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STAV FISCHER
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vanaA.BOUMANJr''
Naturwissenschaftliche
Wochenschrift
BEGRÜNDET VON H. POTONIE
HERAUSGEGEBEN
VON
Prof Dr H. MIEHE
IN LEIPZIG
NEUE FOLGE. 13. BAND
(DER GANZEN REIHE 19. BAND)
JANUAR — DEZEMBER 1914
MIT 118 ABBILDUNGEN IM TEXT
JENA
VERLAG VON GUSTAV FISCHER
1914
Alle Rechte vorbehalten.
Register.
I. Größere Originalartikel
und Sammelreferate.
Andree, K., Die pelrographische Me-
thode der Paläographie. 145.
B a b a k , E., Zur Frage der Atemregulation
in der Tierreihe. 374.
Bach mann, H. , Das Nannoplankton.
389-
Bagl ioni , S., Der lCinllul3 äußerer Schall-
empfindungen auf die Tonhöhe der
menschlichen Sprache. 481.
Baich in , O., Die Temperaturverhältnisse
der Polargebiete. 737-
Baur, E, , Die Quelle der Muskelkraft.
273-
Bilguer, v., Die afrikanische Wasser-
frage. 673.
Brandt, A. v. , Über Geschlechtswand-
lungen. I.
Bräuer, E. , Resonanzstrahlung. Ein
Sammclreferat. 246.
Bräu er, Stoßionisation (Sammelrefcrat).
599-
Braß, A. , Lage und Beziehung der ita-
lienischen Vulkangebiete zu gleichzeiti-
gen Meeren oder Binnengewässern. 610.
Breuer, C, Chromalpapiere. 261.
Brockmeier, H., Kniische Betrachtun-
gen über den Löß. 534.
Bugge, G., Künstliche Seide aus Zellu-
lose. 1S3.
Bugge, G., Die Chemie des Chlorophylls.
27b.
Bürger, O., Das Wesen der Enzym-
wirkung. 211.
Bürger, O., Ammoniaksynthesen. 518.
Buttel-Re e pen , H. v. , Das Problem
der Elberfelder Pferde und die Tele-
pathie. 193.
Czepa, A., Schutzfärbung und Mimikry.
49, 65, 81.
Eckardt, W. R., Einbürgerungsversuche
als Möglichkeiten zur Erforschung des
Vogelzuges. 148.
Eckardt, Wilh. R., Neues zur Psycho-
logie und Ethologie der Männchenpaare
der Anatiden, besonders von Schwänen
und Gänsen. 662.
Fehlinger, H., Über Variation. 819.
Frank, M. , Die Bedeutung der Astro-
photographie. 677.
Franke, C., Die Bedeutung der diluvi-
alen Menschenskelette für die Sprach-
wissenschaft. 776.
Frey, A., Die Ursachen der Eiszeiten.
209.
Gothan, W., Das geologische Alter der
Angiospermen. 497.
Guenther,R., Physiognomik der Tropen-
landschaft. 561.
Guenther, K. , Verschiebungen in der
Tierwelt durch den Menschen. 705.
Greinach er, H. , Neue Vakuumröhren
für Demonstrationszwecke u. technische
Verwendung. 326.
Halb faß, W., Vom Wasserhaushalt der
Erde. 593.
Hansen, A., Goethe's naturwissenschaft-
liche Sammlungen im Neubau des Goethe-
hauses zu Weimar. 578 (vgl. auch die
Druckfehlerberichtigung. 67^).
Heide, F., Neuere Meteoritenfunde in
Europa (Sammelreferat). 310.
Hansel, S., Begriff und Wesen der Meta-
morphose der Insekten. 241.
H e i n e k e , Über die biologische Wirkung
der Radiumstrahlen, insbesondere über
die Strahlenbehandlung von bösartigen
Geschwülsten. 305.
Hennig, Edw., Die deutschen Ausgra-
bungen von Dinosauriern im letzten
Jahrfünft. 417.
Hennig, Edw., Die Grenzen des Indi-
viduums und das Problem des Abster-
bens. 817.
Heß, W. R., Direkt wirkende Stereoskop-
bilder. 646.
Hohenstein, V., Neues aus der Geo-
logie (Sammelreferat). 6.
Hornig, G. , Die Groflfaltung der Erd-
rinde (Sammelreferat). 657.
Hundt, R. , Das älteste Leben Ost-
thüringens. 129.
Kafka, G., Neuere Untersuchungen über
den Farbensinn der F'ische. 465.
Kanngießer, Fr., Die Flora des Homer.
167. •
Kathariner, L. , Das Fußskelett des
Tapirs. 422.
Kathariner, ly. , Die Ursache der
Pellagrakrankheit. 707.
Keyl, Fr., Methoden zur Untersuchung
des ,, Sehens" der Tiere. 369.
Knauer, Fr., Neue Ergebnisse des Ring-
versuches. 225.
Koch, A., Die modernen wissenschaft-
lichen Forschungen über die Entstehung
und willkürliche Bestimmung des Ge-
schlechts. 177.
Kfizeneky, J. , Das Hungern als för-
dernder Faktor der organischen Ent-
wicklung. 549.
Krumbhaar, Physikalisches von unse-
ren Feuerwaffen. 801.
Küchler, C. , Die Spalteneruption der
Hekla im Jahre 1913. 315.
Lehmann, Über Keimverzug. 385.
Lenk, F.., Tierische Farbstoffe. 545.
Mayer, Ad., Über die Bewohnbarkeit
der Sterne. 257.
Mayer, Ad., Die Entstehung der Erstar-
rungsgesteine. 499.
Mayer, J. R., Eine Tour durch den Ur-
wald von Sumatra. 113.
Mecklenburg, W. , Die neuere Ent-
wicklung der Lehre von der chemischen
Affinität. 401.
Meli, R., Die Chinesen und der Schmetter-
ling- 25, 33.
Meli, R., Die Ente, ihre Nutzung und
Wertung in China. 641.
Mengel, H., Über den Chemismus der
alkoholischen Gärung. 506.
Mötefindt, H. , Zerealienfunde vorge-
schiclitlicher Zeit aus den thüringisch-
sächsischen Ländern. 294.
Mötefindt, H. , Diluviale menschliche
Skelettreste aus den thüringisch-sächsi-
schen Ländern. 787.
Nachtsheim, H. , Die Bedeutung der
Konjugation bei den Infusorien. 229.
Nachtsheim, H. , Sind die Mitochon-
drien Vererbungsträger? 580.
Nachts heim, H., Das Verhalten der
Bienenkönigin und anderer Hymeno-
pterenweibchen bei der Eiablage. 452.
Neger, F. W. , Neuere Ergebnisse und
Streitfragen der Rauchschadenforschung
(Sammelreferat). 529.
Ra u t e r , G., Zur Kombinationslehre. 164.
Richters, F., Steinwerkzeuge aus dem
nordischen Gletschermergcl. 486.
Robitsch, M. , F'.inige bemerkenswerte
Registrierungen und Beobachtungen vom
deutschen Spitzbergen - Observatorium
1912 — 13. 513.
Schmidtsdorf, F., Die Methode ,,of
trial and error" (des Versuchs und
Irrtums) und ihre psychologische Be-
deutung. 289.
Schoy, C, Grundzüge einer vergleichen-
den Geo- und Aphrodiiographie (Erd-
und Abendsternkunde). 450,
Schröder, Chr., Eine Kritik der Leistun-
gen der ,, Elberfelder denkenden Pferde".
321, 337-
Schröder, Chr., Auf den Höhen des
Kilimandscharo. 753.
Schutt, K., Reflexion und spektrale
Zerlegung der Röntgenstrahlen (Sammel-
referat). 437.
Schutt, K., Lummer: Verflüssigung der
Kohle und Herstellung der Sonnen-
temperatur. 812.
Schwangart, F., Die Reformbewegung
in der angewandten Entomologie. 133.
Stellwaag, F., Neuere Untersuchungen
über den Farbensinn der Insekten. 161.
Stellwaag, F., Welche Bedeutung haben
die Deckflugel der Käfer. 97 (vgl. dazu
die Berichtigung. 608).
Storch, O. , Die modernen Herings-
forschungen. 625.
Stromer, E., Funde fossiler Wirbeltiere
in den deutschen Schutzgebieten in
Afrika. 760.
Trojan, E., Das Leuchten und der Far-
bensinn der F'ische. 785.
38S:{9
Register.
Valentiner, S. , Probleme der Gas-
theorie. 721.
Valentiner, S., Das Prinzip der Rela-
tivität. 769.
Vogler, P., Vererbung bei vegetativer
Vermehrung. 433.
Völker, H, Zur Stammesgeschichte des
ScbilJkrötenpanzers. 196.
Wagner, W., Die Erdöl- und Asphalt-
lagerstättea im Unterelsaß. 694.
Wenzel, A., Kristallstruktur u. Röntgen-
strahlen (Saramelreferat). 70.
W e r t h , E., Die Mammuthflora von Borna.
689.
Wulff, B., Heilkraft der Natur und Heil-
kunst. 17.
Wolf, K., Duften und Riechen. 583.
Wurm, A., Die ältesten Dokumente palä-
ontologischer Überlieferung. 353.
II. Einzelberichte.
A. Zoologie, Anatomie.
Alluaud u. Jeannel: Raupen einer
biologisch merkwürdigen Lycaenidenart.
617.
Alverdes, Fr., Perlen und Perlbildung.
299.
Amantea, Anzahl der Spermatozoen
beim Coitus der Hunde. 361.
Baker, E. St., Farbe und Zeichnung
der Kuckuckseier. 299.
Baltzer, F., Geschlechtsbestimmung bei
Bonelüa. 555.
Bieder mann-Imhoof, R., Spätbrutcn
der Ringeltaube. 3 17.
B 1 u n c k , Geschlechtsleben von Dytiscus
marginalis L. 59.
Boveri, Th. u. Herbst, C, Die Be-
deutung der Mengenverhältnisse mütter-
licher und väterlicher Substanzen für
die Vererbung. 5S5.
Bretscher, K. , Vogelzug über die
schweizerischen Alpenpässe. 2S2.
Bryandt, H. Ch., Nutzen und Schaden
der westlichen Wiesenlerche. 444.
Caesar, C. J., Stirnaugen der Ameisen.
557-
Combault, A., .Atmung und Kreislauf
des Regenwurms. 632.
D rink wat er , H., Kurzfingrigkeit. 344.
Eckmann, S., Problem des Vogelzuges.
37S.
Ekman, Marine Relikte der nordeuro-
päischen Binnengewässer. 92.
Eycleshymer, C, Amphibienlarven
ohne Kopf. 489.
Forbes, A., Der horizontale Gleitflug
der Möven. 317.
Geyer, Sekundäre Geschlechtscharaktere.
n8.
Geyer zu Seh wepp enburg, IL, In-
halt von Schreiadler-Gewöllen. 266.
Grimm, K., Vorkommen des Rinder-
bandwurms beim Säugling. 708.
Grub er, G. B. , Toxinwirkungen, durch
Trichinen bedingt. 456.
Hertwig, G., Einwirkung von Radium
auf die Kortpflanzungszellen von Wirbel-
tieren. 119.
Hesse, E., Form des Einflugloches des
Schwarzspechts. 267.
J oll OS, V., ..Dauermodifikationen" bei
Mikroorganismen. 360.
Keyl, Ein fremder Ansiedler der Warm-
häuser. 521.
Kowarzik, R., Der Schafochse. 119.
Krizenecky, Die beschleunigende
Wirkung des Hungerns auf die Meta-
morphose. 220.
Loeb, J., Umkehrbarkeit in der Ent-
wicklung des Seeigeleies. 171.
Lowe, R. P., Biologie der Hokkohühner.
317-
Marc band, F., Epigastrius parasiticus.
603.
Merkwürdige Bewohner der Sporangien
von Pilobolus. 746.
Metalnikov, Nahrungswahl bei Infu-
sorien. 523.
Picado, C., Bromelieufauna von Costa
Rica. 569.
Regen, J., Sitz des Gehörsinns bei
niederen Insekten. 221.
Regen, Die Anlockung des Weibchens
von Gryllus campestris L. durch tele-
phonisch übertragene Stridulationslaute
des Männchens. 221.
Rudolph, O., Verhältnis der Schädel-
kapazität zum Gehirn. 394.
Rüdiger, W. , Schellente in künstlicher
Nisthöhle. 299.
Seh arf enberg, U. v. , Experimentelle
Beeinflussung der Dauereibildung und
des Geschlechts bei Cladoceren. 395.
Schlegel, R. , Leistungsfähigkeit des
Haussperlings im Eierlegen. 282.
Schmidt, Katalepsie der Phasmiden. 59.
S h u 1 1 1 Lebensfähigkeit der Dauereier von
Hydatina senta und die Vererbung dieser
Eigenschaft. 281.
St ei nach, Feminierung von Männchen
und Maskulierung von Weibchen. 188.
Stingelin, Neue tropische Plankton-
organismen. 396.
Surbeck, G., Zahl der Eier einiger
Süßwasserfische. 7S1.
Surbeck, G., Geschlechtsverteilung bei
den Fischen. 791.
Tandler, J. u. Groß, S., Biologische
Grundlagen der sekundären Geschlechts-
charaktere. 631.
Thilo, Das Schnellen der Springkäfer.
280.
Thienemann, A., Sauerstoft'gehalt und
Fauna des Tiefenwa'sers unserer Seen,
loi.
Traunsteiner, M., Dinoflagellatcn als
Ursache des roten Schnees. 618.
Uttendörfer, O., Verhältnis der Raub-
vögel zur übrigen Vogelwelt. 252.
Wohlgemuth, R., Fortpflanzung der
Süßwasserostrakoden. 424.
Woltereck, R., Schwebefortsätze pela-
gischer Cladoceren. 154.
Woodruff, L L., Kopulation von Pro-
tozoen. 317.
Woodruff, Konjugierende und nicht-
konjugierende Rassen von Paramaecium.
503-
Zander, Geruchsvermögen der Bienen.
102.
B. Physiologie,
Vererbungslehre.
Adler, L., Entfernung der Thymus und
Epiphyse bei der Froschlarve. 709.
van Alstyne und Beebe, EinfluiS der
Ernährung auf das Wachstum der Ge-
schwülste. 650. I
Aurcnche, H. und Loncheux, M. G.,
Abweichungen des Stoffwechsels von
der Norm bei übermäßiger Muskelarbeit.
378.
Baunacke, Die Statocysten. 822.
Bayeux und Chevallier, Zunahme
der Zahl der Blutkörperchen mit der
Höhe. 6t8.
Chauffard, Larosche u. Grigaud,
Cholesteringehalt der Nebennieren-
kapseln. 490.
Decker, Kißkalt, Tierisches oder
pflanzliches Eiweiß? 710.
Droge, K., Einfluß der Milzexstirpation
auf die chemische Konstitution des
Tierkörpers. 750.
Edinger, L. und Fischer, B., Mensch
ohne Grol3hirn. 187.
Funk, C, Ein unentbehrlicher Bestand-
teil unserer Nahrung. 264.
V. Gulat- Wellen bürg, Ein außer-
ordentlicher Fall von menschlichem
Wiederkauen. 253.
Haempel, O. und Kolmer, B., Ab-
hängigkeit der Hautfarbe von der
Färbung der Umgebung besonders des
Untergrundes bei Fischen. 793.
Heß, C, Lichtsinn mariner Würmer und
Krebse. 266.
Heß, C, F'arbensinn ist bei Mensch und
Tier verschieden. 299.
Heß, C, Gesichtssinn der Fische. 300,
Heß, C, Farbensinn fehlt den Krebsen.
301.
Hinderer, Th., Die Verschiebung der
Vererbungsrichtung unter dem Einfluß
der Kohlensäure. 219.
Küster, Cohendy, Wollmann,
Baktcrienfreie Tiere. 633.
Lecaillon, Rudimentäre natürliche
Parthenogenese. 603.
Lloyd, D.J. und Loeb, J., Künstliche
Parthenogenese. 233.
Mayer, A. und Schaefer, G., Lipoide.
709.
Mauriac, P. und Strymbau, M.,
Cholesteringehalt des Blutes. 456.
Miramond de Laroquette, Das
Verhältnis der nötigen Nahrungsmenge
zur Außentemperatur. 411.
Modena, G., Totales Fehlen des Ge-
hirns und Rückenmarks. 188.
M u r i s i e r , .Abhängigkeit der Hautfärbung
von äußeren Faktoren bei Am]>hibien.5o6.
Newman, Vererbung bei Kreuzung von
Knochenfischen. 523.
Nußbaum und Oxner, Merkwürdige
Doppelbildungen bei Nemertinen. 425.
Osowski, Hirss-Elia, Die Beweg-
lichkeit von Körperzellen. 3 16.
Pezard, A. , Sekundäre Geschlechts-
merkmale. 412.
Phisalix, M., Verhalten der Kaltblüter
gegen das Tolhvulgift. 650.
Pogonoska, Einfluß chemischer Fak-
toren auf die Farbveränderung des
Feuersalamanders. 507.
Przibram, H., Grüne tierische Farb-
stoffe. 253.
Sabatani, Kolloidaler Kohlenstoff als
Gegenmittel bei Vergiftungen. 651.
Secerov, S. , Die Wirkung der ultra-
violetten Strahlen auf die Haarfarbe
des Kaninchens und Meerschweinchens.
616.
Terroine, E. F., Gehalt des Körpers
an Fettsäuren und Cholesterin. 749.
Register.
m
Volz, Baumeister, Harms, Das
Auge von Periophthalmus, Boleophthal-
mus und Anablcps. 362.
C. Botanik, Bakteriologie,
Bodenkunde.
Hassali k, Zersetzung der Oxalsäure. 39.
Boysen-Jensen, P. , Reizleitung im
pliotolropen Keimling. 249.
Buder, J. , Ein merkwürdiger Mikro-
organismus. 413.
D ' Angrem ond , A., Parthenokarpie der
Eßbananen. 493.
Darwin, Fr., Einfluß der Luftfeuchtig-
keit und des Lichtes auf die Transpi-
ration der Pflanzen. 714.
Uuggar und Cooley, Einfluß der
Bordeauxbrühe auf die Transpiration.
715-
Ehrenberg, P. , Gasvergiftung bei
Slraßenbäumen. 359.
Ernst, Parthenogenesis von Balanophora.
74-
Frimmcl, Fr. v., Antike Samen aus dem
Orient. 6S0.
Guillermond und C o m b e s , Vom
Anthocyan. 171.
Haberlandt, G., Barymorphose und
Statolithentheorie. 394.
Hansteen, B., Giftwirkung von Metall-
ionen und der Lipoidgehalt der Zell-
membranen. 357.
Heilbronn, A., Zustand des Plasmas
und Reizbarkeit. 744-
Hesse, Haben polare Tiere einen sterilen
Darm ? 203.
Hook er, H. D. , Können die Pflanzen-
wurzeln Temperaturunterschiede wahr-
nehmen ? 521.
Hoyt, W. D., Einwirkung kolloidaler
Metalle auf Zellen. 379.
Jacobacci, V., Zeugnis zugunsten der
Statolithentheorie. 584.
Koch, A. , Ungünstige Wirkung des
Nadelhumus. 619.
Kniep, H., Assimilation und Atmung
der Mceresalgcn. 647.
Knoll, F., Ausgleiten der Insektenbeine
an wachsbedeckten Pflanzenteilen. 745.
Kruis, Bakterienkerne. 40.
Kylin, H., Enzymregulation bei Schim-
melpilzen. 703.
Lakon, G. , Protoplasmaströmung in
Pflanzenzellen. 635.
Lipmann, C. B. und Burgess, F. S.,
Einfluß der Schwermelallsalze auf
Aramonifizierung und Nitrifizierung im
Boden. 602.
L i p m an , Ch. B., Antagonismus der Salze
und seine Bedeutung für den Pflanzen-
bau. 601.
Magnus, P. , Der Eichenmehltau auf
amerikanischen Eichen. 185.
Magnus und Baccarini, P., Daedalea
unicolor als Baumschadiger. 222.
Neeff, Fr., Zellumlageruugen unter pola-
rem Richtungsreiz. 552.
Noack, Lichtrichtung und phototropische
Erregung. 99.
Peirce, Einfluß des Lichtes auf das
Wachstum. 40.
Petrucci, G. B., Entstehung der Terra
di Siena durch Bakterienwirkung. S7I.
Rasdorsky, W. , Die mechanischen
Eigenschaften der Pflanzengewebe. 502.
Rieh et, Gh., Erbliche Gewöhnung nie-
derer Organismen an Gifte. 329.
Schley, E. ü., Säuregehalt und geolro-
pische Reaktion. 139.
Sierp, Körpergröße und Zellengröße. 39.
Söhngen, N. L. und Fol, J. G. , Zer-
setzung von Kautschuk. 2 16.
Stoklasa, J. und Zdobnicky, V.,
Einfluß der radioaktiven Emanation auf
die Entwicklung der Pflanzen. 171.
Wächter, W., Hydronastische Bewegun-
gen. 153.
Wolff, J., Eisen und Pflanzenwachstum.
140.
Z a e p f e 1 1 , E. , Beziehungen zwischen
Spaltöftnungen u. heliotrop. Empfind-
lichkeit. 616.
bleme der meteorologischen Forschung
in der Antarktis. 445.
Penck,A., .antarktische Probleme. 250.
Reinhard, A. v., Eiszeit und Kaukasus.
779-
Sapper, K., Abtragungsvorgänge in den
regenfeuchten Tropen und ihre morpho-
logischen Wirkungen. 426.
Shitkow, Neues Land im Nordpol-
beckcn. 343.
Thoroddsen, Th. , Polygonboden und
thufur auf Island. 214.
Volz, W., Der malayische Archipel, sein
Bau und sein Zusammenhang mit Asien.
121.
Waibel, L., Der Mensch im Wald und
Grasland von Kamerun. 554.
D. Völkerkunde, Anthropologie. F- Geologie, Paläontologie.
Boas, Fr. u. M. , Regionale Variations-
breite der Kopfform der Bevölkerung
Italiens. 747.
Büchner, L. W. S. , Tasmaniermisch-
linge. 734.
Fehlinger, Zur Anthropologie Groß-
britanniens. 794-
Frobenius, Probleme der afrikanischen
Völkerpsychologie. 89.
Heape, Eine neue Erklärung von Exo-
gamie und Totenüsmus. 89.
Klaatsch, H., Anfänge von Kunst und
Religion in der Urmenschheit. 441.
Kuhn, Ph. , Pygmäen am Sanga. 668.
Luschan, F. v.. Anthropologische Unter-
suchungen auf der Insel Kreta. 186.
Reitzenstein, R. v., Kreuzung von
Menschenrassen. 279.
Spencer, B., Die Stämme des Nord-
Territoriums von Australien. 763.
Stefan ss o n, V., Die „blonden Eskimo".
409.
Thurnwald, Erforschung des geistigen
Kulturbesitzes der Völker. 40.
Thurnwald, Kulturbesilz der Papua-
Melanesier. 75.
Tillinghast, B., Vermehrung und fort-
schreitende Bastardierung der Neger-
bevölkerung der Vereinigten Staaten.
711.
E. Geographie, Meteorologie.
Behrmann, Oberflüchengestaltung des
Harzes. lO}.
Behrmann, W., Geographische Ergeb-
nisse der Kaiserin-Augusta-Fluß-Expe-
dilion. 489.
Gehne, Heim,Mawson, Forschungs-
reisen. 604.
Hettner, Die Abhängigkeit der Form
und Landoberflüche vom inneren Bau.
43-
Hettner, Rumpfflächen und Pseudo-
rumpfflächen. 103.
Koch und We gener, Durchquerung
Grönlands 1912/13. 2S3.
Lautensach, Stand unserer Kenntnisse
vom präglazialen Aussehen unserer
Alpen. 58.
I^ucerna, Die Flächengliederung der
Montblancgruppe. 5Ö.
Martinez, Meteorologisches von der
Osterinsel. 360.
Maurer, Ursache der Gletscherschwan-
kungen. 252.
Meinardus, W., Aufgaben und Pro-
C a B 1 e r , R. S., Platte mit C r i n o i d e e n.
213.
Beyschlag, F., Preußische Geologische
Landesanstait , 40Jähr. Jubiläum. 504.
Bill, Ph. C., Crustacecn aus dem Volt-
ziensandstein des Elsasses. 679.
Dahms, P., Verwitterungsvorgänge am
Bernstein. 666.
Dambergis, A. und Komnenos, T.,
Lößregen 537.
Hundt, R., Neue Cyrtograptenfunde im
Mittel- und Obersilur Ostthüringens
(Sammelbericht). 701.
Karmin, W., Ursachen der vulkanischen
Ausbrüche. 587.
Keilhack, K., Tropische und subtro-
pische Flach- und Hochmoore auf
Ceylon. 634.
Keßler, P., Entstehung von Schwarz-
wald und Vogesen. 602.
Koenigsberger, J., Die Wärmeleitung
der Gesteine und die Temperatur in
der Tiefe. 2 14.
Kranz, W., Militärgeologie. 792.
Nopcsa, Fr., Lebensbedingungen der
Dinosaurier. 821.
Philipp, H. , Untersuchungen über
Gletscherstruktur. 667.
Quiring, H. , Niederschlesische Gold-
vorkommen. 490.
Reck, H., Fossiler Menschenfund in
Deutsch-Ostafrika. 254.
Stromer, R., Saurierfunde in Deutsch-
Südwestafrika. 74S.
G. Chemie, Mineralogie.
.Anschütz, R-, Die Entwicklung der
graphischen chemischen Formeln. 732.
Asahina, Y., Anemonin. 393.
Bechhold, Kolloidale Lösungen des
Mononatriumurats. 525.
Beckmann, Chemische Verbindung von
Jod und Selen 121.
Bellucci, J. und Corelli, R., Ver-
bindungen des einwertigen Nickels. 298.
Brandt, R., Absorption des Stickstoffs
durch Calcium. 793-
Chick, H. und Martin, C. J., Hitze-
koagulation von Eiweißkörpern. 572.
Dafert, F. W., u. Miklanz, R., Neue
Verbindungen von Stickstoff und Wasser-
stoff mit den Erdalkalimetallen. 282.
Di eis. Ein neues Kohlenoxyd. i88.
Dziewönski, K., und Leyko, Z.,
Neue hochmolekulare Kohlenwasser-
stoffe. 762.
Eberhardt, G., Das Scandium. 732.
IV
Register.
Faust, Wieland u. Weil, Bufotalin,
das Gift der Kröten. 38.
Fenner, Cl. N., Stabililätsbeziehungen
der Kieselsäuremineralien. 491.
Fischer, E., Depside, Flechtenstoffe und
Gerbstoffe. 55.
Freundlich, H. u. Elissafoff, G. v.,
Wertigkeitsbestimmung des Radiums.
151.
Gooch, F. A. und Kuzirian, S. B.,
Einwirkung von geschmolzenem Natrium-
parawolframat auf die Salze flüchtiger
Säuren. 262.
Halle, W. u. Pfibram, E., Neue Bei-
träge zur Chemie des Tabaks. 457.
H edvall, J. A., Rinman's Giün und
Kobaltmagnesiumrot. 713-
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der Röntgenstrahlen zu photographieren.
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Raumgittern. 377.
Dessauer, F., Radiumiihnliche X-Strah-
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elektrischer Zellen zur Photometrie der
ultravioletten Sonnenstrahlung. 100.
Elster und Geitel, Radioaktivität der
.Atmosphäre. 37.
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Kolhörster, W., Messungen der durch-
dringenden Strahlungen. 649.
Frank, J. und Hertz, G. , Zusammen-
stöße zwischen Elektronen und den
Molekülen des C,)uecksilbcrdampfcs und
der Jonisicrungsspannung derselben. 648.
Grotian u. Runge, Cyanbanden. 507.
Hallwachs, Wiedma un, Freden-
hagen, Neues von der Lichtelektrizilät.
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Kalähne, A. , Akustisches Verfahren
zur Dichtemessung von Gasen und
Flüssigkeiten. 330.
Kahler, K., Emanationsgehalt der Boden-
luft. 170.
Kerschbaum, F., Röntgenrohr nach
Coolidge. 571.
Langevin, Energieträgheit. 201.
Lindemann, F. A., Die Grundlagen
der Atommodelle. 359.
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Verhältnisses der spezifischen Wärmen
des Chlors. 525.
Planck, M., Dynamische und statistische
Gesetzmäßigkeiten. S25.
Planck, W., Optische Konstanten dünner
Kupferschichten. 525.
Reich, Energiemessungen an Empfangs-
.antennen. 39.
R o h m a n n , H., Röntgenspektroskop. 490.
Schönborn, H. , Sammelbericht über
die gegenwärtigen Kenntnisse über die
(5-Strahlen. 440.
Seemann, H. , Röntgenspektrum des
Platins. 791.
Stark, Darstellung von Argon. 92.
Uspenski, N., Lochkamera für Röntgen-
strahlen. 617.
Wien, Die magnetische Beeinflussung
der Wasserstoft'kanalstrahlen. 202.
Wien, M , Programm der radiotelegra-
phischen Ausbreitungsversuche bei Ge-
legenheit der Sonnenfinsternis am 21.
Aug. 1914. 649.
Wieselsberger, C. , Luftwiderstand
eines Freiballonmodells. 537.
Wright, J. R. und Smith, O. F., Ra-
diumemanation. 170.
Wulf, Th., Einfadenelektrometer. s86.
Zenneck, J,, Demonstration und Photo-
graphie von Strommengen im Innern
einer Flüssigkeit. 680.
I. Astronomie.
Belopolski, Spektrallinicn. 14I.
Borelli, Veränderlichkeit der Nebel.
154-
Chevalier, Photographie der Photo-
sphäre. 222.
D a n j o n , Umdrehungszeit der Venus. 666.
Dcnning, Meteore. 474.
Evershed, Druck in der umkehrenden
Schicht der Sonne. 474.
Fath, Nebelflecken. 343.
Fessenkoff, Ursprung des Zodiakal-
lichts. 763.
Fournier, Comas Sola, Vorgänge
auf dem Mars. 331.
Furuhjelm, Begleiter zur CapcUa. 342.
Guthnick, Veränderlichkeit der Satel-
liten des Jupiter und Saturn. 619.
Hayn, Bestimmung des Moudortes. 172.
Hnatek, Durchmesser und Temperatur
der Sterne. 423.
Hofmeister, Sternschnuppen. 445.
King, Lichtabsorbierendes Medium im
Räume. 342.
Lampland, Komet 1910a. 233.
La place, Stabilität unseres Planeten-
systems. 233.
Lau, Planeten jenseits des Neptuns. 763.
Le Morvan, Photographischer .Mlas des
Mondes. 703.
Lowell, Umdrehungszeit des Mars. 331,
666.
Luizet, Die veränderlichen Sterne vom
Typus S Cephei. 140.
Lunt, Vergleichsspcktrum. 714.
Müller u. Krön, Spektralphotometrische
Messungen zur Bestimmung der .Aus-
löschung des Lichtes in der Atmosphäre
und der Energieverteilung im Sonnen-
spektrum. 331.
Nashan, Beziehungen zwischen Farbe,
Spektrum und Parallaxe der Fi.xsterne.
444-
Ol live, Elemente der bekannten Monde.
378.
Picke ring, Veränderungen am Mond-
krater Eimmart. 378.
Roß, Tierkreislicht. 331.
Shapley, H., Doppelsterne. 141.
Shaw, Kn., Die dunklen Stellen in der
Milchstraße. 412.
Slipher, Umdrehung eines Spiralnebels.
666.
Stürmer und Birkeland, Studium
des Nordlichtes. 185.
60 zölliges Spiegelteleskop. 266.
Immer engere Doppelsternpaare. 413.
Kometenfamilie des Neptun. 456.
Sterne mit auffallend großer Bewegung
in der Gesichtslinie. 713.
III. Kleinere Mitteilungen.
a. Physik, Technik,
Chemische Industrie.
Radioaktivität und Atomtheorie. I08.
Mesothorium. 123.
Register.
Technische Neuerungen der feinkerami-
schea Industrie (Bürger). 827.
Zellulose, Zucker, Alkohol (nach Will-
stätter). 45.
Neuere Verwendungsarten von Karbid und
Azetylen und deren Rückwirkung auf
die Entwicklung anderer Industrien (n.
Fraenkel). 46.
Dynamit im Dienst der Landwirtschaft.
60.
Zur Geschichte der Zündhölzer. 61.
Schlagwetteranzeige und die Haber'sche
Schlagwcltcrpfeifc. 77.
Die Nitra-Lampe. 107.
Die BilliterKerze. I42.
Quarzgut. 155.
Geschichtliche Notizen zur allmählichen
Vervollkommnung der Tinte (n. P.
Mar teil). 190.
Die Verwendung des Kupfers. 384.
A.-E.-G.-Zweidecker. 527.
Aluminiumlöt- und Schweifimethoden (n.
Heraus). "Jib.
Etwas von der Zelluloidindustrie. 795.
Zusammensetzung der zur Einbalsamie-
rung dienenden Harze (n. Reutter).
236.
Über die Entfernung von Druck und
Schriftzeichen aus bedrucktem Papier
(n. Kurtz-H ähnle). 716.
Aufnahme von kleinen Naturobjekten usw.
(Or., Frank). 735.
Stickstoffquellen.
Ein neues Verfahren zur Gewinnung von
Zellulose aus Holz und Gespinstfasern
und zur Beseitigung der abfallenden
Laugen (n. König u. H äsen bäumer).
267.
Ein neues Verfahren von Unschädlich-
machung und Wiedergewinnung von
Abfalllauge (n. L o ch nerwe rk e). 735.
Chemisches Mittel gegen Schädlinge der
Kulturpflanzen (n. Molz). 106.
Menhadenindustrie (n.Turr en tine). 125.
b. Nahrungsmittelchemie.
Heil- und Nahrungsmittelreste in alt-
ägyptischen Leichen (n. Netoltzky).
Bestimmung des Methylalkohols in Spiri-
tuosen (n. H et per). 93.
Giftigkeit des Methylalkohols (n. Kroe-
ber). 174.
c. Zoologie, Botanik.
Walloneneiclien in ihrer Pflanzen- und
wirtschaftgeographischen Bedeutung (n.
K. Burk). 172.
70 proz. Alkohol zeigt die größte des-
infizierende Wirkung (n. Tijmstra).
237.
Der Einfluß des letzten nassen Sommers
auf malakozoologischera Gebiet (Or.,
R. Schmitt) 267.
Fischfang mit Draclien (Or., Mi ehe). 284.
Postmortale Veränderungen beim Wild-
pret (n. W e i s c h e r u. M ö 1 1 e r), 349.
Wendehals und Sperber (Or., Brock-
meier).
Drohende Ausrottung von Fischotter und
Fischreiher? (Or., Thienemann).
Mit dem Hochwasser wandernde Schmetter-
linge (Or., Brockmeier).
Einige auffallende Beispiele von Mimikry
bei tropischen Insekten (Or., Mi ehe).
651.
Fremdkörper in Vogeleiern (Or., Rei-
neck). 574.
Delphine in der Gefangenschaft (n.
T o w n s e n d). 'J\6.
Einseitige Schädigung von Bäumen durch
Rauchgase (Gr., W. Wenz). 795.
d. Geologie, Urgeschichte.
Ein wichtiger Fund aus der Ancyluszeit
(Or., Philippsen). 236.
Eine Austernbank aus der Litorinazeit
(Or., Philippsen).
Weitere Zerealienfunde vorgeschichtlicher
Zeit aus den sächsich - thüringischen
Ländern (Or., Mötetindt). 463.
Über angebliche Hebungen und Senkungen
an Pommerns Küsten nach der Litorina-
zeit (Or., Kranz). 669.
Zwei lehrreiche Profile aus dem Franken-
wald. Zwei Natururkunden (Or., Hund t).
680.
e. Meteorologie, Astronomie.
Nebel von Schutt. 78.
Eine Beobachtung des grünen Strahles
(Or., Riera). 636.
Wie dick sind die Wolken? (n. Kann).
f. Medizin, Tierheilkunde.
Mittel gegen Schlaflosigkeit (n. Ebstein)
350.
Eugenik (n. Seilheim). 682.
Über Geisteskrankheiten und andere Ent-
artungszeichen im Indischen Reich. 717,
Echinorbynchen im Darm des Wasser-
geflügels (n. Zschoke und Feuer-
eissen). 109.
Sarkosporidien bei den Haustieren (n.
Bergmann). 126.
Stollbeule der Pferde (n. Sustmann u.
Magnussen). 156.
Tuberkulose und Milch (n. v. Oster tag)
383-
Was ist Schweinepest? (n. Sehern u.
Stange). 508.
Kriegschirurgische Verletzungen im Balkan-
kriege (n. Hertels). 127.
Tuberkulosebehandlung (n. F r i e d m a n n).
142.
Schlafkrankheit in Uganda (n. S c h i 1 1 i n g).
155-
Tollwut (n. Koch). 173.
Der heutige Stand der Organtransplan-
tationen (n. Stich). 191.
Wärmeapplikation (n. D r e e s e n , B u s s e).
2^7-
Wiederanheilung einer fast vollständig
abgeschnittenen Hand (n. Schloess-
mann). 588.
Linsenstar des Auges (n. F. Schanz).
715-
g. Verschiedenes.
Weltwirtschaftliche Probleme Ostasiens (n.
v. W ies e u. K ais er s wal d au). 156.
Steigerung des Fettgehaltes der Milch (n.
Grumme). 527.
IV. Bücherbesprechungen.
Abderhalden, E., Abwehrfermente
des tierischen Organismus usw. 459.
Abel, O., Die Tiere der Vorwelt. 317.
Andree, K., Über die Bedingungen der
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Ethnology. 28, 416.
Arber, A., Herbais, their origin and
evolution. 63.
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Tabellen zur Berechnung der „theore-
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Verbindungen. 364.
Auerbach, F., Die Weltberrin und ihr
Schatten. 539.
Banse, E., Illustrierte Länderkunde. 382.
Barthel, E., Die Erde als Totalebene.
460.
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bleme der Naturwissenschaft. 494.
Bateson, W. , Problems of Genetics.
495-
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Bauer, H., Geschichte der Chemie I.
527.
Bauer, H., Analytische Chemie des
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Bardeleben, K. v.. Die Anatomie des
Menschen. 302.
Benussi, V., Psychologie der Zeitauf-
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Ben dt, Fr., Grundzüge der Differential-
und Integralrechnung. 30I.
Berg, L., Das Problem der Klimaände-
rung in geschichtlicher Zeit. 751.
Berg, A., Geographisches Wanderbuch,
346-
Bergius, Fr., Die Anwendung hoher
Drucke bei chemischen Vorgängen und
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prozesses der Steinkohle. 346.
Bernoulli, J. , Auswahl aus seinen
mathematischen Vorlesungen. 576.
Bjerrum, N. , Die Theorie der alkali-
metrischen und azidimetrischen Titrie-
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Bluntschli, H. , Über die individuelle
Variation im menschlichen Körperbau
usw. 416.
Boas, J. E. V., Lehrbuch der Zoologie.
271.
Bolk, L., Die Ontogenie der Primaten-
zähne. 540.
Bortkiewicz, L. v.. Die radioaktive
Strahlung als Gegenstand wahrschein-
lichkeitstheoretischer Untersuchungen.
622.
Boveri, Th., Zur Frage der Entstehung
maligner Tumoren. 637.
Bragg, Durchgang der «-, /J-, ;'- und
Röntgenstrahlen durch Materie. 463.
Brandt, B. , Studien zur Talgeschichte
der Großen Wiese im Schwarzwald. 510.
Brehm's Tierleben. Säugetiere. 2. Bd.
830-
Birkeland, Kr., Über die Ursachen
der erdmagnetischen Stürme. 209.
Brohmer, P., Fauna von Deutschland.
Ein Bestimmungsbuch. 6S4.
Bronsart v. Schellendorf, Fr.,
Novellen aus der afrikanischen Tier-
welt. 415.
Brunswig, H., Die E.Nplosivstoffe. 686.
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lagen und Methoden der Großhirn-
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Brückmann, R., Palmnicken, Beobach-
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Chodat, P., Monographie d'algues en
culture pure. 332.
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Clifford, W. K., Der Sinn der e.xakten
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Cresson, A., L'espuce et son serviteur.
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Da hl, Fr., Vergleichende Physiologie
und Morphologie der Siiinnentiere usw.
95-
DeHaas-Lorentz, G. L., Die Brown-
sche Bewegung usw. 192.
Der Mensch aller Zeiten. 750.
Diapositive zu H. Potonie's Entstehung
der Steinkohle. 6S3.
Die Ansiedlung von Europäern in den
Tropen. 687.
Dittrich, O., Die Probleme der Sprach-
psychologie. 347.
Doliarius, Alle Jahreskalendcr auf
einem Blatt. 460.
Drude, O., Die Ökologie der Pflanzen.
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Dugmore, A. R., Wild -Wald -Steppe.
270.
Eckard t, W. R. , Praktischer Vogel-
schutz. 575.
Egge 1 in g, H. , Physiognomie und
Schädel. 415.
Ehrlich , P. , Eine Darstellung seines
wissenschaftlichen Wirkens. 620.
Einstein, A. und Groß mann, M.,
Entwurf einer verallgemeinerten Rela-
tivitätstheorie und einer Theorie der
Gravitation. 52S.
Eisenlohr, P. , Die Spektralchemie
organischer Verbindungen usw. 540.
Estreicher, Tad. , Über die Kalori-
metrie der niederen Temperaturen. 429.
Fester, G., Die chemische Technologie
des Vanadins. 576.
Festschrift für Karl SudhofT. 159.
Findlay, AI., Der osmotische Druck.
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Fischer, J., Das Problem der Brütung.
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Flaskämper, P. , Die Wissenschaft
vom Leben. 223.
Forel, A., Die sexuelle Frage. 447.
Fortschritte der Mineralogie, Kristallo-
graphie und Petrographie. 557.
Franke, H., Dre Umrisse der Kristall-
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Frech, F., Allgemeine Geologie. 718.
Freundlich, H., Kapillarchemie und
Phy.siologie. 478.
Friedländer, J., Beiträge zur Kennt-
nis der Kapverdischen Inseln. 493.
Fuchs, C. \V. C., Anleitung zur Bestim-
mung der Mineralien. 5 89.
Gebhardt, P., Mit der Kamera auf
Reisen. 590.
G eitel, M., Schöpfungen der Ingenieur-
tecbnik der Neuzeit. 640.
Geologisch-agronomische Karte usw. Lie-
ferung 164. 591.
Geologische Karte von Preußen und be-
nachbarter Bundesstaaten. 606.
Gesellschaft für Linde's Eismaschinen
Abteilung für Gasverflüssigung. Tech-
nik der tiefen Temperaturen. 459.
Geyer, Fr. X., Durch Sand, Sumpf und
Wald. 671.
Goeldi, E. A., Die Tierwelt der Schweiz.
1. Bd. 830.
Gohlke, K., Die Brauchbarkeit der
Serumdiagnostik für den Nachweis
zweifelhafter Verwandtschaftsverhält-
nisse im Pflanzenreich. 332.
Goldbeck, Das edle französische Pferd.
III.
Goldhammer, A., Dispersion und Ab-
sorption des Lichtes. 475.
Goßner, B. , Kristallberechnung und
Kristallzeichnung. 47S.
Gradmann, R., Das ländliche Siede-
lungswesen des Königreichs Württem-
berg. 2S5.
Großmann, H., Die Bestiramungs-
methoden des Nickels und Kobalts usw.
345-
Groos, K., Das Seelenleben des Kindes.
174.
Grünvogel, Edw., Geologische Unter-
suchungen auf der HohenzoUernalb.
736.
Haberlandt, L. , Das Ilerzflimmern.
591.
Haeckel, W., Ernst Ilacckel im Bilde.
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Haenlein, Das Alter der Erde. 479.
Hägglund, E. , Hefe und Gärung in
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Hahne, Fr. , Leitfaden der Filmphoto-
graphie. 7°4'
Handbuch der naturgeschichtlichen Tech-
nik für Lehrer und Studierende der
Naturw. 510.
Handbuch der Tropenkranklieiten. 26S.
Hann, J., Lehrbuch der Meteorologie.
3. Aufl. 365, 816.
Hansen, A., Repetitorium der Botanik
usw. 79^'
Hartmann, N., Philosophische Grund-
fragen der Biologie. 203.
Haub er risser, G., Herstellung photo-
graphischer Vergrößerungen. 719.
Hausschwammforschungen. 29.
Hay, O. P., The extinct Bisons of North-
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Hegg, E., Das Ewige im Zeitlichen. 704.
Hegi, G, Aus den Schweizerlanden. 543.
Heilborn, A., Entwicklungsgeschichte
des Menschen. 302.
Herpetologia europaea 28.
Hesse, R. und Doflein, Fr., Tierbau
und Tierleben, 111. Band. 655.
Himmelbauer, A., Mineralogie und
Petrographie usw. 127.
Hirt, W., Das Leben der anorganischen
Welt. 381.
Hoffmann, C, Ältere und neuere An-
sichten über das Erdinnere. 47S.
Hoffmann- Giesenhagen, Alpen-
flora. 685.
Hönigswald, R-, Die Skepsis in Philo-
sophie und Wissenschaft. 765.
Hörn, C, Goethe als Energetiker. 42g.
Hughes, A. L., Photo-Electricity. 446.
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im mittleren Eislertale. 509.
Jacob i, A., Mimikry und verwandte Er-
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Jahrbuch der Deutschen Mikrologischen
Gesellschaft. 319.
Janson, O., Das Meer und seine Er-
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Krankheitsgeschichte usw. 381.
Jezek, B., Aus dem Reiche der Edel-
steine. 6S6.
Johannsen, W., Elemente der exakten
Erblichkeitslehre. 319.
Jost, L. , Vorlesungen über Pflanzen-
physiologie. 127.
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psychologie usw. 366 (vgl. Berichti-
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Kalähne, A., Grundzüge der mathe-
matisch-physikalischen Akustik. 459.
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Lebewesen auf Grund gegenseitiger
Vorteile. 28.
Karny, H. , Tabellen zur Bestimmung
einheimischer Insekten. I. 285.
Karte der nutzbaren Lagerstätten Deutsch-
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Kassowitz, M. , Gesammelte Abhand-
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Keller, O., Die antike Tierwelt. Iio.
K er n er V. Marilaun , A., Pflanzenleben.
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die Theorie des Kreisels. 654.
Klunzinger, C. B., Die Rundkrabben
des roten Meeres. 205.
Knauer, Fr,, Der Zoologische Garten.
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Kochalsky, A., Das Leben und die
Lehre Epikurs. 782.
Kolk witz, R., Pflanzenphysiologie. 238.
Kryptogamenflora für Anfänger Band IV.
7«3-
Kultur der Gegenwart, 3. Teil, 4. Abtei-
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Laue, M., Das Relativitätsprinzip. 528.
Leifl, C. und Schneiderhöhn, H.,
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in der Umgegend von Hannover. 380.
Lorscheid, J. , Lehrbuch der anor-
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Ludowici, A., Das genetische Prinzip.
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Kapitel aus der Geologie. 718.
Meyer, W. Th., Tintenfische mit bes.
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VII
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Astronomie. 237.
Nußbaum, M., Karsten, G., Weber,
M. , Lelirbuch der Biologie für Hoch-
schulen. 621.
Offner, M., Das Gedächtnis. 159.
Oppel, A., Leitfaden für das embryo-
logische Praktikum usw. 302.
Ostwald, VV., Moderne Naturphilosophie.
797-
Pal lad in , W. J., Pflanzenanatomie. 815.
Perrin, J., Die Atome. 344.
Philip, J. C. , Physical chemisiry, its
bearing ou biology and medicine. 175.
Philippson, -X., Das Mittelmeergebiet
usw. 364.
Planck, M., Das Prinzip der Erhaltung
der Energie. 47.
Planck, M. , Neue Bahnen der physi-
kalischen Erkenntnis. 414.
Plassmann, Po hie, K reich gauer,
Waagen, Himmel und Erde. 640.
Pohl, R. und Pringsheim, P. , Die
hchtelektrischen Erscheinungen. 558.
Poincare, H. , Wissenschaft und Me-
thode. 541.
Pole, J. C, Die Quarzlampe, ihre Ent-
wicklung und ihr heutiger Stand. 447.
Predinger, O, Die Photographie, ihre
Grundlage und Anwendung. 287.
Preul3, K. Th., Die geistige Kultur der
Naturvölker. 656.
Preyer, A. Th., Lebensänderungen. 302.
Procter, H. R., Taschenbuch für
Gerbereichemiker und Lederfabrikanten.
362.
Rädl, E., Geschichte der biologischen
Theorien in der Neuzeit. 397.
Ramsay, W., Moderne Chemie II. 685.
Reitz, .'\., Apparate und Arbeitsmethoden
der Bakteriologie. Bd. I. 318.
Reicheno w, A., Die Vögel, Bd. I. 415.
Remsen, I., Einleitung in das Studium
der Chemie. 558.
Reuter, O. M. , Lebensgewohnheiten
und Instinkte der Insekten usw. 175.
Rignano, E., L'evolution du raisonne-
ment. 204.-
Rinne, F., Gesteinskunde. 590.
Rothe, R., Darstellende Geometrie des
Geländes. 415.
Rothe, K. C, Vorlesungen über allge-
meine Methodik des Naturgeschichts-
unterrichts. 205.
Rosenthal, W. , Tierische Immunität.
239-
Röseler, P. und Lamprecht, H.,
Handbuch für Biologische Übungen. 287.
Rusch, Fr., Winke für die Beobachtung
des Himmels mit einfachen Instrumenten.
656.
Rüst, E. , Grundlehren der Chemie und
Wege zur künstlichen Herstellung von
Naturstoffen. 590.
Schaefcr, Cl, Einführung in die theo-
retische Physik. 683.
Scheffer, W., Das Mikroskop. 654.
Scheid, K., Chemisches Experimentier-
buch, n. Teil. 286.
Scheiner, I., Der Bau des Weltalls. 671.
Schlechter, R., Die Orchideen. 831.
Schlenker, Lebensbilder aus deutschen
Mooren. 47.
Seh midiin, J., Das Triphenylmethyl.
364-
Schmidt, II. W., Deutschlands Raub-
vögel. 29.
Schmidt, H. , Was wir Ernst Haeckel
verdanken. 621.
Schmidt, R. R,, Der Sirgenstein und
die diluvialen Kulturstätten Württem-
bergs. 428.
Schoenichen, W. , Methodik und
Technik des naturwissenschaftlichen
Unterrichts. 303.
Scholz, E. J. R., Bienen und Wespen usw.
143-
Schrenck-Notzing, Freiherr v., Der
Kampf um die Materialisationsphäno-
mene. 380.
Schrenck-Notzing, Freiherr von,
Materialisationsphänomene. 206.
Schröder, Chr., Handbuch der Ento-
mologie. 239.
Schumacher, S. v., Die Individualität
der Zelle. 589.
Sieberg, A., Einführung in die Erd-
beben- und Vulkankunde Süditaliens.
207.
S laden, F. W. L., The Humble-Bee.
751-
Steinmann, P. und Breßlau,E., Die
Strudelwürmer. 109.
Stelz, L., Entstehung und Entwicklung
des Menschen bis zur Geburt usw. 80.
StendeU, W., Die Hypophysis cerebri.
8. Teil von Oppels, Lehrb. der vergl.
mikr. .Anatomie der Wirbeltiere. 462.
Stern, L., Über den Mechanismus der
Oxydationsvorgänge im Tierorganismus.
766.
Stickers, J., Was ist Energie. 222.
Stratz, C. H., Die Darstellung des
menschlichen Körpers in der Kunst. 428.
Streißler, A., Öldruck, Bromöldruck
und verwandte Verfahren. 286.
Study, E., Die realistische Weltansicht
und die Lehre vom Räume. 364.
Süßwasserflora Deutschlands, Österreichs
und der Schweiz. 363.
Swart, N., Die Stoffwanderung in ab-
lebenden Blättern. 460. »
Thomas, Fr. A. W. , Das Elisabeth-
Linne-Phänomen (sog. Blitzen der Blüten)
und seine Deutungen. 431.
T ornquis t , A., Die Wirkung der Sturm-
flut vom 9. — 10. Januar 1914 auf Sam-
land und Nehrung. 574.
Ulm er, G., Aus Seen und Bächen. 539.
Urbain, Einführung in die Spektro-
chemie. 540.
Verworn,M,Die Mechanik des Geistes-
lebens. 751.
Verworn, M., Erregung und Lähmung.
460.
Voigt, A., Die Riviera. 23S.
Voigtländer's Qucllenbücher. 752.
Voigtländers Tierkalender 1914. 239.
Vol terra, V., Drei Vorlesungen über
neuere Fortschritte der mathematischen
Physik. 637.
Vorträge über die kinetische Theorie der
Materie und der Elektrizität. 605.
War bürg, O., Die Pflanzenwelt. Bd. I.
332-
Wedekind, E., Stereochemie. 399.
Wegner, Th., Geologie Westfalens usw.
207.
W e i m a r n , P.P. v., Zur Lehre von den
Zuständen der Materie. 509.
Weinberg, W., Die Kinder der Tuber-
kulösen. 684.
Weinschenk, E. , Bodenmais- Passau.
Petrographische Exkursionen im Bay-
rischen Wald. 719.
Weinschenk, E. , Grundzüge der Ge-
steinslehre I. Teil. 591.
Weinschenk, E. , Petrographisches
Vademekum. 478.
Werner, A., Über die Konstitution und
Kontiguration der Verbindungen höherer
Ordnung. 365.
Wien, W., Vorlesungen über neuere
Probleme der theoretischen Physik. 143.
Wohlgemuth, J. , Grundriß der Fer-
mentmethoden. 204.
Wölbling, H. , Die Bestimmungs-
methoden des Arsens, Antimons und
Zinns. 446.
Zeeman, P., Magnetooptische Unter-
suchungen usw. 671.
Zenetli, P., Die Entstehung der schwä-
bisch-bayrischen Hochebene. 685.
Zernecke, E., Leitfaden für Aquarien-
und Terrarienfreunde. 159.
Ziehen, Th., Zum gegenwärtigen Stand
der Erkenntnistheorie. 239.
Zimmermann, A , Der Manihot-Kaut-
schuk. 48.
Zsc himmer, E., Philosophie der Tech-
nik. 427.
V. Anregungen und Antworten.
Absolute, Begriff. 175.
Akademische Ferienkurse, Hamburg. 288.
Aplitische Injektion. 366.
Aquarienkunde, Literatur. 96.
Auster, Ansiedlung derselben. 400.
Banane, Fruchtstand. 496.
Beeren, Schädlichkeit einiger. 512.
Bestimmungstabellen für das Tierreich. 496.
Blitzen der Blüten, Kritische Bemerkungen
dazu. 558.
Calcium- und Aluminiumverbindung mit
Silicium, Bor usw. 368.
Chinesische Kenntnisse von der Verwand-
lung der Schmetterlinge. 272.
Comite de Bibliographie et d'Ktudes astro-
nomiques, Aufruf. 160.
Diatomeen, Literatur. 256.
Dynamit in der Landwirtschaft , Entgeg-
nung. 287.
Eiweißstoffe, Molekulargewicht. 799-
Entgegnung (A. Heilborn). 496.
Falltachiskop. 31.
Foraminiferen, marine. 400.
— , karbonische, Literatur. 431.
Gasbläschen, Bewegung der in Flüssig-
keit. 239.
Gehen , weshalb strengt langsames mehr
an als rasches? 96.
VIII
Register.
Geologischer Führer für Helgoland,
Kieler Bucht usw. 367.
Gewitter in der Pfalz am 21. Februar
1914. 304.
Grüner Strahl, Kritische Bemerkung. 799.
Harnfarbstoffe, zufällige. 800.
Hasenscharte und Wolfsrachen. 384.
Haut- und Zweiflügler, Literatur. 367.
Hühnereier, im Innern bakterienfrei? 384.
Institut für Gärungsgewerbe, .Adresse. 112.
Käfer, schmutzige aufzupräparieren. 367.
Käfer in schimmligen Hölzern. 688.
Karbide, Löslichkeit, Literatur. 544.
Kepler's opera omnia. 96.
Kinematograph als Anschauungsmittel. 96.
Kugelblitze. 192.
Küchen- und Haushaltschemie, Literatur.
799.
Lindenblatt, tütenförmiges. 48.
Lispeln. 192.
Maulwurf, sein Nutzen und Schaden. 272.
Mechanische Erklärung der elektrischen
Erscheinungen, Literatur, 320.
Mistel, Keimen derselben. 544.
Nußbaum im deutschen Volksglauben. 48.
Okular, Funktion desselben. 240.
Ovarium , Verschiedenheit der Eier im
rechten und linken. 367.
Phänologie, Literatur. 368.
Photometrische Gesetze, Korrektur der-
selben? Kritische Bemerkung. 624.
Polreagenzpapier. 160.
Relativitätsprinzip, Literatur. 176.
Replilieneier. 272.
Reptdien, fossile, Literatur. 464.
Reliefs, geologische, ihre Herstellung. 6SS.
Rheinlande, Geologie der, Literatur. 544.
Roßhaare in Vogelciern. 704, 768.
Sauerstoffgehalt des Wassers, maßanatyti-
srhe Methode. 336.
Schiffe, die vor der Ausreise einen Kreis
beschreiben. 80, 160.
Schifl'e, Bewegung flußabwärts treibender.
So, 160.
Segelflug, Höhengewinu dabei. 495.
SelbstenizUndung von Heu. 719.
Si.\-Maximum-Minimum-Thermometer. 160.
Spezifisches Gewicht, Berechnung dessel-
ben a. d. Atomgewichte. 512.
Symbiose von Pflanzen mit Pflanzen. 48.
Sympathisches Nervensystem. 223.
Stachelschweine, afrikanische. 320.
Strandflora, Literatur. 367.
Thermostaten. 64.
Torf als Heizungsmalerial. 112.
Trommel, weshalb hört man die große
aus der Ferne lauter? 239, 336.
Tuberkulose, Übertragung durch Sing-
vögel ? 288.
Virginia-Zigarren, die Halme (Durchzugs-
stroh) darin. 112.
Welken von Blumen. 544.
Wurzelknöllchen. 112.
Zechsteinsalze, Versteinerungen darin. 240.
Zellwachsium , Beobachtung desselben
unter dem Mikroskop. 783.
Zyklonen in Varesi. 240.
VI. Nachrichten aus der
wissenschaftlichen Welt.
Otto Vahlbruch-Stiftung. 351.
86. Versammlung Deutscher Naturforscher
und Ärzte. Programm. 3^1, ^92.
Preisausschreiben der Berliner Gesellsch.
für Rassenhygiene. 351.
Ferienkurse in Jena. 351.
Kurse für Meeresforschung. 351.
V. Reinach-Preis für Paläontologie, 351.
Das Treub-Laboratorium in Buitenzorg
auf Java. 572.
Preisausschreiben der Rheinischen Gesell-
schaft für wissenschaftliche Forschung.
720.
VII. Wetter-Monatsübersichten.
Dezember
91.S.
62.
Januar 1914. I
43-
Februar 19
14.
223.
März 19 14.
271
April 1914
35
r.
Mai 1914.
431-
Juni 1914.
479
Juli 1914.
.S.S9.
August 191
4. 6
23-
September
1914
687.
Oktober 19
14.
767.
November
914.
832.
Verzeichnis
der Abbildungen.
Acer platanoides, angegriffen vonDaedalea
unicolor. 222.
Ahornsprosse, welkende, mit und ohne
SOj-Behandlung. :;33.
Alpines Deckengebirge, Bewegungsrich-
tungen. 659.
Ameisen, Füße. 745.
Ameisen, auf berußter Glasplatte. 746.
Anadonta, frei an Fäden aufgehängt. 825.
Arion, Verhalten in Wasser. S23.
Aurignacmenschen, Skulpturen und Zeich-
nungen. 442.
Befruchtungsvorgang zwischen homogamet.
und heterogamet. Elter, Schema. 182.
Billaea pectinata, Endoskelett. 242.
Calliphora erythrocephala , Querschnitt
durch den Darm einer Larve. 245.
Callisia repens, in normaler und Reizlage.
153-
Carea sublilis, Raupe, einen Loranthus-
keiifiling nachahmend. 653.
Chelonia, Panzer. 198.
Chloronium mirabile. 413.
Doppelmißbildung. 604.
Drynaria quercifolia. 285.
Ebeltofthafen mit Föhnmauer. 518.
Elodea canadensis, in schwefliger Säure.
532-
Erdkugel, Hypothetischer Schnitt. 657.
Eskimos. 409, 410.
Euthalia spec, Raupe, Blattnervatur nach-
ahmend. 652.
Fischauge, Schema der Kontrastwirkungen
in ihm. 468.
Fischfang mit Drachen. 285.
Galastocoris occulatus, Spermatozoenent-
wicklung. 180.
Geröllstrandwälle. 669, 670.
Goethes Herbarium. 577, 578, 579.
Hand , Wiederanheilung einer fast ab-
geschnittenen. 58S.
Heterochromosomen, verschiedene Formen.
179.
Hering, Fanggebiet. 626.
Hering, Schuppen. 627, 62S.
Kautschukzersetzende Mikroorganismen
auf Platte. 216.
Kabremädchen. 91.
Kabre, Terrassenfarmbau der. 91.
Kieselschiefer, gefaltete. 681.
Klift" am Schwedenufer. 670.
Kurzfingrigkeit, Röntgenaufnahme. 344.
Landschildkröte, Panzer. 198.
Lederschildkröte, Ansichten des Panzers.
197.
Lunularia cruciata, Initialzellen der Rhi-
zoiden. 394.
Mammutfundstelle, Profil. 693.
Mesosaurus. 761.
Mimikry bei Insekten. 653.
Mombajünglinge. 90.
Nadelholzzweige, mit H2SO4 und SOj be-
handelt. 531.
Papilio spec. Raupen mit ,, Augen". 652
653-
Platygaster sp., Larvenform. 243.
Polymorphismus von Larven. 243.
Polcnlilla aurea, Frucht. 690.
Puppe, ein Blatt nachahmend. 653.
Radium , seine Wirkungen auf Kresse-
keimlinge. 306.
Radium, seine Wirkungen auf die Milz
des Meerschweinchens. 307.
Rauchbeschädigung bei einem Baume. 795.
Rhomboidichthys podas, auf verschiedenem
Untergrunde. 467, 469.
Sattelbildung. 681.
Sali.x polaris, herbacea, Blatt. 690.
Schildkrötenahnen, Panzer. 198.
Schneekristalle. 516.
Springkäfer, Semiotus , auf dem Rücken
liegend. 281.
Springkäfer, Model eines. 281.
Statocyste von Pterotrachea. 823.
Steinwerkzeuge. 4S7, 488.
Tapir, Fußskelett. 422.
Tasmanietmischlinge. 734.
Unufest in Buin. 76.
Vakuumröhren nach Greinacher. 326 — 329.
VVegschnecken, Verhalten im Wasser. 823.
Wegichnecken, in Selbstwendung. 824.
G. P.Htz'sche Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Nauiriluirg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13, t'aml ;
der ganzea Reihe 29. Band,
Sonntag, den 4. Januar 1914.
Nummer 1.
Die durch den Tod Potonie's verwaiste Redaktion der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift
übernimmt mit dem neuen Jahrgange Prof. Dr. H. Miehe in Leipzig.
Die Ziele der Wochenschrift sollen die gleichen bleiben, wie sie ihrem Begründer und lang-
jährigen Herausgeber vorschwebten und die er mit großer Hingabe zu erreichen bestrebt war. Auch
weiterhin soll die Wochenschrift den naturwissenschaftlich interessierten Leser von den Hauptereig-
nissen auf dem gesamten Gebiet der Naturwissenschaften planmäßig und zuverlässig unterrichten, in-
dem sie in wissenschaftlich-kritischer aber verständlicher und in diesem Sinne populärer Form neben
fortlaufenden Berichten über die wichtigsten Ergebnisse der Einzelforschung zusammenfassende Dar-
stellungen besonders bedeutender Entdeckungen, Probleme, Ideen bringen soll. Insbesondere hofft
dabei der Herausgeber auf die Mitarbeit der Forscher selber. Dazu kommen, wie bisher, kleinere
Notizen über allgemeiner interessierende Tatsachen, Beobachtungen usw., sorgfältige Besprechung
neuer Werke, Kongreßberichte, Anregungen, Fragen usw.
Möge auch in Zukunft das Bestreben der Wochenschrift, den guten naturwissenschaftlichen
Interessen zu dienen, tätige Unterstützung und Anerkennung finden!
Dr. HugoMiehe, GustavFischer,
a. o. Professor der Botanik an der Universität Leipzig. Verlagsbuchhandlung in Jena.
Über
Geschlechtswandelungen.
Unter den bösen Omina, welche dem Einbruch
Hannibal's in Italien vorausgingen, gehörte, laut
Titus Livius, die Verwandelung einer Henne in
einen Hahn und umgekehrt eines Hahns in eine
Henne. Ähnliche Geschlechtsmetamorphosen galten
im Mittelalter allgemein als Teufelsspuk und gelten
als solcher noch heute manchem mitten im Aber-
glauben steckenden Bauersmann: ein hahnenfedrig
gewordenes Huhn muß ihm sofort ans Messer,
jedoch bei Leibe nicht um von einem gläubigen
Christenmenschen verspeist zu werden , das
könnte ihm schaden. Und dabei handelt es sich
doch durchaus nicht um eine besonders seltene
Naturerscheinung: dieselbe ist vielmehr jedem
Geflügelzüchter wohlbekannt und war es auch
lange vor den Zeiten Hannibal's, da bereits
Aristoteles sie beachtet hat. Die exakte
Wissenschaft befaßt sich mit ähnlichen Geschlechts-
wandelungen schon seit ein paar Jahrhunderten
und besonders intensiv in der neuesten Zeit, wo-
bei sich ihrer auch die nunmehr im Zeichen des
Experiments befindliche Biologie aufs eifrigste
bemächtigte. Auch das Interesse weiterer Kreise
wurde geweckt, so durch eine kürzlich im ,, Kos-
mos" erschienene Mitteilung unter dem sensatio-
nellen Titel „Wie man ein Männchen zu einem
Weibchen machen kann".
Das Interesse, welches ich mir von jungen
Jahren her ^) für dergleichen Fragen bewahrt
habe, veranlaßt mich, der bekannten Regel „On
revient toujours ä ses premiersamours" gehorchend,
in einer kurzen populären Skizze die Frage nach
den Geschlechtswandelungen zu beleuchten.
Hierbei dürfte es zunächst geboten sein, den
Begriff der Geschlechtsmerkmale festzustellen. In
Bausch und Bogen, mit wenigen Worten läßt sich
dies nicht abmachen, da sich ganze drei Grade,
Stufen oder Kategorien von Geschlechtsmerkmalen
unterscheiden lassen.
Die erste und wichtigste, ja einzig und allein
wesentliche, Stufe kommt ausschließlich den Ge-
schlechtsdrüsen zu, ob es Eierstöcke sind, diese
Bildungsorgane der Eizellen, ob Hoden, diese
Bildungsorgane der Samenzellen, vulgo Samen-
fäden oder gar Samentierchen , wie die ersten
Mikroskopiker sie nannten. Als zweite Stufe
der Geschlechtsmerkmale sind die Leitungswege
für die Geschlechtsprodukte, Eier und Samen, an-
zuerkennen, als da sind: die Samenleiter und das
Glied beim Männchen, die Eileiter, die Gebär-
mutter und die Scheide beim Weibchen; alles
Gebilde, deren akzessorisclier Charakter schon
durcli ihr Fehlen bei überaus vielen Repräsen-
tanten des Tierreichs bewiesen wird. Es folgt
schließlich die dritte Stufe oder Kategorie von
Geschlechtsmerkmalen, weichein ihrer Verbreitung
noch viel eingeschränkter ist und in keinerlei
^) Brandt, A., Anatomisches und Allgemeines über die
sog. Hahnenfedrigkeit und anderweitige Geschlechtsanomalien
bei Vögeln. Zeitschr. für wiss. Zool. XLVIII, 18S9, p. 101
bis 190, Taf. IX— XI.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. I
direkten Beziehung zum Fortpflanzungsgeschäft
steht. Hierher rangieren: beim Manne der Bart
mit seinen Unterabteilungen Kinn-, Backen- und
Oberlippenbart, beim Weibe die stark entwickelten
Brüste, welche, den Hautdrüsen angehörend,
übrigens dank ihrer reichlichen Absonderung zur
Ernährung des Neugeborenen dienstbar gemacht
sind und mithin einen Platz auch auf der zweiten
Stufe der Geschlechtsmerkmale beanspruchen
könnten. Innerhalb der Säugetierklasse sind als
sehr bekannte männliche Abzeichen die Geweihe
der Hirsche zu nennen. Die bei Pferden dem
Hengst allein zukommenden Eckzähne mögen als
weiteres Beispiel genannt werden. Für die Vögel
mag an das schmucke Gefieder, den großen
Kamm, die Sporen des Hahns, an den Pracht-
schwanz des männlichen Pfaus erinnert werden.
Männchen vieler anderer Vogelarten tragen ihr
Schmuckgefieder nur als Hochzeitskleid. Auch
bei kaltblütigen Wirbeltieren, bei Kriechtieren,
Lurchen und P'ischen, ist das Männchen, wenn
auch seltener, durch diese oder jene Merkmale in
Gestalt und Färbung ausgezeichnet. Unter den
Insekten , so bei vielen Käfern und Schmetter-
lingen , steigern sich die nebensächlichen Ge-
schlechtsunterschiede, wie dies namentlich an der
Körpergröße, der Form der Fühler und am
Farbenschmuck ersichtlich, bis zu einem Grade,
welcher es gestattet von Geschlechtsdimorphismus
zu reden.
Bei aller Weite des angeschnittenen Themas
der Geschlechtswandelungen dürfte es hier genügen
für die einzelnen der drei Stufen oder Kategorien
nur wenige markante Beispiele heranzuziehen. Es
soll dies aus praktischen Rücksichten in umge-
kehrter Reihenfolge der Stufenleiter geschehen.
Da wäre zunächst die schon erwähnte Hahnen-
fedrigkeit der Hühner. In den meisten Fällen
sind es unfruchtbar gewordene alte oder auch
kastrierte Hennen (Pularden), welche nach jeder
Mauser im Gefieder einem Hahne ähnlicher werden,
einen vergrößerten Kamm erhalten, dabei zu krähen
anfangen und Versuche machen, Hennen zu treten.
Doch sind bei Hühnern sowohl, als auch bei
anderen Vögeln nicht gar selten Weibchen beob-
achtet worden, welche bereits in der Jugend
männchenähnlich wurden und dabei dem Geschäft
des Eierlegens und Brütens in normaler Weise
oblagen. Es ist also nicht ausschließlich und not-
gedrungen die Keimdrüse das die tertiären Ge-
schlechtsmerkmale Bedingende. Die tertiären
Geschlechtsmerkmale gehören nämlich zu den
Rasse- oder Artmerkmalen, und zwar sind es
solche, die im steten Fluß der natürlichen Ge-
staltenwandlung normaliter bisher nur vom über-
haupt rascher vorwärtsstrebenden Männchen er-
reicht wurden : das Weibchen humpelt da gleich-
sam hinterdrein, wobei einzelne bevorzugte weib-
liche Individuen über eine männliche Entwick-
lungskraft verfügen. Wir können uns hierbei
nicht lange aufhalten : nur ein Schattenriß der
zugehörigen Argumentation sei gegeben. Die
Vorfahren der Vögel haben wir uns samt und
sonders, gleich den heutigen Nestlingen, als
schmucklos vorzustellen. Eine bunte Färbung ist
ein späterer Erwerb, und dieser wird zunächst
von den Männchen gemacht. Als Beispiel eine
kleine Stufenleiter. Die Nachtigall zeigt in beiden
Geschlechtern ein braungraues, unscheinbares Kleid,
das Sperlingsweibchen, im ganzen dem Männchen
ähnlich, entbehrt nur des schwarzen Brustlatzes,
das Gimpelweibchen hat in der Pracht des Ge-
fieders das Männchen beinahe eingeholt : nur die
Brust des Weibchens zeigt noch nicht das richtige
reine Rot. Bei der Mandelkrähe, diesem Meister-
stück unserer Ornis, trägt das Weibchen bereits
vollständig die schmucke blaue Uniform des
Männchens. Abnorme Hahnenfedrigkeit kommt
somit nur bei solchen Vogelarten vor, bei denen
die Männchen irgendwelchen Schmuck oder
Waffen vor den Weibchen voraus haben : es ist
eine prophetische, auf die Zukunft deutende
Anomalie. Ein abnormes Männchen mit weib-
lichem Gefieder ist im Gegensatz hierzu ein
regressives, atavistisches Erzeugnis der Natur.
Ähnliches gilt für die Säugetiere. Schritt für
Schritt ist die Paläontologie bis auf die ältesten
Vorfahren der Hirschfamilie zurückgegangen und
hat sie als stark bezahnte, aber noch geweihlose
Tiere erkannt. Es ließ sich durch die Reihen-
folge geologischer Perioden verfolgen, wie nach
Maßgabe der Rückbildung des Gebisses ein Ersatz
dafür im Geweih gefunden wurde. Ursprünglich
nur als einfaclie Spieße beim Männchen auftretend,
komplizierten sich die Geweihe bei den meisten
Arten, und zwar mit jedem Lebensjahre. Hierbei
sind es immer nur die Männchen, die der Stirn-
waffen teilhaftig wurden. Eine ganz isoliert da-
stehende Ausnahme bildet das Rentier, dessen
Weibchen es gleichfalls zu einem, wenn auch
natürlich schwächeren Geweih gebracht hat. Es
dürfte aber eine prophetische Form darstellen, in-
sofern es ein Bestreben sämtlicher Hirscharten
verwirklicht, nach Jahrtausenden auch dem Weib-
chen die Stirnwaffe zu erwerben. Besonders pro-
gressiv veranlagte Weibchen erreichen schon in
der Jetztzeit bei den verschiedensten Hirscharten
diese Gleichstellung mit den Rentierweibchen. Sie
können sonst ganz normale, sich begattende und
Kitzen setzende Individuen darstellen. Als Gegen-
stück hierzu kommen männliche Hirsche vor,
welche zeitlebens kein Geweih aufsetzen, also in
diesem Geschlechtsmerkmal dritten Grades den
weiblichen Typus innehalten , dabei aber sonst
ganz gesunde, normale Männchen sein können.
— Allerdings ist nicht zu leugnen — schon
Aristoteles war dies bekannt — , daß Kastration
die Geweihbildung in regressivem Sinne beeinflußt,
ja sie ganz sistiert. Und doch hat man es hier
wohl mehr mit einer bedingungsweisen Beein-
flussung der Geweihbildung durch die innere
Sekretion von Hodenzellen zu tun, denn auch
anderweitige Schwächungen des Organismus, z. B.
N. F. XIII. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
eine Schußwunde ins Schulterblatt, sah man den-
selben Einfluß auf die Geweihbildung äußern.
Und nun zum Menschen ! Hier gilt als Ge-
schlechtsmerkmal dritten Grades die Körper-
behaarung und vor allem der Bartwuchs. (Das in
beiden Geschlechtern mit gleicher VVachstums-
encrgie bedachte Scheitelhaar kommt nicht in
Betracht.) Die Behaarung eines ausgebildeten
Weibes entspricht ungefähr der eines 15 — 16 jäh-
rigen Jünglings. Letzterer marschiert weiter auf
dem Entwicklungspfade und erwirbt mit Stolz
seinen Schnurr-, Backen- und Kinnbart. Bringt
er es nur mangelhaft oder, in allerdings recht
seltenen Fällen, zu gar keinem Bartwuchs, so ist
er ein thelyides, weibchenähnliches Subjekt, ein
Rückschritiler, ein Atavist; gleichzeitig auch ein
Subjekt, welches auf einer Stufe mit so manchen
exotischen Stämmen steht. Ein Weib hingegen,
welches sich nach Erlangung der Pubertät einen
schmucken Schnurrbart und einen stattlichen
Backen- und Kinnbart anlegt, nennen wir ein
Mannweib, eine Virago. Ein solches arrhenoides
(männchenähnliches) Subjekt kann in allen übrigen
Sexualverhältnissen ganz normal sein, ein halbes
Dutzend Kinder in die Welt setzen und sie mit
ihren Brüsten nähren. Es erscheint mir vom bio-
logischen Standpunkte, den manche sonst aufge-
klärte Damen durchaus nicht verzeihen wollten,
ein progressives, ein prophetisches Individuum.^)
Das Bestreben der Frau, es dem Manne im Haar-
schmuck gleich zu tun, ihn einzuholen, ist übri-
gens eine viel verbreitetere Erscheinung, als man
meist glauben möchte. Gewöhnlich geht es hier-
mit recht langsam, so daß erst nach der Klimax
und in noch höherem Alter etwas Nennenswertes
erzielt wird ; doch gibt es genug junge Frauen
und Mädchen mit niedlichem Schnurbärtchen, und
noch viel mehr solcher, welche daran zupfen, zu
Depilatoren, Rasierzeug, galvanischer Punktion
und, neuerdings, zu Röntgenstrahlen ihre Zuflucht
nehmen.
Hier dürften wir am passenden Markstein an-
gelangt sein, um uns den Geschlechtswandlungen
am Menschen und an Säugetieren zuzuwenden,
wie sie durch fanatische oder grausame Verstüm-
melungen einerseits und methodische Versuche
andererseits erzielt werden.
Zunächst mögen die Skopzen hier kurz heran-
gezogen werden. Zu einer Zeit, als man die Ge-
schlechtsdrüsen als jene einzigen Stempel betrach-
tete, welche jedem Individuum das betreffende,
männliche oder weibliche, Gepräge aufdrücken,
hielt man dafür, daß Entfernung der Hoden den
Mann zum Weibe, Entfernung der Eierstöcke, das
Weib zum Manne umpräge : selbstverständlich nur
') Man vergleiche, außer der bereits oben zitierten (p. iSo)
noch meine folgenden Publiliationen : Über Variabilität der
Tiere. Wien und Leipzig 1892/98. (In Kommission bei
Bernh. Liebisch, Leipzig); Über Variationsriclilungen im Tier-
reich. Vorträge von Virchow und Wattenbach. N. F. X. Ser.
Hamburg 1895; Eine Virago. Virchow's Arch. Bd. 146, 1896;
Über den Bart der Mannweiber (Viragines). Biol. Centralbl.
Bd. XVII, 1897, P- 226-
in bezug auf die untergeordneten Geschlechts-
merkmale. Es kommt diese Deutung namentlich
auch (durch W. O. M i e r ze j e wsk i) in einer be-
kannten Monographie russischer Skopzen der
sechziger Jahre ') zum Ausdruck. Ich glaube (1. c.)
als Erster diese Ansicht kritisch widerlegt und für
die männlichen Skopzen (weibliche gibt es nicht!)
nachgewiesen zu haben, daß es sich keineswegs
um ein Umschlagen des Organismus ins andere,
weibliche Geschlecht handelt, daß wir es vielinehr
zu tun haben mit einer Hemmung der qualitativen
männlichen Weiterbildung des Organismus. Dieser
bleibt auf der jeweiligen Entwicklungsstufe mor-
phologisch stehen, nimmt jedoch in seinen Dimen-
sionen zu, schießt so zu sagen ins Kraut. Die
scheinbaren Weiberähnlichkeiten der Skopzen im
mangelhaften Haarwuchs, in der Stimme usw. sind
infantile, bzw. juvenile Hemmungsbildungen.
In der medizinischen Literatur findet sich ein
Fall (von Gaillet) berichtet, in welchem bei
einem Manne, nach operativer Entfernung der
Hoden, sich die beim Manne normaliter rudimen-
tären Milchdrüsen zu richtigen Brüsten unter Ab-
sonderung von Bestmilch vergrößerten. Und
Ha m m o n d erwähnt der sog. Mujaderes, abnormer
männlicher Individuen, welche die Pueblo Indianer
von Neumexiko, angeblich Nachkommen der alten
Azteken, hei vorbringen. Es geschieht dies übrigens
nicht etwa durch Kastration , sondern durch Er-
zeugung einer paralytischen Impotenz. Die Muja-
deres halten sich zu den Weibern, deren Kleidung,
Wesen und Beschäftigungen sie teilen. Ihre äuße-
ren Genitalien werden als verkümmert, dafür die
Brüste als gleich denen eines schwangeren Weibes
vergrößert angegeben. Ein Mujadero versicherte,
er habe schon mehrere Kinder, deren Mütter ge-
storben, gesäugt. (Zitiert nach Kamm er er.)-)
Eines Indianers, welcher nach dem Tode seiner
Frau für dieselbe als Amme einsprang, erwähnt
bereits A. v. H u m b o 1 d. Übrigens ist die sog.
Gynaecomastie eine für Tiere und Menschen,
welche weder kastriert noch sonst impotent sind,
bekannte Erscheinung, und zwar Gynaecomasiie
sowohl ohne als auch mit Milchabsonderung.
Schon Lieb ig veröffentlichte eine chemische
Analyse der Milch eines Ziegenbockes. Fälle von
milchenden Männchen und Männern stehen, als
eine Form der Weibchenähnlichkeit, der Thelyidie,
zwar vereinzelt da, doch ist diese Vereinzelung
im Grunde nur quantitativen, nicht qualitativen
Charakters; denn Spuren von Milch lassen sich
aus den Milchwarzen überaus zahlreicher auch
männlicher Individuen vom frühesten Kindesalter
an pressen. Die Milchdrüsen sind lediglich über-
bildete, er.st später in den Dienst des Fortpflan-
zungsgeschäfts getretene Hautdrüsen. Daher ihr
gelegentliches Vorkommen auch an abnormen
') Pelikan, E., Gerichtlich-medizinische Untersuchungen
über d. Skopzensekte. St. Petersburg. 4.
^'j Kammerer, P., Ursprung d. Geschlechtsunterschiede.
In Fortschritte d. naturw. Forschung, herausgeg. von Abder-
halden-Halle. Bd. V, 1912.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. I
Stellen der Körperoberfläche. Ihr lediglich be-
dingungsweiser Zusammenhang mit der Pflege
des Kindes wird durch Fälle von Milchabsonderung
bei durchaus jungfräulichen menschlichen Indivi-
duen bewiesen ; ja, man weiß von Kälbern zu
berichten, welche es sich verlohnte regelmäßig zu
melken. Als qualitativ normale, dominierende
projektive Erscheinung verbleibt eine Beeinflussung
der Milchdrüsen durch die Zeugung. (Im Spe-
ziellen werden dabei verantwortlich gemacht:
innere irritierend wirkende Ausscheidungsprodukte
des Eierstocks, insbesondere des gelben Körpers,
ferner des Mutterkuchens, der Frucht selber und,
nach dem Geburtsakt, die Zusammenziehung der
vergrößerten, blutstrotzenden Gebärmutter und
die damit verbundene Umverteilung der frei ge-
wordenen Blutmasse.)
Nunmehr dürften wir über genügendes Material
zur Beurteilung der neuesten, auch von der popu-
lären Presse an die große Glocke gehängten
systematischen Versuche von Steinach ^) über
,,Feminierung" männlicher Säugetiere verfügen.
Dieser kastrierte junge männliche Ratten und
Meerschweinchen und versah sie, statt der Hoden,
mit von weiblichen Individuen entlehnten Eier-
stöcken. Letztere wurden dem damit zu pfropfen-
den kastrierten jungen Männchen entweder unter
die Haut oder in die Bauchhöhle geschoben, wo
sie vortrefflich anwuchsen und gediehen.
Das Ergebnis waren ausgewachsene Tiere mit
ausgesprochen weiblichen somatischen und psychi-
schen Anklängen. Im Wuchs blieben sie gegen
die normalen Männchen zurück, besaßen einen
grazileren, mehr weiblichen Knochenbau, ein
feineres Fell, wie es den Weibchen zukommt,
eine stärkere Neigung zum F'ettansatz und ver-
größerte Milchdrüsen. [Wie ein Zeitungstelegramm
meldet, soll Steinach auf der jüngsten Versamm-
lung deutscher Naturforscher und Arzte in Wien
feminierte Kaninchenmännchen vorgeführt haben,
welche Junge säugten.]
Noch eigentümlicher: die feminierten Männchen
bewiesen durch ihr Verhalten einen Annäherungs-
trieb nicht zu Weibchen, sondern zu Männchen
und leiteten ihrerseits normale Männchen irre,
welche sich mit ihnen — selbstredend, vergeblich
— zu paaren trachteten. Eine gewisse sexuelle
Umstimmung in der Psyche und gleichzeitig auch
wohl in der Körperausdünstung und im Habitus,
sind hier also nicht zu leugnen, und doch sind,
wie schon Kammerer bemerkt, die erzielten
anatomischen Abweichungen nur quantitativer,
nicht essentieller Art. Trotzdem ist die Arbeit
von Steinach immerhin von hervorragendem
Interesse, mag auch der Forscher bereits Vor-
gänger gehabt haben.
') Steinach, E., Willkürliche Umwandlung von Säuge-
tiermännchen in Tiere mit ausgeprägt weiblichen Geschlechts-
charakteren und weiblicher Psyche. Pflüger's Arch. f. d. ges.
Physiol. Bd. 144, 1911, S. "i — loS.
Geschlechtswandlungen zweiten Grades,
d. h. solche, die sich auf die Leitungsapparate,
wie Samen- und Eileiter, Regattungsglied, Gebär-
mutter und Scheide beziehen, werden nicht gar
selten von der Natur selbst vorgenommen. Knüpfen
wir an ein konkretes Beispiel an. Vor einigen
Jahren hatte der bekannte Warschauer Frauenarzt
Franz Neugebauer die Freundlichkeit, mir in
dem von ihm geleiteten Evangelischen Hospital
ein junges menschliches Wesen zu demonstrieren,
welches sich in der Frauenabteilung befand, als
Mädchen gekleidet und frisiert, auch als solches
in Paß und Taufschein eingetragen war. In Wirk-
lichkeit handelte es sich aber um einen verkappten
Mann, der seine Pollutionen hatte. Wie bei einem
Manne waren die Brüste unentwickelt, die äußeren
Genitalien hingegen auf einer früheren, dem
vollendeten weiblichen Typus nahen Entwick-
hmgsstufe stehen geblieben ; die Hoden waren
nicht aus der Leibeshöhle hervorgetreten, das
Glied, wie beim normalen Weibe rudimentär.
Essentiell ein Mann, eignet sich ein solches Sub-
jekt für den Geschlechtsakt immerhin besser in
der Rolle des Weibes. Nicht lange vorher erhielt
Dr. Neugebauer zur Begutachtung ein ähnliches
Subjekt. Es war gleichfalls als Mädchen aufge-
wachsen. Bei seinem dringenden Anraten, sich
als Mann umschreiben zu lassen, stieß Dr. Neu-
gebauer bei dem soi-disant Mädchen auf energi-
schen Widerstand, denn dasselbe wollte einen
jungen Mann heiraten. Es blieb dabei; das junge
Ehepaar wanderte nach Amerika aus und sandte
von dort einen Brief, aus welchem ich mich
mit eigenen Augen überzeugen konnte, daß es
überaus glücklich geworden. Geben wir nolens-
volens dem homosexuellen Paar unsern Segen,
denn immerhin ist's so wenigstens besser, als ab-
wechselnd bald unter der einen, bald unter der
anderen Flagge zu segeln, wie es der in der Ge-
schichte der Teratologie bekannten sog. Katharina
Hohmann ergangen, welche bei ihren wieder-
holentlichen Metamorphosen u. a. auch das Emploi
einer Dirne bekleidete, um das Leben als Anatomie-
diener zu beschließen.
Man unterstellt derartige Subjekte der weiten
Kategorie der Hermaphroditen; doch handelt es
sich fast ausnahmslos um falschen Hermaphrodi-
tismus, der nur die Leitungswege, nicht die allein
wesentlichen Geschlechtsdrüsen betrifft. Nun sind
aber diese Leitungswege samt und sonders bei
allen Embryonen ursprünglich gleichförmig an-
gelegt, und zwar in der Zahl zweier Paare von
Kanälen. Beim angehenden Männchen metamor-
phosiert sich das eine zu den Samenleitern, beim
angehenden Weibchen das andere zu Eileitern,
Gebärmutter und Scheide. Das jeweilig über-
flüssige Paar der Kanäle verkümmert. Mehr oder
weniger deutliche Überreste desselben finden sich
aber stets zeitlebens, und manche Tiere, so der
männliche Biber, besitzen zum Gedächtnis an eine
indifferente oder, wenn man will, hermaphroditische
Anlage eine recht stattliche Gebärmutter.
N. F. XIII. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
5
Auch die äußeren Genitalien sind ursprünglich
in beiden Geschlechtern gleichförmig, übereinstim-
mend, und zwar nach weiblichem Typus ange-
legt. Wir ersehen hieraus, daß unter diesen Um-
ständen ein sexueller Umschlag kein Umschlag
in ein Extrem bedeutet, sondern eher eine em-
bryonal vorgesehene qualitative Umstimmung.
Und nun zum Schluß zu den essentiellen
Geschlechtsmerkmalen, zur ersten Stufe der
Geschlechtsunterschiede, um zu konstatieren ob
auch hier Geschlechtswandlungen möglich seien?
Wohl den verblüffendsten Fall von individueller
Geschlechtswandelung am erwachsenen Tier kennen
wir für die Krabben. An der Unterfläche dieser
Tiere, bedeckt vom untergeklappten Schwanz —
richtiger Hinterleib — ist nicht selten ein Parasit,
ein Sacktier, eine Sacculina, angewachsen. Ob-
gleich, wie das frei schwimmende Jugendstadium
beweist, gleichfalls ein, wenn auch niederer, Re-
präsentant der Krebsklasse, tritt uns die parasitäre
vollendete P'orm als weiches rundliches Säckchen
entgegen, etwa von der Größe einer Erbse oder
Haselnuß. Der Parasit ist mundlos und ernährt
sich, gleich einer Pflanze, durch Wurzelausläufer.
Letztere durchsetzen als überaus reichlich ver-
zweigtes dichtes Netzwerk die Eingeweide und
entziehen ihnen Saft und Kraft. Dieses gilt auch
ganz besonders für die Geschlechtsdrüsen, welche
schließlich aufgesaugt werden. Der Parasitenwirt
erweist sich somit geradezu als kastriert. Eine
Reihe von Forschern (Giard.G. Smith, Potts)
stellten bei einer Anzahl von Krabbenarten eine
auf die Kastration folgende verschiedengradige
Beeinflussung der Sexualcharaktere auf. Die präg-
nanteste wurde an den Dreieckkrabben (Inochus)
männlichen Geschlechtes beobachtet. Diese er-
warben zunächst äußere weibliche Merkmale, d. h.
einen verbreiterten, zum Schutz des Eierklumpens
bestimmten (umgeklappten) Schwanz und ver-
längerte dem Weibchen zur Befestigung dieses
Eierklumpens dienende Hinterleibsfüßchen. Darauf
aber entstand, an Stelle des abhanden gekommenen
Hodens, ein richtiger, offenbar aus heterogenem,
nicht sexuellem Zellmaterial aufgebauter Eier-
stock. Es dürfte dies das eklatanteste Beispiel
einer richtigen essentiellen Geschlechtswande-
lung beim ausgewachsenen Tiere sein.
In den vorliegenden Fällen haben wir es mit
einer gewaltsamen Beeinflussung der Sexualität zu
tun. Die an sich unumstößliche Tatsache, daß
zwischen pathologisch und normal keine strenge
Grenze gezogen werden kann, gehört aber zu den
noch nicht so recht allgemein zur Geltung ge-
kommenen Wahrheiten. Schon aus diesem Grunde
seien hier noch ein Paar Beispiele, und zwar unter
normalen Verhältnissen vor sich gehender Ge-
schlechtswandelungen essentieller Natur vorge-
bracht. Da wäre unser gemeiner Süßwasser- oder
Armpolyp, welcher, trotz seiner Winzigkeit den
Grauen erweckenden systematischen Namen Hydra
trägt. Im kontrahierten Zustande an Gestalt und
Größe ein Stecknadelköpfchen an einer Wasser-
pflanze, kann sich das Tierchen zu einem faden-
dünnen Schlauche von einem Zentimeter Länge
ausdehnen, dessen frei ins Wasser vorragendes
Mundende mit einem zierlichen Kranz von langen
F'angarmen umstellt ist. Von den im Hochsommer
so zahlreich auftretenden Individuen läßt sich wohl
schwerlich behaupten , sie wären so oder anders
geschlechtlich prädisponiert, denn sie pflanzen sich
nicht viele Generationen hindurch nur auf unge-
schlechtlichem Wege, durch Sprossen fort, welche
sich als neue selbständige Wesen vom Elterntier
abschnüren. Unter Umständen macht diese un-
geschlechtliche Fortpflanzung einer geschlecht-
lichen Platz. Es treten an gewissen Stellen der
Körperoberfläche entweder weibliche Geschlechts-
produkte oder männliche auf, oder wohl auch an
ein und demselben Individuum diese und jene
zugleich oder nacheinander. Hierbei erweist es
sich, daß reichlichere Kost und größere Wärme
die Hydra zum Eier erzeugenden Weibchen, ge-
ringe Wärme und schmale Kost zum Samen er-
zeugenden Männchen stempelt.
Nur im frühen Jugendstadium, als Larve,
durchsegelt die Auster auf Nahrungssuche die
Meeresfluten. Später wächst sie mit ihrer linken
Schale am Meeresgrunde fest und verharrt von
nun an zeitlebens als richtiger Faulenzer im per-
manenten Symposion mit unzähligen Seinesgleichen
auf der Austerbank, mit geöffnetem Maule Nah-
rungspartikel aufnehmend, welche ihr reichlich
und mühelos, gleich gebratenen Tauben des
Schlaraffenlands, zuströmen. Wie im Nahrungs-
erwerb, so zeigt sich die Auster auch im Ge-
schlechtsleben durchaus indolent. Ihre gereiften
Geschlechtsprodukte entleeren sich passiv ins um-
gebende Wasser. Hier treffen sich Eier und
Samen der vergesellschaftet angesiedelten Tiere
und geht die Befruchtung vor sich. Augenlos,
wie sie ist, hat die Auster nicht einmal das Zu-
sehen bei diesen Geschlechtsvorgängen ; und doch
könnte sie bei einer anderen Organisation, gleich
dem mythologischen Hermaphroditen, abwechselnd
als Mann und Weib empfinden. Ihr Hermaphrodi-
tismus ist aber ein durchaus eigenartiger: in ver-
schiedenen Lebensperioden erzeugen die Ge-
schlechtsdrüsen ein und desselben Tieres entweder
Samen oder Eier. So wechselt ein Individuum
sein Geschlecht, indem es zuerst Männchen, dann
Weibchen ist. ^)
Wie aber ist dergleichen überhaupt mit unse-
') Nur der größeren Anschaulichkeit halber wurde hier
bloß ein l^onkretes Beispiel aus dem Kreis der Weichtiere
herangezogen. In Wirklichkeit haben wir es mit einer für die
hermaphroditischen Gruppen sehr verbreiteten Erscheinung zu
tun. In diesem Tierkreis finden sich alle erdenklichen For-
men und Kombinationen von Sonderung und Vereinigung der
Geschlechter. Zu diesen gehören auch verschiedenerlei Er-
scheinungen von homochroner und heterochroner Reifung von
beiderlei Geschlechtsprodukten. Protandrie dürfte die Regel
sein ; ein Beispiel von Protogynie bieten die Limaeiden. Auf
dem Wendepunkt der Sexualität ist die Zwitterdruse auch
physiologisch eine solche, indem sich Eiej und Spermien in
ein und denselben DrüsenfoUikeln nebeneinander entwickeln.
6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. I
ren landläufigen Vorstellungen von weiblicher und
männlicher Sexualität vereinbar?
Es bleibt uns nichts weiter übrig-, als die Vor-
stellung abzulegen, Weiblich und Männlich wären
Gegensätze wie Schwarz und Weiß, Plus und
Minus, Ormuzd und Ahriman. Tatsächlich sind
Weiblich und Männlich nur Modifikationen ein
und desselben Seins. In gemeinsamen indifferenten
Urvvesen wurzelnd, prinzipiell identisch, gehen die
Einzelindividuen später im Namen einer Arbeits-
teilung auseinander, jedoch ohne jemals ihre prin-
zipielle Identität zu verleugnen.
Von einer weiteren Begründung dieser Vor-
stellung heißt es für diesmal Abstand nehmen.
Prof. A. v. Brandt-Dorpat.
Neues aus der Geologie.
Einen schätzenswerten Beitrag zur Kenntnis
des Grundgebirges des Schwarzwaldes gab Hans
Schwenke! in seiner musterhaft ausgestatteten
Arbeit: ,, Die Eruptivgneise des Schwarzwaldes und
ihr Verhältnis zum Granit", die Ende igi2 bei
Alfred Holder, Wien erschien.
In den einleitenden Bemerkungen betont
Schwenkel, daß der Begriff „Gneis" ini Schwarz-
wald durchaus geologisch gefaßt wird: ,,Man
nennt alle Gesteine Gneise, die älter sind als der
Granit und vollkristalline Beschaffenheit haben.
Man subtrahiert von den Komponenten des Grund-
gebirges die Granite, die Kieselschiefer des Kulm
und das sog. Übergangsgebirge, dann bleiben als
Rest die Gneise übrig". Der Granit enthält Varie-
täten, die allein petrographisch betrachtet Gneise
sind und der Gneis wiederum Varietäten, die als
Granite anzusehen wären. Um eine geologische
Trennung zu ermöglichen, wird auf eine rein
petrographische Begriffsbestimmung verzichtet. Es
erscheint deshalb am zweckmäßigsten, der Gneis-
formation die Gran i t form ation gegenüber-
zustellen.
Zur weiteren Orientierung ist vorauszuschicken»
daß nach L. van Werveke Schwarzvvald, Vogesen
Haardt und Odenwald Teile einer infolge seithchen
Druckes erfolgten Emporwölbung sind. Die Ur-
sache dieser Faltung ist dieselbe wie die der
Alpen. Durch weitere tektonische Vorgänge wurde
dieses einheitliche Gewölbe zerteilt. Der Schwarz-
wald verdankt seine heutige Gestalt dem tertiären
Rheintaleinbruch. In der Tertiärzeit erfolgte ein
gewaltiger Abtrag der hauptsächlich aus Jura und
l'rias bestehenden Sedimentdecke, wodurch das
Grundgebirge freigelegt wurde. Dieses stellt den
Rest des alten variskischen Gebirges oder der
karbonischen Alpen dar, die sich vom zentralen
Frankreich nach NO bis in die Gegend der Kar-
pathen erstreckten und denen die Vogesen, die
Ardennen , das rheinische Schiefergebirge, der
Harz, der Thüringerwald, das Firhtelgebirge, das
Erzgebirge, der bayrisch-böhmische Wald usw. zu-
zurechnen sind. Die von SVV nach XO streichende
variskische Richtung ist im Schwarzwald ver-
schiedentlich von Bedeutung und kann als die
tektonische Hauptlinie des Schwarzwaldes be-
zeichnet werden. Die Oberflächengrenzen der
Granitmassive, die zahlreichen Eruptivgänge, die
Quetschzonen und Gleitflächen verlaufen in dieser
Richtung. Manche Täler sind durch diese Rich-
tung beeinflußt. Die Auffaltung des variskischen
Gebirges fand im Unterkarbon statt und bereits
im Oberkarbon war es stark abgetragen. Im
Anschluß an die karbonische Faltung erfolgte die
Granitintrusion.
Das Grundgebirge ist im Schwarzwald stark
vertreten. Die Granite nehmen 4 große Massive
ein :
1 . das Nordschwarzwälder Massiv
mit dem Vorkommen von Baden-Baden,
2. dasTribergerMassiv mit den 3 Zungen
von Schapbach.Wittichen und Schenkenzeil,
3. das Schluchsee Massiv,
4. das Blau en Mas si v. Dazu kommen noch
5. der Turmalingranit von Nordrach,
6. der Eisenbac'her Zweiglimmer-
granit.
Die Gneise nehmen den Raum ein, aus dem
sie nicht von den Graniten verdrängt wurden.
Ein großer zusammenhängender Gneiskomplex
erstreckt sich vom Feldberg und Schauinsland
über das Höllental, Elz- und Kinzigtal zum Rench-
tal und unter der Sedimentdecke zwischen Kniebis
und Hornisgrinde durch zum Murgtal. Zahlreiche
kleine und größere Gneisschollen finden sich
außerdem im südlichen und nördlichen Schwarz-
wald. Die Gneise lassen sich natürlich in folgende
3 Gebiete gliedern :
1. die Kinzigtälermasse,
2. die Kandelmasse,
3. die Schauinsland-Feldberg masse.
Der Gneiskomplex.
Längere Zeit stand man der Gneisformation
ziemlich ratlos gegenüber. Erst die reichen Er-
fahrungen, die man in Kontakthöfen und in jüngeren
F"altengebirgen sammelte, wirkten umgestaltend
auf die alte Ansicht über das Grundgebirge, wo-
nach dasselbe die erste Erstarrungskruste der
Erde bilde. Verschiedentlich wurde der Beweis
erbracht, daß in ihm sedimentäres Material auf-
gearbeitet sei. Für den Schwarzwald waren die
grundlegenden Arbeiten von A. Sauer im Erz-
gebirge bahnbrechend. A. Sauer konnte sodann
im Schwarzwald wie im Erzgebirge 2 große
Gruppen von Gneisen aufstellen, deren Ausgang;s-
material vermutlich verschieden war, nämlich für
die eine eruptiv, für die andere sedimentär.
N. F. XIII. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Im Schwarzwald bedient man sich jeweils
folgender Bezeichnung:
Sedimentgneis = Renchgneis
= (Para = Körnelgneis).
Eruptivgneis = Schapbachgneis
= (Ortho = Granulitgneis).
Entsprechend ihrer Entstehung sind die Gneise
verschieden ausgebildet. Die Eruptivgneise
sind körnige Gesteine von gleichartiger Beschafifen-
heit mit einem mäßigen konstanten Glimmer-
gehalt und reich an Feldspat. Die Sediment-
gneise sind reicher an Glimmer (Biotit) und
Quarz, glimmerschieferähnlich, arm an Feldspat;
sie sind von rasch wechselnder Zusammensetzung,
ausgezeichnet durch Einlagerungen von Quarzit
und Graphitridschiefern (konkordant sich mehr-
mals wiederholend) und gehen manchmal in
graphitführende Gesteine über.
Eme scharfe Trennung der Eruptivgneise und
Sedimentgneise ist nicht immer durchführbar. In
den Randzonen verwischen sich die charakteristi-
schen Merkmale und es entstehen schwer zu ent-
zififernde Mischgneise. Schwenkel führt eine Reihe
von Merkmalen an, die zur Unterscheidung von
Eruptivgneis und Sedimentgneis im Gelände dienen.
Sofort in die Augen springend ist die sehr
gleichmäßige Ausbildung der Eruptivgneise und
die rasch wechselnde der Sedimentgneise, von
denen sich oft im engsten Räume die verschieden-
artigsten Abänderungen finden. Bereits bei der
Verwitterung zeigen sich scharfe Unterschiede.
Der Eruptivgneis verhält sich ganz ähnlich wie
der Granit, ist meist frisch erhalten und bildet
Blockhalden und Blockmeere. Der Sedimentgneis
dagegen ist in der Regel verwittert, indem ein
Zerfall nach den Glimmerlagen erfolgt. Dieses
verschiedene Verhalten von Eruptiv- und Sedi-
mentgneis hat seinen Grund in der verschiedenen
Zusammensetzung, Struktur und Textur.
In den Hauptgemengteilen unterscheiden sich
beide Gneisarten nur durch verschiedene Mengen-
verhältnisse, wogegen sich die Nebengemengteile
mehr oder weniger auf die eine oder andere Art
beschränken. Granit ist im Eruptivgneis weit
verbreitet, während Cordierit im Sedimentgneis
reichlicher auftritt. Orthit ist allein typisch für
den Eruptivgneis. Charakteristisch für den Sedi-
mentgneis ist der Reichtum an kalkführenden
Silikaten den sog. Kalksilikatfelsen wie auch an
reinem körnigem Kalk. Die abweichende mine-
ralische Zusammensetzung beider Gneise hat ihren
Grund in der Entstehung, welche auch auf die
Anordnung der Gemengteile von Bedeutung war.
Beim Sedimentgneis sind die Gemengteile
deutlich in Lagen getrennt, indem eine Sonderung
in Biotitlagen und Quarz-Feldspatlagen eingetreten
ist, während beim Eruptivgneis die gleichmäßige
richtungslose Verteilung von Quarz, Feldspat und
Glimmer charakteristisch ist. Deshalb zeigt der
Sedimentgneis echte Schichtflächen, die beim
Eruptivgneis fehlen.
Zusammenfassend läßt sich über die Eigen-
schaften der beiden Gneisarten sagen, daß die
Eruptivgneise eine einheitlich homogene Ausbil-
dung zeigen, die wir bei den Sedimentgneisen
vermissen, welche ein unruhiges Gepräge auf dem
engsten Räume besitzen.
Die Eruptivgneise des Schwarzwaldes bestehen
aus Glimmergneisen und Granuliten. Sicher er-
wiesen ist, daß manche Granulite saure Nach-
schübe aus dem Magmaherd des Eruptivgneises
darstellen. Eine große Anzahl von Pegmatiten
und Apliten sind als Spaltungsgesteine des Erup-
tivgneises zu betrachten. Die Gesteine der Erup-
tivgneisformation haben ihre chemischen Äqui-
valente in der Familie der Alkalikalkgranite. Der
Mineralbestand und die Struktur ist beim Erup-
tivgneis wie beim Granit auffallend ähnlich.
Die Tektonik des Gneiskomplexes ist außer-
ordentlich schwierig infolge der Vielheit der Er-
scheinungen. Das Gneisgebirge des Schwarzwaldes
ist sehr wahrscheinlich der uralte präkambrische
Zentralkern der karbonischen Alpen. Wohlge-
baute symmetrische Falten können nicht nachge-
wiesen werden. Der vielfältige rasche und un-
regelmäßige Wechsel von Eruptiv- und Sediment-
gneis ist auf die Intrusion eines Magmas von
granitischer Zusammensetzung in die Schichtfugen
aufgefalteter Sedimente zurückzuführen, deren
Falten hierbei ihren gesetzmäßigen Bau verloren
haben. Diese alten Faltenzüge scheinen durch die
karbonische Faltung nicht wesentlich verändert
worden zu sein. Dieselbe löste sich vorwiegend
mechanisch aus und bildete Quetschzonen und
Risse, die meist senkrecht einfallen und variskisch
(SW-NO) streichen; auf ihnen stiegen die Granite
zur Zeit des Karbons auf. Im Kinziggebiet be-
steht der Gneiskomplex aus zahlreichen schmalen
parallelen Zonen von Eruptiv- und Sediment-
gneisen, die im großen Ganzen variskisch orien-
tiert sind.
Untergeordnete Einlagerungen von länglichen
Schollen oder Linsen des .Sedimentgneises kommen
im PIruptivgneis vor und sind besonders in Form
sedimentärer Amphibolite leicht zu erkennen.
Der Eruptivgneis sendet viele Ausläufer in den
Sedimentgneis hinein. Besonders dessen saure
Abspaltungen, die Schizolithe, haben eine hohe
Injektionstendenz, die sich in Form feinster Adern
äußert.
Entstehung der Gneise. Der Mineral-
bestand wie die Struktur lassen auf eine Ent-
stehung in großer Tiefe, also unter den Bedingungen
der Regional metamorph ose (hohe Tem-
peratur und hoher Druck) schließen. Dies ist
aber nicht die Ursache der Gneisbil-
dung, sondern erst die Intrusion des
Magmas der Eruptivgneise in die Schicht-
fugen eines alten (präkambrischen?) auf-
gefalteten Schieferkomplexes führte zu
einer mannigfaltigen Aufblätterung und
Aufspaltung desselben. Unter der Kon-
taktwirkung des Eruptivgneismagmas
ging aus dem klastischen (präkambrischen?)
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. I
Sediment der Sedimentgneis, aus dem
flüssigen Magma der Eruptivgneis her-
vor. Die Eruptivgneise zeigen eine normale
Eruptivstruktur und kein kristalloblastisches Ge-
füge. Die Paralleltextur ist nicht durch Kristalli-
sationsschieferung entstanden, sondern sie ist eine
primäre und als Fluidalerscheinung aufzufassen.
Von großer Wichtigkeit ist noch die Beobachtung
von Schwenkel, daß der Eruptivgneis Nachschübe
von saurer (aplitischer) Zusammensetzung gebildet
hat. Wenn diese Gesteine in größerer Mächtig-
keit auftreten, ist ihre Textur eine umlaufende.
Nach zahlreichen Beobachtungen müssen diese
Gesteine den Gneis bereits parallelstruiert ange-
troffen haben. Demnach scheiden die karbonische
Faltung und der Granit von vornherein als Fak-
toren der Metamorphose aus.
Die Schwarzwaldgranite und ihr Ver-
hältnis zum Eruptivgneis.
Die Schwarzwaldgranite treten in mehreren
Massiven und sie begleitenden Gangschwärmen
auf. Nie ziehen sie sich in die Gneisfalten hinein
oder bilden Lakkolithe. Ihre Grenzen stehen
meistens seiger und schneiden die Gneise, soweit
sie nicht auch seiger stehen, schief oder quer,
also diskordant ab. Das Streichen der Gang-
granite und Massivgrenzen ist in der Regel
variskisch (SW-NO). Die Gneiszonen sind , wie
bereits erwähnt, ähnlich orientiert. Da das
Streichen und Fallen von Gneis- und Granit-
grenzen diskordant ist, so können die langhin
von SW nach NO sich erstreckenden Faltenzüge
von Gneis und Granit ihren Grund nicht in der-
selben Ursache haben. Für den Granit des
Seh war z Waldes muß ein unterkarbonisches
Alter angenommen werden. Der Schluchsee-
granit drang in die Langkircher Kulmschiefer
(Unterkarbon) ein und veränderte sie kontakt-
metamorph (Schluchsee, Herzogenhorn), er ist also
jünger als sie. Gerolle von Granit fanden sich
im Oberkarbon von Berghaupten und Diersburg.
Die Intrusion fällt also wohl in die Unterkarbon-
zeit. Die Spalten und Risse, nach denen die
Granite aufgestiegen sind, entstanden im Anschluß
an die unterkarbonischen Faltungsvorgänge. Für
die Gneise muß angenommen werden, daß die
präkambrischen Faltenzüge schon vor der karboni-
schen Faltung ungefähr in der Richtung SW-NO
orientiert waren. Das alte präkambrische Falten-
gebirge war also ähnlich orientiert wie das viel
jüngere Faltengebirge der Karbonzeit.
Die Kontaktwirkung des Granits gegen den
Gneis ist verhältnismäßig geringfügig. Die Sedi-
mentgneise wurden beträchtlicher verändert als
die Eruptivgneise. Die vom Granit ausgehenden
Injektionen sind immer lokal beschränkt und an
den Kontakt geknüpft. Eigentliche Mischgesteine
kommen nicht zustande. Giößere oder kleinere
Gneisfragmente, die noch als Eruptiv- oder Sedi-
mentgneis zu erkennen sind, sind häufig in den
Granit eingeschlossen und mehr oder weniger am
Rand umkristallisiert, selten eingeschmolzen oder
resorbiert.
Nach alledem muß also der Granit sowohl
Eruptiv- wie Sedimentgneise in dem-
selben Zustand angetroffen haben, in
dem sie heute noch vorliegen. Wenn
auch von verschiedener Seite behauptet wird, daß
die Granite mit den Gneisen vollständig ver-
schmelzen, ja sogar die Gneise geschaffen haben
sollen, so tritt Schwenkel dieser Auffassung scharf
entgegen. Die Granite des Schwarzwaldes
sind in hohem Maße selbständig und
abgegrenzt; ihr Alter kann mit größter
Sicherheit als unterkarbonisch ange-
geben werden. Die Gne ise dagegen sind
älter, wohl präkambrischen Alters.
Die bei der Gebirgsbildung sich äußernden
gewaltigen Druckkräfte haben den Gesteinen mehr
oder weniger ihren Stempel aufgedrückt. Plasti-
sche Tonschiefer konnten dem Druck leicht nach-
geben, wobei ihre kleinsten Teilchen glattgequetscht
wurden und sich dabei senkrecht zur Druckrich-
tung ordneten. Harte dünne Bänkchen, die keine
Ausquetschung zuließen, erlitten nicht selten eine
faltige Zusammenschiebung. Im h'ichtelgebirge,
bayrischen Wald wie auch in Schottland, Skandi-
navien usw. kommen in kristallinen Schie-
fern intensiv gefaltete Adern graniti-
scher Gesteine vor, die bis vor kurzem in
ganz ähnlicher Weise erklärt wurden. Neuerdings
ist verschiedentlich betont worden, daß die Faltung
in irgendeinem Zusammenhang mit dem Eindringen
des Granits in den Schiefer stehen müsse. In
einer beachtenswerten Arbeit : „Über ptygmatische
Faltungen"^) tritt J. J. Sederholm dieser Frage
näher und bezeichnet die in Rede stehende Fal-
tung, wenn sie in Arteriten, d. h. von Granit-
adern durchzogenen Gesteinen (meist kristalline
Schiefer) vorkommt, als ptygmatisch (nach
jTTL'yua das ,, Gefaltete").
Es gibt wohl keine andere Erklärung als die,
daß die überaus starke F'altung mit dem Ein-
dringen des Granits und einer wahrscheinlich da-
durch verursachten Erweichung des Schiefers im
Zusammenhang stand. Die Faltung hat vor
der vollständigen Erstarrung des Gra-
nits stattgefunden, da selbst an stark um-
gebogenen Stellen eine deutliche Druckschieferung
und sonstige Kataklaserscheinungen nicht zu be-
achten sind. Der Feldspat zeigt keine stärkeren
Druckerscheinungen, der Quarz ist etwas zerdrückt,
aber nicht stärker als bei Graniten entsprechend
hohen Alters. Alle diese Tatsachen zwingen zu
der Annahme, daß die Kristallisation des Adern-
materials erst nach der Faltung stattgefunden hat.
Dies ist nur in zweierlei Weise erklärlich. Ent-
weder hat eine Umkristallisation nach der Faltung
^} Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und Palä-
ontologie XXXVI. Beil.-Bd., H. 2, S. 491—512, 1913.
N. F. XIII. Nr. I
NatLirwissenschaftliclie Wochenschrift.
staltgefunden oder auch wurden die Adern im
Magmazustande vor der Erstarrung gefaltet. Da
keinerlei Anzeichen für eine Umkristallisation vor-
liegen, indem der Feldspat große einheitliche
Individuen bildet, die mit dem Quarz pegmatitisch
verwachsen sind, so kann nur eine Faltung im
Magmazustand in Betracht kommen. Von
besonderer Bedeutung ist die Permeabilität des
Schiefers für Gase und Säfte des Granitmagmas.
Das granitische Magma befand sich unter hohem
Druck und erkaltete relativ langsam. Bei sehr
heftigen Bewegungen konnten auch im granit-
durchtränkien, fast völlig flüssigen Gestein (Schiefer)
Risse entstehen, längs welchen reines, relativ
leichtflüssiges aplitisches Magma eindrang. Wenn
nun später die ganze Gesteinsmasse in
wallende Bewegung geriet, bewegten
sich diese so entstandenen Adern hin
und her und wurden dabei gefaltet. Die
Hauptbedingung für die Entstehung der jihygma-
tischen Faltung ist also neben der Permeabilität
auch noch eine große Plastizität des Nebengesteins
in unmittelbarer Nähe der Falten. Ist dieses
Nebengestein völlig starr, so geschehen die Be-
wegungen vorwiegend längs den Gangspalten.
Auch die Bewegungen in den halbflüssigen Ge-
steinsmassen geschahen wohl in vielen Fällen un-
gefähr parallel zum allgemeinen Streichen der-
selben. Wenn nun aber ein solches Hin- und
Hervvallen der Gesteinsmassen vor sich ging,
mußte es zu einer Faltung der ungefähr parallel dem
Streichen verlaufenden Adern führen, wie man es
tatsächlich häufig beobachtet. Nicht selten ist
eine verschwommene Begrenzung gewisser Teile
der gefalteten Adern. Auch in diesen verschwom-
men begrenzten Teilen , wo der Aplit die Um-
gegend gleichsam durchtränkt hat, sieht man noch
undeutlich erhaltene Reste der gefalteten Adern.
Die Faltung geschah somit früher, als die Grenzen
zwischen Adern und umgebendem Gestein ver-
wischt wurden. Man muß also annehmen, daß
auch nach der Faltung das Magma in den gefal-
teten Adern zirkulieren und sich über die an-
liegenden Gesteine ausbreiten konnte. An vielen
Stellen war zu beobachten, daß die gefalteten
Adern von anderen durchschnitten werden , die
ganz geradlinig verlaufen und dennoch im End-
stadium derselben Granitisationsperiode entstanden
sind, denn die Mineralien sind beidemal einander
vollständig ähnlich.
Nach Ansicht von Sederholm scheinen recht
große Verschiedenheiten zu bestehen zwischen
fluidalen Bewegungen in einem an der Erdober-
fläche freifließenden Magma und den fraglichen
Bewegungen hier. Nichts spricht dafür, daß ein
stetiges Fließen in irgendeiner bestimmten Rich-
tung stattgefunden hat, sondern es wird wohl eher
eine hin- und herschwankende Bewegung anzu-
nehmen sein. Sederholm bezeichnet die sehr ver-
breiteten adergneisartigen (arteritischen) Gesteine,
für welche diese Faltung das charakteristische
Merkmal bildet, als Ptygmatite oder ptyg-
matische Arterite (bzw. ptygmatische Mig-
matik). Die ptygmatische Faltung muß streng
von der durch rein mechanische Ursachen beding-
ten Faltung von Adern unterschieden werden.
In Sedimentkomplexen beobachtet man bis-
weilen eine gefaltete Bank inmitten völlig unge-
falteter Umgebung. Die Ursache der Faltung ist
hier natürlicherweise ganz anders als im vorher-
gehenden Fall. Auch nicht ein Zusammenschub
durch gebirgsbildende Vorgänge kann die Ursache
sein, da ein seitlicher oder senkrechter Druck im
allgemeinen nichts verschont und nur schwächer
oder stärker wirken kann. Die Ursache ist viel-
mehr in Gleitungsvorgängen unter dem
Einfluß der Schwerkraft zu erblicken.
Lockere unter Wasser abgelagerte Schichten kön-
nen, wenn sie auf einem schrägen Gang abge-
lagert sind, allmählich ins Gleiten geraten und
sich faltig zusammenschieben. Eine interessante
Darstellung subaquatischerGangbewegun-
gen und ihrer Unterscheidungsmöglichkeit von
ähnlichen Deformationsvorkommen gibt F". F.
Hahn in einer im Neuen Jahrbuch für Mineralogie,
Geologie usw. 191 3, Beil. Bd. XXXVI, H. i, S. i
bis 41 erschienenen Arbeit: Untermeerische Glei-
tung bei Trenton Falls' (Nordamerika) und ihr
Verhältnis zu ähnlichen Störungsbildern.
Der Trentonkalk ist eines der versteinerungs-
reichsten Glieder des amerikanischen Untersilurs.
Ohne Zweifel bildet er die Ablagerung eines
flachen epikontinentalen Ingressionsmeeres. Bei
Trenton Falls (Staat New York) sind die Trenton-
kalke vermutlich im ziemlicher Ufernähe abge-
lagert. Alle Beobachtungen weisen auf ein Flach-
wassersediment. Größtenteils liegen organogene
Kalksande in unregelmäßiger Aufbereitung vor:
Kreuzbettung, Wellenfurchen, Andeutung von
Trocknungsrissen. Im Verlauf einer oberflächig
abgelagerten Schichtfolge tritt plötzlich ein uner-
wartet heftiges Störungsbild bis zu 4 m Mächtig-
keit auf: Scharf verbogene Sättel und Mulden
wechseln mit Streifen wirrer Zertrümmerung, um
dann auszukeilen und zu weniger gestörten Bänken
seitlich überzuleiten. Zwischen die Fossiltrümmer
treten tonige Häute und Fladen derart, daß man
unwillkürlich an eine Bewegung der organischen
Fragmente innerhalb zähflüssigen Schlicks denken
muß. Zu verschiedenen Erklärungen haben diese
Bildungen Veranlassung gegeben (Belastungsdruck
der überlagernden Schichtmassen, seitlicher Kon-
gression usw.). Die Deformationsbilder ähneln
zwar den tektonisch erregten , umso auffallender
ist jedoch der Unterschied in den wesentlichen
Begleitcharakteren. Keine gestriemten Ruschel-
flächen, keine Streckungs- und Zerrungsphänomene,
keine klare Schleifbahn liegt vor, vielmehr ist
normaler Übergang in die auflagernde Sediment-
reihe, allmählicher Ausgleich gar oft nicht zu ver-
kennen. Weder im liegenden noch im hangenden
10
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. I
Gesteinskörper zeigt sich, wie man das bei einer
angenommenen Schubkraft aufs bestimmteste er-
warten sollte, irgendwelche Beeinflussung. Nach
alledem kann die cndostratische Störung von
Trenton Falls als eindeutiges Beispiel für submarine
Rutschung betrachtet werden. Weitere Vorkom-
men von Unterwassergleitung sind sowohl aus
der Gegenwart wie aus der geologischen Ver-
gangenheit bekannt. A. Heim berichtet über
neuzeitliche Vorkommen von subaquati-
scher Gleitung (Zug im Jahre 1887, Horgen am
Zürichersee 1875), wobei er ein rückwärtiges
Nachgreifen des Gehängefließens, die Geringfügig-
keit des notwendigen Anstoßes, die erstaunliche
Kleinheit des erforderlichen Böschungswinkels
(4 — 6"), eine Verbreitung bis zu 125 m Seetiefe
bzw. 1020 m Störungsweite klarlegen koimte.
Subaquatische Rutschungsvorgänge sowohl wie
allmähliches Gehängefließen sind in größeren
Seen unter dem Klima der gemäßigten Breiten
mit ihrem kräftigen, jahreszeitlichen Wechsel von
terrigener Materialzufuhr als Regel anzusehen.
Nach A. Heim haben wir ähnliche Vorgänge auch
im marinen Ablagerungsbereich zu erwarten; diese
knüpfen sich in erster Linie an den unmittelbaren
Küstensaum und besonders wieder an die Vor-
schüttungsränder der Deltas, dann auch an unter-
meerische Klippen und Barren. Längs des Küsten-
schelfs \on Westeuropa beziffert sich der mittlere
Böschungswinkel auf 13 — 14", im Maximum sogar
auf 2,0". Unter besonders günstigen Umständen
ist auch in größeren Tiefen eine Gleitverfrachtung
denkbar. Das Bodenrelief ist nicht selten recht
kräftig. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß
wir subaquatische Rutschungen zunächst nur in
der Küstenzone über dem Kontinentalsockel als
häufigen Vorgang erwarten können. Dagegen
wird dies unterhalb des Küstenschelfs , besonders in
größeren Tiefen dabei nur in Ausnahmefällen an-
zutreffen sein, da in erster Linie die rasche und
unsortierte Materialzufuhr, erst in zweiter die
Böschungsneigung hierbei in Frage kommen muß.
Zunehmender Wasserdruck wird sogar dem Gang-
abfließen ein Ziel setzen. Transport von Massen-
teilchen wird dann nur mehr in suspendierter
Form durch die Bodensole möglich sein.
Sind in einer Formation echte Rutsch-
und Staukeile häufig, so wird man gewöhn-
lich auf ein echt litorales Becken schließen
dürfen.
In auffälligem Gegensatz zu der scheinbaren
Dürftigkeit der rezenten Vorkommen, denen man
bei Hafen- und Uferschutzbauten, Kabelreparaturen
begegnet, steht die reiche Fülle von Stauchungs-
phänomenen, die aus diluvialen und tertiären
Schichten bekannt gemacht wurden. Insbesondere
in den Gebieten ehemaliger Vergletscherung sind
sie häufig. Wenn auch ein großer Teil dieser
Fälle durch den Druck des Eises entstanden ge-
deutet wird, so muß doch ein gewisser Teil sub-
aquatischen Rutschungen zugeschrieben werden.
Auch bei der Verlandung der weitverbreiteten
jungtertiären Binnenseen Mitteleuropas entstanden
recht günstige Bedingungen für subaquatische
Rutschungen.
Aus mesozoischen und paläozoischen
Ablagerungen von litoraler Flachwassersedimen-
tation sind Vorkommnisse echter submariner Rut-
schung bekannt; so aus den Solnhofener
Plattenkalken (Falten innerhalb der i — 1,5 m
dicken Störungszone bis zu 5 m Länge), aus dem
Oberen, Mittleren und Unteren Muschel-
kalk Schwabens und Frankens, aus dem
Unterdevon Ostkanadas, den bereits er-
wähnten Trentonkalken des Untersilurs
von Nordamerika und sogar aus dem Kam-
brium.
F.F. Hahn versteht unter subaquatischer
Gleit ung nur jenen Bewegungsvorgang
unter Wasser, der durch irgendeinen
akut wirkenden Anlaß ausgelöst, einen
zusammenhängenden Sedimentstreifen
den Gesetzen des Hangabtriebs unter-
wirft. Abwärtsbewegungen von mehr oder
weniger unverfestigten Massen werden als sub-
aquatisches (sublakristres bzw. submarines)
Hanggekrieche, solche in halbsuspendiertem
Zustand, somit irgendwelcher Deformationstextur
entbehrend, als Gefließe zu bezeichnen sein.
Nur der erste der beiden letzten Fälle wird in
einem Profil noch identifiziert werden können.
Das Äußere der bewegten Masse wird je nach
ihrer Konsistenz von schichtungslosem Brei
zu Pseudobrandungsbreccien, richtiger Gleit-
fragmenten wechseln. Die Gleitbewegung
kommt durch entgegenstehende Hindernisse oder
nach Aufzehrung der lebendigen Kraft durch Rei-
bung und Wasserdruck zur Ruhe, wobei aus dem
Gleitstreif ein Staukeil hervorgeht. An der Stirn
des Staukeils finden sich vorgeneigte,
dicht gedrängte, an seinem sich verdün-
nenden Ende zögernde seichte Stau-
falten.
Um aus der Ruhe in Bewegung gesetzt zu
werden, bedarf jedes Teilchen eines auch noch so
kleinen Impulses. Diese auslösenden Faktoren
lassen sich in zwei große Gruppen zerlegen :
1. solche, die in der Eigenart des Sedimenta-
tionsortes und der Sedimentationsart begründet
sind,
2. solche, die fremde Eingriffe bedeuten.
Zur ersten Gruppe gehören der ganz allmählich
sich sammelnde Überlastungsdruck an dem Ver-
schüttungsrande von Deltas usw., einschneidende
Änderung der Strömungsstärken, des Wasser-
drucks, der Temperatur, des Eisdruckes wie auch
der Richtung von Strömungen und Bodensolen.
Je ruhiger diese Faktoren eingreifen , desto un-
scheinbarer ist die Bewegung (Gekrieche und Ge-
fließe), je stärker und rascher der Impuls, desto
energischer das Gleitphänomen (echte Rutschung
bis zu rapider Förderung von Gleitfragmenten).
Der zweiten Gruppe sind besonders die durch
tektonische Ereignisse bedingten Störungen zuzu-
N. F. XIII. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
1 1
weisen (unterseeische Eruptionen, Nah- und Fern-
wirkungen von Seebeben, deren verheerende Kraft
aus dem Karibischen Meere und der Südsee be-
kannt sind). Selbst in Süßwasserseen vermögen
Erdbeben nicht unbeträchtliche Bodenbewegungen
auszulösen (Erdbeben vom i6. November 191 1
im Bodenseegebiet).
Da die subaquatischen Gleitungen noch Ana-
loga in ähnlichen Deformationen zeigen, so mögen
diese noch kurz besprochen werden. Gegen-
.stücke aufdem Lande sind Hangbewegungen
seitens von Lawinen, Murgängen, Steinströmen,
Böschungsverrutschungen. Bei täuschender Ähn-
lichkeit muß die letzte Entscheidung, ob sub-
aquatisch oder terrestrisch , stets auf Grund der
Fazies des bergenden Sediments erfolgen. Schwie-
rig ist es auch, Eisdruckphänomene von
Glcitfaltcn auseinander zu halten. Neben der
Untersuchung des ganzen in Betracht kommenden
Sedimentverbandes dürfte das verlässigste Krite-
rium in der Art der die Bewegung veranlassenden
Kraft gegeben sein. Das Eis drückt auf die ent-
gegenstehende Scholle. Die erste und stärkste
Deformation bildet sich auf der dem Druck zu-
nächst liegenden, der Stauungsrichtung aber ent-
gegengesetzten Seite ; bei subaquatischen Störungen
liegt Ausgang und Konzentration der Störung an
der Stirn des Staukeils in der Bewegungsrichtung.
Der Gleitfahung äußerst ähnlich sind auch tek-
tonische Gegenstücke. Ganze Formations-
pakete können als freie Gleitbretter bewegt wer-
den und ihre plastischeren Komponenten mögen
dann alle Arten sekundärer Stauchungsdeforma-
tionen zeigen. Auch können einzelne leichter
deformierten Glieder eines einzigen großen Druck-
verbandes die Faltung mehr oder weniger absor-
bieren. Als Unterscheidungskriterium im Vergleich
mit subaquatischen Störungsformen muß beachtet
werden, daß jede tektonische Faltungsdeformation
fast ausschließlich ein Druckphänomen unter er-
heblicher Hangendbelastung ist. Gleitflächen mit
Streifung eines gesetzmäßigen Bewegungssinnes,
die mehr oder minder intensive Mitbeeinflussung
des ganzen die Störungslage umhüllenden Ver-
bandes, vor allem die allgemeine örtliche Situation
muß die Entscheidung ermöglichen. Eine weitere
große Gruppe von Störungsphänomenen, die mit
jenen der subaquatischen Gangbewegungen ver-
wechselt wurden, hat F. Hahn unter dem Begriff:
Diagenetische Deformationen zusammen-
gefaßt. Die auffälligsten Vorkommen sind in
leicht löslichen Gesteinen , wie sie vor allem im
Gips- und Salzgebirge vorliegen, zu erwarten. Die
innerhalb der Gips- und Salzmassen vor sich
gehenden Umlagerungen vermögen sekundär ober-
flächliche pseudotektonische Fältelung und Rreccien-
bildung zu erzeugen. Trotz der fast horizontalen
Lagerung werden immer wieder tektonische Kräfte
zu Erklärungen herangezogen. Eine weitere Be-
obachtung knüpft sich an die Untersuchung des
mitteleuropäischen Muschelkalks. Die Flächen-
wirkung kleinstzelliger organischer und anorgani-
scher Strukturen vermag bei der Verwitterung
ähnliche Bilder zu erzeugen. Als Kriterium für
die diagenetischen Deformationen muß in erster
Linie das Bild selbst gelten. Ty])isch multi- bis
apolare Deformationen werden nur hier als Regel
auftreten.
* *
*
Viel umstritten ist immer noch die Frage nach
den Ursachen des Vulkanismus. Auf der einen
Seite suchen die Tektoniker die Hauptursache der
vulkanischen Erscheinungen in tektonischen
Störungen, während auf der anderen Seite die
Physiker diese in physikalischen Vorgängen im
Erdinnern erblicken. Beiden Ansichten gerecht
werdend, meint Doelter: „Die Hauptursache des
Vulkanismus liegt in der Gasimprägnation des
tiefen Magmas, welche durch Druckverminderung
explosiv wirkt. Die Druckverminderung wird
durch tektonische Vorgänge hervorgebracht."
Vielfach wird die Ursache zum Aufsteigen des
Magmas in der Spannkraft der im Magma ent-
haltenen Gase, besonders des Wasserdampfes ge-
sucht. Zahlreiche Geologen nehmen an, daß der
Wasserdampf als Urbestandteil im Magma ent-
halten sei, während wieder andere ein Eindringen
von Wasser auf Spalten von der EIrdoberfläche
her annehmen. Da heutzutage die überwiegende
Mehrzahl der Vulkane am Meere liegt, so glauben
letztere ihre Ansicht darin bestärkt, daß gelegent-
lich Wassereinbrüche erfolgen und durch ein Auf-
brodeln die Eruption bedingen. Demgegenüber
ist zu betonen, daß manche Vulkane fernab (bis
zu Soo — 1000 km) vom Meere liegen. Ihre häufige
Lage am Meere d. h. den Festlandrändern ist
durch die gemeinsame Tektonik bedingt. Immer-
hin zeigt der Vulkanismus eine große Bevorzugung
der Küsten und so war es von Interesse festzu-
stellen, ob in der Vergangenheit gleiche Verhält-
nisse herrschten. In einer lesenswerten Arbeit:
Lage und Beziehungen einiger tertiärer Vulkan-
gebiete Mitteleuro ()as zu gleichzeitigen Meeren
oder großen Seen nimmt Antonie Täuber*)
an Hand eines Überblicks über die ungarischen,
böhmischen, französischen und deutschen 'ehe-
maligen Vulkane zu dieser interessanten FVage
Stellung.
An Größe und Zahl sind die ungarischen
tertiären Vulkane allen anderen europäischen
weit überlegen. Die vulkanische Zone durchzieht
das ungarisch-steirische Neogenbecken vom Süd-
abhang der Karpathen bis zum Ostrand der Alpen.
Es gibt unter den ungarischen Vulkantypen solche
mit nur einmaligem Ausbruch (hierzu gehören die
basaltischen) ; die große Mehrzahl warf ihre Pro-
dukte jedoch durch lange Zeiten hindurch aus.
Die Ergußgesteine sind Rhyolithe, Trachyte,
Andesite und Basalte. Die jüngeren Andesite
überwiegen an Masse bedeutend die Trachyte.
') Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie U5w. Beil.
Bd. XXXVI, H. 2, S. 413—490.
12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. I
Basalte sind verhältnismäßig selten. Die Aus-
brüche beginnen bereits im Eozän und setzen sich
fort durch das Oligozän und Miozän bis ins Plio-
zän, vielleicht noch ins Pleistozän. Nach Uhlig
scheint sich „eine Art zeitlichen und örtlichen
Wanderns der vulkanischen Tätigkeit und in Ver-
bindung damit eine Modifikation der Eruptions-
folge zu vollziehen, deren Wesen und Gesetz-
mäßigkeit sich heute noch nicht in vollem Um-
fange beurteilen lassen".
Was die Beziehungen zwischen den ungarischen
Vulkanen und dem ungarischen Meere betrifft,
so scheint keinerlei Zusammenhang der Eruptionen
mit dem Meere vorhanden zu sein. Der Vulka-
nismus wird vielfach als Begleit- oder Ergänzungs-
erscheinung der Faltung der Karpatlien angesehen.
Der zeitliche und kausale Zusammenhang zwischen
den bedeutenderen jüngeren Krustenbewegungen
und den wichtigsten Eruptionen ist von Sawicki
jüngst nachgewiesen worden. Das Ausmaß der
Bewegungen war nicht überall gleich ; im W. zur
Miozänzeit , im O dagegen zur Pliozänzeit am
stärksten. Je weiter wir gegen Osten gehen, desto
stärker und auch jünger ist die ganze Bewegung.
Dem Wandern der Krustenbewegungen entspricht
ein solches der Eruptionen; zur Mittelmiozänzeit
im ungarischen Mittelgebirge, im Obermiozän
weiter im O und im Pliozän in Südsiebenbürgen.
Die Eruptionen fanden meist längs des Strandes
oder auf Inseln, also an den Rändern des Senkungs-
feldes und der stehengebliebenen Horste statt.
Die ungarischen Vulkane erweisen sich
demnach abhängig von Bodenbewegun-
gen, besonders Bodensenkungen und
dieses erklärt ihre Lage am Meere, das
von den gleichen Erscheinungen ab-
hängigist, da es jede zugängliche Senke
erfüllt.
Die böhmischen V^ulkane, welche vom
Oberoligozän bis zum Pliozän tätig waren, liegen
zumeist in der Senke, die im N. vom Erzgebirgs-
rande begrenzt wird. Die Ausbruchsstellen sind
jedoch auch weit über die Grenzen der Senke
hin verstreut. Zahlreiche Basaltkuppen sind den
flachen Wellen des Erzgebirges aufgesetzt. Gleich-
zeitige Meeresablagerungen treten im böhmischen
Vulkangebiet nicht auf. Die zunächst gelegene
Meeresgrenze war 150 km davon entfernt. Einige
kleinere Vorkommen lagen dem Meere näher,
z. T. wohl auch an der Küste, denn bei Ostrau
fanden sich basaltische Tuffe mit großen Meeres-
konchylien. Größere und kleinere Süßwasser haben
die nordböhmische Senke zur Zeit der ersten
Eruptionen erfüllt. Doch dauerten die Ausbrüche
noch an, als die Seen längst aufgeschüttet waren.
Das Gebiet des böhmischen ^Mittelgebirges und
seiner Umgebung war seit alter geologischer Zeit
der Schauplatz vulkanischer Tätigkeit. Während
des Tertiärs senkte sich der Norden Böhmens und
brach vom Erzgebirge ab (Gesamtsprunghöhe
stellenweise looo m). Dicht am Rande des Erz-
gebirgsabbruchs, also an der schwächsten Stelle
der Zerrüttungszone, wurde die Hauptmasse des
Magmas herausgepreßt. Periphere Ausbrüche
fanden sowohl im gesenkten Gebiet als auch auf
den Horsten in großer Zahl statt. Der Vulka-
nismus hängt also auch hier mit der
Tektonik zusammen.
Die Vulkane des französischen Zen-
tralplateaus bilden eine Reihe von Gebirgen,
die sich über eine Länge von 150 km erstrecken
und eine Oberfläche von 8000 qkm einnehmen.
Sie sind einer weiten geneigten Ebene aufgesetzt,
deren höherer von den Cevennen gebildeter Rand
steil gegen das Rhonetal abfällt, während sie sich
sanft zu den Ebenen der Loire und Garonne
senkt. Die Krustenbewegungen wie die vulkani-
schen Ausbrüche dauerten vom Miozän durch das
ganze Pliozän bis zu einem großen Teil des
Quartär. Das Magma brach entweder an ver-
einzelten Punkten oder längs Brüchen aus; manch-
mal drang es an derselben Stelle oder an dicht
benachbarten Punkten längere Zeit aus und häufte
hohe Berge an. Die bedeutendsten Cantal und
Mont-Dore müssen bis 3000 m hoch gewesen
sein, während sie jetzt nicht 2000 m erreichen.
Die mittleren Entfernungen der Vulkangebiete
vom Meere betrugen ca. 200 km. Die Vulkane
lagen während der ganzen Zeit ihrer Tätigkeit
auf dem Festland. Das Wasser umliegender Seen
kann keine wesentliche Bedeutung für den Vulka-
nismus geliabt haben. Als Ursache für die
vulkanischen Erscheinungen des Zen-
tralplateaus werden jetzt fast allge-
mein die alpinen Störungen angesehen.
Süd- und Mitteldeutschland war haupt-
sächlich zur Miozänzeit der Schauplatz reger, weim
auch nicht heftiger vulkanischer Tätigkeit. Im
süddeutschen Inseljura sind 3 Stellen von Bedeu-
tung. Nahe dem südwestlichen Ende der Alb
drangen im Hegau basische Schmelzmassen herauf,
die heute als Basalt- und Phonolithkegel z. T. aus
ihrem Tuffmantel heraussehen. Im Gebiete von
Urach finden sich zahlreiche Ausbruchskanäle, die
z. T. mit vulkanischem Tuff erfüllt sind. Das
Nördlinger Ries zeigt einen vulkanischen Kessel,
an und in dem liparitische Gesteine auftreten.
Die Eruptionen fanden im Obermiozän statt. Zu
dieser Zeit war das Meer mehr als 400 km von
der Alb entfernt. Im Vergleich mit den bereits
beschriebenen Vorkommen sind die geförderten
Auswurfsmassen verschwindend. Ein eigentliches
Ausbruchszentrum fehlt und nur winzige Vor-
kommen, die vielleicht den kleinen peripheren
\'orkommen der bisher besprochenen Vulkan-
gebiete entsprechen, sind über eine weite Fläche
verteilt. Danach könnte man schließen, daß die
tektonischen Störungen im Gebiete des Inseljuras
nicht so bedeutend sind wie in Ungarn, Böhmen
und F'rankreicli, was auch tatsächlich der Fall ist.
Von süddeutschen Vorkommen sind weiterhin
noch zu erwähnen der Kaiserstuhl (miozän) im
Rheintalgraben wie die geringen Eruptionserschei-
nungen im Odenwald.
N. F. XIII. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
13
Durch zahlreiche Ergüsse von Lavamassen,
deren Überreste z. T. auch heute noch stattliche
Vulkangebirg-e darstellen, ist die mitteldeutsche
Gebirgsch welle ausgezeichnet. Es sind haupt-
sächlich zu erwähnen im Rheingebiet: Eifel, Sieben-
gebirge, Westerwald, in der Hessischen Senke und
deren Rändern: Knüllgebirge und Habichtswald,
daran anschließend weiter nach N: Die Eruptionen
der Bergländer zu beiden Seiten der Weser, im
O nahe der Werra: der isolierte Tafelberg des
Meißner, im hessigen Waldgebirge: die Rhön und
südwestlich davon die Basaltgänge des Grabfeld-
gaus. Im Wetteraugebiet werden ca. 2500 qkm
von den Laven des Vogelsberg, der größten deut-
schen Vulkanruine, bedeckt. Viele übereinander-
geflossene Lavaströme wechseln mit Tuffen und
tertiären Konglomeraten. Das ausgeflossene Ma-
terial blieb nicht immer gleich. Zuerst begann
die eruptive Tätigkeit mit Ergüssen von Phono-
lithen und phonolithoiden Trachyten. Dann folgten
abwechselnd in der Eruptionsfolge verschiedene
Basalte mit Trappe. Mit geringen Ausnahmen
sind die mitteldeutschen Vulkane nicht älter als
das Miozän. Die Entfernung der Meeresküste von
den Vulkanen betrug im Mittelmiozän durch-
schnittlich 100—240 km, im Unter- und Ober-
miozän wie im Pliozän noch mehr. Es erscheint
deshalb im ganzen Miozän der Einfluß des Meer-
wassers ausgeschlossen. In das Mittelmiozän ver-
legt man die starke Zerstückelung in Schollen,
welche alle deutschen Mittelgebirge aufweisen.
Die tek tonischen Bewegungen galten
als Ursache des gleichzeitig tätigen
Vulkanismus.
Von den besprochenen Gebieten mit erlosche-
nen Vulkanen lag seinerzeit nur Ungarn, aller-
dings das größte direkt am Meere. Die mittlere
Entfernung des Vulkangebiets vom Meere betrug
in Böhmen 1 50 km , in Frankreich 200 km , im
Albgebiet ca. 400 km, in Mitteldeutschland 100
bis 240 km. Demnach kann, abgesehen von Un-
garn , das Eindringen des Meerwassers
als Ursache für die vulkanischen Er-
scheinungen nicht in Betracht kommen.
Süß Wasserablagerungen finden sich
in allen diesen meeresfernen Gebieten.
In Nordböhmen bestand anscheinend ein größeres
Becken zu Beginn der Eruptionen , ebenso am
Knüllgebirge. Der Vogelsberg lag dicht am
Mainzer Becken. Infolge des humiden tropischen
oder subtropischen Klimas stagnierte das Wasser
vielfach auf einer stark abgetragenen Fastebene.
Den besprochenen Vulkanen gemein-
sam ist das Auftreten in Zerrüttungs-
zonen. Die Mehrzahl von ihnen liegt am Rande
oder innerhalb von Senkungsfeldern. Wahrschein-
lich entsprechen Zeiten stärkerer tektonischer
Störung solche vulkanischer Tätigkeit.!
Nicht zu verkennen ist eine gewisse A b -
hängigkeit der Größe der geförderten
vulkanischen Massen von der Tektonik.
Je stärker das Ausmaß der tektonischen Störungen,
desto größer auch die Förderung. Die geförder-
ten Lavamassen sind am größten in Ungarn, dann
folgen Frankreich, Böhmen und Mitteldeutschland;
am geringsten sind sie im Tafeljura.
Eruptionszentren und eruptive
Haupttätigkeit lagen in Ungarn, Böhmen
und Frankreich an den Bruch randzonen,
von denen die Senkungsfelder absanken. Kleinere
Ausbruchstellen verteilen sich über die stehen
gebliebenen Horste wie über die gesunkenen
Schollen. Im Tafeljura weisen die Eruptionen
kein Zentrum auf; sie entsprechen etwa den peri-
pheren Ausbruchsstellen der größeren Vulkan-
gebiete.
Das Auftreten der Vulkane an und
in Senku ngsfe Idern erklärt ihre häufige
Lage am Meere, denn dieses erobert ihm zu-
gängliche Senken. Dies trifft von den unter-
suchten Gebieten nur für Ungarn zu. Der Zu-
sammenhang zwischen Meer und Vulkan ist nur
der einer gemeinsamen Abhängigkeit von der
Tektonik. Für sämtliche hier besproche-
nen tertiären Vulkangebiete ist wohl
die Tektonik als alleinige Ursache des
Vulkanismus anzusehen.
Das Wesergebirge zwischen Porta- und Süntel-
gebiet von F. Löwe. Neues Jahrbuch für Mine-
mlogie usw. Beil. Bd. XXXVI, H. i, S. 113— 213,
1913-
Der zwischen der Porta westfalica und dem
Süntelgebiet liegende Abschnitt der Weserkette
ist im allgemeinen der höchste, breiteste und oro-
graphisch am meisten ausgebildete Teil des ganzen
Höhenzuges. Sowohl in Höhe als Breite fand von
VV gegen O eine Zunahme statt (Jacobsberg bei
Minden 176 m, Paschenburg oberhalb der Schaum-
burg unweit Hessisch-Oldendorf 336 m, Hohen-
stein nordöstl. Oldendorf 332 m). Die Scheitel-
linie der Kette ist durch zahlreiche in das Weser-
tal sich hinziehende kleine Ouertäler zerschnitten.
