  typisch  tropisches,  an 
feuchtes  Klima  gebundenes  Zersetzungsprodukt 
des  Urgesteins,  das  durch  Bakterienwirkung  zu- 
stande kommen  soll.  Und  so  häufig  ist  er  in  der 
Äquatorialzone,  daß  man  meint,  er  nehme  ein 
Viertel  der  gesamten  festländischen  Erdoberfläche 
ein. 

So  ist  die  erste  Farbe,  die  dem  Reisenden  in 
den  Tropen  ins  Auge  fällt,  Rot.  Und  Rot  mit 
allen  seinen  Abschattierungen  nach  Orange  und 
Gelb  ist  überhaupt  charakteristisch  für  die  äqua- 
toriale Landschaft.  Schon  das  Licht  enthält  in 
den  Tropen  viel  mehr  gelbe  Strahlen  als  bei  uns. 
Das  merkt  zuerst  der  Photograph.  Bei  dem 
grellen  Sonnenlicht  glaubt  er  nur  kurz  belichten 
zu  müssen,  und  ist  dann  sehr  erstaunt,  beim  Ent- 
wickeln gänzlich  unterbelichtete  Platten  zu  erhalten. 
Abends  tritt  das  gelbe  Licht  auch  äußerlich  in 
Erscheinung.  Schon  im  Roten  Meer  fällt  es  dem 
scharfen  Beobachter  auf,  daß  die  Sonnenuntergänge, 
die  allabendlich  eine  wunderbare  Farbenpracht 
entwickeln,  sich  von  den  unseren  dadurch  unter- 
scheiden, daß  in  der  heißen  Zone  das  Rot  nach 
Orange  und  Gelb  sich  abschattiert,  bei  uns  nach 
Rosa.  Zu  dem  orangeglühenden  Horizont  stimmt 
wunderbar  das  kräftig  ultramarinblaue  Meer,  dessen 
Wellenkämme  wie  mit  Goldschaum  bedeckt  sind. 
Und  der  Himmel  erscheint  durch  die  gelben 
Strahlen  fast  grün,  während  die  zarten  Wölkchen, 
die  in  ihm  schwimmen,  goldumsäumt  sind.  Noch 
mehr,  als  beim  eigentlichen  Sonnenuntergang, 
kommt  das  Gelb  bei  dem  Nachglühen  zum  Vor- 
schein,   einer    farbenprächtigen    Lichterscheinung, 


die  für  die  Tropen  charakteristisch  ist.  Etwa  eine 
halbe  Stunde  nach  Sonnenuntergang,  wenn  es 
schon  etwas  dunkler  geworden  ist,  flammt  der 
Horizont  noch  einmal  in  leuchtendstem  Goldgelb 
auf,  und  tiefschwarz  zeichnen  sich  von  ihm  die 
Fiederkronen  der  Palmen  ab.  Ich  habe  die  einzig- 
schöne Kontrastwirkung  immer  wieder  mit  neuer 
Bewunderung  angeschaut. 

Es  ist  merkwürdig,  daß  auch  die  tropischen 
Pflanzen  und  Tiere  viel  mehr  orangene  Farben- 
töne zeigen  als  bei  uns,  wo  ja  ein  kräftiges  Orange 
in  der  Natur  fast  überhaupt  fehlt.  Tulpengroße 
orangene  Blüten  hat  ein  buchengroßer  afrikanischer 
Baum,  die  Spathodea  campanulata;  die  schon  in 
Ägypten  gepflanzte  Flammenakazie  (Poinciana 
regia)  hat  orangene  Blütentrauben,  und  noch  viele 
ähnlich  gefärbte  Blüten  ließen  sich  nennen.  Aber 
nicht  nur  sie,  sondern  auch  die  jungen  Blätter 
zeigen  diese  Farbe,  so  besonders  der  Eisenbaum 
(Mesua  ferrea)  und  die  Litseen  des  Hochlandes. 
Zwei  indische  Schmetterlinge,  Ophideres  materna 
und  fuUonia,  gleichen  unseren  Ordensbändern,  nur 
sind  ihre  Hinterflügel  statt  rosa  orange  gefärbt. 
Ein  prächtiger  Vogel,  Pericrocotus  flammeus,  hat 
ein  aus  Orange  und  Schwarz  zusammengesetztes 
Gefieder,  auch  der  Kopf  der  chamäleonartigen 
Schönechsen  (Calotes)  glüht  orange  bis  zinnober- 
rot. Diese  Beispiele  ließen  sich  noch  vermehren. 
Und  es  ist  vielleicht  kein  Zufall,  daß  auch  die 
Eingeborenen  in  ihrer  Kleidung  rot  und  gelb 
karrierte  Stoffe  bevorzugen. 

Man  denkt  überhaupt,  wenn  man  die  Tropen 
nennen  hört,  an  glühende,  reiche  Farben.  Farbig, 
duftend,  üppig,  das  sind  die  drei  Eigenschaften, 
die  man  bei  uns  mit  der  Tropenwelt  verknüpft. 
Aber  wie  so  oft  verspricht  uns  auch  hier  unsere 
Phantasie  mehr,  als  die  Wirklichkeit  halten  kann. 
Ja  man  kann  sogar  sagen,  daß  jene  drei  Eigen- 
schaften eher  zu  der  Physiognomie  unserer  Land- 
schaft gehören ,  als  zu  der  der  tropischen.  Und 
das  läßt  sich  beweisen. 

Es  sind  die  Blumen,  die  bei  uns  die  haupt- 
sächliche Farbenpracht  in  Wald  und  Feld  ent- 
wickeln, dazu  kommen  dann  im  Frühling  das 
frische  Laub  und  die  lichtgrünen  Spitzen  der 
Tannen  und  Fichten,  und  im  Herbst  die  bunten, 
fallenden  Blätter.  Das  Nadelholz  erhält  auch  der 
schneebedeckten  Landschaft  die  grüne  Farbe  und 
gibt  gerade  im  Winter  schöne  Gegensätze.  Dazu 
ist  es  gerade  diese  Baumgruppe,  die  den  wesent- 
lichsten Beitrag  zum  Duft  des  Waldes  gibt,  einen 
Duft,  der  besonders  nach  dem  Regen  kräftig  und 
erfrischend  hervortritt.  Nadelhölzer  aber  fehlen 
im  Tropengürtel  der  Erde.  Für  uns  Europäer 
ist  das  ein  Verlust,  den  auch  die  Palmen  nicht 
wettmachen.  Denn  nicht  nur  strömen  diese 
Königinnen  des  Südens  keinen  Geruch  aus,  auch 
die  ernste  und  doch  so  weiche  Form  einer  Fichte 
erreichen  sie,  wenigstens  meiner  Ansicht  nach,  an 
Schönheit  nicht. 

Auch  Farbenpracht  und  Duft  der  Blumen  ist 
in  den  Tropen  nicht  in  dem  Maße  vorhanden  wie 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


563 


bei  uns.  Das  liegt  vor  allem  an  folgendem.  In 
unserem  Klima  haben  die  Pflanzen  mit  dem 
Winter  zu  rechnen,  also  mit  einer  Jahresperiode, 
in  der  es  ihnen  unmöglich  ist,  ihre  Lebensfunktionen 
frei  zu  entfalten,  zu  wachsen,  an  sich  zu  bauen, 
sich  zu  vermehren.  Ein  Teil  der  Pflanzen  hat 
sich  an  den  Winter  angepaßt,  das  sind  die  Bäume. 
Diese  kapseln  ihre  Triebe  ein,  werfen  das  Laub 
ab,  um  es  wieder  im  Frühling  zu  ersetzen  oder 
haben  in  den  Nadeln  widerstandsfähige  Organe 
ausgebildet.  Aber  die  Zahl  der  Bäume  und  auch 
der  Sträucher  ist  gering  bei  uns.  Wie  schon  der 
erste  Blick  in  eine  europäische  Flora  lehrt,  sind 
weitaus  die  meisten  unserer  Pflanzen  Kräuter. 
Diese  haben  im  vorhinein  auf  den  Kampf  mit 
dem  Winter  verzichtet,  sie  geben  ihre  oberirdischen 
Triebe  einfach  preis  und  erhalten  ihre  Art 
nur  in  dem  durch  harte  Schalen  geschützten 
Samen  oder  in  der  Wurzel,  die  in  der  warmen 
Frde  den  Winter  überdauert.  Wir  haben  Tausende 
von  solchen  Kräutern  in  Deutschland ,  aber  nur 
36  einheimische  Baumarten,  dagegen  hat  allein 
die  Insel  Java  1500  wildwachsende  Baumarten, 
und  auf  Ceylon  sind  es  kaum  weniger.  In  den 
Tropen  gibt  es  eben  keinen  Winter.  Nicht  hohe 
Temperaturen  zeichnen  die  Aquatorialländer  aus 
—  das  mittlere  Temperaturmaximum  von  Wien 
ist  sogar  höher  wie  das  von  Colombo,  Buitenzorg 
und  Rio  de  Janeiro  — ,  sondern  gleichmäßige 
Wärme.  Bei  uns  schwankt  die  Temperatur  im 
Laufe  des  Jahres  um  50  Grad  und  mehr,  im 
tropischen  Tiefland  um  3—5  Grad.  Bei  einer 
derartig  gleichmäßigen  Temperatur  ist  es  den 
tropischen  Pflanzen  möglich ,  das  ganze  Jahr  an 
sich  zu  bauen  und  ununterbrochen  auf  dem  Vor- 
handenen wieder  aufzusetzen ,  während  unsere 
Kräuter  jeden  Frühling  wieder  von  unten,  vom 
Erdboden  anfangen  müssen.  Darum  ist  die  Mehr- 
zahl unserer  Pflanzen  niedrig,  die  der  tropischen 
hoch,  baumartig,  mit  holzigen  Stämmen  versehen. 
Schon  in  den  botanischen  Gärten  zu  Peradeniya, 
Buitenzorg,  Singapore  und  Rio  de  Janeiro  tritt 
das  hervor.  Diese  Gärten  haben  nämlich  weniger 
das  Aussehen  eines  Blumengartens,  als  das  eines 
englischen  Parks,  eines  Arboretums.  ^) 

Die  baumartige  Entwicklung  einer  Pflanze  hat 
aber  zur  Folge,  daß  sie  ihre  Blütenpracht  in  die 
Höhe  hebt  und  zum  großen  Teil  dem  Auge  des 
Beschauers  entzieht.  Es  gibt  natürlich  herrlich 
blühende  Tropenbäume  mit  farbenprächtigen,  zahl- 
reichen und  großen  Blüten,  und  jedem  Reisenden 
werden  z.  B.  die  bereits  erwähnten  Spathodeen 
am  See  von  Kandy  auf  Ceylon  oder  der  Bombax 
mit  seinen  tulpengroßen,  erdbeerroten  Blüten,  die 
den  ganzen,  zu  dieser  Zeit  blätterlosen  Baum  über- 
säen, unvergeßlich  bleiben.  Jedoch  ein  solcher 
Anblick  bietet  sich  vorwiegend  dort,  wo  die 
Bäume  in  Alleen  oder  auf  dem  Rasen  freistehend 


')  Ausführlich  begründet  hat  den  Unterschied  zwischen 
tropischen  und  europäischen  Pflanzen  Haberlandt,  Eine 
botanische  Tropenreise.  Leipzig  1910.  Siehe  auchHolter- 
mann,  In  der  Tropenwelt.     Leipzig   1912. 


gepflanzt  sind.  Im  allgemeinen  ist  aber  der  natür- 
liche Standort  der  Bäume  der  Wald,  der  Urwald, 
und  in  diesem  entzieht  das  Blätterdach  und  die 
kreuz  und  quer  sich  rankenden  Lianen  dem  Auge 
des  Wanderers  das  Blütenmeer  der  Höhe. 

Bei  uns  hingegen  legt  sich  die  Blütenpracht 
der  Kräuter  als  bunter  Teppich  uns  zu  Füßen, 
den  wir  weithin  überschauen  können.  Eine  solche 
Farbenpracht,  wie  sie  eine  Blumenwiese  oder  ein 
Chausseegraben  unserem  Auge  bietet,  wird  man 
in  den  Tropen  vergebens  suchen. 

Das  hat  auch  noch  einen  anderen  Grund.  Die 
europäische  Pflanzenwelt  kann  ihre  Blüten  nur 
innerhalb  von  vier  bis  fünf  IVIonaten  bilden,  während 
in  den  winterlosen  Tropen  dafür  das  ganze  Jahr 
zur  Verfügung  steht.  Es  gibt  zwar  auch  in  den 
Tropen  regelmäßig  wechselnde  günstigere  und  un- 
günstigere Bedingungen  für  die  Organismen.  Diese 
Zeiten  werden  durch  die  Winde  verursacht,  die 
bald  vom  Meere  kommen  und  Regen  bringen, 
bald,  aus  großen  Landmassen  herüberwehend,  die 
Feuchtigkeit  aufzehren.  Aber  derartige  Regen- 
und  Trockenzeiten  schneiden  doch  nicht  entfernt 
so  scharf  in  das  Leben  der  Organismen  ein,  wie 
unser  Winter  und  Sommer.  Und  so  kann  man 
am  Äquator  zu  jeder  Zeit  blühende  Bäume  sehen 
oder  solche  mit  frischen  Blättern  und  wieder 
andere  ohne  Laub,  denn  auch  manche  Tropen- 
bäume haben,  wie  z.  B.  der  obengenannte  Bom- 
bax, die  Gewohnheit  vor  der  Blütezeit  die  Blätter 
abzuwerfen  und  diese  erst  nach  vollendeter  Blüte 
neu  zu  entfalten,  Verhältnisse,  die  wir  an  unserem 
Obst  und  den  Magnolien  kennen. 

Natürlich  wirkt  aber  das  Landschaftsbild  farben- 
freudiger, wenn  die  meisten  Pflanzen  gleichzeitig, 
oder  doch  wenigstens  in  kurzer  Aufeinanderfolge 
blühen.  Unserem  Frühling  haben  die  Tropen 
nichts  Gleichwertiges  an  die  Seite  zu  stellen. 
Genießen  wir  doch  das  Aufblühen  der  Natur  ge- 
rade deshalb  so  sehr,  weil  diese  vorher  monate- 
lang schlummerte.  Der  Gegensatz  ist  es,  der 
auch  den  sonst  der  Natur  fremd  Gegenüberstehen- 
den auf  die  bunte,  duftige  Pracht  in  Wald  und 
P'eld  aufmerksam  macht. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  werden  wir 
unseren  Winter  nicht  verdammen,  sondern  preisen. 
Er  erst  lehrt  uns  den  Sommer  richtig  einschätzen. 
Überhaupt  ist  es  ja  der  Kampf,  der  Kraft  und 
Schönheit  schafft.  Wie  die  Völker  in  einem 
gleichmäßig  schönen  Klima  und  in  einer  reichen 
Gegend  erschlaffen,  ja  zugrunde  gehen,  so  ent- 
wickelt auch  die  Natur  ihr  prächtigstes  Bild  dort, 
wo  sie  zu  kämpfen  hat.  Darum  wirkt  die  Pflanzen- 
welt nicht  nur  farbenreicher  und  duftiger  bei  uns, 
sondern  auch  frischer,  kräftiger,  ja  selbst  üppiger. 
Wer  mit  übertriebenen  Vorstellungen  von  „tro- 
pischer Üppigkeit"  an  den  Äquator  reist,  wird  von 
dem  Erschauten  sehr  enttäuscht  sein. 

Es  soll  damit  natürlich  nicht  gesagt  sein,  daß 
die  tropischen  Pflanzen  keinen  üppigen  Wuchs 
hätten.  Doch  dieser  zeigt  sich  in  anderer  Form 
wie  bei  uns,  wir  aber  gehen,    wenn  wir  uns  eine 


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tropische  Üppigkeit  vorstellen,  von  europäischen 
Anschauungen  aus,  die  wir  nur  noch  bedeutend 
steigern.  Für  uns  ist  die  Pflanzenwelt  dann  üppig, 
wenn  sie  in  reicher  Fülle  saftiger  Blätter  schwelgt. 
Gerade  diese  Eigenschaften  aber  charakterisieren 
unsere,  nicht  die  tropischen  Pflanzen. 

Was  zunächst  die  Fülle  des  Laubes  betrifft, 
so  ist  es  verständlich,  daß  unsere  Bäume  und 
Sträucher  mehr  Blätter  haben  müssen  als  die 
tropischen,  da  sie  eben  nur  in  wenig  Monaten 
sie  entfalten  können.  Um  trotzdem  wachsen  und 
an  sich  bauen  zu  können,  müssen  sie  die  Organe 
dazu,  die  Blätter,  so  viel  es  geht,  vermehren.  Der 
Tropenbaum  hingegen,  der  das  ganze  Jahr  Blätter 
tragen  kann,  kommt  mit  weniger  Laub  aus.  Ein 
so  dichtes  Blätterdach,  wie  die  Buche  oder  gar 
die  Kastanie  haben  die  äquatorialen  Bäume  im 
allgemeinen  nicht.  Darum  ist  es  auch  im  tro- 
pischen Urwald  niemals  so  finster  wie  in  unseren 
Buchen-  oder  Fichtenforsten.  Die  Sonne  spielt 
durch  das  dünngesäete  Laub  bis  auf  den  Boden 
und  läßt  hier  reichlichen  Unterwuchs  aufsprießen. 
Licht  und  freundlich,  hell  und  glitzernd  ist  es 
überall.  Und  es  ist  bezeichnend,  daß  die  Tiere, 
die  in  diesem  lichten  Wald  \or  ihren  Artgenossen 
auffallen  sollen,  damit  Männchen  und  Weibchen 
sich  erkennen,  ernste  Farben  haben.  So  zeigen 
die  handgroßen,  prachtvollen  Schmetterlinge  In- 
diens aus  den  Geschlechtern  Papilio  und  Orni- 
thoptera  vielfach  ein  tiefes  Sammetschwarz  als 
Grundfarbe,  von  der  sich  daim  grün,  gelb,  rot 
oder  blau  leuchtend  abhebt.  Unsere  größeren 
Tagfalter,  von  der  Gattung  Papilio  gibt  es  bei 
uns  den  Schwalbenschwanz  und  Segelfalter,  sind 
viel  lichter  gefärbt. 

Bei  den  europäischen  Bäumen  ist  das  Geäst 
mehr  oder  weniger  von  der  Blättermasse  verdeckt, 
bei  den  tropischen  kann  man  vielfach  Äste  und 
Zweige  bis  in  die  höchsten  Spitzen  verfolgen. 
Das  Bild  eines  solchen  Baumes  gibt  uns  einiger- 
maßen unsere  Akazie  (Robinia  pseudacacia)  wieder. 
Die  Akazien  gehören  zu  den  Leguminosen,  sie 
entstammen  wahrscheinlich  dem  Süden,  und  zwar 
trockenen  Gegenden,  wie  denn  viele  von  ihnen 
Dornen  tragen,  eine  Bewaffnung,  die  für  Wüsten- 
bewohner charakteristisch  ist.  Denn  die  Wüsten- 
pflanzen haben  des  Wassermangels  wegen  nur 
weniges,  zartes  Laub  und  müssen  dieses  vor  den 
Pflanzenfressern  durch  Dornen  schützen.  Auch 
bei  unserer  Akazie  kann  man  das  Astwerk  in  der 
ganzen  Krone  verfolgen.  Das  ist  bei  den  tropischen 
Leguminosenbäumen  in  ähnlicher  Weise  der  Fall. 
So  wird  in  Indien  und  auch  in  Afrika  als  Allee- 
baum gern  der  Guanco  (Pithecolobium  saman) 
gepflanzt.  Der  aus  Amerika  stammende  Baum 
breitet  schirmartig  seine  große  Krone  über  die 
Straße,  durch  das  lichte,  zart  gefiederte  Laub 
fallen  überall  .Sonnenstrahlen  hindurch  und  marmo- 
rieren in  hübscher  Weise  den  Boden. 

Die  Tropenbäume  haben  mit  der  Gewalt 
tropischer  Regengüsse  zu  kämpfen ;  die  gefiederten 
Blätter  der  Leguminosen  bieten  den  Wasserstrahlen 


weniger  Angriffsraum  als  große,  ganzrandige  Blätter. 
Nun  gibt  es  in  den  Tropen  aber  auch  Bäume  mit 
derartigem  Laub.  Aber  dann  sind  die  Blätter 
meistens  widerstandsfähig  gegen  die  Gewalt  des 
Wassers,  sie  sind  dick  und  lederartig.  Unsere 
Lorbeerbäume,  besser  noch  der  Kirschlorbcer  ver- 
anschaulichen diese  Art  von  Blättern,  die  für  die 
Tropenbäume  so  charakteristisch  sind,  daß  sie  die 
Physiognomie  des  Urwaldes  so  recht  eigentlich 
bezeichnen. 

Nicht  nur  gegen  die  Regengüsse,  auch  gegen 
die  am  Äquator  senkrecht  fallenden  Sonnenstrahlen 
müssen  sich  die  Tropenblätter  schützen.  Darum 
sind  sie  nicht  nur  dick  und  fest,  sondern  auch 
glänzend.  Sie  blenden  so  die  Sonnenstrahlen  ab, 
werfen  sie  zurück  und  werden  nicht  so  durch- 
leuchtet wie  die  transparenten  Blätter  unserer 
Pflanzen.  Sehr  richtig  sagt  Haberlandt,  daß 
man  den  Unterschied  der  europäischen  von  den 
tropischen  Blättern  durch  die  Worte  Transparenz 
und  Reflexion  ausdrücken  könne.  Durchscheinende 
Blätter  aber  erscheinen  frischer,  saftiger  als  harte, 
reflektierende.  Und  so  entspricht  auch  diese 
Eigenart  des  tropischen  Laubes  nicht  unseren 
Vorstellungen  von  Üppigkeit. 

Schauen  wir  am  Äquator  von  einem  Berge 
herab  auf  den  Urwald  oder  auch  auf  die  weiten 
Haine  von  Kokospalmen,  wie  sie  dort  an  der 
Meeresküste  so  verbreitet  sind,  so  gewahren  wir 
kein  frisches  Grün,  sondern  die  glitzernde  Blätter- 
masse dort  unten  ist  graugrün;  scharf  umgrenzt 
hebt  sich  Baumkuppel  von  Baumkuppel  ab,  be- 
sonders im  Hochland  wirkt  alles  so  plastisch,  daß 
man  jedes  Blatt  zählen  zu  können  glaubt.  Alles 
ist  klar  umrissen,  voneinander  abgesetzt,  wir  haben 
keine  so  zarten,  ineinander  verschwimmenden  Linien 
und  Flächen  wie  bei  uns.  Ich  hatte  manchmal 
das  Gefühl,  daß  ein  derartiges  Bild  das  Auge  ab- 
stoße, während  die  Farben  unserer  Landschaft 
von  ihm  aufgesaugt  würden.  Und  in  der  Tat  be- 
obachtet man,  daß  die  Reisenden  an  der  glitzernden 
Tropenlandschaft  sehr  bald  ermüden.  Nur  wer 
sich  in  die  fremdartige  Welt  vertieft,  der  wird 
auch  hier,  wie  überall  in  der  Natur,  die  hohe 
Schönheit  erkennen. 

Man  stellt  sich  immer  vor,  in  den  Tropen  sei 
alles  viel  grüner  als  bei  uns,  und  sogar  die  Wissen- 
schaft hat  das  angenommen  und  daraus  ihre 
Schlüsse  gezogen.  Es  gibt,  im  Gegensatz  zu 
Europa,  in  den  Äquatorialländern  eine  ganze  Reihe 
großer  grüner  Vögel,  z.  B.  verschiedene  Tauben, 
Papageien,  Spechte,  Bienenfresser,  Blaltvögel  (Phyl- 
lornis),  Megalaemas.  Man  hat  nun  gemeint,  diese 
Farbe  als  Schutzfärbung  in  dem  grünen  Tropen- 
walde ansprechen  zu  müssen.  Ich  aber  habe  zu 
meinem  Erstaunen  bald  gesehen,  daß  die  licht- 
grüne Farbe  der  Vögel  im  Laub  sehr  auffiel, 
weil  dieses  eben  nicht  lichtgrün  ist  wie  bei  uns, 
sondern  dunkler  und  grauglitzernd.  Die  grüne 
Farbe  tropischer  Vögel  kann  also  nicht  die  Be- 
deutung einer  Schutzfärbung  haben,  sondern  im 
Gegenteil,  sie  hebt  die  Tiere  aus  der  Natur  heraus, 


1 


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gibt  ihnen  ein  charal^teristisches,  weitliin  erkenn- 
bares Äußere  und  so  den  Artgenossen  die  MögHch- 
keit,  das  andere  Gesclileclit  zu  finden.  Bestätigt 
wird  diese  Ansiclit  durch  den  Vergleich  der  grünen 
mit  anderen  Vögeln.  Wir  beobachten  nämlich 
im  allgemeinen,  daß  bei  den  Vögeln  die  Schutz- 
färbung im  Einklang  mit  dem  Brutgeschäft  steht. 
Offen  brütende  Vögel,  wie  Rotkehlchen,  Nachti- 
gallen, Grasmücken,  Lerchen,  Rebhühner  sind  un- 
scheinbar gefärbt,  und  in  der  Tat,  würden  sie  aus 
ihrer  Umgebung  hervorstechen,  dann  wären  sie 
dem  Auge  der  Feinde  allzu  leicht  sichtbar  und  mit 
ihnen  wären  Eier  oder  Junge  gefährdet.  Vögel 
hingegen,  die  in  finsteren  Höhlen  brüten,  bedürfen 
der  Schutzfärbung  nicht,  bei  ihnen  können  in 
beiden  Geschlechtern  die  „Arterkennungsfarben" 
zur  Geltung  kommen,  und  das  ist  denn  auch  bei 
den  Spechten,  Meisen,  Blauraken,  Eisvögeln  der 
Fall,  Tieren,  die  derartige  Brutgelegenheiten  auf- 
suchen. Nun  besteht  aber  die  Mehrzahl  jener 
grünen  Vögel  ebenfalls  aus  Höhlenbrütern.  In 
Baum-  und  anderen  Höhlen  brüten  Papageien, 
Spechte,  Bienenfresser,  Megalaemas,  und  auch  bei 
einigen  der  grünen  Tauben  ist  eine  derartige  Brut- 
gelegenheit beobachtet  worden.  Ein  besonders 
schlagender  Beweis  für  meine  Deutung  gibt  eine 
Gattung  neuseeländischer  Papageien  (Eclectus). 
Diese  Tiere  sind  nämlich  im  männlichen  Geschlecht 
grün,  im  weiblichen  rot,  wir  kennen  aber  sonst 
kein  Beispiel,  wo  das  brütende  und  für  die  Art- 
erhaltung wichtigere  Weibchen  die  Schutzfärbung 
entbehren  muß,  während  das  Männchen  sie  hat. 
Vielmehr  ist  überall,  wo  die  Geschlechter  in  der 
Färbung  sich  unterscheiden,  das  Umgekehrte  der 
Fall. 

Nicht  nur  die  ausgewachsenen  Blätter  stören  durch 
ihre  glitzernde  Beschaffenheit  den  frisch  grünen 
Eindruck  des  Tropenwaldes,  sondern  auch  die 
jungen.  Diese  bedürfen  nämlich  wegen  ihrer  noch 
zarten  Beschaffenheit  eines  besonderen  Schutzes 
gegen  Sonnenstrahlen  und  Regengüsse,  und  so 
sehen  wir,  daß  sie  zunächst  eine  Farbe  entwickeln, 
die  die  Sonnenstrahlen  weniger  kräftig  in  ihr 
Inneres  dringen  läßt,  nämlich  rot.  Ich  war  sehr 
überrascht,  als  ich  zum  ersten  Male  einen  voll- 
ständig feuerroten  Baum,  es  war  der  Eisenbaum 
(Mesua  ferrea)  erblickte.  Noch  stärker  wirkt  aber 
diese  Erscheinung  im  Hochland.  In  2000  m  Höhe 
darf  auf  Ceylon  der  Wald  nicht  mehr  geschlagen 
werden,  weil  er  das  Wasserreservoir  der  ganzen 
Insel  darstellt.  Hier  oben  bedeckt  er  daher  meilen- 
weit die  sanftgewellten  Höhen  in  reizvoller  Ab- 
wechslung mit  wogenden  Steppen,  die  aus  einem 
zitronenartig  duftenden  Grase  (Andropogon  martini) 
zusammengesetzt  sind.  Im  Walde  überwiegen 
Bäume  aus  den  Gattungen  Litsea  und  Calophyllum, 
es  sind  das  knorrige  Pflanzengestalten,  etwa  von 
der  Höhe  unserer  Obstbäume  mit  lederartigen, 
glitzernden  Blättern.  Darunter  wogt  in  grüner 
Üppigkeit  der  Dschangelbambus ')  (Arundinaria 
walkeriana)  —  der  Bambus  ist  eine  Tropenpflanze, 
deren  Laub  wirklich  lichtgrün,  zart  und  saftig  aus- 


sieht — ,  oder  der  Nillu  (Strobilanthus  pulcherri- 
mus),  dessen  alle  12  Jahre  erfolgende,  bienen- 
durchsummte  Biütenpracht  einen  herrlichen  An- 
blick gewährt.  Von  den  Bäumen  steht  nun  jeder 
in  einem  anderen  Stadium  der  Blätterentwicklung, 
und  so  ist  der  eine  karminrot,  der  nächste  orange, 
wieder  einer  gelb,  und  so  geht  die  ganze  h'arben- 
skala  fort  bis  grün.  Hier  hat  man  wirklich  ein 
Bild  vor  sich  von  unerhörter  Buntheit  und  man 
genießt  es  um  so  mehr,  als  im  Hochland  von 
Ende  Dezember  an  tagaus,  tagein  ein  herrlich 
blauer  Himmel  leuchtet  und  frischeste  Luft  dem 
Wanderer  die  Lunge  weitet.  Als  ich  zum  ersten 
Male  die  bunte  Pracht  sah,  wollte  ich  es  kaum 
glauben,  daß  die  roten  Baumkuppeln  ihre  Farbe 
durch  Blätter,  nicht  durch  Blüten  erhalten  hatten. 

Es  ist  eine  sehr  verbreitete  Eigenart  tropischer 
Bäume,  daß  die  jungen  Blätter  an  den  Zweig- 
enden in  ganzen  Schöpfen  hervorsprießen  und 
hier  schlaff  und  weich  nach  unten  hängen  — 
ebenfalls  ein  Schutz  gegen  Sonne  und  Regen.  Der 
Buitenzorger  Botaniker  Treub  hat  treffend  dar- 
gelegt, daß  man  in  den  Tropen  nicht  sagen  könne: 
,,die  Bäume  sprießen",  sondern  vielmehr  die  Wen- 
dung gebrauchen  müsse,  „die  Bäume  schütten  die 
Blätter  aus".  Für  uns  aber  macht  es  zwar  einen 
fremdartigen,  aber  durchaus  keinen  Eindruck  von 
Üppigkeit,  wenn  an  den  spärlich  belaubten  Zweig- 
enden derartige  braun  oder  gelblich  gefärbte 
weiche  Blätterschöpfe  herabhängen. 

Welches  ist  nun  der  Eindruck  des  Tropen- 
waldes auf  den  Europäer,  wenn  es  nicht  der  der 
Üppigkeit  ist ?  Es  ist  der  der  Wucht,  der  Monu- 
mentalität. Während  unser  Wald  aus  einer 
Säulenmasse  und  einem  Blätterdach  besteht,  geht 
im  tropischen  Urwald  das  Holzwerk  überall  durch- 
einander. Da  schwingen  sich  zwischen  den 
Bäumen  die  armesdicken  Stämme  der  Lianen  wie 
elastische  Riesenseile,  andere  verlaufen  schräg  nach 
unten,  wieder  andere  liegen  zu  Füßen  eines  Baum- 
riesen zusammengerollt  wie  ein  Knäuel  von 
Schlangen.  Mächtige  Holzentwicklung  ist  das 
Wesen  des  Tropenwaldes.  Überall  sieht  man 
Stämme  und  Aste  in  bizarren  Linien  kreuz  und 
quer  ziehen.  Nur  im  eigentlichen  Regenwald  ist 
das  Holz  vielfach  verdeckt.  Wie  grüne  Feder- 
boas umgeben  die  Schlingpflanzen  Pothos  scandens 
und  Freycinetia  die  Stämme  der  Bäume  in  dem 
feuchten  Urwald  des  Westabhangs  des  Ceylon- 
sehen  Gebirges,  und  von  den  Asten  nicken  die 
Blätter  epiphytischer  Baumfarne  herab.  Aber 
auch  hier  verbirgt  das  Grün  nur  selten  den 
monumentalen  Bau  der  Bäume.  Denn  monumen- 
tale Gestalt  ist  den  meisten  Tropenbäumen  eigen. 
Bei  dem  einen  steigt  der  Stamm  mastgleich  und 
riesenhaft  in  die  Höhe,  nur  ganz  oben  eine  Blätter- 
krone tragend,  ein  zweiter  verzweigt  sich  schon 
bald    über    dem    Boden,    und    schirmartig    gehen 

')  Es  heißt  Dschangel,  nicht  Dschungel,  denn  es  geht 
nicht  an,  in  der  englischen  Schreibweise  des  indischen  Wortes 
,, Jungte"  nur  das  J,  nicht  auch  das  u,  das  als  reines  a  ge- 
sprochen wird,  zu  verdeutschen. 


566 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


seine  Äste  auseinander.  Auch  die  Linien  der 
Äste  sind  wuchtiger  als  bei  uns.  Vielfach  geht 
der  Ast  zuerst  wagrecht,  dann  mit  scharfem  Knick 
senkrecht  nach  oben.  An  einer  solchen  Biegung 
beginnt  dann  der  Regen  seine  zerstörende  Wir- 
kung auszuüben,  und  Höhlungen  bilden  sich,  die 
von  den  Vögeln  als  Nistrauni  benutzt  werden. 
Überhaupt  ist  es  diese  Eigenart,  wie  die  starke 
Holzbildung  der  Tropenbäume,  die  es  bedingen, 
daß  es  am  Äquator  viel  mehr  Baumhöhlenbriiter 
unter  den  Vögeln  gibt  als  bei  uns. 

Nicht  nur  Stamm  und  Äste  der  Tropenbäume 
haben  einen  monumentalen  Aulbau,  sondern  viel- 
fach auch  schon  die  Wurzeln.  Auf  meterhohen 
„Bretterwurzeln"  erheben  sich  die  Canariumarten, 
wie  Kulissen  stehen  diese  rosettenförmig  vom 
Stamme  ab.  Ficus  elastica  sendet  ein  ganzes 
Schlangengewirre  von  kammartig  aus  dem  Boden 
ragenden  Wurzeln  aus,  wieder  andere  Bäume,  wie 
die  Pandangs  (Pandanus)  stehen  gar  auf  Stelzen. 
Bei  vielen  tropischen  P'eigcnbäumen  (z.  B.  Ficus 
benjamina),  senken  sich  von  den  Zweigen  Luft- 
wurzeln herab,  die  in  den  Boden  dringen  und  all- 
mählich selbst  zu  starken  Stämmen  werden.  An 
einer  Straßenkreuzung  in  Colombo  steht  ein  ganzer 
Hain  von  Bäumen.  So  glaubt  man  wenigstens 
nach  der  Zahl  der  Stämme  das  Pflanzenbild  be- 
nennen zu  müssen.  In  Wirklichkeit  sind  die 
scheinbaren  Stämme  Luftwurzeln  und  der  ge- 
samte Hain  ist  nur  ein  einziger  Baum. 

Auch  die  Palmen  wirken  monumental,  vor 
allem  die  Fächerpalmen.  Die  Blätter  der  Talipot- 
palme  (Corypha  umbraculifera)  sind  so  groß,  daß 
sie  zusammengefaltet  ein  Zelt  bilden  können.  Die 
Palmyrapalme  (Borassus  flabelliformis)  hat  kleinere 
Blätter,  aber  gerade  diese  Palme  macht  einen 
sehr  monumentalen  Eindruck.  Nach  allen  Seiten 
starren  die  Fächerblätter,  die  unteren  sind  ab- 
getrocknet und  grau  von  Farbe,  und  manchmal 
glaubt  man  gar  keinen  lebenden  Baum,  sondern 
ein  Kunstwerk  aus  Holz  und  Stoff  vor  sich  zu  haben. 


In  der  Physiognomie  einer  Landschaft  spielen 
die  Tiere  eine  geringe  Rolle.  Nur  zum  Bilde  einer 
Seenlandschaft  in  den  heißen  Ländern  gehören 
rosenrote  Flamingos  und  weiße  Reiiier,  obgleich 
der  Mensch  diese  Schönheit  oft  genug  zerstört 
hat.  Für  die  indischen  Küstenstädte  sind  die 
Pausende  von  Krähen  (Corone  splendens)  charak- 
teristisch, die  statt  der  von  vielen  Reisenden  er- 
warteten Papageien  in  den  Palmen  sich  tummeln. 
Schöne  Schmetterlinge  sieht  man  häufig  und  auch 
die  „gefiederten  Schmetterlinge",  wie  wir  die 
Honigvögelchen  (Cinnyris)  nennen  können,  die  in 
den  östlichen  Tropen  die  Kolibris  Amerikas  er- 
setzen und  ihnen  an  Kleinheit  und  bronzeschillern- 
der Pracht  des  Gefieders  gleichen.  Wer  natürlich 
gelernt  hat,  zu  Hause  sich  in  die  Natur  zu  ver- 
tiefen, wird  in  den  Tropen  viel  Schönes  und 
Interessantes  aus  der  Tierwelt  auffinden.  Die 
meisten  Reisenden  verstehen  das  aber  nicht,  und 
es  war  mir  sehr  charakteristisch,  daß  von  meinen 
Mitreisenden  fast  keiner  bei  einem  dreiwöchent- 
lichen Aufenthalt  auf  Cejlon  Pagageien  gesehen 
hatte,  obgleich  diese  Vögel  dort  so  häufig  sind 
wie  bei  uns  die  Meisen.  Man  muß  eben  auf 
die  Stimmen  der  Vögel  achten,  wenn  man  sie 
sehen  will. 

Und  Stimmen  gibt  es  im  Tropenwald  genug 
zu  hören.  Auch  prachtvolle  Sänger  sind  nicht 
selten,  denn  es  ist  ein  Märchen,  daß  am  Äquator 
die  Vögel  nur  schön  aussähen,  aber  nicht  sängen. 
Nachts  aber,  wenn  der  Lärm  des  Tages  schweigt, 
dann  kommen  unzählige  Zikaden  und  Grillen  zur 
Geltung.  Ununterbrochen  gellt  ihr  Schrillen,  da- 
zwischen tönen  wie  kleine  blecherne  Schellen  die 
Rufe  von  F"röschen,  oder  das  klagend  jauchzende 
Geheul  von  Schakalen  läßt  sich  aus  der  P'erne 
hören.  Und  während  das  Ohr  dem  Leben  und 
Weben  der  Natur  lauscht,  schaut  das  Auge  ent- 
zückt auf  die  Myriaden  von  Leuchtkäfern,  die 
zwischen  den  dunklen  Stämmen  der  Bäume  ihren 
schweigenden  Funkentanz  aufführen. 


[Nachdruck  verboten.] 


Über  den  Cheniisniiis  der  alkoholischen  Gärung. 

Von  Dr.  H.  Mengel,  Marburg. 


Unter  Gärung  im  weitesten  Sinne  des  Wortes 
versteht  man  den  Abbau  von  komplizierten  or- 
ganischen Verbindungen  zu  einfacheren  und  ein- 
fachsten Substanzen  unter  dem  Einfluß  gewisser 
Mikroorganismen.  Es  handelt  sich  also  hierbei 
um  biochemische  Prozesse.  Im  engeren  Sinn 
bezeichnet  man  mit  Gärung  speziell  die  alko- 
holische. Ihr  besonderes  Merkmal  besteht  in 
der  Aufspaltung  gewisser  Zuckerarten  (Mono- 
saccharide) in  Alkohol  und  Kohlensäure,  die  durch 
die  Hefe  bewirkt  wird.  Dieser  Vorgang  wird 
durch  die  bereits  von  Gay-Lussac  zu  Beginn 
des  vorigen  Jahrhunderts  aufgestellte  Gärungs- 
gleichung summarisch  wiedergegeben : 
CgH.oOe  —>  2C2H5OH  +  2CO2. 


Über  die  Wirkungsweise  der  Hefe  bei  der 
Gärung  sind  bekanntlich  im  Laufe  des  vorigen 
Jahrhunderts  mehrere  Theorien  aufgestellt  worden: 
Liebig  erklärte  sie  rein  mechanisch  chemisch, 
P  a  s  t  e  u  r  deutete  sie  vitalistisch  als  physiologischen 
Lebensprozeß  der  Mikroorganismen ,  und  die 
moderne  Enzymtheorie  vermittelt  zwischen 
beiden  Auffassungen,  indem  sie  annimmt,  daß  der 
eigentliche  Gärungsvorgang,  also  der  Zuckerzerfall, 
rein  chemischer  Natur  ist,  die  ihn  bewirkenden 
Enzyme  jedoch  vermag,  vorerst  wenigstens,  nur 
die  lebende  Zelle  zu  erzeugen.  In  den  Unter- 
suchungen Buchners  und  seiner  Mitarbeiter  fand 
diese  letzte  Erklärungsweise  eine  wichtige  Stütze. 
Ihm  gelang  es  bekanntlich,  die  gärungserregenden 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


567 


Enzyme  (Zymase)  von  der  lebenden  Zelle  abzu- 
trennen, indem  er  diese  durch  mechanische  oder 
chemische  Mittel  zerstörte;  so  schied  er  den  rein 
chemischen  Prozeß  von  dem  Lebensvorgang.') 

Mit  der  Aufklärung  des  Reaktionsmechanismus 
dieses  Prozesses  haben  sich  nun  in  den  letzten 
Jahren  mehrere  Forscher  beschäftigt ,  und  im 
folgenden  soll  ein  kurzer  Überblick  über  den 
Verlauf  der  Untersuchungen  und  die  gewonnenen 
Resultate  gegeben  werden: 

Zunächst  war  die  eigentliche  Aufgabe  des 
Chemikers,  die  Feststellung  der  in  der  Gärlösung 
auftretenden  Verbindungen,  ganz  in  den  Hinter- 
grund getreten  gegen  die  Aufklärung  der  Ursachen 
der  Gärung.  Man  begnügte  sich  mit  der  alten 
Erfahrungstatsache,  daß  der  Z  u  c  k  e  r  in  der  Haupt- 
sache in  Alkohol  und  Kohlensäure  vergoren 
wird,  welchen  Vorgang  man  durch  die  angeführte 
Gärungsgleichung  summarisch  widergab. 
Bald  jedoch  wurde  erkannt  (Pasteur),  daß  neben 
diesen  wichtigsten  Produkten  der  Zuckerspaltung 
noch  viele  andere  in  größerer  oder  kleinerer  Menge 
in  der  Gärlösung  auftreten  —  man  erhielt  nie  die 
aus  der  Gay-Lussac'schen  Gleichung  berechneten 
Mengen  Alkohol  und  Kohlensäure.  So  fand  man 
noch  Milchsäure,  Bernsteinsäure,  Ameisen- 
säure, Glycerin,  Amylalkohol  u.  a.,  und 
es  ergab  sich  die  Frage,  ob  diese  Körper,  wie 
Alkohol  und  Kohlensäure,  normale  E  ndprodukte 
eines  nur  in  anderer  Richtung  erfolgten  Zerfalls 
des  Zuckermoleküls  darstellen  oder  als  Z  w  i  s  c  h  e  n  - 
Produkte  bei  der  doch  sicher  stufenweise  er- 
folgenden Alkoholbildung  zu  betrachten  sind  oder 
endlich  nur  als  untergeordnete  Nebenprodukte, 
entstanden  durch  Reaktionen,  die  mit  diesem 
Hauptgärungsprozeß  direkt  nichts  zu  tun 
haben. 

Weniger  zur  Klärung  dieser  Frage  als,  um 
überhaupt  einmal  dieses  schwierige  Problem  an 
einem  Ende  anzupacken,  stellte  man  Gärungs- 
schemen auf,  Hypothesen,  die  mit  Hilfe  der 
dem  Chemiker  bereits  bekannten  Reaktionen  den 
Übergang  des  Zuckers  in  Alkohol  und  Kohlen- 
säure sukzessive  über  verschiedene  Zwischen- 
produkte erklären  sollten. 

Unseren  modernen  Ansichten  sehr  nahe  steht 
ein  Schema,  das  Baeyer  im  Jahre  1870  in  den 
Berl.  Ber.  d.  Deutsch.  Chem.  Ges.  veröffentlichte 
in  einer  Abhandlung,  betitelt  „Über  die  Wasser- 
<  entziehung  und  ihre  Bedeutung  für  das  Pflanzen- 
leben und  die  Gärung". 

Nach  ihm  verläuft  der  Zerfall  des  Zucker- 
moleküls bei  der  alkoholischen  Gärung  in  zwei 
Phasen:  Bekanntlich  stellt  der  Traubenzucker 
(Glukose)  CuHp^Og  einen  Körper  dar,  der  gleich- 
zeitig ein  primärer  und  sekundärer  Alkohol  und 
ein  Aldehyd  ist  und  dem  daher  folgende  Konsti- 
tutionsformel zukommt: 


H- 


OH'OHOH-OHOH^ 

I  I  I  I  I  y.O* 

-C— C-C— C-C-C<' 
I       I      I      I      I         ^H»^ 


H  Hl  H^  H'^  H* 
In  der  ersten  Phase  nun  werden  nach  Baeyer 
4  Mol.  Wasser  abgespalten  (durch  Zusammentritt 
der  gleichartig  numerierten  Gruppen)  und  sofort 
wieder  aufgenommen,  jedoch  in  der  Weise,  daß 
jetzt  die  H-Atome  sich  an  das  Ende  der  stark 
ungesättigten  Kette  addieren,  die  OH-Gruppen 
dagegen  in  der  Mitte.  So  erfolgt  eine  Anhäufung 
(Akkumulation)  des  Sau  erst  offes  in  der  Mitte 
der  Kohlenstoffkette.  Der  so  entstehende 
labile  Körper  wird  nun  im  Verlauf  der  zweiten 
Phase  gesprengt:  die  beiden  mittelständigen 
C-Atome  liefern  mit  ihrer  Sauerstoffbeladung  die 
zwei  Moleküle  CO.,,  die  vier  nach  den  Enden 
stehenden  die  beiden  Moleküle  CH-jCHgOH. 

Die  Entstehung  der  anderen  bei  der  alkoholi- 
schen Gärung  beobachteten  Verbindungen  erklärt 
Baeyer  in  gleicherweise,  nur  erfolgt  dabei  die 
Sauerstofifakkumulation  und  die  Sprengung  etwas 
anders. 

Als  experimentell  bestätigtes  Analogon  des 
Vorgangs  der  ersten  Phase  —  Abspatltung 
von  VV asser  und  Wiederanlagerung  in 
anderer  Weise  unter  Anhäufung  von  Sauerstoff  — 
verweist  Baeyer  auf  den  Übergang  von  Glykol 
in  Acetaldehyd  unter  dem  wasserentziehenden 
Einfluß  von  Zinkchlorid.  Für  die  zweite  Phase 
—  Sprengung  einer  Kohlenstoffkette 
an  einer  stark  mit  Sauerstoff  beladenen  Stelle  — 
gibt  die  Spaltung  von  Oxalsäure  in  Kohlen- 
dioxyd und  Ameisensäure  unter  Einwirkung 
von  Glycerin  ein  Beispiel. 

Ein  auf  ganz  ähnlichen  Prinzipien  aufgebautes 
Gärschema  wurde  späterhin  von  J.  Meisen- 
heimer  angegeben. i)  Er  vermied  dabei  nur  die 
un>vahrscheinliche  Reduktion  der  endständigen 
Aldehydgruppe  und  baut  so  das  Glukosemolekül 
zunächst  ab  zu  zwei  Molekülen  Milchsäure 
(CH.j— CH— COOH),  die  sich  dann  leicht  in  COg 

I 

OH 
und  CHgCHjOH  zu  spalten  vermögen.  Weitere 
Schemen,  auf  die  hier  nicht  näher  eingegangen 
werden  soll,  stammen  von  W  o  h  1  und  Schade. 
Bei  der  Aufstellung  dieser  Gärungshypothesen 
wurden  die  experimentellen  Tatsachen  nur  in 
zweiter  Linie  berücksichtigt.  Erst  in  neuerer  Zeit 
gewann  die  exakte  Erforschung  der  chemischen 
Vorgänge  bei  der  alkoholischen  Gärung  festen 
Grund,  vor  allem  durch  die  bahnbrechenden  Ar- 
beiten von  B  u  c  h  n  e  r  und  M  e  i  s  e  n  h  e  i  m  e  r. 
Man  suchte  nun  festzustellen,  ob^die  in  der  Gär- 
lösung aufgefundenen  Körper  in  dem  bereits  an- 
gedeuteten Sinn  Zwischen-  oder  Neben- 
produkte bei  der  Bildung  von  Alkohol  und 
Kohlensäure  sind.    Ein  einleuchtendes,  wenn  auch 


')  cf.  E.  u.  H.  Buchner  u.  Hahn  ,,Die  Zymasegärung", 
Monogr.,  München   1913. 


')  Berl.  Ber.  d.  Deutsch.  Chem.  Ges.  37  [04],  S.  417- 


S68 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


nicht  ganz  einwandfreies  Kriterium  hierfür 
bietet  die  Vergärbarkeit  der  betreffenden 
Verbindungen,  wenn  sie  in  reinem  Zustand  den 
Bedingungen  der  Gärung  ausgesetzt  werden.  Durch 
die  Verwendung  des  Buc  hner'schen  Hefe- 
preßsaftes*)  an  Stelle  der  lebenden  Hefe  wurde 
man  in  die  Lage  versetzt,  gewisse  Stoffe,  deren 
Entstehung  auf  die  Lebenstätigkeit  des  Hefepilzes 
zurückzuführen  ist,  von  vornherein  als  physiologi- 
sche Nebenprodukte  zu  charakterisieren  und  aus- 
zuschalten. 

Unterwirft  man  unter  diesem  Gesichtspunkt 
die  in  der  Gärflüssigkeit  aufgefundenen  Verbin- 
dungen einer  Prüfung,  so  stellen  naturgemäß 
Alkohol  und  Kohlensäure  die  bei  weitem  über- 
wiegenden Hauptprodukte  dar.  Sie  entstehen 
nach  Buchner  und  Meisenheimer  stets  in 
konstantem  Verhältnis  (=  1,04).  Nur  bei 
sehr  lange  dauernden  Gäransätzen  findet  man 
etwas  mehr  Kohlensäure  infolge  eines  schleichen- 
den Verbrennungsvorganges.  Bis  10  "/„  der  an- 
fänglichen Zuckermenge  entziehen  sich  dem  Zer- 
fall in  Alkohol  und  Kohlensäure.  Sie  finden  sich 
am  Schluß  zum  Teil  als  Glyzerin  vor,  in  der 
Hauptmenge  aber  haben  sie  sich  durch  Poly- 
merisation der  Gärung  entzogen.  Nach  deren 
Beendigung  kann  man  nämlich  durch  Hydrolyse 
(Entpolymerisation)  eine  geringe  Menge  unver- 
gorenen  Zucker  zurückgewinnen,  der  sich  durch 
Reduktion  von  P'  e  h  1  i  n  g  '  scher  Lösung  leicht 
nachweisen  läßt.  -) 

Viel  umstritten  war  früher  die  Frage  der 
Milchsäurebildung  bei  der  alkoholischen  Gä- 
rung. Schon  früh  hat  man  ihr  Auftreten  beobachtet. 
Pasten  r's  Untersuchungen  sprechen  gegen  ihr 
Vorhandensein  in  der  Gärlösung.  Baey er  nimmt 
sie  als  normales  Gärprodukt  an  und  berücksich- 
tigt sie  auch  in  seinem  vorerwähnten  Schema  als 
Zwischenglied.  Auch  Buchner  und  Meisen- 
heimer schlössen  sich  dem  anfangs  an,  wurden 
jedoch  späterhin  anderer  Ansicht  auf  Grund  ihrer 
eigenen  Untersuchungen  und  der  von  Slator, 
die  übereinstimmend  zeigten,  daß  Milchsäure 
nichtvergärbar  ist,  also  höchstens  ein  N  e  b  e  n  - 
Produkt  sein  kann,  derart,  daß  sie  in  einer 
Nebenreaktion  aus  direkten  Zwischengliedern  des 
Zuckerzerfalls  entsteht.^)  Als  solche  kommen, 
wie  wir  später  sehen  werden,  Dioxyaceton, 
Glyzerinaldehyd  und  Met hy Igly oxal  in 
Betracht.  Interessant  ist  das  Auftreten  der  Milch- 
säure in  größeren  Mengen  bei  der  Ein  Wirkung 
verdünnter  Alkalien  auf  Hexoselösun- 
gen,  wenn  man  durch  besondere  Vorsichtsmaß- 
regeln eine  Verharzung  vermeidet.  Dabei  wird 
der  Zucker  auch  in  geringem  Maße  in  Alkohol 
und  Kohlensäure  übergeführt,  ein  Beweis  dafür, 
daß    auch    die    alkoholische    Gärung,    wie    viele 


')  cf.  Anm.   I   auf  S.   567. 

2)  Berl.  Bcr.  d.  Deutsch.  Chem.   Ges.  39  (06),  S.  3201. 
ä)   Cbem.   Centralbl.    1906,   I,  S.   383   u.    1034;    Berl.    Ber 
d.  Deutsch.  Chera.  Ges.  43  (10),  S.   1773. 


andere  enzymatische  Vorgänge,  künstlich  nachge- 
ahmt werden  kann. 

Glyzerin  tritt  bei  der  alkoholischen  zellfreien 
Gärung  in  schwankenden,  doch  beträchtlichen 
Mengen  auf  (5-6%  des  verbrauchten  Zuckers). 
Auch  ihm  kommt  wie  der  Milchsäure  wahrschein- 
lich der  Charakter  eines  Derivates  eines 
Zwischenproduktes  zu,  und  zwar  des  Gly- 
zerinaldehyds. So  erklärt  sein  Auftreten  zu- 
sammen mit  der  Polymerisation  des  Zuckers  den 
Umstand,  daß  bis  10%  von  letzterem  nicht  als 
Alkohol  und  Kohlensäure  wiedergefunden  werden,  'j 
Bernsteinsäure  findet  man  nur  bei  der 
Gärung  mit  1  e  b  e  n  d  e  r  H  e  f  e.  Das  spricht  schon 
zur  Genüge  für  ihre  Entstehung  bei  dem  Stoff- 
wechselprozeß der  Zelle.  Ihre  Bildung  ist  eng 
verknüpft  mit  der  der  P^uselöle,  die  im  Roh- 
spiritus bis  zu  0,7 '%  vorkommen,  bei  der  zell- 
freien Gärung  dagegen  nur  in  0,01  "/„  ').  F.  Ehr- 
lich erklärt  die  Entstehung  der  F"uselöle  (haupt- 
sächlich Amylalkohol)  mit  der  Tätigkeit  proteoly- 
tischer (eiweißspaltender)  Enzyme,  die  sich  auch 
in  der  Hefe  befinden.  Sie  bauen  die  Eiweißkörper 
ab  zu  Aminosäuren,  die  sich  dann  weiterhin  in 
Amylalkohol,  Kohlensäure  und  Ammoniak  spalten. 
Durch  Zusatz  einer  solchen  Aminosäure  (Leucin) 
kann  man  die  Ausbeute  an  Fuselölen  bei  der 
alkoholischen  Gärung  bedeutend  erhöhen.  -) 

In  viel  geringerer  Menge  als  die  erwähnten 
Verbindungen  treten  noch  Essigsäure  und 
Ameisensäure  bei  der  alkoholischen  Gärung 
auf.  Sie  entstehen  ziemlich  sicher  in  Neben- 
reaktionen, wie  denn  naturgemäß  die  Zwischen- 
produkte der  Alkohol-  und  Kohlensäurebildung 
in  der  verschiedensten  Weise  zu  solchen  Veran- 
lassung geben  können.  Dadurch  werden  dann, 
allerdings  nur  in  Spuren,  vielerlei  Nebenprodukte 
gebildet,  die  für  die  Aufklärung  des  Reaktions- 
mechanismus der  eigentlichen  Zuckerspaltung  un- 
wichtig sind. 

Diese  Zwischenprodukte  nun  müssen  also 
so  konstituiert  sein,  daß  einerseits  ihre  Bildung 
aus  dem  Glukosemolekül  und  ihr  weiterer  Über- 
gang in  Alkohol  und  Kohlensäure  verständlich 
ist,  andererseits  aber  auch  ihre  Umwandlung  in 
Milchsäure  und  Glyzerin.  Solange  man  sie  in  der 
Gärflüssigkeit  nicht  direkt  nachzuweisen  vermag, 
sind  sie  mehr  oder  weniger  hypothetischer 
Natur.  Es  ist  fraglich,  ob  dieser  Nachweis  für 
alle  überhaupt  zu  führen  ist ;  denn  diese  Zwischen- 
körper werden  naturgemäß  in  der  Gärlösung  von 
recht  labiler  Beständigkeit  sein  und,  kaum  ent- 
standen, sich  sofort  weiter  umsetzen  bis  zu  den 
stabileren  genannten  Endprodukten.  In  ihrer  Ver- 
gärbarkeit  (in  Form  des  reinen  Präparates) 
haben  wir  allerdings  ein  Kriterium,  das  die  Wahr- 
scheinlichkeit ihrer  Zwischenproduktnatur  wesent- 
lich erhöht.  Ein  solches  Zwischenglied  sollte  so- 
gar stärker  vergären  als  der  Zucker  selbst,  da  ja 
der  Zerfall  bereits  begonnen  hat. 

')  Berl.  Ber.  d.  Deutsch.   Chem.   Ges.  39  (06),  S.  3201. 
')  Chem.   Centralbl.  1905,  II,  S.   156. 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliclic  Wochensclirift. 


569 


Als  solche  Zwischenprodukte  kommen  zu- 
nächst die  isomeren  Verbindungen  Dioxyaceton 
(CH,  — CO— CH.,)    und    Glyzerinaldehyd 

r       I  ■ 

011  OH 

(CH.,— CH— CHO)  und  das  um  ein  Molekül  Wasser 


OH      OH 
ärmere   Methylglyoxal    (CHO— C 


XH., 


% 


O 


in  Betracht,  und  zwar  insofern,  als  sie  sich  durch 
Spaltung  des  Zuckermoleküls  in  zwei  Hälften 
leicht  bilden  und  ebenso  leicht  in  Milchsäure 
(CH3-CH-COOH)  und  Glyzerin  (CH,,— CH— CH^) 

OH  OH    OH     OH 

überzuführen  sind.')  Wohl  hat  bereits  im  Jahre 
1904  auf  sie  als  mögliche  Zwischenstufen  des 
Zuckerzerfalls  hingewiesen,  läßt  sie  aber  in  seinem 
Schema  über  die  Milchsäure  in  Alkohol  und 
Kohlensäure  übergehen,  was,  wie  wir  gesehen 
haben,  wegen  der  Nichtvergärbarkeit  dieser  Säure 
sehr  unwahrscheinlich  ist.  Wie  steht  es  nun  mit 
der  Vergärbarkeit  der  angeführten  Verbindungen  ? 
—  Nach  älteren  Untersuchungen,  die  von 
Buchner  und  Meisenheim  er  kontrolliert 
wurden,  wird  nur  Dioxyaceton  annähernd  so 
schnell  vergoren  wie  Glukose.  Glyzerin- 
aldehyd  vergärt  langsam  und  unvollkommen 
(vielleicht  wegen  der  giftigen  Wirkung  der 
Aldehydgruppe  auf  die  Enzyme),  dagegen  ver- 
gärt die  zugehörige  Säure,  die  Glyzerinsäure 
(CH2 — CH — COOH),    nach    Untersuchungen    von 

I  I 

OH     OH 

Neuberg  ')  und  A.  v.  Lebedew^)  bedeutend 
rasch  er.  Dabei  wird  Acetaldehyd 
(CH3 — CHO)  und  Kohlensäure  gebildet,  wahr- 
scheinlich über  Benztraubensäure 
(CH,— CO— COOH),  die  auffällig  gutvergärbar 
ist.^)  *)  Das  Auftreten  von  Acetaldehyd  bei  der 
zellfreien  alkoholischen  Gärung  wurde  in  letzter 
Zeit  von  verschiedener  Seite  bestätigt.  Er  müßte 
dann  durch  Reduktion  weiter  in  Alkohol  über- 
gehen. Dieser  Vorgang  wäre  eine  Kompensation 
zu  jener  oxydativen  Überführung  des  Glyzerin- 
aldehyds in  seine  Säure.  Die  Untersuchungen 
Neuberg's  und  seiner  Mitarbeiter  sprechen  da- 


')  Berl.  Ber.  d.  Deutsch.  Chem.  Ges.  43  (10),  S.  1773. 
')  Bioch.  Z.  31   u.  32  [11]. 

')  Berl.  Ber.  d.  Deutsch.  Chem.  Ges.  47  (14),  S.  660. 
')  C.  Neuberg,   ,, Die  Gärungsvorgänge  und  der  Zucker- 
umsatz der  Zelle".     Monogr.,  Jena   1913. 


für,  daß  ganz  allgemein  die  biologische  Alkohol- 
bildung über  den  Aldehyd  in  einem  Reduktions- 
vorgang erfolgt.')  Dann  würden  also  bei  der 
Gärung  Wasserabspaltung  und  -anlage- 
rung,  Oxydations-  und  Reduktions- 
prozesse Hand  in  Hand  gehen.  Es  ist  daher 
wahrscheinlich,  daß  sich  an  dem  Zuckerblau 
mehrere  Enzyme  beteiligen,  die  alle  unter 
den    Begriff  der    Buchner 'sehen  Zymasc  fallen. 

Die  Untersuchungen  sind  zurzeit  noch  in 
vollem  Gang  und  werden  so  schnell  nicht  zu  Ende 
geführt  werden  können.  Man  scheint  jedoch  auf 
dem  richtigen  Weg  ziu'  Aufstellung  eines  ein- 
wandfreien Schemas  des  Zuckerzerfalls  zu  sein. 

Zum  Schluß  sei  noch  kurz  darauf  eingegangen, 
wie  man  sich  etwa  die  Wirkungsweise  der 
Enzyme  im  chemischen  .Sinn  deuten  könnte. 
Nach  Donath")  sind  es  hoch  hydratische 
Verbindungen,  die  an  die  zu  spaltenden 
Körper  die  Elemente  des  Wassers  im  Status 
nascens  abzugeben  vermögen  und  so  deren  Molekül 
lockern.  Indem  sie  der  zerfallenden  Verbindung 
dann  wieder  Wasser  entziehen,  werden  sie  re- 
generiert. Man  könnte  auch  daran  denken,  daß 
die  Enzyme  zunächst  Additionsverb  in  düngen 
mit  dem  zu  hydrolysierenden  Körper  eingehen, 
die  dann  infolge  ihrer  labilen  Natur  leicht  zer- 
fallen. Geht  dieser  Abbau  seinem  Ende  zu,  so 
werden  die  Enzyme  wieder  unverändert  abge- 
spalten. In  diesem  Fall  kämen  die  oben  dis- 
kutierten Zwischenprodukte  gar  nicht  selbständig 
in  der  Gärlösung  vor,  sondern  gleichsam  maskiert 
als  Komponente  einer  solchen  Enzymaddilions- 
verbindung.  Dann  allerdings  wäre  ihr  Vorhanden- 
sein sehr  schwer  direkt  zu  beweisen,  und  man 
hätte  eine  Erklärung  für  ein  unterschiedliches 
Verhalten,  wenn  die  betreffenden  Substanzen  als 
Präparate  der  Gärung  ausgesetzt  werden.  Liebig 
hat  sich  bereits  den  chemischen  Vorgang  der 
Gärung  in  ähnlicher  Weise  erklärt:  Er  vergleicht 
ihn  nämlich  mit  der  Darstellung  von  Oxamid 
(CO — NH2)  aus  Cyan  und  Wasser  bei  der  Gegen- 

I 

CO-NHj 

wart  von  Acetaldehyd,  wobei  auch  zunächst  eine 
Aldehydadditionsverbindung  entsteht  (Diäthyl- 
idenoxamid),  die  sich  unter  Aufnahme  von  Wasser 
spaltet  unter  Bildung  von  ( )xamid  und  Re- 
generation des  Aldehyds.  Jedenfalls  kommt  den 
Enzymen  eine  katalytische  Kontakt- 
wirkung zu. 


')  Berl.  Ber.  d.  Deutsch.  Chem.  Ges.  46  (13),  S.  2225. 
2)  Chem.  Centralbl.   1S95,  S.   158. 


Einzelberichte. 


Zoologie.  Die  Bromelienfauna  von  Costa  Rica 
hat  C.  P  i  c  a  d  o  zum  Gegenstand  einer  interessanten 
Studie  gemacht  (Les  Bromeliacees  epiphytes  con- 


siderees  comme  milieu  biologique.  Bull.  Scienti- 
fique  de  la  France  et  de  la  Belgique  7"  Serie 
T.   17.     Fascic.  3  p.  2 IS— 360,  PI.  VI -XXIV). 


570 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


Die  in  den  Wäldern  Mittel-  und  Südamerikas 
häufigen  epiphytischen  Bromeliaceen  sammeln 
zwischen  ihren  Blättern  an  der  Basis  die  atmo- 
sphärischen Niederschläge  an ,  so  daß  hier  viele 
Liter  enthaltende  Wasseransammlungen  hoch  oben 
in  den  Bäumen  entstehen.  Da  fast  alle  größeren 
Bäume  dort  reichlich  mit  diesen  Bromeliaceen  — 
den  Verwandten  der  Ananas  —  bewachsen  sind, 
so  ist  auf  diese  Weise  Wassertieren  die  Lebens- 
möglichkeit in  Wäldern  geboten,  in  denen  Tüm- 
pel und  Sümpfe  im  allgemeinen  fehlen.  Schon 
Fritz  Müller,  der  große  deutsche  Naturforscher, 
hat  in  den  Urwäldern  Brasiliens  in  der  Mitte  des 
vorigen  Jahrhunderts  die  Fauna  dieser  Bromelien- 
gewässer  beobachtet  und  von  den  „Wassertieren 
in  den  Wipfeln  des  Waldes"  berichtet. 

Betrachtet  man  einen  solchen  epiphytischen 
Bromelienbusch  genauer,  so  sieht  man,  daß  nur 
die  inneren,  lebenden  Blätter  an  ihrer  Basis  Wasser 
enthalten  und  daß  dieses  Wasser  in  den  verschie- 
denen Blattachseln  häufig  verschieden  hoch  steht. 
Es  entsteht  so  ein  „Aquarium"  mit  lauter  ver- 
schiedenen ,  vollständig  voneinander  getrennten 
Abteilungen;  die  Scheidewände  werden  von  den 
Blättern  dargestellt.  Rings  umgeben  wird  dies 
„Aquarium"  von  einem  „Terrarium",  d.  h.  den 
Resten  der  abgestorbenen  Blätter  und  den  sich 
zwischen  ihnen  reichlich  ansammelnden  anderen 
toten  Pflanzenresten,  die  hier  dauernd  feucht  ge- 
halten allmählich  in  Humus  zerfallen.  Beide, 
Aquarium  wie  Terrarium,  werden  von  einer  reichen 
Fauna  bewohnt,  die  zum  großen  Teil  ganz  aus- 
schließlich in  diesen  Bromelien  angetroffen  wird. 
Hier  leben  verschiedene  I'rösche  und  Salamander, 
von  Würmern,  Borstenwürmer,  Blutegel,  Strudel- 
würmer; Schnecken;  von  Krebsen  Ostracoden, 
Copepoden,  Isopoden,  allerlei  Spinnentiere,  Räder- 
tiere, Protozoen  und  vor  allen  Dingen  Insekten 
im  Larven-  und  Imaginalzustande  in  größter 
Arten-  und  Individuenzahl.  So  ist  die  Brutstätte 
wohl  der  meisten  Moskitos  jener  Wälder  in  den 
Bromelienaquarien  zu  suchen.  All  diese  Organis- 
men leben  direkt  oder  indirekt  von  dem  organi- 
schen Detritus,  der  sich  zwischen  den  Bromelien- 
blättern  ansammelt  und  der,  dank  der  Tätigkeit 
der  lebenden  Blattwandungen  jener  Aquarien 
nicht  in  Fäulnis  gerät,  sondern  sich  in  eine  braune, 
torfähnliche  Masse  zersetzt. 

Diese  kleinen  Teiche  in  der  Spitze  der  hohen 
Waldbäume ,  die  von  lebenden  Pflanzen  gebildet 
werden,  müssen  natürlich  ihren  Bewohnern  ganz 
eigenartige  biologische  Bedingungen  bieten. 

In  erster  Linie  geben  sie  überhaupt  Bewohnern 
stehenden  Wassers  die  Möglichkeit  des  Vorkom- 
mens in  jenen  Gegenden,  die  im  großen  und 
ganzen  „terrestre"  Tümpel  nicht  besitzen.  Das 
fernerhin  diese  Bromelienaquarien  fast  ausschließlich 
von  dem  Wasser  gespeist  werden,  das  sich  aus 
den  tagtäglich  in  jene  Wälder  einfallenden  Nebeln 
kondensiert,  so  sind  sie  dauernd,  während  des 
ganzen  Jahres  mit  Wasser  gefüllt  und  trocknen 
nie  aus.     Ihre  Bewohner  zeigen  demgemäß  keine 


bestimmt  festgelegte  Fortpflanzungsperiode,  wie 
man  sie  bei  den  Tieren  in  regelmäßig  austrock- 
nenden Kleingewässern  sonst  häufig  findet.  Daher 
trifft  man  in  den  Bromelien  zu  jeder  Jahreszeit 
z.  B.  Larven  von  Fliegen  und  Libellen  und  Käfern 
in  jeder  Altersstufe  an.  Eine  weitere  Eigenart 
des  Bromelienwassers  ist  —  trotz  der  großen 
Mengen  organischer  Stoffe,  die  in  ihm  lagern  — 
sein  Sauerstoffreichtum,  oder  mit  anderen  Worten 
das  I<"ehlen  von  Fäulnisprozessen  darin.  Die  Bro- 
melienbewohner  sind  sehr  sauerstoffbedürftig.  — 
Die  Kleinheit  des  „Lebensraumes"  macht  den 
Bromelientieren  das  Schwimmen  schwierig,  wo 
nicht  unmöglich.  Und  so  haben  manche  Bromelien- 
bewohner  Schwimmorgane  völlig  verloren,  wäh- 
rend ihre  nächsten  Verwandten,  die  in  anderen 
Gewässern  leben,  solche  besitzen.  Das  klassische 
Beispiel  hierfür  ist  die  Puppe  der  Köcherfliege, 
Phylloicus  bromeliarum,  deren  Schwimmhaarverlust 
Fritz  Müller  schon   1879  beschrieben  hat.') 

Von  Bedeutung  für  seine  Bewohner  wird  auch 
die  Zerteilung  des  Bromelienaquariums  in  lauter 
ganz  getrennte  ILinzelräume;  so  können  räube- 
rische Insektenlarven,  die  sich  sonst  gegenseitig 
anfallen  würden,  in  großer  Zahl  in  einem  solchen 
Bromcliengewässer  hausen,  da  ja  jedes  Exemplar 
gewissermaßen  in  Einzelhaft  sitzt. 

Wenn  im  allgemeinen  auch  die  Bromelien 
dauernd  mit  Wasser  gefüllt  sind,  können  doch 
starke  Winde  einmal  die  Bromelienaquarien  aus- 
schütten. Wie  Versuche  gezeigt  haben,  können 
die  meisten  Bromelienbewohner  solches  kurz- 
dauerndes Trockenliegen  vertragen;  manche  von 
ihnen  besitzen  zudem  Hxationsorgane,  die  sie  vor 
der  Gefahr,  aus  ihrem  Wasser  herausgeschleudert 
zu  werden,  schützen. 

In  dem  das  „Aquarium"  umgebenden  ,, Terra- 
rium" finden  viele  feuchtigkeitsliebende  und  licht- 
scheue Tiere  äußerst  günstige  Lebensbedingungen. 
Die  Bromelienfauna  der  von  Picado  studierten 
Gegend  ist  äußerst  reich  (etwa  250  Arten!)  und 
enthält  Organismenarten,  die  man  fast  in  einer 
jeden  Bromelie  antrifft.  Wie  mögen  die  Tiere 
sich  verbreiten  ?  Bei  den  geflügelten  Insekten 
bietet  die  Antwort  auf  die  Frage  keine  Schwierig- 
keiten; auch  die  Verbreitung  der  räuberischen 
Tiere  mit  wohl  entwickelter  Bewegungsfähigkeit 
(Peripatus,  Scolopendren,  Frösche,  Spinnen  usw.) 
ist  leicht  verständlich.  Bei  den  übrigen  weniger 
beweglichen  Tieren  (Ostracoden,  Copepoden,  Rota- 
torien ,  wasserbewohnenden  Turbellarien  usw.) 
wird  das  Ausschütten  und  Anschütteln  der  Bro- 
melienwässer  durch  die  Stürme  wohl  die  Haupt- 
rolle für  ihre  Verbreitung  spielen.  Die  feuchtig- 
keitsliebenden  Borstenwürmer  und  Schnecken 
können  aktiv  in  die  Humusmassen  der  Bomelien- 
terrarien  einwandern. 

Es  mag  zum  Schluß  daran  erinnert  sein,    daß 


')  Sonderbarerweise  hat  Picado  diese  Angabe  übersehen, 
wie  er  in  seiner  sonst  so  erschöpfenden  Arbeit  überhaupt  die 
bromelienbewohnenden  Trichopteren  nicht  behandelt. 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


57« 


außer  den  Bromelien  auch  viele  andere  Pflanzen 
tropischer  Gegenden  (Bambus,  Musaceen,  Sarra- 
cenien,  Nepenthes,  Pandanaceen,  Liliaccen  usw.) 
mehr  oder  weniger  große  Wasseransammlungen 
aufweisen,  deren  Fauna  indessen  noch  nicht  ein- 
gehender untersucht  worden  ist. 

Thienemann  (Münster  i.  W.). 

Physik.  Über  das  neue  Röntgenrohr  nach 
Coolidge  berichtet  I"".  Kerschbaum  in  den 
Naturwissenschaften  (1914)  654 — 657.  Das  Rohr 
hat  einen  Durchmesser  von  18  cm  und  trägt  zwei 
einander  diametral  gegenüberstehende  seitliche 
Ansätze.  Der  eine  enthält  als  Anode  und  zugleich 
Antikathode  ein  massives  Stück  Wolframmetall 
von  100  g  Gewicht  und  einer  ebenen  Stirnfläche 
von  2  cm  Durchmesser.  Dieser  steht  in  einem 
Abstand  von  2  cm  die  Kathode  gegenüber,  eine 
winzige,  5  Windungen  enthaltende  Spirale  aus 
Wolframdraht  von  0,2  mm  Dicke  und  23  rrmi 
Länge.  Die  beiden  Enden  der  Spirale  sind  an 
2  dickere  Molybdändrähte,  diese  wieder  an  2 
Platindrähte  angeschweißt,  die  voneinander  isoliert 
durch  das  Glas  des  zweiten  Ansatzes  hindurch- 
führen. Zur  Herstellung  des  Vakuums  wird  das 
Rohr  an  eine  Molekularluftpumpe  angeschlossen 
und  im  Luftbade  längere  Zeit  bis  zu  470"  erhitzt. 
In  den  Heizpausen  wird  ein  möglichst  hoher  Be- 
lastungsstrom hindurchgeschickt.  Hierdurch  wer- 
den alle  im  Metall  und  an  der  Wandung  haften- 
den Gasteile  entfernt,  so  daß  der  Druck  nach  dem 
Abschmelzen  von  der  Pumpe  höchstwahrscheinlich 
kleiner  als  '/looooo  ^'^™-  ^st;  eine  angelegte  Span- 
nung von  100  000  Volt  löst  trotz  des  geringen 
Elektrodenabstandes  keine  Entladung  aus.  Um 
diese  einzuleiten,  schickt  man  durch  die  als  Ka- 
thode dienende  Wolframspirale  den  mittels  Wider- 
stand regulierbaren  Strom  einer  hochisoliert  auf- 
gestellten Akkumulatorenbatterie  und  erhitzt  die 
Spirale  dadurch  zu  heller  Weißglut  (bis  2180°). 
Dann  gehen  von  ihr,  wie  durch  die  neuesten  Unter- 
suchungen La  n  gm  uir 's  einwandfrei  erwiesen  zu 
sein  scheint,  auch  ohne  Gegenwart  von  Gas 
Elektronen  aus;  diese  erlangen  unter  dem  Ein- 
fluß der  hohen  Spannung  eine  sehr  große  Ge- 
schwindigkeit und  erregen  bei  ihrem  Aufprall  auf 
die  Wolframanode  (Antikathode)  Röntgenstrahlen. 
Die  neue  Röhre  mit  ihrem  hohen  Vakuum,  das 
100 — looomal  besser  ist  als  das  der  gewöhnlichen 
Röntgenröhren,  benutzt  demnach  die  „unselbstän- 
dige" Entladungsform  in  ähnlicher  Weise,  wie  es 
auch  in  einem  Entladungsrohr  mit  Wehnelt- 
Kathode  geschieht.  Ein  solches  Coolidge-Rohr 
hat  sich  50  Minuten  lang  mit  25  Milliampere  bei 
einer  Parallelfunkenstrecke  von  7  cm  (mittels 
Hochspannungstransformator  von  10  KW)  be- 
treiben lassen.  Die  Glaskugel  mußte  dabei 
durch  einen  kräftigen  Luftstrom  gekühlt  werden. 
Trotz  der  hohen  Temperatur  trat  keine  Metall- 
zerstäubung an  den  Elektroden  auf.  Das  Rohr 
zeigt  keine  Glasfluoreszenz,  ein  Zeichen  dafür,  daß 
sekundäre   Elektronenstrahlen    fehlen.     Die  Über- 


legenheit des  Rohrs  über  alle  früheren  Typen 
liegt  darin,  daß  man  Intensität  und  Härte  der 
Strahlen  in  weiten  Grenzen  und  raschem  Wechsel 
unabhängig  voneinander  variieren  kann.  Durch 
Erhöhung  der  Stromstärke  in  der  Kathodenspirale 
steigt  deren  Temperatur,  damit  die  von  ihr  aus- 
geschickte Elektronenzahl  und  die  Stromstärke  des 
durch  die  Röhre  gehenden  Stromes.  Durch  Ände- 
rung der  angelegten  Hochspannung  läßt  sich  die 
Geschwindigkeit  der  Elektronen  und  damit  die 
Härte  (Wellenlänge,  Durchdringungsvermögen) 
der  Strahlen  variieren.  Sorgt  man  für  konstante 
Spannung,  so  sind  die  Strahlen  homogen.  Die 
neue  Röhre  kommt  durch  die  General  Elektric 
Company  in  den  Handel.  K.  Schutt. 

Bakteriologie.  Entstehung  der  Terra  di  Siena 
durch  Bakterienwirkung.  Zu  den  mit  dem  Namen 
Bol  bezeichneten  eisenoxydhaltigen  Erden  gehört 
die  gelbe  „Terra  di  Siena",  die  wie  andere  Bole 
praktisch  verwendet  wird.  Sie  findet  sich  am 
Monte  Amiata  in  Toskana  und  hat  sich  jedenfalls 
in  Teich-  und  Sumpfwasser  gebildet.  Doch  be- 
steht, ebenso  wie  über  die  Entstehung  des  Ockers 
und  Raseneisensteins,  eine  Kontroverse  darüber, 
ob  diese  gelben  Erden  auf  rein  chemisch  physi- 
kalischem Wege  entstanden  seien,  oder  ob  Mikro- 
organismen bei  ihrer  Entstehung  mitgewirkt  haben. 
Als  solche  „Ockerbakterien"  sind  bisher  haupt- 
sächlich Fadenbakterien  in  Betracht  gezogen  worden, 
wie  Crenothrix,  Cladothrix,  Chlamydothrix  (Lepto- 
thrix)  usw.  Bei  der  mikroskopischen  Untersuchung 
von  Rasenerzproben  hat  Molisch  in  einigen 
wenigen  Fällen  das  Vorhandensein  der  rostroten 
Scheiden  fädiger  Eisenbakterien  feststellen  können; 
meist  war  nichts  von  ihnen  nachzuweisen,  und 
Molisch  hat  aus  diesen  Beobachtungen  ge- 
schlossen, daß  die  Rasenerze  in  ihrer  Mehrzahl 
nicht  unter  Mitwirkung  von  Bakterien  gebildet 
worden  seien.  Andererseits  ist  von  demselben 
Forscher  nachgewiesen  worden,  daß  zu  den  Eisen- 
bakterien nicht  bloß  fadenbildende  Formen  ge- 
hören; die  von  ihm  zuerst  beschriebene,  obwohl 
sehr  häufige  Siderocapsa  besteht  aus  Kokken,  die 
in  ihren  Gallerthüllen  große  Mengen  braunen 
Eisenhydroxyds  ablagern.  Nach  den  Untersuchungen 
von  G.  B.  Petrucci  ist  die  Bildung  der  Terra 
di  Siena  und  anderer  Eisenabsätze  durch  die  Tätig- 
keit einer  nicht  fadenförmigen  Bakterie  herbei- 
geführt worden,  die  er  Bacillus  ferrigenus  genannt 
hat,  und  die  sowohl  in  der  Natur  wie  in  der 
Kultur  Eisen  zu  oxydieren  und  in  der  Form  von 
Hydroxyd  niederzuschlagen  vermag.  Die  Tätigkeit 
dieses  Mikroorganismus  zeigt  sich  mit  größerer  Inten- 
sität da,  wo  ein  lebendes  Substrat  von  grünen  Algen 
und  Diatomeen  vorhanden  ist.  Nach  Petrucci 's 
Ansicht  ist  die  Entstehung  der  Eiseninkrustationen 
des  Bodens  und  der  Mauern,  der  Ockernieder- 
schläge der  Gewässer  und  anderer  Bildungen  auf 
die  Wirksamkeit  dieses  Bazillus  zurückzuführen. 
Der  B.  ferrigenus  bekleidet  sich  nicht  wie  die 
anderen  Eisenbakterien  mit  einer  Eisenoxydscheide. 


572 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


Er  schlägt  das  Eisen  in  Form  von  Eisenoxyd 
nieder,  nachdem  er  es  wahrscheinlich  durch  eine 
kolloide  Phase  hat  hindurchgehen  lassen.  Es  ist 
eine  thermophile,  sporenbildcnde  Form,  die  gegen 
Wärme  und  gegen  antiseptische,  chemisch  und 
physikalische  Einflüsse  ziemlich  widerstandsfähig 
ist.  Die  alten  Seen  unterhalb  des  Monte  Amiala, 
in  denen  die  Terra  di  Siena  entstand,  hatten 
wahrscheinlich  eine  üppige  Vegetation  ;  Diatomeen 
waren  reichlich  vorhanden ;  Eisen  wurde  ihnen 
von  dem  Trachyt  des  Berges  zugeführt,  und  auch 
die  organischen  Stoffe  sowie  die  Temperatur,  die 
zur  Entwicklung  des  Bazillus  nötig  waren,  fehlte 
nicht.  Daß  diese  Bakterien  in  verhältnismäßig 
kurzer  Zeit  eine  nicht  geringe  Menge  von  Eisen- 
hydroxyd niederschlagen  können,  zeigten  Versuche, 
in  denen  eine  sehr  verdünnte  Lösung  von  am- 
moniakalischem  Eisencilrat  mit  Agarkulturen  des 
B.  ferrigenus  geimpft  wurde.  In  der  mikroskoj^isch 
untersuchten  gelben  Erde  fanden  sich  nur  ein 
paarmal  spärliche  Bruchstücke  der  Scheiden  von 
P^adenbakterien ;  die  meisten  Erdteilchen  sahen 
auch  nicht  so  aus,  als  ob  sie  aus  Fadenbakterien 
hervorgegangen  wären:  sie  erinnerten  vielmehr 
in  ihrer  Struktur  an  die  Teilchen  der  Eisenoxyd- 
niederschläge, die  sich  in  den  Reinkulturen  von 
B.  ferrigenus  bildeten,  sowie  an  die  Inkrustationen 
an  Wasserpflanzen,  die  nach  Molisch  durch 
Siderocapsa  hervorgerufen  werden.  Durch  die 
Angabe  von  Vinassa  de  Regny,  daß  beim 
Zusammentreffen  von  Eisen hydroxyd  in  kolloidaler 
Lösung  mit  in  Wasser  suspendiertem  Ton  Eisen- 
oxyd niedergeschlagen  und  ein  Ton- Ocker-Sediment 
gebildet  werde,  ist  P  e  t  r  u  c  c  i  zu  folgendem  Ver- 
such veranlaßt  worden,  der  seine  Annahme  von 
der  allgemeinen  Verbreitung  der  Eisenoxydbildung 
durch  Bakterienwirkung  stützen  soll.  Er  fügte  zu 
der  oben  erwähnten  Eisenzitratlösung,  die  sterili- 
siert worden  war,  nichtsterilisierten  feinzerteilten 
Ton  aus  der  Umgebung  von  Siena.  Der  Inhalt 
einiger  Versuchsgläser  wurde  nachträglich  sterili- 
siert oder  antiseptisch  gemacht.  In  diesen  Gläsern 
trat  keine  Veränderung  ein.  In  den  anderen  aber 
kam  ein  Prozeß  in  Gang,  durch  den  das  Ferro- 
salz  zuerst  in  den  Zustand  des  Ferrisalzes  und 
von  da  an  in  den  Zustand  des  kolloidalen  Hydroxyds 
überging,  um  endlich  als  Niederschlag  zu  Boden 
zu  fallen.  (Spuren  von  Fadenbakterien  wurden  in 
dem  Niederschlage  nicht  gefunden.)  Hieraus  schließt 
der  Verf.,  daß  der  „biologische"  Prozeß  der  Eisen- 
oxydation auch  in  gewissen  Böden  vor  sich  gehe. 
Ferner  spricht  er  die  Vermutung  aus,  daß  gewisse 
Eisenabsätze  in  Wasserleitungsröhren ,  die  nicht 
auf  die  Wirkung  der  bekannten  und  verbreiteten 
fädigen  Eisenbakterien  zurückzuführen  sind,  mit  dem 
Vorhandensein  anderer  Bakterien  in  Verbindung 
stehen.  (Memorie  della  R.  Accademia  dei  Lincei, 
19 14,  Ser.  5,  VoL   10,  Fase,   i.)  F.  Moewes. 

Chemie.      Die  Hitzekoagulation    der    Eiweiß- 


körper.    Beim  Erhitzen  pflegen  wässerige  Eiweiß- 
lösungen eine  nicht-umkehrbare  Zustandsänderung, 


die  sog.  „Hitzekoagulation"  zu  erleiden,  die  sich 
in  einer  Trübung  der  vorher  klaren  Eiweißiösung 
oder  in  einer  Änderung  in  der  chemischen  und 
physiologischen  Reaktionsfähigkeit  des  Eiweiß 
äußern  kann.  Die  Temperatur,  bei  der  diese 
Änderungen  erfolgen,  werden  in  der  Regel  als 
eine  Art  physikalischer  Konstante,  die  für  die 
betreffende  Eiweißart  charakteristisch  sei,  bt  trachtet, 
obwohl  schon  im  Anfange  der  neunziger  Jahre 
des  vergangenen  Jahrhunderts  von  verschiedenen 
Seiten  darauf  hingewiesen  worden  ist,  daß  die 
Koagulationstemperatur  in  Wirklichkeit  keine 
Konstante  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  sei, 
ihr  Wert  vielmehr  von  den  Versuchsbedingungen 
abhinge.  In  der  Tat  handelt  es  sich  bei  der 
Hitzekoagulation  der  Eiweißstoffe  um  zwei  auf- 
einanderfolgende Reaktionen,  nämlich  erstens  um 
einen  chemischen  V^organg,  die  Denaturicrung  des 
Eiweiß,  und  zweitens  um  einen  kolloidchemischen 
oder,  richtiger  gesagt  kolloidphysikalischen  Vor- 
gang, die  Koagulation  oder  Agglutination  des 
denaturierten  Eiweiß.  Beide  Vorgänge,  der 
eigentliche  chemische  Vorgang  wie  der  kolloid- 
physikalische Vorgang,  sind  irreversibel,  beide 
verlaufen  nicht  momentan,  sondern  bedürfen  zu 
ihrem  Ablauf  einer  gewissen  Zeit,  und  beide 
werden  von  den  äußeren  Versuchsbedingungen, 
und  zwar  in  verschiedener  Weise,  beeinflußt. 
Eine  eingehende  Untersuchung  dieser  komplizierten 
Vorgänge  ist  von  Harriette  Chick  und  C.  J. 
Martin  im  Lister-Institut  in  London  aus- 
geführt worden;  der  folgende  Bericht  schließt  sich 
eng  an  die  von  diesen  beiden  Autoren  in  einer 
zusammenfassenden  Arbeit  in  den  Kolloidchemi- 
schen Beiheften  (Bd.  V,  S.  49  bis  140;  19 13)  ge- 
machten Angaben  an. 

Daß  es  sich  bei  der  Hitzekoagulation  um  eine 
Reaktion  zwischen  Eiweiß  und  Wasser  handelt, 
beweist  der  Umstand,  daß  getrocknetes  Eiweiß 
(kristallinisches  Eieralbumin  und  Metliämoglobin) 
selbst  bei  fünfstündigem  Erhitzen  auf  120"  C 
seine  Wasserlöslichkeit  behielt  und  bei  vierstün- 
digem Erhitzen  auf  130"  C  —  wohl  infolge  einer 
sekundären  Reaktion  —  erst  zum  kleinen  Teil 
verlor. 

I.  Die  Denaturierung  von  Eiweiß.  — 
Die  Denaturierungsgeschwindigkeit  des  Eiweiß  in 
wässeriger  Lösung  ist,  sofern  die  Reaktion  der 
Lösung  sich  während  des  Vorganges  nicht  ändert, 
in  jedem  Zeitmoment  der  Konzentration  des  noch 
nicht  denaturierten  Eiweiß  proportional.  Die  Er- 
klärung für  diese  Tatsache  liegt  darin,  daß  die 
Konzentration  des  Wassers,  das  ja  auch  an  der 
Reaktion  teilnimmt,  in  wässeriger  Lösung,  auf  die 
sich  die  von  den  beiden  Autoren  gemachten  An- 
gaben allein  beziehen,  als  konstant  angesehen 
werden  darf  Von  Säuren  als  auch  von  Basen, 
d.  h.  sowohl  durch  Wasserstoffion  als  auch  durch 
Hydroxylion,  wird  die  Denaturierungsgeschwindig- 
keit erhöht,  vermutlich  weil  das  Eiweiß  als  am- 
photerer  Elektrolyt  sowohl  mit  Säuren  als  auch 
mit   Basen    Salze    bildet   und  Eiweißsalze  leichter 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


573 


als  freies  Eiweiß  denaturiert  werden.  Geht  man 
bei  der  Denaturierung  von  einer  annähernd  neu- 
tralen Eiweißlösung  aus,  so  bietet  der  Vorgang 
der  Denaturierung  aus  folgenden  Gründen  ein 
wesentlich  komplizierteres  Bild ;  In  der  nicht- 
denaturierten Lösung  ist  das  Eiweißsalz  wie  die 
Salze  aller  amphoteren  Elektrolyte  zum  großen 
Teil  in  Eiweiß  und  freie  Säure,  wenn  in  der  neu- 
tralen Lösung  das  Eiweißsalz  einer  Säure,  in  Ei- 
weiß und  freie  Base,  wenn  das  Eiweißsalz  mit 
einer  Base  vorliegt,  hydrolytisch  gespalten.  Bei 
der  Denaturierung  wird  nun,  wie  bereits  soeben 
bemerkt  wurde ,  das  Eiweißsalz  rascher  als  das 
freie  Eiweiß  angegriffen,  das  hydrolytische  Gleich- 
gewicht wird,  da  das  denaturierte  Eiweiß  ausfällt, 
gestört,  und  es  muß  sich  daher  nach  den  Grund- 
gesetzen der  Lehre  vom  chemischen  Gleichgewicht 
neues  Eiweißsalz  bilden:  die  Konzentration  des 
VVasserstoffions  oder  die  des  Hydroxylions  in  der 
Lösung  nimmt  ab,  und  damit  sinkt  auch  die  von 
der  Konzentration  des  Wasserstoff-  oder  des 
Hydroxylions  ja  stark  abhängige  Denaturierungs- 
geschwindigkeit.  Auch  der  Zusatz  von  neutralen 
Salzen  hat  —  aus  allerdings  noch  nicht  befriedi- 
gend ermittelten  Gründen  —  einen  stark  verlang- 
samenden Einfluß  auf  die  Dcnaturierungsgeschwin- 
digkeit.  Mit  wechselnder  Temperatur  nimmt  die 
Denaturierungsgeschwindigkeit  und  zwar  nach 
einer  logarithmischen  Funktion  stark  zu.  Der 
Temperaturkoeffizient  ist  ganz  außergewöhnlich 
groß:  Er  hat  für  das  Albumin  den  Wert  1,9  und 
für  das  Hämoglobin  den  Wert  1,3,  während  er 
für  gewöhnliche  chemische  Reaktionen  etwa  den 
Wert  1,1  hat.  Mit  anderen  Worten:  Bei  einer 
Temperatursteigerung  von  10"  C  steigt  die 
Denaturierungsgeschwindigkeit  des  Albumins  auf 
das  1,9^"-  ^  etwa  6oofache, 
Denaturierungsgeschwindigkeit  des  Hämoglobins 
auf  das  1,3'"-  =  etwa  14 fache, 
die  Geschwindigkeit  einer  gewöhnlichen  chemischen 
Reaktion  aber  nur  auf  das  i '"-  =  2,5  fache. 
II.  Die  Agglutination  des  denaturier- 
ten Eiweiß.  —  Die  Aggluiinierung  des  dena- 
turierten Eiweiß, ')  d.  h.  der  Zusammentritt  der 
einzelnen  Eiweißteilchen  zu  größeren,  filtrierbaren 
Komplexen  hängt,  wie  schon  von  anderen  Autoren 
nachgewiesen  worden  ist,  in  erster  Linie  von  der 
elektrischen  Ladung  der  Teilchen  ab:  Aggluiinie- 
rung tritt  in  dem  sog.  iso  elektrischen  Punkt  ein, 
d.  h.  dann,  wenn  die  elektrische  Ladung  der  Teil- 
chen gerade  gleich  Null  ist.     Eine  rein  wässerige 


')   Nicht    denaturiertes    Eiweiß    koaguliert    auch    im    iso- 
elelttrischeti  Punkt  nicht. 


Lösung  von  reinem  Eiweiß  reagiert  schwach  alka- 
lisch, und  man  bedarf  daher,  wenn  man  das  Ei- 
weiß neutralisieren  will,  eines  schwachen  Säure- 
zusatzes. Bei  Abwesenheit  von  Elektrolyten  liegt 
der  isoelektrische  Punkt  von  denaturiertem  Eiweiß 
bei  einer  Konzentralion  von  etwa  3-IO"''  normal 
H+.  Die  Anwesenheit  von  Elektrolyten  übt  auf 
die  Agglutinierung  einen  sehr  erheblichen  Einfluß 
aus,  und  zwar  einerseits  deswegen,  weil  Neutral- 
salze die  Konzentration  der  Wasserstoffionen  in 
sauren,  die  der  Hydroxylionen  in  alkalischen 
Lösungen  nach  bekannten  Gesetzen  verkleinern, 
andererseits  deswegen,  weil  die  Ionen  der  Neutral- 
salze in  im  einzelnen  gegenwärtig  noch  nicht 
recht  übersehbarer  Weise  von  den  Eiweißteilchen 
aufgenommen,  „adsorbiert"  werden  und  damit  deren 
Ladung  verändern.  Außer  der  elektrischen  Ladung 
ist  von  wesentlicher  Bedeutung  für  die  Aggluti- 
nierung noch  die  Temperatur.  Für  jede  denatu- 
riertes Eiweiß  enthaltende  Lösung  gibt  es  eine 
von  der  Reaktion  der  Lösung,  von  der  Eiweiß- 
und  von  der  Elektrolytkonzentration  abhängige 
,, kritische  Temperatur",  unterhalb  deren  überhaupt 
keine  Agglutination  stattfindet.  Unmittelbar  ober- 
halb dieser  kritischen  Temperatur  übt  eine  kleine 
Temperatursteigerung  einen  großen  Einfluß  auf 
die  Geschwindigkeit  der  Agglutinierung  aus,  mit 
steigender  Temperatur  aber  wird  dieser  Einfluß 
kleiner  und  kleiner  und  nimmt  bei  weit  oberhalb 
der  ,, kritischen  Temperatur"  liegenden  Tempera- 
turen einen  konstanten  Wert  an,  indem  die  Agglu- 
tinierungsgeschwindigkeit  dann  bei  einer  Tempe- 
ratursteigerung von  10"  C  regelmäßig  um  das 
2-  bis  5  fache  steigt. 

„Aus  diesen  Ergebnissen  geht  hervor,  so 
schreiben  die  beiden  Autoren,  daß  es  ganz  un- 
richtig ist,  einem  Eiweißkörper  eine  bestimmte 
Koagulationstemperatur  zuzuschreiben.  Es  ist  ja 
richtig,  daß  Eiweißlösungen,  welche  unter  ganz 
ähnlichen  Bedingungen  erhitzt  werden,  gewöhnlich 
bei  oder  in  der  Nähe  einer  bestimmten  Tempe- 
ratur zu  koagulieren  beginnen ;  es  ist  aber  eine 
ganz  irrtümliche  Auffassung,  die  ,, Koagulations- 
temperatur" als  eine  physikalische  Konstante  des 
betreffenden  Eiweißkörpers  anzusehen.  Dem 
hohen  Temperaturkoeffizienten  dieser  Reaktionen 
ist  es  zuzuschreiben,  daß  die  Bestimmungen  der 
sog.  Koagulationstemperatur  von  praktischem 
Nutzen  gewesen  sind.  Eine  wirkliche  Unterschei- 
dung kann  jedoch  durch  die  Geschwindigkeit  ge- 
geben werden,  mit  welcher  ein  Eiweißkörper  bei 
einer  bestimmten  Temperatur  und  bei  gleichen 
Bedingungen  (Reaktion,  Salzgehalt)   koaguliert." 

Mg. 


Kleinere  Mitteilungen. 

Drohende     Ausrottung     von     Fischotter     und  w     j-      j  ui-  u     1     i      j        a 

T,.   -j- — TT — ; — p  .    '^ macht,    die    der  angeblich    drohenden  Ausrottung 

Fischroher?     Bei  den  Vorbereitungen  für  das  neue  der  fischereischädlichen  Tiere,    wie  Otter,  Reiher, 

preußische   Fischereigesetz    hat    sich    eine    starke  Eisvogel,  vorbeugen  will.    Sind  die  Befürchtungen, 

Agitation    der  Naturschutzvereine    bemerkbar   ge-  Otter  und  Reiher  möchten  durch  die  Nachstellun- 


574 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


gen  der  Fischereiinteressenten  gänzlich  aus  unserer 
Fauna  verschwinden,  wirklich  berechtigt?  Der 
Fischereiverein  für  Westfalen  und  Lippe  zahlt,  wie 
wohl  die  meisten  Provinzialfischereivereine,  Schuß- 
prämien für  die  Erlegung  dieser  Räuber,  und  zwar 
für  jeden  Otter  5  Mk.,  jeden  Reiher  1,50  Mk.  Die 
folgende  Zusammenstellung  gibt  an,  für  wieviel 
Stück  Otter  und  Reiher  seit  1902  in  jedem  Jahre 
Prämien  gezahlt  worden  sind. 


Jahr 

Fischotter 

Fischreiher 

Stück 

Siück 

1902 

40 

12 

1903 

40 

7 

1904 

43 

15 

1905 

41 

19 

1906 

35 

56 

1907 

24 

99 

1908 

18 

77 

1909 

39 

74 

19IO 

38 

97 

1911 

26 

67 

I912 

36 

62 

1913 

23 

94 

Im   aanzea  in 
12    jähren 

403 

67g 

Im  Durchsclinilt 

57 

im  Jahr 

34 

Es  geht  aus  diesen  Zahlen  hervor,  daß  selbst 
in  Westfalen,  einem  Lande,  in  dem  die  Verhält- 
nisse für  Otter  und  Reiher  keine  günstigen 
sind,  seit  1902  trotz  starker,  durch  Schußprämien 
besonders  geförderter  Nachstellungen  die  Zahl  der 
Otter  und  Reiher  keineswegs  abgenommen  hat, 
sondern  daß  —  von  kleinen,  durch  nicht  näher 
zu  bestimmende  Faktoren  hervorgerufenen  Schwan- 
kungen abgesehen  —  alljährlich  stets  etwa  die 
gleiche  Zahl  dieser  Tiere  zum  Abschuß  gelangt. 
Eine  Ausrottungsgefahr  für  Reiher  und  Otter  be- 
steht wenigstens  in  Westfalen  nicht.  —  Die  Ver- 
eine zum  Schutze  der  Naturdenkmäler  arbeiten 
leider  nicht  selten  mit  Schlagworten,  die  einer 
schärferen  Kritik  nicht  standhalten.  Es  wäre 
sehr  zu  bedauern,  wenn  die  stellenweise  schon 
hervortretenden  unberechtigten  Auswüchse  der 
Naturschutzbewegung  der  an  sich  so  guten  Sache 
Abbruch  täten.        Thienemann  (Münster  i.  W.) 


Fremdkörper  in  Vogeleiern.  Als  ich  vor  einigen 
Monaten  auf  einer  Fußwanderung  im  Wirtshause 
eines  kleinen  Gebirgsdorfes  frisch  gekochte  Eier 
verlangte,  brachte  mir  die  Frau  zwei  Hühnereier 
und  ein  Entenei  —  ihren  ganzen  derzeitigen  Vorrat. 
An  dem  Entenei  bemerkte  ich  ein  kleines  Haar 
und  suchte  dasselbe  durch  Wischen  und  Reiben 
mit  dem  Finger  zu  entfernen,  es  widerstand  aber 
allen  meinen  Bemühungen.  Bei  näherer  Unter- 
suchung sah  ich,  daß  das  Haar  durch  die  Schale 
hindurch  ging  und  auch  auf  der  entgegengesetzten 
Seite  des  Eies  ein  kleines  Ende  desselben  hervor- 
sah. Ich  konnte  mir  nicht  vorstellen ,  daß  das 
Haar,  wie  es  den  Anschein  hatte,  auch  durch  das 
Innere  des  Eies  ging  und  war  deshalb  sehr  er- 
staunt, nach  dem  Ablösen  der  Schale  zu  sehen, 
daß  dieses  doch  der  Fall  war.  Es  zog  sich  durch 
Schale  und  Eiweiß  dicht  an  der  oberen  Rundung 
des  Dotters  vorüber  und  trat  auf  der  entgegen- 
gesetzten Seite  durch  die  Schale  wieder  heraus. 
Um  dieses  interessante  Stück  aufzubewahren  und 
Sachkennern  vorzulegen,  versuchte  ich  die  Schale 
zu  erhalten,  doch  sie  war,  durch  den  wohlgemein- 
ten Eifer  der  Wirtin,  zu  sehr  beschädigt  und  zerfiel 
zu  meinem  größten  Bedauern  in  kleine  Stücke. 
Die  Frau  hatte,  um  mir  das  Schälen  der  Eier  zu 
erleichtern,  die  Schalen  mit  dem  Messerstiel  ge- 
klopft. 

Ein  anwesender  Herr,  anscheinend  ein  behäbiger 
Gutsbesitzer,  welcher  mir  zugesehen  hatte,  und 
sich  sehr  für  die  Sache  interessierte,  teilte  mir  mit, 
er  habe  vor  längeren  Jahren  ein  Weizenkorn  im 
Eiweiß  eines  gekochten  Hühnereies  gefunden.  Da 
er  gewußt  habe,  von  welcher  Henne  das  Ei  stammte, 
habe  er  aufgepaßt  und  bemerkt,  daß  sich  dieser 
eigentümliche  Vorfall  bei  von  derselben  Henne 
gelegten  Eiern  in  längeren  Zwischenräumen  mehr- 
mals wiederholte.  Er  habe  viel  darüber  nach- 
gegrübelt, wie  die  Körner  in  die  Eier  gekommen 
sein  könnten,  doch  des  Rätsels  Lösung  nicht  ge- 
funden. Auch  eine  Untersuchung  der  später  ge- 
schlachteten Henne    habe    kein  Resultat    ergeben. 

Ich  kann  mir  diese  Vorgänge  auch  nicht  er- 
klären —  vielleicht  kommt  von  berufenerer  Seite 
eine  Aufklärung  dieser  eigentümlichen  Natur- 
erscheinung, 'j   _  Tii.  Reineck. 


')  Vgl.  diese  Wochcnschr.  Bd.  XIII  (N.  F.)  S.  3S4,  wo 
unter  „.Anregungen  und  .\nt\vorten"  aus  der  Beantwortung  der 
Frage:  „Sind  Hühnereier  in  ihrem  Innern  bakterienfrei?"  auch 
die  Aufklärung  über  die  oben  geschilderte  Erscheinung  her- 
vorgeht.    Die  Redaktion. 


Bücherbesprechungen. 


Tornquist ,  Prof.  Dr.  A. ,  Die  Wirkung  der 
Sturmflut  vom  9.  bis  lo.  Januar  1914 
auf  Samland  und  Nehrung.  S.  A.  aus 
den  Schriften  der  Physik.- Ökonom.  Gesellschaft 
zu  Königsberg  i.  Pr.  LIV.  Jahrg.,  19 13  III. 
B.  G.  Teubner,   19 13. 


Nachjeder  großen  Sturmflut  setzt  begreiflicher- 
weise ein  intensives  Studium  der  Veränderungen 
ein,  die  die  Küste  durch  Landabbruch  oder  Land- 
gewinn genommen  hat.  Kann  doch  nur  durch 
genaueste  Kenntnis  des  Vorganges  gehofft  werden, 
Vorkehrungen  ausfindig  zu  machen,  um  den  Zer- 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


575 


Störungen  der  Sturmfluten  vorzubeugen.  Die 
Arbeit  von  Tornquist  aber  gewinnt  dadurch 
an  Wert,  weil  die  Beobachtungen  unmittelbar 
nach  dem  Naturereignis  einsetzten.  Am  9.  und 
10.  Januar  1914  war  die  Flut,  am  13.  Januar 
schon  war  er  mit  den  Herren  des  geologischen 
Institutes  im  Felde  und  konnte  die  Sturnnvirkungen 
studieren,  da  außerdem  noch  Frost  Veränderungen 
sekundärer  Art  verhindert  hatte.  Ein  Sturm  aus 
NW,  der  das  überhaupt  schon  hohe  Wasser  der 
Ostsee  gegen  die  Küste  drängte,  schlug  abends 
in  NNE-Orkan  um.  Das  angestaute  Wasser  wurde 
in  hohen  Wellen  gegen  die  Küste  getrieben  und 
rief  jetzt  Zerstörungen  hervor,  von  denen  die  Ab- 
bildungen ein  klares  Bild  geben.  Verstärkt  wurden 
sie  durch  eine  Brandungsvereisung.  Es  wurden 
typische  Abrasionsformen  geschaffen,  die  im  ein- 
zelnenbeschrieben werden,  und  denen  I icoooocbm 
Gestein  zum  Opfer  fiel.  Außerdem  wurde  durch 
Zerstörung  von  Dünen  850000  cbm  Sand  ver- 
loren, so  daß  an  der  170  km  langen  Küste  im 
ganzen  2  Mill.  cbm  Land  verlagert  wurden.  Da- 
gegen gab  das  Meer  für  49726,60  Mk.  Bernstein 
her.  Besonders  haben  die  Buhnen  sich  als  vor- 
züglicher Küstenschutz  erwiesen. 

W.  Behrmann. 

Eckardt,  Dr.  Wilh.  R.,  Praktischer  Vogel- 
schutz. 90  Seiten  und  48  Abbildgn.  Leipzig, 
Verlag  von  Theod.  Thomas.  —  Preis  geh.  i  Mk. 
Es  ist  ein  erfreuliches  Zeichen  dafür,  daß  der 
Vogelschutz  in  unserem  Vaterland  immer  mehr 
an  Bedeutung  gewinnt,  daß  fast  jedes  Jahr  neue 
Vogelschutzbücher  auf  den  Büchermarkt  kommen. 
Doch  ist  es  andererseits  bei  der  Fülle  des  bereits 
dargebrachten  Materials  nicht  leicht,  dem  Vogel- 
schutz wieder  eine  neue  Seite  abzugewinnen ,  so 
daß  sich  die  Berechtigung  einer  weiteren  Arbeit 
ergibt.  Der  Verfasser  des  vorliegenden  Buches 
ist  aber,  das  spürt  man  bald,  nicht  nur  Verarbeiter 
anderer  Forschungen,  sondern  auch  selbst  Praktiker. 
Wo  er  von  den  Nisthöhlen  für  Höhlenbrüter,  von 
der  Zurichtung  des  Gebüsches  für  Freibrüter,  von 
Winterfütterung  spricht,  überall  kann  er  dem  aus 
anderen  Werken  Wiedergegebenen  eigene  Erfah- 
rungen an  die  Seite  stellen,  so  z.  B.  über  die 
Schaffung  von  Nistgelegenheiten  für  den  Baum- 
läufer. So  wird  auch  der  Kenner  aus  diesem 
Buch  manches  Neue  lernen,  und  das  um  so  mehr, 
als  die  ganze  Darstellung  in  wohltuend  sachlicher 
Form  gehalten  ist.  Alles  in  allem,  ein  sehr  emp- 
fehlenswertes Buch,  dem  wir  für  eine  Neuauflage 
nur  noch  eine  Liste  der  wichtigsten  Vereine,  so- 
wie einen  Hinweis  auf  den  deutschen  Vogelschutz- 
tag wünschen,  in  dem  jetzt  alle  zwei  Jahre  das 
im  Vogelschutz  Erreichte  durchgesprochen  und 
gefestigt  wird.  K.  Guenther. 

Brücke,  E.  Th.  v.,  Über  die  Grundlagen 
und  Methoden  der  Großhirnphysio- 
logie. (Nach  einer  am  18.  Dezember  191 1  an 
der  Universität  Leipzig   gehaltenen  Antrittsvor- 


lesung).     Sammlung   anatomischer  und  physio- 
logischer Vorträge  und  Aufsätze.  Herausgegeben 
von  Prof.  Dr.  E.  Gaupp  und  Prof  Dr.  VV.  Tren- 
delenburg.     Heft  24.      Jena    1914,    G.  Fischer. 
—   50  Mk. 
Verfassersteht  ganz  auf  dem  Boden  des  psycho- 
physischen  Parallelismus,  wonach  jede  psychische 
Tätigkeit    durch    eine  Veränderung   der   physiolo- 
gischen Grundlage  verursacht  wird.    Entsprechend 
dem    Gesetz    von    der    Eindeutigkeit    der    Natur- 
vorgänge (Petzoldt)   ist  das  Resultat  mit  den  Va- 
riabein gegeben ;  ist  deren  Zahl  entsprechend  groß, 
so  kann  eine  Tätigkeit  willkürlich  erscheinen,  wie 
denn  auch  selbst  die  F'achphysiologen  noch  zwischen 
willkürlichen  und  reflektorischen  Tätigkeiten  unter- 
scheiden, obschon  doch  in  letzter  Linie  alle  Lebens- 
erscheinungen reflektorischer  Natur  sind.     Da  sie, 
wie    alle,    auf  die   Erhaltung    des    Lebens    hinaus- 
laufen,   erwecken    sie   den  Eindruck  der  beabsich- 
tigten Zweckmäßigkeit. 

Der  Petersburger  Physiologe  P.  Pawlow  hat 
eine  Methode  eingeführt,  welche  es  erlaubt,  die 
stattgefundene  Reizung  eines  Sinneszentrums,  frei 
von  jeder  anthropomorphistischen  Deutung  fest- 
zustellen. Es  wird  eine  Speicheldrüsenfistel  an- 
gelegt ;  die  infolge  einer  reflektorischen  Reizung 
der  Speicheldrüsennerven  gesteigerte  Absonderung 
dient  als  Index  für  einen  jeweils  durch  ein  Sinnes- 
organ oder  durch  einen  beliebigen  zentripetalen 
Nerven  der  Großhirnrinde  zugeleiteten  Reiz.  Der 
dem  Tiere  angeborene  „unbedingte"  Reflex  wird 
durch  einen  Nahrungsbissen  ausgelöst,  indem  der- 
selbe die  Endigungen  der  Geschmacksnerven  in 
der  Muudhöhlenschleimhaut  reizt.  Ein  „bedingter" 
Reflex  kann  dem  Versuchstier  anerzogen  werden. 
Erhält  z.  B.  ein  Hund  jedesmal  beim  Erklingen 
eines  bestimmten  Tones  Futter,  so  wird  nach 
20 — 30  maliger  Wiederholung  der  Ton  allein  den 
Reflex  der  Speichelabsonderung  auslösen.  ^)  Selbst 
Schmerzempfindungen,  die  sonst  eine  Abwehr- 
bewegung veranlassen,  können  in  dieser  Weise 
benutzt  werden.  Eine  Ausnahme  macht  indes 
das  Periost,  bei  dessen  Reizung  die  Abwehr- 
bewegungen  überwiegen. 

Die  Pawlow'sche  Methode  gestattet  auch 
die  Höhe  der  Reizempfindlichkeit  eines  Sinnes- 
organs zu  prüfen.  So  unterscheidet  z.  B.  der  Hund 
Töne,  deren  Höhe  um  weniger  als  einen  ganzen 
Ton  differiert  und  hört  solche,  deren  Schwingungs- 
zahl höher  ist  (70 — 80000  Schwingungen  pro  Sek.) 
als  die  eines  für  das  menschliche  Ohr  wahrnehm- 
baren Tones  (bis  20000). 

Die  Erforschung  der  Funktionen  des  Groß- 
hirns  an    einem    hoch  entwickelten  Säugetier    er- 

')  Diese  Versuche  erinnern  lebliaft  an  das  gelegentlich 
der  Debatte  über  den  Hörsinn  der  Fische  viel  erörterte  Ver- 
halten der  Fische  im  Teich  des  Klosters  Kremsmünster  in 
Oberösterreich,  die  auf  ein  Glockensignal  hin  zur  Futterstelle 
eilen.  Ob  dabei  freilich  die  in  der  Luft  erzeugten  Schall- 
wellen oder  die  Erschütterung  des  Bodens  durch  die  Schritte 
des  Glöckners  den  reflexauslösenden  Reiz  bilden,  wird  durch 
das  Verhalten  der  Fische  nicht  entschieden,  ist  übrigens  auch 
für  unseren  Fall  gleichgültig. 


576 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  36 


scheint  v.  B.  gerade  heute  von  großer  Wichtigkeit. 
„Wiederholt  haben  wir  ja  in  den  letzten  Jahren 
sehen  müssen,  daß  Männer  der  Naturwissenschaft 
märchenhafte  psychische  Fähiglceiten  bei  Pferden 
für  möglich  hielten.  Vielleicht  werden  uns  ein- 
wandfreie Untersuchungen  der  ,, bedingten"  Reflexe 
beim  Pferde  einen  in  einer  bestimmten  Richtung 
auffallend  hoch  entwickelten  Analysator  kennen 
lehren,  der  für  die  Leistungen  der  ,, gelehrigen" 
Pferde  mi'.bestimmend  war,  so  weit  hier  nicht  viel 
gröbere  Irrtümer  vorliegen." 

V.  B.  meint,  dieselbe  Methode,  welche  zur  Er- 
forschung der  physiologischen  Vorgänge  in  den 
Sinnesorganen  diene,  könne  auch  zur  Ergründuiig 
der  physiologischen  Korrelate  höherer  psychischer 
Vorgänge  benutzt  werden.  Kathariner. 


Die  erste  Integralrechnung,    eine  Auswahl  aus 
Johann    B  e  r  n  o  u  1 1  i '  s    Mathematischen    Vor- 
lesungen   über   die  Methode    der  Integrale    und 
Anderes.     Aus  dem  Lateinischen  übersetzt  und 
herausgegeben     von     Dr.     Gerhard    Kowa- 
lewski.     Bd.  194  von  Ostwald's  Klassikern 
der    exakten    Wissenschaften,      kl.  8".      187  S. 
mit   1 19  Textfiguren.     Leipzig  und  Berlin   1914, 
Verlag  von  Wilhelm  Engelmann.    —   Preis  gut 
kartonniert  5  Mk. 
Wenn  auch  der  Begriff  des  Integrals  sich  schon 
bei  Leibnitz  und  bei  Newton   findet  und  das 
Wort  „Integral"    selbst    schon    von    Jacob  Ber- 
noulli  gebraucht  worden  ist,  so  spielt  doch  das 
von  Johann  Bernoulli,    dem  jüngeren  Bruder 
des  eben  erwähnten  Jacob  Bernoulli,    in  den 
Jahren    1691    und    1692    für   seinen  Schüler,    den 
Marquis  d'Hospital  niedergeschriebene  Werk   ,,De 
methodo  integralium"  als  erstes  eigentliches  Lehr- 
buch der  Integralrechnung    in  der  Geschichte  der 
Mathematik     eine     wichtige    Rolle.       Seine     von 
Gerhard    Kowalewski    besorgte    und    durch 
eine    Reihe    nützlicher    Anmerkungen   bereicherte 
Neuausgabe    muß    daher    als    eine    wertvolle   Be- 
reicherung   der    verdienstvollen    O  s  t  wald  '  sehen 
Sammlung  allen  denen,  die  sich  für  die  Geschichte 
der  Mathematik  interessieren,    empfohlen  werden. 
Auch  dem  mathematisch  weniger  Geschulten  kann 
die  Lektüre  des  Büchleins  angeraten   werden ,    da 
das  Verständnis    der    abstrakten    mathematischen 
Vorstellungen  nach  Ansicht  des  Referenten  durch 
nichts    so    gefördert    wird    wie   durch  die  Lektüre 
jener    guten  älteren  Werke,    deren  Autoren  noch 
selbst  mit  dem  Stoff  zu  ringen  hatten. 

Clausthal  i.  H.  Werner  Mecklenburg. 


Fester,  Dr.  Gustav,  Die  chemische  Tech- 
nologie des  Vanadins.  Bd.  XX  der  Samm- 
lung chemischer  und  chemisch  technischer  Vor- 
träge, herausgegeben  von  Prof.  Dr.  W.  Herz. 
79  Seiten.  Mit  3  Textabbildungen.  Stuttgart 
1914,  Verlag  von  Ferd.  Enke. 
Das  Vanadin  gehört  zu  den  Elementen,  die, 
wie  die  seltenen  Erden,  die  Wandlung  von  der 
„wissenschaftlichen  Kuriosität"  zum  wertvollen 
Objekt  der  Technik  durchgemacht  haben.  Nach- 
dem man  erkannt  hatte,  daß  geringe  Vanadin- 
zusätze die  Qualität  des  Stahls  in  hohem  Maße 
verbessern ,  wurde  dieses  Element  in  großen 
Mengen  in  Nord-  und  Südamerika  aufgefunden. 
Die  Wichtigkeit  des  Vanadins  für  die  Technik 
(auch  die  therapeutische  Verwendung  scheint  Be- 
deutung zu  erlangen)  rechtfertigt  die  vorliegende, 
klar  und  übersichtlich  geschriebene  Technologie 
des  Vanadins,  die  eine  erwünschte  Ergänzung  der 
in  der  gleichen  Sammlung  erschienenen  Abhand- 
lung von  Ephraim  (Das  Vanadin  und  seine 
Verbindungen,  Bd.  IX,  1904)  darstellt.  Wir  finden 
in  dem  F"e  st  er 'sehen  Buche  eine  historische 
Einleitung,  eine  Besprechung  der  wichtigsten  Vor- 
kommen des  Vanadins,  Bemerkungen  über  Nach- 
weis und  quantitative  Bestimmung,  einen  Ab- 
schnitt über  die  Verwendungsmöglichkeiten  des 
Vajiadins  und  seiner  Verbindungen,  und  eine  aus- 
führliche Zusammenstellung  der  älteren  und  neueren 
Methoden  zur  Verarbeitung  von  Vanadinerzen. 

Günther  Bugge. 


Literatur. 

Haubcrrisscr,  Dr.  Georg,  Herstellung  photographi- 
scher Vergrüßerungen.  Mit  50  Abbild,  u.  2  Tafeln.  Leipzig 
'14,  Dr.  Licsegang's  Verlag   M.  Eger.     Geb.  3  Mk. 

Mahne,  Friedrich,  Leitfaden  der  Filmphotographie. 
Ebenda.     Geb.  2,50  Mk. 

Dähne,  Major  August,  Bausteine  zur  Flugbahn-  und 
Kreiselthcorie.  Mit  5  Textfiguren.  Berlin  '14,  Eisenschmidt. 
1,50  Mk. 

West  eil,  W.,  Percival,  Bird  Studies  in  twenty-four  les- 
sons.     Cambridge  '14,  University  Press. 

Becker,  A.  und  Ram sa u e r ,  C,  Über  radioaktive  Meß- 
methoden und  Einheiten.  Aus  dem  radiologischen  Institut  der 
Universität  Heidelberg.  Mit  einem  Vorwort  von  F.  Lenard. 
Heidelberg  '14,   C.  Winter.     80  Pf. 

Hegg,  Dr.  med.  Emil,  Das  Ewige  im  Zeitlichen.  Eine 
naturwissenschaftliche  Formulierung.  Bern  '14,  A.  Francke. 
2,40  Mk. 

Nußbaum,  M.,  Karsten,  G.,  Weber,  M.,  Lehrbuch 
der  Biologie  für  Hochschulen.  2.  Aufl.  Mit  252  Textabbild. 
Leipzig  und   Berlin   '14,   W.   Engelmann.      Geb.    13,25   Mk. 

Jecck,  Dr.  B.,  Aus  dem  Reiche  der  Edelsteine.  Mit 
8  Bilderbeilagen  und  8  Textfiguren.  Prag  '14,  E.  Weinfurter. 
3  Kr. 


Inhalt;  Guenthcr;  Physiognomik  der  Tropenlandschaft.  Mengel:  Über  den  Chemismus  der  alkoholischen  Gärung.  — 
Einzelberichte:  Ficado:  Die  Bromelienfauna  von  Costa-Rica.  Kerschbaum:  Das  neue  Röntgenrohr  nach  Coolidge. 
Pe  trucc  i ;  Entstehung  der  Terra  diSiena  durch  Bakterienwirkung.  Chick  und  Marlin  :  Die  Hitzelioagulation  der  Eiweiß- 
körper. —  Kleinere  Mitteilungen:  Thienemann:  Drohende  Ausrottung  von  Fischotter  und  Fischreiher?  Reineck: 
Fremdkörper  in  Vogelciern.  —  Bücberbesprcchungen :  Tornquist:  Die  Wirkung  der  Sturmflut  vom  9. — 10.  Januar 
1914  auf  Saniland  und  Nehrung.  Eckardt:  Praktischer  Vogelschutz,  v.  Brücke:  Über  die  Grundlagen  und  Methoden 
der  Großhirnphysiologie.  Die  erste  Integralrechnung.  Fester:  Die  chemische  Technologie  des  Vanadins.  —  Lite- 
ratur ;  Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften   werden  an  den   Redakteur  Professor  Dr.  II.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstrafie    IIa,   erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck   der  G.  Pätz'schcn  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.    Band; 
der  ganzen  Reihe  29.  Bai 


Sonntag,  den  13.  September  1914. 


Nummer  B7. 


Goethe's  naturwissenschaftliche  Sammlungen  im  Neubau 
des  Goethehauses  zu  Weimar. 


[Nachdruck  verboten.]  Von    Prof.    Dr. 

Vor  den  Ostertagen  wurde  die  Aufstellung  von 
Goethes  naturwissenschaftlichem  Nachlaß  in  dem 
schönen  mit  Staatsmitteln  ausgeführten  Anbau 
des  Goethehauses  in  Weimar  vollendet.  In  sehr 
geschickter  Weise  hat  man  vermieden,  das  alte 
Goethehaus  durch  diesen  Anbau  in  irgendwelcher 
Weise  zu  benachteiligen.  Der  Neubau  ist  ein 
selbständiges  Haus  im  altweimarcr  Stil,  und  es  ist 


A.  Hansen. 

als  Andenken  an  diesen  außerordentlichen  Genius 
die  Besucher  erfreuen,  sondern  sie  werden  die  Mission 
für  das  geistige  Weimar,  ja  für  das  ganze  Deutsch- 
land erfüllen  können,  welche  Goethe  für  seine  mit 
Plan  und  Absicht  angelegten  Sammlungen  vor- 
ausgesehen hat.  Ein  groser  Saal  von  einfach  vor- 
nehmem Eindruck  hat  in  stilvollen  Schränken 
die  kostbare  Majolikasammlung,   die  Broncen,    die 


ihm  von  außen  die  Verbindung  mit  dem  alten 
Goethehause  gar  nicht  anzusehen.  Unter  der 
Leitung  W.  von  Oettingens  sind  in  fünf 
schönen  und  stimmungsvollen ,  hellen  und  ge- 
räumigen Sälen  Goethes  bisher  im  alten  Goethe- 
hause sehr  unvorteilhaft  verstauten  Sammlungen 
so  aufgestellt  worden,  daß  sie  besichtigt  und 
studiert  werden  können.  So  werden  endlich  diese 
von  Goethe  mit  Recht  als  mannigfach  und  be- 
deutsam   bezeichneten    Sammlungen     nicht    bloß 


reiche  Sammlung  von  Medaillen  und  Münzen  und 
die  antiken  Gegenstände,  Vasen,  Lampen  usw. 
aufgenommen.  Der  anstoßende,  nach  dem  Garten 
zu  gelegene  Saal  ist  ganz  von  dunkeln  Schränken 
umgeben,  die  durch  einzelne  unter  Glas  gefaßte 
Stiche  belebt  werden.  Ein  mächtiger  Tisch  von 
Stühlen  umgeben  kennzeichnet  ihn  als  Studiersaal. 
In  den  Schränken  usw.  ist  die  gewaltige  Sammlung 
der  vielen  tausend  Handzeichnungen  Goethes,  der 
Kupferstiche,   Lithographien,  Silhoueten  geborgen, 


578 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  37 


Schätze  die  bislier  gar  nicht  zugänglich  waren, 
von  Oett Ingen  und  Dr.  Kröber  haben  diese 
Sammlungen  geordnet  und  es  läßt  sich  erst  jetzt 
ihr  Wert  übersehen. 


Fig.   I.     Commeliüa  communis  L. 


Fig.  2.     Helenium  quadridentatum. 


die 
da 


natur- 
sie    in 


Am     schlimmsten     waren     bisher 
wissenschaftlichen  Sammlungen    daran 
Bodenräumen  des  Goethehauses  zum  Teil  in  alten 
Schränken  und  Schubladen  sehr  mangelhaft  unter- 


gebracht und  den  Blicken  entzogen  waren.  Bedauer- 
lich genug,  denn  wenn  ein  Goethe  seiner  Aussage 
nach  an  jedem  Stück  etwas  gelernt  hat,  so  sind 
auch  diese  Gegenstände  heute  noch  von  lehr- 
haftem Wert.  Ihnen  sind  im  Obergeschoß  des 
Neubaues  drei  helle  und  geräumige,  einfach  ge- 
tönte Säle  eingeräumt,  die  sofort  den  Eindruck 
eines  gut  ausgestatteten  naturwissenschaftlichen 
Museums  machen,  so  daß  man  hier  den  Dichter 
vollkommen  verspürt.  Die  Frage,  ob  Goethe  auch 
Naturforscher  gewesen  sei,  wie  eine  Literatur  be- 
hauptet, während  andere  das  bezweifeln  möchten, 
ist  hier  durch  Anschauung  endgültig  im  bejahen- 
den Sinne  zu  beantworten.  Vier  Spezialisten, 
Prof  Sem  per  aus  Aachen  (Geologe),  Dr.  Lehrs 


Fig.  3.     Rudbecl<ia  purpurca. 

vom  British  Museum  (Zoologe),  Dr.  Speyerer 
aus  München  (Physiker),  Prof  Hansen  aus  Gießen 
(Botaniker)  wurden  veranlaßt,  die  Sammlungen  zu 
ordnen  und  bestätigen  ihre  wissenschaftliche  Be- 
deutung. 

Ein  großer  Saal  gibt  durch  seinen  überraschend 
reichen  Inhalt  Aufklärung  über  Goethes  bedeut- 
same physikalische  Arbeiten,  besonders  über 
seine  optischen  Untersuchungen.  Die  Erläuterungen, 
die  Goethe  zu  den  Sätzen  seiner  Farbenlehre 
gibt,  hier  liegen  sie  nach  seinen  Angaben  vor 
Augen  und  die  Versuche  können  vom  Laien  nach 


N.  F.  XIII.  Nr.  3; 


Natuiwissenschaftlichc  Wochenschrift. 


579 


Goethe's  Versuchsanordnung  wiederholt  werden. 
Es  handelt  sich  also  nicht  bloß  um  eine  historische 
Vorführung,  sondern  um  eine  naturwissenschaft- 
liche Demonstration  der  optischen  Phänomene  in 
Goethe's  Laboratorium.  Die  Aufstellung  ist  ebenso 
geschickt  wie  eindrucksvoll  und  durch  vielerlei 
Stiftungen  unterstützt  worden.  Ein  gewaltiger 
Glasschrank  zeugt  durch  seinen  Inhalt  von  dem 
ausgedehnten  physikalischen  Apparat,  den  Goethe 
besessen  hat. 

In  einem  zweiten  Saal  sind  die  zoologische 
und  botanische  Sammlung  vereinigt  und  anschau- 
lich, gut  bezeichnet  in  schönen  einfachen  Glas- 
schränken aufgebaut.  Die  Zoologie  stellt  eine 
hübsche,  in  18  Glaskästen  verteilte  Sammlung 
deutscher  Vögel,  eine  Sammlung  von  Schildkröten, 
kleinen  Krokodilen,  Schlangen,  Insekten  usw.  dar. 
Die  interessante  osteologische  Sammlung  läßt  aus 
Goethe's  Beschreibungen  bekannte  Stücke  er- 
kennen, z.  B.  den  Schädel  des  „Hirschebers". 

Ein  Schrank  ist  der  Erläuterung  der  Entwick- 
lung des  Zwischenkiefers  beim  Menschen  gewid- 
met und  durch  einige  schöne  moderne  Präparate 
ergänzt.  Außerdem  finden  sich  die  Objekte  zur 
Schädellehre  und  für  physiognomische  Studien, 
endlich  in  einem  besonderen  Schranke  eine  kleine 
ethnographische  Saminlung. 

Die  botanische  Sammlung  ist  nicht  weniger 
vielseitig.  Sie  umfaßt  das  umfangreiche  und 
reckteckige  Herbarium,  welches  einen  historisch- 
wissenschaftlichen Wert  birgt  und  dessen  Inhalt 
vortrefflich  erhalten  ist.  1 5  große  Mappen  ent- 
halten über  1900  Pflanzen.  Ein  Teil  derselben  ist 
nach  L  i  n  n  e  geordnet,  ein  anderer  Teil  nach 
natürlichen  Familien  und  umfaßt  nicht  nur  Blüten- 
pflanzen, sondern  auch  Kryptogamen,  unter  diesen 
eine  ziemlich  bedeutende  Sammlung  von  Meeres- 
algen aus  dem  Mittelmeer  und  der  Nordsee.  Die 
I^flanzenmorphologie  ist  erläutert  durch  Palmen- 
fruchttriebe  und  Palmenblätter,  durch  Blattskelette, 
Rhizom-  und  Verzweigungsformen,  ferner  durch 
eine  anschauliche  Sammlung  meist  exotischer 
h'rüchte  und  Samen ,  Kokosnüsse  und  anderer 
Palmenfrüchte,  Früchte  tropischer  Lianen  (Bigno- 
nia,  Jutsea),  von  Adansonia  digitata  (Affenbrotbaum), 
eine  große  Zahl  kleiner  tropischer  PVuchtformen, 
Pinien-  und  Zedernzapfen  usw. 

Anschaulich  ist  auch  die  Holzsammlung,  welche 
das  Interesse  Goethe's  für  die  praktische  Botanik 
bezeugt,  unter  diesen  Hölzern  ist  auch  ein  Stück  des 
noch  neuerlich  untersuchten  Lignum  nephriticum. 
Goethe  ist  einer  der  ersten  Botaniker,  die  die 
Bedeutung  des  Pathologischen  bei  der  Pflanze 
begriffen  haben,  ein  Kapitel,  welches  erst  in 
allerneuester  Zeit  ausgebaut  wird.  Goethe  hat 
besonders  schöne  Beispiele  von  Verbänderungen  bei 
Kiefern  und  Eichen  (P'asciationen),  von  Zwangs- 
drehungen bei  Dipsacus,  Verwachsungen  und 
Krümmungen  von  Asten  gesammelt.  Auch  andere 
pathologische  Objekte,  Gallen,  Pilzpathologisches, 
Überwallungen,    Maserungen    finden    sich  in  hüb- 


schen Beispielen.  Von  eminenter  Bedeutung  sind 
die  prächtigen  Aquarelle  der  leider  vergänglichen 
Objekte,  die  in  Goethe's  Schrift  über  die  Metamor- 
phosen der  Pflanze  beschrieben  sind.  Die  Tulpen- 
blüten, die  durchwachsenen  Rosen,  die  Metamor- 
phose der  Knospenschuppen,  die  schönen  Bilder 
der  zahlreichen  Keimpflanzen  sind  für  alle  Zeiten 
durch  die  ausgezeichneten  Abbilder  aufbewahrt  und 
sie  bilden  wichtige  Dokumente,  daß  Goethe  seine 
Hypothese    auf   exakter  Beobachtung  begründete. 


Fig.  4.     Cypcrus  vegetus. 


Neben  dem  zoologisch-botanischen  Saal  liegt 
der  Saal,  der  die  große  Gesteinssammlung  und 
die  paläontologischen  Funde  enthält,  unter  denen 
ein  leider  stark  zerfallener  Mammutzahn  aus  dem 
Weimarer  Kalk.  Eine  Sammlung  antiker  Marmore 
fällt  durch  ihre  Reichhaltigkeit  auf.  In  Goethe's 
alten  Schränken  und  Vitrinen  sind  die  vielen 
Handstücke  der  Gesteine  untergebracht,  von  denen 
Goethe  eine  bedeutende  Sammlung  selbst  zusam- 
mengetragen hat. 

So  ist  denn  durch  diese  dankenswerte,  lange 
erwünschte  Ausgestaltung  des  Goethehauses  neben 
dem  Kunstsammler  auch  der  Naturforscher  Goethe 
uns  klar  vor  Augen  gerückt  und  die  Besucher  des 
Goethehauses  werden  einigermaßen  darüber  er- 
staunt sein,  wie  diese  Schatzkammer  noch  immer 
Neues  hervorbrintjen  konnte. 


58o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  37 


[Nachdruck  verboten.] 

„Es  ist  ein  als  Wahrheit  sich  von  selbst  auf- 
drängender und  daher  gleichsam  als  Axiom  ver- 
wertbarer Gedanke,  daß  Ei-  und  Samen- 
zelle zwei  einander  entsprechende  Ein- 
heiten sind,  von  denen  eine  jede  mit 
allen  erblichen  Eigenschaften  der  Art 
ausgestattet  ist  und  jede  daher  gleich 
viel  Erbmasse  dem  Kinde  überliefert. 
Das  Kind  ist  im  allgemeinen  ein  Misch- 
produkt  seiner  beiden  Eltern;  es  emp- 
fängt von  Vater  und  Mutter  gleiche 
Mengen  von  Teilchen,  welche  Träger 
der  vererbbaren  Eigen  sc  haften  sind 
(Bioblasten)."  ')  Nun  sind  aber  Ei  und  Sperma- 
tozoon hinsichtlich  ihrer  Masse  zwei  außerordent- 
lich verschiedene  Gebilde.  Birgt  also  die  winzige 
Samenzelle  ebenso  viele  Erbanlagen  in  sich  wie 
die  im  Vergleich  dazu  riesengroße  Eizelle,  so 
müssen  große  Teile  der  letzteren  für  die  Ver- 
erbung bedeutungslos  sein.  Ein  Teil  aber,  den 
beide  Zellen  in  gleicher  Weise  besitzen,  ist  der 
Kern.  Wir  werden  also  in  ihm  zunächst  die  Ver- 
erbungsträger suchen.  In  den  im  Kern  enthal- 
tenen Chromosomen  hat  man  denn  auch  Zell- 
bestandteile gefunden,  die  den  Anforderungen, 
welche  wir  vom  theoretischen  Standpunkte  aus 
an  die  Vererbungsträger  stellen  müssen,  voll  ent- 
sprechen. Das  Spermatozoon  bringt  ebenso  viele 
Chromosomen  mit  —  von  den  „Geschlechts- 
chromosomcn"  können  wir  hier  absehen  — ,  wie 
das  Ei  besitzt,  die  Befruchtung  ist,  können  wir 
mit  O.  Hertwig  sagen,  „eine  Verschmelzung 
zweier  äquivalenter  Kernsubstanzen."  Es  sollen 
hier  nicht  die  vielen  Beweise  auseinandergesetzt 
werden,  daß  die  Chromosomen  in  der  Tat  Ver- 
erbungsträger sind.  In  jedem  Vererbungsbuch 
geschieht  dies,  in  jedem  Buch  und  jeder  Schrift 
überhaupt,  die  sich  mit  dem  Wesen  der  Befruch- 
tung befaßt.  Kein  einsichtiger  Forscher  vermag 
heute  die  hohe  Bedeutung  der  Chromosomen  für 
die  Vererbung  zu  leugnen.  Aber,  so  fragen  wir 
weiter,  sind  denn  die  Chromosomen  die  Ver- 
erbungsträger, oder  enthalten  Ei-  und  Samenzelle 
außer  ihnen  noch  weitere  Gebilde,  die  diesen 
Namen  verdienen  ?  Sind  vielleicht  in 
ären  Bestandteilen  der  Zelle,  also  in 
Cytoplasmas,  ebenfalls  Erbsubstanzen 
Es    hat   immer  h^orscher    gegeben,    die 


Siud  (He  MitoehoiHlrioii  Vererb iiiigstriiger  { 

Von   Dr.  Hans  Nachtsheim,  Freiburg  i.  Br. 

Mitochondrien    will    ich 


extranukle- 

Teilen  des 

lokalisiert  ? 

davor  ge- 


warnt haben,  die  Bedeutung  der  Chromosomen 
für  die  Vererbung  zu  überschätzen  und  ihnen  eine 
Monopolstellung  einzuräumen.  Manche  sehen  so- 
gar durch  verschiedene  Experimente  den  Beweis 
erbracht,  daß  auch  im  Cytoplasma  Träger  erb- 
licher Anlagen  vorhanden  sind.  In  den  letzten 
Jahren  glaubt  nun  Meves  diese  Vererbungsträger 
im  Cytoplasma  gefunden  zu  haben:  die  Mito- 
chondrien.-')      Auf   Aussehen    und    Herkunft    der 


ier  nicht  des  näheren 
eingehen,  da  erst  im  vorigen  Jahrgange  dieser 
Zeitschrift  Wilke^)  ein  Sammelreferat  mit  zahl- 
reichen Abbildungen  veröffentlicht  hat,  in  dem  er 
unsere  bisherigen  Kenntnisse  über  die  Mitochon- 
drien eingehend  darstellt.  Nur  so  viel  sei  zu- 
sammenfassend gesagt,  daß  wir  es  in  den  Mito- 
chondrien mit  geformten  Bestandteilen  des  Cyto- 
plasmas zu  tun  haben,  deren  Aussehen  im  übrigen 
sehr  verschieden  sein  kann.  Im  folgenden  wollen 
wir  an  Hand  der  Feststellungen  von  Meves,  den 
wir  als  ausgezeichneten  Beobachter  sehr  schätzen, 
jirüfen,  ob  wirklich  den  Mitochondrien  eine  ähn- 
liche Bedeutung  wie  den  Chromosomen  zukommt. 
Nachdem  Meves  sich  bereits  eine  Reiiie  von 
Jahren  mit  den  Mitochondrien  beschäftigt  hatte, 
trat  er  zum  ersten  Male  1907  'j  mit  der  Meinung 
hervor,  daß  diese  Gebilde  Vererbungsträger  sind, 
h'reilich  war  diese  Ansicht  nicht  neu,  denn  schon 
mehrere  Jahre  vorher  hatte  Benda"),  der  als 
Entdecker  der  Mitochondrien  gilt,  ähnliche  Ver- 
mutungen geäußert.  In  einer  Arbeit,  in  der  er 
das  Verhalten  der  Mitochondrien  in  den  Zellen 
des  Hühnerembryos  von  der  zweiten  Hälfte  des 
ersten  bis  zum  Beginn  des  vierten  Tages  der  Be- 
brütung beschreibt,  suchte  sodann  Meves  im 
nächsten  Jahre    —    1908")  seine  Anschauung 

näher  zu  begründen.  Von  seinen  AusfüJu-ungen 
interessiert  uns  vor  allem  seine  Antwort  auf  die 
Frage,  ,,\vie  weit  die  Chondriosomen  den  von  der 
Kernsubstanz  in  ihrer  Eigenschaft  als  Erbmasse 
erfüllten  Bedingungen  genügen".  Das  Chromatin, 
das  auch  nach  Meves'  Ansicht  Vererbungsträger 
ist,  ist,  wie  schon  oben  hervorgehoben  wurde,  in 
Ei-  und  Samenzelle  in  gleicher  (Juantität  vor- 
handen. Anders  aber  verhält  es  sich  in  dieser 
Hinsicht  mit  den  Mitochondrien.  Das  Ei  enthält 
weit  mehr  Mitochondrien  als  der  Samenfaden. 
Meves  bereitet  diese  Tatsache  „keine  irgendwie 
erheblichen  Schwierigkeiten".  Er  nimmt  an,  daß 
beim  Befruchtungsakt  nur  ein  Teil  der  weiblichen 
Mitochondrien  verwandt  wird,  hält  es  auch  für 
möglich,    daß  die  männlichen  Mitochondrien    „im 


Hertwig,  O.,  Allgemeine  Biologie.     Jena   1909. 


^)  Ich  werde  im  folgenden  nur  —  abgesehen  von  Zitaten 
—  den  Ausdruck  ,, Mitochondrien"  gebrauchen.  Meves  h.it 
ein  ganzes  Heer  von  Namen  angewandt :  Mitochondrien,  Chon- 
driomiten,  Chondriokonten,  Chondriosomen,  Cliondriom,  Piasto- 
somen, Plastuchondrien,  Plastochondriomitcn ,  Plastokonten. 
Teilweise  sind  diese  Begriffe  synonym,  teilweise  bezeichnen  sie 
verschiedene  Erscheinungsformen  ein  und  derselben  Substanz, 
doch  sind  wohl  öfters  auch  ganz  verschiedene  Dinge  unter 
diesen  Bezeichnungen  summiert  worden. 

^)  Wilke,  G.,  Über  Verhalten  und  Herkunft  der  Mito- 
chondrien.    Naturw.   Wochenschr.  N.  F.   12.  Bd.,   1913. 

*)  Meves,  Fr.,  Über  Mitochondrien  bzw.  Chondriokonten 
in  den  Zellen  junger  Embryonen.     Anat.  Anz.  31.  Bd.,    1907. 

'■"j  Ben  da,  C. ,  Die  Mitochondria.  Ergebn.  d.  .Anat.  u. 
Entwicklungsgesch.   12.  Bd.,   1903. 

°)  Meves,  Fr.,  Die  Chondriosomen  als  Träger  erblicher 
Anlagen.  Cytologische  Studien  am  Hühnerembryo.  Arch.  f. 
mikr.  Anat.  u.  Entwicklungsgesch.   72.  Bd.,   1908. 


N.  F.  XIII.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


581 


Körper  der  Eizelle  heranwachsen  und  sich  ver- 
mehren". Auch  die  exakte  Verteilung  bei  der 
Mitose,  wie  sie  für  das  Chromatin  so  charak- 
teristisch ist,  und  wie  wir  sie  auch,  wenn  es  sich 
um  Vererbungsträger  handelt,  postulieren  müssen, 
vermissen  wir  bei  den  Mitochondrien.  Meves 
macht  dies  wieder  keine  Schwierigkeiten :  „Jede 
bei  der  Teilung  entstehende  größere  Ungleichheit 
in  der  IVIenge  kann  durch  vermehrtes  oder  ver- 
mindertes Wachstum  leicht  beseitigt  werden." 
Die  Summierung  der  Erbmassen  wird  beim 
Chromatin  bekanntlich  durch  die  Reduktion  ver- 
hindert; vor  jeder  Befruchtung  wird  sowohl  in  der 
Ei-  wie  in  der  Samenzelle  die  Chromosomenzahl 
genau  auf  die  Hälfte  herabgesetzt.  Ist  ein  ähn- 
licher Prozeß  auch  für  die  Mitochondrien  bekannt? 
In  der  Spermatogenese  wird  ja  zwar  die  Mito- 
chondrienmasse  durch  die  beiden  Spermatocyten- 
teilungen  verringert,  ohne  daß  von  einer  auch  nur 
einigermaßen  exakten  Halbierung  die  Rede  sein 
könnte,  für  die  Reifungsteilungen  des  Eies  aber 
ist  nichts  derartiges  bekannt.  Bei  der  Verteilung 
der  Mitochondrien  in  der  Zelle  und  der  Kleinheit 
der  Richtungskörper  ist  ein  solcher  Prozeß  über- 
haupt unmöglich.  Auch  hier  findet  Meves  wieder 
einen  Ausweg:  Männliche  und  weibliche  Mito- 
chondrien bilden  bei  der  Befruchtung  ein  Misch- 
produkt, gleichwertige  Erbträger  verschmelzen. 
Und  so  resümiert  Meves:  „Die  Chondriosomen 
könnten  Erbmasse  darstellen,  trotzdem  sie  den 
Bedingungen,  welche  die  Kernsubstanz  in  ihrer 
Eigenschaft  als  solche  erfüllt,  nicht  oder  jedenfalls 
nicht  von  vornherein  oder  in  anderer  Weise  ge- 
nügen." 

Das  erste  Objekt,  an  dem  Meves  sodann  das 
Verhalten  der  Mitochondrien  bei  der  Befruchtung 
genauer  studierte,  war  Ascaris  megalocephala,  der 
Pferdespulwurm.  ^)  Das  Ascarisspermium  enthält 
Mitochondrien  in  großer  Zahl  hauptsächlich  im 
Protoplasma  seines  Kopfteils.  Die  Zahl  der  Mito- 
chondrien des  Eies  ist  noch  beträchtlich  größer, 
jedoch  sind  sie  wesentlich  kleiner  als  die  des 
Spermiums.  Die  mit  dem  Spermium  ins  Ei  ge- 
langten männlichen  Mitochondrien  zerfallen  nach 
Meves  zunäch.st  innerhalb  des  Spermiums  in 
kleinere  Körner,  die  ebenso  groß  sind  wie  die 
der  Eizelle,  hierauf  treten  sie  insgesamt  ins  Ei- 
plasma  über  und  durchmischen  sich  mit  den  Mito- 
chondrien des  Eies.  Es  findet,  wie  Meves  sich 
ausgedrückt  hat,  bei  der  Befruchtung  des  Ascaris- 
eies  eine  „Aussaat  männlicher  Plastochondrien" 
statt.  Daß  in  der  Tat  die  Mitochondrien  des 
eingedrungenen  Spermatozoons  in  das  Ei  über- 
treten, wird  durch  die  Abbildungen  von  Meves 
einwandfrei  bewiesen,  daß  aber  dann,  wie  es 
Meves  verlangt,  die  männlichen  Mitochondrien 
mit  den  weiblichen  verschmelzen,  beweisen  diese 
Abbildungen    nicht.     Meves   schreibt    zu  diesem 


Punkte:  „Aus  theoretischen  Gründen  muß  ange- 
nommen werden,  daß,  nachdem  die  männlichen 
und  weiblichen  Plastochondrien  sich  gemischt 
haben,  früher  oder  später  je  ein  männliches  und 
weibliches  Korn  miteinander  verschmelzen.  Es 
ist  nun  in  der  Tat  vielfach  unverkennbar,  daß  die 
Plastochondrien,  welche  nach  Beendigung  der 
ersten  Richtungsteilung  das  Spermium  umgeben, 
im  Vergleich  mit  denjenigen  früherer  Stadien  nicht 
unerheblich  größer  sind.  Ferner  scheint  mir,  daß 
gleichzeitig  eine  Abnahme  ihrer  Zahl  stattgefunden 
hat."  Die  Abbildungen,  die  —  davon  darf  man 
bei  Meves  überzeugt  sein  —  die  Wirklichkeit  so 
treu  wie  möglich  wiedergeben,  sind,  wie  gesagt, 
nicht  geeignet  zu  beweisen,  daß  männliche  und 
weibliche  Mitochondrien  kopulieren.  Übrigens 
erwägt  selbst  Meves  die  Möglichkeit,  „daß  diese 
Erscheinungen  auf  Rechnung  einer  Quellung  zu 
setzen  sind". 

Nachdem  so  diese  Untersuchungen  Meves  in 
seiner  Ansicht  über  die  Bedeutung  der  Mitochon- 
drien bestärkt  hatten,  wandte  er  seine  Aufmerk- 
samkeit einem  zweiten  Objekte  zu.  Bei  Parechinus 
miliaris,  einem  Seeigel,  hoft'te  er  eine  ähnliche 
,, Aussaat"  männlicher  Mitochondrien  bei  der  Be- 
fruchtung zu  finden  wie  bei  Ascaris,  aber  er  kam 
zu  einem  sehr  unerwarteten  Resultat.  ')  Das  sog. 
Mittelstück  des  Echinidenspermiums  enthält  nach 
Meves  Mitochondrien.  Statt  daß  aber  diese 
Mitochondrien  in  Körner  zerfallen  und  in  das  Ei- 
plasma  übertreten,  bleibt  das  Mittelstück  gänzlich 
unverändert  im  Ei  liegen  und  gelangt  in  die  eine 
der  beiden  ersten  Blastomeren.  Man  sollte  meinen, 
diese  Tatsache  genüge,  um  zu  beweisen,  daß  die 
männlichen  Mitochondrien  für  das  sich  entwickelnde 
Tier  völlig  bedeutungslos  sind,  daß  sie  zum  min- 
desten aber  nicht  die  Rolle  von  Vererbungsträgern 
spielen  können.  Doch  Meves  ersinnt  eine  neue 
Hypothese,  um  seine  alte  Hypothese  zu  retten. 
Aus  dem  Seeigelei  entwickelt  sich  bekanntlich 
zunächst  eine  Larve,  der  Pluteus,  und  erst  aus 
diesem  entsteht  dann  auf  sehr  komplizierte  Weise 
das  endgültige  Tier,  der  Seeigel.  Bei  der  Um- 
wandlung des  Pluteus  in  den  Seeigel  werden 
große  Teile  der  Larve  eingeschmolzen,  resorbiert, 
und  nur  relativ  wenige  Larvenorgane  werden  von 
dem  jungen  Seeigel  übernommen.  Zu  diesen  Or- 
ganen gehört  der  Larvendarm.  Meves  meint 
nun,  „daß  die  später  untergehenden  Teile  des 
Pluteus  aus  Zellen  entstehen,  welche  bei  der  Fur- 
chung keine  Mittelstücksubstanz  erhalten  haben, 
daß  dieses  Material  vielmehr  ausschließlich  den- 
jenigen Zellen  reserviert  wird,  welche  in  die  An- 
lage des  jungen  Seeigels  übergehen".  Schon 
Buchner'-j  hat  in  seiner  scharfen  aber  treffenden 
Kritik  der  Mitochondrienlehre  darauf  hingewiesen, 


')  Meves,  Fr.,  Über  die  Beteiligung  der  Plastochondrien 
an  der  Befruchtung  des  Eies  von  Ascaris  megalocephala. 
Arch.  f.  inikr.  Anal.  u.  Entwicklungsgesch.  76.  Bd.,   191t. 


')  Meves,  Fr.,  Verfolgung  des  sog.  Mittelstückes  des 
Echinidenspermiums  im  befruchteten  Ei  bis  zum  Ende  der 
ersten   Furchungsteilung.     Arch.   f.  mikr.   .^nat.    80.   Bd.,    1912. 

-)  Bu  ebner,  P.,  Die  trophochromatischen  Karj'omcriten 
des  Insekteneies  und  die  Chromidienlehre.  Biol.  Centralbl. 
33.  Bd.,   1913. 


582 


Naturwissenschaftliche  Wochensclirift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  37 


wie  gewaltsam  diese  Deutung  der  Befunde  ist,  zu- 
mal da  gerade  dieses  Objekt  „ein  klassisches  Beispiel 
für  ein  harmonisch -äquipotentielles  System  der 
formbildenden  Faktoren"  ist.  Wer  aber  trotzdem 
noch  daran  zweifelt,  daß  Meves  sich  auf  einem 
falschen  Wege  befindet,  der  möge  dessen  neueste 
Arbeit  zur  Hand  nehmen,  in  der  er  das  weitere 
Verhalten  des  Mittelstückes  des  Echinidenspermi- 
ums  beschreibt.  ')  Am  Schlüsse  der  ersten  Arbeit 
hatte  er  geschrieben:  „Nach  Erreichung  des 
Blastulastadiums  müßten  zu  den  Zellen,  welche 
mit  Mittelstücksmasse  versorgt  worden  sind,  jeden- 
falls diejenigen  der  vegetativen  Hälfte  gehören, 
von  welchen  die  Bildung  des  Urdarms  ausgeht." 
Jetzt  muß  er  gestehen :  „Auf  Grund  der  Schick- 
sale des  Mittelstückes,  welche  ich  in  der  vorliegen- 
den Arbeit  festgestellt  habe ,  kann  es  nun  aber 
wohl  als  ausgeschlossen  gelten,  daß  männliche 
plastomatische  Substanz  in  die  Zellen  des  Larven- 
darms .  .  .  hineingelangt."  Wer  die  der  Arbeit 
beigegebenen  Abbildungen  unvoreingenommen 
betrachtet,  der  wird  sich  wohl  kaum  der  Ansicht 
verschließen  köiuien ,  daß  dem  Mittelstück  des 
Spermatozoons  bzw.  seinen  Mitochondrien  eine 
Bedeutung  bei  der  Entwicklung  nicht  zukommt, 
und  Meves  trügen  seine  Ahnungen  wohl  nicht, 
wenn  er  sagt:  „Man  wird  daher  in  meinen  Be- 
funden am  Seeigelei  vielfach  wohl  mehr  einen 
Beweis  für  das  „Kernmonopol  der  Vererbung"  er- 
blicken, als  den  Gegenbeweis,  den  ich  zu  finden 
gehofft  hatte." 

Noch  an  einem  dritten  Objekte  hat  Meves 
das  Verhalten  der  Mitochondrien  des  Spermiums 
bei  der  Befruchtung  untersucht:  an  Phallusia  ma- 
millata,  einer  Ascidie. -)  Da  er  aber  bei  diesem 
Objekte  nicht  einmal  bis  zur  Befruchtung  die 
Persistenz  der  männlichen  Mitochondrien  nach- 
weisen konnte  —  ich  halte  es  auf  Grund  der 
Abbildungen  für  sehr  wahrscheinlich,  daß  das, 
was  Meves  als  „plastomatischen  Bestandteil  des 
Spermiums"  bezeichnet,  sehr  bald  resorbiert  wird  — , 
so  sei  auf  diese  Untersuchung  hier  nicht  näher 
eingegangen. 

Fassen  wir  die  vorliegenden  Betrachtungen 
zusammen,  so  kommen  wir  zu  dem  Resultat: 
Der  Versuch  von  Meves  zu  beweisen,  daß  neben 
den  Chromosomen  auch  die  Mitochondrien,  also 
Elemente  des  Cytoplasmas,  Vererbungsträger  sind, 
muß  als  gescheitert  angesehen  werden.  Viele 
Gründe  sprechen  dagegen,  keine  dafür,  daß  die 
Mitochondrien  diese  Bedeutung  haben.  Der  An- 
sicht von  Meves  haben  sich  einige  Mitochondrien- 
forscher  angeschlossen,  aber  auch  sie  haben  keine 
triftigen  Gründe  beibringen  können.  „Was  in 
der    Plastosomenlehre    richtig     sein    kann,"    sagt 


')  Meves,  Fr.,  Verfolgung  des  Mittelstückes  des  Echi- 
nidenspermiums  durch  die  ersten  Zellgenerationen  des  be- 
fruchteten Eies.     Arch.  f.  mikr.  .\nat.  85.  Bd.,   1914. 

^)  Meves,  Fr.,  Über  das  Verhalten  des  plastomatischen 
Bestandteiles  des  Spermiums  bei  der  Befruchtung  des  Eies 
von  Phallusia  mamillata.     Arch.  f.  mikr.  Anat.  82.  Bd.,   1913. 


Retzius,*)  „ist  nicht  neu,  und  was  in  ihr  als 
neu  erscheint,  ist  nicht  richtig,  aber  unklar  und 
schwankend." 

Es  fragt  sich  nun,  ob,  wenn  es  die  Mito- 
chondrien nicht  sind,  nicht  doch  andere  Substanzen 
des  Cytoplasmas  Vererbungsträger  sein  können. 
Wie  Meves  so  werden  wohl  die  meisten  Cyto- 
logen  und  Vererbungsforscher  der  Überzeugung 
sein,  „daß  die  Vererbung  nur  durch  organisierte 
ungelöste  Substanz  erfolgen  kann",  und  wie  jener 
werden  sie  den  ablehnenden  Standpunkt  teilen, 
„welchen  O.  H  ert  wig  (1909)  gegenüber  neueren 
Versuchen,  den  Befruchtungsvorgang  chemisch- 
physikalisch zu  erklären  (Miese her,  Huppert, 
Loeb  u.  a.)  einnimmt".  Die  Mitochondrien  aber 
erscheinen  auch  Meves  „als  der  einzige  Bestand- 
teil des  Protoplasmas,  welcher  bei  der  Befruch- 
tung wirksam  sein  kann".  Und  in  der  Tat,  weitere 
Elemente,  die  Vererbungsträger  sein  könnten, 
kennen  wir  nicht.  Wie  steht  es  aber  mit  jenen 
Experimenten,  die  eine  Mitbeteiligung  des  Cyto- 
plasmas an  der  Vererbung  beweisen  sollen?  Es 
soll  an  dieser  Stelle  nicht  eine  eingehende  Kritik 
an  jenen  Experimenten  geübt  werden,  nur  soviel 
sei  gesagt,  daß  viele  Forscher  sicher  ganz  mit 
Recht  auf  dem  Standpunkte  stehen,  daß  dieser 
Beweis  sich  aus  jenen  Experimenten  gar  nicht 
erbringen  läßt  bzw.  nicht  erbracht  ist.  Es  wird 
niemand  bestreiten,  daß  zwischen  Kern  und 
Cytoplasma  eine  Wechselwirkung  besteht,  es 
wird  auch  niemand  behaupten  wollen,  daß  es 
für  die  Vererbungsträger,  für  die  Chromosomen 
also,  gleichgültig  ist,  in  welchem  Cytoplasma  sie 
sich  entfalten.  Wie  sehr  diese  normale  Wechsel- 
wirkung zwischen  Kern  und  Cytoplasma  von- 
nöten  ist,  das  zeigen  viele  Bastardierungsexperi- 
mente. Die  Chromosomen  vermögen  häufig  in 
dem  fremden  Cytoplasma  nicht  ihre  normalen 
Funktionen  zu  verrichten,  sie  gehen  —  so  z.  B. 
bei  manchen  Seeigelkreuzungen  —  zugrunde. 
Selbst  das  Spermatozoon  der  eigenen  Art  ist  zu- 
nächst wenigstens  ein  Fremdkörper  im  Ei.  Die 
weiblichen  Chromosomen  sind  insofern  im  Vorteil 
gegenüber  den  männlichen,  die  letzteren  müssen 
sich  erst  ,, einleben",  möchte  ich  sagen.  Die  männ- 
lichen Chromosomen  treten  denn  auch  tatsächlich 
—  wir  haben  zahlreiche  Beweise  dafür  —  in  den 
ersten  Stadien  der  Entwicklung  noch  nicht  in 
Funktion.  Daß  aber  das  Cytoplasma  Träger 
von  Erbfaktoren  ist,  dafür  liegt  ein  IBe- 
weis  bisher  nicht  vor,  die  Theorie  vom 
,,Ker  nmo  n  opol  der  Vererbung"  ist  nicht 
erschüttert.  „Mag  sogar  alles",  sagt  Boveri,-) 
„was  uns  im  Metazoenkörper  als  Leistung  impo- 
niert, direkt  Protoplasmaleistung  sein,  dies  schließt 
so  wenig  die  alleinige  Bestimmung  der  indivi- 
duellen Merkmale  des  Kindes  durch  die  Kerne 
der  kopulierenden  Sexualzellen  aus,  wie  die  Her- 


')  Retzius,  G. ,  Was  sind  die  Piastosomen;  Arch.  f. 
mikr.  Anat.  84.  Bd.,   1914. 

'-)  Boveri,  Th.,  Ergebnisse  über  die  Konstitution  der 
chromatischen  Substanz  des  Zellkerns.     Jena  1904. 


N.  F.  XIII.  Nr.  3; 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


583 


stelking  eines  Hauses  durch  Maurer  und  Zimmer- 
leute ausschließt,  daß  dieses  Haus  in  seiner  ganzen 


Besonderheit    nach    dem   Kopf  eines    Architekten 
gebaut  ist". 


Duften  und  Riechen. 


[Nachdruck  verboten.]  Von    Dr. 

Diese  beiden  Ausdrücke  werden  oft  miteinander 
verwechselt,  und  es  ist  jedenfalls  ein  Mangel  des 
deutschen  Sprachgebrauches,  daß  Geruch  gerade 
so  viel  wie  Duft,  worunter  man  das  Riechbare 
versteht,  wie  auch  die  Fähigkeit,  den  Duft  wahr- 
zunehmen, bezeichnen  kann.  In  den  folgenden 
Ausführungen  soll  der  oben  angedeutete  Unter- 
schied gemacht  und  durchgehalten  werden.  Um 
einen  Duft  zum  Bewußtsein  zu  bringen,  muß 
oflenbar  irgend  etwas  von  dem  duftenden  Gegen- 
stand in  unsere  Nase  geraten  und  mit  unseren 
Geruchsnerven  in  Berührung  kommen. 

Es  wäre  eine  ganz  eingängliche  Vorstellung, 
daß  die  Luftmoleküle  die  winzigen,  von  den  Körpern 
abfliegenden  Duftkerne  so  kräftig  und  so  lange 
hin-  und  herwirbeln,  bis  sie  unsere  wahrnehmenden 
Organe  erreichen.  Wir  könnten  uns  das  Gewimmel 
etwa  so  denken  wie  die  Wanderungen  feiner 
Stoffpartikel  in  Flüssigkeiten,  wo  diese  schwebenden 
Masseteilchen  lebhafte  Hin-  und  Herbewegungen 
ausführen,  die  mit  dem  Namen  Brown  verknüpft 
sind.  In  diesem  Falle  könnten  wir  vermuten,  daß 
die  Duftkerne  in  s])ezifischer  Reinheit  als  Trenn- 
stücke der  Duftmasse  bestehen. 

Man  hat  einiges  Bedenken  gegen  die  Annahme 
gehabt,  daß  sich  dufttragende  Masse  wirklich  von 
dem  duftenden  Körper  entfernt,  weil  kleine  Mengen 
große  Räume  durchdringend  erfüllen  können,  ohne 
daß  oft  eine  Gewichtsabnahme  nachzuweisen  wäre. 
Aber  der  Gewichtsverlust  kann  ja  so  gering  sein, 
daß  er  mit  unseren  Wägeinstrumenten  nicht  mehr 
zu  konstatieren  ist.  Haben  wir  nicht  eine  ähnliche 
Erscheinung  bei  der  Wirkung  unserer  Kataly- 
satoren, die  ohne  Veränderung  und  ohne  merk- 
baren Verlust  an  Masse  Prozesse  einleiten  oder 
chemische  Reaktionen  unterstützen  können? 

Um  die  Duftübertragung  mit  einem  einfachen 
Bild  zu  erfassen,  und  um  sich  unabhängig  von 
der  Vorstellung  abgegebener  Massenbeträge  zu 
machen,  hat  man  die  Behauptung  aufgestellt,  daß 
die  Moleküle  durch  Hinstreichen  über  Duftquellen 
in  einen  inneren  Schwingungszustand  geraten,  der 
durch  Induktion  auf  unsere  Geruchsnerven  wirken 
sollte.  Das  ist  eine  kühn  hingestellte  Hypothese, 
da  durch  Molekülschwingungen  z.  B.  auch  die 
Leuchterscheinungen  bei  Röntgenstrahlen  erklärt 
.werden,  und  das  mit  guter  Begründung,  da  die 
Stöße  der  kathodischen  Elektrizität  auf  feste  Körper 
in  den  Molekülen  zu  Schwingungen  führende  Er- 
schütterungen auszulösen  vermögen.  Und  welche 
ungeheure  Anzahl  von  Schwingungsarten  wäre 
erforderlich,  um  allen  bekannten  Düften  gerecht 
zu  werden ! 


Karl  Wolf. 

Wir  wollen  zur  Begründung  einen  anderen 
Vorgang  benutzen,  der  in  mancherlei  Erscheinungen 
untrüglich  bewiesen  worden  ist.  Es  ist  zunächst 
sicher,  daß  die  atmosphärische  Luft  stets  mehr 
oder  minder  in  Elektronen  zerfallen  ist,  vor  Ge- 
wittern, bei  Mondlicht  und  bei  niedrigem  Baro- 
meterdruck besonders  stark.  Diese  Elektronen  — 
und  vor  allem  die  Negelektronen  (negative  Elek- 
tronen) —  haben  eine  unbeirrbare  Hinneigung  zu 
allen  Beimengungen  der  Luft,  was  sich  z.  B.  darin 
äußert,  daß  die  Elektrizitätszerstreuung  in  durch 
Rauch,  Dampf,  Staub  verunreinigter  Luft  bedeutend 
abnimmt.  Sobald  Partikel  in  der  Luft  schwirren, 
und  es  sind  Elektronen  in  der  Nähe,  so  kommt 
bald  eine  Vereinigung  zustande,  und  dieser  Ver- 
band bleibt  so  lange  bestehen,  bis  eine  gewaltsame 
Trennung  erfolgt.  Und  in  diesem  Streben  nach 
Gesellschaft  zeigen  die  Negelektronen  eine  aus- 
geprägtere Eilfertigkeit  als  die  Poselektronen  oder 
Molekülreste,  da  sie  massegeringer  und  durch 
Licht  und  elektrische  Felder  besser  zu  beeinflussen 
sind.  Für  diese  Gesellung  von  Materie  und  Elektron 
hat  man  mannigfache  Beweise.  Macht  man  Luft, 
indem  man  sie  durch  destilliertes  Wasser  treibt, 
negativ  elektrisch,  sammelt  sie  in  einem  geerdeten 
Blechmantel  und  bläst  Tabakrauch  in  diesen,  so 
bleibt  auch  nach  gründlicher  Durchlüftung  an  der 
Metallwandung  ein  durchdringender  Nikotinduft 
haften,  der  nur  sehr  langsam  verschwindet.  Das 
läßt  sich  dadurch  erklären,  daß  Negelektron  und 
Rauchkern  von  der  geerdeten  Metallwand  auf- 
genommen werden,  wo  das  Elektron  abwandert 
und  den  Weggenossen  an  der  Blechwand  im 
Stich  läßt. 

Wir  alle  wissen  zu  unserem  Verdruß,  wie  in 
unserer  Kleidung  —  vor  allem,  wenn  sie  schwarz 
und  haarig  ist  —  der  Rauch  und  andere  Düfte 
hartnäckig  verharren.  Das  wird  durch  unsere 
Annahme  leicht  erklärlich.  Die  Elektronen  haben 
zu  allen  spitzen  und  vorragenden  Gegenständen 
eine  lebhafte  Neigung,  und  unser  Rock  ist  nichts 
anderes  als  ein  Feld  mit  unzähligen,  Blitzableiter 
gleichenden  Spitzen,  an  die  die  Elektronen  wandern 
und  mit  ihnen  ihre  Begleitung:  die  Beimengungen 
der  Luft,  seien  dies  Rauch,  Staub,  P'euchligkeit, 
Duft.  Wir  können  unsere  Auffassung  noch  durch 
ein  anschauliches  Experiment  belegen.  Wir  lassen 
in  einem  raucherfüllten  Glasbehälter  elektrische 
Entladungen  aus  Spitzen  vor  sich  gehen,  und  die 
Luft  klärt  sich  fast  augenblicklich,  indem  die 
Rauchmassen  an  die  Innenwand  des  Gefäßes 
wandern  und  sich  dort  niederschlagen.  So  dürfen 
wir  ohne  Zwang  in  unseren  Folgerungen  annehmen, 
daß  auch  Duftkern   und  Elektron    sich  vereinigen 


584 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr. 


37 


und  in  diesem  Verbände  die  Luft  durchwandern, 
von  unserer  Nase  aufgesogen  werden  und  die  er- 
regende Ladung  an  unsere  Geruchsnerven  abgeben, 
und  zwar  werden  auch  hier  die  Negelektronen 
den  Hauptanteil  für  das  Behagen  oder  Unbehagen 
unserer  Nase  liefern,  da  sie  ihre  Ladung  leichter 
an  die  Innenwand  der  Nase  bzw.  deren  empfäng- 
liche Schleimhäute  abgeben.  Um  für  diese  Er- 
scheinung einen  weiteren  Anhalt  zu  gewinnen, 
lassen  wir,  nach  dem  Vorgange  von  Prof.  Ebert, 
durch  einen  engen  Hohlkörper  elektronisierte  Gase 
streichen,  die  aus  Neg-  und  Poselektronen  bestehen. 
Die    austretende    Gasmasse    ist    dann    vorwiegend 


positiv  elektrisch,  da  die  Negelektronen  großen- 
teils von  der  Rohrwandung  aufgenommen  worden 
sind,  und  unsere  Nase  ist  ja  nichts  anderes  wie 
dieses  Rohr  im  Experiment.  In  einer  Flasche 
befindliches  Wasser,  das  durch  Schütteln  und  Ab- 
saugen der  Luft  elektronenarm  gemacht  werden 
kann,  sucht  den  Mangel  durch  Aufnahme  von 
Negelektronen  aus  der  Luft  wieder  auszugleichen. 
Aus  dieser  Tatsache  kann  sich  leicht  die  land- 
läufige Beobachtung  erklären,  daß  ein  offenes 
Gefäß  mit  Wasser  den  ,, Geruch"  aus  der  Luft 
zieht,  denn  mit  dem  Elektron  wird  auch  der  Dufl- 
kern  mit  aufgenommen. 


Einzelberichte. 


Botanik.      Ein    neues   Zeugnis    zugunsten  der 

Statolithentheorie.  Um  festzustellen,  ob  die  Stärke- 
körner, die  nach  der  Statolithentheorie  in  geotro- 
pisch  reizbaren  Organen,  z.  B.  Wurzelspitzen,  einen 
Druck  auf  das  sensible  Plasma  ausüben  und  so 
die  geotropische  Krümmung  veranlassen,  wirklich 
diese  Funktion  haben ,  ist  wiederholt  versucht 
worden,  den  Zellen  die  Stärke  zu  entziehen  und 
zu  sehen,  wie  sich  die  auf  solche  Weise  der 
Statolithen  beraubten  Organe  zur  Schwerkraft 
verhalten.  Gegen  derartige  Versuche  läßt  sich 
aber  der  Einwand  erheben,  daß  die  Pflanze  durch 
die  Anwendung  künstlicher  Mittel  zur  Beseitigung 
der  Stärke  in  ihrer  geotropischen  Reaktions- 
fähigkeit verändert  wird.  Von  größerer  Bedeutung 
sind  Beobachtungen,  wie  sie  sciion  vor  acht  Jaiiren 
G.  Tischler  veröffentlicht  hat,  der  nachweisen 
konnte,  daß  gewisse  Wurzeln,  die  anfangs  autotrop 
wachsen,  dann  geotropisch  werden  (Nebenwurzeln), 
oder  solche,  die  überhaupt  ageotropisch  sind 
(Adventivwurzeln),  in  der  Ausbildung  des  Stato- 
lithenapparats  eine  ausgesprochene  Parallelität  mit 
der  Wachstumsweise  zeigen,  derart,  daß  die  ageo- 
tropischen  Wurzeln  überhaupt  keine  Stärke  in  den 
geotropisch  empfindlichen  Zellen  der  Wurzel- 
haube enthalten,  und  daß  die  später  geotropisch 
werdenden  Wurzeln  auch  den  Statolithenapparat 
erst  später  ausbilden.  J  o  s  t  hat  allerdings  ageo- 
tropische  Wurzeln  gefunden,  die  reichlich  Stärke 
enthielten.  Wie  jedoch  Virginia  Jacobacci 
bemerkt,  wissen  wir  nicht,  ob  diese  Stärke  orien- 
tiert und  beweglich  war.  Die  Dame  hat  im  R. 
Istituto  botanica  in  Rom  an  einem  großen  Ma- 
terial von  Keimwurzeln  Beobachtungen  gemacht, 
die  denen  Tisch  1er 's  entsprechen  und  die 
Statolithentheorie  zu  stützen  geeignet  sind.  Sie 
nahm  bei  ihren  Untersuchungen  an  Keimwurzeln 
von  Vicia  Faba  wahr,  daß  ein  Teil  der  Samen, 
die  alle  unter  denselben  Bedingungen  zum  Keimen 
ausgelegt  waren,  Würzelchen  bildeten,  die  sich 
nicht  krümmten,  sondern  von  Anfang  an  hori- 
zontal wuchsen.  Bei  der  mikroskopischen  Prüfung 
zeigte  sich,  daß  in  diesen  ageotropischen  Wurzeln 
die  Stärke  ganz  oder  fast  ganz  fehlte  oder  nicht 
orientiert  war,    während  sie  in  den  geotropischen 


Wurzeln  vorhanden  und  vollständig  orientiert 
war.  Viel  zahlreicher  und  mannigfaltiger  noch 
traten  die  Ausnahmen  von  dem  normalen  Ver- 
halten bei  der  Kichererbse,  Cicer  arietinum,  auf. 
Hier  blieben  einige  Wurzeln  horizontal,  andere 
richteten  sich  sogar  vertikal  in  die  Höhe.  Mit  dieser 
Pflanze  wurden  dann  die  meisten  weiteren  Versuche 
angestellt.  Die  Samen  wurden  bei  gleichmäßiger 
Temperatur  und  F"euchtigkeit  zum  Keimen  ge- 
bracht, wobei  dafür  gesorgt  wurde,  daß  sich  das 
Würzclchen  des  Embryos  innerhalb  derselben  Ver- 
suchsreihe überall  in  derselben  Lage  zum  Schwer- 
kraftreize befand.  Bei  wagerechter  Stellung  des 
Würzelchens  wuchsen  etwa  40  "/o  der  Wurzeln 
ageotropisch.  Noch  größer  war  die  Zahl  der  Aus- 
nahmefälle, wenn  die  Wurzelspitze  nach  aufwärts 
gerichtet  war.  Das  ist  die  ungünstigste  Lage  lür 
die  Ausführung  der  geotropischen  Krümmung, 
und  es  erscheint  denkbar,  daß  Wurzeln,  die  nur 
schwach  geotropisch  reaktionsfähig  sind,  in  dieser 
Lage  fortfahren,  nach  oben  zu  wachsen,  oder  sich 
nur  schwach  krümmen,  während  die  horizontal 
gerichteten  ohne  weiteres  die  Krümmung  aus- 
führen. Die  Zahl  der  Ausnahmen  ist  auch  ab- 
hängig von  der  Temperatur,  indem  sie  von  der 
optimalen  Keimungstemperatur  (20  —  25  ")  nach 
oben  und  unten  zunimmt.  Das  diffuse  Licht 
scheint  dagegen  keinen  Einfluß  auszuüben.  Es 
gibt  ferner  Varietäten  der  Kichererbse,  bei  denen 
nur  sehr  wenige  Ausnahmen  vom  normalen 
geotropischen  Verhalten  der  Wurzeln  auftreten. 
Die  mikroskopische  Untersuchung  von  616  Wurzel- 
spitzen, die  aus  Samen  mit  ursprünglich  horizontal 
oder  nach  oben  gerichteten  Würzelchen  gezogen 
waren,  ergab,  daß  von  364  geotropischen  Wurzeln 
327  (go^/ii)  orientierte  Stärke  besaßen;  bei  den 
übrigen  37  fehlte  die  Stärke  oder  war  nicht 
orientiert.  Von  den  252  ageotropischen  Wurzeln 
wuchsen  153  horizontal,  99  vertikal  nach  oben. 
Unter  den  153  horizontalen  hatten  58  (38  "/o) 
orientierte  Stärke,  33  nichtorientierte  Stärke,  und 
62  waren  ohne  Stärke.  Von  den  99  aufwärts 
wachsenden  Wurzelspitzen  wiesen  33  (34"/i,)  orien- 
tierte Stärke  auf,  bei  24  war  die  Stärke  nicht- 
orientiert,  bei  42  fehlte  sie  ganz.    Das  Vorkommen 


N.  F.  Xm.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


585 


orientierter  Stärke  bei  ageotropischen  Wurzehi 
erklärt  die  Verfasserin  mit  der  Annahme,  daß  die 
seit  der  Orientierimg  der  Stärke  vergangene  Zeit 
die  erforderliche  Reaktionszeit  nicht  erreicht  hatte. 
Das  auch  eine  kleine  Anzahl  Wurzeln  abwärts 
wächst,  die  keinen  Statolithenapparat  haben,  kann 
nicht  auffallen,  da  ageotiopische  Wurzeln  nach 
allen  Richtungen  wachsen  können.  Um  dem 
Einwand  zu  begegnen,  die  Orientierung  der  Stato- 
lithen  stehe  zur  geotropischen  Reaktion  nicht  im 
Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung,  sondern 
sei  nur  die  Folge  einer  vorangehenden  Krümmung, 
wiederholte  Verfasserin  die  Beobachtungen  an 
Samen,  die  am  Klinostaten  gekeimt  hatten,  also 
der  Schwerkraftwirkung  entzogen  waren  und  ver- 
schiedene Richtung  angenommen  hatten.  Sie 
fand,  daß  das  Verhältnis  zwischen  der  Zahl  der 
Wurzeln  mit  Statolithenstärke  und  der  Zahl  der 
stärkearmen  Wurzeln  ganz  gleich  war  dem  Ver- 
hältnis zwischen  der  Zahl  der  geotropischen  und 
der  der  ageotropischen  Wurzeln,  die  in  Kolroll- 
kulturen  unter  gewöhnlichen  Bedingungen  ge- 
halten waren.  (Annali  di  Botanica,  1914,  Vol.  12, 
Fase.  2,  p.  165  —  175.)  F.  Moewes. 

Zoologie.  Die  Bedeutung  des  Mengenverhält- 
nisses mütterlicher  und  väterlicher  Substanzen  für 
die  Vererbung.  Schon  seit  längerer  Zeit  ist  es 
bekannt,  daß  sich  unter  den  Eiern  des  Seeigels 
Sphaerechinus  granularis  gelegentlich  Rieseneier 
finden,  die  doppelt  so  groß  sind  wie  die  normalen 
Eier.  Das  Vorkommen  solcher  Rieseneier  legt 
uns  die  Frage  nahe:  Wie  verhalten  sich  die  bei 
Kreuzbefruchtung  aus  Rieseneiern  entstehenden 
Bastardlarven  hinsichtlich  ihrer  Vererbungsrich- 
tung? Es  ist  ein  merkwürdiger  Zufall,  daß  ganz 
zur  gleichen  Zeit  zwei  F'orscher  Experimente  ver- 
öffentlichen, die  die  Antwort  auf  obige  Frage 
geben.  Boveri')  und  H  erbst  ^j  befruchteten 
Rieseneier  von  Sphaerechinus  granularis  mit  Samen 
eines  anderen  Seeigels,  von  Strongylocentrotus 
lividus,  und  untersuchten  dann  die  Bastardplutei. 
Beide  Forscher  kamen,  um  dies  gleich  voraus- 
zuschicken, im  wesentlichen  zu  dem  gleichen  Re- 
sultat, zu  einem  Resultat,  das  für  unsere  Vor- 
stellungen über  die  Wirkung  der  mütterlichen  und 
väterlichen  Erbsubstanzen  von  großer  Wichtip- 
keit  ist. 

Was  zunächst  einmal  die  Entsteh  u  ng  der 
Rieseneier  anbetrifft,  so  stehen  Boveri  und 
Herbst  in  dieser  Hinsicht  auf  verschiedenem 
Standpunkte.  Boveri  ist  der  Ansicht,  daß  das 
Riesenei  einer  unterdrückten  Zellteilung,  wahr- 
scheinlich der  letzten  Ovogonienteilung,  seine  Ent- 
stehung verdankt.    Die  bei  der  unterdrückten  Zell- 


')  Boveri,  Th.  Über  die  Cliaraktere  von  Echiniden- 
Bastardlarvcn  bei  verschiedenem  Mengenverhältnis  mülterlicher 
und  väterlicher  Substanzen.  Verhandl.  d.  phys.-med.  Ges.  zu 
Würzburg,   N.  F.  Bd.  40,   1914. 

^)  Herbst,  C.  Vererbungsstudien  X.  Die  gröUere 
MuUerälinlichkeit  der  Nachkommen  aus  Riesenciern.  Arch. 
f.  Entwicklungsmech.  d.  Org.,  Bd.  39,   19 14. 


teilung  verdoppelte  Chromosomenzahl  —  und  damit 
der  doppelt  so  große  Kern  —  hat  ein  verstärk- 
tes riasmawachstum  zur  Folge,  es  entsteht  das 
„Riesenei",  das  doppelt  so  groß  ist  wie  das  nor- 
male, in  dem  sich  aber  Kern  zu  Plasma  verhält 
genau  wie  in  dem  normalen.  Im  Gegensatz  dazu 
nimmt  Herbst  an,  daß  das  Riesenei  das  Produkt 
einer  Verschmelzung  zweier  Ovocyten  oder  auch 
reifer  Eier  ist.  Eine  nachträgliche  Regulation  der 
Kernplasmarelation  ist  in  diesem  Falle  nicht  er- 
forderlich. Die  Reifungsteilungen  scheinen  in  den 
Rieseneiern  sehr  häufig  anormal  zu  verlaufen,  denn 
Boveri  und  vor  allem  Herbst,  dem  eine  be- 
trächtlich größere  Zahl  Rieseneier  —  und  auch 
Larven  aus  solchen  Eiern  —  vorlag,  stellten  fest, 
daß  die  Kerne  der  reifen  Rieseneier  durchaus  nicht 
immer  gleich  groß  sind.  Wenn  die  zweite  Reifungs- 
teilung unterbleibt  oder  der  zweite  Richtungs- 
körper wieder  mit  dem  Eikern  verschmilzt,  erhält 
das  Riesenei  einen  Kern  von  doppelter  Größe. 
Wenn  auch  die  erste  Reifungsteilung  ausfällt,  so 
resultiert  ein  Riesenei,  in  dem  Kern  und  Plasma 
in  einem  außerordentlichen  Mißverhältnis  stehen ; 
der  Kern  muß  viermal  so  groß  sein  wie  im 
„normalen"  Riesenei,  da  ja  der  erste  Richtungs- 
körper so  viele  Chromosomen  enthält  wie  reifer 
Eikern  und  zweiter  Richtungsköiper  zusammen. 
Die  von  Boveri  und  Herbst  erzielten  Plutei 
aus  der  Kreuzung  Sphaerechinus  -  Rieseneier 
X  Strongylocentrotus-Sperma  waren  alle  —  Bo- 
veri konnte  5,  Herbst  22  Larven  untersuchen 
—  unzweifelhafte  Bastarde,  d.  h.  alle  zeigten  Merk- 
male vom  Vater  wie  von  der  Mutter,  es  hatte 
also  nicht  etwa  das  Spermatozoon  nur  als  Ent- 
wicklungserreger gewirkt  und  eine  parthenogene- 
tische  Entwicklung  des  Eikerns  hervorgerufen.  Ein 
Vei  gleich  der  Riesenbastardlarven  mit  Bastard- 
larven aus  normalgroßen  Eiern  führte  indessen  zu 
dem  ganz  einwandfreien  Resultat,  „daß  die  Ver- 
erbungsrichtung der  Riese nlarven,  wenn 
sie  auch  im  einzelnen  großen  Schwan- 
kungen unterworfen  ist,  viel  mehr  nach 
der  Mutter  hin  liegt  als  diejenige  der 
Larven  aus  Eiern  von  normaler  Größe." 
Allgemein  gesprochen  beweisen  diese  Ergebnisse 
„die  Abhängigkeit  der  Vererbungsrich- 
tung von  der  Quantität  der  Substanzen 
der  Keimzellen".  Da  aber  in  den  Rieseneiern 
nicht  nur  der  mütterliche  Kern,  sondern  auch 
das  Protoplasma  verdoppelt  ist,  läßt  sich  zu- 
nächst nicht  sagen,  ob  die  größere  Mutterähnlich- 
keit der  Nachkommen  aus  den  Rieseneiern  auf 
die  Vermehrung  einer  bestimmten  Keimsubstanz 
zurückzuführen  ist,  ob  etwa  ein  Plus  von  Kern- 
substanz zur  Verschiebung  der  Vererbungsrichtung 
genügt.  Würde  man  ein  Riesenei  in  zwei  Hälften 
zerlegen,  eine  kernhaltige  und  eine  kernlose,  und 
würde  der  nach  Befruchtung  aus  der  kernhaltigen 
Hälfte  entstehende  Bastardpluteus  in  gleicher  Weise 
größere  Mutterähnlichkeit  zeigen  wie  die  Bastard- 
plutei aus  ganzen  Rieseneiern,  so  wäre  damit  be- 
wiesen, daß  ein  Plus  von  Plasma  für  die  Vererbung 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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bedeutungslos  ist.  Dieses  Experiment  ist  bisher 
nicht  ausgeführt  worden,  aber  Boveri  sowohl 
wie  Herbst  führen  andere  Experimente  an,  die 
zur  Beantwortung  der  obigen  Frage  dienen  können. 
Es  sollen  hier  die  Experimente  Boveri s  be- 
sprochen werden,  der  mit  gewohnter  Klarheit  und 
in  exakter  Beweisführung  zeigt,  daß  nur  der  ver- 
doppelte Eikern  für  die  Verschiebung  der  Ver- 
erbungsrichtung verantwortlich  gemacht  werden 
kann. 

„Wenn  Ei-  und  Spermaprotoplasma",    schreibt 
Boveri,  „die  Substanzen  sind,  durch  welche  die 
elterlichen  Eigenschaften  übertragen  werden,  dann 
muß  die  gewaltige  Menge    des  Eiplasmas  auf  die 
winzige    Menge    des   Spermajirotoplasmas    so   ab- 
gestimmt   sein,    daß    das    normalgroße    Ei    dem 
Spermatozoon    in    seiner    Wirkung    bei    der   Ver- 
erbung wie   I  :  I    gegenübersteht.'    Dieser   Schluß 
wird     gefordert      durch     die     Mittelstellung     der 
Bastarde."     Vermindert  man  künstlich  die  Menge 
des  Eiplasmas,   so    müßte    eine  Veränderung    des 
Verhältnisses   i  :  i   erfolgen,  es  müßte  bei  Teilung 
des    Eies    in    eine   kernhaltige   und  eine  kernlose 
Hälfte    das    Plasma    der    kernhaltigen   Hälfte    sich 
zu  dem  Plasma  des  Spermatozoons  verhalten  wie 
etwa  7-3  '■  I-    Von  diesen  Überlegungen  ausgehend 
machte  Boveri  folgenden  Versuch.'    Eine  Portion 
Sphaerechinuseier    wurde    durch    Schütteln    frag- 
mentiert   und    dann   mit  Strongylocentrotussamen 
befruchtet.      Eine    zweite    Portion    Sphaerechinus- 
eier   wurde    sofort    nach  Entnahme    der  Eier    mit 
Strongylocentrotussamen     befruchtet,     nach     der 
ersten  Furchung  wurden    die   beiden  Blastomeren 
jedes    Eies    vermittels    kalkfreien    Seewassers    ge- 
trennt und  die   '/ä-Blastomercn   in  normalem  See- 
wasser   weitergezüchtet.      Da    das    Spermaproto- 
plasma,   wenn    es    überhaupt    für   die   Vererbung 
von    Bedeutung    sein    soll,    in    gleicher  Weise    auf 
die    beiden    ersten  Blastomeren  —   und    natürlich 
auch  alle  folgenden  —   verteilt    werden    muß,    so 
unterscheiden  sich  die  aus  den  beiden  Eiportionen 
entstandenen  Larven    in    einem   sehr  wesentlichen 
Punkte.    Während  in  den  der  letzten  Portion  ent- 
stammenden Pluteis    das  Verhältnis  von  Eiplasma 
zu  Spermaplasma  überhaupt  nicht  verändert  worden 
ist,   ist    in    den  Pluteis    aus    den  Eiern    der  ersten 
Portion    das    Verhältnis    zugunsten    des    Sperma- 
plasmas verschoben.    Wenn  also  in  der  Tat  auch 
Bestandteile    des  Plasmas    für    die  Vererbung  von 
Bedeutung  sind,  so  muß  ein  Vergleich  eines  Plu- 
teus    aus    einer    V-.-Blastomere    mit    einem    gleich 
großen  Pluteus  aus  einem  Eifragment  eine  größere 
Vaterähnlichkeit    des    letzteren    ergeben.     Das   ist 
aber  durchaus  nicht  der  Fall!    Beide  Gruppen  ver- 
halten sich  hinsichtlich  der  Vererbung  gleich. 

Die  wichtigen  Resultate  der  im  Vorstehenden 
mitgeteilten  Experimente  sind  also,  um  es  noch- 
mals zusammenzufassen:  die  Quantität  der 
Vererbungssubstanzen  isTvon  wesent- 
licher Bedeutung  für  die  Vererbungs- 
richtung und  eineVermehrungoderVer- 
minderung  des  Plasmas  hat  keinenEin- 


fluß  auf  die  Vererb  ungsrich  tu  ng.  Gegen- 
über der  einwandfreien  Beweisführung  von  Bo- 
veri müssen  die  von  anderer  Seite  unternommenen 
krampfhaften  Versuche,  eine  Beteiligung  proto- 
plasmatischer  Elemente,  der  Mitochondrien,  an 
der  Vererbung  zu  beweisen,  als  gänzlich  gescheitert 
bezeichnet  werden.^)  Nachtsheim. 

Physik.     Ein  Einfadeneleklrometer  beschreibt 
T  h  e  o  d.  W  u  1  f  (Valkenburg,  Holiand,  Ignat  Colleg) 
in  der  Physikalischen  Zeilschrift  XV  (1914)   Seite 
250—254.     Das  Instrument,    das    schon   seit   dem 
Jahre   1909  von  der  Firma  Günther  u.  Tegetmeyer 
in    Braunschweig    hergestellt    wird,    besteht,    wie 
auch  eine  Reihe  anderer  Elektrometer,  im  wesent- 
lichen   aus    einem    sehr    dünnen    leitenden    Faden 
(Platin,    metallbestäubte  Quarz-   und  Spinnefäden), 
der    vertikal    in    einem    aus    zwei  Metalhchneiden 
gebildeten  elektrischen  Feld  ausgespannt  ist.     Das 
Neue    an    dem    Apparat   ist    die    Befestigung    des 
unteren    Fadenendes,    das    von    einem    halbkreis- 
förmigen Bügel    aus    dünnem    isolierenden  Quarz- 
faden  gehalten    wird.     Dieser   sitzt    seinerseits  an 
einem  kleinen  Hebel,    der  mittels    einer  Schraube 
mit    geteilter    Trommel    gehoben    oder    gesenkt 
werden    kann.      Dadurch  wird   der    Elektrometer- 
faden nach  Belieben  gespannt  oder  gelockert  und 
die    Empfindlichkeit     verändert.      Eine     zwischen 
Schraube    und  Hebel  geschaltete   elastische  Feder 
sorgt  dafür,  daß  die  Spannungsänderung  sehr  lang- 
sam   und    gleichmäßig  erfolgt.     Beim  Senken  des 
Hebels  wird  der  halbkreisförmige  Quarzbügel,  der 
das    untere  Fadenende    trägt,    zunächst    zu    einer 
Art  Ellipse  verzerrt  und  schließlich  fast  zu  einem 
Dreieck  ausgestreckt.     Durch    einen  Anschlag   ist 
es    unmöglich    gemacht,     den    Faden    weiter    zu 
spannen,   so  daß  er  vor  dem  Zerreißen  geschützt 
ist.    Wegen  dieser  elastischen  Befestigung  ist  der 
Faden    beim    Arbeiten    wie    beim    Transport    vor 
Zerstörung  gesichert.     Durch  Änderung  des  Hilfs- 
potentials  an  den  Schneiden,    des  Abstandes  der- 
selben,  der  Spannung  des  Fadens  und  der  Dicke 
desselben  kann  die  Empfindlichkeit  in  sehr  weiten 
Grenzen  variiert  werden.   Die  Ablesung  der  Faden- 
stellung  geschieht    entweder    subjektiv   durch   ein 
Mikroskop    oder    indem    man    den    beleuchteten 
Faden   projiziert    und    zwar   am    besten   auf  einen 
sich  bewegenden,  lichtempfindlichen  Papierstreifen. 
Mit    dieser  Vorrichtung  versehen    ist  das  Elektro- 
meter zum  Registrieren  von  Wechselströmen  und 
elektrischen    Schwingungen    vorzüglich    geeignet; 
man    spannt   zu    diesem  Zweck    am  besten  einen 
massiven  Platinfaden  von  einigen  ft  Dicke  ein,  da 
die    bestäubten  Quarz-    und   Spinnefäden    bei    der 
schnellen  Bewegung  leicht  abblättern  und  dadurch 
nichtleitend     werden.      Je     nach    Spannung    und 
Material  (Trägheit)    des  Fadens  erfolgt  seine  Ein- 
stellung periodisch    oder   aperiodisch.     Die  Kapa- 
zität des  Instrumentes    hängt  von   der  Entfernung 

')  Vergleiche  hierzu  den  in  der  gleichen  Nummer 
erscheinenden  Aufsatz:  „Sind  die  Mitochondrien  Vererbungs- 
träger f" 


N.  F.  XIII.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


587 


der  Schneiden  ab;  ist  die  eine  ganz  zurückgezogen 
und  die  zweite  mit  der  Erde  verbundene  5  mm 
vom  Faden  entfernt,  so  ist  seine  Kapazität  nur  2  cm. 
In  einer  zweiten  Arbeit  (Physikalische  Zeit- 
schrift XV  (1914)  Seite  611  — 616  schildert  der- 
selbe Verfasser  einige  Anwendungen 
des  Einfadenelektrometers  in  der  draht- 
losen Telegraphic.  Er  verwendet  neuerdings 
von  der  Firma  Meraeus  hergestellte  Fäden  aus 
Aluminium  von  4  /(  Minimaldurchmesser,  die  wegen 
ihrer  viel  geringeren  Dichte  bei  derselben  Spannung 
eine  kürzere  Schwingungsdauer  und  eine  stärkere 
Dämpfung  als  die  Platinfäden  haben.  Während 
die  bisher  üblichen  Empfangsapparate  (Telephon 
und  Galvanometer)  die  elektromagnetischen  Wir- 
kungen der  ankommenden  Wellen  benutzen,  mißt 
das  Elektrometer  statisch  die  Spannung  an  dem 
in  der  Empfangsleitung  in  der  üblichen  Schallung 
liegenden  Kondensator.  Die  Zeichen  werden 
photographisch  registriert.  Um  das  Elektrometer 
zur  genauen  Uhrvergleichung  mit  Hilfe  der 
von  den  Großslationen  Norddeich  und  Eiffelturm 
regelmäßig  ausgeschickten  Zeitzeichen  zu  ver- 
wenden, läßt  man  das  Elektrometer  zunächst  diese 
Zeichen  registrieren.  Um  nun  auf  dieselbe  Stelle 
des  photographischen  Papiers  die  Angaben  der 
eignen  Uhr  zu  erhalten,  setzt  man  diese  auf  das 
Gehäuse  eines  Mikrophons,  das  durch  eine  Induk- 
tionsspule geschlossen  ist.  Eine  diese  umgebende 
Sekundärspule  liegt  mit  dem  einen  Ende  an  der 
einen  Metallschneide  des  Elektrometers,  mit  dem 
andern  an  Erde.  Das  Ticken  der  Uhr  setzt  die 
Membran  des  Mikrophons  in  Bewegung,  dadurch 
entsteht  in  der  Sekundärspule  ein  Induktionsstrom, 
der  das  Potential  der  Schneide  ändert  und  damit 
einen  momentanen  Ausschlag  des  Fadens  hervor- 
ruft. Dieser  wird  ebenfalls  auf  dem  Papier  re- 
gistriert, so  daß  man  die  beiden  Zeichen  in  ihrer 
gegenseitigen  Lage  vergleichen  kann.  Eine  dritte 
Verwendung  findet  das  Elektrometer  bei  der 
Untersuchung  von  Delektoren.  Der  Ver- 
fasser benutzt  dazu  die  Sekundenschläge  des  Eiffel- 
turms; in  der  Empfangsleitung  liegt  ein  Karbo- 
runddetektor.  Das  Elektrometer  registriert  wie 
vorher  die  Spannung  des  Kondensators.  Beim 
ersten  Schlag  schnellt  die  Spannung  plötzlich  auf 
dem  Oicillogramm  um  etwa  4  mm  in  die  Höhe 
und  bleibt  auf  dieser  Höhe;  der  zweite  Schlag 
erhöht  die  Spannung  ca.  um  weitere  2,5  mm,  die 
nächstfolgenden  etwa  um  1,5,  0,8,  0,2  mm.  Die 
nächsten  Schläge  bringen  keine  weitere  Erhöhung 
der  Spannung  hervor.  Die  Kurve  des  Oscillo 
gramms  stellt  demnach  eine  treppenartig  abgestufte 
IJnie  dar,  bei  der  die  Stufenhöhe  abnimmt.  Durch 
Anlegen  einer  regulierbaren  Vergleichsspannung 
wurde  die  höchste  erreichte  Spannung  zu  1,3  Volt 
ermittelt.  In  einem  außergewöhnlich  günstigen 
Fall  betrug  die  höchste  überhaupt  erreichte  Span- 
nung des  Kondensators  4,6  Volt  (der  Eiffelturm 
war  350  km  von  der  Empfangsstelle  entfernt). 
Dieses  Verhalten  des  Detektors  zeigt,  daß  er  wie 
ein  Ventil  wirkt,   das    heißt    er   läßt  nur  in  der 


einen  Richtung  gut,  in  der  entgegengesetzten  gar 
nicht  hindurch.  Dann  wird  während  der  günstigen 
Stromphase  Kondensator  und  Elektrometer  auf- 
geladen. Da  der  Detektor  in  der  entgegengesetz- 
ten Richtung  nichtleitend  ist,  bleibt  die  Ladung 
auf  dem  Kondensator.  Durch  die  nächsten  Signale 
wird  sie  solange  verstärkt,  bis  die  Kondensator- 
spannung gleich  der  Höchstspannung  der  an- 
kommenden Wellen  geworden  ist;  dann  kann  sich 
die  Kondensatorspannung  nicht  mehr  ändern  und 
folglich  das  Elektrometer  keine  Zeichen  mehr  re- 
gistrieren. Solche  Detektoren  mit  idealer  Ventil- 
wirkung sind  indessen  sehr  selten,  meistens  läßt 
er  bei  höheren  Spannungen  auch  in  der  entgegen- 
gesetzten Richtung  etwas  hindurch,  so  daß  sich 
ein  stationärer  Zustand  herausbildet,  indem  jeder 
neue  Funke  so  viel  nachliefert,  als  in  der  vorher- 
gehenden Sekunde  verloren  gegangen  ist.  Man 
kann  das  Elektrometer  zur  Entscheidung  der  Frage 
verwenden,  ob  ein  Detektor  auf  Ventil- 
oder auf  Thermowirkung  beruht:  Alle 
Detektoren,  die  das  Elektrometer  zum  Ansprechen 
auf  elektrische  Wellen  bringen,  beruhen  sicher 
nicht  auf  Thermoelektrizität,  —  so  z.  B.  der  Glüh- 
detektor, der  elektrolytische  und  eine  Reihe  Kristall- 
detektoren. Der  vielbenutzte  Bleisulfiddetektor  übt 
auf  das  Elektrometer  keinerlei  Wirkung  aus,  ob- 
gleich er  als  Ventil  wirkt,  allerdings  als  schlechtes. 
Seine  Leitfähigkeit  in  entgegengesetzter  Richtung 
ist  nämlich  so  gut,  daß  es  lücht  zu  einer  Auf- 
ladung des  Kondensators  kommt.  Zum  Schluß 
gibt  der  Verfasser  ein  Verfahren  an,  welche  ohne 
ankommende  Wellen  eine  Prüfung  von  De- 
tektoren gestattet,  indem  man  mit  durch  Wider- 
stand veränderlicher  Spannung  (4  Volt)  den  Kon- 
densator durch  den  Detektor  hindurch  auflädt, 
durch  Umlegen  einer  Wippe  wieder  entlädt  und 
den  Spannungsverlauf  in  beiden  Fällen  vom 
Elektrometer  registrieren  läßt. 

K.  Schutt,  Hamburg. 

Geologie:  „Über  die  Ursachen  der  vulkanischen 
Ausbrüche".  Auf  sechs  kurzen  Seiten,  wie  es 
W.  Karmin  (Geolog.  Rundschau  1914  S.  47—53) 
tut,  läßt  sich  das  unerschöpfliche  Thema  natür- 
lich nicht  mit  einiger  Vollständigkeit  behandeln. 
Aus  St  übel 's  und  von  Wolff's  Ergebnissen 
wird  eine  in  hypothetischer  Form  gehaltene  ein- 
heitliche Darstellung  des  Werdeganges  der  Erde, 
insbesondere  ihrer  vulkanischen  Äußerungen  in 
knappen  Zügen  zu  konstruieren  versucht.  Das 
kann  nur  haben  und  hat  den  Wert  einer  einzelnen 
Meinungsäußerung  innerhalb  einer  vieleBände  füllen- 
den Diskussion  über  den  Gegenstand.  Die  Abkühlung 
der  Erde  wird  wie  eine  erwiesene  Tatsache  vor- 
ausgesetzt. Einen  letzten  Urgrund  der  Wissenschaft 
gibt  es  nicht  und  auf  welchem  Boden  eine  Lehre 
fußt,  sie  muß  zu  allen  Zeiten  damit  rechnen,  sich 
einmal  zu  überleben.  Immerhin  ist  gerade  diese 
Voraussetzung  doch  eine  Basis,  an  der  neuerdings 
recht  viel  gerüttelt  wird,  eine  Vorstellung  übrigens, 
zu    deren    Stütze   ja    auch    gerade    der    Geologe, 


588 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr.  37 


der  doch  dazu  berufen  erscheinen  könnte,  gar  kein 
Material  hat  bisher  liefern  können!  Wenn  unter  den 
Schlußfolgerungen  des  Verfassers  Katastrophenaus- 
brüche erscheinen,  die  gleichfalls  in  der  Ver- 
gangenheit nicht  aufweisbar  sind,  daher  aber  von  der 
Zukunft    der    Erde    erwartet    werden,    so    besagt 


das  bescheidene  Bewußtsein,  daß  die  Natur  sich 
nichts  vorschreiben  läßt,  ja  noch  nichts  gegen 
die  Güte  der  Theorie.  Kürzer  als  durch  den  Ver- 
fasser selbst  läßt  sich  natürlich  seine  Ansicht  in 
einem  Referate  nicht  darstellen,  ohne  der  Flüch- 
tigkeit anheim  zu  fallen.  E.  Hennig. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Die    Wiederanheiluncr    einer    fast    vollständig 


abgeschnittenen  Hand  mit  guter  Funktion  gelang 
nach  einem  Berichte  von  Dr.  Schloeßmann 
(Münchener  Med.  Wochenschrift  Nr.  26,  30.  Juni 
1914)  an  der  chirurgischen  Universitätsklinik  in 
Tübingen.  Einem  zehnjährigen  Knaben  war  durch 
das  Messer  einer  Futterschneidmaschine  die  rechte 
Hand  fast  völlig  abgetrennt  worden.  Nachdem 
von  den  Eltern  die  Hand  sofort  wieder  auf  die 
Wundfläche  aufgedrückt  und  von  dem  herbei- 
gerufenen Arzt  ein  Notverband  angelegt  worden 
war,  wurde  der  Knabe  in  die  Klinik  gebracht. 
Er  traf  sechs  Stunden  nach  dem  Unfall  ein. 


Abb.  I.  Die  abgeschnittene  Hand  hängt  mit  dem  Vorderarm 
nur  durch  einen  kaum  3  cm  breiten  Stiel  zusammen  und  läßt 
sich  so  berumklappen ,  daß  der  kleine  Finger  dem  Unterarm 
anliegt  und  proximale  und  distale  Wundtläche  in  eine  Ebene 
fallen. 


Der  erste  Eindruck,  den  man  beim  Anblick 
der  Verletzung  hatte,  war  derart,  daß  man  zunächst 
an  Amputation  dachte.  Der  Schnitt  verlief  quer 
über  das  Handgelenk  und  hatte  nicht  nur  das 
Radiokarpalgelenk  breit  eröffnet,  sondern  auch  die 
Gelenkenden  von  Radius  und  Ulna,  sowie  das 
Os  lunatuni  und  naviculare  quer  durchschnitten. 
Auf  der  ulnaren  Seite  allein  war  eine  kaum  drei 
cm  breite  Brücke  erhalten  geblieben,  welche  die 
einzige  Verbindung  mit  dem  Vorderarm  bildete. 
Die  in  ihr  verlaufende  unverletzte  Arteria  ulnaris 
übernahm  die  weitere  Ernährung  der  abgetrennten 
Hand.  Der  Blutverlust  aus  der  durchschnittenen 
A.  radialis  war  auffallend  gering,  und  die  arteriellen 


Verbindungen  im  Hohlhandbogen  zwischen  A. 
radialis  und  A.  ulnaris  genügten  zur  Versorgung 
der  Hand  mit  arteriellem  Blut.  Von  Nerven  war 
der  Nervus  ulnaris  gleichfalls  erhalten  geblieben. 
Überraschenderweise  gelang  es,  die  Hand  zur 
Anheilung  zu  bringen.  Nach  der  mühsamen  Ver- 
einigung von  22  durchtrennten  Sehnen  wurde  die 
Gebrauchsfähigkeit  der  Hand  wieder  hergestellt. 
Bereits  am  elften  Tage  konnte  die  fixierende 
Schiene  fortgenommen  werden.  Unter  Massage 
und  aktiver  Bewegungstherapie  kehrte  nach  und 
nach  die  Bewegungsfähigkeit  und  nach  längerer 
Zeit  auch  die  Sensibilität  wieder.  Bereits  nach 
acht  Wochen  konnte  der  Patient  aus  der  Klinik 
entlassen   werden.      Die  Hand    ist    wieder    nahezu 


Abb.  2   und  3. 


Die 


angeheilte  Hand    ausgestreckt   und   zur 
Faust  geballt. 


normal,  nur  weniger  kräftig  als  die  andere  und 
wird  beim  Essen,  Trinken,  Schreiben  und  leichter 
Handarbeit  benutzt.  Eine  Infektion  der  Wunde 
hatte  glücklicherweise  nicht  stattgefunden,  wie 
sich  aus  dem  Ausbleiben  einer  Entzündung  ergab. 
Die  ganze  Wimdversorgung  konnte  sich  auf  das 
übliche  Verfahren  einer  Jodpinselung  der  Haut 
bis  zum  Wundrand,  sowie  das  Abtragen  aller  be- 
schmutzten, zerquetschten  und  zerfetzten  Gewebs- 
teile beschränken.  Kathariner. 


N.  F.  XIII.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


SSy 


Bücherbesprechungen. 


Siegmund  von  Schumacher,  Die  Individua- 
lität der  Zelle.  Antrittsvorlesung,  gehalten 
bei  der  Übernahme  des  histologisch- embryolo- 
tiischen  Instituts  der  K.  K.  Universität  in  Inns- 
bruck am  7.  Januar  1914.  Sammlung  anato- 
mischer und  i>h)'siologischer  Vorträge  und  Auf- 
sätze. Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  E.  Gaupp 
und  Prof.  Dr.  W.  Trendelenburg.  H.  23  (2.  Bd., 
H.  10).  Jena  1914,  Gustav  Fischer.  —  Preis 
—,60  Mk. 
Wenn  auch  die  Zellen  der  Vielzelligen  als 
Teile  des  Gesamtorganismus  viel  von  ihrer  Selb- 
ständigkeit verloren  haben,  so  haben  sie  dieselbe 
doch  nicht  vollständig  eingebüßt.  Aus  dem  Ver- 
band gelöst  vermögen  sie  unter  günstigen  Be- 
dingungen eine  Zeitlang  weiter  zu  leben.  Am 
deutlichsten  ist  die  Individualität  derjenigen  Zellen, 
die  in  tierischen  Flüssigkeiten  vorkommen.  Vor 
allem  ist  dies  der  Fall  bei  den  männlichen  Keim- 
zellen und  den  weißen  Blutkörperchen.  Bei  der 
Bienenkönigin  bleiben  die  beim  Hochzeitsflug  auf- 
genommenen Samenzellen  mindestens  3  Jahre  am 
Leben,  bei  der  Fledermaus  vom  Herbst  bis  zum 
nächsten  Frühjahr.  Auch  Stücke  menschlicher 
und  tierischer  Gewebe  haben  unter  Umständen 
eine  erstaunliche  Uebenszähigkeit.  Die  Bewegung 
an  Flinmierzellen  überdauert  bei  Schildkröten  den 
Tod  des  Tieres  wochenlang;  die  Rachenschleim- 
haut des  Frosches,  in  den  Rückenlymphsack  eines 
anderen  Tieres  eingebracht,  bildet  kugelige  Zellen- 
komplexe, die  durch  Wochen  hindurch  weiter 
leben.  Das  Überleben  von  Stücken  der  Haut  und 
der  Knochenhaut  wird  chirurgisch  längst  praktisch 
verwertet.  Das  Herz  eines  drei  Monate  alten, 
an  Lungenentzündung  gestorbenen  Knaben, 
20  Stunden  nach  dem  Tode  aus  der  Leiche  ge- 
nommen und  von  der  Aorta  aus  mit  Locke- 
scher  Flüssigkeit  durchströmt,  fing  wieder  an  zu 
pulsieren  und  arbeitete  über  eine  Stunde  ziemlich 
regelmäßig  weiter.  Andere  von  Kuliabko  am 
Herzen  angestellte  Versuche  zeigten,  daß  an  den 
Vorhöfen  und  den  Kammern  rhythmische  Pulsationen 
noch  30  Stunden  nach  dem  Tode  hervorgerufen 
werden  können.  Es  kann  demnach  die  individuelle 
Überlebensdauer  auch  bei  den  gleichartigen  Ge- 
weben desselben  Organs  schwanken.  Selbst  die 
Zellen  eines  Gewebes  sind  individuell  ver- 
schieden widerstandsfähig,  wie  sich  namentlich 
aus  Beobachtungen  am  Flimmerepithel  ergibt. 
Bei  der  Kultur  kleiner  Partikel  embryonalen  Ge- 
webes in  einem  Tropfen  Lymphe  unter  dem  Deck- 
glas, wo  es  bis  vier  Wochen  lebend  blieb,  sah 
Harrison  aus  Zellen  der  Myotonie  querge- 
streifte Muskelfasern  entstehen.  Aus  Zentralnerven- 
zcllen  wuchsen  Achsenzylinder   hervor. 

„In  rascher  Folge  erschienen  dann  die  Mit- 
teilungen insbesondere  von  CarrelundBurrows, 
Lambert  und  Hanes,  Ruth,  Weil,  Oppel, 
Hada,  Dilger,  Champy  u.  a.  über  die  ver- 
schiedensten   explantierten    Gewebe    und    Organe 


nicht  nur  von  Embryonen,  sondern  auch  von  er- 
wachsenen Tieren,  so  daß  wir  heute  über  das 
Verhalten  nahezu  aller  Organteile  im  Explantate 
bis  zu    einem    gewissen  Grade    unterrichtet  sind." 

Es  fragt  sich  nun,  ob  man  es  bei  der  Gewebs- 
kultur  mit  einer  wirklichen  Kultur  von  Geweben 
oder  mit  Überlebenserscheinungen  zu  tun  hat. 
Im  ersten  Fall  müßte  das  explantierte  Gewebe 
nicht  nur  weiter  leben,  sondern  es  müßten  auch 
neue  Zellen  gebildet  werden  von  der  gleichen 
Art,  wie  sie  für  das  betreffende  Gewebe  charak- 
teristisch ist.  Bezüglich  des  Überlebens  besteht 
kein  Zweifel.  Je  nach  der  Art  des  Gewebes,  des 
Kulturmediums,  dem  Alter  des  Tieres  usw.  bleibt 
das  Explantat  3  — 15  Tage  lang  am  Leben. 
Carrel  gelang  es,  mit  seiner  „Methode  des  alter- 
nierenden Lebens"  das  Leben  des  Explantats  wesent- 
lich zu  verlängern.  Eine  Phase  des  sichtbaren  Lebens 
im  Kulturmedium  und  Wärmeschrank  wechselt 
mit  einer  Phase  des  latenten  Lebens  in  Ringer- 
scher Lösung  und  in  Kälte.  Embryonales 
Bindegewebe  wurde  so  zwei  Monate  lang  am 
Leben  erhalten  und  Stücke  des  Herzmuskels  pul- 
sierten noch  länger  als  drei  Monate.  Amöboide 
Zellbewegungen  blieben  gleichfalls  lange  Zeit  er- 
halten. Das  Herz  zeigte  noch  rhythmische  Kon- 
traktionen, die  Aufnahme  von  PVemdkörpern  wurde 
an  Zellen  der  Hühnermilz  beobachtet.  Was  die 
Zellvermehrung  durch  Teilung  anbelangt,  so  sind 
die  Meinungen  darüber  geteilt.  Mitosen  im  Ex- 
plantat brauchen  nicht  auf  einem  wirklichen  Wachs- 
tum zu  beruhen,  da  sie  schon  vor  der  Explantation 
vorhanden  gewesen  sein  können.  Ein  wirkliches 
Wachstum  ließe  sich  nur  durch  eine  genaue 
Zählung  der  Zellen  feststellen.  Die  dritte  Frage, 
ob  die  neugebildeten  Zellen  bezüglich  ihrer  Form, 
Funktion  und  Lagerung  für  den  explantierten 
Organteil  charakteristisch  sind,  wird  von  den 
meisten  Autoren  verneint.  Durch  die  Teilung 
sollen  Bindegewebszellen  entstehen ,  die  regellos 
in  das  Nährmedium  hineinwachsen.  Die  durch 
Mitose  neugebildeten  Zellen  sind  indifferente 
Zellen  und  haben  auch  nicht  die  für  das  Mutter- 
organ charakteristische  Anordnung. 

Wenn  man  sonach  auch  nicht  von  einer  eigent- 
lichen Kultur  des  Explantats  sprechen  kann,  so 
ist  die  Methode  doch  von  größtem  Wert  für  das 
Zellstudium.  Kathariner. 

Fuchs,  C.   W.  C,    Anleitung  zum  Bestim- 
men   der    Mineralien.      6.  Aufl.      Neu    be- 
arbeitet von  R.Braun  s.    gr.  8".    223  S.  27  Abb. 
im  Text.    Gießen  191 3,    Alfred  Töpelmann.  — 
Preis  geh.  4,50  Mk.,  geb.  5  Mk. 
Die    vorliegende    6.    Auflage    des     bekannten 
Buches    ist  in    allen  Teilen  durchgesehen,  ergänzt 
und  verbessert.      Eine  besondere  Erweiterung  er- 
fuhr der  Abschnitt  über  die  mikrochemische  Ana- 
lyse.     In    den    Bestimmungstafeln    nach    äußeren 
Eigenschaften  und  einfachen  chemischen  Reaktionen 


59° 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  37 


sind  noch  mehr  als  in  den  früheren  Auflagen  die 
kristaliographischen  Zeichen  und  Winkelvverte  ge- 
strichen, da  bei  diesen  Bestimmungen  vorzugs- 
weise derbe  Mineralien  zur  Benutzung  gelangen. 
Dafür  sind  einige  Winkelwerte  in  einem  5.  Teile 
zusammengestellt. 

Eine    besondere    Empfehlung    des  verbreiteten 
Buches  erübrigt  sich.  K.  Andree. 


Franke,  H. ,    Die    Umrisse    der    Kristall- 
flächen und  die  Anfertigung  von  Kri- 
s  taUm  odcllen.    4".     iii    S.    Stuttgart   191 3, 
F'erd.  Enke. 
Verf.  behandelt  die  Aufgabe,  den  Umriß  einer 
Kristallfläche    zu    finden,    die    von    irgendwelchen 
anderen  Flächen  desselben  Kristalls  begrenzt  wird, 
und    bietet    zu    diesem  Zweck  eine  Anzahl  Hilfs- 
tafeln, mit  deren  Benutzung  die  gesuchten  Umrisse 
konstruiert    werden    können.      Von    den   Beweisen 
ist  überall  abgesehen,  denn  der  Zweck  des  Ganzen 
ist  die  Benutzung    in  der  mineralogischen  Praxis. 
Dementsprechend    bildet    der  Abschnitt    über   die 
Anwendungen     den    Hauptteil     der     Darstellung. 
Der  Empfehlung  des  Verfassers  zum  eigenen  Ent- 
werfen  und  Anfertigen  von  Kristallmodellen   kann 
man  nur  zustimmen.  K.  Andree. 


Rüst,  E.,  Grundlehren  der  Chemie  und 
Wege  zur  künstlichen  Herstellung  von 
Naturstoffen.  138  S.,  Leipzig  u.  Berlin  1914, 
Verlag  von  B.  G.  Teubner.  —  Preis  1,60  Mk., 
geb.  2,  Mk. 
Der  Verfasser  dieses  Büchleins  gibt  eine  popu- 
läre Darstellung  der  wichtigsten  theoretischen 
Grundlagen  der  Chemie  und  daran  anschließend 
einen  Überblick  über  die  chemisch-technische 
Synthese  der  Naturstoffe.  Aus  dem  vielseitigen 
Inhalt  seien  folgende  Kapitel  erwähnt :  Chemische 
Grundgesetze  —  Atom-  und  Molekulartheorie  — 
chemische  h'ormeln  —  unorganische  Naturstoffe 
und  ihre  Herstellung  (Salpeter,  Pottasche,  Soda, 
Ammoniak,  Mineralfarbstoffe,  Edelsteine)  —  or- 
ganische Stoffe  und  ihre  Synthese  —  künstliche 
Herstellung  organischer  Naturstoffe  (Pflanzenfarb- 
stoffe, Arzneimittel,  Riechstoffe,  Kampfer,  Kaut- 
schuk, Eiweißstoffe).  Die  Aufgabe,  dieses  weite 
Gebiet  von  Tatsachen  aus  der  theoretischen  und 
technischen  Chemie  auf  beschränktem  Raum 
„populär"  zu  behandeln,  führt  naturgemäß  leicht 
zu  Kompromissen  hinsichtlich  der  Art  der  Dar- 
stellung, so  daß  manchmal  die  Klarheit  des  Aus- 
drucks unter  dem  Streben  nach  allgemeiner 
Verständlichkeit  leiden  muß.  Beispielsweise  ließe 
sich  die  Diskussion  der  Begriffe  ,, Stoffe",  „Ver- 
bindungen", ,, Elemente"  usw.  wohl  etwas  präg- 
nanter geben,  als  es  im  vorliegenden  Buch  ge- 
schehen ist.  Andererseits  kann  man  verschiedener 
Ansicht  darüber  sein,  ob  die  Erörterung  spezieller 
organischer  Probleme  (wie  z.  B.  Konstitutions- 
bestimmung beim  Kampfer)  nicht  etwas  über  den 
Rahmen  eines  Buches,  das  sich  an  „Leser  ohne  be- 
sondere chemische  Vorkenntnisse"  wendet,  hinaus- 


geht. Von  diesen  Einwänden  abgesehen,  möchte 
ich  das  Buch  deshalb  empfehlen,  weil  es  dem 
Leser  durch  zahlreiche  statistische  Angaben  über 
Produktion,  Einfuhr  und  Ausfuhr,  Preise  usw.  einen 
guten  Begriff  von  der  volkswirtschaftlichen  Be- 
deutung der  Chemie  gibt.         Günther  Bugge. 


Bjerrum,  Dr.  Niels,  Die  Theorie  der  alkali- 
metrischen   und    azidi metrischen    Ti- 
trierungen.   Bd.  XXI  der  Sammlung  chemi- 
scher und  chemisch-technischer  Vorträge,  heraus- 
gegeben   von  Prof  Dr.  W.  Herz.     128  Seiten, 
mit    1 1  Textabbildungen.    Stuttgart,  Verlag  von 
F'erd.  Enke. 
Die  analytisclie  Chemie  hat,  hauptsächlich  durch 
das    Verdienst  Wilhelm    Ostwald's,    längst  das 
Stadium    roher  Empirie   überwunden,    und  immer 
mehr  werden  —  vor  allem  im   Unterricht  —  ihre 
durch  die  Fortschritte  der   elektrolytischen  Disso- 
ziationstheorie bedingten  wissenschaftlichen  Grund- 
lagen   betont.     Auch    das    vorliegende    Buch,    das 
aus  Vorlesungen  des  Verfassers  an  der  Universität 
Kopenhagen    hervorgegangen    ist,    gehört    zu   den 
Arbeiten,    die  zum  Ausbau   des  theoretischen  Ge- 
bäudes der  analytischen  Chemie   beitragen  sollen. 
Der  Verfasser  gibt  zunächst  eine  elementare  Dar- 
stellung    der     Grundbegriffe     der    Titrationslehre 
(Stärke    von   Säuren    und  Basen,  Hydrolyse  usw.), 
erörtert  dann  die  Lehre  von  den  Indikatoren  und 
behandelt    schließlich    eingehend    die    eigentliche 
Titrierungslehre.       Einen     wesentlichen    Teil    des 
letzten    Abschnittes    nimmt    die    Frage    nach    der 
Genauigkeit  der  Titrierungsmethoden  ein.    Bei  der 
großen  Bedeutung,  welche  die  Titrierungsmethoden 
nicht  nur  für  die  reine  Chemie,  sondern  auch  für 
die    Technik   haben,    wird    eine    Klarlegung    ihrer 
Theorien    wie    die    vorliegende    sicher    zahlreiche 
Leser  finden.  Günther  Bugge. 


Gebhardt,  Paul,  Mit  der  Kamera  aufReisen. 

Ed.  Liesegang's  Verlag,    M.  Eger,  Leipzig.     Mit 
38  Abb.,   Belichtungstabelle  usw.    —    2,50  Mk., 
geb.  3  Mk. 
Das   Buch    ist    mit    großer  Sorgfalt    bearbeitet 
und  kann  unseren  Lesern  zur  bevorstehenden  Reise- 
zeit warm   empfohlen  werden ;  auch  die  speziellen 
Zwecke  des  naturwissenschaftlichen  Photographen 
sind  kurz  berücksichtigt.    Zum  ersten  Male  sind  hier 
die  Zollverhältnisse  und  Photographieverbote  aller 
Länder  zusammengestellt;  es  wird  hierdurch  eine 
oft  empfundene  Lücke  der  photographischen  Lite- 
ratur ausgefüllt.  Gustav  Blunck. 

Rinne,  F.,  Gesteinskunde.  Für  Studierende 
der  Naturwissenschaft,  F"orstkunde  und  Land- 
wirtschaft, Bauingenieure,  Architekten  und  Berg- 
ingenieure. 4.,  vollständig  durciigearbeitete  Auf- 
lage. Leipzig,  Max  Jaenecke,  1914.  4",  336  S., 
I  Tafel  (Titelbild),  451  Abb.  im  Text.  —  Preis 
geb.  14  Mk. 
Ein  Buch,  welches    sich,  wie  die  Rinne'sche 

Gesteinskunde  in  so  vieler  Hinsicht,  nicht  nur  für 


N.  F.  Xm.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


591 


den  Gebrauch  des  Studierenden,  sondern  auch  den 
der  Lehrenden  bewährt  hat,  wird  mit  jeder  neuen 
Auflage  um  so  freudiger  bcgriißt,  wenn  man  beim 
Durchblättern  derselben  überall  die  bessernde  I  land 
des  Autors  verspürt,  welche  hier  Zusätze  machte, 
dort  die  Darstellung  im  Interesse  einer  wissen- 
schaftlichen V^ertiefung  erweiterte  und  den  Fort- 
schritten der  modernen  Wissenschaft  anpaßte. 
Ein  solches  Buch  bedarf  keiner  besonderen  Empfeh- 
lung; und  es  mag  hier  nur  darauf  hingewiesen  sein, 
in  welcher  Weise  der  Verf  die  Darstellung  er- 
weitert hat.  In  der  Überzeugung,  daß  die  weiter- 
gehende Anwendung  der  physikalischen  Chemie 
von  Nutzen  sei,  sind  einfache  Lehren  dieser  Wissen- 
schaft noch  mehr  als  früher  vielen  Betrachtungen 
zugrunde  gelegt,  was  besonders  der  Erkenntnis 
der  Bildung  der  Ausscheidungssedimente,  der  Salze, 
zugute  kommt.  Umgekehrt  aber  fuhren  die  Er- 
fahrungen, welche  die  Wissenschaft  bei  der  che- 
misch-physikalischen Lhitersuchung  der  Verhältnisse 
dieser  Gesteine  machen  konnte,  zu  einem  besseren 
Verständnis  der  Erscheinungen  der  Eruptivgesteine. 
Ein  gleiches  Verhältnis  besteht  übrigens  zwischen 
der  modernen,  ebenfalls  auf  der  physikalischen 
Chemie  beruhenden  IWelallographie  und  Eruptiv- 
gesteinskunde; und  wir  finden  dementsiirechend 
im  Anschluß  an  die  Eruptivgesteine  eine  sehr 
klare  Darstellung  über  die  Meteoriten.  Sehr  lesens- 
wert ist  auch  das  Kapitel  über  die  Entstehung 
der  kristallinen  Schiefer,  in  welchem  die  neuesten 
Erkenntnisse  auf  dem  Gebiete  des  Gesteinsmeta- 
morphismus  Berücksichtigung  fanden. 

Nach  alledem  wird  es  nicht  ausbleiben,  daß 
das  Buch  sich  seine  alten  Freunde  bewahrt  und 
neue  hinzugewinnt,  zumal  auch  die  zahlreichen 
Abbildungen,  ohne  die  ein  solches  Buch  nicht 
denkbar  wäre,  auf  bewährter  Höhe  stehen. 

Der  Vorzug,  welcher  im  nachstehenden  Referat 
der  W  einschenk'schen  Gesteinskunde  nach- 
gerühmt wurde,  die  glückliche  Art  der  Gliederung 
des  Stoffes,  gilt  ebenso  für  das  Rinne'  sehe  Buch. 

K.  Andree. 

Die  Lieferung  164  der  geologisch  -  agrono- 
mischen Karte  von  Preußen  und  benachbarten 
Bundesstaaten  umfaßt  mit  den  Blättern  Barby, 
Zerbst,  Aken,  Wulfen  und  Cöthen  einen  Teil  des 
Herzogtums  Anhalt  und  der  Provinz  Sachsen. 
Die  auf  den  Blättern  vertretenen  Formationen 
sind  Culm  (?)  bei  Paschleben  (Blatt  Cöthen),  Rot- 
liegendes und  Zechstein,  auf  dessen  Kupferschiefer 
früher  mehrfach  vergeblich  ein  Abbau  versucht 
worden  ist.  Von  der  Trias  tritt  nur  der  untere 
Buntsandstein  zutage,  während  IVIuschelkalk  nörd- 
lich von  Cöthen  erbohrt  worden  ist.  Die  Braun- 
kohle, auf  deren  eocänes  Alter  v.  Linstow  zu- 
erst hingewiesen  hat,  ist  auf  mehreren  Blättern 
verbreitet,  im  Norden  bei  Pömmelte  von  Unter- 
oligocän,  weiter  südlich  von  mitteloligocänem 
Septarienton  bedeckt,  der  hier  weit  verbreitet  ist. 
Vom  Oberoligocän  ist  das  Eisensteinvorkonmien 
von  Brambach  a.  Elbe  von  Interesse. 


Das  Diluvium  ist  nach  Ansicht  des  Verfassers 
auf  beiden  Seiten  der  Elbe  der  zweiten  Vereisung 
zuzurechnen,  abgesehen  vom  Löß,  der  während 
der  letzten  Eiszeit  abgelagert  wurde.  Fossilien 
sind  in  letzterem  an  keiner  Stelle  gefunden 
worden. 


Weinschenk,  E.,  Grundzüge  der  Gesteins- 
kunde,     I.    Teil.      Allgemeine    Gesteinskunde 
als  Grundlage  der  Geologie.     Dritte,  verbesserte 
Auflage.     IWit  isSTextfig.  und  6  Tafeln,    gr.  8". 
(XII  u.  .274  S.)    Freiburg  i.  Br.   1913,  Herder'sche 
Verlagshandlung.    —    Preis    geh.    G,6o  IVIk.,    in 
Leinw.  geb.  7,30  Mk. 
Nach  mehr  als  zweijähriger  Pause  ist  die  dritte 
Auflage  der  „Allgemeinen  Gesteinskunde"  in  einem 
um  über  2  Bogen   und  eine  entsprechende  Anzahl 
von  Abbildungen  erweiterten  L^nfange  erschienen. 
In  manchen  Teilen    hat  eine  Neugruppierung  des 
Stoffes  stattgefunden.    Bei  dem  raschen  I-'ortschritt 
der  Wissenschaft    in   bezug    auf  die  Kenntnis  der 
Verwitterungsvorgänge  und  Metamorphosen  haben 
besonders    die    mit    diesen    sich    beschähigenden 
Kapitel  eine  durchgreifende  Neugestaltung  erfahren. 
Weinschenk's    ,, Allgemeine    Gesteinskunde 
als  Grundlage  der  Geologie"  ist  ein  recht  brauch- 
bares Buch  und  wohl  imstande,  die  Lücke  auszu- 
füllen, welche  unsere  Lehrbücher  der  Geologie  in 
dieser  Beziehung  bisher  leider  darbieten,  eine  Tat- 
sache ,    die   der   Bedeutung   der   modernen  Fetro- 
graphie    für   die  Geologie   in    keiner  Weise  mehr 
entspricht.      Besonders  hingewiesen    sei    noch  auf 
die  didaktisch  glückliche  und  der  Reihenfolge  des 
geologischen  Geschehens  gut  entsprechende  Anord- 
nung des  Stoffes,  ein  Vorzug,  welcher  nicht  allen 
Lehrbüchern  der  Geologie  zukommt. 

K.  Andree. 

Haberlandt,    Ludwig,     Das    Herz  flimmern. 
Seine  Entstehung  und  Beziehung    zu  den  Herz- 
nerven.    Nach    einem    am    6.    F'ebruar    1914    in 
der  wissenschaftlichen  Ärztegesellschaft  in  Inns- 
bruck   gehaltenen   Vortrag.     Sammlung    anato- 
mischer und  physiologischer  Vorträge  und  Auf- 
sätze,  herausgegeben  von  Prof  Dr.  E.  Gaupp 
und  Prof  Dr.  W.  Trendelenburg.     Heft  26 
(3  Bd.  Heft   2).     Jena   1914,  Gustav  Fischer.  ■ — 
Preis  40  Pf 
Unter  Herzflimmern  (Delirium  cordis)  versteht 
man  jene  Koordinationsstörung  der  Herztätigkeit, 
bei  der  nicht  nur  das  Zusammenarbeiten  der  ein- 
zelnen   Herzteile    gestört    ist,    sondern    auch    die 
Elemente  des  gleichen  Herzteils  nicht  gemeinsam 
miteinander  arbeiten,  indem  die  einzelnen  Muskel- 
bündel sich  ungleichzeitig  kontrahieren. 

Haberlandt  erörtert  die  verschiedenen  An- 
sichten, die  man  bezüglich  der  Ursache  der  nicht 
seilen  zum  Tode  führenden  Affektion  gehabt  hat. 
Sie  wurde  in  der  Zerstörung  eines  ,,K.oordinations- 
zentrums" ,  in  einer  Anämie  des  Herzmuskels  in 
kombinierter  Reizung  des  Nervus  vagus  accelerans 
gesehen.     Unter  letztgenannter  Bedingung  konnten 


592 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  37 


Rothberger  und  Winterberg  das  llerzflimmern 
auch  experimentell  hervorrufen.  Sie  weisen  auch 
darauf  hin,  daß  die  kombinierte  Nervenreizung 
wohl  auch  die  klinischen  Fälle  von  plötzlichem 
Herztod  durch  starken  Schreck  erklären  dürfte, 
wobei  durch  die  .Sektion  keinerlei  pathologisch- 
anatomische Veränderung  nachweisbar  ist. 

Haberland  t  sagt  am  Schluß  seiner  Be- 
trachtungen :  „Danach  würde  sich  also  das  Mimmer- 
phänomen  als  Ausdruck  der  Interferenz  zahlreicher, 
dissoziierter  extrasystolischer  Kontraktionen  der 
einzelnen  Muskelbündel  auffassen  lassen,  die  bei 
spontanem  Fortdauern  der  Erscheinung  nach  be- 
endigter Reizung  durch  automatische  Reize  her- 
vorgerufen werden ,  deren  Entstehungsort  im 
atrioventrikulären  Verbindungssystem  und  seinen 
Verzweigungen  gelegen  sein  dürfte." 

Kathariner. 


Nachrichten  ans  der  wissenschaftlichen  Welt. 

Das  Treub-Laboratorium  in  Buitenzorg  auf  J.-iva.  Der 
botanische  Garten,  den  die  Holländer  vor  rund  hundert 
Jahren  auf  der  schönsten  ihrer  überseeischen  Besitzungen,  auf 
der  Insel  Java  angelegt  haben,  ist  mit  der  Zeit  nicht  nur  zum 
reichhaltigsten  Pllanzengarten  der  Tropen  geworden,  sondern 
er  zeichnet  sich  vor  allem  auch  dadurch  aus,  dafi  in  den  mit 
ihm  vereinigten  Laboratorien  eine  ganz  ausgezeichnete  Arbeits- 
gelegenheit gcschafl'en  worden  war,  die  es  auch  dem 
Physiologen,  Morphologen  und  Anatomen  ei möglichte,  die 
reichen  Schätze  des  großen  Gartens  wissenschaftlich  auszubeuten. 
Diese  Annehmlichkeit  haben  im  Laufe  der  Jahre  auch,  oder 
man  könnte  fast  sagen  in  erster  Linie,  eine  staUliche  Reihe 
deutscher  Botaniker  genossen  und  ich  glaube,  daß  wohl  nie- 
mand von  ihnen  die  Insel  ohne  ein  aufrichtiges  Gefühl  des 
Dankes  für  die  stete  und  mit  der  größten  Bereitwilligkeit  ge- 
währte Hilfe  der  Verwaltung  und  dem  der  Hochachtung  für 
den  idealen  Sinn  der  Niederländischen  Regierung  verlassen 
hat,  die  in  der  sorgsamen  und  opferwilligen  Pflege  ihres 
's,, Lands  Plantentuin"  an  der  Spitze  aller  Nationen  mit  über- 
seeischen Kolonien  steht.  Zur  Aufnahme  der  fremden  Forscher 
diente  das  sogenannte  Fremdcnlaboratorium,  das  von  Melchior 
Treub  gegründet  wurde,  dem  im  Jahre  1910  verstorbenen 
bedeutenden  Direktor  des  Gartens  und  des  bis  dahin  mit  ihm 
vereinigten  De|iartement  van  Landbouw.  Um  das  .Andenken 
dieses  außerordentlichen  Mannes  zu  ehren,  hat  man  bald 
nach  seinem  Hinscheiden  den  Plan  gefaßt,  den  fremden 
Forschern  ein  neues  größeres  Heim  zu  schaffen.  Dieses  neue, 
geräumige  Laboratorium  ist  nun  vor  kurzem  fertig  geworden, 
Ende  Mai  dieses  Jahres  eingeweiht  und  auf  den  Namen 
,, Treub-Laboratorium"  getauft  worden.  Das  Gebäude  liegt 
an  einer  der  schönsten  Stellen  des  Gartens  und  hat  eine  3g  m 
lange  Front.  Aus  dem  Vorraum,  den  bald  eine  Marmorbüste 
Treub 's  zieren  wird,  gelangt  man  zunächst  in  die  Bibliothek, 
in  der  eine  Hand-  und  Treub 's  wissenschaftliche  Bücherei 
aufgestellt  ist.  Das  übrige  Gebäude  ist  dann  in  drei  Teile 
geteilt,   in  den  großen  .\rbeitsraum,   das  physiologische  Dunkel- 


zimmer und  das  Laboratorium  des  Leiters.  Der  Arbeitssaal 
wird  auf  beiden  Seiten  durch  drei  große  Fenster  beleuchtet; 
die  Arbeitsplätze  sind  durch  Zwischenwände  voneinander 
getrennt.  .\ußerdem  sind  noch  ein  Raum  für  spezielle  Unter- 
suchungen, eine  photographische  Dunkelkanmier,  Magazine  für 
Glas  und  Chemikalien  vorhanden,  sowie  auf  der  Rückseite 
eine  große  oflene  Halle.  Hinter  dem  Laboratorium  ist  ein 
geräumiges  Versuchsfeld  mit  einem  Glashause  angelegt.  Leiter 
dieses  Laboratoriums  ist  Herr  Dr.  F.  C.  von  Faber,  der  vor 
seiner  Ijbersiedelung  nach  Java  längere  Zeit  in  Deutschland 
tätig  gewesen  ist.  M. 

Die  diesjährige  Versammlung  deutscher  Naturfosrcher 
und  Ärzte  wird  wegen  des  Krieges  ausfallen,  wie  das  in 
früheren  Kriegs-  und  Epidemiejahren  auch  der  Fall  war.  Eine 
diesbezügliche  Bekanntmachung  im  Reichsanzeiger  ist  bereits 
erfolgt. 


Mit  250  Abbild. 
Fischer.      Geb. 

Experimentelle 


Literatur. 

Br  ohmer,  Dr.  P.,  Fauna  von  Deutschland.  Ein  Be- 
stimmungsbuch unserer  einheimischen  Tierwelt.  Unter  Mit- 
wirkung verschiedener  Gelehrter  herausgegeben  von  Dr.  P. 
Brohmer.  Mit  912  Abbild,  im  Text  und  auf  Tafeln.  Leipzig 
'14,   (Quelle  und   Meyer.      Geb.   5   Mk. 

Abel,   I  >.,   Die  vorzeitlichen  Säugetiere, 
im     Text     und     2     Tabellen.      Jena     '14,     G. 
9,50  Mk. 

Sammlung  Göschen :  Elektrochemie  11. 
Elektrochemie,  Meßmethoden,  Leitfähigkeit,  Lösungen  von  Dr. 
H.  Danneel.  Mit  26  Figuren  und  mehreren  Tafeln.  2.  .'\uflage. 
—  Algebraische  Kurven.  Neue  Bearbeitung  von  Prof.  Dr. 
H.  Wieleilner.  I.  Teil:  Gestaltliche  Verhältnisse.  Mit  97 
Figuren.     Geb.  je  90  Pf. 

France,  R.  H.,  Spaziergänge  durch  den  Hausgarten. 
Mit  24  Text  und  Vollbildern.     Leipzig  '14,  Th  Thomas.    I    Mk. 

Wissenschaft  und  Bildung.  Band  12S:  Arznei-  und 
Genußmittel,  ihre  .Segnungen  und  Gefahren  von  Prof.  Dr. 
Fr.  Müller.  Band  125:  Über  Stoffwechsel  und  Diät  von 
Gesunden  und  Kranken  von  Prof.  Dr.  C.  A.  Ewald.  Leipzig 
'14,     Quelle  und  Meyer.     Geb.  je   1,25  Mk. 

S  c  h  m  e  i  1 ,  Prof.  Dr.  O.  und  Jost  Fitschen,  Flora  von 
Deutschland.  Ein  Hilfsbucb  zum  Bestimmen  der  zwischen 
den  deutschen  Meeren  und  den  Alpen  wildwachsenden  und 
angeb.auten  Pflanzen.  Mit  1000  Abbild.  15.  Auflage  (unver- 
änderter Abdruck  der  13.  Aufl.)  Leipzig  '14,  Quelle  und 
Meyer.      Geb.   3,80  Mk. 

Michaelis,  Prof.  Dr.  L.,  Wasserstoffionen-Konzentra- 
tion.  Mit  41  Textfiguren.    Berlin '14,  J.  Springer.  Geb.  8,80  Mk. 

Bubnow,  Prof.  Dr.  N.,  .\rithmctische  Selbstiindigkeit 
der  europäischen  Kultur.  Aus  dem  Russischen  übersetzt  von 
Joseph   Lezius.     Berlin   '14,   R.   Friedländer.      10  Mk. 

Knauer,  Prof.  Dr.  Fr.,  Der  Zoologische  Garten.  Ent- 
wicklungsgang, .Anlage  und  Betrieb  unserer  Tiergärten  und 
deren  erziehliche,  belehrende  und  wissenschaftliche  .Aufgaben. 
Mit   122  Abbild.     Leipzig  '14,  Th.  Thomas. 

Mayer,  Prof.  Dr.  P.,  Einführung  in  die  Mikroskopie. 
Mit  28  Textfiguren.     Berlin    '14,  J.  Springer.     Geb.  4,80  Mk. 

Lieb  mann,  Dr.  Willy,  Die  Beziehungen  der  Früchte 
und  Samen  zur  Tierwelt.   Leipzig  '14,  Quelle  und  Meyer.  So  l'f. 


Inhalts  Hansen:  Goethe's  naturwissenschaftliche  Sammlungen  im  Neubau  des  Goethehauses  zu  Weimar.  Nachtsheim; 
Sind  die  Mitochondrien  Vererbungsträger?  Wolf;  Dutten  und  Riechen.  —  Einzelberichte:  Jacobacci:  Ein  neues 
Zeugnis  zugunsten  der  Statolithentheorie.  Boveri  und  Herbst:  Die  Bedeutung  des  Mengenverhältnisses  mütterlicher 
und  väterlicher  Substanzen  für  die  Vererbung.  Wulf;  Einfadenelektrometer.  K;  arm  in:  Über  die  Ursachen  vulkani- 
scher Ausbrüche.  —  Kleinere  Mitteilungen:  Schloeßmann:  Die  Wiederanheilung  einer  fast  vollständig  abgeschnit- 
tenen Hand.  —  Bücherbesprechungen:  v.  Schumacher:  Die  Individualität  der  Zelle.  Fuchs;  Anleitung  zum  Be- 
stimmen der  Mineralien.  Franke:  Die  Umrisse  der  Kristallflächcn  und  die  .Anfertigung  von  Kristallmodellen.  Rüst: 
Grundlehren  der  Chemie  und  Wege  zur  künstlichen  Herstellung  von  Naturstoffen.  Bjerrum:  Die  Theorie  der  alkali- 
metrischen und  azidimetrisehen  Titrierungen.  Gebhardt:  Mit  Kamera  auf  Reisen.  Rinne;  Gesteinskunde.  Die 
Lieferung  164  der  geologisch-agronomischen  Karte  von  Preußen  und  benachbarten  Bundesstaaten.  Weinschenk; 
Grundzüge  der  Gesteinskunde.  Haberlandt;  Das  Herzflimmern.  —  Nachrichten  aus  der  wissenschaftlichen  Welt.  — 
Literatur :   Liste. 

Manuskripte  und   Zuschriften   werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  M  i  e  h  e   in  Leipzig,  Marienstraße    IIa,   erbeten. 

Verlag  von   Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.  Band  ; 
der  ganzen  Reihe   2g.  Band. 


Sonntag,  den  20.  September  1914. 


Nummer  38. 


[Nachdruck  verboten,] 

Unsere  Vorstellungen  von  dem  Kreislaufprozeß 
des  Wassers,  insbesondere  von  dem  Wasserhaushalt 
der  Erde,  sind  im  letzten  Jahrzehnt  durch  die  Ar- 
beiten von  hervorragenden  IVIeteorologen,  wie  von 
Hann,  Hellmann,  Woeikoff,  und  durch  die 
scharfsinnigen  Deduktionen  von  Geographen,  wie 
Brückner,  Meinard  us,  Penck,  Supan 
wesentlich  klarer  geworden.  In  allerneuester  Zeit 
hat  Keller,')  Direktor  der  Preußischen  Landes- 
anstalt für  Gewässerkunde,  welcher  sich  schon 
früher  erfolgreich  mit  diesen  Problemen  beschäftigt 
hat,  die  Bilanz  des  Wasserhaushaltes  der  Erde 
aufs  neue  geprüft  und  dabei  einige  neue  Ge- 
sichtspunkte aufgestellt,  welche  wohl  geeignet  sind, 
neues  Licht  auf  dieses  noch  immer  der  Erhellung 
sehr  bedürftige  Kapitel  zu  werfen ,  obgleich  ich 
durchaus  nicht  der  Überzeugung  bin,  als  ob  nun 
alle  Schwierigkeiten  dieser  recht  spröden  Materie 
überwunden   wären. 

Die  eigentliche  Kernfrage,  um  welche  es  sich 
hier  handelt,  betriftt  den  Austausch  des  Festland- 
wassers in  seinen  verschiedenen  Erscheinungsformen 
in  flüssigem,  festem  und  dampfförmigem  Zustand  mit 
dem  Ozeanwasser.  Ersteres  steht  in  Menge  ganz 
außerordentlich  hinter  letzterem  zurück.  In  einem 
Aufsatz  über  den  „Wasservorrat  der  Erde"  -)  be- 
rechnete ich,  daß  das  sogenannte  Süßwasser  im 
allergünstigsten  P'alle  kaum  4  Promille  des  Ozean- 
volumens ausmacht,  wahrscheinlich  aber  noch 
erheblich  weniger,  und  daß  von  den  VVasservorräten 
der  festen  Erde  die  in  den  Eismengen  des  ant- 
arktischen Kontinents  enthaltenen  sicherlich  weit- 
aus die  größten  seien. 

Trotzdem  wird  der  arme  Bruder  vom  reichen 
im  großen  und  ganzen  doch  nicht  aufgefressen, 
wenigstens  nicht  in  historisch-angebbarer  Zeit  (s.  u.), 
denn  sonst  müßte  der  Spiegel  des  Ozeans  überall 
merklich  gestiegen  sein,  es  muß  also  ein  Gleich- 
gewichtszustand zwischen  beiden  Welten,  wenn 
ich  mich  so  ausdrücken  darf,  existieren.  Aufweiche 
Weise  kommunizieren  nun  beide  miteinander? 
Die     festen     Eismassen     der     arktischen     Länder 


Vom  Wasserhaushalt  der  Erde. 

Von  Prof.  Dr.  W.  Halbfaß  in  Jena. 


')  H.  Keller,  Niederschlag,  Abfluß  und  Verdunstung  in 
Mitteleuropa.  Jahrb.  f.  d.  Gewässerkunde  Norddcutschlands. 
Besondere  Mitt.  Bd.  I,  Nr.  4.  Berlin  1906.  Derselbe:  Ur- 
sprung und  Verbleib  des  Festland -Niederschlags ;  ebenda 
Bd.  I!,  Nr.  7.  Berlin  1914.  Örtliche  und  zeitliche  Beziehun- 
gen zwischen  Niederschlag,  Abiluß  und  Verdunstung  der  Fluß- 
gebiete (Zenlralblatt  der  Bauverwaltung  Jahrg.  34,  Nr,  39. 
Berlin,  I6.  Mai  1914);  vgl.  auch  Keller's  Aufsatz:  W^asser- 
haushalt  und  Wasserwirtschaft,  Festrede  gehalten  am  22.  März 
1914  io  der  öffentl.  Sitzung  der  kgl.  Akademie  des  Bauwesens, 
abgedruckt  ebenda  Nr.  24,   1914. 

■-)  Zeitschrift  für  die  gesamte  Wasserwirtschaft  Jahrg.  VIII,  9 
Halle    1913. 


und  des  antarktischen  Kontinents  werden  nach 
einfachen  mechanischen  Gesetzen  nach  und  nach 
in  den  Ozean  hinabgedrückt,  in  dem  sie  langsam 
aufgelöst  werden  und  in  tiefere  Breitengrade  ver- 
frachtet werden;  ein  großer  Teil  dieser  festen 
Wassermassen  verdimstet  nicht  und  wird  ohne  Zweifel 
geradeso  von  den  arktischen  und  antarktischen 
Gletschern  kondensiert,  wie  dies  in  den  Gletschern 
der  Gebirge  im  Innern  der  Kontinente  geschieht  und 
bereits  rechnerisch  z.  B.  im  Rhonegebiet  nachge- 
wiesen werden  konnte.  Meinardus')  hat  das  jährlich 
ins  Meer  hinausgeschobene  Inlandeisvolumen  der 
Antarktika  zu  640  cbkm  berechnet,  dem  ein  Wasser- 
volumen von  rund  550  cbkm  entspricht.  Dieses 
Volumen  bezeichnet  ungefähr  den  jährlichen 
Überschuß  des  Niederschlags  über  die  Verdunstung 
innerhalb  der  vereisten  Landschaften  der  Ant- 
arktika, die  Meinardus  auf  13 — 14  Million  qkm 
veranschlagt,  so  daß  die  Abflußhöhe  also  rund 
40  mm  beträgt.  Gegenüber  den  mindestens 
30000  cbkm  (s.  u.),  welche  die  hauptsächlichsten 
Flüsse  der  Erde  jährlich  dem  Ozean  zuführen, 
kommt  dieser  Umschlag  nicht  recht  in  Betracht. 
Der  Austausch  zwischen  Ozean  und  Festland  voll- 
zieht sich  in  den  arktischen  Gegenden  jedenfalls 
nur  sehr  langsam  und  hält  sich  in  mäßigen  Grenzen. 
Unnötig  zu  betonen,  daß  der  Kreislauf  des  Wassers 
in  den  vereisten  Gebieten  sowohl  im  Innern  der 
Kontinente  wie  in  den  arktischen  Gegenden  sich 
nur  mit  Hilfe  des  atmosphärischen  Wasserdamjjfes 
vollziehen  kann. 

Das  Wasser  der  Seen  ohne  oberflächlichen 
Abfluß  versickert  teilweise  unterirdisch  und  ver- 
mehrt das  Grundwasser,  teiweise  verdunstet  es 
und  kann  bei  geeigneten  Luftströmungen  zum 
Ozean  gelangen,  um  dort  wieder  kondensiert  zu 
werden,  dasjenige  der  Seen  mit  oberflächlichem 
Abfluß  wird  teils  direkt  durch  die  Flüsse  mit  dem 
Ozeanwasser  vereinigt,  teils  verdunstet  es  und 
kann  auf  dem  Lande  zur  Kondensation  ge- 
langen; Die  Flüsse  bringen  einen  großen  Teil  ihres 
Wasserreichtums  ohnehin  auf  dem  einfachsten 
Wege  dem  Ozean  zum  Opfer.  Auch  das  in  der 
obersten  Erdrinde  aufgespeicherte  Boden-  oder 
Grundwasser  steht  ohne  allen  Zweifel  wenigstens 
an  manchen  Orten  der  Erde  direkt  mit  dem 
Ozean  in  Verbindung,  teils  kommt  es  in  Gestalt 
von  Quellen  wieder  auf  dem  festen  Land  an  die 
Oberfläche,  kann  abfließen  oder  verdunsten.  Der- 
jenige Bestandteil  des  Landwassers  endlich,  der  in 


')  Über  den  Wasserhaushalt  der  .Antarktis.  Sitzungsbcr. 
der  mediz.-naturw.  Gesellschaft  zu  Münster  i.  W.  1910,  abge- 
druckt in   der  Met.  Zeitschr.  Juniheft   1911. 


594 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  38 


Form  von  Wasserdampf  jedesmal  über  dem  Festland 
lagert,  wird  ohnehin  bei  günstigen  Windverhältnissen 
ohne  weiteres  dem  Meer  zugeführt  und  unter  ge- 
eigneten Umständen  daselbst  kondensiert.  Die 
zahlreichen  Kommunikationswege  des  Süßwassers 
beschränken  sich,  was  gleich  hier  besonders  betont 
werden  soll,  keineswegs  auf  die  sog.  peripherischen 
Gebiete,  d.  h.  diejenigen  mit  oberflächlichem 
Abfluß,  sondern  umfassen  auch  auf  die  scheinbar 
abflußlosen  Gebiete.  Es  ist  ein  Verdienst  Kellers 
hierauf  besonders  hingewiesen  zu  haben.  In  um- 
gekehrter Richtung  steht  dem  Ozeanwasser  nach 
dem  Kontinent  zu  in  der  Hauptsache  nur  Ein 
Weg  offen,  derjenige  durch  die  Luft,  und  auch  dieser 
wird  ihm  je  nach  der  Bodenkonfiguration  des 
Landes  oder  der  Luftdruckverteilung  häufig  genug 
erheblich  erschwert.  Daß  trotzdem  ein  so  reich- 
licher Übertritt  von  Wasserdampf  vom  Ozean  zum 
Festland  erfolgt,  ist  sowohl  in  der  viel  größeren 
Ausdehnung  des  Ozeans  gegenüber  dem  Kontinent 
als  auch  in  seiner  weit  stärkeren  Verdunstung  be- 
gründet. Ein  kleiner  Teil  des  Ozeanwassers  dringt 
aber  auch  jedenfalls  direkt  in  die  Erdrinde  ein 
und  vermehrt  ihr  Bodenwasser,  nur  sind  wir  bisher 
über  den  direkten  Verkehr  zwischen  Ozean  und 
Grundwasser  sehr  wenig  orientiert  und  können  nur 
aus  gewissen  Vorkommnissen  den  sicheren  Schluß 
ziehen,  daß  er  überhaupt  existiert. 

Eine  außerordentlich  wichtige  Rolle  im  Wasser- 
haushalt spielt  also  der  in  Form  von  Wasser- 
dampf  aufgespeicherte  Wasservorrat  und  die 
Frage,  wieweit  daran  das  Meer  und  das  Festland 
beteiligt  ist.  Meinardus^)  hat  diesen  Wasser- 
gehalt auf  Grund  der  von  Arrhenius  angegebe- 
nen Mittelwerte  der  Luftfeuchtigkeit  in  den  ver- 
schiedenen Breitengraden  auf  12300  cbkm  be- 
rechnet und  wenn  selbstverständlich  diese  Zahl 
nur  als  eine  Annäherung  an  den  wahren  Betrag 
dieser  an  und  für  sich  schon  schwankenden  Größe 
angesehen  werden  darf,  so  dürfte  doch  wohl  der 
Fehler  kaum  10 — 15  "/o  dieses  Betrages  erreichen, 
so  daß  man  wohl  annehmen  könne,  daß  er  ungefähr 
den  40.  Teil  der  jährlichen  Niederschlagsmenge 
der  gesamten  Erde  beträgt.  Der  Austausch  zwi- 
schen Kondensation  und  Verdunstung  geschieht 
also  im  großen  und  ganzen  innerhalb  9  Tagen, 
eine  außerordentlich  sehr  kurze  Zeit ,  wenn  man 
sie  mit  den  langen  Zeiträumen  vergleicht,  die  ver- 
gehen ,  bis  ein  Wasserteilchen  des  Ozeans  im 
Durchschnitt  zur  Verdunstung  gelangt.  Der 
Aufenthalt  des  Wasserdampfes  in  den  unteren 
Schichten  der  Atmosphäre  ist  aber  sehr  wahr- 
scheinlich noch  erheblich  geringer  als  die  oben 
angegebene  Zeit. 

Zur  Entscheidung  der  Frage,  wieviel  nun  von 
den  auf  die  feste  Erde  gelangenden  Niederschlägen 
dem  Ozean  und  wieviel  von  der  Verdunstung  des 
Festlandes  stammt,  eine  Frage,  die  praktisch  wohl 
die    wichtigste    im    Wasserhaushalt    der   Erde    ist. 


ist  es  notwendig,  auf  die  verschiedene  Verteilung 
der  Niederschläge  und  der  Verdunstung  auf  dem 
Ozean  und  dem  Festlande  hinzuweisen.  Der 
Austausch  zwischen  Verdunstung  und  Konden- 
sation ist  unstreitig  auf  dem  Meer  energischer 
wie  über  dem  Festlande.  Brückner  (s.  u.)  hatte 
die  jährliche  Verdunstungsmenge  auf  dem  Ozean 
zu  384000cbkm  berechnet,  die  neueren  Messungen, 
besonders  die  von  Lütgens'')  haben  aber  er- 
geben, daß  sie  wahrscheinlich  um  ^j^  größer  und 
mindestens  zu  450000  cbkm  veranschlagt  werden 
dürfen.  Die  Verdunstungsmenge  auf  dem  festen 
Lande  wird  im  Mhtel  auf  81000— 82  oco  cbkm 
angenommen.  Diese  Zahl  ergibt  sich,  wenn  man 
von  der  durchschnittlichen  jährlichen  Niederschlags- 
menge diejenige  Wassermenge  abzieht,  welche  die 
Flüsse  dem  Meere  zutragen.  Letztere  Menge  be- 
läuft sich  auf  Grund  von  Messungen  in  52  Fluß- 
gebieten, welche  zusammen  28  "/„  des  Kontinents 
ausmachen,  nach  Fritzsche  auf  31000  cbbm. 
Die  jährliche  Niederschlagsmenge  auf  dem  Fest- 
lande beträgt  bei  einer  durchschnittlichen  Regen- 
höhe von  jährlich  75  cm  etwa  Ii2000cbkm,  wo- 
raus eben  durch  Subtraktion  jene  Zahl  für  die 
Verdunstungsmenge  sich  ergibt.  Danach  ist  die 
Verdunstung  auf  dem  Meere  gleichmäßig  auf  das- 
selbe verteilt,  auf  derselben  Fläche  etwas  mehr 
als  doppelt  so  groß  wie  auf  dem  festen  Lande. 
Auf  Grund  der  damals  bekannten  Messungen 
über  die  Abflußhöhen  sprach  Brückner  in 
seinem  ersten  Vortrag  die  Überzeugung  aus,  daß 
wahrscheinlich  -,'3,  sicher  mehr  als  die  Hälfte  des 
Landregens  aus  Wasserdampf  entsteht,  welcher 
den  Landflächen  entstammt.  In  einem  Vortrag, 
den  derselbe  am  31.  Januar  1905  am  Institut  für 
Meereskunde  zu  Berlin  hielt,  ^)  kommt  er  zu  dem 
Ergebnis,  daß  sogar  volle  '^l^  des  gesamten  Regen- 
falls der  peripherischen  Landflächen,  d.  h.  der 
Teile  des  festen  Landes,  die  oberflächlichen  Abfluß 
besitzen,  durch  die  eigene  Verdunstung  des  Fest- 
landes gedeckt  werden.  Spätere  Berechnungen, 
die  sich  auf  neuere  Zusammenstellungen  des  Be- 
obachtungsmaterials durch  Fritzsche  stützen, 
ergaben,  daß  der  durchschnittliche  Regenfall  auf 
den  zum  Meer  abwässernden  Landflächen  um  etwa 
'Ib  geringer  sein  muß,  als  Brückner  angenom- 
men hatte,  dem  entsprechend  auch  die  Land- 
verdunstung nicht  unerheblich  geringer  ist,  daß 
aber  der  oberflächliche  Landabfluß  nicht  unbe- 
deutend höher  erscheint.  Aber  auch  abgesehen 
davon,  daß  ein  vervollkommnetes  Beobachtungs- 
material natürlich  auch  genauere  Zahlenwerte  er- 


■)  Über    den    Kreislauf    des    Wassers.       Sitzungsber.    des 
Naturf.  Vereins   Klicinland-Weslfalen.     Bonn    1909. 


')  Ober  die  Herkunft  des  Regens.  Verh.  d.  7.  Internat. 
Geographen-Kongresses  Berlin  1899.  Teil  II,  S.  412  ff.  Ab- 
gediuckt  ist  dieser  Vortrag  auch  in  der  Geogr.  Zeitschr.  Bd.  VI, 
1900,  S.  89  ff. 

-)  Ergebnisse  einer  ozeanographischen  Forschungsreise 
in  dem  Atlantischen  und  dem  südöstlichen  Stillen  Ozean. 
Archiv  der  deutschen  Seewarte  XXXIV.  Jahrg.,  191 1,  Nr.  I. 
Hamburg   1911. 

ä)  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  Bd.  IV,  Nr.  26,  Jena  1905; 
ausführlicher  hat  Brückner  das  Thema  in  der  Geogr.  Zeit- 
schrift Bd.   XI,   Leipzig   1905,  S.  436  ff.  behandelt. 


N.  F.  Xm.  Nr.  38 


Natuiwisscnschaftliche  Wochenschrift. 


595 


geben  muß,  und  örtlich  wie  zeitlich  sich  außer- 
ordentlich große  Abweichungen  von  der  für  den 
Durchschnitt  aufgestellten  Bilanz  sich  ergeben 
haben,  haben  sich  gegen  die  von  Brückner  auf- 
gestellte Bilanz  des  Wasserkreislaufes  auf  der  Erde 
noch  nach  anderen  Richtungen  prinzipielle  Be- 
denken geltend  gemacht.  Das  eine  betrifft  seine 
Annahme,  daß  nur  so  viel  Wasserdampf  vom  Meer 
auf  das  Land  gebracht  wird,  wie  durch  die  Flüsse 
dem  Meer  wieder  zugeführt  wird,  das  andere  seine 
Voraussetzung,  daß  die  abflußlosen  Gebiete  der 
Erde,  die  von  dem  gesamten  P'estlande  immerhin 
etwas  mehr  als  20  °  ^  ausmachen,  von  dem  all- 
gemeinen Kreislauf  des  Wassers  ausgeschaltet  sein 
sollen. 

Meinard  US    hat    wohl    zuerst    nachdrücklich 
darauf   hingewiesen,    daß    die    jährlichen    Abfluß- 
mengen   der   Flüsse    durchaus    nicht   die  einzigen 
Wassermengen  darstellen,    welche   dem  Fesilande 
in  flüssiger  Form  geraubt  und  ins  Meer  überführt 
werden,   sondern  daß  in    Form  von  Wasserdampf 
eine  weitere  beträchtliche  Menge  diesen  Weg  geht. 
Es  kommen  hier  zunächst  die  abflußlosen  Gebiete 
in  Betracht,  deren  Niederschlagsmenge  auf  minde- 
stens 10  000  cbkm  veranschlagt  werden  muß.  Nimmt 
man    nun    an,    daß    etwa    nur  "5  von    ihnen  von 
Meereszufuhr  herstammt,   so  ergeben    sich  minde- 
stens   2000  cbkm.     Aus   den    peripherischen    Ge- 
bieten  tritt    mindestens    das   Doppelte    davon   als 
Wasserdampf  wieder  zum  Meer  zurück,  von  dem 
es    gekommen    ist.       Die    jährliche    Meereszufuhr 
kann  demnach  auf  rund  37000  cbkm  angenommen 
werden.     Dabei  wird  von  den  Wassermengen,  die 
auf   unterirdischem    Wege    zirkulieren,     und    von 
den  Wassermengen ,   die    im    festen  Zustand  vom 
Kontinent  in  den  Ozean  gelangen,   nur  deswegen 
abgesehen,  weil  wir  bisher  noch  keine  rechte  Vor- 
stellung  über   ihre    Größe    haben.      Daß    sie    mit 
einem  gewissen  Gewicht  in  die  Bilanz  des  Kreis- 
laufprozesses    des     Wassers      eingestellt     werden 
müssen,  unterliegt  keinem  Zweifel,  und  daher  sind 
auch    alle  Zahlen ,    die    das   Größenverhältnis   des 
Austausches  der  Wassermassen  zwischen  Ozean  und 
Festland  darstellen  wollen,  bisher  immer  nur  sehr 
problematisch    und    cum  grano    salis   aufzufassen. 
Dieser  Einwurf  gilt  auch  gegenüber  den  neueren 
Aufstellungen    von    Keller,     einen    wie    großen 
Fortschritt  sie  auch  gegenüber  früheren  bedeuten 
mögen.       Bleiben    wir    nun    einstweilen    bei    der 
allein    einigermaßen     feststehenden    Menge     von 
37 — 38  000  cbkm  stehen,  welcheim  jährlichen  Kreis- 
lauf im    Durchschnitt    zwischen  Meer  und  Konti- 
nent hin-  und  herwandern,  die  also  mehr  als  drei- 
mal so  groß    ist    als  die  in  der  Atmosphäre  fest- 
gehaltene   Wassermenge,    so    versteht    sich    ganz 
von   selbst,    daß   von   der    auf  den  Kontinent  im 
Durchschnitt  jährlich  niederfallenden  Regenmenge 
ein  sehr  beträchtlicher  Teil  ozeanischen  Ursprungs 
sein  muß.   Es  ist  aber  ganz  unmöglich  anzugeben, 
wieviel  von  jedem  einzelnen  I-'all  von  den  Nieder- 
schlägen von   Ozeandampf  oder  Landverdunstung 
herrührt,  da  dieses  Verhältnis  zeitlich  wie  örtlicli 


sehr  großen  Schwankungen  unterliegt.  Inwieweit 
die  vertikale  Gliederung  des  Festlandes  an  der 
verschiedenen  Inanspruchnahme  des  Ozeandampfes 
wie  den  Niederschlägen  des  Festlandes  beteiligt 
sind,  darüber  gibt  H  a  n  n '  s  groß  angelegtes  Lehr- 
buch der  Klimatologie  einigermaßen  ausreichend 
Bescheid.  Keller  hat  in  seiner  zweiten  Ab- 
handlung (1914)  auf  Grund  des  neuesten  Be- 
obachtungsmaterials die  bei  Hann  niedergelegten 
Resultate  zu  vervollkommnen  gesucht;  er  gibt  aber 
selbst  zu ,  daß  sich  eine  Karte,  auf  welcher  die 
Bezirke  der  Meereszufuhr  auf  dem  Festland  ein- 
gezeichnet werden  könnten,  bisher  noch  nicht 
konstruierbar  ist  und  daß  seine  darauf  bezüglichen 
Ausführungen  noch  sehr  der  Ergänzung  bedürfen. 
Soviel  scheintschon  heute  festzustehen, daß  klimatisch 
Afrika  in  der  Hauptsache  eine  Provinz  des  Indischen 
Ozeans,  Europa  und  Amerika  des  Atlantischen 
Ozeans  ist,  während  in  Asien  sich  beide  Einfluß- 
sphären ungefähr  das  Gleichgewicht  zu  halten 
scheinen  und  der  Stille  Ozean  eigentlich  nur  für 
den  australischen  Kontinent  in  Betracht  kommt. 
Ein  weiteres  großes  Verdienst  hat  sich  Keller 
durch  exakte  Berechnungen  darüber  erworben,  in- 
wieweit die  Temperaturverhältnisse  eines  Gebietes 
für  die  Ursprungsquelle  der  Niederschläge  eine 
ausschlaggebende  Rolle  spielen. 

Schon  in  seiner  ersten  Abhandlung  (Berlin  1906) 
war  Keller  zu  dem  Resultat  gekommen,  daß  für 
die  Flußgebiete  der  Memel,  Pregel,  Weichsel,  Oder, 
Elbe,  Weser,  Ems,  Teile  von  Rhein  und  Donau, 
also  ein  Gebiet,  welches  Deutschland,  Westrußland, 
Österreich  und  der  Schweiz  bis  zum  Hauptkamm 
der  Alpen  umfaßt  und  ca.  834  OGO  qkni  groß  ist, 
im  Winterhalbjahr  der  Anteil  an  den  Nieder- 
schlägen ,  welche  durch  Kondensation  des  vom 
Meer  her  einem  Flußgebiete  zugeführten  Wasser- 
dampfes entsteht,  größer  ist  als  der  Anteil,  der 
durch  Kondensation  des  im  Lande  verdunsteten 
Wasserdampfes  erzeugt  wird,  während  im  Sommer- 
halbjahr das  Umgekehrte  der  Fall  ist.  Weitere 
Untersuchungen,  welche  sich  auf  den  Abflußkoeffi- 
zienten einer  größeren  Anzahl  über  die  ganze 
Erde  verbreiteten  Stromsysteme  bezogen,  ergaben, 
daß  sowohl  die  Aufnahmefähigkeit  der  Luft  für  Feuch- 
tigkeit, die  Kondensation  und  die  Verdunstung  des 
Wasserdampfes  wesentlich  in  erster  Linie  von  der 
Höhe  der  Lufttemperatur  abhängen.  Um  zunächst 
einmal  einen  allgemeinen  Überschlag  über  die 
Einflußzonen  der  Lufttemperatur  zu  gewinnen, 
unterscheidet  Keller  neuerdings  (19 14)  drei 
klimatische  Hauptgruppen. 

I.  Tro  p  e  ngebiet  e  mit  durchschnittlich  24" 
Mitteltemperatur,  2.  gemäßigte  warme  Fluß- 
gebiete mit  durchschnitthch  10"  Mitteltemperatur 
und  3.  kalte  F'luß gebiete  mit  durchschnittlich 
etwa  1,6"  Mitteltemperatur.  Selbstverständlich  hat 
die  Abgrenzung  dieser  drei  Arten  klimatischer  Fluß- 
gebiete sehr  viel  Willkürliches  an  sicli,  sie  richtet 
sich  eben  nach  dem  vorhandenen  Beobachtungs- 
material, das  sich  auf  70  I'"lüsse  verteilt,  deren  Strom- 
gebiet ungefähr  28''/u  der  Festlandfläche  der  Erde  um- 


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Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


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faßt.  Man  ersieht  schon  daraus,  daß  alle  Schluß- 
folgerungen, die  Keller  daraus  zieht,  nicht  im 
entferntesten  exakt  sein  können  und  es  auch  gar 
nicht  sein  wollen,  daß  es  sich  vielmehr  lediglich 
um  skizzenhafte  Darstellung  handelt ,  welche 
wenigstens  vorläufig  die  Grundlage  der  Erörterung 
bilden  können,  bevor  uns  eben  bessere  und  um- 
fassendere Beobachtungen  zur  Verfügung  stehen. 
Gegenüber  der  bekannten  Zusammenstellung 
Fritzsche's  von  52  Flußgebieten,^)  welche  üb- 
rigensKeller  für 28 Flußgebiete  ohne  weiteres,  für 
10  andere  mit  geringen  Abänderungen  benützt 
hat,  bedeutet  die  Kelle  r'sche  Zusammenfassung  be- 
sonders deshalb  einen  wichtigen  Fortschritt ,  als 
sie  namentlich  auch  ein  Anzahl  kalter  und  tropischer 
Flußgebiete  einbeziehen  konnte,  über  welche  früher 
noch  nichts  Näheres  bekannt  war. 

Indem  für  jedes  einzelne  Flußgebiet  graphisch 
festgestellt  wurde,  welcher  Teil  der  mittleren 
Niederschlagshöhe  zum  Abfluß  kommt,  ist  Keller 
in  die  Lage  versetzt,  die  Hauptlinien  der  Meeres- 
zufuhr für  jedes  der  behandelten  Flußgebiete  zu 
zeichnen. 

Weil  die  Zunahme  der  Meereszufuhr  natrgemäß 
auf  das  Maß  der  Landverdunstung  günstig  ein- 
wirkt, —  weil  ja  diese  indirekt  doch  wieder  auf 
jene  zurückgeführt  werden  muß,  so  muß  bei 
steigender  Niederschlagshöhe  die  Meereszufuhr 
einen  immer  größer  werdenden  Prozentsatz  ein- 
nehmen, bis  eine  Grenze  erreicht  ist,  von  der  ab 
das  weitere  Wachsen  des  Niederschlags  nur  noch 
von  der  zunehmenden  Meereszufuhr  abhängt, 
während  die  Verdunstung  von  der  festen  Landfläche 
aus  einen  sich  gleich  bleibenden  konstanten 
Wert  ergibt.  Für  kalte  Flußgebiete  ist  die  Grenze 
18,  für  gemäßigte  warme  55  und  für  Tropengebiete 
iio  cm.  Der  gesamte  jährliche  Niederschlag 
dieser  Gebiete  beträgt  im  Durchschnitt  36  bzw. 
85  bzw.  185  cm.  So  kommen  z.B.  beiden  gemäßigt 
warmen  Flußgebieten  bei  einem  mittleren  Nieder- 
schlag von  90  cm  55  cm  auf  die  Meereszufuhr, 
35  cm  auf  die  Landverdunstung,  bei  einem  mittleren 
Niederschlag  von  60  cm  dagegen  1 2  auf  die  Meeres- 
zufuhr, 48  cm  auf  die  Landverdunstung.  Es  ist 
ohne  weiteres  klar,  daß  jene  Grenzzahlen  sich  nur 
auf  die  Durchschnitsleistungen  beziehen,  von 
freien  Wasserflächen  und  auch  von  Landflächen 
wird  unter  besonders  günstigen  Bedingungen  die 
Verdunstung  auch  erheblich  größer  sein  können. 
Weicht  die  Mitteltemperatur  eines  Flußgebietes 
von  den  oben  mitgeteilten  Grenzfällen  erheblich 
ab,  so  weicht  auch  seine  Abflußquote  und  damit 
auch  der  Anteil  der  Meereszufuhr  erheblich  von 
jenen  Mittelzahlen  ab;  dies  ist  unter  den  aufge- 
führten Flußsystemen  z.  B.  mit  dem  La  Plata  der 
Fall,  dessen  Gebiet  größtenteils  den  Tropen  an- 
gehört, während  seine  mittlere  Temperatur  nur  etwa 
17 — 18"  beträgt,  also  erheblich  geringer  ist  als 
sonst  für  Tropengebiete  angenommen  ist. 


')  R.   Frilzsche,  Niederschlag,  Abfluß  und  Verdunstung 
auf  den  Landfläclien  der   Erde.     Halle  a.  S.   1906. 


Für  kalte  Flußgebiete  ist  dies  Abflußverhältnis 
ausnahmslos  hoch,  am  niedrigsten  bei  der  Piirteen- 
wirta  (Pinnland)  50,  am  höchsten  beim  Skianfluß 
84.  Für  gemäßigt  warme  Flußgebiete  schwankt 
das  Verhältnis  zwischen  Murray  (11)  und  Rhein 
(73),  bleibt  aber  meist  unter  50  %.  Die  größten 
Extreme  kamen  dagegen  in  den  Tropengebieten 
vor,  denn  während  beim  San  Carlos  in  Mittel- 
amerika das  Verhältnis  75  ist,  sinkt  es  beim  Nil 
auf  4,2  "/„ ,  ein  ganz  abnormes  Verhalten,  wovon 
noch  weiter  unten  die  Rede  sein  wird.  Zu  ähn- 
lichen Resultaten  ist  auch  Oldekop*)  gekom- 
men. Er  sagt,  daß  es  für  jedes  Flußgebiet  mit 
genügend  großen  Niederschlägen  eine  Grenze  der 
Landverdunstung  gibt,  nach  dessen  Erreichung 
das  weitere  Wachsen  des  Niederschlags  nur  noch 
von  der  Zunahme  der  Meereszufuhr  abhängt.  Er 
unterscheidet  weiter  2  Typen  von  Plußgebieten, 
solche,  in  denen  die  jährliche  Verdunstung  weit 
geringer  ist  als  das  mögliche  Maximum  der  Ver- 
dunstung unter  den  gegebenen  klimatischen  Ver- 
hältnissen und  solche,  bei  dem  die  wirkliche  Ver- 
dunstung das  Maximum  völlig  oder  wenigstens 
nahezu  erreicht.  Nach  den  von  ihm  beige- 
brachten Beispielen  entsprechen  den  erstgenannten 
P^lußgebieten  die  gemäßigt  warmen,  den  an  zweiter 
Stelle  genannten  die  kalten  Flußgebiete  Keller's, 
während  Oldekop  auf  die  tropischen  Plußgebiete 
bei  seiner  Auseinandersetzung  keine  Rücksicht  zu 
nehmen  scheint.  Alle  Zahlenangaben  über  die 
Bildung  des  Wasserhaushaltes  auf  der  Erde  wer- 
den aber  so  lange  immer  in  der  Luft  schweben, 
als  wir  über  die  Beziehungen  des  Grundwassers 
zum  Ozeanwasser,  die  ja  schon  vorhanden  sind 
(s.  o.),  wenn  sie  auch  in  einem  früheren  Zustand 
der  Erde  innigere  gewesen  sein  mögen,  und  über 
die  Herkunft  und  Mengen  des  Grundwassers  über- 
haupt noch  so  gut  wie  gänzlich  im  Dunkeln 
tappen.  Namentlich  macht  sich  diese  Unkenntnis 
für  die  Wasserbilanz  der  abflußlosen  Gebiete  der 
Subtropen  geltend  und  es  ist  als  ein  glücklicher 
Umstand  zu  bezeichnen,  daß  die  ausgiebigen 
Versuche  einer  künstlichen  Bewässerung  dieser 
Gegenden  gegründete  Aussicht  bieten ,  unsere 
grundlegenden  Kenntnisse  des  Verlaufes  und  der 
Menge  des  Grundwassers  auf  einen  höheren 
Standpunkt  zu  heben.  Energisch  tritt  Keller 
der  Anschauung  Brückner's  entgegen,  als 
nälimen  die  abflußlosen  Gebiete  an  der  allgemei- 
nen Zirkulation  des  Wassers  auf  der  Erde  nicht 
teil.  Die  Abflußlosigkeit  eines  Gebietes  bedeutet 
nach  Keller  keineswegs  irgendeinen  Grenzfall 
im  Kreislaufprozeß,  sie  hängt  keineswegs  mit 
einem  Mindestmaß  der  Niederschläge  allein  zu- 
sammen, sondern  ist  in  der  Hauptsache  die  Wir- 
kung bestimmter  Windrichtungen,  welche  die  Ein- 
fuhr ozeanischen  Wasserdampfes  zu  gewissen 
Jahreszeiten  auf  ein  Minimum  herabdrücken,  also 

')  Verdunstung  an  Flußgebieten.  Sammlung  von  Arbeiten, 
ausgeführt  von  Studenten  am  Met.  Observatorium  der  K.  Uni- 
versität zu  Jurjew  (Dorpat),  redigiert  von  Prof.  Dr.  B.  Sres- 
newski,  Bd.  IV.     Jurjew    1911. 