Der der Weser zugekehrte südliche Abhang
ist der steilere, der nördliche der flachere. An
vielen Punkten fällt der obere Teil des südlichen
Abhanges mauerartig ab, wie namentlich an den
Felsen der Luhdener Klippe, der Paschenburg und
des Hohensteins. Gewöhnlich tritt im übrigen
Teil des Abhanges ein mehr oder minder vor-
springender Rücken oder eine Stufe hervor. Der
Hauptrücken ist nördlich wie südlich von einer
Kette langgezogener Vorberge begleitet. Auf
einem derartigen Vorberg steht die alte Schaum-
burg. Die Entwässerung des Gebiets erfolgt auf
dem südlichen Hang durch zahlreiche kleine Bäche,
die schon nach kurzem Lauf der Weser zueilen,
auf dem nördlichen Hange vor allem durch die
bei Südhagen entspringende Aue, die erst bei
Petershagen die Weser erreicht. Das so darge-
stellte Gebiet ist ca. 20 km lang und im W
4 — 5 km, im O ca. 18 km breit.
14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. I
Als eine markante Gebirgsschwelle nimmt sich
die Weserkette im Liegenden der Schaumburg-
Lippeschen Kreidemulde und im Hangenden der
südlich liegenden Triashöhen aus, ist also kein
tektonisch selbständiger Gebirgszug. Die Hebungs-
linie schließt sich der NW — NO-Richtung aufs
engste an. Die Tektonik ist im allgemeinen ruhig
wie im Portagebiet. Am östlichen Ende macht
sich jedoch die Nachbarschaft des durch unruhigere
Lagerungsverhältnisse ausgezeichneten Süntel-
gebiets geltend. Das Streichen der Schichten ist
der Erstreckung des Gebirgszuges entsprechend
(WNW 20" OSO). Das Einfallen der Schichten
verflacht sich allmählich von W gegen O (im W
17", in der Gegend von Bernsen 13", in der
Wattendorfer Gegend 5").
Außer dem Diluvium und Alluvium sind in
unserem Gebiete Schichten vom Mittleren Keuper
bis zum Oberen Jura vertreten.
Trias form ation.
Mittlerer Keuper.
Schilfsandstein. 50 m mächtige, schmutzig
weiße bis graue Sandsteine mit schlecht erhaltenen
Pflanzenresten (Equiseten). Flachwasserbildung.
Die Berggipsschichten sind nicht mit
Sicherheit nachgewiesen.
Der Steinmergelkeuper zeigt zu unterst
hellgrüne oder grüne Mergel mit faustgroßen Kalk-
knollen. Ein früherer Gipsgehalt ist ausgelaugt.
Gegen oben stellen sich mehr oder weniger mäch-
tige Bänke von Steinmergeln ein.
Oberer Keuper.
Rhät. Zu unterst graue oder braungelbe
quarzitische Sandsteine mit schlecht erhaltenen
Pflanzenresten, als Terrainkante deutlich zu ver-
folgen. Darüber folgt das Protokardienrhät mit
kieseligen, dünnplattigen Sandsteinen und der
typischen Rhätfauna.
Die nun darüber lagernde
Juraformation
ist hauptsächlich an der Zusammensetzung der
eigentlichen Weserbette beteiligt.
Der Lias tritt als breiter Keil zwischen dem
Braunjuraband des südöstl. Teils des Wesergebirges
resp. Süntels und dem Großen Finnenberg-
Holtenser Triasgebiet zutage. Zumeist sind es
Tone oder Schiefertone, seltener Kalk, die nach
süddeutscher Bezeichnungsweise in die Quenstedt-
schen Stufen cx — 'C gegliedert werden.
Im Braunen Jura (Dogger) herrscht die
tonige Facies vor und nur im oberen Teile stellt
sich ein Sandsteinkomplex ein. Er besteht aus
mächtigen, sterilen, feinsandigen und glimmer-
haltigen dunklen Schiefertonen mit Bänken von
Toneisensteingraden, in denen die relativ seltenen
Fossilien, gewöhnlich verkiest, auftreten. Land-
schaftlich ist er durch ein sehr charakteristisches
Gelände welliger niedriger Hügelterrassen aus-
gezeichnet. Löwe gliedert den Braunen Jura nach
der französischen Bezeichnung in :
Bajocien (Schichten mit Lioceras opalinum.
Seh. mit Inoceramus polyplocus, Coronaten
Seh., Subfurcaten Seh., Parkinsonien Seh.).
Bathonien (Württembergicus Seh., Arbustigerus
Seh., Aspidoides Seh.) und
Callovien (Makrocephalen Seh., Ornatentone).
Die Arbustigerus Seh. bedingen die besonders
deutlich markierte Vorkette, aus welcher die
Erosion langgezogene Kuppen und Köpfe heraus-
modelliert hat. Die Arnatentone wie die Makro-
cephalen Seh. sind stark wasserführend und geben
oft Veranlassung zu umfangreichen Gebirgsstürzen.
Der Weiße Jura (Malm) unseres Gebiets
schließt sich mehr an den englischen und französi-
schen Jura als an den süddeutschen Jura an. Kalke
oder kalkige Sandsteine herrschen vor.
Unteres Oxford ien: entspricht den Heersumer
Seh. Kalkige Sandsteine, im oberen Teil
mit einem Ouarzithorizont.
Oberes Oxfordien: entspricht dem Korallen-
orlith (oberes Coralxag).
Besonders widerstandsfähige Gesteine (sandige,
orlithische Kalke mit Eisenflözen), die dem Weser-
gebirgszug sein Hauptgepräge verleihen und häufig
groteske Felspartien bilden (Papenbrink, Luhdener
Klippe, Paschenburg, Amelungsberg, Hohenstein).
Zahlreiche Steinbrüche und bergmännische Auf-
schlüsse (Klippenflöz bei Nammen bis 1890 ab-
gebaut ; Wohlverwahrtflöz bei Kleinbremen) zeugen
von seiner technischen Bedeutung.
Unteres Kimmeridgien: Kalke, seltener Tone,
Mergel oder Sandsteine. 35 m mächtig.
Ablagerungen eines flachen küstennahen
Wassers.
Mittleres Kimmeridgien: Dichte oder orli-
thische Kalke, Mergel und Tone ; 80 m mächtig.
Mit der Eintönigkeit der Schichten steht im
engsten Zusammenhang die Gleichförmigkeit der
einschließenden Fauna. Von besonderer strati-
graphischer Bedeutung ist das für Norddeutsch-
land sehr bemerkenswerte Auftreten von Aulaco-
stephanen, das auf faunistische Beziehungen zum
Weißen Jura Frankreichs hinweist.
Oberes Kimmeridgien: Tone, Mergel und
knollige dichte Kalke; 20—30 m mächtig.
Portlandien: blaue sandige Kalke und merge-
lige Tone; ca. 30 m mächtig.
Oberster Weißer Jura.
Entspricht den in Nordwestdeutschland als
Einbeckhäuser Plattenkalke, Münder Mergel und
Serpulit bezeichneten Ablagerungen, Purbeck-
Schichten aus NW-Deutschland mit Sicherheit nur
aus der Gilsmulde bekannt, sowie Serpulit wurden
nicht anstehend beobachtet.
Nach der Zeit des unteren Portlandien wurde
das nordwestdeutsche Meeresbecken immer flacher
und ist schließlich ganz vom offenen Meere abge-
trennt worden. Nur eine ganz ärmliche Fauna
konnte hier noch vegetieren. Da wohlerhaltene
Pflanzenreste nicht selten sind, wird in allernächster
Nähe Land gelegen haben.
N. F. XIII. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
15
Diluvium. Am Nord- wie am Südhang be-
decken nordische wie einheimische diluviale Ab-
lagerungen große Flächen. Wo eine Lücke im
Gebirgszug war, haben die Gletscher ihre Massen
hindurchgeschoben.
Victor Hohenstein.
Bücherbesprechungen.
A. Jacobi, Mimikry und verwandte Er-
scheinungen. (Die Wissenschaften, Bd. 47.)
2158. 8". Braunschweig 1913, Vieweg & Sohn.
— Preis 8,80 Mk.
Die Mimikrytheorie ist zurzeit eins der meist
umstrittenen Gebiete der Biologie. Nach einer
etwas schrankenlosen Verallgemeinerung der von
den ersten Beobachtern — Wallace, Bates, Fr.
Müller — begründeten Lehre hat eine starke Re-
aktion eingesetzt, die, nun wiederum über das
Ziel hinausschießend, bereits „das Ende der Mimikry-
theorie" verkündete. Mit der vorliegenden Schrift,
die in kritisch sichtender Weise dem Leser ein
Bild von dem derzeitigen Stande der Frage
geben, vor allem aber zu erneuten Beobachtungen
anregen will, hat der Verfasser sich um so mehr
ein Verdienst erworben, als eine Reihe der ein-
schlägigen Arbeiten und Mitteilungen in nicht
überall leicht zugänglichen Zeitschriften zerstreut
sind. Ein Literaturverzeichnis gibt dem Leser,
der sich gründlicher zu unterrichten wünscht, die
erforderliche Auskunft.
Mit vollem Recht betont Jacobi, daß der Name
Mimikry — im Sinne seiner Urheber — nur auf
die Ähnlichkeit eines Tieres mit einem anderen,
nicht der gleichen Art angehörigen Tier ange-
wandt werden dürfe, nicht aber auf jede beliebige
Schutzfärbung oder Schutzanpassung. Da jedoch
bei der Erörterung der Frage nach der Entstehung
mimetischer Ähnlichkeiten ganz ähnliche Erwägun-
gen auftauchen, wie bei anderen Schutzfärbungen,
so hat Jacobi diesen einige einleitende Kapitel
gewidmet. Dabei werden die Schutzfärbungen
von der in der Gestalt des Körpers oder einzel-
ner Teile begründeten schützenden Ähnlich-
keit unterschieden.
Der größte Teil des Buches aber behandelt
die Fälle der echten Mimikry und zwar bespricht
der Verfasser in systematischer Folge eine Anzahl
von Beispielen. Naturgemäß fällt der Hauptanteil
auf die Insekten , die über die Hälfte des Buches
einnehmen, und unter denen wieder die Mimikry
zwischen verschiedenen Schmetterlingen den größ-
ten Raum in Anspruch nimmt, während die mi-
metische Ähnlichkeit verschiedener Insekten mit
Stechimmen (Sphecoidie), Ameisen (Myrmecoidie)
und Käfern in besonders kurzen Abschnitten er-
örtert wird. Eine Anzahl der besprochenen Bei-
spiele, namentlich von Schmetterlingen, sind durch
Abbildungen veranschaulicht, deren einige farbig
sind. Zwischen den Kapiteln, die in kritischer
Auswahl über die wichtigsten Fälle von Schutz-
anpassung und Mimikry referieren , sind andere
eingeschaltet, in denen die mutmaßliche Entstehung
und Entwicklung dieser Anpassungen erörtert
bzw. die verschiedenen Hypothesen besprochen
werden. Die namentlich von Vosseier auf Grund
seiner Beobachtungen an algerischen Heuschrecken
vertretene Auffassung, daß es sich bei diesen
Fällen von Schutzfärbung um eine Art von
„Farbenphotographie" der Umgebung handle, be-
darf einstweilen noch einer direkten experimen-
tellen Bestätigung, die leider in diesem Falle, wie
Vosseier selbst schon früher ausgeführt hat, auf
zurzeit unüberwindliche Schwierigkeiten stößt. In
der von Eimer und seinen Anhängern vertretenen
Anschauung, daß Schutzfärbung und auch Mimikry
das Ergebnis bestimmter , nach organischer Ge-
setzmäßigkeit verlaufender Entwicklung (Ortho-
genesis) seien, die, ursprünglich ohne jede Be-
ziehung zu einer Schutzwirkung, erst später („zu-
fällig") den Charakter einer schützenden Anpassung
angenommen hätten, sieht Jacobi einen brauch-
baren Gedanken, insoweit dadurch die Schwierig-
keit vermieden wird, die ersten, an sich noch
nicht schützenden Stadien der Umbildung auch
schon selektiv zu erklären. Nur ist, wie der Ver-
fasser mit Recht betont, die Reihenfolge der Um-
bildungen bei dem Fehlen und der großenteils
vorhandenen Unmöglichkeit direkter Beobachtung
immer zweifelhaft. Wenig befriedigend erscheinen
dem Verfasser auch die Versuche, die Färbungen
durch Einwirkung äußerer Faktoren (Licht, Tem-
peratur, Feuchtigkeit) zu erklären, besonders da
unter äußerlich anscheinend ganz gleichen Be-
dingungen (z. B. in den Polarländern) viele Tiere
weiß, andere dunkel gefärbt seien, ja, daß ein
und dieselbe Art (Raupen des Lindenschwärmers,
Junischwärmers) Stücke von verschiedener Fär-
bung unter gleichen Lebensbedingungen aufweisen
kann. Hier muß allerdings die Möglichkeit spe-
zifisch oder individuell verschiedener Reaktions-
fähigkeit gegenüber gleichen äußeren Einflüssen
im Äuge behalten werden. Vom Standpunkt der
nützlichen Anpassung aus ist ebensowenig die
weiße Farbe der in wärmeren Ländern lebenden
Möwen, Reiher und Kakadus zu erklären, wie die
weiße Färbung eines so wehrhaften Tieres wie
der Eisbär und die dunkle Färbung der von ihm
verfolgten Robben. Wenn Werner andererseits
hervorhebt, daß die häufigsten sog. Schutzfärbun-
gen, nämlich die braunen und grauen, nicht wegen
ihrer Schutzwirkung so häufig seien, sondern weil
sie chemisch den einfachsten und verbreitetsten
Pigmenten nahestehen, daß es also zu ihrer Er-
haltung keiner Selektion bedürfe, und daß das
Grün sich in dieser Beziehung ähnlich verhalte,
so fordert Jacobi auch hier eine experimentelle
Nachprüfung. Die Erklärung durch eine psychische
Reaktion der Tiere, „durch eine Art Sehnsucht,
i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift,
N. F. XIII. Nr. I
ihrer Umgebung ähnlich zu werden", weist der
Verfasser für die Insekten, deren Färbung beim
erwachsenen Tier durch psychische oder nervöse
Einflüsse nicht zu beeinflussen sei, zurück, und
kommt zu dem Ergebnis, daß jedenfalls bei der
weiteren Ent wicklungder mimetischen Anpassungen
der Selektion eine wichtige Rolle zugefallen sei.
Daß Schutzfärbung und Schutzähnlichkeit in der
Tat in vielen Fällen vorliegt, dafür spricht die
Tatsache, daß es meist wehrlose, der Verfolgung
durch andere Arten ausgesetzte, wenig beweg-
liche — namentlich während der Tagesstunden
ruhende — Tiere sind, die solche Färbungen
zeigen; inwieweit eine Schutzwirkung wirklich
erreicht wird, dafür fehlt es leider noch an einer
hinlänglichen Zahl guter Beobachtungen, nament-
lich an freilebenden Tieren, doch kann auch die
entgegengesetzte Ansicht sich nicht auf ein ge-
nügendes Beobachtungsmaterial stützen.
Ähnlich wie mit der Schutzfärbung steht es
mit den Warn- und Schreckfärbungen, den „apo-
sematischen Färbungen", wie Poulton sie nennt.
Auch hier bedarf es in vielen Fällen noch sicherer
Beobachtungen, um die Fälle wirklicher, wirksamer
Warnfärbung festzustellen.
Ganz entsprechende Erwägungen sind nun für
die Entscheidung der Mimikryfrage maßgebend.
Der Verfasser geht hierauf in den einzelnen Ab-
schnitten der systematischen Übersicht mehrfach
ein, erörtert aber die ganze Frage am Schluß be-
sonders eingehend mit Rücksicht auf die Mimikry
der Schmetterlinge. Unter Hinweis auf die in der
einschlägigen Literatur bekannt gegebenen Beob-
achtungen hebt Jacobi hervor, daß die nachahmen-
den Formen in ihrer Färbung, oft auch in ihrer
Gestalt (Flügelform) von ihren Artverwandten
wesentlich abweichen ; daß ihre Ähnlichkeit mit
geschützten, artfremden Formen keine völlige ist,
sondern sich nur auf auffällige, eine Verwechslung
leicht herbeiführende Züge erstreckt; daß örtlichen
Abänderungen der nachgeahmten Art auch ähn-
liche Abänderungen der nachahmenden Art ent-
sprechen, daß beide Formen örtlich und zeitlich
zusammen vorkommen, aber in ihrer Lebensweise
(Bewegungsart) nicht immer miteinander überein-
stimmen. Ferner ist es bemerkenswert, daß die
weiblichen F"alter häufiger mimetische Anpassung
zeigen, als die männlichen. All diese Befunde
lassen sich im Licht der Mimikrytheorie verstehen
und können, wie immer ihre erste Anlage bedingt
sein mag, durch Selektion gefördert sein. Von
den Einwänden, die gegen die ganze Lehre er-
hoben wurden, beruhen einige auf einem Mißver-
ständnis dessen, was die Theorie überhaupt er-
klären will. Es fehlt aber auch nicht an sach-
lichen P_inwänden, denen wohl in vielen Fällen
eine Berechtigung nicht abzusprechen sein dürfte.
Inwieweit z. B. die uns auffallenden Ähnlichkeiten
auch zur Irreführung der verfolgenden Tiere —
im vorliegenden Fall meist Vögel — geeignet
sind, bedarf, trotz der prinzipiellen Ähnlichkeit im
Bau des Menschen- und \^ogelauges, noch näherer
Prüfung, namentlich wenn wir die neueren Unter-
suchungen über das Farbensehen der Vögel in
Betracht ziehen, auf die der Verfasser hier nicht
eingeht. Wieweit hierbei auch die, schon oben
erwähnte, , .Oberflächlichkeit" der Ähnlichkeit eine
Rolle spielt, mag auch weiterer Prüfung unter-
liegen, wenngleich die vom Verfasser angeführten
Angaben verschiedener Beobachter, daß einige
Schmetterlingsmännchen die Nachahmer oder auch
die Modelle ihrer Weibchen umwerben, also selbst
offenbar der Täuschung unterliegen, sicher von
Bedeutung sind. Daß die Orthogenesis und die
Plinwirkung äußerer Faktoren die Bedeutung der
Selektion für die Ausbildung mimetischer An-
passungen zwar einzuschränken, aber nicht aus-
zuschließen vermag, wurde schon bei der Dis-
kussion der Schutzfärbungen erwähnt. Endlich
ist aber auch der letzte sachliche Einwand, der
sich darauf stützt, daß Schmetterlinge von Vögeln
so gut wie gar nicht verfolgt werden, durch sichere
Beobachtungen, namentlich durch die von Doflein
in seiner „Ostasienfahrt" mitgeteilten, widerlegt
worden. Referent möchte hier auch auf die schon
vor Jahren von Kathariner und v. Kennel (Biol.
Centralbl., XVIII) mitgeteilten Beobachtungen hin-
weisen, die die genannten Autoren allerdings nicht
von einer ausschlaggebenden Bedeutung der Farben
zu überzeugen vermochten. Jacobi veröffentlicht
hier eine ganze Anzahl von .Abbildungen von den
Flügeln verletzter Schmetterlinge, die ganz den
von Doflein auf Ceylon gesammelten entsprechen
und daher wohl auch in ähnlicher Weise ent-
standen sein können.
Aus dem Vorhergehenden dürfte erhellen, daß
der Verfasser zwar im allgemeinen auf dem Boden
der Mimikrytheorie steht, daß er sich aber den
Bedenken, denen namentlich eine kritiklose Aus-
delmung dieser Lehre auf alle möglichen, nicht
durch einwandfreie Beobachtungen des lebenden
Tieres gestützten Museumsbefunde begegnet,
durchaus nicht anschließt. Es schließt die kleine,
inhaltreiche und lesenswerte Schrift mit den
Worten: „Jedenfalls möchte ich nochmals hervor-
heben, daß die Weiterführung von Versuchen
durchaus nötig ist, um zu einem annehmbaren
Endurteil über das Problem der Schmetterlings-
mimikry zu gelangen, und möchte gleichzeitig
allen, die schon dazu ablehnende Stellung einge-
nommen haben, ein vorurteilsfreies Abwarten
nahe legen". R. v. Hanstein.
Inhalt: Prof. .X. v. Brandt: Über Geschlechtswandelungen. — Victor Hohenstein: Neues aus der Geologie. —
Bücherbesprechungen: .A. Jacobi: Mimikry und verwandte Erscheinungen.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Herrn Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. I5.ind ;
der ganzen Reihe 29 Hand
Sonntag, den ii. Januar 1914.
Nummer ä.
Heilkraft der Natur und Heilkunst.')
(Nachdruck verboten.] Von Pfivatdozent Dr. Bruno Wolff, Assistent am Institut.
Aus dem pathologischen Institut der Universität Rostock (Direktor: Prof. Dr. E. Schwalbe).
Ein Blick auf die Geschichte der Medizin läßt
unschwer erkennen , in einem wie engen Zusam-
menhange mit den allgemeinen kulturellen, ethi-
schen, religiösen, vor allem aber naturwissenschaft-
lichen Anschauungen der Zeiten sich die Medizin
entwickelt hat.
Im besonderen sind für uns hier die Beziehun-
gen der Medizin zur Naturwissenschaft von Inter-
esse. Man darf wohl behaupten, daß die moderne
Medizin — als Wissenschaft betrachtet — heute
im wahren Sinne des Wortes zu einer Natur-
wissenschaft -) geworden ist ; denn, wenn auch die
Ausübung der Heilkunst dem Arzte eine Reihe
praktischer Aufgaben besonderer Art stellt, so
bleibt doch die Tatsache bestehen, daß allein von
allgemein naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten
aus die physiologischen und pathologischen Vor-
gänge und Zustände im pflanzlichen , tierischen
und menschlichen Organismus zu ergründen und
zu beurteilen sind.
„Das schönste Glück des denkenden Menschen
ist", sagt Goethe,'') „das Erforschliche erforscht
zu haben und das Unerforschliche ruhig zu ver-
ehren."
So müssen wir uns allerdings bewußt sein,
daß die Naturwissenschaft uns nur bis eben an die
Grenze der letzten Rätselfragen des Seins, die
das Gemüt wie den Geist seit Urzeit beschäftigen,
zu führen vermag. Was jenseits jener Grenzen
liegt, das Unerforschliche, gehört in den Bereich
unseres Empfindens, den nach dem Drange des
Herzens auszugestalten , sich dem Menschen un-
endlicher Raum bietet.*)
Der Naturwissenschaft aber bleibt die Aufgabe,
„der unverrückbaren Grenzen" eingedenk, die dem
objektiven Erkennen nun einmal gesetzt sind (E.
du Bois-Reymond),^) das Erforschliche in
immer weiterem Umfange zu erforschen. Die
Naturwissenschaft muß dabei nicht nur voraus-
setzen, daß die Ordnung der Vorgänge in der
Welt auf unabänderlichen Gesetzen beruht , son-
dern es ist ihr auch mehr und mehr gelungen,
in dem ewigen Getriebe der Natur solche Gesetze
zu ermitteln und sie vielfach sogar in die schlichte
Form einer mathematischen Gleichung überzu-
führen.
Gesetze regeln den Gang der Fixsterne und
Planeten im Weltall nicht anders, als das Fallen
des kleinsten Steines auf der Erde.
Gesetze und Ordnung beherrschen nicht nur
die anorganische Natur, sondern auch die organi-
sche Entwicklung hat sich — darauf deuten alle
Erfahrungen hin — nach nicht minder strengen,
wenn auch, wie es scheint, außerordentlich viel
komplizierteren Regeln vollzogen.
Wie aber nach natürlichen Gesetzen im Ver-
laufe unermeßlicher Zeiträume die Entwicklung
des ganzen Stammes der Pflanzen und Tiere vor
sich gegangen ist, so geschieht nach bestimmten
Gesetzen auch die Entwicklung der zahllosen
Einzelwesen, die heutigen Tages die Erde be-
wohnen.
Und nicht nur der normale Verlauf ihrer Ent-
wicklung ist — teils durch die inneren Anlagen
der Individuen, teils durch von außen wirkende
Faktoren — im naturwissenschaftlichen Sinne ge-
setzmäßig bestimmt, sondern ähnlich auch der
Eintritt und Ablauf derjenigen Prozesse, die den
gewöhnlichen Gang des Lebens hemmen oder
ungünstig beeinflussen und die von uns als Ent-
wicklungsstörungen oder als Krankheiten bezeich-
net werden.
Diese Tatsache mag manchem vielleicht selbst-
verständlich erscheinen ; es muß aber betont wer-
den, daß die Wissenschaft sich zu dieser Erkennt-
nis erst spät und nach vielen Kämpfen durchge-
rungen hat. „Erst spät", sagt der Physiologe
Justus Gaule, ^) hat die Wissenschaft gewagt,
„auch in dem Leben des Menschen nach Gesetzen
zu fragen. Es ist ein wunderbarer Schritt, sich
selbst nicht bloß als Subjekt, sondern als Objekt,
als zu erforschenden Teil der Natur aufzufassen."
Es ist auch zu betonen , daß gerade in der
Vorstellung des gesetzmäßigen Ablaufes der
Krankheiten vielleicht die wesentlichste Kluft liegt,
die die wissenschaftliche Medizin nicht nur von
dem sog. „Dämonismus" und Hexenglauben ver-
gangener Zeiten trennt, sondern auch von manchen
abergläubischen Strömungen der heutigen Zeit. ")
Als eine spezielle Aufgabe des Arztes können
wir es danach bezeichnen, die naturwissenschaft-
1) Nach einem am I. Dezember 1913 in der Aula der
Universität Rostock gehaltenen Vortrage.
*) Siehe hierzu ErnstSchwalbe, Vorles. üb. Geschichte
der Medizin. 2. Aufl. 1909. Seite 8. Es bedurfte langer
Zeit, sagt E. Seh walbe, „um die Medizin zu dem zumachen,
was sie heute ist, zu einer Naturwissenschaft'*.
Goethe: In „Sprüche in Prosa".
Vgl. u. a. August VVeismann's schöne Ausführungen
am Schlüsse seines Werkes : Vorträge über Deszendenztheorie.
Jena 1902.
^) E. du Bois-Reymond: Darwin versus Galiani. —
In ,, Reden''. I. Folge. Leipzig 1886.
") Justus Gaule: Die Stellung des Forschers gegenüber
dem Problem des Lebens. Leipzig. Veit u. Co. 1887.
■>) Vgl. Ernst Schwalbe; 1. c. (Geschichte der Medizin).
i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 2
liehen Gesetze zu erkennen , nach denen Krank-
heiten einsetzen und verlaufen. Es ist weiterhin
eine seiner Aufgaben, die in der Natur und durch
die Natur gegebenen Mittel zu finden, in ihrer
Wirkungsweise zu verstehen und anzuwenden, die
imstande sind, Krankheiten vorzubeugen oder sie
zu heilen.
Diese Heilmittel lassen sich zwanglos in zwei
große Gruppen einteilen:
Die einen sind in der Naturaniage des kranken
Geschöpfes — sei es ein Tier oder ein Mensch
— selbst begründet. Es sind Kräfte , die die
Natur in das Geschöpf gelegt hat und die dem
Organismus zum Schutz dienen, wenn unter ge-
wissen Umständen seiner Gesundheit oder seiner
normalen Entwicklung Gefahren drohen. Der
Arzt hat häufig nichts anderes zu tun, als der
Wirkung dieser Kräfte, die er nach Möglichkeit
zu kennen bestrebt sein muß, ihren Lauf zu lassen,
damit der Kranke die Gefahr überwindet, besser
vielleicht überwindet, als wenn irgendein von
außen herbeigezogenes Mittel angewendet werden
würde. Man kann in diesem Sinne wohl von
einer „Heilkraft der Natur" sprechen.
Auch die zweite Gruppe von Heilmitteln wird
uns selbstverständlich von der Natur dargeboten
oder ihre Anwendungsweise von der Natur er-
möglicht. Es handelt sich aber, im Gegensatz zu
den Schutzkräften, die im Körper des Kranken
von selbst in Tätigkeit treten, um künstlich her-
beizuziehende Heilkräfte, oder um besondere zur
Heilung des Kranken vorzunehmende Maßnahmen.
Diese Mittel können verschiedenster Art sein ; sie
können in Medikamenten, in physikalischen Ein-
wirkungen, wie Wärme und Kälte, oder — um
das jüngste Kind der Therapie zu nennen — in
Radiumstrahlen, oder in dem alten radikalen Mittel
des Chirurgen, dem Messer, bestehen. Auch der
psychische Einfluß, den der Arzt durch seine
Persönlichkeit, durch Beruhigung des Kranken u. a.
auszuüben vermag, muß in die Gruppe dieser
letzteren Heilmittel gerechnet werden.
Ob der Arzt nun in dem einen Falle zielbe-
wußt lediglich die inneren Kräfte des Kranken
ihre Wirksamkeit entfalten läßt, oder ob er im
anderen notwendige Hilfsmittel von außen herbei-
zieht, beide Male übt er selbstverständlich in dem
gleichen Maße „Heilkunst" aus.
Immerhin möchte ich hier — im Gegensatze
zur „Heilkraft der Natur" — von „Heilkunst" speziell
im Sinne der Herbeiziehung außerhalb des Kör-
pers liegender Heilkräfte sprechen.
Wenden wir uns nun einer Erörterung der
Heilkraft der Natur und der Heilkunst in Einzel-
heiten zu, so muß ich mich allerdings bei einem
Thema, das seinem Wesen nach so unerschöpflich
ist wie die Medizin selbst, darauf beschränken,
Heilkraft der Natur und Heilkunst in ihrem Gegen-
satz und in ihren engen Beziehungen zueinander
nur durch einige Beispiele zu erläutern:
„Tagtäglich beobachten wir, wie Krankheiten
oftmals in vollendetster Weise ohne das Eingreifen
irgendwelcher Kunsthilfe sich zurückbilden"; i) wir
sehen außerdem, daß in Fällen, wo eine Krank-
heit eine dauernde Veränderung des Körpers oder
eines seiner Organe bewirkt hat, die gestörte
Funktion dieses Organes durch andere Teile er-
setzt wird und daß vielfach dabei auch sekundäre
Formveränderungen eintreten, durch die der er-
littene Schaden mehr oder weniger ausgeglichen
wird.
Kaum ein Tier und wenige Menschen würden
wohl ein höheres Alter erreichen, wenn nicht oft
eine solche spontane Heilung eintreten könnte,
wenn nicht z. B. in blutenden Hautwunden die
Blutung häufig von selbst zum Stehen käme
und die Wunde ohne Behandlung, durch Ver-
klebung oder Uberhäutung zum Verschwinden
gebracht würde.
Wird ein Blutgefäß im Körper verschlossen,
so braucht der Teil, der dadurch vom Blut ab-
gesperrt wurde, nicht dauernd außer Ernährung
zu bleiben und abzusterben. Vielmehr kommt
es in vielen Fällen zur Ausbildung eines sog.
Collateralkreislaufes; d. h. es erweitern sich Ge-
fäße, die für die Ernährung des betreffenden Teiles
physiologischerweise nur eine untergeordnete Be-
deutung hatten ; allmählich bilden sich diese Ge-
fäße mächtiger aus, ihre Wand verstärkt sich und
auf diese Weise wird das von seinem ursprüng-
lichen Hauptgefäße abgetrennte Organ für die
Dauer hinreichend mit Blut versorgt und am
Leben erhalten. Viele chirurgische Operationen,
bei denen große blutende Gefäße unterbunden
werden müssen, werden nur dadurch ermöglicht,
daß der Körper eine genügende Blutversorgung
der durch die Unterbindung gefährdeten Teile auf
dem Wege des Collateralkreislaufes vorzunehmen
vermag.
Ist im Körper ein Knochen gebrochen, so tritt
nicht nur an der Bruchstelle eine Verklebung der
Knochenstücke ein, sondern durch eine weit-
gehende Umwandlung im Knochenbau kann die
Tragfähigkeit des Skeletteiles selbst dann wieder-
hergestellt werden, wenn die Knochenenden —
z. B. des Oberschenkels — nicht in gerader Rich-
tung, sondern schief miteinander in Verbindung
getreten sind.
Gewisse Veränderungen an den Nieren sowie
solche am Herzen beantwortet das Herz mit einer
sog. Hypertrophie, mit einer Verstärkung seiner
Muskulatur und einer dadurch erhöhten Herzkraft.
Die vermehrte Herzkraft vermag die durch den
Herzfehler beeinträchtigte Blutzirkulation oder die
durch die Nierenkrankheit erschwerte Ausscheidung
von Harn mehr oder weniger auf das normale
Maß zurückzuführen. Man spricht in einem solchen
Falle von einer „Arbeitshypertrophie".
Ist eine der beiden Nieren durch eine Er-
krankung vollständig außer Funktion geraten oder
') Zitiert nach Nothnagel: Die Anpassung des Orga-
nismus bei pathologischen Veränderungen. Wiener medizin.
Presse. 1894.
N. F; Xlir. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
»9
mußte sie vom Chirurgen entfernt werden, wie
dies heutzutage z. B. bei einer tuberkulösen Er-
krankung der Niere nicht selten geschieht, so
pflegt die andere, gesunde Niere sich zu ver-
größern und so stark zu funktionieren, daß der
Ausfall des Schwesterorgans vollkommen gedeckt
wird; sie tritt, wie man sagt, vikariierend für die
andere Niere ein. Das gleiche oder ähnliches gilt
auch für viele sonstigen Organe, so für die Lunge
und für Teile der Leber. Selbst der Ausfall der
ganzen Milz wird ertragen , dadurch daß — wie
wir annehmen müssen — die für das Blutsystem
wichtige Funktion der Milz von anderen Apparaten
des Körpers übernommen wird.
Von ganz besonderem Interesse ist die Fähig-
keit des Organismus, vieler Infektionskrankheiten
selbständig Herr zu werden. Wir werden auf
diese Erfahrung noch eii;mal zurückkommen und
werden sehen , daß in solchen Fällen gewisser-
maßen ein Kampf im Körper des Kranken zwischen
diesem und den feindlichen Krankheitserregern,
den Parasiten, sich abspielen kann, ein Kampf, in
dem zwar nicht immer, aber oft, auch ohne
Medikamente oder ärztliche Eingriffe der Kranke
schließlich den Sieg davonträgt.
Diese wenigen Beispiele mögen zunächst ge-
nügen, um die Heilkraft der Natur durch leicht
erkennbare Tatsachen zu beweisen.
Viel schwieriger ist es, eine Erklärung dafür
zu geben, durch welche Mittel die Natur die
Heilung bewirkt, und es muß ohne weiteres zu-
gegeben werden, daß man auf diesem Gebiete
über vieles noch im ungewissen ist. Andererseits
aber haben doch die Fortschritte der Medizin und
Biologie, besonders in der zweiten Hälfte des 19.
und im 20. Jahrhundert, manche tiefe Einsicht in
das geheimnisvolle Wirken der Natur im kranken
Körper gestattet.
Wollen wir hier wenigstens einen kurzen Blick
in dieses Geschehen tun, so müssen wir uns wohl
in erster Linie einem Vorgange zuwenden, der
für die Heilung und ihr Verständnis von grund-
legender Bedeutung ist, der sog. Regeneration. ^)
Unter Regeneration versteht man ,,die Wieder-
erzeugung verloren gegangener Körperteile" (Bar-
furth). ') Man unterscheidet eine physiologische
Regeneration, wie sie sich „an sog. Verbrauchs-
oder Wechselgeweben" (Borst),-) z. B. an der
Haut, an Haaren und Schleimhäuten abspielt, und
eine pathologische oder „traumatische" (Bar-
furt h)') Regeneration, die zum Ersatz krank-
hafter Defekte führt. Die pathologische Regene-
ration ist für uns hier von speziellem Interesse;
die Grundvorgänge aber sind bei der pathologi-
schen Regeneration die gleichen wie bei der
physiologischen und wie überhaupt beim normalen
Wachstum (W. Roux). ')
Selbst die einfachsten Organismen hätten ohne
die Fähigkeit der Regeneration '^) nicht entstehen
und bestehen können, da Verlagerungen und Ver-
letzungen ihrer Teile während des Lebens unver-
meidlich sind und durch selbsttätige Mechanismen
repariert werden müssen, wofern eine Dauerfähig-
keit der Lebewesen überhaupt möglich sein soll.
In der Tat zeigt sich, daß Regenerationsfähig-
keit im ganzen Tierreich von den niedrigsten
Tieren an bis hinauf zu den höchsten vorhanden
ist und daß die Geschöpfe diese Fähigkeit schon
von ihrer Entwicklung im Ei an besitzen. Ja
man darf, mit Bar f u rt h, ^) wohl behaupten, daß
,, Regeneration und Entwicklung einem gemein-
samen Urquell, der Produktionsfähigkeit der Orga-
nismen, entspringen" und daß die Regeneration
„so alt und ursprünglich ist, wie die Entwicklung".
Als eine allgemeine Regel kann es gelten, daß
die Fähigkeit zur Regeneration in der Jugend
größer ist als im Alter und daß, in Parallele
hierzu, niedriger stehende Tiere leichter regene-
rieren als höhere.
Es sei gestattet, diese allgemeine Regel etwas
näher zu erläutern:
Jedes höhere tierische Lebewesen entwickelt sich
aus einem Ei. Das Ei entspricht einer einzigen Zelle,
die die Fähigkeit besitzt, beim Vorhandensein ge-
wisser notwendiger Bedingungen die ganze weitere
Entwicklung aus sich hervorgehen zu lassen. Bei
seinem Entwicklungsgang teilt sich die Eizelle
zunächst in 2, dann in 4, 8 usw. Zellen. Man
nennt die ersten Teilungszellen des Eies auch
Furchungszellen oder Blastomeren.
Wenn nun von den beiden ersten Furchungs-
zellen des Eies die eine zerstört wird — wie dies
bei den Eiern gewisser niederer Tiere experimentell
geschehen kann — so sollte man erwarten, daß
dadurch die weitere Entwicklung entweder ganz
gehemmt wird oder daß vielleicht nur ein halber
Embryo entstände, da ja die volle Hälfte seiner
Anlage im Keime vernichtet wurde.
In der Tat gelingt es, bei den Eiern mancher
Tiere auf diese Weise halbe oder Viertelembryonen
zu erzielen (W. R o u x). *) Es gibt aber auch
') Siehe hierzu die Arbeiten von D. Barfurth über
Regeneration; vgl. speziell Barfurth; „Regeneration und
Transplantation in der Medizin". Samml. anat. u. physiolog.
Vorträge und Aufsätze, herausgegeben v. Gaupp u. Nagel.
10. Heft. Jena 1910.
^) Borst: Das pathologische Wachstum. In Aschoff's
Patholog. Anatomie. 3. Auflage. Bd. i. Jena 1913.
') W. Roux sagt: ,,Die Grundlagen bei der Postgene-
ration, der Regeneration und der normalen Entwicklung sind
dieselben." [Zitiert nach Barfurth) 1. c.).]
^) ,,Selbstregulalion" sagt W. Roux (zitiert nach Bar-
furth) in allgemeinerem Sinne. — ,, Gestaltende Selbstregulation"
eines Lebewesens ist nach W. Roux ,,die Regulation der
gestörten Organisation desselben durch in dem Lebe-
wesen selber gelegene , determinierende', wenn auch zum
Teil erst durch die Störung selber eingeführte physische und
psychische Faktoren." (W. Roux: Terminologie der Ent-
wicklungsmechanik der Tiere und Pflanzen. Leipzig 191 2.)
ä) D. Barfurth; 1. c.
■*) ,,Nach Besiegung von allerhand Schwierigkeiten gelang
es" W. Roux ,,bei einer größeren Anzahl von Eiern eine
der beiden ersten Furchungszellen ganz und für längere Zeit
oder dauernd von der Entwicklung auszuschalten. Trotzdem
entwickelte sich die überlebende andere Eihälfte weiter —
und lieferte deutlich rechte und linke halbe Embryonen".
20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 2
Tiere, bei deren Eiern aus isolierten Furchungs-
zellen keine Teilbildungen entstehen , sondern
normale ganze Embryonen, allerdings von ge-
ringerer Größe. *)
Diese merkwürdige Erscheinung hat man wohl
mit Recht damit zu erklären versucht, daß schon
nach Störungen, wie sie hier in der allerfrühesten
Zeit der Entwicklung stattgefunden haben, eine
Regeneration möglich ist und zum Ersatz der
ganzen verloren gegangenen Hälfte des Materials,
aus dem der Embryo physiologischerweise hervor-
geht, führen kann. -)
Auch weiterhin ist auf den frühen Entwick-
lungsstufen niederer Tiere die Regenerationsfähig-
keit sehr groß.
Wie sehr sie aber mit zunehmendem Alter
allmählich abnimmt, zeigt z. B. die von Bar-
furth'') festgestellte Tatsache, daß junge Frosch-
larven die abgeschnittene Anlage der hinteren
Extremität vollständig regenerieren können,
während ältere Larven und ausgebildete Frösche
dazu nicht mehr imstande sind.
Von anderen in das Gebiet der Regeneration
gehörigen Beobachtungen aus dem Tierreich sei
kurz noch folgendes erwähnt:
Krebstiere regenerieren Beine und Scheren,
Spinnen die Extremitäten. Insekten können im
Larvenzustande Fühler, Augen, Flügel und Glieder
wieder herstellen, erwachsene geschwänzte Am-
phibien und Reptilien den Schwanz.
Besonders merkwürdig ist die sog. Autotomie
oder Selbstverstümmelung bei Krebstieren und
Insekten. Die Tiere vermögen, wenn sie ange-
griffen werden, an einer bestimmten Stelle das
angegriffene Glied freiwillig abzuwerfen, sich durch
Preisgabe dieses Körperteiles dem Feinde zu ent-
ziehen und das Verlorene dann wieder zu ersetzen.
Viel geringer als bei den bisher genannten
Tieren, aber doch deutlich vorhanden, ist die
Regenerationsfähigkeit der Gewebe bei den am
höchsten entwickelten Geschöpfen, den Säuge-
tieren und dem Menschen.
Auf Einzelheiten kann ich hier nicht weiter
eingehen, sondern nur bemerken, daß man bei den
Säugern, außer der allgemein bekannten Regenera-
tion von Haaren, Nägeln und Geweihen, eine solche
s. W. Roux: Die Entwicklungsmechanik, ein neuer Zweig
der biologischen Wissenschaft. In Vorträge und Aufs, über
Entwicklungsmechanik; herausgeg. von W. Roux. Heft I.
Leipzig 1905.
') Experimente von K. Fiedler, Driesch, O. Hert-
w i g u. a.
') Die Erklärung des oben geschilderten verschieden-
artigen Verhaltens der Eier, je nachdem aus ihren isolierten
Furchungszellen Teilbildungen oder ganze Embrj'onen hervor-
gehen, erblickt W. Roux darin, „dalj das Ei sowohl einer
gewöhnlichen, typischen Entwicklung fähig ist, als auch einer
atypischen regenerativen, die nach Störungen und Herstellung
von Defekten am Ei eintritt" (zitiert nach Bar furth). .Auf
dem Standpunkt von W. Roux steht auch Bar furth.
Eine andere Auffassung vertritt, worauf hier nur kurz
hingewiesen werden kann, besonders O. H e r t w i g (s. O. H e r t -
wig; Allgemeine Biologie. 4. Auflage. Jena 1912).
') s. Barfurth: 1. c.
z. B. an der Haut und an Schleimhäuten, am
Knochen und an der Leber findet.
Regenerationsfähigkeit ermöglicht es somit
auch dem menschlichen Körper, einzelne verloren
gegangene oder schwer geschädigte Teile neu zu
erzeugen, und die Regenerationsfähigkeit wird da-
mit vielfach in letzter Linie auch beim Menschen
zur Ursache oder Vorbedingung einer Heilung.
Die Fähigkeit des Organismus zur genauen
Wiederherstellung verloren gegangener Teile wäre
aber doch nicht ausreichend, unter veränderten
Verhältnissen, wie sie durch eine Erkrankung oder
Verletzung geschaffen sein können, viele gerade
der merkwürdigsten Heilungen und Ausgleichs-
erscheinungen im Körper zu erklären. Tatsächlich
ist aber mit der Regeneration aufs engste eine
Anpassungsfähigkeit des Organismus an die neuen
Verhältnisse, also eine Umwandlungsfähigkeit des
Organismus, verknüpft.
Diese Anpassungsfähigkeit muß man zweifellos
als eines der wunderbarsten Phänomene in der
ganzen Welt der organischen Erscheinungen an-
sehen; denn ihr Resultat erweist sich, zwar nicht
immer, aber doch in der Regel, als ein für das
Individuum äußerst zweckmäßiges, als ein seine
„Dauerfähigkeit" (W. Roux)^) erhöhendes oder
überhaupt ermöglichendes.
Wir haben im vorhergehenden schon als Bei-
spiele aus der Krankheitslehre die Anpassungs-
fähigkeit des Herzens an bestimmte Erkrankungen
erwähnt, die es dem Herzen erlaubt, unter Um-
ständen mit vermehrter Kraft zu arbeiten und da-
durch Hindernisse oder Schwierigkeiten zu über-
winden, die sich der Zirkulation pathologischer-
weise entgegenstellen. Wir haben ferner die An-
passung einer Einzelniere im Körper an den Ver-
lust der anderen berührt sowie die Anpassung des
Knochens an Verhältnisse, die sich nach Knochen-
brüchen einstellen können.
Aehnlicher Beobachtungen heßen sich noch
viele anführen.
Auf die Anpassungsfähigkeit des Knochens
will ich etwas näher eingehen, weil bei diesem
Organ die Bedingungen besonders klar und ver-
ständlich zu liegen scheinen:
Schon der normale Knochen verdankt seine
Tragfähigkeit bei möglichst geringem Material-
aufwand dem Umstände, daß er einen vollendet
zweckmäßigen Bau besitzt. Seine äußere Form
wie seine innere Architektur, der Verlauf der
Bälkchen im Knochen, entspricht nämlich in der
überraschendsten Weise der Anordnung von Stützen,
wie sie die Baumeister nach mathematischen Prin-
zipien konstruieren, um ihre Bauten tragfähig zu
machen. Ist nun, um bei dem vorhin gewählten
Beispiel zu bleiben, der Oberschenkel gebrochen
gewesen und sind dann die Knochenstücke in
schiefer Richtung wieder miteinander in Ver-
bindung getreten, so würde selbstverständlich die
alte Architektur des Knochens nicht in die neuen
!■) W. Roux: 1. c.
N. F. XIII. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
21
Verhältnisse passen; denn ebensowenig, wie man
die Träger einer Brücke nach Belieben verbiegen
kann, ebensowenig würde der, durch eine schiefe
Aneinanderfügung der Bruchstücke gewissermaßen
verbogene, Knochen die Last des Körpers zu
halten imstande sein, wenn nicht die Natur in
vollendeter Weise, mathematischen Gesetzen von
Druck und Zug entsprechend, die innere Architektur
und äußere Form des Knochens weitgehend umzu-
bauen und den Bedürfnissen der Funktion anzu-
passen vermöchte (Julius Wolff)').
Diese Erscheinungder zweckmäßigen Anpassung,
die man, wie gesagt, auch abgesehen vom Knochen,
vielfach findet, ist also ein weiteres Mittel der
Heilung durch die im Organismus vorhandenen
Kräfte.
Wie sich nun aber die Anpassungsfähigkeit
und damit der zweckmäßige Bau der Tiere und
Pflanzen selbst wieder erklären läßt, ist eine Frage,
die uns vor eines der schwierigsten Probleme der
Biologie stellt.
„Solange Menschen empfinden und solange sie
denken," sagt der verstorbene bedeutende Wiener
Kliniker Nothnagel'^) in einem bemerkenswerten
Vortrage, „strebten sie, die handgreifliche Zweck-
mäßigkeit in der Einrichtung des Organismus auf
letzte Ursachen zurückzuführen: nach vorbedachten
Zielen geschaffen, teleologisch, wurde sie von den
einen aufgefaßt, als geworden, rein aus mecha-
nischen Gründen heraus entstanden, von den
anderen, als deren erster bereits im Altertum der
tiefsinnige Empedokles gelten kann."
Es würde zu weit führen, den heutigen Stand
der Frage hier eingehender zu erörtern. Kurz
bemerkt sei aber folgendes:
Das große Verdienst Darwin 's*) ist es, in
seiner Lehre von der „Entstehung der Arten" eine
biologische Erklärung für die im normalen Bau
und in den normalen Lebensgewohnheiten der
Tiere und Pflanzen überall zutage tretende Zweck-
mäßigkeit gegeben zu haben. Natürliche Zucht-
wahl im Kampfe ums Dasein führt nämlich, nach
Darwin, auf dem Boden der organischen Bildungs-
gesetze, immer wieder zur Auslese und Erhaltung
der ihren Lebensbedingungen am besten ange-
paßten Individuen und damit zur Erhaltung ihrer
Arten.
Das Zustandekommen aber der hier speziell
in Rede stehenden direkten Anpassungen, wie
wir sie im Organismus des einzelnen Individuums
— sozusagen unter unseren Augen — entstehen
sehen, wird durch Darwin 's natürliche Zuchtwahl
nicht ohne weiteres begreiflich.*)
') Julius Wolff: Das Gesetz der Transformation der
Knochen. Berlin, Hirschwald, 1892.
Siehe auch Julius Wolff: Über die Bedeutung der
Architektur der spongiösen Substanz. Zentralbl. für die
medizinischen Wissenschaften. 1869. Nr. 54.
^) Nothnagel: 1. c.
') Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten
an Tier- upd Pflanzenreich durch natürliche Züchtung. Aus
dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen
von H. G. Bronn. 2. Aufl. Stuttgart 1863.
Der Begründer der neueren Entwicklungs-
mechanik, W. Roux, aber hat ein Verständnis
auch dieser Vorgänge angebahnt. W. Roux*)
nimmt nämlich — ähnlich wie Darwin es ge-
wissermaßen im großen getan hat — so auch im
kleinen — , d. h. im Organismus selbst, unter den
unzähligen Zellen des Körpers, — einen Kampf
um Raum und Nahrung an. In diesem sog.
„Kampf der Teile im Organismus" tragen die
arbeitenden, d. h. die funktionell in Anspruch ge-
nommenen und daher der Funktion dienlichen
Zellen den Sieg davon ; diese Zellen erhalten sich
am sichersten, ernähren sich am besten und voll-
ziehen am energischsten die Leistungen, zu denen
sie physiologischerweise befähigt sind.") Beim
Knochen also, dessen Funktion im Ertragen von
Druck und Zug besteht, ist es das mechanische
Moment der Druck- und Zugwirkung in bestimmter
Richtung, das direkt die Entwicklung der ent-
sprechenden Struktur herbeiführt, indem „die Be-
anspruchung" „an den Stellen unzureichender
Festigkeit, also stärkerer Spannung der Knochen-
substanz, Anbildung von Knochensubstanz veran-
laßt" (W. Roux).')
Wie dem auch sei, jedenfalls darf man wohl
annehmen, daß die pathologischen Anpassungen
nur dann, aber überall da entstehen, wo sie nach
physikalischen, chemischen und biologischen Ge-
setzen sich entwickeln müssen (Nothnagel).*)
„Ob und welchen Zweck" aber „die Gesetze selbst
haben," sagt Nothnagel,*) „diese Frage stellt
uns wieder vor das große Daseinsrätsel überhaupt,
dessen Lösung auf induktivem Wege auch Riesen-
geister nicht anzustreben versuchten, dessen Schleier
die deduktive Spekulation anrührt, dessen gefühlte
Enthüllung, aber nicht begriffenes Verständnis nur
für das empfindende Gemüt erfolgt." —
Im speziellen möchte ich mit einigen Worten
*) Wie Julius Wolff (1. c.) hervorhebt, ist ,,der erste,
welcher — im Jahre 1876 — auf das Vorhandensein jener
die Frage von der direkten Selbstgestaltung des Zweckmäfiigen
innerhalb der einzelnen Organe und Gewebe der Lebewesen
betreffenden Lücke der Deszendenzlehre hingewiesen hat,
du Bois Reymond gewesen. Indem dieser Autor überdies
die Bedeutung der .Übung' für die Selbstvervollkommnung
der höheren Lebewesen, unter direkter Bezugnahme auf die
Entstehung der inneren Architektur der Knochen durch
.nutritive und forraative Reizung in den Richtungen des
größten Drucks und Zugs' hervorhob, hat er zugleich richtig
erkannt, daß die Ausfüllung jener Lücke durch die Dar-
legung der Abhängigkeit der Stoffwechselverhältnisse von der
Funktion geschehen müsse."
'>) W. Roux: Der Kampf der Teile im Organismus.
Leipzig 1881.
*) Die „trophisch vermittelte funktionelle Anpassung" be-
ruht nach W. Roux (Terminologie, 1. c.) darauf, „daß dem
funktionellen Reize, resp. der Vollziehung der Funktion eine
trophische, d. h. die morphologische Assimilation des Gewebes
und die sonstige gestaltliche Leistung des Gewebes: Wachs-
tum, Bildung von Interzellularsubstanz, ev. Zellteilung an-
regende Wirkung zukommt".
'; W. Roux: 1. c. (Die Entwicklungsmechanik, ein neuer
Zweig usw.).
*J Nothnagel : 1. c.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 2
nun noch auf die Heilkraft der Natur bei den
Infektionskrankheiten eingehen : ')
Der Körper des Menschen und der Tiere ist
den Angriffen der Bakterien nicht wehrlos preis-
gegeben; er verfügt vielmehr diesen Feinden
gegenüber über eine ganze Reihe von Schutz-
kräften.
Zunächst macht eine normale Beschafifenheit
des Körpers es vielen Bakterien unmöglich, über-
haupt in die lebenden Gewebe einzudringen und
krankhafte Veränderungen in ihnen hervorzurufen.
Einen mächtigen Schutzwall bietet z. B. die un-
verletzte äußere Haut dar. Viele Bakterien anderer-
seits, die mit der Nahrung in den Verdauungs-
kanal aufgenommen werden, tötet der im gesunden
Magen vorhandene Salzsäuregehalt.
Kommt es aber zu einem wirklichen Angrifif
der Bakterien gegen den Körper und zwingen die
feindlichen Bakterien dem Organismus den Kampf
auf, so treten im Körper hauptsächlich zwei große
Gruppen von Abwehrvorrichtungen in Kraft:
Einmal beginnen aus dem Blut und aus den
Geweben bestimmte Zellen, die mit Wanderungs-
fähigkeit begabt sind, auszuwandern. Wie Soldaten
dringen sie gegen den Feind vor, stellen sich den
Bakterien entgegen und suchen die feindlichen
Eindringlinge abzutöten und aufzufressen. Diese
Zellen hat man daher „Freßzellen" oder „Phago-
zyten" genannt.
Man nimmt an, daß die Fähigkeit der Freß-
zellen, eine bestimmte Bakterienart zu vernichten,
noch gesteigert wird, wenn sie den Kampf gegen
eine solche Art einmal glücklich zu Ende geführt
haben, und man glaubt, daß auf diese Weise die
nach einzelnen Infektionskrankheiten eintretende
Widerstandskraft oder „Immunität" gegen eine
neue Ansteckung mit denselben Krankheitserregern
zu erklären sei.
Die zweite Gruppe der Abwehrvorrichtungen
ist chemischer Natur. Sie besteht in dem Auf-
treten bestimmter chemischer Stoffe im Blute, die
die von den Bakterien gelieferten Gifte oder die
Bakterien selbst unschädlich machen. Man unter-
scheidet eine ganze Reihe solcher Stoffe, unter
denen die — die Bakteriengifte neutralisierenden
— sog. ,, Antitoxine" und die — die Bakterien
vernichtenden — sog. ,,Bakteriolysine" besonders
wichtig sind.
Durch eine Überproduktion derartiger Stoffe
während einer Infektionskrankheit, kann auch auf
diesem chemischen Wege Immunität gegen eine
neue Ansteckung bewirkt werden.
Für die Bildung der Antitoxine und verwandter
Stoffe im Blute hat Paul Ehrlich in seiner sog.
„Seitenkettentheorie" — ausgehend von chemischen
und biologischen Vorstellungen — eine Erklärungs-
möglichkeit gegeben. Ehrl ich 's Theorie, auf
die ich hier nicht näher eingehen kann, ist zu einer
der Grundlagen geworden für den Aufbau des
ganzen stolzen Gebäudes der heutigen Immunitäts-
lehre. — •
Diese nur wenigen Streiflichter, die ich hier
auf die Heilkräfte der Natur werfen konnte, dürften
einigermaßen dartun, wie groß die Bedeutung der
natürlichen Schutzmittel ist und wie hoch ihr
Wert von den Ärzten eingeschätzt werden muß
und eingeschätzt wird. —
Wozu brauchen wir aber dann überhaupt noch
eine besondere Heilkunst, wozu die verwirrende
Menge der Medikamente, Apparate und Opera-
tionen, das ganze gewaltige Rüstzeug der heutigen
Medizin? Es sind doch Medikamente und Opera-
tionen gewiß nicht ganz frei von Gefahren. Täten
wir nicht vielleicht besser, von dem Kranken nur
Störungen seiner Ruhe fernzuhalten und im übrigen
dem „natürlichen Heilverlauf" zu vertrauen ?
Gewiß, in vielen Fällen ist ein solches Ab-
warten, wie auch schon vorhin gesagt, die beste
und die einzig richtige Therapie.
Die soeben aufgeworfenen Fragen aber allge-
mein und kritiklos bejahen, das hieße die Heil-
kraft der Natur, ihr Wesen und ihre Grenzen,
vollkommen verkennen.
Einige wenige Beispiele mögen dies beleuchten:
Wir wissen ganz genau, daß Entzündungspro-
zesse am Wurmfortsatz des Blinddarms zuweilen
ohne wesentlichen Schaden von selbst zur Heilung
gelangen, indem sich haut- oder strangartige Ver-
wachsungen in der Umgebung des erkrankten
Darmteiles bilden. Wir wissen aber auch anderer-
seits, daß oft genug der entzündete und schwer
veränderte Darmteil plötzlich und unerwartet zer-
reißt, daß sein Inhalt sich in die Bauchhöhle er-
gießt und eine das Leben äußerst gefährdende
Bauchfellentzündung hervorruft. Nur die recht-
zeitig ausgeführte Operation bewahrt den Kranken
vor einer solchen Gefahr der Zerreißung oder des
Durchbruches und rettet dem Patienten somit in
vielen Fällen das Leben.
Auch der schief geheilte Knochen vermag die
Last des Körpers, wie erörtert, zu tragen; auch
das mit einem Klumpfuß geborene Kind lernt
laufen, weil die Natur die innere Architektur des
Knochens auch bei fehlerhafter Form der Funktion
anpaßt (J u 1 i u s W o 1 f f'j. Aber die volle Leistungs-
fähigkeit des normalen Menschen vermag doch
nur das geradegerichtete Bein , nur der durch
Orthopädische Maßnahmen aus der mißbildeten in
die natürliche Gestalt übergeführte Fuß seinem
Besitzer zu gewähren.
Ein Kind erkrankt an Diphtherie. Zahllose
Kinder, die von dieser Krankheit befallen wurden,
sind allerdings auch vor der Zeit der heutigen
Serumtherapie wieder genesen, weil ihre natür-
lichen Schutzkräfte ausreichten, das Gift der Diph-
theriebazillen zu überwinden. Zahllose Kinder
') Näheres hierzu siehe u. a. bei E. Schwalbe; AU-
gemeine Pathologie. StuUgart 191 1.
1) Julius Wolff: 1. c.
Siehe auch Julius Wolff: Über die Ursachen, das
Wesen und die läehandlung des Klumpfußes. — . Nach dem
Tode des Verfassers herausgegeben von Joachimsthal.
Berlin 1903.
N. F. XIII. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
23
k
aber sind auch der Ansteckung erlegen. Wir
müssen daher den Männern dankbar sein, die ge-
lehrt haben, das Gegengift gegen diese Krankheit
durch Tierimpfungen zu gewinnen, und die dadurch
die Möglichkeit geboten haben , den Körper in
seinem Kampfe mit den Parasiten wirksam zu
unterstützen.
Den unzweideutigsten Beweis aber für den
Wert der Schutzmaßnahmen bei einer Infektions-
krankheit bietet die Geschichte der Pocken-
erkrankung, um deren Bekämpfung durch die von
ihm im Jahre 1796 aufgefundene Methode der
Kuhpockenimpfung sich Jenner') unsterbliche
-Verdienste erworben hat.
Ein letztes Beispiel für die Notwendigkeit ärzt-
licher Kunstliilfe, das ich hier anführen möchte,
bieten die bösartigen Geschwülste, die im Sprach-
gebrauch des gewöhnlichen Lebens als „Krebs"
bezeichnet werden :
Man kennt bis heute keine natürliche Heil-
kraft im erörterten Sinne, die es dem Körper mit
einiger Zuverlässigkeit ermöglicht, solcher Neu-
bildungen Herr zu werden und zu verhüten, daß
die fortschreitende Geschwulst den Organismus
zerstört und ihm Kraft und Nahrung entzieht.
Wohl aber vermag dem Erkrankten, wenn auch
nicht in allen, so doch glücklicherweise in zahl-
reichen Fällen der rechtzeitig ausgeführte Eingriff
des Chirurgen dauernde Hilfe zu bringen.
Worauf also kommt es bei der Wahl zwischen
einem bloßen Warten auf die Wirkung der natür-
lichen Heilkraft und der Herbeiziehung ander-
weitiger Heilmittel, allgemein gesagt, an?
Erstens bedarf es zu dieser Entscheidung eines
möglichst genauen Verständnisses der natürlichen
Heilkräfte und ihrer Grenzen. Ein solches Ver-
ständnis immer mehr zu vertiefen, bleibt das
dauernde Ziel der medizinischen Wissenschaft.
Zweitens bedarf es, als Grundlage alles ärzt-
lichen Überlegens, der eingehenden Kenntnis des
anatomischen Baues des menschlichen Körpers
und seiner Funktionen im gesunden und kranken
Zustande. Diese Kenntnis, die Tausende von
F"orschern im Verlaufe langer Zeiträume allmäh-
lich angehäuft und übermittelt haben, kann selbst-
verständlich von jedem einzelnen durch neue
eigene Beobachtungen vermehrt werden; sie muß
aber und kann nur — das möchte ich ganz be-
sonders betonen — in ihren Grundzügen zunächst
immer durch ein eingehendes systematisches
Studium erworben werden.
Drittens ist die genaue Beurteilung des Einzel-
falles erforderlich, die Diagnose — zu der natür-
lich nicht nur die lateinische oder griechische
Benennung der Krankheit gehört, sondern die
eingehende Analyse des gesamten Zustandes des
Kranken und aller in Betracht kommenden Ver-
') „Am 14. Mai 1796 vollzog Edward Jenner (1749
bis 1823) in Berkeley bei London den berühmten ersten ent-
scheidenden Impfversuch, wodurch die Schutzkraft der Vakizi-
nation unwiderleglich bewiesen wurde." (Zitiert nach Pagcl;
Zeittafeln zur Geschichte der Medizin. Berlin 1908.)
hältnisse — und die Prognose, die Abschätzung
der Aussichten, die sich bei jedem einzelnen zur
Wahl stehenden Wege zur Heilung oder Besserung
des Leidens darbieten.
Endlich muß die persönliche Erfahrung häufig
den Ausschlag geben in Fällen, wo eine all-
gemeine Regel aufzustellen heute — und viel-
leicht auch in Zukunft — unmöglich ist.
Medikamentös-chemische und physikalische,
operative und psychische Therapie, sie alle haben
ihre besonderen zahlreichen Indikationen. Miß-
trauen aber verdient derjenige, der einseitig ein
einzelnes Mittel gegen alle möglichen Krankheiten
oder ein einzelnes Verfahren als Allheilmittel an-
zupreisen versucht; denn so mannigfaltig wie der
Bau und die Funktionen des Körpers und so
mannigfaltig wie die Krankheitsursachen sind auch
die Wege zur Heilung, unter denen die Wahl
auch für den Erfahrensten schwer sein kann.
Bei dem besonderen Interesse, das gerade die
neuesten Wege der Therapie begreiflicherweise
erregen, seien wenigstens einige kurze Bemer-
kungen zur modernen Chemotherapie und zur
Behandlung der Geschwülste mit Röntgen- und
Radiumstrahlen noch im speziellen gestattet:
Es ist anzuerkennen, daß eine Reihe von
Arzneimitteln, die sich am Krankenbette bewährt
haben, uralten Erfahrungen, zum Teil dem Volks-
gebrauch, zuweilen sogar den Gebräuchen wilder
Volksstämme, zu verdanken ist. Erst viel später
ist es dann gelungen, die Wirkungsweise dieser
Arzneimittel genauer zu verstehen, und erst die
neueste Zeit hat gelehrt, die wirksamen Bestand-
teile der angewendeten Kräuter und Kräuter-
extrakte in chemisch reiner Form darzustellen.
Als ein klassisches Beispiel zeigt einen solchen
Hergang der Dinge die Geschichte eines der ge-
bräuchlichsten und vortrefflichsten Arzneimittel,
der Digitalis.')
In einem gewissen Gegensatz hierzu steht nun
das Vorgehen der modernen Chemotherapie: mit
Hilfe der synthetischen Chemie und unter syste-
matischer Benutzung des Tierexperiments sucht
die Chemotherapie in zielbewußtem Vorgehen
chemische Substanzen von spezifischer Wirksam-
keit aufzufinden. Da die verschiedenen Zellen
des Körpers und die verschiedenen krankheits-
erregenden Parasiten zu den chemischen Stoffen,
je nach deren Konstitution, eine verschiedene
Beziehung — „Avidität", wie man es genannt
') Vgl. Kobert: Über die wirksamen Bestandteile und
die Verordnungsweise der Digitalis. — Korrcspondenzblatt
des Mecklenburgischen Ärztevereinsbundes Nr. 333 vom
25. Juni 1912: ,,Der erste Mensch, der" die Digitalis ,,zur
Heilung von Wassersucht in einem Gemisch von einigen
zwanzig Pflanzenarten verwendete, war ein altes Weib in
Shropshire. Sie kurierte damit mehrere von Ärzten auf-
gegebene Wassersüchtige. Das Geheimnis der Zusammen-
setzung dieses Kräutergemisches erbte sich in ihrer Familie
fort. Von dieser erhielt der Arzt William Withering
J775 das Rezept." ,,Nach zehnjährigem eifrigem Studium über
dieses Geheimgemisch", sagt Kobert, ,, veröffentlichte Wi t h e -
ring die herrlichste Monographie, welche je ein Arzt über
ein Mittel des Pflanzenreiches geschrieben hat,"
24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 2
hat, — haben, so kommt es, beispielsweise bei
einer Infektionskrankheit, darauf an, ein Mittel
aufzufinden, das die Bakterien, womöglich mit
einem Schlage, vernichtet,') das zu den Zellen des
Körpers aber keine chemische Verwandtschaft
besitzt und den Organismus daher unangegriffen
und ungeschädigt läßt.
Mit dem chemotherapeutischen Vorgehen
haben die Bemiahungen zur Heilung bösartiger
Geschwülste mit Röntgen- und Radiumstrahlen
eine gewisse Ähnlichkeit :
Man hat nämlich festgestellt, daß unter der
für lebendes Gewebe schädlichen Einwirkung der
Röntgen- und Radiumstrahlen nicht alle Bestand-
teile des Körpers in gleichem Maße leiden.-) Es
sind vielmehr besonders die jungen, in lebhafter
Fortpflanzung befindlichen Zellen, die geschädigt
werden. Zu diesen gehören, außer den Zellen
einzelner bestimmter Organe des Körpers — z. B.
der Keimdrüsen — auch gerade die Zellen der
bösartigen Geschwülste. Die Röntgen- und Ra-
diumtherapie bei bösartigen Geschwülsten geht
daher darauf aus, diese Eigenschaft der Straiilen
in dem Sinne auszunutzen, daß unter der Wirkung
der Bestrahlung die Zellen der Geschwulst zum
Absterben gebracht werden sollen, während die
gesunden Gewebe möglichst unversehrt bleiben.
Ob und inwieweit sich die Hoffnungen erfüllen
werden, die man an die Chemotherapie und an die
Radiumbehandlung der Geschwülste in der neue-
sten Zeit geknüpft hat, muß allerdings erst die
Zukunft entscheiden. —
In den Vordergrund meiner Ausführungen habe
ich, meinem Thema gemäß, die naturwissenschaft-
liche Betrachtungs- und Denkweise in der Medizin
gestellt; es war meine Absicht, dabei einiger-
maßen zum Ausdruck zu bringen, wie etwa sich
im Kopfe der Arzte heute vom naturwissenschaft-
lichen Standpunkt aus die Dinge spiegeln.
Ich deutete aber schon eingangs an , daß das
naturwissenschaftliche Verständnis allein allerdings
den Arzt nicht ausmacht. Ganz abgesehen von
der notwendigen Technik, kommt vielmehr selbst-
verständlich bei der Ausübung der Heilkunst auch
eine Reihe von Gesichtspunkten in Betracht, die
hier zu erörtern nicht meine Absicht war, auf
die ich aber wohl als auf ,, ethische und soziale
Gesichtspunkte" wenigstens hinweisen darf.
Alles zusammen ist notwendig, um es der
Heilkunst zu ermöglichen , in einer der ersten
Reihen mitzuarbeiten an der großen, immer-
währenden Aufgabe, an der Aufgabe, dem Vater-
lande ein Geschlecht zu erhalten und heranzu-
ziehen, gesund an Körper und Geist und kräftig
genug, „die Forderung des Tages" ■'') zu erfüllen.
Zum Schlüsse noch einige Worte:
Es wird erzählt, ') daß beim ersten Aufstieg
der Brüder Montgolfier in die Lüfte eine geistreiche,
82 jährige Dame, die Marquise Villeroy, ausgerufen
habe : ,,Die Menschen, die Menschen, sie werden
noch ein Mittel gegen den Tod erfinden!"
Ich will hier nicht erörtern, ob ein solches
Mittel dem Menschengeschlecht oder dem ein-
zelnen zu wünschen wäre. Aber wir dürfen uns
vielleicht fragen, ob nach den gewaltigen F"ort-
schritten der Wissenschaft und Technik, im Jahr-
hundert des lenkbaren Luftschiffes und der Röntgen-
strahlen, man dem Ziel, ein solches Mittel zu
finden, etwa näher gekommen ist.
Es mag sein, daß bemerkenswerte Ver-
suche, die in der jüngsten Zeit mit der Über-
pflanzung von ganzen Organen von einem Indi-
viduum auf das andere zum Ersatz verloren-
gegangener Teile vorgenommen wurden , die
Phantasie in abenteuerliche Fernen führen könnten.
Ich glaube aber doch, daß zu dem Problem
einer Lebensverlängerung kurz folgendes zu be-
merken wäre: -)
Entwicklung und Wachstum sind an einen
vorgeschriebenen Weg gebunden, dessen Richtung
und Grenzen in der Keimanlage gegeben und
durch die im Keime enthaltene Lebensenergie —
die „bioplastische Energie" (C. Weigert),-) wie
man sie genannt hat, — bestimmt sind.
Die bioplastische Energie reicht nun zwar
nicht nur aus, um das Wachstum zur Vollendung
zu führen, sondern auch nach Beendigung des
Wachstums sind, wie aus dem vorhin Erörterten
hervorging, die bioplastischen Kräfte in der Lage,
geschädigte Gewebe durch Regeneration wieder
auf den alten Zustand zurückzuführen. „Aber all-
mählich nimmt die Fähigkeit zur vollkommenen
Reparation deutlich ab. Die Gewebe werden nur
unvollkommen restituiert, endlich versagt eines
oder das andere, was zum Leben absolut notwen-
dig ist, seinen Dienst, und dann tritt das ein, was
unser aller Schicksal ist, der Tod." ')
Eine Steigerung der bioplastischen Energie
aber, wie sie bei einer künstlichen Verlängerung
der physiologischen Lebensdauer notwendig wäre,
käme auf eine Art „Urzeugung" hinaus. So wenig
indessen, wie wir bisher eine Urzeugung beob-
achtet haben und so wenig wahrscheinlich es ist,
daß wir jemals Leben allein aus Leblosem hervor-
•) „Therapia magna sterilisans" (Paul Ehrlich).
-) Siehe liierzu Genaueres bei A skanazy: Auflere Krank-
heitsbedingungen.— InAschoff's: Pathologische Anatomie.
3. Auflage. I. Band. — Jena 1913. «
^) „Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des
Tages". (Goethe; In „Sprüche in Prosa".)
') Zitiert aus: Riebesell,; Der]_Kampf gegen den Tod.
Naturw. Wochenschr. 191 3, Nr. 28.
'] Die obigen Ausführungen über die „bioplastische
Energie" schließen sich an die Theorien des verstorbenen
Pathologen Carl Weigert an. Siehe C. Weigert: Gesam-
melte .Abhandlungen. Herausgeg. von Rieder, Berlin 1906.
■'') Zitiert nach C. Weigert: Neue Fragestellungen in der
pathologischen Anatomie, 1896. In Weigert's gesammelte
Abhandlungen, Berlin 1906.
Hinsichtlich der ,, Unsterblichkeit der : Einzelligen" und
der ,, Unsterblichkeit des Keimplasmas" siehe .A. We ismann:
1. c. und C. Weigert (1. c). — „Nur der Körper ist sterb-
lich im Sinne eines normalen Todes, die Keimzellen besitzen
die potentielle Unsterblichkeit der Einzelligen, und sie müssen
sie ebensogut wie jene besitzen, wenn nicht die Art aufhören
soll zu existieren" (A. Weismann, 1. c).
N. F. XIII. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
25
rufen und auch nur eine einzige lebende Zelle
aus anorganischer Materie, etwa im Reagenzglas,
entstehen lassen können, so wenig ist zu hoffen
oder zu erwarten, daß wir die bioplastische Energie
der Körperzellen zu vermehren vermögen; denn
jedem Geschöpf hat die Natur Maß und Grenzen
gesetzt, die in seiner ureigensten Individualität von
seiner Entstehung an begründet sind. —
In diesem Sinne werden von uns erfaßt und
ergreifen uns die Worte, die Goethe ') in seinem
wunderbaren, „Urworte" benannten Gedichte ge-
prägt hat:
„Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
„Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
„Bist alsobald und fort und fort gediehen
„Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
') Goethe hat die „Urworte" selbst in Prosa erläutert.
Die oben wiedergegebenen Worte stammen aus der mit der
besonderen Überschrift „JaUnov, Dämon" bezeichneten Strophe
des Gedichtes. Goethe bemerkt dazu (in „Ethisches"):
„Der Dämon bedeutet hier die notwendige, bei der Geburt
unmittelbar ausgesprochene, begrenzte Individualität der Person,
das Charakteristische, wodurch sich der Einzelne von jedem
anderen, bei noch so großer Ähnlichkeit, unterscheidet."
Die Chinesen und der Schmetterling.
[Nachdruck verboten.]
Der Chinese steht den belebten und leblosen
Naturgebilden mit der Frage gegenüber: „Wie
läßt sich das nutzbringend verwenden?" Daß
diese Fragestellung nicht durch das Fehlen ästhe-
tischer Empfindung bewirkt wird, beweist die
Vorliebe für Singvögel, Zierfische, Blumen; viel-
mehr züchtet der im übervölkerten China besonders
harte Kampf ums Dasein Härte und realen Sinn.
Sehr in die Augen fallend ist die Gleichgültigkeit
dem Heer der Insekten und da wiederum den
vielen großen, buntgeflügelten Schmetterlingen
gegenüber. Von den mir aus Südchina bekannten
22 Papilioniden hat keiner einen chinesischen
Namen, auch die häufigen Delias nicht, trotz ihrer
auffallenden Farbenkontraste, ebensowenig die wie
große grünglitzernde Edelsteine hin- und her-
schießenden Eriboea, die papierähnliche Cyrestis,
die geisterhafte Stichaphtalma, die im November-
Dezember zuweilen in Scharen am Wegrand
saugenden großen, blauschillernden Euploeen;
selbst die sehr stattlichen, auffallenden Saturniden,
wie Attacus Atlas und Cynthia, Actias Selene,
Loepa catinka sind unbenannt. Man kann zu-
weilen Kinder sehen, die einem großen Atlas
einen Faden um den Leib gebunden haben und
ihn wie einen „Drachen" fliegen lassen; aber einen
Eigennamen hat er trotzdem nicht, er ist eben
eine „T'ang-ngo" =^ „Lampenmatte", wie jeder
andere Nachtschmetterling. Alle Tagfalter führen
den gemeinsamen Namen Wu-tip.
I. Nutzschmetterlinge.
Wenn es Vorteile bringt, kann der praktische
Chinese ein guter Beobachter sein; das zeigen
seine Aussagen und Kenntnisse über Nutzschmetter-
linge. Mir sind sechs Arten solcher bekannt ge-
worden. An erster Stelle steht natürlich Bombyx
mori L.; an zweiter Stelle folgt Antherea Pernyi
Guer., dann Saturnia Pyretorum Westw. Weniger
wichtig und nur gelegentlich gesammelt werden
ein Aristolochienfalter (Papilio mencius Fldr.),
Tiere der beiden Genera Euploea und Danais,
der Bohnenschwärmer (Clanis bilineata Wlkr.).
Es ist recht wahrscheinlich, daß es mehr von den
Chinesen als Nutztiere gesammelte Schmetterlinge
Von R. Meli, Canton.
gibt. Aber China ist groß, und die Zahl der
Ausländer dort, die für naturwissenschaftliche
Fragen Interesse haben, ist klein. Dann sind die
Chinesen sehr verschwiegen und mißtrauisch, und
man geht in den allermeisten Fällen an der Sphinx
vorbei, ohne etwas zu sehen und zu hören. So-
dann ist mir in China sehr aufgefallen, wie lokali-
siert die verschiedenen Erwerbsarten und Nutz-
objekte sind. Es wird deshalb in wenig besuchten
Gebieten noch manches zu entdecken geben.
Der Seidenspinner (Bombyx mori L.).
Das Seidengebiet von Kuangtung ist das Delta-
gebiet des Perlflusses; es wird umzogen durch
eine Linie, die Hongkong-Makao-Samsöi i)-Canton
verbindet. Das Zentrum davon ist wieder der
Schun-tak- Kreis, etwa 3 Stunden südlich der
bedeutenden Handelsstadt Fat-shan. Hier sind
weite Gebiete mit Maulbeerbüschen bepflanzt.
Diese Pflanzungen erinnern an solche unserer
Korbweiden. Ein dicker, kurzer Stamm ragt
kaum bis an die Erdoberfläche und treibt über-
meterlange bis mannshohe Schößlinge. Deren
Blätter werden als Futter gepflückt. Im Dezember
werden die Triebe über dem Erdboden abge-
schnitten und als Feuerholz verbrannt. In jeder
Morus-Plantage ist ein nicht kleiner, rechteckiger
Teich mit schrägen Ufern. Auf einem kleinen
Kahne fährt der Seidenbauer darauf herum und
schöpft den fetten Schlamm des an sich schon
recht fetten Alluvialbodens und wirft ihn auf die
ihrer Schößlinge beraubten Stöcke, die nach solcher
Düngung schnell wieder ausschlagen. Das ge-
schieht gegen Ende Februar.
-)F"ür Zuchtzwecke sucht man zuerst eine An-
zahl männlicher und weiblicher Kokons aus. Die
weiblichen sind groß, dick, rund und weich; die
männlichen sind an beiden Enden mehr verjüngt.
') Da, wo der Nordfluß, Pak-kong, den West- oder Perl-
fluß trifft.
2) Ich habe mich im folgenden möglichst an die Schilde-
rungen gehalten, wie sie die Züchter geben, und Kommentare
vermieden; denn es kam mir bei der Niederschrift dieses
Aufsatzes darauf an, zu zeigen, wie sich die Chinesen dem
Insekt gegenüber stellen.
26
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 2
auch kleiner, härter oder straffer als die weiblichen.
Nach durchschnittlich 15 — 20 Tagen schlüpft die
Imago und gibt dabei eine Flüssigkeit von sich.
Tiere mit entwickelten Flügeln sind zur Nachzucht
verwendbar, solche mit verkrüppelten Flügeln,
roten, trockenen Leibern und ohne Haare sind un-
brauchbar und werden getötet. Es gilt als strenge
Regel : Kopulation lasse man nur von Tieren
desselben Schlüpftages zu. (Dieser Satz wird an-
geblich von den Seidenzüchtern aller Distrikte
genau beachtet.) Ist die Kopula gelöst, so bringt
man die $$ auf Lagen rauhen Papieres. ') Dort
legen sie in 74 Stunden etwa 500 Eier und
sterben nach der Ablage. Die weißlichen oder blaß-
grauen Eier werden am 18. Tage sorgfältig ge-
waschen, d. h. die mit den Eiern besetzten Papier-
blätter werden durch warmes oder laues Wasser
gezogen, das in hölzernen oder irdenen Kübeln be-
reit gestellt ist.
Im Herbste werden die Eier sehr sorgsam in
kühlen Zimmern gehalten. Darin sind wagerechte
Bambusstäbe befestigt, an ihnen werden die Papier-
lagen aufgehängt und zwar Rücken an Rücken.
Im zehnten chinesischen Monat (also etwa Mitte
Dezember europäischer Zeitrechnung) werden die
Papiere zusammengerollt und in einen Raum ge-
bracht, der frei ist von allen unangenehmen
Düften und Einflüssen. Am 3. XII. (etwa Mitte
Januar europäischer Zeit) werden die Eier in der
eben erwähnten Weise gewaschen und in der
Sonne getrocknet. Dieses Waschen gilt als wichtig,
damit die Eier frühzeitig im Jahre und ferner
am selben Tage schlüpfen. Verschiedene Schlüpf-
zeiten bringen dem Züchter Verluste. -)
Die nächsten Arbeiten im Hause erfolgen etwa
Ende Februar. Man wählt einen hellen, sonnigen
Tag und fegt dann den Zuchtraum gut und
wärmt ihn. Darauf werden die Papiere mit den
Eiern auf Müllen und diese Müllen wieder auf
Bambusgestelle, die an den Wänden dieses Zucht-
raumes stehen, gebracht. An dunkeln, feuchten
Tagen darf man diese Arbeiten nicht vornehmen,
sonst würden die später erzielten Kokons schad-
haft. Die Seide von ihnen würde grob und ge-
brochen und im Aussehen glanzlos und matt.
Die Müllen und Gestelle müssen aus Bambus sein,
weil Bambus nicht riecht, Holz aber leicht einen
unangenehmen Duft hat oder annimmt.
Das Futter für die geschlüpften Räupchen
wird in sehr kleine Stücke geschnitten und zwar
um Quetschen und Pressen zu vermeiden mit
scharfen Messern. Nasse Blätter darf man nicht
füttern, sie erzeugen Krankheiten wie Durchfall,
deshalb müssen in der Regenzeit nasse Blätter
erst getrocknet werden. Aber die Blätter müssen
auch ganz frisch sein ; denn welke Blätter ver-
stopfen.
Die eben geschlüpften Räupchen werden
') In den MiUelprovinzen Chinas nimmt man Tuchstücke.
-) Indirekt durch vermehrte Arbeit, direkt: indem manche
sterben , weil ihnen infolge der vermehrten Arbeit nicht die
sorgsame Pflege zugewandt werden kann, die für junge Raupen
nötig ist.
48 mal im Laufe eines Tages gefüttert, nach einiger
Zeit noch 30 mal; mit dem Wachstum der Raupen
wird die Zahl der täglichen Fütterungen vermindert,
die erwachsenen Tiere erhalten nur noch drei
bis viermal täglich frisches Futter. Einmal oder
zweimal im Laufe ihrer Entwicklung erhalten die
Raupen ein besonderes Futter: die Maulbeer-
blätter werden mit Mehl von grünen Erbsen,
schwarzen Bohnen und Reis gemischt, dieses
Futter kühlt die Raupen, hält alle schädlichen
Einwirkungen fern und erzeugt eine gute Seide,
stark im Faden und glänzend im Aussehen.
Die Raupe fällt mehrmals in ihrem Leben in
Schlaf. ') Der erste Schlaf dauert länger als
24 Stunden, er findet am 4. bis 5. Lebenstage
statt und heißt „Ngo- -mien ■^" = „Mottenschlaf".
Am 8. bis 9. Lebenstage erfolgt der „Ih-mien"
(„der zweite Schlaf"), am 14. bis 15. Lebens-
tage der „Saam 1 -mien ^ " („der dritte Schlaf"),
am 21. bis 22. Tage findet der letzte, ,,der große
Schlaf" = ,,Tai 1 -mien :' " statt. Auch daß die
Raupe sich häutet ('toi 1 -p'e ' ) ist dem Züchter
bekannt, und daß er ein guter Beobachter sein
kann , beweist folgende chinesische Schilderung
der Häutung: ,, Am Kopfe bricht die Haut zuerst,
dann beginnt die Raupe sich zu winden wie eine
Schlange und tut das so lange, bis sie sich von
der alten Haut befreit hat. Zuweilen kann sich
das Tier aber nicht ganz befreien, am Leibesende
hängt die trockene Haut fest und die Raupe stirbt.
Nach der Häutung ist der Appetit größer, am
größten ist er die vier oder fünf Tage nach dem
großen Schlafe." Nach 32 Tagen sind die Raupen
erwachsen.
Anfangs befinden sich eine Menge der eben
geschlüpften Räupchen in einer Bambusmulle;
mit dem fortschreitenden Wachstum werden sie
in immer kleinere Häufchen geteilt und jedes
Häufchen in einer besonderen Mulle untergebracht.
Wollen die Tiere sich verpuppen, so werden Gitter-
werke aus Bambusgeflecht, an dem noch Bambus-
schlingen hängen, auf die Müllen gelegt. Die Raupen,
die gelblich werden, kriechen in die Gitter oder
Schlingen und fangen an zu spinnen. ,,Sie bewegen
den Kopf von einer Seite zur andern bis sie sich
eingewickelt haben, das dauert etwa 3 — 5 Tage. Dann
liegt die Raupe wieder einige Tage in Schlafsucht,
hierauf wird sie zur Puppe. Die Flechtwerke mit
den Kokons werden, um die Puppen zu töten,
an Holzkohlenfeuer gebracht. Darauf werden die
Kokons vom Geflecht gelöst und in Körbe ge-
gelegt. Frauen und Kinder nehmen rasch diese
Körbe und werfen die Kokons in Gefäße mit
kochendem Wasser. In der Auswahl der Leute
für diese und die folgenden Arbeiten ist man
recht kritisch, es ist eine geschickte Hand und
Erfahrung nötig, damit ein gleichmäßiger, ganz
glatter, glänzender und reiner Faden gewonnen
wird. Sind die Kokons genügend geweicht, so
') Mit „Schlaf" bezeichnen die Chinesen das Stadium
vor der Häutung, wenn die Raupe mit vorgerecktem Kopfe
bewegungslos sitzt, also die „Verhäutungsruhe".
N. F. XIII. Nr. 2
Nalurwissenschaftliche Wochenschrift.
wird zuerst die „Seidenrinde" (äußere Schicht) ab-
gebunden. Dann kommen andere Frauen, eben-
falls geschäftserfahrene und geschickte Spezialisten,
und winden das „Seidenfleisch" (die innere Hülle)
ab. Lange, weiße, glänzende Kokons geben
einen feinen und guten Faden, große, mattge-
färbte und nicht feste geben einen groben Faden.
Von offensichtlich schlechten und minderwertigen
Kokons wird ein sehr grober Faden gewonnen,
der nur Seidenfutter gibt. Eine gewöhnliche,
gute Arbeiterin haspelt in einem Tage etwa
4 Gewichtstaeis ab, die geschicktesten können in
derselben Zeit höchstens 5 — 6 Taels liefern. Mit
der Arbeit vertraute Familien können die Ernte
in 18 — 19 Tagen vollenden, gewöhnliche Arbeiter
brauchen etwa 24 Tage dazu.
In den Seidedistrikten von Kuangtung sollen
sieben Ernten im Jahre erzielt werden. Ich halte
das für ausgeschlossen und glaube, daß fünf
Ernten jährlich das höchste ist, was erzeugt werden
kann.') Die erste Ernte beginnt im April. Bei
der zweiten und dritten Ernte sollen die Kokons
meist grün, bei den späteren zum großen Teile
silberig sein. Die letzte Ernte erfolgt im November",
sie heißt auch „kleine Ernte", oder „Kaltwetter-
ernte".
Die getöteten und gebrühten Puppen werden
in Öl gebraten oder gebacken und gegessen. Sie
sollen gebackenem Schweinshirn ähnlich und also
nicht schlecht schmecken ; im Norden Chinas
sollen sie auch eingesalzen aufbewahrt werden.-)
Aus Schantung wird berichtet, daß sogar der Kot
der Raupen nutzbringend und heilsam verwendet
wird. Man füllt ihn getrocknet in Kissen und legt
diese unter den Kopf; sie wirken angeblich nerven-
beruhigend und vertreiben den Kopfschmerz.
Zwei Krankheiten der Raupe können auftreten,
sie sind allen Züchtern bekannt. „Fung-tsun" =
„die vom Wind kommende", so heißt die eine;
nur selten erholen sich die Raupen von ihr und
geben dann eine ganz schlechte Seide. Die andere
') Es ist für Zuchtzwecke die Zeit vom 10. März bis
20. November in Betracht zu ziehen; das sind 255 Tage. Es
sind anzusetzen :
I. Zucht (März — April)
Eistadium 18 Tage
Raupenstadium 32 ,,
_ , (Kopula selben Abend,
Puppenruhe 15 „ gj^blage nächsten Abend)
Eiablage I Tag
60 Tage
3 Somraerzuchten
Eistadium 6 Tage
Raupendauer 26 ,,
Puppenruhe 1 1 ,,
Eiablage I Tag
44 Tage X 3 = '32 Tage
I Herbstzucht (Oktober — November)
Eistadium 8 Tage
Raupendauer 28 ,,
Puppenruhe 13 „
Eiablage I Tag
50 Tage
66 -f- 132 -[- 50 = 248 Tage, 255 Tage stehen zur
Verfügung.
') In Tsingtau geschieht das auch von selten der Chinesen
mit Dendrolimus-Puppen.
heißt „Tsak-fung" = „Diebeswind". Auch sie
wird durch schlechte Winde erzeugt und ist
immer tödlich. Die Raupen werden rot, steif, un-
fähig zu kriechen und sterben. Um die schäd-
lichen Winde abzuhalten, muß man deshalb die
Türen zum Zuchtraume immer geschlossen halten.
Auch gegen Fliegen und sonstige Schmarotzer
muß man das tun. DieF^liegen legen ihre Eier auf die
Raupen und saugen auch das Blut der Tiere. ') — Die
Zucht der Seidenraupen erfordert viel Sorgfalt und
Aufmerksamkeit. Am besten gedeiht sie, wenn der
Himmel klar und die Luft rein ist. Weiter muß
das Streben des Züchters darauf gerichtet sein,
eine gleichmäßige Temperatur im Zuchtraume
herzustellen. Deshalb schließt man zunächst
immer die Türen und Fenster des Zuchtraums.
Sodann betritt der Wärter von Zeit zu Zeit prü-
fend den Raum. Er hat weiter nichts an als eine
dünne Hose, deren Beinlängen bis zum Rumpfende
hinaufgekrempelt sind, so daß sie einer Badehose
an Größe gleichkommt, und sucht nun mit Hilfe
des nackten Körpers festzustellen, ob die für die
Zucht günstige Temperatur im Zimmer herrscht.
Ist es zu kalt oder feucht, so werden die kleinen
irdenen Öfchen von Ziegelfarbe angebrannt. Auch
der Blitz kann schädlich auf die Raupen einwirken;
deshalb werden vor Ausbruch eines Gewitters
Lagen von dickem, braunem Papier auf die Müllen
gelegt. Ebenso nachteilig ist das alarmierende
Gerassel des Donners. Überhaupt werden die
Tiere leicht durch die Geräusche aller Art störend
oder schädigend beeinflußt; deshalb wird im
Zuchtraume nur in gedämpftem Tone gesprochen.
Außerdem gibt es noch manche andere Vorsichts-
maßregel zu beachten. Schwangere Frauen oder
solche, die kurz vorher entbunden sind, dürfen
den Zuchtraum nicht betreten, auch Leuten, die
„Trauer haben", ist dies bis zum 49. Tage nach
beendigter Trauerzeit streng untersagt. Die Per-
sonen, die mit der Pflege der Raupen betraut
sind, müssen besondere Vorschriften für ihre Diät
beachten: sie dürfen keinen Ingwer essen, ebenso-
wenig die T'sam-tao genannte Bohnenart und
müssen alle in Öl gebratenen Speisen vermeiden.
Auch dürfen sie am Körper oder in den Taschen
nichts haben, was irgendwie duftet.
In jeder Züchterei befindet sich vor dem Ein-
gange zum eigentlichen Zuchtraume ein Ahar für
die Schutzgöttin der Seidenraupen. Auf diesem
Altar steht stets eine Schale mit reinem Wasser
und ein Bündel Morus-Zweige. Jeder, der den
Zuchtraum betreten will, taucht zuvor das Bündel
in das Wasser und besprengt sich das Gesicht
damit. Vergißt oder unterläßt das der westlän-
dische Besucher, so besprengt ihn der begleitende
Chinese. In Nordchina soll man beim Eintritt zum
Zuchtraum und wieder beim Austritt aus ihm
Reisähren als „G^ücksbündel" auf den Kopf hängen.
1) Daß Tachinen die Borabyx-Raupen angehen, habe ich
nicht beobachtet, es ist wohl möglich; mit den „Eiern" sind
vermutlich kleine Ichneuraonidentönnchen gemeint.
(Schluß folgt.)
28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 2
Bücherbesprechimgen.
P. Kammerer, Genossenschaften von Lebe-
wesen auf Grund gegenseitiger Vor-
teile. 112 S. Stuttgart 191 3, Strecker und
Schröder. — Preis geb. 3,50 Mk.
Der Verfasser gibt in vorhegender Schrift eine
Übersicht über die Fälle von mutualistischer Sym-
biose in beiden Organismenreichen, und führt in
einem abschließenden Kapitel aus, daß die ,, gegen-
seitige Hilfe" im Lauf der phylogenetischen Ent-
wicklung ein ebenso wichtiger Faktor gewesen
sei wie der „Kampf ums Dasein"; ja, er sieht in
den vielzelligen Organismen — unter Hinweis auf
Hansemann's Ausführungen über den Altruismus
der Zellen — gleichfalls nur einen Spezialfall
gegenseitiger Unterstützung, eine Zellensymbiose.
Es handelt sich um einen an sich nicht neuen Ge-
danken, auch der Verfasser selbst hat schon vor
mehreren Jahren kurz Ähnliches ausgeführt. Dem
Laien bietet die gemeinverständliche Schrift ein
ziemlich reichhaltiges Tatsachenmaterial, dessen
kritische Sichtung allerdings sorgfältiger hätte sein
können. So ist gleich anfangs die Parallele zwischen
der „Haustierhaltung" der Ameisen und Menschen
doch recht äußerlich, und von einer „ganz be-
sonders entwickelten Intelligenz" der Ameisen, wie
sie noch vor 30 Jahren Lubbock diesen Tieren
zuschrieb, wird heute auch der nicht reden können,
der in den Handlungen der Ameisen Intelligenz
wahrzunehmen glaubt ; inwieweit im Wasser
lebende Schnecken durch Bryozoenüberzüge oder
durch Algenbedeckung wirklich einen Schutz gegen
feindliche Nachstellungen erhalten, ist wohl nicht
sicher zu ermitteln; auch ist nicht einzusehen,
daß durcheinander wachsende Schwämme ver-
schiedener Art einen kräftigeren Wasserstrom zu
erzeugen vermögen, als wenn derselbe Raum von
stärker knospenden Schwammstöcken gleicher Art
ausgefüllt wäre. Daß eine Veredelung im VorteH
der veredelten Pflanzen liege, wird man auch
nicht unbedingt sagen können, wenn man erwägt,
daß z. B. viele Gartenpflanzen mit gefüllten Blüten
die Fähigkeit der Samenerzeugung verloren haben.
Die Mitteilungen über die Züchtung gewisser
Gräser durch die ,, Ernteameisen" sind nicht un-
bestritten geblieben. Solche Einwände wären
noch gegen manche Stellen zu erheben. Aus
einem Satz des Vorworts geht hervor, daß Kam-
merer die hier dargebotene Schrift nur als eine
Vorarbeit für eine spätere, gründlichere Bearbei-
tung der hier erörterten Fragen angesehen wissen
will. Hierdurch erklärt es sich wohl, daß der
Verfasser die Probleme hier mehr mit ,, flüchtigen
Andeutungen" streift, als daß er sie bis auf den
Grund verfolgte. R. v. Hanstein.
Herpetologia europaea. Eine systematische
Bearbeitung der Amphibien und Rep-
tilien, welche bisher in Europa auf-
gefunden sind. Von Dr. Egid Schreiber,
k. k. Schulrat in Görz. Zweite, gänzlich um-
gearbeitete Auflage. Mit 188 in den Text ein-
gedruckten Holzschnitten. Jena 1912, Verlag
von Gustav Fischer. — Preis 30 Mk.
Es kommt im literarischen Leben nicht zu oft
vor, daß man in die Lage kommt, ein Buch bei
seiner ersten Auflage und dann wieder nach
37 Jahren zu besprechen. Als die Herpetologia
Schreibers im Jahre 1875 in erster Auflage er-
schien, fand sie eine noch recht spärliche Ge-
meinde von Lurch- und Kriechtierfreunden vor.
Dem Fachmanne und dem Liebhaber ist dieses
Werk neben Brehms Tierleben lange der Haupt-
behelf beim Studium der europäischen Amphibien
und Reptilien geblieben. Wie haben sich in den
vier Jahrzehnten die bezüglichen Verhältnisse ge-
ändert. Eine wie reiche Literatur ist seither über
diese beiden Tierklassen erstanden. In wie weite
Kreise hat die Aquarien- und Terrarienliebhaberei
Interesse an den so lange verfemt gewesenen
Lurchen und Kriechtieren gebracht. Da muß es
die Freunde des Schreiber'schen Werkes aufrichtig
freuen, dasselbe in ganz verjüngter Form erscheinen
zu sehen. Daß es heute gegenüber einem Um-
fang von 639 Seiten einen solchen von 960 Seiten
im größeren Lexikonformat aufweist, dokumentiert
schon äußerlich, wie ausgiebig es den veränderten
Verhältnissen Rechnung getragen hat.
Den Amphibien sind die Seiten 3 — 285 ge-
widmet. Nach einer allgemeinen Ergehung über
die Lurche werden die Urodela als Ordnung
und dann in ihren Familien Proteidae und Sala-
mandridae besprochen. Beim Proteus konnten
zwar Kammerer's Festlegungen bezüglich der Fort-
pflanzungsweise, wie wir sie hier vor kurzem be-
sprochen haben, noch nicht endgültig zur Erwäh-
nung kommen, doch läßt es Schreiber unter
Hinweis auf frühere Untersuchungen Kammerer's
bereits als sehr wahrscheinlich erscheinen, daß der
Grottenolm in seinem Freileben vivipar sei.
Schreiber bringt auch die nähere Unterscheidung
der seinerzeit von Fitzinger zu Arten erhobenen
lokalen Formen des Grottenolms. Von den Sala-
mandriden kommen zuerst die durch ihre ver-
kümmerten Lungen charakterisierten Gattungen
Spelerpes und Salamandrina mit je einer Art und
sehr genauen Angaben über ihre Lebensweise im
Freien und in der Gefangenschaft und ihre Hal-
tung im Terrarium zur Besprechung. Sehr ein-
gehend ist die Gattung Molge mit ihren zahl-
reichen Arten behandelt. Schreiber hält da,
einigermaßen gegen das Prioritätsgesetz, an dem
langgebrauchten Gattungsnamen Triton fest, was er
damit begründet, daß Laurent! 1768 diesen Namen
für die Wassermolche in Anwendung gebracht,
nachdem der apokryphe Gattungsname Triton
Linne als undeutbar längst fallen gelassen worden
war, daß ihn wohl Montfort im Jahre 1808 für
eine Schneckengattung in Anwendung gebracht
hat, Laurenti da aber sicherlich das Prioritätsrecht
hat, überdies die betreffende Schneckengattung
schon 1806 von Link mit dem Namen Tritonium
belegt worden ist. Für den, der sich in_ die
N. F. XIII. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
29
Tritonenkunde einführen lassen will, ist die sehr
übersichtliche Bestimmungstabelle und die aus-
fiihrliche Ergehung über die verschiedentlichen
Varietäten und über das Frei- und Gefangenleben
und die Pflege der verschiedentlichen Tritons von
ganz besonderem Werte. Es kommen dann noch
sehr ausführlich die Gattungen Salamandra und
Chioglossa zur Besprechung. Die Anura werden
auf den Seiten 148 — 285 abgehandelt. Nach einer
allgemeinen Ergehung über die Froschlurche
werden die fünf Familien Discoglossidae, Pelo-
batidae, Ranidae, Hylidae und Bufonidae be-
sprochen. Bei der Gattung Alytes bringt die neue
Auflage außer der bekannten Art Alytes obstetri-
cans eine zweite Art, Alytes cisternasi Bosca, die
nur auf der Pyrenäischen Halbinsel auftritt, zur
Sprache. Besonders eingehend ist die Gattung
Rana behandelt, die, noch immer in Differen-
zierung begriffen, der mehrfach vorhandenen
Zwischenformen wegen in ihren verschiedenen
Arten nicht durchwegs sicher auseinanderzuhalten
ist. Da ist die Ubersichtstabelle bezüglich der
Unterscheidungsmerkmale der heute sicher zu
unterscheidenden Rana-Arten besonders wertvoll.
In einer ausführlichen Ergehung über die geo-
graphische Verbreitung der europäi-
schen Lurche kommt Schreiber zu dem Er-
gebnis, daß die Schwanzlurche und die Lurche
überhaupt von Norden nach Süden und nament-
lich nach Westen hin in steigendem Verhältnisse
zunehmen und daß die Froschlurche viel gleich-
mäßiger verbreitet erscheinen.
Der weitaus größere Teil des Buches (290 bis
923) ist den Reptilien gewidmet. Nach einer
allgemeinen Charakteristik der Kriechtiere kommen
die Rhiptoglossa, in Europa nur durch das ge-
meine Chamäleon vertreten, zur Behandlung. Sehr
ausführlich ist die Charakteristik der Lacertilia mit
den für die europäische Fauna in Betracht kommen-
den Familien Lacertidae, Scincidae, Agamidae,
Geckonidae, Anguidae und Amphisbaenidae. Von
diesen Familien sind besonders die Lacertiden
sehr eingehend behandelt. Statt der komplizierten
Nomenklatur Eimers gebraucht der Verfasser die
sehr einfache und faßliche v. Mehely's. Nicht
weniger als 142 Seiten sind der Gattung Lacerta
gewidmet, von der Schreiber 25 europäische
Arten aufstellt, während wieder andere Herpeto-
logen, in das andere Extrem verfallend, die be-
kannten Lacerten in wenige Arten zusammen-
ziehen. Mit den Schlangen beschäftigen sich
177 Seiten des Buches. Nach einer allge-
meinen Besprechung der Ordnung kommen zu-
nächst die Viperidae zur Erörterung. Die heute
noch in der Differenzierung begriffenen Vipern,
bei denen mancherlei Übergangsformen die Ab-
grenzung der Arten erschweren, sind für Europa
in acht Arten: Vipera lebetina, ammodytes,
latastei, aspis, berus, renardii, ursinii und macrops
vorgeführt. Nachdem noch die Boiden, in Europa
durch Eryx jaculus, und die Typhlopiden, durch
Typhlops vermicularis vertreten, behandelt worden.
werden auf den Seiten 754 — 818 die Schild-
kröten besprochen, worauf Schreiber sich ziem-
lich eingehend mit der geographischen Ver-
breitung der europäischen Kriechtiere
befaßt.
Was diese zweite Auflage der Herpetologia
besonders dem Aquarien- und Terrarienfreund sehr
wertvoll macht, sind die Kapitel: „Über das
Sammeln, Präparieren und Aufbewahren von
Amphibien und Reptilien", ,,Über das Versenden
von Amphibien und Reptilien", „Über das Halten
von Amphibien und Reptilien in der Gefangen-
schaft" und „Über die Krankheiten der gefangenen
Lurche und Kriechtiere", sämtliche reich an wert-
vollen Ratschlägen. Dr. Friedrich Knauer.
H. W. Schmidt, Deutschlands Raubvögel
(Falken, Habichte, Bussarde). Aussehen
und Lebensweise, Nutzen oder Schaden, Scho-
nung und Jagd in sachgemäßer, allgemeinver-
ständlicher Darstellung. 92 S., 8 Tafeln. Stutt-
gart, Strecker und Schröder, 191 3. — Preis
geheftet 1,20 Mk.
In fesselnder Weise werden die einzelnen Raub-
vögel Deutschlands, die verschiedenen Falkenarten,
der Hühnerhabicht, Sperber und die Bussarde be-
schrieben. Neben der Schilderung des Aussehens
und der Lebensweise der einzelnen Vögel stehen
kritische Untersuchungen ihres volkswirtschaft-
lichen Nutzens und Schadens, schließlich An-
leitungen zur Schonung resp. Jagd. Auf Grund
eingehender Beobachtungen und jahrelanger eigener
Untersuchungen unterstützt Verf. die modernen
Vogelschutzbestrebungen. Andererseits weist er
aber auch die Schädigung unserer Volkswirtschaft
durch einzelne Arten nach, zu deren praktischer
Erlegung wertvolle Winke gegeben werden.
Ferd. Müller.
Dr. med. Martin, Die sogenannte Bluts-
verwandtschaft zwischen Mensch und
Affe. Naturwissenschaftliche Zeitfragen. Heft 14.
Naturwissenschaftlicher Verlag (Abteilung des
Keplerbundes) Godesberg bei Bonn 191 3. 36 S.
Der Verfasser gibt in diesem Heftchen eine
ganz vortreffliche populäre Darstellung des Ver-
fahrens bei Anwendung der biologischen Reaktionen
(Agglutination, Hämolyse, Präzipitinreaktion), die
in neuerer Zeit zur Prüfung der Beschaffenheit
und Herkunft von Blutproben benutzt werden.
Diese klaren Ausführungen und die weiteren Dar-
legungen über die Natur der Eiweißkörper des
menschlichen und tierischen Körpers wird jeder
mit Vergnügen lesen, auch wenn er die Schluß-
folgerungen des Verfassers, der sich auf die Formel:
Spezifität, nicht Ähnlichkeit versteift, nicht als
zwingend anerkennen kann. F. Moewes.
i) Hausschwammforschungen im amtlichen
Auftrage herausgegeben von Prof. Dr. A. Möller.
Heft IV. Die bisher bekannten Mittel zur Ver-
hütung von Pilzschäden an Bauhölzern vor dem
5Ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 2
Einbau vom Kgl. Baurat Brüstlein. Die
Sicherung des Holzwerkes der Neubauten gegen
Pilzbildung von Prof H. Ch. Nußbaum. Die
Bedeutung der Kondensvvasserbildung für die
Zerstörung der Balkenköpfe in Außenwänden
durch holzzerstörende Pilze von Dr. Ing. R. Nie-
mann. Heft VI. Die Meruliusfäule des Bau-
holzes von Prof Dr. R. Falck. Jena (G. Fischer)
1911/1912.
2) A. Naumann. Die Pilzkrankheiten gärtneri-
scher Kulturgewächse und ihre Bekämpfung.
I. Gemüse, Stauden und Annuelle, Kalt- und
Warmhauspflanzen. Dresden (C. Heinrich).
1. Die Bedeutung der „Hausschwammfor-
schungen" ftir Wissenschaft und Praxis ist bereits
früher an dieser Stelle gewürdigt worden. Die
beiden Hefte schließen sich den früheren in
würdiger Weise an. Brüstlein bespricht die
bisher bekannten und geprüften Mittel, um die
Schädigungen des Bauholzes noch vor der Ver-
wendung im Bau zu verhüten. Es handelt sich
dabei um eine Sterilisierung des Holzes, die eine
dauernde sein muß, um auch spätere Angriffe
durch Bauholzpilze zu verhindern. Bei frisch ge-
fälltem Holz läßt sich schwer ein Schutz erzielen.
Man könnte höchstens an ein Durchtränken denken,
von dem verschiedene patentierte Verfahren vor-
geschlagen worden sind. Beim P"lößen des Holzes
dürfte kaum eine Schädigung erfolgen, wohl aber
ist das Lagern auf den Stapelplätzen gefährlich,
weil hier die günstigsten Infektionsbedingungen
herrschen. Zur Verhütung hat Falck bereits
früher die notwendigen Maßnahmen angegeben.
Die weitere Präparation des Holzes kann durch
Anstrich- oder Tränkungsmittel oder durch Im-
prägnieren mit desinfizierenden Flüssigkeiten er-
folgen. Die verschiedenen Methoden und Vor-
schläge dafür finden eingehende Besprechung. —
Die Sicherung des Bauholzes im Bau selbst be-
spricht Nußbaum. Es handelt sich hier haupt-
sächlich darum, das Holz nach dem Einbau schnell
abzutrocknen und das Wiedereindringen von
Feuchtigkeit von der Umgebung her zu verhüten.
Daß beides möglich ist, beweisen die Ausführungen
des Verf's, die von zahlreichen instruktiven Bildern
begleitet sind. — Sehr wichtig für die Erhaltung
der Balken ist der Scluitz der Balkenköpfe gegen
eindringendes Wasser. Mit dieser rein bautechni-
schen Frage beschäftigt sich Niemann in sehr
eingehenden Darlegungen und Berechnungen, die
darin gipfeln, daß es auch hier möglich ist, die
Balkenköpfe gegen eindringendes Wasser und
gegen nachträgliche Pilzinfektion zu schützen.
2. Falck gibt in seiner mit prächtigen Tafeln
und Figuren versehenen Arbeit im ersten Teil
eine auf kultureller Grundlage bearbeitete Mono-
graphie des eigentlichen Hausschwammes und der
nächst verwandten Arten. Bekanntlich ist der
Hausschwamm recht vielgestaltig, die Hymenien
sehen sehr verschieden aus, wodurch die Unter-
scheidung der Arten nicht immer sicher ist. Dem-
nach wird in erster Linie die Formgestaltung der
Hymenien geschildert und zwar immer mit Rück-
sicht auf die Unterscheidung der vier Arten:
Merulius domesticus (lacrymans), Sil-
vester, m in o r und sc 1 e r o t i orum. Als eben-
so wichtig wie die Fruchtkörper , die ja nicht
immer vorhanden sind, erscheinen die Myzelien,
die in den mannigfaltigsten Modifikationen auf-
treten können. Die Kenntnis dieser Myzelien er-
scheint für die Praxis außerordentlich wichtig,
weil die Unterscheidung von weniger gefährlichen
Holzzerstörern nicht einfach ist. Deshalb wird
die Tabelle willkommen sein, durch die eine
Übersicht über die Merkmale der verschiedenen
Myzelien gegeben wird. Was dann über Oidien-
bildung und Strangbildung der Hyphen gesagt
wird, hat für die allgemeine Morphologie der Pilze
besondere Bedeutung, weil kaum jemals die ein-
schlägigen Fragen in so umfassender und gründ-
licher Weise erörtert worden sind.
Im 2. Teil werden nun aus der Kenntnis der
allgemeinen Verhältnisse die Nutzanwendungen
gezogen, indem erörtert wird, wie sich der Haus-
schwamm durch Sporen erhält und verbreitet,
wobei auch die Ausbreitung des Myzels, die
äußeren Bedingungen für die Ausbreitung und
anderes zur Sprache kommt. Wenn die Sporen
das wichtigste Verbreitungsmittel des Haus-
schwammes sind, so müssen verschiedene äußere
Bedingungen erfüllt sein, ehe das Holz der Infek-
tion verfällt. In erster Linie betrachtet der Verf
die saure Reaktion des Holzes als Vorbedingung.
Diese ist beim gesunden Holz nicht vorhanden
— weshalb es nicht infizierbar ist — , wohl aber
bei dem Holze, das von Pilzen befallen ist, die
als harmloser betrachtet werden. So wird z. B.
durch Coniophora der Holzfäule durch Merulius
vorgearbeitet. Daß daneben noch hohe Luft-
feuchtigkeit und passender Feuchtigkeitsgehalt des
Holzes notwendig sind, führt Verf ebenfalls näher
aus. Für den Praktiker wird das Kapitel über
statistische Ergebnisse der Hausschwammforschung
in Preußen von Interesse sein.
Der letzte Teil beschäftigt sich dann mit der
Bekämpfung und Verhütung des Hausschwammes
mit ausschließlicher Berücksichtigung der Immuni-
sierung des Bauholzes durch verschiedene Sub-
stanzen. Diese Sterilisierung des Holzes kann
durch Anstrich sowie Imprägnierung geschehen.
Alle die Methoden, die in Betracht kommen, und
die empfohlenen chemischen Präparate werden
geprüft und ihre Wirkungen in Tabellen zusammen-
gestellt.
Am Schluß gibt Verf noch einmal die Folge-
rungen aus seinen Untersuchungen. Es müssen
die primären LVsachen für die Schwamminfektion
beseitigt werden, was durch den Schutz des Holzes
gegen die Myzelien anderer Holzzerstörer mittels
Anstrich usw. zu geschehen hat. Die breit an-
gelegte Arbeit wird der Praxis noch manche An-
regung geben.
3. Die Pflanzenhygiene hat sich zu einem
wichtigen Zweige der Pflanzenkunde entwickelt
N. F. Xiri. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
31
und kommt ausschließlich der Praxis zugute. IWan
kann aber von dem praktischen Landwirt oder
Gärtner nicht verlangen, daß er die Pilzkunde und
Pflanzenpathologie beherrscht. Ohne diese könnte
er aber nicht daran denken, eine Krankheit seiner
Kulturpflanzen erkennen oder bekämpfen zu wollen.
Man kann deshalb den Gärtner auf das Buch von
Naumann hinweisen, das jedem Laien verständ-
lich geschrieben die Behandlung der erkrankten
Pflanzen zeigt, ohne daß das ganze gelehrte Rüst-
zeug notwendig erscheint. Die einleitenden Ka-
pitel des Buches verbreiten sich nämlich über die
in Betracht kommenden Schädlingspilze und geben
an der Hand instruktiver Figuren eine recht gute
Einführung in die Kenntnis der Formen der Pilze.
Daran schließen sich Kapitel über Infektion, Be-
kämpfung, Anfertigung von Präparaten usw. an.
Alle diese allgemeinen Erörterungen bilden nun
das Fundament für den speziellen Teil, der darauf
immerfort verweist. Es werden in diesem ersten
Heft die Krankheiten der Gemüsepflanzen, der
Stauden und Annuellen, der Kalthaus- und Warm-
hauspflanzen besprochen und z. T. abgebildet. In
systematischer Folge werden die einzelnen Nähr-
pflanzen genannt und nun dabei die Krankheiten
angegeben, indem das äußere Bild kurz geschildert
und dann ein Hinweis auf die mikroskopischen
Einzelheiten in der Einleitung gegeben wird. Die
Bekämpfung wird dann ebenfalls kurz mit dem
Hinweis auf die allgemeinen Erörterungen über
die verschiedenen Bekämpfungsmittel erledigt.
Augenscheinlich ist das Buch ganz aus praktischen
Überlegungen und Studien hervorgegangen, so
daß man annehmen kann, daß es der Praxis von
Nutzen sein wird. G. Lindau.
Anregungen und Antworten.
Falltachisloskop. — Für die Expositionszeit des Fall-
tachistoskops kommt bei freiem Fall des Fallschirmes nur
die Höhe des Ausschnittes im Schirm in Betracht. Wird vom
Luftwiderstand sowie von der Reibung abgesehen, so wird
die Expositionszeit aus
t = i/?I==i/^
' g '981
berechnet, t ist die Expositionszeit in Sekunden, s die Höhe
des Ausschnittes, im Modell also 7 cm, g die Beschleunigung
äer Schwere g = 981
Die Expositionszeit des Modells
t sind Sekunden, s die Höhe des Ausschnittes in cm ; für m
bzw. nij werden die den Massen proportionalen Gewichte des
Schirmes und Balanziergewichts in gr ausgedrückt gesetzt.
Durch ein Gegengewicht, das halb so schwer wie der
Kalischirm ist, wird die Expositionszeit 1,733 mal so groß ge-
macht als beim freien Fall. Dgt.
ist daher t=l/ ^t^ 0,1 19 Sekunden.
' 981
Wird der Fallschirm durch ein Gegengewicht belastet,
das etwa durch eine über eine Rolle gleitende Schnur mit
dem Fallschirm in Verbindung steht, so wird die Expositions-
zeit wesentlich größer gemacht werden können. Sie läßt sich
auf folgendem Wege bestimmen : Sei m die Masse des Schirmes,
m, die des Gegengerüstes, so wird durch die von dem Über-
gewicht herrührende Kraft (m — m,)g die ganze Masse m -|- m,
in Bewegung gesetzt und ihr eine Beschleunigung a erteilt.
Die Beschleunigung des Fallschirmes ist daher
a = (m — mijg ^ ('" — "'1)981.
m -|— TOj m -|- m|
Die Expositionszeit wird nunmehr
t = \/^ = l/^-slm-t- mi)
' a '^ (m — m,)98l
Literatur.
Ander, Dr. med. Adam, Mutterschaft oder Em.incipation ?
Eine Studie über die Stellung des Weibes in der Natur und
im Menschenleben. Berlin. P. Nitschmann.
Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der
Technik. 6. Bd. Festschrift Herrn Geh. Med. -Rat Prof. Dr.
K. Sudhoff, Leipzig zur Feier seines 60. Geburtstages ge-
widmet von Freunden, Verehrern und Schülern. Mit I Bild-
nis, 4 Abbildungen im Text und I Tafel. Leipzig '13.
F. C. W. Vogel.
Becher, Dr. S. u. Demoll, Dr. R., Einführung in die mikro-
skopische Technik für Naturwissenschaftler und Mediziner.
Leipzig '13. Quelle & Meyer. — Geb. 3 Mk.
Bendt, Fr. Grundzüge der Differential- u, Integralrechnung.
5. Aufl., durchges. u. verbess. v. Dr. G. Ehrig. Mit 39 Text-
abbildungen. (Webers illustr. Handbücher.) Leipzig '14.
J. J. Weber. — 3 Mk.
Berg, Dr. Alfr., Geographisches Wanderbuch. Für mittlere
und reifere Schüler, ein Führer für Wandervögel und Pfad-
finder. Mit 193 Abbildg. im Text. (Prof. Dr. Bastian
Schmids naturwissensch. Schülerbibliothek Nr. 23). Leipzig-
Berlin '14. B. G. Teubner.
Boas, Prof. Dr. J. E. V., Lehrbuch der Zoologie für Studierende.
7. vermehrte u. verbesserte Auflage. Mit 648 .-^bb. im Text.
Jena '13. G. Fischer. — Geb. 16 Mk.
Brehms Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs.
13 Bände. Mit über 2000 Abb. im Text und auf mehr als
[^00 Tafeln in Farbendruck, Kupferätzung und Holzschnitt
sowie 13 Karten. Vierte, vollständig neubearbeitete Auf-
lage, herausgegeben von Prof. Dr. Otto zur Strassen. Bd. V:
Lurche und Kriechtiere. Neubearbeitet von Franz Werner.
Zweiter Teil. Mit 113 Abb. im Text, 19 farbigen und
18 schwarzen Tafeln sowie 28 Doppeltafeln nach Photo-
graphien und 2 Kartenbeilagen. — In Halblcder geb. 12 Mk.
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O. Schmeil auf Grund der Lehrpläne bearbeitet. Mit 31
mehrfarbigen, einer schwarzen sowie zahlreichen Textbildern
und Originalzeichnungen. Leipzig '13. Quelle u. Meyer. —
Geb. 5 Mk.
Brohmer, Dr. P., Pflanzenkunde für Lehrerbildungsanstalten.
Nach dem naturwissenschaftl. Unterrichtswerke von Prof. Dr.
O. Schmeil auf Grund der Lehrpläne bearbeitet. Mit 27
mehrfarb. und 8 schwarzen Tafeln sowie zahlreichen Text-
bildern nach Originalzeichnungen. Leipzig '13. Quelle
& Meyer. — Geb. 4,80 Mk.
Crossland, Cyril., Desert and Water Gardens of the Red
Sea. Being an account of the natives and the shore for-
mation of the coast. Cambridge '13.
Cyon, E. von, Gott u. Wissenschaft. 2. Bd. Neue Grund-
lagen einer wissensch. Psychologie. Autorisierte deutsche
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u. Co. — 4 Mk.
Dittrich, Prof. Dr. C, Die Probleme der Sprachpsychologie
und ihre gegenwärtigen Lösungsmöglichkeiten. Leipzig '13.
Quelle & Meyer.
Fischer, Dr. J., Das Problem der Brütung. Eine thermo-
biologische Untersuchung. Leipzig '13. Quelle u. Meyer.
Forel, Prof. Dr. med. Aug., Die sexuelle Frage. Der ge-
kürzten Volksausgabe I. — 20. Tausend. München '13.
E. Reinhardt. — 2,80 Mk.
Fortschritte der naturwissenschaftlichen Forschung. Heraus-
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Urban & Schwarzenberg. — Geb. 17 Mk.
Friedländer, Immanuel, Beiträge zur Kenntnis der Kap-
verdischen Inseln. Die Ergebnisse einer Studienreise im
Sommer 1912. Mit einer Übersicht über die Gesteine der
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32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Ausgabe in 30 Vorlesungen. Mit 33 .\bb. im Text. Jena
'13. G. Fischer. — Geb. 16 Mk.
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Akustik. II. Teil. Mit 57 Textfig. (Sammlung matheni.-
physikal. Schriften, herausgeg. von E. Jahnke, 11,2.) Leipzig-
Berlin '13. B. G. Teubner. — Geb. 6 Mk.
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Blutenpflanzen. 4. Bd.: Atlas, 1. Abteilung; Familie I — 19.
Jena '13. G. Fischer. — 2,50 Mk.
Krziwanek, K., Analytische Darstellung der Ungleichheiten
in der Bewegung des Mondes. Wien, Teschen, Leipzig '13.
K. Prochaska.
Löwenheim, Dr. L., Die Wissenschaft Demokrits und ihr
Einfluß auf die moderne Naturwissenschaft. Herausgeg. v.
Leopold Löwenheim. Berlin '14. L. Simon. — Broch. 6 Mk.
Meumann, Prof. Dr. E., Intelligenz u. Wille. 2. umgearbeitete
und vermehrte Auflage. Leipzig '13. Quelle u. Meyer. —
Geb. 5,20 Mk.
Meyer, K., Die Entwicklung des Temperaturbegriffs im Laufe
der Zeiten, sowie dessen Zusammenhang mit den wechseln-
den Vorstellungen über die Natur der Wärme, übersetzt a. d.
Dänischen v. J. Kolde und mit einem Vorwort v. Eilhard
Wiedemann. Mit 21 Textabbild. (Die Wissenschaft usw.
Bd. 48.) Braunschweig '13. Fr. Vieweg. — Geb. 4,80 Mk.
Meyer, Dr. Werner Th., Tintenfische, mit besonderer Berück-
sichtigung von Sepia und Octopus. Mit I färb. Tafel u.
81 Abb. im Text. (Monographien einheimischer Tiere,
herausgeg. v. Prof. Dr. H. E. Ziegler u. Prof. Dr. R. Wolte-
reck, Leipzig Bd. 6.) Leipzig '13. Dr. W. Klinkhardt. —
Geb. 4,80 Mk.
Mitchell, P. C., Die Kindheit der Tiere. Übersetzt v. Hans
Pander. Mit 12 Farbtafeln und 36 Abb. Stuttgart. J. Hoff-
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Möller, Prof. Dr. A., Hausschwammforschungen, in amtlichem
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schwammfrage. Jena '13. G. Fischer. — 0,40 Mk.
Nernst, W. u. Schoenflies, A., Einführung in die mathematische
Behandlung der Naturwissenschaften. 7. vermehrte und
verbesserte Aufl. München u. Berlin '13. R. Oldenbourg.
— Geb. 10 Mk.
Newcomb-Engelmann's Populäre Astronomie. 5. Aufl. In
Gemeinschaft mit den Herren Prof. Eberhardt, Prof. Luden-
dorff. Geh. Rat Schwarzschild herausgegeben von Prof. Dr.
P. Kempf. Mit 22S Abb. im Text und 27 Tafeln. Leipzig
u. Berlin '14. \V. Engelmann. — Geb. 15,60 Mk.
Philip, J. C. Physikal Chemistry, its bearing on biology and
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13 Ansichten und 10 Karten auf 15 Tafeln. Leipzig-
Berlin '14. B. G. Teubner. — Geb. 7 Mk.
Rädl, Dr., Eine Geschichte der biologischen Theorien in der
Neuzeit. I. Teil. 2. gänzl. umgearbeitete Auflage. Leipzig
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Ornithologie. I. Bd. Mit einer Karte und 1S5 Textbildern,
n. d. Natur gez. v. G. Krause. Stuttgart '13. Ferd. Enke.
— 15 Mk.
Scheid, Prof. Dr. K., Chemisches Experimentierbuch. 2. Teil.
Für reifere Schüler. Mit 51 Abbildungen im Text. (Prof.
Dr. Bastian Schmids naturwissensch. Schülerbibliothek Nr. 15.)
Leipzig-Berlin '14. B. G. Teubner. — Geb. 3 Mk.
Schoenichen, Prof Dr. W., Methodik und Technik des natur-
geschichtlichen Unterrichts. Mit 2 farbigen u. 30 schwarzen
Tafeln , sowie 1 1 5 Abbildungen im Text und 4 Tabellen.
Leipzig '14. Quelle u. Meyer. — Geb. 14 Mk.
Scholz, Ed. J. R., Bienen und Wespen, ihre Lebensgewohn-
heiten und Bauten. Mit 80 Abbildungen im Text. (Naturwiss.
Bibliothek f. Jugend u. Volk, herausgeg. v. K. Höller und
G. Ulmer.) Leipzig, Quelle u. Meyer. — Geb. 1,80 Mk.
Schrenck-Notzing, Dr. Freiherr von, Materialisationsphänome.
Ein Beitrag zur Erforschung der medinmistischen Teleplastie.
Mit ISO Abbildungen und 30 Tafeln. München '14. E. Rein-
hardt. — 14 Mk.
Steinmann, Dr. P. u. Bresslau, Dr. G., Die Strudelwürmer
(Turbellaria). Mit 2 Tafeln u. 156 Textabbildg. (Mono-
graphien einheimischer Tiere, herausgegeb. v. Prof. Dr.
H. E. Ziegler u. Prof. Dr. R. Woltereck. Bd. 5.) Leip-
zig '13. Dr. W. Klinkhardt. — Geb. 10 Mk.
Stickers, J., Was ist Energie? Eine erkenntniskritische Unter-
suchung der Ostwaldschen Energetik. Berlin/Wilmersdorf '13.
Hausbücherverlag H. Schnippel.
Technik der tiefen Temperaturen. Dem III. Internat. Kälte-
kongreß in Chikago 1913 vorgelegt v. d. Gesellschaft für
Linde's Eismaschinen, .\bteilg. f. Gasverflüssigung, Mün-
chen. Mit 34 Abb. u. I Tafel. München und Berlin '13.
K. Oldenbourg. — Geb. 3 Mk.
Wagner, Prof. Dr. P., Lehrbuch der Geologie und Mineralogie
für höhere Schulen. Große Ausgabe für Realgymnasien
und Oberrealschulen und zum Selbstunterricht. Mit 316 Ab-
bildungen u. 4 Tafeln. 4. u. 5. verbesserte Auflage. Leipzig-
Berlin '13. B. G. Teubner. — 2, So Mk.
Wien, W., Vorlesungen über neuere Probleme der theoreti-
schen Physik, gehalten a. d. Columbia-Universität in New-
York im April 1913. Leipzig u. Berlin '13. B. G. Teubner.
— Geh. 2,40 Mk.
Wilke, A., Die Elektrizität, ihre Erzeugung und ihre An-
wendung in Industrie und Gewerbe. 6. gänzl. umgearb.
.■\ufl. Unter Mitwirkung mehrerer Fachgenossen bearbeitet
und herausgeg. v. Dr. Willi Hechler. Mit 2 Tafeln und
629 Texttiguren. Leipzig '14. O. Spamer. — Geb. 10 Mk.
Wundt, Prof. Wilh. : Einleitung in die Philosophie. 6. Aufl.
Mit einem .-Xnhang ; Tabellarische Übersichten zur Geschichte
der Philosophie u. ihrer Hauptrichtung. Leipzig '14, A.
Kröner. — 8 Mk.
Zernecke, Dr. E. , Leitfaden für Terrarien- und Aquarien-
freunde. 4. gänzlich neu bearbeitete Auflage von C. Heller
u. P. Ulmer. Mit 200 Abb. im Text. Leipzig '13. Quelle
& Meyer. — Geb. 7 Mk.
Zschimmer, B., Das Welteriebnis. III. Teil nebst Anhang:
Prolegomena zur Panlogik. Leipzig u. Berlin '13. W. Engel-
mann. — 4 Mk.
Inhalt: Privatdozent Dr. Bruno Wolff; Heilkraft der Natur und Heilkunst. — R.Meli: Die Chinesen und der Schmetter-
ling. — Bücherbesprechungen: P. Kammerer: Genossenschaften von Lebewesen auf Grund gegenseitiger Vorteile.
— Herpetologia europaea. — H. W. Schmidt: Deutschlands Raubvögel. — Dr. med. Martin: Die sogenannte
Blutsverwandtschaft zwischen Mensch und Affe. — Hausschwammforschungen. — Anregungen und Antworten. —
Literatur : Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den i8. Januar 1914.
Nummer 3.
Die Chinesen und der Schmetterling.
[Nachdruck verboten.]
Die Schutzgöttin der Seidenraupen.
Wie schon oben erwähnt, befindet sich in
jeder Seidenraupenzüchterei im Flurraum hinter
der Haustür der Altar der „Si-sann-tai-sing-cham
ku'-sien-long", der Schutzgöttin der Seidenraupen.
Über ihre Lebensgeschichte wird folgendes
erzählt. Sie war bei Lebzeiten ein Mädchen von
großen persönlichen Vorzügen. Einst ritt ihr
Vater in Geschäften aus und kam nicht zurück.
Frau und Tochter waren deshalb sehr betrübt
und aßen und tranken nicht. Das Pferd, auf dem
der Vater fortgeritten war, kam nach einiger Zeit
zurück, aber ohne seinen Herrn. Die schöne und
trostlose Tochter tat eines Tages in ihrem Schmerze
das Versprechen: „Ich will mit Freuden jeden
heiraten, der den Vater gesund und unverletzt
zurück bringt." — Das zurückgekehrte Roß hatte
bei diesem Gelöbnis die Ohren gespitzt. Kaum
hatte das Mädchen geendet, da galoppierte das
Tier davon. Nach einigen Tagen kehrte es zu-
rück, und trug den vermißten Herrn unversehrt
auf seinem Rücken. Die Tage nach der Rück-
kunft des Hausherrn wieherte das Roß unaufhör-
lich. Die P>au des Zurückgebrachten folgerte
daraus, das Tier fordere die Erfüllung des Ver-
sprechens und sie berichtete das Gelöbnis der
Tochter und ihre Meinung über das Benehmen
des Pferdes ihrem Manne. Der brach in lautes
Gelächter aus, als er sich die Verbindung vor-
stellte: Seine schöne Tochter und sein Roß I Er
lachte, daß das Haus schallte. Schließlich äußerte
er in nicht mißzuverstehenden Worten seine An-
sicht über einen solchen Unsinn : „Ein Mensch
kann einem Tiere überhaupt kein Versprechen
geben , von einem Halten eines solchen kann
mithin gar nicht die Rede sein!"
Als das Pferd diese Meinung seines Herrn
hörte, wurde es sehr aufgeregt und verweigerte
die Arbeit. Da wurde sein Herr zornig und tötete
es durch einen raschen Pfeilschuß. Die Haut des
getöteten Tieres wurde abgezogen und im Hofe
zum Trocknen ausgespannt. Als das Mädchen,
welches das Versprechen getan hatte, an der aus-
gebreiteten Haut vorüberging, erhob sich diese,
hüllte das Mädchen ein und flog mit ihm durch
die Luft davon. Nach fünf Tagen kam die Haut
zurück und spreitete sich über einen Maulbeer-
busch aus, der nahe dem Hause seines ehemaligen
Herrn stand. Das junge Mädchen kam auch
zurück und saß in Gestalt einer Seidenraupe auf
demselben Busche. Als Vater und Mutter des
Mädchens herankamen, um das sonderbare Ge-
Von R. Meli, Canton. (Schluß.)
schehen in der Nähe zu betrachten, wurden Pferde-
haut und Raupe in Geister verwandelt. Jeder der
beiden saß auf einer Wolke und einer von ihnen
wendete sich zu den beiden Eltern mit folgenden
Worten: „Yüh-wong-tai, der Perlenkaiser, hat be-
stimmt, daß ich, Euere Tochter und mein Genosse,
Euer früheres Roß dem gegebenen Versprechen
getreu sind. Zur Belohnung für die Treue hat er
uns in Geister verwandelt und für immer gesegnet.
Klagt deshalb nicht über unsere Trennung 1' Dann
verschwanden die beiden Geister.
Infolge ihrer Verwandlung in eine Seidenraupe
wird das Mädchen seit alten Zeiten als Schutz-
geist der Seidenraupen unter dem oben ange-
gebenen Namen verehrt.
Antheraea Pernyi Guer.')
Das Hauptzuchtgebiet dieser großen Saturnide
liegt in der Südostmandschurei und zwar in der
Gegend von Antung.
Ihre Nährpflanze ist Quercus mongolica. (Die
Chinesen unterscheiden wieder mehrere Unter-
arten oder Rassen des Baumes: Tso-muk = die
Stammart von mongolica; Hu-po-lo, Tsientso,
T'sing-t'ang sind wohl drei Unterarten davon.) Für
die Raupenzucht werden die Eichen meist kurz
und buschig gehalten. Sie finden sich an Hügeln
und Bergen und sind anscheinend hinsichtlich der
Bodenart nicht wählerisch. Sie wachsen im weichen
Schlemmboden am Hügelfuß und bis weit hinauf
zu den kahlen steilen Felsen; am besten gedeihen
sie an sonnigen Hängen niedriger Schluchten, wo
eine schwarze Humusdecke sich gebildet hat.
Die Sommergeneration erscheint etwa vom
20. Juli an. Die Tiere schlüpfen nachmittags
gegen Sonnenuntergang. Die Kopula wird vom
Züchter am Nachmittage des nächsten Tages ge-
löst. Der Mann kann nur ein Weib befruchten
und stirbt innerhalb 24 — 36 Stunden. Das Weib
wird, nachdem es vom Manne getrennt wurde,
') Ein kurzer, dreitägiger Aufenthalt im Zuchtgebiet
brachte mir kein anderes Material, als wie es bereits in den
Veröffenllirhungen des Chinesischen Seezolls geboten ist
(Memorandum on Wild SilUworm Cullure in Souih-Eastern
Manchuria; Imperial Maritime Customs, China, 11, Special
Series Nr. 30). Ich folge deshalb in der Darstellung diesem
Berichte. Vermißt habe ich bei den Erkundigungen über die
Behandlung von Pernyi die kleinen ethnologischen Randleisten
und Ornamente, mit welchen der Morizüchter sein Handwerk
verbrämt. Das Fehlen jeglicher Spezifika und traditioneller
Vorurteile bei der Pernyi-Zucbt hat wohl zwei Ursachen: I. Sie
ist, mit der Zucht von B. mori verglichen , verhältnismäßig
jung. 2. Infolge der Freilandzucht kommt der Mensch dem
Tiere nicht „so nahe" und kann es weniger „umhegen", als
wenn er es im Hause zöge.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 3
auf einen Eichbusch gesetzt und da mit einem
Grase, dem Ts'am-tso ^) oder Saam-gok-tso ^) an-
gebunden. Es legt an diesem und dem folgenden
Abende loo — 200 Eier. Am dritten Morgen wird
es losgebunden und in einen Korb gesetzt, wo
es die zwei bis drei Tage, die es noch lebt, um-
herflattert und oft noch einen Rest von Eiern ab-
legt.
Bei günstigem Wetter schlüpfen die Eier nach
II bis 12, bei rauherem nach 14 Tagen. Die
Larve ist anfangs schwarz ; sie beginnt fast sofort
zu fressen. Nach 3 Tagen fällt sie in den ersten
Schlaf, den Ts'an mien, er dauert 2 oder 2V.> Tage;
dann erfolgt die erste Häutung. Sie findet also
am 19. Lebenstage — vom Ei an gerechnet —
statt und bei ihr wird die Raupe grün. Nach 4
Tagen beginnt der zweite Schlaf, 3 Tage später,
also am 26. Tage der Gesamtentwicklung, erfolgt
die zweite Häutung. Nach wiederum 4 Tagen
Fraßzeit und 3Tagen„Schlaf"(=Vorhäutungsruhe)''j
erfolgt am 33. Tage die dritte Häutung und nach
denselben Zeiten (4 -|- 3) am 40. Tage die vierte
Häutung. Nach weiteren 13 oder 14 Tagen er-
reicht die Raupe ihre volle Größe und etwa am
55. Tage beginnt sie zu spinnen. Die Dauer der
Fertigstellung des Kokons hängt vom Wetter ab;
sie dauert wenigstens 3 Tage, durchschnittlich 5,
im Höchstfalle 8. Dunkle Regentage scheinen die
Aktivität der Raupe zu lähmen.
Die Raupe wählt zur Verpuppung einen ver-
steckten und regengeschützten Platz. Und jetzt
ist große Aufmerksamkeit der Züchter zur Er-
zielung einer vollen Ernte nötig. Die Kokons
werden täglich von den Bauern bei der Heimkehr
vom Felde gesammelt und in offenen Lagern auf-
gespeichert, zum Verpacken werden kühlere Tage
abgewartet.
Die Wächter haben zwei wichtige Aufgaben.
Zunächst müssen sie insektenfressende Vögel ab-
halten. Deshalb hallt es zur Zuchtzeit in den
Hügeln von Schießen und Peitschengeknall. Auch
rote Fahnen werden ausgehängt. Ferner müssen
sie acht geben, wenn die Tiere einen Busch kahl
gefressen haben und müssen sie dann, ehe die
Raupen anfangen, nach neuer Nahrung suchend
auseinander zu laufen, nach einer anderen Eiche
bringen. Zuweilen muß auch der ganze Haufe in
Körben zu einem anderen Hügel getragen werden.
Ein Wächter kann im Frühlinge etwa 4000 und
im Herbste gegen 5000 Raupen beaufsichtigen.*)
') San-Tsam ist der chinesische Name für Antheraea
Pernyi, tso heißt Gras ; Tsam-tso bedeutet also etwa ..Psrnyi-
Gras''.
") Saam-gok-tso heißt ,, Drei - eck - gras", wahrscheinlich
wegen der Stengelforra. (Da die Setzung chinesischer Zeichen
inmitten einer Arbeit mit europäischen Typen die Drucklegung
erschwert und verteuert, so gedenke ich später in einer be-
sonderen Arbeit alle mir bekannt gewordenen zoologischen
und botanischen Bezeichnungen der Chinesen zusammenzu-
stellen, Zeichen, Umschrift und soweit ich vermag auch den
wissenschaftlichen Namen.)
■■') Diese Angaben scheinen mir nicht richtig zu sein, ich
kenne keine Raupe, die drei Tage Verhäutungsruhe hat.
■■j Im Frühlinge sind die Vögel angriffslustiger, da sie
Die ersten Körbe mit Kokons werden gegen Ende
Oktober verschifft; der größte Versand erfolgt
Mitte -November, von da nimmt er in den Dezember
hinein wieder ab.
Der gewöhnliche Züchter behält nichts von
seiner Herbsternte zuiück; er glaubt, die Tiere
seien nicht erwünscht zur Nachzucht. Er kauft
entweder im Frühlinge Zuchtkokons aus einer
Gegend, die durch die Güte ihrer Kokons bekannt
ist, oder er erfragt imreigenen Distrikt, wer eine
besonders gute Brut hat. Die Preise sind im
Frühlinge 50 — lOo"/,, höher als für Handelsware
im Herbste. Die Chinesen halten die Zuchtkokons
im gewärmten (Kang) Zimmer. Zum Töten der
Puppen durch trockene Hitze haben die Japaner
eine „Backanstalt" eingerichtet. Die Chinesen
setzen die warm gehaltenen Puppen, um sie zu
töten, jeden zwanzigsten Tag der Kälte und dem
Winde aus.
Etwa um das chinesische Gräberfest (also An-
fang April) erscheinen die Falter. Nach der Be-
gattung werden die $$ in Körbe mit Gras und
Zweigen gesetzt. Die Eier werden zunächst kühl
gestellt, damit sie nicht schlüpfen, bevor die Eichen
ausschlagen. Den geschlüpften Räupchen werden
Blätter in die Ecken der Körbe gesteckt; wenn
man glaubt, daß das Wetter den Tieren nicht
mehr schaden kann, bringt man sie auf die Frei-
landbüsche. Ende Juni (etwa vom 25. an) ver-
spinnen sich die Raupen und geben Mitte Juli
die Falter der zweiten Generation. A. Pernyi
liefert bekanntlich die Rohseide oder Schantung-
seide. *)
Saturnia Pyretorum Westw.
Sie ist mir aus allen Teilen von Kuangtung
bekannt. Die Imago ist auffällig wegen ihrer
Flugzeit, ich beobachtete sie vom 30. Dezember
bis 25. Januar, ihre Hauptflugzeit ist bei Canton
vom 20. Januar bis 15. F"ebruar. Nicht weniger
auffällig ist die Raupe, weil sie meist in großer
Zahl auf einem Baume zu finden ist und durch
die Kotmengen unten und den Kahlfraß oben
schwer übersehen werden kann. Sie wird gegen
12 cm lang, ist gelb, mit Längsreihen von Aktinien-
warzen und breiten blaugrünen Längsstreifen da-
zwischen. Ihre Hauptnährpflanze ist Liquidambar
formosana, wo diese fehlt, wird sie auch an Salix,
Pirus, Prunus, Laurus angetrofifen. Obwohl Pyre-
torum in allen Teilen der Provinz gleichmäßig
verbreitet ist, wird sie doch nur im Norden als
Nutztier gesammelt. Mir ist ihre Verwendung aus
der Umgebung von Siu-cao-fu bekannt, auch im
äußersten NW, bei Lien-cao, Lien-san, Saam-kong
sah ich, daß die Raupen gesucht wurden. Auch
vom Norden der Nachbarprovinz Kuangsi kommen
viele Pyretorum „fishing lines" als Durchgangs-
waren nach Canton. Ende Mai oder Anfang Juni
für ihre Brut zu sorgen haben und die großen Raupenberge
ihnen als Schlaraffenland erscheinen mögen.
') Die getöteten Puppen werden angeblich in manchen
Gegenden gegessen (ähnlich wie die mori-Puppen).
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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werden die erwachsenen T'ien-ts'am') — das ist der
chinesische Name der Pyretorum- Larve — im
Freien gesammelt. Ein Arbeiter faßt die großen,
dicken Raupen mit beiden Händen, reißt oder
schneidet die Körperhaut in der Leibesmitte in
zwei Stücke , taucht schnell das Tier in einen
großen Behälter mit Essig und zieht den bloß-
gelegten und mit Essig angefeuchteten Inhalt der
Spinndrüsen zu einem Faden aus. Dabei muß
er sich vor dem „schmerzhaften Biß" der Raupe
hüten. Gemeint ist wohl das nesselnde Jucken,
das durch die Berührung mit den Aktinienwarzen
erzeugt wird. Der Faden sieht aus wie eine
Darmsaite, er ist honiggelb, etwa armlang und
I mm dick; er wird an Pflöcken, die in einer
Mauer angebracht sind, zum Trocknen ausgespannt.
Im Erzeugungsgebiet kostet ein Stück etwa
4 Pfennig. Ich habe die durch ihre Haltbarkeit
bekannten Fäden in China nicht in Gebrauch
gesehen, anscheinend geht die gesamte Produktion
nach Japan, wosie,, T'ien-tsam-yüh-si", die „Himmels-
tsamfischseide" zu Angelschnuren und angeblich
auch in der Torpedoindustrie verwandt wird.
Hauptausfuhrhafen ist im Süden Canton, es werden
hier jährlich gegen 350 Ballen ausgeführt, ein Ballen
hat ungefähr einen Wert von 18 M.
Die Imago von Pyretorum ist den Chinesen
nicht bekannt; das zeigt schon der Name „Himmels-
seidenraupe" (die vom Himmel gekommene = un-
bekannte).
Papilio alcinous f. mencius Fldr.
Dieser Aristolochienfalter ist in Kuangtung
recht selten; ich erhielt von meinen Fängern in
vier Jahren nur zwei Stück. Ein Sammeln dieses
seltenen Tieres seitens der Chinesen ist für Kuang-
tung wohl ausgeschlossen. Ich verdanke die
Kenntnis seiner Verwendung als Droge einer Mit-
teilung des Missionars Klapheck in Schantung. -)
Er berichtet, daß die Puppen dieses Papilio von
den Schäfern nebenbei gesammelt und als „Stein-
kindchen" an Drogenhandlungen und Apotheken
verkauft würden, angeblich als Augenheilmittel.
Klapheck bemerkt jedoch, daß er die Anwendung
der Puppen nicht persönlich beobachten konnte.
Euploea spec, Danais spec.
Eine Hauptflugzeit der Euploeen bei Canton
ist Mitte Oktober bis Mitte November. Alljähr-
lich beobachtete ich um diese Zeit Tagelöhner
(„Kuli") mit breiten, flachen Fischnetzen an etwa
3 m langen Stangen; sie hatten sich an schmalen
Bachrinnen der Hügelketten (Pak-wan-san) im N
von Canton aufgestellt und fingen die den Bach
entlang segelnden Euploea, zumeist die gemeine
Euploea Midamus L. Meine Fragen nach der
Verwendung dieser Tiere beantworteten sie aus-
weichend, schließlich sagte einer, die blauen
Flügel würden den Feuerwerkskörpern beigemengt.
') T'ien = Himmel, ts'am = Name von Bombyx mori L.
'') „Auch eine Art praktischer Entomologie." Entomol.
Zeitschrift, Stuttgart 1909.