N.  F.  XIII.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


597 


wesentlich  eine  Funktion  der  Luftdruckverteilung. 
Der  Austausch  zwischen  Ozean  und  Festland  ge- 
schieht in  abflußlosen  Gebieten  eben  nicht  durch 
oberflächlichen  Abfluß,  sondern  durch  Verdunstung 
mit  Vermittlung  der  Atmosphäre. 

So  besteht  in  dem  zum  Hinzugsgebiet  des  ab- 
flußlosen Kaspisces  gehörigen  Wolgagebiet  etwa 
',\j  der  Niederschlagshöhe  aus  Meereszufuhr,  die 
wohl  zum  bei  weitem  größten  Teil  aus  dem  At- 
lantischen Ozean  stammt,  und  dasselbe  ist  sicher 
mehr  oder  weniger  bei  allen  Zuflüssen  des  Kaspi- 
sees  der  Fall. 

Wie  wenig  es  darauf  ankommt,  ob  ein  Gebiet 
seinen  Überschuß  an  Feuchtigkeit  durch  ober- 
flächlichen Abfluß,  oder  in  Form  von  Wasser- 
dampf abgibt,  erkennt  man  leicht,  wenn  man  sich 
einen  Augenblick  überlegt,  wodurch  denn  der 
Wasserhaushalt  der  vielen  kleinen  abflußlosen 
Seen  im  Gebiet  der  ballischen  Seenplatte  in 
Nordostdeutschland,  z.  B.  auch  der  Endmoränen- 
zug, der  Hinterpommern  und  Westpreußen  trennt, 
von  denen  ihrer  Nachbarn  untersclieidet,  die 
einen  obei  flächlichen  Abfluß  besitzen.  Beide 
vergrößern  bei  starken  Niederschlägen  ihre  Spiegel- 
fläche und  verkleinern  sie  bei  anhaltender  Dürre, 
gespeist  werden  sie  in  beiden  Fällen  in  gleicher 
Weise  durch  Meereszufuhr  und  Landverdunstung, 
da  die  klimatischen  Bedingungen  für  beide  Arten 
von  Seen  ja  die  gleichen  sind.  Der  einzige  Unter- 
schied besteht  darin,  daß  die  Periode  des  hohen 
resp.  tiefen  Wasserstandes  bei  abflußlosen  Seen 
eine  längere,  die  Amplitude  der  Wasserstands- 
schwankungen eine  intensivere  ist,  als  bei  Seen 
mit  Abfluß.  Der  Unterschied  in  den  Niveauflächen 
ist  aber  in  den  seltensten  Fällen  so  groß,  daß 
etwa  bei  hohem  Wasserstand  eine  erheblichere 
Landverdunstung  —  im  Gegensatz  zur  Meeres- 
zufuhr —  Platz  greifen  kann,  als  bei  niedrigem 
Wasserstand.  Der  Austausch  zwischen  Kontinent 
und  Ozean  ist  langsamer  in  abflußlosen  Gebieten 
als  in  Gebieten  mit  Abfluß.  Das  ist  eigentlich 
der  einzige  klimatische  Unterschied,  so  außer- 
ordentlich tief  eingehend  wirtschaftliche  Folgen 
diese  Verlangsamung  auch  haben  mag.  Nicht 
Probleme  des  Wasserhaushaltes  der  Erde,  sondern 
der  morphologischen  Beschaffenheit  ihrer  Ober- 
fläche und  der  petrographischen  ihrer  obersten 
Rinde  beherrschen  das  Gebiet  der  Abflußlosigkeit. 
Nur  bei  ganz  großen  abflußlosen  Seen,  wie 
beim  Kaspisee,  mögen  sich  Ereignisse  abspielen, 
welche  scheinbar  einen  Ausnahmezustand  dar- 
stellen. So  empfangen,  worauf  auch  Keller  auf- 
merksam macht,  die  im  Süden  dieses  Sees  ge- 
legenen fruchtbaren  persischen  Provinzen  am  Nord- 
abhang des  Eibursgebirges  ihre  Feuchtigkeit  ohne 
Zweifel  in  erster  Linie  von  den  Verdunstungsmengen 
jenes  Riesensees,  während  er  selbst  in  der  Haupt- 
sache von  seinen  nördlichen  und  westlichen  Zu- 
flüssen gespeist  wird.  Hier  liegt  also  die  Sache 
so:  Der  Kaspisee  empfängt  ozeanische  Wasser- 
dämpfe indirekt  durch  seine  westlichen  und  nörd- 
lichen   Zuflüsse,    gibt    einen    Teil    seines    Über- 


schusses an  seine  südliche  .Umgebung  ab,  wäh- 
rend Zu-  und  Abfuhr  in  entgegengesetzter  Rich- 
tung unbedeutend  sind.  Wir  haben  hier  also  so- 
zusagen einen  etwas  verwickelten  Kreislauf  2.  Ord- 
nung vor  uns,  der  eben,  wenn  auch  nicht  in  diesem 
Umfang  und  dieser  Regelmäßigkeit,  sich  fast 
überall  auf  der  Erde  abspielt  und  auch  das  Kaspi- 
seegebiet  nimmt  sicherlich,  wenn  auch  mit  be- 
deutenden Umwegen  und  erheblichem  Zeitverlust, 
am  großen  Kreislauf  des  Wassers  vom  Meere 
zum  Festland  und  zurück  ins  Meer  ebensogut 
teil  wie  andere  Landschaften  der  Erde. 

Zuletzt  müssen  wir  uns  noch  etwas  mit  den 
natürlichen  Reserven  an  Wasservorräten  beschäf- 
tigen, welche  dem  Festland  zur  Verfügung  stehen 
für  solche  Zeiten,  in  denen  der  große  Bruder 
Ozean  uns  nicht  genug  von  seinem  Überfluß  ab- 
geben will,  sondern  zu  streiken  droht.  Daß  feuch- 
tere Zeiten  mit  trockneren  wechseln  steht  ohne 
allen  Zweifel  fest.  Ob  dieser  Wechsel  in  Perioden 
auftritt,  die  etwa,  wie  dies  Brückner  wahr- 
scheinlich zu  machen  sucht,  für  die  ganze  Erde 
einen  Zeitraum  von  35  Jahren  oder  für  die  ver- 
schiedenen Gebiete  der  Erde  einen  verschiedenen 
Zeitraum  umfassen,  zu  welcher  Anschauung  ich 
mich  persönlich  bekenne,  wollen  wir  hier  uner- 
örtert  lassen,  auch  nicht  die  l<"ragc  anschneiden, 
ob  etwa  die  Erde  seit  der  Beendigung  der  Eiszeit 
in  einem  ununterbrochenen  Austrocknungsprozeß 
begriffen  ist,  welche  erst  jüngst  Leo  Berg  in 
einer  ausgezeichneten  Arbeit  *)  entschieden  zu 
verneinen  versucht  hat. 

Schickt  uns  der  Ozean  eine  den  Durchsclinitt 
erheblich  überragende  Portion  Wasserdampf  über 
den  Hals,  so  vermag  das  feste  Land  diesen  Über- 
schuß in  drei  Sparkassen,  wie  sich  Keller 
hübsch  ausdrückt,  anzulegen.  Bei  durchweg 
günstiger,  d.  h.  kühler,  Witterung  kann  es  ihn 
aufspeichern  in  P'orm  von  Schnee  und  Eis  auf 
unseren  Gebirgen ,  besonders  aber  in  den  Polar- 
gebieten. Einen  weiteren  Teil  bringt  sie  mühelos 
in  ihrer  obersten  Rinde  als  Grund-  oder  Boden- 
wasser unter  und  endlich  vermögen  unsere  Seen, 
sowohl  die  abflußlosen  wie  auch  diejenigen,  welche 
einen  Oberflächenabfluß  besitzen,  einen  nicht  un- 
beträchtlichen Teil  des  Ozeansegens  in  sich  auf- 
zunehmen ,  sofern  er  sich  nur  nicht  zu  plötzlich 
und  zu  ausgiebig  ergießt.  Tritt  nämlich  letzterer 
Umstand  ein,  so  nützt  uns  die  P'reigebigkeit  des 
Ozeans  wenig,  denn  er  füllt  damit  nur  seine 
eigenen  Taschen;  die  Erdrinde  kann  den  Über- 
schuß nicht  mehr  fassen,  sondern  gibt  ihn  in 
Gestalt  von  Quellen  und  Flüssen  sehr  bald  dem 
Ozean  sogar  mit  Zinsen  wieder  zurück  und  die 
bis  zu  einer  gewissen  Höhe  angefüllten  Seen  ver- 
stärken bei  weiterer  Zufuhr  nur  die  Abflußmengen 
der   P'lüsse,    die    sich    mit  dem  Ozean  vermähjen. 

Aber   selbst    unter   günstigen  Umständen   ver- 


^)  Das  Problem  der  Klimaänderung  in  geschichtlicher 
Zeit.  Geogr.  Abhandlungen  herausg.  von  l'rof.  Dr.  A.  Penck 
in  Berlin.     Bd.  X,  Heft  2.     Leipzig  und  Berlin   1914. 


59« 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  38 


mögen  diese  Sparkassen,  falls  die  Wiederauffiillung 
vom  Ozean  her  zu  stocken  droht,  nur  verhältnis- 
mäßig   kurze    Zeit     mit     ihrem    Überschuß    das 
Manko  in  der  Bilanz  des  Kreislaufes  des  Wassers 
zu  decken.   Gewöhnlich  macht  man  sich  von  dem 
Fassungsvermögen    der    Festlandsvorratskammern 
ozeanischer   Zufuhr    eine    sehr    übertriebene  Vor- 
stellung.    In  meiner  S.  593    zitierten  Arbeit  über 
den    gesamten    Wasservorrat    der   Erde    habe    ich 
die  Menge    des    in    der    Erdrinde    zirkulierenden 
Grundwassers    in    günstigem    Falle    auf  etwa   das 
Doppelte  bis  Dreifache  der  jährlichen  Niederschlags- 
menge, also  auf  250000  cbkm,  geschätzt.    Das  ist 
nur  etwa  6-7  mal  mehr  als  der  im  Durchschnitt  jähr- 
lich dem  Festlande  zugeführte  ozeanische  Wasser- 
dampf.     Ebensoviel    Wasser,    d.    h.    eine    Viertel 
Million  cbkm,  fassen  etwa  die  Binnenseen  der  Erde 
zusammen  genommen.    Dieses  Volumen  kann  aber 
keineswegs    als  Reservoir    für    solche    Zeiten    be- 
trachtet werden,  in  denen  der  Ozean    zu  streiken 
droht,    denn    der   größte  Teil    dieser  Masse  fheßt 
nicht   ab,    sondern    muß   als    stehendes  Gewässer 
betrachtet   werden.      Das    eigentliche    Retentions- 
vermögen    der   Binnenseen    beträgt    höchstens    so 
viel    als    der    Ozean     jährlich     im    Durchschnitt 
Wasserdampf   an    den    Kontinent    abgibt.      Diese 
beiden  Sparkassen  können  also  weder  ein  großes 
Kapital  aufnehmen,    noch    auch    infolgedessen    in 
Notstandszeiten    wieder   abgeben.      Beträchtlicher 
ist  immerhin    das  Reservekapital  an  Ozeandampf, 
das   in    den    Eismassen   der    arktischen  Gegenden 
aufgespeichert    ist    und    eventuell    zur   Verfügung 
steht.     Ich  habe  es   auf  Grund    der  Angaben  von 
Heß     und    Meinardus     im    ganzen     auf   etwa 
4  Miil.  cbkm  Eis  entsprechend  3  V2  Mill.  cbkm  Wasser 
geschätzt,    also    eine    Menge,    welche    etwa    das 
Hundertfache     der    durchschnittlichen     jährlichen 
Ozeanfracht  beträgt.     Man  darf  aber    über  dieser 
erfreulichen    Aussicht    nicht    vergessen,    daß    der 
Austausch    zwischen    diesen    Eismassen    und   dem 
Ozean   sich    in    der  Hauptsache    auf  ein  isoliertes 
Gebiet  beschränkt,  das  mit  der  übrigen  Ökumene 
nur  in  sehr  losem  Zusammenhange   steht.     Bleibt 
als  letztes  noch  die  Schneemengen,    welche    teils 
dauernd,    teils    während    der    kühleren    Jahreszeit 
einen  nicht  unbeträchtlichen  Teil   des  festen  Lan- 
des bedecken.     Nehmen    wir   an,    daß   dies   etwa 
'/^  der  Landfläche  sei,  so  erhalten  wir,  eine  durch- 
schnitdiche    Schneedecke    von    25  cm    gerechnet, 
für  die  ganze  Erde  noch  nicht   1000  cbkm  Schnee 
und  setzen  wir  den  durchschnittlichen  Wasserwert 
des  Schnees  zu  0,25,  so  repräsentiert  die  Schnee- 
decke   der    gesamten  Erde    nur  den  winzigen  Be- 
trag von    250  cbkm,    das  ist  weniger  Wasser   als 
der  einzige  Onegasee  in  Rußland  faßt  und  wenig 
mehr  als  das  Doppelte  des  Volumens  des  Genfer 
Sees.    Und  selbst,  wenn  wir  das  Zehnfache  dieses 
Betrages  annehmen  wollten,  kämen  wir  doch  nur 
auf  2500  cbkm,  also  etwa  den   14.  Teil  des  jähr- 


lichen Betriebskapitals  des  Ozeans.  Also  auch 
mit  den  in  Form  von  Schnee  aufgespeicherten 
Wasservorräten  des  festen  Landes  ist  lange  nicht 
soviel  Staat  zu  machen,  wie  man  sich  gewöhn- 
lich einbildet. 

Ein  einziger  Hoffnungsstrahl  scheint  den  um 
den  Wasserhaushalt  magerer  Jahre  besorgt  in  die 
Zukunft  schauenden  Menschen  noch  zu  schimmern: 
Der  große  jüngst  verstorbene  Geologe  Sueß  hat 
bekanntlich  die  Quellen  in  zwei  Gruppen  einge- 
teilt, in  solche,  deren  Wasser  aus  der  Atmosphäre 
stammt,  die  er  vadose  nennt,  und  solche,  die, 
wie  der  Wasserdampf  der  Vulkanausbrüche,  ein 
Ergebnis  des  allmählichen  Entgasungsprozesses  des 
Magmas  der  Erde  sind  und  juvenile  genannt  werden. 
Nun  mag  man  immerhin  zugeben,  daß  alles  vadose 
Wasser  einst  juvenil  war,  aber  die  Experimente 
des  Genfer  Apothekers  B  r  u  n  i)  haben  es  in  hohem 
Maße  wahrscheinlich  gemacht,  daß  es  zurzeit  über- 
haupt gar  kein  juveniles  Wasser  mehr  gibt,  daß 
alles  Wasser  in  der  Erdrinde  vados,  d.  h.  aus  der 
Atmosphäre  stammt,  also  fiüher  schon  einmal  an 
die  Erdoberfläche  gekommen  ist.  Noch  sind 
diese  Untersuchungen  nicht  abgeschlossen,  weil 
sie  äußerst  kostspielig  sind,  aber  wir  müssen  mit 
großer  Wahrscheinlichkeit  mit  der  leidigen  Tat- 
sache rechnen,  daß  das  Erdinnere  kein  neues 
juveniles  Wasser  mehr  besitzt,  also  von  sich  aus 
nicht  in  der  Lage  ist,  den  einmal  \  orhandenen 
Wasservorrat  zu  vermehren.  Pessimisten  sind  so- 
gar der  Anschauung,  daß  sich  derselbe  stetig  ver- 
mindere (s.  o.),  doch  wollen  wir  diese  Frage,  wie 
gesagt,  hier  unerörtert  lassen. 

Es  scheint  also  so,  daß  uns  Menschen,  wenn 
wir  den  Wasserhaushalt  der  Erde  zugunsten 
einer  geordneten  Wasserwirtschaft,  die  in  Zeiten 
der  Not  zehren  soll  von  den  Überschüssen  der 
fetten  Jahre,  verbessern  wollen ,  nichts  anderes  übrig 
bleibt,  als  durch  künstliche  Maßregeln  einerseits 
den  übermäßigen  Abfluß  der  Flüsse  in  den  Ozean 
zu  verhindern,  andererseits  durch  Anlage  von 
Staudämmen  und  Staubecken  die  natürlich  vor- 
handenen stehenden  Gewässer  zu  vergrößern  und 
ihre  Zahl  zu  vermehren.  Die  zweckmäßigste  Ein- 
richtung aber  aller  wasserwirtschaftlichen  Maß- 
regeln, welche  der  Mensch  in  seinem  eigenen 
wohlverstandenen  Interesse  ergreift,  können  nur 
getroffen  werden  auf  Grund  einer  immer  mehr  in 
die  Tiefe  gehenden  Kenntnis  von  dem  wirklichen 
Wasserhaushalt  der  Erde,  von  dessen  völliger  Be- 
herrschung wir  noch  weit  entfernt  sind.  Aber 
alle  die  erwähnten  Arbeiten,  vor  allem  auch  die 
von  Keller,  haben  ihr  Scherflein  dazu  beige- 
tragen, uns  diesem  endgültigen  Ziele  mehr  und 
mehr  zu  nähern. 


1)    Recherches    sur    rexlialation    volcaniquc.       Genf   und 
Paris    191 1. 


N.  F.  Xlll.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


599 


[  Nachdruck  verboten. 


Stoßioiiisatiou. 

Sammclreferat  von  Dr.  Bräuer,  Lichtenberg. 


Freie  Elektronen  haben  die  Fähigkeit,  wenn 
sie  mit  genügend  großer  Geschwindigkeit  auf  ein 
neutrales  Molekül  auf[>rallen,  von  diesem  ein  anderes 
Elektron,  also  ein  masseloses  Elektrizitätsatom,  ab- 
zuspalten; die  Masse  des  Moleküls  bleibt  dabei 
natürlich  mit  dem  entsprechenden  Betrage  positiver 
Elektrizität  geladen  als  positives  Ion  zurück.  Läßt 
man  z.  B.  Kathodenstrahlcn,  die  ja  nichts  anderes 
sind  als  ein  Strom  rasch  fliegender  Elektronen, 
durch  ein  dünnes  Aluminiumblättchen,  ein  sog. 
Lcnard'sches  Fenster,  aus  dem  Entladungsrohre, 
in  dem  sie  erzeugt  wurden,  in  die  Atmosphäre 
austreten,  so  wird  die  Luft  in  der  Umgebung  des 
Fensters  stark  leitend;  ebenso  ionisieren  (^-Strahlen 
des  Radiums  jedes  Gas,  in  das  sie  eindringen,  sehr 
stark.  Da  diese  Ionisation  gewissermaßen  durch 
Stoß  erfolgt,  nennt  man  sie  Stoßionisation,  ob- 
wohl der  Vorgang  ein  rein  elektrischer  sein  muß 
und  wohl  mehr  Ähnlichkeit  mit  einem  kurz- 
dauernden Induklionsvorgange  hat  als  mit  einem 
Massenstoße  hat. 

Man  ist  nun  in  der  Lage,  wie  aus  den  unten 
beschriebenen  Versuchen  hervorgeht,  die  Be- 
dingungen, unter  denen  Stoßionisation  eintritt,  mit 
einer  für  Molekülvorgänge  sehr  großen  Genauigkeit 
zu  ermitteln  und  damit  ohne  erhebliche  hj'pothetischc 
Voraussetzungen  eine  der  wesentlichsten  und  inter- 
essantesten Eigenschaften  der  Materie  messend 
zu  verfolgen.  Die  wesentlichen  Versuche  in  dieser 
Richtung  sind  von  J.  Frank  und  G.  Hertz  am 
Berliner  Physikalischen  Universitätsinstitut  ausge- 
führt worden. 

Das  Prinzip  der  Messungen  ist  das  folgende : 
Man  erzeugt  Elektronen  mit  möglichst  geringer 
Anfangsgeschwindigkeit,  entweder,  indem  man  sie 
durch  ultrariolettes  Licht  aus  einer  Metallfläche 
auslöst,  oder  durch  einen  glühenden  Platindraht, 
der  ja  bekanntlich  spontan  Elektronen  geringer 
Geschwindigkeit  aussendet.  Das  letztere  Verfahren 
wurde  von  Frank  und  Hertz  angewandt.  Der 
Glühdraht  war  von  einem  zylindrischen  Draht- 
netze umgeben  und  zwischen  Glühdraht  und  Netz 
wurde  ein  elektrisches  Feld  erzeugt,  das  die  Elek- 
tronen beschleunigte  und  sie  mit  einer  Geschwindig- 
keit, welche  aus  dem  Potentialabfalle  im  Felde 
ohne  weiteres  bekannt  war,  wenn  keine  Geschwin- 
digkeitsverluste eintraten,  durch  die  Maschen  des 
Netzes   hindurchtrieb. 

Da  der  Glühdraht  elektrisch  geheizt  wurde, 
lag  zwischen  seinen  beiden  Enden  der  durch  den 
Ohmschen  Wiederstaud  erzeugte  Potentialunter- 
schied, und  das  P'eld  gegen  das  Drahtnetz  war 
um  diesen  Betrag  nicht  gleichmäßig.  Es  gelang 
aber  diesen  Potentialabfall  so  niedrig  zu  halten, 
daß  die  gewonnenen  Kurven  nur  unwesentlich  ab- 
geflacht wurden. 

Die  das  Netz  durchfliegenden  Elektronen  ge- 
langten in  ein  zweites  elektrisches  Feld,  erzeugt 
zwischen     dem    Drahtnetze    und    einem    äußeren 


Metallzylinder,  welches  dem  inneren  Felde  ent- 
gegengesetzt gerichtet  war,  die  Elektronen  also 
abbremste.  War  das  Gesamtgefälle  des  zweiten 
F'eldes  größer  als  das  des  ersten,  so  gelangte  selbst- 
verständlich kein  Elektron  bis  auf  den  Außenzylinder. 
Je  schwächer  das  äußere  Feld  im  Verhältnis  zu 
dem  inneren  gemacht  wurde,  desto  mehr  Elek- 
tronen kamen  durch,  je  nach  dem  Geschwindig- 
keitsverluste, den  sie  auf  ihrem  Wege  erfahren 
hatten.  War  der  Verlust  Null,  so  schnellte  der 
Strom  zwischen  Netz  und  Außenzylinder,  sowie 
das  äußere  F'eld  im  geringsten  das  innere  unter- 
schritt, von  Null  auf  seinen  höchsten  Wert  empor. 
Ging  aber  schon  bei  stärkerem  Außenfelde  ein 
Strom  zwischen  Zylinder  und  Netz  über,  so  war 
das  das  Anzeichen,  daß  Stoßionisation  stattfand,  daß 
also  positive  Ionen  gebildet  wurden,  die  soweit 
sie  sich  auf  der  Außenseite  des  Drahtnetzes  be- 
fanden, das  Feld  natürlich  auf  den  Außenzylinder 
trieb. 

Durch  Variieren  des  äußeren  und  inneren  Feldes 
war  man  also  in  der  Lage,  zu  verfolgen, 

1.  welchen  Teil  ihrer  kinetischen  Energie  die 
Elektronen  beim  Aufprallen  auf  die  Moleküle  des 
den  Apparat  erfüllenden  Gases  verlieren,  oder  mit 
anderen  Worten,  inwieweit  diese  Zusammenstöße 
elastisch  resp.  unelastisch  verlaufen, 

2.  wie  sich  dieser  Energieverlust  mit  der  Ge- 
schwindigkeit des  stoßenden  Elektrons  ändert, 

3.  bei  welcher  Geschwindigkeit  der  Stoß  eine 
Zertrümmerung  des  getroffenen  Moleküls,  also 
Stoßionisation,  zur  Folge  haben  kann, 

4.  bei  welchem  Bruchteil  der  mit  genügender 
Geschwindigkeit  erfolgenden  Zusammenstöße  nun 
auch  wirklich  Stoßionisation  eintritt, 

5.  mit  welchem  Energieverlust  für  das  Elektron 
eine  solche  Stoßionisation  verknüpft  ist. 

Diese  Fragen  sind  noch  keineswegs  alle  in 
vollem  Umfange  beantwortet.  Aber  die  Beobach- 
tungen geben  doch  schon  ein  in  den  Grundzügen 
geklärtes  Bild  der  Vorgänge,  wenn  auch  über  den 
Mechanismus  eines  Elektronenstoßes  noch  recht 
wenig  ausgesagt  werden  kann. 

Nun  die  Ergebnisse,  zunächst  bei  Feldern,  die 
nicht  stark  genug  sind,  um  ein  Elektron  zur  Stoß- 
ionisation zu  befähigen :  War  der  Apparat  gefüllt  mit 
Wasserstoff,  so  ergab  sich  ein  allmähliches  An- 
steigen des  im  äußeren  Kondensator  fließenden 
Stromes,  wenn  die  verzögernde  Spannung  immer 
kleiner  gemacht  wurde  im  Verhältnis  zu  der  be- 
schleunigenden Spannung  des  inneren  Feldes. 
Das  heißt,  die  Elektronen  traten  mit  sehr  ver- 
schiedenen Geschwindigkeiten  durch  das  Drahtnetz, 
sie  hatten  also  Energie  beim  Auftreffen  auf  die 
Gasmoleküle  verloren.  Verdeutlicht  wurde  dieses 
Resultat  noch  dadurch,  daß  die  Zahl  der  bis  zum 
Außenzylinder  durchgelangenden  Elektronen,  also 
der  gemessene  Strom,  mit  steigendem  Gasdrucke,  also 
bei    Vermehrung    der    Zusammenstöße    abnahm. 


6oo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  38 


Sauerstoff  ließ  überhaupt  nur  bei  sehr  kleinen 
Drucken  einen  Strom  entstehen.  0.,,CI,  Br,  I,  und 
ähnliche  Gase  besitzen  nämlich  hohe  „Affinität 
zum  Elektron",  sie  lagern  die  Elektronen  ihren 
Molekülen  an  und  bilden  schwere  negative  Ionen, 
die  entsjjrechend  starke  Reibung  der  Gase  erfahren. 
Ganz  anders  war  das  P>gebnis,  wenn  Edelgase, 
He,  Ar,  Ne,  auch  äußerst  reiner  Stickstoff  und 
Metalldämpfe  die  Kondensatoren  füllten.  Jetzt  stieg 
nämlich  der  Strom,  sowie  die  verzögernde  Spannung 
auch  nur  wenig  die  beschleunigende  unterschritt, 
rasch  an,  und  die  Auswertung  der  Beobachtungen 
ergab  keinen  nachweisbaren  Energieverlust.  Die 
Elektronen  werden  also  von  den  Molekülen  der 
elektropositiven  Gase  beim  Zusammenstoß  elastisch 
reflektiert  —  solange  ihre  Geschwindigkeit  nicht 
den  kritischen,  zur  Stoßionisation  befähigenden 
Wert  überschreitet.  Diese  Reflexion  ist  auch  direkt 
von  Frank  und  Hertz  verfolgt  worden,  indem 
die  seitwärts  abfliegenden  Elektronen  aufgefangen 
und  ihre  Zahl  und  Geschwindigkeit  gemessen 
wurden.  Auch  diese  Versuche  geben  als  einfachste 
Deutung  völlig  elastische  Stöße  bei  den  Edelgasen, 
bei  Hj  merkliche  Energieverluste,  z.  T.  auch  An- 
lagerung, bei  O.^  wohl  ausschließlich  Anlagerung 
des  Elektrons  an  das  neutrale  Molekül. 

Der  scharfe  Unterschied  zwischen  den  Gasen, 
Sauerstoff,  Chlor  usw.  und  Wasserstoff  einerseits, 
den  Edelgasen  und  Metalldämpfcn  andrerseits  ist 
auch  dann  ausgeprägt,  wenn  das  stoßende  Elektron 
die  zum  Ionisieren  befähigende  Geschwindigkeit 
besitzt.  Die  elektronegativen  Gase  sind  im  all- 
gemeinen leichter  zu  ionisieren  als  die  Edelgase. 
Drückt  man  die  Geschwindigkeit  des  Elektrons 
durch  das  T'eld  aus,  welches  es  frei  durchlaufen 
haben  müßte,  um  diese  Geschwindigkeit  zu  er- 
halten, so  beträgt  die  lonisierungsgesch  windigkeit  für 
Volt  Molekülradius,  cm 

He  20,5  o,g    ■10-'* 

Ne  16,  1,1 

Ar  12  1,35 

H.2  II  1,09 

O2  9  1.36 

N.,    ^         7,5  1,48 

In  der  Tabelle  ist  der  gaskinetisch  gewonnene 
Molekülradius  zugefügt.  Sein  Parallelgehen  mit 
der  lonisierungsspannung  ist  recht  interessant. 

Der  Moment ,  in  dem  das  innere  Feld  die 
lonisierungsspannung  überschreitet,  macht  sich  nun 
aber  nicht  etwa  in  einem  Anwachsen  des  Stromes 
bemerkbar,  sondern  in  einem  völligen  Ver- 
schwinden eines  Elektrizitätstransportes 
selbst  bei  sehr  schwachem  Gegenfelde.  Zunächst 
ist  dabei  zu  beachten,  daß  die  erzeugten  positiven 
Ionen  ja  ganz  überwiegend  dem  Einflüsse  des 
inneren  Feldes  unterliegen,  also  nach  dem  Glüh- 
drahtc  zurückgetrieben  werden.  Sie  bewirken  also 
keinen  Strom.  Daß  aber  auch  die  Elektronen, 
mögen  sie  nun  ionisiert  haben  oder  nicht,  auch 
nicht  mehr  gegen  das  schwächste  Feld  im  Außen- 
kondensator anzulaufen  vermögen,  beweist,  daß  sie 
allesamt    bei    einem    mit    mehr    als    lonisationsge- 


schvvindigkeit  erfolgenden  Zusammenstoß  ihre  ge- 
samte Energie  abgeben.  Diese  abgegebene  Energie 
dient  nun  in  einigen  F'ällen  dazu,  ein  anders  Elektron 
aus  dem  Molekülverbande  herauszuschlagen,  in 
anderen  tritt  sie  als  Strahlung  auf 

Diese  merkwürdige  Tatsache ,  daß  in  einem 
Edelgase  ein  stoßendes  Elektron ,  das  geringere 
als  lonisierungsenergie  besitzt  ohne  Energieabgabe 
reflektiert  wird,  daß  es  aber  seine  gesamte 
Energie  verliert,  sowie  diese  einen  ganz  bestimmten 
Wert  erreicht  hat,  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  der 
lonisationsvorgang  eintritt  oder  nicht,  deutet  natürlich 
sofort  auf  einen  Zusammenhang  mit  anderen  un- 
stetigen quantenhaften  Energieübertragungen,  wie 
sie  die  Theorie  der  Strahlung  fordert,  hin.  Nach 
ihr  soll  ja  bekanntlich  eine  Strahlung  erst  dann 
eintreten,  wenn  das  schwingende  Gebilde  die  Energie 
eines  Wirkungsquantums  =  h- )'  (h  Konstante,  v 
Eigenschwingungszahl)  besitzt.  Die  Energie  eines 
,, unelastisch"  stoßenden  Elektrons  ist  aus  den 
Messungen  bekannt,  und  es  liegt  nahe,  unter  v  die 
Eigenschwingung  des  gestoßenen  Moleküls  zu 
verstehen.  Von  dieser  Überlegung  ausgehend,  be- 
stimmten Frank  und  Hertz  die  lonisierungs- 
energie in  Ouecksilberdampf.  Das  Molekühl  des 
(Juecksilberdampfes  hat  ja  eine  typische  Eigen- 
schwingung bei  253,6  |((/(  (vgl.  das  Sanmiclreferat 
über  Resonanzstrahlung  in  Heft  16  d.  Ztschr.  1914) 
und  außerdem  zeigt  Hg-Dampf  ganz  das  Ver- 
halten eines  Edelgases.  Bei  den  Messungen  wurde 
das  verzögernde  Feld  konstant  gehalten,  und  zwar 
war  sein  Gefälle  niedriger  als  die  lonisierungs- 
spannung. Es  wurde  dann  der  durch  den  Außen- 
kondensator fließende  Strom  als  F"unktion  des 
beschleunigenden  Innenfeldes  festgestellt.  Die 
Messungen  ergaben  als  Kurven  dargestellt  äußerst 
saubere  Wellenlinien,  deren  Maxium  um  4,9  Volt 
voneinander  abstanden.  Das  ist  folgendermaßen 
zu  erklären:  Solange  das  beschleunigende  Feld 
schwächer  ist  als  das  verzögernde,  kommen  über- 
haupt keine  Elektronen  auf  den  Auffangezylinder. 
Bei  weitcrem  Steigen  des  Innenfeldes  zeigt  sich 
ein  wachsender  Strom,  der  in  dem  Moment,  wo 
die  lonisierungsspannung  erreicht  wird  und  die 
Elektronen  alle  bei  einem  Stoße  in  der  Nähe  des 
Drahtnetzes  auf  Null  abgebremst  werden,  von 
einem  Maximalwerte  auf  o  fällt.  Dann  wächst 
der  Strom  wieder,  bis  die  Elektronen  ein  zweites 
IMal  ionisieren  können,  wobei  sie  wieder  sämtlich 
ihre  ganze  Energie  abgeben  und  der  Strom  ver- 
schwindet. Es  ließ  sich  eine  ganze  Reihe  solcher 
Maxima  erhalten,  denn,  wie  angegeben,  ergab  sich 
die  lonisierungsspannung  zu  4,9  Volt,  also  niedriger 
als  bei  den  möglichen  störenden  Verunreinigungen. 
(Die  gleichen  Kurven  fielen  bei  Helium  weit 
weniger  schön  aus,  denn  bei  der  hohen  lonisierungs- 
energie dieses  Gases  (20,5  Volt)  wurde  natürlich 
jedes  fremde  Molekül  leichter  zertrümmert  als  die 
Heliummoleküle}.  Nun  wurde  dieser  Wert  4,9  Volt 
gleich  h-v  und  v  gleich  der  zur  Wellenlänge  253,6 
/(;«  gehörigen  Schwingungszahl  gesetzt.  Es  ergab 
sich  h  zu  6,59- lO""^'  erg  sec  ±  2"!^,  während  aus 


N.  F.  XIII.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  VVochcnsclirift. 


(  lO  I 


dem  Strahlungsgesetze   h  =  6,62-io~-'  folgt,    also  Quarzspektrograph    diese    Lienie    und    nur    diese 

eine    glänzende    Übereinstininiung.  Linie  als  Strahlung  des  von  Elektronen  getroffenen 

Um    diesem   schönen  Resultate    die    volle    Re-  Quecksilberdampfes    auf.     Man    kann    sagen,    daß 

deutung  zu    geben,    wurde    nun   versucht,  ob  sich  hier  zum  ersten  Male  direkt  durch  das  Experiment 

diese  Strahlung  von  253,6  fift  nicht  auch    optisch  eine     quantenhafte    Energieübertragung     nacho-e- 

nachweiscn  ließe.     Und  tatsachlich  zeichnete   der  wiesen  ist. 


Einzelberichte. 


Botanik.  Der  Antagonismus  der  Salze  und 
seine  Bedeutung  für  den  Pflanzenbau.  Man  ver- 
steht bekanntlich  unter  Antagonismus  der  Salze 
die  Eigenschaft  von  Mineralsalzen  die  giftige  Wir- 
kung anderer  Salze  herabzusetzen  oder  aufzuheben. 
Für  tierische  Organismen  sind  zuerst  von  Jac- 
ques Loeb,  für  Pflanzen  von  Osterh  out  phy- 
siologisch ausgeglichene  Lösungen  solcher  Salze 
hergestellt  worden,  d.  h.  Lösungen,  in  denen  die 
Salze  in  solchem  Verhältnis  vorhanden  sind,  daß 
sie  die  giftige  Wirkung  aufheben,  die  ihre  Bestand- 
teile für  sich  allein  ausüben  würden.  Natürliche 
Lösungen  dieser  Art  sind  das  Seewasser  und  das 
Blut.  Chas.  B.  Lipman  von  der  Universität  in 
Kalifornien,  dem  wir  bereits  eine  Reihe  interessanter 
Untersuchungen  über  diesen  Gegenstand  verdanken, 
hat  neuerdings  die  Bedeutung  studiert,  die  der 
Antagonismus  der  Salze  im  Erdboden  für  die 
höheren  Pflanzen  und  für  die  Bodenbakterien  hat. 
Da  sich  herausgestellt  hatte,  daß  die  mit  Wasser- 
kulturen erhaltenen  Ergebnisse  sich  meist  nicht 
auf  Bodenkulturen  anwenden  lassen,  so  führte 
Lipman  seine  Versuche  mit  Alkalisalzen  in 
Bodenkulturen  aus.  Durch  die  Untersuchung 
sollte  auch  festgestellt  werden,  ob  ein  Antagonis- 
mus zwischen  den  Anionen  bestehe.  Dieser  Punkt 
war  von  besonderem  Interesse,  da  in  gewissen 
Böden,  in  denen  sich  das  Alkali  in  schädlichem 
Maße  angehäuft  hat,  vorzüglich  verschiedene 
Natriumsalze  eine  Rolle  spielen  und  die  Moffnung 
bestand,  durch  genauere  Kenntnis  der  antagonisti- 
schen Beziehungen  eine  Waffe  in  dem  Kampfe 
um  die  Wiedergewinnung  solcher  Alkaliböden  zu 
erlangen.  Demgemäß  wurden  Topfkulturen  von 
Gerste  unter  Verwendung  verschiedener  Böden 
und  einer  großen  Zahl  verschiedener  Kombina- 
tionen von  Chlornatrium,  Natriumsulfat  und  Na- 
triumkarbonat angesetzt.  Der  Einfluß  der  Salze 
wurde  gemessen  an  dem  größeren  oder  geringeren 
Trockengewicht  der  geernteten  Gerstenpflanzen. 
Es  zeigte  sich  deutlich,  daß  die  geernteten  Pflan- 
zen ein  beträchtlich  geringeres  Trockengewicht 
hatten,  wenn  z.  B.  der  Boden  nur  0,25  "/„  Chlor- 
natrium enthielt,  als  wenn  ihm  außerdem  noch 
0,12 '7(,  Natriumkarbonat  zugesetzt  waren.  Kom- 
binationen von  Natriumkarbonat  und  Natrium- 
sulfat ließen  gleichfalls,  wenigstens  in  Konzen- 
trationen von  einer  gewissen  Stärke,  antagonisti- 
sche Wirkung  hervortreten.  Da  das  Kation  in 
allen  Fällen  das  gleiche  ist,  so  ergibt  sich,  daß 
ein  Antagonismus  zwischen  den  Anionen  besteht. 


Lipman  prüfte  aber  auch  den  Antagonismus 
zwischen  Kationen  durch  Kulturversuche,  in  denen 
dem  Boden  verschiedene  Mengen  von  Natrium- 
sulfat und  Kalksulfat  zugesetzt  wurden.  Wurde 
Kalksulfat  zu  einer  giftigen  Menge  Natriumsulfat 
gefügt,  so  zeigte  sich  eine  ausgesprochene  Besse- 
rung des  Bodenzustandes  für  die  Gerstenkultur, 
vorausgesetzt,  daß  das  zugesetzte  antagonistische 
Salz  in  genügender  Menge  verwendet  wurde,  wäh- 
rend kleine  Mengen  von  Kalksulfat  eher  die  toxi- 
sche Wirkung  des  Natriumsulfats  verstärkten. 

Diese  Versuche  lassen,  wie  Verf.  glaubt,  die 
Möglichkeit  erkennen,  der  giftigen  Wirkung  von 
Alkalisalzen  in  Böden  entgegenzuwirken. 

Angesichts  der  Bedeutung  der  Bakterienflora 
des  Bodens  für  das  Wachstum  der  höheren  Pflanzen 
zog  Lipman  auch  sie  in  Betracht,  indem  er 
untersuchte,  wie  die  Tätigkeit  der  ammonifizieren- 
den  und  der  nitrifizierenden  Bakterien  durch  die 
Salze  beeinflußt  würde.  Frühere  Versuche  hatten 
gezeigt ,  daß  0,2  %  Chlornatrium  und  0,9  "/„  Na- 
triumsulfat (jedes  für  sich)  auf  die  ammonifizieren- 
den  Bakterien  eines  leichten  kalifornischen  Sand- 
bodens toxisch  wirkten.  Bei  Anwesenheit  von 
0,2  "/„  Chlornatrium  in  einer  Bodenkultur  wurden 
beispielsweise  30,73  mg  Ammoniak  gebildet.  Ent- 
hielt der  Boden  aber  außer  0,2  "  „  Chlornatrium 
noch  0,3  "/o  Natriumsulfat,  so  wurden  37,10  mg 
Ammoniak-Stickstoff  erzeugt.  Bei  Hinzufügung 
von  0,7  %  Natriumkarbonat  zu  derselben  giftigen 
Menge  Chlornatrium  verdreifachte  sich  die  er- 
zeugte Menge  Ammoniakstickstoff  gegenüber  der- 
jenigen Menge,  die  in  dem  nur  Chlornatrium  ent- 
haltenden Boden  gebildet  wurde.  Eine  Boden- 
kultur mit  der  toxischen  Menge  Natriumsulfat 
(0.9  "(o)  ergab  nur  28,59  mg  Ammoniakstickstofi"; 
wurden  aber  0,6  "/„  Natriumkarbonat  hinzugefügt, 
so  bildeten  sich  45,38  mg  Ammoniakstickstoff. 

Auch  für  die  nitrifizierenden  Bakterien  wurde 
eine  ausgesprochene  Besserung  festgestellt  beim 
Zufügen  eines  toxischen  Alkalisalzes  zu  einem 
anderen.  Z.  B.  vermehrte  der  Zusatz  von  0,05  "/„ 
Natriumsulfat  zu  einer  Bodenkultur,  die  0,2  % 
Chlornatrium  enthielt,  das  Nitrifikationsvermögen 
desselben  Bodens  um  40  "/„,  und  die  Erhöhung 
dauerte  fort  selbst  bei  Anwendung  größerer 
Mengen  von  Natriumsulfat  (bis  0,15  %).  0,05  "/o 
Natriumkarbonat  waren  entschiedenen  toxisch ;  aber 
wenn  0,1  "/„  Natriumsulfat  hinzugefügt  wurden, 
stieg  das  Nitrifikationsvermögen  um  35  "'q.  Wurde 
Natriumsulfat  in  giftiger  Konzentration,  z.  B.  von 


6o2 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  38 


0>35  "luf  verwendet,  so  erhöhte  der  Zusatz  von 
0,05  "/(,  Natriumkarbonat  (gleichfalls  in  toxischer 
Konzentration)  das  Nitrifikatioiisvermögen  des 
Bodens  um  annähernd  25  %  über  das  desselben 
Bodens,  der  nur  die  erwähnte  Menge  Natrium- 
sulfat enthielt. 

Auch  diese  Ergebnisse  zeigen  deutlich  die 
antagonistifche  Wirkung  von  Anionen.  Am  stärk- 
sten ist  dieser  Antagonismus  bei  den  untersuchten 
Natriumsalzen  zwischen  dem  Karbonat  und  dem 
Chlorid,  weniger  stark  ist  er  zwischen  dem  Kar- 
bonat und  dem  Sulfat,  und  am  schwächsten  zwi- 
schen Chlorid  und  Sulfat.  Der  größte  Antagonis- 
mus wurde  beobachtet  zwischen  0,2  "/^  Chlorid 
und  0,7  "/o  Karbonat.  Die  Prozentzahlen  beziehen 
sich  alle  auf  Trockengewicht  des  Bodens.  (Proceed. 
Sog.  for  the  Promotion  of  Agricultural  Science 
1913,  8  pp.  Centralbl.  f.  Bakt.  Abt.  II,  Bd.  36, 
191 3i  P-  3^2—394).  F.  Moewes. 

Bakteriologie.  Einfluß  der  Schwermetallsalze 
auf  Ammoniiizierung  und  Nilrifizierung  im  Boden. 
Im  Laufe  von  Untersuchungen  über  den  Einfluß 
von  Hüttcnabfällen  auf  das  Wachstum  des  Getrei- 
des haben  C.  B.  Li  p  man  und  P.  S.  Burgeß 
auch  die  Einwirkung  von  Kupfer-,  Zink-,  Eisen- 
und  Bleisulfat  auf  die  Umwandlung  organischen 
Stickstoffs  im  Boden  in  Ammoniak  und  Nitrat, 
die  den  Pflanzen  als  Stickstofifquelle  dienen,  ge- 
prüft. Sie  fanden,  daß  diese  Salze  in  allen  Kon- 
zentrationen, von  50  bis  2500  Gewichtsteilen  in 
I  MiU.  Gewichtsteilen  des  trocknen  Bodens,  auf 
die  ammonifizicrende  Bakterienflora  eines  Sand- 
bodens von  Südkalifornien  giftig  wirkten.  Doch 
ist  die  Giftwirkung  verhältnismäßig  gering  und 
in  Konzentrationen  unter  0,1  "/^  zumeist  mehr  aus- 
gesprochen als  darüber.  Eine  stimulierende  Wir- 
kung üben  die  erwähnten  Metalle  in  keiner  Kon- 
zentration auf  die  ammonifizicrende  Flora  aus. 
Wohl  aber  ist  eine  solche  W'irkung  bei  der  nitri- 
fiziercnden  P'lora  zu  beobachten ;  sie  ist  häufig  so 
bedeutend,  daß  die  Nitratbildung  verdoppelt  wird. 
In  sehr  geringen  Konzentrationen  können  dieselben 
Metalle  auf  die  nitrifizierenden  Organismen  eine 
giftige  oder  gar  keine  Wirkung  ausüben.  Die 
stimulierende  Wirkung  war  noch  sehr  ausgesprochen 
bei  einer  Konzentration  von  0,15  "/(,,  der  höchsten 
hierbei  verwendeten  Konzentration  (davon  machte 
nur  Bleisulfat  eine  Ausnahme). 

Daß  zwischen  dem  Verhalten  der  nitrifizieren- 
den und  der  ammonifizierenden  Bodenflora,  von 
denen  die  eine  hinsichtlich  ihres  Rohmaterials  ver- 
mutlich von  der  anderen  abhängig  ist,  eine  so 
große  Verschiedenheit  besteht,  ist  überraschend 
und  schwer  erklärlich.  Im  ganzen  bewirken  die 
Schwermetallsalze  eine  Erhöhung  des  Nitratgehalts 
im  Boden;  denn  die  Ammonbildung  wird  höch- 
stens um  30  "/(,  herabgedrückt,  während  die  Nitrat- 
bildung, wie  erwähnt,  häufig  verdoppelt  wird. 
Am  meisten  stimulierend  wirkt  das  Kupfer,  dessen 
anregende  Wirkung  auf  das  Wachstum  höherer 
Pflanzen   ja  wiederholt    erörtert    worden    ist    und 


z.  T.  damit  zusammenhängen  dürfte,  daß  Kupfer 
in  den  Boden  gelangt.  Lipman  und  Burgeß 
haben  auch  gefunden,  daß  keimende  Samen  und 
junge  Pflanzen  bei  Gegenwart  von  Kupfer  eine 
stärkere  Wasserabsorption  zeigen,  und  sie  ver- 
muten, daß  dasselbe  für  die  nitrifizierenden  Bak- 
terien gelte,  die  in  physiologischer  Hinsicht  den 
höheren  Pflanzen  viel  mehr  glichen  als  die  übrige 
Bodenflora  (University  of  California  Publications 
in  Agricultural  Sciences  1914,  Vol.  I,  Nr.  6,  p.  127 
bis  139).  P.  Moewcs. 

Geologie.  Die  Entstehung  von  Schwarzwald 
und  Vogesen  behandelt  ein  mit  13  Profilen  illu- 
strierter Aufsatz  von  Paul  Keßler  in  den  Jahres- 
ber.  und  Mitteilungen  des  Oberrheinischen  geolo- 
gischen Vereins  (N.  F.  Bd.  4,  H.   i,   1914,  S.  30). 

Die  Forschungen  der  letzten  Jahre  haben  die 
Entstehungsgeschichte  von  Schwarzwald  und  Vo- 
gesen im  großen  und  ganzen  geklärt.  Bereits 
zur  präkambrischen  Zeit  erfolgte  eine  P'altung 
der  archäischen  Sedimente  und  Eruptivgesteine 
zu  einem  Gebirge,  das  im  Oberdevon  wieder  ab- 
getragen war.  Hierauf  trat  eine  langsame  Senkung 
ein,  so  daß  zur  Unterkarbonzeit  das  Meer  ein- 
dringen konnte  und  über  der  devonischen  Ein- 
ebnungsfläche  eine  Schichtfolge  von  mehreren 
tausend  Metern  Sedimenten  und  Eruptivgesteinen 
sich  ausbreiten  konnte.  Gegen  Schluß  dieser 
Periode  setzte  ein  seitlicher  Schub  ein,  wodurch  ein 
mächtiges  Gebirge  aufgetürmt  wurde.  Auch  an 
diesem  jungen  Gebirge  wirkte  während  des  Ober- 
karbons eine  kräftige  Erosion,  so  daß  die  Gipfel 
erniedrigt,  Niederungen  mit  dem  Schutt  ausgefüllt 
wurden.  Bisweilen  bildete  sich  auch  ein  Kohlen- 
flöz. Diese  Abtragungsvorgänge  dauerten  auch 
noch  während  des  Rotliegenden  an  und  an  seinem 
Schlüsse  war  eine  eingeebnete  Landschaft  vor- 
handen. Da  und  dort  erfolgten  Eruptionen  im 
Rotliegenden  —  allerdings  weniger  bedeutend 
als  im  Unterkarbon  — ,  die  mit  denen  des  Saar- 
Nahegebirges  ungefähr  zusammenfallen.  Über  dem 
Rotliegenden,  das  in  den  obersten  Teilen  wohl 
auch  Äquivalente  des  Zechsteins  einschließt,  lagert 
der  Buntsandstein,  im  O.  etwa  400  m  mächtig, 
gegen  S.  und  W.  langsam  auskeilend.  Darüber 
folgen  die  Schichten  des  Muschelkalks,  Keupers, 
Lias,  Doggers  und  Malms,  die  einschließlich  des 
Buntsandsteins  ca.  lOOOm  mächtig  sind.  Während 
dieser  Zeiten  befand  sich  unser  Gebiet  in  lang- 
samem Absinken,  im  N.  stärker  als  im  S.  Gegen 
Ende  der  Malmzeit  trat  eine  Hebung  über  den 
Meeresspiegel  ein,  die  während  der  ganzen  Kreide- 
zeit anhielt.     (Erosion!) 

Im  Eozän  bildete  sich  an  Stelle  des  jetzigen 
Rheintals  eine  schwache  von  Flexuren  begrenzte 
Einsenkung.  Im  Oligozän  setzte  der  eigentliche 
Einbruch  des  Rheintalgrabens  ein.  Die  mesozo- 
ische Schichtentafel  samt  den  darunter  liegenden 
alten  Gesteinen  zerbarst  in  einzelne  Stücke.  Auch 
die  im  W.  und  O.  gelegenen  Ränder  begannen 
sich  zu  senken.     Infolge  der  immer  weiter  schrei- 


N.  V.  XIII.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


603 


tenden  Sent;ungsvorgäiige  drang  das  Meer  vom 
Pariser  Becken  her  in  den  Graben  ein  und  schlug 
eine  mächtige  Schichtfolge  nieder.  Zur  Bildungs- 
zeit des  Septarientons  im  höheren  Milteloligozän 
erreichte  das  Oligozänmeer  seine  größte  Ausdeh- 
nung und  war  sowohl  mit  den  Meeren  im  N.  und 
S.  verbunden  als  auch  weit  über  die  Ränder  des 
Rheintalgrabcns  ausgebreitet.  Nach  Ablagerung 
des  Septarientons  trat  eine  Hebung  ein.  Das 
Meer  zog  sich  zurück.  Es  kam  nun  zum  Absätze 
von  brackischen  oder  Süßwasserschichten.  Die 
Gesamtmächtigkeit  des  Oligozäns  dürfte  looo  m 
weit  übertreffen.  Wo  Vogesen  und  Schwarzwald 
heute  liegen,  war  eine  weite  Fas' ebene,  die  auch 
heute  noch  trefflich  erhalten  ist.  Diese  schneidet 
die  Schichtflächen,  die  stärker  als  die  heutige 
Oberfläche    nach  O.  bzw.  W.  einfallen,    schief  ab. 

Im  Miozän  setzten  die  gebirgsbildenden  Vor- 
gänge von  neuem  ein.  Während  früher  die  Ab- 
senkung des  Rheintalgrabens  und  des  Ostabfalles 
des  Schwarzwaldes  bzw.  des  Westabfalles  der 
Vogesen  die  Niveauunterschiede  bedingten ,  tritt 
jetzt  eine  gleichmäßige  Hebung  der  beiden  Ge- 
birge ein.  Schwarzwald  und  Vogesen,  wie  auch 
Haardt  und  Odenwald  zeigen  den  Aufbau  von 
Gewölben.  Wohl  im  Zusammenhang  mit  den 
tektonischen  Vorgängen  erwachte  die  eruptive 
Tätigkeit  wieder  (Kaiserstuhl  und  die  kleinen 
Basaltvorkcnmen  im  Rhcintal,  Schwarzwald  und 
den  Vogesen). 

In  den  folgenden  Zeiten  vom  Miozän  bis  zur 
Jetztzeit  erfolgte  die  Herausmodellierung  des 
jetzigen  Landschaftsbildes,  vor  allem  der  mehrere 
100  m  tiefen  Schluchten  und  Täler  nach  dem 
Rheintal  zu.  Am  Außenrand  war  die  Abtragung 
weniger  stark,  doch  wurde  ein  großer  Teil  der 
weichen  Schichten  zwischen  Schwarzwald  und  Alb 
wegerodiert.  Der  Rhein  selbst  ist  früher  durch 
die  burgundische  Pforte  zum  Rhonesystem  abge- 
flossen und  wurde  verhältnismäßig  spät  in  seine 
jetzige  Richtung  abgelenkt.  Der  Diluvialzeit  ge- 
hören die  prächtigen  Terrassen  und  Lößablage- 
rungen im  Rheintal  an.  Spuren  der  Eiszeit  be- 
gegnen wir  in  manchen  Tälern.  Zahlreiche  Ge- 
birgsseen sind  durch  Gletschertätigkeit  entstanden. 
Indessen  sind  manche  Wasseransammlungen  auch 
auf  moorigen  Untergrund  zurückzufahren. 

V.  Hohenstein. 

Entwicklungsmechanik.  Wiederholt  wurde 
über  Erscheinungen  an  den  unbefruchteten  Eiern 
von  Lurchen  und  Vögeln  berichtet,  welche  an  die 
normale  Furchung  des  befruchteten  Eies  erinnern; 
sie  wurden  als  „rudimentäre  natürliche  Partheno- 
genese^' bezeichnet 

Wie  aus  einem  Aufsatz  von  Lecaillon  (Sur 
l'existence  de  phenomcnes  de  Parthenogenese 
naturelle  rudimentaire  chez  le  Crapaud  commun 
(Bufo  vulgaris  Laur).  C.  R.  Ac.  sc.  Paris  Nr.  25, 
22  Juni  1914)  hervorgeht,  treten  solche  Erschei- 
nungen in  der  Tat  auf,  haben  aber  mit  einer 
wirklichen  F'urchung  nichts  zu  tun. 


Wenn  man  eine  weibliche  Kröte  zur  Zeit  der 
Eiablage  aus  der  Umklammerung  durch  das 
Männchen  löst,  sorgfältig  mit  Wasser  und  Sub- 
limatlösung I  :  1 000  wäscht,  so  fährt  das 
Weibchen  in  der  Eiablage  fort,  die  abgelegten 
Eier  sind  aber  sicher  unbesamt.  Ebenso  kann 
man  von  einer  weiblichen  Kröte,  die  dauernd 
isoliert  gehalten  wurde,  unbefruchtete  Eier  erhalten. 
In  derTat  entwickeln  sich  zwar  niemals  Plmbryonen 
aus  derartigem  Material.  Einige  Stunden  nach 
der  Ablage  jedoch  zeigt  das  Ei  auf  seiner  Ober- 
fläche 4 — 5  nahezu  parallele  Furchen,  die  aber 
nur  sehr  wenig  tief  in  den  Dotter  einschneiden. 
Bei  den  meisten  Eiern  treten  daneben  noch  zwei 
oder  drei  deutlichere  Purchen  auf,  und  bei  einem 
sehr  geringen  Teil  der  Eier  außerdem  solche, 
welche  jenen  des  befruchteten  Eies  entsprechen. 
Die  Oberfläche  des  Eies  wird  dann  in  ziemlich 
zahlreiche  Abschnitte  geteilt.  Die  Furchen  aber 
erreichen  niemals  das  Zentrum  des  Eies. 

Die  Furchen  gleichen  auffallend  jenen,  die  nach 
dem  Anstich  des  l'roscheies  zur  Hervorrufung  der 
künstlichen  Parthenogenese  nach  dem  Battaillon- 
schen\'erfahren  auftreten.  Letztere  dürften  also  nicht 
auf  den  Anstich  zurückzuführen  sein,  da  sie  auch 
ohne  einen  solchen  auftreten  können.  Ebenso  aber 
stellt  die  Furchung  des  befruchteten  Eies  auch  keine 
neue  Eigentümlichkeit  dar,  die  Segmentation  wird 
durch  die  Samenzelle  nur  besser  orientiert  im 
Hinblick  auf  einen  gesicherten  Verlauf  der  Ent- 
wicklung. Kathariner. 

Anatomie.  Eine  lebende  erwachsene  Doppcl- 
mißbildung (Epigastrius  parasiticus)  beschreibt 
P".  Marc  band  (Münchener  Med.  Wochenschrift 
Nr.  28,  14.  Juli  1914).  Es  handelt  sich  um  einen 
30-jährigen  Mann,  der  1884,  von  italienischen  Eltern 
abstammend,  in  Buenos- Aires  geboren  wurde. 
Seine  Mutter  hatte  13  Kinder;  ein  bei  der  Ge- 
burt gestorbenes  hatte  zwei  Köpfe  und  ein  Bein- 
paar. 

In  der  Gegend  des  Epigastriums  hängt  ein 
vollkommen  entwickelter  Körper  mit  4  Extemi- 
läten  herab;  die  Bauchfläche  des  Parasiten  ist  dem 
Autositen  zugekehrt.  Die  beiden  Gliedmaßen 
tragen  Hände  und  Füße.  Finger  und  Zehen  sind 
entwickelt,  mit  je  einem  Nagel.  Vom  Skelett  waren 
bei  der  Röntgenaufnahme  nur  einige  Knochenstücke 
zu  finden,  die  als  Reste  des  Schulter-  und  Becken- 
gürtels gedeutet  werden.  Wirbelsäure  und  Rippen 
fehlen  gänzlich.  Auch  ein  Herz  scheint  nicht 
vorhanden  zu  sein.  Die  Blutversorgung  erfolgt 
vom  Autositen  her  durch  eine  Arterie.  Der  Puls 
ist  nur  stellenweise  schwach  fühlbar  und  die 
Extremitäten  fühlen  sich  sehr  kühl  an.  Ob  ein 
selbständiger  Darm  vorhanden  ist,  konnte  mit 
Sicherheit  nicht  entschieden  werden;  jedenfalls 
fehlt  eine  Afteröffnung. 

Früher  bekannt  gewordene  derartige  Doppel- 
mißbildungen sind  der  Heteradelphus  (Geofroy 
St.  Hilaire  d.  Altere)  und  Dipygus  parasiticus 
Ahlfeld. 


6o4 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  38 


Die  meisten  starben  schon  vor  oder  während 
der  Geburt.  Einzelne  dagegen  erreichen  ein 
höheres  Alter,  so  der  Genueser  Lazarus,  Colloredo 
(geb.   161 7). 

In  mehreren  Fäl- 
len ließen  sich  auch 
Reste  eines  Kopfes 
nachweisen,  in  denen 
diese  jedoch  mit 
dem  Kopf  des  Auto- 
siten  völlig  ver- 
schmolzen waren. 
So  wurden  z.  B. 
wiederholt  solche 
beschrieben,  in  de- 
nen der  Kopf  4 
Ohren  trug. 

Bei  den  meisten 
Doppelmißbildun- 
gen, so  im  vorlie- 
genden h'alle,  fehlt 
der  Kopf  ganz,  so 
daß  es  aussieht,  als 
sei  der  Parasit  in 
die      Brust      seines 

Trägers  einge- 
pflanzt, während  die 
Extremitäten  und 
Teile  des  Rumpfes, 
mehr  oder  weniger 
ausgebildet,  frei  her- 
vortreten. Im  Jahre  1899  beschrieb  Rudolf 
Virchow  einen  etwa  18 — 19  Jahre  alten  derartig 
mißbildeten  Indier  und  1901  wurde  in  Prag  ein 
14  Jahre  alter  Knabe  vorgestellt  mit  der  gleichen 
Mißbildung,  ebenfalls  indischer  Herkunft. 

Was  die  Entstehung  einer  derartigen  Mißbildung 
angeht,  so  beruht  dieselbe  nach  Marchand 
darauf,  daß  zwei  Anlagen  sehr  frühzeitig  ziemlich 
ventral  einander  gegenübergestellt,  miteinander 
verwachsen,  bei  ungleichmäßiger  Ausbildung  der 
beiden.  Das  Herz  fehlt  dem  Parasiten  ganz,  während 
es  bei  den  symmetrischen  Thorakopagen  ver- 
doppelt ist.  Kathariner. 

Geographie.  Neuere  Forschungsreisen.  Die 
Eröffnungssitzung  des  19.  deutschen  Geographen- 
tages zu  Straßburg  (Pfingsten  1914)  war  wie  üb- 
lich den  neueren  F"orschungsreisen  gewidmet. ') 

Die  Kameruner  Grenzexpedition,  über 
die  H.  G  e  h  n  e  berichtete,  hatte  die  Aufgabe,  die 
neue  Südgrenze  von  Kamerun  festzulegen.  An 
der  Küste  ist  diesem  Gebiet  eine  5  — 10  km  breite 
Mangrovensumijfzone  vorgelagert,  der  im  Innern 
ein  sanftwelliges  Hügelland  folgt,  aus  flachge- 
lagerten Sedimenten  bestehend,  die  wahrschein- 
lich alttertiäres  Alter  besitzen.  Östlich  daran 
schließt  sich  ein  kristallines  Gebiet,  in  dem  sich 
zwei  Zonen  unterscheiden  lassen.  Die  höhere 
bildet    ein    Plateau    von    800    m    Höhe,    das    zur 


zweiten  Zone,  einer  2 — 300  m  niedrigen  Ein- 
cbnungsfläche  abfällt.  Das  ganze  Gebiet,  das  mit 
primärem  Urwald  bedeckt  ist,  zeigt  klimatisch 
zwei  Regenmaxima:  Ende  April  und  Oktober, 
empfängt  aber  Regen  zu  allen  Jahreszeiten.  Die 
chemische  Verwitterung  des  (lesteins  führt  zur 
Hu  n  tey  debildung  und  zwar  bilden  die  kristal- 
linen Gesteine  ockergelbe  Tonerde,  der  faule 
Mangrovenschlick  dagegen  tiefschwarze  Erde.  Der 
Abs|)ülung  setzen  hier  die  Wurzeln  großen  Wider- 
stand entgegen,  während  die  Bodenversetzung  im 
allgemeinen  bedeutende  Beträge  erreicht.  So  tritt 
an  den  Rücken  oft  das  kahle  Gestein  zutage,  an 
dem  die  Insolation  kräftig  arbeitet.  Die  Endform 
dürfte  eine  Rumpffläclie  sein. 

Über  die  geologischen  und  geographischen 
l^rgebnisse  der  2.  deutschen  Antarktischen 
Expedition  berichtete  F.  Heim.  Die  Weddel- 
scc,  tue  viel  weiter  ins  Innere  des  Kontinents  vor- 
dringt als  man  bisher  annahm,  gehört  zu  einem 
großen  Bruchschollengebiet,  dessen  innere  Teile, 
das  Luitpoldland,  eine  wenig  mächtige  Inlandeis- 
decke tragen.  Dem  geologischen  Charakter  nach 
weist  das  Kettengebirge  des  Grahamlandes  nicht 
auf  die  Anden,  sondern  eher  auf  Australien  liin- 
über  —  in  den  Moränen  wurden  rote  Konglo- 
merate mit  PorphyrgeröUen  gefunden.  Die  Eis- 
barriere des  Luitpoldlandes  hält  Heim  für  einen 
Relikt  aus  der  Eiszeit;  unter  den  heutigen  klima- 
tischen Verhältnissen  kann  sich  eine  über  tieferem 
Meere  schwimmende  Barriere  nicht  neu  bilden. 
Beim  Trifteis  spielen  Pressung  und  Packung  eine 
große  Rolle. 

Auch  Süd-Georgien  wurde  von  der  Ex- 
pedition untersucht;  es  besteht  aus  jungpaläozo- 
ischen und  mesozoischen  Gebirgsketten,  die  2000 
bis  3000  m  Höhe  erreichen.  Die  Gebirge  tragen 
in  den  Hauptkämmen  Eisbedeckung,  die  aber  wäh- 
rend der  Eiszeit  noch  bedeutend  stärker  war.  Die 
Abtragung  der  fast  vegetationslosen  Inseln  geschieht 
außer  durch  die  Gletschererosion  und  die  Meeres- 
tätigkeit vornehmlich  durch  den  Bodenfluß. 

Der  Mawson'schen  Südpolarexpedi- 
tion,  über  die  die  G.  Z.  außerdem  berichtet,') 
die  191 1  — 1914  tätig  war,  begann  ihre  Tätigkeit 
in  Adelieland  unter  60  "  50'  s.  Br.  und  145"  ö.  L, 
wo  eine  Station  errichtet  wurde.  Wegen  der 
schwierigen  Eisverhältnisse  erfolgte  die  Landung 
der  übrigen  Teilnehmer  auf  einer  Eisbarriere  unter 
66"  18'  s.  Br.  und  95"  ö.  L.  in  der  Nähe  von 
Kaiser  Wilhelm  IL-Land.  Von  beiden  Stationen 
wurden  im  Süd-Sommer  19 12  größere  Streifzüge 
ins  Innere  und  an  der  Küste  unternommen;  u.  a. 
wurde  der  Gaußberg  bestiegen  und  400  km  neue 
Küste  —  Königin  Mary-Land  —  erforscht.  Die 
Küste  lag  unter  einer  mindestens  300  m  hohen 
Eisdecke  begraben.  Auch  in  Adelie-Land  steigt 
die  Eisdecke  bis  zu  2100  m  Höhe  im  Innern  an. 
Bei  einem  Vorstoß  in  die  Nähe  des  magnetischen 
Südpols   191 2/19 13   fand  Lt.  Ninnis  durch  Sturz 


')  S.    den  Bericht:  ,,Petermann's  Mitteil."  1914,  H.  7  und 
,, Geographische  Zeilschrift"   1914,  H.  7. 


H.   7,  S.  413. 


N.  F.  Xlir.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


605 


in  eine  Gletscherspalte  den  Tod,  während  Dr. 
Merz,  der  andere  Begleiter  IVIa WS on's,  den  An- 
strengungen der  Reise  erlag.  Im  ganzen  konnte 
die  Expedition  1800  km  Küste  zwischen  Adelie- 
Land  und  Kaiser  Wilhelm  II. -Land  aufnehmen. 
Der  in  Adelie-Land  fast  beständig  aus  S  mit  50 
m/sec.  Geschwindigkeit  wehende  Wind  hat  föhn- 
artigen Charakter,  so  daß  die  Temparatur  der  Station 
nicht  allzu  niedrig  war  und  die  Küste  nicht  mit 
Packeis  verbarrikadiert  ist.  In  diesem  Gebiet  ist 
der   Kontinentalsockel   nur   schmal.     Bei    120   km 


Entfernung  von  der  Commonwealth-Bai  wurde 
schon  2693  m  Tiefe  gelotet,  nachdem  vorher  die 
Tiefe  des  Meeresbodens  nur  382  m  betragen  hatte. 
Interessant  ist  ferner  der  Nachweis  eines  3791 
tiefen  Grabens  südlich  von  Tasmanien. 

Über  die  Augustaflußexpedition  ist  schon  be- 
richtet worden;  eingehender  soll  später  über  die 
Expedition  der  Kolonialgesellschaft  und  über  F. 
Klute's  h'orschungen  am  Kilimandscharo  im  Jahre 
19 12  berichtet  werden. 

Dr.  Gottfried  I  lornig. 


Bticherbesprechungen. 


Planck,   M.,   Debye,  P.,  Nernst  W.,  von  Smo- 
luchowski,  M.,  Sommerfeld,  A.  und  Lorentz, 
H.    A.      Vorträge    über    die    kinetische 
Theorie  der  Materie  und  der  Elektrizität. 
Mit   Beiträgen    von    H.    Kam  e  rling-h- Omes 
und  W.   H.  Keeson  und    einem  Vorwort  von 
D.  Hiebert.     196  Seiten    mit    7-   in    den  Text 
gedruckten  Figuren.     Leipzig  und  Berlin    1914. 
B.  G.  Teubner.  —  Preis  geh.  7  Mk. 
In  vergangenen  Jahre  hat  die  Kommission  der 
Wolfskehlstiftung    der     Königl.    Gesellschaft     der 
Wissenschaften    zu    Göttingen    einen    Zyklus    von 
Vorträgen  veranstaltet,  in  welchen  die  bedeutendsten 
Vertreter  der  modernen  Forschung  auf  dem  Gebiet 
der   kinetischen  Theorie  der   Materie  einen    inter- 
essanten   Überblick     über     den     neuesten     Stand 
dieser   Theorie   gegeben    haben.     Durch   die    vor- 
liegende, von  Herrn  H  i  e  b  e  r  t  besorgte  Zusammen- 
stellung werden  diese  Vorträge  jetzt    in    dankens- 
werter Weise    einem    weiteren  Interessentenkreise 
zugänglich  gemacht. 

Im  ersten  Vortrag  über  „die  gegenwärtige  Be- 
deutung der  Ouantenhypothese  für  die  kinetische 
Gastheorie"  giebt  Herr  Planck  einen  kurzen 
Vergleich  der  Aussagen  der  Quantentheorie  über 
das  thermodynamische  Verhalten  eines  idealen 
einatomigen  Gases  mit  den  entsprechenden 
Resultaten  der  klassischen  Theorie. 

Im  zweiten  Vortrag  über  ,, Zustandsgieichung 
und  Ouantenhypothese  mit  einem  Anhang  über 
Wärmeleitung"  entwickelt  Herr  Debye  auf  Grund 
der  Betrachtung  der  Helmholtz'schen  freien  Energie 
die  Zustandsgieichung  des  festen  Körpers  für  den 
Grenzfall  niederer  Temperaturen  und  zeigt,  daß 
deren  Aussagen  mit  den  bisherigen  Ergebnissen 
des  Experiments  übereinstimmen.  Von  besonderem 
Interesse  ist  das  Ergebnis,  daß  die  einfachste 
Annahme  der  Linearität  der  Bewewegungs- 
gleichungen  der  Atome  des  festen  Körpers  für  alle 
Temperaturen  den  Ausdehnungskoeffizienten  Null 
und  andererseits  unendlich  große  Wärmeleitfähigkeit 
fordern  würde.  Beide  Forderungen  scheinen  nach 
den  bisherigen  Versuchen  bei  sehr  tiefen  Tempe- 
raturen tatsächlich  erfüllt  zu  sein,  so  daß  für  sie 
die  genannte  Annahme  zuzutreffen  scheint,  während 
für  höhere  Temperaturen  eine  Modifikation  dieser 
Annahme  einzutreten  hat. 


Der  Vortrag  von  Herrn  Nernst  über  die 
„Kinetische  Theorie  fester  Körper"  gibt  einen 
ausgezeichneten  Überblick  über  die  (Juantentheorie 
der  spezifischen  Wärme  und  die  Bestimmungs- 
weisen der  Eigenfrequenzen  der  Atome  fester  Körper. 

Zu  seinem  Vortrage  über  die  „Gültigkeitsgrenzen 
des  zweiten  Hauptsatzes  der  Wärmetheorie"  zeigt 
Herr  v,  Smoluchowski,  wie  die  atomistisch- 
kinetische  Auffassung  der  Materie  dazu  führt,  die 
Aussagen  des  zweiten  Hauptsatzes  der  Thermo- 
dynamik nur  noch  soweit  vom  theoretischen 
Standpunkt  aus  als  bindend  anzuerkennen,  als  sie 
sich  auf  das  durchschnittliche  Verhalten  der  Körper 
beziehen,  d.  h.  wenn  die  in  dem  betrachteten 
physikalischen  Vorgang  mitspielende  Anzahl  von 
Einzelereignissen  so  unmeßbar  groß  ist,  daß  eine 
Abweichung  des  momentanen  Zustands  von  durch- 
schnittlichen Zustand  außerhalb  jeder  Wahrnehmung 
bleibt.  Wird  hierdurch,  da  diese  Voraussetzung 
in  den  allermeisten  Fällen  zutrifft,  auch  die  enorme 
praktische  Bedeutung  des  zweiten  Hauptsatzes  in 
keiner  Weise  eingeschränkt,  so  verliert  er  doch 
seine  Stellung  als  unerschütterliches  Dogma  und 
wird  zu  einer  nur  sehr  angenähert  gültigen  Regel. 
Verf  bespricht  dies  näher  an  den  Beispielen 
der  zufälligen  Konzentrationsschwankungen  einer 
Lösung  und  der  sog.  Brown'schen  Bewegung. 

Der  Vortrag  von  Herrn  Sommerfeld  über 
„Probleme  der  freien  Weglänge"  enthält  in  seinem 
ersten  Teil  eine  Untersuchung  der  Frage,  wie  weit 
die  Methode  der  Eigenschwingungen ,  die  von 
Herrn  Debye  mit  so  gutem  Erfolge  zunächst 
beim  Strahlungsproblem,  sodann  bei  dem  Problem 
der  spezifischen  Wärme  fester  Körper  in  den 
Dienst  der  Quantentheorie  gestellt  worden  ist, 
geeignet  ist,  auch  auf  die  Theorie  der  idealen 
einatomigen  Gase  angewandt  zu  werden.  Wie 
sich  zeigt,  ergeben  sich  hierbei  trotz  mancher  Er- 
folche  noch  Schwierigkeiten,  die  noch  nicht  be- 
friedigend eliminierbar  sind  sind.  Der  zweite  Teil 
des  Vortrags  enthält  Betrachtungen  über  eine 
durch  die  Einführung  derQuantentheorie  erforderlich 
werdende  Modifikation  des  Begriffs  der  freien 
Weglänge  in  der  Gastheorie. 

Im  letzten  Vortrag  über  „Anwendung  der 
kinetischen  Theorien  auf  Elektronenbewegung" 
bespricht  Herr  Lorentzdie  elektronentheoretischen 


6o6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  38 


Vorstelkingen  über  die  Elektrizitäts-  und  VVärme- 
leitung  in  Metallen  und  teilt  neue  Betrachtungen 
über  die  thermoelektrischen  Erscheinungen  mit. 
Dieser  reiche  hihalt  der  Sammlung  gibt  ein 
anschauliches  Bild  von  der  gewaltigen  Forscher- 
arbeit und  den  glänzenden  Errungenschaften  der 
letzten  Jahre.  A.  Becker. 

Das  Pflanzenreich.  Herausgegeben  von  A.  Engler 
Heft  55—61.  Leipzig  und  Berlin,  W.  Engelmann 
1912  — 1913. 

Die  Hefte  55 — 61  des  im  Auftrage  der  Preuß. 
Akademie  der  Wissenschaften  von  A.  Engler 
herausgegebenen  Riesenwerkes  „Das  Pflanzenreich. 
(Regni  vegetabilis  conspectus)",  die  in  dem  Zeit- 
raum vom  6.  August  1912  bis  16.  Dezember  1913 
erschienen  sind,  legen  Zeugnis  von  dem  erfolg- 
reichen und  rüstigen  Fortschreiten  dieses  Unter- 
nehmens ab,  das  in  der  Botanik  seinesgleichen 
sucht  und  der  deutschen  Wissenschaft  ebensowohl 
wie  der  preußischen  Akademie  und  nicht  zuletzt 
dem  Verlage  von  Wilhelm  Engelmann  in 
Leipzig  zu  höchstem  Ruhme  gereicht.  Der  Inhalt 
der  erwähnten  I  lefte  ist  der  folgende : 

Heft  55  (VL  23  Da.)  Araceae-Philodendroideae 
von  A.  Engler  und  K.  Krause.  Allgemeiner 
Teil,  Homalomeninae  und  Schismatoglottidinac 
(mit  678  Einzelbildern  in  T]  Figuren)  von 
A.  Engler.     1912.     (136  S.,  6,80  Mk.) 

Heft  56(1V.47.)  Cannaceae  vonFr.  Kränzlin 
Mit  80  Einzelbildern  in  16  Figuren.  1912.  (IV  und 
177  S.,  4  Mk.) 

Heft  57  (IV  147.  VI.)Euphorbiaceae-Acalypheae- 
Chrozophorinae  unter  Mitwirkung  von  Käthe 
Hoffmann  von  F.  Fax.  Mit  116  Einzelbildern 
in  25   Figuren.     191 2.     (i44  S.,  7,20  Mk.) 

Heft  58  (IV.  147)  Euphorbiaceae-Poranthe- 
roideae  et  Ricinocarpoideae  (Euphorbiaceae- 
Stenolobeae)  (mit  89  Einzelbildern  in  16  Figuren) 
von  G.  Grüning.     (S  Mk.) 

Heft  59  (IV.  251)  Hydrophyllaceae  (mit  17S 
Einzelbildern  in  39  Figuren)  von  A.  Brand. 
(210  S.,  10,60  Mk.) 

Heft  60  (IV.  23  D  b)  Araceae-Philodendroideae- 
Philodendreae  von  A.  Engler  und  K.  Krause 
und  Philodendrinae  von  K.  Krause  (mit  553 
Einzelbildern  in  45  Figuren.  (143  S.,  7,30  Mk.) 
Heft  61  (IV.  228)  Umbelliferae-Saniculoideae 
von  Herrn.  Wolff  (mit  198  Einzelbildern  in 
42  Figuren  und  einer  Doppeltafel).  (305  S., 
i5,8oMk.) 

Hoffen  wir,  daß  auch  trotz  der  bedrängten 
Zeiten  das  große  Werk  in  gleichem  Tempo 
weiterrücken  möge !  Miehe. 


Geologische  Karte  von  Preußen  und  benach- 
barten Bundesstaaten  i :  25000.  Lieferung  141, 
Blätter  Herzogenrath,  Eschweiler,  Düren,  Aachen, 
Stolberg  und  Lcndersdorf,  mit  Erläuterungen, 
bearbeitet  von  E.  Holzapfel,  herausgegeben 
von  der  Königlichen  Geologischen  Landesanstalt, 
Berlin   1912. 


Von  dem  von  der  Königlichen  Geologischen 
Landesanstalt  herausgegebenen  Kartenwerk  ist  die 
Lieferung  141  mit  den  Blättern  Herzogenrath, 
Eschweiler,  Düren,  Aachen,  Stolberg  und  Lcnders- 
dorf erschienen.  Die  Blätter  sind  von  E.  Holz- 
apfel bearbeitet  und  umfassen  ein  Gebiet,  zu 
dem  der  zwischen  der  Landesgrenze  und  dem 
Tal  der  Roer  gelegene  nördliche  Teil  der  P_;ifel, 
die  Aachener  Berge  und  der  anschließende  Teil 
des  Niederrheinischen  Tieflandes  gehören.  Der 
Name  des  Bearbeiters,  der  in  den  Blättern  und 
den  dazu  gehörenden  Erläuterungen  die  Ergebnisse 
seiner  langjährigen  eingehenden  Beschäftigung  mit 
der  Geologie  des  dargestellten  Gebietes  nieder- 
gelegt hat,  bürgt  dafür,  daß  die  Bearbeitung  einer- 
seits eine  in  jeder  Richtung  erschöpfende  ist, 
andererseits  auch  dem  heutigen  Stande  der  Geologie 
in  jeder  Weise  entspricht.  Es  ist  dieses  um  so 
höher  zu  bewerten,  als  es  in  Deutschland  nicht 
viele  Gebiete  gibt,  in  denen  eine  Mannigfaltigkeit 
der  geologischen  Verhältnisse  vorliegt,  wie  sie  das 
Kartengebiet  enthält,  das  der  geologischen  Auf 
nähme  die  Aufgabe  stellte,  sowohl  in  stratigraphischer 
wie  in  tektonischerHinsicht  cineFülle  von  Problemen 
zu  lösen  wie  auch  die  Verhältnisse  der  zahlreichen 
wichtigen  Lagerstätten  einer  Neubearbeitung  zu 
unterziehen. 

In  stratigraphischer  Hinsicht  interessiert  zunächst 
die  Entwicklung  des  Kambriums,  das  mit  seiner 
mittleren  und  oberen  Abteilung,  derRevin-  und 
der  Salm-Stufe  den  zentralen  Teil  des  Hohen 
Venns  auf  den  Blättern  Stolberg  und  Lcndersdorf 
zusammensetzt.  Die  petrographische  Entwicklung 
gab  die  Möglichkeit,  die  beiden  Stufen  in  je  zwei 
Unterabteilungen  zu  zerlegen.  Die  Tonschiefer 
des  Salm  enthalten  oft  Dictyograptus  flabelliformis 
(Dictyonema  sociale)  und  weisen  dadurch  auf 
Gleichaltrigkeit  mit  den  Dictyonemaschiefern  Nor- 
wegens und  Englands  hin,  die  bereits  zum  Silur 
gestellt  werden. 

Wenn  wir  von  den  Dictyonemaschichten  ab- 
sehen, fehlt  das  Silur  im  Bereich  unserer  Blätter, 
so  daß  daß  Devon,  das  in  seinen  drei  Abteilungen 
vertreten  ist  und  große  Flächen  zu  beiden  Seiten 
des  Vennrückens  einnimmt,  über  ältere  Schichten 
transgrediert.  Hinsichtlich  des  Unter  devons 
ist  besonders  bemerkenswert,  daß  die  Coblenz- 
Stufe  fehlt,  dafür  aber  auf  der  Nordseite  des  kam- 
brischen  Sattels  ein  Schichtenkomplex  auftritt,  der 
der  „Assise  de  Burnot"  Dom ont's  entspricht  und 
rotgefärbte  Schiefertone,  Sandsteine  und  Konglome 
rate  umfaßt.  Holzapfel  zerlegt  diese  Schichten- 
gruppe in  drei  Horizonte  und  bemerkt,  daß  die 
höchste  Stufe  vermutlich  schon  Vertreter  des 
unteren  Mitteldevons  umfaßt.  In  ihrem  Hangenden 
liegt  die  Givet- Stufe,  die  bereits  dem  oberen 
Mitteldevon  angehört  und  gleichaltrig  mit  den 
Stringocephalenschichten  ist. 

Eine  besonders  reiche  Entwicklung  zeigt  das 
Oberdevon,  das  in  einem  breiten  Band  des 
Mitteldevon  begleitet  und  die  Sattelkerne  zwischen 
den    nach    Nordwesten    folgenden    Karbonmulden 


N.  F.  XIII.  Nr.  38 


Natu r wissenschaftliche  Wochensch ri ft. 


C07 


bildet.  Die  beiden  oberdevonischen  Stufen  des 
Frasnien  und  Famennien  werden  in  eine  Reihe 
von  Horizonten  zerlegt,  die  in  ihrer  Ausbildung 
in  verschiedenen  Punkten  auf  die  rechtsrheinische 
Entwicklung  der  gleichen  Formationsabteilung 
hinweisen. 

Das  Karbon  ist  scharf  geschieden  in  zwei 
Abteilungen,  den  Kohlenkalk  und  das  pro- 
duktiv e  K  a  r  b  o  n.  Der  erstere  bildet  die  Grund- 
lage einer  bedeutenden  Steinbruchindustrie  und 
umfaßt  drei  Abteilungen,  den  Crinoidenkalk, 
den  Dolomit  und  den  oberen  Kohlenkalk. 
Das  größte  Interesse  von  allen  geologischen  Bildungen 
des  Blattes  beanspruchen  aber  die  Schichten  des 
produktiven  Karbons,  das  im  Bereich  der 
Blätter  Stolberg  und  Aachen  in  großen  Flächen 
zutage  liegt  und  durcli  Steinkohlenbergbau  und 
Tiefbohrungen  unter  dem  Diluvium  und  Tertiär 
des  Vorlandes  nach  Norden  bis  über  die  Blätter 
Herzogenrath  und  Eschweiler  hinaus  und  nach 
Osten  bis  an  das  Roertal  (Blatt  Düren)  nachge- 
wiesen ist. 

Das  Profil  des  Aachener  produktiven  Karbons 
entspricht  in  seinem  oberen  und  mittleren  Teil 
dem  Profil  des  niederrheinisch-westfälischen  Pro- 
duktiven, greift  aber  nach  unten  weit  über  dieses 
hinaus,  indem  es  nicht  allein  Äquivalente  des 
Flözleeren  sondern  auch  des  oberen  Kulm  ein- 
schließt. Der  von  Holzapfel  unterschiedene  tiefste 
Horizont  enthält  Goniatites  diadema,  der  auf  der 
rechten  Rheinseite  für  die  oberen  Alaunschiefer 
des  Kulm  charakteristisch  ist.  Die  tieferen  Schichten 
des  Aachener  Produktiven  füllen  die  Mulden  aus, 
die  sich  zwischen  die  Oberdevon-  und  Kohlen- 
kalksättel  am  Nordwestabfall  des  Hohen  Venns 
einschieben,  und  erreichen  ihre  große  Mächtigkeit 
in  der  durch  Bergbau  seit  alter  Zeit  bekannten 
Es ch  weile  r-  oder  Inde-Mulde.  In  ihrem 
Profil  unterscheidet  Holzapfel  eine  Anzahl  von 
Horizonten,  von  denen  wegen  ihrer  Flözführung 
die  Außen  werke  und  die  Binnen  werke  be- 
sondere Bedeutung  haben.  Zwischen  beiden  liegt 
der  Breitgang -Horizont,  ein  etwa  400  m 
mächtiges  flözarmes  Mittel.  Die  Binnenwerke  ent- 
sprechen den  Fettkohlen  Westfalens.  Ihr  tiefstes 
Flöz  Padtkohl  ist  ident   mit  Sonnenschein. 

Das  Steinkohlengebiet  des  Vorlandes  ist  unter 
dem  Namen  Wurmmulde  bekannt  und  wird 
von  den  beschriebenen  Vorkommen  durch  die  mit 
einer  beträchtlichen  Überschiebung  verbundene 
Aufwölbung  des  Aachener  Sattels  getrennt. 
Die  tieferen  Schichten  des  Produktiven  sind  hier 
nicht  bekannt.  Sie  liegen  unter  der  Überschiebung 
des  Aachener  Sattels.  Der  Bergbau  geht  im 
wesentlichen  um  in  einem  Schichtenkomplex,  der 
nach  unten  mit  dem  Flöz  Steinknipp  und  nach 
oben  mit  Horizonten  abschließt,  die  den  Gasflamm- 
kohlen Westfalens  entsprechen.  Steinknipp 
ist  Sonnenschein  Westfalens,  bzw.  Padtkohl  der 
hidemulde.  Seit  längerer  Zeit  ist  bekannt,  daß 
im    Hangenden    von  Flöz  6   der  Mariagrube    eine 


marine  Schicht  auftritt,  die  die  Parallelisierung 
dieses  Flözes  mit  Catharina  gestattet. 

Von  den  mesozoischen  Schichten  sind  Trias 
und  die  obere  Kreide  vertreten.  Die  erstere 
nimmt  den  südöstlichen  Teil  des  Blattes  Lenders- 
dorf  ein  und  schließt  sich  in  der  Entwicklung  der 
beiden  vorhandenen  Stufen,  des  Buntsandsteins 
und  des  Muschelkalks,  dem  ausgedehnten  Trias- 
vorkommen an,  das  den  Nordrand  der  Eifel  östlich 
vom  Roertal  bildet.  Holzapfel  hält  abweichend  von 
der  älteren  Auffassung  die  untere  Abteilung  des 
Buntsandsteins  vom  Eifelrand  für  ein  Äquivalent 
des  mittleren  Buntsandsteins.  Die  obere  Kreide 
bildet  große  Flächen  in  der  Umgegend  von  Aachen 
und  zerfällt  in  eine  Reihe  von  Horizonten,  die  so- 
wohl die  untere  wie  die  obere  Abteilung  des 
Senoris  vertreten  und  nach  oben  mit  den  Vet- 
schauer  Kalken  abschließen. 

Von  den  neuzeitlichenGebirgsgliedernseihiernur 
noch  das  Tertiär  genannt,  dessen  Schichten  den  we- 
sentlichenTeildesDeckgebirges  in  dem  Steinkohlen- 
gebiet der  Wurmmulde  und  in  der  östlichen  Inde- 
mulde  zusammensetzen  und  sich  in  den  Stufen 
des  Oligozäns,  des  Miozäns  und  des  Plio- 
zäns einordnen  lassen.  Das  letztere  hat  eine 
besondere  Bedeutung  durch  das  Auftreten  von 
bauwürdiger  Braunkohle,  die  an  verschiedenen 
Stellen  Gegenstand  des  Bergbaus  ist.  Im  Gebirgs- 
land  tritt  das  Tertiär  in  einer  Zahl  von  isolierten 
Partien  auf,  die  sich  z.  T.  ihrem  Alter  nicht  genau 
festlegen  lassen. 

Das  tektonische  Bild  des  Kartengebietes 
läßt  die  beiden  für  unsere  Gebirgsbildung  wichtigen 
Faktoren,  die  Faltung  und  die  Schollenver- 
schiebungen deutlich  erkennen  und  beansprucht 
durch  den  Gegensatz  des  Gebirgslandes  zu  dem 
anstoßenden  Flachlande  und  die  sich  daraus  er- 
gebenden strukturellen  Eigentümlichkeiten  beson- 
deres Interesse.  Neben  der  va riscischen  Faltung, 
die  dem  Bau  des  Gebirgslandes  wie  des  alten 
Untergrundes  des  Flachlandes  seine  großen  Grund- 
züge gegeben  hat,  zeigen  die  kambrischen  Schichten 
des  Hohen  Venns  noch  den  Einfluß  einer  älteren 
Faltungsperiode,  die  als  kaledonische  bezeichnet 
wird.  Mit  der  Faltung  stehen  in  engem  ursäch- 
lichem Zusammenhang  die  als  Überschiebungen 
bezeichneten  Gebirgsstörungen ,  von  denen  die 
bekannteste  die  des  Aachener  Waldes  ist.  Weitere 
Störungen  dieser  Art  konnten  namentlich  noch 
in  dem  zentralen  Teil  des  Hohen  Venns  nachge- 
wiesen werden. 

Nicht  weniger  wichtig  als  die  I'altung  sind 
die  Schollenverschiebungen,  die  in  engen 
Beziehungen  stehen  zu  den  senkrecht  zu  den 
Faltenzügen  verlaufenden  NW-Verwerfungen. 
Für  die  Erkenntnis  ihrer  Bedeutung  ist  die  Gegend 
von  Aachen  geradezu  ein  klassisches  Gebiet.  Es 
zeigt  in  ausgezeichneter  Weise  den  Einfluß  der 
Schollenbewegungen  auf  den  Bau  des  gefalteten 
Gebirgslandes  und  auf  seinen  Absturz  zum  Flach- 
land, und  in  diesem  selbst  ihren  Zusammenhang 
mit    der    Verbreitung    der  Tertiärstufen    und    der 


6o8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  38 


Gliederung  und  Tiefelage  des  paläozoischen  Unter- 
grundes. Das  erste  Einsetzen  der  Schollenver- 
schiebungen läßt  sich  zeitlich  nicht  festlegen.  Für 
die  heutigen  Verhältnisse  sind  aber  wesentlich 
maßgebend  die  Bewegungen  der  jüngeren  Tertiär- 
zeit. Zu  erwähnen  ist  besonders,  daß  bei  Aachen 
zuerst  nachgewiesen  wurde,  daß  die  Schollen- 
verschiebungcn  in  der  Diluvialzeit  noch  nicht  zur 
Ruhe  gekommen  waren. 

Bei  dem  hohen  Interesse,  das  das  Aachener 
Gebiet  in  bergbaulicher  Hinsicht  verdient, 
ist  es  von  besonderer  Wichtigkeit,  daß  sowohl 
Steinkohle  als  auch  Braunkohle  und  Erze 
besondere  auf  die  Praxis  und  die  wirtschaftliche 
Bedeutung  Bezug  nehmende  Bearbeitungen  er- 
fahren haben,  und  daß  die  Erläuterungen  die 
Profile  sämtlicher  Tiefbohrungen  aus  dem  Karten- 
gebiet enthalten.  Die  Lage  der  Bohrungen  ist 
den  Karten  selber  zu  entnehmen.  Im  Anschluß 
an  die  bergbaulichen  Bearbeitungen  sind  auch  den 
wichtigen  nutzbaren  Gesteinen  und  Bodenarten 
besondere  Kapitel  gewidmet. 

Praktisch  und  wissenschaftlich  gleich  wertvoll 
ist  schließlich  noch  die  Bearbeitung  der  hydro- 
logischen Verhältnisse,  die  bei  dem  Blatt  Aachen 
auch  die  Thermalquellen  besondere  berück- 
sichtigt. 

Lieferung  169  enthält  5  Blätter  mit  Erläu- 
terungen, einer  Obersichtskarte  und  einer  Licht- 
drucktafel : 

Blatt  Köslin  bearbeitet  durch  L.  Finckh, 

„    Bulgrin  „  „      O.  Schneider 

u.  H.  Menzel, 
„    Seeger  „  „       L.  Finckh, 

„    Boissin  „  „       O.  Schneider, 

„    GroßTychow         „  „       L.  Finckh. 

Das  auf  diesen  Blättern  dargestellte  Gebiet 
gehört  zum  Regierungsbezirk  Köslin  und  umfaßt 
Teile  der  Kreise  Köslin,  Beigard,  und  Bublitz. 
Es  gehört  größtenteils  in  die  breite,  durch  weit 
verzweigte  diluviale  Talbildungen  gekennzeichnete 
Zone  auf  der  nördlichen  Abdachung  des  uralisch- 
baltischen  Höhenrückens,  die  sich  zwischen  der 
eigentlichen  Grundmoränenlandschaft  und  den 
Endmoränengebieten  auf  dem  Höhenrücken  selbst 
und  der  fruchtbaren  Grundmoränenebene  des 
Küstengebietes  ausdehnt.  Dieses  Gebiet  grenzt 
im  Süden  an  den  unter  der  Bezeiclinung  „Pommer- 
sche  Schweiz"  bekannten  Teil  des  Höhenrückens 
in  der  weiteren  Umgebung  des  Bades  Polzin.  Am 
geologischen  Bau  dieser  Gegend  beteiligen  sich 
vorwiegend  diluviale  und  alluviale  Bildungen. 
Vordiluviale    und    zwar   tertiäre    Schichten    treten 


in  etwas  größerer  Ausdehnung  nur  am  Gollen 
bei  Köslin  an  die  Oberfläche,  dagegen  erscheinen 
sie  in  kleineren  Flächen,  sowie  in  künstlichen  oder 
natürlichen  Aufschlüssen  an  zahlreichen  Stellen, 
besonders  im  nördlichen  und  westlichen  Teil  des 
Gebietes.  Abgesehen  von  dem  Vorkommen  von 
Oligozän  bei  Ristow  auf  Blatt  Boissin  gehören 
diese  Bildungen  vorwiegend  dem  Miozän  an.  Das 
Vorhandensein  von  Kreide  und  Jura  im  tieferen  Unter- 
grund ist  nur  durcli  einzelne  Bohrungen  bekannt  ge- 
worden. Das  Diluvium  gehört  vorwiegend  der  jüng- 
sten Vereisung  an.  Ob  ein  Teil  der  diluvialen  Bildun- 
gen zweifelhafter  Stellung  als  Ablagerungen  einer  äl- 
teren Eiszeit  anzusehen  ist,  kann  mangels  vor- 
handener Interglazialschichten  nicht  mit  Bestimmt- 
heit gesagt  werden.  Von  besonderem  Interesse 
sind  in  diesem  Gebiete  die  diluvialen  Talsande, 
die  als  Ablagerungen  in  Stauseen  am  Rande  des 
abschmelzenden  Inlandeises  aufgefaßt  werden.  Die 
Talsandflächen  werden  in  mehrere  Stufen  einge- 
teilt, die  verschiedenen  Eisrandlagen  entsprechen. 


Anregungen  und  Antworten. 

Berichtigung:  In  meinem  Artikel ;  Welclie  Bedeutung 
liabcn  die  DeckIlUgcl  der  Käfer  (Naturwissensch.  Wochenschrift 
Nr.  7)  habe  icli  mitgeteilt,  daß  nach  der  Anschauung  von  Voß 
die  Elytren  für  den  Käfer  den  Wert  von  Drachenflächen  be- 
sitzen würden.  Ich  stützte  mich  dabei  auf  Untersuchungen, 
die  Voß  1905  veröffentlicht  hat,  in  der  Hauptsache  aber  auf 
sinen  Vortrag,  den  er  auf  dem  deutschen  Zoologenkongreß 
in  Bremen  1913  gehalten  hat.  (Siehe  Verhandlungen  der  deut- 
schen zoologischen  Gesellschaft  1913).  Dort  bezeichnete  Voß 
die  Käfer  als  sogenannte  ,, Doppeldecker  oder  Drachenflieger". 
Unsere  Korrespondenz  und  persönliche  Unterhaltung  über 
diesen  Gegenstand  hat  aber  ergeben,  daß  Voß  die  Drachen- 
flächentheorie schon  seit  längerer  Zait  als  revisionsbedürftig 
erkannt  hatte  und  dies  durch  das  Wörtchen  , .sogenannte" 
und  ferner  in  der  Diskussion  zum  Vortrag  Erhard  (Verb. 
1913,  S.  225)  ausdrückte.  Die  Ansicht,  als  ob  Voß  ein  Ver- 
treter der  Drachenflächentheorie  sei,  ist  daher  hinfällig. 

Dr.  Stellwaag. 


Literatur. 

Spilger,  Dr.  Ludw.,  Biologische  Versuche.  Als  An- 
leitung zur  Benutzung  des  ,, Biologischen  Expertmenticrkastens" 
zusammengestellt.    Stuttgart,  Prof.  C.  Bopp's  Verlag.     1,20  Mk. 

Brill,  A.,  Das  Kelativitätsprinzip.  Eine  Einführung  in 
die  Theorie.  2.  Aufl.  Leipzig  und  Berlin  '14,  B.  G.  Teubner. 
1,20  Mk. 

Loren tz,  Dr.  H.  A.,  Das  Kelativitätsprinzip.  Drei  Vor- 
lesungen, gehalten  in  Teylers's  Stiftung  zu  Haarlem.  Bearbeitet 
von  Dr.  W.  H.  Keesom.  Leipzig  und  Berlin  '14,  B.  G.  Teub- 
ner.    1,40  Mk. 

Schlechter,  Dr.  Rud.,  Die  Orchideen,  ihre  Beschreibung, 
Kultur  und  Züchtung.  Handbuch  für  Orchideenliebhaber, 
Kultivateure  und  Botaniker.  Lieferung  2  —  4  (vollständig  in 
10  Lieferungen   ä   2,50  Mk.).   Berlin   '14,      P.   Parcy. 


Inhalt:  Halbfaß:  Vom  Wasserhaushalt  der  Erde.  Bräuer;  Sloßionisation.  —  Einzelberichte:  Lipman:  Der  Antago- 
nismus der  Salze  und  seine  Bedeutung  für  den  Pflanzenbau.  Lipman  und  Burgeß;  Einfluß  der  Schwermetallsalze 
auf  Ammonifizierung  und  Nitritizierung  im  Boden.  Keßler:  Die  Entstehung  von  Schwarzwald  und  Vogesen.  Lecail- 
lon:  Rudimentäre  natürliche  Parthenogenese.  Marchand:  Epigastrius  parasiticus.  Gehne,  Heim,  Mawson; 
Neuere  Forschungsreisen.  —  Bücherbesprechungen:  Planck,  Debye,  Nernst,  v.  Smoluchowski,  Sommer- 
feld und  Lorentz:  Vorträge  über  die  kinetische  Theorie  der  Materie  und  der  Elektrizität.  Das  Pflanzenreich.  Geo- 
logische Karte  von  Preußen  und  benachbarten  Bundesstaaten  I  :  25000.  —  Anregungen  und  Antworten.  —  Literatur: 
Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  MarienstraSe   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band  ; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band. 


Sonntag,  den  27.  September  1914. 


Nummer  39. 


Lage  und  Beziehungen  der  italienischen  Vulkangebiete  zu  gleichzeitigen 

Meeren  oder  Binnengewässern. 


[Nachdruck  verboten." 


Von  Alfred  Braß  (Berlin). 


In  der  Spannkraft  des  Wasserdampfes,  der  im 
Magma  enthalten  ist,  wurde  vielfach  die  Ursache 
zum  Aufsteigen  des  Magmas  erblickt.  Neuere 
Forscher  wie  E.  Sueß  und  Dölter  vei treten 
die  Ansicht,  das  Wasser  sei  von  vornherein  im 
Magma.  Nach  anderen  Forschern  (L  y  e  11 ,  R  e  y  e  r) 
dringt  das  Wasser  durch  Spalten  in  die  Tiefe. 
Nach  ihrer  Ansicht  wären  die  Vulkane  also  stets 
an  die  Nähe  des  Meeres  oder  der  Binnengewässer 
gebunden.  Die  Lage  der  Vulkane  in  bedingungs- 
lose Abhängigkeit  von  der  Meeresnähe  zu  bringen, 
ist  nicht  annehmbar,  da  die  großen  Vulkane  von 
Ecuador  und  Mexico  in  ziemlich  großer  Entfernung 
vom  Meere  liegen.  Antonie  Täuber^)  hat  von 
diesem  Gesichtspunkte  die  tertiären  Vulkane  Un- 
garns, Böhmens,  Deutschlands  und  Frankreichs  in 
einer  Arbeit  behandelt,  die  mir  Veranlassung  zur 
vorliegenden  gegeben.  In  dieser  Arbeit  sollen  zu- 
nächst die  tätigen  italienischen  Vulkane,  die  eine 
Bevorzugung  der  Meeresnähe  zeigen,  hinsichtlich 
ihrer  Lage  zum  Meere  betrachtet  werden;  im 
zweiten  Teile  werde  ich  festzustellen  versuchen, 
ob  für  die  erloschenen  ähnliche  Verhältnisse  ge- 
herrscht  haben. 

I. 

Die  Betrachtung  beginne  ich  mit  dem  Vesuv, 
dem  einzigen,  dauernd  tätigen  Feuerberg  des  euro- 
päischen F'estlandes.  Aufgabe  dieser  Arbeit  kann 
es  nicht  sein,  einen  historischen  Bericht  über  die 
Tätigkeit  des  Vesuv  zu  geben,  der  allein  ein  Buch 
füllen  würde.  Ich  beschränke  mich  darauf,  das 
Wichtigste  mitzuteilen. 

Der  Vesuv  -)  hat,  wie  ein  jedes  von  Neapel 
aufgenommene  Bild  zeigt,  die  Gestalt  einer  zwei- 
gipfeligen  Doppelpyramide.  Die  dem  Meere  zu- 
gewandte Spitze  der  Pyramide  hat  sich  seit  dem 
Schreckenstage  der  Zerstörung  von  Pompeii  und 
Herculanum  allmählich  zur  heutigen  Gestalt  auf- 
gebaut. Vorher  bestand  nur  der  alte  Ring  eines 
längst  erloschenen  Kraters,  der  Monte  Somma. 
An  dem  Aufbau  des  Vesuv  beteiligen  sich  in  der 
Hauptsache  Aschen  und  Bomben  und  nur  unter- 
geordnet Lavaströme.  Die  ruhige  Bautätigkeit  des 
regelmäßigen  Aschen-  und  Bombenauswurfs  und 
der    gelegentlichen    Lavafluten    wird    von    Zeit    zu 


')  Neues  Jahrbuch  für  Mineralogie,  Geologie  und  Palä- 
ontologie.    XXXVI.  Beilage-Hand    1913,   p.   413  —  490. 

'']  In  der  Darstellung  folge  ich:  Mercalli,  Vulcano  e 
fenomeni  vulcanici  in  Italia.  Mil.-ino  1S83.  Parona,  Trattato 
di  geologia.  Milano  1903.  J.  Roth,  Der  Vesuv  und  seine 
Umgebung.  Berlin  1S57.  Frech,  Aus  den  Erdbeben-  und 
Vulkangebieten  Süditaliens.     1909. 


Zeit  durch  eine  heftige  Eruption  unterbrochen. 
Der  Monte  Somma  besteht  aus  trachytischen  Laven 
und  Bomben;  seit  79  sind  meist  leuzitische  Basalte 
hervorgebrochen.  Der  Versuvkegel  ist  zweifellos 
junger  Entstehung.  Auch  die  Somma  zeigt  keine 
Spuren  einstiger  Meeresbedeckung;  ihre  Unterlage 
besteht  aus  quartären  Sedimenten.  Roth  und 
Mercalli  treten  für  subacre  Entstehung  des 
Vesuv  ein. 

Dem  Vesuv  ähnelt  in  der  Art  seiner  Tätigkeit 
am  meisten  der  Ätna,^)  der  höchste  tätige  Vulkan 
Europas.  Der  Hauptkegel  erhebt  sich  aus  dem 
einen  Ende  eines  lang  gezogenen,  elliptischen 
Kraters,  des  Val  del  Bove.  Erdstöße  als  Vor- 
aussage der  Eruption  wie  beim  Vesuv,  Aschen 
und  Dampfexplosionen  großen  Maßstabes  kenn- 
zeichnen die  zahlreichen  Ausbrüche.  Lavaergüsse 
besitzen  meist  geringe  Bedeutung.  Die  Basis  des 
Ätna  ist  zusammengesetzt  aus  basaltischem,  sub- 
marinem Material,  das  sich  im  oberen  Pliozän  über 
die  Sedimente  ergossen  hat.  Der  ganze  Rest  des 
Riesenvulkans  hat  sich  seit  jener  marinen  Ab- 
lagerung langsam  auf  diesen  Sedimenten  aufgebaut, 
ist  also  von  quartärem  und  historischem  Alter. 

Ich  wende  mich  nun  zu  dem  der  Küste  Siziliens 
vorgelagerten  liparischen  Archipel,  der  sieben 
Inseln  umfaßt:  Lipari,  Salina,  Vulcano,  Stromboli, 
Filicuri,  Alicuri  und  Panaria.  Auf  die  erloschenen 
komme  ich  später  zurück.  Ich  beginne  mit  der 
Betrachtung  des  Stromboli,  dessen  vulkanische 
Tätigkeit  von  der  vesuvianischen  sich  wesentlich 
unterscheidet.  Der  Stromboli  zeigt  eine  ganz 
geringfügige  Aschenenlwicklung,  dafür  kocht  in 
seinem  Krater  beständig  ein  kleiner  Lavasee,  dessen 
rasch  erstarrende  Decke  alle  3  bis  4  Minuten  von 
einer  Explosion  zerrissen  wird.  I-'ür  einige  Minuten 
erscheint  der  W^idcrschein  der  feurigen  Lavamassen 
auf  der  stets  über  dem  Krater  schwebenden  Wolke. 

Die  Insel  Stromboli  -)  zerfällt  in  zwei  Teile, 
die  sich  zu  verschiedenen  Zeiten  gebildet  haben 
und  geologisch  stark  abweichende  Beschaffenheit 
haben.  Der  eine  ist  der  uralte  Feuerberg,  bereits 
zerstört  durch  die  Vorgänge  verschiedenster  Art, 
der  andere  ist  der  junge  tätige  Vulkan,  der  sich 
am  nordwestlichen  Abhänge  des  ersteren  ange- 
siedelt hat.  Beide  stehen  in  dem  Verhältnis  wie 
die  Somma  des  Vesuv  zu  dessen  jungem  Eruptions- 
kegel.     Das    älteste    vom    Stromboli    geförderte 


')  Sartorius  vonWaltershauscn,  Der  Ätna.  Hrsg. 
von  A.  von  Lasaul.'i.     2  Bde.     Leipzig   1880. 

■-)  Alfred  Bergeat,  Die  äolischen  Inseln.  München 
1899. 


6io 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  39 


Material  besteht  in  andesitischen  Laven  und  gleich- 
artigen Auswürflingen;  beide  wechsellagern  in 
Bänken  von  mehreren  Metern  Mächtigkeit.  Das 
Material  des  tätigen  Vulkans  ist  basaltischer  Natur. 

Eine  von  der  Tätigkeit  der  bisher  betrachteten 
Vulkane  ganz  abweichende  zeigt  der  Vulcano. 
Die  Insel  zerfällt  in  drei  Teile;  der  eine  stellt  den 
Rest  eines  alten  Vulkans  dar,  der  zweite  wird  zum 
größten  Teile  von  dem  aktiven  Vulkan,  der  Fossa 
di  Vulcano,  eingenommen,  der  dritte  nördliche 
Teil  trägt  den  merkwürdigen  Vulcanello.  Über 
die  Entstehung  der  Fossa  —  nach  der  Sage  die 
Schmiede  des  Hephaistos  —  liegen  keine  historischen 
Nachrichten  vor;  sie  ist  seit  Menschengedenken 
tätig  gewesen.  Der  Vulcanello,  der  mit  der  Fossa 
in  Zusammenhang  steht,  wird  zum  größten  Teil 
durch  übereinandergelagerte  Lavaströme  gebildet. 
Über  die  petrographische  Natur  der  Vulcanellolaven 
sind  die  Meinungen  bis  in  die  neueste  Zeit  ver- 
schieden. Sabatini')  bezeichnete  sie  als  Augit- 
Trachyt,  Mercalli-)  als  in  Noseanbasanit  über- 
gehenden Andesit.  Die  oberste  Schicht  ist  als 
typische  Fladenlava  ausgebildet. 

Die  Tätigkeit  des  Vulcano  ist,  wie  bereits  oben 
gesagt,  eine  ganz  andere  als  die  des  Ätna,  Vesuv  und 
Stromboli.  Es  sind  beim  Vulcano  intermittierende 
Eruptionen  begleitet  von  Detonationen  von  solcher 
Stärke,  daß  sie  auf  beträchliche  Entfernung  ver- 
nehmbar werden.  Lavaerguß  findet  nicht  statt. 
Die  nur  kurzdauernden  Eruptionen  wechseln  mit 
langen  Ruhepausen  und  kündigen  sich  nicht  wie 
bei  vesuvianischen  Eruptionen  durch  geodynamische 
Paroxysmen  •'')  an.  Die  vulcanianische  Phase  konnte 
man  zwischen  die  vesuvianische  und  die  nachher 
zu  betrachtende  Solfatarentätigkeit  stellen,  für  die 
die  Solfatara  in  den  Campi  flegrei  ein  Beispiel 
bietet. 

Die  Solfatara  di  Pozzuoli  ist  ein  alter  Krater, 
dessen  letzte  Lavaeruption  in  das  Jahr  1198  fällt. 
Aus  zahlreichen  Spalten  und  Rissen ,  namentlich 
aus  der  bocca,  einer  Höhlung  auf  dem  Grunde 
des  Kraters,  dringt  heißer  Schwefelwasserstoff  und 
schwefelige  Säure  mit  VVasserdampf  gemischt  hervor. 
Die  trachytischen  Kraterwände  sind  durch  sie  zu 
Grus  zersetzt  und  gebleicht  worden.  Die  Solfa- 
tara repräsentiert  einen  noch  ziemlich  intensiven 
Grad  der  sterbenden  Vulkantätigkeit.  Sie  ruht 
auf  dem  fossilführenden  Posilipptuff,  der  dem 
jüngeren  Quartär  angehört.  Die  Insel  Vulcano 
hat  auch  noch  ein  Beispiel  der  Solfatarenphase 
aufzuweisen. 

Betrachten  wir  nun  die  Lage  der  eben  be- 
sprochenen Vulkane  zum  tyrrhenischen  Meere,  so 


')  Cortese,E.,  e  Sabal ini,  V.,  Descrizione  geologico- 
petrogralica  delle  Isole  Eolie.  Vol.  VII.  delle  Memorie  de- 
scrittive  della  Carla  geol.  d'Italia.     Roma   1S92. 

^)  G.  Mercalli,  Le  ullime  eruzioni  dell' isola  Vulcano. 
Bull.  Tulc.  it.  IV.   1S79. 

G.  Mercalli,  Le  lave  antiche  e  moderne  dell' isola  Vul- 
cano.     Giorn.   d.  Mineral,  ecc.  111.    1892. 

')  Mercalli,  G.,  Nalura  delle  eruzioni  dello  Stromboli 
ed  in  generale  della  atlivil.ä  sismo-vulcanica  nelle  Eolie.  Atli 
della  societä  italiana  di  scicnze  naturali  XXIV.   iSSl. 


sehen  wir  sie  entweder  an  eine  Steilküste  (Vesuv, 
Ätna)  gebunden,  die  infolge  des  Hinabsinkens  des 
jetzt  vom  Meere  begrabenen  tyrrhenischen  F"est- 
landes  gerade  an  den  beiden  Stellen,  wo  die 
Vulkane  aufsitzen,  stark  zerrüttet  ist,  oder  als 
Inseln  (Stromboli,  Vulcano)  aus  dem  von  drei  kon- 
vergierenden, sehr  tief  hinabreichenden  Spalten 
durchsetzten  Einbruchskessel  des  liparischen  Meeres 
sich  erheben.  Überblicken  wir  die  geographische 
Verteilung  der  Vulkane  auf  der  Erde,  so  müssen 
wir  feststellen,  daß  dieselben  nicht  ordnungslos 
zerstreut  liegen,  sondern  sich  auf  bestimmte  Striche 
konzentrieren.  Die  Ursache  dieser  Verteilung  auf 
bestimmte  Zonen  ist  darin  begründet,  daß  das 
Magma  die  leichtesten  Wege  zur  Erdoberfläche 
dort  vorgezeichnet  fand,  wo  gewisse  Teile  der 
Erdkruste  infolge  starker  tektonischer  Störungen 
eine  Zerrüttung  oder  Lockerung  ihres  Gefüges  er- 
fahren haben.  Von  solchen  Zerklüftungen  sind  die 
Senkungsfelder  begleitet,  die  zur  Entstehung  der 
Meeresbecken  geführt  haben.  Daher  sind  die 
Bruchfelder  des  Meeres  und  die  seine  Steilküste 
begrenzenden  Störungsgebiete,  sowie  kontinentale 
Bruchzonen  zum  hauptsächlichen  Schauplatz  vul- 
kanischer Erscheinungen  geworden.  Solche  Ver- 
hältnisse liegen  für  den  Vesuv,  den  Ätna,  die 
Solfatara  und  die  liparischen  Inseln  vor,  die  genetisch 
in  enger  Beziehung  stehen.  Allen  ist  gemeinsam 
das  Auftreten  in  oder  an  Senkungsfeldern.  Diese 
Erscheinung  erklärt  ihre  Lage  an  und  im  Meere. 
IL 

In  als  erloschen  geltenden  Vulkandistrikten 
erlischt  die  vulkanische  Tätigkeit  nicht  immer 
gänzlich.  Gasexhalationen  sind  die  letzten  un- 
scheinbaren Nachwirkungen  der  großartigen  Er- 
eignisse früherer  Zeiten.  Da  die  Fumarolen  und 
Mofetten,  zugleich  die  aufeinander  folgenden  Sta- 
dien in  dem  Ersterben  der  vulkanischen  Tätigkeit 
bezeichnend,  in  erloschenen  Vulkangebieten  auf- 
treten und  eher  einem  im  Zustand  der  Ruhe  be- 
findlichen, erloschenen  Vulkane  nahe  kommen, 
mögen  sie  an  dieser  Stellung  Erwähnung  finden. 
Ich  denke  da  in  erster  Linie  an  die  Fumarolen 
von  Sasso,  Laderello  und  Volterra  in  Toscana, 
ferner  an  die  Gasausströmungen  am  Monte  Tabor 
auf  der  Insel  Ischia.  Das  letzte  Anzeichen  ver- 
löschender vulkanischen  Tätigkeit  bildet  die  Hunds- 
grotte in  den  Campi  flegrei,  eine  kluftartige  Höhle 
im  alten  Krater  von  Agnano. 

Das  erste  Stadium  in  dem  Bildungsprozesse 
der  Vulkane  repräsentieren  die  Vulkanembryonen 
(Branca)  der  römischen  Campagna.  In  dem 
nördlich  vom  Tiber  gelegenen  Abschnitte  der 
römischen  Campagna  befinden  sich  die  etruski- 
schen  Vulkane,  zunächst  im  Norden  der  lago  di 
Bolsena,  ein  wassergefüllter  vulkanischer  Kessel, 
dem  zwei  alte  Eruptionskegel  als  Inseln  entragen. 
Eingebettet  in  einen  halben  Krater  liegt  an  seinem 
Südende  das  durch  seinen  Wein  bekannte  Städt- 
chen   Montefiascone.      Mercalli^)    erkannte    im 


')  Mercalli,    G. ,    Contribuzione    allo  Studio  Geologico 


N.  F.  Xm.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


6ii 


Gegensatz  zu  Sabatini/)  nach  dessen  Ansicht 
die  Höhe  von  IVIontefiascone  kein  vulkanischer 
Krater  sei,  verschiedene  Lavaströnie,  die  ihren 
Ausgangspunkt  von  den  zwei  Spitzen  Montefias- 
cone  und  Monte  Calvario  hatten.  Bei  Montefias- 
cone  hat  M  e  r  c  a  1 1  i  auch  Anhäufungen  von  losen 
Auswurfsprodukten,  wie  Bomben,  Lapilli,  entdeckt. 
Es  folgt  weiter  südlich  der  Monte  Cimino. 
Das  Ciminer  Gebirge  mit  dem  lago  di  Vico  stellt 
einen  Doppelvulkan  dar,  dessen  älteren  Teil  der 
Monte  Cimino  bildet,  und  dessen  jüngerer,  flacher 
Kegel  den  weiten  Kratersee  von  Vico  mit  dem 
Monte  Venere  umschließt.  Ponzi'-)  undVerri^) 
haben  die  innige  genetische  Beziehung  beider 
Vulkane  erkannt.  Am  Ende  der  älteren  Pliozän- 
zeit erfolgten  an  der  Stelle ,  wo  sich  heute  der 
Monte  Cimino  erhebt,  gewaltige  Trachytergüsse, 
begleitet  von  Aschenregen  und  Tuffbildung.  Aus 
diesem  Material  baute  sich  im  pliozänen  Meere 
über  mesozoischen  Kalkfelsen  und  jungtertiären 
Sedimenten  ein  Berg  ■*)  auf,  dessen  Flanken  später 
weitere  Trachytmassen  entquollen.  Dann  öffnete 
sich  amSüdabhange  des  Vulkans  ein  neuer  Schlund, 
der  Krater  des  jetzigen  lago  di  Vico,  der  dann 
der  Mittelpunkt  der  ganzen  vulkanischen  Tätig- 
keit wurde,  während  der  ursprüngliche  erlosch. 
Durch  das  Auftreten  von  leuzitführenden  Laven 
unterscheidet  sich  der  lago  di  Vico  von  dem 
älteren  Monte  Cimino,  der  nur  trachytische  oder 
andesitische  Gesteine  gefördert  hat.  Der  jetzige 
lago  hat  im  Laufe  der  Zeiten  verschiedene  Phasen 
durchgemacht.  In  seiner  ersten  Periode  lieferte 
er  gewaltige  Massen  von  Leuzitlaven,  darauf  folgten 
Lapilli  und  Ascheneruptionen,  deren  letzte  zur 
Entstehung  mächtiger  Tuffmassen  Veranlassung 
gab.  Diese  Tuffe  bedecken  die  ganze  Umgebung 
des  Monte  Cimino  in  weitem  Kreise.  Nach  Verri 
ist  dann  ein  Einsturz  des  hoch  aufragenden  Vul- 
kans erfolgt,  und  es  hat  sich  das  Seebecken  ge- 
bildet. Als  Rest  des  Aschen-  und  Lavakegels  sei 
der  Monte  Venere  übrig  geblieben ,  der  nicht  eis 
letzter  zentraler  Kegel  aufzufassen  sei.  Nach 
Deecke  und  nach  vomRath")  ist  er  als  selb- 
ständiger Vulkan  zu  betrachten.  Das  Gebiet  der 
Monti  Cimini  stellt  sich  als  Analogon  den  Campi 

dei  Vulcani  Viterbesi.     Roma   1903.     Mern.    Pont.  Acc.  Nuovi 
Lincei. 

')  Sabatini,  V. ,  De  l'etat  acluel  des  recherch.  sur  les 
volcans  de  l'Italie  centr.  C.  R.  Congres  geol.  intern.  Paris 
1901,  pag.  366. 

Derselbe,  Vulcano  Laziale ,  Mcm.  descr.  di  Carta  Geol. 
d'Italia,  X,   1900. 

'}  Ponzi,  Descrizione  della  carta  geologica  della  pro- 
vincia  di  Viterbo.  Atti  d.  Accad.  Pontif.  d.  Nuovi  Lincei. 
Tomo  IV.  Anno  IV.  1850— 1851,  p.  I56ff.  Id.  La  Tuscia 
romana  e  la  Tolfa.     Mem.  d.  R.   Accad.   dei  Lincei.     1877. 

'l  Verri,  I  vulcani  Cimini.  Mem.  d.  R.  Accad.  dei 
Lincei.     Seria  III.  a.   vol.  Villa.      1880. 

■*)  Deecke,  Bemerkungen  zur  Enstehungsgeschichte  und 
Gesteinskunde  der  Monti  Cimini.  Neues  Jahrbuch  für  Mine- 
ralogie. VI.  Beilage-Band.   1889. 

)  vom  Rath,  Geognostisch  -  mineralogische  Fragmente 
aus  Italien.  L  Teil,  I.  Rom  und  die  römische  Campagna. 
Zeitschrift  der  deutschen  geol.  Gesellschaft  .Will.  1867,  S.  506  f. 


flegrei  und  dem  Vesuv  zur  Seite.  Denn  auch  bei 
diesen  Eruptionszentren  sehen  wir  in  den  geför- 
derten Laven  trotz  ihrer  benachbarten  Lage  funda- 
mentale Unterschiede. 

Nordwestlich  von  Rom  erscheint  das  Maar  von 
Bracciano,  das  besonders  gewaltige  Massen  von 
Aschen  und  Schlacken  ausgeworfen  hat. 

Die  Eruptionen  der  etruskischen  Vulkane  be- 
gannen im  Pliozän,  waren  nach  de  Stefani') 
submarin  oder  schleuderten  ihre  Produkte  wenig- 
stens ins  Meer.  Ihre  Tätigkeit  dauerte  fort  in 
einer  Gegend  von  litoralen  Sümpfen ,  so  daß  sie 
schließlich  subaer  wurden. 

Als  selbständiges  Zentrum  ragt  im  Südosten 
der  ewigen  Stadt  das  bekannteste  unter  den  er- 
loschenen Vulkangebieten  Italiens  hervor,  das 
Albanergebirge,  das  bedeutend  jünger  ist  als  die 
besprochenen  Maare  Etruskiens.  Diese  Bergoase 
in  der  öden  Campagna  besteht  vor  allem  aus 
einem  Krater  von  riesigem  Durchmesser.  Ober- 
halb Frascatis  beginnend,  zieht  sich  der  etwa 
18  km  weite  Ringwall  vom  Tusculaner  Berg  an 
Rocca  Priora  vorbei  zum  Monte  Ceraso,  dann 
zum  Monte  Vescovo  und  endet  endlich  über  dem 
See  von  Nemi  im  langgestreckten  Monte  Arte- 
misio.  Dieser  Höhenzug  bildet  keinen  vollständi- 
den  Ringwall,  sondern  ist  gegen  Westen  geöffnet, 
vermutlich  eingestürzt,  und  in  dieser  Lücke  liegen 
drei  kleinere  Kraterbecken,  von  denen  zwei,  der 
lago  di  Albano  und  der  lago  di  Nemi,  noch  heute 
mit  Wasser  gefüllt  sind,  während  das  dritte,  das 
Valle  di  Ariccia,  wenigstens  jetzt  trocken  liegt. 
Im  Zentrum  des  großen  Ringgebirges  steht  ein 
zweiter  innerer  Kratergipfel,  der  sich  zu  jenem 
verhält  wie  der  Vesuv  zur  Somma.  Dieser  zen- 
trale Krater  des  Albanergebirges  ist  ebenfalls 
nach  Westen  nicht  geschlossen;  er  umfaßt  in 
seinem  Innern  eine  Ebene,  das  sog.  Lager  des 
Hannibal,  einen  alten  Seeboden.  Das  Albaner- 
gebirge hat  eine  Reihe  bedeutender  Ströme  von 
Leuzitlava  in  die  Campagna  gesandt,  von  denen 
sich  die  beiden  größten  bis  nahe  an  Rom  vor- 
schieben. 

Einen  Ausläufer  der  eruptiven  Bildungen  der 
Campagna  von  Rom  bildet  noch  die  Vulkangruppe 
des  Hernikerlandes,  die  nach  Branca'-j  folgende 
Vulkane  umfaßt:  i.  Giuliano,  2.  Patrica,  3.  Selva 
dei  Muli,  4.  Tichiena,  5.  Callame,  6.  San  Fran- 
cesco, 7.  San  Marco,  8.  Pofi.  Die  Vulkane  liegen 
am  Fuße  des  Volskergebirges  fast  im  Halbkreise 
um  die  Stadt  Frosinone.  Der  Giuliano  hat  Lava 
hervorgebracht  sowie  Tuffe  und  Lapilli ,  während 
bei  dem  Patrica  Lavaerguß  nur  geringe  Bedeutung 
hat.  Der  Selva  di  Muli  erhebt  sich  als  isolierter 
Hügel,  auf  Tuffschichten  aufgesetzt,  aus  der  Sacco- 
ebene.      Schlacken   und    zersetzte  Lapilli   sind    an 


')  de  Stefani,  I  vulcani  spcnti  deil'  Appen.  Settentr. 
Boll.  Soc.  Geol.  Ital.  X,  3,  449—555,  1892. 

^)  W.  Branca,  Die  Vulkane  des  Hernikerlandes  bei 
Frosinone  in  Mittelilalicn.  Neues  Jahrbuch  für  Mineralogie, 
Geologie  und  Paläontologie  1S77.  Dort  weitere  Literatur- 
angaben. 


6l2 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  39 


verschiedenen  Stellen  aufgeschlossen.  Das  Vor- 
kommen dieser  Massen  macht  es  wahrscheinlich, 
daß  hier  ein  kleiner  Vulkan  mit  nur  kurzem  Da- 
sein steht.  Sehr  bald  erlosch  er.  Tuffe,  die  steten 
Begleiter  aller  übrigen  Vulkane  des  Hernikerlandes, 
fehlen  beim  Tichiena.  Nur  Lavaströme  sind  durch 
Steinbrüche  aufgeschlossen.  Der  Callame  ist  der 
einzige  Vulkan,  der  eine  Kraterbildung  zeigt.  Die 
von  dem  Hügel  S.  Fiancesco  herabkommenden 
Laven  sind  als  von  einem  kleinen  selbständigen 
Vulkan  herrührend  aufzufassen,  da  die  Lage  des- 
selben isoliert  ist,  ferner  nicht  unbeträchtliche 
Schlackenmassen,  große  Mengen  von  Lavakugeln 
in  der  Umgebung  des  Vulkans  zu  finden  sind,  die 
durch  ihre  Struktur  und  ihre  Farbe  große  Über- 
einstimmung mit  der  Masse  des  Lavastromes 
zeigen.  Diesen  und  den  S.  Marco  fügte  Branca 
zu  den  sechs  bereits  von  Ponzi  entdeckten  Vul- 
kanen hinzu.  Der  San  Marco  liegt  durch  tertiäres 
Gebiet  fast  völlig  getrennt  von  der  großen  Tuff- 
Lapilliablagerung,  die  sich  um  Pofi  ausdehnt.  Seine 
Umgebung  zeichnet  sich  durch  ungeheure  Massen 
von  Lapilli  aus,  während  Tufte  mehr  zurücktreten. 
Lava  anstehend  hat  Branca  nicht  gefunden. 

Das  Dorf  Pofi  ist  auf  einem  Vulkan  erbaut. 
Der  eigentliche  Kegel  zeigt  fast  nur  Schlacken, 
Lapilli  und  Tuffe.  Nur  im  Norden  nahe  vor  dem 
Dorfe  ist  ein  Aufschluß  von  Lava,  im  übrigen  ist 
sie  bedeckt  von  losen  Auswürflingen.  Den 
Aruara  spricht  Branca  nicht  als  selbständigen 
Vulkan  an.  Die  Zeit  der  Tätigkeit  der  Herniker- 
vulkane  fällt  nach  den  Untersuchungen  Branca's 
zwischen  Jungtertiär  und  Alluvium.  Nach  Ponzi 
sind  die  Vulkane  bei  Beginn  des  Alluviums  be- 
reits erloschen.  Nach  Branca  sind  sie  jünger 
als  die  mittel-  und  jungtertiären  Schichten,  älter 
als  gewisse  alluviale  Bildungen. 

Südlich  vom  Gebiete  des  Hernikerlandes  hört 
jede  Spur  von  Eruptivbildungen  für  eine  kurze 
Strecke  auf.  Im  Südosten  zwischen  dem  Bene- 
diktinerkloster Monte  Cassino,  dem  Meere  und 
dem  Städtchen  Teano  erhebt  sich  die  Rocca  Mon- 
fina,  deren  Aschen  die  benachbarten  Appenin- 
höhen  bedecken  und  die  Täler  meterhoch  anfüllen. 
Heute  gilt  der  Vulkan  als  erloschen,  269  v.  Chr. 
soll  er  seine  letzte  Eruption  gehabt  haben.  Die 
Rocca  Monfina  besteht  aus  einer  zentralen  Kegel- 
gruppe aus  Trachyt,  die  ein  aus  Leuzitgestein 
bestehender  Ringwall  umgibt. 

Eine  Reihe  interessanter  Vulkantypen  liefert 
die  Umgebung  Neapels.  Unmittelbar  vor  dem 
Westen  der  Stadt  liegt  ein  Vulkangebiet  mit 
zahlreichen  Ausbruchsstellen,  das  phlegräische 
Gefilde.  Das  ganze  Ausbruchsgebiet  der  Campi 
flegrei  ist  als  einziger  Vulkan  aufzufassen  nach 
Sieberg,')  dessen  Aschenkegel  der  langsam 
gegen  die  Cam panische  Ebene  abfallende  Berg 
von  Camaldoli  ist,  und  den  das  Meer  quer  durch- 
brochen hat.      Auf  dem   ehemaligen  Kraterboden 


trägt  er  die  zahlreichen  Ringberge  und  Vulkan- 
ruinen, die  diese  Gegend  einer  Mondlandschaft  so 
ähnlich  machen.  Der  Charakter  '}  dieses  Gebietes 
besteht  in  dem  ausschließlichen  Vorherrschen 
trachytischer  Gesteine,  in  dem  Zurücktreten  von 
Laven,  in  dem  enormen  Vorwiegen  von  losen 
Auswurfsprodukten  und  aus  ihnen  gebildeten 
Tuffen  und  darin,  daß  sich  im  Laufe  der  Zeit 
bald  hier,  bald  dort  eine  Bocca  gebildet  hat,  die 
bald  nur  eine,  bald  einige  wenige  Eruptionen 
liefert  und  dann  wieder  in  Ruhe  versinkt.  Die 
Zahl  der  Krater  ist  bedeutend  (einige  zwanzig). 
Es  ist  natürlich  nicht  möglich,  hier  die  einzelnen 
Vorkommen  zu  schildern,  nur  einige  der  merk- 
würdigsten mögen  erwähnt  werden.  Eine  der 
vollendetsten  Kraterformen  ist  der  Astroni.  Er 
besteht  aus  trachytischem  Tuff,  aus  den  losen 
Auswürflingen  des  Vulkans,  der  nie  Lava 
zutage  gefördert  hat.  \^on  einer  Tätigkeit  des 
Astroni  in  historischer  Zeit  ist  nichts  bekannt. 
Der  wichtigste  Punkt  in  den  Campi  flegrei  ist 
der  Monte  Nuovo,  der  sich  im  Jahre  1538  im 
Laufe  weniger  Tage  durch  eine  heftige  Eruption 
aufgebaut  hat  bis  zu  einer  Höhe  von  139  m.  Es 
ist  dies  einer  der  seltenen  Fälle,  in  denen  wir 
genauere  Berichte  -)  über  das  Entstehen  eines 
neuen  Vulkans  haben.  Der  Berg  besteht  aus 
Asche,  Sand  und  Schlacken,  gemengt  mit  Bruch- 
stücken der  durchbrochenen  und  zerstörten  hellen 
Tuffmassen  des  Untergrundes.  Spuren  eines  Lava- 
stromes sind  nicht  vorhanden.  Aus  demselben 
Material  wie  der  Monte  Nuovo  besteht  nach 
Deecke^)  der  Vulkan  der  Fossa  Lupara.  Dieser 
zeigt  zwei  Ringwälle  und  einen  zentralen  Krater- 
kegel, muß  daher  der  Sitz  einer  länger  dauernden, 
wahrscheinlich  in  prähistorische  Zeit  fallenden 
Tätigkeit  gewesen  sein.  Dicht  neben  dem  Monte 
Nuovo  liegt  der  Averner  See,  ein  mit  Wasser 
gefülltes  Kraterbecken ,  in  dessen  Nähe  heiße 
Quellen  aufsteigen.  An  die  phlegräischen  Felder 
schließen  sich  an  die  Inseln  Nisida  und  Procida, 
von  denen  Nisida  eine  ausgezeichnete  Form  von 
Kratern  aufweist,  die  sich  bei  Inselvulkanen  viel- 
fach wiederfindet.  Der  Kraterboden  liegt  tiefer 
als  der  Meeresspiegel,  und  das  Meer  ist  durch 
eine  Lücke  im  Ringwall  eingedrungen  und  füllt 
eine  kreisförmige  Bucht  aus. 

Weiterhin  bildet  die  Insel  Ischia  eine  Fort- 
setzung der  phlegräischen  Felder.  Von  allen 
Vulkanen ,  die  sich  in  diesem  Gebiete  befinden, 
ist  Ischia  der  wichtigste  nicht  nur  wegen  der 
Höhe  des  vulkanischen  Gebirges  und  des  Um- 
fanges  der  Tätigkeit,  sondern  wegen  der  Ver- 
schiedenheit der  Produkte  und  der  langen  Dauer 
der  Tätigkeit.  Der  Epomeo  bildet  den  wirklichen 
Kern    der  Insel;    rings    um    ihn    häufen    sich    die 


')  August  Sieberg,   Einführung   in  die  Erdbeben-  und 
Vulkankunde  Süditaliens.     Jena   1914. 


')  G.  de  Lorenzo,  L'attivitä  vulcanica  nci  Campi  flegrei. 
Rcnd.  .Accad.  de  sc.  fis.  e  mat.  Napoli  (3.)  10.      1904,  203 — 221. 

'-)  Berichte  von  Francesca  del  Nero  und  Marco  Antonio 
degli  Falconi. 

^)  D  e  e  c  k  e ,  Fossa  Lupara.  Zeitschrift  der  Deutschen 
geologischen  Gesellschaft  1888,   pag.    166. 


N.  F.  Xin.  Nr.  39 


NatunvissenscIiafUiche  Wochenschrift. 


613 


Produkte  zahlreicher  Eruptionen  an.  Dieser  zen- 
trale Teil  der  Insel  setzt  sich  zusammen  aus  einer 
besonderen  Art  von  Tuff,  der  an  einzelnen  Stellen 
nach  Fuchs')  von  den  Produkten  eines  zersetzten 
Tuffcs  bedeckt  wird.  Der  Epomeo  hat  schon 
vor  langer  Zeit  seine  Tätigkeit  eingestellt,  dagegen 
haben  sich  an  seinen  Planken  zahlreiche  Neben- 
kegel gebildet.  Einer  von  diesen,  der  Monte 
Rotaro,  hat  selbst  wiederum  an  seinem  Fuße 
einen  kleinen  sekundären  parasitischen  Krater  er- 
halten, den  Monte  Tabor,  aus  dem  sich  ein  Lava- 
strom bis  in  das  Meer  ergossen.  Die  letzte  P^rup- 
tion  fand  1302  aus  dem  Nebenkegel  Cremate  am 
Seitenabhang  des  Epomeo  statt  und  lieferte  einen 
mächtigen  Lavastrom.  Andere  Eruptionen  erfolg- 
ten, wie  berichtet  wird,  47  u.  92  v.  Chr.  Heute 
erinnern  nur  noch  P'umaroleii  und  heiße  Quellen 
an  die  einstige  Tätigkeit. 

In  genetischem  Zusammenhang  mit  den  Vul- 
kanen des  neapolitanischen  Einbruchsgebietes  steht 
die  an  der  Westküste  Neapels,  unweit  des  Golfes 
von  Gaeta  gelegene,  pontinische  Inselpruppe,  die 
fünf  größere  Inseln  umfaßt:  i.  Ponza,  2.  Palma- 
rola,  3.  Zannone,  4.  Ventotene  und  5.  Santo 
Stefano.  Zwei  Gruppen  kann  man  unterscheiden, 
eine  westliche  aus  den  drei  ersten  bestehend,  und 
eine  östliche,  von  den  zwei  letzteren  gebildet. 

Die  Insel  Ponza  zerfällt  in  drei  Teile  nach 
Dölter.  ^)  Der  südliche  TeiP)  wird  von  dem 
Monte  La  Guardia  und  einer  kleinen  Halbinsel, 
östlich  vom  Hauptorte  Ponza,  gebildet.  Der 
mittlere  Teil  ist  der  größte.  Den  höchsten  Punkt 
bildet  der  Monte  Tre  Venti.  Der  dritte,  nörd- 
lichste ist  der  Höhe  nach  der  niedrigste.  Das 
große  Massiv  des  Monte  La  Guardia  besteht  aus 
einem  dunklen  zwischen  Andesit  und  Trachyt 
stehenden  Gesteine,  das  D  ö  I  t  e  r  Sanidin- 
Plagioklas- Trachyt  genannt  hat.  Sehr  ver- 
breitet kommt  auf  der  Insel  in  Gängen  Rhyo- 
lith  vor,  der  ganz  den  von  Richthofen  in 
Ungarn  als  Rhyolithe  bezeichneten  Gesteinen  ent- 
spricht. Das  am  weitesten  über  die  Insel  ver- 
breitete Gestein  ist  Trachytbreccie, )  das  aus  fein 
zerriebenem  porösen  Tuff  besteht.  Tuffschichten 
erreichen  eine  ziemlich  bedeutende  Mächtigkeit. 
Ein  hohes  geologisches  Alter  schreibt  Dölter 
dem  Ponzavulkan  nicht  zu.  Nach  seiner  Ansicht 
hat  er  sich  im  Pliozän  gebildet;  dafür  sprechen 
die  Analogien  mit  anderen  vulkanischen  Gebieten. 
Die  aktive  Periode  vulkanischer  Tätigkeit  ist  längst 
erloschen.  Weder  in  Exhalationen  noch  in  heißen 
Quellen  finden  sich  Nachwehen  derselben.     Nach 


')  C.  W.  C.  Fuchs,  L'isola  d'Ischia.  Monografia  e 
Carla  geologica  1:25000.     t'irenze   1872. 

'^)  Dölter,  Die  Vulkangruppe  der  pontinischen  Inseln. 
Wien   1875. 

^)  Hamilton,  BericlU  über  den  gegenwärtigen  Zustand 
des  Vesuv  und  Beschreibung  einer  Reise  in  die  Provinz  Abruzzo 
und  nach  der  Insel  Ponza  (siehe  bei  Dölter,  Vulkangruppe 
der  pontinischen  Inseln). 

*)  Abbe  Fortis,  Osservazioni  litografiche  suUe  isole  di 
Ventotene  e  Ponza  (siehe  bei  Dölter,  Vulkangruppe  der 
pontinischen  Inseln). 


Dölter  erfolgten  die  Eruptionen  nur  an  der  Ost- 
küste und  begannen  mit  dem  Auswurfe  von 
Trachytbreccie,  hierauf  folgten  die  gangförmigen 
Durchbrüche  des  Rhyoliths  und  die  Stromausgüsse 
des  Sanidin-Trachyts,  denen  der  Auswurf  der 
verschiedenen  Tuffe  sich  anschloß. 

Die  Insel  Palmarola  besteht  aus  einem  von 
Süden  nach  Norden  ziehenden  Gebirgszug  und 
baut  sich  auf  aus  einer  Decke  von  Trachytbreccie, 
die  von  zahlreichen  Trachytgängen  durchbrochen 
ist.  Alle  diese  (länge  kommen  aus  ein  und  dem- 
selben Eruptionszentrum.  Gegen  Süden  bricht 
ein  mächtiger  Trachytgang  durch  die  Tuffbreccie, 
derselbe  nimmt  ein  Drittel  des  Gebirgsrückens 
ein.  Ein  zweiter  Gang,  heute  nicht  mehr  voll- 
kommen erhalten,  wird  von  den  beiden  Inseln 
P'araglioni  und  Faraglioni  pallante  und  der  Halb- 
insel della  Torre  gebildet.  Ein  weiterer  Gang 
ryolithischer  Natur  zieht  sich  von  Westen  nach 
Osten.  An  den  Küsten  Palmarolas  findet  sich 
eine  größere  Anzahl  von  Inselchen,  die  offenbar 
früher  zu  derselben  gehörig,  durch  die  Wirkung 
der  Meereswogen  von  der  Hauptinsel  losgerissen 
wurden. 

Der  geologische  Bau  der  Insel  Zannone  ist 
ein  ziemlich  einfacher.  Bei  weitem  der  größte 
Teil  der  Insel  besteht  aus  einer  gangförmig  auf- 
tretenden Rhyolithmasse.  Der  nordöstliche  Teil 
dagegen  wird  von  dem  abgerissenen  Stücke  eines 
geschichteten  Gebirges  gebildet.  Das  Alter  konnte 
Dölter  wegen  Mangels  an  Petrefakten  nicht  mit 
Genauigkeit  feststellen. 

Obgleich  allem  Anscheine  nach  die  Periode  der 
Insel  Ventotene  verhältnismäßig  einer  jüngeren 
Zeit  angehört,  finden  sich  nirgends  mehr  Anzeichen 
vulkanischer  Tätigkeit.  Daß  andererseits  auch  die 
Formen  des  rezenten  Vulkans  nicht  in  ihrer  ur- 
sprünglichen Gestalt  zurückgeblieben  sind ,  wird 
keinen  wundern,  wenn  man  die  fortdauernden 
Wirkungen  der  Meereswässer  auf  die  Insel  ins 
Auge  faßt.  Lavaströme  mit  darüber  liegenden 
Tuffschichten  bauen  die  Insel  auf.  Die  Ortschaft 
Ventotene  liegt  auf  dem  jüngsten,  dem  Peperin 
ähnlichen  Gestein  der  Insel;  an  der  Südwestspitze 
erhebt  sich  aus  dem  Meere  eine  mächtige  Basalt- 
decke. 

Der  geologische  Bau  der  Insel  Santo  Stefano 
ist  dem  der  Insel  Ventotene  ganz  ähnlich.  Die 
Insel  besteht  aus  Lavaströmen  und  darüber  liegen- 
den Tuffschichten.  Die  Lavadecke  auf  Santo 
Stefano  hat  eine  größere  Mächtigkeit  als  auf 
Ventotene.  Nach  der  Ansiciit  D  öl  t  e  r  '  s  sind  die 
beiden  Inseln  Ventotene  und  Santo  Stefano  Über- 
reste eines  großen  Kraters,  der  nach  Norden  und 
Süden,  wenigstens  durch  Tuffschichten,  geschlossen 
war.  Durch  spätere  Einflüsse  der  Denudation 
entstand  der  Kanal  von  Santo  Stefano.  Ange- 
nommen jedoch,  es  wären  zwei  Öffnungen  ge- 
wesen, aus  denen  die  beiden  Inseln  sich  gebildet 
haben,  so  müssen  sie  ziemlich  gleichzeitig  bestan- 
den haben,  wofür  die  Identität  der  Tuffe  spricht. 
Die  beiden  Lavaströme  sind  nicht  gleichzeitig  ent- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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standen,  da  der  eine  zu  den  sauren  trachytischen 
Laven  gehört,  während  der  andere  aus  basaltischer 
Lava  besteht. 

Ich  wende  mich  nun  zu  den  erloschenen 
Vulkanen  der  äolischen  Inseln.  Lipari  nimmt 
unter  diesen  sowohl  nach  Größe  als  auch  wegen 
seiner  Fruchtbarkeit  und  Bevölkerungszahl  die 
erste  Stelle  ein.  Auch  durch  ihre  Oberflächen- 
beschaffenheit ist  sie  vor  ihren  Schwestern  aus- 
gezeichnet. Sie  ist  vielgestaltig,  reich  an  Kuppen 
und  Höhenrücken  und  durch  die  gleichzeitige 
Tätigkeit  einer  großen  Anzahl  von  Vulkanen  ent- 
standen, von  denen  nur  einer,  der  jüngste,  näm- 
lich der  Monte  Pelato, ')  fast  ganz  in  seiner  ur- 
sprünglichen Gestalt  erhalten  ist,  während  ein 
Teil  durch  das  Meer  bis  fast  zur  Unkenntlichkeit 
zerstört,  die  Gestalt  anderer  durch  Tuffablagerun- 
gen verschiedener  Herkunft  mehr  oder  weniger 
verdickt  und  verwischt  worden  ist.  Nicht  nur 
der  Ort,  sondern  auch  die  chemische  Zusammen- 
setzung der  Produkte  der  lange  Zeit  hindurch 
vor  sich  gehenden  Ausbrüche  haben  gewechselt; 
mit  der  Förderung  basaltischen  Materials  haben 
sie  begonnen  und  sich  mit  dem  Hervorbringen 
ganz  saurer  Massen  erschöpft.  Der  schönste  und 
besterhaltene  der  erloschenen  Vulkane  Liparis 
ist  der  Bimsteinkratcr,  dessen  Umwallung  im 
Monte  Pelato  seine  höchste  Erhebung  erreicht  und 
einen  2  km  langen  Obsidianstrom  gefördert  hat. 
Aus  den  verschiedenartigen,  lockeren,  vulkanischen 
Massen  (Tuffe  und  Agglomcrate)  kann  man  auf 
die  verschiedenen  Ausbrüche  schließen.  Ein  Teil 
der  Auswurfsprodukte  hat  sich,  wie  auch  auf  den 
übrigen  Inseln,  unter  Wasser,  ein  anderer,  jüngerer, 
auf  dem  Trockenen  abgelagert. 

Es  folgt  die  Insel  Salina,  die  sich  aus  den 
Produkten  von  vier  heute  noch  über  dem  Meeres- 
spiegel wahrnehmbaren  Vulkanen  aufgebaut  hat: 
Die  Fossa  delle  felci,  der  Monte  dei  Porri,  der 
Monte  Rivi,  der  Krater  von  Pollara.  Die  Fossa 
delle  felci  erinnert  in  ihrer  Struktur  an  den  Strom- 
boli,  übertrifft  ihn  aber  durch  die  Mächtigkeit 
ihrer  Lavaströme  und  Agglomeratmassen.  Der 
Gipfel  wird  von  braunen  Tuffen  bedeckt.  Die 
Laven  sind  Pyroxenandesite.  Der  Monte  dei 
Porri  ist  der  jüngste  Vulkan  Salinas.  Seine  Laven 
nehmen  stets  ein  höheres  Niveau  ein,  als  die  der 
Fossa,  sie  haben  sich  über  diese  ergossen.  Der 
Monte  Rivi  stellt  die  Ruine  des  bedeutendsten  der 
drei  Sabinakegel  dar  nach  Hoffmann.  ^)  Das 
vom  Rivi  geförderte  Material  ist  basaltischer  Natur; 
er  ist  die  älteste  Bildung  der  Insel.  Von  Tuffen 
der  Fossa  ist  er  bedeckt,  und  Laven  sind  auf  ihn 
übergetreten.  Bergeat  hält  den  Pollarakrater 
für  einen  verhältnismäßig  jungen.  Die  vulkanische 
Tätigkeit  ist  auf  der  Insel  bis  auf  unbedeutende 
Gasausströmungen  gänzlich  erloschen. 

Die   Insel    Panaria   stellt    ein  aus  Hornblende- 


andesiten  bestehendes  Massiv  dar,  die  Reste  eines 
Vulkanstockes,  der  ähnlich  Lipari,  aus  einer  Reihe 
von  Kegeln  bestanden  hatte.  Diese  sind  teilweise 
allmählich  der  Erosion  zum  Opfer  gefallen.  Nach 
D  o  1  o  m  i  e  u  ')  haben  diese  Kegel  früher  einen 
ungeheuren  Krater  gebildet.  Spal  lanzini -) 
schloß  sich  dieser  Ansicht  an.  Nach  Ho  ff  mann 
stellt  die  Insel  die  Reste  eines  ungeheuren  Er- 
hebungskraters dar.  Panaria  ist  nach  S  u  e  ß  ^)  die 
älteste  Bildung  der  äolischen  Inseln.  Bergeat 
ist  anderer  Ansicht.  Er  weist  ihr  eine  Stellung 
inmitten  der  Gebilde  mittleren  Alters  an.  Die 
Insel  ist  gleichaltrig  mit  gewissen  Bildungen  auf 
Filicuri,  die  auch  massige  Struktur  besitzen,  und 
deren  Gestein  in  mancher  Beziehung  dem  von 
Panaria  ähnlich  ist. 

Filicuri  ist  nur  mehr  die  stark  entstellte  Ruine 
eines  ehedem  bedeutenden  Vulkaneilandes.  Sie 
gipfelt  in  der  773  m  hohen  basaltischen  Fossa 
delle  felci.  An  ihrem  Südabhange  nehmen  zwei 
andesitische  Erhebungen  eine  selbständige  Stellung 
ein :  Montagnola  und  Terrione.  Die  Fossa  ist  der 
älteste  und  wichtigste  Teil  der  Insel.  Ihre  Laven 
sind  basaltischer  Natur.  Der  Terrione  besteht  aus 
einer  Ubereinanderfolge  von  mächtigen  Lava- 
strömen. Sein  Gipfel  zeigt  keinerlei  krater- 
förmige  Vertiefung.  Die  losen  Auswürflinge  des 
Urkraters  bilden  mächtige  Bänke  und  sind  analog 
denen  Salinas,  des  Urkegels  des  Stromboli,  des 
alten  Vulcanokraters.  Alle  das  heutige  Filicuri 
aufbauenden  Eruptionen  haben  unter  dem  Meeres- 
spiegel stattgefunden. 

Alicuri  ist  die  unbedeutendste  unter  den  äoli- 
schen Inseln.  Sie  erhebt  sich  als  einziger  Berg 
fast  ohne  irgendeine  ausgedehnte  Strandbildung, 
allenthalben  steil  geneigt  gegen  das  Meer,  ähnlich 
dem  Kegel  des  Stromboli.  Die  Insel  besteht  aus 
zwei  Teilen:  Im  Westen  bildet  eine  Wechselfolge 
von  basaltischen  Auswurfsprodukten  und  Laven, 
stellenweise  durchsetzt  von  Gängen,  den  Abhang 
des  Kegels,  den  östlichen  setzen  andesitische 
Laven  zusammen. 

Möglichst  in  Kürze  will  ich  auf  die  noch 
nicht  betrachteten  Vulkane  Sardiniens,  Toscanas, 
der  Poebene  und  der  übrigen  Distrikte  eingehen. 

Auf  der  Insel  Sardinien  ist  es  der  Monte 
Ferru,'')  der  in  dem  fast  ganz  aus  Tertiärablage- 
rungen und  vulkanischen  Bildungen  aufgebauten 
NW.  Viertel  der  Insel  eine  dominierende  Stellung 
einnimmt.  Über  einen  aus  mittelmiozänen  Trachyten 
bestehenden  L^ntergrund  haben  sich  im  Spätmiozän 
bzw.  Postmiozän  die  Laven  des  Monte  Ferru 
ergossen.  Im  Norden  des  Monte  Ferru  finden 
wir  noch  jüngere  vulkanische  Bildungen  mit  treff- 
lich erhaltenen  Schlackenkratern  und  Lavaströmen. 


')  A.  Bergeat,   Die  äolischen  Inseln.     München   1899. 
*)  Hoffmann,    Über    die    geognostische    Beschaffenheit 
der  liparischen  Inseln.     Annalen  der  Physik  und  Chemie.  1832. 


')  Dolomieu,  Voyage  aux  iles  de  Lipari  1783.     Paris. 

^)  Spallanzini,  Viaggi  alle  due  Sicilie.  6  vol.  Pavia 
1792—97. 

»)  E.  Sueß,  Antlitz  der  Erde.     Wien. 

*)  Dannenberg,  Der  Monte  Ferru  auf  Sardinien. 
Sitzungsberichte  der  Kgl.  Preußischen  Akademie  der  Wissen- 
schaften. XL,  1903  und  C.  Dölter,  11  vulc.  Monte  Ferru  in 
Sardegna.     Boll.  r.  Com.  Geol.   1S7S. 


N.  F.  Xni.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


615 


An  der  Grenze  zwischen  Toscana  und  dem 
ehemaligen  Kirchenstaat  liegt,  zugleich  der  nörd- 
lichste Punkt  der  italienischen  Vulkanreihe,  der 
Monte  Amiata  di  Radicofano,  ein  bedeutender 
Berg,  der  nach  dem  Eozän  Ströme  trachytischer 
Laven  ausgestoßen  hat,  seinen  Krater  indes  nicht 
mehr  erkennen  läßt. 

Am  Südabhange  der  Alpen  ragt  aus  der  Po- 
ebene  als  Insel  der  von  der  Denudation  stark  an- 
gegriffene, ehemalige  Trachytvulkan  des  Monte 
Venda  in  den  Euganeen  bei  Padova  empor,  auf 
den  ich  an  Hand  der  Darstellungen  von  Reyer,') 
E.  Sueß  und  Stark-)  etwas  näher  eingehen 
möchte. 

Das  Zentrum  des  Gebietes  nehmen  Trachyt- 
tuffe  ein,  durchzogen  von  zahlreichen  Trachyt- 
gängen,  von  denen  einige  auch  in  den  Bereich 
der  am  Rande  stehenden  Sedinientärhügel  hinaus- 
reichen. Diese  Gänge  laufen  strahlenförmig  im  Zen- 
trum der  ganzen  Berggruppe  am  östlichen  Ende  des 
Monte  Venda  zusammen.  Der  Venda  selbst  und 
seine  Umgebung  besteht  aus  Tuffen,  und  aus 
diesen  ragen  die  größeren  und  mächtigeren 
Trachytgänge  als  langgestreckte  Bergkämme  hervor. 
Um  die  Mitte  der  Tertiärzeit,  als  die  Tätigkeit  der 
Euganeen  endgültig  erlosch,  mag  über  dem  Venda 
ein  Aufschüttungskegel  ähnlich  dem  Ätna  gestanden 
haben,  dessen  Reste  in  den  zentralen  Tuffmassen 
zu  suchen  sind.  Die  Radialgänge  sind  die  Aus- 
füllungen jener  Spalten,  die  einst  den  Seitenaus- 
brüchen und  den  parasitischen  Kratern  die  Lava 
zuführten. 

Unter  den  italienischen  Vulkanen  nimmt  der 
Monte  Vulture  bei  Melfi  eine  besondere  Stellung 
ein.  Er  ist  der  einzige  Vulkan  an  der  Ostseite 
der  Appenninen  und  erscheint  daher  als  eine 
durchaus  selbständige  Bildung,  die  mit  keiner  der 
Vulkanreihe  an  der  Westküste  in  direkte  Ver- 
bindung gebracht  werden  kann.  Der  Vulture  '■) 
liegt  an  der  Grenze  zwischen  Apulien  und  der 
Basilicata  am  Ofanto  bei  Melfi.  Er  erhebt  sich 
auf  einem  500  bis  600  m  mächtige  Sedimentplateau 
und  steigt  an  bis  zu  einer  Höhe  von  1330  m.  An 
der  Stelle,  wo  man  den  Krater  vermuten  sollte, 
befindet  sich  ein  weites  Circustal,  das  Monticchio. 
An  der  tiefsten  Stelle  liegen  zwei  kleine  Seen. 
Der  Hauptkraterwall  trägt  auf  seinem  oberen  Rande, 
sieben  kleine  Spitzen,  durch  Erosion  bereits  stark- 
ausgewaschen,  deren  höchste  der  Monte  Vulture 
ist.  Die  weitere  Umgebung  gehört  wie  der  Se- 
dimentsockel zu  dem  östlichen  tertiären  Vorlande 
des  Appennin.  Die  wichtigsten  posttertiären 
Bildungen  sind  die  vulkanischen  Gesteine  des 
Vulture,    die  das  ganze  Plateau  zwischen  der  Fiu- 


')  Reyer,  Die  Euganeen.     Wien   1877. 

^)  Stark,  Beiträge  zum  geologisch-petrographischen  Auf- 
bau der  Euganeen  und  zur  Lakliolithenfrage.  Tschermak, 
Mineralogische  und  petrographische  Mitteilungen,  XXXI.  Band, 
I.  Heft,    1912. 

')  Deeckc,  Der  Monte  Vulture  in  der  Basilicata  (Unter- 
italien). Neues  Jahrbuch  für  Mineralogie,  Geognostit,  Geo- 
logie und  Petrefaktenkunde.     VU.  Beilage-Band.     1891. 


mara  di  Atelia  und  der  Melfia  bedecken  und  bis 
Venosa,  Maschito  und  F'orenza  reichen.  Es  sind 
sowohl  Laven  als  auch  Tuffe,  letztere  von  sub- 
aerer  Fazies.  Beide  zusammen  bilden  den  Kegel 
des  Vulture  und  gehören  vorzugsweise  zur  Familie 
der  Tcphrite.  Ihre  Haupteigentümlichkeit  ist 
ihre  Hangzuführung,  die  De  ecke  auf  den  Umstand 
zurückführt,  daß  das  Magma  vor  der  Eruption  in 
ziemlicher  Tiefe  unter  der  Oberfläche  mit  größeren 
Gipslinsen  in  Berührung  gekommen  ist.  Die 
Eruptionen  des  Vulture  begannen  nach  der  post- 
pliozänen  Faltung  des  Appennin  und  wurden  erlebt 
von  dem  prähistorischen  Menschen. 

Zum  Schluß  sei  noch  der  Insel  Pantelleria, 
zwischen  Sizilien  und  Nordafrika  gelegen,  gedacht. 
Sie  zeigt  mehrere,  kleinere  Krater,  die  in  histo- 
rischen Zeiten  keine  Ausbrüche  gehabt,  aber  teil- 
weise noch  in  lebhafter  Solfatarentätigkeit  stehen. 
Um  so  größeres  Interesse  bieten  die  submarinen 
Eruptionen,  die  in  der  dortigen  Gegend  an 
der  Tagesordnung  sind.  Durch  eine  solche 
Eruption  wurde  beispielsweise  die  Insel  Ferdi- 
nandea  aufgeworfen. 

Nach  Betrachtung  der  einzelnen  Vulkane  von  geo- 
logischem Gesichtspunkte  untersuchen  wir  nun  die- 
selben hinsichtlich  ihrer  Lage  zu  den  gleichzeitigen 
Meeren.  Beginnen  wir  mit  Süditalien  unter  Einschluß 
der  Vorkommen  Siziliens,  Sardiniens,  der  pontini- 
schen  und  der  äolischen  Inseln,  für  welche  Gebiete 
die  Verhältnisse  fast  die  gleichen  waren.  Werfen  wir 
zu  diesem  Zwecke  einen  vergleichenden  Blick 
nach  dem  von  Seguenza^)  sorgfältig  studierten 
Tertiär-  und  Ouartärgebiet  von  Reggio.  Nach- 
dem am  Schlüsse  des  Miozäns  (MessinianoJ  ein 
Rückzug  des  Meeres  stattgefunden  hat,  trat  nach 
Beginn  des  Pliozäns  eine  gewaltige  Verschiebung 
zwischen  Wasser  und  Land  ein,  ein  weites  Über- 
greifen des  Meeres.  Über  den  früheren  Tertiär- 
sedimenten, 1200  Meter  über  dem  heutigen  Meeres- 
spiegel findet  sich  der  Tiefseeschlamm  des  Zan- 
cleano  (Unterpliozän).  Die  gleichen  Verhältnisse 
dauern  fort  während  des  Astiano  (Oberpliozän). 
Erst  im  Pleistozän  (Siciliano)  beginnt  ein  Rück- 
zug des  Meeres,  der  während  des  ganzen  Quartärs 
anhält. 

Die  äolischen  Inseln  waren  zur  Zeit  ihrer 
Tätigkeit  umbrandet  von  dem  übergreifenden 
und  dann  im  Siciliano  allmählich  zurückweichen- 
den Meere.  Der  Monte  Vulture  lag  auch  zur  Zeit 
seiner  Eruptionen  an  der  Meeresküste.  Die  phle- 
gräischenFelder,  deren  Produkte  dem  jüngeren  Quar- 
tär angehören,  liegen  ebenfalls  wie  die  Rocca  Monfi- 
na  unmittelbar  am  quartären  Meer.  Der  Epomeo  war 
unter  Wasser  getaucht  und  wurde  dann  wieder 
gehoben.  Bei  den  pontinischen  liegen  die  Ver- 
hältnisse so  wie  bei  den  äolischen.  Der  Monte 
I'erni  bildete  sich  wie  alle  bisher  betrachteten 
in  der  Nähe  des  Meeres.  Für  Mittelitalien  haben 
die    Meeresbildungen    der    Subappenninformation 


')  G.  Segcnza,  La  formazione  terziaria  nella  provincia 
di  Reggio  di  Calabria.     Mera.  r.  Acc.  Lincei,   1880. 


6i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  39 


größere  Bedeutung.  Wo  sich  heute  die  Römische 
Campagna  befindet,  rolhen  in  der  jüngsten  Ter- 
tiärzeit die  Wogen  eines  Meerbusens  und  brandeten 
an  der  damals  noch  vorhandenen  tj-rrhenischen 
Ländermasse.  Das  Albanergebirge,  der  lago  di 
Bolsena,  der  lago  die  Bracciano,  der  Monte  Cimino, 
diese  ganze  Vulkaiireihe  wurde  gleichzeitig  mit 
der  ganzen  Scholle,  dem  heutigen  Appennin 
während  der  Pliozänzeit  gehoben,  lagen  zur  Zeit 
ihrer  vulkanischen  Tätigkeit  in  unmittelbarer  Nähe 
des  Meeres.  Das  Saccotal,  in  dem  sich  die 
Vulkane  des  Ilernikerlandes  befinden,  war  zur 
Zeit,  als  die  Vulkane  tätig  waren,  nachBranca 
seeartig  erweitert.  Bei  den  Euganeen  in  der  Po- 
ebene  hat  nach  Reyer  die  vulkanische  Tätigkeit 
bereits  im  Jura  begonnen;  aus  tiefer  See  hat 
sich  dann  allmählich  der  Monte  Venda  aufgebaut 
und  überseeisch  seine  Tätigkeit  noch  bis  ins 
Quartär  fortgesetzt,  als  die  Poebene  noch  einen 
Meerbusen  bildete.  Fassen  wir  die  Untcrsucluingen 
der  einzelnen  Vorkommen  hinsichtlich  ihrer  Lage 
zum  Meere  zusammen,  so  sehen  wir,  daß  in  der 
Vergangenheit  ähnliche  Verhältnisse  geherrscht 
haben  wie  jetzt. 

Die  Lage  der  erloschenen  italienischen  Vulkane 
an  und  im  Meere  ist  bedingt  durch  die  Tektonik. 
Die  Vulkane  an  der  Westküste  Italiens  finden  wir 


auf  Schollen,  die  von  Spalten  und  Bruchlinien 
durchzogen  sind,  da,  wo  am  Innenrande,  d.  h.  der 
konkaven  Seite  der  sich  aufstauenden  Appenninen 
das  tyrrhenische  Festland  in  die  Tiefe  gesunken 
ist  und  sich  das  tyrrhenische  Senkungsfeld  bildete. 
Dem  Rande  dieses  Scnkungsfeldes  gehören  das 
toskanische  Eruptivgebiet,  das  Latinergebirge,  die 
Rocca  Monfina  und  die  phlegräischen  Felder  an. 
Die  liparischen  Inseln  erheben  sich  als  Inseln  aus 
diesem  Senkungskcssel.  Die  Lage  des  Monte 
Ferru  ist  eine  ähnlche  wie  die  der  Vulkanreihe 
an  der  Westküste  Italiens.  Die  Pocbenc  stellt 
gegenüber  den  Alpen  ebenfalls  ein  Senkungsfeld 
dar,  an  dessen  Rande  die  Basalte  von  Vicenza 
und  Verona  und  die  Trachyte  des  Monte  Venda 
in  den  Euganeen  emporsteigen  konnten.  Die 
einzige  Ausnahme  bildet  der  Monte  Vulture,  der 
sich  auf  einer  Kreuzung  von  Längsbrüchen  mit  einer 
den  Appennin  durchquerenden  Spalte  (Deecke) 
erhebt.  Da  das  Meer  immer  die  tiefsten  Stellen 
erobert ,  so  werden  solche  Senkungsfelder  ent- 
weder vom  Meere  überflutet,  oder  wenn  es  keinen 
Zutritt  hat,  von  Binnenseen  ausgefüllt  (Vulkane 
des  HernikerJandes  im  Saccotale).  So  kommt  es, 
daß  die  erloschenen  Vulkane  Italiens  zur  Zeit 
ihrer  Tätigkeit  am  Rande  von  Wasserbecken 
lagen. 


Einzelberichte. 


Botanik 
und    heliotropischer 


Beziehungen  zwischen  Spaltöffnungen 
Empfindlichkeit.  Bei  den 
Keimpflanzen  der  Gramineen  ist  die  heliotropische 
Empfindlichkeit  nicht  gleichmäßig  verbreitet. 
Edgar  Zaepffel  hat  nun  kürzlich  die  Beziehun- 
gen untersucht,  die  zwischen  dem  Vorhandensein 
von  Spaltöflnungen  und  der  heliotropischen  Emp- 
findlichkeit beim  Weizen,  Hafer,  Panicum  altissimum 
und  Paspalum  stoloniferum  bestehen.  Bei  allen 
diesen  Gramineen  fehlen  die  Spaltöffnungen  am 
hypokotylen  Glied,  derjenigen  Region  also,  die 
zur  heliotropischen  Perzeption  unfähig  ist.  Bei 
den  Kotyledonen  des  Hafers  und  des  Weizens 
sind  die  Spaltöß'nungen  an  der  Spitze,  dem  Sitze 
der  größten  heliotropischen  Empfindlichkeit,  reich- 
lich vorhanden.  Sie  treten  auch  noch,  aber  viel 
weniger  zahlreich,  an  der  subapikalen  Region  auf, 
die  nur  eine  schwache  heliotropische  Perzeptions- 
fähigkeit  besitzt.  Bei  den  Kotyledonen  von  Pani- 
cum und  Paspalum  sind  Spaltöffnungen  auf  ihrer 
ganzen  Länge  vorhanden;  hier  ist  aber  auch  der 
Kotyledon  außerhalb  der  Spitze  stärker  reizbar. 
Aus  diesen  Befunden  schließt  Zaep  f  fei ,  daß  bei 
den  untersuchten  Gramineen  die  Menge  der  Spalt- 
öffnungen der  Keimpflanzen  dem  Grade  der  helio- 
tropischen Empfindlichkeit  entspreche  (Comptes 
rendus   1914,  T.  159,  Nr.  2,  p.  205 — 207). 

F.  Moewes. 

Chemische  Physiologie.  Nach  den  Versuchen 
vonHammer(i89ij,Veiel(i887),Widmark(i889) 


und  I'insen  kaim  man  Erythrose  und  Melanose 
der  menschlichen  Haut  durch  ultraviolette  Strah- 
len hervorrufen.  Imbert  und  Marques  (1906) 
haben  festgestellt,  daß  die  Farbe  des  Bartes  durch 
die  X-Strahlen  verändert  wird.  V.  Moycho  (191 3) 
sah  in  der  Haut  des  Kaninchenohrs,  unter  dem 
Einfluß  der  ultravioletten  Strahlen  ein  bräunliches 
Pigment  auftreten.  S.  Secerov  (Sur  l'influence 
des  rayons  ultraviolets  sur  la  coloration  des  poils 
des  lapins  et  des  cobayes.  C.  R.  Ac.  sc.  Paris 
Nr.  24,  15  juillet  1914)  hat  die  Wirkung  der 
ultraviolletten  Strahlen  auf  die  Haarfarbe  des 
Kaninchens  und  Meerschweinchens  untersucht. 
Es  wurde  dabei  eine  Quarz- Ouecksilberlampe 
nach  dem  System  von  Westinghouse-Cooper- 
Herrwitt  von  iio  Volt  Spannung  verwendet.  Bei 
einem  vorherrschend  weißen  Meerschweinchen, 
das  täglich  4  Stunden  in  einer  Entfernung  von 
9 — 10  cm  den  Strahlen  ausgesetzt  wurde,  waren 
nach  35-40  Stunden  die  weißen  Haare  geblich 
gefärbt. 

Zwei  junge  Albinos  des  Kaninchens,  ein  weib- 
liches und  männliches  Tier,  wurden  den  ultravio- 
letten Strahlen  5  —  6  Stunden  unterworfen.  Nach 
ungefähr  80  Stunden  begann  die  Umfärbung  und 
nach  100  Stunden  war  sie  sehr  deutlich.  Die 
Haare  wurden  zuerst  gelblich,  dann  rötlich  gelb. 
Sie  waren  in  einer  Temperatur  von  18",  in  6 — 7cm 
Entfernung  von  der  Lampe;  in  der  Umgebung 
war  die  Temperatur  ziemlich  niedrig,  o" — 4".  Nur 


N.  F.  XIII.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


617 


der  Teil  des  Haares,  welcher  direkt  vom  Licht 
fjetrofilen  wurde,  verfärbte  sich.  Verglichen  mit 
jenen  der  Kontrollüere  war  die  Behaarung  der 
bestrahlten  Tiere  länger.  Die  Haare  fielen  nicht 
aus  und  der  Haarwechsel  verlief  regelmäßig. 

Um  den  Einfluß  der  Temperatur  zu  prüfen, 
wurden  die  abgetrennten  Haare  eines  weißen 
Kaninchens  mehrere  Monate  einer  Temperatur 
von  40"  ausgesetzt,  ohne  daß  sie  sich  in  der 
Färbung  irgendwie  verändert  hätten;  selbst  nicht 
bei  100"  in  i^,.  Stunden.  Erst  bei  i  50"  zeigte  sich 
nach  i'/o  Stunden  eine  gelbliche  Färbung.  Als 
die  abgeschnittenen  Haare  des  weißen  Kaninchens 
5 — 6  Stunden  lang  pro  Tag  in  6 — 7  cm  Entfernung 
von  der  Lampe  bestralilt  wurden,  verfärbten  sie 
sich  viel  langsamer.  Der  Beginn  der  Gelbfärbung 
trat  erst  am  Ende  von  100  Stunden  ein;  außer- 
dem glich  sie  viel  mehr  der  durch  hohe 
Temperatur,  als  der  durch  die  Bestrahlung  des 
Kaninchens  mit  ultraviolettem  Licht  erreichten. 
S.  hält  die  Gelb-  und  Rotfärbung  für  eine  Vor- 
stufe bei  der  Bildung  des  schwarzen  Farbstoffes 
und  glaubt,  daß  bei  längerer  Dauer  der  Bestrahlung 
auch  Schwarzfärbung  eintreten  würde.  Die  Ver- 
färbung der  weißen  Haare  tritt  leichter  ein  bei 
Tieren,  welche,  wie  das  Meerschweinchen,  nor- 
malerweiße schon  schwarze  und  gelbe  Haare  haben, 
als  bei  jenen,  die  vorherrschend  weiß  gefärbt  sind. 
Die  hohe  Temperatur,  welche  zur  Verfärbung 
nötig  wäre,  kann  bei  lebenden  Objekten  nicht  in 
Betracht  kommen.  Abgetrennte  Haare  verfärben 
sich  gleichfalls,  aber  viel  weniger  rasch,  als  wenn 
sie  noch  am  Tiere  sitzen.  Kathariner. 

Physik.  Versuche  mit  einer  Lochkamera  für 
Röntgenstrahlen  beschreibt  N.  Uspenski  (Moskau) 
in  der  Physikalischen  Zeitschrift  XV  (1914)  Seite  717. 
Sie  war  aus  2  mm  dicken  Bleiplatten  hergestellt ; 
in  der  der  photographischen  Platte  gegenüber- 
liegenden Wand  war  eine  2 — 3  mm  große  Öffnung 
angebracht.  Die  Aufstellung  des  zu  photogra- 
phierenden  Gegenstandes  geschah  auf  optischem 
Wege  mit  Hilfe  einer  Mattscheibe;  diese  wurde 
bei  der  Aufnahme  durch  eine  die  Trockenplatte 
enthaltende  Metallkasette  ersetzt,  die  mit  einem 
0,2  mm  dicken ,  also  für  die  Röntgenstrahlen 
durchlässigen  Deckel  aus  Aluminium  versehen  war. 
Zur  Beleuchtung  diente  eine  mit  2  —  3  Milliampere 
belastete  Müller  „Rapid"-Röhre  mit  wassergekühlter 
Platinantikathode.  Bei  stärkerer  Belastung  (5—6 
Milliampere)  ließen  sich  die  Bilder  auch  auf  dem 
Leuchtschirm  beobachten.  Als  Objekt  wurde  zu- 
nächst die  Röntgen-Röhre  selbst  gewählt;  die 
Bilder,  die  der  Verfasser  durch  eine  Belichtung 
von  1 5  Minuten  erhalten  hat,  zeigen  deutlich  den 
kreisförmigen  Umriß  der  Röhre,  die  hellleuchtenJe 
Antikathode  und  Andeutungen  eines  seitlichen 
Ansatzrohres.  Eine  weitere  Aufnahme  wurde  von 
einem  vierbeinigen  hölzernen  Tischchen,  auf  dem 
eine  Metallsäule  stand,  dadurch  erhalten,  daß  man 
diese  Gegenstände  mit  dem  Strahlen  der  Röhre 
beleuchtete,   die   neben  der  Lochkamera  so  stand, 


daß  keine  ihrer  Stralilen  direkt  durch  die  ( )ffnung 
auf  die  Platte  fallen  konnten.  Nach  sehr  langer 
Belichtung  entstand  eine  Aufnaiiiiie,  auf  der  sich  die 
Umrisse  der  Gegenstände  erkennen  lassen. 

Ebenfalls  in  der  Physikalischen  Zeitschrift 
Seite  715  veröffentlicht  H.  Roh  mann  (Straßburg) 
die  Röntgenspektren  einiger  Metalle,  die 
er  mit  seinem  Röntgenspektroskop')  mit 
dem  gebogenen  G 1  i  m  m  e  r  b  1  ä  1 1  c  h  e  n  er- 
halten hat.  Er  benutzt  eine  Röhre,  deren  Antika- 
thodenansatz mit  einem  Schliff  versehen  ist,  so 
daß  die  verschiedenen  Metalle  (Ni,  Cu,  Zn,  Mo, 
Ag,  Fl,  An,  Th)  nacheinander  eingeführt  werden 
können.  Die  Vorderfläche  der  Röhre  wird  durch 
eine  aufgekittete  Messingplatte  gebildet,  in  der  ein 
I  mm  breiter  und  4  cm  langer  Schlitz  angebracht 
ist.  Dieser  wird  durch  ein  dünnes  Alu  miniumblättchen 
nach  Art  der  Lenard  Röhren  verschlossen  und 
dient  als  Spalt.  Während  der  '/.,  bis  1  Stunde 
dauernden  Aufnahmen  bleibt  die  Röhre  mit  der 
Gaedepumpe  in  Verbindung,  da  die  Antikathode 
dauernd  Gas  abgibt.  Die  sämtlichen  Spektren  zeigen 
eine  Reihe  von  ziemlich  scharfen  Linien;  Silber 
liefert  ein  intensives  kontinuierliches  Spektrun. 

K.  Schutt,  Hamburg. 

Biologie.  Die  Raupen  der  meisten  Bläulings- 
arten  (Lycaenidae)  leben  an  Schmetterlingsblütlern 
(Papilionaceae).  Einige  stehen  in  einem  merk- 
würdigen Verhältnis  zu  Ameisen,  welche  den  von 
ihnen  abgeschiedenen  süßen  Saft  auflecken  und  ihre 
Leibwache  bilden. 

Alluaud  und  R.  Jeannel  (CR.  Ac.  sc.  Paris 
16,  20.  April  1914)  fanden  in  Gallen  an  den 
Ästen  einer  ostafrikanischen  Akazienart,  die  von 
Kolonien  einer  Ameisenart  der  Gattung  Crema- 
stogaster  spec.  bewohnt  wird,  die  Raupen  einer 
morphologisch  und  biologisch  überaus  merkwür- 
digen Lycaenidenart.  Sie  ist  etwa  10  mm  lang 
und  hat  wie  die  Raupe  der  anderen  Arten,  eine 
asseiförmige  Gestalt.  Der  Rücken  ist  außer- 
ordentlich stark  gewölbt,  und  die  Segmente  durch 
tiefe  Einschnitte  getrennt,  so  daß  sie  in  ihrem 
Aussehen  einer  Käferschnecke  (Chiton)  gleicht. 
Der  Rücken  ist  trüb  grau  gefärbt  und  mit  schwärz- 
lichen Punkten  übersät.  Die  Haut  trägt  lange 
und  kurze  zylindrische  Haare,  sowie  kelch-  und 
ringförmige  Chitingebilde.  Die  von  der  Raupe 
bewohnte  Galle  ist  hohl  und  hat  eine  Öffnung 
von  etwa  i  mm  Durchmesser.  Die  Ameisen 
sammeln  in  derselben  die  Kelchblätter  der  Akazie. 
Da  der  Durchmesser  der  erwachsenen  Raupe  viel 
größer  ist,  als  jener  der  Eingangsöffnung  in  die 
Galle,  muß  die  Raupe  direkt  nach  dem  Aus- 
schlüpfen aus  dem  Ei  hineingelangt  sein. 

Aus  der  indo  australischen  F"auna  ist  eine 
Lycaenide  bekannt,  deren  ganze  Entwicklung  in 
dem  Nest  erdbewohnender  Ameisen  verläuft.  Die 
Raupe  ist  fleischfressend  und  lebt  von  den  Larven 
und  Puppen  ihres  Wirtes. 

')  Der  tJnterzeichnete  hat  kürzlich  in  dieser  Zeitschrift 
darüber  berichtet. 


6i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  39 


Daß  die  neue  Form  dagegen  pflanzenfressend 
ist  —  sie  frißt  wahrscheinHcli  die  von  den  Ameisen 
gesammelten  Kelchblätter  der  Akazie,  —  geht 
aus  den  schwach  entwickelten  IVIundgliedmaßen 
hervor.  Kathariner. 

Zoologie.  Dinoflagellaten  als  Ursache  des  roten 
Schnees.  Bisher  wurden  die  Flagellaten  Euglena 
sanguinea  und  Haematococcus  (Sphaerella) 
nivalis  als  einzige  Veranlasser  des  roten  Schnees, 
der  besonders  im  Gebirge  eine  nicht  seltene  Er- 
scheinung ist,  angesehen.  Die  interessante  Tat- 
sache, daß  auch  massenhaftes  Auftreten  von  Dino- 
flagellaten Rotfärbuiig  hervorrufen  kann,  wird  von 
M.  Traun  st  ein  er  in  der  „Ztschr.  d.  mikr.  Ges." 
(Bd.  6,  1914)  berichtet.  In  der  Langau  bei  Kitz- 
bühel traten  in  einem  kleinen  gefrorenen  Fisch- 
teiche, der  im  Sommer  von  einer  reichen  Orga- 
nismenwelt, darunter  auch  Peridineen  bewohnt 
ist,  gegen  Ende  Februar  im  schmelzenden  Firn- 
schnee ziegelrote  Flecke  von  bedeutender  Breite 
und  Tiefe  auf  Das  Schmelzwasser  im  Teiche 
wie  in  den  Kulturen  zeigte  sich  ebenso  wie  der 
am  Rande  des  Teiches  gesammelte  rötliche 
Schnee  gleichmäßig  von  roten  Stäubchcn  durch- 
setzt, die  sich  bei  mikroskopischer  Untersuchung 
als  eine  Unzahl  von  Peridineen  erwiesen.  Die 
Frage,  ob  es  sich  hierbei  um  eine  speziell  an  das 
Leben  im  Schnee  angepaßten  Art  der  Gattung 
Peridinium,  mit  welchem  die  Flagellaten  eine 
gewisse  Ähnlichkeit  zeigen  oder  nur  um  eine 
vorübergehende  Erscheinung  einer  sonst  unter 
normalen  Umständen  gedeihenden  Peridinee  handelt, 
läßt  Verf.  zunächst  offen.  Für  die  Zugehörigkeit 
zur  Gattung  Glenodinium  spricht  hinwieder 
die  Tatsache,  daß  die  jungen  Zellen  vollständig 
nackt  sind,  während  sich  an  älteren  beim  Zusatz 
Fl  e  m  m  i  n  g'scher  Lösung  die  Ablösung  einer  dünnen 
Membran  konstatieren  läßt.  Die  Form  unter- 
scheidet sich  von  Glenodinium  oculatum, 
mit  dem  es  am  meisten  Ähnlichkeit  hat,  durch 
die  Größe  (0,030 — 0,040  mm)  und  auffallend  rote 
Färbung  im  Zellinnern,  die  ihren  Sitz  sowohl  im 
Plasma  als  auch  in  zahlreichen  Oltropfen  hat. 
Die  Tatsache,  daß  die  Randzone  gewöhnlich  von 
strahlig  geordneten  gelbgrünen  Chromatophoren, 
bei  den  aus  Schnee  aufgetauten  Individuen  aber 
nur  von  farblosen  Körnchen  erfüllt  ist,  meint 
Verf.  als  Anpassung  an  die  jeweilige  Temperatur- 
und  Lichtverhältnisse  auffassen  zu  müssen.  Die 
roten  Peridineen  zeigen  eine  sehr  große  Licht- 
empfindlichkeit, die  mit  der  Rotfärbung  des 
Inneren  steigt.  Die  Zysten  sind  je  nach  den  Be- 
dingungen, durch  die  ihre  Bildung  hervorgerufen 
wird,  von  verschiedener  Form:  die  durch  Tempe- 
raturerniedrigung erzeugten  sind  eiförmig  und 
an  den  Enden  farblos  (wie  die  Schneeformen  der 
beweglichen  Zellen)  die  sich  in  längerstehenden 
Kulturen  entwickelnden  (Sauerstoffmangel !)  sind 
rotgrün  und  weisen  eine  dicke,  verquellende  Mem- 
bran auf  Solche  Dauerzysten  fand  Verf  massen- 
haft an  den  Ranunculusrasen  und  in  Eisenflocken 


des  von  Mitte  März  an  aufgetauten  Teiches.  Die 
Annahme,  daß  sie  wenigstens  z.  T.  aus  den  roten 
Peridineen  entstanden,  ist  nicht  von  der  Hand  zu 
weisen.  Auch  die  umgekehrte  Annahme,  „daß 
auch  die  roten  Peridineen  aus  Zysten,  die  im 
Herbst  in  die  Schnee-  und  Eismassen  über  dem 
Teich  gelangt  sein  könnten,  entstanden  sind", 
liegt  nach  Meinung  v.  Verf  nahe. 

R.  Aichberger. 

Physiologie.  Die  Zunahme  der  Zahl  der  Blut- 
körperchen mit  der  Höhe  soll  nach  der  Meinung 
verschiedener  Forscher  nicht  auf  einer  wirklichen 
Neubildung  von  Blutkörperchen  beruhen,  die  Ver- 
mehrung soll  vielmehr  nur  relativ  sein  und  auf 
einer  Konzentration  des  Blutserums  infolge  der 
barometrischen  Depression  beruhen. 

Um  diese  PVage  zu  entscheiden,  haben  Raoul 
Bayeux  und  Paul  Cheva  liier  (Recherches 
comparatives  sur  la  concentration  du  sang  veineux 
et  du  sang  arteriel  ä  Paris,  ä  Chamonix  et  au 
mont  Blanc,  par  l'etude  refractometrique  du  serum. 
C.  R.  Ac.  sc.  Paris  Nr.  21,  25  mai  1914).  Unter- 
suchungen mit  menschlichem  Venenblut  und  mit 
arteriellem  und  venösem  Blut  des  Kaninchens  in 
verschiedenen  Höhenlagen  angestellt,  in  Paris,  in 
Chamonix  (1050  m)  und  auf  dem  Mont  Blanc 
(4360  m).  Zur  Bestimmung  der  Konzentration 
des  Serums  diente  der  refraktometrische  Index. 
Nach  den  Arbeiten  von  Reiß  und  anderen  ist 
derselbe  abhängig  von  dem  Eiweißgehalt  des 
Serums.  Die  Schwankungen  im  Gehalt  an  Harn- 
stoff können  dabei  vernachlässigt  werden.  Der 
Eiweißgehalt  wurde  bestimmt  nach  den  Tabellen 
von  Reiß  für  eine  Temperatur  von  17, 5".  Das 
menschliche  Blut  wurde  durch  Punktieren  einer 
Hautvene  gewonnen;  arterielles  und  venöses  Blut 
des  Kaninchensaus  der  Arteria  und  Vena  femoralis. 
Das  geronnene  Blut  wurde  in  einem  hermetisch 
verschlossenen  Röhrchen  aufbewahrt  und  durch- 
schnittlich nach  Verlauf  von  18  Stunden  untersucht. 

Die  Forscher  verweilten  zwei  Monate  in  Cha- 
monix und  9  Tage  im  Mont  Blanc-Observatorium. 
Wie  die  Bestimmungen  ergaben,  stieg  die  Kon- 
zentration des  Serums  mit  der  Höhe;  es  trat  eine 
Anpassung  ein,  indem  die  Konzentration  mit  der 
Zeit  wieder  abnahm.  Am  stärksten  war  sie  am 
Ende  des  Aufenthalts  auf  dem  Mont  Blanc  bei 
Chevallier;  zugleich  stellten  sich  Anfälle  der 
Bergkrankheit  ein.  Der  refraktometrische  Index 
und  der  Eiweißgehalt  betrug  beim  Kaninchen  in 
Paris  im  arteriellen  Blut  durchschnittlich  1,34619 
bzw.  59,4,  im  venösen  Blut  1,34709  bzw.  64,6; 
in  Chamonix  1,34678  bzw.  62,8;  auf  dem  Mont 
Blanc  1,34780  bzw.  68,77;  für  ^^^  venöse  Blut 
sind  die  entsprechenden  Zahlen  1,34756  bzw.  67,34 
und   1,34888  bzw.  75,05. 

Zusammenfassend  kann  man  also  sagen,  daß 
der  refraktometrische  Index  des  Blutserums  auf 
der  Höhe  des  Mont  Blanc  jenen  in  Chamonix  und 
in  der  Ebene  übertrifft,  daß  das  Serum  des  venösen 
Blutes  konzentrierter  ist,  als  jenes  des  arteriellen, 


N.  F.  XIII.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


619 


daß  der  Unterschied  mit  der  Höhe  ausgesprochener 
wird  und  eine  Konzentration  des  Blutserums  in 
größeren  Höhenlagen  eintritt.  Kathariner. 

Astronomie.     Die  Veränderlichkeit  der  Satel- 


liten des  Jupiter  und  Saturn  hat  Guthnick  von 
neuem  behandelt  (Astr.  Nachr.  4741)  und  eine 
Anzahl  Beobachtungsreihen  verarbeitet;  4  Monde 
des  Jupiter  und  6  des  Saturn,  deren  Veränderlich- 
keit zum  Teil  schon  lange  feststand.  Während 
man  aber  bisher  annahm,  daß  deren  Lichtwechsel 
zusammenfalle  mit  ihrer  Umlaufszeit,  daß  sie  also 
ebenso  wie  unser  Mond  ilircm  Hauptkörper  immer 
dieselbe  Seite  zudrehen,  kommt  Guthnick  auf 
Grund  eines  sehr  eingehenden  Studiums  der  Licht- 
kurven zu  ganz  überraschenden  Ergebnissen.  Die 
beiden  inneren  Monde  beider  Planeten  zeigen 
Kurven  ähnlicher  Form,  bei  denen  das  Maximum 
der  Helligkeit  in  der  Gegend  der  östl.  Elongation 
liegt;  die  äußeren  Monde  beider  Systeme  zeigen 
das  umgekehrte  Verhalten,  und  die  noch  fehlenden 
Monde  gehören  zeitweise  dem  einen,  zeitweise 
dem  anderen  Typus  an.  Sie  haben  stark  ver- 
änderliche Lichtkurven.  Nun  zieht  Guthnick 
die  Werte  der  Albedo  und  der  Dichtigkeiten  der 
einzelnen  Monde  heran,  und  stellt  fest,  daß,  je 
geringer  die  Dichte,  um  so  geringer  auch  die 
Albedo.  Ferner  wie  in  der  Anordnung  der  Pla- 
neten, die  äußeren  Monde  sind  die  weniger  dich- 
ten. Im  übrigen  erinnert  der  Charakter  der  Lich- 
kurven  sehr  an  die  veränderlichen  Sterne  vom 
Typus  ö  Cephei.  Die  Trabanten  stellen  eine  Ent- 
wicklungsreihe dar,  sie  sind  mit  mehr  oder  weniger 
hohen  Atmosphären  bedeckt,  die  Wolken  oder 
Wasserdampf  enthalten.  Entsprechend  der  Er- 
klärung des  Lichtwechsels  der  ö  Cepheisterne  [vgl. 
diese  Zeitschrift  1914,  Seite  140/141]  ist  auch  hier 
die  Erklärung  der  Veränderlichkeit  in  der  Bahn- 
bewegung zu  suchen.  Man  muß  annehmen,  daß 
sich  in  den  Systemen  von  Jupiter  und  Saturn  ein 
dünnes,  die  Bahnbewegung  nicht  merklich  hem- 
mendes Medium  befindet,  unter  dessen  Einfluß 
die  Satellitenatmosphären  ganz  merkwürdige  meteo- 
rologische Verhältnisse  ausgebildet  haben  müssen, 
die  sich  je  nach  der  physischen  Beschaffenheit 
eben  in  dem  Lichtwechsel  ausprägen.  Man  kann 
auch  diese  Annahme  verallgemeinern,  und  das 
ganze  Sonnensystem  von  einem  solchen  Medium 
ausgefüllt  denken,  auf  das  eine  ganze  Anzahl  von 
Beobachtungen  hinweisen.  Wird  doch  sogar  bei 
der  Erde  trotz  ihrer  schnellen  Umdrehung  eine 
Abhängigkeit  meteorologischer  Vorgänge  von  der 
jedesmaligen  Richtung  der  Bewegung  gegen  den 
Apex  oder  den  Antiapex  vermutet.  Sehr  genaue 
Messungen  auch  an  den  andern  Trabanten  müssen 
noch  mehr  Licht  auf  diese  Erscheinungen  werfen. 

Riem. 

Bodenkunde.  Worauf  beruht  die  ungünstige 
Wirkung  des  Nadelhumus?  Wie  dem  Forstmann 
längst  bekannt  ist,  wirkt  der  Humus  verschiedener 
Bäume    in    ungleichem    Maße   auf  das  Wachstum 


der  Pflanzendecke  ein.  Am  besten  soll  Haselhumus 
wirken,  dann  in  abnehmendem  Maße  Buche,  Ahorn, 
Flrle,  Ulme,  Linde,  Akazie,  Esche,  Eberesche.  Ganz 
besonders  ungünstig  wirkt  die  durch  Zersetzung 
von  Nadelstreu  entstehende  Humusdecke  auf  den 
Pflanzenwuchs  ein,  so  daß  in  ihr  Sämlinge  von 
Waldbäumen,  sogar  die  der  Nadelbäume  selber 
sowie  anderer  Pflanzen  nur  sehr  kümmerlich  fort- 
kommen, in  vielen  Phallen  sogar  ein  solcher  Boden 
fast  ganz  steril  bleibt.  Die  Aufdeckung  der  Ursache 
dieser  Erscheinung  ist  von  erheblicher  forstwirt- 
schaftlicher Bedeutung,  wenn  man  in  Erwägung 
zieht,  daß  in  Deutschland  in  dem  Bestreben,  frei 
werdende  I'lächen  mit  Nadelholz  zu  besiedeln,  in  den 
Jahren  1890 — 1910  die  Laubholzfläche  um  looooo 
ha  abnahm,  während  die  mit  Nadelholz  aufgeforstete 
um  200000  ha  zunahm.  Auch  der  Gärtner  bemerkt 
diese  schädliche  Wirkung  der  Tannennadeln,  wenn 
er  nach  dem  Wegräumen  des  zum  Bedecken  von 
Rosen  und  anderen  Pflanzen  benutzen  Nadelholz- 
reisigs sieht,  daß  der  Rasen  unter  dieser  Decke 
zugrunde  gegangen  ist. 

In  vielen  Fällen  beruht  die  auffallende  Armut 
des  Nadelholzbodens  an  Pflanzen  auf  dem  dichten 
Schatten,  der  im  Nadelwald  herrscht.  Er  läßt 
aus  diesem  Grunde  ebenso  wie  z.  B.  in  den  Tropen 
das  Bambusgebüsch  nichts  aufkommen.  Doch 
trifft  dies  nicht  so  durchgehends  zu,  daß  die  frag- 
liche Erscheinung  vollständig  dadurch  erklärt  wäre. 
Dann  spielen  zweifellos  die  Feuchtigkeitsverhält- 
nisse insofern  eine  Rolle  als  die  flachstreichenden 
Wurzeln  der  Nadelhölzer  die  oberflächlichen  Boden- 
schichten stark  austrocknen.  Das  hat  z.  B.  Fr  icke 
zeigen  können,  indem  er  junge  Föhren  durch 
Ringgräben  isolierte  und  damit  die  starken  Wurzeln 
der  umstehenden  älteren  Bäume  abschnitt.  Solche 
Föhren  zeigten  eine  auffallend  üppige  Entwicklung 
und  gleichzeitig  tauchten  auch  zahlreiche  Wald- 
kräuter auf  dem  isolierten  Terrain  auf. 

Schließlich  weisen  viele  Erfahrungen  darauf 
hin,  daß  auch  eine  Gift  Wirkung  in  Betracht 
kommen  könnte,  die  von  den  ätherischen  Ölen 
sowie  anderen  Stoffwechselprodukten  als  Gerb- 
stoffen, Harzen,  Ameisensäure,  die  in  der  Nadel- 
streu enthalten  sind,  ausgehen  könnte.  A.  Koch 
hat  nun  in  einer  eingehenden  Untersuchung,  der 
wir  hier  folgen,  speziell  diese  PVage  der  eventuellen 
Giftwirkung  geprüft  (Zentralbl.  f.  Bakteriologie 
usw.  II.  Abteilung,  Bd.  41.  S.  545,  1914)-  Daß 
ätherische  Öle  wirklich  giftig  sind,  geht  aus  vielen 
Tatsachen  hervor.  So  gehen  Pflanzen,  die  den 
Dämpfen  ätherischer  Öle  ausgesetzt  werden,  bald 
zugrunde;  Spatzen  fressen  keine  Umbelliferen- 
früchte,  wie  Stahl  beobachtete,  ja  sie  sterben,  wenn 
man  ihnen  5  Früchte  des  Kümmels  oder  15  des 
Fenchels  einführt!  Bekannt  ist  auch  die  desin- 
fizierende Wirkung  ätherischer  Öle,  die  der  der 
kräftigsten  bakterientötenden  Mittel,  wie  z.  B. 
Sublimat  nahekommt.  Das  zeigt  sich  auch  darin, 
daß  manche  ätherische  Öle  enthaltende  Pflanzen- 
abkochungen erst  nach  einiger  Zeit  eine  Entwick- 
lung von  Bakterien  und  Schimmelpilzen  erkennen 


620 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  39 


lassen.  Das  gilt  aber  auch  für  andere  in  pflanz- 
lichen Resten  häufig  vorkommende  Stoffe,  wie  die 
Gerbstoffe,  deren  bakterienhemmende  Wirkung  in 
der  Gerberei  ausgenutzt  wird,  die  Ameisensäure, 
die  infolge  ihrer  giftigen  Wirkung  auf  l'ilzc,  Hefen, 
Bakterien  als  Fruchtsaftkonservierungsmittel  ge- 
braucht wird,  die  Harze,  die  die  Griechen  seit  den 
ältesten  Zeiten  bis  auf  den  heutigen  Tag  zum 
Wein  hinzusetzen,  um  ihn  vor  dem  Essigstich 
und  dem  Kahmigwerden  zu  bewahren.  Auch  in 
der  Spiritusbrennerei  wenden  die  Franzosen  einen 
kleinen  Harzzusatz  an,  um  die  unerwünschte  Bak- 
terienwirkung zu  hemmen. 

Die  Wirkung  solcher  ätherischer  Öle,  Terpene, 
Harze  usw.  könnte  einmal  eine  direkte  sein,  indem 
die  Pflanzen  in  einem  solche  Stoffe  enthaltenden 
Boden  vergiftet  werden,  oder  eine  indirekte,  indem 
das  „Leben"  des  Bodens,  d.  h.  die  Tätigkeit  der 
IVlikroorganismen  in  ihm,  in  einer  schädlichen 
Richtung  beeinflußt  wird.  Kulturversuche  in 
Buchen-  und  Fichtenhumus,  der  aus  Sieber  im 
Harz  stammte,  überzeugten  zunächst  von  der 
Richtigkeit  der  scliädlichcn  Wirkung  des  letzteren. 
Buchweizen  z.  B.  wuchs  im  Ficlitenhunuis  nur 
halb  so  kräftig  als  im  Buchenhumus,  Buchen-  und 
Fichtenkeimlinge  verkümmerten  oder  gingen  gar 
ganz  ein  in  ersterem,  während  sie  in  letzterem 
normal  gediehen.  Dabei  zeigte  aber  die  chemische 
Analyse,  daß  beide  Ilumussorten  einen  Gehalt  an 
Gesamtstickstoff  und  an  Salpeter  besaßen,  der 
denjenigen  einer  guten  Ackererde  ganz  bedeutend 
übertrifft.  Dasgleiche  gilt  für  den  Gehalt  an 
Phosphorsäure  und  Kalium. 

Koch  hat  nun  zunächst  verschiedene  Keim- 
pflanzen mit  ätherischen  Ölen  behandelt  (Terpen- 
tinöl, Carven,  Bornylester,  Edeltannenöl,  Kiefernöl 
usw.).  indem  er  Samen  in  mit  solchen  Stoffen 
versetzter  Erde  keimen  ließ.  Es  zeigte  sich,  daß 
wirklich  eine  schädigende  Wirkung  eintrat,  doch 
machte  sie  sich  hauptsächlich  in  den  ersten 
Keimungsstadien  bemerklich,  und  ferner  nur  dann, 
wenn  die  Samen  vorher  angequollen  waren.    Edel- 


tannenöl wirkte  wenig  schädlich,  desgl.  Tannin 
und  Kolophonium,  sehr  dagegen  Ameisensäure. 
Auch  bei  älteren  Pflanzen  war  die  Wirkung  an- 
fänglich am  stärksten  und  flaute  dann  ab. 

Was  nun  die  Wirkung  der  oben  genannten 
Stoffe  auf  niedere  Organismen  anlangt,  so  ver- 
hinderte Carven  die  Hefengärung  vollständig  in 
einer  Konzentration  von  i  Proz,  die  übrigen  Che- 
mikalien hemmten  nur  mehr  oder  weniger  stark. 
Bornylester  und  Carven  setzte  die  Zahl  der  Bak- 
terien in  Erdproben  stark  herab,  während  Ter- 
pentinöl fast  gar  nicht  und  Edeltannenöl  sogar 
umgekehrt  wirkte.  In  Milch  wurde  meist  eine 
Herabsetzung  der  Säurebildung  gefunden,  besonders 
bei  Terpentin  und  Kiefernöl.  Ganz  ähnlich  schützen 
diese  Stoffe  das  Bier  gegen  Essiggärung.  Auch 
die  Harnstoffgärung  und  Nitrifikation ,  d.  h.  die 
O.xydation  des  Ammoniaks  zu  Nitrat  wird  im  all- 
gemeinen gehemmt,  aber  nur  vorübergehend.  Die 
weiterhin  gefiuidene  Tatsache,  daß  die  Zellulose 
der  Fichtennadeln  die  Zerstörung  der  Nitrate,  d  li. 
also  die  Denitrifikation  begünstigt,  steht  in  einem 
Gegensatz  zu  dem  hohen  Gehalt  der  F'ichtenstreu 
an  Nitraten,  der  oben  erwähnt  wurde.  Überhaupt 
war  die  Slickstofffrage  nicht  ganz  befriedigend 
aufzuklären.  Laub-  nnd  Fichtennadelhumus  zeigten 
die  gleiche  Denitrifikation,  doch  ist  möglicherweise 
die  Schnelligkeit  der  Salpeterzerstörung  verschieden. 
Deutlich  wurde  die  Zersetzung  von  Fließpapier 
durch  zellulosezersetzende  Bakterien  gehemmt, 
wenn  z.  B.  Edeltannenöl,  Terpentin,  Kolophonium 
oder  Tannin  zugesetzt  wurden. 

Wenn  auch  im  einzelnen  noch  manche  Un- 
klarheiten eine  präzise  Beantwortung  der  Frage, 
weshalb  der  Nadelstreuboden  minderwertig  ist, 
heute  unmöglich  machen,  so  scheint  doch  so  viel 
aus  den  Versuchen  des  Verfassers  hervorzugehen, 
daß  in  der  Tat  der  Giftwirkung  der  in  den  Nadeln 
enthaltenen  ätherischen  Öle,  Harze  usw.  eine  direkte 
oder  eine  indirekte  Bedeutung  bei  dem  Problem 
zukommt.  Miehe. 


Bücherbesp 

Ehrlich,  Paul,  Eine  Darstellung  seines 
wissenschaftlichen  Wirkens.  Von  H. 
A  p  o  1  a  n  t ,  Frankfurt  a.  M. ;  H.  A  r  o  n  s  o  n ,  Ber- 
lin;  H.  B  e  c  h  h  o  1  d ,  Frankfurt  a.  M. ;  J.  B  e  n  a  r  i  o , 
p>ankfurt  a.  M. ;  L.  Benda,  P'rankfurt  a.  M. ; 
A.  B  e  r  t  h  e  i  m ,  Frankfurt  a.  M. ;  K.  B  i  e  r  b  a  u  m , 
PVankfurt  a.  M. ;  K.  E.  Boehncke,  Frankfurt 
a.  M. ;  V.  C  z  e  r  n  y ,  Heidelberg ;  E.  v.  D  u  n  g  e  r  n , 
Hamburg;  A.  Edinger,  Frankfurt  a.  M.;  G. 
Embden,  Frankfurt  a.  IVI. ;  U.  P'riedmann, 
Berlin;  G.  Gaffky,  Hannover;  R.  Gonder, 
Frankfurt  a.  M.;  S.  Hata,  Tokio;  A.  C.  Hof, 
Frankfurt  a.  M.;  M.  Jacoby,  Berlin;  A.Laza- 
rus, Charlottenburg;  C.  Levaditi,  Paris;  Th. 
Madsen,  Kopenhagen;    L.  H.  Marks,  Frank- 


rechungen. 

fürt  a.  M. ;  E.  Marx,  Frankfurt  a.  M.;  L.  IMi- 
chaelis,  Berlin;  J.  Morgenroth,  Berlin;  P. 
Th.  Müller,  Graz;  A.  Neisser,  Breslau;  M. 
Ne isser,  Frankfurt  a.  M.;  R.  Otto,  Berlin; 
H.  Ritz,  Frankfurt  a.  M.;  H.  Sachs,  Frank- 
furt a.  M.;  G.  Schöne,  Greifswald;  K.  Shiga, 
Tokio;  W.  Waldeyer,  Berlin;  A.  v.  Wasser- 
mann, Berlin;  A.  v.  Weinberg,  Frankfurt 
a.  M.;  R.  Will  stätter,  Berlin.  Festschrift 
zum  6o.  Geburtstage  des  Forschers  (14.  März 
1914).  668  S.  Mit  I  Bildnis.  Gustav  Fischer, 
Jena  1914.  Brosch.  Mk.  16. — ,  geb.  Mk.  17.— • 
Die  von  den  genannten  Forschern,  zum  großen 
Teile  Autoritäten  auf  ihrem  Gebiet,  gelieferten 
Beiträge  werden  in  fünf  Kapiteln  zusammengefaßt: 


N.  F.  Xm.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


621 


Histologie  und  Biologie  der  Zellen  und  Gewebe. 
Immunitätsforschung,  Geschwulstforschung,  Chemie 
und  Biochemie,  Chemotherapie. 

Voraus  geht  eine  biographische  Darstellung, 
während  ein  vollständiges  Verzeichnis  der  Ver- 
öffentlichungen Ehrlich's,  sowie  der  Arbeiten,  die 
aus  den  von  ihm  geleiteten  Instituten  hervor- 
gegangen, bzw.,  unter  seiner  Leitung  entstanden 
sind  (bis  zum  i.  Februar  1914),  den  Band  schließt. 

Kathariner. 

HeinrichSchmidt,  Jena,  Was  wir  Ernst  Haeckel 
verdanken.  Ein  Bucii  der  Verehrung  und  Dank- 
barkeit.    Im    Auftrag    des    deutschen  Monisten- 
bundes   herausgegeben.     2    Bde.    mit    12    Abb., 
darunter    5    Haeckel -Porträts.     Leipzig    1914, 
Verlag  Unesma.  —  Preis  8  Mk. 
Zum    80.  Geburtstag  Ernst  Haeckel's   hat 
der    Deutsche    Monistenbund     vorliegende    P'est- 
schrift  herausgeben  lassen,  die  von  einem  „Prolog 
der  Weihe"    eingeleitet    wird;    daran    reihen    sich 
eine     172    Seiten    umfassende    Abhandlung    von 
Heinrich  Schmidt  über  Haeckel's  Bedeutung 
für    die    allgemeine    Kultur,    ein    Verzeichnis    der 
Schriften  Haeckel's    und   123  meist  ganz  kurze 
Aufsätze  von  Schülern    und  Anhängern    des  grei- 
sen P'orschers.   Darunter  befinden  sich  Beiträge  be- 
kannter  Biologen,    wie    z.    B.  die    von    Richard 
Semon,  München;    Hermann   von  Ihering, 
Sao  Paulo,  Brasilien;    Paul  Kammerer,  Wien; 
Jac.  Loeb,    New  York;   Richard  von    Hert- 
wig,  München;  Alfred  Gre  il,  Innsbruck;  Max 
Verworn,    Bonn;    Wilhelm    Schallmayer, 
München  u.  a. 

Die  Aufsätze  behandeln  die  Beziehungen  der 
.Autoren  zu  Haeckel,  Haeckel's  Einfluß  auf 
sie  und  ihre  Ansichten  über  Haeckel's  Einfluß 
auf  die  kulturelle  Entwicklung  der  Menschheit. 
Der  Eindruck,  den  man  aus  den  Aufsätzen  be- 
kommt ist  der:  Der  große  Jenenser  Biologe  hat 
mehr  dazu  beigetragen,  der  freien  Naturforschung 
den  Weg  zu  bahnen,  Licht  und  Aufklärung  zu 
verbreiten,  als  irgendein  anderer  einzelner  Forscher. 
Was  wäre  aus  dem  ,, Darwinismus"  geworden, 
wenn  nicht  Haeckel  mit  seiner  bewunderungs- 
würdigen Furchtlosigkeit  die  Lehren  Darwin 's 
verkündet  und  unermüdlich  für  ihre  Verbreitung 
gearbeitet  hätte! 

Besonders  lesenswert  ist  die  Abhandlung 
Heinrich  Schmidt's,  welche  zuerst  den  Fort- 
schritt der  Naturerkenntnis  wie  die  ihm  bereiteten 
Hemmungen  in  der  Zeit  vor  Haeckel's  Auftreten 
darstellt;  dann  werden  Haeckel's  Lebensgang 
und  sein  Wirken  für  die  Wissenschaft  und  Gewissen- 
freiheit ausführlich  und  objektiv   geschildert. 

Schließlich  sei  noch  besonders  verwiesen  auf 
Joseph  Mc.  Cabe's  „Ernst  Haeckel  in  Eng- 
land" und  des  amerikanischen  Ethnologen  Robert 
H.  Lowie's  ,, Haeckel's  Verhältnis  zu  Amerika". 
Beide  Aufsätze  zeigen  deutlich,  daß  Haeckel's 
Einfluß  sogar  im  Bereich  des  englischen  Kultur- 
kreises  größer  war,   als    der   irgendeines  englisch 


sprechenden  Naturforschers,  Darwin  selbst  nicht 
ausgenommen. 

Die  Ausstattung  der  Festschrift  ist  eine  gute 
und  die  Bilder  sind  prächtig  ausgeführt. 

H.  Fehlinger. 

Nufsbaum,  M.,  Karsten,  G.,  Weber,  M.,  Lehr- 
buch der  Biologie  für  Hochschulen. 
2.  Aufl.  Mit  252  Tcxtabbild.  Leipzig  und 
Berlin  1914,  W.  Engelmann.  —  Preis  geb. 
13,25  Mk. 

Der  Hauptwert  des  Buches,  für  dessen  Beliebt- 
heit diese  bereits  nach  3  Jahren  notwendig  ge- 
wordene 2.  Auflage  spricht,  liegt  darin,  daß  es 
gleicherweise  Botanik  und  Zoologie  berücksichtigt. 
Referent  möchte  zunächst  zur  prinzipiellen  Klä- 
rung einige  naturgemäß  rein  subjektive  Bemer- 
kungen vorausschicken,  von  denen  aus  dann  ein 
Rückblick  auf  das  vorliegende  Buch  zu  werfen 
wäre.  Als  Ziel  einer  allgemeinen  Biologie,  die 
in  der  Tat  ein  zweifellos  vorhandenes  Bedürfnis 
befriedigen  würde,  dächte  er  sich,  das  organische 
Leben  in  seinem  Zusammenhange  darzustellen, 
von  einheitlichem  Standpunkte  aus  eine  Total- 
ansicht der  vielgestaltigen  im  Wechselspiel  mit 
der  umgebenden  Natur  sich  bildenden  Formen 
und  sich  betätigenden  Kräfte  zu  versuchen.  In 
den  Bereich  einer  solchen  Darstellung  würde  der 
Gesamtbestand  alles  dessen  gehören,  was  an  ge- 
sicherten Tatsachen  Botanik  und  Zoologie  über 
die  bloße  systematische  Beschreibungs-  und  In- 
ventarisierungsarbeit hinaus  geleistet  haben,  immer 
mit  dem  Ziel,  nicht  diese  durch  morphologische, 
anatomische,  oder  experimentell-physiologische 
Forschung  eruierten  Tatsachen  zu  registrieren 
(das  tun  die  üblichen  Lehrbücher  und  sollen  es 
tun),  sondern  sie  in  einer  ganz  bestimmten  Weise 
und  zwar  so  zu  gruppieren  und  zu  beleuchten,  daß 
der  Leser  die  näheren  und  ferneren  Zusammenhänge 
durchschaut,  die  die  Einzelphänomene  miteinander 
verknüpfen.  Als  Grundlage  dächte  sich  Referent 
überall  die  Physiologie,  sonst  würde  eine  ,, Allge- 
meine Biologie"  herauskommen,  wie  sie  mit  Un- 
recht O.  Hertwig  sein  Buch  nennt.  Es  dürften 
aber  auch  nicht  nur  die  herkömmlichen  biolo- 
gischen Themen  berücksichtigt  werden,  sondern 
auch  das,  was  meist  als  die  Domäne  der  experi- 
mentellen Physiologie  bezeichnet  wird.  Denn  mir 
scheint,  daß  die  Biologie  nicht  ein  gewisses  Stoff- 
gebiet umgrenzt,  sondern  nur  eine  bestimmte  Art 
der  Darstellung  bedeutet.  Als  einen  interessanten 
Versuch  einer  solchen  Darstellung  möchte  ich 
hier  zur  Illustration  meiner  Auffassung  z.  B.  die 
„Aligemeine  Botanik"  von  A.  Nathan  söhn  an- 
führen. Schließlich  dürfte  nirgends  die  synthe- 
tische Phantasie  die  nüchternen  Tatsachen  ver- 
schleiern. 

Schlagen  wir  nun  das  vorliegende  Buch  auf, 
so  überrascht  zunächst  die  Einteilung.  Wir  finden 
nämlich  zunächst  einen  Abschnitt  über  experi- 
mentelle Morphologie,  der  mit  Ausnahme  einiger 
weniger  flüchtiger  botanischer  Exkurse  ganz  zoo- 


622 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  39 


logisch  ist.  Dann  schließt  sich  daran  die  Biologie 
der  Pflanzen  und  die  der  Tiere.  Damit  ist  in  den 
Plan  des  Buches  eine  gewisse  Ungleichmäßigkeit 
gekommen.  Es  ist  nicht  einzusehen,  weshalb  den 
nach  den  oben  entwickelten  Gesichtspunkten  be- 
arbeiteten Abschnitten  einer  vorausgeschickt  wird, 
der  eine  Spezialdisziplin  behandelt.  Daß  es  sich 
hier,  wie  die  Vorrede  ausführt,  um  ein  allmählich 
selbständig  gewordenes  Gebiet  von  gewisser  Be- 
deutung handelt,  das  eine  zusammenhängende 
Darstellung  verdient,  soll  nicht  bestritten  werden. 
Nur  ist  es  fraglich,  ob  sie  als  selbständiger  Teil 
den  anderen  gegenübertreten  darf.  Man  könnte 
dann  auch  mit  demselben  Rechte  eine  analoge 
Darstellung  der  botanischen  Tatsachen  verlangen 
oder  meinetwegen  auch  andere  sich  selbständig 
herausarbeitende  Zweige  der  Biologie,  wie  z.  B. 
die  Vererbungslehre  gesondert  darstellen.  Um 
nicht  mißverstanden  zu  werden,  möchte  ich 
noch  betonen,  daß  dieser  Abschnitt  durchaus  ver- 
dienstlich ist,  daß  er  mir  aber  aus  dem  Plane 
des  Buches  trotz  der  Rechtfertigung  in  der  Vor- 
rede herauszufallen  scheint.  Karsten  umgrenzt 
die  Aufgabe  der  Biologie  mit  den  Worten,  sie 
frage  nach  der  Bedeutung  der  durch  die  äußeren 
Einflüsse  hervorgerufenen  Lebenserscheinungen  der 
Pflanzen  für  ihr  Eeben ;  ich  befinde  mich  also  hier 
durchaus  in  Harmonie  mit  ihm.  Nur  wäre  viel- 
leicht erlaubt,  zu  fragen,  weshalb  eine  Anzahl  ge- 
rade der  auffälligsten  Lebenserscheinungen  wie 
z.  B.  Geotropismus,  Heliotropismus  u.  a.  von  einer 
solchen  biologisch  orientierten  Darstellung  aus- 
geschlossen werden.  Auch  der  letzte  Abschnitt 
von  Max  Weber  ist  im  ganzen  nach  einem  ein- 
heitlichen biologischen  Gesichtspunkte  geschrieben, 
doch  würde  man  auch  hier  gelegentlich  noch  eine 
Erweiterung  des  Stoffes  wünschen.  So  z.  B.  ist, 
soweit  ich  sehe ,  hier  (ebensowenig  wie  in  dem 
botanischen  Abschnitt)  die  Beziehung  der  Orga- 
nismen zum  Sauerstoft',  kurz  das  große  und  wich- 
tige Kapitel  der  Atmung  nicht  im  Zusammenhange 
dargestellt. 

Schließlich  wäre  es  sehr  instruktiv  gewesen, 
wenn  in  einem  besonderen  Abschnitte  die  großen 
Wechselbeziehungen  zwischen  Tieren  und  Pflanzen 
geschildert  wären,  wobei  sich  gerade  aus  der 
Welt  der  Mikroorganismen  noch  manche  wichtige 
Einzelheit  hätte  heranholen  lassen. 

Die  Darstellung  verdient  alles  Lob.  Sie 
läßt  überall  Erfahrung,  Sachkenntnis  und  Kri- 
tik erkennen.  Besonders  wertvoll  sind  die  Lite- 
raturnachweise, die  in  den  ersten  beiden  Ab- 
schnitten jedem  Kapitel,  im  letzten  dem  Schluß 
angefügt  sind,  sowie  die  guten  und  instruktiven 
Abbildungen. 

Der  Inhalt  des  Werkes  ist  der  folgende:  M. 
Nußbaum  behandelt  nach  einem  umfangreicheren 
Kapitel,  in  welchem  die  Regenerationerscheinungen 
in  den  verschiedenen  Gruppen  des  Tierreiches 
geschildert  werden,  in  weiteren  kürzeren  die  Ka- 
stration, die  Transplantation,  die  künstliche  Be- 
fruchtung, die  Pfropfungen  (wo,  wie   mir    scheint. 


die  fundamentalen  Versuche  Winkler's  zu  wenig 
hervortreten),  die  Parabiose,  d.  h.  die  Erscheinungen, 
die  ganze,  zusammengeheilte  Individuen  zeigen, 
die  Symbiose,  die  Doppel-  und  Mehrfachbildungen, 
den  Riesen-  und  Zwergwuchs,  die  künstliche 
Parthenogenese,  die  Abhängigkeitsverhältnisse  der 
Organe,  sowie  die  txpcrimentell  hervorrufbaren 
Abänderungen,  den  Einfluß  des  Hungers,  die  funk- 
tionelle Anpassung,  die  Teilbarkeit  der  Organis- 
men, die  Polarität  und  Heteromorphose  und  die 
experimentelle  Erzeugung  des  Geschlechtes. 

G.Karsten  schildert  nach  einer  allgemeinen 
Einleitung  zunächst  die  Hauptgruppen  der  ein- 
zelligen Organismen  nach  wesentlich  morpholo- 
gischen und  entwicklungsgeschichtlichen  Gesichts- 
punkten und  geht  dann  zur  Darstellung  der  Öko- 
logie der  Keimung,  der  Ernährung  (die  mir  be- 
sonders gelungen  erscheint)  und  der  Fortpflanzung 
über.  Den  Schluß  machen  die  Kapitel  über  PVucht- 
und  Samenverbreitung,  über  die  Beziehungen  der 
Pflanzen  zu  gesellig  lebenden  Tieren,  in  dem  sich 
eine  moderne  Darstellung  der  Myrmekophilie  fin- 
det, und  über  das  Zusammenleben  der  Pflanzen, 
wo  wichtige  pflanzengeographische  Prinzipien  auf 
physiologischer  Basis  entwickelt  werden. 

M.  Weber  beginnt  mit  einem  Kapitel  über 
Wachstum,  Lebensdauer  und  Tod,  erörtert  dann 
die  Form  und  ihre  Bedingungen,  die  Körper- 
größe und  einige  ihrer  Bedingungen,  die  Örts- 
veränderung  und  Sessilität,  die  Färbung,  Zeichnung 
und  den  Earbenwechsel,  die  Lautäußerung,  die 
Gerüche  und  das  Leuchten  der  Tiere.  Ein  größeres 
Kapitel  behandelt  die  Lebensbedingungen  der  Tiere: 
Temperatur,  Ernährung,  Licht,  Wohnraum,  ein 
weiteres  die  Verbreitung  und  Wanderung  der 
Tiere;  dann  folgt  die  Fortpflanzung  und  den  Be- 
schluß macht  eine  Schilderung  der  Beziehungen 
der  Tiere  zueinander. 

Wir  können  das  Buch  dem  Studenten  wie  dem 
Forscher,  der  das  Bedürfnis  fühlt,  sich  den  Über- 
blick über  das  Gesamtgebiet  der  Biologie  zu 
wahren,  durchaus  empfehlen.  Miehe. 


L.  V.  Bortkiewicz.  Die  radioaktive  Strah- 
lung als  Gegenstand  wahrscheinlich- 
keitstheoretischer     Untersuchungen. 
84    Seiten    mit    5  Textfiguren.     Berlin   1913,   J. 
Springer.  —  Preis  geh.  4  Mk. 
Die  vorliegende  Schrift    enthält    eine    ins  Ein- 
zelne durchgeführte  kritische  Darlegung  der  mathe- 
matischen Methoden,  welche  dazu  dienen,  die  aus 
der  Beobachtung  von  Szintillationen  zu  gewinnen- 
den experimentellen  Daten  über  die  Gesetze    der 
radioaktiven  Strahlung    einer   wahrscheinlichkeits- 
theoretischen Prüfung  zu  unterziehen.     Es  handelt 
sich    hierbei  im  wesentlichen  um  zwei  Methoden. 
Entweder   werden    die    Zeitabstände    zwischen   je 
zwei    unmittelbar    aufeinanderfolgenden    Szintilla- 
tionen betrachtet  und  die  Verteilung  ihrer  Größe 
studiert,    oder  aber  es  wird    die  Anzahl  der  Szin- 
tillationen beobachtet,  die  sich  in  Zeiträumen  von 
bestimmter   Dauer    ereignen   und    die    auftretende 


N.  F.  XIII.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


623 


Schwankung  dieser  Zahlen  untersucht.  Im  letz- 
teren Fall  kann  entweder  der  ganze  Zeitraum, 
über  den  sich  die  Beobachtung  erstreckt,  in  gleiche 
Zeitintervalle  zerlegt  werden,  auf  welche  jeweils 
eine  kleine  Anzahl  von  Szintillationen  entfällt,  oder 
es  kann  die  für  eine  Anzahl  von  Zeiträumen  ver- 
schiedener Länge  festgestellte  große  Anzahl  von 
Szintillationen  darauthin  geprüft  werden,  ob  sich 
ihr  Verlauf  im  Hinklang  mit  der  Wahrscheinlich- 
keitstheorie befindet. 

Verf  gibt  eine  eingehende  aligemeine  Dar- 
stellung dieser  einzelnen  Betrachtungsweisen  und 
wendet  diese  dann  an  auf  die  bis  jetzt  vorliegenden 
experimentellen  Ergebnisse  der  Untersuchungen 
von  IVIarsden  u.  Barratt,  Rutherford  u. 
Geiger  und  von  Regen  er.  Damit  ist  gleich- 
zeitig der  Weg  gezeigt,  wie  künftige  Unter- 
suchungen des  Problems  im  Sinne  möglichster 
Korrektheit  durchzuführen  sind.         A.  Becker. 


Wetter-Monatsübersicht. 

Der  vergangene  August  hatte  in  ganz  Deutsch- 
land einen  etwas  veränderlichen  Witterungscharakter, 
jedoch  herrschte  ruhiges,  trockenes,  heiteres  Sommer- 
wetter, besonders  im  Norden,  bei  weitem  vor.  Die 
anfangs  verhältnismäßig  niedrigen  Temperaturen 
gingen  seit  dem  7.  oder  8.  beträchtlich  in  die  Höhe, 
am  10.  August  stieg  das  Thermometer  in  Aachen 
und  Magdeburg  bis  auf  31,  am  11.  beispiels- 
weise in  Trier,  Frankfurt  a  M.,  Halle,  Grünberg, 


Icmj>cra[ur-Sßaxima  einiaer  ©m  im  t3uai^f  IBl'f. 

1.  ^gguit  6. 11.  ^  2).  *26.  *.       31. 


Berliner  WcfferbuPOflu 


Königsberg  i/Pr.  bis  auf  32,  in  Dresden  sogar 
bis  33 "  C.  Bald  darauf  wurde  durch  frische 
nördliche  Winde  die  Hitze  bedeutend  gemildert, 
in  der  Nähe  der  Ostseeküste,  desgleichen  z.  B.  zu 
Dahme  in  der  Mark  kühlte  sich  die  Luft  während 
mehrerer  Nächte  bis  auf  7  "  C.  ab.  Die  Mittags- 
temperaturen überschritten  zwar  noch  meistens 
20,   jedoch  nur  vereinzelt  25  "  C.     Erst    seit  dem 


24.  August  fand  wieder  eine  stärkere  Erwärmung 
statt,  am  27.  wurden  in  Dahme  und  hVankfurt  a ;ü. 
nochmals  30"  C.  erreicht  und  bis  zum  Schlüsse 
des  Monats  blieb  das  Wetter  in  Norddeutschland 
bei  größtenteils  wolkenlosem  Himmel  hochsommer- 
lich warm. 

Auch  die  mittleren  Monatstemperaturen  lagen 
östlich  der  Elbe  mehr  als  einen  Grad,  im  Nord- 
westen einige  Zehntelgrade  über  ihren  normalen 
Werten,  während  sie  in  Süddeutschland  ein  wenig 
zu  niedrig  waren.  Die  Anzahl  der  Sonnenschein- 
stunden nahm  ebenfalls  in  der  Richtung  von  Nor- 
den nach  Süden  ab  und  zwar  im  allgemeinen  Durch- 
schnitt etwas  größer  als  gewöhnlich.  In  Berlin 
z.  B.  hat  während  des  vergangenen  Monats  die 
Sonne  an  254  Stunden  geschienen,  während  hier 
in  den  früheren  Augustmonaten  durchschnittlich 
215  Sonnenscheinstunden  verzeichnet  worden  sind. 

Die  Niederschläge  traten  der  großen  Mehrzahl 
nach  in  Begleitung  von  Gewittern  und  daher 
selbst  in  benachbarten  Gebieten  oft  an  sehr  ver- 
schiedener Stärke  auf  Am  reichlichsten  fielen  sie 
im  allgemeinen  während  der  ersten  acht  Tage 
des  Monats,  in  denen  sich  das  schon  am  23.  Juli 
eingetretene  Regenwetter,  obschon  mit  vielen  Unter- 
brechungen, überall  fortsetzte.  Namentlich  im 
Weichsel-  und  Odergebiete  gingen  in  dieser  Zeit 
sehr  heftige  Regengüsse  hernieder,  die  z.  B.  am 
5.  in  Neufahrwasser  56,  in  Bcuthen  30,  zwei 
Tage  später  in  Neufahrwasser  21,  Beuthen 
46  mm  ergaben. 


ay 


T2kSiCVß.i^aa^^^ßlzr\  imd?liici,u5f  1914. 

'^     ^ilHercr  Wert  Für 

Deulschbnd. 


Ee5         E_&^F^_  __ 

mxrnzsri/J^rS  <;5xcnacn  SiiiLtaazS 


.  bis  8-  Augus^ 


)xmm 


mm         ^111—    9.bis23.Au 

W.tt±j 


mm' 

10 

Zl.bisai. August 

1    1     1     1     1     1    1  1    1 

1  1 

^                  1^ 

1 

■hd 

_^ 

■.M^  mm 

/MonatssummemAug. 
1914.13.12,  II.  10.  Of. 


eerUerWp.rr<.Urt>' 


Seit  dem  9.  August  stellte  sich  in  den  meisten 
Gegenden  trockeneres  Wetter  ein,  das  im  größten 
Teile  Norddeutschlands  bis  zum  Schlüsse  des  Monats 
anhielt.  In  Süddeutschland  wiederholten  sich  noch 
öfter  starke,  strichweise  mit  Hagelschauern  ver- 
bundene Regenfälle,  blieben  jedoch  bis  zum  23. 
auch    im    Norden    nicht    gänzlich   aus.     Beispiels- 


624 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  39 


weise  wurden  am  17.  August  in  Ludwigsharen46, 
in  Kaiserslautern  30,  am  17.  und  18.  zusammen 
in  Worms  67,  am  22.  in  Trier  23,  in  Essen  38, 
in  Bremervörde  51,  am  23.  in  Swinemünde  39, 
am  28.  in  Bamberg  40  mm  Regen  gemessen. 
Die  Niederschlagsunimc  des  Monats  belief  sich 
für  den  Durchschnitt  aller  berichtenden  Stationen 
auf  50,7  mm  und  zwar  um  25,6  mm  geringer  als 
der  Betrag,  den  die  gleichen  Stationen  im  Mittel 
der  früheren  Auguslmonate  seit  dem  Jahre  1891 
geliefert  haben. 


In  der  allgemeinen  Anordnung  des  Luftdruckes 
in  Europa  vollzogen  sich  die  Änderungen  von 
einem  Tage  zum  andern  im  letzten  Monat  immer 
nur  sehr  langsam.  In  seinen  ersten  zehn  Tagen 
zogen  mehrere  barometrische  Minima  vom  atlan- 
tischen Ozean  über  Schottland  und  Südskandi- 
navien ins  Innere  Rußlands  hin,  während  Südwest- 
und  Mitteleuropa  sowie  das  nördliche  Skandi- 
navien gewöhnlich  von  Hochdruckgebieten  ein- 
genommen wurden.  Am  11.  August  drang  ein 
Maximum  vom  biscayischen  Meere  langsam  nach 
Norden  vor  und  breitete  später  sein  Gebiet  süd- 
ostwäits  bis  nach  Ostdeutschland  aus.  Etwas  süd- 
licher erschienen  gleichzeitig  vom  westlichen  Mittel- 
meere her  verschiedene  flache  Teildepressionen, 
die  längere  Zeit  im  südwestlichen  Teile  des  F'est- 
landes  verharrten,  so  daß  jetzt  in  Deutschland 
trockene  nordöstliche  Winde  von  sehr  geringer 
Stärke  vorherrschen  mußten.  Erst  im  letzten 
Monatsdrittel  gelangte  von  Westen  ein  neues 
Barometermaximum  nach  Mitteleuropa  hin,  von 
wo  es  durch  eine  nachfolgende  atlantische  De- 
pression ganz  allmählich  nach  Osten  verschoben 
wurde.  Dr.  E.  Leß. 


Anregungen  und  Antworten. 

Eine  Korrektur  der  photomelrischen  Gesetze?  In  Nr.  29 
(19.  Juli)  dieser  Zeitschrift  entwickelt  Dr.  Schoy  eine  Formel 
über  die  Bestrahlungsintensität  der  Sonne  an  der  Oberfläche 
der  Atmosphären  der  Erde  und  Venus,  wobei  er  zu  dem  Re- 
sultat kommt,  das  J'J=4J6  (rund)  sei.  Da  die  Entfernungen 
dieser  beiden  Planeten  von  der  Sonne  sich  wie  7  :  10  verhalten, 
so  folgte  hieraus,  dal3  die  Strahlungsintensität  sich  umgekehrt 
wie  die  4.  Potenzen  der  Entfernungen  verhalten  würden.  Die 
bisherige  Annahme,  daß  sie  umgekehrt  proportional  dem 
Ouadrate  der  Entfernung,  wäre  also  falsch,  und  es  verlohnt 
sich  darum  vrohl,  die  erwähnte  Ableitung  näher  prüfen,  zu 
welchem  Zwecke  sie  hier  kurz  wiederholt  sei.  Da  der  schein- 
bare Radius  der  Sonne  auf  der  Erde  ('/)  zu  dem  auf  der 
Venus  (1,")  sich    wie  7:10  verhält,    so    folgt,    daß    die  Sonnen- 


scheibe   d.     h.    also    die    strahlende    Fläche,     von    der    Venus 
i'ioV-' 

I  mal    größer    erscheint,    als    von    der  Erde    aus,    oder 

1  o\. 


Fl  =11"   F  =  2F    (rund).     Hieraus    wird    nun    der    folgende 

Schluß  gezogen:   „Nach  dem  Grundsatz    der  Photometrie    ver- 
halten sich  aber  die  Beleuchtungsintensitäten    I,   u.  J  in  9    u- 


Fi 

14^ 


-5,     d.   i.     ],   : 


4  .1  (rund)".     In    Worten 


läßt  sich  dies  folgendermaßen  wiedergeben  : 

Die  Intensitäten  stehen  zur  Größe  der  strahlenden  Flächen 
im  geraden,  zum  Quadrate  ihrer  Entfernungen  im  umgekehrten 
Verhältnis.  Da  also  die  strahlende  Fläche  (Sonnenscheibe) 
für  Venus   und  Erde   10^ :  7'^,  die  Quadrate  der  Entfernungen 


.     J.        7"        10* 
7- :  10-,    so  ist  V  =  ^-  = : 


4    (rund).      Der    Leser    wird 


sofort  bemerken,  daß  das  Neue  dieser  Ableitung  in  der  Her- 
anziehung der  scheinbaren  Größe  der  Sonnenscheibe 
liegt,  und  die  Frage  ist  kurz  diese,  ob  es  auf  die  scheinbare 
Größe,  oder  auf  die  für  beide  Planeten  gleichbleibende 
wirkliche  Größe  ankommt?  Da  nun  wohl  kein  Zweifel 
bestehen  kann,  daß  die  Ausstrahlung  der  Sonne,  von  anderen 
Faktoren  abgesehen,  nur  von  der  Größe  ihrer  Oberfläche 
abhängt,  d.  h.  nur  die  wirkliche  Größe  maßgebend  ist,  so 
muß  eben  in  obiger  Formel  F,^F  gesetzt  werden.  In  Wirk- 
lichkeit stellt  die  Einführung  der  scheinbaren  Radien  der 
Sonne  ein  nochmaliges  Inrcchnungstellen  der  verschiedenen 
Entlernungen  dar.  Dr.  Baum. 


Literatur. 

Berg,  Dr.,  D.as  Problem  der  Klimaänderung  in  geschicht- 
licher Zeit.     Leipzig  und  Berlin  '14,  B.  G.  Teubner.     3,60  Mk. 

Jaiser,  Ad.,  Farbenphotographje  in  der  Medizin.  Prak- 
tischer Ratgeber  für  farbenphotographische  Aufnahmen  am 
lebenden  und  leblosen  Objekt  zum  Gebrauch  für  Arzte,  Natur- 
forscher und  Photographen.  Mit  6  farbigen  Tafeln  nach 
Originalaufnahmen  des  Verfassers,  69  Textabbild,  sowie 
einem  Geleitwort  von  Prof.  Dr.  Steinthal.  Stuttgart  '14, 
F.   Enke.     6  Mk. 

Das  Leben  und  die  Lehre  Epikurs  übersetzt  von  Kochalsky. 
Leipzig  und  Berlin  '14.     B.  G.  Teubner.     Geb.  2,40  Mk. 

Lud  ewig,  Dr.  P.,  Die  drahtlose  Telegraphie  im  Dienste 
der  Luftfahrt.  Mit  55  Te.\tabkild.  Berlin  '14,  11.  Meußer. 
3,60  Mk. 

W  i  1 1  g  e  r  o  d  t ,  Prof.  Dr.  C.,  Die  organischen  Verbindungen 
mit  mehrwertigem  Jod.  VII.  Band  der  ,, Chemie  in  Einzeldar- 
stellungen". Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Julius  Schmidt. 
Stuttgart,   '14.      Ferd.   Enke.     8,40  Mk. 


Ergänzung. 
Infolge  einer  durch  die  Kriegswirrnisse  verursachten  Ver- 
zögerung im  Eingang  der  Korrektur  bei  der  Druckerei  sind 
im  Artikel  Physiologie  Nr.  35  S.  554,  Zeile  24  hinter:  „Zeit 
nachdem  er"  folgende  Worte  ausgefallen:  ,,die  giftige  Sub- 
stanz aufgenommen  hat.     Nach   den  Autoren  kann  .   .   .  ." 


Inhalt:  Braß:  Lage  und  Beziehungen  der  italienischen  Vulkangebiete  zu  gleichzeitigen  Meeren  oder  Binnengewässern.  — 
Einzelberichte:  Zaepffel;  Beziehungen  zwischen  Spaltöffnungen  und  heliotropischer  Empfindlichkeit.  Sccerov:  Die 
Wirkung  der  ultravioletten  Strahlen  auf  die  Haarfarbe  des  Kaninchens  und  Meerschweinchens.  Uspenski:  Loch- 
kamera für  Röntgenstrahlen.  AUuaud  und  Jeannel:  Die  Raupen  einer  morphologisch  und  biologisch  überaus  merk- 
würdigen Lycaenidenart.  Traunsteiner:  Dinoflagellaten  als  Ursache  des  roten  Schnees.  Bayeux  und  Cheval- 
lier:  Die  Zunahme  der  Zahl  der  Blutkörperchen  mit  der  Höhe.  Guthnick:  Veränderlichkeit  der  Satelliten  des  Ju- 
piter und  Saturn.  Koch:  Worauf  beruht  die  ungünstige  Wirkung  des  Nadelhumus?  —  Bücherbesprechungen: 
Ehrlich.  Eine  Darstellung  seines  wissenschaftlichen  Wirkens.  Schmidt:  Was  wir  Ernst  Haeckel  verdanken.  Nuß- 
baum, Karsten,  Weber:  Lehrbuch  der  Biologie  für  Hochschulen.  Bortkiewicz:  Die  radioaktive  Strahlung  als 
Gegenstand  wahrscheinlichkeitstheoretischer  Untersuchungen.  —  Wetter-Monatsübersicht.  —  Anregungen  und  Ant- 
worten. —  Literatur :  Liste.  — •  Ergänzung. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstraße   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge    13.   Band  ; 
der   ganzen  Reihe   29,   Hand. 


Sonntag,  den  4.  Oktober  1914. 


Nummer  40. 


Die  modernen 


Heringsforschungen. 


[Nachdruck  verboten.] 

In  das  Geheimnis  der  Lebensgeschichte  der 
Meeresfische  einzudringen,  ist  keine  leichte  Auf- 
gabe. In  vielen  Fällen,  und  gerade  bei  den  wirt- 
schaftlich wichtigsten  Formen,  kennt  man  gewöhnlich 
nur  einen  kleinen  Lebensausschnitt,  wo  sie  in 
großen  Schwärmen  in  den  küstennahen  Gebieten 
sich  zusammenscharen  und  dann  in  großen  Massen 
den  Fanggeräten  der  Fischer  zum  Opfer  fallen. 
Wo  sie  die  übrige  Zeit  ihres  Lebens  zubringen, 
ist  unbekannt  und  es  ist  verständlich,  daß  es  bei 
der  ungeheuren  Weite  ihres  Lebenselementes,  des 
Ozeans,  kein  leichtes  ist,  die  Schleier  dieses  Rätsels 
zu  enthüllen.  Immerhin  haben  die  letzten  Jahre 
manche  Aufklärungen  gebracht  und  vor  allem 
sind  es  hier  die  systematischen  Untersuchungen 
des  „Conseil  permanent  international  pour  l'explo- 
ration  de  la  mer",  an  denen  sich  alle  seefahrenden 
und  an  der  Fischerei  interessierten  Staaten  Nord- 
europas beteiligen,  welche  in  dieser  Beziehung 
schon  manche  schönen  und  unerwarteten  Resultate 
zutage  gefördert  haben.  Allgemein  bekannt  sind 
wohl  die  Ergebnisse,  die  man  in  Bezug  auf  die 
Geschichte  des  gewöhnlichen  Flußaals  hat  fest- 
stellen können,  welcher,  eine  echter  Tiefseefisch, 
aus  den  Flüssen  beim  Herannahen  seiner  Ge- 
schlechtsreife in  große  Meerestiefen  hinunter 
wandert,  wo  er  seinen  Laich  absetzt.  Die  ausge- 
schlüpften Larven,  die  sog.  Leptocephalen,  unter- 
nehmen dann  wieder  die  weite  Wanderung  in 
die  Flüsse,  wo  sie  erst  die  typische  Form  des 
Flußaals  annehmen  und  verbleiben,  bis  die  Zeit 
der  Geschlechtsreife  herannaht. 

An  dieser  Stelle  soll  eine  Übersicht  über  die 
Ergebnisse  der  Heringsforschungen  gegeben  werden, 
die  zuerst  in  Deutschland  von  Heincke  in  aus- 
gedehntem Maße  gepflogen  und  im  letzten  Dezen- 
nium in  Norwegen  von  Hjort  und  seinen  Mitar- 
beitern vor  allem  beim  norwegischen  Heringe  mit 
Hilfe  einer  neuen  weit  einfacheren  Methode  durch- 
geführt wurden  und  zu  Resultaten  führten,  die  nicht 
nur  für  die  Praxis  der  Großfischereien  von  weit- 
tragender Bedeutung  sind,  sondern  auch  in  wissen- 
schaftlicher Hinsicht  in  die  Biologie  der  Meeresfische 
und  in  die  Lebensverhältnisse  imMeere  wertvolle  und 
neuartige  Einblicke  verschaffen,  so  daß  sie  auf  das 
Interesse  eines  jeden  Biologen  Anspruch  erheben 
können. 

Es  gibt  wohl  kaum  eine  Fischart,  die  eine  so 
hervorragende  wirtschaftliche  Bedeutung  besitzt 
wie  der  Hering,  aber  wohl  auch  keine,  über  deren 
Lebensgeschichte  und  Biologie  mehr  phantasiert 
und  geschrieben  wurde.  Schon  in  der  Mitte  des 
I  S.Jahrhunderts  wurde  von  dem  gelehrten  Hamburger 
Bürgermeister     Anderson     in     bezug     auf    die 


Von  Dr.  Otto  Storch  (VVienl 


Wanderungen  des  Herings  die  sogenannte  Polar- 
stammtheorie aufgestellt,  nach  welcher  die  eigent- 
liche Heimat  dieses  Fisches  das  eisbedeckte  Polar- 
meer sein  sollte.  Alljährlich  werden  gewaltige 
Wanderungen  nach  Süden  unternommen,  wo 
die  unendlichen  Heringsmassen  sich  in  einzelne 
Schwärme  auflösen  sollen,  die  die  Küsten  Groß- 
britanniens, Irlands  und  Norwegens  bis  zum  Kanal 
und  bis  in  die  Ostsee  aufsuchen,  um  hier  ihren 
Laich  abzusetzen.  Die  der  Fangkunst  des  Menschen 
entgangenen  Tiere  sollen  dann  wieder,  von  den 
herangewachsenen  Nachkommen  begleitet,  in  ihre 
nordische  Heimat  zurückkehren.  Diese  Hypothese 
verlor  später,  wegen  der  Unwahrscheinlichkeit  so 
ausgedehnter  Wanderrungen  in  so  kurzer  Zeit, 
an  Glaubwürdigkeit  und  wurde  bald  (zu  Ende  des 
18.  Jahrhunderts)  von  einer  anderen,  doch  eben- 
falls nicht  bewiesenen  Lehre,  die  M.  E.  Bloch 
aufstellte,  abgelöst.  Dieser  hielt  den  Hering  für 
einen  Tiefseefisch,  der  nur  zur  Laichzeit  die  Küsten 
aufsucht,  sonst  aber  sich  in  den  großen  Tiefen 
des  Ozeans  aufhält.  Diese  Lehre  hat  fast  bis  in 
unsere  Zeit  allgemeine  Anerkennung  genossen, 
jedoch  in  den  letzten  Jahrzehnten  durch  eingehende 
spezielle  Untersuchungen  ebenfalls  ihre  Wider- 
legung erfahren. 

Während  der  ursprünglichen  Polarstammtheorie 
die  Annahme  eines  einheitlichen  Heringsstammes 
zugrundelag,  ist  mit  der  Bloch'schen  Lehre  die 
Tatsache  von  der  Aufspaltung  dieser  Art  in  ein- 
zelne, vor  allem  biologisch  unterschiedene  Rassen 
schon  wohl  vereinbar.  Und  diese  Tatsache  der 
Rassengliederung  des  Herings  zieht  im  letzten 
Viertel  des  vergangenen  Jahrhunderts  das  haupt- 
sächliche Interesse  der  Heringsforscher  an  und  führte 
vor  allem  zu  den  grandiosen  und  umfassenden  Unter- 
suchungen Heincke's,  welcher  in  der  aus  der 
Anthropologie  herübergenommenen  biometrischen 
Methode  ein  Mittel  fand,  dieser  auf  exaktem  wissen- 
schaftlichem Wege  schwer  beizukommenden  Tat- 
sache der  Rassengliedcrung  des  Herings  Herr  zu 
werden.  Die  lange  Reihe  seiner  mühevollen  Unter- 
suchungen fand  ihre  Krönung  in  der  Herausgabe 
seiner  „Naturgeschichte  des  Herings" 
(1898),  in  welcher  er  eine  größere  Anzahl  von 
Individuen  aus  verschiedenen  Gegenden  in  bezug 
auf  eine  ganze  Anzahl  (bis  zu  65)  ihrer  Eigen- 
schaften einer  genauen  quantitativen  Untersuchung 
unterzog  und  schließlich  einen  zahlenmäßigen 
Ausdruck  der  Kombination  dieser  Eigenschaften 
aufstellen  konnte.  Auf  diese  Weise  fand  er,  daß 
die  Individuen  einer  und  derselben  Rasse  sich 
zwanglos  um  einen  bestimmten  Typus  (das  Mittel 
der    Rasse)    gruppierten   und    daß    die    Individuen 


626 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  40 


verschiedener  Rassen  sich  voneinander  unterschieden, 
indem  ihre  Eigenschaften  sich  auf  verschiedene 
Mittelwerte  einstellten. 

Auf  diese  Weise  gelang  es  Heincke,  eine 
ganze  Anzahl  von  genauer  charakterisierten  Rassen 
aufzustellen,  deren  wichtigste  folgende  sind:  i.  die 
nördlichen  Seeheringe,  die  in  der  Nähe  der  Küste 
im  Winter  und  Frühjahr  laichen,  während  des 
Sommers  sich  aber  in  der  ofi'enen  See  aufhalten. 
In  diese  Gruppe  gehören  der  isländische  und  der 
norwegische  Hering.  2.  Die  Küstenheringe,  die 
stets  im  Winter  laichreif  werden,  in  unmittelbarer 
Nähe  der  Küste  leben  und  in  brackischem  Wasser 
oder  in  Flußmündungen  ihren  Laich  absetzen. 
Infolge  der  stark  varierenden  physikalischen  Ver- 
hältnisse ihrer  speziellen  Aufenthaltsorte  zeigen 
sie  an  den  verschiedenen  Lokalitäten  eine  größere 
Variabilität  als  die  Seeheringe.  Zu  dieser  Gruppe 
sind  zu  zählen:  der  Küstenhering  der  nördlichen 
Nordsee  und  des  Skageraks,  dann  der  Küstenhering 
der  südlichen  Nordsee,  des  Kattegats  und  des 
westlichen  baltischen  Meeres,  endlich  der  Früh- 
jahrshering von  Rügen.  3.  Der  Seehering  der 
Nordseebänke,  der  die  offene  See  von  den  Küsten 
Englands  und  Schottlands  durch  die  ganze  Nord- 
see, den  Skagerak  und  Kattegat  bis  in  den  west- 
lichen Baltik  bewohnt.  Im  Sommer  und  Herbst 
sucht  er  zum  Zwecke  des  Laichens  die  sandigen 
und  steinigen  Bänke  auf,  die  sich  hier  in  einiger 
Entfernung  vom  Lande  aus  den  Tiefen  des  Meeres 
erheben.  Hierher  zu  rechnen  ist  der  Bankhering 
der  nördlichen  Nordsee,  des  Skageraks  und  Katte- 
gats und    der  Bankhering   der  südlichen  Nordsee. 

Diese  Resultate  bedeuten  einen  außerordent- 
lichen Fortschritt  in  der  Heringsforschung.  Und 
wie  wohl  aus  der  Wiedergabe  der  Ergebnisse 
dieser  Studien  hervorgeht,  spricht  sich  darin  auch 
eine  grundlegende  Änderung  in  bezug  auf  die  an- 
genommenen Wanderungen  aus,  die  schon  durch 
mannigfache  Beobachtungen  früherer  Forscher  an- 
gebahnt wurde.  Doch  kann  hierauf  nicht  näher 
eingegangen  werden.  Die  immer  mehr  zur  Geltung 
kommende  Lehre  ist  die,  daß  die  Spezies  Hering 
eine  ganze  Anzahl  differenter  Lokalrassen  in  sich 
schließe,  deren  jeder  ein  verhältnismäßig  be- 
schränktes Bewegungsgebiet  zukomme,  und  daß 
das  besondere  jaiireszeitliche  Vorkommen  des 
Herings  nur  auf  die  Tatsache  zurückzuführen 
ist,  daß  die  Fische  während  der  Entwicklungs- 
periode ihrer  Geschlechtsorgane  bis  zur  Sexual- 
reife sich  in  dichteren  Schwärmen  zusammenscharen 
und  so  die  Großfischerei  ermöglichen,  während 
sie  die  übrige  Zeit  mehr  oder  weniger  zerstreut 
in  den  angrenzenden  Meeresgebieten  sich  aufhalten 
und  so  weder  leicht  zur  Beobachtung  gelangen 
noch  auch  in  beträchtlicher  Menge  gefangen 
werden  können. 

Wenn  auch  diese  von  Heincke  inaugurierte 
biometrische  Methode  einen  großen  Schritt  vor- 
wärts bedeutete,  so  war  sie  doch  nicht  hinreichend, 
um  die  vielen  bei  dem  Ileringsproblem  vorhandenen 
Fragen  einer  Lösung  zuzuführen.    Auf  Heincke 


selbst  geht  dann  auch  eine  andere,  und  wie  sich 
erwiesen  hat,  außerordentlich  fruchtbringende 
Untersuchungsmethode  zuiück.  Im  Jahre  1904 
legte  er  der  Internationalen  Meereskommission  die 
Resultate  von  Untersuchungen  vor,  die  auf  die 
Bestimmung  des  Alters  beim  Kabeljau  und  Gold- 
butt gerichtet  waren  und  auf  dem  .Studium  der 
Knochen  dieser  Fische  basierten.  Dr.  Hjort, 
Fischereidirektor  in  Bergen,  nahm  diese  Ergebnisse 
mit  großem  Interesse  auf  und  begann  bald  mit 
Unterstützung  seiner  Assistenten  in  großem  Maß- 
stabe eine  praktische  Methode  für  Altersbestim- 
mungen von  Fischen  auszuarbeiten,  wobei  alle 
wichtigsten  Fischspezies  Berücksichtigung  fanden. 
Das  Resultat  dieser  Untersuchungen  war,  daß  beim 
Kabeljau  wie  auch  beim  Hering  die  Schuppen 
ein  äußerst  vorteilhaftes  Mittel  bieten,  das  Alter 
der  Tiere  zu   bestimmen. 

Die  Heringsschuppe  zeigt  sich  im  mikroskopi- 
schen Bilde  durch  eine  ausgeprägte  Linie  in  zwei 
Abteilungen  geteilt  (siehe  Fig.  2 — 4).  Während 
die  eine  Hälfte  sehr  durchsichtig  und  strukturlos 
ist,  besitzt  die  andere  außerordentlich  feine  Streifen 
und  überdies  einige  konzentrische  scharf  hervor- 
tretende Halbzirkel  (Ringe).  Die  genaueren  Unter- 
suchungen ergaben,  daß  diese  Ringe  ihre  Ursache 
im  stillegelegten  Winterwachstum  besitzen  und 
so  ein  bequemes  Mittel  zur  Altersbestimmung  des 
Herings  darbieten.  An  der  Anzahl  der  vorhandenen 
Winterringe  kann  man  bequem  das  Alter  des  Herings 
ablesen.  Mit  Hilfe  dieser  ziemlich  einfachen  Methode 
hat  man  im  Laufe  der  zehnjährigen  Untersuchungen 
eine  ganze  Anzahl  sehr  interessanter  biologischer 
Details  über  die  Lebensgeschichte  des  Herings 
in  Erfahrung  bringen  können ').  Nur  über  die 
wichtigsten  der  erhaltenen  Resultate  will  ich  hier 
referieren. 

Besonders  genaue 
Untersuchungen  liegen 
über  den  norwegischen 
Hering  vor,  der  fast  an 
der  ganzen  atlantischen 
Küste  Norwegens  in 
großen  Mengen  vor- 
kommt. Schon  von 
altersher  unterschieden 
die  Fischer  hier  zwi- 
schen mehreren  Sorten, 
vor  allem  zwischen  den 

Frühjahrsheringen, 
Großheringen,       Fett-         „.     ,      t^-  ,■   , 

.  j     T^T    •  ^'S-   1*     -^'^  verschiedenen 

beringen      und     Klem-  Fanggebiete  längs  der  nor- 

heringen.     Diese   ver-  wegischen  Küste. 

schiedenen      Sorten  (Aus  Hjort.) 

unterscheiden  sich  so- 
wohl in  bezug  auf  iiiren  physiologischen  Zustand 
wie   auch    in  bezug  auf  ihren  Aufenthaltsort,    auf 


')  Johan  Hjort,  Fluctuations  in  tlie  great  Fisheries 
of  northern  Europe,  reviewed  in  the  light  of  biological  research. 
Conseil  perm.  int.  pour  l'exploralion  de  la  mer,  Rapports 
et  Proces.  —  Verbaux.  Vol.  XX.  Copenhague  1914.  —  Hier 
findet  sich  auch   die  ganze  übrige  Literatur  zitiert. 


N.  F.  Xin.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


627 


ihre  Hauptfanggebiete  und  die  Jahreszeit  ihres 
massenhaften  Auftretens.  So  werden  die  sog. 
F"rühjahrsheringe  nur  in  der  Zeit  von  Januar  bis 
April  gefangen,  und  zwar  an  der  Westküste  (Fig.  i) 
und  sind  durchwegs  ausgewachsene  laichreife 
Heringe.  Das  Hauptgebiet  der  Großheringe  ist 
die  Küste  von  Romsdal,  die  Fangzeit  der  Spät- 
herbst und  Winter;  es  sind  erwachsene  Tiere,  deren 
Geschlechtsorgane  jedoch  nicht  so  weit  entwickelt 
sind  als  die  der  P"rühjahrsheringe.  Die  Fettheringe 
sind  unreife,  oft  ziemlich  große  Tiere,  die  im  Herbst 
im  nördlichen  Norwegen  gefischt  werden,  die  Klein- 
heringe endlich  sind  ganz  junge  Tiere ,  welche 
die  ganze  Küste  entlang  gefangen  werden. 

Schon  G.  O.  Sars  hat  die  Annahme  aufge- 
stellt, daß  die  Fettheringe,  Großheringe  und  Früh- 
jahrsheringe die  Glieder  des  Entwicklungszyklus 
des  norwegischen  Herings  seien,  daß  die  aus  dem 
im  Süden  an  der  Westküste  Norwegens  abgesetz- 
ten Laiche  ausgeschlüpften  Jungfische  durch  die 
nordwärts  gerichtete  Strömung  die  Küste  entlang 
verbreitet  werden  und  bei  erlangter  Schwimm- 
fähigkeit ihre  Wanderung  südwärts  beginnen  und 
daß  auch  die  ausgewachsenen  abgelaichten  Heringe 
eine  korrespondierende  Wanderung  in  weniger 
ausgedehntem  Maßstabe  (Romsdal  -  Westküste) 
durchführen.  Durch  die  neue  Methode  der  Alters- 
bestimmung konnte  diese  Annahme  exakt  be- 
wiesen werden.  Die  Untersuchung  ergab  näm- 
lich, daß  die  Fettheringe  nur  ein  durchschnitt- 
liches Alter  von  2 — 4  Jahren  besitzen ,  während 
Großhering  und  Frühjahrshering  fast  durchwegs 
4  Jahre  und  darüber  sind  und  bis  zu  18  Jahren 
erreichen  können.  Der  Fetthering  ist  also  das 
noch  nicht  geschlechtsreife  Stadium,  das  erst  mit 
4  Jahren  erreicht  wird,  der  Frühjahrshering  das 
geschlechtsreife  Tier  und  der  Großhering  im  Be- 
griffe, seine  Geschlechtsorgane  wieder  auszubilden. 

Sehr  interessant  ist  die  Tatsache,  daß  diese 
Winterringe  auch  noch  in  anderer  Beziehung  be- 
nutzt werden  können.  Es  ist  nämlich  festgestellt 
worden,  daß  der  Abstand  zwischen  zwei  Ringen, 
also  die  Zuwachszone  der  Schuppe  während  einer 
Wachstumsperiode  (eines  Jahres)  im  Verhältnis 
zum  Längenwachstum  des  Herings  in  diesem  Jahre 
steht.  Wenn  man  also,  wie  es  in  Fig.  2  ge- 
schehen,   eine   Schuppe    so  stark  vergrößert,    daß 


Fisches  gleich  wird,  so  geben  die  Abstände  der 
verschiedenen  Winterringe  unmittelbar  die  Länge 
des  Fisches  im  betreffenden  Winter. 

Dieses  Faktum  hat  zu  einem  neuen  Wege  ge- 
führt, das  Rassenproblem  des  Herings  in  anderer 
Weise  in  Angriff  zu  nehmen.  Da  nämlich  die 
verschiedenen  Lokalvarietäten  eine  verschiedene 
Wachstumsgeschwindigkeit  besitzen,  was  wohl 
durch  die  difierenten  physikalischen  und  biologi- 
schen Verhältnisse  in  ihrem  bestimmten  Aufent- 
haltsgebicte  bedingt  ist,  so  muß  sich  dies  auch 
in  der  Anordnung  der  Ringe  auf  den  Schuppen 
aussprechen.  Dadurch  ist  die  Möglichkeit  ge- 
geben, sog.  „Normalschuppen"  zu  konstruieren, 
welche  das  durchschnittliche  Wachstum  einer  be- 
stimmten Heringsvarietät  veranschaulichen.  Die 
Fig.  3  stellt  neun  solche  Normalschuppen  dar 
von  fünfjährigen  Heringen,    die  aus  den  verschie- 


Fig.  2.     Die  Wachstumszonen  der  Heringsschuppe    verglichen 
mit  der  Lange  des  Fisches.     (Aus  Hjort.) 

die  Distanz   vom  Zentrum    der    Teilungslinie    der 
Schuppe    bis    zum  Schuppenrande  der  Länge  des 


Fig.  3.     Normalschuppen    eines  fünfjährigen  Herings  aus  ver- 
schiedenen Fanggebieten.     (Nach  Lea  aus  Hjort.) 
I   Lysefjord,    2  Zuyder  See,    3  Kattcgat,    4  Faröer,     5  Island, 
6  Norwegen  (Frühjahrshering),  7  Westlicher  Teil  der  Nordsee, 
8  AUantischer  Ozean,    9  Shetland. 

densten  Fanggebieten  stammen.  Man  sieht,  daß 
diese  Normalschuppen  nicht  nur  über  die  ver- 
schiedene Größe  des  erwachsenen  Fisches  Auf- 
schluß geben,  sondern  auch  über  die  ganz  ver- 
schiedene Art  ihres  Wachstums  in  den  früheren 
Lebensjahren.  Einige  besitzen  während  der  Bil- 
dung des  ersten  Winterringes  ein  geringes  Wachs- 
tum (i  und  2),  andere  ein  besseres  (3).  Einige 
wachsen  in  den  ersten  Lebensjahren  schnell,  später 
aber  langsamer  (7  und  8),  w^ährend  andere  bis  in 
ihr  fünftes  Jahr  ein  gutes  Wachstum  zeigen  (S,  6 
und  9).  Das  Wachstum  ist  häufig  so  charakte- 
ristisch, daß  schon  mittels  einer  losen  Schuppe 
die  Rasse  bestimmt  werden  kann.  Es  ist  klar, 
daß  damit  ein  ausgezeichnetes  und  bequemes 
Mittel  zur  Unterscheidung  der  Heringsrassen  an 
die  Hand  gegeben  ist,  und  man  hat  damit  be- 
gonnen, durch  Aufsammlung  von  umfangreichem 
Material  und  Bearbeitung  desselben  auf  diese 
Weise  den  noch  lange  nicht  vollständig  gelösten 
Fragen  des  Rassenproblems  und  der  Wanderungen 
des  Herings  nachzugehen. 

Wie  groß  die  Verwendbarkeit  dieser  Methode 
ist,  zeigt  folgendes  Ergebnis:  Es  stellte  sich  heraus, 
daß  der  größte  Teil  der  nordländischen  Heringe 
vom  Jahrgang  1904  im  dritten  Sommer  ihres 
Lebens  sehr  schlecht  wuchsen,  wodurch  die  be- 
treffende Zone  dieses  Jahres  auf  den  Schuppen 
auffallend  schmal  wird  und  diese  Heringe  dadurch 
gleichsam    „markiert"    erscheinen.     In  Fig.    4  a  ist 


628 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  40 


die  Schuppe  eines  5  jährigen  Herings  bei  normalem 
Wachstum  dargestellt,    in  Fig.  4  b  diejenige  eines 


Fig.  4.     Schuppen  von  zwei  fünfjährigen  Heringen  von  der 

Nordliüste  Norwegens;   a  normales  Wachstum,  b  marinierter 

Fisch.     (Nach  Lea  aus  Hjorl.) 


gleichaltrigen  „markierten"  Herings,  bei  dem  die 
dritte  Zuwachszone  auffällig  schmal  erscheint. 
Da  eine  ganze  Anzahl  von  Proben  aus  verschiedenen 
anderen  Gebieten  ebenfalls  daraufhin  untersucht 
wurden,  ohne  eine  solche  Wachstumsabnormität 
zu  zeigen,  so  ist  die  Annahme  berechtigt,  daß  diese 
eigentümliche  Wachstumserscheinung  nur  für  die 
aus  dem  nördlichen  Norwegen  stammenden  Heringe 
des  Jahrganges  1904  charakteristisch  ist.  Es  ist 
dies  gleichsam  ein  von  der  Natur  veranstalteter 
Markierungsversuch,  ein  Phänomen,  das  wohl  auf 
schlechte  Ernährungsbedingungen  in  den  nord- 
ländischen  Gewässern  im  Sommer  1906  zurück- 
zuführen ist.  Man  konnte  auf  diese  Weise  die 
Einwanderung  dieser  gezeichneten  Heringe  in 
andere  Gebiete  feststellen.  So  wurde  schon  im 
Jahre  1908  eine  kleine  Beimischung  dieser  Tiere 
in  den  Großheringsschwärmen  beobachtet,  die  im 
Januar  igio  auf  12  "/^,  stieg  und  im  November  des- 
selben Jahres  47  "/f,  erreichte.  Eine  gleiche  Ein- 
wanderung ließ  sich  an  der  Westküste  Norwegens 
feststellen,  wo  sich  schon  im  Herbst  igo8  ziem- 
lich viele  markierte  Individuen,  jedoch  noch  in 
unreifem  Zustande,  vorfanden.  Ahnliches  gilt  für 
das  Jahr  1909.  Doch  erst  1910  fanden  sie  sich 
auch  in  den  Laichschwärmen  daselbst,  und  zwar 
31  "/q,  und  im  Jahre  191 1  ebenfalls  mit  32%. 
Außerdem  wurden  in  der  Nordsee  westlich  von 
der  norwegischen  Westküste  im  Sommer  und 
Herbst  1910  ebenfalls  markierte  Heringe  in  ver- 
schiedener Prozentzahl  festgestellt.  Auf  diese 
Weise  hat  man  also  einen  Blick  in  die  Wanderun- 
gen des  Herings  tun  können,  weiters  ist  man 
aber  auch  dadurch  auf  die  interessante  Tatsache 
aufmerksam  geworden,  daß  der  Bestand  an  Früh- 
jahrsheringen sich  aus  zwei  ungefähr  gleich  großen 
Komponenten  zusammensetzt,  deren  eine  diesem 
nordländischen,  deren  andere  einem  Heringe  noch 
unbekannter  Herkunft,  doch  wahrscheinlich  aus 
südlicheren  Gegenden  als  Nordland  angehört. 
Diese  beiden  unterscheiden  sich  vor  allem  auch 
dadurch,  daß  der  nordländische  erst  um  2  Jahre 
später  als  der  andere  die  Sexualreife  erlangt. 

Wohl  am  bedeutendsten  und  weitreichendsten 
sind  jedoch  die  Ergebnisse,  welche  mit  Hilfe  dieser 
Untersuchungsniethode  in  bezug  auf  die  außer- 
ordentlichen   Schwankungen    in    der    Menge    der 


auftretenden  Heringe  erhalten  wurden.  Seit  den 
ältesten  Zeiten  sind  die  großen  Schwankungen 
in  den  jährlichen  Erträgnissen  für  alle  Zweige  der 
Fischereiindustrie  charakteristisch  gewesen.  Gegen- 
wärtig wird  über  das  Ausbleiben  der  Markrelen- 
fischerei  in  den  Vereinigten  Staaten  geklagt,  wäh- 
rend in  P'rankreich  eine  Sardinenkrise  entstanden 
ist,  indem  das  Erträgnis  der  Sardinenfischerei,  das 
1898  sich  auf  über  50  Millionen  Kilo  belief,  1899 
auf  unter  30  und  1902  auf  weniger  als  9  Millionen 
Kilo  herabsank.  Die  norwegischen  Fischereien 
kennen  seit  Hunderten  von  Jahren  solche  alter- 
nierende Perioden  reicher  und  armer  Erträgnisse. 
Diese  periodischen  Fluktuationen  sind  in  der 
Regel  von  beträchtlicher  Dauer,  eine  Reihe  von 
Jahren  erträgnisreicher  Fischerei  folgt  auf  dürre 
Jahre  und  wird  von  ihnen  wieder  abgelöst. 

Um  vor  allem  bei  der  norwegischen  Plerings- 
fischerei  zu  bleiben,  so  zeigte  diese  außerordent- 
lich große  Variationen,  sowohl  in  bezug:  auf  den 
laichreichen  Fisch,  den  F"rühjahrshering,  als  auch 
den  jüngeren  unreifen  Fetthering.  Die  Frühjahrs- 
hering-Hscherei,  die  vom  Skagerak  im  Süden  bis 
zum  Kap  Stat  im  Norden  stattfindet,  zeigt  außer- 
ordentliche Schwankungen  seit  der  Einführung 
der  Statistik.  1866  belief  sich  das  Erträgnis  auf 
über  eine  Million  Hektoliter,  sank  jedoch  während 
der  folgenden  Jahre  so  rapid,  daß  der  Totalfang 
1874  24000hl,  1875  nur  208hl  betrug.  Noch  1883 
war  der  Ertrag  nur  100 000  hl,  erhob  sich  jedoch 
schon  1884  wieder  auf  über  262000  hl.  In  den 
Jahren  1891 — 93  zeigte  er  dann  eine  Durchschnitts- 
höhe von  über  700000  h!,  1894 — 96  wieder  we- 
niger als  400000.  1909  setzte  ein  rapides  An- 
wachsen ein,  und  1913  stellte  die  Statistik  ein 
Erträgnis  von  nicht  weniger  als  1V2  Millionen  hl 
fest,  die  höchste  Ziffer,  die  je  in  diesem  Fischerei- 
zweig verzeichnet  ist.  Ähnliche  Schwankungen 
zeigt  der  Ertrag  der  Fettherings-Fischerei,  der  sich 
z.  B.  in  den  Jahren  1892,  1896  und  1909  auf 
über  I  Million  hl  belief,  1904  und  1905  jedoch 
weniger  als  looooohl.  1907  stieg  er  aber  wieder 
auf  über  eine  halbe  Million  hl,  und  1909  überschritt 
er  eine  Million. 

Es  ist  klar,  daß  dieser  außerordentliche  Wech- 
sel in  der  Höhe  der  Erträgnisse,  der  auf  den 
Wohlstand  der  mit  diesen  Fischereien  sich  be- 
schäftigenden Küstenbewohner  so  einschneidend 
zurückwirkt,  das  Nachdenken  der  Menschen  von 
altersher  wachgerufen  hat.  Und  wenn  man  in 
früheren  Zeiten  den  Zorn  Gottes  darin  erblickte 
und  die  verschiedenartigsten  Sünden  des  Volkes 
dafür  verantwortlich  machte,  so  wurde  dieser 
Aberglaube  in  unserer  Zeit  durch  verschiedene 
wissenschaftliche  Hypothesen  abgelöst,  die  jedoch 
an  exakter  P'undierung  ebenfalls  vieles  zu  wünschen 
übrig  ließen.  So  versuchte  Ljungmann  eine 
Erklärung  der  regelmäßig  wiederkehrenden  Perio- 
den der  Heringsfischerei  an  der  Bohuslänküste 
in  den  gleichzeitig  fallenden  Perioden  der  Sonnen- 
flecke zu  finden,  andere  machten  dafür  den  perio- 
dischen   Wechsel    der   Meeresströmungen    verant- 


N.  F.  XIII.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


629 


wortlich,  wieder  andere  wollten  die  einzige  Schuld 
dem  unvernünftigen  Fischcreibetrieb  des  Menschen 
zuschreiben.  In  neuester  Zeit  wurde  von 
Heiland-Nansen  und  Nansen  (The  Nor- 
wegian  Sea,  1909)  die  Hypothese  aufgestellt, 
daß  die  größere  Ausdehnung  des  Küstenwassers, 
dessen  Salzgehalt  unter  35  ",'„„  Hegt,  mit  einem 
reichlichen  Auftreten  der  Kleinheringe  einhergeht. 
Im  allgemeinen  gesprochen,  war  bis  jetzt  die 
Meinung  vorherrschend,  daß  der  vorhandene  Fisch- 
stock stets  auf  ungefähr  derselben  Höhe  bleibt,  die 
Erneuerung  desselben  in  ähnlicher  Weise  vor  sich 
geht  wie  bei  der  menschlichen  Bevölkerung,  näm- 
lich durch  einen  mehr  oder  weniger  konstanten 
jährlichen  Zuwachs  und  daß  irgendwelche  physi- 
kalische oder  andere  Verhältnisse  in  den  Küsten- 
wässern, wo  die  Fische  jährlich  zu  bestimmten 
Zeiten  in  ungeheuren  Schwärmen  zu  erscheinen 
pflegen,  eine  so  unzuträgliche  Änderung  erfahren, 
daß  ihre  massenhafte  Einwanderung  dadurch  stark 
beeinträchügt  wird. 


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Fig.  5.     Alterszusammensetzung  der  8  Proben  vom  Frühjahrs- 
hering, Februar   1914.     (Aus  Hjort.) 


Diese  Anschauung  ist  durch  die  ausgedehnten 
und  langjährigen  Untersuchungen,  die  Hjort  und 
seine  Mitarbeiter  nach  der  Methode  der  Alters- 
bestimmung des  Herings  mit  Hilfe  der  Schuppen 
angestellt  haben,  als  widerlegt  zu  betrachten.  Es 
hat  sich  herausgestellt,  daß  die  Erneuerung  des 
Gesamtbestandes  bei  den  untersuchten  Fischen 
von  außerordentlich  irregulärer  Natur  ist.  Zu 
gewissen  Zeiten  treten  Jahresklassen  auf,  die  so 
überreich  an  Individuen  sind,  daß  ihre  numerische 
Überzahl  den  Gesamtcharakter  des  Fischstockes 
in  bezug  auf  die  Quantität  dermaßen  beeinflußt, 
daß  die  ganze  Zeit  der  Lebensdauer  dieses  Jahr- 
ganges hindurch  ein  außerordentlicher  Fischreich- 
tum herrscht  und  dadurch  auch  das  Erträgnis  der 


Fischereien  entscheidend  beeinflußt  wird.  Ist  kein 
solcher  reicher  Jahrgang  vorhanden,  so  ist  dagegen 
das  P'ischereierträgnis  gering. 

Auch  in  diesem  Jahre  (1914)  war  die  nor- 
wegische Heringsfischerei  außerordentlich  ergiebig, 
ähnlich  wie  191 3,  wo  das  Erträgnis  in  bezug  auf 
den  Frühjahrshering  die  Höhe  von  1  '/g  Millionen 
hl  erreicht.  Von  Hjort  und  seinen  Mitarbeitern 
wurden  nun  während  der  diesjährigen  Fangperiode 
in  den  Monaten  Dezember  191 3  bis  P'ebruar  1914 
fünfzehn  Proben,  7  vom  Großhering  und  8  vom 
Frühjahrshering  eingesammelt  und  in  bezug  auf 
ihre  Alterszusammensetzung  untersucht.  Die  acht 
Proben  des  Frühjahrsherings,  auf  die  hier  einge- 
gangen werden  soll,  stammen  alle  vom  Februar 
1914  und  rühren  von  verschiedenen  Orten  der 
ganzen  2 — 300  Meilen  langen  norwegischen  West- 
küste von  Stat  bis  Kristiansand  her.  Die  Alters- 
bestimmung dieser  acht  von  so  verschiedenen 
Orten  stammenden  Proben  liefert  ein  außerordent- 
lich überraschendes  Resultat.    Das  Ergebnis  dieser 


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Fig.  6.     Alterszusammensetzung  der  Frühjahrsheringe  aus  den 
Jahren   1907  — 1914;    das  Mittel    aller    in   jedem  Jahre    unter- 
suchten   Proben.      Für     1914    konnten    nur    die  Proben    vom 
Februar  berücksichtigt  werden.      (Aus  Hjort.) 

Untersuchungen  ist  in  Fig.  5  graphisch  dargestellt. 
Man  ersieht  daraus  unmittelbar,  daß  die  10  Jahre 
alten  Heringe,  die  1904-Klasse,  in  bezug  auf  ihre 
Quantität  die  übrigen  Jahresklassen  weit  überragt. 
Der  Jahrgang  1904  macht  mehr  als  die  Hälfte, 
genau  54,3  "/„  aus.  Von  den  anderen  in  diesen 
Proben  enthaltenen  Jahrgängen  ist  der  höchste 
jener  von  1905,  der  jedoch  nur  13,9%  stellt. 
Die  Jahrgänge  1903,  1906,  1907  und  1908  machen 
jeder  nur  zwischen  5  und  7  %  aus.  Und  alle 
übrigen  noch  vertretenen  Altersklassen  bilden  zu- 
sammengenommen nur  7,5  "/„.  Man  sieht  also, 
daß  der  Reichtum  der  heurigen  F"angerträgnisse 
vorwiegend  auf  die  außerordentliche  Ergiebigkeit 
des  Jahrgangs  1904  zurückzuführen  ist  und  daß  sie 
bis  auf  die  Hälfte  heruntersinken  würden,  wenn 
diese  Klasse  in  der  gleichen  Quantität  wie  die 
anderen  vertreten  wäre. 


630 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  40 


Ist  schon  das  ein  sehr  guter  Beleg  für  die 
Hj  ort 'sehe  Tlieorie,  daß  der  zuzeiten  auftretende 
enorme  Fischreichtum  auf  das  Vorhandensein 
einer  einzigen  numerisch  besonders  überlegenen 
Jahresklasse  zurückzuführen  ist,  so  wird  der  Be- 
weis dafür  vollkräftig,  wenn  man  die  Alterszu- 
sammensetzung des  Frühjahrshcrings  in  den  Jahren 
1907 — 14  kennen  lernt,  das  ist  derjenigen  Periode, 
wo  der  Frühjahrshering  wieder  in  enormen  Mengen 
auftrat.  Fig.  6.  zeigt  eine  graphische  Darstellung 
dieser  Altersanalysen.  Man  ersieht  daraus  deut- 
lich, wie  die  reiche  Jahresklasse  1904  im  Jahre 
1907,  wo  sie  erst  3  Jahre  alt  ist  und  deshalb  noch 
nicht  die  Geschlechtsreife  erlangt  hat,  in  den  Früh- 
jahrsherings-Schwärmen  noch  überhaupt  keine 
Rolle  spielt,  im  Jahre  1908,  also  vierjährig  sofort 
in  beträchtlicher  Prozentzahl  (34,8  "/o)  erscheint 
und  von  da  an  durchweg  dominierend  bleibt,  im 
Jahre  1910,  wo  diese  Klasse  sechsjährig  ist,  sogar 
77,3  %  des  Gesamtfanges  ausmacht  und  auch  noch 
als  zehnjähriger  Fisch  im  Jahre  1914  50  °l^^  stellt. 
Vom  Jahre  1910  ab,  wo  dieser  Jahrgang  gleich- 
sam sein  Optimum  an  Anzahl  erreicht  hat,  macht 
sich  eine  allmähliche  Abnahme  desselben  bemerk- 
bar, obwohl  diese  Jahrcsklasse  immer  noch  sehr 
zahlreich  vorhanden  ist.  Ganz  ähnliche  Ergeb- 
nisse zeigen  die  Altersbestimmungen  von  Proben 
des  Großherings. 

Es  ist  einleuchtend,  daß  eine  solche  gute 
Fangperiode,  wenn  sie  tatsächlich  wesentlich  auf 
das  Vorhandensein  einer  reichen  Jahresklasse  zu- 
rückzuführen ist,  woran  nach  den  oben  mitgeteilten 
Tatsachen  und  auch  nach  den  ähnlich  durch- 
geführten Untersuchungen  beim  Kabeljau,  die  ein 
gleiches  Ergebnis  lieferten,  nicht  gut  zu  zweifeln 
ist,  nur  solange  dauern  kann,  als  die  Tiere  dieser 
Jahresklasse  noch  in  beträchtlicher  Anzahl  vor- 
kommen. Es  ist  also  notwendig,  den  Prozent- 
satz der  Sterblichkeit  der  verschiedenen  Altersstufen 
kennen  zu  lernen.  Das  Auffinden  der  hierbei 
obwaltenden  Gesetze  kann  nur  durch  ununter- 
brochene Beobachtung  des  Erscheinens,  der  Gegen- 
wart und  des  Verschwindens  solcher  reicher  Jahr- 
gänge bewerkstelligt  werden  und  wird  noch  zu 
seiner  Lösung  der  Untersuchungen  vieler  Jahre  be- 
dürfen. 

Aus  diesen  Resultaten  erhebt  sich  die  in- 
teressante Frage,  die  von  ganz  allgemeiner  Be- 
deutung ist,  nach  den  Ursachen,  durch  die  diese 
eigentümlichen  Schwankungen  in  der  Erneuerung 
des  Fischstockes  bedingt  werden.  Welches  sind 
die  hydrographischen  und  biologischen  Bedingungen, 
die  das  Auftreten  reicher  oder  armer  Jahresklassen 
verursachen?  Dieses  Problem  ist  unleugbar  von 
großer  Schwierigkeit,  da  alles,  wodurch  das  Tier 
vom  Eistadium  bis  zur  Zeit,  wo  es  gefangen  wird, 
beeinflußt  werden  kann,  dabei  Berücksichtigung 
finden  muß.  Immerhin  glaubt  Hjort  als  sicher 
hinstellen  zu  können,  daß  der  numerische  Wert 
einer  Jahresklasse  schon  sehr  frühzeitig  bestimmt 
wird  und  sich  im  gleichen  Verhältnis  zu  den 
anderen  vertretenen   Jahrgängen  das  ganze  Leben 


der  Individuen  hindurch  erhält.  Es  konnte  jedoch 
festgestellt  werden ,  daß  es  nicht  die  Quantität 
der  produzierten  Geschlechtsprodukte  ist,  welche 
hier  das  Ausschlaggebende  sind.  Ein  reiches  Laichen 
kann  sehr  gut  einen  an  Zahl  armen  Jahrgang  zur 
Folge  haben,  wie  die  Unternehmungen  zeigten, 
während  eine  reiche  Jahresklasse  aus  einem  Jahre 
stammen  kann,  wo  das  Laichen  auf  einem  Tief- 
punkte. 