Nachfragen bei Leuten, die solche Artikel her-
stellen, ergaben, daß diese Auskunft falsch war.
Später beobachtete ich, daß die Leute auch die
einzige im gleichen Gelände fliegende Danais'),
nämlich Danais Plexippus L. mitfingen und auf
die Erhaltung der F"arben keinen Wert legten:
die Tiere wurden alle lebend in eine kleine Bambus-
kanne gesteckt. Was Euploea Midamus und
Danais Plexippus für den Laien und insbesondere
für den alles auf seine Genießbarkeit untersuchen-
den Chinesen gemeinsam haben, ist der Ekelsaft.
Ekelsäfte werden auch in China mit Vorliebe in
der Arzneikunde verwendet. Mir bekannte chine-
sische Arzte wußten nichts über den Gebrauch
der Falter; ich vermute deshalb, daß sie zu einem
Geheimmittel, wahrscheinlich zu einem Aphro-
disiakum verwendet werden ; vielleicht ist das
mit dem giftfressenden und ekelsaftführenden
Papilio mencius auch der Fall.
Der Bohnenschwärmer
(Clanis bilineata Wlk.).
Clanis biUneata ist in Kuangtung nicht
häufig und den Chinesen nicht bekannt. Meine
Verwendung in Schantung kenne ich durch
Klapheck (1. c.) und auf Grund eigener Reisen.
Anfang Juni findet dort die Weizenernte statt;
nach ihr wird ein großer Teil der Felder mit
Bohnen bebaut. Im August stehen diese am
üppigsten und es gibt dann eine Menge „Bohnen-
raupen" auf ihnen. Sie werden nicht nur von
Hühnern und Krähen gern gesucht; auch die
Chinesen kann man auf der Jagd sehen. Die
Ausbeute wird folgendermaßen behandelt. Ein
dünnes stumpfes Stäbchen hat der Fänger in der
Hand, die Raupe wird bei lebendigem Leibe dar-
über gestülpt wie ein Handschuhfinger, daß das
Innere nach außen kommt. Dann werden die
Tiere abgewaschen, in Öl gebraten und gegessen.
II. Der Schmetterling in der ch inesischen
Literatur.
Die nachstehenden kleinen Auszüge erheben
nicht im entferntesten den Anspruch auf Voll-
ständigkeit. Die Umschreibungen der chinesischen
Namen sind im Cantondialekt gegeben.
Der Schmetterling heißt chinesisch Wu-tip
oder Gab tip oder Fung-tip; im Südosten heißt er
auch Tatmuk. Nachtschmetterlinge werden als
Yiä-ngo oder Tang-ngo unterschieden.
„Auf seinen Flügeln ist Staub, sein Fühler -)
saugt gerne den Duft; alle riechen mit den
Fühlern, so ist sein Fühler gleich der Nase."
„Die Blume ist sein Zimmer. Im Frühling,
wenn alle Blumen sich öffnen, sieht man ihn am
blumigen Wege, auch im leichten Rieselregen
sitzt er dort in seiner Blüte."
Er kommt aus der Puppe. Auf dem
') Danais Chrysippus L. ist hier Gartenlandbewohner,
alle grünen Uanais sind Waldtiere.
^} Der Chinese sagt „Bart" statt Fühler.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 3
Orangenbaum ') ist das Insekt namens To. Es
ist wie ein Fingerglied so groß, sein Kopf hat
Hörner. Einmal mag es sich nicht bewegen, auch
nicht fressen und wird zur Puppe. Nicht lange
liegt sie so, da kommt aus ihr der Schmetterling.
Es gibt Leute, die wissen nicht, woher er kommt
— sie sagen dann, er kommt vom Himmel.
„Im Tsoili^ lan' tsab^"" tsil steht: „Er ist schön,
sauber, wie einer, der zu Hause sitzt, sich pflegt
und keine Arbeit tut."
„Es war einmal ein Mann, der stahl Duft; der
Schmetterling macht es wie er: Staub und Schön-
heit hat er, Duft stiehlt er."
„Er fürchtet des Angr-gor-) Flügel sehr; er
fürchtet auch, daß die Schwalbe ihn fängt und
flattert nach einem südlichen Zweig."
„Wenn der Elegant auf dem Baume sitzt, dann
ist er so bunt, so zierlich-schön wie Blüten vom
Würznägelein." ^) Zu diesem Thema wird erzählt:
„Tünü kungi" loi reiste nach Süden. Als er durch
die Yünl tangl-Schnellen fuhr, sah er einen mehr-
farbigen Baum am Ufer, bunt wie schöne Fäden,
„das ist der Tan-tsing-Baum", sagte er. Er rief
einen Diener, einen Zweig zu holen; der brachte
ihn : darauf waren mehr als zwanzig zarte
Schmetterlinge, viele bunt wie schöne Fäden.
Mancher Augen glänzten wie Gold, mancher Augen
schimmerten rötlich, manche waren wie Nägelein-
blüten. Da waren weiße, gelbe Körper, da waren
welche schwarz und blumig. Der Körper war wie
Erbsen klein, der andere groß wie Fledermaus.
Tun kung verwunderte sich sehr und ging ans
Ufer um zu sehen, ob sie aus Blättern wachsend
kämen."
Damast, Goldstücke und Nephrit.
„Der Kaiser Muk-tsung hatte vor der Schloßfront
eine Maoü tanV fahr*), die blühte sehr schön und
üppig. Da kamen eines Tages Schmetterlinge,
gelbe und weiße, an Zehntausende so viel. Der
Kaiser und seine ganze Familie liefen, nahmen
ihre Damasthandtücher, liefen und wollten sie
fangen, aber niemandem gelang es. Deshalb be-
fahl der Kaiser einigen Leuten, sie mit Netzen zu
fangen, und die fingen an die Hundert. Der Kaiser
und seine Familie freuten sich an ihrer Schönheit.
Als man sie am nächsten Morgen neu betrachten
') Es ist von dem Gat genannten Orangenbaum die Rede.
Auf diesem leben die Raupen zweier Papilio (demoleus Cram.
und polytes L.). Das Osmaterium der Papilionidcnraupen
war mithin den Chinesen schon in alten Zeiten bekannt
(„Hörner").
^) = Papagei (Palaeornis rosae).
^) Ich habe die Übersetzung mehr in europäischem Ge-
schmack gegeben, gesagt ist nur ,,Ting-häDg" = Gewürz-
nelken. Der Gewürznelkenbaum kommt hier nicht vor, die
Blütenfarbe der Eugenia caryophyllata ist unbekannt. Es ist
in Wirklichkeit auch der Duft gemeint; der Chinese liebt be-
kanntlich den Duft der Speise als sehr angenehme Zugabe
zum Geschmack und zielit von zwei annähernd gleichen
Nahrungsmitteln unbedingt das duftende vor.
*) Paeonia Moutan Sims., ist bei den Chinesen sehr be-
liebt und wird gut bezahlt; in Kuangtung kommt sie nicht
wildwachsend vor, sie wird aber vielfach aus Setzschuan,
Scbensi und Honan eingeführt.
wollte — waren sie verwandelt, in wunderschönste
Arbeit von Nephrit und Gold. Des Kaisers Frauen
und Töchter nahmen Faden und banden die ver-
wandelten Tiere als Schmuck ins Haar. Am
Abend begannen sie zu glänzen und zu leuchten,
Glas und Spiegel strahlten den Schein zurück."
Es ist merkwürdig, was für sonder-
bare Dinge es im Ling-pin gibt. Im Yh-
mat-tsi heißt es: „Ein Mann fährt nach Namhoi.
Als das Schiff in Ling pin am Lande liegt, da
sehen die Schiffer ein Ding durch die Luft ge-
flogen kommen, das sah aus wie ein Segel. Als
es über dem Schiffe schwebte, warfen die Schiffer
danach. Sie trafen es und es fiel. Neugierig
liefen sie hin, was es wohl sein möge: Ein
Schmetterling! Der war nicht klein 1 Nach Ab-
brechen von Beinen und Flügeln lieferte er noch
8o Kätti Fleisch und das war recht fett" (8o Kätti
= I Zentner!).
TsöngrkungsT Beschäftigung. „Tsöng kung war
ein junger Mann. Er versuchte ein Examen zu
machen, aber er bestand es nicht. Dagegen ver-
stand er allerhand Zauberstückchen. Einmal reiste
er nach Kongl waihV, dort lud man ihn zu einem
Trinkgelage ein. Als man so recht lustig war,
forderte Tsöng Schere und Papier, schnitt eine
Anzahl Schmetterlinge aus, blies sie an und ließ
die fliegen. Sie flogen und flogen sogar mehrere
Zeichen lang (l Zeichen = 5 Min.). Dann holte
er sie zurück und keiner war verloren."
Mensch oder Schmetterling.? „Tsöng i
tsaor hatte einen Traum ; ihm träumte, er sei ein
Schmetterling. Er konnte gut fliegen und fühlte
darüber große Freude. Er wußte nicht mehr, daß
er Mensch war, er wußte nur, daß er Schmetter-
ling war. Schließlich wachte er auf Was? sagte
er, ich bin ja kein Schmetterling? Ich bin ja
TsöngT tsaor? Vorhin war ich noch ein Schmetter-
ling, einen Augenblick später bin ich ein Mensch?
Jetzt weiß ich wirklich nicht, träumte der Mensch
ein Schmetterling zu sein oder träumt der
Schmetterling ein Mensch zu sein?"
Im San 1 t'ong' siit'aol sagt der Erzähler: „Siehst
Du zwei Schmetterlinge zusammen spielen in der
Luft, so weißt Du, es sind die Geister von Löngi
sanT hak 4 ') und Tsuk4 yingi t'oil ; sie lieben sich
nach dem Tode, da es ihnen im Leben versagt
war."
Der Schmetterlingstshä. „Tsh'äiyati
dichtete ein Schmetterlingslied, 300 Verse groß;
deshalb nannten ihn die Leute den Schmetter-
lingstshä."
Die Schmetterlingswahl. „Der Kaiser
Ming (Tongdynastie) trank mit seinen Gästen.
Seinen Frauen und Konkubinen gab er Auftrag,
ihr Haar mit Blumen zu schmücken. Dann ließ
er einen Schmetterling fliegen, auf welcher Haar-
') Die Geschichte von Long san hak und Tsukying toi,
zwei unglücklich Liebenden, wird gern von den Geigenmädchen
und anderen Sängerinnen gesungen. Sie ist zu lang, um sie
hier wiederzugeben.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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schmuck der flog, um Honig zu naschen, mit der
schlief der Kaiser in der folgenden Nacht."
DuftfolgtderDirne. „Zur Zeit der Tong-
dynastie war in der Hauptstadt eine Dirne, die
war hochberühmt und sehr beliebt. In der ganzen
Hauptstadt war keine zweite PVau so schön wie
sie. Eine Menge Schmetterlinge und Bienen
folgten ihr, wenn sie ausging; denn sie liebten
ihren Duft sehr."
DerStatuenDank. Laol tsiA hang ^ wohnte
in L«! s5n_*. Eines Tages sah er ein Paar große
fünffarbige Schmetterlinge, die flogen von einer
Blüte zur anderen. Er sah ihnen lange zu und
freute sich über sie. Am Abend desselben Tages
kamen zwei Mädchen zu ihm, die sagten: „Herr,
wir danken dir sehr, daß du den Schmetterlingen
dein Herz schenktest. Wir wollen deshalb heute
Nacht bei dir bleiben. Jeden zehnten Abend
kamen die Mädchen wieder und taten so mehrere
Jahre. Einmal kam Lao auf seinen Wegen dort
in der Gegend in einen Tempel, in dem er bis-
her noch nicht gewesen war. Da sah er zwei
weibliche Statuen, die hatten die Gesichter seiner
beiden Mädchen."
Sonderbar klingt ein anderes Wort: „Spei ihm
auf die Flügel und er fliegt sehr hoch."
Der Genius Got. „Im Lo-fau-sam ^) gibt
es eine Schmetterlingshöhle, nahe bei der Wind-
wolkengrotte. Dort ist viel Wald, durch alle
Jahreszeiten finden sich dort viele Schmetterlinge.
Wie kommt das? Der Genius Got legte dort in
der Höhle seinen Mantel nieder, der verwandelte
sich nach und nach in Schmetterlinge."
„Auf einer Schlingpflanze, dem Reihergras,
gibt es im Frühlinge viele schön gefärbte Raupen,
die werden zu Puppen. Aus diesen kommen
schöne Schmetterlinge. Nimm sie und sieh sie
Dir an!"
Er liebt die LiHen'^)-Erde. Tsöng
tsao fung sagt: „Nimm eine Lilienblüte, noch
') Der Lo-fau-san ist ein Berggebiet im Osten von Canton.
^) Die Pah-hap-fah ist Lilium ligrinum Ker.
ehe sie geöffnet ist und umschließe sie ganz
mit nasser Erde — : am nächsten Morgen ist's
ein Schmetterling." Eine Art ist nach den Schilde-
rungen in der chinesischen Literatur mit Sicher-
heit zu ermitteln. Er wird folgendermaßen be-
schrieben: Groß, grün, mit roten Rändern vorn
und zwei langen Schwalbenschwänzen hinten —
das ist die große Saturnide Actias Selene Hbn.
Der Geistschmetterling. Es gibt einen
Schmetterling, der ist groß wie ein Fächer, vier
Flügel hat er und liebt den Laitsi-Baum. Wie
Eisendraht sind seine Augenbrauen, sein Leib ist
abwechselnd goldig und grün. Schön ist er, so
schön! Alle Blumen freuen sich, kommt er da-
her geschwebt und öffnen sich. Und wenn er
geht — niemand hat je gesehen, wohin er geht,
ja niemand weiß, wohin er dann verschwindet".
Charakteristisch an dieser chinesischen Schmetter-
lingssammlung erscheint mir folgendes: Der ele-
gante Ausdruck und manches gute Bild; die Freude
am Erzählen treibt manche phantastische Blüte.
Eine große Rolle spielt in der Stellung des Chinesen
zum Naturobjekt der Geisterglaube, das erotische
Moment hat einen ganz beachtlichen Akzent.
Die Kenntnis von der Verwandlung der
Schmetterlinge ist schon lange vorhanden; trotz-
dem besteht nebenher der Glaube, daß Schmetter-
linge auch aus Blättern und Blumen entstehen
können. Ähnlich wird vom „Reisvogel" (Emberiza
aureola) allgemein behauptet, daß er sich in Fische
verwandle, „aus seinen Eiern werden Fische".
Der Landmann, den man eines Besseren belehren
will, lächelt nur nachsichtig und milde. Den
Grund zu der Annahme bildet der Umstand, daß
diese „Reisammer" nur zur Zeit der Reisernte
hier erscheint und dann • — anscheinend ohne
hier zu brüten — wieder verschwindet. Dagegen
werden nach der Reisernte die bisher von den
Reispflanzen oft versteckten Fische im Felde mehr
sichtbar. — Auch von Fischen sagt man, daß
sie aus Schlamm entstehen können, weil nämlich
in manchem Tümpel oder Reisfeld Fische er-
scheinen, ohne daß sie eingesetzt wurden oder
ein Zustrom von Wasser erfolgte.
Einzelberichte.
Chemie. Versuche über Verflüssigung und
Sieden von Kohle teilt in der „Schlesischen Ge-
sellschaft für vaterländische Kultur" (Sitzung vom
26. Nov. 1913) O. Lummer mit. Durch An-
wendung der großen Hitze eines elektrischen
Flammenbogens unter gleichzeitiger Druckerniedri-
gung ist es Lummer gelungen, die Kohle zu ver-
flüssigen und zum Sieden zu bringen. Um den
Versuch mit möglichst reinem Kohlenstoff auszu-
führen, mußten Kohlen ausgewählt werden, die
möglichst frei von fremden Beimengungen sind,
deren Aschengehalt also ein sehr geringer ist.
Unter den verschiedenen Kohlensorten, die zur
Verwendung kamen, zeichneten sich besonders
aus eine Graphitkohle mit einem Aschengehalt
von etwa i % und eine oberschlesische Kohle,
die besonders rein war und einen Aschengehalt
von nur o, 15"^ aufwies. Das Verhalten der ver-
schiedenen Kohlenarten war in allen Fällen das
gleiche. Kam ein Flammenbogen von 220 Volt
Spannung zur Verwendung, so begann bei einem
Druck von 50 bis 60 cm die Kohle zu sieden,
mit weiter abnehmendem Druck wurde sie zäh-
flüssig, bis sie bei etwa 40 cm ganz flüssig war,
wobei die flüssige Kohle nicht abtropft, sondern
zu Blasen und Siedeperlen Veranlassung gab.
38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. s
deren eckiges Aussehen eine Folge des großen
Kristallisationsvermögens des Kohlenstoffs ist.
Sinkt der Druck dann bis ca. lo cm, so steigen
nur an den Rändern noch Dämpfe auf, während
das Sieden aufhört, bis sich bei weiterer Druck-
abnahme die Kohle wieder verfestigt. Das Siede-
produkt erwies sich als reiner Graphit. Die Ver-
suche werden im Breslauer Institut von Lummer
noch fortgesetzt, und zwar mit ganz reinem
Kohlenstoff, deren Ergebnisse aber erst abgewartet
werden müssen, ehe es möglich ist, die oben kurz
geschilderten Erscheinungen zu beurteilen.
Sbn.
Hydrolyse der F'ette. Behufs Beurteilung der
Vorgänge bei der Hydrolyse der Fette hat man
zu unterscheiden, ob die Hydrolyse im homogenen
oder im inhomogenen System verläuft. Im homo-
genen System verläuft die Reaktion zweifellos
stufenweise, unter Bildung von Mono- und Di-
glyceriden als Zwischenprodukte. ')
Bei der den technischen Verhältnissen ent-
sprechenden Spaltung der Fette im inhomogenen
System muß man berücksichtigen, ob die Hydro-
lyse durch Alkalien, Säuren, Wasserdampf oder
Fermente erfolgt. Bei der Verseifung mit Alkalien
konnte bisher in keinem Falle Zwischenbildung
von Mono- und Diglyceriden nachgewiesen werden.
J. Marcusson unterzog vorliegende Frage einer
erneuten Prüfung. Bei dieser wurden in erster
Linie einheitliche Glyceride wie Tribenzoin, Tri-
palmitin und Tristearin, und dann erst Gemische
verwandt. Die Prüfung auf Bildung von Mono-
und Diglyceriden erfolgte folgendermaßen : Aus
den teilweise gespaltenen Glyceriden wurden die
neutralen, noch nicht verseiften Anteile nach dem
Verfahren von Spitz und Honig abgeschieden. In
diesen Anteilen mußten sich etwa gebildete Mono-
und Diglyceride angereichert vorfinden. Bei
Gegenwart dieser Zwischenstufen war gegenüber
dem reinen Ausgangsmaterial eine Veränderung
des Schmelzpunktes, eine Verringerung der Ver-
seifungs- und Hehnerzahl, dagegen eine Erhöhung
der Acetylzahl zu erwarten, wie auch die Tabelle
zeigt:
Schmelz-
punkt
Hehner-
zahl
Ver-
seifungszahl
Acetylzahl
Tristearin
71,5
95.7
iS9,l
189,1
Distearin \
a und ß \
72-5 "• 74,5
90,7
179,8
252,7
Monostearin
61
79.0
156,7
380,8
Die Versuche wurden vorläufig durch Erhitzen
mit Wasser im Autoklaven ausgeführt und führten
zu folgendem Ergebnis. Die aus teilweise ge-
spaltenem Tribenzoin abgeschiedenen Neutralstoffe
hatten einen beträchtlich niedrigeren Schmelz-
punkt. Versuche, durch Kochen mit Essigsäure-
anhydrid eine Acetylgruppe einzuführen, führten
nicht zum Ziele.
') Zeitschrift für angewandte Chemie Bd. 26, 173 — 176.
Bei Verwendung von Tripalmitin bzw. Tri-
stearin wurde gefunden, daß die abgeschiedenen
Neutralstoffe um 5 — 8 " niedriger schmolzen als
das verwandte Triglycerid, die Verseifungszahl
war gesunken, die Hehnerzahl (Prozentgehalt an
Fettsäuren) war geringer. Beim Kochen mit
Essigsäureanhydrid wurden beträchtliche Mengen
von Acetylverbindungen gebildet; die Verseifungs-
zahlen der acetylierten Fette waren 239,9 'J"'^
224 gegenüber 208,8 und 189,1 bei reinem Tri-
palmitin und Tristearin.
Das gleiche Verhalten zeigte auch technisches
Palmkernfett.
Hieraus muß geschlossen werden, daß die
Hydrolyse der Fette beim Erhitzen mit Wasser
unter Druck unter intermediärer Bildung von
Mono- und Diglyceriden erfolgt. Das gleiche
dürfte auch für die Hydrolyse durch Säuren und
Fermente gelten.
Eine Sonderstellung nimmt somit nur die
Hydrolyse durch Alkallen ein. Vielleicht gelingt
es aber auch hier noch einmal, die Zwischen-
glieder der Reaktion nachzuweisen.
Auf den experimentellen Teil einzugehen,
würde zu weit führen. O. Bürger-Kirn.
Bufotalin, das Gift der Kröten. Die Kenntnis
von der Giftigkeit der Kröte reicht bis ins
Altertum hinein. Auch Volksglaube und Ge-
lehrsamkeit des Mittelalters beschäftigen sich leb-
haft mit ihr, und in der Poesie bildet die Kröte
in ihrer Giftigkeit und Häßlichkeit von jeher ein
wirksames und viel gebrauchtes Sj'mbol. Als
Heilmittel, besonders gegen Herzleiden, sind ge-
trocknete Kröten schon seit langer Zeit verwendet
worden. In China und Japan besitzen Präparate
daraus noch heutigen Tages in der Therapie hohe
Bedeutung. Um die Mitte des vorigen Jahr-
hunderts wurde durch exakte Untersuchung fest-
gestellt, daß der Giftstoff in den Hautdrüsen ab-
geschieden wird. Französische Physiologen be-
zeichneten das Krötengift als ein spezielles Herz-
gift. Eine ausführliche historische Darstellung
über das Krötengift findet sich in der Monographie
von E. St. Faust „Die tierischen Gifte". Für
den Chemiker erhellt aus den früheren Arbeiten
bloß das eine Wissenswerte, daß der giftige Be-
standteil des Hautdrüsensekretes keinen Stickstoff
enthält. Wesentliche Fortschritte unserer Kennt-
nisse über das Krötengift brachte eine Unter-
suchung von E. St. Faust, der einen scheinbar
einheitlichen Stoff von der Zusammensetzung
C34H4,.,0],| aus Krötenhäuten isolierte und ihn
Bufotalin nannte. Neuerdings befaßten sich mit
diesem Bufotalin Heinrich Wieland und
Friedrich Josef Weil am Chemischen Labora-
torium der Kgl. Akademie der Wissenschaften in
München (Ber. d. Dtsch. Chem. -Ges. 46. Jahrg.
Nr. 14, S. 3315 ff.). Sie konnten konstatieren, daß
das Bufotalin nicht den Säurecharakter besitzt,
der ihm von Faust zugeschrieben worden war.
Das F a u s t 'sehe Bufotalin enthält noch Korksäure,
N. F. XIII. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
39
welche bisher als Stoffwechselprodukt der tieri-
schen Zelle noch nicht angetroft'en worden war.
Den beiden angeführten Chemikern gelang es das
Krötengift, Bufotalin, in kristallisierter Form zu
erhalten. Es hat die Zusammensetzung CjgH.j^O^,
zeigt neutralen Charakter und dürfte ein gesättigtes
Dioxy-lacton sein, das seiner Zusammensetzung
nach drei Ringbindungen enthalten muß.
Dr. R. Ditmar.
Physik. Energiemessungen an Empfangs-
antennen. Heinrich Hertz hat eine Gleichung
aufgestellt, welche gestattet, die Stärke des elek-
trischen Feldes in größerem Abstände r von einer
strahlenden Antenne aus ihrer Länge und der
Stromstärke des in ihr schwingenden Stromes zu
berechnen unter der Voraussetzung, daß die An-
tenne auf gut leitendem, also die elektrischen
Wellen spiegelndem Boden steht. Aus dieser
Formel läßt sich die Stromstärke in einer im Ab-
stände r von der Senderantenne stehenden Emp-
fangsantenne, deren Widerstand und Länge be-
kannt ist, berechnen. In der physikalischen Zeit-
schrift (XIV, Seite 934 191 3) berichtet Herr
M. R e i c h über seine Versuche, welche die Überein-
stimmung der Theorie mit der Praxis untersuchen.
Er mißt zu dem Zweck mit einem D u d d e 1 1 'sehen
Thermogalvanometer in der Empfangsantenne die
Stromstärke und vergleicht sie mit der aus der
Formel errechneten. Die Entfernungen zwischen
den beiden Stationen betrugen 7 km, dann 216 km
(Köln-Göttingen), 288 km (Neumünster-Göttingen).
Gesendet wurde nach der Wien 'sehen Methode
mit tönenden Löschfunken. Der Größenordnung
nach stimmen die Beobachtungsresultate mit den
aus der Formel berechneten überein. Die im
Empfänger auftretenden Stromstärken sind stets
zu klein, namentlich wenn bei großem Abstand der
Stationen der Sender kurze Wellen {X = 900 m)
aussendet; für längere (A = 2000 — 2500 m) sind
die Abweichungen geringer. Die Differenz erklärt
sich daraus, daß erstens der Boden zwischen
Sender und Empfänger nicht wie die Theorie
voraussetzt, unendlich gut leitend ist (nach einer
Regenperiode wird wegen des erhöhten Wasser-
gehaltes des Bodens die Übereinstimmung besser)
und daß zweitens das Gelände, namentlich Ge-
birge, Energie absorbiert. Mit abnehmender
Wellenlänge nimmt die Absorption stark zu,
doch ist sie für gedämpfte und ungedämpfte Wellen
gleich groß. Namentlich die Tageszeit hat Ein-
fluß, nachts ist die auf den Empfänger über-
tragene Energie unter sonst gleichen Verhältnissen
stets wesentlich größer als bei Tage, eine schon
bekannte Tatsache : Nachts ist die Reichweite
einer Station größer. Doch schwanken «die im
Empfänger gemessenen Werte sehr stark, ohne
daß sich hierin irgendwelche Gesetzmäßigkeiten
erkennen ließen; bei Tage treten die Schwankungen
nicht auf. Die praktische Bedeutung der
Versuche von Reich liegt darin, daß er aus
seinen Versuchen einen Absorptionskoeffizienten
entnehmen konnte, bei dessen Benutzung die Über-
einstimmung der beobachteten mit der errechneten
Stromstärke in einer neuen Antenne bei Tage
sehr gut war. Dr. K. Schutt.
Botanik. Körpergröße und Zellengröße. Die
Frage, ob sich die Größenunterschiede zwischen
Individuen derselben Art oder zwischen ver-
schiedenen Sippen oder zwischen den Organen
desselben Individuums auch in der Größe der
Zellen ausprägen, hat H. Sierp durch umfangreiche
statistische Untersuchungen an Pflanzen verfolgt
(Jahrb. f. wissenschaftl. Botanik Bd. 53, p. i, 191 3).
Er hat dabei besondere Rücksicht auf den Zwerg-
wuchs genommen und also vor allem die Frage
zu entscheiden gesucht: hat der Zwerg kleinere
Zellen wie die normale Form ? Dabei macht er
gleich eine prinzipielle Unterscheidung zwischen
Kümmerzwergen und echten Zwergen. Erstere
sind nur klein, weil sie auf ungünstigem Boden
wachsen, sie können normale Größe erreichen,
wenn sie in gutes Land gepflanzt werden, und
dementsprechend ist auch ihre Nachkommenschaft,
in nahrhaftem Boden gezogen, normal groß. Die
echten Zwerge dagegen überschreiten nie eine
gewisse stets geringe Größe, ihre Nachkommen-
schaft ist auch immer wieder zwergig. Der Zwerg-
wuchs ist bei ihnen in ihrer inneren Konstitution
begründet, während er bei den Kümmerzwergen
durch die äußeren Exi^tenzbedingungen zeitweilig
aufgeprägt wird. Mit Hilfe einer sehr sorgfältigen
und kritischen Methodik stellt nun Sierp zunächst
fest, in Übereinstimmung mit früheren Unter-
suchungen, »daß die Kümmerzwerge durchgehends
geringere Zellgröße besitzen als die normalen
Individuen , im maximalen Falle (nämlich bei
Brennesseln) nur halb so große. Die erblichen
echten Zwerge verhielten sich dagegen merk-
würdigerweise sehr verschieden. Einige Zwerg-
sippen, wie z. B. von der Kartoffel, der Erbse,
hatten stets kleinere Zellen als die normalen
Sippen, bei anderen Pflanzen, wie z. B. bei der
Wunderblume (Mirabilis Jalapa), waren die Zellen
der Zwerge nur wenig oder überhaupt nicht
kleiner als die der Normalforni und bei einer
Nigella war es sogar umgekehrt, hier war der
Zwerg großzelliger als die normale Pflanze.
Die Zersetzung der Oxalsäure. Über das
Schicksal der fortdauernd mit den Pflanzenresten
in den Boden gelangenden Mengen des schwer-
löslichen Oxalsäuren Kalks war nichts bekannt,
obgleich diese Frage zweifellos von Bedeutung für
den Kreislauf des Kohlenstoffs in der Natur ist.
Beträgt doch in Laubwäldern die Menge des mit
dem Blattfall dem Boden zugeführten Calciumoxalats
wenigstens 30 kg pro Jahr und Hektar. Frühere
Untersuchungen über die Eignung von Oxalsäuren
Salzen als Kohlenstoffnahrung für Mikroorganismen
hatten ein zweifelhaftes, günstigsten Falles ein sehr
geringfügiges positives Ergebnis. Meist bleibt die
Entwicklung vollständig aus. K. Bassalik (Jahrb.
f. wissenschaftl. Botanik Bd. 53, S, 255, 191 3)
40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 3
maclite nun die Beobachtung, daß in den Regen-
wurmexkrementen die aus den verzehrten Blättern
stammenden Drusen von Calciumoxalat eigen-
tümliche Korrosionen zeigten. Die Vermutung,
daß sie durch die Angriffe bestimmter Bakterien
hervorgerufen würden, bestätigte sich, als eine
anorganische Nährlösung, der er als Kohlenstoff-
und Stickstoffquelle nur Ammoniumoxalat zufügte,
mit geringen Mengen von Regenwurmexkrementen
geimpft wurde. Es entwickelten sich in ihr auf
dem Boden der Kulturflasche dicke rötliche Bak-
terienhäute. Auch die Reinzucht gelang auf be-
stimmte mühevolle Weise. Dieser als Bacillus
extorquens bezeichnete Bacillus besaß nun die
Fähigkeit der Oxalatzersetzung in ausgeprägtem
Maße. Er fraß sich, wie man im hängenden Tropfen
konstatierte, rasch in Kristalle von oxalsnurem
Kalk hinein, so daß diese nach etlichen Tagen
unter den Angriffen der sie rings umhüllenden Bak-
terien zerfielen. In ganz ähnlicher Weise brachte
er, wenn er rein in Kulturgefäße mit sterilisierten
Pflanzenresten geimpft wurde, die in ihnen ent-
haltenen Oxalatkristalle zum \'ersch winden, während
dies z. B. verschiedene Schimmelpilze nicht ver-
mochten. Was den Chemismus angeht, so oxy-
diert der Bac. extorquens anscheinend die Oxal-
säure glatt in Kohlensäure und Wasser, doch
wurde etwas weniger CO., gefunden als der Formel
CjO^Hg + O = 2C0„ +'H.,0 entsprechen würde,
so daß" der Schluß nahe liegt, dieses Minus hänge
mit dem Aufbau der Leibessubstanz des Bacillus
zusammen. In welcher Weise, konnte allerdings
nicht genau ermittelt werden. Irgendwelche faß-
baren Nebenprodukte fanden sich nicht Steht
ihm, wie es gewöhnlich in der Natur der Fall ist,
oxalsaurer Kalk zur Verfügung, so verwandelt
er diesen in kohlensauren Kalk. Die oxydative
Spaltung wird, wie der Verf schließlich noch
zeigt, durch ein Enzym bewirkt, wahrscheinlich eine
Oxydase. Die Bedeutung des Bac. extorquens
und wahrscheinlich auch anderer noch unbekannter
im Erdboden lebender Bakterien besteht also
darin, daß er den Kohlenstoff des schwerlöslichen
Calciumoxalats in Form der Kohlensäure frei
macht und dadurch wieder in den großen Kreis-
lauf einführt.
Daß der Einfluß des Lichtes auf das Wachstum
der Pflanzen nicht ohne weiteres in einer Hem-
mung besteht, sieht man schon daran, daß zwar
die Stengel von im Dunkel wachsender Pflanzen
rascher wachsen als im Licht, die Blätter jedoch
klein bleiben. Peirce zeigt nun (Dudlcy Memorial
Volume, Leland Stanford Junior University Publi-
cations, University Series S. 62, 19 13), daß, wenn
man Prothallienkulturen von Farnen teils ge-
wöhnlich hinstellt, teils bei derselben Beleuchtung
und unter sonst den gleichen Bedingungen, an
einem Klinostaten auf vertikaler Achse rotieren
läßt, die letzteren ganz erheblich viel stärker sich
entwickeln. Durch den rasch (4mal pro Minute)
rotierenden Klinostaten fällt von allen Seiten
Licht auf die Pflänzchen, die Summe ihres Licht-
genusses ist viel größer (zumal sie unter diesen
Versuchsbedingungen aufrecht wachsen) als bei
den gewöhnlich beleuchteten und dem Boden an-
gedrückten Prothallien. Ähnlich beobachtete Peirce,
daß derart gedrehte Weizenkeimlinge größere
Blätter bekamen, während die Stammlänge gleich
blieb.
Die Bakterienkerne, diese viel umstrittenen Ge-
bilde, hat Kruis (Bulletin de l'Academie des
Sciences de Boheme 191 3) mit Hilfe des Kohl er-
sehen Verfahrens der Photographie im ultravioletten
Lichte untersucht. Man hatte bisher (vgl. z.
B. das betreffende Kapitel in dem Buche A.Meyers,
Die Zelle der Bakterien, Jena 191 2) immer nur
durch Anwendung von besonderen Färbungs- und
mikrochemischen Methoden den Nachweis von
Kernen in der Bakterienzelle versucht, ohne daß
jedoch auf die Weise eine Einigung der Forscher
erzielt worden wäre. Die Möglichkeit, daß es sich
um Artefakte, Reservestoffe handle, war nicht
widerspruchslos auszuschließen. K r u i s , ein Meister
auf dem Gebiete der Mikrophotographie, hat nun
lebende Bakterien mit ultravioletten Strahlen
photographiert. Da nun, wie man von höheren
Pflanzen weiß, die Zellkerne gerade die ultravioletten
Strahlen stark absorbieren, müßten auch die Photo-
gramme der bei gewöhnlicher mikroskopischer
Betrachtungbekanntlich fast homogen erscheinenden
Bakterien dann dunklere Punkte aufweisen, wenn
etwa Zellkerne vorhanden sind. Der Verf. konnte
nun mit einer überraschenden Deutlichkeit bei
mehreren Bakterien, besonders schön bei dem
Bacillus mycoides, von einem helleren Hof um-
gebene dunklere Körnchen photographieren.
Freilich könnte man auch hier wieder einwenden,
daß es sich um andere körnige Bestandteile handle.
Doch machen Lage, Regelmäßigkeit des Vor-
kommens, Gleichmäßigkeit der Größe und vor
allem die oft mit aller Deutlichkeit hervortretenden
Teilungsbilder solcher Körnchen den Schluß fast
unabweisbar, daßKruiswirklichKerne abbildet, die
ersten, gegen die man kaum etwas einwenden kann.
Ob sie freilich allgemein bei Bakterien vorkommen,
wäre noch festzustellen. Das Interesse, das man
an dem Kernnachweis bei Bakterien nahm, ist in-
sofern begreiflich, als man meist meinte, die Bak-
terien seien überhaupt die primitivsten Lebewesen,
die man sich denken könne, sie gehören an den
Anfang der Organismenreihe. War diese Auffassung
schon aus anderen Gründen morphologischer und
auch physiologischer Natur wenig wahrscheinlich,
so wird sie auch durch den Kernnachweis wider-
legt. Überall, wo wir Organismen einfacher Art
beobachten, treten sie uns schon mit den wich-
tigsten Merkmalen der Zelle entgegen. Ein ein-
facheres, als ein typisch zellulär organisiertes
Lebewesen, ein Urwesen, kennen wir immer
noch nicht. Miehe.
Völkerpsychologie. Die Erforschung des
geistigen Kultuibesitzes der Völker begegnet noch
weit größeren Schwierigkeiten als die Erforschung
N. F. XIII. Nr. ^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
4>
der materiellen Kultur. Ganz besonders fühlbar
machte sich bisher bei ethno-psychologischen
Untersuchungen der Mangel eines planmäßigen
Vorgehens, wodurch ihre Ergebnisse sehr beein-
trächtigt wurden.
Um so mehr dankenswert ist es, daß das
Institut für angewandte Psychologie und psycho-
logische Sammelforschung in Kleinglienicke bei
Potsdam „V orschläge zur psychologischen
Untersuchung primitiver Menschen" ge-
sammelt und herausgegeben hat (Beihefte zur
Zeitschrift für angewandte Psychologie usw., Nr. 5,
Leipzig 1912, J. A. Barth, Preis 4 Mk.). Diese
Anleitung zu ethno-ps)'chologischen Forschungen
ist in erster Linie bestimmt für Forschungsreisende,
sodann für solche, die dauernd mit Menschen
primitiver Kulturstufe in Berührung sind, wie
Missionare, Beamte, Arzte und Lehrer in den
Kolonien usw. Sie wird aber auch verwendbar
sein für die Untersuchung von Truppen fremder
Völker, die zu Schaustellungszwecken nach Europa
kommen.
Das genannte Institut erklärt sich überdies
bereit, über die in der Anleitung vorgeschlagenen
instrumentalen Hilfsmittel, Bilderserien usw. Aus-
kunft zu geben.
In den „Vorschlägen zur psychologischen
Untersuchung primitiver Menschen" gibt einleitend
Dr. Richard Thurnwald eine Übersicht der
Probleme der ethno-psychologischen Forschung;
derselbe Autor behandelt überdies noch die Praxis
der ethno-psychologischen Ermittlungen, besonders
durch sprachliche Forschungen. Die Anleitungen
betreffend die einzelnen Zweige der psychologi-
schen Untersuchung fremder Völker sind von
Spezialisten auf diesen Gebieten verfaßt, und sie
dürfen als sehr zweckdienlich gelten, so daß sie
allen, die Gelegenheit zu ethno-psychologischen
Studien haben, bestens zu empfehlen sind. Bei-
träge haben außer R. Thurnwald noch geliefert
A. V. Tschermak, A. Gutmann, W. Stern, O. Lipp-
mann, A. Vierkandt und C. Meinhof; ein Frage-
bogen über die Ermittlung von Ausdrucksbe-
wegungen ist Charles Darwin's ,, Ausdruck der
Gemütsbewegungen" entnommen.
Dr. R. Thurnwald verweist in seiner Dar-
legung der Probleme der ethno-psycho-
logischen Forschung auf den Umstand, daß
bei Betrachtung der Menschen als Träger ver-
schiedener Kulturen vor allem die Verschieden-
heit ihres psychologischen Typs auffällt:
Das ganze Studium der Ethnologie kreist um das
Problem, die psychologischen Eigentümlichkeiten
der fremden Völker zu erfassen, denn das heißt
sie kennen lernen. Man konstruiert aus Pfeil-
spitzen, Fischnetzen, Armringen, Tragtaschen,
Hauseinrichtungen und was sonst in den Museen
aufgestapelt ist, den Geist derer, die alle diese
Dinge verfertigt haben.
Einer der wichtigsten Grundsätze für ethno-
psychologische Untersuchungen, die Thurnwald
anführt, ist der, daß festzustellen ist, einerseits
was in den tiefsten biologischen Voraussetzungen
alle Menschheit eint, was sie überall mit Gewalt
zunächst zu denselben Zielen und Früchten „kon-
vergieren" macht, und wo andererseits oberhalb
dieses gemeinsamen Mutterbodens die Diver-
genz der einzelnen Individuen oder Gruppen zu
den farbenwechselnden Blüten beginnt.
Ähnlichkeiten an Einrichtungen und Denk-
weisen sind keineswegs notwendig oder auch nur
wahrscheinlich aus Übertragungen zu erklären.
Bei der Frage der Kulturübertragung ist stets zu
beachten, daß die Menschen Übernommenes um-
arbeiten und neu gestalten. Manchmal ist die
Umwandlung so stark, daß das Umwandlungs-
produkt völlig den Stempel der Übernehmer trägt,
die oft nur die Äußerlichkeiten übernommen
haben. Zudem ist es zweifellos, daß ein Kultur-
gut, je eigenartiger und geistiger es ist, um so
weniger unverändert übertragen werden kann.
Ferner werden die Einwirkungen von außen bei
verschiedenen Völkern durchaus nicht gleichartig
aufgenommen ; einmal deshalb, weil ein ver-
schiedener Kulturstoff zur Assimilierung vorliegt,
und dann weil ein andersgeartetes Denken diese
Aneignung vornimmt. Bei materiellem Kulturgut
wird die Übernahme leichter festzustellen sein als
bei geistigem; denn es muß ein starker Anstoß
erfolgen, um Töpfe, Äste usw. anders zu ver-
fertigen, als sie überliefert wurden — aber etwa
Geschichten ändert jeder beständig unbewußt.
Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens kul-
tureller ,, Konvergenzerscheinungen" betrachtet
Thurnwald als sehr gering : denn gleiche kulturelle
Bedingungen müssen bei verschiedenen Völkern
nicht notwendig gleiche Folgen hervorrufen.
Nimmt man an, daß das bei einer Gelegenheit
der Fall war, so kann man von einer Konvergenz-
erscheinung sprechen. Aber in Wirklichkeit han-
delt es sich dabei meist um ähnliche „gesellschafts-
biologisclie" Phänomene, die in den von der ört-
lichen Umgebung, von dem sozialen oder politischen
Zusammenleben oder den besonderen Erbanlagen
unabhängigen Lebensvorgängen der menschlichen
Art wurzeln.
Wichtig ist die F"eststellung der Häufigkeit des
Auftretens individueller Begabungstypen in den
einzelnen ethnischen Typen, da solche Begabungs-
typen vermöge ihres eigenartigen Einflusses der
Gesamtheit ihren Stempel aufzudrücken vermögen,
das Kulturleben, die Geistesverfassung und das
Schicksal der Gruppen, denen sie angehören, be-
stimmen können.
Einzeluntersuchungen an repräsentiven Indivi-
duen der ethnischen Gruppen sind deshalb und
aus anderen Gründen, die Thurnwald aufzeigt,
sehr wichtig.
Dr. Thurnwald hat selbst umfassende Unter-
suchungen über die Psychologie der Salomo- und
Bismarckinsulaner ausgeführt, und einen Teil ihrer
Ergebnisse bereits veröffentlicht. Als Beiheft
Nr. 6 der Zeitschrift für angewandte Psychologie
erschienen seine „Ethno-psychologischen Studien
42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 3
an Südseevölkern" (162 S. u. 23 Tafeln; Leipzig
191 3, Preis 9 JVIk.). Der Forscher berichtet in
dieser wertvollen Arbeit über einzelne Versuche,
die sich auf Intelligenzfragen beziehen und außer-
dem gibt er ein Bild der Geistesverfassung der
Leute, das er aus seinen Erfahrungen und dem
ethnologischen Material ableitet. Diese Studien
sind ein musterhaftes Beispiel dafür, wie völker-
psychologische Ermittlungen auszuführen und wie
ihre Ergebnisse zu verarbeiten sind.
Aus dem besonders interessanten Abschnitt
über die Geistesverfassung der Salomo- und Bis-
marckinsulaner sollen hier einige Details mitge-
teilt werden.
Die allgemeine Intelligenz wird als
passiv bezeichnet: Der Widerstand gegen die
Schranken der Natur ist stets gering. Die Insu-
laner passen sich ihr so weit als möglich an.
Hindernissen geht man aus dem Wege statt sie
zu beseitigen. Es kann sein, daß eine geringe
Vitalität, die auch in der kurzen Lebensdauer
ihren Ausdruck findet, und für die wieder die
lange Einwirkung des erschlaffenden Klimas ver-
antwortlich ist, die Ursache der erheblich herab-
gesetzten Aktivität ist. Auffallend ist auch der
Mangel an sicherer Steigerung der Gemütsbe-
wegungen, und die große Rolle, welche Stim-
mungen spielen. Dies ist vielleicht der Grund
zu dem oft mitleidslosen und asozialen Verhalten,
das der Aufspeicherung wie der Überlieferung von
Erfahrungen hinderlich ist. Die Leute sind un-
fähig, ihre Aufmerksamkeit lange auf einen
oder mehrere Gegenstände zu konzentrieren, und
mangelnde Kombinationsfähigkeit bewirkt, daß sie
nicht imstande sind, sich mehrere Dinge — wie
z. B. Aufträge — gleichzeitig zu merken. Hier-
mit in Zusammenhang steht die Art der Ermüd-
barkeit: Arbeiten, die keine oder wenig geistige
Anstrengung erfordern, werden mit einer staunens-
werten Ausdauer verrichtet ; dabei ist der Fleiß
groß, die Ermüdbarkeit gering. Wo hingegen
intellektuelle Kräfte in Frage kommen, da er-
lahmen Aufmerksamkeit und Fleiß bald. Leicht
erklärlich ist hierbei die herrschende Neigung zur
Arbeitsteilung.
Die höhere kombinatorische Geistes-
tätigkeit ist zunächst orientierender passiver
Art. Was die Orientierung gegenüber den Mit-
menschen anbelangt, so ist vor allem zu bemerken,
daß die Regelung des Geschlechtsverkehrs durch
besondere Bezeichnungen der in Betracht kommen-
den Gruppen zum Ausdruck gebracht wird.
Thurnwald ist ebenfalls der Ansicht, diese Gruppen
seien ursprünglich rein lokal gewesen und später
in Geschlechts- und Handelsbeziehungen zuein-
ander getreten, woraus sich die Regel der Exo-
gamie entwickelte. ' ) Die Verwandtschaftsbe-
ziehung zu einzelnen Personen ist nicht genau be-
kannt. Da es nur darauf ankommt, welcher Gruppe
') Vgl. Fehlinger, Entstehung der E.Nogamie. Sexual-
probleme, 191 1, S. 680 ff.
jemand angehört und ob er geschlechtsreif ist
oder nicht, so wird auch nur nach diesem
Gesichtspunkt das Alter erwogen. Das
Alter richtig zu kennen hat niemand Interesse.
Dazu kommt, daß der Ablauf der Zeit mangels
deutlich ausgeprägter Jahreszeiten schwer zu be-
stimmen ist.
Jeder einzelne fühlt sich als Mittelpunkt seiner
Welt, doch wird dieses Gefühl der Egozentrizität
nach der Familie und der sozialen Gruppe hin
erweitert, und es tritt eine Identifizierung
der eigenen Existenz mit der des anderen
auf So führt Thurnwald z. B. an, daß man sich
nicht etwa vorstellt, ein anderer sei wie ein
Hund, wie der Fischgeier usw., sondern er ist
es. Eine ähnliche Identifizierung finden wir bei
Kindern. Diese Denkweise ist wohl auch für das
Verständnis des sog. „Totemismus" wichtig. Die
Identifizierung mit jemand anderem kann sogar
sehr weit gehen. Thurnwald berichtet u. a., es
habe sich ein Mann in seinem Benehmen krank
gestellt, doch wurde später herausgefunden, daß
nicht er, sondern seine Frau krank sei, die eine
böse Wunde hatte. Der Mann gab sich erst nach
einigen Tagen wieder als gesund aus — als seine
Frau gesund geworden war. Dieser Vorfall läßt
auf die Entstehungsweise des Brauchs schließen,
der als „Männerkindbett" bezeichnet wird. Es
handelt sich da um die egozentrische Form des
Mitleids, eine Form des Mitgefühls, die noch nicht
zur Nächstenliebe geworden ist. Die Identifizie-
rung des eigenen Ichs mit anderen findet ihren
Ausdruck ferner darin, daß der eine Angehörige
der Sippe für den anderen eintritt, wenn es eine
Leistung für die Gesamtheit gilt, und daß einer
für den anderen haftet. Auf solcher Auffassung
beruht die Blutrache. Mitgefühl und soziales
Empfinden in unserem Sinne gibt es jedoch nicht;
Phantasie und Kombination scheinen dazu nicht
auszureichen.
Was die Kenntnis der umgebenden Natur be-
trifft, so sind die Insulaner mit allem vertraut,
was der Lebenserhaltung dient; aber sie kennen
die Dinge nur als Gebrauchsgegenstände, eine
weitere Erklärung dafür haben und suchen sie
nicht. Krankheit und Tod werden der Zauberei
zugeschrieben. Der Glaube an ein Fortleben der
Seele nach dem Tode besteht, doch ist nicht zu
entscheiden, ob er von auswärts übernommen
wurde und woher. Die Sterne werden als Vögel
der Nacht betrachtet, was eine naheliegende
Assoziation ist. In der Nacht ist die Furcht der
Leute groß, sie sehen überall Spuk und hören
überall geheimnisvolle Stimmen. Aberglaube und
Zauberei spielen eine wichtige Rolle. Das hängt
wohl hauptsächlich davon ab, daß der Ausschnitt
der Welt, den die Leute kennen, sehr klein und
ihre Weltanschauung subjektiv ist. Sie muß um
so mehr subjektiv sein, je weniger Tradition vor-
handen ist, und je mehr jeder auf seinen
eigenen Erfahrungen fußen muß. Die
Erinnerung erstreckt sich nur auf sehr kurze Zeit,
N. F. XIII. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
43
und schon diese Tatsaclie allein schließt ein An-
sammeln von Erfahrungen der älteren Genera-
tionen fast völlig aus; sie ist gewiß eine der
Hauptursachen, warum es diese Völker zu keinem
Fortschritt der Kultur bringen konnten.
Das Alltagsleben bietet nicht viel Abwechs-
lung und es ist frei von jedem Schaffenszwang:
Was nicht heute geschieht, kann morgen gemacht
werden, denn das Aufschieben bringt keinen
Schaden. Das Einerlei wird durch Feste unter-
brochen, die sich aber nicht an den Lauf der
Gestirne und selten an Naturereignisse anknüpfen,
sondern vornehmlich an Ereignisse des mensch-
lichen Lebens. Kämpfe und Fehden, Morde und
Totschläge bilden die bittere Würze vor, zwischen
und nach den Festen.
Sehr beachtenswert ist Thurnwald's Mahnung,
daß psychologisches Verständnis der Eingebornen
auf Seite der Weißen die Grundlage für eine
fruchtbare Symbiose mit den Eingebornen schaffen
sollte. H. Fehlinger.
Geographie. Die Abhängigkeit der Form der
Landoberfläche vom inneren Bau behandelt eine
systematische Abhandlung von A. Hettner
(G. Z. 191 3, H. 8). In der zweiten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts, als die Geographie über die
beschreibende Auffassung der Oberflächenformen
hinausging, suchte sie Anlehnung an die Geologie
und faßte die Abhängigkeit der Formen vom
inneren Bau ins Auge. Diese Auffassung herrschte
eine Zeitlang vollkommen, so daß Täler als
Spalten, die Gebirgskörper als stehengebliebene
oder gehobene Blöcke erschienen. Erst allmählich
wurde die Arbeit der exogenen Kräfte anerkannt
(Wind, klimatische Einflüsse, Flüsse und Eis). Die
weit reichende Abtragung wurde durch genauere
Forschungen bekannt, schon Ramsay hatte
Rumpfflächen als Unterschied zwischen der wirk-
lichen und tektonischen Oberfläche erkannt.
Erst in den Alpen wurde die richtige Erkenntnis
durch Heim, Neumayr, Ed. Richter und
Penck gewonnen. Er und viele andere wiesen
die Unabhängigkeit der Gebirgsgipfel vom inneren
Baue nach, sie zeigten, daß Schichtantiklinalen,
die Kämme sein sollten, als Einsenkungen, Syn-
klinalen als Kämme usw. auftraten; sie lehrten
die Umkehr oder Inversion des Gebirgsbaues
kennen. Erst dadurch ist die Morphologie eine
selbständige Disziplin neben der Tektonik und
mehr das Forschungsgebiet der Geographen ge-
worden.
In der D a v i s'schen Schule ist die Emanzipation
der Geographie von der Geologie noch einen Schritt
weiter gegangen ; an die Stelle der geologischen
oder petrographischen Auffassung der Gesteine
soll eine besondere morphologische treten. Auch
Faltung und Verwerfung werden als untergeordnet
gegen die allgemeinen morphologisch zu er-
schließenden Hebungen und Senkungen betrachtet.
Deshalb ist es, auch gegenüber Rühl, der Geo-
logie und Morphologie vollständig scheiden will,
notwendig, über die I'rage Klarheit zu schaffen,
in welcher Abhängigkeit die Oberflächenformen
des Festlandes vom inneren Baue stehen.
I. Die Abhängigkeit der Oberflächen-
formen vom Gestein wurde in den Anfangen
der erklärenden Morphologie manchmal ganz in
den Vordergrund gerückt. Die Oberflächenformen
werden aber aus dem Gestein durch Verwitterung
und Denudation gebildet, die nach dem Klima
verschieden sind und deshalb bei gleichem Ge-
stein in verschiedenen Klimaten verschiedene
Formen erzeugen; nur in bestimmtem Klima kann
man einem Gestein eine Neigung zu bestimmten
Oberflächenformen zuschreiben. Auch gegenüber
der Form der Falten und Schollen tritt der Ein-
fluß des Gesteins zurück; er kommt erst in zweiter
Linie, in den Einzelformen der Gehänge, zur
Geltung.
Die amerikanische Geologie will nun die geo-
logische Auffassung der Gesteine durch eine be-
sondere morphologische ersetzen, in dem anstatt
von bestimmten Gesteinen, die außer Kalk nur
selten erwähnt werden, von harten und weichen
Gesteinen gesprochen wird. Restberge werden
z. B. als Härtlinge angesprochen, wobei aber der
Begriff der Weichheit und Härte erst aus den
Tatsachen der Talbildung und der Abflachung
oder Steilheit der Hänge erschlossen wird ; ein
Zirkelschluß in bester Form. Die Widerstands-
fähigkeit der Gesteine liegt nur zum Teil in ihrer
mechanischen Härte, zum anderen in ihrer Durch-
lässigkeit oder Undurchlässigkeit, Löslichkeit oder
LInlöslichkeit, Art der Verwitterung und Absonde-
rung begründet. Für den Gegensatz zwischen
Aufragungen und Einsenkungen ist in erster Linie,
wie das die deutsche Wissenschaft seit langem
erkannt hat, die Lage zu den Tallinien maßgebend,
nicht die Härte und Weichheit der Gesteine.
Die morphologischen Eigenschaften der Ge-
steine kann man isoliert zur Darstellung bringen;
so hat das württembergische statistische Landes-
amt eine besondere Durchlässigkeitskarte heraus-
gegeben; auch Passarge erstrebt dies mit seinen
physiologisch-morphologischen Karten. ') Sie sind
eine Abstraktion aus den gewöhnlichen Gesteins-
karten. Aber alles dies ist in den geologischen Kar-
ten großen Maßstabes auch enthalten, wenn in ihnen
auf Unterarten eingegangen wird, wie z. B. auf
die Korngröße bei Sandsteinen und Konglomeraten.
Es empfiehlt sich daher die Ausarbeitung be-
sonderer Gesteinskarten unter dem Gesichts-
punkt der petrographischen Verschiedenheit statt
unter dem des geologischen Alters. Die einzelnen
Eigenschaften der Gesteine müssen von der Mor-
phologie als nicht weiter erklärbare Tatsachen
hingenommen werden, auch die Verteilung der
Gesteine können wir heute nur unvollkommen
erklären. Aber da die Gesteinsbegriffe auf Grund
der Eigenschaften empirisch gebildete, dabei zu-
gleich genetische Begriffe sind, so erklärt sich die
'J Physiologische Morphologie (Hamburg 1912). S. 171 ff.
44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 3
Verteilung grundsätzlich aus ihrer Entstehung ;
gewisse große Züge in der Verteilung der Gesteine
sind uns heute schon verständlich. Die bequeme
nur mit „hart" und „weich" rechnende Auffassung
wird der Wirklichkeit nicht gerecht, führt an ihr
geradezu vorbei.
2. D ie ge ol ogisc h e n Fo r mat ion e n , die
Auffassung des geologischen Alters der Gesteine
wurde von der Geologie durchaus mit Recht in
den Vordergrund gerückt. Der Geographie kann
das geologische Alter der Schichten an sich ganz
gleichgültig sein, es kommen für sie nur die Bau-
materialien in Betracht, die von der Beschaffenheit
abhängen. Diese richtet sich nach der ver-
schiedenen Art der gesteinsbildenden Vorgänge
und der der nachträglichen Umbildungen. Nur
für räumlich begrenzte Gebiete und zeitlich be-
grenzte Formationen können wir ihnen bestimmte
Gesteinsbeschaffenheit zuschreiben. So dienen
Karten großen Maßstabes zugleich als Gesteins-
karten, wenn sie die geologischen Horizonte und
alle Faziesunterschiede berücksichtigen. Bei klei-
nerem Maßstab und damit größerer Zusammen-
fassung verliert die geologische Karte ihren litho-
logischen Charakter und ihren geographischen
Wert. Auch die Lagerungsverhältnisse kann man
aus ihnen nicht mehr erschließen. So hat es nach
Hettner keinen Wert, wenn geographischen
Darstellungen noch so oft geologische Übersichts-
karten beigegeben werden.
3. Der innere Bau, von dem die Ober-
flächenformen ferner abhängen, bedeutet im engeren
Sinne die Lagerungsverhältnisse der Ge-
steine im einzelnen; die durch Streich- und Fall-
richtungen, sowie durch Verwerfungen bedingte
Anordnung derselben. In diesem Sinne wird
sie als „Struktur" auch in der Davis'schen
Morphologie gewürdigt, da von der ^Anordnung
der Gesteine auch die Verteilung der Widerstands-
fähigkeit abhängt. Aus wagerechter oder schwach
geneigter Schichtenstellung, Faltung mit steiler
Schichtenstellung und dem Auftreten von Massen-
gesteinen wird die Entstehung von epigenetischen
Tälern, die Ausbildung von Terrassen, der Wechsel
der Talformen abgeleitet.
Aber die Lagerungsverhältnisse sind nur ein
Teil des Bildes; zu demselben gehören auch die
Hebungen, Senkungen und Verbiegungen, die
ganze Bildungsgeschichte. Der innere Bau im
weiteren Sinne ist freilich kein Gegenstand der
unmittelbaren Beobachtung, sondern nur durch
Rekonstruktion zu gewinnen. Die Oberfläche
dieser tektonischen Gebilde bezeichnet Hettner
als tekionische Oberfläche. Diese ist für
die Richtung und Anordnung der Täler ausschlag-
gebend. So ist hier die Berührung von Geologie
und Geographie am stärksten. Aber auch hier
sucht die Davis'sche Morphologie sich zu eman-
zipieren; sie schreibt den über große Strecken
gleichmäßig erfolgenden Hebungen und Senkungen
große Bedeutung zu, während die in "den Lage-
rungsverhältnissen beobachteten Faltungen, Über-
schiebungen und Verwerfungen nicht die heutige
tektonische Oberfläche geschaffen haben sollen;
vielmehr sind die von ihnen geschaffenen Formen
längst zerstört und eingeebnet, diese Bewegungen
kommen nur als Prinzip der Anordnung der Ge-
steine in Betracht. Zweifellos ist, daß viele Täler
alte höhere zerschnittene Talböden zeigen , daß auch
Einebnungen großer Flächen stattgefunden haben;
dafj aber jungtertiäre Hochgebirge eingeebnet und
durch epirogenetische Bewegungen im Sinne
Gilbert's zu gewaltiger Höhe nochmals empor-
gehoben seien, ist von vielen Gebirgen behauptet
worden, aber nicht sicher bewiesen. Die Nach-
prüfung des Schweizer Jura und des Florentiner
Apennin durch Hettner hat ihn auf Pseudo-
rumpfflächen geführt.
4. G e o 1 o g i s c h e s u a d m o r i? h o 1 o g i s c h e s
Alter. Das Alter der Dislokationen, die den
heutigen inneren Bau geschafi'en haben , ist zu-
gleich das morphologische Alter. In vielen Gegen-
den können wir die Spuren mehrerer großer Dis-
lokationen feststellen; die deutschen Mittelgebirge
haben eine große mittelkarbone Faltung, V^er-
werfungen um die Mitte der Tertiärzeit und nach
neueren Forschungen in Norddcutschland auch
schon am Schlüsse der Jura- und Beginn der
Kreidezeit erlitten. Für die Geologie sind die
Dislokationen gleich wichtig, für die Geographie
dagegen kommt die alte P'altung nur noch in der
Lagerung der Schichten, der Struktur, zum Aus-
druck; die tektonische Oberfläche aber hängt von
den jüngeren P'altungen und Verwerfungen ab.
So sind die mitteldeutschen Gebirge Schollen-
gebirge oder Gevvölbestücke, wodurch die Gliede-
rung im großen bestimmt ist, die Anordnung der
Schichten dagegen bestimmt nur die Gliederung
im einzelnen. Bei manchen Gebirgen, z. B. im
Bereich des mittelländischen Meeres, verbinden
sich Faltung und Zerstückelung durch Brüche, um
den heutigen Bau hervorzubringen. Auch das
Alter nachträglicher Hebungen ist für die
heutige Ausgestaltung von Bedeutung, aber diese
sind, wie sclion oben erwähnt, nicht sicher be-
wiesen. Bei Davis hat auch der Altersbegrifif
eine andere Form angenommen, er mißt ihn an
dem Charakter der Formen, der Physiognomie der
Landschaft. Der Altersbegriff hört so auf, ein
reiner Zeitbegriff zu sein, und bezeichnet den Ent-
wicklungszustand; auf die Altersbestimmung wird
tatsächlich verzichtet. Die Vorgänge der Umbil-
dung verlaufen je nach dem Klima bald schneller,
bald langsamer; wollen wir den Grad derselben
in zwei verschiedenen Gegenden vergleichen , so
müssen wir bestimmen, wann sie eingesetzt hat.
Und dazu müssen wir das Alter der Gebirgs-
bildung kennen.
Fassen wir zusammen, so sehen wir, daß die
geologischen Formationen nur geringe Bedeutung
haben ; aber innerhalb einer gegebenen Landschaft
sind sie für die Ausgestaltung außerordentlich
wichtig, und wir müssen hier die Gesteiiisbegrifife
berücksichtigen. Kein Zweifel besteht über die
N. F. XIII. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
45
Bedeutung der Lagerungsverhältnisse der Schichten
für den Einfluß der\^erwitterung und Denudation.
Wohl aber gehen die Meinungen über die Be-
deutung der F'altungen und Schollenbevvegungen
auseinander, ein sicheres Urteil läßt sich hier nicht
abgeben. Auf die Auffassung des geologischen
Alters wird man nicht verzichten können; das
Alter im Sinne Davis', das den Kntwicklungs-
zustand bezeichnet, bietet hierfür keinen Ersatz.
Dr. Gottfried Hornig.
Kleinere Mitteilungen.
Zellulose, Zucker, Alkohol. — Zu den ältesten
überhaupt bekannten chemischen Vorgängen ge-
hört die Verwandlung des Zuckers in Alkohol,
ein Prozeß, den man gewöhnlich als Gärung be-
zeichnet und der, wie man früher glaubte, nur
unter der Einwirkung lebender Mikroorganismen
(z. B. Hefezellen) vor sich ginge. Die Untersuchungen
13uchners haben indessen bekanntlich ergeben,
daß auch der durch Abpressen aus der Hefe ge-
•wonnene Saft, der keine Hefezellen mehr enthält,
schon Gärung hervorruft. In dem Preßsaft sind
Eiweißstoffe unbekannter Zusammensetzung, soge-
nannte Enzyme, gelöst, deren molekularer Bau
nach den Untersuchungen Emil Fischers
wahrscheinlich analog dem des von ihnen ver-
gorenen Zuckers ist. Die Hefezellen haben mithin
nur die Bedeutung, die Enzyme zu erzeugen. Die
Zuckerarten, die meistens zur Alkoholfabrikation
verwendet werden, sind Traubenzucker (Wein, Cog-
nak), Fruchtzucker (Obstweine) und Malzzucker
(Bier). Alle diese Körper gehören zu den Kohlen-
hydraten, d. h., sie enthalten neben dem Kohlen-
stoff Wasserstoff und Sauerstoff in demselben
Verhältnis, wie diese Elemente sich im Wasser
finden. Der gewöhnliche Rohr- oder Rübenzucker
ist nicht ohne weiteres vergärbar, er muß viel-
mehr vorher mit verdünnter Säure behandelt und
dabei unter Anlagerung von Wasser in ein Gemisch
von Frucht- und Traubenzucker verwandelt werden.
Derselbe Vorgang tritt auch ein, wenn man zu
einer Rohrzuckerlösung Hefe hinzusetzt. Ein
weiteres in der Hefe enthaltenes Enzym wirkt
wie die verdünnte Säure, d. h. der Rohrzucker
geht in gärungsfähigen Frucht- und Traubenzucker
über. In ähnlicher Weise verfährt man mit der
Stärke, einem andern Kohlenhydrat, die sich in den
Körnern der Getreidearten und den Kartoffeln in
reichlicher Menge findet. Auch sie läßt sich zu
Spiritus vergären.
Außer der Stärke und dem Zucker bringt der
Pflanzenkörper ein weiteres höheres Kohlenhydrat,
die Zellulose, hervor. Während die ersteren als
Reservestoffe dienen, baut die letztere im Verein
mit dem Holzstoff die Zellenwände des Pflanzen-
körpers auf. Die chemische Zusammensetzung
der Zellulose ist wesentlich komplizierter als die
der übrigen Kohlenhydrate. Während die Zucker
meistens 6 oder 12 Kohlenstoffatome und damit
verbunden 12 und 24 (vielfach 22) Atome Wasser-
stoff mit der dazu gehörigen Menge Sauerstoff
enthalten, ist das Zellulosemolekül viel größer.
Die Verbrennungsanalyse ergibt, daß auf 72 g
Kohlenstoff 10 g Wasserstoff und 80 g Sauer-
stoff kommen. Der Chemiker schließt daraus, daß
auf je 6 Atome Kohlenstoff 10 Atome Wasserstoff
und 5 Atome Sauerstoff kommen. Leider ist es
bisher nicht gelungen, die Größe des Zellulose-
moleküls zu bestimmen, so daß man die Formel
schreibt (C(5Hj|,05)x, wo X noch unbekannt ist.
Da die Natur die Zellulose in außerordentlichen
Mengen und mithin zu billigen Preisen liefert, ist
es ein Problem von großer Wichtigkeit, ob es
möglich ist, die Zellulose durch ein geeignetes
Verfahren in Zucker, und diesen durch Gärung
in Alkohol zu verwandeln. Seiner Bestimmung
nach, den Körper der Pflanze zu bilden, ist das
Zellulosemolekül außerordentlich beständig; es
wird von verdünnten Säuren und Alkalien nicht
angegriffen. Diese Eigenschaft benutzt man z. B.
in der Technik (Papierfabrikation), um die Zellu-
lose zu isolieren, indem man durch Kalziumsulfit
oder Natronlauge die übrigen im Holz enthaltenen
Bestandteile in Lösung bringt. Erst durch Ein-
wirkung konzentrierter Säuren gelingt es, das
Zellulosemolekül zu spalten. Ein neues kürzlich
von Professor W i 1 1 s t ä 1 1 e r vom Kaiser Wilhelm-
institut in Berlin Dahlem angegebenes Ver-
fahren ist von großem Interesse, da es ge-
stattet, die Zellulose in Alkohol zu verwandeln.
Man benutzt dazu eine Salzsäure, die besonders
reich an Chlorwasserstoff ist.') Schon in der
Kälte verwandelt diese hochkonzentrierte Säure
die Zellulose in Zucker. Die Beobachtung
im Polarimeter zeigt, wie sich die optisch voll-
ständig inaktive Zelluloselösung allmählich in
rechtsdrehenden Zucker verwandelt. Die Aus-
beute beträgt nahezu loo"/,,, Nebenprodukte treten
also nicht auf Es ist wahrscheinlich, daß sich das
sehr große Zellulosemolekül zunächst in Moleküle
von geringerer Größe spaltet, die dann ihrerseits
wieder in Zucker zerfallen. Ob sich das Verfahren
für die technische Durchführung im großen eignet,
darüber ist zurzeit noch nichts bekannt.
Im übrigen sei darauf hingewiesen, daß Pro-
fessor Lassar -Cohn in seiner sehr lesens-
werten „Chemie des täglichen Lebens" ein seit
1904 in Amerika angewendetes Verfahren be-
schreibt, das demselben Zweck dient. In einer
zu Hattierburg am Mississippi erbauten Fabrik
wurden schon im ersten Jahr täglich 150000 kg
') Ber. d. d. ehem. Ges. 46, p. 2401, 1913. Dem Botaniker
galt bisher Zellulose als unlöslich in Salzsäure, doch hatte man
sich immer mit der gewöhnlichen konzentrierten Salzsäure be-
gnügt, bis dann Willstätte r noch stärkere probierte. Red.
46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 3
Sägespäne auf Spiritus verarbeitet, indem man sie
mit wässriger schwefhger Säure unter erhöhtem
Druck bei einer Temperatur von 140 Grad erhitzte.
Nach der Behandlung zeigten die Sägespäne eine
bräunliche Farbe und einen angenehmen Geruch.
Laugte man sie mit Wasser aus, so erhielt man
eine verdünnte Zuckerlösung, aus der sich durch
Gärung Alkohol gewinnen ließ. Aus je loo kg
Sägespänen erhielt man 12 1 Spiritus. Ob sich
dieses Verfahren als so rentabel erwiesen hat,
daß die Fabrik noch heute besteht (das genannte
Buch ist 1908 erschienen), darüber ist dem Ver-
fasser nichts bekannt. Dr. K. Schutt.
Heil- und Nahrungsmittelreste in altägyptischen
Leichen. — Auf Ersuchen von Prof. Netolitzky')
entnahmen die wissenschaftlichen Leiter der Ph.
Hearst Egyptian Expedition, Dr. Reisner und
Dr. Smith, den Inhalt der Eingeweide zahlreicher
prähistorischer Leichen vom Gräberfelde bei Girga
in Oberägypten. In diesen 5—6000 Jahre alten
Resten konnten folgende Nahrungs- und Heilmittel
erkannt werden : zwei Fische (Tilapia nilotica und
Barilius niloticus), die Maus (Mus musculus var.
Orientalis), Kopfknochen eines größeren Tieres
(Heilmittel !), Gerste, die Erdmandel (Cyperus es-
culentus), eine heute nicht mehr als NaJirungsmittel
dienende Hirse (Panicum colonum). Als Heil-
pflanze aus der Familie der Borragineae wurde
Trichodesma africanum aus den Zellresten rekon-
struiert. Die Bestimmung der Pflanzen erfolgte
auf Grund der charakteristischen Kieselskelette.
Otto BürgerKirn.
Neuere Verwertungsarten von Karbid und
Azetylen und deren Rückwirkung auf die Ent-
wicklung anderer Industrien. — In einem am 12.
April im Verein Österreichischer Chemiker von
Prof. Dr. A. Fraenkel gehaltenen Vortrage
wurden bemerkenswerte Einblicke in die vielseitigen
chemischen Umsetzungsmöglichkeiten von Karbid
und Azetylen zu technisch wichtigen Produkten
gegeben und die Rückwirkung auf die Entwick-
lung anderer Industrien geschildert (Österr. Che-
mikerzeitung XVI. Jahrg. Nr. 15, S. 202 ff.). Die
Beleuchtungstechnik konsumiert heute nur mehr
einen Bruchteil des produzierten Karbids. Für
das Jahr 191 1 wird die europäische Gesamtpro-
duktion mit nahezu 200000 Tonnen angegeben
(die auf Kalkstickstoff verarbeiteten Karbidmengen
nicht mit eingerechnet). Die Verwendung des
Azetylens hat in den letzten Jahren für Beleuch-
tungszwecke keine wesentlichen Fortschritte ge-
zeigt. Dagegen haben sich neue und spezifische
Anwendungsarten im Bergbau, im Eisenbahn- und
Seebeleuchtungswesen ergeben insbesondere durch
das gelöste Azetylen (Dissousgas). Das autogene
Schweiß- und Schneideverfahren mittels Azetylen-
sauerstoffes hat in den letzten Jahren eine rapide
Entwicklung aufgewiesen. In Deutschland wird
') Zeitschrift für angewandte Chemie Bd. 26 , Nr. 79
(Seite 577).
der dermalige Karbidverbrauch für diese Zwecke
auf jährlich 22 000 Tonnen geschätzt. Auf Grund
thermochemischer Erwägungen läßt sich nachwei-
sen, daß kein anderer Heizstoff die hohen Tempe-
raturen der Azetylensauerstoft'flamme (4000" C)
ergeben kann. Auch die Stickstoffindustrie ver-
dankt dem Karbid ihr Entstehen. Stickstoff dient
zur Fabrikation des Kalziumcyanamides oder Kalk-
stickstoffes, einer Verbindung, welche durch Azo-
tieren des Karbids, d. i. durch Überleiten von
Stickstoff über hoch erhitztes Karbid erhalten
wird. Das in den Azotierungsöfen erhaltene Pro-
dukt besitzt noch einen geringen Prozcntgehalt an
Karbid und wird als gepulverte Rohware zum
Zwecke weiterer chemischer Verarbeitung (insbe-
sondere Ammoniakgewinnung), wie auch zur
Hederichvertilgung verwendet. Sein Stickstoffgehalt
beträgt 18 — 2i"/o. Zum Zwecke der Zersetzung
des noch darin enthaltenen Karbids wird Wasser-
dampf benützt und das erhaltene Produkt geölt.
Diese hydrierte und geölte Ware wird hauptsäch-
lich zur Düngung verwendet. Sie enthält 15 — 17%
Stickstoff. Die Preise des Kalksiickslofles liegen
um 25"/u niedriger als jene von Chilisalpeter und
Ammonsulfat. Böhmen und Mähren sind die
größten Verbrauchsländer für Kalkstickstoff. Von
den Verfahren der chemischen Weiterverarbeitung
des Kalkstickstoffes ist noch das der Ammoniak-
erzeugung mittels überhitzten Wasserdampfes das
wichtigste.
Unter den Azetylenverwertungsverfahren be-
sitzen jene der Azetylenspaltung in Kohlenstoff
und Wasserstoff größeres Interesse. Nach
Machtolf wird das Azetylen unter einem Drucke
von 6— 10 Atmosphären in die aus Stahlguß her-
gestellten Spaltzylinder eingeführt, die mit einem
Rußsammler in Verbindung stehen. Das so er-
haltene Azetylenschwarz zeigt außerordentliche
Reinheit, F'einheit und Tiefe der Schwärze. Der
dabei erhaltene Wasserstoff ist 99,5 proz. Das
Verfahren wird von der „Carbonium G. m. b. H."
in Offenbach in deren Anlage in Friedrichshafen
durchgeführt. Der Wasserstoff wird an die Zeppe-
lingesellschaft abgegeben, der Ruß u. a. nach
China und Japan exportiert und zur Herstellung
von Tuschen und Lacken verwendet.
Durch Einwirkung von Kohlenoxyd auf Kar-
bid erhielten Frank und Caro Kohlenstoff in
P'orm von Graphit, der sich für Dynamobürsten
und für chemische Zwecke besonders eignet.
Den Bemühungen des „Konsortiums für elektro-
chemische Industrie" in Nürnberg ist die technische
Herstellung einer Reihe von Chlorderivaten des
Azetylens gelungen, die zum Teil heute bereits
ausgedehnte praktische Verwendung gefunden
haben und von der „Bosnischen Elektrizitätsaktien-
gesellschaft" in deren Werk in Jajce erzeugt
werden. Zunächst wird das Azetylentetrachlorid
hergestellt. Aus diesem gewinnt man dann Tri-
chloräthylen , Pentachloräihan, Perchloräthylen,
Hexachloräthan und Dlchloräthylen. Alle diese
Chlorderivate mit Ausnahme des Hexachloräthans
N. F. XIII. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
47
sind unentziindliche Flüssigkeiten und besitzen
hervorragendes Lösungsvermögen für Fette, Ole,
Harze u. dgl.
In der Extraktionstechnik hat insbesondere das
„Tri" vermöge der vorher angeführten Beständig-
keit und des dem Benzin nahegelegenen Siede-
punktes als dessen Ersatz Eingang gefunden.
Insbesondere in Industrien, in denen die Extraktion
nur einen Nebenbetrieb bildet, wie bei der Ver-
arbeitung fetthaltiger Abfalle, entfallen bei dessen
Verwendung die für Benzinextraktionsanlagen be-
stehenden Sicherheitsvorschriften. Dazu kommt,
daß die leichten zu extrahierenden Produkte auf
diesem Lösungsmittel schwimmen, und daher die
Extraktion besser vonstatten geht als bei Benzin,
welches über dem Extraktionsgut steht. In Indus-
trien, bei denen die Extraktion den Hauptbetrieb
bildet, also in erster Linie in Ölfabriken, die nur
nach dem Extraktionsverfahren arbeiten, kommen
die Vorteile infolge des wesentlich höheren Preises
des „Tri" und des durch das große spezifische
Gewicht bedingten erheblich größeren Bedarfes
weniger in Betracht. Doch bietet das viel größere
Lösungsvermögen für Öle im Vergleich zu Benzin
Vorteile, die in die Wagschale fallen. Mit dem
„Tri" können Lösungen bis 65 "/g Fettgehalt, mit
Benzin nur solche von kaum über 4o'*/(, Fettgehalt
erhalten werden.
Ein weiteres Anwendungsgebiet dieser Chlor-
derivate bilden die chemischen Wäschereien.
In der Lackindustrie dient ,,Tri" zur Herstellung
feuersicherer Imprägnierungslacke. An Stelle von
Tetrachlorkohlenstoff, welcher leicht Chlorwasser-
stoffabspaltet, wird es den aus Rizinusöl-Sulfosäure
hergestellten Seifen einverleibt, die unter verschie-
denen Namen, wie „Triol", zumeist in der Textil-
industrie verwendet werden. Gleichem Zweck
dient auch Perchloräthylen („Pertürkol"). Dieses
ist überdies ein vorzügliches Lösungsmittel für
Schwefel. Tetrachloräthan wird meist in der
Lackindustrie verwendet, da es ein hervorragenäes
Lösungsmittel für Fette, Öle, Harze und Firnisse
bildet. Pentachloräthan findet in der Metallindustrie
zur Entfettung von Kunstgegenständen vor der
galvanischen Behandlung Anwendung.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß es dem Azetylen
vielleicht beschieden sein wird, einen vollen Um-
sturz in den technischen Aufbau organischer Ver-
bindungen zu bringen. R. Ditmar.
Bücherbesprechungen.
Georg Schlenker, Lebensbilder aus deut-
schen Mooren. Einführung in das Studium
der heimischen Tier- und Pflanzenwelt. Mit
124 Abb. 164 S. Verlag von Theod. Thomas,
Leipzig 191 3. — In Leinwand geb. 2,75 Mk.
Verf. schildert in interessanter, leicht verständ-
licher Weise die Entstehung der Moore, die dabei
stattfindenden wichtigen chemischen Vorgänge,
wie die Bildung von Eisenhydroxyd und des später
daraus hervorgehenden Sumpferzes, sowie des
Schwefels usw. Die gesamte Tier- und Pflanzen-
welt, die während der verschiedenen Phasen der
Entwicklung auf oder in unseren deutschen Mooren
lebt, wird eingehend besprochen und manche noch
fast unbekannte Art ausführlich beschrieben.
Vor allem werden die biologischen Verhältnisse
eingehend behandelt und die oft ganz eigenartigen
Lebensvorgänge, welche manche Tiere und Pflanzen
der Moore in ihren Beziehungen zur Umgebung
zeigen, uns an besonders interessanten Arten ge-
schildert. Auch die der eigentlichen Moorbildung
verwandten Erscheinungen, wie der Verlandungs-
prozeß bei Wiesengräben usw., sind berücksichtigt
worden, so daß das Buch auch allen, die fern von
einem Moore leben, viel Interessantes bieten wird
und in der Tat als eine Einführung in die heimische
Tier- und Pflanzenwelt anzusehen ist, zumal die
vielen schönen Abbildungen den Text wesentlich
unterstützen.
Den Schluß bildet ein Abschnitt, „Die Be-
deutung der Moore für den menschlichen Haushalt"
und in einem Anhange finden wir die wichtigsten
Mikroorganismen systematisch geordnet, die Pflan-
zen der Moore nach ihrem Vorkommen in solche der
Flach- und der Hochmoore eingeteilt. Eine ,, An-
leitung für das Sammeln und die Behandlung
der einfachsten Lebensformen des Süßwassers"
erleichtert dem Naturfreunde wesentlich die Be-
obachtung. Auch ist ein ausführliches Literatur-
verzeichnis und ein das Nachschlagen sehr erleich-
terndes Sachregister angefügt. Karl Ortlepp.
Max Planck, Das Prinzip der Erhaltung
der Energie. 3. Aufl. Verlag von B. G.
Teubner, Leipzig 191 3. — Preis 6 Mk.
Die Planck'sche Preisschrift über das,, Prin-
zip der Erhaltung der Energie" erschien
in drittter Auflage mit, soweit sich übersehen
ließ, unverändertem Inhalt. Es ist dies der beste
Beweis für die Güte der Darstellung dieses
allumfassenden Prinzips und seiner zeitlosen Be-
deutung, daß es Veränderungen der Darstellung
und des Inhaltes nicht bedarf. Wir haben in
unserem Geistesbesitz keinen allgemeingültigen Be-
griff von so weit tragender Bedeutung als den
der Energie, und darum bietet das Studium des
Planck 'sehen Buches mit seiner vollendet künstle-
rischen Sprache dem gebildetenNaturwissenschaftler
wie dem Physiker von Fach den gleichen Genuß. Es
behandelt im ersten Abschnitt die historische Ent-
wicklung des Begriffs und des Prinzips der Er-
haltung der Energie bis zu den klassischen Ar-
beiten von J. R. Mayer, Joule, Helmholtz,
Clausius, Thomsen und Kirchhoff, bringt
dann im zweiten Teil eine exakte Formulierung des
Prinzips, eine Übersicht und kritische Würdigung
der versuchten Beweise und einen Beweis, der
sich auf die Unmöglichkeit des perpetuum mobile
stützt. Im letzten Teil wird die Fruchtbarkeit
des Prinzips an Beispielen aus verschiedenen
Zweigen der Physik, besonders der Elektrizität
und der Thermochemie gezeigt. Unter Verzicht
48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 3
auf alle Hypothesen über das Wesen der Natur-
kräfte leitet das Werk im ganzen eine einheitUche
Übersicht über unsere gesamte Erscheiiiungswelt.
Dgt.
Prof. Dr. A. Zimmermann, Direktor des kaiserl.
biologischen Landwirtschaft!. Instituts in Amani,
Der Manihot-Kautschuk. Seine Kultur,
Gewinnung und Präparation. Mit 1 5 1 Figuren.
Jena, Gustav P'ischer, 191 3. — Preis 9 Mk.
Das Buch umfaßt einschließlich eines Registers
nicht weniger als 342 Seiten in Großoktav. Es
handelt sich demnach um eine ausführliciie Mono-
graphie des Gegenstandes sowohl nach der botani-
schen als nach der praktischen Seite hin. Bei
der Wichtigkeit des Kautschuks für die Industrie
wird das vorliegende Buch namentlich für die-
jenigen, die sich mit der Kultur der Kautschuk
liefernden Manihotarten beschäftigen wollen, von
großem Wert sein, natürlich auch für alle die-
jenigen, die sonst mit Kautschuk zu tun haben,
und auch für Botaniker. R. P.
Am"egungeii und Antworten.
Herrn Dr. B. M. in Leipzig. — Zu dem Artikel von
Märze 11, Der Nußbaum im deutschen Volksglauben (Naturw.
Wochenschr. N. F. XII. Bd. S. 713 ff.l schreiben Sie: „Aus
der Umgebung von Zwickau ist mir der Brauch bekannt, daß
man einer Kuh, die eben gekalbt hat, eine Gabe verabreicht.
Diese besteht aus einer Schnitte Brot, die mit einem grün-
lichen auch sonst in der Veterinärmedizin verwendeten Pulver
bestreut ist. Obenauf kommt der Kern einer Walnuß, und
zwar möglichst ganz und unverletzt. Daß auch andere Nüsse
zu diesem Zwecke benützt werden, ist mir nicht bekannt.
Sollte dem Herrn Verf. des obigen Artikels etwas über die
Deutung des geschilderten Brauches bekannt sein , so wäre
ich für eine Mitteilung sehr dankbar."
Nach dem Volksaberglaubcn sind die Kühe, die eben
gekalbt haben, besonders dem , »Verhexen" ausgesetzt. Daher
reicht man ihnen vielerorts im Futter zauberwehrende Mittel.
In Schlesien erhält eine solche Kuh in der Tränke drei
Zwiebelköpfe, einen Kamm und eine Handvoll Salz, in der
Pfalz einen Nußkern und aus jeder Ecke der Wohnstube
etwas Schmutz unter einem heiligen Spruch. Im Erzgebirge
gibt man der Kuh nach dem Kalben Butterbrot mit Kreide
und Safran bestrichen oder süße Mandeln [in Vertretung der
Nufil] zu fressen, dann gibt sie gute Milch. Sehr verbreitet
ist auch der Glaube, daß man drei Tage lang nach dem
Kalben nichts leihen oder verleihen dürfe, sonst können die
Leute, denen oder von denen man geliehen, der Kuh schaden
oder deren Milch an sich ziehen (W u tt ke , Volksabergl. 1869,
415). In katholischen Gegenden gibt man der Kuh nach dem
Kalben etwas von dem ,, Weihbüschel" (vgl. Naturw. Wochen-
schrift N. F. XI. Bd. S. 329) , der an Maria Himmelfahrt
(15. August) geweiht und dann getrocknet aufbewahrt wird.
Im deutschen Weslböhmen gibt man diese geweihten Blumen
der Kuh nach dem Abkalben mit Brot zu fressen, damit sie
nicht verschrieen \\'ird (John, Sitte, Brauch und Volksgl. im
deutschen Westböhmen 1905, 210). Möglicherweise spielt die
Nuß, die der Kuh nach dem Kalben gegeben wird, nicht nur
die Rolle eines zauberabwehrenden Mittels, sondern (wie auch
sonst in vielen Fällen; vgl. meinen Artikel S. 714) auch die
eines Fruchtbarkeitssymbols. Sicher dürfte dies letztere der
Fall sein in einem böhmischen Mittel, nach dem der Kuh,
wenn sie zum erstenmal kalben soll, von der Frau [ebenfalls
Hinweis auf die Fruchtbarkeit!] eine in Brot gesteckte
Fledermaus zu fressen gegeben wird, dann ein Kuchen, von
Hafermehl, in den eine vom Christabend her in geweihtem
Salz aufbewahrte Nußschale und ein halber Apfel einge-
backen ist (Wuttke 414). Marzell.
Herrn S. F. — Über Symbiose der Pflanzen mit Pflanzen
finden Sie Auskuntt in allen Lehrbüchern der Biologie; z.B.
F. Ludwig, Lehrbuch der Biologie (1S95) S. 34, 83 u. 96
(Flechten, Symbiose der Nostocaceen mit höheren Gewächsen) ;
W. Migula, Pflanzenbiologie (1909, Quelle & Meyer-Leipzig)
S. 328 (Flechten, Symbiose der Knöllchenbakterien mit Legu-
minosen); J. Wiesner, Biologie der Pflanzen usw. Außer-
dem W. Pfeffer, Pflanzenphysiologie I. S. 356 u. IL 219.
— Über die Lebensweise der Bakterien wird das Werk von
W. Benecke, Bau und Leben der Bakterien (Teubner-Leip-
zig 1912; aus Doflein u. Fischer, Naturwissensch. u. Technik
in Lehre und Forschung) Auskunft geben. H. Harms.
Herrn Dr. Seh. in F. — i. Das eingesandte eigentümliche
tütenförmige Lindenblatt ist ein Beispiel für eine Bildungs-
abweichung, die bei der Linde nicht selten vorkommt, jedoch
auch bei anderen Pflanzen gelegentlich beobachtet wird. Die
Erscheinung gehört in die große Klasse von Mißbildungen,
die man auf tierische oder pflanzliche Parasiten nicht zurück-
führen kann. O. Penzig (Pflanzenteratologie I. 318) sagt;
Eine andere häufig gefundene, und in gewissen E.\emplaren
der Linde alljährlich wiederkehrende Bildungsabweichung
besteht in dem Auftreten von kappen- oder ascidien-
förmigen Blättern. Man findet häufig schon Blätter,
welche durch Verwachsung der beiden basalen Öhrchen der
Spreite schildförmig werden; erstreckt sich die Verwachsung
nun weiter längs des Blattrandes, so entstehen tüten- oder
becherförmige Ascidien, welche schon seit langer Zeit bekannt
sind. M. T. Masters, Pflanzenteratologie (übersetzt von
U. Dammer (1SS6) 38), teilt mit, daß krugförmige oder
kappenförmige Blätter (folia cucuUata) bei der Linde oft an-
getroffen werden ; auf dem Kirchhofe eines Cistercienscrklosters
bei .Sedlitz stehen Bäume mit solchen Blättern, an denen
Mönche aufgehängt worden sein sollen; es entstand davon die
Sage, daß diese Blätter zum ewigen Angedenken an den
Märtvrertod dieser Mönche die eigentümliche Form erhallen
hätten. Bei Masters S. 39 ist ein krugförmiges Blatt von
Pelargoniura abgebildet. Herr Prof. Graebner teilt mir
freundlichst mit, daß er tütenförmige Blätter wiederholt auch
bei Platanen beobachtet habe.
2. Es gibt nur im südlichen Teile der Vereinigten Staaten
von Nordamerika echte Akazien. Sargent (Trees of North
Amer. (1905) ^41) erwähnt 4 Arten; die bekannteste davon,
A. faniesiana Wiild., die bekanntlich in allen wärmeren Län-
dern viel kultiviert wird wegen ihrer wohlriechenden zur
Parfümbereitung benutzten Blüten, soll in gewissen Gegenden
von Texas wild vorkommen. Bis nach Texas reicht die sonst
in Mexiko, W'estindien und dem nördlichen Südamerika ver-
breitete Ac. tortuosa Willd. , die mit A. Farnesiana verwandt
ist und wie diese kleine Blütenköpfchen besitzt. Blütenährea
haben A. Wrightii Benth. und A. Griggii Gray, die in Texas
und Nordmexiko wohnen. Die Zahl der Arten wird im mitt-
leren und südlichen Mexiko erheblich größer.
3. Soviel mir bekannt, kommt es recht oft vor, daß
Kulturgewächse durch tierische oder pflanzliche Parasiten ge-
tötet werden. Von der Bildung etwaiger Gegengifte in der
Pflanze scheint nichts bekannt zu sein. H. Harms.
Inhalt; R. Meli: Die Chinesen und der Schmetteiling. (Schluß.) — Einzelberichte: Lummcr: Versuche über Verflüssigung
und Sieden von Kohle. Marcusson: Hydrolyse der Fette. Faust, Wieland, Weil: Bufolalin, das Gift der
Kröten. Reich: Energiemessungen an Empfangsantennen. Sierp: Körpergröße und Zellengröße. K. Bassalik:
Zersetzung der Oxalsäure. Peirce: Einfluß des Lichtes auf das Wachstum der Pflanzen. Kruis: Bakterienkerne.
Thurnwald: Erforschung des geistigen Kulturbesitzes der Völker. Hettner; Die Abhängigkeit der Form der Land-
oberfläche vom inneren Bau. — Kleinere Mitteilungen: K. Schutt: Zellulose, Zucker, Alkohol. O. Bürger: Heil-
und Nahrungsmittelreste in altägyptischen Leichen. R. Ditmar: Neuere Verwertungsarten von Karbid und Azetylen
und deren Rückwirkung auf die Entwicklung anderer Industrien. — Bücherbesprechungen : GeorgSchlenker: Lebens-
bilder aus deutschen Mooren. — Max Planck: Das Prinzip der Erhaltung der Energie. — A. Zimmermann: Der
Manihot-Kautschuk. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstrafie IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 25. Januar 1914.
Nummer 4.
Schutzfärbung und Mimikry
[Nachdruck verboten.] Von Dr. Alois
„Es ist auffallend, wie in vielen Fällen die
Natur dem Tiere Dienstleistung erweist, indem
sie es mit solchen Tinten färbt, welche es am
besten instand setzen, seinen Feinden zu ent-
kommen oder seine Beute zu fangen." A. R.
Wallace.
Es ist ein undankbares Beginnen über die
Färbungen der Tiere zu schreiben, da man sich,
wenn man mit seiner Ansicht herausrückt, eine
Schar von Gegnern auf den Hals lockt, und ein
unangenehmes zugleich, da man auf Schritt und
Tritt mit Aussprüchen hervorragender und ver-
dienstvoller Forscher in Kollision kommt, die
man trotz alier Pietät nicht mehr so ganz gelten
lassen kann. Ich bitte daher im vorhinein um
Nachsicht und um gerechte Beurteilung meiner
Zeilen.
Veranlaßt hat mich zum Schreiben des folgen-
den Aufsatzes das jüngst erschienene Buch Jacobi's
über Mimikry, das eine äußerst gründUche und
übersichtliche Zusammenstellung des wichtigsten
Materiales gibt, mit dessen Ansichten ich aber
nicht vollständig übereinstimme.
I. Anpassungsfärbung.
Es ist eine allgemein bekannte Erscheinung,
daß ein großer Teil unserer Tiere in seiner Farbe
der Umgebung, in der er lebt, oft in ganz ver-
blüffender Weise angepaßt ist. Die Wüstentiere
zeigen die Sandfarbe, die Tiere der arktischen
Region die weiße Farbe des Schnees, die nächt-
lichen Tiere und die, deren Aufenthaltsort der
Erdboden ist, sind grau, die Baum- und Grastiere
grün und die VVassertiere oft glashell. Die so
allgemein aufgestellten Angaben lassen sich durch
eine Unmenge von speziellen Beispielen vermehren,
und da nicht bloß die ausgewachsenen Tiere,
sondern auch die offen abgelegten Eier und die
Jugendstadien die Färbung ihrer Umgebung haben,
so ist es eigentlich zum Verwundern, daß diese
auffallende Erscheinung erst so spät von den
Naturforschern so recht beachtet wurde. Wenn
wir auch schon bei dem in der Mitte des 18. Jahr-
hunderts berühmten Nürnberger Miniaturenmaler
und Naturforscher Rösel von Rosenhof einige
unzweifelhaft beschriebene Fälle von I-'arbenan-
passung finden, so wurde doch erst von Erasmus
Darwin und speziell von seinem Enkel Charles
Darwin die biologische Bedeutung der Farben
für die Tiere richtig gewürdigt und auch gleich-
zeitig durch die Selektion erklärt. Und Weis-
mann sagt in seinen Vorträgen über Deszendenz-
theorie*): „Es liegt auf der Hand, daß eine solche
Czepa, Wien.
mit der gewöhnlichen Umgebung des Tieres über-
einstimmende, sog. ,, sympathische" Färbung sich
mittels des Selektionsprinzips unschwer in ihrer
Entstehung begreifen läßt und ebensowohl daß
sie sich durch das Lamarck 'sehe Umwandlungs-
prinzip nicht erklären läßt. Durch Häufung
kleiner, nützlicher Farbenvariationen kann sehr
wohl aus der früheren Färbung allmählich eine
grüne oder auch eine braune entstanden sein,
nicht aber kann sich ein graues oder braunes
Insekt dadurch, daß es die Gewohnheit annahm,
auf Blättern zu sitzen, in Grün umgefärbt haben,
und noch weniger kann dabei der Wille des
Tieres oder irgendwelche Art der Tätigkeit mit-
gewirkt haben. Selbst wenn das Tier eine
Ahnung davon hätte, daß es ihm nun, nachdem
es sich an das Sitzen auf Blättern gewöhnt hatte,
sehr nützlich sein würde, grün gefärbt zu sein,
wäre es doch außerstande gewesen, irgend etwas
für seine Grünfärbung zu tun. Man hat aller-
dings in neuester Zeit an die Möglichkeit einer
Art von Farbenphotographie auf der Haut der
Tiere gedacht, allein es gibt eine Menge von
Arten, die in ihrer Färbung im Gegensatz zu
ihrer Umgebung stehen, bei welchen also die
Haut keine farbenphotographische Platte ist, und
es mußte also zuerst erklärt werden, wie es
kommt, daß dieselben bei den sympathischge-
färbten als solche funktioniert. Ich verlange nicht
den Nachweis der chemischen Zusammensetzung
des dabei vorausgesetzten lichtempfindlichen Stoffes.
Möchte dieser Jodsilber oder etwas anderes sein,
die Frage bleibt die: Wie kommt es, daß es sich
nur bei solchen Arten eingestellt hat, deren sym-
pathische Färbung ihnen im Kampf ums Dasein
nützlich ist? Und die Antwort darauf könnte
nur lauten: Er ist durch Naturzüchtung bei den-
jenigen Arten entstanden, denen eine sympathische
Färbung nützlich war."
Hiermit ist deutlich die Stellung der Selek-
tionstheoretiker zur Schutzfärbung gegeben und
der große Wert der sympathischen Färbung für
die Erhaltung der Art und die einzig mögliche
Entstehungsweise, nämlich durch Selektion, klar
ausgesprochen.
Heute sind nun viele Forscher mit der ange-
gebenen Meinung Weismann's nicht mehr ein-
verstanden und die Stimmen mehren sich, die von
der schützenden Allgewalt der sympathischen
Färbung nicht viel halten, ja sogar soweit gehen,
daß sie sie überhaupt leugnen.
') II. Aufl. p. 50.
50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. I'. XIII. Nr. 4
Die Aufgabe der folgenden Zeilen soll es nun
sein, die Frage der Schutzfärbung vom objektiven
Standpimkt aus zu betrachten, wobei wir uns
natürlich eine ziemliche Beschränkung auferlegen
müssen, um den Umfang der Arbeit nicht ins
Unermeßliche wachsen zu lassen.
Wildfärbung — Domestikationsfärbung.
Ein sehr beliebtes Beispiel für Schutzfärbung
sind unsere Haustiere, deren bunte Farben sich
von dem einfachen Grau oder Gelblichbraun ihrer
wilden Verwandten deutlich und auffallend unter-
scheiden. In diesem Falle ergibt sich auch die
Erklärung ganz von selbst. Die domestizierten
Tiere können eines Schutzes durch Farbenanpassung
vollständig entbehren, weil sie durch den Menschen
geschützt sind; es fällt also der regelnde Faktor,
die natürliche Zuchtwahl, vollständig weg und
Farben, die dem wildlebenden Tier binnen kurzem
den sicheren Tod brächten, können deshalb die
große Verbreitung finden, ja sogar die eigentliche
Wildfärbung vollständig verdrängen.
So plausibel diese Erklärung auf den ersten
Blick auch scheint, so wenig vermag sie einer
kritischen Prüfung standzuhalten.
Wenn wir bedenken , wie wenige Haustier-
rassen noch Wildfärbung erkennen lassen, daß es
gerade die primitiven, wenig veredelten Rassen
sind, bei denen wir sie finden, und daß die bunten
Farben vor allem die hochkultivierten Rassen
zeigen, so muß sich uns unwillkürlich der Ge-
danke aufdrängen, daß diese Farben eine typische
Domestikationserscheinung sind, daß die Domesti-
kation mit ihren der P'reiheit so ganz entgegen-
gesetzten Lebensbedingungen einen derartigen
Einfluß auf die Tiere ausübt, daß die Wildfärbung
vollständig verdrängt wird.
Von unseren großen Haustieren zeigen nur
mehr wenige Rassen die eigentliche Wildfärbung.
Die dunklen Querstreifen an den Vorder- und
Hinterbeinen und den dunklen Anstrich, die das
Wildpferd auszeichnen, zeigen nur mehr die ganz
primitiven Landrassen z. B. das bosnische Pferd
und der unveredelte galizische Landschlag. Die
eigentümlichen farbigen Abzeichen des Wildrindes
finden wir nur mehr bei den dachsfarbigen Mürz-
talerzuchten, sowie bei den entsprechend gefärbten
Individuen der Illyrischen und Karpathenrasse.
Bei den kleinen Haustieren verhält es sich
ähnlich; nur die Ziegen lassen in den meisten
Fällen, wenn es sich um die gewöhnliche Form
handelt, große Ähnlichkeit in ihrer Färbung mit
der Wildfärbung erkennen, aber gerade hier sind
die Landzuchten züchterisch verhältnismäßig wenig
beeinflußt.
Bei allen höheren Rassen und gerade bei den
höchststehenden ist von Wildfärbung keine Spur
mehr vorhanden, dafür spielt die weiße und
schwarze Farbe und vor allem der Albinismus
eine große Rolle.
Wenn wir die Färbungen der verschiedenen
Rassen analysieren, so können wir nach A d a m e t z
folgende Einteilung treffen:
I. Einfarbigkeit,
II. weiße Abzeichen bis Scheckung,
III. Leuzismus,
IV. echter Albinismus.
I. Zur Einfarbigkeit zählt vor allem der Melanis-
mus, das heißt das Auftreten eines dunklen, bis
schwarzen Haar- oder Federkleides, das bei wild-
lebenden Tieren nur unter gewissen Bedingungen
vorkommt und stets eine Seltenheit bleibt, bei
unseren Haustieren aber eine überaus häufige, bei
vielen Rassen eine normale Erscheinung ist.
Der Melanismus beruht nicht auf dem Vor-
handensein eines rein schwarzen Pigmentes, son-
dern nur in der Anhäufung des gewohnlichen
braunen, wie man sich leicht überzeugen kann,
wenn man ein schwarz gefärbtes Tier im auf-
fallenden Sonnenlichte betrachtet; es erscheint
deutlich rötlich bis dunkelbraun. Wir haben uns j.
also das Auftreten der schwarzen Färbung durch ■
eine Überproduktion des Pigmentes von selten
der farbstofferzeugenden Zellen zu erklären und
müssen nur noch die LTrsache dieser erhöhten
Arbeitsleistung erkunden. Hierbei hilft uns vor
allem die Tatsache weiter, daß diese intensive
Farbstoffbildung in naher Beziehung zur P'arbstoff-
losigkeit oder wenigstens zum Farbstoffmangel
steht oder mit anderen Worten, daß Melanismus
einerseits und Leuzismus oder Albinismus anderer-
seits sehr häufig in ein und derselben Zucht vor-
kommen. Ich erinnere hier nur an die bekannte
Pferderasse Kladrub, die in einem Schimmel- und
einem Rappstamme gezüchtet werden, an den
weißen und schwarzen Pudel, an die schwarzen
und weißen Schafe und an die alten Erfahrungen
der Züchter, daß Schwarz stets mit dem Weißen
Hand in Hand geht. Wie wir später noch hören
werden, ist Weiß eine Folge einer konstitutionellen
Schwäche des Tieres und wir werden nicht fehl
gehen, wenn wir auch den Melanismus als eine
F"olgeerscheinung gewisser züchterischer Verhält-
nisse ansehen, die mit einer Schwächung, zum
mindesten mit einer Störung der Lebenstätigkeit
des Organismus parallel läuft. Die Pigmentzellen
verlieren die Fähigkeit, die Farbstoffproduktion
zu regulieren, und so geht sie über die normale
Grenze hinaus.
Welcher Art diese züchterischen Verhältnisse
sind, die den Melanismus bedingen, können wir
noch nicht sicher behaupten, wenn wir auch auf
die Inzucht einen sehr starken Verdacht haben.
Denn sehen wir uns unter den wildlebenden
Tieren nach melanotischen Formen um, so finden
wir sie meistens nur in kleinen engbegrenzten
Gebieten, wie die schwarzen Panther auf Java
oder unter den Haustieren die schwarzen Formen
der illyrischen Rinderrassen inselartig unter den
andersfarbigen in wilden, schwer zugänglichen Ge-
birgsgegenden, wie in der Umgebung von Imljani
in Bosnien.
Man kennt den Melanismus auch bei anderen
N. F. XIII. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
51
Tiergruppen schon lange Zeit. Ich erinnere nur
an die Gebirgsformen der Schmetterlinge, Kreuz-
otter, bei denen die Feuchtigkeit die Ursache der
F'ärbung sein soll, ferner an die Angaben Blumen-
bach's, der an Lerchen und Finken durch
bloßes Füttern mit Hanf künstlich Melanismus
hervorrief, und endlich an die Versuche Käm-
merer's, der Eidechsen durch gewisse, unge-
wohnte Lebensbedingungen zur melanotischen
Verfärbung brachte.
Aus diesen wenigen Beispielen können wir
schon entnehmen, daß wir mit unserer Auffassung
von Melanismus als einer Folge einer konstitutio-
nellen Schwächung nicht zu weit fehlgegriffen
haben, um so mehr, wenn wir noch die Zucht-
versuche an Mäusen berücksichtigen. Haake')
fand, daß Kreuzungen von blau- und weißge-
scheckten Tanzmäusen, bei denen das Weiß das
Blau an Ausdehnung bedeutend übertraf, mit ge-
wöhnlichen weißen Mäusen, also mit totalen Al-
binos, einfarbige graue oder schwarze Mäuse er-
gaben. Und Cuenot'-) erzeugte durch Paarung
grauer Bastardmäuse dritter Generation mit Al-
binomäusen ebenfalls schwarze Mäuse. L'nd wenn
jetzt unsere Jagdzeitschriflen vom häufigen Auf-
treten schwarzer Eichhörnchen berichten und uns
die interessante Tatsache mitteilen , daß in den
westelbischen Teilen der norddeutschen Tiefebene,
besonders in der südöstlichen Lüneburger Heide
schwarzes Rehwild nicht mehr so selten ist , so
werden wir, wenn wir die Frage nach der Her-
kunft der schwarzen Färbung überhaupt beant-
worten wollen, nicht Anpassung und Schutzfärbung,
sondern physiologische Ursachen für das Auftreten
des Melanismus verantwoitlich machen müssen.
II. Treten bei gefärbten Individuen pigment-
freie Stellen der Haut mit pigmentfreien Haaren
im geringen Umfange auf, so spricht man von
weißen Abzeichen oder Domestikationszeichen.
Spezielle Beispiele hierfür anzuführen, ist wohl bei
der Häufigkeit dieser verbreiteten Erscheinung
nicht Notwendigkeit; denn auf Schritt und Tritt
können wir auch in der Großstadt an Pferden
und Hunden derartige Beobachtungen machen.
Die weißen Abzeichen sind meist an ganz
bestimmte Körperstellen gebunden und finden
sich in der Regel weit vom Zentrum entfernt,
also dort, wo gewissermaßen der Stoffwechsel der
Haut weniger intensiv sein wird. Ich erinnere
nur an die F'ußenden der Vorder- und Hinter-
beine der großen Haussäugetiere, an die Schwanz-
spitze der Rinder und Hunde und an die Sterne
auf der Stirne.
Durch Vergrößerung der pigmentlosen Partien
kommt dann die Färbung zustande, die wir als
') Haake, Über Wesen, Ursachen und Vererbung von
Albinismus und Scheckung und über deren Bedeutung füi
vererbungstheoretische und entwicklungsmechanische Fragen.
Biolog. CentralblaU. XV. 1895.
'') Cuenot, L'hcredit^ de la Pigmentalion chez les souris
(2eme Note) in Archives de Zoologie experimentale et gene-
rale 1903.
Scheckung bezeichnen , die mehr oder weniger
ausgeprägt und in Verbindung mit Melanismus
oder einer anderen Kulturfärl)ung auftreten kann.
Diese Scheckung kann aber in ganz hervorragen-
dem Maße zunehmen und fast alle gefärbten
Partien zum Schwinden bringen, so daß fast die
gesamte Körperoberfläche albinotisch erscheint.
Ein charakteristisches Beispiel hierfür sind die
letzten Moderassen der Hunde, die zum Teil ziem-
lich stark entarteten F^oxterriers, bei denen wir
oft nur mehr winzige, wenige Millimeter große
Farbflecken erkennen können.
Merkwürdig i-,t, daß trotz weitgehendster
Scheckung an meist ganz bestimmten Stellen pig-
mentierte Haut erhalten bleibt , ja die Fähigkeit,
Farbstoff zu bilden, von diesen Hautparlien mit
großer Zähigkeit festgehalten wird. So sehen wir
beim englischen Parkrind den ganzen Körper un-
gefärbt, nur die Ohrenspitzen und die Umrandung
des Maules pigmentiert. Auch bei den Hunden
bleibt die Färbung an den Ohrenspitzen und
außerdem noch in der Kreuzgegend und am obe-
ren Teil des Schwanzes. Und gerade der letzt-
genannte Fleck ist selbst bei sehr weitgehendem
partiellen Albinismus vorhanden.
Eine Erklärung für das Festhalten des Pig-
mentes an diesen Stellen ist leicht gegeben.
Wenn wir die wilden Formen zum Vergleich
heranziehen, so erkennen wir, daß bei ihnen ge-
rade die genannten Stellen auffallend dunkel ge-
färbt sind, daß hier eine intensive Farbstoffbildung
besteht und diese bei unseren Haustieren noch
in der erwähnten Weise teilweise erhalten bleibt.
Eine intensive Farbstoffbildung findet aber
überall dort statt, wo ein regerer Stoffwechsel
herrscht, eine Tatsache, die man mit vielen Bei-
spielen belegen kann. Gleich im Schwanzfleck
der Hunde haben wir für diese Behauptung einen
Beweis; wir finden nämlich an dieser Stelle auch
bei fast allen wilden Caniden eine Hautdrüse, die
den lebhafteren Stoffwechsel bedingt. Nach
Haake bestehen die dunklen Streifen des Zebras
aus viel stärkeren und längeren Haaren als die
weißen, so daß sie erhaben erscheinen und von
ihm mit aufgenähten Tuchstreifen verglichen wer-
den. Nach den Arbeiten von Zi e tschman n i)
finden sich an den Bürsten der Cerviden, Stellen
der Hinterextremitäten, die mit dunkleren und
längeren Haaren ausgestattet sind, Anhäufungen
von Drüsen. Beim Menschen ist die Brustwarze,
die Achselhöhle, die Genitalgegend stärker pig-
mentiert als die Umgebung und gerade an diesen
Stellen ist der Stoffwechsel äußerst rege.
Diese Beispiele, die sich leicht vermehren
lassen, zeigen, daß lebhafter Stoffwechsel intensive
Farbstoffbildung bedingt, und führen uns gleich-
zeitig zu der Erklärung, daß die weißen, pigment-
losen Hautpartien eine Folge eines zu geringen
') C. Zietschmann, Beiträge zur Morphologie und
Histologie einiger Hautorgane der Cerviden ! Zeitschrift für
wiss. Zool. Bd. CXXIV. 1903.
52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XUI. Nr. 4
Stoffwechsels dieser Stelle sind oder als Ausfluß
einer geweblichen oder konstitutionellen Schwäche
angesehen werden müssen. Die Farbstoffzellen
haben die Fähigkeit, Pigment zu erzeugen, aus
irgendeinem Grunde eingebüßt und unsere Auf-
gabe wäre es nun, die Ursachen dieser Schwächung
anzugeben. Wenn wir auch noch nicht so weit
sind, wenn wir uns auch damit begnügen, einige
höchstwahrscheinliche F"aktoren anzuführen (die
wir dann im Zusammenhange am Ende des Ab-
schnittes besprechen wollen), so sind wir doch
imstande, die Behauptung zu bekräftigen, daß die
Scheckung eine Folge einer geweblichen oder
konstitutionellen Schwäche ist.
Es ist eine bekannte Erscheinung, daß bei
dunkelpigmentierten Pferden an den Druckstellen
weiße Haare wachsen.
Das Narbengewebe selbst der dunkelhäutigsten
Menschenrassen ist weiß.
Werden die Federkeime der Stubenvögel
irgendwie störend beeinflußt, so entstehen weiße
oder hellgefärbte Federn. Cornesin') gibt an,
daß die südamerikanischen Indianer den normal
grüngefärbten Papageien die grünen Federn aus-
reißen, in die Haut der Tiere ein ätzendes Sekret
einer Krötenart eindringen lassen und durch diese
Hautschädigung bewirken, daß die neu hervor-
wachsenden F"edern zitronengelb oder rötlichgelb
gefärbt erscheinen.
Auch ist es eine alte Erfahrung der Landwirte
und Tierärzte , daß die weißen Hautpartien viel
weniger widerstandsfähig gegen verschiedene
Krankheiten sind, daß die weißgefesselten Pferde
auf feuchten Weideflächen viel häufiger an Mauke
erkranken als die gefärbten und daß bei fast ganz
weißen Tieren Hautkrankheiten auftreten, die die
dunklen der gleichen Rasse entweder überhaupt
nicht oder in nur ganz geringem Grade befallen.
Ich erinnere hier nur an den Buchweizenausschlag
der weißen Schafe, der die schwarzen Tiere nicht
angreift und an die durch Pilze hervorgerufene
Hautkrankheit der weißen Pudel, die meist nicht
zu heilen sind, während die damit behafteten
schwarzen Pudel ohne weiteres gesunden.
Wie weit wir gewebliche und wie weit wir
konstitutionelle Schwäche für das Auftreten der
weißen Farbe verantwortlich machen sollen, ist in
einzelnen Fällen oft schwer zu entscheiden , ist
aber auch ziemlich irrelevant , da die eine die
andere stark beeinflussen wird. Wenn wir finden,
daß bei in Gefangenschaft lebenden Hänflingen
die rote Färbung von Brust und Scheitel, die zur
Paarungszeit den freilebenden Vogel auszeichnet,
nicht auftritt, daß derlei Hochzeitskleider in der
Gefangenschaft nur dann auftreten, wenn die Tiere
sich so wohl fühlen, daß sie die Freiheit vergessen,
ob es nun ein Vogel, ein Reptil, ein Amphibium
oder ein F"isch ist, so ist damit zwar kein Beweis
für die weiße Farbe als Folge der Schwäche ge-
bracht , aber immerhin deutlich klargelegt , daß
') Tjaite de Zootechnique generale. Paris 1891.
der Stoffwechsel das Auftreten der verschiedenen
P'ärbungen bedingt. In diesen letzten P'ällen
können wir teils psychische Depression, teils Fehlen
der Reize der Genitalsphäre als Ursache annehmen.
III. Greift die weiße Färbung auf die ganze
Körperoberfläche über, so daß die Haare und
Federn vollständig pigmentlos werden, ist aber
das Pigment noch in Haut und Schleimhäuten
erhalten, so sprechen wir von Leuzismus, einer
P"ärbung, die wir auch in der Natur finden; ge-
hört doch das Weißwerden der Polartiere und
einiger Tiere der nördlicheren Gegenden zur
Winterszeit hierher. Unter den Haustieren findet
sich der Leuzismus vor allem bei Pferden, den
bekannten Schimmeln, aber auch bei Rindern tritt
er auf, so bei manchen Stepperirassen, und beim
Geflügel. Leider sind wir über die Ursachen, die
den Domestikationsleuzismus bedingen, noch voll-
ständig im Unklaren und wir müssen deshalb
hier auf Erklärungsversuche verzichten.
IV. Fehlt das Pigment auch in der Haut und
in den Schleimhäuten, so haben wir den be-
kannten Albinismus vor uns, der sich selbst dem
harmlosesten Beobachter infolge der roten Augen
des Tieres als auffallende Erscheinung präsentiert.
Der Albinismus tritt in der Natur unter den wild-
lebenden Tieren nicht so selten auf und gerade
unter dem Wild finden wir öfters albinotische
Formen; doch derlei „weiße Raben" halten sich
nicht — wenn man sie nicht speziell pflegt — ,
und verschwinden wieder binnen kurzem von der
Bildfläche. Es gibt keine einzige, albinotische
Spielart, die sich bei irgendeinem wildlebenden
Tier herausgebildet hätte.
Daß wir gerade unter den Haustieren soviel
Albinos finden, hat vor allem seinen Grund darin,
daß die Domestikation das Auftreten des Albinis-
mus fördert und daß der Mensch diese auffallen-
den Formen mit Vorliebe gepflegt und sich um
ihre Erhaltung bemüht hat.
Daß der Albinismus ein Zeichen beginnender
Degeneration ist, daß alle albinotischen l'iere sehr
stark konstitutionell geschwächt sind, wird heute
kein Biologe mehr bestreiten und es ist ein über-
flüssiger Luxus, noch Beweise hierfür anzuführen.
Nur andeutungsweise möchte ich einige Tatsachen
erwähnen. Daß der Albinismus auf die Genital-
sphäre einwirkt und sehr oft mit Sterilität Hand
in Hand geht, haben die Züchter der großen
Haustiere, wie auch die des Geflügels oft erfahren
müssen. Unsere Jäger wissen ein Liedchen zu
singen, daß der weiße Fasan viel hinfälliger und
in jeder Beziehung schwächer ist als sein ge-
färbter Bruder. Ganz besonders empfänglich ist
das albinotische Tier gegen Infektionskrankheiten.
Wir haben gesagt, daß die Domestikation das
Auftreten des Albinismus fördert, und haben diese
Behauptung auf Grund der Tatsache ausgesprochen,
daß unter den wildlebenden Formen Albinos
selten, unter den Haustieren sehr häufig sind
und daß gerade unter den Haustieren, mit denen
sich der Mensch am wenigsten beschäftigt hat,
N. F. XIII. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
53
nämlich mit den Ziegen, der Albinismus fast eine
Seltenheit ist im Verhältnis zu den gepflegtesten
z. B. der Vollblutrassen der Pferde. Wenn wir
in der so stark durch den Menschen veränderten
Rasse des englischen Vollbluts so selten albino-
tische Individuen finden, so dürfte die Erklärung
hierfür die sein, daß die Verwendung der Pferde
zum Rennen, albinotische, d. h. schwächliche Tiere
ausschließt. Aber die große Beeinflussung läßt
sich doch leicht in den vielen Hellfüchsen er-
kennen.
Wir müssen uns nur noch fragen, welcher
Art der Einfluß ist, welchen die Domestikation
auf das Auftreten des Albinismus ausübt. Wir
können auch hier wieder nur einige Faktoren an-
geben, die ziemliche Wahrscheinlichkeit für sich
haben und die man mit einigen Beispielen be-
kräftigen kann, an wirklichen Beweisen fehlt es
uns leider auch hier vollkommen.
Haake führt einen sehr glücklichen Gedanken
an. „Die Haustiere sind nicht annähernd den
gleichen Gefahren ausgesetzt wie die freilebenden
Tiere. Was unter diesen nicht in jeder Beziehung
den Ansprüchen, die durch die Lebensbedingungen
an die Tiere gestellt werden, gewachsen ist, muß
zugrunde gehen. Die Haustiere indessen, die für
den Menschen wertvoll sind, werden möglichst
gehegt und gepflegt und vor schädigenden Ein-
flüssen geschützt. Sie brauchen vor allen Dingen
während der ungünstigen Jahreszeit keinen Hunger
zu leiden. Sie finden auch Schutz vor Kälte, vor
schädigender Nässe, vor allzu starker Einwirkung
des Sonnenlichtes u. dgl. mehr. Kurzum , die
gute Pflege läßt auch solche Individuen überleben,
die als freilebende Tiere dem Kampfe ums Da-
sein, der konstitutionellen Zuchtwahl, die nur die
Individuen mit starker Konstitution auswählt, zum
Opfer fallen würden. Deswegen muß aber bei
Haustieren notwendigerweise eine Schwächung
der Konstitution nicht selten vorkommen und
diese hat wahrscheinlich mit lokalem oder totalem
Albinismus zu tun."
Zu diesem Faktor, der die Domestikation
wegen der Erhaltung der selbst konstitutionell
sehr geschwächten Individuen zu einem Förderer
des Albinismus macht, gesellt sich noch die schon
beim Melanismus angeführte Inzucht, die ja leider
oft genug vorgenommen wurde und noch wird
und wie kaum ein zweiter Faktor die Konstitu-
tion sehr stark zu schwächen imstande ist. Und
weil unter derart geschwächten Tieren der teil-
weise und der lokale Albinismus eine der häufigsten
Erscheinungen ist, hat man ihn direkt als Stigma
degenerationis bezeichnet.
Einen dritten Faktor hätten wir nach Ada-
metz^) in der üppigeren, bzw. wasserreicheren
Ernährung der Haustiere gegeben. Schon Dar-
win hat in der gleichmäßig reichlichen Ernährung
der Haustiere mit den wichtigsten Grund ihrer
') Adameiz, Beiträge zur Monographie des Illyrischen
Rindes. Journal f. Landwirtschaft. 1895.
großen Variabilität zu sehen gemeint und die
Umschau unter unseren Haustieren gibt uns Be-
lege für diese Ansicht. Die älteren Zuchten der
Pinzgauerpferderasse zeigen eine starke Neigung
zu weitgehendem teilweisem Albinismus und gerade
ihre Ernährung auf den Weiden Salzburgs ist eine
voluminöse und wasserreiche. Die rot- oder
schwarzscheckigen Berner Rinder haben auffallend
helle Verwandte, die Simmentaler. Adametz
konnte in Bosnien auch an den einfarbigen lUy-
riern ähnliche Beobachtungen machen. „Überall
dort, wo sich den Tieren eine reichliche, nament-
lich aber wasserreichere Nahrung bietet, fiel mir
die rasche Zunahme solcher Abzeichen auf. Tiere
mit bereits ausgebreiteten weißen Abzeichen,
welche den Übergang zur Scheckfärbung deutlich
erkennen lassen, sah ich innerhalb des Braunvieh-
gebietes nicht selten. Im mildfeuchten Simmtale
unweit Prejpolje sah ich reinblütige Herden, in
welchen solche gescheckte Tiere neben einfarbig
schwarzbraunen vorkommen, ja sogar direkte Ab-
kömmlinge solcher Individuen waren. Den Kul-
minationspunkt erreichte diese Erscheinung fort-
schreitenden Pigmentmangels im nordwestlichen
Teile des Mostarski - Blato , eines ausgedehnten
Sumpfweidegebietes. Hier traf ich ganze Herden
des Scheckviehes illyrischer Rasse. Die wenigen
unter ihnen befindlichen einfarbigen Tiere waren
hell bis gelbbraun mit entschieden schon pigment-
ärmerer Haut." — —
Wollen wir uns nun mit den angeführten Be-
hauptungen und Tatsachen begnügen und resü-
mieren, was wir über die Färbungen der Haus-
tiere gehört haben, so kommen wir zu dem Er-
gebnis, daß der Verlust der Wildfärbung und
das Auftreten der bunten Farben eine Folge der
verschiedensten, physiologischen Ursachen ist, die
ihren Grund in der Domestikation haben. Damit
haben wir allerdings eine Eiklärung für die Ent-
stehung der Bunt- und Hellfarbigkeit gegeben,
haben aber noch nicht die Frage beantwortet, ob
das Fehlen der Selektion die bunten Farben ver-
breiten läßt oder nicht. Wir dürfen nicht in einen
circulus vitiosus verfallen; denn auch im Pralle der
wirkenden Selektion müssen die Ursachen der
Farbenveränderung physiologische sein. Wir
stehen deshalb vor der pr-inzipiellen Frage: Ver-
lieren die Haustiere ihre Wildfärbung, weil sie
der biologisch wichtigen Schutzfärbung nicht mehr
bedürfen, oder aber verändern sie die Farben
bloß infolge der durch die andere Lebensweise
bedingten Einwirkungen auf ihren Körper oder
besser gesagt durch das stark beeinflußte Allge-
meinbefinden.
Wir können, um der Beantwortung dieser
Frage näher zu kommen, vorher eine andere er-
ledigen, nämlich die P>age, ob die Wildfärbung
der großen Haussäugetiere überhaupt eine Schutz-
färbung ist und für das Tier diese wichtige Be-
deutung hat oder nicht. Ich für meinen Teil
möchte den Wert der Wildfärbung als Farben-
anpassung, also als Schutzfärbung in große Zweifel
54
Nalurwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 4
ziehen. Ich bin der Ansicht, daß die Färbung
für diese Tiere als Schutzmittel gar keine Bedeu-
tung hat. Denn die wildlebenden Pferde und
Rinder sind wehrhafte Formen, haben die Mög-
lichkeit einer raschen Flucht und leben außerdem
in Rudeln und oft ganzen Herden, so daß sie
schon an und für sich dadurch geschützt sind.
Außerdem würde ihnen aus dem Umstände schon,
daß sie auf freierem Terrain in größerer Zahl
beisammenleben, eine Schutzfärbung nichts nützen,
da sie von sehenden Feinden unbedingt sofort
entdeckt werden müßten. Und wenn Schmeil
sagt, daß die dunklen Streifen dem Zebra bei Tag
als Erkennungsmittel ') für von der Herde ver-
sprengte Tiere, in der Nacht als Schutzfärbung
bei Mondschein an der Tränke dienen , so finde
ich das erste ebenso wenig glaublich als das
zweite. Denn erstens sind die Equiden ziemlich
schlechte Seher und ein versprengtes Tier wird
eher infolge seines Geruchssinnes zu der Herde
zurückfinden, um so mehr, da die Gegenden nicht
so eben und frei sind, daß sie das Tier auf weite
Strecken übersehen könnte, und zweitens wird
sich der Räuber, der an der Tränke lauert und
der Feind der Zebras ist, sicher nicht ein einziges
Mal durch die im Mondschein verschwimmenden
Streifen täuschen lassen. Ich bin vielmehr der
Ansicht, daß die Färbung dem Zebra nicht schadet,
sonst aber von keiner positiven Bedeutung ist und
werde auch darin durch die Angaben Werne r's
bestärkt, daß sich die phylogenetisch wichtigen
Zeichnungen der Tiere, zu denen die Wildzeich-
nung der Pferde, Zebras usw. gehört , bei alten
Tieren zurückbildet, also ohne Schaden verschwin-
den kann.
Es ist also die Wildfärbung durch die Do-
mestikation einfach infolge der anderen und zwar
der bereits angeführten Lebensbedingungen zu der
Haustierfärbung verändert und nicht weil der
regelnde Faktor, die Selektion gefehlt hat, die
nicht schutzgefärbte Tiere binnen kurzem aus-
rottete. Vor allem war aber bei dem Zustande-
kommen der überaus bunten Mannigfaltigkeit der
Mensch schuld, der sich an den neuen Farben
freute, sie pflegte, ja bestrebt war, sie wenn mög-
lich noch zu vermehren. —
Einen weiteren Beleg für die hier ausge-
sprochenen Ansichten gibt uns das zweite, große
Zuchtbeispiel, die Taube. Abstammend von der
einfach graublau gefärbten Felsentaube, die nur
der weiße Unterrücken, das schwarze doppelte
Querband auf den Schwingen und vor allem der
grüne, bzw. purpurfarbige Metallglanz auf Hals
und Vorderbrust etwas bunter erscheinen lassen,
hat sie sich zu einer Unzahl der verschieden ge-
färbten Varietäten in der Hand des Menschen
herausgebildet. Auch hier hat man die gleiche
Erklärung gegeben wie bei den großen Haus-
tieren und auch hier könnten wir dieselben gegen-
') Übrigens wird diese .\nsicht von den wenigsten geteilt,
da die meisten der Ansicht sind, daß die Streifen auf die
Distanz verschwinden und so eine Körperauflösung bewirken.
teiligen Ansichten vorbringen. Es wäre daher
gar nicht notwendig von den Tauben gesondert
zu sprechen, wenn sie nicht einen neuen Beweis
für unsere Ansichten erbrächten.
Ob die Felsentauben eine Schutzfärbung haben
oder nicht, wollen wir hier nicht erörtern, daß
diese aber den Haustauben vollständig fehlt, ist
wohl ohne allen Zweifel. Nun fii.den wir in vielen
Großstädten, ich nenne hier nur als die mir am
nächsten liegende, Wien, eine Menge verwilderter
Tauben, die zum Verdruß der Stadtväter überall
nisten und gerade die schönsten Bauwerke mit
ihrem Aufenthalt und den damit verbundenen
Folgen beehren, und unter ihnen eine große Zahl,
die wie die Felsentauben gefärbt sind. Die
Tauben verwildern, die Domestikationsfarben
treten zurück und die ursprüngliche Wildfärbung
tritt wieder auf. So selbstverständlich diese Er-
scheinung draußen in Wald und Flur wäre, so
wenig ist sie es vom Standpunkt der Selektion
und Schutzfärbung aus in der Großstadt. Warum
tritt hier die Schutzfärbung auf, wenn alle natür-
lichen Feinde des Tieres fehlen.? Wir werden
hierfür wohl keine andere Erklärung finden, als
die, daß die Färbung der Felsentaube die Wild-
färbung ist und daß mit Aufhören der Domestika-
tion und der damit verbundenen Lebensbedingungen
die Ursachen der bunten Färbung wegfallen und
daß die Verhältnisse der wildlebenden Tiere die
alle Wildfärbung wieder hervorrufen. Daß diese
Färbung nicht bei allen Exemplaren zu finden
ist, hat seinen Grund wahrscheinlich darin, daß
die der Domestikation eigentümlichen Lebensbe-
dingungen auch bei diesen verwilderten Formen
zum Teil erhalten sind, wie das Fehlen der Feinde,
das Vorhandensein zahlreicher und meist sehr
guter Nistplätze und vor allem nie Mangel an
guter Nahrung, weder im Sommer noch im
Winter, durch die vielen Taubenfreunde. —
Nach allen diesen Erörterungen kommen wir
daher zu dem Schlüsse, daß die bunten F"ärbungen
der Haustiere eine Folge der durch die Domestika-
tion hervorgerufenen Lebensbedingungen sind und
vom Menschen meist sorgsam weitergezüchtet
wurden und daß derart gefärbte Spielarten unter
den wildlebenden Tieren vollständig fehlen, nicht
weil gefärbte Tiere infolge ihrer schlechten An-
passung an die Umgebung zugrunde gehen müssen,
weil sie von den Feinden leicht entdeckt und
leicht erbeutet nie zur Fortpflanzung kommen,
sondern weil solche Tiere konstitutionell viel
schwächer sind und deshalb wenn sie manchmal
durch irgendwelche LTrsachen in der Natur auf-
treten, mit ihren Genossen nicht konkurrieren
können, die Unbilden des Lebens die da sind
Witterung, Nahrungsmangel, Feinde nicht ertragen
können, und deshalb binnen kurzem wieder spur-
los verschwinden müssen. Es gehen diese Formen
allerdings auch durch den Kampf ums Da-
sei n zugrunde, aber nicht infolge ihrer unrichtigen
Färbung, sondern i nfol ge ih rer schlechteren
Konstitution und diesen Kampf ums Dasein
wird niemand verneinen. (Fortsetzung folgt.)
N. F. XIII. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
55
Einzelberichte.
Chemie. Depside, Flechtenstoffe und Gerb- Chebulinsäure der Myrobalanen und das im
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säuren als Bestandteil enthalten, scheinen nicht
Glukoside, sondern, ähnlich dem Tannin, ester-
artige Derivate von Zuckern zu sein. Dahin ge-
hören vor allem zwei kristallisierte Gerbstoffe, die
geleiteten „alten Talböden im Rhonegebiet" (Z. f.
Gletscherkunde II, 321) in der Natur zu suchen.
In drei Wochen wurde das Rhonetal vom Genfer
See aufwärts bis zum Rhonegletscher und außer
54 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIII. Nr. 4
zielien. Ich bin der Ansicht, daß die Färbung teiligen Ansichten vorbringen. Es wäre daher
für diese Tiere als Schutzmittel gar keine Bedeu- gar nicht notwendig von den Tauben gesondert
tung hat. Denn die wildlebenden Pferde und zu sprechen, wenn sie nicht einen neuen Beweis
Rinder sind wehrhafte Formen, haben die Mög- für unsere Ansichten erbrächten.
tieren und auch hier könnten wir dieselben gegen- allerdings auch durch den Kampf ums Da-
sein zugrunde, aber nicht infolge ihrer unrichtigen
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Distanz verschwinden und so eine Körperauflösung bewirken. wird niemand verneinen. (Forlsetzung folgt.)
N. F. XIII. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
55
Einzelberichte.
Chemie. Depside, Flechtenstofie und Gerb-
stoffe. Auf der 85. Versammlung Deutscher
Naturforscher und Ärzte in Wien hielt der Groß-
meister der synthetischen Chemie, Emil Fischer,
einen Vortrag über seine neuen Forschungen über
Depside, Flechtenstoffe und Gerbstoffe. Diese
Produkte sind esterartige Derivate der Phenol-
Carbonsäuren, zu denen die im Pflanzenreich weit
verbreitete und schon 1786 von C.W. Scheele
entdeckte Gallussäure, sowie die als Heilmittel
berühmte Salizylsäure gehören (Ber. d. Deutschen
Chem. Gesellsch. 46. Jahrg. Nr. 14, S. 3253 ff. 1913).
Diese Phenol-Carbonsäuren besitzen u. a. die
Fähigkeit, mit ihresgleichen Anhydride zu bilden
in der Weise, daß das Carboxyl des ersten Mole-
küls in die Phenolgruppe des zweiten esterartig
eingreift. Solche esterartige Anhydride nennt
Fischer „Depside", aus dem Griechischen öiijitLV
(gerben). Je nach der Zahl der Carbonsäuren,
die zusammengekuppelt sind, unterscheidet man
Didepside, Tri- und Tetradepside.
Die einzige natürliche F'undstätte für Depside
sind bis jetzt die Flechten, jene eigentümlichen
Pflanzengebilde, die nach der Entdeckung von
Simon Seh wenden er durch Symbiose von
Algen und Pilzen entstehen. Der eigenartigen
morphologischen Beschaffenheit entspricht auch
ihr Gehalt an Depsiden. Unter diesen sind am
bekanntesten die Lecanorsäure und Evernsäure.
Unter dem Namen „Gerbstoffe" wird eine
größere Anzahl pflanzlicher Stoffe zusammengefaßt,
welche die gemeinsame Eigenschaft besitzen, sich
mit tierischer Haut zu verbinden. Verwendet
man chemische Gesichtspunkte zu ihrer Klassifi-
zierung, dann zerfallen sie in ganz verschiedene
Gruppen. Emil Fischer untersuchte speziell
den Gerbstoff der Galläpfel, das sog. Tannin und
einige Substanzen vom selben Typus. Diese
Gruppe von Gerbstoffen läßt sich kurz als acyl-
artige Verbindungen der Zucker mit Phenol-
Carbonsäuren bezeichnen. Nachdem alle Versuche,
die Gerbstoffe zu einheitlichen kristallisierten
Körpern abzubauen, gescheitert waren, betrat
P-mil Fischer den synthetischen Weg, indem
er überzeugt war, daß das Tannin als eine ester-
artige Kombination von i Molekül Glukose mit
5 Molekülen Digallussäure nach Art der Penta-
acetylglukose zu betrachten ist. Wie immer
hatte Emil Fischer auch diesmal Recht. Sein
eigenartiges Gefühl für das Molekül bewährte sich
wieder glänzend. Dort, wo der Abbau versagt,
springt Fischer mit der Synthese stets richtig ein.
Andere Gerbstoffe der Tanninklasse scheinen
wirkliche Glukoside zu sein, besonders solche, die
bei der Hydrolyse aromatische Phenolketone
liefern. Andere dagegen, welche Phenol-Carbon-
säuren als Bestandteil enthalten, scheinen nicht
Glukoside, sondern, ähnlich dem Tannin, ester-
artige Derivate von Zuckern zu sein. Dahin ge-
hören vor allem zwei kristallisierte Gerbstoffe, die
Chebulinsäure der Myrobalanen und das im
Bö hm 'sehen Laboratorium von Grüttner
kristallisierte Hamameli-Tannin. Letzteres gibt
bei der Hydrolyse mit Schwefelsäure ebenfalls
einen Zucker, der aber von der Glukose ganz
verschieden ist, und ein bisher unbekannter Körper
zu sein scheint.
Die Erkenntnis, daß esterartige Verbindungen
der Zucker- und Phenol-Carbonsäuren eine große
Klasse von tannin-ähnlichen Gerbstoffen bilden,
i^t für die Pflanzenphysiologie von großer Wichtig-
keit. Besonders interessant ist es, daß der Zucker
von der Pflanze zur Veresterung von Säuren be-
nutzt wird. Der Organismus duldet freie Säuren
im allgemeinen nur an bestimmten Stellen, wie
im Magen der Tiere oder in den unreifen Früchten
oder in Rinde und Schale, wo sie wahrscheinlich
als Abwehrstoffe wirken. Gewöhnlich ist er be-
strebt, die Säuregruppe durch Salzbildung, Amid-
bildung oder Esterbildung zu neutralisieren. Dazu
kommt nun jetzt die Veresterung durch Zucker.
Für praktische Zwecke sind die Entdeckungen
Emil Fischers, soweit es sich um Verwen-
dung in der Gerberei handelt, nicht zu verwerten,
da die synthetischen Gerbstoffe viel zu teuer
kommen. Anders steht aber die Sache, wenn
man bedenkt, daß die Gerbstoffe in kleiner Menge
einen Bestandteil wichtiger Genußmittel, des
Weins, des Tees, Kaffees und zahlreicher süßer
Früchte sind, auf deren Geschmack sie einen nicht
zu unterschätzenden Einfluß haben.
Bei diesen Untersuchungen erhielt Emil
Fischer das Hepta - (tribenzoyl- galloyl) - p-jod-
phenylmaltosazon , Cj.ioHj^aOggN^J.j in kristalli-
sierter Form, welches ein Molekulargewicht von
4021 hat. Der Körper steht mit dieser Zahl
sicherlich an der Spitze aller organischen Sub-
stanzen von bekannter Struktur und ist zudem
durch totale Synthese zugänglich.
Die moderne Physik ist bemüht, die Materie
in immer kleinere Stücke zu zersplittern. Über
die Atome ist man längst hinaus, und wie lange
die Elektronen für uns die kleinsten Massenteilchen
sein werden, läßt sich nicht absehen. Demgegen-
über scheint die organische Synthese berufen zu
sein, das Gegenteil zu leisten, d. h. immer größere
Massen in dem Molekül anzuhäufen.
R. Ditmar.
Geographie. Die präglaziale Alpenoberfläche
wird in verschiedenen glazial-morphologischen Ar-
beiten zu rekonstruieren versucht. H. H e ß (P. M.
191 3, H. 6) hat im Herbst 19 11 und im Sommer 191 2
Beobachtungen im Rhone- und Ogliogebiet aus-
geführt, um über die Trogformen der vergletschert
gewesenen Alpentäler Gewißheit zu erlangen.
Die .Aufgabe war, die aus der Siegfried-Karte ab-
geleiteten ,, alten Talböden im Rhönegebiet" (Z. f.
Gletscherkunde II, 321) in der Natur zu suchen.
In drei Wochen wurde das Rhonetal vom Genfer
See aufwärts bis zum Rhönegletscher und außer
56
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 4
dem Haupttal auch das Val de Bagnes, das
Eringertal, das Visptal, das Lötschental und das
Fiescher Tal besucht. Es handelte sich haupt-
sächlich darum, festzustellen, ob die Gefällsknicke
und Talbodenreste, die als für den Güiiztrogrand
bezeichnend konstruiert waren, wirklich vorhanden
seien und ob sich so zwischen den „präglazialen"
Talböden Brück n er 's und der oberen Gietscher-
grenze noch ein glazialer Talboden einschiebt.
Dieser Günztrogrand konnte tatsächlich
in allen besuchten Talstrecken verfolgt werden.
Besonders in der Nähe des Rhoneknies waren
Günz-, Mindel- und Rißtrogrand deutlich zu er-
kennen. Die Schliffgrenze, der oberste Eisrand,
liegt hier etwa bei 2050 — 2100 m, der Günz-
trog in etwa 1800 m, der Mindeltrog in etwa
1600 m, sein Talboden in 1480 m Höhe. Von
Sitten bis zum Eingang ins Visptal, das vom
Matterhornstock herabkommt, folgt der Günz-
trogrand etwas unterhalb der Baumgrenze. Am
Fiescher Tal sind die korrespondierenden Stücke
jener Trograndmarken weit hinein in den Fels-
Wänden zu verfolgen. Über dem Rißtrogrand
liegt der Rißtrog, scharf nach oben durch eine
sprungweise Änderung im Gefälle abgegrenzt, den
Mindeltrogrand, und noch höher an der Silhouette
des vom Setzenhorn südlich ziehenden Grates
scharf markiert, verläuft der Günztrogrand. Die
Terrassierung des Fiescher Tales ist auf der rechten
Seite hier gut bemerkbar. Im Haupttal hat also
die Besichtigung genau das ergeben, was aus dem
Studium der Karten entwickelt worden ist.
In den Seitentälern, die meist eng und steil-
wandig eingetieft sind, ist es nicht immer möglich,
von der Talsohle aus gute Überblicke über die
Terrassenbildung an den Hängen zu erhalten. Am
Val de Bagnes konnte indessen die Gliederung
in 4 Trogformen unterhalb der Schliffgrenze deut-
lich wahrgenommen werden, besonders in Ver-
bindung mit dem Trogschluß. Im E ring er
Tal bei Sitten ist neben dem Günzrand besonders
der Rißrand durch eine kleine Terrasse bezeichnet,
auf der Ortschaften 300 m über dem Talboden
liegen. Der Mindeltrogrand, der etwas über die
Baumgrenze emporsteigt, ist nur in wenigen Spuren
erhalten. Am Ausgang des Tales bietet eine
Moränenlandschaft besonderes Interesse. Auf der
rechten Talseite steigen stark zersägte Schutthänge
300 m über den Talboden an; das von der
Sonne braun gesengte Gras auf den Moränen
ließ diese deutlich von der Nachbarschaft unter-
scheiden, die feuchter und frischer war. Auch
gegenüber auf den Terrassen oberhalb Sitten liegen
Moränenreste, die in der Längsrichtung des Rhöne-
tales ziehen. Diese Seitenmoräne entspricht einem
Eisstand, der bis über den Genfer See hinaus
markiert war, und könnte der VVürmeiszeit ent-
sprechen. Gerade in der Umgebung des Gorner-
gletschers und des Nikolaitales sind zahlreiche Spuren
der vier ineinander liegenden Tröge vorhanden;
hier liegt die Schliffgrenze ungefähr in 3000 m Höhe.
Die Silhouette des Riffelhorns zeigt deutlich zwei
Gefällsknicke, einen wenig über der Eisoberfläche,
einen anderen in der Mitte des Berges: Mindel-
und Rißrand. Zwischen ihnen liegt der Rißtrog,
während sich oberhalb des Mindelrandes eine andere
Trogform ansetzt.
So führte der Besuch der Seitentäler zu dem-
selben Ergebnis wie der des Haupttales; es ergeben
sich demnach für Haupt- und Nebentäler vier
ineinander liegende Trog formen. In
weichem Gestein kann einer oder der andere Rand
eine Strecke lang ausfallen, während in hartem
Gestein die Erosionsmarken erhalten blieben. Nur
mit dieser Annahme läßt sich die Herausgestaltung
des bekannten Querschnittes des Reußtales be-
greifen, des fast idealen Durchflußprofiles für die
eiszeitlichen Alpengletscher, das Wurm-, Riß- und
Mindeltrog recht schön, den Günztrog nur schwach
vorführt. In 2000 m Höhe liegt hier nach
E. Brückner die Schliffgrenze.
Zu ganz gleichen Ergebnissen führten die
Untersuchungen am Iseosee, im Oglio- Tal und an
der Brentagruppe in Südtirol.
Aus den Profilen ergibt sich nun mit aller Be-
stimmtheit, daß mit demselben Rechte, mit dem
die Ausbildung des unteren Taltroges als Produkt
glazialer Erosion angesehen wird, auch die höheren
Tröge als glaziale Bildung angesehen werden
müssen. So kommt Heß zu dem Schluß, daß
die präglaziale Alpenoberfläche in der Höhe der
oberen Eisstromgrenze lag.
Roman Lucerna untersucht die Flächen-
gliederung der Montblancgruppe (G. Z. 191 3,
H. 6/7), um auf ihrer Grundlage eine genetische
und chronologische Klassifikation aller Hoch-
gebirgsformen einzuleiten. Er kommt dabei zu
bemerkenswerten, mit Heß zum Teil überein-
stimmenden Ergebnissen. Erst Richter hat durch
Einführung der genetischen Betrachtungsweise ^j
die Leitlinien der Forschung bestimmt; die Klassi-
fikation der Hochgipfel, die Auflösung zusammen-
gesetzter Formen in ihre Elemente, die Feststellung
der Umwandlungsreihe, die Chronologie der Formen
gehören zu den wichtigsten Fragen. Die Stellung
der Kare blieb ihm unbekannt, ihr verschiedenes
Alter, und daß die Karbildung in Schwankungen
der Schneegrenze folge. Auch Pe nck und Brück-
ner's fundamentales Werk gibt hier keine Ent-
scheidung; es gibt dagegen zahlreiche morpholo-
gische Erklärungen und auf ihrer Grundlage eine
Chronologie des Eiszeitalters und der Postglazial-
zeit.
Jeder Gletscherzeit entspricht ein System
erosiver Hohlformen. Die IVIethode der Bestim-
mung gleich alter Flächenelemente gibt uns eine
Analyse der Flächen des Hochgebirges in Elemente
gleicher Bildung und eine Synthese der erosiven
Hohlformen zu einem Ganzen, dem Gletscherbas-
sin. — Man hat der Gletscherzunge erosive Kraft
zugeschrieben und die Tröge als ihr Werk aner-
') Geomorphologische Probleme aus den Hochalpen. P.