Es  hat  allen  Anschein,  als  ob  die  frühesten 
Larven-  und  Jungfischstadien  hier  von  der  größten 
Bedeutung  sind.  Es  ist  eine  lange  bekannte  Tat- 
sache, daß  sowohl  bei  der  künslichen  Aufzucht  von 
Fischeiern  wie  auch  beim  Studium  der  jüngsten 
Ei-  und  Larvenstadien  von  Seetieren  die  Zahl  der 
Individuen  rapid  abnimmt,  sobald  die  neu  aus- 
geschlüpften Larven  ihren  Dotter  aufgezehrt  haben 
und  nun  selbständig  auf  Nahrungssuche  ausgehen 
müssen.  Um  diese  außerordentlich  interessante 
Frage,  die  von  so  allgemeiner  Bedeutung  ist  und 
sicher  hier  ebenfalls  eine  wichtige  Rolle  spielt, 
einer  eingehenden  Untersuchung  unterziehen  zu 
können,  hat  Hjort  im  Jahre  191 3  bei  der  inter- 
nationalen MeeresuntersuchungsKommission  den 
Vorschlag  vorgebracht  betreffend  die  Organisation 
der  zukünftigen  Untersuchungen  sowohl  in  bezug 
auf  die  Ernährung  der  Jungfische  wie  auch  auf  das 
Aufblühen  der  mikroskopischen  Pflanzen  im 
Frühling,  das  für  jene  sicher  von  vitaler  Bedeutung 
ist.  Man  wird  mit  großem  Interesse  die  weitere 
Entwicklung  dieser  Untersuchungen  verfolgen 
müssen,  da  zu  hoffen  ist,  daß  dadurch  zur  Auf- 
klärung des  außerordentlich  interessanten  Problems 
der  Fluktuationen  in  der  Fischerei  ein  weiterer 
wichtiger  Schritt  vorwärts  getan  wird. 

Es  ist  natürlich  hier  nur  möglich  gewesen,  auf 
einen  kleinen  Teil  der  Resultate  einzugehen,  die 
in  der  inhaltsreichen  Arbeit  Hj  ort 's  niedergelegt 
sind  und  auf  den  vieljährigen  planmäßigen  Unter- 
suchungen Hjort 's  und  seiner  Mitarbeiter  be- 
ruhen. Vor  allem  habe  ich  mich  nur  auf  einen 
Bericht  über  die  Ergebnisse  der  Heringsforschungen 
beschränkt  und  die  ebenso  zahlreichen  und  inter- 
essanten Resultate  in  bezug  auf  den  Kabeljau 
wegen  Mangel  an  Raum  unberücksichtigt  lassen 
müssen.  Hervorheben  will  ich  jedoch ,  daß  auch 
bei  diesem  Fische  die  ebenso  starken  Schwan- 
kungen in  seinem  Auftreten  nach  diesen  Unter- 
suchungen ebenfalls  auf  das  Vorkommen  von 
numerisch  besonders  starken  Jahrgängen  zurück- 
zuführen sind  und  so  eine  weitere  wichtige  Unter- 
stützung für  die  Hjort'sche  Theorie  von  den 
Fluktuationen    in    den   großen  Fischereien  liefern. 

Wie  wir  gesehen  haben,  ist  es  eine  einfache 
und,  wenn  man  so  sagen  darf,  bequeme  Methode, 
diese  Möglichkeit  der  Altersbestimmung  von  Plschen 
mit  Hilfe  ihrer  Schuppen,  die  zu  diesen  neuen 
und  vielseitigen  Einblicken  in  die  noch  immer  so 
rätselhafte  Lebensgeschichte  der  allerwichtigsten 
Nutzfische  geführt  hat.  Um  es  noch  einmal  kurz 
zu  wiederholen,  sind  es  vor  allem  die  Fragen  der 
Rasse,    der  Wanderungen,    verschiedener    biologi- 


N.  F.  XIII.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


631 


scher  Details  und  vor  allem  der  bisher  so  rätsel- 
haften Fluktuationen  im  Auftreten  der  Fische,  zu 
deren  Lösung  die  Untersuchungen  nach  dieser 
Methode  einen  Beitrag,  und  vielfach  den  ersten 
exakt  wissenschaftlichen  Beitrag  geliefert  haben. 
Diese  Untersuchungen,  die  ja  noch  im  Beginne  sind 
und  weiterhin  in  den  nordischen  Gewässern  in 
großem    Umfange     und     mit    wohldurchdachtem 


Plane  fortgeführt  werden,  lassen  noch  manches 
Interessante  erhoffen,  das  nicht  nur  in  rein  fischerei- 
licher Beziehung  von  Wichtigkeit  ist,  sondern  auch 
für  die  so  schwierige,  komplizierte  und  noch  so 
rätselvolle  Biologie  des  Meeres  unerwartete  und 
wertvolle  Beiträge  liefern  und  auch  Fragen  ganz 
allgemein  biologischer  Natur  einer  Lösung  näher 
bringen  wird. 


Einzelberichte. 


Biologie.      Neue    Ansichten    über   die  biologi- 
schen   Grundlagen    der    sekundären    Geschlechts- 
charaktere   vertreten   Julius    T  a  n  d  1  e  r    und  Sieg- 
fried Groß    in    einer   kürzlich  unter  diesem  Titel 
veröffentlichten  Schrift  (Verlag  Julius  Springer  in 
Berlin).     Als  primäre  Geschlechtsmerkmale  be- . 
zeichnen    Tan  dl  er    und    Groß  jene    differenten 
Eigenschaften  der  Gameten  (der  Träger  der  Ver- 
erbungsqualitäten),   die  zweifellos    in  letzter  Linie 
im  Interesse   der  Reproduktionswahrscheinlichkeit 
vorhanden    und    als    Geschlechtsmerkmale    aufzu- 
fassen sind;    durch    sie    werden    die  Gameten    in 
männliche  und  weibliche  geschieden  (Mikrogameten 
und    Makrogameten).      Anfänglich    war  eine  mor- 
phologische Differenz  nur  zwischen  den  Gameten 
und  den  Somazellen  gegeben.     Im  Lauf  der  Ent- 
wicklung aber  traten  benachbarte  Zellen  und  Zell- 
komplexe in  den  Dienst  der  Gametenbildung,  und 
zwar  um  die  Gameten  zu  umhüllen,  zu  stützen,  viel- 
fach auch  um  sie  zu  ernähren.  Soweit  diese  Auxiliär- 
apparate  der  männlichen  oder  weiblichen  Gameten- 
form  selbst  angepaßt  erscheinen,  sind  sie  bei  bei- 
den   Geschlechtern    verschieden     und    sie    stellen 
damit    heterologe  Geschlechtscharaktere    des  So- 
mas  dar.    Diese  in  unmittelbarem  Zusammenhang 
mit  den  Gameten  stehenden  Zellkomplexe  werden 
als  „Gonade  n"  oder  Keimdrüsen  bezeichnet,  nach 
der    Geschlechtszugehörigkeit     der    beherbergten 
Gameten  als  Testikel  und  Ovarien.   Nach  T  a  n  d  1  e  r 
und  Groß  gelten  diese  Geschlechtsmerkmale  des 
Somas    ebenfalls    als   sekundär,    während   sie 
in    der    üblichen    Nomenklatur    als    primär    ange- 
sprochen werden.  —  In  ähnlicher  Weise,  wie  die 
den  Gameten  zunächst  gelegenen  Zellen    des  pri- 
mitiven Metazoenkörpers    unter    Funktionswechsel 
in   den    Dienst    der    Fortpflanzung    getreten    sind, 
können    auch    weiter   entfernt   gelegene  Zellkom- 
plexe,   die    bereits    auf  einer   gewissen  Höhe  der 
morphologischen     Differenzierung      standen     und 
anderen  Funktionen  dienten,  unter  teil  weiser  oder 
vollständiger  Aufgabe  ihrer  ursprünglichen  Funktion 
zu  Auxiliärapparaten  des  Fortpflanzungsaktes  wer- 
den.  T  a  n  d  1  e  r  und  Groß  sehen  sich  sogar  zu  der 
Annahme  gezwungen,  daß  sämtliche  somatische  Ge- 
schlechtsmerkmale dadurch  entstanden,    daß  be- 
reits vorhandene  Merkmale  erst  sekun- 
där   in    den    Dienst    der   Fortpflanzung 
getreten  sind:    Klassen-,    Ordnungs-    und  Art- 
merkmale  sind   auf  diese  Weise    zu  Geschlechts- 


merkmalen geworden,  oder  haben  mindestens  eine 
Abänderung  in  diesem  Sinne  erfahren.  Demgemäß 
ist  die  Geschlechtsdifferenzierung  im  phylogeneti- 
schen Sinne  zunächst  eine  heterogame  und  erst 
später  eine  hetero somatische. 

In  bezug  auf  die  Ontogenese  der  Geschlechts- 
merkmale nehmen  Tan  dl  er  und  Groß  an,  daß 
die  Bestimmung  des  Geschlechtes  spätestens  im 
Augenblick  der  Befruchtung  stattfindet;  denn 
erstens  hat  es  sich  als  unwahrscheinlich  heraus- 
gestellt, daß  der  Embryo  ein  indifferentes  oder 
bisexuelles  Stadium  durchmache,  und  zweitens  ist 
ohne  weiteres  anzunehmen,  daß  der  phylogenetisch 
uralte  Vorgang  der  Geschlechtsdifferenzierung  auch 
in  der  Individualgeschichte  als  erster  erledigt  wird. 

Die  Geschlechtsmerkmale  sind  untereinander 
phylogenetisch  keinesfalls  gleichwertig  und  sie  sind 
um  so  verbreiteter,  je  höher  im  Alter  sie  stehen: 
Die  ältesten  Geschlechtsmerkmale  sind  bezüglich 
ihres  Auftretens  und  ihrer  Ausbildung  die  kon- 
stantesten und  auch  die  am  schwersten  zu  beein- 
flussenden, die  jüngsten  dagegen  weisen  die  größten 
Variationen  auf  Diese  Variabilität  vergrößert 
sich  vielfach  noch  infolge  der  Tatsache,  daß  die 
den  betreffenden  Geschlechtsmerkmalen  zugrunde 
liegenden  Artmerkmale  selbst  schon  eine  große 
Variationsbreite  besitzen. 

Zwischen  den  Gonaden  (oder  Keimdrüsen)  und 
den  übrigen  Geschlechtsmerkmalen  zeigt  sich  ein 
gewisser  Zusammenhang,  der  darauf  hinweist,  daß 
die  Ausbildung  der  letzteren  von  den  Keim- 
drüsen abhängt;  ihre  Anlage  wird  bereits  mit 
der  Bestimmung  der  Gesclilechtszugehörigkeit  ent- 
schieden, so  daß  der  Wegfall  der  Keimdrüse  nicht 
mehr  imstande  ist,  die  Zugehörigkeit  zu  dem  einen 
oder  dem  anderen  Geschlecht  zu  annulieren,  aber 
Veränderungen  an  den  Keimdrüsen  ziehen  solche 
im  Bereiche  des  ganzen  Körpers  nach  sich.  Vor 
allem  treten  beim  Wegfall  der  Keimdrüsen  gesetz- 
mäßig Ausfallserscheinungen  auf;  es  kommt  dabei 
nicht,  wie  früher  angenommen  wurde,  zu  einem 
Hervortreten  der  Merkmale  des  anderen  Ge- 
schlechts, sondern  zum  Sichtbarwerden  der  Art- 
merkmale ohne  geschlechtliche  Diffe - 
renzierung.  Die  Kennzeichen  des  Geschlechts- 
unterschiedes fallen  aus.  So  z.  B.  nimmt  auf  den 
Ausfall  der  männlichen  Keimdrüse  das  Becken 
eine  bestimmte  F"orm  an,  die,  wie  Tandler  und 
Groß  darlegen,  als  die  asexuelle  Speziesform  zu 


632 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  40 


gelten  hat.  Die  gleichsinnige  Reaktion  ergibt 
sich  nach  Wegfall  des  Ovariums.  Ein  noch  auf- 
fälligeres Beispiel  ist  das  Hörn  des  Rindes:  Der 
Besitz  des  Hornes  überhaupt  ist  eine  Arteigen- 
schaft, die  Form  des  Hornes  aber  stellt  ein 
heterologes  Geschlechtsmerkmal  dar,  durch  wel- 
ches Stier  und  Kuh  voneinander  wohl  unter- 
schieden sind.  Nach  der  Frühkastration  erhalten 
die  beiden  verschiedengeschlechtlichen  Individuen 
eine  und  dieselbe  Hornform,  ähnlich  wie  sie  eine 
und  dieselbe  Körperform  erlangen.  Das  Kastraten- 
horn  gleicht  auffällig  dem  des  ursprünglichen 
Ahnen  der  heutigen  Rindes,  des  Bos  primi- 
genius. 

Die  Unrichtigkeit  der  Annahme,  daß  nach 
Verlust  eines  Geschlechtsmerkmals  das  hetero- 
sexuelle Merkmal  hervortritt,  läßt  sich  ebenfalls 
an  Beispielen  erweisen.  Es  sei  hier  nur  der  Bart 
des  Menschen  erwähnt.  Das  Erscheinen  von  Bart- 
haaren bei  Frauen  zur  Zeit  des  Klimakteriums 
wurde  vielfach  als  Umschlagen  in  den  männlichen 
Typus  bezeichnet.  Tandler  und  Groß  konnten 
dagegen  nachweisen ,  daß  auch  der  männliche 
Frühkastrat  im  Alter  einen  Bart  bekommt,  der 
nach  seiner  Lokalisation  und  seinem  Aussehen 
jenem  gleicht,  den  man  bei  PVauen  als  Altweiber- 
bart bezeichnet.  Es  entwickelt  sich  also  ein  be- 
stimmter Behaarungstypus  ganz  unabhängig  von 
der  Keimdrüse  und  man  kann  diese  Bartform 
wieder  als  ein  Systemmerkmal  bezeichnen,  das 
beiden  Geschlechtern  gleichmäßig  zukommt. 
Diesem  „Speziesbart"  erst  entstammt  der  Bart  des 
Mannes.  Abgesehen  von  den  Ausfallerscheinungen 
beeinträchtigt  und  verzögert  die  Entfernung  oder 
Unterentwicklung  der  Keimdrüse  allgemein  bio- 
logische Vorgänge  des  Organismus,  wie  z.  B.  die 
somatische  Reife.  Ebenso  zeitigt  die  vorzeitige 
und  besonders  starke  Ausbildung  der  Keimdrüsen 
eine  Reihe  von  Erscheinungen,  die  man  als  patho- 
logische Frühreife  zusammenfaßt.  Die  Beobach- 
tungen haben  auch  gelehrt,  daß  nicht  die  Keim- 
drüse als  ganzes  für  die  erwähnten  Funktionen 
verantwortlich  zu  machen  ist,  sondern  nur  ein 
bestimmter  Teil  derselben,  welcher  nicht  genera- 
tive, sondern  innersekretorische  Wirkungen  ausübt. 
Die  Stoffe  der  Keimdrüse,  die  das  Soma  ihres 
Trägers  beeinflussen,  sind  Keimdrüsen  h  o  r  m  o  n  e. 
Selbst  vorübergehende  Unterbrechungen  oder  Her- 
absetzungen in  der  innersekretorischen  Tätigkeit 
der  Keimdrüsen  erzeugen  der  Kastration  analoge 
Veränderungen  des  Soma,  wie  sich  dies  an  den 
Säugern  beispielsweise  in  der  Gravidität  zeigt. 

Die  Wandlungsfähigkeit,  welche  die  einzelnen 
(Geschlechtsmerkmale  unter  dem  Einfluß  der 
inneren  Sekretion  der  Keimdrüsen  besitzen ,  ist 
verschieden,  je  nachdem  ein  bestimmtes  Artmerk- 
mal sich  früher  oder  später  zum  Geschlechts- 
merkmal differenziert  hat  und  als  solches  in  der 
Phylogenese  festgelegt  wurde.  So  erklärt  es  sich, 
daß  nach  Kastration  gewisse  Geschlechtsmerkmale 
vollkommen  ausfallen ,  andere  weniger  prägnant 
ausgebildet    oder    in    ihrem   Erscheinen    verzögert 


werden,  während  wieder  andere  eine  kaum  merk- 
liche Störung  erfahren. 

Das  Verschwinden  periodisch  auftretender 
Merkmale  —  wie  etwa  des  Abwerfens  des  Ge- 
weihes beim  Hirsch  —  nach  dem  vorzeitigen 
Verlust  der  Keimdrüse  deckt  sich  im  allgemeinen 
mit  jenem  nach  Altersinvolution  dieser  Drüse. 
Andererseits  sehen  wir,  sagen  Tandler  und 
Groß,  daß  die  konstanten  Geschlechtsmerkmale 
in  dem  Grade  und  der  Art  ihrer  Reaktionsfähig- 
eine gewisse  Abhängigkeit  von  dem  Zeitpunkt 
zeigen ,  zu  welchem  die  Wirksamkeit  der  Keim- 
drüsenhormone endgültig  unterbrochen  wird. 
Diese  Differenz  ist  vielfach  zurückzuführen  auf  die 
geringere  Reaktionsfähigkeit,  welche  das  Soma 
mit  fortschreitendem  Alter  zeigt,  aber  auch  auf 
eine  Komponente  der  innersekretorischen  Tätig- 
keit der  Keimdrüse,  welche  vorderhand  noch  un- 
bekannt ist;  denn  abgesehen  davon,  daß  die  im 
höheren  Alter  gleichsam  erstarrten  Formen  über- 
haupt eine  geringere  Wandlungsfähigkeit  zeigen, 
unteischeidet  sich  doch  der  Spätkastrat  von  einem 
gleichaltrigen  Individuum,  dessen  Keimdrüsen- 
funktion physiologischerweise  erloschen  ist. 

Andere  Drüsen  mit  innerer  Sekretion  antworten 
auf  Veränderungen  der  Keimdrüsen  mit  weit- 
gehenden Reaktionen ;  und  nicht  nur  die  System- 
merkmale, sondern  auch  die  Geschlechtscharaktere 
werden  durch  diese  Drüsen  mehr  oder  minder 
beeinflußt.  Die  Ausdehnung  dieser  Einflußnahme 
auf  die  Gesamterscheinung  eines  Individuums  in 
seinen  System-  und  Geschlechtsmerkmalen  können 
Tand  1er  und  Groß  vorderhand  nicht  genau 
umschreiben  und  sie  betonen ,  daß  derzeit  noch 
viel  mehr  die  Einsicht  fehlt  in  die  komplizierten 
Wechselbeziehungen  und  die  vielfachen  Abhängig- 
keiten, die  maßgebend  sind  bei  jenen  Vorgängen, 
welche  die  formale  Ausgestaltung  der  System-  und 
Geschlechtsmerkmale  zum  Ziele  haben.  Ererbte 
Qualitäten  der  Systemmerkmale,  übernommene 
Eigenschaften  des  Geschlechts,  Einwirkungen  des 
Milieus,  sie  alle  werden  schließlich  auf  dem  Wege 
der  innersekretorischen  Tätigkeit  —  also  der 
Hormonwirkung  —  das  Äußere  des  Individuums, 
seine  Zugehörigkeit  zu  einer  bestimmten  Art  und 
zu  einem  bestimmten  Geschlecht,  beeinflussen. 

H.  Fehlinger. 

Zoologie  Über  Atmung  und  Kreislauf  des 
Regenwurms  veröffentlicht  A.  Combault  im 
Journal  Anat.  et.  Phys.  Paris  XIV  neue  Unter- 
suchungen. Bei  den  Regenwürmern  ist  bekannt- 
lich eine  Hautatmung  vorhanden.  Die  dicke 
Cuticula  scheint  allerdings  zum  Gasaustausch 
wenig  geeignet,  es  finden  sich  jedoch  in  den  Seg- 
menten 10 — 13,  zuweilen  auch  im  9.  Segment 
Stellen  mit  dünner  Cuticula  und  Epidermis,  wie 
einen  größeren  Reichtum  an  Gefäßen,  welche 
immer  den  Ringeln  mit  Seitenherzen  angehörig 
sind.  Neben  der  Hautatmung  findet  sich  noch 
die  durch  die  sog.  Morren sehen  Drüsen, 
die  in  den  Ösophagus,  den  sie  mufFartig  umgeben, 


N.  F.  XIII.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


(^33 


vorn  und  hinten  mit  je  zwei  Öffnungen  einmünden. 
Sie  liegen  im  Segmente  11  — 14  und  werden  von 
der  Darmflüssigkeit  durchflössen.  Durch  die  Drüsen 
zieht  sich  von  vorn  nach  hinten  eine  große  An- 
zahl radiär  um  das  Darmrohr  liegende  Kiemen- 
blätter, von  denen  jedes  aus  zwei  Lagen  mit  einer 
dazwischen  befindlichen  Blutschicht,  die  innen 
und  außen  in  Blutsinusse  übergeht,  besteht.  Jede 
Lage  setzt  sich  wieder  aus  einem  Gefäßendothel 
und  einen  Epithel  zusammen.  Das  Blut  des 
Hinterleibes,  das  mit  dem  Rückengefäß  bis  zum 
14.  Segment  strömt,  ergießt  sich  zum  größeren 
Teil  zuerst  in  die  äußeren  Sinusse  des  Morren.schen 
Organs,  dann  durch  die  Kiemenblätter  in  die 
inneren  Sinusse,  von  wo  es  aus  durch  zwei  seit- 
liche Gefäße  und  den  vorderen  Abschnitt  des 
Rückengefäßes  nach  vorne  geleitet  wird,  hierauf 
durch  die  Seitenherzen  in  das  Bauchgefäß  und 
die  umliegenden  Gefäße  gelangt,  in  welchem  es 
nach  hinten  fließt.  Von  den  respiratorischen  Haut- 
partien, zu  denen  ebensoviele  Gefäße  von  den 
fünf  vorderen  Seitenherzen  her  verlaufen,  strömt 
die  Blutflüssigkeit  dem  Seitengefäß  zu. 

Daß  das  M  o  r  r  e  n 'sehe  Organ  der  Atem- 
tätigkeit dient,  meint  Verf.  auch  daraus  schließen 
zu  müssen,  daß  eine  Farbänderung  des  Blutes  in 
ihm  eintritt,  die  nur  durch  Ausscheidung  von 
Kohlensäure  bedingt  sein  kann.         Aichberger. 

Physiologie.  Bakterienfreie  Tiere.  Das  Vor- 
kommen einer  ungemein  reichen  Bakterienflora 
im  Darm  der  pflanzenfressenden  Säugetiere  legte 
den  Gedanken  nahe,  die  Tiere  könnten  ohne  die 
Tätigkeit  der  Mikroben  ihre  Nahrung  gar  nicht 
ausnutzen,    seien    ohne    dieselben    existenzunfähig. 

N u t a  1 1  und  Thierfelder  haben  aber  bereits 
nachgewiesen,  daß  Meerschweinchen,  aseptisch 
gehalten,  nicht  nur  am  Leben  bleiben,  sondern 
auch  an  Gewicht  zunehmen. 

Neue  Versuche  derart  wurden  von  Küster 
mit  der  jungen  Ziege,  von  Michel  Cohendy  und 
Eugene  VV ol Iman n  (Experiences  sur  la  vie  sans 
microbes.  Elevage  aseptique  de  cobayes,  C.  R.  Ac. 
sc.  Paris  Nr.  18,  4  mai  19 14)  mit  Meerschweinchen 
angestellt.  Die  Ziegen  wurden  12  bzw.  35  Tage 
gehalten;  im  letzten  L'all  nahm  das  Gewicht  um 
100  "/„  zu;  von  2250g  stieg  es  auf  5500g. 

Die  Versuche  von  N u ta  1 1  und  Thierfelder 
mit  dem  Meerschweinchen  hatten  sich  nur  auf 
13  Tage  im  Maximum  erstreckt.  Cohendy  und 
W oll  mann  entnahmen  die  jungen  Meerschwein- 
chen kurz  vor  der  Geburt  durch  Kaiserschnitt 
dem  Uterus.  Der  Aufzuchtkäfig  enthielt  eine  hin- 
reichende Menge  sterilisierten  Futters.  Je  ein  Stück 
oder  mehrere  Geschwister  wurden  als  Kontrolltiere 
in  gewöhnlicher  Weise  aufgezogen.  Vier  Versuche 
wurden  16,  18,  21  und  29  Tage  durchgeführt. 
Während  dieser  Zeit  betrug  die  Gewichtszunahme 
19g.  iig.  17g-  und  32g  oder  21%,  g'>l„,  19,9% 
und  33,5"/o  des  Anfangsgewichts.  Die  Gewichts- 
zunahme der  Kontrolltiere  stieg  während  der 
gleichen  Zeit  von  8,7  ",„  auf  24  "/(,. 


Im  Gehalt  der  Exkremente  an  Stickstoff  und 
Cellulose  bestand  kein  Unterschied  gegenüber  den 
Kontrolltieren. 

Mikroskopische  Untersuchungen  und  Impfungen 
auf  Nährgelatine  mit  dem  Darm  und  seinem  Inhalt 
ercjaben  das  völlige  Fehlen  von  Bakterien. 

Kathariner. 


Physik.  Über  die  Verwendung  der  lichtelek- 
trischen Zelle  als  Empfangsinstrument  für  draht- 
lose Telegraphie  berichtet  H.  Behnken  in  den 
Berichten  der  Deutschen  Physikalischen  Gesellschaft 
XVI  (1914)  Seite  668—678.  Mit  der  in  der  Em- 
pfangsantenne liegenden  Spule  ist  eine  zweite  von 
großer  Windungszahl  gekoppelt,  so  daß  in  dieser 
die  von  der  ersteren  aufgenommenen  Schwingungen 
auf  hohe  Spannung  transformiert  werden.  Das  eine 
PInde  der  Sekundär-Spule  ist  mit  der  Kaliumschicht 
der  lichtelektrischen  Zelle,  die  dieser  gegenüber- 
stehendende Platinanode  mit  dem  Faden  eines 
Lutz-Edelmann'schen  Einfaden-Elektrometers  ver- 
bunden. Die  Kaliumschicht  wird  mit  einer  Nernst- 
lampe  beleuchtet.  Würde  man  das  andere  Spulen- 
ende unmittelbar  erden,  so  wurde  beim  Leuchten 
der  Lampe  das  E.!ektrometer  stets  einen  Ausschlag 
zeigen.  Um  dies  zn  vermeiden,  ist  in  die  Erd- 
leitung ein  Regulierwiderstand  eingeschaltet,  der 
es  erlaubt,  von  einem  Akkumulator  einen  Teil  der 
Spannung  abzuzweigen.  Dadurch  werden  die  durch 
die  Belichtung  am  Kalium  ausgelösten  Elektronen 
so  stark  verzögert,  daß  in  nicht  zur  Anode  und 
zum  Elektrometer  gelangen.  Wird  aber  die  Antenne 
angeregt,  so  entsteht  in  der  Sekundärspule  eine 
beträchtliche  Wechselspannung  von  der  Frequenz 
des  Antennensystems.  Während  jeder  Halbperiode, 
in  der  dadurch  die  Kaliumschicht  ein  negatives 
Potential  erhält,  werden  die  durch  die  Belichtung 
befreiten  Elektronen  so  stark  beschleunigt,  daß 
sie  gegen  die  verzögernde  Spannung  anlaufen  und 
zur  Anode  gelangen  können,  so  daß  der  Elektro- 
meterfaden die  Schwingungen  der  Antenne  mit- 
macht. Es  gelang  in  Charlottenburg  das  Zeitzeichen 
von  Norddeichmit  20  —  30,  das  des  Eiffelturmes  mit 
4 — 5  Skalenteilen  .Ausschlag  aufzunehmen.  Dabei 
bestand  die  Empfangsantenne  einfach  aus  einem 
Kupferdraht  von  3  mm  Dicke,  der  in  einer  Länge  von 
70  m  zwischen  zwei  Holztürmen  in  15— 20  m  Höhe 
über  dem  Dach  des  Starkstromlaboratoriums  der 
Physikalisch-Technischen  Reichsanstalt  ausgespannt 
war.  Es  sei  noch  erwähnt,  daß  es  zweckmäßig 
ist,  von  einer  Abstimmung  zwischen  der  in  der 
Antenne  liegenden  Spule  und  der  mit  der  licht- 
elektrischen Zelle  verbundenen  abzusehen,  daß 
man  vielmehr  der  letzteren  die  Schwingungen 
des  Antennenkreises  besser  einfach  aufzwingt. 
Diese  Zellanordnung  hat  vor  den  Kreistalldctek- 
toren  den  Vorteil,  daß  sie  nicht  einreguliert  zu 
werden  braucht,  daß  sie  konstant  ist  und  daß  ihr 
selbst  starke  atmosphärische  Entladungen  nichts 
anhaben,  wodurch  eine  große  Betriebssicherheit 
gewährleistet  wird.  K.  Schutt,  Hamburg. 


634 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  40 


Geologie.  Über  tropische  und  subtropische 
Flach-  und  Hochmoore  auf  Ceylon  hielt  Geh. 
Bergrat  K.  Keilhack  auf  der  Tagung  des  Ober- 
rheinischen geologischen  Vereines  in  Friedrichs- 
hafen a.  B.  einen  interessanten  Vortrag,  der  nun- 
mehr in  den  Jahresberichten  und  Mitteilungen 
dieses  Vereins  erschienen  ist.  (N.  F.  Bd.  4,  H.  2. 
Jahrgang  1914.) 

Eine  ausführliche  Mitteilung  über  Moore  mit 
Torfboden  aus  der  tropischen  und  subtropischen 
Zone  gab  zum  ersten  Male  H.  Potonie  in  der 
Naturwissenschaftlichen  Wochenschrift  vom  Jahre 
1907.  Es  handelte  sich  um  ein  von  der  Holländisch- 
Indischen  Expedition  in  Sumatra  entdecktes,  ca. 
90  km  von  der  Küste  entferntes  Flachmoor,  dessen 
Bestand  ein  immergrüner  etwa  30  m  hoher  Misch- 
wald ist.  Niedrige  Pflanzen  und  Kräuter  fehlen 
völlig.  Gelegentlich  der  Arbeiten  der  Deutschen 
Tendaguru-Expedition  in  Deutsch-Ostafrika  wurden 
durch  Janensch  und  v.  St  äff  Moorbildungen 
im  südlichen  Küstengebiet  des  Lukulabi  entdeckt. 
Es  herrscht  dort  eine  üppige  Vegetation,  doch 
ist  über  die  Flora  dieser  Moore  nichts  bekannt. 
Grasmoore,  wie  sie  in  den  gemäßigten  Breiten 
auftreten,  waren  in  der  tropischen  und  subtropischen 
Zone  nicht  bekannt.  Selbst  die  Möglichkeit  des 
Auftretens  des  Zwischenmoores  und  des  Hoch- 
moores hielt  H.  Potonie  in  den  tropischen  Ge- 
bieten für  ausgeschlossen. 

Auf  einer  im  vorigen  Jahre  unternommenen 
Forschungsreise  nach  Ostasien  konnte  nun  Keil- 
hack  auf  Ceylon  in  der  Umgebung  von  Nurelia, i) 
einer  in  1850  m  Meereshöhe  gelegenen  Sommer- 
frische, die  am  Fuße  des  2550  m  hohen  Talagalla 
liegt,  ein  typisches  Flach-  und  Hochmoor  nach- 
weisen. Nurelia  ist  in  einem  wannenartigen  Becken 
gelegen,  das  auf  beiden  Längsseiten  von  ziemlich 
hohen  Gebirgswänden  begrenzt  ist.  Im  südlichen 
etwa  3  km  langen  Teil  des  Beckens  befindet  sich 
der  durchschnittlich  6  m  tiefe  Lake  Gregory,  der 
infolge  der  immer  mehr  fortschreitenden  Ver- 
landung  seiner  randlichen  Teile  von  einem  Flnch- 
moor  umgeben  ist.  Wie  bei  der  \'erlandung 
unserer  Seen,  so  lassen  sich  auch  beim  Lake 
Gregory  mehrere  Vegetationsgürtel  unterscheiden. 
Im  Wasser  schwimmt  Aponogeton,  eine  Najadee 
mit  großen  elliptischen  Blättern.  Dann  folgt  ein 
3 — 25  m  breiter  Gürtel  von  Juncus  effusus  und 
Scirpus  mucronatus  mit  vereinzelten  Büschen  von 
Eriocaulon,  Blütenpflanzen,  Cyperaceen  und  Gra- 
mineen. Der  folgende  ca.  15 — 50  m  breite  Gürtel 
wird  von  meterhohem  Eriocaulon  gebildet,  dessen 
dichtstehende  Bülten  ein  weißes  P'arbband  er- 
zeugen, das  dem  von  Eriophorum  in  unseren  Mooren 
ähnlich  sieht.    Auf  den  Eriocaulon-Bülten  wachsen 


')  Ein  treffliches  Bild  mit  Beschreibung  jener  Gegend 
gibt  E.  Haeckel  in  seinem  Tafelwerk  Wanderbilder, 
Serie  I  und  II ,  Die  Naturwunder  der  Tropenwelt  (Insulinde 
und  Ceylon),  fünfte  Lieferung  1905  in  Wanderbild  15:  Nu- 
rellia-See,  Blick  vom  Rambodde-Paß  auf  den  Nurellia-Scc 
(Ceylon),  wie  auch  in  dem  Aquarell,  das  den  See  mit  seiner 
Umgebung  deutlich  zeigt. 


Blütenpflanzen  und  Gräser,  welche  die  Plora  des 
Flachmoores  bilden.  Der  dritte  zwischen  10  bis 
100  m  breite  Gürtel  besteht  aus  zahlreichen  Bülten 
von  kleinen  Gramineen  und  Cyperaceen,  wozu 
vereinzelt  auch  große  Bülten  des  meterhohen 
Grases  Vetiveria  zizanoides  treten,  dessen  Haupt- 
verbreitung auf  das  Hochmoor  beschränkt  ist. 
Das  Profil  des  P'lachmoores  besteht  zu  unterst 
aus  gelbem  Ton,  der  wohl  ein  Sediment  des  Sees 
ist;  darüber  30—60  cm  typischer  Faulschlamm, 
der  von  30—80  cm  Torf  überlagert  wird. 

An  das  P"lachmoor  schließt  sich  das  Hoch- 
moor an,  das  als  typisches  Gehängemoor  10— 30  m 
am  Gehänge  aufsteigt.  Unter  dem  bis  i  m  mäch- 
tigen Torf  lagert  nur  in  den  tieferen  Teilen  Faul- 
schlamm, gewöhnlich  aber  verwitterter  Granit. 
Das  Auftreten  von  Faulschlamm  ist  so  zu  erklären, 
daß  das  Hochmoor  ursprünglich  Flachmoor  war 
und  erst  nach  Senkung  des  Seespiegels  in  den 
jetzigen  Zustand  übergegangen  ist.  Das  Gehängemor 
ist  als  Zwischenmoor  oder  wohl  eher  als  Hoch- 
moor anzusehen  und  unterscheidet  sich  in  wesent- 
lichen Punkten  vom  Flachmoor.  Nächst  der  Ober- 
flächenform liegt  der  wichtigste  Unterschied  in 
der  Pflanzenwelt.  Unter  den  80  Arten  von  höheren 
Pflanzen,  die  im  Moore  von  Nurelia  auftreten,  ge- 
hören 42  Arten  dem  Flachmoor,  32  Arten  dem 
Gehängemoor  und  nur  8  Arten  beiden  gemein- 
sam an.  Auch  in  der  Baumvegetation  zeigen  sich 
Unterschiede.  Auf  dem  Flachmoor  sind  kleine 
Gruppen  von  künstlich  angesiedelten  australischen 
Eucalypten  verstreut,  während  auf  dem  Hochmoor 
der  leuchtend  rot  blühende  Rhododendron  arbo- 
reum,  der  Charakterbaum  des  Urwaldes  von  Cey- 
lon auftritt,  welcher  sonst  12  — 15  m  Höhe  erreicht, 
hier  aber  verkrüppelt  (3 — 4  m)  gewachsen  ist  und 
an  die  verkrüppelten  Moorkiefern  der  deutschen 
Hochmoore  erinnert. 

Weitere  Übereinstimmung  mit  unseren  Hoch- 
mooren besteht  in  der  völlig  abweichenden  Vege- 
tation an  Ufern  von  Bächen,  die,  vom  Gebirge 
kommend,  das  Gehängemoor  durchziehen.  Hier, 
wo  größerer  Reichtum  an  Nährstoffen  im  Wasser 
besteht,  entwickelt  sich  die  Plachmoorvegetation 
ähnlich  den  Rüllen  der  deutschen  Hochmoore, 
während  der  übrige  Teil  des  Hochmoores  nur 
mit  Regenwasser  getränkt  wird. 

Eine  Besonderheit  der  Moorflora  von  Nurelia 
ist  die  Ausbildung  xerophiler  Merkmale  bei  zahl- 
reichen Arten.  Auffallend  ist  das  Fehlen  von 
Moosen  sowohl  im  Flach-  als  auch  im  Hochmoor. 
Die  Moore  sind  also  ausschließlich  Grasmoore. 
Als  Torfbildner  sind  neben  Cyperaceen  und  Grami- 
neen noch  eine  Binse  Juncus  effusus  und  versch. 
Arten  von  Eriocaulon  von  Bedeutung. 

Große  Übereinstimmung  mit  unseren  Mooren 
besteht  in  der  Bildung  von  Bülten  durch  zahl- 
reiche Pflanzen  (Juncus,  Scirpus,  Eriocaulon,  Veti- 
veria, Carex,  Cyperus  usw.),  wodurch  die  Moore 
von  Nurelia  den  unsrigen  ähnlich  sehen. 

Die  Familien  der  Moorflora  von  Nurelia  sind 
mit    einigen  Ausnahmen    auch    bei    uns  vertreten, 


N.  F.  XIII.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


635 


während  nur  mehr  als  die  Hälfte  der  Gattungen 
bei  uns  vorkommt.  Dagegen  sind  nur  4  Arten 
unserer  Flora  gemeinsam  (u.  a.  Juncus  effusus). 

Ein  Flachmoor  von  30  m  Breite  und  unbe- 
kannter Länge  ist  im  Urwald  des  Talagalla  in 
2250  m  Höhe  gelegen  und  zeigt  unter  10  ge- 
sammelten Pflanzen  nur  eine,  die  dem  Moor  von 
Nurelia  gemeinsam  ist. 

Die  Moore  von  Nurelia  gehören  trotz  7  "  nörd- 
licher Breite  bei  einer  Höhe  von  1850  m  klimatisch 
bereits  der  subtropischen  Zone  an  und  sind  als 
Grasmoore  entwickelt,  die  unseren  Flach-  und 
Hochmooren  zuzurechnen  sind. 

Typische  tropische  Flachmoore  wurden  noch 
nahe  dem  südlichsten  Teil  der  Insel  im  Gebiet 
des  tropischen  Regenwaldes  nur  wenige  m  über 
dem  Meeresspiegel  unter  6  "  nördl.  Breite  entdeckt. 
Sie  liegen  beiderseits  von  Point  de  Galle  und  er- 
strecken sich  30  -  40  km  der  Küste  entlang  hinter 
einem  100 — 300  m  breiten  Strandwall  in  i — 2  m 
über  dem  Meere  liegenden  Niederungen.  Der 
Torf  ist  ca.  i  m  mächtig.  Faulschlamm  ist  zu 
vermuten.  Auch  hier  haben  wir  typische  Gras- 
moore, die  von  niederen  Bäumen  und  Büschen 
sowie  Schlingpflanzen  besetzt  sind.  Haupttorf- 
bildner sind  wiederum  Gramineen  und  Cyperaceen, 
sowie  Eriocaulon.  Auffallend  ist  der  Reichtum 
an  Farnen.  Besonders  merkwürdig  ist  es,  daß 
mit  Ausnahme  des  Kletterfarns  Gleichenia  linearis 
keine  Pflanze  des  tropischen  Moores  mit  der  sub- 
tropischen Moorflora    von   Nurelia   übereinstimmt. 

Hinsichtlich  des  Charakters  der  Flora  steht 
das  subtropische  Moor  unseren  Mooren  viel  näher 
als  das  tropische.  V.  Hohenstein. 

Botanik.  Beobachtungen  über  Protoplasma- 
strömung in  Pflanzenzellen.  Man  ist  geneigt,  leb- 
hafte Protoplasmaströmung  mit  kräftiger  Lebens- 
tätigkeit und  den  sie  begleitenden  stofflichen 
Umsetzungen  und  Wanderungen  in  Beziehung  zu 
bringen.  Beobachtungen,  die  G.  Lakon  in  den 
Zellen  der  inneren  Epidermis  von  Zwiebelschuppen 
(Allium  Cepa)  gemacht  hat,  beweisen  aber,  daß 
solche  Beziehungen  nicht  zu  bestehen  brauchen. 
In  diesen  Zellen  strömt  das  Plasma  nicht  bloß  in 
dem  protoplasmatischen  Wandbeleg,  sondern  auch 
in  den  feinen  Plasmasträngen,  die  das  Innere  der 
Zellen  durchziehen,  —  eine  Strömungsform,  die 
unter  dem  Namen  Zirkulation  des  Plasmas 
bekannt  ist.  Das  Plasma  zirkuliert  in  gleicher  Weise 
in  verschiedenen  Lebensperioden  der  Zwiebel ; 
weder  bei  der  Abwanderung  noch  bei  der  Auf- 
wanderung der  Assimilate  strömt  es  lebhafter  als 
bei  der  völligen  Ruhe  im  Winterlager.  Die 
Strömungsfähigkeit  des  Plasmas  ist  also  hier  von 
einer  erhöhten  Lebenstätigkeit  des  Organes  völlig 
unabhängig,  und  es  ist  für  sie  auch  ohne  Bedeutung, 
ob  in  den  Zellen  eine  rege  Stoffwanderung  statt- 
findet oder  nicht.  Lakon  hebt  hervor,  daß  die 
beobachtete  Plasmaströmung  nicht  etwa  erst  durch 
die  Präparation  (Entnahme  der  Zellen  mittels  einer 
Pinzette    und    Einlegen    in    einen    Wassertropfen) 


hervorgerufen  werde,  wenn  der  Reiz  sie  auch 
möglicherweise  beschleunige.  Weitere  Beobach- 
tungen zeigten,  daß  osmotisch  wirksame  Lösungen 
(am  besten  Kalisalpeter)  die  Protoplasmaströmung 
in  den  Zwiebelschuppen  in  hohem  Maße  befördern. 
Die  optimale  Konzentration  richtet  sich  nach  den 
osmotischen  Druckverhältnissen  der  Zellen.  Im 
Winter  abgelagerte  Zwiebeln  z.  B.,  deren  Zellsaft 
hoch  konzentriert  ist,  bedürfen  auch  einer  stark 
konzentrierten  Lösung,  um  eine  deutliche  Be- 
schleunigung der  Strömung  zu  entfalten.  Bei  der 
bekannten  Rotation  des  Protoplasmas  (Strömung 
nur  im  Wandbeleg)  in  Blättern  von  Elodea  cana- 
densis  ist  die  Wirksamkeit  von  Salzlösungen  im 
Vergleich  zu  der  bei  der  Zirkulation  in  Zwiebel- 
schuppen nur  sehr  gering.  Doch  hat  Verf.  ge- 
funden, daß  die  Plasmaströmung  bei  Elodea  in 
ausgezeichneterweise  durch  eine  0,005  proz.  Lösung 
von  Schwefelsäure  angeregt  und  zur  Anschauung 
gebracht  werden  kann.  Da  die  giftigere  schweflige 
Säure  in  entsprechend  niedrigerer  Konzentration  eine 
gleiche  Wirkung  nicht  ausübt,  so  schließt  Lakon, 
daß  der  Einfluß  der  Schwefelsäure  ein  spezifischer 
sei,  nicht  auf  Giftwirkung  beruhe.  Verf.  stellte 
auch  einen  sehr  günstigen  Einfluß  der  Verdunstung 
auf  die  Rotation  bei  Elodea  fest;  am  lebhaftesten 
trat  die  Plasmaströmung  hervor  an  Sproßspitzen, 
die  aus  dem  Wasser  frei  in  die  Luft  ragten  (Ber. 
d.  Deutschen  Bot.  Ges.  1914,  Bd.  32,  S.  417 — 426). 

F.  Moewes. 

Chemie.  Über  die  Darstellung  der  Elemente 
Thorium,  Uranium,  Zirkon  und  Titan  berichten 
D.  Lely  j  r.  und  L.  Hamburger  in  der  Zeit- 
schrift f.  anorg.  Chem.  Bd.  87,  S.  209—228.  Der 
schönen,  klar  und  zielbewußt  durchgeführten  Arbeit 
sind  die  folgenden  Angaben  entnommen: 

Die  Reindarstellung  der  elementaren  Metalle 
Thor,  Uran,  Zirkon  und  Titan  wird  einerseits  durch 
ihren  hohen  Schmelzpunkt,  andererseits  durch  ihre 
<rroße  Affinität  zu  den  meisten  anderen  Elementen 
erschwert.  Es  ist  daher  erforderlich,  für  die  Ge- 
winnung der  Metalle  nur  solche  Stoffe  zu  benutzen, 
die  auf  das  Endprodukt  keinen  ungünstigen  Ein- 
fluß ausüben  und  sich  vor  allen  Dingen  leicht  aus 
ihm  entfernen  lassen.  Weiter  muß  dafür  gesorgt 
werden,  daß  das  metallische  Endprodukt  nicht 
in  Form  eines  zu  feinen  Pulvers  erhalten  werde, 
da  es  sonst  von  Luft,  Feuchtigkeit  usw.  zu  leicht 
angegriffen  und  dadurch  verunreinigt  wird.  Es  ist 
daher  erforderlich: 

1.  Eine  hohe  Darstellungstemperatur,  die  aber 
nur  kurze  Zeit  wirken  darf,  da  sonst  die  Gefahr 
der  Verunreinigung  des  Reaktionsproduktes  durch 
das  Gefäßmaterial  vorliegt. 

2.  Größte  Reinheit  des  Ausgangsmaterials,  da 
erfahrungsgemäß  selbst  geringe  Verunreinigungen 
das  Zusammensintern  und  Verschmelzen  der  bei 
der  Reaktion  zunächst  entstehenden  winzigen 
Metallpartikeln  zu  größeren  und  darum  wider- 
standsfähigeren Komplexen  erheblich  zu  erschwe- 
ren vermögen. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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3.  Ausschließung  von  atmosphärischen  Ein- 
flüssen während  der  Reaktion  sowie  sorgfältige 
Auswahl  des  Materials  für  das  Reaktionsgefäß. 

Das  chemische  Verfahren,  nach  dem  die  Ver- 
fasser arbeiteten,  war  weder  neu  noch  kompliziert; 
der  Erfolg  war  allein  durch  die  peinliche  Sorg- 
falt bedingt,  mit  der  die  Versuche  unter  Berück- 
sichtigung der  im  vorstehenden  angegebenen 
Grundsätze  durchgeführt  wurden.  Es  wurden 
zunächst  die  vier  Chloride  ThClj,  UrCl^,  ZrCl^ 
und  TiCl4  aus  den  Oxyden  durch  Reduktion 
und  gleichzeitige  Chlorierung  mit  Kohlenstoff  und 
Chlor,  mit  Tetrachlorkohlenstoff  CCI4  oder  mit 
Schwefelchlorür  S.,C1.,  vollkommen  wasserfrei  dar- 
gestellt und,  soweit  es  erforderlich  war,  durch 
Sublimation  im  Vakuum  sorgfältigst  gereinigt. 
Dann  wurden  die  Chloride  mit  metallischem  Na- 
trium, das  ebenfalls  durch  Sublimation  im  Vakuum 
gereinigt  war,  in  stählernen  Tiegeln  ebenfalls 
im  Vakuum  bei  hoher  Temperatur  zur  Reak- 
tion gebracht.  Die  Reaktion  erfolgte  nach  der 
Gleichung 

MeCI^  +  4Na  =  4NaCl  -j-  Me, 
wobei  Me   eines  der  vierwertigen  Metalle  Th,  Ur, 
Zr  oder  Ti  bedeutet. 

Das  reinste  Thorium,  das  auf  diese  Weise 
dargestellt  wurde,  bestand  der  Analyse  zufolge 
aus  99,9  "/o  Thorium  und  0,1  "/g  Sauerstoff.  Es 
ist  ein  sehr  duktiles  Metall  vom  spezifischen  Ge- 
wicht 11,2  und  in  grober  Form  sehr  beständig 
gegen  Luft,  Wasser,  wässerige  Lösungen  von  Al- 
kalien und    sogar    gegen  verdünnte    und    konzen- 


trierte Salpetersäure.  Ein  aus  grobpulverigem  Thor 
zusammengepreßtes  Stäbchen  konnte  im  Vakuum 
durch  direkte  Erhitzung  mittels  Wechselstroms  — 
also  das  Verfahren,  das  auch  beim  Wolfram  gute 
Dienste  geleistet  hat  ■ —  zu  kompaktem  Metall 
zusammengesintert  werden,  ja  beim  elektrischen 
Erhitzen  auf  einer  Unterlage  von  Wolframmetall 
konnte  ein  Stück  Thorium  im  Vakuum  nicht  nur 
zum  Schmelzen,  sondern  sogar  zu  vollständiger 
Verdampfung  gebracht  werden. 

Das  reinste  Uran  enthielt  99,5"/,,  Uran  und 
o,5"/g  Sauerstoff;  es  ist  weniger  duktil  als  das  Tho- 
rium, wird  von  Luft,  Wasser,  wässerigen  Alkalien 
und  Essigsäure  nicht  angegrifien,  von  Salz-  und 
Salpetersäure  aber  rasch  aufgelöst.  In  kompakte 
Form  kann  es  in  gleicher  Weise  wie  das  Thorium 
übergeführt  werden. 

Das  von  den  Autoren  dargestellte  Zirkon 
erwies  sich  bei  der  Analyse  als  praktisch  rein. 
Das  Metall  ist  sehr  duktil,  gegen  wässerige  Al- 
kalien und  viele  Säuren  ist  es  widerstandsfähig, 
von  Königwasser  und  konzentrierter  Schwefelsäure 
wird  es  in  der  Hitze,  von  Fluorwasserstoffsäure 
schon  in  der  Kälte  rasch  angegriffen. 

Das  Titan  endlich,  in  dem  Verunreinigungen 
nicht  nachgewiesen  werden  konnten,  ist  weniger 
duktil  als  die  drei  anderen  Metalle,  im  übrigen 
aber  ebenfalls  schwer  angreifbar.  Die  Überführung 
des  bei  der  Reaktion  entstandenen  pulverförmigen 
in  kompaktes  Metall  bot  größere  Schwierigkeiten 
als  bei  den  drei  anderen  Metallen,  ließ  sich  aber 
ebenfalls  durchführen.  Mg. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Eine  Beobachtung    des    in    nördlichen   Breiten 


selten  sichtbaren  grünen  Strahles,  der  schon  im 
Mittelmeer  oft  wahrgenommen  wird,  ist  mir  in 
Wisby  auf  Gotland  unter  57,6  Grad  nördl.  Breite 
gelungen.  Die  Zeit  vom  6. — 29.  Juni  war  dort 
so  sehr  vom  Wetter  begünstigt,  daß  an  17  Abenden 
ein  klarer  Sonnenuntergang  beobachtet  werden 
konnte.  Es  waren  dabei  über  der  See  oft  merk- 
würdige Verzerrungen  und  Fata  Morgana-  Er- 
scheinungen wahrzunehmen,  wie  überall.  Am 
16.  Juni  trat  Regenwetter  ein,  verbunden  mit 
starker  Abkühlung  der  Luft.  Am  17.  klärte  es 
sich  auf,  ohne  wesentliche  Erwärmung  der  Luft, 
und  das  war  jedenfalls  die  Vorbedingung  für  das 
Eintreten  der  so  seltenen  Erscheinung.  Freilich 
wird  auch  selten  mit  Absicht  darauf  aufgepaßt, 
so  daß  die  Berichte  immer  nur  von  einem  gelegentlich 
gesehenen  Aufblitzen  beim  Untergang  des  letzten 
Sonnenstrahles  erzählen.  Mir  stand  ein  aus- 
gezeichnetes Prismenglas  von  Busch  in  Rathenow 
zur  Verfügung  von  öfacher  Vergrößerung  und 
30  mm  Öffnung,  das  also  ungewöhnlich  lichtstark 
ist.  Die  Sonne  ging  infolge  der  Temperatur- 
gleichheit von  Luft  und  Wasser  fast  ohne  jede 
Formveränderung  unter,  und  als  noch  soviel  von 
der   Scheibe    zu    sehen    war ,    wie    sonst    etwa    in 


30— 40  Sekunden  untergeht,  da  erkannte  ich  genau, 
wie  an  den  beiden  Stellen,  wo  Sonnenrand  und 
Meeresfläche  sich  berühren,  der  Rand  sich  grün 
färbte,  diese  Färbung  lief  mit  großer  Geschwindig- 
keit nach  oben  bis  zur  Vereinigung,  so  daß  der 
ganze  noch  ziemlich  lange  Sonnen  rand  in  leuchtendem 
Smaragd  oder  Malachitgrün  strahlte.  Dann  aber  ver- 
schwand das  ganze  St  ückder  Sonne  momentan.  Dieser 
ganze  Vorgang  hat  etwa  2 — 3  Sekunden  gedauert. 
Es  war  also  die  Sonne  durch  anormale  Refraktion 
noch  über  den  Horizont  gehoben  gewesen.  Offenbar 
waren  an  den  andern  klaren  Tagen  die  Bedingungen 
nicht  erfüllt,  weil  die  Luft  am  Tage  bis  zu  26  Grad 
im  Schatten  erhitzt  wurde,  und  nun  bei  Sonnen- 
untergang die  Schichten  durch  die  beginnende 
Abkühlung  sich  so  durcheinander  mischten,  daß 
eine  ruhige  Strahlenbrechung  nicht  möglich  war. 
Es  wäre  sehr  wünschenswert,  wenn  auch  von 
anderen  Seiten  versucht  würde,  Material  herbei  zu 
schaffen,  um  die  Bedingungen  festzustellen,  unter 
denen  der  „Grüne  Strahl"  auftritt.  Große  Mittel 
gehören  ja  nicht  dazu.  Riem. 

Mit  dem  Hochwasser  wandernde  Schmetter- 
lingspuppen. Anfang  Januar  191 3  sammelte  ich 
bei  Treis    und  Coblenz  die   von  dem  Hochwasser 


N.  F.  XIII.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


637 


der  Mosel  abgesetzten  Muscheln  und  Schnecken- 
gehäuse. Unter  dem  angeschwemmten  Material 
fielen  mir  birnförmige  Kokons  auf,  welche  am 
spitzen  Ende  durch  elastische  Borsten  reusenartig 
verschlossen  waren.  Für  Unterrichtszwecke  nahm 
ich  einige  Kokons  mit.  Als  ich  einige  Monate 
später  die  Molluskenausbeute  nochmals  besichtigte, 
fielen  mir  in  den  geschlossen  gehaltenen  und 
trockenen  Behältern  zwei  Weibchen  des  Kleinen 
Nachtpfauenauges  auf,  welche  inzwischen 
den  Kokons  entschlüpft  waren.  Beide  Tiere 
hatten  zahlreiche  Eier  abgesetzt.  Diese  Beobach- 
tung zeigt,  daß  Schmetterlinge  auch  im  Puppen- 
zustande  manchmal  wandern  können. 

Brockmeier. 
Wie  dick  sind  die  Wolken?  Wenn  in  der 
Sommerszeit  aus  verhäitnismäßig  unscheinbaren 
Wolkenbildungen  bei  einem  Gewitter  gewaltige 
Platzregen  niedergehen,  so  fragt  man  sich  häufig, 
woher  nur  die  außerordentlich  großen  Nieder- 
schlagsmengen herkommen  mögen.  Man  gibt 
sich  über  diese  Dinge  um  so  leichter  einer  Täu- 
schung hin,  als  man  die  Dicke  der  Wolkenschich- 
ten, aus  denen  es  regnet,  gewöhnlich  unterschätzt. 
Die  Wolkenbildung  geht  auch  manchmal  so  plötz- 
lich vor  sich,  daß  man  die  Mächtigkeit  und  die 
Höhe  ihrer  Ausdehnung  nach  oben  nach  den  vor- 
herigen Anzeichen  gar  nicht  ahnt.  Aufklärungen 
über  diese  meteorologischen  Fragen  vermögen 
nur  Balloiiaufstiege  im  bemannten  PVeiballon  zu 
geben.  Sehr  interessantes  Material  darüber  hat 
der  berühmte  Wiener  Meteorologe  Prof.  Julius 
Hann  in  der  neuen  Auflage  seines  berühmten 
Lehrbuches  der  Meteorologie  zusammengetragen. 
So  wurde  bei  der  Ballonfahrt  von  Barral  und 
Bixio  am  27.  Juli  1850  eine  Wolkenschicht 
durchkreuzt,  die  größtenteils  aus  unterkühlten 
Tröpfchen  bestand  und  mehr  als  5  km  Dicke  be- 


saß. Auch  neuere  Wolkenmessungen  haben  er- 
geben, daß  die  senkrechte  Mächtigkeit  der  Haufen- 
wolken mehrere  Kilometer  erreichen  kann.  Dar- 
über haben  die  Berliner  Ballonfahrten  einige  sehr 
bemerkenswerte  Erfahrungen  geliefert.  Die  Hoch- 
fahrt vom  8.  Mai  1894  ging  zuerst  in  der  Höhe 
von  1750  — 5000  m  durch  eine  Schneewolke,  dann 
setzte  sie  sich  als  P^iskristallwolke  bis  5,7  km  fort, 
der  noch  ein  Eisnebel  bis  zur  Höhe  von  7750  m 
folgte.  Diese  Wolkenlager  waren  also  6  km 
mächtig.  Auch  bei  der  Fahrt  vom  14.  März  1893 
wurde  eine  Eisnebelwolke  von  nahezu  5  km  Mäch- 
tigkeit durchfahren.  Die  Potsdamer  Wolkenmes- 
sungen haben  Dicken  von  50  bis  über  4600  m 
ergeben;  sie  sind  auch  getrennt  für  die  einzelnen 
Wolkenarten  registriert.  Die  dicksten  Wolken 
waren  hier  die  Platzregenwolken.  Der  ausgezeich- 
nete Wolkenforscher  Ley  sah  im  Sommer  eine 
Gewitterwolke,  deren  unterste  Fläche  sich  300  m 
über  dem  Gipfel  des  Mont  Blank  befand,  während 
ihr  Scheitel  sich  4800  m  darüber  erhob.  Am 
13.  August  1857  konnte  Ley  die  Dicke  einiger 
Hagelwolken  messen.  Die  Unterfläche  war  etwa 
1000  m  über  der  Erde  und  die  senkrechte  Mächtig- 
keit betrug  7600  m.  Aber  selbst  diese  Dicke 
wurde  durch  zahlreiche  Gewitterwolken  erheblich 
übertrofifen.  Am  3.  September  1867  und  4.  August 
1878  betrug  deren  Mächtigkeit  9700  m.  Wolken 
von  so  größer  Mächtigkeit  können  sich  natürlich 
nur  in  aufsteigenden  Luftmassen  bilden,  sei  es  in 
den  großen  atmosphärischen  Wirbeln  oder  bei 
lokalen  Störungen  des  Gleichgewichts,  also  den 
Sommergewittern.  Die  Dicke  der  Wolken  ist 
jedenfalls  beschränkt;  da  die  für  die  Witterung 
wichtigen  Luftschichten  sich  auf  die  zehn  unter- 
sten Kilometer  beschränken,  so  werden  auch  die 
Wolkenschichten  nur  in  seltenen  Phallen  10  km 
Dicke  erreichen. 


Bücherbesprechiingen. 


Volterra      V.,      Drei      Vorlesungen      über 
neuere  Fortschritte  der  mathematischen 
Physik.     Gehalten  im  September   1909  an  der 
Clark-University.     Deutsch  von    E.    Lamla.     88 
Seiten    mit    19  Figuren  und  2  Tafeln.     Leipzig 
u.  Berlin  1914,  B.  G.  Teubner.  —  Preis  geh.  3  Mk. 
Die  hier  als  Sonderabdruck  aus  dem  „Archiv  der 
Mathematik  und  Physik"  in  Buchform  vorliegenden 
Vorlesungen  Volterras  aus  dem  Jahre  1909  befassen 
sich  zunächst  mit  dem  Problem  der  Zurückführung 
der  Fragen  der  allgemeinen  Mechanik,  der  Elasti- 
zitätstheorie und  der  Elektrodynamik  auf  Betrach- 
tungen der  Variationstheorie  und  geben  dann  eine 
Besprechung  der  neuesten  Probleme  der  Elastizitäts- 
theorie    mit     besonderer     Berücksichtigung     der 
elastischen  Nachwirkung.    Für  das  Verständnis  der 
Betrachtungen    ist  die  Kenntnis  der  theoretischen 
Grundlagen  der  besprochenen  Gebiete  vorausgesetzt. 

A.  Becker. 


Boveri,  Th.,  Zur  Frage  der  Entstehung 
maligner  Tumoren.  64  Seiten.  2  Textfigg. 
Jena  1914,  Gustav  Fischer.  —  Preis  1,50  M. 
Boveri  stellt  auf  Grund  seiner  in  so  verschie- 
denen Richtungen  erfolgreichen  Untersuchungen 
auf  dem  Gebiete  der  experimentellen  Zelliorschung 
eine  Theorie  des  Ursprunges  der  bösartigen  Ge- 
schwülste auf,  welche  zwar  noch  unbewiesen  und 
nicht  durch  ad  hoc  angestellte  Versuche  erhärtet 
ist,  aber  doch  auch  keiner  der  bisher  bekannten 
Tatsachen  der  Krebsforschung  sowie  der  Zellen- 
lehre widerspricht  und  dabei  den  Vorzug  besitzt, 
eine  einheitliche  Erklärung  sämtlicher  bösartigen 
Geschwülste,  so  verschieden  sie  auch  aussehen 
mögen,  zu  ermöglichen. 

Die  bösartigen  ')  Geschwülste  sind  bekanntlich 

')  Von  den  gutartigen  Geschwülsten  unterscheiden  sie  sich 
durch  den  vom  Typus  des  Muttergewcbes  abweichenden  Zell- 
charakter. 


638 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  40 


insgesamt  durch  die  unbegrenzte  Wachs- 
tums- und  Vermehr  ungsfähigkeit  ihrer 
Zellen  charakterisiert. 

Die  unbegrenzte  Teilungsfähigkeit  ist  wohl 
zweifellos  eine  Grundeigenschaft  der  Zelle.  So 
konnte  Woodruff  ein  einzelliges  Tier  {Para- 
viaeci/iiii),  ohne  daß  geschlechtliche  Vorgänge  ein- 
traten oder  abnorme  Reize  angewendet  wurden, 
innerhalb  von  nahezu  6  Jahren  durch  etwa  3500 
Generationen  hindurch  züchten,  wobei  die  Tiere 
sich  ausschließlich  durch  normale  Zweiteilungen 
vermehrten.  Hätte  man  alle  I'aramaecien  leben 
lassen,  so  würde  die  gesamte  Nachkommenschaft 
des  einen  Ausgangstieres  heute  einen  Raum  ein- 
nehmen, der  das  lo^"""  fache  des  Erdvolumens 
noch  überschritte.  —  Während  bei  vielzelligen  Or- 
ganismen nun  die  Embryonalzellen  in  ähnlicher 
Weise  vermehrungskräftig  sind,  tritt  in  den  Ge- 
weben des  erwachsenen  Tieres  offenbar  eine 
Hemmung  der  Teilungsfähigkeit  der  Zellen  ein, 
wie  der  Stillstand  des  Wachstums  und  die  Seltenheit 
der  Zellteilungen  in  den  verschiedensten  alternden 
Geweben  anzeigen. 

Den  Mechanismus  nun,  der  diese  Hemmung 
bewirkt,  verlegt  Boveri  in  die  Chromosomen  des 
Kernes  der  Gewebszellen.  Seine  früheren  Unter- 
suchungen an  doppeltbefruchteten  Seeigelciern  so- 
wie andere  Tatsachen  haben  unzweifelhaft  gelehrt, 
daß  die  einzelnen  Chromosomen  „Individuen"  sind, 
d.  h.  wohl  charakterisierte,  voneinander  stofflich 
und  potentiell  unterschiedene  Einheiten.  Ein 
Chromosom  kann  im  allgemeinen  durch  ein  anderes 
funktionell  nicht  ersetzt  werden :  fehlen  einem  Kern 
bestimmte  Chromosomen,  so  schlägt  die  Entwick- 
lung der  zugehörigen  Zelle  pathologische  Bahnen 
ein.  Nun  hat  der  geschlechtlich  erzeugte  Organis- 
mus die  Hälfte  seiner  Chromosomen  vom  Vater, 
die  andere  von  der  Mutter  (das  normal  be- 
fruchtete Seeigelei  z.  B.  18  väterliche  und  18 
mütterliche  Cinomosomen).  Je  ein  solcher  voll- 
ständiger Chromosomensatz  allein  garantiert  nor- 
male Entwicklung,  wie  etwa  die  künstliche 
Parthenogenese  (Entwicklung  des  unbefruchteten 
Eies  mit  nur  18  mütterlichen  Chromosomen)  und 
die  Entwicklung  kernloser  Eibruchstücke  lehrt, 
wie  sie  von  Boveri  befruchtet  wurden  (nur  iS 
väterliche  Chromosome  in  mütterlichem  Plasma). 
Sobald  aber  in  einer  Zelle  einzelne  Chromosome 
überhaupt  nicht  vertreten  sind  (wenn  z.  B.  aus 
beiden  Chromosomenzätzen  das  erste  und  fünfte 
der  je  18  fehlen),  so  ist  dieser  Defekt  im  Laufe 
der  folgenden  normalen  Zweiteilungen  irreparabel; 
der  Keim  wird  infolgedessen  pathologisch.  — 
Derartige  abnorme  Chromosomenverteilungen 
können  nun  auf  drei  verschiedenen  Wegen  zu- 
stande kommen,  nämlich  erstens  durch  mehr- 
polige Kernteilungsfiguren:  Wenn  z.  B. 
im  doppeltbefruchteten  Seeigelei  das  überschüssige 
Spermatozoon  ein  zweites  Teilungsorganell  in  die 
Eizelle  eingeführt  hat;  oder  wenn  im  normal- 
befruchteten Ei  wie  auch  in  der  Gewebszelle  in- 
folge  äußerer  Reize    (Chinin,    Morphium,  Nikotin, 


Radiumstrahlen  u.  a.)  entweder  das  Teilungsorga- 
nell sich  verdoppelt,  oder  die  gerade  vorbereitete 
Teilung  des  Zellplasmas  unterdrückt  wird,  während 
Chromosomen  und  Teilungsorganell  sich  noch 
verdoppeln  können  (doppelwertige  Zelle),  so  muß 
in  allen  diesen  Fällen  die  folgende  Kernteilungs- 
figur mehrpolig  werden.  Da  sich  aber  die  Chro- 
mosomen zwischen  die  vorhandenen  (mindestens  3) 
Pole  wahllos  dem  Zufall  gehorchend  anordnen,  so 
resultieren  mit  Sicherheit  abnorme  Chromosomen- 
kombinationen. Denselben  Erfolg  haben  zweitens 
die  sogenannten  asymmetrischen  Kern- 
teilungen, bei  denen  einige  Chromosomen  die 
Teilungsfähigkeit  verloren  haben,  so  daß  mindestens 
eine  der  beiden  Tochterzellen  diese  Chromosomen 
nicht  erhält.  Wie  in  Baltzer's  Seeigelbastar- 
dierungen das  artfremde  Eiplasma  regelmäßig 
veranlaßt,  daß  vier  der  18  Spermachromosomen 
von  der  weiteren  Entwicklung  ausgeschlossen 
werden  und  im  Plasma  degenieren,  so  könnten  auch 
äußere  schädigende  Einwirkungen  auf  das  Plasma 
(Gifte,  Röntgen-,  Radiumstrahlen  usw.)  die  Teilungs- 
fähigkeit einzelner  Chromosomen  aufheben  und  somit 
auf  dem  Wege  asymmetrischer  Kernteilungen  zu 
abnormen  Chromosomenkombinationen  führen. 
Und  drittens  können  endlich  auch  in  der  ruhenden 
Zelle,  ganz  unabhängig  von  der  Zellteilung,  äußere 
Reize  die  Chromosomenkombiiiation,  wenig- 
stens funktionell  betrachtet,  verschieben,  indem 
sie  einzelne  Chromosomen  abtöten  oder  funktions- 
unfähig machen. 

In  allen  diesen  Phallen  also  entstehen  Zellen 
mit  defektem  Chromatinbestand,  und  der  Defekt 
bleibt  bei  etwa  darauffolgenden  Zellteilungen  dau- 
ernd erhalten.  Viele  der  möglichen  Kombinationen 
freilich  werden  nicht  lebensfähig  sein;  unter  den 
lebensfähigen  Chrosmosomenkombina- 
tionen  aber  —  und  dies  ist  der  vorläufig  freilich 
durchaus  hypothetische  Grundgedanke  Boveris 
—  könnnen  sich,  vielleicht  nur  in  geringer  Anzahl, 
auch  solche  finden,  bei  denen  der  die  Zell- 
vermehrung hemmende  Mechanismus 
aufgehoben  ist;  mag  er  nun  in  einem  einzelnen 
Chromosom  sitzen,  das  zufällig  gerade  ausgefallen 
ist,  oder  auf  dem  Zusammenwirken  mehrerer  Chro- 
mosomen beruhen,  von  denen  eines  oder  mehrere 
ausfielen  oder  funktionsunfähig  wurden  usw.  Eine 
solche  Gewebezelle  hat  die  Fähigkeit  der  unbe- 
grenzten Zellteilung  wieder  gewonnen;  so  wird 
sie  zur  Mutterzelle  einer  Geschwulst. 

Der  Anwendbarkeit  der  Theorie  auf  die  klinischen 
und  zellulären  Tatsachen  der  Geschwulstforschung 
ist  der  unfangreichere  Teil  der  Arbeit  gewidmet. 
Hier  können  nur  wenige  Punkte  mehr  oder  weniger 
willkürlich  hervorgehoben  werden. 

Bekanntlich  können  aus  demselben  Mutter- 
gewebe Geschwülste  sehr  verschiedener 
Natur  entstehen.  Wenn  nun  allein  die  Ver- 
doppelung sämtlicher  Chromosomen  (4  statt 
2  Chromosomensätze)  bei  Umotlicra  Planzen  mit 
Riesenwuchs  und  deutlich  verändertem  Habitus 
{Oe.  gigas)  hervorruft,  um  wieviel  stärker  muß  da 


N.  F.  XIII.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


639 


der  Ausfall  oder  die  Verdoppelung  einzelner 
Chromosomen  bei  mehrpoligen  oder  asymme- 
trischen Kernteilungen  den  Zellcharakter  verändern! 
Da  man  sich  nun  unter  den  sehr  vielen  möglichen 
Chromosomenkombinationen  wohl  mehr  als  eine 
lebensfähig  und  gleichzeitig  auch  unbegrenzt 
vermehrungsfähig  vorstellen  darf,  so  könnte  dann 
jede  dieser  Kombinationen  einem  besonderen  Ge- 
schwulsttypus entsprechen.  —  Erblichkeit  des 
Krebses  wäre  nur  in  indirektem  Sinne  denkbar. 
Vererbt  könnte  werden:  die  Disposition  des  die 
Geschwulst  umgebenden  Gewebes,  sich  leicht 
schädigen  zu  lassen ;  geringe  Resistenz  der  Zellen 
gegenüberäußerenEinwirkungen,diezu  mehrpoligen 
oder  asymmetrischem  Kernteilungsfiguren  führen; 
endlich  die  Schwäche  eines  einzelnen  Chromosoms 
(Funktions-  oder  Teilungsunfähigkeit).  Die  beiden 
zuletzt  genannten  Schwächen  könnten  vielleicht 
gelegentlich  erst  im  Alter  sich  bemerkbar  machen; 
eine  Analogie  bieten  nach  Boveri  alte  Seeigeleier, 
die  tatsächlich  den  Mitteln  zur  Erzeugung  abnormer 
Kernteilungen  weniger  Widerstand  entgegensetzen 
als  jüngere  Eier.  Die  angewandten  Reize  waren  hier 
mechanische  (Schütteln),  thermische  und  chemische; 
genau  die  gleichen  Reize  aber  sind  in  der  Ätiologie 
der  bösartigen  Geschwülste  bekannt  genug,  sowohl 
bei  vorübergehendem  wie  chronischem  Auftreten 
(mechanische  Reizung :  Hautkrebs  der  indischen 
Rinder  an  der  Basis  des  rechten  Hornes,  an  dem 
sie  angeschirrt  werden;  Temperatur:  Speiseröhren- 
krebs der  chinesischen  Männer,  die  im  Gegensatz 
zu  den  Frauen  den  Reis  möglichst  heiß  essen; 
chemische  Reizung:  Krebs  der  Pfeifenraucher, 
Paraffinarbeiterkrebs  usw.).  Ähnlich  diesen  chro- 
nischen Reizen  müssen  die  in  so  großer  Zahl  be- 
schriebenen „Erreger"  (Bakterien,  Protozoen,  Pilze, 
Nematoden,  Milben)  wirken,  indem  sie  giftige 
Stoffe  abscheiden  und  dadurch  das  Gewebe  zu 
abnormen  Kernteilungen  reizen.  Gegen  eine 
direkte  Wirkung  der  „Erreger"  spricht  die  stets 
angegebene  Parasitenfreiheit  der  sog.  Metastasen. 
Auch  wenn  im  Gefolge  einer  Geschwulst  weitere 
auftreten,  liegen  die  Verhältnisse  ähnlich:  die 
Ausscheidungen  der  ersten  Geschwulst  wirkten  als 
chronischer  Reiz  auf  das  übrige  Gewebe.  — 

Besonders  gewichtig  erscheint  die  Tatsache, 
daß  bösartige  Geschwülste  diejenigen  Organe  am 
häufigsten  heimsuchen ,  in  denen  die  meisten 
Zellteilungen  angetroffen  werden.  Auch  das 
„Kapriziöse",  Unberechenbare  im  Auftreten  der 
Geschwülste  spricht  für  solche  Erklärungen  wie 
die  von  Boveri,  wo  dem  Zufall  eine  möglichst 
große  Rolle  zuerteilt  wird.  —  Endlich  sei  an  die 
Versuche  von  O.  Hertwig  erinnert,  wonach 
Radiumstrahlen  ausschließlich  die  Kerne,  nicht 
aber  das  Plasma  schädigen.  Wenn  nun  Radium- 
wie  auch  Röntgenstrahlen  den  Krebs  sowohl  heilen 
wie  auch  hervorrufen  können,  so  kann  demnach 
beides  nur  auf  Schädigungen  der  Zellkerne  be- 
ruhen: kranke  Zellen  sind  empfindlicher  als*  ge- 
sunde; so  werden  die  kranken  Zellen  bei  kurzer 
Bestrahlung   allein   abgetötet   (Heilung),    während 


bei  längerer  Bestrahlung  außerdem  gesunde  Zellen 
erkranken. 

Da  endlich  die  in  Geschwülsten  bisher  be- 
obachteten Chromosomenzahlen  und  Kerngrößen 
der  Theorie  günstig  sind  und  auch  aus  den  Angaben 
über  direkte  Kernteilung  sich  keine  Schwierigkeiten 
ergeben,  so  erscheint  die  Theorie  Boveris  als 
eine  fruchtbare  Arbeitshypothese,  um  so  mehr  als 
der  Verf  eine  Anzahl  gangbarer  Wege  angibt, 
auf  welchen   sie    weiterhin    geprüft   werden    kann. 

Koehler. 

Kassowitz,  Max,  weil. a. O.Professor a.  d.  Universität 
Wien:  Gesammelte  Abhandlungen.  In 
Verbindung  mit  Anderen  herausgegeben  von 
Dr.  Julie  Kassowitz-Schale.  Springer,  Berlin,  1914. 
Die  gesammelten  Abhandlungen  eines  Mannes, 
der  unter  den  Physiologen  und  Philosophen  durch 
sein  Lehrbuch  der  allgemeinen  Biologie  eine  her- 
vorragende Stelle  einnimmt,  dürfen  auf  das 
Interesse  aller  gebildeten  Ärzte,  Naturforscher  und 
Laien  rechnen.  Auch  die  letzteren  werden  in  dem 
Abschnitt  „Die  Erkenntnis  der  Lebenserscheinungen 
im  Lichte  einer  neuen  Theorie",  der  16  Aufsätze 
enthält,  auf  ihre  Rechnung  kommen ;  die  mehr 
ärztliches  Interesse  beanspruchenden  Abschnitte 
handeln  von  der  Theorie  und  Therapie  derRhachitis, 
der  Heilserumsfrage,  von  verschiedenen  Gebieten 
der  Kinderheilkunde  und  von  der  Alkoholfrage. 
In  allen  diesen  Gebieten  bedient  sich  der 
Forscher  als  Grundlage  seiner  Anschauung  von 
der  metabolischen  Natur  des  Stoff- 
wechsels. Es  darf  als  sein  unsterbliches  Verdienst 
angesehen  werden,  diese  Anschauung  nicht  nur 
im  Lichte  einzelner  Nutzanwendungen,  sondern 
in  einem  ganzen  System  gezeigt  zu  haben.  Wer 
den  klassisch  abgeklärten  Stil  und  Inhalt  der  letzten 
Abschnitte  des  letzten  Teils  seiner  „Allgemeinen 
Biologie"  über  Nerven  und  Seele,  besonders  die 
Stücke  über  „Bewußtsein",  über  die  Seelentheorien 
sowie  über  „Vitalismus  und  Teleologie"  gelesen 
hat,  wird  mit  gleichem  Genuß  diese  gesammelten 
Abhandlungen  lesen. 

Der  Grundgedanke  seiner  metabolischen  Theorie 
ist  der,  daß  die  Nahrungsstoffe  „nicht  unter  dem 
Einfluß  des  Protoj)lasmas  zersetzt  und  verbrannt 
werden  können,  ohne  vorher  zum  Aufbau  dieses 
Protoplasmas  verwendet  worden  zu  sein."  Die 
Nahrungsstoffe  werden  „nicht  unter  dem  bloßen 
„Einfluß",  sondern  durch  das  Zwischenglied  des 
lebenden  Protoplasmas  zersetzt";  „dieses  hat  also 
die  Moleküle  der  Nahrungsstoffe  nicht  durch  die 
Schwingungen  seiner  eigenen  Moleküle  zerklopft 
oder  in  anderer  mysteriöser  Weise  zerstört,  sondern 
es  hat  sie  dadurch  in  Auswurfstoffe  verwandelt, 
daß  es  sie  zu  seinem  Aufbau  benutzte  und  die 
Auswurfstoffe  bei  seinem  Zerfall  von  sich  gab". 
Kassowitz  will  den  Stoffwechsel,  der  im  Aufbau 
und  Reizzerfall  der  lebenden  Substanz  besteht,  als 
Metabolismus  bezeichnet  wissen. 

Diese  Anschauung  hat  sich  nicht  nur  für  die 
prinzipielle    Auffassung   vom    Wesen    der   Mu.skel- 


640 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.   40 


kontraktion,  der  Drüsensekretion,  des  Wachstums 
und  des  Nervcnleitungsvorgangesalsaußerordentlicli 
fruchtbar  erwiesen,  sondern  sie  zeigt  dem  Fachmann 
besonders  die  psychophysische  Relation  in  einem 
neuen  Lichte.  Das  Kasso  w  i  tz'sche  System 
hat  aber  noch  weitere  Wirkungen:  es  gibt  einen 
Untergrund  für  die  Behandlung  aller  aktuellen 
Weltanschauungsfragen  und  Entwickclungshypo- 
thesen,  der  gar  nicht  zu  entbehren  ist.  Besonders 
verdient  hervorgehoben  zu  werden,  daß  sich  der 
Forscher  auf  Grund  einer  geradezu  encyklopädischen 
Belesenheit  mit  den  bestehenden  Lehranschauungen 
auseinandersetzt,  sowohl  mit  den  Physiologen  und 
Klinikern,  als  auch  mit  den  Naturforschern  und 
Theoretikern  der  spekulativen  Richtung.  Die 
letzten  Kapitel  seiner  „allgemeinen  Biologie",  auf 
die  seine  gesammelten  Abhandlungen  wiederholt 
Bezug  nehmen,  sind  wie  letzte  VVahrheiten  und 
schließen  ein  großartiges  System  ab,  das  man 
ganz  kennen  muß,  um  seine  Teile  zu  verstehen. 
—  Ich  glaube,  daß  Kassowitz  einmal  zu  den 
Großen  seiner  Zeit  gc/.ählt  werden  wird,  in  gleicher 
Weise  von  Klinik,  Naturwissenschaft  und  Philosophie. 
Th.  Hocpfner-Eisenach. 

M.  Geitel,  Schöpfungen  der  Ingenieurtechnik 
der  Neuzeit.  Aus  Natur  und  Geisteswelt, 
Band  28,  106  Seiten.  Verlag  von  B.  G.  Teubncr 
in  Leipzig.  —  Preis  1,25  Mk. 
Das  lesenswerte  kleine  Buch  bringt  eine  all- 
gemein verständliche  und  trotz  seines  geringen 
Umfanges  gründliche  Darstellung  einer  Reihe  von 
technischer  Höchstleistungen,  die  geschickt  aus 
der  großen  Fülle  des  Stoffes  ausgewählt  sind. 
Folgende  Gebiete  werden  behandelt:  i.  Eiserne 
Brücken  und  Hoclibauten,  2.  Tunnelbauten,  3.  Kanal- 
bauten, 4.  Steindämme,  Talsperren  und  elektrische 
Überlandzentralen,  5.  Pilektrische  F^ernbahnen, 
6.  Hoch  und  Untergrundbahnen,  7.  Drahtlose  Tele- 
graphie,  8.  Moderne  Riesendampfschiffe,  9.  Lenk- 
bare Luftschiffe  und  Flugapparate.  Eine  große 
Zahl  guter  Abbildungen  illustriert  die  Worte 
des  Textes.  Wegen  des  umfangreichen  Zahlen- 
materials wird  das  Buch  auch  dem  I-'achmanu  eine 
willkommene  Lektüre  sein.  K.  Seh. 


Plassmann,  Pohle,  Kreichgauer  und  Waagen, 
Himmel  und  Erde.  AUg.  Verlagsanstalt 
Berlin,  München,  Wien,  Volksausgabe  in  40  Liefe- 
rungen. —  Preis  24  Mk. 


Das  Werk,  von  dem  15  Lieferungen  vorliegen, 
bespricht  im  ersten  Teil  die  Astronomie.  Das 
große  Gebiet  ist  unter  mehrere  Bearbeiter  verteilt, 
so  daß  wir  hier  außer  Plassmann  und  Kreich- 
gauer vor  allem  in  Berberich  den  berufensten 
Darsteller  des  verwickelten  Gebietes  der  kleinen 
Planeten  und  der  Kometen  finden.  Der  zweite 
Teil  wird  die  Erde  behandeln,  Geologie,  Minera- 
logie, Paläontologie  und  Meteorologie  aus  der  P'eder 
mehrerer  namhafter  Gelehrter,  wie  van  Bebber 
von  der  deutschen  Seewarte  in  Hamburg.  Der 
Inhalt  ist  sorgfältig  durchgearbeitet,  bis  in  die 
Gegenwart  fortgeführt,  und  sehr  zahlreiche  aus- 
gezeichnete Abbildungen  und  Zeichnungen  kommen 
der  Darstellung  zu  Hilfe.  Ein  abschließendes  Urteil 
müssen  wir  bis  zum  Erscheinen  des  Ganzen  auf- 
schieben. Riem. 

Literatur. 

Van  in  o,  Prof.  Dr.  Ludwig,  Handbuch  der  prJiparaliven 
Chemie.  Ein  Hilfsbuch  für  das  Arbeiten  im  chemischen 
Laboratorium.  Unter  Mitwirkung  verschiedener  Fachgenossen 
herausgegeben.  IL  Band:  Organischer  Teil.  Mit  26  Text- 
abbild.    Stuttgart  '14.     Ferd.   Enke.     iS  Mk. 

Harros,  Privatdozent  Dr.  W.,  Experimentelle  Unter- 
suchungen über  die  innere  Sekretion  der  Keimdrüsen  und 
deren  Beziehung  zum  Gesamtorganismus.  Mit  126  Textabbild, 
und   2  Tafeln.     Jena   '14.      G.   Fischer.      12  Mk. 

Boveri,  Th.,  Über  die  Charaktere  von  l'lchiniden-Bastard- 
larven  bei  verschiedenem  Mengenverhältnis  mütterlicher  und 
väterlicher  Substanzen.  Aus  den  Verhandlungen  der  Phys.- 
Med.  Gesellschaft  zu  Würzburg  N.  F.  Bd.  XLIÜ.  Würzburg 
'14.     C.  Kabitsch.     0,80  Mk. 

Jennings,  H.  S.,  Die  niederen  Organismen,  ihre  Reiz- 
physiologic  und  Psychologie.  Autorisierte  Übersetzung  von 
Prof.  Dr.  Ernst  Mangold.  Wohlfiile  Ausgabe  des  Werkes: 
Das  Verhalten  der  niederen  Organismen  unter  natürlichen 
und  experimentellen  Bedingungen.  Mit  144  Textfig.  Leipzig 
und  Berlin  '14.     B.  G.   Teubner.     Geb.  6  Mk. 

Brücke,  Prof.  Dr.  Th.  v.,  Der  Säugctierorganisraus  und 
seine  Leistungen.  22.  und  23.  Band  der  „Bücher  der  Natur- 
wissenschaften, herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Siegmund  Günther, 
2  Teile.  Mit  4  bunten  u.  49  Zeichnungen  im  Text.  Leipzig, 
Philipp  Rcclam.     Geb.   1,75  Mk. 

Loeb,  J.,  La  conception  mecanique  de  la  vie.  Traduit 
de  l'anglais  par  H.  Mouton.  Avec  58  figures  dans  le  texte. 
Paris  '14.     F.  Alcan.     3,50  Fr. 

Dubois,  Prof.  Dr.  Raphael,  La  vie  et  la  lumiere. 
Biophotogenuse  ou  production  de  la  lumiere  par  les  itres 
vivants.  Action  de  la  lumiere  visible,  des  radiation  ultra-vio- 
Icltes,  infra-rouges,  fluorescentes,  des  rayons  X,  du  radium 
et  des  ondcs  hertziennes  sur  les  animaux  et  sur  les  vegetaux. 
Photographie.  Avec  48  figures  dans  la  texte.  Paris  '14  F. 
Alcan.     6   Fr. 

Schiel,  M.,  Praxis  der  Landschafts-Photographie  Mit 
32  Tafeln.  Leipzig.  Ed.  Liesegangs  Verlag  M.  Eger.  Geb. 
4,50  Mk. 


Inhalt:  Storch:  Die  modernen  Heringsforschungen.  —  Einzelberichte:  Tandler  und  Groß:  Die  biologischen  Grund- 
lagen der  sekundären  Geschlcchtscharaktere.  Combault:  Über  Atmung  und  Kreislauf  des  Regenwurms.  Küster, 
Cohendy  und  Wollmann:  Bakterienfreie  Tiere.  Behnken:  Verwendung  der  lichteleklrischen  Zelle  als  Empfangs- 
instrument für  dralitlose  Telegraphie.  Keilhack:  Über  tropische  und  subtropische  Flach-  und  Hochmoore  auf  Ceylon. 
Lakon:  Beobachtungen  über  Protoplasmaströmung  in  PHanzenzellen.  Lely  und  Hamburger:  Über  die  Darstellung 
der  Elemente  Thorium,  Uranium,  Zirkon  und  Titan.  —  Kleinere  Mitteilungen:  Riem:  Eine  Beobachtung  des  grünen 
Strahles.  Brock meier:  Mit  dem  Hochwasser  wandernde  Schmetterlingspuppen.  Wie  dick  sind  die  Wolken?  — 
Bücherbesprechungen:  Volterra:  Drei  Vorlesungen  über  neuere  Fortschritte  der  mathematischen  Physik.  Boveri: 
Zur  Frage  der  Entstehung  maligner  Tumoren.  Kassowitz:  Gesammelte  Abhandlungen.  Geitel:  Schöpfungen  der 
Ingcnieurlechnik  der  Neuzeit.  Plassmann,  Pohle,  Kreichgauer  und  Waagen:  Himmel  und  Erde.  —  Lite- 
ratur :   Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.Mi  ehe  in  Leipzig,  Marienstraöe   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band. 


Sonntag,  den  ii.  Oktober  1914. 


Nummer  41. 


Die  Ente,  ihre  Nutzung 

[Nachdruck  verboten.]  Von    R.    Mel 

Hühner,  Enten  und  Gänse  züchten  die  Chinesen 
seit  alters  her,  die  Zucht  der  Tauben  scheint  viel 
jüngeren  Datums.  Die  Zucht  der  Gänse  ist  in 
der  mir  bekannten  Provinz  Kuangtung  wenig  ver- 
breitet, größere  Gänseherden  sah  ich  nur  im  S 
und  SW  der  Provinz,  in  den  Küstendistrikten  von 
Yeungkong  an  nach  Westen.  Ganz  allgemein 
ist  die  Zucht  von  Huhn  und  Ente.  Die  Hausente 
in  Kuangtung  scheint  ein  Abkömmling  einer 
kleinen  sehr  häufigen  Wildentenart,  deren  wissen- 
schaftlichen Namen  ich  noch  nicht  kenne. 

Enteneier. 
Sie  sind  trotz  ihrer  Größe  billiger  als  Hühner- 
eier, weil  sie  als  weniger  schmackhaft  gelten.  Ein 
Hauptmarkt  für  Eier  ist  in  Canton  die  Mak-lan- 
gai.  Die  in  den  Handel  kommenden  Eier  werden 
folgendermaßen  geprüft :  ein  Geselle  nimmt  in 
jede  Hand  zwei  Eier  und  stößt  mit  ausgestreckten 
Armen  die  Eier  der  einen  Hand  an  die  der  an- 
deren. Am  Klange  erkennt  er,  ob  die  Schalen 
gebrochen  sind.  —  Ob  die  Eier  noch  gut  —  weder 
verfault  noch  angebrütet  —  sind,  wird  untersucht, 
indem  jedes  Ei  gegen  das  Helle  gehalten  und 
durch  die  hohle  andere  Hand  betrachtet  wird. 
An  jeder  Straßenecke  sieht  man  die  Kleinhändler 
ihre  Ware  jeden  Morgen  in  dieser  Weise  prüfen, 
sowohl  Enten-  wie  Hühnereier. 

Eier  als  Nahrung. 
Rohe  Eier  zu  essen ,  bzw.  zu  trinken,  war  m. 
W.  bisher  in  China  nicht  Sitte.  Auch  weichge- 
kochte Eier  werden  selten  genossen.  Hartgekochte 
Eier  sind  ein  gewöhnliches  Geschenk  bei  Geburt 
von  Kindern  an  die  Mutter,  auch  später  am  Ge- 
burtstage der  Kinder  an  die  Kinder  selbst.  Diese 
Geschenkeier  werden  oft  bunt  —  in  den  meisten 
Fällen  mit  der  Glücksfarbe  rot  —  gefärbt.  In 
ähnlicher  Art  wie  „Spiegeleier"  zubereitet  trifft 
man  sie  auf  dem  chinesischen  Tische  nicht  selten, 
ebenso  als  „Rührei"  aber  statt  mit  Schinken  mit 
Kohl  gemischt.  In  großer  Zahl  werden  Enten- 
eier als  Salz-  und  Krusteneier  konsumiert. 

S  a  1  z  e  i  e  r. 
Die  geprüften  und  für  gut  befundenen  Eier 
werden  in  eine  Mischung  von  rotem  Ton  oder 
Reisstrohasche  und  Salzwasser  gelegt.  .  Der  rote 
Ton  gilt  als  salzreich ,  nach  chinesischer  Angabe 
soll  er  bis  70  "/„  Salz  enthalten  (!),  man  mengt 
deshalb  diesen  Ton  nur  mit  einer  ganz  schwachen 
Reisstrohasche  oder  auch  Ruß,  dagegen  mit  einer 
starken  Salzwasserlösung  und  legt  die  bestrichenen 
Eier  irgend  wohin,  in  einen  Schrank,  ein  Holz- 
oder Tongefäß  und  läßt  sie  hier  liegen;  sie  blei- 


und  Wertung  in  China. 

1  in  Canton. 

ben  so  mindestens  14  Tage,  eine  längere  Ruhe- 
zeit verbessert  ihren  Geschmack  und  erhöht  ihren 
Preis.  Die  Salzeier  von  Canton  gelten  als  gut, 
die  von  Fat-shan  als  die  besten  der  Provinz,  es 
wird  ihnen  nachgerühmt:  sie  schmecken  salzig 
und  duften.  Salzeier  werden  gekocht  und  mit 
Reis  gegessen,  in  die  Suppe  geschnitten  oder  mit 
Schweinefleisch  gedämpft.  Sie  gelten  als  gesunde 
Speise    und    werden    deshalb  Kranken  empfohlen. 

Krusteneier. 

In  der  einfachsten  Weise  der  Behandlung  wird 
Reisasche  mit  Kalk  oder  Erde  oder  auch  mit 
Reisspreu  gemischt  und  dann  mit  Wasser  ver- 
mengt, die  Eier  hinein  gelegt  und  wenigstens  drei 
Wochen  darin  gelassen. 

Mit  größerer  Sorgfalt  wird  gute  Qualität  be- 
handelt. Man  nimmt  duftende  Blätter,  etwa  Ge- 
müsearten wie  Apium,  Perilla,  auch  Bambusblätter 
oder  Kiefernadeln  und  kocht  sie  in  einigen  Litern 
(sing)  Wasser.  Der  Zweck  ist,  das  Wasser  aro- 
matisch zu  machen.  Mit  solchem  lauwarmem 
Wasser  werden  die  Eier  sorgsam  gewaschen,  even- 
tuell werden  sie  auch  einige  Stunden  in  den  Be- 
hälter mit  dem  »Höng^-söi^^«  („Duftwasser")  ge- 
legt. Dann  wird  eine  Art  Teig  gemacht.  Für 
100  Eier  nimmt  man  lo  Gann  Salz,  5  Gann  pul- 
verisierte Holzasche,  i  Gann  Kalk  und  einige 
Liter  des  aromatischen  Wassers.  Der  Teig  wird 
in  irdene  Kübel  geschüttet  und  die  Eier  sofort 
hinein  gebettet.  Nach  drei,  sechs  und  neun  Tagen 
—  also  dreimal  nach  je  drei  Tagen  vom  Einlegen 
an  —  werden  sie  nochmals  herausgenommen,  der 
Brei  umgerührt  und  die  Eier  wieder  hinein  ge- 
bracht. Darauf  wird  das  Gefäß  mit  einem  End- 
brei luftdicht  verschlossen  und  30  Tage  so  ge- 
halten.    Dann  ist  die  Präparation  vollendet. 

Es  haben  sich  in  den  verschiedenen  Gegenden 
verschiedene  Behandlungsweisen  herausgebildet. 
Eine  andere  mir  bekannte  Art  ist  folgende:  man 
nimmt  4  Gann  ')  Bohea-Teeblätter  und  kocht  sie 
in  Ouellwasser  gut.  Das  Wasser  (==  Tee)  wird 
dann  abgegossen  und  gemischt  mit  3  gewöhn- 
lichen Schalen'-)  Kalk,  7  Schalen  pulverisierter 
Holzasche,  10  Gann  Salz.  Mit  dieser  Mischung 
werden  die  Eier  dick  beschmiert  und  in  die  oben 
erwähnten  irdenen  und  gebrannten  Kübel  gebracht. 
Damit  die  Eier  nicht  zusammenkleben,  werden 
sie  in  Holzasche  gebettet  und  die  Behälter  für 
40  Tage  luftdicht  verschlossen.  Es  gilt  dasselbe 
wie    für   die  Salzeier:    „je    länger   die  Eier  liegen, 


')   I   Gann  =;  600  g. 

-)  Eine  solche  Schale  ist  gleich  einer  3  cm  tiefen  Unter- 
tasse von  mittlerer  Größe. 


642 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  41 


desto  besser  werden  sie.  Gute  Eier  sind  glatt, 
spröde,  durchscheinend;  die  besten  sind  fünffarbig" 
(grünlich-gelblich- wasserfarbig-bläulich- rötlich).  Sie 
brauchen  nicht  gekocht  zu  werden  und  werden 
nach  Abbrechen  der  Schale  „roh"  als  Zutat  zum 
Reis  oder  als  Vorspeise  oder  auch  Nachtisch 
beim  Branntweintrinken  gegessen. 

Es  erübrigt  sich,  hinzuzufügen,  daß  die  von 
Europäern  nicht  selten  gebrauchte  Bezeichnung 
„faule  Eier"  für  Krusteneier  ganz  unzutreffend  ist. 
Durch  Waschen  werden  die  Eier  gereinigt,  durch 
den  starken  Salzgehalt  der  Kruste  desinfiziert, 
durch  die  dicke  Lage  von  Erdbrei  und  den  luft- 
dichten Abschluß  des  Aufbewahrungsgefäßes  wird 
die  Luftzufuhr  unterbunden,  bzw.  auf  ein  Minimum 
reduziert.  Eine  Fäulnis  der  Eier  kann  also  nicht 
eintreten.  Eine  andere  chemische  Umsetzung  im 
Ei  findet  ohne  Zweifel  statt,  aber  das  geschieht 
—  wenn  auch  in  geringem  iVIaße  —  bei  den  in 
modernen  europäischen  Betrieben  in  Wasserglas 
aufbewahrten  Eiern  auch.  Die  Krusteneier  sind 
für  den  europäischen  Gaumen  geschmacklos;  eine 
Art  Gelee  aus  den  Eiern,  im  Aussehen  und  Zu- 
stand an  Spinat  erinnernd ,  ist  dagegen  recht  an- 
genehm und  pikant.  In  Canton  gelten  die  von 
Schanghai  kommenden  Krusteneier  als  die  besten. 

Künstliche    Aufzucht     von     Enteneiern. 
Verbreitung  dieser  Kenntnis. 

Kemmerich  sagt  in  seinen  ,,Kulturkuriosa" 
(Bd.  2,  p.  S):  „Die  künstliche  Bebrütung  von 
Eiern  der  Gänse,  Enten  und  Hühner,  die  nach 
1829  dem  hVanzosen  Copineau  trotz  vieler 
Versuche  nicht  glücken  wollte,  war  bereits  den 
alten  Ägyptern  geläufig.  Und  zwar  legten  sie  die 
Eier  in  Kammern  aus  Lehm ,  die  mittels  großer, 
aus  Ziegelsteinen  zusammengesetzter  und  in  die 
Erde  hinein  gebauter  Ofen  täglich  3 — 4  Stunden 
geheizt  wurden.  Die  Eier  lagen  auf  .Stroh  und 
wurden  alle  6  Stunden  umgewendet,  nach  10  Tagen 
untersucht  und  die  gut  befundenen  in  eine  höhere, 
wärmere  Abteilung  desselben  Gemachs  gelegt. 
Die  Temperatur  wurde  natürlich  nur  nach  dem 
Gefühl  abgeschätzt  und  nach  Bedarf  durch  Offnen 
von  Luftzügen  vermindert  (Aristoteles  hist.  anim. 
VI,  2,  3  und  Diodor.  I,  74)." 

Auch  in  China  wird  die  künstliche  Bebrütung 
von  Enteneiern  schon  lange  betrieben,  und  es 
scheint  mir  das  nicht  unbeachtlich.  Die  Ägypter 
besaßen  eine  Bilderschrift,  die  chinesische  war 
auch  anfangs  eine  solche  und  hat  sich  später  zur 
Zeichenschrift  entwickelt.  Die  ältesten  religiösen 
Vorstellungen  in  beiden  Ländern  knüpfen  an 
Himmel  und  Gestirne  an  und  .Sterndeutung  spielt 
eine  beachtliche  Rolle.  Reihen  von  Felsengräbern 
mit  sorgfältig  ausgehauenen  Grabkammern  finden 
sich  in  Setzschuan  und  erinnern  an  die  ägyptische 
Bestattungsart.  Auch  Mumien  finden  sich  ver- 
einzelt in  China,  mir  sind  zwei  solche  aus  der 
Provinz  Kuantung  bekannt.  Die  Herstellung  von 
Papier  aus  Pflanzenstoffen  ist  in  beiden  Ländern 
seit  langem  geübt.    Auch  die  künstliche  Bebrütung 


von  Eiern  ist  ein  Typikum  für  diese  beiden  Län- 
der. Es  ergibt  sich  so  eine  Ähnlichkeit  im  Kultur- 
gut beider  Völker,  die  dem  Gedanken  an  eine 
sehr  frühe  Verbindung  beider  über  Babylonien- 
Assyrien  Nahrung  gibt. ') 

Es  ist  in  Europa  jedem  Bauern  bekannt,  daß 
Enten  schlecht  brüten  und  Enteneier  werden  des- 
halb meist  Hühnern  untergelegt.  Auch  der  chine- 
sische Bauer  sagt:  „Hühner  und  Gänse  brüten, 
Enten  nicht."  Ähnlich  wie  in  Europa  werden 
deshalb  auch  hier  in  China  Hühner  zum  Bebrüten 
der  Enteneier  benutzt.  Die  Ausbrütung  der  Enten- 
eier durch  künstliche  Wärme  ist  wie  fast  alle  Ge- 
werbe recht  lokalisiert.  In  der  Nähe  von  Canton 
wird  sie  in  großem  Maße  nur  in  dem  kleinen 
Dorfe  Ng-an-kiu    (Fünf-augen-brücke)  betrieben.'") 

Behandlung  der  Eier  bei  der  künst- 
lichen Bebrütung. 

Die  Eier  werden  nach  ,,Lo^"  gekauft,  ein  Lo 
sind  606  Stück,  ein  Stück  kostet  im  Einkaufe 
etwa  2  Cent,  i  Lo  also  etwa  10 — 12  $  (etwa 
20  Mk.).  Die  Eier  werden  gezählt  und  geprüft, 
entweder  in  der  oben  erwähnten  Weise  oder  auch 
mit  einer  Hand :  man  nimmt  drei  Stück  in  eine 
Handfläche  und  stößt  sie  gegeneinander;  die, 
welche  voll  klingen,  sind  gut.  Die  anderen  wer- 
den zurückgelegt  und  wieder  verkauft.  Ein  Lo 
von  ihnen  erzielt  etwa  ■*/-,  des  Preises  der  brütbaren, 
entwicklungsfähigen  Eier. 

Der  chinesische  Name  für  die  Eierbrutanstalt 
ist  GalT-ap^ä^-miu^  (=  Hühner-Enten-Tempel).  Ich 
besuchte  am  3.  Mai  1914  mehrere  solcher  Ge- 
bäude. Im  Vorderraum  hinter  der  Eingangstür 
standen  auf  ebener  Erde  und  ziemlich  kühl  viele 
Körbe  gefüllt  mit  den  gezählten  und  geprüften, 
aber  noch  nicht  bebrüteten  Eiern.  In  anderen 
Körben  daneben  waren  die  mit  Tusche  gezeich- 
neten, nicht  brütbaren.  Es  scheint  mir  auffallend, 
daß  die  Eier  mindestens  einen  ganzen  Tag,  in 
vielen  Phallen  aber  länger  liegen,  ehe  sie  in  den 
Brutraum  kommen  oder  überhaupt  gewärmt  wer- 
den. Die  eigentlichen  Bruträume  im  Hinterteil 
des  Gebäudes  sind  durch  eine  automatisch  schlie- 
ßende Holztür  abgetrennt. 

Die  Eier  kommen  zuerst  in  das  Brutbett  (pui- 
tsong).  Das  ist  ein  gemauerter  Schacht,  ähnlich 
dem  Grundteil  eines  großen,  viereckigen  P'abrik- 
Schornsteins  von  etwa  1,60  m  Seitenlänge  und 
2,50  m  Höhe.  An  einer  Seite  ist  die  Holztür,  an 
der  anderen  stehen  gegen  0,25  m  breite  und 
raumhohe  Bambusgestelle.  Auf  ihre  Fächer  aus 
Bambusgeflecht  werden  die  Eier  gelegt.  Unten 
auf  dem  Boden  stehen  kleine,  runde,  20  cm  d 
haltende  Ofen  aus  gebranntem  Ton  mit  durch- 
lochtem  Messingdeckel,  darin  glimmt  Holzkohle. 
Der    Raum    ist    ohne    Licht,     ein    quadratischer 


')  Es  sei  hier  nebenbei  erwähnt,  daß  auch  in  China  eine 
gelbbraune  Katze  nicht  selten  gezüchtet  wird,  die  der  in  W'est- 
asien  und  Nordostafrika  heimischen  Stammrauttcr  der  Haus- 
Isatze,  Felis  maniculata,  recht  ähnlich  ist. 

^)  Eine  kleine  Stunde  südwestlich   von  Canton. 


N.  F.  XIII.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


643 


(ca.  0,40  m)  aufklappbarer  Holzladen  über  der  Tür 
dient  zur  Wärmeregulierung.  Im  „Hrutbett"  blei- 
ben die  Eier  24  Stunden.  Die  Wärme  in  ihm 
prüft  man,  indem  man  die  Eier  an  die  Backe 
hält. 

Am  zweiten  Tage  kommen  die  Eier  in  den 
„Brutraum"  (Pui-fong).  Dieser  ist,  um  die  Sonnen- 
wärme auszunützen,  unter  Dach.  Ist  es  kühl,  so 
wird  er  durch  dieselben  kleinen  Tonöfchen  wie 
das  Brutbett  geheizt.  Von  Anfang  Mai  oder  Ende 
April  an  geschieht  das  nicht  mehr,  weil  die  Luft- 
temperatur unter  dem  Dache  ausreicht.  Auch 
gebraucht  man  im  Sommer  zuweilen  die  direkte 
Sonnenstrahlung  im  Hofe,  um  lange  genug  ange- 
brütete Eier  zum  Schlüpfen  zu  bringen.  Im  Brut- 
raum stehen  auf  kurzen  I-^üßen  deckellose  Kisten, 
der  Größe  des  Raumes  entsprechend  von  ver- 
schiedener Länge.  Sie  sind  etwas  höher  als  die 
darin  stehenden  „Entenkörbe"  (Ngaplo)  und  so 
breit,  daß  eine  Reihe  oder  zwei  Reihen  der  Körbe 
bequem  nebeneinander  stehen  können.  Der  Boden 
von  Kiste  und  Körben  ist  mit  einer  Schicht  Reis- 
spreu bedeckt,  auch  der  Raum  zwischen  den  Kör- 
ben ist  bis  zum  Rande  von  Korb  und  Kiste  mit 
der  Spreu  ausgefüllt.  Die  „Entenkörbe"  sind  drei 
chinesische  Fuß  (=  1,08  m)  hoch,  rund,  mit  einem 
d  von  I  Fuß  4—6  Zoll  (>==  50—58  cm).  Sie  sind 
aus  Bambusgeflecht  und  innen  mit  dickem  Papier 
(Bambuspapier)  ausgekleidet.  Etwa  40  Eier  wer- 
den auf  ein  Tuch  aus  Hanf)  gelegt,  ein  solches 
Bündel  heißt  Kuah^.  Etwa  fünf  bis  sechs  (je  nach 
Bedarf)  solcher  Kuah  schichtet  man  in  die  Enten- 
körbe. Auf  die  Korböffnung  wird  ein  gegen  2  — 
3  cm  dickes  Tuch  gelegt.  Ich  hielt  es  für  Watte, 
die  Chinesen  sagten,  es  sei  aus  Hanfwurzeln  und 
nannten  es  auch  demgemäß  Ma^-gänT-tsi^«  = 
„Hanfwurzelpapier".  Auch  mit  dem  blumigen 
Namen  „Entchenhülle"  wird  es  bezeichnet.  Diese 
Art  der  Bebrütung  wird  von  den  Züchtern  in 
Kuang-tung  als  die  Tung-kunMethode  bezeichnet 
(Tung-kun  ^=  Stadt,  nicht  weit  östlich  von  Canton, 
am  Ostfluß). 

Sind  die  Bruträumlichkeiten  beschränkt,  so 
wendet  man  die  Siu-hing-Methode  an  (Siu-hing 
=  Präfekturstadt  der  Provinz  Kuangtung  am  West- 
fluß). Bei  dieser  Art  fallen  die  großen  Kisten 
weg,  statt  der  Körbe  nimmt  man  Fässer  von 
gleicher  Größe,  die  frei  auf  dem  Dachboden 
stehen.  Diese  Fässer  haben  doppelte  Wände,  die 
Außenwand  ist  mäßig  dickes  Holz,  die  Innenwand 
ist  Bambusgeflecht,  der  ca.  6  cm  breite  Zwischen- 
raum zwischen  beiden  Wänden  ist  mit  dem  grauer 
Watte  ähnlichen  Hanfwurzelgewebe  ausgefüllt. 
Die  Eier  liegen  in  dünnen,  weitmaschigen  Netzen. 

Im  Winter  erhitzt  man  Reiskörner,  packt  sie 
in  ein  Tuch  -)  und  legt  in  Körbe  oder  Fässer 
abwechselnd  eine  Schicht  Eier  und  eine  Schicht 
Körner.     Im   Sommer,    überhaupt    bei  wärmeren 


•)    Der    chinesische    Name    dieses    Tuches    ist    Neap-pa 
(=  Entenhülle).  &  v    v 

')   (chinesisch  Ngap-kuan). 


Temperaturen,  legt  man  im  Wechsel  je  eine 
Schicht  Eier,  die  schon  zehn  Tage  bebrütet  sind 
und  eine  Schicht  frischer,  d.  h.  aus  dem  Brutbett 
kommender  Eier. 

Von  Zeit  zu  Zeit  müssen  die  Eier  gedreht 
werden.  (Das  tun  die  Vögel  beim  Brüten  ja  auch.) 
Die  l'ücher  oder  Netze  werden  an  dem  Tragfaden 
gehoben ,  durch  die  eigene  Schwere  drehen  sich 
die  Eier  und  das  ganze  Bündel.  Im  Anfange  ge- 
schieht dies  jede  Stunde,  Tag  und  Nacht,  später 
tags  einmal  und  nachts  einmal.  Sind  die  Eier 
fünf  Tage  im  Brutraum,  so  werden  sie  geprüft, 
ob  die  Entwicklung  eingesetzt  hat.  Man  hält 
Stück  für  Stück  gegen  die  Flamme  einer  Öllampe. 
Scheinen  die  Adern  rot,  und  scheint  in  der  Mitte 
ein  kornartiger  Punkt,  so  hat  die  Entwicklung  be- 
gonnen. Auch  die  Farbe  der  Schale  ändert  sich, 
wenn  das  Ei  angebrütet  ist,  weiße  Eier  werden 
schmutzig,  grünliche  werden  dunkler.  Die  ange- 
brüteten kommen  in  die  Körbe  zurück.  Die  an- 
deren werden  als  ,,Sha^-wongT-tan^  (==  Sand- 
gelb-eier)  ausgeschieden. 

Die  Entchen  schlüpfen  nach  27 — 28  Tagen. 
Etwa  8  Tage  vor  dem  Schlüpfen  werden  die  Eier 
aus  Körben  und  Fässern  genommen.  Sie  kommen 
zurück  in  einen  Raum  zu  ebener  Erde.  Hier  sind 
große  Gestelle,  in  Länge  und  Breite  dem  Räume 
entsprechend.  Zwei  Fächer  mit  Randleisten  sind 
darauf,  das  eine  in  i  m,  das  andere  etwa  in  1,80  m 
Höhe.  Hierauf  liegen  die  Eier  in  einer  dicken 
Schicht  zu  zweien  und  dreien  übereinander.  \^on 
Zeit  zu  Zeit  werden  die  Eier  gedreht :  ohne  große 
Sorgfalt  schiebt  der  Gehilfe  einen  Arm  voll  Eier 
nach  einem  anderen  Platze.  Sind  die  kleinen  Enten 
dem  Schlüpfen  nahe  und  man  hört  schon  ihre 
Stimme,  so  nimmt  man  die  Eier  herunter  und 
legt  sie  in  Körbe;  hier  läßt  man  sie  schlüpfen, 
oft  liegen  50 — 60  Eier  übereinander,  anscheinend 
ohne  den  ausschlüpfenden  Tieren  zu  schaden. 

Sind  lang  bebrülete  Eier  nicht  ausgekommen, 
die  Jungen  also  im  Ei  gestorben,  so  öffnet  man 
die  Eier  oder  verkauft  sie  auch  ungeöffnet  an 
Delikatessenläden  oder  Gastwirtschaften.  Den 
kleinen  Enten  werden  die  F"edern  ausgezupft,  dann 
werden  sie  gebraten  und  in  Reiswein  (Reisschnaps) 
gelegt  und  so  ausgelaugt.  Solcher  Ngap'-tsai"^- 
tsao^  (^  Enten-klein  wein)  gilt  als  sehr  nahrhaft. 

Ausfuhr  angebrüteter  Eier. 

Die  Eier  scheinen  wenig  empfindlich  zu  sein; 
das  läßt  sich  aus  der  ganzen  Art  der  Behandlung 
vermuten  und  auch  daraus,  daß  die  angebrüteten 
Eier  ausgeführt  werden.  In  Swatau  (Ostküste 
von  Kuangtung)  sind  angebrütete  Enteneier  ein 
ganz  beachtlicher  Ausfuhrartikel.  Sie  gehen  nach 
den  stark  mit  Chinesen  durchsetzten  Gebieten 
Hinterindiens  (besonders  Slam,  Annam,  auch 
Singapore).  Die  Körbe  mit  den  angebrüteten 
Eiern  werden  unter  Deck  verstaut,  wo  ja  bekannt- 
lich meist  Temperaturen  herrschen,  die  beträcht- 
lich höher  sind  als  in  den  Brutanstalten.  Die 
Fahrzeit   der  Dampfer  ist  bekannt,    die  Brutdauer 


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Naturwissenschaftliche  Wochensciirift. 


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der  Eier  auch,  man  wählt  also  zur  Ausfuhr  Eier, 
die  zwei  bis  drei  Tage  nach  der  voraussichtlichen 
Ankunft  des  Dampfers  schlüpfen.  Warum  die 
Eier  und  nicht  die  Enten  verschifft  werden  ?  Ge- 
flügel unterliegt  einem  Ein-  und  Ausfuhrzoll,  Eier 
sind  zollfrei.  Geflügel  beansprucht  mehr  Platz 
beim  Versand  und  außerdem  Pflege.  Geflügel- 
versand ist  also  durch  Zoll,  höhere  Fracht,  sowie 
Pflege-  und  P'uttergelder  teuer.  So  gehen  die 
jungen  Enten  als  „Eier"  zollfrei  und  billig. 

Geschäftsbetrieb. 

In  den  Brutanstalten  ist  für  die  geschlüpften 
Enten  kein  Raum,  die  Leute  haben  auch  keine 
Zeit  zur  Pflege.  Sie  verkaufen  am  liebsten  die 
Eier  ein  bis  zwei  Tage  vor  dem  Schlüpfen.  In 
guten  Jahren,  wenn  starke  Nachfrage  ist,  sind  die 
Eier  oft  schon  lange  vor  dem  Schlüpftermin  ge- 
kauft, I  Lo  schlüjifende  Eier  kostet  dann  vielleicht 
30 — 40  ,S'  (60 — 80  Mk.).  In  Zeiten  schlechter 
Konjunktur  arbeiten  die  Züchter  mit  beträchtlichen 
Verlusten.  Sind  die  Enten  geschlüpft,  so  muß 
sie  der  Brutladen  um  jeden  Preis  verkaufen,  und 
es  kann  vorkommen,  daß  ihm  i  Lo  Schlüpfeier, 
das  im  Einkaufe  12 — 18  .S'  kostete,  jetzt  nur  5 — 6  !ji 
bringt.  Der  Markt  ist  in  China  auf  allen  (lebieten 
sehr  starken  Schwankungen  unterworfen.  Dieses 
Jahr  (1914)  soll  ein  P^i  im  Einkaufe  3  Cent  ge- 
kostet haben,  die  Schlüpfeier  kosteten  am  3.  Mai 
auch  nur  2 — 3  Cent  —  nach  28tägiger  Arbeit. 

In  Ng-an-kiu  waren  im  Frühlinge  1914  zehn 
solcher  Brutanstalten,  in  jeder  schlüpften  Anfang 
Mai  täglich  über  5000  Enten,  im  ganzen  also  über 
50000  Stück. 

Aufzucht  der  Enten. 

Zwei  bis  drei  Tage  vor  dem  Schlüpfen  werden 
die  Eier  an  Händler  der  Nachbarschaft  verkauft, 
die  die  jungen  Tiere  zu  Tausenden  züchten.  Etwa 
sechs  Stunden  nach  dem  Schlüpfen  fangen  die 
jungen  Tiere  an  zu  fressen.  In  den  ersten  20  Tagen 
erhalten  sie  weichgekochten  Reis  und  Fischreste, 
dann  Kleie  mit  Spreu,  allerhand  Wassergetier, 
kleine  Landkrabben  u.  a.  Sind  sie  groß  genug, 
so  werden  sie  an  die  reisenden  Bootshändler  ver- 
kauft. Diese  kaufen,  wenn  sie  abschließbare  Räume 
und  Tonöfen  haben,  auch  direkt  von  der  Brut- 
anstalt. Diese  P^ntenboote  sind  große,  breite  Kähne, 
fast  von  Dschunkengröße.  Zum  Auslaufen  der 
Enten  ist  an  jeder  Schififsseite  noch  eine  breite 
Plattform.  Die  Boote  erkennt  man  allerdings 
ebenso  sehr  am  Geruch  als  an  der  plumpen  Ge- 
stalt. 

Sie  ziehen  schwerfällig  die  Ufer  des  Husses 
entlang,  Auslagen  hat  der  Züchter  fast  gar  nicht. 
Zweimal  täglich  je  zwei  bis  drei  Stunden  läßt  er 
die  Tiere  an  den  Schlammufern  der  Flüsse  und 
Kanäle  sich  selbst  die  Nahrung  suchen.  Es  haben 
sich  bei  diesen  schwimmenden  Entenfarmen  ganz 
bestimmte  Zugstraßen  herausgebildet.  Die  Canton- 
Händler  ziehen  zum  Teil  den  Westfluß  aufwärts 
bis  zur  Präfekturstadt  Nanningfu  (Provinz  Kuangsi). 


Das  ist  eine  Reise  von  vielen  Wochen  für  die 
schwerfälligen  Boote.  ^)  Als  Grund  dieser  wohl 
traditionell  übernommenen  Fahrt  wird  angegeben, 
daß  die  Enten  in  Nanningfu  schlecht  seien,  da- 
gegen der  Reis  (zur  Mast  der  Enten)  billig.  Es 
wird  so  das  bessere  Canton-Material  eingeführt 
und  an  Mastkosten  gespart. 

Verwendung  der  1^  n  t  e  n. 

Der  schwimmende  Händler  verkauft  seine  Ware 
gelegentlich  an  Dorfbewohner  am  Ufer.  Haupt- 
zweck seines  Unternehmens  ist  aber  Verkauf  an 
die  Nahrungsmittelhändler.  Von  Nanningfu  wer- 
den die  Tiere  im  großen  an  die  „Salzentenfabriken" 
verkauft,  bekannt  sind  die  von  Lui-chaw  (Provinz 
Kuangsi,  südwestlich  von  Nanningfu).  Bei  der 
\'erarbeitung  der  Enten  gibt  es  keine  Abfälle. 
Im  ersten  Räume  werden  die  Enten  getötet  und 
gerupft.  Die  P'edern  gelten  als  vorzüglicher 
Dünger  und  werden  von  den  Landleuten  gern  ge- 
kauft. '-)  Im  zweiten  Räume  werden  die  Enten 
geöffnet,  ausgenommen,  Schnäbel  und  P'üße  ab- 
geschnitten und  die  Körper  flach  gepreßt.  Im 
dritten  werden  Schnäbel  und  P^üße  eingesalzen, 
d.  h.  in  große  irdene  Kübel  in  eine  Salzwasser- 
lösung gelegt  (für  spätere  Verwendung  als  Suppen- 
knochenj.  Im  ersten  Hofe  werden  die  eingesalze- 
nen Entenkörper  in  der  Sonne  getrocknet;  der 
Wind  gilt  als  wichtig  bei  Herstellung  guter  Salz- 
enten (Lap-ap).  Bei  Nordwind  braucht  man  wenig 
Salz,  die  Enten  trocknen  schnell  und  werden 
schmackhaft;  bei  Südwind  braucht  man  viel  Salz, 
die  Enten  trocknen  langsam  und  schmecken  schlecht. 
(Die  Ursache  ist  natürlich  der  Feuchtigkeitsgehalt 
der  Luft.)  In  einem  anderen  Hofe  werden  Herzen, 
Magen,  Lungen,  Leber  an  Schnüre  gereiht  und  in 
der  Sonne  getrocknet  (Fleischzutat  zum  Reis).  Die 
Canton-Enten  (d.  h.  die  bei  Canton  ausgebrüteten) 
gehen  also,  wie  schon  gesagt,  zum  großen  Teil 
nach  Nanningfu,  der  Provinz  Kuangsi,  Tonkin  und 
benachbarten  Südwestgegenden.  Nach  Canton 
kommen  die  Salzenten,  die  in  Nam-on  (Provinz 
Kiangsi)  hergestellt  werden  und  sind  in  Canton 
als  beste  Qualität  geachtet.  Dieses  eine  Beispiel 
zeigt  wieder,  auf  welch  alten,  traditionell  über- 
nonmienen  Handelsstraßen  der  chinesische  Innen- 
handel sich  bewegt  und  welche  Entfernungen  er 
überwindet  (trotz  schlechter  Verkehrsverhältnisse), 
wie  er  mit  kleinsten  Vorteilen  und  Geschmacks- 
zufälligkeiten rechnet. 

Lap-ap  werden  nur  in  der  Trockenheit  ge- 
gessen, von  November  bis  März  etwa.  Für  Euro- 
päer sind  sie  reiz-  und  geschmacklos.  Eine  Deli- 
katesse auch  für  jeden  europäischen  Gaumen  ist 
dagegen  die    auf  chinesische  Art  bereitete  frische 


')  Bei  den  gegenwärtigen  modernen  Verkehrsmitteln  be- 
ansprucht die  Reise  dahin  5  Tage,  2  Tage  Dampferfahrt  und 
3  Tage  mit  einem  Motorboot. 

-)  Auch  hier  eine  uns  beinahe  lächerlich  vorkommende 
Spezialisation:  Gänsefedern  werden  zu  Fächern  ver.irbeitet, 
Hühnerfedern  zu  Federwedeln  zum  Abstäuben,  Entenfedern 
werden  als  Dünger  gebraucht.     Ein  Wechsel  findet  nicht  statt. 


N.  F.  XIII.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


645 


Ente:    gedämpft,    mit   Colacasium    und    Nam-yüli 
(eine  Art  Gelee  aus  Sojabohnenextrakt). 

Von  der  chinesischen  Gepflogenheit,  die  Ente 
zur  Sodomiterei  zu  verwenden,  hört  jeder 
Globetrotter  von  Ceylon  bis  Java.  In  China  kommt 
sie  nicht  vor;  die  Auswanderung  von  Chinesen 
nach  Indien  und  den  indischen  Inseln  ist  stark, 
die  Auswanderung  von  Frauen  gering.  Zum 
dauernden  oder  gelegentlichen  Erwerb  dortiger 
Frauen  fehlen  dem  Ausgewanderten  Geld  und 
Geschmack.  So  verfällt  er  auf  die  Sodomiterei  ') 
mit  der  Ente  oder  Päderastie.  In  China  ist  mir 
nichts    Positives    über    erstere    bekannt  geworden. 

Wildenten. 
Sie  kommen  in  mehreren  Arten  und  großer 
Anzahl  in  Canton  auf  den  Markt,  und  zwar  aus- 
schließlich lebend.  (Totes  Geflügel  verdirbt  infolge 
der  Temperatur  leicht,  muß  schnell  verkauft  wer- 
den und  ist  deshalb  billig.)  Sie  werden  aus  dem 
Nest  genommen  oder  in  Fallen  gefangen.  Enten- 
jagd als  S[)ort  ist  in  Südchina  zurzeit  unbekannt, 
wahrscheinlich  auch  nie  hier  heimisch  gewesen. 
Dagegen  ist  sie  in  nördlicheren  Gebieten  gepflegt 
worden,  wie  das  nachfolgende  Gedicht  beweist. 

Entenjagd. 

Zum  Entenschießen  zog  ich  aus 
Des  Morgens  in  der  Frühe 
Und  kam  nach  langer  Wege  Fahrt 
Des  Abends  hin  zum  See. 

Der  lange  Regentag  zerschlug 
Der  Trapa  Stamm  und  Blätter. 
Stumm  im   Verstecke  hält  sich   noch 
Der  wilden   Fnten  Scharen. 

Das  harte  Schilf  steht  hoch  und  dicht 
Daß  man  sich  gut  kann  bergen ; 
Kein  Führer  liegt  darin  und  lockt, 
Ich  probe  still  den  Bogen. 

Kalt  glänzt  die  Flut,  breit  liegt  das  Feldl  — 
O  weh,  sie  sind  noch  mager!  — 
Bleib,  Fischer,  weg  und  schrecke  nicht 
Die  scheu  ins  Rohr  geduckten. 

War  ihre  Mahlzeit  reich  und  gut, 
So  Schrein  sie  nach  dem  Essen; 
Ihr  Schnabel  geht  Ap-ngap,  Ap-ngap, 
Hell  glänzt  ihr  bunt  Gefieder. 

Ich  fasse  nach  dem  Bambuspfeil 
Und  ziele  leise,  leise  —  — 
Pfit  —  fliegt  der  kalte  Todespfeil.  — 
Ich  stehe  wie  das  Schicksal!  — 

Ihre  Wertung  als  ästhetisches  Mo- 
ment in  Malerei  und  Dichuing  der  Chinesen  ist 
bekannt.  Zwei  Enten  oder  auch  Mandarinenten 
("^len-yöng)  im  Teiche  schwimmend  sind  ein 
ebenso  oft  gesehenes  malerisches  Motiv  wie  der 
Eisvogel  auf  dem  Stengel  vom  Lotosblatt. 

Einige  dichterische  Behandlungen  des  Enten- 
lebens und  seiner  Stimmungswerte   sind    hier  an- 


gefügt, 


)  Bekannt,  wenn  auch  z.  T.  anderen  Motiven  entsprun- 
gen, ist  auch  die  Sodomiterei  mancher  mohammedanischer 
indischer  Stämme  mit  Ziegen,  die  sogar  bei  Soldaten  von  den 
Vorgesetzten  stillschweigend  geduldet  wird  (Ziegenherden 
werden  umziehenden  Garnisonen  nachgetrieben). 


Die  Ente. 

Wenn  sie  in  das  Wasser  taucht, 
Hält  sie  Moos  im  Schnabel. 
In  den  Fluten  schwimmend,  wäscht 
Sie  ihr  Kleid   am  Strande. 
Nach   Gespielen  suchend,   fliegt 
Sie  durch   Rohr  und   Fluren 
Sieht  im   Wasser  sie  ihr  Bild, 
Ist  sie  nicht  mehr  einsam. 

Glückliches  Leben. 

Glücklichste   Harmonie 

Ist  das  Leben  der  Enten  im  Wasser. 

Nach  Belieben  ziehen 

Sie  in  des  Teiches  Mitte, 

Nach  Belieben  trollen 

Sie  ans  Ufer  zurück : 

Immer  halten  sie  Gras 

Friedlich  spielend  im  Schnabel. 

Sie  rufen  und  schreien  und   plaudern 
Und   fliegen  gegen   den   Wind. 
Sie  schwimmen  umher  ohne  Pause 
Und  springen  und  s])ielen   und   tauchen, 
Als  ob  es  kein  Hindernis  gäbe, 
Leicht  wie  die  Segler  der  Luft. 

Der  Papagei  kann  zwar  dichten 
Doch  läßt  er  sich  töricht  einfangen 
Und  in  den  Käfig  tun. 
Drum  auch  verlacht  ihn  die  Ente. 

Die    zwei   Enten. 

Zwei  kleine  Enten  schwimmen 
In  des  Lotosteiches  Flut. 
Sie  spielen  mit  dem   Gras 
Und  halten  Moos  im  Schnabel  — 
Wagen  nicht,  der  Menschen  Saaten 
Gierig  abzufressen !      Nein, 
Glücklich  sind   sie,   daß   kein  Aar 
Noch  kam,  um  sie  zu  scheuchen. 

Winzig  feiner  Seidenregen 
Sprüht  und  sprüht  herunter. 
Ein  Wasserlinscnteppich   liegt 
Der  See  so  grün  und  schwer. 
Von  der  Enten  Ruderspiel 
Wiegt  er  fern  und  näher. 
Wiegt  hinaus  zur   Weite, 
Wiegt  heran  zu  mir. 

Rote  Abendsonne 
Sinkt  auf  blaue  Flut. 
Niemand   kommt,   zum  Stall 
Die  Enten  heimzurufen. 
Unterm  Silbermond 
Noch  spielen  sie  herum.  — 
Ein  ganzes  Leben   Frieden 
Unter  Wasserlinsen. 

Damit  auch  der  chinesische  Humor  zu  seinem 
Rechte  komme,  noch  eine  „Ente"  aus  diesem 
Stalle. 

Log-kuei-mung  züchtete  eine  große  Menge 
Enten.  Eines  Tages  ging  ein  Postbote  vorbei, 
der  schoß  die  beste  seiner  Enten  tot.  Da  sagte 
Log:  „Uh,  diese  Ente  konnte  sehr  gut  sprechen, 
ich  wollte  sie  dem  Kaiser  schenken.  Warum 
schössest  du  sie  tot?"  —  Da  kriegte  es  der  Bote 
mit  der  Angst.  „Oh,  entschuldige  meine  Unvor- 
sichtigkeit, „sagte  er,  „ich  spielte  nur  und  traf  un- 
glücklicherweise diese  Ente."  hJr  zog  alles  Geld 
heraus,  was  er  bei  sich  hatte  und  bat  Log,  es  als 
Sühne  anzunehmen.  Log  schien  befriedigt,  und 
der  Postbote  fragte  ihn :  „Ja,  aber  sage  mir  doch. 


646 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  41 


wie  können  Enten  sprechen?  Ich  habe  noch  nie 
eine  sprechen  hören."  —  „Was,"  sagte  Log,  „du 
hast  noch  keine  sprechen  hören  ?  Sie  können  ja 
ihren  eigenen  Namen  rufen:  Ap-ngab!  Ap-ngabl"^) 
—    Da    lachte    der    Bote    ärgerlich,    daß    er    sich 


hatte  überlisten  lassen  und  ging  weiter.  Aber 
Log  rief  ihn  zurück:  „Ich  scherzte  und  du  ver- 
gaßest dein  Geld !'  — 


')  Die  Ente  heißt  cliinesisch  „Ap". 


Direkt  wirkende 

[Naclidiuck  verboten.)  Von    W. 

Die  großen  z.  T.  unersetzbaren  Vorteile  des 
stereoskopischen  Bildes  vor  dem  Flachbilde  ver- 
mochten bis  heute  dem  ersteren  nicht  die  Ver- 
breitung zu  verschaffen,  die  es  verdient.  Der 
Grund  ist  wohl  zum  gröl3ten  Teil  darin  zu  er- 
blicken ,  daß  das  stereoskopische  Bild  nur  dann 
seinen  besonderen  Wert  entfalten  kann,  wenn  es 
mit  einem  Apparat ,  dem  .Stereoskop  betrachtet 
wird.  Diese  Beschränkung  in  der  Betrachtungs- 
möglichkeit hemmt  das  Vordringen  des  Stereoskop- 
bildes überall  dorthin ,  wo  es  Nutzen  bringen 
könnte. 

Diese  Erkenntnis  muß  uns  die  Frage  auf- 
drängen, ob  es  nicht  möglich  sei,  Bilder  zu  schaffen, 
welche  unvermittelt,  d.  h.  ohne  Beschauapparat, 
Raum  und  Körperlichkeit  zum  Ausdruck 
bringen. 

Der  Wunsch  nach  solchen  Bildern  ist  nicht 
neu  und  es  hat  auch  nicht  an  Versuchen  gefehlt, 
solche  herzustellen.  Es  wurden  verschiedene  Ver- 
fahren angegeben,  so  von  Ives,  Rigl,  Lipp- 
mann, t'Hooft,  h" riedmann  und  Reiffen- 
stein.  Keines  derselben  ließ  sich  aber  bis  jetzt 
in  irgendeiner  Weise  dem  Zwecke  der  bildlichen 
Darstellung  wirklich  dienstbar  machen. 

Die  praktischen  Resultate,  welche  ich 
selbst  auf  neuem  Wege  vorgehend,  erreicht  habe, 
bsgründen  dagegen  die  Hoffnung,  daß  wir  nun 
tatsächlich  im  Besitze  brauchbarer,  unmittelbar 
wirkender  Stereoskopbilder  sind. ') 

Ein  h'ilm ,  dessen  eine  Fläche  durch  Prägung 
mittels  Klichee  eine  Summe  aneinander  gereihter 
feinster  Linschen  aufgepreßt  erhielt,  dessen  Rück- 
fläche die  lichtempfindliche  Schicht  trägt,  und 
dessen  Dicke  gleich  der  Brennweite  der  Linschen 
ist,  erfüllt  die  Forderung,  ein  stereoskopisches 
Bilderpaar  so  aufzunehmen ,  daß  jedes  Auge  nur 
das  eine  der  beiden  Bilder  zu  sehen  bekommt. 
Der  optische  Vorgang,  welcher  dies  bedingt ,  ist 
folgender : 

Wenn  auf  einen  solchen  Film  aus  irgend- 
welcher Richtung  Lichtstrahlen  einfallen,  werden 
diese  von  jedem  Einzellinschen  zu  einem  Punkte 
gesammelt  (bei  Zylinderlinsen  zu  einer  Linie),  der, 
wegen  des  gewählten  Abstandes,  in  die  lichtemp- 

^)  Die  Bilder  wirlven  in  der  Tat  vorzüglicli  und  sclieinen 
mir  ein  selir  beachtenswertes  Hilfsmittel  bei  Demonstrationen 
zu  sein.  Die  Redaktion. 


Stereoskopbilder. 

R.  Heß. 

findliche  Schicht  zu  liegen  kommt  und  dort  als 
solcher  zeichnet.  Er  wird  dadurch  sichtbar, 
aber  nicht  nach  allen  Richtimgen ;  denn  das  Licht 
macht  nun  genau  den  umgekehrten  Weg  wie  bei 
der  Erzeugung  des  Punktes  durch  Belichtung:  es 
tritt  nach  derjenigen  Richtung  aus  dem  Linschen, 
aus  welcher  es  eingefallen  war. 

Was  sich  bei  einem  Linschen,  als  optisches 
Element,  abspielt,  wiederholt  sich  bei  allen  ande- 
ren, mit  denen  es,  ähnlich  wie  bei  einem  Insekten- 
auge, zu  einer  zusammenhängenden  Pläche  ver- 
einigt ist. 

Wurde  das  kopierende  Licht  vor  dem  Auf- 
treffen auf  die  Fläche  durch  ein  photographisches 
Negativ  gesandt ,  so  kopiert  dieses  infolge  der 
Linsenwirkung  in  Form  von  lauter  kleinen  Punkten 
(bei  Z}'linderlinscn ,  die  aus  technischen  Gründen 
gewählt  werden  können ,  in  P'orm  von  feinen 
Linien).  Jeder  derselben  zeigt  sich,  wie  erwähnt, 
nur  in  der  Richtung  des  eingefallenen  Lichtes;  in 
dieser  aber  schließen  sie  sich  in  ihrer  Gesamtheit 
genau  so  zu  einem  kontinuierlichen  Positiv  zu- 
sammen, wie  sie  durch  Zerlegung  eines  kontinu- 
ierlichen Negativbildes  entstanden  sind.  War  es 
das  links  stereoskopische  Teilbild  und  wurde  es 
mit  Licht  kopiert,  das  von  links  einfiel,  so  bleibt 
es  nur  für  das  linke  Auge  sichtbar.  Kopieren 
wir  auf  dieselbe  Fläche  nun  auch  das  rechte  Teil- 
bild, so  wird  es  vom  rechten  Auge  und  nur  von 
diesem  gesehen. 

Es  wurde  also  genau  erreicht,  was  sonst  vom 
Stereoskop;  der  Anblick  eines  solchen  Bildes  muß 
deshalb  auch  den  Eindruck  der  Räumlichkeit 
genau  so  hervorrufen,  wie  wir  ihn  sonst 
nur  im  Stereoskop  zu  finden  gewohnt  sind. 

Es  handelt  sich  auch  tatsächlich  um  stereo- 
skopische Bilder.  Die  Negative  können  aus  irgend- 
einer stercoskopischen  Camera  stammen.  Nur  das 
Mittel,  jedem  Auge  das  ihm  zukommende  stereo- 
skopische Einzelbild  zuzuführen,  ist  ein  neues. 

Es  bleibt  nun  nur  noch  übrig,  diese  Bilder  der 
Allgemeinheit  dienstbar  zu  machen;  der  Anfang 
dazu  ist  dadurch  gemacht,  daß  für  Gelegenheit 
gesorgt  ist,  jedes  (gute)  Stereonegativ  in  eine 
direkt  wirkende  Stereokopie  übertragen  zu  lassen. ') 


'I    Besorgt    durch    die    Stereo-Photographie  A.-G.   Zürich, 
Winterthurstrafie  40. 


N.  F.  XIII.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


647 


Einzelberichte. 


Botanik.  Assimilation  und  Atmung  der  Meeres- 
algen.  Die  Untersuchung  der  Assimilations-  und  der 
Atmungsgrößc   bei  Meeresalgen    hat   großes  phy- 
siologisches Interesse,  da  diese  Pflanzen  unter  Be- 
dingungen   leben ,    die    von  denen  der  Land-  und 
Süßwassergewächse    erheblich    abweichen.      Von 
den  dabei  in  Betracht  kommenden  Faktoren  nennt 
H.  K  n  i  e  p    den    hohen    Salzgehalt    des    Wassers 
(dessen    osmotischer  Druck    bei  35  "/^j,  Salzgehalt 
23  Atmosphären  beträgt),  die  relativ  gleichmäßige 
Temperatur   des  Wassers,    die    in    den  arktischen 
Meeren  für  lange  Zeit  des  Jahres  in  der  Nähe  des 
Nullpunktes  liegende  Temperatur,  bei  welcher  die 
bekanntlich  der  Dauerorgane  entbehrenden  Meeres- 
algen üppig  vegetieren,  die  eigenartigen  Beleuch- 
tungsverhältnisse   und    die    mit   den  Gezeiten  zu- 
sammenhängenden      Erscheinungen.  Genauere 
Kenntnis    der  Assimilations-    und    Atmungskoeffi- 
zienten   könnte    auch    zu    Folgerungen    über    die 
Natur  der  Assimilationsprodukte  und  Reservestoffe 
der  Meeresalgen  führen,  über  die  wir  nur  mangel- 
haft unterrichtet  sind.    K  n  i  e  p  hat  in  Neapel  und 
Helgoland    einige    Bestimmungen   ausgeführt,    die 
recht  bemerkenswerte  Folgerungen  gestatten.    So 
ließen  die  Assimilationsbestimmungen   (ausgeführt 
durch  Messung  des  Kohlensäureverlustes  im  Ver- 
suchswasser   nach  dem  von  Tornöe   1880  ange- 
wandten Verfahren)  erkennen,  daß  von  den  unter- 
suchten   Grün-,    Rot-    und  Braunalgen    die  Braun- 
alge Fucus  serratus  weitaus    am  stärksten    assimi- 
lierte,   daß    aber    bei   bedeutender  Abnahme    der 
Lichtintensität  die  Assimilationskurve  dieser  Alge 
ziemlich   steil    absinkt.     Sollte  Ähnliches  auch  für 
andere    Fucaceen    festgestellt    werden,    so    würde 
man  darin  vielleicht  einen  Grund  erblicken,  wes- 
halb diese   nicht   in   größeren  Tiefen  vorkommen. 
Indessen    können,    wie    sich    herausstellte,    auch 
einige  Rotalgen,    die    in  ziemlich    tiefe    Regionen 
hinabsteigen,    in    gedämpftem  Tageslicht  (in  dem 
man  noch  zu  lesen  vermag)  ihren  Atmungsverlust 
durch  Assimilation   nicht  mehr  decken.     Im  Ver- 
gleich mit  der  Assimilation  der  höheren  Pflanzen 
ist  die  Assimilation  der  Meeresalgen  im  allgemei- 
nen viel  schwächer.    Dasselbe  gilt  für  die  Atmung. 
Die   dünnlaubigen    oder   stark    verzweigten  Algen 
atmen    stärker    als    dicklaubige  Formen.     Die  Be- 
stimmung des  Atmungskoeffizienten  für  L'ucus  ser- 
ratus ergab  Werte,    die  wenig  über  oder  unter   i 
lagen.      Daraus   geht  mit  Wahrscheinlichkeit  her- 
vor, daß  die  veratmeten  Stoffe  Kohlenhydrate  sind. 
Weiter    hat    ein    mit   Fucus  serratus    angestellter 
Versuch  großes  Interesse,  der  von  der  Frage  aus- 
ging,   wie  es  möglich  ist,    daß    diese  und 'andere 
Algen    im    hohen  Norden    lange    Dunkelperioden 
überstehen    können,    ohne    in  '  ihrer    Vegetations- 
tätigkeit irgendwie  schädlich  beeinflußt  zu  werden. 
Bekanntlich  können  die  Phanerogamen  Verdunke- 
ung  im  allg;  meinen  nur  kurze  Zeit  aushalten;  sie 
vergilben  gewöhnlich,  und  die  Zellen  sterben  ab. 
K  n  1  e  p  hielt  Fucusthalli  fünf  Monate  hindurch  in 


Flaschen  von  etwa   i  1  Inhalt  im  Dunkelraum,  in- 
dem er  etwa  i '/.^  Monate  lang  die  Atmungsgröße 
von    Zeit   zu    Zeit    bestimmte    und    während    der 
übrigen    Zeit    nur    das    Wasser    häufig    erneuerte. 
Die  Temperatur   stieg  von   11"  bis  auf  20".     Die 
Pflanzen    blieben    völlig    frisch.      Im  Wasser   ließ 
sich  niemals  eine  Spur  von  Braunfärbung  (die  als 
Zeichen  des  Absterbens  einiger  Zellen  dienen  kann) 
feststellen.     Wachstum  schien  nicht  stattgefunden 
zu  haben,   während  die  belichteten  Kontrolipflanzen 
beträchtlich  gewachsen  waren  und  zahlreiche  junge 
Sprosse  gebildet  hatten.    Auch  zeigten  die  Dunkel- 
pflanzen  keine  Anzeichen    des  Alterns  (rostbraune 
Färbung)    wie    die    Kontrollpflanzen.       Es   scheint 
sonach,    daß    verschiedene    vegetative  Prozesse  in 
der   Dunkelheit   sehr   stark    gehemmt   sind.     Am 
Schluß  des  Versuchs   wurde    die   Atmung   wieder 
gemessen;    sie  hatte  langsam  abgenommen,    doch 
war    kein    völhger    Stillstand    der    Atmung   einge- 
treten.    Als  die  Pflanzen  wieder  ins  Licht  gebracht 
wurden,    trat    wider  Erwarten  keine  Kohiensäure- 
assimilation  in  die  Erscheinung,  sondern  es  zeigte 
sich  ebenfalls  Sauerstoffabnahme,  die  im  Vergleich 
zu    der   vorhergehenden    Atmung    sogar  erheblich 
gesteigert  war.     Das  Licht  fördert  also  in  diesem 
Falle  den  destruktiven  Stoffwechsel.   Wenn  außer- 
dem Assimilation  stattfindet,  so  ist  damit  jedenfalls 
kein  Stoff-  und  Energiegewinn  verbunden.     Leider 
mußte    der    Versuch    aus    äußeren  Gründen  abge- 
brochen werden,    und  die  Pflanzen  starben  einige 
Zeit  darauf  ab,  ohne  daß  die  Ursache  davon  fest- 
gestellt werden  konnte.     Immerhin    ist  es  bemer- 
kenswert,   daß    die  Algen    fünf  Monate    hindurch 
am    Leben    blieben.      In    der  Natur    kommen  nur 
Dunkelperioden    von    erheblich    geringerer    Dauer 
vor,    und    zudem    liegt   in    den  Polargegenden  die 
Wassertemperatur  unterhalb   des  Nullpunktes,    so 
daß   der   Stoffwechsel    verlangsamt    ist.      Da  aber 
auch    während    der    hellen  Jahreszeit  die  Wasser- 
temperatur sehr  niedrig  ist,  so  liegt  die  Vermutung 
nahe,  daß  die  Meeresalgen  abweichend  von  anderen 
grünen  Pflanzen  auch  bei  niederen  Temperaturen 
stark  assimilieren  und,  bei  gleichzeitig   schwacher 
Atmung,    das    für    die  Dunkelzeit  nötige  Reserve- 
material gewinnen  können.     Einige  Versuche  des 
Verf    mit  P^ucus  serratus   stützen    in    der  Tat  die 
Annahme,  daß  mit  abnehmender  Temperatur  der 
„      ^.         Assimilation     .  , 

Ouotient sich    vergrößert.     Die  Tat- 
Atmung  " 

Sache,  daß  die  Meeresalgen  zum  Unterschiede  von 
den  submersen  Phanerogamen  kein  im  Dienste 
des  Gasaustauschs  stehendes  Interzellularsystem 
haben,  läßt  sich  nach  Kniep  einmal  aus  dem 
Umstände  erklären,  daß  ihre  Membranen  für  Gase 
besonders  leicht  durchlässig  sind  (nachgewiesen 
von  W  i  e  s  n  e  r  und  M  o  1  i  s  c  h  für  Ulva  latissima) 
und  sodann  aus  dem  trägen  Stoffwechsel  der 
Meeresalgen.  (Internationafe  Revue  der  ges.  Hy- 
drobiologie und  Hydrographie  1914,  Sonderabdruck 
38  S.)  F.  Moewes. 


648 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  41 


Physik.     Mit  Zusammenstößen  zwischen  Elek- 
tronen und  den  Molekülen  des  Ouecksilberdampfes 
und  der  lonisierungsspannung   desselben   beschäf- 
tigt sich  eine  Arbeit  von  J.  Frank  und  G.  Hertz 
(Berlin),     die     in    den    Berichten    der    Deutschen 
Physikalischen  Gesellschaft   1914,    Seite  457—467 
erschienen    ist.      Prallt    ein  Elektron,    dessen  Ge- 
schwindigkeit und  damit  kinetische  Energie  unter 
einer   bestimmten    Größe    liegt,    auf  ein    Molekül 
eines  Gases,  das    keine  Elektronenaffinität  besitzt, 
so  wird  es  ohne  Energieverlust,  d.  h.  vollkommen 
elastisch    reflektiert.      Überschreitet    die    kritische 
Geschwindigkeit    dagegen   eine  bestimmte  Größe, 
so  tritt  Ionisation  des  Gases  ein,  d.  h.  die  Stöße 
werden  unelastisch,  das  aufprallende  Elektron  ver- 
liert   seine  Energie    und    dafür   werden    aus    dem 
getroffenen  Gasmolekül  Elektronen  herausgeschleu- 
dert.      Da     die    Geschwindigkeit    der    stoßenden 
Elektronen    von    der    Spannung    abhängt,    die  sie 
durchlaufen  haben,  so  ist  die  kritische  Geschwin- 
digkeit durch  eine  bestimmte,  die  lonisierungs- 
spannung,   charakterisiert.      In    einer   früheren 
Arbeit  (Ber.  d.  D.  Phys.  Ges.  15,  34(1913))  haben 
dieselben  Verfasser  diese  Größe  für  Helium,  Neon, 
Argon,  Wasserstoff  u.  a.  Gase  bestimmt.     P'ür  den 
Quecksilberdampf  wenden    sie  folgende  neue  Me- 
thode an;   Als  Elektronenquelle  dient  ein  dünner, 
durch    einen  elektrischen  Strom    zum  Glühen  ge- 
brachter Platindraht,    der    in  der  Achse  eines  aus 
feinem  Platindrahtnetz  bestehenden  Zylinders  von 
8   cm    Durchmesser    ausgespannt    ist.      Zwischen 
Draht    und    Zylinder    ist    eine    veränderliche    be- 
schleunigende Spannung  angelegt.     Den  Zylinder 
umgibt    in    i  —  2  mm    Abstand    von    ihm    isoliert 
eine  zylindrische  Platinfolie,  die  durch  ein  Galva- 
nometer  mit   der  Erde   verbunden  ist.     Zwischen 
Folie    und  Netz   liegt   eine  konstante  verzögernde 
Spannung.      Das   ganze    ist   luftdicht  in  ein  Glas- 
rohr eingeschlossen,    das  durch  ein  elektrisch  ge- 
heiztes   Paraffinbad    auf    etwa    110"    erhitzt   wird. 
Während  der  Versuche  ist  die  Luftpumpe  dauernd 
in  Betrieb.    Da  sich  in  einem  seitlichen  Rohr  ein 
Tropfen  üuecksilber  befindet,  ist  das  Versuchsrohr 
mit  Ouecksilberdampf  von    i   mm  Druck   gefüllt. 
Der    Galvanometerstrom    wird    bei  steigender  be- 
schleunigender und  konstanter  verzögernder  Span- 
nung   gemessen.       Nimmt     die     beschleunigende 
Spannung  von  o  auf  5  Volt,  so  nimmt  der  Strom 
von  o  aus  zu.      Wird    sie    größer    als  5  Volt,    so 
nimmt  der  Strom  plötzlich    ab,    um    bei    10  Volt 
ein  neues  Maximum  zu  erreichen.      Wird  die  be- 
schleunigende Spannung  größer   als    10  Volt,    so 
fällt  der  Galvanometerstrom  wieder.    Das  nächste 
Maximum    erreicht    er    bei    1 5  Volt    usf.     Dieses 
Anwachsen  und  plötzliche  Abfallen  erklärt  sich  auf 
folgende  Weise:  Ist  die  beschleunigende  Spannung 
kleiner  als  5  Volt,  so  werden  die  von  dem  Glüh- 
draht ausgehenden  Elektronen  von  den  Hg-Mole- 
külen  vollkommen  elastisch  reflektiert,  sie  dringen 
durch  das  Platindrahtnetz  hindurch  und  zwar  ver- 
mögen sie  um  so  zahlreicher  gegen  die  verzögernde 


Spannung  anzulaufen  und  den  zum  Galvanometer 
führenden    Platinzylinder    erreichen ,   je    höher  die 
beschleunigende    Spannung    ist.     Ist    die    letztere 
indessen     gleich     der    lonisierungsspannung    von 
5  Volt,  so  werden  die  Stöße  unelastisch ,    es  tritt 
Ionisation  ein.    Die  hierbei  aus  den  Hg-Molekülen 
austretenden     Elektronen     durchlaufen     bis     zum 
Durchtritt    durch    das    Netz     nur     eine     geringe 
Spannung,  erhalten  demnach  nur  eine  kleine  Ge- 
schwindigkeit,   so    daß    sie    nur   in  geringer  Zahl 
gegen    das    verzögernde    Feld    anlaufen    können.         ' 
Der  Galvanometerstrom  wird  wieder  klein.    Wird 
die  beschleunigende  Spannung  größer  als  5  Volt, 
so    rückt    die  Stelle,    an    der   die  Elektronen    un- 
elastische   Stöße    erleiden,    weiter    nach    dem 
Heizdraht   zu.      Die    durch  den  Stoß  befreiten 
Elektronen    durchlaufen    demnach     eine    größere 
Spannung    als    vorher    und    erhalten    dabei    eine 
größere  Geschwindigkeit,  so  daß  sie  wieder  zum 
Zylinder    gelangen.      Wird    die    beschleunigende 
Spannung   10  Volt,    so    finden   etwa  in  der  Mitte 
zwischen    Heizdraht    und    Drahtnetz    zum    ersten- 
mal die  unelastischen  Stöße   statt,    die    dabei  be- 
freiten Elektronen  haben  dann  bis  zum  Drahtnetz 
noch   5  Volt  zu  durchlaufen,  so  daß  sie,  wenn  sie 
hier  ankommen,  zum  zweitenmal  unelastisch  gegen 
die    Hg- Moleküle    prallen.       Die    vermöge    dieser 
zweiten  Ionisation    entstandenen  Elektronen  kom- 
men indessen  vermöge    ihrer  geringen  Geschwin- 
digkeit nicht  zum  äußeren  Zylinder.     Bei   15  Volt 
sind  3  Zonen  vorhanden,  in  denen  durch  unelasti- 
sche Stöße  Ionisation  stattfindet.      Der  genaue 
Wert     der     loniserungsspannung     läßt 
sich    demnach    aus    der    Kurve,    die    den 
G  a  1 V  a  n  o  m  e  t  e  r  s  t  r  o  m    als    I*"  u  n  k  t  i  o  n    der 
beschleunigenden    Spannung    darstellt, 
ablesen;   ihr   genauer    Wert   ist   für    Hg- 
Dampf  4,9  Volt.      Um   die  Güte  der  Methode 
zu    prüfen,    wurden    die  Versuche    mit    Helium 
wiederholt;  in  guter  Übereinstimmung  mit  frühe- 
ren Versuchen  ergab  sich  21   Volt. 

Die  Tatsache,  daß  die  lonisierungsspannung 
eine  für  jedes  Gas  charakteristische  Größe  ist, 
entspricht  durchaus  der  Quantentheorie;  nach 
dieser  soll  nämlich  den  Schwingungen  der  Elek- 
tronen im  Atom  Energie  nicht  in  beliebigen  Be- 
trägen, sondern  nur  in  bestimmten  Quanten  zu- 
geführt werden  können.  J.  Stark  hat  als  erster  ij 
ausgesprochen,  daß  der  geringste  zu  übertragende  || 
Energiebetrag  gleich  ist  dem  Produkte  aus  der 
Planck' sehen  Konstante  h  und  der  Frequenz 
V  desjenigen  Elektrons,  das  die  Energie  empfängt. 
Durch  Versuche  von  Wood  über  Resonanzstrahlen, 
über  die  kürzlich  in  dieser  Zeitschrift  berichtet  ist, 
ist  bewiesen,  daß  in  jedem  Quecksilberatom  ein 
schwingungsfähiges  Elektron  mit  einer  der  Wellen- 
länge 2S3,6  ftft  entsprechenden  Frequenz  vorhanden 
ist.  Es  zeigt  sich  nun,  daß  der  Energiebetrag, 
den  dasElektron  nach  Durchlaufen  von 
4,9  Volt  enthält,  innerhalb  der  Fehler- 
grenzen mit  dem  Produkt  h-v  überein- 
stimmt. 


N.  F.  XIII.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


649 


Ein  großer  Teil  der  (unelastischen)  Stöße,  bei 
welchen  dem  schwingenden  Elektron  der  Energie- 
betrag h-v  zugeführt  wird,  führt  nicht  zur  Ioni- 
sation. Es  ist  zu  erwarten,  daß  diese  Stöße 
zu  einer  Lichtemission  von  der  Fre- 
quenz V  führen,  daß  also  eine  Emission 
der  Resonanzstrahlung  zu  beobachten 
ist.  Die  Versuche,  die  dieselben  beiden  Verfasser 
in  den  Verh.  d.  Deutsch.  Piiysik.  Ges.  1914,  S.  512 
bis  517  veröffentlichen,  haben  diese  Er  War- 
tung in  vollem  Maße  bestätigt.  In  einem 
kugelförmigen  Quarzgefäß,  dessen  unterer  Teil 
mit  Quecksilber  gefüllt  ist,  wird  ein  Platindraht 
durch  einen  elektrischen  Strom  zum  Glühen  ge- 
bracht und  sendet  die  Elektronen  aus.  Ihm  steht 
im  oberen  Teil  des  Gefäßes  ein  durch  das  Galva- 
nometer mit  der  Erde  verbundenes  Platindrahtnetz 
gegenüber.  Zwischen  diesem  und  dem  Glühdraht 
wird  die  beschleunigende  Spannung  angelegt.  Der 
Apparat  wird  durch  einen  ringförmigen  Gasbrenner 
auf  150"  erhitzt.  Zur  Untersuchung  der  auftreten- 
den Strahlung  dient  ein  Ultraviolettspektrograph 
von  Fueß.  Die  nach  ein-  bis  zweistündigem 
Exponieren  erhaltenen  Photographien  zeigen  ein 
bis  ins  Violette  gehendes,  kontinuierliches  Spek- 
trum, das  von  dem  glühenden  Draht  herrührt,  und 
ferner,  durch  einen  weiten  Abstand  getrennt, 
deutlich  die  Linie  253,6  f-i/i,  aber  in 
keinem  Fall  auch  nur  eine  Andeutung 
der  anderen  Hg-Linien.  Liegt  die  beschleu- 
nigende Spannung  unter  der  kritischen  von  5  Volt, 
so  tritt  auch  die  Linie  253,6  uii  nicht  auf.  — 
Da  die  lonisierungsspannung  sich  nach  der  oben 
geschilderten  Methode  recht  genau  bestimmen  läßt, 
läßt  sich  die  Plank'sche  Konstante  h  aus  ihnen 
mit  einem  möglichen  Fehler  von  2  "/o  berechnen ; 
h  =  6,59-io~-'  erg  sec.       K.  Schutt,  Hamburg. 

Über  Messungen    der  durchdringenden    Strah- 


lungen bis  in  Höhen  von  9300  m  berichtet 
W.  Kolhörster  (Charlottenburg)  in  den  Be- 
richten der  Deutschen  Physikalischen  Gesell- 
schaft XVI  (191 4)  Seite  719.  Die  Messungen 
sind  mit  dem  Elektrometer  nach  Wulf,  das  vom 
Verfasser  verbessert  wurde,  auf  4  Ballonfahrten 
ausgeführt,  die  sich  zu  einer  Höhe  von  4100,  4300, 
6300  und  9300  m  ausdehnten.  Am  Boden  beträgt 
die  lonisierungsstärke  13,2  Ionen  pro  Kubikzenti- 
meter und  Sekunde,  sie  nimmt  bis  700  m  ab,  um 
dann  zunächst  langsam  und  in  größerer  Höhe 
beträchtlicher  zu  steigen;  so  beträgt  sie  in  6300m 
Höhe  43  Ionen  cm  ■'  sec~'.  Die  folgende  Ta- 
belle gibt  den  Überschuß  der  lonenzahlen  in  der 
Höhe  über  die  Zahl  am  Boden  an 
In 


looom 

Höhe  —1,5 

2000 

+  1-2 

3000 

+4,2 

4000 

+8,8 

5000 

+  16,9 

6000 

+28,7 

7000 

+44,2 

8000 

+61,3 

9000 

+80,4. 

Man  sieht,  daß  die  Zunahme  beträchtlich  ist. 
P^s  scheint  ausgeschlossen,  daß  die  bekannten 
radioaktiven  Substanzen  des  Erdbodens  und  der 
Luft  hierfür  verantwortlich  sind.  Vielmehr  muß 
man  vermuten,  daß  eine  sehr  durchdringende 
Strahlung  kosmischen  Ursprungs  existiert,  die 
wohl  zum  größten  Teil  von  der^. Sonne  herrührt. 
Zur  Entscheidung  dieser  Frage  sind  u.  a.  Be- 
obachtungen während  der  Sonnenfinsternis  vom 
21.  August  d.  J.  in  der  Zone  der  Totalität  beab- 
sichtigt. K.  Schutt,  Hamburg. 

Das  Programm    der  radiotelegraphischen  Aus- 


breitungsversuchebei  Gelegenheit  der  Sonnenfinster- 
nis am  21.  Aug.  1914  wird  von  M.  Wien,  Jena 
in  der  Physikalischen  Zeitschrift  XV  (1914)  Seite  746 
mitgeteilt.  Der  Kernschatten  des  Mondes  bewegt 
sich  in  einer  Breite  von  160  km  mit  einer  Ge- 
schwindigkeit von  1,2  km  von  der  Mitte  Skandi- 
naviens durch  Westrußland  nach  der  Krim.  P\inf 
Gebestationen,  von  denen  jede  mit  einer  andern 
Wellenlänge  sendet  (zwischen  9400  und  1670  m) 
sind  vorgesehen.  Petersburg  liegt  nordöstlich  vom 
Kernschatten,  Bobruisk  in  demselben,  Nauen,  Nord- 
deich und  Paris  südwestlich  außerhalb  des  Kern- 
schattens. Die  Stationen  sollen  abwechselnd  je 
2  Minuten  geben  und  zwar  erst  einen  Buchstaben 
dann  je  4  Striche  von  10  Sekunden  Dauer  mit 
10  Sekunden  Pause.  Wenn  die  5  Stationen  hinterein- 
ander geben,  dauert  eine  Serie  demnach  10  Minuten. 
In  der  Zeit  11''  30'"  bis  iS*"  30'"  (Green wich) 
werden  diese  Serien  ununterbrochen  hintereinander 
gegeben,  so  daß  jede  Station  alle  10  Minuten 
2  Minuten  gibt.  Am  Tage  vor  der  Sonnenfinster- 
nis wird  das  gleiche  Programm  gegeben  und  von 
den  Empfangsstationen  beobachtet  werden.  Die 
Konstanz  der  Intensität  und  der  Wellenlänge 
der  Sendestationen  wird  durch  Hitzdrahtampere- 
meter  und  Wellenmesser  auf  den  Stationen  selbst 
kontrolliert.  Die  Empfangstationen  liegen  auf  bei- 
den Seiten  des  Kernschattens  und  in  demselben, 
namentlich  südwestlich  desselben  sind  sie  in  großer 
Zahl  (Deutschland,  Frankreich  usw.)  vorhanden. 
Nach  Möglichkeit  sollen  auch  die  atmosphärischen 
Störungen  registriert  werden.  Die  Beobachtung 
soll,  wenn  irgend  möglich,  mit  Spiegelgalvanometer 
(von  nicht  zu  langer  Schwingungsdauer)  erfolgen. 
Wenn  die  atmosphärischen  Störungen  allzu  schlimm 
sind,  so  muß  auf  die  Parallelohm-Methode  zurück- 
gegriffen werden.  Die  Ergebnisse  werden  in  den 
einzelnen  Ländern  — •  in  Deutschland  in  Jena  — 
gesammelt  und  dann  von  der  internationalen 
Kommission  zusammen  bearbeitet.  Man  hofft 
durch  diese  Versuche  Aufschluß  darüber  zu  be- 
kommen, in  wie  weit  die  Sonnenstrahlung  Ein- 
fluß auf  die  Ausbreitung  der  elektromagnetischen 
Wellen  längs  der  Erdoberfläche  hat.  Daß  ein 
solcher  Einfluß  in  starkem  Maße  vorhanden  ist, 
zeigt  die  Tatsache,  daß  die  Reichweite  der  Sta- 
tionen bei  Nacht  sehr  viel  beträchtlicher  ist  als 
bei  Tage.  —  Leider  ist  zu  erwarten,  daß  dieses 
Programm  wegen  des  Krieges  nicht  zur  Ausführung 
gelangt.  K.  Schutt,  Hamburg. 


650 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  41 


Medizin.  Über  den  Einf^uß_der  Ernährung 
auf  das  Wachstum^  deTTTeschwülste  haben  van 
A 1  s  t  y  n  e  und  B  e  e  b  e  (Journal  of  niedical  research 
1913)  sehr  interessante  Versuche  ana  Tiere  ange- 
stellt. Von  zwei  Gruppen  gleich  schwerer  Ratten 
wurde  Gruppe  I  mit  Nahrung  gefüttert,  welche 
keine  Kohlehydrate  enthielt  und  ausschließlich 
aus  Casoin  und  Schweineschmalz  zusammengesetzt 
war.  Die  Gruppe  II  wurde  mit  Brot  gefüttert. 
Nach  45— 60  Tagen  wurde  allen  Tieren  zerriebenes 
Sarkomgewebe  inokuliert.  Bei  den  Tieren  I  ent- 
wickelte sich  die  Geschwulst  gar  nicht  oder  wenig. 
hn  Gegensatz  dazu  entstanden  bei  fast  allen  Tieren  II 
Sarkome,  welche  rasch  und  stark  wuchsen.  Wenn 
man  statt  der  Emulsion  Fragmente  der  Geschwulst 
mit  dem  Trokar  einführte,  entwickelte  sich  die 
Geschwulst  bei  allen  Tieren.  Bei  den  Tieren  II 
aber  waren  die  Sarkome  immer  viel  größer,  Rück- 
bildungen traten  sehr  selten  ein  und  die  Mortalität 
war  erheblicher  als  bei  den  Tieren  I. 

In  einer  anderen  Versuchsreihe  erhielten  beide 
Gruppen  ausschließlich  Cascin  und  Schmalz,  aber 
bei  den  einen  war  eine  Portion  Schmalz  durch 
eine  bestimmte  Menge  Milchzucker  ersetzt.  Wäh- 
rend bei  beiden  Gruppen  100  %  Tumoren  hatten, 
waren  dieselben  bedeutend  umfangreicher  bei  den 
Ratten,  welche  Milchzucker  erhalten  hatten. 

Wenn  man,  statt  die  Tiere  vorher  mehrere 
Wochen  dem  Nahrungsregime  zu  unterwerfen,  mit 
diesem  erst  im  Moment  der  Übertragung  des  Sar- 
koms begann,  verhielten  sich  beide  Gruppen  gleich- 
mäßig. 

Genannte  Autoren  wollen  ihre  Forschungen 
fortsetzen,  glauben  aber  schon  jetzt  schließen  zu 
dürfen,  daß  die  Art  der  Ernährung  eine  bedeutende 
Rolle  bezüglich  der  Empfänglichkeit  des  Tier- 
organismus "für  Geschwulsbildungen  spielt. 

Kathariner. 

Physiologie.  Verhalten  der  Kaltblüter  gegen 
das  Tollwutgift.  Bei  der  Mehrzahl  der  Forscher 
ist  die  Meinung  verbreitet,  daß  die  „kaltblütigen" 
(richtiger:  Wechsel  warmen)  Tiere  für  Wutkrank- 
heit unempfänglich  seien.  Es  ist  indes  nur  für 
eine  sehr  beschränkte  Zahl  von  Arten  festgestellt 
worden.  So  hat  J.  Remlinger  das  Virus  fixe') 
Fischen  und  der  mauretanischen  Schildkröte  ohne 
Erfolg  eingeimpft.  Högyes  fand  die  Widerstands- 
fähigkeit des  Frosches  aufgehoben,  wenn  derselbebei 
35"  im  Wärmekasten  gehalten  wurde.  Durch  Babes 
und  Remlinger  konnte  dies  indessen  nicht  be- 
stätigt werden.  In  einer  Mitteilung  (Action  du 
virus  rabique  sur  les  Batraciens  et  les  Serpents, 
C.  R.  Ac.  sc.  Paris  Nr.  3,  20  juillet  iqh')  berichtet 
Marie  Phisalix  über  ihre  Versuche,  welche  sie 
seit  1910  mit  Amphibien  und  Reptilien  zu  wieder- 
holten Malen  und  zu  verschiedenen  Jahreszeiten 
angestellt    hat.      Zur    Verwendung   kamen:   Gras- 


1)  Es  ist  das  von  einem  spontanen  Fall  (Straüenvirus) 
herrührende  Wutgift,  welches  durch  Tierpassage  zu  einer  kon- 
stanten Höchstvirulenz  gebracht  ist. 


und  Wasserfrosch,  Kröte,  Erdsalamander,  Bhnd- 
schleiche,  Ringel-  und  Wassernatter  und  Aspisviper. 
Das  Gift  wurde  an  den  verschiedensten  Stellen 
eingeimpft :  Subkutanes  Bindegewebe,  Peritoneum, 
Muskel  und  vordere  Augenkammer.  Von  den  Tieren 
der  zehn  Versuchsreihen  wurden  die  von  drei  im 
Wärmekasten  bei  35''  gehalten.  Ein  Unterschied 
zwischen  ihnen  und  den  Kontrolltieren  zeigte  sich 

nicht. 

Während  bei  den  meisten  die  Resultate  vollständig 

negativ  waren,  erlagen  die  Salamander  und  Vipern  in 
den  ersten  5—12  bzw.  5  — 8  Tagen  unter  Lähmungs- 
erscheinungen.   Im  ganzen  wurden  48  Vipern  und 
22  Salamander   den  Versuchen   unterworfen.    Die 
Stelle    der    Einimpfung    spielte    für    den    Verlauf 
keine  Rolle.    So  war  es  einerlei,  ob  bei  den  Vipern 
das  Gift    in    das  Auge    oder  unter   die  Haut    ein- 
o-ebracht    wurde.     Bei    den   Vipern   war    indessen 
nur     die    Körpermuskulatur     gelähmt,     denn    sie 
konnten    beißen,    indem    sie    ihre    Giftzähne    auf- 
richteten, wenn  sie  stark  gereizt  wurden;  aber  es 
war  ihnen  unmöglich,    ihren  Körper,    wie  sie  das 
gewöhnlich  tun,  in  Verteidigungsstellung  zu  bringen; 
sie  blieben  vielmehr  bis  zu  ihrem  Tode  unbeweg- 
lich auf  einem  Platz  liegen.    Bei  der  Autopsie  sah 
man  an  der  Impfstelle  nichts  Außergewöhnliches. 
Wurde    eine   Emulsion    des  Gehirns   gesunden 
Tieren    inokuliert,    starben    diese;    anfangs    wirkte 
sie  ebenso  stark  als   das  Gift  selbst.     Vipern  und 
Salamander  waren  aber  nicht  an  der  Wutkrankheit 
zugrunde    gegangen.      Dies    ging    daraus    hervor, 
daß  Kaninchen,    denen    nach    dem  Verfahren   von 
Pasteur    und    Roux    eine    Emulsion    des    ver- 
dächtigen Gehirns    unter   die  Meningen    gebracht 
worden  war,    nicht  an  der  Wut  eingingen.     Viel- 
mehr ergab  sich  aus  anderen  Versuchen,   daß  die 
normale    Nervensubstanz    sowohl    für    Kaninchen, 
als    für  Viper    und  Salamander    ein  Gift    darstellt. 
Die  scheinbare  Ausnahme,  welche  der  Salamander 
und    die  Aspisviper   von    den    übrigen    genannten 
Tieren  machen,    erklärt  sich  aus   der  Giftwirkung 
der  Gehirnsubstanz,    ob    dieselbe    nun    von  einem 
cresunden    oder   einem    wutkranken   Tier   stammt. 
"     Wie    die     gleiche    Verf.    schon    früher    zeigte 
(Vaccination  contre   la  rage  experimentale   par  la 
secretion    cutanee  muqueuse    des  Batraciens,   puis 
par   le   venin    de    la    vipere    aspic.   C.   R.    Ac.    sc. 
Paris,  Nr.  I,  6  juillet  1914),  wirkt  das  Gift  der 
Hautdrüsen    der    Amphibien   in  Verbin- 
dung    mit     Viperngift      immunisierend 
gegen  die  Tollwut. 

Kaninchen,  welche  mit  dem  Schleim  der  Haut- 
drüsen des  gefleckten  Salamanders  vorbehandelt 
waren,  widerstanden  der  Einimpfung  einer  mehr- 
fach tödlichen  Dosis  des  Viperngiftes.  Da  ein 
cTemeinsames  Symptom  beider  Gifte  und  jenes 
der  Tollwut  die  Lähmung  ist,  wurde  mit  beiden 
Giften  behandelten  Kaninchen  das  Virus  fixe  der 
Tollwut  eingeimpft.  . 

Der  Verlauf  der  Versuche  war  folgender:  Bei 
3  Kaninchen  wurde  der  Hautschleim  des  gefleckten 
Salamanders     in     Pausen     von     3     Tagen    4  mal 


N.  F.  XIII.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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intravenös  eingespritzt.  Er  wurde  gewählt,  weil 
er  sich  durch  Erhitzen  aseptisch  machen  läßt, 
ohne  seine  Giftigkeit  zu  verlieren.  Es  wurden 
jedesmal  3  ccm  eingespritzt,  entsprechend  einer 
Menge,  welche  von  4  Salamandern  gewonnen  wurde, 
die  durch  Aether-  oder  Chloroformdämpfe  zur  Aus- 
scheidung des  Sekrets  der  Hautdrüsen  gebracht 
worden  waren.  Drei  Tage  nachher  vertrugen  die 
Tiere  mehr  als  die  doppelte  tödliche  Dosis  Vipern- 
gift, dem  die  Kontrolltiere  in  weniger  als  2  Stunden 
erlagen.  Sechs  Tage  nachher  wurde  2  Tieren 
vom  Institut  Pasteur  in  Paris  bezogenes  Virus 
fixe  unter  die  Bindehaut  des  Auges,  in  die  vordere 
Augenkammer  und  unter  die  Gehirnhäute  gebracht. 
Die  Kaninchen  erkrankten  nicht  an  der  Tollwut. 
Die  Immunität  war  nach  6  Wochen  noch 
vorhanden.  Einzeln  angewandt  konnte  das  Sala- 
mander- oder  Viperngift  nicht  gegen  die  Toll- 
wut immunisieren,  sondern  nur  den  tödlichen 
Ausgang  verzögern.  Kathariner. 

Der  kolloidale  Kohlenstoff  als  ein  Gegen- 
mittel bei  Vergiftungen  (nach  Versuchen  von 
L.  Sabatani,  Archivio  di  fisiologia,  settembre 
191 3).  Wenn  man  Kaninchen  eine  Mischung  von 
Strychnin  und  der  sechsfachen  Menge  von  kollo- 
idalem Kohlenstoff  subkutan  injiziert,  so  erliegen 
sie  nicht   der   tödlichen    Dosis    und    weisen  keine 


Zeichen  der  Vergiftung  auf  Wird  die  Dosis  des 
Kohlenstoffs  verdoppelt  oder  verdreifacht,  be- 
obachtet man  nur  eine  leichte  und  vorübergehende 
Steigerung  der  Reflexe.  Wenn  die  Dosis  des  Kohlen- 
stoffs dagegen  nur  das  Fünffache  der  Strychnindosis 
beträgt,  wird  das  Kaninchen  vergiftet.  Die  Krank- 
heitserscheinungen sind  schwer,  aber  man  kann 
das  Tier  noch  am  Leben  erhalten.  Wenn  die 
Menge  des  kolloidalen  Kohlenstoffs  dagegen  nur 
das  Zwei-  oder  Dreifache  der  tödlichen  Dosis  des 
Alkalolds  beträgt,  erliegen  die  Kaninchen  immer 
der  Vergiftung.  Die  Wirkung  des  Kohlenstoffs 
wird  erklärt  aus  einer  unmittelbaren  Absorption 
des  Strychnins  durch  den  kolloidalen  Kohlenstoff. 

Strychnin  und  Kohlenstoff  müssen  gleichzeitig 
und  an  derselben  Stelle  injiziert  werden.  Wenn 
sie  an  zwei  getrennten  Stellen  injiziert  werden, 
erliegt  das  Tier  der  Vergiftung. 

Die  Stelle  der  Injektion  ist  gleichfalls  von  hoher 
Wichtigkeit.  Bei  der  Einspritzung  in  eine  Vene 
erliegt  das  Tier  selbst  bei  richtiger  Dosierung. 

Es  wäre  interessant,  noch  mehr  Versuche  an- 
zustellen, um  zu  sehen,  ob  der  Kohlenstoff,  dank 
seiner  Fähigkeit  zur  Absorption,  als  Gegengift  auch 
bei  anderen  giftigen  Alkaloiden  wirkt  und  auf 
Gifte  im  allgemeinen,  sowohl  auf  solche,  die  von 
außen  eingeführt  werden,  als  auf  solche,  die  im 
Körper  selbst  gebildet  wurden.  Kathariner. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Einige  auffallende  Beispiele  von  Mimikry  bei 
tropischen  Insekten.  Schon  in  der  einheimischen 
Tierwelt  gibt  es  ziemlich  viele  Tiere,  besonders 
Insekten,  die  sich  unkenntlich  machen,  sei  es  daß 
sie  durch  bestimmte  Färbung,  Zeichnung  oder 
auch  gleichzeitig  durch  eigenartige  F'orm  in  der 
Umgebung  zu  verschwinden  vermögen,  sei  es  daß 
sie  andere  Tiere  nachahmen  oder  durch  unheim- 
liche Form  verblüffen  oder  gar  schrecken  können. 
Ganz  besonders  zahlreich  sind  aber  diese  Er- 
scheinungen, die  immer  eins  der  interessantesten 
Kapitel  der  Biologie  ausgemacht  haben,  in  den 
Iropen.  Es  ist  geradezu  erstaunlich,  in  welcher 
Fülle  und  Eigenartigkeit  sie  hier  selbst  dem  nicht 
besonders  auf  sie  eingestellten  Beobachter  ent- 
gegentreten, so  daß  auch  der  eingefleischteste  Skep- 
tiker sich  der  starken  Wirkung  zum  mindesten 
auf  seine  eigene,  die  Natur  durchstreifende  Person 
nicht  verschließen  kann.  Beispiele  wie  die  wan- 
delnden Blätter,  die  Stabheuschrecken  sind  so  be- 
kannt, daß  sie  schon  fast  zum  eisernen  Bestand 
des  biologischen  Unterrichtes  gehören,  ja  vielen 
durch  private  und  öffentliche  Terrarien  und  In- 
sektenhäuser aus  eigener  Erfahrung  vertraut  sind. 
Vielleicht  ist  aber  die  Mitteilung  einiger  weniger 
bekannter  Fälle  erwünscht,  die  der  Verfasser  in 
der  verschwenderisch  reichen  Natur  der  paradi- 
sischen  Insel  Java  aus  eigener  Anschauung  kennen 
lernte  und  zum  Teil  photographierte.     Allerdings 


geben  die  Photographien  wegen  des  Mangels 
der  Farbe  den  ursprünglichen  Eindruck  nur  un- 
vollkommen wieder  und  es  bedarf  der  durch  das 
Wort  unterstützten  rekonstruierenden  Einbildungs- 
kraft, um  einigermaßen  in  dem  Leser  den  Eindruck 
lebendig  werden  zu  lassen,  den  der  Verfasser  hatte. 
Er  kann  aber  versichern,  daß  dieser  Eindruck  ganz 
außerordentlich  frappant  war  und  nicht  etwa  aus 
der  voreingenommenen  und  übertreibenden  Phanta- 
sie eines  auf  sensationelle  „biologische  Ent- 
deckungen" ausgehenden  Biologen  entsprang.  Lei- 
der war  es  mir  wegen  der  durch  andere  Inter- 
essen sehr  in  Anspruch  genommenen  Zeit  nicht 
möglich,  von  allen  Objekten  eine  zuverlässige  Be- 
stimmung zu  erlangen.  Die  Namen,  die  mitge- 
teilt werden,  gehen  auf  die  überaus  freundliche 
Belehrung  zurück,  die  mir  nachträglich  der  Direktor 
des  Botanischen  Gartens  zu  Buitenzorg  auf  Java, 
Herr  Professor  Dr.  Koningsberger  auf  Grund 
meiner  Photographien  und  Beschreibungen  er- 
teilte und  für  die  ihm  auch  hier  herzlichst  ge- 
dankt sei. 

Eines  Tages,  als  ich  beim  Mikroskopieren  be- 
schäftigt war,  hörte  ich  das  charakteristische 
Schleifen  nackter  Füße  neben  mir,  das  jeder 
Tropenreisende  genugsam  kennt,  und  als  ich  auf- 
schaute, kauerte  neben  mir  ein  kleiner  Sunda- 
nesenjunge,  der  mir  mit  seinen  schlanken  Affen- 
fingern ein  Blatt  entgegenstreckte  und  seine  hüb- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  41 


sehen,  schwarzen,  sanften  Augen  gespannt  auf  das 
Gesicht  des  Tuan  Propessor's  ^)  in  Erwartung 
einiger  Sen  heftete.  Ich  warf  einen  Bück  auf  das 
große  Blatt  und  wollte  ihn  gerade,  da  ich  nichts 
an  ihm  bemerkte  mit  einem  „tida  pake"  -)  ab- 
weisen, als  er  „ular  bulu"  '''j  murmelnd  auf  eine 
Stelle  des  Blattes  wies.  Ich  sah  nun  bei  genau- 
erer Prüfung  in  der  Tat  eine  Raupe  auf  dem  Blatte 
sitzen  von  einer  sehr  merkwürdigen  Gestalt  und 
Zeichnung.  Sie  war  blattgrün  gefärbt,  auf  dem 
Rücken  zog  sich  eine  hellere  Linie  entlang. 
Das  Merkwürdigste  waren  aber  in  einem  spitzen 
Winkel  abstehende,  ebenfalls  grünlich  gefärbte, 
verzweigte  h'ortsätze,  die  die  Raupe  als  einen 
flachen  der  Blattfläche  anliegenden  Saum  umgaben 
(vgl.  Fig.    i).     Indem    sich    nun    diese    Raupe    auf 

die  Mitterippe 
gesetzt  hatte, 
verschmolz  sie 
mit  Hilfe  des 
Längsstriches 
und  des  Sau- 
mes, der  aus 
stärkeren,  mit 
feinen  Seiten- 
zweiglein  be- 
setzten Asten 
bestand ,  so 
vollkommen 
mit  der  Ner- 
vatur des  Blat- 
tes, daß  sie  bei 
flüchtiger  Be- 
trachtung un- 
sichtbar wur- 
de. Ursprüng- 
lich hatte  sie 
sich  so  gesetzt, 
daß  die  Rich- 
tung der 
Hauptäste  des 
Fiedersaumes 
parallel  zur 
Richtung  der 
Seitennerven 
erster  Ord- 
nung waren, 
später  hatte 
sie   sich   dann 

umgedreht, 
und  da  sie  sich 
weigerte,  wieder  ihre  ursprüngliche  Lage  anzu- 
nehmen und  die  Zeit  drängte,  mußte  sie  in  dieser 
Lage  abgebildet  werden,  die  weniger  frappant  wie 
anfänglich  war.  Die  Raupe  gehört  zu  der  Gattung 
Euthalia. 

Die  folgenden  beiden  Bilder  (Fig.  2  u.  3)  zeigen 
Raupen  der  Gattung  Papilio.  Wie  man  sieht,  haben 


Fig.   I.     Raupe  einer  Euthalia  spec, 
Nervatur  des  Blattes   nachahmend. 


sie  eine  kragenartige  Wulst,  unter  die  sie,  wenn 
sie  still  sitzen  oder  beunruhigt  werden,  den  Kopf  zu- 
rückziehen, wie  das  ja  auch  viele  einheimische  Raujjen 
tun.  Der  Buckel  ist  nach  vorn  zu  flach  und  be- 
kommt, da  hier  ein  stark  hervorstechender  weißer 
Saum  verläuft,  ein  eigentümliches  schnauzenförmiges 
Aussehen.  Zu  beiden  Seiten  des  kammartigen  höch- 
sten Punktes  des  Buckels  sitzt  je  ein  weißer,  eben- 
falls scharf  hervortretender  Fleck,  in  welchem 
eine  dunklere  Stelle  ausgespart  ist,  so  daß  er  den 
Eindruck  eines  glänzenden  hervorspringenden  Kör- 
pers, eines  Auges,  macht.  Es  ist  ein  unbe- 
schreiblich merkwürdiger  Anblick,  wenn  man,  wie 
es  die  Fig.  3  zeigt,  eine  größere  Zahl  dieser 
Raupen  auf  dem  Aste  einer  Citrusart  sitzen  sieht, 
mit  den  breiten  Schnauzen  und  den  überall  tückisch 
funkelnden  Augen. 


^)    Die  Javanen  können    ebenso    wie    die    Singaleseu    das 
f  schlecht  aussprechen, 

-)  Malayisch :  Das  brauche  ich  nicht. 
^)  Raupe,  eigentlich   „Federschlange". 


l'ig.  2.     Raupen  einer  Papilio  spec.  mit  .\ugen  und  Schnauzen. 

Sehr  verbreitet  sind  in  Java  die  Loranthus- 
arten,  grüne  Parasiten,  die  ebenso  wie  unsere 
Misteln,  mit  denen  sie  nahe  verwandt  sind,  über- 
all als  große  Sträucher  auf  den  Bäumen  sitzen. 
Ihre  Früchte  werden  ebenso  wie  die  der  Mistel 
von  Vögeln  gefressen  und  da  sie  ebenfalls  klebrige 
Stoffe  enthalten ,  haften  die  Samen,  von  dem 
\^ogelschnabel  an  Ästen  abgestrichen,  leicht  an 
ihnen  fest,  so  daß  man  sie  bei  aufmerksamem 
Suchen  sehr  häufig  an  Asten  auffinden  kann.  Sie 
keimen  bald  aus  und  treiben  zunächst  eine  Art 
Ausläufer,  der  bei  passender  Orientierung  des 
Samens  sich  dem  Aste  anschmiegt.  Eines  Tages 
fand  ich  nun  an  einem  Aste  ein  Gebilde,  das  so- 
fort den  Eindruck  eines  loranthusartigen  Keim- 
lings machte,  sich  aber  von  den  typischen  mir 
wohl  vertrauten  unterschied,    so   daß    ich  glaubte. 


N.  F.  Xni.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


653 


eine  mir  bisher  unbekannte  Art  mistclnrtigcr 
Parasitenl<eimlinfjc  vor  mir  zu  haben.  Mit  einem 
Male  hub  sich  der  Keimling  auf  und  wandelte. 
Es  war   eine  Raupe.     Wie  Fig.  4    erkennen    läßt, 

hatte  auch  sie 
einen  starken 
Buckel ,  der 
aber  von  run- 
der Form  und 
fein   gerippter 

Oberfläche 
war.  Dazu  war 

er     intensiv 
grün  und   von 
einem       solch 
starken    Glän- 
ze, daß  er  wie 
mit  einer 
schleimigen 
Masse      über- 
zogen   schien. 
Als     ich     das 
Wunderding 
einem    hollän- 
dischen Fach- 
genossen  (der 

allerdings 
noch       Orang 
baru  ^)      war) 
zeigte,  meinte 
er:    aha,    ein 

Loranthus- 
keimling!  und 

war    dann 
ebenso       ver- 
dutzt,  als   das 
Ding     wieder 
anfing  zu  mar- 
schieren.   Der 
hintere      dün- 
nere Teil    der 
Raupe    war 
wurzelgelb 
und   so  scharf 
gegen     die 
glänzend 
grüne  Buckel- 
kugel      abge- 
setzt,   daß    es 
aussah,  als  ob 
er     aus      ihm 
hervorwüchse. 
Die     aus    der 
Raupe    sich 
entwickelnde 
Imago  ist  Ca- 
rea  subtilis  aus 
der       Familie 
der       Noctui- 
den. 


Fig.   3.     Wie  Fig.  2. 


Eine  andere  nicht  minder  merkwürdige  Raupe, 
von  der  ich  aber  leider  weder  eine  Photographie 
habe  noch  den  Namen  angeben  kann,  sah  aus 
und  verhielt  sich  folgendermaßen.  Die  gelb  und 
schwarz  gefleckte  Raupe  bewegte  sich  nach  der  Art 
der  Spanner.  Sie  hat  auf  dem  3.,  4.,  5.,  und  6.  Seg- 
ment je  vier  lange,  stahlblaue  an  den  Enden  durch- 
sichtige, bandartige,  schwach  spiralig  gedrehte 
Anhängsel,  außerdem  noch  Haare.  Das  mittlere 
Paar  der  Anhängsel  des  4.  Segmentes  ist  beweg- 
lich und  wird  beim  Kriechen  rasch  vor-  und  rück- 
wärts geschlagen,  und  zwar  in  gleichem  oder  in  ver- 
schiedenem Tempo.  Die  Raupe  sieht  dadurch  ganz 
fremdartig  aus,  erinnert  an  kein  bestimmtes  Tier, 
täuscht  am  ehesten  vielleicht  ein  wespenartiges, 
mit  den  Beinen  zappelndes  Insekt  vor,  macht  aber 
auf  alle  Fälle  einen  sehr  verdächtigen  Eindruck. 
Das  letzte  Beispiel,  das  auf  der  F'ig.  5  abge- 
bildet ist,  betrifft  eine  ebenfalls  nicht  näher  be- 
stimmte Puppe,  die  wiederum  an  einem  Djeruk- 
zweige  (Citrus  spec.)  befestigt  war.  Sie  hatte  die 
gleiche  dun- 
kelgrüne 
Farbe  wie  die 
Blätter,  und 
da  sie  sich  mit 
einem  Stiel  an 
dem  Ast  an- 
geheftet hatte 
und    auf  ihrer 

Oberfläche 
eine  helle  auf 
den  Stiel  zu- 
laufende Linie 
hervortrat,  rief 
sie  auf  das 
täuschendste 
den    Eindruck  *"^ 


Fig.  5.    Puppe,  ein  Blatt  nachahmend, 

auf  Citrus. 

Der  Pfeil  weist  nach   der  Puppe. 


Fig.  4.     Raupe  von  Carea  subtilis, 
einen  Loranthuskeimling  nachahmend. 


')  Neuling,   orang  Mensch,  baru  neu  (malayisch). 


emes  einge- 
rollten Blattes 
hervor;      und 

dieser    Ein- 
druck    wurde 

dadurch  noch  um  so  natürlicher,  als,  wie  dies  auch 
das  Bild  veranschaulicht,  die  Djerukblätter  oft 
etwas  eingerollt  sind. 

Zum  Schluß  noch  einige  allgemeine  Bemer- 
kungen !  Es  fällt  bei  vielen  Nachahmungen  auf, 
daß  sie  durchaus  nicht  sehr  vollkommen  sind,  oft 
auch  gar  kein  genau  zu  definierendes  Vorbild 
haben.  Der  „Loranthuskeimling"  existiert  in  der 
Botanik  nicht,  was  für  Tiere  die  Augenraupen 
und  die  Spanner  eigentlich  nachahmen,  ist  nicht 
zu  sagen.  Wenn  sich  die  Raupe  von  Euthalea 
„falsch"  auf  das  Blatt  setzt,  so  wirkt  ihre  Ver- 
mummung nicht  oder  wenigstens  unvollkommener 
und  sieht  man  scharf  hin,  so  erkennt  man  die 
Raupe  natürlich  bald  auch  in  richtiger  Lage.  Man 
könnte  hieraus  ableiten,  daß  man  liier  oft  über- 
haupt falsch  deutet.  Doch  ist  folgendes  zu  bedenken. 
Ein  gewisser  Schutz  wird  auch  dann  schon  er- 
reicht,   wenn  eine  oberflächliche    und  ganz    allge- 


6S4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  41 


meine  Ähnlichkeit  besteht,  geradeso  wie  auch  wir 
Dinge  und  Menschen  täglich  verwechseln  oder 
übersehen  und  uns  nachher  darüber  wundern,  wie 
das  möglich  war.  Bei  den  ganz  grotesken  und 
fremdartigen  Formen,  wie  z.  B.  bei  den  Augen- 
raupen, den  Spannern,  ist  es  wie  ich  glaube,  ge- 
rade auf  das  Fremdartige,  schwer  Definierbare, 
Fabelhafte  abgesehen,  vor  dem  das  etwa  feindliche 


i'ier  stutzt  und  vorsichtig  auf  den  Anbiß  ver- 
zichtet. F"reilich  müßte  auch  wirklich  der  Versuch 
gemacht  werden,  nachzuweisen,  daß  dieser  Erfolg 
eintritt.  Das  ist  wohl  nur  in  den  seltensten  I'"ällen 
geschehen,  so  daß  den  Deutungen  vieler  solcher 
,,Mimikry"-Phänomene  im  weitesten  Sinne  unver- 
meidlich ein  stark  hypothetisches  Moment  anhaftet. 

Miehe. 


Bücherbesprechimgen. 


Klein,    F.    und    Sommerfeld,    A.,     Über    die 
Theorie    des  Kreisels.     Heft  i:    Die  kine- 
matischen und  kinetischen  Grundlagen  der  Theo- 
rie.    196   Seiten    und    23   Textfiguren.     Leipzig 
und  Berlin  1914,  B.  G.  Teubne  r.  —  Preis  geh. 
5, 60  Mk. 
Die    mathematisch-physikalische    Literatur    er- 
fährt   durch    die    mit    dem    vorliegenden   Heft    im 
Erscheinen  begriffene  umfassende  Monographie  eine 
sehr    wertvolle    Bereicherung.      Ursprünglich    aus 
Vorlesungen   von    Herrn    Klein    aus   den  Jahren 
189596  hervorgegangen,  sucht   die    gegenwärtige, 
durch    die    Mitarbeit    von    Herrn    Sommerfeld 
entstandene  Fassung   nicht   nur  eine  erschöpfende 
Behandlung  des  rein  mechanischen  Spezialproblems 
zu  bieten,  sondern  auch  dem  großen  Interesse  ge- 
recht zu  werden,  welches  die  Kenntnis  der  Kreisel- 
bewegung   für    die  Nachbargebiete   der  Mechanik, 
namentlich    der    Astronomie,    die   Geophysik    und 
die  Technik    besitzt.     Besonders   zu    begrüßen    ist 
die  in  der  klaren  Präzisierung  der  Grundlagen  des 
Problems  und  der  scharfen  Betonung  der  mecha- 
nischen Ursachen  der  Kreisclbewegung  zum  Aus- 
druck   gebrachte    Tendenz    nach    einer    über    den 
Formeln      stehenden     mechanischen     Auffassung, 
welche    jede    Schwierigkeit    für    das    Verständnis 
auch    der    komplizierteren    Verhältnisse    beseitigt 
und    die    Bedeutung    der    analytischen    Verfahren 
von  vornherein  klarlegt. 

Die  Darstellung  beschränkt  sich  im  wesent- 
lichen auf  diejenigen  Probleme,  welche  mit  Hilfe 
elliptischer  P"unktionen  lösbar  sind,  d.  i.  die  Be- 
wegung eines  der  Schwere  unterworfenen  starren 
Körpers  mit  symmetrisch  um  eine  Achse  des  Körpers 
verteilter  Masse  und  mit  festem  Unter- 
stützungspunkt. Der  allgemeinere  Fall  eines 
Kreisels  mit  beweglichem  Unterstützungspunkt 
führt  auf  hyperelliptische  P"unktionen  und  wird 
nur  anhangsweise  betrachtet. 

Das  vorliegende  i.  Heft  enthält  die  Festlegung 
der  geometrischen  und  mechanischen  Grundlagen 
der  Kreiseltheorie  und  die  X'orbereitung  der  ana- 
lyptischen  Behandlung,  deren  Durchführung  im 
2.  Heft  erfolgt.  Im  i.  Kapitel  findet  sich  die 
Kinematik  des  Kreisels,  welche,  lediglich  mit  den 
Begriften  Raum  und  Zeit  operierend,  die  Be- 
wegungen nach  ihrer  geometrischen  Möglichkeit 
untersucht.  Daran  schließt  sich  im  2.  Kapitel 
die  einleitende  kinetische  Behandlung-  welche  durch 


Hinzunahme  der  Begriffe  von  Masse  und  Kraft  die 
Bewegungen  mit  Rücksicht  auf  ihre  mechanische 
Möglichkeit  untersucht.  Die  Verff.  legen  hier  be- 
sonderen Wert  auf  die  konsetjuente  Benutzung  des 
Begriffs  des  Impulses  als  derjenigen  Stoßkraft,  welche 
imstande  ist,  die  jeweilige  Bewegung  des  Körpers 
von  der  Ruhe  aus  hervorzurufen.  Das  3.  Kapitel 
enthält  die  Ableitung  der  wichtigen  Euler' sehen 
(ileichungen  und  daran  anschließend  weitere  Aus- 
führungen zur  Kinetik  des  Kreisels. 

Das  ganze  Werk  wird  4  Hefte  umfassen. 

A.  Becker. 

Scheffer,  W.,  Das  Mikroskop.  2te  Auflage 
1914,  B.  G.  Teubner.  (Aus  Natur  und  Geistes- 
welt Bd.  35.) 

Nach  des  Verfassers  Vorrede  stellt  sein  Büch- 
lein einen  Versuch  dar,  „auf  eine  einfache,  auch 
dem  Laien  verständliche  Weise  das  für  den  ver- 
nünftigen Gebrauch  des  Mikroskopes  und  seiner 
einfacheren  Hilfsapparate  Notwendigste  in  leicht 
faßlicher  Form  vorzubringen". 

Bekanntlich  haben  nicht  nur  Laien,  sondern 
auch  viele  mikroskopierenden  Praktiker  nur  eine 
recht  vage  Vorstellung  von  der  Wirkungsweise 
ihres  Instruments  und  es  gibt  unter  den  Biologen, 
die  sich  tagtäglich  des  Mikroskopes  bedienen,  nicht 
wenige,  denen  nicht  einmal  so  kardinale  Begriffe 
wie  etwa  die  numerische  Apertur,  geschweige  denn 
die  Elemente  der  Abbe'schen  Theorie  der  mikro- 
skojiischen  Bilderzeugung  geläufig  sind.  Mit  Rück- 
sicht darauf  muß  jeder  Versuch,  der  sich  in  der 
Richtung  des  Verfassers  bewegt,  von  vornherein 
begrüßt  werden,  wenn  er  auch  das  genannte  Ziel 
„das  Notwendigste  leicht  faßlich  vorzutragen" 
nicht  in  allen  Punkten   erreichen  sollte. 

Die  wichtigsten  Kapitel  stellen  einen  gedräng- 
ten Auszug  aus  des  Verfassers  ausführlicherem 
Buche:  Wirkungsweise  und  Gebrauch  des  Mikro- 
skopes, das  im  gleichen  Verlage  erschienen  ist,  dar. 
Peinige  Abschnitte  sind  dabei  allerdings  zu  knapp 
ausgefallen  und  nur  für  einen  Leser  verständlich, 
der  bereits  über  eine  größere  Kenntnis  der  Optik 
verfügt.  So  wird  bereits  in  den  ersten  Sätzen,  die 
über  die  Lupe  handeln,  diese  in  Figur  und  Text 
durch  die  beiden  Hauptebenen  und  die  Brennebenen 
angedeutet,  ohne  daß  diese  Begriffe  irgendwie 
erläutert  werden.  Ein  Laie  dürfte  sich  aber  unter 
den    beiden    Hauptebenen    schwerlich    etwas    vor- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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stellen  können.  Auch  was  über  Pupillen  und 
Luken  gesagt  wird,  wird  kaum  ausreichen, 
um  dem  Leser  eine  klare  Vorstellung  dieser  Be- 
o-riffe  zu  vermitteln.  Weit  besser  scheinen  dem 
Referenten  die  Kapitel,  die  über  die  Objektbe- 
leuchtung handeln  (Abschn.  IV  und  VII),  gelungen 
zu  sein.  Weitere  Kapitel  sind  den  Stativen  und 
einigen  wichtigen  Hilfsapparaten  gewidmet.  Ein 
einleitender  Abschnitt  bringt  einige  historische 
Daten,  schildert  an  der  Hand  von  Abbildungen 
die  alten  „Flohgläser",  die  Mikroskope  Leeuwen- 
hoek's  und  R.  Hooke's  und  deren  Leistungen 
usw.  Ein  Schlußkapitel  behandelt  die  Herstel- 
lung der  Präparate ,  wobei  auch  die  Mikrotom- 
und  Färbetechnik  ganz  kurz  gestreift  werden  und 
die  mechanische  Wirkung  des  Mikrotommessers 
beim  Schneiden  der  Paraffinblöcke  eine  Besprechung 
erfährt. 

Zur  Orientierung  über  die  wichtigsten  Fragen 
kann  das  Büchlein  jedenfalls  empfohlen  werden; 
da  dort  auf  weitere  Literatur  nicht  verwiesen 
wird,  seien  Leser,  die  sich  eingehender  mit  dem 
Gegenstande  befreunden  wollen,  noch  auf  einige 
andere   einschlägige  Bücher  aufmerksam  gemacht. 

Über  alle  allgemeineren  optischen  Fragen 
orientiert  aufs  beste  die  ausgezeichnete  Darstel- 
lung in  den  letzten  beiden  Auflagen  von  Müller- 
Pouillets  bekanntem  Physikbuche  aus  der  Paeder 
Lummer's.  Als  erste  Einführung  an  der  Pland 
ganz  einfacher  Versuche  ist  W.  V  o  1  k  m  a  n  n '  s 
Praxis  der  Linsenoptik  (Berlin,  Gebr.  Bornträger) 
unübertreftlich.  M.  v.  Rohr,  die  optischen  Instru- 
mente (Aus  Natur  und  Geisteswelt  Bd.  88.  2.  Aufl.) 
behandelt  neben  den  photographischen  Ob- 
jektiven, Projektionssystemen,  Brillen  und  Tele- 
skopen auch  Lupe  und  Mikroskop  klar  und  aus- 
führlich. Die  im  Verlage  von  S.  Hirzel  Leipzig 
erschienenen  3  Heftchen  ,, Übungen  zur  wissen- 
schaftlichen Mikroskopie",  zusammengestellt  von 
H.  Siedentopf,  H.  Ambronn  und  A.  Köhler 
dürften  in  der  Bibliothek  eines  jeden,  der  mikro- 
skopisch arbeitet,  nicht  fehlen.  Sie  enthalten  den 
Übungsstoff  der  Ferienkurse  für  wissenschaftliche 
Mikroskopie,  die  erfreulicherweise  ein  stets  wach- 
sendes Interesse  finden.  Buder. 


Hesse,    Rieh.,    und    Doflein.  Franz,    „Tier bau 
u  n  d  T  i  e  r  1  e  b  e  n.  IL  Band.     Das  Tier  als  Glied 
des  Naturganzen"   von  Fr.  Doflein.     Mit  740 
Abbildungen  im  Text  und  20  Tafeln  in  Schwarz- 
und  Buntdruck.     Leipzig  und  Berlin  1914.     Verl. 
B.  G.  Teubner.  —  Preis  geb.  20  Mk. 
Der   von  vielen    Biologen    und    Naturfreunden 
sehnlich    erwartete  II.  Band    der  großzügig   ange- 
legten modernen  Tierbiologie:  Tierbau  und  Tier- 
leben von  Hesse  und  Doflein  ist  nun  auch  er- 
schienen und  damit  das  Werk  zum  Abschluß  ge- 
bracht.    Während  der  von  R.  Hesse  bearbeitete 
I.    Band    das    Tier    als    selbständigen    Organismus 
behandelt,    schildert   Fr.  Doflein    hier    das  Tier 
als    Glied    des    Naturganzen,    d.    h.    in    dem    Zu- 


sammenhang mit  seiner  natürlichen  Umgebung, 
mit  seinesgleichen   und    mit   anderen  Organismen. 

Äußerlich  ist  der  Band  in  drei  Bücher  ge- 
gliedert, von  denen  das  erste  das  Tier  im  Ver- 
hältnis zu  den  belebten  Elementen  seines  Lebens- 
raumes schildert.  Nach  einem  kürzeren  einleitenden 
Kapitel,  das  von  den  Biozönosen  handelt ,  den 
Lebensgemeinschaften  aller  Tiere  und  Pflanzen, 
welche  an  dem  Ort  ihres  Vorkommens  alle  Be- 
dingungen für  ihre  Entstehung  und  Erhaltung  finden, 
geht  Verf.  zu  dem  großen,  300  Seiten  umfassenden 
Kapitel  der  Ernährungsbiologie  über.  An  einer 
Unzahl  von  Beispielen  aus  allen  Gruppen  des  Tier- 
reiches von  den  Protozoen  bis  zu  den  Wirbel- 
tieren werden  die  verschiedenen  Arten  der  Er- 
nährung, ferner  Normalnahrung  und  Nahrungs- 
wechsel erläutert,  manche  Ernährungssonderlinge, 
wie  die  Mallophagen,  Wachsmotten,  Fettschabe, 
dann  die  Aasfresser,  Leichenwürmer,  Kot-  und 
Fäulnisbewohner  besprochen. 

Daran  schließen  sich  ausführliche  Zusammen- 
stellungen über  die  eigenartigen  Lebensgemein- 
schaften, die  man  als  Symbiose  und  Synoecie  be- 
zeichnet. Diese  Lebensweise  und  vielleicht  noch 
mehr  die  saprozoische  führen  viele  Tierarten  da- 
zu, auf  oder  in  anderen  Organismen  zu  schma- 
rotzen, weshalb  Verf.  hier  ein  paar  umfangreiche 
Abschnitte  über  den  Parasitismus  und  das  Ver- 
hältnis zwischen  Parasiten  und  Wirt  einfügen 
kann. 

Das  nächste  Kapitel  behandelt  das  Tier  im 
Kampfe  gegen  seine  Verfolger,  d.  h.  sein  Ver- 
halten bei  Gefahr,  die  ihm  dabei  zu  Hilfe  kommen- 
den körperlichen  Schutzanpassungen,  die  eigen- 
artige Erscheinung  der  Selbstverstümmelung  und 
endlich  noch  eine  wichtige  Schutzanpassung,  näm- 
lich die  verschiedenen  tiinrichtungen  und  Triebe, 
durch  welche  eine  Reinigung  der  Körperoberfläche 
gewährleistet  wird. 

Verf.  geht  dann  zu  dem  sich  in  so  überaus 
mannigfaltiger  Weise  äußernden  Geschlechtsleben 
der  Tiere  über,  kommt  danach  auf  das  interessante 
Gebiet  der  Tierwanderungen  zu  sprechen  und 
schließt  daran  ein  großes  Kapitel  über  die  Ver- 
sorgung der  Nachkommenschaft.  Besonders  an- 
regend sind  die  Kapitel,  welche  von  der  Gesell- 
schaftsbildung im  Tierreich  und  von  den  staaten- 
bildenden Insekten  handeln. 

Das  zweite  Buch  zeigt  das  Tier  im  Verhältnis 
zu  den  unbelebten  Elementen  seines  Lebensraumes. 
Da  sind  auch  jene  merkwürdigen  Fälle  von 
Periodizität  in  den  Lebenserscheinungen  mancher 
Tierarten  zusammengestellt,  von  denen  manche 
auf  kosmische  Einflüsse  zu  deuten  scheinen.  Sodann 
verbreitet  sich  Verf.  des  weiteren  über  den  Einfluß 
des  Mediums,  in  dem  die  Tiere  leben,  über  den 
der  Quantität  und  Qualität  der  Nahrung,  über 
die  Beeinflussung  durch  Temperatur,  Klima  und 
Licht. 

Das  dritte  Buch  endlich  ist  der  Zweckmäßigkeit 
im  Tierbau  und  Tierleben  gewidmet  und  gliedert 
sich    demgemäß    in    ein  Kajntel,    das    die    zweck- 


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mäßigen  Eigenschaften  im  Körperbau  der  Tierarten 
behandelt,  und  in  ein  solches,  das  die  zweckmäßigen 
Handlungen  der  Tiere  zum  Inhalt  hat.  In  beiden 
Kapiteln  werden  die  wichtigsten  der  Theorien, 
welche  nach  einer  Erklärung  der  Zweckmäßigkeit 
streben,  vorgeführt  und  kritisch  besprochen. 

Es  ist  bei  dem  hier  zur  Verfügung  stehenden 
beschränkten  Raum  nicht  möglich,  auf  irgendwelche 
Einzelheiten  des  so  umfang-  und  inhaltreichen 
Werkes  näher  einzugehen.  Eine  Fülle  von  Tat- 
sachen findet  sich  hier  vereinigt,  wie  sie  nirgends 
anderswo  so  gedrängt  beieinander  anzutreffen  ist, 
und  ebenso  hat  Verf.  es  nicht  vermeiden  können, 
bei  der  Behandlung  mancher  Fragen,  die  zum 
ersten  Male  in  solchem  Zusammenhange  auf- 
tauchten, neue  Gedanken  und  neue  Gesichtspunkte 
aufzuzeigen,  wodurch  das  Werk  nur  an  Bedeutung 
gewonnen  hat. 

Hervorzuheben  ist  die  reiche  Ausstattung  mit 
Abbildungen,  von  denen  viele  Originale  sind. 
Dagegen  scheinen  manche  der  bunten  und 
schwarzen  Tafeln  nicht  ganz  auf  der  Höhe  zu 
stehen,  so  z.  B.  Symbiose  bei  Meerestieren, 
Wüstentiere,  Stillwassertiere  der  japanischen  Tief- 
see, und  andere. 

Im  übrigen  aber  bildet  der  vorliegende  Band 
zusammen  mit  dem  ersten  wohl  sicher  eines  der 
monumentalsten  Werke  der  modernen  Deutschen 
Biologie.  Hempelmann,  Leipzig. 


röhr   zeigen   kann.      6  Abbildungen   erläutern  die 
beschriebenen  Methoden.  Riem. 


Rusch,  Franz,  Winke  für  die  Beobachtung 
des  Himmels  mit  einfachen  Instru- 
menten. 49  S.  Leipzig  191 3,  Teubner.  — 
Preis  1,50  Mk. 
Ein  bei  dem  geringen  Umfang  ganz  ausge- 
zeichnetes Werk  für  den  Oberlehrer  einer  Schule, 
die  einiges  anwenden  kann,  um  ein  kleines  Fern- 
rohr und  ein  paar  Nebenapparate  zu  beschaften. 
Nach  einer  Beschreibung  der  Instrumente  und 
Anweisung  zur  l'rüfung  ihrer  Güte  und  praktischen 
Anwendung  wird  besprochen,  was  mit  den  Instru- 
menten zu  erreichen  ist,  zunächst  am  Fixstern- 
himmel. Das  Aufsuchen  und  Beobachten  von 
Nebeln,  Doppelsternen,  Veränderlichen,  mikro- 
metrische Messungen,  sodann  der  Mond  und  die 
Planeten.  Auf  der  Sonne  Beobachtung  der  Flecken, 
iMckeln  und  der  Granulation.  Umfangreiche 
Tafeln  mit  den  besten  Werten  geben  Sterngrößen, 
Doppelsterne  mit  der  Zeit  der  Sichtbarkeit,  Stern- 
haufen und  Nebelflecke  und  Mondgebilde  an,  so 
daß  der  Lehrer  unter  allen  Umständen  zu  jeder 
Zeit   brauchbare  Objekte    den   Schülern    im  Fern- 


Preufs,  K.  Th.,  Die  geistige  Kultur  der 
Naturvölker.  (Aus  Natur  und  Geisterwelt, 
452.  Bändchen).  Leipzig  1914,  Teubner. 
Prof.  Preuß,  der  durch  seine  ethnographischen 
Forschungen  in  Amerika  wohl  bekannt  ist,  gibt  in 
diesem  Büchlein  eine  gedrängte  Übersicht  des 
Geisteslebens  der  sogenannten  primitiven  Men- 
schen; er  behandelt  primitives  Denken,  Magie, 
Götter,  Religion  und  soziales  Leben,  Wissen- 
schaft und  Kunst.  Da  Preuß  den  Standpunkt 
der  Parallelentwicklung  der  menschlichen  Kulturen 
vertritt  und  augenscheinlich  alle  Zweige  der 
Menschheit  für  gleich  entwicklungsfähig  hält,  so 
meint  er,  daß  ein  Bild  der  geistigen  Kultur  der 
Naturvölker  auch  Licht  auf  die  geistige  Entwicklung 
der  hochstehenden  Kulturvölker  unserer  Zeit  wirft. 
Der  Referent  möchte  bezweifeln,  ob  die  physisch 
so  auffällig  weit  differenzierten  Zweige  der  Menschheit 
sich  in  bezug  auf  ihre  geistige  Kultur  gleichartig 
entwickelt  haben.  —  Für  die  geistige  Kultur  der 
Naturvölker  besonders  bezeichnend  ist  die  magisch- 
religiöse Denkweise  und  Preuß  ist  daher  vor  allem 
bestrebt,  dem  Leser  einen  Begriff  von  dieser 
Denkweise  und  von  ihrem  Einfluß  auf  die  sozialen 
Einrichtungen  sowie  auf  die  Kunstübung  zu  geben, 
was  ihm  im  ganzen  recht  wohl  gelingt.  Die  aus 
der  Fülle  des  ethnographischen  Materials  heraus- 
gehobenen Beispiele  sind  gut  gewählt. 

H.  Fehlinger. 

Literatur. 

Kohlr  .1  usch,  Fr.,  Lehrbuch  der  praktischen  Physik. 
12.  stark  vermehrte  Aullage  (5. — 42.  Tausend)  In  Gemein- 
schaft mit  verschiedenen  Gelehrten  herausgegeben  von  E.  War- 
burg. Mit  3S9  Textfig.  Leipzig  und  Berlin  '14.  B.  G.  Teub- 
ner.    Geb.   II   Mk. 

Hönigswald,  Prof.  Dr.  Richard,  Die  .Skejisis  in  Philo- 
sophie und  Wissenschaft.  Xr.  7  der  Sammlung  ,,Wege  zur 
Philosophie.  Schriften  zur  Einführung  in  das  philosophische 
Denken".    Göttingen  '14.  Vandenhoeck  u.  Ruprecht.    2,50  Mk. 

Beintker,  Dr.  med.  Erich,  Apparate  und  Arbeits- 
methoden der  Bakteriologie.  Bd.  11:  Die  Methoden  des  Tier- 
versuches und  der  Serologie.  Aus  dem  „Handbuch  der  mikros- 
kopischen Technik  unter  Mitwirkung  zahlreicher  Mitarbeiter 
herausgegeben  von  der  Redaktion  des  Mikrokosmos"'  Stutt- 
gart '14.      Frankh'sche  Verlagshandlung.      Geb.  2,25   Mk. 

Leiss,  11.  und  Schneid  e  rh  ö  h  n,  Dr.  H.,  Apparate 
und  Arbeitsmethoden  zur  mikroskopischen  Untersuchungen 
kristallisierter  Körper.  Aus  demselben  Handbuch.  Stuttgart 
'14,  Frank'sche  Verlagshandlung.     Geb.  3  Mk. 

Kunze,  W.,  Geologische  Streifzüge  in  die  Werraland- 
schaft.       Eschwege  '14.     Johs.  Braun. 


Inhalt;  Meli:  Die  Kntc,  ihre  Nutzung  und  Wertung  in  China.  Heß;  Direkt  wirkende  Stereoskopbilder  —  Einzelberichte: 
Kniep;  Assimilation  und  Atmung  des  Meeresalgen.  Frank  und  Hertz:  Zusammenstöße  zwischen  Elektronen  und  den 
Molekülen  des  Quecksilberdampfes  und  der  lonisierungsspannung  desselben.  Kolhörster:  Über  Messungen  der  durch- 
dringenden Straiilungen.  Wien:  Das  Programm  der  radiotelegraphischen  Ausbreitungsversuche  bei  Gelegenheit  der 
Sonnenfinsternis  am  21.  Aug.  1914.  van  Alstyne  und  Beebe:  Über  den  Einfluß  der  Ernährung  auf  das  Wachstum 
der  Geschwülste.  Phisali.x:  Verhalten  der  Kaltblüter  gegen  das  Tollwutgift.  Sabatani:  Der  kolloidale  Kohlenstoß 
als  ein  Gegenmittel  bei  Vergiftungen.  —  Kleinere  Mitteilungen:  Mi  ehe:  Einige  auffallende  Beispiele  von  Mimikry 
bei  tropischen  Insekten.  —  Bücherbesprechungen:  Klein  und  Sommerfeld;  Über  die  Theorie  des  Kreisels. 
Scheffer:  Das  Mikroskop.  Hesse  und  Doflein:  Tierbau  und  Tierleben.  Rusch:  Winke  für  die  Beobachtung 
des  Himmels  mit  einfachen  Instrumenten.      Preufi;   Die  geistige  Kultur  der  Naturvölker.  —  Literatur:   Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Redakteur  Professor  Dr.  H.  Mich  e  in  Leipzig,  Marienstrafle   na,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck   der  G.  Pätz'schcn  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.  Band  ; 
der  ganzen  Reihe   29.  Band. 


Sonntag,  den  i8.  Oktober  1914. 


Nummer  42. 


Die  Großfaltung  der  Erdrinde. 

Neuere  Arbeiten  zur  Geomorphologie  und  Tektonik. 

Sammelreferat  von  Dr.   G.  Hornig,  Erlangen. 


[Nachdruck  verboten.] 

Die  Geomorphologie  erstrebt,  den  Bau  der 
ganzen  Erdrinde  zu  erforschen.  Die  Grundlage 
dieses  Baues  ist  das  „tektonische  Gebilde",  aus 
dem  die  Erdrinde  sich  zusammensetzt.  Die  Tek- 
tonik, die  eine  rein  mechanische  Wissenschaft  ist, 
ist  die  Wissenschaft  von  den  Bewegungen  der 
Teile  der  Erdrinde.  So  kann  es  nur  eine  mecha- 
nische Kraft  sein,  die  diese  Bewegungen  erzeugt; 
einzig  und  allein  die  Schwerkraft.  Als  Aus- 
gangspunkt für  die  Umbildung  der  Erdoberfläche 
nimmt  Abendanon(i)  die  Theorie  der  Abküh- 
lung und  Einschrumpfung  des  Erdkernes  an,  also 
die  Kontraktionstheorie  in  bestimmter  Abwandlung. 

Welche  Vorstellungen  machen  wir  uns  von  dem 
Bau  der  Erde.?  Nach  Wiechert  (Darstellung  bei 
Andree,  2,  28)   besteht  die  Erde  aus  einem  Kern 


Maßstab    I  :  230  Mill. 

Fig.   I.     Hypothetischer  Schnitt  durch  die   Erdliugel 

(nach  Andree). 

von  Nickeleisen,  den  Sueß  „Nife"  nennt,  der 
einen  Radius  von  5000  km  besitzt,  eine  mittlere 
Dichte  8,5,  und  einem  Steinmantel  von  1400  km 
Dicke  der  mittleren  Dichte  3,4.  Dieser  zerfällt 
wiederum  in  zwei  Teile,  in  eine  innere  Schicht  basi- 
schen Magmas  ,,Sima"  und  in  eine  äußere  Schicht 
saurer  IVIagmen  „Sal",  die  durch  eine  plastische 
Schicht  voneinander  getrennt  werden.  Es  ist  ein 
Kern,  den  eine  mechanisch  nicht  homogene 
Kruste  umgibt,  die  in  gegeneinander  bewegliche 
Blöcke  gelöst  wird  und  durch  eine  plastische  Zone 
vom  Kern  getrennt  ist.  Nach  A.  W  eg  en  er's  (12) 
Theorie  schwimmen  die  leichteren  „salischen" 
Kontinente  gewissermaßen  in  einer  schwereren 
„simischen"  Masse.  Er  kommt  so  zur  Forderung 
einer  Ausgleichsfläche   in  ungefähr  120  km  Tiefe, 


die      der      plastischen      Schicht      durchaus      ent- 
spricht. 

Was  folgt  aus  diesen  Voraussetzungen  für  die 
Dynamik    der    Erdrinde?      Die    Abkühlung 
der  Erdrinde    im  Beginn    der  Erstarrung  führt  zu 
bestimmten  Kontraktionserscheinungen;    sie  führt 
nach  De  ecke  (2,   n)    zur  Entstehung  von  Kon- 
traktionsklüften,   Stellen    geringsten  Widerstandes. 
So  ergibt  sich  eine  Teilung   der  Erdrinde  in  ein- 
zelne Blöcke,    die    aber    heterogen    sind.      Einige 
Teile  der  Erdrinde  werden  in  Bewegung  geraten, 
die  zentripetal  gerichtet  ist.    Die  größeren  Blöcke 
geraten    eher    in    zentripetale    Bewegung   als    die 
kleineren,  die  also  relativ  zentrifugal  bewegt 
werden.    So  sieht  das  Urrelief  der  Erde  in  diesem 
Anfangsstadium  aus  (i,  23).     Die  zentripetale  Be- 
wegung der  relativ  unveränderlichen  Masseti  der 
Rinde    verursacht   Veränderungen    des   Volumens. 
Also  beruht  der  ganze  Mechanismus  auf  der  Kom- 
pressibilität.   Aber  ist  nun  die  Dynamik  der  Erd- 
rinde  ausschließlich   Volumenabnahme?      So 
groß    wir    uns   auch  den  Druck    auf  die  Erdrinde 
vorstellen,    so    ist   doch  jederzeit    die  zentrifugale 
Richtung  da,  nach  welcher  ein  Ausweichen  mög- 
lich ist.     Damit    ist  die  Möglichkeit  der  zentri- 
fugalen Auspressung  (1,26)  gegeben,  damit 
die  der  Zugspannungen  und  der  relativen  Volumen- 
zunahme.    Aber   auch    ein  anderer  physikalischer 
Gesichtspunkt   führt   zur  Annahme  der  Volumen- 
vermehrung.      Die    Abkühlung    der    Erde    führt 
schon    nach     den     Anschauungen    von    Richt- 
hofen's  zu  folgenden  unmittelbaren  Wirkungen: 
I.   Zusammenziehen    der   flüssigen   Massen    unter 
der   Erdkruste    durch   Wärmeabgabe    bis    zu    der- 
jenigen Temperatur,    bei  der  unter  dem  entspre- 
chenden Druck  Kristallisation  erfolgt,  2.  Volumen- 
vermehrung durch  Kontraktion,  3. Zusammenziehung 
der    kristallisierten    Massen    durch    Wärmeabgabe. 
Tammann  hat  diese  Erscheinungen  experimen- 
tell weiter  untersucht.    Vou  besonderem  Interesse 
sind  die  Ergebnisse,    die    sich    ihm    darbieten  bei 
hohem  Druck.     Darnach  erleiden  Substanzen,  die 
bei  Atmosphärendruck  unter  Kontraktion  kristalli- 
sieren, bei  steigendem  Druck  eine  Erhöhung  des 
Schmelzpunktes,  aber  nur  bis  zu  einem  bestimmten 
Grenzwert,  dem  ,, maximalen  Schmelzpunkt";    bei 
weiterer   Druckzunahme    sinkt   der  Schmelzpunkt 
wieder,  die  Kristallisation  erfolgt    nunmehr   unter 
Dilatation    (Volumenausdehnung)    (2,  42).       Diese 
Volumenvermehrung  sieht  Andree  als  mögliche 
Ursache  der  verschiedensten  geologischen  Vorgänge 
an  der  Erdoberfläche  an.     Aus  dieser  Theorie  be- 


6s8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  42 


rechnete  von  Wolff  die  Lage  einer  magmatischen 
Kugelschale  zwischen  50  und  ico  km  Tiefe ;  sie 
kann  identifiziert  werden  mit  der  „plastischen 
Schicht". 

Auf  diesen  physikalischen  Voraussetzungen 
beruhen  nun  zwei  Theorien,  einmal  die  Theorie 
A n d r e e ' s ,  und  sodann  Abendanon's  Theorie 
der  „Großfalten".  Andree  geht  aus  von  der 
Unterströmungstheorie  Ampferer's,  nach  der 
die  oberflächlichen  Falten  und  Überschiebungen 
von  Bewegungen  des  tieferen  Untergrundes  be- 
dingt und  getragen  werden.  Man  wird  dabei 
nicht  an  ein  Fließen  von  Magmamassen  denken 
müssen,  sondern  an  das  Fließen  in  ,, festem"  plasti- 
schem Zustande.  Diese  Plastizität  ist  im  vorher- 
gehenden begründet  worden.  Auf  ihr  beruht 
auch  der  Gedanke  Wegen  er 's  (12)  der  Ver- 
schiebung von  Horizontalschollen,  deren  Ursachen 
aber  nicht  recht  klar  sind.  Aber  den  Grund- 
gedanken der  Beweglichkeit  wendet  auch  Andree 
an;  es  ist  die  Grenze  der  salischen  und  simischen 
Schollen,  die  am  leichtesten  durxh  Störungen  be- 
einflußt wird  wegen  ihrer  verschiedenen  Riegheit 
(Formelastizität).  Ist  infolge  dieser  angenommenen 
Volumenschwankung  in  der  Tiefe  das  Gleichgewicht 
gestört,  dann  hat  die  Isostasie  wohl  die  Be- 
deutung, daß  sie  den  Gleit-  und  Unterströmungs- 
vorgängen, für  deren  Entstehung  die  Bedingungen, 
das  Schweregefälle,  gegeben  sind,  die  einsei- 
tige Richtung  vorschreibt,  die  für  die  F"alten 
unserer  Kettengebirge  bezeichnend  sein  soll.  Die 
Entstehung  der  Faltengebirge  aus  Geosynklinalen  be- 
wirkt nun  in  höchst  einfacher  Weise  ihre  Gestaltung ; 
die  Bogen  form  der  Kettengebirge  ist  nur  eine 
Folge  eines  ursprünglich  gebogenen  Küstenver- 
laufes und  entsprechend  verlaufender  Isobathen. 
Auch  das  „Anschmiegen"  der  Kettengebirge  am 
Rande  eines  größeren  Beckens  an  ein  altes  Massiv 
kann  für  seinen  Verlauf  ausschlaggebend  sein 
(2,  68).  Diese  Erscheinung  spielt  in  der  Tat  eine 
höchst  bedeutsame  Rolle. 

Wohl  ist  für  ein  Kettengebirge  der  einseitig 
gebogene  Verlauf  charakteristisch;  aber  wenn  wir 
den  großen  Zusammenhängen  der  Faltungszonen 
der  Erde  gerecht  werden  wollen,  so  kommen  wir 
doch  zu  anderen  Ansichten.  Die  zentrifugale 
Auspressung  führt  zu  den  „Großfalten  der 
Erdrinde".  Durch  die  Zugspannungen  entsteht 
die  Erscheinung  der  Distraktion  (Fig.  21.  Als 
Beispiel  für  die  einfachsten 
Falten  der  Erdrinde  betrach- 
tet Abendanon  die  des 
Roten  Beckens  von  Szet- 
schwan,  die  über  250  km 
Länge  tadellos  regelmäßig 
im  Streichen  und  im  Ouer- 
pr'ofil  sind.  Relativ  breite 
horizontale  Synklinalen 
wechseln  mitrelativschmalen 
horizontalen  Antiklinalen 
ab.  Die  Synklinalen  weisen 
keine     Volumenveränderun- 


Fig.  2.  In  Teil  III  mufi 
Druck  in  der  Tiefe,  oben 
Zug  auftreten,  wenn  I  und 
II  als  starre  Rahmen  ver- 
sinken. Teil  III  muß 
zentrifugal  ausweichen 
(nach   Abendanon). 


gen  auf,  in  den  Flügeln  aber  hatte  eine  starke 
Volumenabna'hme  stattgefunden  —  je  steiler 
der  Flügel  stand,  desto  stärker  war  die  Auspres- 
sung. Die  Antiklinalen  wiesen  Volumen  zunähme 
auf;  es  ist  dasselbe  Prinzip  wie  bei  Entstehung 
der  Großfalten.  Die  Synklinalgebiete  bewegen 
sich  zentripetal ,  die  Antiklinalgebiete  werden 
zentrifugal  ausgepreßt  und  infolgedessen  ensteht 
in  der  Antiklinale  Dehnung  oder  Distraktion.  An 
zahlreichen  Beispielen,  die  aber  wohl  nicht  immer 
zutreffend  sind,  beschreibt  Abendanon  die 
Einzelheiten  des  Großfaltenmechanismus.  Die 
Großfalte  entsteht  durch  Aufwölbung  einer  Fast- 
ebene, ihr  erstes  Kennzeichen  ist:  ,,ihre  Struktur 
ist  von  der  des  Untergrundes  durchaus  unab- 
hängig". Der  Anfang  ihrer  Bildung  fällt  ins 
Neogen;  im  Quartär  tritt  eine  Beschleunigung  ein, 
und  ihre  Bildung  dauert  heute  noch  fort,  wie  die 
Regression  des  Meeres  an  den  Küsten  und  die 
Erdbeben  in  den  Distraktionsgrabensenkungen  be- 
weisen. Risse  und  Grabensenkungen,  die  Distrak- 
tionserscheinungen,  bilden  ein  weiteres  Charakte- 
ristikum der  Großfalte,  ferner  das  Auftreten  von 
Erdbeben  und  vulkanischen  Erscheinungen  in  der 
antiklinalen  Zone  ein  letztes  Kennzeichen.  Die 
Grabensenkungen  können  entweder  median 
oder  bilateral  sein.  Als  Beispiel  einer  Groß- 
falte mit  medianer  Grabensenkung  wird  der  Rhein- 
graben mit  Schwarzwald  und  Vogesen  genannt. 
Der  Begriff  „Einschrumpfung  der  Erdkugel"  ist 
nicht  allein  ein  einzelner,  sondern  auch  ein  wissen- 
schaftlich logisch  denkbarer  Begriff.  Durch  die 
Einschrumpfung  der  Erdkugel  entstehen  indirekt 
die  Grabensenkungen.  Die  Tektonik  von  Celebes 
hat  bei  Abendanon  zu  dem  Begriff:  Groß- 
falten der  Erdrinde  geführt.  Soll  die  Erscheinung 
aber  allgemeine  Bedeutung  haben,  so  darf  diese 
Großfalte  nicht  die  einzige  sein.  Wir  sehen 
an  zahlreichen  Beispielen ,  das  Phänomen  geht 
weiter.  Sind  wir  dann  also  nicht  berechtigt  zu 
sagen,  daß  dieser  Mechanismus  die  ganze  Erd- 
rinde gefaltet  hat?  Ja!  Wir  sehen  seine  Wir- 
kungen an  der  Oberfläche,  durch  Aufwölbung 
einer  Fastebene  und  hohe  Aufhebung  der  anti- 
klinalen Kerne,  verbunden  mit  Distraktionserschei- 
nungen  und  Erderschütterungen.  Die  antiklinalen 
Distraktionsrisse,  die  vulkanische  Erscheinungen 
zeigen,  beschränken  sich  auf  die  rigide  Zone  der 
Erdrinde.  Diese  muß  in  den  antiklinalen  Zonen 
dünner  sein  als  in  den  Synklinalen  Gebieten  in- 
folge zentrifugaler  Auspressung  und  Denudation. 
Es  leuchtet  jetzt  ein,  warum  die  vulkanischen 
Erscheinungen  nicht  in  den  Synklinalgebieten  der 
Großfalten ,  sondern  in  den  antiklinalen  Zonen 
auftreten,  was  schon  Volz')  in  Sumatra  nach- 
gewiesen hat.  Der  junge  Vulkanismus  ist  dort 
an  die  Nachbarschaft  der  tiefsten  Tiefen  gebunden. 
Das  Einsinken  der  Erdräume  findet  nicht  statt, 
ohne    daß    in    den    darunter   liegenden    Schichten 


•)    W.  Volz,   Nord-Sumatra  II,    Gajoländer,    S.  312/13. 
(Berlin  rgra.) 


N  F.  Xffl.  Nr.  42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


659 


Massendefekte  vorhanden  sind,  Partien  einer  ge- 
wissen Druckentlastung  im  Inneren.  Diese  steigen 
mit  dem  Magma  in  die  Höhe,  das  an  den  stehen- 
gebliebenen Horstblöcken  als  dem  Punkte  ge- 
ringsten Widerstandes  zutage  tritt. 

Die  Faltungen  entstehen  in  den  Druckzonen 
der  Großfalten;  es  ist  die  intensive  P'altung  zu 
fast  senkrecht  stehenden  Schiefern.  Biegen  diese 
Falten  nach  oben  um,  so  erkennt  man,  wie  aus 
den  stehenden  Falten  liegende  hervorgehen.  Durch 
Abgleitung  kann  diese  Erscheinung  erklärt  werden. 
Beim  Abgleitungsmechanismus  bewegen  sich  ent- 
weder alle  Teile  gleich  schnell  oder  nicht  gleich 
schnell.  Im  ersten  Falle  entsteht  eine  Sediment- 
decke über  ungleichem  Boden ,  im  zweiten  wird 
die  Sedimentserie  gefaltet.  Man  könnte  fast 
glauben,  die  schönen  Untersuchungen  von  L. 
Kober  (3)  wären  eine  direkte  Fortsetzung  der 
Studien  von  Abendanon;  so  großartig  fügen 
sie  sich  dem  allgemeinen 
Bilde.  Kober  betrachtet 
die  Bewegungsrichtung 
deralpinen  Deckengebirge 
im  Mittelmeergebiet  im 
Vergleich  zum  Vorland 
im  Süden  und  Norden. 
Im  Vorland  treten  ver- 
schiedene Baupläne  zu- 
tage, der  alte  a  r  c  h  ä  i  s  c  h  e, 
der  k  a  1  e  d  o  n  i  s  c  h  e  und 
die  Überreste  der  A 1  - 
taiden.  In  den  Decken- 
gebirgen des  Mittelmeeres 
herrscht  der  alpine  Stil, 
in  dem  sich  zwei  Rich- 
tungen der  Bewegung  er- 
kennen lassen:    N  und  S. 

(Fig.    3.)  ^'S-  3-     Bewegungsric 

Ein       nordbewegter 
Stamm  der  A 1  p  i  d  e  n  ist 

von  einem  südbewegten  der  D inariden  scharf 
zu  trennen,  die  Trennung  erfolgt  durch  Einschal- 
tung eines  Zwischengebirges,  durch  eine  Disloka- 
tionslinie I.  Ordnung.  Zum  N-Stamm  gehören 
die  betische  Kordilliere  und  die  Balearen,  Pyre- 
näen, Alpen  und  Karpathen,  Balkan  und  Kaukasus, 
zum  S-Stamm  .Atlas,  Apennin,  Dinariden,  Helle- 
niden  und  Tauriden.  Die  Grenze  zwischen  beiden 
Stämmen  bildet  das  Zwischengebirge:  Die  marok- 
kanische Meseta,  die  korsosardinische  Masse,  dina- 
rische Narbe,  kroatische  Masse,  Rhodopemassiv, 
karisch-lydische  Masse  im  O  und  der  armenische 
Horst.  Zugleich  erkennen  wir,  daß  das  Phänomen 
weiter  geht.  Beide  Stämme  bestehen  aus  mehreren 
Decken,  einer  autochthonen  Decke  (ohne  Grün- 
steine) I,  einer  alpinen  Decke  II,  und  einer  apen- 
ninischen Decke  III.  Während  die  alpine  Decke  von 
einer  Flyschserie  mesozoischen  Alters  gebildet  wird, 
besteht  die  apenninische  Decke  aus  Silur  auf  altem 
Grundgebirge,  Mesozoikum  und  Eozän.  Beide 
(II  und  III)  enthalten  auch  grüne  Gesteine.  Die 
Einheit    der    Bewegungsrichtung    ist    das   wesent- 


liche; in  dem  einen  Stamm  die  N-Richtung,  im 
anderen  die  S-Richtung.  Immer  ist  dabei  das 
Bestreben  vorhanden,  das  Vorland  zu  überschreiten. 
Die  untertauchenden  Vorländer  senken  sich  in 
die  Tiefe;  die  tieferen  Decken  sind  in  plastischem 
Zustand,  auf  ihnen  schwimmen  die  höheren.  Da- 
mit stehen  in  Zusammenhang  Metamorphismus, 
Vulkanismus,  Breccien-  und  Molassebildung.  Auch 
Kober  sieht  in  diesem  Phänomen  die  Wirkung 
der  Kontraktion  der  Erdrinde.  ,,Die  alpinen 
Decken  des  Mittelmeeres  verdanken  ihre  Ent- 
stehung bis  zu  einem  gewissen  Grade  dem  stän- 
digen Sinken  der  ozeanischen  Tiefen"  (3,  256). 

Der  Großfaltenmechanismus  Abendanon's 
hat  gewisse  Züge  mit  der  Rahmen faltung 
Stille's  gemeinsam.  Stille  (7)  geht  aus  von 
dem  Zusammenhang  zwischen  Geosynklinalen  und 
Gebirgen.  In  seinen  epochemachenden  Unter- 
suchungen im  Niederdeutschen  Becken  (zusammen- 


Die  alten  Widerlager. 

t=l  Der  nordbewegtt  Stamm  der  Upiden 
I     I  Die  IwLsAengebirge. 

Ber  siidbewegte  Stamm  der  Dinariden.. 


Maßstab   I  :  50000000. 
htuDgen  der  alpinen  Deckengebirge  im  Mittelmeergebiet 
(nach  L.  Kober). 


gefaßt  in  6)  hatte  er  nachgewiesen,  daß  mitein- 
ander abwechseln  Wannenbildung  und  Ge- 
birgsbildung;  und  zwar  sind  es  Bewegungen 
durch  lange  Perioden  und  episodische  Unter- 
brechungen. Das,  was  bestimmten  Gesetzen  folgend, 
sich  in  langen  Zeiträumen  umbildet,  nennt  Stille 
die  tektonische  Evolution  des  Bodens  im  Gegen- 
satz zu  den  episodischen  Unterbrechungen,  den 
tektonischen  Erdrevolutionen.  Die  epiro- 
genetischen  Vorgänge  bedeuten  eine  Evolution 
des  Bodens,  es  sind  ,, säkulare"  Erscheinungen,  die 
mehr  oder  weniger  gleichmäßig  durch  lange 
Perioden  der  Erdgeschichte  fortgehen.  Sie  äußern 
sich  im  Sinken  der  Sedimentationsräume  (Geo- 
synklinalen) und  im  Aufsteigen  der  Festland- 
schwellen. Schon  die  Mächtigkeit  der  Sedimente 
in  bestimmten  Gebieten  erfordert  diese  Bewegun- 
gen. Die  orogenetischen  Vorgänge  bedeuten 
kurze  Unterbrechungen,  episodische  Ereignisse, 
mit  ihnen  entstehen  Faltungen,  Überschiebungen 
und  Brüche.  Die  Faltung  ist  eine  Aufwärts- 
bewegung  des   Bodens ;    kaum   ist  sie  geschehen, 


66o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  42 


so  setzt  in  den  aUen  Geosynkhnal-Bezirken  die 
Evolution,  die  Abwärtsbewegung,  wieder  ein;  das 
Einsinken  des  Bodens,  das  in  der  Entstehung  der 
Geosynklinalen  die  Gebirge  vorbereitet  hatte,  gräbt 
ihnen  auch  wieder  das  Grab.  Die  Gebirgsbildung 
wiederholt  sich;  vor  der  kimmerischen  (jung- 
jurassischen) Faltung  liegen  die  Gesteine  der  älteren 
Formationen  im  Niederdeutschen  Becken  tief  ver- 
borgen unter  jüngeren  Gebilden,  nach  ihr  sehen 
wir  sie  im  Kerne  der  ,, Sättel"  am  Aufbau  der 
Landflächen  teilnehmen ,  über  die  nach  Wieder- 
einsetzen erneuter  Senkung  die  postkimmerische 
Transgression  geht;  also  haben  sie  mit  der  Fal- 
tung den  Weg  aus  großer  Tiefe  bis  zum  Niveau 
des  Meeresspiegels  und  über  diesen  hinaus  zurück- 
gelegt. Die  orogenetischen  Phasen  der  Gebirgs- 
bildung schaffen  die  Festländer  und  leiten  die 
Denudation  ein.  Alles  dies  bezieht  sich  auf  eine 
Höhenmarke,  die  selbst  nicht  unveränderlich  ist, 
den  Meeresspiegel.  Infolge  der  Kontraktion  der 
Erde  streben  die  Gesteinsmassen  in  die  Tiefe, 
Kompessionen  müssen  eintreten.  Die  starren 
Rahmen  sinken  ohne  Kompression;  die  Gesteine 
der  Geosynklinale  werden  zusammengeschoben 
und  erheben  sich  in  Falten  über  die  Rahmen. 
Die  saxonische  Faltung  ist  ungewöhnlich  durch 
die  starke  Zerstückelung  der  Falten  durch  Brüche, 
besonders  streichende  Brüche.  Eine  „bruchlose" 
Faltung  setzt  eine  erhebliche  Plastizität  voraus, 
während  bei  sprödem  Gestein  ein  Zerspringen 
leicht  eintritt.  Aber  Bruchbildung  und  P'altung 
schließen  sich,  was  auch  Machatschek  betont, 
nicht  aus. 

Die  tertiäre  Faltung  in  Asien  ist  ein  groß- 
artiges Beispiel  randlicher  Faltung.  Machat- 
schek betont  scharf  den  Gegensatz  zwischen  den 
jüngeren  Bewegungen  und  den  für  das  heutige 
Oberflächenbild  bereits  wesenlos  gewordenen  alten 
Linien.  Im  Tianschan  unterscheidet  H.  Keidel 
scharf  zwischen  den  intra-  und  postkarbonischen 
Faltungen,  denen  eine  spätmesozoische  Rumpf- 
fläche folgte,  den  gebirgsbildenden  Bewegungen 
der  Tertiärzeit  und  den  posttertiären  Dislokationen 
der  quartären  Ablagerungen.  Bei  der  tertiären 
Gebirgsbildung  gehen  Bruchschollenbildung  und 
Faltung,  die  wesentlich  sekundärer  Natur  ist ,  in- 
einander über. 

Genauer  untersucht  sind  diese  Verhältnisse  in 
Süd-China  und  Nord  Sumatra  von  W.  Volz  (11). 
Auch  hier  steht  der  Grundbau  im  Gegensatz 
zur  jüngeren  Tektonik.  In  drei  Stufen  bricht 
das  asiatische  Festland  gegen  den  Stillen  Ozean 
ab;  dasselbe  Bild  haben  wir  im  Sunda-.Archipel. 
In  Süd-China  streicht  das  Tsinling -System  in 
W-0-Richtung  aus  dem  Inneren.  Im  äußersten 
W  haben  wir  die  N-S  streichenden  hinterindischen 
Falten;  dazwischen  die  sinische  Streichrichtung 
(SW  z  W  —  NO  z  O).  Die  Schichten,  aus 
denen  diese  Gebirgssysteme  bestehen  (Urgebirge 
bis  tertiäre  Beckenscliichten) ,  sind  alle  in  dem- 
selben   Sinne    gefaltet;   aber   diese    Faltungen   der 


verschiedenen  Schichtglieder  sind  verschieden 
stark.  Wir  haben  zahlreiche  gleichartige  Faltungs- 
episoden. Das  Ganze  ist  ein  großartiges  Beispiel 
repetierender  Faltung,  wie  es  auch  die 
„saxonische"  Faltung  Niederdeutschlands  ist.  — 
In  Sumatra  tritt  neben  dem  hinterindischen  N-S- 
Streichen  auch  das  malaiische  NW-SO-Streichen 
auf  Es  scheint  hier  unter  Anscharung  ein  Um- 
biegen in  das  andere  Streichen  zu  erfolgen.  Die 
Malaiische  Formation,  aus  der  sich  hier  das  alte 
Gebirge  zusammensetzt,  besitzt  entsprechend  der 
Sinischen  ein  sehr  hohes  Alter,  sie  reicht  aber  wie 
jene  nach  neueren  Untersuchungen  bis  ins  Mesozoi- 
kum hinauf  und  besitzt  eine  enorme  Mächtigkeit. 
Die  Tertiärbildungen,  die  mit  Basalkonglomeraten 
beginnen,  sind  augenscheinlich  in  begrenzten 
Becken  abgelagert  worden,  es  sind  Ausfüllungen 
auf  sinkendem  Boden.  Alle  diese  Schichten  sind 
stark  gefaltet,  immer  in  gleichem  Sinne,  doch 
nicht  gleich  stark.  Die  Faltungen  sind  begleitet 
vom  Auftreten  vulkanischer  Bildungen.  Die  Fal- 
tung ist  die  eine  große  Evolution,  die 
durch  verschiedene  Revolutionen  episodisch 
unterbrochen  wird. 

Nun  kommt  die  jüngere  Tektonik,  die 
das  Bild  in  einschneidender  Weise  umgestaltet. 
In  Süd-China  treten  langgestreckte  Brüche  auf, 
von  meridionaler  hinterindischer  Richtung  und 
von  äquatorialer  Kwenlun-Richtung.  Ein  gewal- 
tiger Bruch,  etwa  unter  104"  ö.  L.,  die  Ostab- 
senkung der  tibetischen  Bodenschwelle,  trennt 
das  eigentliche  China  von  Tibet.  Parallel  mit 
ihm  schneidet  ein  Bruch  in  110"  ö.  L.  den  Tsin- 
ling shan  in  O  ab.  Östlich  des  Tsinling  shan  erstreckt 
sich  der  Tapa  shan,  er  gewinnt  bereits  die  Rich- 
tung WNW-OSO,  obgleich  die  innere  Anordnung 
nordöstlich  ist.  Den  Tapa  shan  faßt  von  Rieht- 
hofen  als  Diagonalhorst  auf,  als  schief  zum 
Streichen  herausgeschnittenes  Stück.  Das  Grund- 
gebirge taucht  hier  zu  erheblicherer  Höhe  heraus 
als  weiter  im  W;  das  deutet  auf  ein  Heraustauchen 
der  Achsen,  das  durch  eine  Kippb  ewegu  n  g  zu- 
stande kommt,  indem  der  W  sich  senkte,  wäh- 
rend der  O  sich  heraushob.  —  In  Sumatra  herr- 
schen ähnliche  Verhältnisse.  0-W-Sprünge  ver- 
werfen Nord-Sumatra.  Auch  das  Gesetz  des 
Heraustauchens  der  Achsen  ist  bestätigt,  indem 
an  der  Westküste  Nord-Sumatras  Urgebirge  zu- 
tage tritt,  während  im  O  nur  noch  jüngere  Schich- 
ten der  Malaiischen  Formation  auftreten.  Die 
Tertiärbildungen  in  Gajo  Döröt  und  Gajo  Luos 
sind  gefaltet,  aber  die  Falten  streichen  ostwestlich, 
parallel  zu  den  begleitenden  Gebirgszügen.  Nörd- 
lich des  Tawarsees  liegt  das  Tertiär  fast  horizontal, 
es  ist  durch  gewaltige  Abbruche  zerstückelt.  Die 
Faltung  des  Tertiär  erweist  sich  so  deutlich  als 
sekundärer  Natur;  sie  geht,  ähnlich  wie  es 
Machatschek  im  Tianschan  beobachtet  hat,  an 
den  Gebirgsrändern  in  Bruchbildung  über. 

Wie  ist  dies  ganze  Phänomen  aufzufassen  ?  Zu 
seiner  Erklärung  müssen  wir  vom  Bauplan  der 


N.  F.  XIII.  Nr.  42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


661 


Malaiischen  Scholle  (10)  ausgehen.')  In  einer 
halbkuppelförmigen  prätertiären  „Uroberfläche" 
hängt  der  malaiische  Archipel  mit  Asien  und 
Australien  zusammen.  Diese  Landbrücke  bricht 
ein  längs  SW — NO  streichender  Linien.  Aber 
auch  der  Pazifische  Ozean  versinkt;  so  entsteht 
eine  Zerrung,  der  gesamte  ostasiatische  Rand  hat  die 
Tendenz,  längs  meridionaler  Verwerfungen  nachzu- 
brechen. Infolge  des  Versinkens  des  Indischen 
Ozeans  zeigt  auch  hier  der  Festlandrand  die  Tendenz, 
längs  NW — SO  streichender  Spalten  nachzubrechen ; 
bei  der  erheblich  geringeren  Intensität  dieser 
Zerrung  beherrscht  sie  nur  die  schmale  Südwest- 
zone. Kombiniert  damit  durchsetzt  eine  ostwest- 
liche Bruchzone  den  Archipel  und  scheint  sich 
beiderseits  weithin  zu  erstrecken.  All  diese  Be- 
wegungen werden  von  sekundärer  Gebirgsbildung 
begleitet.  Die  jungen  Vulkane  treten  an  den 
stehengebliebenen  Horstblöcken  als  dem  Punkte 
geringsten  Widerstandes  zutage.  —  Fügt  sich 
nicht  auch  dieses  großartige  Bild  dem  Großfalten- 
mechanismus  wundervoll  ein?  Der  Malaiische 
Archipel  stellt  sich  als  Großfalte  riesiger  Dimen- 
sion dar. 

Die  großen  tektonischen  Grundzüge  der  Ge- 
staltung der  Erdoberfläche  treten  uns  deutlich  vor 
Augen,  wenn  wir  an  die  Beziehungen  denken, 
die  zwischen  der  Verteilung  der  Faltengebirge, 
des  Vulkanismus  und  der  Großbeben  be- 
stehen, wie  sie  Rudolph  und  Szirtes  (5)  auf- 
geklärt haben.  Der  Große  Ozean  gliedert  sich 
nach  ihren  Untersuchungen  vom  seismischen 
Standpunkt  in  zwei  Teile;  während  der  kleinere 
südwestliche  inselreiche  Teil  als  seismisch  be- 
zeichnet werden  muß,  ist  der  weitaus  größere 
Teil  die  größte  aseismische  (erdbebenfreie)  Region 
der  Erde.  Die  zweite  große  seismische  Region 
der  Erde  ist  die  mediterrane,  sie  durchquert  vom 
Bandabogen  über  den  Himalaja  die  Zone  der 
Mittelmeere.  Außer  diesen  größten  Großbeben- 
gebieten finden  sich  in  Eurasien  noch  kleinere 
Großbebendistrikte;  der  Graben  des  Roten  Meeres 
und  das  ostafrikanische  Grabengebiet  sind  eben- 
falls als  seismische  Linien  bekannt.  Zwischen  dem 
Großen  und  dem  Atlantischen  Ozean  herrscht  ein 
deutlicher  Gegensatz;  während  alle  Zonen  der 
Umrandung  des  Pazifischen  Ozeans  durch  Groß- 
beben ausgezeichnet  sind,  sind  von  der  Umrandung 
des  Atlantischen  keine  Großbebengebiete  bekannt. 

Zwischen  den  Großbeben  und  der  Tekto- 
nik besteht  ein  wichtiger  Zusammenhang.  Die 
orogenetischen  Bruchlinien,  die  auf  die  ein- 
zelnen Gebirgslinien  der  zirkumpazifischen  und 
mediterranen  Zone  beschränkt  sind,  sind  nicht 
alle  seismisch  tätig;  diejenigen,  die  es  sind,  be- 
zeichnen Rudolph  und  Szirtes  als  seismo- 
orogenetische.  Dagegen  sind  die  epiro- 
genetischen  Bruchlinien,  die  Bruchlinien  der 
F'estlandstafeln,  die  die  Umrißform  der  Kontinente 
bestimmen,  vollkommen  aseismisch. 

')  s.  a.  das  Referat  Naturwiss.  Wochenschrift  N.  F.  13. 
1914,  S.   121. 


Auch  zwischen  Großbeben-  und  Vulkan- 
gebieten besteht   ein    gewisser  Zusammenhang. 
Im     Gebiet     des     Großen    Ozeans     decken     sich 
beide  Regionen,    nicht    so    ausgesprochen   ist    die 
Übereinstimmung  in  der  mediterranen   Zone.     Es 
soll     damit      nicht     gesagt     werden,      daß      alle 
aus  dem    seismisch- vulkanischen   Gebieten    stam- 
menden     Großbeben       vulkanischen      Ursprungs 
sind.     Im    einzelnen    aber    herrscht    zwischen    der 
Lage     von    Vulkangebieten    und   Epizentren    von 
Großbeben     eine     auffallende     Übereinstimmung. 
Beide  bevorzugen  die  Randgebiete  von  Senkungs- 
feldern   sowie   die   disjunktiven   Bruchlinien.     Das 
gemeinsame  Moment  dabei  ist  nicht  die  Tektonik, 
sondern,     daß    die    Magmazone    sich    an    diesen 
Stellen  in  höheres  Niveau  erstreckt  als  an  anderen. 
Wir   haben   ja    nach    Becke*)    zwei    Magma- 
provinzen zu  unterscheiden,    die    sich    durch  ihre 
petrographische    Ausbildung    unterscheiden;    eine 
Atlant ische  Provinz  von  Gesteinen,  die  reicher 
an  Alkalien,  ärmer  an  Kalk,  Eisen  und  Magnesia 
bei  gleichem    Kieselsäutegehalt    sind    als    die  Ge- 
steine   der     Pazifischen    Provinz;    tephritische 
atlantische    und    andesitische   pazifische  Gesteine. 
Die  Verbreitung  der  Pazifischen  Magmen  fällt  bis 
in    die   kleinsten  Einzelheiten   mit    derjenigen  der 
Epizentren   der  Großbeben  zusammen.    Vom  Ter- 
tiär  ab   sind   sie   auf  die  beiden  großen  Geosyn- 
klinalen,  die  zirkumpazifische  und  die  mediterrane, 
beschränkt.       Das    Atlantische    Magma    ist    über 
weite    Flächen    ohne    Unterbrechung    ausgedehnt, 
auf  die  alten  Festlandstafeln  sowie  die  drei  Ozeane. 
Gegenüber  der  universalen  Ausbreitung  des  Atlan- 
tischen Magmas  hat  das  Pazifische  nur  eine  zonale 
Ausdehnung.      Ersteres    ist  das  jüngere,    letzteres 
das  ältere  Magma.     Das  ältere  Pazifische  Magma 
nimmt    eine    etwas  höhere  Lage   in   der  Erdrinde 
ein  als  jenes.      Die    engen   Beziehungen    zwischen 
der  Verbreitung  der  Faltengebirge,  des  Vulkanis- 
mus  und    der    Großbeben    sind  genetisch;    sie 
gehen  zurück  auf  die  höhere  Lage  und  intensivere 
Wirkungsweise    des    Pazifischen    Magmas.      Dem 
entspricht,    daß    die    epirogenetischen  Bruchlinien 
keine  Epizentren  besitzen,  nur  an  großen  Brüchen 
kann  das  Atlantische  Magma  empordringen. 

In  bezug  auf  die  Herdtiefe  findet  eine  Dreitei- 
lung der  Beben  statt;  während  die  Beben  der  Erd- 
oberfläche, die  orogenetischen  Beben,  nur 
bis  etwa  10  km  Herdtiefe  besitzen,  gehen  die 
Beben  der  zweiten  Region  bis  zur  „Plastischen 
Grenzschicht"  hinab,  bis  zu  einer  Tiefe  von  100 
bis  200  km;  es  sind  die  Tensionsbeben,  die 
auf  Dehnungsspannungen  zurückzuführen  sind  und 
zur  Entstehung  von  Hohlräumen  und  Spalten  Ver- 
anlassung geben.  Die  Beben  in  noch  größerer 
Tiefe  der  Magmaschicht,  im  „Gesteinsmantel", 
werden  durch  Veränderungen  in  der  Struktur  des 
Magmas  hervorgerufen.    Es  sind  entweder  Struk- 


')  F r.  B  e  c  k  e ,  Die  Eruptivgesteine  des  böhmischen  Mittel- 
gebirges und  der  amerikanischen  Anden.  —  Atlantische  und 
pazifische  Sippe  der  Eruptivgesteine.  (Tschermak's  Min.  und 
Fettogr.  Mitt.  N.  F.  22,   1903,  S.  209—265). 


662 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  42 


tu  r  beben,  die  auf  der  Intrusion  magmatischen 
Materials  und  Volumenausdehnung  beruhen,  oder 
Kompensationsbeben,  die  mit  Bewegungen 
der  einzelnen  Schollen  der  Erdrinde  zusammen- 
hängen. 

Den  Ausgangspunkt  aller  dieser  Betrachtungen 
bildet  die  K  o  n  t  r  ak  t  ions  t  h  eor  ie.  Ist  sie  von 
absoluter  Gültigkeit?  Wir  haben  gesehen,  wie 
sich  auf  ihr  alle  die  Phänomene  der  Erdoberfläche 
aufbauen,  die  Großfalten,  die  Decken  der  Alpen, 
die  Zerrungserscheinungen  und  die  der  sekundären 
Faltung,  wie  mit  diesen  Erscheinungen  die  Groß- 
beben und  die  vulkanischen  Erscheinungen  zu  einem 
einheitlichen  Bilde  verknüpft  sind.  Können  wir  die 
Bedingungen  der  Konzentrationstheorie  im  Experi- 
ment verwirklichen  ?  Ein  Ansatz  zu  solchen  Ver- 
suchen sind  die  „Schrumpfungsversuche" 
Toula's  (8),  die  das  tatsächliche  Verhalten  schrump- 
fender Körper  demonstrieren.  Durch  Aufblasen  von 
Kautschukballons  auf  größeren  Durchmesser  unter 
verschiedenen  Bedingungen,  Anstrich  der  Ballons 
mit  Zaponlack  und  Aufkleben  verschiedener  Sub- 
stanzen erhielt  er  die  mannigfaltigsten  Erschei- 
nungen, die  auf  vorzüglichen  Tafeln  veranschau- 
licht werden.  Überzüge  von  Zaponlack  und  Gela- 
tine führten  zu  den  besten  Resultaten;  es  zeigten 
sich  grobe  Falten,  sowie  Überschiebungen  und 
Andeutung  von  Überfaltungen.  Auch  sekundäre 
Staufalten  konnten    auf   diese  Weise  erzeugt  wer- 


den. Wieder  andere  Erscheinungen,  die  aus 
Wachs  und  heißem  Leim  hervorgebracht  wurden, 
erinnern  in  ihrer  feinen  Fältelung  an  die  eigen- 
artigen Gebilde  des  Mondes.  Diese  Versuche 
sind  sicher  ein  aussichtsreicher  Weg,  der  noch 
manchen  Aufschluß  über  die  tektonischen  Vor- 
gänge der  Erdoberfläche  geben  wird. 

Literatur. 

1.  E.  C.  Abendanon,  Die  Großfallen  der  Erdrinde. 
(Leiden   1914.) 

2.  K.  A  n  d  r  e  e  ,  Über  die  Bedingungen  der  Gebirgsbildung. 
(Berlin   1914.) 

3.  L.  K  o  b  e  r ,  Die  Bewegungsrichtung  der  alpinen  Decken- 
gebirge des  Mittelmeers.     (Pet.  Mitt.   1914,  H.  5.) 

4.  F.  Machatschek,  Neuere  Arbeiten  zur  Morphologie 
von  Zentralasien.     (Geogr.  Zeitschr.   1914,  H.   c,.) 

5.  E.  Rudolph  und  S.  Szirtes,  Zur  Erklärung  der 
geographischen  Verteilung  von  Groläbeben.  (Pet.  Mitt.  1914, 
H.  3  u.  4.) 

6.  H.  Stille,  Die  ,,Saxonische  Faltung".  (Zeitschr.  d. 
deutsch.   Gcol.  Ges.  Bd.  65,   1913,  Monatsbericht   11.) 

7.  —  — ,  Tektonische  Flvolutionen  und  Revolutionen  in 
der  Erdrinde.     Antrittsvorlesung.     (Leipzig  1913.) 

8.  F.  Toula,  Schrumpfungsversuche.  (Pet.  Mitt.  191 4, 
H.  7.) 

9.  W.  Volz,  Nord- Sumatra.  Bd.  II:  Die  Gajoländer. 
(Berlin   1912.) 

10.  —  ■ — ,  Der  Malaiische  Archipel,  sein  Bau  und  sein 
Zusammenhang  mit  Asien.  (Sitz.-Ber.  physik.-mediz.  Sozietät 
in  Erlangen,  Bd.  44  (1912).  —  S.-A.) 

11.  —  — ,  Süd-China  und  Nord-Sumatra.  (Mitt.  d.  Fer- 
dinand V.   Richthofentages   1913.  —  Berlin   1914.) 

12.  A.  Wegen  er.  Die  Entstehung  der  Kontinente.  (Pet. 
Mitt.   1912,  H.  4 — 6.) 


Neues  zur  Psychologie  uud  Ethologie  der  Mäuncheiipaare  der  Auatideu, 
insbesoudere  toh  Schwiiueii  uud  Gäuseu. 


[N.ichdruck  verboten.] 

Zu  den  biologisch ,  insbesondere  ethologisch 
und  psychologisch,  interessantesten  Schwimmvögeln 
gehören  mit  in  erster  Linie  die  Schwäne.  Ich 
hatte  eine  Reihe  von  Jahren  hindurch  eine  seltene 
Gelegenheit,  diese  Anatidengruppe  genauer  zu  be- 
obachten und  will  in  dieser  Zeitschrift  meine  dies- 
bezüglichen Beobachtungen,  die  jeden  Zoologen 
interessieren  dürften,  veröffentlichen. 

Die  eigentümlichsten  Beobachtungen  machte 
ich  an  C/iciiopsis  atrata,  dem  Schwarzen  oder 
Trauer-Schwan,  der  im  südlichen  Australien  sowie 
auf  Tasmanien  beheimatet  ist.  Im  Herbste  191 1 
kaufte  man  für  den  Schloßgartenkanal  zu  Hild- 
burghausen  2  junge,  ungefähr  5  Monate  alte  Tiere, 
die  als  ein  Paar  geliefert  und  für  ein  solches  auch 
gehalten  wurden.  Da  im  Dezember  das  Gewässer 
zufror,  so  kamen  die  Tiere  in  eine  Winterherberge, 
wo  sie  sich  bis  zum  Februar  zu  sehr  schönen  und 
kräftigen  Vögeln  entwickelten.  Denn  sie  waren 
nicht  amputiert  worden:  ein  Umstand,  der  der 
Entwicklung  aller  Schwäne,  und  vor  allem  ihrer 
späteren  Fruchtbarkeit,  außerordentlich  von  Vorteil 
ist.  Da  die  beiden  Tiere  auch  sonst  nicht  durch 
Zurückschneiden  der  Schwungfedern  am  Fliegen 
gehindert  wurden,  so  unternahmen  sie  im  Früh- 
jahr  und    Sommer    191 2    bald  weitere  Luftreisen, 


Von  Dr.  Wilh.  R.  Eckardt  in  Essen. 


die  sie  bald  20  bis  30  km  im  Umkreis  bekannt 
machten.  Die  Vögel  blieben  jedoch  nie  länger 
als  24  Stunden  von  ihrem  Wohngewässer  fern: 
ein  Zeichen,  daß  sie  es  lieb  gewonnen  hatten, 
denn  es  nährte  die  Vögel  von  Natur  aus  vor- 
trefl'lich,  während  von  einer  regelmäßigen  Füt- 
terung seitens  ihrer  Pfleger  aus  diesem  Grunde 
nicht  die  Rede  war.  Diese  Tatsache  steht  jeden- 
falls in  einem  gewissen  Gegensatz  zu  der  Bemer- 
kung in  Dr.  O.  Heinroth's  klassischer  Anatiden- 
biologie,') wo  es  folgendermaßen  heißt: 

,, Auffallend  ist  mir,  daß  Schwarze  Schwäne  im 
Gegensatz  zu  den  Höckerschwänen  nach  Entenart 
sehr  dazu  neigen,  in  der  Abenddämmerung  zu 
fliegen,  und  namentlich  junge  Vögel  werden,  wenn 
es  schon  recht  dunkel  geworden  ist,  oft  sehr  flug- 
lustig. Leider  ist  es  auf  kleineren  Gewässern  an- 
scheinend unmöglich,  flugfähige  Schwarze  Schwäne 
zu  halten:  sie  entfernen  sich  auf  ihren  Luftreisen 
gleich  sehr  weit  und  kehren  dann  nicht  mehr  in 
ihre  Heimat  zurück.  Dies  ist  vielleicht  auf  die 
durch    die    australischen    Dürrezeiten    verursachte 


')  Beiträge  zur  Biologie ,  namentlich  Ethologie  und  Psy- 
chologie der  Anatiden.  Bericht  über  den  V.  Internat.  Ornitho- 
logenkongreß.     Berlin   1910. 


N.  F.  Xra.  Nr.  42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


663 


UnStetigkeit    der    meisten    gefiederten    Bewoliner 
dieses  Erdteils  zurückzuführen." 

Ich  zweifle  keinen  Augenblick  an  der  Richtigkeit 
dieser  Kombinationen  Heinroths,  glaube  jedoch, 
daß  diese  in  besagter  Form  nur  von  frisch  im- 
portierten Tieren,  bzw.  von  Nachkommen  solcher 
Tiere  gelten,  bei  denen  der  Zuginstinkt,  oder  besser 
gesagt:  die  unstete  Wanderlust  noch  zu  frisch  im 
Blute  steckt,  was  eben  bei  dem  heute  schon  in 
langen  Generationen  auf  unseren  Weihern  gezüch- 
teten Schwarzschwan  vielfach  nicht  mehr  der 
Fall  ist.  ^)  Schrieb  mir  doch  auch  kürzlich  der 
in  jeder  Beziehung  rühmlichst  bekannte  und  jedem 
Interessenten  nur  zu  empfehlende  Tierhändler, 
Herr  August  Fockelmann  in  Hamburg,  daß 
auch  bei  ihm  die  flugfähigen  Schwarzen  Schwäne 
sich  auf  offenem  Teiche  befanden,  ohne  Versuche 
zum  Wegfliegen  zu  machen.  Es  kommt  im  vor- 
liegenden Falle  aber  nicht  nur  hinzu,  daß  die  von 
mir  beschriebenen  Tiere  nicht  nur  jung  und  un- 
gepaart,  sondern,  um  es  gleich  hier  vorwegzu- 
nehmen, überhaupt  kein  wirkliches  Paar,  sondern 
zwei  Männchen  waren ,  wie  sich  später  heraus- 
stellte. Im  Winter  19 12/ 191 3  starb  eines  der 
beiden  Tiere.  Da  es  ein  Männchen  war,  und  das 
andere  Tier  nicht  auf  sein  Geschlecht  hin  unter- 
sucht wurde,  schaffte  man  dann  im  Frühjahr  191 3 
einen  Ersatz  mit  einem  ebenfalls  flugfähigen  drei- 
jährigen Männchen.  Die  beiden  Tiere  gewöhnten 
sich  auffallenderweise  von  der  ersten  Stunde  ihres 
Zusammenseins  an  sehr  gut  aneinander  und  unter- 
nahmen ebenfalls,  genau  wie  der  überlebende 
Schwan  mit  seinem  verstorbenen  Bruder  im  Vor- 
jahre, weitere  Luftreisen ,  um  ebenso  jedesmal 
wieder  nach  ihrem  Wohnort  zurückzukehren,  auf 
dem  sie  weder  geboren,  noch  in  Gemeinschaft 
ihrer  Eltern  groß  geworden  waren. 

Diese  Tatsachen  sprechen  jedenfalls  ohne  wei- 
teres dafür,  daß  man  auch  Schwarze  Schwäne  sehr 
wohl  auf  Gewässern  flugfähig  halten  kann,  vor- 
ausgesetzt, daß  diese  groß  sind  und  gut  nähren, 
oder  daß  die  Tiere  im  anderen  Falle  wenigstens 
gut  und  regelmäßig  gefüttert  werden.  Ohne 
Zweifel  aber  wird  man  es  wagen  können,  wenn 
nur  einer  der  Gatten  eines  Paares  flugfähig  ist. 

Das  größte  Kuriosum  erlebte  ich  an  den  beiden 
Schwarzen  Schwänen  aber  im  August  191 3.  Am  Ufer 
des  betreffenden  Gewässers  stand  ein  sogenanntes 
Schwanenhaus,")  welches  hinsichtlich  seiner  Größe 
und  seiner  Eingangsöffnung  etwa  einer  großen 
Hundehütte  entsprach,  und  in  dem  sich  Nistmaterial 
in  Gestalt  von  Heu  und  Stroh  befand.  Etwa  von 
Mitte  August  ab  wurde  das  Häuschen  von  den 
beiden  Schwarzen  Schwänen  bezogen  und  das 
darin   befindliche   Material    zu  einer  Nestunterlage 


')  Vgl.  auch  die  Abhandlung  des  Verfassers :  Einbürge- 
rungsversuche als  Möglichkeiten  zur  Erforschung  des  Vogel- 
zuges.    Naturw.  Wochenschr.   N.   F.  Bd.    13,   Nr.    lo,    1914. 

')  Dal3  die  beiden  Schwarzschwäne  ein  Häuschen  am 
Ufer  bezogen,  wo  ihnen  doch  Gebüsch  zur  Verfügung  stand, 
ist  deshalb  schon  bemerkenswert,  weil  doch  Schwäne  keine 
Höhlenbrüter  sind. 


angeordnet.  Bereits  nach  wenigen  Tagen  begannen 
beide  Tiere  mit  dem  Brüten,  indem  sie  sich  alle 
3—4  Stunden  etwa  ablösten.  Auch  das  erschien 
mir  zunächst  nicht  weiter  wunderbar,  da  ja  die 
beiden  Gatten  eines  Schwarzschwanpaares  stets  ge- 
meinsam brüten,  wenn  auch  das  Weibchen  in  der 
Regel  nur  in  den  Mittagsstunden  vom  Männchen 
einige  Zeit  abgelöst  zu  werden  pflegt.  Erst  durch 
den  fast  14  Tage  hindurch  viel  öfter  stattfindenden 
Wechsel  in  der  Bebrütung  wurde  ich  stutzig  und 
sah,  als  die  Brutlust  bei  beiden  Tieren  allmählich 
etwas  nachließ,  in  einem  unbewachten  Moment 
einmal  nach  dem  Gelege.  Wie  groß  aber  war 
mein  Erstaunen,  als  ich  dieses  besichtigte.  Denn 
der  Größe  der  Eier  nach  zu  urteilen,  konnten 
diese  unmöglich  Schwaneneier  sein;  sie  stellten 
sich  vielmehr  bei  genauerer  Untersuchung  —  wenn 
auch  erst  viel  später  —  als  die  Eier  einer  wildfarbigen 
Türkenente  heraus,  die  im  Laufe  des  Sommers 
das  Schwanenhaus  als  willkommenen  Legeplatz  be- 
nutzt hatte,  da  es  ja  vorher  leerstand.  Diese  Eier  — 
es  waren  8  Stück  an  Zahl  —  erregten  also  nebst  dem 
Nistmaterial,  in  dem  sie  lagen,  bei  den  beiden  auf- 
geregten, brutlustigen  Sehwanenmännchen  den 
Brüteinstiukt.  Die  türkische  Ente  selbst  aber, 
welche  die  Eier  gelegt  hatte  und  jedenfalls 
auch  noch  legen  wollte,  als  die  beiden  Schwäne 
von  dem  Häuschen  Besitz  ergriffen  hatten,  wurde 
von  diesen  beiden  Tieren  wie  eine  zu  bekämpfende 
Nestgefahr  behandelt  und  stets  vertrieben,  wenn 
sie  sich  in  die  Nähe  der  Schwäne  wagte,  während 
die  letzteren  jeder  anderen  Ente  nichts  zu  leid 
taten.  Die  Vögel  haben  also,  wie  schon  Heinroth 
bemerkt,  sehr  wohl  ein  Vermögen ,  nicht  nur 
Artunterschiede,  sondern  gewissermaßen  auch 
„Personen"-Unterschiede  unter  den  Tieren  zu 
machen. 

Wenn  die  beiden  Schwarzschwäne  auch  Anfang 
September  das  Häuschen  und  die  Eier  verließen,  so 
legte  sich  ihre  Brutlust  doch  nicht  ganz.  Denn  bald 
darauf  begannen  sie  mit  der  Anlage  eines  neuen 
Nestes  in  eben  solch  einer  Hütte,  die  300  Meter 
von  der  ersteren  entfernt  stand.  Doch  legte  sich 
die  Baulust  nach  ca.  14  Tagen,  und  im  Dezember 
kamen  die  Schwäne  ins  Winterquartier,  aus  denen 
sie  erst  Anfang  März  infolge  strengen  Frostes 
befreit  werden  konnten.  Obwohl  erst  der  obere 
Teil  des  Gewässers,  wo  sich  der  Einfluß  befand, 
eisfrei  war,  marschierten  dennoch  die  beiden  Tiere, 
bei  denen  sich  der  Fortpflanzungstrieb  bereits 
mächtig  zu  regen  begann,  über  die  Eisdecke  eine 
500  Meter  lange  Strecke  zu  Fuß,  um  das  Brut- 
häuschen wieder  zu  erreichen,  in  dem  sie  im 
August  14  Tage  lang  die  Moschusenteneier  be- 
brütet hatten.  Hier  begannen  sie  bald  wiederum 
mit  der  Anlage  eines  Nestes,  an  dem  sie  wochenlang 
bauten.  Den  Türkenenten  gegenüber  benahmen 
sich  die  Schwäne  genau  so,  wie  im  vergangenen 
August,  obwohl  die  Enten  das  leere  Schwanennest 
diesmal  nicht  mit  Eiern  bedacht  hatten. 

Im  höchsten  Grade  merkwürdig  war  das  Ver- 
halten der  beiden  Schwäne,    das  bis  fast   auf  alle 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  42 


Momente  dem  eines  wirklichen  Paares  entsprach. 
Beide  Tiere  waren  fast  gleich  groß  und  gleich 
stark,  nur  war  das  eine  Männchen  schneidiger 
und  angriffslustiger.  Es  war  der  eigentliche  füh- 
rende Teil  des  Paares,  dem  das  andere  Männchen 
folgte.  Menschen  und  Hunde  waren  vor  den 
beiden  wütenden  Tieren  nicht  sicher  und  wurden 
mit  vereinten  Kräften  fast  ausnahmslos  in  die 
Flucht  geschlagen,  wenn  sie  sich  in  der  näheren 
Umgebung  des  Nestes  blicken  ließen.  Oft  wurden 
sie  über   100  Meter  zu  Lande  verfolgt. 

Am  auffallendsten  aber  war  auch  bei  diesem 
gleichgeschlechtlichem  Paare,  daß  das  weniger 
schneidige,  aber  eher  noch  ein  wenig  schönere 
Männchen  ein  fast  vollkommen  weibliches  Ver- 
halten annahm  und  nur  in  einem  Punkte  hiervon 
abwich.  Genau  wie  bei  einem  richtigen  Paare 
schwamm  nämlich  das  schneidigere  Männchen  — 
aber  auch  nur  dieses  — ,  wenn  sich  beide  Tiere 
einmal  etwas  entfernt  hatten,  mit  gehobenen 
Flügeln,  also  in  der  für  Oicnopsis  atrala  eigen- 
tümlichen Imponierstelhing,  auf  das  „Weibchen"  los, 
worauf  letzteres  mit  knapp  angelegtem  Gefieder,  je- 
doch ohne  ängstlich  zu  schreien,  vor  dem 
nachrudernden  Männchen  flüchtete,  bis  das  „Männ- 
chen" mit  entsprechender  Kopibewegung  seinen 
Unterhaltungslaut  ausstieß.  Dann  kehrte  sich  auch 
das  „Weibchen"  beruhigt  um  und  stimmte,  gegen 
das  Männchen  gewendet,  in  diese  Töne  ein.  Es 
ist  nach  diesen  Beobachtungen  wohl  sicher  an- 
zunehmen, daß  eine  derartige  scheinbare  Angriffs- 
oder Drohstellung  —  in  Wirklichkeit  natürlich 
nichts  anderes  als  eine  Art  Zärtlichkeitsäußerung  — 
eine  allen  schwarzen  Schwänenpaaren  zukommende 
Eigentümlichkeit  ist.  ') 

Während  demnach,  ganz  abgesehen  von  dem 
vortrefflichen  und  zärtlich  innigen  Zusammenhalten, 
das  Mäiinchenpaar  genau  einem  wirklichen  Paare 
in  seinen  Gewohnheiten  entsprach,  wich  es  doch 
nach  meinen  bisherigen  Beobachtungen  an  Oioiopsis 
afrata  in  einem  wichtigen  Punkte  von  einem  rich- 
tigen Paare  ab,  nämlich  in  dem  der  Begattung. 
Bei  diesem  Akte  geschah  zwar  die  durch  Kopf- 
und  Halseintauchen  vor  sich  gehende  Paarungs- 
einleitung genau  so  wie  bei  Männchen  und  Weib- 
chen, aber  zum  Tretakt  kam  es  doch  nicht  so 
geschwind,  weil  jedes  Männchen  durch  gegenseitiges 
Überlegen  des  Halses  über  den  Körper  des  anderen, 
indem  sich  beide  Vögel  gegenseitig  mit  Kopf 
und  Bürzel  berührten,  das  andere  zu  treten  suchte, 
bis  endlich  fast  ausnahmslos  das  schneidigere 
Männchen  das  andere  regelrecht  trat,  wonach, 
anscheinend  hoch  befriedigt,  beide  Teile  in  ein 
Triumphgeschrei  ausbrachen.  Diese  Begattungen 
geschahen  im  Frühjahr  19 14  mindestens  6  Wochen 
täglich  sehr  oft. 

Obwohl  ich  selbst  Anfang  April  1914  infolge 
dieses  Verhaltens  beide  Tiere  als  Männchen  an- 
sprach   und    eines    der    Tiere    auch    anatomisch 


zweifellos  als  männliches  Tier  feststellte,  ließ  man 
dennoch  die  beiden  Tiere  nochmals  von  einem 
Tierarzt  untersuchen,  der  dieselben  als  Weibchen 
ansprach.  Hierauf  hin  ließ  man  denn  auch  in 
der  Tat  noch  ein  drittes  Männchen  kommen, 
welches  zunächst  mit  dem  weniger  schneidigen 
Männchen  zusammenkam  und  sich  nach  wenigen 
Tagen  mit  diesem  vollkommen  verstand,  so  daß, 
als  man  nach  8  Tagen  das  schneidigere  Männchen 
wieder  zu  dem  angenommenen  „Paare"  setzte, 
ersteres  von  den  beiden  neu  zusammengewöhnten 
Tieren  eiligst   aus   dem  Wasser  vertrieben  wurde. 

Nunmehr  wurden  zwei  Männchen  abgeschafft 
und  dem  größten  und  stattlichsten  Männchen  ein 
Weibchen  beigegeben,  welches  vom  ersteren  sofort 
freudig  aufgenommen  wurde,  während  das  kleinere 
Männchen,  welches  man  noch  eine  Stunde  mit 
dem  neuen  Paare  zusammenließ,  eifersüchtig  sich 
entfernte  und  schreiend  sich  in  gemessenem  Ab- 
stände von  diesem  Paare  hielt. 

Jedenfalls  zeigen  diese  Tatsachen,  daß  Um- 
paarungen  beim  Trauerschwan  sehr  leicht  sich 
bewerkstelligen  lassen.  Das  sollte  ein  wichtiger 
Fingerzeig  für  manche  Züchter  sein,  die  unter 
allen  Umständen,  um  unfruchtbarere  oder  schwäch- 
liche Inzucht  zu  vermeiden,  ihre  Geschwisterpaare 
zu  blutsfremden  machen  sollten.  Man  scheue 
diese  Mühe  ja  nicht;  denn  sie  wird  sich  reichlich 
lohnen! 

Auffallend  ist  jedenfalls  die  große  Verträglich- 
keit der  Schwarzen  Schwäne  untereinander,  eben 
selbst  bei  Männchenpaaren,  was  man  von  Cygnits 
olor  durchaus  nicht  immer  behaupten  kann.  Denn 
während  bei  dem  von  mir  beobachteten  Schwarzen 
Männchenpaare  der  Tretakt  trotz  der  längeren, 
weil  unter  Schwierigkeiten  vor  sich  gehenden 
Einleitung  sonst  in  aller  Ruhe  und  vollem  Ein- 
verständnis der  beiden  Tiere  vor  sich  ging,  war 
das  Verhalten  bei  einigen  Männchenpaaren  von 
Cygmis  olor  z.  T.  vollkommen  verschieden.  Wäh- 
rend ein  von  Jugend  auf  aneinander  gewöhntes  Männ- 
chen- und  Bruderpaar  3  volle  Jahre  bis  zu  seiner 
Trennung  ebenfalls  vollkommen  harmonierte  und, 
wenn  auch  sehr  selten,  den  Tretakt  unter  großen 
Schwierigkeiten,  aber  ebenfalls  im  vollen  gegen- 
seitigen Einvernehmen,  vollzog,  war  es  bei  dem 
anderen  ö/c^/'-Männchenpaar,  das  ich  zu  beobachten 
Gelegenheit  hatte,  anders.  Hier  konnte  ich  zwei- 
mal feststellen,  daß  das  stärkere  Männchen  des 
sonst  gut  zusammenhaltenden  gleichgeschlecht- 
lichen Paares  das  schwächere  nach  längerem 
Kampfe  mit  brutaler  Gewalt  in  eine  Teichecke 
hineindrängte,  um  es  dann  regelrecht  zu  treten  ^). 

Im  allgemeinen  ist  der  Schwarze  Schwan  in 
größerer  Gesellschaft  verträglicher  als  der  Höcker- 
schwan. Ich  glaube,  das  liegt  daran,  daß  er  als 
ein  Vogel  der  Subtropen  vielmehr  in  Kolonien 
zu  brüten  gewohnt  ist,  als  seine  nordischen  Vettern. 
In    den  Anlagen  Düsseldorfs   konnte  ich  übrigens 


')  Vgl.  hierüber  die  oben  erwähnte  Anatidenbiologie  von  ')  Vgl.  Mitteilungen    über    die  Vogelwelt,    herg.    von  Dr. 

O.  Heinroth.  K.  Flöricke.    14.  Jg.   1914  Heft  7.  S.    168. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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im  Frühjahr  1914  eine  in  der  Brutgeschichte  der 
Schwäne  wohl  einzig  dastehende  Beobachtung 
machen.  Hier  führte  ein  Männchen  zwei  Weib- 
chen und  6  Junge.  Aber  es  war  das  Männchen 
nicht  etwa  der  Gemahl  beider  Weibchen  und 
Vater  sämtlicher  Jungen.  Vielmehr  verhielt  sich 
die  Sache  nach  einer  mir  vom  Gartenamt  der 
Stadt  Düsseldorf  freundlichst  gemachten  Mitteilung 
ganz  anders:  Es  handelte  sich  vielmehr  um  ein 
Schwanenpaar,  dem  sich  ein  weiteres  Weibchen 
zugesellt  hatte,  nachdem  der  Nestbau  seitens  des 
betreft'enden  Paares  vollendet  und  die  Eier  bereits 
gelegt  waren.  Das  Männchen  des  einzelnen  Weib- 
chens war  inzwischen  durch  einen  Hund  getötet 
worden.  Es  war  nun  auffällig,  zu  beobachten, 
wie  das  Schwanenpaar  es  zuließ,  daß  seine  Eier 
von  einem  zweiten  Weibchen  mit  bebrütet  wur- 
den. Nach  dem  Ausschlüpfen  der  Jungen  teilten 
sich  beide  Weibchen  friedlich  in  die  Ausübung 
der  Mutterpflichten,  und  die  Jungen  wurden  lange 
Zeit  ohne  jegliche  Streitigkeiten  von  den  drei 
Schwänen  gemeinsam  geführt.  Es  wurde  zweifel- 
los festgestellt,  daß  das  Zusammenleben  des 
Schwanenpaares  rein  monogam  war,  und  daß  die 
hinzugekommene  Witwe  nur  das  Geschäft  des 
Ausbrütens  mit  übernommen  hat.  Letzteres  ist 
aber  sicherlich  um  so  bemerkenswerter,  da  doch 
beim  Schwarzschwan  auch  das  Männchen  sich 
zeitweise  am  Brutgeschäft  beteiligt. 

Im  allgemeinen  ist  der  schwarze  Schwan  brut- 
lustiger als  CvgiiHS  olor,  und  ich  habe  schon  mehr- 
rach  beobachten  können,  daß  einer  normal  aus- 
gekommenen Frühjahrsbrut  noch  eine  erfolgreiche 
Herbstbrut  folgte.  Überhaupt  schreiten  Schwäne, 
einerlei  um  welche  Art  es  sich  handelt,  wie  alle 
anderen  Vögel,  noch  einmal  zur  Brut,  wenn 
man  ihnen  das  erste  Gelege,  sowie  es  voll- 
stäntig  ist,  wegnimmt.  Auch  eine  derartige  Maß- 
nahme ist  für  einen  rationellen  Züchter  nicht  nur, 
sondern  auch  im  allgemeinen  Interesse  im  höch- 
sten Maße  beachtenswert.  Denn  die  zweiten 
Brüten  der  Vögel  enthalten  in  der  Regel  in  der 
Mehrzahl  die  weiblichen  Exemplare,  während  bei 
der  ersten  Brut  die  Männchen  fast  durchweg  an  Zahl 
vorherrschen.  Bei  den  Schwänen  sind  aber  die 
weiblichen  Geschlechter  in  der  Minderzahl  vor- 
handen und  darum  begehrter.  Freilich  darf  man 
zur  Erzeugung  von  zwei  Gelegen  nur  ältere  kräf- 
tige Weibchen  benutzen,  da  eine  doppelte  Eiablage 
und  eine  folgende  Brutperiode,  auch  wenn  das 
erste  Gelege  durch  Truthühner  oder  andere  Schwäne 
ausgebrütet  wurde,  den  Organismus  des  weiblichen 
Tieres  erfahrungsgemäß  so  schwächen  kann,  daß 
der  Tod  des  brütenden  Weibchens   die  Folge  ist. 

Ganz  ähnlich,  wie  gleichgeschlechtliche 
Schwanenpaare,  verhalten  sich  auch  in  psycho- 
logischer und  ethologischer  Hinsicht  Gansert- 
paare.  Ein  Bekannter  hatte  von  der  domestizierten 
Form  Cygiiopsis  cyg/ioidcs  zwei  Jahre  lang  eben- 
falls ein  Männchenpaar  in  dem  festen  Glauben, 
ein  wirkliches  Paar  zu  besitzen:  so  verschieden 
waren  die  beiden  Tiere.   Auch  dieser  „Paar"  lebte 


außerordentlich  einträchtig  miteinander,  verteidigte 
sich  gemeinsam  bei  Gefahren  und  vollführte  in 
der  Fortpflanzungszeit,  indem  es  sich  abwechselnd 
gegenseitig  begattete,  den  Tretakt.  Da  auch 
zwei  weibliche  Tiere  unter  gewissen  Vertretern 
der  Anatidengruppe  den  Begattungsakt  nicht  selten 
auszuüben  pflegen,  so  ließ  der  Besitzer  der  Tiere 
noch  einen  einjährigen  Gansert  zu  seinen  beiden 
nunmehr  vermeintlichen  Gänsen  kommen ,  und 
siehe  da:  derselbe  wurde  mit  Freuden  begrüßt 
und  ohne  weiteres  als  dritter  im  Bunde  aufge- 
nonmnen.  Allein  die  Freundschaft  dauerte  nur 
bis  zum  I'Vühjahr,  wo  der  P'ortpflanzungstrieb 
erwachte.     Da  entstanden  große  Beißereien. 

Man  sagt  den  Gänsen  nach,  daß  es  außer- 
ordentlich schwer  halte,  ein  neues  Tier  einem 
längere  Zeit  bestehenden  Familienverbande  zuzu- 
führen. Es  gibt  aber,  den  von  mir  hier  gemachten 
Beobachtungen  nach  zu  schließen,  doch  auch  Aus- 
nahmen, die  allerdings  vielleicht  darin  ihre  Er- 
klärung finden  können,  daß  es  sich  im  vorliegen- 
den Falle  nicht  um  einen  festgefügten  Familien- 
verband handelte,  sondern  um  ein  „Paar",  das  sich 
nur  deshalb  liebte,  weil  kein  Weibchen  vorhanden 
war.  ^)  Denn  als  die  Beißerei  unter  den  drei 
Männchen  zur  Fortpflanzungszeit  begonnen  hatte, 
dauerte  es  auch  nicht  lange,  bis  die  beiden  schön- 
sten der  drei  Gänseriche  sich  wieder  zu  einem 
Männchenpaare  zusammengetan  hatten. 

So  interessant,  lehrreich  und  nützlich  für  die 
Psychologie  und  Ethologie  der  Tiere  solche  Be- 
obachtungen an  Männchenpaaren  der  Schwäne 
und  Gänse  auch  sind,  so  wird  es  doch  wenige 
geben,  die  mit  Absicht  solche  Beobachtungen  an- 
stellen. Denn  so  seltene  und  schöne  Tiere,  wie  es 
Chcnopsis  atrata  oder  gar  Gygmis  melanocoryphus 
sind,  sollten,  wo  sich  Gelegenheit  dazu  bietet,  viel 
mehr  gezüchtet  werden ,  als  es  in  der  Tat  ge- 
schieht, schon  aus  dem  Grunde,  um  ein  Ausster- 
ben, das  in  den  Heimatländern  dieser  beiden  Tiere 
doch  über  kurz  oder  lang  einmal  bevorsteht ,  zu 
verhindern.  Auch  im  vorliegenden  Falle  war  es 
der  Zufall,  der  die  hier  mitgeteilten  Beobachtungen 
zustande  kommen  ließ.  Fs  mag  dabei  noch  ein 
wohl  auch  für  manchen  Naturwissenschaftler  neuer 
Hinweis  zur  unzweideutigen  Feststellung  des  Ge- 
schlechtes der  im  Männchen-  und  Wcibchenkleid 
gleichgefärbten  Anatiden  gegeben  werden : 

Bei  den  Schwänen  und  Gänsen  ist  das  Ge- 
schlecht auf  Grund  äußerer  Merkmale  ohne  weiteres 
durchaus  nicht  immer  sicher  zu  bestimmen.  Die 
bedeutendere  Länge  und  größere  Stärke  des 
Halses  oder  Kopfes,  einerlei  um  welche  Schwanen- 
art  es  sich  handelt,  ist  keineswegs  immer  ein 
sicheres  Zeichen  für  ein  männliches  Individuum. 
Auch  in  der  sonstigen  Körpergröße  gleichen 
Weibchen  den  Männchen  bisweilen  vollkommen. 
Etwas  anderes  ist  es  schon,  wenn  man  sein  Augen- 
merk auf  die  Beckenknochen  richtet.    Diese  stehen 


')    Vgl.    hierüber:    Dr.    O.  Heinroth,    Die    Br.iutcnte. 
Neudamm  1910,  S.  37. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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bei  den  Weibchen  naturgemäß  weiter  auseinander 
als  bei  den  Männchen.  Endgültig  siclier  läßt  sich 
das  Geschlecht  der  Schwäne  usw.  aber  nur  durch 
folgende  Manipulation  bestimmen:  Bekanntlich 
besitzen  außer  den  Trappen,  Straußen  und  wenigen 
anderen  Vogelarten  auch  die  Männchen  der  An- 
gehörigen der  Anatidcngruppc  einen  Begattungs- 
apparat in  Gestalt  einer  beim  Tretakt  aus  der 
Kloake  hervortretenden  Rute,  die  mehrere  Centi- 
meter  lang  ist  und  an  der  Oberseite  eine  den 
Samen  leitende  Rinne  besitzt.  Diese  Rute  kann 
durch  einen  Handgriff  bei  den  Männchen  künst- 
lich zum  Vorschein  gebracht  werden,  indem  man 
zunächst  das  Tier  auf   den  Rücken   legt  und  den 


Schwanz  zurückschlägt.  Alsdann  läßt  sich  unter 
Anfassen  der  Kloake  mittels  zweier  Finger  durch 
stärkeres  melkendes  Drücken  die  Rute  ohne  be- 
sondere Schwierigkeiten  herausdrücken.  Dieses 
Verfahren,  welches  mir  bei  weißen  Schwänen 
schon  längere  Zeit  bekannt  war,  gilt  auch,  wie 
ich  mich  kürzlich  selbst  überzeugen  konnte,  für 
die  übrigen  Anatiden,  die  ich  daraufliin  unter- 
suchte, so  z.  B.  für  Schwarze  und  Schwarzhals- 
schwäne. Eine  derartige  handgreifliche  Unter- 
suchung kann  dem  Besitzer  eines  nicht  brütenden 
Schwanen-  oder  Gänse-„Paares"  allein  volle  Gewiß- 
heit verschaffen  und  ihm  jeden  weiteren  Ärger 
ersparen. 


Einzelberichte. 


Astronomie.  Das  Problem  der  Umdrehungs- 
zeit der  Venus  behandelt  Danjon  auf  Grund 
neuen  Materiales.  [Bull.  d.  1.  Soc.  Astron.  de  France, 
1914  Maiheft].  Er  bearbeitet  eine  große  Zahl  von 
Zeichnungen,  die  von  ihm  und  einigen  Mitarbeitern 
in  den  letzten  Monaten  erhalten  sind.  Sie  zeigen 
gleichmäßig  dieselben  leicht  angedeuteten  Gebilde, 
dieihre  Stellung  vonTag  zuTag  nicht  merklichändern. 
Ein  Veigleich  mit  Zeichnungen  von  S  ch  i  aparel  li 
aus  den  Jahren  1877  und  1895  zeigt  die  gleichen  Ge- 
bilde in  der  gleichen  Stellung  der  Venus  in  der  Bahn. 
Man  kann  diese  Tatsachen  nur  dadurch  erklären,  daß 
man  der  Venus  dieselbe  Umdrehungszeit  zuschreibt, 
wie  ihre  Umlaufzeit  beträgt.  Dies  wird  auch 
durch  die  spektroskopischen  Messungen  von  Sl  i  p  h  er 
bestätigt,  während  die  sehr  ungenauen  und  in  sich  wi- 
derspruchsvollen Messungen  von  Belopolski  kein 
genügendes  Vertrauen  verdienen,  aus  denen  dieser 
eine  Umdrehung  von  1,44  unserer  Tage  gefolgert 
hatte.  Riem. 

Zu  der  Frage  der  Umdrehungszeit  des  Mars 
(siehe  diese  Zeitschrift,  1914,  S.  333)  bringt 
Lowell  einen  neuen  Beitrag  [Lowe  11  Obs. 
Bull.  60],  auf  eigenen  Beobachtungen  fußend.  Er 
stellt  zunächst  fest,  daß  in  der  Tat  die  Angaben 
der  Vorausberechnung  hinter  der  Beobachtung 
um  11,73  Minuten  zurückbleiben,  eine  Zahl,  deren 
Unsicherheit  nur  7  Sekunden  beträgt.  Man  legt 
zu  diesen  Beobachtungen  durch  die  Marsscheibe 
den  Zentralmeridian,  der  also  die  Scheibe  genau 
in  2  gleiche  Teile  teilt,  und  beobachtet  den  Durch- 
gang gut  bekannter  Flecke  durch  diesen  Meridian. 
Das  läßt  sich  mit  einer  Genauigkeit  von  7  Sek. 
machen,  die  auf  dem  Mars  einer  Größe  von  2  Kilo- 
metern entsprechen.  Indem  nun  Lowell  solche 
Beobachtungen  aus  dem  Jahre  1894  mit  den  von 
1914  verbindet,  also  einen  Zeitraum  von  20  Jahren 
überbrückt,  erhält  er  einenUnterschied,  der  6846  Mars- 
tage enthält,  so  daß  der  kleine  Fehler  der  Beobach- 
tungen durch  diese  große  Zahl  dividiert  wird.  Es 
ergibt  sich  die  Umdrehungszeit  des  j\Iars  zu  24  St. 
37  Min.  22,5805  Sek.,  während  Wislicenus  ge- 


funden hatte  22,585  und  22,568  Sek.,  jenachdem 
er  gewisse  Beobachtungsreihen  von  Beer  und 
Mädler,  Schiaparelli  und  Arago  bewertet 
hatte.  Es  ist  also  eine  Veränderung  der  Um- 
drehung des  Mars  nicht  eingetreten,  was  anzu- 
nehmen war,  sondern  der  Nullpunkt  der  Zählung 
auf  dem  Mars  um  ist  einige  Grad  in  Länge  zu  ver- 
bessern. Riem. 

Die  Feststellung  der  Landrehung  eines  Spiral- 
nebels ist  soeben  auf  Lowells  Sternwarte 
gelungen.  Wie  S  1  i  p  h  e  r  mitteilt  [Lowell  Obs. 
Bull.  62]  erschienen  die  Linien  eines  Nebels 
in  der  Jungfrau  deutlich  geneigt,  genau  wie  bei 
einem  sich  drehenden  Planeten.  Dieser  Nebel 
hatte  schon  vor  einem  Jahre  eine  auffallend 
große  Geschwindigkeit  in  der  Gesichtslinie  ge- 
zeigt, und  nun  als  erster  die  noch  nie  gefundene 
Drehung.  Diese  Entdeckung  ist  kosmogonisch 
von  der  größten  Wichtigkeit,  da  man  die  ange- 
nommene Umdrehung  der  Spiralnebel  als  Voraus- 
setzung der  Nebularhypothesen  dringend  braucht, 
ohne  sie  bisher  beweisen  zu  können.  Der  Nebel 
hier  gehört  zu  den  spindelförmigen  Nebeln,  also 
Spiralen,  die  uns  mehr  oder  weniger  von  der 
Kante  aus  erscheinen.  Das  mächtige  Instrument 
Sliphers  hat  bisher  nur  bei  sehr  wenigen  Ne- 
beln Andeutungen  solcher  geneigten  Lage  der 
Linien  gegeben,  darunter  auch  bei  dem  großen 
Nebel  in  der  Andromeda.  Riem. 

Geologie.      Verwitterungsvorgänge   am   Bern- 


stein. In  einer  neuen  Schrift  des  durch  seine 
Bernsteinuntersuchungen  wohlbekannten  Ver- 
fassers^) werden  zunächst  die  ersten  Verände- 
rungen besprochen,  denen  der  an  die  Luft  ge- 
brachte Bernstein  ausgesetzt  ist  und  Verhaltungs- 
maßregeln für  die  Sammlungen  daraufhin  gegeben. 
Es  werden  übrigens  auch  andere  Bernsteinarten 
als  der  heimische  Succinit   besprochen ,    z.  B.  der 


')  Dahms,  F.,  Mineralogische  Untersuchungen  über  Bern- 
slein. XI.  Schrift.  Naturf.  ües.  Danzig.  N.  F.  XIII,  H.  3/4, 
p.   175—243,   1914. 


N.  F.  XIII.  Nr.  42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


eej 


Rumänit,  der  sizilianische  Bernstein  usw.  Verf. 
geht  dann  zu  Einzelerscheinungen  der  Bernstein- 
verwitterung über,  die  bei  den  Bernsteintechnikern 
z.  T.  auch  unter  besonderen  Namen  bekannt  sind, 
wie  ,, Flinten",  Netzfurchungen,  Krustenbildungen, 
Rißbildungen.  Diese  Erscheinungen  werden  auch 
zu  erklären  gesucht;  die  Rißbildungen  entstehen 
z.  B.  durch  Zusammentrockiien  der  Harzmasse, 
wodurch  Spannungen  erzeugt  werden,  deren  Aus- 
lösung durch  die  Risse  erfolgt.  Das  Mikroskop 
wurde  bei  der  Feinheit  mancher  Strukturände- 
rungen vom  Verf  mehrfach  zu  Hilfe  genommen. 
Interessant  ist  das  Verhalten  des  spezifischen  Ge- 
wichts beim  Bernstein  während  einer  12jährigen 
Beobachtungszeit.  Man  bemerkt  nämlich  zunächst 
ein  Sinken,  dann  (oft  schon  nach  i  Jahr)  ein 
Steigen  desselben  z.  T.  über  den  ursprünglichen 
Betrag  hinaus  durch  die  dann  einsetzenden  Oxy- 
dationsvorgänge. Verf.  beschäftigt  sich  dann  weiter 
mit  chemischen  Veränderungen  im  Bernstein,  mit 
der  Rolle  des  Schwefels  darin,  der  Bernsteinsäure 
usw.  Die  benutzte  Literatur  geht  bis  auf  Plinius 
zurück,  und  in  mancher  Beziehung  dürfte  daher 
auch  der  historisch  Interessierte  in  manchen  Ab- 
schnitten Beachtenswertes  finden.  Ein  87  Num- 
mern umfassendes  Literaturverzeichnis  schließt  die 
bemerkenswerte  Arbeit,  auf  deren  viele  Details 
wir  hier  nicht  eingehen  können.        W.  Gothan. 

Untersuchungen  über  Gletscherstruktur  und 
Gletscherbewegung  veröffentlicht  H.  Philipp  in 
Band  V  Heft  3,   1914  der  Geologischen  Rundschau. 

Trotz  zahlreicher  mühsamer  Arbeiten  von 
geologischer,  geographischer  und  physikalischer 
Seite  ist  die  Frage  der  Gletscherbewegung  und 
die  damit  aufs  engste  verbundene  Frage  der 
Gletscherstruktur  (der  sogenannten  Blaublätter- 
struktur oder  Bänderung  des  Gletschers)  noch 
nicht  genügend  geklärt.  Eine  Reihe  neuer  dies- 
bezüglicher Beobachtungen  konnte  H.  Philipp 
in  den  letzten  Jahren  an  Spitzbergischen  wie  an 
alpinen  Gletschern  anstellen. 

Gletscherstruktur  kommt  durch  Wechsellage- 
rung von  Lamellen  eines  luftarmen  und  daher 
dunklen  meist  blau  gefärbten  Eises  in  das  nor- 
malerweise luftreiche  und  daher  weißliche  Gletscher- 
eis zustande.  Je  nach  der  Höhenlage  oder  der 
Entfernung  von  den  Rändern  oder  dem  Boden 
des  Gletschers  kann  das  Aussehen  der  Struktur 
von  scharf  geschnittenen,  wenig  mächtigen  paral- 
lelen Blättern  bis  zu  einem  weniger  scharfen  fase- 
rigen Eise  schwanken.  Da  wir  die  Bänderung 
sowohl  bei  den  kleinsten  Kargletschern  wie  auch 
bei  den  gewaltigen  Gletschern  arktischer  Gebiete 
antreffen,  so  gilt  sie  als  spezifisches  Merkmal  aller 
in  Eigenbewegung  befindlichen  Eismassen. 

Viel  umstritten  ist  nun  die  Art  und  Entstehung 
der  Lagerung  der  Bänder  innerhalb  eines  Gletschers. 
Auf  der  Oberfläche  des  Gletscherfußes  irgendeines 
alpinen  Gletschers  verlaufen  die  Strukturen  vom 
Rande  schräg  abwärts  in  konvexem  Bogen  gegen 
die    Mitte    und    von    dort    entsprechend    wieder 


gegen  die  andere  Seite.  Hess  nennt  dies  löfifel- 
förmige  Lagerung,  während  C rammer  normaler- 
weise eine  fächerförmige  Anordnung  der  Blätter 
annimmt,  die  nur  bei  stationären  Gletschern  in 
die  löffelförmige  übergehe.  An  den  breiten  Spitz- 
bergischcn  Ta'glctschern  beobachtet  man  indessen 
ein  fast  senkrechtes  Einfallen  am  Rande,  das  in 
den  basalen  Teilen  allmählich  in  einen  dem  Un- 
tergrund parallelen  Verlauf  übergeht  (trogförmige 
Lagerung).  Wir  hätten  scheinbar  eine  verschie- 
dene Lagerung,  während  sich  bei  näherer  Unter- 
suchung zeigt,  daß  jeweils  die  Struktur  dem  Boden 
angepaßt  ist. 

Über  die  Entstehung  der  Bänderung  sind  die 
Meinungen  geteilt.  Ein  Teil  der  Forscher  (Agassiz) 
nimmt  eine  nur  mehr  oder  weniger  veränderte 
ursprüngliche  Firnschichtung  an,  während  andere 
(Tyndall,  Heim)  die  Struktur  als  eine  erst  nach- 
träglich erworbene  Eigenschaft  der  Gletscher  be- 
trachten. Tyndall  erblickt  in  der  Bänderung 
eine  Druckerscheinung  nach  Art  der  Schieferung 
der  Gesteine.  Gegen  beide  Erklärungsweisen 
sprechen  verschiedene  Tatsachen.  Gletscher, 
deren  innerer  Zusammenhang  durch  Zerreißen 
an  einer  Terrainstufe  völlig  zerstört  ist,  zeigen 
die  Bänderstruktur  am  Gletscherfuße  trotz  Rege- 
neration aus  ungeformten  Eislawinen.  Gelegent- 
lich findet  man  eine  Durchkreuzung  zweier  oder 
mehrerer  Struktursysteme.  Danach  muß  also  die 
Bänderung  ganz  unabhängig  von  primärer  Schich- 
tung entstehen  können.  Andererseits  kann  die 
Anordnung  der  Bänderung  z.  B.  in  arktischen 
Talgletschern  nicht  mit  der  Schieferung  von  Ge- 
steinen in  Parallele  gestellt  werden;  auch  ist  es 
nicht  ersichtlich,  wieso  etwa  ein  Heraustreiben 
der  Luft  aus  dem  normalerweise  luftreichen  Eise 
in  regelmäßigen  Abständen  erfolgen  soll. 

Philipp  konnte  nun  in  Spitzbergen  folgende 
interessante  Tatsachen  feststellen.  Auf  der  Ober- 
fläche der  Gletscher  treten  dem  Verlauf  folgend, 
scharfe  Längsrisse  auf,  die  etwa  in  der  Breite 
eines  Blaublattes,  also  meist  nur  wenige  mm  bis 
ca.  2  cm  klaffen,  tief  in  den  Gletscher  hineingehen 
und  sich  auf  seiner  Oberfläche  mehrere  100  m 
weit  verfolgen  lassen,  bis  dicht  daneben  ein  an- 
derer Riß  einsetzt  und  den  Verlauf  des  ersteren 
fortsetzt.  Im  Querschnitt  haben  die  Risse  den 
gleichen  trogförmigen  Verlauf  wie  die  Blätter. 
Der  Abstand  der  einzelnen  Risse  beträgt  etwa 
1/2 — 2  m.  Da  es  sich  bei  dieser  Struktur  nicht 
um  klaffende  Schichtfugen  handeln  kann,  so  müs- 
sen wir  annehmen,  daß  diese  Risse  bei  der  Be- 
wegung des  Gletschers  durch  Differentialbewe- 
gung entstehen  und  die  Struktur  des  Gletschers 
nichts  anderes  ist  als  solche  wieder  verkitteten 
Risse,  die  besonders  deutlich  in  den  basalen  und 
randlichen  Partien  der  Gletscher  zu  erkennen  sind. 
Die  Bedeutung  der  Risse  im  Mechanismus  der 
Gletscherbewegungen  geht  daraus  hervor,  daß 
sehr  häufig  ein  Überragen  der  hangenden  über 
die  liegende  Eispartie  (oft  nur  wenige  cm,  gele- 
gentlich bis  zu  10  oder  20  cm)  mit  scharfen  dem 


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Riß  entsprechenden  Rändern  erfolgt.  Da  außer- 
dem Verschiebungen  kleiner  Ouerspalten  an  diesen 
Längsrissen  auftreten ,  so  nimmt  Philipp  an, 
daß  es  sich  bei  diesen  Rissen  tatsächlich  um  Er- 
scheinungen der  Dift'erentialbewegung,  also  um 
Abscherungsflächen  handelt,  an  denen  Teile  des 
Gletschers  gegeneinander  verschoben  werden. 
Diese  Abscherungsflächen  reißen  entsprecliend 
den  Punkten  größter  Reibung,  also  parallel  dem 
Untergrund  auf  und  zwar  in  Abständen  von  ^j^ — 2  m. 
Bei  dem  Abscherungsvorgang  tritt  zum  Teil  eine 
Zermalmung  des  Gletschereises  mit  partieller 
Verflüssigung  infolge  der  Reibung  ein.  Wenn 
die  Spalten  klaffen,  kann  von  oben  her  feiner 
Detritus  eingeschwemmt  werden,  der  bei  der 
Abschmelzung  als  feine  der  Struktur  folgende 
Schmutzbänderung  auf  der  Gletscheroberfläche 
zutage  tritt.  Nach  dem  Zugefrieren  einer 
Spalte  reißt  eine  andere  in  der  Nachbarschaft 
auf.  Risse  und  Bänder  treten  am  zahlreich 
sten  dort  auf,  wo  wir  die  größte  Dift'erential- 
bewegung erwarten  müssen,  also  an  den  Seiten 
und  der  Basis  der  Gletscher.  Bei  Änderung  des 
Querschnittes  des  Tales  oder  beim  Vereinigen 
mehrerer  Gletscher  tritt  ein  Durchkreuzen  der 
älteren  und  jüngeren  Systeme  unter  mehr  oder 
weniger  großen  Winkeln  ein.  Nach  dem  Zu- 
sammenfluß zweier  oder  mehrerer  Gletscher  be- 
hält jeder  eine  Strecke  weit  seine  Eigenbewegung 
und  Eigenstruktur  bei,  worauf  neue  den  verschie- 
denen Zuflüssen  gemeinsame  Abscherungsflächen 
aufreißen. 

An  der  steilen  Längswand  in  der  Mitte  des 
untersten  Teiles  des  Unteraargletschers  konnte 
Philipp  im  Verein  mit  Hafferl  mit  Hilfe  von 
50  in  mehreren  \"ertikalreihen  stehenden  Stäben, 
deren  herausragende  Köpfe  jeweils  mit  dem  Theo- 
doliten eingemessen  waren,  eine  sprungweise  Be- 
wegung der  Gletschermassen  feststellen. 

V.  Hohenstein,  Halle  a.  S. 

Anthropologie.  Über  anthropologische  Be- 
obachtungen an  den  Pygmäen  am  Sanga  in  Neu- 
Kamerun  berichtete  Ph.  Kuhn  in  einer  Sitzung 
der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft  (Zeit- 
schrift für  Ethnologie,  1914,  S.  116  ff.).  Kuhn 
fielen  mancherlei  Ähnlichkeiten  auf  zwischen  den 
Buschleuten  Südwestafrikas,  die  er  früher  kennen 
gelernt  hatte,  und  dem  Zwergvolk  am  Sanga. 
Lebhaft  an  die  Buschleutewerften  erinnert  wurde 
der  Reisende  am  Sanga  durch  den  eigenartigen 
Geruch  der  Pygmäenniederlassungen ;  doch  kann 
er  nicht  entscheiden,  ob  der  Geruch  von  den 
Menschen  selbst  oder  von  Riechstoffen  ausging. 
In  ihrem  Aufbau  unterscheiden  sich  die  Lager 
der  Sangapygmäen  kaum  von  denen  der  Busch- 
leute: Die  Hütten  gruppieren  sich  innerhalb  einer 
von  Buschwerk  gereinigten  Lichtung  im  Urwald, 
etwa  im  Kreise  um  einen  Mittelraum.  Die  meisten 
sind,  wie  die  Windschirme  der  Buschleute,  aus 
Zweigen  aufgeführt,  auf  die  Blattwerk  gelegt  ist. 
Das  verwendete  Material  ist  natürlich  verschieden. 


In  den  Dörfern  bei  Bomassa  sah  Kuhn  außerdem 
eine  andere  Form  der  Hütten,  bei  der  ein  niedri- 
ger Vorbau  sich  an  den  Hauptraum  anschließt, 
so  daß  der  Grundriß  ungefähr  die  P'orm  einer 
bauchigen  P'lasche  mit  breitem  Halse  hat.  In 
zwei  Dörfern  traf  der  Reisende  je  eine  größere 
Hütte  nach  Art  des  länglichen  Hauses  der  Wald- 
bantu. 

In  ihrer  Größe  gleichen  die  Sangapygmäen 
den  Buschleuten  ziemlich  genau.  Kuhn  erhielt 
die  Maße  von  31  Männern  und  37  Frauen.  Die 
Größe  schwankt  bei  den  Männern  zwischen  140 
und  172,5  cm,  im  Mittel  beträgt  sie  154  cm.  Die 
P'rauen  waren  134  bis  164  cm  groß;  ihre  Durch- 
schnittsgröße betrug  146,9  cm.  Von  den  Männern 
hatte  ein  Drittel  und  von  den  Frauen  hatten  mehr 
als  drei  Viertel  eine  Größe  von  150  cm  und  dar- 
unter. 

Die  Sangapygmäen  sind  zwar  dunkler  als  die 
Buschleute ;  es  besteht  aber  doch  eine  große  Ähn- 
lichkeit der  Hautfarbe.  Nach  dem  Waschen  ent- 
sprach die  Hautfarbe  zwischen  den  Schulterblättern 
bei  mehr  als  der  Hälfte  der  erwachsenen  Personen 
beider  Geschlechter  Nr.  25  der  Lu sc han 'sehen 
Farbentafel.  Bei  den  Buschleuten  herrscht,  nach 
F.  Seiner's  Beobachtungen,  Nr.  23  vor.  Die 
Sangapygmäen  sind  jedoch  viel  kräftiger  als  die 
Buschleute,  was  im  Körpergewicht  zum  Ausdruck 
kommt.  F.  Seiner  ermittelte  als  Durchschnitts- 
gewicht der  Buschmänner  40,4  kg  und  der  Busch- 
weiber 36,7  kg,  Kuhn  fand  in  Bomassa  bei  den 
Männern  ein  Durchschnittsgewicht  von  48,4  kg 
und  bei  den  Weibern  ein  solches  von  44,9  kg. 
Die  gesunden  Leute  unter  den  Sangapygmäen  sind 
gut  genährt.  Die  Spannweite  ist  bei  allen  Pyg- 
mäen, mit  Ausnahme  von  zwei  Frauen,  größer 
als  die  Körperlänge;  das  Durchschnittsverhältnis 
der  Spannweite  zur  Körperlänge  beträgt 

Bei  den  Männer       Frauen 

Sangapygmäen  (KuhnJ  106,1  104,3 

Buschleuten  (H.  Werner  1))     102  loi 

Das  Durchschnittsverhältnis  der  Sitzhöhe  zur 
Körperlänge  ist: 

Bei  den  Männer       Frauen 

Sangapygmäen  (Kuhn)   50,2  50,0 

Buschleuten  (Werner)    49,5  50,5 

Der  Rumpf  der  Pygmäen  ist  lang,  die  Beine 
sind  kurz  und  die  Arme  sind  sehr  lang. 

Die  durchschnittlichen  Längen-  und  Breiten- 
maße des  Kopfes  sind  nachstehend  angegeben: 

Pygmäen      Buschleute 

(Kuhn)      (Werner) 

Größte  Länge,  Männer  18,0  cm         17,9  cm 


17,8 

14.3  .-         13,6     „ 
13.8     ..  13.1     " 

79.4  ..         76,3     „ 
78.0    "        73.5     ., 

Prognathie  ist  bei  den  Sangapygmäen  in  dem- 


Frauen 
Größte  Breite,  Männer 
„  „         Frauen 

Kopfindex,  Männer 


')     Werner,     Beobachtungen     über     die     Heikum-    und 
Kungbuschleutc.     Zeitschr.  f.  Ethnol.,   1906,  Heft  3. 


N.  F.  Xin.  Nr.  42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


669 


selben  Maße  vorhanden  wie  bei  den  Buschleutcn. 
Bei  den  Sangapygmäen  ist  die  Stirn  meist  ziem- 
lich steil,  und  nur  in  einigen  h'ällen  stark  fliehend. 
Bei  manchen  Personen  springt  die  obere  knöcherne 
Umrandung  der  Augenhöhle  stark  vor.  Die 
Schläfenlinie  ist  stets  stark  ausgeprägt.  Eine  auf- 
fallende Besonderheit  der  Pygmäen  bilden  die 
starken  Nasen ,  deren  Breite  manchmal  die  Höhe 
übertrifft.  Die  Nasenform  macht  die  Gesichter 
abstoßend  häßlich.  Die  Ohren  sind  eher  groß 
als  klein  und  nicht  übermäßig  abstehend.  Die 
Umfangslinie  ist  gerundet,  das  Läppchen  ist  meist 
vorhanden  und  angewachsen.  Der  Mund  ist  breit, 
die  Lippen  sind  verhältnismäßig  schmal,  die  Ober- 
lippe ist  konvex;  Behaarung  ist  bei  Männern  in 
vielen  Fällen  vorhanden.  Die  Augenspalte  ist 
mittelgroß  und  wird  nicht  so  zugekniffen  wie  bei 
den  Buschleuten.  Gegen  Sonne  sind  die  Sanga- 
pygmäen  sehr  empfindlich,  weshalb  sie  stets  dem 
Schatten  zustreben. 

Die  manchmal  geäußerte   Annahme ,    daß    die 


Lebensdauer  der  Pygmäen  sehr  kurz  sei,  kann 
Kuhn  hinsichtlich  der  Sangapygmäen  nicht 
bestätigen,  denn  er  traf  unter  ihnen  Greise  und 
Greisinnen  an.  Bei  älteren  Frauen  fand  sich 
mehrfach  die  häßliche  Faltenbildung  im  Antlitz, 
die  von  Buschgreisinnen  bekannt  ist.  Der  kräftige 
muskulöse  Körper  der  Pygmäen  weckt  zunächst 
die  Vorstellung,  daß  diese  Rasse  von  den  dünn- 
gliedrigen  Buschleuten  verschieden  ist.  Aber  man 
muß  sich  vergegenwärtigen,  daß  die  Buschleute 
in  der  wasserarmen  Steppe  leben  und  das  Wild 
meist  durch  Hetzen  erjagen;  dann  scheint  es  nicht 
verwunderlich,  daß  sie  schwächere  Muskeln  und 
geringeren  P'ettansatz  haben  als  die  Pygmäen. 

Die  Hauptbeschäftigung  der  Sangapygmäen 
ist  die  Jagd,  namentlich  die  Elefantenjagd.  Als 
Waffe  dient  der  Speer,  Bogen  und  Pfeil  werden 
nicht  geführt. 

Für  Kuhn  gibt  es  keinen  Zweifel  darüber,  daß 
Pygmäen     und     Buschleute     nahe     Ver- 


wandte sind. 


H. 


Fehlinger. 


Kleinere  Mitteilungen. 


über  angebliche  Hebungen  und  Senkungen 
an  Pommerns  Küsten  nach  der  Litorinazeit  ist  in 
den  letzten  Jahren  mancherlei  Vermutung  ver- 
öffentlicht worden.  So  versuchte  W.  De  ecke') 
das  Vinetariff  am  Nordrand  von  Usedom  als  ver- 
sunkenes megalithisches  Gräberfeld  zu  erklären, 
und  Lepsius'-)  wollte  ein  Absinken  der  Küste 
in  jüngster  historischer  Zeit  u.  a.  mit  der  Sage 
von  der  Wendenstadt  Vineta  belegen.    G.  B  r  a  u  n  ^) 


Fig.   I.     Geröllstrand  wälle  an  der  Nordwurzel  der 

Schmalen  Heide,  nach  G.  Braun. 

Ergänzung  durch  Aufnahme  des  Verfassers  im  Mai   igi2, 

mit  Bohrungen  von  Th.  Otto. 

')  Vineta,  10.  Jahresber.  Geograph.  Ges.  Greifswald  1907, 
S.  43  (f.  —  Geologie  von  Pommern  (Berlin)   1907,  S.  228. 

2)  Geologie  von  Deutschland,  II,  (Leipzig)   19 10,  S.  51S. 

')  Entwicklungsgeschichtliche  Studien  an  europäischen 
Flachlandküsten  usw.,  Veröff.  Inst.  Meereskunde.  Berlin  15. 
1911,  S.   1 19  ff. 


erwähnte  Feuerstein-Strandwälle  der  Schaabe  und 
Schinalen  Heide  auf  Rügen  in  unmittelbarem  An- 
schluß an  andere  Strandwallebenen,  welche  durch 
junge  Hebung  aus  dem  Bereich  des  Ufers  gekom- 
men sein  sollen.  —  Bei  der  Schmalen  Heide 
(Fig.  i)  setzen  deutlich  gebogene  Strandwälle  bis 
rund  3  m  über  Mittelwasser  am  östlichen  Vor- 
sprung des  Inselkerns  der  Truper  Tannen  an. 
Auf  der  Schaabe  erkennt  man  in  einem  Ab- 
rasionsbogen  nördlich  Breege-Bad  (Fig.  2)  eine 
etwa  ebenso  hoch  liegende  Terrasse  mit  groben 
marinen  Gerollen;  hier  und  beim  Bad  erreichen 
die  Geröllstrandwälle  rund  3,5  m  über  NN.  Strand- 
wälle finden  sich  ferner  im  südlichen  Teil  ,, Wer- 
der" der  Rügener  Landzunge  „Der  Bug" ;  Feuer- 
steingerölle  liegen  dort  bis  etwa  2,5  m  über  NN. 
—  H.  Spethmann')  wollte  eine  bis  2  m  hohe 
Uferterrasse  am  Strelasund  zwischen  Stahlbrode 
und  Stralsund,  namentlich  bei  der  Prosnitzer 
Schanze,  durch  „geringe  Hebung  des  Landes"  er- 
klären; am  Einschneiden  eines  jungen  Kliffs  in  ein 
reifes  Kreidekliff  zwischen  Saßnitz  und  Stubben- 
kammer glaubte  er  Änderungen  der  Erosionsbasis 
durch  eine  geringe  Senkung  zu  erkennen.  K.  Keil- 
hack-) fand  hochliegende  Brandungsgerölle  auf 
der  Oberfläche  von  jungen  Stranddünen  des  Mis- 
droyer  Hakens  in  der  Swinepforte;  die  Unter- 
brechungen in  der  Dünenbildung  dieses  Gebiets 
erschienen  ihm  am  ehesten  durch  schwache  Sen- 
kungen   und    Hebungen   erklärbar.     O.Ja  ekel*) 


')  Küstenverlagerung  und  Meeresströmung  zwischen  Rügen 
und  Alsen,  Zeitschr.  Ges.  Erdkunde  Berlin  1912,  Nr.  7.  — 
Naturw.   Wochenschr.   1913,  S.  5S6. 

-)  Die  Verlandung  der  Swinepforte,  Jahrb.  Preuß.  Geol. 
L.-A.  für   1911,  Bd.  32.  II.  2.,    1912,  S.  209  ff. 

'}  Über  gegenwärtige  tektonische  Bewegungen  in  der 
Insel  Hiddensee,  Monatsber.  deutsch,  geol.  Ges.  1912,  S.  278fT. ; 
—  S.  409. 


670 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  42 


wollte  auf  Hiddensee  bei  Rügen  Bruchsysteme 
erkennen,  die  noch  in  den  letzten  Jahren  erheb- 
liche Vertikalbewegungen  zeigen  sollten ;  als  Zeugen 
für  Hebung  dort  führte  er  auch  bis  2  m  hoch 
liegende  abgerollte  Gesteinsblöcke    am  Alt-Bessin 

auf,    und    ein  durch 
Diluvial 
In^elkeri 


i     nm  lüo  JO0<.00   Soorr 


seine  Lage  geschütz- 
tes, bewachsenes 
Kliff  (,, Schweden- 
ufer") an  der  rezen- 
ten Strandlinie  auf 
der  Südseite  des 
Dornbuschs,  östlich 
Kloster  (Fig.  3). 

Gegenüber  sol- 
chen Anschauungen 
mahnte  Verf  seit 
1909 ')  zur  Vorsicht: 
Das  Vinetariff  könne 
der  Abrasionsrest 
einer  Geschiebe- 
mergel-Steilküste 
sein ,  wie  sie  zahl- 
reich vor  den  Pom- 
merschen  Ufern  lie- 
gen; bei  der  Ent- 
stehung der  Anlan- 
dungen in  derSwine- 
pforte  sei  die  Mit- 
wirkungjunger Sen- 
kungen, nicht  aber 
Hebungen  wahr- 
scheinlich. Auch 
Deecke^)  faßte 
1909  die  Vinetabank 
als  einen  „vollstän- 
dig denudierten  Ge- 
schiebemergelkern" 
auf,  der  nur  noch 
als  Steinriff  erhalten 
war.  Auf  der  Ver- 
sammlung der  deut- 
schen geologischen 
Gesellschaft  191 2 
erörterte  M.  Frie- 
derichsen,  ^j  daß 
sich  die  Feuerstein- 
strandwälle der 
Schmalen  Heide  wie 
der  Schaabe  durch 
Hochwasserstände 
bei  stürmischem 
auflandigem    Wind 

Fig.   3.       Kliff    am    Schwedenufer     oder    durch    Sturm- 
östlich  Kloster  auf  Hiddensee.         fluten      vollkommen 

erklären  ließen,  und 
daß  auch  die  hohen  Uferterrassen  am  Strelasund 
innerhalb  der  Grenzen  dieser  höheren  und  höchsten 
Wasserstände  lägen.  Es  sei  ferner  unnötig,  aus 
dem  Einschneiden  eines  „jungen"  Khffs  in  ein 
„reifes"  Kreidekliff  zwischen  Saßnitz  und  Stubben- 
kammer auf  eine  geringe  Senkung  für  diese  Küsten- 


Fig.  2.  Geröllstrandwälle 
an  der  Nordwurzel  der 
Schaabe.  Situation  nach  dem 
1885  aufgenommenen,  1909  revi- 
dierten Meßtischblatt.  Strandwälle 
vom  Verf.  aufgenommen  Juni  ig  12. 
Die  jüngsten  GeröUe  bis  etwa 
2'/2  I"  ü.  M.,  ältere  auf  einer  etwa 
3  m  hohen  Strandwallebene,  z.  T. 
zwischen  jungen  Dünen,  bis  3,5  m 
ü.  M.  Zwischen  Dünen  wurden 
von  Th.  Otto  stellenweise  ver- 
wehte Riegen  erbohrt.  In  Auf- 
schlüssen einzelne  GeröUe  im 
Dünensand. 


Khff 


Virter  Bodden 
Schilf 


nw 


strecke  zu  schließen,  weil  an  solchen  exponierte- 
sten Küstenpartien  mit  einer  allmählichen  Ver- 
tiefung der  Schorre  im  Gebiet  der  immerhin 
weichen  Kreide  und  damit  gleichzeitiger  Wieder- 
belebung der  Brandung  ohne  Senkung  gerechnet 
werden  darf  Eine  Exkursion  im  August  1912 
führte  die  allgemeine  Versammlung  der  deut- 
schen geologischen  Gesellschaft  nach  Hiddensee. 
O.  Jaekel  suchte  dort  seine  Annahme  gegen- 
wärtiger tektonischer  Bewegungen  im  Dornbusch 
zu  erklären;  die  Diskussion,  an  der  sich  u.  a. 
Wahnschaffe,  Keilhack,  Tornquist, 
Rauff,  Bärtling  und  Menzel  beteiligten,  er- 
gab aber  nach  Praesent,^)  daß  die  Uferabbrüche 
am  Geschiebemergelkern  von  Hiddensee  ohne 
Zuhilfenahme  tektonischer  Kräfte  erklärt  werden 
können.  Im  gleichen  Sinne  äußerte  sich  Cl. 
L  e  i  d  h  o  1  d. '')  Er  hält  das  Flachland  der  Insel 
Hiddensee  für  einfaches  Anschwemmungsland; 
Hebung  sei  weder  bei  den  Inselanhängen  noch 
beim  Diluvialkern  des  Dornbuschs  erwiesen,  die 
Brüche  könnten  auf  einfache  „Translokationen" 
zurückgeführt  werden.  Für  das  Gebiet  des  Darss 
und  Zingst  kam  nach  eingehenden  Aufnahmen 
T  h.  Otto  ")  zu  der  Überzeugung,  daß  die  Bohr- 
profile irgendwelche  Schlüsse  auf  Niveauschwan- 
kungen nicht  zulassen;  die  Höhenlage  der  Riegen- 
sohlen, die  etwa  der  heutigen  Meereshöhe  ent- 
spricht, sowie  der  Fund  von  Strandgeröllen  in 
Strandwalldünen  beweist,  daß  das  Land  schon  im 
ersten  Stadium  der  postlitorinen  Entwicklungs- 
geschichte des  Darss  und  Zingst  in  der  heutigen 
Höhe  lag. 

Ausschlaggebende  Beweise  gegen  die  Notwen- 
digkeit der  Annahme  junger  Hebungen  an 
Pommerns  Küsten  auf  den  bisherigen  morpho- 
logischen Grundlagen  hat  aber  jetzt  die  Fest- 
stellung der  Wirkungen  geliefert,  welche  die  dop- 
pelte Ostseesturmflut  der  Jahreswende  191 3/14 
auf  diese  Küsten  hervorbrachte.  Nach  den  vor- 
läufigen Mitteilungen  von  M.  Fri  ed  erichsen ') 
ist  z.B.  bei  diesem  Ereignis  ein  1,5  m  hoher  und 
15  m  breiter  Feuersteinstrandwall  bis  3,15  m  über 
Mittelwasser   auf  der  Kurpromenade    von  Saßnitz 


')  W.Kranz,  Hebung  oder  Senkung  des  Meeresspiegels? 
Neues  Jahrb.  f.  Mineralogie  usw.  Beil.  Bd.  28,  1909,  S.  574ff. 
—  Monatsber.  deutsch,  geol.  Ges.  191 1,  S.  64.  —  Die  Um- 
gebung von  Swinemünde  (Fritzsche,  Swinemünde)  1912.  — 
Die  heutigen  Landschaftsformen  in  der  Umgebung  von  Swine- 
münde,  Aus  der  Natur  1913,  S.  5S3  ft'. 

^)  Große  Geschiebe  in  Pommern,  II.  Jahresber.  Geogr. 
Ges.  Greifswald    1909,  S.  14. 

')  Pommerns  Küsten,  Monatsber.  deutsch,  geol.  Ges.  1912, 
S.  411  ff.  —  Vorpommerns  Küsten  und  Seebäder,  Greifswald 
1912. 

■*)  Die  allgem.  Versammlung  der  deutsch,  geol.  Ges.  in 
Greifswald,  8. — 10.  August  1912,  Petermann's  Mitt.  1912.  II. 
S.  20S. 

*}  Über  angebliche  gegenwärtige  tektonische  Bewegungen 
in  der  Insel  Hiddensee,   Centralbl.  f.  Min.  usw.   1913,  S.  I39ff. 

")  Der  Darss  und  Zingst,  13.  Jahresber.  Geogr.  Ges.  Greifs- 
wald  191 4,  S.  235  ff. 

•)  Die  Ostseesturmfluten  der  Jahreswende  1913/14  und 
ihre  Wirkung  auf  Pommerns  Küsten,  14.  Jahresber.  Geogr. 
Ges.  Greifswald   1914,  S.  235  fr. 


N.  F.  Xm.  Nr.  42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


671 


abgelagert  worden.  An  der  Ansatzstelle  der 
Schmalen  Heide  an  den  Jasmunder  Inselkern 
(Fig.  i)  war  „eine  ganze  Reihe  von  bis  zu  8  m 
breiten,  etwa  i  m  hohen  Feuersteinstrandwällen 
in  einer  Höhenlage  zwischen  2  und  3  m  über 
M.  W.  der  Ostsee  durch  die  Sturmflut  zur  Ab- 
lagerung gekommen.  Es  kann  keinem  Zweifel 
unterliegen,  daß  diese  jüngsten  Strandwälle  die 
rezenten  Äquivalente  der  älteren  Feuersteinstrand- 
wälle im  Inneren  der  Schmalen  Heide  sind". 
Ebenso  läßt  sich  nach  den  letzten  Sturmflut- 
aufnahmen die  Terrassierung  der  Strelasundufer 
völlig  ausreichend  durch  hohen  Wasserstand  bei 
Sturmfluten  erklären.  „Weitere  hochgelegene 
Geröllwälle  wurden  durch  die  jüngste  Sturmflut 
an  den  Küsten  von  Wollin  geschafilen,  nicht  zu 
reden  von  den  zahlreichen  bis  3  m  und  mehr 
über  M.  W.  liegenden  flächenhaft  ausgebreiteten 
Sturmflutgeröllbestreuungen  an  zahlreichen  anderen 
Teilen  der  Pommerschen  Küste.  Diese  Bestreu- 
ungen  gleichen  nach  Lage  und  Vorkommen  durch- 
aus den  von  Keil  hack  in  der  Swinepforte 
nördlich  Pritter  beschriebenen  , fossilen'  Sturmflut- 
geröllen."  Fried  erichsen  gibt  hiernach  ferner 
zu    bedenken,    ob    nicht   die  jetzt  „belegte  starke 


Abrasionswirkung  von  Sturmfluten  ausreicht,  um 
ohne  die  von  K.  Keil  hack  angenommenen 
schwachen  Hebungen  und  Senkungen  die  Dünen- 
bildungen der  2.  und  3.  Phase  seiner  ,Verlandung 

der  Swinepforte'   zu  erklären Nicht  minder 

wichtig  sind  Fragen  nach  der  seit  der  Sturmflut 
wieder  eingetretenen  Aufarbeitung  der  Sturmflut- 
strandwälle infolge  Vertiefung  der  Schorre  und 
dadurch  ohne  Senkung  bedingter  Wiederbelebung 
der  Abrasion  mit  ihrer  F"olgeerscheinung  der 
Klifi"bildung." 

Das  gesamte  Material  über  die  letzte  Doppel- 
sturmflut wurde  vor  Beginn  des  Krieges  im  geo- 
graphischen Institut  Greifswald  eingehend  bear- 
beitet. Man  darf  den  weiteren  Ergebnissen  mit 
größtem  Interesse  entgegensehen  und  erneut  an- 
raten, bei  Fragen  nach  Niveauänderungen  in 
jungen  Strandlinien  äußerste  Vorsicht  walten  zu 
lassen;  die  gegenwärtig  so  beliebten  Schlagworte 
„Hebung"  und  „Senkung"  im  Sinne  absoluter 
Höhenverschiebungen  sind  in  der  Regel  schneller 
ausgesprochen  als  einwandfrei  bewiesen,  nament- 
lich bei  morphologischer  Grundlage. 

Hauptmann  W.  Kranz. 


Bücherbesprecliiingen. 


Geyer,  Franz  Xaver,  Durch  Sand,  Sumpf 
und  Wald.  Missionsreisen  in  Zentralafrika. 
Mit  395  Abbild,  und  9  Kartenskizzen.  Neue 
Ausgabe.  Freiburg  i.  B.  1914,  Herder.  —  Preis 
6  Mk. 
Der  Verf.,  welcher  Titularbischof  und  aposto- 
lischer Vikar  ist,  verbrachte  über  20  Jahre  im 
Sudan  und  Zentralafrika;  er  hatte  dabei  Gelegen- 
heit, Land  und  Leute  gut  kennen  zu  lernen,  und  er 
versteht  es,  die  Eindrücke,  die  er  gewann,  dem 
Leser  recht  anschaulich  mitzuteilen.  In  dem  vor- 
liegenden Buche  werden  die  Fahrten  und  Wande- 
rungen geschildert,  die  Bischof  Geyer  in  den 
Jahren  1903 — 191 1  in  seiner  amtlichen  Eigenschaft 
ausführte;  er  zog  von  Assuan  nach  Khartum  und 
von  da  bis  an  die  Grenze  des  belgischen  Kongo- 
gebietes und  bis  zum  Viktoria  -  See;  außerdem 
wird  über  einen  Ausflug  von  Khartum  nach  Suakin 
berichtet.  Die  Gebräuche  und  Einrichtungen  der 
Eingeborenen  werden  so  ausführlich  behandelt, 
als  es  sich  im  Rahmen  einer  Reisebeschreibung 
machen  läßt.  Von  den  Abbildungen,  die  leider 
nicht  durchweg  gut  ausgeführt  sind,  stellen  viele 
Völkertypen  dar.  Missionsangelegenheiten  werden 
in  dem  Buche  selbstverständlich  erwähnt,  doch 
werden  sie  keineswegs  in  den  Vordergrund  ge- 
schoben.        H.  Fehlinger. 

Scheiner,   Prof  Dr.  I. ,    Der   Bau    des  Welt- 
alls.    4.  Aufl.     132  S.,  26  Abb.     Leipzig  191 3, 
Teubner. 
Diese    noch    von    dem    bekannten    Potsdamer 

Gelehrten    und  Forscher    kurz    vor   seinem   Tode 


besorgte  Ausgabe  unterscheidet  sich  von  den 
früheren  Auflagen  durch  einige  Verbesserungen, 
die  durch  neuere  Beobachtungsergebnisse  erhalten 
waren.  In  6  Teilen  behandelt  der  Verf.  die  Stel- 
lung der  Erde  im  Wellall,  den  gestirnten  Himmel, 
die  Spektralanalyse  der  Sonne,  die  Welt  der  Fix- 
sterne und  Nebel  und  den  äußeren  Bau  des  Welt- 
alls. Ein  späterer  Bearbeiter  dürfte  kaum  etwas 
zu  ändern  haben,  wenn  nicht  die  allzu  große 
Sicherheit,  mit  der  die  fast  allgemein  abgelehnte 
sog.  ,,Kan  t-Laplace'sche"  Kosmogonie  zu- 
grunde gelegt  wird,  und  die  modernen  Anschau- 
ungen über  den  Bau  des  Systems,  worin  noch 
so  wenig  Einigkeit  herrscht.  Im  Anhang  werden 
die  Zahlenwerte  der  Planeten  und  Trabantenbahnen 
gegeben,  sowie  Material  über  Parallaxen,  Eigen- 
bewegungen, Doppelsterne  und  Veränderliche,  die 
dem  Liebhaber  von  Nutzen  sind.  Riem. 


Zeeman,  P.    Magnetooptische  Untersuch- 
ungen   mit    besonderer   Berücksichti- 
gung der  magnetische  n  Zerlegu  ng  der 
Spektrallinien.    Deutsch  von  Max  Ikle.    242 
Seiten  mit  74  Abbildungen  im  Text  und  8  Licht- 
drucktafeln.     Leipzig    1914,    Joh.    Amb.   Barth. 
—  Preis  geh.  8  Mk. 
Den  Eingang  in  das  in  den  letzten  Jahren   zu 
stetig  wachsender  Bedeutung  gelangte  Gebiet  der 
Magnetooptik  eröffnete  P'araday  durch  seine  im 
Jahre  1845  gemachte  Entdeckung  der  Polarisations- 
ebene des  Lichtes,  die  zum  ersten  Mal  die  Möglichkeit 
einer  Beeinflussung  der  Vorgänge  der  Lichtfortpflan- 
zung durch  magnetische  Kräfte  nachwies.  Farad ay 


6/2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  42 


war  es  auch,  der  durch  die  Untersuchung  der 
quantitativen  Verhältnisse  der  magnetischen  Dre- 
hung einen  ersten  Einblick:  in  das  Wesen  der 
Erscheinung  vermittelte,  der  in  der  Folgezeit  mit 
verfeinerten  Hilfsmitteln  mehr  und  mehr  vertieft 
wurde. 

Während  der  Faraday- Effekt  die  Wirkung 
des  Magnetfeldes  auf  das  im  Innern  eines  Körpers 
sich  fortpflanzende  Licht  bezeichnet,  haben  Un- 
tersuchungen, die  von  Kerr  im  Jahre  1876  be- 
gonnen wurden,  ähnliche,  wenn  auch  kompliziertere 
Wirkungen  des  Magnetfeldes  auf  das  an  ferromag- 
netischen  Metallen  reflektierte  Licht  erkennen 
lassen. 

Die  bedeutungsvollste  Entwicklung  der  Ma- 
gnetooptik knüpft  sich  aber  an  die  im  Jahre  1896 
von  Zeeman  am  glühenden  Natriumdampf  ent- 
deckten Phänomene  der  Einwirkung  des  Magnet- 
feldes auf  die  Lichtemission  und  Lichtabsorption, 
die  nicht  nur  die  Theorie  der  magnetooptischen 
Erscheinungen  in  eine  neue  Bahn  gelenkt  haben, 
sondern  auch  neue  wertvolle  Aufschlüsse  über  den 
ganzen  Mechanismus  der  Emission  und  Absorp- 
tion des  Lichts  erbrachten.  Dem  Studium  der 
qualitativen  und  quantitativen  Verhältnisse  dieses 
Ze  eman -Effekts  verdanken  wir  den  ersten 
überzeugenden  Nachweis,  daß  es  dieselben  elek- 
trischen Elementarquanten  sind,  die  einerseits  die 
Vorgänge  der  Emission  und  Absorption  des  Lichtes 
bestimmen  und  die  andrerseits  in  den  Kathoden- 
strahlen frei  beweglich  unserer  Untersuchung  zu- 
gänglich sind  oder  in  metallischen  Leitern,  zwischen 
den  ponderablen  Molekülen  beschleunigt,  den  elek- 
trischen Strom  darstellen. 

Der  Verf  hat  diese  durch  seine  Entdeckung 
angebahnte  und  durch  seine  fortgesetzten  Unter- 
suchungen wesentlich  bestimmte  Entwicklung  der 
Magnetooptik  in  seinem  im  Jahre  191 3  in  England 
herausgegebenen  Werk  „Researches  in  Magneto- 
optics"  dargestellt.  Es  ist  sehr  zu  begrüßen,  daß 
diese  Darstellung  jetzt  durch  die  hier  vorliegende 
von  Herrn  Ikle  besorgte  vortreffliche  Übersetzung 
der  englischen  Ausgabe  in  die  deutsche  Literatur 
übergeht  und  dadurch  auch  in  Deutschland  wei- 
teren interessierten  Kreisen  einen  Einblick  in  die 
reiche  F'orscherarbeit  des  Verfs.  gewährt. 

Die  durch  größte  Klarheit  und  Leichtverständ- 
lichkeit sich  auszeichnende  Darstellung  beginnt 
mit  einer  übersichtlichen  Betrachtung  der  wichtig- 
sten experimentellen  Hilfsmittel  des  Untersuchungs- 
gebiets und  ihrer  einzelnen  Eigenschaften.  Daran 
schließt  sich  die  nach  historischen  Gesichtspunk- 
ten geordnete  ausführliche  Besprechung  aller  bis- 


herigen Versuchsergebnisse  und  der  wichtigsten 
Versuche  ihrer  theoretischen  Deutung.  Besonderes 
Interesse  bietet  die  im  2.  und  3.  Kapitel  gegebene 
Schilderung  der  Endeckung  der  magnetischen  Auf- 
lösung von  Emissions-  und  Absorptionslinien.  Im 
4.  Kapitel  findet  sich  die  Betrachtung  kompli- 
zierterer Auflösungstypen  und  der  Beziehung 
zwischen  der  magnetischen  Auflösung  der  Linien 
und  ihrer  Zugehörigkeit  zu  bestimmten  Spektral- 
serien. Das  5.  Kapitel  behandelt  die  magnetische 
Drehung  der  Polarisationsebene  und  die  magne- 
tische Doppelbrechung  unter  besonderer  Hervor- 
hebung der  hierhergehörigen  Untersuchungen  von 
Voigt,  Cotton  und  Mouton.  Die  folgenden 
Kapitel  behandeln  den  Einfluß  des  Gitters  und 
des  Spaltes  auf  die  Intensität  der  Linienkompo- 
nenten, den  Grad  der  Vollkommenheit  der  Zirkular- 
polarisation und  die  an  den  Komponenten  beob- 
achtbaren Dissymmetrien.  Das  8.  Kapitel  ist  den 
wichtigen  Untersuchungen  Haies  über  die 
Magnetfelder  der  Sonne  gewidmet.  Im  letzten 
Kapitel  wendet  sich  Verf.  schließlich  den  Fragen 
nach  der  Konstitution  der  Atome  zu  und  geht 
hier  namentlich  auf  die  Gesetzmäßigkeiten  in  den 
Spektren  und  auf  die  zur  Gewinnung  eines  Atom- 
modells unternommenen  theoretischen  Versuche 
von  Ritz,  Voigt,  Lorentz  und  J.  J.  Thom- 
son ein. 

Ein  Verzeichnis  der  Arbeiten  des  Verfs.  über 
die  Strahlung  in  Magnetfeldern  und  ein  voll- 
ständiges, chronologisches  Verzeichnis  der  ge- 
samten Literatur  über  die  magnetische  Auflösung 
von  Spektrallinien  beschließen  das  Werk,  dessen 
besondere  Empfehlung  sich  erübrigt. 

A.  Becker. 

Literatur. 

Reinhard,  Anatol  v.,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Eiszeit 
im  Kaukasus.  Geographische  Abhandlungen,  herausgegeben 
von  Prof.  Dr.  A.  Penck.  N.  F.  Heft  2.  Mit  1  Karte,  9  Abbild, 
und  9  Profilen  auf  5  Tafeln.  Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teub- 
ner  '14.     6  Mk. 

Berichtigung. 

In  dem  Aufsatz  ,,Goethe's  naturwissenschaftliche  Sammlungen 
im  Neubau  des  Goethehauses  zu  Weimar"  von  Professor  Dr. 
A.  Hansen  sind  leider  infolge  des  Verlustes  der  Korreklur- 
sendung  an  den  Autor  folgende  Fehler  stehen  geblieben, 
die  wir  nachträglich  zu  verbessern  bitten:  Unter  dem  ersten 
Bilde  auf  Seite  577  sollte  stehen:  Goethe's  Herbarium.  Die 
übrigen  Bilder  stellen  Blätter  aus  dem  Gocthe'schen  Herbarium 
dar.  Ferner  ist  zu  lesen ;  S.  57S,  rechte  Spalte,  Zeile  10  v.  o. 
statt  verspürt  vergißt;  S.  579,  linke  Spalte,  3.  Absatz,  Zeile  3 
statt  rechteckig  reichhaltig,  Zeile  4  statt  birgt  besitzt,  Absatz  4, 
Zeile  I  statt  Anschaulich  Ansehnlich,  Zeile  10  statt  Eiche 
Esche.  Die  Redaktion. 


Inhalt:  Hornig:  Die  Großfaltung  der  Erdrinde.  Eckardt:  Neues  zur  Psychologie  und  Ethologie  der  Männchenpaare 
der  .-^natiden,  insbesondere  von  Schwänen  und  Gänsen.  —  Einzelberichte:  Danjon:  Umdrehungszeit  der  Venus. 
Low  eil:  Umdrehungszeit  des  Mars.  Slipher:  Umdrehung  eines  Spiralnebels.  Dahms:  Verwitterungsvorgänge  am 
Bernstein.  Philipp:  Untersuchungen  über  Gletscherstruktur  und  Gletscherbewegung.  Kuhn:  Pygmäen  am  Sanga. — 
Kleinere  Mitteilungen:  Kranz:  Über  angebliche  Hebungen  und  Senkungen  an  Pommerns  Küsten  nach  der  Litorina- 
zeit.  —  Bücherbesprechungen:  Geyer:  Durch  Sand,  Sumpf  und  Wald.  Scheiner:  Der  Bau  des  Weltalls.  Zee- 
mann:  Magnetooptische  Untersuchungen  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  magnetischen  Zerlegung  der  Spektral- 
linien. —  Literatur:   Liste.   —   Berichtigung. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Schriftleiter  Professor  Dr.  H.Mi  ehe  in  Leipzig,  Marienstraße   iia,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert   &  Co.   G.  m.  b.  H.,   .N'aumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge    13.    Band; 
der  ganzeil  Reihe  2g.  Band. 


Sonntag,  den  25.  Oktober  1914. 


Nummer  43. 


Die  afrikanische  Wasserfrage. 


[Nachdruck  verboten.] 

Cavour  hatte  1853  im  Parlament  den  großen 
Satz  ausgesprochen :  „Es  gibt  keine  gemeinnützigeren 
Werke,  die  größere  Früchte  tragen,  als  diejenigen, 
welche  wasserbedürftige  Landstriche  bewässern." 
Das  Riesenwerk  der  Apulischen  Wasserleitung 
beweist,  daß  Cavour 's  Landsleute  diese  Wahr- 
worte beherzigt  haben.  In  ihrem  neuen  Tripo- 
litanien  sollen  sie  allerdings  erst  zeigen,  was  sie 
leisten  können. 

Das  afrikanische  Wasserproblem  ist 
eines  der  schwierigsten  und  umstrittensten. 

Kein  anderes  Land  erscheint  so  wasserbe- 
dürftig als  Afrika,  namentlich  in  seinen  nördhchen 
und  südlichen  Teilen  und  deren  Hinterländern. 
Deshalb  war  es  auch  immer  die  erste  und  wich- 
tigste Aufgabe  aller  Kolonisatoren,  für  Wasser  zu 
sorgen.  Meister  darin  waren  die  alten  Römer 
und  in  neuerer  Zeit  die  Engländer.  Überall,  wo 
sich  in  Afrika  römische  Kulturüberreste  finden 
• —  und  sie  finden  sich  fast  überall  —  stoßen  wir 
auf  Brunnen,  Zisternen,  Wasserleitungen,  Stau- 
wälle und  andere  Wasseranlagen.  Die  Engländer 
debütierten  in  größerem  Maßstabe  zuerst  in  Abes- 
sinien  während  des  Krieges  gegen  den  Negus  Jo- 
hannes. 

Nunmehr  haben  auch  die  Franzosen  in  ihren 
afrikanischen  Besitzungen  und  Protektoraten  sich 
in  die  erste  Reihe  gestellt. 

Im  nördlichen  Afrika  mangeln,  wenn  man  vom 
Nil  und  vom  Atlas  absieht,  große  Flüsse  und  hohe 
Gebirge,  die  beiden  großen  Faktoren  für  eine 
rationelle  Wasserspendung. 

Die  hier  alljährlich  fallende  Regenmenge  beläuft 
sieht  an  der  Küste  auf  20 — 40  cm;  im  Innern 
und  im  Hinterlande  auf  0—20  cm.') 

Dagegen  ist  Luftfeuchtigkeit  in  hohem  Maße 
vorhanden.  Der  Tau  gleicht  in  manchen  Gegen- 
den einem  kleinen  feinen  Staubregen  (bis  5  Milli- 
meter und  mehr)  und  bildet  oft  kleine  Wasser- 
lachen.-) Ähnliche  Beobachtungen  machte  Bous- 
singault  in  Südamerika. 


Von  Ur.  von  Bilguer. 


')  Nach  Fraunberger  (Petermann's  Geographische 
Mitteilungen,  Gotha  1907).  Die  gleiche  Regenmenge  beträgt 
in  Mailand  100,  in  Turin  83,  in  Rom  7Ö,  in  Tripolis  43  (nach 
Ewald  Banse,  a.  a.  O.  190S,  Heft  111,  p.  55,  nur  35,4)  in 
Benghasi  27  ,  in  Ghadames  25  cm.  In  Afrika  kehren  57  % 
des  gefallenen  Regens  zur  Atmosphäre  zurück;  26%  laufen 
auf  der  Erdoberfläche  ab,  gehen  in  Bäche  und  Flüsse;  17% 
dringen  in  die  Erde  und  bilden  unterirdische  Gewässer. 

^j  Gottlob  Adolf  Krause  fand  —  wie  er  mir  wäh- 
rend unseres  gemeinsamen  Aufenthalts  in  Tripolis  1912  er- 
zählte —  auf  seinen  wiederholten  afrikanischen  Reisen  des 
morgens  auf  seinem  Feldstuhl  vollständige  kleine  Wasser- 
lachen. Vgl.  auch  sein  Werk  „Beitrag  zur  Kenntnis  des  Kli- 
mas von  Salaga,  Togo  und  der  Goldküste".  iS86 — 1895. 
Halle   1910. 


Die  milde  Seeluft  vermag  im  Winter,  so  sagt 
Banse,  ungehindert  ins  Innere  des  Landes  hin- 
einzuziehen und  einer  —  im  Altertum  weit  mehr 
ausgedehnten  —  subtropisch-üppigen  Vegetation 
das  Leben  zu  geben. 

Mit  dem  Eindringen  der  Mohammedaner  war  es 
mit  dem  rationellen  Ackerbau  vorbei  und  die  alten 
Wasser-  und  Bewässerungsanlagen  verfielen.  Die 
Fruchtbäume  wurden  zu  F'euerungs-  und  Bau- 
zwecken verbraucht.  Mit  den  Wäldern  und  der 
den  Boden  bedeckenden  Kräuterschicht  ging  der 
Quellen-  und  Wasserreichtum  auf  der  Oberfläche 
zurück :  die  wolkenbruchartigen  Regengüsse  flössen 
schnell  ab  und  zerklüfteten  und  rasierten  den 
Boden,  bis  die  Wasserarmut  der  oberflächlichen 
Bodenschicht  das  heutige  Maß   erreichte. 

Das  nördliche  Afrika  macht  daher  einen  durch- 
aus wasserarmen  Eindruck.  Als  der  be- 
kannte orientalische  Eisenbahnkönig  Baron  Moritz 
Hirsch  1891  seine  Jewish  Colonisation  Associa- 
tion ')  mit  einem  Kapital  von  mehreren  Millionen 
Pfund  Sterling  gründete,  um  einen  Teil  seiner  Glau- 
bensgenossen zu  seßhaften  Ackerbauern  zu  erzie- 
hen, schickte  er  auch  eine  englische  Gelehrtenkom- 
mission nach  Nordafrika.  Namentlich  Tripolitanien 
wurde  „untersucht",  doch  lautete  das  Gutachten 
negativ  wegen  —  Wassermangel  1  Man  wählte 
Argentinien.  -) 

Und  dennoch  sind  diese  afrikanischen  Länder 
die  wasserreichsten,  so  paradox  dies  auch 
klingen  mag.  Es  handelt  sich  nur  darum,  das 
vorhandene  Wasser  zu  finden  und  nutzbar  zu 
machen. 

Die  verschiedenen  Gewässer  sind : 

I.  Seen.  2.  Einsenkungen.  3.  Quellen.  4.  Wild- 
bäche. 5.  Wasserlöcher.  6.  Unterirdische  Wasser- 
läufe.   7.  Schotts  und  Sebchen. 

Die  afrikanischen  Seen  stehen  teils  mit  dem 
Mittelmeer  in  Verbindung.  Andere  Salzseen  liegen 
zwar  nahe  der  Küste,  bilden  indessen  ein  in  sich 
abgeschlossenes  Ganzes,  wie  viele  Seen  Tunesiens 
und  der  Salzsee  Melaha  zwischen  Tripolis  und 
Tadjura.  Aber  auch  inmitten  der  Sahara  gibt  es 
jene  10  Seen,  nördlich  vom  Uadi-es-Schergi, 
und  zwar  inmitten  500  Fuß  hoher  Sanddünen. 
Sie  haben  salziges,  teilweise  natronhaltiges,  aus 
dem  Seegrunde  selbst  hervorquellendes  Wasser. 
Unter    diesen    Seen    zeichnet   sich   besonders   der 


')  Auch  Jewish  Territorial  Association  oder  kurzweg  „Ica" 
genannt. 

^)  Dort  blühen  die  jüdischen  Ackerbaukolonien  Mosesville 
(Santa  Fe),  Clara  (Entre-Rios),  Mauricio  und  Baron  Hirsch 
(Buenos  Ayres).  Andere  existieren  in  Klcinasien  sowie  auf 
Cypern. 


674 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  43 


zirkeiförmige  Rehar-el-Dud,  auch  Gabra'un  (VVurm- 
seej  'j  aus,  dessen  Wasser  so  salzhaltig  ist,  daß 
es  „wie  Sirup  aussieht".-)  Alle  diese  Seen  sind 
von  gutgedeihenden  Palmen  eingefaßt  und  in  ihrer 
unmittelbarsten  Nähe  befinden  sich  Süßwasser- 
brunnen, ja  in  einer  Entfernung  vom  Südrande 
des  Behar-el-Dud  von  nur  2 — 3  m  sogar  eine  stark- 
sprudelnde  Süßwasserquelle. 

Wie  viele  ähnliche  Seen  mag  es  noch  im  Ge- 
biet der  Sahara  geben,  die  noch  ihrer  Auffindung 
harren  1 

Die  Ei  nsenk  u  n  ge  n,  die  sich  hauptsächlich 
im  Fesän  vorfinden,  sind  nicht  —  wie  man  auf 
den  ersten  Blick  glauben  könnte  —  Uadi,  d.  h. 
alte  Flußbetten,  sondern  grabenartige  Einschnitte, 
die  auch  in  folgerichtiger  Weise  von  den  Einge- 
borenen Hofra,  Gräben,  genannt  werden.  Eine 
der  Haupteinsenkungen  des  Fesän  ist  ca.  30  deut- 
sche Meilen  lang  und  fast  eine  Meile  breit,  eine 
andere  mißt  sogar  So  und  eine  dritte  40  Meilen 
in  der  Länge.  In  diesen  Einsenkungen  findet 
sich  überall  Wasser  in  Hülle  und  Fülle.  Einige 
der  Brunnen  und  Uuellen  haben  vollkommen 
süßes  Wasser,  andere  salziges  oder  mit  alkalischen 
Bestandteilen  vermischtes.  Die  Brunnen  haben 
dort  ganz  verschiedene  Tiefen,  nach  D  u  veyr ier 
von  18  bis  45  m.  Stark  sprudelnde  Quellen  sind 
hier  indessen  sehr  selten. 

Die  Quellen  sind  selten ;  wo  sie  sich  aber  finden, 
bilden  sie  den  Grund  zu  üppiger  Vegetation  und 
Leben,  welche  Begriffe  sich  in  Afrika  mit  dem 
Worte  Oase^)  decken.  Die  greifbarsten  Beispiele 
geben  die  beiden  großen  Quellen,  denen  die  viel- 
genannten Oasen  Ssiuah  (Jupiter  Ammon)^)  und 
Ghadames  ^)  ihr  Dasein  zu  verdanken  haben. 

Die  letztere  Quelle  ist  besonders  interessant, 
weil  sie  mehr  als  andere  den  Typus  einer  solchen 
Oasen-  und  Stadtgründerin  darstellt.  Sie  liegt 
inmitten  des  ummauerten  Stadtgebietes  und  dient 


')  Nach  Vogel  24  Fuß  tief  und  300m  im  Durchmesser. 
Wurmsee  wegen  des  darin  lebenden,  wie  Kaviar  schmeckenden 
Insekts  Artemia  Oudneyi  (nach  Dr.  Ba  ir d-British  Museum) 
genannt. 

2)  Rohlfs  „Quer  durct  Afrika"   I.  Teil,  p.   145. 

')  Das  Wort  ,,Oase"  ist  in  Afrika  unbekannt.  Nach 
Ritter  soll  der  Ursprung  zu  diesem  Wort  von  .Ägypten  zu 
den  Griechen  gekommen  sein:  in  der  koptischen  Sprache  be- 
deutet Uah  Wohnung.  Größere  Oasen  bezeichnet  man  mit 
Bled  =  Land,  kleinere  mit  Rhabba  =  Wald  oder  Rhout  = 
Wäldchen.  Oft  gebraucht  man  auch  die  Worte  Ued  und  Uadi, 
welche   Flußbett  bedeuten. 

■*)  Bereits  1S20  von  Hemprich,  Scholz  und  Ehren- 
berg  besucht.  49  Jahre  später  von  Rohlfs  eingehend  be- 
schrieben. 

^)  Ausführliche  Beschreibungen  dieser  Quelle:  Rohlfs 
„Quer  durch  Afrika",  1.  Teil,  p.  ögff. ,  Charles  Hammer 
Dickson  ,, Account  of  Ghadames"  in  Journ.  Geogr.  Society 
XXX,  p.  255.  London  1860.  Henri  Duveyrier  ,,Les 
Touar  du  Nord",  Paris  1SÖ4.  Oberst  Mirescher  ,, Mission 
de  Ghadames  executee  en  Septembre ,  Octobre ,  Novembre  et 
Decembre  l8b2  par  MM.  Mircher,  Vatonne ,  de  Polignac, 
Ismael-bou-Derba,  HotTmann.  Rapports  ofßciels  et  documcnts 
ä  l'appui".  Alger  1S63.  V.  Largeau  ,,Le  Sahara.  Premier 
voyage  d'e.xploration."  Paris  1877.  Dr.  Edmond  Bernet 
„En  Tripolitaine ,  voyage  a  Ghadames".  Paris ,  Fontemoing 
et  Cie.    1912. 


zur  Bewässerung  von  etwa  75  ha.  Da  der  um- 
mauerte Teil  der  Oase  ^)  doppelt  so  groß  ist,  so 
kann  man  wohl  mit  Recht  annehmen,  daß  die 
Quelle  früher  viel  mächtiger  gewesen  sei.  Sie  ist  in 
ein  25  m  langes  und  15  m  breites  Bassin  gefaßt, 
dessen  massive  Steinquadern  römische  Arbeit  ver- 
raten. Aus  mehreren  Stellen  des  Bodens  sprudelt 
das  Wasser  hervor,  das  sich  dann  durch  5  Röh- 
ren in  die  umliegenden  Kanäle  ergießt.  Vatonne 
und  Duveyrier  geben  die  konstante  Temperatur 
des  Wassers  auf  29"  C  an.  R  o  h  1  f s  dagegen 
33 — 35"  C  je  nach  der  Temperatur  der  Luft. 
Vatonne  folgert  aus  der  fast  gleichen  Tempe- 
ratur der  Quelle  und  mehrerer  in  unmittelbarer 
Nähe  derselben  gelegenen  Brunnen  auf  eine  120  m 
tiefgelegene  Wasserschicht.  Der  Salzgehalt  des 
Quellwassers  ist  2,5  g  pro  1;  derjenige  der 
erwähnten  Brunnen  9  g  pro  1.  Welchen  Wert 
das  Wasser  in  Ghadames  hat,  geht  schon  daraus 
hervor,  daß  die  türkische  Regierung  das  Wasser 
der  Quelle  zum  Staatsmonopol  machte  und  durch 
den  Verkauf  desselben  eine  jährliche  Einnahme 
von  etwa  50000  Frcs.  erzielte"). 

Wie  diese  Quelle  ihre  relative  Fülle  haupt- 
sächlich der  Mächtigkeit  der  sie  umgebenden 
Hochebenen  und  der  Kalkformation  verdankt  (ihre 
Höhe  über  dem  Meeresspiegel  beträgt  etwas  mehr 
als  300  m  und  die  umgebenden  Ebenen  haben 
etwa  dieselbe  Höhe),  so  existieren  hier  viele  an- 
dere an  solchen  -Stellen,  wo  eine  mehr  oder  we- 
niger große  Felsenmasse  auf  eine  Ebene  drückt. 
Solche  Quellen  finden  sich  an  allen  Ab- 
hängen der  Djebel,  namentlich  in  Tripolitanien, 
sowie  Algerien  und  Marokko.  Aber  nur  wenige 
sind  gefaßt  und  ausgenutzt.  Ihre  Wasser  berieseln 
in  der  Regel  ziemlich  unzugängliche  Stellen  oder 
verlaufen  sich  im  Sande.  Typisch  in  dieser  Be- 
ziehung ist  die  Felsenquelle  von  Bu  Gheilam  im 
tripolitanischen  Djebel  Gharian,  wo  wir  die  üp- 
pigste Vegetation  fanden:  Tamarinden  und  selbst 
Bananen. 

Flüsse  (Irharhar,  in  der  Tedasprache  Foti) 
die  fortwährend  Wasser  mit  sich  führen,  sind 
buchstäblich  an  den  Fingern  abzuzählen.  In  Be- 
tracht kommen  vielmehr  die  sehr  zahlreichen  Ued 
oder  Uadi  (in  der  Tedasprache  Hendere)  Fluß- 
betten ^),  die  nur  während  der  Regenzeit  Wasser 
mit  sich  führen,  die  ganze  übrige  Zeit  hindurch 
aber  ausgetrocknet  daliegen,  so  daß  sie  als  untrüg- 
liche und  bequeme  Straßen  von  den  Karawanen 
benutzt  werden. 

Die  Wasserlöcher  in    den  Ued    und    Uadi 


')  Oberst  Mircher  gibt  den  Umfang  der  Oase  auf 
6000  m,  die  Durchmesser  auf  1200 — 1600  m  an. 

'^)  Nach  Duveyrier  genügt  ein  ,,Dermissa"  genanntes 
Maß  Wasser  zur  Berieselung  eines  Gartens  mit  60  Palmen 
während  20  Minuten.  In  13  Tagen  (einem  „Nuba"  genannten 
Zeitabschnitt)  kamen  im  ganzen  925  Dermissa  Wasser  zur  Ver- 
teilung. Eine  Dermissa  wird  mit  So  Real  Sbili  =  50  Frcs.  20  Cent, 
bezahlt.  Mircher  gibt  irrtümlicherweise  die  letztgenannte 
Summe  mit  700  Frcs.  an. 

')  Auf  Targisch  heißen  sowohl  die  Flüsse  wie  die  Fluß- 
betten „Agheser"  (Duveyrier). 


N.  F.  XIII.  Nr.  43 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


675 


sind  nichts  anderes  als  in  der  Regel  versandete, 
iiochgelegene  unterirdische  Reservoirs,  die  jedes- 
mal gereinigt  werden  müssen,  wenn  man  VVasser 
aus  ihnen  schöpfen  will.  Sie  bilden  sich  durch 
Infiltrierung  von  Regenwasser  oder  sie  werden 
durch  unterirdische  Zuflüsse  gespeist. 

Die  unterirdischen  Wasserläufe  spielen 
in  Afrika  die  allergrößte  Rolle  und  sind  außer- 
ordentlich zahlreich.  Es  kann  als  allgemeine 
Regel  gelten,  das  unter  einem  Ued  oder  Uadi 
sich  immer  ein  derartiger  Wasserlauf  befindet.  Alle 
Brunnen,  mit  wenigen  Ausnahmen,  erhalten  ihr 
Wasser  auf  diese  Weise,  ebenso  die  Seen  und 
Seebecken,  an  denen  die  Sahara,  namentlich  der 
Fesän  so  reich  ist '). 

Die  namentlich  in  den  nördlichen  Teilen  Afri- 
kas sehr  zahlreichen  .Schott  oder  Sebchen 
sind  zeitweise  (oder  auch  fast  ganz)  ausgetrocknete 
Seen,  die  entweder  ihr  Wasser  aus  dem  nahen 
Meer  erhalten  oder,  was  häufiger  der  Fall  ist,  aus 
den  erwähnten  unterirdischen  Zuflüssen.  Nach  der 
durch  die  Sonnenhitze  bewirkten  Verdunstung 
ihres  Wassers  bedeckt  ihr  Sumpf-  und  Schlamm- 
boden sich  mit  einer  salzhaltigen  Kruste ")  von 
harter  Erde.  Der  Sonnenbrand  zerklüftet  alsbald 
die  Oberfläche  in  ziemlich  regelmäßige  Sechsecke 
oder  erzeugt,  bei  großem  Salzgehalt,  eine  förmliche 
Schollenbildung  ^). 

Wasser  ist  also  hinreichend  vorhanden.  Es 
fragt  sich  nun,  was  tut  der  Mensch,  um  sich 
dasselbe  nutzbar  zu  machen,  um  so  mehr,  als  in 
keinem  Lande  das  Bedürfnis  an  Wasser  größer 
ist,  als  in  Afrika.  Für  die  rationelle  Bewässerung 
eines  Gartens  oder  Getreidefeldes  von  der  Größe 


^)  Wie  massenhaft  müssen  hier  die  unterirdischen  Zuflüsse 
sein,  um  bei  der  unausgesetzten  Verdunstung  einen  See  mit 
Wasser  gefüllt  zu  halten  —  so  schreibt  Rohlfs  in  ,,Quer 
durch  Afrika"  I.  Teil,  p.  213. 

Wir  sind  zu  dem  Schlüsse  berechtigt,  daß  einst  unter 
anderen  topographischen  Verhältnissen  das  Klima  in  der  Sa- 
hara ein  ganz  anderes  gewesen,  daß  reichlicher  Regen  fiel, 
der  die  Flüsse  mit  Wasser  füllte  und  der  eine  Vegetation  er- 
zeugte, von  welcher  die  vielen  Versteinerungen  ganzer  Wälder 
uns  deutliche  Kunde  geben  (Rohlfs  a.  a.   O.  p.   2 12). 

Man  braucht  nur  in  den  zur  Sommerzeit  trocken  da- 
liegenden Uadibetten  der  Djefaraebene  einige  Fuß  tief  zu 
graben,  um  den  Grundwasserspiegel  zu  erreichen  (Banse 
a.  a.  O.  p.  51). 

Ich  selbst  sah  beim  israelitischen  Friedhof  in  Tripolis 
reines  klares  Wasser  aus  dem  Dünensandstein  ins  nahe 
Meer  fließen. 

'^)  Der  Boden  der  Sebcha  von  Bilma  besteht  aus  reinem 
Salz.     Rohlfs  a.  a.  O.  p.  213. 

^)  Wahrscheinlich  entsteht  die  —  übrigens  seltene  — 
Formation  da,  wo  das  Wasser  unter  der  Erde  sehr  ungleich 
verteilt  ist,  daher  die  Oberfläche  nicht  gleichzeitig,  sondern 
an  der  einen  Stelle  rascher,  an  der  anderen  langsamer  aus- 
trocknet. Eigentliche  Salzsümpfe  (sehr  selten)  heißen  targisch 
Gurra;  Süßwassersümpfe  (noch  seltener)  Daya.  Süßwasser- 
seen gibt  es  in  der  Sahara  nicht.  Zwischen  Garn  und  Kaliila 
bei  Bilma  gibt  es  Salzminen,  von  20 — 30  Fuß  hohem  Salz- 
und  Erdschutt  eingefaßte  Gruben,  in  deren  Tiefe  Wasser, 
wahrscheinlich  über  Steinsalzlager  von  Osten  nach  Westen 
bindurchfließt.  Dieses  Wasser  ist  derartig  salzhaltig,  daß  sich 
—  infolge  der  starken  Verdunstung  —  in  wenigen  Tagen  eine 
oft  10  cm  dicke  Salzkruste  auf  dem  Wasser  bildet,  die 
dann  abgenommen  wird.  Von  hier  aus  wird  ein  großer  Teil 
Zentralafrikas  mit  Salz  versorgt. 


eines  Hektars  rechnet  man  in  der  Regel  0,25  1 
Wasser  in  der  Sekunde. 

Als  älteste  Anlagen  zur  Wassergewinnung  fin- 
den wir  die  von  den  Römern  angelegten  Zister- 
nen. Sie  sind  im  ganzen  Lande  zerstreut  und 
zählen  nach  vielen  Tausenden.  Allein  auf  der 
Insel  Djerba  fand  man  etwa  300  und  fortwährend 
stößt  man  auf  weitere.  Sie  hatten  die  Form 
einer  in  den  Erdboden  eingelassenen  riesigen  F'lasche. 
Eine  mehr  oder  weniger  große  Steinfläche  fing 
das  Regenwasser  auf,  das  sich  dann  in  den  unter- 
irdischen Behälter  ergoß.  Außerdem  wurden  auch 
flache  Dächer  zum  Wasserauffangen  benutzt. 
Namentlich  in  Tunesien  haben  die  Franzosen  — 
seit  der  Übernahme  des  Protektorats  1883  — 
Großartiges  im  Zisternenwesen  geleistet.  '■) 

Derartige  öffentliche,  von  der  Regierung  an- 
gelegte, restaurierte  und  verwaltete  Zisternen  gibt 
es  in  Tripolitanien  nicht.  Dort  sammelt  man 
ausschließlich  das  Regenwasser  auf  den  Dächern. 
Nur  auf  dem  Djebel  Gharian  fand  ich  einige  sehr 
primitiv  angelegte  Zisternen  zur  ebenen  Erde,  die 
nur  mit  Mühe  ihren  Zweck  erfüllten. 

Ein  weiteres  Werk  der  alten  Römer  sind  die 
noch  zahlreich  voriiandenen  St  au  wälle,  die  sich 
namentlich  in  einzelnen  Teilen  der  Cyrenaika  so- 
wie in  der  großen  Djefara-Ebene  vorfinden.  Die- 
jenigen, welche  einstmals  die  Gewässer  der  Uadi 
Gerim  und  Rmla  stauten,  sind  so  gut  erhalten, 
daß  sie  sich  mit  geringen  Kosten  und  leichter 
Mühe  wiederherstellen  ließen.-) 

Auch  für  Marokko  plant  die  französische  Pro- 
tektoratsregierung die  Wiederherstellung  oder 
Neuanlage  solcher  Stauwälle  in  größerem  Maßstabe. 

In  Ägypten  aber  haben  die  Engländer  ein 
wahres  Weltwunder,  den  riesigen  Stauwall  von 
Assuan  angelegt;  er  hat  eine  Länge  von  2  km 
und  hält  eine  Milliarde  Kubikmeter  Wasser,  ^j 

Die  ungemein  zahlreichen  Brunnen  haben 
in  ganz  Nordafrika  dieselbe  Form  bewahrt,  die 
sie  bereits  zur  Zeit  der  Pharaonen  hatten.  Die- 
jenigen, die  nahe  am  Meeresstrand  erbaut  wurden, 
geben  ein  sehr  mit  Salz  vermischtes  und  daher 
für  gewisse  Pflanzen,  für  Europäer  und  europäische 
Tiere  unbrauchbares  Wasser,  *)    das    indessen  von 


')  Nach  den  mir  von  der  Verwaltung  der  Fonts  et  Chaus- 
sees  gemachten  Angaben  kostete  der  Bau  einer  Zisterne  von 
500  cbm  20000  Frcs. 

'-)  Infolge  des  Mangels  an  Waldungen  fällt  in  diesen 
Ländern  der  atmosphärische  Niederschlag  in  heftigen  Wolken- 
brüchen. Die  Römer  verschlossen  daher  ganze  Täler  durch 
riesige  Querwälle,  worauf  sich  dann  Seen  bildeten,  mit  deren 
Wasser  dann  das  ganze  Jahr  hindurch  die  Felder  bewässert 
werden  konnten :  ein  Beweis,  daß  diese  Gegenden  schon  da- 
mals ebenso  holzarm  waren  wie   heute. 

■')  Es  bestand  sogar  der  Plan ,  diese  Anlage  für  3  Milli- 
arden Kubikmeter  Wasser  einzurichten,  doch  scheiterte  der- 
selbe an  archäologischen  Rücksichten  (Conferenze  e  Prolu- 
sioni.     Anno  V.  Vol.  V.  Nr.  21.     Roma  1912). 

■•)  Aus  diesem  Grunde  mußte  während  des  letzten  Krieges 
—  und  muß  auch  heute  noch  das  Trinkwasser  für  die  italieni- 
schen Soldaten  und  die  aus  Europa  bezogenen  Tiere  von 
Tripolis  aus  ins  Innere  geschickt  werden ,  oder  es  wird  auf 
eigenen  Zisternenschiffen  von  Neapel  aus  z.  B.  nach  Suara 
oder  nach  anderen  Küstenplätzen  befördert. 


e^e 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  43 


den  Eingeborenen  gern  getrunken  wird.  Die 
Hebung  des  Wassers  erfolgt  durch  Leder-  oder 
Holzeimer,  durch  Zugtiere  (Kamele,  Kühe,  Maul- 
esel), durch  primitive  maschinelle  Vorrichtungen,  'j 

Namentlich  in  Ägypten  wird  diese  Art  von 
Wassergewinnung  im  größten  Maßstabe  betrieben.^) 

Die  artesischen  Brunnen  haben  sich  im 
allgemeinen  gut  bewährt  und  macht  man  aus- 
giebigen Gebrauch  davon.  Auch  in  Tripolitanien 
wurden  Versuche  damit  angestellt,  deren  Erfolge 
indessen  erst  abgewartet  werden  müssen.  Ein 
Versuch  bei  Sidi  Masri  bei  Tripolis  hat  negativen 
Erfolg  gehabt.  Großes  dagegen  wurde  von  den 
Franzosen  in  Algerien  und  in  Tunesien  geleistet.'') 

In  Tunesien  wurden  bereits  über  hundert 
artesische  Brunnen  gebohrt,  die  allerdings  nicht 
alle  gute  Resultate  ergaben.  Allein  auf  der  Insel 
Djerba  mußten  von  vier  artesischen  Brunnen  zwei 
aufgegeben  werden  und  der  eine  der  restlichen 
zeigt  eine  bedenkliche  Verminderung  seiner 
Wassermenge.  ^) 

Die  durchschnittliche  Brunnentiefe  beträgt 
400  m.  Die  durchschnittlichen  Kosten  einer 
Brunnenbohrung   100  000  Franken. 

Gegenwärtig  sind  zwei  wichtige  artesische 
Brunnen  im  Bau:  derjenige  von  Telmine  (des  alt- 
römischen Turris  Tamellaris,  im  Nordosten  von 
Kebili),  wo  man  bereits  in  einer  Tiefe  von  70  m 
auf  eine  Wasserader  stieß,  die  3500  1  Wasser  in 
der  Minute  gibt.  Zur  Fassung  sollen  die  dort 
befindlichen  römischen  Anlagen  benutzt  werden. 
Der  andere  artesische  Brunnen  wird  auf  tenesi- 
schem  Gebiet,  gegenüber  der  tripolitanischen 
Stadt  Ghadames  erbaut.  Er  soll  den  Grund  legen 
zu  einer  neuen  Handelsmetropole,  durch  welche 
man  dem  italienischen  Karawanenhandel  in  Tripo- 
litanien den  Garaus  machen  will.  Dieser  Brunnen, 
nach  dem  französischen  General  Bir  Pistor  ge- 
nannt, hat  eine  Tiefe  von  147  m  und  gibt  1740  1 
Wasser  in  der  Minute.  Bereits  hat  sich  um  ihn 
herum    ein    See    von    i   km   im  Durchmesser  und 


')  Es  gibt  nicht  weniger  als  35 — 40  verschiedene  Arten 
maschineller  Vorrichtungen.  In  der  Sahara  bedient  man  sich 
vielfach  der  Nuera  oder  Noria  (von  den  Arabern  in  Spanien 
erfunden):  ein  horizontales  Zahnrad  greift  in  die  Zähne  einer 
vertikalen  Walze,  an  der  ein  Tau  mit  Töpfen  befestigt  ist. 
Wird  durch  Zugtiere  in  Betrieb  gesetzt. 

^)  Nach  Barois  „Les  irrigations  en  Egypte"  sind  dort 
109000  Wasserhebungsmaschinen  in  Tätigkeit,  die  teils  durch 
Dampf-  oder  Wasserkraft,  teils  durch  Zugtiere  in  Betrieb  ge- 
setzt werden. 

^)  Der  algerische  Kapitän  Mohamed-ben-Dris  zauberte 
mit  Hilfe  von  artesischen  Brunnen  die  Oase  von  Talaem- 
Mouidi  buchstäblich  aus  dem  Sande  hervor.  Nach  ihm  grün- 
dete der  Ingenieur  Rolland  die  Ackerbau-  und  Industriegesell- 
schaft von  Batna,  die  in  den  gleichnamigen,  1020  m  hohen 
Bergen,  südlich  von  Philippeville  (am  Ostrande  des  Atlas) 
ihren  Sitz  hat.  In  nur  5  Jahren  gelang  es,  mittels  7  artesi- 
scher Brunnen  3  neue  Oasen  sowie  3  große  saharische  Dörfer 
zu  gründen.  Diese  (.)asen  messen  400  Hektare  und  sind  mit 
50000  Palmen  bestanden.  Die  Kosten  einer  jeden  gepflanzten 
Palme  beliefen  sich  auf3oFrcs.  Man  gab  also  1  500000  Pres, 
für  Palmen  aus,  die  nach  6  Jahren  300  000  Pres,  einbrachten 
(nach  Abrechnung  der  Betriebskosten). 

*)  Tiefe  242  m.  Temperatur  30"  C.  Ursprüngliches 
Wasserquantum  32  1  in  der  Sekunde.  Seit  dem  18.  Dezember 
1913  nur  noch   15  1. 


30  cm  Tiefe  gebildet,  dessen  Wasser  nunmehr 
die  Magnesiumsalze  löst,  die  bisher  den  Boden 
unfruchtbar  erhielten.  Die  in  der  Nähe  befind- 
lichen 20 — 30  m  tiefen  Brunnen  fördern  nur  Brack- 
wasser zutage. 

Die  Technik  der  Bewässerung  selbst 
läßt  sich  folgendermaßen  einteilen:  natürliche 
und  künstliche.  Die  erstere  ist  entweder  eine 
oberirdische  (wie  z.  B.  bei  denjenigen  Flüssen,  die 
viel  Wasser  enthalten,  wie  der  Ued  Draaj  oder 
eine  unterirdische  (z.  B.  wie  beim  Ued  Sis,  der 
unter  den  Oasen  des  oberen  Talifet  sowie  bei 
den  meisten  der  Oasengruppe  des  nördlichen 
Tuat  und  bei  den  kleineren  südlich  vom  Atlas. 

Die  künstlich  bewässerten  (dazu  gehört  die 
Oase  von  Ghadames  mit  ihrer  Quelle,  sowie  die- 
jenige des  Jupiter  Ammon)  sind  solche  Oasen 
oder  Ländereien,  bei  denen  man  bereits  in  einer 
Tiefe  von  i  bis  2  Fuß  nicht  fließendes  Wasser 
findet.  Hierzu  gehören  die  meisten  Oasengruppen 
des  Fesän  und  die  Oase  Kauar.  Ferner  andere 
Fesänoasen  und  diejenigen  von  Souf,  wo  das 
Wasser  aus  einer  Tiefe  von  12 — 30  Fuß  herauf- 
geholt werden   muß. 

Endlich  diejenigen  Ländereien,  für  die  das 
Wasser  aus  größerer  Entfernung  durch  Leitungen 
herbeigeschafit  werden  muß,  wie  z.  B.  bei  den 
Oasen  von  Tidikelt  und  südlich  vom  Atlas.  In 
Tuat  ist  ein  Kanalsyslem,  Fogara  genannt,  in  Ge- 
brauch, von  Duveyrier  „Galleriebrunnen"  ge- 
nannt. Diese  unterirdischen  Leitungen  haben  2  Fuß 
im  Durchmesser  und  verzweigen  sich  je  nach 
Bedarf. 

Wie  groß  der  Wasserreichtum  hier  ist,  geht  aus 
den  neuesten  Untersuchungen  des  Ingenieur  en 
Hydrologie  souterraine  Henri  Mager  in  Tunis') 
hervor.  Die  überall  vorkommenden  unterirdischen 
Gewässer  sind  teilweise  lokale  Infiltrierung  von 
Regenwasser  oder  weit  herkommende  Gewässer 
geyserischer  Form.  Es  gibt  hier  Wasserläufe,  die 
bis  zu  4000  cbm  Wasser  pro  Tag  geben.  Das 
ganze  Stadtgebiet  von  Tunis  ist  von  zahlreichen 
Wasseradern,  alle  von  Westen  nach  Osten 
laufend,  durchzogen.  Der  stärkste  derselben  kommt 
von  den  nordwestlichen  Bergen  und  tritt  beim 
Tor  Bab  Sidi-AbdEs-Salem  in  die  Stadt  ein.  Ein 
Munizipalbrunnen  bei  der  Ecole  Israelite  wird 
durch  iim  gespeist  (53  cbm  pro  Stunde).  Andere 
potente  Wasserläufe  geben  80  cbm  pro  Stunde. 
Ein  großes  Reservoir  befindet  sich  unter  dem 
arabischen  Bab-el  Gorjani.  Südliche  Strömungen 
durchziehen  den  Friedhof  El-Jellaz  und  das  Tor 
Bab-Alleona.  Sie  werden  vom  Sedjoumi  genährt, 
der  nur  Regenwasser  enthält.  Gej-serische  Strö- 
mungen existieren  in  stärkster  Form  bei  Sed- 
joumi, bei  Ain-Kebine  von  Karbons  usw. 

Rechnet  man  die  Summen  zusammen,  die 
Frankreich  allein  in  Tunesien  für  Wasserwerke 
ausgegeben  hat,  so  fehlen  sehr  wenig  an  lOO  Millio- 
nen. Graf  Cavour  aber  hatte  1853  die  Wahr- 
heit gesagt. 


')  „Les  Eaux  Souterraines  de  Tunisie."     Tunis  1914. 


N.  F.  Xm.  Nr.  43 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


677 


Die  BiMleiitima:  der  Aslrophotographie. 


Von  Max  Frank 


[Nachiliuck  verboten.] 

Die  Himmelkunde  ist  eine  der  ältesten  Wissen- 
schaften, aber  solange  man  auf  okulare  Beobach- 
tung angewiesen  war,  scliritt  sie,  wenn  auch  stetig, 
nur  in  verhältnismäßig  langsamem  Tempo  fort. 
Seitdem  aber  die  photographische  Technik  er- 
funden war  und  immer  ausgebaut  wurde,  also 
seit  etwa  siebzig  Jahren,  machten  auch  die  Astro- 
nomen, wie  auch  die  anderen  Wissenschaftler,  sie 
sich  in  hohem  Maße  nutzbar  und  brachten  dadurch 
die  Astronomie  um  ein  sehr  großes  Stück  vor- 
wärts. Gerade  bei  der  astronomischen  Forschung 
kommt  die  Eigenschaft  der  photographischen  Platte 
zur  Geltung,  in  gleicher  VVeise  wie  für  die  Licht- 
intensität, also  die  Lichthelligkeit  auch  für  die 
Lichtdauer  empfänglich  zu  sein,  die  für  die  Licht- 
empfindung beim  Sehen  ohne  Einfluß  ist.  Während 
daher  der  Astronom  bei  seiner  Beobachtung  der 
Sternenwelt  durch  das  Teleskop,  das  astronomische 
Fernrohr,  nicht  mehr  an  einer  Stelle  sieht,  wenn 
er  diese  lange  Zeit  betrachtet  (d.  h.  nach  Über- 
windung der  ersten  Anpassung),  empfindet  die 
photographische  Platte  ein  Licht  um  so  heller,  je 
länger  sie  diesem  ausgesetzt  ist.  Wir  können 
mit  unserem  Auge  einen  Lichteindruck  unter 
einer  gewissen  fntensität  überhaupt  nicht  mehr 
wahrnehmen,  ob  wir  nun  nur  ein  paar  Sekunden 
oder  einige  .Stunden  hinsehen.  Auf  eine  photo- 
graphische Platte  wirkt  jedoch  eine  Lichtintensität 
in  10  Sekunden  genau  ebenso  stark  wie  zehnfache 
Lichtintensität  in  einer  Sekunde.  Infolge  dieser 
Addition  der  Lichtvvirkung  durch  die  Platte  ist  es 
möglich,  durch  eine  entsprechend  lange  Belichtung, 
die  oft  stundenlang,  ja  ganze  Nächte  hindurch 
währen  kann,  durch  photographische  Aufnahmen 
nur  ganz  schwach  leuchtende  Erscheinungen  am 
Himmelszelt  festzustellen,  die  wir  auch  mit  den 
stärksten  Teleskopen  nicht  beobachten  können. 
Schon  allein  aus  diesem  Grunde  ist  die  Photo- 
graphie eine  unschätzbare  Helferin  der  Astronomie, 
die  sie  heute  gar  nicht    mehr    entbehren    könnte. 

Aber  die  photographische  Aufnahme  bietet 
auch  noch  in  anderer  Weise  gegenüber  der  oku- 
laren Beobachtung  große  Vorteile.  Unser  Auge 
ist  vor  allem  für  die  gelben  Strahlen  des  Lichtes 
empfänglich,  die  photographischen  Platten  dagegen 
für  die  blauen  und  violetten  Strahlen,  die  das 
Auge  als  ziemlich  dunkel  empfindet.  Dadurch 
werden  Weltengebilde  durch  astrophotograj^hische 
Aufnahmen  festgestellt,  die  zwar  ziemlich  viel 
Licht  ausstrahlen,  aber  wegen  dessen  blauen  und 
violetten  Farbe  der  okularen  Beobachtung  nicht 
zugänglich  sind.  Das  gilt  noch  im  stärkeren  IVIaße 
von  solchen  Himmelserscheinungen,  die  überhaupt 
kein  sichtbares,  sondern  nur  unsichtbares  ultra- 
violettes Licht  aussenden,  für  das  aber  die  photo- 
graphische Platte  stark  empfindlich  ist,  weshalb 
sie  hier  zur  Erkennung  verhilft.  Wir  haben,  be- 
sonders da  wir  durch  Vorschaltung  von  Lichtfiltern 
bei  der  Aufnahme    nach  Wunsch    nur    bestimmte 


(M.  A.  S.j 

Strahlengattungen  wirken  lassen  können,  äußerst 
wertvolle  Aufschlüsse  über  die  Art  des  ausge- 
sandten Lichtes  und  somit  über  die  Beschaffenheit 
und  Zusammensetzung  der  Weltkörper  und  der 
sich  erst  zu  solchen  bildenden  Nebel  erhalten. 

Die  Photographie  wurde  im  Jahre  1839  ent- 
deckt und  schon  1840  machte,  trotzdem  die  da- 
malige Technik  mit  der  heutigen  gar  nicht  zu 
vergleichen  ist ,  der  berühmte  amerikanische 
Physiker  und  Astronom  Dr.  John  W.  Drap  er 
die  ersten  photographischen  Mondaufnahmen.  Heute 
hat  man  einen  Mondatlas  nach  photographischen 
Aufnahmen,  bei  denen  die  Mondoberfläche  einen 
L^urchmesser  von  2\„  m  hat.  Während  man 
früher  die  Abmessungen  der  Gebirge  und  Krater 
der  Mondoberfläche  nur  des  Nachts  am  Fernrohr 
selbst  zu  machen  vermochte,  kann  heute  der 
Astronom  dieses  Studium  an  Hand  der  Mondphoto- 
graphien  zu  jeder  Zeit,  also  ebensogut  am  Tage 
besorgen  und  es  verbleibt  ihm  für  nachts  um  so 
mehr  Zeit  für  andere  nur  dann  möglichen  Arbeiten. 
Die  Mondphotographie  hat  ja  nun  nicht  die  ge- 
waltige Bedeutung  wie  die  übrige  Astrophoto- 
graphie. 

Da  nun  am  Himmelszelt  die  Planeten  wirklich 
und  die  Fixsterne,  infolge  des  Erdenlaufes  schein- 
bar weiter  wandeln,  so  können  wir  bei  den  oft 
lange  währenden  Aufnahmen  keine  Schärfe  er- 
halten, wenn  der  Apparat  stillstehen  bleiben  würde. 
Statt  heller  Punkte  erhielten  wir  mehr  oder  weniger 
lange  Striche,  bei  Aufnahmen  des  Mondes  von 
längerer  Dauer  diesen  als  einen  breiten  ver- 
schwommenen Streifen.  Wir  müssen  daher  die 
astrophotographischen  Aufnahmeapparate  genau 
der  Bahn  des  Objektes  nachdrehen,  so  daß  dieses 
im  Apparat  stets  an  der  gleichen  Stelle  sich  be- 
findet. Dieses  Nachdrehen  geschieht  meist  durch 
besondere  Uhrwerke. 

Wenn  wir  nun  den  Apparat  nach  der  schein- 
baren Bahn  der  Fixsterne,  die  ja  ihre  gegenseitige 
Lage  nicht  verändern,  nachdrehen,  so  erhalten 
wir  zwar  die  Hxsterne  als  Punkte,  die  Planeten, 
die,  unabhängig  davon,  ihre  besonderen  Bahnen 
wandeln,  dagegen  als  Striche.  Auf  diese  Weise 
lassen  sich  auf  dem  Sternenbilde  ohne  weiteres 
die  Planeten,  wie  auch  Kometen,  von  den  Fix- 
sternen herausfinden.  Lhngekehrt  werden  bei 
Planetenaufnahmen  die  Plxsterne  als  Striche  ge- 
zeigt. Es  wird  sich  also  auch  der  Leser  die  Striche 
bei  Astrophotographien,  wie  man  sie  zuweilen  in 
illustrierten  Blättern  findet,  erklären  können. 

Über  die  geheimnisvolle  Oberfläche  der  Sonne 
mit  ihren  Flecken,  die  auf  die  Witterungsver- 
hältnisse der  Erde  großen  Einfluß  haben,  und 
mit  ihrer  Granulation,  wie  man  die  merkwürdige 
Sprenkelung  nennt,  hat  die  Photographie  gleich- 
falls weitere  wichtige  Aufschlüsse  gebracht.  Wegen 
der  außerordentlichen  Helligkeit  der  Sonne  können 
hierbei    Momentaufnahmen,    die    nur    etwa    '/onon 


678 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  43 


Sekunde  währen,  erzielt  werden,  wodurch  man 
eine  große  Schärfe  erreicht.  Die  Sonnenkugel  ist 
ferner  von  einer  gasförmigen,  leuchtenden  Masse 
umgeben,  deren  Beobachtung  wegen  ihrer  ver- 
hältnismäßig geringen  Helligkeit  gegenüber  der 
blendenden  Photosphäre,  der  Sonnenkugel,  für 
gewöhnlich  nicht  möglich  ist.  Bei  einer  Sonnen- 
finsternis hingegen,  die  daher  auch  für  die  Sonnen- 
forschung ein  so  wichtiges  Ereignis  ist,  daß  ihret- 
halben sehr  kostspielige  Expeditionen  ausgerüstet 
werden,  kann  die  Gashülle  beobachtet  werden. 
Die  leuchtenden  über  den  Sonnenrand  hervor- 
ragenden roten  Sonnenfackeln,  die  Protuberanzen, 
die  eine  Höhe  bis  '  ,„  des  Sonnendurchmessers 
(also  bis  etwa  140000  km)  erreichen,  wie  auch 
die  ganze  leuchtende  Sonnenkorona  sind  wichtige 
Beobachtungsobjekte,  bei  denen  die  Photographie 
völlig  objektive  Aufschlüsse  gibt,  während  eine 
okulare  Beobachtung  sich  bei  aller  Sorgfalt  nie 
ganz  frei  von  subjektiven  P>hlern  machen  kann, 
besonders  da  die  bei  einer  Sonnenfinsternis  auf- 
tretenden Erscheinungen  oft  kaum  eine  Sekunde 
dauern.  So  ist  z.  B.  erst  durch  die  Photographie 
eine  auffallende  Erscheinung,  das  Flash-Spektrum, 
einwandfrei  festgestellt  worden.  Diese  tritt  während 
des  nur  i  —  2  Sekunden  dauernden  Zeitraumes 
auf,  in  dem  gerade  der  Mondschatten  die  Sonnen- 
kugel völlig  bedeckt,  und  zeigt  sich  darin,  daß  in 
diesem  Moment  statt  der  dunkeln  Fraunhofer- 
schen  Linien  im  Sonnenspektrum  helle  Linien 
treten.  Es  ist  dies  das  Eigenspektrum  des  un- 
mittelbar nur  in  einer  Schichtdicke  von  1000  km 
die  Photos])häre  umlagernde  Gashülle,  die  man 
deshalb  auch  als  die  „umkehrende  Schicht"  be- 
zeichnet. 

Überhaupt  bietet  das  Spektrum  und  vor  allem 
das  der  Sonnenflecken  sehr  wertvolle  Anhalts- 
punkte für  die  chemische  Zusammensetzung  des 
Sonnenkörpers. 

Dann  hat  die  Astrophotographie  wertvolle 
Bilder  von  den  verschiedenen  Planeten  geliefert, 
so  auch  Aufnahmen  der  noch  nicht  aufgeklärten 
Marskanäle  (von  Lowell).  Manche  kleinere 
Planeten  sind  überhaupt  erst  durch  die  photo- 
graphische Aufnahme  „ans  Licht  gekommen",  weil 
ihr  Licht  zu  gering  ist,  um  bei  der  okularen  Be- 
obachtung durch  ein  Teleskop  erkannt  zu  werden. 
Das  gleiche  gilt  von  dem  sechsten,  siebten  und 
achten  Mond  des  Planeten  Jupiter  und  dem  neunten 
und  zehnten  Monde  des  in  der  Entwicklung  sich 
noch  sehr  im  Rückstande  befindenden  Planeten 
Saturn.  Von  diesen  Monden  haben  wir  also  erst 
durch  die  Photographie  Kenntnis  erlangt. 

Man  ist  jetzt  auf  vielen  Sternwarten  in  gemein- 
samer Arbeit  daran,  eine  vollständige  Himmels- 
karte der  Fixsterne  herzustellen.  Das  wäre,  wenn 
man  auf  Zeichnungen  angewiesen  wäre,  ein  Ding 
der  Unmöglichkeit,  schätzt  man  doch  die  Anzahl 
der  Fixsterne  bis  15.  Größe  auf  etwa  60  Millionen! 
Wir  haben  oben  g-esagt,  daß  die  Fixsterne  ihre 
gegenseitige  Lage  nicht  verändern.  Das  stimmt 
für  den  Augenschein,  aber  in  Wirklichkeit  bewegen 


auch  sie  sich  ebenso  wie  unsere  Sonne,  und  zwar 
nicht  alle  nach  der  gleichen  Richtung  und  in 
gleicher  Geschwindigkeit,  sondern  verschieden. 
Die  Menschheit  wird  daher  nach  vielen  Jahrtausenden 
und  vor  vielen  Jahrtausenden  einzelne  Sternbilder 
in  ganz  anderer  Zusammenstellung  sehen  und 
gesehen  haben. 

Mit  Hilfe  der  Photographie  können  wir  fest- 
stellen, ob  ein  Stern  sich  uns  nähert  und  sich  von 
uns  entfernt  und  in  welcher  Geschwindigkeit  dies 
geschieht.  Auch  für  Laien  ist  es  sehr  interessant,  wie 
man  das  ermöglicht.  Schon  jeder  wird  auf  einem 
Bahnhofe  beobachtet  haben,  wenn  ein  Schnellzug 
vorbeisaust,  daß  der  pfeifende  Ton  der  Lokomotive 
beim  Annähern  einen  immer  höheren  Ton  an- 
nimmt, um,  wenn  sich  die  Lokomotive  wieder 
entfernt,  wieder  allmählich  tiefer  zu  werden.  Eine 
ähnliche  Erscheinung  gibt  es  aber  auch  beim 
Licht.  Entwerfen  wir  nämlich  von  dem  Licht 
eines  Fixsternes  das  Spektrum  mit  den  bekannten 
Frau  nhoferschen  Linien,  so  werden  die  ein- 
zelnen Teile  gegenüber  dem  Sonnenspektrum  das 
eine  Mal  eine  Verschiebung  nach  dem  roten,  das 
andere  Mal  nach  dem  violetten  Ende  des  Spek- 
trums zeigen.  Nach  dem  Doppl ersehen  Prinzip 
erklärt  man  dies,  analog  der  akustischen  Erscheinung, 
damit,  daß  sich  der  betreffende  Stern  in  dem  einen 
Falle  nähert,  in  dem  anderen  Falle  entfernt,  während 
der  Grad  der  Verschiebung  die  Geschwindigkeit 
angibt.  Um  aber  nun  hierbei  die  wahre  Ge- 
schwindigkeit und  Bewegungsrichtung  festzustellen, 
muß  auch  die  scheinbare  Fortbewegung  am  Fir- 
mament  in  Rechnung  gesetzt  werden. 

In  jüngster  Zeit  wird  sogar  das  Prinzip  der 
Stereoskopie,  des  plastischen  Sehens,  auf  die 
Astrophotophie  angewandt.  Wir  sehen  bekanntlich 
dadurch  plastisch,'  daß  jedes  unserer  Augen  ein 
etwas  anderes  Bild  empfängt,  wodurch  sich  die 
vorderen  Objekte  von  dem  hinteren  abheben.  Da 
aber  unser  Augenabstand  nur  6,5  cm  ist,  so  werden 
die  beiden  Bilder  schließlich  bald  völlig  gleich,  und 
zwar  bei  etwa  450  m.  Von  da  an  hört  auch  das 
plastische  Sehen  auf,  also  für  außerirdische  Objekte 
erst  recht.  Sonne  und  Mond  erscheinen  uns  nicht 
als  Kugeln,  sondern  als  Scheiben  und  die  ver- 
hältnismäßig sehr  nahen  Planeten  erscheinen  dem 
Auge  in  keiner  anderen  Ebene  als  die  unendlich 
weiten  Fixsterne.  Würde  man  nun  den  Augen- 
abstand künstlich  erweitern,  indem  man  zwei  in 
größerem  Abstände  voneinander  aufgenommene 
Bilder  eines  und  desselben  Objektes  im  stereos- 
kopischen Betrachtungsapparat  vereinigt  zusammen 
betrachtet,  so  könnte  man  auch  plastische  Bilder 
von  weiteren  Objekten,  ja  von  außerirdischen 
Körpern  erhalten,  sofern  nur  der  Bildabstand 
bei    der  Aufnahme  groß  genug  ist. 

Und  in  der  Tat  hat  man  schon  stereoskopische 
Aufnahmen  des  Mondes  gemacht,  bei  denen  dieser 
als  Kugel  wirkt  und  sich  die  Gebirge  und  Krater 
plastisch  zeigen.  Wahrlich  ein  wunderbares  Bild. 
Auch  sind  schon    Photographien  erreicht  worden, 


N.  F.  XIII.  Nr.  43 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


679 


auf   denen    sich    die    Planeten    von    dem    übrigen 
Himmel  plastisch  abheben. 

Um  nun  die  hierfür  erforderlichen  ungeheuren  Ab- 
stände der  Aufnahmepunkte  für  die  beiden  Bilder 
zu  erzielen,  macht  man  diese  nicht  zu  gleicher  Zeit 
von  verschiedener  Stelle  aus,  sondern  zu  verschie- 
denen Zeiten  von  der  gleichen  Stelle  aus.  Wir 
warten  für  die  zweite  Aufnahme  so  lange,  bis  wir 
uns  durch  die  Drehung  der  Erde,  ja  des  ganzen 
Sonnensystems  um  den  erforderlichen  Abstand  im 
Weltenrauni  weiter  bewegt  haben.  Für  plastische 
Mondaufnahmen  ist  z.  B.  ein  Abstand  von  95000  km 
notig,  bei  anderen  Aufnahmen  gehen  die  Abstände 


in  die  Millionen  Kilometer,  so  daß  wir  mit  der 
zweiten  Aufnahme  Tage,  Monate  ja  Jahre  warten 
müssen.  Die  Himmelsstereoskopie,  die  noch  jüngsten 
Datums  ist,  wird  der  Wissenschaft  noch  große 
Dienste  leisten. 

Aber  auch  die  anderen  zufälligen  Ilimmelser- 
scheinungen,  Kometen,  Leuchtkugeln  usw.  werden 
teilweise  durch  die  photographische  Platte  fest- 
gehalten, wodurch  der  Astronom  ein  weit  besseres 
Urteil  über  Form  und  Bahn  erhält. 

Den  größten  Nutzen  von  den  fleißigen  photo- 
graphischen Arbeiten  der  Astronomen  werden  je- 
doch erst  die  künftigen  Geschlechter  haben. 


Einzelberichte. 

Paläontologie.  Über  Crustaceen  aus  dem 
Voltziensandstein  des  Elsasses  berichtet  Ph.  C.  Bill 
in  den  Mitteilungen  der  Geologischen  Landes- 
anstalt von  Elsaß-Lothringen  Bd.  VIII,  Heft  3, 
1914. 

Der  nach  der  Abietide  Voltzia  heterophylla 
benannte  Voltziensandstein  bildet  die  Oberstufe 
des  oberen  Buntsandsteins  oder  Rots  in  Elsaß- 
Lothringen,  dem  Saargebiet  und  der  Eifel  und 
wird  von  dem  in  sandiger  F'azies  auftretenden 
unteren  Muschelkalk,  dem  Muschelsandstein  über- 
lagert. Der  Voltziensandstein  besteht  vorherr- 
schend aus  feinkörnigen,  glimmerig-tonigen  Sand- 
steinen. Fossilien  treten  fast  nur  in  tonigen  Schich- 
ten auf.  Neben  zahlreichen  Pflanzenresten  (Voltzia, 
Neuropteris,  Doleropteris,  Schizoneura)  sind  von 
tierischen  P'ossilicn  vor  allem  zahlreiche  Crusta- 
ceen, seltener  Muscheln  (Myophoria,  Pecten,  Unio), 
Brachiopoden  (Lingula)  und  Fischreste  nachge- 
wiesen. Das  Vorkommen  der  Krebse  ist  auf  die 
obersten  10  m  des  Voltziensandsteins  beschränkt. 
Sie  liegen  in  der  Regel  in  3  m  dicken  und 
20  — 100  m  langen  linsenförmicren  Einlagerungen 
von  hellen  Schieferletten  im  Sandstein.  Der  Er- 
haltungszustand wechselt  je  nach  der  Art  und 
dem  Fundpunkt.  Mit  Ausnahme  der  zu  den 
Schizopoden  gehörenden  Gattung  Schimperella  ist 
bei  keinem  der  Krebse  irgend  etwas  von  der 
Schale  erhalten.  Bei  der  unserem  Flußkrebs  nahe 
stehenden  Gattung  Cl^-tiopsis  können  2  Erhaltungs- 
arten unterschieden  werden;  entweder  ist  der 
Panzer    erhalten,    wobei    die    Gliedmaßen    fehlen 


Isopoden  (Anhelkocei)halon)  verteilen.  Die  meisten 
Formen  sind  der  Trias  eigentümlich,  während 
Penaeus  und  vor  allem  die  niederen  Formen 
noch  heute  leben. 

Von  besonderer  Bedeutung  ist  die  Fauna  für 
die  Phylogenie  der  Crustaceen.  Die  niedere  Formen 
haben  geringes  Interesse,  denn  Estheria  minuta 
unterscheidet  sich  im  Körperbau  kaum  von  den 
heutigen  Estherien;  ebenso  auch  Apus  antiquus 
nicht  viel  von  seinen  heutigen  Verwandten.  Ab- 
gesehen von  der  Kleinheit  und  den  relativ  größeren 
Augen  ist  auch  Limulites  nicht  viel  anders  als 
der  heute  lebende  Limulus.  Das  meiste  Interesse 
beanspruchen  die  Decapoden,  zu  denen  unter  den 
heute  lebenden  Formen  der  Flußkrebs,  der  Hum- 
mer, die  Garneelen  und  die  Krabben  gehören. 
Abgesehen  von  Palaeopemijhix,  deren  systematische 
Stellung  noch  ungeklärt  ist,  stellen  die  hier  vor- 
kommenden P^ormen  (Penaeus,  Litogaster,  Clytiop- 
sis)  die  ältesten  Vertreter  der  Ordnung  dar.  Die 
Decapoden  zerfallen  in  die  2  Unterordnungen 
der  Macruren  (kräftiges  Abdomen,  gut  entwickelte 
Seitenteile  der  Schwanzflosse;  Natantia  garneelen- 
artig,  schwimmend;  Reptantia krebsartig,  kriechend) 
und  die  Brachyuren,  bei  denen  die  vorhin  er- 
wähnten Eigenschaften  rudimentär  sind.  Bereits 
zu  Beginn  der  Triaszeit  bestand  die  Trennung 
der  Decapoden  in  Natantia  und  Reptantia.  Er- 
stere  sind  durch  Penaeus  (Penaeidea),  letztere 
durch  Clytiopsis  (Nephropsidea)  vertreten. 

Auf  Grund  interessanter  Untersuchungen,  die  sich 
vor   allem    auf   die    Ausbildung    der   Pereiopoden 


(?   bei    der   Häutung   abgeworfener   Panzer)    oder      und    der  Schwanzflosse  beziehen,  kommt  Bill  zu 


das  ganze  Tier  ist  zur  Silhouette  zusammenge- 
drückt. 

Hauptfundorte  für  die  Fauna  sind  Wasseln- 
heim,  Sulzbad,  Gressweiler,  Gottenhausen,  Saar- 
brücken. 

An  der  Crustaceenfauna  beteiligen  sich  12  Ar- 


dem  Ergebnis,  daß  die  beiden  Gruppen  der  Na- 
tantia und  Reptantia  nicht  gleichwertig  sind.  Die 
Natantia  erweisen  sich  als  einheitlich,  während 
die  Reptantia  inhomogen  sind  und  aus  Gruppen 
(Nephropsidea,  Eryonidea,  Loricata)  bestehen,  die 
sich  zu  verschiedener  Zeit  (und  zwar  vortriassischer 


ten,  die  10  Gattungen  angehören,  welche  sich  auf  Zeit)  vom  Stamme  der  Natantia  abgezweigt  haben, 

die  Ordnungen   der  Decapoden    (Clytiopsis,    Lito-  In  der  Trias  existieren  die  Gruppen  der  Nephrop- 

gaster,  Penaeus),   Schizopoden  (Schimperella,  Dia-  sidea  und  Eryonidea,  während  im  Jura  noch    die 

phanosma),  Syncariden  (Triasocaris),    Phyllopoden  Grujipe    der    Loricata    hinzukommt.      Möglicher- 

(Estheria,  Apus),  Xiphosuren  (Limulites)  und    der  weise  haben  sich  die  Loricaten  und  Eryoniden  in 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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vortriassischer  Zeit  ll'ermocarbonj  selbständig  aus 
Schizopoden  entwickelt. 

V.  Hohenstein,  Halle  a.  S. 

Botanik.  Antike  Samen  aus  dem  Orient. 
Franz  v.  Frimmel  hat  eine  schwierige  Unter- 
suchung durchgeführt,  um  einige  antike  Pflanzen- 
samen zu  bestimmen,  die  teils  aus  Nippur  in 
Babylonien,  teils  aus  Gezer  in  Talästina  stammten. 
Zwei  Proben  aus  Gezer  gehörten  offenbar  der 
Gattung  Vicia  an,  und  wahrscheinlich  handelt  es 
sich  um  Vicia  sativa  L.  oder  Vicia  Ervilia  (L.) 
Willd.  und  Vicia  palaestina  Boiss.  Eine  Probe 
aus  Nippur  besteht  aus  Citrus-Samen,  möglicher- 
weise aus  dem  Formenkreise  von  Citrus  medica. 
Zerealienreste  aus  Nippur  erwiesen  sich  als  der 
Gerste  zugehörig,  und  die  Befunde  lassen  darauf 
schließen,  daß  es  sich  um  eine  der  wilden  Gerste 
in  manchen  Merkmalen  nicht  ganz  fernstehende 
Kulturrasse  gehandelt  hat.  Es  war  eine  mehr- 
zellige I'orm,  bei  der  die  Körner  in  verhältnis- 
mäßig spitzem  Winkel  von  der  Achse  abstanden, 
denn  nur  unter  dieser  Voraussetzung  können  die 
vom  Verf.  beobachteten  grubigen  Eindrücke  am 
Rücken  des  Kornes  zustande  kommen,  ein  Merk- 
mal, das  die  Form  mit  der  Wildgerste  gemeinsam 
hat ;  „daß  es  sich  aber  keineswegs  um  eine  wirk- 
lich wilde  Form  handelt,  geht  aus  der  Größe  des 
Korns  hervor  und  aus  dem  Umstände,  daß  die 
Körner  sozusagen  so  hypertrophicrt  waren,  daß 
sie  sich  eben  gegenseitig  in  der  Ausbildung  nor- 
maler F"orm  störten".  Hieraus  schließt  Verf,  daß 
die  fragliche  Gerste  das  Endergebnis  eines  noch 
unbekannten,  vielleicht  unbewußten  Züchtungs- 
prozesses gebildet  habe ;  denn  eine  noch  größere 
Entwicklung  der  Körner  als  die,  daß  sich  die 
einzelnen  Körner  gegenseitig  in  der  Entwicklung 
stören,  sei  undenkbar.  Eine  bewußte,  rationelle 
Züchtung  würde  wohl  von  Formen  ihren  Ausgang 
nehmen,  bei  denen  eine  gegenseitige  Entwicklungs- 
hemmung gerade  der  größten  Körner  durch  ein 
mehr  wagerechtes  Abstehen  von  der  Spindel  nach 
Möglichkeit  verhindert  würde.  —  Eine  andere 
Getreideprobe,  die  aus  Gezer  stammte,  konnte  als 
Weizen,  wahrscheinlich  Triticum  turgldum, 
identifiziert  werden.  (Sitzungsberichte  der  Kais. 
Akad.  d.  Wiss.  in  Wien.  Phil.-hist.  Kl.  1914, 
Bd.   173,   I.  Abhdlg.   14  S.  u.  Taf.). 

F.  Moewes. 

Physik.  Mit  der  Demonstration  und  Photographie 
von  Strömungen  im  Innern  einer  Flüssigkeit  beschäf- 
tigt sich  eine  Arbeit  von  J.  Zenneck  (München) 
in    den    Berichten    der   Deutschen    Physikalischen 


Gesellschaft  XVI  (1914)  Seite  695.  Während  sich 
Bewegungen  in  Flüssigkeitsob  e  r  f  I  ä  c  h  en  durch 
Aufstreuen  z.  B.  von  Bärlappsamen  nach  dem  von 
V.  Ahlborn  (Hamburg)  ausgearbeiteten  Verfahren 
gut  sichtbar  inachen  und  photographieren  lassen, 
stößt  man  auf  Schwierigkeiten,  wenn  es  sich  um 
Strömungen  im  Innern  handelt.  Zenneck  ver- 
fährt in  der  Weise,  daß  er  der  Flüssigkeit  sehr 
kleine,  durch  Elektrolyse  erzeugte  Gasbläschen  bei- 
micht,  die  an  ihrer  Oberfläche  das  Licht  einer 
Bogenlampe  total  reflektieren  und  dadurch  hell 
leuchten.  Das  in  einen  größeren  Trog  ruhenden 
Wassers  aus  einer  Düse  eintretende  Leitungs- 
wasser, dessen  Stromlinien  beobachtet  werdensollen, 
passiert  zunächst  einen  Zersetzungsapparat,  in  wel- 
chen zwei  an  die  elektrische  Zentrale  angeschlossene 
Bogenlampenkohlen  hineinragen.  Die  durch  die 
Zersetzung  erzeugten  Glasbläschen,  deren  Durch- 
messer zwischen  0,014  und  0,023  mm  liegt  und 
die  infolge  ihrer  Kleinheit  eine  sehr  geringe  ver- 
tikale Eigengeschwindigkeit  haben  (0,16  cm  pro 
sec),  dringen  mit  dem  aus  der  Düse  austretenden 
Wasserstrahl  in  die  ruhende  Wassermasse  ein. 
Das  durch  einen  Kondensator  gesammelte  Licht 
der  Bogenlampe  fällt  durch  einen  vertikalen 
Schlitz  an  der  der  Düse  gegenüberliegenden  Seite 
in  den  Trog,  so  daß  im  Wasser  eine  vertikale 
Ebene  beleuchtet  ist.  Man  beobachtet  und  photo- 
graphiert  senkrecht  in  dieser  Ebene;  die  Rück- 
wand des  Kastens,  der  Hintergrund,  ist  geschwärzt. 
Zwei  der  Arbeit  beigegebene  Tafeln,  von  denen 
die  eine  die  Strömung  gegen  eine  quadratische 
Platte,  die  zweite  die  gegen  einen  zur  Düse  senk- 
rechten Zylinder  (exzentrisch)  zeigt,  lassen  sehr 
schön  die  scharfen  hellen  Slrömungslinien  auf 
dunklem  Grunde  erkennen.  Aus  ihnen  kann  man 
nicht  nur  die  Richtung  der  Bewegung  ersehen, 
sondern  auch  mit  Hilfe  der  Expositionszeit  die 
Gröfje  der  Geschwindigkeit  ausmessen.  Soll  die 
F"lüssigkeitsbewegung  in  der  Nähe  einer  im  Trog 
rotierenden  Schraube  oder  einer  im  Trog  beweg- 
ten Platte  dargestellt  werden,  so  läßt  man  die 
Glasbläschen  im  Trog  selber  in  der  Weise  ent- 
stehen, daß  man  auf  seinem  Boden  eine  Anzahl 
von  Bogenlamjienkohlen  anbringt,  die  man  ab- 
wechselnd mit  dem  positiven  und  negativen  Pol 
der  Stromquelle  verbindet.  Duich  Regulieren  des 
Stromes  man  kann  die  Zahl  der  Bläschen  ändern, 
durch  Anordnung  der  Kohlen  die  Bläschen  auf 
einzelne  Stellen  des  Wassers  mehr  oder  weniger 
konzentrieren.  Leider  ist  die  Erscheinung  nicht 
so  lichtstark,  daß  sie  sich  für  einen  großen 
Zuhörerkreis  wirksam  projizieren  läßt. 

K.  Schutt,  Hamburg. 


Kleinere  Mitteilunsen. 


Zwei  lehrreiche  Profile  aus  dem  Frankenwald. 
Zwei  Natururkunden.  Der  Frankenwald,  der  in 
seinem  Aufbau  fast  nur  aus  paläozoischen  Ge- 
steinen,   vorzugsweise    aus  Schiefern    besteht,    ist 


ein  in  der  Nachkulmzeit  entstandenes  P'alten- 
gebirge  mit  varistisch  verlaufenden  Sätteln  und 
Mulden.  Dieser  Faltung,  zu  der  als  Begleit- 
erscheinung  die  Schieferung   tritt,    der   Lehesten, 


N.  F.  XIII.  Nr.  43 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


68 1 


ÄyT 


Wurzbach ,  Ueincrsdorf  und  Röttersdorf  vorzüg- 
hche  Dachschiefer  und  Gräfenthal  und  Ludwigs- 
stadt Griffelschiefer  verdanken,  unterlagen  alle 
kambrischen,  silurischen,  devonischen  und  kulmi- 
schen Gesteine. 

Auf  das  Profil  im  Kicselschiefer  machte  ich 
schon  im  letzten  Jahres- 
bericht der  Gesell- 
schaft von  Freunden 
der  Naturwissenschaf- 
ten zu  Gera  aufmerk- 
sam, p.  171  — 172.  Jetzt 
stehen  mir  zwei  gute 
photographische  Auf- 
nahmen des  Flerrn  Prof. 
Dr.  Gott  lieb  v.  Koch 
zur  Verfügung,  die  ich 
einem  größeren  Kreise 
von  Naturfreunden 

nicht  vorenthalten 

möchte. 

Sechsmal  hat  der 
Druck,  der  den  Fran- 
keinvald  zur  Zeit  der 
Aufrichtung  des  varisti- 
schen  Gebirges  zusam- 
menschob, an  dieser 
Stelle  den  mittelsiluri- 
schen       Kieselschiefer 

zusammengepreßt. 
Wenigstens  kann  man 
sechs  kleine  Sättel  und 
Mulden  im  Profil  zählen. 
Das  geschah  auf  eine 
Entfernung  von  2  m 
hin.  Der  hier  gefaltete 
Kieselschiefer  bewahrt 
auch  anderwärts ,  wie 
mir  Herr  Geheimrat 
Zimmermann  mit- 
teilte, die  Faltung  am 
besten.  Aber  an  dieser 
Stelle  blieb  die  Er- 
scheinung im  Franken- 
walde am  schönsten 
erhalten.  Durch  sie 
wird  uns  im  kleinen 
der  ganze  Bau  und  die 
Entstehung  des  F"ran- 
kenwaldes  klar.  So 
mag  im  Frankenwald 
ein  Durchschnitt  aus- 
gesehen haben,  ehe  die 
Verwerfungen  und  die 
Durchbrüche  vulkani- 
scher Gesteine  auf  den 
Schichtenbau  verän- 
dernd einwirkten.  Jetzt 
ist  der  Bau  des  Ge- 
birges viel  beschwer- 
licher zu  begreifen. 
Verwerfungen     haben 


Sättel  und  Mulden  zerrissen,  gegenseitig  verschoben 
und  neu  gedehnt  und  zusammengestaucht.  In  den 
dünnen,  dunkleren  Schichten  des  Profils,  die  aus 
Alaunschiefer  bestehen,  habe  ich  trotz  dieser 
haltungen  und  Pressungen  noch  bestimmbare  Ver- 
steinerungen,   Graptolithen  gefunden.     Ich  konnte 


Fig.  I.     Gefalteter  Kieselschiefer  vom  Eselsberge  bei  Saalburg  a.  d.  S,  (Frankenwald). 


Fig.  2.     Sattelbildung  im  Kulm  von  Ziegenrück  a.  d.  S.  (Frankenwald). 


682 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  43 


dort  Rastrites  hybridus  Lapw.,  Rastrites  percgrinus 
Barr,  und  üiplograptus  folium  Hiss.  nachweisen. 
Der  ungeheure  Drucl;  vermoclite  die  tierischen 
Überreste  doch  nicht  zu  vernichten. 

In  diesem  zweiten  Profil  sind  kulinische 
Schieferschichten ,  die  den  Lehestener  Schiefern 
dem  Alter  nach  gleichkommen,  zu  erkennen.  Der 
Steinbruch  schlielSt  uns  einen  Sattel  auf,  in  dem 
genau  wie  oben  die  Kieselschicferschichten  hier 
die  Kulmschieferschichten  zusammengefaltet  wur- 
den. Der  Sattel  ist  bedeutend  größer  wie  die 
kleinen  Sättel  im  Eselsbergprofil.  Leider  wird 
dieser  und  auch  der  andere  hochinteressante  Stein- 
bruch immer  noch  benutzt,  so  daß  in  kurzer  Zeit 
diese  lehrreichen  Profile  verschwinden  werden. 

Rudolf  Hundt. 

In  Tschermak's  Mineral,  petrogr.  Mittei- 
lungen bringt  ¥.  ¥^.  Wright  die  Beschreibung 
eines  von  ihm  konstruierten  neuen  petrographischen 
Mikroskopes,  das  sich  besonders  zur  Untersuchung 
sehr  feinkörniger  Mincrialien,  also  z.  B.  künstlicher 
Silikat])räparate  eignen  soll.  Eine  starre  Ver- 
bindung der  Nikols  ermöglicht  eine  gleichzeitige 
Drehung  um  die  Aclise  des  Mikroskopes.  Der 
obere  Nikol  bleibt  im  Tubus.  Der  Polarisator  wird 
bei  Beobachtung  im  gewöhnlichen  Licht  ausge- 
schaltet, wobei  sicli  keine  Störung  des  Bildes,  die 
bei  Ein-  und  Ausschaltung  des  Analysators  oft 
eintritt,  bemerkbar  macht.  Die  Art  der  Anbringung 
eines  Abbekondensors  in  A'^erbindung  mit  einem 
Ahrensprisma  (wie  bei  P'uessmikr.  la)  macht  die 
Vorrichtungen,  die  der  Ein-  und  Ausschaltung  der 
Oberlinse  des  Kondensors  dienen,  entbehrlich. 
Die  Platte  mit  der  „tinte  sensible",  die  nicht 
zwischen  Objekt  und  Analysator,  sondern  unter 
dem  Kondensor  angebracht  ist,  kann  mit  ihrer 
Metallfassung  um  die  geometrische  Achse  des 
Mikroskopes  gedreht  werden.  Die  Bestimmung 
der  Hauptschwingungsrichtung  in  einem  Mineral 
wird  dadurch  erleichtert,  daß  diese  Drehung 
schneller  als  die  des  Objekttisches  vor  sich  gehen 
kann.  P^ine  Abstufung  in  der  Vergrößerung  des 
Bildes  wird  durch  Verschiebbarkeit  der  Bertrand- 
schen  Linse  ermöglicht,  unter  der  sich  —  ebenfalls 
eine  Neuerung  —  eine  Irisblende  befindet,  die 
mit  ihr  auf  und  ab  bewegt  werden  kann.  Eine 
zweite  unter  dem  Okular  angebrachte  Blende  soll 
das  nicht  von  dem  zu  untersuchenden  Material, 
sondern  von  seinen  Nachbarn  im  Schliffe  her- 
rührende Licht  abblenden,  das  sich  bei  Beobach- 
tung der  Achsenbilder  oft  unangenehm  bemerkbar 
macht.  Aicliberger. 

Eugenik.  In  jüngster  Zeit  wurde  der  Geburten- 
rückgang in  den  europäischen  Kulturstaaten  von 
vielen  Autoren  behandelt,  aber  nur  wenige  machten 
den  Versuch,  diese  Erscheinung  wissenschaftlich 
zu  erklären,  sondern  sie  wurde  meist  auf  sittliche 
Verkommenheit  zurückgeführt.  Prof  Dr.  Hugo 
.Sellheim  in  Tübingen  sucht  nun  in  einer  Ab- 
handlung     über     ,,Produktionsgrenze     und 


Geburtenrückgang"  den  Beweis  zu  führen, 
daß  die  Ursache  der  abnehmenden  Geldhäufigkeit 
in  der  Erschöpfung  der  menschlichen  Produktions- 
kraft liegt,  die,  aufgezehrt  von  der  Sorge  um  die 
Selbsterhaltung,  für  die  Zeugung  von  Nachkommen 
nichts  oder  nicht  viel  übrig  hat.  Die  moderne 
kapitalistische  Wirtschaftsweise,  welche  die  An- 
spannung aller  körperlichen  und  geistigen  Kräfte 
erfordert,  hat  die  individuelle  Selbsterhaltung 
schwierig  gestaltet  und  damit  einen  nachteiligen 
Einfluß  auf  die  I''orlj)flanzung  ausgeübt;  denn  je 
mehr  Kraft  ein  Organismus  für  die  Erhaltung  des 
eigenen  Lebens  aufzuwenden  hat,  um  so  weniger 
vermag  er  für  die  Hervorbringung  von  Nachkommen 
zu  erübrigen.  Das  Tierreich  bietet  hierfür  zahl- 
reiche Beispiele,  die  es  uns  auch  klar  machen, 
warum  beim  Menschen  zu  Zeiten  des  Aufbaues 
und  Abbaues  seines  Organismus,  in  Jugend  und 
Alter,  schließlicli  auch  bei  schweren  Krankheiten, 
d.  h.  in  Zeiten,  in  denen  der  Körper  mit  sich 
selbst  genug  zu  tun  hat,  die  h'ortpflanzung  ver- 
mindert oder  ganz  ausgeschlossen  wird.  Die 
Blütezeit  von  Körper  und  Geist  ist  deshalb  zu- 
gleich die  Domäne  der  Fortpflanzung. 

Beim  Übergänge  von  der  harten  Wildheit  zur 
bequemen  Zivilisation  steigt  die  P'ruchtbarkeit  wie 
bei  einer  Pflanze  beim  Kultivieren  und  beim  Tier 
durch  Domestizieren.  Unter  günstigen  Existenz- 
bedingungen erfolgt  nur  eine  spielende,  nicht  fühl- 
bare, dalier  unbewußte  Aufteilung  der  Menschen- 
kraft in  Selbsterhaltung  und  P'ortpflanzung.  Wie- 
viele Kinder  dabei  einer  P'amiiie  von  Natur  aus 
zustehen,  ist  im  allgemeinen  schwer  zu  sagen. 
Daß  die  ungehemmte  P"ruchtbarkeit  sehr  groß 
sein  muß,  dürfte  schon  aus  der  Beobachtung  her- 
vorgehen, daß  beim  neunten  Kinde  der  Höhepunkt 
der  körperlichen  Entwicklung  der  P'rucht  gefunden 
wird  und  dann  erst  das  .Absteigen  beginnt. 

Doch  steigt  die  F"ruchtbarkeit  in  der  Zivilisation 
nur  so  lange,  als  neben  Vermehrung  der  Nahrungs- 
zufuhr auch  eine  Verminderung  der  Kraftausgabe 
besteht  oder  wenigstens  nicht  eine  stärkere  Zu- 
mutung, wie  im  Daseinskampfe  des  Menschen  in 
der  modernen  Welt,  auf  dem  Plane  erscheint. 
Schließlich  führt  die  höchste  Übertreibung  der 
Produktion  für  die  Selbsterhaltung  zu  einer  Ver- 
nichtung der  Fortpflanzung  und  umgekehrt,  die 
Übertreibung  der  Fortpflanzungsproduktion  zur 
Selbstvernichtung. 

Beim  Menschen  bewirkt  die  große  .Anpassungs- 
fähigkeit, seine  Beherrschung  der  Natur,  daß  die 
Fortpflanzung  durch  die  Anstrengungen  zur  Selbst- 
erhaltung lange  nicht  arg  gefährdet  wird.  Den 
Eintritt  einer  solchen  Gefährdung  genau  festzustellen 
ist  überdies  schwer,  weil  der  Mensch  dem  Zusammen- 
bruche durch  eine  rechtzeitige  Korrektur  seiner 
Kräftebilanz  vorbeugen  kann.  Sellheim  sagt: 
Wo  eine  Reibung  droht,  wird  ihr  aus  dem  Wege 
gegangen.  Der  Wettbewerb  wird  auf  allen  Ge- 
bieten menschlichen  Lebens  immer  mehr  durch 
eine  Art  Schiedsgericht,  statt  durch  den  Kampf, 
planmäßig    zu    regeln    gesucht.      Der   Mensch   ist 


N.  F.  Xm.  Nr.  43 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


683 


sich  meist  iiiid  von  vornlierein  der  Verteilung  der 
Kräfte  im  Kampfe  bewußt.  Darum  unterläßt  er  — 
z.  B.  durch  den  Schaden  anderer  klug  geworden 
—  die  Fortpflanzung  oder  wenigstens  ihre  emsige 
Betätigung.  Aus  dieser  Gewohnheit,  sich  nicht  erst 
durch  eine  wirkliche  auftretende  Verantwortung, 
sondern  schon  durch  die  Voraussicht  einer  Ver- 
antwortlichkeit in  seiner  Handlungsweise  bestimmen 
zu  lassen,  entspringt  die  Gefahr  einer  Übertreibung 
der  Vorsicht.  Fs  ist  also  im  einzelnen  Falle  nicht 
leicht  zu  sagen,  ob  die  Unterlassung  der  h'ort- 
pflanzung  überhaupt  oder  weiterer  Fortpflanzung 
aus  einer  wirklichen  oder  eingebildeten  Kraftlosigkeit, 
neben  der  Selbsterhaltung  die  Sorge  für  die  Nach- 
kommen übernehmen  zu  können,  sich  herleitet. 
Dazu  kommt  unser  materielles  Zeitalter  mit  dem 
auf  die  Spitze  getriebenen  Bedürfnis  eigener  sowie 
der  Nachkommenschaft  Sicherstellung  gegenüber 
allen  Eventualitäten,  wodurch  jeglicher  Unter- 
nehmungsgeist lahmgelegt  wird. 


Die  Befürchtung,  daß  mit  dem  Rückgang  der 
Geburtenhäufigkeit  eine  qualitative  Verschlech- 
terung des  Menschenmaterials  eintritt,  hält  SeU- 
heim  für  begründet,  namentlich  dann,  wenn  die 
Abnahme  der  Geburtenzahl  durch  das  wahllose 
Unterliegen  der  Fortijflanzung  im  Wettbewerb 
mit  der  Selbsterhaltung  bedingt  wird.  Zur  Hebung 
der  körperlichen  Konstitution  der  Bevölkerung 
wünscht  Seil  heim  eine  allgemeine  „Menschen - 
Ökonomie",  welche  Selbsterhaltung  und  Fort- 
pflanzung in  das  richtige  Verhältnis  bringt,  und 
als  erste  Maßregel  dieser  Art  empfiehlt  er  die 
Verhütung  der  Vergeudung  von  Frauenkraft  im 
Fortpflanzungsleben  durch  Frühgeburten,  zu  frühe 
oder  zu  späte  Geburten  usw.,  und  durch  verkehrte 
Plazierung  der  Frauen  im  Leben,  hauptsächlich 
ihre  Teilnahme  an  der  Produktion  zur  Lebens- 
erhaltung. 

H.   P^hlingfer. 


Biicherbesprechungen. 


Diapositive  zu  H.  Potoni^'s  Entstehung 
der  Steinkohle.  —  In  der  paläobotanischen  Ab- 
teilung der  Kgl.  Geol.  Landesanstalt  zu  Berlin  sah 
ich  kürzlich  eine  durchscheinende  Fenstertafel, 
welche  in  einem  Pappdeckel  zwanzig  ausgewählte 
Diapositive  nacli  Abbildungen  zeigt,  welche  von 
H.  l^otonie  in  seinen  Werken  über  die  h^ntstehung 
der  Steinkohle  aus  die  Kaustobiolithe  wiederge- 
geben sind.  Die  Tafel  enthält  eine  gute  Aus- 
wahl aus  den  72  Diapositiven,  welche  der  Verlag 
von  Otto  Roth  in  Berlin  NO,  Prenzlauer  Berg  21 
vertreibt.  Sowohl  Landschafts-  wie  Museums- 
aufnahmen, und  auch  einige  Mikrophotogramme, 
von  fossilen  Hölzern,  Schlammbildungen  usw. 
waren  vertreten.  Die  Tafel  hatte,  wie  mir  Kustos 
Dr.  W.  Gothan,  der  jetzige  Leiter  der  paläo- 
botanischen Abteilung  und  Nachfolger  von  H.Poto- 
nie  mitteilte,  seit  einem  Jahre  am  Fenster  ge- 
standen, so  daß  unter  der  Wirkung  der  Sonnen- 
strahlen die  Pappe  verbogen  war  und  die  Farbe 
verloren  hatte.  Dennoch  wirkten  die  Diapositive 
frisch,  ihre  Farben  waren  kräftig.  Das  Verzeichnis 
umfaßt  F'aulschlamm  und  seine  Lagerstätten,  Torfe 
und  ihre  Lagerstätten,  Braunkohle-  und  Stein- 
kohlenprofile, deren  paläobotanisch  wichtigste 
Eigenheiten,  fossile  Hölzer  mit  und  ohne  Jahres- 
ringbildung, Liptobiolithe.  H.  Potonic  hat  den 
Verlagsprospekt  mit  folgenden  Worten  eingeleitet ; 
„Wiederholte  Anfragen  aus  Universitäts-  und  an- 
deren Kreisen  nach  den  von  mir  in  langen  Jahren 
zusammengebrachten  Diapositiven  über  den  im 
Titel  genannten  Gegenstand  veranlassen  mich, 
die  wichtigsten  dieser  Diapositive  hiermit  der 
()ff"entlichkeit  zu  übergeben.  Als  Führer  für  diese 
Abbildungsreihe  sind  zu  benutzen  in  erster  Linie 
die  fünfte  Auflage  meines  Buches  „Die  Entstehung 
der  Steinkohle  usw.  (1910),  sodann  meine  drei- 
bändige Arbeit   „Die  rezenten  Kaustobiolithe  und 


ihre   Lagerstätten"    (Berlin,  Kgl.    Geolog.    Landes- 
anstalt)." Stremmö. 

Janson,  O.,    Das  Meer,  seine  Erforschung 
und  sein  Leben.    (Aus  Natur  und  Geisteswelt, 
Nr.  30.  Dritte  Auflage,   1914). 
Das    kleine   Werkchen   behandelt    in    flüssiger 
Sprache  die  physische  Meereskunde    sowie  einige 
Kapitel    aus    dem    Tier-    und    Pflanzenleben    des 
Meeres.     Zum    besseren    Verständnis    des    Textes 
wäre    die  Beigabe    einer   Karte    mit   den    Meeres- 
strömungen sowie  den  Tiefen  förderlich  gewesen. 
Ferner   ist  zu    beanstanden,    daß    bei    den    Abbil- 
dungen nie  der  Maßstab  der  Vergrößerung  ange- 
geben   ist;    der    Laie,    der  die    Dinge    nicht    aus 
eigener  Anschauung  kennt  —  und  nur  unsere  größ- 
ten Museen  können   solche  Seltenheiten  wie  z.  B. 
Tiefseeformen  öffentlich  ausstellen  —  muß  sich  nach 
diesen  Bildern  ganz    falsche  Vorstellungen  bilden. 
H.  Balss. 

Schaefer,  CL     Einführung   in    die    theore- 
tische    Physik.       Erster     Band:     Mechanik 
materieller    Punkte,    Mechanik    starrer    Körper 
und    Mechanik    der    Kontinua    (Plastizität    und 
Hydrodynamik).     925    Seiten    mit   249   Figuren 
im    Text.     Leipzig    1914.     Veit  &  Co.  —  Preis 
geh.   18  Mk. 
Verf.  hat  die  mühevolle  Arbeit  unternommen, 
ein    neues   Lehrbuch    über   das  Gesamtgebiet    der 
theoretischen  Physik    zu    schreiben,    das,    nament- 
lich   für    Studierende    bestimmt,    den    Gegenstand 
etwa    mit    derjenigen    Ausführlichkeit    und    Voll- 
ständigkeit   darstellt,    wie    er    in    den  allgemeinen 
Vorlesungen    über    theoretische  l^hysik    behandelt 
werden    kann.     Trotz   der  nicht    geringen  Anzalil 
von  Gesamtdarstellungen  der  theoretischen  Physik 
ließ   sich    bisher    in    der  Literatur  in    der  Tat  ein 


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Naturwissenschaftliche  Wochensclirift. 


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Werk  vermissen,  welches  die  großen  theoretischen 
Zusammenhänge  mit  genügender  Klarheit  in  Ab- 
leitung und  Ergebnis  quantitativ  darlegt,  die  kon- 
kreten phj'sikalischen  Grundlagen  genügend  deut- 
lich hervorhebt  und  andererseits  diejenige  Be- 
grenzung des  Stoft'es  namentlich  in  der  Richtung 
der  vielfach  mehr  mathematisches  Interesse  bieten- 
den Spczialprobleme  einhält,  welche  zur  Erhaltung 
des  Überblicks  für  den  Lernenden  erforderlich 
erscheint.  Die  Arbeit  des  Verfs.  ist  daher,  da  sie 
einem  tatsächlichen  Bedürfnis  gerecht  wird,  als 
eine  höchst  dankenswerte  zu  bezeichnen.  Ihre 
klare  Ausdrucksweise,  die  auch  im  Druck  hervor- 
tretende präzise  Betonung  der  wesentlichen  Be- 
ziehungen werden  dem  Werke  sicherlich  viele 
Freunde  erwerben. 

Die  im  vorliegenden  ersten  Bande  gegebene 
Darstellung  der  Mechanik  ist,  der  Bedeutung  dieser 
Disziplin  für  die  Einführung  in  die  theoretische 
Betrachtung  des  phx'sikalischen  Geschehens  ent- 
sprechend, sehr  umfangreich.  Im  ersten,  der 
iViechanik  materieller  Punkte  gewidmeten  Ab- 
schnitt findet  sich  die  Kinematik  eines  materiellen 
Punktes,  die  allgemeine  und  spezielle  Dynamik 
eines  substantiellen  Punktes  und  eines  S)-stems 
materieller  Punkte.  Im  zweiten  Abschnitt  über 
die  Mechanik  starrer  Körper  wird  die  Kinematik 
und  die  allgemeine  und  spezielle  Dynamik  dieser 
Körper  besprochen.  Der  besonders  ausführliche 
dritte  Abschnitt  über  die  Mechanik  der  Kontinua 
bringt  außer  der  Kinematik  und  der  allgemeinen 
Dynamik  der  Kontinua  Betrachtungen  über  den 
Zusammenhang  zwischen  Spannung  und  Deforma- 
tion, spezielle  Fälle  des  elastischen  Gleichgewichts, 
Gleichgewicht  und  Bewegung  in  einem  unendlich 
ausgedehnten  Medium,  Schwingungen  von  Saiten 
und  Membranen,  Schwingungen  von  Stäben  und 
Platten,  Gleichgewicht  und  kleine  Schwingungen 
von  I'lüssigkeiten,  wirbelfreie  Bewegung  einer 
Flüssigkeit,  Wirbelbewegung  und  Reibung  von 
inkompressiblen  Flüssigkeiten.  A.  Becker. 


Brohmer,  P.,  ha  u  na  von  Deu  tsc  h  la  nd.     Ein 
Bestimmungsbuch  unserer  heimischen  Tierwelt. 
Mit   912    Abb.   i.  Text  u.    auf  Tafeln.     Leipzig, 
Quelle  i^C'  Mayer,   1914.  —  Preis  5   Mk. 
Eine     Exkursionsfauna     für     unser    Deutsches 
Gebiet  existierte    bisher    noch    nicht.      Überhaupt 
fehlte  es  gänzlich  an  einem  modernen  Bestimmungs- 
buch   der    Tierwelt    für   weitere  Keise,    vor  allem 
zum  Gebrauch  bei  zoologischen  Ausflügen  und  für 
Scliülerübungen.     Die  an  sich  sehr  wertvolle  Syn- 
opsis von  L  e  u  n  i  s  -  L  u  d  w  i  g  ist  für  diese  Zwecke 
einmal  zu  umfangreich,  dann  aber  erlaubt  sie  nicht 
immer    ein    sicheres    Bestimmen    der    Tiere    bis 
wenigstens    auf  die  Gattungen.     Zudem  sind  seit 
der  letzten  Auflage  des  Leunis  fast  dreißig  Jahre 
vergangen. 

Die  eben  erschienene  Fauna  von  Deutschland 
von  Brohnier  versucht  nun  diesen  Mangel  zu 
ersetzen.  Da  sie  als  Exkursionsfauna  gedacht  ist, 
mußten  bei  der    unter   Mitarbeit  von    zahlreichen 


Spezialisten  zustande  gekommenen  Abfassung  dieses 
Werkes  von  vornherein  ganz  andere  Gesichtpunkte 
als  beim  alten  Leu  nis  maßgebend  sein.  Obwolil 
äußerlich  in  der  P'orm  eines  kleinen  bequem  in 
der  Tasche  mitzuführenden,  nicht  übermäßig  starken 
Bandes,  enthält  diese  neue  Fauna  doch  587  Seiten, 
und  da  sie  sich  nur  mit  der  in  Deutschen  Landen 
heimischen  Tierwelt  befaßt,  übertrifft  sie  die 
Synopsis  ganz  bedeutend  in  der  Zahl  von  Gat- 
tungen und  Arten  aus  diesem  Gebiet.  Die  in  Deutsch- 
land heimischen  Wirbeltiere,  Schwämme,  Nesseltiere 
und  Weichtiere  sind,  soweit  sich  übersehen  läßt, 
sämtlich  aufgenommen  worden;  für  die  anderen 
Gruppen,  vornehmlich  die  Protozoen,  Spinnen  und 
Insekten,  mußten  Beschränkungen  eingeführt 
werden,  wie  das  ja  bei  dem  nicht  zu  überschrei- 
tenden Umfang  des  Werkes  nicht  anders  sein 
kann.  Alle  Meerestiere  sind  fortgelassen,  wodurch 
ebenfalls  für  die  anderen  Raum  gewonnen  wurde. 
Dichotomischc  Tabellen  führen  mindestens  bis 
zu  den  Gattungen,  bei  denen  die  häufigsten  und 
bekanntesten  Arten  vermerkt  stehen.  Außer  der 
Tabelle  zum  Bestimmen  nach  morphologischen 
Merkmalen  findet  sich  für  die  Vögel  noch  eine 
solche  nach  den  Stimmen,  soweit  das  möglich  ist. 
Überall  erläutern  schematische  Skizzen  das  Wich- 
tige an  den  zu  unterscheidenden  Merkmalen.  Ein- 
ausführlichcs  Register  erlaubt  das  Nachschlagen 
bestimmter  Namen.  Hempelmann-Leipzig. 


Knauer,  Friedrich,  Der  Zoologische  Gar- 
ten. In:  Thomas'  Sammlung  von  Anleitungs-, 
PIxkursions-  und  Bestimmungsbüchern.  Leipzig, 
Th.  Thomas  1914.  Mit  122  Abbildungen. 
Der  vorliegende  Band  der  Thomas'schen  Samm- 
lung: „Der  Naturforscher"  will  einem  breiteren 
Publikum  den  Entwicklungsgang,  die  Anlage  und 
den  Betrieb  unserer  Tiergärten  und  deren  erzieh- 
liche, belehrende  und  wissenschaftliche  Aufgaben 
vor  Augen  führen,  was  um  so  notwendiger  ist, 
als  über  diese  Dinge  in  weiten  Kreisen  eine  große 
Unkenntnis  herrscht.  Der  Verf.,  der  bekannte 
Begründer  und  Direktor  des  Wiener  Vivariums 
und  Tiergartens,  berichtet  über  die  Geschichte 
der  Tiergärten,  Tierimport  und  Transport,  Tier- 
]3reise,  besondere  .Seltenheiten  an  Tieren  in  zoo- 
logischen Gärten,  Zuchterfolge  in  solchen,  und 
über  das  Alter  der  Tiere.  Er  gibt  ferner  einen 
Einblick  in  den  Haushalt  der  Zoologischen  Gärten,  er- 
läutert deren  Aufgaben,  betont  die  Wichtigkeit 
einer  Zurschaustellung  unserer  einheimischen 
P'auna  und  weist  auf  die  Bedeutung  der  Tier- 
gärten für  die  Wissenschaft,  die  Schule  und  die 
Kunst  hin.  Es  schließen  sich  ausführlichere  Be- 
schreibungen der  größten  Zoologischen  Gärten 
der  Erde  an,  worauf  kürzere  von  den  übrigen, 
nach  Erdteilen  und  Ländern  geordnet  folgen.  Auch 
eine  reiche  Literaturliste  über  Tiergärten  ist  vor- 
handen. Hempelmann,  Leipzig. 


Weinberg,    Dr.    med.    W.,    Die    Kinder    der 
Tuberkulösen.     Mit  einem  Begleitwort  von 


N.  F.  Xin.  Nr.  43 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


68  s 


Ober- Medizinalrat    Prof.    Dr.    M.    v.    Gruber. 

VI  u.  i6o  S.  Leipzig  191 3,  S.  Hirzel. 
Auf  Grund  der  Stuttgarter  Familienregister  und 
Totenscheine  untersuchte  Dr.  Weinberg  die 
Fruchtbarkeit  der  in  Stuttgart  von  1873  bis  1902 
gestorbenen  Tuberkulosen  und  das  Schicksal  der 
ehelichen  Kinder  dieser  Tuberkulosen  bis  zum 
20.  Lebensjahre.  Zum  Vergleich  wurden  ent- 
sprechende Ermittlungen  bei  den  Kindern  der 
1S76,  1879  und  1886  gestorbenen  Nichttuber- 
kulösen  vorgenommen.  Die  Untersuchung  ergab 
die  Unrichtigkeit  der  häufig  gehörten  Annahme 
einer  Überfruchtbarkeit  der  Tuberkulösen ;  deren 
Kinderzahl  ist  im  Gegenteil  etwas  geringer  als 
die  der  nicht  tuberkulösen  Bevölkerung,  was  wohl 
hauptsächlich  auf  das  frühere  Sterben  tuberkulöser 
Eltern  zurückzufuhren  ist.  Von  den  Nachkommen 
der  Tuberkulösen  erreichen  aber  im  Verhältnis 
erheblich  weniger  das  Fortpflanzungsalter,  als  von 
dem  Nachkommen  anderer  Personen.  Verfolgt 
man  das  Schicksal  der  Nachkommen  der  in  den 
Jahren  1873  bis  1889  verstorbenen  Eltern,  so  er- 
gibt sich,  daß  vor  Vollendung  des  20.  Lebensjahrs 
starben  von  den  Nachkommen  tuberkulöser  Väter 
46,8"/,,,  von  den  Nachkommen  tuberkulöser  Mütter 
48,i''/o,  von  den  Nachkommen  nichttuberkulöser 
Väter  40,3%  und  von  den  Nachkommen  nicht- 
tuberkulöser Mütter  40,2''/(|.  Die  Nettofruchtbar- 
keit gemessen  an  der  Zahl  der  das  20.  Lebens- 
jahr erreichenden  Nachkommen  betrug  bei  tuber- 
kulösen Vätern  wie  bei  tuberkulösen  Müttern  i,S, 
bei  nichttuberkulösen  Vätern  2,6,  bei  nichttuber- 
kulösen Müttern  2,3.  Die  Nettofruchtkarkeit  der 
Tuberkulösen  reicht  also  zu  ihrem  eigenen  Ersatz 
nicht  hin,  was  vom  Standpunkte  der  Rassen- 
hygiene gewiß  nicht  zu  bedauern  ist.  Die  Ur- 
sachen der  Übersterblichkeit  der  Kinder  der  Tu- 
berkulösen sind  vorwiegend  sozialer  Natur.  Wenn 
drei  Wohlstandsschichten  unterschieden  werden, 
so  kommt  man  zu  folgendem  Resultat.  Von  je 
lüoo  Nachkommen  Tuberkulöser  starben  vor  voll- 
endeten 20.  Jahre: 

Bei  Tuberkulose 
des  Vaters     der  Mutter 
In  der  wohlhabenden  Schicht      370  388 

In  der  Mittelschicht      .     .     .     497  484 

,,      „     Unterschicht  (Arbeiter, 

Unterbeamte  u.  dgl.)      481  502 

In  Familien  mit  vielen  Kindern  sterben  ver- 
hältnismäßig mehr  Kinder  als  in  kinderarmen 
Familien.  Von  sozialen  Unterschieden  abgesehen, 
kommt  dies  daher,  daß  bei  großer  Kinderzahl 
auch  die  Ansteckungsgefahr  entsprechend  größer 
ist.  Bei  den  ersten  Kindern  ist  die  Sterblichkeit 
im  allgemeinen  geringer  als  bei  den  später  Ge- 
borenen, und  der  Einfluß  der  Geburtenfolge  tritt 
bei  den  Kindern  der  Tuberkulösen  stärker  hervor 
als  bei  den  Kindern  nicht  tuberkulöser  Eltern. 
Die  Steigerung  der  Allgemeinsterblichkeit  mit 
der  Geburtenzahl  ist  hauptsächlich,  aber  nicht  aus- 
schließlich, die  Folge  der  Steigerung  der  Tuber- 
kulosesterblichkeit.   Namentlich  im  ersten  Lebens- 


jahr ist  die  Sterblichkeit  an  anderen  Ursachen 
noch  wesentlich  stärker  gesteigert.  Auffallend 
ist  auch,  daß  die  Kinder  der  Tuberkulösen  keine 
erhöhte  Sterblichkeit  an  den  akuten  Infektions- 
krankheiten des  Kinderalters  aufweisen. 

H.  Fehlinfjer. 


Zenetti,  Paul,  Professor  am  Lyzeum  Dillingen, 
Die  Entstehung  der  seh wäbi seh- bay- 
rischen Hochebene.  Verlag  Natur  und 
Kultur,  München,  o.  J.  (1914).  —  Preis  75  Pfg. 
Die  sich  an  Gümbel,  Penck-Brückner 
und  Weithofer  im  wesentlichen  anlehnende 
Darstellung  gibt  ein  Bild  der  Entstehung  der 
schwäbisch-bayrischen  Hochebene  und  ihrer  mor- 
phologischen Umbildung  im  Tertiär  und  Diluvium. 
Abgesehen  von  manchen  nicht  präzisen  Formu- 
lierungen („Einbruchsgebiet"  für  Geosynklinale  (!), 
ferner  über  die  Stellung  der  Vulkane)  ist  das  ge- 
gebene Bild  im  ganzen  wohl  zutreffend.  Strit- 
tige Punkte  sind  hervorgehoben.  Aber  gegen 
die  Art  der  Darstellung  muß  entschieden 
Einspruch  erhoben  werden.  Die  gesuchte  und 
z.  T.  in  üblem  Sinne  schulmeisterliche  und  un- 
sachliche Ausdrucksweise  („schlimme  klimatische 
Veränderungen",  „das  Verhängnis"  für  die  Eiszeit 
sind  nur  ein  Beispiel  von  vielen)  ist  typisch  da- 
für, wie  eine  populäre  Darstellung  nicht  sein  soll ! 

G.  Hornig. 

Sir    William    Rarrsay,     Moderne     Chemie. 
II.    Teil,    systematische    Chemie.     Ins  Deutsche 
übertragen  von  Dr.  Max  H  u  t  h.     Zweite  Auf- 
lage.   8".  VII  und  243  Seiten.     Halle  a.  S.   1914, 
Verlag    von    Wilhelm    Knapp.      Preis    geheftet 
3,80   Mk.,  in  Ganzleinewand  geb.  4.30  Mk. 
Ramsay 's  „Moderne  Chemie"  ist  in  den 
chemisch    interessierten     Kreisen    als    ein    ausge- 
zeichnetes elementares  Lehrbuch  bekannt,  in  dem 
besonders    die     allgemeinen    Charakteristika    der 
verschiedenen  Stoffklassen    in  glücklichster  Weise 
hervorgehoben  worden  sind.     Daß  die  Darstellung 
einwandfrei     ist,    erscheint    bei    der    wissenschaft- 
lichen   Stellung,    die    der   Verfasser    in    der   inter- 
nationalen Chemie  einnimmt,  als  selbstverständlich, 
und  Stichproben  bestätigen  diese  Erwartung.    Nur 
wäre    bei    Hydraten    vielleicht    ein    Hinweis    auf 
die    Werner 'sehen  Anschauungen    zweckmäßig 
gewesen,    während    —    wenigstens    nach  Ansicht 
des   Referenten    —  bei   der  Diskussion    der  Poly- 
kieselsäuren  von  strukturellen  Vorstellungen  wohl 
etwas    zu    reichlich    Gebrauch    gemacht    ist.     Ab- 
gesehen von  solchen  Kleinigkeiten  muß  das  Buch 
als  eine  der  besten  Einführungen  in  die  moderne 
Chemie,    die    zurzeit    in    deutscher   Sprache    vor- 
liegen,   bezeichnet    und    kann    daher    rückhaltslos 
empfohlen  werden. 
Berlin-Lichterfelde  W  3.  Werner  Mecklenburg. 


Dr.  Julius  Hoffmann's  Alpenflora  für  Alpen- 
wanderer und  Pflanzen  freunde.  Mit 
283    farbigen    Abbild,    auf  43  Taf,    meist    nach 


686 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr.  43 


Aquarellen  von  Hermann  Friese.  In  2.  Auflage 
mit  neuem  Text  herausgegeben  von  Prof.  Dr. 
K.  Giesenhagen.  Stuttgart  '14,  Schweizer- 
bart'sche  Verlagsbuchhandlung.  —  Geb.  6  Mk. 
Das  Buch  ist  für  den  Alpenwanderer  bestimmt, 
dem  es  das  Erkennen  der  auffälligsten  Pflanzen- 
formen erleichtern  soll.  Ohne  besondere  botanische 
Kenntnisse  vorauszusetzen,  will  es  ihn  in  den  Stand 
setzen,  die  wichtigsten  Vertreter  der  schönen  Alpen- 
flora zu  bestimmen.  Dies  wird  durch  eine  große 
Zahl  sehr  guter  farbiger  Abbildungen  erreicht, 
die  meist  nach  Aquarellen  von  Heimann  Fr  i  ese 
hergestellt  sind,  sowie  durch  einen  ausführlichen 
begleitenden  Text,  der  für  diese  2.  Auflage  von 
dem  Münchener  Botaniker  Giesenhagen  ver- 
faßt ist.  Ausgeschlossen  sind  die  sehr  selten 
vorkommenden  Pflanzen  sowie  die,  welche  auch 
außerhalb  der  Alpen  gewöhnlich  sind;  doch  werden 
hier  und  da  auch  Ausnahmen  gemacht.  P^erner 
ist  dem  Zweck  des  Buches  entsprechend  darauf 
verzichtet  worden,  solche  Pflanzen  zu  berück- 
sichtigen, denen  Erkennung  dem  Laien  größere 
Schwierigkeiten  macht,  wie  z.  B.  Vertreter  der 
auch  manchem  Botaniker  „unsympathischen" 
Familien  der  Umbelliferen,  Kompositen,  Gräser, 
Riedgräser  usw.  Immerhin  ist  aber  z.  B.  von 
4  neuen  Tafeln  eine  den  Gräsern  gewidmet.  Auf 
den  übrigen  dieser  neuen  Tafeln  sind  auch  die 
aufrälligstcnp'arne,  Moose,  Lebermoose.undFlechten 
dargestellt.  Die  Beschreibungen  und  Bilder  sind 
nach  P^amilien  angeordnet.  Der  Text,  der  mit 
großer  Sorgfalt,  Sachkenntnis  und  Liebe  herge- 
stellt ist,  enthält  außer  den  Beschreibungen  der 
Pflanzen  auch  Angaben  über  ihre  Verbreitung, 
Umwelt,  Lebensweise,  ihren  Nutzen,  ihre  "V^olks- 
namen  sowie  manche  anderen  wertvollen  Notizen. 
Wir  können  das  hübsche  Buch,  dessen  Preis  in 
Anbetracht  der  großen  Zahl  der  farbigen  Bilder 
als  durchaus  mäßig  zu  bezeichnen  ist,  jedem 
Alpenwanderer  als  wertvolles  Ausrüstungsstück 
warm  empfehlen.  Miehe. 

Dr.  H.  Brunswig,  Die  Explosivstoffe.    Ein- 
führung in  die  Chemie  der  explosiven  X'orgänge. 
Zweite  verbesserte  und  vermehrte  Auflage.  Band 
333  der  „Sammlung  Göschen",    kl.  8^  158  Seiten 
mit    9    Abbildungen    und    12    Tabellen.     Berlin 
und  Leipzig   1914.     G.  J.  Göschen'sche  Verlags- 
buchhandlung m.  b.  H.  —  In  Leinwand  geb.  90  Pf. 
Die  vorliegende    kleine  Schrift    besitzt    gerade 
jetzt,  wo  die  Explosivstoffe  inmitten  unseres  Erd- 
teiles ihre  verheerenden  Wirkungen  in  furchtbarster 
Weise  ausüben,  ein    besonders  aktuelles  Interesse. 
Sie  eignet  sich  für  alle  die,  die    mit    den    Grund- 
tatsachen und  -theorien  der  Chemie  bekannt  sind, 
und  wird  sich  unter  ihnen  zu  den  alten  noch  viele 
neue  Freunde  erwerben.     Denn  sie  arbeitet,  ohne 
die    Praxis    zu    vernachlässigen,    die    theoretischen 
Grundlagen     der     Explosionsvorgänge     sorgfältig 
heraus,   eine  Aufgabe,    zu  deren  Lösung   Bruns- 
wig als  Verfasser  des  Bandes  „Explosivstofi'e"  in 
Bredigs   „Handbuch    der    angewandten    physi- 


kalischen Chemie"  besonders  befähigt  erscheint. 
Die  Darstellung  ist  im  allgemeinen  klar  und  sach- 
gemäß, nur  hätte  vielleicht  ein  etwas  reichlicherer 
Gebrauch  von  Abbildungen  und  Diagrammen  ge- 
macht werden  können.  Jedenfalls  kann  das  Büch- 
lein in  jeder  Hinsicht  empfohlen  werden. 
Berlin-Lichterfelde  W  3.  Werner  Mecklenburg. 


Jezek,  B.,  AusdemReiche  der  Edelsteine. 

gr.  8".   171   p.,  8  Bilderbeilagen    und  8  Textfig. 

Prag  1914.  E.  Weinfurter.  —  Preis  3  Kronen. 
Es  handelt  sich  um  den  Wiederabdruck  von 
13  P'euilleton-Artikeln,  die  seit  Oktober  1912  in 
der  Prager  Tageszeitung  „Union"  veröffentlicht 
waren.  Für  den  Fachmann  bringen  sie  nichts 
Neues.  Die  Mehrzahl  der  Artikel  behandelt  böh- 
mische Edelsteine  und  Halbedelsteine.  Im  Vor- 
dergrunde der  Behandlung  stehen  weniger  natur- 
wissenschaftliche als  ökonomische  und  historische 
Daten.  K.  Andree. 

Hägglund,    E.      (Stockholm),     Hefe    und    Gä- 
rung in  ihrer  Abhängigkeit  von  Was- 
serstoff-   und  Hydroxylionen.     Sonder- 
ausgabe aus  der  Samml.  ehem.  u.  chem.-techn. 
Vorträge,  Band  21.    Verl.  von  Ferd.  Enke,  Stutt- 
gart.    —  Preis   1,50  Mk. 
Der  Verfasser  behandelt  im  wesentlichen  den 
Einfluß   von  Säuren    und  Basen    auf  die 
alkoholische  Gärung.     Er  unterscheidet  da- 
bei,   wie  das  jetzt   seit    den    bahnbrechenden    Ar- 
beiten E.  Buchners   allgemein    üblich    ist,    zwi- 
schen ze  11  freier  Gärung  und  solcher,  die  mit 
lebender  Hefe  vorgenommen  wird. 

Der  Hauptwert  der  Veröffentlichung  liegt  in 
der  Wiedergabe  der  anscheinend  sehr  gewissenhaft 
vom  Verfasser  selbst  systematisch  aus- 
geführten Versuche.  Ihr  geht  eine  ziem- 
lich vollständige  Zusammenfassung  der  bisher  auf 
diesem  Gebiet  gezeitigten  Ergebnisse  voraus,  so- 
wie ein  kurze  Betrachtung  über  die  allgemeine 
Dynamik  der  Gärung  und  der  Giftwirkung. 

Die  eigenen  Untersuchungen  bestätigen  in  der 
Hauptsache  die  alten  Befunde,  daß  sowohl  die 
H-wie  dieOH-Ionen  bereits  in  sehr  geringer 
Konzentration  einen  großen  Einfluß  auf 
die  Gärtätigkeit  ausüben.  Dieser  ist  je 
nach  der  Konzentration  und  Eigenart  der  Säure 
hemmender  oder  anregender  Art.  Dabei 
kommt  es  nicht  allein  auf  die  Konzentration  der 
H-Ionen  an,  sondern  auch  denAnionen  kommt 
eine  spezifische  Wirkung  zu,  die  z.B.  bei 
der  Oxalsäure,  Salizylsäure  und  Phosphorsäure 
besonders  auffällig  ist.  —  Bei  den  Alkalien 
überwiegt  der  hemmende  Einfluß  auf  die  Gär- 
tätigkeit. 

Von  dem  Einfluß  der  H-  und  OH-Ionen  auf 
die  Gärtätigkeit  ist  derauf  dieHefee  nt  Wick- 
lung, d.  h.  das  Wachtum  der  Zellen,  scharf  zu 
trennen :  Es  kann  bei  starker  Hemmung  der  Gär- 
tätigkeit nur  ein  geringer  Einfluß  auf  das  Wachs- 
tum vorhanden   sein  und  umgekehrt.  —  Alkalien 


N.  F.  Xin.  Nr.  43 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


68  5 


wirken,  wie  der  Verfasser  nachweisen  konnte,  aus- 
schließlich schädlich  auf  die  Hefeentwicklung. 

Den  besprochenen  Einfluß  der  H-  und  OH- 
lonen  auf  die  Gärungsenzyme  führt  der  Verfasser 
auf  eine  chemische  Umsetzung  zurück,  wobei  die 
Enzyme  als  Ionen  fungieren. 

Dr.  Herm.  Meng-el. 


Die  Ansiedlung  von  Europäern  in  den  Tropen. 

Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik,  147.  Bd., 
I.  bis  4.  Teil.  München  und  Leipzig,  1912— 1914. 
Duncker  und  Humblot. 
Im  Jahre  1910  beschloß  der  Verein  für  Sozial- 
politik die  Vornahme  einer  Erhebung  über  die 
Ansiedlung  von  Europäern  in  den  Tropen,  wobei 
besonders  auf  die  Frage  einzugehen  war,  ob  sich 
die  weiße  Rasse  in  den  Tropen  dauernd 
zu  erhalten  vermag.  Bisher  wurden  vier  Hefte 
der  Schriften  des  Vereines  ausgegeben,  die  diesen 
Gegenstand  behandeln.  Das  i.  Heft  enthält  den 
Bericht  der  im  Jahre  1908  unter  Führung  des 
ehemaligen  Unterstaatssekretärs  Dr.  v.  Linde- 
quist  nach  Ostafrika  entsandten  Kommission ; 
Heft  2  unterrichtet  über  die  Zustände  in  Mittel- 
amerika, auf  den  kleinen  Antillen,  sowie  in  Nieder- 
ländisch- West-  und  Ostindien ;  Heft  3  enthält  Auf- 
sätze über  Natal,  Rhodesien  und  Britisch-Ostafrika; 
Heft  4  behandelt  Britisch-Kaffraria  und  seine 
deutschen  Siedelungen.  Die  von  verschiedenen 
Autoren  geschriebenen  Abschnitte  stützen  sich 
auf  mehr  oder  minder  reiches  Tatsachenmaterial. 
Beim  Lesen  der  Berichte  gewinnt  man  den  Ge- 
samteindruck, daß  die  europäischen  Ansiedler 
überall  in  den  Tropen  mit  den  Widerwärtigkeiten 
des  Klimas  schwer  zu  kämpfen  haben.  Im  wirt- 
schaftlichen Konkurrenzkampf  sind  sie  als  Unter- 
nehmer den  Farbigen  freilich  überlegen  und 
vermögen  nennenswerte  Erfolge  zu  erzielen, 
während  andererseits  so  gut  wie  nirgends  in 
den  Tropen  ein  Bedürfnis  nach  einer  weißen 
Arbeiterbevölkerung  vorhanden  ist ;  im 
Gegenteil,  eine  solche  könnte  den  Wettbewerb 
mit  den  Eingeborenen  nicht  bestehen.  —  In  den 
britischen  Kolonien  in  Afrika  haben  sich  die 
Weißen  als  Rasse  erhalten,  die  Kreuzung  mit 
Farbigen  ist  dort  nicht  von  Belang.  In  den  mittel- 
amerikanischen Ländern  sowie  in  Ostindien  findet 
jedoch  legitime  und  freie  Vermischung  der  Weißen 
und  F'arbigen  statt,  und  wo  nicht  ein  beständiger 
Nachschub  von  Kolonisten  aus  der  Heimat  statt- 
findet, geht  die  weiße  Rasse  in  der  Eingeborenen- 
bevölkerung auf.  H.  Fehlinger. 


Wetter-Monatsübersiclit. 

Während  des  diesjährigen  September  wech- 
selte das  Wetter  in  Deutschland  mehrmals  seinen 
Charakter.  Anfangs  war  es  überwiegend  heiter, 
trocken  und  sehr  mild;  aber  bald  nach  dem  10. 
stellte  sich  kühles,  regnerisches,  unfreundliches 
Herbstwetter  ein,  das  mit  einer  mehrtätigen  Un- 
terbrechung  bis   zum    Ende    des    Monats   anhielt. 


In  seinen  ersten  Tagen  wurden  noch  im  größten 
Teile  des  Binnenlandes  sehr  häufig  2c,"  C.  über- 
schritten, am  3 ,  6.  und  7.  stieg  das  Thermo- 
meter in  Remscheid,  am  9.  in  Halle,  Dresden 
und  Dahme  in  der  Mark  bis  auf  30"  C  Auch 
die  in  der  vorstehenden  Zeichnung  wiedergegebenen 


mittleren  Temperaturen  lagen  in  dieser  Zeit  mei- 
stens über  15  und  um  den  10.  September  stellen- 
weise sogar  über  20"  C.  Zwischen  dem  10.  und 
13.  aber  fand  überall  eine  starke  Abkühlung  statt, 
die  nach  kurz  vorübergehender  neuer  Erwärmung 


'    "       "   /WiHlererWert  fiir 
Deutschland. 


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sich  bis  gegen  Ende  des  Monats  langsam  fortsetzte. 
Der  Himmel  war  seit  dem  11.  überwiegend  be- 
wölkt. So  oft  er  sich  aber  in  den  Nachmittags- 
stunden aufklärte,  kühlte  sich  die  Luft  in  der  fol- 


688 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  43 


geiiden  Nacht  um  so  stärker  ab.  In  der  Nacht 
zum  25.  sank  das  Thermometer  in  Ilmenau  und 
Lindau,  in  der  Nacht  zum  26.  in  Erfurt  bis  auf 
den  Gefrierpunkt,  Ansbach  brachte  es  auf  einen 
Grad  Kälte. 

Die  mittleren  Temperaturen  des  Monats  kamen 
in  Norddeutschland  ihren  normalen  Werten  meist 
sehr  nahe,  während  sie  im  Süden  beinahe  einen 
Grad  zu  niedrig  waren.  Dagegen  war  die  Zahl 
der  Sonnenscheinstunden,  infolge  der  geringen 
Bewölkung  des  Monatsanfanges  durchschnittlich 
etwas  höher  als  gewöhnlich;  beispielsweise  hatte 
Berlin  im  ganzen  166  Stunden  mit  Sonnenschein 
zu  verzeichnen,  27  Stunden  mehr  als  im  Durch- 
schnitt der  22  früheren  Septembermonate. 

Meßbare  Niederschläge  waren  bis  zum  il.  Sep- 
tember in  Nordost-  und  Süddeulschland  recht 
selten  und  blieben  im  Nordwesten  sogar  fast  voll- 
ständig aus.  Zu  dem  Mangel  an  Regen,  durch 
den  das  Wachstum  der  Futterpflanzen  und  der 
Hackfrüchte  sehr  beeinträchtigt  wurde,  kamen 
seit  dem  6.  September  den  Erdboden  noch  weiter 
austrocknende  östliche  Winde  hinzu.  Erst  nachdem 
am  12.  in  den  meisten  Gegenden  ergiebige  Regen- 
fälle eingesetzt  hatten,  wurde  der  Boden  zur  Weiter- 
führung der  Herbstbestellung  hinreichend  gelockert. 

Zwischen  dem  12.  und  23.  wiederholten  sich 
die  Regenfälle  in  größerer  oder  geringerer  Stärke 
fast  täglich.  Sie  waren  mehrmals  von  stürmischen 
Westwinden  und  stellenweise  von  Gewittern  be- 
gleitet. Besonders  wurde  am  18.  und  19.  das  Ge- 
biet zwischen  der  unteren  Elbe  und  Weser 
von  einem  schweren  Nordweststurm  und  un- 
gewöhnlich heftigen  Regengüssen  betroffen, 
die  vorübergehend  zu  einer  Sturmflut  führten. 
Bis  zum  Morgen  des  19.  wurden  z.  B.  in  Ham- 
burg 06,  in  Cuxhaven  44,  in  Bremervörde  Jl  und 
in  Wilhelmshaven  33  mm  Niederschlag  gemessen. 

Nach  wenigen  ruhigeren  und  im  allgemeinen 
trockenen  Tagen  traten  am  28.  September  an 
der  Nordküste  abermals  Weststürme  ein  und 
gingen  wieder  in  den  meisten  Gegenden  Regen- 
fälle hernieder,  die  zuletzt  besonders  östlich  der 
Oder  ergiebig  waren.  Die  Niederschlagsumme 
des  ganzen  Monats  belief  sich  für  den  Durch- 
schnitt aller  berichtenden  Stationen  auf  86,5  mm, 
während  die  gleichen  Stationen  in  den  früheren 
Septembermonaten  seit  1891  nur  62,5  mm  Regen 
geliefert  haben. 

* 
Die    allgemeine    Anordnung    des    Luftdruckes 


in  Europa  wies  mehrmals  so  bedeutende  Druck- 
unterschiede auf,  wie  sie  im  ersten  Herbstmonat 
nicht  sehr  häufig  vorzukommen  pflegen.  In  seinen 
ersten  Tagen  zogen  mäßig  tiefe  Barometerdepres- 
sionen von  Nordskandinavien  ins  Innere  Rußlands 
hinein,  während  ein  ziemlich  hohes  Maximum 
von  Westeuropa  in  etwas  südlicherer  Breite  nach- 
folgte. Zwischen  dem  12.  und  15.  September 
aber  erschienen  auf  dem  Nordmeer  rasch  hinter- 
einander mehrere  außerordentlich  tiefe  Minima 
und  drangen  in  Begleitung  stürmischer  Winde 
eilends  südostwärts  vor.  Noch  tiefer  war  ein 
neues  Minimum,  das  am  18.  September  von 
Schottland  nach  der  südlichen  Nordsee  und  Ost- 
see eilte.  Nachdem  sodann  wieder  ein  umfang- 
reiches Hochdruckgebiet  von  West-  nach  Mittel- 
europa vorgedrungen  war,  traten  am  27.  und  28. 
auf  der  skandinavischen  Halbinsel  wiederum  sehr 
tiefe  Minima  auf,  die  in  Deutschland  abermals 
stürmisches,  regnerisches  Wetter  herbeiführten. 

Dr.  E.  Leß. 

Anregungen  und  Antworten. 

Dr.  P.  W.  in  G.  In  A.  Berg,  Geographisches  Wander- 
buch (Prof.  Dr.  Bistian  Schmid's  Naturwissenschaftliche  Schüler- 
bibliotheli  Bd.  23  —  B.  G.  Tcubner,  Leipzig  1914,  Preis  geb. 
4  Ml;.)  findet  sich  auf  S.  Iio — 116  eine  ausführliche  Anleitung 
zur  Herstellung  von  Reliefs  auf  Grund  der  Maße  der 
Meßtischblätter  aus  einer  Grundlage  von  übereinandergeschich- 
telen  Papp-  bzw.  Holztafeln  und  Ausfüllung  der  Zwischen- 
räume mit  Modelliermasse.  Eine  Grundlage  aus  Holz  bzw. 
Pappe  ist  nicht  zu  entbehren,  da  Plastilin  ziemlich  teuer 
ist.  Es  ist  aber  die  beste  Modelliermasse,  da  Töpferton  leicht 
Risse  bildet;  er  trocknet  allerdings  schneller  als  Plastilin. 
Dieses  ist  in  sehr  guter  Qualität  von  Günther  Wagner,  Han- 
nover, unter  dem  Namen  ,,Nakiplast",  das  Kilogramm  zu 
1,60  Mk.  in  verschiedenen   Farben  zu  beziehen. 

Um  das  teure  Plastilin  immer  wieder  verwenden  zu 
können,  wird  empfohlen,  nach  dem  farbigen  Holz-Plastilin- 
Modell  ein  Gipsmodell  für  dauernde  Erhaltung  zu  formen, 
wozu  P.  Groß  eine  Anleitung  gibt  in  der  ausgezeichneten 
Zeitschrilt:  ,,Die  Arbeitsschule",  Monatsschrift  des  deutschen 
Vereins  für  Knabenhandarbeit  und  Werkunterricht  (Verlag 
Quelle  &  Meyer,  Leipzig.  —  Bezugspreis  jährlich  3  Mk.).  Der 
sehr  lesenswerte  Aufsatz  ist  betitelt:  „Werkarbeit  und  Werk- 
stattübungen  im  Dienste  des  erdkundlichen  Unterrichts"  (Jahr- 
gang Ig  14,  Heft  6).  Auch  die  Bemalung  des  Reliefs  nach 
geologischen  Gesichtspunkten  ist  bei  Berg  und  Groß  ein- 
gehend geschildert.  Ferner  ist  zu  erwähnen  ein  Aufsatz  von 
Reisig,  Modellieren  im  geographischen  Unterricht  (Die 
Arbeitsschule,  Jahrg.   1912,  Heft  7/8).  Dr.   G.  Hornig. 


M.  H.  Die  übersandten  Käfer  ließen  sich  leicht  be- 
stimmen als  Tribolium  femigineum  Fabr.,  aus  der  Familie  der 
Tenebrionidae,  wohin  Tenebrio  molitor  =  Mehlkäfer 
gehört.  Sie  leben  an  schimmeligen  Hölzern,  in  verschiedenen 
Spezereicn   und   allem  Brot.  F.  Hempelmann. 


Inhalt:  v.  Bilguer:  Die  afrikanische  VVasserfrage.  Frank:  Die  Bedeutung  der  Astrophotographie.  —  Einzelberichte: 
Bill:  Über  Crustaceen  aus  dem  Voltziensandstein  des  Elsasses.  v.  Kriramel:  Antike  Samen  aus  dem  Urient. 
Zenneck:  Demonstration  und  Photographie  von  Strömungen  im  Innern  einer  Flüssigkeit.  —  Kleinere  Mitteilungen: 
Hundt:  Zwei  lehrreiche  Profile  aus  dem  Frankenwald.  Zwei  Natururkunden.  Wright:  Neue  petrographischc  Mikro- 
skope. SeUheim:  Eugenik.  —  Bücherbesprechungen:  Diapositive  zu  H.  Potonie's  Entstehung  der  Steinkohle. 
Janson:  Das  Meer,  seine  Erforschung  und  sein  Leben.  Schaefer:  Einführung  in  die  theoretische  Physik.  Brohmer: 
Fauna  von  Deutschland.  Knauer:  Der  Zoologische  Garten.  Weinberg:  Die  Kinder  der  Tuberkulösen.  Zenetti: 
Die  Entstehung  der  schwäbisch-bayrischen  Hochebene.  Ramsay:  Moderne  Chemie.  Hoffmann:  Alpenflora  für 
Alpenwanderer  und  Pflanzenfreunde.  Brunswig:  Die  Explosivstofi'e.  Jezek:  Aus  dem  Reiche  der  Edelsteine. 
Hägglund:  Hefe  und  Gärung  in  ihrer  Abhängigkeit  von  Wasserstoft-  und  llydroxylionen.  Die  Ansiedlung  von  Euro- 
päern in  den  Tropen.  —  Wetter-Monatsübersicht.  —  Anregfungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Schriftleiter  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstraße   IIa,  erbeten. 

Verlag   von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der   G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  IL,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.  Band; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band. 


Sonntag,  den  i.  November  1914. 


Nummer  44. 


Die  Mammutflora  von  Borna. 


[Nachdiuck  verboten.]  Von    Dr.    E. 

Eins  der  schönsten  und  besterhaltenen  M  a  m  - 
mutskelette,  die  unsere  naturhistorischen  Samm- 
lungen zieren,  ist  das  durch  große,  stark  gebogene 
Stol3zäline  besonders  ausgezeichnete  des  Museums 
für  Völkerkunde  zu  Leipzig.  Es  stammt  aus  dem 
Diluvialgebiet  südlich  von  Leipzig  und  wurde  im 
Dezember  1908  in  einer  Ziegeleigrube  im  VVyhra- 
tale  bei  Borna  ausgehoben.  Der  von  Professor 
F"elix'  (Veröffentlichungen  des  Städtischen  Mu- 
seums für  V^ölkerkunde  zu  Leipzig,  Heft  4,  Leipzig 
1912)  ausführlicli  bearbeitete  Fund  ist  deswegen 
noch  von  ganz  besonderem  wissenschaftlichem 
Interesse,  weil  sich  mit  ihm  in  derselben  Fundschicht 
—  einem  grauen,  sandigen  Tone  —  neben  einem 
Stück  einer  Renntierstange  zahlreiche  P f  1  a n - 
zenreste  gefunden  haben;  diese  mußten  uns 
einen  Einblick  gewähren  in  die  Vegetation,  welche 
das  Mammut  bei  Lebzeiten  umgab,  und  aus  wel- 
cher letzteres  seine  Nahrung  entnahm.  Ferner 
mußte  die  Untersuchung  dieser  Pflanzenreste  über 
die  wichtige  Frage  des  Waldwuchses  während  der 
glazialen  Phasen  des  Eiszeitalters  Licht  verbreiten 
und  schließlich  überhaupt  einen  wertvollen  Beitrag 
liefern  zur  Geschichte  der  Pflanzenwelt  unserer 
Heimat.  Es  ist  daher  mit  Irrenden  zu  begrüßen, 
daß  diese  wichtige  pflanzenführende  Fundschicht, 
die  heute  zum  großen  Teil  abgebaut,  im  übrigen 
aber  verschüttet  und  nicht  ohne  weiteres  mehr 
zugänglich  ist,  durch  einen  der  berufensten 
P'achleute  eine  eingehende  und  kritische  Be- 
arbeitung erfahren  hat.  C.  A.  Weber  in 
Bremen  hat  die  Resultate  seiner  Untersuchun- 
gen kürzlich  (im  i.  Hefte  des  XXIIL  Bandes  der 
Abhandlungen  des  Naturwissenschaftlichen  Vereins 
zu  Bremen  [Bremen  1914])  der  (Öffentlichkeit  über- 
geben. Da  nur  eine  möglichst  sichere  Einordnung 
derartiger  Funde  in  die  Glazialchronologie  die 
Gültigkeit  der  aus  ihnen  für  die  Geschichte  der 
Pflanzenwelt  gezogenen  Schlüsse  gewährleistet, 
so  sei  mir  im  Anschluß  an  die  Weber'sche 
Arbeit  an  dieser  Stelle  ein  kurzes  Eingehen  auf 
die  Bornaer  Mammutflora  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung des  angedeuteten  Punktes  gestattet. 

Der  Hauptcharakter  ist  der  Flora  der 
Mammutschicht  durch  das  Überwiegen  der 
Moose  gegeben,  die  stellenweise  in  solchen 
Mengen  auftreten,  daß  man  die  betreffenden  Lagen 
fast  als  sandigen  Moortorf  bezeichnen  könnte. 
Die  Moose  werden  daher  auch  die  Physiognomie 
des  Vegetationsbildes  in  der  Umgebung  der  Fund- 
stelle bestimmt  haben.  Vorwiegend  aus  //>/- 
nuDi  vcniicosuni  und  H.  iiitcrnicdinm  zusammen- 
gesetzte Mooswiesen  werden  die  Wasseransamm- 
lung umsäumt  haben,  in  der  ihre  Reste  zusammen 


Werth. 

mit  dem  Mammutkadaver  eingebettet  wurden. 
Wie  die  genannten  Arten  verlangt  auch  die  Mehr- 
zahl der  übrigen  gefundenen  Moose  ähnliche 
Feuchtigkeitsverhältnisse  und  setzt  ein  sehr  nasses, 
womöglich  gelegentlich  überschwemmtes  Gelände 
voraus. 

Von  den  Blütenpflanzen ,  deren  Reste  die 
Fundschicht  lieferte,  kommen  unter  gleichen  Be- 
dingungen vor:  Erioplwnim  Schciiclizcri,  E.  aii- 
otisfi/otitiiii,  Carcx  rostrata,  C.  lasiocarpa,  Raiuin- 
culus  JiypcrborcHS  und  CoDiariim  paliistre,  ferner 
auch  wohl  Rainiiiculus  acer  und  Coroiiaria  ßus 
ciicnli. 

Daneben  finden  sich  aber  auch  Reste  von 
Pflanzenarten,  die  trocknere  Standortsverhältnisse 
erheischen.  Von  Moosen  sind  hier  zu  nennen: 
Disficliiiiii  capillacciiiii,  Dcsiiia/odcii  latifoliits  var. 
vutticiis,  Tartiila  riiralis,  T.  aciphylla ,  Ai)ibly- 
stcgiiim  scrpcjis,  Hypmim  chrysopliyUitm,  H.  haiiiu- 
losiiiii,  H.  polygamiim,  H.  profensiim,  von  Blüten- 
pflanzen :  Salix  polaris,  S.  licrbacea,  S.  myrsinites, 
Silciie  i)ißata,  Potciitilla  aiirea,  Arabis  saxafilis 
und  ^-Inncria  arciica. 

Es  ergibt  sich  mit  größter  Wahrscheinlichkeit, 
daß  die  Umgebung  der  Mammutfundstelle  aus 
Moos  wiesen  gebildet  wurde  „mit  einem  lücki- 
gen Bestände  von  Gräsern,  Seggen  und  besonders 
von  Wollgräsern  .  .  .,  die  zeitweilig  ziemlich  naß 
und  wahrscheinlich  hier  und  da  mit  trockenen 
Bülten  durchsetzt  waren,  auf  denen  Zwergweiden, 
vereinzelte  Ericaceen  und  einige  niedrige  Blumen- 
stauden in  dem  sie  sonst  überziehenden  Moosrasen 
wuchsen". 

Dazu  kommt  eine  an  Arten  und  Individuen 
geringe  Zahl  von  Wasserpflanzen :  Nifclla  flcxilis, 
Flypiiiim  ßnitaiis,  BafracJiium  spec. ,  allenfalls 
auch  Ilypiiiim  exaimtlaimn ,  IL  piirpitrasccus 
var.  rofac ,  Scorpidiiiin  scorpioides ,  Raiiiiiiciiliis 
liyperboreiis.  Häufiger  fanden  sich  die  Steinkerne 
zweier  Pofarnogeton  -  Arten :  P.  piisilliis  und  P. 
filifonnis,  namentlich  diejenigen  des  ersteren. 

Was  die  wichtige  Frage  des  Bau  m  wuc  hses 
in  jener  eiszeitlichen  Periode  angeht,  der  die  in 
der  Mammutschicht  abgelagerten  Pflanzenreste 
entstammen,  so  können  nach  Weber  auf  solchen 
nur  ein  paar  Pollenkörner  von  Pinus ,  sowie  ein 
Stück  abgerollte  Rotföhrenborke  hinweisen.  Bei 
der  guten  Erhaltung  und  dem  reichlichen  Vor- 
kommen von  Pollenkörnern  anderer  Pflanzen 
scheint  es  undenkbar,  daß  Föhrenpollen  in  größerer, 
auf  einen  reichlichen  Bestand  des  Baumes  in  der 
Gegend  der  Fundstätte  weisenden,  Menge  in  der 
Ablagerung  vorhanden  gewesen  ist.  Wenn  nicht 
das  gefundene  Rindenstück  —  was  bei  seinem  ab- 


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gerollten  Zustande  nicht  unmöglich  ist  —  gar  aus 
einer  älteren,  bereits  denudierten  Schicht  stammen 
sollte,  so  lassen  die  Tatsachen  doch  nur  den 
Schluß  zu,  daß  die  Kiefer  zur  Zeit  der  Ablage- 
rung der  Mammutschicht  nur  ganz  zerstreut  in 
der  Nähe  der  Fundstelle  aufgetreten  ist.  Dasselbe 
gilt  für  die  Beurteilung  der  wenigen  Pollenkörner 
von  Bctitla,  die  sich  an  mehreren  Stellen  des  ge- 
bankten  Teiles  der  Schicht  fanden,  wenn  sie 
nicht  überhaupt  —  was  am  wahrscheinlichsten 
deucht  —  auf  strauchartige  Birken  wie  Bct/ila 
nana  zu  beziehen  sind.  Auch  die  spärlich  aufge- 
fundenen Pollenkörner  von  Weiden  können  kaum 
auf  ausgedehntere  höhere  Weidengebüsche,  wie 
sie  noch  im  südlichen  Westgrönland  vorkommen, 
deuten  und  gehören  mit  größter  Wahrscheinlich- 
keit den  allein  in  Blattresten  in  der  Fundschicht 
vertretenen  Zwergweiden  {Salix  polaris,  S.  iiiyrsi- 
iiitcs,  S.  licrbacca)  an. 

Wir  gelangen  mithin  zu  der  Vorstellung,  daß 
in  bezug  auf  den  I^aumwuchs  die  B  o  r  n  a  e  r  Gegend 
damals  ein  ähnliches  Bild  geboten  haben  muß,  wie 
heute  etwa  die  Gebiete  der  arktischen  Baumgrenze. 
Daß  diese,  zumal  diejenigen  Europas,  auch  sonst 
eine  ähnliche  Zusammensetzung  ihrer  Vegetation 
erkennen  lassen,  zeigt  Weber  des  weiteren  aus- 
führlich. 


Fig.   I.     Blau  von  Salix 

polaris  Wahlbg.    s'/i/l. 

(Original.) 


Fig.  2.    Frucht  von  Pottntilla 

atirca  L.    15/1. 

(Original.) 


Die  Mehrzahl  der  Pflanzenarten  der  Fundschicht 
hat  gegenwärtig  eine  sehr  weite  Verbreitung,  die 
sich  über  die  Arktis,  das  alpine  Gebiet  der  ge- 
mäßigten Zone  sowie  das  mitteleuropäische  Tief- 
land erstreckt.  Ihnen  schließen  sich  einige  Arten 
an,  die  klimatisch  gemäßigte  Gebiete  bevorzugend 
nur  unter  günstigeren  lokalklimatischen  oder 
sonstigen  Verhältnissen  auch  in  der  Arktis  wie 
in  den  alpinen  Lagen  der  gemäßigten  Zone  vor- 
kommen: Urtica  dioica,  Corona ria  flos  citciili, 
Silciic  inßata,  Carduus  oder  Cirsiiim.  Eine  klei- 
nere Zahl  der  gefundenen  Pflanzenarten  dagegen 
ist  auf  klimatisch  enger  umgrenzte  Regionen  be- 
schränkt. Unter  den  hierher  gehörenden  Blüten- 
pflanzen der  Bornaer  Fundschicht  sind  heute: 

arktisch  alpin 

Salix  polaris  Arabis  saxatilis 

Ranunciilus  liyperborcus         Potcntilla  aiirca 
Armeria  arctica 


arktisch -alpin 
EriopJioriim  Scheuch  zeri 
Salix  hcrbacea 
Salix  iiiyrsinitcs. 
Von  diesen  Pflanzen  sind  wohl  am  häufigsten 
in  dem  Fundmateriale  die  arktische  Salix  polaris 
—    eine    der   bekanntesten  Pflanzen    aus  glazialen 
Ablagerungen  Pluropas  —  und    die  alpine  Potcn- 
tilla aiirca,  die  mit  Sicherheit  bisher   in  glazialen 
Ablagerungen  noch  nicht  angetroffen  war.    Beide 
können  mithin  als  die  charakteristischsten  Blüten- 
pflanzen   der    Mammutschicht    von    Borna    gelten 
und  sind  in  V\g.  i — 3,    zusammen  mit    der   eben- 
falls   nicht    seltenen    Salix  herbacca   als  Vertreter 
der  heute  arktisch-alpinen  Gruppe,  in  ihren  in  der 
Fundschicht     uns      erhalten     gebliebenen     Teilen 
wiedergegeben. 

Die  Hauptcharaktere  der  Vegetation  aus  der 
Fundschicht  sind  nach  dem  Gesagten:  „Baum- 
losigkeit  oder  größte  Baumarmut,  ein  Vorherrschen 
indifferenter  Typen,  das  Vorkommen  einer  Anzahl 
von  Arten,  die  an  arktische  oder  alpine  Verhält- 
nisse gebunden  sind,  und  endlich  das  einiger,  die 
nur  unter  günstigeren  Umständen  dort  zu  gedeihen 
vermögen.  Vegetationen  mit  annähernd  ähnlichen 
Charakteren  begegnen  uns  gegenwärtig  in  dem 
arktischen  Baumgrenzgebiete  des  nördlichen  Nor- 
wegens und  südlichen  und 
südwestlichen  Islands.  In 
beiden  Ländern  treten  in 
der  im  allgemeinen  indiffe- 
renten Hauptmasse  der  Vege- 
tation mehr  oder  minder 
reichlich  arktische  und  ark- 
tisch-alpine Typen  und  da- 
neben auch  hier  weniger, 
dort  mehr  einzelne  Vertreter 
südlicherer  gemäßigter  Zo- 
nen auf."  Daß  die  klima- 
tischen Verhältnisse  dieser 
genannten  Länder  nun  nicht 
ohne  weiteres  auf  die  Nach- 
barschaft Bornas  in  jener  eis- 
zeitlichen Periode,  der  die  pflanzenführende  Ablage- 
rung entstammt,  zu  übertragen  sind,  ergibt  sich  aus 
der  kontinaleren  Lage  der  Fundstätte  an  sich  und 
der  notwendigerweise  zur  Eiszeit  noch  dazu  kom- 
menden Verschärfung  des  kontinentalen  Klima- 
charakters durch  die  Inlandeismasse.  Das  Klima 
war  in  Borna  sehr  wahrscheinlich  ein  ausge- 
sprochen kontinentales  und  wir  werden 
dort  zu  der  in  Rede  stehenden  Zeit  kältere  Winter 
und  wärmere  Sommer  gehabt  haben ,  als  heute 
an  der  arktischen  Westküste  Norwegens  und  auf 
Island. 

Unter  dem  Einflüsse  sehr  kalter  Winter  blieben 
vielleicht  auch  während  eines  großen  Teiles  des 
Sommers  die  Bodentemperaturen  in  geringer  Tiefe 
unter  dem  physiologischen  Minimum,  das  die 
tiefer  reichenden  Wurzeln  von  Bäumen  zur  unge- 
störten Ausübung  ihrer  Funktion  nötig  haben, 
während  zugleich  heftige  und  während  der  Vege- 


Fig.  3.     Blatt  von  Salix 

herbacea  L.   y'/a/'- 

(Original.) 


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tationszeit  häufige  Winde  den  Baumwuchs  ver- 
kümmern ließen.  Die  bezeichneten  beiden  F'ak- 
toren  beherrschen,  wie  K  i  h  1  m  a  n  n  auf  der  Halb- 
insel Kola  nachgewiesen  hat,  an  der  dortigen 
arktischen  Baumgrenze  das  gesamte  Pflanzenleben. 
„Auf  jeden  Fall  haben  wir  das  Fernbleiben  des 
Waldes  in  den  Besonderheiten  des  mitteleuro- 
päischen glazialen  Klimas  zu  suchen",  das 
sich  von  dem  der  Arktis  und  der  Hochalpen, 
wenigstens  zum  Teil,  durch  den  kontinentalen 
Charakter  (ähnlich  der  arktischen  und  subarktischen 
Steppe)  unterscheidet. 

Unter  solchem  Klima  lebte  also  bei  Borna  eine 
Pflanzenwelt,  die  sich  vorwiegend  aus  Arten  von 
weiter  Verbreitung  zusammensetzte,  denen  aber 
eine  Anzahl  von  Formen  beigemengt  war,  die 
heute  zum  Teil  auf  das  arktische,  zum  Teil  auf 
das  alpine  Gebiet  beschränkt,  teils  aber  diesen 
beiden  gemeinsam  sind.  Dazu  kommen  einige 
Arten,  die  gegenwärtig  das  gemäßigte  Klima  be- 
vorzugen und  nur  unter  günstigeren  Verhältnissen 
in  die  Arktis  vordringen.  „Baumwuchs  fehlte  oder 
war  allerhöchstens  durch  vereinzelte  Birken  und 
Föhren  in  der  weiteren  Umgebung  der  Fundstätte 
vertreten".  Wie  weit  sich  diese  baumfreie  Zone 
vor  dem  Inlandeisrande  südwärts  erstreckte,  wie 
breit  mit  anderen  Worten  der  „Tundragürtel" 
vor  dem  Landeise  gewesen  ist,  läßt  sich  erst  nach 
der  folgenden  Feststellung  des  geologischen  Alters 
der  Bornaer  Fundschicht  angeben. 

Die  „altalluviale"  Talterrasse  der  Wyhra,  in 
deren  Liegendem  sich  die  tonige  Mammutfund- 
schicht von  Borna  befindet  und  die  sich  auf  der 
linken  Talseite  des  Flusses  von  oberhalb  Plateka 
über  Borna  bis  gegeriüber  Witznitz  erstreckt, 
ist  topographisch  im  allgemeinen  schlecht  ausge- 
prägt und  fügt  sich  fast  als  sanfte  Abdachung 
zwischen  Diluvialplateau  und  Talaue  ein.  Von 
letzterer  ist  sie  (vgl.  Erläuterungen  zur  geologi- 
schen Spezialkarte  Sachsens,  Sektion  Borna- Lob- 
stedt,  S.  42)  wenigstens  lokal  durch  eine  ausge- 
sprochene, etwa  2  m  hohe,  Böschung  abgegrenzt, 
ihre  Grenze  gegen  den  Abfall  des  Diluvialplateaus 
dagegen  scheint  nirgends  deutlich  ausgeprägt  zu 
sein.  Man  könnte  daher  zunächst  Zweifel  an  der 
Reellität  dieser  Terrasse  als  eines  selbständigen 
Gebildes  hegen  und  sie  einfach  als  sehr  sanft  ge- 
böschten  Abfall  des  Diluvialplateaus  auffassen. 

Ihre  Selbständigkeit  ergibt  sich  jedoch  aus 
ihrem  petrographischen  Charakter.  Die  Terrasse 
besteht  aus  einem  sandigen  Lehme,  der 
in  bräunlichen,  gelblichen  und  grauen  Lagen 
wechselnd  sowie  durch  kiesige  Streifen  im  ganzen 
horizontal  geschichtet  erscheint  und  nur  in  der 
Nähe  des  Gehänges  des  Diluvialplateaus  und  wo 
kleine  Talfurchen  die  Terrasse  durchschneiden, 
gröberes,  offenbar  aus  dem  Höhendiluvium  abge- 
schwemmtes Material  enthält.  So  hebt  sich  die 
Terrasse  selbst  wie  auch  ihre  Unterlage,  die  blau- 
grauen, sandigen  (bis  ca.  3  m  Mächtigkeit  er- 
reichenden) Tone  der  Mammutschicht,  deut- 
lich als  selbständiges  Gebilde   von  den  Schottern 


und  dem  Geschiebelehm  des  anstoßenden  Diluvial- 
plateaus ab.  (Wie  schon  eingangs  erwähnt,  ist 
die  Fundstelle  durch  den  Abbau  des  Tones  zu 
Ziegeleizwecken  stark  zerstört;  die  Terrasse  ist 
hier  nur  noch  in  wenigen  Teilen  erhalten  und 
alles  tiefer  liegende  verstürzt,  verschüttet  und  ver- 
wachsen. Ich  bin  daher  Herrn  Ziegelmeister  Pfeil 
zu  ganz  besonderem  Dank  verpflichtet,  daß  er 
bei  meinem  Besuche  die  große  Mühe  nicht  scheute, 
unter  Benutzung  eines  der  alten  Schürfe  Prof. 
Weber 's,  das  Profil  bis  in  die  pflanzenführenden 
Mammuttone  hinein  wieder  aufzugraben  und  mir 
so  einen  vollen  Einblick  in  die  Lagerungsverhält- 
nisse zu  gewähren.)  Es  ist  für  unsere  Frage 
gleichgültig,  ob  wir  uns  die  „altalluviale"  Terrasse 
im  wesentlichen  durch  den  Hauptfluß  des  Tales 
entstanden  denken  oder  sie  der  Hauptsache  nach 
auf  die  kleinen  periodischen  Rinnsale  zurückführen 
wollen,  die  seitlich  vom  Plateau  herabkommen 
und  ihre  Schuttmassen  in  das  Haupttal  vorschieben. 
Wesentlich  ist,  daß  die  Terrassenlehme  und 
die  sie  unterlagernden  Mammuttone  erst  zur  Ab- 
lagerung gelangen  konnten,  nachdem  in  die  älteren 
Schotter  und  den  überlagernden  Geschiebelehm 
die  Talfurche  der  Wyhra  eingeschnitten  worden 
war.  Es  müssen  daher  die  Terrassenlehme  und 
die  Mammutschichten  in  ihrem  Liegenden  wesent- 
lich jünger  sein,  als  der  Geschiebelehm,  von  dem 
die  Altersbestimmung  am  vorteilhaftesten  auszu- 
gehen hat. 

Dieser  Geschiebelehm  ist  in  weiter  Ausdehnung, 
wie  die  Kartenblätter  der  sächsischen  geologischen 
Landesaufnahme    dartun,     von    einer    zusammen- 
hängenden    Decke    von    Löß    oder    Lößlehm 
überspannt  und  wird  allgemein    als  Grundmoräne 
der   vorletzten   Eiszeit   angesehen.     Es    liegen 
keinerlei    Anhaltspunkte    vor,     welche    ihn    einer 
(noch)     älteren     Eiszeit     zuweisen      ließen,      un- 
bekümmert darum,  welcher  nordischen  Vereisung 
wir    die    weiteste    Ausbreitung    nach    Süden    zu- 
schreiben   wollen.      Außerdem   befinden   wir   uns 
an  der  Fundstätte  von  Borna  ganz  zweifellos  weit 
südlich  der  Maximalgrenze  der  Ablagerungen  der 
letzten,    mit    der    W  ü  r  m  -  Vereisung    im    Alpen- 
vorlande  zu  parallelisierenden,  Eiszeit.     Als  Grenze 
dieser   letzten    nordischen  Vereisung   in  dem  Ge- 
biete nördlich  von  Leipzig  gilt  gemeinhin  —  vor 
allem  auch  nach  dem  Kartierungswerke  der  Kgl. 
Preußischen    Geologischen    Landesanstalt    —    im 
wesentlichen  der  Endmoränenzug,  der  von  Burg 
bei  Magdeburg  über  Beizig,  Dahme,  Sprem- 
berg    usw.     verlaufend     den     Höhenrücken     des 
Fläming  und  des   Niederlau  sitzer  Grenz- 
walles krönt.     Hierbei  soll  es  jedoch  nicht  aus- 
geschlossen   sein,    daß    der   letzteiszeitliche    Glet- 
scher   gelegentlich    noch    mit    seinem    Rande    um 
weniges   diese  Linie    überschritten    hat  ohne  eine 
markante  Moräne  aufzuschütten.    Unmittelbar  süd- 
lich des  genannten  Endmoränezuges,  dessen  nähere 
Beschreibung  zugleich  mit  einer  Begründung  seines 
Charakters  als  Ju  ng-Endmoräne  ich  früher  (Zeit- 
schrift für  Gletscherkunde,  Bd. II,  191 2,  S.  250 — 277) 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  44 


gegeben  habe,  treffen  wir  in  den  Braunkohlen- 
tagebauen der  Se  nfien  berger  Gegend  auf  die 
erste  viele  Meter  tief  verwitterte  (irundmoräne 
(Geschiebemergel),  wie  sie  für  das  ältere  Glazial 
als  bezeichnend  und  charakteristisch  gilt. 

Nicht  berührt  wird  aber  hiervon  ein  End- 
moränenzug, der  das  Plateau  von  Gräfe  n- 
h  a  i  n  i  c  h  e  n  durchzieht  und  sich  gegen  Westen 
und  Nordwesten  über  die  Gegend  von  Köthen 
und  Kalbe  ins  iVIagdeburgische  fortzusetzen 
scheint  und  den  ich  (a.a.O.),  in  Übereinstimmung 
mit  mehreren  anderen  Autoren,  wegen  bestimmter 
morphologischer  Eigentümlichkeiten  als  „zer- 
schnittene Jungmoräne"  ebenfalls  noch  der  letzten 
Vereisung  zurechnen  zu  müssen  glaube.  Sei  dem 
aber  wie  ihm  wolle,  soviel  steht  für  jeden  im 
norddeutschen  Tief  lande  sich  auskennenden  Glazial- 
forscher fest,  daß  der  weiter  südlich  folgende 
Moränenzug,  der  gleich  westlich  und  nördlich  von 
Leipzig  teils  in  wallförmiger  Gestalt,  teils  als  viel- 
kuppiges  Hügelgelände  erscheint,  und  der  nach  Osten 
weiter  über  die  Gegend  nördlich  von  Dresden 
bis  räch  Kamenz  zu  verfolgen  ist,  dem  älteren 
Glazial  zugerechnet  werden  muß.  Eine  Zuweisung 
dieses  Endmoränenzuges  zur  letzten  Eiszeit  oder 
die  Bezeichnung  desselben  als  Grenzmarke  des 
letzten  Inlandeises  bedarf  einer  ausführlichen  Be- 
gründung und  kann  nicht  durch  einfache  Behaup- 
tung geschehen,  wie  es  R.  R.  Schmidt  in  seinem 
Werke  „Die  diluviale  Vorzeit  Deutschlands"  mit 
Bezug  auf  die  hocinvichtige  paläolithische  Station 
von  Markkleeberg  bei  Leipzig  versucht. 

Die.'^er  zuletzt  bezeichnete  sog.  Taucha'er 
Moränenzug  nun  grenzt  im  Norden  das  Geschiebe- 
lehm- und  Lößplateaugebiet  ab,  welches  sich  süd- 
lich und  südöstlich  der  sächsischen  Hauptstadt 
ausdehnt  und  auch  die  Fundstätte  der  Bornaer 
Mammutflora  umfaßt. 

Steht  so  die  Zuweisung  des  Bornaer  Geschiebe- 
lehms zur  vorletzten  —  der  alpinen  Riß- 
Eiszeit  zu  parallelisierenden — Vereisung  außer 
Frage,  so  wird  dieses  noch  durch  die  nähere 
Altersbestimmung  des  in  seinem  Hangenden  be- 
findlichen ,  sehr  häufig  von  ihm  aber  durch  ein 
deutliches  Denudationsgebilde,  eine  sog.  „St  ein - 
sohle"  getrennten,  Lößes  oder  Lößlehmes  noch 
bekräftigt.  Dieser  Löß  fügt  sich  durch  seine  Be- 
schaffenheit und  seine  Verbreitung  der  allgemeinen 
Lößdecke  des  norddeutschen  Randdiluviums,  die 
allgemein  als  , jüngerer  Löß'  auf  die  Haupt- 
lößablagerung zurückgeführt  wird,  ein,  und  keiner- 
lei Anhaltspunkte  gestatten  seine  Zuweisung  etwa 
zu  einem  „älteren  Löß". 

Dieser  (jüngere)  Löß  nun  ist,  wie  ich  ver- 
schiedentlich auseinandergesetzt  habe,  und  wie  es 
auch  der  fast  allgemein  heute  herrschenden  An- 
sicht entspricht,  seiner  Enlstehungszeit  nach  in 
das  Maximum  der  letzten  (Würm-)Vereisung 
zu  verlegen :  ,,Das  Fehlen  des  Löß  in  dem  ausgedehn- 
ten Gebiete  der  zweifellos]  ungglazialen. Ablagerungen 
und  Oberflächenformen  (größter  Teil  Norddeutsch- 
lands, Dänemark,  Schweden,  h'innland    und    nord- 


wosiliches  Rußland)  zwingt  uns  die  Vorstellung 
auf,  daß  seine  Ablagerung  vor  dem  definitiven 
Rückzuge  des  letzten  Inlandeises  vom  Maximal- 
stande seiner  Ausdehnung  vollendet  gewesen  war. 
Die  allgemeine  Lößbedeckung  der  (älteren)  Mo- 
ränen am  Saume  des  Glazialdiluviums  läßt  den 
Löß  jünger  erscheinen,  als  die  vorletzte  (weiter 
ausgedehnte)  Vereisung.  Sein  vollständiges  Fehlen 
aber  in  den  Untergrundschichten  der  jüngsten 
Moränen  trotz  der  zahllosen  bekannten  Interglazial- 
profile  schließt  seine  Bildung  in  der  letzten  Inter- 
glazialzeit  aus.  Es  bleibt  damit  für  die  Ablagerung 
des  jüngeren  Löß  nur  der  Höhepunkt  der 
letzten  Eiszeit  übrig.  Hiermit  im  Einklang  steht 
die  im  Löß  auftretende  Fauna  von  (eiszeitlichem) 
arktisch -kontinentalem  Gepräge  (Elcpl/as  prum- 
gcniiis,  Rhinoccros  ticliorrliiiins,  Ovibus  iiioscliatus, 
Rangifcr  farmidus,  Eqmis  caballiis  usw.)  sowie 
die  Tatsache,  daß  die  im  Löß  gefundenen  mensch- 
lichen Artefakte  denen  der  sicher  (im  lokalen 
Sinne)  nacheiszeitlichen  Magdalenienkultur  bereits 
außerordentlich  äiineln"  (Werth,  Die  äußersten 
Jugendmoränen  in  Norddeutschland  .  .  .,  Zeitschr. 
f.  Gletscherkunde,  VI,   191 2,  S.  276). 

Das  würmeiszeitliclie  Alter  des  Löß  schließt 
aber  ein,  von  Weber  befürwortetes,  riß-würm- 
interglaziales  Alter  der  die  Mammutschicht  be- 
deckenden —  fossilfreien  —  Terrassenlehme  aus. 
Denn  diese  Terrasse  müßte  dann,  ebenso  wie  das 
Diluvialplateau  mit  seiner  Rißmoräne  nebenan, 
eine  Lößdecke  tragen ,  die  aber  (abgesehen  von 
gelegentlichen  verschwemmten  —  und  auch  von 
Weber  ausdrücklich  als  solche  erkannten  — 
Partien)  durchaus  fehlt.  Es  muß  damit  die  Ter- 
rasse selbst  unbedingt  jünger  oder  frühestens 
gleich  alt  sein  mit  dem  Maximalstaiide  des  jüngsten 
(VVürm-)Eises,  dessen  Rand  ca.  65  bzw.  100  km 
weiter  nördlich  lag.  Das  unmittelbare  Liegende 
der  Terrassenlehme,  die  Mammuttone  mit  ihrer 
glazialen  Flora  und  P'auna,  werden  damit  schwer- 
lich in  eine  frühere  Phase  als  die  beginnende 
letzte  Eiszeit  verlegt  werden  können.  Die  Zeit 
ihrer  Bildung  ist  getrennt  von  dem  ungefähren 
Maximum  —  wir  befinden  uns  in  Borna  nur  noch 
49  km  von  der  Südgrenze  der  nordischen  Ge- 
schiebe —  der  vorletzten  (Riß-)Eiszeit,  die  durch 
den  Geschiebelehm  des  Diluvialpleteaus  repräsen- 
tiert wird,  durch  die  zur  Ablagerung  der  „jüngeren 
diluvialen  Schotter"  im  Liegenden  des  Mammut- 
tones und  zum  vorherigen  Einschneiden  des  Wyhra- 
tales  notwendige  Zeit.  Hierfür  würde  das  Aus- 
gehende der  Riß-Vereisung  und  das  Riß-Würm- 
Interglazial  zur  Verfügung  stehen. 

Die  „altalluviale"  Terrasse  des  Wybratales  bei 
Borna  ist  damit  gleichaltrig  den  früher  gleichfalls 
als  „Altalluvium"  bezeichneten  Terrassen  in  den 
Urstromtälern  Norddeutschlands,  die  zum  Teil  in 
unmittelbarer  Beziehung  stehen  zu  den  Maximal- 
und  den  Rückzugsmoränen  der  letzten  (Wurm-) 
Eiszeit.  Legen  wir  großen  Wert  auf  die  vom 
Inlandeise  ausgehende  Stauwirkung  auf  die  ihm 
von  Süden  entgegenfließenden  Flüsse  und  bringen 


N.  F.  XIII.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


693 


damit  in  Zusammenhang  die  Aufhöhung  des  Tal-  Terrasse  nicht  durch  organische  Einschlüsse  ein- 
bodcns  der  alten  Wyhra,  dessen  Rest  uns  in  der  wandfrei  erwiesen  ist.  Nun  ist  aber  nach  den 
heutigen  Terrasse  erhalten  ist,  so  werden  wir  ge-  obigen  Ausführungen  der  n  i  ch  t  interglaziale 
neigt  sein,  die  Bildung  dieser  Terrasse,  d.  h.  die  Charakter  dieser  Terrasse  schon  durch  den  Mangel 
Ablagerung  der  Terrassenlehme  in  das  Maximum  einer  Lößdecke  darauf  erwiesen.  Letzt-(riß-würm-) 
der  letzten  Eiszeit  zu  verlegen  und  die  der  unter-  interglaziale  Ablagerungen  verlangen  eine  Be- 
lagernden fossilführenden  Tone  in  das  zugehörige  deckung  durch  die  jüngste  (Würm-)Moräne  bzw. 
Frühglazial.  Führen  wir  die  Ablagerung  der  deren  fluvialglaziale  Äquivalente  oder,  außerhalb 
Terrassenlehme  aber  auf  irgendwelche  lokalen  des  Bereiches  der  letzten  Vereisung  —  ich  erinnere 
(oder  klimatischen?)  Verhältnisse  zurück,  so  kann  nur  an  das  als  älteste  bekannte  paläolithische 
sie  ebenso  gut  in  einer  späteren 
Phase  der  letzten  Eiszeit  ge- 
schehen sein.  Jedenfalls  kann 
aber,  dem  Charakter  seiner  or- 
ganischen Einschlüsse(Mammut, 
Ren)  wegen  der  unterlagernde 
Ton  seiner  Entstehungszeit 
nach  nicht  diesseits  des(VVürm-) 
Spätglazials  fallen.  Seine  Bil- 
dung fällt  in  die  letzte  Eiszeit, 
eine  genaue  Festlegung  auf 
eine  bestimmte  Phase  derselben 
wird  nicht  leicht  möglich  sein; 
nur  einige  Wahrscheinlichkeit 
spricht  dafür,  daß  ihre  Ab- 
lagerung in  das  letzte  Früh- 
glazial zu  verlegen  ist. 

Wir  können  uns  die  Vor- 
gänge während  des  Diluviums 
in  der  Gegend  von  Borna  an 
der  Hand  des  Profiles  (Fig.  4) 

und  des   folgenden    Schemas  klar  machen,    wobei      Station  Norddeutschlands  berühmt  gewordene  Profil 
ich  die  altdiluvialen  Schotter,  da  sie  in  der  Gegend      von  Weimar- Ehringsdorf- Taubach  — ,    durch    den 


^^^?^4svi=]3 


Fi 


Profil    von    der  Platcauhöhe    östl.   Görnitz  (a.  d.  Pleiße)    im  Südwesten  gegen 

die   Mammulfündstelle   bei   Borna   (a.  d.  Wyhra)   im   Nordosten. 

Längenmaßstab    1:25000.      Höhenstufen   in   Meterzahlen  angegeben. 

1   Tertiär  (Oligozän) ;  2  altdiluviale   Kiese;  3   Geschiebelchm  ;  4  Lößlehm;    5  jüngerer 

diluvialer    Schotter;    6    blaugrauer,    sandiger    Ton    (Mammutschicht);     7  sandiger 

Lehm   (Terrassenlehm) ;  S  Aulehm   usw. 


südlich  von  Leipzig  nicht  nur  nordisches  bzw. 
nördliches  Material  führen,  sondern  vielfach  auch 
Geschiebelehm -Bänke,  Schmitzen  und  -Nester 
einschließen,  als  glaziale  bzw.  fluvialglaziale 
Bildung  auffasse. 


(jüngeren)  Löß!  Der  Löß  vertritt  in  seinem 
stratigraphischen  Werte  die  Würmmoränen  außer- 
halb des  Bereiches  der  letzten  Vereisung. 

Die  Feststellung   des    würmeiszeillichen  Alters 
der  Fundschicht  der  Mamniutflora  von  Borna  läßt 


Vorletzte  (Riß-)Eiszeit 


Letzte  (Würm-)Eiszeit 


Vorletztes  (Mindel-Riß-)Interglazial   '  Talbildung  in  den  oligozänen  Ablagerungen. 

(  Aufschüttung   der   fluvioglazialen  Hochterrasse    (altdiluviale  Schotter) 
I  und  Bedeckung  derselben  mit  Geschiebelehm. 

[  Einschneiden  des  Wyhratales  in  die  Ablagerungen 
Letztes  (Riß   Wurm  -  )I  n  t  ergl  azial       [  der    Riß  Eiszeit    und    Aufschüttung   der  „jüngeren 

I  Diluvialschotter". 
Flühglazial   f  Ablagerung  der  Mammuttone; 

,,  ,  ,  .  ,  (  Auffüllung  des  Tales  durch  die  Terrassenlehme 
Hochglazial  ^  (Niederterrasse); 

(  Wiedereinschneiden  des  Flusses  in  die  Terrassen- 
Spätglazial        lehme  und  beginnende  Ablagerung    in  der  neuen 

(  Furche. 

Post  gl  azial  zeit  (Alluvium)  ^  Definitive  Bildung  der  heutigen  Talaue,  haupt- 

I  sächlich  durch  Ablagerung  des  Aulehmes. 

Die     Möglichkeit     eines     würm-eiszeitlichen  uns    ein    Minimal  maß   gewinnen    für  die  Breite 

Alters  der   Mammutschicht    von  Borna   hat   auch  der  baumfreien  Zone  am  Rande  des  großen  nord- 

Weber  nicht  ganz  von   der  Hand    gewiesen;    er  europäischen    Inlandeises.      Selbst    wenn    die    aus 

hält    sie    so   lange  für  nicht    ganz   ausgeschlossen,  den  Resten  des  Mammuttones  rekonstruierte,  oben 

wie    die    (bei    rißeiszeitlichem    Alter    der    Schicht  näher    skizzierte,    Vegetation    während    des  allge- 

naturgemäß)  interglaziale  Natur  der  „altalluvialen"  meinen    Maximalstandes    dieser   Vereisung    (siehe 


694 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  44 


oben)  sich  bei  Borna  ausgebreitet  hätte,  hätte  sie 
sich  noch  in  einem  Abstände  von  ca.  lookm  von 
der  Eisfront  befunden.  Fällt  aber  die  Ablagerung 
in  das  Früh-  oder  Spätglazinl,  so  wächst  die  Breite 
des  baumfreien  Gürtels  beliebig,  je  nach  der  spe- 
ziellen Phase  im  Vorrücken  oder  Zurückweichen 
des  Landeises.  Es  ist  klar,  daß  selbst  bei  einem 
baumfreien  „Tundra"Gürtel  von  nur  loo  km  Breite 
eine  Vegetation    von    durchaus  gemäßigt -klimati- 


schem Charakter,  wie  sie  unsere  viel  angefeindeten 
Interglazialprofile  ergeben  haben,  nicht  ohne  ein 
ganz  erhebliches  Zurückweichen  der  Vergletsche- 
rung, von  wirklich  interglazialem  Ausmaße,  denk- 
bar ist.  Damit  fallen  aber  die  auf  die  fioristischen 
Einschlüsse  bezüglichen  Bedenken ,  die  man  zu- 
gunsten einer  Einheitlichkeit  der  Eiszeit  gegen 
die  Interglazialprofile  erhoben  hat. 


Die  Erdöl- 

[Nachdruck  verboten,] 

In  keinem  Teil  des  Deutschen  Reiches  hat  der 
Bergbau  in  den  letzten  Jahren  einen  so  großen 
Aufschwung  genommen  wie  in  Elsaß-Lothringen. 
Jeder  der  drei  Bezirke  des  Landes  ist  durch  das 
Auftreten  eines  oder  mehrerer  nutzbaren  Mine- 
ralien in  größeren  Mengen  ausgezeichnet.  Unter 
diesen  nehmen  in  Lothringen  die  Steinkohle  und 
die  Eisenerze  die  erste  Stelle  ein ;  im  Oberelsaß 
sind  es  die  in  jüngster  Zeit  aufgefundenen  aus- 
gedehnten Kalisalzlager,  welche  einen  bedeutenden 
Bergbau  entstehen  lassen. 

Wesentlich  älter  als  der  Bergbau  auf  Eisen, 
Kohle  und  Kalisalze  ist  die  Gewinnung  von  Erdöl 
und  Asphalt  im  Unterelsaß. 

Das  Gebiet,  in  welchem  abbauwürdige  Vor- 
kommen von  Erdöl  und  Asphalt  bekannt  gewor- 
den sind,  liegt  in  der  weiteren  Umgebung  von 
Sulz  u.  W.  zwischen  H  a  g  e  n  a  u  und  Weißen- 
burg,  vorzugsweise  bei  Pechelbronn,  der 
Annexe  von  Lampertsloch.  Von  geringerer 
Bedeutung  sind  Dürrenbach,  Biblisheim, 
die  Waldreviere  Oberstritten  und  Glas- 
winkel,  Uhlweiler,  Ohlungen  und 
Seh  wab  weil  er.  Der  Asphalt  wird  ausschließ- 
lich bei  Lobsann  gewonnen. 

Schon  der  Name  des  Ortes  Pechelbronn,  in 
elsässischer  Mundart  Bechelbronn  oder  auch 
Bachelbronn,  deutet  auf  ein  hohes  Alter  der  Be- 
kanntschaft mit  dem  Erdöl  in  dieser  Gegend  hin. 

Zum  erstenmal  wird  es  erwähnt  durch 
Wimpfeling,  der  im  Jahre  1498  von  dem  schon 
seit  vielen  Jahren  Verwendung  findenden  Bitumen 
spricht.  Die  erste  zusammenfassende  Arbeit  über 
das  Erdölvorkommen  im  Elsaß  ist  das  1625  von 
Joh.  Volk  verfaßte  Buch:  „Hanawischen 
Erdbalsams,  Petrolei  oder  weichen 
Agsteins  Beschreibung"  usw.  In  jener 
Zeit  wurde  das  auf  einer  Wiese  bei  Pechelbronn 
austretende  Erdöl  meistens  als  Arznei  besonders 
für  „podagrische  Schmerzen"  verwandt.*)    Wegen 


')  Zu  was  das  Öl  sonst  noch  Verwendung  fand ,  geht 
aus  folgenden  Worten  Joh.  Volk's  hervor:  „Für  den  Erb- 
grind ist  das  Ol  unter  den  Bauren  zu  Lampertsloch  und  in 
den  umbliegendcn  Dörffern  ein  gebräuchlich  und  gemein 
Mittel;  bin  auch  der  Meinung,  daß  es  den  Flöhen  gar  eine 
schlechte  Nahrung  oder  Speise  sein  werde.  —  Für  die  Wand- 
leuß  mag  gewilälich  nichts  besseres  gefunden  werden,  so  man 


und  Asphaltlagerstiitteu  im  UiiterelsalJ. 

Von  Dr.  W.  Wagner,  Strasburg. 

seiner  Unreinheit  und  Dickflüssigkeit  diente  es 
aber  für  gewöhnlich  als  Wagenschmiere ,  doch 
sollen  die  Landleute  der  Umgegend  es  auch  auf 
Lampen  gebrannt  haben. 

Der  erste ,  welcher  systematisch  aus  dem  un- 
reinen Erdöl  durch  Destillation  Brennöl  gewann, 
war  der  griechische  Arzt  Eryn  von  Erynniß, 
der  im  Jahre  1735  nach  Pechelbronn  kam.  Ihm 
folgte  1742  de  la  Sablonniere,  der  eine  Art 
Fabrik  zur  Reinigung  des  Erdöls  erriclitete  und 
seit  1745  ging  man  dazu  über,  in  Gruben  das 
Erdöl  bergmännisch  auszubeuten. 

Der  Bergbau  auf  Öl,  der  seit  1785  in  größerem 
Umfang  von  der  Familie  L  e  B  e  1  betrieben  wurde, 
erstreckte  sich  bis  zu  einer  Tiefe  von  90  m.  Man 
fand  etwa  10  verschiedene,  an  Öl  reiche  Sand- 
lagen ,  und  aus  diesen  wurde  das  Rohöl  durch 
Auskochen  gewonnen.  Bei  diesem  Verfahren  er- 
zielte man  aus  den  Ölsanden  etwa  4  %  Rohöl. 
Aus  den  Sandlagen  traten  mehrfach  Ölquellen 
aus  (das  sog.  Jungfernöl),  die  mitunter  längere 
Zeit  von  großer  Ergiebigkeit  waren.  So  wurde 
beim  Abteufen  des  Heinrich-Schachtes  im  Jahre 
1873  83  m  unter  Tage  eine  starke  Ölquelle  an- 
getroffen, die  in  24  Stunden  15  cbm  Öl  lieferte. 
Seit  1884  ließen  aber  derartige  Ölquellen  stark 
nach  und  im  Jahre  1888  wurde  der  Grubenbetrieb 
eingestellt. 

Schon  seit  1873,  besonders  aber  seit  1880, 
ging  man  dann  dazu  über,  das  Ol  durch  Bohr- 
löcher zu  gewinnen.  Zunächst  benutze  man 
Handbohrer,  die  aber  bald  durch  den  maschi- 
nellen Bohrbettieb  ersetzt  wurden,  dem  allein  die 
großen  Erfolge  in  der  Petroleumproduktion  zu 
verdanken  sind. 

Im  Jahre  1888  wurde  das  noch  immer  unter 
der  P'amilie  Le  Bei  stehende  Unternehrnen  in 
eine  Aktiengesellschaft  („Pechelbronner  Ölberg- 
werke  Aktiengesellschaft  in  Schiltigheim")  umge- 
wandelt, der  sich  bis  1906  drei  weitere  selbstän- 
dige größere  Firmen  anschlössen.  In  diesem 
Jahre  wurden  durch  den  Direktor  der  deutschen 
Tiefbohr-Aktiengesellschaft    in    Nordhausen    diese 


die  Örter,  da  sie  sitzen,  nur  mit  dem  rohen  Öl 
gedestillierte  besser  darzu  wäre)  sonderlichen 
Betladen  die  Fugen  bestreicht  .... 


(wiewohl  das 
aber   an  den 


N.  F.  Xni.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


695 


4  Firmen  zu  einem  Konzern  unter  dem  Namen 
„Vereinigte  Pechelbronner  Ölbergwerke" 
zusammengeschlossen.  Unter  dieser  Firma  nahm 
nun  die  elsässische  Erdölindustrie  unter  stetiger 
starker  Steigerung  der  Produktion,  worüber  die 
am  Schlüsse  befindliche  Produktionstabelle  Auf- 
schluß gibt,  einen  großen  Aufschwung. 

Das  Erdöl  ist  eine  Flüssigkeit,  oft  mit  reich- 
lichem Gaseinschluß,  die  sich,  wie  wir  später 
sehen  werden,  aus  organischen  Resten  gebildet 
hat.  Sie  kann  deshalb  keine  nur  aus  ihr  be- 
stehende Einlagerung  in  den  Schichtgesteinen 
bilden,  sondern  braucht  einen  Träger  in  Gestalt 
eines  porösen  Gesteines,  wie  z.  B.  Sand  oder 
Sandstein.  Das  Öl  durchtränkt  das  Gestein  wie 
Wasser  einen  Schwamm,  und  niemals,  selbst  bei 
den  ergiebigsten  Lagerstätten,  haben  wir  uns  das 
Ölreservoir  als  eine  mit  Ol  gefüllte  große  Höhle 
vorzustellen.  Je  nach  der  Gestalt  des  porösen 
zur  Ölaufnahme  geeigneten  Gesteins  richtet  sich 
auch  die  Gestalt  der  Erdöllagerstätte.  Im  Elsaß 
sind  bei  Pechelbronn  die  Träger  des  Öls  Sand 
und  Sandsteine ,  die  zwischen  Mergel  geschaltet 
sind  und  zwar  in  I'orm  langgestreckter,  oft  ge- 
bogener und  sich  gabelnder  Lager,  welche  bei 
verhältnismäßig  geringer  Breite  sich  sehr  in  die 
Länge  erstrecken  und  deshalb  als  L,agerschläuche 
bezeichnet  werden.  Damit  sich  ein  Öllager  bilden 
kann,  bedarf  es  aber  außer  eines  porösen  Gesteins 
als  Träger,  eines  (_)1  undurchlässigen  Gesteins  als 
einhüllender  Körper.  Diesen  stellen  im  Elsaß 
vorwiegend  graugrüne,  seltener  rote  und  schokolade- 
braune Mergel  dar. 

Betrachten  wir  nun  kurz  die  geologische 
Geschichte  des  elsässischen  Erdölgebietes. 

Während  ursprünglich  Vogesen  und  Schwarz- 
wald ein  zusammenhängendes  Gebirge  bildeten, 
begann  in  der  Tertiärperiode  der  Erde,  insbeson- 
dere in  der  sogenannten  Oligozänzeit,  jener  Vor- 
gang, welcher  zur  Bildung  des  Rheintales  führte. 
Durch  ungleichmäßigen  Druck  teils  aus  Süden, 
teils  aus  Osten  auf  dieses  Vogesen-Schwarzwald- 
Gebirge  entstanden  zahlreiche  Risse  in  demselben. 
Gleichzeitig  fand  eine  allmähliche  Senkung  des 
Gebietes  der  Rheinebene  statt,  die  an  den  Rän- 
dern von  Abbiegungen  und  Zerreißungen  begleitet 
war.  In  diese,  in  der  Richtung  des  jetzigen 
Rheintals  sich  erstreckende  Vertiefung,  die  gegen 
Osten  und  zunächst  auch  gegen  Norden  und  Sü- 
den geschlossen  war,  drang  vom  Westen,  vom 
Pariser  Becken  her,  etwa  durch  die  Pfalzburger  Mulde, 
das  Meer  ein. 

Das  Material,  aus  denen  sich  das  Tertiär  im 
Elsaß  aufbaut,  besteht  aus  verschieden  gefärbten 
Mergeln,  Tonen,  z.  T.  bituminösen  Mergelschiefern, 
Sauden  und  Kalksandsteinen,  die  mitunter  ölhaltig 
sind,  Konglomeraten  und  Kalksteinen.  Dazu  tre- 
ten als  Ausscheidungen  des  Meerwassers  Anhydrit, 
Gips,  Steinsalz  und  Kalisalze. 

Wie  bei  der  Mannigfaltigkeit  in  der  Aus- 
bildungsweise des  Materials,  ferner  bei  dem  häu- 
figen Wechsel,  unter  dem  dieses  auftritt,  und  end- 


lich auf  Grund  der  Versteinerungen  zu  erwarten 
ist,  war  das  Meer  nicht  immer  der  Herrscher  des 
heutigen  Rheintalgebietes  zur  Tertiärzeit  gewesen.  Es 
müssen  damals  hier  große  Schwankungen  geherrscht 
haben.  Bald  bedeckte  ein  seichtes  Meer  Teile 
der  jetzigen  rheinischen  Tiefebene,  bald  vertiefte 
das  Meer  sich,  so  daß  das  ganze  Land  zwischen 
den  Vogesen  und  dem  Schwarzwald  vom  Meere 
bedeckt  war.  Ja  das  Meer  tritt  sogar  zeitweise 
über  die  Gegenden  hinaus,  die  heute  von  den 
Kämmen  der  Gebirge  eingenommen  werden. 
Dann  wieder  fanden  Hebungen  statt,  die  zu  manchen 
Zeiten  soweit  gingen,  daß  der  größte  Teil  des 
Gebietes  völlig  trocken  lag.  Einer  solchen  He- 
bung verdanken  wir  die  Entstehung  der  Steinsalz- 
und  Kalisalzlager  im  Oberelsaß.  Besonders  die 
Bildung  mächtiger  Süßwasserablagerungen ,  die 
als  das  jüngste  Tertiärglied  im  Oberelsaß  festge- 
stellt wurden,  kann  nur  durch  eine  starke  Heraus- 
hebung des  Rheintales  und  eine  gleich  darauf 
wieder  eingetretene  Senkung  erklärt  werden,  wo- 
bei das  Meer  aber  durch  stehengebliebene  Erhe- 
bungen davon  zurückgehalten  wurde,  wieder  Besitz 
von  den  früher  eingenommenen  Gebieten  des  Rhein- 
tales zu  ergreifen. 

Durch  die  zahlreichen  Bohrungen  und  das  Ab- 
teufen von  Schächten  auf  Kalisalze  gelang  es 
B.Förster  und  W.Wagner,  die  mindestens  1700  m 
mächtigen  Tertiärschichten  im  Oberelsaß  einer 
geologischen  Gliederung  zu  unterwerfen. 
Es  lassen  sich  vier  große  Gruppen  unterscheiden: 
Zu  oberst  bunte  Süßwassermergel  mit  eingelagerten 
Sandsteinen,  darunter  graublaue  und  branschwarze 
Mergel  und  Sandsteine  mariner  Entstehung;  unter 
diesen  bunte  und  streifige,  Gips,  Anhydrit,  Stein- 
salz und  Kalisalze  führende  zumeist  bituminöse 
Mergel,  die  ebenfalls  zum  größten  Teil  Bildungen 
des  Meeres  darstellen  und  zu  unterst  grüne  und 
schwarze  Mergel,  die  sich  als  ein  Wechsel  von 
Süß-  und  Meerwasserbildungen  erwiesen  haben. 
Durch  einen  versteinerungsreichen  Schichten- 
komplex sind  die  bunten  und  streifigen  Mergel 
in  zwei  Salz  führende  Unterabteilungen  getrennt, 
wobei  die  obere  wenige  Meter  über  der  versteine- 
rungsreichen Zone  die  Kalisalze  enthält. 

Diese  Gliederung  läßt  sich  in  neuerer  Zeit 
auch  mit  derjenigen  des  Tertiärs  im  Unterelsaß 
vergleichen,  die  von  dem  Geh.  Bergrat  Dr.  L. 
van  Werveke  aufgestellt  worden  ist,  der  sich 
um  die  geologische  Erforschung  der  elsässischen 
Erdöllager  große  Verdienste  erworben  hat. 

Die  Hauptträger  des  Öls  sind  im  Unterelsaß 
die  bunten  und  streifigen  Mergel,  die  in  ihrem 
oberen  größeren  Teil  gewöhnlich  als  „Pechel- 
bronner Schichten"  bezeichnet  werden.  Wäh- 
rend aber  im  Oberelsaß  in  ihnen  Sandsteine  feh- 
len und  sie  nur  auf  kürzere  Zeit  eine  lokale  Süß- 
wasserbildung darstellen,  im  übrigen  aber  dem 
Meer-  und  Brackwasser  ihre  Entstehung  verdanken, 
ist  ihre  Bildung  im  Unterelsal.5  unter  einem  dauern- 
den Wechsel  von  Süß  Brack-  und  Meerwasser  vor 
sich  gegangen. 


696 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  44 


Die  gesamte  IVlächtigkeit  der  Pechelbronner 
Schichten  beträgt  nach  den  neuesten  Untersuch- 
ungen etwa  475  m.  Sie  lassen  sich  in  eine 
höher  fossilarme  und  eine  tiefere  fossilreiche  Zone 
trennen,  wobei  diese  letztere  vollständig  der  ver- 
steinerungsreichen Zone  im  Oberelsaß  entspricht. 
Unterlagert  werden  die  Pechelbronner  Schichten 
von  einer  bis  100  m  mächtigen  roten  Mergellage, 
die  als  die  rote  Leit schiebt  von  großer  Be- 
deutung für  die  Erdölbohrungen  geworden  ist. 
Sie  gibt  den  Horizont  an,  unter  dem  kein  Öl  mehr 
zu  erwarten  ist. 

Die  Pechelbronner  Schichten  stellen  einen 
Wechsel  von  tonigen  Mergeln,  Sauden  und  Sand- 
steinen dar  und  sind  in  der  Art,  wie  sich  die  Ge- 
steine verteilen,  zur  Aufnahme  von  Erdöl  geeignete 
Bildungen.  Es  sind  denn  auch  diese  Sande  und 
Sandsteine  die  eigentlichen  Träger  des  Ols,  und 
zwar  geht  aus  den  Versteinerungen,  welche  die 
abgebauten  ( )lsandlinsen  bei  Pechelbronn  enthalten, 
hervor,  daß  diese,  wie  die  sie  unmittelbar  um- 
gebenden Mergel,  Süßwasserbildungen  sind.  Ferner 
stellte  sich  heraus,  daß  die  bituminösen  Sandsteine 
stets  Süßwasserschichten  entsprechen ,  während 
die  bituminösen  Mergel  mitunter  auch  mariner 
Abkunft  sind.  Im  Oberelsaß,  im  Kalisalzgebiet, 
fehlen  dagegen  Sandsteinbildungen  in  den  ent- 
sprechenden Schichten  vollständig,  die  marinen 
z.  T.  salzführcnden  Mergel  herrschen  vor  und  hier 
treten  infolgedessen  keine  Öllager,  sondern  nur 
bituminöse  Mergel  auf,  die  Bedingungen  für  die 
Entstehung  von  Öllagern  war  eben  nicht  vorhan- 
den. Es  finden  sich  im  unterelsässischen  Petrol- 
gebiet  zwar  starke  Salzwasser,  aber  keine  Salzlager 
und  im  Oberelsaß  zwar  bitumenreiche  Mergel, 
aber  keine  ölhaltigen  Sande,  so  daß  im  Elsaß 
Salzlager  und  Erdöllager  sich  auszuschließen 
scheinen. 

Wie  nun  die  genauen  Untersuchungen  der 
Pechelbronner  Schichten  gezeigt  haben,  befinden 
sich  die  reichsten  Öllager  dort,  wo  Süßwasser- 
schichten mit  fossilreichen  Schichten  wechsel- 
lagern. Die  Dicke  der  schlauchartigen  Erdölflöze 
bei  Pechelbronn,  welche  ringsum  von  einer  dun- 
kelen,  bituminösen  mit  Braunkohle  durchsetzten 
Mergelzone  umschlossen  sind,  schwankt  zwischen 
0,3  und  2  m  und  steigt  bisweilen  bis  4,  in  ein- 
zelnen Fällen  sogar  bis  5  und  6  m.  Die  längsten 
Ölschläuche  erstrecken  sich  800  m  weit  und 
haben  eine  durchschnittliche  Breite  von  30  m. 
Sie  entsprechen  in  ihrer  Lage  jedoch  nicht  der 
Streichrichtung  der  Schichten,  sondern  sind  nur 
durch  die  Entstehungsverhältnisse  bedingt,  was 
das  Aufsuchen  der  Ölschläuche  sehr  erschwert. 
Dazu  kommt  noch ,  daß  besonders  nach  Ablage- 
rung des  Oligozäns,  in  der  nächst  jüngeren  Periode 
des  Tertiärs  im  Miozän,  das  Rheintal  stark  von 
Störungen  betroffen  wurde.  Diese  beschränkten 
sich  nicht  nur  auf  die  Abbruchränder,  sondern  sie 
haben  in  mindestens  ebenso  starkem  Maße  —  wie 
ich  dies  besonders  in  letzter  Zeit  bei  den  Auf- 
schlußarbeiten  im    oberelsässischen  Tertiär    nach- 


weisen konnte  —  auch  den  Untergrund  der 
heutigen  Rheinebene  betroffen.  Das  Einfallen 
der  Schichten  ist  im  allgemeinen  bei  Pechelbronn 
mit  2  "  gegen  den  Rhein  gerichtet,  doch  machen 
sich  im  einzelnen  infolge  der  Störungen  viele  Ab- 
weichungen geltend. 

Durch  Herrn  Ingenieur  Tzschach  mann  wur- 
den an  der  Hand  zahlreicher  Bohrlöcher  13  ver- 
schiedene Öllager  über  der  roten  Leitschicht  bei 
Pechelbronn  festgestellt,  von  denen  die  zwischen 
58  und  191  m  über  derselben  gelegenen  Horizonte 
die  reichste  Ölführung  aufwiesen.  Die 
schwereren  Öle  finden  sich  häufiger  in  den  tieferen 
Lagen,  sie  sind  reich  an  Paraffin,  so  daß  sie  mit- 
unter ein  Verstopfen  der  Bohrlöcher  hervorrufen. 
Nach  der  Schwere  lassen  sich  mehrere  Gruppen 
unterscheiden,  deren  spezifisches  Gewicht  zwischen 
0,859  """^  0,915  schwankt.  Doch  waren  die  im 
Schachtbetrieb  gewonnenen  Öle  noch  schwerer 
als  diese  durch  Springquellen  oder  Pumpen  er- 
schlossenen. 

Das  Öl  ähnelt  am  meisten  dem  pennsylvani- 
schen  und  zeichnet  sich  durch  einen  hohen 
Asphaltgehalt  aus,  weshalb  bei  trockener  Destil- 
lation ein  bedeutender  Koksrückstand  bleibt. 

Während  die  Bohrungen  vor  1880  den  Zweck 
hatten  festzustellen,  wohin  der  unterirdische 
Abbau  sich  wenden  sollte  um  neue  Lager  zu  er- 
schließen, dienen  die  nach  dieser  Zeit  unter- 
nommenen Bohrungen  zur  direkten  Gewinnung 
des  Petroleums  selbst. 

Die  im  Jahre  1881  nördlich  vom  Schachte 
Pechelbronn  niedergebrachten  Bohrlöcher  ergaben, 
bis  auf  ein  ölfündiges,  schwach  salzhaltige  Wasser 
und  Gas,  welch  letzteres  so  stark  ausströmte,  daß 
Herr  Le  Bei  es  in  seinem  Laboratorium  jahrelang 
zu  Heiz-  und  Beleuchtungszwecken  benutzen 
konnte.  Im  April  1882  wurde  dann  durch  das 
Bohrloch  Nr.  146  in  138  m  Tiefe  eine  Springöl- 
quelle erschlossen,  die  ungefähr  6  Jahre  lang  un- 
ausgesetzt täglich  200  Faß  Öl  lieferte. 

Nicht  immer  tritt  das  erbohrte  Erdöl  als  Spring- 
quelle auf,  sehr  oft  muß  es  erst  durch  Pumpen 
zu  Tage  gefördert  werden.  Es  beruht  dieser 
Unterschied  auf  dem  Gehalt  an  absoibiertcn 
Gasen,  die  zum  größeren  Teil  aus  Sumpfgas,  zum 
kleineren  aus  ölbildenden  Gasen  und  Olefinen  be- 
stehen. Die  Gase  entweichen  beim  Anbohren 
und  treiben  das  Öl  in  die  Höhe;  wo  der  Gas- 
druck zum  Emporbringen  des  Öles  fehlt,  muß 
der  Pumpenbetrieb  einsetzen.  Gerade  die  Spring- 
quellen sind  es,  welche  das  elsässische  Erdöl  vor- 
teilhaft von  demjenigen  von  Oelheim  in  der  Pro- 
vinz Hannover  unterscheiden,  da  sie  von  Wasser 
fast  freies  Erdöl  heraufbringen. 

Eines  der  ergiebigsten  Bohrlöcher  war  das 
Bohrloch  Nr.  186,  das  1884  in  135  m  Tiefe  fün- 
dig wurde  und  mit  300  Faß  pro  Tag  völlig  aus- 
reichte, um  den  damaligen  Gesamtbedarf  der 
Pechelbronner  Ölraffinerie  zu  decken.  Ganz  be- 
sonders günstig  gestalteten  sich  Bohrungen  im 
Jahre   1886,  in  welchem  Jahre    die  bedeutendsten 


N.  F.  XIII.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


697 


Springülquellcn  angetroffen  wurden,  so  daß  sich 
die  Gesamtproduktion  an  Rohöl  von  2874  Tonnen 
im  Jahre  1885  auf  7168  Tonnen  erhöhte.  Heute 
sind  diese  reichen  Springquelleii  als  solche  nicht 
mehr  vorhanden,  sie  liefern  jedoch  als  Pump- 
quellen immer  noch  große  Ölmcngen.  Was  die 
Produktion  und  Lebensdauer  einer  Ölbohrung  be- 
trifft, so  herrschen  die  größten  Differenzen.  Man- 
che sind  nach  dem  Anbohren  des  Öllagers  sofort 
sehr  ergiebig,  erschöpfen  sich  aber  rasch,  andere 
liefern  pro  Tag  nur  geringe  Mengen  Öl,  halten 
aber  oft  mehrere  Jahre  lang  an  und  versiegen 
ganz  allmählich.  Die  zahlreichen  Rohrungen  er- 
wiesen im  nördlichen  Teil  des  Pechelbronner 
Feldes,  daß  die  in  größerer  Tiefe  aufgefundenen 
Öllager  auch  Schläuche  darstellen,  die  sich  nahe- 
zu in  der  gleichen  Richtung  erstrecken  wie  die 
in  früherer  Zeit  durch  den  Streckenbau  erwie- 
senen Schläuche,  daß  dagegen  nach  Süden  nach 
Dürrenbach,  sich  ausgedehnte  cMsandlager  ein- 
stellen. Natürlich  waren,  in  Anbetracht  des 
schlauchförmigen  Auftretens  des  Öles,  nur  ein  ver- 
hältnismäßig geringer  Teil  der  Bohrungen  fündig 
gev/orden,  ja  nur  3%  derselben  erschlossen  Öl- 
quellen, die  mindestens  30  Faß  pro  Tag  lie- 
ferten. 

Wie  schon  erwähnt,  wurde  südsüdwestlich  von 
Pechelbronn  bei  Dürrenbach  und  Morsbronn 
das  Vorkommen  von  Öl  nicht  in  Schläuchen,  son- 
dern als  Ölsandflöze  nachgewiesen,  von  denen  4, 
die  5  m,  97  m,  258  m  und  298  m  über  der 
roten  Leitschicht  gelegen,  von  abbauwerter  Bedeu- 
tung sind. 

Ferner  wurden  südlich  von  Pechelbronn  bei 
B  i  b  1  i  s  h  e  i  m  und  in  denWaldrevierenOber- 
stritten  und  Glaswinkel  (Glaswinkel  liegt 
etwa  1,5  km  südlich  von  Walburg)  viele  Bohr- 
löcher abgeteuft,  die  SSW— NNO  streichende  gute 
Ollager  bei  Biblisheim  in  3,  bei  Oberstritten  und 
Glaswinkel  in  6  verschiedenen  Horizonten  über 
der  Leitschicht  ergaben.  Die  Breite  des  Öl  füh- 
renden Streifens  erkannte  man  bei  Oberstritten  zu 
400  m. 

Daß  sich  Ölvorkommen  im  Elsaß  aber 
noch  bedeutend  weiter  südlich  finden,  beweisen 
die  über  10  km  südsüdwestlich  von  Pechelbronn 
südlich  der  Moder  niedergebrachten  Bohrungen 
von  Uhlweiler  und  Ohlungen.  Bei  Uhl- 
weiler  liegt  das  reichste  etwa  50  m  über  der 
roten  Leitschicht,  bei  Ohlungen-Ost  wurde  bei 
80  m  der  reichste  von  6  Olhorizonten  erwiesen, 
und  bei  Ohlungen-West  war  nur  eine  45  m 
über  den  roten  Mergeln  gelegene  Schicht  pro- 
duktiv. 

Die  Ergebnisse  bei  Uhlweiler  und  Ohlungen 
waren  ziemlich  günstig.  Eine  zeillang  tritt  das 
Öl  frei  aus  den  Bohrlöchern  aus,  und  diese  lie- 
fern auch  noch  später  durch  Pumpbetrieb  größere 
Mengen. 

Merkvvürdigerwei<e  wurden  aber  in  dem  Gebiet 
zwischen  Uhlweiler,  Ohlungen  und  Dürrenbach 
keine     abbauwürdigen     Ölvorkommen     erwiesen; 


auch  ließ  sich  an  der  Ausbildung  der  Schichten 
erkennen,  daß  das  Pechelbronner  Feld  von  Norden 
her  die  ölbildenden  Stoffe  zugeführt  bekam,  wäh- 
rend bei  Uhlweiler  die  Anschwemmung  der  orga- 
nischen Masse  aus  Westen  erfolgte. 

Einem  anderen  höheren  geologischen  Horizont 
als  die  bisher  erwähnten  Vorkommen  gehört  das- 
jenige von  Schwab  Weiler,  südöstlich  von 
Pechelbronn  an.  In  alter  Zeit  wurde  hier  wie  in 
Pechelbronn  Ölsand  durch  Schachtbetrieb,  der  bis 
70  m  Tiefe  ging,  gewonnen.  Nachdem  jedoch 
durch  50  Bohrlöcher  in  der  Umgebung  des 
Schachtes  die  weitere  Abbauwürdigkeit  des  Lagers 
als  ausgeschlossen  erkannt  wurde,  kam  der  Gruben- 
betrieb bei  Schwabweiler  1883  zum  Erliegen. 
Hier  bilden  die  Ölsandc,  zwischen  Tone  und 
Mergel  eingeschaltet,  jedoch  keine  Schläuche, 
sondern  sie  erstrecken  sich  als  2  m  mächtige  zu- 
sammenhängende Schichten  über  weite  Flächen. 
In  den  Jahren  1897  und  1898  wurden  drei  neue 
Bohrungen  niedergebracht,  von  denen  aber  nur 
eine  Gas  und  in  351  m  eine  warme  Salzquelle 
erbrachte.     Öl  wurde  nicht  gefunden. 

Ebenfalls  jünger  als  die  Erdöl  führenden 
Pechelbronner  Schichten  ist  das  Asphalt  vor- 
kommen von  Lobsann  Das  Bergwerk  liegt 
3  km  nördlich  von  Pechelbronn.  Hier  tritt,  be- 
gleitet von  Braunkohlenbildungen,  in  etwa  60  m 
Tiefe  ein  Süßwasserkalk  auf,  der  in  mehreren 
Bänken  Asphalt  führt,  welcher  seit  etwa  1 20  Jahren 
abgebaut  wird. 

Das  Hangende  des  Asphaltkalkes  wird  von 
einem  Konglomerat  gebildet,  dessen  Rollstücke 
durch  einen  groben  und  zähen  Pechsand  verbun- 
den sind.  Die  Braunkohle  entstammt  teils  einem 
Koniferenholz,  teils  ist  sie  aus  Palmfasern  gebildet, 
welch  letzteres  Auftreten  als  Nadelkohle  bezeichnet 
wird.  Sie  ist  reich  an  Eisenkies.  Durch  die  Zer- 
setzung desselben  und  das  Hinzutreten  von  Mag- 
nesiasalzen entstand  natürliches  Bittersalz  in  langen, 
feinen,  weißen  Nadeln.  Die  Dicke  der  Asphalt- 
bänke schwankt  zwischen  i  und  2,5  m  und  er- 
reicht stellenweise  5 — 10  m,  nach  der  Verwerfung 
am  Gebirgsrande  zu  sogar  25  m  Mächtigkeit. 
Nach  SO,  in  der  Richtung  auf  das  Dorf  Lobsann 
hin,  keilt  der  Asphaltkalk  aus.  Auch  bei  Pechel- 
bronn wurde  der  diesem  entsprechende  Kalk  ge- 
funden, ist  hier  aber  nicht  mehr  asphaltführend, 
so  daß  das  Vorkommen  nur  als  eine  lokale  Ein- 
lagerung aufzufassen  ist.  Der  Asphalt,  welcher 
ein  mehr  oder  weniger  festes  Umwandlungsprodukt 
des  Erdöls  darstellt,  ist  sehr  fest  an  den  Kalk  ge- 
bunden und  kann  deshalb  nicht  durch  Auskochen 
entzogen  werden.  Der  Bitumengehalt  des  Asphalt- 
kalkes beträgt  durchschnittlich  7 — 8  "/g  und  steigt 
gelegentlich  auf  18  "/„.  Spalten,  die  häufig  in  dem 
Asphaltlager  aufgeschlossen  wurden,  führen  viel- 
fach dickflüssiges  dunkles  Erdöl.  Der  Asphalt 
dient  teils  als  Asphaltmastix,  teils  wird  aus  ihm 
ein  vorzügliches  Schmieröl  gewonnen. 

Alle  Erdölvorkommen  liegen  ausschließlich  im 
Tertiär.    Alle  Versuche,  es  in  anderen  geologischen 


698 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Formationen  in  jener  Gegend  zu  erschUeßen,  haben 
keinen  Erfolg  gehabt  und  werden  —  wie  wir 
noch  sehen  werden  —  keinen  haben.  Es  ist  des- 
halb das  Petrolgebiet  nach  Westen  hin  durch  die 
große  Rheintalspalte  begrenzt.  Diese  ver- 
läuft von  Weißenburg,  wenig  östlich  von  Wörth 
über  Merzweiler  nach  Mommenheim.  Nach  der 
Rheinebene  zu  verdecken  zumeist  alluviale  und 
diluviale  Bildungen  das  Tertiär,  so  daß  hier  keine 
sicheren  Anhaltspunkte  für  neue  Bohrversuche 
mit  Aussicht  auf  Erfolg  vorhanden  sind. 

Nicht  nur  von  wissenschaftlichem  Interesse, 
sondern  auch  von  weitgehender  praktischer  Be- 
deutung ist  die  l'Vage  der  Entstehung  der 
Öllagerstätten. 

Noch  im  Jahre  1797  meinte  der  Kanonikus 
Ch.  Kluk  in  Warschau,  daß  das  Erdöl  seine 
Entstehung  der  Fruchtbarkeit,  die  im  Paradies 
geherrscht  habe,  verdanke.  Der  Erde  sei  damals 
Fett  beigemengt  gewesen ,  das  sich  infolge  des 
Sündenfalles  in  die  Tiefe  der  Erde  verzogen  und 
als  Erdöl  in  Höhlungen  angesammelt  habe.  In 
den  letzten  60  Jahren  sind  zahlreiche  Hypothesen 
und  Theorien  über  die  Entstehung  des  Erdöls 
aufgestellt  worden.  Die  einen  sehen  das  Urmaterial 
zur  Bildung  desselben  in  anorganischen  Stoffen, 
die  anderen  in  Pflanzen  oder  Mineralkohlen,  wieder 
andere  in  Tieren  und  endlich  welche  in  Tieren 
und  Pflanzen.  Heutzutage  kann  als  sicher  ange- 
nommen werden,  daß  das  Erdöl  sowohl  tierischen 
als  auch  pflanzlichen  Ursprungs  sein  kann,  doch 
ist  das  animalische  Material  in  den  meisten  Fällen 
maßgebend. 

Die  Vorgänge  bei  der  Erdölbildung  selbst  sind 
zum  Teil  recht  komplizierte.  Die  Bestandteile 
der  organischen  Reste,  aus  denen  sich  das  Petro- 
leum gebildet  hat,  sind  in  erster  Linie  Fettstoffe; 
untergeordnet  sind  in  Rechnung  zu  ziehen  Eiweiß- 
stoffe und  Kohlehydrate.  Nach  dem  Absterben 
des  pflanzlichen  und  tierischen  Materials  werden 
zuerst  Eiweiß  und  Zellstoff  zersetzt  und  die  wider- 
standsfähigen Fettstoffe  im  weitesten  Sinne  bleiben 
zurück.  Die  Umsetzung  dieser  in  das  Kohlen- 
wasserstoffgemisch des  eigentlichen  Petroleums  ist 
nach  Engler-Höfer  einer  gewaltsamen  Reak- 
tion zuzuschreiben  und  nicht  ein  Gärungsprozeß, 
wie  dies  im  ersten  Stadium  der  Umwandlung  der 
Fall  ist.  Starker  Druck  auch  während  langer 
Zeiträume  genügt  als  P'aktor  nicht  für  den  che- 
mischen Abbau  der  Fette  zu  Erdöl.  Es  bedarf 
noch  einer  Erhöhung  der  Temperatur,  die  zwar 
nicht  so  hoch  zu  sein  braucht,  wie  bei  den  Labo- 
ratoriumsversuchen iiS^")'  sondern  erheblich 
niedere  Temperaturen  können  in  langen  Zeit- 
räumen dieselbe  Wirkung  auf  die  Umsetzung  aus- 
üben. Wahrscheinlich  haben  wir  es  mit  ver- 
schiedenen Temperaturen  bei  der  Entstehung  zu 
tun,  worauf  die  Verschiedenartigkeit  in  der  che- 
mischen Zusammensetzung  der  Erdöle  hinweist. 
Was  den  Druck  anbelangt,  so  ist  hierbei  sowohl 
das  Gewicht  der  überlagernden  Schichten,  als  auch 


der  durch  Faltungen  und  Verwerfungen  entstehende 
Seitendruck  zu  berücksichtigen. 

Der  ganz  erstaunliche  Ölreichtum  in  manchen 
Ländern  setzt  unbedingt  eine  sehr  große  Anhäufung 
von  organischen  Resten  voraus.  Diese  kann  ent- 
weder eine  normale  sein,  oder  aber  ein  katastro- 
phaler Massenmord  war  die  Ursache.  In  ersterem 
Falle  haben  wir  es  entweder  mit  koloniebildenden 
Tieren,  wie  z.  B.  Austern  zu  tun,  oder  die  im 
offenen  Wasser  schwimmenden  Tierleichen  werden 
durch  ständige  Winde  und  Strömungen  in  einer 
Bucht  zusammengetrieben.  Der  Wellenschlag 
trägt  Sand  herbei,  bringt  die  Leichen  zum  Sinken 
und  begräbt  sie.  Eine  Schlammschicht,  unter  der 
die  Umwandlung  der  Kadaver  zu  Erdöl  stattfinden 
kann,  schließt  sie  endlich  völlig  ab.  So  häufen 
sich  am  Grunde  der  Bucht  Tierleichen  an  und 
zwar  um  so  stärker,  wenn  das  Gebiet  sich  in 
einer  Phase  allmählicher  Senkung  befindet. 

Sind  andererseits  Änderungen  in  den  Lebens- 
bedingungen der  Tiere  so  schnell  erfolgt,  daß 
eine  Anpassung  an  die  neuen  Verhältnisse  nicht 
mehr  möglich  war,  so  mußte  dies  einen  Massen- 
mord zur  Folge  haben.  Auf  diese  Weise  können 
durch  untermeerische  Vulkanausbrüche,  Epidemien 
oder  eine  plötzliche  starke  Vermischung  von  Süß- 
und  Meerwasser  die  ganze  Tierwelt  auf  eine  große 
Strecke  hin  vernichtet  werden,  wofür  Beispiele 
aus  der  Gegenwart  mehrfach  bekannt  geworden 
sind. 

Wie  haben  wir  uns  nun  die  Bildung  des 
Erdöls  im  Elsaß  zu  denken? 

Andrea  und  nach  ihm  van  Werveke  sehen 
in  den  langgestreckten  schlauchartigen  mannigfach 
verzweigten  Sandlagen  die  vielgestaltigen  wechseln- 
den Arme  des  Mündungsdeltas  eines  hier 
in  das  Meer  sich  ergießenden  Stromes; 
und  erklären  die  Mergel  als  Hochwasserabsätze 
in  der  angrenzenden  Sumpf-  und  Lagunenland- 
schaft. 

Die  Erklärung,  die  van  Werveke  für  die 
Bildung  der  Lagerstätten  gibt,  ist  die  folgende: 
In  der  weiteren  Umgebung  von  Pechelbronn 
wechsellagcrn  Süß-  und  Brackwasserschichten  mit 
Meeresablagerungen,  „während  im  allgemeinen  ein 
Übergreifen  der  jüngeren  über  die  älteren  Schichten 
von  Süden  nach  Norden  stattfindet.  Daß  zugleich 
mit  den  Sauden  Organismen,  deren  Reste  noch 
erkennbar  sind,  verfrachtet  wurden,  hat  die  Beschrei- 
bung der  ( )llagerstätten  gezeigt.  Weit  zahlreichere 
Organismen  sind  aber  wohl  vollständiger  Zersetzung 
anheimgefallen.  Sicher  haben  die  wechselnden 
Einflüsse  an  der  Grenze  des  Süßwassers  und  des 
Meerwassers  ungünstig  auf  den  Fortbestand  tieri- 
schen Lebens  eingewirkt,  und  die  zugrunde  ge- 
gangenen Organismen  samt  den  durch  die  Flüsse 
gebrachten  organischen  Reste  sind  hier  angehäuft 
worden  und  haben  nach  ihrer  Einbettung  das 
Erdöl  geliefert.  Bei  Pechelbronn,  wo  wir  Grund 
haben,  den  häufigsten  Wechsel  zwischen  Süß- 
wasser und  Meerwasser  anzunehmen,  haben  wir 
denn    auch    die    zahlreichsten    Ülhorizonte.      Im 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


699 


]<"aulsand,  der  die  Reste  umschlossen,  hat  die 
Zersetzung  unter  Wärmeentwicklung  begonnen, 
diese  hat,  begünstigt  durch  die  Länge  der  Zeit 
und  die  allmählich  zunehmende  Überdeckung, 
die  weitere  Umsetzung  bis  zur  Rohölbildung  ge- 
fördert. Noch  heute  sind  die  Umsetzungen  nicht 
zum  Abschluß  gekommen,  und  durch  sie  erklären 
wir  die  ungewöhnlich  hohen  Temperaturen,  die 
wir  aus  dem  Erdölgebiet,  insbesondere  aus  den 
erdölführenden  Schichten  kennen". 

Auf  Grund  dieser  Erklärung  für  die  Entstehung 
des  elsässischen  Erdöls  befindet  sich  also  das 
Öl  im  Tertiär  auf  primärer  Lagerstätte  d.  h. 
es  ist  gleichaltrig  mit  den  Schichten,  von  denen 
es  umschlossen  wird. 