M. Erg.-H. 132, 1900.
N. F. XIII. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
57
kannt. Penck und Brückner erkennen im
Troge nur das Bett der mittleren Partie des Eis-
stromes, dessen obere Grenze sie hoch über ihm
ansetzen. Richter setzt den Eisrand in die
Nähe des Trograndes, da dieser beim Überschreiten
zugerundet erscheinen müßte. Machen wir das
Gletscherbecken zum Zentrum der morpho-
logischen Formen, so müssen alle seine Erschei-
nungen von seiner Gestalt und Ausdehnung ab-
hängen. Jeder Gletscher gräbt seine Form in den
Fels. Schwindet er, so bleibt die Hohlform zurück
und ist rekonstruierbar. Die heutigen Gletscher
sind aber bemüht, die Kanten der früheren Becken
abzuschleifen. So bedarf es einer sorgfältigen Kar-
tierung der gleichzeitig gebildeten Elemente, um
das Ganze des Gletschers zu erkennen. Der
Geologe wird außerdem noch verlangen, daß die
erosive Form mit der entsprechenden akkumulativen
eindeutig verknüpft wird, die Schotterfelder müssen
mit dem Talgehänge parallelisiert werden. Man
hat in der Erörterung der Gletschererosion be-
sonders der Gletscherzunge Aufmerksamkeit zu-
gewendet und die Vorgänge im Firngebiet
vielfach vernachlässigt. F i n s t e r w a 1 d e r hat auf
die Firnerosion hingewiesen. Ist der Trog das
der Gletscherzunge entsprechende Korrelat, so tritt
uns im Firnbassin das Korrelat des F'irnbeckens
(als Inhalt) entgegen, das ihm entsprechen muß.
Ist die Trogkante die Grenze zwischen bewegtem
Eis und festem Fels, so die Karkante die Grenze
zwischen Firn und Felswand. Die Trog- und
Karkante also umzieht in einheitlicher Weise die
Hohlform des Gletschers. Die Forschung zur Be-
antwortung dieser Fragen muß in den Gebirgs-
zentren geschehen.
Jede Gletscherzunge hinterläßt ihr eigenes
Erosionsgebilde. Man wird kaum ein eisfreies
Kar finden, in dem diese Beziehung gänzlich
fehlen würde. Lucerna erörtert dies am Bei-
spiel des Gruschenstockes oberhalb Andermatt.
Nach drei Seiten erstreckt sich im Vorterrain
seines kleinen Gletschers eine höhere geschliffene
Felsbodenfläche, umwallt von einem Moränenzuge,
außerhalb eine weitere Randbuckelsohle von einer
scharf ausspringenden, stellenweise mit Ufermoräne
bedeckten Kante umgeben.
Die Erosionsform des Gletschers.
Man hat erkannt, daß der tiefere Teil des Gletscher-
tales mit seinem U-förmigen Querschnitt, ganz
gleich ob derselbe selbständig eingeschnitten wurde
oder aus einem fluviatilen Tale hervorgegangen
ist, ein Werk des Gletschers ist. Ebenso werden
die Kare als Ergebnis der Gletscherwirkung be-
trachtet, der obere Steilwandgürtel als morpho-
logisches Element wurde erst spät erkannt. Die
Karwand, mit der Richter die Felswände be-
zeichnete, die die flache Sohle des Kares umgeben,
ist das Korrelat der Trogwand in der Talregion.
Die erste Unterscheidung innerhalb der Karwand
wurde 1907 in den Liptauer Alpen gemacht, wo
ein unterer glatter Steilabsatz von einem höheren
weniger steilen Felsgehänge, das in Rippen auf-
gelöst ist, unterschieden wurde. Es ist wahr-
scheinlich, daß beide Steilwandgürtel in Verbin-
dung treten. Der Augenschein lehrte, daß die
Trogkanten im Trogschluß sich vereinigen.
Wo der Trogrand aus dem Eise hervortritt, muß
die Verbindung zwischen Trogwand und Karwand
zu finden sein. Sucht man Punkte im Hochge-
birge auf, wo die Erhaltungsbedingungen gut sind,
wie z. B. im Granit, so findet man, daß die er-
wähnte Trogkante sich nahe dem Trogschluß
teilt; der untere Zweig schwenkt in den Trog-
schluß ein, der obere schwingt sich über den Ge-
fällsbruch empor, den Rand des P^irnbeckens bil-
dend der Karwand zu. Diese Teilung der Trog-
kante konnte besonders gut in der Hohen Tatra
beobachtet werden, aber auch am rechten Ufer
des Glacier de la Brenva am Montblanc ist sie
entwickelt. Trogschluß und Kar wand sind
zwei gebogene Wandgürtel in verschiedener Höhe
mit verschiedenem Halbmesser, die seitlich mit-
einander verbunden sind. So konnte 19 10 am
Argentieregletscher beobachtet werden, daß die
rezente Gletscherzunge in einem eigenen kleinen
Troge liegt, der in einen älteren eingeschliffen ist.
Das Gletscherbecken besteht also aus einem
Becken der Gletscherzunge (Trog) und einem
Firnbecken (Kar); beide sind zu einem einheit-
lichen morphologischen Ganzen verbunden. Dieses
Gletscherbecken, das auch an den heutigen Glet-
schern selbständig besteht, ist eine zweiteilige
Wanne; die durch den Gefällsbruch des Trog-
schlusses bezeichnete Grenze beider Wannen ist
an der Oberfläche des Eises kenntlich.
Die so notwendig gewordenen neuen morpho-
logischen Begriffe sind die Glazialkante des
aus Karwand, Bindestück und Trogwand bestehen-
den Steilwandgürtels, und das Gletscher-
becken. Der Felsrand markiert die Grenze des
Gletscherraumes; die Größe und Form der
Gletscher ist bestimmend für die erosive Hohl-
form, Mächtigkeit von Firn und Eis für die Höhe
des oberen und unteren Steilwandgürtels. Die
Umrandung des Firnbeckens besteht aus der
,, Scheitelkette" und den beiden „Flankenketten".
Im Troggebiet leitet der „Abschwung der Trog-
kante" zu der mitunter aus F"els gebildeten ,, End-
schwelle". Außerdem ist der Längsachse des
Gletschers die Querachse des Firnbeckens gegen-
über zu stellen; die Feststellung der Querachsen
früherer Firnbecken ist wichtig.
Ineinandergeschachtelte Erosions-
formen verschieden großer Gletscher.
Faßt man die Gletscherbecken einer Gletscher-
zeit als morphologischen Horizont zusammen, so
erhebt sich die Präge, ob es der einzige ist, oder
ob mehrere vorhanden sind. Jeder Gletscher
muß eine umlaufende Glazialkante erzeugen. Heß
hat (s. o.) jüngere Tröge in einem älteren Taltrog
eingeschachtelt gefunden. So ist zu vermuten,
daß auch jüngere Firnbecken einem älteren ein-
geschachtelt'sind. Diese regelmäßige Form der
Ineinanderschaltung ist in der Montblancgruppe
58
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 4
ausgebildet. Wir finden hier die Bestandteile
älterer höherer Gletscherbecken, die später durch
fluviatile Kleinerosion in ihrem Zusammenhang
zerstört sind, in den Gehängen über und vor
den heutigen Gletschern, wir finden Endschwelie
und Abschwung, Trogrand. Karrund, auch die
ältere Glazialkante. Es fehlt nur das Mittelfeld,
in dem sich das rezente Gletscherbecken aus-
breitet. Die Grenze beider bilden die jüngere
Glazialkante und die jüngere Ufermoräne. Die
Flächen, die verschieden alte Glazialkanten um-
schließen, zeichnen sich, wie das schon Heß be-
merkt hat, durch verschiedenen Verwitterungsgrad
aus. Die höheren Formen sind zudem zerschnitten
durch Verwitterung, Abbruch, aber auch durch
jüngereGletscher. Die Sohle älterer Gletscher
wurde, als der Eisspiegel sank, zum Felsgehänge
jüngerer tieferer Gletscher. Es fragt sich nun,
welche F"ormen diese eisfreien Gehänge durch
selbständige jüngere kleinere Eisfelder annahmen.
Wenn der Gletscher als Komponente eines zu-
sammengesetzten Gletschers auftritt, so verläuft
der einmündende Quergletscher parallel dem
Hauptgletscher. Ist er dagegen selbständig, so
tritt er quer in den Haupttrog. Auch das vom
Eise verlassene Felsgehänge kann durch ein neu
entstehendes Kar wieder quer zerschnitten werden.
Die Kare betrachtet Lucerna als rasch sich
bildende und ebenso rasch vergehende Formen
des Hochgebirges. Wenn nun die Kare sich in
frühere Trogwandungen einsenken, so lösen sie
die Längsgliederung des Trogtales auf und setzen
eine Quergliederung ein. Die Erkenntnis dieser
jüngeren Quergliederung ist für die Rekonstruk-
tion des Hochgebirges sehr wesentlich ; die Kar-
bildung im älteren Troggehänge ist der Ausgangs-
punkt für die Quergliederung des Gebirges.
Diese überaus bedeutsamen Auseinander-
setzungen über die Erosionstätigkeit der Gletscher
werden nun am Beispiel der IVIontblancgruppe
erläutert. Wir können hier nicht auf diese
speziellen Ausführungen eingehen; nur die allge-
meinen Gesichtspunkte der Untersuchung waren
herauszustellen. —
In gewissem Gegensatz zu diesen Anschauungen
von Heß und Lucerna stehen diejenigen
H. Lautensach's ,,Uber den heutigen Stand
unserer Kenntnis vom präglazialen Aussehen der
Alpen" (Z. Ges. Erdkde. 1913, H. 8). Nach Penck
und Brückner befanden sich die Alpen vor Beginn
der Eiszeit in einem Stadium ausgesprochener
Reife. Bis in die innersten Winkel der Ostalpen
erstreckten sich iVIittelgebirgsformen mit gerundeten
Wasserscheiden. Im nördlichen Alpenvorlande
haben wir eine Landschaft von geringem Relief,
eine sich zur Donau senkende Peneplain. Im
Vorlande haben wir verarmte Schotter in der
Höhe der Sohle des älteren Deckenschotters. Die
Gipfel waren Rundlinge, die die besten Be-
dingungen für die Bildung von Karen boten. In
den Schweizer Alpen wiesen die Gipfel noch
Hochgebirgsformen auf Dagegen erhebt Nuß-
baum den Einwand, daß es eine Unstimmigkeit
wäre, wenn die Täler der Schweizer Alpen reif,
die Formen noch Hochgebirgsformen wären. Er
kommt zu dem Ergebnis, dal3 die Westschweizer
Alpentäler in ihren obersten Abschnitten noch
ziemlich jugendliche Erosionsformen besaßen.
Nach Penck boten IVIittelgebirgsformen mit
runden Wasserscheiden die günstigsten Bedingungen
zur Karentwicklung. Dagegen hat Distel ein-
geworfen, daß hier leicht eine vollständige Über-
firnung eintreten müßte, die die Karbildung aus-
schließt. Lautensach bestreitet diesen Einwand,
indem er darauf hinweist, daß es nur nötig wäre,
eine neue Bedingung hinzuzufügen. Die erste
Eiszeit darf nicht plötzlich jenes alte Mittel-
gebirge überwallen, sondern sie muß allmählich
mit einer Schneeflecken- und Kargletscherperiode
beginnen. Auch an fluviatile F"ormen haben sich
die Kare angeknüpft, an Wildbachtrichter der
Talwände, oder an fluviatile Sammeltrichter.
Solche Formen sind aber im Stadium der Reife
nicht mehr zu erwarten, sie sind nur in früherem
Reifestadiuni möglich. Lautensach weist darauf
hin, daß die Eiszeit in Ost- und Westalpen gleich-
zeitig sowie gleichschnell oder -langsam einge-
treten sein muß. Doch ist es möglich, daß die
Westalpen eine Hebung erfuhren, wie dies von
Staff) darzutun versucht hat.
Die beachtenswerteste Kritik an den Ergeb-
nissen der „Alpen im Eiszeitalter" hat de Mar-
tonne geübt. Er geht von der Theorie aus, daß
die glaziale Erosion ober- und unterhalb von
Gefallsbrüchen am größten sei, so könne sich in
reifen Tälern keine nennenswerte Gletschererosion
entfalten. Weiter zeigen ihm seine Talstudien
eine große Zahl von ineinander liegenden Ter-
rassenniveaus mit völlig unausgeglichenem Gefälle.
Die älteren haben einen ausgeglicheneren Lauf,
doch weisen auch sie zwei auffällige Knicke auf
Die Bildung der tieferen Talböden führt er (in
Übereinstimmung mit H. Heß) auf glaziale Erosion
zurück, dagegen weist er der interglazialen fiuviatilen
Erosion die ruckweise Tieferlegung der Talsohle zu.
So kommt er zu dem Schluß, daß ein junges
fluviatiles präglaziales Talsystem vorhanden ge-
wesen sei. Lautensach weist darauf hin, daß
seine Untersuchungen im Tessingebiet ^j drei alte
ausgeglichene Talböden zeigen, nur im Gebiet
eines mächtigen Riegels findet sich eine Stufe.
Vielleicht erklären sich durch solche Riegel die
Gefällsknicke de Martonne's. Zum Verständ-
nis der Übertiefungsformen sei die Annahme eines
unausgeglichenen präglazialen Talbodenverlaufes
unnötig.
Auch Distel-'j betrachtet die Trogschulter
in den Tälern der Hohen Tauern als Rest des
19121.
Naturw. Wochenschr. 1912, S. 822.
Geographische Abhandlungen N. F. Band i (Leipzig
') Die Trogtäler in den Hohen Tauern (Landesk. Forsch.
München, H. 13).
N. F. XIII. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
59
präglazialen Talbodens. Er sucht durch Terrassen-
studien nachzuweisen, daß zahlreiche Gefällsbrüche
schon in ihm vorhanden sind. Um das Quer-
profil des Troges zu erklären, legt er dem Trog
eine durch rückschrcitende Wassererosion ge-
schaffene präglaziale Talrinne zugrunde, die vom
Gletscher ausgetieft und verbreitert wurde. So
ergibt sich bei Distel für die Trogschlüsse eine
doppelte Erklärung, einmal als glaziale Weiter-
bildungen der präglazialen Verbiegungen der
Trogschultern, ein andermal als Enden der flu-
viatilen Rinnen. Lautensach, der die Unregel-
mäßigkeiten im Gefälle der Trogschultern noch
nicht für erwiesen hält, scheint der zweite Er-
klärungsversuch plausibel zu sein. Aber er glaubt,
diese fluviatilen Rinnen in eine erste Interglazial-
zeit verlegen zu sollen und betrachtet als Ursache
des Einschneidens die auf glazialem Wege einge-
leitete Stufenbildung. Auch die Heß'schcn Dar-
legungen (s. o.) erscheinen ihm nicht einwandfrei.
So erscheint als wichtigstes Resultat, beim
Überblick über die Versuche, den Terrassenniveaus
der Alpentäler eine andere Deutung zu geben
als die von Penck und Brückner, daß in vielen
Talabschnitten mehr als die zwei von ihnen ver-
folgten alten Talböden vorliegen. Das Bild vom
präglazialen Aussehen der Alpen ist so nur wenig
verschieden von dem, welches Penck vor nahezu
lo Jahren entwarf; die Zentralmassive der Ost-
alpen waren vielleicht noch nicht in dem Maße
gereift als Penck betont.
Überblicken wir diese noch so verschiedenen
Bilder, die die Forschungen in den Alpentälern
ergeben haben, so müssen wir bekennen: die An-
sichten stehen sich noch schroff gegenüber! Den
mehr theoretischen Ausführungen Lautensach's
stehen die unzweifelhaften Beobachtungen von
Heß und Lucerna entgegen. Nur eingehende
Detailuntersuchungen, nicht großzügige Darstel-
lungen der gesamten Alpen, werden uns in den
Stand setzen können, ein genaues Bild vom prä-
glazialen Aussehen der Alpen und von der Tätig-
keit der Gletschererosion zu gewinnen, die auch
nach anderen Untersuchungen weit bedeutender
ist, als vielfach angenommen wird.
Dr. Gottfried Hornig.
Zoologie. Katalepsie der Phasmiden. Die
Phasmiden oder Gespenstheuschrecken sind all-
gemein bekannt durch ihre bizarre Gestalt und
ihre auffallende Ähnlichkeit mit verdorrten Zweigen
und trocknen Blättern. Weniger weiß man über
ihre Lebensgewohnheiten. Peter Schmidt
(Biologisches Centralblatt Bd. 33 191 3 Nr. 4) teilt
einige höchst merkwürdige Eigentümlichkeiten
über das Verhalten der indischen Stabheuschrecke
Carausius (Dixippus) morosus Br. v. W. mit.
Die Tiere sind sehr wenig beweglich und
klammern sich gewöhnlich mit den vier Hinter-
beinen an die Unterlage an und strecken Fühler
und Vorderbeine geradeaus. Man darf 'diesen
Ruhezustand weder als Schlaf- oder Schreckstellung
erklären, sondern muß ihn als Katalepsie be-
zeichnen ; denn man kann dabei die Tiere in die
schwierigsten Lagen bringen, sie umwerfen und
in den unnatürlichsten Stellungen wieder auf-
richten, sie bleiben unbeweglich, bis sie auf irgend-
einen Reiz hin erwachen und energische Flucht-
bewegungen ausführen.
Die hier beobachtete Katalepsie gleicht voll-
kommen der des Menschen. Die Muskeln sind
gespannt, es tritt keine Ermüdung ein, und der
Körper zeigt nur geringe Empfindlichkeit. Letztere
steigert sich bei den Phasmiden so stark, daß
man Fühler, Vorderfüßc, ja selbst den Hinterleib
abschneiden kann, ohne daß die Tiere sicii da-
gegen wehren ; sie scheinen den Schmerz gar
nicht zu fühlen. Erst nach Aufhebung des kata-
leptischen Zustandes eilen sie fort. Legt man
den Körper als Brücke über den Zwischenraum
zweier Ünterstützungspunkte, wie man es auch
bei der menschlichen Hypnose macht, so hält die
Stabheuschrecke lange aus und trägt sogar kleine
Lasten.
Aus seinen Experimenten zieht der Verf. den
Schluß, daß die Katalepsie eine besondere Art
der Nervenerregung darstellt, die vom Kopfganglion
ausgeht. Da sie auf innere Ursachen zurückzu-
führen ist, nennt man sie besser Autokatalepsie.
In biologischer Beziehung gewährt sie insofern
großen Vorteil, als durch die Beteiligung von
Muskel- und Nervensystem ein erhöhter Grad von
Mimikry erzielt wird.
Das Geschlechtsleben von Dytiscus margina-
lis L. Dem 191 2 erschienenen ersten Teil über
die Begattung des Gelbrandes läßt hier Hans
Blunck (Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie
Bd. 104, 191 3) den zweiten Teil folgen, in dem
interessante Einzelheiten über die Eiablage mit-
geteilt werden. Die Zeit der Eiablage fällt in
die Monate März, April und Mai. Nach Mitte
Juli sind alle Eier abgelegt und die Ovarien be-
fijiden sich im Ruhezustand. Während bei den
männlichen Tieren Maxima und Minima in der
Periodizität der Gonaden bei jungen und alten
Tieren nicht zusammenfallen, stellt der Verf fest,
daß halbjährige und anderthalbjährige Individuen
zu gleicher Zeit ihre Eier ablegen. Über die
Zahl der Eier existieren keine genauen Angaben.
Sie dürfte zwischen 500 und 1500 schwanken.
1000 Eier wiegen etwa soviel wie der Käfer selbst
und besitzen ein viermal größeres Volumen. Reiht
man sie aneinander, so ergeben sie eine sieben
Meter lange Schnur. Die Zweifel über den Ort
der Eiablage beseitigt Blunck durch seine Be-
obachtungen, daß der Gelbrand die Eier in das
Innere von grünen Trieben einer Reihe von
Wasserpflanzen versenkt. Der Käfer bevorzugt
Teile mit schwacher Cuticula und chlorophyll-
haltigem Gewebe. Der Chlorophyllgehalt ist für
die Entwicklung des Embryos von großer Be-
deutung, denn der von der Pflanze gelieferte Sauer-
stoff ist für das wachsende Tier unentbehrlich.
Stellwaag.
6o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 4
Kleinere Mitteilungen.
Das Dynamit im Dienste der Landwirtschaft. — Sträucher und
In den Vereinigten Staaten wird schon lange das
Dynamit für bodenkulturelle Zwecke benutzt. Im
Jahre 191 1 wurden 13 IVIillionen 125 Tausend
Pfund und 1912 17 Millionen 389 Tausend Pfund
Dynamit verbraucht, also im Jahre 191 2 iiber
4 Millionen Pfund mehr als im vorhergehenden
Jahre. Diese Zahlen beweisen, wie schnell die
Amerikaner eine Sache aufnehmen, die ihnen
greifbare Vorteile bietet. Hand in Hand mit
diesem großen Verbrauch von Dynamit in der
Landwirtschaft hat sich in den letzten Jahren
drüben auch ein neuer und einträglicher Beruf
herausgebildet, nämlich der des „Blaster" oder auf
deutsch Sprengmeister. Diese führen entweder
für Rechnung der P'armer usw. die Sprengarbeiten
aus, indem sie sich einen täglichen Lohn für ihre
Arbeit zahlen lassen, oder sie treten als Unter-
nehmer für eigne Rechnung auf. Diese Spreng-
meister entfernen Baumstubben und große Steine
mit Hilfe des Dynamits und machen wasserun-
durchläßliche Bodenschichten frei. Dann stellen
sie lange Gräben her und legen für neue Obst-
plantagen Baumpflanzgruben und zwar nach Tau-
senden.
In Deutschland beschäftigt sich die Dresdner
Dynamitfabrik mit dem Sprengkulturverfahien.
Sic gibt eine eigene Dynamitpräparation „Rom-
perit C" für diese Zwecke heraus. Bisher wurden
die Baumgruben mit dem Spaten ausgegraben.
Ein Mann braucht zum Graben einer Baumgrube
etwa I Stunde. Ein so gegrabenes Baumloch
bleibt aber bis unten hin und nach den Seiten
hart und behindert die Wurzeln um sich zu greifen.
Durch „Romperit C" wird der Boden sowohl
tief nach unten hin wie meterweise rundherum
bestens aufgelockert, und die Wurzeln bis zu den
feinen End- und Faserwurzeln können sich leicht
nach allen Richtungen hin im Erdreich ausbreiten.
Harte Schichten, welche später das Wachstum der
Wurzeln kaum noch möglich machen und Spitzen-
dürre erzeugen, werden zertrümmert. Ferner wird
hierdurch ein Feuchtigkeitsreservoir für den heißen
Sommerbedarf geschaffen.
In dieser Feuchtigkeit wird nun die Pflanzen-
nahrung, die wichtigen Nährsalze einschließend,
aufgelöst, und die Wurzeln können beides, I*"euchtig-
keit und Nährstoft'e, reichlich aufnehmen, nachdem
es ihnen möglich gemacht wurde, tief in den ge-
lockerten Grund einzudringen. Während des
Wachstums eines Baumes geht beständig ein
Wasserstrom durch denselben und verdunstet durch
die Blätter. So brauchen auch Himbeeren, Johannis-
beeren, Stachelbeeren, Melonen, Gurken, Tomaten,
Spargel , Erdbeeren usw. bedeutende Mengen
Feuchtigkeit als Früchte, welche zum großen
Teile aus Wasser zusammengesetzt sind. Besonders
aber ist es der Obstbaum, welcher eine beständige
Feuchtigkeitszufuhr verlangt. Die oben erwähnten
Feuchtigkeitsreservoire sind somit für Bäume,
Pflanzen von größter Wichtig-
keit.
Als besonders geeignete Zeit, Baumgruben mit
Romperit C herzustellen und das Tiefrigolen vor-
zunehmen, gilt der Herbst, weil dann die Feuchtig-
keit der Herbstregen, des VVinterschnees und der
Frühjahrsregen in den gelockerten, gelüfteten und
filtrierfähig gemachten Boden eindringen kann.
Die Herstellung der Baumgruben durch Rom-
perit C ist höchst einfach und leicht zu erlernen.
Nachdem der betrefifende Teil der Obstplantage
dort durch Pfähle markiert ist, wo die Bäume ge-
pflanzt werden sollen, nimmt ein Mann rund um
den Pfahl herum kreisförmig etwa fünf Spaten-
stiche der Obererde fort. Diese Obererde wird
beiseite getan, um später in das fertige Pflanzloch
gelegt zu werden, ehe der Baum mit sorgfältig
beschnittenen Wurzeln eingesetzt wird. Ein zweiter
Mann folgt dem ersten mit einer Brechstange und
macht mit derselben entsprechend der Patronen-
stärke dort ein Loch, wo der Markierungspfahl
steht. Trifft man dabei auf einen Stein oder der-
gleichen, so wird derselbe herausgegraben. Stößt
man auf eine harte Kruste, so wird dieselbe mit
der Brechstange durchstoßen. Die mit Spreng-
kapsel und Zündschnur versehene Romperit C-
Patrone wird in dieses Loch eingelassen, letzteres
mit Erde dicht gefüllt, die Zündschnur angesteckt
und die Explosion erfolgt. Durch Benutzung einer
kleinen Zündmaschine kann eine Anzahl Baum-
gruben elektrisch auf einmal gesprengt werden.
Nur wenig Erde wird dabei in die Höhe geworfen,
die Kraft der Explosion geht nach unten, seitwärts
und nach außen. Die Löcher können über Nacht
und einen Teil des nächsten Tages so stehen
bleiben, werden dann nochmals mit der Brech-
stange sondiert, und, wenn in Ordnung befunden,
werden die Seiten eingebrochen, die anfangs bei-
seite gelegte Obererde wird eingefüllt, und das
fertige Pflanzloch sichert dem so gepflanzten
Baum einen in jeder Beziehung guten Anfang.
Die Kosten des Sprengkulturverfahrens be-
tragen :
a) P""ür Baumgruben gibt folgende Tabelle einen
ungefähren Anhalt:
Mit Gramm bei Bohrloch- D">-'^';">«ser Aushubtiefe
Rompent C •■•"^" = ''" '^'""^- ''" ß^*"""
125
150
2?0
5°
75
75
grübe in cm ca.
120
1 10
grübe in cm ca.
75
95
120
z. B. kosten der Sprengstoff und die Zündrequi-
siten für eine Baumgrube:
Durchmesser ca. 120 cm — Tiefe ca. 75 cm
ca. 30 Pfennige.
b) Für Tieflockerung oder Tiefrigolen ist zu
rechnen
pro Hektar etwa Mk. 240. — bis 360. —
(auf Jahre vorhaltend) je nach den gegebenen
Verhältnissen.
Ein neuer Zweig des Romperit Sprengkultur-
N. F. XIII. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6i
Verfahrens besteht in der Bekämpfung tierischer
Kulturschädlinge und Tiefdüngung gleichzeitig mit
Tieflockerung. Durch die Gewalt der Explosion
werden in weitem Umkreise um die gesprengte
Baumgrube herum im Erdreich alle Larven und
Puppen von Obstschädlingen, besonders die Enger-
linge, von denen man oft Hunderte antrifft, ebenso
Wühlmäuse usw. getötet, womit wiederum eine
große Gefahr für Obstkulturen schnell und sicher
beseitigt wird. Berechnet man doch laut Freiherrn
von Schilling den jährlichen Schaden in Frank-
reich, verursacht durch Maikäfer, auf 250 Millionen,
in Flugjahren auf eine Milliarde Franken.
Das Prinzip der künstlichen Düngung besteht
darin, daß durch die zur Explosion gebrachte
Sprengstoffladung in dem hierdurch aufgelockerten
Boden gleichzeitig Flüssigkeiten als solche oder
auch vergasbare Flüssigkeiten zur Verteilung ge-
bracht werden. Die Art der Flüssigkeit richtet
sich nach dem jeweiligen Verwendungszweck.
Man kann beispielsweise derart verfahren, daß man
in einem aus geeigneten, undurchlässigen Material
hergestellten Behälter von beliebigen Formen und
Abmessungen durch eine zu verschraubende oder
in passender Weise zu verschließende Öffnung die
zur Verteilung zu bringende Flüssigkeit einfüllt.
Der Behälter besitzt ferner eine Aussparung von
beliebiger Größe, in die der Sprengstoff lose oder
in Patronenform eingefüllt wird. Darauf wird der
Sprengstoff mit den zur Zündung nötigen Vor-
kehrungen versehen.
Das Ganze wird alsdann in das Bohrloch bis
zu einer beliebigen Tiefe eingelassen und der
Sprengstoff nach der Verdammung zur Explosion
gebracht. Durch die Explosion des Sprengstoffes
wird der Flüssigkeitsbehälter zur Entladung ge-
bracht und die Flüssigkeit in den gesprengten
bzw. gelockerten Erdboden geschleudert bzw. ver-
teilt. Bei vergasenden Flüssigkeiten kann auch ein
damit versehener Behälter in das Bohrloch direkt
eingelassen und darauf der Sprengstoff eingefüllt
werden. Als vernichtende Flüssigkeit verwendet
man zur Bekämpfung der Reblaus Schwefelkohlen-
stoff.
Will man hingegen künstlich düngen, dann
verwendet man als Flüssigkeit Jauche, die unter
gleichzeitiger Lockerung des Bodens in weitem
Umkreise den tieferen Bodenschichten zugeführt
wird. R. Ditmar.
Zur Geschichte der Zündhölzer. — - Jn alten
Zeiten, als man noch nicht im Besitze der uns
so unentbehrlichen Zündhölzer war, mußte natür-
lich das Streben der damaligen Völker darauf
hinausgehen, das einmal vorhandene Feuer zu
erhalten — sei es durch Reiben trockenen Holzes
oder durch einen Blitzstrahl entstanden oder gar
den Göttern von ihrer Feuerstelle gestohlen. —
So erscheint es uns ganz selbstverständlich, daß
die älteren Völker den Hausherd als heilige
Stätte verehrten, bewahrten sie doch hier ihr
notwendigstes Hilfsmittel, das Feuer, vor dem
Verglimmen.
Erst im späten Mittelalter kam man auf den
Gedanken, durch Aufeinanderschiagen von Stahl
und Feuerstein dem letzteren F'unken zu entlocken,
die man dann zum Entzünden von Zunder oder
trocknem Schwamm benutzen konnte. Dieses
sog. „Pinkfeuerzeug" hat sich bis in unsere Tage
erhalten, und mancher Alte, der dem „feuerge-
fährlichen modernen Zeug" und der neuen Zünd-
holzsteuer mit Mißtrauen gegenüber steht, hat sich
heute noch nicht von ihm getrennt.
Die ersten eigentlichen Zündhölzer wurden
1812 von Chane el in Wien auf den Markt ge-
bracht; es waren die sog. Tunkhölzchen. Schon
Ende des 18. Jahrhunderts hatte Berthollet die
Entdeckung gemacht, daß ein Tropfen Schwefel-
säure auf ein Gemisch von chlorsaurem Kali mit
brennbaren Substanzen, wie Schwefel oder Zucker,
gebracht, dieses entzündet. Versieht man also in
Schwefel getunkte Hölzchen mit Köpfen aus
einem Gemisch von i Teil Schwefel (oder Zucker)
und 3 Teilen chlorsaurem Kali, so entzünden sich
diese beim Ein„tunken" in ein Fläschchen mit kon-
zentrierter Schwefelsäure. Dieses Verfahren war
jedoch insofern nachteilig, als leicht Schwefelsäure
verspritzt werden konnte, was den Kleidern usw.
nicht gerade zum Vorteil gereichte. Etwas besser
wurden die Tunkhölzchen dadurch, daß man mit
Schwefelsäure getränkten Asbest in einem ver-
schließbaren Büchschen anwendete. Da die Her-
stellungsweise des chlorsauren Kalis sich bedeu-
tend verbilligte, und man außerdem eine schnelle
und billige Darstellungsart der Hölzchen fand, so
sank der Preis der Tunkhölzchen bedeutend, und
zwar für lOOO Hölzchen von 10 Gulden auf 4 — 5
Kreuzer, was ungefähr dem heutigen Preis der
Zündhölzer entspricht. Eine tragbare F'orm der
Tunkhölzchen waren die von Jones um 1830 in
London unter dem Namen „Prometheans" in den
Handel gebrachten Feuerzeuge. 2'/.2 Zoll lange
Papierröllchen enthielten am dicken Ende eine
Mischung aus chlorsaurem Kali, Schwefel, Benzoe
usw., in deren Mitte ein dünnes, zugeschmolzenes
Glasröhrchen mit einem Tropfen konzentrierter
Schwefelsäure sich befand. Durch Zertrümmern
des Röhrchens wurde das „Streichholz" entflammt.
Aber auch diese Verbesserung konnte die
Tunkhölzer zum Hantieren im Haushalte nicht ge-
eignet machen. Da brachte 1832 wieder Jones
die Vorläufer unserer Schweden auf den Markt,
Hölzchen mit einem Kopf aus einem Gemisch
von 3 Teilen chlorsaurem Kali und i Teil Schwefel-
antimon, die sich schon entzündeten, wenn man
sie durch ein Stück zusammengefaltetes hartes
Papier zog, das später noch mit pulverisiertem
Glas überzogen wurde.
Etwa zur selben Zeit gelangten in Deutsch-
land die Phosphorzündhölzer zur Herrschaft. Die
ersten dieser Art, die hergestellt wurden, waren
ziemlich umständlich. Die Hölzchen selbst hatten
nur einen Kopf von Schwefel, während sich die
Zündmasse (ein Gemisch von Phosphor, Wachs
und Korkmehl) in einem verschließbaren Büchschen
62
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 4
befand. Noch umständlicher waren z. B. die Tu-
riner Lichtchen.') In eine an einer Glasröhre an-
geschlossene Kugel war ein Stück Phosphor ein-
geführt worden, dann wurde ein dünner Wachs-
stock in das Röhrchen geschoben, dessen Docht-
ende mit Nelkenöl getränkt, mit Schwefel- oder
Kampferpulver bestreut war und nun den Phos-
phor berührte. Durch gelindes Erwärmen schmolz
man den Phosphor an das Dochtende an, ver-
schloß das Glasrohr durch Zuschmelzen und brachte
einen Teilstrich unterhalb der Kugel an. Brach man
an dieser Stelle das Rohr ab und zog man den
Wachsstock heraus, so entzündete dieser sich von
selbst an der Luft.
Einer der ersten, die Streichzündhölzer im
großen darstellten, war Stephan v. Romer,
der der Kuppenmasse der Reibzündhölzer Phos-
phor zusetzte und sie dadurch leicht entzündbar
machte. Um eine Selbstentzündung zu vermeiden,
überzog er die Kuppe mit einem Spirituskolo-
phoniumlack. Während die ersten Phosphor-
zündhölzer noch sehr feuergefährlich waren und
sich schon durch Sonnenbestrahlung entzündeten,
wurden bereits 1835 Zündhölzer hergestellt, die,
ohne sich zu entzünden, die Siedetemperatur des
Wassers aushielten. Statt des chlorsauren Kalis
wendete man jetzt auch Salpeter, Mennige, Braun-
stein, Blcisuperoxyd und ähnliche Stoffe an.
Da jedoch das Arbeiten mit Phosphor gesund-
heitsschädlich ist, wurde bald die Fabrikation der
Phosphorzündhölzer in vielen Staaten verboten,
und so war auch beinahe dieser schöne Traum
vorüber. Da entdeckte jedoch 1845 Schrötter
den ungiftigen roten Phosphor, der dann wesent-
lich zur Entwicklung der Zündholzindustrie bei-
getragen hat. Hochstätter in Langen bei
Frankfurt a. M. erzielte zuerst mit rotem Phosphor
gute Ergebnisse. Ein anderer deutscher Chemiker
Böttger fand dann Form und Zusammensetzung
der heutigen ,, Schweden". Seine Zündhölzer be-
saßen Kappen aus chlorsaurem Kali und Schwefel-
antimon (vgl. Jones 1832!), die auf einer Reib-
fläche aus Braunstein und rotem Phosphor ent-
zündet wurden. Ein Prophet gilt jedoch bekannt-
lich nichts in seinem Vaterlande, man schenkte
der Erfindung wenig Beachtung, und seine in
Schüttenhofen in Böhmen gegründete Fabrik ging
ein. Da fand Böttger in Schweden ein neues
Arbeitsfeld; in Jönköping wurde eine Zündholz-
fabrik errichtet, die dann den ganzen Welt-
handel in die Hände bekam, 800 Arbeiter
beschäftigte und täglich i Million Schachteln
der weltbekannten ,, Schweden" erzeugte, natürlich
heute unter Benutzung fein durchdachter Maschinen.
Hand in Hand mit der Entwicklung der Zünd-
holzindustrie kamen nach und nach verschiedene
Apparate auf zum Ersatz der Schwedenhölzer;
ich erinnere an die Döbereiner'sche Zündmaschine
(Platinschwamm), die in jedem Physikbuch be-
schrieben ist, an das elektropneumatische Feuer-
zeug, an die Molet'sche Pumpe, die das Prinzip
des Dieselmotors darstellt, u. a. m. Auch der
Stahl der Urväterzeiten hat in dem Ceresinfeuer-
zeug ein neues Gewand bekommen, in dem er
noch lange als vermeintlicher Bekämpfer der
Zündholzsteuer dahinleben wird, bis auch er end-
lich von dem Siegeslauf der Technik überholt
und unmöglich gemacht wird.
Otto Bürger-Kirn.
Wetter-Monatsübersicht.
Innerhalb des vergangenen Dezember wechselte
die Witterung in Deutschland mehrmals ihren
Charakter, jedoch herrschte 'mildes, trübes und
außerordentlich nasses Wetter, besonders im
Norden, bei weitem vor. Zu Beginn und gegen
Mitte des Monats wurden noch an vielen Orten
10° C erreicht, an einzelnen sogar überschritten;
zu Dresden stieg das Thermometer am 3. bis
i
Icin^srafur-il^inima ciiiiacp 0rle im De^ctittsrlSlä.
t-Peiemhcr 6 4t. IbT El.
:i' Frfli-i(rurr'/M°'
8.
-2'
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BerlinerWefferburetM.
') Zeitschrift für angewandte Chemie 1913, .S. 73.
auf 14, zu Stuttgart am 4. bis 12 " C, und selbst
die in der beistehenden Zeichnung wiedergegebenen
tiefsten Temperaturen lagen in diesen Tagen im
größeren Teile des Landes über 5 " C. Dazwischen
herrschte öfter Frost, der jedoch im Norden immer
sehr gelinde blieb und nur ganz kurze Zeit an-
hielt. Etwas strengere und beständigere Kälte
bildete sich in der zweiten Hälfte des Monats in
Mittel- und Süddeutschland aus, wo es am 21.
Erfurt, Meiningen, Bayreuth, Ansbach und München
auf —9, am 23. München auf —10 und Birken-
feld an der Nahe auf — 11" C brachten. Nach
nochmaliger Erwärmung um die Weihnachtszeit
setzte erst ganz zum Schlüsse des Jahres überall
in Deutschland neues Frostwetter ein.
Die mittleren Temperaturen des Monats lagen
in den meisten Gegenden 3 bis 4 Grad über
ihren normalen Werten. Wie schon im ver-
gangenen November, wehten fast beständig sehr
N. F. XIII. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
63
lebhafte, nicht selten stürmische, feuchte südwest-
liche Winde, so daß der Himmel wiederum an
der Mehrzahl der Tage nahezu ununterbrochen
mit Nebelgewülk bedeckt blieb. Beispielsweise
konnten daher in Berlin nicht mehr als 7 Stunden
mit Sonnenschein verzeichnet werden, nur der
fünfte Teil der Sonnenscheinstunden, die der
Monat Dezember im Durchschnitt bei uns auf-
weist.
Die ungewöhnlich häufigen und namentlich in
Norddeutschland oft sehr ergiebigen Niederschläge
fielen, der Höhe der Temperaturen entsprechend,
größtenteils in flüssigem Zustande, jedoch wechselten
besonders zwischen dem 2. und 5., am 14. und
am 27. Dezember, die Regengüsse vielfach mit
Schnee , Graupel- oder Hagelschauern ab, die
an der Küste von heftigen Stürmen begleitet
waren. Auch kamen am 14. in Berlin und der
ganzen Provinz Brandenburg sowie in Mecklen-
burg, am 27. in verschiedenen Gegenden Nord-
westdeutschlands, desgleichen in Breslau kurze,
aber ziemlich schwere Gewitter vor.
'^kßzvß'c^a.^^i^zn im Be JsmScr 1913.
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Deutschland.
MonatssummeimDei,
i.IZ.JUO.09
BeAner Wtfferbureiu.
Während der ersten Hälfte des Dezember
fanden allein zwischen dem 5. und 8. länger an-
haltende, weitverbreitete Schneefälle statt, die in
Nordost- und Mitteldeutschland eine leichte Schnee-
decke zurückließen. Nach den einzigen vier Tagen
des Monats, in denen das Binnenland größtenteils
von Niederschlägen verschont blieb, traten kurz
vor dem Weihnachtsfeste wiederum zahlreiche,
mäßig starke Schneefälle ein, die bald durch neue
Regenfälle abgelöst wurden. In den vier letzten
Tagen des Jahres aber gingen im größten Teile
des Landes ungeheure Schneemengen hernieder,
die vom 28. bis 29. z. B. in Aachen eine Nieder-
schlagshöhe von 64 mm ergaben und außer-
ordentlich große Verkehrsstörungen herbeiführten.
Bald darauf traten an der Ostseeküste schwere
Nordoststürme und an vielen Stellen Hoch-
wasser ein und richteten an Gebäuden, den
Wintersaaten, Kartoffeln wie auch sonst gewaltigen
Schaden an. Bei Jahresschluß lag der Schnee in
Berlin und vielen anderen Orten des mittleren
Norddeutschlands über 30 cm hoch. Im ganzen
Monat ergab sich für den Durchschnitt aller be-
richtenden Stationen eine Niederschlagssumme von
79,7 mm, die seit Jahrzehnten in keinem Dezember-
monate mehr gemessen worden ist.
Ziemlich einfach waren im allgemeinen die
Luftdruckverhältnisse in Europa gestaltet. Während
Südwesteuropa gewöhnlich von einem Hochdruck-
gebiet eingenommen wurde, zogen im größten
Teile des Monats tiefe und oft sehr umfangreiche
barometrische Minima rasch hintereinander vom
atlantischen Ozean über die skandinavische Halb-
insel nach Nordrußland hin. Mehrmals jedoch,
besonders um Mitte des Monats, als das Maximum
sich etwas weiter nach Nordwesten verschoben
hatte, drangen Teildepressionen in das west-
europäische Festland ein, wo sie weitverbreitete
Stürme und Unwetter veranlaßten.
Seit dem 18. Dezember nahm das barometrische
Maximum auf den britischen Inseln an Höhe be-
deutend zu und breitete sein Gebiet bald darauf
weit nach Osten aus. Nach wenigen Tagen wurde
es aber durch neue Depressionen, die gleichzeitig
von Nordwesten und Südwesten her gegen Mittel-
europa vorrückten, in zwei Hälften geteilt und
am 27. Dezember beinahe ganz Nordwest- und
Mitteleuropa von einem außerordentlich tiefen
Minimum eingenommen, das sich unter heftigen
Schneestürmen sehr langsam ins Innere Rußlands
entfernte. Dr. E. Lcß.
Bücherbesprechungen.
Agnes Arber (Mrs E. A. Newell Arber) D. Sc,
V. L. S. Fellow of Newnham College Cambridge
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sind, geht aber um den Anschluß nicht zu ver-
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64
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(H. Areschong), Leipzig (J. A. Barth), London, New York
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Anregungen und Antworten.
Herrn Walter K., Leipzig. — Handelt es sich nur darum,
eine Temperatur auf konstanter Höhe zu erhalten , ohne die-
selbe beliebig zu variieren, so können sie sich selbst einen
Thermostaten leicht herstellen, das bekannte Siedegefüß. Der
Apparat besteht aus zwei ineinandergesetzten am besten zylin-
drischen Gefäßen, die je nach der verwendeten Temperatur
und Flüssigkeit aus Weißblech, Kupfer, Glas oder Porzellan
hergestellt werden. Der Zwischenraum zwischen beiden Ge-
fäßen, der nach oben abgeschlossen ist und nur durch ein
seillich oben angebrachtes Kühlrohr mit der Atmosphäre in
Verbindung steht, enthält die Siedeflüssigkeit, die im Sieden
erhalten wird und deren im Überschuß gebildeten Dämpfe
durch den Kühler entweichen können oder sich dort konden-
sieren und in flüssigem Zustande wieder in den Kessel zurück-
gelangen. In den inneren Raum, der die zu erwärmenden
Gegenstände aufnimmt, wird Wasser, Glyzerin, Paraffinöl oder
sonst eine geeignete Flüssigkeit gebracht, deren Siedepunkt
oberhalb dem der äußeren Siedeflüssigkeit liegt. Lassen wir
die innere Flüssigkeit fort, so daß wir im inneren Gefäß ein
Luftbad haben, so ist die untere Seite des Deckels mit einer
Filzlage zu bedecken, durch den Deckel evtl. hindurchgeführte
Thermometer usw. sorgfältig mit Watte an der Durchführungs-
stelle zu umhüllen, wie überhaupt auf peinlichste Dichtung
zu sorgen ist, um störende Wärmeverluste zu vermeiden. Der
ganze Apparat wird zweckmäßig schließlich von außen mit
Asbest umkleidet. Die Temperaturen hängen von den Siede-
punkten der benutzten Siedeflüssigkeiten ab.
Der .Apparat läßt sich häutig vereinfachen, indem man das
innere Gefäß fortläßt und die zu erwärmenden Gegenstände
unmittelbar der Wirkung des Dampfes der Siedeflüssigkeit
aussetzt, wobei wir schließlich die hineingebrachten Apparate
noch mit einem besonderen Dampfmantel der Siedeflüssigkeit
umgeben können.
Um die Temperatur beliebig regulieren zu können, braucht
man sich nur eines einzigen Gefäßes zu bedienen, welches die
Apparate aufnimmt und mit einer Badflüssigkeit gefüllt ist,
deren Temperatur auf beliebiger Höhe konstant gehalten werden
kann durch Regulierung deslleizgasverbrauchs, welche auf dem
Prinzip beruht, daß durch eine Temperaturänderung ein Vorgang
ausgelöst wird , durch welchen ein erhöhter Wärmezu- bzw.
-abfluß bewirkt wird. Am einfachsten wirkt folgender Appa-
rat, der sich leicht zusammensetzen läßt. In die Badflüssig-
keit hinein reicht eine sich unten erweiternde, mit Queck-
silber gefüllte Röhre, in welche oben hinein ein sich nach
unten etwas verengendes Rohr gesteckt wird , welches durch
einen Schlauch mit der Leuchtgasleitung verbunden ist. An
der das Quecksilber enthaltenden Röhre ist oben seitlich ein
Ansatzrohr angebracht, und zwar oberhalb der Oflnung des
Gaszuleitungsrohres, welches durch einen Schlauch mit dem
zum Heizen benutzten Bunsenbrenner verbunden ist. Steht
das Quecksilberniveau unterhalb der Öffnung der Zuleitungs-
röhre, so kann das Leuchtgas den .\pparat ungehindert pas-
sieren; erleidet aber durch eine Temperatuterhöhung der Bad-
fiüssigkeit das Quecksilber eine solche Ausdehnung, daß es
die Öft'nung des Zuleitungsrohres erreicht, so ist die Gaszufuhr
unterbrochen, wobei eine kleine Öffnung im Zuleitungsrohr
dafür sorgt, daß eine geringe Menge Gas trotzdem den Appa-
rat passiert, um die Flamme nicht gänzlich verlöschen zu
lassen. Die Zufuhr bleibt so lange gehindert, bis die alte
Temperatur wieder hergestellt ist. Das Zuleitungsrohr muß
so eingestellt sein, daß sich bei der konstant zu erhaltenden
Temperatur seine Öffnung sich etwas über dem Quecksilber-
niveau befindet, so daß gerade noch Gaszuführung stattfinden
kann. Zur Vermeidung von Temperaturschwankungen ist das
ganze Badgefäß mit Filz oder Asbest zu umkleiden.
Die besten Resultate geben wohl Apparate, die auf einem
ganz anderen Prinzip beruhen, die elektrischen Öfen, die Sie
sich ebenfalls leicht herstellen können und sog. Widerslands-
öfen darstellen. Der Ofen besteht aus einem von außen mit
.'\sbest bekleideten Melallkasten. Im Innern findet sich die
Heizspirale, dünner Konstanlandraht , der auf ein Tonrohr,
z. B. eines galvanischen Elementes, gewickelt ist; für höhere
Temperaturen empfiehlt sich Nickeldraht. Der Draht soll
fest angedrückt sem, auch ist er gegen Zusammengleiten durch
naß aufgepreßtes Chamotlepulver zu schützen. Um eine be-
stimmte konstante Temperatur herzustellen, ist ein im Strom-
kreis befindlicher Regulierwiderstand so einzustellen, bis die
Temperatur konstant bleibt, wo also der Wärmeverlust nach
außen gerade durch die aufgewendete elektrische Energie ge-
deckt wird, was man durch Probieren, d. h. Verschieben des
Widerstandes erreicht. Um Schwankungen des aus der Zen-
trale kommenden Stromes möglichst aufzuheben, kann man
in Haupt- oder Nebenschluß Eisenwiderstände von Nernstlampen
einschalten.
Kurze Angaben über Thermostaten finden Sie in F. Kohl-
rausch, Lehrbuch der praktischen Physik, sehr ausführliche
.■\ngaben in Ostwald-Luther , Physiko-Chemische Messungen,
wo sich auch Literalurhinweise für elektrische Öfen finden.
H. Sbn.
Man schreibt uns : Auf S. 688 links Ihrer geschätzten
Wochenschrift ist der Wunsch ausgesprochen, daß die hygieni-
sche Bedeutung des Permutitverfahrens untersucht werden möge.
Ich erlaube mir, mitzuteilen, daß bei mir eine Doktorarbeit
von Herrn J. Ginsburg im vorigen Jahre gemacht wurde, die
sich mit dieser Frage befaßt. Leider besitze ich kein Exem-
plar mehr, das ich abgeben kann.
Prof. Dr. Kißkalt,
Königl. hygien. Institut der Albertus-Universität,
Königsberg i. Pr.
Inhalt: Alois Czepa: Schutzfärbung und Mimikry — Einzelberichte: Emil Fischer: Depside, Flechtenstoffe und
Gerbstoffe. H. Heß: Die präglaziale Alpenoberfläche. Roman Lucerna: Die Flächengliederung der Montblanc-
gruppe. H. Lautensach: Über den heutigen Stand unserer Kenntnis vom präglazialen Aussehen der Alpen. Peter
Schmidt: Katalepsie der Phasmiden. Hans Blunck: Das Geschlechtsleben von Dytiscus marginalis L. — Kleinere
Mitteilungen: R. Ditmar: Das Dynamit im Dienste der Landwirtschaft. O. Bürger: Zur Geschichte der Zündhölzer.
Wetter-Monatsübersicht. — Bücherbesprechungen: .■\gnes Arber: Herbais. Their Origin and Evolution. — Lite-
ratur: Liste. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstrafle IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13 Hand ;
der ganzen Reihe 29, Hand.
Sonntag, den i. Februar 1914.
Nummer 5.
Schutzfärbung und Mimikry,
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. Alois
Fehlen der Schutzfärbung.
Wenn wir uns unter den Tieren umsehen, so
finden wir, daß bei weitem nicht alle eine Schutz-
färbung besitzen und daß es gerade nicht immer
die Formen sind, die eine derartige sympathische
Färbung nicht notwendig haben. Und umgekehrt
finden wir wieder Tiere, die infolge ihrer Stärke
oder ihrer Lebensweise eines Schutzes durch
Farbenanpassung vollständig entbehren könnten,
die man auch nie als Beispiel hierfür angegeben
hat, die aber doch so gefärbt sind, daß sie sich
von ihrer Umgebung nur wenig unterscheiden
und die man gewiß als schutzgefärbt bezeichnet
hätte, wenn sie eben eines Schutzes bedürften. —
Beginnen wir gleich mit den Hochzeitskleidern,
jenen auffallenden Veränderungen in Form und
Farbe zur Zeit der Paarung, die so viele Tiere,
von den Insekten angefangen bis herauf zu den
Vögeln, zeigen und die bei vielen Formen auf die
Männchen beschränkt sind, bei einigen aber auch
an den Weibchen, wenn auch in beschränkterem
iVIaße beobachtet werden können. Ich setze der-
artige Erscheinungen mit Recht als bekannt vor-
aus und möchte nur erwähnen, daß bei den
Fischen, Amphibien und Reptilien das Hochzeits-
kleid nach der Paarung wieder verschwindet, bei
den Vögeln meistens und da vor allem bei den
Hühnervögeln das Männchen diesen Zustand fort-
während bewahrt und sich so deutlich von dem
unscheinbaren Weibchen unterscheidet. —
Es fällt also bei diesen Tieren die Schutz-
färbung von vornherein vveg, obwohl es doch
eher merkwürdig ist, daß gerade zur Zeit der
Fort[jflanzung, also zu der für die Erhaltung der
Art wichtigsten Periode des Lebens jeder Schutz,
den eine eventuelle sympathische Färbung ge-
währte, von dem Tiere abgezogen und es allen
Feinden preisgegeben wird.
Die Selektionstheoretiker erklären das Zu-
standekommen und die Notwendigkeit der bunten
Farben und auffallenden Veränderungen des
Körpers auf folgende Weise: „Die Männchen
kämpfen gewissermaßen um den Besitz der
Weibchen, indem jede kleine Variation eines
Männchens, welche dasselbe befähigt, sich leichter
als ein anderes in den Besitz eines Weibchens zu
setzen, eben dadurch auch eine größere Aussicht
hat, auf Nachkommen übertragen zu werden.
Auf diese Weise müssen anziehende Variationen,
die einmal auftauchen, sich auf immer zahlreichere
Männchen der Art übertragen, und da unter diesen
auch wieder diejenigen die meiste Aussicht haben,
Czepa, Wien. (Fortsetzung.)
ein Weibchen für sich zu gewinnen, die die an-
ziehende Eigenschaft in höhcrem Grade besitzen,
so muß also so lange eine Steigerung der Eigen-
schaften anhalten, als sich noch Variationen nach
dieser Richtung hin darbieten.'' ^)
Dies ist aber nur dann möglich, wenn wirk-
lich nur die besten Männchen ein Weibchen
finden, das heißt also, wenn viel mehr Männchen
vorhanden sind als Weibchen. Und tatsächlich
überwiegen bei derartigen Formen die Männchen
kolossal; bei manchen F^altern kommen 100
Männchen auf i Weibchen. Auch bei den Vögeln
und Säugern finden wir ein derartiges, wenn auch
nicht so hohes Verhältnis.
Hiermit sind zwei sehr auffallende Erschei-
nungen mit einem Schlage erklärt, für einen, dem
eine derartige Erklärung genügt. Ich für meinen
Teil kann einer derartigen Ansicht nicht nur nicht
zustimmen, ich muß gegen sie entschieden Stellung
nehmen, weil sie von ganz falschen Voraussetzungen
ausgehend sehr wichtige Tatsachen nicht berück-
sichtigt.
So ist vor allem , wenn auch nicht direkt zu
beobachten, so doch als de facto bestehend die
Wahl der Weibchen angenommen, daß also das
Weibchen nur dem Männchen folgt, das ihm am
besten gefällt oder wie man sich ausdrückt, das
es am stärksten erregt. Wir wissen, daß in der
Natur nicht das Prinzip des Gefallens und Nicht-
gefallens, sondern das Prinzip des Starken und
Schwachen herrscht, daß die Mäimchen um den
Besitz der Weibchen die erbittertsten Kämpfe auf-
führen, daß ihnen hierzu eigene und oft recht
böse Waffen zur Verfügung stehen — ich erinnere
hier nur an den großen Sporn der Hähne und
deren Rauflust, die bekanntlich zu den Hahnen-
kämpfen ausgenutzt wurde — und daß das
Weibchen dann nicht dem folgt, der die schöneren
Farben, die größeren Hautkämme usw. hat, son-
dern daß es sich einfach dem ergeben muß, der
im Zweikampf Sieger blieb. Immer ist es der
Stärkere, der sich das Weibchen erobert und nie
der Schönere. Jeder Hühnerhof kann uns dies
bestätigen.
Ich verweise hier nur auf die Hirsche. Nicht
das Männchen mit dem schönsten und vielzackigsten
Geweih ist der Herr des Rudels, sondern das
stärkste, das alle anderen Bewerber aus dem Felde
schlägt. In den meisten Fällen sind allerdings
die Sieger mit den stattlichsten Geweihen aus-
') Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie. Jena
1904. II. Aufl. p. 173.
66
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 5
gerüstet, weil eben normal ein sehr kräftiges Tier
ein sehr starkes Geweih besitzt, aber oft genug
kann man starke Hirsche als Herren des Rudels
sehen, deren Geweih nichts weniger als groß und
schön ist. 'j
Die Weibchen sind in der Natur nie die hold-
lächelnd Gewährenden, sondern stets die vor der
Stärke zitternd Gezwungenen. Und wenn wir in
manchen Fällen, speziell bei Haustieren oder ge-
fangengehaltenen wilden Tieren die Beobachtung
machen können, daß ein Weibchen nicht jedes
Männchen annimmt, so ist das kein Gegenbeweis
und sicher keine Gruiidstütze einer Lehre. Bei
derartigen Weibchen mögen viele Umstände mit-
wirken, vielleicht die Gefangenschaft selbst, die
fehlende und doch nötige Erregung usw.
Doch nehmen wir an, es fände wirklich ein
Wählen der Weibchen statt, und es wäre dadurch
der Wettstreit unter den Männchen, durch schönere
Farben, auffallendere Hautanhänge, besseres Singen
mehr erregend als andere auf die Weibchen ein-
zuwirken, gegeben, so kommen wir auch damit
nicht weiter. Es bleibt hierfür immer, wie die
Selektionstheoretiker ganz richtig betonen, eine
notwendige P'orderung, daß die Männchen im
Verhältnis zu den Weibchen in der Überzahl vor-
kommen müssen. ,,Wäre die Zahl von Männchen
und Weibchen einer Art stets gleich und käme
immer auf ein Weibchen nur ein Männchen, so
könnte zwar wohl eine Wahl von Seite der
Weibchen oder auch der Männchen geübt werden,
allein es würden doch immer noch so viele In-
dividuen beider Geschlechter übrig bleiben, daß
kein Mann unbeweibt zu sein brauchte." ') Und
in der Tat sind in der Mehrzahl der Fälle mehr
Männchen als Weibchen vorhanden, daher unter
diesen der Wettstreit. ,, Besonders unter den
Vögeln steht der Dimorphismus der Geschlechter
in auffallender Beziehung zu dem Überwiegen der
Individuenzahl der Männchen oder auch — was
praktisch auf dasselbe hinauskommt — , mit Poly-
gamie. Denn wenn ein Männchen vier oder zehn
Weibchen an sich fesselt, so kommt dies einer
Dividierung der Weibchenzahl durch vier oder
zehn gleich. So sind z. B. die in Polygamie
') Haake schreibt über unsere Gemse: ,,Die eigentliche
Brunst beginnt stellenweise schon um den 20. OKtober. Mit
ihrem Anfang bemächtigt sich der Böcke fieberhafte Unruhe.
Dumpf blökend laufen sie %'on Rudel zu Kudel, um die
keineswegs abgeneigten, vorläufig aber noch zimperlichen und
koketten Geißen zu kirren. Der stärkste Bock vertreibt end-
lich die übrigen und macht die Geißen durch Schlagen mit
den Vorderfüßen gefügig. Zum Brunstplan wählen die Gemsen
am liebsten eine ruhige Alpentrift in der Krummholzregion.
Hier legt der Bock seine Galanterie größtenteils ab. Er miß-
handelt die Geißen rücksichtslos, was diese sich auch ruhig
gefallen lassen, solange er nur seine Schuldigkeit tut. Und
hierin trift't ihn kein Vorwurf. Ein wilder brünstiger Gems-
bock ist die verkörperte Geilheit und beständig nässend im
Beschläge unersättlich. Dabei sucht er sich zuerst die jungen
Geißen aus, während die älteren zusehen, sich auch wohl in
eine Krummholzdeckung wegstehlen , wo geringere Böcke
unwählerisch die Gelegenheit benutzen."
Tierleben der Erde 1. Seite 587.
^) Weismann, Vorträge usw. p. 173.
lebenden Hühner und Fasanen mit prachtvollen
Farben im männlichen Geschlechte geschmückt,
die in Monogamie lebenden P'eldhühtier und
Wachteln aber zeigen in beiden Geschlechtern
die gleiche Färbung." ^) Hier liegt nun der große
Widerspruch. Bei den Auerhähnen kommen auf
ein Männchen sechs bis zehn Weibchen, die Tiere
leben in Polygamie und es ist nach dem oben
Gesagten die sexuelle Selektion gegeben. Bei
den in Monogamie lebenden Rebhühnern müßte
nun der P'all eintreten, daß eine besondere Wahl
der Weibchen fehlt und deshalb die sexuelle
Selektion unterblieben ist. Wie läßt sich das bei
der großen Überzahl der Männchen gerade dieser
Vögel erklären? Jeder Jäger weiß, daß es be-
deutend mehr Hähne als Hennen gibt und in
einer der letzten Nummern einer Jagdzeitschrift
berichtet ein Jäger, daß in einer fünfjährigen Be-
obachtungsperiode unter den von ihm erlegten
Rebhühnern 87 — 90% Hähne konstatiert werden
konnten. Eine stattliche l^berzahl von unbeweibten
Männchen, die zum großen Teil von der I-'ort-
pflanzung ausgeschlossen sind, weil die Ehen auf
Lebenszeit geschlossen werden. Wie läßt es sich
da erklären, daß die Männchen wie die Weibchen
gefärbt sind? Es finden auch hier Kämpfe statt,
bis eine Elie geschlossen ist. Spielt hier die
Wahl der Weibchen keine Rolle? Meiner Ansicht
nach ist hier die Wahl der Weibchen von einer
viel größeren Bedeutung als bei den Auerhühnern,
die in Polygamie leben und bei denen es einem
Hahn leichter möglich ist, sich einige Weibchen
zu erringen, weil die Zahl der Weibchen der
anderen nicht fixiert ist. Haake sagt in seinem
Tierleben der Erde: „Ledige Männchen streifen
oft noch später umher und werden durch ihre
den Weibchen anderer Männchen bewiesene Auf-
dringlichkeit oft so lästig, daß die Weibchen nicht
zum Nisten kommen und gezwungen sind, ihre
Eier fremden Rebhühnernestern anzuvertrauen."
Wie wir sehen, ist es also mit der berühmten
Wahl der Weibchen auch nicht so glänzend be-
stellt. Das Männclien kämpft um das Weibchen
und vertreibt den Nebenbuhler, ob der nun schöner
ist oder nicht. -)
Auch ist bei der Frage der auffallenden Mäim-
chen gar nicht der Schutzfärbung gedacht. Ist
es nicht eher ungeschickt eingerichtet, daß die
Männchen so gar nicht geschützt sind und in be-
deutend größerer Anzahl vorhanden sein müssen
wegen einer Marotte der Weibchen, die für das
') Weismann, Vorträge usw. p. 175'
-) Jeder Aquarienliebhaber weiß, wieviel er von dem
Wählen der Weibchen zu halten hat und wie die Männchen
die Weibchen behandeln. Sind mehrere Männchen da, so
muß man sie sehr schnell trennen, will man keine Verluste
erleiden, ja es ist sogar manchmal notwendig, die Gatten noch
vor der Hochzeit zu trennen, weil der Gemahl die arme Ehe-
hälfte derart mit Stößen und Bissen traktiert, daß ihr oft die
Fetzen vom Leibe hängen. Und dabei strahlt er in den
schönsten Farben und je wilder er wird, desto leuchtender
werden diese; am schönsten sind sie im Moment des Samen-
ergusses, also der höchsten Erregung.
N. F. XIII. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
67
Fortbestehen der Art ganz gleichgültig ist? Ist
es anzunehmen, daß der nach der Ansicht der-
selben Herren so eminent wichtige Faktor der
Farbenanpassung vollständig zurücktritt, ja in das
Gegenteil umsclilägt für ein Nichts? Erzeugt die
Natur einen solchen Aufwand, bloß damit die
Weibchen wählen können, obgleich wir immer
wieder sehen, daß ihr vor allem nur die Erhaltung
der Art am Herzen liegt? Können wir glauben,
daß bei den Molchen ein Hochzeitskleid auftritt,
weil die Weibchen unter den Männchen eine
Auswahl treffen? Müssen wir nicht gerade durch
den Umstand, daß bei diesen niederen Tieren auch
die Weibchen ein Hochzeitskleid besitzen, zu der
Überzeugung gedrängt werden, daß für das Auf-
treten der bunteren Farben andere Ursachen vor-
handen sein müssen? Oder sollen wir annehmen,
daß sich bei diesen Tieren auch die Weibchen
gegenseitig zu überbieten trachten?
Schon Alfred Wallace hat die Auszeich-
nungen der Männchen als den Ausfluß größerer
Lebensenergie und lebhafteren Stoffwechsels be-
trachtet und auch wir werden lieber diese Erklä-
rung annehmen, um so mehr, da wir schon wissen,
daß die Farben stark durch den Stoffwechsel
usw. beeinflußt werden können. Besonders niedere
Tiere zeigen die Fähigkeit der Farbenveränderung
im hohen Maße und lassen deutlich erkennen,
daß dieser Vorgang durch die verschiedensten
Ursachen, teils innere, teils äußere beeinflußt wer-
den kann. Ich meine hiermit alle die Tiere, die
ihre Farben binnen kurzem ändern können , wie
Chamäleon, die Fische, der Laubfrosch, die Tinten-
fische usw. Allerdings ist bei diesen Tieren die
Färbung durch eigene Farbzellen, die sog. „Chro-
matophoren" bedingt, durch deren wechselnde
Kontraktionszustände das verschieden gefärbte
Aussehen der Haut erzeugt wird. Diese Zellen
stehen mit Nervenendigungen in Verbindung und
werden durch auf die Nerven einwirkende Reize
entsprechend beeinflußt. Wer jemals Gelegenheit
gehabt hat, eine Sepia oder Eledone im Aquarium
zu beobachten, dem wird das schöne Farbenspiel,
das besonders durch Reizen des Tieres mit einem
Stock oder Klopfen an der Wand usw. bedeutend
verstärkt wird, sicher in guter Erinnerung sein.
Hunger, Kälte, Hitze, große Trockenheit, große
Feuchtigkeit, Zorn, Schreck usw. sind alles Fak-
toren, die eine Änderung der Körperfarbe dieser
Tiere hervorrufen , falls das Tier nicht krank ist
und dann eo ipso eine charakteristische Farbe
besitzt.
Allerdings liegen die Verhältnisse bei den
Vögeln und Säugetieren anders, weil hier das
Pigment in Haut, Federn und Haaren abgelagert
ist; es fällt hier auch das Phänomen eines P"arb-
wechsels weg. Dafür finden wir aber auch, daß
die Hochzeuskleider entweder zeitlebens von den
Männchen getragen werden oder wenn nicht,
dann sehr wenig vom normalen Kleide verschieden
sind. Wenn beim männlichen Hänfling zur
Paarungszeit die weißen Stellen der Brust- und
Scheitelgegend rot werden, so dürfte dies auf die
gleiche Ursache zurückzuführen sein, die die männ-
lichen P'ische, wie Bitterling, Stichling usw. in
den herrlichsten Farben erstrahlen läßt, die auf
dem Kiemendeckel und dem Maule der Karpfen-
arten die weißen Pusteln erzeugt, der zufolge
den männlichen Molchen der große Rückenkamm
wächst, nämlich auf dem durch große Erregung
gesteigerten Stoft'wechsel. ') Was aber den stän-
digen Dimorphismus der Geschlechter hervorruft,
das wissen wir allerdings noch nicht. Vielleicht
ist es auch hier der gleiche Grund, daß das
Männchen infolge größerer Lebhaftigkeit, gestei-
gerterem Stoffwechsel lebhafter gefärbt ist, da es
ja in der Mehrzahl der I*"älle mehrere Weibchen
befriedigen muß, oder vielleicht weil ihm die
helleren Farben weniger schaden als dem Weib-
chen, dem eine unauffälligere Farbe wegen der
Brütezeit notwendig ist. Auf jeden Fall finde ich
es vernünftiger, keine Erklärung zu geben und die
Frage offen zu lassen, als sich durch unzureichende
und auf falschen Voraussetzungen beruhende Mei-
nungen den Weg zu versperren. —
Wir haben uns nur noch die Frage vorzulegen,
wie die große Überzahl der Männchen zu erklären
ist, die ja nach allen Berichten tatsächlich besteht.
Ich möchte zu di'm bereits Angegebenen nur noch
einige Daten über Enten anführen. Eine Tages-
strecke von 32 Enten enthielt 25 Erpel, eine Jahres-
strecke von etwa 200 Stück 160 Erpel und die
Herbststrecken vom Hafifstrande durchschnittlich
80 "/o- Wenn wir dagegen von einwandfreier Seite
hören, daß die jungen Schofe durchschnittlich
mehr weibliche als männliche Enten enthalten,
so ist es doch völlig unverständlich, wo die weib-
lichen Enten hinkommen, außer wir nehmen an,
daß die Männchen mehr ziehen und deshalb dem
Jäger mehr zur Beute fallen. Wir sehen ja etwas
Ähnliches bei den Buchfinken unserer Heimat,
von denen im Herbst in erster Linie die Weibchen
nach Süden ziehen und nur die alten Männchen
bei uns überwintern. —
Und das tatsächliche Vorherrschen der Männ-
chen werden wir mit gutem Gewissen durch die
größeren Gefahren erklären können, denen sie
infolge ihrer größeren Lebhaftigkeit, helleren
Farben usw. ausgesetzt sind. — —
Verlassen wir jetzt das Gebiet der Hochzeits-
kleider und sehen wir uns einige der besonders
angegebenen Fälle der. Schutzfärbung an. Seh m eil'-)
sagt von unserem Reh, daß es sich im Sommer
^) Auch hierfür geben uns die exotischen Aquarienfische
einen wichtigen Beleg. Jeder Züchter weiß, dafi man die
Tiere treiben l^ann. Durch gute p'ütterung und vor allem
kräftige Heizung werden die Fische zur Paarung veranlaßt,
der sie sich bei Ausbleiben dieser Mittel überhaupt nicht
unterziehen. Ist dies auch kein direkter Beweis unserer Be-
hauptung, so kann man doch erkennen, wie sehr noch niedere
Wirbeltiere durch die von außen einwirkenden Reize beein-
flußt werden können. Selbst junge Exemplare schreiten so
getrieben zur Fortpflanzung, die auf normalem Wege erst im
nächsten Jahre laichreif geworden wären.
-) Schmeil, Lehrbuch der Zoologie.
68
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 5
tagsüber in dem dichtbelaubten Unterholze des
Waldes verbirgt, daher trotz seiner auffallend
roten bis gelbroten Farbe keinen Schaden nimmt,
im Winter aber ein unscheinbares, dunkelgraues
Kleid anlegt, so daß sich das ruhig stehende oder
liegende Tier vom Boden und Gezweig selbst auf
kurze Entfernung hin nicht abhebt. — Und von
der Gemse können wir wieder lesen, daß ihr
schwarzes Winterkleid von großer Bedeutung ist,
weil es durch Absorption der Sonnenstrahlen mehr
wärmt. Müssen wir uns da nicht wieder fragen,
warum die Gemse keine schützende Farbe hat?
Oder ist das schwarze Kleid gerade so schützend
wie das hellgraue? Oder hat vielleicht die Gemse
weniger sehende Feinde? Ist es überhau]3t be-
reclitigt, bei Reh und Gemse von Schutzfärbung
zu reden?
Jacobi') gibt an, daß „der bis in die Polnähe
vorkommende Moschusochse überall dunkel und
das Renntier eben nur ganz hoch oben weiß ist;
da nämlich beide Arten durch ihr herdenweises
Zusammenhalten bei ziemlicher Wehrhaftigkeit
geringerer Verfolgung ausgesetzt sind, so ist ein
geringeres Bedürfnis auf Schutzfarbe da." Warum
wird dann das Renntier überhaupt weiß? Braucht
es oben doch den Schutz oder ist das Weißwerden
eine physiologische Erscheinung, weil eine weiße
Körperoberfläche die Wärmeabgabe verlangsamt?
Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Männ-
chen unserer Zauneidechse schön grün, die Weib-
chen aber grau gefärbt sind. Wie läßt sich der
Farbenunterschied erklären ? Ist das Männchen
angepißt oder das Weibchen oder aber beide?
Doflein") gibt an, daß unter den auf Martinique
vorkommenden und auf einem Platze lebenden
Anolis grüne und braune Formen gemischt vor-
handen waren und daß bei Herannahen einer
Gefahr die grünen Tiere in das Gras, die braunen
aber unter Baumrinden flüchteten. Eine derartige
Teilung der grünen und braunen Formen ist bei
unserer Eidechse nicht zu bemerken.
Ein ähnliches Verhältnis besteht bei einigen
einheimischen Heuschrecken (z. B. Decticus), die
in grünen und in braunen P'ormen nebeneinander
auf demselben Terrain vorkommen. Auch hier
müssen wir uns mit Recht fragen, wer von beiden
angepaßt ist. Vosseier'') stellte bei den Heu-
schrecken der nordnfrikanischen Wüsten fest, daß
die individuellen Abänderungen mancher Arten
in strenger Abhängigkeit vom Lokalton des von
ihnen bewohnten und eigensinnig festgehaltenen
Fleckes standen. Er konnte konstatieren , daß
Formen einer Eremobia-Art auf steinigeni Gebiet
eine derbere Zeichnung und Färbung besitzen,
auf reinem Sand dagegen auf das vollkommenste
mit dessen Tönen und zarter Struktur überein-
') Jacobi, Mimikry und verwandte Erscheinungen.
Braunschweig I913.
^) Doflein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit.
Biolog. Centralblatt. XXVIII. 1908.
^) Beiträge zur Faunistik und Biologie der Orthopteren
Algeriens und Tunesiens 11. Zool. Jahrb. Bd. 17.
Stimmten; andere wieder, wie Helioscirtus capsi-
tans, waren in der Färbung ganz dem individuell
bewohnten Wü-»tenfleck, bald dem reinen Sand,
bald dem rostbraunen, grauschiefrigen , ja selbst
kupferigen Gestein angepaßt. Er versuchte auch
eine Erklärung zu geben, indem er den Einfluß
der reflektierten Farbenstrahlen auf die Farbstoffe
der Haut kurz nach dem Abwerfen der vorletzten
Körperbedeckung, also in dem kurzen Zeitraum
vom Abstreifen der letzten Larvenhaut bis zum
Erhärten der neuen Chitindecke hierfür verant-
wortlich machen will. Seine Erklärung ist aber
nur ein Versuch geblieben, da sie sich, wie er
selbst sagt, vorläufig wegen unüberwindlicher
Schwierigkeiten, die in Lebensweise und der Er-
nährung der Wüstenheuschrecken bedingt sind,
durch das Experiment nicht beweisen läßt.
Jedenfalls zeigen unsere Heuschrecken eine so
weitgehende Anpassung nicht und Przibram')
konnte trotz vieler Experiinente nach verschiede-
nen Richtungen hin nur nachweisen, daß die
Larven von Mantis und Sphodromantis in brauner
Farbe aus dem Ei kriechen und im Laufe der
Zeit ihre Farbe in grün ändern können (was wahr-
scheinlich bei anderen Heuschrecken ebenfalls
zutreffen dürfte), konnte aber nicht ermitteln,
welche Ursachen diese Umwandlung bewirken. —
Es gibt also unter den als gut angepaßt gelten-
den Tieren eine große Anzahl, die bei genauer
Betrachtung als nicht oder wenigstens nur schlecht
angepaßt gelten müssen, dafür kennen wir aber
wieder Tiere, die an ihre Umgebung sehr gut
angepaßt sind, deren P'ärbung aber nie bei der
Schutzfärbung erwähnt werden, da sie eines der-
artigen Schutzes nicht bedürfen.
Ich will hier als Beispiel vor allem den Adler
erwähnen. In seiner dunkelgrauen, bis steingrauen
F"arbe ist er dem Felsengestein sehr gut angepaßt,
und er wäre in seinem Horst gewiß sehr schwer
zu erkennen, erkennte man nicht den Horst sehr
gut, das heißt, wenn er überhaupt zu sehen mög-
lich ist. Niemandem aber dürfte es einfallen, bei
dem Adler von einer Schutzfärbung zu sprechen,
da das Wesentliche, das Schutzbedürfnis hier fehlt
und auch das Verborgenbleiben seiner Beute
gegenüber bei ihm nicht in Frage kommt. Er
ist eben graubraun gefärbt und seine Farbe ist
eben ohne jedweden Nutzen oder Schaden für
ihn; und was wir bei dem Adler finden, zeigen
viele Raubvögel und zeigen eine Menge anderer
Tiere.
Speziell die graue und die braune Farbe ist
sehr weit im Tierreich verbreitet und gerade sie
wird so oft als sympathische Farbe bei allen erd-
boden-, felsen- und rindenbewohnenden Formen ge-
funden. Wahrscheinlich hat dies seinen Grund
darin, daß das braune Pigment das gewöhnlichste
Pigment ist und die braune Farbe die primitivste
') Przibram, Aufzucht, Karbwechstl und Regeneration
unserer Gottesanbeterin (Mantis religiosa L.). Archiv f. Ent-
wicklungsmechanik XXII. 1906.
N. F. XIII. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
69
und verbreitctste Färbung und Zeichnung der
Tiere bedingt. Durch sein starkes oder schwächeres
X'orhandensein sind eine Unmenge von h'arben-
intensitälen und Qualitäten hervorgerufen, wie
schwarz, grau, braun, weiß, also die Färbungen
der Mehrzahl der Tiere und die anderen Farben,
die entweder allein oder in Verbindung mit der
genannten auftreten können, sind späterer Erwerb
und bei weitem nicht so verbreitet.
Nutzen der Schutzfärbung.
Die Frage, ob Schutzfärbung wirklich einen
Nutzen gewährt, ist gewiß nicht unnötig und wie
wir gleicli sehen werden, nicht so ohne weiteres
zu bejahen.
Von den Wüstenheuschrecken und ihrer aus-
gezeichneten Anpassung haben wir schon ge-
sprochen. Auch Werner') gibt an, daß im
Sudan alle Heuschrecken der Savanne und des
Papyrussumpfes Farbenanpassung im hohen Crrade
zeigen, daß aber alle insektenfressenden Vögel und
Eidechsen nahezu ausschließlich von eben diesen
Heuschrecken leben. Er entnahm den Mägen
sudanesischer Vögel Dutzende von verschiedenen,
durchwegs trefflich angepaßten Heusclirecken.
Was nützt den Tieren also ihre so gründliche
Schutzfärbung, wenn sie \^on ihren Feinden doch
gefressen werden ? Besteht da der Schutz der
Art nicht eher in der ungeheueren Individuen-
menge als in der Färbung?
Derselbe Forscher gibt über die schutzgefärbten
Antilopen an: „Ich selbst konnte manche Anti-
lopenarten (Cobus, Ourebia, Gazeila), obwohl kein
Jäger, kurzsichtig und allerdings erst dann, wenn
ich darauf aufmerksam gemacht wurde, in der
ostafrikanischen Steppe, bzw. Wüste deutlich
unterscheiden und längere Zeit beobachten."
Wenn also der Mensch diese Tiere auf größere
Entfernungen sehen kann, so wird sie ihr normaler,
sehender Feind noch um so eher entdecken.
Es kann ja Schutzfärbung überhaupt nur gegen
sehende F"einde in Betracht kommen ; denn gegen
Tiere, die mit ihrem Geruchssinn die Beute jagen,
ist natürlich jede noch so gute Farbenanpassung
bedeutungslos. Aber auch gegen die sehenden
Feinde ist sie kein absoluter Schutz, da diese
sonst dem Hungertode überantwortet wären, was
in der freien Natur wohl kaum vorkommen dürfte.
Es hat eben jedes Tier seine bestimmten Feinde
und seine bestimmten Beutetiere und dagegen
kann die beste Schutzfärbung nichts helfen.
Auch Weis mann gibt in seinen Vorträgen
einen Fall an : „Hat doch erst kürzlich ein guter
Beobachter genau verfolgt, wie ein Sperlings-
pärchen einen Bretterzaun, an dem sich Ordens-
bänder und andere mit vortrefflichen Schutz-
färbungen versehene Nachtfalter bei Tage zu setzen
pflegten, Tag für Tag genau abräumte und da
dabei nicht leicht ein Stück übersah." ^) Es gibt
') Werner, Das Ende der Mimikryhvpothese, Biolog.
Centralblatt, XXVII. 1907.
^) II. Aufl. p. 67.
eben, wie er sagt, keinen absoluten Schutz, aber
hier kann von einem absoluten Schutz schon nicht
mehr gesprochen werden, das ist mehr. Hier ist
eine ausgezeichnete Farbenanpassung durch die
Erfahrung der I<"emde vollständig zunichte gemacht,
ist also völlig wertlos.
Eine große Zahl von schutzgefärbten Tieren
nutzt seine Farbenanpassung gar nicht aus, son-
dern ergreift beim Herannahen eines Feindes oder
durch sonst etwas erschreckt sofort die Flucht.
Ich erinnere nur an die Eidechsen, an die Laub-
heuschrecken, die sich oft nur durch ihre Be-
wegung verraten. Nur wenige Tiere und da vor
allem die erdfarbenen Wirbeltiere machen von
ihrer Anpassung oft ausgiebigen Gebrauch, ducken
sich auf dem Boden und lassen den F'eind vorüber-
ziehen.
Gerade dieser Umstand dürfte eine Stütze der
Annahme sein, daß die Schutzfarbe als unwesent-
liches, anfangs völlig bedeutungsloses Nebenpro-
dukt des Stoffwechsels entsteht, bei vielen Tieren
ohne weitere Bedeutung für das Leben ist, von
manchen aber als willkommener Schutz verwendet
wird. Daß dieser Schutz nur sehr beschränkt
sein kann, daß er nicht gegen alle Feinde in Ver-
wendung tritt, ist selbstverständlich. Er wird vor
allem gegen gelegentliche Feinde, nie aber gegen
den eigentlichen Feind wirksam sein.
Daß viele Tiere die Fähigkeit besitzen, ihre
Farben zu ändern und der Umgebung anzupassen,
haben wir bereits erwähnt. Ich möchte hier nur
noch auf \ iele Fische hinweisen , die den Farb-
wechsel ebenfalls im hohen Grade besitzen und
von denen speziell die Grundfische ein großes
Anpassungsvermögen an den Erdboden zeigen.
Sie sind nicht nur imstande die Farbe der Um-
gebung, sondern zum Teil auch die grobe Zeich-
nung des Bodens, auf dem sie liegen, anzunehmen.
Nach den Versuchen von Sumner zeigen diese
F'ähigkeit nur sehende Fische, da geblendete die
Farben nicht mehr wechseln. — Dasselbe erzählt
übrigens Lode^) von den Forellen, die sich
ebenfalls dem Untergrund in der Färbung an-
passen, während blinde stets dunkel bleiben.
Man erklärt dies durch Wirkung des Sympathikus
auf die Pigmentzellen unter Mitwirkung des
Optikus. -)
Wie dem auch sei, die Tiere sind durch diese
Anpassungsfähigkeit geschützt, wenigstens die
Grundfische. So scheint uns, wenn wir in ein
') Lode, Sitzungsberichte d. k. k. ."Miademie d. Wissen-
schaften in Wien. Math. Klasse Bd. XCIX, 1890 Abh. III.
-) Hierfür spricht auch folgender Versuch Ward's. Er
teilte ein Aqu.irium durch ein Stück Linoleum in zwei Teile,
schnitt in die Zwischenwand ein Loch und setzte in dieses
einen kleinen Hecht, daß er gerade in der Leibesmiite von-
der Zwischenwand gehalten wurde. Die eine Hälfte des
Aquariums war weiß, die andere schwarz austapeziert. Ragte
nun der Vorderteil des Fisches in den dunklen Raum, so
war der ganze Körper, also auch Körper und Schwanz in der
hellen Hälfte, dunkel; wurde der Hecht umgekehrt eingesetzt,
daß sein Kopf in der hellen Hälfte war, so blieb das ganze
Tier hell.
70
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. XIII. Nr. 5
Aquarium mit derartigen Fischen bHcken; wir
mi.issen eine Weile suchen , bis wir sie auf dem
Boden zwischen Steinen und Sand entdeckt haben.
Ob sie aber wirklich so glänzend angepaßt sind,
haben ihre Feinde zu entsciieiden und die dürften
da anderer Meinung sein, denn ihre Zalil ist groß,
sogar sehr groß.
Auch mit der Anpassung der Forellen und
Hechte ist es nicht soweit her. In jedem seichteren
oder klaren Wasser kann man die stehenden
Fische ohne große Schwierigkeiten erkennen und
daß dies die mit schärferen Augen begabten
Feinde noch besser können, ist ohne Zweifel. Ich
konnte in der Lobau bei Wien konstatieren, daß
von den Kormoranen, die hier bekanntlich eine
ziemliche Kolonie bilden, Hechle in großen
Mengen gefangen und vertilgt werden. Unter den
Bäumen, auf denen die Nester der Vögel gebaut
sind, liegen eine große Menge von frischen oder
in Fäulnis befindlichen Resten der Fische, oft
ganze 50 cm lange Exemplare, die die Vögel
vielleicht aus Ungeschick (besonders die jungen),
vielleicht durch irgend etwas gestört, fallen lassen
und aus denen man unschwer die Art erkennen
kann. Was nützt also den Hechten ihre Farben-
anpassung?
Der Einwand, das Tier hätte ohne Schutz-
färbung viel mehr F"einde, fällt vollständig in sich
zusammen, da er die wichtige Tatsache nicht be-
rücksichtigt, daß jedes Tier ganz bestimmte Feinde
hat und daß die wenigsten fleischfressenden Tiere
Allesfresser sind. Werner^) macht hierauf auf-
merksam. Jede Tierart hat nur eine beschränkte
Zahl von Feinden und die,' welche viele Feinde
haben, erhalten sich vor allem durch Schnellig-
keit und starke Vermehrung neben der Schutz-
färbung. „Wir können mit absoluter Sicherheit
sagen, daß- Coronella austriaca, unsere Schling-
natter, auch dann nicht unter die Feinde des
Grasfrosches gehen würde, wenn dieser ohne
Schutzfärbung wäre; und andererseits sehen wir,
daß sie ausnahmslos von Tieren lebt, welche
Schutzfärbung besitzen. Was sollen wir erst von
den reinen Säugetierfressern sagen, deren Beute
wohl nahezu ausnahmslos (Stinktier) Schutzfärbung
^) Werner, Nochmals Mimikrv und Schutzfärbung, Bio-
log. Centralbhut. Ed. XXVItl. 1908.
trägt?" Unsere Ringelnatter frißt keine Eidechsen,
Python regius nur Nagetiere, aber keine Vögel,
Eunectes notaeus alle möglichen Wirbeltiere, nur
keine Amphibien; sogar unter den Individuen der
gleichen Art ist der Geschmack oft sehr ver-
schieden. —
Es ist also das Tier durch ein etwaiges Fehlen
der Schutzfärbung gar nicht allen fleischfressenden
Tieren so bedingungslos ausgeliefert und dem
sicheren Aussterben überantwortet, im Gegenteil,
je reichhaltiger der Speiszettel eines Fleischfressers
ist, um so weniger ist der Bestand der in Betracht
kommenden Arten gefährdet.
Und schließlich ist es mit der Schutzfärbung
nicht so bitter ernst. Die Natur bemüht sich
nicht ängstlich, ihre Tiere mit guten Farben-
anpassungen zu versehen; sie weiß, daß man auch
ohne besondere Farbenübereinstimmung sehr gut
angepaßt sein kann. Wieviel Insekten leben nicht
auf dem Heu der Wiese, auf den Steinen der
Felsen, auf den trockenen Bergabhängen und wie
wenig sieht nicht der, der nicht gerade bestimmte
Formen sucht. Die vielen Heuschrecken be-
merken wir erst, wenn sie auffliegen oder im
großen Rogen wegspringen und verlieren sie so-
fort wieder aus dem Auge, wenn wir einer nicht
mit großer Aufmerksamkeit folgen oder den
Boden systematisch absuchen. Haben wir sie
aber einmal entdeckt, so wundern wir uns sehr,
daß wir sie nicht gleich entdeckten. Wer hat
sich nicht schon bemüht, eine zirpende Heu-
schrecke mit den Blicken zu suchen ? Es dauert
lange und hat man sie entdeckt, was sehr oft
nicht gelingt, dann muß man sich zugestehen,
daß sie gut zu erkennen ist. — Entfällt einem
aber draußen ein kleiner Gegenstand, ein Bleistift,
ein Knöpfel usw. oder legt man beim Photo-
graphieren im Feld z. B. die Gelbscheibe auf einen
Stein, so kann man sich oft stundenlang mit dem
Suchen abplagen, ohne das Gesuchte zu finden.
Und hier spielt doch sicher keine Schutzfärbung
mit. Aber unsere .Augen können eben sehr schwer
im größeren Räume scharf sehen und besitzen
nicht die Fähigkeit der getrennten Detailerfassung.
Und mit diesen Augen konstruieren wir uns so
manches schöne Beispiel der Schutzfärbung.
(Schluß folgt.)
[Nachdruck verboten.]
Kristallstruktur und Röntgenstrahlen.
Sammelreferat von Alfred Wenzel.
Mit I
Seit der Entdeckung der Röntgenstrahlen
herrschen verschiedene Ansichten über die Frage,
welcher Art diese alles durchdringenden Strahlen
seien. Der Physiker Bragg behauptete, man
hätte es init einer Korpuskularstrahlung zu tun,
d. h. von der Antikathode fliegen nach dieser
Ansicht, sobald sie von Kathodenstrahlen getrofifen
wird, Teilchen fort, die die Eigenschaften haben.
Textfigur.
undurchsichtige Körper zu durchdringen sowie
den umgebenden Raum zu ionisieren, was ja heute
schon allgemein bekannt ist. Da sich diese Theorie
aber aus hier nicht näher zu erörternden Gründen
als unhaltbar erwies, ging man zu einer anderen
Erklärung über, die S t o k e s , ' ) W i e c h e r t ") iind
Thomson^) zu geistigen Urhebern hat. Hier-
nach bestehen die Röntgenstrahlen aus einem
N. F. XIII. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Eiiergieimpulse, den ein Elektron bei plötzlicher
Geschwindigkeitsänderuiig aussenden muß. Denn
das von der Kathode abgeschleuderte Elektron
prallt gegen die Antikathode, die meist aus
Aluminiumblech besteht, und setzt so seine Ge-
schwindigkeiisenergie in Strahlungsenergie um.
Diese muß unbedingt elektromagnetischer Natur
sein, da das Elektron bei Zustandsänderungen
nur solche Energie hervorbringen kann. Wenn
die Strahlung anderer Natur sein sollte, müßten
wir unsere ganze Elektronentheorie umstoßen,
denn sie würde ja in diesem Falle vollständig ver-
sagen. Da sich aber die Elektronentheorie bisher
in anderen Zweigen der Elektrizitätslehre so gut
bewährt hat, sah man sich gezwungen, ihrer
Folgerung nachzugehen.
Ein Hauptkennzeichen für elektromagnetische
Wellenstrahlung ist nun die Interferenz, d. h. die
Überlagerung gleichlaufender Wellen, die sich in
besonderen Erscheinungen kundgibt. Lange hat
man versucht, diesen sicheren Beweis für das
Vorhandensein einer elektromagnetischen Wellen-
strahlung an Röntgenstrahlen nachzuweisen, doch
leider stets ohne Erfolg. Dieser Mißerfolg wurzelte
in keinem theoretischen Fehler, wie man vielleicht
anzunehmen geneigt war, sondern in einem Mangel
der Praxis.
Nach Haga und Wind*) liegt die Wellen-
länge der periodischen Röntgenstrahlen in der
Größenordnung 2-10 ** cm, während Sommer-
feld und Koch sie zu lO"" cm schätzten. Sic
haben also eine um lo '^ cm kleinere Wellen-
länge berechnet, als wir im sichtbaren Lichte vor
uns haben. Es fiel daher sehr schwer, ein ent-
sprechend feines Gitter zur Erzeugung der Inter-
ferenz zu erhalten, dessen konstante Spaltenweite
in denselben Dimensionen sich bewegt wie die
Wellenlängen, die man vorausberechnet hatte.
Alle bekannten Gitter waren viel zu weit, um noch
Interferenzerscheinungen zu zeigen. Nun ist ja
bekanntlich der Molekülabstand rund lo^'* cm.
Hierauf griff der Physiker Laue^) zurück, als er
angab, daß man ein derartiges Molekulargitter
dazu \'erwenden könnte, Interferenzerscheinungen
hervorzurufen. Eine regelmäßige Gitteranordnung
ist aber unter den Molekülen eines gewöhnlichen
Körpers nicht vorhanden. Nur Kristalle können
eine derartige symmetrische Verteilung ihrer Bau-
steine zeigen, wie schon Bravais auf Grund der
Beobachtung des Aufbaues und des Wachstums
der Kristalle annahm. Wie wir sehen werden,
hatte Laue hiermit einen glücklichen Griff getan,
denn in den Kristallen bieten sich dem Physiker
natürliche Gitter für sehr kurzwellige Strahlen dar,
nur müssen die Kristallplatten richtig orientiert
sein, d. h. so, daß ihre Molekülanordnung im Wege
der Strahlen auch wirklich gittcrförmig ist. Fallen
dann Röntgenstrahlen auf ein Molekül auf so
wird dies zum Ausgangspunkt einer sekundären
Röntgenstrahlung. Diese besteht z. T. aus den
diffus zerstreuten Primärstrahlen, z. T. auch aus
neu erzeugten sekundären Strahlen. Diese letzten
sind meist für jeden Körper charakteristisch. Sie
werden dann mit den Strahlen der umliegenden
Moleküle so interferieren, daß sie neben dem
Durchdringungspunkt der Primärstrahlen noch
helle Punkte in regelmäfiiger Anordnung, die der
Krislallstruktur entspricht, zeigen werden.
Soweit hat Laue alles theoretisch vorher be-
rechnet. Auf seine Veranlassung haben nun
Friedrich und Knipping") in München diese
Experimente praktisch durchgeführt. Sie bedienten
sich dabei nebenstehender Versuchsanordnung
(Mgur). Die von der Röntgenröhre R, d. h.
von deren Antikathode A ausgehenden Strahlen,
gehen zunächst durch eine enge Öffnung im Schirm
S, im Kasten B und im Diaphragma D, um einen
Strahl herauszunehmen und alle übrigen abzu-
U_[
blenden. Dann geht der Strahl durch die Kristall-
platte K, wo er die oben besprochene Verände-
rung erleidet, und trifft schließlich die photo-
graphische Platte P, die zur Fixierung der Er-
scheinung dient. Sie ist gegen die übrigen
Strahlen gut geschützt durch einen Schirm S aus
Schwermetall sowie durch den Schutzkasten BB,
der ebenfalls aus einem Schwermetall hergestellt
ist, da die Röntgenstrahlen diese nicht so leicht
durchdringen. Schließlich ist hinten am Kasten B
noch ein Beobachtungsrohr C befestigt.
Die Bedingungen und näheren Umstände dieser
Experimente waren sehr schwierig und kostspielig.
Zunächst mußten Intensivröhren verwandt werden,
um die nötige starke Strahlung zu erhalten.
Ferner war die Abbiendung der übrigen unge-
brauchten Strahlung sehr schwer vollständig durch-
zuführen. Schließlich mußten die Kristallplatten
dünn geschliffen sein und genau orientiert werden,
denn ein Winkelfehler von 3 " hätte die Sym-
metrie schon vollständig zerstört. Dazu kamen
noch die langen Expositionszeiten der Photoplatien,
die sich zwischen 2 und 20 Stunden bewegten.
Trotz dieser Schwierigkeiten sind die Versuche
vollständig durchgelührt. Ihre Resultate sind her-
vorragend und grundlegend für zwei verschiedene
Forschungsgebiete, für die Theorie der Röntgen-
strahlen einerseits und für die Theorie der Kristall-
struktur andererseits.
Diese Interferenzversuche bestätigen nämlich
die Annahme, daß wenigstens die sekundären
Röntgenstrahlen periodische elektromagnetische
72
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. XIII. Nr. 5
Wellen sind. Die Primärstrahlen hingegen scheinen
aus vollkommen unperiodischen Impulswellen zu
bestehen. Reine Primärstrahlen wird man jedoch
in einiger Entfernung von der Antikathode nicht
mehr haben. Denn durch den Anprall an um-
liegende Moleküle werden sofort periodische
elektromagnetische Wellen erzeugt, die sich dann
zusammen mit den Primärstrahlen ausbreiten. Die
sekundäre Röntgenstrahlung ist spektral ziemlich
homogen, denn sie umfassen meist nur ein äußerst
kleines Wellengebiet. Gegen die Annahme einer
periodischen Wellenstrahlung könnte man hier
nun den Einwand machen , daß die in Frage
stehende Strahlenart nicht wie die Lichtwellen
einen Brechungsindex für dichtere Medien besitzen.
Dieser Einwand ist aber hinfällig; denn nach der
Kettler-Helm hol t z'schen Dispersionstheorie
haben sehr kleine Wellen den Brechungsindex
n= I. In der Tat ist nun von mehreren For-
schern") festgestellt worden, daß die Wellen-
länge dieser Strahlen weit unter 2-io^'' liegt,
und die Vervollkommnung der physikalischen
Technik hat diesen Wert noch mehr herabzu-
setzen gestaltet. Aus diesem Fehlen eines merk-
lichen Brechungsindex haben schon Raveau*)
und andere eine Identität der Röntgenstrahlen
mit äußerst kurzwelligem Licht gefolgert, doch
fehlten ihnen bisher weitere Beweise für die Be-
stätigung ihrer Annahme. Wie sich diese Wellen
in die elektromagnetische Wellenskala einordnen,
zeigt nachstehende Tabelle.
Röntgenstrahlen o,oi
Noch nicht erforschtes Gebiet i
Ultraviolette Strahlen loo •
Sichtbare Strahlen 400
Ultrarote Strahlen 800
Langwellige Strahlen I (i
Noch nicht erforsclites Gebiet 300 ,,
Elektrische Wellen I mm
(Drahtlose Telegraphie)
bis I uti
>, 100 „
,. 400 „
„ 800 „
„ 1000 ,, =
I u
„ 300 11
,, 1000 „ =
I mm
,, loco km.
Hierzu ist zu bemerken, daß :
I /(/( (Millimikron) — ^
/( (IVlikron) =
Vioooniin '""1 = 'O " '^'^ 'st. Die Größenordnung
der Wellenlängen der Röntgenstrahlen ist also
10^'' cm, während die Größenordnung der Durch-
messer der Moleküle 0,1 /',« = lO^"* cm ist.
Die Resultate der obigen Interferenzversuche
zeitigen noch einen weiteren Fortschritt für die
Wissenschaft. Durch diese Versuche ist nämlich
die Raumgitterstruktur der Kristalle experimentell
erwiesen. Die erhaltenen Photogramme, die aus
einer regelmäßigen Anordnung von Punkten be-
stehen, beruhen nämlich auf Interferenz der Eigen-
strahlung der Moleküle. Man kann sie also als
die Reflexion des Primärstrahles an den Netz-
ebenen des Raumgitters auffassen, unabhängig
davon, ob diese Netzebenen nur die äußere Be-
grenzung des Kristalls bilden oder auch durch
das Innere sich erstrecken.
Gegen die Resultate dieser Versuche sind nun
Einwürfe gemacht worden, von denen ich nur
den schwersten herausgreifen will. Mandel-
stamm und Rohmann "j behaupten nämlich,
man hätte diese Reflexionserscheinungen als solche
an den Spaltungsflächen anzusehen ; dabei können
die Spaltflächen für das bloße Auge unsichtbar
sein. Dieser Einwurf scheint aber durch die vielen
Versuche über diese Interferenz der Röntgen-
strahlen in Kristallen, die alle dasselbe Resultat
ergaben, widerlegt zu sein.
Von anderer Seite wurde der auf der Hand
liegende Einwurf gemacht, daß Laue 's Berech-
nungen die Wärmebewegung der Moleküle unbe-
rücksichtigt gelassen hätten. Eine Münchener
Dissertation zeigt uns jedoch, daß dieser Einwand
auch hinfällig ist; denn der Einfluß der Wärme-
bewegung der Moleküle auf die hier erörterten
Erscheinungen liegt unterhalb der Beobachtungs-
grenzen.
Dieses neue Werkzeug der Kristallographen,
die Untersuchung mit Röntgenstrahlen, brachte
vor einiger Zeit einen überraschenden Aufschluß
über die Natur der fließenden Kristalle. Wie be-
kannt sein dürfte, hat der Physiker Lehmann
gefunden, daß einige organische Substanzen Tropfen
bilden können, die ihrem optischen Verhalten
nach als Kristalle angesehen werden müssen.
Nun ist jetzt festgestellt worden, daß diese Kristall-
tropfen keine Krisiallstruktur besitzen. Ihr optisches
Verhalten wird also nicht durch den Aufbau und
die Zusammenstellung aller Moleküle zu erklären
sein, sondern resultiert aus dem inneren Bau der ein-
zelnen Moleküle. Diese Tatsache ist für die Be-
urteilun"- mancher Erscheinungren äußerst wertvoll.
1S96.
1912.
8)
9)
1913-
Literatur:
G. G. Stokes, Proc. Cambr. Soc. 9, 215. 1896.
E. \Vi ediert, Phys. ökon, Ges. Königsberg i— 48.
J. J. Thomson, Phil. Mag. 45, 172 — 183. 1897.
Haga und Wind, .\nnal. d. Phys. 10. 1903.
M. Laue, Sitzungsber. d. Bayr. Akad. d. Wiss. 303.
W. P'riedrich und K. Knijiping, ebenda.
Walter, Naturw. Rundsch. 11, 322 — 23. 1896.
Gony, Comptes rend. 122 — 23. 1896.
l'Eclair electrique 6, 249. 1896.
Mandelstamm und Roh mann, Phys. Ztschr. 220.
Einzelberichte.
Chemie. F'luoride des Osmiums. Ein neuer ^vird, ist durch die kürzlich abgeschlossenen Ver-
Beweis, daß das Osmium in seinen Verbindungen suche über Flaorierung von ( )smiummetall mit
auch achtwertig auftritt, wie bereits im Osmium- elementarem Pluor erbracht worden, die von
tetroxyd und der Osmiumsäure angenommen Riiff und Tschirch (Ber. der Deutsch. Chem.
N. F. XIII. Nr. 5
Naturwissensclinftliche Wochenschrift.
73
Ges. 191 3, Bd. 46, S. 929) ausgeführt wurden.
Bisher war es nur Moissan, der einzelne Metalle
der energischen Wirkung elektrolytisch erzeugten
Fluors ausgesetzt hatte, so das Eisen, Platin, Pal-
ladium, Iridium und Ruthenium. Analytisch unter-
sucht war nur ein Platintetrafluorid.
Das Osmium nun bildet mit dem Fluor drei
genau definierte Verbindungen: Oktafluorid, wo-
mit alle Zweifel über bestehende Achtwertigkeit
des Osmiums überwunden sind, Hexafluorid und
Tetrafluorid. Das erstere entsteht im kräftigen
Fluorstrom bei Verwendung eines reaktionsfähigen
Osmiums und bei ca. 250" als Hauptprodukt,
während das Hexafluorid als Nebenprodukt auf-
tritt. Tetrafluorid erhält man bei unvollständiger
Fluorierung, sei es, daß die Temperatur niedriger
oder das angewandte Osmium wenig reaktions-
fähig ist. Die Forscher arbeiteten in einem Platin-
rohr im Fluorstrom, erzeugt in dem Moissan-
schen Fluorapparat zur Elektrolyse von wasser-
freiem Fluorwasserstoft'. Peinliche Sorgfalt ist
jedenfalls auf absolute Trockenheit der Fluorierungs-
apparatur und Fernhaltung organischen Staubes
zu verwenden.
Das Osmiumoktafluorid stellt eine bei
34,5" schmelzende gelbe kristallinische Substanz dar,
sehr empfindlich gegen Luftfeuchtigkeit und die
Schleimhäute stark reizend. In seinen unange-
nehmen Eigenschaften übertrifft es das Osmium-
tetroxyd noch bei weitem durch Erzeugen von
Brandwunden auf der Haut, die von Tetroxyd nur
geschwärzt wird. Den Dämpfen des Okiafluorids
gegenüber zeigen sich am reaktionsfähigsten Anti-
mon, Arsen und gelber Phosphor, erstere geben
sofort flüchtige Fluoride, letzterer wird sofort ge-
schwärzt.
Schwerer flüchtig als das Oktafluorid ist das
Osmium hexafluorid, es wird ebenso wie
das erstere aus metallischem Osmium und ele-
mentarem Fluor erhalten. Der Schmelzpunkt der
hygroskopischen grün gefärbten Masse ließ sich
nicht genau ermitteln, er liegt unterhalb 120 und
oberhalb 50". Als Siedepunkt wurde bei Atmo-
sphärendruck 202 — 205" gefunden. Gleich dem
Oktafluorid wird auch das Hexafluorid liydro-
Ij'tisch gespalten unter Abscheiden von Osmium-
diox_\-d bzw. Entbindung von Tetroxyd.
Um zum Osmiumtetra fluorid zu ge-
1 ...
langen, verwendet man weniger reaktionsfähiges
Meiall, als solches erweist sich bis zur Rotglut in
VVasserstoft' erhitztes Osmium. Es resultiert bei
der Fluorierung ein schwarzes in Wasser lösliches
Fluorid. Die Lösung wird jedoch ebenfalls teil-
weise hydrolytisch gespalten. Von besonderem
Interesse ist noch die von den genannten For-
schern gehegte Vermutung der Existenz von
Hexafluoroosmeaten , wozu die kristallisierten
Körper Veranlassung geben, die beim Eindampfen
der alkalischen Lösung des Tetrafluorids erhalten
werden. H. Rathsburg.
Über Neuerungen in der Technologie des Ra-
diums und der Uranerze hielt Prof. Dr. E. Ebl er-
Heidelberg auf der 85. Versammlung deutscher
Naturforscher und Arzte in Wien einen Vortrag,
dem folgendes entnommen ist (durch Zeilschrift
für angewandte Chemie 26 S. 79).
Die Gewinnung des Radiums nach dem alten,
bis jetzt üblichen Verfah.ren von Curie und
Debierne erfolgt in 4 Phasen: Bei der ersten
Phase wird aus dem gepulverten Rohmaterial nach
einer Vorbehandlung mit Alkalien das Uran und
Vanadin durch Einwirkung von Schwefelsäure in
schwefelsaure Lösung gebracht. Die bei diesem
Vorgang auftretenden Rückstände, die man früher
für wertlos ansah, enthalten gerade das Radium.
In der folgenden Phase werden diese unlös-
lichen Sulfate des Radiums und Mesothoriums
durch Umsetzen mit Alkalien, Lösen, Fällen mit
Schwefelsäure in Sulfate übergeführt, die das Ra-
dium oder Mesothorium in angereicherter Form
enthalten. Diese sog. „Rohsulfate" stellen etwa
I ";'„ vom Gewichte des Ausgangsmaterials dar.
In der dritten Phase werden die Rohsulfate
einem umständlichen Reinigungsprozeß unter-
worfen, der in einer wiederholten Umsetzung der
Sulfate mit Soda, Auswaschen, Lösen und Fällen
besteht. Das Endergebnis dieser Phase ist Radium-
bariumchlorid.
Dieses Radiumbariumchlorid wird dann zum
Schluß durch fraktionierte Kristallisation in reines
Radiumchlorid oder -bromid übergeführt-
Diese Darstellungsweise ist jedoch außerordent-
lich umständlich und langwierig. Prof. Ebler
hat daher eine neue Methode ausgearbeitet zur
Überführung der Rohsulfate in Radiumbarium-
chlorid, die darin besteht, daß man die Rohsulfate
mit Calciumhydrid autogen — ohne äußere Wärme-
zufuhr — zu löslichen Sulfiden bzw. Oxyden redu-
ziert und aus der reduzierten Masse durch Extrak-
tion mit Salzsäure die radioaktiven Substanzen als
Chloride löst. Durch F"ällung mit Salzsäuregas
erhält man dann sofort reines Radiumbarium-
chlorid in angereicherter Form. So erhält man
durch diesen autogenen Aufschluß der Rohsulfate
mit Calciumhydrid zusammen mit der Salzsäure-
gasfällung in wenigen, nur einmal auszuführenden
Reaktionen, in kürzester Zeit und mit geringstem
Aufwand an Arbeitsmaterialien sofort ein ange-
reichertes Radiumbariumchlorid. Bei dieser Arbeits-
weise erhält man etwa 90 "/q des ursprünglich vor-
handenen Radiums in Form des löslichen Chlorids.
Mit geeigneten Reduktionsmitteln kann man
auch schon den ursprünglichen Erzrückstand zu
Sulfiden bzw. Oxj-den reduzieren und erhält dann
auf die oben beschriebene Weise direkt aus dem
Erzrückstand Radiumbariumchlorid.
Eine weitere Neuerung bezieht sich auf die
Anreicherung des Radiums gegenüber dem Barium
im reinen Radiumbariumchlorid durch die sog.
„fraktionierte Adsorption" des Radiums und
Bariums am kolloidalen Mangansuperoxydhydrat,
74
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. S
Fällt man aus einer Permanganatlösung, etwa mit
Manganchlorür, in Gegenwart der Radiumbarium-
lösung den Braunstein aus, so enthält das Mangan-
superoxydhydrat relativ mehr Radium als Barium
im Vergleich zu dem Ausgangsmaterial; durch
geeignete Wahl der Braunsteinmenge kann man
leicht bewirken, daß das gesamte Radium ausge-
schieden wird, während ein großer Teil des Bariums
in Lösung bleibt. Aus den Adsorptionsverbindun-
gen des Mangansuperox\'dhydrats mit Radium
und Barium läßt sich dann in einfacher Weise
reines Radiumbariumchlorid gewinnen, das viel
radiumreicher ist als das Produkt, von dem man
vor der Adsor|)tion ausging. Verwendet man
schließlich noch die fraktionierte Anreicherung
des Radiums durch „fraktionierte Adsorption", so
erhält man stets radiumreichere und bariumärmere
Präparate. O. Bürger-Kirn (Nahe).
Botanik. Die Parthenogenesis von Balanophora.
Bis gegen Beginn dieses Jahrhunderts kannte
man bei den Blütenpflanzen kein Beispiel von
wirklicher Parthenogenesis, d. h. von Embryo-
bildung aus einer unbefruchteten Eizelle. In den-
jenigen I-'ällen, wo sich Embryonen entwickelten,
ohne daß eine Bestäubung vorhergegangen war,
ließ sich immer nachweisen, daß es sich um Ad-
ventivembryonen handelte, die nicht aus dem Ei,
sondern aus dem Nucellusgewebe der Samen-
knospe hervorgegangen waren. Erst 1898 hat
Juel gezeigt, daß bei Antennaria alpina Embryo-
bildung aus dem Ei ohne vorhergegangene Be-
fruchtung erfolgt. Seitdem ist die gleiche Fort-
pflan'ungsart bei einigen anderen Blütenpflanzen
aufgefunden worden. In allen bisher untersuchten
Fällen handelt es sich um somatische Par-
thenogenesis, d. h. um Embryobildung aus
einer Eizelle, deren ("hromosomenzahl nicht die
sonst erfolgende Redukiion auf die Hälfte erfahren
hat. Generative Parthenogenesis ^j (Entwick-
lung eines Eies mit reduzierter Chromosomenzahl)
ist bisher nur bei Kryptogamen bekannt geworden.
Bei einigen Alchemilla-Arten , bei Allium
odorum und Burmannia coelestis erfolgt gelegent-
lich neben Fmbryobildung aus der Eizelle auch
Embryobildung aus einer S\"nergiden- oder einer
Antipodenzelle (somatische Apogamie 1. In
solchen Fällen kommt es also zu einer ge-
legentlichen Polyembryonie. (Habituelle
Polyembryonie findet sich bei der eingangs er-
wähnten \egetativen Embryoentwicklung aus
Nucclluszellen, z. B. in dem klassischen Beispiele
der Caelebogyne ilicifolia.)
Während bei normaler Befruchtung einer der
beiden männlichen Kerne den aus der Verschmel-
zung der beiden Polkerne hervorgegangenen
sekundären Embryosackkern zu befruchten und so
') Die Ausdrücke stammen von Hans Winkler (Pro-
gressus rci botanicac, Bd. 2, Heft 3, 1913). Strasburger
wt Ute den Begrifi' Parthenogenesis auf die Embryoentwicklung
aus einer Zelle mit haploider (reduzierter) Chromosomenzahl
beschränkt wissen und rechnete die anderen Fälle zur Apogamie.
den Anstoß zur Endospermbildung zu geben
pflegt, entsteht das Endosperm bei partheno-
genctischer oder apogamer Embryoenlwicklung
ohne Beihilfe eines männlichen Kernes, zumeist
auch aus dem sekundären Embryosackkern, bei
Antennaria alpina aus den beiden, getrennt
bleibenden Polkernen, bei Helosis und Balano-
phora aus nur einem Polkern.
Nun haben Treub (1898) für Balanophora
elongata und nach ihm Lotsy auch für Balano-
phora globosa angegeben, daß bei diesen Pflanzen
nicht nur das Endosperm, sondern auch der
Embrj'o aus dem einen Pol kern entstehe.
Nach der Darstellung Treub's (mit der die-
jenige Lotsy's übereinstimmt) geht die Ent-
wicklung des Embryosacks bis zum achtkernigen
Stadium ganz normal vor sich. An den beiden
Polen des l' förmig gekrümmten Sackes sind die
Kerne in den bekannten Tetraden angeordnet.
Die am Antipodenende gelegenen Kerne gehen,
ohne daß es zur Bildung von Antipodenzellen
kommt, bald zugrunde. Am anderen Ende ent-
steht ein Eiapparat, dessen Zellen nach Treub
ebenfalls bald abortieren , während der dazu-
gehörige Polkern in Teilung tritt und das Endo-
sperm liefert. Aus einer zentralen Zelle dieses
Pindosperms (also apogam) soll der Embryo her-
vorgehen. Diese Darstellung ist in zahlreiche
Bücher und Abhandlungen übergegangen.
A. Ernst (aus dessen Zusammenstellung die
vorstehenden Angaben im wesentlichen entnommen
sind) hatte nun bei der Untersuchung der Embryo-
bildung verschiedener javanischer Saprophyten
Präparate erhalten, die ebenfalls apogame Ent-
stehung des Embryos aus dem Endosperm ver-
muten ließen. Dann gelang aber der Nachweis,
daß bei Sciaphila und Cotylanthera der Embryo
aus der Eizelle hervorgeht und daß die Be-
fruchtung bei Cotylanthera sicher, bei Sciaphila
sehr wahrscheinlich ausbleibt. Weiter ergab die
Untersuchung dieser Gattungen sowie verschiedener
Burmannia-Arten, daß die Weiterentwicklung der
Eizelle im Vergleich mit der Endospermentwick-
lung sehr spät einsetzt; meist geht eine starke
X'olumabnahme der Eizelle voraus, und es wird
auch nur ein wenigzelliger Embryo gebildet.
Diese Befunde drängten zu der Vermutung,
daß bei Balanophora elongata und globosa ähn-
liche Verhältnisse vorlägen, und daß Treub und
Lotsy die Abstammung des Embryos aus der
Eizelle übersehen hätten. Die Untersuchung von
Material, das teils vom Verf. selbst gesammelt und
in göproz. .Alkohol fixiert, teils ihm von anderer
Seite nach Fixierung in Alkohol oder im Gemisch
von Carnoy übersandt worden war, hat diese Ver-
mutung als richtig erwiesen.
Der Embryosack entwickelt sich allerdings
völlig so, wie Treub und Lotsy angegeben
haben. Er entsteht entweder unmittelbar aus der
Embryosackmutterzelle oder, nachdem diese eine
einzige Teilung erfahren hat, aus der oberen
Tochterzelle, ohne Reduktion der Chromo-
N. F. XIII. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
75
sonienzahl. Bestätigt wurde ferner die von Treub
und I.otsy in Übereinstimmung mit van Tieg-
hem gemachte Angabe, daß die Endosperm-
bildung ausschließlich vom oberen Polkern aus-
geht, und daß durch dessen erste Teilung eine
kleinere obere Endospermzelle und eine große
Basal- oder Haustorialzelle gebildet wird.
Weiter aber treten Vorgänge auf, die den
beiden Beobachtern entgangen sind. Durch drei
aufeinander folgende Teilungsschnitte entsteht aus
der ersten Endospermzelle (oberen Tochterzelle
des Polkernes) zunächst ein achtzelliger, aus zwei
vierzelligen Etagen bestehender Endosperm-
körper. 1 )le nachfolgenden Teilungen finden
mit wechselnder Richtung der Teilungswände
statt und führen, namentlich in der Umgebung
des Embryos, zur Bildung einer größeren Anzahl
kleiner Zellen. Vom Eiapparat bleibt die Eizelle
erhalten, während die Synergiden meist beide
abortieren. Die Eizelle nimmt aber zunächst an
Größe ab, und da sie außerdem infolge der Ein-
wirkung der P'ixierflüssigkeit Schrumpfungen er-
fährt, da ferner das Endosperm sie seitlich um-
wächst, so wird ihre Auffindung sehr erschwert
und der Anschein erweckt, als ob sie auch de-
generiere. In Wirklichkeit aber nimmt sie nach
einiger Zeit wieder an Größe zu, teilt sich und
bildet einen kleinen Embryo. Dieser kann bis an
die Oberfläche des Endosperms reichen, ist aber,
so wie es Treub und Lotsy beschrieben haben,
in der Mehrzahl der Fälle rings vom Endosperm-
körper umschlossen, hat auch zuweilen eine Stiel-
zelle (Suspensor), die bis an die Oberfläche reicht.
Häufig finden sich zwei junge Embryozellen neben-
einander. Es ist möglich, daß diese durch Längs-
teilung aus einer Eizelle entstanden sind ; doch
hält Verf es für wahrscheinlicher, daß in solchen
Fällen zwei Zellen des Eiapparats (also wohl Ei-
zelle und eine Synergide) erhalten geblieben seien,
daß also Parthenogenesis mit gelegentlicher Poly-
embryonie vorliegt, ein \^erhalten, wie es nach
seinen eigenen Beobachtungen auch Burmannia
coelestis zeigt.
Für Balanophora globosa ist die partheno-
genetische Entwicklung des Eies durch Lotsy
und Ernst sichergestellt; für B. elongata ist
die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß neben
vorwiegender Parthenogenesis gelegentlich auch
Befruchtung eintritt (wie bei Thalictrum purpu-
rascens, wo zuweilen Chromosomenreduktion und
Befruchtung erfolgt). Bei den meisten anderen
Balanophoraceen sind entweder Pollenkörner auf
der Narbe oder Pollenschläuche im Griffel oder
am Eiapparat festgestellt worden, was das Ein-
treten der Befruchtung für sie wahrscheinlich
macht. Nur bei Meiosis guyanensis und Rhopal-
cnemis phalloides scheint sich der Embr\-o wie
bei Balanophora elongata und globosa partheno-
genetisch zu entwickeln (Flora 191 3, N. F. Bd. 6,
S. 129—159). F. Moewes.
Völkerpsychologie. Neue Beiträge zur
Kenntnis des Kulturbesitzes der Pai'ua-Melanesier
veröffentlicht Thurnwald in seinem großange-
legten Werk „Forschungen aufden Salomo-
inseln und dem Bismarckarchipe 1", von
dem bisher zwei prächtig ausgestattete Bände im
\'erlag von Dietrich Reimer (Ernst Vohsen) in
Berlin erschienen sind. ^) Die im ersten Band ent-
haltene Sammlung von Liedern, Mythen und Sagen
ermöglicht tiefe Einblicke in das Geistesleben der
Buinleute (Bougainviile) und anderer papua-mela-
nesischer Völkerschaften. Der Verfasser gibt
nicht, wie es sonst meist üblich ist, seine eigenen
Eindrücke von dem fremden Volk und sein L'rteil
über dieses wieder, sondern er führt uns die un-
mittelbaren Äußerungen des Denkens des fremden
Volkes vor, um zu zeigen, wie die Leute das,
was in ihnen nach Ausdruck ringt, in Worte
kleiden, und wie die Gedanken sich m den Reden
spiegeln. Die Lieder werden in der Buinsprache
mit Interlinear- und freier Übersetzung veröffent-
licht, die Mythen und Sagen dagegen in der
Regel bloß in freier Übersetzung; nur bei vier
Stücken sind auch die Originaltexte abgedruckt.
Die Wiedergabe von ,, Dichtungen" ist vom völker-
psychologischen Standpunkt sehr wichtig, denn
nichts vermag uns das Geistesleben eines Volkes
deutlicher vorzuführen, seine Fähigkeiten richtiger
einschätzen zu verhelfen, als seine dichterischen
Erzeugnisse.
Im Vergleich mit den Polynesiern und Mikro-
nesiern haben die Papua-Melanesier keine reiche
Literatur. Thurnwald sagt, es schien lange,
als ob es bei diesen düsteren Menschen wenig
oder fast nichts gäbe, was ihre Phantasie bewegt,
wenige oder fast keine Ziele, um deren geistige
Bewältigung sie sich bemühten, um mit den Be-
standteilen der von ihnen auf diese Art zerlegten
Erfahrungswelt neue Kombinationen und Möslich-
keiten, neue Varianten aufzubauen. Doch auch
bei diesen stumpfen und verschlossenen Menschen
zeigt sich, daß sie mehr imstande sind als der
erste Eindruck vermuten ließe. Die vorliegende
Sammlung ist ein trefflicher Beweis hierfür. Aber
die Texte bezeugen auch, wie Thurnwald richtig
bemerkt, daß wir es hier mit Menschen einer
ganz anderen, einer primitiven Empfindungs- und
Denkart zu tun haben : Der Ausdruck primitiv
scheint deshalb gerechtfertigt, weil hier eine ver-
bindungsarme, wenig komplexe, also wenig ge-
hemmte, den Aft'ekten mehr hingegebene Denk-
und Leistungsfähigkeit zutage tritt.
Das Verhältnis des Menschen zur umgebenden
Natur wird in den Sagen von Buin stark betont.
Die gewohnte Umgebung ist die reiche Pflanzen-
und Tierwelt des Buschwaldes, wo der Mensch
seine Eindrücke gewinnt und sich seine Vor-
stellungen von Welt und Leben bildet. An das,
') Bd. I: Lieder und Sagen aus Buin; mit 14 Tafeln,
Notenbeispielen und i Karte. Preis 32 Mk. Bd. III : Volk,
Staat und Wirtschaft; mit I Tafel und 70 Stammbäumen.
Preis 18 Mk. Berlin 1913.
•]&
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. XIII. Nr. 5
was hier auf seine Sinne wirl<t, knüpft er seine
Analogien und verkettet nach roher Beobachtung
die Eindrücke miteinander. Aus diesem Boden
keimt das, was wir die Mythologie nennen, daran
knüpfen sich die religiösen Empfindungen, das
Welt- und Lebenssystem, hier und da befruchtet
von verstreuten Samenkörnern der Erkenntnis
anderer Völker, die im Lauf der Zeit bis in diese
fernen Gegenden ihren Weg gefunden haben.
Die Mimmeismythologie der Buinleute ist arm,
doch haben immerhin Mond, Sonne und Sterne,
sowie alle diejenigen Himmelserscheinungen die
Aufmerksamkeit auf sich gezogen, die durch das
Unvermutete ihres Auftretens, ihre Bewegung und
ihr Geräusch, Schrecken erregen. Auch die
Deutung terrestrischer Phänomene scheint die
liehe Ordnung; daran schließen sich Erzählungen
von Begebenheiten und Stammtafeln mit ent-
sprechender textlicher Analyse. In den sozialen
Einrichtungen und der Wirtschaftsweise findet
.\bb. I. Unufest in Buin: Darstellung von Sonne und Mond,
die mit dem Morgenstern kämpfen.
(.Aus Thurnwald, ,, Forschungen" usw.)
Geister nicht viel beschäftigt zu haben. Reicher
ist der Sagenschatz. In den Alj-then und Sagen
kommt die Art und Weise zum .*\usdruck, wie
man den Fährlichkeiten des Lebens begegnet oder
ihnen ausweicht, aus ihnen dringt das Gefühl der
Furcht vor dem' Übermenschlichen hervor, mit
der ein großer Teil der Formen des gesellschaft-
lichen Zusammenlebens verknüpft ist.
Den Anhang dieses Bandes bildet eine von
E. M. v. Hornbostel verfaßte Abhandlung über
die Musik auf den nordwestlichen Salomoinseln.
Der dritte Band von Thurnwald's For-
schungsergebnissen behandelt die sozialen und
wirtschaftlichen Verhältnisse der Salomo-
und Bismarckinsulancr, wieder mit besonderer
Bezugnahme auf die Landschaft Buin. Der Verf
schildert die Gebräuche bei Pubertät, Heirat und
Tod, das Wirtschaftsleben sowie die gesellschaft-
.Abb. 2. Unufest in Buin: Bumerangförmige Keulenscheibe
als Morgenstern. (Aus Thurnwald, „Forschungen" usw.)
.Abb. 3. Unufest in Buin : .Mondsichelscheibe.
(Aus Thurnwald, „Forschungen" usw.)
gleichfalls die geistige Veranlagung der Insulaner
einen prägnanten .\usdruck: In dem gesellschaft-
lichen Leben treten uns die Kräfte entgegen, die
bestimmend für dieses Zusammenleben sind.
N. F. XIII. Nr. =;
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
n
Thurnwald's Darstellung der sozialen Ver-
hältnisse beweist zwar, daß bei den Buiiilenten in
mancher Beziehung ein betiächtliches Maß per-
sönlicher Ungebundenheit herrscht, aber es geht
m. E. daraus doch zugleich hervor, daß im all-
gemeinen die Bande, die den Einzelnen an die
Gemeinschaft binden, sehr stark sind, was seinen
Grund gewiß in der Schwäche des Einzelnen im
Daseinskampf hat. Je größer diese Abhängigkeit
von der Gesamtheit ist, desto mehr Bedeutung
erlangen auch die Förmlichkeiten, durch welche
die gesellschaftliche Bindung den Gliedern des
Gemeinwesens zum Bewußtsein gebracht wird.
Aus diesem Zustande heraus erwuchsen Pubertäts-
zeremonien, Totemismus und manche andere
soziale Förmlichkeiten. Als Kern der sozialen
Organisation in Buin darf man wohl den Blut-
racheverband betrachten, in welchen die heran-
wachsenden Knaben noch vor der Zeit der Puber-
tät aufgenommen werden. Die Aufnahme ist mit
großem Zeremoniell verbunden, dem Unufest, das
anscheinend das wichtigste Ereignis im Leben der
männlichen Person ist und auch starke Beziehungen
zu den himmelsmythologischen Vorstellungen zu
haben scheint (vgl. Abb. i — 3). Der Blutrachever-
band spielt im Leben eine erheblich größere
Rolle als die Familienorganisation, und zur Staats-
bildung ist es nicht gekommen. Thurnwald
sagt, daß alle Kämpfe der Blutrachegruppen unter-
einander und die Kämpfe mit einwandernden
Fremden nicht imstande waren, zu einer Macht-
bildung zu führen, wie wir sie z. B. in der Häupt-
lingsorganisation der mikronesischen Inseln finden.
Mäßige Ansätze dazu sind jedoch vorhanden.
Aus dem reichen Tatsachenmaterial Thurn-
wald's soll nur noch ein Gegenstand hervorge-
hoben werden. Bei der Eheschließung gilt die
Regel der Exogamie. Besonders hoch im An-
sehen stehen Heiraten, die kreuzweise zwischen
zwei Geschwisterpaaren geschlossen werden, wo-
bei eine Partei der anderen den gleichen Kauf-
preis entrichtet. Die Sache läuft also auf einen
gegenseitigen Tausch hinaus und Thurnwald's
Annahme ist wohl begründet, daß diese Art der
Eheschließung als eine Form des Friedensschlusses
zwischen früher feindlichen Stämmen anzusehen
ist, was noch dadurch bekräftigt wird, daß bei
den Bergstämmen, die verhältnismäßig abge-
schlossen blieben, Heiratsgruppen nicht entstanden
sind. Doch ist keineswegs anzunehmen, daß die
Exogamie überall ein Ergebnis der Anbahnung
friedlicher Beziehungen zwischen früher feindlichen
Gruppen war. Thurnwald erwähnt, daß die
Exogamie auf der Salomoinsel Choiseul einen
ganz anderen Charakter hat als in Buin. Auf
Choiseul handelt es sich um rein zufällige lokale
Gruppen, wobei nur die Eheschließung unter den
allernächsten Verwandten vermieden wird. Thurn-
wald glaubt, daß diese unvollkommene Exogamie
vielleicht eine Nachbildung der exogamen Sitten
anderer Stämme ist.
H. Fehlinger.
Kleinere Mitteilungen.
über Schlagwetteranzeige und die Haber'sche
Schlagwetterpfeife. — Bei Gelegenheit der kürz-
lich stattgehabten Einweihung des Kaiser-Wilhelm-
Institutes für experimentelle Therapie in Berlin-
Dahlem führte Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. F.
Haber in seinem Vortrage über Schlagwetter-
anzeiger seine zusammen mit Herrn Dr. Leiser
konstruierte Schlagwetterpfeife vor (Die Natur-
wissenschaften I. p. 1049, 191 3). deren Wirkungs-
weise wegen der Bedeutung, die sie vielleicht im
Bergbau erlangen kann, wohl für unsere Leser
von einigem Interesse ist.
Das für den Steinkohlenbergbau so äußerst
gefährliche Methan oder Grubengas, dessen Her-
vorquellen nicht beseitigt werden kann, ist harm-
los, so lange sein Gehalt in der Grubenluft gering
bleibt. Die Explosionsgrenze liegt indessen schon
bei einem Methangehalt von 5 7^ "/,, , so daß es
notwendig ist, ein Hilfsmittel zur Feststellung des
Methangehalts in Schlagwetter führenden Gruben
zu besitzen, um dann jedes Zündmittel für Schlag-
wetter von den Arbeitsstätten fernhalten zu können.
Dies ist bisher nur unvollkommen möglich.
Ein brauchbarer Schlagwetteranzeiger ist schon
die gewöhnliche Flamme der Grubenlampe, an
deren Verhalten ein geschultes Auge einen Methan-
gehalt von über i "/o bereits erkennen kann ; doch
ist gerade die Flamme ein äuf^erst gefährliches
Zündmittel.
Eine segensreiche Neuerung war die Einführung
der Davy 'sehen Sicherheitslampe. Wenn die
Lampe auch in theoretischer Hinsicht vollkommen
schlagwettersicher ist, da die durch die Maschen
des Drahtkorbes eintretenden Wettergase im Innern
des Korbes verbrennen, und wenn durch Einfüh-
rung der Lampe zweifellos unzählige Kata'^trophen
verhütet worden sind, so ist praktisch die erreichte
Schlagwettersicherheit noch keine unbedingte, da
nach der Statistik doch noch eine große Zahl
von Grubenexplosionen auf die Sicherheitslampe
zurückzuführen sind. Und wenn durch Einführung
elektrischer Grubenbeleuchtung die Lampe nur
noch zur Anzeige des Methans, nicht aber mehr
zur Beleuchtung dienen soll und sie sich für diesen
Zweck praktisch sicher wird ausgestalten lassen,
so wird sie doch Melhananzeigern Platz machen
müssen, die auch jede zufällige Zündung unmög-
lich machen. In den letzten Jahren sind eine er-
staunliche Fülle von Schlagwetteranzeigern kon-
struiert worden, von denen indessen keiner dauernde
praktische Verwendung gefunden hat.
Die Wirkungsweise eines Anzeigers muß sich
nun entweder auf chemische Veränderungen des
Methans gründen oder auf physikalische Eigen-
78
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 5
Schäften der mit Methan versetzten Atmosphäre.
Wählen wir zum Prinzip des Anzeigers das che-
mische Verhalten, so bietet sich sofort die große
Schwierigkeit, daß das Methan bei gewöhnlicher
Temperatur außerordentlich reaktionsträge ist, die
zur Erzwingung einer chemischen Reaktion erfor-
derliche hohe Temperatur aber wegen der Schlag-
wettergefahr auf jeden Fall vermieden werden
muß. Ein Apparat, der sich eines Hilfsmittels
der physikalischen Chemie bedient, ein Zeiß'sches
Interferometer, welches auf der Änderung der
optischen Dichte der Atmosphäre beruht, wenn
derselben Grubengas beigemengt ist, hat sich an
vielen Plätzen Eingang verschaffen können, doch
besitzt auch dieses Instrument den Fehler, daß es
wie die übrigen eben ein Meßinstrument ist,
welches durch bloßes Hineingehen auf eine Skala
allerdings einen Methangehalt von zehntel Prozent
abzulesen gestattet, aber kein Methan an ze i ge r
ist, der jedem gewöhnlichen Bergmann das Auf-
treten von Grubengas deutlich ankündigen soll,
ohne daß erst Messungen gemacht werden.
Prof. Haber und Dr. Leiser haben nun
einen Schlagwetteranzeiger konstruiert, der sich
nicht an das Auge, sondern an das Ohr wendet
und, von handlicher Form und einfacher Bedienung,
in der Hand jedes Bergmannes verwendungsfähig
ist. Der Apparat, die Schlagwet terpfei fe,
beruht auf dem Prinzip, daß ein und dieselbe
Pfeife, mit verschiedenen Gasen angeblasen, ver-
schiedene Töne gibt.
Äußerlich stellt sich die Pfeife als ein glatter
geschlossener Metallzylinder von 25 cm Länge
und 6 cm Durchmesser dar. Der Apparat ent-
hält als Hauptbestandteil zwei gedackte Lippen-
pfeifen, welche auf denselben Ton (bei gleicher
Gasfüllung) gestimmt sind. Die Eigentümlichkeit
der Pfeife besteht darin, daß das Gas im Pfeifen-
rohr, dessen Beschaffenheit die Tonhöhe der Pfeife
bestimmt, durch eine sehr dünne Glimmerscheibe
dicht gegen das anblasende Gas abgeschlossen ist
und sich darum unverändert in der Pfeife hält,
wenn wir nicht besondere Zu- und Abführungen
betätigen. Wir füllen die eine Pfeife über Tage
mit reiner Luft, die sich mit der Grubenluft nicht
vermengen kann, weil sie mit ihr nur durch eine
enge und lange Röhre (Expansionsspirale) in Ver-
bindung .steht. Das Rohr der anderen Pfeife
füllen wir unter Tage mit Grubenluft, die auf
dem Zuführungswege durch ein leicht auswechsel-
bares eingebautes Reinigungsrohr von Staub, Feuch-
tigkeit und Kohlensäure befreit wird. Die Hand-
habung des Apparates besteht darin, daß der als
Pumpe ausgebildete Mantel nach unten gezogen
wird, wodurch die Grubenluft durch den Reiniger
und die Gaspfeife in den Pumpenraum gesaugt
wird, worauf ein Vakuumstempel in der Mitte
des Apparates den Pumpenkolben beim Loslassen
zurückzieht und das eingesaugte Gas durch einen
Druckregler zu den Mundstücken der Pfeifen treibt.
Beträgt der Methangehalt in der Gasfüllung
I "^g, so gibt die durch diese Gasfüllung ange-
blasene mit der durch reine Luft angeblasenen
Pfeife rund 2 Schwebungen in der Sekunde. Die
Schwebungszahl nimmt dann aber mit steigendem
Methangehalt rasch zu, bis in der Nähe der Ex-
plosionsgrenze die Schwebungen in ein charakte-
ristisches Trillern übergehen, welches vom Ohr
leicht aufgefaßt wird und bei gerader Strecke
in der Grube noch in mehr als 100 m Entfernung
wahrgenommen werden kann.
Ob die Pfeife sich praktisch bewähren wird,
muß erst eine längere Prüfungszeit lehren. Vor
der Sicherheitslampe zeichnet sie sich durch un-
bedingte Schlagwettersicherheit und die Aufdring-
lichkeit ihrer Signale aus, während die alte Davy-
sche Sicherheitslampe vor ihr den Vorteil voraus
hat, bei Auftreten größerer Mengen Methans durch
ihr Erlöschen ein ganz automatisches Signal zu
geben und so die bei größeren Mengen mögliche
Erstickungsgefahr erkennen läßt. H. Schönborn.
Nebel. Der Herbst ist die Zeit des Nebels;
besonders die windstillen Tage, wie sie uns in
jedem Jahre im September und in der ersten
Hälfte des Oktober beschert werden, begünstigen
seine Entstehung. Die Zahl der Nebeltage ist für
die verschiedenen Städte Deutschlands außer-
ordentlich verschieden : an der Spitze steht
Hamburg mit 126 im Jahr, so daß, wenn
sich die Nebeltage gleichmäßig über das Jahr
verteilten, an jedem dritten Tage Nebel herrschte.
München hat dagegen nur 49, Karlsruhe 35 und
Helgoland 39. In engem Zusammenhang mit
der Häufigkeit des Nebels steht die Zahl der
Sonnenscheinstunden, die in Hamburg 1230 gegen
1790 auf Helgoland beträgt. Nur London ist
mit rund looo Stunden noch schlechter gestellt.
Der Nebel besteht aus zahllosen sehr kleinen
Wassertröpfchen — nicht Bläschen, wie man
früher annahm — , die in der Luft schweben und
sich langsam zu Boden senken, und zwar um so
langsamer, je kleiner sie sind. Ihr Durchmesser
beträgt häufig nur Vinon mm. Je größer die
Tröpfchen, desto schneller fallen sie und desto
mehr näßt der Nebel. Wolken sind Nebel in
größerer Höhe. Dampf und Nebel darf man nicht,
wie es häufig geschieht, verwechseln. Der Wasser-
dampf, der unsere Lokomotiven vorwärts treibt,
ist vollkommen durchsichtig wie Luft; ebenso ist
der Dampf, der stets in mehr oder minder großer
Merge in der Luft enthalten ist, vollkommen un-
sichtbar. Kühlt sich dieser luftförmige Wasser-
dampf ab, wie es z. B. in einiger Höhe über einem
Kessel siedenden Wassers durch Vermischung
mit der kaUen Luft geschieht, so kondensiert er
sich zu lauter Tröpfchen, eben Nebel. Der heiße
Wrasen, der vom kochenden Wasser aufsteigt, ist
also nicht, wie man gewöhnlich sagt, Dampf,
sondern Nebel, er ist nicht luftförmig, sondern
schon wieder flüssig.
Die Verwandlung des Wasserdampfes in den
sichtbaren Nebel tritt immer dann ein, wenn der
Dampf hinreichend, d. h. bis auf den Taupunkt
abgekühlt wird. Ein einfacher Versuch, den man
N. F. XIII. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
79
leicht wiederholen kann, gibt über diese Vorgänge
recht hübsch Aufschluß. Man füllt in eine größere
Flasche etwas Wasser und verschließt sie durch
einen gut anliegenden Stopfen, durch den eine
mit einem Hahn versehene Röhre hindurchgeführt
ist. Ein kleiner Teil des Wassers verdunstet, so
daß die Luft in der Fla^iche sehr bald mit Wasser-
dampf gesättigt ist. Wie viel Dampf sich dabei
bildet, hängt von der Temperatur ab; im warmen
Zmimer verdunstet mehr Wasser als im kalten.
Jetzt bläst man mit dem JVIunde Luft in die
Flasche und schließt den Hahn. Öffnet man ihn
plötzlich wieder, so sieht man in der Flasche eine
feine Nebelwolke, die sich allmählich zu Boden
senkt. Eine hinter die Flasche gestellte Kerze
erscheint, durch die Nebehvolke gesehen, von
einem rötlich gefärbten Lichthof umgeben, wie er
auch an Nebeltagen unsere Straßenlaterne umgibt.
Eine ähnliche feine Nebelwolke tritt fast immer
beim Offnen einer Seiter-, Bier- oder Schaumwein-
flasche auf. Die Erklärung des Versuches ist ein-
fach: die komprimierte Luft dehnt sich beim
Öft'nen des Hahnes aus und kühlt sich dadurch
bis unter den Taupunkt ab, so daß ein Teil des
Wasserdampfes sich als Nebel ausscheidet. Auf
dieser Abkühlung bei der Ausdehnung zusammen-
gepreßter Gase beruht die Linde 'sehe Luftver-
flüssigungsmaschine.
Diese Art der Nebel- und Wolkenbildung spielt
in der Natur eine große Rolle: die durch den
Erdboden erwärmte dampfhaltige Luft steigt in
die Höhe, dehnt sich, da der Luftdruck mit der
Höhe abnimmt, aus und kühlt sich ab. Die Ab-
kühlung allein ist aber vielfach zur Nebelbildung
nicht ausreichend, es kommt vielmehr noch ein
wesentlicher Umstand hinzu. Sorgt man bei dem
obigen Versuch dafür, daß die Luft in der Flasche
vollkommen staubfrei und rein ist, indem man sie
etwa durch Watte filtriert, so tritt keine Nebel-
bildung ein. Die Luft ist also nach dem Ver-
such mit Wasserdampf übersättigt. Man hat fest-
gestellt, daß vollkommen reine Luft etwa viermal
übersättigt sein kann, ohne daß Nebelbildung ein-
tritt. Die Nebeltropfen bedürfen der Ansatzstellen,
der Kondensationskerne, um die herum sich das
Wasser absetzt. Sorgt man umgekehrt bei dem
Versuch für unreine, stauberfüllte Luft, indem man
ein brennendes Streichholz einen Augenblick in
die Flasche hält oder etwas Zigarrenrauch hinein-
blä^t, so entsteht beim Offnen des Hahnes eine
dichte Nebelwolke. Staub und Rauch befördert
al-o die Nebelbildung außerordentlich. Die Be-
deutung dieser Tatsache liegt auf der Hand: un-
sere Großstädte produzieren, namentlich wenn
sie viele Fabriken enthalten, durch die vielen
Herde, Kesselanlagen, Öfen und Gasflammen
große Mengen von Nebelkernen, so daß hier die
Bedingungen für die Nebelbildung besonders
günstig sind. So kann man häufig beobachten,
daß in den etwas weiter abgelegenen Vororten
der Himmel klar ist, während das Innere der
Stadt in einer dichten Nebelhülle liegt. Senkt
sich der Nebel zu Boden, so wird mit ihm der
Staub aus der Luft entfernt. An solchen Tagen
sieht man auf den Wasserflächen eine dicke
Schmutzschicht liegen. Messungen haben ergeben,
daß sich in der L'mgebung Londons nach einer
Nebelwoche auf den Gewächshäusern Ablagerungen
fanden, deren Gewicht über 2000 kg pro Quadrat-
kilometer betrug. So hat also der unangenehme
Nebel auch seine guten Seiten, indem er ebenso
wie Regen und Schnee die Luft von Staub und
Rauch reinigt.
Es ist ja selbstverständlich, daß in sehr vielen
Fällen die Abkühlung der Luft nicht durch Empor-
steigen und die damit verbundene Ausdehnung
erfolgt, daß sie vielmehr auch durch Ausstrahlung
Wärme verliert und sich dabei unter den Tau-
punkt abkühlt. Auf diese Weise erklärt sich
meistens die Entstehung des Nebels, der an
Sommerabenden über feuchten Wiesen vielfach
nur bis zur Höhe von i m lagert; in Nordwest-
deutschland sagt man dann, „der Fuchs braut".
Eine andere Möglichkeit ist die, daß sich feucht-
warme Luft mit kalter mischt und daß sich ein
Teil des Wasserdampfes als Nebel ausscheidet.
Die Nebel, die sich an den Küsten Neufundlands
häufig bilden, entstehen auf diese Weise; hier
trifft der von Norden kommende kalte Labra-
dorstrom auf den von Südwesten kommenden
Floridastrom; und es tritt eine Mischung der
kalten von Norden kommenden und der warmen,
stark wasserdampfhaltigen Luft ein.
Der Nebel und die Nebelkerne sind für die
Wissenschaft in mehrfacher Hinsicht von großer
Bedeutung. Nach einer von Aitken angegebenen
Methode gelingt es mit Hilfe von Nebelbildung
die Zahl der feinen unsichtbaren Nebelkerne in
der Luft festzustellen. In ein großes Gefäß, daß
durch Watte sorgfältig filtrierte, also staubfreie
Luft enthält, wird eine kleine abgemt-ssene Menge
der zu untersuchenden Luft gebracht. Dehnt
man nun mittels einer Luftpumpe plötzlich die
Luft aus, so kühlt sie sich ab, und es bildet sich
eine Nebelwolke, indem jedes Stäubchen zum
Kern eines Nebeltröpfchens und dadurch bis zur
Sichtbarkeit vergrößert wird. Läßt man nun die
Wolke sich auf eine in Quadratmillimeter einge-
teilte Glasplatte senken, so gelingt es unter dem
Mikroskop die Tröpfchen zu zählen, die sich aus
der Luftsäule von bekannter Höhe auf einem
Quadratmillimeter abgeschieden hat. Eine ein-
fache Rechnung ergibt die Gesamtmenge der in
der Probe enthaltenen Kerne. Man findet über-
raschend große Zahlen; so fanden sich in einem
Kubikzentimeter Luft im Innern Londons looooo
bis 140000, im Winter in Glasgow bis zu 470 000.
Auf Bergen, über dem Ozean und im Walde ist
die Luft verhältnismäßig rein, z. B. enthielt sie
auf dem Rigi Kulm nur 400 — 800. Nach jedem
Regen sinkt die Zahl der Kerne beträchtlich.
Jede Flamme produziert ungeheure Mengen, so
enthielt die Luft eines Zimmers, in dem längere
Zeit 2 Gasflammen gebrannt hatten, 1,9 Millionen
pro Kubikzentimeter, an der Decke sogar
5,4 Millionen. Bedenkt man dabei, daß der Staub,
8o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. N
r- 5
der im Durchschnitt in einem Kubikmeter (also
lOOOOOO Kubikzentimetern) Zimmerluft enthalten
ist, nur l,6 Milligramm wiegt, so kann man sich
einen Begriff von der außerordentlichen Kleinheit
der Nebelkerne machen.