Nach  einer  anderen  Anschauung  soll  das  Pe- 
troleum sich  in  älteren  Formalionen  gebildet 
haben,  nachträglich  aus  großer  Tiefe  auf  Spalten 
in  das  Tertiär  aufgedrungen  sein  und  in  Sauden 
und  Sandsteinen  desselber  sich  angesammelt  haben. 
(S  palt  en  t  h  eor  ie.)  Zwar  ist  es  eine  Tatsache, 
daf3  starke  Zerreißungen  das  Tertiär  nach  seiner 
Ablagerung  betroffen  haben,  sie  werden  auch  hin 
und  wieder  eine  Wanderung  des  Öles  von  einem 
Horizont  zu  einem  anderen  begünstigt  haben, 
aber  man  müßte  dann  auch  im  Untergrund  des 
Tertiärs,  in  den  mesozoischen  Schichten,  Gesteine 
antreffen,  welche  durch  Destillation  Öl  abgeben 
könnten.  Diese  Schichten  müßten  ferner  beson- 
ders in  den  von  zahlreichen  Spalten  durchsetzten 
Vorhügeln  der  Vogesen  ölhaltig  sein.  Die  Unter- 
suchungen in  dieser  Hinsicht  haben  ein  völlig 
negatives  Ergebnis  gehabt.  Es  wurden  in  den 
letzten  Jahren  Tiefbohrungen  durch  das  Tertiär 
in  die  liegenden  Schichten  vorgenommen,  die  bis 
in  den  oberen  Buntsandstein  hinabgingen.  In  den 
mesozoischen  Schichten  fanden  sich  allerdings 
bitumenhaltige  Schiefer  und  Kalksteine,  aber  die 
Bindung  des  Bitumens  ist  eine  so  innige,  daß 
eine  Entziehung  auf  anderem  Wege  als  durch 
Glühen  unmöglich  ist.  Einen  weiteren  Beweis 
für  die  Ursprünglichkeit  des  Bitumens  in  den  ter- 
tiären Schichten  sehe  ich  in  dem  reichen,  zweifel- 
los ursprünglichen  Bitumengehalt  der  gleichaltrigen 
Mergel  im  Oberelsaß,  die  mehrere  hundert  Meter 
mächtig  sind.  Hier  tritt  nur  selten  auf  Spalten 
Gas  und  wenig  Petroleum  auf.  Die  Bedingung 
zur  Bildung  von  Erdölansammlungen  in  Gestalt 
von  zur  Ölaufnahme  geeigneten  Gesteinen  sind 
hier  eben  nicht  vorhanden.  Tritt  aber  im  Ober- 
elsaß z.  B.  in  den  sog.  „typischen  Fischschiefern", 
die  im  Glaskölbchen  erhitzt  Öl  abgeben,  gelegent- 
lich eine  Sandlage  auf,  so  ist  diese  stets  von  Erdöl 
durchtränkt. 


Wenn  auch  einige  hier  nicht  näher  zu  erör- 
ternde Momente  für  eine  sekundäre  Entstehung 
der  elsässischen  Erdölagerstätten  sprechen  mögen, 
so  sind  doch  die  angeführten  Gründe  so  schwer- 
wiegende, daß  es  als  vollständig  erwiesen  gelten 
kann,  daß  sich  das  Erdöl  im  Tertiär  auf  ursprüng- 
liche Lagerstätte  befindet. 

Es  ist  die  Anschauung  über  die  Entstehung 
der  elsässischen  Erdöllagerstätten  auch  von  großer 
Bedeutung  für  die  Praxis.  Wenn  man  jetzt 
die  „Spaltentheorie"  als  unbegründet  abweisen 
kann,  ist  das  Gebiet  der  Neubohrungen  zwar  nur 
ein  verhältnismäßig  beschränktes,  man  hat  aber 
begründete  Aussicht,  in  diesem  günstige  Funde 
zu  erzielen. 

Bis  jetzt  ist  durch  die  Ergebnisse  vor  etwa 
1800  Bohrungen  die  Ölführung  im  elsässischen 
Tertiär  für  ein  Gebiet  von  rund  350  qkm  nach- 
gewisen  worden. 

Zum  Schluß  mögen  die  folgenden  Zahlen 
einen  Einblick  in  die  geforderten  Erdöl- 
und  Asphaltmengen  und  deren  Wert  seit 
dem  Jahre   1875   bzw.   1890  geben: 

Erdöl 
Fördermenge  in  Tonnen      Gesamtwert  in  Mark 


1875  • 

•  •     742 

51974 

1880  . 

.  .    1053 

108  231 

1885  . 

.  .  3086 

123602 

1886  . 

.  .  7  689 

550883 

1890  . 

•  •  12977 

903  854 

1895 . 

•  •  IS  439 

738  940 

1900  . 

.  .  22  586 

I  285656 

1905  . 

.  .  21  128 

I  162  040 

1909  . 

.  .  29422 

I  691  705 

191 1  . 

•  •  43  748 

2  615  000 

1912  . 

■  •  47  176 

2  831  000 

I9I3  • 

•  •  49  584 

Asp 

lalt 

1890  . 

.  .  I  148 

13776 

1895 . 

•  •  3  540 

36816 

1900  . 

.  .  6988 

59389 

1905  . 

.  .  6939 

S55II 

1909  . 

■  •  3  987 

39870 

I9II  . 

.  .  5  002 

50000 

I9I2  . 

.  .  s  161 

52000 

I9I3  • 

■  ■  6  354 

Aus  diesen  Zahlen  geht  deutlich  die  bedeu- 
tende Steigerung  der  Erdölproduktion  besonders 
in  den  letzten  Jahren  hervor. 

Die  Zahl  der  bei  der  Erdöl-  und  Asphalt- 
gewinnung beschäftigten  Arbeiter  betrug  im  Jahre 
191 2  447,  im  Jahre   191 3   516. 


Einzelberichte. 


Chemie.  Neue  Forschungen  über  Acetyl- 
cellulose.  In  der  diesjährigen  Hauptversammlung 
des  Vereins  Deutscher  Chemiker  in  Bonn  hielt 
Prof.  E.  Knoevenagel  einen  Vortrag,  der  die  Er- 


gebnisse seiner  letzten  Untersuchungen  auf  dem 
Gebiet  der  Acetylcellulose  zusammenfaßte.  Dieser 
seit  kurzem  zu  zahlreichen  technischen  Zwecken 
(Herstellung    von    Films,    künstlicher  Seide,  Zellu- 


700 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  44 


loidcrsatz,  Lacke  usw.)  verwendete  Stoff  hat  bis- 
her zwar  von  tcclinischen  Gesichtspunkten  aus 
eine  rege  Bearbeitung  gefunden;  seine  wissen- 
schaftliche PJrforschung,  die  Aufklärung  seiner  Zu- 
sammensetzung und  seiner  Umwandlungen  ist 
aber  noch  nicht  über  das  Anfangsstadium  hinaus- 
gekommen. Die  Acetylcellulose  wird  bekanntlich 
aus  Baumwolle  gewonnen,  indem  man  diese  mit 
Essigsäureanhydrid  unter  Anwendung  eines  Ka- 
talysators behandelt.  Als  reaktionsbeschleunigende 
Substanzen  werden  Schwefelsäure  und  andere 
starke  Säuren  sowie  saure  Salze  benutzt.  Die  Wir- 
kung dieser  Katalysatoren  besteht  nicht  nur  darin, 
daß  sie  den  eigentlichen  X'^organg  der  Acetylierung 
beschleunigen,  sondern  auch  darin,  daß  sie  eine 
,,acetolytische"  Aufspaltung  des  Cellulosemolcküh 
herbeiführen,  d.  h.  einen  Abbau,  bei  dem  sicli 
Essigsäureanhydrid  an  ätherartige  Bindungen  des 
Moleküls  anlagert.  Die  „Acetolyse"  der  Cellulose 
erfolgt  nach  Knoevenagel  in  anderer  Weise  wie 
die  „hydrolytische"  Aufspaltung,  die  durch  Säuren 
ohne  Mitwirkung  von  Essigsäureanhydrid  herbei- 
geführt wird.  Beide  Reaktionsarten  führen  über 
verschiedene  Zwischenprodukte  schließlich  zur 
Dextrose  und  anderen  Zuckern.  Um  Acetyl- 
cellulosen  herzustellen,  die  sich  von  einem  nur 
wenig  abgebauten  Cellulosemolekül  ableiten,  muß 
man  die  Acetolyse  nach  Möglichkeit  zurückhalten, 
was  sich  durch  Auswahl  milde  wirkender  Kataly- 
satoren erzielen  läßt.  Man  erhält  so  technisch 
wertvolle  Produkte,  die  aber  verhältnismäßig 
schwer  löslich  sind  und  in  dieser  Hinsiclit  mit 
den  entsprechenden  Salpetersäureestern  der  Cellu- 
lose, den  Schießbaumwollen,  verglichen  werden 
können.  Man  hat  sich  bemüht,  die  sog.  chloro- 
formlöslichen Acetylcellulosen  durch  leichter  lös- 
liche Produkte  zu  ersetzen ,  die  also  mit  den 
Kollodiumwollen  in  Parallele  zu  setzen  wären. 
Da  die  Kollodiumwollen  weniger  Stickstoff  ent- 
halten als  die  Schießbaumwollen,  lag  es  nahe, 
durch  Verringerung  des  Essigsäuregehalts,  d.  h. 
durch  partielle  Verseifung  der  chloroformlöslichen 
Acetylcellulose  zu  einem  leichter  löslichen  Essig- 
säureester der  Cellulose  zu  gelangen.  Tatsäch- 
lich gelang  es,  dies  Ziel  zu  erreichen.  Nach  Miles 
(Am.  Pat.  838350;  23.  n.  1904)  verfährt  man 
hierzu  in  der  Weise,  daß  man  auf  Acetylcellulose 
im  primären  Acetylierungsgemisch  stark  hydro- 
lytisch wirkende  Mittel  in  Gegenwart  von  Wasser 
zur  Einwirkung  kommen  läßt.  Dasselbe  erzielt 
man  nach  einem  Patent  der  Farbenfabriken  vorm. 
Fried.  Bayer  &  Co.  (PVanz.  P.  371447,  27.  10. 
1906)  dadurch,  daß  man  die  hydrolytisch  wirk- 
same Substanz  (z.  B.  Säuren)  auf  die  fertige 
Acetylcellulose  in  wässeriger  Suspension  einwirken 
läßt.  Man  erhält  so  durch  die  gleichzeitige  Wir- 
kung von  Hydrolyse  und  Verseifung  eine  Acetyl- 
cellulose, die  leicht  löslich  in  Aceton  ist. 

Auf  einem  andern  Wege  konnte  Knoevenagel 
die  Umwandlung  der  chloroformlöslichen  Acetyl- 
celluose  in  ein  acetonlösliches  Produkt  bewerk- 
stelligen.     Er    zeigte,    daß    man    durch    einfaches 


Erhitzen  von  acetonunlöslichen  Acetylcellulosen  mit 
Essigester,  Benzol,  Aceton  oder  andern  organischen 
Lösungsmitteln  in  Abwesenheit  von  Wasser  mit 
oder  ohne  Katalysatoren  ebenfalls  zu  acetonlöslichen 
Celluloseacetaten  gelangt.  Soll  die  Umlagerung 
in  der  primären  Acetylierungslösung  vorgenommen 
werden,  so  ist  es,  zur  Vermeidung  acetolytischer  Pro- 
zesse, nötig,  das  überschüssige  Essigsäureanhydrid 
durch  Wasser  zu  zerstören.  Genaue  Untersuchungen 
ergaben  nun  das  wichtige  Resultat,  daß  die  Ace- 
t\'lzahl  der  Acet)-lcellulose  beim  Eintreten  der 
Acetonlöslichkeit  fast  gar  nicht  heruntergeht, 
und  daß  ferner  die  Kupferzahl  der  acetonlöslich 
gewordenen  Acetylcellulose  —  ein  Maß  für  die 
reduzierendeWirkung  des  entsprechenden  CcIIulose- 
komplexes  ■ —  nicht  höher,  sondern  eher  niedriger 
wird,  als  sie  bei  dem  Ausgangprodukt  gefunden 
wurde.  Dies  bedeutet  mit  andern  Worten,  daß 
es  möglich  ist,  auch  ohne  Verseifung  und  ohne 
Hydrolj'se  acetonlösliche  Acetylcellulose  herzu- 
stellen; da  die  technische  Brauchbarkeit  aufs  Engste 
mit  dem  Grad  der  bei  der  Herstellung  eingetretenen 
H\-drolyse  verknüpft,  ist,  wird  es  verständlich,  daß 
die  nach  dem  Knoevenagelschen  Verfahren  gewonene 
Acetylcellulose  besonders  wertvolle  Eigenschaften 
besitzt.  Was  die  theoretische  Deutung  der  Um- 
wandlungen von  chloroformlöslicher  Acetylcellulose 
in  acetonlösliche  anbetrifft,  so  ist  die  Annahme 
nicht  unwahrscheinlich,  daß  diese  Erscheinungen 
ihrem  Wesen  nach  Isomerievorgänge  darstellen, 
d.  h.  auf  Umlagerungcn  innerhalb  des  Acetyl- 
cellulosemoleküls  zurückzuführen  sind. 

Bugge. 

Physik.  Über  radioaktive  Meßmethoden  und 
Einheiten  berichten  A.  Becker  und  C.  Ram- 
sauer,  beide  am  radiologischen  Institut  in 
Heidelberg,  in  den  Sitzungsberichten  der  Heidel- 
berger Akademie  der  Wissenschaften,  die  bei 
der  Universitätsbuchhandlung  Carl  Winter,  Heidel- 
berg erscheinen  (1914,  2)7  Seiten,  Preis  0,80  Mk.) 
Es  soll  hier  zunächst  nur  über  die  Arbeit  von 
C.  Raumsauer:  Über  die  Analyse  radio- 
aktiver Substanzen  durch  Sublimation 
berichtet  werden.')  Der  Verfasser  gibt  ein  Ver- 
fahren an,  das  in  schwach  aktive  n  St  offen, 
z.  B.  Ouellsintern,  denGehalt  anRadium, 
Thorium  und  Aktinium  nebeneinander 
quantitativ  zu  bestimmen  gestattet  und 
zwar  mit  einer  Genauigkeit  von  -|-  20°l^.  Er 
treibt  zunächst  durch  Erwärmen  aus  den  zu 
untersuchenden  Substanzen  die  aktiven  Nieder- 
schläge heraus;  das  sind  die  festen  Zerfallprodukte 
der  Emanationen,  die  sich  im  Laufe  der  Zeit  im 
Untersuchungsmaterial  bis  zur  Gleichgewichts- 
menge angehäuft  haben.  Zu  dem  Zweck  wird 
die    Versuchssubstanz    in    eine  Mulde    aus  Platin- 


')  Ober  die  andere  in  dem  Heft  enthaltene  Arbeit  von 
A.  Becker:  Über  Emanations-  und  Radiummessungen  nach 
den  meist  gebräuchliclien  Methoden  und  mit  dem  Emano- 
meter,  soll  später  gleichzeitig  mit  einer  Beschreibung  des 
Emanometers  referiert  werden. 


N.  F.  Xni.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


701 


blccii  gebracht,  die  durch  den  elel-;trisclicn  Strom 
auf  1 1  50"  erwärmt  wird.  Diclit  über  der  Mulde 
ist  von  ihr  isoliert  das  auf  —  220  Volt  aufgeladene 
und  mit  Eis  gefüllte  Meßgefäß  angebracht.  Das 
Ganze  ist  luftdicht  in  eine  zweiteilige  Glasglocke 
eingeschlossen.  Beim  Glühen  entweichen  die  ak- 
tiven Niederschläge  aus  der  Muttersubstanz  und 
sublimieren  auf  dem  halben  Roden  des  Meßge- 
fäßes. Versuche  ergeben,  daß  die  Sublimation 
hauptsächlich  in  der  ersten  Minute  erfolgt;  des- 
halb wird  als  Glühdauer  4  Min.  festgelegt.  Nach- 
dem auf  diese  Weise  die  aktiven  Niederschläge 
der  Untersuchungsubstanz  auf  die  zu  aktivierende 
Fläche  gebracht  sind,  wird  die  zeitliche  Abfall- 
kurve bestimmt ;  aus  dieser  läßt  sich  dann,  wenn 
man  die  Abfallkurven  der  reinen  Grundbubstanzen 
kennt,  auf  den  Gehalt  der  Unlersuchungssubstanz 
an  Radium,  Thorium  und  Aktinium  schließen. 
Zur  Bestimmung  der  Abfallkurve  dient  folgende 
Vorrichtung:  Das  Meßgefäß  mit  dem  Sublimations- 
niederschlag wird  auf  ein  Metalltischchen  gestellt, 
das  mit  dem  Elektrometer  verbunden  ist.  Tisch- 
chen und  Meßgefäß  sind  als  Gegenelektrode  von 
einem  von  ihnen  isolierten,  zylindrischen  Metall- 
gefäß umgeben,  das  auf  200  bis  3C0  Volt  auf- 
geladen wird.  Mit  dem  Elektrometer  läßt  sich 
die  pro  Sekunde  von  der  aktivierten  Fläche  zum 
Zylinder  übergehende  Elektrizität^mcnge  und  da- 
mit beliebig  viele  Punkte  der  Abfallkurve  be- 
stimmen. —  Zum  Verständnis  sei  folgendes  er- 
wähnt: Die  aktiven  Niederschläge,  die  sich  aus 
der  Emanation  bilden,  sind  mit  Ausnahme  des 
Thoriums  sehr  kurzlebig;  er  besteht  z.  B.  beim 
Radium  i.  aus  RaA,  Periode  der  halben  Umwand- 
lung 3,0  Min.,  2.  aus  RaB  26.7  Min.,  3.  RaC, 
19,5  Min.  und  4.  RaC,  1,38  Min.  Das  nächste 
Umwandlungsprodukt  ist  dann  das  langsam  zer- 
fallende RaD  (mittlere  Lebensdauer  etwa  24  Jahre). 
Wenn  mithin  diese  schnell  zerfallenden  Substanzen 
isoliert  sind  und  sich  demnach  nicht  aus  der 
Muttersubstanz,  der  Emanation,  neu  bilden  können, 
ist  es  klar,  daß  sie  schon  nach  kurzer  Zeit  ver- 
schwunden sind,  d.  h.  sich  auf  dem  geschilderten 
Wege  in  das  beständigere  RaD  verwandelt  haben. 
Der  Zerfall  wird  von  der  Aussendung  von  Strah- 
len begleitet  (« Strahlen),  so  daß  anfangs  die 
Strahlung  beträchtlich  ist  und  mit  der  Zeit  ab- 
nimmt. —  Die  Abfallkurve  wird  in  der  oben  ge- 
schilderten Weise  bestimmt  und  war  zunächst  für 
die  reinen  Substanzen:  ein  Radiumpräparat  von 
bekanntem  Gehalt  wird  4  Minuten  lang  der  Subli- 
mation unterworfen ;  dann  wird  die  aktivierte 
Fläche  in  den  Meßraum  gebracht  und  die  Abfall- 
kurve bestimmt.  Dasselbe  geschieht  mit  einem 
Thorium-  und  einem  Aktiniumpräparat.'  Die 
Kurven  lassen  sich  aus  den  bekannten  Umwand- 
lungskonstanten auch  berechnen;  die  Überein- 
stimmung zwischen  den  beobachteten  und  be- 
rechneten Kurven  war  befriedigend.  Jetzt  wird 
in  genau  derselben  Weise  die  Abfallkurve  des 
Versuchsmaterials  (Kreuznacher  Onellsinter,  2  g 
wurden   geglüht)   bestimmt.     Diese    läßt    sich 


dann  als  Summe  der  drei  Grund  kurven 
auffassen  unddemgemäß  analysieren.  Da 
dit  aktiven  Niederschläge  des  Thorium  sehr  lang- 
sam zerfallen,  beruht  die  Aktivität  nach  etwa 
4  Stunden  im  wesentlichen  auf  dem  Gehalt  an 
Thorprodukten,  so  daß  man  die  in  der  Sinterkurve 
enthaltene  Thorkurve  mit  der  Hilfe  der  bekannten 
Grundkurve  leicht  nach  rückwärts  konstruieren 
und  von  der  Sinterkurve  in  Abzug  bringen  kann. 
Die  Restkurve  ist  dann  als  Summe  der  Radium- 
und  Aktiniumkurve  aufzufassen;  auf  etwas  kom- 
pliziertere Weise  lassen  sich  auch  hier  die  Ein- 
zelkurven finden.  Das  Resultat  der  Zerlegungs- 
versuche für  den  Kreuznacher  Sinter  ist:  65% 
Radium-,  25"/,,  Thorium-  und  10"/^  Aktinium- 
Strahlung.  Durch  Bestimmung  der  absoluten 
Trägermenge  läßt  sich  auch  die  absolute  Zu- 
sammensetzung des  Sinters  in  bezug  auf  aktive 
Produkte  berechnen.  Es  ergibt  sich  pro  Tonne 
Sinter  1,73  mg  Radium,  1,88  ■  10 — *  mg  Thorium  X 
und  4,88- 10 — "  mg  Aktinium  X,  ein  Resultat, 
das  in  guter  Übereinstimmung  mit  dem  nach 
einem  anderen  Verfahren  erhaltenen  ist. 

K.  Schutt,  Hamburg. 

Paläontologie.  Neue  Cyrtograptenfunde  im 
Mittel-  und  Obersilur  Ostthüringens.  Die  mittel- 
silurischen  Kieselschiefer  und  vor  allen  Dingen 
die  Alaunschiefer  des  Mittel-  und  Obersilurs  Ost- 
thüringens sind  von  jeher  eine  unendlich  reiche 
Fundgrube  von  Graptolithen  gewesen.  Der  be- 
tagte ostthüringer  Graplolilhenforscher  Robert 
Ei  sei  konnte  deshalb  hier  an  der  Hand  des 
reichlich  gebotenen  Vergleichsmaterials  die  mittel- 
und  obersilurischen  Zonen  Lapworth's  (Zonen 
10  —  19  für  Mittelsilur  und  Zone  20  für  Obersilur), 
die  dieser  für  England  aufstellte,  nachweisen.  So 
erfuhr  das  Mittel-  und  Obersilur  Ostlhüringens 
durch  ihn  eine  gute  Gliederung,  die  für  die  an- 
deren Graptolithenfundgebiete  Deutschlands  erst 
nach  und  nach  Anwendung  finden  kann,  sobald 
von  dort  mehr  Material  bekannt  werden  wird. 

Nun  war  es  immer  schon  auffällig  gewesen, 
daß  unter  massenhaft  erhaltenen  Graptolithen- 
resten,  den  Monograpten,  Diplograpten,  Climaco- 
grapten,  Dimorphograpten,  Rastriten,  Demirastriten 
nur  selten  ein  Cyrtograptus  sich  zeigte,  jene 
Gra[)tolithenart,  bei  der  sich  vom  Rhabdosom  Äste 
abzweigen.  In  England  und  Schweden  dagegen 
sind  gerade  diese  Arten  schön  erhalten  und  be- 
schrieben worden. 

1875  bildet  R.  Richter')  in  der  Zeitschrift 
der  Deutsch,  geol.  Gesellschaft  auf  Tafel  VIT, 
Fig.  13  einen  Graptolithen  aus  dem  Alaunschiefer 
von  Schmiedefeld  ab,  der  dem  Cyrtograptus  Mur- 
chisoni  Carr.,    mit  dem    der  Autor  ihn  vergleicht, 

.  ähnlich  ist.  Die  Zone  16,  die  Heimatzone  dieses 
Graptolithen,    ist    nach  H.  Meyer-)    an    der   ge- 

.  nannten  Stelle  vertreten.  Diese  Tatsache  macht 
die  Bestimmung  wahrscheinlich.  So  wäre  das 
der  erste  aus  Ostlhüringen  bekannt  gewordene 
Cyrtograptus.     In    den    ersten  Graptolithenfaunen 


•J02 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  44 


von  Ei  sei'')  finden  sich  noch  Cyrtograptus  Grayi 
Lapw.,  Cyrtograptus  attenuatus  Lapw.,  Cyrtograp- 
tus Carrutheri  Lapw.  angeführt.  Stücke,  die  ohne 
Zweifel  sind,  hat  man  noch  nicht  gefunden. 
Cyrtograptus  attenuatus  Lapw.  war  in  den  un- 
teren Zonen  lo — 13  nachweisbar,  Cyrtograptus 
Grayi  Lapw.  findet  sich  in  den  Zonen  14 — 16 
und  Cyrtograptus  Carrutheri  Lapw.,  ist  in  Zone 
20  (Obersilur)  zu  Hause.  Als  seltenere  Cyrto- 
grapten  führt  Eisel  aus  Zone  16  noch  Cyrto- 
graptus Linnarsoni  und  aus  derselben  Zone 
Cyrtograptus  flaccidus  an.  Diesem  ersten  von 
R.  Richter  erwähnten  Cyrtograptus  fügt  1887 
Leonh.  Törnquist'')  einen  neuen  Cyrto- 
graptus vom  Wetterahammer  zu.  (Ort  heißt 
in  meiner  Graptolithenfauna '')  des  reußischen 
Oberlandes  richtiger  ,, Heinrichstaler  Hammer".  Er 
wird  in  den  folgenden  Zeilen  immer  unter  diesem 
Namen  genannt  werden.)  Er  beschreibt  ihn  als 
Cyrtograptus  radians  Törnquist.  Zuerst  ist  er  in 
angefüinter  Arbeit,  Seite  491,  abgebildet.  Geinitz 
glaubt  1890''')  in  dem  Cyrtograptus  radians  Törnq. 
vom  Heinrichstaler  Hammer  eine  Jugendform  von 
Cyrtograptus  Murchisoni  Carr.  zu  erkennen. 

Das  waren  lange  Zeit  die  einzigen  Cyrtograpten, 
die  aus  dem  an  Graplolithen  so  reichem  Mittel- 
und  Obersilur  Ostthüringens  bekannt  geworden 
waren.  An  der  Heinrichstaler  Mühle  fand  Geheim- 
rat Zimmermann  einen  Cyrtograptus  Murchi- 
soni Carr.'')  und  in  derReußischen  Geologischen  Lan- 
dessammlung in  Gera  liegt  ein  gleicher  Cyrtograptus 
aus  Zone  16  von  Ronneburg  (Aktienweberei).*) 
Den  Cyrtograptus  radians  Törnquist  konnte  Karl 
Walt  her  auch  aus  einem  Wegeinschnitt  von 
Stehen  nach  Unterzeitclwaidt  feststellen. ")  Es 
handelt  sich  hier  wohl  um  Zone  20  (Obersilur), 
denn  Karl  Walther  gibt  „gerade  Grapto- 
lithen"  von  dort  an.  Diesen  Cyrtograptus 
radians  Törnq.  vom  Heinrichsthaler  Hammer 
beschreibt  Törnquist  dann  selbst  noch  einmal 
genauer  19 lO.  ^*')  Er  glaubt  die  Zone  mit  Mono- 
graptus  testis  und  Monograptus  Flemingi,  also 
Zone  19,  als  Heimatzone  ansehen  zu  dürfen.  In 
der  gleichen  Arbeit  beschreibt  Törnquist  neu 
von  der  gleichen  Fundstelle  einen  16 zweigigen 
Cyrtograptus  multiramis  Törnq.  (Taf.  62,  Fig.  5,  6). 
Die  Zone  ist  die  gleiche  wie  bei  Cyrtograptus 
radians  Törnq.  Diesem  Funde  reiht  sich  der  vom 
Sieglitzberge  bei  Lobenstein  an,  der  von  mir  als 
Cyrtograptus  Törnquisti  Hundt  beschrieben  wur- 
de. ^')  Die  dreimal  vergrößert  gegebene  Abbil- 
dung zeigt,  wie  von  dem  zu  einer  Ellipse  ver- 
quetschten Rhabdosom  acht  Zweige  abgehen. 
Und  in  ganz  letzter  Zeit  macht  uns  Rob.  Eisel 
noch  mit  einigen  neuen  Cyrtograpten  bekannt'-). 
Von  Triebes  bildet  er  auf  Tafel  VllI,  Fig.  i 
einen  Cyrtograptus  Lundgreni  Tullb.  aus  Zone  19 
ab.  Als  neu  beschreibt  er  eine  Varietät  von 
Lundgreni:  Cyrtograptus  Lundgreni  Tullb.  variatio 
Trilleri  Eisel  ebenfalls  aus  Zone  19  von  Triebes 
(Taf.  VIII,  Fig.  2,  3).  Diese  Varietät  unterscheidet 
sich    von    Lundgreni    dadurch,    daß    Trilleri    ein 


kreisförmiges  Rhabdosom  ausbildet,  von  dem 
nicht  2 — 3,  sondern  4 — 7  Äste  in  größerer  Länge 
(bis  14  cm  lang)  ausgehen.  Weiter  beschreibt 
Rob.  Eisel  neu  in  der  gleichen  Arbeit  von 
Weckersdorf :  Cyrtograptus  ruthenicus  Eisel  (Taf.  IX, 
Fig.  1  —  5,  Tafel  X,  Fig.  G-|-7),  Aus  den  ihn 
begleitenden  Graplolithen  wie  Mon.  nudus,  Mon. 
priodon,  Mon.  dubius,  Cyrtograptus  Murchisoni 
konnte  er  auf  Zone  16  schließen.  Von  dem  kür- 
zeren, mehr  gekrümmten  Rhabdosom  gehen 
6 — 12  Äste  aus,  die  sich  dicht  drängen.  Mit 
einem  anderen  Prachtstück  macht  uns  die  Arbeit 
Eisel  noch  bekannt  von  Weckersdorf  aus  der 
gleichen  Zone  16.  Es  ist  der  von  ihm  neube- 
nannte Cyrtograptus  ruthenicus  var.  polypus  Eisel, 
der  nicht  weniger  als  25  Arme  vom  Rhabdosom 
aussendet. 

Auf  eine  geistreiche  Arbeit  Rob.  Eisel's,''') 
die  an  der  Hand  vieler  Abbildungen  die  Entwick- 
lung von  Rastriten,  Demirastriten  vermutungsweise 
auch  von  Monograpten  und  Cyrtograpten  nachweist, 
muß  ich  noch  aufmerksam  machen.  Nach  ihm  hat 
sich  aus  Cyrtograptus  attenuatus  Hopk.  (rastriticus 
Eisel)  in  Zone  1 1  Rastrites  spina  entwickelt,  der 
sich  in  Zone  12  a  in  Rastrites  spina  Rieht.,  Demi- 
rastrites  nobilis  Törnq.  und  Demirastrites  trian- 
gulatus  Harkn,  teilt.  Aus  Rastrites  spina  ent- 
wickeln sich  in  den  höheren  Zonen  die  übrigen 
in  Ostthüringen  nachgewiesenen  Rastriten.  Aus 
den  Demirastriten  werden  Monograpten,  sobald  die 
Zellen  sich  berührend  an  der  Achse  treffen.  Cyrto- 
graptus rastriticus  Eisel  kommt  auch  später  noch 
in  Zone  12  b  und  13  mit  spinaartigen  Zellen  vor. 
Eisel  kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  sich  in  den 
oberen  Zonen  die  Cyrtograpten  in  Monograpten 
umwandeln.  Als  Beispiel  führt  er  an,  daß  sich 
aus  dem  C\Ttograptus  Carrutheri  in  Zone  19  in 
der  folgenden  Zone  20  Monograptus  Nilsoni  ent- 
wickelt hat.     Desgleichen    vermutet  er  auch  eine 


Cyrtograptus 


sp. 

Autor 

IG 

MUtels.lur                          ^jj^^ 

II  I2a'l2b  13  14  15 

I6[i7|i8[i9|     20 

attenuatus 

Lapw. 









(rastriticus   Eis.) 

Carrutheri 

Lapw. 

— 

— 

Grayi 

Lapw. 

— 

— 

— 

— 

flaccidus 

— 

— 

Linnarsoni 

Lapw. 

— 

radians  * 

Törnij 

— 

muUiramis  * 

Törnq 

— 

murcliisoni 

Carr. 

— 

Lundgreni 

Tullb. 

— 

var.  Trilleri  * 

Eisel 

— 

ruthenicus  * 

Eisel 

- 

var.   polypus  * 

Eisel 

— 

Törnquisti  * 

Hundt 

— 

— 

N.  F.  Xm.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


703 


Entwicklung    von    proteus,    arinatus,    intermedius, 
gcmmatus  aus  Cyrtograpten. 

Im  Anschluß  an  die  Neuentdeckungen  von 
C_\Ttograpten  aus  dem  Mittel-  und  Obersilur  Ost- 
thüringens will  ich  in  einer  Tabelle  die  bis  jetzt 
aus  Ostthüringen  bekannt  gewordenen  Cyrtograpten 
mit  ihren  Zonen  anführen.  Die  mit  einem  Stern 
versehenen  Arten  sind  bis  jetzt  nur  aus  Ostthüriiigen 
bekannt  geworden. 

Literatur. 

1)  R.Richter,  Aus  dem  Thüringischen  Schiefergebirge. 
Zeitschr.  d.  Deutsch,  geologischen  Gesellschaft  ]>.  271,  Taf.  VIII, 

Mg-    ij- 

2)  H.  Meyer,  Die  miltelsilurischen  Graptolilhenschiefer 
bei  Saalfeld.  p.  8.  Mitteil,  des  Vereins  für  Geologie  in 
Saalfeld  in  Thüringen.      1910/1912. 

3)  R.  Eisel,  Über  die  Zonenfolge  ostthüringischer  und 
vogtländischer  Graptolithenschiefer.  39./42.  Jahresbericht  der 
Gesellschaft  von  Freunden  der  Naturwissenschaften.  Gera. 
Separat,  p.   10. 

4)  L.  Törnquist,  Anteckningar  cm  de  äldre  paleo- 
zoiska  leden  i  Ostthüringen  och  Voigtland.  Geol.  Foren,  i. 
Stockholm  Forh.  Bd.   IX,  p.  491. 

5)  R.  Hundt,  Beitrag  zur  Graptolithenfauna  des  Mittel- 
und  Obersilurs  d.  reußisclien  Oberlandes  und  einiger  angren- 
zender Gebiete.  51. ,'52.  Jahresber.  d.  Gesellsch.  v.  Fr.  d. 
Nalurw.  in  Gera.     Sep.  p.  9. 

6)  Br.  Geinitz,  Die  Graptolithen  des  K.  Mineralog. 
Museums  in  Dresden.     Kassel   1S90,    p.  23. 

7)  E.  Zimmermann,  Das  Obersilur  an  der  Heinrichs- 
thaler  Mühle  im  Wettcratalc  bei  Gräfenwarth.  43. ,'44.  Jahres- 
bericht d.   Gesellsch.   v.   Fr.   d.  Naturw.   in   Gera,   p.  48. 

8)  K.  Löscher,  Die  geologische  Landessammlung. 
Gera  1914,  p.  6. 

9)  K.  \Vallher,  Geologie  der  Umgebung  von  Bad  Stehen 
im  Frankenwalde,     p.   151. 

10)  L.  Törnquist,  Tvä  Cyrtograptus-arter  frän  Thü- 
ringen. Geol.  Foren.  Förh.  1910,  p.  1559 — 1564,  von  E. 
Zimmermann  übersetzt  im  43-/44.  Jahresb.  d.  Ges.  v.  Fr.  d. 
Naturw.  in  Gera. 

11)  R.  Hundt,  Zweiter  Nachtrag  zu  meiner  Graptolithen- 
fauna. 55./56.  Jahresb.  d.  Gesellsch.  v.  Fr.  d.  Naturw.  Sepa- 
ratum  p.  4,  Taf.  VII. 

12)  R.  Eisel,  Über  neuere  Graptolithen  des  reußischen 
Oberlandes.  55-/56.  Jahresber.  d.  Gesellsch.  v.  Fr.  d.  Naturw. 
in  Gera.    p.   171— 173,  Taf.   Vlll,  IX,  X. 

13)  R.  Eisel,  Über  zonenweise  Entwicklung  der  Rastri- 
ten und  Demiratriten  in  den  mittelsilurischen  Graptolithen- 
schiefern  Thüringens  und  Sachsens.  53./54.  Jahresbericht  der 
Gesellsch.  v.  Fr.  d.  Naturw.  in  Gera.     Mit  3  Tafeln. 

R.  Hundt. 

Botanik;  Enzymregulation  bei  Schimmelpilzen. 
Die  Untersuchungen  über  Enzymbildung  bei  Bakte- 
rien, Hefepilzen  und  Schimmelpilzen  haben  gezeigt, 
daß  der  Organismus  vielfach  imstande  ist,  die  Enzym- 
ausscheidung je  nach  den  Ernährungsbedingungen 
zu  regulieren.  Viele  Enzyme  (so  faßt  Harald 
Kylin  die  herrschenden  Ansichten  zusammen) 
werden  unter  mehreren  verschiedenen  oder  sogar 
unter  allen  Ernährungsbedingungen  gebildet,  an- 
dere aber  werden  nur  dann  gebildet,  wenn  ein 
besonderer  Stoff  in  der  Kulturflüssigkeit  anwesend 
ist,  nämlich  der,  der  vom  Enzym  gespalten  wird. 
Es  soll  demnach  unter  gewissen  Bedingungen 
eine  Regulation  in  der  Qualität  der  gebildeten 
Enzyme,  oder,  wie  Kylin  es  nennt,  eine  quali- 
tativeEnzymregulation  vorkommen  können. 
Außerdem  gibt  es  eine  quantitative  Enzym- 
regulation, die  darin  besteht,  daß  ein  Enzym  unter 


mehreren,  sehr  verschiedenen  Bedingungen  gebil- 
det wird,  daß  aber  die  Enzymmenge  sich  dann 
vergrößert,  wenn  die  Kulturflüssigkeit  denjenigen 
Stoff  enthält,  der  vom  Enzym  gespalten  werden 
soll.  Die  in  der  Literatur  über  qualitative  Enzym- 
regulation vorhandenen  Angaben  findet  Kylin 
ziemlich  unsicher.  Auch  ist  ihr  Vorkommen 
neuerdings  mehrfach  bestritten  worden.  Nur  eine 
Angabe  erscheint  zuverlässig,  nämlich  die  von 
Knudson  (191 3),  daß  das  Enzym  Tannase  bei 
Aspergillus  niger  und  Penicillium  sp.  nur  dann 
gebildet  wird,  wenn  die  Kulturflüssigkeit  Gerb- 
säure oder  Gallussäure  enthält.  Kylin  hat  bei 
seinen  Untersuchungen  über  die  Bildung  von  Dia- 
stase,  Invertase  und  Maltase  bei  Aspergillus  niger 
und  Penicillium  glaucum  immer  eine  quantitative, 
aber  keine  qualitative  Enzymregulation  nachweisen 
können.  So  wird  bei  den  genannten  Pilzen  Dia- 
stase  auch  dann  gebildet,  wenn  die  Kulturflüssig- 
keit keine  Stärke  enthält;  die  Diastasemenge  wird 
aber  vergrößert ,  wenn  der  Kulturflüssigkeit  eine 
geringe  Menge  Stärke  zugesetzt  wird.  Auch  wenn 
die  Pilze  auf  Malzzucker,  Chinasäure,  Mannit, 
Glyzerin  als  einziger  Kohlenstoffquelle  kultiviert 
werden,  bilden  sie  kleine  Mengen  von  Diastase. 
Dextrin  vergrößert  in  beiden  Fällen  die  Diastase- 
bildung  ebenso  sehr  wie  Stärke.  Wenn  die  Kultur- 
flüssigkeit neben  Stärke  Traubenzucker  enthält, 
so  vermindert  sich  die  Produktion  von  Diastase. 
Auch  Maltase  und  Invertase  werden  auf  den  oben 
genannten  Nährstoffen  als  einziger  Kohlenstoffquelle 
gebildet,  wenn  auch  in  viel  geringerer  Menge  als 
auf  Rohrzucker  oder  Maltose.  (Jahrbücher  für 
wissenschaftliche  Botanik  19 14,  Bd.  53,  S.  465 
bis  499.)  F.  Moewes. 

Astronomie.  Ein  neuer  photographischer  At- 
las des  Mondes  wird  soeben  in  Lieferungen  im 
Anschluß  an  das  Werk  von  Löwy  undPuiseux 
von  deren  Mitarbeiter  Le  Morvan  herausge- 
geben. Aus  den  sehr  zahlreichen  Platten,  die  diese 
an  dem  gebrochenen  Äquatoreal  der  Pariser  Stern- 
warte erhalten  haben,  und  die  zum  Teil  sehr 
stark  vergrößert  herausgegeben  sind,  um  als  Grund- 
lage für  alle  selenographischen  Arbeiten  zu  dienen, 
hat  Le  Morvan  48  Stück  herausgesucht,  je  24 
bei  abnehmendem  und  zunehmendem  Monde.  Diese 
sind  so  verteilt,  daß  die  24  zusammen  einen  Mond- 
atlas von  I  Meter  Durchmesser  ergeben,  es  hat 
jedes  Blatt  38:49  cm  Größe.  Die  Blätter  sind  in 
Heliogravüre  wundervoll  ausgeführt,  mit  genauer 
Angabe  des  Alters  des  Mondes  im  Moment  der 
Aufnahme,  und  der  selenographischen  Koor- 
dinaten der  Ecken  des  Blattes,  so  daß  man  jede 
Gegend  leicht  im  Fernrohr  nachweisen  kann.  Die 
natürlich  sehr  kostspielige  Herausgabe  des  Werkes 
ließ  sich  nur  mit  Hilfe  einer  Unterstützung  der 
französischen  Akademie  der  Wissenschaften  durch- 
führen. Den  Text  zu  dem  Atlas  hat  Pulse ux 
geschrieben,  der  seit  vielen  Jahren  auf  diesem  Ge- 
biete arbeitet.  Es  hat  ja  immer  etwas  mißliches, 
den  Mond    photographisch    aufzunehmen,    da    das 


704 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  44 


Aussehen  der  einzelnen  Formationen  so  sehr  von  sehen  und  gezeichnet  hat.  Nur  die  i8  jährige 
der  augenblickUchen  Beleuchtung  abhängt,  daß  eine  Frfahrung  des  Verfassers  und  das  ungeheure  ihm 
Gegen^d  erst  gut  bekannt  wird,  wenn  man  sie  im  vorliegende  Plattenmaterial  konnten  etwas  so  Her- 
Fernrohr  während    ihrer    ganzen  Sichtbarkeit   ge-  vorragendes  schaffen.  Riem. 


Bücherbesprechungeu. 

Emil  Hegg,  Dr.  med.,    Das  Ewige    im    Zeit-      Photographie. 

liehen,     eine     naturwissenschaftliche    Formu-      arbeiten    will, 

lierung.     Verlag  von    A.  Francke,    Bern,    1914. 

loi  Seiten.  —  Preis  geb  2,40  Mk. 
Der  Verf  der  vorliegenden  Schrift,  der  sich 
zum  Verkünder  und  Anwalt  eigenartiger,  nicht 
ohne  Scharfsinn  entworfener  Gedanken  des  Natur- 
philosophen J.  H.  Ziegler  macht,  ist  überzeugt, 
daß  das  reine  Denken  uns  das  Wesen  der  die 
Natur  zusammensetzenden  Uratome  zu  enthüllen 
und  ein  allgemeingültiges  Schema  zu  bieten  ver- 
mag, in  dem  alle  Aggregatzustände  vom  Licht 
bis  zum  festen  Körper  sowie  alle  spezifisch  körper- 
hchen  Zustände  ihrem  inneren  Zusammenhange 
nach  geordnet  erscheinen  und  der  Fluß  und  der 
Gegenfluß  des  Geschehens  sowie  die  Doppelseitig- 
keit jeder  Entwicklung  ihren  Ausdruck  finden.  — 
Schon  der  Ausgangssatz  der  Schrift,  daß  zwei 
Dinge,  die  in  Wechselwirkung  stehen,  einander 
nicht  wesensfremd  sein  können,  muß  Bedenken 
erwecken.  Wir  erfahren  nämlich  nicht,  ob  der 
Verf.  das  Wesen  der  Dinge  in  deren  Wechsel- 
wirkung oder  ob  er  es  in  irgendeinem  and  eren 
Merkmale  erblickt,  müssen  also  die  Aussage,  daß 
alle  Dinge  im  letzten  Grunde  Eines  seien,  ent- 
weder als  eine  inhaltsleere  Identität  oder  als  eine 
unbewiesene  Behauptung,  als  ein  Dogma  ansehen. 
Wenn  der  Verf.  weiterhin  von  grundsätzlich 
Unvorstellbarem  sich  sehr  bestimmte  Begriffe  zu 
bilden  weiß,  so  bestreiten  wir  die  Berechtigung 
eines  solchen  Denkens.  Sehr  fraglich  erscheint 
es  uns  endlich,  ob  der  Physiker  die  in  der  vor- 
liegenden Schrift  entwickelten  eigenartigen  An- 
schauungen von  Aggregatzuständen  und  Farben 
billigen  wird.  Angersbach. 

Hahne,     Friedrich,     Leitfaden     der    Film- 
ph  ot  ograph  ie.      Anleitung     zur     Ausübung 
der  Photographie  mit  Roll-,  Pack-  u.  Flachfilms 
unter    besonderer  Berücksichtigung    der   I-'ehler 
und  deren  Abhilfe.    Mit  ca.  50  Abb.    Ed.  Liese- 
gang's    Verlag  (E.  M.    Eger)   Leipzig.    —    Preis 
2  Mk.,  geb.  2,50  Mk. 
Es  werden    wertvolle    Ratschläge    erteilt    über 
alles   was    mit   der   Filmphotographie   zusammen- 
hängt, besonders    über  Fehler  und  deren  Abhilfe. 
Der  Verf  behandelt  den  Stoft'  gerecht  und    zeigt 
auch    die  Schattenseiten   und    Grenzen    der  P'ilm- 


Jedem,  der  mit  Films  arbeitet  oder 
sei  die  Anschaffung  empfohlen. 

Blunck. 


Anregungen  und  Antworten. 

Herr  Prof.  Häfele  in  Bozen  schreibt:  „Bezugnehmend  auf 
die  Notiz:  ,, Fremdkörper  in  Vogeleiern"  in  Nr.  36  der  Natur- 
wissenschaftlichen Wochenschrift  erlaube  ich  mir  mitzuteilen, 
daß  in  den  Sammlungen  des  hiesigen  Gymnasiums  sich  ein 
Hühnerei  befindet,  dessen  Bildungs-  und  Nahrungsdotter  von 
einem  Roßhaar  ganz  durchzogen  ist.  Vor  etwa  8  Jahren 
wurden  in  dem  unweit  Bozen  gelegenen  ,,Eppancrhof"-Gärteu 
mehrere  solche  Eier  in  gekochtem  Zustande  vorgesetzt;  äußer- 
lich war  nämlich  nichts  Auffallendes  zu  sehen.  Nach  dem 
Öffnen  der  Schale  wurden  diese  ,, Spezialitäten"  selbstverständ- 
lich zurückgewiesen.  Ein  E'xeniplar  wurde  mir  zugesendet, 
das  ich   in  .Alkohol  konservierte." 

Die  Erklärung,  die  Herr  Prof.  Häfele  gibt,  scheint  mir 
nicht  sehr  plausibel.  Er  meint  nämlich,  daß  die  Henne  Roß- 
haare verschluckt  habe  und  diese  nach  Durchbohrung  der 
Darmwand  in  den  Eierstock  gelangten.  Wahrscheinlicher 
wohl  ist  die  Erklärung,  die  früher  (Naturw.  Wochenschr.  N.  F. 
XIll,  Nr.  24,  S.  384)  bei  der  Beantwortung  der  Frage,  wie 
etwa  Pilze  und  Bakterien  in  Eier  hineingelangen  können,  ge- 
geben wurde,  daß  nämlich  bei  der  Anlage  der  verschiedenen 
Hüllen  im  Eileiter  Fremdkörper  in  das  Ei  eingeschlossen  wer- 
den. Es  wäre  dann  nur  noch  aufzuklären,  wie  sie  in  den 
Eileiter  gelangen  können.  Doch  ist  dies  immerhin  wohl  von 
außer  her  möglich.  Miche. 

In  Nr.  34  der  Naturwiss.  Wochenschrift  wird  von  Herrn 
v.  Wasielewski  das  Buch  von  Hegi,  aus  dem  Schweizer- 
landc,  besprochen.  Dabei  wird  auch  die  Blutbuche  er- 
wähnt. 

In  den  von  mir  herausgegebenen  Mitteilungen  des  Pom- 
merschen  Provinzialkonütees  für  Naturdenkmal  pflege  Nr.  5 
(1913)  steht  S.  12:  Grabow  a.  Oder  (Vorort  nördl.  von  Stettin). 
In  PoU's  Garten  steht  eine  schöne  Blutbuche  von  eigentüm- 
lichem Wüchse.  Der  kurze  0,50  m  hohe  Schaft  hat  3,20  ni 
Umfang;  in  der  erwähnten  Höhe  geht  der  unterste  Ast  ab. 
Höhe  der  ganzen  Baumes  21  m.  Nebenäste  haben  noch  1,10 
bis  1,50  m  Umfang.  Reich  verzweigte  Äste  gehen  nach  allen 
Seiten  ab,  so  daß  der  Baum  den  Eindruck  einer  großen  Laube 
macht.  Der  Kronendurchmesser  beträgt  20  m.  —  Der  Garten 
ist  ein  altes  Grundstück,  in  der  Familie  erblich.  Jedenfalls 
ist  der  Stamm  durch  eine  spätere  Ausschüttung  verkürzt. 
Pfropfungsstellen  sind  nicht  zu  erkennen.      J.  Winkelmann. 


Berichtigung. 

Infolge  eines  Druckfehlers  ergibt  sich  in  meinem  Referat 
über  Kafka,  Gustav,  Einführung  in  die  Tierpsycho- 
logie (siehe  Naturw.  Wochenschr.  Nr.  23  vom  7.  Juni  1914) 
eine  Sinnentstellung.  Kafk.n  tritt  nicht  für  Einschaltung  psy- 
chischer Faktoren  ein,  wie  das  auch  aus  den  weiteren  Erörte- 
rungen ersichtlich  ist.  Hinter  „doch"  ist  das  Wörtchen  „nicht" 
ausgefallen.     Besondere  Umstände  verzögerten  die  Berichtigung. 

Buttel-Reepen. 


Inhalt;  Werth:  Die  Mammutflora  von  Borna.     Wagner:    Die  Erdöl-  und   Asphaltlagerstätten   im  Unterelsaß.    —    Einzel- 
berichte: Knoevenagel:  Neue  Forschungen  über  Acetylcellulose.     Bec  ker  und  Ram  sauer:   Über  radioaktive  Meß- 
.  metlioden  und   Einheiten.      Hundt:   Neue   Cyrtograptenfunde  im  Mittel-   und   Obersilur   Ostthüringens.      Kylin:   Enzym- 
regulation bei  Schimmelpilzen.    Le  Morvan:   Photographischer  .'^tlas  des  Mondes.  —  Bücherbesprechungen:  Hegg: 
Das  Ewige   im  Zeitlichen.      Hahne:   Leitfaden  der  F'ilmphotographie.  —  Anregungen  und  Antworten.   —   Berichtigung. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Schriftleiter  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstraße   lia,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band, 


Sonntag,  den  8.  November  1914. 


Nummer  45. 


Verschiebimaen  in  der  Tierwelt  durch  den  Menschen. 


[Nachdruck  verboten. 


Von  Universitätsprofessor  Konrad  Guenther. 


Alles  auf  der  Erde  ist  in  steter  Veränderung 
begriffen.  Das  ist  ein  Naturgesetz,  das  jedermann 
kennt.  Am  auffallendsten  aber  zeigt  sich  dieses 
Gesetz  in  der  Organismenwelt.  Da  ist  ein  stetes 
Werden  und  Vergehen,  ein  Untersinken  und  Neu- 
auftauchen. In  der  letztvergangenen  Erdepoche, 
dem  Diluvium,  lebten  in  Europa  so  manche  Tiere, 
die  wir  heute  an  derselben  Stelle  vergebens 
suchen.  Klimatische  Veränderungen,  Wechsel 
von  Wasser  und  Land,  Gebirgsbildung,  das  alles 
beeinflußt  auch  die  Tierwelt.  Immerhin  hat  es 
in  der  freien  Natu»  im  allgemeinen  Jahrtausende 
gebraucht,  ehe  eine  durchgreifende  Änderung  in 
der  Tierwelt  sich  vollzog.  Dem  Menschen  blieb 
es  vorbehalten,  innerhalb  weniger  Jahrhunderte, 
ja  sogar  Jahrzehnte  derartige  Verschiebungen  in 
der  Tierwelt  hervorzubringen,  wie  sie  in  der  ganzen 
Erdgeschichte  noch  nicht  da  waren. 

Diese  Umwandlungen  hat  der  Mensch  teils 
mit  Absicht  vollzogen,  teils  haben  sie  ohne  seinen 
Willen  stattgefunden.  So  hat  Europa  erst  in  der 
Neuzeit  drei  unangenehme  Gäste  aus  dem  Orient 
bekommen,  die  Küchenschabe,  die  Wanze  und  die 
große  gelbe  Wanderratte.  Alle  drei  Tiere  kannte 
das  Mittelalter  bei  uns  noch  nicht.  Eine  Ratte 
gab  es  zwar  auch  vorher  in  Europa,  das  war  aber 
eine  kleinere,  schwarze  Form,  die  Hausratte,  die 
weit  weniger  Schaden  stiftete.  Die  Wanderratte 
überfiel  erst  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts 
unser  Land  und  zwar  von  zwei  Seiten.  Schiffe 
hatten  das  Tier  an  die  Westküste  unseres  Erdteils 
gebracht  und  gleichzeitig  kamen  ungezählte 
Scharen  von  Osten  her  über  Rußland  herein.  Und 
in  kurzer  Zeit  hatte  der  starke,  wilde  Einwanderer 
die  einheimische  Hausratte  fast  überall  verdrängt. 

In  ganz  Afrika  ist  heute  der  aus  Amerika 
stammende  Sandfloh  verbreitet,  dessen  Weibchen 
sich  in  die  Fußzehen  des  Menschen  einbohrt  und 
hier  Geschwüre  hervorruft.  Der  Durchstich  durch 
die  Landenge  von  Sues  hat  den  Haifischen  des 
Roten  Meeres  den  Weg  ins  Mittelmeer  eröffnet, 
und  mehrfache  Unglücksfälle  sind  seitdem  von 
der  italienischen  und  österreichischen  Küste  ge- 
meldet worden. 

Schon  die  Verbindung,  die  der  Mensch  mit 
seinen  Schiffen  zwischen  überseeischen  Ländern 
herstellt,  geben  manchem  Tier  Gelegenheit,  auf 
solch  einer  beweglichen  Brücke  in  eine  neue 
Heimat  zu  kommen.  Aber  auch  das  Wegschlagen 
von  Wäldern,  der  Stiaßenbau,  die  Umwandlung 
der  Natur  in  Kulturland  beeinflußt  die  Tierwelt 
und  bringt  manche  Art  zur  Einwanderung.  End- 
lich hat  auch  der  Versand  von  Gegenständen, 
besonders   von  Pflanzen   gewisse  Tiere  in  ein  an- 


deres Land  gebracht,  das  ihrer  Entwicklung  nicht 
selten  noch  günstiger  war,  als  das  alte,  so  daß 
sie  nun  erst  zu  einer  Plage  wurden.  Amerika 
„verdanken"  wir  auf  solche  Weise  den  Kartoffel- 
käfer, die  Blutlaus  und  die  Reblaus. 

Von  den  Tieren,  die  der  Mensch  freiwillig 
verschleppt  hat,  weil  er  sie  lieb  hatte  oder  sich 
von  ihnen  im  neuen  Lande  Nutzen  versprach,  ist 
an  erster  Stelle  sein  ältestes  Haustier  zu  nennen, 
der  Hund.  Über  die  ganze  Erde  ist  heute  der 
Hund  verbreitet,  er  ist  Kosmopolit  geworden,  wie 
sein  Herr.  Mancherorts  hat  er  sich  sogar  von 
der  Herrschaft  des  Menschen  freigemacht.  So  in 
Australien ,  wo  aus  dem  von  den  Eingeborenen 
wohl  aus  Südasien  eingeführten  Hunde  der  gelbe 
Dingo  geworden  ist,  der  nicht  nur  die  beiden 
vorher  einheimischen  Raubtiere,  den  Beutelwolf 
und  den  „Teufel",  letzterer  ein  schwarzes  Beutel- 
tier von  unbezähmbarer  Wildheit,  verdrängt  hat, 
sondern  neuerdings  auch  den  Schafherden  emp- 
findlichen Schaden  tut.  Schlimmer  noch  haben 
es  in  Südamerika  verwilderte  Hunde  gemacht. 
Noch  im  Jahre  1850  griffen  die  hungrigen  Tiere 
in  LIruguay  sogar  Reiter  an ,  so  daß  man  auf 
jeden  Hundeschwanz  eine  Prämie  aussetzte.  Hier- 
auf wurden  5000  Hunde  getötet. 

Nicht  nur  der  Hund,  sondern  alle  unsere  Haus- 
tiere verwildern ,  sich  selbst  überlassen ,  mit  ein- 
ziger Ausnahme  des  Schafes.  In  Westasien  sind 
mehrfach  verwilderte  Rinder,  Pferde  und  Kamele 
gefunden  worden.  Dieses  Land  hat  ja  seit  un- 
denklichen Zeiten  furchtbar  unter  hereinbrechenden 
wilden  Völkerscharen  gelitten.  Da  wurde  manch 
Dorf  zerstört,  die  Menschen  wurden  getötet  und 
nur  ein  paar  Haustiere  retteten  sich  und  waren 
nun  auf  sich  allein  angewiesen.  Auch  verwilderte 
Ziegen  und  Schweine  gibt  es  an  vielen  Orten. 
Von  den  ersteren  sind  die  von  der  Robinsoninsel 
Juan  Fernandez  am  bekanntesten.  Im  Jahre  1563 
wurden  sie  auf  dieser  südamerikanischen  Insel 
ausgesetzt,  da  sie  aber  den  Piraten  zur  willkom- 
menen Verproviantierung  dienten,  wollte  man  sie 
wieder  vernichten.  Man  setzte  Hunde  aus,  doch 
wurden  die  klugen  Ziegen  nur  scheuer  und  er- 
hielten sich,  während  die  Hunde  eingingen. 

Ein  eigenartiges  Schicksal  hat  das  Pferd  in 
Nordamerika  gehabt.  In  vorhistorischer  Zeit 
weidete  es  in  ungezählten  Scharen  auf  den  großen 
Grasflächen  des  Erdteils.  Dann  scheint  es  voll- 
ständig ausgestorben  zu  sein,  wodurch,  ist  ein 
Rätsel.  Seine  Nahrung  hat  sich  nicht  vermindert, 
neue  Feinde  hat  es  nicht  bekommen,  und  so 
bleibt  uns  nichts  übrig,  als  daß  wir  uns  entweder 
vorstellen ,     daß     irgendwelche     atmosphärischen 


706 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  45 


Strömungen  oder  auch  Wolken  schädlicher  In- 
sekten (gleich  der  Tsetsefliege  in  Afrika)  den 
Herden  den  Tod  brachten.  Wie  dem  aber  auch 
sei,  als  C  ort  es  nach  Mexiko  kam,  staunten  die 
Indianer  am  meisten  das  niegesehene  Pferd  an. 
Bald  gewöhnten  sie  sich  aber  an  das  neue  Haus- 
tier, manche  Stämme  der  Roten  wurden  zu  ver- 
wegenen Reitern  und  bei  steter  Züchtung  des 
Pferdes  geschah  es,  daß  wieder  einige  der  Tiere 
verwilderten  und  sich  so  stark  vermehrten,  daß 
sie  als  „Mustangs"  zum  zweitenmal  die  Steppen 
Nordamerikas  bevölkerten. 

Ein  Tier,  mit  dessen  Einführung  man  sehr 
üble  Erfahrungen  gemacht  hat,  ist  das  Kaninchen. 
Die  Heimat  dieses  schädlichen  Nagers  ist  Südwest- 
europa und  schon  zur  Zeit  des  Kaisers  Augustus 
wandten  sich  die  Bewohner  der  Balearen  mit  der 
Bitte  nach  Rom,  man  möge  ihnen  zur  Bekämpfung 
der  Plage  Soldaten  senden.  Heute  gibt  es  Kanin- 
chen in  ganz  Europa,  auf  Madeira,  Jamaika,  in 
Kalifornien,  auf  den  Falklandsinseln,  den  Kerguelen, 
in  Australien  und  Neuseeland.  Besonders  in  den 
beiden  letzten  Ländern  ist  das  Kaninciien  zu  einer 
furchtbaren  Landplage  geworden.  Überall  wühlt 
es  den  Boden  auf  und  verdirbt  dadurch,  sowie 
durch  Wegfressen  des  jungen  Grases  die  Weiden. 
Seinetwegen  mußte  man  große  Weideplätze  auf- 
geben, und  die  Schafzucht  ging  auf  ein  Viertel 
ihres  früheren  Umfangs  zurück.  Das  beste  Weide- 
land wurde  umzäunt.  So  lief  zwischen  Ncusüd- 
wales  und  Südaustralien  ein  519  km  langer  Draht- 
zaun dahin,  der  600000  Mark  kostete.  In  Neu- 
südwales gab  man  in  den  80  er  Jahren  über 
15  Millionen  Mark  für  Kaninchenvernichtungsmaß- 
regeln aus.  Aber  wirklich  bewährt  hat  sich  bis- 
her keine  derselben. 

Eingeführte  Füchse,  Marder,  Mungos  (indische 
Ichneumons)  gaben  die  Kaninchenjagd  bald  auf 
und  wählten  sich  das  bequemer  zugängliche  Haus- 
geflügel zur  Beute.  So  hatte  man  in  ihnen  nur 
neue  Schädlinge  gewonnen.  Auch  in  Westindien 
hatte  man  den  Mungo  zur  Bekämpfung  der  Ratten- 
plage eingeführt.  Mit  diesen  Nagern  wurde  das 
muntere  Raubtier  zwar  fertig,  aber  als  das  ge- 
schehen war,  mußte  es,  wie  natürlich,  sich  andere 
Nahrung  suchen,  brach  in  die  Hühnerställe  ein 
und  wurde  nun  seinerseits  bekämpft. 

Viel  zur  Einbürgerung  fremder  Tiere  haben 
die  Jäger  beigetragen.  Das  älteste  ausländische 
Jagdwild  in  Europa  ist  der  Fasan.  Schon  zur 
Römerzeit  bewohnte  er  Süddeutschland ,  ja,  nach 
der  Sage  sollen  ihn  die  Argonauten  über  das  Meer 
gebracht  haben  vom  Flusse  Phasis  und  der  Stadt 
Colchis,  Namen,  die  in  der  wissenschaftlichen  Be- 
nennung des  Fasans:  Phasianus  colchicus  nach- 
klingen. In  England  ist  das  südeuropäische  Rot- 
huhn ,  die  virginische  und  kalifornische  Wachtel 
eingeführt  worden,  in  Deutschland  das  schottische 
Moorhuhn  und  der  amerikanische  Wildputer.  Den 
amerikanischen  Wapitihirsch  und  den  Altaihirsch 
gibt  es  bereits  in  mehreren  deutschen  Jagdrevieren, 
Fürst  Pleß  hat  in  seinen  Besitzungen  den  Wisent 


eingebürgert,  im  I  larz  und  im  Taunus  gedeiht  das 
südeuropäische  Wildschaf,  der  Mufflon.  Auch 
Känguruhs  hat  man  in  der  Eifel  ausgesetzt.  Sie 
hielten  sich  gut,  wurden  aber  allmählich  von 
Wilderern  abgeschossen. 

Auch  Tierliebhabern  ist  die  Einbürgerung 
einiger  Arten  gelungen.  Insektenfreunde  haben 
große  ostasiatische  Spinnerschmetterlinge  bei  uns 
heimisch  werden  lassen,  Terrarien-  und  Aquarien- 
liebhaber eine  Reihe  von  Eidechsen  und  Zwerg- 
fischen. Von  fremdländischen  Nutzfischen  gibt 
es  bei  uns  die  Regenbogenforelle,  den  Bachsaibling, 
Schwarzbarsch  und  Forellenbarsch,  während  unsere 
Fische  vielfach  schon  in  fremden  Erdteilen  zu  fin- 
den sind.  So  habe  ich  in  den  Bächen  des  Hoch- 
landes von  Ceylon  die  muntere  Forelle  dahin- 
schießen  sehen,  die  hier  in  der  kühlen  Luft  dem 
Engländer  Gelegenheit  zu  gesundem  Angelsport 
gibt. 

Mehr  Tiere  als  bei  uns  haben  Liebhaber  in 
anderen  Erdteilen  eingebürgert,  so  vor  allem  in 
Nordamerika.  Der  Grund  ist  verständlich.  Die 
Auswanderer,  die  in  jenes  Land  kommen,  haben 
die  Liebe  zur  alten  Heimat  nicht  verloren  und 
denken  immer  wieder  an  das  Vaterland  zurück. 
Alles,  was  sie  an  dieses  erinnert,  ist  ihnen  lieb, 
und  so  vor  allem  auch  die  Stimmen  der  Vögel, 
die  sie  von  Kindheit  auf  in  Wald  und  Feld  gehört 
haben.  Die  Vögel  der  neuen  Heimat  sagen  ihnen 
nichts,  sie  sind  ihnen  fremd,  und  so  freuen  sie 
sich,  wenn  sie  wieder  altgewohnten  Gesang  hören, 
dadurch  wird  ihnen  die  neue  Umgebung  gewisser- 
maßen um  einen  Schritt  mehr  zur  Heimat.  Frei- 
lich, besser  wäre  es,  wenn  die  Ansiedler  sich 
Mühe  gäben,  mit  den  amerikanischen  Vögeln  ver- 
traut zu  werden,  unter  denen  herrliche  Sänger  sind, 
wie  die  Spottdrossel.  Auch  paßt  das  Einheimische 
besser  in  die  Landschaft  hinein,  das  Fremde  macht 
sich  oft  aufdringlich  bemerkbar  und  verdrängt  die 
Alteingesessenen. 

F'ür  letzteres  ist  das  beste  Beispiel  der  Spatz, 
der  mit  solchem  Erfolge  in  Amerika  eingebürgert 
worden  ist,  daß  er  zu  einer  Plage  wurde.  Aus  dem 
Osten  des  Erdteils  ist  er  allmählich  bis  an  den 
Stillen  Ozean  vorgedrungen,  überall  Schaden 
stiftend  und  die  einheimische  Vogelwelt  verjagend. 
Auch  in  Australien  macht  sich  der  dorthin  eben- 
falls gebrachte  Spatz  unangenehm  bemerkbar. 

Von  anderen  Vögeln  sind  in  Nordamerika 
bereits  fest  eingebürgert :  Star,  Amsel,  Mönchs- 
grasmücke, Singdrossel,  Lerche,  Buchfink,  Hänf- 
ling, Stieglitz,  Grünling,  Gimpel,  Kernbeißer,  Gold- 
ammer, Kreuzschnabel,  Waldschnepfe,  Rebhuhn, 
Fasan.  Mißerfolg  hat  man  eigentlich  nur  mit 
Nachtigallen  gehabt.  Die  anderen  Zugvögel  haben 
ihre  Wanderungen  aufgenommen,  soweit  sie  im 
Norden  nisten ,  und  gehen  im  Winter  an  den 
Stillen  Ozean,  ja  bis  nach  Mittelamerika. 

Dieselben  Arten,  die  oben  genannt  wurden, 
sind  auch  in  Australien  ausgesetzt  worden.  Es 
waren  hier  16  im  ganzen.  Leider  haben  die  Tiere 
häufig  ihre  Lebensgewohnheiten  zum  Nachteil  des 


N.  F.  XIII.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


707 


Menschen  verändert.  Der  Star  ist  in  Neuseeland 
zum  Fruchtfresser  geworden,  der  Grünling  zum 
Getreideschädling  und  die  Lerche  soll  gar  Rüb- 
samen fressen.  Der  aus  Indien  eingebürgerte 
indische  Star,  in  seiner  Heimat  ein  sehr  nützliches 
Tier,  verfolgt  in  Australien  junge  Hühner  und 
Tauben !  Kurz,  eigentlich  hat  man  bei  den  Ein- 
bürgerungsversuchen mehr  Arger  als  Freude  ge- 
habt. 

Und  das  ist  verständlich.  Denn  jedes  Tier  ist 
an  die  Umgebung,  in  der  es  lebt,  angepaßt  und 
wie  ein  Rädchen  in  ein  Uhrwerk  eingefügt.  Dar- 
um hat  die  Veränderung  jeder  Tierart  ihre  Folgen, 
die  oft  an  ganz  unvermuteter  Stelle  herauskommen. 
Und  wird  ein  Tier  in  ein  fremdes  Land  gebracht, 
so  wird  es  aus  allen  seinen  Beziehungen  heraus- 
gerissen. Zu  Hause  befindet  es  sich  im  Gleich- 
gewicht der  Natur,  in  der  Fremde  wird  es  das 
dortige  Gleichgewicht  stören. 

Von  jedem  Tier  laufen  gewissermaßen  Fäden 
aus,  die  es  mit  anderen  Tieren  und  Pflanzen  ver- 
knüpfen. Versetzt  man  es,  so  reißt  man  diese 
Fäden  ab,  und  das  Tier  muß  entweder  zugrunde 
gehen,  oder  es  entwickelt  sich  plötzlich  mit 
rasender  Geschwindigkeit,  da  viele  dieser  Fäden 
auch  hemmender  Natur  waren.  Derartige  Hem- 
mungen üben  vor  allem  die  Feinde  des  betreffen- 
den Wesens  aus,  und  so  sollte  man,  wenn  man 
irgendwo  eine  Tierart  einbürgert,  zum  mindesten 
auch  seine  Feinde  mitnehmen.  Denn  auch  die 
übernatürliche  schnelle  Entwicklung  führt  schließ- 


lich zum  Ende,  entweder  dadurch,  daß  das  Tier 
sich  so  unangenehm  bemerkbar  macht ,  daß  es 
vernichtet  werden  muß  oder  dadurch,  daß  es  an 
Übervölkerung  zugrunde  geht.  Übertriebenem 
Wachstum  folgt  immer  der  Tod,  das  lehrt  uns 
die  Geschichte  der  Organismenwelt  tausendfach. 
So  sollte  man  Einbürgerungen  nur  da  ver- 
suchen, wo  in  der  einheimischen  Tierwelt  wirk- 
lich eine  klaffende  und  sonst  nicht  zy  schließende 
Lücke  vorhanden  ist.  Und  mit  größter  Vorsicht 
auf  Grund  sorgfältiger  Untersuchungen  sollte  das 
neue  Tier  so  ausgesucht  werden,  daß  es  wirklich 
vollkommen  in  diese  Lücke  hineinpaßt  und  die 
Fäden,  die  seit  dem  Tode  des  alten  Tieres  in  der 
Luft  hängen,  sich  zwanglos  an  das  neue  anknüpfen 
lassen.  Statt  des  ausgerotteten  europäischen 
Bibers  könnte  man  den  südamerikanischen  Sumpf- 
biber (Myopotamus  coypu)  einführen,  der  als 
Grasfresser  weniger  schädlich  wäre.  Und  dort, 
wo  am  Ufer  eines  Flusses  oder  Sees  die  Schilf- 
landschaft entfernt  worden  ist  und  damit  den 
einheimischen  Enten  die  Brutgelegenheit  entzogen 
wurde,  ginge  es  wohl  an,  die  amerikanische  Braut- 
ente (Aix  sponsa)  auszusetzen,  die  in  leicht  an 
den  Bäumen  anzubringenden  Nistkästen  brütet. 
Bisher  sind  aber  derartige  Gesichtspunkte  kaum 
berücksichtigt  worden.  Und  so  erklärt  es  sich, 
daß  der  Mensch  auch  da,  wo  er  die  Natur  be- 
reichern wollte,  in  seinem  Unverstand  und  mit 
seinem  täppischen  Zugreifen  der  Verödung  von 
Wald  und  Feld  oft  nur  weiter  Vorschub  geleistet  hat. 


Die  Ursache  der  Pellagrakraiikheit. 


[Nachdruck  verboten.]  Von  Univ.-Prof.  Dr.   phil.   et  med. 

Die  Pellagra  ist  eine  in  gewissen  Landstrichen 
Südeuropas,  namentlich  in  Italien,  auftretende  Seuche, 
die  alljährlich  Tausende  von  Opfern  fordert.  Ihre 
Behandlung  ist  bis  jetzt  fast  erfolglos  geblieben. 
So  erliegen  ihr  in  Italien  allein  jährlich  ungefähr 
4000  Menschen.  Früher  war  die  Zahl  der  Krank- 
heitsfälle noch  bedeutend  größer.  Sie  betrug 
1881  104,067  und  trotzdem  sie  beständig  abnimmt, 
waren  es  1910  noch  33,869  Pellagrakranke.  Es 
ist  eine  meist  chronisch  verlaufende  Erkrankung, 
besonders  des  Nervensystems.  Sie  dauert  10 — 15 
Jahre  und  endigt  gewöhnlich  mit  dem  Tod;  nicht 
selten  führt  sie  zum  Wahnsinn. 

Ihre  Ursache  ist,  wie  bei  der  Krebskrankheit, 
mit  Sicherheit  bisher  nicht  bekannt.  Man  weiß 
!  nur,  daß  sie  ihre  Opfer  fordert  in  jenen  Bevölke- 
rungsschichten, für  die  der  Mais  das  Hauptnahrungs- 
niittel  bildet.  Auf  den  darin  liegenden  Hinweis 
stützt  sich  auch  die  älteste  Theorie  von  Lom- 
■  broso  und  seiner  Schule,  wonach  die  Verwen- 
dung von  verdorbenem  Mais  zu  Nahrungszwecken 
den  Anlaß  zum  Ausbruch  der  Pellagrakrankheit 
geben  soll. 

Tierversuche  indes  hatten  das  Ergebnis,  daß 
es  ganz  einerlei  ist,  ob  guter  oder  schlechter 
Mais  zur  F"ütterung  dient. 


L.  Kathariner,  Freiburg  (Schweiz). 

Nach  Guido  Tizzoni  wäre  ein  bestimmter 
auf  verdorbenem  Mais  vorkommender  Bazillus  der 
Krankheitserreger.  Tizzoni  nennt  ihn  Strepto- 
bacillus pellagrae. 

Nach  Prof  S  a  m  b  o  n  dagegen  wäre  die  Pella- 
gra veranlaßt  durch  einen  tierischen  Mikroorga- 
nismus, ein  Protozoon.  Überträger  desselben  wäre 
ein  stechender  Zweiflügler,  eine  Art  der  Kriebel- 
mücken, Simuliidae,  die  bei  ihrem  Stich  den 
Krankheitskeim  vom  Kranken  auf  den  Gesunden 
übertragen  sollte,  etwa  wie  .'\nopheles  das  Plas- 
modium malariae,  den  Erreger  des  Wechselfiebers. 

In  ganz  anderer  Richtung  bewegen  sich  die 
von  C.  Funk  und  zwei  italienischen  Forschern 
aufgestellten  Theorien. 

Nach  Funk  wäre  die  Pellagra  eine  Avita- 
minose,  bedingt  durch  das  Fehlen  eines  für  das 
Leben  unentbehrlichen  Stoffes  in  der  Nahrung, 
des  Vitamins,  welches  beim  'Schälen  des  Mais 
verloren  ginge. 

Er  vertritt  diese  Ansicht  von  der  Natur  der 
Pellagraseuche,  deren  Symptome  die  Folgen  einer 
Unterernährung  wären,  mit  aller  Entschiedenheit 
in  einem  Aufsatz:  Prophylaxe  und  Therapie  der 
Pellagra  im  Lichte  der  Vitaminlehre  (Münchener 
Med.  Wochenschr.  Nr.  13,   1914),  indem  er  darauf 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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hinweist,  daß  dort,  wo  infolge  gröberen  Mahlens 
ein  Teil  der  vitaminhaltigen  Aleuronschicht  mit 
ins  Mehl  käme,  die  Krankheit  viel  weniger  ver- 
derblich auftrete;  so  seien  schwere  Fälle  weit 
häufiger  in  den  Vereinigten  Staaten,  wo  der  Mais 
energisch  geschlifi'en  wird,  als  in  Italien  und  Ägyp- 
ten, wo  er  nur  grob  gemahlen  würde. 

Mit  seiner  Auffassung  insofern  verwandt,  als 
die  Ursache  ^n  der  chemischen  Beschaffenheit  der 
Maisnahrung  gesehen  wird,  ist  auch  die  neueste 
Theorie  von  A  I  essand  rini  und  Scala  (II  Poli- 
clinico  1913)-  Die  Genannten  stellten  fest,  daß 
an  den  Orilichkeiten ,  wo  die  Pellagra  herrscht, 
der  Boden  tonhaltig  ist.  Durch  das  Regen- 
wasser nun  würde  der  Ton  hydrolysiert  und 
spaltete  sich  in  Tonerde  und  Kieselsäure.  Diese 
seien  dann  in  kolloidaler  Form  im  Wasser  ent- 
halten. Beide  würden  sich  zwar  gegenseitig  nieder- 
schlagen, aber  es  bliebe  ein  Überschuß  von  kol- 
loidaler Kieselsäure.  Diese  aber  sei  für  den  Or- 
ganismus ein  Gift,  indem  sie  das  Kochsalz  zurück- 
halte und  eine  Anreicherung  des  menschlichen 
Organismus  an  NaCl  bewirke.  Beim  Zusammen- 
treffen mit  den  eiweißhaltigen  Verbindungen  des 
Zellprotoplasmas  spalte  das  Natriumchlorid  .Salz- 
säure ab,  und  so  entstände  eine  Mineralsäure- 
vergiftung. 

Es  gäbe  nun  andererseits  gewisse  Salze  im 
Wasser,  welche  die  kolloidale  Kieselsäure  wieder 
binden  und  so  geeignet  wären,  die  giftige  Wirkung 
des  Wassers  aufzuheben.  Dies  treffe  z.  B.  für 
kalkhaltiges  Wasser  zu. 

Es  empfehle    sich   daher,    prophylaktisch  dem 


Pellagra  verursachenden  Wasser  kohlensauren 
Kalk  in  Form  kleiner  Steinchen  beizufügen. 

Im  Falle  einer  Infektion  hätten  Injektionen 
einer  Lösung  von  citrate  trisodique  stets  ausge- 
zeichnete Erfolge  gehabt. 

Die  Heilung  sei  sowohl  beim  Menschen  als 
bei  Tieren  in  vielen  Fällen  geglückt. 

Sehr  interessant  ist,  daß  in  Phallen  von  Avita- 
minosen  Funk  gleichfalls  Zitronensaft  als  wirk- 
sames Gegenmittel  empfiehlt.  So  sehr  die  beiden 
letztgenannten  Ansichten  auseinander  gehen  — 
nach  der  einen  wäre  das  Fehlen  einer  lebens- 
wichtigen Substanz,  nach  der  andern  ein  positives 
Gift  die  Ursache  der  Pellagraseuche  — ,  so  ist 
doch  wieder  die  Therapie  bei  beiden  dieselbe. 
Dies  spricht  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  dafür, 
daß  eine  von  beiden  Theorien  über  die  Ätiologie 
der  Pellagra  das  Richtige  trifft. 

Erwähnt  seien  noch  Versuche  von  H.  Rau- 
bischek  und  Lucksch.  Sie  fanden,  daß  aus- 
schließlich mit  Mais  gefütterte  Tiere  (Mäuse, 
Kaninchen ,  Meerschweinchen)  erkrankten  und 
schließlich  verendeten,  wenn  sie  dauernd  dem 
hellen  Tageslicht  ausgesetzt  wurden,  in  der  Dunkel- 
heit dagegen  bei  dieser  Fütterung  gesund  blieben. 
Ganz  entsprechende  Ergebnisse  halten  Fütterungs- 
versuche im  Frühjahr  und  Sommer,  bzw.  im  Herbst 
und  Winter. 

Diese  Wahrnehmungen  sprechen  für  die  Ver- 
giftungstheorie und  zwar  dafür,  daß  es  sich  um 
ein  Gift  handelt,  das  sich  im  Lichte  bildet.  ') 


')  Vgl.    dazu    den  Aufsatz    von    Dr.   Emil  Lenk    (Darm- 
stadt): „Tierische  Farbstoffe"  S.  547  rechts  unten  d.  Bl. 


Einzelberichte. 


Zoologie.  Über  das  Vorkommen  des  Rinder- 
bandwurms (Taenia  saginata  Göze)  beim  Säugling 
berichtet  K.  Grimm  aus  dem  Kinderhospital  in 
Köln  (Münch.  Med.  Wochenschr.  Nr.  32,  1914). 
Es  handelt  sich  um  einen  10^.2  Monate  alten 
Knaben.  Der  Bandwurm  schien  dem  Kinde  kein 
Unbehagen  zu  verursachen,  dasselbe  hatte  guten 
Appetit  und  schlief  gut.  Erst  die  abgehenden 
Bandwurmglieder  veranlaßten  zur  Einleitung  einer 
Kur.  Es  wurde  dabei  „Kukumarin"  gegeben,  ein 
im  Handel  erhältliches  Extrakt  des  Kürbissamens. 
Die  Gesamtlänge  der  Taenia  betrug  3,25   m. 

Besonders  interessant  ist  die  Frage,  wie  es 
wohl  möglich  war,  daß  die  Pinne  in  den  Darm 
des  Säuglings  gelangte.  Auf  eindringliches  Be- 
fragen gab  die  Mutter  an,  daß  das  Kind  vor  zwei 
Monaten  rohes  geschabtes  Pleisch  erhalten  hatte. 
Auch  in  zwei  anderen  Fällen  des  Vorkommens 
von  Taenaia  saginata  bei  einem  8-  bzw.  9  monat- 
lichen Kind  war  rohes  fein  gehacktes  Fleisch  gegeben 
worden.  Bei  einem  5  Monate  alten  Kind  wurde 
sogar  einmal  der  Schweinebandwurm  (T.  solium 
Rud.)  gefunden. 


Die  gewöhnlich  im  Kindesalter  beobachtete 
Bandwurmart  ist  der  Gurkenkernbandwurm  (T. 
cucunierina  Rud.),  dessen  P'inne  in  der  Hundelaus 
lebt.  Kathariner. 

Physiologie.  Eine  steigende  Beachtung  in 
der  physiologischen  Wissenschaft  finden  in  den 
letzten  Jahren  die  Drüsen  mit  innerer  Sekretion, 
die  endokrinen  Drüsen.  Es  sind  Organe  von 
drüsenähnlichem  Bau,  aber  ohne  besondere  Aus- 
führungsgänge. Ihr  Produkt  wird  durch  den 
Lymphstrom  dem  Blute  zugeführt  und  mit  diesem 
zu  dem  jeweiligen  Bestimmungsorgan  gebracht. 
Solche  Drüsen  sind  z.  B.  die  Schild-  und  die  Zirbel- 
drüse, die  Epi-  und  Hypophyse,  u.  a.  Über  ihre 
Bedeutung  für  das  Leben  geben  Ausfaller- 
scheinungen Aufschluß,  d.  h.  Erscheinungen,  welche 
mit  der  Ausschaltung  der  Tätigkeit  der  betreffenden 
Drüse  infolge  ihrer  Erkrankung  oder  ihres  Fehlens 
verknüpft  sind.  Es  liegt  nahe,  durch  absichtliche 
Exstirpätion  der  endokrinen  Drüse  im  Versuch 
ihre  Bedeutung   für   das  Lebewesen    zu  ermitteln. 

Leo    Adler    untersuchte,    welche    Folgen  die 


N.  F.  XIII.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Entfernung  der  Thymus  und  der  Epiphyse  bei 
der^Froschlarve  hat  (Metamorphosestudien  an 
Batrachierlarven.  A.  Exstirpation  endokriner 
Drüsen.  B.  Exstirpation  der  Thymus.  C.  Ex- 
stirpation der  Epiphyse.  Archiv  für  Entwicke- 
lungsmechanik.  XXXX.  Bd.  1914).  Die  Ent- 
fernung der  Thymus  geschah  bei  22,5- — 23  mm 
langen    Froschlarven    mittels    des  Galvanokauters. 

Es  ergab  sich,  daß  für  die  Amphibien  die 
Thymus  kein  lebenswichtiges  Organ  ist,  wie  das 
schon  Hammargefunden  hatte.  Veränderungen 
im  Stoffwechsel  konnten  nicht  festgestellt  werden. 
Gudernatsch  hatte  früher  beobachtet,  daß  bei 
Fütterung  von  Temporarialarven  mit  Tiiymus  das 
Körperwachstum  begünstigt,  und  die  Metamorphose 
verzögert  wurde. 

Adler  glaubte  nun,  daß  umgekehrt  durch  die 
Entfernung  der  Thymus  die  Metamorphose  be- 
schleunigt würde.  Es  zeigte  sich  indes  zwischen 
den  Versuchs-  und  den  Kontrolltieren  in  der  Ent- 
wicklung keinerlei  Unterschied.  Die  Keimdrüsen 
aber  bei  drei  Exemplaren  übertrafen  an  Größe 
nicht  nur  jene  der  Kontrolltiere,  sondern  auch  die 
der  17  übrigen  operierten  Larven.  Eine  genaue 
Untersuchung  ergab,  daß  bei  letzteren  ein  Teil  der 
Thymusdrüse  erhalten  geblieben  war  und  dieser 
hatte  genügt,  das  Wachstum  der  Keimanlage  in 
Schranken  zu  halten. 

Schon  Noel  Piaton,  der  mit  Meerschweinchen 
operiert  hatte,  konnte  wiederholt  eine  übernormale 
Entwicklung  der  Hoden  feststellen,  wenn  die 
Thymektomie  vor  Erlangung  der  Geschlechtsreife 
stattgefunden  hatte.  Von  anderen  Forschern 
(Klose,  Vogt)  wurden  entsprechendeBeobachtungen 
gemacht,  wogegen  Soli,  Luden  und  Pari  so  t 
bei  thymektomierten  Hähnen,  Kaninchen,  Meer- 
schweinchen bzw.  Hunden  eine  Verminderung  der 
spezifischen  Keimzellen  feststellten.  Soli  ist  ge- 
neigt, die  von  Piaton  beobachtete  Keimdrüsen- 
hyperplasie  auf  das  zufällige  Eintreten  der  Brunst- 
zeit zurückzuführen.  Trotz  mancherlei  Bedenken 
scheint  es  aber  doch,  daß  die  Thymus  das  nor- 
male Wachstum  der  Keimdrüsenanlage  reguliert. 
Von  den  anderen  innersekretorischen  Drüsen 
zeigten  die  Zirbeldrüse  (Epiphyse)  und  die  Hypo- 
physe keinerlei  Veränderungen,  wohl  aber  die 
Schilddrüse  (Thyreoidea).  Sie  war  vergrößert, 
einmal  durch  eine  ödematöse  Auflockerung  ihres 
Gewebes,  dann  aber  auch  durch  eine  Vermehrung 
der  absoluten  Zahl  der  Follikel.  Der  kolloidale 
Inhalt  der  Drüsenschläuche  war  gegenüber  den 
Kontrolltieren  zwar  absolut  vermehrt,  aber  in  der 
Raumeinheit  vermindert;  die  Wandung  der  Folli- 
kel war  an  vielen  Stellen  geradezu  schlaff.  Auch 
qualitativ  erschien  das  Sekret  verschlechtert.  Es'sah 
schaumig  oder  fädig  aus  und  war  nicht  gleich- 
mäßig färbbar.  Vielleicht  beruht  diese  Ver- 
größerung der  Schilddrüse  auf  dem  Bestreben,  die 
Funktion  der  exstirpierten  Thymus  mit  zu  über- 
nehmen. 

In  einer  zweiten  Versuchsreihe  wurde  bei  21  mm 


langen  Grasfroschlarven  durch  den  Galvanokauter 
die  Epiphyse  zerstört.  Auch  dieser  Eingriff  wurde 
gut  vertragen.  Auffallend  war  die  Tatsaclie,  daß 
4  der  Tiere  sich  schneller  entwickelten  und  eher 
mit  der  Metamorphose  begannen  als  die  übrigen, 
daß  aber  keines  der  Tiere  die  Verwandlung  beendete. 
Bei  7  Larven  trat  ein  eigentümliches  (Jdem  auf, 
das  namentlich  am  Kiefer  und  an  den  Schenkeln 
zu  einer  Abhebung  der  Haut  führte.  Seine  Er- 
klärung bereitet  große  Schwierigkeiten,  zumal  es 
nur  bei  7  unter  9  Versuchstieren  auftrat.  Daß 
die  Metamorphose  nicht  vollendet  wurde,  hängt 
wohl  mit  dem  Ausfall  der  Epiphyse  als  einer 
endokrinen  Drüse  zusammen.  Durch  die  Unter- 
suchung von  Gu  dernatsch  und  B a b  ä k  wenig- 
stens ist  nachgewiesen  worden,  daß  die  Schild- 
drüse, also  eine  andere  Drüse  mit  innerer  Se- 
kretion, bei  der  Metamorphose  eine  wesentliche 
Rolle  spielt.  Kathariner. 

Eine  hervorragend  wichtige  Rolle  spielen  im 
Körper  des  Organismus  die  IJpoide.  Es  sind 
dies  in  den  Geweben  und  den  Körperflüssig- 
keiten enthaltene,  durch  organische  Lösungen 
(Äther,  Benzol  usw.)  extrahierbare  Substanzen, 
besonders  Cholesterin  und  Lezithine.  Der  Gehalt 
an  phosphorsauren  Lipoiden  und  an  Cholesterin 
ist  normalerweise  konstant,  (constancelipocytique). 
Über  die  Schwankungen  des  Cholesteringehalts  bei 
Krankheiten  wurde  früher  (Nr.  5 1  d.  Bl.)  berichtet. 

In  einer  neuen  Arbeit  (Constance  de  la  con- 
centration  des  organismes  entiers  en  lipoides 
phosphores;  concentration  en  lipoides  au  cours 
de  la  croissance.  Application  ä  la  biometrique. 
C.  R.  Ac.  sc.  Paris  Nr.  i,  6  juillet  1914)  behandeln 
Andre  Mayer  und  Georges  Schaeffer  die 
Frage  nach  dem  Gehalt  des  Organismus 
an  phosphorhaltigen  Lipoiden  bei  den 
verschiedenen  Tierarten  und  unter  ver- 
schiedenen Lebensbedingungen,  be- 
sonders während  des  Wachstums.  Bei 
warmblütigen  Tieren  ist  er  größer,  als  bei  kalt- 
blütigen und  wechselwarmen  Tieren.  So  z.  B. 
bei  der  Maus  0,77 — 0,84,  Ratte  0,54—0,60,  Fleder- 
maus 0,84 — 0,91,  Goldfisch  0,34 — 0,45,  P'rosch 
0,3 5 — 0,4 1 ,  Blutegel  0,23  —  0,27,  Seestern 0,30—0,33 
usw.  Lipoidphosphor  pro  kg  Körpergewicht. 

Zusammenfassend  kann  man  sagen,  daß  der 
Gehalt  an  Lipoidphosphor  namentlich  bei  den 
warmblütigen  Tieren  für  die  verschiedenen  Indivi- 
duen derselben  Art  konstant  ist. 

Ferner  bildet  der  Gehalt  bestimmter  Organe 
an  Lipoidphosphor  einen  Maßstab  für  den  des 
ganzen  Körpers.  Seine  Menge  beträgt  in  den 
Nieren  des  Meerschweinchens  10 — 13,  der  Ratte 
II — 14  mg  pro  kg  Körpergewicht. 

Während  des  Wachstums  nimmt  die  Menge 
des  Cholesterins  kurz  nach  der  Geburt  rasch  zu, 
um  dann  konstant  zu  bleiben;  so  betrug  sie  z.  B. 
bei  einer  Ratte  von  5  g  im  Verhältnis  gerade  so 
viel,  wie  bei  einer  solchen  von    1 1 8  g. 

Kathariner. 


7IO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr.  45 


Tierisches  oder  pflanzliches  Eiweiß?  Über 
die  hervorragende  Bedeutung  des  Eiweißes 
als  eines  unentbehrlichen  Bestandteils  unserer 
Nahrung  besteht  kein  Zweifel.  Die  Meinungen 
sind  jedoch  geteilt  bezüglich  der  zur  normalen 
Ernährung  nötigen  Menge  und  der  Form,  in  der 
es  am  zweckmäßigsten  dem  Körper  einverleibt 
wird,  mit  anderen  Worten,  ob  das  pflanzliche 
dem  tierischen  Eiweiß  und  die  vegetarianische 
Lebensweise  der  Gemischtkost  gegenüber  gleich- 
wertig bzw.  ihr  vorzuziehen  sei.  Anlaß  zu  letz- 
terer Frage  gibt  die  Tatsache,  daß  die  Ursache 
vieler  Stoffwechselkrankheiten,  vor  allem  der  Gicht, 
in  überreichlichem  Heischgenuß  zu  suchen  ist. 
Dazu  kommt  die  viel  größere  Billigkeit  des  vege- 
tarianischen  Regimes.  Tierisches  Eiweiß  liegt 
vor  allem  im  PTeisch  in  der  verschiedensten  Form 
der  Zubereitung  vor,  Pflanzeneiweiß  findet  sich 
im  Getreide  als  Kleber  und  in  Hülsenfrüchten 
(Bohnen,  Erbsen,  Linsen)  als  Legumin.  Die  Kar- 
toffeln enthalten  dagegen  nur  eine  sehr  geringe 
Menge. 

Was  zunächst  die  Quantität  des  Eiweißes  an- 
geht, welche  zur  Ernährung  nötig  ist,  so  gaU 
über  50  Jahre  die  von  dem  Münchener  Physio- 
logen Voit  aufgestellte  Norm.  Ein  Erwachsener 
braucht  danach  täglich  120  g,  bei  Muskelarbeit 
bis   150  g  Eiweiß  in  der  Nahrung  und  mehr. 

Diese  Zahlen  werden  neuerdings  von  manchen 
Physiologen  zu  hoch  gefunden.  In  einem  Aufsatz 
(Eiweißbedarf  und  Fleischnahrung.  Münchener 
Med.  Wochenschr.  Nr.  16,  1914)  führt  Prof.  Dr. 
Decker  Versuche  des  amerikanischen  Physio- 
logen Chittenden  an.  Bei  zwölf  Soldaten  die 
neun  Monate  lang  nur  Vs  der  üblichen  Ration 
genommen  hatten,  blieb  nicht  nur  das  Körper- 
gewicht gleich,  sondern  die  Muskelkraft  nahm 
sogar  während  dieser  Zeit  um  das  doppelte  zu. 
Sieben  Berufsathleten,  die  nach  Voit  ca.  150  g 
Eiweiß  nötig  gehabt  hätten,  erhielten  nur  50 — 60  g. 
Ihre  Muskelkraft  stieg  trotzdem  um  3o'7o.  Der 
dänische  Arzt  Hind'hede  hält  eine  Ernährung 
für  ausreichend,  bei  der  nur  Grütze,  Brot,  Butter, 
Kartoffeln,  Gemüße,  Zucker  und  Früchte,  besonders 
Erdbeeren,  genossen  werden.  Decker  verwahrt 
sich  ausdrücklich  dagegen,  er  wolle  die  rein  vege- 
tarianische Lebensweise  befürworten.  Geschmack 
und  Gewohnheit  sprächen  für  gemischte  Kost. 
Das  pflanzliche  sei  aber  dem  tierischen  Eiweiß, 
wie  es  die  Fleischkost  enthalte,  im  Nährwert  völlig 
gleich.  Bei  den  Wettmärschen  der  letzten  Jahre 
seien    -/„    der   Vegetarianer   ans    Ziel    gekommen. 


bei 

Berlin"   seien   die 
Vegetarianer  ge- 


von  den  Gemischtkostessern  dagegen  nur 
dem    Dauermarsch    „Rund    um 
vier  ersten  Preise    gleichfalls  an 
fallen. 

Die  japanischen  Karrenzieher,  welche  sich 
hauptsächlich  von  Reis  nährten,  vermöchten  einen 
erwachsenen  Menschen  Strecken  von  lookm  und 
mehr  im  Trab  zu  ziehen.  50—60  g  Eiweiß  sind 
nach  seiner  Meinung  ausreichend.  Es  ließe  sich  viel- 


fach einesparsamere  Ernährung  einführen;  so  könnten 
in  der  Gefängniskost  noch  2"  g  Eiweiß  gestrichen 
werden.  Er  schließt:  60  g  Eiweiß  sind  für  den 
körperlich  arbeitenden  Menschen  genug,  und  da 
der  Nährwert  des  pflanzlichen  Eiweißes  dem  tie- 
rischen gleichkommt,  kann  '/.,  davon  durch  Pflanzen- 
kost gedeckt  werden.  Fleischkost  einmal  pro 
Tag  sei  auch  sonst  ausreichend,  sogar  gesünder, 
und  ein  ganz  fleischfreier  Tag  pro  Woche  zu  emp- 
fehlen. 

Im  Gegensatz  zu  Decker  betont  Dr.  Kiss- 
kalt  vom  hygienischen  Institut  Königsberg  i.  Pr. 
die  große  Bedeutung,  welche  die  Fleischnahrung 
für  die  Deckung  des  Eiweißbedarfes  hat.  In: 
„Eiweißbedarf  und  Fleischnahrung"  (Münchener 
Med.  Wochenschr.  Nr.  29,  1914)  sagt  er,  wenn 
man  immer  die  japanischen  Karrenzieher  als  Bei- 
spiel dafür  anführe,  daß  die  Volksernährung  an- 
derswo mit  viel  weniger  Eiweiß  auskommen 
könne,  so  würde  dabei  gar  nicht  berücksichtigt, 
daß  das  durchschnittliche  Körpergewicht  hier 
auch  viel  geringer  sei,  nur  50  kg  statt  70  kg  bei 
uns.  In  bezug  auf  die  Volksernährung  könnten 
Japan  und  Ostasien  überhaupt  nicht  vorbildlich 
sein.  Die  Beriberi,  eine  Volkskrankheit,  die  mit 
der  Einführung  von  enthülstem  Reis  als  Volks- 
nahrungsmittel ausgebrochen  sei,  richte  dort  grö- 
ßere Verwüstungen  an,  als  in  Europa  die  Tuber- 
kulose. Ausserdem  sei  der  Rückgang  der  letzteren 
in  Deutschland,  England  usw.  insofern  er  auf 
einer  Besserung  der  sozialen  Verhältnisse  beruhe, 
in  erster  Linie  einer  besseren  Ernährung  zu  ver- 
danken. 

„Die  Versuche  von  Reach,  Hornemann 
und  Thomas  zeigen,  daß  Tiere  bei  eiweißreicher 
Kost  zur  Tuberkulose  weniger  disponiert  sind, 
wie  auch  zu  gewissen  Vergiftungen,  und  so  müssen 
wir  denn  in  Übereinstimmung  mit  anderen  Tat- 
sachen die  Besserung  der  Ernährungsverhältnisse 
und  besonders  des  Fleischkonsums  der  großen 
Masse  als  Hygieniker  aufs  wärmste  begrüßen." 

Wenn  Prof.  Decker  die  Versuche  von 
Chittenden  anführt,  um  zu  beweisen,  daß  auch 
bei  schwerer  Muskelarbeit  weniger  Eiweiß  in  der 
Nahrung  nötig  sei,  als  Voit  glaubte,  so  bemerkt 
Kisskalt  dazu  folgendes.  Die  Soldaten  waren 
sog.  Küchensoldaten  und  hatten  außer  etwas 
Turnen  keine  nennenswerte  Muskelarbeit  zu  lei- 
sten, die  Athleten  aber  waren  keine  Berufsathleten, 
sondern  Studenten,  die  sich  täglich  einige  Stunden 
dem  Sport  widmeten.  Wenn  nun  auch  momentan 
dabei,  z.  B.  beim  Stemmen  schwerer  Gewichte, 
eine  sehr  große  Arbeit  geleistet  wird,  so  ist  diese 
doch  nur  von  kurzer  Dauer.  Wenn  jemand  seinen 
70  kg  schweren  Körper  eine  ungefähr  10  m  hohe 
Treppe  hinaufträgt,  leistet  er  dabei  eine  größere 
Arbeit.  Ebenso  ist  die  Arbeitsleistung  eines  kräf- 
tigen Karrengauls  wesentlich  größer  als  die  eines 
Rennpferds. 

Wenn  Decker  weiter  meint,  daß  pflanz- 
liches dem  tierischen  Eiweiß  gleichwertig  sei,  so 
ist  das  durchaus  nicht  der  Fall.  Das  Pflanzeneiweiß 


N.  F.  Xm.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


711 


hat  "wegen  seiner  Zusammensetzung  aus  anderen 
Aminosäuren  einen  geringeren  Wert;  lOO  g 
Fleisch-  oder  Milcheiweiß  können  zwar  100  g 
Körpereiweiß  ersetzen,  100  g  Reiseiweiß  dagegen 
nur  88  g,  Kartoffeleiweiß  70  g,  Erbseneiweiß  nur 
56  g,  Weizeneiweiß  nur  40  g  und  Maiseiweiß 
nur  30  g  Körpereiweiß  (Thomas).  Man  muß 
wohl  unterscheiden  zwischen  der  Quantität  der 
Eiweißnahrung,  welche  gegessen,  und  der  Eiweiß- 
quantität, welche  resorbiert  wird.  Die  Zahlen 
von  Voit  beziehen  sich  auf  erstere,  die  von 
Chittenden  auf  letztere.  Berücksichtigt  man 
bei  beiden  Mengen  die  Quantität  dessen,  was 
durch  Kot  und  Schweiß  ausgescliieden  wird,  so 
erhält  man  ungefähr  die  gleiche  Zahl  etwa  Si  g. 
Die  Kost,  welche  Chittenden  empfiehlt,  ist 
für  die  Arbeiterfrau  viel  zu  teuer.  Fische  z.  B. 
kosten  zu  viel  Fett.  Ferner  hätte  die  Frau  eines 
Arbeiters  gar  nicht  die  Zeit  zur  Zubereitung  mancher 
Speisen. 

Einen  radikalen  Vorschlag  macht  Hindhede: 
Kartoffeln  und  Zentrifugenmilch.  Was  die  Frage 
anbelangt,  ob  man  bei  einer  solchen  Kost  gesund 
und  kräftig  bleiben  könnte,  so  ist  dieselbe  unbedingt 
zu  bejahen,  wie  schon  in  den  70  er  Jahren  an  Holz- 
knechten nachgewiesen  wurde.  Aber  für  die  Er- 
nährung körperlich  weniger  arbeitender  Volks- 
klassen würde  sich  eine  solche  Kost  nicht  eig- 
nen. 

Rechenberg  hat  die  Kost  der  Zittauer 
Weber  untersucht  und  eine  Aufnahme  von  65  g 
Eiweiß  =  27S3  Kalorien  gefunden.  Die  Ernährung 
erwies  sich  jedoch  als  unzulänglich.  Ohne  daß 
die  Leute  Hunger  litten,  waren  sie  unterernährt. 
Außerdem  birgt  eine  reizlose  Kost  die  Gefahr 
des  Alkoholmißbrauchs  in  sich,  da  der  Organis- 
mus ein  Reizmittel  verlangt.  „Reizlose,  ein- 
förmige Kost  bedeutet  für  die  große  Masse  eine 
eminente  Gefahr,  denn  bei  dem  berechtigten 
Wunsche  nach  Genußmitteln  pflegt  unweigerlich 
der  Schnaps  seine  Ernte  zu  halten.  (R  u  b  n  e  r). 
Diese  Worte  zeigen  im  Gegensatz  zu  den  „Re- 
formen" einen  eminent  praktischen  Blick  für  die 
Fragen  der  Volksernährung;  denn  wie  Retorte 
und  menschlicher  Organismus  zwei  grundver- 
schiedene Dinge  sind,  ebenso  auch  Laboratorium 
und  Leben."    (Decker.) 

Eine  Eiweißüberfütterung  der  Kinder  und 
übermäßiger  Fleischgenuß  ist  sicher  schädlich, 
wie  dies  erste  Hygieniker  längst  ausgesprochen 
haben.  Die  Restaurationskost  ist  ja  aus  dem- 
selben Grunde  auf  die  Dauer  unerträglich.  Für 
einen  körperlich  arbeitenden  Mann,  einen  Tischler, 
Dienstmann  usw.  aber  sind  118  g  Eiweiß,  davon 
'/g  animalisches,  also  nicht  ganz  40  g,  wie  sie  in 
etwas  mehr  als  '/^  Pfund  gekochten  Fleisches  ent- 
halten sind,  nicht  zuviel,  zumal  wenn  ein  Teil 
des  animalischen  Eiweißes  etwa  in  Form 
Milch  oder  Käse  gegeben  wird. 

K isskalt  sagt,   das  Charakteristische  in  dem 
Kampfe  gegen  die  Voit 'sehe  Norm  sei,  daß  sich 


von 


die  wenigsten  darüber  klar  sind,  wie  wenig  Fleisch 
usw.  sie  eigentlich  fordert. 

Die  große  Masse  des  Volkes  erführe  über- 
haupt nichts  von  der  ganzen  Reform  auf  dem 
Gebiete  der  Ernährung.  Für  die  Bemittelten  sei 
es  nur  gut,  wenn  sie  etwas  weniger  Fleisch  essen 
würden,  und  insofern  könnten  jene  englischen 
Äußerungen  ihr  Gutes  haben.  Entschieden  aber 
müßte  dagegen  protestiert  werden,  wenn  man 
diese  Ansichten  auf  jene  Fälle  übertragen  wollte, 
in  denen,  wie  in  Gefängnissen,  die  Art  der  Er- 
nährung von  dem  einzelnen  unabhängig  sei.  Das 
Sinken  der  Sterblichkeitsziffer  in  den  Strafanstalten 
sei  wohl  in  erster  Linie  auf  eine  Verbesserung 
der  Ernährung  zurückzuführen ;  trotzdem  wäre 
die  Sterbeziffer  an  Tuberkulose  in  Gefängnissen 
und  Zuchthäusern  noch  abnorm  hoch  und  wäre 
noch  höher,  wenn  nicht  zahreiche  Insassen  in 
späteren  Stadien  entlassen  würden  und  zu  Hause 
stürben.  Wer  weiß,  wie  der  Sträfling  die  kleinen 
Brocken  der  seltenen  Fleischration  aus  dem  üb- 
rigen Brei  seines  Essens  herausfischen  muß,  wird 
nicht  von  einer  überreichen  Fleischnahrung  reden 

Kathariner. 

Anthropologie.  Über  die  Vermehrung  und 
fortschreitende  Bastardierung  der  Negerbevö)kerung 
der  Vereinigten  Staaten  Amerikas  enthält  derl<ürz- 
lich  erschienene  Bericht  über  die  amerikanische 
Volkszählung  von  1910  beachtenswerte  Angaben. 
Die  als  Sklaven  vom  tropischen  x^frika  nach  der 
gemäßigten  Zone  Nordamerikas  verpflanzten  Neger 
haben  den  Wechsel  des  Klimas  und  der  sonstigen 
Lebensbedingungen  im  allgemeinen  gut  ertragen, 
was  vor  allem  ihre  starke  Vermehrung  nach  dem 
Aufhören  der  Sklaveneinfuhr  beweist.  Im  Jahre  1 800 
wurden  i  002  000  Neger  gezählt;  1870,  bei  der  ersten 
Volkszählung  nach  der  Sklavenbefreiung,  betrug 
ihre  Zahl  bereits  5392000,  1880  betrug  sie 
6581000  (-1-22%),  1^890  6489000  (+i3,5"'o), 
1900  8834000  (-1-18%)  und  1910  9828000 
(-)- ii,2°/o).  Dabei  sind  in  allen  Jahren  rein- 
rassige Neger  und  Negermischlinge  zusammen- 
gezählt. Das  Gedeihen  der  Neger  im  gemäßigten 
Nordamerika  wird  namentlich  von  amerikanischen 
Autoren  darauf  zurückgeführt,  daß  durch  die  Skla- 
verei alle  Schwächlinge  unter  den  Schwarzen  aus- 
gemerzt wurden.  So  schreibt  z.  B.  Tillinghast '), 
daß  nur  die  kräftigsten  Individuen  all  die  Leiden 
und  Entbehrungen  überstehen  konnten,  welche  die 
Sklavenjagden  und  Sklaventransporte  mit  sich 
brachten.  Wer  schwach  oder  krank  war,  ging 
ohne  Rücksicht  zugrunde.  Es  ist  wahrscheinlich, 
daß  sich  die  große  Mehrheit  der  in  Amerika  an- 
gekommenen Neger  bald  erholte  und  fähig  war, 
ihre  kräftige  Konstitution  auf  die  Nachkommen 
zu  übertragen.  Doch  blieben  die  Neger  auch  in 
Amerika  starken  selektorischen  Einflüssen  aus- 
gesetzt.    Da    die    Sklaven    Eigentum    ihres  Herrn 


')  Tillinghasl,    The    Negro    in    Mrtca.    and    America, 
S.  109.     New  York,   1902. 


712 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  45 


waren,  über  das  er  nach  seinem  Willen  verfügen 
konnte,  so  stand  es  ihm  frei,  ihre  sexuellen  Be- 
ziehungen zu  regeln  und  dadurch  eine  Verbesserung 
der  Rasse  zu  erzielen.  Das  geschah  sehr  häufig, 
indem  der  Sklavenhalter  die  Vereinigung  gewisser 
Personen,  befahl  oder  begünstigte.  Neger,  die  alle 
bevorzugten  Eigenschaften  besaßen,  wurden  nicht 
gehindert,  wenn  sie  mit  mehreren  Frauen  ver- 
kehren wollten.  Die  Fortpflanzung  der  Schwäch- 
linge verstieß  gegen  das  materielle  Interesse  der 
Sklavenhalter,  die  sie  deshalb  auch  gar  nicht 
gerne  sahen.  Allerdings  darf  nicht  vergessen 
werden,  daß  bei  dieser  künstlichen  Zuchtwahl  fast 
nur  auf  Muskelkraft  Bedacht  genommen  wurde. 
Es  ist  ferner  kaum  zu  bezweifeln,  daß  die  aus 
Afrika  eingeführten  Negersklaven  eine  sehr  große 
Fruchtbarkeit  besaßen ;  denn  in  Afrika,  wo  Kriege, 
Seuchen,  Hungersnöte,  Menschenopfer  usw.  zu 
wahlloser  Vernichtung  führen,  kann  sich  nur  eine 
außerordentlich  fruchtbare  Rasse  erhalten.  Doch 
hat  die  Fruchtbarkeit  der  amerikanischen  Neger 
mit  fortschreitender  Zivilisation  abgenommen,  denn 
ihre  prozentuale  Vermehrung  ist  im  ganzen  lang- 
samer geworden,  obzwar  das  Jahrzehnt  1890  bis 
19CO  eine  Ausnahme  von  dieser  Regel  bildet. 

Auffallend  ist,  daß  die  Neger  seit  der  Sklaven- 
befreiung in  jedem  Jahrzehnt  verhältnismäßig 
weniger  zunahmen  als  die  von  einheimischen  (in 
Amerika  geborenen)  Eltern  stammenden  Weißen; 
es  vermehrten  sich  nämlich  die 
die  einheim. 
Im  Jahrzehnt  Weißen  die  Neger 

1870— 1880         um  25,5%,       um  22,0  "Zu, 
1880- 1890  „     20,3  »/„,         „     13,5%, 

1890-1900  „     18,8  «/„,         „     18,0%, 

1900-1910  „     20,9%,         „     11,2"/',,. 

Besonders  im  letzten  Jahrzehnt  war  der  Unter- 
schied schon  sehr  groß.  In  den  \'ereinigten  Staaten 
gibt  es  bedauerlicherweise  keine  Geburtenstatistik. 
Auf  einen  Rückgang  der  Geburtenhäufigkeit  kann 
man  jedoch  schheßen  aus  der  Abnahme  der  Zahl 
der  Kinder  eines  gewissen  Alters,  die  auf  eine 
bestimmte  Zahl  gebärfähiger  Frauen  treffen.  Es 
stellt  sich  überdies  heraus,  daß  der  Rückgang  der 
Kinderhäufigkeit  bei  den  Negern  verhältnismäßig 
größer  war  als  bei  den  Weißen.  Auf  je  1000 
weibliche  Personen  im  Alter  von  mehr  als 
15  bis  nicht  ganz  45  Jahren  trafen  Kinder  unter 
5  Jahren: 

1900         1910 
Bei  den 
einheimischen  Weißen     608  585 

Negern  592  519 

Im  Jahre  1900  machte  der  Unterschied  der 
Häufigkeit  bis  zu  fünfjähriger  Kinder  auf  1000 
Frauen  erst  25  zugunsten  der  Weißen  aus,  1910 
jedoch  bereits  66.  Das  ist  eine  für  die  Weißen 
als  Rasse  erfreuliche  Erscheinung,  weil  sie,  wenn 
dieselbe  Tendenz  der  Volksvermehrung  anhält, 
dadurch  immer  mehr  Übergewicht  erlangen,  selbst 
wenn  die  Einwanderung  aus  Europa  auf  ein 
Mindestmaß  zurückgehen  sollte.    Woher  es  kommt, 


daß  der  Kinderreichtum  bei  den  Negern  geringer 
ist  und  rascher  sinkt  als  bei  den  Weißen,  ist  noch 
nicht  einwandfrei  festgestellt.  Es  ist  ja  gewiß, 
daß  bei  den  Negern  Kinder  verhältnismäßig 
häufiger  vernachlässigt  werden  als  bei  den  Weißen 
und  daß  deshalb  mehr  Negerkinder  als  weiße 
Kinder  vor  dem  5.  Jahr  sterben.  Aber  die  all- 
gemeinen Gesundheitsverhältnisse  beider  Rassen 
erfahren  nach  und  nach  einen  Ausgleich,  so  daß 
eher  eine  Verringerung  als  eine  Vergrößerung 
des  Unterschieds  der  Kinderhäufigkeit  zu  erwarten 
wäre.  Ein  bemerkenswerter  Unterschied  besteht 
schon  in  der  Zahl  der  auf  je  looo  15 — 45  jährige 
Frauen  treffenden  weniger  als  einjährigen 
Kinder,  die  im  Jahre  1910  bei  den  einheimischen 
Weißen  122,  bei  den  Negern  jedoch  nur  104  be- 
trug. Der  Kinderreichtum  der  Farbigen  ist  be- 
sonders in  den  Gebieten  mit  starker  Rassen- 
m  i  s  c  h  u  n  g  gering,  so  vor  allem  in  den  Neu- 
englandstaaten und  den  nordöstlichen  Zentralstaaten, 
obzwar  hier  die  sanitären  und  wirtschaftlichen 
Verhältnisse  der  Neger  erheblich  besser  sind  als 
in  den  Südstaaten. 

Die  Volkszählungen  ergaben,  daß  sich  die 
Zahl  der  Negermischlinge  wie  folgt  stellte: 

Zahl  der  Misch-  ^f"  '^?'  gesamten 

Jahr        ,■          ..,      ,        ^  Negerbevolkerung 

■'              hnge   überhaupt  ^                 .    ,  ^ 

■^                   "^  waren  vermischt 

1850  405800  II,2"/o 

1860  588400  13,2  "/o 

1870  584000  12,0% 

1890  I  132  100  15,2  "/u 

I9IO  2050700  20,9    "/y 

Bei  der  Zählung  von  1870  wurden  aus  po- 
litischen Gründen  unrichtige  Aufzeichnungen  ge- 
macht; deshalb  erscheint  auch  die  Zahl  der  Neger- 
mischlinge 1870  kleiner  als  sie  bereits  1860  war. 
In  den  Jahren  1880  und  1900  wurden  die  Misch- 
linge nicht  besonders  gezählt. 

Der  Prozentsatz  der  Mischlinge  unter  der 
Negerbevölkerung  ist  gebietsweise  erheblich  ver- 
schieden. In  der  Regel  ist  er  dort  am  größten, 
wo  die  Neger  nur  schwach  unter  der  Gesamt- 
bevölkerung vertreten  sind,  während  sich  die  Neger 
in  den  Gebieten,  wo  sie  in  großen  Massen  wohnen, 
am  reinsten  erhalten  haben.  Von  den  einzelnen 
Staatengrujjpen  weisen  die  südöstlichen  Zentral- 
staaten verhältnismäßig  am  wenigsten  (19  "q)  und 
die  Neuenglandstaaten  verhältnismäßig  die  meisten 
(33,4  7o)  Mischlinge  auf. 

Im  Jahre  1910  bildeten  die  Neger  und  Neger- 
mischlinge in  zwei  Staaten  der  Union  die  Mehr- 
heit der  Bevölkerung,  nämlich  in  Mississippi 
56,2  °/q  und  in  Südkarolina  55,2%.  Von  der 
Negerbevölkerung  waren  in  Mississippi  16,9  "/„ 
und  in  Südkarolina    16,  i  "/q  Mischlinge. 

Eine  Zone,  in  der  die  Neger  (einschließlich  der 
Mischlinge)  die  Mehrheit  der  Bevölkerung  bilden 
—  der  sogenannte  schwarze  Gürtel  —  erstreckt 
sich  in  wechselnder  Breite  ungefähr  von  Rich- 
mond  in  Virginien  über  den  nordwestlichen  Teil 
des    Staates   Karolina    (wo    sie  eine  Strecke  weit 


N.  V.  XIII.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


713 


unterbrochen  wird)  nach  Südkarolina,  Zentral- 
georgia und  Zentralalabama  in  das  Mississippital, 
das  von  etwa  35"  30'  n.  Br.  bis  zur  Mündung  des 
Mississippistromes  überwiegend  von  Negern  be- 
wohnt ist.  Weiter  westwärts  bilden  einige  Graf- 
schaften im  südwestlichen  Teil  des  Staates  Ar- 
kanas,  im  Nordwesten  von  Louisiana  und  im  Süd- 
osten von  Texas  Ausläufer  des  schwarzen  Gürtels. 
Es  ist  bemerkenswert,  daß  sich  die  Neger  mehr 
und  mehr  innerhalb  des  schwarzen  Gürtels  zu- 
sammenziehen; sie  wandern  dahin  nicht  nur  aus 
dem  nördlich  davon  gelegenen  Regionen,  sondern 
auch  aus  dem  Küstengebiet  des  Atlantischen 
Ozeans  und  des  Golfs  von  Mexiko  ab. 

H-  Fehlinger. 

Chemie.  Über  Rinman's  Grün  und  Kobalt- 
magnesiumrot. —  Glüht  man  Kieselsäure,  Alu- 
miniumoxyd, Zinkoxyd  oder  Magnesiumoxyd  mit 
einigen  Tropfen  einer  Kobaltnitratlösung,  so  ent- 
stehen, wie  jedem  Chemiker  aus  der  Lötrohr- 
analyse bekannt  ist,  charakteristisch  gefärbte  Kom- 
plexe, mit  Kieselsäure  eine  blaue  Schmelze,  das 
„Kobaltblau",  mit  Aluminiumoxyd  das  un- 
schmelzbare „Thenard's  Blau",  mit  Zinkoxyd 
„Rinman's  Grün"  und  mit  Magnesiumoxyd 
das  rote  „Kobalt  magn  esiu  m  rot".  Das  Ko- 
baltblau ist  eine  silikatische  Verbindung,  für 
Thenard's  Blau  ist  durch  die  Untersuchungen 
von  Ebelmen  (Journ.  f.  prakt.  Chem.  Bd.  43, 
S.  479  und  484)  die  Zusammensetzung  Al.jOg  -CoO 
nachgewiesen,  d.  h.  es  handelt  sich  bei  ihm  um 
eine  Verbindung  vom  Typus  der  Spinelle.  Über 
die  Natur  von  „Rinman's  Grün"  und  vom  „Ko- 
baltmagnesiumrot" ist  durch  zwei  vor  kurzem 
erschienene  Abhandlungen  von  J.  Arvid  Hed- 
vall  (Zeitschr.  f  anorg.  Chem.  Bd.  86,  S.  201 
bis  224,  und  Bd.  SS,  S.  296  bis  300 ;  1914)  Klar- 
heit geschaffen  worden. 

Sowohl  Rinman's  Grün  als  auch  das  Ko- 
baltmagnesiumrot kann  man,  wie  Hedvall 
zeigt,  in  ziemlich  schönen  Kristallen  erhalten, 
wenn  man  die  Komponenten  Zinkoxyd  oder  Mag- 
nesiumoxyd mit  Kobaltoxyd  (oder  beim  Glühen 
in  Kobaltoxyd  übergehendes  Kobaltoxalat  oder 
-karbonat)  längere  Zeit,  am  besten  unter  Hinzu- 
fügung von  Kaliumchlorid  als  Schmelzmittel,  auf 
lioo  bis  1400"  C  erhitzt. 

Beim  Glühen  der  Kobaltoxyd-Zinkoxyd-Gemi- 
sche ■  entstehen  gleichzeitig  rote  und  grüne  Kristalle 
Die  roten  Kristalle  erweisen  sich  durch  die  chemische 
Analyse  als  reines  kristallisiertes  Kobaltoxyd  CoO, 
während  die  grünen  Kristalle,  kristallisiertes  Rin- 
man's Grün,  je  nach  der  Zusammensetzung  des 
Ausgangsmaterials  aus  Zinkox)'d  und  Kobaltoxyd 
in  wechselndem  Verhältnis  bestehen: 

"lo  CoO  I  39,s6|  26,76 


"/„  ZnO 


60.44'  73.24 


17.71 
82,29 


Molekular- (  ZnO 
Verhältnis  )  CoO 


1,41;    2,52'    4,28 


13,84'  I2,67[    8,44|    4,40 
86,16  87,33!  91,56  95,60 


5.73;    6.35i  10,00  20,00 


von  Mischkristallen  zwischen  den  Komponenten 
Kobaltoxyd  und  Zinkoxyd  aufzufassen.  Es  kri- 
stallisiert nach  Hedvall  hexagonal,  also  ebenso 
wie  das  Zinkoxyd,  während  Kobaltoxyd  CoO  re- 
gulär kristallisiert.  Ob  Rinman's  Grün  auch 
regulär  kristallisieren  kann,  wenn  Kobaltoxyd  dem 
Zinkoxyd  gegenüber  in  größerer  Menge  vorhanden 
ist,  ist  nicht  festgestellt  worden. 

Für  das  Kobalt  magnesiumrot  gilt  grund- 
sätzlich das  Gleiche  wie  für  Rinman's  Grün: 
Kobalt  magnesium  rot  stellt  eine  Reihe  von 
Mischkristallen  zwischen  dem,  wie  bereits  erwähnt 
wurde,  regulär  kristallisierenden  Kobaltoxyd  und 
dem  ebenfalls  regulär  kristallisierenden  Magne- 
siumoxyd dar,  nur  kristallisiert  es  nicht  wie 
Rinman's  Grün  hexagonal,  sondern,  wie  ja 
auch  zu  erwarten  ist,  regulär  wie  seine  beiden 
Komponenten.  Mg. 

Die  katalytische  Wirksamkeit  des  Ruthe- 
niums bei  Oxydationen  ist  der  Gegenstand 
eines  Patentes,^)  das  der  Badischen  Änilin- 
und  Sodafabrik  vor  kurzem  erteilt  worden 
ist.  Es  hat  sich  gezeigt,  daß  sowohl  das  Rutheni- 
um selbst  als  auch  seine  Verbindungen  (Halogen- 
verbindungen, O.xyde,  Ruthenatc  usw.)  schon  in 
äußerst  geringer  Menge  ungewöhnlich  starke 
Oxydationswirkungen  herbeiführen  können.  Als 
sehr  geeignetes  Präparat  zur  Sauerstoffübertragung 
hat  sich  u.  a.  Rutheniumasbest  erwiesen ,  der 
durch  Aufbringen  von  Alkaliruthenat  auf  Asbest 
hergestellt  wird.  Dies  Material  ermöglicht  z.  B. 
die  Oxydation  von  Methylalkohol  zu  Formaldehyd 
durch  Luft  schon  bei  120".  Von  anderen  für 
die  organisch-chemische  Industrie  wichtigen  An- 
wendungen ist  die  Oxydation  von  Phenanthren 
zu  Phenanthrenchinon  zu  erwähnen,  die  durch 
angesäuerte  Natriumchloratlösung  schon  nach 
Zusatz  einer  Spur  von  Rutheniumchlorid  oder 
Kaliumruthenat  erfolgt.  Diese  O.xydationswir- 
kungen  sind  weit  kräftiger  als  die  mit  anderen 
Sauerstoffüberträgern  zu  erzielenden  katalytischen 
Beschleunigungen.  Bugge. 

Astronomie.  Sterne  mit  auffallend  großer  Be- 
wegung in  der  Gesichtslinie  hat  eine  Beobachtungs- 
reihe auf  dem  Mt.  VVilson  (Contrib  Nr.  79)  zu 
tage  gefördert.  Der  i  '  ,,  Meter  Spiegel  hat  bei 
100  Sternen,  die  schwächer  sind  als  5,5  Größe, 
und  deren  Parallaxe  bekannt  ist,  20  nachgewiesen, 
deren  Geschwindigkeit  größer  ist  als  50  km  in 
der  Sekunde,  von  diesen  entfernen  sich  5  und 
nähern  sich  15.  Ein  Stern  der  7,4  ten  Größe  La- 
lande  1966,  mit  der  geringen  Parallaxe  von  0,oS" 
hat  die  riesige  Bewegung  in  der  Gesichtslinie  von 
325  km  in  der  Sekunde  bei  einer  Bewegung  am 
Himmel  von  0,69"  im  Jahre.  Dieser  Stern  hat 
die  größte  bisher  bekannt  gewordene  Eigenbewe- 
gung   überhaupt.     Dann    ist    noch    ein   Stern    mit 


Rinman's  Grün  ist  demnach  als  eine  Reihe 


')  D.R.P.  No.  275518,  Kl.    120. 


7'4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  45 


250  km  gefunden  worden.  Auffallenderwfiise 
gehören  diese  beiden  Sterne  dem  Spektraltypus 
F  an.  Riem. 

Als  Vergleichsspektrum  wendet  man  meistens 
das  des  Eisens  an ,  weil  es  viele  über  das 
Spektrum  verteilte  Linien  hat,  deren  Lage 
sehr  gut  bekannt  ist ,  so  daß  man  bei  jedem 
Sternspektrum  immer  geeignete  Linien  des  Eisens 
in  der  Nähe  haben  wird.  Aber  das  Eisen  ist 
nicht  immer  rein,  so  daß  man  oft  Linien  auf  der 
Platte  enthält,  die  erst  selbst  noch  bestimmt  wer- 
den müssen.  Dem  gegenüber  macht  Lunt  in 
den  Cape  Obs.  Annais  Bd.  10,  Teil  4  darauf  auf- 
merksam, daß  sich  das  Spektrum  des  Graphits 
oder  eines  beliebigen  Bleistiftes  als  sehr  brauch- 
bar erweise.  Dies  Material  gibt  Linien,  welche 
alle  in  der  Sonne  vorkommen,  sie  sind  sehr  zahl- 
reich, über  das  ganze  Spektrum  verteilt,  und  sehr 
scharf.  Die  scharfen  Metallinien  gehören  dem 
Eisen,  Titan,  Vanadium  und  Chrom  an,  dann  sind 
die  alkalischen  Erden  vertreten,  Barium,  Stron- 
tium und  Calcium ,  sodann  erscheinen  die  sel- 
tenen Erden,  Gallium,  Scandium,  Yttrium,  sowie 
Silizium,  Magnesium  und  Mangan.  Hier  ist  also 
die  Unreinheit  des  Material  ein  Gewinn. 

Riem. 

Botanik.  Der  Einfluß  der  Luftfeuchtigkeit 
und  des  Lichtes  auf  die  Transpiration  der  Pflanzen. 
Die  Transpiration  steht  mehr  als  irgendeine  andere 
physiologische  l'unktion  unter  dem  Einfluß  äußerer 
Bedingungen.  Indessen  haben  wir  keine  nähere 
Kenntnis  von  den  direkten  Beziehungen  zwischen 
der  Wasserdampfabgabe  der  Blätter  und  der  Luft- 
feuchtigkeit sowie  dem  Grade  der  Belichtung,  weil 
die  Transpiration  in  hohem  Maße  von  dem  Ver- 
halten der  Spaltöffnungen  (ob  offen  oder  ge- 
schlossen) abhängig  ist  und  dieses  auch  wieder 
durch  die  äußeren  Bedingungen  bestimmt  wird. 
Zu  sicheren  Schlüssen  über  jene  Beziehungen 
kann  man  nur  gelangen,  wenn  es  gelingt,  das 
Spiel  der  Spaltöffnungen  aus  dem  Versuche  aus- 
zuschalten. Dies  hat  F  ran  ci  s  Darwin  dadurch 
erreicht,  daß  er  auf  der  Unterseite  von  Blättern 
des  Kirschlorbeers  Kakaobutter  oder  Vaselin  ver- 
rieb, so  daß  die  Spaltöffnungen  völlig  verstopft 
wurden  und  dann  zur  Herstellung  der  Ver- 
bindung zwischen  der  äußeren  Luft  und  den 
Interzellularräumen  mit  der  Schere  oder  einem 
Rasiermesser  4 — 6  Einschnitte  in  das  Blatt 
machte,  die  zwischen  den  großen  Seitenadern  von 
der  Peripherie  bis  zur  Mittelrippe  verliefen.  Das 
Verfahren  gleicht  demjenigen  von  Stahl,  der 
zeigte,  daß  eingefettete  Blätter,  in  die  Löcher  ge- 
stochen worden  sind,  in  den  die  Wunden  um- 
gebenden Geweben  assimilieren  und  Stärke 
bilden,  was  ohne  solche  Wunden  nicht  geschieht. 
Durch  eine  Berechnung  findet  Darwin,  daß  in 
einem  Kirschlorbeerblatt  mit  vier  solchen  Ein- 
schnitten die  transpirierenden  Offnungen,  die  die 
Interzellularräume  mit  der  äußeren  Luft  verbinden, 


etwa  denselben  Flächenraum  haben  wie  unter  ge- 
wöhnlichen L'mständen  die  Spaltöffnungen.  Zur 
Messung  der  Transpiration  bediente  er  sich  eines 
Potometers  (Potetometers),  und  den  Wechsel  der 
Luftfeuchtigkeit  erzielte  er  einfach  durch  Heben 
und  Senken  einer  über  die  Pflanze  gestülpten 
großen  Glasglocke.  Die  graphische  Darstellung 
der  Versuchsergebnisse,  bei  der  die  relative  P'euch- 
tigkeit  als  Abszissen,  die  Transpirationsgröße  als 
Ordinaten  eingetragen  sind,  ergibt  im  allgemeinen 
eine  diagonale  gerade  Linie,  woraus  folgt,  daß 
zwischen  Transpiration  und  relativer  Feuchtigkeit 
eine  bestimmte  Beziehung  besteht.  Dieser  Schluß, 
der  eine  physikalische  Notwendigkeit  ist,  scheint 
vorher  nicht  definitiv  bewiesen  oder  diagrammatisch 
dargestellt  worden  zu  sein.  Dies  gilt  ebenso  für 
die  Veranschaulichung  der  zuerst  von  Sachs 
hervorgehobenen  Tatsache,  daß  auch  in  dampf- 
gesättigter Luft  Transpiration  stattfindet,  und  die 
sich  darin  offenbart,  daß  die  Diagonale  des  Dia- 
gramms nicht  durch  den  Schnittpunkt  der  Koor- 
dinatenachsen geht.  Zum  Studium  des  Ein- 
flusses des  Lichts  wurde  die  Transpiration  in 
einem  dunklen  Zimmer  mit  der  an  einem  Nord- 
fenster des  Laboratoriums  verglichen ;  die  Pflanze 
wurde  dabei  abwechselnden  Perioden  der  Belichtung 
und  Verdunkelung  von  je  einer  Stunde  unterworfen. 
In  einigen  Versuchen  wurde  die  Transpirations- 
größe nicht  mit  dem  Potometer,  sondern  durch 
den  Gewichtsverlust  eines  Kirschlorbeerzweiges 
bestimmt.  Auch  kam  in  mehreren,  von  Frl.  Pertz 
ausgeführten  Versuchen,  Efeu  zur  Verwertung, 
dessen  Bllätter  ebenso  behandelt  wurden,  wie  es 
für  den  Kirschlorbeer  beschrieben  worden  ist. 
Unter  normalen  Umständen  wird  bei  verdunkelten 
Blättern  durch  den  eintretenden  Verschluß  der 
Spaltöffnungen  die  verdunstende  Oberfläche  sehr 
vermindert.  Bei  dem  Darwinschen  Verfahren 
bleibt  sie  aber  konstant.  Auch  hier  aber  war 
fast  immer  die  Transpiration  im  Lichte  größer 
als  die  im  Dunkeln.  Das  durchschnittliche  Ver- 
hältnis beider  betrug  für  den  Kirschlorbeer  132: 100, 
beim  Efeu  136:100.  Im  Frühsommer  reagierte 
der  Kirschlorbeer  gegen  die  Lichtwirkung  stärker 
als  im  Frühling,  was  zunächst  unerklärt  bleibt. 
Bezüglich  der  Haupttatsache,  daß  die  Transpiration 
durch  das  Licht  verstärkt,  durch  Dunkelheit  ver- 
mindert wird,  kann  man  entweder  der  Ansicht 
W  iesner's  beitreten,  daß  die  Chloroplasten  im 
Lichte  durch  die  Absorption  strahlender  Energie 
erwärmt  werden,  oder  man  kann  annehmen,  daß 
das  Licht  eine  erhöhte  Durchlässigkeit  der  Plas- 
mahaut gegen  Wasser  herbeiführt  (eine  Ansicht, 
die  in  den  Untersuchungen  von  Lepeschkin 
und  Tröndle  eine  Stütze  findet),  oder  man  kann 
beide  Theorien  miteinander  kombinieren.  (Pro- 
ceedings  of  the  Royal  Society  B.,  Vol.  87,  1914. 
pp.  269—299).  F.  Moewes. 

Der  Einfluß  der  Bordeauxbrühe  auf  die  Trans- 
spiration.  Seit  lange  ist  bekannt,  daß  die 
zur   Bekämpfung    parasitischer    Pilze    angewandte 


N.  F.  XIII.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


715 


Bespritzung  der  Blätter  des  Weinstocks,  der  Kar- 
tofi'el  usw.  mit  Bordeauxmischung  (Kupfervitriol, 
Kalk,  Wasser)  auch  einen  unmittelbar  fördernden 
Einfluß  auf  die  Lebenstätigkeit  und  Langlebigkeit 
der  Pflanze  hat.  Auch  ist  namentlich  bei  der 
Kartoffel  eine  beträchtliche  Erhöhung  des  Ertrages 
an  Knollen  bei  den  gespritzten  Pflanzen  beobachtet 
worden.  Über  die  Frage,  welche  Rolle  eine  Ände- 
rung der  Transpirationsgröße  hierbei  spielt,  gehen 
die  Ansichten  auseinander.  Frank  und  Krüger 
(1894)  haben  angegeben,  daß  die  Spritzflüssigkeit 
die  Transpiration  (der  Kartoffel)  erhöht.  Da- 
gegen hat  zuerst  Rumm  (1893)  und  nach  ihm 
eine  Anzahl  anderer  Forscher  gefunden,  daß  die 
Bespritzung  eine  Herabsetzung  der  Transpi- 
ration herbeiführt;  diese  Erscheinung  ist  teils  auf 
die  Verstopfung  der  Spaltöffnungen,  teils  auf  die 
Schattenwirkung  des  Kupfer-Kalk-Häutchens  auf 
den  Blättern  zurückgeführt  worden.  Kürzlich  ver- 
öffentlichte Versuche  vonDuggar  und  Cooley 
von  der  Washington-Universität  in  St.  Louis  haben 
indessen  die  Angabe,  daß  die  Transpiration  durch 
die  Bordeauxbrühe  herabgesetzt  wird,  nicht  be- 
stätigt. Diese  Versuche  wurden  teils  mit  abge- 
schnittenen Rizinusblättern  unter  Benutzung  eines 


Potetometers,  teils  mit  Tomatenpflanzen  in  Töpfen, 
die  in  Paraffin  getaucht,  und  deren  Bodenflächen 
auch  mit  Paraffin  überzogen  waren,  angestellt.  In 
beiden  Fällen  wurden  Ober-  und  Unterseite  der 
Blätter  sorgfältig  mit  Bordeauxbrühe  bespritzt. 
Bei  den  eingetopften  Pflanzen  kam  außerdem  Be- 
stäubung oder  Bespritzung  der  Blätter  mit  ver- 
schiedenen Substanzen  (Kalk,  Tonerde,  Holzkohle 
usw.)  zur  Verwendung.  Das  Ergebnis  der  Poteto- 
meterversuche  ließ  nur  den  Schluß  zu,  daß  die 
Transpiration  durch  die  Bespritzung  mit  Bordeaux- 
brühe verstärkt  wird.  Auch  die  Versuche  mit 
Topfpflanzen  sprechen  trotz  einiger  individueller 
Abweichungen  für  eine  Förderung  der  Transpi- 
ration durch  die  Bordeauxmischung.  Die  anderen 
Stoffe  hingegen  übten  keinen  sichtbaren  Einfluß 
auf  die  Transpiration  aus.  Es  bliebe  nunmehr 
festzustellen,  welches  die  physikalische  und  che- 
mische Grundlage  der  vermehrten  Wasserabgabe 
ist,  und  ferner,  ob  diese  mit  der  Erhöhung  der 
Lebenstätigkeit  und  der  Verlängerung  der  Lebens- 
dauer bei  den  gespritzten  Pflanzen  verknüpft  ist. 
Zurzeit  kann  keine  dieser  Fragen  zuverlässig  be- 
antwortet werden  (Annais  ofthe  Missouri  Botanical 
Garden  1914,  Vol.  1,  p.  I — 2i,Taf.).     F.  Moewes. 


Kleinere  Mitteilungen, 


Der  Linsenstar  des  Auges  (Cataracta)  beruht 
bekanntlich  darauf,  daß  die  normalerweise  völlig 
durchsichtige  Linse  sich  trübt  und  den  Licht- 
strahlen den  Durchtritt  mehr  oder  minder  er- 
schwert. Als  dessen  Ursachen  werden  Ernährungs- 
störungen infolge  einer  lokalen  Schädigung  oder 
einer  Allgemeinerkrankung  angesehen;  besonders 
häufig  tritt  er  im  höheren  Alter  auf. 

Nach  Fritz  Schanz  (Über  die  Entstehung 
der  Weitsichtigkeit  und  des  Stars.  Münch.  med. 
Wochenschr.  Nr.  34,  1914)  wird  der  Star  da- 
durch veranlaßt,  daß  die  für  uns  un- 
sichtbaren Lichtstrahlen  das  Gewebe 
der  Linse  verändern.  Letzteres  besteht  aus 
kolloidalen  Eiweißstoffen.  Durch  das  Licht  werden 
die  kleinsten  Teile  kolloidaler  Substanzen  zu  größeren 
Aggregaten  zusammengeballt.  Leichtlösliche  Stoffe 
werden  in  schwerer  lösliche  umgewandelt.  Wie 
Dreyer  und  Hansen  nachgewiesen  haben,  sind 
die  Eiweißstoffe  besonders  für  kurzwelliges  Licht 
empfindlich,  indem  sie  unter  der  Lichtwirkung 
koagulieren.  Aus  einer  solchen  Lichteinwirkung 
würde  sich  der  „Blitzstar"  erklären,  eine  Folge 
der  intensivsten  Lichtwirkung,  wenn  ein  Blitz  nahe 
dem  Auge  niederfährt. 

Während  des  ganzen  Lebens  wirkt  nun  Licht 
auf  die  Linse  und  wandelt  die  leichter  löslichen 
Eiweißstoffe  allmählich  in  schwerer  lösliche  um. 
Durch  die  Luftmoleküle  wird  das  Licht  „zersplittert", 
am  stärksten  die  kurzwelligen  Strahlen.  Da  die 
Diffussion  des  Lichtes  umgekehrt  proportional 
zur    vierten   Potenz    seiner    Wellenlänge    wächst. 


werden  auch  die  dem  direkten  Licht  nicht  ausge- 
setzten Teile  der  Linse,  wie  die  hinter  dem  Iris- 
rand gelegenen,  von  den  unsichtbaren  Strahlen 
getroffen. 

IVIanche  Eigentümlichkeiten  des  Stars  finden 
in  dieser  Ätiologie  ihre  Erklärung. 

Der  Star  beginnt  meistens  in  der  unteren 
Linsenhälfte;  diese  aber  wird  vom  direkten  Sonnen- 
licht getroffen,  die  obere  dagegen  von  Licht, 
welches  vom  Erdboden  reflektiert  wurde  und  viel 
ärmer  an  kurzwelligen  Strahlen  ist.  Daß  bei  den 
Bewohnern  des  Hochgebirges  der  Altersstar  nicht 
häufiger  ist,  als  bei  denen  der  Tiefebene,  liegt 
warscheinlich  daran,  daß  das  intensive  Licht  sie 
nötigt,  ihre  Augen  mehr  vor  dem  Licht  zu  schützen. 
In  den  Tropen  und  Subtropen  tritt  die  Erkrankung 
häufiger  auf,  weil  das  Licht  dort  an  wirksamen 
Strahlen,  reicher  ist.  Jenes,  dem  die  Glasbläser 
ausgesetzt  sind,  wirkt  weniger  intensiv,  als  das  der 
Schmelzöfen. 

Das  verschiedene  Verhalten  junger  und  älterer 
Tiere  gegenüber  der  experimentellen  Erzeugung 
von  Linsentrübungen  erklärt  sich  gleichfalls  daraus, 
daß  bei  ersteren  die  Linse  aus  leicht  löslichen, 
bei  letzteren  aus  schwer  loslichen  Eiweißstoffen 
besteht.  Kathariner. 

Aluminiumlöt-    und    Schweißmethoden.      Die 

Bestrebungen,  das  Aluminium  auch  in  der  Tech- 
nik an  Stelle  anderer  Metalle  zu  verwenden,  führ- 
ten zuerst  zu  keinem  in  jeder  Beziehung  zufrieden- 
stellenden   Resultat,    einmal    wegen    der   geringen 


7i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  45 


Festigkeit  des  Aluminiums  selbst  und  andererseits, 
weil  außer  dem  Nieten  kein  Verfahren  bekannt 
war,  nach  welchen  man  große  Aluminiumgegen- 
stände aus  mehreren  Stücken  herstellen  konnte. 
Die  gewöhnliche  Lötung  oder  Schweißung  führte 
nicht  zum  Ziele,  weil  das  Aluminium  beim 
Schmelzen  eine  die  Verbindung  störende  Oxyd- 
schicht bildet.  Es  sind  verschiedene  Vorschläge 
von  Technikern  patentiert  worden,  die  eine  Lötung 
oder  Schweißung  ermöglichen  sollten,  alle  haben 
sich  jedoch  nicht  in  der  Praxis  bewährt  *). 

Erst  der  Ouarzschmelze  W.  C.  Heraus  in 
Hanau  ist  es  191 2  gelungen,  ein  Schweißverfahren 
zur  Anwendung  zu  bringen,  das  sich  in  der 
Praxis  bewährt  hat.  Ohne  Anwendung  eines 
Schweiß-,  Löt-  oder  Reduziermittels  wird  bei  dem 
He  raus 'sehen  Schweißverfahren  das  Aluminium 
nicht  auf  den  Schmelzpunkt  erhitzt,  sondern  nur 
auf  Weichheit.  Durch  diese  Schweißung  wird 
eine  derart  innige  Verbindung  der  einzelnen 
Teile  herbeigeführt,  daß  die  Schweißnaht  jede 
weitere  Bearbeitung    mit    dem  Hammer   verträgt. 

Trotzdem  man  mit  dem  Her  aus' sehen  Ver- 
fahren in  jeder  Weise  zufriedenstellende  Resultate 
erhalten  hat,  wurde  dennoch  nach  einem  die  Oxyd- 
häute beim  Schmelzen  des  Aluminiums  vollständig 
lösenden  Reduziermiltel  weiter  geforscht.  Im 
Jahre  ujof)  machte  M.  Seh 00p  die  Entdeckung, 
daß  Gemische  von  Alkalichloriden  selbst  bei  700" 
die  Oxydschicht  zu  lösen  vermögen.  Derartige 
Flußmittel  sind  dem  Erfinder  durch  Patente  ge- 
schützt und  werden  von  der  A.  G.  für  autogene 
Aluminiumschweißung  in  Zürich  in  den  Handel 
gebracht. 

Das  Heräus'sche  Verfahren  wird  haupt- 
sächlich von  den  Patentinhabern  selbst  ausgeführt, 
während  nach  dem  Schoop'schen  Verfahren 
bereits  36  Lizensnehmer  arbeiten. 

Otto  Bürger. 

Über  die  Entfernung  von  Druck-  und  Schrift- 
zeichen aus  bedrucktem  Papier  sprach  Karl  Kurtz- 
Hähnle,  Reutlingen  gelegentlich  der  Sommer- 
versammlung des  Vereins  der  Zellstoff-  und  Papier- 
chemiker   in    Leipzig.     (Angew.    Chemie    27,   56). 

Die  Druckerschwärze  ist  ein  Gemisch  von  Ruß 
und  Leinöl  und  kann  nicht  durch  Bleichen  aus 
dem  Papier  entfernt  werden,  man  muß  vielmehr 
den  entstandenen  Firnis  erst  auflösen  und  dann 
mechanisch  entfernen.  Die  Lösung  geschieht  durch 
alkalische  Laugen,  doch  darf  dabei  die  Papierfaser 
nicht  angegriffen  und  auch  nicht  gelb  werden. 
Das  Verfahren  zerfällt  in  4  Teile:  i.  in  die  che- 
mische Lösung,  2.  die  Entfernung  des  Rußes, 
3.  in  das  Zerfasern  und  4.  in  das  Auswaschen  des 
Stoffes.  Da  die  Lauge  keine  rein  alkalische  sein 
darf,  weil  sie  sonst  die  Stoftaser  angreifen  und 
gelb  färben  würde,  wendet  man  eine  Lauge  der 
Henkeischen  Kleichsodafabrik  an,  in  der  das  Alkali 
zwar  gebunden,  aber  leicht  dissoziierbar  ist.     Ein 


')  Angew.  Chemie  27,  42. 


Zusatz  von  3  "/„  Natriumsuperoxyd  unterstützt  die 
Lösung  des  Leinölfirnis  und  übt  gleichzeitig  eine 
Bleichwirkung  aus.  Das  Papier  gelangt  zunächst 
in  die  Papiereinlauftrommel,  dann  in  die  Lauge- 
auspreßmaschine und  in  der  Form  eines  Papier- 
pfropfens in  den  Papierzerfaserer,  von  dort  in  die 
Rührbütte  und  schließlich  auf  das  Waschsieb.  Die 
Kosten  für  eine  Anlage,  die  täglich  10  Tonnen 
verarbeitet,  gibt  Verf.  mit  40000  Mk.  an,  die  Stoff- 
verluste mit  21  7o  bei  Zeitungsdruckpapier.  Die 
Verarbeitung  von  altem  Zeitungspapier,  das  5  Mk. 
pro  100  kg  kostet,  stellt  sich  auf  2  V,-i — 2 ','.3  Mk. 
Dieses  Verfahren  leistet  technisch  zurzeit  das 
beste  und  verdient  daher  volle  Beachtung. 

Otto  Bürger. 

Delphine  in  der  Gefangenschaft.  Höchst  an- 
ziehende und  einzige  Schaustücke  besitzt  seit 
einiger  Zeit  das  New  Yoiker  Aquarium.  In  einem 
37  Fuß  breiten  und  7  Fuß  tiefen  Teich  tummeln 
sich  nämlich  dort  eine  Anzahl  Delphine  und  er- 
götzen die  Zuschauer  durch  ihre  munteren  Sprünge 
ebenso  wie  sie  den  Reisenden  auf  hoher  See  über 
manche  Stunde  der  Langeweile  hinweghelfen.  Die 
Tiere,  die  der  Art  Tursiops  truncatus  angehören, 
wurden,  wie  der  Direktor  des  genannten  Aquariums, 
Ch.  Haskins  Townsend  erzählt  (Zoologica,  Scien- 
tific Contributions  to  the  New  York  Zoological 
Society.  Vol.  I,  Number  16,  June  1914)  in  Hat- 
teras  gefangen.  Gewitzigt  durch  frühere  Miß- 
erfolge, die  darauf  zurückgingen,  daß  die  Tiere 
nicht  in  kühlem  Wasser,  sondern  nur  mit  nasser  Sack- 
leinwand bedeckt,  transportiert  wurden,  wurden 
die  mit  Netzen  gefangenen  Tiere  in  große  Behälter 
mit  Wasser  gebracht.  Dies  mußte  aber  etwa  alle 
5  bis  6  Stunden  gewechselt  werden,  da  es  durch 
die  warmblütigen  Tiere  merkbar  erwärmt  wurde 
und  die  Delphine  sehr  empfindlich  gegen  Tem- 
peratursteigerung sind.  Stets  in  dem  gleichmäßig 
kühlen  Meerwasser  lebend,  müssen  sie  an  der  Luft 
oder  in  einer  relativ  kleinen  nicht  zirkulierenden 
Wassermenge  geschädigt  werden,  da  die  unter 
normalen  Lebensbedingungen  dauernd  durch  das 
Wasser  abgeleitete  Körperwärme  sich  nunmehr 
staut.  Da  man  nicht  oft  Gelegenheit  hat,  Del- 
phine so  genau  und  mit  Muße  zu  betrachten,  wie 
in  dem  New  Yorker  Aquarium,  so  seien  hier  noch 
einige  Schilderungen  angefügt,  die  Townsend  über 
die  Lebensweise  dieser  kurzweiligen  Meersäuge- 
tiere gibt :  Sie  schwimmen  oft  mit  dem  Bauch 
nach  oben  unter  Wasser,  liegen  aber  niemals  auf 
dem  Grunde  oder  sonnen  sich  an  der  Oberfläche 
wie  die  Seehunde.  Ob  sie  jemals  ruhen,  ist  schwer 
zu  sagen ;  wenn  sie  es  tun,  so  geschieht  es  offen- 
bar, ohne  daß  sie  in  der  Vorwärtsbewegung  inne- 
halten. Immerhin  sind  sie  nachts  ruhiger  und 
geben  sich  nicht  ihren  stürmischen  Spielen  hin. 
Zeitweilig  schwammen  zwei  fortdauernd  von  links 
nach  rechts,  während  drei  den  entgegengesetzten 
Weg  nahmen,  doch  verließen  sie  schließlich  diese 
Gewohnheit.  Oft  führen  sie  das  reine  Wett- 
schwimmen   auf.      Dann   wieder    spielen    sie    mit 


N.  F.  XIII.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


717 


einander,  indem  sie  mit  neclcischer  Wut  aufein- 
ander zufaliren  oder  aus  den  Wasser  springen. 
Dabei  schnappen  sie  auch  wohl  nacheinander,  ohne 
sich  jedoch  wirl<lich  zu  beißen.  Häufig  schwimmen 
sie  auf  dem  Rücken  mit  der  Schnauze  aus  dem 
Wasser,  oder  auf  der  Seite,  indem  sie  wiederholt 
die  Wasseroberfläche  mit  dem  Kopfe  schlagen. 
Wenn  sie  springen,  so  ist  es  ein  beliebter  Trick, 
den  Körper  herumzuwerfen,  bis  die  Rückenflosse 
nach  vorwärts  zeigt,  und  so  ins  Wasser  zurück- 
zuplatschen.  Wenn  einer  einen  hohen  Sprung 
ausführt,  so  ist  dies  für  die  übrigen  das  Zeichen, 
das  gleiche  zu  tun.  Ein  anderes  Spiel  besteht 
darin,  daß  sie,  rund  um  das  Becken  herum- 
schwimmend, fortwährend  tauchen  und  jedesmal 
mit  dem  flachen  Schwanz  auf  das  Wasser  schlagen. 
Manchmal  schießen  sie  beim  Springen  vollständige 
Purzelbäume  nach  hinten  und  vorn.  Die  gewöhn- 
liche Schwimmbewegung  des  Schwanzes  ist  auf 
und  ab,  womit  sich  das  Tier  offenbar  vorwärts 
bewegt,  während  es  die  beiden  Flossentatzen  zum 
Wenden  benutzt.  Sie  können  in  voller  Schwimm- 
geschwindigkeit rechtwinklig  umbiegen.  Ge- 
legentlich rotten  sich  drei  oder  vier  in  der  Mitte 
des  Teiches  zu  einem  Knäuel  zusammen,  rollen 
sich  umher  und  reiben  sich  aneinander,  so  etwa,  wie 
sich  junge  Hunde  balgen.  Vielleicht  kratzen  sie 
sich  aber  auch  dabei;  wenigstens  rieb  sich  früher 
ein  einzelner  Delphin  oft  seine  Seiten  oder  seinen 
Rücken  an  einem  großen  Stör,  der  im  gleichen 
Teich  gehalten  wurde.  Der  Hals  des  Delphins  ist, 
obwohl  er  äußerlich  gar  nicht  hervortritt ,  doch 
überraschend  beweglich,  so  daß  der  Kopf  mit 
Leichtigkeit  um  45  Grad  nach  unten  und  nach 
rechts  und  links  gedreht  werden  kann.       Miehe. 

Über  Geisteskrankheiten  und  andere  Entartungs- 
zeichen im  Indischen  Reich.  Bei  Gelegenheit  der 
Volkszählungen  im  indischen  Reich,  die  alle  zehn 
Jahre  stattfinden,  wird  auch  immer  die  Häufigkeit 
gewisser  Gebrechen  festzustellen  versucht.  Voll- 
ständig fallen  diese  Erhebungen  nicht  aus;  es  ist 
vielmehr  sicher,  daß  in  vielen  Fällen  den  Zähl- 
beamten die  Gebrechen,  die  gewöhnlich  als 
Schande  gelten,  absichtlich  verheimlicht  werden. 
Die  Zahl  der  ermittelten  Geisteskranken 
nahm  von  81  132  1881  auf  74279  1891  und 
66205  1901  ab;  im  folgenden  Jahrzehnt  trat  eine 
Zunahme  auf  81006  ein;  auf  lOOOOO  Einwohner 
trafen  1881  35,  1891  27,  1901  23  und  191 1  26 
Geisteskranke.  Es  sei  gleich  erwähnt,  daß  auch 
die  Häufigkeit  der  anderen  Gebrechen  von  1881 
bis  1901  ab-  und  im  letzten  Jahrzehnt  wieder  zu- 
nahm. Das  ist  so  zu  erklären,  daß  Hungersnöte, 
die  schwache  und  mit  Gebrechen  behaftete  Per- 
sonen am  schwersten  betreffen,  weil  diese  selbst  am 
wenigsten  oder  gar  nicht  für  ihren  Unterhalt  sor- 
gen können,  in  der  Zeit  von  1881  — 1901  viel  häufiger 
und  verheerender  auftraten  als  von  1901 — 191 1. 
Im  letzten  Jahrzehnt  hat  dagegen  die  Pest  eine 
Übersterblichkeit  von  mindestens  6^/2  IMillionen 
Personen  verursacht  und   dieser  Seuche  fielen  ge- 


sunde Personen,  die  mehr  als  die  Kranken  mit 
anderen  in  Berührung  kommen  und  der  An- 
steckungsgefahr ausgesetzt  werden,  relativ  häu- 
figer zum  Opfer.  Zudem  ist  wohl  die  letzte  Zäh- 
lung weniger  lückenhaft  ausgefallen  wie  die  vor- 
ausgegangenen Zählungen.  Beim  männlichen 
Geschlecht  waren  von  lOoooo  Personen  geistes- 
krank: 191 1  31  und  1901  2S;  die  entsprechenden 
Zahlen  für  das  weibliche  Geschlecht  waren  191 1  20 
und  1901  17.  Von  den  eihzelnen  Verwaltungs- 
gebieten weist  Birma  die  größte  Häufigkeit  der 
Geisteskrankheiten  auf;  hier  waren  191 1  85  von 
lOOOOO  männlichen  und  74  von  looooo  weib- 
lichen Personen  geisteskrank.  Weit  über  dem 
Durchschnitt  steht  die  Häufigkeit  der  Geistes- 
krankheiten ferner  in  Belutschistan,  in  der  Nord- 
westgrenzprovinz, in  Assam  und  in  Bengalen; 
von  Bengalen  abgesehen  sind  das  Gebiete,  wo 
der  Hinduismus  und  das  Kastensystem  wenig 
Einfluß  haben.  Verhältnismäßig  die  wenigsten 
Geisteskranken  gibt  es  dagegen  in  der  zentral- 
indischen Agentie,  in  Kurg,  in  Sikkim  und  in 
der  neugeschaffenen  Provinz  Biliar  und  Orissa. 
Die  geringe  Häufigkeit  der  Geisteskrankheiten 
im  indischen  Reich  und  ganz  besonders  im  hindu- 
istischen  Indien  ist  unter  anderen  wohl  auf  das 
Kastensystem  zurückzuführen,  das  gesellschaft- 
liche Stabilität  begünstigt:  es  hat  jeder  an  dem 
Platz  zu  bleiben,  an  den  er  durch  die  Geburt 
kam ;  persönliches  Streben  hat  so  gut  wie  keine 
Aussichten.  Die  wirtschaftlichen  Verhältnisse 
sind  einfach  und  sie  verursachen  nicht  entfernt 
die  Aufregung  und  Anspannung  wie  unser  euro- 
päisches Wirtschaftsleben.  Ebenso  fallen  in  Indien 
die  Aufregungen  des  Liebeslebens  weg,  die  in 
Europa  oft  Anlaß  zu  Geistesstörungen  geben, 
denn  innerhalb  der  Hindugesellschaft  bestimmen 
die  Angehörigen  über  die  Eheschließung,  und 
namentlich  bei  den  besser  situierten  Klassen  leben 
die  geschlechtsfähigen  weiblichen  Personen  in 
strenger  Abgeschlossenheit.  Beziehungen  zwischen 
der  Zugehörigkeit  zu  bestimmten  Kasten  und  der 
Häufigkeit  der  Geisteskrankheiten  scheinen  nicht 
zu  bestehen.  Dagegen  scheint  es,  daß  bei  der  leb- 
hafteren mongolischen  und  iranischen  Bevölkerung 
der  Grenzprovinzen  mangelhafte  geistige  Veran- 
lagung erheblich  leichter  in  die  Erscheinung  tritt 
als  bei  der  trägen  Bevölkerung  der  vorderindischen 
Halbinsel. 

Mit  angeborener  Taubstummheit  be- 
haftete Personen  wurden  im  indischen  Reich  ge- 
zählt: i88t  197  215  (86  auf  je  lOOOOO  Einwohner), 
1891  196861  (75),  1901 153  i86(S2)und  191 1  199S91 
(64).  Die  Zählung  von  1901  war  sicher  weniger 
vollständig  als  die  vorausgegangene  und  die  darauf- 
folgende. Im  Jahre  1911  waren  von  je  lOOOOO 
männlichen  Personen  durchschnittlich  74  und  von 
lüoooo  weiblichen  Personen  53  seit  Geburt  taub. 
Angeborene  Taubheit  ist  in  Indien  ungefähr  ebenso 
häufig  als  in  Europa.  Auch  in  Indien  befindet 
sichTaubheit  in  örtlichem  Zusammenhang  mit  Kreti- 
nismus und  Kropf. 


7.8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  45 


Die  Zahl  der  Blinden  nahm  von  526 748  1 88 1 
auf  458868  1891  und  354104  1901  ab  und  dann 
auf  443653  1911  zu;  auf  je  looooo  Einwohner 
kamen  Blinde:  191 1  142,  1901  121,  1891  167 
und  1881  229.  Während  Geisteskrankheit  und 
Taubheit  beim  männlichen  Geschlecht  häufiger 
ist  als  beim  weiblichen,  ist  bei  Blindheit  das  Um- 
gekehrte der  Fall :  Sie  befällt  weibliche  Personen 
häufiger  als  männliche;  im  Jahre  1911  waren  von 
100  000  männlichen  Personen  durchschnittlich  138 
und  von  100  000  weiblichen  Personen  durchschnitt- 
lich   145    blind.     In    dem    amtlichen  Bericht    über 


die  Volkszählung  von  191 1  wird  die  größere 
Häufigkeit  der  Blindheit  beim  weiblichen  Ge- 
schlecht damit  erklärt,  daß  die  weibliche  Bevölke- 
rung einen  viel  größeren  Teil  ihrer  Zeit  in  den 
dunklen  und  rauchigen  Wohnungen  zubringt  als 
die  männliche  Bevölkerung.  Weibliche  Personen 
nehmen  auch  (bei  Augen-  wie  bei  anderen  Krank- 
heiten) weit  seltener  ärztliche  Hilfe  in  Anspruch 
als  männliche  Personen.  Lokal  ist  Blindheit  in 
den  Trockengebieten  mit  ihrer  argen  Staubplage 
am  häufigsten  und  in  den  feuchten  Gebieten  am 


seltensten. 


H.  Fehlinger. 


Bücherbesprechungen. 


Frech,  F.,    Allgemeine    Geologie,   Teil   III 

(„Aus  Natur   und  Geisteswelt",  Teubner-Leipzig 

1914). 

Es  genügt  gewiß  auf  das  Erscheinen  der  drit- 
ten verbreiterten  Autlage  dieses  wohlbekannten 
Bändchens  zu  verweisen.  Er  behandelt  ,,D  i  e 
Arbeit  des  fließenden  Wassers"  und  leitete 
seinerzeit  die  kleine,  sechs  dieser  Teubner-Hefte 
umfassende  Darstellung  wichtiger  Kapitel  aus  der 
Allgemeinen  Geologie  aus  der  Feder  des  Breslauer 
Gelehrten  ein ,  die  anfangs  den  Obertitel  „Aus 
der  Vorzeit  der  Erde"  führte.  Ein  Werk,  das 
solchen  Absatz  bereits  gefunden  hat,  bedarf  keiner 
Einführung  und  Empfehlung  mehr.  Nur  über  die 
ausgezeichnet  gelungene,  für  derartige  Veröffent- 
lichungen ungewöhnliche  Wiedergabe  der  reich 
zusammengestellten  Abbildungen  kann  man  nicht 
ganz  ohne  ein  Wort  freudiger  Anerkennung  hin- 
weggehen. Hennig. 

van  Mageren,  St.  G.,  Cöln,  Ausgewählte 
Kapitel  aus  der  Geologie.  (Hilfsbücher  f 
Volksunterrichtskurse,  herausg.  v.  Sekretariat 
f  Soziale  Studentenarbeit.  9.  Heft  m.  Karte  u. 
Textfiguren).  M.  -  Gladbach  1914.  —  Preis 
30  Pfg. 

Das  Heftchen  ist  wie  die  ganze  Sammlung 
einem  bestimmten  Zwecke  angepaßt,  dem  all- 
seitig wärmste  Unterstützung  zu  wünschen  ist. 
Es  ist  ein  Hilfsbüchlein  für  jenen  Elementar- 
unterricht, den  Studenten  minderbemittelten  Krei- 
sen als  verständigste  und  wertvollste  Art  sozialer 
Betätigung  angedeihen  lassen.  Doch  ist  der  In- 
halt des  vorliegenden  Heftchens  offenbar  trotz  der 
angestrebten  Allgemeinsverständlichkeit  des  Aus- 
drucks nicht  für  Selbststudium  oder  Wiederholung 
der  Hörer  bestimmt,  sondern  als  schematisch  ge- 
drängte Übersicht  einiger  technischer  Ausdrücke 
und  wichtiger  Zahlenangaben  nur  ein  Leit- 
faden für  den  Unterrichtenden ,  wie  auch  die 
Fragen  am  Schlüsse  jedes  Abschnitts  erweisen. 
Auf  den  Geist,  mit  dem  dies  Gerippe  erfüllt 
wird,  wird  es  im  Unterricht  ankommen.  Unter 
diesem  Gesichtspunkte  kann  das  Heft  eine  brauch- 
bare   Unterlage    abgeben.      Dankenswert    ist    die 


beigefügte   Karte    von    der  Verbreitung   der    Vul- 
kane auf  der  Erde.  Hennig. 


Mangold,  Ernst,  Die  Erregungsleitung  im 
Wirbeltier  herzen.     Ein  Vortrag  nach  ver- 
gleichend   physiologischen  Untersuchungen   ge- 
halten am   17.  Februar   19 14    in  der  Freiburger 
medizinischen    Gesellschaft.      Sammlung   anato- 
mischer und  physiologischer  Vorträge  und  Auf- 
sätze,   herausgegeben    von    Prof   Dr.  E.  Gaupp 
und    Prof    Dr.    W.    Trendelenburg.       Heft    25 
(3.  Bd.  Heft  i).     Jena   1914,  Gustav  Fischer. — 
Preis   1,20  Mk.  (im  Abonnement   i   Mk.). 
Verf  sucht  aus  der  histologischen  Betrachtung 
des  Baues    des  Herzens    von  Vertretern    der   ver- 
schiedenen Wirbeltierklassen:  Fische  (Aal),  Amphi- 
bien   (Frosch,    Salamander),    Reptilien    (Eidechse, 
Schildkröte)  und  Vögel  (Haushuhn)  entscheidende 
Gesichtspunkte    zu    gewinnen    für  die  Beurteilung 
der  Frage,    ob    die    Reize   für    die  Herzbewegung 
neurogen  oder  myogen  sind;  d.  h.  ob  sie  in 
den  Herzganglien  entstehen  und  den  Muskeln  zu- 
geleitet werden,    oder  ob  sie  in  den  Muskelzellen 
des  Herzens  selbst  erzeugt  werden,  die  Tätigkeit 
des    Herzens    also    automatisch    ist.      Mangold 
entscheidet    sich    für    die    neurogene    Natur    der 
Herzaktion. 

Er  fand  z.  B.,  daß  das  Vogelherz  kein  spezifi- 
sches Muskelgewebe  hat. 

Von  interessanten  Einzelheiten  wird  erwähnt, 
daß  die  Pulsfrequenz  pro  Minute  beim  Geier  2C0, 
der  Haushenne  330,  einigen  Finken  700 — 900  und 
beim  Kanarienvogel  gar   1000  beträgt. 

Kathariner. 

Clements,  Frederic  and  Edith,  Rocky  Mountain 
Flowers.  .An  illustrated  Guide  for 
Plant  Lovers  and  Plant  Users.  (Die 
Blumen  des  Felsengebirges,  ein  illustrierter 
Führer  für  Pflanzenliebhaber  und  angewandte 
Botanik.)  Mit  25  kolorierten  Tafeln  (175  Spezies) 
und  22  schwarzen  Tafeln  (355  Spezies).  The 
H.  L.  Wilson  Company,  New  \'ork  City.  1914. 
392  Seiten  gr.  8". 
Diese  illustrierte  Flora  umfaßt  die  Blütenpflanzen 


N.  F.  XIII.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


719 


des  Felsengebirges  vom  Fuße  bis  zu  den  Hoch- 
gipfeln von  Kolorado,  Wyoming,  Montana,  nördl. 
Neu-Mexiko,  östl.  Utah,  westl.  Nord-  und  Süd- 
Dakota,  Nebraska  und  Kansas.  Es  ist  ein  popu- 
läres Buch,  für  Laien  zum  leichten  Bestimmen 
eingerichtet,  wozu  namentlich  die  guten  kolorierten 
Abbildungen  dienen.  Es  enthält  zunächst  eine 
Anleitung  zum  Bestimmen  der  Familien  nach 
einem  originellen  graphischen  Schema  („Flower 
Chart"),  welches  die  Ordnungen  mit  ihren  Blüten- 
formeln in  drei  phylogenetischen  Reihen  darstellt, 
von  den  Raiiunculaceen  ausgehend  und  nach  vier 
Prinzipien  der  Progression  angeordnet  (Verwachsung 
der  Fruchtblätter,  Unterständigwerden  des  Frucht- 
knotens, Verwachsung  der  Kronblätter  und  Zygo- 
morphie  der  Krone).  Die  Orchideen,  die  Kom- 
positen, die  Labiaten  bilden  die  Endglieder  der 
drei  Reihen. 

Zum  praktischen  Bestimmen  eignet  sich  diese 
Tabelle  wohl  kaum:  es  fehlen  eine  ganze  Reihe 
von  Familien,  und  die  Ausnahmen  (z.  B.  4-gliederige 
Monokotylen)  sind  nicht  berücksichtigt:  aber  theo- 
rethisch  gibt  es  eine  klare  Übersicht  über  die  Pro- 
gression im  Blütenbau  der  verschiedenen  Familien. 

Dann  folgt  ein  gedruckter  ausführlicher  Schlüssel 
zu  den  Familien;  der  spezielle  Teil  enthält 
Familiendiagnosen,  Gattungsschlüssel,  Gattungs- 
diagnosen und  Schlüssel  zu  den  Arten,  welche 
allerdings  leider  ohne  Autor,  ohne  Synonyme  und 
ohne  Angaben  von  Blütezeit,  Standort  und  Ver- 
beitung  aufgeführt  werden.  Diese  Dinge  sind 
offenbar  für  das  große  pflanzengeographische  Werk 
über  das  Felsengebirge  aufgespart,  welches  die 
Autoren  planen. 

Die  Tafeln  sind  in  Dreifarbendruck  gut  aus- 
geführt und  geben  in  ihrer  Gesamtheit  ein  präch- 
tiges Bild  der  reichen  Flora  des  F'elsengebirges, 
die  so  viele  unseren  Hochgebirgen  fremde  Typen 
enthält  (Pentstemon,  Gilia,  Castilleja,  Oenothera, 
Elephantella,  Mertensia,  Dodecatheon,  P>asera,  Erio- 
gonum,  Oleome,  Steironema,  viele  Kompositen- 
gattungen, während  Saxifraga,  Gentiana  und 
Primeln  nur  spärlich  vertreten  sind).  Die  Aus- 
führung blieb  freilich  weit  hinter  den  Originalen 
zurück,  welche  den  kunstgeübten  Händen  der 
Frau  Clements  entstammen,  und  die  Referent 
im  „Pikes  Peak  Alpine  Laboratory"  im  vergangenen 
Jahr  einsehen  konnte. 

Das  Buch  bildet  eine  wertvolle  illustrative  Er- 
gänzung zu  den  rein  wissenschaftlichen  Floren 
desselben  Gebiets  von  C  o  u  1 1  e  r,  von  Nelson  und 
von  Rydberg;  es  dient  auch  dem  Pflanzen- 
geographen, indem  es  ihm  einen  Einblick  in  die 
Physiognomie  der  Hora  jener  Gebiete  gewährt. 
Man  kann  wohl  mit  Recht  auf  die  von  den  Autoren 
in  Aussicht  gestellte  Vegetationsschilderung  des 
Gebietes  gespannt  sein.        C.  Schröter-Zürich. 


Eine  Anleitung  zur  Herstellung  von  Vergröße- 
rungen, mit  den  primitivsten  bis  technisch  voll- 
kommensten Hilfsmitteln,  wie  sie  einfacher  und  aus- 
führlicher nicht  gedacht  werden  kann.  Die  be- 
schriebenen Arbeitsweisen  sind  von  jedem  Ama- 
teur durchführbar.  In  Anbetracht  der  jetzt  herr- 
schenden Tendenz,  kleine  Aufnahmen  anzufertigen 
und  diese  nachträglich  zu  vergrößern,  erscheint 
das  Buch  besonders  zeitgemäß.  Zu  dem  reichen 
Inhalt  der  Erstauflage  kamen  weitgehende  Ver- 
besserungen der  einzelnen  Kapitel  und  ein  be- 
sonderer Abschnitt   über  Bromöldruck. 

Gustav  Blunck. 


Hauberrisser,  Dr.  Georg,  Herstellung  photo- 
graphischer Vergrößerungen.  2.  Aufl. 
Mit  50  Abb.  u.  2  Tafeln.  Ed.  Liesegang's  Ver- 
lag (M.  Eger)  Leipzig.  Preis  2,50  Mk.  geb.  3  Mk. 


Weinschenk,     Ernst.       Bodenmais-Passau. 
Petrographisc he  Exkursionen  im  baye- 
rischen   Wald.     2.    erweiterte    und    umgear- 
beitete   Auflage,     gr.     8".    71    p.,    i     Titelbild, 
5    Tafeln    und    47    Textfig.      München,    Verlag 
Natur  und  Kultur.  19 14.  (Ohne  Angabe  der  Jahres- 
zahl.)    —  Preis  geb.  2,70  Mk. 
Das  vorliegende  Büchlein  des  bekannten  Mün- 
chener Petrographen  ist  die  2.  Auflage    einer   im 
Jahre   1899  für  die  Deutsche   Geologische  Gesell- 
schaft   verfaßten    Schrift    aus    den    Sitz-Ber.    der 
Münchener    Akademie    der    Wissenschaften    und 
umfaßt    sieben   verschiedene    Aufsätze,    die    nicht 
nur   auf  Exkursionen    in    das   betreffende    Gebiet 
mit  großem  Nutzen  Verwendung    finden    können, 
sondern  auch  von  allgemeinem  Interesse  sind.    Es 
genügt,    zu   diesem  Zwecke  die  Überschriften  an- 
zugeben.   I.  Der  Pfahl  am  Weißenstein  bei  Regen. 
IL  Die  herzynische  Gneisformation  im  Arbergebiet. 
III.  Die  Kieslagerstätte    im  Silberberg  bei  Boden- 
mais.   IV.  Die  Pegmatite  des  Bayerischen  Waldes. 
V.  Die  körnigen  Kalke  und  das  Eozoon.    VI.  Die 
Graphitlagerstätten  bei  Passau.    VII.  Die  Eruptiv- 
gesteine   des  Bayerischen  Waldes.     Petrographen, 
Geologen,  Mineralogen  wie  Bergleute  werden  bei 
Benutzung  dieses  Büchleins  auf  ihre  Kosten  kom- 
men. K.  Andree. 

Anregungen  und  Antworten. 

Herrn  O.  B.  in  Lokstedt  bei  Hamburg.  Exakte  Unter- 
suchungen über  die  Selbstentzündung  von  ptlanzlichen  Stoffen 
als  z.  B.  Heu  u.  a.  gibt  es  nicht.  Dagegen  hat  man  sich 
mehrfach  mit  einem  Stadium  befaßt,  das  der  Selbstent  zun  düng 
erfahrungsgemäß  vorausgeht  und  als  eine  Bedingung  dafür  an- 
zusehen ist,  nämlich  mit  der  Selbsterhitzung.  Man  hat 
(vgl.  Mi  ehe,  Die  Selbsterhitzung  des  Heues.  Eine  biologi- 
sche Studie.  Jena  1907,  G.  Fischer,  3,50  Mk.)  sowie  von 
demselben  Verfasser  „Über  die  Selbsterhitzung  des  Heues". 
Arbeiten  der  Deutschen  Landwirtschaftsgcsellschaft,  Heft  196, 
191 1)  nachgewiesen,  daß  die  Erhitzung  fesigepackter  feuchter 
Pflanzenstoffe  kein  rein  chemisch-physikalischer,  sondern  ein 
physiologischer,  also  auf  der  Lebenstätigkeit  von  lebenden 
Wesen  beruhender  Vorgang  ist.  Theoretisch  hat  man  zu 
unterscheiden  zwischen  der  Erhitzung  lebender  und  derjenigen 
toter  Pflanzenstoffe.  Im  ersten  Falle,  wenn  es  sich  also  etwa 
um  frisches  oder  nur  leicht  angewelktes  Gras  handelt,  läßt 
sich  die  Entstehung  der  Wärme,  die  rasch  nach  dem  Auf- 
häufen bemerklich  wird,  ungezwungen  durch  die  Atemtatigkeit 
dieser  betreffenden  Pflanzen  selber  erklären;  denn  Tier  wie 
Pflanze  erzeugen  bekanntlich  Wärme  bei  ihrer  Atmung,  wenn 
sie   auch  infolge  sekundärer  Umstände  bei  den  letzteren  nicht 


720 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  45 


so  ohne  weiteres  festzustellen  ist  als  bei  ersteren.  Im  zweiten 
Falle,  also  im  Falle  toten  Heues,  Tabaks,  Stallmists  usw. 
übernehmen  die  auf  den  feuchten  Resten  vegetierenden  und 
erfahrungsgemäß  mit  ganz  besonders  starker  Atemenergie  aus- 
gestatteten Pilze  und  Bakterien  die  Rolle  der  Heizer,  indem 
sie  in  ungeheueren,  wenn  auch  nicht  ohne  weiteres  wahrnehm- 
baren Massen  die  ihnen  als  gute  Nahrung  dienenden  Pflanzen- 
reste durchwuchern.  Sie  können  natürlich  auch  im  ersten 
Falle  akzessorisch  mitwirken.  Nun  kommt  aber  eine  Besonder- 
heit! Erfahrungsgemäß  steigt  die  Selbsterhitzung  von  Gras, 
Heu,  Mist  usw.  leicht  auf  70  Grad  und  mehr.  Wie  sollen 
solche  Teniperaturgradc  durch  physiologische  Tätigkeit  er- 
reicht werden,  da  doch  im  allgemeinen  Pflanzen  und  auch 
Pilze  und  Bakterien  höchstens  40 — 45  Grad  vertragen?  Da 
greift  nun  eine  höchst  merkwürdige  (iruppe  von  Lebewesen 
ein,  die  gerade  nur  bei  hohen  Temperaturen  leben,  erst  bei 
35 — 40  Grad  überhaupt  anfangen  zuwachsen  und  zu  gedeihen 
und  die  sich  z.  B.  in  einer  Flüssigkeit  sehr  wohl  und  behag- 
lich fühlen ,  in  der  Sie  sich  die  Hand  in  wenigen  .Sekunden 
elend  verbrenen  würden.  Nun,  diese  als  „Ihermophil"  be- 
zeichnete Kleinwelt,  zu  der  neben  Bakterien  auch  Schimmel- 
pilze gehören,  erwachen  und  vermehren  sich,  wenn  entweder 
durch  die  .\temtätigkeil  der  lebenden  Pflanzen  oder  bei  totem 
Material  die  auf  ihm  vegetierenden  gewöhnlichen  Schimmel- 
pilze und  Bakterien  ihnen  die  Wachstumsbedingungen,  d.  h. 
die  notwendige  .^nfangstemperatur  schaffen.  Die  Thermo- 
philen  heizen  also  weiter  bis  zu  ihrer  eigenen  Höchsttempe- 
ratur, die  man  etwa  bei  70  Grad  ansetzen  kann.  Wenn  Sie 
mithin  einmal  die  Hand  in  einen  größeren  Haufen  frisch  zu- 
sammengeschichteten und  etwa  2  Tage  lagernden  Grases  hin- 
einschieben, so  gelangen  Sie  bald  in  eine  Zone,  wo  Sie 
schleunigst  den  Rückzug  antreten. 

Bedingungen  für  die  Selbsterwärmung  sind  erstens  ein 
gewisser  Feuchtigkeitsgehalt  des  Materials  und  zweitens  eine 
genügende  Größe  der  Stapel.  Je  größer  diese  sind,  um  so 
rascher  und  sicherer  wird  eine  hohe  Temperatur  im  Inneren 
erreicht  und  um  so  länger  hält  sie  sich  hier.  Das  kann 
monatelang  sein  und  schließlich  sieht  z.  B.  ein  solches  Heu 
im  Inneren  schwarz  und  wie  verkohlt  aus.  In  diesem  Zustande 
ist  die  Masse  nun  außerordentlich  selbstentzündlich,  besonders 
wenn  eine  gewisse  Luftzirkulation,  d.  h.  ein  gewisser  Zutritt 
von  Sauerstoff  möglich  ist. 

Damit  haben  wir  die  Grenze  des  experimentell  gesicherten 
Tatbestandes  unseres  Problems  erreicht.  Wie  jetzt  die  Selbst- 
entflammung zustande  kommt,  steht  trotz  mancher  Einzcl- 
beobachtungen  nicht  sicher  fest,  doch  ist  es  nicht  schwer, 
darüber  gewisse  Hypothesen  aufzustellen.  Jedenfalls  handelt 
es  sich  jetzt  nicht  mehr  um  ein  physiologisches  sondern  um 
ein  rein  chemisch-physikalisches  Problem. 

Das  Material ,  das  einer  biologischen  Selbsterwärmung 
und  damit  einer  gegebenenfalles  sich  anschließenden  Selbst- 
entzündung unterliegen  kann,  kann  sehr  verschieden  sein; 
ich  nenne  z.  B.  Heu,  Futterkräuter,  Rübenblätter,  gestapeltes 
Getreide,  Stallmist,  Tabak  usw.,  immer  vorausgesetzt,  daß  die 
Massen  genügend  groß  und  feucht  sind.  Praktischen  Gebrauch 
macht  man  von  solchen  Selbsterwärmungsvorgängen  z.  B. 
beim  sog.  Braunheu,  beim  Tabak,  der  durch  die  sog.  Fermen- 
tation überhaupt  erst  rauchbar  wird  (vgl.  z.  B.  Mi  ehe.  Der 
Tabakbau  in  den  Vorstenlanden  auf  Java.  Tropenpflanzer, 
XV.   Jahrg.   1911),    beim  Mistbeet    und   den  Wärmepackungen 


der  Gärtner  usw. ;  ja  die  merkwürdigen  Talegallahühncr 
Australiens  legen  ihre  Eier  in  große,  von  ihnen  selbst  ge- 
stapelte Haufen  von  Pflanzenstoffen  und  lassen  sie  hier  durch 
die  entstehende  Fermentationswärme  ausbrüten. 

Wenn  auch,  wie  gesagt,  eine  sichere  experimentelle  Grund- 
lage für  die  wissenschaftliche  Aufklärung  des  Vorganges  der 
Selbstentzündung  noch  nicht  geschaffen  ist,  so  kann  es  doch 
keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  solche  Fälle  wirklich  vor- 
kommen. Sie  spielen  bei  Brandprozessen  eine  große  Rolle. 
Es  ist  nicht  einmal  selten,  daß  der  Landwirt  Vorräte  irgend- 
welcher Art,  die  er  unter  Nichtachtung  der  oben  geschilderten 
disponierenden  Umstände  gestapelt  hat,  durch  Feuersbrunst 
verliert  und   oft  genug  Haus  und   Hof  dazu. 

Zum  Schluß  sei  noch  erwähnt,  daß  auch  manche  andere 
Stoffe  der  Selbstentzündung  unterliegen  können,  wie  Kohlen, 
gefettete  Putzwolle,  Zelluloid  u.  a.  m.  Doch  will  ich  auf 
diese  Vorgänge  hier  nicht  näher  eingehen.  Im  allgemeinen 
werden  hier  rein  chemische  Vorgänge  im  Spiel  sein. 

Miehe. 


Herrn  Schmidt  -  Luckenwalde.  Das  freundlichst  über- 
s.andte  Fossil  in  einem  diluvialen  Geschiebe  des  Golmberges 
im  Fläming  ist  der  Abdruck  eines  Crinoiden  (Seelilien)- 
Stieles,  sowie  eines  isolierten  Stielgliedes,  und  zwar  von  Pen- 
tacrinus.  Nach  dem  isolierten  Gliede  zu  urteilen  könnte  es 
sich  etwa  um  Pentacrinus  subangularis  handeln.  Doch  ist 
eine  Bestimmung  bei  dem  vorliegenden  Erhaltungszustande 
nicht  mit  genügender  Sicherheit  möghch,  um  daraus  auf  obe- 
ren Lias  schließen  zu  können.  Immerhin  dürfte  ein  jurassi- 
sches .Mter  gesichert  sein. 

Ein  auf  der  Rückseite  des  Steines  befindlicher  Abdruck 
eines  Dentalium  (Scaphopode)  gibt  hinsichtlich  der  Altersfrage 
keinen  Anhaltspunkt.  E.  Hennig. 


Preisausschreiben. 
Die  Rheinische  Gesellschaft  für  wissenschaft- 
liche  F'orschung  schreibt  folgende  drei  Preisaufgaben  aus 
dem  Gebiete  der  menschlichen  Vorgeschichte  aus: 

1.  Es  sind  die  Materialien  zusammenzustellen  für  die  Er- 
örterung der  Frage  nach  den  Landverbindungen,  die  zur 
Tertiär-  und  Quartärzeit  im  Atlantischen  Ozean  und  im  Mittel- 
mcer  für  die  Wanderungen  der  Primaten  bestanden  haben. 
Preis  800  Mk. 

2.  Es  sind  die  Tatsachen  zusammenzustellen  und  zu  er- 
örtern, die  auf  einen  zeitlichen  oder  ursächlichen  Zusammen- 
hang zwischen  der  Umbildung  der  Tierwelt  (und  des  Men- 
schen) und  den  klimatischen  Änderungen  wahrend  der  jüngsten 
Tertiärzeit  und   der  Diluvialzeit  hindeuten.     Preis  Soo  Mk. 

3.  Welche  anatomischen  und  physiologisclien  Anhalts- 
punkte sind  vorhanden  zur  Erklärung  des  aufrechten  Ganges 
beim  Menschen  ?     Preis  800  Mk. 

Die  Arbeiten  sind  in  deutscher  Sprache  abzufassen  und 
in  Maschinenschrift  geschrieben  bis  zum  I.  Januar  1916  mit 
Motto  versehen  an  den  Vors  i  tz  enden  der  Rheinischen 
Gesellschaft  für  wissenschaftliche  Forschung 
in  Bonn,  Nuß-.'\llee2,  einzusenden.  Ein  geschlossenes 
Kuvert,  mit  demselben  Motto  versehen  wie  die  eingesandte 
Arbeit,  muß  den  Namen  des  Verfassers  enthalten. 


Inhalt:  Guenther:  Verschiebungen  in  der  Tierwelt  durch  den  Menschen.  Kathariner:  Die  Ursache  der  Pellagra- 
krankheit.  —  Einzelberichte:  Grimm:  Über  das  V'orkommen  des  Rinderbandwurms  (Taenia  saginata  Göze)  beim 
Säugling,  ."^dler:  Welche  Folgen  hat  die  Entfernung  der  Thymus  und  der  Epiphyse  bei  der  Froschlarve?  Mayer 
und  Schaeffer:  Lipoide.  Decker,  Kisskalt:  Tierisches  oder  pflanzliches  Eiweiß?  Fehlinger:  Vermehrung  und 
fortschreitende  Bastardierung  der  Negerbevölkerung  der  Vereinigten  Staaten  Amerikas.  HedvaU:  Über  Rinman's  Grün 
und  Kobaltmagnesiumrot.  Bugge:  Die  katalylische  Wirksamkeit  des  Rutheniums  bei  Oxydationen.  Riem:  Bewegung 
in  der  Gesichtslinie.  Lunt:  Vergleichsspektrum.  Darwin:  Der  Einfluß  der  Luftfeuchtigkeit  und  des  Lichtes  auf  die 
Transpiration  der  Pflanzen.  Duggar  und  Cooley:  Der  Einfluß  der  Bordeauxbrühe  auf  die  Transpiration.  —  Kleinere 
Mitteilungen:  Schanz:  Linsenstar  des  Auges.  Bürger:  ."Xluminiumlöt-  und  Schweißmethoden.  Kurtz-Hähnle: 
Über  die  Entfernung  von  Druck-  und  Schriftzeichen  aus  bedrucktem  Papier.  Townsend:  Delphine  in  der  Gefangenschaft. 
Fehlinger:  Über  Geisteskrankheiten  und  andere  Entartungszeichen  im  Indischen  Reich.  —  Bücherbesprechungen: 
Frech:  .-allgemeine  Geologie,  van  Megeren:  .^ausgewählte  Kapitel  aus  der  Geologie.  Mangold:  Die  Erregungs- 
leitung im  Wirbeltierherzen.  Clements:  Rocky  Mountain  Flowers.  An  illustrated  Guide  for  Plant  Lovers  and  Plant 
Users.  Hauberrisser:  Herstellung  photographischer  Vergrößerungen.  Weinschenk:  Bodenmais-Passau.  Petro- 
graphische  Exkursionen  im  bayerischen  Wald.  —  Anregungen  und  Antworten. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  au  den  Schriftleiter  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  MarienstraSe   na,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.  Band ; 
der   ganzen  Reihe   29.  Band. 


Sonntag,  den  15.  November  1914. 


Nummer  46. 


Probleme  der  Gastheorie. 


Von  S. 


[Nachdruck  verboten.] 

Bald  sind  es  sechzig  Jahre  her,  daß  unabhängig 
voneinander  K  rön  ig  und  Clau  sius  die  kinetische 
Theorie  der  Gase  geschaffen  haben.  Mit  außerge- 
wöhnlichem Geschick  hat  besonders  C 1  a  u  s  i  u  s  die 
Vorstellungen  über  die  Bewegungen  der  Moleküle 
eines  Gases  auf  Grund  der  Anschauung,  daß  die 
Wärme  eine  Bewegung  dieser  kleinen  Teilchen 
darstelle,  rechnerisch  bis  in  viele  Einzelheiten 
verfolgt  und  in  für  damalige  Begriffe  kurzer  Zeit 
konnten  auch  von  anderen  Forschern  aus  diesen 
Betrachtungen  wichtige  und  überraschende  Resultate 
gewonnen  werden.  Eins  der  schönsten  ist  ohne 
Zweifel  Loschmidt's  Berechnung  der  Anzahl  der 
Moleküle  in  einem  Kubikzentimeter  (1865).  Immer 
wieder  wird  den  Laien  ein  Gefühl  der  Be- 
wunderung, den  Physiker  ein  Gefühl  des  Stolzes 
und  der  Befriedigung  überkommen,  wenn  er  sich 
daran  erinnert,  daß  es  möglich  war,  die  Zahl  der 
Moleküle  zu  bestimmen,  die  Zahl  von  Körperchen, 
die  einzeln  gar  nicht  beobachtbar  sind.  In  der 
Folgezeit  haben  —  wie  das  ja  häufig  bei  der 
Entwicklung  einer  Wissenschaft  beobachtet  werden 
kann  —  Perioden  größeren  und  geringeren  Fort- 
schrittes miteinander  abgewechselt,  speziell  was 
die  theoretische  Weiterführung  der  Disziplin  an- 
langt. Die  spätere  Entwicklung  ist  in  erster 
Linie  an  die  Namen  Maxwell  und  Boltzmann 
geknüpft. 

Neben  der  kinetischen  Theorie  der  Gase  gibt 
es  eine  andere  Darstellungsweise  des  Verhaltens 
der  Gase,  die  sich  entweder  ebenfalls  auf  die  An- 
nahme der  Wärme  als  Bewegungsform  stützt  oder 
die,  wie  Pia  nck  in  seinen  Vorlesungen  über  Thermo- 
dynamik ausführt,  ohne  bestimmte  Annahme  über 
das  Wesen  der  Wärme  „direkt  von  einigen  sehr 
allgemeinen  Erfahrungstatsachen,  hauptsächlich 
von  den  sog.  beiden  Hauptsätzender  Wärmelehre, 
ausgeht".  Sie  hat  allgemeineren  Charakter  und  ge- 
stattet in  vielen  Fällen,  die  Betrachtung  sofort 
auf  das  Verhalten  flüssiger  und  fester  Körper  zu 
übertragen,  sofern  sie  dieses  nicht  von  vorn- 
herein mit  einschließt ;  sie  beschäftigt  sich  zum 
Teil  gerade  mit  den  Obergängen  von  einem  Ag- 
gregatzustand in  den  anderen.  Der  Begründer 
auch  dieser  Darstellungsweise  ist  im  Grunde 
Cl  a u  s i u  s ,  da  das,  was  seinen  Arbeiten  vorhergeht, 
durch  ihn  nach  neuen  Gesichtspunkten  zusammen- 
gefaßt wurde  und  erst  dadurch  eigentlich  einen 
Bestandteil  der  modernen  Thermodynamik  bildet. 

Nun  ist  jedem,  der  auch  nur  eine  ganz  oberfläch- 
liche Kenntnis  des  Inhaltes  der  beiden  Darstellungs- 
arten hat,  bekannt,  daß  diese  beiden  Methoden 
sich  durchaus  nicht  in  ihren  Resultaten  überdecken 
oder    gar    sich    ausschließen.     Vielmehr    ergänzen 


Valentiner. 

sie  sich 


auf  das  schönste,  so  daß  man  keine  von 
ihnen  missen  möchte.  Das  endgültige  Ziel  wird 
es  freilich  sein  müssen,  die  erste  Darstellungs- 
weise so  weit  zu  fördern,  daß  sie  die  Resultate 
der  reinen  Thermodynamik  mit  umfaßt,  fclinstweilen 
kann  davon  noch  nicht  die  Rede  sein,  denn  nur 
einige  wenige  Haupteigenschaften  der  Gase  werden 
befriedigend  auf  beiderlei  Weise  beschrieben. 
Die  Zurückführung  einer  ganzen  Reihe  von  Er- 
fahrungen an  Gasen  auf  die  einfachen  Annahmen, 
die  der  kinetischen  Theorie  zugrunde  liegen,  ist 
bisher  befriedigend  noch  nicht  gelungen,  während 
ihrer  Beschreibung  mittels  thermodynamischer 
Formeln  kein  Hindernis  im  Wege  steht. 

Heute,  wo  alte  Probleme  der  Gastheorie  wieder 
neue  Bearbeitungen  gefunden  haben,  wo  man  mit 
oft  bewährten  Anschauungen  über  das  Verhalten 
der  Moleküle  zu  brechen  sich  gezwungen  sieht, 
dürfte  es  von  allgemeinem  Interesse  sein,  einmal 
übersichtlich  zusammenzustellen,  für  welche  Eigen- 
schaften der  Gase  die  beiden  Darstellungsmethoden 
geeignet  sind  und  was  sie  zur  Klärung  der  Zu- 
stände des  Gases  leisten  können.  Wir  werden 
bei  dieser  Betrachtung  deutlich  erkennen  können,  wo 
sich  die  Darstellungen  berühren,  und  werden  zeigen 
können,  in  welcher  Richtung  in  letzter  Zeit  Er- 
weiterungen der  Theorien  versucht  wurden,  welches 
also  die  modernen  Probleme  der  Gastheorie  sind. 

I.  Den  Ausgangspunkt  der  thermodynamischen 
Darstellungsvyeise  bildet  eine  bestimmte  P'orm  der 
Zustandsgieichung  des  betrachteten  Systems,  also 
im  besonderen  des  Gases.  Unter  Zustandsgieichung 
verstehen  wir  eine  Beziehung  zwischen  den  Va- 
riabein, die  den  Zustand  des  Gases  vollständig 
bestimmen,  das  sind :  das  Volumen,  der  Druck 
und  die  Temperatur  des  Gases,  wenn  wir  uns  auf 
die  Masseneinheit  beschränken.  Für  die  Ent- 
wicklungen ist  es  zunächst  nicht  notwendig,  diese 
Beziehung  wirklich  hinschreiben  zu  können.  Die 
Entwicklungen  lassen  sich  in  großer  Allgemeinheit 
durchführen;  erst  um  die  Schlußfolgerungen  dieser 
Entwicklungen  auf  einen  speziellen  Fall  anwenden 
zu  können,  müssen  wir  auch  die  Zustandsgieichung 
wirklich  kennen,  also  den  Zusammenhang  zwischen 
den  Variabein  experimentell  bestimmt  haben. 

Die  Zustandsgieichung  mag  lauten : 
•)  '/■  (p,  V,  t)  =  o, 
p  ist  der  Druck,  unter  dem  das  Gas  steht,  v  das 
Volumen ,  t  die  Temperatur  in  einer  beliebigen, 
aber  natürlich  immer  herstellbaren  Skale,  da  wir 
zunächst  eine  „absolute"  Skale  nicht  kennen. 
Diese  Zustandsgieichung,  die  uns  z.  B.  berechnen 
läßt,  um  wieviel  sich  das  Volumen  ändert,  w'enn 


722 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  46 


der  Druck  konstant  bleibt  und  die  Temperatur 
um  einen  (irad  steigt,  oder  die  uns  den  Koeffi- 
zienten der  Kompressibilität  bei  konstanter  Tem- 
peratur liefert  u.  a.  m.,  genügt  nun  aber  durch- 
aus noch  nicht,  um  über  die  verschiedenen  Eigen- 
scliaften,  z.  B.  die  spezifischen  Wärmen,  die  innere 
Energie  u.  a.  Aufschluß  zu  geben.  Eine  der  für 
die  Kenntnis  des  Verhaltens  der  Gase  wichtigsten 
Größen  ist  gerade  die  innere  Energie,  wie  aus 
den  folgenden  Zeilen  leicht  erkannt  werden  wird. 
Was  den  wahren  Inhalt  dieser  inneren  Energie 
ausmacht,  das  lehrt  die  Thermodynamik  nicht; 
davon  erhalten  wir  vielmehr  nur  durch  die  in 
den  Bau  des  gasförmigen  Systems  tiefer  eindrin- 
gende kinetische  Gastheorie  Kenntnis.  Diese 
Theorie  lelirt  uns,  daß  infolge  der  Bewegung  der 
Moleküle  den  Molekülen  eine  Energie  innewohnt, 
die  als  innere  Energie  des  Gases  angesehen  wer- 
den kann.  Häufig  werden  noch  weitere  Energie- 
beträge hinzutreten  können,  herrührend  von  den 
Bewegungen  der  Atome  im  Molekül  und  von  den 
Kräften,  die  zwischen  den  Molekülen  wirksam  sind. 
Wir  wollen  die  innere  Energie  der  Masseneinheit 
mit  u  bezeichnen  und  müssen  annehmen,  daß 
diese  Energie  u  durch  die  Variabein  p,  v,  t  eben- 
falls völlig  bestimmt  werden  kann.  In  welcher 
Weise  u  von  p,  v,  t  abhängt,  wissen  wir  freilich 
nicht  und  das  soll  uns  zunächst  auch  nicht  küm- 
mern. Zweierlei  können  wir  aber  mit  Bestimmt- 
heit in  bezug  auf  die  Energie  u  sagen,  es  ist  der 
Inhalt  des  i.  und  des  2.  Hauptsatzes  der  Thermo- 
dynamik, nämlich: 
I.  du  -\-  pdv  =  q, 

d.  h.  die  Änderung  der  inneren  Energie  während 
irgendeiner  beliebigen  Zustandsänderung  des  Sy- 
stems, vermehrt  um  die  von  dem  System  nach 
außen  geleistete  Arbeit  ])dv  (Druck  mal  der 
Änderung  des  Volumens  sei  das  Maß  dieser  Ar- 
beit) ist  gleich  der  Wärmemenge  q ,  die  dem 
System  für  den  Übergang  vom  Anfangszustand 
in  den  Endzustand  von  außen  zugeführt  werden 
muß  (mit  anderen  Worten,  die  fi^nergie  im 
System  bleibt  konstant). 
tr        du  +  pdv  _ 

T(t) 

d.  h.  es  läßt  sich  sicher  eine  Funktion  T  von 
der  Temperatur  t  (der  willkürlichen  Skale)  finden, 
die  so  beschaffen  ist,  daß  die  Größe  auf  der  linken 
Seite  von  (II),  die  sich  ja  auf  die  Änderung  des 
Systems  von  einem  Anfangszustand  in  einen  nahe- 
gelegenen Endzustand  bezieht,  nur  von  dem  An- 
fangs- und  Endzustand,  nicht  von  dem  sie  verbin- 
denden Weg  abhängt.  (Nach  Clausius  be- 
zeichnet man  die  Größe  als  das  Differential  der 
Entropie  s.) 

Diese  beiden  Gleichungen  sagen  uns  wenig- 
stens etwas  aus  über  die  Differenz  der  inneren 
Energie  des  Systems  in  zwei  verschiedenen  Zu- 
ständen, ferner  über  das  einstweilen  noch  will- 
kürlich gelassene  Temperaturmaß.  Verfolgen  wir 
zuerst  die  zweite  Gleichung  weiter;  sie  kann  direkt 


vollständiges  Differential  ^  ds 


zur  Definition  einer  „absoluten"  Temperatur  dienen. 
Denn  durch  die  für  jede  homogene  Substanz  gel- 
tende Gleichung  (II)  wird  uns  eine  bestimmte 
Funktion  der  willkürlich  zugrunde  gelegten  Tem- 
peratur empfohlen ;  nehmen  wir  eben  gerade  diese 
Funktion  als  Maß  der  Temperatur  (indem  wir  etwa 
noch  festsetzen,  daß  zwischen  der  Temperatur  des 
schmelzenden  Eises  und  der  normalen  Siedetempe- 
ratur des  Wassers  100  Grad  liegen  sollen)  und  führen 
an  Stelle  \on  t  diese  Funktion  T  in  die  Zustands- 
gieichung und  den  Ausdruck  u  der  Energie  des 
Systems  ein,  so  wird  für  jedes  homogene  System 

du  -1-  pdv     .         ,,    ..    ,.         ^^.^.         .  , 
7^ em  vollständiges  Differential. 

Mathematisch  können  wir  die  Definition  der  Tem- 
peratur T  am  besten  durch  die  Beziehung  wieder- 
geben : 

Denn  statt  Gleichung  (II)  können  wir  schreiben, 
indem  wir  u  und  v  als  unabhängige  Variable  ein- 
führen, also  p  und  t  als  Funktionen  von  u  und  v 
betrachten: 

,     du  4- pdv        ,         /i^s\    ,      ,    /i>s\    , 

woraus  sich  die  Definitionsgleichung  (2)  ergibt.  Die 
Indizes  geben  an,  welche  Variable  bei  der  Diffe- 
rentiation konstant  gehalten  werden  soll. 

Was  nun  die  erste  Gleichung  (I)  betrifft,  so 
gibt  sie  uns  ein  Mittel  an  die  Hand,  wie  wir  aus 
Beobachiungsdaten  auf  die  Energie  schließen 
können.  Die  Wärmemenge  q,  die  wir  dem  System 
für  eine  Veränderung  seines  Zustandes  auf  einem 
ganz  bestimmten  Wege  zuführen  müssen,  können 
wir  in  vielen  Fällen  leicht  messen.  Halten  wir 
das  Volumen  des  Systems  konstant,  so  wird  die 
Wärme  zur  Änderung  der  inneren  Energie  ver- 
wendet, die  wir  durch  .\nderung  der  Temperatur 
und  des  Druckes  konstatieren  können.  Die  Ände- 
rung der  inneren  Energie  bei  Änderung  der  Tem- 
peratur um  i"  ist  also  gerade  das,  was  wir  die 
s  p  e  z  i  f  isc  h  e  Wä  rm  e  des  Systems  bei  konstant 
gehaltenem  Volumen  nennen.  Zustandsänderungen 
zwischen  anderen  Zustandspunkten  erfordern  andere 
Wärmemengen,  die  wir  wieder  messen  können 
und  die  bezogen  auf  die  Temperaturänderung  von 
1 "  des  Systems  die  Bedeutung  spezifischer  Wärmen 
besitzen.  Sie  geben  uns  alle  zusammen  die  nähere 
Beschreibung  der  Größe  u,  die  uns  dadurch  (ab- 
gesehen von  einer  additiven  Konstante)  bekannt 
wird. 

Die  weitere  mathematische  Behandlung  der 
beiden  Gleichungen  führt  zu  Beziehungen  zwi- 
schen den  spezifischen  Wärmen  der  Substanz  und 
den  Zustandsgrößen  p,  v,  t.  Es  sind  allerdings 
keine  ganz  einfachen  Gleichungen,  es  sind  Differen- 
tialgleichungen, aus  denen  wir  auch  bei  genauer 
Kenntnis  der  Zustandsgieichung  (also  der  Ab- 
hängigkeit der  p,  V,  t  voneinander)  die  spezi- 
fischen   Wärmen     nicht    in     expliziter    Form    be- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


7^3 


rechnen  können.  Es  ist  nur  möglich,  gewisse 
Eigentümlichkeiten  der  Abhängigkeit  der  spezi- 
fischen Wärme  vom  Druck  und  vom  Volumen 
bei  konstanter  Temperatur  durch  diese  Gleichungen 
anzugeben.  Die  Abhängigkeit  der  spezifischen 
Wärmen  von  der  Temperatur  bleibt  unbe- 
stimmt. Zur  Charakterisierung  einer  homogenen 
Substanz  ist  daher  als  notwendig  erkannt  einmal 
die  Angabe  der  Zustandsgieichung  und  zweitens 
eine  Angabe  darüber,  wie  sich  die  spezifische 
Wärme  mit  der  Temperatur  verändert.  Das  gilt 
im  besonderen  von  den  Gasen,  auch  von  dem  sog. 
idealen  (ias.  Das  „ideale  Gas"  wird  in  der  Regel 
durch  die  Gaszustandsgleichung 

4)     p.v  =  ^'.T  =  R-T 

definiert,  wenn  T  in  der  aus  Gleichung  (2)  fol- 
genden Skale  gerechnet  wird  und  m  das  Mole- 
kulargewicht des  Gases,  R  (bzw.  R')  die  bekannte 
Gaskonstante  bedeutet;  stillschweigend  setzt  man 
oft  dabei  voraus,  daß  auch  die  spezifische  Wärme 
des  idealen  Gases  von  der  Temperatur  unabhängig 
sei,  was  indessen  nicht  aus  der  Gleichung  (4)  folgt, 
und  daher  stets  durch  die  Bedingung 

i^Cv\ 


^■>    (.t)  - 


besonders  hervorgehoben  werden  sollte. 

Wir  sehen  also,  und  ein  tieferes  Eingehen 
würde  uns  das  noch  evidenter  zeigen,  die  Ther- 
modynamik gibt  Aufschluß  über  eine  Reihe  von 
Erscheinungen,  die  an  einem  homogenen  System 
beobachtet  werden  können,  sobald  durch  Beobach- 
tungen die  Zustandsgieichung  und  die  Abhängig- 
keit der  spezifischen  Wärme  von  der  1  emperatur 
festgelegt  werden  konnte,  vorausgesetzt,  daß  wir 
die  Temperaturen  mit  einem  Thermometer  haben 
messen  können,  dessen  Angaben  mit  der  abso- 
luten Skale  verglichen  worden  sind.  Von  großer 
Bedeutung  ist  es,  daß  auch  die  Arbeits-  und  Wärme- 
verhältnisse einer  Substanz  bei  ihrem  Übergang 
von  einem  Aggregatzustand  in  den  anderen  sich 
aus  den  Regeln  der  Thermodynamik  bestimmen 
lassen.  Als  eine  Einschränkung  der  Allgemeinheit 
der  Resultate  müssen  wir  allerdings  —  und  zwar 
im  Gegensatz  zu  den  Leistungen  der  kinetischen 
Theorie  der  Gase  —  hervorheben,  daß  bei  allen 
llberlcgungen  in  der  Thermodynamik  immer 
Systeme  betrachtet  werden ,  die  Gleichgewichts- 
zustände durchlaufen;  innerhalb  desselben  Systems 
dürfen  also  nicht  plötzliche  Änderungen  an  einer 
einzelnen  Stelle  des  Systems  z.  B.  Temperatur- 
dififerenzen  oder  Druckdifferenzen  auftreten.  Nur 
das  System  als  ganzes  kann  die  Temperatur  ver- 
ändern. 

Bevor  wir  zu  der  Besprechung  dessen  übergehen, 
das  darzustellen  sich  die  kinetische  Gastheorie 
besser  eignet,  möchte  ich  des  Folgenden  wegen 
noch  ein  wenig  näher  auf  den  von  Clausius  in 
die  Thermodynamik  eingeführten  Begriff  der  H  n  - 
tropie,   also    auf  die    linke  Seite   der  Gleichung 


(3)  eingehen.  Nach  dem  Gesagten  müssen  wir 
annehmen,  daß  jedem  Zustand  eines  homogenen 
Systeins  ein  bestimnrter  Entropiewert  zukommt 
(abgesehen  von  einer  additiven  Konstante);  denn 
es  gibt  ja  jene  Beziehung  an,  um  wieviel  die 
Entropie  sich  verändert,  wenn  das  System  von 
einem  Zustand  in  den  anderen  übergeführt  wird. 
Und  zwar  ist  diese  Angabe  unabhängig  vom  Weg. 
Auch  diese  Gleichung  hat  ihre  Gültigkeit  nur  beim 
Durchlaufen  von  Gleichgewichtszuständen.  Es  läßt 
sich  nun  aufGrundzahlreicherErfahrungen  als  äußerst 
wahrscheinlich  bezeichnen,  daß  von  selbst,  d.  h. 
ohne  äußeres  Zutun,  ein  System  nur  dann  von 
einem  Zustand  i  in  einen  Zustand  2  wirklich 
übergeht,  wenn  der  Entropiewert  im  Zustand  2 
größer  ist  als  im  Zustand  1,  höchstens  gleich  ist. 
Wird  aber  ein  System  durch  irgendwelche  äußere 
Einwirkung  z.  B.  durch  Zuführung  von  Wärme 
aus  einem  Behälter  von  Zustand  i  in  den  Zustand  2 
gebracht,  so  ist  auch  dies  wieder  nur  möglich, 
wenn  nun  die  Summe  der  Entropiewerte  des 
betrachteten  Systems  und  des  die  Änderung  ein- 
leitenden Wärmebehälters  bei  dieser  Gesamt- 
änderung von  System  und  Behälter  gleich 
bleibt  oder  wächst;  nur  in  dem  Fall  könnte  diese 
Gesamtänderung  wirklich  eintreten,  wenn  nicht 
wiederum  von  außenher  (z.  B.  durch  mein  Ein- 
greifen) diese  Änderung  erzwungen  würde.  Wir 
können  sogar  noch  etwas  weiter  gehen  und  be- 
haupten, daß  äußerst  selten  (oder  nie)  wirklich 
Veränderungen  stattfinden,  bei  denen  nicht  die 
Gesamtentropie  wächst.  Bei  Veränderungen 
haben  wir  es  nämlich  in  Wahrheit  doch  nur  äu- 
ßerst selten  (oder  nie)  mit  Übergängen  durch 
völlige  Gleichgewichtszustände  zu  tun.  Reibung 
und  Wärmeleitung  stehen  dem  entgegen.  Soll  z.  B. 
ein  Gas  Arbeit  leisten  dadurch,  daß  es  einen  be- 
lasteten Kolben  in  einem  Zylinder  durch  Ausdehnung 
infolge  von  Wärmezufuhr  vor  sich  herschiebt,  so 
muß  in  Wirklichkeit  auch  etwas  Wärme  zugeführt 
werden  für  die  Überwindung  der  Reibung  des 
Kolbens  im  Zylinder;  es  wird  also  Wärme  aus 
dem  Behälter  von  der  Temperatur  T,  mit  wel- 
chem das  sich  ausdehnende  Gas  in  Verbindung  steht, 
an  die  Zylinderwand  abgegeben  (denn  die  Rei- 
bungsarbeit wird  auch  in  Wärme  umgewandelt), 
die  sich  auf  niedrigerer  Temperatur  befindet.  Die 
Gesamtentropieänderung      setzt     sich     zusammen 

1.  aus  der  Änderung  der  Entropie  des  arbeitleisten- 
den Gases 

du  -\-  pdv 
T~  ' 

2.  aus  der  Änderung  der  Entropie  des  Behälters 
infolge  der  Wärmeabgabe  zur  Aufrechterhaltung 
der  .Arbeitsleistung  des  Gases,  die  dazu  notwendige 
Wärmemenge  sei  q,  also 

T' 

3.  aus  der  Änderung  der  Entropie  des  Behälters 
infolge  der  Wärmeabgabe  zur  ('berwindung  der 
Reibung 


724 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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_q' 
T 

4.  aus  der  Änderung  der  Entropie  des  Zyhnders 
infoige   der  Aufnahme  von  Reibungswärme 

+  4-   rr'<T) 

Die  Gesamtänderung  ist  positiv.  Die  Bedeutung 
dieses  Wachstums  der  Entropie  bei  Zustands- 
änderungen  ist  die,  daß  Wärme  eines  Behälters 
von  bestimmter  Tempertur  in  einen  Behälter  von 
niedrigerer  Temperatur  übergeht.  Damit  wird  also 
behauptet,  daß  die  Wärme  an  Arbeitswert  ver- 
liert, daß  wir  dem  gefürchteten  „Wärmetod"  un- 
aufhaltsam entgegengehen.  (Daß  dieses  von  philo- 
sophierenden Geistern  so  oft  herangezogene 
Schreckgespenst  nicht  zu  fürchten  ist,  darauf  ein- 
zugehen, müssen  wir  uns  hier  versagen.) 

2.  Jetzt  wenden  wir  uns  zu  der  kinetischen  Gas- 
theorie. In  wildem  Durcheinander,  unkontrollier- 
bar bewegen  sich  überaus  zahlreiche  Moleküle, 
gegenseitig  und  gegen  die  sie  einschließenden 
Wände  stoßend,  hin  und  her.  Die  Stöße  gegen 
die  Wände  nehmen  wir  wahr  als  Druck  gegen 
sie.  In  der  Tat,  wenn  in  kurzer  Zeit  eine 
große  Anzahl  Moleküle  mit  der  Masse  m  und  der 
Geschwindigkeit  c  auf  ein  Stück  der  Wand  auf- 
prallt, so  wird  dieses  Wandstück  herausgestoßen 
werden,  wenn  wir  nicht  einen  Druck  von  außen 
darauf  ausüben.  Der  Druck  wird  um  so  größer 
sein  müßen,  je  mehr  Stöße  in  der  Zeiteinheit  statt- 
finden, also  je  mehr  Moleküle  in  der  Volumen- 
einheit vorhanden  sind,  ferner  auch  je  größer 
die  Geschwindigkeit  ist.  Eine  leichte  Rechnung 
lehrt,  daß,  wenn  wir  es  mit  kugelförmigen,  völlig 
elastischen  Molekülen  von  äußerst  geringer  Aus- 
dehnung zu  tun  haben,  der  Druck  p  gegeben  ist 
durch 

5 )  n  ^^  n  •  m  •  c  - 
3 
wenn  n  die  Anzahl  Moleküle  in  der  Volumen- 
einheit, und  c-  das  Mittel  der  Geschwindigkeits- 
quadrate bedeutet.  F"ühren  wir  dem  Gas  Wärme 
(also  Energie)  zu,  so  steigt,  wie  wir  wissen, 
der  Druck;  das  kann  nur  dadurch  kommen,  daß 
c^  zunimmt;  denn  an  der  Anzahl  und  der  Masse 
wird  ja  nichts  geändert,  wenn  wir  das  Volumen 
konstant  halten.  Die  Wärme,  die  im  Gase  steckt, 
ist  also  nichts  anderes  als  die  kinetische  Energie  der 
Moleküle,  die  uns  somit  zugleich  auch  ein  Maß 
für  die  Temperatur  sein  wird.  Bringen  wir  2  ver- 
schiedene Gase  mit  Molekülen  der  Masse  mj  und 
m.,,  die  sich  auf  gleicher  Temperatur  und  unter 
gleichem  Druck  befinden,  zusammen,  ohne  ihr  Ge- 
samtvolumen zu  verändern,  so  werden  sie  auch 
nachher  den  gleichen  Druck  und  die  gleiche 
Temperatur  halsen  (wenn  sie  nicht  aufeinander 
in  irgendwelcher  Weise  reagieren,  was  wir  hier 
ausschließen  wollen.)     Es  wird   also 

6)     UimiCj-  =  n.,m2C22 


sein.  Eine  weitere  Erfahrung  lehrt  nun,  daß  ein 
expandierendes  Gas  seine  Temperatur  nicht  ändert, 
wenn  es  bei  der  Expansion  keine  Arbeit  leistet, 
es  kann  also  n^  resp.  n,  nicht  maßgebend  für  die 
Temperatur  sein.  Daher  fordert  die  Aussage,  daß 
die  Gase  vor  und  nach  dem  Zusammenbringen  die- 
selbe gleiche  Temperatur  behalten,  die  Gleichheit 
der  mittleren  kinetischen  Energie,  also: 

7)  nijC,  -  =  m.,c.,'-. 
Aus  Gleichung  6  und  7  folgt  unmittelbar  das 
Avogadro'sche  Gesetz,  welches  aussagt,  daß  in  der 
Volumeneinheit  bei  gleicher  Temperatur  und  glei- 
chem Druck  eine  gleiche  Anzahl  Moleküle  vor- 
handen sein  müssen,  wie  beschaffen  das  Gas  auch 
sei  (n,  =  n.3).  Andererseits  folgt  auch  die  be- 
kannte Zustandsgieichung  der  Gase,  die  von  der 
Erfahrung  bestätigt  wird,  nämlich  : 
mpv  proportional  einer  Funktion  der  Temperatur, 
oder  wenn  wir  diese  Funktion  selbst  als  Maß 
der  Temperatur  ansehen  und  mit  T'   bezeichnen: 

5')  mpv=:RT' 
R'      ist      ein      konstanter      Proportionalitätsfaktor 
R' 

=  R    die    Gaskonstante  I   und    v   ist    das  Vo- 


m 

lumen  der  Masseneinheit  also: 

I 
mv  = 


n 

T'  muß,  wie  der  Vergleich  mit  den  vorhergehenden 
Betrachtungen,  insbesondere  mit  Gleichung  (4) 
ergibt,  die  Temperatur  in  absoluter  Skale  dar- 
stellen, wenn  wir  es  mit  einem  idealen  Gas  zu 
tun  haben. 

Wir  sehen  also,  die  einfachen  Annahmen  über 
die  sich  bewegenden  Moleküle  liefern  uns  sofort 
die  grundlegenden  Gesetze,  die,  wie  wir  wissen, 
wenigstens  für  den  idealen  Grenzfall  gelten.  Einen 
viel  besseren  Anschluß  an  das  Verhalten  der 
wirklichen  Gase  erhält  man,  wenn  strengere 
Rechnungen  durchgeführt  werden  und  wenn  über 
die  Beschaffenheit  (Bau  und  Form)  der  Moleküle 
plausible  weitere  Annahmen  gemacht  werden. 
Berücksichtigen  wir  z.  B.  den  l'mstand,  daß  in- 
folge des  Volumens,  das  die  Moleküle  selbst  ein- 
nehmen, nicht  das  ganze  Volumen  v  für  die  Be- 
wegung des  Gases  zur  Verfügung  steht,  und  be- 
rücksichtigen wir  weiter  die  durch  zahlreiche 
Versuche  erwiesene  Tatsache,  daß  zwischen  den 
Molekülen  noch  andere  Kräfte  wirksam  sind  als 
die,  welche  beim  elastischen  Stoß  der  Moleküle 
auftreten,  so  wird  man  auf  Zustandsgieichungen 
geführt,  die  von  der  des  idealen  Gases  abweichen, 
auf  Zustandsgieichungen,  wie  sie  von  Clausius 
u.  a.  und  in  ganz  besonders  glücklicher  Weise 
von  van  der  Waals  aufgestellt  worden  sind.  Sie 
stellen  in  vielen  Fällen  das  wahre  V'erhalten  der 
Gase  richtig  dar. 

Aber  hierin  liegt  durchaus  noch  nicht  der 
große  Wert  der  kinetischen  Gastheorie.  Die  Pro- 
bleme, zu  deren  Lösung  sie  allein  in  Frage 
kommt,  für  die  diese  Betrachtungsweise  also  von 
höchster   Wichtigkeit    geworden    ist,    hängen  aufs 


N.  F.  XIII.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


72s 


engste  zusammen  mit  der  Existenz  der  mole- 
kularen Weglänge,  d.  i.  des  Weges,  den  im 
Mittel  ein  Molekül  zwischen  2  aufeinanderfol- 
genden Zusammenstößen  zurücklegen  kann.  Es 
läßt  sich  leicht  berechnen,  daß  die  Geschwindigkeit 
der  Moleküle  im  Mittel  unter  normalen  Verhält- 
nissen (Zimmertemperatur)  außerordentlich  groß 
ist;  die  Luftmoleküle  legen  im  Mittel  ca.  480  m 
in  der  Sekunde  zurück.  Infolge  dieser  großen 
Geschwindigkeit  würde  eine  außerordentlich  schnelle 
Vermischung  zweier  Gase  auftreten  müssen,  wenn 
die  Moleküle  nicht  ungeheuer  oft  zusammenstoßen 
würden  und  infolgedessen  auch  während  längerer 
Zeit  nicht  recht  von  der  Stelle  kommen.  Wie  oft  kann 
man  beobachten,  daß  eine  Rauchwolke  lange  fast 
unverändert  erhalten  bleibt.  Die  Schnelligkeit  der 
Vermischung  (Diffusion)  und  ebenso  die  Wärme- 
leitung und  die  innere  Reibung  werden  durch  die 
Größe  der  molekularen  Weglänge  bestimmt 
und  die  kinetische  Theorie  der  Gase  gibt  uns 
durch  die  Bestimmung  dieser  Größe  auch  über 
die  drei  genannten  Vorgänge  und  die  Einflüsse 
von  Temperatur  und  Druck  darauf  befriedigend 
Aufschluß.  Man  findet  z.  B.  ohne  besondere 
Schwierigkeiten,  daß  zwischen  dem  Koeffizienten 
der  inneren  Richtung  ?;,  den  man  aus  Beobach- 
tungen finden  kann,  der  mittleren  Molekularge- 
schwindigkeit c  und  der  molekularen  Weglänge  X 
die  Beziehung  besteht: 

8)     A  =  A  -"c  • »; 

wenn  A  eine  berechenbare  Konstante  bedeutet. 
(Um  einen  Begriff  von  der  Kleinheit  der  Größe  A 
zu  geben,  sei  der  Wert  für  Luft  =  iXiO'^'cm 
bei  einem  Druck  von  i  Atm.  und  o"  C  angegeben.) 
Mit  der  Existenz  der  molekularen  VVeglänge  hängt 
nun  aber  wieder  eng  die  Größe  der  Moleküle 
zusammen;  denn  es  können  Zusammenstöße  nur 
dann  stattfinden,  es  kann  von  einer  molekularen 
Weglänge  nur  dann  die  Rede  sein,  wenn  die  Mole- 
küle eine  Ausdehnung  besitzen.  Auch  die  Größe 
der  Moleküle  liefert  die  Theorie  und  weiter  noch 
die  Zahl  derselben  im  ccm.  Als  Molekular- 
durchmesser der  als  Kugel  angesehenen  Luftmo- 
lekel findet  man  ca.  3  ';•/  10  '*  cm  und  die  Zahl  der 
Moleküle  im  ccm  unter  normalen  Bedingungen 
ist  nach  den  neusten  Forschungsergebnissen 
2-77X10'*.  Es  ist  das  die  als  Loschmidt'sche 
Zahl  bekannte  Größe. 

Bei  allen  Entwicklungen  der  kinetischen  Gas- 
theorie und  für  die  Resultate,  vor  allem  für  die  Be- 
stimmung der  in  den  Formeln  vorkommenden  Kon- 
stanten ist  es  nun  von  besonderer  Wichtigkeit,  die 
„Verteilung  der  Geschwindigkeitswerte  auf  die  ein- 
zelnen Moleküle"  zu  kennen,  da  man  aus  ihr  z.  B. 
auf  die  mittlere  Geschwindigkeit  und  das  mittlere 
Geschwindigkeitsquadrat  schließen  kann.  Es  war 
also  eine  der  ersten  Aufgaben,  möglichst  sorg- 
fältig die  Funktion  aufzufinden,  die  diese  Verteilung 
angibt,  und  schon  Maxwell  hat  für  gewisse  Fälle 
die  Funktion  abzuleiten  vermocht. 

Daß,  wie  man  häufig  der  einfacheren  Rechnung 


wegen  annimmt,  die  Geschwindigkeiten  sämtlicher 
Moleküle  einander  gleich  sein  werden,  wenn  das 
Ciasvolumen  an  allen  Stellen  gleiche  Temperatur 
und  gleichen  Druck  hat,  und  daß  nur  die  Rich- 
tungen verschieden  sind,  das  ist  sehr  unwahr- 
scheinlich. Sicher  würde,  wenn  in  einem  Augen- 
blick wirklich  dieser  Zufall  ganz  gleicher  Geschwin- 
digkeiten sich  ereignete,  im  nächsten  infolge  der 
Zusammenstöße  diese  Gleichheit  verschwunden 
sein.  Wie  werden  nun  die  verschiedenen  Ge- 
schwindigkeitswerte auf  die  Moleküle  im  statio- 
nären Zustand  des  Gases  verteilt  sein;  wie- 
viele Moleküle  werden  eine  Geschwindigkeit 
haben,  die  zwischen  c  und  c  -]-  de  liegt,  wie- 
viele werden  eine  andere  zwischen  c'  und 
c'-j-dc'?  Als  Kriterium  der  richtigen  Verteilung 
kann  nur  gelten,  daß  sie  infolge  der  Stöße  nicht 
verändert  wird.  Wohl  werden  die  einzelnen  Mo- 
leküle ihre  Geschwindigkeiten  ändern,  gegenein- 
ander vertauschen,  in  jedem  Augenblick  wird  aber 
dieselbe  Anzahl  von  Molekülen,  eine  bestimmte 
Geschwindigkeit  besitzen.  Diese  Maxwell'sche  Ge- 
schwindigkeitsverteilung —  denn  Maxwell  hat 
sie  zuerst  abgeleitet  —  wird  auch  dadurch  gekenn- 
zeichnet sein,  daß  sie  wahrscheinlicher  ist  als  jede 
andere,  wenn  Zahl  und  Gesamtenergie  der  Mole- 
küle unverändert  bleiben.  Denn  hätte  eine  andere 
Verteilung  der  Geschwindigkeiten  auf  die  Mole- 
küle eine  größere  Wahrscheinlichkeit,  so  wäre 
nicht  einzusehen,  warum  sich  nicht  der  Zustand 
größerer  Wahrscheinlichkeit  einstellen  würde.  Der 
Endzustand  oder  stationäre  Zustand  kann  also 
auch  der  wahrscheinlichste  Zustand  genannt  werden. 
Die  Verteilung  wird  bestimmt  durch  die  Beziehung : 

9)  dN  =  «e-'^'''c''dc 
wenn  dN  die  Anzahl  der  Moleküle  bedeutet,  die 
eine  Geschwindigkeit  zwischen  c  und  c-f-dc  be- 
sitzen und  a  und  ß  konstante  Größen  sind,  die 
durch  die  Gesamtenergie  und  die  Molekülzahl 
im  ccm  bestimmt  sind. 

Freilich  gilt  diese  Formel  nur  für  den  statio- 
nären Gleichgewichtszustand,  sie  kann  nicht  un- 
mittelbar übertragen  werden  auf  veränderliche 
Zustände,  wie  sie  bei  den  Problemen  der  Diffu- 
sion, Wärmeleitung  und  Reibung  vorkommen. 
Es  ist  auf  verschiedene  Weise  versucht  worden, 
schon  von  Maxwell  und  Boltzmann,  in  jüng- 
ster Zeit  von  Chapman,  eine  begründete  Modi- 
fikation des  Verteilungsgesetzes  für  diese  Fälle 
zu  finden,  die  ja  alle  drei  dadurch  charakterisiert 
sind,  daß  eine  bestimmte  Bewegungsgröße  in  be- 
stimmter Richtung  im  Raum  transportiert  werden 
soll,  und  die  daher  in  vielfacher  Beziehung  zu- 
sammen behandelt  werden  können.  Zuletzt  hat 
sich  auch  Sommerfeld  in  Gemeinschaft  mit  Lenz 
diesem  Problem  zugewandt,  dessen  Lösung  zweifel- 
los eine  der  wichtigsten  Aufgaben  der  kinetischen 
Theorie  bildet. 

Soviel  steht  fest,  daß  die  Betrachtungsweise, 
wie  sie  von  Krönig  und  Clausius  als  kineti- 
sche Gastheorie  begründet  worden  ist,  zu  wert- 
vollen Resultaten  und  Kenntnissen  des  Verhaltens 


726 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  46 


der  Moleküle  selbst  und  der  Gase  als  Ganzes 
geführt  hat.  Es  ist  die  begründete  Hofihung 
vorhanden ,  daß  mit  der  Zeit  durch  geignete 
Hypothesen  über  die  Beschaffenheit  der  Moleküle 
ein  immer  besserer  Anschluß  an  die  Beobachtungen 
erreicht  werden  wird.  Was  die  Übereinstimmung 
mit  der  Erfahrung  betrifft,  so  kann  sie  nämlich 
befriedigenderweise  gerade  in  den  Fällen  konsta- 
tiert werden ,  dessen  Durchrechnung  mittels  der 
kinetischen  Theorie  ohne  gar  zu  bedenkliche  Ver- 
einfachungen möglich  war.  So  kann  man  die 
beste  Übereinstimmung  bei  der  Behandlung  ein- 
atomiger Gase  erwarten  und  findet  sie  dort  auch. 
Denn  den  bisherigen  Rechnungen  liegt  immer 
die  Annahme  der  Kugelform  der  Moleküle  zu- 
grunde, da  eine  andere  Annahme  die  Rechnung 
ganz  ungeheuer  erschwert.  Die  Idealisierung  bei 
der  Anwendung  der  Theorie  auf  mehratomige 
Gase  ist  also  augenscheinlich  größer  und  ein  An- 
schluß an  das  Experiment  weniger  sicher  zu 
erwarten. 

3.  Wie  steht  es  nun  mit  dem  Zusammenhang 
der  beiden  Darstellungsarten?  Die  Thermodyna- 
mik baut  auf  der  Zustandsgleichung  der  Gase  auf, 
die  durch  das  Experiment  bestimmt  ist,  und  leitet 
daraus  und  mit  Hilfe  bekannter  Prinzipien,  die  das 
ganze  Naturgeschehen  beherrschen ,  ab ,  wie  sich 
das  Gas  als  Ganzes  verhält,  führt  im  besonderen 
zur  Kenntnis  der  Energie  des  Gases  (als  Ganzes 
genommen)  und  zur  PIntropie,  wobei  noch  nebenher 
die  Definition  der  absoluten  Temperatur  gewonnen 
wird.  —  Die  kinetische  Gastheorie  geht  von  be- 
stimmten Anschauungen  über  die  Konstitution 
des  Systems  aus,  führt  auf  die  durch  die  Erfah- 
rung bestätigte  Zustandsgieichung,  beschäftigt 
sich  aber  im  übrigen  mit  dem  Verhalten  der 
Systemteile  unter  verschiedenen  Bedingungen. 
Außer  dem  durch  die  Zustandsgieichung  sofort 
ersichtlichen  Übergang  besteht  anscheinend  keine 
Verbindung  zwischen  beiden  Methoden.  Eine 
solche  müssen  wir  aber  herstellen  können ,  wenn 
es  gelingt,  auch  mittels  der  kinetischen  Theorie 
die  Werte  der  Energie  und  der  Entropie  des 
Gases  als  Ganzes  abzuleiten.  Sie  müssen  über- 
einstimmen mit  den  Werten  aus  der  Thermo- 
dynamik. 

Wir  beginnen  mit  der  Entropie.  In  der  Thermo- 
dynamik wird  gelehrt,  daß  ein  System,  wie  z.  B. 
das  von  Molekülen,  also  ein  Gas,  nur  dann  im 
Gleichgewichtszustand  sich  befinden  kann,  wenn 
die  Entropie  einen  größeren  Wert  besitzt  als  in 
jedem  anderen  Zustand.  In  der  kinetischen  Gas- 
theorie wurde  dieser  Zustand  dadurch  charakte- 
risiert, daß  man  ihn  als  den  wahrscheinlichsten 
ansah.  Es  scheint  also  immerhin  denkbar,  daß 
eine  Beziehung  zwischen  Entropie  und  Wahrschein- 
lichkeit eines  Systems  besteht. 

Wenn  wir  von  der  Wahrscheinlichkeit  eines 
Zustandes,  den  ein  System  annehmen  kann,  sprechen 
wollen,  so  hat  das  nur  einen  Sinn,  wenn  die  Ele- 
mente   des   Systems    nicht    einzeln    durch    die  sie 


bestimmenden  Variabein  (Koordinaten)  fest  ge- 
geben sind,  sondern  wenn  ein  gewisser  Spielraum 
von  Werten,  die  die  Elemente  annehmen  können, 
bleibt ;  es  muß  auch  ein  anderer  Zustand  durch 
geeignete  Wahl  der  die  Systemelemente  bestim- 
menden Koordinaten  sich  einstellen  können,  ohne 
daß  die  uns  von  vornherein  gegebenen  Bedingun- 
gen (z.  B.  über  Druck  und  Temperatur),  denen 
das  System  genügen  muß,  verletzt  werden.  Es 
muß  mit  anderen  Worten  der  Zustand  des  Systems 
im  großen  ganzen  bestimmt  definiert  sein:  das 
System  muß  aber  von  Elementen  abhängen,  deren 
Zustände  im  einzelnen  nicht  bestimmt  sind  und 
auch  nicht  kontrolliert  werden  können.  So  ist 
der  Zustand  des  Gases  nach  dem  Maxwell- 
schen  Geschwindigkeitsverteilungsgesetz  gegeben, 
dabei  aber  völlig  frei  gelassen,  welche  ganz  spe- 
ziellen Moleküle  zu  der  Gruppe  gehören,  deren 
Geschwindigkeit  zwischen  c  und  c  -)-  de  liegt. 
Die  nähere  Überlegung  zeigt  nun,  daß  auch  nur 
bei  solchen  Systemen  von  einer  Entropie  ge- 
sprochen werden  kann,  bei  Systemen,  deren  Zu- 
stand unter  anderem  von  einer  Größe  bestimmt 
wird,  die  in  nicht  kontrollierbarer  Weise  auf  die 
Elemente  des  Systems  zu  verteilen  ist.  Sind  die 
Zustände  und  Änderungen  der  Systeme  in  allen 
Einzelheiten  mathematisch  genau  gegeben  und 
wissen  wir,  daß  sie  genau  den  Gesetzen  der  Mechanik 
folgen,  so  hat  es  keinen  Sinn,  von  Entropie  oder 
Temperatur  zu  reden.  Z.  B.  die  Bewegung  eines 
Pendels  geht  nach  exakt  bis  ins  einzelne  gegebe- 
nen Gesetzen  vor  sich;  es  handelt  sich  dabei  um 
Energietransformationen,  die  in  der  einen  wie  in 
der  anderen  Richtung  vor  sich  gehen  können. 
Auch  die  auftretende  Reibung  bei  mechanischen 
Vorgängen  (die,  wie  wir  aus  der  Wärmelehre  wissen, 
einen  Teil  der  mechanischen  Energie  in  Wärme- 
energie überführt)  wird  stets  durch  eine  besondere, 
Energie  verzehrende  Kraft  eingeführt ,  über  deren 
tieferen  Ursprung  man  sich  keine  Rechenschaft  gibt. 
Von  dem  Wärmeinhalt,  also  der  kinetischen  Energie 
der  Moleküle,  ist  nie  die  Rede  und  daher  auch 
nicht  von  einer  Temperatur  des  Systems  anders, 
als  einem  möglicherweise  die  wirkenden  Kräfte 
beeinflussenden  Parameter.  Immer  gilt  bei  diesen 
exakt  mathematisch  darstellbaren  Vorgängen  wie 
bei  allen  Naturvorgängen  der  erste  Hauptsatz: 
Die  Summe  der  im  System  vorhandenen  Energie 
bleibt  konstant,  und  man  sucht  festzustellen, 
welche  Bewegungen  und  Energieumsetzungen 
werden  auftreten,  wenn  gewisse  Kräfte  auf  Massen 
einwirken.  Um  die  Frage,  ob  die  Vorgänge  wirk- 
lich eintreten  oder  nicht,  kümmert  man  sich  nicht.  • 
Mit  dieser  Frage  beschäftigt  sich  der  2.  Haupt- 
satz, welcher  angibt,  daß  bei  jedem  wirklich  statt- 
findenden Naturvorgang  die  Entropie  zunimmt. 

Also  nur  Systeme,  dessen  Zustände  durch 
Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen  bestimmt  werden 
können,  nur  Systeme,  die  nicht  bis  in  alle  Einzel- 
heiten exakt  definiert  sind,  berechtigen  zur  Ein- 
führung des  Begriffs  der  Entropie.  Boltzmann  hat 
den    Zusammenhang     zwischen    „mathematischer 


N.  F.  XIII.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


727 


Wahrscheinlichkeit"    und    Entropie    genau    unter- 
sucht und  ist  zu  der  wichtigen  Beziehung  gelangt: 

10)  S  =  lgW„  +  const. 
S  ist  die  thermodynamische  Entropie  des  Sy- 
stems; ')  mit  \V(,,  der  mathematischen  Wahrschein- 
lichkeit, wird  bezeichnet  das  Verhältnis  „der  dem 
Ereignis  günstigen  Fälle,  zu  den  überhaupt  mög- 
lichen Fällen".  Was  das  bedeutet,  geht  aus  fol- 
gendem hervor.  Ein  gewünschter  Zustand  des 
Systems  ist  durch  verschiedene  Verteilungsarten 
erreichbar,  in  unserm  speziellen  Fall  der  Gas- 
moleküle z.  B.  dadurch,  daß  ganz  bestimmte 
Moleküle  die  Geschwindigkeit  c  haben,  aber  auch 
dadurch,  daß  andere  willkürlich  herausgegriffene 
Moleküle  von  gleicher  Zahl  diese  Geschwindig- 
keiten besitzen.  Wir  nennen  diese  Verteilungen 
Fälle ,  die  dem  Ereignis  (dem  gewünschten  Zu- 
stand) günstig  sind;  es  gibt  natürlich  nun  auch 
zahllose  Verteilungen ,  die  den  Zustand  nicht  er- 
geben, auch  wenn  die  Zahl  der  Moleküle  und  die 
Gesamtenergie  dieselben  sind.  Je  größer  die 
Zahl  der  günstigen  Fälle  im  Vergleich  zur  Zahl 
der  möglichen  ist,  um  so  größer  ist  die  Wahr- 
scheinlichkeit \\\. 

Planck  ist  durch  Betrachtungen,  die  sich  auf 
die  Wärmestrahlung  beziehen,  auf  eine  etwas  ab- 
weichende Gleichung  gekommen  und  zu  einer 
anderen  Definition  der  Wahrscheinlichkeit  gelangt, 
die  er  zum  Unterschied  von  jener  die  ,, thermo- 
dynamische Wahrscheinlichkeit"  nennt.  An  Stelle 
von  Gleichung  (lo)  schreibt  er: 

11)  S  =  k  IgW. 
Dabei  soll  W  „die  Anzahl  aller  bei  einer  be- 
stimmten Raumverteilung  möglichen  Komplex- 
ionen" bedeuten,  d.  h.  die  Anzahl  der  dem  ge- 
wünschten Zustand  günstigen  Fälle  der  Verteilung. 
Es  fehlt  in  Gleichung  (11)  im  Gegensatz  zu  (10)  die 
willkürliche  additive  Konstante;  die  Konstante  k  hat 
einen  ganz  bestimmten  Wert,  wie  wir  später  sehen 
werden.  Wenn  sich  die  Anzahl  W  der  dem  Er- 
eignis (Zustand)  günstigen  Fälle  wirklich  ein- 
deutig angeben  läßt,  so  liefert  uns  Gleichung  (11) 
einen  eindeutig  bestimmten  Wert  der 
Entropie  des  Systems ,  mehr  also  als  wir 
nach  den  Erörterungen  in  dem  i.  Abschnitt  er- 
warten sollten ;  denn  dort  war  immer  nur  von 
Entropiedifferenzen  die  Rede;  die  Entropie  eines 
Systems  in  einem  gegebenen  Zustand  galt  nur  bis 
auf  eine  additive  Konstante  als  bekannt.  In  der 
Tat  liegt  gerade  darin  das  Wesentliche  des  Unter- 
schiedes zwischen  den  Gleichungen  10  und  11 ; 
Planck  forderte  die  Möglichkeit,  für  alle  Systeme 
eindeutig  definierte  Entropiewerte  anzugeben.  Zu 
dieser  Angabe  eignete  sich  die  Bol  tz man  n 'sehe 
Beziehung  nur,  wenn  in  ihr  von  der  Konstante 
abgesehen  wurde  und  die  Wahrscheinlichkeit  durch 
bestimmte  Festsetzungen  für  jedes  System  einen 
eindeutig  definierten  Wert  erhielt.  Sehen  wir  zu- 
nächst zu,  wann  das  letztere  der  Fall  isti  Wir  knüp- 

')  s  soll  sich  auf  die  Masseneinheit  beziehen,  S  auf  be- 
liebige Massen. 


fen  zu  dem  Zweck  an  ein  konkretes,  einfaches 
Beispiel  an.  Es  sei  eine  große  Zahl  N  Körner  auf 
die  64  Quadrate  eines  Schaclibrettes  zu  verteilen 
und  es  sei  gefordert,  daß  in  das  erste  (links  oben 
anfangend  und  in  horizontaler  Richtung  weiter- 
gehend) Nj,  in  das  zweite  Quadrat  N.,  usf.  in 
das  64.  Quadrat  N^^  Körner  kommen,  wobei 
Ni  +  N2  +  •  ■  •  +  No4  =  N  sein  soll.  Welche  von 
den  N  Körnern  in  das  i.,  2, . . .  64.  Quadrat  fallen, 
soll  uns  einerlei  sein;  jede  Zuordnung  der  Körner, 
die  die  Forderung:  Nj  ins  i.,  N.,  ins  2.  Quadrat 
usf.  erfüllt,  ist  eine  der  gewünschten  Raumver- 
teilung günstige  Zuordnung,  stellt  in  der  Planck- 
schen  Bezeichnungsweise  eine  mögliche  Kom- 
plexion dar.  Die  Anzahl  der  möglichen  Kom- 
plexionen läßt  sich  nach  der  Permutationsrech- 
nung sofort  hinschreiben.     Sie  ist: 

N' 

12)        W: 


NJNa 


N„ 


Nil=i.2.3...Ni 
bedeutet.  Würden  wir  jedes  Quadrat  des  Schach- 
brettes in  4  kleinere  Quadrate  zerlegen,  und  würden 
nun  die  N  Körner  auf  die  4  mal  64  kleineren  Quadrate 
verteilen,  so  aber,  daß  in  Wirklichkeit  (absolut 
genommen)  die  gleiche  Raumverteilung  vorhanden 
wäre,  so  würde  offenbar  die  Anzahl  VV  der  mög- 
lichen Komplexionen  einen  anderen  Wert  als  den 
obigen  annehmen,  nämlich : 

Ni 
W 


N/!  Ni"lNi"'lNi""!N2 


N„ 


mit  den  Nebenbedingungen: 

Ni'  +  Ni"  -f  Ni'"  +  Ni""  =  Ni 
Ni+N.3  +  ...+  N,,,  =N 
Wir  sehen  also,  die  Zahl  W  hängt  ab  von  der 
Größe  der  Gebiete  (Elementargebiete),  in  die  zur 
Angabe  der  Zuordnung  der  Raum  zerteilt  wird. 
Die  Forderung  eines  ganz  bestimmten  Entropie- 
wertes ist  also  zurückgeführt  auf  die  Forderung, 
bei  der  Wahrscheinlichkeitsbetrachtung  den  Zu- 
standsraum  in  Elementargebiete  ganz  bestimm- 
ter Größe  zu  zerlegen,  denen  die  Elemente  des 
Systems  zugeteilt  werden  sollen. 

In  dem  Fall  des  Gases,  in  dem  anzugeben 
ist,  in  welcher  Weise  die  Moleküle  über  den  Gas- 
raum verteilt  und  welches  die  Geschwindigkeiten 
der  Moleküle  sind,  müssen  wir  nun  zur  Fest- 
legung des  Entropiewertes  nach  dem  Rezept 
verfahren,  das  in  den  Gleichungen  11  und  12  ent- 
halten ist. 

Die  Moleküle  des  Gasraumes  unterscheiden 
sich  voneinander  durch  ihre  Lage  (Ortskoordinaten) 
und  ihre  Geschwindigkeiten,  oder  besser  ihre  Be- 
wegungsgrößen,  i)  das  sind  die  Produkte  aus 
Masse    m    und    Geschwindigkeit    c.       Bezeichnen 

')  Enthält  nämlich  das  Gas  Moleküle  von  verschiedenen 
Massen,  so  sind  in  bezug  auf  die  Bewegungen  und  mecha- 
nischen Vorgänge  überhaupt  (Stöße)  die  Moleküle  nur  durch 
die  Größe  der  Bewegungsgrößen  von  unterschiedlicher  Wirkung, 
da  bei  den  Bewegungsänderungen  immer  nur  die  Produkte 
aus  Masse  und  Geschwindigkeit  eine  Rolle  spielen,  Masse  und 
Geschwindigkeit  aber  nicht  getrennt  auftreten. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  46 


wir  die  Ortskoordinaten  mit  x,  y,  z,  die  Kompo- 
nenten der  Bewegungsgrößen  in  den  Koordinaten- 
richtungen mit  I,  j;,  C,  so  werden  also  die  Mole- 
küle durch  die  Angabe  dieser  6  Größen  in  ihrem 
Verhalten    bestimmt.        Im     stationären    Gleich- 
gewichtszustand des   Gases  werden  die  6  Koordi- 
naten von  Ni   Molekülen  liegen  zwischen: 
X  und  X  +  dx,  $'  und  |  -|-  di", 
y  und  y  -|-  dy,  y  und  t]  -]-  d»;, 
z  und  z    4"   '^^'   ^  """^  t  "i~  "^^• 
von  N.,  Molekülen  in  Nachbarbereichen  usw.    Wie 
wir    das    Schachbrett    zur   Angabe    der    Raumver- 
teilung der  Körner  in  64  Elementargebiete  geteilt 
haben,   so   können  wir  den  jetzt  freilich  in  6  ver- 
schiedenen Richtungen  sich  erstreckenden  „Raum" 
zur  Angabe  der  Raumverteilung   der  Moleküle  in 
die  Elementargebiete  von  der  Größe 

dxdy  dzdid»;dc 
uns  zerlegt  denken.  Nehmen  wir  für  diese  Ele- 
mentargebiete eine  ganz  bestimmte  endliche  Größe, 
die  wir  mit  G  bezeichnen  wollen,  an,  so  können 
wir  gerade  wie  im  Beispiel  mit  den  Körnern  auf 
dem  Schachbrett  eine  gegebene  Raumverteilung 
eine  ganz  bestimmte  endliche  Anzahl  mal  her- 
stellen, indem  wir  alle  möglichen  Permutationen 
unter  den  Molekülen  vornehmen,  so  daß  die  ge- 
forderte Verteilung  besteht.  Die  Anzahl  dieser 
möglichen  Permutationen  („mit  Wiederholung"), 
also  die  Anzahl  der  möglichen  „Komplexionen", 
nennen  wir  W;  sie  ist  die  Wahrscheinlichkeit  des 
Zustandes. 

Die  Forderung,  daß  die  Entropie  oder 
S=3=k.lgW 

bei  unveränderter  Anzahl  der  Moleküle  und  un- 
veränderter Gesamtenergie  des  Systems  ein  Maxi- 
mum sei,  führt  zur  Kenntnis  der  Verteilung  im 
stationären  Gleichgewichtszustand.  Diese  rein 
mathematische  Aufgabe  enthält  keine  bemerkens- 
werte Schwierigkeit.  Das  Resultat  ist  in  völliger 
Übereinstimmung  mit  dem  Max well'schen,  das 
in  Gleichung  (9)  mitgeteilt  wurde.  Für  diese  jetzt 
bekannte  Verteilung  läßt  sich  W  und  somit  S 
wirklich  ausrechnen.  Wir  finden,  indem  wir  uns 
wieder  auf  die  Masseneinheit  des  Gases  be- 
schränken : 

,,^     e      1.  M  1^  f  v/4^em(u— un)\%\ 
13)     s  =  k.N.lg^^( -^ j      ; 

wenn  N  die  Zahl  der  Moleküle  der  Masseneinheit 
ist,  die  sich  im  Volumen  v  befindet,  u  die  Ge- 
samtenergie der  bewegten  Moleküle  (der  Gas- 
masse), U||  die  unveränderlich  gedachte  innere 
Energie  der  ruhenden  Moleküle,  G  die  Größe  des 
Elementargebietes  bedeutet.  N  ist  also  gleich  n  •  v, 
wenn  wie  oben  n  die  Zahl  der  Moleküle  im 
ccm  bedeutet,     (e  ist  die  Basis  der  nat.  Log.) 

Daß  die  so  gewonnene  Größe  s  wirklich  die 
Bedeutung  der  aus  der  Thermodynamik  bekannten 
Entropie  hat,  ist  durch  eine  einfache  Probe  leicht 
zu  zeigen. 

Nach  Gleichung  (3)  muß  die  partielle  Differen- 


tiation   nach    v    bei    konstantem    u    den  Wert  ~ 


oder: 


ergeben.      Wir   führen    diese    Operation    aus    und 
erhalten : 

/  ÖS  \  kN p 

\öv/u~  V  ~T 

14)     p  = T  =  k-n-T 

'     ^  V 

genau  die  Gasgleichung  (4),  wenn  wir  für  kN  setzen 

R' 

— -  R,  wodurch  also  zugleich  über  die  noch  un- 
bestimmt gelassene  Konstante  k  Klarheit  ge- 
schaffen ist. 

Für  diesen  letzten  Schluß  und  Beweis  der 
Richtigkeit  der  Planck'schen  Beziehung  zwischen 
s  und  W,  ist  es  offenbar  ganz  gleichgültig,  welchen 
Wert  G  hat,  denn  G  kommt  in  der  Endformel  (14) 
gar  nicht  vor;  der  Schluß  wird  sich  also  auch 
noch  ziehen  lassen ,  wenn  wir  an  Stelle  der  Be- 
ziehung von  Planck  die  von  Boltzmann  be- 
nutzen. Was  veranlaßt  und  was  bedeutet  also, 
so  müssen  wir  nun  fragen,  die  Planck 'sehe 
Festsetzung,  daß  die  Entropie  einen  bestimmten 
Wert,  G  ein  Elementargebiet  von  bestimmter 
endlicher  Größe  sein  soll. 

Von  vornherein  steht  fest,  daß  die  Beziehung 
(11)  oder  (10)  jedenfalls  universelle  Gültigkeit  haben 
muß,  d.  h.  wenn  sie  überhaupt  Bedeutung  haben  soll, 
sie  für  jeden  einzelnen  Fall  der  Naturbetrachtung 
gelten  muß.  Weiter  ist  klar,  daß  nur  entweder 
(10)  oder  (11)  gelten  kann.  Nun  hat  Planck 
gezeigt,  daß  die  Beziehung  (11),  deren  Anwendung 
also  ein  ganz  bestimmtes  endliches  Elementar- 
gebiet bei  der  Wahrscheinlichkeitsbetrachtung 
voraussetzt,  in  der  Wärmestrahlungstheorie  zu 
einem  von  der  Erfahrung  bestätigten  Gesetz  der 
Energieverteilung  auf  die  verschiedenen  Strahlungs- 
arten ,  die  vom  schwarzen  Körper  ausgesandt 
werden,  führt,  während  Gleichung  (10)  dies  nicht 
leistet.  Er  kommt  dabei  zu  der  berühmt  ge- 
wordenen Forderung,  daß  die  Strahlungsenergie 
nur  quantenmäßig  weitergegeben  werden  kann, 
nicht  kontinuierlich. 

Somit  scheint  also  die  Annahme  von  1 1  not- 
wendig zu  sein  und  wir  müssen  weiter  fragen, 
was  hat  es  zu  bedeuten,  daß  das  Elementargebiet 
G  =  dxdydzdid*;dC  einen  endlichen  Wert 
haben  soll. 

Es  sei  da  zunächst  daran  erinnert,  daß  von 
Nernst  schon  früher  (1906)  die  Forderung  der 
bestimmten  Entropiewerte  für  kondensierte  Systeme 
(feste  und  flüssige  Körper)  ausgesprochen  war. 
„Die  Entropie  eines  kondensierten  chemisch  homo- 
genen Stoffes  beim  Nullpunkt  der  absoluten  Tem- 
peratur besitzt  den  Wert  Null." ')  Nun  können 
wir  uns  eine  homogene  Flüssigkeit  durch  Ver- 
dampfung in  den  gasförmigen  Zustand  übergeführt 
denken.  Die  bei  der  Temperatur  T  des  Systems 
zugeführte  Verdampfungswärme  L  dividiert  durch 


')  M.  Planck,    Vorl.  über  Thermodynamik,  3.  Aufl. 


N.  F.  XIII.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


729 


die  Temperatur  ist  gleich  der  Differenz  der 
Entropiewerte  der  Substanz  im  gasförmigen  und 
im  flüssigen  Zustand.  Da  nach  dem  Wärmesatz 
von  Kernst  die  Entropie  des  flüssigen  Zustandes 
einen  bestimmt  angebbaren  Wert  besitzt,  so 
müssen  wir  also  auch  für  den  homogenen  gas- 
förmigen Zustand    diese  Forderung  stellen;    denn 

ist  doch  eine    ganz    genau  definierte,    meßbare 

Größe;  allerdings  läßt  sich  etwas  allgemein  Gültiges 
von  vornherein  über  den  Entropie  wert  der  Gase 
beim  absoluten  Nullpunkt  noch  nicht  aussagen,  wie 
über  den  der  kondensierten  Systeme.  (Allem  An- 
schein nach  hat  es  auch  gar  keinen  Sinn  von 
einem  solchen  Wert  beim  absoluten  Nullpunkt 
zu  reden,  weil  vermutlich  ein  Gas  auch  unter 
beliebig  kleinem  Druck  bei  dieser  Temperatur 
nicht  mehr  als  Gas  existiert,  sondern  stets  als 
kondensiertes  System;  der  Sättigungsdruck  ist 
vermutlich  bei  dieser  Temperatur  kleiner  als  jeder 
nur  denkbare.)  Wir  finden  also  auch  hier  (die 
Folgerungen  wurden  freilich  erst  viel  später  ge- 
zogen) den  Hinweis  auf  die  endliche  bestimmte 
Entropie  eines  Gases,  das  gerade,  was  den  Inhalt 
der  Forderung  von  Planck  für  den  Fall  der  gas- 
förmigen Systeme  bildet.  Nur  eine  weitere 
Konsequenz  ist  die  Forderung,  daß  bei  der 
Wahrscheinlichkeitsbetrachtung  endliche  Elemen- 
targebiete zugrunde  gelegt  werden  müssen. 

Der  tiefere  Grund,  warum  der  Zustandsraum 
in  Elementargebiete  ganz  bestimmter  Größe  zer- 
legt werden  muß,  um  auf  Resultate  zu  kommen, 
die  mit  der  Erfahrung  übereinstimmen,  kann  ganz 
gewiß  nur  in  besonderen  Atomeigentümlichkeiten 
gesucht  werden  und  um  Anhaltspunkte  in  dieser 
Richtung  zu  gewinnen,  ist  es  von  größter  Bedeutung, 
den  wahren  Wert  der  Elementargebiete  aufzusuchen. 
Dazu  kann  man  z.  B.  gelangen,  wenn  man  den  eben 
skizzierten  Weg,  die  Entropie  des  Gases  aus  der 
des  kondensierten  Systems  abzuleiten,  in  Fällen, 
in  denen  genügend  experimentelle  Daten  vorliegen, 
wirklich  ausführt.  In  der  Gleichung  (13)  ist  dann 
s  selbst  bekannt  bei  gegebener  Energie  (Tem- 
peratur) und  Volumen;  und  die  einzige  Unbe- 
kannte ist  die  Größe  G.  Solche  Rechnungen 
sind  von  Sackur  und  von  Tetrode  unabhängig 
voneinander  ausgeführt  worden.  Für  einatomige 
Gase  findet  man  eine  Zahl  von  der  Größenordnung : 

200-  10  "*" 

Da  G  das  Produkt  dreier  äquivalenter  Fak- 
toren dxdj,  dydi;,  dzdg  ist,  so  ist  anzunehmen, 
daß  jeder  derselben  den  gleichen  Beitrag  liefert, 
der  also  die  Größenordnung 
6.10-" 
haben  wird.  Es  müßte  also  das  Produkt  dx-d^, 
—  das  ist  das  Produkt  einer  Strecke  (dx),  einer 
Masse  (m)  und  einer  Geschwindigkeit  de  (denn 
di;  =  m-dc)  —  von  der  Größenordnung  6- 10^-' 
für  Moleküle  eine  besondere,  bemerkenswerte  Be- 
deutung haben,  welche  Veranlassung  wäre,  daß 
gerade   diese    Größe    die    Kante    des    Elementar- 


würfels des  Zustandsraums  bestimmte.  Man  könnte 
sich  vielleicht  vorstellen  —  nur  um  ein  Beispiel 
einer  möglichen  Betrachtungsweise  zu  geben  sei 
dies  erwähnt  —  daß  wenn  die  Energie,  die  die  eine 
Molekel  bei  einem  Zusammenstoß  an  die  andere 
abgibt,  einen  kleineren  Wert  hat  als  jene  Größe 
Ö-IO'"'^'  dividiert  durch  die  kleine  Zeitdauer  des 
Zusammenhaftens,  die  Moleküle  merkliche  Verän- 
derungen erfahren,  die  sich  erst  in  einiger,  wenn 
auch  sehr  kurzer  Zeit  verlieren.  Die  Dimension 
des  Produktes  dxdi,  also  auch  der  Größe  6-  iO"~^', 
ist  nämlich  die  des  Produktes  einer  Energie  und 
einer  Zeit.  Da  die  Energie  einer  Molekel  gleich 
ist  der  halben  Masse  mal  dem  Quadrat  der  Ge- 
schwindigkeit, und  da  z.  B.  die  Masse  der  Luft- 
molekel zu  5  ■  io~^^  g  (ca)  angenommen  werden 
kann,  so  dürfte  von  dem  Quadrat  der  Geschwindig- 
keit multipliziert  mit  der  sicher  sehr  kleinen  Stoß- 
zeit der  Wert  1,2  •  io~*  nicht  unterschritten  werden, 
wenn  nicht  Molekülveränderungen  auftreten  sollen 
(z.  B.  die  stoßenden  Moleküle  aneinender  kleben 
bleiben).  In  Anbetracht  der  sicher  sehr  kleinen 
Stoßzeit  resultiert  hier  eine  immerhin  verwunder- 
lich große  kritische  Geschwindigkeit.  Es  sind 
verschiedene  andere  Deutungen  für  den  tieferen 
Grund  des  Auftretens  der  endlichen  Größe  zu 
geben  versucht  worden.  Besonders  hat  Sackur  sich 
mit  der  Frage  beschäftigt.  Einstweilen  steht  in- 
dessen eine  ungezwungene  Erklärung  noch  aus,  es 
ist  sogar  noch  nicht  einmal  möglich  gewesen,  fest- 
zustellen, ob  der  Wert  von  G  unabhängig  von 
der  Natur  des  einatomigen  Gases  ist,  d.  h.  ob 
für  Helium  ein  anderes  G  gilt,  als  für  Queck- 
silber, oder  für  Argon  usw.  Hier  ist  noch  manches 
Rätsel  zu  lösen. 

4.  Wir  wollen  nun  endlich  noch  zusehen,  ob 
auch  der  Vergleich  der  Energiewerte  des  Gases, 
wie  sie  aus  der  Thermodynamik  einerseits,  aus 
der  kinetischen  Gastheorie  andererseits  gewonnen 
werden  können,  zu  einem  engeren  Zusammenschluß 
der  beiden  Methoden  führt,  resp.  ob  wir  aus  dem 
Vergleich  neue  Erkenntnisse   erschließen   können. 

Bei  einem  einatomigen  Gas  dürfen  wir  wohl 
annehmen,  daß  die  gesamte  innere  Energie  des 
Gases  in  der  hin-  und  hergehenden  Bewegung 
der  als  elastische  Kugeln  vorgestellten  Moleküle 
steckt.  Dann  muß  die  gesamte  innere  Energie 
des  Gases  auf  die  Masseneinheit  bezogen  gleich 
sein: 

^N-m-c^ä 
wenn  c-  die  mittlere  Molekülgeschwindigkeit  und 
N  die  Molekülzahl  der  betrachteten  Masseneinheit 
ist.  Aus  den  Formeln  4  und  5  kann  man  er- 
sehen, daß  dies  nichts  anderes  ist  als  |RT. 
Daraus  kann  man  sofort  die  spezifische  Wärme 
des  einatomigen  Gases  ableiten,  denn  das  ist  die 
Änderung  der  Energie  mit  der  Temperatur,  oder 
der  Zuwachs  an  Energie  pro  i  "  C;  es  ist  das  |R. 
Der  Vergleich  dieses  Wertes  mit  dem,  der  an 
einatomigen  Gasen  experimentell  gefunden  wurde, 
wenn    man    das    Volumen    konstant    hält,    wenn 


73° 


Naturwlssenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  46 


also  alle  zugeführte  Wärme  zur  Erhöhung  der 
inneren  Energie  verbraucht  wurde,  bestätigt  die 
Theorie  vorzüglich.  Es  ist  im  besonderen  nach  der 
Theorie  die  spezifische  Wärme  unabhängig  von 
der  Temperatur;  und  auch  dies  ist  in  sehr  weiten 
Temperaturgrenzen  (von  200"  bis  über  2500") 
experimentell  gefunden  worden.  Die  Thermo- 
dynamik konnte  aus  der  Gasgleichung  nichts 
aussagen  über  die  Abhängigkeit  der  spezifischen 
Wärme  von  der  Temperatur  und  es  wurde  ge- 
rade die  Bedingung  der  Temperaturunabhängigkeit 
mit  zur  Definition  der  idealen  Gase  herangezogen. 
Wir  gelangen  also  zu  dem  wichtigen  Resultat,  daß 
ein  thermodynamisch  als  ideal  betrachtetes  Gas 
in  der  Tat  als  bestehend  aus  Molekülen  vorgestellt 
werden  kann,  die  Kugelform  besitzen,  vollkommen 
elastisch  sind  und  von  so  kleinem  Durchmesser, 
daß  ihr  Volumen  im  Vergleich  zu  dem  der  Be- 
wegung freistehenden  zu  vernachlässigen  ist. 

Zu  dem  Resultat,  daß  die  spezifische  Wärme 
der  einatomigen  Gase  |R  ist,  kommen  wir  auch, 
wenn  wir  von  dem  Wert  der  Entropie  (13)  aus- 
gehen, nach  der  inneren  Energie  differenzieren  (bei 
konstant  gehaltenem  Volumen)  und  den  ge- 
wonnenen Ausdruck  gemäß  der  Gleichung  (3)  gleich 

^-  setzen.     Wir  erhalten 

u— Uo  =  fkNT 
also     für    die    Änderung    der    Energie    mit    der 
Temperatur   (da  kN  =  R  ist)    für    die   spezifische 
Wärme  das  obige  Resultat. 

Ganz  offenbar  gelten  für  mehratomige  Gase 
nicht  diese  einfachen  Betrachtungen.  Denn  zwei- 
fellos besteht  jetzt  die  innere  Energie,  deren  Än- 
derung mit  der  Temperatur  uus  als  spezifische 
Wärme  bei  konstantem  Volumen  interessiert,  nicht 
nur  aus  der  kinetischen  Energie  der  Moleküle; 
vielmehr  werden  auch  Atomschwingungen  im 
Molekül  stattfinden,  die  eine  kinetische  Energie 
repräsentieren  und  weiter  die  Existenz  einer  po- 
tentiellen Energie  erfordern ;  ferner  werden  in- 
folge der  Zusammenstöße  auch  Rotationen  auf- 
treten können,  da  wir  nicht  mehr  die  mehr- 
atomigen Moleküle  als  Kugeln  uns  vorstellen 
dürfen.')  Zur  Berechnung  dieser  Energiemengen 
hat  man  bisher  immer  einen  sehr  berühmten  Satz 
der  statistischen  Mechanik  herangezogen,  welcher 
aussagt,  daß  für  jeden  Freiheitsgrad  eines 
mechanischen  Systems  gleich  viel  kin  etisc  he 
Energie  im  Mittel  bei  der  Bewegung  der 
Systemteile  in  Anrechnung  zu  bringen  ist.  Unter 
Zahl  der  Freiheitsgrade  oder  Bewegungs- 
möglichkeiten versteht  man  die  Zahl  der  die 
Systempunkte  vollständig  ihrer  Lage  nach  defi- 
nierenden von  einander  unabhängigen  Koordinaten. 
Ein  System  von  N  kugelförmigen  Molekülen,  deren 
augenblickliche  Lage  durch  je  drei  Koordinaten  defi- 
niert gedacht  werden  kann,  hat  demnach  3  NFreiheits- 


')  Durch  Zusammenstöße  elastischer  Kugeln  können  diese 
niemals  eine  Änderung  ilircr  Rotationsbewegung,  falls  sie  eine 
besitzen,  erfahren. 


grade.  Sind  die  N  Moleküle  nicht  kugelförmig, 
sondern  bestehen  sie  aus  zwei  starr  mit  einander 
verbundenen  kugelförmigen  Atomen,  so  muß  die 
Richtung  ihrer  Verbindungslinie  durch  zwei 
weitere  unabhängige  Bestimmungsstücke  (z.  B. 
zwei  Winkel)  festgelegt  sein.  Dann  sind  also  5  N 
Freiheitsgrade  vorhanden.  Sind  die  Atome  außer- 
dem noch  gegeneinander  beweglich,  so  kommt 
noch  ein  weiterer  Freiheitsgrad  pro  Molekül  hinzu. 
Für  jeden  der  Freiheitsgrade  müssen  wir  die 
gleiche  Energie  in  Anrechnung  bringen,  das  sagt 
der  Satz  der  statistischen  Mechanik.  Durch  die 
Berechnung  der  spezifischen  Wärme  der  ein- 
atomigen Gase  haben  wir  nun  soeben  erfahren, 
daß  die  kinetische  Energie,  die  jedem  Molekül  zu- 
kommt, |RT :  N  ist ;  da  jedes  Molekül  3  Freiheits- 
grade besitzt,  haben  wir  dem  einzelnen  Freiheits- 
grad somit  die  Energie  ^RT:N  =  4kT  zuzu- 
schreiben. Danach  müßte  den  2  atomigen  Mole- 
külen mit  starr  verbundenen  Atomen  die  kinetische 
Energie  5N-^kT  zukommen,  und,  wenn  die 
Atome  gegeneinander  beweglich  wären,  also  6 
Freiheitsgrade  haben,  6N-^kT.  Im  letzteren  Fall 
würde  die  angegebene  kinetische  Energie  noch 
nicht  die  ganze  innere  Energie  ausmachen.  Denn 
wenn  die  Atome  der  Moleküle  sich  gegeneinander 
infolge  der  zwischen  ihnen  wirkenden  Kräfte  be- 
wegen, so  muß  der  kinetischen  Energie  dieser 
Atome  nach  den  Prinzipien  der  Mechanik  eine 
ebenso  große  potentielle  Energie  gegenüberstehen, 
so  daß  die  Gesamtenergie  nicht  6  sondern  7  mal 
^NkT  beträgt. 

Mit  Hilfe  des  statistischen  Satzes  gelangt  man 
also  zu  dem  Resultat,  daß  die  innere  Energie  der 
Gase  (auch  der  mehratomigen)  proportional  der 
Temperatur  ist,  die  spezifische  Wärme  also  unab- 
hängig von  der  Temperatur.  Dieses  Resultat 
steht  nun  bedauerlicher  Weise  im  Widerspruch 
zu  der  Erfahrung.  Es  ist  bei  allen  bisher  unter- 
suchten mehratomigen  Gasen  eine  mehr  oder 
weniger  starke  Temperaturabhängigkeit  gefunden 
worden.  Will  man  daher  nicht  von  den  so  gut 
bewährten  Anschauungen  der  kinetischen  Gas- 
theorie abgehen,  so  ist  man  genötigt,  den  statisti- 
schen Satz  aufzugeben,  wozu  man  sich  in  Anbe- 
tracht der  scheinbar  sehr  sicheren  Grundlagen 
derselben  lange  Zeit  nicht  entschließen  konnte. 
Erst  neuerdings,  als  man  sich  davon  überzeugt 
hatte,  daß  dieser  Satz  auch  in  der  Theorie  der 
Wärmestrahlung  auf  falsche  Resultate  führte,  hat 
man  sich  von  ihm  frei  gemacht.  Was,  abgeselien 
von  einer  anscheinend  guten  Begründung  Veran- 
lassung war,  an  ihm  in  der  Gastheorie  noch  fest- 
zuhalten, war  der  Umstand,  daß  man  für  ihn 
keinen  Ersatz  kannte.  Wie  sollte  man  ohne  ihn 
einen  Schluß  auf  die  innere  Energie  der  mehr- 
atomigen Gase  ziehen,  wie  ohne  ihn  die  spezifischen 
Wärmen  berechnen. 

Durch  den  Einstein'schen  Versuch,  die  spezi- 
fischen Wärmen  fester  Körper  auf  Grund  der 
Planck'  sehen  Anschauungen  zu  berechnen,  denen 
zufolge  die  Schwingungsenergie  nur  quantenmäßig, 


N.  F.  XIII.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


731 


nicht  kontinuierlich  weiter  gegeben  werden  kann, 
wurde  zuerst  N ernst  dazu  angeregt,  auch  auf  die 
mehratomigen  Gase  diese  Planck 'sehe  Theorie 
anzuwenden.  Planck  hatte  auf  Grund  der  ge- 
nannten Anschauungen  ein  Verteilungsgesetz  der 
Energie  auf  die  verschiedenen  Strahlungen  (das 
Spektrum)  des  schwarzen  Körpers  ableiten  können, 
nämlich  eine  Funktion  U  {v,  T)  von  der  Schwin- 
gungszahl v  der  Strahlungsart  und  der  Temperatur  T 
des  strahlenden  schwarzen  Körpers,  welche  die 
ausgestrahlte  Energie  darstellt.  Warum  sollte 
diese  Funktion  nicht  auch  auf  Atomschwingungen 
anwendbar  sein.  Die  Atombewegungen  im  Mole- 
kül können  zweifellos  als  Schvvingungsbewegungen 
angesehen  werden  und  es  wird,  wenn  v  die  An- 
zahl der  Schwingungen  pro  Sekunde  bedeutet, 
nach  der  Planck 'sehen  Formel  und  der  Ein- 
stein- Nernst'  sehen  Erweiterung  jedem  Molekül 
bei  der  Temperatur  T,  außer  der  Energie  der 
Molekularbewegung  selbst,  die  Energie  zuzu- 
schreiben sein: 


R 

N' 


ßv 


T 

e  — I 


[ß  eine  gewisse  Konstante 

in  der  Planck'schen 

Funktion). 


ein  Wert,  der  für  hohe  Temperaturen,  da  ßv 
im  allgemeinen  eine  kleine  Zahl  ist,  in  RT  über- 
geht, so  daß  sich  für  hohe  Temperaturen  derselbe 
Wert  der  inneren  Energie  und  der  spezifischen 
Wärme  ergibt,  den  der  statistische  Satz  liefert,  in 
Übereinstimmung  mit  der  Erfahrung.  Bei  der 
Rotationsbewegung  der  mehratomigen  Moleküle 
kann  ferner  die  Umlaufszahl  die  Rolle  der  in  der 
Planck'schen  Formel  vorkommenden  Schwin- 
gungszahl übernehmen.  Allem  Anschein  nach  hat 
man  es  hierbei  allerdings  nicht  mit  einer  ein- 
zigen Rotationsgeschwindigkeit  zu  tun,  sondern 
die  Moleküle  können  sehr  verschiedene  Rotations- 
geschwindigkeiten annehmen,  die  sich  aber  bei 
konsequenter  Durchführung  der  Planck'schen 
Energiequantentheorie  berechnen  lassen.  Jeder 
der  vorkommenden  Rotationsgeschwindigkeiten 
kommt  die  Energie  pro  Molekül  zu,  die  die 
Planck 'sehe  Formel  für  die  entsprechende 
Schwingungszahl  angibt.  Ehrenfest  hat  an- 
gegeben, wie  man  das  Mittel  all  dieser  Rotations- 
energien zu  bilden  hat  und  ist  dann  zu  einer  For- 
mel gelangt,  die  die  spezifische  Wärme  zwei- 
atomiger Gase  unter  der  Annahme  starrer  Ver- 
bindungen zwischen  den  Atomen  angibt.  Die 
Abhängigkeit  von  der  Temperatur  wird  nach  den 
Messungen  von  Eucken  an  Wasserstoff  richtig 
wiedergegeben. 

Haben  wir  es  mit  Gasen  zu  tun,  deren  Mole- 
küle aus  beweglichen  Atomen  bestehen,  bei  denen 
also  translatorische,  rotatorische  und  Schwin- 
gungsbewegung zu  berücksichtigen  ist,  so  gewinnt 
man    die   spezifische   Wärme    durch   Kombination 


der  Ausdrücke,  die  für  jede  einzelne  Bewegungs- 
art gelten.  Infolge  der  Kompliziertheit  der  Aus- 
drücke hat  sich  noch  nicht  mit  Sicherheit  fest- 
stellen lassen,  ob  die  Anwendung  der  Quanten- 
theorie in  der  skizzierten  Weise  wirklich  den  Tat- 
sachen gerecht  wird.  Soviel  läßt  sich  aber  wohl 
sagen,  daß  die  bisherigen  Erfahrungen  nicht  der 
theoretischen  Entwicklung  widersprechen. 

Die  große  Wichtigkeit  dieser  Untersuchungen 
für  die  Kenntnis  der  Molekulareigenschaften  liegt 
auf  der  Hand;  es  dürfte  auch  kaum  zweifelhaft 
sein,  daß  die  Übertragung  der  Energiequanten- 
anschauung Plancks  auf  die  Betrachtung  des 
Verhaltens  der  Gase  den  Beginn  einer  neuen  be- 
deutungsvollen Epoche  in  der  Entwicklung  der 
kinetischen  Gastheorie  bedeutet.  Ganz  abgesehen 
von  dem  Interesse  an  sich,  würde  die  Kenntnis 
der  Abhängigkeit  der  spezifischen  Wärmen  von 
der  Temperatur  in  großer  Allgemeinheit  von 
großem  Wert  für  die  weitere  Entwicklung  der 
Thermodynamik  sein. 

Ich  kann  den  kleinen  Aufsatz  nicht  schließen, 
ohne  mit  wenigen  Worten  auf  einen  eigenartigen 
Versuch  von  Sommerfeld  und  Lenz  hinzu- 
weisen, die  Eigenschaften  der  Gase  in  Anlehnung 
an  die  moderne  Theorie  der  festen  Körper  dar- 
zustellen als  Eigenschaften  eines  Kontinuums  mit 
nachträglichen  Spezialisierungen.  Dieser  Versuch 
ist  wie  die  Theorie  der  festen  Körper,  ganz  und 
gar  auf  den  Anschauungen  aufgebaut,  daß  die 
sämtlichen  Substanzen  von  Wellen  durchzogen 
sind,  die  durch  die  Bewegungen  der  Moleküle  zu- 
stande kommen,  und  sehr  verschiedene  zum  Teil 
charakteristische  Wellenlängen  besitzen  und  daß  die 
Energie  auf  diese  Wellenzüge  gemäß  dem  Planck- 
schen  Energieverteilungsgesetz  verteilt  werden 
muß.  Es  ist  höchst  bemerkenswert,  daß  diese 
von  der  kinetischen  Gastheorie  völlig  abweichende 
Betrachtungsweise  auch  auf  das  Gesetz  (5). 

p  =  J  nmc' 
führt,    nicht    aber   auf  dieselbe  Temperaturabhän- 
gigkeit   des  Produktes   p-v,  sondern  auf  die  Gas- 
gleichung: 

p.v  =  R.T[i-7.(T)] 
wenn  rp{T)  ein  von  der  Temperatur  abhängendes 
Korrektionsglied  bedeutet,  welches  schon  bei 
mäßig  hohen  Temperaturen  unmerklich  wird. 
Diese  Gleichung  würde  besagen,  daß  Gase,  deren 
Moleküle  eine  vernachlässigbare  Ausdehnung  be- 
sitzen und  keine  anderen  als  elastische  Kräfte 
aufeinander  ausüben,  im  allgemeinen  also  als  ideale 
Gase  betrachtet  werden,  bei  tiefen  Temperaturen 
nicht  der  Gleichung  folgen,  die  in  der  Thermo- 
dynamik als  Definitionsgleichung  der  idealen  Gase 
angesehen  wird.  Beobachtungen  verschiedener 
Art  scheinen  dieses  Resultat  zu  bestätigen. 

Clausthal.     Kgl.  Bergakademie. 


732 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  46 


Einzelberichte. 


Chemie.  Über  die  Entwicklung  der  graphi- 
schen chemischen  Formeln  hieh  Geh.  Keg.Rat 
Prof.  Dr.  R.  Anschütz  gelegenthch  der  27.  Haupt- 
versammlung des  Vereins  deutscher  Chemiker  in 
Bonn  einem  Vortrag,  dem  folgendes  entnommen 
ist:  (Angew.  Chem.  27.  46.): 

In  der  alchemistischen  Vorgeschichte  unserer 
Wissenschaft  finden  sich  in  den  Schriften  des  i  S-Jahr- 
hunderts  Zeichen  für  die  7  damals  bekannten 
Melalle,  die  auch  die  Astrologen  für  die  7  damals 
bekannten  Himmelskörper  gebrauchten  (Sonne, 
Mond,  Merkur,  Venus,  Mars,  Jupiter  und  Saturn). 
Dies  sind  noch  keine  graphischen  Formeln,  son- 
dern lediglich  eine  nur  dem  Eingeweihten  ver- 
ständliche stenographische  Abkürzung.  Die  ersten 
graphischen  Formeln  führte  Dal  ton  1803  auf 
Grund  seiner  Atomtheorie  in  die  Chemie  ein.  Er 
dachte  sich  die  Atome  der  Elemente  kugelförmig 
und  schrieb  sie  demgemäß  als  projizierte  Kugeln, 
als  Kreise.  Die  verschiedenen  Elemente  unter- 
schied er  durch  in  den  Kreisen  angebrachte 
Punkte  und  Linien,  während  er  bei  den  Metallen 
den  Anfangsbuchstaben  des  Elementnamens  in 
den  Kreis  setzte.  Verbindungen  verschiedener 
Elemente  stellte  er  durch  die  einander  berühren- 
den Kreise  der  sie  zusammensetzenden  Atome 
dar.  Diese  Bezeichnung  der  Kreise  mit  den  An- 
fangsbuchstaben der  Elemente  dehnte  Berzellus 
auf  alle  Elemente  aus;  schließlich  ließ  er  die 
Kreise  weg,  und  so  entstanden  unsere  chemischen 
Zeichen  für  die  Elemente,  die  also  aus  Dalton's 
graphischen  chemischen  Formeln  hervorgegangen 
sind. 

Damit  verschwanden  die  graphischen  Formeln 
aus  der  Chemie,  bis  im  Jahre  1S59  August 
Kekule  Dalton's  Atomtheorie  zur  Valenztheorie 
erweiterte  und  dabei  auf  sie  zurückkam.  Kekule 
zeichnete  nun  für  zwei-,  drei-  und  vierwertige 
Elemente  die  graphischen  Zeichen  zwei  bis  vier- 
mal so  groß  als  für  das  Einheitselement,  den 
Wasserstoff;  in  diese  Zeichnungen  schrieb  er 
dann  das  chemische  Zeichen  für  das  betreffende 
Element.  Von  der  Einführung  dieser  graphischen 
Formeln  sagte  schon  der  Schwede  Christian 
Wilhelm  Bio  m  Strand  (sonst  ein  Gegner  Ke- 
kule s ) : 

„Schon  durch  Einführung  dieser  graphischen 
Formelsprache  in  ihrer  neuen,  erweiterten  Form 
hat  Kekule  ohne  Frage  genug  geleistet,  um 
seine  wissenschaftliche  Ehre  bleibend  zu  begrün- 
den." 

Kekule  vereinfachte  seine  Formeln  noch, 
(1865)  und  diese  vereinfachten  Formeln  wurden 
dann  noch  von  Naqu  et  und  Bio  mst  rand  ein- 
facher gestaltet. 

1861  führte  Crum  Brown  in  seiner  damals 
nicht  veröffentlichten  Dissertation  und  1864  in 
einer  Abhandlung  über  Isomerie  für  die  graphische 
Darstellung  der  Elemente  gleichgroße  Kreise  ein, 
in  deren  Zentrum,  wie  bei  Dal  ton,  das  Zeichen 


der  Elemente  eingeschrieben  wurde.  Von  der 
I^eripherie  dieser  Kreise  gingen  so  viel  Striche 
aus,  als  der  Valenz  des  Elementes  entspricht. 
Aus  diesen  graphischen  Formeln  entstanden 
durch  Weglassung  der  Kreise  unsere  Struktur- 
formeln. Strukturformeln  dieser  Art  wandte  zu- 
erst  1858   Archibald  Scott  Couper  an. 

Auf  einer  anderen  Grundidee  beruhen  Lo  li- 
sch midt's  graphische  Formeln,  die  in  einer 
höchst  seltenen,  1861  von  Lohschmidt  her- 
ausgegebenen Schrift  „Chemische  Studien"  ent- 
halten sind,  welche  erst  neuerdings  wieder  auf- 
gefunden worden  ist.  Er  stellte  sich  vor,  die 
Atome  der  Elemente  seien  von  Anziehungssphären 
umhüllt,  die  projiziert  sich  bei  einfacher  Bindung 
berühren,  bei  mehrfacher  Bindung  aber  schneiden. 
In  letzterem  Falle  stellte  Lohschmidt  als  erster 
zur  Kennzeichnung  der  doppelten  oder  dreifachen 
Bindung  zwei  oder  drei  Striche  in  den  Aus- 
schnitt. 

Kekule  verwendet  seine  vereinfachten  gra- 
phischen Formeln  zuerst  in  seiner  berühmten 
Abhandlung  über  die  Theorie  der  aromalischen 
Substanzen.  (Bulletin  de  la  soicete  chimique  de 
Paris  27.  I.  1865,  ein  Jahr  später  erweitert  in 
Liebig's  Annalen  2.  1866.)  c  Mittlerweile  hatte  er 
seine  Gedanken  über  graphische  Darstellung  des 
Benzolkernes  weiterentwicklt,  für  den  er  jetzt  ein 
Sechseck  zeichnet  mit  Hinweglassung  der  Kohlen- 
stoffatome. 

Wenn  auch  diese  Strukturformeln  über  Neben- 
bindungen, die  Reaktionen  beeinflussen,  Bindungs- 
lockerung usw.  nichts  aussagen,  so  veranschau- 
lichen sie  uns  dennoch  den  Bau  der  Moleküle 
auch  unserer  am  verwickeisten  zusammengesetzten 
Kohlenstoffverbindungen  und  sind  uns  hierfür 
gerade  unentbehrlich.  Otto  Bürger. 

Über  das  Scandium.  —  Das  Scandium,  ein 
im  Jahre  1879  von  Nilson  aufgefundenes,  zur 
Gruppe  der  seltenen  Erden  gehöriges  Element, 
wurde  bis  in  die  neueste  Zeit  als  außerordentlich 
selten  angesehen.  Nilson  selber  hatte  aus  10  kg 
Euxenit  nur  2  g  Scandiumoxyd  Sc.^O.,  gewonnen, 
und  Cleve,  der  sich  wenig  später  mit  dem  neuen 
Element  beschäftigte,  hatte  aus  4  kg  Gadolinit 
0,8  g  und  aus  3  kg  Yttrotitanit  1,2  g  Sc^Og  iso- 
liert. Die  aus  diesem  Mangel  an  Material  sich 
ergebende  Unmöglichkeit,  tiefer  in  die  reine  und 
die  physikaliche  Chemie  des  Elementes  einzu- 
dringen, wurde  besonders  lebhaft  empfunden,  weil 
das  Scandium  von  allen  seltenen  Erden  die  mit 
dem  niedrigsten  Atomgewicht  ist  und  —  wohl 
aus  diesem  Grunde  —  in  seinem  Verhalten  ihnen 
gegenüber  eine  Ausnahmestellung  einnimmt.  So 
mußte  sich  denn  R.J.Meyer,  der  in  seiner  ausge- 
zeichneten Monographie  über  die  seltenen  Erden 
(Ab  egg 's  Handbuch  der  anorganischen  Chemie, 
Bd.  III,  Abteilung  i)  auch  die  bis  zum  Jahre  1906 
erhaltenen    Ergebnisse    in    der    Erforschung    des 


N.  F.  XIII.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


733 


Scandiums  zusammengefaßt  hat,  mit  dem  Hinweis 
begnügen,  daß  „eine  gründliche  Neuuntersiichung 
dieses  Elements,  die  leider  durch  die  große 
Schwierigkeit  ausreichender  Mengen  reinen  Ma- 
terials erschwert  wird,  von  großem  Interesse" 
wäre,  ein  Hinweis,  der —  ebenfalls  in  Abegg's 
Handbuch  —  von  Brauner  durch  die  Bemerkung 
„Das  Scandium  würde  einen  ungemein  dankbaren 
Gegenstand  für  moderne  physikalisch- chemische 
Untersuchungen  vorstellen"  noch  unterstrichen  wird. 
Rascher,  als  zu  erwarten  war,  hat  sich  der 
Wunsch  nach  einer  gründlichen  Neuuntersuchung 
des  Scandiums  erfüllt.  Im  Jahre  igo8  wurde 
durch  die  ausgedehnten  spektrographischen  Ar- 
beiten von  G.  Eberhard  (Sitzungsber.  d.  Preuß. 
Akad.  d.  Wissensch.  Jahrg.  1908,  S.  851  und  Jahrg. 
1910,  S.  404),  die  sich  auf  S25  Proben  von  Mine- 
ralien und  Gesteinen  verschiedenster  Herkunft 
erstreckten,  festgestellt,  daß  das  Scandium  in  fast 
allen  Gesteinen,  aus  denen  die  Erdkruste  zusammen- 
gesetzt ist,  wenn  auch  immer  nur  als  akzesso- 
rischer Bestandteil  vorhanden  ist  und  aus  manchen 
von  ihnen  auch  verhältnismäßig  leicht  in  größeren 
Mengen  gewonnen  werden  kann.  Ein  eigent- 
liches Scandiumerz  ist  bisher  nicht  bekannt. 

Zwischen  der  mineralogischen  und  geologischen 
Art  der  Mineralien  und  Gesteine  und  ihrem  Scan- 
diumgehalt  haben  sich  bisher  nur  wenige  Be- 
ziehungen auffinden  lernen.  Nur  soviel  läßt  sich 
sagen,  daß  die  Mehrzahl  der  Mineralien,  die  Scan- 
dium in  relativ  erheblichen  Mengen  führen,  peg- 
matitischen  Ursprungs  sind  und  —  nach  einer 
systematischen  Untersuchung  von  Eberhard  in 
dem  durch  den  Jahrhunderte  alten  Bergbau  weit- 
gehend aufgeschlossenen  Granit  des  Erzgebirges 
—  die  pneumatolytisch  veränderten  Gesteine  das 
Scandium  angereichert  erhalten.  Es  ist  also  an- 
zunehmen, daß  das  Scandium  erst  nachträglich 
in  die  Gesteine  eingewandert  ist,  eine  Annahme, 
die  durch  die  Tatsache  gestützt  wird,  daß  der 
Scandiumgehalt  der  Gesteine  vielfach  ihrem 
Lithiumgehalt  parallel  geht.  In  welcher  Form 
das  Scandium  eingewandert  ist,  ist  nicht  mit 
Sicherheit  bekannt,  nach  R.  J.  Meyer  dürfte  es 
in  Form  des  verhältnismäßig  leicht  flüchtigen 
Chlorids  geschehen  sein.  Mit  den  anderen  seltenen 
Erden  ist  das  Scandium  häufig,  aber  keineswegs 
immer  vergesellschaftet,  ein  Hinweis  auf  die  bereits 
erwähnte  Ausnahmestellung,  die  das  Scandium 
unter  den  seltenen  Erden  einnimmt. 

Als  Ausgangsmaterial  für  die  Darstellung  der 
Scandiumerde  ScjO.,  kommt  zurzeit  nur  der 
Wolframit  des  einen  der  beiden  großen  Granit- 
eruptionsgebiete im  Erzgebirge,  der  von  Zinn- 
wald-Altenburg und  von  der  Kupfergrube  Sadis- 
dorf  bei  Schmiedeberg  in  Frage.  Hingegen  sind 
--  diese  Tatsache  ist  bemerkenswert  —  die  Gra- 
nite und  Erze  des  zweiten  der  beiden  Haupt- 
eruptionsgebiete, die  von  Neudeck  und  Eibenstock, 
nicht  reicher  an  Scandium  als  die  große  Reihe 
jener  anderen  wenig  Scandium  führenden  Gesteine 
und  Mineralien,     Die  Wolfsramite   von    Zinnwald 


und  Sadisdorf  enthalten  neben  3  bis  4  "/(,  Thorium 
etwa  0,25  "/(,  seltene  Erden,  und  von  diesen  sind 
etwa  0,15"/,,,  also  etwaöo"/,,  der  Gesamtmengen 
der  seltenen  Erden,  Scandiumoxyd.  Bei  der 
technischen  Verarbeitung  des  Wolframits,  die 
durch  Aufschluß  mit  Soda  und  Auslaugen  des  ge- 
bildeten Natriumwolframats  mit  Wasser  geschieht, 
bleiben  die  seltenen  Erden  bei  dem  unlöslichen 
Eisen-  und  Manganoxyd  zurück,  und  es  empfiehlt 
sich  daher,  anstelle  des  ursprünglichen  Erzes 
diese  —  käuflichen  —  Rückstände  als  eigentliches 
Ausgangsmaterial  zu  benutzen.  Aus  1000  kg 
der  O.xyde  erhält  man  bis  zu  3  kg  Scandium- 
oxyd. 

Die  Isolierung  des  Scandiums  geschieht  in  fol- 
gender Weise:  Die  das  Scandium  enthaltenden 
Eisen-Mangan-Oxyde  werden  in  Salzsäure  gelöst; 
zu  der  Lösung  wird  das  Natriumsilikofluorid  NaoSiF,; 
gegeben.  Dabei  fallen,  -  von  den  Einzelheiten 
sei  hier  abgesehen  —  die  E'luoride  vom  Scandium 
und  vom  Thorium  gemeinschaftlich  aus,  und  die 
weitere,  schwierige  Aufgabe  besteht  nun  darin, 
nach  der  Reinigung  des  Gemisches  von  Scan- 
dium und  Thorium,  bei  der  es  vor  allen  Dingen 
auf  die  Entfernung  der  letzten  Sj^uren  der  anderen 
seltenen  Erden  ankommt,  diese  beiden  Elemente 
quantitativ  zu  trennen.  Zur  Lösung  dieser  Aufgabe 
stehen  fünf  Verfahren  zur  Verfügung,  von  denen 
das  erste  allerdings  kaum  eine  praktische  Bedeutung 
besitzt. 

1.  Da  das  Thoriumchlorid  etwas  leichter 
flüchtig  ist  als  das  Scandiumchlorid,  kann  man 
aus  einem  Gemisch  von  Thorium-  und  Scandium- 
oxyd das  Thoriumoxj'd  mittels  eines  mit  Schwefel- 
chlorür  beladenen  Chlorstromes  in  das  Chlorid 
verwandeln  und  absublimieren.  Das  Scandium- 
chlorid bleibt  zurück. 

2.  Kocht  man  eine  thoriumhaltige  Scandium- 
lösung  mit  überschüssiger  Soda,  so  scheidet  sich 
das  schwerlösliche  krystallisierte  Komplexsalz 
Sc.,Nag(COg  )-.6H.,0  ab,  während  das  Thorium  als 
Natriumthoriumkarbonat  gelöst  bleibt. 

3.  Wie  die  anderen  Yttererden  wird  auch  das 
Scandium  aus  weinsaurer  Lösung  mit  Ammoniak 
als  schwerlösliches  komplexes  Tartrat  gefällt, 
während  der  entsprechende  Thoriumkomplex  leicht 
löslich  ist. 

4.  Im  Gegensatz  zum  Scandium  wird  das 
Thorium  aus  stark  salpetersaurer  Lösung  durch 
jodsaures  Kalium  als  Jodat  gefällt. 

5.  Wird  die  neutrale  Lösung  der  Chloride  von 
Scandium  und  Thorium  mit  einem  Überschuß  von 
Ammoniumfluorid  behandelt,  so  fällt  Thorium- 
fluorid  aus,  während  sich  das  in  Wasser  ebenfalls 
schwer  lösliche  Scandiumfluorid  im  Überschuß 
des  Fällungsmittels  wieder  löst. 

E"ür  die  Reindarstellung  größerer  Mengen  von 
Scandiumoxyd  eignen  sich  vor  allen  Dingen  das 
zweite  und  dritte  Verfahren,  während  die  beiden 
anderen  Verfahren  hauptsächlich  für  die  Entfernung 
der  letzten  Spuren  von  Thorium  aus  dem  Scan- 
dium von  Wert  sind. 


734 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  46 


Das  Scaiidium  wird  gewöhnlich  zu  den  seltenen 
Erden  und  zwar  insbesondere  zu  den  ^'ttererden 
gerechnet,  indessen  unterscheidet  es  sich  doch 
in  einer  so  großen  Reihe  von  wesentlichen 
Punkten  von  ihnen,  daß  die  Ansicht  einiger  Au- 
toren, das  Scandium  sei  überhaupt  kein  eigent- 
liches Erdmetall,  es  sei  vielmehr  neben  das  ihm 
in  der  Tat  in  vielfacher  Hinsicht  nahe  verwandte 
Beryllium  zu  stellen,  verständlich  erscheint.  Die 
Merkmale,  die  das  Scandium  von  den  Erden 
trennen,  liegen  in  seinem  erheblich  stärker  aus- 
geprägten negativen  Charakter.  So  haben  die 
Scandiumsalze  eine  viel  stärkere  Tendenz  einer- 
seits zu  hydrolytischer  Spaltung,  andererseits  zur 
Bildung  von  Komi)lcxverbindungen  als  die  anderen 
Erden.  Von  Aluminium  unterscheidet  sich  das 
Scandium  dadurch,  daß  sein  Hydroxyd  gleich  den 
Hydroxyden  der  anderen  seltenen  Erden  in 
über  schüssiger  Kali-  oder  Natronlauge  nicht 
löslich  ist.  Von  wichtigeren  Komplexbildungen 
des  Scandiums  ist  vor  allen  Dingen  das  stark 
komplexe  Ammoniumscandiumfluorid  (NHJjScF^ 
zu  nennen,  das  auch  in  der  Siedehitze  durch  Am- 
moniak nicht  zersetzt  wird;  es  entspricht  dies  Salz 
zwei  bekannten  Salzen  der  Aluminiumfluorwasser- 
stoti'säure,  nämlich  dem  bekannten  Mineral  Kryolith 
NagAlFß  und  dem  für  den  Analytiker  wichtigen 
Ammoniumsalz  (NHj)^ A1I\. 


Stimmung  des  etwa  bei  44  liegenden  Atomge- 
gewichtes und  zweitens  die  Darstellung  des  freien 
Elementes,  selbst  zu  nennen.  Versuche,  auch  diese 
beiden  Aufgaben  noch  zu  lösen,  sind  in  Angriff 
genommen.  Mg. 

Anthropologie.  Tasmaniermischlinge.  Die 
Eingeborenen  der  Insel  Tasmanien,  die  dem  austra- 
lischen Kontinent  im  Südosten  vorgelagert  ist, 
sind  einige  Jahrzehnte  nach  dem  Beginne  der 
britischen  Besiedelung  der  Insel  ausgestorben. 
Der  letzte  reinrassige  Mann  soll  1865  und  die 
letzte  reinrassige  Frau  soll  1877  gestorben  sein. 
Mischlinge  von  Tasmaniern  und  Europäern  haben 
sich  jedoch  auf  Tasmanien  selbst,  sowie  auf  den 
Inseln  der  Bass-Straße  (zwischen  dem  australischen 
Kontinent  und  Tasmanien)  erhalten.  Ihre  Zahl 
beträgt  einige  Hundert.  Sie  haben  die  europäische 
Kultur  angenommen  und  leben  unter  der  übrigen 
Bevölkerung.  Da  das  tasmanische  Element  im 
Vergleich  mit  dem  europäischen  nur  ganz  schwach 
vertreten  ist,  so  darf  man  erwarten,  daß  Körper- 
merkmale, die  an  die  Tasmanierrasse  erinnern, 
immer  seltener  werden.  Wie  bei  anderen  Bastar- 
den, so  fällt  auch  in  dem  Falle  auf,  daß  manche 
Mischlinge  sehr  den  Europäern  und  andere  wieder 
den  Tasmaniern  ähnlich  sehen.  Dabei  kommt  es 
nicht    allein    auf  den  Grad  der  Blutmischung  an; 


f'g-  I- 

Europäer  -  Tasmanicrraischling. 


Fig.    2. 
Europäer -Tasmanicr-  Australiermischling 


Fig.  3.     Europäer -Tasmanier- 
Australiermischling. 


Der  vorstehende  Bericht  ist  in  enger  An- 
lehnung an  eine  zusammenfassende,  aber  auch 
viel  Neues  bringende,  an  Einzelheiten  reiche  Ab- 
handlung von  R.J.Meyer  (Zeitschr.  f.  anorg.  Chemie 
Bd.  86,  S.  257  —  290,  1914),  dessen  in  den 
letzten  Jahren  durchgeführten,  gründlichen  Unter- 
suchungen helles  Licht  in  die  bislang  so  dunkle 
Scandiumchemie  gebracht  haben,  niedergeschrieben. 
Als  wichtige  Aufgaben,  die  für  die  Chemie  des 
Scandiums  noch  zu  lösen  sind,  sind  nach  Meyer 
—  darauf  sei  zum  Schluß  noch  hingewiesen  — 
vor   allen    Dingen    zwei,    erstens    die    genaue  Be- 


es  kann  sogar  vorkommen,  daß  Geschwister 
einen  verschiedenen  Rassentypus  aufweisen.  So 
berichtet  z.  B.  L.  W.  G.  Büchner  in  der  Zeit- 
schrift für  Ethnologie  ')  über  die  Mischlingsfamilie 
Thomas  von  der  Kap  Barren-Insel  in  der  Bass- 
Straße.  Die  Familie  ging  aus  der  Ehe  eines  See- 
mannes aus  Cardiff  (Wales)  und  einer  Vollblut- 
tasmanierin  hervor;  die  Stammeltcrn  hatten  fünf 
Kinder,  von  welchen  noch  der  Halbblut-Tasmanier 
Phil.  Thomas  überlebt,    dessen  Züge  deutlich  die 


•)  Zeitschr.  f.  Ethnologie,  45.  Jahrg.,  S.  932—934- 


N.  F.  XIII.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


'35 


mütterliche  Stammrasse  verraten  (siehe  Abb.  1). 
Phil.  Thomas  ist  1833  geboren.  Büchner  sagt, 
daß  dieser  Mischling  in  bezug  auf  geistige  Be- 
fähigung die  übrigen  Insulaner  weit  überragt.  Kr 
war  zweimal  verheiratet.  Seine  zweite  Frau  war 
eine  Halbblut-Australierin  (Australnegerin)  und  mit 
dieser  hatte  er  neun  Kinder.  Einer  der  Nach- 
kommen ist  John  Thomas  {40  Jahre),  der  wieder 
eine  Tasmaniermischlingsfrau  heiratet,  die  drei 
Viertel  europäisches  und  ein  Viertel  tasmanisches 
Blut  hat.  Der  Khe  waren  zur  Zeit  der  Beobach- 
tung Büchner' s  drei  Kinder  entsprossen,  wovon 
das  älteste,  ein  10 jähriges  Mädchen,  ganz  euro- 
päisch aussieht  (Abb.  2),  während  ihr  /jähriger 
iSruder  dem  Eingeborenen-Typus  näher  kommt 
(Abb.  3).  Das  dritte  Kind,  ein  Mädchen,  nimmt 
eine  Mittelstellung  zwischen  den  beiden  ein. 

Mischlinge  wie  dieses   lojährige  Mädchen  wer- 


den, sobald  sie  mit  einer  reinblütigen  europäischen 
Person  verheiratet  oder  selbständig  geworden  $ind, 
bei  den  Volkszählungen  wahrscheinlich  als  Euro- 
päer eingetragen,  da  der  Zählbeamte  nicht  durch 
die  Anwesenheit  tasmanierähnlicher  Eltern  oder 
Geschwister  auf  den  Gedanken  gebracht  wird,  daß 
er  einen  Mischling  vor  sich  hat;  die  Mischlinge 
ihrerseits  aber  verschweigen  nur  zu  gern  ihre  Ab- 
stammung von  Farbigen.  Auf  diese  Weise  kommt 
es,  daß  die  Zahl  der  amtlich  festgestellten  Misch- 
linge unter  der  tatsächlichen  Zahl  zurückbleibt. 

Von  großem  Interesse  wäre  es  gewesen,  über 
die  Kinderzahl  der  Geschwister  von  Phil. 
Thomas  und  John  Thomas  etwas  zu  erfahren,  so 
daß  sich  die  PVuchtbarkeit  der  Mischehen  ermessen 
ließe.  Bedauerlicherweise  macht  aber  Büchner 
hierüber  keine  Angaben. 

H.  P'ehlinger. 


Kleinere  Mitteilungen. 


desselben.  Auch  muß  man  darauf  achten,  daß  sich  auf 
der  Spiegelglasscheibe  keine  Reflexe  bilden.  Da 
ferner  der  Hintergrund  hierbei  genügend  unscharf 
wird,  so  ist  es  auch  weit  leichter  passendes  Ma- 
terial hierfür  und  in  der  geeigneten  Farbe  zu  fin- 
den. Max  Frank,  (M.  A.  S.). 

Ein  neues  Verfahren  zur  Unschädlichmachung 
und  Wiedergewinnung  von  Abfallauge  haben  die 
Lochnerwerke  G.  m.  b.  H.  in  Gera-R.  erfunden.  Die 
Bestrebungen  der  Behörden  zielen  seit  einigen 
Jahren  darauf  hin,  die  P'abrikwässer  nicht  mehr 
aufwiesen  oder  in  die  Gewässer  abzulassen,  son- 
dern sie  sofort  zu  vernichten,  um  auf  diesem 
Wege  die  ungeheure  Schädigung  zu  beseitigen, 
die  durch  die  Verunreinigung  der  Gewässer  an 
Flora  und  Fauna  (Fischerei  z.  B.)  entsteht.  In 
der  Tat  haben  die  Verfügungen  der  Behörden  den 
meisten  Fabriken  die  Frage  der  Abwässerbeseiti- 
gung zur  Existenzfrage  gemacht,  so  daß  sie  heute 
zu  der  Vernichtung  ihrer  Ablaugen  übergehen 
müssen.  Bisher  wurde  nun  ein  Verfahren  ange- 
wandt, welches  durch  Einbringen  der  Lauge  in 
entsprechende  <  )fen  lediglich  ein  Verdampfen  und 
Unschädlichmachen  bezweckte,  ohne  daß  eine 
weitere  Verwendung  der  Reste  in  Aussicht  ge- 
nommen wurde.  Dieses  Verfahren  ist  natürlich 
wenig  zweckentsprechend,  weil  es  verhältnißmäßig 
hohe  Betriebskosten  erfordert,  denen  kein  Äqui- 
valent in  Form  einer  Wiederverwertung  dieser 
Stoffe  gegenübersteht.  Um  letzterem  Übelstande 
die  Objekte  unmittelbar  auf  den  als  Hintergrund  abzuhelfen,  verbrennen  die  Lochnerwerke  die  Ab- 
dienenden Untergrund  zu  legen,  oder  sie  an  den  laugen  in  einem  speziell  gebauten  Ofen,  wodurch 
Hindergrund  zu  befestigen,  legt  man  sie  auf  eine  rein  die  Lauge  in  ihren  UrstofF  zurückgebracht  werden 
geputzte  Spiegclglasscheibe  oder  befestigt  sie  daran,  soll.  Durch  Zusatz  geeigneter  Chemikalien  kann 
In  einiger  Entfernung  darunter  oder  dahinter  bringt  dieser  Prozeß  erleichtert  und  beschleunigt  werden, 
man  dann   den   als  eigentlichen  Hintergrund    wir-  In    einem  Versuchsofen    der    genannten  Firma 

kenden  Stoff,  Karton  oder  dergleichen,  an  und  wurde  die  Lauge  einer  Fabrik  benutzt,  welche 
richtet  die  Beleuchtung  so  ein,  daß  die  Schag-  Ätznatron  verarbeitet,  und  zwar  ist  die  Lauge 
schatten  nicht  auf  diesen  fallen,  sondern  außerhalb      verunreinigt  mit  Natriumkarbonat  und  organischen 


Aufnahmen  von  kleinen  Naturobjekten,  Schmet- 
terlingen, Käfern,  Muscheln,  Mineralien  und  der- 
gleichen. Solche  Gegenstände  lassen  sich  meist 
schlecht  an  einer  senkrechten  Fläche  anbringen, 
um  sie  in  der  gewohnten  Weise  photographieren 
zu  können.  Alan  legt  sie  daher  auf  eine  pas- 
sende Unterlage  und  macht  dann  die  Aufnahme 
von  oben  herab,  wobei  die  Unterlage  als  Hinter- 
grund dient.  Es  gibt  besonders  Stativköpfe,  die 
einesenkrechteRichtung  des  Apparates  ermöglichen, 
sonst  kann  man  sich  auch  in  der  Weise  helfen,  daß 
man  die  Stativbeine  (eines  Holzstatives)  an  ein 
größeres  Brett  schraubt ,  das  in  der  Mitte  eine 
runde  Öffnung  hat.  Durch  dieses  läßt  man  dann 
das  Objektiv  des  darauf  gelegten  Apparates  ragen. 
Man  kann  sich  aber  auch  damit  behelfen,  daß 
man  das  Brett  auf  die  Beine  eines  umgestellten, 
genügend  hohen  Schemels  stellt  und  das  Objekt 
nötigenfalls  unterlegt,  um  die  richtige  Entfernung 
der  Linse  zu  erhalten.  Leichtere  Objekte  können 
aber  auch  mit  einem  ganz  feinen  Neusilberdraht 
aufgehangen  oder  mit  Wachs  an  einer  senkrechten 
Hintergrundfläche  befestigt  werden.  Oft  ist  es 
sehr  erwünscht,  daß  die  Schlagschatten  unsichtbar 
bleiben,  weil  diese  einem  klaren  Erkennen  der 
genauen  Umrisse,  besonders  wenn  an  der  Photo- 
graphie Abmessungen  vorgenommen  werden  sollen, 
sehr  im  Wege  sind.  Es  gibt  nun  ein  sehr  prak- 
tisches Mittel,  die  Schlagschatten  zu  vermeiden, 
das  sich  sowohl  bei  der  horizontalen  wie  bei  der 
vertikalen  Photographie    anwenden  läßt.     Anstatt 


736 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  46 


Substanzen.  Anstatt  nun  die  Lauge  durch  Ein- 
dampfen oder  Ableiten  zu  verlieren,  wird  sie  in 
dem  Ofen  einem  Verbrennungsprozeß  unterzogen, 
wobei  sich  die  organischen  Substanzen  entzünden, 
durch  ihre  Verbrennung  das  Verdunsten  des 
Laugenwassers  begünstigen  und  so  die  Kosten 
verringern.  —  Als  l'rodukt  des  Vorgangs  erhält 
man  einen  festen  Stoff,  der  wieder  zur  Laugen- 
bereitung verwendet  werden  kann,  da  er  die  ent- 
sprechenden Prozente  an  Natriumhydroxyd  ent- 
hält. Auch  kann  man  das  Produkt  nach  Wunsch 
und  Bedarf  den  verschiedenen  P'ächern  des  Ofens 
in  verschiedener  Oualität  entnehmen. 


Der  Ofen  läßt  sich  auch  noch  zu  anderen 
Zwecken  verwenden.  So  wurde  in  einem  See 
natürlich  vorkommendes  schwefelsaures  Natron 
(SOjNa^  •  loHoO)  in  die  wasserfreie  I-'orm  über- 
geführt. 

Da  sich  dieses  Verfahren  auf  sehr  billigem 
Wege  durchführen  läßt,  und  täglich  eine  beträcht- 
liche Menge  Abfallauge  auf  den  gewünschten 
Reinheitsgrad  gebracht  werden  kann,  so  dürfte 
die  erwähnte  Ofenkonstruktion  in  weiten  Kreisen 
der  chemischen  Industrie  (Färbereien,  Bleichereien, 
Zellulosefabriken  usw.)  Anklang  finden. 

Otto  Bürger. 


Grünvogel.    Edwin,     Geologische    Unter- 
suchungen   auf   der    Hohenzollernalb. 
Inauguraldissertation  Tübingen.  Ellwangen-Jagst. 
Buchdruckerei    „Ipf-    und    Jagst-Zeitung"    1914. 
78  S.  I  Tafel  mit  10  Profilen,  i  Tafel  Nachweise 
und  eine  geologisciie  Karte. 
Vorliegende  Arbeit    behandelt    die  landschaft- 
lich so  reizende  westliche  Hohenzollernalb,  die  am 
nordwestlichen    .Steilrand    der   Schwäbischen  Alb, 
südlich  von    dem  mit    dem   stolzen  Stammschloß 
des    Hohenzollernhauses    gekrönten    Hohenzollern 
gelegen    ist.      Die    tief    in    die    Albtafeln    einge- 
schnittenen   3    l'lußsysteme    der    Eyach,    Starzel 
und  Schmiecha  bedingen    eine   reiche  Gliederung 
des  Gebietes.     Wie  bei   allen  Albflüssen,  so  zeigt 
sich    auch    hier    die    Überlegenheit    des   jüngeren 
Neckarsystems    (Eyach,    Starzel)    gegenüber    dem 
älteren    Donaus\-stem     (Schmiecha),     das    immer 
weiter  nach  SO  zurückgedrängt  wird. 

Am  Aufbau  des  Gebies  beteiligen  sich  Schichten 
des  oberen  Braunen  Jura  und  des  ganzen  Weißen 
Jura.  Verfasser  schließt  sich  bei  Besprechung 
des  Weißen  Jura  der  landesüblichen  Einteilung 
nach  Quenstedt  und  Engel  an,  folgt  indessen 
neueren  Untersuchungen  von  Haizmann  und 
Schmierer  in  der  Auffassung  der  Stufen  (5  u.  f, 
die  zusammen  zur  Zone  des  Ammonites  pseudo- 
mutabilis  vereinigt  werden. 

Die  sonst  in  der  Albtafel  herrschenden  ein- 
fachen Lagerungsverhältnisse  mit  einem  schwachen 
Einfallen  nach  SO  werden  durch  einen  i'/.,  km 
breiten  und  über  8  km  langen  von  NW  nach  SO 
verlaufenden  Grabenbruch  von  im  Maximum  135  m 
Sprunghöhe  unterbrochen.  In  der  weiteren  Fort- 
setzung der  Grabenbruchverwerfungen  nach  NW 
liegt  der  isolierte  Bergkegel  (Vorberg)  des  Hohen- 
zollern, welcher  durch  eine  Ouerverwerfung  zwischen 
Zollern  und  Zellerhorn  seine  eigenartige  Form 
erhalten  hat.  V^on  besonderer  Bedeutung  ist  der 
Einfluß  der  Tektonik  auf  die  Gestaltung  der  Land- 
schaft wie  auch  auf  die  hydrologischen  Verhältnisse. 


Büclierbesprechungen. 

Erwähnt  sei  noch,  daß  in  unser  Gebiet  die  stärk- 
sten Erschütterungen  und  Verheerungen  des  süd- 
deutschen Erdbebens  vom  16.  November  191 1 
fallen. 

Die  reich  illustrierte  Arbeit  trägt  wesentlich 
bei  zum  Verständnis  des  geologischen  und  mor- 
phologischen Baues  der  dortigen  Gegend. 

V.  Hohenstein. 


Dr.  Albert  Moll  (Herausgeber) :  Handbuch  der 
Sexualwissenschaften.  XXIV  und  1029  Seiten, 
mit  418  Abbildungen  und  11  Tafeln.  Leipzig, 
Vogel.  —  Preis  20  Mk. 
Das  vorliegende  umfangreiche  Handbuch  be- 
steht aus  einer  Reihe  von  Beiträgen  verschiedener 
Autoren,  deren  jeder  über  einen  oder  mehrere  Gegen- 
stände schreibt,  mit  denen  er  besonders  ver- 
traut ist.  Im  I.  .Abschnitt,  der  170  Seiten  um- 
faßt, behandelt  Richard  Weißenberg  in  treff- 
licher Weise  Anatomie  und  Physiologie  der  mensch- 
lichen (xcnitalapparate.  Daran  schließt  sich  eine 
weniger  umfangreiche  aber  ebenso  geistvolle  Ab- 
handlung über  die  Psychologie  des  normalen 
Geschlechtstriebs,  die  H.  E 1 1  i  s  beigetragen  hat. 
Dieser  Autor  und  der  Herausgeber  beschreiben 
ausführlich  die  Funktionsstörungen  des  .Sexual- 
lebens (138  Seiten),  Georg  Buschan  hat  über 
das  Sexuelle  in  der  Völkerkunde  einen  Beitrag 
geliefert,  und  der  Herausgeber  beleuciitet  die  so- 
zialen F'ormen  der  sexuellen  Beziehungen  speziell 
bei  den  europäischen  Kulturvölkern.  Auch  der 
Abschnitt  über  Sexuelle  Hygiene  stammt  vom 
Herausgeber  selbst.  Die  Geschlechtskrankheiten 
hat  ein  Aufsatz  von  K.  Z  i  e  1  e  r  zum  Gegenstand. 
Dazu  kommen  noch  einige  andere  Abschnitte, 
die  außerhalb  des  Bereichs  der  Naturwissenschaften 
fallen.  Die  jüngsten  Forschungen  auf  den  ver- 
schiedenen Gebieten  sind  durchweg  berücksichtigt. 
Jedem  Abschnitt  ist  auch  ein  Verzeichnis  der 
wichtigsten  einschlägigen  Literatur  begegeben. 

1 1.  P'ehlincrer. 


Inhsits  Valentiner:  Probleme  der  Gastheorie.  —  Einzelberichte:  Anschütz;  Über  die  Entwicklung  der  graphischen 
chemischen  Formeln.  R.J.Meyer:  Über  das  Scandium.  Büchner:  Tasmaniermischlinge.  —  Kleinere  Mitteilungen  : 
Frank:  Aufnahmen  von  kleinen  Naturobjekten,  Schmetterlingen,  Käfern,  Muscheln,  Mineralien  u.  dgl.  Bürger:  Ein 
neues  Verfahren  zur  Unschädlichmachung  und  Wiedergewinnung  von  Abfallauge.  —  Bücherbesprechungen:  Grün- 
vogel:   Geologische   Untersuchungen   auf  der  Hohenzollernalb.     Moll:   Handbuch  der  Sexualwissenschaften. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Schriftleiter  Professor  Dr.  H.  Mi  ehe  in  Leipzig,  Marienstraße   IIa,   erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck   der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippcrt   &  Co.   G.  m.  b.  H.,   Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band  ; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band. 


Sonntag,  den  22.  November  1914. 


Nummer  4'?. 


Die  Temperaturverhältnisse  der  Polargebiete. 


[Nachdruck  verboten. 


Von  O.  Baschin. 


I.  Allgemeine  Grundlagen. 

Von  altersher  sind  wir  gewohnt  die  Pole  der 
Erde  und  ihre  Umgebung  als  die  kältesten 
Gegenden  unseres  Planeten  zu  betrachten.  Da- 
gegen herrschte  über  den  Grad  der  Kälte,  den 
man  dort  zu  erwarten  hatte,  bis  vor  zwei  Jahrzehnten 
noch  eine  ziemlich  weitgehende  Unsicherheit,  die 
für  das  Nordpolargebiet  erst  durch  Fridtjof 
Nansen 's  epochemachende  Durchquerung  des 
arktischen  Ozeans  mit  der  „Fram",  für  das  Süd- 
polargebiet durch  die  neuesten  Expeditionen  von 
Shackleton,  Amundsen  und  Scott  ver- 
mindert worden  ist. 

Die  über  alle  Erwartung  niedrigen  Tempera- 
turen in  der  Antarktis,  welche  von  Amundsen 
zuerst  gemeldet  und  in  dieser  Zeitschrift  bereits 
kurz  erwähnt  wurden  '),  haben  nun  die  Aufmerk- 
samkeit weiterer  Kreise  auf  die  Temperaturver- 
hältnisse in  der  Umgebung  der  Pole  gelenkt,  aber 
dem  Fachmann,  der  in  dieser  Frage  häufig  inter- 
pelliert wird,  ist  es  nur  in  seltenen  Fällen  möglich 
eine  völlig  erschöpfende  Antwort  zu  erteilen,  weil 
nicht  immer  eine  genügende  Orientierung  über 
die  Grundlagen  der  Temperaturverteilung  auf 
unserer  Erdoberfläche  vorausgesetzt  werden  darf. 
Es  scheint  mir  daher  nicht  überflüssig  zu  sein 
hier  einen  Überblick  über  dieselben,  soweit  die 
Polargebiete  in  Frage  kommen,  zu  geben. 

Außer  der  im  Laufe  eines  Tages  sich  voll- 
ziehenden Drehung  der  Erde  um  ihre  Achse 
(Rotation),  vollführt  unser  Planet  noch  eine  zweite 
Bewegung,  die  Revolution  um  die  Sonne,  indem 
er  in  einem  Jahre  eine  elliptische  Bahn  um  den 
im  Brennpunkt  derselben  stehenden  Zentralkörper 
beschreibt. 

Die  halbe  große  Achse  dieser  Ellipse  ist  rund 
152  Millionen  Kilometer  lang,  während  die  halbe 
kleine  Achse  um  etwa  5  Millionen  Kilometer  kürzer 
ist.  Bei  der  Revolution  erscheint  naturgemäß 
die  Sonne,  von  der  Erde  aus  gesehen,  zu  den 
einzelnen  Jahreszeiten  an  verschiedenen  Punkten 
des  Himmelsgewölbes,  die  sich  im  Laufe  des 
Jahres  zu  einem  Kreis  zusammenschließen,  den 
man  den  Tierkreis  nennt,  weil  die  Namen  der 
von  dem  Kreis  geschnittenen  Sternbilder  zumeist 
dem  Tierreich  entnommen  sind.  Die  durch  den 
Tierkreis  gelegte  Ebene,  in  deren  Mitte  die  Sonne 
steht,  und  in  welcher  die  Erde  ihre  Revolution 
um  die  Sonne  ausführt,  erhielt  den  Namen 
Ekliptik,  weil  Sonnen-  und  Mondfinsternisse  nur 
dann    möglich  sind,    wenn    auch    der   Mond    sich 


')  Naturwissenschaftliche    Wochenschrift,    1912,    XXVII. 
Bd.,  S.  450—451. 


in  der  gleichen  Ebene  befindet,  so  daß  ein  ,, Aus- 
bleiben" (r/lenlug)  von  Sonne  oder  Mond  ein- 
treten kann.  Würde  nun  die  Erdachse,  um  welche 
die  Erde  rotiert,  senkrecht  auf  der  Ebene  der 
Ekliptik  stehen,  diese  also  mit  der  Äquatorebene 
zusammenfallen,  so  müßte  die  Sonne  dauernd  in 
der  Ebene  des  Erdäquators,  an  den  Polen  also 
stets  im  Horizont  stehen.  Ein  Wechsel  der  Jahres- 
zeiten in  dem  heutigen  Sinne  wäre  dann  an  keinem 
Punkt  der  Erde  möglich. 

In  Wirklichkeit  aber  bildet  die  Äquatorebene 
mit  der  Ebene  der  Ekliptik  oder,  was  dasselbe 
bedeutet,  die  Erdachse  mit  der  Achse  der  Ekliptik, 
einen  Winkel  von  ungefähr  23  '/.j  ".  Dazu  kommt 
noch ,  daß  die  Erdachse  die  Richtung  dieser 
Neigung  im  Räume  während  der  Revolution  um 
die  Sonne  unverändert  beibehält,  so  daß  im  Juni 
der  Nordpol  der  Erde  der  Sonne  zugekehrt  ist, 
im  Dezember  dagegen  der  Südpol.  Am  besten 
veranschaulicht  man  sich  diese  Vorgänge  an  der 
Hand  schematischer  graphischer  Darstellungen 
unseres  Sonnensystems,  die  heute  in  jedem  besseren 
Schulatlas  zu  finden  sind,  oder  mit  Hilfe  kleiner 
Modelle.  Man  erkennt  dann  leicht,  daß  die 
Sonnenstrahlen  während  der,  jetzt  auf  den  22.  Juni 
fallenden  Sommer-Sonnenwende  (Sommer-Solsti- 
tium),  der  nördlichen  Halbkugel,  d.  h.  dem  Zeit- 
punkt, an  welchem  die  Erdachse  ihren  Nordpol 
gerade  der  Sonne  zukehrt,  nicht  diesen  Punkt 
gerade  noch  tangieren,  wie  es  bei  senkrechter 
Stellung  der  Erdachse  auf  der  Erdbahn  der  Fall 
wäre.  Sie  bescheinen  vielmehr  über  den  Pol 
hinaus  ein  größeres  Gebiet,  und  der  beschattete 
Teil  der  Erde,  die  Nachtseite,  beginnt  von  der 
Sonne  aus  gesehen,  erst  weit  jenseits  des  Nord- 
pols. Es  ist  nun  einleuchtend,  daß  die  Umgebung 
des  Nordpols,  die  am  Sommer-Solstitium  bei  der 
Rotation  der  Erde  um  ihre  Achse  nicht  in  den 
Schatten  eintaucht,  um  so  größer  sein  muß,  je 
größer  die  Neigung  der  Erdachse  gegen  die  Achse 
der  Ekliptik,  die  sog.  Schiefe  der  Ekliptik  ist. 
Der  Halbmesser  des  Gebietes,  das  im  Sommer- 
Solstitium  24  Stunden  hindurch  ununterbrochen 
von  der  Sonne  beschienen  wird,  ist,  in  Bogen- 
graden gemessen,  genau  gleich  der  Schiefe  der 
Ekliptik,  wobei  wir  allerdings  von  der  durch  die 
Lufthülle  der  Erde  verursachten  Krümmung  der 
Sonnenstrahlen  absehen  müssen.  Die  Strahlen- 
brechung (Refraktion)  bewirkt  nämlich,  daß  die 
Sonnenstrahlen  eine  nach  der  Erde  zu  konkave 
Krümmung  annehmen  und  deshalb  die  Erdober- 
fläche auch  da  noch  treffen,  wo  die  Sonne  in 
Wirklichkeit  schon  unter  dem  Horizont  steht. 
Die  Größe  der  Refraktion  wechselt  aber  beträcht- 


738 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  47 


lieh,  je  nach  dem  gerade  herrschenden  Zustand 
der  Atmosphäre,  so  daß  man  bei  diesen  allge- 
meinen Betrachtungen  von  ihr  absehen  und  einen 
gradlinigen  Verlauf  der  Sonnenstrahlen  voraus- 
setzen muß.  Bestimmen  wir  unter  dieser  ver- 
einfachenden Annahme  die  Grenze  der  beim 
Sommer-Solstitium  von  der  Sonne  beschienenen 
Zone  um  den  Nordpol,  so  finden  wir,  daß  sie 
von  einem  Kreise  begrenzt  wird,  der  einen  Radius 
von  ebensoviel  Bogengraden  hat  als  die  Schiefe 
der  Ekliptik  beträgt.  Dieser  Kreis  heißt  der 
Nordpolarkreis  und  die  von  ihm  umschlossene 
Zone  der  Erdoberfläche  die  Nordpolarzone.  Die 
Südpolarzone  ist  die  analoge,  gleichzeitig  im 
Schatten  liegende  Zone  um  den  Südpol,  die  durch 
den  Südpolarkreis  abgegrenzt  wird. 

Nebenbei  sei  noch  bemerkt ,  daß  die  Schiefe 
der  Ekliptik  nicht  konstant  ist,  daß  sie  vielmehr 
eine  kleine  periodische,  in  1 8,6  Jahren  ablaufende 
Schwankung  und  außerdem  eine  säkulare  Ände- 
rung hat,  die  sich  zurzeit  in  einer  Abnahme  äußert. 
Daraus  folgt,  daß  die  Polarkreise  keine  feste  Lage 
auf  der  Erdoberfläche  haben,  sondern  um  Beträge, 
die  in  einem  Monat  mehrereMeter  ausmachen  können, 
sich  den  Polen  nähern.  Die  Polarzonen  verlieren 
also  dementsprechend  an  Flächeninhalt  zugunsten 
der  gemäßigten  Zonen.  Um  nun  den  Unzuträglich- 
keiten zu  entgehen ,  welche  durch  die  Berück- 
sichtigung solcher  fortgesetzten  Änderungen  von 
wechselnder  Größe  hervorgerufen  werden ,  pflegt 
man  bei  geographischen  Betrachtungen  diese 
kleinen ,  praktisch  kaum  ins  Gewicht  fallenden 
Verschiebungen  zu  vernachlässigen  und  nimmt 
als  mittlere  Lage  der  Polarkreise  die  geographische 
Breite  von  66  ^'o "  an ,  was  einer  Schiefe  der 
Ekliptik  von  23  '/.>  "  entspricht.  Der  genaue  Wert 
derselben  für  den  Beginn  des  Jahres  191 5  ist 
23"  27'  8".56  und  für  Anfang  1916  23  "  27'  6".I4. 

Würde  die  Erde  ihren  Umlauf  um  die  Sonne 
in  einer  Kreisbahn  vollenden,  so  wären  Tag  und 
Nacht  in  beiden  Polargebieten  gleich  lang  und 
müßten  an  den  Polen  je  6  Monate  dauern.  Da 
die  Revolution  jedoch  in  einer  elliptischen  Bahn 
erfolgt,  so  wird  die  Geschwindigkeit,  mit  welcher 
die  Erde  diesen  Umlauf  ausführt,  nach  den  all- 
gemeinen Anziehungsgesetzen  um  so  größer,  je 
mehr  sie  sich  der  Sonne  nähert.  Die  Erde  läuft 
also  in  der  Zeit  vom  September  zum  März,  in 
welcher  sie  sich  in  größerer  Nähe  der  Sonne  be- 
findet, schneller  als  in  den  Monaten  März  bis 
September,  in  denen  sie  weiter  von  ihr  entfernt 
ist.  So  erklärt  es  sich ,  daß  der  in  den  ersten 
Zeitraum  fallende  Winter  der  nördlichen  Halb- 
kugel um  mehrere  Tage  kürzer  ist  als  der  in 
der  zweitgenannten  Zeit  herrschende  Winter  der 
südlichen  Halbkugel.  Da  zudem  das  Winter- 
solstitium  der  nördlichen  Halbkugel  nicht  genau 
mit  der  Sonnennähe,  das  Sonnensolstitium  nicht 
genau  mit  der  Sonnenferne  zusammenfällt,  so  er- 
geben sich  die  folgenden  Tages-,  bzw.  Nachtlängen 
in  den  Polargebieten. 


In  n  ö  r  d  1.  B  r.  geht  d.  Sonnenmittelp.  nicht  unter,  nichtauf 

70°  64  Tage          61   Tage 

75"  106      „             97      „ 

So"  134      „           127      „ 

85"  t6i       „            1S3      „ 

90"  186      ,,            179      „ 

In  s  U  d  1.  B  r.  geht  d.  Sonnenmittelp.   nicht  auf,  nichtunter 

Bei  dieser  Tabelle  gilt  die  Überschrift  für  die 
Nordpolarzone,  die  Unterschrift  für  die  Süd- 
polarzone. 

Wir  sehen  also,  daß  die  Nacht  am  Nordpol 
um  7  Tage  kürzer  ist  als  der  Tag,  während  es 
am  Südpol  umgekehrt  ist.  Eine  nicht  unwesent- 
liche Änderung  erleiden  aber  diese  Werte  dadurch, 
daß  die  Größe  der  Sonnenscheibe  eine  Beleuch- 
tung schon  vor  dem  Aufgang  des  Sonnenmittel- 
punktes und  auch  noch  nach  dessen  Untergang 
bewirkt,  so  daß  die  wirklichen  Tageslängen 
sämtlich  zunehmen,  während  die  Dauer  der  Nacht- 
zeiten verkürzt  wird.  Diese  Änderung  ist  aber, 
ebenso  wie  der  Einfluß  der  auf  Seite  ']})']  er- 
wähnten Strahlenbrechung  von  wechselnder  Größe, 
weshalb  die  wirkliche  Dauer  des  Tages  im  land- 
läufigen Sinne  nur  durch  komplizierte  Rechnungen 
ermittelt  werden  kann.  Die  von  H.  Mohn')  für 
den  Nordpol  angestellten  Berechnungen  haben 
nun  zu  folgenden  Ergebnissen  geführt: 

Die  absolute  Dunkelheit  endet  am  i.  Februar, 
wenn  der  Scheitel  des  Dämmerungsbogens  über 
den  Horizont  steigt.  Am  17.  März  taucht  der 
obere  Rand  der  Sonne  über  den  Horizont  und 
bleibt  bis  zum  25.  September  über  demselben. 
Am  9.  November  verschwindet  die  Dämmeriuig 
unter  dem  Horizont  und  die  Dunkelheit  dauert 
bis  zum  I.  Februar.  Die  Beleuchtung  durch  die 
Sonne  währt  also  191  Tage,  wogegen  die  ganze 
Sonnenscheibe  nur  174  Tage  unter  dem  Horizont 
bleibt.  Dazu  kommt  noch  eine  Dämmerungs- 
dauer von  10  Tagen  im  Frühjahr  und  1 1  Tagen 
im  Herbst,  so  daß  es  am  Nordpol  an  212  Tagen 
hell  und  nur  an    153  Tagen  wirklich  diuikel  ist. 

Diese  eigenartigen  Bestrahlungsverhältnisse 
sind  es,  welche  das  Klima  der  Polarregionen  und 
vor  allem  die  Temperatur  derselben  bestimmen 
und  dort  so  extreme  Verhältnisse  schaffen,  wie 
wir  sie  sonst  nirgends  auf  der  Erde  wiederfinden. 

Da  die  Intensität  der  Bestrahlung  durch  die 
Sonne  direkt  von  deren  Höhe  über  dem  Horizont 
abhängt,  indem  sie  dem  Sinus  dieser  Höhe  pro- 
portional ist,  so  läßt  sich  der  Betrag  der  einge- 
strahlten Wärme  für  alle  Punkte  der  Erde  genau 
berechnen,  und  man  pflegt  als  Einheit  der  Messung 
ein  Tausendstel  derjenigen  Strahlenmenge  anzu- 
nehmen, die  eine  Flächeneinheit  des  Äquators 
während  eines  Tages  zur  Zeit  des  Frühlingsanfangs, 
also  bei  Äquatorstellung  der  Sonne,  enthält.  Be- 
rechnet man  nun  unter  Zugrundelegung  der 
Sonnenhöhen  in  den  einzelnen  Jahreszeiten  und 
unter  Berücksichtigung  des  auf  Seite  737  erörterten 
Wechsels  zwischen  Sonnenferne  (Anfang  Juli)  oder 
Sonnennähe  (Anfang  Januar)   die  Strahlungsinten- 

')  Meteorologische  Zeitschrift,  Hann-Band,  1906,  S.  18—22. 


N.  F.  XIII.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


739 


sität,  so  ergibt  sich  die  folgende  jahreszeitliche 
Verteilung  der  relativen  Strahlenmenge  für  die 
gleiche  Flächeneinheit  am  Nordpol,  Äquator  imd 
Südpol. 

21.  März     22.  Juni  23.  September  22.  Dezember 
Nordpol                o            1202                       o  o 

Äquator  1000  881  9S8  942 

Südpol  00  o  1284 

Aus  dieser  Tabelle  geht  die,  auf  den  ersten 
Blick  verblüft'ende  Tatsache  hervor,  daß  keinem 
Punkt  der  Erde  an  irgendeinem  Tage  mehr 
Wärme  zugestrahlt  wird  als  dem  Südpol  am 
22.  Dezember.  Daß  dieser  zur  Zeit  des  südlichen 
Sommersolstitiums  82  Strahlungseinheiten  mehr 
erhält  als  der  Nordpol  während  des  nördlichen 
Sommersolstitiums,  ist  darauf  zurückzuführen,  daß 
die  Erde  sich  am  letzteren  Zeitpunkt  fast  in 
Sonnenferne,  am  ersteren  dagegen  nahezu  in 
Sonnennähe      befindet.  Jedenfalls      läßt      die 

Tabelle  deutlich  erkennen,  daß  auf  jeder  Halb- 
kugel während  des  Sommersolstitiums  dem  Pol 
beträchtlich  mehr  Wärme  von  der  Sonne  zuge- 
straiilt  wird  wie  irgendeinem  anderen  Punkt  der 
Erdoberfläche.  Der  Nordpol  erhält  z.  B.  am 
22.  Juni  36  "/o  mehr  Wärme  als  der  Äquator  zur 
gleichen  Zeit  und  20  %  mehr  als  dem  Äquator 
in  der  günstigsten  Zeit  zuteil  werden  kann. 

Aber  das  Bild  ändert  sich,  sowie  wir  anstatt 
der  Einzelwerte  die  Jahressummen  der  Sonnen- 
strahlung berechnen.  Hierbei  empfiehlt  es  sich 
als  Einheit  die  Wärmemenge  zugrunde  zu  legen, 
welche  im  Jahresdurchschnitt  der  P'lächeneinheit 
am  Äquator  täglich  von  der  Sonne  zugestrahlt 
wird,  den  sog.  Thermaltag.  Aus  der  Definition 
geht  schon  hervor,  daß  der  Äquator  im  Laufe 
des  Jahres  365  '  ,  Thermaltage  erhalten  muß. 
Für  die  Polarzone  ergibt  sich  dann ; 

in   65"    geographischer  Breite    187,9  Thermaltage 


70" 

80" 
850 
90» 


173.0 
163,2 
1 50,6 
I52;8 
151,6 


Jeder  Pol  erhält  also  im  Jahre  nur  41  ^/.^  "/^ 
der  Wärmemenge,  die  dem  Äquator  zugestrahlt 
wird.  Auch  verschwindet  jetzt  der  Unterschied 
zwischen  Nord-  und  Süd  -  Polargebiet.  Denn 
wenn  auch  die  Bestrahlung  im  Südsommer  wegen 
der  Sonnennähe  stärker  ist  als  im  Nordsommer, 
so  ist  der  letztere  dafür  fast  8  Tage  länger  als  der 
erstere,  wodurch  die  geringere  Intensität  genau 
ausgeglichen  wird.  Die  mittlere  Bestrahlungs- 
intensität  der  ganzen  Polarzone  beträgt  166,0 
Thermaltage,  jene  der  gemäßigten  Zone  276,4 
und  die  der  Tropenzone  356,2,  während  der 
Durchschnittswert  für  die  ganze  Erde  299  ist. 

Natürlich  ist  es  schwer  sich  eine  greifbare 
Vorstellung  von  diesen  Wärmemengen  zu  machen, 
doch  bekommt  man  immerhin  einen  Begriff  von 
den  Größen,  wenn  man  die  Dicke  der  Eisschicht 
berechnet,    die    im    Laufe    eines   Jahres   von    den 


genannten  Wärmemengen  geschmolzen  werden 
kann.  Die  299  Thermaltage  würden  ausreichen 
uin  eine  Eisschicht  von  53,8  m  Dicke  über  der 
ganzen  Erdoberfläche  abzuschmelzen ,  die  365  '/, 
Thermaltage  des  Äquators  könnten  demnach  einen 
Eispanzer  von  66  m,  die  151,6  der  Pole  einen 
solchen  von  27  V2  ni  Mächtigkeit  auftauen.  Nun 
wissen  wir  aber,  daß  selbst  in  abnorm  kalten 
Wintern  und  unter  L^mständen,  die  der  Ent- 
stehung des  Polareises  besonders  günstig  sind, 
das  Eis  dort  niemals  eine  Stärke  von  27  ^2  m 
erreicht,  die  Dicke  der  neugebildeten  Eisschollen 
meist  sogar  noch  beträchtlich  unter  10  m  bleibt. 
Daß  unter  diesen  Umständen  nicht  das  ganze  im 
Winter  gebildete  Eis  im  Sommer  wieder  auf- 
schmilzt und  wir  im  Spätsommer  überhaupt  noch 
Eis  in  den  Polarregionen  vorfinden,  ist  darauf 
zurückzuführen,  daß  eben  nicht  die  ganze  zuge- 
strahlte Wärme,  sondern  nur  ein  kleiner  Teil 
derselben  für  den  Schmelzprozeß  in  Betracht 
kommt. 

Die  vorstehenden  Betrachtungen  haben  nämlich 
nur  Gültigkeit  für  das  sog.  „solare  Klima",  d.  h. 
unter  der  Voraussetzung,  daß  die  Wärme  den 
Punkt  der  Erdoberfläche,  dem  sie  zugestrahlt 
wird,  auch  wirklich  erreicht.  Dies  ist  aber  keines- 
wegs der  Fall,  denn  unsere  Erde  ist  bekanntlich 
von  einer  Lufthülle,  der  Atmosphäre,  umgeben, 
welche  die  Sonnenstrahlen  erst  passieren  müssen, 
bevor  sie  den  Erdboden  zu  erwärmen  vermögen. 
Selbst  bei  ganz  heiterem  Himmel  aber  wird  in 
mittleren  Breiten  nicht  weniger  als  die  Hälfte  der 
eingestrahlten  Wärme  an  die  Atmosphäre  abge- 
geben, und  bei  trübem  Wetter  gelangt  oft  nur 
ein  kleiner  Bruchteil  der  Wärmestrahlung  bis  zum 
Grunde  des  Luftmeeres  herab,  während  der  weit- 
aus größte  Teil  unterwegs  absorbiert  wird.  Bei 
abnehmender  Sonnenhöhe  wird  zudem  der  Weg, 
den  die  Sonnenstrahlen  durch  die  Atmosphäre 
zurücklegen  müssen,  bevor  sie  den  Erdboden  er- 
reichen,  beträchtlich  weiter,  so  daß  z.  B.  beim 
Horizontstand  der  Sonne  die  zu  durchmessende 
Luftschicht  auf  das  35  '/.,  fache  der  bei  senkrechter 
Bestrahlung  zu  durchdringenden  angewachsen  ist. 
IVlit  tiefer  sinkender  Sonne  nimmt  also  die  Wärme- 
strahlung in  einem  viel  rascheren  Verhältnis  ab, 
als  es  ohne  die  Atmosphäre  der  Fall  sein  würde. 
Die  Polargebiete  befinden  sich  somit  in  einem 
beträchtlich  ungünstigeren  Verhältnis,  als  es  nach 
den  für  das  „solare  Klima"  berechneten  Werten 
den  Anschein  hatte.  Die  Lage  wird  jedoch  noch 
ungünstiger,  da  nicht  nur  die  Dicke  der  Luft- 
schicht ,  sonderri  auch  die  Trübung  der  Atmo- 
sphäre gerade  die  Polargebiete  besonders  stark 
benachteiligt.  Schon  bei  normaler  Durchlässig- 
keit, wenn  man  den  Transmissionskoeffizienten, 
d.  h.  den  bei  senkrechtem  Einfall  der  Strahlen 
und  ganz  heiterem  Himmel  durchgelassenen  Anteil 
zu  0,7  ansetzt,  sinkt  die  in  der  obigen  Tabelle 
angegebene  Wärmemenge  für  den  Pol  auf  ein 
Drittel  ihres  Betrages  herab,  während  sie  für  den 
Äquator  noch  nicht  auf  die  Hälfte  reduziert  wird. 


740 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  47 


Bei  geringerer  Durchlässigkeit  (Transmissions- 
koeffizient =  0,6)  wird  die  Wärme  am  Äquator 
zwar  auf  etwas  mehr  als  die  Hälfte  herabgedrückt, 
die  Zahl  der  dem  Pol  zukommenden  Thermaltage 
dagegen  um  */.  vermindert,  so  daß  sich  der  Wärme- 
unterschied zwischen  Äquator  und  Pol  nicht  mehr 
verhält  wie  7  :  3  sondern  wie  6:1.  Wir  sehen 
also,  daß  durch  die  Einschaltung  der  Lufthülle 
zwischen  Sonne  und  Erdoberfläche  nicht  nur  eine 
allgemeine  Abschwächung  der  Sonnenstrahlung 
stattfindet,  sondern  daß  auch  die  Unterschiede 
zwischen  den  Tropen  und  den  Polargebieten  er- 
heblich verschärft  werden. 

Aber  auch  so  kommen  wir  noch  nicht  zu 
einer  richtigen  Vorstellung  von  den  wirklich 
herrschenden  Temperaturen,  denn  zahlreiche  Trak- 
toren stören  die  Regelmäßigkeit  der  zonalen  An- 
ordnung. Da  die  Strahlungsverhältnisse  völlig, 
der  absorbierende  Einfluß  der  Atmosphäre  in  der 
Hauptsache,  von  der  geographischen  Breite  ab- 
hängig ist,  so  müßte,  wenn  nur  die  Strahlung  in 
Betracht  käme,  die  Temperatur  jeder  Breiten- 
zone rings  um  die  Erde  annähernd  die  gleiche 
sein,  und  die  Temperaturzonen  würden  sich  in  ring- 
förmiger Anordnung  um  die  Pole  gruppieren,  wie 
es  die  Strahlungszonen  tatsächlich  tun. 

Störende  Faktoren  sind  nun  einmal  die  Un- 
gleichförmigkeiten  der  Erdoberfläche,  die  sich  am 
entschiedensten  in  dem  Wechsel  zwischen  Land 
und  Meer,  aber  auch  in  den  Höhenunterschieden 
des  festen  Landes  und  der  verschiedenartigen  Be- 
schaffenheit des  Erdbodens  bemerkbar  machen, 
der  bald  aus  nacktem  E^els  besteht,  bald  mit 
Vegetation  bedeckt,  oder  gar  mit  mächtigen 
iMsmassen  überpanzert  ist.  Ein  weiterer  stören- 
der Faktor  von  der  größten  Bedeutung  aber  ist 
die  Beweglichkeit  der  Luft  wie  des  IVIeerwassers, 
die  dahin  wirken,  daß  Temperaturgegensätze  zwar 
ausgeglichen,  aber  auch  geschaffen  werden  können. 
Das  wechselnde  Spiel  c3er  Winde  und  der  groß- 
artige Kreislauf  der  Meeresströmungen  durch- 
brechen die  zonale  Einteilung,  so  daß  die 
ringförmige  Anordnung  erheblich  gestört  und 
stellenweise  völlig  verwischt  wird.  Es  treten  zu 
den  nord  -  südlich  vorhandenen  Temperaturunter- 
schieden noch  solche  mit  ost-westlicher  Kompo- 
nente hinzu,  die  im  solaren  Klima  nicht  vorhanden 
waren. 

Tatsächlich  weist  das  Klima  der  Polargebiete 
außerordentlich  große  Verschiedenheiten  auf,  und 
nirgendwo  auf  der  Erde  finden  wir  so  erhebliche 
Temperaturdifferenzen  innerhalb  der  gleichen 
Breitenzone,  wie  in  der  Nähe  des  Nordpolarkreises. 
So  exakt  auch  unsere  Kenntnis  von  dem  solaren 
Klima  der  Polargebiete  ist,  so  unzureichend  ist 
das  reale  Klima  derselben  bekannt.  Naturgemäß 
sind  es  namentlich  die  höchsten  Breiten,  die  am 
wenigsten  erforscht  sind,  und  vor  allem  klafft  eine 
gewaltige  Lücke  in  der  Südpolarregion ,  von  der 
bisher  nur  aus  vereinzelten  Gebieten  Temperatur- 
beobachtungen von  längerer  Dauer  bekannt 
sind.     Immerhin    haben    doch  die  neuesten  Polar- 


expeditionen auch  hier  gewisse  Grundlagen  ge- 
schaffen ,  die  zwar  im  einzelnen  noch  manche 
Modifikation  erleiden  werden,  aber  auch  jetzt  schon 
höchst  interessante  Resultate  erkennen  lassen. 

Mit  Recht  führen  die  Polarzonen  auch  den 
Namen  der  „kalten"  Zonen,  denn  nichts  ist  charak- 
teristischer für  das  Polarklima,  als  die  Kälte,  die 
hier  während  des  ganzen  Jahres  herrscht.  Nament- 
lich die  niedrige  Temperatur  des  Sommers  ver- 
leiht dem  Polarklima  sein  Gepräge,  denn  wenn 
die  Winterkälte  auch  recht  bedeutend  ist,  so  wird 
sie  doch  in  gewissen  Gebieten  der  nördlichen 
gemäßigten  Zone  noch  übertroffen,  während  der 
kalte  Sommer  zu  den  typischsten  Eigentümlich- 
keiten der  Polargegenden  gehört.  Diese  Tatsache 
erscheint  auf  den  ersten  Blick  verwunderlich,  weil 
ja,  wie  wir  gesehen  haben,  gerade  dem  Pol  im 
Hochsommer  mehr  Wärme  zugestrahlt  wird,  als 
selbst  dem  Äquator.  Nichts  ist  daher  mehr  ge- 
eignet den  Einfluß  der  störenden  Faktoren,  die 
das  solare  Klima  in  das  reale  oder  physische  um- 
wandeln, besser  zu  illustrieren,  als  die  Tempe- 
raturverhältnisse des  Polarsommers.  Von  der  ge- 
waltigen Wärmemenge,  welche  die  Sonne  dem 
Pol  zustrahlt,  wird  nämlich  der  Rest,  der  nach 
dem  Passieren  der  Atmosphäre  noch  die  Erdober- 
fläche erreicht,  hauptsächlich  zum  Auftauen  des 
Eises  verbraucht,  das  sich  während  der  langen 
Winterszeit  gebildet  und  angehäuft  hat.  Die 
Wärmemenge  aber,  die  zum  Schmelzen  von  Eis 
nötig  ist,  erreicht  den  achtzigfachen  Betrag  der- 
jenigen, welche  eine  Erwärmung  von  gleich  viel 
Wasser  um  einen  Celsiusgrad  zustande  bringt. 
Oder  mit  anderen  Worten:  Die  gleiche  Wärme- 
menge, die  einen  Liter  Wasser  von  o''  auf  80"  C 
zu  erwärmen  vermag,  ist  nur  imstande  einen  Liter 
Eis  von  o"  in  Wasser  von  o'^  zu  verwandeln.  Es  tritt 
also  dabei  nicht  die  geringste  Temperaturerhöhung 
auf,  sondern  die  Wärme  reicht  gerade  hin,  um 
eine  Änderung  aus  dem  festen  in  den  flüssigen 
Aggregatzustand  herbeizuführen.  Man  erkennt 
hier  deutlich  den  Unterschied  zwischen  Wärme 
und  Temperatur,  der  leider  so  häufig  nicht  be- 
achtet wird,  und  dessen  Vernachlässigung  vielfach 
zu  falschen  Anschauungen  und  Darstellungen 
führt. 

Der  Sommer  ist  demnach  kühl  und  kurz,  so 
daß  seine  Wärme  oft  nicht  hinreicht,  um  auf 
ebenem  Boden  die  Schnee-  und  Eisbedeckung  zu 
entfernen,  da  dieselbe  nicht  nur  geschmolzen,  son- 
dern auch  durch  Verdunstung  entfernt  werden 
muß,  weil  ein  Versickern  des  Schmelzwassers  in 
den  Eisboden  nicht  erfolgen  kann.  Ist  dagegen 
bei  einer,  wenn  auch  nur  schwachen  Neigung  des 
Bodens  die  Möglichkeit  zum  Abfließen  des 
Schmelzwassers  gegeben,  so  kann  der  Erdboden 
leicht  von  Eis  befreit  werden,  und  dann  erhält 
die  Wärmestrahlung  eine  Angriffsfläche,  die  in 
kurzer  Zeit  kräftig  erwärmt  wird  und  nun  gün- 
stige Bedingungen  für  das  Gedeihen  einer  relativ 
reichen  Vegetation  bietet.  Man  hat  beobachtet, 
daß    schon    im    März    in    7472"   nördlicher  Breite 


N.  F.  XIII.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


74" 


dunkle  Steine  von  der  Sonnenstrahlung  über  den 
Gefrierpunkt  erwärmt  wurden,  während  die  Tem- 
peratur der  Luft  noch  mehr  als  30"  C  unter  dem- 
selben lag,  und  die  Bodentemperatur-  kann  sich 
selbst  unter  einer  Schneedecke  infolge  der  durch- 
gehenden Wärmestrahlung  über  den  Gefrierpunkt 
erheben.  Der  Verbrauch  großer  Wärmemengen 
zum  Schmelzen  des  Eises  hat  die  Folge,  daß  die 
niedrigsten  Temperaturen  oft  erst  im  Frühling 
auftreten,  während  die  wärmste  Zeit  nur  eine  ge- 
ringe Verspätung  gegen  den  höchsten  Sonnen- 
stand erleidet,  weil  die  Sonnenstrahlung  mit  sin- 
kender Sonnenhöhe,  wie  auf  Seite  739  dargelegt 
wurde,  unverhältnismäßig  rasch  abnimmt. 

In  jeder  Polarzone  kann  man,  wie  aus  den 
bisherigen  Ausführungen  hervorgeht,  drei  Zeit- 
abschnitte unterscheiden,  deren  Länge  sich  konti- 
nuierlich mit  der  geographischen  Breite  ändert, 
einen,  in  dem  die  Sonne  unter  dem  Horizont 
bleibt,  einen  zweiten,  in  dem  sie  täglich  auf-  und 
untergeht,  und  einen  dritten,  in  dem  sie  über  dem 
Horizont  bleibt.  In  dem  letztgenannten  Zeitab- 
schnitt wird  die  tägliche  Änderung  der  Sonnen- 
höhe um  so  geringer  sein,  je  näher  das  betreffende 
Gebiet  dem  Pole  liegt.  Die  tägliche  Temperatur- 
schwankung, die  ja  im  wesentlichen  durch  die 
Änderung  der  Sonnenhöhe  bewirkt  wird,  muß 
dann  in  der  Nähe  der  Pole  fast  verschwinden. 
Auch  im  Winter,  wo  der  Tiefstand  der  Sonne 
unter  dein  Horizont  in  sehr  hohen  Breiten  nur 
geringen  Änderungen  unterliegt,  ist  eine  tägliche 
Temperaturschwankung  von  nennenswertem  Be- 
trag nicht  zu  erwarten.  Die  große  Gleichmäßig- 
keit der  Lufttemperatur  in  den  extremen  Jahres- 
zeiten darf  demnach  als  ein  weiterer  Haupt- 
charakterzug des  hochpolaren  Klimas  gelten. 

Naturgemäß  hat  sich  die  Vegetation  diesen 
eigenartigen  Verhältnissen  angepaßt,  und  es  wäre 
höchst  interessant  im  einzelnen  die  Beziehungen 
zwischen  Temperatur  und  Pflanzenleben  in  hohen 
Breiten  zu  verfolgen.  Diese  Zusammenhänge  sind 
jedoch  von  A.  Grisebach  in  so  klassischer 
Weise  dargelegt  worden '),  daß  es  hier  genügt 
auf  dessen  vorzügliche  und  klare  Schilderung  zu 
verweisen,  die,  trotzdem  sie  in  Einzelheiten  über- 
holt ist,  doch  ein  auch  heute  noch  zutreffendes, 
charakteristisches  und  lebensvolles  Bild  der  ark- 
tischen Vegetation  und  ihrer  physischen  Bedingun- 
gen bietet. 

n.  Das  Nordpolargebiet. 
Versuchen  wir  nun  uns  einen  orientierenden 
Überblick  über  die  Temperaturverteilung  in  der 
Arktis  zu  verschaffen,  soweit  dies  ohne  karto- 
graphische Darstellungen  möglich  ist.  Dabei 
kommt  uns  eine  Tabelle  zugute,  die  H.  Mohn 
auf  Grund  aller  im  Nordpolargebiet  angestellten 
Temperaturmessungen  berechnet  hat,  so  daß  sie 
gewissermaßen     den    Extrakt    dieser    zahlreichen 


Einzelbeobachtungen  darstellt.  Mohn'j  hat  in 
zwölf  Karten  des  Nordpolargebietes  die  monat- 
lichen Mitteltemperaturen  der  einzelnen  Beobach- 
tungsstationen für  jeden  Monat  gesondert  einge- 
tragen und  in  jeder  Karte  die  Orte  mit  gleicher 
Temperatur  durch  Linien,  die  sog.  Isothermen, 
verbunden.  Er  erhielt  damit  für  jeden  Monat 
eine  Isothermenkarte,  welche  die  geographische 
Verteilung  der  Temperatur  in  übersichtlicher 
Weise  darstellt.  Derartige  Karten  bieten  die 
Möglichkeit  durch  einfache  Interpolation  die 
wahrscheinliche  Temperatur  jedes  beliebigen 
Punktes  zu  ermitteln,  so  daß  es  jetzt  ein  Leichtes 
war  für  bestimmte  Parallelkreise  in  Intervallen  von 
je  10  Längengraden  36  einzelne  Temperaturwerte 
zu  bestimmen,  deren  Mittel  dann  den  monatlichen 
Durchschnittswert  des  betreffenden  Parallelkreises 
liefert. 


Geogr.  Breite 

65» 

70« 

75° 

80« 

85« 

90» 

Januar 

—23,0» 

-26,3» 

— 29,0" 

-32,2» 

-38,1" 

-41» 

Februar 

-21,5 

-25,8 

—28,9 

-32,5 

-38,0 

—41 

März 

—  16,1 

—22,4 

—26,6 

—30,6 

—33,0 

—35 

April 

—7,3 

—  '4,0 

—18,8 

—  22,7 

-26,5 

—28 

Mai 

1,6 

—4,4 

-8,5 

—  10,0 

—  11,9 

—  13 

Juni 

9,2 

3,3 

0,1 

— 1,1 

—  1,7 

— 2 

Juli 

12,4 

7,3 

3,4 

2,0 

0,3 

—  I 

August 

10,3 

6,2 

1,9 

0,4 

-1,8 

—3 

September 

4,7 

0,3 

—4-1 

—7.7 

-10,3 

—13 

Oktober 

—4,1 

—9,3 

— 14,0 

—19,1 

—22,2 

—24 

November 

-14,5 

—18,1 

-20,8 

—23,9 

—  29,2 

—33 

Dezember 

— 20,6 

— 23,6 

—25,5 

—28,4 

—34,2 

-38 

Jahr 

-5,8 

—10,7 

-.4,7 

—  18,1 

—21,2 

— 22,7 

Am  Nordpol  erhebt  sich  nach  Ausweis  dieser 
Tabelle  die  monatliche  Mitteltemperatur  selbst 
im  Hochsommer  nicht  über  den  Gefrierpunkt,  was 
natürlich  nicht  ausschließt,  daß  in  Einzelfällen  auch 
dort  positive  Temperaturen  erzielt  werden 
können.  Die  Tabelle  zeigt  ferner,  daß  der  Winter 
weit  in  das  Frühjahr  hinein  verlängert  ist, 
dessen  niedrige  Mitteltemperaturen,  zum  Teil  da- 
durch zustande  kommen,  daß  die  größte  Kälte 
mitunter  noch  auf  den  März  fällt.  Im  Mai  aber 
steigt  die  Temperatur  schnell  und  sie  erreicht  ihr 
Maximum  überall  im  Juli.  Wenngleich  es  vom 
.\ugust  an  infolge  der  rasch  sinkenden  Sonnen- 
strahlung schnell  kühler  wird,  bleibt  doch  der  Herbst 
bedeutend  wärmer  als  im  Frühjahr. 

Von  den  durch  die  Tabelle  dargestellten  mitt- 
leren Verhältnissen  finden  sich  im  einzelnen 
starke  Abweichungen.  So  hat  z.  B.  das  Innere 
Grönlands  wegen  seiner  Bedeckung  mit  einer 
mächtigen  Eisschicht  in  allen  Monaten  eine  nie- 
drigere Temperatur   als   der   mittleren  Verteilung 


)  A.   Grisebach:   Die  Vegetation  der  Erde  nach  ihrer  >)    The  Norwegian    North  Polar  Expedition    1S93— 1896. 

klimatischen  Anordnung.      2.   Aufl.       Leipzig,   1884.       Band   I,        Scientific  Resullats  edited   by  Fridtjof  Nansen.     Vol.  VI,   Lon- 
Seite   15  —  67.  (Jon    1905.      H.   Mohn;  Metcorology,  S.   575. 


742 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  47 


entspricht.  Diese  negative  Temperatur-Anomalie 
erreicht  im  Oktober  einen  Wert  von  — 18".  Die 
Norwegische  See  dagegen  verdankt  ihre  dauernd 
positive  Anomalie,  die  im  Januar  und  Februar 
bis  -1-2  5"  ansteigt,  der  Wirkung  des  Golfstroms, 
der  seine  warmenWassermengen  bis  weit  nachNorden 
hinauf  sendet.  Die  großen  Kontinente  haben  im 
Sommer  positive  (Juli  +6"  in  Sibirien,  Juni 
-\- 10"  im  westlichen  Nordamerika),  im  Winter 
dagegen  negative  Anomalie  (Dezember  und 
Januar  —  25  "  in  Sibirien,  Januar  — 10"  im  östlichen 
Nordamerika).  Das  Gebiet  zwischen  Beringstraße 
und  Pol  hat  in  allen  Monaten  negative  Anomalie, 
jedoch  meist  weniger  als  — 5"- 

Es  würde  zu  weit  führen,  die  Temperatur- 
verhältnisse der  verschiedenen  Nordpolarländer 
im  einzelnen  zu  erörtern.  Dies  kann  um  so  eher 
unterbleiben  als  in  dem  ausgezeichneten  Hand- 
buch von  J.  Hann  ')  zahlreiche  ausführliche  Tem- 
peratur-Tabellen mit  den  nötigen  Literaturangaben 
wiedergegeben,  bzw.  neu  berechnet  worden  sind. 
Es  mag  hier  die  Angabe  genügen,  daß  im  allge- 
meinen das  Jahresmittel  der  Temperatur  im  süd- 
lichen Grönland,  sowie  auf  dem  Inseln  Jan  Mayen, 
Spitzbergen,  Bären-Insel  und  Nowaja  Semlja  zwi- 
schen o"  und  —  10",  dagegen  im  nördlichsten 
Grönland,  F"ranz-Josef-Land, arktisch-amerikanischen 
Archipel,  arktischen  Asien  und  im  zentralen 
Eismeer  zwischen  —  10"  oder  — 20*^'  gelegen  ist. 

Nur  den  niedrigsten  Temperaturen,  die  in  der 
Arktis  bisher  beobachtet  wurden,  seien  einige 
Worte  gewidmet.  Der  Sitz  der  größten  bekann- 
ten Winterkälte  unserer  Erde  ist  nicht  der  Nord- 
pol, dessen  niedrigste  Monatstemperatur  mit  der 
von  Mohn  zu  — 41"  berechneten  wohl  ziemlich 
übereinstimmen  dürfte.  Der  winterliche  Kältepol 
befindet  sich  vielmehr  in  Sibirien,  nur  wenig 
nördlich  vom  Nordpolarkreis,  in  der  Nähe  des 
Städtchens  Werchojansk,  das  in  67" 33'  nördlicher 
Breite  und  1 00  m  Seehöhe  an  dem  Flusse  Jana  gelegen 
ist.  Hier  tritt  das  kontinentale  Klima  (warme 
Sommer,  kalte  Winter)  in  seiner  extremsten  Form 
auf.  Die  Mitteltemperaturen  der  Wintermonate 
betragen  im  20  jährigen  Durchsclinitt :  De- 
zember —  47,0",  Januar  — 50,5",  Februar  —44,1". 
Der  wärmste  Januar  im  Jahre  1903  hatte  noch 
eine  Durchschnitts-Temperatur  von  — 44,2",  wäh- 
rend der  kälteste  Im  Jahre  1892  eine  solche  von 
—  57,2"  aufwies,  die  somit  das  niedrigste,  je  be- 
obachtete Monatsmittel  darstellt.  Damals  wurde 
auch  als  absolutes  Minimum  — 67,8"  gemessen, 
eine  Kälte,  die  heute  noch  in  beiden  Folarzonen 
nicht  übertroffen  worden  ist.  Daß  trotz  solcher 
außerordentlichen  Kältegrade  das  Jahresmittel  von 
Werchojansk  nur  —  16,3"  beträgt,  ist  den  hohen 
Sommertemperaturen  zuzuschreiben,  die  bis  über 
33"  ansteigen  können. 

Beträchtlich  niedriger  als  im  arktischen  Sibirien 
ist    die    mittlere   Jahrestemperatur   im    nördlichen 


Teile  des  arktisch-amerikanischen  Archipels,  im 
nördlichsten  Grönland,  sowie  im  nördlichsten 
Eismeer.  Doch  verdient  hervorgehoben  zu  werden, 
daß  bisher  nur  zwei  Stellen  bekannt  sind,  an 
denen  das  Jahresmittel  unter  —  20"  sinkt.  Die 
eine  ist  jene,  in  81  "44'  nördlicher  Breite  gelegene 
P't.  Conger  genannte  Station  am  Eingang  der  tief 
in  die  Ostküste  von  Grant  Land  einschneidenden 
Lady  Franklin  Bai.  Hier  wurde  im  Jahre  1875  — 1876 
ein  Jahresmittel  von  — 20,2",  im  Jahre  1S81  — 1882 
ein  solches  von  —  20,4"  beobachtet. 

Das  einzige  noch  weiter  nördlich  gelegene 
Gebiet ,  aus  dem  wir  eine  längere  Reihe  zuver- 
lässiger Beobachtungen  besitzen ,  ist  das  zentrale 
Nordpolarmeer,  das  von  Fridtjof  Nansen  auf  der 
„Fram"  in  den  Jahren  1893  bis  1896  durchkreuzt 
wurde.  Die  Temperaturmessungen  ergaben  hier 
für  das  Jahr  1895  in  einer  mittleren  nördlichen 
Breite  von  84,6"  ein  Jahresmittel  von  — 20,5". 
Das  Thermometer  sank  in  diesen  höchsten  Breiten 
im  Laufe  jedes  der  drei  Winter  unter  —  50"  und 
erreichte  seinen  tiefsten  Stand  am  12.  März  1894 
mit  — 52,0",  wogegen  als  höchste  Sommertempe- 
ratur am  20.  Juni  1896  -|~4.o''  notiert  werden 
konnte.  Während  die  regelmäßige  tägliche  Tem- 
peraturschwankung im  Winter  fast  Null  war,  er- 
reichte die  unregelmäßige  Temperaturvariation 
während  24  Stunden  sehr  hohe  Beträge.  Beson- 
ders auffallend  war  der  plötzliche  energische 
Temperaturanstieg  von  — 43,0"  am  20.  F"ebruar 
1896  auf  — 5,4"  am  nächsten  Tage  bei  südlicher 
Windrichtung. 

III.  Das  Südpolargebiet. 
Haben  die  Temperaturbeobachtungen  im  Nord- 
polargebiet im  wesentlichen  das  bestätigt,  was 
man  auf  Grund  theoretischer  Erwägungen  erwarten 
konnte,  so  brachten  dieselben  im  Südpolargebiet 
ungeahnte  Überraschungen,  und  stellten  die  meteo- 
rologische Wissenschaft  vor  Rätsel,  die  auch  heute 
nicht  völlig  gelöst  sind.  Noch  im  Jahre  1897 
glaubte  J.  Hann  die  folgenden  Mitteltemperaturen 
der  Parallelkreise  im  Südpolargebiet  annehmen  zu 
können:^)  Für  70"  südlicher  Breite  — 5,8",  für 
80"  —9,1"  und  für  den  Südpol  — 11,3",  also  um 
4,9*,  9,0"  und  11,4^  wärmer  als  in  den  ent- 
sprechenden arktischen  Breiten.  Aber  schon  die 
erste  Überwinterung  im  Südpolargebiet  1898,  bei 
welcher  auf  dem  Schiff  „Belgica"  in  etwa  70" 
südlicher  Breite  eine  Jahrestemperatur  von  — 9,6" 
festgestellt  wurde,  machte  dieser  optimistischen 
Auffassung  ein  Ende,  und  die  in  den  nächsten 
Jahren  folgenden  Südpolarexpeditionen  verschie- 
dener Nationen  lieferten  soviel  Material,  daß 
W.  Meinardus  die  folgende  Tabelle  über  die 
Mittelteniperaturen  der  Parallelkreise  aufstellen 
konnte, ")  die  freilich  nicht  so  vollständig  ist,  wie 


')  J.   liann,    Handbuch    der  Klimatologic.      3.   .Auflage. 
Bd.  3.     Stuttgart   191 1,  S.  5S8— 699. 


')  J.  Hann,  Handbuch  der  Klimatologie.  2.  Auflage. 
I.  Band.     Stuttgart   1897.     Seite  212. 

-)  Deutsche  Südpolarexpedition  1901  — 1903.  Hcrausgcg. 
von  F..  V.  Drygalski.  Bd.  111.  Meteorologie  von  W.  Mei- 
nardus,   Bd.  I,    1.  Hälfte,    Heft  2,    Seite  331.     Berlin   1911. 


N.  F.  XIII.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


743 


die  auf  Seite  741   für  das  Nordpolargebiet  wieder- 
gegebene. 


sprechenden    extremen  Werten,  die  bis  dahin  be- 
kannt waren,  zusammenstellt: 


Geogr.  Breite 


60» 


70" 


So« 


Januar 
Juli 


2,8  —1,3         —4,3 

-10,6         — 22,0       —28,7 


90» 
—  6,0 
-33,3 


Jahr  —3,5         —12,8        —20,6       —25,0 

Ein  Vergleich  mit  der  Nordpolar-Tabelle  zeigt 
sofort  den  wesentlichen  Unterschied.  In  der 
Antarktis  ist  der  Winter  etwas  wärmer  als  in  der 
Arktis,  dafür  aber  der  Sommer  beträchtlich  kälter, 
so  daß  sich  nicht ,  wie  man  bis  dahin  angenom- 
men hatte,  eine  höhere,  sondern  eine  beträchtlich 
niedrigere  Mitteltemperatur  für  das  Jahr  ergibt. 

Während  wir  nun  aus  dem  Nordpolargebiet 
von  zahlreichen  Stationen  zum  Teil  langjährige 
Beobaclitungen  besitzen,  sind  es  in  der  Antarktis 
nur  vereinzelte  Stellen  am  Rande  des  Südpolar- 
kontinents, von  denen  meteorologische  Beobach- 
tungsreihen vorliegen.  Aber  nur  in  drei  Gebieten 
umfassen  diese  einen  längeren  Zeitraum  als  ein 
Jahr,  so  daß  wir  dort  von  mittleren  Werten 
sprechen  können,  während  an  allen  anderen  Stellen 
die  Möglichkeit  vorliegt,  daß  die  Beobachtungen 
nicht  die  normalen  Verhältnisse  wiedergeben.  Wie 
unerhört  groß  nämlich  die  Veränderlichkeit  der 
Witterung  von  Jahr  zu  Jahr  dort  sein  kann,  erhellt 
am  besten  aus  der  fast  unglaublichen  Tatsache, 
daß  auf  der  schwedischen  Südpolarstation  Snow 
Hill  in  64''22'  südlicher  Breite  die  niedrigste  Tem- 
peratur der  ganzen,  i  %  Jahre  umfassenden  Be- 
obachtungsperiode,  — 41,4",  am  6.  August  1902 
gemessen  wurde,  auf  den  5.  August  des  nächsten 
Jahres  dagegen  das  absolute  Maximum  mit  -f"9,3" 
fiel!  Auf  der  gleichen  Station  stieg  am  17.  Juni 
1903  in  der  Zeit  von  i  Uhr  morgens  bis  10  Uhr 
abends  die  Temperatur  von  — 29,8"  auf  +4,1°. 
Die  oben  erwähnten  drei  Gebiete  sind  die  am 
leichtesten  zugänglichen  der  Südpolarregion,  so 
daß  ihnen  schon  aus  diesem  Grunde  ein  besonderes 
Interesse  zukommt.  Es  seien  daher  ihre  von 
J.  Hann  berechneten  Mitteltemperaturen  neben- 
stehend wiedergegeben. 

Diese  Tabelle  gestattet  noch  eine  Extrapolation 
bis  zum  80.  Breitengrad,  während  den  Berech- 
nungen der  Temperatur  des  Südpols  naturgemäß 
eine  große  Unsicherheit  innewohnt.  Neuerdings 
haben  nun  die  Expeditionen  von  R.  Amundsen 
und  R.  F.  Scott  den  Nachweis  geliefert,  daß  auf 
der  großen  Eistafel  der  Roß-Barriere,  auf  welcher 
Amundsen  überwinterte,  noch  weit  niedrigere 
Temperaturen  auftreten  als  man  vermutete.  Es 
sind  deshalb  zum  Vergleich  in  der  letzten  Spalte 
die  an  Amundsen's  Winterquartier  „Framheim" 
gemessenen  Werte  hinzugefügt,  wobei  diejenigen 
für  Februar  und  März  interpoliert  werden  mußten. 
An  dieser  südlichsten  Beobachtungsstation  ist  das 
Thermometer  überhaupt  nicht  mehr  über  den 
Gefrierpunkt  gestiegen.  Der  Höchstwert  war 
—  0,2"  am  5.  Dezember  191 1,  dem  eine  Minimal- 
temperatur von  —  58,5  am  13.  August  gegenüber- 
steht. Besonders  deutlich  werden  die  abnorm 
tiefen  Temperaturen,  wenn  man  sie  mit  den  ent- 


Süd-Vilitoria-Land 

l-ramheim 

77°45'  Süd 

78138'  Süd 

Niedrigstes  Monatsmittel 

—29,5 

— 44.5 

Höchstes                ,, 

— i.i 

—6,2 

Absolutes  Maximum 

-f8,3 

— 0,2 

„         Minimum 

—50,3 

-58,5 

Jahresmittel 

-17,6 

—25-2 

Das  Jahresmittel  von  Framheim,  das  noch 
1266  km  vom  Südpol  entfernt  liegt,  ist  also  bereits 
um  2,5''  tiefer  als  dasjenige  des  Nordpols.  Auf- 
fällig ist  in  den  hohen  Breiten  die  große  Gleich- 
mäßigkeit der  Wintertemperatur,  die  namentlich 
in  Süd -Viktorialand  in  den  Mitteltemperaturen 
der  Monate  April    bis    September   zum   Ausdruck 


Ort 

Breite 
Länge 

Jalire 


Januar 

Februar 

März 

April 

Mai 

Juni 

Juli 

August 

September 

Oktober 

November 

Dezember 


SUd- 

Vilitoria- 

Land 

77°4=;'  Süd 

i66''34'  Ost 

1 902/04 
1 908/09 

3  Jahre 


Westantarktis 
westlich       j        östlich 


von  Grahamland 
ee^Sö'    Süd       62''33'    Süd 
5°°5°'  West 


—4,0 

-8,3 
-J5,5 
—24,2 
—24,1 

—  24,6 
— 26,5 

—  26,8 

—24.5 
-19,8 

-9,5 
—3,2 


72°!  I'  West 
1898/99 
1904/05 

1909 
3  Jahre 


Jahr 

Schwankung 

Mittl.  Jahres- 
Maximum 

Mittl.  Jahres- 
Minimum 


-17,6 


23,6 
5.9 

-46,5 


0,3 
0,0 

—3,0 
-7,3 
—7,3 
— 11,1 
—16,6 
-7,8 
—9,3 
—5,9 
-2,8 
—0,9 


1902/03 
1903/04 

2  Jahre 


-6,0 


16,9 

5>7 

—33,7 


—  0,2 

—  1,0 

—5,4 

—9,4 

—14,1 

-15,1 

—  16,0 

—  14,1 

—  12,0 

-7,4 
—3,4 

—  1,4 


Framheim 

78''38'  Süd 
164030'  West 

igt  1/12 

I  Jahr 


-8,3 


15,8 

8,5 

—37,3 


—8,8 
(-11,9) 

(—22,1) 
—27,3 
-35.6 

—34,2 
—36,1 
—44.5 
—37.0 
—23,7 
—  14,7 
-6,2 


— 25,2 


38,3 
—  0,2 

-58,5 


kommt.  Der  Winter  hat  hier  keinen  Kern,  denn 
auch  in  Framheim  sank  vom  Mai  bis  zum  Sep- 
tember das  Thermometer  in  jedem  Monat  unter 
—  50".  An  dem  westlichen  Ende  des  Roß  Barriere- 
Eises  erlebte  eine  Abteilung  von  Scott 's  Expe- 
dition im  Juli  1911  eine  Kälte  von  — 60,5",  die 
niedrigste  Temperatur,  die  in  der  Antarktis  je 
beobachtet  worden  ist. 

Aus  dem  ganzen  weiter  südlich  gelegenen  Gebiet 
haben  wir  nur  vereinzelte  Temperaturmessungen,  die 
auf  den  Expeditionen  von  S  hack  leton, Amund- 
sen und  Scott  angestellt  worden  sind.  Das 
zentrale  antarktische  Plateau  hat  in  der  Nähe  des 
86.  Breitengrades  eine  Höhe  von  2500  Metern,  die 


744 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  47 


südwärts  bis  über  3000  Meter  zunimmt.  Auf 
dieser  öden  Eiswüste  sind  von  den  drei  For- 
schern in  den  Monaten  Dezember  und  Januar,  also 
im  Hochsommer,  Temperaturen  zwischen  —  18" 
und  —  40"  beobachtet  worden.  In  der  Mehrzahl 
der  Fälle  jedoch  schwankte  der  Stand  des  Ther- 
mometers zwischen  ■ —  20"  und  —  30".  Wie  die 
Wintertemperatur  in  diesem  Gebiet  sein  mag, 
entzieht  sich  unserer  Kenntnis.  Bedenkt  man  aber, 
daß  1400  Kilometer  vom  Pol  entfernt  im  Meeres- 
niveau bereits  eine  Kälte  von  —  60"  konstatiert 
worden  ist,  so  dürften  am  Pol  selbst  in  mehr  als 
3000  m  Höhe,  Temperaturen  von  • —  80*  und  da- 
runter wohl  nicht  zu  den  Unmöglichkeiten  gehören. 
Die  reelle,  nicht  auf  das  Meeresniveau  reduzierte 
Temperatur  des  Südpols  könnte  man  daher  im 
wärmsten  Monat  auf  etwa  — 25",  im  kältesten 
vielleicht  auf  —  65**  schätzen.  Sicher  ist  jedenfalls, 
daß  jenes  ferne  Hochland  der  zentralen  Antarktis 


das  weitaus  kälteste  von  allen  größeren  Gebieten 
unseres  Erdballs  ist,  und  seine  Mitteltemperatur 
möglicherweise  in  der  Nähe  von  —  50"  liegt. 

Die  Ursachen  dieser  enormen  Kälte  sind  uns 
vorläufig  noch  ein  Rätsel,  desgleichen  auch  die 
unerhörten  Schwankungen  der  Temperatur  in  dem 
Randgebiet  des  antarktischen  Kontinents,  von  denen 
auf  S.  743  ein  Beispiel  angeführt  war.  Die  dort  mitge- 
teilten Zahlen  sprechen  deutlicher  als  es  Worte  ver- 
mögen für  die  Notwendigkeit  einer  ständigen  Be- 
obachtungsstation im  Südpolargebiet.  Bereits  ist 
ein  solches  Projekt  von  schwedischer  Seite  aus- 
gearbeitet und  seine  Verwirklichung  in  die  Wege 
geleitet  worden.  Hoffen  wir,  daß  der  Tag  nicht 
mehr  fern  ist,  an  dem  das  antarktische  Obser- 
vatorium seine  Tätigkeit  beginnen  kann  und  da- 
mit den  Grundstein  legt  zu  einer  systematischen 
Erforschung  des  interessantesten  Gebietes,  das  auf 
unserem  Planeten   noch    der  Entschleierung  harrt. 


Einzelberichte. 


Botanik.     Zustand    des  Plasmas  und  Reizbar- 


keit. Der  Aggregatzustand  des  Protoplasmas,  der 
jetzt  ziemlich  allgemein  als  flüssig  angenommen 
wird,  kann,  wie  auf  botanischer  Seite  Pfeffer 
dargelegt  hat,  einen  Kohäsionswechsel  erfahren 
und  reversibel  in  den  festen  übergehen.  Dies 
lehrte  die  Beobachtung,  daß  das  ruhende  Kürner- 
plasma von  Plasmodien  der  Myxomyceten  dem 
Stromstoß  des  fließenden  Protoplasmas  Wider- 
stand entgegensetzt,  ohne  selbst  deformiert  zu 
werden.  Durch  direkte  Belastung  freier  Plas- 
modienstränge  gelangte  P  fe  ff  er  auch  zu  Zahlen- 
werten, erklärte  jedoch,  daß  wegen  des  wechsel- 
seitigen Überganges  eine  genaue  Bestimmung  der 
Kohäsionsverhältnisse  unmöglich  sei.  Zellhaut- 
umkleidete  Protoplasten  hat  Pfeffer  nicht  unter- 
sucht. Alfred  Heilbronn  ist  jüngst  auf  ganz 
anderm  Wege  zu  Vorstellungen  über  Zustand  und 
Zustandswechscl  der  lebenden  Substanz  be- 
häuteter  Zellen  gelangt.  Ausgehend  von  dem 
Gedanken,  daß  feste  Körper  in  einer  P'lüssigkeit 
um  so  rascher  sinken,  je  geringer,  und  um  so 
langsamer,  je  größer  deren  Zähigkeit  ist,  be- 
obachtete er  an  Schnitten  durch  Stärkescheiden 
von  Vicia  faba  und  Koleopülen  des  Hafers  die 
Bewegungsgeschwindigkeit  umlagerungsfähiger 
Stärkekörner  (Statolithen)  unter  dem  Einfluß  der 
Schwerkraft.  Die  Versuchsanstellung  bestand  im 
wesentlichen  darin,  daß  die  zu  untersuchende 
Gewebspartie  zunächst  in  ihrer  natürlichen  Lage 
am  vertikal  stehenden  Objekttisch  des  horizontal 
umgeklappten  Mikroskops  befestigt  und  dann 
nach  Drehung  des  Objekttisches  um  180"  die 
Zeitdauer  bestimmt  wurde,  die  ein  Stärkekorn  zu 
seinem  Wege  von  der  oberen  Querwand  einer 
Zelle  bis  zur  unteren  nötig  hatte.  Durch  Messung 
der  Fallhöhe  ergab  sich  der  andere  Weg,  der 
noch     zur    Berechnung     der    Fallgeschwindigkeit 


nötig  war.  Bei  der  Umlagerung  der  Statolithen 
gelingt  es  hier  und  da  einigen  Körnern,  die 
Vakuolcnhaut  zu  durchbrechen,  um  dann  quer 
durch  die  Vakuolenflüssigkeit  hindurchzufallen. 
Auch  die  Fallgeschwindigkeit  solcher  Körper 
wurde  bestimmt.  Um  die  Viskosität  des  Plasmas 
und  der  Vakuolenflüssigkeit  von  Vicia  faba  zu 
bestimmen,  wurde  noch  die  P'allgeschwindigkeit 
isolierter  Stärkekörner  in  Wasser  gemessen.  Es 
galt  dann,  wenn  x  die  Viskosität  des  Plasmas 
(oder  der  Vakuolenflüssigkeit)  ist  die  Proportion : 
X  Fallgeschwindigkeit  in  Wasser 

I  I""allgeschwindigkeit    in    Plasma    (bzw.    Va- 

kuolenflüssigkeit). 
So  ergab  sich  für  die  Viskosität  des  Proto- 
plasmas der  Stärkescheiden  von  Vicia  faba  ein 
etwa  24  mal  höherer  Betrag  als  für  Wasser  von 
18  ",  während  die  Viskosität  der  Vakuolenflüssig- 
keit 1,9  mal  höher  war  als  die  des  Wassers. 
Dieser  letztere  Wert  läßt  die  Vermutung  auf- 
kommen, daß  auch  im  Zellsaft  Kolloide  vorhanden 
sind,  welche  die  doch  recht  große  Viskositäts- 
steigerung bedingen.  Die  kompliziertere  Fest- 
stellung des  Viskosität  strömenden  Plasmas  ergab 
sehr  verschiedene  Werte;  deutliche  Beziehungen 
zur  Strömungsgeschwindigkeit  waren  nicht  nach- 
zuweisen. —  Heilbronn  prüfte  nun  weiter  die 
P'allgeschwindigkeit  der  Stärkekörner  in  der 
Stärkescheide,  wenn  der  Zustand  des  Plasmas 
durch  äußere  Agenzien:  Wärme,  Narkotika, 
Leuchtgas  beeinflußt  wurde.  Es  ergab  sich  aus 
dem  Verhalten  der  Stärkekörner,  daß  Tempera- 
turen von  25 — 35  "  bei  kurzer  Einwirkung  wenig 
Einfluß  auf  den  Viskositätszustand  des  Plasmas 
haben.  Nach  einstündigem  Aufenthalt  allerdings 
zeigt  sich  eine  Verzögerung  der  Umlagerung  der 
Statolithen,  und  entsprechend  dieser  Verzögerung 
tritt  auch    die  geotropische  Krümmung    merklich 


N.  F.  XIII.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


745 


später  ein.  Die  Temperatur  von  45  •'  zeigt  die 
viskositätssteigernde  Wirl<ung  schon  bei  halb- 
stündiger Exposition.  Nach  einstündigem  Aufent- 
halt im  Wärmeschrank  ist  die  geotropische  Re- 
aktion erst  6  Stunden  später  festzustellen, 
und  nach  ^/^  stündigem  Aufenthalt  in  Luft  von 
40  "  erscheint  eine  geotropische  Krümmung  erst 
3  Tage  später.  Bei  noch  höheren  Temperaturen 
genügen  geringere  Expositionszeiten,  um  die 
Hemmung  herbeizuführen;  gleichzeitig  mehrt  sich 
auch  die  Zahl  der  Pflanzen,  welche,  dauernd  ge- 
schädigt, überhaupt  keine  Reaktion  mehr  aus- 
führen. Als  Narkotikum  wurde  vorzüglich  Äther- 
wasser benutzt.  Bei  i — 5  "/oiger  Konzentration 
desselben  (d.  h.  Wasser  mit  i  —  5  %  konzentrierter 
Ätherlösung  in  Wasser)  wurde  Beschleunigung  der 
Fallgeschwindigkeit  der  Statolithenstärke,  zwischen 
5  — 10  "„  dagegen  Steigerung  der  Viskosität  fest- 
gestellt; zwischen  10  und  20",)  trat  physikalische 
Starre  des  Plasmas  ein,  und  die  Stärkekörner 
folgten  dem  Zug  der  Schwere  überhaupt  nicht 
mehr.  Bei  noch  höherer  Konzentration  wird  das 
Plasma  getötet.  „Ist  einmal  Plasmastarre  ein- 
getreten, dann  wird,  wenn  die  Statolithentheorie 
zu  Recht  besteht,  eine  geotropische  Perzeption 
so  lange  nicht  stattfinden,  bis  nach  Verringerung 
der  Viskosität  Statolithenbewegung  ermöglicht 
wird.  In  der  Tat  läßt  es  sich  leicht  zeigen,  daß 
nach  einmal  eingetretener  narkotischer  Starre  des 
Plasmas  in  der  Koleoptilenspitze  von  Avena 
sativa  geotropische  Perzeption  nicht  mehr  mög- 
lich ist,  und  des  weiteren  läßt  sich  zeigen,  wie, 
bevor  geotropische  Reaktion  wieder  auftritt,  stets 
eine  Statolithenumlagerung  oder  wenigstens  Ver- 
lagerung erfolgt  ist.  Diese  Beobachtung  spricht, 
wie  der  Unbefangene  zugeben  muß,  sehr  zu- 
gunsten von  Haberia ndts  Auffassung.  Sie  ist 
nicht  beweisend,  weil  man  sagen  kann,  das  starre 
Plasma  sei  an  sich  nicht  fähig,  Reize  zu  perzi- 
pieren.  Da  aber  ....  gerade  die  geotropische 
Empfindlichkeit  stärker  geschädigt  wird  als  die 
heliotropische,  so  ist  es  schon  möglich,  daß  die 
direkte  vorübergehende  Ausschaltung  des  „geotropi- 
sehen  Sinnesorgans"  dafür  verantwortlich  zu  machen 
wäre."  —  Die  optimale  Wirkung  des  Narkotikums  auf 
die  Viskositätssteigerung  trat  bei  15  —  20%  des 
Ätherwassers  ein;  wurde  das  Objekt  (Hafer- 
koleoptilen)  aus  der  Ätheratmosphäre  entfernt,  so 
hielt  die  Viskositätssteigerung  noch  etwa  1/.,  Stunde 
an;  dann  löste  sich  die  Starre,  'ob  nun  25  Mi- 
nuten oder  2  Stunden  lang  narkotisiert  worden 
war.  Durch  lokalisierte  Narkotisierung  der  Koleo- 
ptile  ließ  sich  auch  die  überwiegende  geo- 
tropische Sensibilität  der  Koleoptilenspitze 
nachweisen ;  blieb  die  Spitze  von  der  Ätherwirkung 
frei,  so  trat  in  ihr  normale  Statolithenverlagerung 
ein,  und  die  geotropische  Krümmung  wurde  nicht 
ausgeschaltet,  wenn  sie  auch  abnorme  Form  an- 
nahm. —  Auch  bei  Anwendung  von  Benzol  und 
Xylol  als  Narkotika  zeigte  sich  die  erwartete 
Hemmuno-  der  Umlagerung  und  Ausbleiben  der 
geotropischen  Reaktion.     Leuchtgas,    dessen    An- 


wesenheit in  der  Laboratoriumluft  ja  bekanntlich 
physiologische  Versuche  störend  beeinflussen 
kann,  verhält  sich  in  seiner  Einwirkung  auf  die 
Viskosität  des  Plasmas  ungefähr  wie  ein  mäßig 
starkes  Narkotikum.  (Pringsheim's  Jahrbücher 
für  wissenschaftliche  Botanik  1914,  Bd.  54, 
S.  357 — 390.)  F.  Moewes. 

Das    Ausgleiten    der    Insektenbeine    an  wachs- 
bedeckten   Pflanzenteilen.      Der    obere    Teil    der 

Innenepidermis  der  Kannen  von  Nepenthes 
ist  mit  einem  Wachsüberzuge  bedeckt,  der 
nach  der  allgemeinen  Annahme  den  Insekten 
keinen  Halt  bietet,  so  daß  sie  beim  Empor- 
klettern diese  „Gleitzone"  nicht  überschreiten 
und  sich  nicht  aus  der  Kanne  entfernen  können. 
Bobisut  hat  nun  angegeben,  daß  auch  nach 
Entfernung  des  Wachsüberzuges  mit  Chloroform 
oder  Äther  Ameisen  nicht  in  der  Gleitzone  em- 
porzuklettern  vermögen,  so  daß  der  Wachsüberzug 
für  die  Funktion  der  Gleitzone  bedeutungslos 
wäre.  Diese  Angabe  veranlaßte  F.  K  n  o  1 1  zu 
experimentellen  Untersuchungen  über  die  F"rage, 
auf  welche  Ursachen  das  Ausgleiten  der  Insekten- 
beine auf  Pflanzenteilen,  die  mit  Wachs  bedeckt 
sind,  zurückzuführen  sei.  Man  hatte  bisher  nicht 
berücksichtigt,  daß  die  Kletlereinrichtungen  bei 
verschiedenen  Arten  der  Insekten  von  verschie- 
dener Vollkommenheit  sind.  Die  Ameisen,  die 
Knoll  besonders  zu  seinen  Versuchen  benutzte, 
besitzen  Krallen  und  Haftlappen.  Bewegen 
sie  sich  auf  einer  rauhen  Oberfläche,  so  bedienen 
sie  sich  der  Krallen;  die  Haftlappen  sind  dann 
eingezogen  (Abb.  i).  Auf  glatten  Oberflächen, 
wo  die  Krallen  keinen  Halt  finden  können, 
werden  die  Haftlappen  ausgestreckt,  während  die 
Krallen  nach  der  Seite  zurückgewendet  werden 
(Abb.  2).  Das  Klettern  der  Ameise  mit  Hilfe  der 
Haftlappen  wird  der  Ameise  aber  unmöglich, 
wenn  die  sonst  glatte  Epidermisoberfläche  aus- 
geschiedenes Wachs   trägt,    dessen   Teilchen    sich 


Fig.  I.  (Nach  Knoll.) 


Fig.  2.     (Nach  Knoll.) 


bei  einem  geringfügigen  Zug  oder  Druck  leicht 
von  der  Unterlage  ablösen.  Die  Wachskörnchen 
bleiben  leicht  an  der  klebrigen  Fläche  der  Haft- 
lappen hängen,  und  diese  können  sich  dann  an 
der  Unterlage  nicht  festheften.  Dieselbe  Wirkung 
erzielt  man,  wenn  man  eine  blanke  Glasplatte 
leicht,  aber  gleichmäßig  mit  feinstem  Federweiß 
(Talkumpulver)  einstäubt  oder  mit  einem  gleich- 
mäßigen, kaum  sichtbaren  Überzuge  von  Kampfer- 
ruß   versieht:    an    einer    so    hergerichteten  Platte 


746 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr. 


47 


vermögen  die  Ameisen  nicht  emporzukriechen, 
und  aus  einem  Glaszylinder,  dessen  Innenfläche 
derart  eingestäubt  ist,  können  sie  nicht  entweichen. 
Setzt  man  Ameisen  auf  einen  ausgesparten  Bezirk 
einer  im  übrigen  berußten,  senkrechten  Glas- 
scheibe, so  vermögen  sie  diesen  nicht  zu  ver- 
lassen, ohne  abzustürzen  (vgl.  Abb.  3).  Der  Fall 
von  Nepenthes  klärte  sich  nun  dahin  auf,  daß  bei 
der  von  ßobisut  angewendeten  Behandlung  der 


F'g-   3-     (Nach  Knoll.) 

Wachsüberzug  nicht  völlig  beseitigt  worden  war. 
Knoll  rieb  die  Gleitzone  mit  einem  in  Chloro- 
form getauchten  Wattebäuschchen  sorgfältig  ab 
und  erhielt  eine  glatte,  wachsfreie  Fläche,  auf  der 
die  Ameisen  ohne  Schwierigkeit  nach  allen  Seiten 
laufen  konnten,  während  sie  für  Tiere  ohne  Haft- 
einrichtungen, z.  B.  Asseln,  ungangbar  blieb. 
Bringt  man  auf  einer  so  behandelten  Gleitzone 
mit  einem  Pinsel  einen  gleichmäßigen  feinen 
Überzug  von  Wachspulver  (gewonnen  von  den 
Blättern  der  Cotyledon  pulverulenta)  an,  so  wird 
sie  auch  für  Ameisen  wiederum  unüberschreitbar. 
Auf  der  Gleitzone  von  Nepenthes  finden  sich 
außerdem  Papillen,  die  aus  umgewandelten  Schließ- 
zellen bestehen.  Wie  Knoll  nachweist,  er- 
leichtern sie  den  Absturz  des  Tieres,  indem  sie 
es  in  eine  rüttelnde  Bewegung  versetzen,  wenn 
es  haltsuchend  mit  den  Vorderbeinen  über  die 
Gleitzonc  hinstreicht.  Diese  Hinrichtung  kommt 
an  Gleitzonen  der  Kesselfallen  verschiedener 
Pflanzen  vor,  erscheint  demnach  als  charakteristi- 
sches Merkmal  einer  solchen  Gleitzone.  Ihr  Zu- 
sammentreffen mit  dem  feinkörnigen  Wachs- 
überzug und  dem  fugenlosen  Aneinanderliegen 
der  flachen  F.pidermiszcllen  bei  Nepenthes  ist 
nach  Knoll  als  Anpassung  zu  betrachten.  Tiere 
mit  Hafteinrichtungen,  besonders  Ameisen,  machen 
einen  sehr  großen  Teil  der  Beute  von  Nepenthes 
aus;  solche  Tiere  können  aber  nur  durch  Ver- 
mittlung des  Wachsüberzuges  in  größerer  Menge 
in    die  Kanne    geraten    und    dort   zurückgehalten 


werden.  Wieweit  sonst  ein  Wachsüberzug  mit 
ablösbaren  Teilchen  als  „Schutzmittel  gegen  den 
Besuch  unwillkommener  Gäste"  in  Betracht 
kommt,  hängt  von  der  Umwelt  der  Pflanze  ab. 
Ohne  das  Vorhandensein  von  Tieren  mit  Haftein- 
richtungen ist  der  Wachsüberzug  in  dieser  Hin- 
sicht bedeutungslos.  In  trockenen  Gegenden 
spricht  als  Funktion  des  Wachsüberzuges  ver- 
mutlich noch  die  Verhinderung  zu  starker  Wasser- 
verdunstung eine  Rolle;  in  Regenwäldern  kommt 
(außer  dem  Schutz  gegen  den  Tierbesuch)  ein 
Schutz  gegen  unerwünschte  Benetzung  in  Frage, 
„wenn  überhaupt  die  Lage  des  Wachsüberzuges 
und  dessen  Ausbildung  eine  ökologische  Deutung 
verlangt".  (P  rings  heims:  Jahrbücher  für  wissen- 
schaftliche  Botanik.     1914,  Bd.  54,    S.  448—495.) 

F'.  Moewes. 

Biologie.  Über  merkwürdige  Bewohner  der 
Sporangien  von  Pilobolus  wird  im  Midland 
Naturalist,  der  von  der  University  of  Notre 
Dame,  Indiana,  veröffentlichten  naturwissenschaft- 
lichen Monatsschrift  berichtet.  Der  bekanntlich 
sich  auf  Pferdemist  entwickelnde  Pilz,  dessen 
Sporangienträger  schon  die  Höhe  von  einem  Zenti- 
meter erreicht  hatten,  wurde  Mitte  Oktober  in 
das  Laboratorium  verbracht  und  nach  kurzer 
Untersuchung  der  Sporen,  die  ca.  14 — 20  /«  groß 
waren  und  sich  von  gelblichem,  körnigem  Plasma 
erfüllt  zeigten,  beiseite  gestellt.  Als  das  Material 
Anfang  Februar  in  einen  feuchten  Raum  verbracht 
wurde,  ließ  das  vorher  sehr  üppige  Wachstum 
nach,  die  Sporangienträger  erreichten  kaum  die 
Höhe  von  0,5  cm,  die  Sporen  waren  von  normaler 
Größe,  aber  sehr  hell  gefärbt.  Am  15.  des  Mo- 
nats wurde  die  Kultur  von  neuem  untersucht,  um 
den  Unterschied  zwischen  den  früher  und  später 
entstandenen  Sporangien  vom  selben  Wachstum 
festzustellen.  Schon  makroskopisch  zeigten  die 
noch  vorhandenen  Sporangien  meistenteils  nicht 
das  gewöhnHche  Aussehen.  Unter  dem  Mikro- 
skop erschienen  die  meisten  als  eine  durch- 
einandergevvürfelte  Masse  einzelner  Sporen,  eine 
umhüllende  Membran  war  nicht  zu  sehen.  Ein 
einziges  Exemplar  war  noch  intakt;  seine  Form 
wechselte  beständig,  in  seinem  Innern  schien  sich 
etwas  Lebendiges  zu  bewegen.  Wirklich  kamen 
auch,  beim  Platzen  der  Hülle,  sechs  dünne  Würmer 
zum  Vorschein,  deren  innere  Struktur  bei  starker 
Vergiößerung  annähernd  festzustellen  war.  Die 
Länge  betrug  600 — 800  /(,  der  Umfang  ca.  25 — 
39  ,((.  Sehr  wahrscheinlich  ist  es,  daß  es  sich 
um  einen  Nematoden  handelt,  der  in  Coeman's 
Monographie  der  Gattung  Pilobolus  als  Bewohner 
der  Sporangienträger  von  Pilobolus  crystalinus  und 
Pilobolus  oedipus  angeführt  und  vom  Verf  alsRhab- 
ditis  terricola  bezeichnet  wird.  Ältere  Autoren 
beschreiben  gleichfalls  einen  ähnlichen  Wurm,  der 
nach  ihren  Angaben  und  Abbildungen  zu  schließen 
höchstwahrscheinlich  mit  dem  vorstehenden  iden- 
tisch ist.  Die  Form ,  die  C  o  e  m  a  n  fand ,  ist  in 
verwesenden     Substanzen    gemein.       Nach     dem 


N.  F.  XIII.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


747 


Material,  welches  der  Verf.  an  eine  Autorität  auf 
diesem  Gebiete  sandte,  die  nur  Larven  darin 
konstatieren  konnte  (auch  nach  langer  Beobach- 
tungsperiode gingen  keine  erwachsenen  Würmer 
daraus  hervor),  wurde  angenommen,  daß  die  Art 
auf  dem  Pferd  parasitisch  sein  muß.  Das  Vor- 
kommen der  Würmer  in  den  Sporangienträgern 
des  Pilzes  ist  damit  allerdings  auch  noch  nicht 
erklärt. 

Bemerkentwert  ist  noch,  daß  die  Sporangien 
nach  dem  Ausschlüpfen  der  Würmer  wieder  ganz 
das  Aussehen  der  gewöhnlichen  Sporenkapseln 
annahmen.  Die  Sporen  waren  kleiner  als  die 
anderen,  ca.  2 — 4  /(,  farblos  und  augenscheinlich 
leer.  Sie  zeigten ,  auch  im  Gegensatz  zu  den 
normalen,  eine  ausgesprochene  Neigung,  sich  in 
Ketten  von  ein  oder  zwei  Reihen  aneinander  zu 
legen.  R.  Aichberger. 

Anthropologie.  Prof.  Dr.  Franz  Boas  und 
Helene  M.  Boas  untersuchten  das  in  Rudolf 
Livi's  ,,Antropometria  Militare"  niedergelegte 
Material  in  bezug  auf  die  regionale  Variations- 
breite der  Kopfform  der  Bevölkerung  Italiens. ') 
Das  Land  wird  von  zwei  hinsichtlich  der  Kopf- 
form verschiedenen  Typen  bewohnt,  nämlich  einer 
breitköpfigen  Bevölkerung  im  Norden  und  einer 
langköpfigen  Bevölkerung  im  Süden.  Beide  Typen 
haben  sich  lange  Zeit  hindurch  miteinander  ge- 
kreuzt, ganz  besonders  in  der  Kontaktzone  Mittel- 
asiens. Wenn  nun  die  Annahme  richtig  wäre, 
daß  intermediäre  Bastarde  aus  Kreuzungen  hervor- 
gehen, so  müßten  in  Mittelitalien  mittelbreite 
Köpfe  vorwiegen  und  es  wäre  keine  große  Schwan- 
kung der  Kopfformen  zu  erwarten.  Die  Unter- 
suchung ergab  jedoch  in  Mittelitalien  die  größte 
Variationsbreite  der  Kopfformen,  die  im  allge- 
meinen nach  Norden  wie  nach  Süden  zu  abnimmt. 
Das  Vorkommen  einzelner  Gebiete  großer  Varia- 
bilität im  Norden  wie  im  Süden  beeinträchtigt 
das  Gesamtresultat  nicht,  denn  in  jenen  Gebieten 
bewirken  besondere  Umgebungseinflüsse  die  Aus- 
nahmeerscheinung. 

Es  hat  sich  also  abermals  bestätigt,  daß  nach 
Kreuzungen  die  elterlichen  Typen  wieder  zum 
Vorschein  kommen,  daß  „Entmischung"  statt- 
findet, so  wie  wir  sie  nach  der  Mendel'schen 
Spaltungsregel  zu  erwarten  haben. 

H.  P'ehlinger. 

Chemie.  Die  Reaktionsgeschwindigkeit  in 
heterogenen  Systemen  unterliegt  bekanntlich  nicht 
den  Gesetzen,  die  für  die  Geschwindigkeit  von 
Reaktionen  in  homogenen  Systemen  gelten.  Bei 
einer  Reaktion  im  heterogenen  System,  z.  B.  bei 
der  Auflösung  in  Marmor  in  verdünnter  Salzsäure, 
müssen  zunächst  die  Moleküle  oder  Ionen  der 
Salzsäure  zu  der  Grenzfläche  Marmor-Lösung  hin- 
diffundieren und  können  erst  dann  in  der  Grenz- 


')  The  Head   Forms    of    the    Italians.      American   Anthro- 
pologist, N.  S.,  Bd.   15,  Nr.  2. 


fläche  mit  dem  Marmor  reagieren.  Für  die  Ge- 
schwindigkeit der  Reaktion  kommen  also  zwei 
Faktoren  in  Frage,  nämlich  erstens  die  Ge- 
schwindigkeit, mit  der  die  am  Marmor  durch  die 
chemische  Reaktion  verbrauchte  Salzsäure  durch 
Diffusion  aus  dem  Schöße  der  Lösung  ergänzt 
wird,  und  zweitens  die  Geschwindigkeit,  mit  der 
die  herandiffundierte  Salzsäure  mit  dem  Marmor 
reagiert.  Die  durch  den  direkten  Versuch  ge- 
messene ,, Reaktionsgeschwindigkeit"  wird  daher 
offenbar  durch  die  Geschwindigkeit  des  langsamer 
verlaufenden  Teilvorganges  bestimmt,  denn  was 
nützt  ein  rascher  Verlauf  der  eigentlichen  Reaktion 
in  der  Grenzschicht,  wenn  die  Salzsäure  nur 
langsam  herandiffundiert,  oder  eine  große  Dif- 
fussionsgeschwindigkeit,  wenn  die  Salzsäure  in- 
folge zu  langsamen  Ablaufes  der  chemischen  Re- 
aktion nicht  in  dem  Maße,  wie  sie  zum  Marmor 
herangeführt  werden  kann,  dort  verbraucht  wird  ? 

Nun  ist  in  sehr  vielen  Fällen  die  Geschwindig- 
keit der  eigentlichen  chemischen  Reaktion  größer 
als  die  Diffussionsgeschwindigkeit,  d.  h.  die  ge- 
messene „Reaktionsgeschwindigkeit"  wird  durch 
den  langsamer  verlaufenden  Teilvorgang,  die 
Diffussion,  bestimmt,  sie  ist  in  Wirklichkeit  eine 
Diffussionsgeschwindigkeit.  Diese  Tatsache  findet 
ihren  Ausdruck  in  der  von  Noyes  und  Whit- 
ney und  dann  besonders  von  N ernst  und  seinem 
Schüler  Brunner  entwickelten  und  vertretenen 
,,Diffussionstheorie  derGeschwindigkeit  heterogener 
Reaktionen".  Diese  Theorie  ist  durch  das  Ex- 
periment vielfach  bestätigt  worden.  So  hat  die 
Geschwindigkeit,  mit  der  sich  Magnesiumoxyd  in 
verschiedenen  Säuren  auflöst,  nichts  mit  der 
„Stärke"  der  Säure  zu  tun,  sondern  ist  allein  von 
der  Diffussionsgeschwindigkeit  der  Säure  abhängig: 
Je  rascher  eine  Säure  diffundiert,  um  so  rascher 
löst  sie  den  Marmor  auf.  Und  ebenso  ist  für  die 
Geschwindigkeit,  mit  der  sich  die  verschiedenen 
Metalle  Quecksilber,  Kupfer,  Silber,  Zink,  Cad- 
mium,  Eisen,  Nickel  und  Kobalt  in  wässeriger 
Jodjodkaliumlösung  auflösen,  nicht  die  chemische 
Affinität  zwischen  dem  Metall  und  dem  Jod  maß- 
gebend, es  lösen  sich  vielmehr,  wie  R.  G.  van 
Name  und  seine  Mitarbeiter  festgestellt  haben, 
die  genannten  Metalle  unter' gleichen  Bedingungen 
mit  derselben  Geschwindigkeit  auf,  weil  es  sich 
im  Grunde  immer  um  denselben  die  gemessene 
„Reaktionsgeschwindigkeit"  bestimmenden  Vor- 
gang handelt,  um  die  Geschwindigkeit,  mit  der 
das  Halogen  zum  Metall  hindiffundiert. 

Es  sind  aber  auch  Fälle  bekannt,  die  sich  der 
„Diffussionstheorie"  nicht  fügen,  ja  in  neuerer 
Zeit  scheinen  sich  Fälle  dieser  Art  sogar  zu 
häufen.  Verwiesen  sei  hier  vor  allen  Dingen  auf 
die  Untersuchungen  von  Rob.  Marc  über  die 
Kristallisations-  und  Lösungsvorgänge  und  eine 
vor  kurzem  erschienene,  sehr  umfangreiche  Ab- 
handlung von  M.  Cent nersz wer  und  Js.  Sachs 
über  die  Geschwindigkeit  der  Auflösung  von 
Zink  in  verdünnten  Säuren  (Z.  physikal.  (Jiicm.  87, 
693 — 762;    1914).     Erscheint    nun    die    Sachlage 


748 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr.  47 


beim  KristalHsations-  und  Lösungsvorgang  und 
bei  der  Auflösung  von  iVIetallen  in  Säuren  recht 
verwickelt,  so  ist  ein  besonders  einfacher  P^all  von 
Nichtübereinstimmung  mit  der  Diffusionstheorie 
neuerdings  von  Felix  Rosenkränzer  bei  der 
Untersuchung  der  Einwirkung  von  verdünnter 
Schwefelsäure  auf  Zinkblende  und  Bleiglanz  auf- 
gefunden worden  (Z.  anorg.  Chem.  87,  319 — 334 
und  88,  452;  1914).  Allerdings  liegt  —  das  muß 
von  vornherein  bemerkt  werden  —  auch  dieser 
Fall  nur  darum  so  einfach,  weil  es  durch  die 
Ausarbeitung  eines  kolorimetrischen  Verfahrens 
zur  quantitativen  Bestimmung  von  Schwefel- 
wasserstoff in  äußerst  verdünnten  Lösungen  (vgl. 
Naturw.  Wochenschrift,  Bd.  13,  S.  413;  1914) 
möglich  geworden  war,  mit  sehr  verdünnten 
Lösungen  zu  arbeiten  und  die  Versuche  auf  die 
ersten  Stadien  der  Reaktion  zu  beschränken,  also 
auf  das  Gebiet,  wo  die  allgemeinen  Gesetzmäßig- 
keiten mit  besonderer  Klarheit  und  in  besonderer 
Einfachheit  hervortreten.  Gerade  die  oft  sehr 
lästigen  sekundären  Störungen  konnten  auf  diese 
Weise  vermieden  werden. 

Die  Versuchsanordnung  war  einfach :  Von 
Zinkblenden  verschiedener  Herkunft  sowie  von 
einer  Bleiglanzprobe  wurden  nach  der  Zerkleine- 
rung durch  Siebung  Körner  von  verschiedenem, 
aber  bekanntem  Durchmesser  gewonnen;  dann 
wurden  abgewogene  Mengen  der  Körner  mit  ab- 
gemessenen Mengen  verdünnter  Schwefelsäure  von 
bekanntem  Gehalt  bei  bestimmter,  konstant  er- 
haltener Temperatur  während  bestimmter  Zeiten 
geschüttelt,  und  schließlich  wurde  der  Schwefel- 
wasserstoffgehalt der  Lösungen  nach  dem  früher 
beschriebenen  Verfahren  kolorimetrisch  ermittelt. 
Das  Ergebnis  der  Versuche  läßt  sich  folgender- 
maßen zusammenfassen : 

Für  jedes  einzelne  Erz  ist  die  entwickelte 
Schwefelwasserstoffmenge  y  der  Zeitdauer  Z  der 
Reaktion,  der  Schwefelsäurekonzentration  [HoSO^], 
der  Oberfläche  O  von  einem  Gramm  des  Erzes 
und  der  angewandten  Gewichtsmenge  M  des 
Erzes  proportional  und  ändert  sich  mit  der  Tempe- 
ratur &  nach  einer  einfachen  Exponentialfunktion, 
d.  h.  es  ist 

y  =  c-Z-[H.,  SOjlO.M-e«^'', 
wenn  mit  c  eine  für  das  betreffende  Erz  cha- 
rakteristische Konstante,  mit  ^  die  Versuchs- 
temperatur in  Celsiusgraden  und  mit  o  der 
Temperaturkoeffizient  der  Reaktion  bezeichnet 
wird. 

Bemerkenswert  ist  nun,  daß  für  die  fünf  unter- 
suchten Erze,  nämlich 

1.  Clausthaler  Zinkblende, 

2.  Clausthaler  Bleiglanz, 

3.  Zinkblende  von  Picos  de  Europa  (sogenannte 
Honigblende), 

4.  Zinkblende    von    der    Grube    Berzelius    bei 
Bensberg, 

5.  Christophit  (eine  stark  eisenhaltige,  schwarze 
Zinkblende), 

nicht     nur    dieselben    Gesetzmäßigkeiten    gelten, 


sondern  auch  der  Temperaturkoeffizient  a  den- 
selben Zahlenwert  0,044  hat.  Verschieden  ist  bei 
den  verschiedenen  Erzen  nur  der  Zahlenwert  der 
Konstanten  c:  Nennt  man  die  von  der  Ober- 
flächeneinheit der  Clausthaler  Blende  unter 
irgendwelchen  Versuchsbedingungen  entwickelte 
Schwefelwasserstoffmenge  1,000,  so  wird  unter 
den  gleichen  Versuchsbedingungen  von  der  Ober- 
flächencinheit  des 

Christophits  die  Schwefelwasserstoffmenge  2,2305 
Bcnsb.  Erzes     „  „  i,772 

der 
Honigblende     „  „  0,510 

und  des 
Bleiglanzes        „  „  0,159 

entwickelt. 

Würde  die  Diffusionstheorie  der  Geschwindig- 
keit heterogener  Reaktionen  für  den  vorliegenden 
Fall  gelten,  so  müßten  offenbar,  da  es  sich  ja 
immer  um  denselben  Diffusionsvorgang,  die  Dif- 
fusion der  Schwefelsäure  zum  Erz  hin,  handelt, 
alle  fünf  Erze  unter  den  gleichen  Versuchsbe- 
dingungen im  gleichen  Maße  angegriffen  werden,') 
während  der  Angriff  tatsächlich  sehr  verschieden 
stark  ist.  Die  Geschwindigkeit  des  Angriffs  wird 
also  nicht  von  der  Diffusionsgeschwindigkeit  be- 
stimmt, sondern  hängt  von  der  —  offenbar  ver- 
hältnismäßig geringen  —  Geschwindigkeit  der 
eigentlichen  Reaktion  in  der  Grenzschicht  zwi- 
schen Erz  und  Flüssigkeit  ab.  Die  Geschwindig- 
keit dieser  Reaktion  erweist  sich  als  eine  cha- 
rakteristische Eigenschaft  der  verschiedenen  Erze, 
deren  Zurückführung  auf  andere,  bekannte  Eigen- 
schaften bisher  nicht  möglich  war.  Mg. 

Paläontologie.    Über  Saurierfunde  in  Deutsch- 


Süd  westafrika   berichtet    E.  Stromer,    dem    wir 


die  erste  Zusammenfassung  unseres  Wissens  von 
der  Geologie  der  afrikanischen  Schutzgebiete  schon 
1896  verdankten,  im  Zentralblatt  für  Mineralogie, 
Geologie,  Paläontologie  1914,  Heft  17,  S.  530 — 541. 
Diese  hocherfreuliche  neue  paläontologische  Ent- 
deckung ist  dem  leider  inzwischen  verstorbenen 
Major  Brentano-Bern arda  zu  verdanken.  Es 
handelt  sich  hier  nicht,  wie  bei  den  bekannten 
deutsch-ostafrikanischen  Funden  um  die  großen, 
letzthin  so  vielgenannten  Dinosaurier,  sondern  um 
eine  ganz  andere  Reptilgruppe  von  wesentlich 
höherem  Alter.  Sie  sind  für  Südafrika  auch  durch- 
aus kein  Novum,  da  sie  aus  dem  Gebiete  der  jetzigen 
„Union"  seit  langem  bekannt  gewesen  sind,  nicht  ein- 
mal eine  völlige  Überraschung  für  unsere  Kolonie,  da 
das  Vorhandensein  der  gleichen  Schichten  hier 
wie  dort  festgestellt  und  somit  auch  ähnliche 
Fossilführung  zu  erwarten  war.  Vielmehr  in  der 
Erfüllung  jener  Erwartung  und  den  damit  sich 
bietenden    Aussichten   auf  weitere    wichtige    Auf- 


')  Höchstens  müßte  für  die  nicht-sulfidischen  Verun- 
reinigungen der  Erze  ein  deren  Menge  entsprechender  Abzug 
gemacht  werden.  In  Wirklichkeit  hat  sich  ein  einfacher  Zu- 
sammenhang zwischen  der  Angreifbarkeit  der  F^rze  und  ihrer 
chemischen  Zusammensetzung  nicht  erkennen  lassen. 


N.  F.  XIII.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


749 


Schlüsse  über  das  Tierleben  einer  fernen  Ver- 
gangenheit Südafrikas  liegt  ihre  große  Bedeutung. 
Diese  Erwartung  weiterer  ähnlicher  Funde  spricht 
sich  schon  im  Titel  der  Stromer'  sehen  Arbeit 
aus:  „Die  ersten  fossilen  Reptilreste  aus  Deutsch- 
Südwestafrika    und    ihre    geologische    Bedeutung." 

In  der  Tat  ist  ja  den  gleichaltrigen ,  wenn 
auch  nicht  in  allem  gleichartigen  Schichten  Süd- 
afrikas eine  ganze,  großartige  P'auna  entstiegen, 
und  wenn,  wie  nun  erwiesen  ist,  in  Deutsch- 
Südwestafrika  die  Erhaltungsbedingungen  nicht  un- 
günstigersind als  dort,  so  wäre  es  jasogarsehr  befremd- 
lich, wenn  die  Reichhaltigkeit  einzelner  Horizonte 
nicht  entsprechend  sein  sollte.  Die  Schichtenfolge, 
um  die  es  sich  bei  alledem  handelt,  die  sog.  Karroo- 
Schichten  Südafrikas,  umfassen  insgesamt  eine  sehr 
große  Zeitspanne,  die  vom  Ende  der  Karbonzeit  bis  in 
den  Beginn  der  Juraperiode  reicht,  also  die  Wende 
von  Paläozoikum  und  Mesozoikum  in  weitestem 
Umfange  darstellt.  Es  sind  durchweg  kontinentale 
Ablagerungen,  die  unter  den  mannigfachsten  Be- 
dingungen in  Flüssen,  Seen,  Sümpfen,  Mooren 
(Kohleführung),  auch  ohne  Beteiligung  des  Wassers 
in  einem  gewaltigen  Areale  entstanden  sind,  dem- 
gemäß natürlich  faziell  starken  Schwankungen 
unterworfen  sind  und  eine  reine  Land-  und  Süß- 
wasserfauna beherbergen.  Die  Fauna  setzt  sich 
nahezu  ausschließlich  aus  den  Wirbeltieren  der 
damaligen  Zeit  zusammen :  Fischen,  Stegocephalen, 
Reptilien.  Je  nach  dem  Alter  sind  die  Formen 
natürlich  recht  wesentlich  verschieden,  ja  sie  selbst 
geben  letzthin  die  Leitlinien  ab  für  die  Gliederung 
des  ganzen  Komplexes  in  einzelne  Schichten. 
In  den  jüngeren,  höheren  Lagen  sind  auch  triassische 
Dinosaurier  bekannt  geworden. 

In  Deutsch-Südwestafrika  ist  seit  kurzem  eine 
recht  wesentliche  Abweichung  vom  südafrikanischen 
Normalprofil  gefunden  worden,  die  darin  besteht, 
daß  ein  mariner  Horizont  mit  Eurydesmen,  etwa 
der  Rotliegendzeit  angehörig,  in  das  hier  noch 
allein  festgestellte  ältere  Karroo  eingeschaltet  ist. 
Dem  Hangenden  dieser  Eurydesma-Stufe  gehören 
nun  die  hellen  Schiefer  wahrscheinlich  an,  in 
denen  Major  Brentano  die  von  Stromer  be- 
schriebenen Reste  in  Kabus,  zum  geringen  Teil 
auch  an  andere  Fundorten  gesammelt  hat.  An 
der  Grenze  von  Land  und  Meer,  in  Delta- 
Mündungen  ,  Ästuarien  oder  dergleichen  mögen 
auch  sie  noch  abgelagert  sein,  während  man  ihnen 
rein  marinen  Charakter  kaum  noch  zuschreiben 
kann.  Damit  wäre  dann  für  diesen  Horizont  die 
Übereinstimmung  mit  den  entsprechenden  süd- 
afrikanischen Ablagerungen  nach  dem  kurzdauernden 
Meereseinbruch  von  W.  her  wieder  hergestellt. 
Die  Lebensbedingungen  müssen  ja  auch  für  die 
wasserbewohnenden  Mesosaurier,  denn  um  solche 
handelt  es  sich  nach  Strom er's  Untersuchungen, 
hier  wie  dort  einigermaßen    gleich   gewesen  sein. 

Die  Mesosaurier  gehören  zu  den  dem  Wasser- 
leben angepaßten  Reptilien  des  Mesozoikums,  deren 
bekannteste  Vertreter  die  Ichthyosaurier,  Noto- 
saurier    und    Plesiosaurier   sind,    erreichen   jedoch 


bei  weitem  nicht  deren  Dimensionen.  Ihre  syste- 
matische Stellung  ist  nicht  endgültig  geklärt.  Mit 
um  so  größerer  Freude  muß  man  daher  neue  an- 
scheinend reichhaltige  Fundstellen  begrüßen,  die 
vielleicht  genaueren  Aufschluß  darüber  geben 
können.  Von  den  beiden  Gattungen  der  Familie, 
Stereosternum  und  Mesosaurus  selbst,  ist  bisher 
nur  die  letztere  in  Afrika  bekannt  geworden, 
freilich  bereits  in  mehreren  Arten.  Auch  die 
neuen  Funde  reiht  Stromer  bei  dieser  Gattung 
ein.  Beschrieben  wurden  zunächst  hauptsächlich 
Hand  und  Fuß,  die  ja  aber  in  ihrer  Annäherung 
an  Flossenbildung  bei  derartigen  Typen  sehr 
charakteristisch  sind.  Die  Erhaltung  der  Stücke 
ist  offenbar  ausgezeichnet  und  erlaubt  das  Studium 
interessanter  Einzelheiten.  Die  Rippen  und  Wirbel 
sind  durch  große  Plumpheit  (Pachyostose)  aus- 
gezeichnet, ebenfalls  ein  wichtiges  Merkmal  nicht 
nur  dieser,  sondern  überhaupt  vieler  lungenatmender 
Wasserbewohner. 

Die  Hauptfülle  der  höchst  interessanten  Repti- 
lienfunde Südafrikas  stammt  aus  den  jüngeren 
permischen  und  besonders  aus  den  triassischen 
bis  jurassischen  Karroo-Schichten.  Es  scheint 
noch  keineswegs  ausgemacht,  ob  diese  späteren 
Horizonte  in  Deutsch  -  Südwestafrika  überhaupt 
noch  entwickelt  sind.  Wir  werden  also  zunächst 
nicht  ohne  weiteres  auf  F"ossilfunde  indem  gleichen 
Umfange  wie  dort  hoffen  dürfen.  Aber  ein  viel- 
versprechender Anfang  ist  gemacht  und  es  ist  im 
höchsten  Maße  zu  wünschen ,  daß  beim  P^lintritt 
ruhigererZeitendortsystematischeNachforschungen 
angestellt  werden  mögen.  E.  Hennig. 

Physiologie.  Über  den  Gehalt  des  Körpers 
an  Fettsäuren  und  Cholesterin  machte  Emile  F. 
Terroine  (Constance  de  la  concentration  des 
organismes  totaux  en  acides  gras  et  en  Chole- 
sterine. Evaluation  des  reserves  de  graisses.  C. 
R.  Ac.  sc.  Paris  Nr.  i,  6  juillet  1914)  folgende 
Feststellungen.  Beim  Bengali  (Sporaegynthus 
melpodus),  einem  kleinen  körnerfressenden  Vogel, 
betrug  der  Fettgehalt  in  g  pro  kg  Körpergewicht 
bei  normalen  Tieren:  6<S,9,  44,8,66,6,61,3,  61,3  59,0; 
bei  6  an  Erschöpfung  gestorbenen  Tieren  26,9, 
26,0,  27,9,  27,5,  26,6,  29,2.  Es  folgt  daraus,  daß 
bei  normalen  Tieren  der  Fettreichtum  großen 
Schwankungen  unterliegt ;  eine  bemerkenswerte 
Konstanz  aber  ergibt  sich  bezüglich  der  Menge 
des  zum  Leben  nötigen  Fettes.  Wenn  sie  unter 
eine  bestimmte  Mindestquantität  sinkt,  gehen  die 
Tiere  zugrunde.  Bei  der  Maus  waren  die  ent- 
sprechenden Zahlen  27,8—87,5,  bzw.  23,0  durch- 
schnittlich, beim  Frosch  6,43 — 17,7  bzw.  4,7  durch- 
schnittlich. 

Die  Individuen  einer  Art  haben  also  eine  kon- 
stante, für  alle  gleich  große,  und  daneben  eine 
variable  Fettmenge.  Die  Menge  des  Reservefetts 
wird  ausgedrückt  durch  die  Differenz  zwischen 
der  konstanten  und  der  individuell  schwankenden 
Größe. 

Der     Cholesteringehalt     zeigt     bei     normalen 


750 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  47 


Wirbeltieren  verschiedener  Arten  große  Schwan- 
kungen, und  die  gefundenen  Zahlen  haben  des- 
halb nur  wenig  Wert.  Es  ergibt  sich  indes  eine 
bemerkenswerte  Konstanz  des  Cholesteringehalts 
bei  den  verschiedenen  Individuen  derselben  Art, 
wo  er  um  höchstens  5"/i)  schwankt,  und  die  ab- 
solute Unabhängigkeit  des  gefundenen  Wertes 
von  der  systematischen  Stellung.  Meistens  beträgt 
er  g  1,4  pro  kg  Körpergewicht;  so  bei  Fischen, 
dem  Frosch,  der  Auster  und  dem  Seestern. 

Kathariner. 

Mit  dem  Einfluß  der  Milzexstirpation  auf 
die      chemische     Konstitution      des     Tierkörpers 

(Pflüger 's  Archiv  Band  157,  1914)  beschäftigt 
sich  eine  Arbeit  von  Karl  Droge.  Bei  einer 
früheren  Untersuchung  war  einem  Hunde  10  Tage 
nach  der  Geburt  die  Milz  exstirpiert  worden.  Im 
Wachstum  blieb  das  Tier  den  Kontrolltieren 
gegenüber  sichtlich  zurück.  D.  läßt  es  dahin- 
gestellt sein,  ob  darin  eine  Folge  des  operativen 
Eingriffes  zu  sehen  ist.  Zur  Entscheidung  der 
Frage,  ob  die  Entfernung  der  Milz  einen  Einfluß 
auf  die  Gewichtszunahme  hat,  die  von  früheren 
Untersuchern  in  der  verschiedensten  Weise  beant- 
wortet wurde,  ist  der  eine  Fall  offenbar  nicht 
ausreichend.  Bei  zwei  operierten  Meerschwein- 
chen war  die  Gewichtszunahme  die  gleiche,  wie 
beim  Kontrolltier. 

Der  Wassergehalt  des  Tierkörpers  zeigt 
eine  überraschende  Konstanz;  selbst  bei  zehrenden 
Krankheiten  und  bei  Hunger  erleidet  der  Körper 
keinen  Wasserverlust.  Eine  Ausnahme  macht  er 
nur   während    des  Wachstums,    indem  dabei    sein 


Wassergehalt  zwar  absolut  zunimmt,  relativ  aber 
abnimmt.  Durch  die  Milzexstirpation  erleidet  der 
Wassergehalt  keine  Veränderung,  das  Gleiche 
scheint  bezüglich  des  Fettgehalts  zuzutreffen. 
Dagegen  ist  der  Aschegehalt  gesteigert. 
Während  das  Kontrolltier  durchschnittlich  täglich 
eine  Gewichtszunahme  von  41,0  g  bzw.  53,06  g 
hatte,  zeigte  der  Milzhund  vor  der  Operation  36,5  g, 
nach  der  Operation  nur  26,28  g.  Wie  bei  den 
Versuchen  von  Thomas  und  Arons  blieben 
die  Knochen  im  Wachstum  zurück.  Einmal 
waren  sie  im  Längs-  und  Querdurchmesser  um 
einige  mm  kleiner,  als  die  der  übrigen  Hunde, 
und  dann  waren  in  der  Fußwurzel  nur  4  statt  5 
Knochenkerne  auf  dem  Röntgenbild  sichtbar.  Der 
Stickstoffgehalt  des  Eiweißes  zeigte  bei  dem 
Milzhund  keine  Abweichung;  bei  den  Meer- 
schweinchen wurde  eine  so  geringfügige  Vermin- 
derung des  N- Wertes  des  Eiweißes  gefunden,  daß 
ihr  D.  keine  Bedeutung  beimißt. 

Die  neuen  Versuche  mit  Meerschweinchen 
haben  einen  besonderen  Wert  deshalb ,  weil 
sie  beweisen,  daß  auch  bei  artfremder  Naiirung 
durch  die  Milzexstirpation  keine  wesentliche  Ver- 
änderung im  Chemismus  des  Tierkörpers  herbei- 
geführt wird.  Die  früheren  Untersuchungen  (Über 
Veränderungen  in  der  chemischen  Konstitution 
des  Tierkörpers  nach  Exstirpation  der  Milz,  der 
Hoden  und  des  Schilddrüsenapparates,  Fflüger's 
Archiv  Bd.  152,  1914)  waren  in  dieser  Richtung 
nicht  beweisend,  da  sie  mit  Hunden  angestellt 
wurden,  welche  in  der  Säuglingsperiode  nur 
Muttermilch  *als  Nahrung  aufnahmen. 

Kathariner. 


Büclierbesprechiingen. 


Der    Mensch    aller    Zeiten.      Natur    und  Kultur 

der    Völker    der    Erde.      Allgemeine    Verlags- 

geselischaft    in  Berlin,    München,  Wien.     (Ohne 

Jahreszahl.) 

Das  Werk  ist  seiner  ganzen  Anlage  nach  darauf 

berechnet,  weiten  Kreisen  der  Gebildeten  als  P'ührer 

auf  den  Gebieten  der  Vorgeschichte,  Anthropologie 

und    Ethnographie    zu    dienen.      Aber    auch    der 

Fachmann  wird  es  als  Nachschlagwerk  manchmal 

nützlich  finden. 

Von  den  beiden  bisher  vorliegenden  Bänden 
ist  der  erste  betitelt  ,,Der  Mensch  der  Vorzeit" 
und  verfaßt  von  Dr.  Hugo  Obermeier,  der 
katholischer  Geistlicher  und  zugleich  Professor 
am  internationalen  Institut  für  menschliche 
Paläontologie  zu  Paris  ist.  Der  Verf  behandelt 
die  Morphologie  viel  weniger  ausführlich  als  Kunst 
und  Handwerk  der  prähistorischen  Menschen, 
ganz  besonders  der  eiszeitlichen  Menschen.  \'on 
den  Menschen  der  alluvialen  Perioden  wird  da- 
gegen nur  eine  allgemein  übersichtliche  Darstellung 
gegeben,  da  das  Eingehen  auf  Einzelheiten  der 
Spezialforschung  über  den  Grundplan  des  Werkes 


hinausgegangen  wäre.  Auch  die  Vorgeschichte 
der  außereuropäischen  P>dteile  wird  soweit  als 
möglich  berücksichtigt.  Der  kirchliche  Standpunkt 
des  Verf.  kommt  namentlich  in  den  Bemerkungen 
über  das  Deszendensproblem  und  in  dem  Kapitel 
über  den  Diluvialmenschen  nach  seiner  ps)-chischen 
Beschaftenheit  zum  Ausdruck. 

Der  zweite  Band,  „Die  Rassen  und  Völker  der 
Menschheit",  hat  den  Münchener  Universitätspro- 
fessor Dr.  Ferdinand  Birkner  zum  Verfasser 
Er  behandelt  vor  allem  ziemlich  eingehend  die 
AnatomieundPhysiologie  desmenschlichen  Körpers, 
sodann  führt  er  einen  Vergleich  durch  zwischen 
den  körperlichen  Merkmalen  des  Menschen  und 
der  Tiere,  besonders  der  Affen.  Daran  reihen  sich 
Abschnitte  über  die  ältesten  Reste  des  Menschen, 
die  Rassen  und  Völker  Europas  und  die  Bevöl- 
kerung der  deutschen  Kolonien.  Der  Schlußab- 
schnitt betrifft  die  Rassengliederung  und  Einheit 
des  Menschengeschlechts.  Da  Prof.  Birkner 
ebenfalls  den  kirchlichen  Standpunkt  vertritt,  so 
lehnt  er  anscheinend  auch  die  Abstammung  des 
Menschen  von  niederen  Lebewesen  ab.    Er  schreibt 


N.  F.  Xm.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


751 


S.  290:  „Alles  was  über  die  körperliche  Ab- 
stammung des  Menschen  von  niederen  Wesen 
behauiitet  wird  ist  hypothetisch,  kann  nur  auf 
Ähnlichkeiten  gestützt  werden,  wobei  aber  wohl 
zu  beachten  ist,  daß  nicht  jede  Ähnlichkeit  den 
Schluß  auf  gemeinsame  Abstammung  zuläßt. 
Manche  Ähnlichkeit  ist  nur  eine  scheinbare  und 
darum  ganz  verschiedenen  Ursachen  zuzuschreiben, 
oder  mit  ganz  verschiedenen  Begleitumständen 
verbunden."  Prof  Birkner  erinnert  dabei  an 
die  „Konvergenzen",  die  in  der  Natur  häufig 
beobachtet  werden.  Er  meint  ferner,  daß  die 
scheinbaren  Tierähnlichkeiten  (sofern  sie  nicht 
Konvergenzerscheinungen  sind)  als  Hemmungs- 
oder Exzeßbildungen  während  der  individuellen 
Entwicklung  aufzufassen  sind. 

Auf  den  im  Erscheinen  begriffenen  dritten 
Band,  „Völker  und  Kulturen",  der  sich  u.  a.  mit 
den  Methoden  und  Zielen  der  Völkerpsychologie 
eingehend  befaßt,  werden  wir  noch  zurückkommen, 
sobald  er  abgeschlossen  vorliegt. 

Die  .Ausstattung  des  Werkes,  das  in  etwa  40 
Lieferungen  zum  Preise  von  je  i  Mk.  erscheint, 
ist  eine  recht  gute.  Die  Illustrationen  sind  zweck- 
dienlich gewählt  und  schön  ausgeführt.  Außer 
den  Textbildern  und  schwarzen  Tafeln  sind  auch 
farbige  Karten  beigegeben.  H.  Fehlinger. 

Sladen,  F.  W.  L.,  The  Humble-Bee.  Its 
Life-History  and  how  to  domesticate  it,  with 
descriptions  of  all  the  british  species  of  Bom- 
bus  and  Psithyrus.  Illustrated  with  photo- 
graphs  and  drawings  by  the  author  and  five 
coloured  plates  photographed  direct  from  na- 
ture.  283  S.  Verlag  Macmillan  and  Co.,  Limi- 
ted.     St.  Martin's  Street,    London  W.  C.   191 2. 

—  Preis   10  s.  net. 

Ein  wertvoller  Beitrag  zur  Biologie  der  Hum- 
meln. Sladen,  bereits  als  Bienenzüchter  von 
außergewöhnlich  scharfer  Beobachtung  bekannt, 
gibt  hier  eine  Beschreibung  des  Hummellebens 
unter  Beigabe  zahlreicher  ausgezeichneter  Abbil- 
dungen. Besonders  hervorzuheben  sind  die  nach 
farbigen  Photographien  hergestellten  Tafeln  der 
englischen  Hummelarten,  die  alle  bisherigen  Ab- 
bildungen weit  übertreffen.  Wer  Hummeln  in 
künstlichen  Wohnungen  züchten  will,  findet  in 
diesem  Werk  vortreffliche,  erprobte  Angaben. 
Sladen  ist  der  erste  gewesen,  der  das  Rätsel 
des  Pollensammelns  bei  den  Bienen  und  Hummeln 
gelöst  hat.  Plinige  wenige  Ansichten,  die  den 
Autodidakten  verraten ,   fallen    nicht   ins  Gewicht. 

Buttel-Reepen. 

Berg,  Leo,  Das  Problem  der  Klima ände- 
rung  in  geschichtlicher  Zeit.  Geo- 
graphische Abhandlungen,  Bd.  X,  Heft  2. 
70    Seiten.      Leipzig,    B.    G.    Teubner.       1914. 

—  Preis  3,60  Mk. 

Der  Verf  behandelt  in  10  Kapiteln  die  P'euch- 
tigkeitsvorräte  der  Atmosphäre,  die  Feuchtigkeit 
im   Boden,   die   Prozesse    des  Verschwindens    der 


.Seen,  das  mutmaßhche  .Seichterwerden  der  P'lüsse 
Rußlands,  die  Böden  in  ihrer  Beziehung  zu  den 
Klimaänderungen  in  Südrußland,  die  Änderungen 
der  Vegetationsdecke  während  der  geschichtlichen 
Zeit,  Klimaänderungen  in  der  postglazialcn  Zeit, 
die  Verdunstung  in  den  Wüsten,  die  Sandwüsten 
und  das  Problem  der  Klimaänderung  einiger 
Länder  während  der  geschichtlichen  Zeit.  Die 
einzelnen  Kapitel  sind  nicht  mit  gleicher  Gründ- 
lichkeit bearbeitet  und  tragen  mitunter  nur  einen 
aphoristischen  Charakter.  Auch  sind  die  neuesten 
PJrgebnisse  der  Forschung  nicht  berücksichtigt, 
was  darin  seine  Erklärung  findet,  daß  es  sich, 
wie  aus  dem  Vorwort  hervorgeht,  um  die  deutsche 
Übersetzung  einer  Arbeit  handelt,  die  in  der 
russisclien  Zeitschrift  Semlewjedjenie  bereits  im 
Jahre   191 1   erschienen  ist. 

Der  Verf  gelangt  zu  folgenden  Schlußfol- 
gerungen : 

1.  Vergleicht  man  die  gegenwärtige  Epoche 
mit  der  Eiszeit,  so  wird  man  fast  auf  dem  ganzen 
Festlande  eine  Verringerung  der  Binnengewässer 
und  der  atmosphärischen  Niederschläge  konsta- 
tieren können. 

2.  Eine  ununterbrochene  Austrocknung  hat 
seit  dem  Ende  der  Eiszeit  nicht  stattgefunden : 
der  gegenwärtigen  Epoche  ging  eine  solche  mit 
noch  trocknerem  und  wärmerem  Klima  voraus. 

3.  Während  der  historischen  Zeit  ist  nirgends 
eine  Klimaänderung  zugunsten  einer  fortschrei- 
tenden Erhöhung  der  mittleren  Jahrestemperatur 
der  Luft  oder  einer  Verminderung  der  atmo- 
sphärischen Niederschläge  zu  bemerken.  Das  Klima 
bleibt  entweder  beständig  (abgesehen  von  Schwan- 
kungen, deren  Periode  höchstens  einige  Jahrzehnte 
beträgt,  den  sog.  Brückner'schen  Perioden), 
oder  es  läßt  sich  sogar  eine  gewisse  Tendenz  zu 
einem  Feuchterwerden  konstatieren. 

4.  Es  kann  daher  weder  von  einem  ununter- 
brochenen Austrocknen  der  Erde  seit  der  Be- 
endigung der  Eiszeit,  noch  von  einem  solchen  im 
Laufe  der  geschichtlichen  Zeit  die  Rede  sein. 

Ein  Literaturverzeichnis  von  81  Nummern 
bildet  eine  willkommene  Beigabe.         O.  Baschin. 


Verworn,  Max,  Die  Mechanik  des  Geistes- 
lebens.    Mit  19  Abbildungen  im  Text.    Dritte 
Auflage.  (Aus  Natur  und  Geisteswelt.  200.  Bänd- 
chen.)    Druck   und  Verlag    von  B.  G.  Teubner 
in  Leipzig  und  Berlin   1914.  —  Preis  in  Leinw. 
geb.   1,25  Mk. 
Die   Brauchbarkeit  des  kleinen  Werkes,  das  in 
klarer  und   übersichtlicher  Weise    den  Leser   über 
den  Stand  unseres   derzeitigen  Wissens    von    den 
hauptsächlichsten      physiologisch-psychologischen 
Problemen  unterrichtet,  geht  bereits  daraus  hervor, 
daß  eine  dritte  Auflage  nötig  wurde.     Da  diese,  ab- 
gesehen   von    kleinen    Erweiterungen,    gegenüber 
den  früheren  keine  Änderung  aufweist,  genüge  es, 
an  dieser  Stelle  auf  die  neue  Aullage  hinzuweisen. 
Ausgehend     von  dem  populären    Dualismus    zwi- 
schen Leib  und  Seele  erörtert  Verworn  zunächst 


752 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  47 


die  verschiedenen  möglichen  Auffassungsweisen, 
die  in  eine  kurz  zusammengefaßte  Darlegung 
seines  eigenen,  als  Psychomonismus  bekannten 
Standpunktes  ausmünden.  In  den  weiteren  Ka- 
piteln werden  die  Vorgänge  in  den  Elementen 
des  Nervensystems,  die  Bewußtseinsvorgänge, 
Schlaf  und  Traum,  schließlich  das  große  Gebiet 
der  Suggestion  und  Hypnose  sachlich,  knapp  und 
allgemeinverständlich  behandelt.  .So  kann  das 
Büchlein  nach  wie  vor  zur  einführenden  Orien- 
tierung über  diese  Dinge  bestens  empfohlen 
werden.  Wasielewski. 

Dr.   Gottfried   Brückner,    Aus   der   Entdek- 
kungsgeschichte  der  lebendigen  Sub- 
stanz; Adolf  Kistner,    Im  Kampf  um  das 
Weltsystem;    l'rof.  Dr.    Friedrich    Kiengel, 
Die      Entdeckung      des     Generations- 
wechsels  in  der  Tierwelt;    Max    Geitel, 
Geschichte    der    Dampfmaschine    bis 
James  Watt;  Dr.  Alfred  Noll,  Die  „Lebens- 
kraft"   in    den    Schriften    der    Vitalisten    und 
ihrer  Gegner.  —  Voigtländer's  Quelle  n - 
bücher,    Band  32,  39,  45,  49,  69.      R.  Voigt- 
länder's Verlag,   Leipzig.   —    Preise    kartonniert 
60,  80,   100,   120  und  80  Pfennige. 
Daß  Unternehmen,  die  bezwecken,    die  origi- 
nalen Arbeiten ,   auf  denen    ein  wissenschaftlicher 
Bau  ruht,  einem  möglichst  weiten  Kreise  zugäng- 
lich   zu    machen ,    alle    Anerkennung    und  Unter- 
stützung verdienen,  bedarf  keines  Beweises.  Gerade 
nach  und  in  einer  Zeit  breitester  Popularisierung, 
die  neben  vielem  Anerkennenswertem  doch  auch 
viel  Verwässertes,  nicht  selten  gar  Verfälschtes  in 
ihrem  großen  Strome  mit  sich  führt,  gewinnt  das 
Bestreben,    die    Quellen   leichter   und  allgemeiner 
zugänglich  zu  machen,    eine  symptomatische  Be- 
deutung.   Von  dem  eignen  Reiz,  den  alles  Studium 
von  Originaldokumenten  mit  sich  bringt,  soll  hier 
nicht  weiter  geredet  werden.    Ein  Vorteil  jedoch 
ist  so  bedeutend,  daß  schon  allein  um  seinetwillen 
jedes  derartige  Unternehmen  Beachtung  und  För- 
derung   verdient:    die    Stärkung    des    historischen 
Sinnes,    die    aus    mancherlei  Ursachen    gerade    in 
der   Naturwissenschaft    so    äußerst    erwünscht    ist. 
Denn    auch    hier   gilt,    daß  ein  wirkliches  tieferes 
Verständnis   der   gegenwärtigen  Wissenschaft  nur 
durch  Würdigung  der  vergangenen  Zustände  und 
der    zu    dem    heutigen    Zustande    führenden  Ent- 
wicklung erlangt  werden  kann. 

Von  den  oben  angezeigten  Veröfifentlichungen 
sind    drei    biologischen  Inhalts.      Dr.  Gottfried 


Brückner  (Aus  der  Entdeckungsgeschichte  der 
lebendigen  Substanz)  gibt  ausgewählte  Abschnitte 
aus  der  Entwicklung  der  Zellenlehre  von  R.  Hooke 
(1667)  bis  zu  E.  Brücke  (1862).  Die  Namen 
Corti,  Treviranus,  R.  Brown,  J.  Schieiden,  Th. 
Schwann,  H.  von  Mohl  (der  die  Bezeichnung  Proto- 
plasma einführte),  C.  Nägeli  und  M.  Schnitze  be- 
zeichnen außer  den  Erstgenannten  diesen  Weg, 
der  uns  bis  zu  der  eigentlich  modernen  Zell- 
forschung leitet.  Prof.  Dr.  Friedrich  Klengel 
berichtet  über  „Die  Entdeckung  des  Generations- 
wechsels in  der  Tierwelt",  die  bekanntlich  wesent- 
lich an  den  Namen  des  Dichters  Adalbert  v.  Cha- 
misso  geknüpft  ist,  dessen  Originalabhandlung 
hier  zum  erstenmal  in  deutscher  Sprache  erscheint. 
Daran  angeschlossen  ist  die  teils  polemische,  teils 
weiter  ausbauende  Weiterentwicklung  der  Ent- 
deckung. Von  besonders  aktuellem  Interesse  ist 
das  von  Dr.  Alfred  Noll  herausgegebene  Heft 
„Die  Lebenskraft  in  den  Schriften  der  Vitalisten 
und  ihrer  Gegner".  In  unserer  Zeit,  in  der  der 
Gedanke  des  Vitalismus,  wenngleich  in  teilweise 
geänderter  Form  und  unter  tiefergreifenden  Vor- 
aussetzungen, eine  sehr  ernst  zu  nehmende  Wieder- 
belebung erfahren  hat,  jedenfalls  im  Mittelpunkt 
grundlegender  Betrachtungen  und  Diskussionen 
steht,  ist  jede  Anregung,  sich  mit  den  Gedanken 
älterer  Vitalisten  und  ihrer  Gegner  historisch  zu 
beschäftigen,  erwünscht. 

In  dem  einen  der  beiden  anderen  Hefte  findet 
sich  eine  Geschichte  der  Dampfmaschine  von  den 
ersten  hierhergehörigen  Notizen  aus  dem  Alter- 
tum bis  zu  James  Watt,  von  Max  Geitel. 
Schließlich  läßt  uns  Prof.  Adolf  Kistner  in 
ausgewählten ,  z.  T.  neu  übersetzten  Stücken  an 
dem  ewig  denkwürdigen  Kampfe  teilnehmen,  der, 
indem  er  die  Erde  aus  dem  Mittelpunkte  des 
Weltalls  riß  und  als  bescheidenen  Nebenstern  in 
den  Raum  hinausschleuderte,  vielleicht  mehr  als 
irgendeine  andere  naturwissenschaftliche  Entdek- 
kung  zu  dem  großen  Umschwünge  der  Geister 
beigetragen  hat,  der  die  letzten  Jahrhunderte 
gegenüber  dem  Mittelalter  kennzeichnet,  und  uns 
wirklich  in  einer  „andern"  Welt  als  die  Genera- 
tionen vor  1500  leben  läßt.  Unter  den  vielen 
Originaldokumenten  dieses  Heftes  befinden  sich 
auch  Abschnitte  aus  Galileis  berühmtem  „Dialog", 
ferner  das  Urteil  der  römischen  Kurie,  Galilei's 
Abschwörungsformel,  und  Briefe. 

Sachliche  Einleitungen  und  Abbildungen  sind, 
soweit  nötig,  sämtlichen  Heften  beigegeben. 

Wasielewski. 


Inhalt;  Baschin:  Die  Temperaturverhältnisse  der  Polargebiete.  —  Einzelberichte:  Heilbronn:  Zustand  des  Plasmas  auf 
Reizbarkeit.  Knoll:  Das  Ausgleiten  der  Insektenbeine  an  wachsbedeckten  Pflanzenteilen.  Coenian;  Über  merkwürdige 
Bewohner  der  Sporangien  von  Pilobolus.  F.  u.  M.  Boas:  Regionale  Variationsbreite  der  Kopfform  der  Bevölkerung 
Italiens.  Rosenkränzer:  Die  Reaktionsgeschwindigkeit  in  heterogenen  Systemen.  Stromer:  Saurierfunde  in 
Deutsch-Südwestafrika.  Terroine:  Über  den  Gehalt  des  Körpers  an  Fettsäuren  und  Cholesterin.  Droge:  Einfluß 
der  Milzexstirpation  auf  die  chemische  Konstitution  des  Tierkörpers.  —  Bücherbesprechungen:  Der  Mensch  aller 
Zeiten.  Sladen:  The  Humble-Bee.  Berg:  Das  Problem  der  Klimaänderuog  in  geschichtlicher  Zeit.  Verworn: 
Die  Mechanik  des  Geisteslebens.  Brückner:  Aus  der  Entdeckungsgeschichte  der  lebendigen  Substanz;  Kistner: 
Im  Kampf  um  das  Weltsystem;  Klengel:  Die  Entdeckung  des  Generationswechsels  in  der  Tierwelt;  Geitel;  Ge- 
schichte der  Dampfmaschine  bis  James   Watt;  Noll:   Die  „Lebenskraft". 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Schriftleiter  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  MarienstraSe    IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck   der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lipperl  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.  Baiui ; 
der  ganzen  Reihe   29.   Kand. 


Sonntag,  den  29.  November  1914. 


Nummer   4H. 


[Nachdruck  verboten.] 


Auf  den  Höhen  des  Kilimandscharo. 

Teil  I. 

Von  Prof.   Dr.  Christoph  Schröder,  Berlin. 


Als  ich  am  i.  III.  06  zum  ersten  Male  die 
Massaisteppe  im  Interesse  zoo  ■  biologischer 
Studien  durchstreifte,  als  mich  zum  ersten  Male 
inmitten  der  sonnendurchglühten  Hjphaenen- 
Bestände  nahe  dem  Panganisumpfe,  welchen  der 
Himo  verläßt,  das  gewaltige  Massiv  des  Kili- 
mandscharo mit  dem  mannigfarbenen  Grün  der 
Kulturfelder,  des  Urwaldgürteis,  der  Erica -Par- 
zellen und  noch  weiter  hinauf  der  Hochwiesen  wie 
des  Euryops-  und  E  ric  i  n  e  1 1  e  n  -  Gestrüpps, 
zugleich  seine  in  die  klare  Höhenluft  hochragenden 
Gipfel,  der  malerisch  zerschluchtete ,  rotfarbene 
Mawensi  und  der  erzgraue,  mit  einem  Dome 
ewigen  Eises  gekrönte  Kibo,  grüßten:  da  nahm 
mich  dieser  märchengleiche  Anblick  unwider- 
stehlich gefangen,  da  mußte  ich  hinauf  in  seine 
lockenden  und  doch  so  unwirtlichen  Höhen,  ob- 
wohl ich  jeder  Ausrüstung  für  ein  solches  Unter- 
nehmen bar  war. 

Ein  paar  wollene  Decken,  welche  ich  von 
einem  Inder  in  Moschi  erstand,  2  Schlafsäcke  aus 
der  Zeit  der  Besteigungen  Hans  Meyer's  her, 
welche  mir  von  der  Militärstation  freundlichst  ge- 
liehen wurden,  machten  mir  einen  Aufstieg  bis 
nahe  an  den  Ratzelgletscher  5400  m  (s.  „Natur" 
Jahrg.  III,  H.  21/24)  und  einige  wissenschaftliche 
Ausbeute  möglich. 

Wer  je  den  Zauber  der  Tropen  kennen  lernte, 
kann  sich  nie  wieder  der  Sehnsucht  dieser  Er- 
innerung entziehen;  noch  mächtiger  fesselt  diese 
jeden  zur  Wiederkehr,  der  je  die  hehren,  er- 
greifenden Einsamkeiten  der  Höhen  des  Kilima- 
ndscharo geschaut  hat. 

Ich  mußte  sie  wiedersehen,  dieses  Mal  war  eine 
Besteigung  des  Kibogipfels  (6010  m)  vorgesehen,  im 
Februar  191 2.  Die  Bahnlinie  Tanga-Moschi  stand 
wenige  Tage  vor  ihrer  Eröffnung;  von  Buiko  führte 
mich  ein  gelegentlicher  Güterwagenverkehr  noch 
rechtzeitig  nach  Moschi,  um  auch  dort  als  Teil- 
nehmer an  der  Kaiser-Geburtstagsfeier  zu  er- 
kennen, welche  Fortschritte  dieses  nunmehr  durch 
die  Bahn  voll  erschlossene  Gebiet  bereits  ge- 
macht hatte,  zugleich  aber  auch,  wie  ein  wesens- 
fremder Schleier  über  die  so  lange  unberührte 
Natur    und    ihre   Bewohner    hiermit    gefallen  war. 

Und  auch  der  Bergriese  zeigte  ein  anderes  Ge- 
sicht denn  i.  J.  1906;  weite  Schneefelder  deckten 
seine  Gipfel  bis  an  das  Sattelplateau  überall,  wo 
damals  die  vielfarbene  Tönung  des  nackten  Ge- 
steins im  Sonnenglanz  geleuchtet  hatte. 

Doch  auch  jetzt  durchglühte  die  Steppe  heiß- 
flimmernder Sonnenbrand,  auch  jetzt  strahlten  die 
Höhen    im    Sonnenschein.      Der   Schnee   an    sich 


konnte  den  Aufstieg,  den  ich  diesmal  über  Marangu 
nahm,  nicht  gefährden. 

Diesmal  über  Marangu;  nicht  geraden  Weges 
von  Moschi  durch  den  Urwaldgürtel  hinauf  wie 
i.  J.  1906.  Ich  folgte  darin  einer  Bitte  des  Herrn 
Dr.  phil.  E.  Th.  Frörst  er  (Moschi),  die  von  ihm 
einige  Zeit  zuvor  gleichermaßen  zurückgelegte 
Route  zur  Biwakhöhle  kartographisch  aufzunehmen. 
Einen  seiner  Negerbegleiter  gab  er  mir  für  die 
betr.  Orientierung  mit,  den  „Kirongozi".  Auch 
das  Maultier  und  dessen  Aufwärter,  den  „boy  ya 
frazi",  stellte  er  mir;  eine  Freundlichkeit  allerdings, 
die  mir  fast  sehr  teuer  zu  stehen  gekommen  wäre. 
Sein  Interesse  lag  darin  begründet,  daß  er  als 
Besitzer  des  Gasthauses  auf  zunehmenden  Reise- 
verkehr zählen  möchte;  und  ich  kann  die  Ver- 
bindung mit  ihm  empfehlen.  Die  Einzelheiten 
der  erfolgten  Wegaufnahme  lassen  sich  teils  nur 
ungefähr  mit  der  im  ganzen  gewiß  hervorragenden 
Hans  Meyer 'sehen  Karte  (1900)  in  Einklang 
bringen ;  ich  werde  sie  daher  hier  nicht  weiter 
berühren.  Für  die  Mehrzahl  der  Tage  hatte  ich 
in  einem  jungen  Afrikander,  Herrn  O.  Raab,  zu- 
fällig in  Moschi  einen  Begleiter  gefunden,  den  ich 
vielseitig  schätzen  gelernt  habe  und  dem  ich  auch 
an  dieser  Stelle  für  seine  Teilnahme  an  den  Mühen 
und  Entbehrungen  bestens  danken  möchte. 

So  brach  ich  auf. 

Aber  doch,  die  Schneedecke  hat  sich  als  ein 
böses  Vorzeichen  erwiesen.  Furchtbare  Unwetter, 
welche  der  Expedition  schwere  Gefahren  brachten, 
warteten  ihrer. 

Die  Schilderung  des  Inhaltes  zunächst  zweier 
Tage,  denen  ich  als  Teil  II  jene  der  beiden  weiteren 
folgen  lassen  werde,  dürfte  über  das  naturwissen- 
schaftliche Interesse  hinaus  ein  solches  in  Be- 
ziehung auf  die  Beurteilung  der  Negerpsyche  be- 
sitzen. Ich  gebe  sie  fast  wortgetreu  wieder,  wie 
ich  sie  nach  den  Aufzeichnungen  des  Tagebuches 
noch  im  Banne  der  afrikanischen  Natur  und  unter 
dem  frischen  Eindruck  des  Erlebten  zu  Amani 
(Biologische  Versuchsstation  nahe  Tanga)  aus- 
gearbeitet hatte. 

3.  II.   1912.    Vom  4050m-Lager  bis  zur 
Biwak-Höhle  (4690  m). 

Wie  nun  schon  regelmäßig  seit  8  Tagen,  von 
Moschi  an,  weckte  mich  zwischen  4  und  5  Uhr 
früh  empfindliches  Frösteln,  ungeachtet  der  wasser- 
dichten „Militärzeltbahn"  und  einer  Wolldecke 
unter  dem  Schlafsack  auf  dem  Ericinellen-Lager 
und  den  zwei  Wolldecken  darüber.  An  Aufstehen 
lassen  Dunkelheit  und  Kälte  nicht  denken.  Bevor 
nicht  die  Morgensonne  Erwärmung  spendet,  würde 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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nur  eine  sehr  ausgiebige  Benutzung  des  Kiboko 
die  stumpf  brütenden,  todesstarr  regungslosen 
Leute  aufzurütteln  vermögen. 

Um  es  sofort  hervorzuheben,  wenn  ich  hier  und 
später  vom  „Kiboko"  spreche:  ich  habe  nie  eine 
Nilpferdpeitsche  besessen  1  Der  Ausdruck  soll  nur 
besagen,  daß  es  nötig  wurde,  der  Aufforderung 
handgelegentlichen  Nachdruck  zu  geben.  Unter 
gewöhnlicheren  Umständen  ist  der  Neger  nach 
meiner  Erfahrung  durchweg  mit  dem  Worte  bei 
wohlwollender,  wenn  auch  strenger  Behandlung 
leicht  lenkbar. 

Die  kommende  Stunde  wachen  Träumens  gilt 
der  Erinnerung,  trägt  in  heimatliche  Fernen,  zaubert 
Bilder    entschwundener  Tage. 

Und  wie  ein  Erschrecken  durchfährt  es  das 
Sinnen,  da  die  aufgegangene  Sonne  nun  die  östliche 
Zeltwand  mit  ihren  goldleuchtenden  Strahlen  trifft. 
Das  Schleuderthermometer  zeigt  —  es  ist  bald 
6^/2  Uhr —  im  Zelte  -0,5",  etwas  später  draußen 
fast  -2  ".  Die  morgendliche  Toilette,  deren  wenige 
Ausrüstungsgegensiände  auf  einer  Trägerkiste  neben 
dem  Lager  zur  Hand  liegen,  wird  nicht  zeitraubend, 
die  Bekleidung  braucht  nur  durch  Stiefel  und  Khaki- 
Jacke  ergänzt  zu  werden.  Reis  in  Maggi  -  „Früh- 
lingssuppe" —  die  Maggi'schen  Präparate  haben 
mir  überhaupt  vorzüglichste  Dienste  getan  —  und 
der  Dosenrest  ,, junge  große  Bohnen"  vom  Abend 
her  mit  etwas  Butter,  dazu  der  unvermeidliche 
Tee,  zu  dem  das  Wasser  erst  unter  der  Eisdecke 
hervorgegossen  werden  muß,  bilden  den  schnell 
bereiteten,  noch  flüchtiger  verzehrten  iVIorgenimbiß. 

Es  ist  nahezu  7  Uhr.  Die  bereits  merklich 
höher  stehende  Sonne  hat  längst  den  Nachtreif 
getilgt.  Dennoch  hocken  die  Leute  gänzlich  teil- 
nahmslos an  den  verglommenen  Feuern,  unkennt- 
lich verhüllt  in  ihren  Decken,  wenige  nur  unter 
den  Zelten  geborgen.  Mein  Suaheli-Vokabelschatz 
reicht  nicht  aus,  es  sind  derbe  deutsche  Worte, 
welche  schließlich  im  Verein  mit  nicht  miß- 
zuverstehenden Drohungen  des  Bergstockes  und 
dem  anfeuernden  Poltern  des  „msimamizi"  (Träger- 
aufseher) einige  Bewegung  in  die  Gesellschaft 
bringen.  Aber  unendlich  zögernd,  bei  aller  Apathie 
ausgesprochen  mißmutig  geht  es  an  das  .Abbrechen 
des  Zeltes,  an  das  Zusammenpacken  und  Ver- 
schnüren der  Lasten.  Erst  nach  geraumer  Zeit 
kann  der  Autbruch  von  statten  gehen. 

Das  Maultier  scheint  bessere  Miene  zu  alledem 
zu  machen.  Es  läßt  gänzlich  unentschieden,  ob 
es  auch  während  der  Nacht  unter  dem  alten  Zelt- 
plane gefroren  hat  und  ob  es  etwa  der  verab- 
folgte Mais  und  das  bereits  dürftige  Gras  des 
Platzes  für  solche  Unbill  entschädigt  haben.  Es 
folgt  ziemlich  willig  den  Wünschen  seines  Reiters 
und  sucht  den  nächsten  starken  Anforderungen 
gerecht  zu  werden. 

Mehr  als  einmal  hatte  ich  sie  schon  zuvor 
verwünscht,  meine  Zusage,  gerade  dieser  Route 
hinter  dem  Kirongozi  zu  folgen,  die  mir  die 
wenigst  zu  empfehlende  überhaupt  scheint.  Und 
ich  war  schon  damals  nicht  zweifelhaft,  daß  der  beste 
Weg  vom  Bismarc  k  hü  gel  aus  zunächst  gerad- 


linig, fast  genau  nordwestlich,  hart  heran  zum 
Südfuß  des  Mawensi  über  leicht  hügeliges  Ge- 
lände führt,  ihn  westlich  am  Ursprünge  zweier 
Talschluchten  umgeht  und  dann  über  das  fast 
plane  Sattelplateau  geradeaus  ostnordostwärts  zur 
Biwakhöhle  führt.  Das  ist  unter  nicht  ungünstigen 
Verhältnissen  eine  einzige  Tagesentfernung,  großen- 
teils selbst  im  Galopp  zurücklegbar,  für  die  Träger 
30  kg  nicht  überschreitende  Lasten  und  Wadschagga 
als  solche  vorausgesetzt. 

Diese  andere  Route  kann  zwar  auch  in  allem 
Wesentlichen  mit  dem  Maultiere  bezwungen 
werden ;  die  selbstverständlich  zickzackwegige 
Traversierung  der  9  Talschluchten  jedoch  ist 
auch  im  höheren,  flacheren  Teile  immer  mühe- 
voll und  erfordert  sehr  oft  die  ganze  Aufmerksam- 
keit des  Reiters,  die  er  gerne  der  Natur  allein 
widmen  sollte  und  möchte.  Einzelne  kurze  Ab- 
fälle aber  sind  selbst  für  die  Träger  kaum,  zu 
Maultier  bestimmt  nicht  zu  bewältigen. 

Schon  am  Abend  zuvor  hatte  mir  die  Karte 
gezeigt,  daß  mich  nur  der  nächste  höhere  Schlucht- 
rücken jene  Stätte  (etwa  3900  m)  zu  erkennen 
hindern  könne,  von  wo  ich  vor  fast  genau  6  Jahren 
jenen  Aufstieg  direkt  oberhalb  Moschi  bis  nahe 
an  den  Ratzel-Gletscher  unternommen  hatte.  Es 
wurde  mir  auch  nicht  schwer,  die  Gegend  jenes 
Lagerplatzes  alsbald  an  sehr  charakteristischen 
Felskuppen  wiederzufinden. 

Noch  2  sicher  80 — 100  m  tiefe  Talschluchten 
waren  gequert,  die  Hänge  mehr  denn  früher 
blockbesät  und  durch  anstehende,  oft  gerundet 
blättrige  Felsen  ausgezeichnet,  in  der  Tiefe 
ein  schmal  ausgewaschenes  Erosionsbett  mit 
reichlich  kühlem,  klarem  Wasser  im  ersteren,  das 
über  schwellendes  Moospolster  dahin  rieselte,  um- 
standen von  der  ganzen  heimatlich  grüßenden 
I-^lora  dieser  Höhen,  ein  ausgeprägter,  fesselnder 
Gegensatz  zu  den  zahlreichen  Senecien. 

Die  eindrucksvolle  Schönheit  gerade  dieses  Bach- 
bettes empfand  ich  allerdings  erst,  nachdem  ich  beim 
Anblicke  seines  Wassers  mit  dem  Kirongozi  Aus- 
sprache gehalten  hatte.  Wasser  findet  sich  näher  der 
„Höhle"  nicht,  so  wenig  wie  Brennholz.  Man  darf 
daher  nicht  versäumen,  sich  den  Bedarf  für  mög- 
lichst die  ganze  Zeit  des  Höhenlagers,  wenigstens 
aber  für  einen  Tag  mitzunehmen.  Dies  geschieht 
naturgemäß  aus  Rücksicht  auf  die  Beschwerung 
der  Leute  so  spät,  d.  h.  so  hoch  wie  möglich. 
Ich  hatte  also  den  Kirongozi  wiederholt  vorher 
angewiesen,    mich  rechtzeitig  darauf  hinzuweisen. 

In  Erinnerung  an  die  von  ihm  verschuldete 
Schwierigkeit,  am  Abend  zuvor  Wasser  zu  erhalten, 
fragte  ich  aber  doch,  als  wir  kaum  das  Lager  ver- 
lassen hatten,  nach,  wie  es  weiterhin  mit  dem  Wasser 
sein  würde.  „Hapana  maji  ingine,"  also  kein  wei- 
teres Wasser  auf  dem  VVege!  4  Träger  mußten 
daher  die  nächste  Steilschlucht  zurück,  um  die  12 
Wassersäcke  zu  füllen;  fast  eine  Stunde  beschwer- 
lichen Weges  und  eine  unliebsame,  durch  die 
weiteren  Ereignisse  fast  verhängnisvoll  gewordene 
Verzögerung,  die  aber,  wie  so  manches  andere 
Mißgeschick,  das  Gute  zeitigte,  daß  ich  die  Lauferei 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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hinter  diesem  „Führer"  endgültig  aufgab  und  da- 
durch, durch  die  Wahl  eines  bequemeren,  kürzeren 
Weges  zur  Biwakhöhle,  die  Expedition  vielleicht 
rettete. 

Diese  Erfahrung  glaubte  ich  ausführlicher 
wiedergeben  zu  sollen,  um  hervorzuheben,  daß 
ein  Neger  immer  unzuverlässig  ist  und  daß  als 
F'ührer  nur  ein  Europäer  dienen  kann !  Die  fer- 
neren Ereignisse  bestätigten  dieses  Urteil  gleich- 
falls. 

Nicht  ohne  Beschwerde  querten  wir  jene  zwei 
letzten  Schluchten,  deren  Kuppen  ausgedehnte 
Stellen  anstehender,  flach  buckliger,  blättrig  ver- 
witterter Lava  zeigten.  Hie  und  da  hochragende, 
flechten-  und  moosbedeckte  Felsriesen.  Der  Kiron- 
gozi  wollte  die  letzte  Schlucht  seiner  Gewohnheit 
gemäß  durchaus  weit  zu  Tal  nehmen,  von  dem 
Sattelplateau  war  nichts  zu  sehen.  Ich  war  aber  durch 
die  Erkennung  meines  Lagerplatzes  von  1906  verge- 
wissert, daß  aller  Voraussicht  nach  der  kaum  1 50  m 
höhere  Talursprung  mehr  oder  minder  eben  zum 
Plateau  überleiten  werde. 

Der  Tag  war  schon  gegen  i  Uhr  vorgeschritten 
und  mit  ihm  zogen  die  Nebel  dichter  und  höher 
zu  Berg,  verdeckten  seit  langem  die  Sonne  und 
ballten  sich  bereits  zu  gewitterschweren  JVIassen ; 
die  Träger  waren  vor  lauter  Unlust  bei  geringster 
Leistung  schon  ermüdet,  sie  schienen  es  bereits, 
noch  ehe  sie  am  Morgen  ihre  Lasten  zögernd  auf- 
luden ,  noch  stand  das  weit  längere  Stück  Weges 
von  unbekannter  Schwierigkeit  bevor:  so  wurden 
die  Minuten  dieses  Anstieges,  den  die  Begleit- 
mannschaft zunächst  von  unten  aus  verfolgen 
durfte,  voll  ausgeprägtester  Spannung,  die  viel- 
leicht ein  instinktives  Empfinden  drohender  Ge- 
fahr erhöhte. 

Aber  da  lagen  sie  ja  greifbar  nahe,  die  3  Hügel, 
welche  das  Sattelplateau  südwestwärts  säumen : 
der  „Östliche  Lavahügel"  zunächst,  nordwärts,  der 
,, Westliche  Lavahügel"  in  stark  westlicher  Rich- 
tung, in  lebhaft  abweichender,  hellerer  Braun- 
tönung an  ihm  vorbei  nordwärts  wenig  sicht- 
bar der  entferntere  „Rote  Mittelhügel."  Noch 
hatten  nur  leichtere  Nebelstreifen  sie  erreicht, 
die  Traversierung  des  Geländes  zum  Ostfuße  des 
mittleren  Hügels  konnte  nennenswerte  Schwierig- 
keiten nicht  mehr  bieten ;  so  löste  freudigste  Zu- 
versicht die  Sorge  aus. 

Ostwärts  zu  Füßen  des  „Westlichen  Lavahügels" 
tritt  aus  dem  schwachen  Grün  eine  scharf  be- 
grenzte Rotfärbung  des  Bodens  hervor;  sie  dient 
als  Merkzeichen  der  einzuschlagenden  Richtung 
und  ist  fast  schnurgeraden  Weges  gleicher  Höhe 
zu  erreichen,  vorbei  an  den  Steilhängen  des  öst- 
lichen Blockkolosses,  nahe  dem  sich  spärliche 
Reste  kühlen  klaren  Wassers  finden.  I5ei  der 
Wasserknappheit  des  Morgens  hatte  ich  Tee  für 
den  Weg  nicht  bekommen;  so  legte  ich  mich  zum 
staunenden  Ergötzen  der  Leute  lang  nieder  zu 
trinken.  Es  machte  keiner  nach,  obwohl  die  etwa 
25  1  Wasser  in  den  Säcken  nicht  gerade  viel  be- 
deuteten. 

Einige  gleichartige,  sanglose  Vögel  von  Spatzen- 


größe flogen  bodenniedrig  zwischen  dem  letzten 
Euryops- Gestrüpp;  ein  paar  Schrotschüsse  brach- 
ten sie  nicht  zur  Strecke,  glücklicherweise,  denn 
es  wäre  keine  Möglichkeit  geworden,  sie  zu  präpa- 
rieren. Hier  und  da  kriechen  schwarzglänzende, 
rundlich  feiste  Käfer  über  den  „Weg",  die  ihre 
Nahrung  in  den  Losungen  der  Elen  antilope  finden. 
Und  einen  eigentümlichen  Typusgenossen  erhalten 
sie  in  einem  stattlichen  Falter,  einem  halberstarrten 
„Schwärmer",  der  bei  aufsteigendem  Morgenwinde 
diese  unwirtlichen  Höhen  erreicht  haben  wird. 
Sonst  nur  vereinzelte  andere  minutiöse  Insekten- 
formen. Denn  auch  die  Vegetation  wird  zusehends 
dürftiger,  nicht  so  schnell  in  Verminderung  der 
bisherigen  Artenzahl,  als  an  Armut  der  Indi- 
viduen und  ganz  besonders  dem  kümmerlichen 
Wüchse  nach. 

Das  Gestein  wird  alleinherrschend,  als  sandiger 
oder  gröberer  Schotter,  als  eingestreute  Blöcke 
und  Felsgiganten  das  Auge  hinaufführend  zu  den 
beiden  Gipfelkolossen,  gleichfarben  scheinend  und 
doch  bei  näherem  Vergleiche  mannigfach  ver- 
schieden in  Struktur  und  Färbung,  die  lautlose  Ein- 
samkeit bald  nur  noch  bewohnt  von  wenigen  Stein- 
moosen und  zahlreichen  buntfarbenen  Krusten- 
flechten, welche  noch  weit  zu  den  Höhen  hinauf 
manche  F'elsindividuen  fast  vollständig  bedecken. 
Nur  da,  wo  Felsblöcke  innerhalb  des  Schutter- 
sandes  Schutz  gegen  die  Kälte  der  nächtlichen 
Failwinde  wie  gegen  die  tödlich  dörrende  Ein- 
wirkung der  Sonnenbestrahlung  gewähren,  reicht 
noch  die  Blütenvegetaiion  in  armseligen  Helichrysen 
weiter  hinauf.  Und  ist  es  einer  solchen  Pflanze 
einmal  gelungen,  auf  freier  Fläche  anzuwurzeln, 
so  sieht  sie  sich  genötigt,  ihr  Stengelwerk  dem 
Boden  flach  anzuschmiegen;  neue  Wurzeln  ent- 
sprossen den  Stengeln  am  Boden  ringsum,  das 
Wachstum  schreitet  strahlig  fort,  die  zentralen 
älteren  Teile  sterben  unter  dem  abwechselnden 
Einflüsse  gegensätzlicher  Temperaturen  von  etwa 
30  "  C  im  Wechsel  von  24  Stunden  ab,  die  Sproß- 
spitzen vermögen  sich,  begünstigt  in  ihrer  Lebens- 
fähigkeit vielleicht  auch  durch  Niederschläge,  zu 
erhalten;  es  bilden  sich  jene  für  diese  Höhen 
charakteristischen,  ringförmigen,  durch  ungleiches 
Wachstum  unregelmäßigen,  durch  Absterben  oder 
F"ehlen  einzelner  Teile  öfter  offenen  Pflanzenpolster, 
welche  auch  die  Grasvegetation  bildet,  sofern  sie 
nicht  in  Form  vereinzelter  armseliger  Bulte  ver- 
treten erscheint. 

Als  wir  jene  Stelle  am  „Westlichen  Lavahügel" 
erreichten,  waren  die  Träger  schon  zuvor  angelangt ; 
photographische  Aufnahmen  hatten  uns  zurück- 
gehalten. Schon  brannten  einige  dürftige  Feuer 
von  dem  letzten  kümmerlichenEuryops-Gestrüpp, 
an  denen  sich  die  Leute  zu  wärmen  suchten.  Die 
Sonne  war  seit  langen  Stunden  hinter  schweren 
Wolken  verschwunden,  die  Nebel  wagten  sich 
schon  fetzenweise  über  das  Plateau,  das  Schleuder- 
thermometer zeigte  (um  2'')  8''C,  und  ein  böiger 
Wind  fegte  über  die  Fläche.  Wie  in  Vorahnung 
nahenden  Unheils  ritt  ich  weiter,  mit  dem  strengen 
Auftrag    an   den  Trägeraufseher,  gleichfalls  sofort 


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mit  den  Leuten  aufzubrechen.  Mich  selbst  trieb  es 
unaufhaltsam,  die  Biwakhöhle  {4690  m)  am 
Fuße  des  Kibo  zu  erreichen,  um  eine  erträgliche 
Unterkunft  für  die  Expedition  zu  sichern. 

Der  augenfällige  „Rote  Mittelhügel"  bliebe  um 
einiges  zur  Linken  liegen;  ich  war  sogleich  auf 
das  Plateau  herabgeritten,  eine  langsam  zum  Sockel 
des  Kibo  ansteigende  Ebene,  deren  eigenartig 
algengrünlich  schimmernder  Boden  mir  auf  dauernde 
seegleiche  VVasserstauung  zur  Regenzeit  zurück- 
zuführen scheint.  Schon  grollen  dumpfe  Donner 
nahe  zu  Raupten  aus  den  finster  geballten  Wolken- 
massen, denen  sich  die  düster  grauen  Nebelschleier 
einen.  Die  .Stimme  der  Natur,  der  einzige  Laut 
in  dieser  wüstenglcichen  weiten  Ode;  sie  weckt  das 
leise  Anschlagen  bangender  Saiten  in  der  Seele, 
bangend  vor  dem,  was  elementare  Naturgewalten 
über  den  Vermessenen  vermögen,  der  die  Ruhe 
des  Erhabenen  störte. 

Als  ob  diese  Gedanken  die  Elemente  gereizt 
hätten,  ihre  furchtbaren  Kräfte  zu  offenbaren,  ver- 
finsterte sich  der  Himmel  zu  Dämmerlicht,  und 
bei  anhaltendem  Winde  aus  Nordwest  entlud  sich 
unter  zuckenden  Blitzen  ur;d  rollenden  Donnern 
ein  dichter  und  dichter  fallender  Graupelschauer, 
der  binntn  kurzem  das  All  dieser  Tropenhöhen  in 
das  eisstarre  Wintergewand  der  nordischen  Heimat 
gekleidet  hatte.  Was  mochten  die  Träger,  meist 
Wanyamwesi,  bei  diesem  ihnen  völlig  fremden  Natur- 
ereignis empfinden I  Feuchtigkeit  und  Kälte  gilt 
diesen  Kindern  des  sonnendurchglühten  Steppen- 
landes als  das  Schrecklichste  aller  Übel.  Und 
rückwärts  spähend  sah  ich  kaum  einen  von  ihnen. 
Die  Sorge  um  sie  ließ  mich  jetzt  nur  einen  Wunsch 
kennen:    die  Biwakhöhle  aufzufinden. 

Weiter  vor  in  der  eingeschlagenen  Richtung 
traten  langsam  ein  wenig  schärfer  einzelne  zer- 
schluchtete  Felsmauern  aus  dem  bleichen  Einerlei 
der  Schneedecke  als  dunkle  Farbrisse  hervor,  die, 
einander  im  Charakter  ähnlich,  auch  der  Vor- 
stellung glichen,  die  ich  von  der  die  Höhle  ein- 
schließenden P'elsgruppe  hatte.  Und  das  unter 
dem  Zwange  der  Notwendigkeit  geschäftige  Auge 
sah  bald  hie,  bald  da  durch  die  Schleier  des 
prasselnden  Hagels  hindurch  in  den  geheimnisvollen 
Schatten  von  Felsrissen  den  Eingang  zur  Höhle. 
Ein  eigentümlich  pyramidenförmiger,  vereinzelter 
Felsblock,  den  andere  als  Merkmal  der  Nähe 
schildern,  lag  schon  hinter  uns.  Die  ferneren 
Minuten  des  bei  aller  Ermattung  rastlosen  Mühens 
wuchsen  zur  Ewigkeit  aus,  unser  aller  Leben  viel- 
leicht hing  von  dem  Erfolge  dieses  Suchens  ab ; 
und  immer  wieder  wendete  die  Sorge  um  den 
Verbleib  der  Leute  den  Blick  zurück. 

Da,  —  da  liegt  der  Eingang  der  Höhle  vor 
uns,  sie  ist  erreicht.  Ihr  Anblick  löst  eine  uner- 
trägliche Last  banger  Sorgen  aus,  und  die  eigene 
Erschöpfung  macht  sich  fühlbar,  die  nahe  Er- 
starrung des  eigenen  Körpers.  Wankend,  an  den 
eisglatten  Blöcken  abgleitend,  die  sich  zum  etwa 
I  Vo  iTi  über  dem  Boden  liegenden  Eingange  häufen, 
gewinne  ich  den  begehrten  Schutz  der  Höhle. 

Ich   sehe  mich    enttäuscht;    in    ihrem    offenen 


vorderen,  nicht  mannshohen,  mehr  rechteckigen 
Teile  von  vielleicht  6  qm  Fläche,  den  große  Blöcke 
vom  inneren  in  halber  Höhe  fast  trennen,  streicht 
der  Wind  kalt  hinein,  und  die  Graupeldecke 
deckt  vorn  auch  ihren  Boden;  den  hinteren  mitte- 
höheren muschelförmigen  Teil  von  etwa  5  m 
Durchmesser  können  die  dürftigen  Lichtstrahlen, 
welche  die  Dämmerung  draußen  durch  einige 
Felsspalten  sendet,  nicht  erhellen.  Ich  stolpere 
alsbald  über  Geröll  und  Blöcke;  es  ist  drinnen 
um  nichts  wärmer.  Fröstelnd  in  der  kalten  nassen 
Kleidung,  abgespannt,  hungrig  —  den  Durst  hatte 
ich  schon  während  des  Weges  an  den  Graupel- 
anhäufungen  löschen  können,  die  sich  in  den  Falten 
des  Mantels  und  im  Sattelzeug  gefangen  hatten 
—  hocke  ich  mich  auf  einen  Felsblock  vorne 
nieder  in  Erwartung  der  Leute,  die  ich  vor  etwa 
2  Stunden  zurückgelassen  hatte. 

Einzelne  trafen  sehr  bald  nachher  ein;  ich  hatte 
ihnen  den  Kirongozi  entgegengeschickt,  sie  fanden 
unsere  Spuren  auch  leicht  im  Schnee.  Wortlos, 
wankend,  mit  den  Lasten  überall  anstoßend,  mit* 
dem  Maultier,  das  auch  in  die  Höhle  aufgenommen 
werden  mußte,  hart  zusammentreffend,  kamen  sie 
todesmatt  heran.  Ich  ließ  die  anderen  Lasten  irgend- 
wohin beiseite  werfen;  die  Last  Brennholz  schien 
mehr  wert  als  alle  anderen  zusammen.  Feuer, 
Wärme  1  .^ber  es  bedurfte  einer  kräftigeren  Sprache, 
bevor  ich  diese  Ansicht  auf  die  unter  dem  Ein- 
flüsse der  heutigen  Schrecknisse  willenlosen  Leute 
übertragen  und  in  die  Tat  umsetzen  lassen 
konnte. 

Von  dem  feuchten  Holze  qualmt  schließlich  doch 
ein  schwaches  Feuer  zu  unseren  Füßen ;  auch  der 
Anblickdieserkläglichen  Wärmequelle  kann  Wunder 
nicht  wirken.  Und  fast  ohne  Bewußtseinseindruck 
schweift  das  Auge  hinaus,  fast  übersieht  es,  daß 
der  Graupelsturm  einem  feinen,  leise  deckenden 
Schneefalle  gewichen  ist,  unter  dessen  weicher 
Hand  die  Natur  zu  schlummern  beginnt.  Und  auch 
unsere  sorgenden  Gedanken  ermüden  im  Schweigen 
ringsum. 

Als  mit  allen  Zeichen  des  Entsetzens  der 
Msimamizi  am  Eingang  erscheint  und  in  über- 
stürzten Worten  berichtet,  die  noch  fehlenden  5 
Träger  und  der  Boy  seien  im  Eisesgrauen  nieder- 
gesunken, etwa  I  Stunde  entfernt.  Das  Maultier 
satteln,  wieder  hinaus  in  die  verschneite  Öde  und 
zurück  im  Galopp  zur  Unglücksstättc,  war  das 
Werk  weniger  Sekunden,  nachdem  die  am  wenig- 
sten ermüdeten  6  Träger  mit  einigem  wortbe- 
gleiteten Nachhelfen  auf  die  Beine  und  unter  der 
Leitung  ihres  Msimamizi  wieder  hinaus  in  Kälte 
und  Graus  getrieben  waren.  Und  für  die  rest- 
lichen S  Träger  wie  den  Koch  gab  es  ebenso- 
wenig fernere  Zeit  zum  Ausruhen.  Bald  flackerte 
im  inneren  Teile  der  Höhle  ein  wärmendes  Feuer 
empor,  heißes  Wasser  brodelte  im  Kessel  und 
stärkender  Reis  ging  seiner  Vollendung  entgegen; 
in  die  Lasten  wurde  inzwischen  einige  Ordnung 
gebracht. 

Die  Leute  waren  im  Laufschritt,  getrieben 
von    dem    zugesagten    bakshishi,     dem     frischen 


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Schmerz  einer  gewissen  Körperstelle  und  dem 
anfeuernden  Zureden  des  Msimamizi  fortgeeilt. 
Der  Schneefall  hatte  inzwischen  fast  aufgeliört. 
Nicht  lange,  und  es  kamen  2  Träger  mit  ihren 
Lasten  wie  trunken  angeschwankt ;  offenkundig 
fast  besinnungslos  wehrten  sie  sich  förm- 
lich gegen  die  hilfsbereiten  Hände,  die  ihnen  die 
Last  abnehmen  und  zur  Höhle  hinein  helfen  wollten. 
Sie  hockten  sich  lautlos  zum  Feuer;  heißen  Tee 
gössen  sie  mechanisch  nieder. 

Eine  Stunde  Weges  von  dieser  Stätte  entfernt: 
auf  dem  Rücken  liegend,  langgestreckt,  die  Hände 
verkrallt  körpcrabseits,  den  Kopf  auf  die  Brust 
gesenkt,  ihren  Körper  unter  den  Decken  verhüllt, 
regungslos  gereiht,  verschneit  auf  fahlem  Leichen- 
tuche liegen  die  fehlenden  Träger  zwischen  ihren 
Lasten.  Dem  Erfrieren  nahe  bei  einer  Temperatur 
von  4"  0)5"  C,  5  Uhr  naclimittags,  eine  Schnee 
decke  von  kaum  i  cm  Höhe,  die  bereits  überall 
unter  dem  Einflüsse  des  sich  aufhellenden  Spät- 
tages zu  tauen  anfängt  1  Auf  Zureden  äußern 
die  Leute  keinerlei  Regung;  sie  werden 
so  und  wollen  sterben;  amri  ya  mungu,  es  ist 
des  Herrn  Wille.  Ohne  jede  Spur  einer  gegen- 
sätzlichen Willensbetätigung,  ohne  die  geringste 
seeliche  Erregung  legten  sie  sich  zum  Todesschlafe 
nieder,  nur  weil  die  ungewohnte  Kälte,  der  An- 
blick des  weißgefrorenen  Regens  bleiern,  uner- 
träglich auf  ihnen  lastete.  Ein  furchtbares  Bild 
des  fatalistischen  Mohammedanismus ,  diese 
menschliche  Armseligkeit,  um  so  niederschmettern- 
der wirkend  innerhalb  der  unfaßbaren  Weltenweite, 
die  unsere  Seele  hier  empfindet! 

So  wurde  dem  Kiboko  mit  Notwendigkeit  eine 
beherrschende  Rolle-zuerteilt,  um  die  Halberstarrten 
zum  Leben  zu  erwecken.  Alle  3  erhoben  sich, 
eckig,  ruckweise,  taumelnd,  als  könnten  sie  ihren 
Bewegungen  nicht  gebieten,  das  Gesicht  abweisend 
verzerrt;  und  nun  endlich  stehen  sie,  wankend. 
Halt  suchend.  Je  einer  der  hinzugekommenen 
Träger  greift  stützend  diesen  Unglücklichen  unter 
den  Arm,  zwei  vermögen,  so  geführt,  die  Höhle 
in  stumpfem  Brüten  trunken  fallenden  Schrittes 
zu  gewinnen,  der  dritte  entsinkt  nach  kurzem 
völlig  apathisch  der  Hand  des  Führenden.  3  Leute 
nehmen  ihn  hoch,  zwei  vorn  anfassend,  einer  die 
Beine  sich  über  die  Schultern  legend,  tragen  sie 
den  halb  leichenstarren  Körper  zur  rettenden 
Höhle. 

Noch  fehlt  einer,  der  Boy,  welcher  um  einiges 
ferner  liegt.  Zurück  zur  Höhle,  das  ebenfalls  völlig 
erschöpfte  Maultier  zu  einem  letzten  Galopp  ge- 
peitscht, um  schleunigst  weitere  Leute  heranzu- 
holen. Die  Ärmsten,  selbst  todesmüde,  vermag 
keine  bakshishi-  Verheißung  zu  locken;  sie  hocken, 
Lebewesen  ungleich,  am  qualmenden  Feuer.  Er- 
barmungslos, aber  Wunder  schaffend,  redet  der 
Kiboko  auf  sie  ein. 

Und  sie  gehen  hinaus  in  den  dämmernden 
Abend,  zurück  zu  jenem  letzten  Unglücklichen, 
den  die  bleiche  Schneedecke  noch  in  Todesarmen 
gefesselt  hält.  Zwei,  drei  Leute;  der  Koch,  ein 
Stammesgenosse  des  zu  Suchenden,    schließt  sich 


ihnen  auf  Vorhalt  dessen  an.  Da  liegt  der 
Boy  verschneit,  über  kaltem  Grunde  auf  der 
Seite,  die  Kniee  zum  Kopfe  hochgezogen,  die 
Form  eines  Menschen  kaum  erraten  lassend, 
wie  tot,  unweit  des  Rucksackes,  der  nur  noch 
Trümmer  eines  photographischen  Apparates  birgt. 
Auch  hier  bleibt  nur  jene  deutliche  Sprache  übrig, 
die  für  manches  Kindergemüt  bisweilen  die  Stimme 
ersetzen  muß;  auch  hier  dieselbe  Wunderwirkung  1 
Der  Scheintote  rührt  sich,  erhebt  sich,  stückweise 
zwar  und  wie  erstarrt  in  den  Kniegelenken,  die 
Augen  kaum  geöffnet,  ohne  jedes  Begreifen  des 
Zieles  unseres  Mühens.  „Ninataka  kufa",  murmelt 
er  schließlich:  „ich  mag  sterben".  Dieser  Wunsch 
wird  ihm  allerdings  nun  nicht  gewährt. 

Die  Leute  packen  ihn  und  tragen  ihn  wie 
jenen  anderen  dem  Schutze  entgegen.  Aber  was 
ist  das?  Die  Todessehnsucht  scheint  ihm  bitter 
Ernst  zu  sein  1  Kaum  ist  er  der  Aufsicht  der 
Leute,  die  ihn  schleppen,  allein  überlassen,  er- 
wachen ihm  ungeahnte  Lebenskräfte;  er  schlägt 
wie  ein  Verrückter,  vielleicht  auch  im  Fieberwahn, 
mit  Händen  und  Füßen  um  sich,  so  daß  ihn  die 
Leute  kaum  zu  halten  vermögen.  Arznei:  Kiboko. 
Und  auch  er  konnte  dann  in  die  Höhle  gerettet 
werden. 

Dort  half  ihm  wie  seinen  Leidensgefährten  ein 
kräftender  Kognak  zur  weiteren  Wiedererlangung 
von  Lebenszeichen.  Die  Genossen  rieben  ihn 
alsdann  ein  wenig,  hielten  und  hockten  ihn  nahe 
dem  Feuer.  Langsam,  sehr  langsam  wich  unter 
dem  Einflüsse  äußerer  und  innerer  Wärme  die 
Starrheit  aus  Gesicht  und  Körper;  die  Bewegungen, 
welche  zunächst  mehr  Muskelzuckungen  glichen, 
nahmen  einen  ruhigeren  geordneten  Verlauf.  Die 
beiden  Schwerbedrohten  wurden  dann  in  Decken 
gehüllt,  der  eine  schlief  alsbald,  der  Träger  aber 
phantasierte  noch  lange  in  die  Nacht  hinein,  fort- 
gesetzt den  Namen  des  Boy,  auf  ernstes  Zurufen 
hin  schließlich  leise,  wie  liebevoll  flüsternd.  Es 
war  Mitternacht,  bevor  auch  er  endlich  im  Schlafe 
Genesung  fand. 

Längst  schon  war  draußen  die  Nacht  dem 
Tage  gefolgt,  nicht  in  Finsternis  kommende 
Schrecken  bereitend:  ruhig,  klar,  von  Mondenglanz 
erfüllt.  Matter  Silberschein  lugte  wie  aus  weiter 
Ferne  vom  Eingange  zu  uns  hin ,  stahl  sich  in 
schwachen  Strahlen  durch  die  Felsspalten  zur 
Lagerstätte,  deren  düsteren  Raum  spärliches  Kerzen- 
licht mühsam  erhellte,  während  das  Feuer  unter 
der  rauchschweren  Luft  zu  ersticken  schien.  Mein 
Begleiter  und  ich  hatten ,  kaum  daß  die  Leute 
gerettet  und  die  Lasten  unter  Schutz  waren,  einen 
förmlichen  Heißhunger  entwickelt;  zunächst  war 
der  Kognak  das  Ziel  unseres  eifrigsten  Bemühens, 
zu  gleicher  Zeit  stellte  sich  ein  merkwürdiges 
Bedürfnis  nach  Fleisch  ein,  dem  eine  2  Pfund-Dose 
Corned-Beef  zum  Opfer  fiel. 

Nun  erst  konnten  wir  dem  weiteren  Zubereiten 
des  Mahles  seitens  des  Koches  in  Ruhe  zusehen. 
Durch  längeres  Umschauen  erhöhte  sich  die  I'reude 
über  diese  Unterkunft  keineswegs.  Soweit  nicht 
große  Blöcke  den  Raum  beanspruchten,    war  der 


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Boden  uneben  mit  sandigem  und  gröberem  Schutt 
bedeckt.  Wir  entschieden  uns  schließlich  für  den 
hintersten  Teil  des  Raumes,  zwar  unbequem  schräge 
zumFeuer  hin  gleitend,  aberdoch  auf  größerer  Fläche 
einigermaßen  plan.  Ein  Stück  Zelttuch  über  dem 
feuchten  Boden,  eine  Wolldecke,  der  Schlafsack 
und  eine  weitere  Wolldecke,  und  wir  darin  in 
voller  Kleidung,  in  den  Stiefeln,  um  nach  Mög- 
lichkeit die  Eigenwärme  zu  bewahren.  Es  gelang 
doch  so  wenig!  Keine  2  Schritt  entfernt,  die 
weißfarbene  Masse  am  Boden,  es  ist  eine  Graupel- 
anhäufung, die  sich  erhält  und  vergrößert,  so  lange 
wir  hier  hausen. 

Und  eisig  streicht  der  Zugwind  durch  die 
Spalten  über  uns  hin;  das  Schleuderthermometer 
zeigte  noch  morgens  7  '/•>  Uhr  —  5  °  C.  Dennoch 
durften  wir  diese  Spalten  nicht  verwünschen, 
welche  die  einzige  Möglichkeit  des  Rauchabzuges 
boten,  der  zu  ihnen  höher  über  uns  hinwegzog. 
Nicht  während  des  Liegens  oder  doch  nur  die 
vereinzelten  Male  dann,  wenn  der  Rauch  zu  uns 
niederschlug,  brachte  uns  der  Aufenthalt  in  diesen 
Höhen  Atemnot;  das  Herz  empfand  keinerlei  Be- 
schwerden. 

Was  nützt  der  beste  Wille  zum  Schlafen,  wenn 
man  auf  steinernem  Lager  friert.  Mühsam  hat 
der  Körper  den  einengenden  Decken  seine  Tempe- 
ratur mitgeteilt;  jede  kleinste  Bewegung,  die  ihn 
mit  neuen  Teilen  dieser  Hülle  in  Berührung  bringt, 
läßt  ihn  \or  Kälte  erzittern.  Wiederum,  liegt  er  still, 
wird  ihm  der  Druck  des  einzelnen  Steines  schließlich 
zur  unerträglichen  Marter.  So  schleicht  die  Nacht- 
ruhe zwischen  Frösteln  und  schmerzendem  Druck 
unsagbar  träge  dahin.  Aufzustehen  aber  verbietet 
die  Rücksicht  auf  die  Leute,  welche,  soweit  er- 
kennbar, in  ihre  Decken  vermummt,  am  Feuer 
hockend  und  liegend,  zwischen  den  Felsblöcken 
verstreut,  reg-  und  lautlos  verharren.  .So  wird 
der  anbrechende  neue  Tag  zu  einer  Erlösung. 

4.  II.  1912.  Ein  voller  Tag  als  Gast  der 
B  i  w  a  k  h  ö  h  1  e. 

Die  Glieder  wie  zerschlagen,  die  Wolldecke 
umgeschlagen  und  doch  arg  frierend,  möchte  man 
wenigstens  Gesicht  und  Händen  eine  Auffrischung 
zukommen  lassen.  Das  letzte  Wasser  brodelt 
gerade  für  den  Tee.  Etwas  mißmutig  über  den 
sorglosen  Wasserverbrauch  stolpere  ich  zum  Aus- 
gang in  den  milden  Schein  der  Morgensonne 
hinaus;  auf  dem  feingrandigen  Felde  nahe  vor  der 
Höhle  halte  ich  Umschau.  Mein  Blick  bleibt  er- 
staunt an  einem  schneestarrenden  Höhenzuge 
leichter  Steigung  haften,  der  nordwestlich  hinter 
den  Felsgiganten,  welche  als  zerklüftete  Mauer 
die  Höhle  säumen,  herabzieht. 

Mir  war  aus  keiner  Schilderung  dieser  Höhen 
das  Vorhandensein  eines  solchen  sekundären 
Grates  bekannt.  Ich  trete  zurück,  um  ihn  zu 
übersehen.  Was  ist  es?  Der  Kibo  selbst,  vom 
harmlosesten  Aussehen  der  Welt,  als  ob  ihn  zu 
besteigen  ein  anstrengungsloser  Morgenspaziergang 
wäre,  zu  dem  er  freundlichst  einläd.    Der  Ratzel- 


Gletscher  nahe  der  linksseitigen  Bergkontur, 
greifbar  nahe  erscheinend ,  kenntlich  bei  be- 
waffnetem Auge  selbst  in  Einzelheiten  der  Eis- 
struktur seiner  Stirn,  die  mehr  gradlinige  Zone 
der  Abstürze  der  Nordostgletscher  nicht  weit  von 
der  Höhenlinie  des  Berges,  deren  Gletscherband 
2  Scharten  bis  an  das  Vulkangestein  einschneiden: 
die  schmälere  Johannes-Scharte  mit  mehr  senk- 
rechten Wänden  und  die  breitmuldig  ausge- 
hobene Hans  Meyer- Scharte  rechts,  nordwärts 
daneben. 

Es  ist  höchst  merkwürdig,  daß  Hans  Meyer 
diese  erstere  Scharte  i.  J.  1S89  noch  nicht  bemerkt 
hatte;  ihre  Ausschmelzung  innerhalb  kaum  lojahren 
bleibt  unerklärlich  und  ließe  sich  wohl  nur  auf 
eine  höhere  Eigenwärme  des  Gesteins  dort  zurück- 
führen. Da  ich  igo6  diese  Schatte  nur  stark 
seitlich  mehr  von  Süden  aus  gesehen  habe,  kann 
ich  selbst  ein  Urteil  nicht  geben,  ob  sich  das 
Gletschereis  weiter  vermindert  hat;  die  Aus- 
schmelzung erscheint  jedenfalls  recht  groß. 

Kaum  hat  das  Auge  den  Gipfel  mehr  als 
Ganzes  aufgenommen,  da  stellt  es  auch  schon  ins 
Einzelne  reichende  Betrachtungen  über  Möglich- 
keit und  Wege  der  Besteigung  an.  Es  kann  kein 
Zweifel  sein,  die  zuvor  benutzte,  in  starkem  Bogen 
am  Ratzel-Gletscher  vorbei  führende  Aufstieglinie 
bietet  bei  mäßiger  Steigung  auf  teils  gewachsenem 
Felsen  die  einzige  Möglichkeit,  sicher  den  be- 
quemsten Weg,  um  von  hier  aus  die  Johannes- 
Scharte  zu  erreichen.  Wie  ein  Band  erscheint  sie 
zur  Höhe  hinauf  gezeichnet,  das  nahe  unterhalb 
der  Scharte  nordwärts  im  Schneefelde  endet. 

Völlig  aussichtslos  dagegen  mutet  es  an,  den 
Gipfel  über  das  von  der  Scharte  bis  wenige  hundert 
Meter  oberhalb  der  Biwakhöhle  abstürzende 
Schotterfeld  selbst  erreichen  zu  wollen.  Wenn 
ich  diesen  Weg  in  der  folgenden  Nacht  dennoch 
erfolgreich  genommen  habe,  so  hat  es  allein  der 
gefrorene  Boden  gestattet,  eine  äußerst  ange- 
nehme F"olge  des  sonst  so  mißgünstigen  Wetters. 
Denn  die  Untätigkeit  des  späteren  Tages  ist 
nicht  sowohl  von  einer  Ermüdung  nach  all  dem 
Bösen  des  Vortages  oder  von  dem  Wunsche  be- 
stimmt gewesen,  vor  dem  bereits  für  die  zweite 
Nacht  geplanten  Aufstieg  auszuruhen,  als  durch 
erneutes  Schneetreiben  und  feinere  Graupelfälle, 
die  schon  am  zeitigen  Vormittag  wieder  ein- 
setzten und  uns  bald  in  der  Höhle  gefangen 
hielten. 

Nun  sich  der  Blick  bescheidet  zu  einer  Be- 
trachtung des  nächsten  Bodens,  sieht  er  sich  über- 
rascht von  einer  recht  eigenartigen  Struktur  des- 
selben. Zarte,  rundliche,  durchweg  etwa  5  cm 
hohe  Eissäulchen,  die  unregelmäßig  gedrängt 
nebeneinander  mehr  oder  minder  senkrecht  zur 
Bodenfläche  stehen,  tragen  eine  zusammenhängende 
sehr  dünne  Eisdecke,  die  über  und  über  bedeckt 
ist  mit  ganz  feinkiesigem  Schotter,  von  dem  ein- 
zelne Teilchen  auch  den  Säulchen  ein-  und  an- 
gefroren sind.  Diese  zierliche  Eisbildung  ruht 
ihrerseits    auf   dem    gleichfalls    vereisten,    eigent- 


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Heben  gröberen  Bodenschotter,  der  sich  bis  auf 
etwa  4  cm  an  jener  Stelle  (etwa  8 '/.,  Uhr  morgens)  ge- 
froren zeigte.  Unter  der  Wirkung  der  Sonnen- 
strahlen schmolz  bald  hier,  bald  dort  ein  kleines 
Stückchen  der  Decke  aus,  die  Säulchen  folgten 
nach,  und  bald  war  dann  auch  der  Boden  eisfrei. 
Das  Herabrieseln  des  ausschmelzenden  Kieses 
von  der  Decke  (und  den  Säulchen),  das  Ein- 
brechen der  Eisschollen  wurde  die  Ursache  eines 
leise  knisternden  Geräusches,  das  ringsum  vom 
Boden  her  in  die  Einsamkeit  flüsterte. 

Diese  ganze  Erscheinung  erhielt  ein  weiteres 
höchst  eigenartiges  Merkmal  dadurch,  daß  diese 
Ausschmelzung  im  ganzen  parallel  streifig  ge- 
ordnet, in  einem  Abstände  von  vielleicht  10  cm 
geschah;  eine  Abhängigkeit  der  Richtung  dieser 
Linien  vom  Gelände  konnte  ich  mit  Bestimmt- 
heit nicht  erkennen.  Die  leicht  welligen  Linien- 
systeme, die  sich  ja  deutlich  auf  einige  Meter  Länge 
verfolgen  ließen,  konnten  nahe  beieinander  augen- 
fällige Richtungsunterschiede  zeigen,  ohne  daß  die 
Bodenform  einen  besonderen  Anlaß  zu  geben 
schien.  Das  Vorkommen  dieser  Sandstreifen  wird 
auch  von  früheren  Besuchern  erwähnt.  Meine 
Beobachtung  hat  ergeben,  daß  diese  Streifung 
dem  Boden  an  jenen  Stellen  primär  eigentümlich 
war,  daß  sie  also  nicht  als  Schmelzwirkung  an- 
zusprechen ist.  Es  wird  sich  daher  voraussicht- 
lich um  eine  Wirkung  des  Windes  handeln. 

Die  Vegetation  erreicht  nur  noch  in  krypto- 
gamen  Vertretern  diese  Möhen;  außer  ihnen  nur 
einzelne  dürftigste  trockene  Grasbulte,  über  die 
sich  das  inzwischen  auch  in  den  Morgensonnen- 
schein geführte  Maultier  trotz  der  erhaltenen 
Maisporiion  gierig  stürzt.  Es  scheint  mit  dem 
Neger  das  gemein  zu  haben,  daß  es  sich  unter 
allen  Umständen  bis  an  den  Hals  vollfüttern  muß. 
Denn  von  Trägern  fortgeworfene,  altmodrige 
Kopfturnusse  aus  (Bananen- )Bläitern  wurden  auch 
gefressen,  und  nachdem  es  noch  einige  der  Land- 
schaft nicht  zur  Zier  gereichende  leere  Konserven- 
dosen und  Sektflaschen  als  ungenießbar  festge- 
stellt hatte,  nahm  es  ein  Kiesbad.  Es  fand  einen 
aufmerksamen  Zuschauer  in  einem  Geier,  der  den 
•wappenähnlichen  Aufsatz  des  Felsens  oberhalb 
der  Höhle  krönte.  Als  ob  Menschenhände  die 
rohe  Form  des  Wappens  gehauen  und  Giganten- 
arme den  ganzen  Riesenblock  getürmt  hätten. 

Die  Pflicht  gebietet  aber,  in  die  Dunkelheit, 
die  stickige  Luft  und  Unsauberkeit  der  Höhle 
zurückzukehren.  Um  Wasser  bedarf  es  zwar 
keiner  besonderen  Sorge,  doch  fehlt  es  an  Brenn- 
holz. Die  Leute  brüten  nach  wie  vor  stumpf  vor 
,  sich  hin,  nicht  einmal  ihr  eigentlicher  und  einziger 
Lebensinhalt,  von  der  bibi,  dem  Weibe,  abgesehen, 
nicht  einmal  die  Verheißung  eines  ausgezeichneten 
Essens:  Ziege  und  Reis,  macht  sie  munter.  Der 
Msimanizi  nennt  6  Leute,  die  er  mit  zum  Brenn- 
holzholen nehmen  möchte;  er  zeigt  auf  die 
deckenverhülltcn  unkenntlichen  Gestalten,  die  jenen 
Namen  entsprechen. 

Und  nachdem  erst  einmal  einer  mit  fühlbarem 


Zuspruche  hochgebracht  ist,  folgen  die  anderen 
schneller.  Nach  etwa  5  Stunden  sind  die  Leute 
mit  einigem  spärlichem,  dürrem  Brennholz  zurück- 
gekehrt. Es  mußte  daher  am  nächsten  Morgen 
wieder  Brennholz  herbeigeschleppt  werden.  Bei 
dieser  Gelegenheit  ist  dann  einer  der  Träger,  vor 
Graus  über  Kälte  und  Schnee  vielleicht,  aus- 
gerissen, und  zwar  „glücklich",  möchte  ich  sagen, 
denn  es  konnte  später  festgestellt  werden,  daß 
er  wohlbehalten  in  die  Kulturzone  nieder  gelaufen 
war. 

Überall  fanden  sich  noch  Schnee-  und  Graupel- 
verwehungen  im  Sonnenschatten  in  Felsfugen 
nächst  der  Höhe.  Nachdem  die  Leute  zuerst  mit 
Befremden  —  soweit  der  Neger  überhaupt  Ge- 
mütsbewegungen zeigt  und  hat  —  mein  Beginnen, 
den  Schnee  in  den  Mund  zu  tun,  verfolgt  hatten, 
mußten  sie,  ohne  scheinbar  irgendein  Verständnis 
für  den  Zweck  zu  besitzen,  in  die  vorhandenen 
Kochtöpfe  Schnee  löffeln  und  ans  Feuer  setzen. 
Erst  da  mag  ihnen  vielleicht  die  Einsicht  wenigstens 
insoweit  gekommen  sein ,  um  zu  bemerken, 
daß  diese  Methode  ihnen  Arbeit  und  Weg  erspart 
hatte. 

Noch  bevor  die  Träger  mit  dem  Brennholz 
zurückgekehrt  waren,  begann  der  Schnee  leise  und 
fein  zu  fallen;  es  wurde  auch  innerhalb  der  Höhle 
empfindlich  kalt.  Und  viel  Wärme  konnte  das 
bißchen  Holz  nicht  bringen.  Die  Leute  hockten 
nun  wieder  alle  schweigsam  nahe  den  beiden 
Feuern  unter  ihren  Decken  völlig  verborgen,  und 
es  fand  sich  kaum  einer  bereit,  die  vorletzte  Ziege 
zu  schlachten  und  zu  zerlegen.  Schließlich  war  auch 
das  im  Windschutze  eines  Felsens  vor  der  Höhle 
getan,    der   Reis    verteilt    und  Tabak    verabreicht. 

Aber  selbst  dieser  Reichtum  an  Genüssen  ver- 
mochte keinen  Ausdruck  der  Freude  auf  die 
apathischen  Gesichter  der  Leute  zu  bringen. 
Völlig  stumpfsinnig  sahen  sie  der  Bereitung  der 
Speise  zu,  soweit  sie  nicht  unter  ihren  Decken 
nach  wie  vor  verhüllt  blieben.  Und  ebenso  teil- 
nahmslos, schweigsam  tilgten  sie  das  Essen  hinein. 
Kein  Wort  in  all  den  vielen  Stunden,  aber  auch 
kein  Wort  der  Klage;  nicht  der  Ausdruck  fried- 
voller Zufriedenheit,  allein  lebensbarer  Gleich- 
gültigkeit vor  unklar  empfundenem  Schrecknis  und 
Unheil. 

So  verging  auch  der  weitere  Tag  in  trostloser 
Einförmigkeit,  die  gesättigten  Leiber  lagen  form- 
los eingehüllt  umher,  Frost  und  Finsternis  vereinten 
sich  zur  Nacht,  kaum  daß  es  bemerkt  wurde. 
Und  draußen  deckten  immer  neue  Flocken  die 
erstarrte  Erde  zu,  deren  einzelne,  durch  die  Fels- 
risse verirrt,  die  Schneepatzen  in  der  Höhle  bis 
fast  an  den  Schlafsack  wachsen  ließen.  In  diese 
Unwirtlichkeit  schien  selbst  der  Schlaf  ungern  zu 
kommen. 

Aber  auch  an  dieser  Stätte  weltabgeschlossener 
Einsamkeit  nimmt  die  Zeit  ihren  Lauf;  wenn  auch 
unerhört  träge.  Es  wurde  Mitternacht  und  bald 
darauf  waren  die  letzten  Vorbereitungen  für  die 
Besteigung     auf    den    Kibogipfel    beendet.      Der 


760 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  48 


Mond    spendete    aus  klarem  Himmel    sein    mildes  schwangeren   Rückweges    nach   der  dritten    Ober- 
Licht  über  den  eisesstarren  Boden.  nachtung    in    der    Biwakhöhle,    deren    Schrecken 

jene    wenigen    anderen  Forscher   vor   mir   bereits 

Im  Teile  II  werde  ich  versuchen,  die  folgenden  unerträglich    nennen ,    die    bei    sonnigem    Wetter 

Stunden    unvergeßlicher    Eindrücke    zu    schildern,  nur   i   oder  2  Tage  in  ihr  Zuflucht  zu  suchen  ge- 

zugleich  jene    des   nächsten  Tages,   des  gefahren-  nötigt  waren. 


Funde  fossiler  Wirbeltiere 


in  den  deutschen  Schutzgebieten  in  Afrika. 


[Nachdruck  verboten. 


Von  Dr.  Ernst  Stromer  in  München. 


Schon  mehrfach  habe  ich  mich  über  fossile 
Wirbeltiere  Afrikas  in  dieser  Zeitschrift  verbreitet 
(1902,  Nr.  13,  1910  Nr.  11,  191 1  Nr.  51),  über 
solche  aus  unsern  Schutzgebieten  war  aber  leider 
kaum  etwas  zu  bemerken,  da  man  bis  in  die  Neu- 
zeit so  gut  wie  nichts  davon  gefunden  hatte.  In 
den  letzten  Jahren  ist  es  jedoch  erfreulicherweise 
anders  geworden,  sodaß  es  sich  jetzt  schon  lohnt, 
hier  einiges  darüber  zu  veröffenthchen  als  Beweis, 
wie  auch  auf  diesem  Gebiete  deutsche  Kultur- 
arbeit erfolgreich  zu  wirken  begann,  bis  der  Krieg 
hemmend  einsetzte. 

Über  die  bedeutendste  Entdeckung  und  deren 
großzügige  Ausbeutung,  über  die  Dinosaurier- 
Funde  in  Deutsch-OstafrikaM  hat  erst  kürz- 
lich ein  Mitarbeiter,  Dr.  E.  Hennig,  hier  das 
vorläufig  Wissenswerte  kurz  mitgeteilt  (1914, 
Nr.  27,  S.  418  ff.).  Außer  den  im  Süden  ausge- 
dehnten Dinosaurier-F"undorten  sind  aber  neuer- 
dings auch  solche  von  Säugetieren  entdeckt 
worden.')^)  Der  Münchener  Mediziner,  Universi- 
täts-Professor Dr.  Kattwinkel,  fand  nämlich 
auf  einer  Jagd-  und  zoologischen  Sammelreise  im 
Innern  der  Massai  Hochländer  in  vulkanischen 
Tuffen  Säugetier-  und  Krokodilreste.  Davon  sind 
allerdings  bisher  nur  dürftige  Knochenreste  eines 
großen  Flußpferdes  von  mir  genauer  beschrieben 
und  die  übrigen  Knochen  und  Zähne  von  Herrn 
Prof.  Max  Schlosser  in  München  vorläufig  be- 
stimmt worden.  Es  ergab  sich  daraus  ein  quar- 
täres  und  wohl  pliozänes  Alter  der  verschiedenen 
Fundschichten. 

Auf  meine  Anregung  hin  und  infolge  meiner 
Vermittlung  hat  aber  dann  Herr  Dr.  H.  Reck 
durch  Herrn  Geheimrat  Branca  in  Berlin  Ge- 
legenheit erhalten,  einen  der  Fundorte  für  die 
Berliner  und  Münchener  Sammlung  auszubeuten. 
Wenn  auch  sein  zu  vorschnell  verkündeter  Fund 
eines  fossilen  Menschenskeletts  den  stärksten 
Zweifeln  unterliegt  (diese  Zeitschrift  1914,  Nr.  16, 
S.  254),  so  hat  jener  Geologe  doch  mit  seinen 
mehrwöchentlichen  Grabungen  so  guten  Erfolg 
gehabt,  daß  man  auf  eine  erste  Aufklärung  über  die 
so  gut  wie  ganz  unbekannte  jüngste  Vorgeschichte 
der  tropisch-afrikanischen  Säugetierwelt  rechnen 
kann  und  daß  sich  weitere  Ausbeutung  der  Fund- 
schichten in  großem  Maßstabe  lohnend  erwiesen 
hat. 

Neben    diesen    reichen   Funden    ist   leider    nur 
noch  ein  mitteltertiärer  Haifischzahn  (Carcharodon) 


von  Kitunda  bei  Lindi  zu  erwähnen,  den  E.  Hennig 
als  ersten  Wirbeltierrest  der  marinen  Tertiär- 
ablagerungen der  Küste  Deutsch-Ostafrikas  ver- 
öffentlichte. ■') 

In  der  kleinen  Musterkolonie  Togo  haben 
Regierungsbeamte  schon  vor  mehreren  Jahren  in 
Kalksteinschichten  bei  Tokpli  am  Monuflusse  und 
des  Bezirkes  Anecho  isolierte  Wirbeltierreste  ge- 
funden ,  die  mir  zur  Bearbeitung  übergeben 
wurden.  ^)  Sie  erwiesen  sich  als  dem  ältesten 
Tertiär  angehörig  und  fast  sämtlich  als  marin. 
Am  häufigsten  waren  Haifischzähne  und  un- 
bestimmbare Panzerstücke  stattlicher  Schildkröten, 
aber  auch  Pflastergebißreste  eines  großen  marinen 
Ganoidfisches  (Pycnodus),  Kauplatten  von  Rochen 
(Myliobatidae)  und  Wirbel  einer  stattlichen  Schlange 
und  eines  Krokodiliers  waren  in  dem  Material  ver- 
treten. Letzterer  ist  aus  den  paleozänen  Phos- 
phaten von  Gafsa  in  Tunis  später  in  vollständigeren 
Resten  beschrieben  worden  ")  und  erwies  sich  als 
altertümliche  wohl  meerbewohnende  Form,  nach 
meiner  Ansicht  als  Angehöriger  der  langschnauzigen, 
sonst  nur  oberjurassischen  und  kretazischen 
Macrorhynchidae.  Von  einem  der  Rochen,  einer 
bisher  unbekannten  Gattung,  fanden  sich  gleichfalls 
neuerdings  weitere  Reste  in  paleozänen  Schichten 
am  Kongo-Unterlauf.  ')  Der  Macrorhynchide  und 
dieser  jirimitive  Myliobatide  war  demnach  wenig- 
stens an  den  Küsten  Afrikas  weiter  verbreitet,  die 
anderen  Rochen  und  die  Haifische  aber  gehören 
anscheinend  fast  alle  Arten  an,  die  auch  in  den 
europäischen  Meeren  lebten.  Man  muß  deshalb 
wohl  einen  unmittelbaren  Zusammenhang  dieser 
Meeresteile  vermuten,  was  mit  der  Annahme 
einer  alttertiären  Landverbindung  Westafrikas  mit 
Nordbrasilien  schwer  vereinbar  ist. 

Gebißreste  von  Rochen  (Myliobatidae  und 
Torpedinidae)  sind  auch  aus  alttertiären  Tuffen 
von  Balangi  am  Mungoflusse  Kameruns  durch 
Prof  O.  Jäkel  beschrieben  worden.**)  Aus  dem 
von  Neukamerun  ringsumschlossenen  spanischen 
Gebiete  an  der  Mündung  des  Benitoflusses  sandte 
mir  ferner  kürzlich  der  Missionar  Geo  Schwab 
Tonschieferplatten  mit  zahlreichen,  vielleicht  eben- 
falls tertiären  Fischresten.  Außer  wenigen  dürftigen 
VVelsknochen  sind  darunter  fast  nur  Skelette  kleiner 
Knochenfische  vorhanden.")  Nach  der  Bestim- 
mung Prof  Eastmans  handelt  es  sich  um  den 
Clupeiden  Diplomystus.  '-)  Diese  Gattung  ist 
wegen     ihrer     geographischen     Verbreitung     be- 


N.  F.  Xm.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


761 


merkenswert.  Jetzt  lebt  sie  nämlich  nur  in 
Flüssen  von  Chile  und  Neusüdwales  und  man 
könnte  daraus  auf  einen  einstigen  direkten  Zu- 
sammenhang Südamerikas  und  Australiens  schlie- 
ßen, für  den  ja  auch  die  Beuteltiere  sprechen. 
Im  Alttertiär  fand  sich  aber  Diplomystus  in 
Nordamerika  und  England  und  in  der  oberen 
Kreide  in  Bahia,  Dalmatien  und  Syrien.  Er  war 
also  offenbar  früher  viel  weiter,  vielleicht  sogar 
allgemein  verbreitet,  denn  jetzt  ist  erwiesen,  daß 
er  einst  auch  in  Afrika  vorkam. 

Aus  Kamerun  sind  übrigens  schon  seit  längerer 
Zeit  auch  dürftige,  anscheinend  unterkretazische 
Fischreste  aus  der  nordwestlichen  Nachbarschaft 
des  Kamerunberges  bekannt, ')  beschrieben  ist  je- 
doch durch  Prof.  Jäkel  nur  ein  wahrscheinlicher 
Chirocentride  vom  Mamfebach  bei  Ossidinge. '") 
Diese  marine  Familie  verhält  sich  ähnlich  wie 
Diplomystus.  Gegenwärtig  lebt  nämlich  nur  ein 
Vertreter  im  marinen  Seichtwasser  von  Ostafrika 
bis  Japan,  für  die  Kreidezeit  jedoch  ist  die  Familie 
formenreich  in  Westeuropa,  Nordamerika  und 
Bahia  nachgewiesen. 

Höchst    bemerkenswerte    Reste    sind    endlich 


reste,  die  Geheimrat  H.  Schröder  als  solche 
von  Falaeoniscidae  beschrieb,  also  von  Vorläufern 
der  Knorpelganoiden,  die  im  jüngeren  Paläozoikum 
sehr  weit  verbreitet  und  häufig  waren.  '*) 

Im  vorigen  Jahre  und  heuer  erhielt  ich  dann 
durch  den  leider  im  Frühjahr  verunglückten 
Major  Brentano-Bernarda  von  ihm  selbst  ge- 
sammelte Reptilreste,  von  welchen  einer  ebenfalls 
von  Ganikobis  stammt,  die  zahlreichen  übrigen 
aber  sämtlich  von  Kabus  bei  Keetmanshoop. '°) 
Nach  meiner  eben  erst  vollendeten  vorläufigen 
Bestimmung  handelt  es  sich  ausschließlich  um 
Mesosaurusreste(Fig.  2)  und  wohl  nur  um  Angehörige 
von  Arten,  die  aus  dem  Perm  Britisch- Südafrikas 
schon  bekannt  sind.  Die  Gattung  ist  sonst  in 
einer  Art  auch  aus  Südbrasilien  beschrieben  (Fig.  i), 
wo  ebenso  wie  in  benachbarten  Gebieten  die  ein- 
zige nahe  verwandte  Gattung  Stereosternum  ge- 
funden wurde. 


Fig.   I.     Rekonstruktion    von  Mesosaurus    brasiliensis    Mac  Gregor  aus  Parana, 
nach  Mac  Gregor,  stark  verkleinert. 


Fig.    2.       Abdruck    von    Brust- 
rippenenden   und    des    Vorder- 
fußes von  Mesosaurus  aus  Kabus, 
in    natürl.    Größe. 


von  Dr.  E.  Hennig  beschrieben  worden.*^)  Es 
handelt  sich  um  einen  wahrscheinlichen  Sauro- 
pterygier-Zahn  und  um  einen  Lepidotus  Rest,  die 
von  dem  Regierungsgeologen  O.  Mann  bei 
Ssarauiel  zwischen  Garua  und  Binder  in  Nordost- 
Adamaua  gefunden  wurden.  Nach  dem  Ganoid- 
fisch  zu  schließen,  der  einer  oberstjurassischen 
Lepidotusart  am  nächsten  steht,  könnte  hier  die 
Anwesenheit  mittleren  marinen  Mesozoikums  an- 
genommen werden.  Eine  damalige  Meeresver- 
breitung bis  weit  in  das  Innere  Westafrikas  läßt 
sich  aber  schwer  mit  den  bisher  herrschenden 
Vorstellungen  von  der  geologischen  Geschichte 
des  alten  äthiopischen  Festlandes  vereinigen. 
Vielleicht  ist  eben  die  kameruner  Lepidotusart 
im  Gegensatz  zu  ihren  Verwandten  ein  Süßwasser- 
bewohner gewesen,  denn  auch  heute  leben,  be- 
sonders in  den  Tropen,  häufig  nahe  verwandte 
Fischarien  teils  im  Meere,  teils  im  Süßwasser. 

Viel  älter  sind  schließlich  Wirbeltierreste  aus 
Großnamaland  in  Deutsch-Südwestafrika, 
sie  gehören  nämlich  der  Permformation  an. 
Schon  vor  mehreren  Jahren  fand  der  Geologe 
Dr.  Lotz  in  Knollen  bei  Ganikobis  zwischen 
Keetmanshoop    und  Gibeon  dürftige  Ganoidfisch- 


Die  Mesosauridae  bieten  ganz  erhebliches 
Interesse;  es  handelt  sich  nämlich  um  die  ältesten 
bekannten  wasserbewohnenden  Reptilien.  Sie 
schwammen  wahrscheinlich  ähnlich  wie  die  Molche 
mit  Hilfe  eines  langen  Ruderschwanzes  und  der 
in  breite  Paddeln  umgewandelten  fünfzehigen 
Beine,  von  welchen  die  vorderen  deutlich  kürzer 
als  die  hinteren  sind.  Ihre  Wirbel  und  Rippen 
sind  ähnlich  wie  bei  den  Seekühen  auffällig  ver- 
dickt. Ihr  langschnauziger  Schädel,  dessen  Bau 
leider  noch  nicht  genügend  bekannt  ist,  erscheint 
jedoch  mit  zahlreichen,  sehr  langen,  schlanken 
und  spitzigen  Zähnen  wie  mit  einem  Rechen  be- 
wehrt. Man  muß  deshalb  annehmen,  daß  die  nur 
wenige  Decimeter  langen  Tiere,  welche  offenbar 
gesellig  lebten,  nicht  Pflanzenfresser  wie  die  See- 
kühe waren,  sondern  wohl  kleine  tierische 
Wasserbewohner  fraßen,  die  uns  leider  noch 
unbekannt  sind,  da  mit  jenen  zusammen  bisher 
nur  äußerst  wenige  Fossilreste    gefunden  wurden. 

Die  systematische  Stellung  der  Mesosauridae 
ist  noch  ganz  unklar;  mit  den  bekannten  wasser- 
bewohnenden Reptilien  des  Mesozoikums,  den 
Ichthyosauria,  Sauropterygia  usw.,  scheinen  sie  in 
keiner  näheren  Beziehung  zu  stehen  und  von  den 


762 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xni.  Nr.  48 


gleichaherigen  paläozoischen  Reptilien  weichen 
sie  stark  ab.  Tiergeographisch  sind  sie  insofern 
wichtig,  als  ihr  alleiniges  Vorkommen  im  post- 
glazialen Perm  Südafrikas  und  Südbrasiliens 
eine  Stütze  für  die  Annahme  einstigen  festländi- 
schen Zusammenhanges  beider  Gebiete  bietet. 
Es  steht  jedoch  noch  nicht  einwandfrei  fest,  daß 
die  Mesosauridae  Süßwasserbewohner  waren,  denn 
in  Südbrasilien  sollen  marine  Muscheln  mit  ihnen 
zusammen  vorkommen  und  in  Deutsch-Südwest- 
afrika sind  solche  wenigstens  in  den  ihre  Fund- 
schicht unterlagernden  Ablagerungen  unmittelbar 
über  dem  permischen  Geschiebelehm  nachgewiesen. 
Es  handelt  sich  nach  allem,  abgesehen  von 
den  ostafrikanischen  Dinosaurier-  und  Säugetier- 
funden nur  um  geringfügige  und  höchst  lücken- 
hafte Reste  der  einstigen  Wirbeltierfaunen  unserer 
afrikanischen  Schutzgebiete.  Trotzdem  ist  ihre 
Bedeutung  nicht  zu  unterschätzen.  Das  alte  Vor- 
urteil, als  seien  jene  Länder  fast  fossilleer,  ist 
durch  sie  zerstört  und  wir  wissen  nun  auch ,  wo 
und  in  welchen  Schichten  wir  zunächst  weiter 
zu  suchen  haben.  Vor  allem  aber  besitzen  all 
diese  Funde  nicht  nur  dadurch  Wert,  daß  sie  uns 
teilweise  ganz  unbekannte  Formen  kennen  lassen, 
sondern  ganz  besonders  groß  ist  ihre  tiergeo- 
graphische Bedeutung,  auf  die  ich  deshalb  hier 
mehrfach  hinwies.  Unsere  bisherigen  tiergeo- 
graphischen Vorstellungen  bezüglich  der  geolo- 
gischen Vergangenheit  leiden  nämlich  in  erster 
Linie  daran,  daß  aus  der  Südhemisphäre  und  aus 
den  Gebieten  der  heutigen  Tropen  nur  allzuwenig 
und  aus  sehr  weiten  Strecken  sogar  überhaupt 
nichts  von  Fossilien  bekannt  war.  Je  mehr  diese 
gewaltigen  Wissenslücken  durch  positive  Befunde 
geschlossen  werden  und  so  eine  sichere  Grundlage 
für  weitergehende  Schlüsse  geschaffen  wird,  desto 
besser  gelangen  wir  von  vagen  Spekulationen  zu 
klarer  und  gesicherter  Erkenntnis  und  können 
hoffen ,  Gesetzmäßigkeiten  auch  in  dem  höchst 
schwierigen  Wissenszweige  der  Tiergeographie 
früherer  Zeiten  festzustellen. 


Literatur. 
I.  Deutsch-Ostafrika. 
i)  E  b.  Fr  aas.    Ostafrikanische  Dinosaurier.     Palaeonto- 
graphica  Bd.   55,  p.   105  ff.,  Stuttgart   1908. 

2)  E.  Stromer,  Mitteilungen  über  Wirbeltierreste  aus 
dem  Mittelpliozän  des  Natrontales  (Ägypten).  3.  Artiodactyla : 
Bunodonlia:  Flußpferd.  Zeitschr.  Deutsch,  geol.  Ges.  Bd.  66, 
p.  27,   28.     Berlin   1914. 

3)  H.  Reck,  Erste  vorläufige  Mitteilung  über  den  Fund 
eines  fossilen  Menschenskeletts  aus  Zentralafrika.  Sitz.-Ber. 
Ges.  naturforsch.   Freunde,   1914,  Nr.  3,   p.  81  ff.      Berlin    1914. 

4)  Edw.  Hennig,  Über  neuere  Funde  fossiler  Fische 
aus  Ai|uatorial-  und  Südafrika  und  ihie  paläogeographische 
Bedeutung.     Ebenda,   1913,  p.  305  ff.     Berlin   1913. 

II.   Togo. 

5)  E.  Stromer,  Reptilien-  und  Fischreste  aus  dem  ma- 
rinen Altlertiär  von  Südtogo,  Zeitschr.  Deutsch,  geol.  Ges. 
Bd.  62,  Monatsber.,  p.  47Sff.     Berlin   1910. 

6)  Arm.  The  venin,  Le  Dyrosaurus  des  phosphates 
de  Tunisie.     Annal.  de  Paleont.  T.  6,  p.   108.     Paris   191 1. 

7)  M.  Leriche,  Les  poissons  paleoccnes  de  Landana 
(Congo).  Annal.  Mus.  Congo  Beige.,  Ser.  3,  T.  i,  p.  84  ff. 
Bru.xelles    I913. 

III.  Kamerun. 

8)  P.  Düsen,  Om  nordvästra  Kamerun  omrädets  geo- 
logi.  Geol.  foren.  i  Stockholm  förhandl.  Bd.  16,  H.  I. 
Stockholm    1894. 

9)  O.  Jaekel,  Über  einen  Torpediniden  und  andere 
F'ischreste  aus  dem  Tertiär  von  Kamerun.  Esch,  Beiträge  zur 
Geologie  von   Kamerun  p.  289  ff.     Stuttgart   1904. 

10)  O.  Jaekel,  Fischreste  aus  den  Mamfe -Schiefern. 
Abhandl.  kgl.  preuß.  geol.  Landesanstalt,  N.  F.,  H.  62,  p.  392  ff. 
Berlin   1909. 

11)  E.  Stromer,  Funde  fossiler  Fische  in  dem  tropischen 
Westafrika.    Zentralbl.  f.  Mineral  usw.  p.  87,  88.  Stuttgart  1912. 

12)  Ch.  Eastman:  Tertiary  fish  remains  from  Spanish 
Guinea  in  Westafrica.  Annais  Carnegie  Mus.  Vol.  8,  p.  870  ff. 
Washington    1913.  , 

13)  Edw.  Hennig,  Mesozoische  Wirbellierfunde  in 
Adamaua.  O.  Mann  u.  Hennig,  Mesozoische  Ablagerungen 
in  Adamaua.  Beitr.  z.  geol.  Erforsch,  d.  Deutsch.  Schulzgeb. 
H.   7,  p.   loff.     Berlin   1913. 

IV.  Deutsch-Südwestafrika. 

14)  H.  Schröder,  Marine  Fossilien  in  Verbindung  mit 
permischem  Glazialkonglomerat  in  Deutsch -Südwestafrika. 
Jahrb.  kgl.  preuß.  geol.  Landesanstalt  1908,  Bd.  29,  p.  694  ff. 
Berlin   190S. 

15)  E.  Stromer,  Die  ersten  fossilen  Reptilreste  aus 
Deutsch-Südwestafrika  und  ihre  geol.  Bedeutung.  Zentralbl. 
f.  Mineral,  usw.   1914,  p.   530ff.     Stuttgart  1914. 


Einzelberichte. 


Chemie.  Neue  hochmolekulare  Kohlenwasser- 
stoffe beschreiben  in  den  Ber.  d.  Deutsch.  Chem. 
Ges.  (47.  1679—90,  13.  6.  14)  die  Krakauer 
Forscher  K.  Dzie  woii  ski  undZ.  Leyko.  Der 
schon  früher  bekannte  Kohlenwasserstoff  Ace- 
naphthylen  verwandelt  sich  bei  kurzem  Erhitzen  auf 
ca.  100"  in  einen  polymeren  Kohlenwasserstoff 
(CijHj),,,  der  erst  bei  340—350"  schmilzt.  Dieses 
„Polyacenaphthylen",  eine  der  kompliziertesten  or- 
ganischen Verbindungen,  ist  allem  Anschein  nach 
der  höchstinolokulare  bisher  erforschte  Kohlen- 
wasserstoff. Auf  kryoskopischem  und  ebullio- 
skopischem  Wege  konnte  als  Molekulargewicht  der 
Wert  3300  festgestellt  werden ;  dies  entspricht 
einer  Formel  (CijHg)^^  =  Q^^Hi-,,.     Wird   Ace- 


naphtylen  auf  höhere  Temperaturen  erhitzt 
(280  —  300"),  so  bildet  sich  neben  anderen  Reak-' 
tionsprodukten  ein  in  hellgelben  Prismen  oder 
Säulen  kristallisierender  Kohlenwasserstoff,  für 
den  die  empirische  Zusammensetzung  CjgH.,s= 
(CjjH-)^  ermittelt  wurde.  Dieser  Körper,  der  in 
Lösung  eine  starke  blaue  Fluoreszenz  zeigt,  zeichnet 
sich  dadurch  aus,  daß  er  von  allen  zur  Zeit  be- 
kannten Kohlenwasserstoffen  den  höchsten  Schmelz- 
punkt (fast  400")  besitzt.  Die  Entdecker  schlagen 
für  diese  Substanz  den  Namen  „F'luorocyclen"  vor. 

Bugge. 
Physik.  Über  radiumähnliche  X- Strahlung  bringt 
F.Dessauer,  Frankfurt  a.  M.  eine  vorläufige  Mit- 
teilung in  der  Physik.  ZeitschriftXV(i9i4)Seite739. 


N.  F.  Xni.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


763 


Während  der  Absorptionskoeffizient  der  y-Strahlen 
in  der  Regel  um  die  Größe  0,1  herum  liegt,  ist 
der  für  gewölinliche  Röntgen-Strahlen  8  bis  4  und 
der  für  harte  4  bis  2,  so  daß  die  R-Strahlen 
20  bis  80  mal  stärker  absorbiert  werden  als  die 
y- Strahlen.  Auch  in  der  Medizin  haben  sich  diese 
Zahlen  als  zutreffend  erwiesen :  es  absorbiert  eine 
Schicht  Körperfleisch  von  i  cm  Dicke  90  bis  30  "/o 
der  Röntgen-Strahlen,  aber  nur  8  bis  470  der 
j'- Strahlen,  so  daß  demnach  die  Tiefenwirkung 
der  letzteren  bei  weitem  beträchtlicher  ist.  Dem 
Verfasser  ist  es  nun  gelungen,  mittels  einer  Rönt- 
genröhre Strahlen  zu  erzeugen,  deren  Absorptions- 
koeffizient unter  0,1  liegt,  die  im  Fleisch  nur  zu 
5 — 6%  pro  cm  Dicke  verschluckt  werden,  die 
mithin  dieselbe  Härte  wie  y-Strahlen  haben.  Es 
ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  die  Durchdringungs- 
fähigkeit der  X-Strahlen  von  der  Geschwindigkeit 
der  die  Antikathode  treftenden  Elektronen  (=  Ka- 
thodenstrahlen  abhängig)  ist.  Die  Geschwindig- 
keit der  /;?-Strahlen  geht  bis  zu  ®/^q  Lichtge- 
schwindigkeit, beträgt  also  im  Mittel  lOOOOO  km 
pro  Sekunde,  wärend  die  der  Kathodenstrahlen 
rund  30000  km  pro  Sekunde  ist.  Es  kommt 
demnach  darauf  an,  die  Geschwindigkeit  der 
letzteren  auf  das  6  bis  7  fache  zu  steigern. 
Für  die  Erreichung  dieses  Ziels  kommt 
neben  dem  geeigneten  Bau  von  Induktor  und 
Entladungsrohr,  neben  der  Verwendung'  eines 
Antikatliodenmaterials  von  hohem  Atomgewicht 
und  der  Temperaturerniedrigung  der  Antikathode 
namentlich  die  Tatsache  in  Betracht,  daß  in 
Stromkreisen  mit  Funkenstrecke,  hoher  Kapazität 
und  Selbstinduktion  Überspannungen  auftreten 
können,  deren  Beträge  sehr  weit  über  die  Span- 
nung der  Grundschwingung  hinausgehen  können. 
Durch  geeignete  Variation  von  Kapazität  und 
Selbstinduktion  des  Entladekreises  sind  wir  mit 
voller  Sicherheit  in  der  Lage,  neben  weniger 
harten  Strahlen  in  relativ  großen  Mengen 
Röntgenstrahlen  von  der  gleichen 
Härtewie  die  ;' -Strahlen  zu  erzeugen.  Da- 
bei ist,  wie  eine  Messung  ergab,  diese  harte 
Strahlung  des  Entladungsrohres  500  bis 
1 000  mal  so  stark  als  die  eines  Präparats 
von  100  mg  Mesothorium.  Die  Bedeutung 
dieser  Tatsache  für  die  Medizin  liegt  auf  der  Hand: 
Die  vorzüglichen  Wirkungen,  die  die  /-Strahlen 
auf  Krebszellen  und  andere  Krankheitszellen  aus- 
üben, sind  begrenzt  durch  die  geringen  Mengen 
und  den  hohen  Preise  der  radioaktiven  Substanzen. 
Es  ist  zu  erwarten,  daß  gerade  die  Krebs- 
heilung durch  die  Möglichkeit,  große  Mengen  sehr 
durchdringender  Strahlungen  zu  erhalten,  einen 
Schritt  weiter  geführt  wird. 

K.  Schutt,  Hamburg. 

Astronomie.     Die  oft  behandelte  FVage  nach 
dem  Vorhandensein  eines  oder  mehrerer  Planeten 
jenseits  des  Neptuns  bearbeitet  Lau  unteflieuen 
fBull  de    la    Soc.    astron.    de 
Aus  gewissen  Kometen- 


bahnen hat  man  angenommen,  daß  ein  solcher 
etwa  48  mal  so  weit  von  der  Sonne  entfernt  sein 
müsse,  wie  die  Erde:  Dem  würde  dann  eine 
Umlaufszeit  von  etwa  330  Jahren  entsprechen, 
woraus  eine  Wiederholung  der  Konjunktionen  mit 
Neptun  zu  320  Jahren  folgt.  Seit  so  lange  kennen 
wir  nun  die  Bewegung  des  Neptun  noch  nicht, 
so  daß  also  etwaige  Störungen  hier  nicht  nach- 
zuweisen sind.  Dagegen  ist  vom  Uranus  mehr 
als  ein  Umlauf  bekannt,  so  daß  hier  eine  Unter- 
suchung mehr  Gewinn  verspricht.  Nun  zeigen 
die  Untersuchungen  von  Newcomb,  Gaillot 
und  Lau  übereinstimmend,  daß  hier  zwischen 
Beobachtung  und  Rechnung  Unterschiede  bestehen, 
die  einen  periodischen  Gang  aufweisen.  Dieser 
ist  aber  unvereinbar  mit  der  etwa  57  jährigen  Pe- 
riode, die  ein  transneptunischer  Planet  autweisen 
müßte,  so  daß  die  Betrachtung  der  F'ehlerkurve 
dazu  drängt,  nicht  einen,  sondern  zwei  Planeten 
jenseits  des  Neptun  anzunehmen.  Auch  dafür 
lassen  die  Kometenbahnen  günstige  Schlüsse  ziehen, 
so  daß  S  c  h  u  1  h  o  f  schon  früher  in  die  Entfer- 
nung 75  noch  einen  Planeten  versetzt  hat.  Nach 
Lau  sind  mindestens  noch  zwei  Planeten  vorhan- 
den, mit  den  Entfernungen  46,5  und  71,8,  und 
den  Massen  im  Verhältnis  zur  Sonne  von  i :  36000 
und  1:7000,  also  etwa  halb  so  groß  wie  Neptun 
der  innere,  und  der  äußere  halb  so  groß  wie 
Saturn.  Riem. 

Zu  den  zahlreichen  Hypothesen  über  den 
Ursprung  des  Zodiakallichtes  fügt  Fessenkoff 
eine  neue.  [Astronom.  Nachr.  Nr.  4752].  Er 
sucht  zu  zeigen,  daß  die  Kometenmaterie,  die  den 
Kometen  durch  den  Strahlungsdruck,  durch  die 
Schweitbildung,  durch  die  Anziehungskraft  der 
Planeten  verloren  geht,  sich  in  einem  Ring  um 
die  Sonne  anordnen  müsse,  der  uns  als  jene  Er- 
scheinung sichtbar  wird.  Die  verschieden  große 
einfangende  Kraft  der  Planeten,  vor  allem  des  Ju- 
piter läßt  diesen  kosmischen  Staub  sich  in  ver- 
schiedenen Abständen  von  der  Sonne  verschieden 
dicht  ansammeln,  und  daraus  folgt  dann  auch  eine 
wechselnde  Lichtstärke  des  Tierkreislichtes.  Es 
gelingt  dem  Verfasser  zu  zeigen,  daß  die  aus 
seinen  Entwicklungen  folgende  Intensitätsvertei- 
lung auch  der  beobachteten  auffallend  gut  ent- 
spricht. Riem. 

Völkerpsychologie.  Baldwin  Spencer, 
Professor  der  Biologie  an  der  Universität  Melbourne, 
der  bereits  durch  die  in  Gemeinschaft  mit  F.  J. 
G  i  1 1  e  n  verfaßten  Werke  über  die  Eingeborenen 
Zentralaustraliens  rühmlich  bekannt  geworden 
ist,  veröffentlichte  jüngst  ein  neues  Buch  über 
die  Stämme  des  Nord-Territoriums  von  Australien,') 
das  bemerkenswerte  Einblicke  in  die  Kultur  und 
Lebensweise  des  rasch  dahinschwindenden  austra- 
lischen Zweiges  des  Menschengeschlechtes  gewährt. 


Gesichtspunkten. 
France,    1914  Juniheft]. 


')  Native  Tribes  of  the  Northern  Territory  of  Australia. 
Mit  vielen  schwarzen  und  farbigen  Tafeln.  London  19 14. 
Macraillan.  —  21   Schill. 


764 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  48 


Im  nördlichen  Küstengebiet  Australiens  sind 
die  Lebensbedingungen  von  den  in  Zentralaustralien 
herrschenden  bedeutend  verschieden ,  und  zwar 
sind  sie  viel  günstiger.  Es  ist  jedoch  unbestimmt, 
ob  und  wie  weit  hierdurch  die  soziale  Organisa- 
tion und  die  Gebräuche  beeinflußt  wurden,  die 
bei  welchen  Gebieten  in  wesentlichen  Punkten  ab- 
weichen. Bei  den  Stämmen  der  Kakadu,  Umoriu, 
Geimbio,  wie  bei  anderen,  mangelt  z.  B.  die  schon 
oft  beschriebene  Einteilung  in  Heiratsklassen;  sie 
ist  durch  eine  lokale  Organisation  zur  Regelung 
der  ehelichen  Verbindungen  ersetzt.  Totemismus 
besteht  auch  an  der  Nordküste,  wie  augenscheinlich 
überall  in  Australien.  Aber  neben  den  Stämmen, 
bei  welchen  die  Zugehörigkeit  zu  einer  Totemgruppe 
durch  die  Abstammung  entschieden  wird,  gibt  es 
Stämme,  bei  denen  es  ganz  zufällig  ist ,  welcher 
Totemgruppe  jemand  zugeteilt  wird.  Diese  Stämme 
haben  den  Glauben  an  die  Wiedergeburt  der 
Verstorbenen,  und  die  Leute  meinen,  daß  der 
Geist,  der  sich  der  Wiedergeburt  unterzieht,  dem 
Vater  des  noch  ungeborenen  Kindes  sagt,  welchem 
Totem  dieses  zugehört.  Das  gilt  von  den  Kakadu, 
Geimbio,  Kulunglutschi  und  verwandten  Stämmen. 
In  Zentralaustralien  hat  die  Arunta-Nation  gleich- 
falls den  Glauben  an  die  Wiedergeburt,  doch  wird 
hier  die  Totemzugehörigkeit  durch  die  Ortlichkeit 
bestimmt,  an  der  die  Empfängnis  des  Kindes  erfolgt 
sein  soll. 

Bei  allen  Stämmen  Nordaustraliens ,  wie  bei 
vielen  .Stämmen  in  Zentralaustralien,  Queensland 
und  Westaustralien ,  besteht  Unkenntnis  des 
Zeugungsvorganges;  man  kennt  den  Zusammen- 
hang zwischen  Geschlechtsverkehr  und  Fort- 
pflanzung nicht,  sondern  nimmt  vielmehr  an,  daß 
die  Empfängnis  beim  Passieren  von  Orten  erfolgt, 
wo  sich  Geister  von  Verstorbenen  aufhalten ,  die 
in  die  Frauen  eindringen.  Dieser  Glaube  ist  so 
weit  verbreitet,  daß  die  Annahme  wohl  berechtigt 
ist,  er  sei  ehedem  in  Australien  allgemein  ge- 
wesen. Bei  den  Kakadu  in  Nordaustralien  z.  B. 
wird  gesagt,  daß  Imberombera,  die  Urmutter  des 
Stammes,  ursprünglich  die  Geisterkinder  aussandte. 
Seitdem  kehren  die  Geisler  der  Verstorbenen 
immer  an  gewisse  Örtlichkeiten  zurück,  um  dort 
der  Wiedergeburt  zu  harren.  Bei  manchen  Stämmen, 
wie  bei  den  Dieri  und  Warramunga,  wird  geglaubt, 
daß  das  Geschlecht  bei  jeder  Wiedergeburt  wechselt, 
so  daß  der  Vorfahrengeist  einmal  die  Gestalt  einer 
männlichen  und  das  nächstemal  die  einer  weib- 
lichen Person  annimmt.  Die  Verhältnisse  der 
Australier  sind  so  beschaffen,  daß  die  Unkenntnis 
des  Zusammenhangs  von  Geschlechtsverkehr  und 
Fortpflanzung  gar  nicht  wunderzunehmen  braucht. 
Prof.  Spencer  weist  darauf  hin,  daß  es  vor  allem 
unter  den  Australiern  keine  .Jungfrauen"  gibt, 
denn  sobald  ein  Mädchen  ge^chlechtsreif  ist,  wird 
es  dem  ihm  bestimmten  Mann  übergeben,  mit 
dem  der  Geschlechtsverkehr  während  des  ganzen 
Lebens  gepflegt  wird.  In  dieser  Beziehung  gibt 
es  keinen  Unterschied  zwischen  den  eingeborenen 
Frauen,    und  doch  sehen  die  Leute,    daß    manche 


Frauen  Kinder  bekommen  und  andere  nicht  und 
daß  die,  die  Kinder  haben,  sie  in  ungleichen 
Zwischenräumen  bekommen,  die  in  keiner  Be- 
ziehung zu  den  Zeiten  des  Geschlechtsverkehrs 
stehen;  überdies  wissen  die  Frauen  erst,  wenn  sie 
die  Kindsbewegungen  spüren,  daß  sie  schwanger 
sind,  und  das  ist  manchmal  zu  einer  Zeit,  zu  der 
sie  mit  keinem  Manne  zu  tun  haben.  Daher 
sucht  man  sich  die  Herkunft  der  Kinder  auf  eine 
andere  Weise  zu  erklären,  die  mit  dem  ganzen 
primitiven  Denken  dieser  wenig  entwicklungs- 
fähigen Menschen  übereinstimmt.  In  diesem  Zu- 
sammenhang ist  zu  erwähnen,  daß  die  australischen 
Mütter  die  Geburt  von  Mischlingskindern  allgemein 
daiauf  zurückführen,  daß  sie  zu  viel  von  des 
weißen  Mannes  Mehl  aßen.  Daher  kommt  es 
auch,  daß  alte  Australier  Halbblutkinder  ihrer 
F"rauen  ohne  Frage  als  die  ihrigen  anerkennen 
und  sie  auch  so  behandeln. 

Die  materielle  Kultur  der  Australier  ist  äußerst 
arm.  Ihre  Steinwerkzeuge  sind  so  wenig  kunst- 
voll bearbeitet,  daß  man  manche  kaum  als  solche 
überhaupt  erkennen  würde.  Die  einzelnen  Grup- 
pen haben  iiire  X^orzugslagerplätze,  aber  sie  wer- 
den nicht  ständig  bewohnt  und  es  wirrl  kein  Ver- 
such unternommen,  Nahrungspflanzen  zu  kultivieren 
oder  Nahrung  für  kommende  Zeit  aufzubewahren 
(ausgenommen  für  bestimmte  Zeremonien).  Die 
Leute  leiden  arg  unter  der  Kälte,  aber  es  kommt 
ihnen  nicht  in  den  Siim,  sich  mit  den  Fellen  der 
Tiere  zu  bekleiden,  die  ihre  tägliche  Nahrung 
bilden.  Die  P'rauen  halten  ihre  Rindenschürzen 
mit  den  Ellbogen  am  Leibe  fest;  sie  haben  noch 
nicht  die  Erfindung  gemacht,  diese  Schürzen  mit 
einem  Band  zu  befestigen  und  damit  ihre  Arme 
frei  zu  bekommen.  Der  einzige  Schutz  gegen 
den  langdauernden  Regen  besteht  in  Rinden- 
schirmen, die  das  nasse  Element  nur  wenig  ab- 
halten. 

Jeder  der  zahlreichen  Stämme  hat  zwar  sein 
bestimmtes  Landgebiet,  dessen  Grenzen  wohl  be- 
kannt sind,  aber  von  Privateigentum  der  Person 
haben  die  Australier  kaum  einen  Begriff.  Die 
Beute  oder  der  Verdienst  des  einen  wird  als 
Gemeingut  der  ganzen  Gruppe  betrachtet. 

Die  Leute  wissen  nicht,  daß  Krankheit  oder 
Schmerz  bestimmte  Ursachen  haben,  außer  wenn 
es  sich  um  einen  Unfall  handelt,  den  sie  sehen 
konnten;  sonst  führen  sie  alle  körperlichen  Leiden 
auf  Zauberei  zurück.  Auch  sonst  wird  alles,  was 
man  nicht  begreift,  mit  Zauberei  in  Verbindung 
gebracht.  Prof.  Spencer  erzählt  z.B.,  daß  Ein- 
geborene ,  die  zum  erstenmal  eine  Wagenspur 
sahen,  sie  als  den  Weg  betrachteten,  auf  dem  der 
böse  Zauber  sich  bewegt.  Um  darüber  hinweg 
und  nicht  mit  dem  Zauber  in  Berührung  zu 
kommen,  sprangen  sie  über  die  Wagenspur  so 
hoch  als  sie  konnten. 

So  eng  begrenzt  der  Tätigkeitsbereich  der 
Australier  auch  ist,  so  zeigen  die  einzelnen  Personen 
doch  Unterschiede  in  der  geistigen  Befähigung, 
die  nach  Prof.  Spencer's  Ansicht   ebenso    groß 


N.  F.  Xm.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


765 


sind  wie  die,  welche  bei  den  Weißen  zu  beobachten 
sind.  Wer  besonders  befähigt  ist,  zieht  jedoch 
daraus  keinerlei  Vorteil,  abgesehen  von  dem 
guten  Ruf,  den  er  unter  den  Mitgliedern  seiner 
Gemeinschaft  erwirbt. 

Zum  Schluß  seien  noch  zwei  Bräuche  erwähnt, 
die  an  die  prähistorische  Bevölkerung  Europas 
erinnern.  Beim  Stamm  der  Larakia  wird  die  linke 
Hand  der  weiblichen  Personen  durch  Entfernung 
des  Endgliedes  des  Zeigefingers  verstümmelt.  Die 
Mütter  beißen  zum  Teil  ihren  kleinen  Kindern  das 
Fingerglied  ab,  zum  Teil  wird  es  in  späterem  Alter 
abgebunden  und  damit  zum  Abfallen  gebracht. 
Bekanntlich  wurden  Abdrucke  in  ähnlicher  Weise 
verstümmelter  Hände  in  den  Grotten  von  Alta- 
mira  gefunden.  Ob  jene  paläolithischen  Men- 
schen,   gleich    den  Australierinnen,    die  Verstüm- 


melung  aus  Modetorheit  betrieben,    wird    freilich 
kaum  jemals  herauszufinden  sein. 

Die  Toten  werden  teils  in  der  Erde  und  teils 
auf  Bäumen  bestattet;  bei  den  Mara  und  ihnen 
verwandten  Stämmen  aber  werden  die  Toten  auf- 
gezehrt und  die  Knochen  darauf  in  Rindensärgen 
begraben.  Die  Pflicht,  die  verstorbenen  Mitglieder 
einer  Stammesabteilung  zu  essen,  fällt  den  Angehöri- 
gen zweier  bestimmter  anderen  Stammesabteilungen 
zu.  Die  Sache  ist  durch  totemische  Vorschriften 
geregelt.  Dabei  erinnert  man  sich,  daß  an  neo- 
lithischen  Grabfunden  Europas  Spuren  von  Kanni- 
balismus beobachtet  wurden  und  es  ist  die  Mög- 
lichkeit gegeben,  daß  es  sich  auch  dabei  nicht 
um  Zeichen  von  gewöhnlichem  Kannibalismus, 
sondern  ebenfalls  um  Erinnerungen  an  einen 
Totenbrauch  handelt.  Hans  Fehlinger. 


Bücherbesprechungen. 


Hönigswald,  Prof.  Dr.  Richard,  Die  Skepsis 
in  Philosophie  und  Wissenschaft. 
Göttingen,  Vandenhoek  &  Ruprecht,  1914. 
(Wege  zur  Philosophie  Nr  7.)  —  Preis  2,50  Mk. 
Man  braucht  nur  wenige  Seiten  in  dem  Buche 
gelesen  zu  haben,  um  nicht  nur  den  ersten  Satz 
des  Verf.:  „Der  Begriff  des  Zweifels  ist  einer  der 
schwierigsten  Gegenstände  wissenschaftlich  philo- 
sophischer Untersuchungen"  von  Herzen  zu  be- 
stätigen, sondern  auch  die  Untersuchung  selbst 
als  „schwierig"  geschrieben  zu  bezeichnen.  Wie- 
weit dies  etwa  der  Gegenstand  durchaus  erforder- 
lich gemacht  hat,  möchte  Referent  sich  nicht  zu 
entscheiden  anmaßen.  Wie  die  Sache  aber  liegt, 
läßt  sich  mit  Bestimmtheit  vermuten,  daß  wenig- 
stens aus  dem  naturwissenschaftlichen  Kreise  sehr 
wenige  Leser  den  Mut  und  auch  nur  die  Fähig- 
keit besitzen  werden,  die  Schrift  durchzuarbeiten. 
Dies  soll  kein  Urteil  über  ihren  Wert  sein,  sondern 
nur  einen  Tatbestand  feststellen,  der  schon  des- 
halb bedauerlich  ist,  weil  das  Problem  des  Zweifels 
in  hohem  Maße  ein  Problem  der  Naturwissenschaft 
selber  ist,  und  deshalb  eine  verständlich  gehaltene 
Belehrung  darüber  auch  und  gerade  dem  Natur- 
wissenschaftler willkommen  sein  müßte.  Aber 
wer  nicht  die  Fähigkeit  ausgebildet  hat,  ver- 
wickelten Darlegungen  abstrakten  Charakters  un- 
bedingt zu  folgen,  wird  das  Buch  bald  wieder  hin- 
legen. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  dürfte  aber 
die  Abhandlung  —  vielleicht  schon  durch  die 
Wahl  des  schwierigen  Themas  —  in  einer  Samm- 
lung, die  ausdrücklich  Wege  zur  Philosophie  be- 
titelt ist,  ganz  im  allgemeinen  Bedenken  erregen. 
Für  Leser,  deren  Bestreben  dahin  geht,  an  aus- 
gewählten Problemen  der  Philosophie  die  Eigen- 
art philosophischen  Denkens  erst  einmal  kennen 
zu  lernen  und  so  einen  Weg  zur  Philosophie  zu 
finden,  ist  die  Tonart  in  vorliegender  Veröffent- 
lichung  ganz  entschieden  zu  hoch  gegriffen.     Sie 


wendet  sich  vielmehr  sn  Leser,  die,  wie  schon 
gesagt,  speziell  in  der  Verfolgung  komplizierter 
und  abstrakter,  vorwiegend  mit  rein  begrifflichen 
Konstruktionen  arbeitender  Gedankengänge  eine 
nicht  geringe  Gewandtheit  besitzen;  Leser  also, 
die  sich  jedenfalls  schon  vorher  eingehend  mit 
schwierigeren  philosophischen  Fragen  befaßt  haben. 
So  muß  denn  auch  ein  näheres  Eingehen  auf 
den  Inhalt  des  Buches  den  philosophischen  Fach- 
blättern überlassen  bleiben.  Wasielewski. 


C.  Lei§  und  Dr.  H.  Schneiderhöhn,  Apparate 
und    Arbeitsmethoden    zur   mikrosko- 
pischen   Untersuchung    kristallisier- 
ter Körper.     Mit   115  Abbildungen.     (X.Teil 
vom  „Handbuch  der  mikroskopischen  Technik", 
unter  Mitwirkung  zahlreicher  Fachmänner    her- 
ausgegeben  von    der  Redaktion  des  „Mikrokos- 
mos".)   94  S.    gr.  8".  Stuttgart   1914,    Geschäfts- 
stelle des  „Mikrokosmos"  (Franckh'sche  Verlags- 
handlung). —  Preis  geh.  2,25   Mk. ,    geb.  3  Mk. 
Die  vorliegende  Schrift  liegt  als  I.  Buchbeilage 
dem  8.  Jahrgang  des  „Mikrokosmos"  bei.     Sie  ist 
vor    allem    für   den    ernst  arbeitenden  Liebhaber- 
Mikroskopiker  bestimmt,  wird  aber  auch  im  Unter- 
richt der  höheren  Lehranstalten  und  Universitäten 
nicht    ohne    Nutzen  Verwendung    finden    können. 
C.  Leiß  behandelt    in  den  drei  ersten  Teilen 
Bau  und  Behandlung   der  mineralogischen  Mikro- 
skope und  deren  Nebenapparate,    die  Herstellung 
von  Gesteinspräparaten  und  Dünnschliffen,  sowie 
die  Apparate  zur  Bestimmung  optischer  Konstanten 
kristallisierter  Körper. 

In  einem  vierten,  die  ganze  zweite  Hälfte  des 
Buches  umfassenden  Teile  berichtet  H.  Schneider- 
höhn über  die  ,, Bestimmung  physikalischer  Kon- 
stanten kristallisierter  Körper  mit  Hilfe  des  Polari- 
sationsmikroskops." K.  Andree. 


7G6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  48 


Stern,  Lina,  Dr.  med.,  Priv.^Doz.  der  Physiologie 
an  der  Universität  Genf,    Über  den  Mecha- 
nismus   der    Oxydationsvorgänge   im 
Tierorganismus.      Mit    12    Abb.    im    Text. 
Jena   1914,  G.  Fischer.     2,20  Mk. 
Verf.  berichtet  darin  über  die  Untersuchungen, 
die    sie   gemeinsam  mit  Prof.  Battelli  über  den 
Mechanismus    der    Oxydationsvorgänge    im    Tier- 
organismus   ausgeführt    hat.      Dieselben    bildeten 
den  Inhalt  eines  Vortrags,   der  auf  Einladung  der 
Berliner  Physiologischen  Gesellschaft    am    19.  De- 
zember  191 3  in   Berlin   gehalten  wurde. 

Kathariner. 


Bates,  Oric,  The  Eastern  Libyans.  XXII 
und  298  .S.,  mit  Tafeln.  London  1914,  Mac- 
millan. 
Bates  war  früher  Inspektor  der  archäologischen 
Aufnahme  Nubicns.  Er  ist  in  Ägypten,  der  Cyre- 
naika,  der  libyschen  Wüste  usw.  viel  gereist  und 
hat  den  gröüeren  Teil  des  Materials  selbst  ge- 
sammelt, das  die  Grundlage  des  vorliegenden 
Werkes  bildet.  Der  Autor  schildert  eingehend 
Bodengestalt,  Klima  und  Fauna  Libyens,  die  Sprache 
der  Libyer,  ihre  Religion,  ihre  gesellschaftlichen 
und  politischen  Einrichtungen,  Kleidung,  Bewaff- 
nung, Kunst  und  Architektur,  sowie  ihre  Geschichte, 
wie  sie  in  den  Überlieferungen  ihrer  Feinde  er- 
zählt wird;  denn  von  den  alten  Libyern  wäre 
wenig  bekannt  ohne  die  ägyptischen  Wand- 
malereien, von  denen  zahlreiche  in  dem  Werke 
reproduziert  sind.  Über  die  Herkunft  der  alten 
Libyer  vermag  auch  Bates  nichts  Bestimmtes  zu 
sagen.  Sicher  scheint  nur  zu  sein,  daß  sie  von 
Norden  her,  vermutlich  über  die  iberische  Halbinsel, 
nach  Afrika  eindrangen.  Als  Nachkommen  der  Van- 
dalen  können  sie  nicht  gelten,  da  griechische 
Autoren  die  blonden  Libyer  schon  vor  der  Zeit 
der  Vandaleninvasion  erwähnen.  Im  ganzen  befaßt 
sich  Bates  nicht  viel  mit  Hypothesen;  er  legt 
das  Hauptgewicht  auf  die  Wiedergabe  der  Tat- 
sachen, die  er  festzustellen  vermochte. 