Die nähere Untersuchung der von jeder
Flamme in großer Zahl produzierten Nebelkerne
liefert das überraschende Resultat, daß die Kerne
mit Elektrizität, sowohl positiver wie negativer,
beladen sind. Läßt man nämlich Verbrennungs-
gase zwischen zwei durch eine Batterie auf hohe
Spannung geladene Meiallplatten hindurchstreichen,
so zeigt ein in der f3atterieleitung liegender
empfindlicher Strommesser einen Ausschlag, ein
Beweis dafür, daß die Flammgase die Elektrizität
leiten. Nachdem sie die Platten passiert haben,
sind sie nicht mehr imstande, Nebel zu erzeugen,
die Kerne sind also entfernt. Die nähere Unter-
suchung zeigt, daß die Kerne zum größten Teil
außerordentlich klein sind, daß es mit Elektrizität
beladene Gasmoleküle sind; man nennt sie Ionen.
Diese Tatsache hat etwas Beruhigendes, indem
sie nämlich zeigt, daß die nach Aitken zahllos
in der Luft vorhandenen Nebelkerne sicher nur
zum kleineren Teil schädlicher Staub und zum
größeren Teil für unsere Lungen unschädliche
Ionen sind. Dr. K. Schutt.
Bücherbesprechungen.
Ludwig Stelz, Entstehung und Entwick-
lung des Menschen bis zur Geburt
und die daraus sich ergebenden Regeln
für das Geschlechtsleben der reiferen
Jugend. Mit 14 farbigen und einer schwarzen
Tafel. Leipzig, J. A. Barth, 191 3. — Preis 3 Mk.
Das Büchlein ist zur sexuellen Aufklärung der
reifen Jugend beiderlei Geschlechts und des
gebildeten Publikums im allgemeinen bestimmt.
Die Darstellungsvveise ist zu die-em Zweck treff-
lich geeignet. In knapper und klarer Form wird
unterrichtet über das Wesen der Fortpflanzung,
die Befruchtung, den Bau und die Funktion der
Geschlechtsorgane, die Entwicklung des befruch-
teten Eies und die Geburt, die Ernährung des
Kindes und sein Verhältnis zu den Eltern, über
Geschlechtstrieb, Ehe, Geschlechtsverkehr, sowie
Geschlechtskrankheiten und ihre Vermeidung.
Den Abschnitt über Geschlechtskrankheiten hat
Dr. med. R. Kaufmann beigetragen. Zum Schluß
wird dargelegt, daß nur der Lehrer der Natur-
wissenschaft die sexuelle Aufklärung geben
kann. Die so sehr notwendige Warnung vor
Perversitäten, einschließlich Masturbation, ist leider
zu vermissen. Fehlinger.
Anregungen und Antworten.
Zur Anfruge des Herrn „J. K. Cöln-Elberfeld" in Nr. 51
bemerke ich noch folgendes: Ks ist allerdings der Fall, daß
Seeschiffe häufig vor Antritt einer Reise auf See einen Kreis
besclireiben. Sie tun das, um eine genaue Orientierung mit
Hilfe des Kompasses zu ermöglichen.
Die Stellung einer Magnetnadel wird bekanntlich durch
Eisenteile, die sich in ihrer Nähe befinden, beeinflußt. Am
SchilTskörper und ev. auch unter der Ladung befinden sich
aber viele eine solche Beeinflussung bedingende Eisenteile.
Diese Beeinflussung der Nadelstellung bleibt sich nun aber
während einer Fahrt nicht immer gleich, sondern sie ändert
sich mit dem Winkel, den die Achse des Schifies mit der
Nadel bildet. Um Oricntierungsfchler zu vermeiden, muß der
Steuermann nun feststellen, wie groß die Beeinflussung der
Nadclstellung für jeden solchen Winkel ist. Das tut er auf
folgende Weise: An einem Orte von bekannter geographischer
Lage stellt er durch astronomische Beobachtung die Nord-
richtung genau fest. Da für jeden Punkt von bekannter geogr.
Lage der Betrag der magnetischen Mißweisung bekannt ist,
weiß er nun, welche Stellung die Nadel einnehmen müßte,
wenn sie nicht durch Ei^enteile des Schiffskörpers beeinflußt
würde. Beschreibt das Schiff jeizt an diesem Ort einen Kreis,
so verändert sich schrittweise der Winkel zwischen Längsachse
des Schift'es und Kompaßnadel, und es läßt sich durch Ver-
gleich der wirklichen und der theoretisch geforderten Nadel-
stellung für jeden Winkel direkt der Betrag der Beeinflussung
feststellen, der dann bei der Orientierung mittels des Kom-
passes entsprechend berücksichtigt werden kann.
Dr. C. Fahrenholz.
Zur gleichen Frage schreibt man uns: Wenn Seeschiffe
vor Antritt einer größeren Reise, bevor sie auf ihren Kurs
gehen, einen Kreis beschreiben, so machen sie Deviations-
Eestimmungen. Eine ideale Magnetnadel würde ja rein
geographisch Nord-Süd zeigen, tut dies aber in praxi nicht,
sondern sie weist nach den magnetischen Polen, die nicht mit
den geographischen Polen koinzidieren. Resultat: Der Kom-
paß zeigt nicht rechtweisend Nord, sondern mißweisend,
dies natürlich an den verschiedenen Punkten der Erdoberfläche
in verschiedenem Maße; der in Rechnung zu stellende diesbe-
zügliche Fehler heißt Ortsmißweisung. Dann aber wirken nicht
allein die eisernen Bestandteile des Schift's, dessen Maschine,
sondern auch dessen Ladung anziehend auf die Nadel ein, je
nach der F^ah rtrichtung in stärkerem oder minderem Maße.
Diese einzelnen ablenkenden Kräfte können vertreten gedacht
werden durch eine Resultante mit verschiedener richtender
Kraft, je nach dem Ort, wo sie im Schiff wirken mag.
Dies ändert sich eben mit jeder Reise je nach der Art
der Ladung, und diese Fehlerquelle muß empirisch festgelegt
werden, indem man faktisch das Schift' im Kreise führt und
durch entsprechende Beobachtungen die Ablenkung für jeden
Kompaßstrich ermittelt, d. h. die Deviation bestimmt, die
während der betr. Reise dann als Konstante zu nehmen ist.
Th. G. Voß.
In Heft 51 der Naturwiss. Wochenschrift fragte Herr
J. K., Cöln an : „Wie ist die Tatsache zu erklären, daß fluß-
abwärts treibende Schiffe ohne Eigenbewegung zu steuern
vermögen.'" In der Antwort darauf fehlt der Hinweis, daß
das talabwärts treibende Schiff stets auch dann eine Eigen-
bewegung zum strömenden Wasser besitzt, wenn die Strömung
eine ganz gleichmäßige ist, weil das Schift" mit dem Wasser
ja nicht nur treibt, sondern weil es auf der schiefen (quasi)
Ebene, die der Fluß bildet, auch nach abwärts gleitet, für sich.
Besitzt die Flußoberlläche zum Beispiel das Gelälle 1 : loooo,
so werden mit jedem Meter Talweg bei einem 600 Tonnen-
Schiff schon 60 kgm frei, die das Schiff über die Strömungs-
geschwindigkeit des Wassers hinaus beschleunigen !
Dr. phil. Wegner v. Dallwitz.
Inhalt; Alois Czepa: Schulzfärbung und Mimikry. ^Fürts.). Alfred Wenzel: Kristallstruktur und Röntgenstrahlen. —
Einzelberichte: Ruff und Tschirch: Fluoride des Osmiums. E. Ebler: Über Neuerungen in der Technologie des
Radiums und der Uranerze. A. Ernst: Die Parthenogenesis von Balanophora. T h u r n w al d : Kulturbesitz
der Papua-Melanesier. — Kleinere Mitteilungen: H. Schönborn: Über Schlagwetleranzeige und die Haber'sche
Schlagwctterpfeife. K. Schutt: Nebel. — Bücherbesprechungen: Ludwig Stelz: Entstehung und Entwick-
lung des Menschen bis zur Geburt und die daraus sich ergebenden Regeln für das Geschlechtsleben der reiferen
lugend. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstrafie IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Fül.se 13. Hnml ;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 8. Februar 1914.
Nummer 6.
Schutzfärbung und Mimikry.
[Nachdruck verboten.
Von Dr. Alois
II. Warn- und Schreckfärbung.
Im Gegensatz zu den sympathisch gefärbten
Tieren steht eine Anzahl auffallend gefärbter oder
gezeichneter Formen, die aber trotzdem ver-
hältnismäßig wenig Feinde haben, weil sie durch
widrige, scharfe, übelriechende oder gar giftige
Ausscheidungen geschützt sind. Parallel mit der
Schutzfärbung hat man hier eine Warnfärbungs-
theorie konstruiert und ihr folgende Begründung
mitgegeben. Wäre ein durch derartige Aus-
scheidungen geschütztes Tier unscheinbar oder
gar kryptisch gefärbt, so liefe es immer Gefahr,
daß ein Raubtier es entdeckte und bei dem Ver-
suche, es zu verzehren, tötete oder auch nur be-
schädigte. Nähme auch dann der Feind die Un-
genießbarkeit des Tieres war, so wäre die Art
trotzalledem in ihrem Bestand gefährdet, da sie
beständig jirobeweisen Angriffen ausgesetzt wäre,
da die Unscheinbarkeit des Aussehens keine Er-
innerung an die unangenehme Erfahrung zurück-
ließe. Zeigt das Tier aber grelle, auffallende
Farben, so wird das Bild dem Feinde im Ge-
dächtnisse bleiben und er wird sich nach einigen
Versuchen hüten, die so gezeichneten Tiere an-
zugreifen. Es erweist sich daher die Warnfärbung
als ein ausgezeichnetes Schutzmittel für die Art,
wenn sie auch dem Individuum, das zur Probe
dienen muß, nichts nützt.
Diese Erklärung klingt sehr plausibel und
wird noch durch das Verhalten der Tiere unter-
stützt. Alle derart geschützten Formen entbehren
fast aller anderen Schutzmittel. Sie sind nicht
wehrhaft, sind langsam, suchen keine Deckungen
auf, sondern zeigen sich bei hellichtem Tage in
einer Umgebung, in der sie stark auffallen müssen,
kurz leben so, daß man die Erklärung der Warn-
färbung ganz selbstverständlich findet.
Und doch gibt es auch bei der Warnfärbung
viele Lücken, wenn auch nicht halb so viele als
bei der Schutzfärbung.
Ich muß es mir auch hier versagen, spezielle
Beispiele eingehend anzugeben, und glaube mit
Recht die Kenntnis der meisten voraussetzen zu
können. Unsere Aufgabe ist es hier, an einigen
Fällen zu zeigen, daß es mit der schönen Theorie
nicht so ganz stimmen kann, auch hier natürlich
vom Standpunkte der Selektion. Denn die Warn-
färbung entwickelt sich ja als Folge einer ge-
wissen Immunität.
Auch die Warnfärbungstheorie macht Voraus-
setzungen, deren Richtigkeit nicht ganz einwand-
frei ist. Wenn man annimmt, daß alle warn-
gefärbten Tiere schlecht schmecken, so geht man
Czepa, Wien. (Schluß.)
vielleicht etwas zu weit, weil man von vielen
nicht weiß, ob es in der Tat so ist. Wird ein
Tier von anderen nicht gern gefressen, so muß
es eben schlecht schmecken. Die Wanzen sind
nach unserer Ansicht durch das Sekret ihrer
Slinkdrüsen geschützt, denn sie werden von den
insektenfressenden Tieren nur dann genommen,
wenn schon kein anderes Futter mehr da ist. Ich
sage nach unserer Ansicht, denn wir kennen In-
sekten, z. B. Heuschrecken, die als Lieblingsfutter
unserer Eidechsen gelten müssen und deren
Speichel, den sie bekanntlich in reichlicher Menge
absondern, sehr bitter ist und gewiß nicht ab-
sonderlich schmecken wird. Und daß sich Ei-
dechsen nicht abhalten lassen, auch Wanzen zu
vertilgen, beweist uns der Umstand, daß im Früh-
jahr ihr Magen mit allen möglichen Insekten,
vor allem den bekannten roten, sonst gemiedenen
Bauniwanzen gefüllt ist. Und setzen wir ihnen
im Sommer nichts anderes vor als derartige
Tiere, so werden sie diese Kost ohne weiteres
annehmen, weil sie eben Hunger haben. In jedem
Terrarium kann man diese Beobachtung machen.
Ein weiterer Einwand ist der, daß die Warn-
färbung überhaupt bloß dadurch zustande kommt,
daß in der Haut die bestimmt gefärbten, chemi-
schen Verbindungen als Produkte des Stoff-
wechsels abgelagert werden, daß also die Färbung
ein rein physiologischer Vorgang ist, der mit der
Selektion überhaupt in keinem Zusammenhange
steht. LInterstützt wird diese Annahme durch
mehrere Tatsachen; bei vielen Tieren gelangen
gewisse auffallende Pigmente bloß durch die
Nahrung in den Körper und werden in der Haut
abgelagert \) , andere Tiere sind deswegen nur
giftig oder ungenießbar, weil sie von giftigen
Pflanzen leben. So sind viele Schmetterlinge ge-
schützt, weil ihre Raupen auf den giftigen Aristo-
lochien und Solaneen leben, wie wir von Haase^)
wissen. Und Eisig ^) berichtet, daß ein Borsten-
wurm in der Haut dasselbe orangerote Pigment
besitzt wie der Schwamm, auf dem er lebt. —
Allerdings ist gerade dieser Einwand kein Beweis
gegen die Selektion, da physiologische Vorgänge
stets vorhanden sein müssen und sie erst eine
Selektion ermöglichen. Denn dadurch, daß eben
die Haut auffallend infolge der Stoffwechsel-
produkte gefärbt wurde, diese Stoffe aber eine
') Haase, Untersuchungen über Mimikry auf Grund
eines natürlichen Systems der Papilioniden 1893.
^) Eisig, Fauna und Flora des Golfes von Neapel, 16.
2. Stück 1887.
82
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 6
Immunität bedangen, konnte durch Selel<tion eine
Verbesserung der Warnfärbung einsetzen.
Anders verhält es sich aber mit folgendem
Umstände. K a m m e r e r konnte an unserem Feuer-
salamander, dem schönsten Beispiele für Warntär-
bung unter den Amphibien, zeigen, daß die gelben
Flecke in der sonst schwarzen Haut durchaus nicht
etwas Fixes, sondern variabel sind. Er veränderte
die Färbung der Tiere dadurch, daß er sie auf ver-
schieden gefärbten Böden hielt; und zwar wurden
die Salamander, die er auf hellem Lehmboden
hielt, bedeutend heller, da sich die gelben Flecken
\ergrüßerten, und die auf schwarzer Erde wurden
durch Verkleinerung und Verringerung der gelben
Flecken viel dunkler. Das Ergebnis ist keine
Stütze der Theorie. Denn wir hätten unbedingt
erwarten müssen, daß auf dem hellen Boden eine
Verdunklung, auf dem dunklen eine Aufhellung
eintreten wird, da ja die Auffälligkeit das Wesen
der Warnfärbung ist. Dieses Experiment ist eher
ein Beweis für die Ansicht vieler, daß es sich bei
den Färbungen der Tiere um eine Art Farben-
photographie handelt, die ohne Rücksicht auf den
Wert oder Unwert für das Leben des Tieres vor
sich geht. Und dann zeigt es wieder, daß man
mit Erklärungen sehr vorsichtig sein muß, die
nur nach der \^'ahrschei^lichkeit für bestehende
Tatsachen gegeben werden.
Sehen wir aber von allen diesen Einwänden
ab, so bleibt doch immer noch die große Frage
unbeantwortet, warum die Warnfärbung, die die
Tiere ja unvergleichlich besser schützen müßte
als die Anpassungsfärbung, so relativ selten ist,
zum mindesten \iel seltener als die Anpassung. Ich
möchte nicht versäumen, an dieser Stelle die An-
sicht Jacobi's wörtlich zu zitieren, die er als
Entgegnung auf diese Frage in seinem Buche ^)
gibt, um zu zeigen, mit welchen Beweisen und
Schlüssen man Einwendungen zu erledigen glaubt:
„Wenn wir im Auge behalten, daß Warnfärbung
als solche irgendeine Art Immunität zur Grund-
lage hat, so schränken die aposematischen -) Arten
im allgemeinen den Ernährungsbereich der räube-
rischen Tiere ihres Wohngebietes ein, und zwar
desto mehr, je größer ihre Zahl ist und je häufiger
die eine oder andere ist. Dadurch, daß gerade
eine individuenreiche Art durch ihre Entwicklung
zu einer aposematischen Tracht gelangt, muß
sie die Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses
ihrer Feinde auf andere, nicht geschützte Arten
lenken. Falls diese nun auch durch irgendwelchen
Entwicklungsanlaß auf den Weg zur Immunität
kämen, so könnten die Räuber in die Nötigung
versetzt werden, unter Überwindung des Ekels
die unangenehme Kost anzunehmen und damit
würde der Vorteil der Warnfärbung als eines auf-
fallenden Kennzeichens in das Gegenteil verkehrt.
■) Jacob i, Mimikry und verwandte Erscheinungen.
Braunschweig 1913.
-) Unter ,,aposematisch" versteht er „durch Warnfärbung
geschützt". Roulton hat den Namen Aposem für Warn-
erscheinungen zum ersten Male gebraucht.
sie würde die Entdeckung der Beute gerade er-
leichtern. Demnach ist es für den Daseinskampf
in einem umgrenzten Gebiet wichtig, daß seine
Lebensgemeinschaft nur eine mäßige Anzahl
aposematischer Arten enthält."
Man kann sich wohl schwer eine komischere
Erklärung denken. Seit wann spielen bei der
Selektion Vernunftgründe mit? Es ist ja alles
sehr schön und verständlich, wer gebietet nur
dem Entstehen der aposematischen Arten Einhalt?
Es dürfen nur eine bestimmte Anzahl aposemati-
scher Arten sein und das genügt, um ihr Ent-
stehen zu verhindern. Lauter den durch An-
passungsfärbung geschützten Tieren wütet der
Kampf ums Dasein, die Konkurrenz ist eine un-
geheure, immer vollkommener muß die Anpassung
werden, nur keine neuen, aposematischen Arten
dürfen entstehen; das Aposem ist das Vorrecht
einiger weniger Gruppen und eine Überfüllung
ist, weil gefährlich, nicht erlaubt. Welche große
Macht dies bewirkt, verschweigt Jacobi leider,
obwohl ihre Kenntnis für uns von Vorteil sein
könnte.
Eine derartige Ansicht ist um so unverständ-
licher, wenn man sieht, daß er wenige Seiten
später alle die Feinde der aposematischen Arten
angibt ; es ist auch gar kein Grund einzusehen,
warum unter den aposematischen Arten nicht
ein Kampf ums Dasein ausbrechen, warum
ihre Giftigkeit, ihr Geruch usw. nicht immer ärger
werden könnte. Denn der Vernunftgrund, daß
die Wirksamkeit der Warnfärbung vergehen muß,
wenn sie zu häufig wird, kann doch unmöglich
auch nur für Minuten ernst genommen werden.
Wir werden vielmehr die Frage, warum Warn-
färbung und Immunität verhältnismäßig viel sel-
tener ist als Schutzfärbung, vor allem dadurch
erklären, daß die Immunität durch die Lebens-
weise, Nahrung, Stoffwechsel usw. bedingt ist und
infolgedessen nur gewissen Tieren zukommt und
dann daß diese Immunität kein Schutz ist,
wenigstens kein großer.
Daß es mit dem Schutz nicht weit her sein
kann, muß uns eine kurze Überlegung zeigen;
wären die Tiere wirklich geschützt und fielen
sie nur unerfahrenen Feinden zum Opfer, dann
müßte ihre Zahl bei selbst langsamster Ver-
mehrung ungeheuere Dimensionen annehmen.
Daß dies nicht so ist, daß derartige Tiere nicht
einmal häufiger sind als nicht durch Warnfärbung
geschützte, zeigt uns die einfache Beobachtung.
Und dringen wir tiefer ein, dann wird es uns
nicht schwer fallen, die merkwürdige Entdeckung
zu machen, daß die aposematischen Arten genau
so ihre Feinde haben wie die anderen Tiere.
Ich will hier nur einige erwähnen. Unser
Feuersalamander wird von allen Schlangen, die
Amphibien fressen, wie Ringelnatter, ohne Schaden,
ja mit Vorliebe verzehrt. Werner gibt an, daß
viele Schlangen (Tropidonotus, Heterodon, Lepto-
dira, Caususj nicht durch die schärfsten Haut-
sekrete (wie das von Bufo viridis) abgehalten
N. F. XIII. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
«3
werden. Die Raupen des Kohlweißlings (Pieris
brassicae L.) werden von \'ögeln nicht verzehrt,
dafür fallen sie aber Schlupfwespen im ungeheueren
Maße zum Opfer; Poulton sah von 533 Raupen
424 auf diese Weise umkommen. Nach Werner
gehören in den österreichischen Voralpen die
Raubfliegen der Gattung Laphria zu den größten
Feinden der Marienkäferchen, die von ihnen ge-
fangen und ausgesaugt werden. Und da auf einem
Areale von bestimmter Größe kaum soviel Frösche
leben als Hunderte von Laphrien, so sind letztere
für die Coccinellen jedenfalls gefährlicher als es
die Frösche wären, wenn sie von Coccinellen
lebten. Nach demselben Autor werden die After-
raupen gewisser Blattwespen von Mantis religiosa
mit Begier gefressen, obwohl sie von den Wirbel-
tieren verschmäht werden. Nach Versuchen von
IMateau nützt Warnfärbung gegen Raubinsekten
überhaupt nichts.
Was werden wir daher von der schönen Warn-
färbung zu halten haben? Nicht sehr viel und
wir werden ebenfalls wie bei der Schutztärbung
mit unseren Erklärungsversuchen recht vorsichtig
sein müssen. Wir werden auch hier die Ein-
wendung, daß die Tiere ohne Warnfärbung noch
weniger geschützt wären, auf die gleiche Weise
erledigen wie bei der Schutzfärbung, daß die
Auswahl der Nahrung etwas Fixes, wie Werner
sagt, etwas historisch Gewordenes ist.
Ganz anders verhält es sich mit der Schreck-
färbung, die ja wie die Warnfärbung eine auf-
fallende Färbung oder Zeichnung ist, die aber
meist harmlosen, d. h. nicht immunen Tieren zu-
kommt, und die auch von vielen im Momente
der Gefahr benutzt wird. Ich erinnere nur an
die Unken, die durch Zurückschlagen des Körpers
ihre grelle Unterseite zeigen oder an Smerinihus
ocellata, das Abendfauenauge, das in seiner Ruhe
gestört mit gespreizten Flügeln wippende Be-
wegungen ausführt und dadurch viele Vögel ver-
treibt. Über die Wirkung dieser wenigen Fälle
sind wir durch eingehende Beobachtungen unter-
richtet und haben keinen Grund, an ihr zu zweifeln.
III. Schützende Ähnlichkeit.
Zwischen schützender Ähnlichkeit und Mimikry
hat man früher keinen Unterschied gemacht, hat
überhaupt mit dem Namen Mimikry alle die Er-
scheinungen belegt, wenn ein Tier einen Gegen-
stand seiner Umgebung, sei es nun einen leblosen
oder einen belebten, nachahmte, zum Unterschied
von der einfachen Schutzfärbung, die die Tiere
in ihrer Umgebung verschwinden läßt, da sie
ihnen alle auffallenden Details nimmt. Heute
macht man mit Recht schärfere Unterschiede,
versteht unter Mimikry nur die schützende Nach-
ahmung gemiedener Tiere durch andere Tiere
desselben Wohngebietes und faßt als schützende
Ähnlichkeit alle die Fälle zusammen, in denen
Tiere leblose Gegenstände als Modelle benutzen.
Der Unterschied ist insofern gerechtfertigt, als die
schützende Ähnlichkeit dem Tiere nur dann von
Nutzen sein kann, wenn es sich ruhig verhält,
also verborgen bleibt, die Mimikry aber das Gegen-
teil, die Sichtbarkeit des Tieres fordert.
Zur schützenden Ähnlichkeit zählen vor allem
die Formen, welche Rindenstücke, Zweige, Blätter
usw. nachahmen und die bekanntlich in den
Tropen in ziemlicher Zahl vorhanden sind.
Man müßte sich wirklich den Namen eines
blinden, verbohrten Hetzers gefallen lassen, wollte
man die große, ja geradezu verblüffende Ähnlich-
keit des laekannten Schmetterlinges Kallima mit
einem trockenen Laubblatte bestreiten oder wollte
man nicht zugeben, daß es schwer sei, die Heu-
schrecke Phyllium auf grünen Blättern zu er-
kennen.
Daß diese Formen zum großen Teile ihren
Modellen sehr ähnlich sind, ist gar keine F"rage;
nicht so ganz einwandfrei ist schon die Behaup-
tung, daß die Tiere durch diese Ähnlichkeit ge-
schützt sind, da sie sich dann, wie wir schon
einmal erwähnt, sehr stark vermehren müßten
und sie gewiß nirgends sehr häufig sind. Der
Einwand, daß diese Tiere eben diesen Schutz
haben müssen, weil sie nicht in großer Zahl vor-
kommen, ist aber nicht stichhaltig. Denn in der
Natur findet sich bekanntlich die sehr weise Ein-
richtung, daß stark verfolgte P^ormen durch zahl-
reiche Vermehrung das notwendige Gleichgewicht
herstellen. Es ist daher eher die Sache so zu
drehen, daß infolge des Schutzes die Vermehrung
eine schwächere sein kann. Es ist also der Vor-
teil gar nicht so groß. Denn die Erhaltung der
Art kann und wird auch auf andere Weise nur
zu oft durchgeführt. Und um den Vorteil handelt
es sich dabei, denn auch die schützende Ähnlich-
keit ist ein Kind der Selektion und als solche
durch den Kampf ums Dasein und die natürliche
Zuchtwahl entstanden. Und wollen wir auch
nicht die Selektion ganz missen, so dürfen wir
ihr doch nicht P'ähigkeiten zuschreiben, die sie
nicht besitzt. Man hat lange Zeit die große
Schwäche der Selektion unberücksichtigt gelassen,
daß sie nämlich den Nutzen ganz geringer Unter-
schiede zwischen Formen derselben Art zu hoch
wertet und auf Grund dieser Kleinigkeiten die
Auswahl für möglich hält. Man hat mit P"einden
der Tiere gerechnet, die gar nicht existieren
können. Heute ist man so weit, daß man der
Selektion erst dann eine Macht zugesteht, wenn
tatsächliche Unterschiede in den Formen der Art
vorhanden sind. Und es ist vor allem das Ver-
dienst Eimers, den Gedankender bestimmt ge-
richteten Entwicklung ausgesprochen zu haben,
der in kurzem besagt, daß die Umbildung der
Arten nicht nach zahlreichen Richtungen hin bloß
dem Zufall unterworfen erfolge, sondern nur nach
wenigen Richtungen und nach erkennbaren Ge-
set7,en und daß die Ursachen einer derartigen
Umbildung in den äußeren Einflüssen, so da sind
Klima, Feuchtigkeit, Nahrung usw., zu suchen sind.
Allerdings setzt er dabei die Vererbung erworbener
84
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 6
Eigenschaften voraus, die aber wenigstens in diesem
Sinne gewiß nicht bestritten wird.
In dem Rahmen dieser Entwicklung herrscht
die Selektion und wir können uns da ganz gut
eine Vorstellung von dem Entstehen der schützen-
den Ähnlichkeit machen, wenn wir noch die An-
gaben Werner 's berücksichtigen, die er über
die Blatt- und Astnachahmer macht. Er geht von
der Tatsache aus, daß breitere, abgeplattete Formen
an Baumstämmen, schmale, langgestreckte im
Grase und an dünnen Ästen leben, erstens weil
sie sich leichter und besser bewegen und vor
allem wirkungsvoller schützen können. Er gibt
mehrere Beispiele an, bei denen zwischen Männ-
chen und Weibchen ein Unterschied in der Ge-
stalt besteht, das erstere schlank ist und im Grase
lebt, das letztere aber breit ist und sich auf
Bäumen aufhält.
Es liegt also der Anfang der Entwicklung in
der Anpassung der Gestalt an die angenommene
Lebensweise, und da speziell bei den Astnachahmern
die dünne langgestreckte Gestalt das Charakte-
ristische ist, so ist damit schon viel gegeben. Es
ist nur noch das Auftreten der zahlreichen An-
hänge bei den Blattnachahmern zu erklären, durch
die sie erst ihre große Ähnlichkeit mit Blättern
und Blatteilen erlangen.
Werner weist darauf hin, daß wir Blattnach-
ahmer nur in den Tropen finden, obwohl doch
auch in den gemäßigten Klimaten Laubbäume
mehr als genug vorkommen , stabförmige Heu-
schrecken aber nicht auf heiße Gegenden be-
schränkt sind, sondern auch bei uns leben, wie
der bekannte Bazillus beweist, der in Istrien auf
Gebüschen oft in Menge vorkommt. Und auch
in den Tropen sind die Blattnachahmer nicht
überall zu finden, sie fehlen allen trocken heißen
Gebieten und treten nur in den feuchten Urwäl-
dern auf In den Waldbezirken von Ostafrika und
in denen von Westafrika sind sie überall, fehlen
aber im ägyptischen Sudan bis auf wenige seltene
Arten vollständig, da hier die Grassteppe vor-
herrscht und das Klima den größten Teil des
Jahres hindurch trocken ist. In den Tropenwäldern
aber wachsen den Chamäleons die Hörner und
Rückenhautsäume, den Eidechsen die Kehlsäcke
und Rückenkämme und den Heuschrecken die
Anhänge. Es ist also eine Hypertrophie, die
durch das Tropenklima hier erzeugt wird. Der
genannte Forscher bringt auch Beispiele hierfür,
er zeigt, daß es Formen gibt, die die Anhänge
in versch'edenem Grade ausgebildet haben, daß
es zwischen vielen Übergänge gibt, ja daß es
Arten gibt, in denen man den Wandel und die
Vergrößerung der Anhänge konstatieren kann.
Er weist auf die sudanesische Fangheuschrecken-
gattung Stenovates hin, die sich von der echt
tropisch-afrikanischen Heterochaeta bloß dadurch
unterscheidet, daß bei letzterer die Dornen an
den Hüften der Vorderbeine in dreieckige Blätt-
chen umgewandelt sind. ^) Die Formen der
Raubbeine vieler echt tropischer Fangheuschrecken
Afrikas sind im Vergleich zu denen ihrer nicht
tropischen Verwandten bedeutend verbreitert und
abgeflacht.
Es ist also die Bildung der verbreiterten Beine
und der Anhänge eine Folge der Lebensweise in
den feuchtheißen Gebieten und die bestimmt ge-
richtete Entwicklung führt dann im Laufe der
Zeit zu den Formen, wie wir sie heute kennen.
Daß diese Ansicht sehr viel Wahrscheinlich-
keit für sich hat, dafür sprechen alle die Fälle, in
denen Tiere Ähnlichkeiten erhalten, die sie niemals
ausnützen, daß sie infolge ihrer Lebensweise und
der auf sie einwirkenden, äußeren Umstände Ge-
stalten besitzen, die sie als gute Beispiele schützen-
der Ähnlichkeit bezeichnen müssen, deren Lebens-
weise aber ihr Aussehen vollständig desavouiert.
Ich erinnere nur an die bekannten Buckelzirpen,
die mit pflanzlichen Hartgebilden wie Dornen,
Stacheln, weichen Fruchtschalen usw. für mensch-
liche Begriffe eine sehr große Ähnlichkeit haben,
die aber ihrer Ähnlichkeit nicht entsprechend
leben. Sie sind ausgezeichnete Springer und
wissen sich bei jeder Gefahr wie Flöhe sofort aus
dem Staube zu machen. Für sie hat ihre große
Ähnlichkeit mit ungenießbaren Gebilden keinen
Wert, da sie sie nicht auszunutzen verstehen und
auch nicht brauchen. Fällt aber der Nutzen weg,
dann fällt die Selektion und die schützende Ähn-
lichkeit ebenfalls fort und wir müssen, wollen wir
uns über die merkwürdige Erscheinung eine Er-
klärung geben, die äußeren und inneren Einflüsse
als Ursachen gelten lassen, die ohne Rücksicht
auf Nutzen oder Schaden für das Tier die Ände-
rungen bewirken. Lassen wir aber in diesem
Falle den Nutzen aus dem Spiele und erklären
wir das Ergebnis der Entwicklung als eine Folge
äußerer und innerer Einwirkungen, so müssen wir
konsequent auch dann die gleiche Erklärung
geben, wenn die Entwicklung zufällig Formen
zeitigt, die anderen Gebilden ähnlich sehen. Und
Entz hat vollkommen recht, wenn er erklärt, daß
die vergleichende Biologie Besseres zu tun hat,
als zu raten, welchem Ding dieses oder jenes Tier
ähnlich sehe.
Unser Bestreben muß es sein, Erklärungen für
die Erscheinungen zu suchen und nicht eine
Theorie auf alle Fälle zu halten. Eine Theorie,
die nicht imstande ist, einen Vorgang verständ-
lich zu machen, hat aber ihren eigentlichsten
Zweck verfehlt. Wir verlangen, daß sie uns über
die schwierigen Stellen hinweghilft, und gerade
hier läßt sie vollkommen aus. Sie vermag nicht
die Entstehung auch nur einer einzigen Form zu
erklären, wenn man sich nicht mit wenigen Wor-
ten selbst etwas vortäuschen läßt oder auf Schritt
und Tritt die weitgehendsten Zugeständnisse
macht. Wie sollen wir uns die Entstehung von
Phyllium z. B. vorstellen ? Mit den gewöhnlichen
') Da man in Westafril;a Übergangsformcn beider Gat-
tungen gefunden hat, so wurden beide Gattungen zusammen-
gezogen.
N. F. XIII. Nr. 6
Naturwissenschaftliche VVochcnsclirift.
85
Angaben, daß die am meisten Blattähnlichen stets
erhalten blieben, ist doch nicht auszukommen.
Mit was für Feinden rechnet man da ? Die Selek-
tion nimmt geringe Differenzen an, die der Feind
nicht beachtet. Ich sage der Feind, da die Tiere
wie bereits erwähnt, bestimmte h'einde haben und
diese ihre Beutetiere genau kennen und auch zu
finden wissen , wie sie uns durch ihr Dasein zur
Genüge beweisen. Der Feind wird die Tiere
aber auch dann in gleicher Weise wie früher an-
gehen, wenn sie schon durch die längere Zeit
bereits währende Selektion besser angepaßt sein
sollten. Er wird sie ebensogut erkennen , denn
er hat ihren Werdegang mitgemacht und hat, weil
sie schwieriger zu finden sind, schärfere Sinne
ausgebildet. Das Tier entgeht also durch seine
Anpassung seinen Feinden nicht. Nur die ge-
legentlichen Feinde, die das Tier nur gerade so
mitnehmen, wenn sie es finden, werden durch
die Ähnlichkeit getäuscht werden' Diese wenigen,
zufälligen Feinde haben aber im Kampfe ums
Dasein nichts zu sagen; sie sind unmöglich die
wirkenden Faktoren der Selektion, weil sie schon
durch ihre geringe Zahl, durch ihr sporadisches
Auftreten keine so nachhaltige Wirkung haben
und so gründliche i\uslese hervorrufen können.
Wo bleibt also die Erklärung? W'ir sind ge-
zwungen, anzunehmen, daß die Tiere nach einer
Richtung hin sich entwickeln, daß diese Entwick-
lung durch physikalische und physiologische Fak-
toren bedingt ist, und erst mit dieser Voraus-
setzung kann man die Selektion als wirkend an-
nehmen. Daß man aber in diesem Falle dann
die Selektion zur Erklärung entbehren kann, ist
klar. Sicher sinkt sie durch die Annahme dieser
Ansicht von der gewaltigen Höhe herab zu einem
eher nebensächlichen Faktor und die ganze schöne
Theorie von der schützenden Ähnlichkeit hat auf-
gehört.
IV. Mimikry.
Was von der schützenden Ähnlichkeit gesagt
wurde, gilt auch \on der Mimikry. Auch sie
kann durch die Selektion nur unter vielen Zuge-
ständnissen erklärt werden , für viele Fälle fehlt
eine Erklärung selbst dann noch.
Daß die Mimikryhypothese eine grobanthro-
pomorphistische Anschauungsweise voraussetzt, ist
I schon oft gesagt worden. Es ist gar nicht so
sicher, daß die Tiere dieselben Ansichten über
Ähnlichkeit haben wie wir, und es ist sehr frag-
lich, ob sich die Tiere ebenso leicht durch mime-
tische Formen täuschen lassen wie die Menschen.
Hierüber zu reden hat aber derzeit noch keinen
Sinn , da hier vor allem das Tierexperiment zu
entscheiden hat und die bis heute vorliegenden
Versuche einander vollständig widersprechen.
Die Zahl der Mimikryfälle ist eine ganz enorme;
speziell die Entomologie gibt die meisten und
auch die schönsten Beispiele. Viele Fälle mußten
allerdings wieder aufgegeben werden , nicht aus
Mangel an Ähnlichkeit, sondern weil das wesent-
hchste Moment der Mimikr)-, der Schutz der durch
die Nachahmung gewährleistet ist, oder der Nutzen,
der durch Verwechslung oder Nichterkennen ent-
steht, mit dem besten Willen nicht zu finden war.
Trotz allem bleibt noch eine große Zahl und es
ist äußerst interessant, zu untersuchen, bis in wie
kleine Details die Ähnlichkeit zweier weit ab von-
einander stehenden Arten oft durchgeführt ist.
Auf alle Fälle im einzelnen einzugehen, ist
vollständig ausgeschlossen , da von den meisten
viel zu wenig bekannt ist. Wir müssen uns daher
auf wenige Beispiele beschränken und aus diesen
unsere weiteren Schlüsse ziehen. Wählen wir
hierzu die bekanntesten Formen aus.
Unter den Wirbeltieren finden wir wenig Bei-
spiele für Mimikry. Nur unter den Schlangen
sind eine Reihe von Formen bekannt.
Hier ist es die große Schar der Giftschlangen,
die durch nicht giftige nachgeahmt wird. Vor
allem ist die amerikanische Gattung Elaps, die
wegen ihrer roten Farbe, die durch schwarze oder
gelbe Ringe unterbrochen wird, auch ein Beispiel
für Warnfärbung ist, für viele nichtgiftige Schlangen
Modell. Wallace nennt einige Fälle:
Elaps corallinus — Homalocranium semi-
cinctum
Elaps fulvius — Pliocercus aequalis und
Coronella tricincta
Elaps lemniscatus — Oxyrrhopus trigeminus.
Werner gibt noch folgende Gattungen an, die
ebenfalls die auffallende Farbe und Zeichnung der
Elaps trugen: Ophibolus, Simophis, Urotheca,
Atractus, Polyodontophis, Cemophora, Hydrops,
Scolecophis und Erythrolamprus. Eine stattliche
Zahl, die alle durch die Warnfärbung der giftigen
Schlange geschützt sein wollen.
Daß zwischen den genannten Formen eine
Ähnlichkeit besteht, ja daß manche auf den ersten
Blick nicht zu unterscheiden sind, ist sicher und
wird niemand bestreiten. Es ist nur die Frage
zu beantworten, ob den harmlosen Schlangen aus
ihrer Ähnlichkeit mit den giftigen ein Vorteil er-
wächst. Ich stehe nicht ab, die Frage rundweg
mit Nein zu beantworten. Denn es gibt kein
schlangenfressendes Tier, das zwischen ungiftigen
und giftigen Schlangen einen Unterschied machte,
außer daß es diese letzteren mit etwas größerer
Vorsicht angreift. Von einem Täuschen der Beute
kann keine Rede sein und daß die Mimikry als
Schreckmittel gegen den Menschen da ist, v^'ird
niemand ernstlich behaupten wollen, da abgesehen
davon, daß die Zeichnung sicher älteren Datums
ist, die Schlangen ob giftig oder giftlos in gleicher
Weise überall erschlagen werden.
Fällt aber der Vorteil, dann fällt auch die
Mimikry und wir müssen eine andere Erklärung
suchen, Werner gibt sie in seiner bereits öfter
zitierten Schrift. „Finden wir also derartig ela-
pidenartig gefärbte Schlangen nur in Amerika
(neotropische Region), ^) so kann die Ursache nicht
in den Elaps-Arten liegen, denn warum ist in
') Die Klammer ist im Text niclit enthalten.
8o
Naturwissenschaftliche VVociienschrift.
N. F. XIII. Nr. 6
Australien, wo die Hauptmasse der Elapiden lebt,
in Afrika und in Asien keine einzige Art so ge-
färbt? Es muß die Ursache in den (Ernährungs-
oder klimatischen) Verhältnissen der Region selbst
liegen, wenn wir auch so gut wie nichts darüber
wissen, und diese Verhältnisse haben die Färbung
der Elaps-Arten ebenso wie die ihrer Nachahmer
bestimmt."
Nur so läßt es sich auch erklären, daß unter den
Elaps-Nachahmern zwei opistoglyphe Nattern sind,
Scolecophis und Er)-throIamprus, deren Gefährlich-
keit mindestens ebenso groß ist wie die einiger
amerikanischer Elaps-Arten. Was hätte daher die
Nachahmung für sie für einen Nutzen ? Oder
sollte das ein schönes Beispiel für Warnfärbung
sein, da ja nach den theoretischen Gesetzen die
Färbung um so wirksamer sein muß, je weniger
Bilder sich der Feind zu merken hat.'' Schade,
daß diese Schlangen trotz ihrer Färbung einen
Schlangenfresser nicht zurückschrecken, die Freunde
der Warnfärbungstheorie hätten ein prachtvolles
Beispiel. Außerdem stellt sich noch ein zweiter
Grund der Schlangenmimikry entgegen. Es ist
nämlich von giftigen Elaps-Arten bekannt, daß
sie zum größten Teil sehr wenig beißlustig sind,
daß dagegen die Ophibolus- Arten , die ja mit
ihrem schwachen Gebiß nichts ausrichten können,
sehr erregbar sind und sehr rasch beißen. Müßte
diese Eigenschaft den Tieren nicht schaden, wenn
wirklich ihr Schutz in ihrer Ähnlichkeit mit der
Giftschlange beruhte, sie aber jeden sofort von
ihrer ungefährlichen Natur überzeugten ?
Man hat auch unter unseren Schlangen ein
Beispiel für Mimikry in der Kreuzotter iVipera
berus) und der Schlingnatter (Coronella austriaca)
zu entdecken geglaubt. Dem Laien kann es wohl
passieren, daß er die Schlingnatter infolge ihres
kurzen, gedrungenen Körpers, ihres verbreiterten
Kopfes, ihrer Kopf- und Rückenzeichnung und
schließlich wegen ihrer Angriffslust für eine Kreuz-
otter hält, und mir ist es bereits öfter vorgekom-
men, daß mir getötete Schlingnattern als Kreuz-
ottern zugesandt wurden. Immer aber war das
nur von Leuten, die von Schlangenkenntnis keine
Ahnung hatten; wer sich aber nur einmal die
beiden Schlangen genauer angesehen hat, wird sie
sicher nicht mehr verwechseln.
Daß auch in diesem Falle von Mimikry keine
Rede sein kann, da die Schlingnatter eher Nachteile
als Vorteile aus dieser Ähnlichkeit und der damit
erleichterten Verwechslungsmöglichkeit ziehen
muß, ist fraglos. Trotzdem erklärt Jacobi: „In
den dichter besiedelten Gegenden Mitteleuropas, wo
man die Kreuzotter auszurotten sucht, dürfte diese
Mimikry der Coronella freilich eher verhängnisvoll
sein als schützend. Aber die beiden Schlangen
lebten ja längst vor der menschlichen Besiedlung
ihrer Heimat nebeneinander, und da die giftige
Art ohne ständige Verfolgung an ihren Wohn-
plätzen sehr häufig ist, die Glattnatter viel spar-
samer, so treffen die allgemeinen Mimikryregeln
hier sämtlich zu."
Wir können an diesem Beispiele wiederum
sehen, wie die Mimikr\'theoretiker arbeiten. Was
Jacobi über Glattnatter und Kreuzotter sagt,
ist gelinde gesagt unrichtig. In den weitaus
meisten Fällen kommen beide Schlangen auf ein
und demselben Gebiet nicht zusammen vor, weil
sie in puncto Aufenthalt verschiedenen Geschmack
haben. Die Glattnatter liebt die lichten, trockenen,
mit Laubgebüsch bestandenen, mit Steingeröll und
Erdlöchern versehenen Anhöhen, sonnige Halden,
warme helle Waldschläge. Sie ist im Mittelge-
birge zu Hause. Kahle Felsplateaus, Hochmoore,
feuchte Gründe meidet sie. Die Kreuzotter ver-
hält sich da umgekehrt. D ür i ge n ^1 sagt : ,,Der
Umstand, daß die Kreuzotter an ihren Aufenthalt
das Verlangen nach einem gewissen Grad von
Feuchtigkeit und Kühle und ,, Wildnis" stellt,
während die Glattnatter das Bedürfnis nach
trockenen, sonnigen, freundlichen Lagen zum Aus-
druck bringt, hat die Tatsache herbeigeführt, daß
im allgemeinen beide Schlangenarten in das Ge-
biet sich teilen, indem dort, wo sich die eine
heimisch zeigt, die andere gar nicht, oder doch
nur in untergeordnetem Grade vertreten ist." —
Wie stimmt das zu den Worten Jacobi 's?
Außerdem ist die Glattnatter nach der Ringel-
natter die verbreitetste und häufigste Schlange.
Wie soll sich da die Mimikry entwickelt haben?
Die geringe Ähnlichkeit zwischen beiden
Schlangen ist nichts anderes als eine einfache
Konvergenzerscheinung und bedarf keiner weiteren
Erklärung. —
Bleiben wir bei der heimischen Fauna und
betrachten den bekannten Rlimikryfall , Eristalis
tenax, die Schlammfliege als Nachahmer unserer
Honigbiene.
Die Ähnlichkeit zwischen beiden ist eine recht
große; sie stimmen in Größe, Form und Pelz-
farbe, ja auch in dem l'on des Summens so
ziemlich überein und wenige Laien wird es geben,
die sich eine Schlammfliege trotz der Versiche-
rung, daß es eine harmlose Fliege ist, anzufassen
trauen. Vor den Menschen ist also die Schlamm-
fliege sicher geschützt, ob sie es aber auch vor
den Tieren ist, ist nicht so gewiß.
Merkwürdigerweise gehen hier die Angaben
auseinander. Jacobi gibt eine Angabe Proch-
now's an, die jener in Landois' Tierstimmen
gelesen haben will, daß ein PVosch, der beim
Verschlingen von Bienen mit deren Stachel un-
liebsame I^ekanntschaft gemacht halte, kurze Zeit
danach Schlammfliegen unberührt ließ. Weiter
führt er eine .Angabe von Butler an, daß dessen
Käfigvögel die Fliegen verzehrten. Tatsache ist,
daß sich Eidechsen nicht genieren, Eristalis anzu-
gehen; sie fressen sie nicht sehr gerne, wahr-
scheinlich, weil sie nicht besonders schmecken,
aber töten sie, wenn man ihnen nichts anderes
vorsetzt, sowie sie keine Angst vor Wespen und
') Dürigen, Deutschlands Amphibien und Reptilien,
Magdeburg 1897, p. 333.
N. F. XIII. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
87
Hummeln zeigen. Ich habe lange Zeit Eidechsen
CTcpflegt und oft Gelegenheit gehabt, ihr Ver-
halten gegen diese Stachelträger zu beobachten.
Solange ihnen andere Tiere zur Verfügung stehen,
lassen sie diese vollkommen unbeachtet; erst
wenn alles aufgezehrt ist und im Terrarium nur
mehr die roten Baumwanzen, Käfer mit hartem
Chitinpanzer und starkhaarige Raupen herum-
kriechen, machen sie sich an die Bienen und
Wespen heran, beißen sie, beuteln sie, lassen sie
wieder los, fassen sie wieder an, zerbeißen sie
und lassen sie dann meistens liegen. Wahrschein-
lich scheint ihnen der Inhalt der zerquetschten
Giftdrüse recht wenig zuzusagen. Vor dem
Stachel haben sie aber keine Angst. Darum ist
mir die Angabe Latter's, daß seine sechs
Eidechsen durch das Summen der Volucella-Arten
in erhebliche Aufregung gerieten, nicht ver-
ständlich.
Eidechsen sind aber nicht die richtigen \'er-
suchsobjekte, um den Wert der Ähnlichkeit der
Schlammfliege mit der Honigbiene zu erproben,
da ja die eigentlichen Feinde die Vögel und
eventuell auch die Frösche sind. Daß Schwalben
die stachellosen Drohnen verschlingen, ist bekannt,
auch von den Kröten wird angegeben, daß sie
gerne und ohne schädliche Folgen für sie Wespen
verschlingen, und dann kommen noch die Schar
der eigentlichen Stechimmenfeinde, die Mero-
piden, Bienenfresser, der Tannenhäher, und manche
Raubvögel, von denen besonders die ersteren fast
ausschließlich von diesen Kerbtieren leben.
Der Nutzen, den Eristalis also aus der Ähn-
lichkeit eventuell gewinnt, ist sicher nicht groß.
.\hnlich wird es sich mit den so zahlreichen
anderen Beispielen verhalten.
Man hat auch aus der Ähnlichkeit der Volu-
cella-.Arten mit Hummeln viel gemacht; man hat
erklärt, die .Ähnlichkeit mit Hummeln diente ihnen
dazu, unerkannt und unangefochten in die Nester
der Hummeln einzudringen und ihre Eier hier
abzulegen, damit ihre Larven von denen der
Hummeln leben können. Dieser Fall ist schon
von Beddard,^) dann von Latter-) und
Speiser^) widerlegt worden und ich möchte
hier nur auf diese Arbeiten verweisen. Mit Recht
führt Keddard an, daß sich die Hummeln höchst-
wahrscheinlich um das Aussehen der Fliegen über-
haupt nicht kümmern, daß sie die Eindringlinge
vielmehr durch den Geruchsinn usw. erkennen,
wie ihnen ja Artgenossen eines fremden Stockes
auch sofort auffallen. Auch hat es allen Anschein,
als ob die Fliegen direkt geduldet wären, wofür
vor allem spricht, daß noch andere Insekten ohne
Verkleidung, sogar Fliegen ungestraft in Wespen-
nestern verkehren. Ferner machen die beiden
Abarten der Volucelia bombylans, von denen die
') Beddard, Animal Coloration, London 1S92, p. 226
bis 228.
') Latter, Natural Science. 2, 54 — 56, 1892.
') Speiser, Krancher's Entomol. Jahrbuch 17, 163 bis
167, 1908.
eine die Steinhummel B. lapidarius, die andere
die Mooshummel B. muscorum nachahmt, zwischen
ihren \'orbildern keinen Unterschied, so daß es
nichts Seltenes ist, daß man beide Abarten in ein
und demselben Hummelnest findet. Außerdem
finden sich Angaben, daß die Volucella-Larven
keine Feinde der Hummellarven sind, also keine
Schmarotzer, sondern harmlose Kommensalen, die
von den Abfällen, den abgestorbenen Larven und
Puppen leben. — Darum kommt Latter zur
Ansicht, daß die Ähnlichkeit der Fliege mit der
Hummel nicht dazu gehört, die letztere zu täuschen,
sondern daß sie vielmehr für ihre eigenen Feinde
bestimmt ist, daß sie mit der Hummel verwechselt
und darum nicht angegriffen wird. — Damit ist
aber dieser Fall gleich dem der Schlammfliegen,
und was wir früher über diese sagten, gilt auch
jetzt hiefür.
Es wäre vollständig unmöglich, auch nur den
zehnten Teil aller bekannten Mimikryfälle zu be-
sprechen; ihre Zahl ist viel zu groß. Und über-
dies sind uns die wenigsten noch genauer be-
kannt. Eine große Zahl ist am Insektenkasten
beim Vergleich der präparierten Tiere aufgestellt
worden, Beobachtungen in der Natur sind noch
verhältnismäßig selten bekannt geworden, und
wenn sie vorhanden sind, sind sie meist recht
konträrer Natur. Wir müssen deshalb die vielen
Insektenmimikryen hinnehmen, wir haben für sie
noch keine Erklärung, als eben die rein theo-
retische der Mimikry selbst. —
Ich möchte nicht gerne in das gegenteilige
Extrem verfallen und nicht für einen Menschen
gehalten werden, der aus purer Lust am Streiten
das Gegenteil behauptet, für einen Geist, der
stets verneint. Wir müssen mit Staunen die
Mimikryfälle der Schmetterlinge zur Kenntnis
nehmen, müssen die oft raffinierte Ähnlichkeit
vieler zusammen an einem Orte lebender, im
Systeme aber weit abstehender Formen ohne
weiteres zugeben und müssen für alle diese Fälle
vorläufig noch die Mimikry annehmen ■ — weil
wir zurzeit keine bessere Erklärung haben. Ich
sage zurzeit, weil ich es nicht für ausgeschlossen
halte, daß wir einst doch eine andere Erklärung
finden werden.
Und warum ich mich gegen die Mimikry
sträube ?
Wir kennen nämlich einige F'älle, die man nie
als Mimikry bezeichnet hat, obwohl alle Vorbe-
dingungen dazu vorhanden sind, die Ähnlichkeit
in manchen Fällen sogar sehr groß ist, bei der
nur der wichtigste Punkt der Mimikrj' wegfällt,
das ist der Nutzen, den die Tiere aus der Ähnlich-
keit ziehen.
Werner gibt einen recht typischen Fall an:
„Es wird z. B. wenig Zoologen geben, welche die
vollkommen unter gleichen Umständen auf Neu-
Guinea und dem Bismarck- und Molukkenarchipel
lebenden Baumschlangen Python amethj-stinus
und Dipsodomorphus irregularis ohne weiteres zu
unterscheiden imstande wären, erstere ist eine
88
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. XIII. Nr. 6
Boide, letztere eine opistoglyphe Colubride. Nie-
mand wird aber im Ernst daran denken können,
daß eine die andere imitiert; beide leben von
denselben Tierarten, sind ihnen gleich gefährlich
und was ihre Feinde anbelangt, gegen die sie
sich durch ihr Gebiß in gleicher Weise ver-
teidigen, so dürften sie außer dem Menschen
kaum welche haben." ^) Was sollen wir zu einem
solchen Falle sagen? Wären beide Schlangen
schwächer, so hätte niemand gezögert, die Ähnlich-
keit als einen großartigen F'all von Mimikry zu
erklären; so aber muß die Mimikry als Erklärung
wegfallen und wir müssen uns mit einem igno-
ramus zufrieden geben.
Kann nun nicht mit gleichem Rechte bei
vielen konstruierten Mimikryfällen der Grund der
Ähnlichkeit derselbe sein r Kann sich nicht
in manchen dieser Fälle die Ähnlichkeit heraus-
gebildet haben, ohne daß der Nutzen eine
Rolle spielte, so wie es bei den früher genannten
Schlangen gewesen sein mußte? Lassen wir das
aber gelten, so fällt damit die Mimikry. Denn
wenn die .Ähnlichkeit entstand und die Tiere
dann daraus Nutzen zogen, so hat das mit der
Mimikry nichts zu tun, da die Mimikry das Ent-
stehen der Ähnlichkeit auf der Basis des Nutzens
erklärt.
Aber der vorhin genannte Fall steht nicht ver-
einzelt da. Werner nennt noch einige. Er
spricht von der Laubheuschreckc Clonia Wahlbergi
und der Gespenstheuschrecke Palophus centaurus,
die in der Färbung bis ins Detail ähnlich sind,
beide unter gleichen Lebensbedingungen in
Deutscliostafrika leben, beide durch ihre Schutz-
gestalt hinreicliend geschützt sind, Palophus Stink-
drüsen, Clonia kräftige Kiefer besitzt. Wer ist
also der Nachahmer, wer das Modell? Es hielte
wirklich schwer, das zu entscheiden, darum ist
der Fall für Mimikry nicht verwendbar.
Ferner sind die tropisch-amerikanischen, glas-
flügeligen Mantiden (also Orthoptera) den Mantis-
piden (also Neuroptera) derselben Gebiete so ähn-
lich, daß sie selbst von Entomologen häufig ver-
wechselt werden. Beide haben die gleichen Vcr-
teidigungsmittel, die gleichen Feinde. Wer ist
also Modell, wer Nachahmer ?
Der kleine Ohrwurm Labia minor sieht kleinen
Staphyliniden sehr ähnlich, beide sind sehr wehr-
haft. Beide werden von den Mimikrytheoretikern
unbeachtet gelassen, well von einer Nachahmung,
die einen Nutzen einschließen könnte, gar keine
Rede sein kann.
Wenn wir also diese Fälle berücksichtigen,
werden wir zur Einsicht kommen, daß wir nicht
die ohne Nachsicht verurteilen dürfen, die nicht
auf die Mimikrytheorie ohne weiteres schwören.
Es ist nicht Mangel an gutem Willen, Fehlen von
Einsicht und angeborene Sucht, an allem Be-
stehenden zu nörgeln, wenn sie sich nicht zur
gleichen h'ahne bekennen, wenn sie lieber nach
tatsächlichen Verhältnissen suchen als durch An-
nahme einer theoretischen Erklärung ihre Augen
mit Scheuledern versehen und den Weg zur Er-
kenntnis versperren.
Wir wollen der Mimikrytheorie nicht zu nahe
treten, wir wollen sie nicht eliminieren und an
ihre Stelle das so ungern gesehene ignoramus
setzen, wir wollen nur vorsichtig sein und nicht
immer den Nutzen in den Vordergrund stellen
und mit seiner Hilfe die Natur erklären. Wir
wollen bedenken, daß die teleologische Erklärungs-
weise die schlechteste ist, da sie am wenigsten
zu recht besteht, und daß wir im gewissen Sinne
auch die Selektion durch die Mimikry auf dieses
Niveau herabziehen.
Ich glaube diesen Abschnitt am besten damit
abzuschließen, daß ich die Ansicht Przibram's
vorbringe, die er im Schlußkapitel seiner Ex-
perimentalzoologie *) ausspricht : ,, Wiewohl die
Mimikry in manchen Fällen ihren Trägern einen
gewissen Schutz zu gewähren scheint, führt die
Ausdehnung dieses Prinzipes auf eine größere
Anzahl von Fällen mehrfach zu Widersprüchen;
es läßt sich kaum die Erhaltung, keineswegs die
Entstehung mimetischer Formen durch die Wirk-
samkeit der Selektion erklären."
R e s u m e.
Überblicken wir zum Schlüsse noch einmal
das Gesagte und fassen wir kurz zusammen, so
müssen wir zu dem Ergebnis kommen, daß die
Selektion allein nicht imstande ist, die Schutz-
färbung, Warnfärbung, schützende Ähnlichkeit und
Mimikry zu erklären, daß wir in vielen Fällen
nach anderen Erklärungen suchen müssen, und daß
wir sie für viele F'älle auch schon gefunden haben.
r)ie Natur ist nicht so ängstlich um die ein-
zelnen Formen besorgt. L'nstimmigkeiten im
großen Getriebe treten normalerweise nie ein, es
gleicht sich alles von selbst auf die richtige Weise
aus. Daß eine Art auf Kosten einer anderen sich
stark vermehrt, daß eine P'orm dem Untergange
nahe kommt, weil ihre P'einde stark zunehmen,
kommt in der freien Natur nie vor. Erst der
Mensch vermag den regelmäßigen Gang zu stören
und das allerdings gründlich. Wo er eingreift,
schwinden die Arten dahin; Formen, die gewiß
noch nicht den Keim des Unterganges in sich
trugen, hat er vom Erdboden vertilgt. Gegen
sein Wüten hat die Natur kein Mittel. Die Welt
ist eben vollkommen überall, wo der Mensch nicht
hinkommt mit seiner Qual. L^nd will er gar der
der Natur unter die Arme greifen und die Welt
verbessern, so zeigt sich bald der Erfolg in un-
angenehmer Weise. Ich erinnere nur an den
P^all : Gemsen und Adler im Hochgebirge. Seit
die Adler fast verschwunden sind, geht das Gems-
wild zurück. Krankheiten, die man sonst nicht
bemerkt hatte, treten jetzt auf; man merkt schon
') Nochmals Mimikry usw. Biol, Centralblatt XXVIII.
P- 591-
') Deuticke's Verlag, Wien, Bd. III, 191
N. F. XIII. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
89
deutlich, daß den Adlern nur die Schwächlinge
und kranken Tiere zum Opfer fielen, die jetzt un-
angefochten weiterleben, die Krankheit verbreiten,
sie sogar fortpflanzen.
Wir dürfen uns eben nie vorstellen, daß
zwischen Feind und Beute eine ähnliche, un-
sinnige Konkurrenz herrscht wie z. B. zwischen
modernen Staaten. Der eine baut große Schifte,
der andere darf nicht zurückbleiben, der eine er-
findet Panzerplatten, die mit den gewöhnlichen
Geschossen unzerstörbar sind, der andere konstruiert
dann nach langer Arbeit Geschütze, deren Geschosse
die feindlichen Platten leicht durchschlagen, ja so-
gar noch einer Verbesserung der Platten, die
ja naturgemäß erfolgen muß, standhalten können.
Der eine baut eine große I-'estung mit streng ge-
heimgehaltener Einrichtung, der andere trachtet
nun mit allen Mitteln durch Spione die Einrich-
tung zu erfahren. Und er erfährt sie und die
Reaktion darauf ist der Umbau der Festung, die
ja in ganz kurzer Zeit wieder verraten ist. So
seht der widersinnige Wcttlauf weiter, wie weit r —
So liegen die Verliältnisse bei den Tieren
nicht. Würde das Tier besser an die Umgebung
angepaßt sein, müßte der Feind mit einer besseren
Ausbildung der Sinnesorgane antworten, und das
Resultat wäre das gleiche wie früher.
Die experimentelle Biologie ist noch ein Kind;
hoffen wir, daß sie uns auch die Lösung unserer
Frage bringen wird.
Einzelberichte.
Völkerpsychologie. Eine neue Erklärung von
Exogamie und Totemismus und der Beziehungen
der beiden so weit verbreiteten Einrichtungen zu-
einander gibt Walter Heape in seinem Buch „Sex
Antagonism" (London 1913, Constable & Co., Preis
7^., Schilling). Heape's Grundgedanke ist, daß
das sexuelle Bedürfnis der beiden Geschlechter
wesentlich verschieden ist. Der Trieb des Mannes
ist individualistisch und auf augenblickliche Be-
friedigung gerichtet, jener des Weibes richtet sich
auf die Mutterschaft und die Aufzucht von Kindern.
Außerdem seien Not sowie Leben im Überfluß
einer Herabdrückung des weiblichen Geschlechts-
empfindens günstig, während die Sexualität des
Mannes mindestens bei zunehmendem Wohl-
stand gesteigert wird. Daraus resultiert ein Ge-
schlechtergegensatz, auf den auch Exogamie
und Totemismus begründet sind: Heape meint,
daß mit zunehmender Kultur das sexuelle Be-
dürfnis der Männer gesteigert wurde, was zum
Verlangen des X'erkehrs mit familien- oder gruppen-
fremden Flauen führte. Daraus ergab sich die
Exogamie als ein Produkt männlichen Instinkts.
Der Totemismus hingegen ist ein mehr oder we-
niger kompliziertes System, das den Zweck hat,
der sexuellen Befriedigung der Männer Schranken
zu setzen. Der Gedanke dazu kann nur vom
weiblichen Geschlecht ausgegangen sein, da die
Männer doch keinen Anlaß dazu hatten, der Mög-
lichkeit ihrer Befriedigung Grenzen zu stecken.
Zudem ist der Mystizismus, der den Totemismus
umgibt, eine Eigenart der weiblichen Psyche. Be-
züglich des Einflusses der Änderungen wirtschaft-
licher Zustände auf das Verhältnis der Geschlechter
zueinander stimme ich Heape in der Hauptsache
zu. (Siehe Naturw. Wochenschr. 191 3, S. 360
bis 361.) Einen breiten Raum in Heape's
Buch nehmen Polemiken gegen Prof. Frazer's
„Totemism and Exogamy" ^) ein.
Neues Licht auf Probleme der afrikanischen
Völkerpsychologie wirft Leo Frobenius' jüng-
stes Werk „Unter den unsträflichen Äthiopen." ^)
Frobenius zeichnet sich unter den modernen
Völkerforschern durch ein großes Maß von Eigen-
art aus. F^r baut nicht auf alten Fundamenten
weiter, sondern er trägt neues Material über die
Kulturen der Afrikaner zusammen und will daraus
ein vom Grund aus neues Lehrgebäude errichten.
Er fand viele gute Bausteine, wo andere achtlos
vorbeigingen, und er versteht sie zu werten.
Wie in seinen früheren Bücliern, so entwickelt
Frobenius auch in den ,, Unsträflichen Äthiopen"
großzügige Gedankenreihen und er versucht Lö-
sungen verwickelter Kulturprobleme, die Bewun-
derung verdienen, ganz abgesehen davon, ob und
wieweit man ihm zustimmen mag.
Frobenius stellt fest, daß der Sudan zwischen
der Senegalmündung und Abessynien von einer
Doppelschicht dunkelhäutiger Menschen bewohnt
ist: In den Städten, auf den großen Flächen und
als Träger politischen Übergewichts treten uns
allenthalben staatenbildende Völker entgegen,
welche die jüngere Schicht bilden. In den Berg-
tälern und in den durch Sümpfe und andere
Eigentümlichkeiten des Geländes geschützten
Gegenden wohnen kleine Stämme, die sich nach
außen durch mangelnde politische Macht, Zurück-
gedrängtheit und sprachlichen Zerfall kennzeichnen.
Die Kultur dieser ,, Splitterstämme" stimmt im
wesentlichen überein. Überall dokumentieren
diese Stämme grundsätzliche Abneigung gegen
äußere Einflüsse und feste Anhänglichkeit an alte
P^inrichtungen und Bräuche. Frobenius sieht
die Splitterstämme als die Erben der altklassischen
äthiopischen Kultur an, denn vieles, was wir aus
der klassischen Literatur über die äthiopische
Kultur erfahren, hat sich hier in den Bergland-
schaften des Sudan mehr oder weniger gut er-
•) London iqio, Macmillan (4 Bände).
') „Und Afrika sprach". ... 3. Bd., mit Tafeln, Texl-
bildern und Karten. Charlottenburg ^1913!, Vita. 20 Mk.
90
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 6,
halten. Aus F r o b e n i u s ' Schilderung gewinnt
man den Eindruck, daß es sich hier um eine der
Fortentwicklung nicht mehr fähige, gewissermaßen
versteinerte Kultur handelt. Das konservative
Wesen der Äthiopen war auch schon den Ost-
völkern des klassischen Altertums bekannt, die
sich durch chaotische Mischung der Kulturformen
und besonders der Religionen auszeichneten, und
inneren Zusammenhang ihrer Weltanschauung
ihrer Kultushandlungen usw. nicht bewußt;
denn, sagt Frobenius, sie handeln gewohnheits-
gemäß und entsprechend dem Herkommen. Die
ganze Weltanschauung liegt im Unbewußtsein.
Es ist heute ein Gebäude, das aufgebaut ist aus
dem Material der Überlieferung und das erhalten
wird durch die Unwandelbarkeit der Verhältnisse.
Einige der wichtig-
===== "^""^1 sten Eigenarten der
I äthiopischen Kultur
sind folgende: Das so-
ziale System ist sozu-
sagen ein zellenmäßi-
ges. Es beruht auf
patriarchalischer Ge-
schlechtergruppierurig,
aber die Gruppen sind
nach außen isoliert,
d. h. jedes Geschlecht
lebt ohne profan-
soziale Verbindung
mit anderen Geschlech-
tern für sich und
erkennt keinerlei Obrig-
keit an, die den Ge-
schlechtergerecht-
samen übergeordnet
sein könnte. Esiierrscht
„Patrialanarchie''. Die
Geschlcchtergruppie-
rung ist mit einem
ausgesprochenen Ma-
nismus verbunden:
Jede zusammenhausen-
de Geschlechtergruppe
stellt eine ewig sich
erneuernde oben ab-
sterbende und von
unten nachwachsende
Zelle dar. Jeder Alte,
der stirbt, kehrt als
Kind im gleichen
,, Hause" wieder. Da
die Toten in die Erde
versenkt werden, so
stehen sie mit dem
tellurischen Dienst in
Beziehung. Alle ma-
nistischen Opfer und
Kultushandlungen hat
natürlich der Ge-
schlechterherr zu voll-
Abb.
I. Munibajiinglinge im Herbst- und Erntetanz-Festschmuck.
(.^us Frobenius, „Die Unsträflichen Äthiopen".)
die mit gewisser Achtung auf jene Inlandvölker
hinübersahen , die ihrer Xationalkultur treu ge-
blieben waren und deshalb die „unsträflichen"
Äthiopen genannt wurden.
Die heutigen Äthiopen sind sich über den
ziehen. Die Geschlech-
tergruppen , die zwar
keine politische Orga-
nisation bilden, sind
zu Sakralgemeinschaften mit einem Priester
an der Spitze zusammengeschlossen. Die Sakral-
gemeinschaft stellt das Stammesband dar, und
ihr führender Priester gibt die Verordnungen in
bezug auf Jahreszeitopfer, in bezug auf der Gott-
X. ]•'. XIII. Xr. 6
Xaturwissenschaftliche Wochenschrift.
91
heit genehme Friedens- und Kriegszeiten, in beziig
auf die Erziehung der Jugend in der Buschzeit usw.
Die äthiopische Religion bezeichnet Proben ius
als Tellurismus. Sie war und ist ein Mittelding
zwischen einem ganz primitiven und ungeregelten
Animismus (der alle Dinge als beseelt und leben-
dig ansieht) und
dem ersten Mono-
theismus; diesem
steht sie jedoch
näher als dem Ani-
mismus. Die äthio-
pische Religion muß
aus der Erkenntnis
hervorgegangen
sein, daß Werden
und Vergehen von
einer Kraft ausgeht.
Dies führte zu dem
Kultus, der in Saat-
und Erntefesten, in
Buschzeiten und
durchaus sakralen
Trinkfesten gipfelte.
Bei einigen moder-
nen äthiopischen
Stämmen bestehen
noch Gebräuche,
welche an den Opfer-
tod des Priester-
königs der alten
Athiopen gemahnen.
Die Sprachen der Athiopen sind voneinander
stark verschieden, was vor allem der isolierenden
Geschlechterorganisation, dem mangelnden Sozial-
gefüge, zuzuschreiben ist; überdies kommen noch
das Alter und der senile Charakter der ^Vthiopen-
kultur und die geographische Zerrissenheit ihrer
Abb. 3. Terrassenfarmbau der Kabre.
(Aus: Frobenius, „Die Unsträflichen Athiopen".)
In wirtschaftlicher Hinsicht sind die modernen
.Athiopen Sorghumbauern; daneben spielt die
Hausindustrie eine Rolle. Der Grund und Boden
ist Gemeinbesitz.
Abb. 2. Kabrenjädchen. (Aus: Frobenius, ,,rjie Unsträl liehen .•\tlnopen".)
heutigen Zufluchtsorte in
Betracht. Der äthiopische
Kulturkreis stimmt im all-
gemeinen überein mit dem
Verbreitungsgebiet der Su-
dansprachen, wie es durch
Meinhoff und West er-
mann festgestellt wurde.
In Details variiert zwar
die äthiopische Kultur, ihre
Grundlagen sind aber bei
allen „Splitterstämmen" mit
isolierender Sozialorgani-
sation die gleichen, und sie
scheint von benachbarten
Kulturen wenig beeinflußt
worden zu sein. So blieb
die Grundlage der sozialen
Organisation patriarchalisch,
während die lybische Kultur
im Norden durchaus und
die westafrikanische Wald-
kultur vorwiegend matri-
archalisch sind. Auch in
anderer Beziehung scheint
die Beeinflussung von außen
gering gewesen zu sein.
Frobenius ist der Ansicht, daß die äthio-
pische. Kultur nicht afrikanischen Ursprungs
ist, denn das Korn, das die Athiopen als heiliges
92
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 6
und maßgebendes anbauen, ist das .Sorghum, also
eine aus Asien stammende Frucht. Beobachtungen
an anderen Früchten und an den Haustieren der
Athiopen führen zu ganz gleichem Ergebnis, so
daß man sagen kann, die äthiopische Kultur ist
in vorgeschichtlicher Zeit aus Asien nach Afrika
herübergekommen und zur homerischen Zeit war
sie wohl noch in voller Originalität erhalten.
Heute ist sie senil geworden, aber dennoch ist
sie charaktervoll und typenrein geblieben.
H. P^ehlinger.
Zoologie. Marine Relikte der nordeuropäischen
Binnengewässer. Durch die Untersuchungen zahl-
reicher Gelehrter ist festgestellt worden, daß der
arküsch-marine Krebs 3/ysis oculata nach der
Eiszeit in verschiedenen Bmnenseen eine morpho-
logisch wohl charakterisierte Form gebildet hat,
die von Loven als Mxsis rclicta zuerst beschrie-
ben wurde. Für die Seen des Baltikums ist auch
(vor allem durch Samter 's und VVeltner's
Arbeiten) die genaue „Einwanderungsgeschichte"
der Reliktenmysis recht gut bekannt. Nun ent-
deckte der bekannte schwedische Hydrobiologe
Sven Ekman (Int. Revue d. ges. Hydrobiol. und
Hydrographie V, 1913, p. 540 — 550) in einem
großen, aus dem Mälarsee stammenden Material
dieser Form ein Mysismännchen , das zwar in
vielen Charakteren mit Mxsis ocidata f. rclicta
übereinstimmte, andererseits aber doch eine so
große Ähnlichkeit mit tler im Ostseebecken häu-
In der beistehenden Tabelle sind diese Merkmale
übersichtlich zusammengestellt.
Die Überführung in Süßwasser hat
also bei iiiixta wie ocitlafa an den glei-
chen Körperteilen gleichartige Ver-
änderungen hervorgerufen. Und dieser
durch \' eränderte Milieubedingungen
herbeigeführte konvergierende Ent-
wicklungsgang ist soweit vorgeschrit-
ten, daß die Weibchen der Formen
in (ila r c II sis und rclicfa morphologisch
identisch sind!
Diese eigenartige Erscheinung wird verständ-
lich, wenn man jugendliche Individuen von ii/ixfii
bzw. oculata mit inälarciisis bzw. rclida vergleicht ;
es zeigt sich dann eine große Übereinstimmung
der Stammarten mit den abgeleiteten Formen;
oder m. a. W. rclicfa wie iiiälarci/sis sind aus
ihren Stammformen durch Hemmungsvorgänge in
der Entwicklung einzelner Organe entstanden.
Bei einem Vergleich der verschiedenen Arten \-on
Mysis und der Gattungen aus der Verwandtschaft
von Mysis ergibt sich, „daß die bei /. rclicfa und
/. inälarcnsis neuauftretenden Eigenschaften eigent-
lich intermediäre Merkmale sind, die man also als
Merkmale der hypothetischen Stammform der
betreftenden Mj-siden annehmen muß". Es kann
nicht bezweifelt werden, daß das Leben im Süß-
wasser — also ein Entwicklungsfaktor, der nichts
mit den Existenzbedingungen der (marinen) Vor-
fahren der beiden Arten zu tun hat — diese re-
mixta
mälarensis
oculata
relicta
Körperlänge in mm
liis 30
1 ;;
l.ls 25
liis 20
Länge: Breite der Schuppe der 2. .Antenne
9:1
4:1
6:1
4: I
Länge : Breite des l'ropodenendopodits
fast 9 : I
fast 7 : I
—
Länge kleiner als
bei oculata
Dorne am Innenrand des Uropodenendopodits
etwa 14
5
7
4-6
Telsonlänge : Tiefe der Endbucht
4,4: I
8: I
5:1
5.9-9,3 : I
Dorne jederseits am Außenrande des Telsons
etwa 30
19
gegen 30
15 — 22
Glieder des „Tarsus" der Pereiopoden
8-9
5-6
6-7
'5—7
figen und verbreiteten Mysis iiiixfa I.illjeborg
zeigte, daß sie als eine zu dieser Art gehörige
Form ( /. inälarcnsis) betrachtet werden muß.
,,Die Form sieht im ganzen wie eine rclicfa aus,
ist aber mit den sekundären männlichen Ge-
schlechtscharakteren von AI. iiiixfa ausgerüstet.''
Die Übereinstimmung der neuen Form mit J7.
m'ixfa ist eine derartige, daß man sie von iiiixfa
ableiten muß : beim Übergang aus dem salzigen
Ostseewasser in das Süßwasser des Mälaren hat
sich die forma inälarcnsis aus der Rlixtastamm-
form herausgebildet. Und interessanterweise sind
die Charaktere, durch die sich inixfa und inäla-
rcnsis unterscheiden, ganz gleichartig den Unter-
scheidungsmerkmalen zwischen ocnlafa und rclicfa.
gressiven Veränderungen herv^orgebracht hat. Die
Erklärung für diese, im ersten Augenblick viel-
leicht befremdende Erscheinung liegt darin, daß
der neue Faktor, das Leben im Süßwasser, ein
für die Entwicklung eigentlich mariner Arten un-
günstiger ist. Thienemann (Münster i. W.).
Darstellung von Argon. — Im September 1894
wurde die wissenschaftliche Welt durch eine Mit-
teilung von Lord Rayleigh und W. Ramsay
überrascht, daß die Luft neben Stickstoff, Sauer-
stoff und Kohlensäure ein noch unbekanntes Gas
enthielt, das Argon, wie es wegen seiner Unfähig-
keit, chemische Verbindungen einzugehen, genannt
wurde. Den beiden englischen Forschern war es
N. F. XIII. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
93
aufgefallen, daß der aus Luft gewonnene Stick-
stoff stets etwas schwerer war als der aus stick-
stoffhaltigen Verbindungen (Ammoniumnitrit I her-
gestellte. Sie schlössen auf das Vorhandensein
eines unbekannten Gases in der Luft, das schwerer
wäre als Stickstoff und das daher den Luftstick-
stoft' schwerer erscheinen ließe. Dadurch, daß sie
den Luftstickstoff über glühendes Magnesium hin-
streichen ließen, wurde er von diesem gebunden
und das Argon isoliert. Spätere Untersuchungen
haben ergeben, daß neben dem Argon noch eine
ganze Reihe anderer Gase, allerdings nur in sehr
geringen Mengen, in der Luft enthalten sind. Man
hat sie Edelgase genannt, weil sie sich ähnlich
wie die Edelmetalle außerordentlich schwer oder
zum Teil überhaupt nicht mit anderen Elementen
verbinden. Nach neueren Untersuchungen ent-
halten lool Luft I 1 Argon, 1,5 ccm Neon, 0,15 ccm
Helium, 0,005 ccm Krypton, 0,0006 ccm Xenon.
Die Darstellung des Argons war bisher ziemlich
umständlich und zeitraubend. Außer dem er-
wähnten Verfahren kam ein zweites auch von
Lord Rayleigh angegebenes in Betracht, das
darin besieht, daß man durch Luft, zu der man
Sauerstoff hinzugibt, Induktionsfunken lange Zeit
hindurchschlagen läßt; es verbindet sich der
Stickstoff mit dem Sauerstoff und man entfernt
die gebildeten Stickoxyde durch Auflösen in
Kalilauge. Ist auf diese Weise der ganze Stick-
stoff oxydiert und durch Auflösen in Kalium-
nitrit verwandelt, so bleibt in der Entladungsröhre
das Argon und die übrigen Edelgase zurück.
J. Stark gibt in der physikalischen Zeitschrift
(Bd. 14, p. 497, 1913) ein neues Verfahren an,
das in kurzer Zeit Argon liefert. Er benutzt zur
Darstellung den verdichteten Sauerstoff", der be-
kanntlich in stählernen Bomben in den Handel
kommt. Dieser Sauerstoff wird fast immer aus
flüssiger Luft gewonnen; da nämlich der Stick-
stoff einen tieferen Siedepunkt (—196") hat als
Sauerstoff ( — 183"), verdampft er schneller als
der letztere, so daß die zurückbleibende Flüssig-
keit an Sauerstoff angereichert wird. Auch der
Siedepunkt des Argons liegt mit — 187" über
dem Siedepunkt des Stickstoffs; die Folge ist,
daß wegen des langsameren Verdampfens des
Argons (im Vergleich zum Stickstoff) der Bomben-
sauerstoff mehr Argon enthält als die Luft, näm-
lich etwa 4^/0 (dazu 6"/,, Stickstoff). Füllt man
eine mit 2 Elektroden versehene Entladungsröhre,
die außerdem eine kleine Menge Quecksilber ent-
hält, mit Bombensauerstofil' und evakuiert mit
einer Luftpumpe so weit,,daß die Entladung eines
Induktors in Form des Glimmstroms durch die
Röhre geht, so sieht man, wenn man jetzt das
Quecksilber mit einem Brenneri' erhitzt, daß sich
an den Rohrwandungen ein feines rotes Pulver
absetzt, ein Gemisch von Quecksilberoxyd und
-nitrit. Unter der Einwirkung des Glimmlichts
verbinden sich Sauerstoff, Stickstoff und Queck-
silber miteinander,* während das Argon zurück-
bleibt. Gibt man jetzt fortlaufend kleine Mengen
Bombensauerstoff hinzu und schickt nach jeder
Füllung die Entladung hindurch, so erhält man
in kurzer Zeit größere Mengen von Argon. Das
so dargestellte Gas erweist sich bei der Unter-
suchung mit dem Spektroskop als frei von Stick-
stoff und Sauerstoff Besonders interessant ist die
Erklärung, die Stark von dem Versuche gibt:
Die Kathodenstrahlen der Entladung, die ja aus
Elektronen bestehen, die mit ganz außerordent-
licher Geschwindigkeit von der Kathodenober-
fläche fortgeschleudert werden, zersprengen beim
Aufprall durch ihre Wucht die Stickstoff- und
Sauerstoftmoleküle, so daß sie sich in einzelne
Atome spalten (O, =^ 0 + 0 bzw. N, — >-N + N).
Die Atome sind aber wegen der freien Bindungen
bei weitem reaktionsfähiger als die Moleküle; die
Gase werden also durch den Stoß der Elektronen
aktiviert. Es ist zu erwarten, daß auch andere
Gase und Dämpfe sich im Glimmstrom aktivieren
und zu neuen Reaktionen nutzbar machen lassen
werden. Dr. K. Schutt.
Kleinere Mitteilungen.
Bestimmung des Methylalkohols in Spirituosen.
— In der Zeitschr. Unters. Nähr. u. Genußmittel
(191 2, Bd. 24, p. 731) hat J. He t per eine Me-
thode zur Bestimmung des Methylalkohols in
Spirituosen angegeben.
Durch genaue Bestimmung des spez. Gewichts
des zuerst aus alkalischer dann aus saurer Lösung
gewonnenen Destillates muß zuerst der Gesamt-
alkohol bestimmt werden.
Bei einem Alkoholgehalt von 45 — 55 "/g ist
das spez. Gewicht für Äthylalkohol oder Methyl-
alkohol oder ein Gemisch beider nicht wesentlich
verschieden.
Das Destillat wird auf spez. Gew. 0,910 bis
0,915 gebracht.
Dann wird eine bestimmte Menge hiervon mit
phosphorsäurehaltiger Permanganatlösung be-
handelt.
Dabei wird der Methylalkohol zu Kohlensäure,
der Äthylalkohol zu Essigsäure oxydiert.
I g Methylalkohol entspricht 187,5 ccm n/j
Kaliumpermanganatlösung,
I g Äthylalkohol entspricht nur 87 ccm n'j
Kaliumpermanganatlösung.
Ist Äthyläther oder Furfurol vorhanden, welche
beide ein hohes Reduktionsvermögen gegen Per-
manganat besitzen, so ist die Methode nicht an-
wendbar.
Andere flüchtige Stoffe, wie sie in Spirituosen
häufig vorhanden sind, schaden nicht.
Aus der Menge des verbrauchten Permanganat
kann man auf die Menge des beigemischten
Methylalkohols schließen. Th. B.
94
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 6
Sticivstoffquellen. *) Die Luft entliäh 78 Volum-
prozent Stickstoff. Auf einem Hektar Bodenfläche
lagern schätzungsweise 100 000 Tonnen Luft.
Wir leben also in einem unermeßlichen iVleer von
Stickstoff, waren aber noch bis vor kurzer Zeit
nicht imstande aus diesem gewaltigen Stickstoff-
vorrat Stickstoff zu erzeugen, welcher der Pflanze
als Stickstofifquelle dienen könnte. Die Schuld
liegt in der Indifferenz des Luftstickstoffes. Die
Pflanzen brauchen zu ihrer Entwicklung Phosphor,
Schwefel, Kali, Kalk, Magnesia und vor allem
Stickstoff Unsere Kulturpflanzen entziehen der
Ackerkrume diese Stoffe allmählich, und der Land-
wirt muß sie ersetzen, wenn er auf eine weitere
Nutznießung der Zeugungskraft des Bodens reflek-
tiert. Kali und phosphorsäurehaltige Düngemittel
sind am Markte leicht zu beschaffen, nicht aber
Stickstoffdünger. Gerade der Stickstoff ist aber
der wichtigste Pflanzennährstoff
Zur Deckung des Stickstoffbedarfes reicht der
Stallmist bei weitem nicht aus; man griff daher
zu neuen stickstoffhaltigen Substanzen wie Blut-
mehl, Pleischmchl, Hornmehl, Guano usw. Auch
diese waren in so geringer Menge auf dem Markte,
daß damit keine wesentlichen Fortschritte erzielt
werden konnten. Um der Stickstofifnot zu steuern,
wandte man sich den anorganischen stickstoff-
haltigen Produkten zu und zwar dem schwefel-
sauren Ammonium und dem Chilesalpeter.
Schwefelsaures Ammonium wird als Nebenprodukt
bei der Leuchtgasfabrikation gewonnen. Die
Produktion ist vollkommen abhängig von dem
Leuchtgaskonsum und kann infolgedessen nicht
beliebig gesteigert werden. Der Chilesalpeter ist
ein ausgezeichnetes Düngemittel. Es wird aber
nicht mehr lange dauern und der Vorrat wird er-
schöpft sein. Im Jahre 1880 betrug die chilenische
Salpeterausfuhr bereits 225000 Tonnen. Bei der
heutigen Jahresausfuhr von 2 Millionen Tonnen
dürfte der Chilesalpeter in einigen Jahrzehnten
aufgebraucht sein. Man mußte daher an das
Problem herantreten, den elementaren indifferenten
Luftstickstoft" in den Dienst der Landwirtschaft zu
stellen. Dies gelang auf verschiedenen Wegen
und zwar:
1. Durch direkte Verbrennung des Luftstick-
stoffes unter Bildung von Salpetersäure, Nitraten usw.
2. Durch direkte Vereinigung von Stickstoff
und Wasserstoff zu Ammoniak.
3. Durch die Bindung von Stickstoff an Metalle
oder Metalloide unter eventueller weiterer Um-
setzung der entstehenden Produkte.
4. Bakterien.
Die Verbreimung des Luftstickstoffes geschieht
') A. Bcrntlisen, ,,Die Gewinnung von Ammoniak aus
neuen Elementen." Internationaler Chemiker-Kongreß in New-
York 1912.
Hans tiarrer, „Landwirtschaftliche Stickstoffbilanz und
Luftslickstoff."
W. Nernst, ,,Über die Rolle des Stickstoffs für das
Leben". 10. Jahresversammlung des Deutschen Museums zu
München am I. Oktober 1913.
zunächst nach einem Verfahren von den Norwegern
Birkeland und Eyde. Die Birkeland-Eyde-
sche Arbeitsweise besteht darin, daß der elektrische
Funke die Verbindung zwischen Stickstoff und
Sauerstoff in der Luft herstellt, indem er eine
Fläche bestreicht. Zu diesem Zwecke bringt man
einen Wechselstromflammenbogen genau zwischen
die Pole eines gewaltigen Magneten. Der Flammen-
bogen bewegt sich mit außerordentlicher Ge-
schwindigkeit im elektrischen Felde, die Länge
des Flammenbogens und der Widerstand nehmen
beständig zu, die Spannung wächst so lange an,
bis an den Elektroden ein neuer Flammenbogen
entsteht und der ursprüngliche erlischt. Der posi-
tive und der negative Teil des Bogens gehen ent-
gegengesetzt, so daß eine leuchtende Scheibe ent-
steht. Die Spannung des Stromes ist relativ
mäßig (5000 Volt), ebenso die Frequenz (50). Bei
der Verbrennung der Luft steigt die Temperatur
im Verbrennungsofen auf 3000 •• C. Die ver-
brannte Luft wird durch einen ringförmigen Kanal
abgesaugt, sie hat eine Austrittstemperatur von
700'' und enthält etwa ein Prozent Slickoxyd.
Die nitrosen Austrittsgase werden, um eine Zer-
setzung des bei hohen Temperaturen unbeständigen
Stickoxydes zu verhindern, in metallenen Kühl-
schlangen rasch auf 200" abgekühlt, und zwar
leitet man diese Kühlschlangen unter die Dampf-
kessel der Fabrik, um die große Wärmemenge
nutzbar zu machen. Nach einer weiteren Kühlung
auf 50" werden die nitrosen Gase in Oxydations-
kammern geleitet, in denen die Oxydation des
Suckoxydes zu Stickstofftetroxyd vor sich geht,
welches in Wasser zu 50 "/o Salpetersäure gelöst
wird. Die nicht absorbierten Gase werden in
einem Kalkmilchturni zu Calciumnitrat und Calcium-
nitrit verarbeitet und letzteres durch Salpetersäin-e
in Calciumnitrat überführt. Der unter dem Namen
Norgesalpeter in den Handel gebrachte salpeter-
saure Kalk stellt ein vorzügliches Düngemittel
dar und ist dem Chilesalpeter in jeder Richtung
gleichwertig. Die Fabrik zu Notodden in Nor-
wegen ist auf eine Jahreserzeugung von etwa
20000 Tonnen eingerichtet.
Die Badische Anilin- und Soda fabrik
hat ebenfalls eine derartige Methode ausgearbeitet.
Im Gegensatz zum Birkeland- Eyde- Verfahren
arbeitet sie mit einem ruhenden Lichtbogen. Um
dennoch eine innige Berührung zwischen Luft
und Flammenbogen zu erzielen, wird die Luft
beim Einblasen in die Verbrennungskammer in
wirbelnde Bewegung versetzt und im ruhenden
Zentrum des Luftwirbels brennt der Lichtbogen.
Die Gesellschaft baut eine Wasserkraft von
120000 Pferdekräften in Norwegen aus und will
auch in Bayern, durch Überleiten der Alz — dem
Abfluß des Chiemsees — in die Salzach, eine ent-
sprechende Kraftquelle diesen Zwecken nutzbar
machen. Dieses Projekt ist jedoch von der Hal-
tung der Österreichischen Regierung abhängig, die
bekanntlich den Hauptzufluß des Chiemsees auf
Österreichischem Gebiete in den Inn ableiten will.
N. F. XIII. Nr. C^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
95
Mit der direkten Vereinigung von Stickstoff
und Wasserstoff zu Ammoniak befaßte sicli Prof.
Haber, der jetzige Direktor des physikalisch-
chemisclien Institutes der Kaiser-Wilhelms-Stiftung
in Berlin, und die Badische Anilin- und Sodafabrik
in Ludwigshafen am Rhein. Das Verfahren wurde
in zahlreichen Patenten niedergelegt, die technische
Lösung ist eine endgültige. Die erste Fabrik,
welche sich mit der Herstellung von synthetischem
Ammoniak aus seinen Elementen beschäftigt,
wurde in Oppau bei Ludwigshafen am Rhein ge-
gründet. Die Schwierigkeiten, mit denen Prof.
Haber zu kämpfen hatte, waren ganz außer-
ordentliche. Zunächst muß bei ungeheueren
Drucken gearbeitet werden, Drucke, die man bis-
her nie in der synthetisch-technischen Chemie
verwendet hat. Gleichzeitig kommen sehr hohe
Temperaturen in Anwendung. Durch die Auf-
findung von Katalysatoren, welche bei weit
niedrigeren Temperaturen eine genügend schnelle
Vereinigung von Stickstoff und Wasserstoff zu
Ammoniak herbeiführen, erzielte Haber wesent-
liche Fortschritte. Bei 200 Atmosphären Druck,
einer Temperatur von 650 — 700" unter Verwen-
dung von reinstem Eisen als Katalysator, das
einen Raum von 20 ccm einnimmt, und bei einer
Gasgeschwindigkeit von 250 1 (gemessen bei ge-
wöhnlichem Druck) erhält man in der Stunde
leicht z. B. 5 g, oder pro Liter Kontaktraum
250 g Ammoniak. Mit der technischen Nutzbar-
machung des Verfahrens betraute die Badische
Anilin- und Sodafabrik Herrn Dr. Karl Bosch.
Durch die speziell von Dr. A. Mittasch auf
Grund vieler Einzelversuche gewonnenen Einblicke
in die Bedeutung der verschiedenartigen Akti-
vatoren und Katalysatorengifte ist nunmehr eine
sichere Grundlage für einen zuverlässigen Dauer-
betrieb mit guten Ammoniakausbeuten geschaffen.
Die Bindung von Stickstoff an Metalle und
Metalloide geschieht neben anderen Verfahren
nach dem Franke- Caro'schen Prozeß. Franke
und Caro führten die Entdeckung Moissons,
daß die Karbide bei hoher Temperatur Stickstoff
anlagern unter Bildung von Calciumcyanamid, in
den chemischen Großbetrieb ein. Das rohe
Calciumcyanamid wird gewöhnlich zur Zersetzung
des noch darin enthaltenen Karbids hydriert und
geölt. Die so behandelte Ware enthält 15 — 17"/,,
Stickstoff und wird als „Kalkstickstoff" zur Düngung
verwendet. Jeder Boden hat ein gewisses Optimum
an Aufnahmefähigkeit für Stickstoffdünger. Ein
starkes Überschreiten desselben bedeutet nicht
nur eine überflüssige Ausgabe, sondern kann so-
gar schädlich auf die Feldfrucht einwirken. Am
weitesten kommt man mit einer guten Kombina-
tion von Stalldüngung oder Gründüngung mit der
mehr akzessorisch wirkenden künstlichen Düngung.
Eine weitere Möglichkeit, den Stickstoff der
Luft der Landwirtschaft nutzbar zu machen, bieten
die stickstoffbindenden Bakterien. Doch soll auf
diese hier nicht weiter eingegangen werden.
Dr. R. Ditmar.
Biicherbesprecliungen.
Prof. Friedrich Dahl, Vergleichen dePhysio-
logie und Morphologie der Spinnen-
tiere unter besonderer Berücksichti-
gung der Lebensweise. I. Teil: Die Be-
ziehungen des Körperbaues und der Farben
zur Umgebung. Jena 191 3, Verlag von G. Fischer.
— Preis 3,75 Mk.
Die Frage, welche Faktoren bei der Heraus-
bildung der Art maßgebend gewesen sind, wird
von den Biologen verschieden beantwortet. Der
eine Teil sucht die Ursachen der Umwandlung in
einer Zielstrebigkeit des Organismus, also in Ent-
wicklungsgesetzen, die im Organismus selbst liegen.
Die Vertreter der anderen Richtung dagegen er-
klären die Anpassung an die äußeren Lebens-
bedingungen als Folge der natürlichen Zuchtwahl.
Nach ihnen ist nicht die Anlage des Organismus
als treibendes Moment zu betrachten, sondern viel-
mehr die Einwirkung der Außenwelt, die das
Überleben des Passendsten herbeiführt. Beide An-
schauungen suchen die gleiche Erkenntnis zu er-
klären : Bau und Lebensweise eines Organismus
bilden eine vollkommene Einheit.
Die vorliegende Schrift stellt insofern eine
wesentliche Neuerung dar, als hier zum erstenmal
von der Lebensweise einer Tiergruppe ausgegangen
und aus ihr deren Organisation erklärt wird. Der
Verfasser faßt alle morphologischen Eigenschaften
als durch Anpassung geworden auf, und zwar
durch passive Anpassung, denn er ist konsequenter
Vertreter der zweiten Richtung. Es gibt nicht
nur einige Spezialanpassungen des Tierkörpers,
auch die systematischen Gruppencharaktere sind
Anpassungen. Sie sind aus früherer Zeit mit
herübergenommen und nur durch Neuanpassungen
hier und da verwischt.
Diese allgemeinen Gedanken werden an den
Spinnentieren erörtert. Zunächst definiert der Ver-
fasser den Geltungsbereich des Begriffes Spinnen-
tiere und gibt dann eine vorzügliche systematische
Übersicht der Arten. Weiterhin wird der Körper
mit seinen Gliedmaßen, die Lage der Geschlechts-
öffnung und des Nervensystems rein physiologisch
erklärt. Das letzte große Kapitel behandelt die
engeren Beziehungen des Baues und der F"arbe
zur Umgebung. Ausführliche Literatur und klare
Zeichnungen sind überall beigefügt.
Durch seine wertvollen theoretischen Erörte-
rungen und die reiche Fülle von neuen Tatsachen,
die mitgeteilt werden, bildet das Buch einen
wesentlichen Fortschritt, und man darf auf den
zweiten und dritten Teil gespannt sein. Während
im ersten Teil der Bau des Tieres allgemein physio-
logisch erklärt wird, sollen in den beiden anderen
die einzelnen Organe mit ihrer Funktion und der
Lebensweise in Beziehung gebracht werden.
Stellwaag.
96
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 6
Anregungen und Antworten.
Herrn Dr. A. B. in Marburg. — Außer der genannten
Ausgabe der Opera omnia von Kepler, die Frisch in den
Jahren 185S bis 1871 besorgt hat, existiert meines Wissens
keine andere. F. Hayn.
Herrn Edwin R. in Leipzig. — Die Beantwortung der
ersten Frage würde einer ausgedehnten Abhandlung über die
Physik des Fahrrades gleichkommen. Sie läiät sich, besonders
in ihrer allgemeinen Form, nicht kurz beantworten.
Zur zweiten i Weshalb langsames Gehen mehr anstrenge
als rasches, kann folgendes mitgeteilt werden.
In der allgemeinen Form , daß ,, langsames Gehen mehr
anstrengt als rasches", ist der Satz nicht richtig. Richtig ist
nur, daß außergewöhnlich langsames Gehen anstrengender ist
wie das gewöhnliche; es strengt aber auch außergewöhnlich
rasches Gehen viel mehr an. Der Grund, weshalb sehr lang-
sames Gehen besonders ermüdend wirkt, liegt in erster Linie
darin, daß die' Beinmuskeln unnötigerweise in .Anspruch ge-
nommen werden, um das Schwingen des nicht auf dem Boden
aufstellenden Beines nach vorn langsamer zu gestallen, als es
ohne alle Muskelaktion, allein durch die Schwere veranlaßt,
vor sich gehen würde. Das Bein schwingt zwar nicht aus-
schließlich wie ein im Hüftgelenk aufgehängtes gegliedertes
Pendel , sondern es machen sich Muskelkontraktionen nötig,
um zu verhindern, daß der Fuß beim Schwingen auf dem
Boden auftrifft. Zu diesen Muskelaktionen müssen aber noch
neue hinzukommen, wenn die Schwingung wesentlich verlang-
samt werden soll. Andererseits machen sich aber auch sehr
beträchtliche neue Muskelaktioncn anderer Art nötig, wenn,
wie bei sehr raschem Gehen , das Schwingen des Beines be-
schleunigt werden soll. Der Titel der angedeuteten Unter-
suchung ist: O. Fischer, Der Gang des Menschen. 6 Teile.
Abhandlungen der Königl. Sächsischen Gesellschaft der W'issen-
schaften, mathematisch-physische Klasse Bd. XXI, XX\', XXVI
u. XXVIII (1S95 — 1904). O. Fischer.
Indem ich mich den Ausführungen des Herrn Dr. W.
Richter über den ,,Kinematographen als naturwissenschaft-
liches Anschauungsmittel" (in der Naturw. Wochenschr. Nr. 52,
1913) anschließe, möchte ich, unter Bezugnahme auf einen
diesbezüglichen Artikel von mir in der ,, Wochenschrift für
Aquarien- und Terrarienkunde" vom iS. Mai 1910, einige
Ergänzungen und Bedenken hier beifügen.
Für den eigentlichen Schul- und akademischen Unterricht
halte ich den Vortrag mit Zeichnungen an der Tafel, wo auch
das Werden gezeigt werden kann, und an wohl ausgeführten
Wandtafeln, sowie die praktischen Übungen für die wichtigste
Lehrmethode, wobei ich nicht umhin kann, das Herumgeben
von Präparaten während der Vorlesung für einen leider fast
unheilbaren Unfug zu erklären.
In zweiter Linie kommen Projektionsbilder in Be-
tracht, aber nicht als gewöhnliches Anschauungsmittel, da sie
nur kurz dem Auge sich bieten und kein dauerndes Erinne-
rungsbild geben, auch, wegen Verdunklung des Raumes das
bei vielen Studierenden schon des Fixierens der Gedanken
wegen beliebte Nachschreiben verhindern; oft ermüden sie
durch ihre Überzahl, 50 und mehr, wie so häufig bei popu-
lären einmaligen Vorträgen geschieht, Hirn und Sinne, deren
Auffassungsfähigkeit eine beschränkte ist. Andererseits machen
sie durch ihre Größe und Deutlichkeit allerdings einen ge-
waltigen Eindruck, so daß das Publikum sie nicht mehr missen
will.
Noch mehr gilt das Gesagte von kinematographischen
Vorführungen. Die Bilder sind noch flüchtiger aber eindrucks-
voll, und bedürfen einer eingehenden vorherigen Erklä-
rung durch einen Sacliverständigen , womöglich auch noch
während der Vorführung.
Unentbehrlich und wesentliche Bereicherungen für Unter-
richt und Forschung sind die kinematographischen Darstel-
lungen von biologischen Lebensvorgängen und Be-
wegungen, wie die Arbeiten der Ameisen und Bienen, die
Bewegungen der Würmer, Polypen, Amöben, der Bakterien
und Phagozyten, die Entwicklung des Eies, z. B. eines See-
igels, wie man sie neuerdings manchmal zu sehen bekommt,
nicht mit jedesmaliger Produktion, wie man es früher machen
mußte, so zur Zeit des Sonnenmikroskops , sondern in Films,
die ein für allemal gefertigt werden und meist in wissenschaft-
lichen Kreisen bleiben. Hierher gehören auch die Darstell-
ungen der Bewegungen der Flügel, zumal bei Insek-
ten (Fliegen, Wasserjungfern), welche dem bloßen Auge
wegen ihrer Raschheit unsichtbar sind ; mittels außerordent-
licher Geschwindigkeit der Aufnahme (1500 in der Sekunde)
und etwa 100 facher Verlangsamung der Äbrollung des so ge-
wonnenen Films; so auch das Durchfliegen einer abgeschosse-
nen Flintenkugel durch eine Seifenblase, .\hnlich, mit Zuhilfe-
nahme von Röntgenaufnahmen und Wismutgaben, veranschau-
licht man die peristaltische Bewegung des Darms, das Vor-
rücken der Nahrung vom Rachen eines Frosches bis zum
Darm. C. B. Klunzinger.
Herrn Oberlehrer W. Fuhrmeister in Eichenwalde kann
ich folgende Artikel empfehlen:
I. 1907 in der „Wochenschrift für Aquarien- und Terrarien
künde" (Braunschweig). Herrn. L ö n s , Freilandaquarien S. 609,
2. Ebenda: E. Seeger, Freilandterrarium S. 16, 25, 39,
3. Ebenda 1908: Jesch, Freilandaquarien S. 481 — 484
4. Ebenda 1910: Thumm, Freilandfischzuchtanstalten S. 33
5. 1912 in den ,, Blättern für Aquarien- und Terrarienkunde"
Stuttgart: Kranz, Der Gartenteich. S. 307. 6. Riedel
JVIein Teich. S. 149. 7. Schmalz, Teiche aus Dachpappe
S. 154. Seh malz, Verbesserung von Terrarienteichen. S. 619,
S. Ebenda 1913 : Reintgen, Unsere Freilandanlagen. S. 796,
9. Ebenda 1913: Schortmann, Mein Freilandaquarium
S. 636. 10. Zernecke, Leitfaden für Aquarien- und Ter^
rarienfreunde, 4. Aufl., 1913, S. 321. Gerühmt werden die
Freilandaquarien der ,, Biologischen Gesellschaft" in Frankfurt
a. M. Aus eigener Anschauung kenne ich das Freilandterrarium
im Humboldhain in Berlin und das kleine im Tiergarten
Doggenburg in Stuttgart. C. B. Klunzinger.
Literatur.
Dugmore, A. Radclyfi", Wild- Wald -Steppe. Waidmanns-
fahrten in Britisch-Ostafrika. Mit 132 Bildern. Aus dem
Englischen übersetzt von Hans Eisner. S°. 252 S. Leipzig,
R. Voigtländer's Verlag. — Geb. 6,50 Mk.
Sieberg, .\ugust, Einführung in die Vulkankunde Süditaliens.
Mit 2 farbigen .Ansichten sowie 67 Abbildungen und Karten
im Text. 8". 226 S. Jena '14, G. Fischer. — 4 Mk.
Gradmann, Dr. Robert, Das ländliche Siedelungswesen des
Königreichs Württemberg. Forschungen zur deutschen
Landes- und Volkskunde usw. Bd. 21, Heft I. Stuttgart,
I. Engelhorn's Nachf
Voigt, Alban, Die Riviera. Junk's Naturführer. Berlin '14,
W. Junk. — Geb. 7 Mk.
Ascherson, P. und Gräbner, F., Synopsis der mittel-
europäischen Flora. 83. Lieferung. Bd. V. Chenopodia-
ceae (Schluß) Amarantacae. Bogen lo — 14. Leipzig und
Berlin '13, W. Engelmann. — 2 Mk.
Essays and Studies presented to William Ridgeway on his
sixtieth birthday 6. August 19 13. Edited by E. C. Quiggin.
Cambridge '13, Cambridge University Press.
Inhalt; Alois Czepa: Schutzfärbung und Mimikry. (Schluß.) — Einzelberichte: Heape: Eine neue Erklärung von
Exogamie und Totemismus. Frobenius: Probleme der afrikanischen Völkerpsychologie. Ekman: Marine Relikte
der nordeuropäischen Binnengewässer. Stark: Darstellung von Argon. — Kleinere Mitteilungen: Hetper: Bestim-
mung des Methylalkohols in Spirituosen. Ditmar: Stickstoffquellen. — Bücherbesprechungen: Friedrich Dahl:
Vergleichende Physiologie und Morphologie der Spinnentiere unter besonderer Berücksichtigung der Lebensweise. —
Anregungen und Antworten. — Literatur: Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstraße Ha, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 15. Februar 1914.
Nummer y.
Welche Bedeutung haben
[Nachdruck verboten.l Von Privatdozent L)r, Fi
Bekanntlich unterscheiden sich die Käfer von
den anderen Insektenordnungen durch den cha-
rakteristischen Besitz von zwei verschieden aus-
gebildeteo Flügelpaaren. Die Flügel des Meta-
thorax sind ungewöhnlich groß, membranös und
elastisch. Nur sie allein bewerkstelligen die aktive
Fortbewegung des Tieres, indem sie durch häufige
und energische Schläge einen wirksamen Luft-
widerstand erzeugen, der das Tier in die Höhe
hebt und vorwärts treibt. Die Deckflügel da-
gegen stellen harte und steife, etwas gewölbte
Flächen dar, die in der Ruhe auf dem durch die
beiden hinteren Brustringe und den Hinterleib
gebildeten Stamm aufliegen. So erhalten die
Hinterflügel den denkbar besten Schutz, der noch
dadurch erhöht wird, daß die Elytren durch die
große Anzahl von 1 5 Gesperren mit dem Stamm
verschlossen sind. Will sich der Käfer zum Flug
erheben, so stellt er die Elytren hoch, bis sie
schief nach hinten und oben vom Körper ab-
stehen. In dieser Lage können sie nur leise
fibrieren. Welche Bedeutung die gehobenen
Elytren für den fliegenden Käfer besitzen, darüber
weichen die Anschauungen bedeutend ausein-
ander und wer sich in der Literatur Rat holen
will, der stößt auf diametral entgegengesetzte
Theorien, die sich in buntem Wechsel im Laufe
eines Jahrhunderts gegenseitig ablösen. In_ der
folgenden Tabelle gebe ich eine historische Über-
sicht der Anschauungen aus wissenschaftlichen
Untersuchungen. Die zum Teil ganz absurden
Mutmaßungen populärer Schriftsteller lasse ich
dabei unerwähnt.
1820. Chabrier Durch ihre Bewe-
gung unterstützten
die Elytren aktiv die
Arbeit der Hinter-
flügel.
Die Elytren haben
auf den Flug keinen
Einfluß.
Die Elytren haben
auf den Flug keinen
Einfluß.
Girard Die Elytren haben
auf den Flug keinen
Einfluß.
Bert Die Elytren dienen
zum Equilibrieren.
Plateau schließt sich Bert an.
Pettigrew . Die Elytren sind
Tragflächen, die dem
Käfer den Flug erst
ermöglichen.
1828. Strauß Dürckheim
1849. Redtenbacher
1862.
1866.
1872.
1875.
die Deckflügel der Käfer?
itz Stellwaag, Erlangen.
1879. Jousset de Bellesme . Die Elytren sind als
.Steuerorgane aufzu-
fassen, durch deren
Gewicht das Tier
während des Fluges
die Richtung ändert.
1889. Ungern Sternberg . . Die Elytren haben
den Wert von Trag-
flächen.
1892. Hoffbauer Die Elytren haben
auf den Flug keinen
Einfluß.
191 1. Sajo Die Elytren verhin-
dern den Käfer
geradezu am ge-
wandten Flug.
191 1. Pütter Die Elytren sind
feststehende Segel-
flächen.
1913. Voß Die Elytren haben
den Wert von
Drachenflächen.
Die hier wiedergegebenen Theorien lassen sich
in 5 Gruppen teilen. Darnach unterscheiden wir:
1. Theorie der aktiven Beteiligung am Flug.
2. Theorie, daß die Elytren am Flug voll-
kommen unbeteiligt sind. '
3. Theorie von der Schädlichkeit der Elytren.
4. Theorie der Schwerpunktsverlagerung durch
das Gewicht der Elytren.
5. Tragflächentheorie.
Keine dieser Ansichten vermag bei kritischer
Betrachtung zu befriedigen.
Zum aktiven Flug nach Art der Hinterflügel
kann der Vorderflügel niemals tauglich sein, denn
ein wirksamer Flügel muß neben vielen anderen
Eigenschaften notwendigerweise einen steifen
Vorderrand und eine nachgiebige Fläche besitzen,
wenn er den erzeugten Luftwiderstand ausnützen
will. Außerdem muß er energische Schläge und
ganz bestimmte Drehbewegungen ausführen. Aber
wie schon erwähnt wurde, bildet der Deckflügel
eine steife und unelastische Platte, die nur geringe
Ausschläge machen kann. Sie ist außerdem nur
sekundär und in vertikaler Richtung beweglich.
Kann ihm aber eine Bedeutung als Luftruder
nicht zugesprochen werden, so bleibt zunächst
nur übrie, ihn als reines Schutzorgan zu betrachten.
Das ist die ganz natürliche Überlegung der An-
hänger der zweiten Theorie. Dafür sprechen auch
gewichtige Gründe, die sich kurz in vier Punkten
zusammenfassen lassen.
I. Nur in wenigen Fällen fehlen die Elytren
oder treten als kleine Schüppchen auf. Sonst
98
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 7
sind sie immer, obgleich in wechselnder Größe
vorhanden, auch wenn die Hinterflügel nur schwach
entwickelt sind. Das klassische Beispiel bilden
die Carabiden. Wären die Elytren Fkigorgane,
so hätten sie für flugunfähige Tiere keinen Nutzen.
2. Die große Zahl der Histeriden und Staphi-
liniden hat vorzüglich fliegende Vertreter, trotz-
dem die Elytren abgestutzt oder abgekürzt sind.
3- Die Cetoniinen heben ihre Elytren über-
haupt nicht.
4. Schneidet man die Elytren bis auf ein
Drittel der Körperlänge ab, so vermag der Käfer
scheinbar unbeschadet zu fliegen.
Somit kommen zwar die Elytren als aktive
Flugorgane nicht in Betracht, allein es bleibt die
Frage offen, ob ihnen nicht eine sekundäre Be-
deutung für den Mug beizumessen ist. Denn mit
Ausnahme der Cetoniinen heben alle Käfer die
Elytren vor dem Fluge hoch. In dieser Stellung
m ü s s e n sie einen Luftwiderstand erzeugen. Dieser
kann allerdings für den Käfer schädlich oder nütz-
lich sein. Leider hat Sajo, der sich für den
ersteren Fall entscheidet, seine Anschauung, die
um so weniger wahrscheinlich ist, als ja von den
zahllosen Käfern nur Cetonia abweicht, nicht ein-
gehend wissenschaftlich begründet.
Ebensowenig begründet scheint die von vielen
Seiten bedingungslos wiederholte Theorie der
Schwerpunktsverlagerung durch das Gewicht der
Elytren. Plateau hat zwar den Versuch ge-
macht, sie eingehend zu beweisen, allein er be-
nützte eine Methode, die für seine Zwecke nicht
ausreichte. Er stellte zunächst den Schwerpunkt
des Käfers in der Ruhelage und dann bei einem
gespannten Käfer fest. Auf Grund seiner Ver-
gleichszahlen gelangte er zu dem Schluß, daß der
Körper des Tieres während des Fluges ständige
Oszillationen durch Verlagerung des Schwer-
punktes nach vorn und hinten erfährt, indem die
Elytren verschiedene Lage einnehmen. Durcli
seine Messungen aber hat Plateau nur gefunden,
daß das Tier in der Ruhe einen anderen Schwer-
punkt besitzt als während des Fluges. Es ist ihm
gar nicht möglich, den Beweis zu führen, daß die
Deckflügel nennenswerte orocaudale Bewegungen
machen, denn dabei würden sie die Hinterflügel
bei ihren Schlägen stören oder den Flug ganz
beeinträchtigen. Minimale Schwankungen der
immerhin sehr leichten Deckflügel wären trotz-
dem wohl nicht ausgeschlossen, allein sie würden
so geringen Einfluß ausüben, daß dieser reichlich
durch Windstöße und Luftströmungen aufgehoben
würde. Aber auch diese sind nur in ganz ge-
ringem Umfange möglich, wie die anatomische
Untersuchung lehrt. *)
Die historische Tabelle zeigt, daß die modernen
Forscher zur Tragflächentheorie neigen, die Ungern
Sternberg unabhängig von Pettigrew auf-
') Siehe: Der Flugapparat der Latnellicornier von Dr.
F. Stellwaag. Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie
Bd. CVIII.
gestellt und durch ein Experiment begründet
hat. Er fand nämlich, daß ein Käfer, dem die
Deckflügel abgeschnitten oder gestutzt sind, nicht
mehr imstande ist zu fliegen. Leider hat Ungern
Sternberg nur dieses eine Experiment ange-
stellt. Sonst hätte er beobachtet, daß Käfer, die
aus irgendeinem Grunde im Fluge innehalten,
etwa wenn sie gegen eine Wand stoßen und die
Hinterflügel nicht mehr bewegen können , wegen
ihres bedeutenden Gewichtes schnell und hart zu
Boden fallen. Das Segelvermögen der Käfer ist
das geringste, das unter den echten Flugtieren
vorkommt. Sollte der Käfer mit Hilfe seiner
Elytren nur einen kurzen Gleitflug ausführen
können , so müßte er nach mathematischen Be-
rechnungen unter sonst gleichen Umständen eine
vierfach größere Elytrenfläche besitzen. Die
Theorie Sternberg's aber verlangt eine acht-
fach größere Fläche, d. h. beispielsweise: die
Deckflügel des Maikäfers müßten eine Fläche
haben, so groß, wie Vorder- und Hinterflügel des
Schwalbenschwanzes zusammen genommen.
Weiterhin spricht gegen Sternberg folgen-
der Versuch : Man kann die Elytren durch Schnitte
und Löcher stark beschädigen, wobei der Käfer
im Flug keinen merklichen Schaden leidet. Ferner
kann man die Elytren stückweise bis auf einen
ganz kleinen Stummel verkürzen, ohne daß die
Manipulation zur Flugunfähigkeit führt. Der Käfer
fliegt ohne Elytren nur schwankend und aufrecht,
aber durchaus nicht unbeholfen, wenn man ihm
nur Zeit läßt, sich nach und nach an den neuen
Zustand zu gewöhnen. Endlich lehrt die genaue
Beobachtung, daß es den Käfern nicht nur mög-
lich ist, nach rückwärts und aufwärts zu fliegen,
sondern, daß sie diese Richtung sogar bevorzugen,
wenn sie sich von ihrem Unterstützungspunkt
erheben. Jeder Drachenflieger vermag im Gleit-
flug niederzugehen. Daß der Käfer zum richtigen
Gleitflug unfähig ist, kann man sehr einfach nach-
weisen, wenn man ein getötetes Tier in die Flug-
lage bringt und zu Boden fallen läßt. Nur in
besonders günstigen Fällen landet das Tier in
einer steilen Fallkurve ein wenig weiter von dem
Punkt entfernt, den es beim vertikalen Fall ohne
ausgestreckte Flügel erreicht hätte.
Die bisherigen Erörterungen ergeben, wie
schwierig es ist, über die Frage nach der Bedeu-
tung der Elytren klar zu werden. Die physikali-
schen Erscheinungen der Kreis- und Wirbelströme,
die eine große Rolle spielen, bilden für sich ein
schwieriges Problem, das bisher nicht angeschnitten
wurde und auch im folgenden gar nicht erörtert
werden soll. Hier handelt es sich in der Haupt-
sache um die biologische Seite der Frage.
Die Untersuchungen von Plateau ergeben
die merkwürdige Tatsache, daß der Schwerpunkt
aller von ihm untersuchten Käfer ungewöhnlich weit
hinter der Flügelwurzel liegt, obwohl er sich doch
bei anderen Fliegern, besonders bei den Vögeln
stets zwischen den Flügelachsen oder etwas unter-
halb befindet, so daß sich der zwischen den
N. F. Xin. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
99
Flügeln aufgehängte Körper in stabilem Gleich-
gewicht befindet. Dieser Befund erschien mir
bedeutsam genug, um noch eine Reihe von
Messungen an allen möglichen Käfern vorzu-
nehmen. Diese ergaben, daß die Cetoniinen unter
allen Käfern insofern eine .'\usnahmestellung ein-
nehmen, als der Schwerpunkt fast mit der Achse
durch das Ende der großen Vorderrandader jeder
Seite zusammenfällt. Es bereitet ihnen daher
keine Schwierigkeiten, durch folgerichtiges Aus-
nützen des Luftwiderstandes dem Körper ver-
schiedene Lagen zu geben. Die Cetoniinen aber
heben bekanntlich beim Fluge ihre Deckflügel
nicht.
Wenn der Schwerpunkt, wie bei den anderen
fliegenden Käfern, ziemlich weit hinter der Flügel-
achse liegt, so wird beim Flug das Abdomen ab-
wärts gezogen, und der Körper steht mehr oder
weniger vertikal. Das ist stets bei langsamem
Flug der Fall. Bei schneller Fortbewegung aber
liegt der Körper annähernd wagrecht. Diese Er-
scheinung kann ich mir nicht anders erklären, als
daß beim raschen Flug die über den Schwerpunkt
zurückgreifenden Elytren der Luft einen Teil ihrer
Fläche darbieten, so daß der von ihnen erzeugte
Luftwiderstand den Körper dreht, und daß das
Abdomen, dessen Fläche die Wirkung unterstützt,
gehoben wird. Die Elytren wirken also durch
ihre Fläche und die bei schneller Bewegung
sekundär erzeugte lebendige Kraft des Luftwider-
standes, nicht durch das in ihnen selbst liegende
Gewicht. Ich fasse sie also nicht als Balanzier-
organe, sondern als Stabilisierungsflächen auf. Sie
gleichen in mechanischer Beziehung jeder Ober-
flächenvergrößerung des Körpers, weshalb sie kurz
ausgebildet sein können wie bei den Staphiliniden,
wenn der Hinterleib lang ausgezogen ist. Ihr
spezieller Wert liegt darin, daß die weit hinten
wirkende Schwerkraft durch eine entgegengesetzte
zweite Kraft equilibriert werden kann.
Die natürlichen Verhältnisse lassen sich durch
ein Experiment nachahmen, wenn man einem in
der Flugstellung gespannten Tier eine Nadel durch
die Flügelvvurzeln und quer durch den Körper
hindurchführt. Der Käfer hängt an der Achse
zunächst vertikal. Erzeugt man aber vor ihm
einen Luftstrom von zunehmender Stärke, so wird
er in die horizontale Lage gedreht.
Daraus erklärt sich die Tatsache, daß ein
Käfer, dem die Elytren vorsichtig abgenommen
wurden, zwar noch mäßig fliegt und gut steuert,
aber trotz der angestrengtesten Tätigkeit den Kör-
per nicht mehr in die günstige Fluglage bringen
kann: Die Schwerkraft findet kein entsprechendes
Gegengewicht.
Einzelberichte.
Botanik. Lichtrichtung und phototropische
Erregung. Als parallelotrop bezeichnet man
Pflanzenorgane, die sich dann in der Ruhelage
befinden, wenn ihre Hauptachse der Angriffsrich-
tung einer Reizursache parallel steht, und die
durch Ausführung einer Krümmung wieder in
diese Lage zu kommen streben, wenn der Reiz
unter einem Winkel gegen ihre Hauptachse auf
sie einwirkt. Phototropisch reizbare Organe dieser
Art krümmen sich , wenn sie seitlich von Licht-
strahlen getroffen werden. Es ist nun eine alte
Streitfrage, ob die Reizwirkung unmittelbar von
der Richtung der Lichtstrahlen abhängt, oder
ob sie durch den Helligkeits unterschied
an der Vorder- und der Rückseite des
gereizten Organs bedingt wird. Die erstgenatmte
Anschauung geht auf Julius Sachs (1879), die
andere auf N. J. C. Müller (1872) zurück. Die
Frage ist bis in die neueste Zeit hinein bald in
diesem, bald in jenem Sinne beantwortet worden,
ohne daß eine Entscheidung erzielt worden wäre.
In einer Arbeit von Konrad Noack werden
nun recht bemerkenswerte Versuchsergebnisse
mitgeteilt, die eine Abhängigkeit der Reizwirkung
von der Richtung der Lichtstrahlen sehr wahr-
scheinlich macht. 1)
') Noack, Die Bedeutung der schiefen Lichtriclitung
für die Helioperzepüon parallelotroper Organe. (Zeitschrift für
Botanik, 1914, Jahrg. 6, S. 1—79.)
Noack verwendete zu seinen Versuchen
hauptsächlich die wegen ihres physiologisch ra-
diären Baues und ihrer großen phototropischen
Empfindlichkeit besonders dazu geeigneten Keim-
scheiden (Koleoptilen) des Hafers (Avena sativa),
die im Dunkeln bis zu 2—3 cm Länge gezogen
wurden. Er arbeitete in einem als Dunkelkammer
eingerichteten Raum eines kleinen Gewächshauses
des Freiburger Botanischen Gartens, bei einer un-
gefähr auf 20" sich haltenden Temperatur und
unter Verwendung einer Nernstlampe, deren
Strahlen zur Herstellung größerer Entfernungen
mit Hilfe von zwei oder auch drei Spiegeln in
dem kleinen Räume hin- und hergeschickt wur-
den. Die Lichtstärke der verwendeten Nernst-
brenner wurde im physikalischen Institut exakt
bestimmt. Zur Abschwächung der Lichtintensität
dienten Rauchglasplatten. Die Einzelheiten der
Versuchsanstellung können hier nicht verfolgt
werden.
Das Verfahren war auf die Bestimmung der
phototropischen Reizschwelle bei verschiedener
Neigung der Lichtstrahlen gegen die Versuchs-
objekte, die Haferkeimlinge, gerichtet. Der rezi-
proke Wert der Reizschwelle kann als Maß für
die Größe der Empfindlichkeit gelten, wofern
man unter gleichen Bedingungen und besonders
mit gleicher Lichtquelle arbeitet. Zur Auffindung
der Reizschwelle wird diejenige Entfernung von
der Lichtquelle festgestellt, wo die Zahl der eben
lOO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
180'
gekrümmten Keimlinge der der ungekrümmten
Keimlinge gleich ist. Multipliziert man die Licht-
intensität, die an diesem Punkte herrscht, mit der
Belichtungsdauer in Sekunden, so erhält man die
Reizschwelle in Meter-Kerzen-Sekunden (M.-K.-S.).
Um die Lichtintensität bei schiefwinkliger Beleuch-
tung zu bestimmen, mußte
die Intensität des Brenners
mit dem Kosinus des Ab-
lenkungswinkels vom recht-
winkligen Lichteinfall multi-
pliziert werden , da die
i-Ielligkeit der beleuchteten
Fläche mit dem Kosinus
dieses Winkels abnimmt.
Noack beleuchtete nun
die Keimlinge zuerst hori-
zontal, dann unter verschie-
denen Winkeln von oben,
hierauf unter verschiedenen
Winkeln von unten. Die
gefundenen Schwellenwerte
sind aus der zweiten Zeile
der folgenden Tabelle zu er-
sehen ; die Richtung der
Lichtstrahlen unter dem beigefügten Winkel mag
das nebenstehende Schema veranschaulichen.
Winkel 15" 30« 45» 65° 90» 105» 120» 135O 150»
Schwelle 7,3 9,5 11,9 11,18 12,2 15,8 20,3 23,7 32,4
(in M.-K.-S.)
Die Betrachtung der Zahlen lehrt, daß über-
raschenderweise die Schwelle, nachdem sie von
15" bis 90 " gewachsen ist, unterhalb der Horizon-
talen nicht wieder abnimmt, sondern zu wachsen
fortfährt. Berücksichtigt man nur die Werte ober-
halb der Horizontalen, so könnte es scheinen, als
ob die Annahme, daß die Reizperzepiion auf der
Heliigkeitsdififerenz an Vorder- und Hinterseite
des beleuchteten Objekts beruhe, zu Recht be-
stünde. Fällt nämlich das Licht in schiefem
Winkel auf den Keimling, so muß diese Hellig-
keitsdifferenz größer sein als bei senkrechtem Ein-
fall, da es einen größeren Weg im Stengel zurück-
zulegen hat und also eine stärkere Absorption
erfährt. Je kleiner der Einfallswinkel ist, den der
Lichtstrahl mit der Vertikalen bildet, desto größer
müßte sein Effekt in der Pflanze sein, desto kleiner
also die Reizschwelle werden. Nun sehen wir
aber, daß unterhalb der Horizontalen, wo der
spitze Winkel, den der Lichtstrahl mit der Verti-
kalen bildet, wieder kleiner wird, die Reizschwelle
fortfährt zu wachsen, anstatt wieder abzunehmen.
Für die Lichtabsorption sollte es nun ganz gleich-
gültig sein, ob die Strahlen beispielsweise unter
30" oder ob sie unter 150
schwelle beträgt aber im
zweiten 32,4. Hieraus geht hervor, daß physika-
lisch gleiche Mengen Licht physiologisch ver-
schiedene Wirkungen hervorrufen können, und
man kommt zu dem Schluß, „daß die Richtung
der Lichtstrahlen ausschlaggebend für die Größe
des Effekts ist; die Pflanze wird von verschieden
" auffallen. Die Reiz-
ersten Pralle 9,5, im
gerichtetem Licht verschieden affiziert, sie emp-
findet also die Richtung, in der ein Lichtstrahl
sie trift't".
Noack glaubt auch, eine zahlenmäßige Be-
ziehung zwischen Winkel und Schwellengröße
feststellen zu können, indem er durch Multiplika-
tion des Supplementwinkels eines jeden Wnikels
mit dem zugehörigen Schwellenwert ein Produkt
erhält, das um den Mittelwert 1200 pendelt. Mit
Hilfe dieses Mittelwertes findet er den Schwellen-
wert, der zu dem Winkel o" gehört, der also dem
senkrecht von oben einfallenden Licht, d. h. der
normalen Ruhelage entspricht = 1200: 180 = 6,7.
Dies würde der kleinste Wert in der ganzen
Reihe sein; streng genommen, wäre also die
normale Ruhelage die optimale Reizlage beim
Phototropismus, doch äußert sich, wie Verf. an-
nimmt, die tropistische Erregung dann statt in
einer Krümmung nur in einer gewissen Verlänge-
rung der Koleoptilen.
Versuche mit den Keimlingen von Sinapis
alba und den Sporangienträgern von Phycomyces
nitens, führten zu den nämlichen Schlüssen.
Phycom}xes zeigt jedoch die Eigentümlichkeit,
daß die Schwellenwerte mit steigender .Ablenkung
des Lichtstrahls von der \'ertikalen nicht zu-
nehmen, sondern fallen, so daß die theoretisch
optimale Lichtrichtung, der gegenüber die
Sporangienträger die größte Empfindlichkeit
(= reziprokem Wert der Reizschwelle) besitzen, die
Beleuchtung senkrecht von unten wäre. Diesen Ver-
hältnissen entsprechend stellt sich der Sporangien-
träger von Phycomyces weniger genau in die Licht-
richtung ein als die Keimlinge vom Hafer und
vom Senf. — Die interessanten Befunde machen
weitere Versuche erwünscht. F. Moewes.
Physik. Verwendung lichtelektrischer Zellen
zur Photometrie der ultravioletten Sonnenstrahlung.
Lädt man ein mit einer frisch geschmirgelten 1
Zinkplatte verbundenes Elektroskop mit negativer
Elektrizität und läßt auf die Zinkplatte das Licht
einer Bogenlampe fallen, so entlädt sich das
Elektroskop in kurzer Zeit unter der Einwirkung !
der Lichtstrahlen. Läßt man das Licht der Lampe
vorher durch eine Glasplatte hindurchgehen, so
bleibt der Ausschlag des Elektroskopes bestehen,
während eine Ouarzplatte die entladende Wirkung
des Lichtes nicht aufhebt. Ist dagegen das Elektro-
skop statt mit negativer mit positiver Elektrizität
geladen, so hat die Bestrahlung der Zinkplatte
mit Bogenlicht auf die Ladung keinen Einfluß.
Die beschriebenen Versuche sind im Jahre 188S
zuerst von Hallwachs ausgeführt, der zu iiinen an-
geregt wurde durch die ein Jahr früher von
Heinrich Hertz gemachte Beobachtung, daß die
Entladung einer F''unkenstrecke durch auffallendes
ultraviolettes Licht erleichtert wird. Aus den
Versuchen geht hervor, daß unter dem Einfluß
des ultravioletten Lichtes der Bogenlampe, das
vom Quarz hindurchgelassen, vom Glase aber ab-
sorbiert wird, die negative Elektrizität aus der
N. F. XIII. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
lOI
gereinigten Zinkoberfläche entweicht, wälirend bei
positiver Ladung keine entladende photoelektrischc
Wirkung stattfindet ; es entweichen aus dem Zink
Atome negativer Elektrizität, Elektronen. Weitere
Untersuchungen haben ergeben, daß alle Metalle
I und viele andere Körper den sogenannten Hall wachs-
Efifekt zeigen, einige in noch viel stärkerem Maße
als Zink, so z. B. die stark elektropositiven Metalle
Kalium, Natrium und vor allem Rubidium. Elster
und Geitel haben Kalium- und Natriumamalgam
oder auch die flüssige Legierung von Kalium und
Natrium in luftleere Glasgefäße gebracht und auf
diese Weise lichtclektrische Zellen hergestellt, in
denen schon eine Entladung negativer Elektrizität
stattfand, wenn auf die blanke Metalloberfläche
crewöhnliches sichtbares Licht z. B. der Sonne oder
einer Petroleumlampe fiel. — Da die Menge der
die wirksame Oberfläche verlassenden Elektrizität
der auffallenden Lichtmenge proportional ist, lag
der Gedanke nahe, lichtelektrische Zellen zu photo-
metrischen Zwecken zu benutzen. Doch zeigt sich
hier eine Schwierigkeit: stellt man den zu Anfang
erwähnten Versuch mit einer etwa ^2 Stunde alten
Zinkoberfläche an, so entlädt sich das Elektroskop
viel langsamer; man spricht demgemäß von einer
Ermüdung der Metalloberfläche. Eine alte Ober-
fläche ist lichtelektrisch unwirksam; durch erneutes
Abschmirgeln kann man sie wieder wirksam machen.
Die Ermüdungserscheinungen sind wahrscheinlich
einer Oxydation zuzuschreiben, da sie im Vakuum
und im Wasserstoff nicht stattfinden.
In dem ersten Heft des Jahrgangs 1914 der
Physikalischen Zeitschrift beschreiben die Herren
Elster und Geitel, die sich besonders um die
Erforschung der photoelektrischen Erscheinungen
verdient gemacht haben, Kadmium- und Zinkzellen,
die zur Photometrie des ultravioletten Sonnenlichtes
dienen sollen. Sie haben zu diesem Zweck frülier
eine amalgamierte Zinkkugel im\'akuum verwendet,
doch zeigt sie si^-h nicht konstant, da das Queck-
silber allmählich in das Zink hineindift'undiert,
wodurch sich der Quecksilbergehalt der Oberfläche
und damit ihre lichtelektrischen Eigenschaften
ändern. Die neuen Zellen bestehen aus einer
Hohlkugel aus Uviolglas (diese von der Firma
Schott u. Gen., Jena, hergestellte Glassorte läßt
ultraviolettes Licht bis herab zur Wellenlänge
2i5/(/( = 2i5 Milliontel Millimeter durch). Die
innere Oberfläche der Glaskugel ist zum Teil mit
einer durch Destillation im Vakuum hergestellten
Kadmium- resp. Zinkschicht überzogen ; eine in
das Glas eingeschmolzene Platinelektrode stellt
die Verbindung mit der Metallschicht her. Der
Schicht gegenüber, aber von ihr isoliert, steht in
der Mitte der Glaskugel eine zweite ringförmige
Elektrode. Der Glaskörper ist mit verdünntem
Argon gefüllt. Verbindet man die lichtelektrisch
wirksame Schicht mit dem negativen und die
ringförmige Elektrode mit dem positiven Pol einer
1 10- Volt-Leitung und belichtet mit ultraviolettem
Licht, so treten die Elektronen aus der Metallfläche
und wandern zum positiven Pol. Es geht also
ein Strom durch die Zelle, der durch ein in die
Zuleitung gelegtes Galvanometer (Empfindlichkeit
10"" Ampere) nachgewiesen und gemessen wer-
den kann.
Die Zellen wurden mit den Strahlen einer
Heraeus'schen Ouecksilberlampe untersucht; es
ergab sich dabei, daß ihre Lichtempfindlichkeit
konstant ist, sie ermüden nicht. Ihr Photostrom
nimmt mit dem Quadrat ihrer Entfernung von
der Lampe ab. Die Zinkzelle spricht schon auf
äußerstes noch sichtbares Violett (400 /(/(), die
Kadmiumzelle auf UUraviolett (390 /(/() an, so
daß die Zellen für das Intervall von 400 resp. 390
bis 224 ftfx verwendbar sind. Das llviolglas läßt
nämlich Licht von der Wellenlänge 224 /((( noch
gut durch, während solches bis 215 f.iu nur wenig
durchgelassen wird. Dieses Intervall ist indessen
für die Photometrie der ultravioletten Sonnen-
strahlung durchaus ausreichend, da Versuche er-
geben haben, daß im Sonnenlicht selbst in 9000 m
über dem Meere kürzere Wellen als 291 (^ij-i nicht
vorkommen. Die kürzeren Wellenlängen werden
schon in den höchsten Schichten der Atmosphäre
absorbiert. Dr. K. Schutt, Hamburg.
Zoologie. Sauerstofifgehalt und Fauna des
Tiefenwassers unserer Seen. Das Bild der Tiefen-
fauna unserer Binnenseen wird ausschlaggebend
beeinflußt durch das Massenauftreten der Larven
der Zuckmücken (Chironomiden); und zwar sind
für die norddeutschen und dänischen Seen im
allgemeinen charakteristisch die Larven der Gattung
Chirouviuiis, für die subalpinen Seen die Larven
der Gattung Taiiytarsiis. Die Maare der Eifel
sind z.T. Tanytarsusseen , z.T. Chironomusseen.
In den flacheren Maaren (Schalkenmehrener Maar
2 1 m, Holzmaar 21m, Meerfelder Maar 1 7 m ) besteht
die Tiefenfauna vor allem aus den großen roten Larven
von ÜiirojioimtsbatJwphihis, einer Tubifexart aus der
Verwandtschaft von Tiibifcx tiibifcx und der
Erbsenmuschel P«/i:////w//cj7///;//; in den tieferen
Maaren (Pulvermaar 74 m, Weinfelder Maar 51 m,
Gemündener Maar 38 m) fehlt Pisidi/iiii ; die hier
vorkommende Tubifexart ist T. velutiiius, und statt
der Chironomuslar\-en treten die Larven einer Art
der Z'c?/.')'/'(?;-5/Mgruppe in Massen auf.
Woher dieser Unterschied in der Besiedelung
so dicht benachbarter Wasserbecken? Der Unter-
schied in der Tiefe an sich kann keine Rolle
spielen, die thermischen Differenzen sind auch nicht
so bedeutend, daß sie die große Verschiedenheit
in der Tiefenfauna erklären könnten.
Auffallend ist es, daß die Tiefenfauna der
Chironomusseen (Ciiiroiioiiiiis, Tiibifcx tiibifcx) in
hohem Maße der Fauna der durch organische
faulende Stofi'e stark verunreinigten Gewässer
ähnelt, und daß anderseits Tanytarsusarten nie in
solchen verunreinigten Gewässern auftreten. Wir
wissen weiterhin, daß der Einfluß, den die Fäulnis
auf die Zusammensetzung der Wasserfauna ausübt,
vor allem auf dem Sauerstofischwund im Wasser
beruht.
I02
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
Wenn sich also nachweisen ließe, daß in der
Tiefe der Chironomusseen im Sommer, zur Zeit
der thermischen und chemischen Schichtung des
Wassers, bedeutend weniger Sauerstoff im VVasser
gelöst ist, als in den Tanytarsusseen, so wäre die
Verschiedenheit der Tiefenfauna beider Seetypen
dem Verständnis um Vieles näher gebracht. Das
ist nun talsächlich der Fall! (A. Thienemann,
Int. Revue d. ges. Hydrobiol. u. Hydrogr. VI,
191 3, S. 243 ff). Die in den Eifelmaaren im August
191 3 gewonnenen Sauerstoffzahlen zeigen folgen-
des:
I. Tanytarsusmaare: Sauerstoffgehalt in
ccm pro Liter Wasser
im Gemiindener Maar im Weinfelder Maar
(3- VIII. 13) (8. VIII. 13)
o m (19,7 ") = 7,32 ccm o m (16,5 ") = 7,32 ccm
5 m (16,4") = 7,59 ccm 20 m (6,4") = 8,82 ccm
25 m (4,9")==; 8,25 ccm 50 m (4,6") = 8,25 ccm
38 m (4,8") = 7,77 ccm
II. Chironomusmaare:
im Schaikenmehrener Maar im Holzmaar
(4. VIII. 13) (6. VIII. 13)
om(i9,o") := 7,80 ccm o m (18,1 ") = 7,99 ccm
10 m (8,5") = 8,42 ccm 5 m (15,2") = 8,25 ccm
1 5 m (6,5 ") = 6,72 ccm 7 m ( 10,1 ") = 7,67 ccm
20 m (6,4'*) = 3,49 ccm 10 m (7,8") = 5,30 ccm
19 m (6,5 "j= 1,55 ccm
.■Mso im Tanytarsusmaar auch im Hochsommer
in allen Schichten Sauerstoffsättigung des Wassers,
im Chironomusmaar im Sommer in der Tiefe ein
weitgehender Sauerstoffmangel (Messungen aus dem
Oktober zeigten noch größere Differenzen). Und
nach den bis jetzt vorliegenden Untersuchungen
dürfen wir annehmen, daß alle Chironomusseen
Norddeutschlands und Dänemarks im Sommer
ebenfalls ein sauerstoffarmes Tiefenwasser besitzen;
die wenigen Sauerstoffbestimmungen, die in einem
subalpinen See (Genfer See) gemacht wurden,
zeigen, daß hier, in einem typischen Tanytarsus-
see im Sommer auch in Tiefen von 250 m an-
nähernd Sauerstoffsättigung herrscht.
Daß die Verschiedenheit in der Sauerstoff-
verteilung bei beiden Seetypen natürlich auch in
manch anderer Beziehung biologisch von Bedeutung
sein wird (z. B. für die Planktonschichtung und
-Wanderungen), kann hier nur angedeutet werden ;
spätere Untersuchungen müssen hierüber erst Auf-
schluß geben. Auf jeden Fall scheinen Chironomus-
und Tanytarsussee zwei hydrographisch und bio-
logisch wohl charakterisierte extreme Typen der
temperierten Binnenseen darzustellen, die bisher
merkwürdigerweise noch nicht unterschieden wor-
den sind. Thienemann (Münster i. W.).
Das Geruchsvermögen der Bienen. Nach der
Anschauung von Andreae und Forel kommt
den Bienen nur ein geringes Geruchsvermögen
zu. Zum Beweise dafür brachte Forel eine
mit etwas Honig beschickte und mit Gaze über-
spannte Schale vor das Flugloch des Stockes und
fand, daß die Tiere von dem Honig keine Notiz
nahmen.
Ausgehend von der Beobachtung, daß bei
Hantierungen wie Honigschleudern und Wachs-
auslassen die Bienen sich in großer Zahl einfinden,
stellte Zander (Biol. Centralblatt Bd. XXXIII,
Nr. 12) planmäßig Versuche an, indem er von
April bis September je zweimal im Monat nach
der Vorschrift Forel's die Schale auf das h'lug-
brett oder das Dach des Stockes stellte, jedoch
so, daß die grüne Drahtgaze den Honig vor den
Augen der Bienen verbarg. Der Erfolg der Be-
obachtungen war, daß die Schale unbeachtet blieb,
solange die Tracht und die klimatischen Verhält-
nisse günstig waren. War dagegen die Tracht
schlecht, so sah man die Bienen überall nach
Honig herumwittern, und die Schale war dicht
belagert. Daraus ergibt sich zunächst der Schluß,
daß man den Bienen ein feines Geruchsvermögen
zuerkennen muß, und weiter, daß sie die Fähig-
keit besitzen, zu lernen und ihre Tätigkeit ent-
sprechend den äußeren Verhältnissen zu modi-
fizieren. Dr. Stellwaag.
Chemie. Über eine chemisch-aktive Modifika-
tion des Stickstoffs hat der bekannte englische
Physiker R. J. Strutt seit dem Jahre 1911 eine
Reihe von Mitteilungen (Proc. Roy. Soc. London
85, 219 [191 1]; 8ß, 179 und 302 [1912]; 88, 539
[191 3]) veröffentlicht. Setzt man ,, reinen" Stick-
stoff bei einem Druck von 1 bis 10 mm der
Wirkung einer elektrischen Entladung aus, so be-
merkt man in dem Entladungsraum ein eigen-
tümliches gelbes Leuchten von wolkigem .Aus-
sehen, das sich, wenn man durch das Entladungs-
rohr einen Stickstoffstrom gehen läßt, mit dem
Strome fortbewegt und so aus dem eigentlichen
Entladungsraum herausgebracht werden kann.
Strutt schreibt die Ersciieinung der Entstehung
einer bisher unbekannten aktiven Modifikation des
Stickstoffs zu, die allerdings wenig beständig sei
und sich spontan unter Ausstrahlung eben jenes
gelben Lichtes wieder in gewöhnlichen Stickstoff
zurückverwandele. In der Tat klingt das Leuchten,
wenn es aus dem Entladungsraum entfernt ist,
rasch ab — innerhalb weniger Sekunden bis zu
höchstens etwa einer Minute.
An der Erscheinung selbst, die übrigens schon
früher von W a r b u r g u. A. beobachtet worden
ist, ist nicht zu zweifeln, ihre Deutung durch An-
nahme einer besonderen Modifikation des Stick-
stoffs hat aber keineswegs allgemeinen Beifall ge-
funden. Besonders wies P. Lewis (Phil. Mag.
[6] 25, II, 326; 191 3) darauf hin, daß wirklich
reiner Stickstoff die Erscheinung nicht zeige, daß
das gelbe Nachleuchten vielmehr nur auftrete,
wenn der Stickstoff durch Spuren von Sauerstoff
verunreinigt sei, und zu demselben Ergebnis kam
F. Comte (Physik. Zeitschr. 14, 74; 191 3) bei
seinen auf Veranlassung von E. Baur angestellten
Versuchen, während A. König und E. El öd
(Physik. Zeitschr. 14, 165; 191 3) wieder die von
N. F. XIII. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
103
Strutt erlialtenen Resultate bestätigten. In
diesen Widerstreit der Meinungen scheinen nun
neue, unter besonders reinen Bedingungen ange-
stellte Versuche von Erich Tiede und Emil
Domcke (Ben d. Chem. Gesellsch. 46, 4095;
1913) eine Entscheidung in dem Sinne gebracht
zu haben, daß absolut sauerstofffreier Stickstoff
die fraglichen Erscheinungen tatsächlich nicht
gibt.