H.  FehHnger. 


Ludowici,  August,  Das  ge  net  ische  Prin  zip. 
Versuch  einer  Lebenslehre.  Mit  2  farbigen 
Tafeln.  München  191 3.  F.  Bruckmann  A-G. 
Darstellungen,  in  denen  der  Versuch  gemacht 
wird ,  größeste  Komplexe,  wie  Leben,  Welt, 
Menschheit,  unter  dem  Gesichtspunkte  und  im 
Lichte  eines  einzelnen  durchgehenden  Prinzips  zu 
betrachten,  weisen  im  allgemeinen  einen  ins 
Auge  fallenden  Vorzug  verknüpft  mit  einem 
ebenso  leicht  erkennbaren  Nachteil  auf  Jener 
besteht  darin,  daß  das  gewählte  Prinzip,  ge- 
nügende Weite  und  Allgemeinheit  vorausgesetzt, 
gleich  einem  kräftigen  Reagens  sozusagen  auf 
alles  angewendet  werden  kann,  wodurch  bei  kon- 
sequentem Verfahren  beinahe  notwendig  eine 
Reihe    von    Aufschlüssen    (im    eigentlichen    Sinne 


des  Wortes)  erzielt  werden  muß.  Es  sind  also 
interessante  Anwendungen  auf  Einzelfälle  und 
Beleuchtungen  solcher  von  unerwarteten  Seiten 
her  zu  erwarten.  Der  Nachteil  andererseits  liegt 
in  der  Einseitigkeit,  die  aus  der  durchgehenden 
Anwendung  eines  einzigen  Prinzips  notwendig 
entspringen  muß,  indem  ein  solches  doch  immer 
nur  eine  gedankliche  Konstruktion,  ein  Schema 
darstellt,  das  die  gesamte  Fülle  der  Welt  nie 
restlos  aufnehmen  kann.  Man  erhält  vielmehr 
naturgemäß  immer  nur  eine  Ansicht,  ein  Bild, 
dessen  Aussehen,  wie  das  einer  Landschaft,  nicht 
nur  von  dieser  selbst,  sondern  auch  von  dem 
willkürlich  gewählten  Standpunkte  des  Beschauers 
und  zwar  in  wesentlicher  Weise,  bestimmt 
wird. 

Das  „genetische  Prinzip"  Ludowici 's  ist 
nun  insofern  glücklich  gewählt,  als  es  eine  Grund- 
tatsache unseres  inneren  Erlebens  darstellt  und 
somit  einer  natürlichen,  sehr  allgemeinen  Anwen- 
dung zwanglos  fähig  ist.  Es  ist  das  Prinzip  des 
polaren,  organischen  Gegensatzes  oder  Wider- 
spruchs, organisch  insofern,  als  erst  aus  dem  Zu- 
sammenwirken von  je  zwei  einander  zugeordneten 
Widersprüchen,  oder  vielmehr  aus  ihrer  faktisch 
sich  vollziehenden  Synthese  das  jeweilige  Ganze 
entspringt. 

Ludowici  legt  dies  Verhältnis  zunächst  an 
einer  Analyse  des  lebendigen  pflanzlichen  oder 
tierischen  Individuums  dar,  dessen  Beschaffenheit 
ihm  die  Synthese  zweier  solcher  widersprechenden 
Faktoien  oder  vielmehr  Faktorengruppen  ist.  Die 
erste  derselben,  die  ökologischen  Faktoren,  be- 
stimmen die  Veränderlichkeit  des  Individuums 
im  Sinne  von  Anpassung;  sie  sind  äußerer  Natur, 
Licht,  Wärme,  Wasser,  Luft,  Nahrung.  Die  zweite 
Gruppe,  die  genetischen  Faktoren,  bestimmen  die 
in  der  Erblichkeit  zutage  tretende  Konstanz  des 
Individuums,  sie  sind  innerer  Natur,  nämlich  die 
unveränderlichen  und  unzerstörbaren,  nur  in  ihren 
Kombinationen  mannigfachst  wechselnden  Keim- 
anlagen. Beide  Faktorengruppen  verhalten  sich 
wie  außen  und  innen,  bedingen  einander  sfegen- 
seitig  und  aus  ihrer  Synthese  erst  geht  das  leben- 
dige Individuum  hervor.  Ahnlich  wie  hier  Typ 
und  Varietät,  stehen  sich,  um  noch  ein  Beispiel 
zu  geben,  für  das  individuelle  Leben  Geburt  und 
Tod  als  polare,  organisch  einander  fordernde  Gegen- 
sätze gegenüber. 

Dasselbe  Prinzip  sucht  nun  Ludowici  in  den 
folgenden  Kapiteln,  die  Vernunft,  die  Welt,  die 
Moral  anzuwenden,  wobei  er  sich  nahe  mit  Kant 
berührt,  dessen  Kritik  der  reinen  Vernunft  ja 
ebenfalls  die  Verflechtung  eines  solchen  orga- 
nischen Gegensatzes  als  den  Inhalt  der  Welt  auf- 
weist: Sinnlichkeit  und  Verstand.  Hier  dem  Ver- 
fasser ins  Einzelne  zu  folgen,  kann  nicht  der 
Zweck  einer  kurzen  Anzeige  sein.  Was  sich  da- 
bei an  Erfreulichem  wie  Bedenklichem  ergeben 
dürfte,  haben  wir  bereits  oben  angedeutet.  Um 
aber  doch  ein  Bedenken  zu  nennen,  so  steigt  z.  B. 
bei    der  Lektüre    des   ersten   Kapitels    die    große 


N.  F.  Xin.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


767 


F"rage  nach  der  Deszendenztheorie  des  öfteren  in 
dem  Leser  auf,  ohne  daß  sie  eine  Erledigung 
fände.  Wir  stehen,  sobald  unveränderliche  Typen 
als  zeitlich  durchgehend  proklamiert  werden,  so- 
fort wieder  vor  der  Frage,  ob  bzw.  welcherart 
nun  eine  Entwicklung  der  Arten  auseinander 
denkbar  sein  soll,  ohne  daß  zu  selbständigen, 
immer  erneuten  Schöpfungsakten  gegriffen  werden 
muß.  Das  ganze  Problem  als  „aus  dem  Bereiche 
der  Erfahrung  herausfallend"  einfach  auf  sich  be- 
ruhen zu  lassen,  geht  nicht  wohl  an.  Denn  es 
sind  doch  gleichfalls  Erfahrungen,  aus  denen  wir 
schließen,  was  im  Ernst  heute  kaum  jemand  be- 
zweifeln dürfte,  das  beispielsweise  der  Mensch 
erst  in  einer  vergleichsweise  sehr  jungen  Epoche 
der  Erdentwicklung  aufgetreten  ist.  Wohl- 
verstanden, es  handelt  sich  nicht  um  die  Ent- 
scheidung zwischen  Lamark's,Darwin's,Weis- 
mann's,  de  Vries'  oder  Anderer  Anschauungen 
über  die  Beschaft'enheit  der  bestimmenden  F'ak- 
toren  der  Artentwicklung,  sondern  um  die  letztere 
selbst.  Wenn  wirklich  in  der  modernen  For- 
schung Strömungen  im  Wachsen  begriffen  sind, 
die  den  Typen  der  einzelnen  Gattungen  oder  gar 
der  .Arten  wesentliche,  nur  um  einen  festgehaltenen 
Schwerpunkt  innerhalb  gewisser  Grenzen  oszil- 
lierende Konstanz  zuerkennen,  so  tritt  damit 
das  ganze  alte  Rätsel,  woher  die  Mannigfaltigkeit 
und  der  ersichtliche  Wechsel  der  Lebensformen 
auf  unserm  Planeten  stamme,  ungelöst  wieder  auf 
den  Plan. 

Jedenfalls  kann  gesagt  werden,  daß  L  u  d  o  w  i  c  i 
mit  dem  Prinzip  der  polaren,  in  ihrer  Synthese  die 
Gegenstände  unserer  Betrachtung  und  Forschung 
schaffenden  Gegensätze  und  seiner  konsequenten 
Durchführung  durch  die  verschiedensten  Gebiete 
einen  glücklichen  Griff  getan  hat;  obwohl  er  einer 
Anschauung,  die  schließlich  auf  die  allgemeine 
logische  P'orderung  zurückgeht,  daß  ein  jedes 
Setzen  ein  Gegensetzen  bedingt,  offenbar  zuviel 
zutraut  und  zumutet,  wenn  er  schreibt,  daß  dies 
Prinzip  die  Berechtigung  aller  Systeme  und  aller 
„Ismen"  nachweise  und  Jahrtausend  alte  Zwiste 
unter  den  Gelehrten  zu  schlichten  imstande  sei. 
Vielleicht  kann  man  in  einer  solchen  Übertreibung 
sein  eigenes  Prinzip  ebenfalls  wiederfinden  und 
zur  Anwendung  bringen:  es  scheint  ein  organisch 
sich  bedingender  Gegensatz  zu  sein,  daß,  wer 
einen  Schlüssel  gefunden  hat,  der  Überzeugung 
zuneigt,  dieser  Schlüssel  müsse  nun  auch  alle  Türen 
der  Welt  aufschließen. 

Es  erscheint  übrigens  von  nicht  geringer  Be- 
deutung, worauf  auch  Ludowici  mehr  als  ein- 
mal hinweist,  daß  einer  der  erlauchtesten  Geister, 
die  je  über  die  Natur  gedacht,  nämlich  Goethe, 
auf  das  Prinzip  der  Polarität  ein  sehr  großes  Ge- 
wicht legte  und  dies  des  öfteren  nachdrücklich 
und  unmißverständlich,  in  einer  ganzen  Fülle  tief- 
sinniger Aussprüche  sowohl  als  auch  im  Autbau 
seiner  eignen  Arbeiten,  z.  B.  der  Farbenlehre, 
dargetan  hat.  In  einer  Zeit,  die  sich  in  stetig 
wachsendem  Maße  in  Goethes  Art,   die  Natur  zu 


behandeln  und  zu  betrachten,  zu  vertiefen  be- 
ginnt, darf  wohl  auf  ein  solches  Symptom  auf- 
merksam gemacht  werden.  Wasielewski. 


Wetter-Monatsülbersicht. 

Während  des  vergangenen  Oktober  war  das 
Wetter  in  Deutschland  größtenteils  trübe,  nebelig 
und  spätherbstlich  kühl.  An  verhältnismäßig 
wenigen  Tagen,  hauptsächlich  zu  Beginn  und 
gegen  Mitte  des  Monats,    wurden  in  den  Mittags- 


SilirtlorcTeiiipcrafurciicitiicjcr  0rfc  iinöRlo&crlSl'l 


Berliner  Wettefbitr«ati. 


stunden  noch  1 5  "  C.  überschritten ;  am  14.  stieg 
das  Thermometer  z.  B.  zu  Cleve,  Hannover,  Cassel 
bis  auf  19,  zu  Fulda  sogar  bis  20  "  C.  Während 
der  Nächte  kühlte  sich  jedoch  die  Luft  im  allge- 
meinen auch  nur  wenig  und  allein,  wenn  sich 
der  Himmel  vorübergehend  aufklärte,  stärker  ab. 
Nachtfröste  blieben  in  der  ersten  Hälfte  des 
Monats  im  wesentlichen  auf  einzelne  Teile  Süd- 
deutschlands und  Schlesiens  beschränkt,  wo  es 
z.  B.  in  der  Nacht  zum  8.  Kaiserslautern,  zum 
9.  Beuihen,  zum  13.  Habelschwerdt  auf  2  Grad 
Kälte  brachten.  Erst  nachdem  sich  in  der  letzten 
Oktoberwoche  in  ganz  Norddeutschland  sehr 
scharfe,  an  der  Küste  stellenweise  stürmische  Ost- 
winde erhoben  hatten,  traten  im  östlichen  Ostsee- 
gebiete zahlreichere  Nachtfröste  auf  und  blieben 
dort  zuletzt  auch  die  Tagestemperaturen  in  der 
Nähe  des  Gefrierpunktes. 

Im  Monatsmittel  lagen  die  Temperaturen  an 
der  Nordseeküste  wenige  Zehntelgrade,  in  den 
meisten  anderen  Gegenden  i  bis  1  '/a  Grad  unter 
ihren  normalen  Werten.  Viel  bedeutender  war 
der  Mangel  an  Sonnenschein,  da,  besonders  in  der 
zweiten  Hälfte  des  Monats,  der  Himmel  in  einem 
großen  Teile  des  Landes  fast  ununterbrochen  mit 
Nebelgewölk  bedeckt  blieb.  Beispielsweise  hatte 
Berlin  im  ganzen  nicht  mehr  als  40  Sonnenschein- 


768 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  48 


stunden,     während     hier    im    Durchschnitte    der  da  die  Niederschläge  in  anderen  Landesteilen  bei 

früheren  Oktobermonate  gerade   100  Stunden  mit  weitem    geringer    waren,     die    Regenmenge    des 

Sonnenschein  verzeichnet  worden  sind.  ganzen    Monats,    die    sich    für    den    Durchschnitt 

Mit    Ausnahme    weniger   Tage    um    Mitte    des  aller    berichtenden  Stationen    auf  54,6  mm  belief, 

Monats  fanden  im  ganzen  Oktober  außerordentlich  hinter  ihrem  Durchschnittswerte  aus  den  früheren 

zahlreiche  Niederschläge  statt,  deren  Mengen  jedoch  Oktobermonaten     seit     1891     noch    um    4,2   mm 

in  den  einzelnen  Gegenden  sehr  verschieden  groß  zurück, 
waren.     In  der   ersten  Zeit    gingen    die   stärksten  *  *  * 


mm 
60 


f 'ict^cr^cJ^Facjöl^ol^cn  im  OklclJcr  191^. 

"  '         f^imcrcr-Wcrt  für 

£     -ä       r^s      =3      ^s^^'g         Dcutsdiland. 

"   i-°      Ul  li  I-III  ^j-l^-l-f  "i      f<^onats5unimc™0Kt. 
££££(häl  iilMS^  sJlEuI^S      m.B.IZ  11  10.09 


O      W      R 


1.  bis  IS.OKt. 


wiiil 


D 


Regengüsse  nordöstlich  der  Oder  hernieder,  wo 
sie  an  verschiedenen  Orten,  beispielsweise  am  6. 
zu  Graudenz  und  Ostrowo,  am  8.  zu  Oppeln  von 
Hagelschauern  begleitet  waren.  In  Bromberg, 
Rügenwaldermünde,  ebenso  in  Friedrichshafen 
kamen  am  2.  Oktober  Gewitter  vor,  in  Memel 
fiel  in  der  Nacht  zum  3.  auch  etwas  Schnee. 
Seit  dem  8.  ließen  die  Niederschläge  überall, 
außer  an  der  östlichen  Ostseeküste,  an  Stärke 
allmählich  nach,  wiederholten  sich  aber  bis  zum 
13.  noch  täglich. 

Zwischen  dem  iS.  und  19.  Oktober  traten  im 
oberen  Rheingebiete  neue  Regenfälle  ein,  die  sich 
langsam  nach  Norden  und  Osten  weiterverbrei- 
teten und  bis  gegen  Ende  des  Monats  fortsetzten. 
Besonders  ergiebig  waren  sie  vom  20.  bis  22.  in 
Nordwest-  und  Mitteldeutschland,  wo  am  21.  früh 
z.  B.  in  Kyritz  29  mm  Niederschlag  gemessen 
wurden.  Noch  größere  Regenmengen  gingen 
einige  Tage  später  abermals  in  den  Provinzen 
West-  und  Ostpreußen  hernieder,  die  z.  B.  vom 
26.  bis  27.  morgens  in  Konitz  31,  in  Berent  36, 
in  Marienburg  46,  vom  26.  bis  28.  morgens  in 
Königsberg  51  mm    ergaben.     Gleichwohl   blieb. 


Im  Gegensatze  zum  vorangegangenen  September 
vollzogen  sich  im  diesjährigen  Oktober  die  Ände- 
rungen in  der  allgemeinen  Anordnung  des  Luft- 
druckes meist  außerordentlich  langsam.  In  seinen 
ersten  Tagen  zog  eine  tiefe  und  weit  nach  Süden 
ausgedehnte  Barometerdepression  mit  lebhaften 
westlichen  Winden  durch  Nordeuropa  nach  Nord- 
rußland  hin,  während  in  südlicheren  Breiten  ein 
Hochdruckgebiet  in  östlicher  Richtung  nachfolgte. 
Zwischen  dem  8.  ifnd  9.  Oktober  dehnte  das 
Maximum  seinen  Bereich  auch  auf  die  skandina- 
vischen Länder  aus,  nahm  daselbst  an  Umfang 
und  Höhe  allmählich  zu  und  wanderte  sehr  langsam 
ostwärts  weiter. 

Während  der  ganzen  zweiten  Hälfte  des  Monats 
hielt  sich  das  hohe  ßarometermaximum  beständig 
in  Nord-  oder  Nordosteuropa  auf,  während  vom 
mittelländischen  Meere,  später  vom  atlantischen 
Ozean  mehrere,  anfangs  flache,  dann  etwas  tiefere 
Minima  langsam  gegen  Mitteleuropa  vordrangen. 
Hier  herrschten  daher  seit  Mitte  Oktober  sehr 
kühle  östliche  oder  nordöstliche  Winde  vor,  die 
besonders  in  der  Nähe  der  Küsten  oft  sehr  heftig 
waren.  Dr.  E.  Leß. 


Anregungen  und  Antworten. 

Die  Roßhaare  in  den  Vogeleiern  kommen  weder  nach 
Durchbohrung  der  Darmwand  in  den  Eierstock,  noch  auf 
irgendeine  andere  Art  in  den  Eileiter,  sondern  sind  einfach 
ein  schlechter  Witz,  den  sich  die  Kinder  auf  dem  Lande 
machen,  indem  sie  mit  einer  Nadel  die  Eischale  durch- 
bohren und  das  Pferdehaar  vorsichtig  einschieben.  Ich 
bekenne  mich  selbst  dieses  Frevels  schuldig,  noch  dazu  als 
ich  junger  Arzt  war,  gelegentlich  einer  Diskussion  über  die 
Behauptung,  die  ein  Herr  bei  einem  fidelen  Sooleierfrühstück 
aufstellte,  daß  man  in  Eier  wenigstens  nichts  ungehöriges 
hineinbringen  könne.  Ich  bewies  ihm  bei  nächster  Gelegen- 
heit das  Gegenteil.  Damit  erledigt  sich  wohl  die  wissen- 
schafUiche  Streitfrage.  Dr.  Weber. 


Literatur. 

Nalepa,  Prof.  Dr.  Alfred,  Schwaighofer,  Direktor 
Dr.  Anton,  Tertsch  ,  Prof.  Dr.  Hermann  und  Burgerstein, 
Heg. -Rat  Dr.  Leo:  Methodik  des  Unterrichts  in  der  Natur- 
geschichte. Wien  '14,  A.  Pichler's  Witwe  &  Sohn.  —  Preis 
geb.   6,20  Mk. 


Inhalt;  Schröder:  .\uf  den  Höhen  des  Kilimandscharo.  S  tro  m  e  r  :  Funde  fossiler  Wirbeltiere  in  den  deutschen  Schutzgebieten 
in  .Afrika.  —  Einzelberichte;  Dziewonski  und  Leyko:  Neue  hochmolekulare  Kohlenwasserstoffe.  Dessauer: 
Radiumähnliche  X-Strahlung.  Lau:  Planeten  jenseits  des  Neptuns.  Fessenkoff:  Ursprung  des  Zodiakallichtes. 
Spencer:  Die  Stämme  des  Nord-Territoriums  von  Australien.  —  Bücherbesprechurgen :  Hönigswald:  Die  Skepsis 
in  Philosophie  und  Wissenschaft.  Leiß  und  Schneiderhöhn:  Apparate  und  .Arbeitsmethoden  zur  mikroskopischen 
Untersuchung  kristallisierter  Körper.  Stern:  Über  den  Mechanismus  der  Oxydationsvorgänge  im  Tierorganismus. 
Bates:  The  Eastern  Libyans.  Ludowici:  Das  genetische  Prinzip.  —  Wetter-Monatsübersicht.  —  Anregungen  und 
Antworten.  —  Literatur :  Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Schrifüciter  Professor  Dr.  H.  Mi  ehe  in  Leipzig,  Marienstrafle   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band ; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band. 


Sonntag,  den  6.  Dezember  1914. 


Nummer  49. 


Vom  Prinzip  der  Relativität. 

Von  S.  Valentiner,  Clausthal. 

Mit  3  Textfiguren. 
[Nachdruck  verboten.]  Incidis  in  Scyllam,  cupiens  vitare  Charybdin. 

Wenn  man  einem  Nichtfachmann  gegenüber  andersetzen  wollte.  Anstatt  eines  harmlosen 
behaupten  würde,  es  sei  möglich,  die  absolute  Lächelns  ist  durch  die  Mitteilung  dieser  Folge- 
Geschwindigkeit  eines  Körpers  —  sagen  wir  der  rungen  sogar  manche  Schmähschrift  ausgelöst 
Erde  —  im  Räume  anzugeben,  so  würde  ganz  ge-  worden,  in  welcher  die  angesehensten  Physiker, 
wiß  in  den  meisten  Fällen  ein  überlegenes  Lächeln  Männer  wie  Loren tz,  Einstein,  Minkowski, 
die  Antwort  sein;  man  glaubt  es  nicht,  weil  man  Planck  u.  a.  als  nicht  ernst  zu  nehmende  Irr- 
gewohnt ist,  die  Bewegung  eines  Körpers  nur  relativ  lehrer  hingestellt  und  mit  sehr  unparlamentarischen 
zu  der  eines  anderen  anzugeben.  Sollte  es  wirklich  Ausdrucksweisen  abgetan  wurden. ')  Die  Folge- 
so ganz  unmöglich  sein  ?  Von  vornherein  ganz  rungen  sind  in  der  Tat  sehr  absonderlich  und  um 
gewiß  nicht,  wenn  auch  die  Philosophie  von  einer  ihnen  zu  entgehen,  möchte  man  schon  lieber  auf 
absoluten  Bewegung  nichts  wissen  will.  Haben  die  Annahme  des  Relativitätsprinzips  verzichten. 
wir  doch  manches  Beispiel  dafür,  daß  gewisse  Indessen,  wir  sind  gar  nicht  in  der  Lage,  ohne 
Arten  von  Ortsveränderungen  wirklich  absolut  weiteres  uns  für  oder  gegen  das  Relativitätsprinzip 
angegeben  werden  können,  so  z.  B.  die  Rotations-  zu  erklären.  Denn  es  gibt  eine  Reihe  von  Er- 
bewegung  der  Erde  um  ihre  Achse,  oder  die  scheinungen,  die  gerade  die  F"olgerungen  ganz 
Änderung  der  Geschwindigkeit  eines  Eisenbahn-  direkt  zu  bestätigen  scheinen,  und  andere,  die 
zuges.  Wir  sind  bisher  wenigstens  gewohnt,  in  sehr  schwer  ohne  die  Annahme  des  Relativitäts- 
diesen  Fällen  den  Nachweis  der  absoluten  Orts-  prinzipes  erklärt  werden  könnten.  Wir  wollen 
Veränderung  für  erbracht  zu  halten.  Wie  leicht  uns  im  folgenden  ein  wenig  mit  diesen  Erschei- 
können    wir    doch    die    Rotationsbewegung     der  nungen  beschäftigen. 

Erde  durch  den   Fo  ucau  It 'sehen  Pendelversuch  Da    müssen    wir    zuerst    von    einer   wichtigen 

nachweisen,  wie  leicht  uns  durch  die  auftretenden  Erkenntnis  über  die  Größe  der  Lichtgeschwindig- 

Trägheitsdrucke    von    der   Veränderung    der    Ge-  keit  reden.     Alle  Versuche    scheinen    mit   Sicher- 

schvvindigkeit    überzeugen.       Daß    wir    nicht    die  heit    zu    ergeben,    daß    die    Lichtgeschwindigkeit, 

Kenntnis   der   absoluten  Geschwindigkeit  zulassen  wo    und    wie    wir   sie   auch    messen ,    immer   den 

mögen,  liegt  offenbar  daran,  daß  wir  bisher  keinen  gleichen  Wert    besitzt.      Nehmen    wir   einmal    an, 

rein  mechanischen  Versuch    oder   keine    rein    me-  wir     könnten     die    Lichtgeschwindigkeit    in    der 

chanische   Erscheinung   kennen,    der    uns   auf  die  Weise    sehr    genau    messen,    daß  wir  beobachten, 

Geschwindigkeit    des    Raumes,    in    welchem    wir  wie  lange  Zeit  ein  von  uns  gegebenes  Lichtsignal 

unsere   Messungen    und   Beobachtungen   anstellen,  gebraucht,    um    nach    Spiegelung    an    einem    in 

einen  Schluß    zu    ziehen  erlaubte.     Wäre  uns  ein  großer  Entfernung  1  von   uns  aufgestellten  Spiegel 

Experiment  bekannt,  dessen  Verlauf  von  der  Ge-  wieder    zu    uns    zurück    zu    gelangen.     Aus  Weg- 

schwindigkeit  des  Raumes  abhängen  würde  (vor-  strecke    und  Zeit    können  wir   die  Lichtgeschwin- 

ausgesetzt  natürlich ,    daß    wir    nicht  Gegenstände  digkeit  finden.     Es  ist  dies  gewiß  die  primitivste 

außerhalb    des    betreffenden  Raumes    mit  zur  Be-  Messungsart  und  wir  wollen  uns  denken,  daß  wir 

obachtung    heranziehen  müssen),    so    könnten  wir  

zweifellos    aus     dem     Verlauf     die     wirkliche     Ge-  ')  So  hat  der  Verfasser  einer    solchen    Schrift   —    seinen 

schwindigkeit  des  Raumes  feststellen.  ^^"'^^  ^^^^  '';*''„'^'!"  l"  °''">''  ^"g"^f  r  °''^'f  f  "'"g""' 

,-v       ,?  .      .       j       y-,    ,      .    .   ..  .  ,.    ,  verlangt,    als    daß    der  Staat  für    diese  Lehrer  und  deren  An- 

Das  Innzip    der  Relativität  sagt    nun    eigentlich  hSnger  ein  Narrenhaus  bauen  müßte,    in    das    sie    alle  hinein- 

nichts  anderes   aus   als   das:    Es   soll  überhaupt  kein  gesperrt    werden    sollten,    bis    sie    ihre  Theorie  abgeschworen 

Experiment   geben,    sei    es    nun    mechanischer    oder  hätten.  —  Vielversprechend  ist  auch  der  Titel  „das  Relativitäts- 

thermodynamischer,   oder  elektromagnetischer  oder  P"!"''?'  '^l"  i""g'"=  Modenarrheit    der  Wissenschaft",  den    ein 

j  KT   .  ,    ,  .        ,.    ^,  anderer    Verfasser   semer    inhaltlich    geradeso    minderwertigen 

anderer    Natur,     welches    uns    in    die    Lage    versetzt,  ^Is  unverständlichen  Arbeit  gegeben  Lt.    -    Solchen    Leuten 

über    die    absolute    Geschwindigkeit     des    Raumes,  geht    man    am  besten  aus  dem   Wege,  denn  sie  sind  zuweilen 

in   dem    es    vorgenommen    wird,    eine    Aussage   zu  recht    gefährlich,    indem    sie    mit    beleidigenden    Redensarten 

machen  nicht  sparsam  sind.      Und   die  Aussicht,  sie  zum  eingehenden, 

\     „     !•  T>  ■      ■       ^  ■    t  I         T-    1  wahren     Studium     der     mißverstandenen    Theorien    anzuregen, 

Aus    diesem  1  rmzip    lassen    sich  nun  aber  Folge-  i,t  ^ehr  gering.     Sonst  dürfte  vielleicht  schon  der  Rat  genügen, 

rungen    ziehen,    die    ebenfalls   den   gewohnten    An-  zunächst    einige  Jahre    reine    Mathematik,    dazu    einige    Jahre 

schauungen    widersprechen,    so    daß    wiederum    ein  E.Nperimentalphysik    und    dazu    noch    eine    Reihe    von  Jahren 

mitleidiges,    ungläubiges   Lächeln    der    Lohn   wäre  theoretische  Physik  eingehend  zu  treiben ;  manchen  wird  schon 

nronn    r« -, «    ^,„   17   1  I  ■•     ji-    1      IT      '  uach  kÜTzcrcr    Zeit    ein    Licht    aufgehen  und  andere  erkennen 

wenn    man    die    Folgerungen    ohne    gründliche  Vor-  ,i,„eieht  bald,  daß   das  Sleineklopfen   für  sie  eine  geeignetere 

bereitung    und  Beweisführung   dem  Laien    ausein-  Tätigkeit  ist. 


770 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr. 


49 


sie  mit  äußerster  Genauigkeit  ausführen  könnten. 
Die  Messung  sei  einmal  vorgenommen,  wenn  der 
Lichtweg  (.Ausgangspunkt  —  Spiegel  —  zurück  zum 
Ausgangspunkt)  mit  der  Ost- Westrichtung  zusam- 
menlälh,  ein  zweites  Mal,  wenn  er  in  der  Nord- 
Südrichtung  liegt.  Bei  Berechnung  der  vom  Licht 
zurückgelegten  Wegstrecke  müssen  wir  die  Erd- 
bewegung berücksichtigen,  die  in  der  Ost-West- 
richtung erfolgt;  v  sei  die  Geschwindigkeit  unseres 
Standortes  auf  der  Erdoberfläche,  und  des  damit 
verbundenen  Spiegeis. 

Im  ersten  Fall  ist  die  Zeit,  die  das  Licht  ge- 
braucht, um  von  uns  zum  Spiegel  zu  gelangen, 
l/lc-j-v)  und  um  vom  Spiegel  zu  uns  zurückzu- 
kommen, l/(c  —  v).  Die  Summe  dieser  Zeiten 
nennen  wir  Tj.  Im  2.  Fall  ist  die  Summe  der 
hm  und  her  zurückgelegten  Wege,  wie  eine 
leichte  Rechnung  zeigt 

yc'^  —  v'''    }c''' — v^ 

Die  Differenz  der  beiden  Zeiten  ist  somit 
2\lv- 


i\ 


■T,  =  - 


C   \2C 


..+  • 


(die  Ge- 
Null ist, 
die    Erde 


Das  bedeutet,  daß,  wenn  wir  die  Erdbewegung 
nicht  berücksichtigen  würden,  in  den  beiden 
Fällen  ein  wenig  voneinander  verschiedene  Licht- 
geschwindigkeiten, nämlich : 

2l  ,  2l 

c,  =  ^    und  C2  =  ^- 

sich    ergeben    müßten.      Nur    wenn   v 

schwindigkeit     unseres    Standpunktes) 

dürten  wir  Cj  =  Cj    finden,    wenn    also 

in  relativer  Ruhe  gegen  das  Medium,  das  für  die 

Lichtfortpflanzung    in    Frage    kommt,    den    leeren 

Raum,  sich  befindet. 

M  i  c  h  e  1  s  o  n  und  M  o  r  1  e  y  haben  die  Differenz 
mit  größter  Sorgfalt  durch  eine  äußerst  empfind- 
liche Methode  zu  bestimmen  gesucht,  durch  eine 
Methode,  die  noch  den  20.  Teil  jener  Zeildifferenz 
halte  erkennen  lassen  müssen.  Das  Resultat  war 
überraschend:  eine  Differenz  von  dem  berechneten 
Betrag  konnte  nicht  gefunden  werden;  ja,  nicht 
einmal  eine  Differenz,  die  über  die  Fehlergrenze 
der  Messung  hinausginge.  Somit  dürften  wir  eine 
relative  Bewegung  zwischen  Erde  und  lichtfort- 
pflanzendem Medium  nicht  annehmen. 

Die  Anschauung  der  relativen  Ruhe  der  Erde 
und  dieses  Mediums  läßt  sich  aber  nicht  mit  einer 
anderen  Erfahrung  in  Einklang  bringrn,  nämlich 
der  bekannten  Erscheinung  der  Aberration  des 
Lichtes.  Die  berühmte  Methode  von  Bradley, 
die  Lichtgeschwindigkeit  zu  bestimmen  (aus  dem 
Jahre  1,27),  beruht  auf  dieser  Erscheinung.  Die 
Achse  des  auf  einen  Stern  eingestellten  F"ernrohrs 
ist  infolge  der  Erdbewegung  gegen  die  Richtung 
auf  den  Stern  um  einen  kleinen  Winkel,  den 
Winkel  der  Aberration,  gedreht;  seine  Tangente 
ist  gleich  dem  Verhältnis  der  Erdgeschwindigkeit 
zur  Lichtgeschwindigkeit.  Könnte  man  auch  in 
diesem  Fall  von  der  relativen  Bewegung  der  Erde 


gegen  das  lichtfortptlanzende  Medium  absehen, 
so  wäre  eine  derartige  Neigung  des  Fernrohrs 
nicht  zu  verstehen. 

Bevor  wir  aus  diesen  Versuchen  Schlüsse 
ziehen,  wollen  wir  noch  überlegen,  welche  Folge- 
rung wir  aus  den  ersten  Messungen  hätten  ab- 
leiten können,  wenn  sich  tat^-ächlich  eine  Differenz 
der  Zeiten  Tj  und  T.,  ergeben  hätte.  Wir  hätten 
aus  der  Messung  der  Differenz  die  Geschwindig- 
keit v  des  Beobachtungspunktes  berechnen  können 
und  das  wäre,  da  das  lichtforipflanzende  Medium 
der  leere  Raum  ist,  die  relative  Geschwindigkeit 
des  Standortes  gegen  den  leeren  Raum,  oder  das, 
was  wir  als  absolute  Geschwindigkeit  bezeichnen 
müssen.  Das  bedeutete  einen  Verstoß  gegen  das 
Prinzip  der  Relativität.  Das  negative  Ergebnis 
des  IVI  ichelson'schen  Versuches  war  also  zu 
erwarten,  wenn  wir  das  Prinzip  der  Relativität 
als  allgemein  gültig  anerkennen  wollen. 

Außerordentlich  schwer  ist  es  nun  aber  die 
beiden  Erkenntnisse,  dies  Resultat  des  Michel- 
son'schen  Versuchs  und  die  Aberration  in  Ein- 
klang miteinander  zu  bringen.  Man  kann  den 
Knoten,  der  hier  entstanden  ist,  nicht  dadurch 
lösen,  daß  man  mit  Erfahrungen  aus  der  Mechanik 
daran  geht.  Die  einfachen  Vorstellungen,  denen 
zufolge  das  lichtfortpflanzende  Medium  sich 
wie  ein  materielles  oder  materieähnliches  Etwas 
verhielte,  und  einen  besonderen  Namen  wie  das 
Wort  Äther  verdiente,  helfen  aus  diesem  Dilemma 
auf  keine  Weise  heraus.  Was  bleibt  also  übrig, 
wenn  man  über  diese  Schwierigkeit  hinweg- 
kommen will  und  muß,  als  den  Knoten  durch- 
zuhauen, von  der  Vorstellungsmöglichkeit  abzu- 
sehen und  einfach  das  zu  fordern,  was  aus  den 
Experimenten  folgt.  Das  ist:  Eine  absolute  Be- 
wegung können  wir  nicht  nachweisen,  weil  infolge 
irgendwelcher  näher  zu  studierender  Vorgänge 
die  Lichtgeschwindigkeit  in  allen  unseren  Messungen 
nach  allen  möglichen  Richtungen  und  an  allen 
Orten  einen  von  der  Bewegung  des  Beobachtungs- 
ortes unabhängigen  konstanten  Wert  c  besitzt. 
Daran  müssen  wir  also  hinfort  festhalten  und  nun 
näher  zusehen,  was  aus  dieser  Forderung  der  kon- 
stanten Lichtgeschwindigkeit  folgt. 

Zur  Zeit  t  =  o  werde  im  Punkt  A  (Fig.  i  a)  ein 
Lichtblitz  ausgesandt,  der  sich  nach  allen  Seiten 
hin  mit  gleicher  Geschwindigkeit  ausbreitet.  Zur 
selben  Zeit  bewege  sich  von  A  ein  Beobachter 
fort  mit  der  Geschwindigkeit  v  in  der  Richtung 
der  eingezeichneten  x- Achse.  Nach  der  Zeit:  t 
Sekunden,  gemessen  mittels  einer  im  Punkt  A 
aufgestellten  Normaluhr,  befinde  sich  der  Beob- 
achter an  der  Stelle  B  und  das  Licht  mag  gerade 
bis  zu  der  Kugelschale  mit  dem  Radius  R  =  et 
gelangt  sein,  also  in  Fig.  I  a,  die  einen  ebenen 
Schnitt  des  Raumes  durch  den  Punkt  A  und  die 
X-Achse  darstellt,  bis  zu  der  Peripherie  des  Kreises, 
z.  B.  zum  Punkt  C.  Der  Beobachter  hat  nun 
trotz  seiner  Bewegung  durchaus  nicht  das  Gefühl, 
als  wenn  er  sich  aus  dem  Zentrum  der  die  Aus- 
breitung   des    Lichtes    darstellenden  Kugelflächen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


771 


herausbewegte,  vielmehr  läßt  ihm  die  in  allen 
Richtungen  beobachtete  Konstanz  der  Lichtge- 
schwindigkeit vermuten,  daß  er  dauernd  im 
Zentrum  der  Kugelwellen  sich  befindet.  Die 
Vorgänge,  die  sich  einem  Zuschauer  im  Punkt  A 
in  dem  Raum  darbieten,  der  durch  F'ig.  i  a  dar- 
gestellt wird,  scheinen  dem  Beobachter  B  in  einem 
Räume  vor  sich  zu  gehen,  der  durch  die  Fig.  i  b 
dargestellt  wird;  sie  ist  ein  Abbild  der  Fig.  i  a, 
aber  dem  Punkt  B  in  Fig.  1  a  entspricht  das 
Zentrum  des  Kreises  in  P^ig.  i  b  und  dem  Punkte 
des  Kreises  in  Fig.  i  a  die  Punkte  des  Kreises 
in  F'ig.  I  b.  Für  den  bewegten  Beobachter  spielen 
sich  alle  Erscheinungen  in  dem  Raum,  wie  er 
durch  den  Schnitt  in  Fig.  i  b  dargestellt  ist,  ab, 
nämlich  so  daß  das  Licht  sich  für  ihn  nach  allen 
Richtungen  hin  gleich  schnell  bewegt,  also  von 
ihm  aus  in  gleicher  Zeit  die  Punkte  der  Peri- 
pherie eines  Kreises  erreicht,  in  dessen  Mittel- 
punkt B  sich  befindet.  Dem  Zuschauer  A  er- 
scheint die  Sache  ganz  anders;  er  beobachtet  in 
seiner  Darstellung  (Fig.  i  a),  daß  B  sich  aus  dem 
Zentrum  der  Kugelwellen  fortbewegt.  Es  ist 
natürlich    von    größter    Wichtigkeit,    festzustellen, 

welche       Punkte 
des  Raumes: 

Figur   I b    denen 
des  Raumes : 

Figur  I  a  ent- 
sprechen, es  wird 
dann  möglich 
sein ,  anzugeben, 
wie  die  Erschei- 
nungen, die  der 
Zuschauer  A  in 
seinem  Räume 
erlebt,  sich  dem 
Beobachter  B  dar- 
stellen. Wir 
brauchen  zu  dem 
Zweck  nur  die 
Formeln  aufzu- 
suchen, die  uns 
angeben,  wie  der 
eine  Raum  durch  den  anderen  abgebildet,  wie 
er  in  den  anderen  transformiert  wird.  Diese 
Formeln  sind  leicht  zu  erkennen. 

Wir  wissen,  daß  die  beiden  Räume  ineinander 
übergehen,  wenn  die  Geschwindigkeit  von  B  gegen 
A  den  Wert  Null  hat.  Also  müssen  die  Koordinaten 
senkrecht  zu  der  Richtung  der  Bewegung  bei  der 
Transformation  ihren  Wert  behalten.  P'ür  die 
Transformation  der  x-Koordinate,  deren  Richtung 
mit  der  Richtung  der  Bewegung  zusammenfalle, 
in  die  x'-Koordinate  wollen  wir  die  Gleichung 
ansetzen : 

i)  x'  =  a(x  —  vt) 
Die  Zweckmäßigkeit  derselben  geht  unmittel- 
bar aus  der  Zeichnung  hervor,  wenn  wir  in  Be- 
tracht ziehen,  daß  doch  nicht  notwendigerweise 
der  Maßstab,  der  bei  den  Abmessungen  im 
Räume   i    gilt,    auch    noch    für    den  Raum  2    be- 


Fig.   I   (a  und  b). 


nutzt  werden  kann.  Man  kann  nicht  wissen,  ob 
er  nicht  von  der  Geschwindigkeit  v  abhängt. 
Was  den  Radius  R'  anlangt,  der  dem  Radius 
R  =  et  in  Figur  i  a  entspricht,  so  wissen  wir,  daß 

2)     y-^  +  x^  =  c^t^ 
und  3)     y2  +  x'2  =  c^t''- 

sein  muß.  In  (3)  führen  wir  zur  weiteren  Be- 
rechnung der  Größe  «  und  der  Beziehung,  die 
zwischen  t  und  t'  bestehen  muß,  Gleichung  (i) 
ein  und  ziehen  (2)  davon  ab.  Es  ergibt  sich 
daraus: 

4)     x-(a-—  i)  — 2«2vxt4-t-(ß-v-  +  c-)  =  c-t'- 
t'  ist  also  eine  lineare  Funktion  von  x  und  t  und 
kann  geschrieben  werden  1 

5)  t'=yt-\-ßK 
Da  Gleichung  (4)  mit  der  Schreibweise  (5) 
von  t'  für  jedes  x  und  t  gelten  muß,  so  müssen 
die  Koeffizienten  der  Glieder  gleicher  Potenzen 
von  X  und  t  rechts  und  links  vom  Gleicheits- 
zeichen  gleich  sein.  Aus  dieser  Forderung  folgt: 
^_         c  ^         c  —V 

"  ~  Vc^— v^'  ^  ~  yc^— V-'''   ~  cyc^— v^" 

Die    einfache   Überlegung    hat    uns   somit   die 
Transformationsformeln  geliefert : 

x'  ^  a  (x  —  vt ),  y'  =  y,  z'  =  z, 


6)        t'  =  a(t 


.,x 


ß 


c-   /■  Vc^— V- 

Sie  liefern  uns  die  P"ormeln  für  eine  im 
Raum  la  erkannte  und  durch  die  Variabein 
X,  y,  z,  t  dargestellte  Erscheinung  in  den  Variabein 
x',  y',  z',  t',  d.  h.  eine  Darstellung  der  Erscheinung 
wie  sie  im  Raum   i  b  beobachtet  werden  wird. 

Diese  wichtigen  Transformationsformeln  sagen 
aus,  daß  der  Maßstab  beim  Übergang  von  dem 
einen  System  zu  dem  anderen  in  Richtung  der 
relativen  Bewegung  eine  Veränderung  erfährt  und 
daß  auch  die  Zeitrechnung  in  beiden  Systemen 
verschieden  ist.  Befinden  wir  uns  in  einem 
fahrenden  Eisenbahnzug  und  könnten  wir  einen 
in  der  Fahrtrichtung  gehaltenen  in  Zentimeter 
genau  geteilten  Maßstab  vergleichen  mit  einem 
solchen  der  auf  dem  ruhenden  Bahnkörper 
ausgestreckt  liegt,  so  würden  wir  eine  Differenz  — 
freilich  eine  äußerst  geringe  Differenz  —  der 
Zentimeterieilungen  wahrnehmen  können.  Infolge 
der  Bewegung  erscheint  der  bewegte  Stab  dem 
Zuschauer,  der  nicht  mit  bewegt  wird  (auf  dem 
Bahnkörper  steht)  etwas  kleiner  zu  sein  als  den 
Eichangaben  entspricht.  Aber  auch  der  bewegte 
Beobachter  hält  seinen  Maßstab  für  etwas  länger 
als  den,  der  auf  dem  Bahnkörper  ruht.  Denn  für 
den  bewegten  Beobachter  gilt  ja  der  Maßstab, 
den  er  bei  sich  hat  als  der,  der  sich  in  relativer 
Ruhe  zu  ihm  befindet,  und  der  auf  dem  Bahn- 
körper liegende  als  der  bewegte.  Das  sind 
zweifellos  umwälzende  Anschauungen,  zu  denen 
wir  durch  das  Prinzip  der  Relativität  und  die 
Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit  gezwungen 
werden.  Eng  damit  zusammen  hängt  die  nicht 
minder    ungewöhnliche  P'olgerung,    daß    auch  die 


772 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  49 


Zeiten  für  den  bewegten  und  den  ruhenden  Be- 
obachter verschieden  sind;  die  Uhren  mit  denen 
sie  ihre  Beobachtungen  anstellen,  zeigen  ver- 
schiedene Sekundenlängen,  wenn  die  Uhren  auch 
vorher  beim  Nebeneinanderliegen  (ohne  gegen- 
seitige Bewegung)  genau  gleiche  Intervalle  an- 
gaben. Es  ist  ganz  selbstverständlich,  daß  man 
sich  gegen  diese  Folgerungen  so  lange  als  mög- 
lich gesträubt  hat,  daß  man  es  im  Anfang  als 
eine  geradezu  ungeheuerliche  Zumutung  emp- 
finden mußte,  derlei  Angaben  glauben  zu  sollen. 
Bevor  wir  uns  nach  direkten  Bestätigungen 
dieser  eigentümlichen  Folgerungen  umsehen, 
wollen  wir  die  Transformationsformeln  noch  ver- 
gleichen mit  denjenigen,  die  uns  die  gewohnte 
analytische  Mechanik  für  den  Übergang  von  einem 
System  zu  einem  anderen,  in  relativer  Bewegung 
zu  jenem  befindlichen  System  liefert.  Das  zweite 
System  mag  gegen  das  erste  sich  mit  der  Ge- 
schwindigkeit V  in  Richtung  der  x-Achse  be- 
wegen. Die  Achsen  der  Koordinaten  in  den 
beiden  Systemen  legen  wir  parallel  und  erhalten 
unter  der  stillschweigenden  Voraussetzung,  daß 
die  Zeitiniervalle  im  bewegten  und  im  ruhenden 
System  gleiche  Größe  haben,  für  den  Übergang 
die  bekannten  Formeln: 

x'  ^  X  —  vt 


7) 


y 

z' 

t' 


y 

;  Z 
t 


Daraus  ergibt  sich  z.  B.  daß  2  Punkte  (mit 
den  Koordinaten  x\,  x'^,  resp.  Xj,  Xg)  im  bewegten 
System  wie  im  unbewegten  die  gleiche  Ent- 
fernung zeigen ;  denn  wie  auch  die  Geschwindig- 
keit V  sein  mag,  immer  ist 


also 


X., 


vt,    X.,'  =   Xj 

-  X,  —  x„ 


vt 


Aus  den  Formeln  [6]  dagegen  folgt: 

c 


X./=«(Xi   —  Xj): 


i^. 


K— Xo) 


eine  Veränderung  der  Entfernung.  Wegen  des 
sehr  hohen  Wertes  von  c  (300000  km,sek  ist 
freilich  die  Änderung  sehr  klein  und  wird  in  den 
seltensten  Fällen  der  reinen  Mechanik  in  An- 
betracht der  verhältnismäßig  immer  nur  sehr  ge- 
ringen Geschwindigkeit  v  überhaupt  bemerkbar 
sein.  Die  I'^ormeln  6  bilden  also  nur  eine  ganz 
geringe  Modifikation  der  der  analytischen  Me- 
chanik zugrunde  liegenden  Formeln  7.  Daher 
kann  man  auch  weiterhin  an  den  Formeln  7  fest- 
halten und  somit  auch  an  dem  bisherigen  Aufbau 
der  analytischen  Mechanik,  sobald  es  sich  nicht 
um  sehr  große  relative  Geschwindigkeiten  handelt. 
Für  den  Fall  aber  ist  es  nötig,  die  genaueren 
Formeln  den  Entwicklungen  der  Mechanik  zugrunde 
zu  legen,  also  eine  von  der  gewohnten  Mechanik 
abweichende  Darstellung  durchzuführen.  Da 
Längen-  und  Zeitmaße  durch  die  Bewegung  ge- 
ändert werden,  so  treten  auch  Änderungen  anderer 
Eigenschaften    der    materiellen    Körper    ein ;    der 


Ausdruck  der  kinetischen  Energie,  die  Trägheit, 
die  elastischen  Eigenschaften  werden  infolge  des 
Prinzips  der  Relativität  modifiziert.  Was  speziell 
die  Trägheit  der  Materie  anlangt,  so  zeigt  die 
Rechnung,  daß  sie  von  der  Geschwindigkeit  in 
verschiedener  Weise  abhängt,  je  nachdem  sie  im 
zentrifugalen  Trägheitswiderstand  oder  im  tangen- 
tialen Trägheitswiderstand  auftritt.  Man  spricht 
daher  von  der  sogenannten  longitudinalen  trägen 
Masse  (wirksam  bei  Änderung  der  Geschwindig- 
keit des  Körpers  in  Richtung  der  augenblick- 
lichen Geschwindigkeit)  und  von  der  transversalen 
trägen  Masse  (wirksam  bei  Änderung  der  Geschwin- 
digkeitsrichtung). 

Die  Ableitung  der  Formeln,  die  uns  die  Ab- 
hängigkeit der  Masse  von  der  Geschwindigkeit 
angibt,  hier  mitzuteilen,  würde  zu  weit  führen. 
Wir  wollen  sie  aber  hinschreiben,  zur  Beruhigung 
derer,  die  befürchten  könnten,  diese  als  notwendig 
erkannten  Unterschiede  möchten  die  ganze  bis- 
herige mechanische  Darstellung  der  Naturvorgänge 
umstürzen.  Die  Unterschiede  werden  nur  merk- 
bar, wenn  v  ganz  beträchtliche  Werte  annimmt. 
Wenn  m^  die  Trägheit  (Masse)  bei  sehr  kleinen 
Geschwindigkeiten  (v  ^  o)  bedeutet,  so  ist  die 
longiiudinale  Trägheit  bei   der  Geschwindigkeit  v 

8)  mi  =  mo-li J 

und  die  transversale  Trägheit 

9)  mt  =  m„.|i 


Die  Formeln,  sowohl  diese  letzten  wie  auch 
die  Transformationsformeln  (6)  sind  zuerst  von 
H.  A.  Lorentz  angegeben  worden,  als  solche, 
durch  die  die  Maxwell'schen  Gleichungen  der 
Elektrodynamik  für  ruhende  Systeme  transformiert 
werden  mü>sen,  damit  sie  die  Erscheinungen  auch 
in  bewegten  Körpern  (oder  Räumen)  richtig 
wiedergeben.  Ihre  Anwendung  auf  den  Morley- 
M  ichelson'schen  und  viele  ähnliche  Versuche 
lieferte  ebenfalls  richtige  Darstellungen  der  Er- 
scheinungen  —  wir  hatten  ja  umgekehrt  gerade 
auf  die  Notwendigkeit  der  Formeln  (ö)  aus  jenem 
Versuch  geschlossen.  Lorentz  war  bei  der  Ab- 
leitung von  der  Elektronentheorie  ausgegangen 
und  hatte  zur  Erklärung  speziell  des  Morley- 
M  ich  elso  n 'sehen  Versuches  die  Hypothese  auf- 
genommen, daß  eine  Kontraktion  der  Materie 
(auch  der  Elektronen)  infolge  der  Bewegung  auf- 
trete (Koniraktionshypothese  von  Lorentz).  Da 
die  von  einem  sich  bewegenden  Elektron  aus- 
gehende Kraftwirkung  eine  gewisse  Zeit  zur  .Aus- 
breitung gebraucht  (sie  erfolgt  mit  Lichtgeschwin- 
digkeit), so  wird  das  elektrische  Feld  um  das 
Elektron  herum  bei  großer  Geschwindigkeit  des 
PLIektrons  eine  Deformation  erfahren.  Die  Kraft- 
linien werden,  wie  die  genaue  Rechnung  lehrt, 
nach  dem  Äquator  des  Elektrons  zusammengedrängt, 
wenn  die  Bewegung  senkrecht  zur  Ebene  des 
Äquators  erfolgt.  Das  Kraftlinienfeld  hat  ungefähr 
das  Aussehen  der  nebenstehenden  Figur  2,  in  der 


N.  F.  XIII.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


773 


die  Bewegungsrichtung  mit  der  Pfeilriciitung  zu- 
sammenfällt. Diese  Deformation  des  P'eldes  ver- 
anlaßt weiter  eine  Abhängigkeit  des  Trägheits- 
widerstandes, also  der 
scheinbaren  Masse,  von 
der  Geschwindigkeit  und 
außerdem  eine  Ver- 
schiedenheit des  Träg- 
heitswiderstandes    gegen 

Geschwindigkeitsände- 
rungen in  Richtung  und 
senkrecht  zur  Richtung  der 
Geschwindigkeit.  Nimmt 
man  nun  an ,  daß  die  Elektronen  starre  Kugeln 
sind,  die  auch  während  der  Bewegung  keine  Kon- 
traktion erfahren,  so  ergibt  die  Theorie  für  die 
longitudinale  träge  Masse   (nach  Abraham): 

'"•  =  ■"«[  '  +  5  c^j 
für  die  transversale 

"'==""('  + 3,5  c-^l 

Die  Benutzung  der  Transformationsformeln  für 
die  Max  well 'sehen  Grundgleichungen  mit  der 
darin  steckenden  Hypothese  der  Kontraktion 
führte  dagegen  auf  die  Formeln  (8)  und  (9),  die 
wir  zum  besseren  Vergleich  mit  (10)  und  (11)  in 
erster  Annäherung  auch  schreiben  können: 


8')      mi  ^  m, 


9') 


=  mo     I  + 


I  v^l 


Schon  Lorentz  wies  darauf  hin,  daß  man 
infolge  der  Abhängigkeit  (6)  der  Zeit  von  der 
Bewegung  des  Elektrons  von  einer  „Ortszeit"  des 
Elektrons  sprechen  müsse.  In  einer  bedeutungs- 
vollen Arbeit  hat  dann  Einstein  (1905)  gezeigt, 
daß  den  Lorentz 'sehen  Transformationsforrneln 
die  Forderung  des  allgemeinen  Prinzipes  der  Re- 
lativität zugrunde  liegt  und  daß  man  von  diesem 
Prinzig  ausgehend  die  Erscheinungen  betrachten 
müsse.  Man  müsse  fordern,  daß  die  Beobachtun- 
gen in  einem  abgeschlossenen  System  stets  sich 
in  gleicher  Weise  dem  Beobachter  darbieten,  un- 
abhängig davon,  ob  das  System  in  gleichförmiger 
Bewegung  sich  befindet  oder  nicht.  Minkowski 
hat  die  Transformation  in  äußerst  elegante  mathe- 
matische Form  gebracht,  indem  er  die  Unter- 
schiede der  Raumkoordinaten  und  der  Zeit  unter- 
drückte. „Die  Anschauungen  über  Raum  und 
Zeit,  die  ich  Ihnen  entwickeln  möchte,  sind  auf 
experimentell  •  physikalischem  Boden  erwachsen. 
Darin  liegt  ihre  Stärke.  Ihre  Tendenz  ist  eine 
radikale.  Von  Stund  an  sollen  Raum  für  sich 
und  Zeit  für  sich  völlig  zu  Schatten  herabsinken 
und  nur  noch  eine  Art  Union  der  beiden  soll 
Selbständigkeit  bewahren."  Mit  diesen  Worten 
leitete    der    große   Mathematiker    seinen    Vortrag 


über   Raum    und    Zeit    auf   der    Naturforschcrver- 
sammlung  in  Köln  ein.  ^) 

Zui  Veransciiaulichung  des  Inhaltes  des  Rela- 
tivitätsprinzipes  in  seiner  modernen  Fassung  ist 
übrigens  ein  sehr  sinnreich  erdachter  Apparat 
von  E.  C  o  h  n  konstruiert  worden.  Es  wird  an 
diesem  Modell  die  Messung  der  Lichtgeschwindig- 
keit demonstriert  von  einem  Körper  aus,  der  auf 
der  Erde  ruhend  gedacht  wird  und  von  einem, 
der  sich  gegen  den  ersten  mit  großer  Geschwin- 
digkeit bewegt.  Man  erkennt  an  dem  Modell 
deutlich,  daß  die  P'orderung  der  Konstanz  der 
Lichtgeschwindigkeit  die  Annahme  nach  sich 
zieht,  daß  Zeit  und  Längenmaße  von  der  relativen 
Geschwindigkeit  abhängen  müssen,  und  daß  es 
auch  nicht  einmal  mehr  absolute  Gleichzeitigkeit 
geben  kann.  Ereignisse,  die  der  ruhende  Beob- 
achter gleichzeitige  nennt,  erscheinen  dem  be- 
wegten durchaus  nicht  mehr  gleichzeitig.  Es  sei 
dieses  Modell  allen  zur  Betrachtung  empfohlen, 
es  ist  ausführlich  in  dem  allgemeinverständlich 
abgefaßten  Aufsatz  von  E.  Cohn  „Physikalisches 
über  Raum  und  Zeit"  (24  S.  Leipzig,  Teubner 
191 1,  0,60  M.) -)  beschrieben  worden.  (Eine  ein- 
gehende Besprechung  mit  Abbildung  findet  sich 
auch  in  Zeitschr.  f.  d.  phys.  und  ehem.  Unterricht. 
191 1,  S.  361  und  in  Phys.  Zeitschr.  12,  S.  1227, 
1911.) 

Infolge  der  Ungewohntheit  der  Vorstellungen, 
die  die  unbedingte  Annahme  des  Relativitäts- 
prinzips mit  sich  bringt,  wird  man  das  lebhafteste 
Bedürfnis  empfinden ,  direkte  Beweise  für  die 
Richtigkeit  der  Folgerungen  kennen  zu  lernen. 
Nun,  es  gibt  in  der  Tat  eine  ganze  Reihe  von 
Erscheinungen,  die  zugunsten  des  Relativitäts- 
prinzips im  allgemeinen  und  der  Folgerungen  im 
besonderen  sprechen.  Sie  sind  vor  einiger  Zeit 
sehr  hübsch  zusammengestellt  worden  von  Laub 
in  einem  Aufsatz  in  dem  Jahrbuch  der  Radio- 
aktivität und  Elektronik  (7,  S.  405,  1910).  Alle 
Versuche,  die  zur  Prüfung  der  Theorie  ausgeführt 
werden  können,  bestehen  in  äußerst  sorgfältigen  und 
schwierigen  Messungen.  Denn  der  Einfluß,  den 
die  Geschwindigkeit  auf  Länge  und  Zeit  und  alle 
mechanischen  und  anderen  Erscheinungen  ausübt, 
ist  sehr  gering  und  überhaupt  nur  merkbar,  wenn 
die  Geschwindigkeit  etwa  von  der  Größenordnung 
der  Geschwindigkeit  von  Punkten  der  Erdober- 
fläche infolge  der  Erdbewegung  oder  von  höherer 
Größenordnung  ist.  Denn  die  Maßstabänderung 
wird  ja  durch  den  Faktor 


Vc^  — v2 

bedingt,  und  c  ist  gegen  alle  irdischen  aus  der 
Mechanik  bekannten  Geschwindigkeiten  ganz  un- 
geheuer groß.  Bei  den  meisten  Experimenten  zur 
Prüfung  wird  daher  die  Erdgeschwindigkeit  mit 
benutzt,    z.  B.    Messungen    in    Richtung   der    Erd- 


')   Vgl.  Phys.   Zeitschr.   10,   S.    104.    190g. 

*)  Aus  „Himmel  und   Erde"  23,  S.   117,   1910. 


774 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  49 


bewegung  mit  solchen  senkrecht  dazu  verglichen. 
Bei  den  anderen  Untersuchungen,  die  in  der  Ab- 
sicht, die  Relativitätstheorie  zu  prüfen,  unter- 
nommen sind,  macht  man  Gebrauch  von  den  sehr 
schnellen  Elektronen,  die  als  Kathodenstrahlen 
wahrnehmbar  sind.  Die  Bestimmung  der  Elek- 
tronenmasse bei  verschiedenen  Geschwindigkeiten 
der  Elektronen  und  der  Vergleich  mit  der  von 
der  Theorie  geforderten  Abhängigkeit  von  der 
Geschwindigkeit  dürfte  wohl  noch  immer  als  die 
Methode  gelten,  die  für  eine  sichere  Entscheidung 
am  geeignetsten  ist,  wenn  freilich  auch  bei  ihr  so 
manche  Schwierigkeiten  sich  der  geforderten  Ge- 
nauigkeit in  den  Weg  stellen. 

Wir  wollen  uns  diese  Methode  und  ihre  Re- 
sultate etwas  näher  ansehen.  In  allen  zu  dem 
Zweck  der  Prüfung  unternommenen  Arbeiten 
wurde  nur  das  Verhältnis  der  Elektronenladung  e 
zur  Elektronenmasse  m  gemessen.  Da  alle  Er- 
fahrungen dafür  sprechen,  daß  man  die  Elektronen- 
ladung als  konstant  ansehen  darf,  führt  die  Be- 
stimmung des  Verhältnisses  bei  verschiedenen 
Geschwindigkeiten  zu  der  Kenntnis  der  Abhängig- 
keit der  Masse  selbst  von  der  Geschwindigkeit. 

Q 

Zur  Messung  von     -    macht    man     von     der 

^  m 

Möglichkeit  Gebrauch,  die  Elektronen  z.  B.  in  den 
Kathodenstrahlen  durch  elektrostatische  und  ma- 
gnetische Felder  aus  ihrer  ursprünglichen  Bahn  ab- 
zulenken. Es  mögen  z.  B.  von  der  Kathode  K 
in  der  Figur  3  Elektronen  mit  der  Geschwindig- 
keit V  durch  das  Loch  der  Anode  A  hindurch- 
breclien.  Dieselben  werden  sich  geradlinig  zwischen 

den  beiden  Metall- 
platten a,  a  hindurch 
bis  an  das  Ende  der 
Röhre  bewegen  und 
dort  an  der  Stelle,  wo 
sie  die  Glaswand  tref- 
fen, einen  Fluoreszenz- 
fleck verursachen.  Wird 
zwischen  den  Platten 
durch  Anlegen  an  die  Enden  einer  elektrischen 
Batterie  ein  elektrostatisches  Feld  von  der  Stärke  E 
erzeugt,  so  werden  die  Kaihodenstrahlen  abgelenkt. 
Aus  der  Größe  der  Ablenkung,  die  sich  aus  der 
Verschiebung  des  Fleckes  messen  läßt  (besser  auf 
photographischem    Wege),    und    der    Stärke    des 


Fig.  3- 


Feldes  läßt  sich  die  Größe 


m  V- 


berechnen.  Lassen 


wir  statt  dessen  ein  Magnetfeld  von  der  Stärke  H 

auf  das  Kathodenstrahlbündel  einwirken,  so  daß  die 

magnetischen  Kraftlinien  senkrecht  zu  dem  Bündel 

verlaufen,  so  wird  das  Bündel  in  einen  Kreisbogen 

abgelenkt,    dessen  Radius  r    durch    die  Gleichung 

m  v  --  ,       .  ...  , 

=  r-e  H  bestmrmt  wird  und  gemessen  werden 

2  *' 

kann.      Die  Kombination    der    beiden   Messungen 
läßt  V  und  —  getrennt  berechnen. 

Die  Versuchsanordnung  im  einzelnen  für  diese 


Bestimmungen  ist  mannigfach  variiert  worden. 
Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  eine  Anordnung 
geworden,  die  von  Bestelmeyer  1907  ange- 
geben wurde,  die  der  gekreuzten  Felder.  Die 
Kathodenstrahlen  passieren  ein  durch  einen  Kon- 
densator erzeugtes  homogenes  elektrisches  Feld 
von  der  Stärke  E.  Diesem  Feld  ist  ein  magne- 
tisches von  der  Stärke  H  überlagert  derart,  daß 
die  ablenkende  Wirkung  des  elektrischen  Feldes 
auf  die  Elektronen  der  Wirkung  des  magnetischen 
Feldes    gerade    entgegengesetzt  war.     Elektronen, 

E 
die  sich  mit  der  Geschwindigkeit  v  =  -  be- 
wegen, erfahren  dann  im  Zwischenraum  des  Kon- 
densators keine  .Ablenkung.  Außerhalb  des  Kon- 
densators beschreiben  diese  Elektronen  infolge 
des  auch  dort  noch  wirksamen  magnetischen 
Feldes    eine    kreisförmige   Bahn    mit    dem  Radius 

mv        mE      . ,,    V-.  ,  ■    ,-       ,     - 

r  =     >,=  —,,,•    Alle  Elektronen  mit  Geschwin- 
e  H        eH" 

>E 
digkeiten  v    --jy  beschreiben,  wie  die  Theorie  er- 

<.  H 
gibt,  Bahnen,  die  die  Kreisbahn  jener  hervorge- 
hobenen Elektronen  in  einer  Entfernung  vom 
Kondensator  schneiden,  die  gleich  der  Länge  des 
Kondensators  ist.  In  dieser  Entfernung  befand 
sich  eine  photographische  Platte,  welche  durch 
die  Kathodenstrahlen  geschwärzt  wurde.  Außer 
E  und  H  wurde  die  Ablenkung  der  Kathoden- 
sttahlen  auf  der  photographischen  Platte  gemessen 
und    daraus    r   berechnet;    damit    war    alles   Not- 

,.  _,      .      ,  ,  m 

wendige  zur  Ermittelung  von  v  und        gewonnen. 

Diese  Methode  wurde  von  Bestelmeyer  selbst, 
dann  auch  von  Buc herer  und  Wolz,  zuletzt 
von  O.  Schäfer  und  G.  Neu  mann  benutzt. 
Speziell  die  Messungen  der  letztgenannten 
Forscher ')  haben  mit  recht  großer  Sicherheit 
dargetan,  daß  im  Intervall  von  0,4  bis  0,8  der 
Lichtgeschwindigkeit  die  Änderung  der  Masse 
des  Elektrons  der  Lore  ntz- Ein  stein 'sehen 
Theorie  folgt.      Als  Grenzwert   des    Verhältnisses 

für    sehr    kleine    Geschwindigkeit    finden    sie 


m 
1.765 


10'  in  vortrefflicher  Übereinstimmung  mit 
dem  Wert,  den  Bestelmeyer  1911  bei  einer 
Untersuchung  fand,  die  er  eigens  zu  dem  Zweck, 
den  Grenzwert  möglichst  genau  zu  bestimmen, 
unternommen  hatte. 

Zum  Schluß  müssen  wir  nun  noch  auf  häufig 
als  ganz  unannehmbar  hingestellte  Konsequenzen 
aufmerksam  machen.  Die  Lichtgeschwindigkeit 
kann  niemals  erreicht  oder  gar  übertroffen  werden 
und  es  darf  niemals  ein  Mittel  geben,  die  Licht- 
geschwindigkeit durch  Vergleich  mit  einer  anderen 
Geschwindigkeit  direkt  zu  messen  (oder  was  das- 
selbe ist ,  es  soll  nicht  möglich  sein ,  die  Zeit, 
deren    Intervalle    durch    die    Größe    der   Lichtge- 


1)  Phys.  ZS.   14.  S.    II 17.    1913. 


N.  F.  Xni.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


775 


schwindigkeit  definiert  wird,  noch  durch  irgendein 
von  der  Lichtgeschwindigkeit  unabhängiges  Mittel 
zu  kontrollieren).  Bedenklich  sind  diese  Konse- 
quenzen natürlich  erst  dann,  wenn  irgendein 
Anzeichen  vorliegt  dafür,  daß  sie  nicht  richtig 
sein  könnten.  Da  ist  nun  in  der  Tat  nicht  zu 
leugnen,  daß  die  ihrem  Wesen  nach  noch  un- 
bekannte Gravitationskraft,  die  Anziehungskraft 
zwischen  materiellen  Teilchen ,  vielleicht  eiimial 
dazu  dienen  könnte,  die  Unhaltbarkeit  der  Rela- 
tivitätstheorie zu  erweisen.  Bis  vor  wenigen  Jahr- 
zehnten wenigstens  nahm  man  noch  unbekümmert 
eine  unendlich  große  Ausbreitungsgeschwindigkeit 
an.  Das  darf  man  nicht  mehr  tun,  denn  wäre 
die  Geschwindigkeit  größer  als  die  Lichtge- 
schwindigkeit, so  könnte  man  sich  einen  Fall  in 
Gedanken  leicht  konstruieren,  für  den  die  Trans- 
formationsgleichungen (6)  völlig  sinnlos  würden. 
Und  da  die  Gleichungen  (6)  allgemeine  Gültigkeit 
beanspruchen,  darf  es  nicht  einmal  ein  Gedanken- 
experiment, welches  auf  rein  physikalische  Er- 
scheinungen sich  gründet,  geben,  für  das  die 
Gleichungen  nicht  anwendbar  wären.  Aber  noch 
mehr;  da  die  durch  die  Lichtgeschwindigkeit 
definierte  Zeit  in  keiner  Weise  kontrolliert  werden 
kann,  sondern  immer  wieder  nur  gemessen  werden 
kann  mit  Hilfe  von  Vorrichtungen,  die  streng 
nach  den  Konsequenzen  der  Transformations- 
formeln (6)  funktionieren,  so  muß  auch  die  Gravi- 
tation auf  die  elektromagnetischen  Erscheinungen 
zurückführbar  sein.  Das  Relativitätsprinzip  liefert 
uns  also  wichtige  Aussagen  über  die  Gravitations- 
kraft und  die  experimentelle  Widerlegung  jener 
Aussagen  wäre  zweifellos  das  Ende  jener  Theorie. 
Einstweilen  braucht  man  sich  darüber  nicht  zu 
beunruhigen  und  kann  an  der  Theorie  der  Rela- 
tivität festhalten.  Abgesehen  von  der  Erscheinung 
der  Gravitation  gibt  es  bis  jetzt  nichts,  was  zu 
einem  Zweifel  an  den  genannten  Konsequenzen 
berechtigte.     Denn  darüber    zu    spindisieren,    was 

I  eintreten  würde,  wenn  wir  die  Möglichkeit  hätten, 
auf    rein    mechanischem    Wege     eine    Geschwin- 

1  digkeit  herzustellen ,  die  gleich  der  Lichtge- 
schwindigkeit wäre,  ist  völlig  zwecklos,  solange 
man  eben  diese  Möglichkeit  nicht  hat,  an  der  auf 
Grund  der  Relativitätstheorie  von  vornherein  zu 
zweifeln  ist. 

Was  die  Theorie  der  Gravitation  betrifft,  so 
sind  die  Aussagen,  die  aus  dem  Prinzip  der  Rela- 
tivität gewonnen  wurden,  von  verschiedenen 
Forschern  weiter  verfolgt  worden.  Gegenwärtig 
gibt  es  im  wesentlichen  drei  durch  die  Grund- 
lagen (Hypothesen)  \'oneinander  verschiedene 
Richtungen.  Abraham  hat  eine  Theorie  der 
Gravitation  aufgestellt,  durch  die  die  hier  skizzierte 
Relativtheorie  nicht  bestätigt  wird,  auch  nicht 
bestätigt  werden  soll,  da  Abraham  in  seinen 
Untersuchungen  die  Konstanz  der  Lichtgeschwindig- 
keit nicht  als  berechtigte  P'~orderung  anerkennt. 
Nordström  und  Mie  legen  das  Prinzip  der 
Relativität  mit  der  F'orderung  der  konstanten 
Lichtgeschwindigkeit     zugrunde    und    Einstein 


geht  in  seiner  Theorie,  die  er  in  einem  Vortrag 
auf  der  Naturforscherversammlung  in  Wien  mit- 
geteilt hat,  noch  über  die  von  der  Relativitäts- 
theorie geforderten  Grundlagen  hinaus.  Einstein 
wirft  die  Frage  auf,  ob  nicht  auch  die  von  uns 
oben  als  absolut  meßbar  angesehenen  Beschleu- 
nigungen nur  als  relativ  meßbar  angesehen  werden 
müssen.  Wie  er  zeigt,  kann  man  bei  einer  der- 
artigen Erweiterung  zu  dem  sehr  wichtigen  Er- 
gebnis kommen,  daß  Trägheit  ein  relativer  Begriff 
sei,  insofern  als  die  Trägheit  der  Masse  durch 
Anhäufung  von  Massen  in  ihrer  Umt;ebung  ver- 
mehrt werde  (das  Umgekehrte,  die  Verminderung 
der  Trägheit,  folgt  aus  der  Theorie  von  Nord- 
ström  und  ist  zweifellos  weniger  befriedigend, 
da  dann  die  Trägheit  der  Materie  nicht  durch  die 
Anwesenheit  der  übrigen  Materie  erklärt  werden 
kann). 

Der  Bedeutung  der  Relativitätstheorie  ent- 
sprechend sind  seit  den  ersten  Arbeiten  von 
Einstein  (1905)  eine  große  Reihe  von  Unter- 
suchungen und  zusammenfassenden  und  allgemein- 
verständlichen Darstellungen  diesem  Gegenstand 
gewidmet  worden.  Unter  den  umfangreicheren 
zusammenfassenden  Darstellungen  ist  vor  allem 
das  wertvolle  Buch  von  Laue  („Wissenschaft" 
Bd.  38,  2.  Aufl.,  191 3,  Vieweg  &  Sohn,  Braun- 
schweig) zu  nennen,  das  indessen  der  eingehenden 
Darlegung  entsprechend  natürlich  einen  nicht  ge- 
ringen Grad  mathematischer  und  physikalischer 
Kenntnisse  voraussetzt.  In  letzter  Zeit  sind  eine 
Reihe  von  kleineren  Bändchen  erschienen,  die 
über  das  Relativitätsprinzip  ausschließlich  oder 
über  die  modernen  Probleme  der  Physik  allgemein 
handeln  und  die  der  Leserkreis  dieser  Zeitschrift, 
infolge  ihrer  elementarer  gehaltenen  Form,  mühe- 
loser bewältigen  wird.  Es  liegen  mir  gerade  vier 
solche  Hefte  vor,  über  die  einige  Bemerkungen 
zur  Orientierung  angebracht  sein  dürften. 

i)  H.  Sieveking.  Moderne  Probleme  der 
Physik.  (Fr.  Vieweg  &  Sohn,  Braunschweig,  1914, 
VII  u.  146  St-iten  mit  21  Abbildungen  im  Text. 
Ungeb.  4,50  M.,  in  Lwd.  5,50  M.)  Das  Bändchen 
enthält  ein  Kapitel  über  das  Relativitätsprinzip 
und  gibt  darin  eine  gute  Darstellung  desselben. 
Das  Bändchen  kann  auch  seines  anderen  reichen 
Inhaltes  wegen  warm  empfohlen  werden;  es  ist 
klar  geschrieben  und  behandelt  die  Elektronen- 
theorie, die  Radioaktivität,  die  Röntgenstrahlen, 
neuere  Elektrodynamik  und  Relativitätsprinzip, 
Fortschritte  der  Thermodynamik  (moderne  Strah- 
lungstheorie). Es  ist  aus  einem  Vortragszyklus 
vor  Chemikern  (Mannheimer  Bezirksvorstand  des 
Vereins  Deutscher  Chemiker)  entstanden. 

2)  P.  Bernays.  Über  die  Bedenklichkeiten 
der  neueren  Relativitätstheorie  (Vandenhoeck  & 
Ruprecht,  Göttingen  1913,  24  Seiten.  0,80  M.). 
In  drei  Abschnitten  bespricht  der  Verf.  i.  die 
Gründe,  welche  für  die  Relativitätstheorie  sprechen, 
2.  den    Inhalt    und    die    Konsequenzen    des    Rela- 


7/6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  49 


tivitätsprinzipes,  3.  Stellungnahme  zur  Relativitäts- 
theorie. Er  spricht  sich  gegen  das  Prinzip  aus 
und  möchte  von  neuem  den  Versuch  empfehlen, 
die  Elektrodynamik  und  Optik  durch  eine  mit  der 
alten  Kinematik  vereinbare  Theorie  zu  erklären 
etwa  in  Anlehnung  an  eine  berühmt  gewordene 
Theorie  von  Ritz,  die  kurz  skizziert  wird. 

3)  A.  Brill.  Das  Relativitätsprinzip.  Eine 
Einführung  in  die  Theorie.  (Teubner,  Leipzig  u. 
Berlin   1914,  34  Seiten.     1,20  M.) 

4)  H.  A.  L  o  r  e  n  t  z.  Das  Relativitätsprinzip. 
Drei  Vorlesungen  gehalten  in  Teyler's  Stiftung 
zu  Haarlem.  Bearbeitet  von  W.  H.  Keesom. 
(Teubner,  Leipzig  u.  Berlin  1914,  52  Seiten.  1,40  M.) 
Beide  Hefte  sind  überaus  empfehlenswert  und 
werden  denen,  die  auch  nur  eine  geringe  mathe- 
matische Vorbildung  haben,  einen  hohen  Genuß 
bereiten.  Sie  beziehen  sich  beide  vorwiegend  auf 
die  für  die  Mechanik  wichtigfen  Folgerungen  des 
Relativitätsprinzips  und  speziell  die  zweite  Schrift 
bespricht  verhältnismäßig  eingehend  die  Einst  ein- 


schen Untersuchungen  der  Gravitation  in  einer 
weiten  Kreisen  verständlichen  Form. 

Außer  diesen  4  Schriften  mathematisch-physi- 
kalischer Natur  liegt  mir  noch  eine  in  weitem 
Abstand  zu  jenen  klaren  Abhandlungen  zu  nennende 
5.  Schrift  vor,  die  sich  auf  den  Gegenstand  be- 
zieht ,  indessen  von  einem  anderen  Standpunkt 
ausgehend,  die  Einstein 'sehe  Relativitätstheorie 
bekämpft  und  an  ihre  Stelle  eine  andere  zu  setzen 
wünscht,  ferner  auch  die  Vereinigung  von  Raum 
und  Zeit  in  einer  ganz  anderen  Form  als  Min- 
kowski fordert.     Es  ist : 

5)  Melchior  Palägyi.  Die  Relativitäts- 
theorie in  der  modernen  Physik.  (Reimer,  Berlin 
1914,  77  Seiten.)  Ich  möchte  dies  Heft  nicht 
empfehlen,  da  es  die  Begriffe  der  auf  die  physi- 
kalischen Erkenntnisse  gegründeten  Relativitäts- 
theorie, wie  wir  sie  geschildert  haben,  zu  ver- 
wirren geeignet  erscheint,  außerdem  auch  nur 
einen  Vorläufer  eines  größeren  Werkes  über  ein 
weltmechanisches  System  darstellen  soll. 


Die  Bedeutung  der  diluvialen  Menschenskelette  für  die  Sprachwissenschaft. 


[Nachdruck  verboten.] 

Schon  Herder  schrieb:  „Der  Schluß  führt 
auf  einen  tierischen  Ursprung  der  Sprache.  Daß 
der  Mensch  sie  ursprünglich  mit  den  Tieren  ge- 
mein habe  bezeugen  gewisse  Reste."  In  seine 
Fußtapfen  traten  die  Zoologen,  so  Jäger,  der 
die  Ansicht  aufstellte,  daß  „die  Menschensprache 
nur  eine  Fortentwicklung  der  Tiersprache" 
sei,  welche  Behauptung  We Inland  weiter  be- 
gründete. Die  wenigen  Philologen,  die  sich  Her- 
der und  den  Zoologen  anschlössen  (so  ich  im 
Kosmos  1886  I  S.  98  u.  f),  wurden  als  Darwinisten 
von  ihren  Fachgenossen  verketzert,  da  sie  einige 
lediglich  auf  Grund  der  indogermanischen 
Sprachenfamilie  aufgestellten  Dogmen  zu  verletzen 
schienen.  Wie  die  Chemie  noch  im  vorigen  Jahr- 
hundert sich  mit  der  Auffindung  der  Elemente, 
deren  Zahl  immer  mehr  wuchs,  begnügte,  so 
glaubte  auch  die  Sprachwissenschaft  ihre  Aufgabe 
voll  und  ganz  gelöst  zu  haben,  wenn  sie  für  eine 
bestimmte  Sprachenfamilie  einige  hundert  von 
Wurzeln  festgestellt  und  deren  Veränderung  laut- 
lich erklärt  hatte.  Die  Frage  nach  dem  Ursprung 
dieser  Wurzeln  lehnte  sie  ab.  Und  als  die  Sprach- 
philosophie unter  Steinthal's  und  Lazarus' 
Führung  das  biogenetische  Grundgesetz,  nach  dem 
die  Menschheit  sich  ähnlich  wie  der  einzelne 
Mensch  entwickelt  hat,  auch  auf  die  Sprache  an- 
wandte, und  die  wissenschaftliche  Verwertung 
der  Kindersprache  begann,  entschlossen  sich  die 
Philologen  nur  zögernd,  diese  mit  in  das  Bereich 
ihrer  Sprachforschung  zu  ziehen. 

Vor  der  Auffindung  des  diluvialen  Menschen, 
als  man  noch  das  Alter  der  Menschheit  auf  etwa 
lOOOO  Jahre  schätzte,  hatte  es  eine  gewisse  Be- 
rechtigung,   das   Indogermanische,   dessen  Flexion 


Von  Prof.  Dr.  C.  Franke. 


etwa  vor  5000  Jahren  den  Höhepunkt  erreichte 
und  das  sich  dann  in  Tochtersprachen  spaltete, 
für  eine  sehr  alte  Sprache  zu  halten,  die  uns  viel 
Einblick  in  die  Sprachkindheit  gewähren  könnte. 
Nachdem  aber  der  diluviale  ^)  Mensch  wissen- 
schaftlich erwiesen  ist,  und  somit  für  das  Menschen- 
geschlecht mindestens  ein  Alter  von  1 50000, 
wenn  nicht  von  1 500000  Jahren  angenommen 
werden  muß,  ist  dieser  Ansicht  jede  Berechtigung 
entzogen  und  die  indogermanische  Sprache  dem 
Jünglingsalter  der  Menschheit  zuzuweisen,  wozu 
auch  ihr  ganzer  Typus  paßt;  denn  sie  ist  die 
Sprache  eines  Hirtenvolkes,  das  schon  die  Zahl- 
wörter bis  100  und  sehr  viel  Zeitwörter  besaß 
sowie  bereits  auf  der  vorletzten  Sprachstufe,  der 
flektierenden,  stand,  also  sprachlich  sich  schon 
weiterentwickelt  hatte  als  die  meisten  jetzigen 
Völker,  und  unsere  Kinder  erreichen  diese  Sprach- 
stufe meist  erst  im  5.  Jahre. 

Alle  Anthropologen  stimmen  wohl  darin 
überein,  daß  der  menschliche  Unterkiefer  ein 
sehr  wichtiges  Sprachwerkzeug,  gewissermaßen 
das  Schwungrad  der  Sprechmaschinerie  ist  und 
daß  durch  ihn  der  Menschenschädel  von  dem  des 
Affen  sich  etwa  ebenso  kennzeichnend  unter- 
scheidet, wie  durch  die  größere  Gehirnkapsel. 
Zwar  meint  Elliot  Smith,  daß  das  Wachstum 
des  Unterkiefers  mit  der  Umgestaltung  der  ge- 
samten Gesichtsknochen  Hand  in  Hand  gegangen 
sei.  Das  schließt  aber  nicht  aus,  daß  der  infolge 
dieser  Umgestaltung    sich    nach  vorn    schiebende 


')  Die  noch  nicht  einwandfrei  erwiesene  Hypothese  von 
der  Entstehung  des  Affenmenschen  im  mittleren  Tertiär  lasse 
ich  .^ußer  acht:  sie  würde  meine  Ansichten  nur  stützen: 


N.  F.  Xm.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


m 


Unterkiefer  aHmählich  sprachliche  F"unktion  über- 
nahm, die  dann  seine  Weiterentwickking  beein- 
flußte. Tatsächüch  bemerken  wir  an  ihm  beim 
alt-  und  mitteldiluviaien  Menschen  geringe,  an 
dessen  Gehirnkapsel  dagegen  schon  sehr  wesent- 
liche Veränderungen.  So  beträgt  schon  der 
Schädelraum  des  javanischen  gibbonähnlichen 
Affenmenschen,  der  aber  wohl  kein  Ahne,  son- 
dern ein  Oheim  des  Vernunftmenschen  (homo 
sapiens)  ist,  850  ccm,  so  daß  dieser  genau  in  der 
Mitte  zwischen  dem  des  jetzigrti  höchsten  Menschen- 
affen, des  Gorilla,  von  500  ccm  und  dem  des  jetzigen 
niedrigsten  Menschen,  des  Austrainegers,  von 
1200  ccm  steht,  der  des  Sussexaffenmenschen  da- 
gegen schon  1000,  so  daß  er  dem  des  Austrainegers 
näher  steht  als  dessen  Schädelraum  dem  des  Durch- 
schnittseuropäers (1500).  Die  während  der  Acheu- 
leen  und  Mousterienkuhur  etwa  im  8.  und  9.  Zehntel 
des  Diluviums  lebende  Neandertalrasse  (Acheuleen- 
jäger  der  unteren  Grotte  von  Le  Mousiier,  die 
Schädel  von  Spy,  La  Naulette,  Malarnaud,  Arcy, 
La  Ferrassie,  Krapina)  hatte  im  Schädelraum 
(1230  durchschnittlich  nach  Reinhardt)  die 
Australneger  bereits  erreicht,  und  zwar  wohl  auch 
in  geistiger  Beziehung,  wie  aus  der  Totenbestattung 
und  den  Grabesbeigaben  zu  schließen  ist.  Der 
Schädel  von  La  Chapelle-aux-Saints  soll  nach 
Birkner  sogar  den  Mittelwert  des  modernen 
Europäerschädels  erlangt  haben,  den  die  im 
letzten  Zehntel  des  Diluviums  lebenden  Rassen, 
die  Aurignac-  und  nach  ihr  die  Cromagnon-Rasse, 
im  Durchschnitt  haben  (der  Mensch  von  Mont- 
ferrand  mit  1400  ccm,  der  von  Chancelade  sogar 
mit   17 10). 

In  demselben  Maße  wie  die  Gehirnkapsel 
wuchs  auch  der  Verständigungs-  und  Mitteilungs- 
drang des  diluvialen  Menschen  über  den  des 
Affen  hinaus;  doch  das  älteste  Hauptwerkzeug 
jenes  war  wohl  wie  beim  Kinde  die  Hand,  was 
die  festgestellten  kreuzweisen  Beziehungen  zwi- 
1  sehen  den  beiden  Händen  und  den  beiden  Sprach- 
zentren des  Gehirns  bekunden.  So  erklärt  es  sich, 
daß  zunächst  bis  etwa  ins  8.  Zehntel  des  Dilu- 
viums die  Entwicklung  des  Unterkiefers  der  der 
Gehirnkapsel  nachhinkt. 

Denn  bis  in  die  Acheuleenkultur  hinein,  also 
etwa  bis  ins  8.  Zehntel  des  Diluviums,  fehlt  den 
Menschen  wie  den  Affen  das  Kinn  vollständig, 
sondern  der  Unterkiefer,  von  dessen  Ausbildung 
Robinson  in  erster  Linie  die  Fähigkeit  der 
artikulierten  Laut  spräche  abhängig  macht, 
fallt  in  einem  spitzen  Winkel  nach  innen.  Da 
wo  beim  jetzigen  Menschen  die  hervorragenden, 
bei  den  Taubstummen  aber  fehlenden  Enden  der 
Kieferknochen  stecken,  an  die  sich  ein  dem  Sprach- 
vermögen dienender  Muskel,  der  einzige,  der  stets 
beim  Sprechen  sich  bewegt,  setzt,  hat  der  Affe 
nur  eine  Grube,  der  im  3.  Zehntel  des  Diluviums 
lebende  Heidelberger  Affenmensch  jedoch  schon 
eine  Kinnfurche  und  einen  Kinnausschnitt,  welche 
die  Entwicklung  zur  menschlichen  Kinnbildung 
bereits  andeuten,  sowie  einen  kleinen  Stachel  am 


Ansatz  des  Kinnzungenbeinmuskels,  während  am 
Ansatz  des  Kinnzungenmuskels  ein  eigentlicher 
innerer  Kinnstachel  fehlt.  Beim  Acheuleenjäger 
von  Le  Moustier  ist  der  Abfall  der  Unterkiefer- 
spitze nach  innen  schon  weniger  jäh,  der  spitze 
Winkel  also  dem  rechten  angenähert,  anscheinend 
sind  Lippen  und  Zunge  bereits  etwas  beweglicher 
gewesen,  doch  fehlen  noch  die  Muskelzugbälkchen, 
so  daß  die  dort  ansetzenden  Sprachmuskeln,  be- 
sonders die  Musculi  genioglossi,  noch  einen  sehr 
schwachen  Zug  ausübten.  .Auch  Gaumen  und 
Nase  sind  noch  sehr  flach  und  breit.  Erst  zur  Zeit 
der  Mousterienkuhur,  also  etwa  im  9.  Zehntel  des 
Diluviums  (Schädel  von  Spy,  La  Naulette,  Malar- 
naud, Arcy,  La  Ferrassie,  Krapina,  La  Chapelle- 
aux-Saints)  wird  der  Unterkiefer  mehr  und  mehr 
moderner  und  fällt  bei  steiler  gestellten  Kronen- 
und  Gelenkfortsälzen  rechtwinklig  ab,  so  daß 
er  nun  ein  Kinn,  aber  noch  keinen  Kinnvorsprung 
besitzt.    Auch  der  Gaumen  ist  etwas  weniger  flach. 

Menschen  mit  Kinnvorsprung  treten  uns  erst 
im  letzten  Zehntel  des  Diluviums  entgegen;  doch 
bei  der  im  19.  Zwanzigstel  lebenden  Aurignacrasse, 
welcher  der  bei  Combe- Capelle  in  der  Nähe 
Montferrands  Begrabene  angehört,  ist  er,  wie  noch 
bei  den  Australnegern,  Buschmännern,  Hotten- 
totten, ja  vereinzelt  auch  bei  Europäern  nur  erst 
schwach  angedeutet;  denn  der  Winkel  des  Kinnes 
nach  den  Alveolarhorizont  beträgt  92  Grad,  über- 
trifft also  den  des  Kinnes  der  Neandertaler  zur 
Zeit  der  Mousterienkuhur  nur  um  2  Grad.  Die 
Fortsätze  des  Kiefers  sind  nun  vollständig  steil 
gestellt  und  auch  die  Zähne  ganz  zahm  und  zivi- 
lisiert, der  Gaumen  gewölbter,  dessen  Dach  über 
2  cm  vom  Niveau  der  Kaufläche  aus  gemessen 
vertieft  ist,  der  Mund  kleiner,  die  Nase  weniger 
breit  und  höher  aufgerichtet,  dagegen  der  Zahn- 
bogen wie  zuweilen  bei  Australnegern  in  einer 
sehr  ausgeprägten  Weise  u-förmig  gestaltet.  Der 
Index  des  Gaumens  beträgt  61,81. 

Das  ältere  Skelett,  das  einen  deutlichen  Kinn- 
vorsprung hat  ähnlich  wie  der  Durchschnitts- 
europäer, ist  das  von  Galley-Hill.  Rutot  ver- 
legt es  in  das  Strepyien ;  dann  wäre  es  sogar 
etwas  älter  als  der  Acheuleenjäger,  wogegen  aber 
nicht  bloß  der  Kinnvorsprung,  sondern  sein  ge- 
samter Aurignactypus  spricht. ') 

Sehr  deutlich  ist  der  Kinnvorsprung  bei  dem 
Menschen  von  Chancelade,  dessen  Alter  gleichfalls 
geologisch  nicht  genau  zu  bestimmen  ist.  Sein 
Schädelraum  (vgl.  o.),  ferner  sein  Zahnbogen,  dessen 


')  Doch  muß  die  Mögliclikeit  zugestanden  werden,  dafl 
schon  in  der  Strepyienperiode  nebeneinander  die  Neandertal- 
rasse in  Süd-  und  Mittel-,  die  Aurignacrasse  in  Nordeuropa 
existierte.  Diese  hätte  dann  die  an  jener  zu  beobachtende 
Schädelentwicklung  schon  vor  dem  Strepyien  durchgemacht, 
und  während  desselben  hätten  sich  beide  Rassen  etwa  so  zu- 
einander verhalten  wie  jetzt  die  schwarze  und  weifle,  so  daß 
es  schon  damals  den  Gegensatz  zwischen  niederer  und  höherer 
Menschenrasse  gegeben  hätte.  Vom  Standpunkte  der  Ent- 
wicklungslehre aus  bedeutet  , höher'  nicht  bloß  weiter,  sondern 
auch  schneller  entwickelt.  Kür  meine  Darlegung  dürfte  Rutot's 
Hypothese  kaum  von  Belang  sein. 


778 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  49 


hintere  Enden  miteinander  konvergieren,  und  sein 
Gaumenindex  mit  67,92  deuten  auf  ein  jüngeres 
Alter  als  das  der  Aurignacrasse  hin.  Auch  die 
Skelette  und  die  eigenen  Abbildungen  der  zur  Zeit 
der  IVlagdalenienkuitur ,  d.  i.  etwa  im  letzten 
Vierzigstel  des  Diluviums,  lebenden  Cromagnon- 
rasse  haben  einen  sehr  deutlichen  Kinnvorsprung, 
ja  nach  B  i  r  k  n  e  r  überhaupt  alle  für  die  Sprache 
wesentlichen  Merkmale  des  ganz  modernen  Euro- 
päers: Noch  kleinere  Nase,  kleineren  Mund,  feineres 
Gebiß  und  höher  gewölbten  Gaumen  als  der 
Aurignactypus. 

Nach  alledem  dürfte  sich  folgendes  ergeben : 
Daß  der  Mensch  zu  einer  so  bedeutend  reicheren 
und  höheren  Sprache  als  der  Affe  gelangte,  lag 
an  der  Entwicklung  seines  Gehirnes,  das  jetzt 
das  jenes  3 — 4  mal  an  relativer  Größe  überragt. 
Daß  aber  das  wesentlichste  Ausdrucksmittel  für 
die  Tätigkeit  des  Gehirns  bei  dem  Menschen  die 
Lautsprache  wurde,  war  in  erster  Linie  bedingt 
durch  die  Entwicklung  des  Unterkiefers.  Insofern 
hat  Robinson  recht,  daß  die  Fähigkeit  der 
artikulierten  Sprache  hauptsächlich  von  der  Er- 
werbung des  dem  Affen  gänzlich  fehlenden  Kinnes 
abhängig  ist,  natürlich  nebenbei  auch  von  der 
der  Lippen,  der  Zunge,  des  Gaumens  und  der 
Nase,  weshalb  im  vorhergehenden  auch  der  Um- 
gestalt  dieser  Gesichtsteile  mit  gedacht  worden 
ist,  in  zweiter  Linie  aber  von  der  Gestaltung  des 
Kehlkopfes,  der  ja  bei  der  Bildung  aller  stimm- 
haften Laute  beteiligt  ist,  ja  nach  der  neueren 
Ansicht  bei  der  von  a,  e,  i,  o,  u  mehr  als  die 
Zunge,  so  daß  man  von  einer  Kehlkopfartikulation 
sprechen  kann.  Leider  liegt  aber  m.  W.  für  die 
Entwicklung  des  menschhchen  Kehlkopfes  während 
des  Diluviums  gar  kein  Beweismaterial  vor,  daß 
eine  solche  und  zwar  in  der  Richtung  vom  Affen 
zum  Menschen  hin  stattgefunden  hat,  ist  jedoch 
zweifellos.  Daß  die  Lautsprachen  der  Affen  von 
der  menschlichen  so  sehr  abweichen,  liegt  wohl 
nicht  bloß  am  Gehirn  und  Unterkiefer,  sondern 
auch  am  Kehlkopf.  Doch  scheint  die  Stimme 
der  nacli  Roman  es  musikalische  Kadenzen  her- 
vorbringenden Gibbonart  der  menschlichen  bereits 
mindestens  ebenso  nahe  zu  stehen  als  der  des 
nur  wie  ein  Raubtier  brüllenden  Gorillas.  Allein 
dieser,  der  übrigens  uns  in  der  Gebärdensprache 
sehr  nahe  steht,  so  durch  das  Händeklatschen, 
hat  wohl  erst  infolge  seiner  einsiedlerischen 
Lebensweise  die  Sprechtöne,  die  nach  Garner 
den  in  Herden  lebenden  Affen,  wie  Pavian, 
Makat,  für  Futter,  Trinken,  Liebe,  Alarm  eigen 
sind,  wieder  verloren.  Aber  auch  bei  unseren 
Kindern  tritt  das  Lallen,  die  Vorstufe  des  Singens 
und  Gefühlsausdruck,  eher  ein  (oft  schon  im 
ersten  Monat)  als  das  Sprechen.  In  der  Regel 
beginnt  das  Lallen  mit  undeutlichen  Selbstlauten, 
dann  folgt  deutliches  ä  und  a.  Demnach  dürfte 
auch  beim  diluvialen  Menschen  der  Kehlkopf  sich 
früher  und  schneller  dem  unsrigen  ähnlich  ge- 
staltet haben  als  der  Unterkiefer  die  entsprechende 
Umformung  erlitt. 


Smith  meint,  daß  die  allmähliche  Ausbildung 
der  Sprachmu?keln  vielleicht  schon  bei  den 
höchsten  Tieren  eingesetzt  habe.  Die  Tatsache, 
daß  Hunde  und  Katzen  dazu  gebracht  werden 
können,  einige  menschliche  Worte  ziemlich  deut- 
lich nachzusprechen ,  bestätigt  diese  Vermutung. 
Sollte  bei  den  Sprechtöne  besitzenden  Affen,  die 
diese  gegenseitig  entlehnen,  jenes  nicht  auch  zu 
erreichen  sein?  Unbedmgt  notwendig  zur  Erwer- 
bung einer  artikulierten  Sprache  war  also  das 
Kinn  nicht,  doch  für'die  mannigfaltige  Artikulation 
der  alluvialen  Menschensprachen  scheint  es  dies 
zu  sein. 

Gleichwohl  besaß  der  Anfang  des  Diluviums 
lebende  Affenmensch  wahrscheinlich  noch  gar 
keine  artikulierte  Sprache,  sondern  nur  neben  der 
vorherrschenden  Handgebärde  wie  die  meisten 
Affen  Sprechtöne,  die  aber  wenigstens  seit  dem 
3.  Zehntel  des  Diluviums  zahlreicher  und  unseren 
jetzigen  stimmhaften  Lauten  ähnlicher  wurden, 
als  deren  Keime  oder  Vorstufen  sie  anzusehen 
sind.  Erst  im  8.  Zehntel  des  Diluviums  ent- 
wickelten sich  daraus  die  Anfänge  einer  arti- 
kulierten Sprache,  die  aber  noch  sehr  einfach  und 
leicht  war  und  wohl  nur  aus  stimmhaften  Lauten 
sowie  stimmlosen  Lippenlauten  bestand  ähnlich 
wie  sie  die  Lallsilben  mancher  Kinder  im  2.  Monat 
zeigen:  anne,  ange  (einfaches  Gaumen-n),  arrr, 
brrr,  ba,  bu,  appa.  Im  9.  Zehntel  des  Diluviums 
kamen  wohl  bei  dem  Mousterienmenschen  die 
mit  der  Zungenspitze  an  oder  über  den  Zähnen 
gebildeten  einfachen  Laute  hinzu ,  wie  in  den 
Lallsilben :  dada,  tahu.  Doch  schloß  der  niedere 
platte  Gaumen  jedenfalls  die  Artikulation  des 
Zungenrückens  mit  ihm  noch  aus.  Diese  ist  erst 
für  den  Aurignacmenschen  des  19.  Zwanzigstels 
des  Diluviums  wahrscheinlich.  Aber  bei  ihm 
war  infolge  des  u  förmigen  Zahnbogens  für  die 
Zunge  ein  viel  engerer  Raum  als  jetzt  vorhanden, 
so  daß  diese  immer  noch  sehr  einfach  artikulierte 
und  höchstens  nur  einige  Doppelmitlaute  mit 
gleicher  Artikulationsstelle  bildete,  wie:  mb,  nk, 
Id,  pf,  nd,  nt,  die  bei  den  Kindern  vom  3.  bis 
13.  Monat  sich  beim  Lallen  einstellen  und  auch 
die  Negersprachen  aufweisen.  Jedenfalls  war  aber 
bis  zu  dieser  Zeit  die  menschliche  Sprache  von 
allen  jetzigen  Sprachen  verschiedener  als  diese 
es  voneinander  sind.  Ja  hier  liegt  wohl  die 
eigentliche  Sprachgrenze  zwischen  Diluvium  und 
Alluvium. 

Denn  für  das  letzte  Zwanzigstel  ist  kein  Grund 
vorhanden ,  weshalb  der  Mensch  damals  anders 
als  jetzt  artikuliert  hätte,  ja  es  ist  sogar  wahr- 
scheinlich, daß  die  Sprachen  der  damaligen  Euro- 
päer den  der  jetzigen  näher  gestanden  haben  als 
die  der  jetzigen  schwarzen  Rasse  und  teilweise 
auch  der  gelben.  Freilich  waren  wohl  selbst  die 
Träger  der  Magdalenienkultur  noch  nicht  imstande, 
die  Mitlaute  derartig  zu  häufen  wie  der  Germane 
und  Slave,  aber  den  Romanen  mögen  sie  es 
darin  gleich  getan  haben.  Das  Ausgeführte  möge 
folgende  Übersicht  veranschaulichen : 


N.  F.  Xm.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


779 


I.  Eine  wachsende  Anzahl  von  Sprech  tönen, 
die  sich  von  den  der  Affen  immer  mehr  ent- 
fernen und  der  Artikulation  nähern  bis  über  die 
IVlitte  des  Diluviums. 

II.  Diluviale,  d.  h.  von  der  jetzigen  abweichende 
Artikulation: 

1.  Sehr  einfache  und  sehr  beschränkte  Arti- 
kulation seit  dem  8.  Zehntel  des  Diluviums, 

2.  Einfach  beschränkte  Artikulation  seit  dem 
9.  Zehntel  des  Diluviums, 

3.  Einfache  und  beschränkte  komplizierte  .Arti- 
kulation seit  dem   19.  Zwanzigstel  des  Diluviums. 

III.  Alluviale,  d.  h.  mit  der  jetzigen  im  wesent- 


lichen   übereinstimmende    .Artikulation    seit    dem 
letzten  Zwanzigstel  des  Diluviums. 

Es  ist  wohl  klar,  daß  aus  dem  Indogerma- 
nischen abgeleitete  Sprachgesetze  nur  für  die 
letzte  Periode  (III)  Geltung  haben  können,  doch 
sind  die  aus  dem  Altägyptischen,  Chinesischen 
und  den  jetzigen  Sprachen  der  schwarzen  Rasse 
erschlossenen  höher  zu  bewerten.  Für  die  II. 
kommt  in  erster  Linie  die  Kindersprache  in  Be- 
tracht, für  die  I.  außer  dieser  die  der  höheren 
Säugetiere. ') 


')  C.  Franke,    Die    mutmaßliche    Sprache    der   Eiszeit- 
menschen, 2.  Auf!.,  Halle  a.  S.,  Waisenh.   1913. 


Einzelberichte. 


Geographie.  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Eis- 
zeit im  Kaukasus.  Nachdem  H.  Abich  im 
Jahre  185S  die  Existenz  einer  Eiszeit  im  Kaukasus 
zuerst  in  Abrede  gestellt  hatte,  mußte  er  sich 
später  doch  auf  Grund  des  erdrückenden  Beweis- 
materials zu  einer  Änderung  seiner  Ansicht  ent- 
schließen, und  auch  andere  Forscher,  von  denen 
hier  nur  E.  Favre  (1869  und  1876),  J.  Musch- 
ketow  (1881),  N.  Dinnik  (1890),  A.  Krasnow 
(1891),  W.  Michailowski  (1894),  Fournier 
(1896)  und  M.  v.  Dechy  (1905  — 1907)  genannt 
seien,  haben  durch  eigene  Beobachtungen  eine 
weitergehende  diluviale  Vergletscherung  im  Kau- 
kasus festgestellt.  Selbst  in  den  am  besten  er- 
forschten Teilen  des  Gebirges  herrscht  jedoch 
eine  große  Unsicherheit  über  den  Verlauf  der 
Grenzen  der  ehemaligen  Gletscher.  Diese  Un- 
klarheit bewog  A.  V.  Reinhard  in  den  Jahren 
1910  bis  1913  zunächst  im  zentralen  Teil  des 
Gebirges  die  Richtigkeit  der  Beobachtungen 
früherer  Forscher  nachzuprüfen,  dann  aber  diesen 
Teil,  in  dem  ein  ziemlich  kontinentales  Klima 
herrscht,  zu  verlassen  und  seine  Untersuchungen 
auf  den,  maritimen  Einflüssen  ausgesetzten  Süd- 
abhang des  westlichen  Kaukasus  auszudehnen. 

Das  untersuchte  Gebiet  im  zentralen  Teil  des 
nördlichen  Kaukasus  fällt  seinen  Grenzen  nach 
mit  Digorien  und  Ossetien  fast  zusammen.  Es 
umfaßt  zwei  scharf  geschiedene  Teile,  das  Berg- 
land im  Süden  und  die  Ebene  im  Norden,  auf 
welcher  fast  sämtliche  Flüsse  in  den  Terek  fließen. 
Das  Bergland  zerfällt  seinerseits  in  drei  morpho- 
logisch und  geologisch  selbständige  Abschnitte, 
die  parallel  der  Streichrichtung  WNW-ESE  ver- 
laufen. In  der  Mitte  liegt  die  stark  vergletscherte 
Hauptkette,  aus  Gneisen  und  Graniten  bestehend, 
die  beiderseits  von  metamorphosierten  Schiefern 
begleitet  werden.  Typisch  ist  die  asymmetrische 
Entwicklung  ihrer  beiden  Abdachungen,  indem 
der  nach  Süden  gekehrte  Abhang  in  seinem 
oberen  Abschnitte  viel  steiler  als  der  Nordabhang 
und    dabei    nur   in  geringem  IVIaße  gegliedert  ist. 

Weniger  ausgesprochen    ist  diese  Asymmetrie 


im  Bau  der  südlich  vom  Hauptkamm  liegenden 
ebenfalls  Gletscher  tragenden  paläozoischen 
Schieferkette,  während  die  nördlich  liegende 
gletscherfreie  jurassische  Kalkkette  die  Form  des 
Hauptkammes  wiederholt.  Entsprechend  dem 
asymmetrischen  Bau  der  Hauptkette  liegen  die 
großen  Gletscher  hier  hauptsächlich  auf  der  Nord- 
seite. Eine  Ausmessung  des  mit  Gletschern  be- 
deckten Areals  ergab  für  den  Nordabhang  18  5,91  qkm, 
für  den  entsprechenden  Teil  des  Südabhanges  da- 
gegen nur  61,96  qkm. 

Die  dem  Gebirge  vorgelagerte  Wladikawkas- 
Ebene  liegt  in  einer  von  allen  Seiten  durch  Höhen 
scharf  umgrenzten  Mulde.  Abich  hielt  sie  für 
ein  eiszeitliches  Seebecken,  während  v.  Rein- 
hard gegen  diese  Deutung  das  gänzliche  Fehlen 
typischer  Seeablagerungen  geltend  macht,  sowie 
das  steile  Gefälle,  das  deutlich  den  fluviatilen 
Ursprung  verrät.  Die  Wladikawkas-Ebene  erscheint 
ihm  nicht  nur  morphologisch,  sondern  auch  gene- 
tisch als  ein  Gegenstück  zu  der  schiefen  Ebene 
von  München. 

Im  Einzugsgebiete  des  Ardön  ergab  eine  Re- 
konstruktion des  eiszeitlichen  Gletschers,  daß  zur 
Zeit  der  größten  Entwicklung  der  Eisdecke  die 
Gletscher  des  Nordabhanges  der  paläozoischen 
Schieferkette  sich  mit  den  Gletschern  des  Haupt- 
kammes vereinigten  und  die  zwischen  beiden 
gelegenen  Längstäler  des  Mamissön  und  des  Nar- 
don  gänzlich  ausfüllten  und  nach  Norden  durch  die 
Kassard  zum  Ardon  abströmten,  wo  der  Haupt- 
gletscher bei  Bis  in  900  Höhe  sein  Ende  erreichte. 
Weitere  eingehende  Detailuntersuchungen  in  den 
Flußgebieten  des  Urüch,  des  Ardön  und  des 
Terek  lieferten  dem  Verfasser  das  Material  zu 
einer  Bestimmung  der  eiszeitlichen  Schneegrenze. 

In  dem  zweiten  Untersuchungsgebiet,  der 
Südseite  des  westlichen  Kaukasus,  war  von  vorn- 
herein ein  anderer  Charakter  der  Eiszeit  zu  er- 
warten, denn  die  unmittelbare  Nachbarschaft  des 
Schwarzen  Meeres  und  die  vorherrschenden  feucht- 
warmen Westwinde  schaffen  hier  ein  ozeanisches 
Klima.     Die  Erforschung   des    Msymta-Tales    und 


7  So 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  49 


des  Quellengebietes  des  Uruschten  ergaben  Spuren 
einer  einzigen  Hiszeit  mit  deren  Rückzugsstadien. 
Seine  eigenen  Beobachtungen  ergänzte  A.  v.  Rein- 
hard durch  ein  sorgfältiges  und  umfangreiches 
Studium  der  einschlägigen  Literatur  und  gelangte 
so  zu  folgendem  einheitlichen  Bilde  der  eiszeit- 
lichen Vergletscherung  des  Kaukasus: 

Das  Schwergewicht  der  eiszeitlichen  Ver- 
eisung lag,  gleich  dem  heutigen,  im  westlichen 
Teil  des  Gebirges,  wobei  die  Intensität  gegen 
Osten  zu  abnahm.  Die  Gletscher  der  Nordab- 
dachung reichten  im  westlichen  und  zentralen 
Kaukasus  fast  bis  zum  Fuß  des  Gebirges  herab, 
im  östlichen  blieben  sie  hoch  im  Gebirge  und 
waren  dabei  viel  kürzer:  die  großen  Gletscher 
des  Westens  erreichten  über  30 — 50  km  Länge 
und  endeten  900 — iioo  m  hoch  (Teberdä,  Urüch, 
Ardön,  Terek),  die  des  Ostens,  bei  einer  Länge 
von  höchstens  15- — 25  km,  endeten  in  über 
1500  m  Höhe  (Schach  -  nabat).  Die  Gletscher 
waren    im    großen  und  ganzen   proportional  ihrer 


der  darauffolgenden  Stadien  700  bis  800  m,  500  m 
und  300  m. 

Nach  dem  stattgefundenen  Rückzuge  der 
Gletscher  setzte  eine  gesteigerte  fluviatile  Erosion 
ein,  deren  Betrag  im  Mittel  lOO  bis  150  m,  in 
einigen  Seitentälern  200  m  und  darüber  erreicht. 
Als  diese  Erosion  schon  stark  fortgescliritten  war, 
folgte  das  zweite  Vergletscherungsstadium.  Die 
Gletscher  erreichten  diesmal  nicht  dieselben 
Dimensionen  und  vereinigten  sich  nicht  miteinander. 
Sie  reichten  meist  nicht  aus  den  Seitentälern  in 
das  Haupttal  hinaus.  Infolge  der  großen  Vertiefung 
der  Täler  seit  dem  ersten  Vergletscherungsstadium 
reichten  sie  aber  fast  ebenso  tief  herab  wie  früher, 
etwa  bis   iioo  bis   1200  m. 

Viele  wichtige  Tatsachen  sprechen  gegen  die 
Annahme  von  zwei  selbständigen  Vergletscherungen. 
Vergleichen  wir  die  Größe  der  Depression  der 
Schneegrenze  zu  verschiedenen  Momenten  der 
Eiszeit  in  beiden  Gebieten,  so  erhalten  wir 
folgendes  Bild: 


Zentraler  Kaukasus 

Westlicher  Kaukasus 

Vergletscherungsstadien 

Höhenlage  der  eiszeitlichen 

Depression  unter 

Höhenlage  der  eiszeitlichen  1  Depression  unter 

Schneegrenze 

der  heuligen 

Schneegrenze                     der  heutigen 

I  =  HauptvergletscheruDg 

2300  m  am  Rande 
2500 — 2700  m  im  Innern 

1 100  m 
800 — IIOO  m 

1400  m 

1300  m 

II  =  I.  Rückzugsstadium 

700 — 800  m 

1900  —  2000  m 

700 — 900  m 

III  =  2. 

500  m 

500 — 600  m 

IV  =  3- 

300  m 

300 — 400  m 

heutigen  Entwicklung  angewachsen.  Auch  damals 
war  der  westliche  Kaukasus,  trotz  der  bedeutend 
kleineren  Höhe  des  Gebirges  viel  stärker  ver- 
gletschert als  der  östliche.  Somit  erscheint  die 
eiszeitliche  Vergletscherung  des  Kaukasus  als  eine 
Steigerung  der  heutigen. 

Im  westlichen  Kaukasus  lag  die  eiszeitliche 
Schneegrenze  während  der  maximalen  Eisaus- 
dehiiung  14OO  m  hoch,  d.  h.  um  1300  m  tiefer 
als  heutzutage.  Der  Hauptvergletscherung  folgten 
drei  Rückzugsstadien  mit  der  Depression  der 
Schneegrenze  von  700  bis  900  m,  500  bis  600  m 
und  300  bis  400  m.  Alle  drei  Stadien  gehören 
einer  und  derselben  Eiszeit  an.  Die  Gletscher 
des  Südabhanges  reichten  hier  mindestens  bis 
500  m  herab,  blieben  jedoch  dabei  tief  im  Ge- 
birge. 

Im  zentralen  Kaukasus,  nämlich  in  den  Tälern 
des  Urüch,  Ardön  und  Terek,  können  wir  meist 
zwei,  an  einigen  Stellen  drei  verschiedene  Stadien 
der  Vergletscherung  unterscheiden.  Es  scheint 
sogar,  ebenso  wie  im  Msymtatale  noch  ein  viertes 
Stadium  unterschieden  werden  zu  können.  Die 
Schneegrenze  lag  in  diesem  Teile  des  Kaukasus 
während  des  ersten  Stadiums  bei  2300  m  am 
Rande  des  Gebirges  und  etwas  höher  im  Innern 
des  Gebirgslandes.  Die  Depression  erreichte  am 
Rande  iloo  bis  1200  m  und  etwas  weniger  im 
Inneren  (Grenzwerte   iioo  m  und  800  m),  solche 


Im  allgemeinen  stieg  die  eiszeitliche  Schnee- 
grenze in  östlicher  Richtung  empor,  wobei  sie 
im  westlichen  Kaukasus  rund  1200  bis  1300  m 
tiefer  lag  wie  im  östlichen.  Das  stimmt  im  großen 
und  ganzen  mit  dem  überein,  was  wir  heute  be- 
obachten. Auch  während  der  Eiszeit  herrschte 
derselbe  Gegensatz  im  Charakter  des  Klimas  des 
westlichen  und  östlichen  Kaukasus,  wie  heute; 
auch  damals  befand  sich  das  Gebirge  unter  dem 
vorherrschenden  Einfluß  der  feuchten  Westwinde. 

Mit  der  zunehmenden  Kontinentalität  des 
Klimas  in  östlicher  Richtung  stieg  die  eiszeitliche 
Schneegrenze  des  Kaukasus  in  derselben  Richtung 
hinauf.  Mit  diesem  Ergebnis  steht  in  vollem  Ein- 
klang die  Beobachtung  von  F.  Machatschek 
in  Zentralasien,  der  dort  für  die  Depression  der 
eiszeitlichen  Schneegrenze  im  westlichen  Tienschan 
einen  Betrag  von  nur  550  bis  600  m  während  der 
maximalen  Vergletscherung  und  von  200  m 
während  des  Rückzugsstadiums  erhalten  hat.  Dabei 
war  erstens  die  eiszeitliche  Schneegrenze  im  west- 
lichen Kaukasus  stärker  herabgedrückt  als  im  öst- 
lichen, wobei  die  Differenz  in  der  Größe  der 
Depression  im  Westen  und  im  Osten  rund  300  m 
betrug;  zweitens  war  sie  am  Gebirgsrande  stärker 
herabgedrückt,  als  in  dessen  Innerem.  Aus  allen 
diesen  Befunden  folgert  A.  v.  Reinhard,  daß 
die  eiszeitliche  Vergletscherung  des  Kaukasus  die 
Folge  einer  Temperaturerniedrigung  war. 


N.  F.  Xm.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


781 


Außer  mehreren  Abbildungen  und  Profilen  ist 
der  Arbeit  als  besonders  dankenswerte  Beilage 
eine  Karte  der  eiszeitlichen  Vergletscherung  des 
zentralen  Kaukasus  beigefügt ,  auf  welcher  der 
Verfasser  in  strenger  Kriük  die  von  ihm  nach 
eigenen  Beobachtungen  rekonstruierten  eiszeitlichen 
Gletscher  durch  die  Farbentönung  unterschieden 
hat  von  denen,  die  er  auf  Grund  der  Karte  und 
der  Literatur  annehmen  zu  können  glaubte,  ein 
Verfahren,  das  entschieden  Nachahmung  verdient. 
Ein  Literaturverzeichnis  von  122  Nummern,  in  dem 
auch  die  zahlreichen  russischen  Arbeiten  über 
dieses  Gebiet  angeführt  sind,  beschließt  die  wert- 
volle Abhandlung.  ^)  O.  Baschin. 

Chemie.  Die  Pigmente  der  Braunalgen  hat 
Richard  WiUstätter  zusammen  mit  H a r o  1  d 
J.  Page  näher  untersucht.-)  Es  gelang  diesen 
Forschern  nachzuweisen,  daß  in  den  Braunalgen 
das  Chlorophyll  als  solclies  enthalten  ist,  und 
nicht  in  Form  eines  braun  gefärbten  Derivates, 
wie  es  verschiedene  Forscher  bisher  angenommen 
haben.  Die  grüne  Farbe  ist  in  den  Braunalgen 
nur  verdeckt,  und  zwar  deshalb,  weil  neben  dem 
Chlorophyll  noch  gelbe  Pigmente  in  größerer 
Menge  vorhanden  sind;  das  molekulare  Verhältnis 
der  grünen  Farbstoffe  zu  den  gelben  beträgt  etwa 
1:1.  Gegen  das  Vorkommen  eines  braunen 
Farbstoffs  in  den  Braunalgen  spricht  auch  die 
Tatsache,  daß  sich  ihr  Spektrum  von  dem  der 
gewöhnlichen  grünen  Blätter  nicht  wesentlich 
unterscheidet. 

Das  Chlorophyll  der  Phäophyceen  besteht,  ab- 
weichend von  dem  der  Landpflanzen  und  der  grünen 
Algen,  fast  ganz  aus  der  a- Komponente  ") ;  vom  Chlo- 
rophyll b  sind  höchstens  bis  zu  5  "/„  anwesend.  Von 
den  in  den  Braunalgen  außer  dem  Chlorophyll  an- 
wesenden P'arbstoffen  Carotin,  Xanthophyll  und 
Fucoxanthin  überwiegt  der  letztgenannte.  Es  kann 
mit  Hilfe  eines  Verteilungsverfahrens  zwischen 
einem  Gemisch  von  Äiher  und  Petroläther  und 
einem  30  "/u  Wasser  enthaltenden  Methylalkohol  von 
den  anderen  abgetrennt  werden.  Fucoxanthin  bildet, 
wenn  es  aus  Methylalkohol  auskristallisiert,  bläu- 
lich glänzende,  braunrote,  prismatische  Kristalle 
von  der  Zusammensetzung  C^iiH^^Og,  die  beim 
Zerreiben  ein  ziegelrotes  Pulver  geben;  sie  ent- 
halten  im    Molekül    drei  Moleküle    Methylalkohol, 


')  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Eiszeit  im  Kaukasus.  Von 
Anatol  V.  Reinhard.  Geographische  Abhandlungen,  Neue 
Folge:  Veröffentlichungen  des  Geographischen  Instituts  an 
der  Universität  Berlin,  Heft  2.  114  Seiten.  3  Tafeln,  i  Karte. 
Leipzig,  B.  G.  Teubner.      1914.     6  Mk. 

^)  Liebig's  Annalen  404,  237  —  71. 

')  Vgl.  diese  Zeitschrift  1914,  S.  278. 


die  im  Vakuum  abgegeben  werden.  Dabei  wird 
die  Substanz  sehr  hygroskopisch.  An  der  Luft 
vertauscht  das  aus  Methylalkohol  auskristallisierte 
F'ucoxanthin  allmählich  den  Alkohol  unter  Bildung 
von  Hydraten  mit  2  oder  3  Molekülen  Wasser. 
In  Wasser-  bzw.  alkoholfreier  Form  wird  das  F'uco- 
xanthin durch  tropfenweisen  Zusatz  von  niedrig 
siedendem  Petroläther  zu  der  Lösung  in  absolutem 
Äther  erhalten.  Alle  Lösungen  des  Fucoxanthins 
sind  sehr  empfindlich  gegen  den  Sauerstoff  der 
Luft;  sie  zersetzen  sich  ferner  leicht  unter  dem 
Einfluß  des  Lichtes.  Bugge. 

Zoologie.  Über  die  Zahl  der  Eier  einiger 
Süßwasserfische  enthält  ein  Bericht  von  Dr.  G. 
Surbeck  über  den  im  Kanton  Bern  (Schweiz) 
im  Wmter  191 3/14  vorgenommenen  Fang  von 
Laichfischen  einige  Angaben. ') 

Demnach  lieferten  reife  Laichfische  im  Durch- 
schnitt folgende  Zahl  Eier: 

Bachforelle,  Trutta  fario  L.,   337  Eier, 

Äsche,  Thymallus  vulgaris  Nils.,  2300  Eier, 

Felchen ,  Coregonus  balleus  helveticus  Fatio 
4200  Eier, 

Felchen,  Coregonus  balleus  palae  Fatio  1 1  000  E. 

Nach  Bade'-J  beträgt  die  Zahl  der  Eier  bei 
der  Bachforelle  500 — 2000,  bei  der  Äsche  2000 
bis  5000. 

Die  Zahl  der  Eier  war  mit  337  bei  der  Bach- 
forelle auffallend  klein.  Hier  mag  die  Größe  bzw. 
das  Alter  der  Rogner  (Weibchen)  eine  ausschlag- 
gebende Rolle  gespielt  haben.  Nämlich  im  Gebiet 
der  Aare  allein,  wo  die  Laichfische  größer,  d.  h. 
älter,  waren,  traf  es  durchschnittlich  736  Eier  auf 
einen  Rogner. 

Bei  der  Äsche  war  die  Zahl  eine  normale. 

Der  große  Unterschied  zwischen  der  Eizahl 
der  Coregonen  des  Thunersees  (C.  balleus  helve- 
ticus Fatio)  und  denjenigen  des  Bielersees  (C. 
balleus  palea  Fatio)  ist  sehr  auffallend.  Die  Arten 
sind  einander  nahe  verwandt,  ja  nur  Lokalvarie- 
täten. Die  Zahlen  von  4200  und  11 000  stehen 
zu  weit  auseinander.  Es  dürfte  hier  ein  Fehler 
vorliegen ,  der  durch  weitere  Prüfungen  zu  be- 
seitigen ist. 

In  der  Literatur  fehlen  im  großen  und  ganzen 
genaue  und  bestimmte  Angaben  über  die  Zahl 
der  Eier  der  Angehörigen  der  Gattung  Coregonus, 
welche  man  auch  in  anderer  Beziehung  den 
Ichthyologen  noch  manche  Aufgabe  zur  Lösung 
aufgibt.  Alb.  Heß. 


')  Schweizerische  Fischereizeitung  Nr.  9,  September  1914. 
*)  Bade:  Die  mitteleuropäischen  Süßwasserfische. 


Bücherbesprechungen. 

Church,  G.  E.,  Aborigines  of  South  Arne-  Der    bereits    im    Jahre   1910  verstorbene  Ver- 

rica.      Herausgegeben    von    C.  R.  Markham.  fasser    dieses    Buches,    der  amerikanischer  Oberst 

XXIV  u.  314  S.  m.   I  Karte  u.   i  Bild.     London,  war,  ist  viel  in  Südamerika  gereist  und  er  hat  in 

Chapman  &  Hall.  Zeitschriften  verschiedene  Aufsätze  zur  Geographie 


782 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  49 


Südamerikas  veröffentlicht.  Seit  längerer  Zeit  sclion 
arbeitete  er  an  einer  Ethnologie  Südamerikas, 
doch  blieb  das  Werk  bei  seinem  Tode  unvollendet. 
Der  fertiggestellte  Teil,  der  nun  von  C.  R.Mark - 
h  a  m  herausgegeben  wurde,  behandelt  alle  Stämme 
des  Amazonenstromgebieies,  jene  des  Gran  Cliaco, 
sowie  die  Araukanier,Pampasindianer  und  Patagonier. 

—  Church  sagt,  über  die  Anfänge  der  menschlichen 
Besiedelung  Südamerikas  läßt  sich  nicht  Sicheres 
feststellen.  Wahrscheinlich  ist,  daß  die  bewohn- 
baren Gebiete  bereits  in  jener  Periode  des  Pliozän 
relativ  gut  bevölkert  waren,  aus  welcher  die  in 
Südost-Bolivien,  Argentinien  und  Brasilien  in  großen 
Mengen  gefundenen  Überreste  von  Landsäugetieren 
stammen.  Die  Veränderungen  der  Landoberfläche 
und  des  Klimas  Südamerikas  hatten  zweifellos 
ausgedehnte  Wanderungen  der  Menschen  zur 
Folge,  von  denen  sich  allerdings  nur  mehr  recht 
spärliche  Spuren  finden.  Man  trifft  z.  B.  in  Peru 
und  Bolivien  künstliche  Terrassen  in  Höhenlagen, 
die  gegenwärtig  für  Kulturzwecke  vollkommen 
wertlos  sind.  Ob  die  Terrassen  durch  eine  Land- 
erhebung in  jene  Höhe  kamen,  oder  ob  in  diesen 
Hochgebieten  einstmals  wesentlich  andere  klima- 
tische Zustände  herrschten,  ist  ungewiß.  Church 
neigt  der  letzteren  Ansicht  zu.  Der  einstmals 
vorhandene  große  Titicacasee,  sowie  andere 
Andenseen  und  die  südamerikanischen  Inlandseen 
sind  durch  den  Eintritt  eines  mehr  trockenen 
Klimas  langsam  verschwunden,  womit  die  Anden- 
hochländer und  die  Landschaften  am  Stillen  Ozean 
ihre  Fruchtbarkeit  verloren,  so  daß  die  dort 
wohnenden  Indianer  einen  schweren  Kampf  ums 
Dasein  zu  bestehen  hatten.  Die,  welche  die  Klima- 
änderung überlebten,  zogen  sich  in  die  Täler  und 
Schluchten  zurück,  welche  der  Austrocknung  ent- 
gangen waren.  Nach  der  Klimaänderung  wurde 
auch  das  jetzige  Amazonentiefland  bevölkert,  das 
bis  dahin  von  der  Inlandsee  bedeckt  war.  Die 
Fischerei  an  den  vielen  Flüssen,  die  dieses  Land 
durchziehen,  lohnte  sich  nur  in  der  kühlen  Jahres- 
zeit, bei  klarem  Wetter;  sonst  waren  die  Indianer 
auf  die  pflanzlichen  und  tierischen  Produkte  des 
Urwaldes  angewiesen,  wo  sie  ein  düsteres  und 
von  Feinden  stets  bedrängtes  Leben  führten.  Die 
zahlreichen  breiten  Flüsse  des  Amazonengebietes 
machten  und  machen  noch  jetzt  den  Verkehr 
zwischen  den  einzelnen  Stämmen  schwer;  Stämme, 
die  an  Kopfzahl  zunahmen,  mußten  sich  der 
Nahrungsgewinnung  wegen  teilen,  so  daß  die 
Zersplitterung  immer  größer  wurde.  In  den  Tief- 
ländern des  Amazonenstroms  ist  der  Mensch 
durch  die  Widerwärtigkeit  der  umgebenden  Natur 
nie  über  das  Stadium  der  Wildheit  hinausgekom- 
men; selbst  die  Europäer  vermochten  dieses  Ge- 
biet, das  sie    nun    schon  jahrhundertelang  kennen 

—  wenn  auch  sehr  oberflächlich  —  nicht  für  die 
Kultur  zu  gewinnen.  An  den  Hängen  der  Anden 
machten  die  Indianer  dagegen  einen  wesentlich 
größeren  F'ortschritt,  sie  haben  hier  die  Oberstufe 
der  Barbarei  erreicht.  Das  kühle  Klima  der  Berges- 
höhen zwang  die  Menschen    zur  Anfertigung  von 


Kleidung  wie  zur  Anpflanzung  und  Aufspeicherung 
von  Feldfrüchten,  wodurch  die  geistige  Tätigkeit 
und  der  soziale  F'ortschritt  mächtig  angespornt 
wurden.  In  tropischen  Ländern  haben  die  Men- 
schen die  Neigung  nach  den  kühleren  hochge- 
legenen Landesteilen  zu  wandern.  Wenn  sie  sich 
dort  einmal  angepaßt  haben,  gehen  sie  freiwillig 
nicht  mehr  in  die  heiße  Tiefebene  zurück,  in  die 
nur  die  schwächeren  Stämme  zurückgedrängt 
werden  können.  Südamerika  bietet  dafür  eine 
Reihe  von  Beispielen.  Church  nimmt  auch  an, 
daß  die  Bevölkerung  der  Amazonentiefebene  nicht 
aus  der  Bergregion  herabkam,  sondern  anders- 
woher. Viel  ausführlicher  sind  die  Gesc'hicke  der 
südamerikanischen  Indianer  während  der  nach- 
kolumbischen  Zeit  und  besonders  in  moderner 
Zeit  beschrieben.  Church  hat  da  eine  Menge 
interessanten  Materials  angehäuft,  das  gewiß  für 
weitere  P'orschungen  recht  nützlich  sein  wird. 
Über  die  somatische  Anthropologie  der  südameri- 
kanischen Indianer  enthält  das  Buch  nichts. 

H.  Fehlinger. 

Kochalsky,  Dr.  phil.  Arthur,  Das  Leben  und 
die     Lehre     Epikurs,     Diogenes     Laertios 
Buch    X.      Übersetzt    und    mit    kritischen    Be- 
merkungen versehen,  Leipzig  und  Berlin,   1914. 
Druck  und  Verlag  von  B.  G.  Teubner.  —  Preis 
geheftet   1,80  Mk.,  geb.  in  Leinw.  2,40  Mk. 
Das  nach  Angabe  des  Verf.  hier  zum  ersten- 
mal deutsch  vorliegende  zehnte  Buch  des  Diogenes 
Laertios    enthält    einen  Lebensabriß   Epikurs    und 
die    von    ihm    selbst    herrührende,    in   Form    von 
Briefen    abgefaßte  Zusammenstellung    der  Grund- 
züge   seiner    philosophischen    Lehren.      Auf   die 
philologische    Seite    der    Arbeit    kann    hier    nicht 
eingegangen  werden,  und  auch  von  Epikurs  Philo- 
sophie,   deren    haupsächliche    und    nachwirkende 
Bedeutung  bekanntlich  auf  dem  Gebiete  der  Ethik 
und   nicht  auf  dem  der  Naturerkenntnis   liegt,    ist 
für   den    Naturwissenschaftler    nur    ein    Teil    von 
Interesse. 

Vor  allem  gehört  dahin  seine  Atomistik,  wenn- 
gleich nicht  Epikur  selber  der  Schöpfer  dieser 
Vorstellung  ist,  sondern  sie  von  Demokrit  über- 
nommen hat.  Dessenungeachtet  wird  man  seine 
gedankenreichen,  natürlich  nicht  im  modernen  Sinne 
streng  naturwissenschaftlich  gehaltenen,  sondern 
mit  allgemein  philosophischen  Einschlägen  durch- 
webten Ausfuhrungen  über  den  atomistischen 
Aufbau  der  Welt  mit  Vergnügen  lesen.  Hier 
findet  sich  so  mancher  frappante  und  in  die  Tiefe 
führende  Gedanke;  so,  um  ein  Beispiel  zu  geben, 
die  Art,  wie  aus  der  angenommenen  Unveränder- 
lichkeit  der  Atome  ihre  Oualitätslosigkeit  abge- 
leitet wird.  Epikur  argumentiert:  „Sodann  muß 
man  sich  zu  der  Überzeugung  bekennen,  daß  die 
Atome  keine  Eigenschaft  der  Erscheinungen  an- 
nehmen außer  Gestalt,  Schwere,  Größe  und  was 
naturnotwendig  mit  der  Gestalt  verknüpft  ist. 
(Also  keine  Farbe,  Geruch  und  dergl.)  Denn  jede 
Qualität  ändert  sich,  die  Atome  aber  ändern  sich 


N.  F.  XIII.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


783 


nicht  im  mindesten;  denn  bei  den  Auflösungen 
der  Verbindungen,  die  wir  Dinge  nennen,  muß 
etwas  Festes  und  Unauflösbares  bestehen  bleiben, 
das  die  Veränderungen  nicht  ins  Nichtseiende  er- 
folgen läßt,  und  ebensowenig  aus  Nichtseiendem, 
sondern  nur  infolge  von  Lageverschiebungen. 
Deshalb  sind  notwendig  die  Elemente,  deren  Lage 
sich  geändert  hat,  unvergänglich  und  das  Wesen 
des  sich  Ändernden  ist  ihnen  fremd;  ebenso  not- 
wendig ist  es  aber  auch,  daß  sie  als  kleine  Kör- 
perchen und  spezielle  Formationen  zugrunde  liegen 
bleiben." 

Übrigens  tut  man  gut  sich  gegenwärtig  zu 
halten,  was  ein  Blick  in  die  „Kritischen  Bemer- 
kungen" am  Schlüsse  lehrt,  daß  der  Text  an  sehr 
vielen  Stellen  verstümmelt  vorliegt  und  daß 
man  infolgedessen  an  diesen  nicht  Epikur  un- 
mittelbar, sondern  das  liest,  was  der  Übersetzer 
resp.  Herausgeber  für  die  wahrscheinlichste  Meinung 
des  Philosophen  hielt.  Daß  dabei  gelegentlich 
verschiedene  Autoren  zu  direkt  entgegengesetzten 
Auffassungen  kommen,  kann  man  etwa  der  aus- 
führlichen Anmerkung  53  entnehmen.  Dort  pole- 
misiert Kochalsky  gegen  Useners  Ansicht, 
Epikur  habe  an  der  und  der  Stelle  (§  62  der 
Übers.)  sagen  wollen,  daß  Atome  und  Atomen- 
komplexe gleich  schnell  sich  bewegen,  und  hält 
gerade  das  Gegenteil  für  Epikurs  wirkliche  Meinung. 
Wer  also  auf  Einzelheiten  eingeht,  wird  nicht  um- 
hin können,  mit  dieser,  dem  Naturforscher  unge- 
wohnten Erschwerung  zu  rechnen.  Auch  die  oben 
zitierte  Stelle  gibt  zu  einer  solchen  Überlegung 
Anlaß. 

Sehr  eigenartig  und  mit  der  Rolle  und  Be- 
deutung, die  Epikur  der  Naturwissenschaft 
überhaupt  zuweist,  eng  zusammenhängend, 
sind  seine  Ausführungen  über  spezielle  natür- 
liche Phänomene,  etwa  über  die  Himmelser- 
scheinungen, unter  die  er  sowohl  astronomische  als 
meteorologische  Vorkommnisse  zusammenfaßt. 
Die  Erscheinungen,  sagt  er  etwa,  sind  im  allge- 
meinen mehrdeutig,  sie  können  auf  eine  Weise  A 
zustande  kommen,  aber  auch  auf  eine  Weise  B, 
vielleicht  gar  eine  dritte  oder  vierte.  Wenn  man 
sich  nun,  ohne  den  Erscheinungen  Gewalt  anzu- 
tun,  sämtliche  in  Betracht  kommende  Möglich- 
keiten klar  gemacht  hat,  ist  es  gut,  und  weiter 
soll  man  nicht  gehen,  vor  allem  sich  nicht  einer 
dieser  Möglichkeiten  unbedingt  in  die  Arme  werfen 
und  sie  als  „wirkliche"  oder  „richtige"  Erklärung 
den  andern  gegenüberstellen.  Denn  es  genügt, 
sich  klar  gemacht  zu  haben,  daß  die  Dinge,  so 
oder  so,  jedenfalls  aber  natürlich  und  gesetzmäßig 
zusammenhängen,  um  der  abergläubischen  Furcht 
und  der  Beunruhigung  des  Gemüts  enthoben  zu 
sein.  Mehr  ist  nicht  nötig  und  durch  eine  ein- 
seitige Entscheidung  kommt  man  höchstens  dazu, 
den  Erscheinungen  Gewalt  anzutun.  —  Man  sieht, 
daß  diese  eigenartige  geistige  Freiheit,  obschon 
nicht  in  ihrer  Begründung,  aber  wohl  in  ihren  Er- 
gebnissen, eine  nicht  allzu  ferne  Verwandtschaft 
mit  recht  modernen  Vorstellungen  aufweist.    Wenn 


wir  jetzt  von  allen  Seiten  betonen  hören,  nicht 
auf  die  Richtigkeit  einer  Hypotiiese,  sondern  auf 
ihre  Brauchbarkeit  komme  es  an,  erscheint  der 
geistige  Abstand  zwischen  uns  und  Epikurs  obigen 
Ausführungen  gar  nicht  so  groß  und  jedenlalls 
überbrückbar.  Wasielewski. 

Kryptogamenflora    für  Anfänger.     Band  IV,    i. 
Die  Algen.       i.  Abteil,    von    Prof.    Dr.    Gustav 
Lindau.      Mit   489  Fig.    im  Text.     Berlin   19 14, 
J.  Springer.  —  Preis  geb.  7,80  Mk. 
Bei    der   großen    Weitschichtigkeit    und  Unzu- 
gänglichkeit der  Algenliteratur  ist  es  verdienstlich, 
wenn    dem    Anfänger   und  Liebhaber    hier  in  der 
bekannten  Sammlung  „Kryptogamenflora  für  An- 
fänger" ein  Buch  an  die  Hand  gegeben  wird,  das 
ihm  zu  einem  gewissen  Teil  das  schwerere  Rüst- 
zeug ersetzen  kann  und  ihm  die  Möglichkeit  gibt, 
die  Objekte  seiner  Sammeltätigkeit  zu  bestimmen. 
Wie  der  Verf.  in  der  Vorrede  selbst  auseinander- 
setzt, ist  es  bei  dem  Stande  der  Algologie  gegen- 
wärtig kaum  möghch,  mehr   als  eine  zuverlässige 
Kompilation  zu  geben. 

In  dem  vorliegenden  Bande  ist  nur  ein  Teil 
der  Algen  behandelt,  und  zwar  die  Cyanophyceen, 
Flagellaten,  Dinuflagellaten  und  Bacillariales.  Die 
übrigen  Abteilungen  sollen  dem  zweiten  Teile 
vorbehalten  bleiben.  In  einem  allgemeinen  Ab- 
schnitt werden  kurz  und  knapp  nach  einer  Charak- 
teristik der  Algen  ihre  Fundstätten,  das  Sammeln, 
Untersuchen  und  Präparieren  behandelt,  worauf 
eine  Schilderung  der  allerwichtigsten  morphologi- 
schen und  physiologischen  Eigenschaften  der 
Algengruppen  folgt.  Den  Hauptteil  des  Bandes 
bilden  dann  die  Bestimmungstabellen.  Auf  16  in 
den  Text  verteilten  Seiten  sind  489  einfache,  aber 
recht  instruktive  Federzeichnungen  beigegeben,  die 
die  Hauptformen  veranschaulichen.  Das  Buch 
kann  mit  Vorteil  verwandt  werden.  Miehe. 


Anregungen  und  Antworten. 


Herrn  O.  B.  in  Lokstedt  bei  Hamburg. 


Gibt  es  eine 


Möglichkeit,  das  Wachstum  der  Zelle  unmittelbar  unter  dem 
Mikroskop  zu  beobachten?  „Die  Zelle"  gibt  es  natürlich 
nicht,  sondern  es  kann  sich  immer  nur  um  bestimmte  Zellen 
handeln.  Am  einfachsten  wäre  es,  niedere ,  nur  aus  einer 
einzigen  Zelle  bestehende  Organismen  unter  dem  Mikroskop 
längere  Zeit  zu  betrachten  und  ihre  Teilung  zu  verfolgen, 
was  man  z.  B.  bei  einer  Spirogyra  ganz  gut  kann.  Noch 
besser  und  lehrreicher  würde  das  Siudium  des  Wachstums  von 
Pilzzellen  sein,  wenn  auch  vielleicht  für  den  Anfänger  oder 
Laien,  der  nur  einen  etwas  schematischen  Begriff  von  ,,der  Zelle" 
besitzt,  die  Pilzzellen  nicht  so  geeignet  sind,  den  Begriff  der 
Zelle  zu  beleben,  wie  manche  anderen  Zellen,  die  nun  allerdings 
nicht  in  ähnlicher  Weise  gut  zu  beobachten  sind  als  gerade  jene. 
Da  eine  derartige  Beobachtung  sehr  lehrreich  und  unterhaltend 
zugleich  ist,  zudem  dem  mikroskopierenden  Laien  meist  nicht 
so  nah  gebracht  wird  als  viele  andere  Objekte,  die  ihm  die 
große  Zahl  der  Anleitungen  empfiehlt,  will  ich  Ihnen  ganz 
kurz  schildern,  wie  Sie  es  anstellen,  das  Wachstum  von  Pilz- 
zellen zu  studieren.  Sie  müssen  sich  zunächst  ein  Material 
für  Ihre  Sporenaussaaten  beschaffen,  d.  h.  irgendeinen  Schim- 
melpilz einfangen.  Sie  tränken  zu  dem  Zweck  eine  Scheibe 
Brot  mit  einer  5  proz.  Zuckerlösung,  legen  es  auf  einen  Teller 
und  nachdem  Sie  es  eine  Weile  offen  haben  liegen  lassen, 
oder    aber   gleich  mit  etwas  Staub  infiziert   haben,    bedecken 


784 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  49 


Sie  es  mit  einer  Käseglocke ,  die  Sie  auf  der  Innenseite  mit 
fest  anliegendem  angefeuchtetem  Fließpapier  bekleiden.  Nach 
einiger  Zeit  —  um  so  rascher  je  wärmer  es  ist  —  werden 
Sie  auf  diesem  Brote  die  charakteristischen  Flecke  der  Schim- 
melpilzkolonien auftauchen  sehen  in  Gestalt  grün ,  gelb  oder 
schwarz  gefärbter  staubiger  Massen.  Nunmehr  stellen  Sie 
sich  ein  flüssiges  Nährsubstrat  her,  in  welchem  die  Sporen 
auskeimen  können.  Sie  benutzen  dazu  am  einfachsten  eine 
Abkochung  von  trockenen  Zwetschen,  die  Sie  filtrieren  und 
abermals  aufkochen.  Da  eine  so  hergestellte  Lösung  natür- 
lich auf  die  Dauer  nicht  steril  zu  halten  ist,  empfiehlt  es  sich, 
entweder  jedesmal  bei  Bedarf  einen  neuen  Absud  Iierzustellen 
oder  aber  den  Vorrat  öfter  wieder  aufzukochen.  Jetzt  handelt 
es  sich  darum,  eine  Vorrichtung  zusammenzustellen,  die  es 
Ihnen  erlaubt,  lebende  Objekte  längere  Zeit  unter  dem  Mikro- 
skop zu  beobachten.  Dazu  dient  die  Methode  des  sog.  ,, Hängen- 
den Tropfens".  Sie  schneiden  aus  einer  recht  dicken  Pappe 
ein  Stück  heraus,  das  etwa  die  Breite  Ihres  Objektträgers  hat 
und  dessen  Länge  zweckmäßig  diese  Breite  übertrifft.  Sie 
stanzen  dann  in  der  Mitte  ein  kreisrundes  Loch  heraus,  dessen 
Durchmesser  etwas  kleiner  sein  muß  als  die  Seite  Ihres  Deck- 
gläschens. Nun  haben  Sie  alles  beisammen.  Sie  fassen  jetzt 
mit  einer  Pinzette  ein  Deckgläschen ,  ziehen  es  einige  Male 
durch  eine  Spiritusflamme,  um  es  zu  sterilisieren,  bringen  als- 
dann mit  der  Öse  eines  in  einen  Glasstab  eingeschmolzenen 
Platindrahtes  ,  wie  ihn  z.  B.  der  Chemiker  benutzt  und  der 
ebenfalls  vorher  in  der  Flamme  ausgeglüht  sein  muß,  um  ihn 
zu  sterilisieren,  einen  Tropfen  Ihres  Pflaumendekoktes  auf  das 
Deckgläschen.  Er  soll  sich  flach  ausbreiten,  aber  keinen 
größeren  Durchmesser  haben  als  4  mm.  Sie  nehmen  nun 
einen  Ihrer  Papprahmen,  die  Sie  vorher  in  einem  Gefäß  mit 
Wasser  abgekocht  haben,  und  legen  ihn,  feucht  wie  er  ist,  auf 
den  Objektträger.  Sie  berühren  dann  mit  dem  ausgeglühten 
(aber  wieder  erkalteten)  Platindraht  einen  der  staubigen  Flecke 
auf  dem  Brote  und  lieben  so  eine  Menge  der  Sporen  ab,  die 
aber  nur  klein  sein  soll,  und  berühren  nun  den  Tropfen.  Die 
Sporen  verteilen  sich  in  ihm,  aber  es  sollen  nicht  zu  viele 
sein,  da  dadurch  später  die  Übersiclitlichkeit  leiden  würde. 
Ohne  Zeitverlust  (wie  Sie  überhaupt  vermeiden  müssen,  den 
Tropfen  eintrocknen  zu  lassen),  kippen  Sie  nun  das  wieder 
mit  der  Pinzette  erfaßte  Deckgläschen  mit  einer  geschickten 
Wendung  so  auf  den  Papprahmen,  daß  der  Tropfen  frei  in 
den  durch  das  Loch  gescliaffenen  Raum  hineinragt.  Nachdem 
Sie  die  Ränder  des  Deckgläschens  fest  auf  den  Papprahmen 
gedrückt  haben,  damit  ein  vollkommener  Abschluß  erzielt 
wird ,  legen  Sie  das  Präparat  zunächst  zweckmäßigerweise 
unter  die  feuchte  Glocke  auf  eine  Unterlage  und  geben  auf 
den  Teller  etwas  Wasser,  damit  die  Luft  genügend  feucht 
bleibt.  Sie  sehen  nun  von  Zeit  zu  Zeit  unter  dem  Mikroskop 
nach,  ob  die  Sporen  beginnen  auszukeimen.  Wenn  die  ersten 
hellen  Keimschläuche  aus  ihnen  heraustreten,  lassen  Sie  das 
Präparat  unter  der  stärkeren  Vergrößerung  des  Mikroskopes 
liegen  und  verfolgen  dauernd  das  Wachstum  und  die  Ver- 
zweigung. Sie  müssen  aber  jetzt  dafür  sorgen,  daß  der  Rah- 
men dauernd  mit  Wasser  gesättigt  bleibt,  was  Sie  leicht  da- 
durch bewirken ,  daß  Sie  den  Rahmen  anfeuchten.  Arbeiten 
Sie  umsichtig,  so  brauchen  Sie  selbst  bei  lange  dauernder 
Beobachtung  nicht  zu  befürchten,  daß  Ihnen  der  Tropfen 
eintrocknet.  Sie  können  so  stundenlang  das  Wachstum,  die 
Verzweigung  verfolgen,  auch  die  Geschwindigkeit  messen,  in- 
dem Sie  mit  Hilfe  eines  Okularmikrometers  den  Zuwachs  in 
bestimmter  Zeit  feststellen,  den  Wert  aber  durch  den  Ver- 
größerungswert Ihrer  Linse  dividieren   müssen. 

In  ganz  derselben  Weise  können  Sie  auch  z.  B.  die 
Keimung  von  Pollenkörnern  und  das  Wachstum  der  Pollen- 
scbläuche  verfolgen.  Sie  bringen  Pollenkörner  verschiedener 
Pflanzen  (z.  B.  von  Kürbis,  Monokotylen,  Irapatiensarten  usw.) 
in  eine   5  — 10  proz.  Zuckerlösung  und  beobachten  sofort.     Bei 


manchen  Pflanzen  beginnt  bereits  nach  15  Minuten  die  Keimung, 
und  das  Wachstum  schreitet  so  rasch  fort,  daß  man  das 
Weiterschieben  direkt  sehen  kann. 

Sehr  viel  schwieriger  ist  es,  das  Wachstum  von  Zellen 
zu  studieren,  die  man  aus  dem  Gewebeverbande  durch  Schnitte 
usw.  herausgelöst  hat.  Denn  wie  das  schon  aus  dem  obigen 
hervorgeht,  ist  das  Problem  der  fortlaufenden  Beobachtung 
einzelner  Zellen  oder  wenigzelliger  Gewebestücke  gleichzeitig 
das  ihrer  Kultur  außerhalb  des  Gewebeverbandes.  Dies  Pro- 
blem ist  aber  weder  bei  Tieren  noch  bei  Pflanzen  bisher  ge- 
löst worden,  wenn  es  auch  namentlich  bei  tierischen  Geweben 
geglückt  ist,  sie  eine  Weile  zu  kultivieren.  Für  den  Laien 
kommt  natürlich  dies  nicht  in  Betracht.  Wollen  Sie  aber 
z.  B.  Zell-  und  Kernteilung  direkt  verfolgen,  so  präparieren 
Sie  aus  ungeöffneten  Blüten  von  Tradescantia  virginica  die 
Staubgefäße  heraus  und  bringen  eins  in  einen  hängenden 
Troplen  Wassers  oder  einer  etwa  2  proz.  Zuckerlösung.  Wenn 
Sie  jetzt  die  bekannten  Haare  an  der  Basis  der  Staubfäden 
bei  stärkerer  Vergrößerung  einstellen,  so  können  Sie  sowohl 
in  den  verschiedenen  Zellen  der  Haare  die  einzelnen  Phasen 
der  Teilung  aufsuchen,  als  auch  in  einer  in  vorbereitender 
Teilungstätigkeit  begriffenen  Zelle  den  gesamten  Verlauf  der 
Teilung  verfolgen.  Sie  wählen  am  besten  die  Spitzenzellen, 
da  sie  sich  erfahrungsgemäß  am  häufigsten  im  Zustande  der 
Teilung  befinden.  Auch  die  Alge  Spirogyra  eignet  sich  gut 
zum  Studium  der  Zell-  und  Kernteilung,  doch  haben  viele 
Arten  die  lästige  Eigenschaft,  sich  bei  nachtschlafender  Zeit 
zu  teilen.  Als  Hilfsmittel  für  botanisch-mikroskopisches  Ar- 
beilen sei  z.  B.  ,,Das  kleine  Botanische  Praktikum  für  An- 
fänger" von  Strasburger  (in  der  7.  Auflage  von  M.  Koernicke 
bearbeitet,  Jena  1913)  genannt,  wo  Sie  z.  B.  auf  S.  219  die 
Teilungsstadien  der  Staubfadenhaarzellen  abgebildet  finden. 

Miehe. 


Literatur. 

Verworn,  Ma.x,  Ideoplastische  Kunst.  Ein  Vortrag. 
Mit  71   Abb.   im  Text.     Jena  '14,  G.  Fischer.      1,50  Mk. 

Sinram,  A.,  Die  Welt  der  höheren  Erkenntnis  und  der 
Überzeugung.  (Weltanschauung  der  notwendigen  Selbstent- 
stehung.) Hamburg  '14,  Kommissionsverlag  von  Conrad 
Behre. 

Bumüller,  Dr.  Johannes,  Die  Urzeit  des  Menschen. 
3.  vcrm.  Aufl.     Mit   142  Abb.     Köln '14,  I.  P.  Bachern.     5  Mk. 

Sammlung  Göschen.  Kleb  ahn,  Prof.  Dr.  H. ,  Die 
Algen,  Moose  und  Farnpflanzen.  Mit  35  Figurentafeln. 
Hansen,  Prof.  Dr.  Adolf,  Die  Pflanze.  Mit  33  Abbildgn. 
Migula,  Prof.  Dr.  W.,  Pflanzenbiologie.  II.  Blüienbiologie. 
Mit  28  Fig.     Jedes  Bändchen  geb.  90  Pf. 

Halb  faß,  Prof.  Dr.  W.,  Das  Süßwasser  der  Erde.  Mit 
einem  Porträt,  14  Tafeln  und  13  Abb.  im  Text.  24.  Band 
der  , .Bücher  der  Naturwissenschaften".  Leipzig.  Philipp 
Reclam  jun.     Geb.   I   Mk. 

Sammlung  Vieweg.  Tagesfragen  aus  den  Gebieten  der 
Naturwissenschaften  und  der  Technik.  Heft  9/10:  Prof.  Dr. 
O.  Lumraer.  Verflüssigung  der  Kohle  und  Herstellung  der 
Sonnentemperatur.  Mit  50  Abb.  5  Mk.  Prof.  Dr.  Albert 
Oppel,  Gewebekulturen  und  Gewebepflege  im  Explantat. 
Mit  32  Textabb.  3  Mk.  Prof.  Dr.  W  ilhelm  Foerster , 
Kalenderwesen  und  Kalenderreform.  1,60  Mk.  Braunschweig 
'14.     Fr.  Vieweg  und  Sohn. 

Ude,  Prof.  D.  Joh. ,  Kann  der  Mensch  vom  Tier  ab- 
stammen?    Graz  und   Wien  '14.     „Styria". 

Planck,  Max,  Dynamische  und  statische  Gesetzmäßigkeit. 
Rede,  gehalten  bei  der  Feier  zum  Gedächtnis  des  Stifters  der 
Berliner  Friedrich  Wilhelmsuniversität  am  3.  August  1914. 
Leipzig   '14.     J.  A.  Barth.      I.   Mk. 


Inhalt;  Valcntiner:  Vom  Prinzip  der  Relativität.  Franke:  Die  Bedeutung  der  diluvialen  Menschcnskelette  für  die 
Sprachwissenschaft.  —  Einzelberichte:  Ab  ich:  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Eiszeit  im  Kaukasus.  Willstätter  und 
Page:  Pigmente  der  Braunalgen.  Surbeck:  Zahl  der  Eier  einiger  Süßwasserfische.  —  Bücherbesprechungen: 
Church:  .•\borigines  of  South  .America.  Kochalsky:  Das  Leben  und  die  Lehre  Epikurs.  Kryptogamenflora  für 
Anfänger.  —  Anregungen  und  Antworten.  —  Literatur:   Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Schriftleiter  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstrafle    1 1  a,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.   G.  m.  b.  H  ,   Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.  band; 
der  ganzen  Reihe   29.  Band. 


Sonntag,  den  13.  Dezember  1914. 


Nummer  50. 


Das  Leuchten  und  der  Farbensinn  der  Fische. 


[Nachdruck  verboten.]  Von  Privatdozent  Dr 

In  den  letzten  Jahren  ist  ein  Kapitel  der 
Sinnespliysiologie  der  Tiere,  nämlich  der  Farben- 
sinn bei  Wirbellosen  und  Fischen  besonders  in 
den  Vordergrund  gedrängt  worden.  Das  Thema 
ist  von  größter  Bedeutung  —  man  denke  nur 
z.  B.  an  das  noch  immer  nicht  aufgeklärte  Ver- 
hältnis der  Insektenwelt  zu  den  Farben  —  und 
kein  Wunder  daher,  wenn  ihm  vonseiten  der 
Biologen  das  regste  Interesse  entgegengebracht 
wird.  Daß  dem  so  ist,  beweisen  die  zahlreichen 
Publikationen  der  letzten  vier  Jahre,  die  jene 
Frage  zum  Gegenstande  haben,  es  bezeugten  dies 
die  im  September  1913  zu  Wien  versammelten 
deutschen  Naturforscher  und  Arzte,  indem  sie 
sich  zum  Vortrage  des  Münchener  Physiologen 
v.  Heß  ,,Uber  Entwicklung  von  Lichtsinn  und 
Farbensinn  in  der  Tierreihe"  in  überaus  stattlicher 
Zahl  einfanden ;  ein  anderer,  diesem  verwandter 
Vortrag  „Zur  Frage  nach  dem  F"arbensinn  der 
Tiere",  gehalten  vom  Dozenten  v.  Frisch,  zog 
ebenfalls  ein  zahlreiches  Auditorium  an. 

v.  Heß  und  v.  Frisch  stechen  aus  der  Reihe 
derer,  die  der  obigen  PVage  näher  getreten  sind, 
am  meisten  hervor,  ihre  Ansichten  stehen  bekannt- 
lich schroff  einander  gegenüber.  Der  erstere  Autor 
bestreitet  einen  Farbensinn  bei  Wirbellosen  und  bei 
Fischen,  der  letztere  tritt  für  einen  solchen  ein. 
Nachdem  nunmehr  zahlreiche  andere  F'orscher  mit 
eigenen  Beobachtungen  auf  diesem  Gebiete  vor  die 
Öffentlichkeit  getreten  sind,  sollte  man  meinen, 
daß  eine  Musterung  der  Befunde  zugunsten  der 
einen  oder  anderen  der  beiden  obigen  Ansichten 
entscheiden  müßte. 

Eine  Zusammenstellung  der  einschlägigen  Lite- 
ratur verdanken  wir  Kafka  (1914)  in  einem  der 
letzten  Hefte  dieser  Zeitschrift.  Von  allen  den- 
jenigen Angaben,  die  gegen  von  Heß  sprechen 
sollen,  hat  besonders  eine  meine  Aufmerksamkeit 
erregt  und  sie  verdient  wohl  auf  ihre  Stichhaltig- 
keit hier  näher  geprüft  zu  werden.  Kafka 
schreibt  nämlich  S.  472 :  „Für  das  Vorhandensein 
eines  Farbensinnes  sprechen  auch  die  bei  ge- 
wissen Teleostiern  in  regelmäßiger  Zahl  und  An- 
ordnung über  den  Rumpf  verteilten  Leuchtorgane, 
die  nach  Brauer  (4)  verschiedenfarbiges  Licht 
laterad  und  ventrad  oder  kaudad  und  dorsad  ent- 
senden und  daher  nicht,  wie  die  am  Kopf,  an  den 
Tentakeln  oder  an  der  Rückenflosse  angebrachten 
Leuchtorgane  als  Scheinwerfer  zur  Erhellung  des 
Gesichtsfeldes  funktionieren  können,  sondern  ver- 
mutlich zum  Anlocken  der  Artgenossen  dienen 
und  das  Aufsuchen  der  Geschlechter  vermitteln." 
Ich  beschäftige  mich  seit  einer  Reihe  von  Jahren 
mit  Untersuchungen  leuchtender  Tiere  und  hätte 


,  E.  Trojan  (Prag). 

stets  gerne  aus  diesem  Spezialgebiete  etwas  zur 
Klärung  der  PVage  des  Farbensinnes  bei  Fischen 
beigetragen;  ich  sah  aber  ein,  daß  dies  nicht  recht 
tunlich  sei.  Wenn  man  schon  Brauer  gegen 
v.  Heß  zitieren  will,  so  muß  man  eine  gründ- 
lichere Betrachtung  anstellen.  Brauer  (1904) 
hat  zum  erstenmal  in  seiner  vorläufigen  Mit- 
teilimg  zum  großen  Valdivia-Werke  der  Ver- 
mutung Ausdruck  gegeben,  daß  die  Leuchtorgane 
mancher  Tiefseefische  verschiedenfarbiges  Licht 
ausstrahlen  dürften.  In  der  ausführlichen  Be- 
arbeitung des  Tiefseefischmaterials  der  Valdivia 
lesen  wir  bei  ihm  (1908,  S.  151)  folgendes 
hierüber:  ,,In  der  vorläufigen  Mitteilung  (1904) 
hatte  ich  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  auch 
die  Qualität  des  Lichtes  verschieden  sei  und  zwar 
daß  es  verschiedenfarbig  sei,  daß  also  im  Dunkel 
derselbe  Effekt  durch  Drüsen  erzielt  werde  wie 
im  Sonnenlicht  durch  die  verschiedenfarbigen 
Pigmente.  Ich  hatte  diese  Ansicht  gestützt  auf 
den  verschiedenen  Bau  der  Organe  bei  ein  und 
demselben  Tier  und  auf  die  häufiger  beobachtete 
verschiedene  Färbung  des  Reflektors.  Er  erglänzt 
selbst  bei  Spiritusexemplaren  silbern,  grün,  rot, 
violett.  Auch  von  Cephalopoden  beschreibt 
C  h  u  n  ähnliche  verschiedenfarbig  erglänzende 
Reflektoren.  Indessen  ist  mir  bei  weiterer  Über- 
legung und  besonders  bei  weiterem  Studium  der 
Augen  der  Tiefseefische  ein  Bedenken  gekommen. 
Eine  solche  verschiedene  Färbung  des  Lichtes 
oder  solche  buntfarbige  Zeichnungen  würden  ein 
sehr  feines  Unterscheidungsvermögen  der  Fische 
für  Farben  voraussetzen.  Nach  unseren  jetzigen 
Anschauungen  kommen  als  farbenempfindliche 
Elemente  nur  die  Zapfen  in  Betracht.  Diese 
fehlen  nun  aber  den  im  Dunkeln  lebenden  Leucht- 
fischen ganz.  Dieser  Einwand  scheint  mir  ge- 
nügend, um  die  ausgesprochene  Vermutung  hin- 
fällig oder  wenigstens  sehr  wenig  wahrscheinlich 
zu  machen.  Freilich  für  unmöglich  halte  ich  ein 
verschieden  farbiges  Licht  der  Leuchtorgane  auch 
jetzt  noch  nicht.  Denn  es  ist  noch  sehr  die 
Frage,  ob  für  das  Fischauge  alle  die  physiolo- 
gischen Anschauungen  Gültigkeit  haben,  welche 
wir  uns  für  das  Auge  [auf  Grund  des  Studiums 
des  menschlichen  Auges  und  der  Augen  anderer 
Landwirbeltiere  gebildet  haben.  Wie  man  im 
zweiten  Abschnitt  sehen  wird,  zeigt  das  Auge  der 
Dunkelfische  viele  sonderbare  neue  Verhältnisse, 
die  vorläufig  uns  rätselhaft  erscheinen  müssen, 
denen  aber  schwerlich  jemand  eine  große  Be- 
deutung wird  absprechen  können,  und  so  wäre 
es  auch  nicht  unmöglich,  daß  auch  die  für  die 
Stäbchen    und    Zapfen    gebildeten    Anschauungen 


786 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  50 


auf  das  Auge  der  Leuchtfische  nicht  ohne  weiteres 
übertragbar  sind."  Ich  glaube,  aus  diesem  Zitat 
gewinnt  man  kaum  den  Eindruck,  wie  aus  der 
oben  erwähnten  Stelle  in  Kafka's  Sammel- 
referat, als  hätte  Brauer  mit  apodiktischer  Ge- 
wißheit verschiedenfarbiges  Licht  den  Tiefsee- 
fischen zuerkannt.  Brauer  selbst  hatte  die 
Fahrt  der  Valdivia  nicht  mitgemacht  und  war 
bei  seinen  Arbeiten  an  wertvolle,  von  Chun  an 
Bord  gemachte  Notizen  angewiesen.  Von  allen 
diesen  kann  aber  nur  eine  einzige  für  unseren 
Zweck  in  Betracht  kommen,  da  sie  sich  auf  das 
Licht  eines  lebenden  Tiefseefisches  bezieht.  Sie 
lautet  nach  Brauer  (1908,  S.  130)  zitiert;  ,,Da 
der  Usch  in  kaltem  Wasser  vergnügt  weiter  lebte, 
wurde  rasch  eine  Skizze  des  Kopfes  gemacht  und 
dann  tötete  ich  ihn  in  der  Dunkelkammer  in  An- 
wesenheit von  Dr.  Schmidt  mit  Formol.  Das 
dreieckige  Organ  leuchtete  zuerst  grünlich-blau, 
dann  in  sanftem  blauen  Licht,  welches  dem  Blau 
im  Sonnenspektrum  bei  Linie  F  entspricht.  Hier- 
mit ist,  ich  glaube  das  erste  Mal,  positiv  der  Nach- 
weis erbracht,  daß  es  sich  um  Leuchtorgane 
handelt  1  Ausdrücklich  sei  bemerkt,  daß  beide 
Organe  leuchteten."  Die  anderen  Angaben 
Chun 's,  die  sich  auf  F'arben  von  Leuchtorganen 
beziehen,  gelten  nicht  mehr  lebenden  Leucht- 
fischen ,  sondern  dem  Glanz  der  Leuchtorgane, 
hervorgerufen  durch  die  Beschaffenheit  ihres  Re- 
flektors ;  so  glänzte  eines  rot  wie  Rubin,  andere 
besaßen  Perlmutterglanz,  noch  andere  schimmerten 
grün,  blau  oder  violett.  Von  anderen  Personen, 
die  bisher  Fische  mit  funktionierenden  Leucht- 
organen gesehen  haben ,  lege  ich  folgende  von 
Brauer  sorgfältigst  zusammengetragenen  Daten 
vor.  Günther  (1887,  S.  32)  beobachtete  ein 
grünes  oder  blaßrotes  Licht,  Thomson  &  Murray 
(1885,  P.  II,  S.  521)  berichten  von  einem  rosa, 
rötlichen  und  violetten;  Benett  (zit.  n.  Johann, 
1899,  S.  152)  spricht  von  einem  grünlich  phos- 
phoreszierenden. Beer  (Johann  1899,  S.  159) 
von  einem  grünlichen  Schein;  Chun  machte 
Brauer  auch  eine  mündliche  Mitteilung  über 
grünliches  Licht.  Die  Angaben  Ma  ngol  d's  (1907) 
lauten  auf  Nuancen  von  weiß,  gelb,  grüngelb,  grün- 
lich, blau  mit  überwiegendem  gelb  und  grüngelb; 
Van  hoffen  (1902,  S.  70)  war  Zeuge  von  einem 
grünlichen,  Grass  i  (zit.  n.  Chiarini  1900,  S.  19) 
von  einem  bläulichen,  Chun  nach  einer  anderen 
Mitteilung  an  Brauer  von  einem  perlmutter- 
glänzend bläulichen,  grünlichblauen  oder  blauen, 
Green  (1899)  von  weißem.  Steche  (1907)  von 
grünlichweißem  Leuchten.  In  der  Tat  erscheint 
die  Farbenskala,  wenn  man  diese  Reihe  von  An- 
gaben überblickt,  ziemlich  komplett;  aus  dem  Um- 
stände aber,  daß  bläulich  und  grünlich  weitaus 
überwiegen,  ersieht  man  schon,  daß  die  Natur 
mit  Farben  in  den  Tiefen  offenbar  nicht  allzu 
freigebig  ist.  In  den  Hunderten  von  Fällen,  da 
ich  Licht  von  lebenden  Seetieren  ausstrahlen  sah, 
war  es  bis  auf  rot  in  allen  oben  bezeichneten 
Farben  vorhanden;    doch  wie  dürfen  diese  einge- 


schätzt werden  ?     Was   mir  gelb,    grün,    blau  und 
violett    erschien,    war    niemals    der    reine    ausge- 
sprochene Farbton,   sondern    konnte    nur   als    ein 
Stich    ins  Gelbe,    Grüne,   Blaue    und  Violette    be- 
zeichnet   werden.     Und    so   kam    ich,    wie   gewiß 
manch    anderer    bei  gleichen  Untersuchungen,    in 
Verlegenheit,    das    wahrgenommene    Licht   seiner 
Farbe    nach    richtig   zu   spezifizieren.     Damit  will 
ich    aber  durchaus  nicht  den  Eindruck  erwecken, 
als    ob   ich  verschiedenfarbiges  Licht  bei  Tiefsee- 
fischen    für    ausgeschlossen     hielte.      Wiederholt 
habe  ich  in  Wort  und  Schrift  hervorgehoben,  daß 
ich    mich    Brauer's    trefflicher    Auffassung    ge- 
wisser Leuchtorgane   als  Ersatz  von  Farbenzeich- 
nungen bei  Tiefseefischen  ganz  anschließe,  ja  ich 
glaube    noch  weiter  gegangen  zu  sein,    als  ich  in 
einer  Monatsversammlung  (Mai,   1913)  des  „Lotos" 
in  Prag   jene  Einrichtung   das  Hochzeitskleid  der 
Fische    nannte    und    diese    Ansicht    plausibel    zu 
machen  versuchte.     Ich    stützte    mich    auf  eigene 
Beobachtungen     und    Literaturangaben.      Spinax 
niger,    dessen    Leuchten    Beer    (Johann,    1899, 
S.   159)    mehreren    Herren    an    der    Zoologischen 
Station    in  Neapel    demonstriert    hat,    wurde    mir, 
als  ich  an  derselben  Stätte  im  März  und  April  igo6 
weilte,  nach  mühseligem  Suchen  durch  den  unver- 
geßlichen Lo  Bianco  in  3  schönen  lebensfrischen 
Exemplaren,    2    alten    und     i    jungen,    verschafft. 
Ich    habe   die  Tiere  4  Tage   und  auch  bei  Nacht 
im  Aquarium  beobachtet,  alle  bekannten  Methoden, 
die    für    das    Hervorrufen    der    Luminiszenz    bei 
Tieren  erprobt  waren,  angewendet,  ohne  das  ge- 
ringste Leuchten  wahrzunehmen.     Green  (1899) 
hat  Porichthys  notatus,  einen  Fisch,  der  mehr  als 
300  Leuchtorgane  besitzt,  lange  Zeit  im  Aquarium 
gehalten,  konnte  jedoch  niemals  ein  Leuchten  be- 
merken.   Wie  soll  man  sich's  erklären,  wenn  auch 
andere  Fische  wie  Dactylostomias  und  Maurolicus, 
trotzdem    mit    zahlreichen    Leuchtorganen    ausge- 
stattet   und    lebensfrisch    stunden-,    auch  tagelang 
in  Aquarien  gehalten,   kein  Licht  von  sich  geben 
außer  bei  Anwendung  stärkster  Reize?    Ich  glaube, 
daß  uns  die  Angaben  Green 's  am  ehesten  einen 
Wegweiser    geben.     Wenn   Porichihys-Exemplare, 
die  aus  größeren  Tiefen  gefangen  worden  waren, 
zum  Leuchten    überhaupt    nicht  gebracht  werden 
konnten,    wohl  aber  solche  zur  Zeit  als  sie  unter 
Felsen  die  junge  Brut  bewachten,  kann  man  wohl 
annehmen,    daß    es   die  Paarungszeit  ist,    die  den 
Leuchtorganen    der  Tiefseefische  Leuchtkraft  ver- 
leiht.    Will    es  der  Zufall,    daß  ein  solcher  Fisch 
gerade  um  diese  Zeit  in  die  Hände  eines  Forschers 
gelangt,    genießt    dieser    bequem    den    herrlichen 
Anblick,    derweil    ein    anderer   zu  anderen  Zeiten 
bei  derselben  Spezies  sich  um  das  Leuchtphänomen 
entweder  umsonst  bemüht  oder  mit  einem  kümmer- 
lichen Lichtschimmer    des    unter  schärfsten  Reiz- 
mitteln   verendenden    Tieres    entlohnt    wird.     Er- 
klärlich   wäre    die    Erscheinung,    wenn    wir    be- 
denken, daß  im  Tierreiche  allgemein  zur  Zeit  des 
entfesselten    Geschlechtstriebes    der    Stoffwechsel 
gesteigert  ist.     Ein  solcher  kommt  dann  nament- 


N.  F.  Xni.  Nr.  so 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


787 


lieh  in  der  Körperbedeckung,  so  durch  Aus- 
bildung bunter  Farben  zum  Ausdrucke.  Analog 
könnte,  so  denke  ich  mir,  eine  gesteigerte  Lebens- 
enern-ie  bei  manchen  Tiefseefischen,  ein  Licht  in 
der  Haut  der  Tiere  entfachen,  das  Artgenossen 
herbeilockt.  Gewiß  ist  aber  auch  dann  jene  Ver- 
mutung, die  den  prächtigen  Schimmer  des  Hoch- 
zeitskleides in  Farben  ausmalt,  erlaubt.  Indessen 
liegt  zurzeit  noch  sehr  wenig  Tatsachenmaterial 
vor,  als  daß  man  derlei  Betrachtungen  mehr  als 
Hypothesencharakter  zusprechen  könnte.  Und 
gerade  darauf  hinzuweisen,  daß  Brauer,  der 
bisher  gewiß  das  Meiste  und  Gediegendste  über 
leuchtende  Tiefseefische  zu  sagen  wußte,  hinsich- 
lich  verschiedenfarbigen  Lichtes  der  Leuchtorgane 
nur  eine  Vermutung  ausgesprochen  hat,  schien 
mir  derzeit  wichtig,  da  es  in  einem  Streite,  wie 
er  von  Heß  und  Frisch  geführt  wird,  nicht 
gleichgültig  ist,  ob  die  gegenteiligen  Ansichten 
mit  Vermutungen  oder  positiven  Tatsachen  be- 
kämpft oder  gestützt  werden. 


Literaturverzeichnis. 
1904.     Brauer,    A.,    Über    die    Leuchtorganc    der  Knochen- 
fische.    Verh.   D.  Zool.   Ges.,   Leipzig. 

190S. ,  Die  Tiefseefische.     11.  Anatomischer  Teil.  Wiss. 

Erg.  D.  Tiefsee-Exp.  „Valdivia",  Bd.  XV,  2.  Lief. 

189g.  Green,  Ch.  W. ,  The  phosphorescent  organs  in  the 
toadfish,  Porichthys  notatus  Girard.  Journ.  of  Morphol., 
V.   15. 

1SS6.     Günther,  A.,  Handbuch  der  Ichthyologie.     Wien. 

1899.  Johann,  L. ,  Über  eigentümliche  epitheliale  Gebilde 
(Leuchtorgane)  bei  Spinax  niger.     Z.  wiss.  Zool.,  Bd.  Ö6. 

19 14.  Kafka,  G.,  Neuere  Untersuchungen  über  den  Farben- 
sinn der  Fische.  Naturw.  Wochenschr.  Bd.  13,  S.  465 
bis  474. 

1907.  Mangold,  E.,  Über  das  Leuchten  der  Tiefseefische. 
Arch.  ges.  Phys.  Bd.   119. 

1907.  Steche,  O. ,  Über  leuchtende  Oberflächenfische  aus 
dem  malayischen  Archipel.     Verh.  D.  Zool.   Ges. 

1885.  Thomson  und  Murray,  Report  sc.  res.  Voyage 
,,Challengcr".     Narrative. 

1902.  Vanhoeffen,  E. ,  Biologische  Beobachtungen  von 
der  Deutschen  Südpolar-E.\ped.  Veröff.  Inst.  Meeres- 
kunde und  des  Geogr.  Inst.  Berlin.     H.   1. 


Diluviale  menschliclie  Skelettreste  aus  deu  thüriiiffiscli-sächsisclien  Ländern. 


[Nachdruck  verboten.; 


Von  Hugo  Mötefindt  in  Wernigerode. 


In  den  letzten  Jahren  hat  die  wissenschaftliche 
Prüfung  eines  der  größten  Deutschen  aus  Weimar, 
unseres  Dichterfürsten  Schiller,  nicht  nur  die  ge- 
lehrten Forscher  beschäftigt,  sondern  weit  über 
den  engen  Kreis,  in  dem  anthropologische  F"ragen 
sonst  erörtert  zu  werden  pflegen,  hinaus  Aufsehen 
erregt.  Noch  sind  die  Gelehrten  unter  einander 
nicht  einig,  welches  der  echte  Schillerschädel 
ist  ^)  —  da  geht  durch  die  Zeitungen  die  Nach- 
richt, daß  in  der  näheren  Umgebung  desselben 
Weimar  ein  Schädelfund  im  Diluvium  zu  Tage 
gekommen  ist,  der  als  Forschungsobjekt  an  wissen- 
schaftlicher Bedeutung  dem  Schillerschädel  zum 
mindesten  gleichkommt,  vielleicht  sogar  über- 
trifft. 

Wir  benutzen  die  Gelegenheit  der  Auffindung 
dieses  vorgeschichtlichen  Menschenrestes,  um  ein- 
mal zusammenzustellen,  was  an  diluvialen  mensch- 
lichen Skelettresten  in  den  thüringisch-sächsischen 
Ländern  bisher  zu  Tage  gekommen  ist. 

Bereits  seit  den  siebziger  Jahren  waren  Spuren 
von  der  Anwesenheit  des  diluvialen  Menschen  in  den 
thüringisch-sächsischen  Ländern  bekannt.  In  den 
letzten  zehn  Jahren  sind  außerordentlich  viel  neue 
Fundstellen  aufgefunden  worden,  die  nur  aufs 
neue  die  Anwesenheit  des  diluvialen  Menschen  in 
den  thüringisch-sächsischen  Ländern  bestätigten. 
Die  diluvialen  Fundstellen    sind    in    dieser    Land- 


')  Die  wichtigsten  einschlägigen  neuesten  Veröffentlichungen 
bilden  das  Werk  von  A.  v.  Froriep,  der  Schädel  Friedrich 
V.  Schiller's  und  des  Dichters  Begräbnisstätte  (Leipzig  19 13) 
und  die  Abhandlungen  von  R.  Neuhaus  in  der  Zeitschrift 
für  Ethnologie  1913,  S.  973  und  1914,  S.  114;  die  ältere 
Literatur  findet  man  in  diesen  drei  Veröffentlichungen  ver- 
zeichnet. 


Schaft  plötzlich  so  zahlreich  geworden,  wie  man 
es  früher  wohl  nie  erwartet  hatte,  und  Thüringen 
dürfte,  wenn  hier  ein  Spezialforscher,  mit  den  für 
derartige  Forschungen  nötigen  Geldmitteln  aus- 
gestattet, sich  dieses  Forschungszweiges  annehmen 
würde,  an  Zahl  und  Bedeutung  der  Fundstellen 
alle  übrigen  Landschaften  Deutschlands  weit  über- 
treffen. Da  einige  dieser  neuen  F"undstellen  noch 
nicht  in  weiteren  Kreisen  bekannt  sein  werden, 
wollen  wir  zunächst  einmal  zusammenstellen,  was 
uns  an  diluvialen  Fundstellen  aus  den  thüringisch- 
sächsischen Ländern  und  den  angrenzenden  Ge- 
bieten überhaupt  bekannt  ist. 

Aus  der  Epoche  des  Chelleen  liegen  merk- 
würdigerweise aus  der  ganzen  Landschaft  keine 
Funde  vor;  sollten  die  Spuren  von  der  Anwesen- 
heit der  Menschen  während  dieser  Zeit  nur  noch 
nicht  gefunden  sein  oder  ist  der  Mensch  in 
dieser  Zeit  —  vielleicht  aus  klimatischen  Grün- 
den —  noch  nicht  bis  hierher  vorgedrungen  ge- 
wesen ? 

Die  zweite  Stufe  des  Altpaläolithikums,  das 
Acheuleen,  ist  dagegen  sehr  reich  vertreten; 
drei  reiche  Stationen  sind  bisher  bekannt. 

I.  Markkleeberg,  Kreishauptmannschaft  Leip- 
zig. Literatur:  R.  R.  Schmidt,  die  diluviale 
Vorzeit  Deutschlands.  Stuttgart  1912  (wo  auch 
die  ältere  Literatur  sich  verzeichnet  findet).  M  — 
K.  H.  Jacob,  Das  Alter  der  altpaläolithischen 
Fundstelle  Markkleeberg.  Prähistorische  Zeit- 
schrift V,  1913.     S.  331  ff. 


')  Die  ältere  Literatur  wird  im  folgenden,  soweit  sie  in 
diesem  grundlegenden  Werke  verzeichnet  ist,  nicht  besonders 
angegeben, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  50 


2.  Lindenthaler  Hyänenhöhle  bei  Gera  (Reuß). 
Literatur:  R.  R.  Schmidt  a.  a.  O.  S.   lOi. 

3.  Hundisburg,  Kr.  Neuhaldensleben.  Literatur: 
R.  R.  Schmidt  a.  a.  O.  S.  99. 

Dieaufdas  Acheuleen  folgende  Periode,  das M  o  u  - 
s  t  e  r  i  e  n ,  ist  in  fünf  Stationen  vertreten,  unter  ihnen 
die  bedeutendste  Station  der  Landschaft  überhaupt, 
die  unerschöpflichen  unteren  Schichten  der 
Travertine  des  Ilmtales  zwischen  Taubach  und 
Weimar. 

4.  Taubach-Weimar-Ehringsdorf  (Sachsen- 
Weimar-Eisenach).  Literatur:  Götze,  Höfer, 
Zschiesche,  Die  vor-  und  frühgeschichtlichen 
Altertümer  Thüringens.  (Würzburg  1909).  S.  XI. 
263.  281.  287.  —  R.  R.  Schmidt  a.  a.  O.  S.  97. 
219.  238.  260.  —  Außer  der  in  diesem  letzten 
Werke  auf  S.  97  zusammengestellten  Literatur 
sind  im  Laufe  der  Zeit  noch  erschienen:  E.  Eich- 
horn, Die  paläolithischen  Funde  von  Taubach  in 
den  Museen  zu  Jena  und  Weimar  (Jena  1909).  — 
L.  Pfeiffer,  Das  Zerlegen  der  Jagdtiere  in  der 
Steinzeit.  Eine  vergleichende  Untersuchung  der 
diluvialen  Knochenlager  aus  der  Lindenthaler 
Hyänenhöhle  bei  Gera,  der  Hyänenhöhle  auf  dem 
Roten  Berge  bei  Saalfeld  und  aus  Taubach-Ehrings- 
dorf.  Korrespondenzblätter  des  allgemeinen  ärzt- 
lichen Vereins  von  Thüringen.  1910.  —  R.  R. 
Schmidt,  Das  Altpaläolithikum  Deutschlands 
und  seine  Parallelen  mit  dem  altpaläolithischen 
Kulturkreise  Westeuropas.  Mannus-Ergänzungs- 
band  II,  191 1.  S.  43.  —  R.  R.  Schmidt,  Das 
Alter  der  paläolithischen  Stationen  des  Ilmtales. 
Korrespondenzblatt  der  deutschen  Gesellschaft  für 
Anthropologie  191 2.  S.  57.  —  E.  Wüst,  Die 
Chronologie  des  Paläolithikums  der  Gegend  von 
Weimar.  Ebendort  S.  51.  —  E.  Wüst,  Die 
pleistozänen  Ablagerungen  des  Travertingebietes 
der  Gegend  von  Weimar  und  ihre  Fossilienbe- 
stände in  ihrer  Bedeutung  für  die  Beurteilung 
der  Klimaschwankungen  des  Eiszeitalters.  Zeit- 
schrift für  Naturwissenschaften.  Band  82.  S.  161 — 
252.  — 

4  a.  Markkleeberg  siehe  oben  Nr.  i. 

5.  Schkeuditz,  Kr.  Merseburg.  Literatur:  F. 
M.  Nabe,  Vor-  und  frühgeschichtliche  Alter- 
'tumsfunde  in  Leipzig  und  Umgebung.  Leipziger 
Kalender   191 3. 

6.  Hermannshöhle  bei  Rübeland,  Kr.  Blanken- 
burg.  Literatur:  R.  R.  Schm  idt  a.  a.  O.  S.  102. 
Außerdem  H.  Mötefindt,  Die  altsteinzeitlichen 
Funde  aus  der  Baumanns-  und  Hermannshöhle. 
Braunschweiger  Magazin   191 3  S.  57. 

7.  Baumannshöhle  bei  Rübeland,  Kr.  Blanken- 
burg.     Literatur :  wie  Nr.  6. 

Das  auf  das  Mousterien  folgende  Aurig- 
n  a  c  i  e  n  ist  sehr  schwach,  nur  in  zwei  Stationen 
vertreten : 

8.  Thiede,  Kr.  Wolfenbüttel.  Literatur:  R.  R. 
Schmidt  a.  a.  O.  S.   102. 

9.  Westeregeln,  Kr.  Halberstadt.  Literatur: 
wie  Nr.  8. 

Aus  dem  Solutreen  liegen  keinerlei  Funde 


vor.     Das    Magdalenien    endlich    ist    nur    ein 
einziges  Mal  vertreten. 

10.  Pennikental  bei  Oberwöllnitz,  Verwaltungs- 
bezirk Apolda  (Sachs.- Weimar).  Literatur:  Götze, 
Höfer,  Zschiesche  a.  a.  O.  S.  XIII  und  317. 
—  R.  R.  Schmidt  a.  a.  O.  S.   104. 

Zu  diesen  10  chronologisch  festlegbaren  Sta- 
tionen kommt  noch  eine  Reihe  anderer,  die 
überhaupt  noch  nicht  untersucht  sind  und  die 
deshalb  bisher  nur  einige  wenige  Fundstücke  ge- 
liefert haben,  die  kaum  Anhaltspunkte  für  eine 
chronologische  Festlegung  geben;  von  derartigen 
Fundstellen  nenne  ich  hier  folgende: 

1 1 .  Großer  Fallstein  bei  Osterode  a/H.,  Kr. 
Osterode.  Literatur:  R.  R.  Seh  m  id  t  a.  a.  O. 
S.   104. 

12.  Rabutz,  Kr.  Halle  a/S.  Literatur:  R.  R. 
Schmidt  a.  a.  O.  S.  104. —  Zeitschr.  f  Ethno- 
logie  1907.  S.  721. 

13.  Krölpa,  Kr.  Ziegenrück.  Literatur:  Götze, 
Höfer,  Zschiesche  a.  a.  O.  S.  385.  —  Götze, 
Eine  paläolithische  Fundstelle  bei  Pößneck  in 
Thür.     Zeitschr.  f.  Ethnologie   1903,  S.  490  ff. 

14.  Saalfeld,  Kr.  Ziegenrück.  Literatur: 
Götze,  Höfer,  Zschiesche  a.  a.  O.  S.  XIII 
und  382.  —  R.  R.  Schmidt  a.  a.  O.  S.   104. 

15.  Mühlhausen,  Kr.  Mühlhausen.  Literatur: 
Götze,  Höfer,  Zschiesche  a.  a.  O.  S.  XIII 
und  265. 

16.  Jena  (Galgenberg  und  Böhmesche  Ziegelei). 
Literatur:  Götze,  Höfer,  Zschiesche  a.  a. 
O.  S.  XIII  und  305.  —  R.  R.  Schmidt  a.a.O. 
S.   104. 

17.  Wüste  Scheuer  bei  Döbritz,  Verwaltungs- 
bezirk Neustadt,  Sachs.  Meiningen.  Literatur: 
Götze,  Höfer,  Zschiesche  a.  a.  O.  S.  XIII 
und   390.  —  R.  R.  Schmidt  a.  a.  O.  S.   103. 

18.  Köstritz  und  Pahren  bei  Gera,  Reuß. 
Literatur:  R.  R.  Schmidt  a.  a.  O.  S.   104. 

Außerdem  müssen  schließlich  noch  die  Fund- 
stellen angeführt  werden,  an  denen  vielleicht  der 
diluviale  Mensch  gewohnt  hat,  wenn  es  auch 
bisher  noch  nicht  gelungen  ist,  einen  sicheren 
Nachweis  dafür  zu  erbringen.  Zu  nennen  ist  in 
diesem  Zusammenhange    zunächst    die    berühmte 

19.  Einhornhöhle  bei  Scharzfeld,  Kr.  Osterode. 
Literatur:  Götze,  Höfer,  Zschiesche  a.  a.  O. 
S.  192  u.  397.  —  R.  R.  Schmidt  a.  a.  O.  S.  226. 

20.  Bilzingsleben,  Kr.  Eckartsberga.  Literatur: 
Götze,  Höfer,  Zschiesche  a.  a.  O.  S.  XIV 
u.  98. 

21.  Clingen,  \^erwaltungsbezirk  Sondershausen 
(Schwarzburg-Sondershausen).  Literatur:  Götze, 
Höfer,  Zschiesche   a.  a.  O.    S.  XIV    u.    179. 

22.  Greußen,  Verwaltungsbezirk  Sondershausen 
(Schwarzburg-Sondershausen).  Literatur:  Götze, 
Höfer,  Zschiesche  a.  a.  O.  S.  XIV  u.  180. 

Einwandfreie  Spuren  des  diluvialen  Menschen 
sind  uns  also  aus  den  thüringisch-sächsischen 
Ländern  und  ihrem  Nachbargebiete  in  genügender 
Zahl  erhalten.  Leider  ist  nur  der  diluviale  Mensch 
bis  jetzt  noch  nicht  persönlich  in  ganz  erhaltener 


N.  F.  XIII.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


789 


Gestalt  erschienen,  um  sich  den  wissensdurstigen 
Epigonen  zur  Untersucluing  zu  stellen.  In  den 
oben  angeführten  22  Stationen  sind  nämlicli  ein- 
wandfreie Skelettreste  des  diluvialen 
Menschen  bisher  nur  an  einer  Stelle  zutage 
gekommen. 

In  den  Gipsbrüchen  von  Kost  ritz  und 
Fahren  sind  in  den  zwanziger  Jahren  von  einem 
Dr.  Schottin  einige  Menschenknochen  gefunden, 
die  seinerzeit  viel  Aufsehen  erregten.  Die 
Knochen  sind  zum  Teil  im  britischen  Museum, 
zum  Teil  in  Berlin.  Im  Berliner  geologischen 
Landesmuseum  befinden  sich  folgende  vier  Stucke; 
zwei  Oberschenkel,  ein  Oberarm,  ein  Rippenstück. 
Der  eine  Oberschenkel  ist  merkwürdig  flach  ge- 
drückt und  erinnert  in  seiner  Form  an  den  ent- 
sprechenden Knochen  des  Neandertalmenschen. 
Diese  Skelettreste  sollen  mit  Flefantenknochen 
zusammengefunden  sein.  Um  eine  ungestörte 
Lagerstätte  hat  es  sich  jedoch  allem  Anschein 
nach  hier  nicht  gehandelt.  Beim  Nachsuchen 
sind  von  Dr.  Liebe,  Gera  an  einigen  Stellen 
der  Köstritzer  Gipsbrüche  auch  alluviale  Knochen 
von  rezenten  Tieren  und  auch  Menschenknochen 
gefunden  worden,  welche  in  die  Gesteinsspalten 
von  der  Oberfläche  hineingespült  sein  können. 
Ein  Menschenschädel,  der  zusammen  mit  Renn- 
tierknochen aufgefunden  sein  soll,  soll  in  der 
Berliner  Universitätssammlung  aufbewahrt  werden  ; 
näheres  ist  mir  jedoch  über  ihn  nicht  bekannt. 
Der  ganze  Fund  hat  demnach  als  unsicher  aus- 
zuscheiden.') 

Gleich  vom  Beginn  der  Ausbeutung  der  Tau- 
bacher  Gruben  an  wurde  auch  hier  eifrig 
von  den  gelehrten  Besuchern  Taubachs  nach 
Menschenknochen  gesucht  und  gefragt.  Das  Re- 
sultat war,  daß  ein  menschlicher  Schädel  präsen- 
tiert wurde,  welcher  angeblich  im  diluvialen 
Sande  gefunden  worden  war.  Später  stellte  sich 
heraus,  daß  er  „in  der  Nähe  dieser  Fundstelle" 
gefunden  war-);  vermutlich  stammt  er  aus  einer 
gerade  über  der  paläolithischen  Ansiedlung  im 
Humus  befindlichen  neolithischen  Station. 

Einem  raffiniert  angelegten  Versuch,  in  Tau- 
bach drei  rechte  Oberarmknochen  aus  neolithi- 
scher  Zeit  in  die  Sandschichten  des  Tuffes  ein- 
zuschmuggeln, wäre  Pfeiffer,  wie  er  in  seiner 
oben  angeführten  Abhandlung  schreibt^),  im  Jahre 
1873  beinahe  zum  Opfer  gefallen;  glücklicher- 
weise vermochte  er  den  Schwindel  noch  recht- 
zeitig zu  entlarven.  Es  war  das  in  der  Zeit,  als 
die  Mammutzähne  von  Süßenborn  korbweise  nach 
Taubach  kamen    und  dort  willige  Käufer    fanden. 


')  Vgl.  hierzu:  L.  Pfeiffer,  Über  die  Sltelettreste  des 
Menschen  und  die  bearbeiteten  Tierlinochen  aus  der  Diluvial- 
zeit Thüringens.  Korrespondenzblätter  des  allgem.  ärztlichen 
Vereins  von  Thüringen.  1909.  —  Das  dort  angeführte  Werk 
von  Löscher,  der  diluviale  Mensch  (1907)  war  mir  selbst 
durch  Vermittlung  der  königl.  Bibliothek  in  Berlin  nicht  zu- 
gänglich. 

'■')  Vgl.  Verhandlungen  der  Berliner  Gesellschaft  für  Anthro- 
pologie usw.    1S72    S.  260  u.  270,   1S77  S.  27,    1S92  S.  371. 

")  Über  die  Skelettreste  des  Menschen  usw.  S.  5. 


Außer  diesen  nicht  einwandfreien  und  zum 
Teil  gefälschten  Funden  sind  zwei  mensch- 
liche Zähne  in  den  Kalktuffen  von 
Taubach  gefunden.  Dr.  Weiß  aus  Hildburg- 
hausen fand  im  Jahre  1892')  beim  Sammeln  von 
Conchylien  in  der  Taubacher  Kulturschicht  einen 
Kinderzahn,  der  in  der  Qualität  der  Substanz  mit 
den  übrigen  Fossilien  übereinstimmte.  Der  Zahn 
befindet  sich  noch  heute  in  dem  Besitz  dieses 
Arztes.  Nach  den  Untersuchungen  von  \eh  ring 
u.  a.")  handelt  es  sich  um  einen  stark  abgenutzten 
vorderen  Milchbackenzahn  aus  der  linken  Unter- 
kieferhälfte eines  menschlichen  Kindes.  Der  Zahn 
muß  aus  verschiedenen  Gründen  kurz  vor  dem 
Wechsel  ausgefallen  sein  und  dürfte  demnach 
einem  Kinde  von  8  —  9  Jahren  angehört  haben. 
An  dem  Zahne  ist  die  Krone  stark  abgenutzt; 
diese  Abnutzung  ist  weit  stärker  als  sie  es  sonst 
bei  Kinderzähnen  der  modernen  Kulturvölker 
Europas  zu  sein  pflegt,  und  man  wird  deshalb 
mit  großer  Wahrscheinlichkeit  vermuten  dürfen, 
daß  die  starke  Abnutzung  der  Milchbackenzähne 
durch  die  primitiven  Nahrungsverhältnisse  der 
Vorzeit  zu  erklären  ist.  Die  Abnutzung  geht 
schräg  von  vorn  nach  hinten,  so  daß  der  vordere 
linguale  Randhöcker  noch  als  Erhebung  besteht. 
Die  Abnutzung  der  Krone  überhaupt  ist  durch 
die  Ernährungsweise  bedingt;  die  hier  vorliegende 
schräge  L'orm  der  Abnutzung  erklärte  A.  N  e  h  r  i  n  g 
für  pithekoid. 

Der  zweite  Zahn  ist  seiner  Zeit  von  einem 
Steinbruchsarbeiter  an  Professor  Kl op  fleisch 
abgegeben  worden;  er  ist  von  dem  Besitzer  einer 
der  Gruben,  der  sonst  als  zuverlässiger  und  in- 
telligenter Mann  bekannt  ist,  gefunden,  und  zwar 
in  derjenigen  Schicht,  welche  einerseits  durch 
paläolithische  Spuren  menschlicher  Existenz, 
änderet  seits  durch  zahlreiche  Fossilreste  einer  alt- 
diluvialen I'auna  bemerkenswert  erscheint.  Die 
Herkunft  dieses  Zahnes  aus  der  paläolithischen 
Kulturschicht  kann  demnach  auch  als  sicher 
gelten.  Seh  Hz  ist  der  Ansicht,  daß  die  Zuge- 
hörigkeit zu  der  paläolithischen  Fundschicht  auch 
noch  durch  einen  Vergleich  mit  den  Zähnen  von 
Krapina  sichergestellt  wird.  Dieser  zweite  Zahn 
befindet  sich  heute  im  Germanischen  Museum  in 
Jena.  Nach  A.  Nehring  ist  es  der  erste  Molar 
aus  der  linken  Unterkieferhälfte  eines  Erwachsenen 
mit  langer  und  breiter  Zahnkrone,  mit  fünfhock- 
riger ,  auch  sonst  stark  gefalteter  Kaufläche,- 
schwacher  Kreuzfurche  und  besonderer  Entwick- 
lung des  vorderen  labialen  Höckers.  Nehring 
findet  diesen  komplizierten  Bau  pithekoid.^) 


')  Nicht   1S78,  wie  L.  Pfeiffer  a.a.O.   angibt. 

^)  Zuletzt  hat  A.  Schliz  in  dem  großzügig  angelegten 
Werke  von  R.  R.  Schmidt,  die  diluviale  Vorzeit  Deutsch- 
lands, igi2  S.  238,  darüber  gehandelt;  dort  findet  sich  auch 
die   ältere   Literatur  zusammengestellt. 

^)  Pfeiffer  irrt  sich,  wenn  er  in  seinem  Aufsatz  ,,Das 
Zerlegen  der  Jagdtiere  usw."  S.  g  schreibt,  pithekoide  Merk- 
male wären  an  diesem  Zahn  nach  Nehring's  Untersuchung 
nicht  vorhanden.  Vgl.  A.  Nehring,  Über  einen  mensch- 
lichen   Molar   aus    dem    Diluvium    von    Taubach   bei  Weimar 


790 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.   SO 


Die  beiden  Zähne  bilden  unter  den  l'undcn 
von  Taubach  nicht  nur  höchst  interessante,  son- 
dern auch  höchst  bedeutsame  Objekte.  Beide 
Zähne  gehören  zu  den  ältesten  Menschenresten, 
welche  bisher  aus  Europa  bekannt  geworden 
sind.  Sie  beweisen  nicht  nur  die  Existenz  des 
Menschen  für  die  betreffende  P'undschicht,  sondern 
der  erste  Zahn  läßt  auch  einige  Kigentümlich- 
keiten  des  Milchgebisses  des  betreffenden  In- 
dividuums erkennen,  aus  denen  Vermutungen  über 
die  Lebensweise  bzw.  Nahrung  der  diluvialen  Be- 
wohner Deutschlands  sich  ergeben. 

Im  Sommer  1908')  wurden  inEhringsdorf 
ca.  15m  tief  im  Tuffsteinfelsen  Reste  vom  Seiten- 
wandbein  des  diluvialen  Menschen  aufgefunden; 
diese  Reste  sind  aber  so  dürftig,  daß  eine  nähere 
Beschreibung  unmöglich  ist. 

L.  Pfeiffer  hat  für  diese  letzteren  Stücke 
die  Frage  des  Kannibalismus  aufgeworfen.'-)  Die 
Vorkommnisse  an  anderen  gleichaltrigen  Wohn- 
plätzen (z.  B.  Krapina  in  Kroatien,  h^urfooz  in 
Belgien)  sprechen  ja  dafür,  daß  in  bestimmten 
Fällen  der  Nebenmensch  vom  Jäger  ebenso  be- 
handelt worden  ist,  wie  die  Jagdtiere.  Die  bis- 
her vorliegenden  Thüringer  Fundstücke 
sagen  jedoch  in  dieser  Beziehung  gar 
nichts  aus.  Das  Zusammenvorkommen  von 
zerschlagenen  Tierknochen  und  ähnlich  beschaffenen 
Knochenresten  des  Menschen  besagt  nichts,  und 
einen  Analogieschluß  aus  den  mährischen  und 
belgischen,  einwandfrei  festgestellten  Ergebnissen 
halte  ich  nicht  für  berechtigt.  Ich  halte 
die  Frage,  ob  der  Diluvialjäger  in  Thüringen, 
ebenso  wie  der  Diluvialjäger  in  I-Vankreich,  Belgien 
und  Mähren  ein  Kannibale  war,  aus  Mangel 
an  Funden  überhaupt  noch  nicht  diskutierbar. 

Die  Hoffnung,  in  den  ausgedehnten  Brand- 
schichten von  Ehringsdorf,  inmitten  des 
harten  Tufffelsens  weitere  menschliche  .Skelett- 
reste oder  etwa  gar  ein  gut  erhaltenes  Skelett  zu 
finden,  war  sehr  gering.  Die  Ciiara-Tuffsande,  in 
welchen  in  Taubach  die  vielen  Tierknochen  sich 
gut  konserviert  haben,  sind  dort  abgebaut  und 
fehlen  in  Ehringsdorf  fast  gänzlich.  Nun  erfuhren 
wir  plötzlich  durch  Zeitungsnachrichten,  daß  am 
8.  Mai  1914  ein  Sprengschuß  in  dem  Steinbruch 
der  Herren  Haubold  und  Kämpe  die  leisen 
Hoffnungen,  die  vielleicht  der  eine  oder  der 
andere  noch  gehabt  hatte,  in  ungeahnter  Weise 
doch  noch  erfüllt  hat.  Durch  den  Sprengschuß 
wurden    die  Teile    eines    Unterkiefers    bloßgelegt  I 

Von    dem   Funde    gibt   jetzt    der  Straßburger 


Verhandlungen  der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft 
'895.  S.   573  ff. 

')  Nicht  wie  Schliz  a.  a.  O.  S.  239  angibt,    igog. 

')  L.  Pfeiffer,  Das  Zerlegen  der  Jagdtiere.  Korre- 
spondenzblätter des  allgemeinen  ärztlichen  Vereins  von  Thü- 
ringen.    Weimar   igio.  S.  g. 


Anatom,  Prof.  Schwalbe,  in  den  ,, Korrespon- 
denzblättern des  allgemeinen  ärztlichen  Vereins 
von  Thüringen"  eine  vorläufige  Beschreibung. 
Gefunden  wurde  der  Unterkiefer  in  einer  Tiefe 
von  11,90  m  unterhalb  der  natürlichen  Ober- 
fläche, innerhalb  einer  Schicht  von  pulvrigem 
Travertin,  die  2,go  m  unterhalb  der  sogenannten 
,, Pariser"  Schicht  der  Steinbruchwand  gelegen  ist. 
2,6  m  unterhalb  der  h'undschicht  ruhen  die  Kalk- 
werksteinbänke auf  Kies.  Zusammen  mit  dem 
Unterkiefer  fand  man  zahlreiche  tierische  Knochen- 
reste, die  als  dem  Hirsch,  Pferd  und  Rhinozeros 
Merckii  zugehörig  erkannt  wurden.  Besonders 
ein  Rhinozerosfuß  war  gut  erhalten.  Auch  ein 
Hinterhauptsbein  von  diesem  und  Knochen  von 
Höhlenbären  kamen  zum  Vorschein,  ferner  leicht 
angekohlte  Knochen,  Holzkohlenreste  und  zahl- 
reiche .Artefakte  aus  P'euerstein,  darunter  eine 
schöne,  auf  beiden  Längskanten  retuschierte 
Spitze  und  mehrere  Schaber  mit  bearbeiteter 
Kante.  Der  Sprengschuß  hatte  den  Unterkiefer 
zum  Teil  verletzt;  es  sind  aber  beide  Hälften  im 
Zusammenhang  geblieben,  der  sich  durch  die  im 
umschließenden  Tuff  gefundenen  Bruchstücke 
weiter  ergänzen  ließ.  Alle  Merkmale  deuten 
darauf  hin,  daß  es  sich  um  den  Rest  einer  aller- 
früliesten  Menschenart  handelt,  des  Homo  primi- 
genius  oder  Neanderthalensis,  innerhalb  dessen 
V'ariationsgebiet  unser  Rest  eine  der  tiefsten 
Stellen  einnimmt. 

Dieser  neueste  Weimarer  P'und,  der  wie  die 
Hauptmasse  der  bisherigen  Pfunde  dem  Mousterien 
angehören  dürfte,  —  d.  h.  dem  eiszeitlichen 
Zeitalter,  das  nach  Boule  im  engeren  Sinne 
als  das  des  Neandertalmenschen  zu  bezeichnen  ist 
—  gestattet  uns  festzustellen ,  zu  welcher  Rasse 
die  diluvialen  Bewohner  Thüringens  gehörten. 
Wir  können  aus  diesem  neuen  P'unde  ersehen, 
daß  die  Neandertalrasse  wenigstens  in  Taubach 
vertreten  war.  Ob  die  anderen  diluvialen  Rassen 
auch  irgendwie  in  Thüringen  vertreten  waren, 
darüber  können  wir  z.  Z.  noch  kein  Urteil  ab- 
geben. Jedenfalls  bedeutet  die  Auffindung  dieses 
neuen  Fundstückes  eine  wesentliche  Bereicherung 
unserer  Kenntnisse  der  anthropologischen  und 
vorgeschichtlichen  Verhältnisse  Thüringens.  Unsere 
gesamte  Wissenschaft  vom  vorgeschichtlichen 
Menschen,  vor  allem  aber  die  thüringische  Vor- 
geschichtsforschung, ist  zu  diesem  hochinteressanten 
und  wissenschaftlich  die  größte  Bedeutung  be- 
sitzenden neuen  Pfunde  herzlichst  zu  beglück- 
wünschen; vergessen  dürfen  wir  dabei  vor  allem 
nicht  das  emsig  in  die  Höhe  strebende  Städtische 
Museum  in  Weimar,  dem,  wie  wir  hören,  es  ge- 
lungen sein  soll,  diesen  kostbaren  Schatz  zu  er- 
werben. Hoffentlich  wird  der  Fund  bald  in  einer 
seiner  wissenschaftlichen  Bedeutung  entsprechen- 
den, würdigen  Publikation  ausführlich  bekannt 
gegeben. 


N.  F.  XIII.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


791 


Einzelberichte. 


Physik.       Das    Röntgenspektrum    des    Platins 
behandelt  eine  Arbeit  von  H.  Seemann    (Wiirz- 
burg)  in  der  Physikalischen  Zeitschrift  XV  (1914) 
Seite    794 — 797.      Das    S(iekirum    ist    nach    dem 
schon  mehrfach  in  dieser  Zeitschrift  beschriebenen 
und    erwähnten     X'erfahren  M    erhalten,     das    die 
streifend  auf  eine  ebene  Kristallplatte  auffallenden 
und    von    ihr    reflektierten  Strahlen    benutzt.     Bei 
weitem    die    besten    Erfolge    erhielt    man    bei  Be- 
nutzung  einer  Steinsalzpiattc.     Neu    an    den  Ver- 
suchen ist  zweierlei :  Zunächst  wurde  eine  Röntgen- 
röhre-)    (Antikathode  aus   Platin)    mit  Lithium- 
glasfenster    verwendet.       Die    Atomgewichte 
der  Komponenten  des  Lithiumglases  sind:  Lithium 
=  7,  Bor  =11,  Beryllium  =  9,  die  des  gewöhn- 
lichen   Glases:    Kalzium    =   40,    Kalium    =    39, 
Natrium    =    23,    Silizium    =   28.      Sauerstoft'  ist 
beiden   gemeinsam.     Infolge  der  niedrigen  Atom- 
gewichte  gehen    die  Röntgenstrahlen    unter    sehr 
geringen    Verlusten    durch    das    Lithiumglas    hin- 
durch.    Zweitens  war  der  Spalt  sehr  eng,    so 
daß    die   Aufnahme    sich    durch    außerordentliche 
Schärfe  der  Linien  und  beträchtliches  Auflösungs- 
vermögen vor  allen  bisher  gemachten  auszeichnet. 
Der   0,1    bis    0,03   mm    wehe    Spalt    stand    dicht 
vor  dem  p-enster,  6  cm  von  ihm  entfernt  auf  dem 
Spektrometertisch  der  Kristall.    10  cm  von  diesem 
war   an    einem    mit    dem    Tisch    festverbundenen 
Arm  die  photographische  Platte  angebracht.    Aus 
dem    Spalt    trat    ein     i  V, "    breites    divergentes 
Strahlenbündel    heraus    und    entwarf    einen    ent- 
sprechend   breiten    Teil    des    Gitterspektrums    auf 
der  Platte.     Jetzt  wurde  der  Einfallswinkel  etwas 
vergrößert  und  der  benachbarte  Teil  des  Spektrum 
(wieder   i  '/j  "  breit)  auf  einer  zweiten  Platte  fest- 
gehalten   usf.      Auf   diese    Weise    setzte   sich    das 
ganze    Spektrum    aus    einer    Reihe    von    Teilauf- 
nahmen   zusammen,    die    kopiert,    nebeneinander 
geklebt    und    dann  von    neuem  vergrößert  photo- 
graphiert  wurden.     Auf  dieser  so  erhaltenen  Auf- 
nahme   sind    zwischen    4,5"  und   17"    eine    ganze 
Reihe     von     scharfen    Linien    von     verschiedener 
Helligkeit  enthalten,    von  denen  die    hellsten    bei 
10",  11,5  **  und  13,9"  liegen.    Die  Versuche  zeigen, 
daß  die   von    verschiedenen  Autoren    gemessenen 
breiten     kontinuierlichen    Banden    des 
P 1 a  t  i  n r ö n t ge n s p e k t r u m s    aus    einer 
großen  Anzahl  Linien  bestehen. 

K.  Schutt,  Hamburg. 

Zoologie.  Einen  neuen  Beitrag  über  die  Ge- 
schlechtsverteilung  beladen  Fischen  liefert  die  von 
Dr.  G.  Surbeck  über  den  Laichfischfang  im 
Kanton  Bern  pro  1913  14  gegebene  Statistik.-') 

Die  Fische  wurden  gefangen,  ohne  daß  dabei 
eine  Auswahl  nach  den  Geschlechtern  hätte  statt- 
finden können. 


')  N.  W.   1914  Seite  437—440  u.  490. 

'}   Von   der  Firma  C.   H.   F.   Müller,   Hamburg. 

')  Schweizerische  Fischerzeitung    Nr.  9,    September   1914. 


In  der  Aare,  ohne  ihre  Zuflüsse,  wurden  3440 
Bachforellen  (Trutta  fario  L.)  gefangen.  Da- 
von waren  3033  Stück,  oder  88,17  »/g  Männchen 
und  nur  407,  oder   11,83",,,   VVeibchen. 

In  den  Zuflüssen  der  Aare  allein  war  das 
Verhältnis  68,67  ",„  Männchen  und  31,33";',,  Weib- 
chen. Im  ganzen  Aaregebiet  (Fluß  und  Zuflüsse) 
wurden  gefangen  19,526  Männchen  =  70,91  "/,, 
und  8,008  Weibchen  =  29,0970- 

Der  Verfasser  glaubt,  daß  in  der  Aare  dieses 
Mißverhältnis  zum  Teil  auf  den  umstand  zurück- 
zuführen sei,  daß  sich  bei  der  künstlichen  Fisch- 
zucht die  Übung  eingebürgert  habe  die  kleinsten 
Milcher  (Männchen)  zur  Gewinnung  des  Spermas 
auszulesen,  weil  angeblich  letzteres  dann  für  die 
Befruchtung  besser  sei,  als  dasjenige  von  alten 
Fischen  und  dieses  Verfahren  geradezu  eine  fisch- 
züchterische  Regel  geworden  sei.  Ob  die  Ur- 
sache der  Erscheinung  allein  dort  zu  suchen  ist, 
scheint  zweifelhaft,  denn  mit  dieser  künstlichen 
Auslese  durch  die  Züchter  hat  das  Durchschnitts- 
gewicht der  gefangenen  Forellen  nichts  zu 
tun  und  doch  nimmt  der  Verfasser  an ,  daß  in 
der  Aare  das  gefangene  Weibchen  durchschnittlich 
rund  500  Gramm  und  das  Männchen  nur  rund 
200  g  gewogen  haben.  Es  würde  demnach  in 
der  Aare  geradezu  an  alten  Männchen  fehlen. 

Dagegen  scheint  es  aber  damit  doch  seine 
Richtigkeit  zu  haben ,  daß  das  Mißverhältnis 
zwischen  dem  Gewicht  bzw.  dem  Alter  der 
Männchen  und  Weibchen  auch  ein  solches  in  der 
Verteilung  der  Geschlechter  bei  der  Nachkommen- 
schaft begünstigt.  Das  Durchschnittsgewicht  aller 
(Männchen  und  Weibchen)  im  Aaregebiet  ge- 
fangenen Forellen  betrug: 

Aare  allein  240  g, 

Zuflüsse  allein   132  g, 
^   Gesamtes  .^aregebiet   1 50  g. 

In  den  Zuflü'^sen,  wo  der  Unterschied  zwischen 
dem  Gewicht  der  Männchen  und  Weibchen  kein 
so  großer  war,  war  auch  die  Sexualitätsziffer 
(Zahl  der  Männchen  auf  100  Weibchen)  eine 
günstigere,  als  in  der  Aare  selbst. 

Aeschen  (Thymulus  vulgaris  Nils.)  wurden 
1686  Stück  gefangen.     Davon  waren: 

Männchen  :  1059  Stück,  od.  62,8 1  "/o  d.  Gesamtfanges, 
Weibchen:    627      „        „    37,19  „  „ 

Felchen  (Coregonus  dispersus  alpinus  Fatio 
und  Coregonus  balleus  helveticus  Fatio)  wurden  im 
Brienzersee  720  Stück  gefangen.  Es  waren 
dies: 

Männchen:  5  54  Stück,  oder  76,94  ",„  der  Gesamtzahl, 
Weibchen:  166      „  ,,     23,06  „     ,,  „ 

Im  Thunersee  wurden  10524  Stück  ge- 
fangen.    Hiervon  waren: 

Männchen :  7295  Stück,  od. 69,32  "  ^  d.  Gesamtfanges, 
Weibchen :  3229      „        „    30,68  „   ,. 

Im  Bielersee  wurden  ebenfalls  P^elchen 
(Baichen)    gefangen.      Es    handelt   sich  um  den 


792 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  50 


Coregonus    balleus    palea    Fatio.     Die  er- 
beuteten  1592  Stück  verteihen  sich  auf: 
Männchen :  86 1  Stück,  oder  54,oS  " /„  der  Gesamtzahl, 
Weibchen:  731       ,,  ,,     45,92  ,,     ,,  ,, 

Dieses  günstige  Verliältnis  entspricht  annähernd 
dem  schon  früher  für  den  Bielersee  festgestellten. 

Von  dem  Fang  der  Blau  fe  lohen  (Coregonus 

wartmanni    Bloch)    im    Bodensee    während    der 

Laichzeit  1913  ('25.  November — 21.  Dezember  1913) 

zum    Zwecke    der    Gewinnung    von    Brutmaterial 

berichtet    an    gleicher    Stelle    derselbe    Verfasser. 

Nach  seinen  Angaben   wurden  gefangen: 

Baden:  23925  Stück  und  zwar  Männchen  18780  St. 

=  78,49"/,,,   Weibchen  5145  St.  =  21,51%,. 

Bayern:    1190  Stück  und  zwar  Männchen  854  St. 

=  71,80"/,,,    Weibchen    33(1  St.   =  28,20  "'„. 

Schweiz:  42  392  Stück  und  zwar  Männchen  3  ^410  St. 

=^  78,81  ",„,  Weibchen   S982  St.  =  21,19  "^,. 

Württemberg:  2021  5  St.  u. zwar  Männchen  i623oSt. 

=  80,29»/,,,  Weibchen  3985  St.  =   19,71"/,,. 

Total :  87  722  Stück  und  zwar  Männchen  69274  St. 

=  78.97%.  Weibchen    18448  St.  =^  21,03  "'„. 

Die  Sexualziffer  betrug  demnach  im  Jahre  1913 
375,4,  während  sie  im  Jahre  1911  weit  ungünstiger 
war,  indem  sie   528,9  betrug. 

Nach  diesen  Feststellungen  überwiegt  im  all- 
gemeinen bei  den  Süßwasserfischen  die  Zahl  der 
Männchen  diejenige  der  Weibchen  ganz  erheblich. 

Alb.  Heß. 

Geologie.  I'ber  Militärgeologie  hat  der 
Hauptmann  z.  D.  W.  Kranz  nicht  lange  vor  dem 
Kriege  eine  Abhandlung  veröffentlicht,  deren 
Inhalt  jetzt  viele  interessieren  wird.')  Kranz 
betont  in  seiner  Arbeit,  daß  man  in  militärischen 
Kreisen  der  Geologie  bisher  nicht  genügendes 
Interesse  gezeigt  habe.  Er  sucht  ausfüiirlich  zu 
beweisen,  wie  großer  Nutzen  dem  Soldaten  aus 
geologischen  Kenntnissen  erwachsen  könnte. 

Daß  Kranz  nicht  unrecht  hat,  ist  uns  durch 
den  gegenwärtigen  Krieg  schon  mehrmals  klar 
geworden.  Es  seien  nur  zwei  Beispiele  heraus- 
gegriffen. Einmal  erfuhren  wir  zu  unserem  Leid- 
wesen, wie  unsere  Soldaten  es  aufgeben  mußten, 
einen  Schützengraben  anzulegen,  weil  sie  un- 
vermutet in  Kalkstein  geraten  waren.  Ein 
andermal  wurde  es  uns  zum  Glück,  daß  sich  die 
russische  Heeresleitung  über  das  von  Mooren 
durchsetzte,  unwegsame  Gelände  der  Masurischen 
Seen  erst  zu  spät  klar  wurde.  So  konnten  denn 
92000  Gefangene  gemacht  werden. 

Kranz  weist  daraufhin,  daß  die  furchtbare 
Wirkung  der  modernen  Waffen  mehr  denn  je 
zur  Anpassung  an  das  Gelände  zivinge.  Dies  be- 
wirkt, daß  der  Boden  einen  immer  bedeutender 
werdenden  Einfluß  auf  den  .Ausgang  der  Schlacht 
gewinnt.  Wer  den  Boden  am  besten  auszunutzen 
versteht,  hat  bedeutende  Vorteile.  So  kann  denn 
der  Soldat  der  Lehre  vom  Erdboden,  der  Geologie 
nicht  mehr  gleichgültig  gegenüberstehen. 


')  W.  Kranz,    Hauptmann   z.   L>. ,    M  i  1  i  t  ä  r  g  e  ol  o  gi  e, 
,, Kriegstechnische  Zeitschrift"   1913. 


Zunächst  kommt  die  Feldbefestigung  in 
Frage.  Jemand,  der  die  geologische  Karte  zu 
lesen  versteht,  wird  leicht  voraussagen  können, 
in  welchem  Maßstabe  und  in  welcher  Art  sich 
solche  Befestigungen  an  einer  bestimmten  Stelle 
anbringen  lassen.  Wie  wichtig  dürfte  es  z.  B. 
sein,  im  voraus  zu  wissen,  ob  man  eine  Stellung 
im  harten  Korallenkalk  oder  im  weichen  Grave- 
lottemergel  einnehmen  wird.  Es  wird  rechtzeitig 
dafür  gesorgt  werden  können,  daß  im  schwierigeren 
Falle  geeignetes  Schanzzeug  vorhanden  ist  wie 
schwere  Kreuzhacken,  mehr  Spaten,  Sandsäcke 
u.  dgl.  F'erner  kann  man  von  vornherein  damit 
rechnen,  daß  die  Herstellung  der  Deckung  in 
dem  einen  Fall  5  — 10  mal  so  lange  dauert  als 
in  dem  anderen.  —  Weiter  kann  die  Notwendigkeit 
eintreten,  da  wo  verschiedene  Stellungen  mög- 
lich sind,  die  nicht  nur  taktisch  sondern  auch 
geologisch  vorteilhaftere  herauszusuchen.  Die 
geologische  Karte  wird  zeigen,  wo  die  leichteste 
Bodenart  vorhanden  ist.  Dort  ist  aber  vielleicht 
gerade  eine  taktisch  sehr  ungünstige  Stelle,  und 
so  ist  es  denn  angebracht,  taktisch  bessere  Ge- 
lände zu  beaugenscheinigen,  die  zunächst  geolo- 
gisch nicht  so  günstig  scheinen.  Finden  sich 
doch  gelegentlich  selbst  auf  felsigem  Untergrund 
Lehmdecken,  in  denen  sich  Annäherungsgräben 
leicht  und  schnell  vortreiben  lassen.  Ist  dies  nicht 
der  F"all,  dann  weiß  man  eben,  daß  unbedingt 
künstliche  Deckungen  mitgenommen  werden 
müssen,  wenn  man  nicht  —  z.  B.  vor  einer  befestig- 
ten Stellung  —  über  Nacht  aus  dem  harten  Fels 
eine    hinreichende    Deckung    herausarbeiten  kann. 

Kranz  betont  immer  wieder,  daß  es  gar  nicht 
so  leicht  sei,  die  militärgeologisch  wichtigen  Eigen- 
schaften eines  Untergrundes  in  allen  Fällen  zu 
ermitteln  und  möglichst  gut  auszunutzen.  Selbst 
der  Geologe  bedürfe  dazu  eingehender  Vorberei- 
tungen. Allerdings,  wenn  man  sich  \ergegen- 
wärtigt ,  daß  die  Erläuterungen  der  geologischen 
Karten  nicht  so  ohne  weiteres  von  jedermann 
verstanden  werden  können,  dann  erscheint  einem 
die  Forderung  von  Kranz,  in  Zukimft  besondere 
Militärgeologen  ausbilden  zu  lassen ,  durchaus  be- 
gründet. 

Eine  ganz  besonders  große  Rolle  spielen  die 
Erdarbeiten  beim  Festungskrieg.  Wird  doch 
eine  Festung  heutzutage  durch  mühevolles  Heran- 
arbeiten mittels  tiefer  Schützengräben  gewonnen. 
Je  hartnäckiger  also  der  Widerstand,  desto  größer 
der  Einfluß  der  .Arbeiten  unter  der  Erde.  Geo- 
logische Kenntnisse  aber  sind  imstande,  diese 
.Arbeiten  „unter  der  Erde"  ganz  bedeutend  abzu- 
kürzen. Kranz  sagt  aus  diesem  Grunde,  daß 
man  eigentlich  jedem  Angriffsentwurf,  den  man 
einer  F"estung  widme,  umfangreiches  Material  an 
geologischen  Karten  und  Notizen  beifügen  müsse 
und  zwar  schon  in  Friedenszeiten. 

Auch  dem  Nutzen,  den  geologische  Ermitt- 
lungen dem  Festungsbau  gewähren,  widmet 
Kranz  ein  kleines  Kapitel ,  auf  das  aber  hier 
nicht    näher   eingegangen    sei.     Weiter  spricht  er 


N.  F.  XIII.  Nr.   50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


793 


über  das  z.ukünftige  Geologenpersonal  des  Militärs 
sowie  über  dessen  Ausbildung,  Organisierung  usw. 
Nichtsoldaten,  so  meint  er,  seien  als  Militärgeo- 
logen nur  ein  Notbehelf,  solange  es  an  geeigneten 
Kräften  im  Heere  selbst  fehle.  Niemals  werden 
sie  genau  wissen,  worauf  es  dem  Soldaten  eigent- 
lich ankommt. 

Anders  steht  es  allerdings  im  Kriege.  Da 
können  die  erforderlichen  Militärgeologenstellen 
von  vielen  Reserve-  und  Landwehroffizieren  besetzt 
werden,  die  in  ihrem  Beruf  Geologen  und  Berg- 
leute sind.  Daher  werden  also  in  dem  gegen- 
wärtigen Kriege  die  notwendigsten  Militärgeologen 
sicherlich  bei  der  Arbeit  sein. 

R.  Potonie  (Lichterfelde). 

Experimentelle  Physiologie.  Die  Abhängig- 
keit der  Hautfarbe  von  der  Färbung  der  Um- 
gebung, besonders  des  Untergrunds  bei  Fischen, 
ergibt  sich  aus  Versuchen  vonO.  Haempel  und 
B.  Kolmer  mit  Pfrillen  (Phoxinus  laevis  Ag.) 
und  Koppen  (Cottus  gobio  L.).  (Ein  Beitrag  zur 
Helligkeits-  und  Farbenanpassung  bei  Fischen. 
Biologisches  Centralblatt  XXXIV.  Bd.   1914.) 

Bei  der  Pfrille  trat  ebenso  wie  bei  den  Ver- 
suchen von  V.  Frisch  nach  Zerstörung  beider 
Augen  Dunkelfärbung  des  ganzen  Körpers  nach 
kurzer  Zeit  (45  Min.)  ein.  Einseitige  Blendung 
dagegen  hatte  diese  E"olge  nicht.  BeiderKopiie 
zeigte  sich  dieselbe  Erscheinung,  sie  war  nur  auf- 
fallender. Die  aus  dem  Dunkeln  in  diffuses  Tages- 
licht gebrachten  Fische  waren  zunächst  fast  kohl- 
schwarz; nach  einer  halben  Minute,  im  Sonnen- 
licht noch  rascher,  kam  infolge  des  Zusammen- 
ballens des  Pigments  die  marmorierte  Zeichnung 
deutlich  zum  Ausdruck.  Wurden  die  Tiere  wieder 
ins  Dunkle  gebracht,  trat,  nur  etwas  langsamer, 
wieder  die  Verdunklung  ein.  Beiderseitige  Zer- 
störung des  Bulbus  hat  eine  mäßige  Dunkler- 
färbung nach  einer  Stunde  zur  Folge;  einseitige 
Blendung  dagegen  nur  eine  rasch  vorübergehende. 
In  beiden  Fällen  aber  fand  nach  längerer  oder 
kürzerer  Zeit  eine  Aufhellung  im  Licht  statt. 

Interessante  Ergebnisse  hatten  Versuche,  bei 
denen  die  Tiere  sich  in  einfarbiger  roter  oder 
gelber  L^mgebung  befanden.  Die  Beleuchtung 
rührte  von  einer  Projektionslampe  her,  deren 
Licht  durch  einen  Spektralapparat  zerlegt  wurde 
und  außerdem  Farbfilter  passiert  hatte.  Hering- 
sche  PVbpapiere  umkleideten  die  Wände  der 
Wanne,  so  daß  die  ganze  Umgebung  des  Tieres 
rein  rot  bzw.  gelb  war. 

Die  bei  den  Versuchen  verwendeten  Pfrillen 
stammten  aus  der  Donau,  Isar  und  Wurm.  Wäh- 
rend nun  bei  den  beiden  ersteren  auf  gelbem 
Untergrund  nur  eine  Aufhellung  und  deutliche 
Gelbfärbung  eintrat,  stellte  sich  bei  letzteren  eine 
auffallende  Rotfärbung  an  Mund-,  Bauch-  und 
Flossenregion  ein.  Vielleicht  erklären  sich  daraus 
Widersprüche  in  den  Befunden  von  v.  Heß  und 
v.  Frisch.      Die    Rotfärbung    hängt  wahrschein- 


lich mit  dem  roten  L'ntergrund  der  Gewässer  im 
Würmgebiet  zusammen. 

Bei  den  Koppen  trat  nur  ein  Unterschied 
insofern  ein,  als  die  Farbe  infolge  wechselnder 
Ausbreitung  oder  Konzentration  des  schwarzen 
Pigments  dunkler  oder  heller  erschien. 

Katharincr. 

Chemie.  Über  die  Absorption  des  Stickstofifs 
durch  Calcium  bringt  Richard  Brandt  in  der 
Zeilschrift  für  angewandte  Chemie  (27.  54)  eine 
vorläufige  Mitteilung. 

Entgegen  Literaturangaben  fand  Verf.,  daß 
metallisches  Calcium  nicht  nur  in  fein  zerteiltem 
Zustand,  sondern  auch  in  kompakter  Form  (3 — 5  g) 
quantitativ  verhältnismäßig  schnell  in  Nitrid  über- 
zuführen ist,  wenn  man  es  bei  4C0 — 500"  in  einer 
Stickstoffatmosphäre  erhitzt.  Dabei  dringt  der 
Stickstoff  auch  durch  eine  dicke  Nitridschicht  bis 
ins  Innere  des  Metalls  hinein.  Ein  Calciumstück 
von    2,187  §   absorbierte    z.  B.    406,7   ccm    Stick- 

^^°^  760  mm  =  23,1  Gew.  "/y.  Die  Formel  CaaN., 
verlangt  23,3  Gew.- "/„.  Die  gewonnenen  Produkte 
enthielten  99,8  bzw.  98,9  ",„  Calciumnitrid. 

Die  äußere  Form  des  Metalls  bleibt  bei  der 
Überführung  in  Nitrid  vollkommen  erhalten.  Das 
Nitrid  selbst  läßt  sich  mit  Meißel  und  Hammer 
spalten  und  zu  einem  kastanienbraunen  Pulver 
zerreiben.  Die  Geschwindigkeit  der  Stickstoff- 
absorption ist  unter  300°  praktisch  gleich  Null, 
besitzt  von  300—650"  beträchtliche  Werte,  ist 
von  650  -  800"  wieder  Null  und  steigt  dann  ober- 
halb des  Calciumschmelzpunktes  (790 — 810")  wie- 
der beträchtlich.  Das  Maximum  liegt  bei  etwa 
440".  Otto  Bürger. 

Ein  neues  organisches  Radikal  mit  vier- 
wertigem     Stickstoff     beschreiben     in      den     Be- 


richten d.  Deutschen  Chem.  Ges.  (47,  21 1 1)  Hein- 
rich Wieland  und  Moritz  Offenbacher. 
Dieser  interessante  Körper,  das  Diphenyl- 
stickstoffoxyd,  wurde  aus  Diphenylhydroxylamin 
in  ätherischer  Lösung  durch  P^inwirkung  von 
trockenem  Silberoxyd  in  der  Kälte  erhalten: 
(CßH.OoNOH  —>  (C,,HJ.,NO.  Es  handelt  sich 
also  hier  um  ein  Derivat  des  vierwertigen  Stick- 
stoffs; tatsächlich  erinnert  die  neue  Substanz  auch 
in  ihren  Eigenschaften  sehr  an  ihr  organisches 
Vorbild,  das  Stickstoffdioxyd,  NO,,.  Diphenyl- 
stickoxyd  bildet  glänzende  tiefrote  Nadeln,  die  bei 
60 — 62"  schmelzen  und  in  Lösung  ein  charakte- 
ristisches Bandenspektrum  ähnlich  dem  des  Stick- 
stoffdioxyds geben.  Seine  Radikalnatur  äußert 
sich  in  einer  ausgesprochenen  Reaktionsfähigkeit 
gegenüber  allen  möglichen  Reagentien  sowie  in 
der  Leichtigkeit,  mit  der  es  sich  mit  anderen 
Radikalen  vereinigt.  Seine  labile  Konstitution 
kommt  darin  zum  Ausdruck,  daß  es  sich  beim 
Aufbewahren  leicht  zersetzt  und  nur  einen  Tag 
haltbar  ist.  Mit  konzentrierten  Säuren  reagiert  es 
äußerst    heftig     unter    explosionsartigen    Erschei- 


794 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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nungen.  Daß  es  innerhalb  weiter  Temperatur- 
grenzen seinen  Radikalzustand  aufrecht  erhält, 
geht  daraus  hervor,  daß  man  es  bei  — 60"  aus 
Äther  auskristallisieren  lassen  kann,  und  daß  seine 
Lösungen  auch  bei  starkem  Abkühlen  keine  .Auf- 
hellung der  Farbe  zeigen,  wie  es  beim  Stickstoff- 
dioxyd der  Fall  ist.  Bugge. 

Anthropologie.  Zur  Anthropologie  Groß- 
britanniens. Die  ersten  Menschen,  deren  Spuren 
in  Britannien  festzustellen  sind,  kamen  in  der 
paläolithischen  Zeit,  über  die  damals  noch  be- 
standene Landbrücke,  als  Jäger  im  Gefolge  des 
Renntieres  und  des  Moschusochsen.  Über  die 
köriierlichen  Eigenarten  dieser  paläolithischen 
Jäger  weiß  man  nichts,  denn  sie  haben  nichts 
hinterlassen  als  roh  bearbeitete  Werkzeuge  und 
Geräte  aus  Stein  und  Knochen.  Auf  den  Knochen- 
utensilien hatten  sie  Tierdarstellungen  angebracht, 
oft  Jagdszenen ,  aus  deren  Ausführung  man  auf 
Verwandtschaft  mit  den  grönländischen  Eskimo 
geschlossen  hat.  Die  nach  der  Eiszeit  in  der 
Neolithperiode  aufgetretenen  Bewoiiner  Britanniens 
hatten  feinpolierte  Geräte  und  Waffen  aus  Stein. 
Sie  waren  Hirten,  und  mit  ihnen  kam  wahrschein- 
lich nicht  nur  das  Rind,  sondern  auch  das  Schaf, 
die  Ziege,  das  Schwein  und  der  Haushund.  Über- 
reste des  neolithischen  Menschen  sind  besonders 
häufig  in  den  versunkenen  Wäldern  längs  der 
englischen  Küsten  sowie  an  den  gehobenen 
Strandterrassen  von  Schottland  und  Nord-Irland. 
Doch  auch  sonst  haben  die  neolithischen  iMen- 
schen  Spuren  ihrer  Anwesenheit  im  Lande  hinter- 
lassen in  Gestalt  von  Schnnzgräben,  unterirdischen 
Wohnräumen ,  und  langen ,  mehr  oder  weniger 
eiförmigen  Grabhöhlen.  Man  weiß  nun ,  daß 
Stonehenge  ein  neolithischer  Bau  war,  der  wahr- 
scheinlich dem  Sternenkult  diente.  Die  Kultur 
dieser  Neolithiker,  sowie  die  vorgefundenen 
Knochenreste  weisen  darauf  hin,  daß  sie  zu  dem 
mittelländischen  Zweig  der  Menschheit  gehört 
haben,  den  man  häufig  auch  den  iberischen  Zweig 
nennt.  Diese  brünetten  Langköpfe  wurden  erst 
nach  verhältnismäßig  langer  Zeit  von  blonden  Lang- 
köpfen, die  von  Osten  und  Südosten  her  ein- 
drangen ,  nach  den  entlegenen ,  vom  Kontinent 
abgekehrten  Landesteilen  gedrängt,  hauptsächlich 
nach  Irland,  dem  zentralen  West-Schottland,  Wales 
und  Cornwall.  In  den  Ebenen  Englands  und  Süd- 
Schottlands  finden  sich  überdies  Reste  einer  alten 
breitkopfigen  Rasse,  welche  die  Verwendung  von 
Bronze  kannte  und  deren  ganze  Kultur  auf  einer 
entschieden  höheren  Stufe  stand  als  die  der  vor- 
hin erwähnten  „iberischen"  Neolithiker.  Diese 
Menschen  kamen  vermutlich  aus  dem  von  Breit- 
köpfen bewohnten  Mitteleuropa  über  die  heutigen 
Niederlande  nach  Britannien;  doch  waren  sie  ge- 
wiß nicht  zahlreich,  vielleicht  bildeten  sie  nur 
eine  herrschende  Bevöikerungsschicht. 

In  historischer  Zeit  kamen  Angehörige  ver- 
schiedener fremder  Völkerschaften  nach  den  briti- 
schen   Inseln,    manche    nur    als  Kolonisten.      Die 


Herrschaft  der  Römer  in  Britannien ,  die  vom 
I.  Jahrhundert  vor  unserer  Zeitrechnung  bis  zu 
Anfang  des  5.  Jahrhunderts  u.  Z.  währte,  übte  auf 
die  Bevölkerungszusammensetzung  des  Landes 
keinen  dauernden  Einfluß  aus.  Bald  nach  dem 
Abzug  der  Römer,  noch  im  5.  Jahrhundert,  begann 
das  Eindringen  germanischer  Stämme,  das  von 
großer  Bedeutung  für  das  fernere  Schicksal 
Britanniens  war. 

Von  den  germanischen  Einwanderern  kam  ein 
Teil  (Normanen)  aus  dem  südlichen  Norwegen 
nach  NordschoUland  und  den  vorgelagerten  Inseln. 
Aus  Jütland  kamen  Einwanderer  (Dänen  und 
Angeln)  nach  Ost-England  und  Süd- Schottland, 
während  vom  linken  Eibufer  Sachsen  nach  Süd- 
ost-England zogen.  In  allen  diesen  Gebieten 
scheint  aber  die  ansässig  gewesene  Bevölkerung 
nicht  ganz  verdrängt  oder  vernichtet  worden  zu 
sein,  sondern  es  ist  anzunehmen,  daß  sie  sich  zu 
einem  großen  Teil  erhielt  und  mit  den  einge- 
drungenen Eroberern  vermischte.  Blondheit 
herrscht  heute  am  meisten  vor  in  dem  Gebiet 
Ost  Englands,  das  zwischen  Themse  und  Tees  ge- 
legen ist.  Brünettheit  ist  hingegen  in  West- 
England  am  häufigsten,  und  zwar  in  den  Graf- 
schaften Wiltshire,  Gloucestershire,  Somersetshire 
und  Devon,  wo  die  Unterwerfung  der  dunklen 
britischen  (oder  keltischen)  Einwohnerschaft  durch 
blonde  Germanen  wahrscheinlich  mehr  in  fried- 
licher Form  erfolgte  als  im  Osten,  wo  der  heftigste 
Zusammenstoß  zwischen  den  alteingesessenen 
Brünetten  und  den  blonden  Eroberern  stattfand. 
Inmitten  des  vorwiegend  blonden  Gebiets  liegen 
jedoch  zwei  dunkle  Inseln:  eine  im  westlichen 
Bezirk  von  \'orkshire  und  die  andere  nordwest- 
lich von  London  (bei  Hertford  und  in  den  Chil- 
tern-Hügeln). 

Im  Gebiete  der  langköpfigen  brünetten 
Bevölkerung  hat  sich  zu  einem  guten  Teile  die 
keltische  Sprache  erhalten.  In  Irland  ist  sie  aller- 
dings auf  die  westliclie  Zentralregion  zurückge- 
drängt worden  und  in  Cornwall  ist  sie  bereits 
ganz  ausgestorben.  Das  Erse  in  Irland,  das  Manx 
auf  der  Insel  Man  und  das  Gälisch  der  schotti- 
schen Hochlande  bilden  eine  keltische  Dialekt- 
gruppe, die  stark  abweicht  von  dem  Kymrischen 
in  Wales,  dem  Bretonischen  der  Bretagne  und 
dem  alten  C'ornischen  in  Cornwall,  die  als  Brytho- 
nische  Dialektgruppe  zusammengefaßt  werden. 

Die  Dialekte,  welche  die  blonden  germanischen 
Einwanderer  mit  sich  brachten,  haben  sich  nicht 
weiter  differenziert,  wie  es  bei  den  keltischen 
Dialekten  wohl  der  Fall  war,  sondern  sie  haben 
sich  einander  mehr  und  mehr  genähert  und  die 
einheitliche  englische  Sprache  gebildet.  Die  Na- 
men der  Flüsse  und  die  meisten  anderen  auf  die 
Bodengestaltung  bezüglichen  Namen  sind  in  ganz 
Britannien  keltisch.  Die  Dorfnamen  sind  keltisch 
in  ganz  Irland,  in  Wales,  in  der  an  Wales  gren- 
zenden Zone  Englands,  in  den  schottischen  Hoch- 
landen und  der  Landschaft  Buchan  (nördlich  von 
.Aberdeen). 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


795 


In  der  Gegenwart  vollzielit  sich  eine  Mischung 
des  blonden  Typus  des  ( Ostens  mit  dem  brünetten 
Typus  des  Westens,  da  die  industrielle  Entwick- 
lung des  Landes  Menschen  aus  allen  Gebieten 
durcheinanderbringt.    Deshalb  kann  man  erwarten, 


daß  in  kürzester  Zeit  auch  die  jetzt  bestehenden 
geringen  Unterschiede  in  der  körperlichen  Er- 
scheinung der  Bevölkerung  Britanniens  verschwun- 
den sein  werden.  H-  Fehlinger. 


Einseitige  Schädigung  von 
Rauchgase.  Im  Anschluß  an  das  Referat  von 
F.  W.  Neger  über  „Neuere  Ergebnisse  und 
Streitfragen  der  Rauchschadenforschung"  möchte 
ich  hier  die  Aufmerksamkeit  auf  einen  eigenartigen 
Fall  der  Sciiädigung  von  Bäumen  durch  Rauch- 
gase und  Dämpfe  lenken,  auf  die  einseitige 
Schädigung  der  Bäume. 


Kleinere  Mitteilungen 

Bäumen    durch 


stehen.  Schwieriger  zu  beantworten  ist  die  Frage, 
wodurch  dieser  Schutz  bedingt  ist.  L'm  eine 
rein  mechanische  Schirmwirkung,  an  die  man  zu- 
nächst denken  könnte,  dürfte  es  sich  vielleicht 
nicht  einmal  in  erster  Linie  handeln.  Vielmehr 
werden  hier  wohl  auch  die  Benetzungsverhältnisse 
eine  gewisse  Rolle  spielen;  sei  es,  daß  der  Regen 
schon  die  schädigenden  Gase  (besonders  SO.,)  ge- 
löst enthält  oder,  was  wahrscheinlicher  ist,  daß 
diese  Gase  an  den  stark  benetzten  Blättern  ab- 
sorbiert werden  und  so  ihre  schädigende  Wirkung 
entfalten  können.  Auch  im  vorliegenden  Fall  ist 
es  gerade  die  Regenseite,  die  den  Fabriken  zuge- 
wandt ist.  W.  Wenz  (Frankfurt  a.  M.). 


Die  Landstraße,  die  längs  des  Maines  von 
Schwanheim  nach  Niederrad  — Frankfurt  a.  M. 
führt,  wird  in  der  Nähe  des  ersteren  Ortes  beider- 
seits von  Obstbäumen  eingefaßt.  Gegenüber,  auf 
dem  anderen  Ufer  des  Flusses  befinden  sich  die 
chemischen  Fabriken  von  Griesheim  a.  M.  Die 
Obstbäume  bieten  nun  ein  ganz  eigenartiges  Bild. 
Während  die  den  Fabriken  zugewandte  Seite  fast 
völlig  entblättert  ist  und  nur  die  kahlen  Aste 
zeigt,  ist  die  andere  noch  dicht  belaubt  (vgl.  Fig.). 
Jüngere  und  ältere  Bäume  zeigen  genau  dieselbe 
Erscheinung. 

Offenbar  übt  die  eine  Seite  des  Baumes,  die 
am  meisten  zu  leiden  hat,  eine  Art  Schirmwirkung 
gegen  die  andringenden  Dämpfe  zugunsten  der 
anderen  Seite  aus;  beobachtet  man  doch  diese 
schirmende  Wirkung  in  noch  höherem  Maße  bei 
Bäumen,    die   dicht    hinter  Häusern    oder  Mauern 


Etwas  von  der  Zelluloidindustrie.  Das  Geburts- 
jahr der  Zelluloidindustrie  ist  das  Jahr  1868.  Ihr 
Umsatz,  allein  in  Deutschland,  betrug  im  Jahre 
1906  80  Millionen  Mark,  eine  Zahl,  die  es  wohl 
rechtfertigt,  dieser  Körperklasse  einige  Zeilen  zu 
widmen. 

Die  Zelluloidkörper  gehören  in  das  Gebiet  der 
Kunststoffe.  Unter  Zelluloidindustrie  verstehen 
wir  die  Fabrikation  von  Massen,  die  als  Hörn-, 
Elfenbein-,  Bernstein-,  Schildpattersatz  u.  dgl. 
mehr  Verwendung  finden.  Da  die  ganze  Körper- 
klasse von  dem  Zelluloid  ihren  Namen  erhalten 
hat,  wollen  wir  von  diesem  Stoffe  ausgehen. ') 

Zelluloid  ist  chemisch  eine  innige  Mischung 
von  Nitrozellulose  mit  Kampfer.  VVährend  die 
Nitrozellulose  allein  sehr  spröde  ist,  verliert  sie  in 
dem  Gemisch  ihren  Charakter;  das  Zelluloid  ist 
bei  gewöhnlicher  Temperatur  hornartig  fest,  aber 
dennoch  sehr  elastisch,  bei  erhöhter  Temperatur 
plastisch  und  formbar  und  nimmt  dann  bei  ge- 
wöhnlicher Temperatur  wieder  die  alte  Härte  an. 
Diesen  Prozeß  können  wir  mit  dem  Zelluloid  be- 
liebig  oft  wiederholen. 

Zelluloid  ist  nicht  das  erste  Produkt,  welches 
durch  Versuche  erhalten  wurde,  um  aus  Nitro- 
zellulose eine  Masse  herzustellen,  die  in  obiger 
Richtung  verwendet  werden  konnte.  Spill  und 
Parkes  versuchten  schon  das  Kollodium  durch 
Rizinusölzusätze  zu  einer  geschmeidigeren  Masse 
zu  machen.  Später  verwendete  man  Zusätze,  die 
sich  im  Laufe  des  Verfahrens  nur  zum  Teil  ver- 
flüchtigten, wie  Amylalkohol.  Bei  der  \'erwen- 
dung  des  Zelluloids  stellten  sich  allmählich  Un- 
annehmlichkeiten heraus,  die  dazu  führten,  sich 
nach  Ersatzstoffen  umzusehen;    der  Kampfer    war 


')  Zeitschrift  f.   angew.  Chemie  79,  26. 


796 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  50 


nämUch  früher  sehr  teuer  und  außerdem  war  das 
Zelhiloid  sehr  feuergcfährhch. 

Wenn  wir  in  dem  Zelluloid  einen  oder  beide 
Bestandteile  ersetzen,  so  erhalten  wir  verschiedene 
Wege  zur  Darstellung  neuer  Produkte.  Als  Ersatz 
für  Nitrozellulose  kommen  nur  andere  Zellulose- 
ester in  hVage,  besonders  die  Azetylzellulosen. 
Für  diese  Stoffe  ist  jedoch  der  Kampfer  kein 
Lösungsmittel  und  man  hat  überhaupt  keinen 
anderen  Stoft'  gefunden,  der  auf  diese  Ester  so 
wirkt,  wie  Kampfer  auf  Nitrozellulose.  Erst  die 
durch  Hydrolyse  entstehenden  hydrolysiertcn  Ester 
geben  nach  M il es  mit  Kampfer  plastische  Massen. 
Wir  bezeichnen  auf  diese  Weise  entstehende 
Körper,  welche  die  Eigenschaften  der  Zellulose 
besitzen,  als  „zelluloidartige  Körper". 

Auch  den  Kampfer  hat  man  durch  weich- 
machende Zusätze  bzw.  durch  hochsiedende 
Lösungsmittel  zu  ersetzen  gesucht.  Diese  Stoffe 
hatten  aber  nicht  die  Wirkung  auf  Nitrozellulose, 
wie  sie  Kampfer  auf  diesen  Ester  ausübt.  Wir 
können  solche  weichmachenden  Stoffe  lediglich 
als  .,Weichmachungsmittel"  ansehen;  man  erhält 
jedoch  so  kein  Zelluloid  bzw.  keine  zelluloidartige 
Masse,  weil  ihr  die  Plastizität  in  der  Wärme  fehlt, 
es  resultiert  vielmehr  eine  „kollodiumartige  Masse". 
Nur  diejenigen  Körper,  welche  Kampfer  bei  Nitro- 
zellulose oder  bei  einem  anderen  Zelluloseester 
gleichartig    zu    ersetzen    vermögen,    d.  h.    sie    zu 


plastischen  Massen  überfüliren ,  dürfen  wir  als 
Kampferersatzmittel  und  die  Produkte  selbst  als 
,, zelluloidartige  Massen"  bezeichnen. 

Andererseits  hat  man  aber  auch  Massen  her- 
gestellt, die  keinen  Zelluloseester  mehr  enthalten, 
die  aber  dennoch  Zelluloid  mehr  oder  weniger 
ersetzen  können.  Hierher  gehören  Galalith  —  ein 
durch  Formaldehyd  gehärtetes  Kasempräi^arat  — 
und  Bakelite  —  ein  Kondensationsprodukt  des 
Formaldehyds  mit  Phenolen;  außerdem  kommen 
hier  noch  die  aus  Gelatine  hergestellten  Massen, 
sowie  diejenigen  aus  Zellulosehydrat  (Monit,  Vis- 
coid)  in  Frage.  Da  diese  Körper  keinen  Zellulose- 
ester enthalten,  müssen  wir  sie  als  ,,Ersatz- 
produkte  des  Zelluloids"  oder  als  ,,zellu- 
loidähnl  iche  Massen"  bezeichnen. 

Wir    können    somit  das  Gebiet    der  Zelluloid- 
körper folgendermaßen  einteilen : 
zelluloidartig 
Zelluloid' 

^  zelluloidähnlich 
(Zelluloidersatz) 
Kollodium  —  koUodiuniartig. 
Wir  sind  somit    gezwungen,    mehr   als    bisher 
eine  Unterscheidung  zwischen    den  Körpern,    die 
wir    seither    als    zelluloidartig    bezeichnet    haben, 
eintreten    zu    lassen.     Wir    müssen    den    größten 
Teil  derselben  als  kollodiumartig  ansehen. 

Otto  Bürger. 


Hansen,  Prof.  Dr.  Adolf,    Repetitorium  der 
Botanik  für  Mediziner,  Pharmazeuten, 
Lehramtskanditalen  und  Studierende 
der    Forst-    und    Landwirtschaft.       Mit 
8  Tafeln  und  41  Textabbild.     0-  umgearbeitete 
und    erweiterte    .Auflage.      Gießen    1914,    Alfr. 
Töpelmann.  —  Preis  geb.  4  Mk. 
Es  erübrigt  sich  fast,    einem  so  allgemein  be- 
nutzten Buche,  wie  es  das  nunmehr  in  der  9.  Auf- 
lage vorliegende  Hansen 'sehe   Repetitorium  ist, 
noch  ein  Wort  der  Empfehlung  mit  auf  den  VVeg 
zu  geben.      Wer    eine   zuverlässige    Unterlage  für 
seine  botanischen  Repetitionen    haben  will,   wird 
in  diesem    Büchlein    ein    gutes  Hilfsmittel  kennen 
lernen.    Auf  88  Seiten  wird  die  allgemeine  Botanik 
(.Anatomie,   Morphologie,    Phj'siologie)    behandelt, 
auf  112  ein  Überblick  über  das  System  gegeben. 
Der  Verf  hält  sich  aus  didaktischen  Gründen  an 
das  einfachere  Ei  chl  er'sche,  fügt  aber  eine  Ta- 
belle   der    Familien    nach     dem    Engler'schen 
System  bei.     Den  Schluß  macht  eine  Aufzählung 
der  offizineilen  Pflanzen.  Miehe. 


Bücherbesprechungen. 

Das  Gebiet 


Soddy,  Frederick.,  DieChemie  derRadio- 
e  1  e  ni  e  n  t  e.  Deutsch  von  Max  I  k  1  e,  zweiter  Teil : 
Die  Radioelemente  und  das  Periodische  Gesetz. 
Leipzig,  Verlag  von  Joh.  Ambrosius  Barth. 
1914.  —  Preis  2  Mk.,  geb.  2,80  Mk. 


der  Radioaktivität  ist,  wie  kaum 
ein  anderer  Teil  der  naturwissenschaftlichen 
Forschung,  in  stetem  Fluß  begriffen.  Anschau- 
ungen, die  heute  von  Forschern  in  Form  von 
mehr  oder  weniger  kühnen  Hypothesen  geäußert 
werden,  können  morgen  schon  durch  neues  ex- 
perimentelles Beweismaterial  sichergestellt  sein. 
Der  Forscher,  der  das  Gebiet  der  radioaktiven 
Erscheinungen  in  einem  Buch  zusammenfassend 
darstellt,  sieht  sich  daher  schon  oft  nach  kurzer 
Zeit  genötigt,  den  Fortschritten  unserer  Erkennt- 
nis durch  Ergänzungen,  Erweiterungen  und  Um- 
deutungen  Rechnung  zu  tragen.  Man  könnte  es  daher 
fast  für  wünschenswert  halten,  daß  die  schon  sehr 
angeschwollene  Radiumliteratur,  soweit  sie  die  Zu- 
sammenfassung unserer  jeweiligen  P>kenntnisse  in 
Buchform  anbetrifft,  in  etwas  weniger  kurzen  Zwi- 
schenräumen bereichert  würde.  .Allerdings  könnte 
diesem  Einwand  entgegen  gehalten  werden,  daß 
bei  der  Wichtigkeit  der  F"ortschritte,  die  uns  jedes 
Jahr  auf  dem  Gebiet  der  Radioaktivität  bringt, 
auch  ein  öfterer  Überblick  über  das  Erreichte  Be- 
dürfnis ist.  Eine  derartige  Zusammenfassung  ist 
um  so  mehr  willkommen,  wenn  sie,  wie  im  vor- 
liegenden F"alle,  tatsächlich  ein  Stadium  darstellt, 
das  durch  einen  gewissen  Abschluß  gekennzeichnet 
zu  sein  scheint. 

Das  unübersehbare  Gewirr  neuer  Radioelemente 


N.  F.  XIII.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


797 


und  ihrer  Beziehungen  zueinander  ist  allmählich 
übersichtlicher  geworden.  Durch  die  Forschungen 
von  Fleck,  Russell,  Fajans,  Soddy  und 
anderen  sind  Regelmäßigkeiten  erkannt  worden, 
die  sich  auf  die  Verschiebung  der  Plätze  der  Radio- 
elemente im  periodischen  System  bei  der  Aus- 
stoßung eines  a-  oder  /^-Teilchens  beziehen. 
Die  Frage  der  Verzweigung  radioaktiver  Um- 
wandlungsreihen ist  wenigstens  in  großen  Um- 
rissen einer  Klärung  entgegen  geführt  worden. 
Durch  die  Einführung  des  Begriffs  der  Isotopen 
ist  endlich  eine  Reduzierung  der  mehr  als  30 
radioaktiven  Elemente  auf  etwa  zehn  Grundtypen 
ermöglicht  worden.  Und  den  Beweis  dafür,  daß 
die  Forschung  jetzt  nicht  mehr  in  dem  Maße  wie 
früher  in  einer  terra  incognita  arbeitet,  liefert 
die  Tatsache,  daß  es  nunmehr  gelungen  ist,  die 
bekannten  radioaktiven  Elemente  in  dem  altbe- 
währten periodischen  System  unterzubringen.  Hier- 
bei hat  zwar  die  Mendelej  eff'sche  Anordnung 
der  Elemente  eine  etwas  abgeänderte  Form  er- 
halten, aber  diese  neue  Änderung  hat  sich  als 
eine  bedeutsame  Fortentwicklung  des  primitiven 
ursprünglichen  Schemas  erwiesen,  die  ein  weit 
größeres  Tatsachengebiet  umfaßt,  neue  Zusammen- 
hänge befriedigend  erklärt  und  gleichzeitig  der 
künftigen  Forschung  wichtige  Leitlinien  vorzeichnet. 
Wer  sich  für  diese  bedeutsamen  Fragen  inter- 
essiert, wird  aus  dem  Buch  von  Soddy  wertvolle 
Anregungen  empfangen.  Es  braucht  nicht  besonders 
betont  zu  werden,  daß  der  Verfasser,  der  selbst 
als  Pionier  bei  der  Erschließung  des  neuen  Gebiets 
mitgeholfen  hat,  auch  in  diesem  Buch  sich  als 
Meister  einer  klaren,  anziehenden  Darstellungsweise 
bewährt.  Dr.  Günther  Bugge-Leipzig. 


Ostwald,  Wilhelm,  Moderne  Naturphilo- 
sophie. I.  Die  Ordnungswissenschaften. 
Leipzig  1914,  Akademische  Verlagsgesellschaft. 
Der  vorliegende  stattliche  Band  gibt  sich  als 
der  erste  Teil  eines  umfassenden,  auf  drei  Teile 
berechneten  Gesamtwerkes,  das  der  berühmte  Verf 
uns  zwar  nicht  bestimmt  verspricht,  wohl  aber 
als  eigenen  Wunsch  und  Hoffnung  in  Aussicht  stellt. 
Wir  können  unsererseits  nur  der  Hoffnung  Aus- 
druck verleihen,  daß  es  Ostwald  vergönnt  sein 
möge,  das  gesamte  Werk  in  dem  geplanten  Um- 
fange zur  Ausführung  zu  bringen.  Denn  es 
handelt  sich  um  eine  erweiterte,  dem  augenblick- 
lichen Stande  der  Sache  und  Ostwald's  aus- 
gereiften Ideen  darüber  entsprechende  Darstellung 
des  gesamten,  von  dem  Verf.  bereits  früher,  in  den 
„Vorlesungen  über  Naturphilosophie",  behandelten 
Gebietes.  Der  zweite  Teil  würde  die  energetischen, 
der  dritte  die  biologischen  Wissenschaften  zu 
behandeln  haben.  Es  ist  keine  Frage,  daß  ein 
solches  abgeschlossen  vorliegendes  Werk  aus  der 
Feder  des  Mannes,  dessen  Namen  unzertrennlich 
mit  der  neueren  naturphilosophischen  Strömung 
verknüpft  ist,  ein  Knoten-  und  Durchgangspunkt 
dieser  ganzen  Bewegung  werden  muß.  Besonders 
ein  Problem  wird  dabei  in  den  Vordergrund  der 


Betrachtung  und  Diskussion  rücken,  nämlich  ob 
resp.  wieweit  die  „Naturphilosophie"  von  der 
Naturwissenschaft  einerseits,  der  Philosophie 
andererseit  als  ein  selbständiger  Komplex  abzu- 
grenzen ist.  Natürlich  handelt  es  sich  dabei  um 
etwas  anderes  als  die  bloße  Aufstellung  eines 
gleichgültigen  Schemas. 

Der  vorliegende  Band  ist  echt  ostwaldisch 
und  wird  gleichermaßen  Zustimmung  und  Be- 
kämpfung erfahren,  erstere  von  naturwissenschaft- 
licher, letztere  von  eigentlich  philosophischer 
Seite.  Denn  es  ist  einmal  so,  daß  das,  was  der 
Verf  hier  bietet,  doch  eigentlich  nur  raffinierte, 
d.  h.  gereinigte,  möglichst  auf  ihre  Elemente  ge- 
brachte Naturwissenschaft  ist.  Dabei  wird  ja 
philosophisches  Gebiet,  z.  B.  das  der  Logik,  be- 
treten, und  gewiß  sind  Ostwald's,  ersichtlich 
und  auch  nach  seiner  eigenen  Angabe  stark  von 
Mach  beeinflußte  Ausführungen  in  den  betr. 
Kapiteln  scharfsinnig  und  lesenswert.  Aber,  wie 
es  wenigstens  Referent  scheint,  hat  die  haupt- 
sächliche und  entscheidende  Probe  einer  modernen 
Naturphilosophie,  die  auf  die  Dauer  lebenskräftig 
sein  will,  an  anderer  Stelle  zu  erfolgen.  Es  wird 
sich  zuletzt  immer  um  eine  Auseinandersetzung 
mit  dem  Kritizismus,  mit  Kant 's  theoretischer 
Philosophie  handeln  müssen,  denn  hier  erst  kommt 
zur  wirklichen  Entscheidung,  was  das  Denken  einer- 
seits, die  Natur  andererseits  miteinander  zu  schaffen 
haben.  Hiervon  findet  sich  nun  in  dem  Werke, 
soweit  es  vorliegt,  gar  nichts.  In  den  wenigen 
Stellen,  an  denen  beiläufig  von  Kant  und  Kanti- 
schen Anschauungen  die  Rede  ist,  liegen  die  Miß- 
verständnisse —  um  kein  stärkeres  Wort  zu  ge- 
brauchen —  so  offen  zutage,  daß  man  das  Vorbei- 
gehen gerade  Ostwald's  an  dieser  Aufgabe  nur 
begrüßen  kann.  Deshalb  muß  aber  die  Aufgabe 
selbst  doch  in  Angriff  genommen  werden.  Referent 
möchte  bei  dieser  Gelegenheit  auf  das  vortreff- 
liche Buch  Edmund  König's:  „Kant  und 
die  Naturwissenschaft"  (Braunschweig  bei  Vieweg 
und  Sohn,  1907)  nachdrücklich  hingewiesen  haben. 
Aus  diesem  inhaltreichen  und  nicht  umfänglichen 
Werk  kann  jeder  Naturforscher  lernen,  worauf  es 
in  dieser  Materie  ankommt. 

Sieht  man  von  der  gekennzeichneten  Unterlassung 
ab,  die  ja  aus  Ostwald's  Persönlichkeit,  wie  sie 
einmal  ist  und  genommen  werden  muß,  wohlver- 
ständlich ist,  so  kann  man  sich  der  klaren  und 
scharfsinnigen,  nur  bisweilen  etwas  breit  gegebenen 
Ausführungen  des  inhaltreichen  Werkes  desto  un- 
befangener erfreuen  und  den  Wert  vieler  derselben 
betonen.  Findet  der  Philosoph  nicht  alles,  was 
er  suchte,  so  dürfte  umgekehrt  der  reine  Natur- 
wissenschaftler, der  auch  heute  noch  meist  einem 
kritiklosen  Empirismus  ergeben  ist,  in  den  Kapiteln 
über  Begriffsbilduiig,  Gruppenbildung,  der  mög- 
lichen Beziehungen  zwischen  solchen  Gruppen, 
ferner  in  den  Zusammenstellungen  und  Be- 
sprechungen der  Axiome,  die  der  Algebra  und 
der  Geometrie  zugrunde  liegen,  vieles  finden,  das 
er    bisher    nicht   ahnte   oder    doch    in   seiner  Be- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  50 


deutung,  auch  für  spezielle  wissenschaftliche 
Fragen  und  Untersuchungen,  nicht  gewürdigt  hat. 
In  diesem  Sinne  ist  das  Studium  des  Werkes  vor 
allem  den  etwas  älteren  Semestern  unsererStudieren- 
den,  die  in  den  Lehrbüchern  ihrer  Disziplinen  bereits 
einigermaßen  Bescheid  wissen  und  also  über  ein 
gewisses  Maß  positiver  Kenntnisse  verfügen,  dringend 
zu  empfehlen. 

Ein  beiOstwald  immer  wieder,  und  so  auch 
in  diesem  Werke  stark  hervortretender  Zug,  der 
offenbar  für  seine  gesamte  geistige  Struktur  sehr 
maßgebend  ist,  ist  seine  Unduldsamkeit  gegen 
alles,  was  sich  einer  rein  verstandesgemäßen, 
nüchternen  Aufteilung  und  Behandlung  der  Welt 
widersetzt.  Hier  scheiden  sich  oftenbar  die  Geister, 
und  wenn  Referent  bekennen  muß,  in  einer  Welt, 
die  Ostwald's  Ideale  ohne  Überschuß  verkör- 
perte, schlechtweg  nicht  leben  zu  mögen,  so 
werden  sich  andererseits  Menschen  finden,  die 
jene  Ideale  auch  als  die  ihren  anerkennen.  Zu 
jener  Unduldsamkeit  gehört,  um  ein  hervor- 
stechendes Beispiel  zu  geben,  seine  Mißachtung 
der  Sprache.  VVo  das  Wort  Sprache  nur  erwähnt 
wird,  kann  man  sicher  sein,  daß  das  unglückliche 
Wesen  einen  Fußtritt  bekommt.  Wenn  Ostwald 
auch  gelegentlich  versichert,  sein  Zorn  gelte  nur 
gewissen  Schwächen  der  Sprache,  soweit  sie 
wissenschaftlichen  Zwecken  diene,  so  scheint  doch 
immer  wieder  zwischen  den  Zeilen  zu  lesen,  daß 
Ostwald  das  ganze  menschliche  Dasein,  ja  das 
Universum  selber  im  Grunde  lediglich  als  Material 
für  wissenschaftliche  Untersuchungen  und  Klassifi- 
kationen betrachtet.  Oder  doch  mindestens,  daß 
diese  alles  andere  an  Wichtigkeit  und  Bedeutung 
derart  überwiegen,  daß  man  wohl  daran  täte,  alles, 
was  sich  an  und  in  der  Welt  überhaupt  bestimmen 
und  einrichten  läßt,  nach  naturwissenschaftlichen  Be- 
dürfnissen zu  bestimmen  und  einzurichten.  Solcher 
geistiger  Veranlagung  gegenüber  müssen  alle  aus 
anderen  menschlichen  Bedürfnissen  motivierten 
Argumente  notwendigerweise  wirkungslos  bleiben. 
Wer  sich  nur  in  einem  aufgeräumten  Bureau  wirklich 
wohl  fühlt,  der  wird  die  trauliche  Unordnung 
eines  Wohnzimmers  im  Zustande  seiner  Benutzung 
stets  widerwärtig  empfinden,  und  dem,  der  nur 
den  altfranzösischen  Garten  mit  symmetrischen 
Hecken,  kugelförmig  geschnittenen  Bäumen  und 
dergleichen  schätzt,  wird  ein  Stück  freigewachsene 
Natur  ein  Gräuel  sein,  dem  gegenüber  er  nur  die 
Hoffnung  zu  Hilfe  rufen  kann,  alles  dies  wilde 
Wesen  werde  von  einer  späteren  und  vernünftiger 
gewordenen  Menschheit  ebenfalls  hübsch  ordentlich 
beschnitten  und  in  saubere  Reihen  und  Gruppen 
gestellt  werden.  Wir  anderen  aber  wollen  hoffen, 
daß  die  strenge  Wissenschaft  und  die  unerschöpf- 
liche Fülle  des  Lebens  und  der  Welt  noch  anders 
miteinander  auszukommen  wissen  werden,  als  in- 
dem die  eine  der  anderen  die  Kehle  abschneidet. 

Was  die  Sprache  angeht,  so  liegt  das  Korrektiv 
Ostwald's  Auffassung  gegenüber  darin,  daß  sie 
außer  den  naturwissenschaftlichen  noch  einer 
ziemlichen    Anzahl   anderer  menschlicher  Zwecke 


zu  dienen  hat,  von  denen  einige  von  wenigstens 
gleicher  Wichtigkeit  sein  dürften.  Wenn  nun 
Ostwald  anführen  würde,  es  handele  sich  nur 
darum,  die  Sprache  nach  streng  logischen  Grund- 
sätzen zu  reformieren  und  dergestalt  aus  einem  zucht- 
los aufgewachsenen  Organismus  einen  sauberen 
Mechanismus  zu  machen,  was  nicht  nur  der  Natur- 
wissenschaft, sondern  allen  anderen  Disziplinen 
gleichmäßig  zugute  kommen  müßte,  so  liegt  auch 
hier  wieder  die  Nichtberücksichtigung  des  Umstands 
zugrunde,  daß  es  Werte  jenseits  aller  Wissenschaft 
überhaupt  gibt,  Werte  des  täglichen  Lebens,  Werte 
der  Kunst,  die  ebenfalls  die  Sprache  brauchen.  Eine 
konkrete  Sprache,  etwa  die  deutsche,  kann  aber 
doch  nur  eine  sein.  —  Wie  nun  der  Dichter, 
um  Besonderes  auszudrücken,  in  individueller  Be- 
handlung und  Fortbildung  diesem  allgemeinen 
Element  den  Stempel  dichterischer,  ja  sogar  per- 
sönlicher Besonderheit  aufzudrücken  versteht  — 
durch  Rhythmus,  Reim,  Wahl  der  Worte  und  so 
fort,  so  ist  es  auf  der  anderen  Seite  der  Natur- 
wissenschaft unbenommen,  durch  Definitionen,  For- 
meln und  andere  Hilfsmittel  die  Sprache  ihren 
speziellen  Zwecken  gefügig  zu  machen,  wie  es 
ja  auch  im  weitesten  Umfange  wirklich  und  mit 
Vorteil  geschieht.  Gerade  die  wundervolle 
Schmiegsamkeit  und  Bildsamkeit  des  in  der 
Sprache  verkörperten  Materials,  die  soweit  geht, 
daß  ein  jeder  eigene  Mensch  seine  eigene  Sprache 
herausformen  und  reden  kann  —  man  denke  an 
unsere  großen  Schriftsteller  —  sowie  der  L'm- 
stand,  daß  die  Sprache  dem  Leben,  der  Kunst 
und  der  Wissenschaft  gleichzeitig  zu  dienen  hat, 
läßt  jeden  willkürlichen  Eingriff  in  ihr  Gefüge 
schon  aus  rein  verstandesgemäßen  Gesichtspunkten 
als  untunlich  erscheinen.  Die  Sprache  ist  ein 
allgemeines  Gut  und  dürfte  schon  deshalb,  selbst 
wenn  es  möglich  wäre,  nie  speziellen  Zwecken 
zuliebe  umgestaltet  werden. 

Etwas  anderes  ist  es  natürlich,  wenn  Ost- 
wald  sich  für  Schaffung  einer  künstlichen,  durch- 
aus logisch-regelmäßig  konstruierten  Sprache  für 
Geschäfts-,  Verkehrs-  und  wissenschaftliche  Zwecke 
erklärt.  Das  wäre  dann,  was  die  natürlich  er- 
wachsenenSprachen  weder  sein  können  noch  sollen, 
ein  rein  praktisches  Hilfsmittel,  dem  wir  nicht 
mehr  Respekt  schuldig  sind  als  etwa  einem  Pfropfen- 
zieher. 

Und  damit  kommen  wir  zum  eigentlichen 
Kern  der  Angelegenheit.  Ostwald  ist  mit  Be- 
wußtsein und  Nachdruck  unhistorisch,  ja  anti- 
historisch, traditionslos,  absichtlich  pietätlos.  Der 
Zusammenhang  mit  früheren  Zeiten  und  Ge- 
schlechtern ist  ihm  nichts,  oder  vielmehr,  ist  ihm 
unnützes  und  schädliches  Überbleibsel,  nur  wert, 
möglichst  gründlich  ausgerottet  zu  werden.  So 
ist  sein  Urteil  über  die  Sprache  nur  ein  einzelnes 
Symptom  einer  allgemeinen  radikalen  Denkungs- 
weise. 

Wieder  wird  man  zunächst  sagen  können,  daß 
solche  Denkungsweise  an  ihrem  Orte  und  in 
ihrem   gewiesenen  Umfange   durchaus  berechtigt 


N.  F.  Xm.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


799 


ist.  Einen  Ausspruch,  wie:  „Das  Neue  ist  im 
allgemeinen  das  Bessere,"  wird  man  einem  be- 
deutenden Naturforscher  gewiß  nachfühlen  können; 
denn  wo  der  Fortschritt,  wie  in  der  Chemie  und 
mancher  anderen  Disziplin,  wesentlich  in  der  Ent- 
deckung, Sichtung  und  In-Beziehung-Setzung  von 
immer  neuem  und  umfassenderem  Erfahrungs- 
material liegt,  ist  er  zweifellos  richtig.  Nur  daß 
aus  Ost  wald 's  weiteren  .Ausführungen  die  ofien- 
sichtlichc  Neigung  spricht,  diesen  Grundsatz  von 
den  Naturwissenschaften  im  engeren  Sinne  auf 
alle  Wissenschaft,  dann  aber  auch  auf  die  Kunst 
und  den  ganzen  Umkreis  des  menschlichen  Lebens 
zu  übertragen.  Hier  beginnt  sofort  wieder  die 
schädliche  und  unberechtigte  Verallgemeinerung, 
das  Bestreben,  die  ganze  Welt  über  den  natur- 
wissenschaftlichen Leisten  zu  schlagen.  Gewiß  ist 
kritiklose  Überschätzung  des  Alten,  nur  weil  es 
alt  ist,  hemmend  und  schädlich ;  ob  aber  prin- 
zipielle Minderbewertung,  die  sich  auf  die  gleiche 
Begründung  stützt,  irgendwie  vorzuziehen  ist? 
Wenn  jene'  neben  Wertvollem  gelegentlich  Gering- 
wertiges erhält  oder  anpreist,  so  ist  das  ein  Zu- 
viel, das  leicht  korrigiert  werden  kann.  Wenn 
aber  diese  mit  dem  Minderwertigen  auch  Wert- 
volles beseitigt,  so  ist  der  Schaden  unvergleichlich 
größer.  Außerdem  gibt  es  aber  eine  große  An- 
zahl gewichtiger  menschlicher  Interessen,  bei  denen 
Ostwald's,  unbesehen  von  einem  Spezial- 
gebiet aufs  Ganze  übertragene  Anschauungsweise 
gar  nicht  anwendbar  ist,  Interessen  und  Probleme, 
bei  deren  Behandlung  die  im  Laufe  der  Zeiten 
anwachsende  empirische  Erfahrung  der  Mensch- 
heit keine  oder  doch  keine  entscheidende  Rolle 
spielt.  Dazu  gehören  nicht  nur  die  rein  künst- 
lerischen Probleme,  bei  denen  es  ja  gewissermaßen 
auf  der  Hand  liegt,  sondern  auch  nicht  wenige 
Fragen  der  Wissenschaft,  speziell  der  Philosophie, 
und  vor  allem  des  praktischen  Lebens. 

Ostwald  gehört  —  und  mit  Recht  —  zu 
den  Männern,  deren  Worte  gehört  und  beachtet 
werden,  auch  wo  sie  sich  über  Dinge  verbreiten, 
die  nicht  dem  ursprünglichen  Fach  des  .Tutors 
angehören.  Um  so  verwirrender  aber  kann  es 
auf  junge  ungefestigte  Köpfe  wirken,  wenn  ein 
Solcher  Mann  zu  Kompetenz-  und  Grenzüber- 
schreitungen neigt,  was  natürlich  nicht  persönlich, 
sondern  sachlich  zu  verstehen  ist.  Jegliches  Ding 
und  Gebiet  muß  in  seinem  eignen  Umkreise  und 
aus  seiner  inneren  Natur  heraus  verstanden,  be- 
urteilt und  gefördert  werden.  Und  so  kann  die 
Kritik  nicht  schweigen,  wenn  ein  Naturforscher 
Ansprüche,  die  in  seiner  Wissenschaft  zu  Recht 
bestehen,  auf  Gebiete  zu  übertragen  versucht,  wo 
sie  gar  nicht  oder  doch  nicht  in  gleicher  Art  und 
Weise  geltend  gemacht  werden  können. 

Wasielewski. 

Anregungen  und  Antworten. 

Der  Grüne  Strahl.  Des  Rätsels  Lösung.  In  der  Notiz 
(Nr.  40)  des  Herrn  Professor  Dr.  Riem  wird  nach  Mitteilung 
einer  Beobachtung  des  Grünen  Strahls  es  für  „sehr  wünschens- 


wert" erklärt,  daß  ,,auch  von  anderen  Seilen  versucht  würde, 
Material  herbeizuschaffen ,  um  die  Bedingungen  festzustellen, 
unter  denen  der  ,, Grüne  Strahl"  auftritt." 

Man  nehme  es  dem  Schreiber  dieser  Zeilen  nicht  übel, 
wenn  er  aus  zwei  Gründen  davon  abraten  möchte.  Zunächst 
ist  das  Phänomen  inzwischen  bereits  vollständig  erklärt  und 
dann  sind  solche  Versuche  recht  gefährlich ,  solange  der 
Beobachter  die  Fertigkeit  nicht  besitzt,  mit  sehr  starken  Licht- 
quellen richtig  umzugehen.  Herr  Riem  hat  einen  Feldstecher 
mit  5  mm  Austrittspupille  benutzt,  der  für  diese  Zwecke,  weil 
,, ungewöhnlich  lichtstark",  besonders  ungeeignet  ist.  Man 
weiß,  daß  Galilei  durch  unzweckmäßige  Sonnenbeobachtungen 
erblindete,  und  wer  nach  Sonnenfinsternissen  Gelegenheit 
hatte,  in  den  Augenkliniken  Patienten  mit  Scotoma  helieclipticura 
zu  untersuchen,  der  wird  sich  über  die  Gefahr  völlig  klar 
sein.  Wer  nun  überhaupt  das  Auge  dazu  bewaffnen  will, 
der  kann  zur  Beobachtung  des  Grünen  Strahles  höchstens 
ein  dunkles  Neutralglas  benutzen. 

Vielleicht  mißlingt  aber  dann  gerade  die  Verfolgung  der 
an  sich  sehr  interessanten  Erscheinung,  weil  diese  nämlich 
rein  subjektiv  ist.  Es  handelt  sich  dabei,  wie  Dr.  A.  Kühl 
von  der  Münchener  Sternwarte  experimentell  nachgewiesen 
hat  (Näheres  im  Septemberheft  des  ,, Sirius"  S.  zog,  Lpz., 
Mayer),  um  ein  farbiges  (blaugrünes)  Nachbild  des  orange- 
farbenen letzten  Sonnensegmentes.  Nur  wenn  dieses  eine  ge- 
wisse Zitterbewegung  ausführt ,  tritt  die  Komplementärfarbe 
deutlich  hervor.  Die  unregelmäßige  Verteilung  verschieden 
erwärmter  Luftschichten  ist  für  die  Hervorrufung  der  Zitter- 
bewegung der  Sonne  wichtig ,  hat  aber  mit  der  „anormalen 
Refraktion"  nichts  zu  tun.  Diese  anscheinend  besonders  auf 
Arrhenius  zurückgreifende  Theorie  des  Grünen  Strahles  ist 
ganz  unzutreffend,  denn  wenn  man  die  betreffende  atmosphä- 
rische Dispersion  ausrechnet,  ergibt  sich,  daß  das  grüne 
Segment  viel  zu  schmal  wird,  um  für  das  Auge  erkennbar  zu 
sein.  Daß  sich  der  ,, Grüne  Strahl"  in  eine  Augentäuschung 
auflöst,  ist  sehr  erfreulich,  denn  mancher  Forscher  wird  jetzt 
vor  Blendungs-Netzhaut-Entzündung  bewahrt  werden. 

Dr.  Kritzinger. 


Herrn  MV.  M.  in  E. 


Welches  sind    die  besten ,    auch 


für  Laien    verständlichen  Schriften    über    ,, Chemie    der  Küche 
und   des  Haushaltes"  ? 


Da  die  praktische  Eignung  populär  -  wissenschaftlicher 
Schriften  für  bestimmte  Personen  nicht  nur  von  dem  wissen- 
schaftlichen Wert  der  fraglichen  Schriften,  sondern  in  hohem 
Maße  auch  von  Eigenschaften  der  betrefienden  Personen  ab- 
hängt, müssen  wir  uns  hier  darauf  beschränken,  Ihnen  im 
folgenden  einige  sachgemäß  geschriebene  Werke  zu  nennen 
und  zu  empfehlen,  sie  sich  von  ihrem  Buchhändler  zur  An- 
sicht vorlegen  zu  lassen. 

1.  Otto  Ule's  Warum  und  Weil.  Fragen  und  Ant- 
worten aus  den  wichtigsten  Gebieten  der  gesamten  Naturlehre. 
Chemischer  Teil.     Berlin,  Klemann's  Verlag. 

2.  Dr.  G.  Abel,  Chemie  in  Küche  und  Haus.  2.  Aufl. 
Leipzig,  B.  G.  Teubner.     Preis  geh.    i   Mk.,  geb.   1,25  Mk. 

3.  Dr.  H.  Bauer,  Die  Chemie  der  menschlichen  Nah- 
rungsmittel. Leipzig,  Verlag  von  Theod.  Thomas.  Preis  geh. 
60  Pf.,  geb.  85   Pf. 

4.  Dr.  H.Bauer,  Chemie  der  menschlichen  Genußmittel. 
Leipzig,  Verlag  von  Theod.  Thomas.  Preis  geh.  60  Pf.,  geb. 
85  Pf. 

Verwiesen  sei  ferner  auch  auf  die  folgenden  beiden 
Schriften : 

5.  Prof.  Dr.  Lassar-Cohn,  Die  Chemie  im  täglichen 
Leben.     Leipzig,  Verlag  von  Leopold  Voß.     Preis  geb.  4  Mk. 

6.  L.  Wunder,  Physikalische  Beobachtungen  und  Er- 
klärungen in  Küche  und  Haus.  Leipzig,  Verlag  von  Theod. 
Thomas.     Preis  geh.  40  Pf,   geb.  65  Pf.  Mg. 

7.  Prof.  Dr.  P.  Meilmann,  Chemie  des  täglichen  und 
wirtschaftlichen  Lebens.  Leipzig,  Verlag  der  modernen  kauf- 
männischen Bibliothek,  G.  m.  b.  H.     Preis  geb.  2,75   Mk. 

E.,  Königsberg.    —    Das    Molekulargewicht    von  Eiweiß- 


stoffen.     Zur    Ermittlung   des    Molekulargewichts    der   Eiweiß- 
stoffe stehen  verschiedene  Wege  offen.     Aus  den  Ergebnissen 


8oo 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  so 


der  Analyse,  welche  die  prozentuale  Zusammensetzung  liefert, 
läßt  sich  ein  Bild  von  der  Molekulargröl3e  des  Eiweifistoffs 
gewinnen,  wenn  man  durch  Synthese  über  die  Art  seiner 
Bildung  aus  einfachen  Spaltungsstücken  von  bekannter  Mole- 
kulargröiJe  unterrichtet  ist.  So  hat  man  z.  B.  ein  aus  iS  Glie- 
dern bestehendes  Oktadekapeptid  aus  3  Molekülen  1-Leucin 
und  15  Molekülen  Glykokoll  hergestellt;  für  dieses  Polypeptid 
läßt  sich  ein  Molekulargewicht  von  1213  berechnen.  In  vielen 
Fällen  kann  man  aut  indirekte  Weise  zum  Ziel  kommen. 
Beim  Serumalbumin  z.  B.  weiß  man ,  daß  es  bei  der  Pepsin- 
verdauung in  mindestens  2  schwefelhaltige  Körper  zerfällt ; 
da  das  Spaltungsprodukt,  Cystin,  2  Atome  Schwefel  enthält, 
muß  die  aus  der  prozentualen  Zusammensetzung  zu  erwartende 
Molekularformel  mindestens  vervierfacht  werden.  Aus  den 
Erfahrungen  bei  der  Jodierung  muß  sogar  der  Schluß  ge- 
zogen werden,  daß  die  Formel  zu  versechsfachen  ist:  CijoH-j,, 
NiioS|)Oi  joi  was  einem  Molekulargewicht  von  10  166  entsprechen 
würde.  In  ähnlicher  Weise  wird  von  Hofmeister  für  das 
Eieralbumin  der  Wert  5378  berechnet.  Beim  Hämoglobin, 
einer  wegen  seiner  Kristallisierfähigkeit  leicht  rein  zu  erhalten- 
den Substanz,  ließ  sich  aus  dem  prozentualen  Verhältnis  des 
Eisens  und  Schwefels  eine  Mindestmolekulargröße  von  16669 
berechnen,  entsprechend  einer  Formel  CjssHijoaNi^^OjisFeSj. 
Auch  aus  dem  Bindungsvermögen  des  Hämoglobins  für  Kohlen- 
oxyd (l  Molekül  Hämoglobin  bindet  I  Molekül  Kohlcno.xyd) 
ergeben  sich  für  das  Molekulargewicht  dieses  Eiweißkörpers 
ähnliche   Werte  wie  aus  den   Prozentzahlen  des  Eisens. 

Da  die  Eiweißkörper  beim  Erhitzen  in  Lösung  meist  aus- 
fallen, ist  von  den  direkten  Bestimmungsmethoden  diejenige, 
welche  sich  auf  die  Ermittlung  der  Siedepunktserhöhung  grün- 
det, nicht  anwendbar.  Nach  der  Methode  der  Gefrierpunkts- 
erniedrigung ist  von  Pabanaj  e  w  und  Alexan  d  ro  w  für  das 
Molekulargewicht  des  Eicralbumins  der  Wert  14270  gefunden 
worden. 

Eine  dritte  direkte  Methode  für  die  Bestimmung  des 
Molekulargewichtes  von  Eiweißkörpern  beruht  auf  der  Ermitt- 
lung des  osmotischen  Drucks  der  kolloidalen  Lösungen.  Dies 
Verfahren  ist  z.  B.  von  Starling  versucht  worden  (Journal 
of  Physiology  24,  257)  und  neuerdings  von  W.  Biltz  expe- 
rimentell ausgearbeitet  worden  (über  die  mit  Glutin  (Gelatine) 
auf  Grund  von  Versuchen  von  Bugge  und  Mein  er  t  erhal- 
tenen Resultate  wird  in  einer  demnächst  in  der  Zeitschr.  für 
physikalische  Chemie  erscheinenden  Arbeit  berichtet  werden). 
—  Literatur;  O.  Cohnheim,  Chemie  der  Eiweißkörper, 
Braunschweig  1911  r  Handwörterbuch  der  Naturwissenschaften 
Bd.  3,  Gustav  Fischer,  Jena;  ferner  zahlreiche  Einzelarbeiten 
von  Hofmeister,  Kurajeff,  Zinnowsky,  E.  Fischer 
und  anderen  Forschern  in  der  Zeitschrift  für  physiologische 
Chemie,  in  den  Berichten  der  deutschen  Chem.  Gesellsch.,  in 
Pflüger's  Archiv  für  Anatomie  und  Physiologie  usw. 

Dr.  G.  B. 


Zufällige  Harnfarbstoffe.  Nach  Genuß  eines  Gerichtes 
von  ca.  200  g  Reizker  (Lactarius  deliciosus)  beobachtete  ich 
sowohl  bei  mir  als  bei  einer  anderen  Person,  etwa  2  Stunden 
nach  Genuß  des  Gerichtes  sichtbar  werdend  und  etwa  10  Stunden 
anhaltend  eine  orangefarbene,  besser  gesagt  gelbbraun-rötliche 
Harnfärbung.  Der  orangerote  Milchsaft  des  Reizkers  —  der 
Pilz  wird  im  englischen  redmilk,  im  französischen  sanguin  ge- 
nannt —  beruht  auf  einer  Emulsion  mikroskopisch  kleiner, 
unregelmäßig  runder,  gelbrot  gefärbter  Körperchen.  Die  Harn- 
färbung scheint  durch  ein  Abbauprodukt  des  Farbstoffs  dieser 
Körperchen  bedingt  zu  sein.  Einige  Tropfen  Liquor  ferri 
sesquichlorati  lassen  die  Farbe  der  Emulsion  ziemlich  un- 
verändert ,    färben    aber  den    Reizkerharn    dunkelbraunrot,    so 


daß  also  der  Farbstoff  des  Reizkerharns  und  der  der  Emul- 
sion nicht  direkt  identisch  sein  können.  Bei  einer  dritten 
Person  rief  der  Genuß  einer  gleichen  Menge  des  Pilzes  nur 
Dunkelfärbung  des  Harns  hervor,  ohne  die  erwähnte  Reaktion 
zu  geben.  —  Auch  die  bietbraune  Harnfärbung  nach  Ge- 
brauch von  Naphthalin  und  die  Grünfärbung  nach  Santonin, 
das  übrigens  auch  in  den  sog.  Wurmplätzchen  enthalten,  habe 
ich  an  mir  beobachtet.  Aus  der  Literatur  sind  mir  bekannt; 
Rotfärbung  des  Harns  nach  Genuß  von  mit  Eosin  gefärbten 
Leckereien,  desgl.  nach  Genuß  von  Folia  Scnnae  und  Radix 
Rhei.  Nach  Bärentraubenblättertee;  Harn  dunkelbraun  bis 
olivengrün.  Nach  Antipyrin  und  Pyramiden  gelbrot.  Nach 
Methylenblau  (gefärbtem  Konfekt);  Blauharnen.  (Jrünharnen 
nach  Genuß  von  Schokolade,  der  ein  Teerfarbstoff  zugesetzt 
war.  Grün-  und  Blauharnen  bei  sog.  Indigurie,  die  zwar  bei 
kranken  aber  auch  bei  sonst  gesunden  Kindern  beobachtet 
wurde.  Bei  Karbol-  und  Lysolvergifteten  nimmt  der  Harn 
beim  Stehen  an  der  Luft  eine  dunkelgrüne  Färbung  an.  Viel- 
leicht hat  dieser  oder  jener  Leser  vorstehender  Zeilen  die 
Freundlichkeit  mir  sein  etwaiges  Wissen  über  die  sog.  zu- 
fälligen HarnfarbstofTe  mitzuteilen. 

F'riederich  KanngieUer  (Braunfels  ob  der  Lahn). 


Literatur. 

Die  Rheinlande  in  naturwissenschaftlichen  und  geogra- 
phischen Einzeldarstellungen.  Herausgegeben  von  Dr.  C. 
Mordziol.  Nr.  7;  Jurassus  und  Vosegus,  Eine  ethno- 
graphische Wanderung  im  Oberrheintale.  Von  Dr.  C.  Mehlis. 
Mit  5  Abb.  und  1  Karte.  Nr.  8:  Die  diluviale  Geologie  der 
Bodenseegegend.  Von  Prof.  Dr.  W.  Schmidle.  Mit  42  Abb. 
und  7  Tafeln.  3,60  Mk.  Nr.  9:  Bau  und  Bild  des  Taunus. 
(Ein  Beitrag  zu  seiner  Landeskunde.)  Von  Dr.  Friedrich 
Knieriem.  Mit  16  Abb.  2  Mk.  Nr.  10;  Die  Entstehung 
des  Siebengebirges.  Von  Dr.  J  o  h  ann  e  s  Uh  lig.  Mit  27  Abb. 
und  I  geologischen  Übersichtskarte  (1  :  25000).  2,50  Mk. 
Braunschweig  und  Berlin  '14.     George   Westermann. 

Ira  Remsens  Anorganische  Chemie,  selbständig  be- 
arbeitet von  Prof.  Dr.  Karl  Seubert.  5.  Aufl.  der  autori- 
sierten deutschen  Ausgabe.  Mit  2  Tafeln  und  22  Textabb. 
Tübingen  '14.      H.  Lauppschc    Buchhandlung.      Geb.   10  Mk. 

Karny,  Dr.  Heinrich,  Wiederholungstabellen  der  Mine- 
ralogie. Mit  30  Kristallnetzen.  Wien  '14.  A.  Pichlers  Witwe. 
2,20  Mk. 

Hofmann,  Prof. 'Dr.  F.  B.,  Ludimar  Hermann.  Nach 
einer  am  24.  Juni  1914  in  der  Aula  der  Albertusuniversität 
zu  Königsberg  i.  Pr.  gehaltenen  Gedächtnisrede.  Jena  '14. 
G.  Fischer.     I   Mk. 

Chemie  der  Erde.  Beiträge  zur  chemischen  Mineralogie, 
Petrographie  und  Geologie.  Herausgegeben  von  Prof.  Dr. 
G.  Linck.     I.  Band.     I.  Heft.     Mit   II   Abb.   im  Text. 

Jaenichen,  Dr.-Ing.  Willy,  Lichtmessungen  mit  Selen. 
Berlin -Nikolassee  '14.  Administration  der  ,, Zeitschrift  für 
Feinmechanik".     3  Mk. 

Lenk,  Dr.  Emil,  Die  Unabhängigkeit  von  der  Natur. 
Mit  8  Abbildungen.  Deutsche  Naturwissenschaftliche  Gesell- 
schaft.    Geschäftsstelle  Th.  Thomas  Verlag.     Leipzig.     I   Mk. 

Hegi,  Prof.  Dr.  Gustav,  Illustrierte  Flora  von  Mittel- 
europa. Mit  besonderer  Berücksichtigung  von  Deutschland, 
Österreich  und  der  Schweiz.  Zum  Gebrauch  in  den  Schulen 
und  zum  Selbstunterricht.  VI.  Band.  Bearbeitet  von  Dr.  med. 
et  phil.  A.  von  Hayek.  b.  Lieferung.  München.  J.  F. 
Lehmann's  Verlag.      1,50  Mk. 

Himmel  und  Erde.  Volksausgabe.  Lieferung  26.  Berlin- 
München- Wien.  Allgemeine  Verlagsgesellschaft  m.  b.  H. 
Lieferung  26.     60  Pfennig.      (Vollständig    in    40  Lieferungen.) 


\ 


Inhalt:  Trojan:  Das  Leuchten  und  der  Farbensinn  der  Fische.  Mötefindt;  Diluviale  menschliche  Skelettrestc  aus  den 
thüringisch-sächsischen  Ländern.  —  Einzelberichte;  Seemann;  Das  Röntgenspektrum  des  Platins.  Surbeck:  Ein 
neuer  Beitrag  über  die  Geschlechtsverteilung  bei  den  Fischen.  Kranz:  Über  Militärgeologie.  Haempel  und  Kol- 
mer;  Die  Abhängigkeit  der  Hautfarbe  von  der  Färbung  der  Umgebung,  besonders  des  Untergrunds  bei  Fischen.  Brandt: 
Über  die  Absorption  des  Stickstoffs  durch  Calcium.      Wieland    und  Offenbacher:    Ein    neues  organisches  Radik 


UUCl      UIC     /\US>UipiiUU     UCS     OLlClvälOUä     UUJ^ll     »^1111.111111.  **    l  C  1  .1  U  U       UUU     »^^  l  1  C  11  U  tt  l,  11  C  1   .       l-.iU      ll^ut.3     vji  ^.iLii3s.iii. 

mit  vierwertigem  Stickstoff.       Fehlinger:    Zur  .\nthropologie    Großbritanniens.    —    Kleinere  Mitteilungen; 
Einseilige    Schädigung    von    Bäumen    durch  Rauchgase.        Bürger:    Etwas    von    der    Zelluloidindustrie.     — 


■ganisches  Radikal 
:n :  W  e  n  z : 
cinseiiige  öcnaaigung  von  rsaumcn  aurcn  Kauengase.  eurger:  etwas  von  aer  z,eiiuioiuinuusirie.  —  Bücher- 
besprechungen: Hansen:  Repetitorium  der  Botanik  für  Mediziner,  Pharmazeuten,  Lehramtskandidaten  und  Studierende 
der  Forst-  und  Landwirtschaft.  Soddy:  Die  Chemie  der  Radioelemente.  Ostwald:  Moderne  Naturphilosophie.  — 
Anregungen  und  Antworten.  —  Literatur:  Liste. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Schriftleiter  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstrafle   IIa,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d,  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  13.   Band; 
der  ganzen  Reihe  29.  Band 


Sonntag,  den  20.  Dezember  1914. 


Nummer  51. 


Physikalisches  von  unseren  Feuerwaffen. 


[Nachdruck  verboten.] 

Durch  die  Entwicklung  der  Technik 
sondere  der  Metallurgie  und  der  Explosivstoff- 
chemie, haben  unsere  Feuerwaffen,  die  Gewehre 
und  Geschütze,  einen  hohen  Grad  der  Voll- 
kommenheit erreicht.  Durch  das  mächtiger 
werdende  Feuer  haben  die  blanken  Waffen  im 
heutigen  Kampfe  an  Bedeutung  Einbuße  erlitten. 
Zwar  ist  damit  der  Wert  der  offensiven  Energie 
mit  dem  Säbel,  der  Lanze,  dem  Bajonett  in  der 
Hand  keineswegs  verloren  gegangen,  wie  uns  die 
Schlachten  der  letzten  Zeit  vor  Augen  geführt 
haben,  aber  die  Feuerkraft  des  Feindes  muß  stets 
erst  durch  eigenes  Feuer  geschwächt  werden, 
ehe  der  Gegner  mit  Erfolg  unter  nicht  allzu 
großen  eigenen  Verlusten  überrannt  werden  kann. 
Die  Feuergeschwindigkeit  kann  heule  auf  ein 
früher  nicht  für  möglich  gehaltenes  Maß  gesteigert 
werden,  die  Reichweite  der  Waffen  hat  gegen 
früher  erheblich  zugenommen.  Die  vermehrte 
Wirkungsfähigkeit  auf  große  Entfernungen  hat 
den  Feuerwaffen  im  modernen  Kriege  eine  hervor- 
ragende Rolle  zugewiesen.  Vor  allem  sind  es 
die  neuen  Geschütze,  die  durch  die  überwältigenden 
moralischen  und  physischen  Wirkungen  ihrer 
Brisanzgranaten  für  die  Kampfesentscheidung  aus- 
schlaggebende I^edeutung  haben.  D  i  e  Partei  wird 
sogleich  im  Vorteil  sein,  die  sich  zuerst  einge- 
schossen hat  und  durch  gute  Treffer  nicht  allein 
eine  große  Zahl  der  Feinde  tötet  und  verwundet, 
sondern  durch  die  bombengleiche  Wirkung  der 
Sprenggeschosse  auch  die  Nervenkraft  des  Gegners 
bricht  und  ihn  demoralisiert.  Daraus  geht  hervor, 
wie  ungeheuer  wichtig  ein  rasches  und  sicheres 
Einschießen  für  den  Ausgang  des  Kampfes  ist. 
Durch  die  stetig  wachsenden  Entfernungen  des 
Gefechtsbeginnes  wird  das  Einschießen  im  mo- 
dernen Kriege  sehr  erschwert;  im  Seekriege  bei- 
spielsweise wird  der  Feuerkampf  bereits  auf  15  km 
begonnen. 

Um  auf  weite  Entfernungen  Ziele  erfolgreich 
beschießen  zu  können,  ist  genaue  Kenntnis  der 
Waffe,  des  Geschosses  und  des  Pulvers,  sowie 
sämtlicher  physikalischer  Vorgänge  erforderlich, 
die  sich  während  und  nach  dem  Abschießen  voll- 
ziehen. Wegen  ihrer  großen  Wichtigkeit  für  die 
Landesverteidigung  sind  alle  diese  h" ragen  auf  das 
gründlichste  studiert  worden;  in  den  jetzigen 
Tagen  bietet  die  Beschäftigung  mit  dieser  Materie 
auch  für  den  Laien  großes  Interesse. 

Die  treibende  Kraft  in  den  Feuerwaffen  rührt 
vom  explodierenden  Pulver  her,  die  Spreng- 
wirkung der  Granaten  wird  durch  detonierende 
Sprengstoffe  verursacht.  Das  aUe  Schwarz- 
pulver   hat   seine  Rolle   längst  ausgespielt,    es  ist 


VoQ  Dr.  Krumbhaar. 

insbe-  durch  die  modernen  rauchlosen  Pulversorten  ver- 
drängt worden.  Ihre  Grundsubstanz  ist  die  be- 
kannte Schießbaumwolle,  die  zu  den  verschiedensten 
Pulversorten  geformt  werden  kann ;  eine  sehr 
wirksame  Unterstützung  in  ihrer  Pulverwirkung 
findet  die  Schießwolle  durch  beigemengtes  Nitro- 
glyzerin, das  auch  unter  dem  Namen  Sprengöl 
bekannt  ist.  Die  zur  Füllung  von  Granaten  und 
Bomben  verwendeten  militärischen  Sprengstoffe 
haben  wir  ebenso  wie  die  rauchlosen  Pulver  der 
synthetischen  Chemie  zu  verdanken.  Auch  als 
Sprengladung  diente  ursprünglich  das  Schwarz- 
pulver; in  den  achtziger  Jahren  des  vorigen  Jahr- 
hunderts jedoch  lehrte  die  Chemie  die  I^ikrin- 
säure  als  sehr  sprengkräftigen  und  für  Granat- 
füllungen geeigneten  Körper  kennen,  der  dann 
seit  ca.  10  Jahren  durch  das  Trinitrotoluol  ersetzt 
wurde.  Das  Trinitrotoluol  erfüllte  besser  als  alle 
übrigen  Sprengkörper  die  Forderungen,  welche 
man  an  Granatladungen  stellen  muß. 

Alle  Explosivkörper,  die  Pulversorten  wie  die 
Sprengfüllungen,  wirken  dadurch,  daß  bei  ihrer 
Explosion  eine  große  Gasmenge  plötzlich  ent- 
wickelt wird  und  das  gleichzeitig  sehr  viel  Wärme 
frei  wird.  Der  hocherhitzten ,  in  den  engen 
Ladungsraum  eingezwängten ,  großen  Gasmasse 
wohnt  ein  gewaltiges  Ausdehnungsbestreben  inne, 
sie  übt  auf  die  Umfassungswände  einen  starken 
Druck  aus.  Dieser  Druck  nun  vermag  die  vom 
Waffentechniker  verlangte  Arbeit  zu  leisten.  Die 
Art  dieser  Arbeitsleistung  ist  bei  den  als  Treib- 
mittel dienenden  Pulversorten  und  den  eigent- 
lichen Sprengstoffen  durchaus  verschieden. 

Die  Explosion  des  Pulvers  im  Gewehr  oder 
Geschütz  soll  das  Geschoß  mit  allmählich  ge- 
steigerter Geschwindigkeit  nach  vorne  schieben, 
es  soll  ihm  eine  nach  und  nach  zunehmende 
lebendige  Kraft  der  Fortbewegung  verleihen,  ohne 
daß  dabei  durch  den  Gasdruck  die  Festigkeit  von 
Rohr  und  Geschoß  gefährdet  wird.  Die  Spreng- 
stoffe sind  viel  heftigerer  Natur,  sie  zerstören  und 
zertrümmern.  Bei  ihrer  Detonation  entsteht  in 
kürzester  Zeit  der  höchste  Gasdruck,  dem  kein 
Einschlußmaterial  Widerstand  zu  leisten  vermag; 
die  aus  gezogenem  Stahl  bestehenden  Granat- 
wände werden  mit  elementarer  Gewalt  zu  ein- 
zelnen Sprengstücken  zerrissen  und  fortge- 
schleudert. 

In  zahlreichen  physikalischen  Experimenten 
hat  man  die  Eigenarten  der  Treib-  und  Spreng- 
mittel erforscht;  besonderes  Augenmerk  richtete 
man  dabei  auf  die  Faktoren,  von  denen  die 
Wirkung  der  Explosion  in  erster  Linie  abhängig 
ist,    auf   das    entstehende    Gasquantum,    die    ent- 


802 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  51 


wickelte  Wärmemenge,  und  die  Geschwindigkeit 
der  auftretenden  chemischen  Reaktionen. 

Durch  den  Druck  der  Pulvergase  wird  das 
Geschoß  aus  dem  Rohr  getrieben ;  der  Druck 
wird  um  so  kräftiger  sein ,  je  größer  der  Raum 
ist,  den  die  Pulvergase  einzunehmen  bestrebt  sind. 
Das  Volumen  der  Gase  hat  man  experimentell 
bestimmt.  Daß  solche  Versuche  mit  Pulver  und 
Sprengstoffen  auch  für  einen  mutigen  Experimen- 
tator nicht  gerade  Verlockendes  an  sich  haben, 
wird  sicherlich  einleuchten.  In  einer  widerstands- 
fähigen, sehr  dickwandigen  Versuchsbombe  aus 
bestem  Material  wird  ein  kleines  Quantum  des 
Explosivkörpers  zur  Detonation  gebracht,  die 
entwickelten  Gase  werden  aus  der  Bombe  in  ein 
Gasometer  geleitet.  Hier  kann  das  Volumen 
direkt  abgelesen  werden,  nur  muß  dabei  berück- 
sichtigt werden,  daß  bei  jeder  Explosion  auch 
Wasser  entsteht,  das  sich  in  Dampfform  an  den 
Kraftwirkungen  beteiligt;  sein  Volumen  wird 
dementsprechend  in  Rechnung  gestellt.  Einige 
interessante  Beispiele  für  das  Pulvergasvolumen 
führe  ich  hier  an;  wie  bei  Angaben  von  Gas- 
mengen allgemein  üblich,  sind  die  Daten  auf  einen 
Luftdruck  von  760  mm  und  eine  Temperatur 
von  o  Grad  bezogen. 

I   kg  Schwarzpulver  entwickelt  290  1  Gas 

I     „    Nitrozellulosepulver  „  950  „     ,, 

I     „    Trinitrotoluol  „  970  „     „ 

Überraschend  deutlich  beweisen  die  Zahlen  die 
Überlegenheit  des  modernen  rauchlosen  Nitro- 
zellulosepulver gegenüber  dem  alten  Schwarz- 
pulver, das  weniger  als  ein  Drittel  der  von  neuen 
Pulversorten  entwickelten  Gasmenge  liefert. 

Der  Druck  der  Pulvergase  kann  ebenso 
wie  ihr  Volumen  in  einer  Versuchsbombe  ge- 
messen werden.  Der  Bombenhohlraum  wird 
dazu  in  demselben  Verhältnis  mit  Pulver  angefüllt 
wie  der  Laderaum  in  der  Waffe.  Die  Einrichtung, 
die  von  dem  bekannten  Sprengstoffindustriellen 
Nobel  angegeben  i^t,  besteht  in  folgendem.  Der 
bei  der  Explosion  auftretende  Druck  preßt  auf 
einen  in  die  Bombe  völlig  gasdicht  führenden 
Stahlstempel,  der  seinerseits  auf  einen  Kupferblock 
drückt  und  diesen  zusammenstaucht.  Das  Kupfer 
ist  ein  verhältnismäßig  weiches  und  plastisches 
Metall  und  wird  durch  den  Druck  in  gleichmäßiger, 
bestimmter  Weise  gestaucht.  Mit  Hilfe  einer 
Hebelpresse  werden  einzelne  Kupferkörper  vorher 
durch  gemessenen  Druck  zusammengepreßt  und 
auf  diese  Weise  wird  gefunden ,  welcher  Druck 
einer  bestimmten  Stauchung  entspricht.  Aus  der 
Verkleinerung  des  Versuchszylinders  kann  man 
dann  die  Größe  des  Pulvergasdruckes  in  der  Waffe 
berechnen. 

Eine  andere  interessante  Methode  zur  Be- 
stimmung des  Gasdruckes  ist  die  Bleiblockprobe 
nach  Trautzl;  sie  liefert  allerdings  keine  abso- 
luten Werte,  sondern  nur  Vergleichszahlen  für  die 
verschiedenen  Sprengstoffe.  In  einen  Block  aus 
weichem,  raffiniertem  Blei  wird  eine  axiale  Bohrung 


tief  hineingetrieben  und  in  dem  unteren  Teil  eine 
kleine  Menge  des  Sprengstoffes  zusammen  mit 
einer  Zündkapsel  untergebracht.  Durch  einen 
Stahlstempel  oder  festgestampften  Sand  wird  die 
P'üllung  gut  abgedämmt.  Bei  der  Detonation 
vermögen  die  Gase  nicht  zu  entweichen  und  ver- 
ursachen durch  ihre  Spannkraft  eine  Höhlung  im 
Inneren  des  Blockes.  Die  Größe  dieser  Auf- 
bauchung, die  leicht  zu  messen  ist,  gibt  ein  Maß 
für  die  Druckwirkung  des  Sprengkörpers.  10  g 
Pikrinsäure  beispielsweise  ergeben  eine  Aufbauch- 
ung von  380  ccm. 

Die  Druckkräfte  der  Pulvergase  können  auch 
an  der  Waffe  selbst  gemessen  werden.  Der 
Nobelschen  Stauchvorrichtung  entsprechend,  führt 
man  in  den  Pulverraum  der  Waffe  einen  schwach 
saugend  eingeschliffenen  Stahlstempel,  der  den 
Pulverdruck  auf  einen  festgelagerten  Kupferzylinder 
überträgt.  Die  Stauchung  des  Zylinders  wird  mit 
Kupferblöcken  verglichen,  welche  durch  bekannte, 
statische  Drucke  geeicht  sind.  Bei  Geschützen 
verursacht  das  Anbringen  solcher  Stauchvorrich- 
tungen am  Pulverraum  Schwierigkeiten;  nach  dem 
Vorbilde  Kru])ps  legt  man  hier  zur  Feststellung 
des  Druckes  einen  geeigneten  Meßkörper  aus 
Stahl,  ein  sog.  Meßei,  in  die  Kartusche,  d.  h.  die 
Pulverladung  hinter  dem  Geschoß  ein. 

Der  in  den  Feuerwaffen  auftretende  Gasdruck 
ist  außerordentlich  groß;  bei  Feldkanonen  mit 
7,5  cm  Kaliber  beträgt  er  z.  B.  2000  Atmosphären, 
bei  größeren  Geschützen  steigt  er  bis  auf  3000  kg 
pro  qcm.  Das  b;  deutet  also,  daß  auf  jeden  ein- 
zelnen Quadratzentimeter,  einen  gewiß  nur  winzigen 
Fleck,  der  inneren  Oberfläche  des  Ladungsraumes 
ein  Druck  von  2  —  3000  kg  ausgeübt  wird. 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  derartigen  Kraft- 
äußerungen nur  das  allerbeste  Metallmaterial 
Widerstand  zu  leisten  vermag.  Den  höheren  An- 
sprüchen folgend  sind  die  Werkstoffe  der 
Waffen  dauernd  verbessert  worden,  und  wir 
haben  heute  in  den  vergüteten  Stahllegierungen, 
insbesondere  dem  Nickel-  und  Chromstahl,  Waffen- 
materialien, deren  Festigkeit  sogar  so  weit  geht, 
daß  sie  nicht  einmal  dann  bersten,  wenn  eine 
Granate  vorzeitig  im  Rohr  detoniert.  Die  Fort- 
schritte, die  in  der  Erzeugung  der  Waffenstähle 
gemacht  worden  sind ,  erhellen  am  besten  aus 
einem  zahlenmäßigen  Vergleich  ihrer  Festigkeits- 
eigenschaften. Es  seien  hier  vom  Gußeisen,  vom 
gewöhnlichen  und  dem  veredelten  Stahl  nur 
folgende  Werte  angeführt:  die  Festigkeit  als  die 
auf  ein  Quadratzentimeter  Querschnitt  bezogene 
Belastung,  bei  welcher  ein  Stab  zerrissen  wird; 
die  Elastizitätsgrenze,  die  man  als  die  Belastung 
ansieht,  oberhalb  welcher  bleibende  Längenände- 
rungen bei  Zugbeanspruchung  eintreten  und 
schließlich  die  Bruchdehnung,  unter  welcher  man 
die  Verlängerung  der  Längeneinheit  des  Stabes 
vor  dem  Zerreißen  versteht;  sie  liefert  uns  ein 
Maß  für  die  Zähigkeit  des  Materials. 

Festigkeit   Elastiztiätsgr.  Bruchdehnung 
Gußeisen      2340  kg  iiiokg  0,4 


N.  F.  XIII.  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


803 


Festigkeit  Eiastizitätsgr.  Bruchdehnung 
gewöhn- 
licher Stahl  4200  kg         2440  kg  11,5 
moderner 
Nickelstahl   7500  kg         4400  kg  i8,o 

Man  erkennt  eine  wesentliche  Zunahme  von 
Festigkeit,  Elastizität  und  Zähigkeit,  den  drei 
mechanischen  Eigenschaften,  die  für  den  Bau  von 
Gewehrläufen  und  Geschützrohren  von  größter 
Bedeutung  sind. 

Um  die  gewaltigen  Druckkräfte  der  modernen 
Pulver  auszuhalten,  bedarf  es  nicht  nur  besonders 
widerstandsfähiger  Werkstoffe,  sondern  auch  einer 
sehr  haltbaren  Konstruktion  der  Feuer- 
waffen, vor  allem  der  Geschützrohre.  Die 
Waffen  haben  die  Aufgabe,  die  chemische  Energie 
des  Pulvers  in  Bewegungsenergie  umzusetzen,  das 
im  Pulver  verborgene  Arbeitsvermögen  zur  Fort- 
bewegung des  Geschosses  nutzbar  zu  machen. 
Ihr  wesentlichster  Teil  ist  daher  immer  ein  ein- 
seitig geschlossenes  Rohr  mit  einem  Raum  zur 
Aufnahme  der  Pulverladung  und  des  Geschosses, 
und  einer  zylindrischen  Bohrung,  die  zur  Führung 
des  Geschosses  dient.  Auf  die  alten  Vorderlader 
folgten  die  Geschütze,  die  von  hinten  geladen 
wurden  und  mit  geeigneten  Verschlüssen  versehen 
waren.  Die  ursprünglich  gebrauchten  massiven 
Vollrohre  aus  einem  Stück  entsprachen  den  An- 
forderungen an  die  Festigkeit  sehr  bald  nicht 
mehr.  Heute  werden  daher  die  Geschützrohre 
ausschließlich  aus  mehreren  Konstruktionsteilen 
zusammengesetzt  und  zwar  immer  so,  daß  die 
äußeren  Teile  bereits  im  Ruhezustand  einen  Druck 
auf  die  inneren  ausüben.  Damit  wird  der  Druck- 
beanspruchung beim  Schuß  sehr  erheblich  ent- 
gegengewirkt. In  Deutschland  führte  die  Be- 
folgung dieses  Prinzipes  zu  den  Mantel-  und 
Mantelringrohren,  in  England  zu  den  mit  starken 
Drahtwindungen  umwickelten  Drahtrohren. 

Viel  Kopfzerbrechen  hat  den  Waffentechnikern 
die  gasdichte  Abschließung  des  Pulverraums  ver- 
ursacht; trotz  der  gewaltigen  Druckkräfte  dürfen 
keine  Pulvergase  weder  nach  rückwärts  aus  dem 
Verschluß  noch  nach  vorwärts  zwischen  Geschoß 
und  Seelenwandung  hindurch  entweichen,  wenn 
die  Pulverkraft  voll  ausgenutzt  werden  soll.  Bei 
Patronenmunition  führt  die  Messinghülse  selbst  die 
rückwärtige  Dichtung  aus;  bei  größeren  Kalibern 
sind  im  Verschluß  Liderungsringe  aus  dem 
plastischen  Kupfer  angebracht,  die  den  Ver- 
brennungsraum gasdicht  nach  hinten  abschließen. 
Das  Abdichten  des  Pulverraumes  nach  vorn  wird 
durch  das  Geschoß  selbst  bewirkt;  es  preßt  sich 
mit  seinem  Führungsteil,  dem  Stahlmantel  bei 
Gewehrgeschossen,  der  Kupferführung  bei  Artillerie- 
munition, in  die  Züge  des  Laufes  oder  Rohres 
ein.  Die  Züge  sind  Rillen,  die  in  Form  eines 
steilen  Schraubengewindes  in  die  Seelenwandung 
eingeschnitten  sind.  Sie  haben  neben  der  Auf- 
gabe, durch  das  fest  eingepreßte  Geschoß  den 
Pulverraum    während    des    Schusses    abzudichten. 


den  wichtigeren  Zweck,  dem  Geschosse  eine 
Drehung  um  seine  Längsachse  zu  erteilen. 

Während  das  Geschoß  aus  dem  Lauf  oder 
dem  Rohre  herausgeschleudert  wird,  tritt  den 
physikalischen  Gesetzen  von  Wirkung  und  Gegen- 
wirkung entsprechend,  an  der  Waffe  selbst  eine 
starke  Reaktion  ein,  sie  erfährt  einen  heftigen 
Rückstoß.  Diese  Stoßwirkungen  können  bei 
Handfeuerwaffen  wegen  ihrer  verhältnismäßig  ge- 
ringen Größe  leicht  kompensiert  werden.  Bei 
Geschützen  machen  sich  jedoch  sehr  beträcht- 
liche Kräfte  geltend;  bei  Feldkanonen  entspricht 
der  Rückstoß  einem  Gewicht  von  ca.  90000  kg, 
bei  Marinekanonen  und  anderen  großen  Kalibern 
wächst  die  Druckwirkung  des  Rückstoßes  auf 
einige  looooo  kg.  Diese  Belastungen  müssen  von 
den  Montierungsvorriciitungen,  den  Laffettcn  der 
Geschütze  aufgenommen  werden.  Es  ist  klar,  daß 
starre  Konstruktionen  übermäßig  massiv  und  stark 
sein  müssen,  um  solchen  Einwirkungen  gewachsen 
zu  sein.  Durch  elastische  Anordnung  der  Rohre, 
die  ihnen  ein  gewisses  Zurückgleiten  gestattet,  wie 
man  sie  in  den  Rohrrücklaufgeschützen  anwendet, 
gelingt  es  jedoch,  die  Beanspruchung  der  Laffetten 
auf  ein  praktisch  zulässiges  Maß  zu  verringern. 

Neben  der  Gasspannung  selbst  liefert  der 
Verlauf  des  Gasdruckes  während  der 
Pulverexplosion  und  des  Abschießens  einen  zu- 
verlässigen Maßstab  zur  Beurteilung  der  Be- 
anspruchung von  Waffe  und  Geschoß.  Eine 
direkte  experimentelle  Bestimmung  des  Druck- 
verlaufes in  der  Waffe  bietet  bisher  unüberwind- 
liche Schwierigkeiten;  man  untersucht  ihn  daher 
mittelbar,  indem  man  den  Lauf  des  Geschosses 
innerhalb  der  Waffe  genau  registriert.  Aus 
der  Geschwindigkeit,  mit  welcher  das  Geschoß 
durch  den  Lauf  oder  das  Rohr  eilt,  läßt  sich  auf 
die  Druckkräfte  und  die  Gasspannungen  schließen, 
die  erforderlich  waren,  um  die  Bewegung  hervor- 
zubringen. Diese  indirekten  Methoden  schließen 
allerdings  einen  entstellenden  Fehler  ein;  aus  der 
Bewegung  des  Geschosses  ergibt  sich  streng  ge- 
nommen nicht  der  Verlauf  des  Gasdruckes,  sondern 
nur  die  Änderungen  der  beschleunigenden  Kräfte, 
welche  auf  das  Geschoß  einwirken.  Sie  aber  sind 
geringer  als  die  Gasspannung,  da  ein  Teil  des 
Druckes  für  das  Einpressen  des  Geschosses  in  die 
Züge  verbraucht  wird. 

Sehr  einfach  kann  man  die  Geschoßbe- 
wegung iin  Rohr  verfolgen,  indem  man  quer 
durch  die  Seele  an  verschiedenen  Stellen  elek- 
trische Leitungsdrähte  hindurchführt,  welche  das 
Geschoß  nach  dem  Abschießen  der  Reihe  nach 
durchreißt.  Die  Drähte  werden  von  einem  elek- 
trischen Strome  durchflössen,  der  beim  Zerreißen 
unterbrochen  wird.  Jede  Stromunterbrechung  be- 
wirkt das  Überspringen  von  Funken,  welche  sich 
auf  einer  mit  gleichmäßiger,  bekannter  Geschwin- 
digkeit rotierenden  Trommel  markieren.  Aus  dem 
Abstände  zweier  benachbarter  P'unkenmarken  läßt 
sich  dann  die  Zeit  entnehmen,  in  welcher  das 
Geschoß    den    Weg    zwischen    den    beiden    zuge- 


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Naturwissenschaftliche' Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  51 


hörigen  Drähten  zurückgelegt  hat.  Der  Wert  der 
Geschwindigkeit,  der  nichts  anderes  als  der  in  der 
Sekunde  zurückgelegte  Weg  ist,  läßt  weitere  Rück- 
schlüsse auf  die  Gasspannung  zu. 

Außer  durch  den  eben  erwähnten  elektrischen 
Zeitmesser  kann  der  Druckverlauf  in  folgender 
Weise  ermittelt  werden.  Aus  einem  Rohr  werden 
wiederholt  Schüsse  mit  stets  derselben  Ladung  ab- 
gegeben; vor  jedem  Schuß  wird  das  Rohr  vorne 
durch  Abschneiden  um  eine  bestimmte  Länge 
verkürzt  und  jedesmal  die  Mündungsgeschwindig- 
keit außerhalb  der  Waffe  nach  bekannten  IVie- 
thoden  gemessen.  So  erhält  man  die  Geschwin- 
digkeitsänderungen innerhalb  des  unverkürzten 
Rohres. 

Die  beim  Militär  gebräuchlichste  Vorrichtung 
zur  Ermittlung  der  Pulvergasspannungen  ist  der 
Rücklaufmesser.  In  ähnlicher  Weise  wie  aus  den 
Geschoßgeschwindigkeiten  ergeben  sich  aus  den  Be- 
wegungen des  Waffenrückstoßes  die  Spannungs- 
verhältnisse. Die  Waffe  wird  auf  dem  Rücklauf- 
messer möglichst  reibungsfrei  in  Schienen  gelagert 
und  kann  beim  Abschießen  ungehindert  zurück- 
gleiten. Diese  rückläufige  Bewegung  wird  mit 
Hilfe  verschiedener  Registrierungsmethoden  genau 
nach  Weglänge  und  Zeit  aufgezeichnet.  Mit  der 
zurückgleitenden  Waffe  kann  z.  B.  eine  metallene 
Schreibplaite  starr  verbunden  sein,  auf  die  eine 
feststehende,  vibrierende  Stimmgabel  ihre  Schwin- 
gungen zeichnet.  Je  rascher  die  Bewegung,  um 
so  enger  rücken  die  einzelnen  Wellen  dieser 
Schwingungslinie  zusammen;  aus  ihrem  Abstände 
läßt  sich  zahlenmäßig  die  Rücklaufsgeschwindig- 
keit berechnen.  Einer  anderen  Anordnung  gemäß 
wird  die  Bewegung  durch  eine  Schreibvorrichtung 
auf  eine  sich  drehende  berußte  Trommel  aufge- 
tragen. Da  die  so  erhaltenen  Rücklaufwege  oft 
recht  klein  sind  und  die  Aufzeichnungen  insbe- 
sondere nur  ungenaue  Angaben  über  die  ersten 
Stadien  der  Bewegung  enthalten,  sind  sie  auf  op- 
tischem Wege  bedeutend  vergrößert  worden.  Die 
bewegte  Waffe  dreht  einen  Spiegel,  der  von  einer 
hellen  Lichtquelle  beleuchtet  wird.  Der  reflektierte 
Strahl,  der  wie  ein  langer  Zeiger  wirkt,  markiert 
die  Spiegel-  und  Waffenstellung  auf  einer  rotie- 
renden, mit  lichtempfindlichem  l'apier  überzogenen 
Trommel. 

Die  Untersuchungen  haben  klar  gezeigt,  wie 
sich  der  Druck  der  Pulvergase  in  der  Waffe  ent- 
wickelt und  wie  sich  das  Geschoß  unter  ihrem 
Einfluß  bewegt.  Sobald  nach  der  Zündung  des 
Pulvers  der  Gasdruck  einen  bestimmten  Wert 
überschritten  hat,  preßt  er  das  Geschoß  in  die 
Züge  ein.  Der  idealste  Verlauf  wäre  nunmehr 
der,  daß  die  Gasspannung  bis  zum  Austritt  des 
Geschosses  aus  der  Waffe  dauernd  konstant  bliebe. 
Doch  kann  dieses  Ziel  nicht  erreicht  werden.  Der 
Druck  der  Gase  nimmt  zunächst  bis  zu  einem 
Maximalwert  zu,  und  zwar  solange,  wie  die  durch 
die  Verbrennung  der  Ladung  zugeführten  neuen 
Treibgase  noch  den  Spannungsabfall  in  dem  fort- 
während   zunehmenden  Verbrennungsraum  auszu- 


gleichen vermögen.  Ist  dieser  Punkt  erreicht, 
sinkt  der  Druck  wieder,  bis  er  sich  beim  Austritt 
des  Geschosses  plötzlich  gänzlich  entspannt.  Die 
Bewegung  des  Geschosses  entspricht  den  treibenden 
Kräften :  seine  Geschwindigkeit  steigt  mit  dem 
Fortgang  der  Explosion  auf  einen  Höchstwert, 
um  gegen  die  Mündung  zu  wieder  etwas  abzu- 
nehmen. 

Neben  den  Druckverhältnissen  in  der  Feuer- 
waffe beanspruchen  die  auftretenden  Wärme- 
verhältnisse besonderes  Interesse.  Die  Energie 
oder  das  Arbeitsvermögen  eines  Pulvers  ist  be- 
dingt durch  seinen  Wärmegehalt,  der  sich  in  der 
Verbrennungswärme  bei  der  Explosion  kundtut. 
So  wie  die  Kohle  die  treibende  Kraft  für  die  Be- 
wegung der  Dampfmaschine  liefert,  so  setzt  das 
Pulver  durch  seine  Verbrennung  die  mannigfachen 
Funktionen  der  Feuerwafien  in  Tätigkeit.  Es 
treibt  das  Geschoß  nach  vorn,  bewirkt  die  Ge- 
schoßrotation, überwindet  die  Reibungswiderstände, 
stößt  die  Pulvergase  aus,  ruft  den  Rückstoß  her- 
vor usw.  P^ür  die  eigentliche  Aufgabe,  die  P~ort- 
bewegung  des  Geschosses  bleibt  hier,  den  Ver- 
hältnissen der  Maschinen  ähnlich,  nur  ein  geringer 
Peil  der  ursprünglichen  Energie  übrig.  Das  Ver- 
hältnis der  Geschoßenergie  beim  Verlassen  der 
Mündung  zu  dem  Arbeitsvermögen  der  Pulver- 
ladung, die  sog.  Pulverausnutzung,  beträgt  bei  Ge- 
wehren und  Geschützen  nicht  mehr  als  10 — ZS^Io- 

Die  Verbrennungswärme  der  Pulver- 
sorten und  Sprengstoffe  wird  in  der  schon 
mehrfach  erwähnten  Versuchsbombe  gemessen, 
indem  man  diese  in  einem  Wasserkalorimeter 
unterbringt  und  mit  einem  sehr  feinen  Thermo- 
meter die  nach  der  Explosion  auftretende  Tempe- 
raturerhöhung mißt.  Aus  der  Temperatursteigerung 
wird  unter  Berücksichtigung  verschiedener  Faktoren 
die  Verbrennungswärme  berechnet.  Auch  hier 
nimmt  man  für  den  Endzustand  das  Wasser  in 
Dampfform  an.  Die  Wärme  wird  nach  Kalorien 
gezählt;  als  eine  Kalorie  wird  die  Wärmemenge 
angesehen,  die  erforderlich  ist,  um  i  kg  Wasser 
um  I  "  zu  erwärmen.  Als  Beispiele  seien  die 
folgenden  Werte  angeführt : 

I  kg  Schwarzpulver  entwickelt    750  Kalorien 

I    „   Nitrozellulosepulver  „  940         „ 

I    „   Nitroglyzerinpulver  „  I330         „ 

I    „   Trinitrotoluol  „  720         „ 

Unter  den  Zahlen  fällt  der  hohe  Wert  des 
nitroglyzerinhaltigen  Pulvers  gegenüber  dem  reinen 
Nitrozellulosepulver  auf  Wenn  man  die  Ver- 
brennungswärmen der  Explosivstoffe  mit  derjenigen 
anderer  organischer  Körper  vergleicht,  erkennt 
man,  daß  sie  keineswegs  abnorm  hoch  ist.  Trotz- 
dem werden  infolge  der  sehr  raschen  Verbrennung 
recht  beträchthche  Temperaturen  erreicht.  Eine 
direkte  Bestimmung  der  Explosionstemperatur 
durch  das  Experiment  ist  bisher  nicht  gelungen. 
Sie  ist  jedoch  mit  einiger  Annäherung  aus  der 
Verbrennungswärme  und  der  spezifischen  Wärme 
der  Verbrennungsgase  errechnet  worden  und  hat 


I 


N.  F.  XIII.  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


805 


sich  für  das  Blättchenpulver,  das  sich  in  den 
Patronen  für  das  Gewehr  9S  befindet,  zu  2100" 
herausgestellt.  Durch  derartig  hohe  Temperaturen 
wird  das  Ausdehnungsbestreben  der  Pulvergase 
sehr  gesteigert  und  die  dem  Geschoß  erteilte 
Geschwindigkeit  bedeutend  vergrößert.  Die  hohen 
Hitzegrade  gefährden  jedoch  die  dauernde  Halt- 
barkeit der  Waffe;  durch  die  glühend  heißen 
Pulvergase  werden  Seelenrohre,  Verschlüsse  usw. 
durch  Abschmelzen,  Verdampfen,  Ausbrennen 
stark  beschädigt.  Solche  .Ausbrennungen  treten 
besonders  bei  leicht  schmelzbaren  Metallen,  z.  B. 
der  Bronze,  auf  und  ferner  bei  solchen  Pulver- 
sorten, die  wie  die  nitroglyzerinhaltigen  Pulver 
sich  durch  hohe  Verbrennungswärme  auszeichnen. 

Die  hohe  Temperatur  der  Pulvergase  hat  ihre 
Ursache  in  der  beträchtlichen  Geschwindigkeit 
d  er  Verbrennungsvorgänge.  Die  V  e  r  b  r  e  n  n  u  n  gs- 
gesch windigkeit  kann  sehr  einfach  durch  die 
bereits  erläuterte  Explosionsbombe  mit  Nobelscher 
Stauchvorrichtung  gemessen  werden,  indem  man 
eine  Schreibvorriclitung  mit  langem  Hebelarm 
daran  anbringt.  Der  Verlauf  der  Zusammen- 
stauchung wird  so  in  vergrößertem  Maße  auf 
einer  rotierenden,  berußten  Trommel  aufgezeichnet 
und  der  Zeitpunkt  des  Druckmaximums  deutlich 
markiert.  Als  Verbrennungsdauer  sieht  man  dann 
gewöhnlich  die  Zeit  an ,  welche  bis  zum  Auf- 
treten des  maximalen  Druckes  vergeht.  Auf  die 
Bestimmung  der  Verbrennungsdauer  des  Pulvers 
in  der  Waffe  ist  diese  Methode  deshalb  nicht  an- 
wendbar, weil  hier  bei  der  dauernden  Veränderung 
von  Gasspannung  und  Verbrennungsraum  völlig 
veränderte  Verhältnisse  obwalten.  Die  bisher  zur 
direkten  Feststellung  der  Verbrennungszeit  des 
Pulvers  vorgeschlagenen  Untersuchungsweisen 
haben  wenig  zuverlässige  Resultate  geliefert. 

Dagegen  bestehen  eine  Reihe  sehr  brauchbarer 
Methoden,  um  die  Verbrennungsgeschwindigkeit 
der  Explosivstoffe  außerhalb  der  Waffe  messend 
zu  verfolgen.  Sie  sind  für  die  Praxis  von  erhöhter 
Bedeutung,  weil  sie  die  sog.  Brisanz  zu  beurteilen 
gestatten.  Je  rascher  ein  Explosivkörper  ver- 
brennt, um  so  brisanter  ist  er. 

Die  Messung  durch  den  Funkenchronographen 
hat  große  Ähnlichkeit  mit  dem  beschriebenen 
elektrischen  Zeitmesser  für  die  Geschoßgeschwindig- 
keit innerhalb  der  Waffe.  In  einer  Sprengpatrone, 
die  mit  dem  zu  untersuchenden  Stoff  gefüllt  ist, 
sind  an  zwei  Stellen  in  bekannter  Entfernung 
voneinander  Drähte  angebracht,  durch  welche 
ein  elektrischer  Strom  fließt.  Bei  Detonation 
der  Sprengladung  werden  die  Ströme  nachein- 
ander unterbrochen  und  der  zeitliche  Abstand  in 
bekannter  Weise  auf  einer  rotierenden  Trommel 
markiert.  .Aus  den  erhaltenen  Daten  läßt  sich 
leicht  die  Geschwindigkeit  ableiten ,  mit  welcher 
die  Detonation  von  einem  zum  anderen  Drahte 
fortschreitet. 

Eine  sehr  sinnreiche  Methode  zur  Messung 
von  hohen  Verbrennungsgeschwindigkeiten  besteht 
in    der    Verwendung    der    sog.    Detonationszünd- 


schnur. Eine  solche  etwa  1,5  m  lange  Schnur 
ist  mit  Trinitrotoluol  getränkt  und  an  beiden 
Enden  mit  Sprengkapseln  versehen;  ihre  Mitte 
liegt  auf  einer  weichen  Bleiplatte  auf.  Werden 
beide  Enden  gleichzeitig  entzündet,  so  treffen  sich 
die  Detonationswellen  genau  in  der  Mitte  und 
kennzeichnen  ihren  Treffpunkt  durch  einen  Riß 
in  der  Bleiplatte.  Gelangen  die  Enden  aber  in 
kurzem  Abstände  nacheinander  zur  Zündung,  so 
rückt  der  Treffpunkt  von  der  Mitte  fort  in  der 
Richtung  auf  das  später  gezündete  Ende  der 
Schnur  und  zwar  im  Verhältnis  des  zeitlichen 
Abstandes  der  beidOTi  Zündungen.  Wenn  also 
die  beiden  Schnurenden  an  zwei  Stellen  einer 
Patrone  mit  dem  zu  prüfenden  Explosivkörper 
angebracht  wird ,  läßt  sich  auf  diese  Weise  die 
Detonationsgeschwindigkeit  finden. 

Die  Brisanz  sehr  kräftiger  Sprengstoffe  mißt 
man  oft  bei  freier  Lagerung  auf  einer  Unterlage; 
man  erhält  so  zwar  keine  Werte  für  die  Ver- 
brennungsgeschwindigkeit selbst,  aber  recht  gute 
Vergleichszahlen.  So  läßt  man  z.  B.  einen  Spreng- 
körper frei  auf  einem  Stahlzylinder  liegend  ex- 
plodieren und  bestimmt  die  Stauchung,  welche 
ein  unter  dem  Stahlzylinder  ruhender  Kupferblock 
erfährt.  Oder  man  ermittelt  die  Gewichtsmenge 
des  Brisanzkörpers,  die  erforderlich  ist,  um  bei 
freier  Anlage  eine  VValzeisenplatte  von  bestimmter 
Dicke  zu  durchschlagen. 

Die  an  Explosivstoffen  gemessenen  Ver- 
brennungsgeschwindigkeiten sind  ungeheuer  groß; 
so  pflanzt  sich  z.  B.  die  Detonation  in  der  Pikrin- 
säure mit  der  erstaunlichen  Geschwindigkeit  von 
8000  m  pro  Sekunde  fort.  Lockere  Schießwolle 
verbrennt  in  weniger  als  ^/loooo  Sekunden. 
Schwarzpulver  braucht  zur  Verbrennung  in  Staub- 
form 0,0015,  gekörnt  0,0057  "rid  in  stark  ge- 
preßter Form  0,0084  Sekunden.  Aus  den  letzten 
Zahlen  geht  schon  hervor,  daß  die  Verbrennungs- 
geschwindigkeit stark  von  dem  physikalischen 
Zustande,  von  der  Dichte  des  Pulvers  abhängig 
ist.  Durch  Zusammenpressen  nimmt  sie  deutlich 
ab;  so  wird  auch  die  Brisanz  der  Schießwolle 
durch  Gelatinierung  wesentlich  vermindert,  wobei 
sie  ihre  Faserstruktur  verliert  und  in  einen  dich- 
teren Zustand  übergeht.  Die  Verbrennungsge- 
schwindigkeit hängt  ferner  von  dem  Raum  ab, 
der  für  die  Explosion  zur  Verfügung  steht,  von 
dem  sog.  Ladungsraum.  Bei  geringem  Laderaum 
und  hoher  Ladeschichte  entwickelt  sich  großer 
Druck,  der  die  Verbrennung  beschleunigt.  Bei 
modernen  Pulversorten  beträgt  der  Laderaum  ca. 
das  Doppelte  des  Pulvervolumens. 

Eine  genaue  Kenntnis  der  Verbrennungsge- 
schwindigkeit von  Explosivkörpern  ist  deswegen 
für  den  Waffentechniker  von  Bedeutung,  weil  er 
daraus  die  Ausnutzung  eines  Pulvers  zu  beurteilen 
vermag.  Das  Pulver  wird  dem  Ideal  am  nächsten 
kommen,  dessen  Verbrennung-geschwindigkeit  so 
geregelt  ist,  daß  es  gerade  in  dem  Moment  völlig 
verbrannt  ist,  in  welchem  das  Geschoß  die  Mündung 
verläßt.     Leider  ist  dieser  Idealzustand  noch  nicht 


8o6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  51 


erreicht;  an  den  Mündungen  unserer  Waffen  läßt 
sich  immer  noch  eine  Feuererscheinung  beobachten, 
die  von  unvollständiger  Verbrennung  des  Pulvers 
herrührt;  ein  solches  Mündungsfeuer  kann  die 
Vorteile  der  rauchlosen  Pulver  unter  Umständen 
erheblich  beeinträchtigen. 

Kurz  sei  hier  auf  einen  eigenartigen  physika- 
lischen Begriff  hingewiesen,  der  bei  der  Beurteilung 
von  Explosivkörpern  eine  Rolle  spielt,  auf  die 
Empfindlichkeit  gegen  Stoß  und  Schlag,  auf  die 
sog.  Sensibilität.  Die  verschiedenen  Spreng- 
körper sind  sehr  verschieden  sensibel;  die  einen 
explodieren  durch  Stoß  ufld  Schlag  sehr  leicht, 
die  anderen  gar  nicht  oder  schwierig.  Die  Sensi- 
bilität wird  geprüft,  indem  man  auf  eine  abge- 
wogene Menge  des  Untersuchungsobjektes  einen 
Fallhammer  von  bestimmtem  Gewichte  nieder- 
fallen läßt  und  die  Fallhöhe  bestimmt,  welche 
erforderlich  ist,  um  die  Detonation  hervorzurufen. 
So  wurde  folgendes  gefunden :  Durch  ein  Gewicht 
von  2  kg  wurde 

Knallsilber        bei  einer  Fallhöhe  von       i   cm 
Pikrinsäure  ,,         „  „  „        25     „ 

Trinitrotoluol     ,,        ,,  „  „     108    ,, 

zur  Explosion  gebracht.  Man  erkennt  die  großen 
Unterschiede,  welche  zwischen  dem  als  Zündmittel 
verwendeten  Knallquecksilber,  der  recht  druck- 
empfindlichen Pikrinsäure  und  dem  schuß-  und 
rohrsicheren  Trinitrotoluol  bestehen. 

Während  das  Geschoß  unter  dem  Druck  der 
hocherhitzten  Pulvergase  den  Lauf  oder  das  Rohr 
verläßt,  führt  die  VVaffe  selbst  verschiedene  Be- 
wegungen aus:  sie  erfährt,  wie  schon  erwähnt, 
einen  Rückstoß  in  der  Richtung  der  Seelenachse, 
die  Mündung  wird  angehoben  und  zugleich  wird 
Lauf  oder  Rohr  durch  die  Erschütterung  des 
Schusses  in  schwingende  Bewegungen  versetzt, 
die  bei  Geschützen  so  stark  sein  können,  daß  s*e 
mit  bloßem  Auge  erkennbar  sind.  Alle  VVaffen- 
bewegungen  beim  Schuß  hat  man  auf 
photographischem  Wege  durch  einzelne  Moment- 
bilder oder  durch  kinematographische  Serienauf- 
nahmen eingehend  studiert. 

Um  die  Waffen  im  Moment  des  Schusses 
photographieren  zu  können,  ist  die  Einrichtung 
derart  getroffen,  daß  durch  das  Geschoß  vor  der 
Mündung  ein  Strom  unterbrochen  wird  und  daß 
durch  diese  Unterbrechung  an  einer  Leidener 
Flasche  ein  starker  Funke  hervorgerufen  wird. 
Der  momentan  auftretende,  intensiv  leuchtende 
Funke  wirft  das  Bild  der  Waffe  auf  die  photo- 
graphische Platte;  die  Zeit  seines  Aufleuchtens 
ist  so  kurz,  daß  auch  die  schnellste  Bewegung 
stillstehend  erscheint.  Durch  allmähliche  Ent- 
fernung der  Funkenauslösevorrichtung  von  der 
Mündung  kann  der  Schußvorgang  in  jeder  be- 
liebigen Phase  festgehalten  werden.  So  hat  man 
sehr  instruktive  Bilder  von  dem  Austreten  der 
Pulvergase,  von  dem  Ausschleudern  unverbrannter 
Pulverkörner,  von  dem  Funktionieren  des 
Schlosses  usw.  erhalten. 


Besser  als  durch  Einzelbilder  werden  die  Schuß- 
bewegungen durch  die  Serienaufnahmen  der 
Schußkinematographie  demonstriert.  Die  ge- 
wöhnliche kinematographische  Methode,  deren 
Beleuchtungsprinzip  auf  einem  rasch  wechselnden 
Blenden  und  Offnen  einer  konstanten  Lichtquelle 
beruht,  ist  zur  Festhaltung  der  Schußvorgänge 
wegen  der  ungeheueren  Geschwindigkeiten  nicht 
anwendbar.  Die  Beleuchtung  wird  hier  durch 
elektrische  Funken  bewirkt,  die  in  raschester  Auf- 
einanderfolge überspringen  und  die  Momenibilder 
der  Waffe  auf  einen  schnell  rotierenden  Film  ent- 
werfen. Mit  Hilfe  sinnreicher  Vorrichtungen  ist 
es  gelungen,  die  Beleuchtungsfunken  und  damit 
die  einzelnen  Aufnahmen  in  derart  rascher  Folge 
zu  erzeugen,  daß  der  zeitliche  Abstand  der  ein- 
zelnen Aufnahmen  wenig  mehr  als  Vi 00  000  Sekunde 
beträgt.  So  kann  man  selbst  von  den  rapidesten 
Vorgängen,  die  in  minimalen  Bruchteilen  einer 
Sekunde  verlaufen,  eine  ganze  Reihe  von  Teil- 
bildern erhalten.  Die  Serienaufnahmen  werden 
auf  einen  an  der  Seite  gelochten  Film  kopiert, 
und  mit  Hilfe  eines  kinematographischen  Projek- 
tionsapparates auf  einem  Schirm  zu  einem  zu- 
sammenhängenden Vorgange  vereinigt.  Die  Ge- 
schwindigkeit des  Filmbildes  kann  beliebig  ver- 
langsamt werden  und  so  werden  noch  Bewegungen 
bequem  sichtbar,  die  sich  sonst  wegen  ihrer  un- 
geheueren Geschwindigkeit  jeder  Beobachtung  ent- 
ziehen. Ganz  ähnlich  wie  man  durch  das  Mikro- 
skop instand  gesetzt  wird,  kleinste  Körperchen 
in  allen  Einzelheiten  zu  erkennen,  oder  wie  durch 
das  Fernrohr  weit  entfernte  Gegenstände  stark 
angenähert  erscheinen,  wird  durch  die  kinemato- 
graphische Methode  die  Verfolgung  sehr  rascher 
Vorgänge  mit  dem  Auge  möglich.  Ein  Bild  von 
eigenartigem  Reiz  bietet  auf  dem  Projektionsschirm 
beispielsweise  das  Abschießen  einer  Selbstladewaffe: 
langsam  rückt  der  Abzugshahn  wieder  vor,  das 
Geschoß,  das  in  Wahrheit  mit  vielen  Hundert 
Metern  Geschwindigkeit  hervorjagt,  tritt  ruhig 
und  harmlos  aus  dem  Lauf  heraus,  die  Pulvergase 
dringen  wie  Qualm  aus  einem  Schornstein  aus 
der  Mündung  hervor,  der  Verschluß  geht  zurück, 
die  leere  Patronenhülse  wird  ausgeworfen,  eine 
neue  Patrone  eingeführt;  alles  was  in  Wirklichkeit 
sich  mit  äußerster  Schnelligkeit  vollzieht,  geht  in- 
folge der  kinematographischen  Verlangsamung  mit 
größter  Ruhe  und  Bequemlichkeit  vor  sich. 

Mit  noch  so  eingehenden  Angaben  über  die 
Bewegungsvorgänge  in  der  Waffe  ist  dem  Soldaten 
im  Felde  nur  wenig  gedient;  um  seine  Ziele  er- 
folgreich beschießen  zu  können ,  bedarf  er  vor 
allem  genauer  Kenntnis  des  Weges,  den  das  Ge- 
schoß nach  dem  Abschießen  einschlägt  und  der 
Wirkungen,  die  es  am  Ziel  hervorbringt. 

Wenn  das  Geschoß  die  Waffe  verlassen  hat, 
und  keinerlei  Kräfte  es  uuf  seinem  Wege  beein- 
flussen würden,  so  müßte  es  sich  in  gerader  Linie 
fortpflanzen.  In  Wirklichkeit  wird  das  Geschoß 
durch  vielerlei  Einwirkungen,  unter  denen  die  An- 
ziehung  der  Erde    und    der  Widerstand    der  Luft 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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die  wichtigsten  sind,  aus  seiner  Bahn  abgelenkt. 
Außer  durch  die  Richtung  der  Seelenachse  und 
die  Eigengeschwindigkeit  des  Geschosses  wird 
daher  die  Gestalt  der  Flugbahn  im  wesent- 
lichen durch  Schwerkraft  und  Luftwiderstand  be- 
dingt. Sieht  man  der  Einfachheit  wegen  zunächst 
von  der  Wirkung  des  Luftwiderstandes  ab,  be- 
trachtet man  also  den  Geschoßflug  im  luft- 
leeren Raum,  so  ergibt  sich  aus  meciianischen 
Prinzipien  für  die  Flugbahngestalt  eine  verhältnis- 
mäßig einfache  Linie,  die  Parabel.  Eine  noch 
einfachere  Form  nimmt  die  Flugbahn  an,  wenn 
man  nur  nahezu  horizontale  Schüsse  mit  geringer 
Erhebung  der  Seelenachse  gegen  die  Wagerechte 
in  Betracht  zieht,  wie  sie  für  das  Gewehr  die 
Regel  sind.  Die  Bahn  nimmt  dann  die  Gestalt 
eines  flaciien  Kreisbogens  an.  Obgleich  sich  jede 
Geschoßbewegung  im  lufterfüllten  Raum  vollzieht, 
gestatten  die  für  den  leeren  Raum  auf  mathe- 
mathischem  Wege  abgeleiteten  Formeln  doch 
wesentliche  Rückschlüsse  auf  die  wirkliche  Flug- 
bahn und  teilweise  direkt  praktische  Verwertung. 
Es  zeigte  sich  nämlich,  daß  der  wirkliche  Geschoß- 
flug sich  in  vielen  P'älien,  besonders  bei  schweren 
Geschossen  und  geringen  Geschwindigkeiten,  der 
Parabelgestalt  sehr  annähert. 

Aus  der  parabolischen  Gestalt  folgt  ohne 
weiteres,  daß  die  größte  Schußweite  bei  einem 
.Abgangswinkel  von  45  Grad  erreicht  wird,  das 
heißt,  wenn  die  Geschoßbahn  mit  einer  in  der 
Mitte  zwischen  der  Horizontalen  und  der  Senk- 
rechten liegenden  Richtung  ansteigt.  Zugleich 
folgt,  daß  dieselbe  Schußweite  mit  zwei  ver- 
schiedenen Erhöhungswinkeln  erreicht  werden 
kann,  die  beide  von  dem  Winkel  der  maximalen 
Schußweite  gleich  weit  entfernt  sind.  So  wnrd 
z.  B.  mit  einem  Winkel  von  30  Grad  dasselbe 
Ziel  getroffen,  wie  mit  einem  solchen  von  60  Grad. 
Die  militärische  Praxis  macht  sich  diese  Möglich- 
keiten in  dem  Steil-  und  Flachschuß  zunutze. 

Infolge  des  verzögernden  Luftwiderstandes  ist 
die  Flugbahn  stets  mehr  oder  weniger  von  der 
Gestalt  der  Parabel  verschieden.  Die  Schußweite 
und  Endgeschwindigkeit  wird  verkleinen,  die  Ge- 
samtflugzeit vergrößert  und  der  Scheitel  der  Bahn 
mehr  nach  dem  Auftreffpunkt  hin  verlegt.  Der 
absteigende  Flugbahnast  ist  stärker  gekrümmt  als 
der  auf^teigende;  er  fällt  steiler  ab,  und  daher  ist 
der  Auffallwinkel,  d.  h.  der  Winkel,  unter  dem 
das  Geschoß  am  Ziele  auftrifift,  größer  als  der  Ab- 
gangswinkel. Für  artilleristische  Zwecke  ist  ein- 
gehende Kenntnis  der  wirklichen  Flugbahngestalt, 
der  sog.  ballistischen  Linie  durchaus 
notwendig,  um  Ziele  erfolgreich  bekämpfen  zu 
können.  Insbesondere  müssen  die  Zusammen- 
hänge zwischen  den  einzelnen  Elementen  der 
Bahn,  den  ballistischen  Elementen  gut  bekannt 
sein;  der  Artillerist  muß  wissen,  welche  Be- 
ziehungen zwischen  Anfangsgeschwindigkeit  und 
Abgangswinkel  einerseits,  und  der  Schußweite, 
der  Flugzeit,  der  Endgeschwindigkeit  und  dem 
Auffallwinkel  andererseits  bestehen.  Durch  mannig- 


faltige Schießversuche  zusammen  mit  den  theo- 
retischen Berechnungen  der  Mathematiker  und 
Physiker  hat  man  die  Zusammenhänge  dieser 
Elemente  für  die  verschiedensten  Verhältnisse 
tabellarisch  aufgezeichnet  und  sie  für  den  prak- 
tischen Gebrauch  in  den  Schußtafeln  niedergelegt. 

Der  Ei  nfl  u  ß  des  L  u  ft  w  ide  rstand  es  auf 
die  Gestaltung  der  Geschoßbahn  macht  sich  um 
so  deutlicher  bemerkbar,  je  leichter  das  Geschoß- 
gewicht und  je  größer  die  Geschwindigkeit  ist. 
Eine  120  kg  schwere  Mörsergranate,  die  mit  ca. 
200  m  Anfangsgeschwindigkeit  fortgeschleudert 
wird,  erreicht  etwas  mehr  als  die  Hälfte  der  be- 
rechneten Schußweite.  Dagegen  verliert  das  sehr 
rasch  mit  einer  Geschwindigkeit  von  über  600  m 
fliegende  Infanteriegeschoß  des  Gewehres  8Ö  in- 
folge des  Luftwiderstandes  über  70  "/„  seiner 
Schußweite.  Für  kleine  Geschosse  großer  Ge- 
schwindigkeit ist  hohes  spezifisches  Gewicht  von 
Vorteil.  Das  moderne  Gewehrgeschoß  mit  Stahl- 
mantel und  Bleikern  hat  eine  Dichte  von  10,5. 
Versuche,  die  man  mit  schwereren  Metallen  an- 
stellte, sind  an  praktischen  Schwierigkeiten  ge- 
scheitert. 

Neben  der  Geschwindigkeit  und  dem  Gewicht 
des  Geschosses  kommt  für  die  Größe  des  Luft- 
widerstandes das  Gewicht  der  Luft  während  des 
Schießens  in  Frage.  Das  Luftgewicht  wechselt 
stark  mit  dem  Luftdruck,  der  Temperatur  und 
dem  Feuchtigkeitsgehalt.  Hoher  Barometerstand, 
kalte  und  feuchte  Luft  setzen  dem  Geschoß  mehr 
Widerstand  entgegen,  als  eine  leichte,  warme  und 
trockene  Atmosphäre. 

Durch  die  Geschoßbewegung  wird  die  Luft 
zur  Seite  gedrängt,  so  wie  das  fahrende  Schiff 
das  Wasser  durchschneidet.  Ebenso  wie  der 
Widerstand,  welchen  das  Schiff  im  Walser  findet, 
von  Querschnitt  und  äußerer  Gestalt  des  Schiffs- 
körpers abhängig  ist,  ist  der  dem  fliegenden  Ge- 
schoß entgegentretende  Luftwiderstand  durch  die 
Querschnittsfläche  des  Geschoßkörpers  und 
durch  seine  Form  bedingt.  Bei  den  im  Mittel- 
alter verwendeten  Kugeln  ist  das  Verhältnis 
zwischen  Geschoßgewicht  und  dem  zum  Luft- 
widerstande senkrechten  Querschnitte  außer- 
ordentlich ungünstig.  Viel  vorteilhafter  gestaltet 
sich  das  Verhältnis  bei  den  modernen  Lang- 
geschossen, mit  walzenförmigem  Führungsteil  und 
nach  vorne  zulaufender  Spitze.  Zu  weiterer  Ver- 
ringerung des  Luftwiderstandes  durch  Querschnitts- 
verkleinerungen hat  man  Geschosse  vorgeschlagen, 
durch  deren  Kern  eine  zylindrische  Bohrung  hin- 
durchführt. Derartige  Hohlgescho-se  bewährten 
sich  in  der  Praxis  jedoch  nicht.  Die  äußere  Form 
der  deutschen  Infanteriegeschosse  Modell  9S  ist 
heute  so  ausgebildet,  daß  sie  der  Luftdurch- 
schneidung  einen  möglichst  geringen  Widerstand 
entgegensetzen.  An  einen  zylindrischen  Führungs- 
teii,  der  etwa  die  Hälfte  der  ganzen  Geschoßlänge 
einnimmt,  schließt  sich  eine  lange,  schlanke  Spitze. 
Das  französische  Gewehrgeschoß  hat  ebenfalls  eine 
schlanke    Spitze,    im    Gegensatz    zum    deutschen 


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Spitzengeschoß  jedoch  einen  nach  dem  Boden  zu 
eiförmig  verjüngten  Führungsteil,  in  der  Form  an 
das  Heck  eines  Schiffes  erinnernd.  Wie  experi- 
mentell erwiesen,  wird  durch  die  heckförmige  Ver- 
jüngung der  Luftwiderstand  herabgemindert. 

Die  Gestaltung  der  Sprenggranaten  und 
Schrapnells  kann  den  Forderungen  nach  einem 
möglichst  geringen  Widerstand  nur  soweit  ent- 
gegenkommen, als  es  die  Rücksichten  auf  den 
inneren  Ausbau  und  die  Füllung  zulassen.  Man 
wendet  hier  schwach  abgerundete  Spitzenformen 
an  und  sucht  die  Spitze  im  Verhältnis  zum  Ge- 
schoßdurchmesser soweit  als  praktisch  möglich  zu 
verlängern.  Die  massiven  Fanzergeschosse,  die 
nicht  durch  Sprengladungen,  sondern  lediglich 
durch  die  lebendige  Kraft  ihres  Aufpralles  wirken 
sollen,  werden  mit  scharfer,  gehärteter  Spitze  ver- 
sehen. Um  ein  Eindringen  in  die  Ziele  zu  er- 
leichtern und  das  Abbrechen  der  Spitze  zu  ver- 
hindern, umgibt  man  sie  mit  einer  Kappe  aus 
weichem  StahlblecJi.j 

Über  das  eigentliche  Wesen  des  Luftwider- 
standes gibt  in  sehr  interessanter  Weise  die  oben 
schon  erwähnte  Schußkinematographie  Aufschluß. 
Es  ist  gelungen,  das  Geschoß  trotz  seiner  un- 
geheueren Geschwindigkeit,  auf  die  photographische 
Platte  zu  bannen.  Auf  den  erhaltenen  Bildern  sind 
außer  der  dunklen  Silhouette  des  Geschosses  deut- 
lich alle  die  vor,  neben  und  hinter  dem  Geschoß 
auftretenden  Luftbewegungen  zu  erkennen. 
Es  ist  so  erwiesen,  daß  das  Geschoß  der  Luft 
selbst  Beschleunigung  erteilt,  sie  in  Wellen  fort- 
stößt und  in  ihr  durch  Reibung  Wirbel  erzeugt. 
Die  Energie,  welche  das  Geschoß  infolge  des 
Luftwiderstandes  verliert,  setzt  sich  in  diese 
Wellen-  und  Wirbelbewegungen  um. 

Charakteristische  Luftbewegungen  treten  am 
fliegenden  Geschoß  erst  bei  Geschwindigkeiten 
auf,  welche  die  Schallgeschwindigkeiten  über- 
steigen. Die  Erscheinungen  sind  denen  sehr 
ähnlich,  die  ein  fahrendes  Schiff  im  Wasser  her- 
vorruft. An  der  Geschoßspitze  entsteht  eine 
Welle  verdichteter  Luft,  die  sog.  Kopfwelle,  die 
unter  bestimmtem,  von  der  Geschwindigkeit  ab- 
hängigem Winkel  seitlich  ausläuft.  Bei  den  spitzen 
Infanteriegeschossen  beginnt  diese  Bugwelle  etwas 
hinter  dem  Geschoßkopf.  Vom  Geschol3boden 
geht  eine  zweite  Verdichtungswelle,  die  Schwanz- 
welle aus.  In  dem  Schußkanal  erblickt  man  noch 
mehrere  Meter  hinter  dem  Geschoß  zahlreiche 
Wölkchen,  die  von  Luftwirbeln  herrühren. 

Der  Luftdruck,  der  am  fliegenden  Geschoß 
durch  Verdichtung  der  Luft  auftritt,  ist  nicht 
sonderlich  hoch ;  wie  gründliche  Messungen  er- 
geben haben,  beläuft  er  sich  auf  nur  wenige  Atmo- 
sphären. Wenn  im  Gefechte  einzelne  Leute  durch 
den  Luftdruck  der  Granaten  getötet  sein  sollen, 
so  ist  das  lediglich  eine  Wirkung  der  platzenden 
Granaten,  deren  Sprengfüllung  bei  der  Detonation 
allerdings  gewaltige  Spannungen  entwickeln.  Der 
durch    den    Vorbeiflug    selbst    großer    Geschosse 


hervorgerufene  Luftdruck  kann  einen  Mann  höch- 
stens zu  Boden  werfen. 

Im  menschlichen  Ohre  rufen  die  Verdichtungs- 
wellen eine  Knall  em  pfind  ung  hervor.  Wenig 
bekannt  dürfte  es  sein,  daß  wir  an  den  Feuer- 
waffen zwei  verschiedene  Arten  des  Knalles,  den 
Geschoß-  und  den  Waftenknall  zu  unterscheiden 
haben.  Im  Gefecht  ist  bei  dem  allgemeinen 
Schlachtenlärm  davon  zwar  nichts  zu  merken,  da- 
gegen wird  man  diese  Angabe  bestätigt  finden, 
wenn  man  auf  dem  Schießstande  in  der  Anzeiger- 
deckung am  Ziele  aufmerksam  beobachtet.  Zu- 
gleich mit  dem  Geschoß  kommt  ein  kurzer, 
ssharfer  Knall  am  Ziele  an ;  er  rührt  von  der 
Kopfwelle  des  Geschosses  her.  Kurz  darauf  folgt 
ein  zweiter,  dumpferer  Knall,  der  an  der  Waffe 
hervorgebracht  wird,  wenn  die  hochgespannten 
Pulvergase  nach  Austritt  des  Geschosses  plötzlich 
auf  die  umgebende  Luft  stoßen.  Er  pflanzt  sich 
nur  mit  Schallgeschwindigkeit  fort  und  langt  daher 
später  als  der  Geschoßknall  am  Ziele  an. 

Der  Luftwiderstand  aber  wirkt  nicht  nur  ver- 
zögernd auf  die  Geschoßgeschwindigkeit  ein,  er 
hat  auch  das  Bestreben,  die  Geschosse  aus  ihrer 
Lage  in  der  Richtung  der  Flugbahn  zu  drängen, 
sie  zum  Überschlagen  zu  bringen.  Man  kann  sich 
davon  sehr  anschaulich  überzeugen,  wenn  man 
ein  Infanteriegeschoß  lose  drehbar  auf  eine  Platte 
legt  und  jetzt  in  der  Richtung  der  Längsachse 
einen  Luftstrom  dagegen  bläst.  Es  beginnt  so- 
gleich heftig  zu  schwanken  und  stellt  sich  schließ- 
lich quer  zum  Luftstrom.  Das  Überschlagen  der 
Langgeschosse  würde  eine  völlig  unregelmäßige 
Flugbahn  im  Gefolge  haben  und  damit  die  Treff- 
sicherheit illusorisch  machen.  Man  sichert  daher 
den  Geschossen  eine  feste  und  dauernde  Richtung 
in  der  Mugbahn,  indem  man  ihnen  eine  scharfe 
Drehbewegung  um  ihre  Längsachse  er- 
teilt. Alle  schnell  rotierenden  Körper  setzen 
Kräften,  die  ihre  Drehachse  aus  ihrer  Richtung 
zu  bringen  suchen,  beträchtlichen  Widerstand  ent- 
gegen ;  der  sich  drehende  Kreisel,  ja  unsere  Erde 
selbst  liefert  ein  Beispiel  für  diese  Erscheinung. 
Die  Rotation  der  Langgeschosse  wird  durch  die 
schraubenförmige  Steigung  der  Züge,  dem  Drall, 
im  Lauf  und  Rohr  hervorgebracht,  in  welche  sich 
das  Geschoß  hineinschraubt.  Die  Geschwindigkeit 
beträgt  bei  neuen  Gewehren  3 — 4000  Touren  pro 
Sekunde.  Da  die  Rotation  durch  den  Luftwider- 
stand fast  gar  nicht,  sondern  nur  durch  die  gering- 
fügige Luftreibung  beeinflußt  wird ,  erfährt  ihre 
Geschwindigkeit  während  der  Dauer  des  Geschoß- 
fluges keine  nennenswerte  Einbuße. 

Ein  völlig  ruhiger  Flug  wird  durch  die  Ge- 
schoßrotatien  noch  nicht  gewährleistet.  Aus  der 
Wechselwirkung  zwischen  der  Geschoßdrehung 
um  die  Längsachse  und  dem  Luft  widerstände 
entsteht  eine  pendelnde  Drehbewegung,  indem 
die  Geschoßachse  eine  Kegelform  beschreibt.  An 
tanzenden  Kreiseln  kann  man  ähnliche  Pendelungen 
beobachten.  Solche  regelmäßigen  Bewegungen 
sind    nicht    mit    dem  Flattern    gewisser  Artillerie- 


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geschosse  zu  verwechseln,  das  man  hier  und  da 
mit  bloßem  Auge  wahrnehmen  kann  und  dessen 
Ursache  in  unregelmäßigen  Stößen  der  Pulvergase 
auf  dem  Geschoßboden  zu  suchen  ist. 

Zahlreich  sind  die  Methoden  und  interessant 
die  Ergebnisse  der  experimentellen  Untersuchun- 
gen, welche  man  über  die  einzelnen  ballistischen 
Elemente  der  Geschoßbahn  anstellte.  Anfangs- 
geschwindigkeit, Abgangswinkel,  Flugzeit  und 
Schußweite  wurden  genau  gemessen,  ebenso  Auf- 
fallwinkel und  Endgeschwindigkeit  bestimmt.  Die 
üblichen  Methoden  der  praktischen  Physik  ver- 
sagen der  ungeheuren  Geschwindigkeiten  und  der 
riesigen  Kräfte  wegen  meistens,  neue  Unter- 
suchungsverfahren sind  daher  vielfach  herange- 
zogen worden. 

Die  Mündungs-  oder  Anfangsgeschwin- 
digkeit, d.  h.  die  Geschwindigkeit,  welche  das 
Geschoß  beim  Austritt  aus  der  Mündung  besitzt, 
ist  oft  gemessen  worden.  Wegen  ihres  bestim- 
menden Einflusses  auf  die  Rasanz  der  Flugbahn, 
die  Schußweite  und  die  Treffsicherheit  hat  sie 
wichtige  Bedeutung  für  die  Praxis  des  Schießens. 
Die  älteste  Bestimmungsmethode  beruht  auf  der 
Verwendung  des  ballistischen  Pendels ;  in  einen 
als  Pendel  lose  aufgehängten,  mit  Sand  gefüllten 
Kasten  schießt  man  das  Gewehrgeschoß  aus  ziem- 
lich naher  Entfernung  hinein  und  beobachtet  den 
Ausschlag,  welchen  der  hängende  Kasten  erfährt. 
Die  Größe  des  Ausschlagwinkels  steht  dabei  in 
direkter  Beziehung  zu  der  Energie  des  fliegenden 
Geschosses  und  gibt  ein  Mittel  an  die  Hand,  die 
Geschoßgeschwindigkeit  zu  berechnen.  Der  Ge- 
brauch des  Sandkastens  ist  veraltet;  als  ballisti- 
sches Pendel  benutzt  man  heute  eine  hängende 
Stahlplatte;  an  der  gut  gehärteten  Oberfläche 
prallt  das  Geschoß  ab  und  überträgt  sein  Arbeits- 
vermögen auf  die  Platte,  aus  deren  Bewegungs- 
größe sich  seine  Geschwindigkeit  auf  Grund  der 
Stoßgesetze  ergibt.  Diese  Einrichtung  ist  ein 
sehr  bequemes  und  genaues  Meßinstrument;  es 
hat  vor  allem  den  Vorteil,  daß  es  die  wirkliche 
Geschwindigkeit  im  Moment  des  Auftreffens  er- 
gibt. Alle  anderen  Bessimmungsmethoden  sind 
im  eigentlichen  Sinne  nur  Zeitmesser;  sie  ermög- 
lichen die  Bestimmung  der  Zeitdauer,  welche  das 
Geschoß  zum  Durchfliegen  einer  längeren  Strecke 
benötigt,  und  liefern  daher  stets  nur  mittlere  Ge- 
schwindigkeitswerte. 

Geschwindigkeitsmessungen  an  Pistolenge- 
schossen führt  man  mit  Hilfe  einer  schnell  rotie- 
renden, hohlen  Kartontrommel  aus.  Schießt  man 
durch  eine  solche  Vorrichtung  hindurch,  wenn 
sie  in  Ruhe  ist,  so  liegen  Ein-  und  .Ausschußloch 
auf  einem  Durchmesser;  bei  rotierender  Trommel 
verschiebt  sich  das  Ausschußloch  jedoch  um  einen 
bestimmten  Betrag.  Aus  Durchmesser  und  Rota- 
tionsgeschwindigkeit der  Trommel,  sowie  der  Ver- 
schiebung der  Ausschußöffnung  kann  die  Geschoß- 
geschwindigkeit abgeleitet  werden. 

Sehr  zuverlässige  Werte  liefern  die  Verfahren, 
die    sich    zur    Registrierung    elektrischer    Erschei- 


nungen bedienen.  Das  Prinzip  dieser  Methoden 
ist  stets  das  gleiche :  kurz  vor  der  Mündung  der 
Feuerwaffe  sind  in  bestimmtem  Abstände  zwei 
Stromkreise  angebracht;  durch  das  fliegende  Ge- 
schoß werden  diese  Ströme  unterbrochen  und  die 
Zeit  zwischen  den  Unterbrechungen  registriert. 

Bei  Versuchen  über  die  Anfangsgeschwindig- 
keit von  Artilleriegeschossen  stellt  man  vor  dem 
Geschütz  am  Anfang  und  Ende  der  Meßstrecke 
meist  in  gegenseitiger  Entfernung  von  50  oder 
100  Metern  zwei  gitterförmige  Raiimen,  die 
Durchschießungsgitter  auf  Die  Drähte  sind  so 
dicht  gespannt,  daß  beim  Hindurchfliegen  des 
Geschosses  wenigstens  ein  Draht  zerrissen  werden 
muß,  und  damit  Stromunterbrechung  eintritt.  Bei 
Untersuchungen  an  Gewehren  spannt  man  kurz 
vor  der  Mündung  einen  dünnen  versilberten 
Kupfeidraht,  der  beim  Schuß  zerrissen  wird,  und 
hängt  50  m  weiter  eine  Stahlplatte  auf,  die 
an  elektrischen  Kontakten  anliegt,  durch  das  auf- 
prallende Geschoß  jedoch  abgehoben  wird.  Beide 
Methoden  haben  den  Nachteil ,  daß  die  Energie 
des  Geschosses  durch  die  Zerreißungsarbeit  ver- 
mindert wird  und  daher  fehlerhafte  Werte  erhalten 
werden.  Um  diesen  Übelstand  zu  beheben,  hat 
man  neuerdings  Luftstoßanzeiger  verwendet,  bei 
denen  die  Stromunterbrechung  durch  den  Stoß 
der  das  Geschoß  begleitenden  verdichteten  Luft 
erfolgt.  Die  idealste  Methode  zur  messenden 
Verfolgung  des  frei  fliegenden  Geschosses  ist  die 
Schußkinematographie,  die  bereits  mit  Erfolg  für 
derartige  Messungen  herangezogen  wurde. 

Die  Aufzeichnung  der  zwischen  zwei  Strom- 
unterbrechungen verstreichenden  Zeit  kann  in 
verschiedener  Weise  erfolgen.  Für  den  Gebrauch 
auf  den  Schießplätzen  dient  gewöhnlich  der  Fall- 
chronograph. Infolge  der  ersten  Stromunter- 
brechung läßt  ein  Elektromagnet  ein  Gewicht 
fallen,  durch  die  zweite  wird  ein  Messer  betätigt, 
welches  in  das  fallende  Gewicht  eine  Kerbe 
schlägt.  Die  Kerbe  rückt  um  so  weiter  von 
einem  Nullpunkt  fort,  je  mehr  Zeit  zwischen  den 
Unterbrechungen  vergeht.  Aus  dem  Abstand 
kann  die  Flugzeit  und  damit  die  Geschwindigkeit 
leicht  berechnet  werden.  Auch  die  Markierung 
durch  elektrische  Funken  auf  einer  berußten  rotie- 
renden Trommel  ist  für  Geschwindigkeitsmessun- 
gen geeignet;  infolge  des  Durchschießens  wird 
der  primäre  Stromkreis  eines  Induktionsapparates 
unterbrochen  und  dadurch  sekundär  der  über- 
springende Funken  hervorgebracht. 

Die  heutigen  Methoden  zur  Bestimmung  von 
Geschoßgeschwindigkeiten  gestatten  sehr  feine 
Messungen ;  bei  800  m  Geschwindigkeit  kann 
noch  auf  eine  Genauigkeit  von  20  cm  pro  Sekunde 
gerechnet  werden.  Es  hat  sich  herausgestellt, 
daß  die  Geschosse  durchaus  nicht  immer  direkt 
an  der  Mündung  die  höchste  Geschwindigkeit  be- 
sitzen, daß  sie  vielmehr  zunächst  durch  die  nach- 
strömenden Pulvergase  noch  eine  Beschleunigung 
erfahren  und  erst  etwas  vor  der  Mündung  ihre 
größte  Geschwindigkeit  erlangen.    Die  gefundenen 


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Anfangsgeschwindigkeiten  wechseln  bei  den  ver- 
schiedenen Feuerwaffen,  sind  aber  durchweg  sehr 
hoch.  Bei  Gewehren  beträgt  sie  bis  zu  900  m, 
bei  Feldkanonen  etwa  500  m,  bei  der  schweren 
Artillerie  600 — 700  m.  Man  erkennt,  daß  sich 
das  Geschoß  stets  viel  schneller  als  der  Schall  in 
der  Luft  fortpflanzt.  Daher  rührt  auch  die  Be- 
obachtung der  Feldsoldaten,  daß  sie  sich  beim 
Knallen  der  feindlichen  Gewehre  immer  erst  dann 
in  Deckung  werfen,  wenn  die  Geschosse  längst 
vorüber  geflogen  sind.  Infolge  der  hohen  Ge- 
schwindigkeit verfügen  die  Geschosse  über  ein 
sehr  hohes  Arbeitsvermögen,  das  mit  ihrem  Ge- 
wichte noch  anwächst.  Man  drückt  das  Arbeits- 
vermögen oder  die  Mündungsenergie  meist  in 
Meterkilogrammen  aus,  indem  man  die  Energie 
als  Kinheit  annimmt,  welche  i  kg  um  I  m  zu 
heben  vermag.  Die  Mündungsenergie  der  Gewehre 
beläuft  sich  auf  300 — 400  mkg,  der  Feldgeschütze 
auf  75000 — 100 000  mkg,  der  Kanonen  der  schwe- 
ren Artillerie  je  nach  der  Größe  des  Kalibers  bis 
auf  mehrere  Millionen  mkg.  Welche  gewaltigen 
lebendigen  Kräfte  den  großen  Geschossen  inne- 
wohnen, geht  aus  folgendem  Vergleich  hervor. 
Die  620  kg  schwere  Granate  einer  Marinekanone 
von  35,5  cm  Kaliber  besitzt  an  der  Mündung  eine 
Energie,  welche  nahezu  das  Dreifache  eines  mit 
90  km  Geschwindigkeit  fahrenden  D-Zuges  mit 
Lokomotive,  vier  Wagen  und  Tender  beträgt. 

Der  Winkel,  unter  welchem  sich  die  Geschoß- 
bahn gegen  die  Horizontale  erhebt ,  der  A  b  - 
gangswinkel,  kann  durch  Winkelmeßvorrich- 
tungen bestimmt  werden.  Er  ist  stets  etwas 
größer  als  der  sog.  Erhebungswinkel,  den  die 
Seelenachse  der  eingerichteten  Waffe  mit  der 
Wagerechten  bildet,  da  die  Mündung  beim  Schuß 
stets  etwas  gehoben  wird.  Mit  zunehmender  Ver- 
größerung des  Abgangswinkels  wächst  die  Schuß- 
weite zunächst  bis  zu  einem  Winkel  von  etwa 
40  Grad  und  nimmt  bei  weiterer  Erhöhung  stufen- 
weise wieder  ab.  Die  Schußweite  ist  durch  Beob- 
achtung und  genaues  Abmessen  der  Treffpunkts- 
lage sehr  präzise  bestimmbar.  Die  größte  Schuß- 
weite beträgt  bei  Gewehren  3,5 — 4,5  km,  bei 
modernen  Feldkanonen  etwa  7  km  und  bei 
größeren  Geschützen  über  20  km;  ja  es  sind 
bereits  Küstengeschütze  konstruiert,  deren  Reich- 
weite sich  auf  35  km  erstreckt.  Im  Felde  wird 
übrigens  die  größte  Schußweite  nur  selten  voll 
ausgenutzt. 

Die  Bestimmung  der  Gesamtflugzeit  von 
Artilleriegeschossen  begegnet  keinen  sonderlichen 
Schwierigkeiten;  mit  einem  Handchronometer,  der 
den  für  sportliche  Zwecke  verwendeten  Stoppuhren 
gleicht,  und  einem  Telephon,  welches  Beginn  oder 
Ende  des  GeschoßflLiges  anzeigt,  kann  die  Flug- 
zeit gemessen  werden.  Bei  Infanteriegeschossen 
schlägt  man  gewöhnlich  ein  anderes  Verfahren 
ein;  man  stellt  am  Anfang  und  Ende  der  Geschoß- 
bahn die  schon  erwähnten,  vom  Strom  durch- 
flossenen  Durchschießungsgitter  auf  und  trifft  die 
elektrische    Einrichtung    so,    daß    bei    der    ersten 


Unterbrechung  eine  Meßuhr  in  Gang  gesetzt  wird 
und  bei  der  zweiten  wieder  gestoppt  wird.  Die 
Zeit  kann  so  bis  auf  '/looo  Sekunde  genau  abge- 
lesen werden.  Allerdings  ist  es  bei  großen  Ent- 
fernungen nicht  immer  leicht,  das  zweite  Gitter 
zu  treffen.  Die  totale  Flugzeit  wird  bei  Flach- 
bahnschüsscn  selten  wenige  Sekunden  übersteigen; 
bei  hohen  Bogenschüssen,  deren  Ziel  10 — 20  km 
weit  entfernt  liegt,  können  zwischen  Abschießen 
und  Auftreffen  Zeiten  von  einer  halben  bis  zu 
einer  ganzen  Minute  und  darüber  vergehen. 

Maßgebend  für  die  Wirkungsfähigkeit  der  Ge- 
schosse ist  A  u  ffall  wi  nkel  und  Endge- 
schwindigkeit. Die  Geschwindigkeit  am  Ende 
der  Bahn  kann  ähnlich  wie  die  Mündungsgeschwin- 
digkeit ermittelt  werden;  den  Auffallvvinkel  von 
Infanteriegeschossen  hat  man  gemessen ,  indem 
man  am  Ende  der  Bahn  einige  vertikale  Papp- 
scheiben aufstellte  und  aus  der  Höhe  der  Geschoß- 
löcher und  der  Entfernung  der  Scheiben  auf  Grund 
ballistischer  Gleichungen  den  Auffallwinkel  be- 
rechnete. Für  die  messende  Verfolgung  der 
letzten  Stadien  des  Artilleriegeschoßfluges  steht 
heute  eine  interessante  photogrammetrische  Me- 
thode zur  Verfügung.  In  der  Spitzenhöhlung  des 
Geschosses  ist  ein  Magnesiumleuchtsatz  unter- 
gebracht, der  aus  einer  seitlichen  Öffnung  seine 
hellen  Strahlen  hervorsenden  kann.  Durch  einen 
Zünder  wird  er  kurz  vor  dem  Ziele  angebrannt. 
Hier  sind  in  sinnreicher  Anordnung  verschiedene 
photographische  Kameras  so  aufgestellt,  daß  sie 
den  leuchtenden  Punkt  am  fliegenden  Geschoß 
mehrfach  auf  festen  und  bewegten  Platten  ab- 
bilden. Durch  Ausführung  des  Schießens  bei 
Nacht  werden  störende  Lichteinflüsse  vermieden 
und  sehr  deutliche  Abbildungen  erzeugt.  Die  er- 
haltenen Geschoßbilder  ermöglichen  es,  die  End- 
geschwindigkeit, den  Auffallwinkel  und  außerdem 
die  Rotationsgeschwindigkeit  des  Geschosses  zu 
errechnen.  Der  Auffallwinkel  ist  stets  größer  als 
der  Abgangswinkel ;  bei  Steilfeuer  kann  er  sich 
dem  rechten  Winkel  sehr  weit  annähern.  Zur 
Bekämpfung  von  Zielen  hinter  Deckungen  ist  die 
Erreichung  eines  möglichst  steilen  Auffallwinkels 
für  die  Artillerie  oft  sehr  wertvoll.  Die  am  Ende 
der  Bahn  gemessenen  Geschoßgeschwindigkeiten 
sind  stets  wesentlich  geringer  als  die  kurz  nach 
der  Mündung  gefundenen,  da  der  Luftwiderstand 
stark  verzögernd  einwirkt.  Bei  Feldkanonen  z.  B., 
deren  Geschosse  sich  anfänglich  mit  500  m  in  der 
Sekunde  fortbewegen,  sinkt  die  Geschwindigkeit 
schließlich  in  6  km  Schußweite  auf  etwa  200  m 
pro  Sekunde. 

Die  Geschoßbahn  ist  durchaus  nicht  immer 
so  regelmäßig  gestaltet,  wie  sich  aus  den  balli- 
stischen Berechnungen  ergeben  müßte.  Allerlei 
ablenkende  Einflüsse  machen  sich  in  Wirk- 
lichkeit geltend  und  rufen  allseitige  oder  nur  in 
einer  Richtung  liegende  Abweichungen  von  der 
normalen  Flugbahn  hervor.  Unvermeidlich  sind 
alle  die  kleinen  Unterschiede  zwischen  den  ein- 
zelnen   Schüssen    derselben    Waffe;    sie    sind    be- 


N.  F.  Xm.  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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gründet  in  geringfügigen  Differenzen  in  Herstellung, 
Menge  und  Eigenschaften  der  Munition,  in  Ziel- 
felilern,  in  den  wechselnden  Schwingungen  des 
Laufes  oder  Rohres  usw.  Die  durch  solche  Zu- 
fälligkeiten bedingten  Abweichungen  sind  nur 
gering.  Die  einzelnen  Geschoßbahnen  bilden  zu- 
sammen am  Ziele  ein  garbenförmiges  Bündel;  die 
Einschläge  gruppieren  sich  auf  der  Fläche  einer 
Ellipse   um  den  Treffermittelpunkt. 

Sehr  deutliche  Ablenkungen  aus  der  normalen 
Bahn  vermögen  die  sog.  Tageseinfiüsse  zu  be- 
wirken. Änderungen  des  Luftgewichtes,  veranlaßt 
durch  Schwankungen  des  Barometerstandes,  der 
Temperatur  und  des  Feuchtigkeitsgehalts  ver- 
größern oder  verringern  die  Schußweite.  In  ähn- 
licher Weise  wirken  verschiedene  Temperatur, 
wechselnder  h'euchtigkeitsgehalt  des  Pulvers.  Der 
Wind  bringt  oft  starke  einseitige  Abweichungen 
hervor;  sein  Einfluß  ist  in  der  Schießpraxis 
schwierig  zu  berücksichtigen,  da  er  stoßweise 
weht  und  das  Geschoß  zudem  hohe  Luftschichten 
mit  Winden  unbekannter  Richtung  und  Stärke 
passiert.  Seitenwind  bewirkt  seitliche  Ablenkungen, 
Wind  gegen  die  Schußrichtung  bedingt  Kurzschuß, 
Wind  in  der  Schußrichtung  Hochschuß. 

Beträchtliche  einseitige  Abweichungen  sind  auf 
die  Geschoßrotation  zurückzuführen;  ein  rechts 
sich  drehendes  Geschoß  ist  bestrebt,  nach  rechts 
abzuweichen,  ein  links  rotierendes  lenkt  nach  links 
ab.  Am  einfachsten  macht  man  sich  die  Ursache 
für  dieses  Abweichungsbestreben  mit  der  Vor- 
stellung klar,  daß  das  Geschoß  auf  der  verdichteten 
Luft  wie  auf  einem  Polster  in  der  Richtung  der 
Drehung  fortrollt. 

Ein  in  den  jetzigen  Zeiten  besonders  inter- 
essantes Kapitel  ist  die  Betrachtung  der  Geschoß- 
wirkungen vom  physikalischen  Standpunkte.  Die 
Wirkungsfähigkeit  ist  von  verschiedenen  Umständen 
abhängig.  Zunächst  ist  die  Energie  maßgebend, 
welche  dem  auftreffenden  Geschosse  innewohnt. 
Die  Auftrefferenergie  nimmt  dem  Gewichte  pro- 
portional zu  und  wächst  mit  dem  Quadrate  der 
Geschoßgeschwindigkeit.  Die  Wirkungsfähigkeit 
wird  also  durch  die  Geschwindigkeit  in  viel 
höherem  Maße  gesteigert  als  durch  das  Gewicht. 
Von  Wichtigkeit  sind  ferner  die  physikalischen 
Eigenschaften  des  Geschoßmetalles,  seine  Härte 
und  Festigkeit.  Wo  die  Widerstandsfähigkeit  der 
modernen  Werkstoffe  noch  nicht  ausreicht  wie 
z.  B.  bei  den  Panzergeschossen,  umgibt  man  die 
glasharte  Spitze  mit  einer  Kappe  aus  weichem 
Stahl.  Sie  wirkt  beim  Eindringen  des  Geschosses 
in  das  materielle  Ziel  als  Schmiermittel,  umfaßt 
zu  gleicher  Zeit  den  hindurchdringenden  Spitzen- 
teil fest  und  hindert  ihn  am  Abbrechen.  Wenn 
es  auf  Durchschlagsleistung  ankommt,  ist  die 
äußere  Gestalt  des  Geschosses  von  besonderer 
Bedeutung;  es  soll  eine  schlanke  Spitze,  die  nicht 
abbricht  und  bei  schrägem  Auftreffen  nicht  ab- 
gleitet, und  glatte  Außenfläche  besitzen. 

Die  Wirkungen  der  modernen,  rasch  fliegenden 
Geschosse    sind  sehr  eigenartiger  Natur;    die  ein- 


tretenden merkwürdigen  Vorgänge  scheinen  allen 
Regeln  der  Mechanik  zuwiderzulaufen.  So  wird 
z.  B.  eine  freihängende  Glasplatte  vom  Infanterie- 
geschoß glatt  durchschlagen,  ohne  daß  sie  außer 
der  Durchlöcherung  beschädigt  wird  oder  sich 
auch  nur  bewegt.  Ebenso  stößt  das  Mantel- 
geschoß durch  eine  Stahlplatte  hindurch,  ohne 
daß  diese  trotz  ihrer  P21astizität  auch  nur  federnd 
nachgibt.  Ein  Kupferdraht  zerreißt  beim  Auf- 
treffen des  Geschosses  so  momentan,  daß  eine 
Bewegung  des  Drahtes  erst  viel  später  sichtbar 
wird.  Ein  dünnes  Brett  kann  mit  einem  kleinen 
Holzstab  oder  einer  Kerze  glatt  durchschossen 
werden ;  Stab  und  Kerze  erleiden  keinerlei  Be- 
schädigungen. Die  sonderbaren  Erscheinungen 
haben  ihre  Ursache  in  der  gewaltigen  Stoßenergie 
der  Geschosse  infolge  ihrer  ungewöhnlichen  Ge- 
schwindigkeit und  in  dem  hohen  Trägheitswider- 
stand der  materiellen  Körper,  die  sich  solchen 
Geschwindigkeiten  gegenüber  geltend  machen. 
Mit  Hilfe  der  elektrischen  Kinematographie  hat 
man  viele  Durchschießungs-  und  Eindringungs- 
vorgänge  verfolgt  und  hat  festgestellt,  daß  das 
Geschoß  im  Moment  des  Auftreffens  den  ge- 
troffenen Körperstellen  ganz  gewaltige  Beschleu- 
nigungen erteilt,  so  daß  diese  gewissermaßen  selbst 
zu  Projektilen  werden. 

Nicht  der  getroffene  Gegenstand  allein,  sondern 
auch  das  Geschoß  erfährt  beim  Auftreffen  allerlei 
Deformationen.  Bei  niedrigen  Geschwindigkeiten 
leidet  es  wenig,  bei  hoher  Auftreßerenergie  da- 
gegen wird  es  meist  völlig  zertrümmert.  Wird 
z.  B.  das  Infanteriegeschoß  aus  naher  Entfernung 
in  Wasser  abgefeuert,  so  zerstäubt  es  förmlich, 
wird  es  in  Sand  dicht  vor  der  Mündung  abge- 
schossen, so  zersplittert  es  nahezu  vollständig. 
Die  Energie  setzt  sich  dabei  in  Wärme  um ;  der 
Sand  wird  deutlich  heiß.  Hierin  liegt  auch  der 
Grund  für  die  merkwürdige  Erscheinung,  daß  Ge- 
schosse mit  hoher  Geschwindigkeit  weniger  tief 
in  Erde,  Sand,  Holz  usw.  eindringen  als  langsamer 
fliegende  Projektile. 

Solange  die  Geschwindigkeit  nicht  wesentlich 
vermindert  ist,  üben  die  Infanteriegeschosse  beim 
Eindringen  in  den  menschlichen  Körper,  besonders 
in  die  mit  Flüssigkeiten  gefüllten  Hohlorgane,  die 
Weichteile,  eine  Art  Sprengwirkung  aus  und  rufen 
sehr  gefährliche  Gewebezerreißungen  hervor.  Eine 
noch  höhere  Verwundungsfähigkeit,  zugleich  auf 
weitere  Entfernungen  haben  die  berüchtigten  Dum- 
Dumgeschosse.  Sie  sind  entweder  als  Bleispitzen- 
geschosse, bei  denen  der  Mantel  an  der  Spitze 
entfernt  ist,  oder  als  Hohlspitzengeschosse  ausge- 
bildet, in  deren  Spitze  eine  zylinderförmige 
Höhlung  eingestanzt  ist.  Ihre  Erfindung  rührt 
von  den  Engländern  her,  die  in  Kolonialkämpfen 
die  Beobachtung  gemacht  zu  haben  glaubten,  daß 
die  gewöhnlichen  Vollmantclgeschosse  dem  An- 
sturm der  Wilden  gegenüber  keine  genügend  auf- 
haltende Kraft  besäßen.  Für  die  Explosions- 
wirkung der  mit  hoher  Geschwindigkeit  in  den 
menschlichen     Körper     eindringenden    Geschosse 


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sind  vielerlei  Erklärungen  versucht  worden;  man 
suchte  sie  auf  starke  Stauchung  der  Geschosse, 
auf  die  Dampfentwicklung  infolge  der  hohen 
Reibungstemperatur,  auf  das  Ausdehnungsbestreben 
der  mitgerissenen  Luft  und  andere  Ursachen  zurück- 
zuführen. Kinematographische  Aufnahmen  haben 
jedoch  klar  erwiesen,  daß  sich  die  Geschoßge- 
schwindigkeit momentan  auf  die  getroffenen  Teile 
überträgt  und  daß  diese  selbst  alsdann  geschoß- 
artig nach  allen  Seiten  auseinander  streben.  Statt 
der  Tiefenwirkung  langsam  fliegender  Geschosse, 
tritt  so  eine  explosionsartige  Seitenwirkung  ein. 
Infolgedessen  sind  die  modernen,  kleinkalibrigen 
Infanteriegeschosse  den  früheren  großkalibrigeren, 
aber  langsam  fliegenden  Geschossen  in  bezug  auf 
Verwundungsfähigkeit  keineswegs  unterlegen. 

Man  hat  auf  theoretischem  Wege  die  Auf- 
trefferenergie zu  berechnen  gesucht,  die  erforder- 
lich ist,  um  einen  Mann  oder  ein  Pferd  außer  Ge- 
fecht zu  setzen.  Da  es  auf  den  Sitz  des  Schusses 
vor  allem  ankommt,  sind  die  erhaltenen  Werte 
recht  unbestimmt.  Man  nimmt  heute  im  all- 
gemeinen an,  daß  8  mkg  genügen,  um  einen  Mann 
kampfunfähig,  und  20  mkg,  um  ein  Pferd  gefechts- 
unfähig zu  machen. 

Die  Durchschlagsleistung  der  modernen  Ge- 
wehre gegenüber  den  als  Deckung  verwendeten 
Materialien  ist  recht  beträchtlich.  Als  Beispiel 
seien  hier  einige  Leistungen  des  Gewehres  98  an- 
geführt: Trocknes  Tannenholz  von  45  cm  Dicke 
wird  auf  400  m,  0,7  cm  starke  Platten  aus  Schweiß- 
eisen werden  auf  300  m  durchschlagen ;  50  cm 
dicke  Sand-  und  Erdschichten  werden  auf  400  m 
durchdrungen,  eine  Ziegelmauer  von  ',2  Stein  = 
12,5  cm  Stärke  wird  auf  50  m  durchschossen. 

Die  Wirkungen  der  Artilleriegeschosse 
sind  ungleich  heftiger  als  die  der  Gewehrgeschosse. 
Schrapnels  und  Granaten  wirken  vornehmlich 
durch  ihre  Sprengladung.  Bei  Treffern  führen 
80  %  der  Verletzungen  durch  Schrapnels  bei 
Menschen  und  Pferden  zur  Kampfunfähigkeit; 
ebenso  starke  Wirkungen  üben  die  Granaten  aus; 
schon  Sprengstücke  von  nur  wenigen  Gramm 
vermögen  Gefechtsunfahigkeit  hervorzurufen.    Von 


den  massiven  Panzergranaten  verlangt  man  ähn- 
lich wie  von  Infanteriegeschossen  Durchschlags- 
leistungen; sie  sollen  vermöge  der  ihnen  inne- 
wohnenden lebendigen  Kraft  Panzerplatten  durch- 
schießen, Mauern  zerbrechen,  durch  dicke  Erd- 
schichten dringen.  Die  Durchschlagsfähigkeit  der 
modernen  Vollgranaten  ist  außerordentlich  hoch; 
sie  sind  z.  B.  imstande,  mehr  als  i  m  dicke 
Krupp'sche  Panzer  aus  dem  festesten  Material  zu 
durchdringen.  Diese  Leistungsfähigkeit  beruht  im 
wesentlichen  auf  ihrer  ungeheuren  Auftrefitenergie. 
Einen  Begriff  von  den  wirksam  werdenden  Kräften 
liefert  folgendes  anschauliches  Beispiel :  die  Ge- 
schosse der  35,5  cm  Marinekanone  entwickeln 
beim  Auftreffen  dieselbe  Energie,  die  sich  ent- 
faltet, wenn  zwei  mit  90  km  stündlicher  Geschwin- 
digkeit gegeneinander  fahrende  D-Züge  mit  Loko- 
motive, Tender  und  4  Wagen  aufeinander  prallen. 
Noch  gewaltiger  in  der  zerstörenden  Wirkung  sind 
die  Geschosse  der  Steilfeuergesciiütze,  der  Mörser- 
granaten ;  sie  wirken  gleichzeitig  durch  ihre  leben- 
dige Kraft  beim  Auftreffen  und  die  Explosion 
ihrer  Sprengladung.  Die  Zerstörungen  dieser 
Geschosse  sind  dementsprechend  sehr  schwerer 
Art.  Dicke  Decken  und  Wände,  schwere  Panzer- 
kuppeln werden  durchschlagen,  Mauern  werden 
eingedrückt  und  umgeworfen,  in  Erdschüttungen 
werden  tiefe  Löcher  und  weite  Trichter  gerissen, 
Fundamente  werden  herausgehoben,  das  ganze 
Bauwerk  in  seinen  Grundfesten  erschüttert. 

Das  ist  auch  das  Tätigkeitsgebiet  des  jüngsten 
Kindes  unserer  schweren  Artillerie,  der  42  cm 
Mörser.  Man  hat  sie  im  stillen  konstruiert  auf 
Grund  der  früheren  Erfahrungen  und  der  P^geb- 
nisse,  welche  die  physikalischen  Methoden  und 
Berechnungen  der  Ballistiker  geliefert  haben. 
Zwar  sind  noch  keine  Einzelheiten  bekannt  ge- 
worden und  wir  können  uns  ihm  noch  nicht 
physikalisch  und  mathemalisch  sondierend  nähern. 
Aber  dafür,  daß  die  grundlegenden  Rechnungen 
richtig  gewesen  sind,  brauchen  wir  keine  Belege 
von  Zahlen  und  Formeln,  das  beweist  uns  die 
eigene,  eindrucksvolle  Sprache  der  Mörser  viel 
besser,  die  dem  Feinde  so  verhängnisvoll  wird. 


Lunimer:  Verflüssigung  der  Kohle  iiiid  Hevstelliiug  der  Sonneiiteniperatur, 


[Nachdruck  verboten.]  Referat    von    K. 

In  der  Sammlung  Vieweg,  die  es  sich  zur 
Aufgabe  stellt,  Wissens-  und  E'orschungsgebiete, 
die  im  Stadium  der  Entwicklung  stehen,  in  ihrem 
augenblicklichen  Entwicklungsstand  zu  beleuchten, 
ist  vor  kurzem  ein  obigen  Titel  führendes  Doppel- 
heft von  Prof  Dr.  O.  Lummer  in  Breslau 
erschienen.  Er  berichtet  darin  über  neue  von 
ihm  angestellte  Versuche  über  das  Verhalten  des 
Kohlelichtbogens.  Als  Veranlassung,  diese  Re- 
sultate seiner  noch  nicht  abgeschlossenen  ."arbeiten 
einem  größeren  Leserkreise  in  einer  Broschüre 
vorzulegen,   führt  der  Verfasser  in  der  Einleitung 


Schutt,  Hamburg. 

folgendes  an:  „Die  etwas  voreilige  Berichterstattung 
von  nichtfachmännischer  Seite  über  zwei  von 
mir  (in  der  Schlesischen  Gesellschaft  für  vater- 
ländische Kultur,  naturwissenschaftliche  Abteilung) 
gehaltene  Vorträge  und  vor  allem  die  in  den 
Tageszeitungen  daran  geknüpften  übertriebenen 
und  zum  Teil  direkt  phantastischen  Kommentare 
waren  geeignet,  mich  in  den  Augen  der  wissen- 
schaftlichen Welt  in  ein  ganz  schiefes  Licht  zu 
setzen.  Außerdem  wurde  die  Aufmerksamkeit 
der  Öffentlichkeit  sehr  gegen  meinen  Wunsch  in 
reklamehafter     Weise     auf    Untersuchungen     ge- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


813 


richtet,  die  sich  noch  im  Versuchsstadiuin  be- 
fanden. Ich  fühle  mich  deshalb  verpflichtet,  so 
schnell  wie  möglich  ausführlich  über  meine  \^er- 
suche  zu  berichten ,  obwohl  sie  zum  Teil  auch 
heute  noch  nicht  abgeschlossen  sind.  Auch  bin 
ich  gezwungen ,  für  meinen  Bericht  die  Form 
einer  Broschüre  zu  wählen,  um  ihn  den  weitesten 
Kreisen  zugänglich  zu  machen ,  die  nun  doch 
einmal  mit  dieser  Angelegenheit  befaßt  worden 
sind." 

Die  bekanntesten  Versuche  über  das  Ver- 
halten der  Kohle  bei  hohen  Temperaturen  sind 
in  den  neunziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts 
von  Moissan  mit  dem  elektrischen  Ofen  aus- 
geführt worden.  Moissan  kommt  zu  dem  Re- 
sultat ,  daß  die  Kohle  vom  festen  in  den  gas- 
förmigen Zustand  übergeht,  ohne  den  flüssigen 
Zustand  anzunehmen.  Er  hielt  es  indessen  für 
wahrscheinlich,  daß  bei  Anwendung  sehr  starker 
Drucke  ein  Schmelzen  eintritt.  Andere  Forscher, 
wie  Despretz,  Braun  und  La  Rosa  wollen 
geschmolzenen  Kohlenstoff  bei  ihren  Versuchen 
erhalten  haben,  doch  weist  Lummer  nach,  daß 
diese  Behauptung  außerordentlich  unsicher  ist. 

Lummer  stellt  sich  zunächst  die  Aufgabe, 
die  Temperaturverhältnisse  -der  positiven  und 
negativen  Kohle  der  Bogenlampe  zu  unter- 
suchen und  zu  bestimmen.  Er  benutzt  dazu  sein 
schon  1901  in  den  Verh.  d.  Deutsch.  Physikal. 
Gesellschaft  beschriebenes  Interferenzphoto- 
meter. Dieses  besteht  im  wesentlichen  aus 
zwei  rechtwinkligen  Glasprismen,  die  so  einander 
gegenübergestellt  sind,  daß  zwischen  den  Hypo- 
tenusenflächen eine  sehr  dünne  planparallele  Luft- 
schicht bestehen  bleibt.  Beide  Prismen  zusammen 
bilden  also  einen  Glaswürfel.  Die  Dicke  der 
Luftschicht  ist  so  gewählt,  daß  man,  durch  den 
Würfel  auf  eine  diftus  leuchtende  Fläche  blickend, 
nahe  an  der  Grenze  der  totalen  Reflexion  deutlich 
eine  Reihe  von  Inlerfcrenzstreifen  erblickt ,  die 
parallel  der  Grenze  der  Totalreflexion  verlaufen. 
Die  Interferenzstreifen  entstehen  ähnlich  wie  beim 
Newton'schen  Farbenglas  dadurch,  daß  ein 
direkt  hindurchgehender  Strahl  mit  einem  zweimal 
—  nämlich  an  der  Vorder-  und  der  Rückseite 
der  Luftschicht  —  reflektierten  interferiert  und  je 
nach  dem  Gangunterschied  verstärkte  oder  ge- 
schwächte Helligkeit  ergibt.  Ein  weiteres  Strahl- 
bündel ,  das  unter  einem  etwas  anderen  Winkel 
einfällt,  zeigt  einen  anderen  Gangunterschied  und 
gibt  bei  der  Interferenz  ein  anderes  Ergebnis,  so 
daß  auf  diese  Weise  je  nach  der  Neigung,  unter 
dem  die  Strahlenbündel  einfallen,  helle  und  dunkle 
Linien  entstehen.  Dasselbe  Resultat  erzielt  man, 
wenn  man  nicht  das  hindurchfallende  Licht, 
sondern  reflektiertes  benutzt,  indem  man  jetzt  die 
Lichtquelle  seitlich  von  dem  Würfel  aufstellt ,  so 
daß  das  Licht  etwa  unter  45  "  auf  die  Hypotenusen- 
flächen auffällt  und  rechtwinklig  zur  Einfallsrichtung 
ins  beobachtende  Auge  reflektiert  wird.  Doch 
sind  die  jetzt  auftretenden  Linien  komplementär 
zu  denen  im  durchgehenden  Licht;  wo  es  vorher 


hell  war,  ist  es  jetzt  dunkel  und  umgekehrt.  Um 
mit  diesem  Würfel  zwei  Lichtquellen  miteinander 
zu  vergleichen,  beleuchtet  man  mit  ihnen  je  eine 
Mattscheibe.  Von  hier  fällt  das  Licht  der 
einen  auf  eine  Würfelfläche  und  geht  durch  die 
Luftschicht  und  den  Würfel  hindurch  in  ein  Fern- 
rohr. Das  Licht  der  Vergleichslichtquelle,  einer 
Nernstlampe,  fällt  auf  die  zur  ersten  senkrechten 
Würfelfläche,  dringt  nach  der  Reflexion  an  der 
Luftschicht  ebenfalls  ins  Fernrohr  und  erzeugt  zu 
den  ersten  komplementäre  Interferenzlinien. 
Werden  beide  Mattscheiben  von  ihren 
zu  gehörigen  Lichtquellen  gleich  hell  be- 
schienen, so  verschwinden  dieStreifen 
im  Fernrohr.  Durch  Veränderung  des  Ab- 
standes  Nernstlampe  —  Mattscheibe  läßt  sich  dies 
erreichen.  Die  Bogenlampe,  deren  Kraterhelligkeit 
gemessen  wurde,  konnte  für  kurze  Zeit  eine 
Belastung  bis  zu  150  Amp.  aushalten;  ihre  posi- 
tive Kohle  stand  horizontal,  die  negative  vertikal. 
Statt  durch  eine  Mattscheibe  wurde  ihr  Licht 
durch  viermalige  Reflexion  an  ebener  Glasfläche 
geschwächt;  das  Licht  fiel  zunächst  durch  eine 
Linse,  in  deren  Brennpunkt  sich  der  Krater  be- 
fand. Nachdem  man  die  Streifen  durch  Ver- 
schieben der  Vergleichslichtquelle  zum  Ver- 
schwinden gebracht  hatte,  wurde  der  die  Lampe 
speisende  Strom  durch  einen  vorgeschalteten 
Widerstand  allmählich  bis  zu  10  Amp.  vermindert 
und  bei  jeder  Stromstärke  der  Lichtbogen  bis 
zum  Abreißen  verlängert.  Die  Streifen  blieben 
dann  dauernd  verschwunden,  wenn  man 
die  jeweils  hellste  Stelle  der  Krateroberfläche  ins 
Auge  faßte.  Daraus  geht  hervor,  daß  die 
Helligkeit  und  damit  die  Temperatur 
des  positiven  Kraters  von  Belastung  und 
Länge  des  Bogens  in  weiten  Grenzen 
unabhängig  ist  (siehe  unten).  Diese  konstante 
(Messungsfehler  i  %  ^  40 ")  Temperatur  ist  die- 
jenige, bei  der  die  Kohle  aus  dem  festen  in  den 
gasförmigen  übergeht.  Weitere  Messungen  er- 
gaben, daß  die  Temperatur  der  negativen 
Kohle  rund  600"  niedriger  ist. 

Lummer  untersucht  dann  weiter  die  Strah- 
lung des  Kohlefadens  einer  Glühlampe. 
Unter  der  Voraussetzung,  daß  die  ganze  dem 
Faden  durch  den  Strom  zugeführte  Energie  (Wärme) 
ausgestrahlt  wird,  gilt  das  Stefan-Boltzmann- 
sche  Gesetz:  o,24-i-e  =  a-F-T''(i);  die  linke 
Seite  stellt  die  zugeführte  Wärme  dar,  i  in  Ampere 
und  e  in  Volt  gemessen:  F  ist  die  Gesamtober- 
fläche des  Kohlefadens  und  T  seine  absolute  Tem- 
peratur.    Für  einen    schwarzen  Körper   ist  die 

Konstante  ff  =  1,38-  lo^^'^  — ^-^ .       Lummer 

cm-  sec 

untersucht  zunächst,  ob  die  Kohle  wie  ein 
schwarzer  Körper  strahlt.  Zu  dem  Zweck 
bringt  er  ein  dickes  Kohlerohr  durch  einen  regu- 
lierbaren elektrischen  Strom  zum  Glühen ;  in  dieses 
ist  ein  Le  Chat elier'sches  Thermoelement  ein- 
geführt und  gestattet,  die  Temperatur  der  Kohle  zu 
messen.     Vor  das  glühende  Rohr  wird  die  Kohle- 


8i4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr.  51 


fadenlampe  aufgestellt,  so  daß  man  durch  ein 
Fernrohr  sehend  den  Kohlefaden  auf  dem  Rohr 
als  Hintergrund  sieht.  Ist  die  Temperatur  beider 
gleich,  dann  verschwindet  der  Kohlefaden  auf  dem 
glühenden  Kohlerohr.  Man  reguliert  nun  den 
Strom  im  Rohr,  bis  dies  erreicht  ist;  dann  gibt 
das  Thermoelement  die  Temperatur  des  Fadens 
an.  Lummer  beobachtet  nun  bei  verschiedenen 
Belastungen  (22  bis  34  \^olt  und  0,35  bis 0,60  Amp.) 
die  Temperatur  des  P"adens  und  berechnet  sie 
gleichzeitig  nach  dem  S  t  ef  an -Bo  1 1  z  m  an  n - 
sehen  Gesetz.  Die  beobachtete  Temperatur  liegt 
stets  höher  als  die  errechnete  und  zwar  im  Mittel 
um  15%.  Der  Kohlefaden  muß  also,  um  so  wie 
ein  schwarzer  Körper  zu  strahlen,  heißer  sein  als 
dieser.  Er  strahlt  mithin  nicht  wie  ein 
schwarzer  Körper,  sondern  wie  ein 
grauer,  d.  i.  ein  Körper,  der  für  alle  Wellen- 
längen (verschiedene  Belastung)  im  gleichen  Ver- 
hältnis weniger  strahlt  als  der  schwarze  Körper 
von  gleicher  Temperatur.  Man  darf  mithin  für 
die  Kohle  in  dem  Stefan-Boltzmann' sehen 
Gesetz  nicht  die  Konstante  er  des  schwarzen  Körpers 
setzen,  sondern  eine  andere,  die  sich  aus  den  Lum- 
mer'sehen    Versuchen    zu    0,73-10   '-  berechnet. 

Zur  Beantwortung  der  Frage,  ob  auch  die 
Bogenlampen  kohle  wie  ein  grauer 
Körper  strahlt,  mißt  Lummer  mit  dem 
Lummer-Brodhun-Spektralphotometer,  wie  sich 
mit  steigender  Temperatur  die  Strahlung  einer 
bestimmten  Farbe  (VVellcnlänge)  ändert;  er  stellt 
die  sog.  isochromatische  Kurve  fest.  Trägt  man 
die  Logarithmen  der  so  ermittelten  Helligkeiten 
als  Ordinalen  und  die  reziproken  Werte  der  zu- 
gehörigen Temperaturen  als  Abszissen  auf,  so  er- 
hält man  eine  gerade  Linie,  die  logarithmische 
Isochromate.  Benutzt  man  als  Vergleichslicht- 
quelle beim  Photomelrieren  einen  Körper,  der 
grau  oder  schwarz  strahlt,  so  schneiden  sich  alle 
logarithmischen  Isochromaten  verschiedener 
Wellenlängen  in  einem  Punkte;  die  Ab- 
szisse dieses  Punktes  ist  der  reziproke 
Wert  der  Temperatur  der  Vergleichs- 
lichtquelle,  die  sich  also  auf  diese 
Weise  bestimmen  läßt.  Strahlt  die  Ver- 
gleichslichtquelle dagegen  selektiv  (wie  z.  B. 
Platin),  so  ist  ein  solcher  Schnittpunkt  nicht  vor- 
handen. Lummer  stellt  nun  die  logarithmischen 
Isochromaten  für  5  Wellenlängen  (zwischen  645 
und  500  /((()  einer  Kohlefadenlampe,  deren 
Temperatur  nach  Gleichung  (i)  berechnet  wird, 
fest  und  benutzt  als  Vergleichslichtquelle  den 
positiven  Krater  seiner  Bogenlampe.  Die  er- 
haltenen 5  Geraden  schneiden  sich  in  einem 
Punkte:  die  Bogenlampenkohle  strahlt 
also  auch  wie  ein  grauer  Körper.  Aus 
der  Abszisse  des  Schnittpunktes  berechnet  sich 
die  Temperatur  des  positiven  Kraters  zu 
4200"  abs. ,  so  daß  seine  schwarzer  Tempe- 
ratur, die  (siehe  oben)  15%  niedriger  ist, 
3750"  abs.  ist. 

Zu    den    weiteren    Versuchen,    die    das   Ver- 


halten des  Lichtbogens  bei  verschie- 
denen Drucken  untersuchen,  benutzte 
Lummer  ein  luftdichtes  kupfernes  Gefäß,  das 
Überdrucke  bis  zu  30  Atm.  aushielt.  In  sein 
Inneres  wurde  die  automatisch  regulierende  Bogen- 
lampe gebracht,  durch  ein  Glasfenster  konnte  sie 
beobachtet  werden.  Zunächst  wurde  bei  ab- 
nehmendem Druck  (Gaede- Pumpe)  der  positive 
Krater  durch  ein  Fernrohr  beobachtet.  Da  wurde 
die  überraschende  Entdeckung  gemacht,  daß  bei 
etwa  V2  Atm.  der  positive  Krater 
flüssig  wird.  Weitere  Versuche  zeigten,  daß 
es  stets  bei  Drucken  zwischen  ^j.-,  und  2  Atm. 
gelang,  den  positiven  Krater  zu  verflüssigen,  wenn 
man  die  Bogenlampe  mit  ungewöhnlich 
niedrigen  Stromstärken  speiste.  So  liegt  bei 
Atmosphärendruck  die  zum  Schmelzen  notwendige 
Stromstärke  unterhalb  derjenigen,  welche  man 
laut  Vorschrift  verwendet,  um  bei  gegebener 
Dicke  der  positiven  Kohle  eine  möglichst  große 
Oberfläche  des  Kraters  im  festen  Zustand  zum 
hellen  und  gleichmäßigen  Leuchten  zu  bringen. 
Beim  „kritischen"  Druck  von  V2  Atm.  ist  bei  An- 
wendung der  „kritischen"  (niedrigen)  Stromstärke 
die  ganze  Kraterfläche  leichtflüssig.  Ihr  Aussehen 
beschreibt  Lummer  wie  folgt:  „Der  Eindruck 
der  Kraterfläche  ist  so  vollkommen  der  einer 
Flüssigkeit,  daß  in  keinem  Beobachter  auch  nur 
eine  Andeutung  der  Frage  aufsteigt,  ob  er  es  mit 
einer  vorgetäuschten  oder  wirklichen  Plüssigkeit 
zu  tun  hat.  Solange  der  Krater  fest  ist,  erscheint 
er  wie  eine  diff'use  beleuchtete  Pläche,  auf  der 
sich  die  Risse  und  Sprünge  als  dunkle,  fest- 
stehende Stellen  markieren,  vergleichbar  dem  Voll- 
mond mit  seinen  Kratern  und  Rissen.  Im  flüssigen 
Zustand  macht  der  Krater  dagegen  den  Eindruck, 
als  ob  er  mit  einem  brodelnden  und  kochenden 
Teich  bedeckt  ist,  und  in  ihm  tummeln  sich  als 
helle  Perlen  erscheinende  „Fische",  schnell  von 
Ort  zu  Ort  eilend.  Sobald  man  den  Krater  aus 
dem  flüssigen  in  den  festen  Zustand  zurückkehren 
läßt,  nimmt  die  Kraterfläche  wieder  das  starre  und 
tote  Aussehen  an."  Um  weitere  Einzelheiten  zu 
erkennen,  wurde  ein  etwa  30  fach  vergrößertes 
Bild  mittels  eines  guten  Objektivs  auf  einen  eben- 
geschliffenen Gipsschirm  entworfen  (in  dem  Buch 
sind  eine  große  Reihe  Momentaufnahmen  des 
flüssigen  Kraters  enthalten).  Man  sieht  eine  große 
Zahl  von  hellen  „Fischen",  die  meistens  sechs- 
eckig sind  und  die  sich  mit  großer  Lebendigkeit 
bewegen.  Sie  sind  nicht  zu  verwechseln  mit  den 
Blasen  und  Schmelzperlen,  die  an  unreinen  Kohlen 
häufig  auftreten.  Wesentlich  dunkler  sind  die 
übrigen  Teile  des  Kraters;  auf  seinem  Grunde 
bemerkt  man  schwach  hell  umränderte,  meist 
seckseckige  Stellen,  die  „Waben",  die  ein  zu- 
sammenhängendes, fest  auf  dem  Boden  des  Teiches 
sitzendes  Netzwerk  bilden.  Aus  einer  solchen 
Wabe  kommt  ein  „Fisch"  heraus,  bewegt  sich 
hastig  nach  einer  anderen  hin  und  verschwindet 
(schmilzt)  in  dieser.  Es  spricht  manches  dafür, 
daß    die    Fische    Graphitkristalle    sind.     Das   Er- 


N.  F.  Xin.  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


815 


starrungsprodukt  der  Schmelze  erwies  die  che- 
mische Änal)-se  als  Graphit.  Retortenkohle, 
Planiakohle,  Holzkohle,  reinster  Ruß,  glasklare 
Diamanten  zeigen  dieselben  Erscheinungen  wie 
Bogenlampenkohle.  Eine  Füllung  des  Kupfer- 
gefäßes mit  Stickstoff,  Kohlensäure  oder  Sauer- 
stoff ändert  nichts  an  den  Schmelzerscheinungen. 
Temperaturmessungen  (siehe  unten)  ergaben,  daß 
beim  Normaldruck  die  Schmelztemperatur  höher 
ist  als  die  Temperatur  des  festen  Kraters.  Seine 
Temperatur  ist  demnach  nur  so  lange 
konstant,  als  die  Stromstärke  nicht 
unter  die  kritische  herabsinkt.  Bei  dieser 
steigt  die  Temperatur  des  Kraters  und  er  schmilzt. 
Man  findet  also  die  überraschende  Tatsache,  daß 
hier  eine  kleinere  Stromstärke  eine  größere  Heiz- 
wirkung ausübt  als  eine  übertrieben  große. 

AmSchlusse  seiner  Arbeit  untersucht  Lummer, 
wie  sich  die  Temperatur  des  positiven 
Kraters  mit  wachsendem  Druck  ändert. 
Mittels  seines  am  Anfang  dieses  Referates  be- 
schriebenen Interferenzphotometers  ver- 
gleicht er  die  Helligkeit  des  auf  das  30  fache  ver- 
größerten Ivraterbildes  mit  einer  Nernstlampe  bei 
verschiedenen  Drucken ;  eine  Schwächung  des 
Bogenlichtes  durch  Reflexion  war  wegen  der 
Starken  Vergrößerung  unnötig.  Die  Beobachtung 
der  Interferenzstreifen  geschah  mit  bloßem  Auge. 
Die  Helligkeit  der  unter  Normaldruck  brennenden 
Lampe  mit  festem  Krater  wurde  gleich  i  ge- 
setzt. Verringert  man  den  Druck  unter  eine 
Atmosphäre,  so  nimmt  die  Flächenhelligkeit  regel- 
mäßig ab,  solange  der  Krater  fest  ist.  Geht  in- 
dessen durch  geeignete  Verminderung  der  Strom- 
stärke der  Krater  in  den  flüssigen  Zustand  über, 
so  steigt  plötzlich  die  Flächenhelligkeit: 


Temperatur  abs. 
4200  " 


■  flÜSsi: 


Druck  h'lächenhclligkeit 

I        Atm.  I       I 

0,59     „  0,08  /fest  4145 

0,32     „  8,75!  — 

0,60     „  0,96 » 

0,33     ..  0,83  / 

Die  Temperatur  ist  durch  Extrapolieren  aus 
der  für  den  Kohlefaden  einer  Glühlampe  bis  zu 
3000"  nachgewiesenen,  zwischen  h'lächenhelligkeit 
und  Temperatur  bestehenden  Beziehung  gefunden. 
In  gleicher  Weise  wurde  bei  Drucken  bis  zu 
24  Atm.  die  Flächenhelligkeit  und  die  Tempe- 
ratur bestimmt.  Die  verschiedenen  Versuchs- 
reihen zeigen  erhebliche  Abweichungen  vonein- 
ander, so  daß  sie  nur  provisorischen  Charakter 
tragen.  Doch  geht  aus  allen  sicher  hervor,  daß 
die  Temperatur  des  positiven  festen 
Kraters  mit  steigendem  Druck  kon- 
tinuierlich steigt.  Folgende  Tabelle  gibt 
im  Auszug  eine  Versuchsreihe  wieder: 


)ruck 

Helligkeit 

Abs.  Temp. 

I 

I 

4200 

6 

6 

5190 

10 

9,5 

5470 

16 

14.2 

5740 

22 

18,0 

5890 

Bei  22  Atm.  ist  also  die  Helligkeit  1  8  mal  so 
groß  als  bei  Normaldruck.  Eine  Extrapolation 
dieser  Temperaturkurve  würde  bei  250  Atm.  eine 
Temperatur  von  rund  7000"  abs.  ergeben.  Diese 
Temperatur  würde  die  der  Sonne,  welche  sich 
nach  verschiedenen  Methoden  zu  rund  5900"  abs. 
ergibt,  ganz  erheblich  übertreffen.  Bei  einem 
Druck  von  22  Atm.  ist  der  positive  Krater  ebenso 
heiß  wie  die  Sonne.  Ob  sein  Licht  auch  die 
gleiche  Zusammensetzung  eigt  wie  das  Sonnenlicht, 
müssen  weitere    spektrale  Untersuchungen  zeigen. 


Bücherbesprechungen. 


Palladin,  W.  J.,  Pflanzenanatomie.  Aus 
dem  Russischen  übersetzt  von  Dr.  S.  T  s  c  h  u  1  o  k. 
Mit  174  Abbildungen.  Leipzig  und  Berlin  1914. 
Verlag  von  B.  G.  Teubner. 
Unserer  deutschen  Nation  sind  ihre  Fehler 
nicht  unbekannt.  Leider  glauben  wir  noch  immer, 
es  schade  uns  nicht,  wenn  wir  sie  nicht  ablegen. 
Eine  dieser  großen  und  hartnäckigen  Schwächen 
ist  die  Bewunderung  und  Verhimmelung  alles 
Ausländischen.  Auf  dieser  Schwäche  fußend, 
daß  auch  in  unserer  wissenschaftlichen  Literatur 
ausländische  Autoren  gleich  die  .Aufmerksamkeit 
auf  sich  ziehen  und  ihre  Bücher  oft  besser 
„gehen",  als  die  deutscher  Verfasser,  beglücken 
uns  einige  mehr  industriell  als  literarisch  emp- 
findende Verleger,  trotz  heimischer  Überproduktion, 
mit  einer  Fülle  von  Übersetzungen  ausländischer 
Lehrbücher.  Nun  klingt  es  ja  sehr  schön,  wenn 
man  ausruft:  „Die  Wissenschaft  ist  international" 
und  es  ist  ganz  gleich,  woher  das  Gute  kommt! 
Aber    mit    dieser  Internationalität    steht    es    doch 


recht  häufig  so,  daß  die  Ausländer  ihre  Wissen- 
schaft unseren  gastlichen  Hochschulen  und  unserer 
Literatur  verdanken  und  uns  unser  Eigentum, 
sachlich  und  sprachlich  nicht  verbessert,  wieder 
zuführen.  So  ist  auch  die  Herausgabe  dieser 
„Fflanzenanatomie"  keine  wissenschaftliche  Leistung 
sondern  nur  ein  Geschäftsunternehmen,  dessen 
Hoffnung  auf  der  eingangs  angedeuteten  bedauer- 
lichen Hinneigung  zum  fremden  baut.  Vor  einigen 
Jahren  erschien  bei  Julius  Springer  in  Berlin 
die  Übersetzung  einer  „Pflanzenphysiologie"  des- 
selben russischen  Verfassers,  ein  Buch,  welches, 
wesentlich  wegen  seines  kürzeren  Umfanges,  als  Lehr- 
buch „ging".  Das  hat  nun  vermutlich  den  anderen 
Verlag  angeregt,  es  mit  diesem  Buch  des  gleichen 
Autors  ebenfalls  zu  versuchen. 

Welche  Verbesserung  bringt  nun  dies  Buch 
unserer  deutschen  Literatur.^  Die  174  ausge- 
zeichneten Abbildungen  sind  bis  auf  ein  paar, 
aus  französischen  Büchern  stammende,  alle  den 
besten     deutschen     Lehr-     und     Handbüchern 


8i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  51 


entnommen  und  dazu  ein  trocl<ener  Lehrbucli- 
text  gewölinlichen  Stils  geschrieben  worden,  der 
keine  neuen  Gesichtspunkte  oder  Ideen,  sondern 
bloß  das  bringt,  was  in  andern  Lehrbüchern 
längst  besser  dargestellt  ist.  Durch  seine  unver- 
frorene Entlehnung  der  Abbildungen  deutscher 
Verfasser  hat  sich  der  russische  Autor  jede  selb- 
ständige Arbeit  erspart,  eine  geistige  und  phy- 
sische Ökonomie,  die  uns  doch  nicht  ganz  gleich- 
gültig zu  sein  scheint.  Was  wir  besonders  be- 
dauern, ist,  daß  ein  deutscher  Verlag  seine  Hand 
zu  einem  solchen  Unternehmen  der  Ausbeutung 
deutscher  Arbeit  durch  einen  Fremdling  bietet. 
Zur  Erläuterung  dieser  Ausschlachtung  deutscher 
Literatur  diene  folgendes :  Gute  botanische  Ab- 
bildungen, zumal  anatomische,  bilden  die  Haupt- 
arbeit des  Verfassers  eines  solchen  Lehrbuches 
und  in  jenen  drückt  sich  seine  Originalität  be- 
sonders aus. 

Wir  schätzen  daher  mit  Recht  die  Abbildungen 
eines  Sachs,  Haberlandt,  Goebel  u.  a.  Bo- 
taniker und  können  nicht  zugeben,  daß  diese  ein- 
fach nach  ihrer  Veröffentlichung  als  Allgemeingnt 
anderer  industrieller  Schriftsteller  angesehen 
werden.  Die  Arbeit  der  Abbildungen  erfördert 
bei  einem  Lehrbuch  wie  dem  vorliegenden  die 
zehnfache  Arbeit  wie  der  Text  und  die  Her- 
stellung solcher  Abbildungen  ist  überdies  eine 
opfervolle,  da  die  Verleger  dem  Verfasser  seine  Ab- 
bildungen nicht  besonders  vergüten,  sondern  einem 
Text  gleichachten.  Grund  genug,  dagegen  zu 
stimmen,  daß  man  diese  Abbildungen  dem  Aus- 
lande ausliefert.  Es  ist  allgemein  üblich  und 
auch  erlaubt,  mit  Zustimmung  eines  Verfassers 
einzelne  Abbildungen  aus  anderen  Lehrbüchern 
einem  neuen  Buche  einzuverleiben.  Es  wird  schon 
lange  beklagt,  daß  kein  Schutz  gegen  den  Nach- 
druck unserer  Bücher  und  Abbildungen  im  fremd- 
ländischen Buchhandel  vorhanden  ist.  Wenn 
aber  ein  Ausländer  sein  gesamtes  Abbildungs- 
material aus  deutschen  Lehrbüchern  zusammen- 
holt und  uns  unser  Eigentum  in  russischer  Bearbei- 
tung, als  etwas  neues  in  Deutschland  wieder  vor- 
gesetzt wird,  so  ist  das  ein  bedenkliches  Symptom 
des  IVIangels  an  Kritik  einzelner  Kreise,  der  mit 
dem  Geist  unseres  Volkes  in  krassem  Widerspruch 
steht. 

Ein  deutscher  Verfasser  würde  sich  übrigens  so 
etwas  dem  Auslande  gegenüber  niemals  erlauben. 
Gottlob  haben  wir  es  auch  nicht  nötig.  Man 
vergleiche  die  deutschen  botanischen  Lehrbücher 
von  Strasburger  oder  Giesenhagen,  von 
Goebel  und  Haberlandt,  das  Taschenbuch  der 
Botanik  von  IVIiehe,  die  Pharmakognosie  von 
Karsten  und  Oltmanns  und  viele  andere.  In 
allen  findet  man  den  Fleiß  und  die  eigene  Arbeit 


der  Verfassers  durch  eigene  Abbildungen  aus- 
geprägt. Wenn  wir  wirklich  einmal  genötigt 
sind,  wie  hier  geschieht,  unsere  IMitarbeit  an  der 
Wissenschaft  hervorzuheben ,  dann  hat  das  Aus- 
land auch  da  sogleich  das  schöne  Wort  „Chauvi- 
nismus" zur  Hand.  Es  wird  Zeit,  daß  wir  auf 
dies  Wort  nicht  länger  achten  und  bei  aller  Be- 
scheidenheit unsereEigenart  vor  Übergriffen  wahren. 

Was  den  Text  des  vorliegenden  Lehrbuches 
anbetrifft,  so  enthält  er,  wie  gesagt,  nichts  be- 
merkenswertes. Einem  Anfänger  möchten  wir 
dieses  kurze  Lehrbuch  deshalb  nicht  in  die  Hand 
geben,  weil  der  Grundlage  der  Anatomie,  der 
Zellenlehre,  eine  kurze  Zeit  aufgetauchte 
Theorie,  die  „Energidenlehre"  zugrunde  gelegt 
ist,  die  sclion  von  Anfang  an  auf  schwachen 
Füßen  stand  und  von  mehreren  Autoren  abge- 
lehnt wurde.  Die  Einteilung  aller  Pflanzen  in 
,,monergide"  und  „polyergide  Pflanzen",  steht  wie 
manche  anderen  Rubizierungen  auf  der  Höhe 
veralteter  Linnescher  Einteilungskunst.  Wir 
sehen,  daß  Pflanzen  die  aus  einer  „Energide"  be- 
stehen, die  gleichen  Lebensaufgaben,  Ernährung 
und  P'ortpflanzung,  erfüllen  können  und  zwar  in 
gleicher  Form,  wie  „polyergide  Pflanzen",  daß 
,,monergide  Pflanzen"  schon  morphologische 
Gegensätze  zeigen  können,  wie  ,, polyergide",  daß 
sie  durch  Koloniebildung  ähnliches  erreichen,  wie 
,, polyergide"'  durch  Gewebebildung  und  daß  Reiz- 
barkeiten in  beiden  Fällen  gleich  sind,  wie  auch 
der  Chemismus  ihres  Lebens. 

Besonders  muß  hervorgehoben  werden,  daß 
auch  „polyergide  Pflanzen"  im  Anfang  ihrer  Ent- 
wicklung, d.  h.  als  Keimzelle  ,,monergid"  sind,  so 
daß  die  Einteilung  doch  wesentlich  nur  zu  einer 
Rubrizierung  aber  nicht  zum  tieferen  physiologischen 
Verständnis  führt.  Der  Anfänger  wird  aber  leicht 
verführt,  letzteres  anzunehmen,  weshalb  wir  die 
Energidenlehre  nur  in  einem  kritischen  Handbuche 
billigen  können,  nicht  in  einem  Buch  für  Anfänger. 

A.  Hansen. 

Hann,  Prof.  Dr.  Julius,  Lehrbuch  derlVIeteo- 
rologie.      3.  Aufl.      Lieferung  4 — "].     Leipzig 
1914,  Chr.  Herrn.  Tauchnitz.  —  Jede  Lieferung 
3,60  Mk. 
Von  diesem  Lehrbuche,  auf  dessen  Bedeutung 
wir    bereits    früher    bei    Besprechung    der    ersten 
Lieferungen  hingewiesen  hatten,    sind   inzwischen 
in  glatter  Folge  vier  weitere  Lieferungen  erschienen. 
Sie  behandeln  die  Wolken,  die  Niederschläge,  die 
Winde    und    zum  Teil    die   atmosphärischen  Stö- 
rungen.   Hoffentlich  folgen  die  noch  ausstehenden 
4  Hefie  bald  nach.      Wir  werden   dann  nochmals 
auf  das  unentbehrliche  Werk  zurückkommen. 

Miehe. 


Inhalt;  Krumbhaar:  Physikalisches  von  unseren  Feuerwaffen.  Schutt:  Lummer:  Verflüssigung  der  Kohle  und  Her- 
stellung der  Sonnentemperatur.  —  Bücherbesprechungen:  Pal  lad  in;  Pflanzenanatomie.  Hann;  Lehrbuch  der 
Meteorologie. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Schriftleiter  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstraße   na,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge   13.  band; 
der   ganzen  Reihe   29.   Hand. 


Sonntag,  den  27.  Dezember  1914. 


Nummer  53. 


Die  Grenzen  des  Individuums  und  das  Problem  des  Absterbens. 


[Nachdruck  verboten.] 

Das  ,,Individuiim"  wie  das 
beide  beim  heutigen  Stande  der  Wissenschaft 
einen  anderen  Namen  erhalten:  weder  dieses 
noch  jenes  sind  in  Wahrheit  ein  „Unteilbares". 
Hinsichtlich  des  Individuums  ist  das  freilich  seit 
langem  nichts  Neues  mehr:  nicht  allein  mechanisch 
ist  selbstverständlich  jedes  organische  „Einzel- 
wesen" zerlegbar,  sondern  in  Wahrheit  ist  das, 
was  wir  tierisches  oder  pflanzliches  Einzelwesen 
zu  nennen  pflegen ,  nicht  selten  mit  gleichem 
Rechte  als  ein  Stock  oder  eine  Kolonie  zahl- 
reicher Individuen  niederer  Ordnung  aufzufassen. 
Goethe  sprach  das  ruhig  so  aus:  „Jedes  Leben- 
dige ist  kein  Einzelnes,  sondern  eine  Mehrheit; 
selbst  insofern  es  uns  als  Individuum  er- 
scheint, bleibt  es  doch  eine  Versammlung  von 
lebendigen  selbstständigen  Wesen,  die  der  Idee,  der 
Anlage  nach,  gleich  sind,  in  der  Erscheinung  aber 
gleich  oder  ähnlich,  ungleich  oder  unähnlich 
werden  können."  ') 

Wir  brauchen  uns  nur  zu  erinnern,  daß  unsere 
weißen  Blutkörperchen ,  die  kleinen  Polizisten, 
die  in  der  Form  des  Eiters  ruhestörende  Elemente 
aus  unserem  Organismus  entfernen,  ein  nahezu 
selbstständiges  Leben  führen,  das  in  seinen  Äuße- 
rungen (Bewegung,  Ernährung)  durchaus  an 
amöbenartige  Wesen  erinnert.  In  der  Botanik 
ist  besonders  viel  darüber  diskutiert  worden,  ob 
man  als  die  Lebenseinheit  die  ganze  Pflanze  oder 
die  einzelnen  Zweige,  ja  vielleicht  jedes  Blatt  an- 
zusehen habe,  weil  diese  ja  —  wiederum  nach 
Goethe  —  „eben  so  auf  dem  Mutterkörper 
stehen,  wie  dieser  an  der  Erde  befestigt  ist". 
Einen  besonders  lehrreichen  Fall  aus  der  Tierwelt 
stellen  gewisse  Polypenstöcke  dar:  an  gemein- 
samer Basis  sind  Polypen  verschiedenster  Art  auf- 
gewachsen, zwischen  denen  gleiche  Arbeitsteilung 
herrscht  wie  zwischen  den  einzelnen  Organen 
höherer  Tiere.  Ein  jeder  ist  mit  schmaler 
Basis  aufgewachsen  und  somit  äußerlich  scharf 
umgrenzt,  jedoch  fällt  einem  die  Ernährung  zu, 
die  dem  ganzen  Stock  zugute  kommt,  einem  an- 
deren mit  Nesselkapseln  versehenen  die  Verteidi- 
gung, wieder  einem  anderen  die  Produktion  von 
Geschlechtszellen,  daneben  findet  sich  ein  mit 
Farbstoff  versehenes  selbstständiges  Tastorgan  und 
an  dem  oberen  Ende  des  Ganzen  eine  allen 
zugute  kommende  Luftkammer.  Wollte  man 
die  Frage  aufwerfen,  ob  es  sich  um  bloße 
Organe  eines  Individuums  oder  um  Glieder  eines 


Von  Dr.  Edw.  Hennig. 

„Atom"  müßten  Staates  handelt,  so  spricht  für  letztere  Auffassung 
scheinbar  die  Abknospung  gewisser  Einzelpolypen, 
die  sich  loslösen  und  als  Medusen  ein  völlig,  auch 
äußerlich  selbstständiges  Leben  führen.  Indessen 
gerade  diese  Wesen  enthalten  männliche  und 
weibliche  Geschlechtsorgane,  und  ihre  Nachkommen 
bilden  wiederum  ganze  Polypenstöcke  der  erst- 
genannten Art.  Also  Bürger  und  Staat  oder 
Organ  und  Gesamtwesen  in  Generationswechsel, 
eins  dem  anderen  ebenbürtig  und  doch  nicht 
ebenbürtig! 

Und  das  führt  uns  schon  hinüber  zu  dem 
Gedanken,  daß  nicht  nur  jedes  organische  Wesen 
in  sich  eine  Vielheit  ist,  sondern  daß  auch  die 
Grenze  des  Individuums  nach  der  anderen  Seite, 
nach  oben  hin  keine  scharfe  ist,  sondern  daß  sich 
viele  scheinbar  völlig  selbstständige  Organismen,  die 
wir  allgemein  als  ,, Individuen"  zu  betrachten  ge- 
wohnt sind,  zu  „Individuen  höherer  Ordnung"  zu- 
sammenschließen. Es  ist  m.  E.  das  Verdienst  von 
Wilhelm  Fließ-')  in  seinen  großen  Gedanken- 
gängen über  den  „Ablauf  des  Lebens",  den  Rhyth- 
mus, der  nach  seiner  Auffassung  in  der  ganzen 
organischen  Welt  wie  ein  Pulsschlag  lebt ,  auch 
diese  Frucht  gewissermaßen  fiebenbei  am  Wege 
gepflückt  oder  doch  ihre  ganze  Bedeutung  aufs 
klarste  betont  zu  haben. 


Weismann  hatte  die  hochinteressante  und 
bestrickende  Lehre  aufgebracht  von  dem  ,,Tode 
als  Anpassungserscheinung" :  Die  Mehrzahl  der 
Einzelligen  vermehre  sich  durch  einfache  Teilung, 
in  vielen  Fällen  ginge  restlos,  d.  h.  ohne  Hinter- 
lassung eines  absterbenden  Teiles,  einer  Leiche 
das  Muttertier  in  die  Tochterzellen  über;  das 
Leben  in  seinen  Anfängen  sei  also  schlechthin 
unsterblich.  Erst  in  höheren  Entwicklungsstadien 
blieben  die  Teilzellen  räumlich  beisammen,  aus 
ihrem  Kreise  ginge  die  eigentliche  Geschlechts- 
zelle durch  Arbeitsteilung  hervor,  alle  anderen 
träten  in  ihren  Dienst  und  stürben  schließlich 
auch  ab.  Fließ  erinnert  wirkungsvoll  an  die 
köstliche  Erzählung  von  der  Belohnung  des  Er- 
finders des  Schachspiels  und  der  alle  Vorstellung 
schnell  übersteigenden  Zahl  bei  derartiger  ein- 
facher Verdopplung :  ,,Wenn  ein  Stylonychia  pustu- 
lata,  sagt  er  im  Anschluß  an  Untersuchungen  von 
Maupas,  sich  fünfmal  während  24  Stunden  teilt, 
so  müßte  die  Anzahl  der  Individuen  in  der 
I  50.  Generation,  also  nach  einem  Monat,  mit  einer 
Eins  und  44  Nullen  geschrieben  werden,  und  ihre 


')  Zitiert  nach  Houston  Stewart  Chamberlain: 
,,Goethe"  1912  S.  624.  Dem  betreffenden  prachtvollen  Ab- 
schnitt („Unterscheiden,  Verbinden"  im  sechsten  Kapitel)  sind 
auch  einige  der  hier  angeführten  Beispiele  entnommen. 


1)  Wilhelm  Fließ:  „Der  Ablauf  des  Lebens",  Wien 
1906,  sowie;  ,,Vom  Leben  und  Tod",  Biologische  Vorträge. 
Eugen  Diederichs-Jena,  2.   Aufl.,   1914. 


8i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  52 


Masse  würde  eine  Kugel  umfassen,  die  eine  Million 
mal  größer  ist  als  die  Sonne  1" 

Eme  derartige  Vermehrung  widerspricht  natür- 
lich jeder  Erfahrung  und  in  der  Tat  wird  sie,  wie 
Maupas  an  Infusorien  nachwies,  durch  den  Tod 
eingeschränkt.  Ein  großer  Teil  der  durch  Teilung 
so  erzeugten  „Individuen"  stirbt  ab  und  von  Zeit 
zu  Zeit  wird  die  Teilung  ersetzt  oder  ergänzt 
durch  Konjugation  je  zweier  Zellen,  wechselt  also 
mit  geschlechtlicher  Zeugung  ab.  Das  ist  aber 
durchaus  der  gleiche  Vorgang  wie  bei  den  höheren 
Tieren  und  Pflanzen,  deren  Wachstum  ja  gleich- 
falls durch  einfache  Teilung  der  Zellen  zustande 
kommt,  deren  gesamter  Zellenkörper  eines  Tages 
abstirbt,  nicht  ohne  daß  zuvor  während  des  Lebens 
einzelne  Zellen  zu  geschlechtlicher  Neuzeugung 
abgesondert  worden  wären.  Der  einzige  Unter- 
schied besteht  in  der  räumlichen  Trennung 
der  Zellen  eines  Körpers  bei  den  Protozoen. 
Ist  er  wichtig  und  groß  genug,  um  uns  hier  die 
einzelnen,  selbständigen  Teile,  dort  die  Gesamt- 
heit als  „Individuum"  bezeichnen  zu  lassen  ?  Liegt 
nicht   vielmehr  eine  begriffliche  Unscharfe   darin? 

Aber  wie  die  wahren  Grenzen  ziehen  1  Selbst 
bei  hochentwickelten  Metazoen  oder  Metaphyten 
läßt  sich  noch  streiten,  ob  das,  was  wir  Individuum 
nennen,  in  allen  Fällen  schon  die  volle  einheitliche 
Gesamtheit  umfaßt.  Einige  von  Fließ  aus  dem 
Pflanzenreich  hervorgegangene  Beispiele  lassen 
mit  einem  Schlage  den  Blick  viel  tiefer  ins  Ge- 
triebe des  Lebens  eindritigen:  Im  Park  von  Wör- 
litz  wurde  vor  100  Jahren  eine  männliche  Pappel 
aus  dem  Orient  eingefühlt.  Lediglich  durch  Steck 
linge  hat  man  eine  zahlreiche  Nachkomtnenschaft 
aus  ihr  gezogen,  die  über  ganz  Mitteldeutschland 
verbreitet  ist.  Nun  neigt  sich  die  Stammpflanze 
ihrem  Ende  zu,  sie  beginnt  abzusterben.  Und  — 
zur  gleichen  Zeit  geht  durch  jene  ganze  Nach- 
kommenschaft ein  Kränkeln  und  Vtrdorren  von 
der  Spitze  her.  „Man  kann  das  auch  so  aus- 
drücken, daß  man  sagt:  alle  mitteldeutschen 
Pappeln  bilden  eine  einzige  Persönlichkeit, 
wenn  sie  auch  räumlich  getrennt  sind."  In 
der  Tat,  wie  sollte  man  derartig  innigen  Zu- 
sammenhang, ein  derartig  gemeinsames  Leben 
willkürlich  durch  begriffliche  Zerreißung  in  Einzel- 
individuen aus  dem  Gesichtskreise  ausschalten  1 
Glaubten  wir  vorhin  mit  Goethe  die  Pflanze 
bereits  als  Individuum  höherer  Ordnung  an- 
sprechen zu  müssen,  gegenüber  Zweigen  und 
Blättern ,  so  erscheint  sie  in  diesem  Falle  umge- 
kehrt nur  als  ein  Teil  der  Wesenseinheit. 

„Noch  schlimmer  als  mit  den  Pappeln  giiigs 
mit  den  vielbegehrten  La  France-Rosen.  Sie 
starben  plötzlich  und  überall  massenhaft  ab  und 
sind  jetzt  gänzlich  eingegangen.  Und  warum  ? 
Weil  sie  in  der  Stammpflanze  nur  einmal  aus 
Samen  gezogen  und  seitdem  nur  durch  Pfropf- 
reiser vermehrt  wurden".  „Sie  alle  bildeten  mit 
dem  Sämling  zusammen  nur  einen  einzigen  großen 
Rosenbusch". 

In    gleicher  Weise  verschwindet    plötzlich    der 


Borsdorfer  Apfel  vom  Markte,  die  „amerikanische 
Wasserpest"  von  unseren  Flüssen,  die  sie  an- 
scheinend unüberwindlich  erfüllte.  Auf  gleiche 
Ursache  will  Fließ  das  Erlöschen  so  mancher 
Epidemie  erklären  und  in  der  Tat  verläuft  im 
einzelnen  menschlichen  Körper,  wenn  er  wider- 
standsfähig genug  ist,  auch  ohne  Chinin-Bekämpfung 
die  Entwicklung  des  Malariaparasiten  in  mehrfachen 
(ungeschlechtlich  entstandenen)  Generationen  und 
sein  endliches  Absterben.  Diese  Fälle  haben  also 
auch  eine  sehr  hohe  praktische  Bedeutung  für  uns: 
Es  ist  ein  Malaria-„Individuum",  das  mit  seinen 
Zellen  den  ganzen  menschlichen  Körper  durch- 
tränkt! 

Es  darf  vielleicht  selbst  noch  die  Frage  auf- 
geworfen werden,  ob  die  Grenze  nach  oben  hin 
nicht  noch  weiter  flüssig  bleibt,  ob  nicht  schließlich 
auch  geschlechtlich  entstandenehochentwickelte 
Wesen  ihrerseits  biologische  Einheiten  noch  höherer 
Ordnung  zusammensetzen ,  denen  gleichfalls  ein 
gemeinsamer  biologischer  Rhythmus  und  Lebens- 
gehalt innewohnt.  In  der  Paläontologie  ist  die 
Frage  nach  den  Gründen  des  in  weitem  Sinne 
plötzlichen  Absterbens  ganzer  Tier-  und  Pflanzen- 
gruppen in  den  letzten  Jahren  viel  und  eifrig  be- 
sprochen worden.  Das  Verschwinden  der  Am- 
moniten  oder  der  Belemniten  an  der  Grenze  von 
Kreide  undTertiär  hat  schon  früher  zu  dem  Gedanken 
geführt  solchen  Gruppen  eine  gewisse  Summe  an 
,, Lebensenergie"  zuzusprechen ,  nach  deren  Ver- 
brauch der  ganze  mannigfaltig  entwickelte  und 
differenzierte  Zweig  zugrunde  gehen  müsse. 
Stromer  von  Reichenbach  hat  diesen  Ge- 
danken in  seinem  ,, Lehrbuch  der  Paläozoologie" 
weit  von  sich  gewiesen.  Und  gewiß  kann  er 
nicht  als  eine  bewiesene  endgültige  „Erklärung" 
gelten.  Aber  es  haftet  ihm  an  sich  nichts  durch- 
aus Unwahrscheinliches  an  und  in  dem  hier  aus- 
geführten Zusammenhang  läßt  sich  vielleicht  die 
Diskussion  noch  einmal  wieder  aufnehmen.  Daß 
das  in  so  großem  Umfange  erfolgte  Aussterben 
beispielsweise  der  Reptilien  um  die  nämliche  Zeit- 
wende nicht  bedingt  war  durch  das  Auftreten 
bevorzugterer  Nebenbuhler,  in  diesem  Falle  der 
Säugetiere,  ergibt  sich  daraus,  daß  diese  Säuge- 
tiere bekanntlich  während  des  ganzen  Reptilien- 
zeitalters ohne  wesentliche  Veränderung  auf 
niederer  Stufe  verharrten.  Erst  in  dem  Augen- 
blicke, wo  der  Reptilienstamm  dahinsank,  wurde 
ein  Platz  frei,  der  durch  ungewohnt  beschleunigte 
Entfaltung  des  Säugetierreichs  sofort  ausgefüllt 
wurde.  Es  darf  da  nicht  L'rsache  und  Wirkung 
vertauscht  werden  I  Gewiß  mögen  äußere  vielleicht 
die  ganze  Erde  betreffende  Veränderungen  mit- 
gespielt haben.  Aber  sie  ließen  viele  andere 
Tierstämme  völlig  unberührt.  Die  Ammoniten  der 
jüngeren  Kreide  dagegen  sind  durch  ihre  auffälligen 
senilen  Rückfälle  in  allererste  paläozoische  Ent- 
wicklungsstadien bekannt :  dem  Absterben  ging 
ein  allzu  deutliches  Altern  voraus.  Die  Parallele  mit 
den  Pappeln  ist  mindestens  verführerisch.  Aber 
es  bleibt  zu  beachten,  daß  wir  hier  schon  wieder  einen 


N.  F.  Xiri.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


819 


großen  Schritt  weiter  tun  würden,  indem  wir  über  verblüffenden  Fließ 'sehen  Ausführungen  über  den 

die    geschlechtliche    Einheit    hinausgriffen  durch     Generationen      gleichen     Lebensrhythmus 

und  somit  ganz  entschieden  die  Grenzen  des  In  di-  vertraut  sind,   wird  auch  diesen  Schritt  nicht  von 

viduums  nunmehr   hinter  uns  ließen.    Wem  die  vornherein  zu  kühn  finden. 


Über  Tariatiou. 


[Nachdruck  verboten.]  Von   H. 

Die  Individuen  derselben  Art  oder  Rasse  sind 
einander  nicht  vollständig  gleich,  sondern  von- 
einander verschieden.  Wer  etwa  eine  Schar 
Spatzen  sieht,  wird  auf  den  ersten  Blick  keinen 
Unterschied  als  die  auffallenden  sekundären  Ge- 
schlechtsmerkmale wahrnehmen;  bekommt  er 
aber  dieselbe  Schar  Spatzen  häufig  zu  Gesicht, 
so  wird  er  bald  die  einzelnen  Individuen  zu  er- 
kennen vermögen,  sowohl  an  ihrem  äußeren  Aus- 
sehen, wie  an  ihrem  Gebahren.  Je  weiter  hinab 
wir  in  der  Tierreihe  gehen,  desto  schwerer  sind 
in  der  Regel  die  Unterschiede  zu  erfassen,  und 
je  weiter  hinauf  wir  steigen,  desto  deutlicher 
werden  sie.  Beim  Menschen  sieht  jeder  ganz 
klar  die  Unterschiede  zwischen  Eltern  und  Kindern 
oder  zwischen  Geschwistern  untereinander.  Das 
Vermögen ,  eine  Vielförmigkeit  von  Individuen 
hervorzubringen,  ist  die  Variabilität,  über  deren 
Ursachen  und  biologische  Bedeutung  noch  viel 
Ungewißheit  besteht. 

In  der  vordarwinischen  Zeit  wurde  gewöhnlich 
angenommen,  daß  jede  Art  einem  Normaltypus 
entspreche,  wie  er  ursprünglich  geschaffen  wurde, 
und  daß  Abweichungen  von  diesem  Normaltypus 
als  UnvoUkommenheiten  zu  gelten  hätten,  die 
jedoch  von  geringer  praktischer  Bedeutung  seien. 
Gegenwärtig  stimmen  die  meisten  Autoren  über- 
ein, daß  die  Ursache  der  Variation  in  letzter 
Linie  in  Einflüssen  der  Umwelt  gelegen  sein  muß, 
und  daß  diese  Einflüsse  sowohl  direkt  wie  indi- 
rekt wirken  können.  Bei  der  Variation  der  Größe 
z.  B.  ist  es  klar,  daß  die  Nahrungszufuhr  während 
des  Wachstums  von  erheblichem  Einfluß  auf  die 
Größe  des  ausgewachsenen  Individuums  ist.  In 
solchen  Fällen  ist  der  Einfluß  direkt.  Wenn  aber 
August  Weismann's  Theorie  vom  Keimplasma 
und  Körperplasma  richtig  ist,  so  betreffen  der- 
artige Einflüsse  bloß  den  Körper  des  Individuums, 
nicht  auch  dessen  Fortpflanzungssubstanz,  also 
auch  nicht  die  Nachkommen. ')  Es  ist  jedoch 
möglich,  daß  äußere  Einflüsse  indirekt  die  Keim- 
zellen betreffen  und  so  Variationen  verursachen. 
In  solchen  Fällen  muß  aber  die  bei  den  Nach- 
kommen zum  Vorschein  tretende  Wirkung  durch- 
aus nicht  dieselbe  sein,  wie  die  direkte  Wirkung 
auf  den  elterlichen  Körper.  Über  die  Art  der 
möglichen  Einflüsse  der  Umwelt  auf  die  Keim- 
zellen weiß  man  noch  nichts.  Der  Einfluß  mag 
sofort  zur  Geltung  kommen  und  in  der  nächsten 


')  Weismann,  Vorträge  über  Deszendenztheorie  ;  17 — 19, 
Die  Keimplasmatheorie,  3.  Aufl.,  Jena   1913. 


Fehlinger. 

Generation  Variation  zur  F'olge  haben;  es  kann 
aber  auch  sein,  daß  die  Wirkung  kumulativ  ist, 
und  daß  sichtbare  Veränderungen  erst  entstehen, 
wenn  mehrere  Generationen  demselben  Einfluß 
ausgesetzt  waren. 

Die  Einwirkung  der  Umwelt  auf  den  Körper 
ist  durch  viele  Tatsachen  erwiesen,  aber  es  ist 
noch  fraglich,  ob  durch  diese  Einwirkungen  neue 
Eigenschaften  entstehen  können;  denn  die  Ver- 
erbung erworbener  Eigenschaften  auf  die  Nach- 
kommen konnte  bisher  in  keinem  Fall  zweifelsfrei 
nachgewiesen  werden. 

Es  ist  nicht  zu  bestreiten,  daß  Variation  ein- 
tritt, oder  eintreten  kann,  wenn  ein  Organismus 
veränderten  Lebensbedingungen  unterworfen  wird. 
Dabei  vollzieht  sich  jedoch  keine  Neuerwerbung, 
sondern  es  werden  lediglich  latente  Anlagen  zum 
Vorschein  gebracht,  die  unter  den  früheren  Lebens- 
bedingungen verborgen  waren,  und  die  wieder 
verschwinden,  wenn  Verhältnisse  eintreten,  unter 
welchen  sie  nicht  zweckmäßig  sind.  Ein  sehr 
einfaches  Beispiel  hierfür  bieten  manche  Pflanzen- 
arten, die  verschiedene  Blattformen  hervorbringen, 
je  nachdem  sie  in  einem  feuchten  oder  trockenen 
Standort  gezogen  werden.  Ähnlich  verhält  es 
sich  bei  vielen  Schmetterlingen,  die  im  Jahr  zwei 
Generationen  aufweisen.  Die  eine  davon  lebt 
ganz  im  Sommer,  wogegen  die  andere  den  Winter 
im  Puppenstadium  durchmacht.  Manchmal  sind 
die  beiden  Generationen  auffallend  verschieden 
und  es  wurde  gezeigt,  daß  bei  rechtzeitiger  Ein- 
wirkung von  Kälte  auf  die  Puppen  der  Sommer- 
brut der  Frühlingsbrut  gleichende  Exemplare 
hervorgebracht  werden  können. 

Die  Ergebnisse  von  Paul  Kammerer's 
anerkennenswerten  Versuchen  gehören  ebenfalls 
hierher.  Seine  interessantesten  Experimente  sind 
wohl  die  über  „Vererbung  erzwungener  Fort- 
pflanzungsanpassungen".') Beim  E"euersalamander, 
der  unter  normalen  Verhältnissen  Larven  absetzt, 
gelang  es  Kammerer  durch  viel  Feuchtigkeit 
und  hohe  Temperaturen  die  den  Amphibien  ur- 
sprünglich eigene  Fortpflanzungsweise  wieder  her- 
beizuführen, nämlich  sie  zum  Absetzen  von  Eiern 
zu  veranlassen,  aus  denen  nach  9-16  Tagen 
kleine  Larven  schlüpften,  die  nur  Vorderbeine  be- 
saßen. Durch  Wassermangel  und  Kälte  wurden 
die  Tiere    in    entgegengesetzter   Richtung    beein- 

')  Die  Nachkommen  der  spätgeborenen  Salamandra  ma- 
culosa und  der  frühgeborenen  Sal.  alra.  Arch.  f.  Rntw.-Mech., 
25.  Bd.,  S.  7 — 51.  —  Die  Nachkommen  der  nichlbrutpflegen- 
den  Alytes  obsletricans.     Ebenda,  28.  Bd.,  .S.  448 — 545. 


820 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  52 


flußt,  so  daß  sie  die  Jungen  bis  nach  Beendigung 
der  Verwandlung  im  Uterus  behielten,  wobei  die 
Jungen  der>elben  Mutter  von  Wurf  zu  Wurf  an 
Zahl  bis  auf  zwei  abnahmen,  was  dem  Verhältnis 
beim  Alpensalamander  entspricht.  Der  Alpen- 
salamander, der  zwei  gut  ausgebildete  Junge  auf 
dem  Lande  wirft,  konnte  wieder  durch  viel 
Feuchtigkeit  und  hohe  Temperatur  larvengebärend 
gemacht  werden.  Beide  Arten  gewöhnen  sich 
mit  der  Zeit  an  die  durch  veränderte  Lebens- 
weise aufgezwungene  Art  der  Forlpflanzung,  so 
daß  späterhin  die  äußeren  Einflüsse  gar  nicht 
mehr  in  derselben  Intensität  wirksam  sein  müssen 
wie  anfänglich.  Gänzliches  Auflösen  dieser 
Einflüsse  hat  die  Rückkehr  zur  früheren 
Fortpflanzungs  weise  zur  Folge. 

Mit  Recht  bemerkt  Ludwig  Plate,  daß 
diese  Versuche  keineswegs  die  Vererbung  erwor- 
bener Eigenschaften  beweisen,  sondern  nur  daß 
durch  äußere  Umstände  latente  Eigenschaften  ge- 
weckt werden  können.  Kammerer  hat  den 
Molchen  keine  neuen  Eigenschaften  aufge- 
zwungen ,  sondern  schon  vorhandene,  aber  in  der 
Regel  verborgen  bleibende  Eigenschaften  zur  Aus- 
lösung gebracht ,  und  es  hat  sich  gezeigt,  daß 
solche  reaktivierte  Anlagen  die  Tendenz  haben, 
bei  den  Nachkommen  wieder  aktiv  zu  werden. 
Wenn  der  Feuersalamander  sogar  zum  Absetzen 
von  Eiern  gebracht  werden  konnte,  so  handelt  es 
sich  zweifellos  um  eine  atavistische  Reaktion  des 
Eileiters. ') 

Beim  Menschen  können  ebenfalls  durch  Ände- 
rung der  Lebensbedingungen  Variationen  ver- 
anlaßt werden.  Wenn  z.  B.  eine  Bevölkerung  in 
Hochlande  versetzt  wird,  wo  die  Luft  erheblich 
verdünnt  ist  und  die  Lungen  entsprechend  größere 
Luftmengen  verarbeiten  müssen  als  in  der  Ebene, 
so  wird  sich  eine  Neigung  zur  Ausweitung  des 
Brustkorbes  während  des  Wachstums  ergeben 
und  überdies  wird  die  Auslese  auf  Häufung  breit- 
brüstiger  Menschen  gerichtet  sein.  So  erklärt  es 
sich,  daß  in  den  erhabensten  Hochländern  der 
Erde,  in  Tibet,  Mexiko  und  Hochperu,  Menschen 
mit  ungewöhnlich  großem  Brustumfang  leben,  die 
in  ihren  gewaltigen  Lungen  viel  mehr  Luft  zu 
verarbeiten  vermögen  als  wir,  weil  ihre  Lungen- 
bläschen zahlreicher  und  geräumiger  sind  als  die 
unsrigen.  -) 

In  allen  diesen  Fällen  aber  scheint  es  sich 
lediglich  um  Variation  somatogener  Eigenschaften 
zu  handeln.  Die  Annahme  der  Beeinflussung  des 
Keimplasmas  ist  in  keinem  Fall  erbracht  worden 
und  sie  ist  auch  nicht  erforderlich  um  die  ange- 
führten Erscheinungen  erklären  zu  können. 

Aber  wir  sehen,  daß  unter  augenscheinlich 
gleichartigen  Lebensbedingungen  die  Organismen 
variieren,  wenn  gleich  das  Maß  der  Variation  in 
der  Regel  sehr  gering  ist.   Von  allen  Erklärungen 

')  Archiv  für  Rassen-  und  Gesellschaftsbiologie,  5.  Bd.' 
S.   120. 

')  Vgl.  Kirch  hoff,  Darwinismus,  angewandt  auf  Völker 
und  Staaten,  S.  40. 


dieser  individuellen  oder  fluktuierenden  Variation 
halte  ich  diejenige  Weis  mann 's')  für  die  am 
besten  ausgedachte.  Weismann  meint,  daß  die 
Determinanten  (die  aus  den  kleinsten  Lebens- 
trägern zusammengesetzten  Erbeinheiten  des  Keim- 
plasmas) Wachstumsvariationen  unterworfen  sind, 
und  daß  aus  ihren  Veränderungen  entsprechende 
Änderungen  des  Organs  hervorgehen,  das  sie  be- 
stimmen. Daß  die  Determinanten  unausgesetzt 
in  sehr  kleinen  Ausschlägen  nach  Größe  und 
Qualität  hin  und  her  schwanken,  scheint  Weis- 
mann eine  unausbleibliche  Folge  ihrer  wechseln- 
den Ernährung  zu  sein;  denn  wenn  auch  die 
Keimzelle  als  Ganzes  meist  genügend  Nahrung 
erhält,  so  kann  es  doch  an  kleinen  Schwankungen 
im  Zufluß  derselben  nach  den  einzelnen  Teilen 
des  Keimplasmas  nicht  fehlen.  Wenn  nun  bei- 
spielsweise der  Determinante  einer  Sinneszelle 
einige  Zeit  hindurch  reichlicher  Nahrung  zuströmt 
als  vorher,  so  wird  sie  stärker  und  größer  werden, 
sich  rascher  teilen  und  später  wird  die  Sinnes-  ■ 
Zelle,  welche  die  betreflende  Determinante  zu  be-  ' 
stimmen  hat,  stärker  ausfallen  als  bei  dem  Elter. 
Das  ist  eine  vom  Keim  ausgehende  erbliche  indi- 
viduelle Variation.  Ist  diese  Variation  vorteilhaft, 
so  wird  ihre  Fortpflanzung  durch  die  Personal- 
selektion begünstigt,  im  gegenteiligen  Falle  wird 
sie  beseitigt.  Weismann  schließt,  daß  sich 
also  das  Hin-  und  Herschwanken  der  Deter- 
minanten in  eine  dauernde  nach  auf-  oder  abwärts 
gerichtete  Bewegung  verwandeln  kann,  in  welcher 
er  den  Schwerpunkt  dieser  Vorgänge  innerhalb 
des  Keimplasmas  erblickt. 

Das  Zustandekommen  einer  bestimmt  ge- 
richteten Entwicklungsbewegung  hängt  aber  da- 
von ab,  daß  bereits  die  geringsten  Variationen 
selektorischen  Wert  besitzen,  daß  sie  für  die 
Existenz  des  Individuums  nützlich  oder  schädlich 
sind.  Zur  Erhärtung  der  Annahme  vom  Selektions- 
wert geringster  Variationen  (oder  Anfangsstufen) 
führt  Weismann-)  eine  Reihe  von  Beispielen 
an,  die  zeigen,  daß  dabei  ganz  kleine  Abweichungen 
für  Erhaltung  oder  Untergang  ihrer  Träger  ent- 
scheidend sein  können. 

*  * 

* 

Wenn  man  genau  meßbare  Eigenschaften  wählt 
und  sie  an  einer  hinreichend  großen  Zahl  von  Indi- 
viduen bestimmt,  so  wird  man  finden,  daß  die 
Variationsbreite  der  einzelnen  Eigenschaften  er- 
heblichen Schwankungen  unterworfen  ist,  daß 
aber  eine  große  Variationsbreite  häufiger  vor- 
kommt als  eine  auffällig  geringe,  sowie  daß  alle 
Abstufungen  zwischen  den  Extremen  vertreten 
sind;  das  ist  dann  kontinuierliche  Variation,  wo- 
gegen man  eine  Variation  als  diskontinuierlich 
bezeichnet,  wenn  zweierlei  Individuen  vorkommen 
die  durch  keine  Zwischen-  oder  Intermediärform 
verbunden  sind.  In  Fällen  von  kontinuierlicher 
Variation  wird  sich  ferner  herausstellen,  daß  eine 


')  Die  Sclelitionstheorie,  S.  26.     Jena   igog. 
2)  Selektionstheorie,  S.   II — ig  und  38 — 46. 


N.  F.  Xm.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


821 


F"orm  oder  ein  Maß  häufiger  ist  als  alle  anderen 
und,  in  den  einfachsten  l'"ällen,  daß  die  Individuen- 
zahl fortwährend  kleiner  wird,  je  mehr  sich  die 
Form  von  der  am  häufigsten  auftretenden  entfernt. 
Die  häufigste  Form  wird  als  Modahvert  bezeichnet. 
Wird  die  Häufigkeit  der  einzelnen  Formen  in 
Zahlen  angegeben,  so  haben  wir  eine  Reihe  vor 
uns,  die  vom  Anfang  nach  der  Mitte  zu  langsam 
ansteigt  und  von  der  Mitte  dem  Ende  zu  ebenso 
nach  und  nach  wieder  abfällt.  Zu  Häufigkeits- 
verhältnissen dieser  Art  führt  jedes  nicht  durch 
bestimmt  geleitete  Kraft  gerichtete  Geschehen ; 
wo  der  Zufall  über  den  Ausgang  entscheidet, 
kommt  man  zu  einem  solchen  Ergebnis  '). 

Die  Variation  entspricht  aber  nicht  immer 
dem  nach  dem  Zufall  zu  erwartenden  Häufigkeits- 
verhältnis, sondern  bei  den  meisten  pflanzhchen 
und  tierischen  Organen  ist  die  Häufigkeit  be- 
stimmter h^ormen  umer  dem  Modalwert  eine  an- 
dere als  über  dem  Modalwert.  Nehmen  wir  an, 
daß  die  Zahl  der  Kinder  in  menschlichen  Familien 
zwischen  O  und  20  variiert,  so  wird  sich  ein 
rasches  Ansteigen  der  Zahl  der  Familien  mit  einer 


Kinderzahl  bis  etwa  4  oder  5  und  dann  ein  an- 
fänglich auch  ziemlich  rasches,  später  aber  ganz 
allmähliches  Abfallen  ergeben.  In  gewissen  Fällen 
kann  sich  die  Variationshäufigkeit  sogar  so  ein- 
seitig gestalten,  daß  der  Modalwert  an  das  eine 
Ende  der  Häufigkeitsreihe  zu  stehen  kommt;  das 
ist  z.  B.  bei  der  Zahl  der  Kronblätter  des  knolligen 
Hahnenfußes  der  Fall,  bei  dem  sich  'j  das  folgende 
Verhältnis  ergibt : 


Zahl  der  Kronblätter 
bei  Individuen 


56789 
312   17    4^2. 


Für  die  Unmöglichkeit,  über  eine  gewisse 
Grenze  nach  oben  oder  unten  zu  variieren  gibt  es 
eine  Reihe  von  Erklärungen. 

Noch  häufiger  kommt  das  Auftreten  zwei-  oder 
mehrgipfeliger  Variationskurven  vor,  nämlich  zweier 
oder  mehrerer  hoher  Frequenzwerte,  die  durch 
Zwischenwerte  von  geringer  Häufigkeit  getrennt 
sind.  Eine  derartige  Verteilung  der  Häufigkeit 
von  Variationen  ergibt  sich  besonders  bei  gleich- 
zeitiger Beobachtung  von  Angehörigen  verschiedener 
Unterarten  oder  von  Individuen  verschiedenen  Ge- 
schlechts. 


')  Lehmann,    Exp.  Abst.-    u.  Vererbungslehre    S.   iSff. 
Leipzig   1913. 


Nach  Lehmann,  a.  a.   O.,  S.  26. 


Einzelberichte. 


Geologie.  Einen  sehr  interessanten  Beitrag 
zur  Frage  der  Lebensbedingungen  der  Dinosaurier  ^) 
bietet  Dr.  Franz  Baron  Nopcsa  in  einem  Auf- 
satze im  Zentralblatt  für  Mineral.,  Geol.  und  Palä- 
ontol.  (1914,  Nr.  18,  S.  564—574),  der  die  ober- 
kretazischen  Dinosaurier  -  Fundstätten  Sieben- 
bürgens zum  Gegenstande  hat.  Es  ist  recht  be- 
merkenswert, wie  die  Paläontologie  zurzeit  einer- 
seits das  Bestreben  hat  mit  aller  Macht  die  Hüllen 
des  früheren  Zustantles  einer  bloßen  Leitfossihen- 
kunde  im  Gefolge  der  Geologie  abzustreifen  und 
ihr  immer  gewaltiger  anschwellenderes  Studien- 
material in  rein  zoologischem  Sinne,  und  zwar 
nicht  nur  anatomisch,  sondern  nach  Möglichkeit 
auch  biologisch  auszuwerten;  und  wie  andererseits 
gerade  dieses  letztere  Bestreben ,  das  Tierleben 
aus  seiner  Umgebung  heraus  zu  verstehen  (in 
Vergangenheit  nicht  weniger  als  heutzutage)  den 
Paläontologen  zwingt  beim  eifrigsten  Studium  der 
Geologie  zu  bleiben:  denn  die  Landschaft,  das 
Klima,  die  Faunengemeinschaft,  die  am  Tierkörper 
arbeiten  oder  ihn  verständlich  machen ,  können 
wir  auch  bei  den  Fossilien  nicht  aus  dem  bloßen 
Knochenmaterial  am  Schreibtische  studieren,  son- 
dern einzig  draußen  in  der  Natur  an  der  Fund- 
stelle. Im  Gestein,  im  Schichtenwechsel  und  im 
gesamten    Fossiliengehalt    sind    die    Spuren   jener 


')  Vgl,  Lull  ,,Dinosaurian  Distribution".  Amer.  Journ. 
of  Science  1910,  S.  I — 39  und  meinen  Vortrag  über  ,, Lebens- 
verhältnisse der  Dinosaurier"  in  Abhandl.  d.  naturw.  Ges. 
Isis  in  Dresden   19 12,  H.   2,  S.  96 — 100. 


geographischen  Faktoren  mit  dem  gleichen  Grade 
von  Gewißheit  wahrzunehmen,  mit  denen  wir  aus 
den  fossilen  Tierresten  auf  den  ganzen  Körperbau 
schließen  können. 

Siebenbürgen  hat  nach  Nopcsa's  mehrfachen 
Berichten  an  hriupt>ächlich  drei  Stellen  Reste  von 
Dinosauriern  geliefert,  die  sämtlich  der  jüngeren 
Kreidezeit  (Danien)  angehören,  nämlich  bei 
Szentpeterfalva,  13  km  weiter  bei  Valiora 
und  drittens  bei  Alvincz.  Die  beiden  letzten 
Fundstätten  hat  Nopcsa  selbst  entdeckt  und 
zuerst  bekannt  gegeben.  Der  Reichtum  ist  stellen- 
weise recht  bedeutend. 

Allein  Szentpeterfalva  hat  Reste  von  je 
etwa  15  Individuen  der  Ornithopoden  Mochlodon, 
Telmatosaurus  und  des  Sauropoden  Titanosaurus 
geliefert  und  diese  drei  Gattungen  stellen  erst 
etwa  70 "/g  der  Gesamtausbeutc  dar,  unter  der 
sich  auch  andere  wichtige  Vertreter  der  damaligen 
Fauna,  so  ein  abweichender  Dinosauriertyp  .Struthio- 
saurus  in  2  Exemplaren,  insbesondere  aber  Schild- 
kröten (20  "0),  Krokodile,  I-lugsaurier-  und  Vogel- 
reste, Lacertilier,  Süßwassermuscheln  undSchnecken 
fanden.  Im  Gegensatze  zu  dem  Befunde  von 
Bernissart  in  Belgien,  wo  sämtliche  23  Ignanodon- 
skelette  von  alten  Tieren  herrührten  und  dadurch 
auf  besoniiere  Verhältnisse  bei  ihrem  Tode  hin- 
weisen, sind  bei  Szentpeterfalva  alte  und  jugend- 
liche Individuen  gleicherweise  vertreten.  Wir 
dürfen  also  annehmen ,  daß  wir  uns  dort  im 
eigentlichen    Lebensbereiche    und    Aufenthaltsorte 


822 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  52 


der  Tiere  befinden.  Die  faunistischen  und  petro- 
graphischen  Verhältnisse  weisen  nun  unzweifelhaft 
auf  ein  Sumpfgebiet  mit  vornehmlich  stagnierendem 
Wasser  hin,  auch  kohlige  Substanzen  sind  auf 
derartige  Verhältnisse  leicht  zurückzuführen.  Unter 
der  Tierwelt  sind  gewisse  amphibisch  lebende 
Typen,  wie  der  Sauropode,  die  Sumpfschildkröten 
und  -vögel  stärker  vertreten,  während  der  mit 
schwerem  Panzer  versehene  -Struthiosaurus  oder 
die  Eidechsen  nur  gelegentlich  die  Stelle  auf- 
suchten oder  aber  derartige  Reste  mehr  landbe- 
wohnender Tiere  von  Krokodilen  an  Freßplätzen 
zusammengeschleppt  wurden.  Zuzeiten  wurden 
durch  kräftige  Niedersciiläge  größere  Wasser- 
mengen  zusammengeführt  und  von  ihnen  auch 
Gerolle  mitgerissen,  die  sich  streifenweise  als 
Schölten  eingelagert  finden. 

In  Valiora  ist  die  Zusammensetzung  der 
Tierwelt  nicht  erheblich  verschieden,  wohl  aber 
weicht  das  Gestein  in  einigen  charakteristischen 
Zügen  ab.  Aus  der  Ausbeute  sind  hier  erwähnens- 
wert je  drei  bis  vier  Individuen  von  Telmatosaurus 
und  Mochlodon,  je  zwei  oder  drei  von  Titano- 
saurus  und  von  Krokodilen  ,  einige  Schildkröten- 
reste und  nicht  selten  Süßwassersclinecken ;  Hölzer 
sind  ebenfalls  hier  in  größerer  Zahl  vertreten, 
während  man  sie  in  Szentpeterfalva  vermißt. 
Das  Gewässer,  in  dem  sich  hier  die  Tonschichten 
abgelagert  haben,  mag  hier  ein  wenig  tiefer  ge- 
wesen sein,  andererseits  sind  die  Konglomerate 
hier  sehr  stark  vertreten  und  von  grobem  (bis 
faustgroßem)  Korn,  so  daß  hier  mit  fast  dauernder 
kräftiger  Zuführung  fluviatilen  Wassers  gerechnet 
werden  kann.  Wo  sich,  wie  in  wenig  älteren 
Schichten  von  Naga  Baroth  (Senon)  oder  Gosau 
(dgl.)  reichere  Kohlenbildung  einstellt,  also  ge- 
ringere Tiefe  des  Wassers  geherrscht  haben  muß 
bzw.  reine  Landablagerung  vorliegt,  treten  jene 
Sumpfbewohner  alsbald  stark  zurück  und  unter 
den  Dinosauriern  finden  sich  die  rein  landbe- 
wohnenden Struthiosaurier  sowie  der  Theropode 
Megalosaurus  häufiger  ein. 

Sehr  wichtig  erscheint  die  dritte  Lokalität 
Alvincz  nebst  dem  14  km  entfernten  Rech- 
berge  bei  Lamkerek  in  stratigraphischer  Hinsicht. 
Die  Dinosaurierknochen  sind  hier  z.  T.  1  Rechberg) 
abgerollt,  dennoch  zeigte  sich  das  Markrohr  eines 
Sacrums  von  Alvincz  mit  dem  gleichen  Gestein 
ausgefüllt,  das  die  ganze  Schicht  bildete.  Danach 
ist  zwar  ein  gewisser  Transport  bei  der  Einbettung 
der  Reste  anzunehmen,  aber  eine  spätere  sekun- 
däre Verlagerung  wird  unwahrscheinlich.  N  o  p  c  s  a 
hatte  dem  Fundorte  ursprünglich  das  gleiche 
jüngstkretazische  Alter  zugesprochen  wie  den 
beiden  andern.  Loczy  konnte  aber  unter  den 
Gerollen  des  Rechbergs  solche  feststellen ,  die 
Nummuliten  und  Alveoünen  enthalten.  Es  sind 
zweifellos  tertiäre  Formen,  um  so  gesicherter  ist 
also  das  nachkretazische  Alter  der  sie  als  Gerolle 
enthaltenden  Konglomerate.  Nopcsa  zweifelt 
nun  auch  nicht  an  dem  tertiären  .Alter  der  Schicht, 
aber  er  zieht  den  Schluß,  die  Dinosaurier  des  Rech- 


bergs könnten  danach  nur  sekundär  cingeschwemmt 
sein  und  diejenigen  von  Alvincz,  deren  Erhaltung 
einer  solchen  Annahme  Schwierigkeiten  entgegen- 
stelle, müßten  demnach  in  einer  älteren  Schicht 
liegen.  Die  zweite  Möglichkeit  wird  aber  nicht 
einmal  diskutiert:  daß  nämlich,  wenn  die  Schichten 
von  Alvincz  und  dem  Rechenberge  einander  ident 
seien,  wie  die  Geologen  annehmen,  damit  für  die 
Dinosaurier  an  dieser  Stelle  ein  ter- 
tiäres Alter  bewiesen  wäre.  Ein  völliges 
Novum  wäre  das  keineswegs.  Denn  wenn  auch  für 
südamerikanische  F"unde  ')  endgültige  Sicherheit 
nach  dieser  RiclUung  noch  nicht  besteht,  so  hat  doch 
neuerdings  Lee-)  in  Colorado  über  der  höchsten 
Kreide  mit  Säugetieren  von  tertiärem  .Alter  zu- 
sammen zweifellose  Dinosaurier  nachweisen  können. 
Es  wäre  in  höchstem  Maße  bedeutsam,  nun  auch 
in  Europa  einem  solchen  Funde  auf  die  Spur 
zu  kommen  und  es  muß  verlangt  werden ,  daß 
der  stratigraphische  Befund  zum  alleinigen  Maßstab 
genommen,  nicht  aber  zugunsten  eines  Vorurteils 
vergewaltigt  werde. 

Im  Gegensatz  zu  den  paludisclien  Ablagerungs- 
bedingungen von  Szentpeterfalva  und  den  mehr 
fluviatilen  Verhältnissen  von  Valiora,  haben  wir 
es  bei  Alvincz  anscheinend  mit  ,,torrentiellen 
Sedimenten"  zu  tun,  d.  h.  mit  einer  Ablagerung 
in  größerer  Höhe  bei  entsprechend  stärkerem 
Gefälle  und  stärkerer  Zerstörung  der  Skelette. 
Um  so  wichtiger  ist  es  zu  hören,  daß  die  wichtigsten 
Funde  zu  Mochlodon  zu  stellen  sind  und  sogar 
voraussichtlich  von  ein  und  demselben  Individuum 
herrühren.  E.  Hennig. 

Experimentelle  Physiologie.  Die  Stato- 
cysten,  ein  bei  allen  Mollusken  —  mit  einziger 
Ausnahme  der  Amphineuren  —  vorkommendes 
Sinnesorgan,  sind  meist  allseitig  geschlossene 
Bläschen,  welche  von  einer  Flüssigkeit  erfüllt  und 
mit  Wimper-  und  Sinneszellen  ausgekleidet  sind. 
In  der  Flüssigkeit  sind  in  verschiedener  Zahl 
(i  bis  über  100)  in  Größe,  Form  und  chemischer 
Beschaffenheit  bei  den  einzelnen  Mollusken  ver- 
schiedene Steinchen  suspendiert;  die  größeren 
heißen  Statolithen  (Oto-),  viele  kleine  Statoconien 
(Oto-).  Die  Statocysten  liegen  gewöhnlich  in 
der  Nähe  des  Pedalganglions  in  der  Muskulatur 
des  Fußes,  werden  aber  von  den  Hirnganglien 
innerviert. 

Wie  bei  allen  tierischen  Sinnesorganen,  zumal 
bei  solchen,  die  dem  Menschen  fehlen,  und  des- 
halb keine  Analogieschlüsse  zulassen,  ist  man 
hinsichtlich  ihrer  biologischen  Bedeutung  einzig 
auf  den  Versuch  angewiesen. 

Früher  wurden  die  Statocysten  vielfach  für 
Organe  des  Gehörsinns  gehalten,  und  ihre  Teile 
dementsprechend  bezeichnet,  Otocyste,  Otolith  usw. 


'1  Vgl.  Wind  hausen  ,, Einige  Ergebnisse  zweier  Reisen 
in  den  Territorien  Rio  Negro  und  Nenqucn".  Neues  Jahrb. 
f.  Min.   usw.  Beil.  Bd.   X.WVIII,    1914,   S.  302. 

'')  Lee:  ,,Reccnt  discovery  of  dinosaurs  in  the  Tertiary" 
(Amer.  Journ.  of  Science    4  ser.    Bd.  35,  S.  531 — 534.    1913-) 


N.  F.  XIII.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


823 


Fig  I.  Statocyste  von 
Pterotrachea.  (Nach 

Claus  1875.)    1  Sinnesnerv; 

2  strukturlose       Membran ; 

3  u.  4  Wimperzellen  ;  5  Sta- 
tolitli ;  6  Sinneszellen ;  7  Stütz- 
oder IsolationszcUen :  S  große 

Zentralsinneszelle. 


Der  Wirklichkeit  näher  kam  schon  ihre  Deutung 
als  statische  Organe.  Baunacke  (Studien  zur 
Frage  nach  der  Statocysteiifunktion.  Biol.  Zentralbl. 
33.  Band  1913)  führt  indes  aus,  daß  solche  nur 
notwendig  sind  „bei  Formen,  die  sich  vorüber- 
gehend oder  dauernd  in 
labilem  tileichgewicht  be- 
wegen, d.  h.  also  bei 
Schwimmern,  Fliegern 
und  Läufern,  soweit  diese 
eben  nicht  durch  ent- 
sprechende Verteilung 
spezifisch  verschieden 
schwerer  Massen  ihres 
Körpers  passiv  orientiert 
sind".  Sie  dienten  viel- 
mehr den  im  Wasser 
lebenden  Tieren,  welche 
keine  Kiemen  besitzen, 
wie  z  B.  den  Wasser- 
wanzen, dazu,  sie  den  Weg 
nach  oben,  zum  Wasser- 
spiegel finden  zu  lassen, 
hätten  also  eine  negativ 
geotaktische  Funktion. 
Außerdem  ermöglichten 
sie  es  den  Nacktschnecken  der  Gattungen  Limax 
und  Arion  sich  in  die  normale  Kriechlage  zurück- 
zudrehen, wenn  sie  auf  den  Rücken  geraten  sind; 
sie  lösen  dann  einen  Umdrehreflex  aus  (Fig.  3). 
Diese  seine  Auffassung  hat  nun  Baunacke 
unter  Verwendung  eines  großen  Materials  neuer- 
dings geprüft  und  bestätigt  gefunden  (Studien  zur 
Frage  nach  der  Statocysteiifunktion.  IL  Noch 
einmal  die  Geotaxis  unserer  Mollusken.  Biol. 
Zentralblatt  34.  Band.  Nr.  6  1914).  Fxperi- 
mentiert  wurde  mit  einer  großen  Zahl  von  Indi- 
viduen von  Helix  pomatia  (L.),  Arion  hortensis 
(Fer.),  Limax  agrestis  (L.),  Arion  empiricorum  (Fer.), 
Helix  hortensis  (Müll.)  und  Helix  arbustorum  (L.). 
B.  kam  es  vor  allem  darauf  an  nachzuweisen, 
daß  die  Statocysten  und  nur  sie  die  Träger 
des  Orientierungsvermögens  sind.  Die  anderen 
Sinnesreize  konnten ,  als  hier  nicht  in  Betracht 
kommend,  ausgeschlossen  werden. 

Zunächst  bildet  das  Licht  keinen  orientierenden 
Faktor,  insofern  der  Lichteinfall  für  die  Bewegungs- 
richtung gleichgültig  ist. 

Auch  Tastempfindungen,  ausgelöst  durch 
die  Berührung  der  Fühler  am  Kopf  mit  der  senk- 
recht aufsteigenden  Wand  des  Aquariums,  in  dem 
die  Tiere  gehalten  wurden,  spielen  keine  Rolle. 
Der  Kopf  samt  seinen  Sinnesorganen  konnte 
bis  nahe  an  den  Schlundring  hin  amputiert  werden; 
ein  Tier  von  Arion  empiricorum  lebte  noch 
8  Tage  weiter,  bis  es  schließlich  von  Limaeiden 
aufgefressen  wurde.  Zunächst  zeigte  es  keine 
Beeinträchtigung  seines  Lokomotionsvermögens. 
Auf  dem  Schaukelbrett  —  ein  um  eine  horizontale 
Achse  drehbares  Brettchen  —  reagierten  derartige 
Tiere  prompt  auf  die  jedesmalige  .Änderung  ihrer 
Wegrichtung. 


Es  wäre  ferner  an  Tastempfindungen  zu  denken, 
welche  ihren  Sitz  in  der  Kriechsohle  haben. 
Je  nachdem  das  Tier  seine  Rückenseite  nach 
oben  oder  nach  unten  kehrt ,  aufwärts  oder  ab- 
wärts kriecht,  verhalten  sich  ja  Druck  und  Zug 
verschieden.  Krsterer  kann  nicht  in  Betracht 
kommen,  denn  das  Tier  findet  den  Weg  nach 
oben,  auch  wenn  es  mit  dem  Rücken  nach  unten 
hängt.  Auch  der  Zug  fällt  weg.  Zunächst  ist 
häufig  zu  beobachten ,  daß  die  Schnecken  den 
Vorderteil  des  Körpers  im  Wasser  -frei  erheben 
und  tastende  Bewegungen  ausführen,  wobei  also 
jeder  Sohlenkontakt  fehlt.  Die  Zugempfindungen 
müssen  aber  um  so  größer  sein,  je  größer  die 
Last  des  Körpers  ist.  Proportional  mit  der  Er- 
höhung resp.  Verminderung  des  Körpergewichts 
wird  die  Adhäsion  der  Kriechsohle  verschieden 
stark  beansprucht.  Das  Gewicht  des  Körpers 
wirkt  aber  verschieden  je  nach  dem  spezifischen 
Gewicht  des  Mediums,  in  dem  er  sich  befindet. 
Es  wurden  Versuche  angestellt  mit  Erdöl,  Faraffinum 
liquidum,  Magnesiumsulfat,  Dextrin  und  Zucker- 
lösungen. Die  Tiere  schlugen  stets  die  Richtung 
nach  oben  hin  ein ,  einerlei  ob  das  Medium 
leichter  oder  schwerer  als  ihr  Körper,  der  Zug 
also  größer  oder  geringer  war.  Mit  dem  Tast- 
sinn der  Sohle  fällt  zugleich  auch  der  innere 
Tastsinn  oder  Muskelsinn  weg  (Fig.  2). 


Fig.    2.     Wegschnecken     (.^rion    empiricorum    Fer.), 
frisch   gefangen  und  in  ein   Aquarium  geworfen,   kriechend   an 
der  dunkeln  Seite  des  Gefäßes  nach  oben.    (Nach  Baunacke.) 


Ai-is  allem  folgt,  daß  weder  hydrostatische 
Kräfte  noch  Druck-  und  Tastreize  überhaupt  zu 
der  negativ  -  geotaktischen  Tendenz  der  Tiere 
irgendwie  in  engerer  Beziehung  stehen. 

Andere  für  die  Orientierung  unter  Wasser 
eventuell  in  Betracht  kommende  Sinne  wurden 
durch  zweckentsprechende  Versuche  ausgeschlossen. 
Zunächst  der  chemische  Sinn.  Das  Wasser  wird 
nach    der    Oberfläche    hin    an    in    ihm    gelösten 


824 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  52 


Sauerstoff  reicher.  Wurden  aber  sowohl  heile  als 
auch  unvollkommen  geköpfte  Individuen  der 
Ackerschnecke  (Limax  agrestis  L.)  in  ausge- 
kochtes luftfreies  Wasser  gebracht,  über  dem  eine 
Stickstoffatmosphäre  lagerte,  also  größerer  Sauer- 
stoffgehalt des  Wassers  den  Weg  nach  oben  nicht 
zeigen  konnte,  krochen  die  Tiere  dennoch  nach 
oben.  Auch  bei  Anwendung  anderer,  nicht  atem- 
barer Gase,  z.  B.  Wasserstoff,  zeigten  die  Schnecken 
dasselbe  Verhalten.  Sonstige  Reize  für  den  che- 
mischen Sinn,  Geruch  und  Geschmack,  kamen 
aber  nicht  in  Frage.  Es  kann  also  weder  der 
Lichtsinn,  noch  der  Tastsinn,  noch  ein  chemischer 
Sinn  sein ,  welcher  den  Tieren  den  Weg  nach 
oben  zeigt. 

Es  blieben  sonach  nur  zwei  Möglichkeiten 
übrig.  Einmal  die  Orientierung  wäre  antityp, 
ginge  ohne  Vermittlung  von  Nerven  und  Sinnes- 
organen vor  sich  oder  zweitens  sie  wäre  der 
Reflex  auf  Reize ,  die  von  den  Statocysten  auf- 
genommen wurden.  Um  diese  Frage  zu  ent- 
scheiden, wurde  bei  einer  Anzahl  von  Exemplaren 
der  Kopf  bis  dicht  zum  Ganglienring  amputiert. 
Ein  so  behandeltes  Tier  kroch  aus  dem  Wasser- 
gefäß heraus  und  noch  ein  Stück  über  den  Tisch 
hinweg;  kurz,  wenn  die  Statocj'sten  am  Körper 
gelassen  worden  waren,  blieb  das  Orientierungs- 
vermögen erhalten;  wurde  dagegen  durch  den 
Schnitt  der  Kopf  mit  dem  Schlundring  und  den 
Statocysten  abgetrennt ,  so  blieb  zwar  das  Loko- 
motionsvermögen  erhalten,  wie  die  über  die  Sohle 
hinlaufenden  lokomotorischeii  Wellen  zeigten,  aber 
das  Orientierungsvermögen  tehlte  und  damit  die 
negativ-geotaktischen  Reaktionen. 


Fig.  3.    Zwei  Wegschnecken  (.Arion  empiricorum  For.)  in 
Selbstwcndung.     (Nach   Baunacke.) 


Auch  der  Umdrehreflex,  die  Wendung  des  auf 
den  Rücken  geworfenen  Tieres,  stellt  den  Reflex 
eines  auf  die  Statocysten  wirkenden  Reizes  dar 
(Fig.  3).  Er  findet  statt  unabhängig  vom  Licht 
bei  völligem  Abschluß  desselben,  in  diffusem  Licht 
und  bei  einseitigem  Lichteinfall.  Ebensowenig 
spielen  äußere  und  innere  Berührungsreize  (Muskel- 
sinn) dabei  eine  Rolle.  In  spezifisch  gleichschwerer 
Zuckerlösung  usw.  freischwebend  drehen  sich  die 
Tiere  rasch  in   ihre  Normallage  zurück. 

Wird  aber  das  Tier  in  ein  vorderes  und  hin- 
teres Stück  zerschnitten,  so  dreht  sich  nur  jenes 
in  die  normale  Lage  zurück,  welchem  die  Stato- 
cysten verblieben  sind;  das  andere  dagegen  ver- 
hält sich  bezüglich    der  Lage   gänzlich  indifferent. 

Aus  allen  Versuchen  ergibt  sich ,  daß  die 
Statocysten  zur  riclitigen  Orientierung  des  Körpers 
dienen.  Der  Reiz  auf  die  die  bläschenförmigen 
Statocysten  auskleidenden  Sinneszellen  wird  durch 


auf  die  der  Schwerkraft  folgenden,  in  der  leichteren 
Statolymphe  sich  bewegenden,  spezifisch  schwereren 
Statoconien  ausgelöst.  Der  einwandfreiere  Weg, 
die  Statocysten  zu  exstirpieren ,  ist  wegen  ihrer 
verborgenen  Lage  tief  im  Innern  des  Körpers 
nicht  gangbar. 

Der  negativ-geotaktische  Bewegungsreflex  wird 
ausgelöst  durch  eintretende  Atemnot  und  gehemmt 
durch  Befriedigung  der  respiratorischen  Bedürf- 
nisse. Daß  die  Atemnot  der  auslösende  Faktor 
ist,  geht  daraus  hervor,  daß  die  Lungenschnecken 
nicht  nur  im  Wasser,  sondern  auch  in  nicht 
atembaren  Gasen  (z.  B.  Wasserstoff)  negativ- 
geotaktische  Bewegungen  ausführen.  Dies  trifft 
gleichmäßig  zu  für  die  Nackt-  und  für  die  Ge- 
häuseschnecken.  Ein  Zugreiz  nach  oben,  wie  er 
im  Wasser  infolge  der  Lufifüllung  der  Atemhöhle 
zustande  kommt,  kann  gleichfalls  nicht  als  aus- 
lösender Reiz  herangezogen  werden ,  da  er  sich 
gerade  dann  einstellt,  wenn  das  Emporsteigen  zur 
Oberfläche  nicht  nötig  ist,  während  umgekehrt 
die  Entleerung  der  .'Xtemhöhle  das  Sinken  nach 
unten  zur  Folge  hat.  Passives  Aufsteigen  nach 
oben  würde  auch  im  Freien  häufig  nicht  zum 
Ziele  führen.  In  freien  Gewässern  ist  ja  der 
Wasserspiegel  oft  von  einer  Pflanzendecke  über- 
zogen, und  die  Tiere  müssen  noch  eine  Zeitlang 
an  der  unteren  Seite  der  Pflanzen  entlang  kriechen, 
bis  sie  zur  Luft  kommen. 

Die  Statocyste  ist  das  einzige  Sinnesorgan, 
das  sich  gleichmäßig  bei  allen  Lungenschnecken 
vorfindet.  Es  kommt  indes  auch  bei  ständig  im 
Wasser  lebenden,  kiemenatmenden  Mollusken  vor. 
Interessant  wäre  es  zu  wissen ,  wie  sich  d  i  e 
Lungenschnecken  verhalten,  welche  am  Grunde 
tiefer  Seen  leben  und  Wasser  in  ihre  Atemhöhle 
aufnehmen,  um  dasselbe  mittels  des  reichen  Ge- 
fäßnetzes in  deren  Wandung  auf  Sauerstoft'  aus- 
zubeuten. Sie  sind  so  nicht  mehr  genötigt  zum 
Zwecke  der  Aufnahme  von  Atemluft  zur  Ober- 
fläche aufzusteigen. 

Die  lebendiggebärende  Sumpfschnecke  (Palu- 
dina  vivipara  Drap.)  besitzt  zwei  Kiemen,  die  ihr 
das  .Aufsteigen  ersparen;  dennoch  bewegt  sie  sich 
in  sauerstoffarmem  Wasser  schwerfällig  kriechend 
nach  oben.  Auch  ermöglichen  ihr  die  Statocysten 
von  Zeit  zu  Zeit  aus  den  an  giftigen  Gasen  reichen 
Wasserschichten  herauszukommen ,  welche  über 
dem  F'aulschlamm  ihres  Wohngewässers  lagern. 

Besonders  ausgesprochen  zeigt  Paludina  den 
Umdrehreflex.  Die  Muscheln  Pisidium  und  Sphae- 
rium  vermögen  gleichfalls  negativ  geotaktische 
Bewegungen  auszuführen.  Sie  sind  genötigt,  ihren 
Wohnplatz  zu  verlegen,  wenn  sie  nach  starken 
Regengüssen  z.  B.  verschlämmt  oder  wegge- 
schwemmt werden. 

Die  Najaden  sind  dem  Leben  auf  und  in  dem 
Grund  angepaßt.  Dementsprechend  reagiert  ihr 
Fuß  positiv  geotaktisch.  Anodonta  piscinalis  Nilss. 
wurde  in  den  verschiedensten  Lagen  an  P'äden 
befestigt  frei  im  Aquarium  aufgehängt.  Der  Fuß 
zeigte  stets  die  Tendenz,  sich  in  die  Richtung  der 


N.  F.  XIII.  Nr.  5; 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


825 


Schwerl{raftwirkung  einzustellen ,  hing  also  nach 
unten  (I'ig.  4I  Diese  .'\rt  der  Orientierung  kommt 
zur  Geltung  beim  Eingraben  und  dann  beim  Auf- 
suchen tieferen  Wassers.  Man  sieht  häufig  den 
Grund  der  von  Najaden  bewohnten  Gewässer 
beim  Sinken  des  Wasserstands  von  Furchen 
durchzogen,  den  Kriechspuren  der  Muscheln, 
welche  sich  nach  tiefer  gelegenen  Stellen  zurück- 


Fig.  4.     Anüdonta    piscinalis    Nilss. ,    frei    unter 
Wasser  im  Dunkeln  an  Fäden  aufgehängt,  richtet  den  hervor- 
gestreckten Fuß    sofort    dem   Boden    zu.     (Nach  Baunacke.) 


B.  hing  einen  ca.  i  m  langen,  schlammgefüllten 
Kasten  so  unter  Wasser  auf,  daß  bei  einer  Kippung 
um  ca.  30"  das  gehobene  Ende  den  Wasserspiegel 
berührte,  während  das  untere  etwa  40  cm  tief 
unter  ihm  lag.  Die  am  oberen  Ende  auf  den 
Schlamm  gelegten,  ja  in  ihn  fest  eingesteckten 
Muscheln  wurden  am  nächsten  Morgen  in  dem 
tiefer  gelegenem  Ende  eingegraben  gefunden. 

Bei  den  nur  in  der  Jugend  freibeweglichen, 
später  festgewachsenen  Tieren  (Auster,  Wurm- 
schnecke) oder  parasitierenden  Formen  (Enteroxe- 
nus)  gehen  die  Statocysten  im  Laufe  der  Meta- 
morphose verloren,  während  sie  bei  freilebenden 
Formen  wohl  entwickelt  sind.  Besonders  aus- 
gebildet sind  die  Statocysten  bei  den  freischwim- 
menden Mollusken,  den  Heteropoden,  und  vor 
allem  bei  den  Cephalopoden.  Daß  sie  bei  ver- 
schiedenen niederen  Formen  (Amphineuren)  fehlen, 
beweist  nichts  gegen  ihren  biologischen  Wert, 
weil  andere  Sinne  bei  jenen  die  Orientierung  des 
Körpers  gewährleisten. 

In  den  Statocysten  mancher  Formen,  z.  B.  der 
labil  orientierten  Heteropoden  der  Gattung  Ptero- 
trachea  sind  die  reizrezipierenden  Elemente  auf 
der  dem  Erdzentrum  zugewandten  Seite  der 
Cystenwand  zur  Macula  statica  zusammengedrängt. 
Es  deutet  das  auf  eine  Steigerung  der  Lage- 
empfindungen bei  der  geringsten  Abweichung 
von  der  Normallage.  Bei  der  zum  freien  Schwimmen 
befähigten  Pilgermuschel  entspricht  die  Entwick- 
lung der  Statocysten  ganz  der  Lage  des  Körpers. 
Sie  sind  nämlich  asymmetrisch  entwickelt,  ent- 
sprechend der  Gleichgewichtslage  (Seitenlage)  beim 
Schwimmen. 

Nach  Untersuchungen  Tschachotin's  (i 908) 
an     Pterotrachea     sind      die     Statocysten     nicht 


allein  sensibel,  sondern  auch  motorisch  innerviert. 
Apathy  (1885)  beschrieb  im  P^pithel  der  Najaden- 
statocyste  zwei  verschiedene  Zellformen ,  welche 
Cilien  resp.  feine  Plasmafäden  tragen.  In  den 
Lücken  zwischen  den  Wandzellen  liegen  kleine 
Ganglienzellen.  Auch  in  den  Statocysten  der 
Pulnionaten  und  Prosobranchier  fand  Schmidt 
(191J)  drei  Arten  von  Zellformen,  die  nach  dem 
Innern  der  Statocysten  hin  mit  Cilien  besetzt 
sind,  was  darauf  hinweist,  daß  der  Mechanismus 
der  Statoc_\'sten  keineswegs  einfacher  Natur  ist. 
Über  ihre  feinere  Innervation  und  den  Verlauf 
der  reizleitenden  Elemente  im  Körper  ist  dagegen 
noch  nichts  bekannt. 

B.  schließt  aus  seinen  biologischen  und  phy- 
siologischen Versuchen,  daß  die  Statocysten  der 
Schnecken  und  Muscheln  keineswegs  als  rudi- 
mentäre Bildungen,  etwa  als  ein  Erbteil  frei- 
schwimmender Vorfahren,  anzusprechen  oder  gar 
als  zwecklos  zu  bezeichnen  sind.  Die  bisherige 
Bezeichnung  derselben  als  Gleichgewichtsorgane 
muß  fallen  gelassen  werden.  Es  sind  vielmehr 
Richtungssinnesorgane,  aus  deren  Einfluß  auf  den 
Tonus  der  Körpermuskulatur,  das  eine  Mal  eine 
negativ-geotaktische,  das  andere  Mal  eine  positiv- 
geotaktische  Bewegung  oder  endlich  die  Torsion 
des  Körpers  in  Kriechlage  resultiert. 

Kathariner. 

Physik.  „Dynamische  und  statistische  Gesetz- 
mäßigkeit" war  der  Titel  der  Rede,  den  der  Rektor 
der  Berliner  Universität  Max  Planck  am  3.  August 
bei  der  alljährlichen  Universitätsfeier  nach  altem 
Brauch  gehalten  hat.  Dem  inhaltreichen  Vortrage 
ist  das  Folgende  entnommen. 

„Eine  jede  Wissenschaft,  so  heißt  es  in  den 
einleitenden  Abschnitten  des  Vortrages,  selbst  die 
Mathematik  nicht  ausgenommen,  ist  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  Erfahrungswissenschaft,  mag  sie 
nun  die  Natur  oder  die  geistige  Kultur  zum  Gegen- 
stande haben,  und  in  jeder  Wissenschaft  gilt  als 
vornehmste  Losung  die  Aufgabe,  in  der  L'ülle  der 
vorliegenden  Einzelerfahrungen  und  Einzeltatsachen 
nach  Ordnung  und  Zusammenliang  zu  suchen,  um 
dieselben  durch  Ergänzung  der  Lücken  zu  einem 
einheitlichen  Bilde  zusammenzuschließen.  Aber 
auch  die  Art  der  Gesetzlichkeit  ist,  auf  so  ver- 
schiedenen Gebieten  die  in  den  einzelnen  Wissen- 
schaften behandelten  Materien  auch  liegen  mögen, 
keineswegs  so  verschieden,  als  es  beim  Anblick 
der  gewaltigen  Gegensätze,  wie  sie  z.  B.  ein 
historisches  und  ein  physikahsches  Problem  bietet, 
zunächst  erscheinen  möchte.  Zum  mindesten 
wäre  es  ganz  verkehrt,  einen  grundsätzlichen  L'nter- 
schied  etwa  darin  zu  suchen,  daß  auf  dem  Ge- 
biete der  Naturwissenschaft  die  Gesetzlichkeit 
allenthalben  eine  absolute,  der  Ablauf  der  Er- 
scheinungen ein  notwendiger  sei,  der  keinerlei 
Ausnahmen  gestattet,  während  auf  geistigem  Ge- 
biete die  Verfolgung  des  kausalen  Zusammen- 
hanges streckenweise  immer  auch  durch  etwas 
Willkür    und    Zufall    hindurchführe.      Denn    einer- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xin.  Nr.  52 


seits  ist  für  jegliches  wissenschaftliche  Denken, 
auch  auf  den  höchsten  Höhen  des  menschlichen 
Geistes,  die  Annahme  einer  im  tiefsten  Grunde 
ruhenden  absoluten,  über  Willkür  und  Zufall  er- 
habenen Gesetzlichkeit  unentbehrliche  Voraus- 
setzung, und  auf  der  anderen  Seite  findet  sich 
auch  die  exakteste  der  Naturwissenschaften,  die 
Physik,  sehr  häufig  veranlaßt,  mit  Vorgängen  zu 
operieren,  deren  gesetzlicher  Zusammenhang  einst- 
weilen noch  völlig  im  Dunkeln  bleibt  und  die  daher 
im  wohlverstandenen  Sinne  des  Wortes  unbedenk- 
lich als  zufällige  bezeichnet  werden  können." 

So  wissen  wir  z.  B.  bis  jetzt  noch  nichts  über 
die  inneren  Ursachen,  welche  ein  radioaktives 
Atom  zum  explosiven  Zerfall  zwingen,  während 
ein  Nachbaratom  nach  Millionen  von  Jahren  in 
voller  Passivität  verharrt.  Trotzdem  ist  die  Hypo- 
these vom  Zerfall  der  Atome  für  die  Physik  von 
allergrößter  Bedeutung,  denn  sie  hat  in  eine  fast 
unübersehbare  Fülle  von  Kinzeltatsachen  Ordnung 
und  System  gebracht  und  Veranlassung  zu  neuen 
Entdeckungen  von  größter  Tragweite  gegeben. 

Die  Möglichkeit  zum  wissenschaftlichen  P>- 
fassen  von  Vorgängen,  deren  Kausalitätsverhält- 
nisse uns  verborgen  sind,  liegt  in  der,  etwa  seit 
der  Mitte  des  vergangenen  Jahrhunderts  ausge- 
bildeten, für  die  Physik  wichtiger  und  wichtiger 
werdenden  statistischen  Methode.  „Statt  den 
zurzeit  noch  völlig  im  Dunkeln  liegenden  dyna- 
mischen Gesetzen  eines  Einzelvorganges  ohne  eine 
Aussicht  auf  greifbaren  Erfolg  nachzuforschen, 
werden  zunächst  einmal  nur  die  an  einer  großen 
Zahl  von  Einzelvorgängen  einer  bestimmten  Art 
gemachten  Beobachtungen  zusammengestellt  und 
aus  ihnen  Durchschnitts-  oder  Mittelwerte  gebildet. 
P"ür  diese  Mittelwerte  ergaben  sich  dann  je  nach 
den  besonderen  Umständen  des  Falles  gewisse 
erfahrungsmäßige  Regeln,  und  die  so  gewonnenen 
Regeln  gestatten,  allerdings  niemals  mit  absoluter 
Sicherheit,  aber  doch  mit  einer  Wahrscheinlich- 
keit, die  sehr  häufig  der  (lewißheit  praktisch 
gleichkommt,  den  Ablauf  auch  zukünftiger  Vor- 
gänge im  voraus  anzugeben,  zwar  nicht  in  allen 
Einzelheiten,  wohl  aber  -  und  darauf  kommt  es 
bei  den  Anwendungen  oft  gerade  am  meisten 
an  —  in  ihrem   durchschnittlichen  Verlauf" 

Diese  statistische  Gesetzmäßigkeit  ist  von  ganz 
anderer  Art  als  die  soeben  erwähnte  kausale  oder 
dynamische  Gesetzmäßigkeit,  wenn  auch  beide 
Gesetzmäßigkeiten  häufig  eine  ausgesprochene 
formale  Analogie  aufweisen.  So  wird  z.  B.  oft 
das  Gesetz  der  kommunizierenden  Röhren  mit 
dem  Gesetz  vom  Temperaturausgleich  verschieden 
temperierter  Körper  verglichen,  indem  der  Niveau- 
differenz im  ersten  die  rcmperaturdifTerenz  im 
zweiten  F"alle  als  innerlich  gleichartig  gegenüber- 
gestellt wird,  eine  Auffassung,  die  in  der  P^nergetik 
bekanntlich  zur  grundsätzlichen  Zerlegung  aller 
Energieformen  in  zwei  Faktoren,  deti  die  Menge  des 
Energieaustausches  bestimmenden  Kapazitätsfaktor 
und  den  als  Grundursache  alles  Geschehens  anzu- 
gehenden Intensitätsfaktor  geführt  hat.')    Tatsäch- 


lich sind  aber  beide  Vorgänge  keineswegs  so  gleich- 
artig, wie  man  nach  ihrer  formalen  Analogie 
vermuten  möchte,  ihre  Ähnlichkeit  ist  vielmehr  nur 
ganz  oberflächlich.  So  ist  der  Xiveauausgleich  in 
kommunizierenden  Röhren  eine  notwendige  Folge 
des  Gesetzes  von  der  PJrhaltung  der  Energie,  wäh- 
rend etwa  der  Übergang  von  Wärme  von  einem 
kalten  zu  einem  heißen  Körper  diesem  Gesetze 
keineswegs  widersprechen  würde.  Auch  tritt  der 
Niveauausgleich  in  komumnizierenden  Röhren  in 
der  Weise  ein,  daß  die  Flüssigkeit  von  dem  hö- 
heren Niveau  zunächst  unter  das  Gleichgewichts- 
niveau sinkt  und  sich  ihm  dann  hin-  und  her- 
schwingend allmählich  nähert;  würde  bei  diesem 
Vorgange  kein  Verlust  an  Bewegungsenergie  ins- 
besondere durch  Reibung  eintreten,  so  würde  das 
Hin-  und  Herschwingen  um  die  Gleichgewichts- 
lage andauern,  ohne  daß  sie  selbst  je  dauernd  er- 
reicht würde.  Beim  Ausgleich  von  Temperatur- 
differenzen tritt  ein  derartiges  Pendeln  um  das 
Temperaturgleichgewicht  nicht  ein,  die  Temperatur 
der  beiden  verschieden  warmen  Körper  nähern 
sich  vielmehr  ganz  allmählich,  und  zwar  nimmt 
die  Geschwindigkeit  des  Ausgleiches  ab,  je  näher 
die  beiden  Temperaturen  einander  kommen. 

Zu  den  Vorgängen  der  ersten  Art,  also  solchen 
Vorgängen,  bei  denen  das  Gleichgewicht  durch 
Schwingungen  um  die  Gleichgewichtslage  erreicht 
oder  —  bei  Abwesenheit  jeglicher  Bremswirkung  — 
nicht  erreicht  wird,  gehören  die  Gravitationser- 
scheinungen, die  mechanischen  und  die  elektrischen 
Schwingungen  und  die  akustischen  und  elektro- 
magnetischen Wellen,  und  sie  alle  lassen  sich  einem 
einzigen  Prinzip  unterordnen,  dem  Prinzip  der 
kleinsten  Wirkung,  in  dem  auch  das  Gesetz  von 
der  Erhaltung  der  Energie  mitenthalten  ist.  Zu 
den  Vorgängen  der  anderen  Art  gehören  die  Lei- 
tung von  Wärme  und  Elektrizität,  die  Reibung, 
die  Diffusion  und  sämtliche  chemische  Reaktionen. 
Auch  für  sie  gilt  ein  sehr  allgemeiner  Satz,  der 
von  Clausius  entdeckte  zweite  Hauptsatz  der 
mechanischen  Wärmetheorie,  dessen  Wesen  und 
Wurzel  aber  erst  von  L.  Boltzmann  mit  Hilfe 
atomistischer   Betrachtungen    erkannt   worden   ist. 

Nach  der  durch  neuere  Untersuchungen  -)  in 
so  überraschender  Weise  bestätigten  Atomtheorie 
„ist  die  Wärmeenergie  eines  Körpers  nichts  ande- 
res als  die  Gesamtheit  der  äußerst  feinen  schnellen 
unregelmäßigen  Bewegungen  seiner  einzelnen 
Moleküle,  die  Hölie  seiner  Temperatur  entspricht 

')  Der  Ausgleich  von  Energien  bestellt  immer  im  Aus- 
gleich des  Intensitiitsfaktors.  Ein  Ausgleich  zwischen  ver- 
schiedenen Wärmemengen  findet  nur  statt,  wenn  eine  Tempe- 
raturdifferenz vorhanden  ist,  und  alle  elektrischen  Vorgänge 
setzen,  unabhängig  von  der  Menge  der  Elektrizität,  das  Vor- 
handensein einer  Spannungsdifferenz  voraus.  Ganz  verschie- 
dene Mengen  von  Wärme  oder  Elektrizität  sind  im  Gleich- 
gewicht, wenn  die  Intensitätsfaktoren  gleich  Null  sind,  d.  h. 
keine  Temperatur-  oder  Potentialdifferenz  besteht.  Die  Inten- 
sitätsfaktoren  sind  also  —  so  behauptet  die  Energetik  —  die 
treibende   Kraft   für  alle   Vorgänge. 

')  Vgl.  Werner  Mecklenburg,  „Die  experimentellen 
Grundlagen  der  Atomtheorie".  Naturw.  Wochenschr.  .N.  F. 
Bd.  VIII,  S.   769  (1909)  und  Bd.  IX,  S.  35  u.  S.    385  (1910). 


N.  F.  XIII.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


827 


der  mittleren  lebendigen  Kraft  seiner  Moleküle, 
und  der  Wärmeübergang  von  einem  heißeren  zu 
einem  kälteren  Körper  beruht  darauf,  daß  die 
lebendigen  Kräfte  der  beiderseitigen  Moleküle  bei 
den  durch  die  Berührung  der  Körper  bedingten 
häufigen  Zusammenstößen  sich  gegenseitig  im 
Mittel  ausgleichen.  Das  ist  aber  nicht  so  zu  ver- 
stehen, als  ob  bei  jedem  einzelnen  Zusammen- 
stoß zweier  Moleküle  dasjenige  mit  größerer 
lebendiger  Kraft  an  Geschwindigkeit  einbüßt,  das- 
jenige mit  geringerer  lebendiger  Kraft  dagegen 
beschleunigt  wird;  denn  wenn  z.  B.  ein  schnell 
bewegtes  Molekül  von  der  Seite  her,  quer  gegen 
seine  Bewegungsrichtung,  von  einem  langsamer 
bewegten  Molekül  getroffen  wird,  muß  seine  Ge- 
schwindigkeit noch  weiter  wachsen,  wälirend  die 
des  langsameren  Moleküls  sich  noch  weiter  ver- 
mindert. Aber  im  großen  und  ganzen  wird  doch 
nach  den  Gesetzen  der  Wahrscheinlichkeit,  falls 
nicht  ganz  exzeptionelle  V'erhältnisse  vorliegen, 
eine  gewisse  Vermischung  der  lebendigen  Kräfte 
eintreten,  und  dies  entspricht  einem  Ausgleich 
der  Temperaturen  der  beiden  Körper",  ein  Vor- 
gang, wie  er  ähnlich  bei  der  Brown'schen  Be- 
wegung -')  ja  tatsächlich  beobachtet  werden  kann. 
Die  Wärmeleitung  gehorcht  also  statistischen,  d.  h. 
Wahrscheinlichkeitsgesetzen  und  unterscheidet  sich 
dadurch  grundsätzlich  von  jenen  Erscheinungen, 
die  die  Wissenschaft  als  notwendige  Folgen  anderer 
Erscheinungen  anzusehen  hat.  Theorie  und  Praxis 
nötigen  uns,  ,,in  allen  Gesetzmäßigkeiten  der 
Physik  einen  fundamentalen  Unterschied  zu  machen 
zwischen  Notwendigkeit  und  Wahrscheinlichkeit, 
und  bei  jeder  beobachteten  Gesetzmäßigkeit  zu 
allererst  zu  fragen,  ob  sie  dynamischer  oder  ob 
sie  statistischer  Art  ist". 

Dieser  Dualismus  erscheint  unbefriedigend, 
und  es  ist  daher  versucht  worden,  ihn  durch  die 
Annahme  zu  überbrücken,  daß  es  in  der  Natur 
überhaupt  keine  dynamischen  Gesetze  gäbe,  daß 
diese  vielmehr  in  letzter  Linie  auch  nur  den 
Charakter  von  statistischen  Gesetzen  hätten.  Zu 
dieser  Annahme,  durch  die  der  Begrift'  der  abso- 
luten Notwendigkeit  für  die  Physik  überhaupt  aufge- 
hoben würde,  liegt  kein  Grund  vor,  bildet  doch 
die  absolute  Gesetzmäßigkeit  nicht  nur  für  die 
dynamischen ,  sondern  auch  für  die  statistischen 
Gesetze  die  wesentliche  Grundlage.  „In  der  Physik 
ist    die    exakte  Berechnuns    von  Wahrscheinlich- 


keiten nur  dann  möglich,  wenn  für  die  elejnentar- 
sten  Wirkungen,  also  im  allerfeinsten  Mikrokosmos, 
lediglich  dynamische  Gesetze  als  gültig  angenom- 
men werden  dürfen.  Entziehen  sich  diese  auch 
einzeln  der  Beobachtung  durch  unsere  groben 
Sinne,  so  liefert  doch  die  Voraussetzung  ihrer 
absoluten  Unabänderlichkeit  die  unumgänglich 
notwendige  feste  Grundlage  für  den  Aufbau  der 
Statistik." 

Nach  dem  Gesagten  stehen  dynamische  und 
statistische  Gesetzmäßigkeiten  nicht  im  gleichen 
Range.  Ein  dynamisches  Gesetz  befriedigt  unser 
Kausalbedürfnis,  ein  statistisches  Gesetz  nicht,  und 
die  fortschreitende  Wissenschaft  wird  daher  stets 
danach  streben ,  die  statistischen  Gesetze  durch 
dynamische  Gesetze  zu  ersetzen. 

Erscheint  so  der  zweite  Hauptsatz  der  mecha- 
nischen Wärmetheorie,  der  ja  unter  den  statisti- 
schen Gesetzen  der  Physik  wohl  an  erster  Stelle 
steht,  nur  als  Wahrscheinlichkeitssatz,  so  ist  er 
doch  einer  exakten,  allgemeingültigen  Fassung 
fähig.  „Eine  solche  läßt  sich  etwa  folgender- 
maßen aussprechen:  Alle  physikalischen  und 
chemischen  Zustandsänderungen  verlaufen  im 
Mittel  so,  daß  sie  die  Wahrscheinlichkeit  des  Zu- 
stands  vergrößern.  Nun  ist  unter  allen  Zuständen, 
die  ein  System  von  Körpern  annehmen  kann,  der 
wahrscheinlichste  Zustand  dadurch  ausgezeichnet, 
daß  alle  Körper  die  nämliche  Temperatur  be- 
sitzen; aus  diesem  und  keinem  anderen  Grunde 
erfolgt  die  Wärmeleitung  im  Mittel  stets  im 
Sinne  eines  Ausgleichs  der  Temperaturen,  also 
in  der  Richtung  von  höherer  zu  tieferer  Tempe- 
ratur. Über  einen  einzelnen  Vorgang  vermag 
aber  der  zweite  Hauptsatz  stets  nur  dann  etwas 
mit  Bestimmtheit  auszusagen,  wenn  man  von 
vornherein  sicher  ist,  daß  der  Verlauf  des  spe- 
ziellen Vorgangs  nicht  merklich  abweicht  von 
dem  mittleren  Verlauf  einer  großen  Anzahl  von 
Vorgängen,  die  alle  von  dem  nämlichen  Anfangs- 
zustand ihren  Ausgang  nehmen."  Hingegen  hat 
—  das  muß  betont  werden  —  der  zweite  Haupt- 
satz mit  der  Energie  direkt  überhaupt  nichts  zu 
tun ,  wie  z.  B.  die  bisweilen  überhaupt  ohne 
Energieumwandlungen  sich  abspielenden  Diffusions- 
vorgänge nur  deshalb  vor  sich  gehen,  weil  die 
gleichmäßige  Mischung  zweier  verschiedener  .Sub- 
stanzen wahrscheinlicher  als   eine  ungleichmäßige 


ist. 


Mg. 


Kleinere  Mitteilungen. 

Technische    Neuerungen    der    feinkeramischen      lieber    Bedeutung,    da    sie    diejenigen    Industrien, 


Industrie.  Was  die  Rohmaterialien  anbetrifft,  so 
haben  zwei  Naturprodukte  mehr  und  mehr  Ein- 
gang gefunden.  Es  sind  dies  der  Geyserit  und 
der  Ouarzspat,  zwei  wertvolle  Materialien,  welche 
vor  einigen  Jahren  in  Deutschland  aufgefunden 
worden  sind.  Diese  Steine  kommen  in  mächtigen 
Lagern  vor,  die  heute  systematisch  ausgebeutet 
werden,    und  sind  von  gewaltiger  volkswirtschaft- 


welche  auf  ausländische  Geyserite  und  Ouarzite, 
wie  sie  in  Island,  Neuseeland  und  im  Jellow  Stone 
Park  vorkommen,  angewiesen  sind,  bzw.  diejenigen, 
welche  Feldspate  und  Feuersteine  aus  Norwegen 
und  Dänemark  verarbeiten,  vom  Ausland  unabhängig 
machen  können  'j. 


')  Zeitschr.  für  angewandte  Chemie  27.  64/65. 


828 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  Xm.  Nr.  52 


Der  Taunusgeyserit  von  Usingen  besteht  aus 
99,25"/,,  Kiesel.-äure,  welche  aber  im  Gegensatz  zu 
Kristallquarz  und  Quarzsand  ganz  eigenartige 
schätzenswerte  Eigenschaften  besitzt.  Diesen  Be- 
sonderheiten hat  der  Geyserit  seinen  Eingang  in 
manche  Industrie  zu  verdanken  :  in  den  chemisclien 
Fabriken  wird  er  an  Stelle  reiner  Kieselsäure,  in 
Glasfabriken  zur  Herstellung  von  Kristallglas  und 
optischen  Gläsern  verwendet,  außerdem  schätzt 
man  ihn  in  der  Quarzglasindustrie  als  ausgezeichnetes 
Material.  Große  Verwendung  findet  er  auch  in 
der  Emailleindustrie  für  Glasuren  und  in  der  kera- 
mischen Industrie  für  Ma>se  und  Glasur,  besonders 
zur  Herstellung  von  feinen  dünnen  Porzellanen. 
Besonders  günstige  Erfolge  wurden  bei  den  Ver- 
suchen erzielt,  den  Geyserit  für  bleifreie  Glasuren  von 
Steingut  zu  benutzen. 

Der  sog.  Quarzspat  vom  Zobten  (Quarzspat 
Ströbel  in  Ströbel  am  Zobten)  ist  ein  in  der 
Kaolinisierung  begriffenes  Urgestein,  welches  dem 
Zobtcnberg  Biutiigranit  aufgelagert  ist  und  in  einer 
Fläche  von  300000  qm  zutage  tritt  und  daher 
leicht  abgebaut  werden  kann.  Er  besteht  nach 
einer  Analyse  von  Dr.  Si  nger- Bunzlau  aus 
66,96''/n  Feldspat,  25,28%  Quarz  und  7,76"/,,  Ton- 
substanz; er  kann  daher  mit  gutem  Erfolg  in  der 
keramischen  Industrie  zu  gesinterten  Platten, 
technischen  Porzellanen  und  Isolatoren  benutzt 
werden.  Für  die  Steinguiindusirie  wirkt,  sobald 
mit  oxydierendem  Feuer  gearbeitet  wird,  der 
schwache  Eisengehalt  störend.  Die  Mächtigkeit 
des  Quarzspatlagers  gestaltet,  den  Bedarf  von  viel- 
leicht ganz  Mittel-  und  (Ostdeutschland  auf  Jahre 
hinaus  zu  decken.  Die  meist  gleichmäßige  Zu- 
sammensetzung und  die  leichte  und  schnelle  Auf- 
arbeitung auf  trocknen!  Wege  bietet  den  anderen 
harten  Steinen  gegenüber  große  Vorteile,  und  es 
wird  sich  daher  für  manchen  Fabrikanten  sicher- 
lich lohnen ,  mit  dem  neuen  Material  Versuche 
zu  machen,  um  dieses  für  die  deutsche  Volks- 
wirtschaft so  bedeutende  Naturprodukt  zu  einer 
immer  größeren  Verwendung  zu  führen. 

Neben  diesen  beiden  natürlichen  Mineralien 
scheint  sich  in  der  keramischen  Industrie  mehr 
und  mehr  ein  künstliches  Produkt,  das  Kieselfluor- 
natrium, als  Flußmittel  für  Glasuren  einzuführen 
und  anstelle  von  Blei  verwenden  zu  lassen,  umso- 
mehr  als  der  Preis,  zu  dem  es  angeboten  wird, 
gleich  dem  der  Mennige  ist. 

Die  Aufbereitung  der  Rohmaterialien  geschieht 
immer  mehr  trocken,  nachdem  es  den  Maschinen- 
fabriken durch  Verbesserungen  der  maschinellen 
Einrichtungen  zum  Zerkleinern  und  Mahlen  der 
trocknen  Rohmaterialien,  sowie  der  vollkommenen 
Sichtung  des  Feinmehles  durch  Windseparatoren 
gelungen  ist,  die  großen  Ansprüche  der  kerami- 
schen Werke  an  F'einheit,  Gleiclimäßigkeit  und 
inniger  Mischung  der  Masse  zu  befriedigen.  Solche, 
wenig  Arbeitskräfte  verlangenden  Anlagen  werden 
in  vorzüglicher  Güte  von  Gebr.  Pfeiffer,  Kaisers- 
lautern, Jakobiwerk  Meißen  und  Gebr.  Seck, 
Dresden  geliefert. 


Die  P^nteisenung  der  Tone  wird  neuerdings 
mit  hydroschwefliger  Säure  bewirkt,  wovon  schon 
geringe  Mengen  in  der  Kälte  genügen,  im  Gegen- 
satz zu  den  früheren  Methoden,  wo  größere  Mengen 
von  Salzsäure  und  schwefliger  Säure  unter  Er- 
wärmen angewandt  werden  mußten.  Bietet  dieses 
Verfahren  auch  einerseits  große  Vorteile,  so  wer- 
den dennoch  hierbei  manche  Schwierigkeiten  erst 
noch  zu  überwinden  sein.  Es  wird  nämlich  für 
solche  Betriebe  nur  schwer  zu  verwenden  sein, 
welche  größere  Anforderungen  an  ihre  Erzeug- 
nisse stellen,  wie  reine  P'arbe,  tadellose  Glasur, 
da  die  in  der  Masse  verbleibenden  Salzreste  beim 
Glasieren  und  Brennen  störend  wirken  und  auch 
kein  reines  Weiß  erhalten  wird. 

Das  Sc  h  werin 'sehe  P^lektroosmoseverfahren 
wird  jetzt  auch  praktisch  zur  Reinigung  der 
Kaoline  angewandt,  denn  in  Karlsbad  hat  sich 
eine  Kaolin  Elektroosmose-A.G.  gebildet,  welche 
in  Chodau  bei  Karlsbad  über  100000  Klafter 
Kaolingründe  außerhalb  des  Quellenschutzgehietes 
erworben  hat,  um  hier  das  genannte  Verfahren 
nunmehr  im  Großbetriebe  auszuüben.  Hierbei 
kommt  der  Rohkaolin  zunächst  in  einen  Quirl, 
in  dem  er  zerteilt  wird.  Die  groben  Bestandteile, 
Sand ,  Schwefelkiesstücke  usw.  werden  hierbei 
durch  ein  unter  dem  Quirl  angeordnetes  Schüttel- 
sieb au.sgeschieden,  während  der  feine  Schlamm 
in  Absatzbehälter  fließt,  von  wo  er  in  Verteilungs- 
behälter gepumpt  wird ,  von  denen  er  in  ganz 
bestimmter  Dicke  und  bestimmter  Geschwindig- 
keit ununterbrochen  in  die  Osmosemaschinen 
fließt.  In  diesen  wandert  das  reine  Kaolin  nach 
der  walzenförmigen  Anode,  von  der  er  abgenom- 
men werden  kann;  hierbei  sind  Miterpressen  ent- 
behrlich, weil  der  Wassergehalt  des  so  abgeschie- 
denen Kaolins  ca.  20  "/(,  beträgt.  Der  Strom  be- 
fördert nur  den  Ton  als  Kolloid  nach  der  Anode, 
Glimmer  und  Schwefelkies  werden  also  ausge- 
schieden, wodurch  eine  weitgehende  Reinigung 
erzielt  und  ein  Material  von  besonders  gleich- 
mäßiger Qualität  und  rein  weißer  Brennfarbe  er- 
halten wird. 

Bezüglich  des  Arbeitsverfahrens  kann  man 
wohl  sagen,  daß  ein  sehr  großer  Teil  der  P'orm- 
gebung  keramischer  Waren  Automaten-  bzw. 
Maschinenarbeit  ist.  Von  neueren  Bestrebungen 
seien  hier  die  Versuche  zur  mechanischen  Her- 
stellung von  Tassen  und  Tellern  erwähnt,  welche 
die  Maschinenbauanstalt  von  Schröder  in  Schwep- 
nitz  i.  S.  unternommen  hat.  Von  älteren  Ein- 
richtungen haben  sich  vor  allem  das  Gießverfahren, 
die  maschinelle  Stanzerei,  die  Plattenpresserei  und 
die  Glasurmaschine  immer  mehr  und  mehr  ein- 
geführt. Das  Gießen ,  das  früher  nur  auf  eine 
beschränkte  Gattung  und  Form  von  Tonwaren 
angewandt  wurde,  ist  fast  durch  die  ganze  Industrie 
und  auf  eine  große  Zahl  von  verschiedensten 
Formen  ausgedehnt  worden;  erwähnt  sei  hier  nur 
das  Gießen  der  sehr  dünnen  Porzellane,  sowie  das 
sehr  großer  Stücke,  z.  B.  zweiteiliger  Wasch- 
becken   usw.       Das    Formen    der    sog.    trocknen 


N.  F.  XIII.  Nr.  5: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


829 


Masse  durch  Stanzen,  welches  ursprünglich  nur 
zur  Herstellung  der  allereinfachsten  Gegenstände 
angewandt  werden  konnte,  ist  heute  zu  einer 
großen  Vollkommenheit  gebracht  worden.  Die 
meisten  elektrotechnischen  Artikel,  wie  Schalter, 
Isolatoren  usw.  für  Schwachstrom,  in  ihrer  oft 
außerordentlich  verwickelten  Ausführung,  werden 
heute    in    einer    einzigen  Maschine   fertig  geformt. 

Auch  die  maschinelle  Plattenpresserei  ist 
außerordentlich  ausgebaut  worden  ;  die  Leistungen 
sind  wesentlich  erhöht,  und  die  Arten  der  Pressen 
so  ausgebildet,  daß  außer  den  gewöhnlichen  Fuß- 
boden- und  Wandplatten  die  verschiedensten 
Formen  hergestellt  werden  können,  wie  dünne, 
kleine  Plättchen,  Einlagen,  Gesims-  und  Sockel- 
leisten. An  Stelle  der  alten  Pressen ,  die  eine 
große  Anzahl  von  Arbeitskräften  erforderten,  sind 
neue  halb-  und  ganzautomatisch  wirkende  Ma- 
schinen gebaut  worden  (Laeis  &  Co ,  Trier),  bei 
denen  alle  Vorgänge  der  Pressung,  wie  Füllen 
der  Form,  Vorpressen  der  Platten  durch  Nieder- 
druck, Entlüften,  F"ertigpressen  durch  Hochdruck, 
Ausstoßen  aus  der  Form  und  Abschieben  der 
Platten  vollständig  selbständig  ohne  Zutun  der 
die  Presse  bedienenden  Arbeiter  geschieht.  Die 
Maschine  muß  nur  rechtzeitig  mit  genügendem 
Material  beschickt  werden,  außerdem  müssen  die 
fertig  gepreßten  Platten  abgenommen  werden, 
wozu  höchstens  4  jugendliche  Arbeitskräfte  (Mäd- 
chen) erforderlich  sind.  Die  Stundenleistung  einer 
solchen  Maschine  beträgt   1200  Stück. 

Bei  der  Glasierung  durch  Berieselung  von 
oben  hat  man  noch  keine  guten  Erfolge  erzielt, 
während  die  Glasurmaschine  vom  Jakobiwerk- 
Meißen  mehr  verwendet  wird.  Dadurch,  daß  die 
Platten  von  oben  gegen  eine  mit  Glasurbrei  ge-' 
tränkte  rotierende  Walze  gedrückt  werden,  erzielt 
man  offenbar  ein  weit  gleichmäßigeres  und  fehler- 
freieres Aufbringen  des  Glasurbreies. 

Auf  dem  Gebiete  der  Brennerei  findet  man 
im  allgemeinen  das  Bestreben,  die  Gasfeuerung 
in  den  Vordergrund  ?u  stellen.  Diese  Art  des 
Erhitzens  ist  jedoch  nicht  für  alle  Zweige  der 
keramischen  Industrie  von  gleichem  Nutzen,  wenn 
man  bedenkt,  daß  der  Einsatz  eines  großen  Stein- 
gutofens, dessen  Wert  ca.  8000  Mk.  beträgt,  mit 
einem  Braunkohlenaufwand  von  150 — 200  Mk. 
fertig  gebrannt  werden  kann,  während  bei  Ein- 
führung der  Gasfeuerung  öfter  Brandfehler  ent- 
stehen, und  dadurch  mehr  Ausschuß  erhalten 
wird. 

Günstiger  gestaltet  sich  die  Einführung  der 
Tunnelöfen,  die  von  Faugeron  zuerst  nur  für 
den  Brand  von  Steingut  vorgesehen,  von  Faist 
aber  auch  für  den  Porzellanbrand  eingerichtet 
worden  sind.  Die  keramische  Tunnelofenbau- 
gesellschaft Saarau  baut  sie  nun  auch  für  die 
Schamotte-  und  Mosaikplattenindustrie,  sowie  für 
die  Fabriken  von  elektrotechnischen  Gebrauchs- 
artikeln. In  der  Porzellanindustrie  sind  die  An- 
sprüche derart  gesteigert,  daß  man  mit  Erfolg 
Kobaltunterglasur  im  Tunnelofen  zu  brennen  ver- 


steht. 19  solcher  Öfen  befinden  sich  augenblick- 
lich in  den  verschiedenen  Zweigen  der  Industrie 
im  Gebrauch. 

Eine  neue,  wesentlich  andere  Gestalt  hat  der 
Tunnelofen  von  Dreßler- London.  Hierbei  werden 
die  Feuergase  durch  besonders  eingebaute  Heiz- 
rohre mittels  eines  Ventilators  durch  den  Ofen 
gesaugt.  Die  Bauart  des  Ofens,  besonders  die 
Lagerung  der  Heizrohre,  gewährleistet  eine  große 
Haltbarkeit.  Der  neue  Ofen  wird  jetzt  auch  in 
Deutschland  benutzt,  wo  er  sich  in  einer  Ofen- 
kachelfabrik gut  bewährt  hat. 

Die  Dekoration  der  Tonwaren  ist  natürlich 
dem  jeweiligen  Geschmack  und  der  Mode  unter- 
worfen. Die  Dekoration  mittels  Abziehbildern  ist 
schon  lange,  besonders  zur  Herstellung  billiger 
Waren,  im  Gebrauch,  wobei  jedoch  jetzt  die  alten 
einfachen  Bilder  durch  immer  färben-  und  form- 
reichere ersetzt  werden.  Außer  diesem  älteren 
Verfahren  ist  aber  auch  eine  wirkliche  Neuerung 
in  der  Verzierung  von  Steingut  oder  ähnlichen 
Massen  mittels  der  Unterglasurmalerei  in  höchst 
vollendeter  P'orm  gelungen.  Die  Firma  Wahliß  in 
Wien  bringt  mittels  dieser  Technik  verzierte  Ton- 
waren unter  dem  Namen  Serapisfayence  in  den 
Handel.  Diese  neuzeitlichen  keramischen  Luxus- 
gegenstände passen  so  gut  für  die  Räume  in  neu- 
zeitlichem Stil,  wie  z.  B.  die  alten  italienischen 
F"ayencen  in  die  Räume  der  Renaissancezeit.  Über 
die  chemische  Zusammensetzung  von  Scherben  und 
Glasur  ist  ebensowenig  bekannt  wie  über  die  Art 
der  verwandten  Farbkörper.  Die  Scherben  scheinen 
aus  ziemlich  dicht  gebrannter  Steingutmasse  von 
hoher  Schmelzbarkeit  zu  bestehen.  Bei  den  F"ar- 
ben  fällt  vor  allem  deren  Glanz  und  Reichhaltig- 
keit auf.  Alle  Schattierungen  bis  zum  dunkelsten 
Lila,  Grün  und  Braun,  besonders  aber  ein  wunder- 
volles Rot  und  ein  kernig  wirkendes  Schwarz 
zeichnen  die  neue  Fayence  in  hervorragender 
Weise  aus;  eine  auf  der  Glasur  angebrachte  zier- 
liche und  gefällige  Metallgold-  bzw.  Platinverzierung 
trägt  wesentlich  zur  Erhöhung  der  Farbenwirkungen 
bei.  Neu  geschaffene  Formen  endlich  bringen 
diesen  neuen  künstlerichen  Stil  noch  zu  besonderer 
Wirkung. 

Zum  Schluß  sei  noch  einer  hygienischen  kera- 
mischen Neuerung  gedacht.  Dr.  Eckstein  in 
Teplitz  halte  die  Idee,  zur  Verbesserung  der  Luft  der 
mit  Zentralheizung  erwärmten  Räume,  die  eisernen 
Radiatoren  der  Niederdruckdampfheizung  mit  ihren 
vielen  Mängeln  durch  keramische  Radiatoren  zu 
ersetzen,  auf  deren  glatter  Oberfläche  eine  Staubab- 
lagerung weniger  möglich  ist,  und  die  die  ange- 
nehme Wärmeabgabe  der  Kachelöfen  besitzen 
mußten.  Im  Anfang  hatte  er  jedoch  wenig  Er- 
folg mit  seiner  Idee,  die  er  sich  durch  ein  D.  R.  P. 
202  846  schützen  ließ.  Eine  der  größten  Schwierig- 
keiten, die  überwunden  werden  mußte,  war  außer 
der  Schaffung  eines  dichten,  den  Dampfdruck  aus- 
haltenden Materiales,  den  Ausdehnungskoeftizienten 
der  Masse  demjenigen  des  Eisenmaterials,  womit 
dieselbe  montiert  werden  mußte,  richtig  anzupassen. 


830 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  52 


wobei  auch  die  verschiedene  Geschwindigkeit  der 
Ausdehnung  der  beiden  Materiahen  berücksichtigt 
werden  mußte.  Nun  ist  es  der  Firma  V 11 1  e  r  o  y 
u.  Boch,  die  sich  das  alleinige  Ausführungs- 
recht des  Patentes  sicherte,  gelungen,  einen  in 
jeder  Beziehung  den  Anforderungen  entsprechenden 
keramischen  Radiator  herzustellen.  Die  Festig- 
keit des  Materials  beträgt  ca.  0,45  für  ein  qmm, 
sein  spezifisches  Gewicht  2,15.    Die  Wärmeabgabe 


ist  etwa  die  gleiche  der  eisernen  Heizkörper,  aber 
das  Erwärmen  und  Erkalten  erfolgt  ruhig  wie 
beim  Kachelofen  und  nicht  stoßweise,  wie  bei 
den  Eisenradiatoren.  Die  Staubablagerung  auf 
den  glatten  Flächen  ist  minimal  und  kann  leicht 
und  bequem  entfernt  werden,  während  dies  bei 
den  rauhen  eisernen  Radiatoren  nicht  der  P'all 
ist,  und  das  Verbrennen  des  Staubes  nicht  ver- 
mieden werden  kann.  Otto  Bürger. 


Bücherbesprechimgen. 


Goeldi,  E.  A.  Die  Tierwelt  der  Schweiz. 
I.  Band,  Wirbeltiere.  XVI,  654  Seiten  8"  mit 
2  Karten  und  5  farbigen  Tafeln.  Verlag  von 
A.  Francke,  Bern  1914.  —  Preis  brosch.  12,80, 
geb.  14,40  Mk. 
Das  vorliegende  Werk  ist  aus  Vorlesungen 
hervorgegangen,  die  der  Verf  nach  Rückkehr  von 
seinem  langjährigen  und  fruchtbaren  Aufenthalt 
im  tropischen  Brasilien  seit  1907  an  der  Berner 
Hochschule  über  die  Fauna  der  Schweiz  regel- 
mäßig gehalten  hat.  Im  Gegensatz  zu  sonstigen 
faunistischen  Darstellungen  hält  es  sich  fern  von 
trockener  Aufzählung  und  Beschreibung  der  ein- 
zelnen Arten,  stellt  dagegen  das  genetische  und 
geographische  Moment  zusammen  mit  dem  bio- 
logischen in  den  Vordergrund.  Dank  der  Arbeit 
zahlreicher,  weit  über  die  Schweiz  hinaus  bekannt 
gewordener  Forscher  erschien  der  Boden  für  die 
Absicht  des  Verf,  die  heutige  Tierwelt  der  Schweiz 
in  ihrem  Werden,  in  ihrem  Zusammenhang  mit 
Boden,  Klima  und  Pflanzenwelt,  in  der  Beein- 
flussung durch  Nachbargebiete  und  geologische 
Vorgänge  darzustellen,  wohl  vorbereitet,  so  daß 
der  Verwirklichung  des  Gedankens  mit  voller  Aus- 
sicht auf  Erfolg  von  dem  Verf  näher  getreten 
werden  konnte,  der  frühzeitig  den  Blick  für  die 
Natur  der  Heimat  geschärft  bekommen  und  dann 
durch  vieljährige  Studien  in  den  Tropen  an  einem 
anderes  beschaffenen  Material  den  für  seine  Ab- 
sicht notwendigen  „erweiterten  Horizont"  ge- 
wonnen hat.  In  etwa  siebenjähriger  Arbeit  ist 
aus  den  erwähnten  Vorlesungen  das  Buch  ent- 
standen, das,  wenngleich  in  erster  Linie  für  die 
Schweiz  und  die  Schweizer  bestimmt,  zweifellos 
auch  in  den  Nachbargebieten  und  über  diese  hinaus 
die  Beachtung  und  Wertschätzung  finden  wird,  die 
es  verdient. 

Es  zerfällt  in  zwei  verschieden  umfangreiche 
Hauptabschnitte.  Der  erste  behandelt  die  Tier- 
welt der  Schweiz  in  der  Vergangenheit,  hierbei 
auch  den  Menschen  berücksichtigend,  der  zweite 
die  heute  dort  vorkommenden  Wirbeltiere  in  ab- 
steigender Folge  der  Klassen  (66  Säuger-,  360  Vogel-, 
14  Reptilien-,  18  bzw.  19  Amphibien-  und  50  Fisch- 
arten). Sehr  instruktiv  und  durchaus  originell  sind 
die  den  einzelnen  Klassen  beigegebenen  farbigen 
Tafeln ,  da  sie  es  schon  einem  flüchtigen 
Blick  erlauben,  den  Bestand  an  Arten  jeder  Klasse 
in  der  Schweiz  der  Zahl  wie  auch  den  Ordnungen 


nach  mit  dem  des  Erdballes  zu  vergleichen,  gleich- 
zeitig auch  —  und  zwar  ebenfalls  statistisch  die  Ver- 
breitung der  schweizerischen  Arten  über  die  bio- 
geographischen Regionen  und  ihr  Vorkommen  in 
Nachbargebieten  zu  erkennen.  Die  hierfür  ange- 
wandte Darstellungsart  ist  so  einfach  und  so  über- 
zeugend, daß  sie  gewiß  allgemeinere  Anwendung 
finden  wird.  Von  den  beiden  Karten  bringt  die 
eine  die  wichtigsten  schweizerischen  Fundstellen  der 
Diluvial- und  Pfahlbau-Fauna  und  die  Ausdehnung  der 
Vergletscherung  zur  letzten  Eiszeit  nördlich  der 
Alpen,  die  andere  die  Zugstraßen  der  Vögel  in 
der  Schweiz  (nach  St  u  der)  und  die  Verbreitung 
der  Coregoniden  in  den  Schweizer  Seen.  Von 
Abbildungen  einzelner  Tierarten  wurde  abgesehen; 
der  Verf.  setzt  die  Kenntnis  zoologischer  Grund- 
begriffe sowie  der  augenfälligeren  Arten  voraus, 
charakterisiert  aber  die  seltneren  bzw.  kleineren 
und  versteckt  lebenden  soweit,  daß  sich  jeder 
leicht  zurechtfinden  wird.  Ein  faunistisches 
Besiimmungsbuch  soll  sein  Werk  nicht  sein. 

In  einem  Schlußkapitel  stellt  die  „eidgenössische 
Oberinspektion  für  Forstwesen,  Jagd  und  Fischerei" 
Jagd  und  Wildstand ,  Fischerei  und  Fischzucht 
im  Gebiet  übersichtlich  dar. 

M.  Braun,  Königsberg  Pr. 


Brehm's  Tierleben,    all  gemein  e  Kunde  des 
Tierreichs.  Vierte  vollständig  neu  bearbeitete 
Auflage.       Herausgegeben     von     Prof     Dr.    C. 
zur    Strassen.     Säugetiere.    II.  Bd.,    neu- 
bearbeitet von  LudwigHeck  und  M a x  H i  1  z - 
heimer.  XVIII,  654  Seiten,  gr.  8",  mit  84  Ab- 
bildungen  nach  Photographien    auf  20  Doppel- 
tafeln,  30  Textabbildungen,    15    farbigen  und  4 
schwarzen     Tafeln.       Leipzig,     Wien,     Biblio- 
graphisches Institut,   1914. 
Die  großen  \'orzüge,   welche  bei  Besprechung 
des  ersten  Bandes    der  Säugetiere  in  der  H eck- 
schen Neubearbeitung  hervorgehoben  und  gerühmt 
werden   konnten   (Nat.  Wochenschr.    191 2),    weist 
in     vollem    Maße     auch    der    vorliegende    zweite 
Band  auf    Gegenüber  sieben  Ordnungen  im  ersten 
Band  umfaßt    er   freilich    nur  zwei,    die  Nagetiere 
(bearbeitet   von  L.  Heck)    und    die  Robben  (be- 
arbeitet   von  M.  Hilzheimer);    aber   die  Nager 
sind,  wie  jedermann  wohl  weiß,  die  artenreichste 
Ordnung    aller    Säuger,    die    an    der    Zusammen- 
setzung der  Säugetierfauna  der  Erde  mit  erheblich 


N.  F.  Xra.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


83 1 


mehr  als  einem  Drittel  der  Arten  teilnehmen, 
denen  gegenüber  die  Artenzahl  der  Robben  ganz 
zurücktritt.  Dies  drückt  sich  natürlich  auch  in 
der  Seitenzahl  au.s,  die  den  beiden  Ordnungen  in 
dem  vorliegenden  Bande  zufallen  (576  bei  Nagern, 
65   bei  Robben). 

Bei  der  großen  Mannigfaltigkeit,  in  der  die 
Nagetiere  heute  entwickelt  sind  und  uns  ent- 
gegentreten, bei  dem  vielfachen  Schwanken  der 
äußeren  Merkmale  und  dem  Mangel  hervor- 
stechender Unterschiede  im  inneren  Bau  ist  es 
nicht  leicht,  ein  System  zu  geben;  doch  hat  Heck 
die  Schwierigkeiten  mit  großem  Geschick  über- 
wunden und  eine  Anordnung  getroffen,  die  dem 
Nicht-Fachmann,  an  den  sich  Br  ehm' s  Tierleben 
in  erster  Linie  wendet,  das  Zurechtfinden  wesentlich 
erleichtern  wird. 

Selbstverständlich  ist,  daß  in  dieser  arten- 
reichsten aller  Säugetierordnungen  für  die  Dar- 
stellung eine  Auswahl  getroffen  werden  und  Arten, 
auch  Gattungen  unberücksichtigt  bleiben  mußten, 
denen  ein  aligemeines  Interesse  nicht  zukommt. 
Aber  selbst  in  dieser  notwendigen  und  durchaus 
zu  billigenden  Beschränkung  ist  das  Dargebotene 
doch  so  reichhaltig  und  so  trefflich  durchgearbeitet, 
daß  ihm  etwas  auch  nur  annähernd  Gleiches  weder 
in  der  deutschen  noch  in  der  fremdländischen 
Literatur  nicht  an  die  Seite  gesetzt  werden  kann. 
Handelt  es  sich  doch  um  rund  400  Formen,  die 
hier  geschildert  und  großenteils  auch  bildlich  dar- 
gestellt sind,  während  in  der  vorausgehenden  Auf- 
lage trotz  der  232  Seiten,  die  auf  die  Nager  fallen, 
nur  90  Arten  behandelt  sind. 

Das  illustrative  „Beiwerk",  wie  man  zu  sagen 
pffegt,  das  aber  sehr  wesentlich  und  unentbehrlich 
ist,  hat  ebenfalls  eine  bedeutende  Vermehrung  er- 
fahren, weniger  in  den  Textabbildungen  und  den 
schönen  farbigen  Tafeln,  als  durch  die  Photo- 
graphien vom  lebenden  Tier,  die  vorzüglich  ge- 
lungen und  wiedergegeben  sind.  Von  den  im 
ganzen  20  Doppeltafeln  mit  94  Photographien  ent- 
fallen 18  mit  88  Bildern  auf  die  Nager;  viele  von 
ihnen  werden  hier  zum  erstenmale  einem  weiteren 
Leserkreise  vorgeführt. 

Somit  ist  die  dankenswerte  Absicht  Heck 's, 
den  in  den  früheren  Auflagen  stiefmütterlich  be- 
handelten niederen  Säugetierordnungen  mehr  zu 
ihren  Recht  zu  verhelfen,  auch  in  diesem  Bande, 
der  selbst  dem  Zoologen  vom  Fach  wertvolle 
Dienste  leisten  wird,  glänzend  durchgeführt. 

Der  Bearbeitung  der  Robben  durch  Hilz- 
heimer  ist  ebenfalls  volles  Lob  zu  spenden. 
Der  Verf.  hat  sich  so  sehr  in  den  Geist  des  neuen 
Buches  hineingefunden,  daß  man  kaum  die  andere 
Feder  merkt,  die  diesen  Abschnitt  geschrieben  hat. 
M.  Braun,  Königsberg  Pr. 


Die  Orchideen,  ihre  Beschreibung,  Kultur  und 
Züchtung.  Handbuch  für  Orchideenliebhaber, 
Kultivateure  und  Botaniker,  herausgegeben  von 
Dr.  Rudolf.Schlechter,  Assistent  am  Kgl. 
Botanischen  Museum  in  Dahlem  bei  Berlin  unter 


Mitwirkung    von    Ükononiierat    O.  B  e  y  r  o  d  t  - 
Marienfelde,    Oberhofgärtner    H.  J  an  ke  -  Berlin, 
Professor  Dr.  G.  Lindau-  Berlin  und  Obergärtner 
A.  Malmquist-  Herrenhausen  in  Hannover.  Mit 
12    in  Vierfarbendruck    nach   farbigen  Naturauf- 
nahmen hergestellten  Tafeln  und  über  200  Text- 
abbildungen.   Berlin  1914,  Paul  Parey.    Voll- 
ständig in   10  Lieferungen  ä  2,50  M. 
Die    Orchideen,     wenigstens     die     tropischen, 
machen  eine  eigenartige,  für  den  Botaniker  weniger 
als  für  den  Händler  und  Gärtner  erfreuliche  Wan- 
derung   durch.     Aus    den   Urwäldern    der  Tropen 
siedeln    sie    allmählich    in    die  Glashäuser  der  ge- 
mäßigten Zone  über.    Diese  merkwürdige  pflanzen- 
geographische Erscheinung    geht    seit    langer  Zeit 
in    einem    ganz    bedeutendem    Ausmaß    vor   sich, 
so    daß  der  Pflanzenfreund,    wenn  er  von  den  oft 
riesigen    Transporten    von    Orchideen    hört,    wohl 
von    einiger  Unruhe  ergriffen  wird  und  den  Zeit- 
punkt für  gekommen   hält,  wo  man  auch  hier  von 
Staatswegen  in  naturschützendem  Smne  einschreiten 
sollte.     Wie  weit    dies    schon  jetzt  notwendig  ist, 
wollen  wir    hier   nicht    erörtern.     Freuen  wir  uns 
einstweilen    der   wunderbaren    Pracht   der  Farben 
und  der  eigenartigen  Formen,  die  dank  jener  Er- 
scheinung die  öffentlichen   und  privaten  Gewächs- 
häuser, die  Blumenhandlungen  jedem  in  Muße  zu 
genießen  erlauben. 

Eine  zusainmenfassende  Bearbeitung  der  Fa- 
milie der  Orchideen,  die  die  Beschreibung  der 
Formen,  ihre  Kultur  und  ihre  Züchtung  umgreift,  war 
zweifellos  sowohl  ein  Bedürfnis  der  Praktiker  auf 
diesem  wichtigen  Handelsgebiete  als  auch  der 
zahlreichen  Liebhaber  und  nicht  zum  wenigsten 
der  Botaniker.  Als  Herausgeber  eines  solchen 
Werkes  konnte  kein  geeigneterer  als  Dr.  Schlechter 
gefunden  werden,  der  mit  praktischen  Erfahrungen 
eine  ausgedehnte,  auf  weiten  erfolgreichen  Reisen 
erworbene  Kenntnis  der  Orchideenfamilie  verbindet. 
Dem  ganzen  auf  10  Lieferungen  a  6  Bogen  be- 
rechneten Werke  liegt  folgender  Plan  zugrunde. 
Im  ersten  Kapitel  wird  die  allgemeine  Morpho- 
logie der  Orchideen,  im  zweiten  ihre  geographische 
Verbreitung,  im  dritten  die  Systematik  und  im 
vierten  das  Klima  der  hauptsächlichsten  Heimat- 
länder der  Orchideen  behandelt.  Während  diese 
Kapitel  vom  Herausgeber,  Dr.  Schlechter  selbst, 
verfaßt  sind,  hat  er  für  die  folgenden  namhafte 
andere  Spezialisten  herangezogen.  Im  fünften 
Kapitel  schildert  A.  Malmquist  die  Kultur  der 
Orchideen,  im  sechsten  O.  Beyrodt  die  Orchi- 
deen als  Schnittblumen,  im  siebenten  H.  Janke 
die  Befruchtung  und  die  Anzucht  aus  Samen  und 
derselbe,  im  achten  die  empfehlenswertesten  Hy- 
briden. Im  neunten  bespricht  dann  G.  Lindau 
die  tierischen  und  pflanzlichen  Schädlinge  und 
ihre  Bekämpfung  und  den  Schluß  macht  ein 
wiederum  von  O.  Beyrodt  geschriebenes  Kapitel 
über  die  für  die  Orchideenzucht  besonders  ge- 
eigneten Kulturräume,  Häuser,  Kästen. 

Bisher    liegen   die  ersten  vier  Lieferungen  vor, 
die  einen  Eindruck  von  dem  Unternehmen  zu  ge- 


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Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XIII.  Nr.  52 


winnen  gestatten.  Dieser  Eindruck  ist  günstig, 
so  daß  wir  dieses  Werk  den  Kreisen,  welche  für 
die  Orchideen  Interesse  haben,  empfehlen  können. 

Miehe. 


Wetter-Moiiatsül)ersielit. 

Innerhalb  des  vergangenen  November  wechselte  das 
Wetter  in  Deutschland  mehrmals  seinen  Charakter.  Anfangs 
war  es  allgemein  trübe  oder  nebelig  und  dabei  im  größten 
Teile  des  Landes  ziemlich  mild.  Besonders  im  Rheingebiet 
und  in  Mitteldeutschland   wurden  noch   verschiedentlich  15"  C. 


S?linTcrcIeiiijjerafiiren  eitiicjer  (9rfe  im  ]Roi»emBcrl31^. 


1. November.         6. 


ülAmrV^tlWr'l,«,,,^ 


überschritten,  am  i.  stieg  das  Thermometer  in  Dresden  bis 
auf  17,  am  2.  in  Aachen  bis  18"  C.  Nur  im  östlichen  Ostsee- 
gebiete herrschte  in  den  ersten  Nächten  sowie  am  6.  und  7. 
vielfach  Frost,  wobei  es  Königsberg  i.  Pr.  und  Memel  auf 
5   bis  6"  C.  Kälte  brachten. 

Nachdem  um  den  lo.  November  die  mittleren  Tempera- 
turen an  vielen  Orten  lo"  C.  erreicht  oder  sogar  ein  wenig 
überschritten  hatten,  trat  überall  eine  merkliche  Abkühlung 
ein,  die  sich  bis  etwa  zum  22.  langsam  fortsetzte.  Die  Nacht- 
fröste wurden  in  dieser  Zeit  immer  zahlreicher  und  zuletzt 
blieb  das  Thermometer  an  verschiedenen  Stellen  des  Binnen- 
landes sogar  in  den  Mittagsstunden  unter  dem  Gefrierpunkt. 
Am  kältesten  war  es  in  Thüringen  und  Schlesien,  woselbst 
bei  groi3enteils  klarem  Himmel  und  ziemlich  scharfen  östlichen 
Winden  das  Thermometer  am  22.  in  Ilmenau,  Greiz  und 
Pless  auf  — 12,  in  Friedland  und  Habelschwerdt  auf — 16, 
in  Schreiberhau  sogar  auf  —  17  "  C.  herabging.  Erst  gegen 
Ende  des  Monats  stellten  sich  in  Nordwestdeulschland  wieder 
mildere  Südwestwinde  ein  und  führten  neue  Erwärmung  herbei, 
die  sich  allmählich   weiter  nach   Osten  fortpflanzte. 

Die  mittleren  Monatstemperaturen  stimmten  in  Nordost- 
deutschland mit  ihren  normalen  Werten  fast  genau  überein, 
■während  sie  im  Nordwesten  und  Süden  meist  um  einige 
Zehntelgrade  zu  hoch  waren.  Die  Dauer  der  Sonnenstrahlung 
war  aber  im  allgemeinen  zu  gering;  beispielsweise  hatte  Berlin 
im  letzten  November  nur  35  Stunden  mit  Sonnenschein  zu 
verzeichnen,  während  hier  in  den  früheren  Novembermonaten 
durchschnittlich    52  Sonnenscheinstunden    vorgekommen    sind. 


Obwohl  in  den  ersten  Tagen  des  Monats  der  Himmel 
fast  ununterbrochen  mit  Nebelgewölk  bedeckt  war,  blieben 
meßbare  Niedcrscliläge  doch  in  den  meisten  Landesteilen  bis 
zum  7.  völlig  aus.  Bei  heftigen  südwestlichen  Winden,  die 
zwischen  dem  10.  und  11.  besonders  an  der  Küste  großen- 
teils zu  Stürmen  anwuchsen,  gingen  aber  dann  lange  an- 
haltende, zum  Teil  sehr  ergiebige  Regengüsse  hernieder,  die 
stellenweise  von  Gewittern  und  Hagel-  oder  Graupel- 
schauern begleitet   waren;    vom   II.  zum   12.    lielen  z.  B.  in 


Mittlerer  Wert  für 

Dculsclil.inci. 
^onatssuinnieimNü 

läftli  12. 11. 10. 0' 


11  18.bislO.No»emb3r. 


Hamburg  31,  in  Cuxhaven  28,  in  Neumunster  und  Memel 
je  23,  vom  13.  zum  14.  in  Keitum  auf  Sylt  33  mm  Regen. 
Seit  dem  16.  kamen  in  verschiedenen  Gegenden  Schnee- 
fälle vor,  die  namentlich  nordöstlich  der  Oder  den  Boden 
vorübergehend  mit  einer  leichten  Schneedecke  überzogen. 
Gleichzeitig  nahmen  jedoch  die  Niederschläge  in  Nordwest- 
deutschland, bald  darauf  auch  im  Osten  und  Süden  wieder  ab. 
Zwar  fanden  später  ziemlich  häutige  neue  Regenfälle  statt, 
indessen  klärte  sich  dazwischen  der  Himmel  auch  nicht  selten 
auf  und  die  Regenmengen  waren  dann  bis  zum  Ende  des 
Monats  im  allgemeinen  gering.  Auch  in  der  Monatssumme, 
die  sich  für  den  Durchschnitt  aller  berichtenden  Stationen  auf 
46,5  mm  belief,  blieben  sie  hinler  ihrem  mittleren  Wert  aus 
den  früheren  Novembermonaten  um  3,7  mm  zurück. 

Die  allgemeine  Anordnung  des  Luftdruckes  in  Europa 
war  im  diesjährigen  November  verhältnismäßig  einfach  ge- 
staltet. Bis  zum  7.  wurde  der  Nordosten  von  einem  hohen 
barometrischen  Maximum  eingenommen,  während  vom  Ozean 
mäßig  tiefe  Depressionen  nach  den  britischen  Inseln  und 
zum  Teil  nach  Frankreich  gelangten.  Durch  ein  auf  dem 
Nordmeer  erschienenes  tieferes  Minimum  wurde  sodann  das 
Hochdruckgebiet  nach  Südosten  zurückgedrängt,  gleichzeitig 
trat  ein  neues  Maximum  in  Südwesteuropa  auf,  während  andere 
tiefe  Minima  dem  ersten  auf  dem  Nordmeer  und  von  da  nach 
Skandinavien  und   Nordrußland  nachfolgten. 

Bald  nach  Mitte  des  Monats  rückte  das  südwestliche 
Hochdruckgebiet  nordostwärts  nach  der  skandinavischen  Halb- 
insel vor,  von  wo  es  ganz  allmählich  durch  weitere,  zunächst 
nur  flache  und  erst  gegen  Ende  des  Monats  wiederum  recht 
tiefe  atlantische  Depressionen  ins  Innere  Rußlands  verschoben 
wurde.  Diese  verschiedenen  Änderungen  in  der  allgemeinen 
Druckverteilung  hatten  einen  mehrmaligen  Wechsel  zwischen 
kalten  nordöstlichen  und  milden  südwestlichen  Winden  zur 
Folge,  der  sich  bei  allen  Witterungsverhältnissen  Deutschlands 
wie   von  ganz  Mitteleuropa   geltend  machte.  Dr.  E.  Leß. 


Inhalt;  Hennig:  Die  Grenzen  des  Individuums  und  das  Problem  des  .-Xbsterbens.  Fehlinger:  Über  Variation.  —  Einzel- 
berichte; Nopcsa;  Lebensbedingungen  der  Dinosaurier.  Baunacke:  Die  Statocy-ten.  Planck:  Dynamische  und 
statistische  Gesetzmäßigkeit.  —  Kleinere  Mitteilungen :  Bürger:  Technische  Neuerungen  der  feinkeramischen  Industrie. 
—  Bücherbesprechurgen:  Goeldi:  Die  Tierwelt  der  Schweiz.  Brehm's  Tierleben,  allgemeine  Kunde  des  Tierreichs. 
Schlechter:   Die   Orchideen.   —   Wetter-Monatsübersicht. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  den  Schriftleiter  Professor  Dr.  H.  Miehe  in  Leipzig,  Marienstraße    na,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.   Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


MBL/WHOI  UBRARY 


UH    löNE