Tiede und Domcke benutzten für ihre Ver-
suche nicht den stets sauerstoffhaltigen und der
vollkommenen Reinigung große Schwierigkeiten
entgegensetzenden Luftstickstoff, sondern stellten
in ihrem Versuchsapparate selbst vollkommen
sauerstofffreien Stickstoff aus einer sauerstofffreien,
ohne Kristallwasser kristallisierenden leicht in sehr
reiner Form zu erhaltenden Verbindung, dem
Baryumsalz Ba(N3)3 der Stickstoffwasserstoffsäure
HN3, her. Ihr verhältnismäßig einfacher Versuchs-
apparat bestand aus einem einerseits an eine
Gaedepumpe angeschlossenen, andererseits mit
einem etwa 2 g Baryumazid enthaltenden Gefäß
verbundenen Entladungsrohr. Der einzige Schliff
des Apparats zwischen dem Entladungsrohr und
dem Baryumazidgefäß war ganz fettfrei mit Queck-
silber gedichtet. Nachdem der Apparat evakuiert
und, soweit wie möglich, von etwaigen, an den
Wandungen haftenden oder von den Elektroden
okkludierten Luflresten befreit war, wurde das
Baryumazid erhitzt, wobei es unter Schwarz-
färbung in seine Elemente zerfiel. Der zunächst
entweichende Stickstoff zeigte bei Einschaltung
des elektrischen Stromes im Entladungsrohr noch
deutlich das gelbe Nachleuchten, offenbar weil
noch geringe Spuren von Sauerstoff im Apparat
vorhanden waren. Würde aber der Apparat auf
die beschriebene Weise drei- oder viermal mit
Stickstoff bis zu einem Druck von etwa 40 mm
gefüllt und der Stickstoff dann wieder abgesaugt,
so verblaßte das Nachleuchten allmählich und ver-
schwand schließlich vollständig, mochten die Ver-
suche bei hohem oder niedrigem Stickstoffdruck,
im ruhenden oder im strömenden Gase vorge-
nommen werden. Ließen Tiede und Domcke
aber in geeigneter Weise eine Spur Sauerstoff in
den Apparat, so trat das gelbe Nachleuchten so-
fort wieder auf und verschwand wieder, sobald
auch die letzten Reste des Sauerstoffs durch neu
entwickelten Stickstoff verdrängt wurden. Die
Versuche ließen sich beliebig wiederholen.
Da es nach der Versuchsanordnung ausge-
schlossen ist, daß etwa aus dem Baryumazidrohr
entweichende Baryumdämpfe in das eigem liehe
Entladungsrohr gelangen und dort die Entstehung
des gelben Leuchtens verhindern konnten,') und
auch von der Schliffstelle her kommende Queck-
'■) Zwischen dem Baryumazidgefäli und dem Entladungs-
rohr befand sich ein mit diesem verschmolzenes Kondensrohr,
das etwa die Form einer Gaswaschflasche besaß, mit Glas-
wolle gefüllt war und in flüssige Luft getaucht werden konnte.
Etwaige aus dem Baryumazidgefäß entweichende Baryum-
dämpfe wären hier zurückgehalten worden.
silberdätTipfe sicher keine Rolle gespielt haben, ')
so dürfen die Versuche von Tiede und Domcke
wohl bis auf weiteres als eine Widerlegung der
Strutt 'sehen Annahme von der Existenz einer
aktiven Modifikation des Stickstoffs angesehen
werden. Mg.
Geographie. A. Ilettner, „Rumpfflächen und
Pseudorumpfflächen" (G. Z. 191 3, H. 4). Die Lehre
von den Rumpfflächen hat ihren Ausgangspunkt bei
Ramsay, der 1846 die Einebnung von Süd-
Wales durch marine Denudation erklärte. Später
machte F. v. Rieht ho fen im südlichen China
ähnliche Beobachtungen und erklärte ebenfalls die
dortigen Hochflächen durch marine Abrasion, mit
der er die Transgression in Verbindung brachte.
Eine andere Theorie führt die Bildung der Rumpf-
flächen auf festländische oder subaerische Eineb-
nung zurück. Neumayr und Penck haben sie
zuerst in Deutschland eingeführt, ebenso hat
A. Hettner zuerst versucht, sie auf die Ober-
flächengestaltung der Sächsischen Schweiz anzu-
wenden (1887). Davis hat sie auf die Appa-
lachen, ein gefaltetes Land, zuerst 1889 angewandt,
und dann immer weiter ausgebaut. Sie ist durch
ihn zu einem besonderen Rüstzeug der Morpho-
logie geworden. Die Terminologie ist nicht ganz
einheitlich. Den Ausdrücken Peneplain, Fast-
ebene, Halbebene oder Abrasionsfläche gegenüber
ist der neutrale von v. Richthofen eingeführte
Ausdruck Rumpf fläche oder Rumpfebene vor-
zuziehen.
Die Rumpfnatur ist bei steil gestellten oder
gefalteten Schichten am deutlichsten, aber sie ist
nicht auf Faltengebirge beschränkt, sondern auch
in Schollen- und Tafelländern können Rumpf-
flächen erzeugt werden. Zur Bildung einer Rumpf-
fläche bedarf es sehr langer Zeiträume, sie wird
bei Davis verbunden mit der Theorie der Alters-
und Entwicklungsstufen und ist die charakteristische
Form des Greisenalters.
Nur ausnahmsweise ist die Entstehungsweise
aus dem Vorkommen allein schon zu schließen.
Strandplatten sind wahrscheinlich mariner Ent-
stehung. Andererseits sehen wir Rumpfflächen
in Verbindung mit alten Talböden, also fest-
ländischer Entstehung. Schwieriger ist die Ent-
scheidung bei fiissilen Rumpfflächen, und für jeden
einzelnen P'all sind genaue Untersuchungen nötig.
Die Einebnung wird in beiden Fällen ungefähr
auf das Meeresniveau erfolgen, bei Rumpfflächen
in größeren Höhen muß nachträgliche Hebung
angenommen werden. Bei mariner Abrasion ist
die Ent>tehung eines Gefällsbruches am aufragen-
den Lande gegeben, bei der festländischen Ab-
tragung müssen wir dagegen eine gleichmäßige
Abtragung annehmen; Piedmontebenen sind da
nicht ohne weiteres erklärbar. Unebenheiten sind
') Wurde die Verbindung zwischen dem Baryumazidgefäß
und dem Kntladungsgefäß anstatt durch Schliff mit Queck-
silberdichtung durch Verschmelzen hergestellt, so bliebeu die
Ergebnisse der Versuche die gleichen.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 7
erstens durch Härteunterschiede gegeben; bei fest-
ländischer Einebnung kommen außerdem die
Formen der Talsysteme und wasserscheidenden
Rücken in Betracht. So kommt Hettner zu
dem Schluß, daß die Bildungsweisen der Rumpf-
flächen in mancher Beziehung noch unklar sind.
Auch Passarge hat die Einebnung in feuchten
Waldgebieten für unwahrscheinlich erklärt.
Diese Einsicht in die Unvolikommenheit beider
Theorien hat Passarge dazu geführt, eine dritte
Theorie aufzustellen, daß die Rumpfflächen durch
die Wirkung des Windes in einem mesozoischen
Wüstenklima entstanden seien. ^) Die Möglich-
keit dieser Bildungsweise ist nicht in Abrede zu
stellen, jedoch besteht dabei eine Beschränkung
auf Trockengebiete und Unabhängigkeit von der
Meereshöhe.
Eine andere Art von Rumpfflächen kann nach
Passarge durch den Bodenfluß im polaren
Klima entstehen. Diese Erklärung kommt für die
große Zahl der in extremen Klimaten bestehen-
den Rumpfflächen in Betracht.
In Zentralgebieten, in denen eine ge-
wisse Verwandtschaft mit äolischer Einebnung
besteht, tritt außer der Abtragung durch Wind
auch die durch Wasser in Tätigkeit; die von den
Gebirgen herabkommenden Flüsse transportieren
große Schuttmassen, auf die der Wind einwirken
kann. Auch Karstgebiete müssen als Klima-
zonen aufgefaßt werden. Durch die unterirdische
Versickerung des fließenden Wassers und die da-
durch verursachte Auflösung kann eine Einebnung
erfolgen.
Auf den Wechsel der Kräfte in bestimmten
klimatischen Höheiizonen machte Ed. Richter
aufmerksam. Durch Zurücklegung glazialer Kare
und Abtragung der treimenden Gratwände können
Karplatten entstehen ; auch die trennenden Kämme
werden abgetragen, so daß an die Stelle des ehe-
maligen Kammes eine Hochfläche treten wird.
An der Lage im Niveau der Firngrenze und an
der glazialen Bearbeitung können solche Hoch-
flächen erkannt werden. Auch Passarge wendet
diese Erklärung der klimatischen Höhengürtel
an. -) In der Mattenregion findet eine starke Ab-
tragung statt, so daß in der Waldgrenze gleich
hohe und gerundete Kammformen entstehen.
Bei flacher oder schwach geneigter Lagerung
entstehen Landterrassen in Abhängigkeit vom
Gestein (Stufen- und Terrassenlandschaften der
Sächsischen Schweiz, Coloradokanon). Das maß-
gebende Motiv hierbei ist das Zurückweichen von
Felswänden und Landstufen, meist durch die unter-
minierende Wirkung des Sickerwassers. Zu diesen
Landterrassen scheinen auch viele Rumpfflächen
der deutschen Mittelgebirge in ihrer heutigen
Form zu gehören. Man kann in verschiedenen
Gebirgen eine solclie Wiederentblößung alter
fossiler Rumpfflächen beobachten.
') Physiologische Morphologie, Hamburg 1912, S. 181 ff.
2) a. a. 0. S. 42.
So ergibt sich eine große Mannigfaltigkeit der
Entstehung von Rumpfflächen.
I. Eigentliche Rumpfflächen: a) durch marine
Abrasion , b) durch festländische Einebnung,
c) durch den Bodenfluß in Polargebieten, d) durch
die Wirkung des Windes in Wüsten und Steppen.
II. Hochflächen der Einebnung in abflußlosen
Gebieten: a) in Zentralgebieten der Trockenzonen,
b) in Karstlandschaften.
III. Hochflächen bestimmter klimatischer Höhen-
zonen: a) Karplatten, b) durch Entstehung in der
Matten- und Waldregion, c) in trockenen steppen-
artigen Höhengürteln über dem Walde.
IV. Landterrassen: a) in tafelartigen Schichten,
b) erneuerte, d. h. wiederentblößte Rumpfflächen.
Die Altersverhältnisse der Rumpfflächen
sind sehr bedeutsam. Die meisten sind geologisch
alt, und gehören dem Karbon und Rotliegenden
an; wieder andere sind jung (Jungtertiär und
Quartär). Dagegen finden sich mesozoische sehr
wenig. Die Kriterien für junge Rumpfflächen
müssen eingehend geprüft werden ; besonders die
Kriterien der Rekonstruktion.
Die Merkmale von Rumpffläclien bestehen:
I. in dem Vorkommen von Flächenstücken,
die auf eine allgemeine Hebung schließen lassen.
Durch kriechende Bodenbewegungen nehmen die
Kämme Rückenform an, 2. in der Gipfelkon-
stanz. Dabei muß aber beachtet werden, daß
die Verwitterung in größerer Höhe stärker wird
und einen Ausgleich erstrebt. 3. Der innere
Bau der Landoberfläche muß in Betracht gezogen
werden, der Widerspruch, der zwischen den Erd-
oberflächenformen und der Lagerung der Schichten
besteht. 4. Die Anordnung des Flußnetzes,
besonders das Auftreten indifferenter Täler. 5. Das
Mäandrieren der Flüsse ist ein weiterer
Anhalt für die Rekonstruktion. Aber dazu genügt
vielfach schon eine breite Talterrasse; es hängt
auch mit der Gesteinsbeschaffenheit zusammen.
So ergibt sich, daß die Anhaltspunkte für die
Rekonstruktion oft ziemlich unsicher sind. Eine
sorgfältige Analyse der Formen muß angewandt
werden, um eine wirkliche Erklärung der Er-
scheinungen zu bieten.
Die Oberflächengestaltung des Harzes wird
von W. Behrmann (Forschungen z. d. Landes-
und Volkskunde Band XX, H. 2, Stuttgart 191 2)
nach der erklärenden Methode geschildert. Schon
in alter Zeit hat der Harz seiner isolierten Stellung
wegen eine besondere Rolle gespielt. Der Wald
ist das Charakteristische des Gebirges: die im all-
gemeinen buckelige Oberfläche des Oberharzes
Avird von tiefen Randtälern im Norden zerschnitten,
die niederen Partien des Südharzes haben mehr
lieblichen Ciiarakler. Die wechselnde morpho-
logische Gestaltung hat ihren Grund in einer
verwickelten geologischen Geschichte.
Der Harz selbst stellt einen Rest des alten
variskischen Gebirges dar, aufgebaut aus stark
gefalteten paläozoischen Gesteinen. Im Norden
N. F. XIII. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
105
aber, sowie rund um das Gebirge finden wir die
Gesteine des Mesozoikums einschließlich Zechstein
in sanften Falten; nur in der Nähe des Gebirges
tritt eine Schrägstellung ein. Nach der Periode
des Aufbaues, die bis ins obere Karbon reichte,
erlebte der Harz eine Periode der Abtragung,
deren Produkte am Südrand eine große Rolle
spielen. Zechstein und Trias sind wahrscheinlich
Perioden der Meeresbedeckung gewesen. Im
jüngeren Mesozoikum treten ausgedehnte Perioden
der .Störung ein, wobei aber das Verhalten des
nördlichen Vorlandes vom südlichen verschieden
ist. Die Hebungen des Nordharzes sind in jung-
jurassischer, jungkretazeischer, präoligozäner und
postoligozäner Zeit erfolgt; an den anderen
Rändern, wo wir eine ruhige Schichtenfolge haben,
ist die Zahl der Bewegungen nicht nachzuweisen.
Im Norden dagegen bilden die Sedimentgesteine
eine große nach Norden überschobene Antiklinale,
so daß infolge der verschiedenen Zusammen-
setzung sehr wechseh'olle Oberflächenformen ent-
stehen. Das Gebirge stellt im wesentlichen eine
Hochfläche dar, die aber von verschiedenen
Rumpfhöhen überragt wird. Dabei liegen die
größeren Höhen in der Nähe des Nordrandes,
während doch die Hauptwasserscheide möglichst
nahe dem Südrand verläuft. So ergibt sich auch
bei Betrachtung der Talformen eine Dreigliederung
der Landschaft: in eine reife Südharzzone, eine
greisenhafte Mittelharzzone und eine jugendliche
Nordharzzone.
Die alte Landoberfläche des Mittelharzes
wird von einer Reihe von Monadnocks (Härt-
ungen) überragt, deren bedeutendster das Brocken-
massiv ist, das aus Granit mit seinen Kontakt-
gesteinen besteht. Kennzeichnend sind die Block-
formen, „Klippen", die milden Talformen und die
Moore, die der Eigentümlichkeit der Granitver-
witterung ihr Dasein verdanken. Der Ackerbruch-
berg und Ramberg verdanken ebenfalls harten
Ouarziten bzw. Hornfelsen, die den Kontakthof
des Granits bilden, ihre überragende Stellung.
Die Hochfläclie, aus der diese Häftlinge empor-
ragen, senkt sich von 650 m im Westen auf 300 m
im Osten; sie ist präoligozänen Alters.
Die Täler der Nordabdachung des
Harzes zeigen bei allen Flüssen eine dreifache
Verjüngung. In drei verschiedenen Zeiten seit
dem Oligozän hat sich also das Talsystem des
Nordharzes gebildet. Während Innerste, Oker,
Bode und Selke durch ihre Anlage in eingesenkten
Mäandern sich als Hochflächenflüsse erkennen
lassen, zeigen die anderen Flüsse ihre Anlage als
jüngere Randflüsse.
Die Ostabdachung des Harzes geht all-
mählich in das Vorland über; so sind Terrassen
der F'lüsse hier spärlich und lassen keine allge-
meinen Schlüsse zu.
Die Täler der Südabdachung zeigen
durchgehends eine Talkante. Nur ein Stadium
des Einschneidens in der Höhe der Vorlandberge
läßt sich beobachten.
In der Talentwicklung zeigt sich ebenfalls wie
in den Formen ein Gegensatz zwischen Nordharz
und Südharz. Die Nordharzflüsse, meist Hoch-
flächcnflüsse, ließen drei Terrassen erkennen, die
Südharzflüsse, Randflüsse, nur eine. Die Ursache
dieser Verschiedenheit muß in einer oder mehre-
ren Hebungen gesucht werden.
Die Betrachtung des Vorlandes lehrt uns,
daß die präoligozäne Landoberfläche sowohl im
Norden als im Süden des Harzes nachgewiesen
werden kann; ihre Höhenlage zeigt, daß nur
Bruchstufen für die Grenzen des Harzes in
Frage kommen. Tektonische Bewegungen seit
dem Oligozän schufen das Gebirge. Die Bruch-
stufen des Harzes müssen als wiederaufgelebte
Bruchstufen betrachtet werden, da schon zur Fast-
ebenenzeit Herzyngesteine gegen mesozoische
Gesteine stießen. Eine Hebung seit der P'ast-
ebenenzeit hat den Zusammenhang zwischen Harz
und Vorland an einer unregelmäßigen Linie ge-
stört. Durch eine Ausräumung des Vorlandes
wurde im Südharz eine Verjüngung erzeugt. Es
erhebt sich die Frage, ob im Nordharz, etwa
durch die Einwirkung des diluvialen Eises ein
Einfluß auf die Erosion im Harzinneren festzu-
stellen ist. Behrmann weist auf die Kraftlosig-
keit des auf dem Ostharz gelagerten Eises hin
und glaubt nicht, daß dieses von Einfluß auf die
Morphologie des Gebirges war. Aber seit der
Diluvialzeit hat eine Vertiefung der Täler statt-
gefunden, die wohl auf postglaziale Ausräumung
hindeutet. Die beiden höheren Stufen sind aber
nur durch eine Hebung des Harzes zu erklären,
die seit der Fastebenenzeit in zwei getrennten
Perioden erfolgt ist.
Aus einer Betrachtung der Höhlen der Bode
bei Rübeland folgert Behrmann, daß sich der
Harz im Diluvium im Norden um rund 70 m ge-
hoben haben muß. F'ür die Zeit der Oberterrasse
glaubt er ein tertiäres Alter annehmen zu können.
So kommt er zu dem Schluß, daß der Harz seit
der oligozänen Fastebenenzeit durch eine tertiäre
nordwärts gerichtete Hebung zum Gebirge wurde.
Die nordwärts fließenden Hochflächenflüsse schnit-
ten sich ein, es entwickelten sich neue Randflüsse.
Das Gebirge wurde im Süden durch Ausräumung
des Vorlandes verjüngt, und reifte aus. Es wurde
im Diluvium von neuem im Norden gehoben und
verjüngt, endlich zum drittenmal verjüngt durch
postdiluviale Ausräumung des Vorlandes.
Dr. Gottfried Hornig.
io6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
Kleinere Mitteilungen.
Chemische Mittel gegen Schädlinge der Kultur-
pflanzen. — Sowohl pflanzliche als auch tierische
Lebewesen sind es, die durch ihr Auftreten all-
jährlich dem Ackerbau ungeheuren Schaden zu-
fügen, sei es dadurch, daß sie Leben und Gesund-
heit der Pflanzen gefährden, oder sie so verändern,
daß eine wirtschaftliche Ausnutzung unmöglich
wird.
Während man in früherer Zeit meistens me-
chanische Bekämpfungsmittel anwandte, ist man
in neuerer Zeit zur Verwendung chemischer
Mittel und schließlich in aller neuester Zeit zu
biologischen Bekämpfungsmethoden übergegangen,
d. h. man benutzte natürliche Feinde der Schäd-
linge zu ihrer Bekämpfung.
Die Anforderungen, die man an ein wirksames
Bekämpfungsmittel stellen muß, sind etwa folgende ;
1. Erfüllung der angestrebten Wirkung.
2. Gute Benetzungsfähigkeit.
3. Gute Haftfähigkeit.
4. Unschädlichkeit für die Pflanze.
5. Leichte Anwendungsmöglichkeit.
6. Gefahrlosigkeit für Mensch und Tier.
7. Billigkeit.
Auf dem Markte befinden sich eine große
Menge Pflanzenschutzmittel, die mehr oder weniger
obige Bedingungen erfüllen ; von Tag zu Tag
wächst außerdem ihre Zahl noch. Im folgenden
seien einige Mittel kurz besprochen.
Ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung niedriger
Pilze ist das Kupfervitriol und sonstige Kupfer-
salze. Schon allein dieses Mittel erspart der deut-
schen Landwirtschaft jährlich mehrere Hundert-
millionen Mark. Die Keimkraft der Steinbrand-
sporen verschiedener Getreidearten wird, wie
Prevost schon 1807 erkannte, durch Kupfer-
vitriollösung (i : 10000) vollkommen zerstört. In
die Praxis eingeführt wurde diese Methode jedoch
erst um 1850 von Kühn.
Da jedoch bei dieser „Kupfervitriolbeize" leicht
Schädigungen des Saatgutes eintreten können, hat
man an Stelle des Kupfervitriols den P'ormaldehyd
verwendet und in bezug auf Ungefährlichkeit für
das Keimgut und seine fungizide Wirkung Er-
gebnisse erhalten, die den Formaldehyd in seiner
Wirkung dem Kupfervitriol mindestens gleich-
stellen. ^)
Eine noch größere Bedeutung besitzt das
Kupfervitriol für den Weinbau. Die Peronospora-
krankheit bewirkt ein Abfallen des Weinstock-
laubes und hat gerade in den letzten Jahren im
deutschen Weinbaugebiet eine so große Verbrei-
tung gewonnen, daß sicherlich bald der Weinbau
aufhören müßte, hätten wir nicht im Kupfervitriol
ein ausgezeichnetes Bekämpfungsmittel dieser
Krankheit.
Es ließe sich jedoch hier leicht der Einwand
^) Vgl. die Arbeit von Dr. Molz-lialle in der Zeitschrift
für angewandte Chemie, 19:3, S. 533—36 und 5S7— 88.
machen, schadet denn das Kupfervitriol den
Trauben bzw. dem Verzehrer der Trauben nichts,
da doch bekanntlich Kupfersalze giftig sind. Dem-
gegenüber wurde festgestellt, daß in I kg Trauben
nach zweimaliger Bespritzung nur 3,2 mg Kupfer
vorhanden waren, im Weine fand man in 1 1 nur
bis 0,26 mg. Dies sind so geringe Mengen, daß
sie ohne jeglichen gesundheitlichen Nachteil ge-
nossen werden können, um so mehr als die töd-
liche Dosis für Kupfervitriol beim Menschen 10 g
beträgt. Andererseits ist zu bedenken, daß Wasser,
das in Kupfer- oder Messingröhren fließt, auch
Spuren von Kupfer auflöst (im Liter 0,107 mg),
und daß man skrofulösen Kindern das Kupfer
(0,4 — 0,6 mg) als Arznei verabreicht.
Außer diesen Fällen finden Kupfersalze in der
Landwirtschaft, im Obst- und Gartenbau und im
Weinbau zur Pilzbekämpfung vielseitige Anwen-
dung und schließlich sei noch darauf hingewiesen,
daß z. B. Kupferkalkbrühe gegen Raupenfraß und
gegen Heuschrecken angewendet wird.
Ein anderes wichtiges Bekämpfungsmittel ist
der Schwefel und gewisse Schwefelverbindungen.
Besonders dem Winzer ist der Schwefel ein un-
entbehrliches Hilfsmittel gegen das Oidium. Die
Wirkung des Schwefels beruht höchstwahrschein-
lich auf einer Schwerelwasserstofi"wirkung, da
durch schweflige Säure die Sporen des Oidiums
gerade zum Keimen gebracht werden. Da der
Schwefel jedoch auch nachteilig wirkt, so sucht
man schon lange nach einem gleichwertigen Er-
satzmittel.
Zur Bekämpfung verschiedener Meltauarten
und anderer pilzlicher Bodenschädlinge eignet sich
auch besonders gut der Schwefel. Spinnmilben
und Erdflöhe können ebenfalls hiermit vernichtet
werden.
Statt des Schwefels wendet man besser noch
entweder die sog. Schwefelleber, des Fünffach-
Schwefelkalium (K2S5) an, oder die Schwefelkalk-
brühe, oder „Kalifornische Brühe", die in Nord-
amerika besonders zur Beseitigung der verderb-
lichen San-Josc-Schildlaus dient. Außerdem findet
die Kalifornische Brühe Verwendung zur Bekämp-
fung der Kräuselkrankheit der Pfirsiche, der Birn-
blattmilbe, die Obstmade und vieler anderer
Schädlinge.
Die Schwefelkalkbrühe besteht, wie der Name
schon sagt, aus gebranntem Kalk, Schwefelpulver
und Wasser. Auf 100 1 Wasser nimmt man
I9.I75 kg Schwefel und 8,628 kg reinen, frisch
bereiteten Ätzkalk und kocht diese Mischung.
Schwefel und Atzkalk verbinden sich zu Polysul-
fiden, besonders zu Calciumtetrasulfid und Calcium-
pentasulfid.
Die Schwefelkalkbrühe gewinnt immer größere
Bedeutung und fängt sogar an, ein anderes
Pflanzenschutzmittel, das Karbolineum, zu ver-
drängen, das doch immer als das Universalmittel
gegen alle Pflanzenschädlinge galt.
N. F. XIII. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
107
Karbolineum ist bel<anntlich ein Produl<t der
Stein- lind Holzkohleiitcerdestillation, ein Gemisch
von Teerölen und ist in einer selir großen Anzahl
von Sorten unter den verschiedensten Namen im
Handel, die in ihrer Wirkungsweise jedoch wesent-
lich voneinander verschieden sind. Auf Einzel
heilen hier einzugehen würde zu weit führen.
Gegen solche Schädlinge, die sich, wie z. B.
die Blattläuse, durch Aussaugen der Pflanzensäfie
ernähren, wendet man sog. Kontaktgifte an, vor
allem Seife, wodurch die Benetzungsfähigkeit der
Insektizide bedeutend vergrößert wird. Um eine
Zersetzung bzw. Fällung der Seife durch anorga-
nische Salze zu verhüten, setzt man den IVIitteln
Saponin zu, das aus den Früchten des algerischen
Baumes Sapindus utilis gewonnen wird.
Zwei andere Bekämpfungsmittel schädlicher
Insekten unserer Kulturpflanzen sind das Nikotin
und die Arsenverbindungen.
In der Form der Tabakslauge wurde das
Nikotin zur Bekämpfung aller möglichen Insekten
angewendet, heute wird es besonders zur Heu-
und Sauerwurmbekämpfung besonders geschätzt.
Wichtiger wie das Nikotin ist, schon seiner
Giftnatur wegen, das Arsen und seine Verbindun-
gen, die besonders in der Form des Schweinfurter-
grün zu allen möglichen Bekämpfungen Verwen-
dung finden. Auch gegen den im Frühjahr auf-
tretenden Heuwurm der Trauben kann man Arsen
ohne Bedenken anwenden , da hierdurch keine
größeren Arsenmengen in den Wein kommen.
Zum Schluß sei noch ein Schutzmittel erwähnt,
das in Amerika mit großem Erfolge angewendet
wird, die sog. Räucherung mit Blausäure, die je-
doch zu ihrer Ausführung nicht gerade wenig
Vorsicht bedarf, da doch die Blausäure eins der
stärksten Gifte ist, die wir kennen. Bei der Blau-
säureräucherung stellt man z.B. um den betreffenden
Baum ein gasdichtes Zelt her, und bringt darunter
Wasser zum Kochen, in das man Cyankalium und
zuletzt Schwefelsäure gebracht hat. Die Gefähr-
lichkeit der Blausäureräucherung soll für den Men-
schen nicht sehr groß sein und noch nicht zu
bleibenden Nachteilen geführt haben.
In Amerika wendet man dieses Verfahren zur
Desinfektion von Bäumen, Magazinen, Mühlen,
Getreidespeichern, Gewächshäusern usw. an und
hat bei den größten Schädlingen der Kultur-
pflanzen sehr gute Ergebnisse erhalten.
Otto Bürger.
Die Nitra-Lampe. — Während die elektrische
Bogenlampe wegen ihrer großen Helligkeit mehr
für die Beleuchtung von größeren Räumlichkeiten,
von Straßen und Plätzen geeignet ist, dient die
Glühlampe, die Edison vor 34 Jahren erfunden
hat, mehr der Beleuchtung im Kleinen, dem Haus-
gebrauch. Die ersten von Edison hergestellten
Lampen waren in ihrem Stromverbrauch außer-
ordentlich kostspielig; sie verbrauchten für jede
Kerze rund 4 V2 Watt, eine gewöhnliche 32 kerzige
Kohlefadenlampe also 144 Watt, d. h. der Preis
betrug für die Brennstunde 7,2 Pf., angenommen,
daß die Kilowattstunde 50 Pf. kostet. Schon
Edison gelang es bald, die Wirtschaftlichkeit der
Glühlampe durch geeignete Verbesserungen so
weit zu steigern, daß 3 Watt pro Kerze aufzu-
wenden waren, doch hinderte der hohe Strom-
verbrauch immer noch die allgemeine Einführung
der elektrischen Glühlampe. Erst die Erfindung
der Metallfadenlampe durch Auer von Wellspach,
der auch das Gasglühlicht erfunden hat, im Jahre
1898 hat das elektrische Licht so billig gemacht,
daß es jetzt allgemeine Verbreitung gefunden hat.
Die Metallfadenlampen sind im Stromverbrauch
beträchtlich billiger als die alten Kohlefadenlampen;
Osmium- und Tantallampe brauchen pro Kerze
1,5 Watt, die Wolframlampe nur i,i Walt, so
daß sich der Preis für die Brennstunde einer
32 kerzigen Lampe auf nur 2,4 resp. 1,76 Pf. stellt.
Mit dieser außerordentlichen Steigerung der Wirt-
schaftlichkeit ist namentlich in den letzten Jahren
parallel gegangen das Bestreben, die einzelne
Lampe so einzurichten, daß sie eine große Licht-
stärke lieferte, daß sie also hochkerzig wurde.
Während die Glühlampe also ursprünglich nur
als Ergänzung und Ersatz des sehr lichtstarken
Bogenlichts in kleineren Verhältnissen gedacht war,
ist die Entwicklung dahin gegangen, in der hoch-
kerzigen Glühlampe einen ernsthaften Konkurrenten
der Bogenlampe zu schaffen. Einen bedeutenden
Schritt nach vorwärts auf diesem Wege bedeutet
die kürzlich von der A. E. G. auf den Markt ge-
brachte Nitralampe, die bis zu 3000 Kerzen liefert;
gleichzeitig ist die Wirtschaftlichkeit der neuen
Lampe günstiger, sie verbraucht nur 0,5 Watt für
die Kerze, so daß eine 32 kerzige Nitralampe (eine
so niedrigkerzige gibt es allerdings noch nicht, die
kleinste Lampe liefert 600 Kerzen) nur 0,8 Pf
pro Stunde kosten würde. Das wesentlich Neue
der Nitralampe ist, daß die kugelförmige Lampe
nicht luftleer gepumpt, sondern mit Stickstoff von
% Atmosphären Druck gefüllt ist.
Es ist von großem Interesse , die Gedanken-
gänge zu verfolgen, die zur Konstruktion der neuen
Lampe geführt haben. Erhitzt man einen festen
Körper, z. B. einen Kohle- oder Metalldraht, wie
er in unseren Glühlampen verwendet wird, all-
mählich mehr und mehr, so zeigt sich, daß er
zunächst dunkelrotes Licht ausstrahlt, das bei
steigender Temperatur hellrot, dann gelb und
schließlich weiß wird. Zerlegt man das ausge-
sandte Licht durch ein Glasprisma, so sieht man,
daß sich zu dem zuerst auftretenden Rot die üb-
rigen Regenbogen- (Spektral )Farben : Gelb, Grün,
Blau und Violett hinzugesellen. Was die Hellig-
keit des ausgesandten vielfarbigen Lichts betrifft,
so gilt darüber folgendes: je höher die Temperatur,
desto heller erstrahlen alle Farben. Die Farbe,
die jeweilig in der größten Helligkeit vorhanden
ist, liegt um so weiter nach dem Violett, je heißer
der Körper ist. Da das Helligkeitsmaximum des
Sonnenlichtes, das für unser Auge ja das ange-
nehmste ist, im Gelbgrün liegt, kommt es darauf
io8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 7
an, die Strahlung der künstlichen Lichtquelle so
einzurichten, d. h. ihre Temperatur so weit zu
steigern, daß ihr Licht möglichst dem Sonnenlichte
ähnlich wird. Das ist aber ein Ziel, das sich
schwer erreichen läßt, da bei der außerordentlich
hohen Temperatur der .Sonne keiner der uns be-
kannten festen Körper beständig ist. Man muß
sich also damit begnügen, die Temperatur des
Leuchtdrahtes möglichst hoch zu treiben. Sie
beträgt in den bisher gebräuchlichen Metallfaden-
lampen ca. 2100", sie liegt noch etwa 800" unter
dem Schmelzpunkt des Wolframs (2900°), ist also
durchaus der Steigerung fähig. Belastet man eine
solche Lampe stärker, indem man an ihre Enden
eine höhere Spannung als die, für welche sie ge-
baut ist (meistens 1 10 Volt), anlegt, so leuchtet
die Lampe allerdings viel heller, aber es dauert
nicht lange, dann „brennt der Faden durch", die
Lampe wird unbrauchbar. Durch die Überbe-
lastung wird ihre Lebensdauer also außerordentlich
verkürzt. Sieht man die Lampe an, so bemerkt
man, daß die Birne innen geschwärzt ist, eine
Erscheinung, die mau auch bei alten Lampen, die
schon lange gebrannt haben, wahrnimmt. Bei der
hohen Temperatur ist der dünne Faden zerstäubt.
Gelingt es, das Verdampfen des Fadens zu ver-
hindern oder wenigstens zu vermindern, so kann
er eine größere Belastung ertragen und heller
strahlen. Nun Ist es bekannt, daß Flüssigkeiten
im luftverdünnten Raum viel schneller verdunsten
und verdampfen, als wenn sie unter normalem oder
gar höherem Druck stehen. Der Versuch zeigt,
daß unser Wolframfaden sich ganz ähnlich verhält,
auch er zerstäubt in einer Stickstoffatmospliäre
weit weniger als im luftleeren Raum. Aber der
Stickstoff macht sich in einer anderen Weise un-
angenehm bemerkbar. Läßt man einen Wolfram-
faden zunächst im luftleeren Raum brennen und
läßt nun plötzlich Stickstoff in die Birne strömen,
so brennt die Lampe jetzt dunkler und man muß
mehr elektrische Energie aufwenden, um die gleiche
Helligkeit wie vorher zu erzielen. Das Gas leitet
nämlich die Wärme von dem glühenden Faden
nach der Wandung der Birne fort, entzieht ihm
also Energie, so daß jetzt nicht mehr die gesamte
elektrische Energie in Strahlung verwandelt wird.
Mißt man die Wärmeverluste und gleichzeitig die
Lichtstrahlung, so zeigt sich, daß bei steigender
Temperatur letztere schneller wächst als erstere.
Je heißer der Faden demnach ist, desto mehr
überwiegt die Lichtausbeute die Wärmeverluste,
die durch die Gegenwart des Gases bedingt sind.
Noch viel günstiger gestalten sich die Verhältnisse,
wenn man den Faden nicht wie bisher frei in der
Birne ausspannt, sondern ihn auf einen engen Raum
zusammendrängt, indem man ihn, wie es in der
Nitralampe geschieht, in einer engen Sgirale auf-
wickelt. Es liegt auf der Hand, daß bei einem
so gewundenen Faden, an dem die Stickstofif-
moleküle nicht ohne weiteres von allen Seiten
herankommen können, die Wärmeverluste durch
Leitung und Fortführung viel geringer sind. Es
hat sich ferner als zweckmäßig erwiesen , den
Durchmesser des Leuchtdrahtes möglichst zu ver-
größern, das hat den weiteren Vorteil, daß der
Faden wesentlich hallbarer und unempfindlicher
wird.
Die Glocke der 2000 kerzigen Nitralampe hat
einen Durchmesser von nur 20 cm, der Hals ist
erheblich länger als früher, da er als Kühlraum
für den heißen, vom Leuchtkörper nach oben
steigenden Stickstofifstrom dient, der auch die
verstaubten Teile mit nach oben entführt, so daß
die Glocke auch nach langer Brenndauer klar
bleibt. Die Untersuchung der Lichtkurve hat
namentlich bei Verwendung von Reflektor und
Opalglasglocke eine sehr günstige Gestalt. Bei
normaler Belastung nimmt die Lichtstärke der
Lampe nach 800 Brennstunden um ca. ^/^ ab. Da
die Temperatur des Glühkörpers ca. 2400 ", also
höher ist als die der alten Metallfadenlampen, ist
die Farbe des Nitra-Lichts dem Tageslichte ähn-
licher. Dr. K. Schutt.
Radioaktivität und Atomtheorie. — Wegen des
hohen Preises der radioaktiven Substanzen gibt es
nur wenige zur Demonstration dieser Erscheinungen
dienende Apparate, die so billig sind, daß man sie
sich anschaffen kann. Zu den letzteren gehört das
von Crookes 1903 angegebene Spinthariskop. Es
besteht aus einem ganz kleinen Körnchen radio-
aktiver Substanz, das am Ende eines dünnen Metall-
drahtes dicht vor einem Schirm aus phosphores-
zierendem Zinksulfid befestigt ist. Beobachtet man
durch eine Lupe die dem Radium zugewandte
Seite des .Schirmes, so bemerkt man auf ihm ein
fortwährendes Flimmern. Bald hier, bald dort
leuchtet er auf. Namentlich unmittelbar unter
dem Radium liegen die aufblitzenden Lichtpunkte
so dicht nebeneinander, daß diese Stelle dauernd
zu leuchten scheint, während um diese helhte Zone
herum nach außen hin die Wichtigkeit der Licht-
punkte abnimmt. Der Schirm sieht aus wie der
gestirnte Himmel, auch hier sehen wir wegen der
außerordentlichen Entfernung der Fixsterne nur
Lichtpunkte, die zu funkeln scheinen, ohne irgend
welche Einzelheiten erkennen zu können. Frau
Curie, die bekannte Entdeckerin des Radiums, hat
schon im Jahre 1900 die Strahlenart erkannt, die
Anlaß der beschriebenen Erscheinung ist. Wie
jetzt wohl allgemein bekannt ist, schicken die
radioaktiven Substanzen 3 Arten von Strahlen aus,
die nach Rutherford a-, ß- und y-Strahlen genannt
werden. Die letzteren werden vom Magneten
nicht beeinflußt, sind stark durchdringend und
verhalten sich wie Röntgenstrahlen. Die /J-Strahlen
sind Kathodenstrahlen, also Quanten negativer
Elektrizität (Elektronen), die mit ganz außer-
ordentlicher Geschwindigkeit fortgeschleudert
werden; sie legen in der Sekunde im Mittel
250000 km zurück, das Licht 300 000 km.
Sie verdanken ihren Namen der Tatsache, daß
sie in stark evakuierten Entladungsröhren an der
Kathode entstehen, wenn hochgespannte Ströme
N. F. XIII. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
109
die Röhre durchsetzen. Doch ist die Geschwin-
di'ji'Ceit der so erzeugten Strahlen beträchtlich
kleiner als die der von radioaktiven Substanzen
auso-esandten Strahlen. Die a- Strahlen schließlich,
die den Hauptteil der Radiumstrahlung ausmachen,
sind sehr wenig durchdringend; schon eine Luft-
schiclit von etwa 7 cm Dicke hält sie fast voll-
kommen zurück. In einem Magnetfeld werden
sie im Gegensatz zu den /^Strahlen nur schwach
abgelenkt und zwar nach der entgegengesetzten
Richtung wie die Kathodenstrahlen. Daraus geht
hervor, daß sie eine positive Ladung mit sich
führen. Während die /Strahlen Röntgenstrahlen,
also Vorgänge im Äther und nach den Unter-
suchungen von Laue, Friedrich und Knip-
ping (191 2) ganz kurzwelliges Licht sind, wäh-
rend die Kathodenstrahlen vielleicht aus reiner,
von Materie freier Elektrizität bestehen (ihre
Masse ist sicher kleiner als der 2000 ste Teil des
kleinsten und leichtesten bisher bekannten Körpers,
des Wasserstofifatoms), sind die «Strahlen grobe
materielle Geschosse, nämlich mit positiver Elek-
trizität beladene Heliumatome.
Läßt man auf einen Zinksulfidschirm aus
mäßiger Höhe ein Schrotkorn fallen, so leuchtet
der Schirm an der getroffenen Stelle auf; die
Wucht des Aufpralls bringt ihn zum Leuchten.
Dasselbe findet statt, wenn sich eine radioaktive
Substanz in seiner Nähe befindet, z. B. etwas
Radiumsalz. Die Atome des Radiums zerfallen,
und senden dabei außer den ß- und y-Strahlen die
Heliumatome aus, die sich mit ^/jo Lichtgeschwin-
digkeit fortbewegen. Das was ihnen an Masse
fehlt, ersetzt ihre enorme Geschwindigkeit. Die
Wucht der «-Strahlen ist daher beträchtlich.
Trifft das Atom den Leuchtschirm, so leuchtet er
wie beim Aufprall der Schrotkugel an der ge-
troffenen Stelle auf Das Flimmern im Spinthari-
skop entsteht durch das Bombardement der «-
Strahlen. Jedes Aufleuchten bedeutet also, daß
ein Heliumatom vom Radium fortgeschleudert ist
und daß es in diesem Augenblick auf den Leucht-
schirm schlägt.
Die quantitative Auswertung der beschriebenen
Versuche durch Rutherford, Geiger und
Regen er hat zu einer glänzenden Bestätigung
der Atomtheorie geführt. Sorgt man durch ge-
eignete Verdünnung der radioaktiven Substanz
dafür, daß die Lichtblitze auf dem Leuchtschirm
nicht so häufig und dicht nebeneinander entstehen,
so gelingt es, die Lichtpünktchen auf dem Schirm
zu zählen, die durchschnittlich in einer Stunde
auftreten. Berechnen wir ferner die Zahl der
Schüsse, die fehl gehen, weil der Leuchtschirm
nicht in ihrer Flugrichtung liegt, so ergibt beides
zusammengezählt die Zahl der Heliumatome, die
unser Radiumsalz von bekanntem Gewicht in
I Stunde fortgeschleudert hat. Nun ist aber durch
Messungen festgestellt, wieviel Gramm Radium
nötig sind, um in i Jahr i ccm Helium zu
entwickeln (es sind 6,3 g). F"erner weiß
man seit 1865 (Loschmidt), daß in einem Kubik-
zentimeter Gas von Atmosphärendruck und bei
o" Temperatur 27 Trillionen Moleküle enthalten
sind. Rechnet man mit Hilfe der gefundenen
Zahl, die die Zahl der in einer Stunde von unserem
Radium fortgeschleuderten Heliumatome angab,
aus, wieviel Heliumatome 6,3 g Radium in einem
Jahr aussenden, so findet man ebenfalls 27 Trillionen,
ein Ergebnis, das fast märchenhaft erscheint. Durch
diese und andere Versuchsergebnisse ist die Atom-
theorie in das Stadium der unmittelbaren Erfahrungs-
tatsachen getreten. Zweifel an ihrer Richtigkeit
sind hiernach kaum mehr möglich.
Dr. K. Schutt, Hamburg.
Echinorrhynchen im Darm des Wassergeflügels.
Beim systematischen Öffnen aller zur Verfügung
stehenden Tierkadaver fanden Z s c h o k e und
Feuereißen') im Darm einer Ente und einer
Gans den Echinorrhynchus filicollis. Auffallend
war, daß in dem Darm der Ente nur die blasen-
förmigen Rüssel und Hälse der weiblichen Echi-
norrhynchen in der Darmwand steckend gefunden
wurden; die abgerissenen Leiber waren nicht auf-
zufinden. Ebensowenig waren männliche Echi-
norrhynchen vorhanden. Der Gänsedarm beher-
bergte zahlreiche vollständige Exemplare beiderlei
Geschlechts. Aber auch hier entdeckte man
massenhaft die erwähnten Fragmente weiblicher
Tiere. Die Verfasser sprechen die Vermutung aus,
daß die Leiber der weiblichen Parasiten nach Er-
ledigung des Fortpflanzungsgeschäftes sich ablösen
und mit dem Kote abgehen, während der fest-
gekeilte Rüssel und Hals stecken bleibt, um später
zu degenerieren. W. ligner.
Bücherbesprechungen.
Monographien einheimischer Tiere. Heraus-
gegeben von Prof Dr. H. E. Ziegler, Stuttgart
und Prof. Dr. R. Woltereck, Leipzig. Verlag
von Dr. W. Klinkhardt in Leipzig.
Bd. 5. Die Strudelwürmer (Turbellaria). Von
Privatdozent Dr. P. Steinmann und Prof Dr.
E. Breßlau. 1913. 8". XII u. 380 S. 2 Taf u.
156 Abb. im Text. — Preis 9 Mk.
Bd. 6. Tintenfische mit besonderer Berück-
sichtigung von Sepia und Octopus. Von Dr.
Werner Th. Meyer. 1913. 8». 148 S. i Taf
81 Textabb. — Preis 4 Mk.
Die ersten Bände dieser Monographien sind in
früheren Heften der Naturw. Wochenschr. be-
sprochen worden. Das Ziel, das sich die Heraus-
geber gesteckt haben, ist in den Verlagsprospekten
gekennzeichnet : „Jedem Dozenten, Lehrer, Studie-
renden, Züchter, Liebhaber, Naturfreund usw., der
über ein Tier allseitig Bescheid wissen möchte, auf
knappem Raum und für wenige Mark alles an die
Hand zu geben, was er braucht, um sich zu
orientieren". Die Werke verdanken also ihre Ent-
stehung dem in den letzten Jahren immer mehr
') Zeitschrift für Fleiscli- und Milchhygiene, Bd. 23, S. 313
HO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 7
zutage tretenden Wunsche nach Zusammenfassung
der Ergebnisse und Fortschritte eingehender Spezial-
Studien. Bei der Fülle der Neuerscheinungen und
deren Verstreuung über die vielen wissenschaft-
lichen Zeitschriften wird es dem auf dem be-
treffenden Gebiete Arbeitenden mitunter recht
schwer, Daten und Literatur über ein bestimmtes
Tier zusammenzufinden, um wieviel mehr dem
Laien, dem meist größere Bibliotheken nicht zur
Verfügung stehen. Dazu kommt, daß ein mit dem
Stoffe nicht ganz Vertrauter schwerlich in dem
Gebotenen wirklich Positives von Unverbürgtem
trennen kann. Eine kritische Sichtung des Materials
dürfte auch deshalb willkommen sein. Das Ziel
der Herausgeber haben die Verfasser der beiden
neuen Bände erreicht. Die Bücher seien den Lesern
der Naturw. Wochenschr. bestens empfohlen.
Bd. 5. Tu rbellarien. Von den vier Llnter-
ordnungen der Strudelwürmer, die weiteren Kreisen
mit Ausnahme der Aquarienliebhaber wohl weniger
bekannt sein dürften, werden die ausschließlich
marinen A c o e 1 e n und Polycladen nur gestreift
und im Zusammenhang mit den beiden anderen
Unterordnungen im Kapitel überStammesgeschichte
und Entwicklung behandelt. Die Monographie
erstreckt sich demnach in der Hauptsache auf die
Tricladen und Rhabdocoelen und da auch wieder
besonders auf die einheimischen Formen des
Süßwassers. Diese stellen nur einen sehr geringen
Teil der überhaupt bekannten 1200 Turbellarien-
arten dar; denn ca. 600 Arten leben im Meere
und 400 sind exotische landbewohnende Tiere.
Von den übrigen 200 leben in unseren süßen Ge-
wässern 140, nämlich ca. 120 Rhabdocoele und
20 Tricladen.
Der über die Tricladen, zu denen die gemeinen
Dendrocoelum und Planaria gehören, handelnde
Teil hat Steinmann zum Verfasser, während
die Rhabdocoelen von Breßlau bearbeitet worden
sind und zwar fast ausschließlich an der Hand des
für das Studium so günstigen Mesostomum Ehren-
bergii. Mögen nun die Kapitel über Systematik
dem Sammler besonders wertvoll sein , so wird
jeder Naturfreund das Kapitel über die Biologie
begrüßen. Nicht nur die eigentümlichen Fort-
pflanzungsverhältnisse, sondern vor allem — bei
den Tricladen — das außerordentliche große
Regenerationsvermögen und diedarüber angestellten
zahlreichen Experimente werden das Interesse auch
des Nichtfachmannes erregen. Das Schlußkapitel
über die Entwicklung und die Stammesgeschichte
der Strudelwürmer haben die beiden Verfasser ge-
meinsam geschrieben.
Das Buch zeichnet sich durch sehr gute Dis-
position und demzufolge durch große Übersicht-
lichkeit aus. Es wurde dies einesteils dadurch er-
reicht, daß beide Hauptabschnitte in gleicher
Weise eingeteilt sind (Anatomie, Biologie, Öko-
logie, Systematik), vor allem aber dadurch, daß
jeder kleinste Abschnitt durch eine besondere
Überschrift gekennzeichnet ist. Die vielen klaren
Textabbildungen und die ausgezeichneten Habitus-
bilder der beiden Tafeln erhöhen den Wert des
Buches.
Bd. 6. Tintenfische. Speziell für die Tinten-
fische, oder wie man wohl auch mit Rücksicht auf
die systematische Stellung sagt, für die Tinten-
schnecken mag eine Zusammenfassung des Wissens-
werten sehr erwünscht sein, da in letzter Zeit die
Tiergruppe erneut Gegenstand eingehender Unter-
suchungen gewesen ist. Selbst von unseren be-
kanntesten, gemeinsten Arten sind gewisse ana-
tomische Verhältnisse wie Gefäßsystem und Nerven-
system erst in jüngster Zeit näher bekannt ge-
worden. Die Anregung zu diesen Arbeiten ist
nicht zuletzt durch die große Anzahl abenteuer-
licher Formen gegeben worden, die unsere Tief-
seeexpeditionen zutage gefördert haben. Von
unseren heimischen Meeren beherbergt indessen
nur die Nordsee einige wenige Arten, die zu
den beiden Unterordnungen der zehnarmigen
(decapoden) und achtarmigen (octopoden) di-
branchiaten Tintenfische gehören. Als Typen
dieser beiden Gruppen können Sepia und Octopus
(der gemeine Tintenfisch und der Krake oder
Pulp) angesehen werden. Der Verfasser hat des-
halb diese beiden Vertreter ausgewählt, um an
ihnen in leicht faßlicher Form die gesamte Or-
ganisation der Tintenfische darzustellen. Die
exotischen und Tiefseeformen werden dabei keines-
wegs übergangen und, soweit es nötig ist, in die
Darstellung einbezogen, so z. B. in den Abschnitten
über die Physiologie des Gehirns und der Sinne,
über die Teleskopaugen, die Chromatophoren und
die Leuchtorgane.
Der Verf hat mit Recht nur das Wichtigste
zusammengestellt und hat vermieden, sich auf
spekulative Betrachtung einzulassen, wie das kurze
Kapitel über die Stammesgeschichte beweist. Auch
dieser Band zeichnet sich durch viele gute Ab-
bildungen aus. Dr. Wagler (Leipzig).
O. Keller, Die antike Tierwelt. i. Band:
Säugetiere, mit 145 Abbildungen im Text und
3 Lichtdrucktafeln. Leipzig 1909, im Verlag
von W. Engelmann. — Preis 10 Mk., geb.
11,50 Mk.
2. Band: Vögel, Reptilien, Fische, Insekten,
Spinnentiere, Tausendfüßler, Krebstiere, Würmer,
Weichtiere, Stachelhäuter, Schlauchtiere, mit
161 Abbildungen im Text und auf Tafeln, so-
wie 2 Lichtdrucktafeln. Leipzig 1913, im Ver-
lag von W. Engelmann. — Preis 17 Mk., geb.
18,50 Mk.
Hierzu noch gehörig, zusammen eine Einheit
bildend :
Tiere des klassischen Altertums in kultur-
geschichtlicher Beziehung, mit 56 Abbildungen.
Innsbruck 1887, Verlag der Wagner'schen Uni-
versitätsbuchhandlung.
Den Naturkundigen vom alten Schlag, die,
den literarischen Quellen nachgehend, stets ihren
Herodot und Aristoteles zur Seite haben, steht
N. F. XIII. Nr. 7
Naturwissenschaftlich e Wochenschrift.
III
nun ein umfassendes, jetzt erst vollendetes Werk
zu Gebot, unter obigen Titeln.
Otto Keller, emerit. Professor der alten
klassischen Philologie in Prag, früher in Graz und
in Freiburg i. Br., geb. 1838 in Tübingen, Sohn
des bekannten Germanisten Adalbert Keller
in Tübingen, ist in erster Linie Philologe, der
sich aber auch schöne zoologische Kenntnisse er-
worben hat; sein Werk ist somit erst in zweiter
Linie ein zoologisches. Es wird daher auch auf
die zoologische Beschreibung der behandelten
Tiere nicht weiter eingegangen, außer, wo es
gilt, die Angaben und Darstellungen der Alten
näher zu „bestimmen", d. h. auf die Zugehörig-
keit zu den von der heutigen Zoologie bestimmten
Arten zu prüfen. Dies gelingt nun allerdings
nicht immer, auch den Zoologen vom Fach nicht,
und es mögen daher mancherlei Irrtümer mit unter-
laufen, obwohl auch Keller mehrfach jene zu
Rate gezogen hat.
Der Hauptwert des Werkes, das in obigen
drei Teilen zusammen eine Einheit bildet, ') liegt
in des Verfassers großer, umfassender Kenntnis
in der alten , insbesondere ,, klassischen" (grie-
chisch-lateinischen) Literatur, sowie in seinen
praktischen, meist persönlichen Nachforschungen
an zahlreichen Museen, Berlin, München, Paris,
London, Brüssel, Neapel, mit Benutzung der dort
sich findenden Originalzeichnungen, Gemälde,
Wandbilder, Mosaiken, Gemmen, Reliefs, Vasen,
plastischen Darstellungen und Grabmäler aus der
Zeit des klassischen, sowie assyrischen und
ägyptischen Altertums. Das so wenig bietende
Mittelalter, vom „Physiologus" bis auf Gesner ist
kaum berücksichtigt, die Neuzeit, entsprechend
dem Charakter des Werkes wenig, außer bei Ver-
gleich mit noch lebenden, aber in der Kultur nieder
stehenden Völkern, oder bei Benutzung neuerer,
wichtige Angaben im Sinne des Werkes liefernder
Schriften, wie Pallas, Pöppig, Brehm, Held-
reich und V. d. Mühle (Fauna Griechenlands),
Wilkinson, Gaillard usw. Wo es zum Ver-
ständnis nötig erscheint, sind auch dann und wann
Abbildungen von Tieren nach neueren Werken
eingelegt.
Die sehr zahlreichen Abbildungen, teils
als Textfiguren, teils auf besonderen Tafeln,
worunter mehrere mit Gemmen, beleben den
Text. Wie es sich für ein wissenschaftliches Werk
gehört, sind die literarischen Quellen ge-
wissenhaft angegeben, mit Erläuterungen oder
Anmerkungen in einem Anhang (Regesten). Diese
sind in dem ersten Werk von 1887 noch aus-
führlicher behandelt, in den beiden späteren
Bänden mußten sie, im Interesse des Betriebs für
das größere Publikum, etwas beschränkt werden.
Die Anordnung des Werkes ist im ganzen
eine zoologisch-systematische, nach den Haupt-
abteilungen des Tierreichs: Säugetiere, Vögel,
Fische usw., und zwar nach der älteren Cu vi er-
sehen Einteilung (daher noch z. B. Ein-, Zwei-
und Vielhufer). Bei den einzelnen Tieren werden
besprochen : das Vorkommen und die Verbreitung
in historischen und womöglich auch prähistori-
schen Zeiten, die Namen mit eingehender Etymo-
logie, worin der Philologe sich zeigt; ferner die
naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Alten über
das betreffende Tier in Form und Lebensweise,
die Beziehungen zur Religion und Mythologie
(auch noch der germanischen), einschließlich des
Aberglaubens und der Zauberei, ihre Rolle in der
Kunst, Symbolik und der Tierfabel. Endlich wird
die Verwendung der Tiere bei den Alten an-
gegeben : im Haushalt des Menschen (die Stellung
im Haushalt der Natur gehört der Nach-Darwin-
schen Zeit an), ihr Fang, ihre Zähmung, Züchtung
und Abrichtung, ihre Rolle im Handel und im
Krieg.
Trotz der strengen Wissenschaftlichkeit ist das
Werk leicht z u 1 e s e n , ja, für den interessierten
Leser, unterhaltend und zugleich belehrend.
C. B. Klunzinger.
'j Dazu gehört eigentlich noch ein weiteres Werlt von
0. Keller, in Verbindung mit Irahoof- Blumer 1889
erschienen, im Verlag von Teubner in Leipzig : ,,Tier- und
Pflanzenbilder auf Münzen und Gemmen des klassischen Alter-
tums", mit 1352 Abbildungen.
Goldbeck, Das edle französische Pferd.
Hannover '13. Schaper.
Die leichte anschauliche Schilderungsweise
des in Züchterkreisen allbekannten Autors dürfte
die Lektüre des mit vorzüglichen photographischen
Aufnahmen ausgestatteten Buches nicht nur dem
Sachverständigen auf dem Gebiete der Pferde-
zucht, sondern auch dem Pferdefreund, Sports-
mann und Kavallerie-Offizier zur angenehmen
Beschäftigung machen, während der Inhalt dem
Leser gar manche Anregung bieten wird. Das
Werk gibt im wesentlichen ein Bild der Zeit vom
Jahre 1900 bis zur Gegenwart. In dieser Zeit
entwickelte sich in Frankreich besonders die
Tätigkeit der privaten Zuchtgesellschaften, die
früher gegenüber dem Staatsbetriebe eine ver-
schwindend geringe war. Auch in Deutschland
beginnt die Zucht des schweren Pferdes aus
finanziellen und landwirtschaftlichen Gründen der
Remontezucht gefährlich zu werden. Es ist da-
her von großem Interesse zu sehen, welche Maß-
nahmen in Frankreich Staat und patriotische Ge-
sellschaften getroffen haben, um die Zucht des
Soldatenpferdes zu fördern und wieder rentabel
zu machen, denn gerade Frankreich hat in den
letzten Jahren die Verminderung der Erzeugung
des Halbblutpferdes in ausgesprochenem Maße
durchgemacht. Einzelheiten können hier kaum
angedeutet werden. Frankreich hat im Jahre 1910
nicht weniger als 23486689 Fr. in bar für Zucht-
zwecke ausgegeben. Dazu kommen die Aufwen-
dungen der einzelnen Zuchtgesellschaften. Es ist
besonders interessant, dem Autor bei der Be-
trachtung der Tätigkeit dieser privaten Zucht-
gesellschaften zu folgen, die auch daher von be-
sonderem Nutzen ist, weil sich die Mitglieder der
112
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 7
von denen in der Naturw. Wochenschr. 1910, p. 620 die Rede
ist. Ein in Geologenkreisen bekannt gewordenes Untermeef-
moor befindet tich auch in der Nähe von Sylt. Untetmeer-
moore sind unter das Meer geratene Moore und bestehen da-
her aus Landpflanzen. Sie haben also mit Ablagerungen von
Tangen u. dgl. nichts za tun. Dadurch nun, daß sie zur Ebbe-
zeit oft zutage treten, sind sie eine recht auffällige Erscheinung,
und so wäre es nicht unmöglich, daß der Mensch gerade dort
zuerst auf den Torf aufmerksam geworden ist und ihn prak-
Gesellschaften aus den Kreisen der berufensten
Pferdekenner ergänzen. Die französische Vollblut-
zucht hat sich, wie allgemein bekannt sein dürfte,
glänzend entwickelt. Der spezifische französische
Vollblüter ist der AngloxAraber, dessen Züchtung
eine ursprünglich deutsche Erfindung ist. Das
militärisch größte Interesse haben die Halbblut-
pferde, deren Zucht sich in Frankreich nahezu tisch zu verwerten gelernt hat. Es sei hier auch an die Ge-
über das ganze Land erstreckt. Auf einen der winnung des Salzes aus dem Untermeertorf erinnert, wie sie
TT iLi 1 1 1 i" \ 4. n ^AU^ 1 u„„„„j„..r. 1=V, von Mev (Naturw. Wochenschr. 1. c.) beschrieben worden ist.
Halbblutschlage geht Lroldbeck besonders leb- ^ '• ■' Robert Potonie.
haft ein. Es ist dies der Norfolk- Breton oder
Postier, eine verhältnismäßig neue Mischung, den Herrn Prof. M. in Ratzeburg. — Die von Ihnen uber-
Goldbeck für das bedeutendste Halbblutpferd sandten WurzelknöUchen sind, wie Sie ganz richtig angeben,
Frankreichs hält. Es handelt sich um ein gut
gebautes, niedrig gestelltes, leichtes aber leistungs-
fähiges Zugpferd, das die hauptsächliche Be-
spannung der neuen Geschütze abgibt. Mit dem
eigentlichen Kavalleriepferd scheint man in den
militärischen Kreisen Frankreichs noch nicht recht
zufrieden zu sein. Ausdauer und Galoppierfähig-
keit lassen noch zu wünschen übrig. Einen kurzen kämen jedoch sicher nicht in Betracht.
Ausflug macht der Verfasser noch auf das Gebiet
des Militär- Veterinärwesens. Er rühmt dem
französischen Veterinärdienst manche mustergültige
Einrichtungen nach, die in Deutschland leider
noch fehlen. Im Anschluß daran folgen sehr
interessante Ausführungen über die Brustseuche
der Pferde, über die Auffassung, die man über
mit Bakterien erfüllt und, da wir keine anderen Pflanzen mit
baktcrieuhaltigen WurzelknöUchen kennen , als Leguminosen,
werden die Wurzeln von einer solchen stammen. Allerdings
könnte man auch an Elaeagnus, Hippophae, Alnus denken,
die ebenfalls WurzelknöUchen haben. Diese sehen jedoch
anders aus und enthalten auch statt der Bakterien sehr dünn-
fädige Pilze. Mit Rücksicht auf den eventuell durch das
Trocknen ungünstig beeinflußten Erhaltungszustand wäre diese
Möglichkeit nicht ganz außer acht zu lassen. Erlenwurzeln
M.
Hg. O. in R.r. — Die Adresse des Instituts für Gärungs-
gewerbe ist Berlin N 65, Seestraße 4. M.
Herrn Prof. Dr. Sc. in Darmstadt. — Die sog. „Halme"
(Durchzugsstroh) der Virginia - Zigarren (Österreich, Italien)
stammen von dem Espartogras, Stipa tenacissima L. , einhei-
misch in Spanien und Nordafrika. Es werden jedoch nicht
diese im Militärbetriebe so gefürchtete Seuche in die Halme zu dem bestimmten Zweck verwendet, sondern die
Frankreich hat, sowie die dortigen Schutzmaß- «'älter des Grases, unter Wegfall der Basal- und Spitzenteile.
nahmen.
W. ligner.
Anregungen und Antworten.
Herrn Prof. R. in P. — Seit wann ist die Verwertung
des Torfes als Heizungsraaterial bekannt? — Sicherlich ist
diese Verwendung des Torfs uralt, denn die natürlichen Moor-
brände (durch Blitz usw.) müssen den Menschen sehr bald
darauf hingewiesen haben. L'ber Moorbrände vergleiche man
Naturw. Wochenschr. 1911, p. 752. Funde von Holzkohle
in älterem Torf geben davon Kunde, daß einst solche Brände
ohne die Einwirkung des Menschen stattgefunden haben. Heute
pflegt man bekanntlich die Moore oft aus technischen Grün-
den abzubrennen. Es ist dem Unterzeichneten nicht möglich,
diejenige Literaturstelle zu ermitteln, wo tatsächlich zum ersten-
mal von der Verwendung des Torfs als Heizungsmaterial die
Rede ist. Herr Prof. F. Matthias teilt jedoch freundlichst
das folgende mit: ,,Plinius, der selbst als römischer Offizier
in Germanien gedient hat, gibt in seiner Naturgeschichte eine
lebensvolle Schilderung der Wattenbewohner an der Nordsee,
die zum Chaukenstamme gehörten. Dem verwöhnten Römer
kommt das Leben an der wilden Nordsee greulich vor; und
so sagt er u. a. (XVI, 4) : ,,captum manibus lutum ventis
magis quam sole siccantes terra cibos et rigentia septentrione
viscera sua urunt". Also etwa; ,, Mit den Händen aufgelangten
Schlamm trocknen sie mehr am Wind als in der Sonne und
wärmen so mit Erde die Speisen und ihre im eisigen Nord
erstarrten Eingeweide". Damit ist offenbar Torf gemeint."
Es liegt sogar die Vermutung nahe, daß die im Wattenmeer
der Nordsee vorkommenden Untermeermoore gemeint sind.
Stipa tenacissima besitzt als Xerophyte Falt- oder Rollblätter,
deren im Querschnitt ungefähr halbkreisförmige Hälften sich
bei Trockenheit, zur Herabsetzung der Transpiration, längs
der Mittelrippe aufwärts zusammenfalten. Dasselbe geschieht
natürlich beim Eintrocknen der geernteten Blätter und so
kommt die stielrunde Form der „Virginiahalme" zustande.
Von einem anderen Gras aus Spanien und Nordafrika, Lygeum
spartum L., welches ebenfalls unter dem Namen Esparto ex-
portiert wird, scheinen die Blätter, trotzdem sie sonst
denen von Stipa tenacissima gleichen , keine Verwendung bei
der Virginiafabrikation zu finden. Wahrscheinlich weil sie,
wie ein Versuch ergibt, im Trockenzustand weniger biegungs-
fest und leichter zerbrechlich sind als die Slipablätter.
Letztere Eigenschaft erklärt sich auch aus einem Vergleich
der Anatomie beider Blattarten , denn das Blattgewebe von
Stipa tenacissima enthält bei weitem mehr Bastfasern als das-
jenige von Lygeum spartum. Gießler.
Literatur.
Bremer, Prof. Dr. Fr., Leitfaden der Physik. Auf Grund-
lage gemeinsamer Schülerübungen. I. Teil. Für die mitt-
leren Klassen höherer Lehranstalten. Mit 2IoFig. im Text
und auf einer Tafel. Leipzig und Berlin '14, B. G. Teubner.
— Geb. 1,50 Mk.
Rothe, Karf Cornelius, Vorlesungen über allgemeine Metho-
dik des Naturgeschichtsunterrichls. 1. Heft. I. — 3. Vor-
lesung. Geschichte der Methodik im 19. Jahrhundert, der
gegenwärtige Stand der Methodik, Kritik des derzeitigen
Standes. München '14, Fr. Seybold. — 3 Mk.
Inhalt: Fritz Stellwaag; Welche Bedeutung haben die Deckflügel der Käfer? — Einzelberichte: Noack: Licht-
richtung und phototropische Erregung. Elster und Geitel: Verwendung lichtelektrischcr Zellen zur Photometrie
der ultravioletten Sonnenstrahlung. Thienemann: Sauerstoffgehalt und Fauna des Tiefen wassers unserer Seen.
Zander: Das Geruchsvermögen der Bienen. R. J. Strutt: Über eine chemisch-aktive Modifikation des Stickstoffs.
A. Hettner: Rumpfflächen und Pseudorumpfflächen. W. Behrmann: Die Oberflächengestaltung des Harzes. -—
Kleinere Mitteilungen: Otto Bürger; Chemische Mittel gegen Schädlinge der Kulturpflanzen. K. Schutt: Die
Nitra-Lampe. K. Schutt; Radioaktivität und .\tomtheorie. W. ligner; Echinorrhynchen im Darm des Wasser-
geflügels. — Bücherbesprechungen: Monographien einheimischer Tiere. — O. Keller: Die antike Tierwelt.
Goldbeck: Das edle französische Pferd. — Anregungen und Antworten. — Literatur: Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstrafie na, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 2g. Hand
Sonntag, den 22. Februar 1914.
Nummer 8.
(Nachdruck verboten.]
Eine Tour durch den Urwald von Sumatra.
Von Julius Robert Mayer.
Weiß der Leser, was eine Landkonzession
in Niederländisch-Indien ist? — Nun, jeder
holländische Untertan von weißer Hautfarbe kann
aus den unermeßlichen noch unkultivierten Gegen-
den der ostindischen Besitzungen auf lange Jahre
Land zur Benutzung überwiesen erhalten, voraus-
gesetzt, daß er eine genaue kartographische Be-
schreibung des begehrten Landes liefert, wobei
diese Beschreibung von Obrigkeits wegen geprüft
wird, ob sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
Dann wird, ') wenn alles klappt, die Erlaubnis er-
teilt, eine Plantage für Kautschuk oder Kaffee zu
errichten, und diese Erlaubnis heißt L. andkon-
zession.
Die Vorarbeiten, die nötig sind, um solche
Konzessionen zu erlangen, sind nicht immer an-
genehmer Art, wenn auch die Kenntnisse in der
Geodäsie, die zu diesen Arbeiten erforderlich sind,
gewiß nicht als mühsam zu erschwingende be-
zeichnet werden dürfen. ,, Einmal und nicht wieder"
heißt es da oft, oder wenigstens das zweite Mal
auf andere Art; und solche Arbeiten sind nur des-
halb lockend, weil, der sie unternimmt, sich manch-
mal durch solchen Pionierdienst den PJintritt in
die Verwaltungslaufbahn einer Plantagengesell-
schaft öffnen kann. Die gute Vorarbeit wird
öfters durch bleibende Anstellung in der zahmeren
Tätigkeit eines Assistenten oder Administrateurs
belohnt, falls der Betreffende nämlich hierzu ge-
eignet ist.
Der Schreiber dieses , stellenlos wie er im
Herbste 1910 nach dem Scheitern eines anderen
Unternehmens war, ging, optimistisch und noch
etwas grün in diesen Dingen, obschon durch einen
bereits siebenjährigen Aufenthalt auf den Sunda-
inseln mit dem Leben auf den Pflanzungen, mit
Sprache und Gewohnheiten der Eingeborenen
wohl vertraut, auf einen derartigen Vorschlag ein
und ward ,, Konzessionsjäger", wie man das nennt,
und sah auf der Expedition, die er beschreiben
will, bei den Pionierarbeiten manches, was viel-
leicht von Lesern in Europa gerne vernommen
wird.
Mehr wie einmal werde ich freilich in die-
sen Aufzeichnungen als der ungeschickte Neu-
ling erscheinen, der sich Gefahren aussetzt, die
leicht zu vermeiden gewesen wären (als ein Totok,
wie die Malaien sagen). Aber dieser Umstand
(durch den ich meine Person, die ich leicht mit
romantischen Abenteuern hätte schmücken können,
ein wenig bloßstelle) hat den Vorteil , daß die
') Eigentlich ,, wurde" ; denn seitdem wurden die Bedingun-
gen erschwert.
Wahrhaftigkeit der Darstellung sich dadurch um
so deutlicher zu erkennen gibt, und so wird
einiges Wissenswerte, das ich zu berichten habe,
mehr an Eindrücklichkeit gewinnen.
An einem Novembertag des Jahres 1910 zog
ich von Kroe aus. Der Küstenplatz Kroe liegt
(wie jede bessere Karte lehrt) nahe dem Südwest-
ende der großen Sunda-Insel, in deren Wälder ich
mich begeben sollte. Er war früher von größerer
Bedeutung. Zur Zeit des englischen Regiments
eine Residenz, wie noch die Gräber eines Ver-
waltungsbeamten und seiner Angehörigen in einem
vergessenen Winkel bezeugen. Aber der Hafen
hier an der stürmischen Südwestküste war zu
schlecht, so daß die Holländer den Sitz der
Provinzialregierung nach dem geschützten Telok
Betong') in der Südbucht verlegten. Mit diesen
schlechten Hafenverhältnissen habe ich, wie man
sehen wird, auf dem Rückweg der Tour, die ich
beschreiben will, noch sattsam Bekanntschaft ge-
macht.
Meine Begleitung bestand aus 10 einge-
borenen Lampongers, angeworben für das Drei-
fache des gewöhnlichen Tagelohnes, dieser ist
32 Cent = 53 Pfennige, die mit Lanzen bewaffnet
waren, und einem Mandoer von der gleichen
Rasse, dem ich eines meiner beiden Gewehre an-
vertraute. Ein dreiläufiges behielt ich für mich
selber. Das Austeilen von Feuerwaffen an Ein-
geborene unterliegt nämlich sehr scharfen Be-
stimmungen seitens der holländisch-indischen Re-
gierung.
Meine Vorräte und Gerätschaften bestanden
aus Blechkonserven von Fleisch, Gemüse und
Kartoffeln, Aluminiumpfannen, Zwieback, Öl,
Zucker, Brand)', einem Windlichte, Petroleum und
Streichhölzern, einem Feldbette, bestehend aus
einer Matte und 4 Pfosten, zwischen denen diese
gespannt wird, einem Klambu (iMuskitennetz), einer
Zeltdecke aus imitiertem Kunstleder, und anderen
kleineren Dingen. Alles wird verladen in einen
Grobak, einen zweirädrigen Karren. Für mich
selber steht ein Plankin, ein Liegewagen bereit,
mit einem indischen Ochsen bespannt.
Bei mir in unmittelbarer Bewachung behalte
ich meine Apparate zum Feldmessen, in der
Hauptsache eine „Bussole-Transmontagne", die für
solche schwierigen Terrains die besten Dienste
leistet.
Um 6 Uhr morgens Aufbruch. Es ist bei-
nahe noch Dämmerung. Die Sonne erhebt sich
erst später hinter den Kokospalmen des auf-
') telok = Bai, betong = Holz.
114
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 8
steigenden Gebirges. Wir nehmen unseren Weg
in südöstlicher Richtung, dem Strande entlang,
zuweilen dicht am Strande.
Es ist noch kühl. Erst gegen 8 Uhr spendet
die Sonne Wärme, um bald gehörige Hitze zu
geben; aber dann steht sie schon hoch, und ihre
Strahlen dringen nicht durch den schweren
Tropenhelm. Auch gibt's auf der Straße, die wir
ziehen, einigen Schatten, denn sie ist nur schmal
in den Wald eingeschnitten, und geht nur selten
über die offenen Stellen des Meeresstrandes. Auch
sind die Reisfelder der Eingeborenen selten ; denn
die Lampongers sind faul und haben keine eigent-
lichen Sawahs. Sie bauen nur etwas Trockenreis
und erhandeln sich lieber die so unentbehrlichen
Lebensmittel gegen ihre bequemer zu erwerben-
den Vieh- und Waldprodukte, als daß sie sich
der Mühe des Terrassierens und der geregelten
Bewässerung unterziehen. Auch ist das Land
reich an Vieh, so daß sie nicht für die Notdurft
zu arbeiten brauchen, und es gibt Eingeborene,
die 300 — 400 Stück Karbaus besitzen. Diese
Nabobs haben dann auch schöne Häuser mit Holz-
schnitzerei und auf kupfernen Pfählen, wie man
solche Wohnungen wenigstens im Modell in ihrer
eigenartigen Form auch wohl in den ethnographi-
schen Sammlungen in Europa sieht.
Der Mangel an Tätigkeit zehrt aber keineswegs
am Leben der Eingeborenen, denn gerade diese
Gegenden in den Lampongs sind dadurch ausge-
zeichnet, daß die Bewohner ein für Indien und
auch absolut sehr holies Alter erreichen. Ich habe
da Leute gesprochen, die sich noch der englischen
Herrschaft erinnern und demgemäß jetzt also wohl
120 Jahre alt sein müssen. Die Ernährung dieser
Metusaleme soll eben so einfach sein wie die der
übrigen Malaien, sich aber durch Sparsamkeit im
Gebrauch von Carry und anderen Gewürzen aus-
zeichnen. Ich habe freilich keine Gelegenheit,
diese Angaben zu kontrollieren.
Zunächst haben wir also noch Straße, die frei-
lich wenig befahren ist und ungefähr einem Feld-
wege in Deutschland gleicht, mit tiefen Wagen-
spuren, nur sehr viel stärker vergrast. Die in den
Tropen besonders unverwüstliche Natur sucht sich
das bescheidene Terrain schleunigst wieder zu er-
obern, und schickt auch ihrerseits Pioniere aus,
die ihr Geschäft besser besorgen, wie ich das
meinige. Nicht bloß langes Gras, das zähe Alang-
alang, webt hier bald wieder den grünen Teppich,
sondern auch erstaunlich rasch aufkeimendeStauden-
gewächse und Wurzelschößlinge, der durch die
Kultur in ihrer Ausbreitung zerschnittenen Strauch-
gewächse. Aber einen Teppich nur für das Auge,
für den Fuß oft Fessel und Schlinge; und meine
Begleiter müssen manchmal die Beine hochheben,
um der Wirrnis zu entgehen, während ich diese
Strecken lieber im Wagen zurücklege. Von Zeit
zu Zeit nötigen uns gefallene Bäume auszuspannen
und Güter und Wagen mit vereinten Kräften über
das Hindernis wegzuheben.
Und nicht allein die durch diese bescheidenen
Anfänge von Kultur beleidigte Pflanzennatur sucht
sich Terrain zurückzuerobern. Dasselbe gilt auch
für die Fauna, die durch den Gouvernementsweg
in ihrem Tun und Treiben in gleicher Weise ge-
stört ist. Zwar von den scheuen Tigern und Panthern
hat unsere Karawane, so schweigsam sie auch immer
vorrücken mag, wenigstens bei Tage nichts zu
fürchten. Aber Gras und Kräuter decken das
kriechende Getier, das sich hier wieder auf die
Lauer legt und öfters am Tage gleitet eine Schlange,
von den Tritten meiner Leute gescheucht, seitwärts
in die Büsche. Die Zeit ist zu kurz, um zu unter-
suchen, ob man es mit einer giftigen oder ungiftigen
Spezies zu tun hat. Aber die Wahrnehmung ist
für mich noch immer mit einem kleinen Nerven-
schock verbunden, obgleich ich bei der hundert-
fachen Wiederholung in den Jahren meines Aufent-
halts in den Tropen doch nachgerade wissen kann,
daß die Gefahr gebissen zu werden nicht gar
groß ist.
In den Bäumeij längs unseres Weges ist es
hier und da lebendig. Da klettern namentlich zur
linken Seite, wo es dem Gebirge zugeht, Affen
in großer Zahl, die nicht gar scheu sind und neu-
gierig nach uns ausschauen. Auch Vögel mancher-
lei Art: Reisvögel, die grünen kleinen Papageien
(Parakieten), die vielen Lärm machen, die wilden
Hühner, die kreischen und flattern, und noch viele
andere.
Dann kommen wir wieder vorbei an gerodetem
Land, das wenig sorgfältig mit Reis bepflanzt ist,
oder an alten Reisfeldern, „ladangs", auf denen
wieder Gras und wilde Kräuter sprossen. Dort
weiden auch die Karbaus der Dorfbewohner. Ab-
seits sehen wir dann eine weite trichterförmige
Schlucht, die zum Kraal hergerichtet ist, in denen
die Tiere alle fünf Jahre einmal zusammengetrieben
werden, um sie für die Besteuerung zu zählen und
die jungen, seit der letzten Zählung geborenen,
zu zeichnen.
Manchmal geht dann wieder der Weg dicht
am Strande, wo die Brandung des Ozeans sehr
stark ist und die Wellen öfters zu uns hinauf-
gischten. Auch mit dieser Gefahr sollte ich einige
Tage später Bekanntschaft machen. Heute ist der
Indische Ozean besser wie sein Ruf, und ich ergötze
mich an dem Anblick der zahlreichen schöngefärbten
Muscheln und einiger sich langsam bewegender
Riesenschildkröten. Meine Begleiter suchen nach
Eiern, die diese Tiere in Nestern von bis zu 200
Stück verbergen. Sie finden auch ein Nest und
beladen sich mit diesen Eiern, Hühnereiern gleich,
aber mit elastischer Schale, ein Leckerbissen, der
ihnen den Reis, den sie sich nun bald kochen
werden, schmackhafter machen soll.
Um Mittagszeit wird der erste Halt gemacht.
Es wird abgekocht. Ein Feuerchen ist bald zu-
stande gebracht. Ein paar Zweige sind schnell
gesucht, sind sie auch feucht. Die Masse tut es,
und bald lodert eine schöne Flamme auf, die an
den Kochtöpfen emporleckt. Meine Begleiter
kochen sich da der Bequemlichkeit wegen nur
N. F. XIII. Nr. S
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
115
ihren ewigen Reis in stählernen Pfannen, die sie
mit sich führen. Aber heute gewähren die Schild-
kröteneier eine angenehme Zuspeise. Ich lasse
mir von meinen Konserven aufkochen und hoffe
für die nächsten Tage auf einen frischen Braten,
den mir mein Dreiläufer verschaffen soll.
Dann kurze Siesta unter dem Klambu, das
ich heute woiil brauche. Hätte ich gewußt, daß
der eigentliche Urwald, in den ich eindringen will,
beinahe frei ist von Muskiten, ich hätte das Netz
in Kloe zurückgelassen.
Um 2 Uhr brechen wir wieder auf. Es ist
noch furchtbar heiß. Es mag 32 " C sein, unge-
fähr das Maximum, das hier erreicht wird. Aber
wir müssen weiter, um das Pasangrahan zu er-
reichen, das Gouvernementsgebäude, gewissermaßen
die Station, um nicht auf der Straße oder in einem
der seltenen Dörfer, die der Weg berührt, nächtigen
zu müssen.
In der Nähe dieser Dörfer erscheinen die Ein-
geborenen am Wege, wohl die ganze Einwohner-
schaft, die gar nicht scheu, sondern neugierig und
beinahe zudringlich sind. Aber gefällig und hilf-
reich sind sie nicht, ob wir suchen, ein Huhn oder
einige Eier von ihnen zu erhandeln oder ihnen
Geld anbieten, uns Hilfe zu leisten beim Über-
schreiten eines jener vielen Bergströme, die unsere
Straße schneidet. Sie stehen oder hocken am
Wege und gucken und gucken, nicht viel anders
wie die Affen oben in den Bäumen. Die Lam-
pongers gelten für hochmütig. Das macht der
Wohlstand. Gerne glaube ich der Versicherung
der holländischen Beamten, daß man diesen Leuten
mit Gefängnisstrafe drohen muß, um sie zum Be-
bauen ihres Landes zu bringen. Nach der dritten
Warnung wandern sie wirklich in das Gefängnis,
das nicht selten 6 Tagereisen von den Kampongs
entfernt liegt.
Am Nachmittag des ersten Tages beginnt
schon das Überschreiten der Bergströme, die bei
dem täglichen Regen alle viel Wasser führen, und
deren ich nahe an dreißig passieren muß, bis ich
meine Endstation erreiche. Diesmal geht's in einer
leidlich erhaltenen Furt , durch die Wagen und
Karren passieren. Der Unsicherheit wegen steige
ich aus. Aber man muß fest auf den Beinen
stehen. Meine langen Hosen sind sehr hinderlich,
da der Strom sie packt wie eine Turbine, und
naß wird man bis zum Gürtel, übrigens eine gute
Abkühlung in der Hitze und mehr unangenehm,
weil sich nun die Hosen über den Knien spannen,
daß das Marschieren mühsam wird, aber ich habe
ja meinen Wagen.
Besser sind die Inländer daran mit ihren bis
an die Knie nackten Beinen, und sie lassen mir
bei solchen Gelegenheiten besonders gerne den
Vortritt. Naß wird man doch übrigens alle Tage,
da auch heute wie an jedem Nachmittage ein ge-
höriger Tropenregen einsetzt. Aber die Sonne,
die uns trocknet, kommt ja bald wieder, und ich
darf mich am wenigsten beklagen, ich kann ja auf
meinem Ochsenwagen unter die Decken kriechen.
Endlich wird gegen Sonnenuntergang, der hier
5 " südlicher Breite prompt 6 Uhr statthat, das
Pasangrahan erreicht. Soeben ist die Sonne blut-
rot ins Meer gesunken. Wir Europäisch-Indier
verzieren diesen Vorgang mit keinerlei Sentimen-
talität. Wir sagen nicht wie Schillers edler Räuber:
„So stirbt ein Held", oder wie die deutschen Lyriker:
,,Die liebe Sonne scheidet". Nein, uns ist die
Sonne : ,,de koperen ploert" = der kupferne Kaffer.
Wir begreifen gut, daß nicht der Stirnreif, sondern
ein solider Schirm die Krone der indischen Fürsten
ist, und atmen erleichtert auf, da der strahlen-
schießende Bösewicht nun für 12, ja hier für 14
Stunden im Ozean begraben ist: denn den astro-
nomischen Aufgang hindert das Hochgebirge im
Nordosten.
Also das Pasangrahan ist erreicht. Der Wächter
desselben, ein Dorfbewohner der Nachbarschaft,
der nachts ein Feuer unterhält und täglich abgelöst
wird, empfängt uns. Es wird wieder abgekocht
und mein Nachtlager wird bereitet. Meine Be-
gleiter verrichten nach mohammedanischem Ge-
brauch ihr Gebet. Sie breiten ihre Matte aus — sie
wissen immer, in welcher Himmelsrichtung Mekka
liegt — und strecken sich, nachdem sie die Richtung
geändert, zum Schlafe auf die Matte nieder.
Der zweite Tag sollte für mich ein Unglückstag
werden. Doch wurde ich noch zeitig aus meiner
üblen Lage befreit. Beim Liberschreiten eines
Bergstromes verlor ich den Boden und wurde die
Strecke von etwa 2 Kilometer bis zur See mit-
geführt. Nur durch Schwimmen konnte ich mich
retten. Zum Glück gibt's im bewegten Wasser
keine Krokodile, die hier sonst sehr allgemein
sind, und die mit der Flinte zu erlegen keine
Heldentat ist. Ich habe deren unzählige geschossen.
Nur im stillen Wasser werden sie gefährlich, selbst
den Ruderern im Boote, die sie zuweilen mit einem
Schlage des Schwanzes ins Wasser schleudern. Sie
werden bis 4 Meter groß.
Meine Begleiter suchten mir in dieser Gefahr
wohl zu helfen, aber mit zweifelhafter Energie;
sie irrten nur am Ufer und wagten sich nicht ins
Wasser.
Auch am dritten Tage, dessen Erlebnisse sonst
nur eine Wiederholung der schon geschilderten
waren, hätte ich leicht durch ein ähnliches Er-
eignis mein Leben verlieren können.
Der Weg führte wieder am Seestrand und ich
ging zu Fuß, als ich durch eine besonders starke
Welle auf einen liegenden Baum geschleudert
wurde, derart, daß ich bewußtlos liegen blieb und
mit schmerzenden Gliedern erwachte. Zumal die
rechte Hand war verletzt, der Mittelfinger stand
ganz schief und ich konnte ihn nur mit großen
Schmerzen wieder zurechtbiegen. Ein Militärarzt,
den ich sechs Wochen später traf, erklärte, daß
das unterste Gelenk gebrochen gewesen sei. F"ür
die ausgestandenen Gefahren werde ich aber ent-
schädigt durch allerlei Interessantes, das ich nach
und nach in Erfahrung bringe.
Auf einer solchen Expedition wird auch der
ii6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 8
Verkehr freier mit den Leuten, während man auf
den Plantagen und gar in den Städten auch bei
Neigung zur Leutseligkeit den Vornehmen spielen
muß, um die Eingeborenen gehörig in Respekt
zu erhalten. Es ist damit, wie mit dem Verhältnis
zwischen Offizier und Gemeinen im Feldzug.
So ließ ich mir zuweilen von den Lampongers
erzählen und erfuhr manches von ihren Gebräuchen,
erzählte auch selbst wieder. Am meisten Glück
hatte ich mit meiner Mitteilung über Europa, daß
dort der Orang blanda ') (der weiße Mann) selbst
Kuli sein muß und die niedrigsten Dienste ver-
richtet. Die Unglaublichkeit dieser Mitteilung
erweckte immer die größte Heiterkeit, etwa wie
wenn in Holland ein Lakai Bauern erzählt hätte,
daß der Prinzgemahl sich selbst die Stiefel wichse.
So ging es 7 Tage fort mit wenig Abwechs-
lung und ohne weitere interessante Ereignisse.
Ich lernte auch nach und nach die größten Ge-
fahren vermeiden. Nur eine Nacht, da wir das
vor uns liegende Stationshaus, eines geschwollenen
Bergstroms wegen, nicht erreichen konnten,
mußten wir im Freien nächtigen. Ich ließ ein
Feuer unterhalten , und stellte neben meinen
Wagen, in dem ich schlief, noch die als Wind-
licht eingerichtete Petroleumlampe auf zum Schutz
gegen die etwaigen Bestien des Waldes, die alle
das Licht scheuen.
Für den Neuling ist eine solche Nacht immer
höchst unangenehm, und ich gestehe, da mir dies
zum ersten Male widerfuhr, keinen ordentlichen
Schlaf gefunden zu haben. Jeder fallende Zweig,
jedes raschelnde Laub wird auf herannahende
Raubtiere gedeutet. Doch diese wagen sich
nicht heran. Allerdings hört man wohl
in der Ferne Tiger brüllen und Wildschweine
stampfen, doch scheuen sie alle das Licht. Aber
allmählich gewöhnt sich der Mensch an vieles,
zumal wenn man die fatalistischen Eingeborenen,
die der Gefahr noch näher liegen, so still um sich
herum sieht, und ihr ruhiges Atmen belauscht.
Über den reißenden Bergstrom, der dieses
Nachtlager veranlaßt hatte, wurde am anderen
Morgen, als das Wasser sich ein wenig verlaufen
hatte, aus Balkenstämmen und Flechtwerk von
Rottang (dem Material der Spazierstöcke und des
Stuhlgeflechtes), das mit Beilen gekappt wurde,
ein primitives Floß gezimmert, über das, wenn
auch nicht ohne Fährlichkeiten, unsere Karawane
mit Wagen und Karren hinübergeschafift werden
konnte. Zuerst läßt man die Menschen, dann die
Wagen und zuletzt die ausgespannten Tiere
passieren.
So erreichten wir endlich unsere Endstation,
wo nun die eigentliche Arbeit begann.
* *
*
Landkonzessionen, um die es bei meiner Sen-
dung zu tun war, dürfen nämlich nur angefragt
') Eigentlich hollanda, aber das h ersetzen die Malaien
durch ein b.
werden für Ländereien, die mindestens 4'., km
von schon bestehenden Wegen und den Flüssen
entfernt sind. Das Land innerhalb dieses Ab-
standes bleibt in landesväterlicher Fürsorge für die
Eingeborenen reserviert, worauf diese auch in der
Tat reichlich ihre Existenz finden können. Hier
installierte ich mich in dem sehr primitiven
Stationsliause für Tage und Wochen. Denn von
hier aus mußte der Weg erst gebahnt werden in
den eigentlichen Urwald. Mit Kappmesser und
Beil muß das Gewirr der Zweige durchschlagen
werden. So rückt man langsam vorwärts, oft nur
800 und höchstens 20OO m im Tag. Ich gab nur
mit dem Kompaß die Richtung an und über-
wachte die Einhaltung derselben, hatte aber da-
zwischen viel Zeit und Langeweile, die ich durch
allerlei Jagd auf wilde Schweine und Nashorn-
vögel zu töten suchte, von deren Schnäbel die rm
Inländer phantastische Uhrketten fertigen. fl
Über den Urwald hatte ich mir aus gedruckten
Beschreibungen und meiner bisherigen Anschauung
auf Java sowohl wie aus Erzählungen einen Be-
griff gemacht, den hier die Erfahrung nicht be-
stätigen sollte. Hier in Süd-Sumatra wenigstens
ist er nicht farbenprächtig und voller Leben und
Üppigkeit, sondern dunkel, feucht, kühl und still.
Das große Pflanzengewirr läßt keine einzelne
Pflanze so recht zur Geltung kommen. Wenig
Blüten und Früchte. Nur immer Ranken und
Blätter in ganzen Stockwerken übereinander, von ,
denen nur die oberste Etage, die aber der |
Mensch nicht zu sehen bekommt (außer etwa '
von einem Flugzeuge aus, die es ja in Sumatra
noch nicht gibt), eine große Blütenpracht ent-
faltet. Unten viel unterdrücktes Leben, Über-
wundenes und Abgestorbenes. Auch das Tier-
leben mehr am Rande des Urwaldes wie in diesem
selber. Zum Glücke fehlt es auch an Muskiten,
die, wenn auch nicht die Sonne, doch das Licht
lieben.
Ich hatte mir auch, ehe ich diese Verhältnisse
aus eigener Anschauung kennen lernte, über die
Verbreitung der gefürchteten Tiere in den Wäl-
dern der Tropen ganz andere Vorstellungen ge-
macht. Unsere Buchgelehrsamkeit muß sich ja
überall eine Revision gefallen lassen, wo wir mit
den Dingen selber Bekanntschaft machen. Ein
richtiger Sohn der Wildnis ist eigentlich nur der
Elefant und der andere große Dickhäuter, das
Nashorn, die im Innern der Urwälder leben, sich
dort eigene Straßen brechen und sich ganz auf
eigene Rechnung von den jungen, blätterreichen
Zweigen ernähren.
Schon der Tiger, auch der große Königstiger,
ist nach der menschlichen Kultur orientiert und
zwar auf die folgende, allerdings nicht ganz ein-
fache Weise : Diese Raubtiere ernähren sich vor-
wiegend von Hirschen und Wildschweinen, von
denen namentlich die letzteren sehr häufig sind,
da die Malaien, die den Islam bekennen, sie als
Nahrung verschmähen. Hirsche aber bedürfen
zur Nahrung des Grases, das im eigentlichen finsteren
N. F. XIII. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
117
Urwald fehlt und nur da gedeiht, wo der Mensch
bereits mit Beil und Feuer gerodet hat; und
die Schweine lieben über alles Bananen (Pisangs),
die hier, obschon vielfach in längst verwildertem
Zustande, nur da vorkommen, wo menschliche
Kultur besteht oder gewesen ist, also in der Nähe
der Siedelungen. So umkreisen die großen Katzen
die menschliche Kultur, ähnlich wie in Europa
der Fuchs, der dem Bauer die Hühner stiehlt,
nur daß die Abhängigkeit, wo sie noch um ein
oder zwei Glieder loser ist, nicht so augenfällig
erscheint und daher von bloßen Reisenden leicht
übersehen wird, während diese Beziehungen jeman-
den, der dauernd in den Tropen lebt, allmählich
aber unwiderstehlich klar werden.
In Java gibt es hierzu wenig Gelegenheit. Dort
ist schon zu viel Kultur. Die Kampongs sind zu
nahe beieinander, als daß man beobachten könnte,
wie es an der Grenze zwischen ihnen und der
unberührten Natur ist. Auf 15 km nämlich
schätze ich den Abstand, in dem die großen
Katzen: Tiger und Panther am liebsten hausen.
Für die in ähnlicher Weise orientierten Vögel
2 km. Auch für diese gilt dasselbe Gesetz , da
sie sich gerne von Reis ernähren, der von den
Menschen erzeugt wird, oder von Muskiten und
Würmern, die gleichfalls in den nassen Reisfeldern
gedeihen. Dasselbe gilt auch für die Boas, deren
ich mehrere nicht im Urwald aber auf der Plan-
tage erlegte, wo sie gerne in den Scheuern auf
Ratten Jagd machen.
Nur der Elefant lebt ganz für sich und schafft
sich, wenn man es so nennen will, seine eigene
Kultur. Die des Menschen ist ihm völlig zu-
wider. Das geht soweit , daß er überall die
Telegraphenpfähle knickt, die in seinen Bezirk
eindringen, und die Grenzsteine, die ich später
setzen lassen werde, um das abgemessene Areal
in Kataster zu bringen, muß ich sorgfältig funda-
mentieren, und bin selbst dann noch nicht sicher,
daß der eifersüchtige Beherrscher des Urwalds
nicht einen oder den anderen herauswühlt und
verschleppt. Die Instinkte des Elefanten sind
geradezu in unserem Sinne kulturfeindlich, es sei
denn, daß der Mensch ihn einfängt und besiegt.
Nach der Zähmung, die bei ihm eine gewaltige
innere Umwäl/.ung bedeutet, stellt er aber dann
um so bereitwilliger seine hervorragenden Gaben
in den Dienst des Überwinders. Wie das geschieht,
ist ja schon häufig von Brehm und anderen
Tierfreunden erzählt. Es geht bekanntlich bis
zur intelligenten Hilfeleistung bei der Zähmung
seiner eigenen Siammesgenossen.
Auf die sehr häufig vorkommenden Wild-
schweine machte ich nun täglich Jagd und schoß
mehrere. Gefalir ist nicht viel dabei. Man muß
sich nur einen gesicherten Standort wählen, auf
einem Felsen oder unter einem Ast, an dem man
sich im Fall der Not emporschwingen kann.
Fatal war es nur, daß ich den schönen Braten
allein essen mußte, da der Islam meinen Be-
gleitern den Genuß verbietet. Nur der auf-
geklärte Mandur ließ sich bewegen und wurde
sogar, nachdem er den Wohlgeschmack ge-
kostet, ein leidenschaftlicher Schweinefleischesser.
Ich hoffe, daß ihm dieser Sünde wegen die
Freuden des mohammedanischen Paradieses nicht
verkürzt werden. Die anderen weigerten sich
hartnäckig, auch nur das Wild zu berühren. Die
Sundanesen in West-Java erwehren sich wohl der
zahlreichen, die Pflanzungen beschädigenden Wild-
schweine mittels spitzer Pfähle aus Bambus, die
schräg in den Boden gerammt werden. Die blind-
lings vorwärts jagenden Sauen spießen sich an
diesen Palisaden oder verletzen sich doch lebens-
gefährlich. Aber zur Nahrung gebraucht wird
das Wild nicht, ja, wenn man den Eingeborenen
befiehlt, das erlegte Wild zu tragen, so wissen sie
jede Berührung zu vermeiden, flechten nur kunst-
reich Zweige um die Läufe, so daß ihnen das
Taschenspielerstück wirklich gelingt.
Auch ein paar Zwerghirsche schoß ich in
diesen einsamen Tagen. Tiere, nur 40 cm hoch
am Rücken und mit knotenartigen Stummeln von
Geweihen, die gerade in der Erneuerung begriffen
sein mochten, konnte mich aber nicht entschließen
deren Fleisch zu genießen, da es eine bläuliche
Farbe zeigte. Später hörte ich, daß ich einen
vortrefflichen Braten verschmäht hatte. Da war
ich also der Mann der Vorurteile wie meine moham-
medanischen Malaien gegenüber den Schweinen.
Zuweilen stießen meine Leute bei dem Kappen
des Weges auf eine Verzögerung dadurch, daß
ein Baumriese gerade in der durch den Kompaß
angewiesenen Richtung stand, oder gar, daß die
Leiche eines solchen im Wege lag. Das ist dann
ein ganzer Berg von brauner verwesender Pflanzen-
masse, durch die man schlechterdings nicht durch-
dringen kann und der also umgangen werden
muß. Da war dann natürlich jedesmal meine
Hilfe nötig, um nach dem gemachten Umwege
mit Sicherheit die alte Richtung wieder zu ge-
winnen. Es ist ein geodätischer Kunstgriff er-
forderlich, die der Eingeborene bei aller seiner
Geschicklichkeit in technischen Dingen nicht
kapiert.
Sehr häufig passierten wir mit unserer Gasse
durch den Wald die Wege , die sich die Ele-
fanten gebahnt hatten, und schiebkarrengroße Kot-
ballen verrieten durch ihre Frische — sie rauchten
zuweilen noch — die noch nicht lange entfernte
Anwesenheit dieser Beherrscher des Urwaldes, die
auf Java, jenseits der Sundastraße nicht mehr
vorkommen. Auch das Nashorn, dessen Wege
dort wenigstens noch z. T. vorhanden sind und
manchmal benutzt werden, ist dort beinahe aus-
gestorben.
Hier waren wir aber in unmittelbarer Nähe
der großen Dickhäuter und hörten täglich deren
Trampeln und das Brechen von Zweigen.
Jagd auf Elefanten habe ich nur einmal mit-
gemacht; sie ist gefährlich, weil die Herde nach
gefallenem Schusse nach allen Seiten auseinander
stiebt, wobei der Jäger leicht unter die Füße der
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 8
Tiere gerät und von diesen blindlings zertreten
wird.
Einer großen Plage in den Urwäldern muß
ich aber noch gedenken. Das sind die unzähligen
Blutigel, die sich einem bei jeder Berührung mit
dem feuchten Gestrüpp an den Beinen festsetzen,
und die ihren Weg auch durch die Maschen der
Strümpfe zu finden wissen, indem sie sich durch
ihre fabelhaft bewegliche Muskulatur an jeder
Stelle ihres wurmförmigen Leibes dünn zu machen
wissen, um dann, wenn sie Posto gefaßt und ihre
Berufstätigkeit üben , bald wie eine Blase aufzu-
schwellen. Man merkt die Angriffe im Eifer des
Visierens oder Zielens gar nicht, um dann auf
einmal die unliebsamen anschwellenden Franzen
an den Knöcheln und beim Aufstreifen der Hosen-
beine an den Waden zu bemerken. Bei manchen
Personen haben die Bisse unliebsame Folgen in
Gestalt von Schwären, und jedenfalls schwächt
der Blutverlust. Es werden viele Mittel dagegen
angegeben. Ich befand mich am besten dabei,
die Beine ganz mit Baumwollzeug ä la Pfifferari
zu umwickeln und die Lappen tüchtig mit Schmier-
seife zu bestreichen.
Mit den überaus scheuen Ureinwohnern des
Landes, die noch an der mohammedanischen Kultur
keinen Teil haben, bin ich nicht in Berührung ge-
kommen. Man erzählte mir nur, daß sie sich in den
Wäldern versteckt und mit den zivilisierteren Ein-
geborenen nur eine Art Tauschhandel unterhalten,
der etwas an das Deponieren von Brandschatzungen
erinnert. An bestimmten Stellen im Walde findet
man dann Elfenbein und Nashornhörner, wofür
man dann entsprechende Mengen von Reis, Ge-
schirr und Stoffen niederlegen muß, die dann auf
ebenso geheimnisvolle Weise verschwinden. Es
sind wohl dieselben Stämme, die weiter nördlich,
in der Gegend von Palembang und Djambi unter
dem Namen von Kubus bekannt sind.
Nachdem ich meine Arbeit vollendet hatte,
habe ich die Rückreise angetreten, von der nicht
mehr viel zu berichten ist, da sie so ziemlich eine
Wiederholung meiner Hinreise war, mit denselben
Eindrücken und Fährlichkeiten.
Der größten Gefahr war ich noch zu allerletzt
ausgesetzt, als ich mich in Kroe einschiffen wollte
und dem Dampfer entgegenruderte, der eine gute
Strecke vor der Bucht vor Anker lag. Kaum
hatte ich mit dem Ruderboot die stillere Bucht
verlassen, als der Wellenschlag so heftig wurde,
daß wir wiederholt dem Kentern nahe waren, und
es dauerte beinahe eine Stunde, bis wir mit der
größten Anstrengung an Bord gelangten. Selbst
der Kapitän war außer sich über die Sorglosigkeit
des malaiischen Hafenmeisters, der uns hatte aus-
laufen lassen. Auch so etwas passiert mir nicht
zum zweiten Male. Aber ich hatte wenigstens die
Genugtuung, daß bei der späteren Wiederholung
meiner Reise mit Regierungsbevollmächtigten, wo
dann die von mir ausgemessenen Grenzen des
angefragten Landes mit Grenzsteinen festgelegt
und Konzession erteilt wurde, meine aufopferungs-
volle .Arbeit korrekt gefunden ward.
Einzelberichte.
Zoologie. Sekundäre Geschlechtscharaktere.
O. Steche hatte bei seinen Katalaseversuchen
die Erfahrung gemacht, daß das Blut, oder wie
man bei Wirbellosen besser sagt, die Hämolymphe
der Raupen und Puppen eines Schmetterlings in
den beiden Geschlechtern einen auffälligen Farb-
unterschied aufweist. Geyer fand (105. Bd. d.
Zeitschr. f. wiss. Zool.), daß dieser Unterschied
bei den meisten Schmetterlingsraupen und Puppen
mehr oder weniger deutlich (mitunter schon durch
das Integument hindurch) zu beobachten ist. Ganz
allgemein herrschte bei den cJ(J wasserklare bis
leicht gelbe, bei den $$ dagegen leuchtend grüne
Farbe der Hämolymphe vor. Die gleiche Diffe-
renz zeigten weiterhin die Larven vieler ande-
rer phytophager Insekten , während die der (J(J
und $$ nicht phytophager gleichgefärbtes Blut
besitzen. Die spektroskopische Untersuchung der
Hämolymphe, die leicht den Raupen durch Ab-
schneiden eines Afterfußes, den Puppen durch
Anstechen der F'lügeldecken abgezapft werden
kann, erbrachte als wichtigstes Ergebnis den Nach-
weis, daß sowohl die grüne Farbe der $$ als die
gelbe der (Jc^ durch im Blut in freier Lösung
existierende Farbstoffe hervorgerufen wird und
daß der grüne ein wenig verändertes Chlorophyll
(,,Metachlorophyll") ist, der gelbe dagegen durch
weiter abgebaute Chlorophyllprodukte, Xantho-
phylle erzeugt wurde. Ein Vergleich ergab nahezu
eine Übereinstimmung des Spektrums der grünen
Hämolymphe mit dem einer Lösung von Pfianzen-
chlorophyll in Kochsalz und eine starke Differenz
mit denen der Wittstätter 'sehen Chlorophyll-
abbauprodukte.
Was nun die Frage nach dem Zweck dieser
Differenzierung betrifft, so findet (entgegen
V. Linden) wahrscheinlich eine Assimilation mit
Hilfe des Chlorophylls nicht statt. Wir haben es
lediglich mit einer Anpassung zu tun. Die grüne
Farbe wird im Imago aus der Hämolymphe ent-
fernt und in den Eiern abgesetzt, die dadurch
Blattfarbe als Schutzfärbung bekommen. Bei den-
jenigen Insekten, deren Gelege durch dunklere,
braune oder rotbraune Töne ausgezeichnet sind,
ließ sich eine Veränderung der Hämolymphe in
den entsprechenden Farbton vor der Verpuppung
konstatieren. Die stärker gelbe Blutfarbe der (J(^-
Imagines rührt nicht von einer Veränderung, son-
dern nur von einer Konzentration der ursprüng-
lich vorhandenen Xanthophylle her.
N. F. Xin. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
119
Es waren nun zwei Ursachen für diese ge-
schlechtliche Differenzierung möglich : Einmal
konnten die Darmzellen der $$ und (^(^ ver-
schiedenartig differenziert sein, indem die der $$
schon wenig verändertes Chlorophyll, Metachloro-
phyll, die der ^t^ hingegen nur stärker abge-
bautes, Xanthophylle durchlassen oder beide
sind in gleicher Weise durchlässig, aber in der
Hämolymphe der ^(^ finden sich spezifische Stoffe,
die den Chlorophyllabbau weiterführen. Das
zweite schloß sich von selbst aus, da einmal ein
Zusatz von ^(J-Blut zu weiblichem keine Ent-
färbung gab und da ferner Transfusionsversuche
von (^(J-Blut auf Weibchen und umgekehrt erfolg-
los verliefen. Ebenso brachten Kastrations- und
Transplantationsversuche von Gonaden auf das
andere Geschlecht keinen Beweis für die Ab-
hängigkeit der Hämolymphenfarbe von den pri-
mären Sexualcharakteren. Auch die Präzipitin-
rcaktion lieferte keinen Nachweis für das Vor-
handensein differenter Eiweißkörper im Blute der
Geschlechter. (Nur in einem Falle konnte der
Ausgang einer Präzipitinreaktion mit Injektion
von Gonadenextrakt als positiv gedeutet werden.)
Daß aber tatsächlich spezifische (JcJ- und $$-
Eiweißkörper in der Hämolymphe vorhanden sind,
geht aus einer einfacheren Reaktion hervor. Beim
Zusammenbringen von <J(J- und $$-Blut trat stets
in verschiedener Stärke ein Ausfall von Eiweiß
(Schlierenbildung) auf. Die gleiche Reaktion er-
hielt Geyer auch durch Mischen des Blutes ver-
schiedener Arten und verschiedener Geschlechter
von Arten mit gleicher Blutfarbe, ein Beweis, daß
das (J- und $-Blut der Insekten sich wie artfremd
verhalten.
Die Ergebnisse dieser Versuche haben weit-
tragende Bedeutung für die Erklärung der Ent-
stehung der sekundären Geschlechtscharaktere
überhaupt. Während man bisher auf Grund der
Kastrations- und Transplantationsexperimente an
Wirbeltieren den primären Geschlechtscharakteren
einen maßgebenden Einfluß auf die Ausbildung
der sekundären einräumte (Hormonenlehre), scheint
hier eine Reeinflußbarkeit nicht möglich zu sein.
Dieser Widerspruch ist nach Geyer jedoch nur
ein scheinbarer. Er nimmt an, daß das gesamte
Soma der Insekten schon vom Ei her weitgehend
geschlechtlich differenziert ist und weiter „daß
hier die phylogenetisch unter dem Einfluß der
Geschlechtshormone entstandenen (,,sekundären")
Geschlechtscharaktere zu primären Artcharakteren
geworden sind". ,,Es besteht ein spezifischer Einfluß
der Geschlechtsdrüsen auf den Stoffwechsel, der
sich aber bei den einzelnen Tiergruppen in ver-
schiedenem Maße geltend macht je nach der
Stärke der ab ovo gegebenen sexuellen Differen-
zierung des Somas."
Einwirkung des Radiums auf Fortpflanzungs-
zellen von Wirbeltieren. Während bei Kreuzungen
durch künstliche Befruchtung von Eiern von Bufo
vulgaris und Rana esculenta- Weibchen mit Samen
von Rana fusca-Männchen zwar eine Furchung der
Eier eintrat, die Weiterentwicklung aber auf dem
Keimblasenstadium plötzlich aussetzte, konnte
G. H e r t w i g ( Arch. f mikroskop. Anat. 81, Abt. II.
191 3) durch Bestrahlung der fusca-Spermien eine
Entwicklung der Bastarde zu Larven erzielen.
Diese waren allerdings kleiner als normale gleich-
altrige Kröten- und esculenta-Larven und wiesen
mehr oder minder starke typische Mißbildungen
(Radiumkrankheit) auf Als Gegenstück zu diesen
Experimenten wurden unbefruchtete Kröteneier
mit Radium bestrahlt und dann mit unbestrahltem
Samen von Rana fusca befruchtet. Auch dann
entwickelten sich die Eier bis zum Blastulastadium.
Den Grund für das Absterben der Kfeuzungs-
produkte aus unbestrahlten Eiern von Bufo und
Rana esculenta mit bestrahltem fusca-Samen sieht
H. in der „disharmonischen Idioplasmaverbindung",
d. h. in der Erkrankung der nach der Befruchtung
in einem Kern vereinigten artfremden Kernsub-
stanzen. Die längere Lebensdauer der durch mit
Radium bestrahlten Samen erzielten Kreuzungen
ist deshalb möglich, weil durch die Bestrahlung
die Kernsubstanz (Idioplasma) der Spermien zerstört
wird. Die Eier entwickeln sich also nur mit
dem mütterlichen Chromatin ; die Entwick-
lung wird durch die nach dem Eindringen
des Samens auftretende Strahlung angeregt.
Dies nachzuweisen gelang freilich infolge tech-
nischer Schwierigkeiten nicht durch Zählen der
Chromosomen, wohl aber konnte festgestellt werden,
daß die Zellen der Radiumbastarde immer kleiner
sind als die der entsprechenden Organe normaler
Larven (Oberflächen bzw. Volumina wie i : 2). Da
nun in allen Fällen das Verhältnis von Kern zu
Plasma das gleiche bleibt (Kernplasmarelation), so
ist dies gleichbedeutend mit einfacher Chromo-
somenzahl; d. h. die Eier haben sich partheno-
genetisch entwickelt. Das stets beobachtete Kleiner-
bleiben der Radiumlarven selbst ist nicht auch
auf die kleineren Zellen zurückzuführen, sondern
auf die geringere Wachstumsenergie und Teilungs-
fähigkeit derselben infolge der halben Chromo-
somenzahl. Darin ist schließlich auch das Ab-
sterben der Larven vor erlangter Reife erklärt.
Daß es sich in den vorstehenden Versuchen
tatsächlich um Parthenogenese handelt, meint in
einer kurzen Notiz Paula Hertwig cytologisch
zu beweisen. (Ebenda.) Es zeigten nämlich Zwei-
und Vierzellenstadien von Eiern von Rana fusca,
die mit radiumbestrahltem Sperma der gleichen
Art befruchtet worden waren, auf Schnittserien,
dal3 das Spermachromatin nicht mit dem Eikern
verschmolzen, sondern degeneriert und als stärker
färbbares Klümpchen sichtbar ist. Dieses „Radium-
chromatin" steht infolge seiner Lage und Ver-
teilung im Zellplasma in keiner Beziehung zum
Eikern und den Tochterkernen und zu deren
Teilungen. Dr. Wagler, Leipzig.
Der Schafochse (Ovibos moschatus Blainv.).
Was ich in der Einleitung zu meinem Auf-
I20
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 8
satz über den Schafochsen (diese Wochenschrift
191 3, S. 757 — 759) sagte, ist buchstäblich wahr
geworden. Eine umfangreiche Monographie von
J. A. Allen liegt vor mir; „Ontogenetic and
olher Variations in Muskoxen, with a systematic
Review of the Muskox Croup, recent and extinct".
Memoirs of the American Museum of Natural
History. New Series, Vol. I, Part IV. March, 1913
(123 S. und 18 vorzügliche Tafeln nebst i Karte).
Der Autor ist zu wesentlich anderen Resultaten
gelangt als ich sie seinerzeit (1910) veröffeni lichte.
Allen hat ein sehr schönes Material besessen,
das beispielsweise mehr als 150 Schädel umfaßte.
Zunächst sucht er nun den Grad der Variation zu
bestimmen, der bei den verschiedenen embryonalen
und postembryonalen Stadien zutage tritt. Da
unterläuft nun dem Autor ein großer Fehler. Er
wirft alle Schädel einfach zusammen und beschreibt
z. B. zwei 8 Monate alte fötale Schädel von den
,, Rarren Grounds" östlich vom Mackenzie und als
nächstes Stadium zwei i Woche alte Schädel von
Grantland und von Grönland. Dann folgen fast
ausschließlich Exemplare junger Individuen von
Grantland und dieses „Pele mele" wird dann ziem-
lich ka'tblütig als „Dogma" für die Kenntnis der
Hornentwicklung beim Moschusochsen (I?) hinge-
stellt, ja der Autor greift sogar auf Grund seiner
„Zwitterontogenie" der Hörner die vorzügliche
Arbeit von Einar Lönnberg ') an.
Die Ontogenie der Zähne, des übrigen Schädels,
des Haarkleides und der Färbung wird in ähn-
licher Weise vergewaltigt, alles wird zusammen-
geworfen und für ganz verschiedene Formen die-
selbe Entwicklung „kommandiert".
Von Seite 143 an versucht Allen die Schädel-
variationen festzustellen, und glaubt besonders
sicher vorzugehen, wenn er sich von Grantland
31 männliche und 26 weibliche Schädel hernimmt.
Zum Unglück entgeht ihm nun aber völlig, daß
die Gegend, aus der seine Exemplare stammen,
eine — tiergeographisch gesprochen - — denkbarst
verdächtigeist. Daselbst stoßen nämlich mindestens
2 verschiedene Tierverbreitungsbezirke zusammen
und so ist es natürlich gar nicht zu verwundern,
daß Allen auf angeblich große Variation im
Schädelbau dieser Exemplare gekommen ist.
In den nächsten Kapiteln befaßt sich der Autor
mit Sachen, die er lieber hätte übergehen sollen,
da sich dieselben bereits in meiner Monographie
(1910) vorfinden, z. T. schreibt Allen meine .An-
gaben einfach ab, allerdings nicht, ohne mich als
Quelle anzuführen. Ein weiteres Kapitel (S. 173
bis 1 79) ist ausschließlich der kritischen Besprechung
meiner beiden Arbeiten über den Schafochsen ge-
widmet, wobei jedoch Allen meine Studie über
die Phylogenie dieses Tieres auf europäischem
und asiatischem Boden nur als Auszug kennt. ^)
') On the Structure and .\natomy of the Musk-Ox (Ovibos
moschatus). Sect. I. The Development of the Horns in the
Musk-O-x. Proc. Zeel. Soc. London, 1900, pp. 687 — 694,
fig. 1^-4.
') R. Kowarzik, Der Moschusochs im Diluvium von Europa
Ich will mich mit der Besprechung dieser Seiten
hier nicht befassen, da ich Aliens Angriffe in
einer Fachzeitschrift entsprechend zurückweisen
werde. Gut ist das Kapitel über den Schafochsen
in der Gefangenschaft, wobei einzig und allein die
amerikanischen zoologischen Gärten behandelt
werden, doch stammen diese Seiten — wie ich
nebenbei bemerken möchte — nicht von Allen,
sondern vom Direktor des zoologischen Gartens
in New- York, William T. Hornaday.
Allen läßt nur folgende Formen des lebenden
Schafochsen gelten : Ovibos moschatus moschatus,
O. m. niphoecus und O. m. wardi. Von fossilen
Formen zählt er auf: O. yukonensis, O. spec. indet.
und O. pallantis.
Vielleicht das Beste an Aliens Arbeit ist, daß
er die fossilen P'ormen Bootherium, Symbos und
Liops, die durchwegs dem nordamerikanischen
Diluvium angehören, genau beschrieben und ab-
gebildet hat. P-in weiteres Verdienst ist die Samm-
lung der zerstreuten Literatur.
Davon abgesehen stellt die mit echt ameri-
kanischem Luxus ausgestattete Abhandlung kaum
einen Fortschritt in unserer Kenntnis von der
Naturgeschich; e und Systematik der lebenden und
ausgestorbenen Formen des Schafochsen dar. Im
Gegenteil wirft uns der Schleier der Verworrenheit,
der die ganze Arbeit bedeckt, wieder um Jahre
zurück und es wird mühsame Klärarbeit notwendig
sein, bis in dieser Frage wieder ein Fortschritt
zu verzeichnen und die von .Allen gepredigten
Irrtümer beseitigt sein werden.
Dr. Rud. Kowarzik.
Chemie. Zellulose, Zucker, Alkohol. Auf
S. 45 (Nr. 3) der Naturw. Wochenschr. sind die
Ergebnisse einer Arbeit von WiUstätter^) über
die Verzuckerung der Zellulose durch Hydrolyse
mit höchst konzentrierter Salzsäure erwähnt worden.
Hierzu dürfte eine Ergänzung in einigen Punkten
angebracht sein. Zunächst ist das von Will-
stätter entdeckte Verfahren nicht neu; das
Prinzip dieser Methode ist schon Gegenstand einer
Patentschrift (D. R.-P. II 836) aus dem Jahre 1880,
die sich eingehend mit der technisch-apparativen
Seite des Problems beschäftigt. Auch in anderer
Hinsicht scheint, wie die Kritik des verdienstvollen
Zelluloseforschers Ost (Ber. d. Deutsch. Chem.
Ges. 46, 2995) zeigt, die Willstätter 'sehe Unter-
suchung anfechtbar zu sein. Insbesondere fehlt
ein exakter Beweis für die q uantitative Über-
führung der Zellulose in Zucker, da die Ermitt-
lung der Ausbeute nur durch Polarisations- und
Reduktionsbestimmungen, nicht aber durch Ver-
gärung oder durch gewichtsanalytische Bestim-
mung des isolierten Zuckers erfolgte. Eine Ver-
zuckerung der Zellulose von 90 — 95 "/^ der
theoretischer! Ausbeute ist schon von Ost und
Wilkeni ng (Chemiker-Zeitung 34, 461) im Jahre
und .-^sien. Verhandl. des naturf. Vcr. in Brunn, Bd. Xt^VIII,
1908/1909, S. 44 — 49.
ä) Ber. d. Deutsch. Chem. Ges. 46, 2401.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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1910 erreicht worden, und zwar durch Verwen-
dung von 72 "/oiger Schwefelsäure als Hydroly-
sierungsmittel. Das Prinzip dieses Verfahrens —
Abbau der Zellulose mittels starker Säure zu
Dextrinen und Verzuckerung der Dextrine mit
verdünnter Säure — wird wahrscheinlich auch
auf die VV i 1 1 st ä 1 1 e r 'sehe Methode übertragen
werden müssen, wenn es gelingen soll, konzen-
triertere Zelluloselösungen (Will statt er ver-
zuckerte einprozeniige Lösungen) glatt in Zucker
(Dextrose) zu verwandeln. Bugge.
Die interessante Frage, ob Jod und Selen
chemische Verbindungen miteinander zu bilden
vermögen, ist neuerdings von Ernst Beckmann
und einigen seiner Schüler eingehend behandelt
worden (vgl. Zeitschr. f. anorgan. Chem. Bd. 84,
S. 79 und S. 103, 1913). Ihren Ausgangspunkt
nahmen die Untersuchungen von der Beobachtung,
daß das Seien bei der kryoskopischen Untersuchung
in geschmolzenem Jod als Lösungsmittel ein auf-
fallend niedriges Molekulargewicht von Se, bis Se,,
hat, während sein Molekulargewicht bei der kryo-
skopischen Bestimmung in anderen Lösungsmitteln
sowohl bei höheren als auch bei niedrigeren Tem-
peraturen sehr groß — etwa Se,,, — ist. Auch
entspricht das Eutektikum von Jod-Selenschmelzen
gerade einer Zusammensetzung SeJ. Alle Ver-
suche aber, die Existenz einer Verbindung von
der angegebenen Zusammensetzung SeJ nachzu-
weisen, sind vergeblich gewesen. Sowohl die
Bestimmung der Volumänderung, welche beim
Schmelzen eines Jod -Selengemisches auftreten,
wie die Bestimmung des spezifischen Volumens
sowie des elektrischen Leitvermögens von Jod-
Selen-Legierungen führte zu Werten, die mit den
nach der Mischungsregel berechneten Werten
innerhalb der Fehlergrenzen der Versuche zusam-
menfielen. Auch wird das Molekulargewicht von
Selen in Methylenjodid Se^^, durch Hinzufügung
von Jod zu der Lösung nicht verringert; in die-
sem Falle wirkt Jod also auf das große Selen-
molekül nicht merklich dissoziierend ein. Die
Frage, warum das Sclenmolckül bei der Auflösung
in Jod so klein ist, ist also als nicht geklärt an-
zusehen. Mg.
Über neue Verfahren zur Anreicherung des
Radiums aus Gemischen von Salzen des Baryums
und des Radiums berichten E. Ebler und W.
Bender in der Zeitschr. f. anorg. Chem. Bd. 84,
S. 77—94 (1913). Schon früher hatte Ebler in
gemeinschaftlicher Arbeit mit einigen Schülern
die seit langem bekannte Tatsache, daß radio-
aktive Stoffe eine starke Adsorbierbarkeit besitzen,
zu ihrer Anreicherung aus Gemischen mit in-
aktiven Stoffen praktisch zu verwerten gesucht.
Anfangs verwendete er als adsorbierenden Stoff
ein Kieselsäuregel, das sich aber in der Folge
nicht recht bewährt hat und neuerdings durch
Mangansuperoxydhydratgel ersetzt worden ist.
Schüttelt man eine Radium Baryumsalzlösung mit
frisch gefälltem Mangansuperoxydhydratgel bei
Zimmertemperatur etwa eine Stunde lang, so wird
gleichzeitig Baryum- und Radiumsalz adsorbiert,
das Radiumsalz aber in relativ viel stärkerem
Maße als das Baryumsalz. Je nach den Versuchs-
bedingungen war die Menge des Radiums in dem
adsorbierten Anteil des Radium -Baryumsalz-
gemisches zwei- bis dreimal größer als in der
Lösung. Zur Trennung des Radiums vom Man-
gansuperoxydhydrat kann dieses in Salzsäure ge-
löst und aus der Lösung das Radium Baryum-
chlorid in bekannter Weise durch Einleiten von
Salzsäuret^as gefällt werden. Zweckmäßiger
arbeitet man jedoch in der Weise, daß man nicht
die Gesamtmenge des Mangansuperoxydhydrates
mitsamt dem adsorbierten Radium-Baryumgemisch
sogleich in einem Überschuß von konzentrierter
Salzsäure auflöst, sondern sie zunächst nur mit
verdünnter Salzsäure behandelt, denn hierbei wird
ein großer Teil des Baryums aus dem Adsorp-
tionskomplex herausgelö.-.t, während das Radium
in der Hauptmenge zurückbleibt, und erst nach
dieser zweiten, die Konzentration des Radiums
im Baryum abermals auf das Doppelte bis Drei-
fache erhöhenden Anreicherung die Auflösung des
Ganzen in starker Salzsäure und die Fällung des
Radium-Baryumchlorids vornimmt. Mg.
Geographie. Der Malaiische Archipel, sein Bau
und sein Zusammenhang mit Asien ^) wird von
Wilhelm Volz in einer interessanten Arbeit ge-
schildert. Die Malaiische Scholle bietet zahlreiche
Probleme, das Verhältnis zu Asien und Australien,
die Vulkane, die Gräben, die sie umgeben, die viel-
gestaltigen F"ormen der Inselbögen und seltsamen
Meeresmulden; aber unsere Kenntnisse sind noch
recht lückenhaft. So kann es sich nur um den
Versuch einer Lösung handeln, sie muß den viel-
gestaltigen Problemen gerecht werden und muß
von der objektiven Beobachtung ausgehen, darf
aLo die Kombination nur dort zu Hilfe nehmen,
wo Beobachtungen fehlen. Zwei Linien des Re-
liefs spielen eine wichtige Rolle, einmal die 200 m-
Linie ; aber sie ist nicht im Bau der Scholle, son-
dern in den zufälligen Wassermassen begründet.
Wichtiger ist die andere Linie, die Tiefenlinie
von 3000 m, bei der der Sockel unten anfängt.
Die beigegebene Karte wurde nach diesem Ge-
sichtspunkte gezeichnet.
Einen wichtigen Gesichtspunkt in der Unter-
suchung gibt die prätertiäre Oberfläche.
Es ist eine ,,Uroberfläche", an der Gneise, Glimmer-
schiefer, andere Schiefer, paläo- und mesozoische
Sedimente Anteil haben. Das Charakteristische
ist ihre Höhenlage Während in Nord-Sumatra
das prätertiäre Gebirge in Höhen von 2000 bis
2600 m hinaufreicht, senkt es sich nach Süden
immer mehr, in Süd Sumatra tritt Granit und
Glimmerschiefer noch gerade über dem Meeres-
') Sitzungsberichte der physik.-mediz. Sozietät in Erlangen
Bd. 44 (1912) S.-A. (Mit einer Karte.)
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niveau auf In Java fehlt die Unterlage ganz.
Dagegen liegt im Herzen von Hinterindien das
alte Gebirge in 5000 m und mehr Höhe; auch
Borneo besteht im wesentlichen aus diesen
Schichten, die auch hier fast bis zu 5000 m Höhe
emporragen. Aber in den Philippinen tritt es
wieder stark zurück, und erst im Osten, in Celebes,
in den Molukken und im äußersten Südosten
erreicht es wiederum größere Höhen.
Das jüngere tertiäre Gebirge hat eine
energische Faltung erlitten, es ist zum Teil außer-
ordentlich (1500 m und mehr) mächtig und erscheint
an Einsenkungsgebiete gebunden. Vulkanisches
Material setzt zum großen Teil diese Sedimente
zusammen, die sich in tieferen Becken abgesetzt
haben. Ähnlich tiefe räumlich begrenzte Becken
haben auch schon im Tertiär bestanden und sind
durch die damals gebildeten Sedimentmassen aus-
gefüllt worden. Die Basis dieser Ablagerungen
liegt heute vielfach in größerer Höhe; Hebungen
haben in der Geschichte des malaiischen Archipels
zweifellos eine große Rolle gespielt.
Das Tertiär Sumatras ist zu einem wesent-
lichen Teil gefaltet, es erfüllt zum großen Teil
die Vorgebirgszonen an der Malakkastraße. Der
Verlauf der Falten folgt überall den alten Horsten,
streicht mit ihnen O — W und biegt mit ihnen nach
SO— S um. Man erhält so den Eindruck, als ob
das Tertiär gegen diese I lorste als Widerlager
gepreßt ist; auch in den Gräben folgt das Streichen
der tertiären Falten dem der begrenzenden Horst-
schollen. So haben wir es mit sekundärer
Faltung zu tun. Ganz ähnliche Ergebnisse
bieten sich in Java, Celebes und im Osten dar.
Die sekundäre Natur der Faltung wird überaus
wahrscheinlich, die Faltung ist ein untergeordnetes
Moment, ein Teil der Zerrung mit ihren Dislo-
kationsphänomenen.
Sehen wir von der prätertiären Tektonik ab,
so ist für die jüngere Zeit das geomorphologisrhe
Bild der Inseln durch folgende Faktoren bestimmt:
gewaltige Sprünge und Spalten, tiefe Einbrüche
und Senkungen, mit aufgefüllten Sedimentmassen
von lausenden Metern Mächtigkeit, und vulkanische
Ereignisse größten Maßstabes.
Sumatra wird beherrscht durch Sprünge, welche
in den Richtungen NW— SO, N-S und 0-W
verlaufen. Daneben treten Kesselbrüche auf die
gern mit Vulkanen verbunden sind. In Java
spielen O — W - Verwerfungen eine große Rolle,
daneben wird es von einem Netz von Brüchen
durchsetzt, die in den Richtungen NW — SO und
NO — SW sich kreuzen. Dieses eigenartige Sprung-
netz, das Java durchsetzt, wird von Volz auf
Torsionsspannungen zurückgeführt, die bei
der ungleichen Zerstückelung der Malaiischen
Scholle entstanden. Elbert') hat dasselbe
Sprungsystem im Osten des Archipels nachge-
wiesen. Von dem Bau der Philippinen ist uns
wenig bekannt. Aber auch hier werden mehrere
') Die Sunda-Expedition. 2 Bde. Frankfurt 1911/12.
Systeme von tektonischen Linien unterschieden,
ein äußeres wesentlich in S — N-Richtung verlaufen-
des und ein inneres SW — NO-Richtung zeigendes
System. Die Kenntnisse vom Aufbau Borneos
sind noch recht lückenhaft.
Im Relief des Meeresbodens heben sich
unverkennbare Beziehungen zur Gestaltung des
Landes heraus. Die Inseln Sumatra und Java
brechen in mehreren Stufen gegen den Ozean-
boden ab. Die Sumatra vorliegende Inselreihe
ist durch ein auffallend tiefes Meer von der Haupt-
insel geschieden. Seewärts zeigt sich eine Wieder-
holung des Vorganges, die Inselreihe bricht zum
schmalen Mentaweigraben ab, um dann zu einer
breiten Schwelle wieder anzusteigen, die sich
langsam zum Indischen Ozean senkt. Im Süden
Javas sind die Verhältnisse gleichartig; ebenso
wurden ähnliche Beobachtungen an den Philippinen
im Nordosten gemacht. Durch die Vermessungs-
schiffe „Edi" und „Planet" wurde festgestellt, daß
die Philippinen an der Ostseite von einem schmalen,
dem tiefsten Graben des Ozeans (9788 m), be-
gleitet sind; jenseits erhebt sich eine Schwelle zu
4000 m, dann folgt ein ähnlicher Graben von
7000 m Tiefe, dem seewärts wieder eine Schwelle
vorgelagert ist, die ihn vom Pazifischen Ozean
trennt.
Wir sehen aus den geschilderten Tiefenver-
hältnissen, daß das Versinken des Südostendes
der Malaiischen Scholle gegenüber dem asiatischen
Festlande auch den Meeresboden betrifft.
Auch der Meeresboden bei Java liegt gegen den
beim mittleren und nördlichen Sumatra um
2 — 3000 m tiefer. Die tiefsten Grabenbrüche be-
grenzen im NO und SW beiderseitig die Rfalaiische
Scholle mit gewaltigem Abbruch. Der tiefste
Einbruch innerhalb derselben , die 5000 m tiefe
Celebessee liegt auf der genauen Verbindung der
tiefsten Stellen des Sundagrabens und des Phi-
lippinengrabens in der Richtung SW- — NO! Die
200 m Linie umschreibt den ganzen Block und
zeigt die enge Zugehörigkeit des westlichen Teiles
zum asiatischen Kontinent. Ebenso wird im SO
durch dieselbe Linie ein großer Teil an Australien
gekittet. Dieser australische Block und Hinter-
Indien stellen zwei Widerlager dar, zwischen
denen sich die Zertrümmerung der Malaiischen
Scholle vollzieht. Im Nordwesten treten die N — S-
Linien beherrschend auf, im Süden der Celebessee
beginnt die Herrschaft der O — W-Richtung der
Leitlinien. Zwischen den Leitlinien des festen
Landes, die als Brüche hervortreten, und den
Gräben, Rinnen und Schwellen des Meeresbodens
besteht absolute Kongruenz. Sie ist beweisend
für den inneren Zusammenhang.
So ergibt sich der Bauplan des Malai-
ischen Archipels. Die Malaiische Scholle
ist eine Landbrücke zwischen Hinterindien und
Australien als zwischen zwei Widerlagern, an
denen sie geheftet ist. Diese Landbrücke versinkt
4000—5000 m gegenüber dem asiatischen Fest-
lande. Zu dieser Bewegung tritt noch eine zweite:
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123
im NO versinkt der Pazifische Ozean, im SW der
Indische. Aber dieses Einsinken geschieht in
anderer Weise als das Sinken der Landbrücke.
Da der Ansatz an Asien sehr breit ist, wird die
Tiefe des Einbruches erheblich näher an Austra-
lien verlegt. Die Malaiische Scholle sinkt in
gleicher Weise gegen Australien hin wie gegen
die angrenzenden Meere; so erhält sie einen
halbkuppelförmigen Bau mit einer zentralen Höhen-
achse, die im Anschluß an Asien steht. Daß
dies tatsächlich der Fall ist, zeigt die Betrachtung
der Uroberfläche. Durch den Widerstreit der
Absenkungsrichtungen kommt eine Torsion
zustande; die Hauptzerrungsrichtungen bilden ein
Torsionssprungnetz, die Hauptzertrümmerung liegt
im australischen Anteil. Aber ebenso ist der Ein-
fluß der pazifischen Zerrung weit größer als der
der indischen. Durch ein Zusammentreffen der
verschiedenen Bruchrichtuiigen entstehen jene
tiefen Meeresbecken, wie die der Bandasee u. a.
Alle diese Bewegungen werden von sekundärer
Faltung begleitet. Dr. Gottfried Hornig.
Kleinere Mitteilungen.
Mesothorium. — Über das Mesothorium ist in
letzter Zeit viel gesprochen und wohl noch mehr
geschrieben worden. Dies ist ein Beweis, daß
ihm von allen Seiten ein lebhaftes Interesse ent-
gegengebracht wird. Wir dürfen uns darüber
nicht wundern, soll doch das Mesothorium imstande
sein, die Menschheit von Leiden zu befreien, gegen
die alle bisherigen Mittel — abgesehen vom Radium
— versagten. Welchem von diesen beiden Stoffen
für obige Zwecke der Vorzug gebührt, ist noch
nicht entschieden. So weit die Erfahrungen bis
jetzt reichen, sind die Wirkungen bei beiden die
gleichen. Wenn jetzt überall der Anschaffung
von Mesothorium das Wort geredet wird, so sind
hier rein praktische Gründe maßgebend. Das
Radium ist nicht nur enorm teuer (i g kostet
etwa V-2 Million Mark), sondern auch schwer zu
haben, während Mesothorium leichter und billiger
zu beschaffen ist.') Immerhin sind die Preise auch
für diesen Stoff noch so hoch, daß es einem Ein-
zelnen schwer werden dürfte, sich ein Quantum
zu beschaffen, wie es zu Heilzwecken erforderlich
ist. In dankenswerter Weise haben sich deshalb
einzelne Gemeinden entschlossen, den Kranken-
häusern Mittel zur Anschaffung von Mesothorium
zur Verfügung zu stellen. Und wenn die Erfolge
tatsächlich so sein sollten, wie sie gepriesen werden,
so wäre das Kapital gut angelegt.
Die Wirkung des Mesothoriums beruht auf
seiner Eigenschaft, Strahlen auszusenden. Solche
strahlenaussendenden Körper gibt es mehrere,
und da sie zurzeit immer noch im Mittelpunkte
des allgemeinen Interesses stehen, ist es vielleicht
angebracht, mit ein paar Worten darauf einzugehen.
Im Jahre 1895 entdeckte Professor Röntgen die
sogenannten x-Strahlen. Diese besaßen die merk-
würdige Eigenschaft, Körper zu durchdringen,
durch welche die Lichtstrahlen nicht hindurchzu-
gehen vermochten. Die Gelehrten waren nun
bemüht, durch eifriges Suchen und Forschen die
Ursache und das Wesen dieser Strahlen zu er-
gründen. Da die Röntgenstrahlen von der fluores-
') Man darf dabei aber nicht vergessen, daß die Wirk-
samkeit des Radiums von fast unbegrenzter Dauer ist, wahrend
das Mesothorium nach und nach an Wirksamkeit verliert.
zierenden Glaswand ausgingen, auf welcheKathoden-
strahlen fielen, so hielt man sie zunächst für eine
Äußerung dieser Fluoreszenz. Es wurden nun
die verschiedensten fluoreszierenden Körper darauf-
hin untersucht, und es gelang Becquerel festzu-
stellen, daß auch das Uran die Eigenschaft besaß,
Strahlen auszusenden; dieselbe Eigenschaft konnte
Frau Curie bei dem Thorium nachweisen. Ihren
rastlosen Bemühungen verdanken wir auch ^ie
Entdeckung des Radiums. Das Aktinium beschließt
die Reihe der bis jetzt bekannten „radioaktiven"
Elemente. Die Strahlen dieser Stoffe sind aber
nicht von einer Art, sondern setzen sich aus drei
verschiedenen Strahlenarten zusammen, aus den
«-, ß- und /Strahlen. Die Teilchen der a-Strahlen
sind positiv elektrisch, die der /J-Strahlen negativ
elektrisch. Die y-Strahlen gleichen in ihrem ganzen
Verhalten den Röntgenstrahlen, sind also wahr-
scheinlich Äthervvellen. Die Teilchen der Strahlen
werden mit ungeheuren Geschwindigkeiten fort-
geschleudert; die geringste Geschwindigkeit be-
sitzen die «Strahlen, die größte die y-Strahlen.
Von diesen Geschwindigkeiten, die zugleich cha-
rakteristisch für jeden Stoff sind, hängt auch ihr
Durchdringungsvermögen ab; wir sind deshalb
imstande, durch geeignete Vorrichtungen die eine
oder die andere Strahlenart auszuschalten.
Mit der Entdeckung der Strahlen war aber
noch nicht das Geheimnis von der Ursache
dieser Strahlung gelöst. Die verschiedensten
Theorien wurden zur Erklärung dieser Er-
scheinungen aufgestellt. Darauf näher einzugehen,
verbietet mir hier der Raum. Heute wissen wir,
daß die Strahlung eine Eigenschaft der Atoine
des betreffenden Körpers und von dem molekularen
Bau desselben ganz unabhängig ist. Es ist also
gleichgültig, ob wir z. B. Radiumbromid oder
Radiumchlorid haben; auf die Intensität der
Strahlung hat dies keinen Einfluß, sie ist in beiden
Fällen die gleiche, wenn nur in beiden Körpern
gleiche Mengen der strahlenden Substanz vorhanden
sind. Die Atome selbst sind nun aber zusammen-
gesetzt aus einer Menge kleinster Zentren gleich
vieler positiver und negativer Energie, den Elek-
tronen. Die Zeit, in welcher sich diese in ver-
schiedener Menge zu Atomen gruppierten, liegt
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Jahrmillionen zurück. Und es läßt sich denken,
daß Elektronenverbindungen, welche in einem
früheren Entwicklungsstadium der Erde entstanden
sind, unter den veränderten Druck- und Temperatur-
verhältnissen nicht mehr existieren können. Die
Atome müssen sich spalten und ihre Bestandteile
als Strahlen aussenden. Mit dieser Sirahlenaus-
Sendung ist also notwendigerweise ein Zerfall der
Atome verbunden. Denn ein Atom, das a- und
/^■Teilchen abgibt, ist in seiner Existenz bedroht
und muß entweder plötzlich und dauernd
zerfallen oder die zurückbleibenden
Teilchen müssen sich neu gruppieren,
müssen sich in eine neue Gleichgewichtslage be-
geben. Diese Umbildung wird solange vor sich
gehen, bis sich ."^tome gebildet haben, die unter
den jetzigen Verhältnissen existenzfähig, also be-
ständig sind. Die erste Annahme widerspricht
der Erfahrung. Es bleibt also nur die zweite An-
nahme als richtig übrig. Die Ursache der
Strahlung ist also der Zerfall der Atome.
Daraus ergibt sich folgendes: Wenn die Atome
andere geworden sind, so müssen auch die Körper,
die sich aus ihnen aufbauen, andere sein als die
Muttersubstanz. Mit dem Zerfall der Körper muß
eine Transformation derselben Hand in Hand
gehen.
Bei dieser Umformung zerfallen nun aber nicht
sämtliche Atome auf einmal, sonst würde ja die
Strahlung nur einen Moment dauern und dann
plötzlich aufhören. Es zerfällt vielmehr in jeder
Zeiteinheit nur ein bestimmter Bruchteil des Körpers.
Ist dieser Bruchteil ein großer, so wird die Strahlung
sehr lebhaft sein, der Körper aber schnell zer-
fallen. Ist dieser Bruchteil ein kleiner, so wird
die Strahlung zwar geringer ausfallen, dafür aber
von um so längerer Dauer sein. Die Geschwindig-
keit dieses Zerfalls ist charakteristisch für den be-
treffenden Körper. Man bestimmt sie durch die
Zeit, in welcher die Hälfte einer gegebenen Menge
zerfällt. Diese Halbwertszeit beträgt z. B. für das
Radium 1760 Jahre, für das Mesothorium 5,5 Jahre.
Würden sich beide in der Natur nicht nachbilden,
so würden wir heute wohl vergebens nach ihnen
suchen. Die Muttersubstanz des Radiums ist das
Uran, die des Mesothoriums das Thorium. Ersteres
besitzt aber eine Halbwertszeit von 5,3 Milliarden,
letzteres eine solche von 13,5 Milliarden Jahren.
Sie sind also wahrscheinlich älter als die E>de
nach dem Festwerden ihrer (Jberfläche selbst.
Geologisch läßt sich daher die Herkunft von Uran
und Thorium nicht verfolgen.
Das Mesothorium ist also ein Umwandelungs-
produkt des Thoriums; sein Vorkommen in der
Natur ist an das des Thoriums gebunden. Die
Menge desselben wird daher auch zunächst ab-
hängig sein von der Menge des vorhandenen
Thoriums. Aber auch noch ein anderer Umstand
wird bestimmend darauf einwirken, das ist die
Zerfallszeit beider. Da das Thorium im Verhältnis
zum Mesothorium eine außerordentlich lange Lebens-
dauer besitzt, so kann sich letzteres natürlich nur
in dem Maße nachbilden, als ersteres zerfällt. Da
das Mesothorium auch zerfällt, so wird seine Menge
nur dann konstant sein, wenn die absolute Menge
der vom ersten Körper in der Zeiteinheit zer-
fallenden Atome gleich der vom zweiten Körper
in der gleichen Zeit zerfallenden Atomzahl ist.
Es besteht dann zwischen beiden das sogenannte
radioaktive Gleichgewicht. Die Gleichgewichts-
mengen müssen sich wie ihre Halbwertszeiten ver-
halten. Auf diese Weise ist man imstande, schon
von vornherein, ungefähr wenigstens, zu berechnen,
wievielMesothorium eine bestimmteMenge Thorium
liefert.
Die w'chtigsten Thoriumerze sind der Monacit-
sand in Nord- und Südamerika und das Thorianit
auf Ceylon. Diese Erze werden zuerst mit Sal-
petersäure behandelt. Nachdem dann das Thorium
gefällt worden ist, werden die Rückstände weiter
behandelt; denn gerade in diesen Rückständen,
besonders in den als Sulfaten abgetrennten Ver-
unreinigungen des Thoriums befindet sich das
Mesothorium. Diese werden dann weiter gereinigt
und in Chloride übergeführt. .Aus den Chloriden
wird das Mesothorium (-Radium) von dem Baryum
durch fraktionierte Kristallisation getrennt und
gleichzeitig angereichert. Das ganze Verfahren ist
umständlich und mühsam und das Ergebnis ziem-
lich gering. Im günstigsten Falle erhält man aus
I Tonne Thoriumrückständen 10 mg eines Meso-
thorpräparates, welches gleichwertig ist 0,33 g
Radiumbromid. Fast alle Thoriumerze enthalten
Uran (Thorianit etwa 12 "/(,). Aus dem Uran ent-
steht aber das Radium. Da dies in seinem che-
mischen Verhalten mit dem des Mesothoriums
vollkommen übereinstimmt, so kann es von diesem
nicht getrennt werden, auch nicht durch die
fraktionierte Kristallisation. Infolgedessen enthalten
alle Mesothorpräparate — nicht zu ihrem Schaden
— immer Radium. Dadurch wird nicht nur die
Strahlung der Mesothorpräparate vermehrt, sondern
sie bleibt auch infolge der längeren Lebensdauer
des Radiums gleichmäßiger.
Die Entdeckung des Mesothoriums verdanken
wir O. Hahn. Als dieser die Rückstände bei der
Thoriumverarbeitung untersuchte, fand er eine
Substanz, die etwa 200 000 mal stärker radioaktiv
war als eine gleiche Gewichtsmenge des reinen
Thoriums; er nannte sie Radiothorium. Diese
Substanz wurde anfangs für ein direktes Um-
wandelungsprodukt des Thoriums gehalten; seine
Lebensdauer wurde auf 2 Jahre berechnet. Als
dann aber Boltwood und Mc Coy unabhängig von
einander käufliche Thoriumsalze hinsichtlich ihrer
Aktivität verglichen, fanden sie dieselbe nicht
immer gleich, oft war sie kleiner als die Hälfte des
normalen Betrages. Sie teilten ihre Beobachtung
O. Hahn mit. Dieser untersuchte nun die Aktivität
verschiedener Präparate, deren Alter ihm bekannt
war. Auf Grund dieser Untersuchung konnte er
feststellen, daß die Aktivität frisch hergestellter
Thorpräparate unmittelbar nach der Abtrennung
normal war, dann aber einen Rückgang zeigte.
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um wieder allmählich anzusteigen. Hahn schloß
daraus, daß Radiothorium sich nicht direkt aus
Thorium, sondern erst aus einer Zwischensubstanz
entwickeln müsse. Bevor sich diese Zwischen-
substanz nicht gebildet habe, könne sich auch kein
Radiolhorium bilden, weshalb die Aktivität zurück-
gehen müsse und erst nach Bildung derselben
wieder steigen könne. Er nannte diese Zwischen-
substanz Mesothorium. Sie erwies sich als strahlen-
los. Dies kann sie aber wohl nicht sein, da ja
sonst keine Umwandelung mit ihr vorgehen könnte.
Es ist also wohl anzunehmen, daß diese Strahlung
so langsam vor sich geht, daß sie nicht nachge-
wiesen werden konnte. Wenige Stunden nach
der Herstellung zeigte aber das Mesothorium eine
Emission von ß- und y-Strahlen. Diese Strahlung
konnte also nur einem neuen Zwischenprodukt
entstammen, das Hahn Mesothorium II nannte.
Es fiel aber schon nach 6,2 Stunden ab. Wegen
der kurzen Lebensdauer von Mesothorium II kann
man Mesothorium 1 und II als ein Produkt an-
sehen, das zur Hälfte in 5.5 Jahren iransformiert
wird und a- und ß Strahlen emittiert. Aus ihm
bildet sich dann das Radiothorium mit seinen
Produkten.
Es ergibt sich somit folgende Zerfallsreihe des
Thoriums:
ö ß
strahlenlos
/
Thorium — >• Mesothorium I — >■
t/Jj,
aussetzung liefert z. B. die chemische Fabrik von
Dr. O. Knöfler & Co. in Plötzensee bei Berlin
technische Mesothorpräparate (frisch hergestellt)
für 300 Mark pro Milligramm Radiumaktivität
(RaBrg -[" 2 aq.) internationaler Standard.
Bald nach der Entdeckung der radioaktiven
Substanzen setzten auch die Versuche ein, diese
Stoffe der Heilkunde dienstbar zu machen. Es
handelt sich dabei entweder um eine Allgemein-
wirkung auf den menschlichen Körper oder um
eine Lokalwirkung. F"ür erstere Zwecke kommt
hauptsächlich die Emanation, für letztere die Strah-
lung in Anwendung. Bei der Lokalbehandlung
handelt es sich wohl hauptsächlich um die Hei-
lung der Krebsgeschwülste. Hierfür stehen nun
den Ärzten in den Mesothorpräparaten außer der
Strahlung des Radiums, das stets darin enthalten
ist, gleichzeitig die ß- und j'-Strahlen von Meso-
thorium II sowie die «-Strahlung und die Emana-
tion von Radiothorium zur Verfügung. Zur An-
wendung kommen aber fast nur die j'-Strahlen,
weil dies die durchdringendsten sind und sich
besonders für die Behandlung tiefliegender Ge-
schwülste eignen. Die übrigen Strahlen werden
durch geeignete Vorrichtungen zurückgehalten.
Stark durchdringend müssen die Strahlen sein,
da sie ja das kranke Gewebe zerstören sollen.
Lebens-
dauer:
13X10"" Jahr
5,5 Jahr
ß y
Mesothorium II
6,2 Stunden
Radiothorium
2 Jahr
Wovon ist nun der Wert eines Mesothorprä-
parates abhängig? Will man den Wert einer
Sache beurteilen, so muß man einen Maßstab
haben, mit dem man ihn vergleichen kann. Das
Wertvolle an den Mesothorpräparaten sind nun
aber seine Strahlen, besonders die j' Strahlen,
die für medizinische Zwecke hauptsächlich in
Betracht kommen. Es wird sich also der Wert
weniger nach dem Gewicht als nach der In-
tensität der Strahlung einer bestimmten Menge
richten. Zweckmäßig würde es deshalb sein,
sich einen Mesothorstandard anzuschaffen und
mit ihm die Strahlung zu vergleichen. Einen
solchen besitzen wir aber zurzeit noch nicht , da
wir reines Mesothorium noch gar nicht herstellen
können. Wohl aber besitzen wir einen solchen
für das Radium, welchen Frau Curie angefertigt
hat und der 191 2 von der internationalen Stan-
dard ■ Kommission anerkannt worden ist. Mit
diesem werden nun auch die Mesothorpräparate
verglichen, indem man das Gewicht einer Radium-
menge bestimmt, welche dieselbe Strahlung her-
vorbringt wie das zu untersuchende Mesothor-
präparat. 5 mg Mesothorium bedeutet also: die
Strahlenaktivität des zu untersuchenden Mesothor-
präparates plus der des Radiums, das in ihm ent-
halten ist, ist gleich der j'-Strahlenaktivität von
5 mg reinem Radiumbromid. Unter dieser Vor-
Nun ist damit allerdings die Gefahr verbunden,
daß auch gesundes Gewebe vernichtet wird. Ge-
schickte Arzte werden jedoch auch diese Gefahr
zu beseitigen wissen. Außerdem verfügt das ge-
sunde Gewebe über Abwehr- und Regenerations-
kräfte, das kranke nicht und geht daher zugrunde.
Hoffen wir also, daß durch die Anwendung der
radioaktiven Substanzen, des Radiums und Meso-
thoriums, noch da Heilung erzielt wird, wo das
Operationsmesser des Arztes versagt.
R. Boesc.
Die Menhadenindustrie. — Auf der Versamm-
lung der American Chemical Society zu Milwaukee
vom 24. — 28. März 1913 hielt J. W. Turrentine
einen sehr interessanten Vortrag über die Men-
hadenindustrie an der atlantischen Küste von
Nordamerika. Der Menhadenfisch, Alosa Menhaden,
ist ein zur Familie der Heringe gehöriger Fisch,
der an der atlantischen Küste Nordamerikas in
ungeheuren Mengen vorkommt. Die Fische ent-
halten ca. 16 "/„ Fett.
Mit der Verarbeitung des Fleisches des Men-
hadens auf Fischguano und Mcnhadenöl beschäf-
tigen sich an der atlantischen Küste gegenwärtig
ungefähr 40 Fabriken ; den Mittelpunkt der In-
dustrie bildet die Chesapeakebai. Im Jahre 1912
wurden insgesamt 28 242 t angesäuerter und
126
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 8
50 166 t trockener Fischguano hergestellt. Nach
der alten noch vielfach üblichen Methode werden
die Fische mit etwas Wasser in offenen Kesseln
durch unter dem falschen Boden angebrachte
Dampfschlangen ungefähr 20 Minuten gekocht,
worauf die Masse in hydraulische Pressen gelangt,
in denen das Ol und Wasser abgeschieden wer-
den. Der Kuchen, der noch ungefähr 50 "/q
Wasser und 6 — 9 % Ol enthält, wird mit ein
wenig roher Schwefelsäure behandelt, teils um
Zersetzung zu verhindern, teils um die Phosphor-
säure der Gräten aufzuschließen ; gleichzeitig wird
dadurch der Verlust an Stickstoff verhindert.
Dieser „angesäuerte" oder „rohe Fischguano"
kommt als solcher auf den Markt oder wird vor-
her getrocknet. Die frühere Methode, ihn durch
Luft und Sonne zu trocknen, wofür mindestens
3 Tage erforderlich sind und wobei wahrschein-
lich erheblicher Ammoniakverlust eintritt, ist zu-
meist durch heiße Lufttrocknung ersetzt worden.
Bei dem neuen fortlaufenden Verfahren erfolgt
das Kochen in bis zu 12 m langen, engen Eisen-
zylindern (0,6 m Durchmesser), durch welche die
Fische mittels Förderschrauben unter Einleitung
von Dampf geführt werden. Sie vermögen unge-
fähr 100 000 Fische in der Stunde zu kochen und
kosten etwa 1200 Dollar. Zum Pressen dienen
neuerdings kegelförmige Schraubenpressen , die
in selbsttätiger Weise mit der gekochten Masse
beschickt werden. loo Pfund enthalten 22 Pfund
Fisch und 78 Pfund Wasser; in der Presse werden
56 Pfund abgeschieden, die zurückbleibende Masse
besteht je zur Hälfte aus Fisch und Wasser. Eine
Presse von 5,4 m Länge vermag 80000 — 1 00 ooo
Fische in der Stunde durchzusetzen und kostet,
einschließlich Montage, 5000 Dollar. In den
neueren Fabriken wird nur noch dieses fortlaufende,
selbsttätige Verfahren verwendet. Die neuen
Trockenapparate bestehen in isolierten eisernen
Drehzylindern von 1,8 m Durchmesser und 9 bis
12 m Länge, die im Innern mit Flanschen ver-
sehen sind. Sie sind etwas schräg gestellt und
am Ende mit einem elektrisch getriebenen Venti-
lator versehen, der die Masse durch den Zylinder
saugt. Das obere Ende ruht in einer gemauerten
Kammer, unter der sich der Feuerkasten befindet.
Die Masse braucht 3 — 20 Minuten, um durch den
Zylinder hindurchzugehen, wobei der Feuchtig-
keitsgehalt auf 7 "Zu herabgebracht wird , jedoch
ein erheblicher Teil der Fischmasse infolge der
starken Erhitzung der Heizgase verloren geht.
I Million Fische liefern 75 — 85 t trockenen Guano
oder für i t sind 12 OOO — 15000 Fische erforder-
lich. Ein Trockenapparat, einschließlich Montage,
kostet 3000 Dollar. In einer mit den neuen
Apparaten ausgerüsteten P"abrik bewegt sich der
Fisch von seiner Ausladung aus dem Boot bis
zum Sacken des getrockneten Guanos in vollkom-
men selbsttätiger Weise durch die Anlage, die
Zeit beträgt noch nicht l Stunde. In manchen
Fabriken wird der Guano noch vermählen , in
anderen mit Kali und Phosphat gemischt. Gegen-
wärtig wird die getrocknete Fischmasse noch
zumeist als Düngemittel verwertet. Auch als
Viehfutter wird die Masse noch Anwendung fin-
den. Die durch die Pressen abgeschiedene öl-
und wasserhaltige Flüssigkeit läßt man absitzen.
Das Ol geht an die Raffinerien, der Bodensatz
teils an Seifenfabriken, teils wird er dem Guano
zugefügt. Die Ausbeute an Öl richtet sich haupt-
sächlich nach der Zeit des Fanges, auch nach
der ürtlichkeit. Im Herbst liefern 1000 Fische
durchschnittlich 12 Gallonen (von 3,785 1), häufig
15 Gall. Ol. Im rohen Zustand hat es eine helle
bernstein- bis dunkelbraune Farbe, je nach seiner
Erzeugungsweise und vorläufigen Reinigung. Men-
hadenöl wird unter nachfolgenden Marken ge-
handelt : Prime Crude, Brownstrain, Lightstrained
(gebleichtes Winteröl), gebleichtes weißes Winter-
öl; letztere beiden Marken sind durch Filtration
von Stearin getrennt. Diese Manipulation geschieht
bei Winterkälte. Der durch Abpressen der ge-
kühlten Öle gewonnene Rückstand kommt unter
dem Namen Fisch-Stearin und Fisch-Talg in den
Handel. Das Menhadenöl besteht aus Glyceriden,
deren chemische Zusammensetzung noch nicht
bekannt ist.
Das Menhadenöl dient in der Lederindustrie
zum Geschmeidigmachen des Leders, ferner als
Schmieröl, zum Anlassen von Stahl. Auch zu
Bleichungszwecken dient das raffinierte Öl. In
der Seifenfabrikation, der Jutespinnerei und in der
Farbenindustrie werden große Mengen des Öls
verbraucht. Es besitzt eine erhebliche Trocken-
kraft, die größer ist als die des Mais- und Baum-
wollsamenöles. Auch für die Fabrikation von
Druckerschwärze wird das Öl empfohlen. Für
Außenanstriche werden 3 Teile Menhadenöl und
I Teil Leinöl empfohlen, die Mischung ist nicht
hygroskopisch. Die Widerstandsfähigkeit des
Menhadenöls gegen Hitze empfiehlt es besonders
für Anstriche von Kesselanlagen und Schorn-
steinen. 1912 schwankte der Preis zwischen 25
und 28 Cts. für eine Gallone. R. Ditmar.
Über Sarkosporidien bei den Haustieren, jene
so häufigen, aber biologisch so wenig bekannten
Parasiten, berichtet Prof. M. Bergmann') auf
Grund jahrelanger systematischer Untersuchungen,
die auf dem Schlachthofe zu Malmö mit Hilfe des
dort angestellten, gut geschulten Trichinenschau-
personals vorgenommen wurden. Die Schlacht-
tiere stammten fast ausschließlich aus den um
Malmö liegenden Gebieten der schonenschen Nie-
derung. Bei erwachsenen Rindern, über 2^/2 Jahre
alt, wurden bei 88 "j^ Sarkosporidien gefunden.
Ihr vornehmster Sitz war, wie schon früher fest-
gestellt ist, der Schlund. Als der Verfasser daran-
ging, diesen selbst näher auf das Vorkommen der
Sarkosporidien zu untersuchen, konnte er feststellen,
daß die Muskulatur der Speiseröhre in der Nähe
des Pansens die vornehmste Prädilek-
') Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene, Bd. 23, S. 170.
N. F. XIII. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
127
tionsstelle der Sarkosporidien beim
Rinde sei, und daß sie bei allen erwachsenen
Rindern hier zu finden seien. Man fand ferner
Sarkosporidien bei 76 "/o der Schafe, bei keinem
Spanferkel, dagegen bei 96% der Schweine im
Alter von über einem Jahr und bei allen 15 unter-
suchten Renntieren. Beim Schweine gibt es keine
ausgeprägten Prädilektionsstellen. In der glatten
Muskulatur wurden die Parasiten nie festgestellt.
Die Annahme, daß sie in der dem Darmkanal
benachbarten roten Muskulatur am häufigsten
vorkommen, ist unzutreffend. Die Sarkosporidien
werden mit dem Pflanzenfutter aufgenommen,
dringen durch die Wände des Digestionsapparates
und werden mit dem Lymph- und Blutstrom
nach der quergestreiften Muskulatur geführt. In
die der Speiseröhre können sie direkt eindringen.
W. ligner.
Hat der Balkankrieg uns neue Gesichtspunkte
bezüglich der Behandlung kriegschirurgischer Ver-
letzungen gebracht? Über diese Frage äußert
sich Generalarzt Hertels. Das moderne Spitz-
geschoß neigt sehr zum Pendeln und zu Drehun-
gen, so daß selbst leichte Widerstände genügen
können , um eventuell völlige Umdrehungen des
Geschosses herbeizuführen. Die Schußkanäle sind
im Gegensatz zu früheren Kriegen sehr lang (so
ist ein Fall berichtet, wo der Einschuß in der
Fußsohle, der Ausschuß in der Hüftknochengegend
saß). Bezüglich der Wundbehandlung sind ver-
änderte wesentliche Gesichtspunkte kaum zu ver-
merken. Zwei Momente kämen als neu in Frage,
das ist die Behandlung bestimmter Verwundungen
mit Stauungshyperämie, durch die die Schmerzen
beseitigt würden, sowie die Sonnenbehandlung.
Ferner entschließt man sich jetzt schneller als
früher zu Schädeloperationen, weil man die Er-
fahrung gemacht hat, daß Schädelwunden leichter
zu Infektionen neigen. Endlich käme noch hinzu,
daß in künftigen Kriegen möglichst große Vor-
räte von sog. Tetanusantitoxin (ein Mittel gegen
den Wundstarrkrampf) mitgenommen werden
müßten, damit man es prophylaktisch bei allen
Verletzungen , die durch Erde verunreinigt sind,
einspritzen könnte, um den Ausbruch des Wund-
starrkrampfes zu verhüten.
Dr. med. Carl Jacobs.
Bücherbesprechungen.
Imendörfer, Prof Dr. Benno, Lehrbuch der Erd-
kunde für Mädchenlyzeen und verwandte Lehr-
anstalten.
I. Teil, I. Klasse mit 32 Figuren im Text.
— Preis 1,10 Kr.
II. Teil , 2. Klasse mit 6 Figuren im Text.
— Preis 1,50 Kr.
III. Teil, 3. Klasse mit 4 Figuren im Text.
— Preis 1,40 Kr.
Vierte, dem neuen Lehrpiane angepaßte Auf-
lage. Wien, Verlag von F. Tempsky, 1913.
Das Buch ist für österreichische Schulen be-
stimmt. Teil I führt die Schülerinnen in ein-
fachem, kindlichem Gesprächstone nach heuristi-
schem Lehrverfahren in die Anfangsgründe der
mathematischen Geographie, in das Kartenlesen
und -Zeichnen ein und bringt von der Länder-
kunde nur das Allernotwendigste. In Teil II wer-
den die Erdteile Asien, Afrika und Europa sehr
eingehend erörtert; Teil III behandelt, im An-
schluß an eine umfassendere Darstellung Europas,
Amerika und Australien nach gleichen Grundsätzen.
Die Selbstbetätigung der Schülerinnen wird durch
Frage und Aufgabenstellung in weitgehendster
Weise gefördert; der Bildschmuck ist dürftig; wenn
ich auch nicht einer üppigen Ausstattung des
Lehrbuches mit Illustrationen das Wort reden
will, so halte ich es doch für wünschenswert, daß
in einem modernen Buche die Anschauung durch
eine Auswahl guter Abbildungen und Skizzen
unterstützt wird. Hirsch.
Himmelbauer, Dr. Alfred, Mineralogie und Petro-
graphie für die VII. Klasse der Realschulen.
Mit 224 Abbildungen, 150 Seiten. Wien, Ver-
lag von F. Tempsky, 1913. — Preis 1,65 M.
Himmelbauer behandelt eingehend die allge-
mein morphologischen Verhältnisse der Kristalle,
gibt den Schülern einen Einblick in die Lehren
von der Mineralphysik und -Chemie und gibt eine
ziemlich vollständige Übersicht über die Systematik
der Minerale und der Gesteine. Die sehr reiche
Illustrierung durch Skizzen und Bilder in Schwarz-
druck ist rühmend hervorzuheben ; die Original-
photographien typischer Landschaften sind be-
sonders bemerkenswert als Buchschmuck.
Ficker, Dr. Gustav, Direktor, Grundlinien der
Mineralogie und Geologie für die fünfte Klasse
der österreichischen Gymnasien. Historische
Geologie von Dr. Friedrich Trauth. Mit 192
Abbildungen und einer geologischen Karte von
Österreich-Ungarn, 140 Seiten. Zweite Auflage.
Wien, 1913, Franz Deuticke. — Preis 3 Kr.
In ähnlicher Anordnung wie in dem vorigen
Buche werden erst die allgemein morphologischen
wie speziellen Verhältnisse der Mineralien, dann
in dem systematischen Überblick die Mineralien
nach ihrer chemischen Zusammensetzung (Grund-
stoff'e, Sulfide, Oxyde, Haloid-Sauerstofi'salze usw.)
besprochen. Im geologischen Teil werden die
Geschichte der Erde und die verschiedenen Stadien
des Auf- und Abbaues der Erdrinde erörtert. Die
historische Geologie von Dr. Fr. Trauth gibt einen
Überblick über die Zeitalter der Erde und die
Überreste der Flora und Fauna, die zum Ver-
ständnis derselben beitragen. Eine reiche Illu-
strierung unterstützt die Anschauung.
W. Hirsch, Dr. phil., Oberlehrer.
Ludwig Jost, Vorlesungen überPflanzen-
physiologie. Dritte Auflage. Mit 194 Ab-
bildungen im Text. Verlag von (.justav Fischer,
Jena, 1913. — Preis 16 Mk.
128
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 8
Da seit 1907 die Literatur über Pflanzenphysio-
logie enorm angeschwollen ist, konnte der alte
Umfang des bewährten Buches nicht eingehalten
werden. Die Ziele, die das Werk verfolgt, haben
sich aber mit der dritten Auflage nicht geändert.
Wer dem Buche ferner steht, wird sich für
seine Disposition interessieren. Zunächst wird der
Stoffwechsel behandelt. Man erfährt Ausführliches
über die stoffliche Zusammensetzung der Pflanze
und über die Stoftaufnahnie im allgemeinen, also
über Diffusion, Osmose usw. Sodann wird die
Stoffaufnahme im einzelnen besprochen, sowie die
Verwendung der aufgenommenen Stoffe.
Der zweite Hauptteil des Buches behandelt
den Formwechsel. Hier kommt das Wachstum
und die Gestaltung unter konstanten äußeren Be-
dingungen zur Sprache. Sodann der Einfluß der
Außenwelt auf Wachstum und Gestaltung, die
inneren Ursachen des Wachstums und der Ge-
staltung und die Entwicklung der Pflanze unter
dem Einfluß von inneren und äußeren Ursachen.
Im letzten Hauptabschnitt kommt die Rede
auf den Ortwechsel. So werden behandelt die
hygroskopischen Bewegungen, die Variations- und
Nutationsbewegungen und endlich die lokomo-
torischen Bewegungen.
Das Buch wird dem Lernenden durch seine
Übersichtlichkeit und Klarheit, dem Forscher
durch seine Vollständigkeit auch fürderhin von
größtem Nutzen sein. R. P.
Oscar Drude, Die Ökologie der Pflanzen.
Mit 80 eingedruckten Abbildungen. Druck und
Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig,
1913. — Preis 10 Mk.
Drude betont, daß gegenüber der wirklich auf
botanisch-ökologischem Gebiete geleisteten Arbeit
die in dem vorliegenden Bande gegebenen Literatur-
auszüge nur beanspruchen sollen, als Quellennach-
weis zu dienen und denjenigen Forschern gerecht
zu werden, welche, Eugen Warming an ihrer Spitze,
den heutigen Standpunkt der Ökologie so viel-
seitig ausgebaut haben.
Dennoch ist das kleine Werkchen mehr als
eine bloße Zusammenstellung der wichtigeren Tat-
sachen. Spricht doch aus diesen Seiten an vielen
Stellen die individuelle Meinung eines erfahrenen
Botanikers. Und so werden diejenigen, die selbst
auf diesem Gebiete arbeiten, der übersichtlichen
Darstellung viel Anregung verdanken.
Das Buch enthält folgende Hauptabschnitte:
Die pliysiognomischen Lebensformen der Pflanzen.
— Klimatische Einflüsse, Periodizität und Blatt-
Charakter. — Die physiographische ()kologie. —
Ökologische Epharmose und Phylogenie.
R. P.
Hugo Bauer, Analytische Chemie des
Methylalkohols (Sammlung chemischer und
chemisch-technischer Vorträge, herausgegeben
von W. Herz, Bd. XX). 74 Seiten mit 7 Text-
abbildungen. Stuttgart 191 3. Ferdinand Erike.
Der Methylalkohol hat besondere Aufmerk-
samkeit dadurch erregt, daß er als Ursache der
Berliner Massenvergiftungen vom Dezember 191 1
erkannt worden ist. .Sein Nachweis und seine
quantitative Bestimmung in Spirituosen usw. hat
daher nicht nur rein wissenschaftliches Interesse,
sondern ist auch von großer Bedeutung für die
Genußmittelchemie und für forensische Unter-
suchungen geworden. Die vorliegende Schrift
gibt eine gute Zusammenstellung der oft recht
umständlichen und zeitraubenden Methoden, die
für die qualitative und quantitative Analyse des
Holzgeistes in Betracht kommen. Bugge.
Literatur.
Capstick, I. W., Sound, an elementary textbook for schools
and Colleges. Cambridge Physical Series. Cambridge '13,
University Press.
Zschimmer, Eberhard. Philosophie der Technik. Vom
Sinn der Technik und Kritik des Unsinns über die Technik.
Jena '14, E. Diederichs. — Geb. 4 Mk.
Die Süßwasser - Flora Deutschlands, Österreichs und der
Schweiz. Herausgeg. v. Prof. Dr. A. Pascher (Prag). Heft 14;
Bryophyta (Sphagnales, Bryales, Hepaticae). Bearbeitet von
C. Warnstorf, W. Mönkemeyer, V. Schiffner. Mit i;oo Ab-
bildungen im Te.xt. Jena '14, G.Fischer. — Geb. 6,20 Mk.
Fuchs, C. W. C, Anleitung zum Bestimmen der Mineralien.
6. Aufl., neu bearbeitet von Reinhardt Brauns. Mit 27 Ab-
bildungen im Text. Gießen '13, A. Töpelmann. . — Geb.
5 Mk.
Rabenhorst's Kryptogaraen Flora usw. 6. Bd. : Die Leber-
moose (Musci hepatici). Mit vielen in den Text gedruckten
Abbildungen. Bearbeitet von Dr. Karl Müller. 18. Liefg.
Leipzig '13, E. Kummer. — 2,40 Mk.
Hann, Dr. Julius, Lehrbuch der Meteorologie. 3., unter
Mitwirkung von Prof. Dr. R. Süring umgearbeitete Auflage.
Lieferung 2 und 3. Leipzig '13. Chr. Herrn. Tauchnitz. —
Je 3,60 Mk.
Weinschenk, Prof. Dr. Ernst, Grundzüge der Gesteins-
kunde. L Teil. Allgemeine Gesteinskunde als Grundlage
der Geologie. III. verb. Aufl. mit 138 Textfiguren und
6 Tafeln. Freiburg i. Br. '13, Herder'sche Verlagshandlung.
— Geb. 7,30 Mk.
Kolkwitz, K. , Pflanzenphysiologie. Versuche und Be-
obachtungen an höheren und niederen Pflanzen einschließ-
lich Bakteriologie und Hydrobiologie und Planktonkunde.
Mit z.T. farbigen Tafeln und 1 16 Abb. im Text. Jena '14,
G. Fischer. — Geb. lo Mk.
Eckard t, Dr. Wilh. R., Praktischer Vogelschutz. Mit zahlr.
Abb. Leipzig, Theod. Thomas. — 1 Mk.
Inhalt: Julius Robert Mayer: Eine Tour durch den Urwald von Sumatra. — • Einzelberichte: Geyer: Sekundäre
Geschlechtscharaktere. G. Hertwig: Einwirkung des Radiums auf Fortpflanzungszellen von Wirbeltieren. R. Kowarzik:
Der Schafochse. Ost: Zellulose, Zucker, Alkohol. Beckmann: Können Jod und Selen chemische Verbindungen
miteinander bilden. Ehler und Bender: Über neue Verfahren zur Anreicherung des Radiums aus Gemischen von
Salzen des Bariums und des Radiums. Volz: Der Malaiische Archipel, sein Bau und sein Zusammenhang mit .Asien.
— Kleinere Mitteilungen: Boese: Mesothorium. J. W. Turrentinc: Menhadenindustrie. M. Bergmann: Über
Sarkosporidien bei den Haustieren. Hertels: Hat der Balkankrieg uns neue Gesichtspunkte bezüglich der Behandlung
kriegschirurgischer Verletzungen gebracht? — Bücherbesprechungen: Imendörfer: Lehrbuch der Erdkunde für
Madchenlyzeen. ■ — • Himmelbauer: Mineralogie und Petrographie. — Ficker: Grundlinien der Mineralogie und
Geologie. — Ludwig Jost: Vorlesungen über Pflanzenphysiologie. — Oscar Drude: Die Ökologie der Pflanzen.
— Hugo Bauer: Analytische Chemie des Methylalkohols. — Literatur: Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Mariensfraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Hand ;
der ganzen Reihe 29. Hand.
Sonntag, den i. März 1914.
Nummer 9.
Das älteste Leben Ostthüringens.
Nach einem Vortrage in der Gesellschaft von Freunden der Naturwissenschaften in Gera
im September 1913.
Von Rudolf Hundt.
[Nachdruck verboten,]
Ehe wir uns mit dem in den Gesteinen ein-
gebetteten Inhalt beschäftigen, lialte ich es für
angebracht, zu dem Begriff Ostthüringen, den Hof-
rat Liebe in den Wortbestand der Geologie wie
auch der Geographie eingeführt hat, einiges zu
bemerken. Er sagt über dieses Gebiet in der
Programmarbeit „Die Seebedeckungen Ost-
thüringens" von 1881:') „Unter Ostthüringen ist
in dieser Abhandlung verstanden der Strich Landes
zwischen der bayerischen Grenze und der Breiten-
linie von Zeitz (etwa 51 ") einerseits und zwischen
einer Linie Altenburg — Reichenbach— Ölsnitz und
einer Linie Dornburg — Kahla — Leutenberg anderer-
seits." Regel nennt die von Liebe gemeinte
Landschaft „Vogtländisches Bergland" und er-
weitert die östliche und westliche Grenze bis zur
Saale — Saalfeld und zur Zwickauer Mulde. Diese
von Regel abgegrenzte Landschaft mit noch
kleinen östlichen und westlichen Vorstößen soll
uns ihre fossilen, ältesten Reste kennen lernen
lassen.
Von den allerältesten Schichten sind im
Frankenwalde Gneis- und Glimmerschiefer noch
nicht angetroffen worden. Doch ist daran nicht
zu zweifeln, daß diese ältesten Gesteine nicht
auch irgendwo in Ostthüringen durch Tief-
bohrungen erreicht werden könnten. Das, was
man bei Hirschberg an der Saale als „Gneis" an-
sah, entpuppte sich als Granit, der bei uns viel
jüngerer Entstehung ist und als ,,Hirschberger
Gneis" kartiert ist. Die ältesten Schichten müssen
aber in der Tiefe ruhen, man kennt sie bei uns
nur nicht, weil sie nirgends aufgeschlossen sind.
So konnte man auch im Archaikum Ostthüringens
keine Fossilfunde machen, die auch anderwärts
sehr spärlich ausgefallen sind. In dem großen
finnischen Gebiet gelang es Sederholm, tang-
ähnliche Corycium enigmalicum Sed. von Tammers-
fors zu beschreiben. So bleiben uns nur zwei
Schichten zu betrachten übrig, in denen das älteste
Leben Osithüringens, soweit es in Fossilien auf-
bewahrt ist, ruht: das Kambrium und das
Silur. Anderwärts, in Nordamerika und in Nor-
wegen kennt man eine noch ältere Schicht, aus
der man schon für die damalige Zeit hochorgani-
siertes, der Begriff ist relativ zu nehmen, Leben
kennen gelernt hat. Das ist das sog. Algonkium,
das auch bei uns noch nicht nachgewiesen ist.
Unser Kambrium und Silur steht nun in bezug
auf Fossilführung den gleichen Schichten Frank-
reichs, Amerikas, Schwedens, Englands, Portugals,
Böhmens nach. Im X'^ergleich unserer Faunen mit
denen der angeführten Länder muß man unsere
Einschlüsse spärlich nennen. Nur sporadisch sind
unsere Funde gemacht worden und richtige
Faunenbilder sind nur ganz vereinzelt aus den
Resten zu konstruieren. Wer im ostthüringer
Schiefergebirge arbeitet, der ist über jeden Fund
erfreut, der noch nicht aus dem Gebiet bekannt
geworden ist, er hofft schon gar nicht mehr,
ganze Faunen aufdecken zu können. Diese Tat-
sache hängt eng mit einer anderen ursächlich zu-
sammen.
Die wenigen Funde aus unserm Ostthüringen
sind auch dermaßen schlecht erhalten, daß ihre
Bestimmung Rätsel aufgibt, die oft schwierig zu
lösen sind. Die Erhaltung ist schwedischem Ma-
terial oder solchem aus den Ostseeprovinzen gegen-
über mehr als mangelhaft. Diese beiden Tatsachen
sind leicht zu erklären, wenn man sich vorstellt,
daß Ostthüringen ein Land ist, das in bezug auf
nachträgliche Umwandlungen von schon abge-
lagerten Gesteinen Mustergültiges geleistet hat,
zur P'reude der Tektoniker, zum Leid der Palä-
ontologen. Kontaktmetamorphose und Dynamo-
metamorphose haben zusammen die Schichten
unkenntlich verwandelt. Dazu kam die auffaltende
Tätigkeit nach der Kulmzeit, welche die Schichten
riß, zog, zerbrach, zusammenschob. Daß so die
Versteinerungen nicht in dem Maße erhalten
bleiben konnten wie in den Gebieten Schwedens,
Rußlands, wo sie in Schichten eingebettet liegen,
die ungestört aufeinander lagern, das leuchtet
leicht ein. Die Lücken in unseren Faunenlisten
erklären sich auch dadurch, daß man sich Tiere
vorstellen muß, die sehr wenige, manche über-
haupt keine harten Körperteile besaßen, die den
Druck sich neu auflagernder Gesteine aushalten
konnten.
Unter allen diesen Umständen erscheint es
begreiflich, daß nur wenige Reste vom ehemaligen,
ältesten Leben Ostthüringens erzählen.
Über den ältesten fossilführenden Horizont ist
ein heftiger Streit entfacht. Ein Teil der Forscher
möchte unsere ältesten Sedimentschichten, die
Phycodes circinatum Richter einschließen, nicht
als Kambrium anerkennen. Philippi") und
Karl Walther^) stellen es zum untersten Silur.
Begründend führen sie an, das Phycodes und die
von Karl VV^alther bei Gräfenthal gefundenen
Trilobiten untersilurisch sind. Dagegen stehen
die Ansichten der Preußischen Geologischen
13°
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 9
Landesanstah, die am Kambrium mit Phycodes
circinatum R. als Leitfossil festhält.
Also auch die Grenze steht bei uns noch
nicht fest, an der das erste Leben bei uns auftritt.
Sicher ist aber, daß überall, wo kambrischer
Quarzit auftritt, an genügend ausgewitterten Stellen
das Leitfossil dieser Schicht Phycodes circinatum
gefunden wird. Darum erkennen wir unser ältestes
Lebewesen im Kambrium. Was dieses vielum-
strittene Phycodes war, das entscheidet wohl am
besten der Bau. Aus einem Schaft lösen sich
einzelne Zweige, die nach oben zusammengehen,
heraus, bilden einen straußförmigen Körper, der
als Steinkern einer Alge zu deuten ist. Genügende
Verwitterung, am besten an den verschleppten
Exemplaren aus dem Collisser Rotliegenden zu
sehen, läßt an manchen Steinkernen die vielum-
strittene Ouerriefung erkennen, die man als Zellen-
struktur deutet, das beste Zeugnis für die pflanz-
liche Abstammung. Man hat dieses Phycodes
auf alle nur denkbare Art und Weise erklärt.
Bald sollten es Rieselspuren, bald Kriechspuren
von Würmern, bald Wohnröhren von Würmern
sein. Der größte Teil der Geologen aber spricht
sich für die Tangnatur von Phycodes aus. Karl
Walther macht uns nun aus diesen Schichten
mit Trilobiten, den Vorläufern unserer Krebse,
bekannt. FIr beschrieb •') drei Reste vom P'ört-
schenbachtal, südöstlich Gräfenthal; vom Geheg
bei Förtschenbachtal und von einer Stelle zwischen
Unterwirbach und Aue am Berg. Diesen letzten
Trilobitenrest deutet er als einen Asaphusrest,
die Trilobitenart , die für das Untersilur leitend
ist, darum auch seine Ansicht vom untersilurischen
Alter der kambrischen Schichten. Schon Richter
fand in den kambrischen Schichten Reste eines
Trilobiten, dessen 1,75 Zoll langes Pygidium
(Schwarzschild) einem ? Asaphus Tyrannus Murch.
anzugehören schien. Mit sicheren Phycoden zu-
sammen sammelte er einen Rest, der zu einem
Paradoxides gehörte. Leider sind, wie viele
Rieht er'sche Sachen auch diese Belege ver-
schwunden. Im reußischen Oberland fand
Zimmermann'') zwischen Seibis und Kröten-
mühle eine Lingula ähnliche Muschel. Bei Küh-
dorf im Grund und Neugernsdorf schließen die
kambrischen Phycodenschichten ..stäbchenförmige
gebogene Formen" ein, für die Zimmermann")
den Namen Palaeophycus tabularis Gein. anführt,
also auch ein Tang wie Phycodes.
Damit ist schon die Faunenliste unseres ost-
thüringer ältesten Lebens geschlossen, wie es die
Schichten des Kambriums treubewahrt einschließen.
Ein P'aunenbild läßt sich aus diesen wenigen, an
sehr verstreuten Fundorten gesammelten Ver-
steinerungen nicht entwerfen. Auch über die Be-
schaffenheit des Meeres geben die Reste keinen
Aufschluß. Und wir wissen nicht, ob die Tiere
im tiefen Meere oder in flacher See lebten.
Mit reichlicher Formenfülle macht uns das
Silur Ostthüringens bekannt. Ein Vergleich
unserer Schichten mit denen Schwedens oder der
anderen oben angeführten Länder hinsichtlich der
Menge und Erhaltung der Fossilien fällt natürlich
zu Ungunsten unserer engeren Heimat aus.
Das Untersilur Ostthüringens hat man in ein-
zelne, genau voneinander geschiedene Horizonte
eingeteilt, die man von unten nach oben nennt:
Oberer Schiefer,
Oberer oder Hauptquarzit,
Oberer Thuringithorizont,
Unterer Schiefer (Griffelschiefer),
Unterer Quarzit und Unterer Thuringit-
horizont.
In jeder von den angeführten Schichten haben
sich Fossilien gefunden, die einigermaßen ein Bild
vom Leben im Meer dieser Zeit geben, denn
alles, was wir in den Schichten antreffen, zeugt,
wie auch die Natur der einschließenden Gesteine
von Meeren, die zur Silurzeit unser Ostthüringen
bedecken. Der Wechsel von Quarzitschichten
mit Tonschieferschichten läßt schon auf einen
Wechsel in der Tiefe des Meeres schließen, das
überhaupt als Tiefsee nicht zu denken ist, weil
die Küste immer in der Nähe war. Vielleicht
hat man sich das Untersilurmeer recht buchten-
reich vorzustellen, das ermöglichte, daß sich die
verschiedensten Schichten ablagern konnten. Die
Quarzitschichten zeugen vom nahen Strand, von
flacher, oft vom Wasser ganz und gar verlassener
Küste ; die Tonschieferschichten erzählen von
tieferen Meeren, doch nicht von Tiefsee.
Aus dem Unteren Tiiuringithorizont war schon
lange durch G ü m b e 1 ') eine (^rthis Lindstroemi
bekannt geworden , die sich im Leuchtholz bei
Hirschberg fand. Nun beschrieb Heß von Wich-
dorff 1911*) eine interessante Fauna ebenfalls
aus dem untersilurischen Chamosit-Eisenerzlager
von Schmiedefeld bei Wallendorf Leider fand er
nur Bruchstücke, aber es wurde ihm doch mög-
lich, folgende Formen zu bestimmen : Aeglina
armata Barr, Aeglina sp., Illaenus afif. perrovalis
Murch, Macrocheilus äff. cancellatus Lindstr., alles
Trilobiten, Orthis parva, ( Jrthis sp. äff. Budieighensis
Davids, ? Echinosphaerites, Crinoiden, dazu Gastro-
poden. Aus dem gleichen Horizont, dem Unteren
Schiefer, beschrieb Zimmermann*) von einem
Bahneinschnitt bei Reichenfels mehrere Reste, die
Disciniden oder Oboliden gleichkommen.
Also an der Schwelle des Silurs schon ein
bunteres Leben als im ganzen ostthüringischen
Kambrium. Schnecken krochen mit Urkrebsen
zusammen durch Seelilienwälder, zwischen welchen
Brachiopoden ihre Schalen zum Fangen von Nahrung
aufsperrten.
Zu diesen Tieren gesellten sich im Unteren
Schiefer, den man seiner griffligen Spaltbarkeit
wegen auch Griffelschiefer nennt, zum ersten Male
in Ostthüringen die Graptolithen, die dann im
Mittelsilur Ostthüringens die alleinige Herrschaft
führen sollen. In Nordamerika, Schweden, England,
Portugal und Frankreich herrschen sie auch im
Untersilur, wo sie sich bei uns höchst selten finden.
DerersteFund wurde iSSjdurch einen schwedischen
N. F. XIII. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
131
Forscher Törnquist'"j gemacht, der einen sog.
Tetragraptus von Gebersreuth aus dem Unteren
Schiefer beschrieb. Es war lange Zeit der erste
Fund geblieben, bis man auf jene gelben Fäden
im Unteren Schiefer aufmerksam wurde, die in
regelloser Anordnung sich zwischen den Schicht-
flächen hinziehen. Manchmal sind sie schmal,
manchmal für Graptolithenreste unnatürlich breit.
Was sonst die Graptolithen charakterisiert, die
einzelnen Zellen, die an einer gemeinsamen Achse
sitzen, das kann man an diesen Resten nicht
studieren. Darum nannte 'sie Weise zuerst
Coenograptus linearis Carr. Diesen Namen über-
nahm Zimmermann ^^) auch für die von ihm
früher als tangähnliche Gebilde angeführten, damit
zu vergleichenden Reste. Aus den gleichen Schichten
von Seibis beschrieb ich 1912'-) einen Gonio-
graptus mit unbestimmbarer Spezies. Und meine
Untersuchungen über einen mit richtiger Achse
versehenen Graptolithen aus dem Unteren Schiefer
am Sieglitzberg bei Lobenstein sind noch nicht
veröfi'entlicht. So treten die ersten Reste der
später so mächtigen Graptolithenfamilie zunächst
noch zaghaft, aber doch sicher erwiesen in unser
ostthüringisches Faunenbild ein. Dazu kommen
die ersten untersilurischen Trilobiten, die uns
Loretz 1883^") aus dem Grififelschiefer bei
Gräfenthal mitteilt. Die ältesten Aufzeichnungen
über die Gräfenthaler und SpechtsbrunnerTrilobiten
stammen von Richter aus dem Jahre 1872'*).
Er führt aus dem Griffelschiefer an : Calymene sp.,
Asaphus marginatus, denen fügt Gümbel 1879
noch Ogygia an. Heute kennen wir aus den
Fundstellen : Asaphus marginatus, lUaenus Loretzii,
Megalaspis gladiator und den Gastropoden Conularia
modesta. Zimmermann'*) fand bei Saalburg
einen größeren Rest eines Trilobiten. Mit den
Graptolithen zusammen, die pseudoplanktisch wie
ihre Verwandten im jüngeren Mittelsilur lebten,
bevölkerten sie das Griffelschiefermeer, in dem bei
Plauen'") noch eine Orthisart ihr Leben fristete.
Als der Meeresboden flacher wurde, sich grob-
körnigere Massen zu Quarziten, zum Oberen oder
Hauptquarzit zusammenschichteten, wechselte die
Fauna. Das flache Wasser belebten Würmer, die
sich in dem noch nassen, eben vom Wasser ganz
verlassenen Schlamm schützend eingruben, deren
Bohrröhren man als Scolithes beschrieb (Saalfeld).
Ein Bild in das Leben am Strand dieser Zeit läßt
sich nach den Funden an den Hüttchenbergen
bei Wünschendorf zeichnen '^). Wie auf Blatt
Lehesten ") der geologischen Karle und bei der
Eybaer Schule ^'*) unweit Saalfeld Wohnröhren
im Ouarzit gefunden wurden, die von einem Wurm
Arenicolites didyma Salt, gegraben sind, so be-
decken sich auch in den Hüttchenbergbrüchen
die Quarzitschichtflächen mit Querschnitten des-
selben Wurmes, der hier, wie an allen Stellen,
sich vor dem Verschwinden des an und für sich
flachen Wassers in seine Wohnröhren zurückzog.
Andere Würmer schlängelten sich auf dem nassen
Sande hin, hinterließen Ireubewahrt ihren schlangen-
gleichen Weg. Das flache Wasser war dazu ordent-
lich geschaffen, ganze Flächen von Wellenfurchen so
einzudrücken, daß sie erhalten blieben. In dem
Schiefer dieses Bruches, der den Quarziibänken
eingelagert ist und von tieferem Wasserstande
zeugt, treten die rätselhaften, in ihrer Stellung
zum Tier- oder Pflanzenreich noch nicht sicher
entschiedenen Palaeodyctium Eiseleanum Hundt
und Dictyodora Zimmermanni Hundt auf. Das
erstgenannte Tier stellt man zu den Würmern,
während über die Natur des letzteren großer Streit
entfacht ist. Rauff und Fraas'®) wollen die
Dictyodora als Diuckerscheinung aufgefaßt wissen,
wie und unter welchen Umständen sich diese
Gebilde, der tütenförmige Körper mit seinem offenen
Teile nach unten und der Spitze nach oben bildeten,
das erklären sie nicht. Seitdem es mir gelungen
ist -"), ihre Stammesgeschichte vom Untersilur
Ostthüringens und Portugals, über das Mittelsilur
des Kellerwaldes, Unterdevon Portugals, Oberdevon
Schlesiens bis zum Kulm Ostthüringens festzu-
stellen, wird wohl ihre organische Natur vollständig
sicher gestellt sein.
Den letzten Teil des Untersilurs beherrschen
tiefere Meere, die eine ganz besonders charakte-
ristische Fauna in ihre Ablagerungen einschlössen
Und zwar waren es Einschlüsse aus härterem
Quarzitgestein, die überall dem Oberen Schiefer
regellos eingebettet sind und die eine eigenartige
Fauna bergen. Die Tiere scheinen im Gebiet
von ganz Ostthüringen gelebt zu haben, denn das
häufigste Tier Echinosphaeritium aurantium findet
sich überall über das Gebiet verstreut. Es ist von
Hoheneiche, Kleingeschwenda, Piesau , Beulwitz,
Lehestener Schloßgraben , Gißratal bei Saalfeld
bekannt geworden. Das Tier war ein Vorläufer
der Seeigel und bildet oft ganz allein eine solche
oben erwähnte Knolle für sich. Das ist aber
keineswegs der einzige Bewohner des Hauptschiefer-
meeres. Richter macht uns aus diesen Schichten
mit Beyrichia excavata Rieht., einem Krebs, Orthi-
sima, Lingula, Discina rediviva Rieht., Obolus
minor Barr, bekannt. Mit Echinosphaeritium au-
rantium fand Loretz-') Trochiten, Anthozoen,
? Bryozoen, Korallen aus den Familien Favosites,
Chaetetes, Monticularia zusammen mit Orthis äff.
Lindströmi und den Stacheln des Krebses Ceratio-
caris.
Wenn wir das Leben im Untersilur überblicken,
so erscheint es uns dem Kambrium gegenüber
mehr entwickelt. Große Trilobiten, Schnecken,
Orthisarten, Cystideen, Korallen, Seelilien, Krebse
und die ersten Graptolithen bevölkerten das Meer.
Am Strande lebten Würmer, Palaeodjctium Eise-
leanum, Dictyodora Zimmermanni.
Diese Tiere verschwanden zum allergrößten
Teil, als das Meer im Mittelsilur seinen Einzug
hält. Sofort treten die Graptolithen, jene eigen-
artigen Tiere auf, deren Ähnlichkeit mit der
rezenten Rhabdopleura Normanni Allmann zur
Einschaltung in die Klasse der Echinodermata
132
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 9
verführt, obschon man sie gern als Hydroitpolypen
angesehen wissen möchte.
Die Graptolithen beherrsclien nun die mittel-
silurisclien Kieselschiefer und Alaunschiefer voll
und ganz. Die anderen, beiläufig erwähnten Reste
treten ganz zurück, d. h. sie fehlen nur bei uns
in Ostthüringen. Die Stammesgeschichte der
Graptolithen ist durch das ganze Mittelsilur hin-
durch zu verfolgen, deshalb war eine Zonenein-
teilung, wie sie England und Schweden als erste
kannten, auch für Ostthüringen möglich. Sie war
d.is Lebenswerk Ro bert Eiseis -^). Es sei hier
gleich vorangestellt bemerkt, daß er die Zonen
lo — 19 in unseren Ostthüringen für das Mittelsilur
und Zone 20 für das Obersilur nachweisen konnte,
davon kann Zone 16 — 19 kalkig als Knotenkalk
ausgebildet sein.
Die Zone 10 macht uns schon mit einer
reichen Formenfülle bekannt , obgleich nur ein
mangelhafter Aufschluß bei Raitzhain unweit
Ronneburg diese Zone, die als Naturdenkmal er-
klärt wurde, "^) einschließt. Es finden sich in dem
vom Herzog von Sachsen-Altenburg geschützten
Bruche: Diplograpten, Climacograpten, Monograp-
ten, Cyrtograpten, Dimorphograpten, Demirastriien,
davon sind die Diplograpten, Climacograpten zwei-
reihig, die anderen einreihig, d. h. an den Achsen
sitzen entweder nur an einer oder an beiden Seiten
Zellen oder Theken. Die C)Ttograptcn verzweigen
sich und bei den Dimorphograpten ist die Ver-
teilung so, daß an dem einen (distalen) Ende an
einer Seite einige Zellen, am anderen (proximalen)
Ende an beiden Seiten Theken stehen. Von
den Cyrtograpten , den seltensten Formen, konn-
ten bis jetzt Cyrtograptus multiramis Törnq.,
Cyrtograptus radians Törnqu. und Cyrtograptus
Törnquisti Hundt nachgewiesen werden. Die
Formenfülle ist erstaunlich groß, Spezies- und
Individuenzahl unglaublich hoch. Manchmal be-
decken die Tiere zu Tausenden die Schichten
kreuz und quer. Daneben bemerkt man keinen
Rest eines anderen Lebewesens. Neben der F'ülle
der vorhandenen Graptolithen fällt nur noch die
schwarze Farbe aller, diese Tiere einschließenden
Schiefer auf. Alle Schiefer des Mittel- und Ober-
silurs, aber besonders die feinkörnigen Alaun-
schiefer, die im unteren Teile des Mittclsilurs nur
zeitweise eingeschaltet, im oberen Teile vorherr-
schen, bis sie schließlich im Obersilur die Herr-
schaft haben, sind schwarz gefäibt. Die schwarze
Farbe der einschließenden Gesteine, der eigen-
artige Bau gewisser Graptolithen, besonders der
Monograpten , Rastriten , Demirastriten hat nun
Lapworth in England benutzt, uns die Lebens-
weise der Grajjtolithen anschaulich zu machen.
Er kann sich nicht denken, daß die Graptolithen
als fossiles oder vagiles Benthos oder als Plankton
im Silurmecr lebten. Er denkt sich das Silur-
meer mit Wäldern von Tangen erfüllt, ähnlich
der Sargossasee. In diesem Silursargossameer
sollen sich die Graptolithen wohl gefühlt haben.
Jede Kolonie war an einen Tang befestigt und
trieb an und mit diesem im Meer herum. Nur
im Jugendzustande können sie demnach plank-
tonisch gelebt haben, hefteten sich aber dann in
einem gewissen Altersstadium fest. Von dem
Silursargassum ist nichts erhalten geblieben. Nur
die schwarze Farbe zeugt von der ehemaligen
Anwesenheit von Tangen. So lebten die ein-
reihigen Formen. Glückliche Funde in Nord-
amerika von Ruedemann-^) und in Westergöt-
land von Horn^*) geben uns Aufschluß, wie die
zv^reireihigen Formen gelebt haben. Ruedemann
beobachtete ganze Kolonien von Diplograptus
pristis Hall, deren einzelne Achsen zu einem zen-
tralen Packen verschnürt waren. Das ganze wurde
von einer Luftblase gehalten und dadurch schwimm-
fähig gemacht. Zwischen den ausgewachsenen
Stöcken lagerten um eine viereckige Platte die
Eiträger oder Goangien, aus denen in Zeiten der
Reife die Keimzellen oder siculae ausgestoßen
wurden. Diese schwammen so lange im Meere
frei umher, bis ihnen eine Verlängerung, das
Nema, gewachsen war. Daran setzten sie nun an
eine oder an beide Seiten neusprossende Theken
an. Ein neuer Stock entsteht, der sich zu einer
Kolonie ausbildet. So lebten die Diplograpten
nicht allein, sondern auch von Climacograpten
hat es Hörn 191 1 beobachtet. Einzelne Diplo-
grapten und Climacograpten haben an der ver-
längerten Achse blasenartige Verbreiterungen, die
als Schwimmorgane für den ganzen Stock anzu-
sehen sind. So müssen wir uns die Graptolithen
schwimmend zwischen den Tangwäldern denken.
Einzelne Formen, wie Monograptus Halli, Mono-
graptus Sedgwicki, Monograptus turriculatus,
Monograptus testis haben an den einzelnen Zellen
feine Haare, die bei der Nahrungsaufnahme der
Tiere sicher eine Rolle gespielt haben. Im Ver-
laufe des Mittelsilurs entwickelten sich die einzelnen
Graptolithengattungen, einzelne verschwanden ganz,
bis zuletzt nur noch im Obersilur die Monograpten
vorhanden sind. In den unteren Zonen (10 — 13)
herrschen Diplograpten und Climacograpten vor,
die Monograpten treten zurück. In den Zonen
10 — 13 entwickeln sich aus den Cyrtograpten die
Demirastriten, die teilweise die Zellenanordnung
der Monograpten und der Rastriten aufweisen, die
in Zone 14 zu echten Rastriten geworden sind.
Cyrtograpten, Monograpten und Retioliten halten
im Mittelsilur bis zuletzt aus, bis im Obersilur
in Zone 20 nur noch Monograpten zu Hause
sind. In die Lebensgemeinschaft der Grapto-
lithen treten in einzelnen Zonen noch andere
Tiere, die aber, wie ich schon bemerkte, vor den
Graptolithen zurücktreten, ein. Rothpletz-^)
fand in den Kirselschiefern von Langenstriegis
und nach ihm wurde auch unser Kieselschiefer
erfolgreich daraufhin untersucht, die Radiolarie
Spongosphaerites tritestacea Rothpl., die mit ihrem
kieseligen Skelett nicht unerheblich am Aufbau
des Kieselschiefers beteiligt sein soll. Von den
Diadomeen lebten im Kieselschiefer Navicula.
Rätselhafte Stellung zwischen Tier und Pflanze
N. F. Xm. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
133
nimmt Sphaerosomatites ein. In Zone 13 ist an
zwei Stellen t^rthis callactis und Orthoceras tenue
Wahl, bei Mennsdorf und Heinrichsruh unweit
von Schlei/, nachgewiesen worden. Das ist die
Fauna des Kieselschiefers, der für die Erhaltung
organischer Reste nicht geeignet ist. Etwas reich-
haltiger ist die Fauna des Alaunschiefers und der
eingelagerten Phosphoritknollen, die beide für die
Erhaltung der tierischen Reste ein ideales Ein-
bettungsmittel sind. Man nimmt an, daß der
Alaunschiefer an ruhigen, wenig tiefen Stellen
des Silurmeeres abgelagert wurde, darum konnten
sich dort auch die feinen und feinsten Körn-
chen niederschlagen. In erster Linie sind wieder
die Graptolithen vertreten. Dazu kommen
noch reichlich Stielgliederreste von Cyathocrinus
longimanus, denen aber die seltenen Kronen
fehlen (Klosterhammer, Plauen, Gräfenthal, Neu-
hammer bei Lobenstein). Wie im Untersilur,
so findet sich auch hier der Ceratiocaris inae-
qualis Barr, wieder bei Klosterhammer, Bären-
mühle bei Wurzbach, in den Phosphoritknollen
bei Plauen. .Als Seltenheit schlössen die Alaun-
schieferschichten von Klosterhammer einen leider
schlecht erhaltenen Gastropoden '') ein. Dem
Ockerkalk sind Orthoceras bohemicum, Cardiola
interrupta, -**) neben Stielgliedern von Seelilien
eingelagert, leider aber auch sehr selten (Garns-
dorf, Gräfenthal). Aus dem unteren Wetteratale
macht uns E. Z i m m e r m a n n ■^'') mit Posidonomya
glabra Münster bekannt, die von mir jetzt auch
im Pößnigstal bei Saalburg gefunden wurden.
(Nachtrag: Im Herbste 191 3 fand Verfasser
noch einige bis jetzt aus Ostthüringen unbekannte
Fossilien. Am Klosterhammer bei Saalburg
schlössen die obersilurischen Alaunschiefer eine
Cystidee: Orthocystites, eine Dendroidee: Dyctio-
nema ein.)
Im Obersilur wich das Meer immer weiter
aus, verließ unsere Gegend, die während des
Unterdevons Festland blieb. Darum wurden die
obersilurischen Schichten so zerstört und damit
viele eingelagerte Fossilien.
Literatur:
1) Die Seebedeckungen Ostthüringens. Ref. Dr. K. Th.
Liebe. Gera 1881.
2) Vorlesungen von Dr. phil. E. Philippi f. Jena
1912. p. 12.
3) Beiträge zur Geologie und l'aläontülogie des älteren
Paläozoikums in Ostthüriogen. Dr. Karl Walther. Stutt-
gart 1907.
4I Erläuterungen zu Blatt Lobenstein. E.Zimmermann.
c,) Erläuterungen zu Blatt Weida. E. Zimmermann.
6) Geognostische Beschreibung des Kichtelgebirges. Güm-
bel. Gotha 1879.
7) Über die Auffindung von Fossilien im untersilurischen
Chamosit- Eisenerzlager von Schmiedefcld bei Wallendorf im
Thüringer Walde. Heß von Wichdorf f. Monatsbericht,
d. D. geol. Gesellschaft. Bd. 63. 191 1. p. 155.
S) Erläuterung zu Blatt Weida. E. Zimmermann.
9) G. V. Törnquist, Geol. Foren in Stockholm. Förh.
1887. Bd. 9. Heft 7.
10) Erläuterung zu Blatt Lobenstein und zu Lehesten.
E. Zimmermann.
11) I. Nachtrag zur Graptolithenfauna usw. igi2. Ru-
dolf Hundt. Jahresbericht der Gesellsch. v. Fr. d. Naturw.
I2'| Über Echinosphaerites und einige andere organische
Reste aus dem Untersilur Thüringens. H. Loretz. Jahrb.
d. pr. geol. Landesanstalt. 1883.
13) Untersilurische Petrefakten aus Thüringen. Richter.
1877. Z. d. D. g. G. p. 72.
14) Bericht üb. bes. Ergebn. d. Aufn. d. Blätter Hirsch-
berg a. Saale, Gefalt., Schleiz. E. Zimmermann. Jahrb.
d. pr. geol. Landesanstalt. 1894,
15) Geologische Verhältnisse der Stadt Plauen. E. Weise.
Plauen 19 10.
16) Organische Reste aus dem Untersilur des Hüttchen-
berges bei Wünschendorf an der Elster. R. Hund t. Central-
blatt. Stuttgart 1912. Nr. 3.
17) Erläuterungen zu Blatt Lehesten. E. Zimmermann.
18) Kleine geologische Umschau in der Umgebung Saal-
felds. H. Meyer, p. 119. Saalfeld 1910.
19) Petrefaktensammler. Stuttgart. Lutz.
20) Vertikale Verbreitung der Dictyodora im Paläozoikum.
R. Hundt. Centralblatt. Stuttgart 1912. Nr. 17.
21) Siehe unter 12) der Literaturangabe.
22) Über die Zonenfolge ostthüringischer und vogtländi-
scher Graptolithenschiefer. Rob. Ei sei. Gera. 39. — 42.
lahresber. d. Gesellsch. v. Fr. d. Naturw.
23) Der Eisenbahnbruch bei Raitzhain, die Fundstelle der
Zone 10 des Mittelsilurs, unweit von Ronneburg. R.Hundt.
.■\ltenburg 191 2.
24) Übersicht des Wachstums und Entwicklung der Grap-
tolilhengattung Diplograptus. R. Ruedemann. The Amer.
Journ. of Science. Ser. 3. Vol. XLIX. Nr. 294. 1895.
25) Eine Graptolithenkolonie aus Westergötland. E. Hörn.
Geol. För. Förk. Bd. 33. H. 4.
26) Radiolarien, Diatomaceen und Sphärosomatiten im
silurischen Kieselschiefer von Langenstriegis in Sachsen.
Rothpletz. Z. d. D. geol. Gesellsch. iSSo.
27) Gastropod aus dem Obersilur bei Klosterhammer un-
weit Saalburg a. d. Saale im Reuß. Oberlande. R. Hundt,
lahresber. d. Gesellsch. ¥. Fr. d. Naturw. zu Gera. 1912.
28) Erläuterungen zu Blatt Gräfenthal. Loretz.
29) Das Obersilur an der Heinrichsthaler Mühle im
Wetteratale bei Gräfenwarth. E. Zimmermann. 43./44.
Jahresbericht d. Gesellsch. v. Fr. d. Naturw. in Gera. p. 44
hiis 55.
Die Keforinbewegung in der aiigewaiulteu
Entomologie.
Von Prot". Dr. F. Schwangart, Neustadt a. d. H.; Karlsruhe.
Die „angewandte Entomologie" beschäftigt
sich mit der Erforschung von wirtschaftlich
wichtigen Gliederfüßlern („Entoma"-Kerbtiere). vor-
wiegend Insekten, auf wissenschaftlicher
Grundlage; Mit Schädlingen von Kulturpflanzen,
in Land- und Forstwirtschaft, krankheitüber-
tragenden und -erregenden, aber auch nütz-
lichen Kerbtieren, deren Zucht uns Nahrungs-
mittel, Kleidung, Luxusartikel verschafft. Die
wissenschaftliche Erforschung dieser Kategorien
soll dazu führen, Schädlinge und Krankheiten zu
bekämpfen und den Nutzen von Kultur-
insekten zu steigern, bzw. weitere der Kultur
nutzbar zu machen. Der Schaden, dem es
vorzubeugen gilt, beziffert sich auf viele Millio-
nen jährlich, — wir brauchen nur an „Nonne",
„Traubenwickler", „Reblaus" zu erinnern ; — durch
Kerbtiere (Insekten, Milben) verursachte Seuchen
134
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
haben Massenelend in den Kolonien zur Folge
und erschweren die Besiedelung und wirtschaft-
liche Nutzung aufs äußerste — wie beim Gelb-
fieber, der Schlafkrankheit, den tropischen Vieh-
seuchen — und eine Sanierung ist nur auf der
Basis der Erforschung jener Kerbtiere zu er-
hoffen. — Die Insektenzucht auf der anderen
Seite gehört zu den wichtigsten Einnahmequellen
weiter Landstriche, wie das z. B. von der Seiden-
raupenzucht gilt ; — Nutzen und Schaden der
Kerbtiere greifen tief ein in die Daseinsbedingun-
gen auch der Industrie, des Handels, von
Unternehmungen künstlerischer und Wissen-
schaft lieber Art: die Kerbtiere liefern indu-
strielle Produkte, wie die Seide, gewisse Farbstoffe
usw. und sie zerstören auch solche Erzeugnisse
in großem Maßstab; unsere Kunst- und wissen-
schaftlichen Sammlungen sind durch sie bedroht.
Dieser eminenten wirtschaftlichen und hygieni-
schen Bedeutung der Kerbtiere ist bis in die
jüngste Zeit wenig Rechnung getragen worden:
Insbesondere war man sich weder im Volk noch
an den regierenden Stellen darüber klar, daß an-
gesichts der komplizierten Biologie dieser
Tiere ohne wissenschaftliche Arbeil in der
Praxis nicht auszukommen sei.
Der ursprünglich volkstümliche Standpunkt
tritt noch unverhohlen zutage im größten Teil
unserer Presse; dort vermißt man an zahllosen
Berichten, die z. B. über den Verlauf und die
Bekämpfung von Schädlingsplagen verbreitet
werden , meist das Bedürfnis nach wissenschaft-
licher Orientierung und das Bewußtsein, daß
mit Verbreitung von Legenden beiden, den
Wissenschaftlern, die aufklärend tätig sein
wollen, und den Interessenten, die von phan-
tastischen Vorstellungen zu wissenschaftlich er-
mittelten Tatsachen und damit zu einem wirk-
samen Vorgehen bekehrt werden sollen,
schwerer Schade zugefügt werden kann, —
den Landwirten an ihrem X'ermögen, den Wissen-
schaftlern an Schaffensmut und Gesundheit. Wenn
z. B. Tageszeitungen immer wieder von einem
rapiden Fortschreiten der „Reblaus" berichten, wo
es sich um die Blattfallkrankheit der Rebe, von
Mitteln gegen die ,,Rel3laus", wo es sich um solche
gegen den Traubenwickler handelt, — wenn sie
ihre Urteile über Bekämpfungsverfahren immer
wieder von beliebigen Korrespondenten beziehen,
statt von den dazu berufenen wissenschaftlichen
Auskunftsstellen, — so ist das doch nicht anders
zu bewerten, als wenn sie etwa vom Heilserum in
Verbindung mit Krebs, von Spirochaete pallida in
Verbindung mit dem Unterleibstyphus schreiben,
oder ihre Auskünfte über den VVert ärztlicher
Maßnahmen in einem Seuchengebiet bei irgend-
einem Ortsvorsteher einholen wollten.
Besser als mit der Presse steht es in meinem
engeren Wirkungskreise (dem der landwirtschaft-
lichen Zoologie) schon mit der Bevölke-
rung. Vollkommene Abhilfe kann hier aber
nur von einem zweckentsprechenden Aus-
bau des Ju gen d Unterrichtes erwartet werden. Das
Ziel dieses Unterrichtes muß es sein, Lust und
Fähigkeit zu objektiver Naturbeobach-
tung im Volke zu stärken und ihm zugleich
einen Begriff davon zu vermitteln, daß zu Be-
obachtungen, Untersuchungen, Versuchen, Urteilen
im Gebiete der Naturforschung fachl ich e Vor-
bildung gehört, so gut wie auf anderen Sonder-
gebieten menschlicher Betätigung. (Ist doch ein
großer Teil der Objekte ohne Fachkenntnis und
ohne spezielle Methoden nicht zu bestimmen
oder für Laien überhaupt nicht wahrnehmbar.)
— Was an Erwachsenen geleistet werden
kann, ist recht unzulänglich; denn bei ihnen
hat sich oft ein Zustand festgesetzt, der in
Gegensatz zu dem steht, was wir anstreben
müssen: der in der Jugend natürliche Trieb zum
Beobachten ist unterdrückt; die Fähigkeit, zwischen
Phantasie und Wahrnehmung zu unterscheiden,
fehlt oder ist doch herabgesetzt; an die Stelle
des Beobachtungstriebes tritt das Vorurteil, der
„Praktiker" — d. h. der Besitzer wirtschaftlicher
Objekte — müsse, in ständiger F'ühlung, mit diesen
auch alle Schädlichkeiten daran besser kennen, als
der wissenscbafiliche Entomologe ; spricht dieser
von Dingen, die sich der Wahrnehmutig des Prak-
tikers entziehen, dann ist hinreichender Verdacht
erweckt, daß es sich hier um „Theorie" handle;
der Entomologe wird in dem Sinne auch schlecht-
hin als „Theoretiker" bezeichnet.
(Diese Darstellung der Volkspsychc im Wirkungskreise
unserer Wissenschaft soll gegen niemand eine Spitze haben:
Man muß die Wahrheit sagen, wenn man bessern will, und
ich persönlich bin dazu wohl berechtigt, da ich bei jeder
(Gelegenheit bewiesen habe, wie hoch ich die Mit:irbcit der
Interessenten einschätze, dort, wo deren Urteil maßgebend
ist, z. B. in einer der wichtigsten Prägen der Schädlingsbe-
kämpfung: ,,Ist eine Maßnahme unter den besonderen Ver-
hältnissen einer Kulturart durchfühibar ?" Diese Frage muß
vor jeder Bekänipfungsaklion erhoben und jedesmal unter
Mitwirkung der Besitzer erörtert werden.)
Die S c h u 1 d an den gerügten Übelständen trägt
die Art der Schulbildung. Und da es sich hierbei
um ein Übel handelt, das in alle Schichten tief
eingedrungen ist — auch in die der Lehrenden !
— muß mit dem Ruf nach vermehrter Belehrung
auch die laute Warnung einhergehen vor irrigen
Tendenzen des Naturkundeuntenichts, der oft
selber dazu neigt, Phantasie und vorgefaßte
Spekulation an Stelle der Übung im Beobachten
zu setzen, die dem Volke nottut ! Ich habe mich
hierüber in einem Referat \) näher ausgesprochen.
In der Hauptsache hat sich unsere Reform-
bewegung bisher mit den staatlichen Ein-
richtungen für angewandte Entomologie befaßt;
mit Grund, denn es hat seine volle Berechtigung,
wenn man uns darin andere Staaten zum
Muster vorhält: die Vereinigten Staaten, wie
das Escherich in seiner trefflichen Reform-
') Verhandlungen der Ges. Deutscher Naturforscher und
Ärzte, Karlsruhe igil. Aufgenommen in: ,,Üie Trauben-
wickler u. ihre Bekämpfung", II. Teil. G. Fischer, Jena 1913.
(Nr. 6 ,,Die Bekämpfung der Rebschädlinge und die Biologie".)
N. F. XIII. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
135
Schrift*) getan hat; aber auch Frankreich, Italien,
England , Ungarn. In diesen Ländern ist man
uns zum mindesten organisatorisch voraus.
Die Hauptpunkte, wo die Organisation
in Deutschland einsetzen muß, sind folgende:
I. Man hat bei uns in der Landwirtschaft
wie in den Kolonien meistens davon Abstand
genommen, Stellen, die mit Bekämpfung tieri-
scher Schädlinge betraut waren, mit Zoologen
zu besetzen; die Entomologie wurde und wird
noch in der Regel von Vertretern anderer Wissens-
zweige: im besten Fall von Botanikern, aber auch
von Chemikern, Technikern, Landwirten, Medi-
zinern im Nebenamt verwaltet. Wenn man
auch oft die Geschicklichkeit loben darf, mit der
sich solche Persönlichkeiten in das ihnen fremde
Gebiet eingearbeitet haben, obendrein oft mitten
in der Praxis, so ist doch ohne weiteres klar,
daß bei dem mächtigen Umfang, den heutzutage
alle Disziplinen angenommen haben — nicht
zuwenigst die Entomologie — , jetzt An-
stellung von gelernten Fachleuten, Be-
ruf szoologen, notwendig ist; die Rückständig-
keit verrät sich denn auch auf den ersten Blick,
bei Betrachtung der Literatur wie beim Eintritt in
die Praxis; eine ganze Ouacksalberzunft lebt da-
von, zum Schaden der Land- und Kolonialwirt-
schaft.
2. Die Zahl der Arbeitsstätten für an-
gewandte Entomologie ist zu gering, die
Ausstattung der vorhandenen viel zu
d ürft ig.
Anstatt hierin schleunige Abhilfe zu schaffen, verlegen
sich einflußreiche Persönlichkeiten noch immer gern auf alte
Hausmittel zur ,, Entdeckung" von Heilmitteln und zur
Beschwichtigung der durch Schädlingspiagen erregten Be-
völkerung: Sitzungen, Veranstaltung (politisch gefärbter) Ver-
sammlungen , Prämienausschreiben für Erfinder von Radikal-
mitteln. Insbesondere solche Prämien sind angesichts der
weitverbreiteten Kritiklosigkeit ein Unglück gerade für die
Kreise, welche von dem Übel betroffen sind; Sie sind es,
die dann einem Heer von Pfuschern (deren jeder natürlich
das J.Radikalmittel" erfunden hat) zu Reichtum und Ansehen
verhelfen sollen. Die Versuchsanstalten andererseits, die
ohnedies überlastet sind, vergeuden dann ihre Zeit mit dem
Durchprobieren all' der Heilmittelchen, statt ihre Kraft und
ihr Wissen für eine folgeiichtige Erforschung des Schädlings
und der ihm feindlichen Faktoren einzusetzen.
3. Die Frage : „W oh er nun aber die prak-
tisch e n Zoolo gen nehmen?" ist in Deutsch-
land vollauf berechtigt. Denn es fehlt noch
an Lehrstätten zur Vorbildung solcher. Man
muß hinzufügen, daß an den wenigen vorhan-
denen Hoc h seh u Istellen für angewandte
Zoologie erst in neuerer Zeit die natürliche Haupt-
aufgabe wieder zur Geltung kommt ; bis dahin
hatte man dort meist theoretisch gearbeitet, ohne
rechte Würdigung der eigentlichen Schädlings-
fragen als tiefgründiger hygienischer Probleme.
') K. Escherich, Die angewandte Entomologie in den
Vereinigten Staaten. Eine Einführung in die biologische Be-
kämpfungsmethode. Zugleich mit Vorschlägen zu einer Re-
form der Entomologie in Deutschland. — P. Parey , Berlin
1913-
Darin sind uns unstreitig die Amerikaner
vorausgegangen, mit jenen mühseligen, aber auch
so fesselnden Arbeiten zur Bekämpfung von
Schadinsekten mit Hilfe ihrer winzigen natürlichen
P'einde bzw. Parasiten; nur an wenigen Stellen
in Europa hat man konsequent Arbeiten dieser
Art durchgeführt und damit ein Neuland der
Heihvissenschaften erschließen helfen.
Gegenwärtig ist die Lage noch immer so,
daß z. B. für landwirtschaftliche Zoologie
kein einziger Lehrstuhl in ganz Deutschland
errichtet ist. Wenn sie in manchen Fällen als
Prüfungsfach von theoretischen Zoologen neben
deren anderweiten Vorlesungen versehen wird,
muß das natürlich eher Schaden als Nutzen beim
wissenschaftlichen Nachwuchs stiften.
4. Das Ansehen der angewandten Entomo-
logie iit auch bei den Staatsbehörden meist
noch nicht das eirer vollwertigen Wissenschaft;
und das muß ihr natürlich schaden, direkt bei
den Interessenten, die ihren Ratschlägen folgen
sollen, indirekt an Schaffensfreudigkeit. Wenn
es aucli kaum mehr vorkommen dürfte, daß
amtlich mit Schädlingsbekämpfung betrauten
Stellen anbefohlen wird, mit irgendeinem be-
stimmten, bei „Praktikern" beliebten Mittel Ver-
suche anzustellen, gegen die eigene Meinung von
dem Werte des Mittels, so ereignet es sich doch
noch, daß tiefeingreifende Maßnahmen
ohne Berücksichtigung des staatlichen
Entomologen lediglich auf Antrag einflußreicher
Interessenten gutgeheißen werden.
Eine Grundforderung der Reform ist
deshalb : Wo entomologische Sachver-
ständige angestellt sind, darf ohne Be-
gutachtung durch sie keine die ange-
wandte Entomologie berührende Ent-
schließung seitens der Staatsbehörden getrofifen
werden.
Die Reformbewegung zur Hebung der
angewandten Entomologie in Deutschland hat be-
gonnen i. J. 1902 mit den Schriften und Vorträgen
von L. Reh (derzeit Hamburg).*) Die Zeit war
noch nicht reif dafür; in Zoologenkreisen
insbesondere, von denen doch die Bewegung aus-
gehen mußte, wurde Reh nicht verstanden.
Als nächster trat (1908) Heymons auf, nachdem
er die Forschungsrichtung und die damals noch
junge Organisation in den Vereinigten Staaten
kennen gelernt hatte. ") Den Anstoß zur gegen-
wärtigen Bewegung gab jedoch das Escherich-
sche „Amerikabuch", das in sehr geschickter
Fassung die Entomologie in Amerika schilderte
und mit klaren und festumrissenen Vorschlägen
') L. Reh, „Die Zoologie im Pflanzenschutz", Verhandl.
d. Deutsch. Zool. Ges. 1902. — Ders„ „Die Rolle der Zoo-
logie in der Phytopathologie", Zeitschr. für wisscnsch. Insekten-
biologie, 1905. — Ders„ ,,Phytopathologische Zoologie für
unsere Kolonien", Tropenpflanzer (Organ des Kolonialwirt-
schaftl. Komitees) 1911.
') R. Heymons, ,, Europäische Insektenschädlinge in
Nordamerika und ihre Bekämpfung", Naturwiss. Zeitsclir. f.
Forst- und Landwirtschaft 1908.
136
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
für Deutschland hervortrat. Ihm kamen von
der einen Seite Bestrebungen auf Teilgebieten des
deutschen entomologischen Versuchswesens (land-
wirtschaftliche Zoologie, Seh wan gart)/) auf der
anderen die schon im Gang befindlichen Reformen
in anderen europäischen Ländern (Frankreich,
England, Ungarn, Italien) zu Hilfe.
Escherich fand lebhaften Anklang mit einem
Vortrage bei der Versammlung der Deutschen
Zoologischen Gesellschaft in Bremen
(191 3).-) Dort erfolgte die Gründung der
„Deutschen Gesellschaft für an gewandte
Entomologi e", mit folgendem Programm,
das man nach meinen Ausführungen über die
Mängel der bisherigen Zustände ohne weiteres
verstehen wird :
Durchführung einer zweckdienlichen staatlichen
Organisation zur wissenschaftlichen Erforschung
und Bekämpfung der wirtschaftlich schädlichen
und der krankheitenerregenden Insekten und der
Förderung der Zucht von Nutzinsekten; — Samm-
lung und kritische Sichtung des vorhandenen
Stoffes aus diesem Forschungsgebiet; — Hebung
des Verständnisses für angewandte Entomologie
und Wahrung ihres Ansehens in der Öffentlich-
keit. - — Diesen Zweck sucht die neue Gesellschaft
zu erreichen durch : Versammlungen zur Abhal-
tung von Vorträgen und Demonstrationen, zur
Erstattung von Referaten und zur Besprechung
und Feststellung gemeinsam in Angrift'zu nehmen-
der Arbeiten; — Veröffentlichung von Berichten
und anderen Arbeiten ; — Anbahnung und Pflege
von Beziehungen zu staatlichen Behörden und
Korporationen; — Erziehung und Förderung eines
wissenschaftlichen Nachwuchses.
Daß die Gründung einem Bedürfnis weiter
Kreise entgegenkam, ergab sich aus dem
schnellen Anwachsen der Mitgliederzahl. Durch
das rege Interesse w e i n b a u 1 i c h e r Kreise, die
ja gegenwärtig der Unterstützung durch die
angewandte Entomologie besonders dringend
bedürfen, und durch die aufopfernde Rührigkeit
des um die Schädlingsbekämpfung hochverdienten
Kommerzienrates Otto Me u schel- Buchbrunn
kam schon Oktober des Grund ungsjahres die
erste Jahres versammln ng zustande. Wenn
ich ihren Verlauf im folgenden kurz wiedergebe,
geschieht dies, um an Beispielen zu zeigen, welchen
Umfang das Forschungsgebiet unserer Wissen-
schaft hat und welch wichtige Wirtschaft liehe
Fragen von ihr Förderung erwnrten dürfen.
Die erste Jahresversammlung der
„Deutschen Gesellschaft für angewandte
Entomologie", vom 21. — 25. Oktober in
Würzburg, war aus Kreisen der Wissenschaft
') F. Schwangart, siehe oben, ferner ,,Die Trauben-
wickler und ihre Bekämpfung, mit Berücksichtigung natür-
licher Bekämpfungsfaktoren", I. Teil. G. Fischer, lena 1910,
u. a. m.
^) K. Escherich, ,,Die gegenwärtige Lage der ange-
wandten Entomologie in Deutschland". Verh. d. Deutsch.
Zoolog. Ges. 1913.
(Pflanzenpathologie, Züchtungskunde, Medizin usw.)
wie seitens der wirtschaftlichen Interessenten stark
besucht. Von über 20 angemeldeten Vorträgen
mußten infolge des Stoffandranges mehrere zurück-
gestellt werden. Vertreter von Ministerien und
Regierungen, der Universität, der Stadt, deutscher
und auswärtiger Versuchsanstalten, sowie solche
der Deutschen Zoologischen Gesellschaft, der
deutschen entomologischen, der deutschen Kolonial-
gesellschaft, des kolonialwirtschaftlichen Komitees
und anderer angesehener Vereinigungen nahmen
teil. Escherich - Tharandt, der erste Vor-
sitzende, sprach einleitend über die Ziele und
Methoden der angewandten Entomo-
logie; es folgten weiter: Ew. H. Rübsaamen,
Leiter der Reblausbekämpfung in Preußen, über
die Maßnahmen und Fortschritte der dortigen
Reblausbekämpfung; L. Orth, leitender Sach-
verständiger der Reblausarbeiten in Franken, über
dasselbe Thema für das fränkische Weinbaugebiet;
K. Born er, Vorstand der Kaiserlichen Versuchs-
station in Villers l'Orme bei Metz, über seine
neuen experimentellen Ergebnisse zur Reb-
lausbiologie; R. Heymons über die ange-
wandte Entomologie in Italien; L. Reh über
den Stand in Deutschland; Aulmann- Berlin
über die koloniale Entomologie; Bolle-Görz
(Ostern Küstenland) in drei Vorträgen über
Museal Schädlinge, Seidenraupenzucht und
Seuchen der Seidenraupen und die biologische
Bekämpfung der Maulbeerbaumschildlaus
Diaspis pentagona mit Hilfe künstlich importierter
natürlicher Feinde, vor allem der Schlupfwespe
Prospaltella berlesei; Zander, Vorstand der
K. bayer. Anstalt für Bi e nen forschung in Er-
langen, über die Einrichtungen und Arbeiten seiner
Anstalt; E. Teich mann -Frankfurt über die Er-
gebnisse seiner Studienreise nach Afrika zur Er-
forschung der Tsetsefliege, des bekannten
Überträgers tropischer Seuchen; Haenel, Sach-
verständiger der staatlichen bayerischen Vogel-
schutzkommission, über „angewandte Entomologie
und Vogelschutz"; Pre 1 1 - Tübingen über die
Entwicklung der Raupenfliegen (Tachiniden),
jener wirksamen Schmarotzer landwirtschaftlich
und forstlich schädlicher Raupen. (Solche Unter-
suchungen gehören zu den Voraussetzungen einer
wirksamen „biologischen Bekämpfung"); Arn.
Schul tze über Biologie und wirtschaftliche Be-
deutung wildlebender Seidenspinner in
unseren Kolonien; Jablonowski, Direktor
der ungarischen staatlichen Zentrale für
angewandte Entomologie, über Getreideschäd-
linge. — In der Diskussion bekamen auch die
Vorstandschaftsmitglieder, welche infolge des Stoff-
andranges auf ihre angemeldeten Referate ver-
zichtet hatten, Escherich und Schwan gart,
Gelegenheit über die von ihnen in Aussicht ge-
nommenen Themata: Forstschutz, Biologi-
sche Bekämpfung, das Traubenwickler-
problem, Organisationsfragen, sich zu
äußern. Hiervon, wie von so vielen anderen
N. F. XIII. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
137
dringlichen Fragen, blieb aber das meiste der
nächstjährigen Versammlung vorbehalten, die auf
freundliche Einladung des „Deutschen Pomologen-
vereins" in Eisenach stattfinden soll. An die
Verhandlungen schloß sich eine Exkursion in
das fränkische Reblausgebiet bei Iphofen.
In den Geschäftssitzungen wurde u. a. die
Einrichtung spezieller Ausschüsse zur
Behandlung von Einzelaufgaben beschlossen: für
Organisationsfragen der angewandten Entomologie,
— Wein-, Obst- und Gartenbau, — Feldbau, —
Forstschutz, — Koloniale F'ntomologie, — Medi-
zinische Entomologie, — Zucht von Nutzinsekten.
Besonders ermutigend war es, daß zu einem
geplanten Fonds für Studienreisen schon vor der
ersten Jahresversammlung namhafte Beiträge ge-
zeichnet waren.
Die „Verhandlungen" der Deutschen Ge-
sellschaft für angewandte Entomologie erscheinen
demnächst im Druck und werden einer neu-
gegründeten „Deutschen Zeitschrift für
angewandte Entomologie" (Schriftleitung:
Escherich und Schwangart, Verlag P. Parey-Berliii)
angegliedert, in der die Grundsätze walten werden,
die ich in vorstehender Skizze klarzulegen ver-
sucht habe.
Einzelberichte.
Chemie. Über die optischen Eigenschaften von
kristallisiertem Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff,
Argon und anderen Stoffen berichtet eine sehr inter-
essante Mitteilung von VValter Wahl in der
Zeitschr. f physik. Chem. Bd. 84, S. 101 und 112
(1913). Für die Versuche benutzte der Verfasser
optische Dünnschliffe, die er bei der Kristallisa-
tion der zur Untersuchung gelangenden Stoffe
zwischen zwei parallel stehenden polierten Quarz-
plättchen mit einem Zwischenraum von 0,05 mm
an aufwärts durch Kühlung mit flüssiger Luft ge-
wann und im Polarisationsmikroskop untersuchte.
Es ergab sich, daß Wasserstoff, Stickstoff, Argon
und Methan regulär, Sauerstoff hexagonal, Athyl-
äther rhombisch, Äthylalkohol, Aceton, Methyl-
alkohol und Schwefelkohlenstoff monoklin oder
triklin kristallisieren. Sauerstoff und Äthylalkohol
erstarren bei der Abkühlung ähnlich wie ge-
wisse Silikate und Borate in der Regel glasartig,
können jedoch der Sauerstoff leicht, der Äthyl-
alkohol weniger leicht und erst durch Anwendung
besonderer Kunstgriffe, so durch Reiben der halb-
weichen Alkoholgallerte mit einem Draht, auch in
Kristallen erhalten werden. Sauerstoff und Methyl-
alkohol kommen in zwei, im Verhältnis der
Enantiotropie zueinander stehenden, d. h. durch
Temperaturerniedrigung oder Temperaturerhöhung
reversibel ineinander umwandelbarcn Modifika-
tionen vor. Mg.
Physik. Radioaktivität der Atmosphäre. Die
Herkunft des Radiums und seiner Abkömm-
linge aus der Pechblende, wie sie besonders
stark radioaktiv in Joachimsthal gefunden wird,
sowie ihr Vorkommen in einigen Mineralquellen
ist wohl allgemein bekannt, weniger dagegen,
daß man diese seltenen Stoffe auch in der Erd-
atmosphäre vorfindet. Ihre Menge ist natürlich
nur sehr gering, was ja leicht erklärlich ist, wenn
man bedenkt, daß die gesamte bisher gewonnene
reine radioaktive Substanz sich überhaupt nur auf
einige Gramm beläuft. Ehe wir uns nun mit den
äußerst interessanten Tatsachen und den Ver-
suchen, die zwecks Auffindung dieser Stoffe in
der Atmosphäre angestellt wurden, beschäftigen,
möchte ich einige Bemerkungen aus der Lehre
der Radioaktivität vorausschicken. Zunächst sei
erwähnt, daß alle radioaktiven Stoffe die Luft
ionisieren, d. h. die Leitfähigkeit der Luft für
Elektrizität wesentlich erhöhen. Eine weitere
Wirkung auf die Umgebung haben wir in der
sog. induzierten Radioaktivität vor uns. Sämt-
liche Stoffe in der Umgebung werden nämlich
durch Übertragung mehr oder minder radioaktiv,
doch verschwindet dieser Zustand wieder nach
einiger Zeit. Der Eigenschaft der Induktions-
fähigkeit zufolge begegnen wir überall in der
Atmosphäre den Wirkungen der Radioaktivität,
die sich besonders durch die erhöhte Leitfähig-
keit kundtut. L^nd dies war auch der Ausgangs-
punkt für die Untersuchungen, die besonders die
beiden Physiker Elster und G e i t e 1 in Wolfen-
büttel zwecks Auffindung radioaktiver Substanzen
in der Atmosphäre anstellten (Phys. Zeitschrift i,
p. 96 und 5, p. II, 1904).
Gelegenilich einer experimentellen Erforschung
der Ionisation der Luft fanden die beiden Forscher,
daß der lonisationsgrad der Luft abnimmt, je
länger sie sich unter der Versuchsglocke, die ein
Elektrometer enthielt, befindet. Diese Tatsache
ändert sich selbst bei künstlich staubfrei gemachter
Luft nicht. Ein Mittel, die erhöhte Ionisation der
freien atmosphärischen Luft zu erklären, bot sich
in der Annahme, daß die Luft eine Art radio-
aktiver Substanz enthält. Auch das Sinken des
lonisationsgrades ergab sich folgerichtig aus dieser
Vermutung. Denn die eventuell wirksamen Stoffe
müssen der umgebenden Luft ihre Aktivität mit-
teilen. Diese induzierte Luft verliert aber, wie
der große englische Radiumforscher Rutherford
kurz zuvor gefunden hatte, in einiger Zeit die
^Aktivität (Phil. Mag. Dez. 1902). Es war somit
Grund genug vorhanden, das Vorhandensein radio-
aktiver Stoffe in der freien Luft anzunehmen.
Schwierig war es nur, ihr Dasein durch weitere
Analogien hinreichend zu beweisen. Um dies
experimentell durchzuführen, mußten die radio-
aktiven Produkte gesammelt werden, da bei der
138
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
großen Verdünnung in der Luft ein genauer Nach-
weis sehr schwer möglich ist. Diese Stoffe,
besonders die Radiumemanation, die als Gas
hauptsächlich in Betracht kommt, anzuhäufen, bot
sich eine Möglichkeit insofern, als sie vermittels
stark negativ elektrischer Drähte aufgefangen
werden können, da sie selbst ja positive elektrische
Ladung besitzen. Durchgeführt wurden diese Ver-
suche folgendermaßen. Lange iVletalidrähte, die
frei aufgespannt waren, wurden stundenlang auf
ein sehr hohes negatives Potential gehalten, dann
auf einer Rolle aufgewickelt und nun unter die
Glocke, die ein E.lektrometer enthielt, gestellt.
So war es möglich, die durch die am Drahte
haftenden Emanationsprodukte erhöhte Ionisierung
der Luft unter der Glocke deutlich und gut meß-
bar nachzuweisen. Man kann auch durch Ab-
reiben des Drahtes mittels feuchten Tuches die
aktiven Stoffe auf einen kleinen Raum konzen-
trieren und dadurch den Effekt erhöhen. So ist
es den beiden Gelehrten gelungen, mit den auf
diese Art gewonnenen Stoffen auch photographische
Wirkungen zu erzielen, was als ein neues Beweis-
mittel für die Identität dieser Stoffe mit den radio-
aktiven Substanzen anzusehen ist.
Die Experimente, wozu zuweilen, um auch die
höhere Atmosphäre untersuchen zu können,
Drachen und Ballons als Träger der Drähte ver-
wandt wurden, erwiesen sich in ihren Erfolgen
stets als äußerst abhängig von der gesamten
Witterungslage; der nähere Zusammenhang ist •
aber noch nicht hinreichend ergründet. Da ferner
die Stärke der Radioaktivität mit der Höhe be-
trächtlich abnimmt, so hat man zunächst ange-
nommen, daß die Radioaktivität ihren Sitz in der
Erde habe. Dies wurde auch durch Versuche
mit Luft, die der Erde entnommen war, bestätigt.
Weiterhin gab diese Tatsache Anlaß dazu, die
LIntersuchungen auf verschiedene Gegenden
Deutschlands und der Schweiz auszudehnen, um
so eine mögliche Abhängigkeit von der geo-
graphischen Lage festzustellen.
Zunächst war es nun aber hierzu nötig, ein
vergleichbares Maß der Aktivität zu besitzen. Da
die Geschwindigkeit der Entladung eines Elektro-
meters proportional der Ionisierung und damit
auch der Aktivierung ist, so schlugen Elster
und Geitel die Potentialerniedrigung, die ein
Draht von einem Meter Länge in einer Stunde
hervorbringt, als Aktivierungszahl A vor (Phys.
Zeitschr. -i, 96, 1903).
Auf Anregung der beiden Forscher hin wurde
nun die Abhängigkeit der Zahl A von den ver-
schiedenen geographischen Lagen genau erforscht.
Um einigermaßen vergleichbare Werte zu erhalten,
müssen diese Versuche über eine größere Zeit-
spanne hin ausgedehnt werden, da sonst Zufällig-
keiten in der Witterung die Resultate zu sehr
beeinflussen würden. In Fällen, wo dies geschah,
bemerkte man, wie z. B. Simpson in Karasjok,
eine deutlich hervortretende jährliche Periode, die
vermutlich auch an anderen Orten besteht. Nun
ist zwar bei diesen Bestimmungen von A in keiner
Weise die Natur der radioaktiven Stoffe, die sich
am Drahte ansammeln, berücksichtigt worden,
und dies ist, wie wir weiter unten sehen werden,
von Wichtigkeit für die Deutung dieser Versuche.
Immerhin ergibt sich aber aus den bisher vor-
liegenden Versuchen deutlich, daß der Gehalt an
aktiven Stoffen allmählich abnimmt, wenn man
von der Nordsee aus nach den Alpen zu fort-
schreitet. Dieselbe Verteilung über den ver-
schiedenen Höhenstufen des Kontinents geht auch
aus Versuchen von Simpson (Proc. Royal So-
ciety 73, 209, 1905 und Phys. Zeitschr. C, 270,
1905) hervor, der in Hammerfest bei seinen
Untersuchungen feststellte, daß der Wind, der
vom Festlande kam, weniger Aktivität zeigte
als der von der Küste.
Wir haben bisher nur beiläufig erwähnt, daß
Radiumemanation unter anderen Stoffen in der
Atmosphäre wirksam ist, sonst aber nur das Vor-
kommen radioaktiver Erscheinungen in der Atmo-
sphäre besprochen. Es ist nunmehr angebracht,
die Frage nach der genaueren Natur jener Sub-
stanzen zu prüfen, auf deren Anwesenheit in der
Luft wir diese Erscheinungen zurückzuführen
Ilaben. Daß wir es hier nur mit gasförmigen
Produkten, den sog. Emanationen, hauptsächlich
zu tun haben, ist wohl selbstverständlich, da die
festen Stoffe nicht dauernd in der Atmosphäre
bleiben können. Das Material wiederum, das sich
auf den Drähten niederschlägt, ist fest. Es rührt
von dem Zerfall der Emanationen her, deren Halb-
wertszeit, das heißt die Zeit, in der sie die Hälfte
ihrer Wirksamkeit verloren haben, sehr kurz ist,
so daß wir hauptsächlich nur ihre Zerfallsprodukte
erhalten. Daß der Erde nur Emanationen ent-
weichen können, geht aus folgender Tatsache her-
vor. Rutherford u. a. haben nämlich gezeigt,
daß die Emanation zwar infolge von Diffusion
überall hingelangen kann, ihre Zerfallsprodukte
aber schon durch äußerst poröse Filter wie Watte
oder Glaswolle zurückgehalten werden. Die Um-
wandlungsprodukte, die wir in der Atmosphäre
vorfinden, müssen infolgedessen ausschliel31ich das
Ergebnis des Zerfalls jener Emanationen sein, die
früher der Erde entströmt sind.
Zur Erläuterung des Nachstehenden sei noch
erwähnt, daß die Emanationen nur a-Strahlen
aussenden, die aus positiv geladenen Zerfalls-
produkten bestehen. In der nachfolgenden Tabelle
sind die bekannten radioaktiven Substanzen ein-
getragen, die in der Luft vorhanden sein können ;
jedem sind die Strahlenarten, die es aussendet,
die Reichweite der a-Strahlen in Luft, sowie die
Halbwertszeit hinzugefügt.
Die Hauptrolle spielen natürlich, wie schon oben
erwähnt, die drei Emanationen, von denen die
beiden letzten infolge ihrer sehr kurzen Halb-
wertszeit hinter der Radiumemanation zurück-
treten. Wenn wir also an die Prüfung der radio-
aktiven Substanzen, die wir in der Atmosphäre
vorfinden, herantreten, müssen wir vor allen
N. F. XIII. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
139
Name des Produkts
Strahlen-
arten
Reich-
weite der
«-Strahlen
Halb-
wertszeit
Radiumemanation (gasf.)
a
4,23 cm
3,85 Tage
Radium A (fest)
a
4,83 .,
3 Min.
Radium C (fest)
", ß, y
7,06 „
19.5 „
Radium F (fest)
n
3,86 „
136 Tage
Thoriumemanation (gasf.)
ft
5.5 ..
53 Sek.
Thorium A (fest)
a
f
0,14 „
Thorium C (fest)
a, ß
8,6 cm
60,5 Min.
Aktiniumemanation (gasf.)
a
f
3,9 Sek.
Aktinium B (fest)
a
?
2,15 „
Dingen die Natur der Emanation in solcher Luft
besprechen, die sich in der Tiefe der Erde und
in den kapillaren Gängen des Erdreichs befindet;
denn von ihr gehen jene Wirkungen aus und
pflanzen sich durch die ganze Atmosphäre fort,
wobei sie selbstverständlich mit der Höhe ab-
nehmen. Die Versuche mit P>dluft ergaben nun
viele Analogien mit der Radiumemanation. Zu-
nächst nahmen Elster und Geitel die gleiche
Zerfallszeit wahr durch Messung der Ab-
nahme der lonisierungsfahigkeit und stellten eine
Halbwertszeit von 3,3 Tagen fest; ferner konnten
sie mit der Bodenluft dieselben Induzierungs-
erscheinungen hervorrufen wie mit Radiumemana-
tion (vgl. G. A. Blanc im Jahrb. d. Radioakt. u.
Elektronik VI, 1909). Einen weiteren Beweis für
die Identität der beiden Stoffe lieferte der gemein-
same Siedepunkt, der etwas höher als der der
Luft liegt. Läßt man nämlich die aus der Erde
gesogene Luft kondensieren und wieder ver-
dampfen, so bleibt anfänglich ein Kondensations-
produkt zurück, das sehr starke Radioaktivität
zeigt.
Die oben genannten gasförmigen Produkte
sind nun sehr gut löslich in Wasser. Sie finden
sich daher sehr viel in den Mineral- und Thermal-
quellen. In Spuren muß besonders die Radium-
emanation auch in jedem Brunnenwasser enthalten
sein, wo man ihr Vorhandensein auch schon
nachgewiesen hat. Schließlich finden sich diese
Emanationen sehr viel in den Gasen, die der
Erde an einigen Stellen entströmen. In allen
diesen Fällen hat man besondere Anzeichen dafür
gefunden, daß die Erscheinungen zum großen
Teile auf die Anwesenheit der Radiumemanation
zurückzuführen sind.
Wie es leicht erklärlich ist, stellen diese eben-
berührten Fälle Quellen dar, denen die Atmo-
sphäre stets neue Mengen von Emanation ent-
nimmt. Daß diese Stoffe so verbreitet in der
Luft vorkommen, erklärt sich aus dem Umstände,
daß das Radium in fast allen Gesteinen, vulkani-
schen wie sedimentären, in merklichen Spuren
anzutreffen ist. Die Emanation dieses Radiums
verbreitet sich auf den oben erörterten Wegen
in der Atmosphäre und unterliegt dort dem all-
mählichen Zerfall , wobei alle obenangeführten
Umwandlungsprodukte des Radiums der Reihe
nach erzeugt werden.
Weit schwieriger wegen des schnellen Zerfalls
ist der Nachweis der anderen radioaktiven Sub-
stanzen. Das Vorhandensein der Thoriumemana-
tion kann man aus dem Vorkommen des Radio-
thors, eines ziemlich langlebigen Zerfallsproduktes
des Thoriums, in dem Schlamm einiger Quellen
schließen. Der direkte Nachweis ist in neuerer
Zeit auch gelungen und zwar auf demselben
Wege, wie er oben beim Radium beschrieben ist.
Ähnlich gelang auch der Beweis für das Vor-
kommen der Aktiniumemanation und ihrer Zer-
fallsprodukte in der Atmosphäre, jedoch nur unter
großen Schwierigkeiten, da sie weit spärlicher an-
getroffen werden wie die des Radiums und
Thoriums. Das ist aber auch darauf zurückzu-
führen, daß die charakteristischen Merkmale dieser
Produkte bei ihrer Kurzlebigkeit noch durch die
gleichzeitig anwesenden stärkeren Radiumzerfalls-
produkte verdeckt werden. Aus der allgemeinen
Verbreitung dieser Aktiniumprodukte in den
obersten Schichten des Erdreichs allein könnte
man schon auf ihr Vorhandensein in der Atmo-
sphäre schließen. Aber es ist auch den Forschern
Elster und Geitel (Phys. Zeitschr. 5, 1904, 11)
gelungen, diese Stoffe direkt aus der Pflanzenasche
und Pflanzenerde von Capri abzuscheiden.
Was die Verteilung der in obiger Tabelle an-
geführten Substanzen innerhalb der Atmosphäre
anbetrifft, so läßt sich darüber kein allgemein
gültiges Urleil abgeben. An windstillen Tagen
werden sich in der Nähe des Bodens die Emana-
tionen aller radioaktiven Stoffe aufhalten, be-
sonders am Boden die des Thoriums und Aktiniums,
da sie die Neigung haben, sich an die umgeben-
den Stoffe anzusetzen. Die Radiumemanation
kann wegen ihres langsamen Zerfalls in einer ver-
hältnismäßig ausgedehnten Zone der Atmosphäre
merkliche Wirkungen hervorrufen. An windigen
Tagen werden diese Produkte selbst\'erständlich
in regelloser Weise durcheinander gewirbelt.
Inwieweit die Radioaktivität der Atmosphäre
technisch ausgebeutet werden kann, ist eine Frage
der Zukunft. Alfred Wenzel.
Botanik. Säuregehalt und geotropische Re-
aktion. Man hat gefunden, daß Säuren eine be-
schleunigende Wirkung auf das Wachstum aus-
üben ; als wahrscheinliche Ursache davon wird die
erhöhte Fähigkeit zur Wasseraufnahme bei den
Kolloiden, spezielldem Protoplasmaangesehen. Nach
Martin H. Fischer geht das relative Wachstum
an der konkaven und an der konvexen Seite eines
sich geotropisch krümmenden Organs mit dem
Säuregehalt parallel. Eva O. Schley hat nun
den Unterschied im Säuregehalt an den beiden
Seiten geotropisch gereizter Organe von neuem
geprüft und dazu etiolische Keimlinge verwendet,
die sie auf Brettern aufrecht wachsen ließ. Wenn
140
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 9
sie 6 — 8 cm groß geworden waren, wurde ein
Teil der Bretter aufgerichtet, so daß die Keim-
linge in einem rechten Winl<el zur Schwerkraft-
richtung standen. Die Untersuchung erfolgte nach
verschieden langer, zwischen 7 Minuten und
48 Stunden liegender Präsentations- und Reaktions-
zeit. Zur Kontrolle wurden auch uiigereizte (auf-
recht wachsende) Keimlinge untersucht; hierzu
wurde der Stamm sowohl in eine rechte und
eine linke Hälfte (in der Ebene der Kotyledonen)
wie in eine vordere und eine hintere Hälfte (im
rechten Winkel zur Ebene der Keimblätter) ge-
spalten. Zur Prüfung der gereizten Keimlinge
wurden diese der Länge nach in eine obere und
eine untere Hälfte zerlegt. Die Säurebestimmung
wurde an dem 4,5 cm langen Endstück des Keim-
lings vorgenommen. Wie nämlich schon früher
festgestellt worden war und von Eva Schley
von neuem bestätigt wurde, ist der Säuregehalt
an der Spitze am größten und nimmt von dort
nach der Basis zu ab. In dem aus den zerriebenen
Keimlingen z. T. durch Ausziehen mit Wasser
erhaltenen Saft wurde die Säure durch Titrieren
bestimmt, wobei in einigen Versuchen Phenol-
pthalein als Indikator diente. In anderen Ver-
suchen machte sich die Verf den Umstand zu-
nutze, daß in der Flüssigkeit selbst bei Neutrali-
sierung ein Chromogen entsteht, so daß ein Farb-
wechsel hervorgerufen wird, der als Indikator be-
nutzt werden kann. PIs ergab sich, daß die rela-
tive Azidität der beiden Hälften des geotropisch
gereizten Keimsprosses im Verlaufe der Präsen-
tations- und Reaktionszeit Veränderungen zeigt.
Zuerst wird die obere Seite verhältnismäßig saurer,
dann nimmt der Säuregehalt dort ab, bis sein
Maximum auf der Unterseite liegt. Zur Zeit der
sichtbaren Reaktion zeigen dann beide Seiten so
gut wie gleichen Säuregehalt. Das bleibt so, bis
die Spitze des Keimlings durch die \'ertikalebene
gegangen ist, worauf die konkave Seite wieder
saurer wird. Mit der Geradestreckung des Keim-
lings nimmt die Differenz im Säuregehalt von
neuem ab. Die Zunahme der Azidität geht also
mit der Wachstumsgescliwindigkeit der beiden
Hälften nicht parallel. (The ßotanical Gazette
191 3, vol. 56, p. 480—489.) F. Moewes.
Eisen und Pflanzenwachstum. Den vielbehan-
delten Einfluß des Eisens auf die Entwicklung der
Pflanze und die Frage, ob es durch Chrom oder
Nickel vertreten werden kann, hat neuerdings
J. Wolff in hübschen Versuchen mit Gerste ge-
prüft. Nach dem von P. Maze angegebenen
Verfahren wurden die Samen zuerst mit einem
sterilen Gemisch von Wasser und Sand lebhaft
umgerührt, in sterilem Wasser gewaschen, 5 bis
10 Minuten mit Sublimatlösung (i "/,,(,) behandelt
und nochmals gewaschen. Zugleich wurde eine
Reihe großer, mit sehr verdünnter Bierwürze ge-
füllter Probiergläser, die mit einem Wattepfropf
verschlossen waren, sterilisiert. Dieser wurde
dann nebst einem darauf . gelegten Gerstenkorn
in das Probierglas hinabgeschoben, bis er in die
Flüssigkeit eintauchte. Nachdem die Samen so
aseptisch gekeimt hatten, wurden die Keimpflänz-
chen auf eine nach Maze hergestellte sterilisierte
Nährlösung überführt, die u. a. 0,1 g kristallisiertes
Eisensulfat im Liter enthielt. Nach der Über-
führung erfährt die Entwicklung der Pflanzen zu-
nächst eine .Stockung, die 10 — 12 Tage dauert;
dann tritt normales Wachstum ein, die Blätter
werden tiefgrün, und nach 8 Wochen bildet sich
die erste Ähre. Daneben wurden Pflanzen in der
gleichen Nährlösung gezogen , aus der nur das
Eisen weggelassen war. Auch hier wurde zuerst
die erwähnte Stockung, dann ein Wachstum der
Wurzeln und des Stengels beobachtet, aber bald
machte sich das Fehlen des Eisens in der weniger
raschen Entwicklung der Pflanze und dem Bleich-
werden der Blätter bemerklich. Das Trocken-
gewicht der mit Eisen ernährten, 6 Wochen alten
Pflanzen war 3 — 3V2 rnal so groß als das der
gleichaltrigen eisenfrei erzogenen.
Ersetzt man das Eisensulfat durch Nickelsulfat
oder Kaliumchromat in günstiger Dosis, so ent-
wickeln sich die Pflanzen nicht , sondern sterben
ab. Beobachtet man die Wirkung der drei Salze,
wenn jedes in der geringen Menge von 0,02 g
im Liter, vorhanden ist, so ergibt sich folgendes:
Das Eisen begünstigt die Entwicklung der Gerste
in ausgesprochener Weise, und die Pflanze kommt
zur Reife. Das Chrom begünstigt in den ersten
vier Wochen die Entwicklung der Pflanze, und
besonders die Wurzeln erreichen außerordentliche
Größe; dann wird die Pflanze chlorotisch und
geht langsam ein. Das Nickel hindert selbst in
dieser geringen Menge jede Entwicklung der
Pflanze. (Die toxische Wirkung des Nickels hatte
man schon früher beobachtet.) Das Eisen ist also
durch die verwandten Metalle Chrom und Nickel
nicht ersetzbar. Es wirkt schon in äußerst kleinen
Mengen nach der Art eines Katalysators. (Comptes
rendus 191 3, 157, p. 1022.) F. Moewes.
Astronomie. Die veränderlichen Sterne vom
Typus des Sternes (5 Cephei, der seit 1784 als sol-
cher bekannt ist, bilden eine scharf charakterisierte
Gruppe für sich. Die Veränderung der Hellig-
keit geht ganz regelmäßig vor sich. P'ür d Cephei
zwischen der 3,62. und 4,27. Größe. Die Hellig-
keitszunahme dauert i Tag 14 Stunden 59 Min.,
die Abnahme 3 Tage 17 Stunden 49 Min., der
ganze Lichtwechsel genau 5 Tage 8 Stunden
47 Min. 35,8 Sek. Es scheint, daß wie Luizet
zeigt, innerhalb der letzten 100 Jahre sich die
Lichtkurve ein wenig verändert, so daß in der
Nähe des Maximums der Lichtwechsel schneller,
und langsamer in der Nähe des Minimums vor
sich geht. Die Cepheiden liegen alle in der Nähe
der Milchstraße, haben sehr enge Bahnen und
eine Umlaufszeit gleich der Dauer des Licht-
wechsels. Bei der Schwäche mancher Cepheiden
ist eine Messung der Spektrallinien nach dem
Doppler'schen Prinzip nicht angängig, so daß
N. F. XIII. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
141
Luizet versucht, nur die Liclitkurven zu benutzen,
um die Bahnelemente abzuleiten. Er nimmt
ferner eine schon von anderer Seite aufgestellte
Hypothese zu Hilfe, daß nämlich der Hauptstern
sich in einem widerstehenden Mittel bewege. Die
Reibung in diesem Mittel muß dann den Teil des
Sternes erhellen, der gerade gegen das Mittel ge-
richtet ist, und es zeigt sich, daß die Zeiten des
hellsten Glanzes zusammenfallen mit den stärksten
Bewegungen in der Gesichtslinie. Wenn also die
Veränderlichkeit der Geschwindigkeit in der Ge-
sichtslinie abhängt von der Lage der Bahn gegen
den Beobachter, so muß dies für die Helligkeits-
schwankungen auch der Fall sein. Auf diese
Weise gelingt es nun, die wichtigsten Elemente
der Bahn abzuleiten, bis auf die Neigung der
Bahn gegen das Himmelsgewölbe und die Größe
der halben großen Axe. Aus den Spektral-
messungen der hellen Sterne ist aber abzuleiten,
daß die Bahn eines Cepheiden 30 — 40 mal kleiner
ist als die Merkurbahn , also etwa 5 mal größer
als die Mondbahn, daß ferner die Massen der
Sterne von der Ordnung der 4 — lofachen Jupiter-
masse sind, und daß trotz dieser Kleinheit ihr
Glanz größer ist als der der Sonne. Die Dichtig-
keiten sind sehr gering, und infolgedessen sind
die Dimensionen der Sterne erhebliche Teile ihrer
Bahnen, so daß durch die gegenseitige Gezeiten-
wirkung beide Körper etwas gegeneinander in
die Länge gezogen sein müssen. Ferner ist der
Einfluß des widerstehenden Mittels auf den Haupt-
körper sehr genau untersucht, und eine allgemeine
Formel für alle Cepheiden aufgestellt, die den
Glanz im Maximum und Minimum mit zwei Win-
keln in die Bahnbewegung verbindet. Die gute
Übereinstimmung zwischen Theorie und Beobach-
tung für alle Cepheiden zeigt, daß das Wesen
dieses Typus richtig erkannt ist. Da ferner mit
zwei Ausnahmen das Maximum kurz nach dem
Durchgang des helleren Sternes durch das Peria-
stron stattfindet, dieses aber von der Lage gegen
den Beobachter abhängt, so ergibt sich die merk-
würdige Tatsache, daß die Cepheiden aus einem
unbekannten Grunde in einer ganz bestimmten
Weise im Räume orientiert sind. [Bull. soc. Astro-
nom, d. France, 191 3, S. 218.]
Über Doppelsterne, die infolge ihrer Bahnlage
sich bei jedem Umlauf bedecken und infolgedessen
uns als Veränderliche erscheinen, hat Harlow
Shapley folgende bemerkenswerte Ergebnisse
erzielt. Er untersucht die sehr genauen photo-
metrischen Messungen von 87 solchen Systemen,
und findet zunächst, daß je besser die photo-
metrischen Messungen sind, um so besser wird
die Veränderung der Helligkeit durch die Theorie
dargestellt. Irgendwelche Unregelmäßigkeiten in
den Lichtkurven pflegen mit zunehmender photo-
metrischer Genauigkeit zu verschwinden, herner
ist deutlich aus den Beobachtungen zu entnehmen,
wie der entferntere Stern sich verdunkelt, wenn
er sich dem Rande der Scheibe des anderen
nähert, ein Beweis für die Existenz einer absor-
bierenden Atmosphäre. Daraus geht dann hervor,
daß auch der schwächere der beiden Sterne selbst
leuchtend ist, wenigstens ist in den hier unter-
suchten Fällen kein Beispiel dafür vorhanden, daß
der eine der beiden Sterne dunkel sein müßte.
Weiterhin sind Beziehungen aufgesucht worden
zwischen den relativen Dichten der Steine und
den Spektren der Sterne vom ersten Typus. Hier
scheint eine mittlere Dichtigkeit zu herrschen,
während beim zweiten Typus zwei sich deutlich
unterscheidende Gruppen vorhanden sind, zwischen
denen die Dichtigkeit des ersten Typus liegt.
Diese beiden Gruppen sind offenbar in ausge-
sprochenem Maße identisch mit den beiden Klassen
der Sterne vom zweiten Typus, deren außerordent-
lich verschiedene Leuchtkraft von Hertzsprung
und Russell untersucht worden ist. Und zwar
sprechen die Tatsachen für die Richtigkeit der
Annahme, daß die Unterschiede der Leuchtkraft
vor allem durch die sehr verschiedenen Dichtig-
keiten verursacht sind. [Astrophys. Journal 1913,
September.]
Ein eigentümliches Verhalten der Spektral-
linien hat B e 1 o p o 1 s k i bei « Canum Venaticorum
gefunden. Aus 67 Spektrogrammen, die er mit
dem großen 30-Zöller und einem Dreiprismen-
Spektrograph aufgenommen hat, und die mit
einem Vergleichsspektrum des Eisens verglichen
sind, so daß eine hohe Genauigkeit in den Mes-
sungen liegt, ergibt sich für eine Anzahl Linien
eine Schwankung ihrer Dicke in einer Periode
von 5,5 Tagen, also der Umlaufszeit des Systems.
Andere Linien schwanken in der gleichen Periode,
aber im entgegengesetzten Sinne, indem sie
schwächer werden, wenn die ersten dicker werden
und umgekehrt. Andere Linien, wie die des H,
Mg, Fe, Ca, zeigen wenig oder gar keine Ver-
änderungen. Die Messungen nach dem Doppler-
schen Prinzip, die die Bewegungen in der Ge-
sichtslinie ergeben, zeigen für gewisse Linien keine
Veränderungen, die von der 5,Stägigen Periode
abhingen, während andere Linien dies tun. Dies
widerspruchsvolle Verhalten glaubt Belopolski
an besten dadurch erklären zu können, daß er
einen gasförmigen Begleiter annimmt, oder einen
Gasring, der sich rings um den Zentralkörper be-
wegt. Es bleiben aber noch unerklärte Schwierig-
keiten übrig, für die das erklärende Material von
der Zukunft zu erwarten ist. ;Astr. Nachr. 4681.]
Riem.
142
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr. 9
Kleinere Mitteilungen.
Tuberkulosebehandlung. Über die Zusammen-
setzung und die Art der Anwendung seines Ver-
fahrens hat P'riedmann (Indikationen zur An-
wendung des Dr. Friedrich Franz Friedmann'schen
Heil- und Schutzmittels zur Behandlung der
Tuberkulose und Skrofulöse, Berlin, klin. Wochen-
schrift Nr. 44; sowie „Über das Dr. Friedmann-
sche Heil- und Schutzmittel zur Behandlung der
Tuberkulose und Skrofulöse", Berlin, klin. Wochen-
schrift Nr. 45) Mitteilung gemacht.
Nachdem F. dort seiner Überzeugung Aus-
druck gegeben hat, daß es auch heute noch
besser wäre, das Mittel nur eingeweihten Ärzten
in die Hände zu geben, hält er es aber doch
nunmehr für seine Pflicht, „dem immer größer
werdenden Ansturm, dem immer lauter werden-
den Wunsche nachzukommen 1 Ich gebe daher
mein Mittel den deutschen Ärzten frei."
Das klingt sehr schön, und ich hätte nun
eigentlich alle Ursache mein Schlußurteil über
das von F. eingeschlagene Verfahren zu mildern,
aber bei näherer Betrachtung ist man eigentlich
auch jetzt immer noch im unklaren darüber, auf
welche Art gewinnt denn F. seine lebenden
Schildkrötentuberkelbazillen ? Er macht darüber
nur die etwas aphoristische Bemerkung, daß sie:
„nach einem ganz besonderen \'erfahren (sehr
lange fortgesetztes Umzüchtungs- bzw. Passagever-
fahren) hergestellt sind". Im übrigen wird die
zu einer Einspritzung erforderliche Bazillenemulsion
von einer hiesigen pharmazeutischen P"abrik her-
gestellt, und der Arzt erhält sie fertig zum
Einspritzen ausgeliefert. Man hatte nun früher
immer den Eindruck, als F. nicht mit dem neuen
Mittel in die Öffentlichkeit wollte, als ob die
technischen Schwierigkeiten, das Mittel herzustellen,
so bedeutende wären, daß er es nicht verant-
worten konnte, es der Allgemeinheit auszuliefern.
Um so erstaunter ist man jetzt, wenn man er-
fahren muß, daß der Arzt selbst mit der Her-
stellung nicht das geringste zu tun hat, sondern
sich nur an die angegebenen Richtschnuren zu
halten braucht, um das neue Mittel wie jedes
andere zu injizieren. Wäre das nicht schon vor
*/2 Jahre möglich gewesen? Hätten sich nicht
schon damals wohl ausnahmslos sämtliche Kliniken
Deutschlands bereitwillig geöffnet, das neue Mittel
auszuproben? Warum also dieser Umweg über
Amerika von einem d e u t s c h e n I'orscher ? Also
mag der Wert des neuen Mittels sein, wie er
wolle — so hervorragend wie immer behauptet,
sind scheinbar bis jetzt allerdings die Erfolge
immer noch nicht einwandfrei festgestellt — die
Amerikareise wird auch in Zukunft unverständlich
bleiben.
Über die Erfolge des neuen Mittels werde ich,
sobald allgemeinere Beobachtungen vorliegen
werden, des näheren berichten.
Dr. med. Carl Jacobs.
Die Billiter-Kerze. — Ungefähr vor 40 Jahren
konstruierte Jablochkoffeine Bogenlampe ohne
Reguliermechanismus, indem er zwei parallele
Kohlenstäbe durch eine dazwischen gestrichene
dünne Gipsschichte verband. Diese Kerzen zündeten
aber nach dem Ausschalten des Stromes beim
Wiedereinschalten nicht, daher wurden leitende
Materialien zu der aus Gips oder ähnlichen Stoffen
hergestellten Mittelscliichle beigemischt. Der ge-
wünschte Erfolg trat aber nicht ein, weil die
Mittelschichte entweder zu schlecht oder zu gut
leitend war. Im letzteren Falle schmolz die Masse
heraus. Für brauchbare Kerzen muß die Mittel-
schichte folgenden Bedingungen entsprechen :
I. darf sie von Natur aus nicht leitend sein, da
sonst der elektrische Strom direkt durchfließen
und sie zum Glühen bringen würde; 2. soll sie
bei hoher Temperatur durch Berührung mit dem
Lichtbogen eine ganz bestimmte Leitfähigkeit er-
reichen; geringe Erhitzung muß ohne Einfluß
sein ; 3. die einmal erreichte Leitfähigkeit darf
arrf keine Weise verloren gehen, da sonst eine
Wiederzündung der Kerzen unmöglich vi'äre;
4. die Mittelschichte muß infolge der starken Er-
hitzung, die beim Einschalten des elektrischen
Stromes eintritt, leitende Dämpfe abgeben, durch
welche sofortige Lichtbogenbildung bewirkt wird;
5. muß sie guten Kontakt mit den Kohlen haben
und auch dauernd beibehalten, ferner muß sie
unempfindlich sein gegen große Temperatur-
sprünge; 6. die einmal leitend gewordene Masse
muß einen sehr hohen Temperaturkoeffizienten
der elektrischen Leitfähigkeit besitzen, damit die
Zündspannung nur wenig höher liegt als die
Brennspannung; 7. darf die die Mittelschichte
bildende Masse nicht zu teuer sein, weshalb die
Edelmetalle von der Verwendung ausgeschlossen
sind.
Bei der Billiter-Kerze ist die Mittelschicht aus
folgenden Bestandteilen zusammengesetzt: a) aus
einem Metalloxyd (z. B. TiO., u. a.), welches durch
hohe Erhitzung in Gegenwart eines Reduktions-
mittels den elektrischen Strom leitende Verbin-
dungen gibt; b) aus einer Trägersubstanz; c) einem
Reduktionsmittel (z. B. Kohlen- oder Graphit-
pulver); d) einem geeigneten Bindemittel.
Für die erste Zündung wird an dem Brennende
der Kerze eine leitende Schichte zwischen den
beiden Elektroden hergestellt. Für die späteren
Zündungen bildet sich diese Brücke von selbst.
Das Einschalten der Kerze geschieht folgender-
maßen: Zunächst erhitzt sich die Brücke infolge
Stromdurchganges, und wegen des sehr hohen
Temperaturkoeffizienten der elektrischen Leit-
fähigkeit steigt die Siromstärke und somit auch
die Temperatur sehr rasch, so daß in kürzester
Zeit die Brücke zum Glühen, Schmelzen und Ver-
dampfen kommt. Die hierbei entstehenden leiten-
den Dämpfe rufen die Bildung eines Lichtbogens
hervor, der sich unter dem Einflüsse elektro-
N. F. Xin. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
143
magnetischer Kräfte rasch an die Spitze der
Kerze begibt und dort ruhig weiterbrennt. Durch
die Brücke geht nur noch ein minimaler Teil des
Stromes hindurch, da sie bis auf eine dünne
Schichte verdampft und ihr Widerstand durch
Abkühlung infolge Entfernung des Bogens ge-
stiegen ist. In dieser Weise zünden die Kerzen
bis zu ihrem gänzlichen Abbrande beliebig oft.
Die BilliterKerzen brennen in jeder beliebigen
Lage und eignen sich für rasch herzustellende
billige Intensivbeleuchtung. R. D.
Bücherbesprechungen.
Von der Karte der nutzbaren Lagerstätten
Deutschlands im Maßstabe i : 200000 ist die
Lieferung VI, Oberschlesien, enthaltend
die Blätter ()ls, Landsberg, Brieg, Lublinitz, Ratibor,
Beuthen, Hultschin, Pleß, zwei Ergänzungsblätter
zu Blatt Beuthen und Pleß und vier Beilageblätter
im Maßstabe i : 100 000, bearbeitet von Bergassessor
Dr. Kurt Flegel, herausgegeben von der Königlich
Preußischen Geologischen Landesanstalt zu Berlin,
erschienen. Um ein möglichst einfaches und klares
Bild der Lagerungsverhältnisse des oberschlesischen
Steinkohlenbezirkes zu geben, sind die einzelnen
Flözstufen, und zwar die Ostrauer-, Sattelflöz-,
Rudaer- und Laziskerschichten meistens nur durch
ein Flöz in einem bestimmten Niveau zur Dar-
stellung gelangt. Dabei sind die Schichten der
Randgruppe mit einem dunklen Karbonton von
denen der Muldengruppe mit einem helleren Ton
unterschieden. Von den sehr zahlreichen Bohrungen
sind nur die wichtigsten durch konzentrische Kreise
in der Farbe der durchbohrten Flözstufen einge-
tragen worden. Die in zwei Horizonten des
Muschelkalks abgelagerten Blei- und Zinkerze,
sowie die in Taschen des Muschelkalks vorkom-
menden Eisenerze sind in einer Projektion auf die
Erdoberfläche in verschiedenen Farben zur Dar-
stellung gelangt. Im übrigen gibt das Kartenwerk
Aufschluß über Form und Inhalt der Lagerstätten,
über das geologische Alter des Nebengesteins,
über die Lage und relative wirlschaftliche Be-
deutung der Bergwerke und Hütten, über die Zu-
gehörigkeit der Lagerstätten zu gesonderten, natür-
lichen Lagerstättenbezirken nach geognostischen
und geographischen Gesichtspunkten und über die
Produktion der einzelnen Bezirke nach Menge und
Wert in graphischer Darstellung. Besonderen Wert
erhält die Karte noch dadurch, daß auch die
Fortsetzung der oberschlesischen Steinkohlen- und
Erzlagerstätten ins benachbarte Ausland (Österreich
und Rußland) vollständig berücksichtigt ist.
W.Wien, Vorlesungen über neuere Pro-
bleme der theoretischen Physik. 76 S.
Leipzig, Teubner, 191 3. — Geh. 2,60 Mk.
Diese Vorlesungen, die der Träger eines Nobel-
preises für Physik im FVühjahr 191 3 an der
Columbia-LTniversität gehalten hat, wollen haupt-
sächlich Klarheit schaffen über die Fragen, die
aus der Strahlungstheorie und der davon abge-
leiteten Quantentheorie entsprungen sind. Be-
kanntlich soll Plank's neueste Theorie nur
Gültigkeit haben in bezug auf Emission von
Wärmestrahlen, nicht auf deren .Absorption. Darin
liegt eine große Schwierigkeit, die der Autor zu
vermindern sucht. Er will „die ältere Plank-
sche Theorie in der besseren F"orm von Debye
mit der neueren Theorie Plank's vereinen".
Hierbei ergibt sich das Emissionsgesetz, das
P 1 a n k als Hypothese einführt, als Folgerung, was
entschieden ein Vorteil zu nennen ist. Daher
braucht dann die Theorie der spezifischen Wärme
nicht geändert zu werden. Was die einzelnen
Vorlesungen anbetrifft, so behandelt der Verfasser
folgende Themen : Ableitung der Strahlungsformel,
Theorie der spezifischen Wärmen von Debye,
die neuere Plank'sche Strahlungstheorie, Theorie
der elektrischen Leitung in Metallen, Einstein-
sche Schwankungen, Theorie der Röntgenstrahlen,
lichtelektrische Wirkung und Lichtemission der
Kanalstrahlen. Da das Buch dem Gegenstande
entsprechend teilweise sehr mathematisch ist, kann
es nur dem Fachmann empfohlen werden, soweit
es überhaupt einer Empfehlung bedarf.
Alfred Wenzel.
E. I. R. Scholz, Bienen und Wespen, ihre
Lebensgewohnheiten und Bauten. Na-
turwissenschaftliche Bibliothek für Jugend und
Volk von K. Höller und G. Ulm er. Leipzig,
Quelle & Meyer. — Geb. 1,80 Mk.
Verf ist bestrebt, in einem Volksbuch die
mannigfachen und komplizierten Lebensgewohn-
heiten der Hymenopteren zusammenzulassen. Der
umfangreiche Stoff zerfällt in die zwei größeren
Kapitel: Einsame und gesellige Stechimmen. Im
ersten werden die einsam lebenden Bienen und
Wespen nach der Art ihrer Bauten und nach ihren
wichtigsten biologischen Eigentümlichkeiten be-
sprochen. Der zweite Abschnitt behandelt die
Hummeln und Papierwespen. Den Schluß bildet
eine umfangreiche Tabelle, in der von jeder ein-
zelnen im Buche erwähnten Art Bauweise und
Nistorte, besondere Gewohnheiten, die am häufig-
sten besuchten Blüten, Flugzeit und Feinde mit-
geteilt werden. Leider sind die wenigen anato-
mischen Hinweise unvollständig und zum Teil
unklar, die systematischen Verwandtschaftsverhält-
nisse werden kaum berührt. Im Hinblick auf den
Zweck des Buches, volkstümlich zu sein, vermeidet
es der Verfasser, bei jeder Art den allgemein
gültigen wissenschaftlichen Namen zu gebrauchen.
Da aber seine deutsche Übersetzung nicht immer
glücklich ist, so wird der Leser leicht zu Miß-
verständnissen geführt. Dr. Stellwaag.
Wetter-Monatsübersicht.
Innerhalb des vergangenen Januar wechselten etwiis
längere Zeiten mit heiterem, kaltem und trübem, mildem
Wetter zweimal miteinander ab. Zu Beginn des neuen Jahres
herrschte in ganz Deutschland ziemlich strenger Frost, zwischen
144
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 9
dem I. und 2. Januar brachten es z. B. Königsberg i. Pr.,
Cassel und Frankfurt a. M. auf 14, Weilburg auf Ib, Habel-
schwerdt auf 20° C Kälte. Aber am 2. früh stellte sich längs
der Küste trübes, nasses Tauwetter ein, das sich mit lebhaften
südwestlichen Winden rasch nach dem Binnenlande weiter-
verbreitete. In den folgenden Tagen wurden an vielen Orten
5" C überschritten und am 5. Januar in Celle 10" C nahezu
erreicht. Fünf Tage später drehte sich der Wind im größten
Teile des Landes nach Nord und rief einen südwärts fort-
schreitenden jähen Temperatursturz hervor. Der wieder-
cingetretene, mehr oder weniger strenge Frost hielt in den
meisten Gegenden zwei Wochen lang fast ohne Unterbrechung
an. Am 13. Januar sank das Thermometer beispielsweise in
Insterburg auf — 20, am 14. in Orteisburg auf — 21 und
am 15. in Habelschwerdt sogar auf — 29 " C. Während
dieser ganzen Zeit, in der sich der Himmel bisweilen auf-
klärte, aber nebeliges Wetter bei weitem vorherrschte, lag in
der Niederung, außer im östlichen Ostseegebiete, im all-
gemeinen nur eine ganz leichte Schneedecke, an vielen
Stellen war der Boden völlig von Schnee entblößt.
Xstn^srafur- SRinima ciniaer ©rfs im Sanuarl914.
t. Januar 6. 11. Ss^ Zt.
Berliner Welterbu
Erst um den 25. Januar führten mildere südwestliche
Winde eine neue allgemeine Erwärmung herbei und am Ende
des Monats war es im Norden frühlingsartig warm, während
in Süd- und Mitteldeutschland ziemlich milde Tage noch mit
kalten Nächten abwechselten. In Berlin und verschiedenen
anderen Orten stieg das Thermometer am 31. bis auf 10, in
Magdeburg sogar auf 12" C. Im Monatsmittel war es in
ganz Deutschland, außer an der ostpreußischen Küste, zu kalt,
die .Abweichungen von den normalen Temperaturen betrugen
aber in den meisten Gegenden Norddeutschlands nicht mehr als
einen, in Süddcutschland hingegen und in einem kleinen Teile
des nordwestlichen Binnenlandes bis zu 4 Celsiusgraden. Um-
gekehrt war die durchschnittliche Bewölkung im Norden
größer und daher die Zahl der Sonnenscheinstunden kleiner
als im Süden. In Berlin hat die Sonne im ganzen Monat an
37 Stunden geschienen, während hier in den früheren Januar-
monaten 42 Stunden mit Sonnenschein verzeichnet worden
sind.
Bedeutendere Niederschläge blieben im wesentlichen auf
die ersten 12 Tage des Monats beschränkt. Seit dem 2. Januar
fanden im größten Teile des Landes lange anhaltende, er-
giebige Regenfälle statt, die später mehrmals mit Schneefällen
abwechselten. Am g. und 10. herrschten an der östlichen
Ostseeküste heftige Schneestürme und richteten, mit einer
Sturmflut verbunden, daselbst schweres Unheil an. Vom
13. — 26. Januar blieb das Wetter im allgemeinen trocken,
V^wefcr^ßeBraa^S^^cn im 3anuarl914.
^1 ^i o'o iftitterer Werf für
^ H- "-^ 1 ^ S fJ-S-s Ki^^^^ S MonatssummeimJan.
tSl J J J^S ^^:£MÄ£ S^lE Jl^ 1911.13.12. 11. 10.09.
100
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1 bis 12. Januar.
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27. bis 31. Januar.
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Bcrlire
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Wetlerhur
wenn auch der Himmel größtenteils mit Nebelgewölk bedeckt
war. i)ann kamen wieder etwas häufiger Niederschläge,
hauptsächlich Regen vor, die jedoch nur wenigen Orten
nennenswerte Regenmengen brachten. Im ganzen Monat be-
trugen die Niederschläge für den Durchschnitt aller berichten-
den Stationen 38,9 mm, 5,2 mm weniger, als die gleichen
Stationen im Mittel der früheren Januarmonate seit 1891 ge-
liefert haben.
Die mit einem zweimaligen Wittcrungsumschlage ver-
bundene Drehung der Winde stand im engsten Zusammen-
hange mit den Veränderungen, die die allgemeine Anordnung
des Luftdruckes im Laufe des Januar aufwies. In seinen
ersten acht Tagen wurde der Norden Europas von mehr oder
weniger tiefen Barometerdepressionen durchzogen, während
sich in Südwest- und Mitteleuropa gewöhnlich ein umfang-
reiches Hochdruckgebiet befand. Am 9. Januar aber erschien
auf der skandinavischen Halbinsel ein anderes Maximum, das
daselbst an Höhe bedeutend zunahm und mit trockenen, eisig-
kalten nördlichen, allmählich in Ost übergehenden Winden
langsam weiter nach Süden vordrang. Am 23. war das
Barometermaximum nach Norddeutschland, einen Tag später
nach Süddeutschland gelangt, worauf vom atlantischen Ozean
neue tiefe Minima nach Skandinavien und Nordrußland vor-
rücken konnten und die östlichen Winde in ganz Mitteleuropa
wieder der früheren milden Südwestströmung Platz machen
mußten. Dr. E. Leß.
Inhalt: Rudolf Hundt: Das älteste Leben Ostthüringens. F. Schwangart: Die Reformbewegung in der angewandten
Entomologie. — Einzelberichte: Walter Wahl: Über die optischen Eigenschaften von kristallisiertem Wassenstofl,
Sauerstoff, Stickstoff, Argon und anderen Stoffen. Alfred Wenzel: Radioaktivität der Atmosphäre. EvaO. Schley:
Säuregehalt und geotropische Reaktion. J. Wolff: Eisen und Pflanzenwachstum. Luizet: Die veränderlichen Sterne
vom Typus i Cephei. Harlow Shapley: Doppelsterne. Belopolski: Spektrallinien. — Kleinere Mitteilungen:
Friedmann'sche Tuberkulosebehandlung'. Die Billiter-Kerze. — Bücherbesprechungen: Karte der nutzbaren Lager-
stätten Deutschlands. — W. Wien: Vorlesungen über neuere Probleme der theoretischen Physik. — E. I. R. Scholz:
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Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstrafie IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 29 Band
Sonntag, den 8. März 1914.
Nummer 10.
Die petrographische Methode der Paläogeographie.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. K. Andree,
Privatdozent für Geologie und Paläontologie an der Universität Marburg i. H.
Das Ziel jeder Paläogeographie muß sein,
ein geographisches Bild der Erdoberfläche für
jeden kleinsten, durch stratigraphische Forschun-
gen unterscheidbaren Zeitabschnitt, mag er
auch durch eine noch so dünne Schicht repräsen-
tiert werden, zu entwerfen. Von diesem Ziele
sind wir noch weit entfernt, und auch die neuesten
paläogeographischen Karten sind, wie Koken
sich einmal ausgedrückt hat, „mehr die graphische
Darstellung eines Gedankenkreises als ein Abbild
tatsächlicher Verhältnisse".
Bisher ist fast ausschließlich die paläontologi-
sche Methode paläogeographischer Forschung be-
trieben worden. Doch läßt sich zeigen, wie wert-
volle Fingerzeige auch eine modern betriebene
Sedimentpetrographie der Paläogeographie geben
kann. Es ist ein Verdienst von Joh. Walther,
im Hinblick auf dieses hohe Ziel — sehen wir
doch als das schließliche Ziel aller unserer geo-
logischen und paläontologischen Untersuchungen
nicht eine Faunen- und nicht eine Gesteinsbe-
schreibung, sondern eine bis ins einzelnste gehende
Paläogeographie und Entwicklungsgeschichte
unseres Planeten — mit Nachdruck auf die Wich-
tigkeit sedimentpetrographischer Studien hinge-
wiesen zu haben.
Das erste, was hier zu tun ist, ist das Studium
rezenter .Sedimentbildung. Hierbei kommt es auf
den ganzen komplizierten Mechanismus geographi-
scher Bedingungen an, die zu bestimmten Sedi-
mentationen führen, und es ist daher unerläßlich,
daß der Sedimentpetrograph, der der Paläogeo-
graphie mit Erfolg dienen will, sich die Erfah-
rungen der physischen Geographie zu eigen macht.
Gerade wer als Sedimentpetrograph mit solchen
paläogeographischen Zielen vor Augen geographi-
sche Studien treibt, wird am ersten empfinden,
wie falsch die gerade bei Geologen nicht selten
anzutreffende Nichtachtung der Geographie als
selbständiger Wissenschaft ist. Allerdings muß
zugegeben werden, daß, da viele Geographen
nicht nur früher, sondern auch noch heute aus
den verschiedensten Hilfswissenschaften dieses
Faches hervorgegangen sind, auch ganz naturge-
mäß gelegentlich Gebiete von ihnen bearbeitet,
bzw. für die Geographie annektiert wurden, die
anderen Wissenschaften, so z. B. der Geologie,
zufallen müssen. Eine solche Nichtachtung der
Grenzen einer Wissenschaft ist keineswegs ein
Beweis für das Fehlen einer Berechtigung dieser
Wissenschaft an sich. Im Gegenteil, ich bin der
Zustimmung der Mehrzahl der beteiligten Forscher
sicher, wenn ich in der Geographie als Wissen-
schaft jenes ungeheure Gebiet erkenne, das sich
mit der Aufgabe beschäftigt, die Beziehungen aller
Erscheinungen der Erdoberfläche zueinander,
mögen sie nun anorganischer oder organischer
Natur sein, herzustellen und auszuwerten. Hat
der Geograph diese Aufgabe für die Jetztzeit, so
ist es Sache des Geologen — und hier ist aller-
dings am häufigsten von jenen Nachbarn verstoßen
worden — , dieses für die unendlich lange Vorzeit
durchzuführen, woraus allein schon hervorgeht,
wie wichtig geographisches Denken für den Geo-
logen, der zugleich Paläogeograph und nicht nur
Handlanger des Bergmanns oder dgl. sein will,
sein muß.
Um sich die komplexe Zusammensetzung der
Sedimente ständig vor Augen zu halten, hat man
es für praktisch befunden, ^) sämtliche für die
Sedimentbildung in Frage kommenden Kompo-
nenten in einem Schema zusammenzufassen, das
zweckmäßigerweise umstehende Form erhält :
Ein solches Schema mag ein jeder nach Be-
darf einfacher oder komplizierter gestalten. Jeden-
falls aber sollte sich der Sedimentpetrograph bei
der Untersuchung eines jeden Gesteins darüber
klar zu werden suchen, ob und in welchem Maße
eine Beteiligung der einzelnen minerogenen oder
biogenen, autochthonen oder allochthonen usw.
Komponenten vorliegt. Denn es liegt hierin zu-
gleich die Beantwortung einer großen Zahl von
Fragen, welche die erwähnten geographischen Be-
dingungen der Sedimentbildung betreffen. So ist
z. B. bei der Bildung der sog. Oolithkörner oder
Ooide scharf zwischen zwei F'ällen zu unter-
scheiden, die gleichwohl beide unter die Rubrik
der aus Lösung ausgeschiedenen autochthon-
minerogenen Komponente zu stellen wären, näm-
lich erstens dem Niederschlag aus übersättigter
Kalklösung, wie die Buntsandsteinrogensteine er-
fordern, für deren Bildung ein Fällungsmittel, das
man bisher wohl meistens angenommen hat,
kaum zur Verfügung stand, und zweitens einer
chemischen Ausfällung aus einer verdünnten
Lösung durch gegenseitige chemische Umsetzung;
diesem Vorgang verdanken die marinen Oolithe
ihre Entstehung. Dabei erscheint natürlich nicht
ausgeschlossen, daß diese Ausfällung aus dem
Meerwasser durch eine erhöhte Konzentration
desselben in wärmeren Meeren erleichtert wird.
Doch wären zum Beweise dieser Möglichkeit zu-
') K. Andree, Die Diagenese der Sedimente, ihre Be-
ziehungen zur Sedimentbildung und zur Sedimentpetrographie.
Geolog. Rundschau 2, 19U, p. 61 — 74, 117 — 130. — Vgl.
auch Petermann's Mitteilungen 1913, 2, p. 121.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 10
Nach der Art der Komponenten, ob
Minerogen i
Biogen
In Gewässern
Aus Lösung
Klastisch
Auf dem Lande
Benthogcn
Nektogen
PlanktQfren
Durch chemische Aus-
fallung aus verdünnter
oder einfache Aus-
scheidung aus über-
sättigter Losung
Mechanische Zerstö- Korallen, Kalk-
rungsprodukte älterer algen.Sumpfpflan-
Gesteine, die am Ort zen (autochthone
der Zerstörung in neue Kohlen I)
Sedimente eintreten
I
Z. B.
zahne
Haifisch-
Kokkolithen,
Diatomeen,
Fettalgen
(Petroleum !) ;
Globigerincn,
Radiolarien
Z. B. Knochen-
ansammlungen in
Höhlen
Mechanische Zerstö- ' Z. B. ins Meer gc-
rungsprodukte älterer schwemmte Land-
Gesteine, transportiert , pflanzen, Land- u
durch ;
Süßwassermollus-
1. Schwerkraft
ken. (.-Mlochthone
2. Eis
Kohlen!)
3. Wasser
4. Wind
5. Vulkanische Ex-
plosionen
6. Organismen
Wie oben, aber nach
einem Transport der
Lösung (z.B. die Aus-
scheidung des durch
eine Ausgleichsströ-
g raung aus dem Kaspi-
•^ See ständig erneuerten
•5 Salzgehaltes des Kara-
S bugasbusens)
Kosmogene Kompo-
nente : Meteoriten-
] kügelchen
vor Analysen des Meerwassers solcher Regionen
auszuführen.
Ein erschwerendes Moment beim Vergleich
fossiler mit rezenten Sedimenten ist zunächst die
Frage der Vergleichbarkeit früherer Vorgänge mit
heutigen überhaupt. Nun, seit von Hoff und
Ch. Lyell wissen wir, d;tß ein solcher Vergleich
gezogen werden darf, wenn auch die Kompliziert-
heit der ineinandergreifenden Bedingungen manch-
mal sehr schwer zu erfassen ist und eine derartige
Rechnung durch Vernachlässigung eines einzigen,
vielleicht auf den ersten Blick unwichtiger er-
scheinenden Faktors völlig über den Haufen ge-
worfen werden kann. Viel wichtiger als diese
Bedenken ist die Frage, ob auch die Lebens-
gewohnheiten der verschiedenen Tiere und Pflanzen
sich nicht im Laufe der geologischen Epochen
wesentlich geändert haben, kennen wir doch in
der Tat aus der Paläobiologie eine große Zahl
solcher Änderungen, z. B. Wechsel des Lebens-
mediums bei manchen Crustaceen, Zurückkehren
landbewohnender Wirbeltiere zum Wasserleben
und manches andere mehr. Spielt also auch die
Lösung paläobiologischer Fragen in unseren Ver-
gleich fossiler mit rezenten Sedimenten hinein,
sowie es sich um die Deutung der biogenen
Komponente von Gesteinen handelt, so ist alles
dieses doch nur von untergeordneterer Bedeutung
gegenüber der Frage nach den möglichen Ände-
rungen, welche frisch gebildete Sedimente durch
das Fossilwerden oder die Diagenese erleiden.
Diesen Erscheinungen hat Verfasser vor wenigen
Jahren eine eingehende Studie gewidmet (vgl.
a. a. O.) und auseinandergesetzt, daß es sich um
eine große Zahl von Umsetzungen physikalischer,
chemischer und chemisch-physikalischer Art han-
Wie oben. Hier-
her z. B, auch die
Komponenten der
meisten Bonebeds
Z. B. Sargasso-
kraut , ,,Pseudo-
plankton" , Spi-
rula und manche
fossile Cephalo-
podenschalen
Z. B. gewisse Bone-
beds
delt und der Sedimentpetrograph den Verlauf der
hierdurch entstehenden Umformungen kennen
muß, da diese Vorgänge bald in diesem, bald in
jenem Stadium stehen geblieben sind und es nötig
ist, trotz derselben den Urzustand des frischen
Sedimentes zu rekonstruieren. Auch hier wieder
heißt es, alle in dem Bereich der Möglichkeil
liegenden Faktoren in Rücksicht zu ziehen, will
man nicht in Fehlschlüsse geraten. An einem
Beispiel sei dieses näher erläutert. Die Zusammen-
setzung gewisser Salzgesteine erfordert für deren
Bildung unerwartet hohe Temperaturen, woraus
man geschlossen hatte, daß diese Temperaturen
während des Absatzes dieser Salze in dem be-
treffenden .■\blagerungsbecken geherrscht haben
müßten. Da es sich um 72 " (für die als Hart-
salz bekannte Paragenese von Steinsalz, Sylvin
und Kieserit) und mehr handelt und es sich heraus-
gestellt hat, daß es — ganz abgesehen davon, daß
zeitweise solche Temperaturen von Wüstenböden
erreicht werden — nicht möglich erscheint, die
„Glashauswirkung" der bekannten, mit einer Süß-
wasserschicht bedeckten ungarischen Salzseen
heranzuziehen, da hier eine Verdunstung und Ab-
scheidung des Salzes nicht möglich ist, so müssen
wir uns daran gewöhnen, daß diese hohen Tem-
peraturen erst nachträglich auf Salze einwirkten
und Umwandlungen erzeugten, die das Hartsalz
usw. sekundär entstehen ließen. Diese nachträg-
liche Temperaturerhöhung in den Salzlagerstätten
mußte, worauf Boeke zuerst aufmerksam ge-
macht hat, während ihrer Diagenese eintreten,
als die Salze im Laufe der folgenden geo-
logischen Perioden unter einer immer mächtiger
werdenden Decke jüngerer Sedimente begraben
wurden. ¥.s ist dieselbe Erscheinung, welche wir
N. F. XIII. Nr. lO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
147
lange von den mächtigen in den Geosynklinalen
sich anhäufenden Sedimenten kennen. Wenn
hierbei fast immer von einem Ansteigen der Geo-
isothermen gesprochen wird, so entspricht dieser
Ausdruck allerdings in keiner Weise den Tat-
sachen, handelt es sich doch vielmehr um ein
allmähliches Hinabrücken der Gesteine in Gebiete
tiefer liegender, höhere Temperaturen bezeichnen-
der Geoisothermen. Ehe man diese Vorgänge
sinngemäß auf die Geschichte der Salzlagerstätten
übertragen hatte, war es möglich, den Irrweg der
Annahme primär hoher Temperaturen zu gehen,
und so mag gerade dieser Fall die beste Lehre
dafür sein, daß eine genaue Kenntnis sämtlicher
diagenetischer Vorgänge für jeden petrographisch
arbeitenden Paläogeographen unbedingt notwen-
dig ist.
Eine weitere wichtige Aufgabe des Sediment-
petrographen ist das Studium der Eigenschaften
der Schichtflächen der ihm vorliegenden Gesteine,
da diese Schichtflächen als Teile ehemaliger LJtho-
sphärenoberflächen zu gelten haben und als solche
die Spuren aller möglichen exogenen Vorgänge
tragen, die ihrerseits für geographisch ganz be-
stimmte Gebiete charakteristisch sind. Ich er-
wähne nur die Wellenfurchen, die Steinsalzpseudo-
morphosen, die Kriech- und Gehspuren, die Sand-
steinkegel usw. bei kontinentalen oder Flach-
wassersedimenlen, die Atzsuturen bei marinen
Kalken und glaube die Zustimmung aller zu haben,
wenn ich dringend anrate, diesen bis jetzt vielfach
allzusehr vernachlässigten Dingen mehr Aufmerk-
samkeit zu schenken.
Verfasser hat an anderem Orte ^j eingehender
darüber berichtet, wie er sich nunmehr unter
diesen Gesichtspunkten die Anwendung der petro-
graphischen Methode für die Zwecke der Paläo-
geographie denkt, und Beispiele dieser Anwen-
dung durchzuführen versucht. Als Beispiel kon-
tinentaler Sedimentbildung kann der deutsche
Buntsandstein gelten, dessen Entstehung eine Un-
zahl Schriften und manche wissenschaftliche Dis-
kussionen gewidmet sind. Es ist nun ohne allen
Zweifel falsch, wenn man, wie vielfach in diesen
Schriften und Diskussionen, die alle anzuführen
hier der Platz nicht reichen würde, über die Ent-
stehung des Buntsandsteins im ganzen Betrach-
tungen anstellt, denn eine unbefangene Würdigung
der Eigenschaften der Gesteine in den ver-
schiedenen Abteilungen ergibt ganz verschiedene
Entstehungsbedingungen, welche verschieden sind
auch für die verschiedenen Gegenden des Bunt-
sandsteinbeckens, selbst wenn man sich in gleichen
Horizonten bewegt. Und wenn man gefragt hat,
ob der Buntsandstein eine Bildung der Wüste,
eines Flachmeers oder von Flüssen sei, so kann
ich nur darauf erwidern, daß ein Streit über die
Entstehung dieser Formation solange fruchtlos
') K. Andree, Die paläogeograpliische Bedeutung sedi-
mcntpetrograpliischer Studien. Petermann's MiUeilungen
1913, 2, p. 117 — 123, 1S6 — 190, 245 — 249. — Vgl. auch diese
Wochenschr. N. F. XI, 1912, p. 241—251.
bleiben muß, als man sich nicht von vornherein
auf die kleinsten, stratigraphisch unterscheidbaren
Einheiten beschränkt. Geschieht aber die.-es, so
ergibt sich einwandsfrei, daß allerdings ein flaches
gelegentlich sogar ganz eintrocknendes Ingressions-
meerfür die obersten Schichten, dasRöt, als Ablage-
rungsbecken in F"rage kommen könnte, aber damii
scheintauch, was an möglichen marinen Sedimenta-
tionen vorkommt, erschöpft zu sein. Es bliebe
daher die Entsteluingsweise des unteren und
mittleren Buntsandsteins zu erörtern, deren Ge-
steine den Typus der „bunten Sandsteine'' bilden
und sicher kontinentaler Entstehung sind. Ver-
fasser ist nun der Ansicht, daß für einen Teil
dieser Sandsteine und zwischengelagerten Schiefer-
tone in der Tat eine Ablagerung unter einem
wüstenartigen Klima in einem kontinentalen
Becken anzunehmen ist und es sich nur darum
handeln kann, festzustellen, wieweit hier neben
der trockenen Entstehung, worauf am schönsten
die Windschlifife und Dreikanter hindeuten, die
Mitwirkung periodischer Wasserläufe und periodi-
scher Wasseransammlungen herangezogen werden
muß. Es stimmt durchaus mit unseren geo-
graphischen Kenntnissen der heutigen weiten
Kontinentalgebiete in Innerasien usw. überein, daß
die Randzonen des Buntsandsteinbeckens konglo-
meratische Gesteine aufweisen, welche sich un-
gezwungen als die Ablagerungen von Wasserläufen,
auch vielleicht von „Schichifluten" werden erklären
lassen, die gegen das Beckeninnere zu bald ver-
siegen mußten, da sie der Verdampfung anheim-
fielen. Im Laufe der Zeit konnten auf diese Weise
einzelne Gerolle selbst bis in das Beckeninnere
gelangen, und ich stehe keineswegs an, für die
z. B. im mittleren Buntsandstein der Gegend von
Marburg mehr vereinzelt auftretenden Gesteins-
brocken, welche durch ihre eckige Beschaffenheit
auf die mechanischen Zerstöningsvorgänge eines
Trockengebietes hinweisen, eine derartige Her-
kunft anzunehmen, stehen wir doch bei der An-
nahme mariner Entstehung vor einer viel größeren
Anzahl von nicht lösbaren Rätseln. Bei Gelegen-
heit der Beschreibung zweier neuer Funde aus
dem mittleren Buntsandstein Mitteldeutschlands
wird Verfasser in Kürze Gelegenheit nehmen,
diese kurzen Ausführungen des näheren nochmals
zu begründen, wobei auch auf einen Teil der vor-
handenen Literatur eingegangen werden soll.
Ein gutes Beispiel für den Wert der petro-
graphischen Methode bietet auch die Entstehung
der verschiedenen Löße, indem der chinesische
Löß, der das ausgeblasene Material der inner-
asiatischen Trockengebiete darstellt, doch große
petrographische Übereinstimmung mit anderen,
mitteleuropäischen und südamerikanischen Löß-
gesteinen zeigt, die über den Umweg der kalk-
haltigen Grundmoräne entstanden sind, deren
Komponenten bereits andersartigen, allerdings in
gleicher Weise wesentlich mechanischen Zer-
störungs- und Transportvorgängen unterlegen
hatten.
148
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. lo
Ähnliches an diesem Orte für marine Sedi-
mentgesteine durchzuführen, würde zu weit führen.
Verfasser ist damit beschäftigt, dergleichen Unter-
suchungen an einer kleinen, aber wohl umgrenzten
Gruppe von Gesteinen, den Radiolariten und
Kieselschiefern, anzustellen, nach deren Abschluß
weiter darüber berichtet werden wird. Schon
hier aber mag darauf hingewiesen sein, wie kom-
pliziert die Verhältnisse hierbei liegen, indem für
die Deutung dieser Gesteine nicht nur die ozeano-
graphischen Zirkulationsverhältnisse der damaligen
Zeit, sondern auch Vulkanismus, Lage der Erd-
achse, Klimafragen und anderes mehr heranzu-
ziehen sind. Der Geolog, der auf petrographischem
Wege Paläogeographie treibt, ist also gezwungen
im wahrsten Sinne des Wortes Geographie zu
treiben, indem er die Wechselbeziehungen aller-
möglichen Vorgänge der Vorzeit aufzuklären sucht.
Einbürgerungsversuche als Möglichkeiten zur
Erforschung des Vogelzuges.
Von Dr. Wilh. R. Eckardt in Essen.
In einem Referat „Das Zugstraßenproblem der
Wandervögel" ') schrieb ich folgendes über eine
Möglichkeit zur exakten Erforschung des Vogel-
zuges: „Aus leicht einzusehenden Gründen kämen
vor allem auch exotische Vögel in Betracht. Ich
möchte hierfür irgendeinen Insektenfresser Asiens
oder Nordamerikas gewählt wissen. Man setze
an einer geeigneten Örtlichkeit, die dem betreffen-
den Vogel günstige Nahrungsbedingungen und
Fortpflanzungsmöglichkeiten bietet, eine größere
Anzahl markierter Vögel aus. Ziehen diese im
Herbste sämtlich ab, und erscheint im nächsten
Frühling auch nur ein einziges Exemplar der be-
treffenden Vogelart wieder, so dürfte das Experi-
ment positiv ausgefallen sein. Jedenfalls sollte
man dieses leicht durchzuführende Experiment in
der exakten Vogelzugforschung doch künftighin
nicht mehr vernachlässigen ; auch wiederhole man
es, selbst bei anfänglichem Mißerfolg." Als ich
diese Zeilen schrieb, ahnte ich nicht, daß ich
selbst binnen kurzem Gelegenheit haben würde,
in dieser Hinsicht Beobachtungen anstellen zu
können, deren Möglichkeit allerdings eben einem
,, unglücklichen", in diesem Falle aber sehr glück-
lichen Zufalle zu verdanken war. Mit Unter-
stützung des Bundes für Vogelschutz in Stuttgart
unternahm ich im Frühjahr auf einem großen
Gewässer der öffentlichen Anlagen zu Hildburg-
hausen in Thüringen Einbürgerungsversuche mit
der Braut- und Mandarinente. U. a. erhielt ich
im Februar ein Paar frisch importierte Mandarin-
enten von der Firma Carl Hagenbeck, welche so
scheu waren, daß sie, obwohl amputiert, von dem
Gewässer, auf das sie gebracht wurden, alsbald
verschwanden, um einige Wochen später an einer
einsamen Stelle des Werraflusses dicht unterhalb
der Stadt wiedergefunden zu werden. Hier ließ
man sie ungestört verweilen, so daß sie im
Sommer erfolgreich zur Brut schritten. Der im
August entdeckte Nachwuchs konnte hinsichtlich
seiner Anzahl zwar nicht genau festgestellt werden,
da auch die jungen Tiere naturgemäß sehr scheu
waren, weil sie an einer einsamen Stelle des
Flusses unter dem Schutze eines scheuen Eltern-
') Die Naturwissenschaften, Heft 30, 1913.
paares groß geworden waren, das seinen Nach-
wuchs beim seltenen Herannahen eines Menschen
stets rechtzeitig warnte. Immerhin dürften es
mindestens 8 junge Tiere gewesen sein, die zum
größten Teile auch noch Ende Januar 1914, zur
Zeit starker Winterkälte, die den F'luß fast gänz-
lich zufrieren ließ, vorhanden waren.
Diese Tatsache erscheint mir aber insofern in
höchstem Maße bemerkenswert, als unter den
beiden Schmuckenten- Arten Liwipronesse sponsa
und Lampronessc galericiilata die letztere aus ver-
schiedenen , weiter unten noch anzuführenden
Gründen als die weniger seßhafte im allgemeinen
bezeichnet werden muß. Es kommt hinzu, daß
im vorliegenden Falle die Eltern des jungen flug-
fähigen Nachwuchses frisch importierte Tiere ge-
wesen sind.
Die Heimat der Brautente {L. sponsa) ist
Nordamerika vom 50 '^ nördl. Breite bis Mexiko,
die der Mandarinente das östliche Asien vom süd-
östlichen Sibirien bis zum südlicheren China und
Japan. Die klimatischen Verhältnisse der Heimat-
länder dieser beiden Schmuckenten bringen es
aber ohne weiteres mit sich, daß diese Tiere in
ihren nördlicheren Verbreitungsbezirken ausge-
sprochene Zugvögel sein müssen, während sie in
den südlicheren Teilen ihres Verbreitungsgebietes
Stand- oder Strichvögel sein können. Infolge der
klimatischen Ungunst des ostasiatischen Winters
gilt das natürlich von der Mandarinente in noch
weit höherem Maße als von der Brautente.
Da es sich nun bei dem oben beschriebenen
Mandarinentenpaare um die Nachkommen frisch
importierter Tiere handelte, so könnte ein ober-
flächlicher Beurteiler der Dinge leicht zu dem
Schluß gelangen, daß das importierte Elternpaar
ein etwa aus Südchina stammendes und hier seß- ,
haftes Paar gewesen sein möge, bei dem sich eben 1
auf die Nachkommenschaft ein Wandertrieb aus
dem Grunde nicht vererbte, weil er bei den
Eltern selbst nicht entwickelt war. Aber ganz
abgesehen davon, daß die Heimat des allen
Mandarinentenpaares leider nicht mehr ermittelt
werden konnte, ergeben sich auch noch zwei
andere Erklärungsmöglichkeiten. Die erstere wäre
die, daß wie viele Schwimmvögel, so auch die
Mandarinenten zur Kategorie der „Zugstraßen-
vögel" gehörten, d. h. zu solchen, die nur dann
ziehen, wenn sie von den flugfähigen Eltern, die
eine Zugstraße aus Erfahrung kennen, geführt
N. F. XIII. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
149
werden. Ein Beispiel bieten in dieser Hinsicht
die VVildgänse. Bei diesen ist es die Regel, daß
der junge Nachwuchs, der auf den Gewässern
unserer zoologischen Gärten und Parke gezogen
wird, im Herbste nicht abzieht, wenn die Eltern
flugunfähig sind; dasselbe gilt übrigens auch für
Kraniche. Diese Vögel werden zwar, wie Dr. O.
Heinroth M bemerkt, unruhiger, wenn die Zug-
zeit naht, kehren aber von ihren Luftreisen immer
wieder zu Vater und Mutter zurück: „für mich ein
guter Beweis, daß der Herbstzug junger Grau-
gänse unter Führung der Eltern stattfindet, und
es ist ja auch bekannt, daß Junge, deren Eltern
man abgeschossen hat, so lange in der betreffen-
den Gegend umherirren, bis sie schließlich alle
erlegt sind, ohne daß sie vorher den Versuch ge-
macht haben, selbständig weiterzureisen".
Es wäre möglich, daß dasselbe auch für den
von mir beobachteten h'all bezüglich der Mandarin-
enten gälte. Denn was könnte man zunächst
wohl für einen besseren Grund dafür ins Feld
führen, daß die Enten bei fast vollständig zu-
gefrorenem Flusse, bei zeitweise — 20" C starkem
Froste geblieben sind, ohne daß sie von Menschen-
hand gefüttert wurden ? Vielleicht ist aus diesem
Grunde auch ein Pärchen von Niifi/n/i formusiim
bis weit in den Januar hinein geblieben, welche
Art sonst als berüchtigter Ausreißer gilt.
Allein bei weiterem Nachdenken erhebt sich
auch bei dieser Frage eine Schwierigkeit, wenigstens
') Beiträge zur Biologie, namentlicli Ethologie und Psycho-
logie der Anatiden. Bericht über den V. Internat. Ornitho-
logenkongreß, Berlin 1910.
soweit der Vogelzug in des Wortes eigentlicher
Bedeutung in Frage kommt. Es fragt sich näm-
lich: kann man überhaupt noch von „Vogelzug"
sprechen, wenn man exotische Vögel etwa in
Deutschland aussetzt, und wenn diese Tiere im
Herbst abziehen, ohne etwa wiederzukommen.
Das Wort „Vogelzug" setzt auch eine Rückkehr
der betreffenden Vögel in ihre Heimat voraus.
Ob das aber bei Exoten stattfindet, bzw. über-
haupt stattfinden kann, darüber wissen wir noch
nichts. Mir persönlich will es auch unwahrschein-
lich dünken, als ob ein in ein anderes Land ge-
brachter Zugvogel sich ohne weiteres eine plan-
mäßige „Zugstraße" schaffen kann, die ihn wieder
an den Ausgangspunkt, der ihm als neue Heimat
angewiesen wurde, zurückführen kann. Immerhin
fehlt ja, wie gesagt, hier noch die systematisch
durchgeführte Beobachtung, die exakte, mit Ring-
versuchen operierende Forschung. Kaum ein
anderer Vogel aber würde sich meiner Meinung
nach dazu besser eignen als die Mandarinente.
Denn sie wird heute noch in nicht unbeträcht-
licher Anzahl noch als Wildling importiert,
während das bei der Brautente seit Generationen
nicht mehr der Fall ist, da die Amerikaner ihren
Export streng verbieten. Man ersieht jedenfalls
aus diesen Mitteilungen klar, daß man Einbürge-
rungsversuche mit so herrlichen Schmuckenten
nicht nur im Interesse der Ästhetik unserer Parke
und Parkgewässer, sondern auch im Interesse der
Wissenschaft vornehmen kann. Hier hätten wir
jedenfalls das Experiment in der exakten Vogel-
zugforschung in harmlosester und einfachster Form.
Darum wäre es doppelt zu empfehlen 1
Einzelberichte.
Chemie. Über die Erscheinungsformen des
elementaren Silbers hat V. Kohlschütter im
Laufe der letzten Jahre eine Reihe hochinteressanter
Untersuchungen angestellt, über die hier im Anschluß
an eine zusammenfassende Abhandlung des ge-
nannten Autors in der Kolloid-Zeitschrift, Bd. XII,
S. 285 — 296 (1913), berichtet werden möge.
Daß Stoffe im allgemeinen bei chemisch
gleicher Zusammensetzung in morphologisch recht
verschiedenen Erscheinungsformen auftreten
können, ist eine allgemein bekannte Tatsache.
So weiß jeder, der sich auch nur oberflächlich
mit mineralogischen Problemen beschäftigt hat,
ein wie verschiedenes Äußeres, einen wie ver-
schiedenen „Habitus" dasselbe Mineral besitzen
kann, und ebenso beruht die Isomerie der Zinn-
säure, der Unterschied zwischen der Ortho- und
der Metazinnsäure, wie neuere Llntersuchungen
bewiesen haben, nicht etwa in der chemischen
Konstitution, in der Molekulargröße, sondern allein
in der ,, Teilchengröße" im kolloidchemischen
Sinne des Wortes. Sehr auffallend sind auch die
Erscheinungen bei den elementaren Edelmetallen.
Gold oder Silber können sich, wenn sie aus ihren
Verbindungen gewonnen werden, je nach den
Versuchsbedingungen in sehr verschiedenen Formen
darstellen, als Metallspiegel, als molekulares Metall,
als kompaktes Metall, als kolloidale Lösung usw.
„Die Form ist, sagt Kohlschütter, nicht der
Ausdruck der stofflichen Natur, die P'olge des
molekularen Baus, sondern das Ergebnis des
chemischen Vorganges, der zu dem Stoff führt."
Die Beantwortung der Frage nach dem Ein-
flüsse, den die Entstehungsbedingungen eines
Stoffes auf seine morphologische Erscheinungsform
ausüben, hat sich nun Kohlschütter als Auf-
gabe gestellt, und zwar hat er als Versuchs-
material das experimentell verhältnismäßig leicht
zu handhabende elementare Silber gewählt.
Wohl die reinlichste Art der Darstellung ele-
mentaren Silbers besteht in der Reduktion von
Silberoxyd durch elementaren Wasserstoff:
Ag,0 + H,^-2Ag + H,0.
Die Untersuchung dieser scheinbar so einfachen
Reaktion führte zu überraschenden Ergebnissen :
Die Eigenschaften der kolloidalen Lösungen, welche
150
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. lo
bei der Reaktion entstehen, hängen in holiem
Maße von der chemischen Natur des Gefäßes ab,
in dem die Reaktion vorgenommen wird. Gefäße
aus gewöhnhchem Glase oder aus Quarz geben
gelbbraune, Gefäße aus Jenaer Glas rote, violette
und blaue Lösungen, während sich in Platin-
gefäßen das Silber in Form von Kristallen an der
Wand des Gefäßes abscheidet. Die Ursache für
diese interessanten Unterschiede liegt aber nun
nicht etwa, wie man zunächst wohl vermuten
könnte, darin, daß sich Teile der Gefäßwand in
der Flüssigkeit auflösen, sondern vielmehr darin,
daß sich der Vorgang überhaupt nicht im Schöße
der Lösung, sondern vielmehr nur an der Grenz-
fläche zwischen Gefäßwand und Flüssigkeit ab-
spielt. Vermutlich scheidet sich das Silber an
verschiedenen Wänden in Teilchen von ver-
schiedener Gestalt und Größe ab; bei Verwen-
dung von Platingefäßen bleibt das Silber an der
Wand haften, von (ilas- oder Quarzwänden aber
wird es nicht fest genug gehalten und lobt sich
daher in der Flüssigkeit zu einer kolloidalen
Lösung auf.
Bei der Entstehung von Silberspiegeln, wie
sie etwa beim analytischen Nachweise von
Aldehyden, von Zucker, von Weinsäure usw. auf-
treten, handelt es sich ebenfalls um Vorgänge
an der Gefäßwand. \'on der Wand wird das
Silberoxyd aus seiner ammoniakalischen Lösung
und auch das Reduktionsmittel adsorbiert, und
die Reduktion findet daher an ihr statt. Die
Reduktionsmittel werden bei der Reduktion selbst
oxydiert, es entstehen aus den primären Oxyda-
tionsprodukten geringe Mengen hochmolekularer
Nebenprodukte, die, ähnlich wie Schutzkolloide
wirkend, die Abscheidung des Silbers in F'orm
einer zusammenhängenden glänzenden Haut, d. h.
als Spiegel veranlassen. Die Silberspiegel sind je
nach den Verhältnissen, unter denen sie sich
bilden, recht verschieden. Dünne Spiegel, die das
Licht bald in dieser, bald in jener Farbe durch-
scheinen lassen, erscheinen bei der Intersuchung
im gewöhnlichen Mikroskop homogen, im Ultra-
mikroskop aber lassen sie sich zu Einzelteilchen
auflösen, die nach Größe und Anordnung be-
merkenswerte Unterschiede aufweisen. Die nähere
Untersuchung der Spiegel, die sich besonders gut
mit Hilfe von Messungen ihrer elektrischen Leit-
fähigkeit durchführen läßt, macht auf viele cha-
rakteristische Einzelheiten, so auf den Einfluß, den
gewisse Fremdstofife in der Lösung wie z. B.
Spuren von Schwermetalloxydhydraten auf die
morphologischen Eigentümlichkeiten haben, und
auf die Veränderungen aufmerksam, die die Spiegel
mit der Zeil erleiden.
Unter ungeeigneten Versuchsbedingungen ent-
steht an Stelle des sich an der Wand abscheiden-
den Silberspiegels häufig ein dunkelfarbiger, bis-
weilen tiefschwarzer glanzloser Niederschlag, der
nicht selten so feinpulverig ist, daß er beim Aus-
waschen durchs Filter läuft, sich aber in der ur-
sprünglichen Form nicht isolieren läßt, sondern
rasch heller und heller wird. Von dem bei der
FLlektrolyse bei Silbersalzlösungen entstehenden
,, schwarzen Silber" unterscheidet sich der durch
Reduktion mittels organischer Stoffe entstehende
schwarze Niederschlag dadurch, daß er im Gegen-
satz zu jenem, der aus einzelnen winzigen Kristall-
individuen besteht, amorph erscheint.
Bei der Abscheidung des Silbers durch Elek-
trolyse nach der schematischen Gleichung
Ag+ + 0-j- Ag-f ©0
handelt es sich um einen Kristallisationsvorgang
zu dessen Verständnis nach den bekannten Unter-
suchungen von Tammann vor allen Dingen
zwei Faktoren, die mit wachsender Stromdichte
wachsende Bildungsgeschwindigkeit der Keime
und ihre mit zunehmender Konzentration zu-
nehmende Wachstunisgeschwindigkeit, in Betracht
zu ziehen sind. Große Keimbildungsgeschwindig-
keit bei kleiner Keimwach^tumsgeschwmdigkeit
bewirkt die Entstehung vieler kleiner Kriställchen,
während umgekehrt große Wachstumsgeschwindig-
keit der Keime bei kleiner Keimbildungsgeschwin-
digkeit wenige große Kristalle entstehen läßt. Im
ersten Falle bildet sich das ,, schwarze Silber",
aber dieses geht in dem Augenblick, wo der
Strom unterbrochen wird, in graues Silber über,
vermutlich weil die einzelnen Teilchen des schwar-
zen Silbers, die ja während des Stromdurchganges
eine negative elektrische Ladung aufweisen, sich
nach Um erbrech ungdes Stromes elektrostatisch nicht
mehr abstoßen und so ihrem natürlichen Streben
zur Verkleinerung ihrer großen Oberfläche nach-
geben können. Dieser Übergang vom schwarzen
zum grauen Silber wird durch Hydroxylionen ver-
langsamt, durch Wasserstoffionen beschleunigt, und
damit tritt eine unverkennbare Analogie zum Ver-
halten der kolloidalen Silberlösungen auf, die ja
ebenfalls durch Hydroxylionen stabilisiert, durch
Wasserstoffionen koaguliert werden. Neben diese
allgemeinen Gesetzmäßigkeiten treten noch viele
Sondereinflüsse, die die neben dem Silber in der
Lösung vorhandenen Stoffe auf dessen morpho-
logische Erscheinungsform ausüben. Bemerkt sei
auch, daf5 sich ähnliche Beobachtungen wie bei
der elektrolytischen Abscheidung des Silbers
bei seiner Abscheidung durch andere Metalle von
größerem Lösungsdruck (Zink, Cadmium, Kupfer
usw.) machen lassen. Verschiedene Metalle wirken
ganz verschieden, ja bei Verwendung desselben
Metalles kommt es auf das für den Versuch be-
nutzte Silbersalz, auf die Anwesenheit oder Ab-
wesenheit bestimmter Ionen sowie auf die Reak-
tion der Lösung wesentlich an; insbesondere ist,
wie auch Versuche bei der elektrolytischen Silber-
abscheidung bestätigt haben, die etwaige An-
wesenheit von kolloidalen Oxydhydraten der
Schwermetalle in der Flüssigkeit von erheblicher
Wichtigkeit.
Bei der elektrolytischen Abscheidung des
Silbers aus Komplexsalzlösungen, z. B. bei der
Abscheidung aus Cyankali- oder Thiosulfatlösung
dürfte es sich ebenfalls um den Einfluß geringer
N. F. XIII. Nr. lO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
151
Meng-en von Kolloiden handeln. So enthält z. H.
eine Silbercyankalilösung zweifellos geringe Mengen
kolloidal gelösten Silbercyanids; dieses wird von
der Kathode adsorbiert, und infolgedessen scheidet
sich das Silber gewissermaßen in einem die
Kathode bedeckenden Netzwerk von Cyansilber
ab. In der Tat weisen die ersten sich auf der
Kathode abscheidenden Silbermengen unter be-
stimmten Bedingungen jene eigentümlichen, für
die sog. Subhaloide, also wohl auch für das ihnen
nahestehende Cyansilber charakteristischen Farben
auf Weiter zeigt sich, daß die Art, wie" sich die
ersten Mengen des Silbers aus der Lösung ab-
scheiden, für die weitere Abscheidung bestimmend
sind, denn wenn man die Elektrolyse zunächst
in einer einen glatten, weißen, festhaftenden Nieder-
schlag liefernden Cyankalilösung beginnt, und dann
in einer amnioniakalischen Lösung fortsetzt, aus
der sonst wenig fest haftende, gröbere Kristalle er-
halten werden, so bleibt das Silber trotzdem weiß,
dicht und haftet auch weiter fest an der Elektrode.
Löst man den bei der Elektrolyse einer Silber-
cyankalilösung entstehenden festhaftenden Silber-
niederschlag von der Kathode ab, so bleibt doch der
dünne Hauch von Cyan'ilber, und wenn man
jetzt, also nach der Auflösung des aus der Cyan-
kalilösung gefällten Silbers, eine Elektrolyse aus
ammoniakalischer Lösung vornimmt, so findet
auch unter diesen Umständen die Bildung eines
festen, weißen, gut haftenden Niederschlags statt.
„Man kann, sagt K o h 1 s c h ü 1 1 e r, so die für einen
bestimmten Elektrolyten charakteristische Ab-
scheidungsform auf einen anderen übertragen, und
man entzieht sich schwer der Versuchung, hier
von einer „Vererbung" der Form zu sprechen."
In ähnlicher Weise wie bei der Abscheidung
von Silber aus Lösungen erhält man auch bei der
Zerstäubung von .Silberkathoden durch die Glimm-
entladung in Gasen von mäßig tiefem Druck sowie
bei der der Reduktion des Silbers aus festen Ver-
bindungen je nach den Versuchsbedingungen
Präparate von sehr verschiedenem morphologischen
Bau, doch kann auf Einzelheiten, so interessant
sie auch sind, hier nicht mehr eingegangen wer-
den. Leser, die sich für sie interessieren, seien
auf die am Kopfe dieses Berichtes angeführte Ar-
beit und die dort zitierten Originalarbeiten Kohl-
schütter's und seiner Schüler verwiesen.
Mg.
Eine sehr interessante Methode zur Bestimmung
der Wertigkeit des Radiums mit Hilfe der Elek-
troendosme, eine Methode, die auch zur Ermitt-
lung der Wertigkeit anderer Metalle in ihren
Salzen angewendet werden kann, beschreiben
H. Freundlich und G. v. Elissafoff in der
Physik. Zeitschr. Bd. 14, S. 1042 (1913). Die
Versuchsanordnung ist folgende; In eine Kapil-
lare K werden einige Tropfen reinen Wassers
gebracht, dann wird die Kapillare in der in der
Abb. I angegebenen Weise zwischen zwei Elek-
troden angeordnet, von denen sie durch kleine
Luftstrecken getrennt ist. Die Elektrode MN ist
mit dem negativen Pol einer Starkstrominfluenz-
maschine verbunden, deren anderer Fol über ein
Galvanometer geerdet ist; die andere Elektrode
PQ ist über ein Funkenmikrometer geerdet. Läßt
man nun die Influenzmaschine spielen, so wandert
das Wasser in der Kapillare im Sinne des Pfeiles
von dem Ende ß, an dem es sich vor Beginn des
Versuches befunden hat, nach dem Ende ci hin
und tropft schließlich dort heraus. Die Geschwin-
" ' — Wism:
IKi
Abb. I.
digkeit, mit der der Tropfen in der Kapillare unter
sonst vollkommen konstant gehaltenen Bedingun-
gen wandert, ist in reinem Wasser viel größer als
in Lösungen. Löst man daher in dem Wasser
irgendwelche Salze auf so wird die Wanderungs-
geschwindigkeit erheblich herabgedrückt, und
zwar um so mehr, je größer die Konzentration
des Salzes ist. Vergleicht man Lösungen von
gleicher Metallionenkonzentration, so zeigt sich,
daß die Wertigkeit der Metalle eine wesentliche
Rolle spielt: Je höher die Wertigkeit der Metalle
in den Salzen ist, um so geringer ist die Wande-
rungsgeschwindigkeit, während Salze mit Metallen
gleicher Wertigkeit die Geschwindigkeit in an-
nähernd gleicher Weise herabsetzen. Diese Effekte
treten schon bei äußerst geringer Konzentration
ein. Löst man z. B. in einem Liter reinen Wassers
nur zwei Mikromole, d. h. o,0OOOO2 Mol Radium-
bromid auf, so sinkt die Wanderungsgeschwindig-
keit der Flüssigkeit in der Kapillare bereits um
28 "/o > jä wenn man 24 Mikromole Zirkonnitrat
Zr(NOo)^ im Liter Wasser auflöst, sogar um fast
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Abb. 2.
1 50 "/„ , d. h. die Flüssigkeit wandert in diesem
Falle überhaupt nicht mehr zum negativen, son-
dern in entgegengesetzter Richtung zum positiven
Pol. Das Diagramm in Abb. 2, in dem die Or-
dinate die Wanderungsgeschwindigkeit v der Lösung
in der Kapillare und die Abszisse die Molekular-
152
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. lo
konzeniration c der Salze in den Lösungen angibt,
zeigt die Abhängigkeit der Erscheinung von der
Konzentration der Lösungen und den großen
Einfluß, den die Wertigkeit des Metallatoms aus-
übt; sie zeigt ferner, daß das Radium sich durch-
aus der Gruppe der zweiwertigen Metalle anschließt.
Mg.
Physik. In seinem Vortrage über „charakteristi-
sche Röntgenstrahlen" (Berichte der deutschen
physikalischen Gesellschaft, Heft 24, S. 1273, 1913)
gibt Charles G. Barkla einen umfassenden
Bericht über die bisherigen Ergebnisse, die die
Forschungen nach der elektromagnetischen Wellen-
natur der Röntgenstrahlen gezeitigt haben. Be-
kanntlich gehen von einem Körper, der von pri-
mären Röntgenstrahlen getroflen und durchdrungen
wird, drei Arten von Strahlungen aus. Die erste
Art sekundärer Strahlung ist ähnlich den primären
Strahlen und besteht aus unperiodischen Äther-
impulsen. Die zweite Art ist ebenfalls eine
Röntgenstrahlung, aber weit anderer Natur als
die erste. Die dritte Art stellt eine Art /J-Strah-
lung dar, schnellbewegle Elektronen, wie wir sie
auch bei der (^Strahlung der radioaktiven Sub-
stanzen beobachten. Wie wir sehen, ist nur die
zweite Art der sekundären Strahlungen ein perio-
discher elektromagnetischer Vorgang. Sehr inter-
essant sind die Analogien zwischen den Erschei-
nungen beim Licht und denen bei den Röntgen-
strahlen. Wie in der Optik ein Körper haupt-
sächlich die Wellenlängen des Lichtes absorbiert,
die er aussendet — erinnert sei nur an die Ab-
sorption des gelben Lichtes durch Natriumdampf
— , so läßt ein Körper auch nur die Röntgen-
strahlen hindurch, die nicht seinen Eigenschwin-
gungen entsprechen. Im Gegensatze zu den un-
periodischen Sekundärstrahlen erster Art haben
die der zweiten Art nur eine Durchdringungs-
fähigkeit. Mit wachsendem Atomgewichte wächst
diese Fähigkeit, während die Wellenlänge der
Eigenstrahlung, die ein Charakteristikum jedes
Körpers ist, abnimmt. Letztere wird nur durch
noch kürzere Wellenlängen erregt, eine fundamen-
tale Analogie und Erweiterung des Stokes-
schen Fluoreszenzgesetzes. Bei diesem Vorgange
haben wir eine partielle Transformation des pri-
mären Strahles in diese charakteristische Eigen-
strahlung des Körpers auf Kosten der lonisations-
fähigkeit sowohl des primären wie des sekundären
Strahles vor uns. Das bedeutet aber eine Um-
wandlung der Energie in eine bisher noch nicht
beobachtete Form. Mit Hilfe einer Formel von
Plank und den Versuchsdaten von VVhidding-
ton hat man die Werte für die Wellenlängen
der charakteristischen Strahlungen verschiedener
Metalle festgestellt. So ergaben sich folgende Daten.
.Aluminium-Strahl
Calcium-
Chrom-
Kupfer-
Rhodium-
Silber-
Ceri
ung (charakteristische)
5,9- 10—« cm
2,73- lo-n cm
1,6 lo-N cm
1,08 -lO-s cm
0,41. 10—8 cm
0,375. 10 -» cm
o,22. 10-« cm
Diese charakteristischen Strahlungen deuten
darauf hin, daß wir es hier mit der einfachsten
Form der Fluoreszenz zu tun haben. Um eine
Analogie aus der Akustik anzuführen, — wir
haben hier nur den höchsten Oberton vor uns,
während die gewöhnliche Fluoreszenz, wie sie die
Sidot' sehe Blende z.B. zeigt, mit dem Grundton
begleitet von sämtlichen Obertönen vergleichbar
iit. Ein weiterer Beweis für den Zusammenhang
dieser Strahlen mit der Fluoreszenz liegt in der
Tatsache begründet, daß beide durch /) Strahlen
erregt werden können, sobald die Geschwindigkeit
der Elektronen die kritische Ausstoßungsgeschwin-
digkeit der Korpuskeln bei der charakteristischen
Strahlung übertrifft.
Eine Vorstellung, wie man sich ungefähr die
Entstehung der charakteristischen Strahlung zu
denken hat, gewinnt man folgendermaßen Nach
den modernsten Anschauungen hat man sich ein
Atom als ein Konglomerat von Elektronen vor-
zustellen. Die Zahl und gegenseitige Lage dieser
kleinsten Bausteine der Materie ist für jeden Stoff
charakteristisch , aber leider noch unerforscht.
Durch die eindringenden Primärstrahlen wird ein
Elektron aus dem Atomverbande gelöst. Der
Rest geht in periodischen, langsam abklingenden
Schwingungen in eine neue Gleichgewichtslage
über. Das abgeschleuderte Elektron trägt zu der
stets beobachteten /i-Strahlung bei, während die
Schwingungen der übrigen Elektronen sich in den
kurzwelligen elektromagnetischen Strahlen äußert.
Da bei diesem Vorgange die Energieaufnahme
von Elektron zu Elektron je nach seiner Lage im
Atom verschieden ist, kann man erwarten, daß
ein kontinuierliches Spektrum entsteht.
Daß dies wirklich der Fall ist und wie man
dieses Spektrum photographisch fixieren kann,
zeigt M. de Broglie in einer Arbeit „über eine
Methode, die Spektra der Röntgenstrahlen zu
photographieren" (Ber. der deutschen phys. Ges.
191 3, S. 1348). Er geht dabei von den Versuchen
von Laue und Bragg aus (siehe diese Zeitschrift
1914, Heft 5, S. 70). Ist d der Abstand der Netz-
ebene im Kristall und « ihr Neigungswinkel zur
Strahlenrichtung, so gilt die einfache Beziehung
2dcos« = n-/, wo n eine ganze Zahl und /. die
Wellenlänge der einfallenden Strahlen ist. Diese
Formel zeigt uns, daß beim Variieren von a wir
der Reihe nach eine große Anzahl verschiedener
Wellenlängen erhalten müssen. In die Praxis um-
gesetzt hat Broglie dies dadurch, daß er einen
Kristall um eine Achse rotieren läßt, die senk-
recht zu der Einfallsebene liegt. So erhalten wir
ein kontinuierliches Spektrum (vgl. auch Comtes
Rendues, Paris 191 3, 17. November). Die Rota-
tion muß natürlich der geringen Intensität
wegen sehr langsam vor sich gehen , in der
Stunde ungefähr um 2°. Man erhält so ein Spek-
trum, das aus Banden und hellen Linien besteht.
Auch Absorptionsstreifen treten auf; sie rühren
anscheinend von dem Glase her. Spektra ver-
N. F. XIII. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
153
schiedener Ordnungen werden mit verschiedenen
hintereinander angeordneten Pholograpiiieplatten
aufgenommen. Versuche über Aufnahme von
Absorptionsstreifen, die von Körpern herrühren,
die in den Strahlengang eingesclioben werden,
und aus denen man eventuell die Frequenz der
Eigenstrahlung feststellen kann, sind jetzt in
Paris im Gange. Alfred Wenzel.
Botanik. Hydronastische Blattbewegungen.
Vor einigen Jahren hatte W. Wächter be-
obachtet, daß die Blätter von Callisia repens L.,
einer Commelinacee, die normal etwa unter
einem rechten Winkel vom Stengel abstehen
(vgl. Fig. i), sich im Laboratorium senkten und
an den Stengel anlegten (vgl. Fig. 2), und er hat
nachweisen köimen, daß diese Bewegung- durch
Fig. 1. Normalstellung.
Verunreinigung der Luft (Leuchtgasgehalt) hervor-
gerufen wird, also chemonastischer Natur ist. ^)
(Ben d. D. Bot. Ges. 1905, Bd. '23, S. 379.) Ähn-
liche Blattbewegungen treten nun, wie Wächter
neuerdings festgestellt hat, bei derselben Pflanze
auf wenn flüssiges Wasser auf sie einwirkt, ohne
daß dabei der Einfluß in diesem gelöster Stoffe
oder andere Faktoren in Betracht kommen.
Pflanzen, die unter Wasser (Leitungswasser) ge-
stellt wurden, sowohl eingewurzelte wie ausge-
') Unter Nastien sind nach Pf eff er Krümmungen zu ver-
stehen, die durch einen diffusen Reiz hervorgerufen werden.
topfte und sorgfältig von anhaftender Erde ge-
reinigte, klappten ihre Blätter im Verlauf von
2 Tagen so weit herab, daß sie dem Stengel an-
lagen. Wurden sie dann in Luft gebracht, so hoben
sie sich wieder bis zur normalen Lage. Der Ver-
such konnte so lange mit demselben Ergebnis
wiederholt werden, bis die Blätter ihre Wachs-
tunisfähigkeit verloren hatten. Sie blieben dabei
gesund und turgeszent. Abgeschnittene Sprosse
reagieren ebenso wie die bewurzelten Pflanzen.
Destilliertes Wasser wirkt in der gleichen Weise,
auch Einleiten von Sauerstoff ändert das Verhalten
der Pflanzen nicht. Hiernach sind weder gelöste
Stoffe noch Sauerstoffmangel die Ursache der
Reizkrümmung.
Da durch das Einsetzen der Pflanzen in Wasser
abnorme Bedingun-
gen geschaffen wer-
den, ließ Wächter
auch Wasser in Ge-
stalt eines anhalten-
den Regens auf sie
einwirken (wozu die
Brause einer Gieß-
kanne verwendet
wurde, die durch
einen Schlauch mit
der Wasserleitung
verbunden war).
Auch in diesem
Falle senkten sich
die Blätter und ho-
ben sich wieder
nach Aufhören des
Regens; freilich war
die Reaktionszeit
länger. Verf be-
merkt, daß der Ver-
such deshalb nicht
ganz einwandfrei
sei, weil der me-
chanische Druck,
den der Regen aus-
übt, von Bedeutung
sein kann.
Auch abge-
schnittene, hori-
zontal stehende
Blätter, die mit
der Oberseite oder mit der Unterseite auf
Wasser gelegt wurden , zeigten die Reaktion,
indem sich die Blattscheide dicht an die Blatt-
spreite anlegte. Dieser Versuch zeigt i. daß
zur Hervorrufung der Krümmung eine allseitige
Benetzung nicht erforderlich ist, 2. daß ein etwaiges
Eindringen von Wasser durch die Spaltöffnungen
keine Rolle spielt (wie Verf durch Wägungen
feststellte, nehmen die Blätter überhaupt nur
wenig Wasser auf), 3. daß die Hemmung der
Transpiration für die Blattbewegungen ohne Be-
deutung ist.
Der Aufenthalt in dampfgesättigter Luft ist
Fig. 2. Reizlage.
154
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. lo
im allgemeinen ohne Wirkung auf die Blätter,
doch fanden sich Ausnahmen , die weitere Ver-
suche nötig machen.
Im Dunkeln reagieren die in Wasser gestellten
Pflanzen nicht in der geschilderten Weise, ob-
wohl, wie Versuche zeigten, die Verdunkelung
an und für sich das Wachstum und damit die
Krümmungsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Das
IJcht übt also einen Einfluß auf die Entstehung
der Krümmung aus. Verf zeigt, daß auch unter
normalen Bedingungen an den Blättern eine auf
oberseitigem Wachstum beruhende Krümmung
phot onastischer Natur eintritt, die aber
schwächer ist und langsamer verläuft als die
Krümmung unter Einwirkung des Wassers oder
des Leuchtgases. ') Man könnte „in der Wasser-
wirkung eine Beschleunigung der normalen photo-
nastischen Wirkung sehen". Verf bezeichnet die
Reaktion indessen als hy d ronastisch, weil sie
„sowohl in bezug auf die Reaktionszeit wie auf
die rückläufige Bewegung ganz der chemonasti-
schen Reaktion gleicht".
Die Wiederaufrichtung der aus dem Wasser
herausgenommenen Blätter erfolgt auch dann,
wenn die Pflanze ins Dunkle gebracht wird. Die
photonastisch gekrünmiten Blätter lassen sich
nicht wieder in die I lorizontalebene bringen, weil
sie ihr Wachstum beendet haben, wenn sie auf
etwa 45" oder 60" heruntergeklappt sind. (Jahr-
bücher für wissenschaftliche Botanik 1914, Bd. 53,
S. 305 — 326.) F. Moewes.
Astronomie. Die kosmologisch wichtige
Frage nach der Veränderlichkeit der Nebel hatte
bisher nur bei dem Hind'schen Nebel eine schein-
bar bejahende Antwort gefunden, diese wird so-
eben bestätigt durch eine Mitteilung von Borelly,
daß dieser Nebel augenscheinlich gegenwärtig
durch eine Periode des Maximums der Helligkeit
gehe. Nach einer Zusammenstellung von Bigurdan
gehen diese Beobachtungen an dem Nebel bis auf
Schönfeld in Bonn im Jahre 1861 zurück. [Nature
1913, 2291.J Riem.
Zoologie. Die ,, Schwebefortsätze" pelagischer
Cladoceren. Schon seit Jahren ist es bekannt, daß
die frei im Wasser schwebenden Organismen (das
sog. Plankton) in vielen Fällen lange Stacheln,
Spitzen, buckelartige Vorwölbungen oder andere
Fortsätze besitzen und daß diese Gebilde bei der
') Die Horizontalstellung der Blätter ist die Folge des
Photo tropismus (Reaktion gegen e i n s e i l i g e Lichtwirkung),
über den mit der Zeit die Photonastie die Oberhand gewinnt,
so daß sich die Blätter auch bei der günstigsten Stellung zum
Lichte mit dem Alter senken (meist bis 45—60"). Bei Ab-
schwächung des diffusen Lichtes kann der Phototropismus das
ijbergewicht über die Photonastie behaupten.
gleichen Art im Laufe des Jahres einen regel-
mäßigen Größenwechsel aufweisen, daß sie ferner-
hin von See zu See bei derselben Art oft beträcht-
liche Unterschiede in F'orm und Größe haben.
Man hat diese Formeigentümlichkeiten der Plank-
tonten bisher allgemein in Beziehung zu den jahres-
zeitlichen und lokalen Verschiedenheiten in der
Tragkraft des Wassers gesetzt und sie als „Schwebe-
organe" aufgefaßt (vgl. diese Wochenschrift 191 1,
N. F. X, p. 145 — 156). Allerdings wollten manche
Erscheinungen — z. B. die vertikale Haltung dieser
F'ortsätze bei einzelnen Formen, ihre Verlängerung
im Winter, Verkürzung im Sommer bei anderen
Arten — sich durchaus nicht in den Rahmen der
Schwebetheorie einpassen lassen. Nun hat kürz-
lich R. Wolter eck bei den pelagischen Clado-
ceren (den Wasserflöhen) Funktion, Herkunft und
Entstehungsursachen dieser sog. Schwebefortsätze
gründlich untersucht (Zoologica, 191 3, Heft 6-],
P- 475-550).
Durch eingehende Analyse der Bewegung, vor
allem der Daphnien und Bosminen, kam Wolter-
eck zu der Auffassung, daß all diese Körper-
fortsätze als gemeinsame, wichtigste Funktion die
haben, die Schwimmrichtung zu regulieren, indem
sie einerseits geradlinige Fortbewegung ermöglichen,
andererseits eine Horizontalisierung der Schwimm-
bahnen bewirken. Es sind also Richtungs-
organe, und zwar dienen sie teils alsFührungs-
flächen, teils als Steuer. Jene dienen dazti,
Abweichungen von der Vorlriebsrichtung zu er-
schweren, indem sie parallel der F'ortbewegungs-
richtimg liegen und bei jeder Abweichung als
Gegensteuer wirken; diese stehen beständig in
einem bestimmten Winkel zur Richtung der Eigen-
bewegung derart, daß die Schwimmrichtung eine
Resultante aus Bewegungsrichtung (Schlagrichtung
der Ruder) und Steuerablenkung darstellt; dazu
kommt noch der Einfluß der Schwerkraft und des
Lichtes.
Alle Tatsachen der jahreszeitlichen wie örtlichen
Formvariabilität der pelagischen Cladoceren werden
durch die neue W o It ere ck'sche Theorie in ver-
hältnismäßig einfacher Weise erklärt, keine steht
mit ihr in Widerspruch. Auch das bisher noch
ganz rätselhafte Problem der Vertikalwanderungen
der Planktonten wird durch sie dem Verständnis
näher gebracht. — Wir halten Woltereck 's
neueste Arbeit, die unsere Anschauungen über die
Bewegung der Planktonten durchgreifend ändert
und die verschiedenartigsten Probleme der moder-
nen Hydrobiologie in so eigener und interessanter
Weise beleuchtet, für eine der allerwichtigsten und
bedeutungsvollsten, die seit Wesenberg-Lund's
großen „Planktoninvestigations" über die Schwebe-
welt unserer Binnengewässer erschienen sind.
A. Thienemann (Münster i. W.).
N. F. XIII. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
155
Schlafkrankheit in Uganda. — Diese Infektions-
krankheit" wird Ijekanntlich hervorgerufen durch
einen Parasiten, das Trypanosoma gambiense, der
auf den Menschen durch den Stich eines in be-
stimmten Gegenden Afrikas weit verbreiteten
Insekts, der Glossina palpalis, übertragen wird.
Die Symptome bestehen in allgemeinen Drüsen-
schwellungen, später Apathie, mit Krampfzusiän-
den verbunden und dauernder Schlafsucht. Durch
die bekannte Afrikareise von Robert Koch ist
nun eine energische Bekämpfung der Schlafkrank-
heit in die Wege geleitet worden, so daß in man-
chen Gegenden die Fälle ganz wesentlich abge-
nommen haben. Zu diesen Orten gehört auch
Uganda (siehe Schilling, Deutsch. Med. Wochen-
schrift Nr. 43, 1913), wo seit etwa 18 Monaten
kein Todesfall mehr beobachtet worden ist. Zur
wirksamen Bekämpfung der Schlafkrankheit ge-
hört das System der Evakuierung der Bewohner
von Gegenden, die von der Glossina palpalis heim-
gesucht sind, in palpalisfreie Landstriche. Diese
Maßnahme wird von Seiten der Regierung sehr
energisch durchgeführt, wobei man den Leuten
6 Monate Zeit läßt, einen neuen Wohnort aufzu-
suchen. Nach dieser Frist werden alle Hütten,
Kähne usw. in dem alten Dorfe verbrannt, und
dadurch die Brutstätten der Insekten vernichtet.
Eine zweite Methode ist die der Abholzung.
Da es nachgewiesen ist, daß die Glossinen sich in
bestimmtem Buschwerk in der Nähe von Flüssen
aufhalten, ist man dazu übergegangen, dieses Busch-
werk erst abzuholzen und dasselbe an Ort und
Stelle zu verbrennen. Man muß dabei sehr sorg-
fältig vorgehen und die Wurzeln mehrmals aus-
roden, weil sonst sofort neue Triebe aufschießen.
Diese abgeholzten Stellen werden mit einer be-
stimmten Gra.sart, dem Citronellagras bepflanzt,
das imstande sein soll, durch seinen aromatischen
Geruch Mücken zu vertreiben. Doch tritt, wie
Schilling bemerkt, dieser Geruch erst zutage,
wenn man die Blätter zerreibt, und er hält des-
halb die Anpflanzung eines Oueckengrases (wie
in Entelbe) für wirksamer. Die Abholzungen
werden in einer Breite bis zu looo m vorgenorn-
men, danach kommt, nach dem Flußufer zu, ein
Streifen von Papyrusgestrüpp, in dem sich keine
Glossinen zu halten vermögen.
Eine dritte Methode der Bekämpfung ist die
Behandlung der Patienten selbst durch Injektionen
von Atoxyl. Während an manchen Orten die
Einwohner in ihren Hütten aufgesucht und auf
verdächtige Symptome hin untersucht werden —
durch sog. „Drüsenfühler", (weil die Schwellung
der Drüsen eines der ersten Symptome ist) —
findet diese Art der Behandlung in Uganda nicht
statt, sondern es werden hier nur die Leute be-
handelt, die von selbst kommen. Die weitere
Erforschung der Schlafkrankheit bietet noch .Aus-
sicht auf manche interessante Beobachtung über
die Art der Entwicklung des Trypanosoma in
Kleinere Mitteilungen.
der Glossina palpalis, sowie der Parasitenträger,
zu denen neben dem Menschen auch noch be-
stimmte Tierarten (Antilopen) gehören.
Dr. med. Carl Jacobs.
Ouarzgut. — Noch im Jahre 1903 konnte der
Besitzer der Quarz- und Platinschmelze in Hanau,
Heraus, in einem Vortrage gelegentlich des
fünften Internationalen Kongresses für angewandte
Chemie die Worte aussprechen: „Quarzglas wird
immer etwas Kostbares bleiben, und die Glas-
industrie hat darin keinen Konkurrenten zu fürch-
ten." Damals hatte Heraus auch recht, man
war eben noch darauf angewiesen, wie bei ge-
wöhnlichem Glase, mit Hilfe des Knallgasgebläses
zu arbeiten und es war nur mit großer Mühe und
Geschicklichkeit möglich, kleine Laboratoriums-
geräte herzustellen Im Jahre darauf wurde je-
doch eine Erfindung gemacht, die es ermöglichte,
aus geschmolzenem Sande Gegenstände in jeder
beliebigen Form und Größe herzustellen. Quarz-
glas ist, im Gegensatz zu gewöhnlichem Glas,
reiner Quarz oder Sand ohne Zusatz von Fluß-
mitteln. Die Herslellungstemperatur beträgt
2000" C. ^)
Die ersten Versuche, Quarzgeräte herzustellen,
fallen in das Jahr 1839, in dem es dem Franzosen
Gaudin gelang, l m lange, dünne Ouarzfäden
herzustellen. Späterhin arbeiteten Ga u t ie r ( 1878),
Moissan, Boys, Dufor, Le Chatelier,
Villard, Heraus, Shenstone und Huttoii
auf diesem Gebiete.
Diejenige Erfindung, auf der die heutige
Quarzguttechnik begründet ist, wurde von den
beiden Engländern Bottomley und Paget
1904 gemacht, und benutzt nicht mehr das Knall-
gasgebläse, sondern stellt erst einen Quarzzylinder
her und verarbeitet diesen durch entsprechende
Vorrichtungen mit Preßluft zu beliebigen Formen.
Nach diesem Verfahren gelingt es. Schalen bis
I m Durchmesser und entsprechend andere Ge-
rätschaften verhältnismäßig leicht herzustellen.
Verbesserungen dieses Verfahrens sind von Dr.
Völker und Dr. WolfBurckhardt erfunden
worden. Da Quarzgut einen sehr geringen Aus-
dehnungskoeffizienten hat — nur V)ii von Jenenser
Glas — , ist es ziemlich unempfindlich gegen
schroffen Temperaturwechsel, derart, daß man
solche Schälchen z. B. unvorgewärmt in eine
Knallgasflamme und dann sofort in kaltes Wasser
bringen kann. Quarzglas hat auch vor allem noch
eine interessante optische Eigenschaft, es läßt
ultraviolette Strahlen sehr gut durch. In F"orm
von Quecksilberquarzlampen wird es daher für
manche Zwecke, neuerdings zur Wassersterilisation,
angewendet, da ultraviolette Strahlen stark keim-
tötende Eigenschaften besitzen.
Infolge des Silberglanzes benutzt man neuer-
dings auch Quarzgut zu Schmuck- und Ziergegen-
') Technische Rundschau XIX. 21.
156
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. lo
ständen und in der Architektur zu Wandver-
zierungen. Otto Bürger-Kirn.
Weltwirtschaftliche Probleme Ostasiens. — In
der Hauptversammlung des Vereines deutscher
Eisenhüttenleute zu Düsseldorf am 30. Nov. 1913
hielt Dr. v. Wiese und Kaisers waldau,
Düsseldorf, einen Vortrag über dieses Thema.
Die Mahnungen mancher rditiker und Volkswirte
in Deutschland, sich mit China eifrig zu beschäf-
tigen, entsprechen in jeder Beziehung den Inter-
essen der Politik und Volkswirtschaft Deutsch-
lands, vor allem der Eisen erzeugenden und ver-
arbeitenden Industrie. Die Gewinnung des chinesi-
schen Marktes fordert das steigende Ausfuhrbe-
dürfnis der deutschen Eisenindustrie, wenn sie
den Wettbewerb mit der englischen aufrecht er-
halten will. Von allen Großmächten wird gleich-
zeitig um den chinesischen Markt gekämpft, weil
ein entscheidender Umschwung der Wirtschafts-
kultur Chinas eingetreten ist. Vor allem handelt
es sich um die t>schließung des chinesischen
Hinterlandes durch Eisenbahnen. Der Bedarf an
Maschinen , besonders an landwirtschaftlichen,
Bergwerks- und Werkzeugmaschinen, an Näh-
maschinen, an elektrischen Installationen, Schienen,
Motoren für das Kleingewerbe usw. ist groß
Der Hauptmangel im chinesischen Geschäfts-
verkehr besteht im Fehlen eines einheitlichen
Berg-, Patent- und Gesellschaftsrechtes. Die
Angelsachsen und die Japaner erkannten sehr
richtig, daß sich in China ein großer Einsatz lohnt.
Die englische Sprache wurde zur zweiten Landes-
sprache gemacht.
Durch die Gründung von ausgesprochen
deutschfeindlichen Gesellschaften, wie der British
Engineering Association und von entsprechenden
Zeitschriften, wie des Eastern Engineering, kämpfen
die Briten um den Vorsprung. R. Ditmar.
Die Stollbeule der Pferde ist eine Entzündung
des Schleimbeutels auf dem Ellenbogenhöcker
(bursa olecrani) und des umgebenden Gewebes.
Außer anderen Nachteilen bildet sie häufig einen
außerordentlich störenden Schönheitsfehler. Als
Ursache des Leidens wird allgemein Quetschung
der Haut des Ellenbogens und der bursa durch
Liegen mit untergeschlagenen Vorderbeinen in zu
engen Ständen, scharfe Stollen, zu lange Hufeisen,
schlechte Einstreu und dergl. angenommen. Kürz-
lich veröffentlichte Dr. Sustmann seine Er-
fahrungen über die Entstehungsweise der Stoll-
beule. Ohne daß es ihm gelungen ist, den näheren
Zusammenhang zu ergründen, will er beobachtet
haben, daß die Stollbeule nur in Ställen mit Holz-
pflasterung entstehe. Zur Behandlung wurde meist
eine Einreibung mit Quecksilberbijodatsalbe, An-
wendung von Atzmitteln oder der elastischen
Ligatur empfohlen. Alle diese Methoden erfreuten
sich aber bei den Tierärzten ebensowenig unge-
teilter Anerkennung, wie die operative Ent-
fernung der erkrankten Gewebsteile. Bei letzterer
erhält man sehr große, wegen ihrer Lage schwer
heilende Wunden, sowie häufig sehr störende
Blutungen. In einem Vortrage spricht nun
Dr. Magnußen über gute Erfolge, die er mit
der Operationsmethode nach Prof. Mörkeberg
erzielt hat. Die wesentliche Abänderung der neuen
Methode besteht darin, daß die ganze Geschwulst
vor dem Anlegen des ersten Schnittes mit Hilfe
der sog. Bayer'schen Naht von ihrer Unterlage
geschieden wird, die Wundnaht also gewissermaßen
vor Beginn der ( )peration angelegt wird. Nach
den bisherigen Erfahrungen dürfte dies Verfahren
geeignet sein, der operativen Pintfernung der Stoll-
beulen neue F"reunde zu gewinnen.
W. Ilgner.
Bücherbesprechiingen.
„Naturwissenschaftliche Jugendliteratur".
1 1 Naturwissenschaftl. -Technische Volksbücherei
der Deutschen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft
e.V., herausgegeben von Dr. Bastian Schmid.
Nr. i: Fischer, Dr. Hugo, Die Bakterien.
Mit Abbildungen. — Preis 20 Pf.
Nr. 2 : B 1 a n c k , Dr. E. , Wie unsere Acker-
erde geworden ist. — Preis 20 Pf.
Nr. 3 — 5: Schreber, Prof. Dr. K., Die
Eisenbahn. Mit 15 Abbildungen. — Preis 60 Pf.
Nr. 6: Wernicke, Gymnasialoberlehrer K.,
Wetterkunde. Mit 16 Abbildungen. — Preis
20 Pf.
Nr. 7 — 9: Gen gl er, Dr. J., Bilder aus dem
Vogelleben. Mit 4 Abbildungen. — Preis öo Pf.
Nr. 10 — 12: Wunder, L., Die Elektrizität
im täglichen Leben. Mit Abbildungen. — Preis
60 Pf.
Nr. 13-16: Plaßmann, Prof. Dr. J., Der
gestirnte Himmel. Mit zahlreichen Abbildungen.
— Preis 80 Pf.
Nr. 17—21 : Hen niger, Prof. Dr. Karl Anton,
Die Metalle nach Vorkommen, Gewinnung, Ver-
wendung und wirtschaftlicher Bedeutung. Mit
22 Abbildungen. — Preis i Mk.
Nr. 26 — 28: Bauer, Dr. H., Die Chemie der
menschlichen Nahrungsmittel. — Preis 60 Pf.
Nr. 36: Wald mann, Dr. A., Oberarzt, Erste
Hilfeleistung bei Unglücksfällen. Mit 26 Ab-
bildungen. — Preis 20 Pf.
Nr. 37 — 38: Schreber, Prof. Dr. Karl, Der
Luftverkehr. Mit 26 Abbildungen. — Preis
40 Pf
Nr. 44: Lipschütz, Dr. Alexander, Von
den Drüsen unseres Körpers. Mit zahlreichen
Abbildungen. — Preis 20 Pf.
Nr. 45 : , Pflanze und Tier. Mit 8 Ab-
bildungen. — Preis 20 Pf.
Nr. 46: — — , Wasser und Salze im Haus-
halte des Organismus. Mit 8 Abbildungen. —
Preis 20 Pf.
Nr. 56,57: Bauer, Dr. Hugo, Trinkwasser
und Trinkwasserversorgung. — Preis 40 Pf.
Nr. 58/59: Blanck, Dr. E. , Die Lehre von
N. F. XIII. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
157
der Ernährung und Düngung der Pflanzen.
Teil I. — Preis 40 Pf.
Nr. 84 — 85: , Teil II. Mit zahlreichen
Abbildungen und Tabellen. — Preis 40 Pf.
Nr. 60/61 : Berg, Dr. Alfred, Wie unsere
Erde geworden ist. Mit 42 Abbildungen. —
Preis 40 Pf.
Nr. 74-75: H i 1 z h e i m e r , Dr. M. , Urge-
schichte des Menschen. Mit zahlreichen Abbil-
dungen. — Preis 40 Pf.
Nr. 76 — 78: Ho ff bau er, Dr. C, Unsere
einheimischen Süßwasserfische und die Fisch-
zucht. Mit 14 Tafeln und 20 Abbildungen im
Text. — Preis 60 Pf.
Nr. 79—81: Fest, Dr. Franz, Gemüse- und
Obstbau im Haus- und Wirtschaftsgarten. —
Preis 60 Pf.
Nr. 86— 87; Wald mann, Dr. A., Die Tuber-
kulose und ihre Bekämpfung. Mit zahlreichen
Tabellen. — Preis 40 Pf.
Thomas' Volksbücher, herausgegeben von Dr.
Bastian Schmid.
Nr. 88—90: Block, Dr. Walter, Grundlagen
der Photographie. Mit 28 Abbildungen. —
Preis 60 Pf.
Nr. 94 — 95: Lipschütz, Dr. Alexander,
Allgemeine Biologie für Selbstunterricht und
Schule. I. Teil: Zellenlehre. Mit 60 Abbil-
dungen. — Preis 40 Pf.
Nr.98— loi: Lämmermayr, Dr. L., Unser
Wald, ein Kapitel denkender Naturbetrachtung
im Rahmen der vier Jahreszeiten. Mit 71 Ab-
bildungen. — Preis 80 Pf.
Nr. 107 — 109: Thiele, Dr. R., Die wichtig-
sten Faserpflanzen. Mit 17 Abbildungen. —
Preis 60 Pf.
2) Prof Dr. Bast ian Schmid's naturwissen-
schaftliche Schülerbibliothek.
2) Rebenstorff, Prof H., Physikalisches
Experimentierbuch. II. (Schluß )Teil. Anleitung
zum selbständigen Experimentieren für mittlere
und reife Schüler. Mit 87 Abbildungen im
Text. 178 Seiten. 1912. — Preis 3 Mk.
12) Graebner, Prof. Dr., Vegetationsschil-
derungen. Eine Einführung in die Lebens
Verhältnisse der Pflanzenvereine, namentlich in
die morphologischen und blütenbiologischen
Anpassungen. Für mittlere und reife Schüler.
Mit 40 Abbildungen und 184 Seiten. 1912. —
Preis 3 Mk.
16) Hock, Dr. F., Prof., Unsere Frühlings-
pflanzen, Anleitung zur Beobachtung und zum
Sammeln unserer Frühjahrsgewächse für jüngere
und mittlere Schüler. Mit 76 Abbildungen im
Text. 180 Seiten. 19 12. — Preis 3 Mk.
17) Sassenfeld, Max, Oberlehrer, Aus dem
Luftmeer. Meteorologische Betrachtungen für
mittlere und reife Schüler. Mit 40 Abbildungen.
183 Seiten. 191 2. — Preis 3 Mk.
18) Schaf fer, Prof. Dr. C. , Biologisches
Experimentierbuch. Anleitung zum selbsttätigen
Studium der Lebenserscheinungen für jugend-
liche Naturfreunde für mittlere und reife Schüler.
Mit 100 Abbildungen im Texte. 269 Seiten.
191 3. — Preis 4 Mk.
19) Wunder, L. , Physikalische Plaudereien
für 10- bis 14jährige Schüler aller Schulgattun-
gen. Mit 15 Abbildungen. 47 Seiten. 191 3.
— Preis I Mk.
22) , Chemische Plaudereien für 10- bis
14jährige Schüler aller Schulgattungen. Mit
5 Abbildungen. 42 Seiten. 191 3. — Preis i Mk.
Leipzig und Berlin, B. G. Teubner.
i) Was die „Deutsche Naturwissenschaftliche
Gesellschaft" laut Satzungen als ihre Aufgabe be-
trachtet, „die Errungenschaften der Naturforschung
in gediegener und zugleich gemeinverständlicher
Weise in die weitesten Kreise zu tragen", das
sucht sie durch die von ihr herausgegebene und
von ihrem Vorstandsmitgliede Herrn Prof. Dr.
Bastian Schmid geleitete Naturwissenschaft-
lich-Technische Volksbücherei weiter zu erreichen.
Die Ankündigung, die der Verlag Theod. Thomas,
Leipzig als Aufruf zur Beteiligung an das Publi-
kum hinaussendet, spricht sich über Zweck und
Ziel dieser Bücherei in folgenden Sätzen aus :
„Um diese Aufgabe in ihrem großen Umfange
erfüllen zu können, begnügen sich diese Bücher
nicht mit der üblichen Darstellung des Stoffes,
vielmehr kommt es ihnen in erster Linie darauf
an, das Selbstbeobachten und das Denken anzu-
regen und in enger Fühlung mit den Erschei-
nungen des täglichen Lebens zu bleiben. Sie
wollen zeigen, wie man an die Natur mit Fragen
herantritt, wie die Männer der Wissenschaft Er-
fahrungstatsachen verarbeiten, kurz, welches die
Aufgaben der Wissenschaft und Technik sind.
Des weiteren wird dargetan, wie die Naturwissen-
schaften ineinandergreifen, zu praktischen Ergeb-
nissen führen und ein wesentlicher Bestandteil
unseres ganzen Kulturlebens werden . . ." Aus
den Titeln der Einzelhefte der Bücherei, auf deren
Inhalt im besonderen einzugehen wegen der
großen Zahl hier der Platz fehlt, ist zu ersehen,
daß die Leser über das ganze Gebiet der Natur-
wissenschaften und der Technik gemeinverständ-
lich, aber wissenschaftlich einwandfrei von Autoren
belehrt werden, die P'achleute auf ihrem Gebiete
sind; der außerordentlich billige Preis der Einzel-
hefte ermöglicht es jedem, der Belehrung in
naturwissenschaftlichen Fragen sucht, in den Besitz
der Bibliothek zu gelangen. Ich begrüße diese
Naturwissenschaftlich - Technische Volksbücherei
als Waffe gegen die naturwissenschaftliche Halb-
bildung, die sich in so erschreckendem Maße im
Volke so breit macht; in allen öffentlichen
Büchereien (Volksbibliotheken) sollten diese
Heftchen ausgelegt werden. Die Deutsche Natur-
wissenschaftliche Gesellschaft erwirbt sich durch
die Herausgabe dieser Naturwissenschaftlich-Tech-
nischen Volksbücherei ein bleibendes Verdienst,
im edlen Sinne aufklärend zu wirken.
2) Rebenstorff's Physikalisches Experimentier-
buch, II. Teil, wendet sich an mittlere und reife
158
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xlll. Nr. lo
Schüler, mit Versuchen aus schwierigeren Kapiteln
der Physik, die selbsttätig mit den einfachsten
Mitteln auszuführen selbst dem Ungeschicktesten
möglich sein wird. Sie sollen die Schüler zum
gründlicheren Beob.ichten und Nachdenken an-
regen, da sie häufig das gestellte Thema von
einer anderen als der im Unterrichte vorgetragenen
Seite anpacken lernen. Viele Versuche behandeln
Gebiete, die, wie der Verf. in dem Vorwort
schreibt, trotz ihrer außerordentlich großen Be-
deutung nur selten mit Aussicht auf Verständnis
im Unterricht behandelt werden können. Das Buch
ist ein hübsches Geburtstags- oder Weihnachtsbuch.
In anregendem, anspruchslosem Stil schildert
Graebner in seinen für mittlere und leife
Schüler bestimmten Vegetationsschilderungen die
wichtigsten biologischen Erscheinungen, die sich
überall auf S[5aziergängen an den Pflanzen beob-
achten lassen. Die beigegebenen, treu nach der
Natur gezeichneten Abbildungen werden das Auf-
finden der betreffenden Pflanzen und der an ihnen
zu beobachtenden Einrichtungen erleichtern, so-
wie andererseits das genaue Register dazu dienen
kann, den Standort und die genauere Beschreibung
einer bestimmten, dem Namen nach bekannten
Pflanze leicht zu ermitteln (angezeigt von Prof.
Dr. K o e r b e r). —
Höck's ,, Unsere P"rühlingspflanzen" ist dem An-
denken Bernhard Landsberg 's gewidmet;
wer seine Streif' üge durch Wald und Flur kennt,
wird beim Durchblättern des vorliegenden Bandes
immer wieder an den unvergessenen Schulmann
erinnert. Das Buch schildert die Frühblüher, ihre
Lebensweise und ihren Zusammenhang mit der
Organisation in einem verständlichen und leicht-
flüssigen Stile, reicher Buchschmuck ziert das
empfehlenswerte Büchlein. —
Sassenfeld's ,,Aus dem Luftmeer", wird ohne
Zweifel eifrig von den Schülern gelesen werden,
da Luftschiff und Flugapparat das Interesse der
deutschen Jungen an der Luft gesteigert haben,
werden theoretische Erklärungen über meteoro-
logische Tatsachen und Beobachtungen ihnen lieb
werden, da sie ihnen das einleuchtend machen,
was die Praxis täglich vorführt. Der Verf. be-
müht sich, die Knaben in die Gesetze der Meteoro-
logie einzuführen und zu Versuchen anzuregen.
Es ist mir eine Freude, Schäffer's Biologi-
sches Experimentierbuch, dieses ausgezeichnete
Büchlein, auch an dieser Stelle rühmend nennen
zu dürfen. Eine Fülle von Versuchen aus der
Pflanzen- und Tierwelt, viele mit den einfachsten
und billigsten Hilfsmitteln ausführbar, ist darin
enthalten, so daß der Lehrer an der Hand dieses
famosen Büchleins niemals in Verlegenheit kommen
wird; viele Versuchsanordnungen sind enthalten,
die man in den vielen bekannten Leitfäden und
Praktiken für das biologische Schullaboratorium
vergeblich sucht; daher wird auch der erfahrenere
Praktiker mit Erfolg das Büchlein benutzen können.
Wunder 's Plaudereien sind an jüngere Schüler
gerichtet, die anfangen, ihr Interesse an physikali-
schen und chemischen Vorgängen durch Basteleien
zu bekunden; viele höchst einfache Versuche lenken
den Betätigungsdrang in vernünftige Bahnen ; das
Büchlein wird die Knaben besonJers in der langen
Winterzeit nützlich beschäfiigen, sie über Stunden
der Langeweile hinweghelfen und sie gleichzeitig
über manche Fragen des Alltags belehren.
W. Hirsch, Dr. phil., Oberlehrer.
W. Nernst und A. SchoenfJies, Einführung
in die mathematische Behandlung der
Naturwissenschaften. Siebente vermehrte
und verbesserte Auflage. XII und 444 Seiten
mit 85 Abbildungen im Text. München und
Berlin, Verlag von R. Oidenbourg, 1913. —
Preis geb. 10 Mk.
Das vorliegende kurzgefaßte Lehrbuch der
Differential- und Integralrechnung wendet sich in
erster Linie an die Chemiker, die es mit den für
das Verständnis der Entwicklung ihrer Wissen-
schaft in neuerer Zeit unentbehrlichen mathema-
tischen Kenntnissen ausrüsten will. Dieser Auf-
gabe wird das Buch, wie ja das Erscheinen der
siebenten Auflage beweist, in ganz ausgezeichneter
Weise gerecht, und man kann ihm daher unter
den jüngeren Naturwissenschaftlern , denen ihr
SpezialStudium nicht die erforderliche Zeit zur
Erwerbung größerer mathematischer Kenntnisse,
wie sie etwa der theoretische Physiker besitzen
muß, übrig läßt, recht viele Leser wünschen.
Besondere Vorkenntnisse werden von den Ver-
fassern mit Recht nicht vorausgesetzt; für die
verständnisvolle Lektüre genügt es, wenn man die
auf einem humanistischen Gymnasium erworbenen
Kenntnisse noch in ganz dunkler Erinnerung hat,
denn im ersten Kapitel werden die Elemente der
analytischen Geometrie, soweit sie für das Ver-
ständnis nötig sind, gewissermaßen zur Wieder-
holung noch einmal gründlich durchgenommen
und ergänzt, und in einer „Formelsammlung" wer-
den dem Leser die wichtigeren Tatsachen der
elementaren Mathematik, die er etwa vergessen
haben könnte, in die Erinnerung zurückgerufen.
Auch für den Selbstunterricht, der in neuerer
Zeit immer mehr an Wichtigkeit gewinnt, eignet
sich das Werk sehr gut. Die Darstellung ist sehr
klar, auf Mißverständnisse, wie sie dem Anfänger
leicht auftreten , wird an geeigneten Stellen be-
sonders aufmerksam gemacht, die erworbenen
Kenntnisse werden dem Lernenden durch Übungs-
aufgaben, die in einem Anhange zusammengestellt
sind, näher gebracht, in den Text verstreute Bei-
spiele aus der Chemie und der Physik tragen viel
dazu bei, den praktischen Nutzen der erworbenen
Kenntnisse darzutun und damit das Interesse an
der Sache wach zu halten. Der Umfang des dar-
gebotenen Stoffes ist so bemessen, daß dem Leser,
der das Werk gewissenhaft durchgearbeitet hat,
das Verständnis aller Probleme der theoretischen
Chemie und selbst mancher schwierigerer Kapitel
der theoretischen Physik erschlossen ist.
Clausthal i. H. Werner Mecklenburg.
N. F. XIII. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
159
Dr. Max Offner, Das Gedächtnis. Die Er-
gebnisse der experimentellen Psychologie und
ihre Anwendung in Unterricht und Erziehung.
Dritte, vermehrte und teilweise umgearbeitete
Auflage. XII und 312 Seiten. Berlin, Verlag
von Reuther & Reichard, 19 13. ■ — Preis geh.
4,20 Mk., geb. 5 Mk.
Der Verf. gibt uns in einer gründlichen , um-
fangreichen Arbeit , die in auffallend kurzer Zeit
bereits zum dritten Male aufgelegt ist, eine wert-
volle Monographie über das Gedächtnis. Er hat
sich nicht nur in sorgfältigster Weise mit der
reichen Literatur über den bedeutungsvollen
Gegenstand vertraut gemacht, sondern auch feste
Stellung zu den zahlreichen Theorien genommen.
Mag auch der erkenntnistheoretische Standpunkt
hier und da stärker, als uns lieb ist, auf die Aus-
drucksweise abgefärbt haben, so müssen wir doch
die psychologischen Ansichten des Verf als wohl-
begründet bezeichnen.
Offners Werk ist in erster Linie für Lehrer
bestimmt, aber es wird auch dem F"achphilosophen
die besten Dienste leisten. Die Behandlung der
mannigfaltigen Probleme, deren Aufzählung uns
zu weit führen würde, ist durchaus verständlich;
höchst anziehend sind die vielen Beispiele und
namentlich die auf Erziehung und Unterricht sich
erstreckenden Regeln und Anweisungen. Nicht
unerwähnt bleibe, daß ein überaus reiches Literatur-
verzeichnis sowie ein nicht minder sorgfältiges
Namen- und Sachregister die Verwendbarkeit des
Buches erhöhen.
Möge das treffliche Buch, das übrigens auch
durch Aufdeckung mannigfaltiger Schwierigkeiten,
Unklarheiten und ungenügend begründeter Auf-
fassungen einen Anstoß zu neuer Forschung zu
geben vermag, weiteste Verbreitung finden !
Angersbach.
Dr. E. Zernecke's Leitfaden für Aquarien-
und Terrarien freunde. 4. gänzlich neu
bearbeitete Auflage von C. Heller und P.
Ulmer. Mit 200 Abbildungen im Text. Ver-
lag von Quelle & Meyer in Leipzig. 1913.
Daß der Z er necke'sche Leitfaden eines der
populärsten Handbücher für Aquarien- und Ter-
rarienfreunde ist, zeigen die rasch aufeinander
folgenden Auflagen. So wurde auch gerade diese
Schrift in ihrer 3. Auflage bei der Ausstellung
des Vereins der Aquarien- und Terrarienfreunde
in Stuttgart 190g den Ausstellern als Vereinsgabe
verliehen. Während aber die 2. 1904 von Hes-
dörffer, und die 3. 1906 von Leonhardt be-
arbeitete Auflage sich wenig voneinander unter-
scheiden, ist diese 4. Auflage wesentlich neu
bearbeitet, wobei sich 2 Schriftsteller in die
Arbeit geteilt haben: C. Heller, bekannt als
Verfasser des ,, Süßwasseraquariums 1908", für das
Süß- und Seewasseraquarium, P. U 1 m e r, Verfasser
einer Schrift über die „Wasserinsekten", für das
Terrarium. Die Neubearbeitung bezieht sich haupt-
sächlich auf den technischen und praktischen
Teil, aber auch der wissenschaftliche Teil: Auf-
führung der Tiere und Pflanzen, erfuhr eine be-
deutende Veränderung; bei allen Namen wurde
der Gewährsmann , d. h. der Name des ältesten
Beschreibers der Art, wie es sich bei wissenschaft-
lichen Schriften von selbst versteht, beigesetzt, z. B.
Tinea vulgaris Cuvier ^= Schleie, und in zweifel-
haften Phallen wurden die neueren Autoren, wie
A. Günther, Boulenger, Regan usw. zu
Rate gezogen. Die Zahl der aufgeführten Tiere und
Pflanzen wurde vermehrt, besonders durch die Neu-
erscheinungen, wie Xyphophorus striatus, Cyno-
lebias Bellotti, Pantodon Buchholzi, Pterophyllum
scalare, während andere, nicht oder wenig mehr
im Handel vorkommende , ausgemerzt wurden,
wie Toxotes jaculator, Amia calva. So nur war
es möglich, die Seitenzahl der vorigen Auflage:
455 oder 456 zu erhalten. Auch die Abbildungen
wurden teils vermehrt, teils vermindert, sie be-
stehen nur noch in Textfiguren, die früheren Voll-
tafeln wurden aufgegeben, wobei freilich auch das
hübsche Titelbild : die Farbentafel mit Tricho-
gaster calius fallen mußte.
Beim Kapitel : Goldfische vermisse ich die
Angabe von Kreyenberg und Tornier, daß
manche Rassen derselben auch ohne künstliche
Zuchtwahl entstehen können, beim Kapitel: Tri-
tonen wäre die Abbildung eines Spermatophoren
nach C. Zeller wünschenswert gewesen, da die
Beobachtung solcher auch für Laien wohl mög-
lich ist. Auch die lungenartige Funktion des
Labyrinths der Labyrinthfische mit seinem Gefäß-
reichtum, wie sie neuerdings G. Henninger
1907 dargelegt hat, hätte hervorgehoben werden
sollen. Die photographischen Abbildungen von
Tieren im Wasser fallen meistens etwas unklar aus
gegenüber von Zeichnungen. Klz.
Festschrift für Karl Sudhoff. Mit 1 Bildnis,
4 Abbildungen im Text und i Tafel. Archiv
für die Geschichte der Naturwissenschaften und
der Technik 6. Band.
Die Festschrift ist Sudhoft' zur F"eier seines
sechzigsten Geburtstages gewidmet. Eine große
Zahl namhafter Gelehrter hat sich an der Ehrung
beteiligt. Hauptsächlich aus dem Gebiet der
Medizin, aber auch aus der Geschichte der Natur-
wissenschaften, liegen 55 historische Aufsätze vor.
Der Inhalt ist äußerst vielgestaltig. Den Beginn
macht Karl Boas mit einer Mitteilung über
,, mittelalterliche Hebammenordnung". Von allge-
meinem Interesse ist z. B. der Aufsatz von G.
Buschan über das Schwimmen bei den Natur-
und frühgeschichtlichen Völkern sowie von F.
Dannemann über ,,die Naturwissenschaften in
ihrer Entwicklung und in ihrem Zusammen-
hang". Von Eugen Holländer finden wir
Bemerkungen zu einem persischen Anatomie-
bild, von Poske „Galilei und der Kausalbegriff".
— Es sind hier nur wenige Arbeiten herausge-
griffen, es findet sich eine Fülle des Interessanten
in dem vorliegenden Band. Mit Genugtuung wird
i6o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. lo
Sudhoff an seinem Ehrentage diese schöne
Gabe entgegengenommen haben, da er sich sagen
durfte, daß von seiner Lebensarbeit vielfache An-
regung und Befruchtung auf das Gebiet gefallen
ist, dessen fleißiger Anbau durch hervorragende
Forscher eben die Festschrift beweist. — Geschichte
der Naturwissenschaften und Medizin ist ein wich-
tiges Stück Kulturgeschichte. So ist die Fest-
schrift als ein Beitrag zur Kulturgeschichte an-
zusehen und hoch zu bewerten.
Ernst Schwalbe (Rostock).
Anregungen und Antworten.
Ihre Antwort auf die erste Frage des Herrn J. K. Cöln-
Ehrenfeld in Nr. 51 19 13 dieser Zeitschrift ist unzutreffend
(wie schon in Nr. 5 1914 von zwei Seiten betont wurde).
Tatsächlich beschreiben Seedampfer vor Antritt einer Reise
sehr oft erst einen Kreis, ehe sie ihren Kurs steuern, wie ich
mehrfach miterlebt habe. Aber nicht die Länge der beab-
sichtigten Reise ist das ausschlaggebende, sondern die Ladung.
Jedes eiserne und stählerne Schilf hat seinen ihm eigentüm-
lichen magnetischen Koeffizienten, der Kompaß zeigt ganz
wesentlich anders als an Land oder auf reinen Holzschiffen.
Zum großen Teil wird dieser irreführende Einfluß des Riesen-
magneten ,, Schiff" auf die Kompasse kompensiert, ausgeglichen
durch große , quer zur Schiffsrichtung angebrachte, in ihrer
Stellung regulierbare Metallklötze dicht neben dem Kompaß-
gehäuse, aber jeder Kompaß behält einen bestimmten Fehler
bei, der auch dem Laien dadurch kenntlich wird, daß z. B.
der steuernde Matrose einen etwas anderen Kurs befohlen er-
hält, als der wachhabende Offizier auf dem Kontrollkompasse
abliest; die nach den Kompaßangaben innezuhaltenden Kurse
sind für jeden einzelnen Kompaß angeschrieben und lauten
etwas verschieden. Durch die rhythmischen Stöße der Ma-
schinen und durch die vibrierenden Eigenschwingungen des
Schiffskörpers ändert sich nach bekannten Gesetzen der Mag-
netismus des großen stählernen Schiffskörpers, bis er nach
vielen Reisen konstant bleibt. Aber noch viel eingreifendere
wechselnde Änderungen treten ein bei Eisenladungen, be-
sonders Maschinen, Eisenbahnschwellen auf der Ausreise,
Eisenerzen auf der Rückreise. Dann fährt das Schiff nach der
,, Deviationsboje" und peilt die am Ufer aufgestellten ,, Devia-
tionsbaken", und die Offiziere stellen fest, welche Schwankun-
gen die Kompaßrose ausführt, wenn sich das Schiff sozusagen
unter dem Kompasse herumdreht. Diese Ladungsmißweisungen
in den verschicdenenLagen des Schiffes zu den Himmelsrichtungen
werden gebucht und sind bei den Kursfeststellungen sehr wichtig.
Aus diesen Gründen beobachtet der Reisende dieses ,, Kreis-
fahren" nicht bei kurzen Fahrten nach England, Skandinavien
usw., auch nicht bei den großen Schnelldampfern nach Nord-
amerika, da diese keine Schwerfracht laden, wohl aber bei den
kombinierten Fracht- und Passagierdampfern nach Ost- und
Westafrika , da diese stets sehr starke Eisenladungen führen,
und bei anderen Linien nach Bedarf Dr. P. Diettrich.
Die im diesjährigen 5. Hefte (S. 80) dieser ,, Wochen-
schrift" enthaltene lichtvolle Ergänzung der Antwort auf die
Frage der Steuerfähigkeit der ohne Eigenbewegung flußab-
wärts treibenden Schifte bedarf einer Erweiterung. Es zeigen
diese Fähigkeit nämlich Fahrzeuge von eigenartiger Gestalt
(Raddampfer mit stillstehender Maschine, Flöße usw.) weniger
und alle .Schiffe von geringerer Größe abwärts an gar nicht.
Hier wirkt der durch das Heruntergleiten auf dem Gefälle
erzeugten Beschleunigung die Reibung (Adhäsion) der
Oberfläche des Schwimmkörpers an dem Wasser erfolg-
reich entgegen. Da die Masse eines Körpers mit der drei-
tachen Potenz seiner linearen .Abmessung, seine Oberfläche
aber nur mit dem Quadrate des linearen Maßes zunimmt, so
leuchtet ein, daß eine nur von der Körpermasse abhängige
Kraft die größeren Schwimmkörper stärker beeinflußt als die
kleineren. Heibig.
Herrn Lehrer E. Seh. in Leipzig-Schönfeld.
Rezept für Polreagenzpapier:
1. Man tränke Fließpapier mit einer Lösung von 250 g
Salpeter in i 1 Wasser und tauche nach dem Trocknen das
Papier in eine Lösung von 5 — 6 g Phenoiphtalein in Alkohol.
oder:
2. Man tränke Fließpapier mit Stärkekleisler (2 : 100), der mit
Kaliumjodid und alkoholischer Phenolphtaleinlösung versetzt ist.
Polsucherflüssigkeit besteht in der Regel aus einer Lösung
von 5 g Salpeter in 20 g Wasser und 50 g Glyzerin, welcher
eine Lösung von 0,5 g Phenoiphtalein in lo g .Mlsohol zu-
gemischt ist, oder man erhält sie, wenn man die P'lüssigkeit
unter 2. auf das 10 fache verdünnt. (Die Angaben sind ent-
nommen aus Lehmann-Frick, Physikalische Technik, Vieweg
u. Sohn, 1909.)
Wenn Sie in ein Gefäß mit Wasser einige Tropfen der
alkoholischen Phenolphtaleinlösung geben und etwas Kali-
lauge oder Sodalösung hinzusetzen, so wird die Flüssigkeit
rot ; nach Zusatz von Säure entfärbt sie sich wieder.
Das Six- Maximum-Minimum-Thermometer ist ein einfaches
Weingeistthermometer mit mehrfach gebogener Röhre. Von
A bis B etwa ist der Weingeistfaden durch einen Quecksilber-
faden unterbrochen. Wird das Thermometer
erwärmt, so steigt infolge der Ausdehnung von
Weingeist und Quecksilber, da das Rohr bis an
das Ende e mit Flüssigkeit gefüllt ist, das Queck-
silber auf der Seite B in die Höhe und schiebt
dabei einen kleinen eisernen Stift, der im Wein-
geist auf dem Quecksilber lagert, mit in die
Höhe. Beim .Abkühlen sinkt das Quecksilber
wieder, der Stift bleibt aber infolge der Reibung
an der Glaswand zurück und zeigt also die höchste
Temperatur an, der das Thermometer ausgesetzt war. Mittels
eines Magnetes zieht man nach der Ablesung den Stift wieder
herunter. Bei A befindet sich ein gleicher Stift, der also das
Minimum der Temperatur angibt. Valentiner.
9
U'
Le Comite de Bibliographie et d'Etudes astronomiques
compose de quelques membres du personnel de l'Observaloirc
royal de Belgique: MM. P. Stroobant, Prof. Dr., premier
astronome, chef de service, membre de l'Academie royale de
Belgique; J. Delvosal, Dr. astronome; H. Philippot, Dr. astro-
nome; E. Delporte, Dr. astronome adjoint, va publier une
nouvelle edition de l'ouvrage Les Observatoires astronomiques
et les astronomes, paru en 1907.
Une demande de renseignements concernant le personnel,
les Instruments, les recherches et les publications est adressee
aux Directeurs des divers Observatoires.
L'ouvrage renfermera aussi, comme la premiere edition,
les noms des astronomes libres (professeurs d'astronomie,
amateurs, etc.) qui ne sont attaches ä aucun observatoire mais
qui s'occupent activement de recherches astronomiques.
Nous prions les Directeurs d'Observatoires et les astro-
nomes libres, auxquels une demande de renseignements ne
serait pas parvenue ou qui n'auraient pas encore envoye leur
reponse, d'adresser les indications mentionnees ci-dessus ou
de signaler toute Omission, le plus tct possible au Directeur
du comite: M. P. Stroobaut, ä l'Observatoire royal, ä Uccle
(Belgique).
Inhalt; K. Andree: Die petrographische Methode der Paläogeographie. Wi 1 h. R. E ckar d t : Einbürgerungsversuche als
.Möglichkeiten zur Erforschung des Vogelzuges. — Einzelberichte: V. K ohl seh ütter : Über die Erscheinungsformen
des elementaren Silbers. H. Freundlich und G. v. Elissafoff: Bestimmung der Wertigkeit des Radiums mit Hilfe
der Elektroendosme. Charles G. Barkla: Charakteristische Röntgenstrahlen. M. de Broglie: Photographie der
Spektren der Röntgenstrahlen. W. Wächter: Hydrouastische Blattbewegungen. Borelly; Veränderlichkeit der Nebel.
R. Wolle reck: Die ,, Schwebefortsätze" pelagischer Cladoceren. — Kleinere Mitteilungen: Schilling: Schlaf-
krankheit in Uganda. Otto Bürger: Quarzgut. v. Wiese und Kaiserswaldau: Weltwirtschaftliche Probleme
Ostasiens. Sustmann: Die Stollbeule der Pferde. — Bücherbesprechungen: Naturwissenschaftliche Jugendliteratur.
W. Nernst und A. Schoenflies: Einführung in die mathematische Behandlung der Naturwissenschaften. Dr. Max
Offner: Das Gedächtnis. Dr. E. Zernecke: Leitfaden für Aquarien- und Terrarienfreunde. Festschrift für Karl
Sudhoff. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Hand;
der ganzen Reihe 2g. Band,
Sonntag, den 15. März 1914.
Nummer 11.
Neuere Untersuchungen über den Farbensinn der Insekten.
[Nachdruck verboten.
Von Privatdozent Dr. F. Stellwaag, Erlangen.
Nach der Theorie von J o h. M ü 1 1 e r wird durch
das zusammengesetzte Auge der Insekten das ge-
sehene Objekt mosaikartig in einzelne Felder zer-
legt, von denen jedes seine Existenz einem Augen-
keile verdankt. Zweifellos nimmt das Insekt die
Umrisse des Gegenstandes um so deutlicher wahr,
je mehr solcher Keile den Komplex zusammen-
setzen und je länger die Kristallkegel sind. Doch
steht die Deutlichkeit des Bildes im umgekehrten
Verhältnisse zu seiner Helligkeit. Mit diesen durch
anatomische Untersuchungen gewonnenen Resul-
taten stimmen die biologischen Beobachtungen
vollkommen überein. So besitzen die Bienen wegen
der großen Zahl der Augenkeile lichtschwache
Augen und reagieren daher auf jede Verminderung
der Belichtung, eine Tatsache, auf die weiter unten
noch hingewiesen werden wird. Über ihre Empfind-
lichkeit machte Zander (Ja)') gelegentlich der
Sonnenfinsternis am 17. April 1912 folgende Be-
obachtungen:
12/01 : Beginn der Verfinsterung.
l/oo: Hälfte der Sonnenscheibe vom Mond be-
deckt. Es herrscht ein eigenartiges gedämpftes
Licht. Die Bienen eilen scharenweise heim. Nur
einzelne, welche schon vorher draußen waren, sieht
man an den Blüten. Keine Bienen fliegen mehr
aus. Manche Völker haben sich schon ganz in
ihre Kästen zurückgezogen.
i/io: Leuchtender Teil der Sonne noch sichel-
förmig. Keine Biene mehr auf den Blüten. Die
amerikanischen Goldbienen und Italiener sind be
sonders still geworden.
1/22: Die Verfinsterung hat ihren Höhepunkt
erreicht. Die Temperatur ist auf 13 Grad C ge-
sunken. Ein kühler Zug geht durch den Garten.
Vor den Ständen herrscht Totenstille wie am
späten Abend.
1/30: Es wird heller. Die Mondscheibe ent-
weicht nach oben und rechts, leuchtende Sonnen-
sichel am unteren linken Rande. Noch zeigt sich
keine Biene.
1/40 : Die Verfinsterung geht zurück. Einzelne
Bienen wagen sich ins Freie.
1/50: Die Sonnenscheibe wird fast frei. Der
Bienenflug wird lebhafter und nimmt allmählich
seine frühere Stärke wieder an.
Während die Empfindlichkeit des Insektenauges
für Helligkeitsgrade außer allem Zweifel steht,
herrscht in der Entscheidung der Frage, ob den
Insekten ein Farbensinn zukommt, durchaus keine
Einmütigkeit, ja die Gegensätze scheinen sich
') Die Zahlen weisen auf das Literaturverzeichnis am Ende
des Artikels hin.
immer mehr zuzuspitzen, seit Plateau in einer
Reihe von Abhandlungen gegen die Anschauungen
von Sprengel protestiert hatte.
Chr. D. Sprengel hatte 1793 den Gedanken
ausgesprochen, daß die Insekten von den Farben
der bunten Blüten angezogen würden und daher
farbentüchtig sein müßten. Nicht ganz 100 Jahre
nach ihm beschäftigte sich der kürzlich verstorbene
vorzügliche Beobachter Lubbock (6) mit der
gleichen Frage und suchte sie mit Hilfe der sog.
Dressurmethode zu lösen. Er fand, daß eine Biene,
die er zu einem kleinen Tropfen Honig auf blaues
Papier gebracht hatte, bei jedem Besuch zum blauen
Papier zurückkam, auch wenn er dieses an einen
anderen Platz brachte und an die frühere Stelle ein
gleichgroßes orangefarbiges Papier legte. Lub-
bock variierte seine Experimente oftmals und
dressierte die Bienen mit gleichem Erfolg auch auf
andere Farben. Er glaubte sich daher zu dem
Schluß berechtigt, daß die Bienen die P'ähigkeit
haben, Farben zu unterscheiden. Auch Forel (3)
arbeitete mit der Dressurmethoee und bestätigte
die Resultate Lubbocks gegenüber der Ansicht
von Plateau, daß die Blüten durchaus nicht bunt
zu sein brauchen, um die Insekten anzulocken.
Wohl könnten die Bienen einen Farbensinn be-
sitzen, doch braucht er nicht dem unsrigen ähnlich
zu sein. Er stellte fest, daß weder künstliche
Blumen noch Spiegelbilder natürlicher Blüten von
den Insekten beflogen werden.
In neuester Zeit wird die Dressurmethode unter
den deutschen Forschern besonders von L. v. Dob-
kiewicz und K. v. Frisch angewandt.
L. V. Dobkiewicz (2) gebrauchte zu seinen
Experimenten künstliche gelbe und blaue Blüten.
Nach der Angabe von Lubbock und anderen
soll nämlich blau die Lieblingsfarbe der Insekten
sein, während gelb am wenigsten Anziehungskraft
ausübt. Zunächst wurden die Artefakte in einem
stark besuchten Kleeacker aufgestellt und zum Teil
mit Honig gefüllt. Keine der Blüten wurde be-
achtet. Die Bienen waren der angefangenen Arbeit
eben zu sehr treu, um sich ablenken zu lassen.
Erst dann wurden sie von einer Biene mehrmals
besucht, als diese auf den Honig aufmerksam ge-
macht worden war. Ihr diente die Farbe von
weitem als Signal, denn sie verwechselte die honig-
gefüllte Blüte mit anderen gleichgefärbten nebenan.
Ganz in der Nähe setzte dann der Geruchssinn
ein. Da die Biene so lange honiglose und honig-
gefüllte Artefakte absuchte, bis sie ihre erste Blüte
fand, so sind sicher Honig und Farbe beim Blüten-
besuche noch nicht entscheidend. Nun kamen
l62
Naturwissenschaftliche Wo chenschrift.
N. F. Xm. Nr. II
die blauen Blüten an Stelle der gelben, während
diese weiter auseinander gestellt wurden : Im Gegen-
satz zu den blauen erhielten sie zahlreiche Besuche.
Weiterhin band L. v. üobkiewicz fünf gelbe
künstliche Blüten mit und ebensoviele ohne Honig
paarweise zusammen und stellte sie in ^'j^ m Ent-
fernung voneinander auf. Die mit Honig gefüll-
ten wurden mit immer größerer Sicherheit be-
flogen. Nachdem für das nächste Experiment alle
Artefakte entfernt waren, wurden fünf blaue mit
Honig in die Tracht gestellt, blieben aber unbe-
achtet, während zwei gelbe mit Honig 15 Besuche
in fünf Minuten erhielten. Am nächsten Tage
wurden fünf gelbe Blüten ohne Honig innerhalb
zehn Minuten umflogen. Zuletzt wird ein Versuch
vom Monat vorher mitgeteilt, wo eine große gelbe
künstliche Blume in einem Feld von blühendem
Borago offic. aufgestellt worden war. Sie wurde
von den Bienen ebenso gemieden wie eine an ihre
Stelle gebrachte blaue oder eine stark duftende
Päonienblüte. Dagegen wurde ein künstlicher Bo-
ragobusch mehrmals, aber immer seltener beflogen.
Dieses letzte Experiment ist außerordentlich
interessant. Es zeigt , daß weder grobe Nach-
ahmungen von Form und Farbe, noch der Honig-
duft oder sonst bevorzugte Blumen die Bienen
aus ihrer Arbeit ablenken können. Immerhin
konnten die Bienen die künstlichen Blüten sehen,
denn sie wurden so lange getäuscht, bis sie den
Unterschied gegenüber den echten Blüten erkannt
hatten.
Aus den mitgeteilten Experimenten ergeben
sich folgende Schlüsse:
1. Die Bienen richten sich nach den Farben,
besitzen somit ein Farbenunterscheidungsvermögen.
2. Die Farben gewinnen für die Bienen nur
dann eine Bedeutung, wenn sie gelernt haben,
daß gewisse Farben mit irgendwelchen Vorteilen
für sie verbunden sind. Das sich nach der Farbe
Richten ist nur ein sekundäres Orientierungsmittel.
Daher wird die besonders von Plateau betonte
Beobachtung verständlich, daß es farblose, unan-
sehnliche Blumen gibt, die von den Bienen sehr
gerne besucht werden , während oft auffallend
farbige unbeachtet bleiben.
Bei seinen Untersuchungen geht L. v. Dob-
kiewicz nicht näher auf das Problem ein, ob
die Blütenfarben an ihrem Farbwert oder nur an
ihrem Helligkeitswert von den Bienen erkannt
werden. K. v. Frisch (4a, b, c) dagegen sucht
gerade hierüber Aufschluß zu bekommen.
Er stellte sich zunächst mattgraue Papiere in
30 Abstufungen von Schwarz bis Weiß her und
legte sie ohne Rücksicht auf die Helligkeit in
eine Reihe. Nachdem die Bienen zwei Tage
lang durch Honigschälchen auf gelbe Papiere
dressiert waren, verteilte er unter den Graupapieren
zwei neue gelbe, versah alle Papiere mit honig-
gefüllten Schälchen und exponierte. Während
der Beobachtungszeit erhielten die gelben Papiere
74 Besuche, die grauen aber nur drei. IBeim
nächsten Versuch verwandte er leere Schälchen.
In fünf Minuten fanden sich auf den beiden Gelb-
papieren 220 Bienen ein, keine einzige dagegen
auf Grau. Ganz ähnliche Resultate ergab die
Dressur auf blaue Bögen , auch wenn alle Schäl-
chen mit Zuckerwasser gefüllt wurden mit Aus-
nahme des Schälchens auf dem Blaupapier. Die
Bienen flogen scharenweise auf Blau, während die
gefüllten Schälchen lange Zeit nicht beachtet
wurden. Die Bienen suchten also aus der Grau-
serie stets die farbigen Papiere aus. Sie mußten
somit durch den Farbwert und nicht durch die
Helligkeit angezogen worden sein. Das bedeutet
aber nichts anderes, als daß die Bienen Farben-
sinn besitzen. Man könnte zwar einwenden: die
Serie von 30 Graupapieren ist zwar für das
menschliche Auge genügend fein abgestuft, aber
das Auge der Bienen besitzt eine feinere Hellig-
keitsempfindung. Es gelingt jedoch nicht, die
Bienen auf ein bestimmtes Grau zu dressieren.
Um zu entscheiden, ob die Papiere statt an
Helligkeit und Farbe an ihrer Mattigkeit erkannt
wurden, machte K.v. Frisch ein gelbes Papier
glänzend und legte es unter den bisherigen
Versuchsbedingungen zwischen die anderen. Die
Bienen besuchten aber das Glanzpapier ebenso
eifrig wie die matten Papiere. Der Einwand, daß
die Bienen nicht auf die Farbe des Papieres, son-
dern auf den Geruch dieser Farbe dressiert wor-
den seien, wird dadurch entkräftet, daß die Bienen
auch die Farben herausfinden, wenn diese mit
einer Glasscheibe bedeckt oder in ein Röhrchen
eingeschmolzen werden.
K. v. Frisch suchte auch festzustellen, wie-
weit bei den Bienen eine Dressur auf Farbmuster
und P'ormen durchgeführt werden kann. Denn
die Bienen unterscheiden erfahrungsgemäß nicht
nur die Farben der Blüten, sondern sie befliegen
jedesmal eine ganz bestimmte Art. Zu diesem
Zweck ließ er die Bienen durch eine Schablone
von bestimmter Form und Farbe zu einer Futter-
quelle gelangen. Die Bienen lernten sehr wohl
eine Scheibe, die zur Hälfte blau, zur Hälfte gelb
ist, von einer anderen, in blaugelbe Oktanten ge-
teilten unterscheiden, obwohl beide Scheiben gleich-
viel Blau und Gelb enthalten.
Die Dressur der Bienen gelingt außer mit Blau
und Gelb auch mit Gelbgrün, Orange und Purpur-
rot, nicht aber mit Rot und Blaugrün. Auf Rot
dressierte Bienen „verwechseln" in der Grauserie
das Rot mit schwarzen und dunkelgrauen Papieren,
und auf Blaugrün dressierte Bienen benehmen sich
so, als ob sie auf ein Grau von mittlerer Hellig-
keit dressiert worden wären. Ebenso sehen sie
Purpurrot wie Blau und Violett. Daraus folgt,
daß der Farbensinn der Bienen weitgehende Ähn-
lichkeiten mit dem Farbensinn eines rolblinden
(protanopen) Menschen zeigt.
Nach dieser Erkenntnis ist es interessant einen
Blick auf die Farben der Blüten zu werfen. Hier
fällt sofort nach der Ansicht v. Frisch 's der
Mangel an roten Blüten auf, während andersfarbige,
die von den Bienen gern beflogen werden, in
N. F. XIII. Nr. II
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
163
großer Menge vorhanden sind. Damit würde die
Behauptung von Sprengel, daß die Blütenfarben
um der Insekten willen vorhanden seien, eine neue
Grundlage erhalten, während gleichzeitig die Be-
funde einer Reihe von Zoologen und Botanikern,
besonders solcher, die ebenfalls die Bienen auf
bestimmte Farben dressiert hatten, bestätigt
werden.
Gegen diese Dressurmethode und insbesondere
gegen die Schlußfolgerungen von K. v. Frisch
wendet sich K. H e ß (5 a, b, c). Er sagt : „Stellt
man solche Versuche unter genügender Berück-
sichtigung aller in Betracht kommender Fehler-
quellen an, und trägt man insbesondere Sorge,
daß die Ansammlungen der Bienen an bestimmten
Stellen nicht durch andere Umstände, wie z. B.
den Geruchssinn, mit beeinflußt werden, so kann
man leicht zeigen, daß es ganz unmöglich
ist, Bienen auf irgendwelche Farben zu dressieren".
Um dies exakt zu beweisen, verfährt Heß folgender-
maßen.
Zunächst wurden die Bienen drei Tage lang
auf Blau dressiert. Er brachte einen blauen mit
Honig bestrichenen Glasstab vor das Flugloch
und übertrug die daran saugenden Bienen auf
eine l — 2 m entfernte blaue Fläche, wo sie ge-
zeichnet wurden. Das geschah an jedem Tag mit
50 Bienen , wobei die Bienen der drei Tage drei
verschiedene Farben erhielten. Sie wurden auf
allen möglichen blauen Gegenständen, Papieren
und Glasplatten mit Honig gefüttert. Am vierten
Tage wurden folgende Versuche gemacht.
1. 10 quadratische Platten wurden teils mit
I farbigen, teils mit grauen Papieren von gleichem
Helligkeitswert wie die farbigen Papiere bespannt,
in einen Rahmen gelegt und mit einer großen
Glasplatte zugedeckt. Auf letztere kam, der Mitte
jedes Quadrates entsprechend, je ein Tropfen Honig.
Während der Exposition zeigten die Bienen ent-
gegen V. Frisch nicht die geringste Neigung, das
Blau mehr aufzusuchen als die anderen Felder.
2. 12 quadratische Felder sind in der Mitte so
geteilt , daß die eine Hälfte jedes Feldes ein frei-
farbiges Papier, die andere das farblos graue zeigt,
das für den total Farbenblinden mit der betreffen-
den Farbe übereinstimmt. Nachdem sie unter einer
Glastafel in passenden Zwischenräumen angeordnet
waren, wurden sie zunächst ohne, dann mit Honig
dargeboten und zwar so, daß dieser bald vor-
wiegend auf die farblos grauen, bald auf die ver-
schiedenen Farben geträufelt wurde. Niemals war
eine Bevorzugung des Blau durch die auf Blau
dressierten Bienen wahrzunehmen.
3- 185 verschiedene freifarbige Papierstreifen
wurden zu einem kontinuierlichen Spektrum ver-
einigt und unter einer Glasplatte gefaßt. Ein langer
Strich von Honig verband die Mittelpunkte der
einzelnen Farbtäfelchen. Die gezeichneten Bienen
flogen regellos bald zu dieser, bald zu jener Farbe
des Spektrums. Das gleiche Resuhat ergaben auf
Gelb dressierte Bienen.
4. Versuche mit Farbpapieren zwischen Petri-
schalen, die mit Honig bestrichen waren, führten
zu dem Ergebnis, daß die Bienen wahllos ver-
schiedene Farben aufsuchten, auch wenn sie auf
eine bestimmte Farbe dressiert waren.
Die negativen Ergebnisse seiner Experimente
überzeugten Heß, daß die Dressur der Bienen
nicht zum Ziele führen kann. Er arbeitete daher
andere Methoden aus, indem er mit Hilfe der
wissenschaftlichen Farbenlehre über den Lichtsinn
der Bienen Aufschluß zu bekommen versuchte.
Bringt man vom Stock abfliegende Bienen in
einen Glaskasten, so zeigen sie sich zunächt posi-
tiv phototaktisch. Wird der Behälter ins Spek-
trum gestellt, so eilen sie aus dem rot und aus
dem blau und violett durchstrahlten Teil zum Gelb-
grün und Grün. Bei Verwendung von roten und
blauen Strahlen bevorzugen sie die blaue Seite,
auch wenn für unser Auge das Rot heller zu sein
scheint. Erst wenn das Rot so lichtstark gemacht
wird, daß es an Helligkeitswert mit dem Blau
übereinstimmt, verteilen sich die Bienen gleich-
mäßig in den beiden Farben. Danach sehen also
die Bienen wie ein total farbenblinder Mensch,
dem das rote Ende des Spektrums verkürzt er-
scheint, während die hellste Stelle nach Grün ver-
schoben ist. Diese Anschauung wird unterstützt
durch eine weitere Versuchsanordnung. Der Glas-
kasten wird durch schwarzen Karton gegen ein-
fallendes Licht geschützt, und seine Rückwand mit
schwarzer Gaze überzogen. Stellt man nun seit-
lich im Winkel farbige Flächen auf, so begeben
sich die Bienen, auch wenn sie dressiert waren,
stets nach der Stelle, die für den total farbenblinden
Menschen heller ist, gleichgültig, in welcher Farbe
diese Seite dem normalen Menschen erscheint.
Die Bienen besitzen daher keinen dem unsrigen
irgendwie vergleichbaren Farbensinn, sie vermögen
dagegen Helligkeiten vorzüglich zu unterscheiden.
Dieser Schluß hat weittragende Bedeutung, denn
er vernichtet die Erklärung für das Vorhandensein
der Blütenfarben. Allerdings nimmt schon v. F r i s c h
an, daß eine Reihe von Blütenfarben, nämlich die
roten und die blaugrünen von den Bienen anders
gesehen werden als sie uns erscheinen. Alle roten
Blüten könnten ebensogut schwarz, alle bläulich-
roten und violetten ebensogut blau sein, ohne daß
die Bienen einen Unterschied bemerken würden.
So blieben nur die gelben und blauen Farben übrig,
die um der Insekten willen da seien.
Heß macht weiterhin darauf aufmerksam, daß
es im Pflanzenreiche genug bunte Farben gibt,
die mit dem Besuch der Insekten gar nichts zu
tun haben. Man denke nur an das Vorhandensein
gelber und roter Farben bei Windblütlern, an die
roten Blätter verschiedener Bäume oder an die z. T.
wundervollen Färbungen zahlreicher Flechten.
Auch unterirdische Pflanzenteile, z. B. Rüben- und
Rettigarten besitzen lebhafte Farben. „Wenn bunte
Farben im Pflanzenreiche so häufig vom Insekten-
besuche unabhängig auftreten, erscheint es nicht
logisch, für die bunten Farben der Blüten ohne
104
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. u
weiteres anzunehmen, sie könnten nur um der
Insekten willen zur Entwicklung gekommen sein."
Außer der Biene, die ein vorzügliches Versuchs-
objekt darstellt, sind bisher nur wenige andere
Insekten auf ihren Farbensinn hin gepriift worden.
Forel experimentierte mit Hummeln und Wespen
und stellte fest, daß die Wespen den Farben weniger
Aufmerksamkeit schenken wie Bienen und Hummeln,
sich dagegen offenbar nach der Gestalt des Gegen-
standes richten, die sie zum erstenmal besucht haben.
Darin stimmt Forel mit L u b b o c k überein. Beide
F"orscher haben schon vor Heß bei ihren Ver-
suchen die Einwirkungen des Spektrum beobachtet
und fassen ihre Ergebnisse bei Ameisen folgender-
maßen zusammen :
1. Die Ameisen spüren das Licht und beson-
ders das Ultraviolett, wenn sie geblendet sind,
2. Im Gegensatz zum menschlichen Auge sehen
sie auch das Ultraviolett,
3. Da uns jeder Strahl homogenen Lichtes,
den wir überhaupt wahrnehmen können, als eine
besondere Farbe erscheint, so wi-rd es wahrschein-
lich, daß die ultravioletten Strahlen von den
Ameisen als eine bestimmte eigene Farbe gesehen
werden, die von den übrigen so verschieden ist,
wie Rot von Gelb oder Grün von Violett.
Bei Portesiaraupen fand Heß, daß sie im
Dunkeln träge am Boden verweilen, mit zuneh-
mender Belichtung aber immer lebhafter nach
oben kriechen. Mit einem Spektrum beleuchtet,
wandern vorwiegend jene im Gelbgrün und Grün
nach oben, weniger lebhaft die im Blau, am
wenigsten die im Rot befindlichen.
Das gleiche Verhalten zeigen die Stechmücken,
während ihre Larven, die bekanntlich an der
Wasseroberfläche hängen, schon bei ganz geringen
Lichtstärkeabnahmen rasch nach unten fliehen, so
daß sich mit farbigen Papieren leicht Versuche
über iiire Helligkeitsempfindungen anstellen lassen.
Ohne mich auf eine sachliche Würdigung der
hier mitgeteilten Untersuchungen einzulassen,
möchte ich den bisherigen Ausführungen bezüg-
lich der Experimente mit Bienen folgendes hinzu-
fügen. Es ist doch auffallend, daß die gleiche
Frage bei ein und demselben Tier unter den
Forschern so ganz verschiedene Beantwortung
findet. Die Bienen, die Heß bei seinen Dressur-
versuchen unter Beobachtung aller Vorsichtsmaß-
regeln verwendete, verteilten sich auf alle Farben
seiner mit Honig bestrichenen Farbentafel, obwohl
sie auf Blau dressiert waren. Und andererseits
konstatierte K. v. Frisch, daß seine auf Blau
dressierten Bienen stets Blau aufsuchten, auch
wenn das Papier unter einer Glasscheibe lag, so
daß die Bienen unmöglich die Farbe mit Hilfe
des Geruchssinnes erkennen konnten. Ebenso wird
angegeben, daß die Bienen künstliche Blüten be-
fliegen, während Plateau das gerade Gegenteil
beobachtet hat. Es scheint mir sehr wichtig, bei
allen Experimenten und Beobachtungen die Tracht-
verhältnisse genau zu berücksichtigen, um hier
Klarheit zu bekommen. Wie Zander (7b) bei
seiner Untersuchung über den Geruchssinn der
Bienen mitteilt (Besprechung in der Nalurwiss.
Wochenschr. Nr. 7, 191 4), wird eine vor dem
Flugloch aufgestellte Honigschale nur dann von
den Bienen beachtet und aufgesucht, wenn die
Trachtverhältnisse ungünstig sind. So wird auch
wohl die Dressur der Bienen auf P"arben miß-
lingen, wenn bei schlechter Tracht die Bienen
überall nach Honig herumwittern. Unter solchen
Verhältnissen werden dann auch Blüten hinter
Glas (cf V. Buttel-Reepen i) oder künstliche
Blumen beflogen. Schon Dobkiewicz beobach-
tete, daß die Bienen gegen Ende des Sommers
nicht nur einzeln stehende Blumen, ob sie künst-
lich oder echt sind, sondern jede Spur von Honig
in beliebigen Gefäßen, und zwar in verhältnis-
mäßig kurzer Zeit auffinden.
Literaturverzeichnis.
1) H. V. Buttel-Reepen, Psychobiologische und bio-
logische Beobachtungen an .Ameisen, Bienen und Wespen.
Naturw. Wochenschr. 1907.
2) L. V. Dobkiewicz, Beitrag zur Biologie der Honig-
biene. Biologisches Centralblatt 1912.
3) Forel, Das Sinnesleben der Insekten. München 1910.
4) K. V. Frisch, a) Über den Farbensinn der Bienen
und die Blumenfarben. MUnch. med. Wochenschr. 1913, Nr. I.
b) Zur Frage nach dem Farbsinn der Tiere. Verhand-
lungen der Gesellschaft deutscher Naturf. und Arzte 1913.
c) Über den Farbensinn der Bienen und die Blumenfarben.
Gesellschaft für Morphologie und Physiologie. München 1913.
5) K. Heß, a) Physiologie des Gesichtssinnes. 1912.
b) Experimentelle Untersuchungen über den angeblichen
Farbensinn der Bienen. Zoologische Jahrbücher, Abteilung f.
allgemeine Zoologie und Physiologie Bd. 34, 1914.
c) Die Entwicklung von Lichtsinn und Farbensinn in der
Tierreihe. Vortrag, gehalten bei der Versammlung deutscher
Naturf. und Arzte in Wien 1913. Erschienen bei Bergmann,
Wiesbaden 1914.
6) Lubbock, Ameisen, Bienen und Wespen. Internat,
naturwissenschaftl. Bibliothek, Bd. 57, Leipzig 1883.
7) Zander, a) Leben der Biene, Stuttgart, Ulmer, 1913.
b) Das Geruchsvermögen der Bienen. Biologisches Cen-
tralblatt 19 13.
W'eitere Angaben siehe bei L. v. Dobkiewicz.
Zur Koinbiuatioiislehre.
Von Patentanwalt Dr. Gustav Rauter in Berlin-Charlottenburg.
I. Wenn wir in einem Beutel eine große An-
zahl schwarzer und weißer Steine haben, und
zwar von jeder Farbe gleich viel, so werden wir,
wenn wir hineingreifen, und immer je zwei davon
herausholen, im Durchschnitt auf vier Griffe ein-
mal zwei schwarze, zweimal je einen schwarzen
und einen weißen, einmal zwei weiße Steine er-
fassen, was sich durch folgendes Bild wiedergeben
läßt:
s s w w
s w s w.
an, diese Steine beständen z. B.
sie ließen sich durch Kneten
Nehmen wir nun
aus Wachs, und
N. F. XIII. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
165
dermaßen vereinigen, daß entsprechend der vor-
handenen Menge schwarzen und weißen Stoffes
neue dunkler oder heller graue Steine entständen,
so erhalten wir als Ergebnis folgende Mischungen
s g g w.
Denken wir uns nun weiter einen Beutel mit
solchen gemischt-farbigen Steinen, wo also auf
einen schwarzen zwei graue und ein weißer kämen,
so erhalten wir auf 16 Griffe im Durchschnitt
I SS 4 sg 6 gg 4 gw I ww.
Wir erhalten also nur noch einmal schwarz
und einmal weiß, dagegen 4 dunklere, 6 mittlere
und 4 hellere Mischungen. Gehen wir noch
weiter, so erhalten wir beim nächsten Male 256
Ergebnisse, unter denen sich auch nur je ein
schwarzes und ein weißes Steinpaar befinden,
während im übrigen alle Stufen von grau vor-
handen sein werden, und zwar um so zahlreicher,
je mehr das Grau in der Mitte zwischen schwarz
und weiß liegt. Die betreffende, von schwarz
nach mittelgrau zunehmende, dann wieder ab-
nehmende Zahlenreihe ist:
I 8 28 56 70 56 28 8 I
Es ergibt sich also bei fortschreitender Ver-
mischung der weißen und der schwarzen Steine
ein gleichmäßiges Grau, das um so dunkler oder
heller ist, je mehr schwarze oder weiße Steine
ursprünglich vorhanden gewesen sind.
Es ist nun aber auch möglich, daß außer dem
Vorgange der Mischung gleichzeitig noch andere
Einflüsse auftreten. Nehmen wir z. B. an, der
Farbstoff des schwarzen Wachses nehme durch
Lichteinwirkung allmählich an Stärke ab, oder
die Bestandteile des weißen Wachses würden
durch Sauerstoffaufnahme aus der Luft allmählich
dunkler, oder einer der beiden Bestandteile ver-
flüchtige sich mit der Zeit, so ergibt sich, daß
die Mischung alsdann langsam ganz schwarz oder
ganz weiß werden kann, und daß auf diese Weise
das Ergebnis einer manchmal erst in sehr lang-
samen Zeiträumen erfolgenden Vermischung ganz
verdeckt werden kann.
So z. B. wird eine violette Lösung von Per-
manganat beim Zusatz von Wasser im Verhältnis
des farblosen Wasserzusatzes heller; enthält aber
z. B. gleichzeitig in die Flüssigkeit gelangter Staub
gewisse Stoffe, die das Permanganat zerstören,
so wird die Mischung farblos, nicht weil die
Wasserfarbe diejenige des Permanganates ver-
deckte, sondern weil andere Ursachen das Perman-
ganat zerstören.
Es sei ausdrücklich bemerkt, daß diese anderen
Einflüsse, die neben dem Vorgange der Mischung
noch tätig sind, mit diesem zwar gar nichts zu
tun haben, daß sie aber doch hier erwähnt werden
müssen, weil man in Wirklichkeit sehr genau
darauf achten muß. Es kann auch sogar der
Fall sein, daß etwas, das zunächst das Ergebnis
einer Mischung zu sein scheint, damit an sich
gar nichts zu tun hat. Mischt man z. B. zwei
leicht oxydierbare Flüssigkeiten, indem man stark
rührt oder schüttelt, so tritt vielleicht eine sehr
starke Wirkung ein, die aber nicht auf einem
gegenseitigen Einflüsse der beiden Mischungsbe-
standteile beruht, sondern auf dem oxydierenden
Einfluß der Luft. Man könnte in diesem Falle
auch ebensogut zwei Anteile der nämlichen
Flüssigkeit mischen, oder überhaupt nur rühren
oder umschütteln.
2. Wenn nun bei dem erst angeführten Bei-
spiel das schwarze Wachs eine so starke Färbe-
kraft hat, daß es auch in kleinsten Mengen dem
weißen noch seine Farbe mitteilt, so wird beim
Vermischen der beiden Wachsarten kein Grau,
sondern immer nur Schwarz entstehen.
s s w w
SWS w
heißt also hier: Dreimal schwarz und einmal weiß.
Auch dieser Fall ist in der Natur nicht selten.
Es ist bekannt, daß manche Körper gerade ge-
wisse, für sie scheinbar besonders kennzeichnende
Eigenschaften eigentlich gar nicht selber haben,
sondern diese nur Verunreinigungen verdanken,
die zwar in ganz kleiner Menge vorhanden, aber
doch fast immer bei ihnen anzutreffen sind. So
z. B. ist Wasser in ganz reinem Zustande ein
beim Genuß giftig wirkender Stoff. Nur ein
kleiner Anteil darin gelöster Salze und Gase —
die in dem gewöhnlichen destillierten Wasser
übrigens auch vorhanden sind — macht es erst
zu dem unentbehrlichen Genußmittel, als das wir
es anzusehen gewohnt sind.
3. Nehmen wir nun wieder einen Sack mit
schwarzen und weißen Steinen, die aber diesmal
Porzellanplättchen sein sollen. Da wir diese nicht
ihrem Stoffe nach mischen können, legen wir
immer zwei zusammengegriffene Plättchen über-
einander, so daß nicht die Farbe der Mischung,
sondern die des obenliegenden Plättchens zum
Vorschein kommt. Das Schema
s s w w
w s
w
bedeutet jetzt also: von oben gesehen zwei
schwarze und zwei weiße Doppelplatten. Mischen
wir die erhaltenen Doppelplatten wieder, so ergibt
sich immer wieder dasselbe Verhältnis. Die Zahl
der oben liegenden Platten, die dem Ganzen ihre
P'arbe leihen, wird immer dem Verhältnis der
ursprünglichen Mischungsbestandteile entsprechen.
Auch noch ein anderer Unterschied ist gegen-
über dem ersten Beispiel vorhanden. Betrachten
wir nämlich das Endergebnis, so hat man dort
lauter graue Körper, die sich durch keine Kunst
der Auswahl wieder in schwarze und weiläe trennen
lassen. Haben wir dagegen hier eine Anzahl
Doppelplatten, so ist eine Entmischung leicht
vorzunehmen. Nehmen wir z. B. eine Anzahl oben
schwarzer Doppelplatten, so sehen diese so aus
s s s s
usw.
s w s w
Dies ergibt auf 16 Kombinationen
i66
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. n
9 ss; 3 sw; 3 ws; i ww
12 s 4 w
Nehmen wir hier wieder die schwarzen Doppel-
platten, so ist hier das Mischungsverhältnis
s s s s
usw.
s s s w
Es ist also nur noch ein Viertel der schwarzen
Platten mit einer weißen Unterplatte versehen.
Mischen wir weiter, so ergeben die hier vor-
handenen sieben schwarzen mit dem einen weißen
Steine 64 Zusammenstellungen und zwar:
49 ss; 7 sw; 7 ws; I ww
56 s 8 w
Unter den hier vorhandenen 56 schwarzen Doppel-
platten befinden sich noch 7 mit weißer Unter-
lage, also '/g der ganzen Anzahl ; im ganzen macht
dies auf 8 Doppelsteine 15 schwarze und einen
weißen Stein.
Wir erhalten also bei fortgesetztem Aussondern
der weißen Steine immer reinere Mischungen an
schwarzen, die nacheinander nur noch
I I I 1 I
T 4 ^ 16 ■ ■ ■ 2"
weiße Steine enthalten. Ebenso lassen sich auch
die weißen Steine aussondern; aber da man nie-
mals weiß, was bei einer Doppelplatte unten liegt,
kann man niemals ohne weiteres rein schwarze
und rein weiße Steine voneinander trennen.
Eine derartige Entmischung ist in weitestem
Umfange gebräuchlich, z. B. wenn man Erde
immer und immer wieder umgräbt, um die jedes-
mal nach oben kommenden Steine auszulesen.
Auch hier kann natürlich das Mischungsver-
hältnis durch andere Umstände beeinflußt oder
verdeckt werden. Stapelt man z. B. schwarze
und weiße Flurplatten im Freien auf, so werden,
bei gleicher Anzahl beider Farben, zunächst eben-
soviel schwarze wie weiße Platten oben liegen.
Entwickeln sich nun in der Nähe große Mengen
Ruß oder Kalkstaub, so werden die Platten dann
alle entweder schwarz oder weiß. Packt man sie
nun um, so beginnt der ganze Vorgang von neuem,
bis man nur noch Platten von einer Farbe hat,
bis also scheinbar eine völlige Entmischung statt-
gefunden hat.
4. Denken wir uns nun, der Sack enthalte
schwarze undurchsichtige und weiße (farblose)
durchsichtige Steine (Glasplatten), und wir bilden
wieder Paare von zwei Steinen, so hat das Bild
s s w w
s w s w
wieder eine andere Bedeutung. Wir haben jetzt
drei schwarze (undurchsichtige) und eine weiße
(durchsichtige) Doppelplatte. Mischen wir nun
weiter, so ergibt es sich, daß auch hier, ebenso
wie beim dritten Beispiel, das einmal vorhandene
Verhältnis immer bestehen bleibt.
Ebenso ist auch hier eine Entmischung leicht
möglich. Zunächst brauchen wir, im Gegensatz
zu dem vorhin behandelten Fall, nur die durch-
sichtigen Doppelplatten herauszunehmen, um reine
durchsichtige Steine zu bekommen. Nehmen wir
weiter die undurchsichtigen Platten heraus, so
haben wir hier das Verhältnis:
S SWS s w
usw.
SWS SWS
Dies ergibt auf 9 Fälle
4 ss; 4 sw; I ww
8 s I w
Nehmen wir hier die acht schwarzen Doppel-
platten, so erhalten wir auf 16 P'älle:
9 ss; 6 sw; i ww
15 s I w
Sondern wir nun wieder die 15 schwarzen
Doppelplatten aus, so erhallen wir das Verhältnis
von 24 schwarzen zu 6 weißen Platten oder
4 s : I w. Dies gibt 25 Kombinationen, nämlich:
16 ss; 8 sw; i ww
24 s I w
Die Zahl der sich beim jedesmaligen Neu-
mischen nach Aussuchen der weißen (farblosen)
bildenden weißen Doppelplatten geht also ständig
zurück im Verhältnis:
1 1 I I I
4 9 16 25 ' " ' n^
Dagegen steigt die Zahl der vorhandenen rein
schwarzen Doppelplatten in folgendem Verhältnis:
I 4 9 16 /n — 1\^
4 9 16 25 " ' ' \ n /
Sind die beiden Mischungsbestandteile bei
diesem Beispiel von vornherein nicht in gleicher
Zahl vorhanden gewesen, so ergibt sich ganz all-
gemein für das Bild
s s w w
SWS w
wenn wir das Verhältnis zwischen den vorhandenen
schwarzen (durchschlagenden) und farblosen (nicht
durchschlagenden) Bestandteilen mit a : b be-
zeichnen, die Bedeutung
^^T^' ula= + 2ab
sw-l-ws = 2ab)
ww ^b-
Also z. B. wenn a : b = 4 : 3
s = a-+2ab = 28
w = b" = 9
Oder wenn z. B. a : b = 100 : i
s = 10200
w= I
Bei sehr großen Werten von a : b kann man
hierfür also angenähert einsetzen:
s : w ^ a'': b".
5. Stellen wir nun das Ergebnis unserer vier
Versuche zusammen, so haben wir
1. und 2. Ihrem Stoff nach beliebig misch-
bare Bestandteile (Feinmischung). Die Mischung
ist erst ungleichförmig, nimmt dann aber beim
weiteren Durchmischen (in der Praxis Umrühren
oder Durchkneten) schnell eine gleichmäßige Fär-
bung an. Eine Rückbildung der Mischung durch
Aussuchen ist unmöglich.
3. und 4. Ihrem Stoff nach nicht mischbare
N. F. XIII. Nr. II
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
167
Bestandteile (Grobmischung). Die Mischung zeigt
dauernd dasselbe Verhältnis zwischen den in die
Erscheinung tretenden Bestandteilen. Eine Rück-
bildung der Mischung durch Aussuchen ist leicht
durchführbar.
1. und 3. Die beiden Bestandteile der Mischung
sind gleichwertig; demgemäß entsteht bei Fein-
mischung eine Zwischenstufe, bei Grobmischung
verteilt sich die oberflächlich zutage tretende
Farbe der Anzahl der beiderseits verwendeten
Stücke entsprechend.
2. und 4. Die beiden Bestandteile der Mischung
sind nicht gleichwertig; demgemäß verschwindet
bei Feinmischung der nicht durchschlagende Be-
standteil scheinbar ganz, während sich bei Grob-
mischung sein Anteil nach der Gleichung
s: w= (a--f- 2ab) : b'-
berechnet, wo a : b das Verhältnis darstellt, in
dem die verschiedenen Mischungsbestandteile ur-
sprünglich vorhanden gewesen sind.
6. Was nun die Frage anbetrifft, welche prak-
tische Nutzanwendung wir von diesen Über-
legungen zu machen haben, so würde es den
Rahmen dieses Aufsatzes überschreiten, hier Einzel-
heiten zu geben. Es sei nur darauf hingewiesen,
daß die Vererbungslehre sich als ein ganz be-
sonders wichtiges Gebiet für Untersuchungen dieser
Art darstellt.
Weiter sei nochmals ganz besonders darauf
aufmerksam gemacht, daß man bei seinen Beob-
achtungen genau darauf sehen muß, ob und in-
wieweit nicht neben den Ursachen, deren Wirkungen
man feststellen möchte, noch andere Umstände
gleichzeitig eintreten, die das eigentlich in Betracht
kommende Ergebnis zu ändern, zu verdecken oder
in sein Gegenteil zu verkehren geeignet sind.
Zweitens muß man beachten, daß sich Regeln
nur aus der Beobachtung sehr zahlreicher Fälle
ableiten lassen, und daß man nicht gelegentlich
gemachte Einzelbeobachtungen gleich verall-
gemeinern darf. So beziehen sich die vorhin auf-
gestellten Beispiele i — 4 auch nicht auf einzelne,
sondern auf unendlich viele Fälle, d. h. sie sind
nicht nach der F"ormel — ^ , sondern nach a-
2
berechnet. Wollen wir z. B. prüfen, wie eine
Mischung aus immer vier schwarzen und einem
weißen Stein bei Kombinationen von je zwei
Steinen sich verhält, so würden wir nach der
„ , (s + w)(s-l-w — i) „..,, , .
Formel ^^ — — ■ nur 10 Falle erhalten,
2
nämlich 6 ss und 4 sw. Würden wir gar vier
schwarze und einen weißen Stein in Paare ab-
zählen wollen, so würden wir nur zwei F"älle er-
halten, und ein Stein würde übrig bleiben, während
die Formel s- + 2s w -|- w- uns 16 -|- 8 + i =25
Fälle gibt und dabei anzeigt, daß die Fälle 2 sw
je nachdem noch in sw und ws getrennt werden
müssen.
Praktisch kann man dabei selbst bei be-
schränkter Anzahl von Steinen doch ein richtiges
Ergebnis erhalten, indem man so verfährt, daß
man die Steine einzeln herausgreift und gleich
wieder in den Beutel zurückwirft. Man wird sich
dann leicht überzeugen, daß man auf fünf erste
Griffe immer durchschnittlich viermal schwarz
und einmal weiß greifen wird. Da sich nun hinter
jedem ersten Griff immer noch vier andere Griffe
mit denselben Möglichkeiten ergeben, so sind dies
ohne weiteres 25 Kombinationen. Das Wieder-
liineinwerfen der Steine in den Beutel hat hierbei
die Wirkung, auch mit einer kleinen Anzahl von
Steinen dasselbe erzielen zu können, was in der
Natur durch eine unendlich große Anzahl von
einzelnen Fällen erreicht wird.
Weiter sei noch bemerkt, daß es natürlich auch
Kombinationen von mehr als zwei Elementen gibt,
daß diese aber im vorstehenden nicht berück-
sichtigt sind, weil es hier nur darauf ankam, an
verhältnismäßig einfachen Fällen einen Fingerzeig
für weitere Beobachtungen zu geben.
Auch sind in vorstehendem nicht die Über-
gänge zwischen Fein- und Grobmischung berück-
sichtigt worden. Solche Übergänge können aber
in der Natur eine große Rolle spielen. Zwei
Flüssigkeiten sind z. B. im allgemeinen unbegrenzt
mischbar; zwei Flurplatten, von denen entweder
die eine oder die andere oben liegt und die untere
verdeckt, sind als solche nicht mischbar. Zer-
schlagen wir aber die Flurplatten, oder wenden
wir gleich Scherben an, und nehmen wir dabei
die Korngröße immer kleiner und kleiner, so er-
halten wir schließlich feinen, scheinbar einfarbigen
Kies oder Staub, der in seinem Verhalten je nach
den Umständen den Beispielen i und 2 oder 3
und 4 folgt.
Ebenso ist auch der Unterschied zwischen
gleichwertigen und ungleichwertigen Mischungs-
bestandteilen nicht scharf Auch hier werden die
Umstände von großem Einfluß sein, und zwar
nicht nur in der Stärke der einzelnen Eigenschaften
für sich, sondern auch in ihrem gegenseitigen Ver-
halten.
Die Flora des Homer.
Von Dr. med. et phil. Friederich Kanngießer
(Brauufels ob der Lahn).
Die Übersetzungen der altgriechischen Schrift-
steller kranken samt und sonders an fehlerhafter
Interpretation der Pflanzennamen. Dieses Manko
ist teils zurückzuführen auf das mangelnde Ver-
ständnis oder Interesse der Philologen für botanische
Fragen, teils aber auf die Merkwürdigkeit, wie der
griechische Unterricht an unseren Gymnasien ge-
handhabt wird. Denn das Griechisch wird nicht
nur als tote Sprache, sondern obendrein in ver-
ballhornter Aussprache gelehrt. Statt mit der von
der Sprache des Homer und Thukydides kaum
verschiedenen modernen Hochsprache, so wie sie zu
Athen gesprochen und geschrieben wird, zu be-
ginnen, ähnlich wie man Englisch und Französisch
i68
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. II
unterrichtet, lehrt man Griechisch rein nach gram-
matischen Grundsätzen als tote Sprache und zwingt
die Schüler geradezu, teils noch durch übertriebene
Anforderungen, mit Übersetzungen zu arbeiten und
den Lehrer diesbezüglich zu betrügen, der seiner-
seits zuweilen das Nötige tut, um die Schüler im
Glauben zu halten, er könne Griechisch so perfekt
übersetzen, daß er selbst keine Übersetzung notwen-
dig habe. Aber diese Lüge und Gegenlüge entsteht
großenteils durch das verkehrte System, statt mit der
hoch- und vulgärgriechischen Umgangssprache zu be-
ginnen, gleich mit Altgriechisch anzufangen. Wenn
in diesem Scliulzopf eine Konsequenz wäre, dann
müßte man ja auch mit Alldeutsch und Mittel-
hochdeutsch statt mit unserer modernen Sprache
die ABCSchützcn unterrichten. Wenn dem ent-
gegengehalten wird, daß das Neugriechische keine
Schriftsteller von Ruf aufzuweisen habe oder sich
nicht mit der sog. klassischen Periode messen könne,
so ist dies ein von keinerlei Sachkenntnis getrübtes
Urteil. Wenn es aber ferner heißt, das Neugrie-
chische sei noch keine abgeschlossene Sprache,
sondern noch in Entwicklung begriffen, so beweist
ein solcher Einwand nur das Unverlrautsein der
Philologen mit naturwissenschaftlichem Denken
oder mit dem TTcirra Qti, das nur eine Schulweis-
heit zum Stillstand verurteilen möchte. Der wahre
Grund des Widerstandes vieler Schulmänner gegen
ein modernes System des griechischen Unterrichts
besteht eben einfach in der Bequemlichkeit und in
der Scheu, umlernen zu müssen; andere Einwände
sind mehr oder minder faule Ausreden. Non scholae,
sed vitae discimus. Wir Ärzte und Naturforscher
haben ein Interesse daran, daß unseren Nachfolgern
auf den Gymnasien das Griechisch praktisch ge-
lehrt wird, so daß wir es nicht nach bestandenem
Abitur als Ballast über Bord werfen, sondern daß
wir durch Lektüre der alten wie modernen grie-
chischen Fachliteratur unser Wissen erweitern und
vertiefen können.
Wenn ich nun nach dieser apologetischen Pro-
vokation dazu übergehe, eine Chloris des Homer
zu geben, so sollen in dieser Arbeit die in der
Ilias und Odyssee (um 900 v. Chr.) genannten
Pflanzen und ihre Synonyme bei Theophrast (um
300 V. Chr.), Dioscorides (um 50 n. Chr.) und im
Neugriechischen oder Hellenischen in onomato-
logischer Entwicklung verbucht und mit der offi-
ziellen Nomenklatur identifiziert werden. Außer
meinen früheren Arbeiten über die Flora des Hero-
dot (Archiv f. Gesch. d. Naturw. 1910, Bd. 3 und
Berichte der deutschen pharmaz. Ges. 191 3, H. 9)
und Aristophanes (Jen. Zeitschr. f. Naturw. 1913,
S. 849) und außer dem altgriechischen Lexikon von
Pape und dem neugriechischen von Mitsotakis-
D iet eric h, und den Kommentaren von Crusius
und Ameis, leisteten mir bei dieser Arbeit gute
Dienste der Link - Schneider'sche Index zu
Theophrast (1821), die Berendes'sche Über-
setzung und Erläuterung des Dioskorides (1902)
und das Buch von Cheldraix und Miliaraki
über volkstümliche Pflanzennamen (neugriechisch:
Athen 1910). Selbstredend wurde auch die Voß-
sche Übersetzung verglichen, die trotz ihrer über-
ragenden Vorzüglichkeit botanisch unzulänglich ist,
diesen Nachteil aber, wie erwähnt, mit anderen
Übersetzungen gemein hat.
./iytiQog {äxtQMi'i). Bei Theophr. und Diosc.
cayuQog und levxi]. Ngr. meist '/.evxa. Populus:
Pappel. Als species kommen sowohl Weiß als
Schwarz-Pappel in Betracht.
axav(^a, Theophr. r^Qi'yyiov (piUaxavO-ov, Diosc.
i^Qvyyinv und /.ti-QÜxav&oc, ngr. äxavO^a (uyyaO-id).
Eryngium campestre. Mannstreu oder laufende
Distel.
af.irtii.og, desgl. bei Th. u. D. ngr. ScfiyrAi
{äfiTtdog: Weinberg). Vitis vinifera. Rebe.
aa(fi(')ötXog, desgl. bei Th. u. D. ngr. auch {ä)arpev-
tohü, [ä.)o7iiqdoü'Ala. Asphodelus ramosus: Aspho-
dill.
äxigöog, Th. u. D. äxQdg, ngr. axladtä, wilder
Birnbaum. "Oyxviq resp. o'/^vi] bei Homer der Edel-
birnbaum, ngr. amdid (vgl. uitiog bei Diosc. Plat.
u. Ath.). Pirus communis.
ßvßlog, Th. u. D. TTÜnvQog, desgl. ngr. Cyperus
papyrus. Die Papiersiaude. Vgl. ßißlog: Buch.
Das (' und / wurden wohl schon in frühen Zeiten
wie i ausgesprochen. Die Aussprache des ü- Lautes
ist ja auch für moderne Völker, z. B. Süddeutsche,
Engländer schwierig.
Jdcpvrj-. zu allen Zeiten : Laurus nobilis: Lorbeer.
ÖQüg: desgl.: Quercusarten, speziell Q. aegilops.
Homer erwähnt die Eiche zu Dodona, Herodot
Buchen (fpriyoi).
'EkaiTj, bei Theophr. und Diosc. sXaia, ngr.
ihd. Olea europaea. Der wilde Ölbaum heißt
bei Homer (ftUij (ngr. (pdoiQid), bei Theophr. u.
D. xöiirog und dygielaia (ngr. dygioilaia und
xoorii'og).
IMti}, desgl. bei Th. u. D. Ngr. 'ilarog, e'laia.
Abies apoUinis und andere Tannen. Über die
in Griechenland verbreiteten Tannen vgl. E. J.
Emmanuel. Berner Dissertation 191 2, p. 48,49.
tgeßivO-og desgl. bei Theophr. und Diosc. ngr.
(xßiif^ta. Cicer arietinum. Kichererbse (vgl. auch
E. Emmanuel. Etüde comparative sur les plan-
tes dessinees dans le Codex Constantinopolilanus
de Dioscoride. Journal suisse de Chimie et Phar-
macie. Sep. Abdr. undatiert).
Zfia und oAiga , desgl. bei Th. u. D. , sind
Herodot zufolge identisch, jedenfalls nahverwandte
Abarten des Weizens. Triticum spelta (ngr.
dygioairdgi) , monococcum und dicoccum, d. h.
Spelz, Einkorn und Emmer kommen in Betracht.
6)vnv, bei Th. u. D. &iu<, &iia oder d^itict
(schon im .Altertum wurde n wie i ausgesprochen)
soll nach Sprengel Thuja articulata sein.
"lov, desgl. Th. u. D., ngr. ftevtieg. Viola odo-
rata, Veilchen.
hii^ , Th. u. D. iTs'a, ngr. Inä {hiä), Salix
alba, Silberweide.
Ksdgog: zu allen Zeiten Juniperus- Wacholder-
Arten.
N. F. XIII. Nr. u
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
169
xlr]&Q)]: bei Th. x/i;.?()a, ngr. xlf^d-Qi, Alnus
glutinosa. Schwarzerle.
KQÜveia, desgl. bei Th., bei D. v.Qaviu, ngr.
■Aqavia, Cornus mas, Kornelkirsche.
y.Qid^<] (x^r) Th. u. D. y-Qi^i], ngr. -Agt^äQ/, Hor-
deum vulgare, Gerste.
xpdxoc: zu allen Zeiten: Crocus vernus et sa-
tivus, Safran.
■/.QÖ/.ILOV , Th. ■/(QÖu(Lt)iov , D. xQoiitiLor , ngr.
desgl. und zpe/i/a'd«, AUium cepa, Zwiebel.
■Ki'aitog , desgl. bei Th. u. D. , ngr. xovx{x)ia
und ■/0('x(z)/(ov), Vicia faba, die Sau- oder Puff-
bohne.
nvTrdcQiaaog, desgl. bei Th. u. D., ng-r. xurra-
Qtaat, Cypressus sempervirens.
Y.V7TSIQ0V, bei Th. u. D. wrteiQOQ, ngr. xvTieQjj,
Cyperus longus et rotundus, Cyperngras.
Jivor, desgl. bei Th. u. D., ngr. ktväqi, Linum
usitatissimum, Lein, Flachs.
Awro'c, desgl. bei Th. u. D. , ngr. rgiffckki,
Trifolium- und Melilotus- d. h. Kleearten.
}MTbi;TCüv JioTOfpäywv: die Frucht des Zizj'phus
lotus. Oder identisch mit der Frucht des liby-
schen Lotes des Th. resp. des Lotosbaumes des
D. Diesenfalls kommt Celtis australis, der Zürgel-
baum, der auch heute noch huröi genannt wird,
in Betracht.
/n^'zw)', desgl. bei Th. D. und im ngr. Daselbst
auch wpiövt, äcpiüvi (in der Aussprache sind zwischen
0 und (Ol, die beide ähnlich unserem mittellangen o
mitganz leichtem Anklang an a ausgesprochen wer-
den keine Unterschiede,' wofür es auch schon aus
dem Altertum Belege gibt), d. h. Opium, und
t;';ri'og (Schlaf!) auch .T«.Ta()Oi;)'« (Papaper) genannt.
Papaver somniferum, Mohn.
Mt)M], bei Th. u. D. uelia, ngr. ^ts'kiü, Fraxi-
nus ornus, Mannaesche.
fii;ke)^, Th. tii^lia D. -/.vöcüvia firj/Ja , ngr. zr-
öiot'ici, Cydonia maliformis sivc vulgaris, Quitte.
fiiQixrj , desgl. Th. u. D., ngr. fiiQi/.id (/«cp/z/,
auch mit dem Anlaut cd oder äg), Tamari.x galiica,
Tamariske.
Iltv/.r, desgl. Th. D. und ngr. Dort auch
7t£vy.a, TTeCxot;, Pinus halepensis et laricio. Aleppo-
und Schwarzkiefer.
nkvc,, desgl. Ih. D. u. ngr. Daselbst auch
/o(/(/()f)(i'«p/« und ajQOifiAiä, Pinus pinea, Pinie.
TTkaruviaiOi Th. D. u. ngr. n'käiavoc.. Hier
auch TtluTÜri. Platanus orientalis. Platane.
iTi'^oc, Th. desgl., ngr. TtiiÜQi (jaifiaiQi) Buxus
sempervirens. Buchs.
niQÖg. Th. u. D. desgl., ngr. azagt = anÜQi,
auch anoc, das schon im Altgriechisch Getreide,
spez. Weizen bedeutet. Triticum vulgare.
'P6Ö0V, Th. D. u. ngr. desgl. Rose. Ngr. ^oö\,
Qodia, QOÖaQici: (Wild-) Rosenstrauch, TQiavxcapcX-
Xid: Edelrosenstrauch, Rosenstock. Unter ßämg
versteht man alt- und neugr. stachliges Gesträuch :
Brombeer- und Wildrosentriebe.
^oii^ : Th. u. D. (foiä, ngr. Qoiä, gölöi, gwöi.
Qodiä und Qcjdici (vermerkt sei, daß 6 wie das
weiche engl, th in thine gesprochen wird). Punica
granatum. Granatbaum.
Ifhvov: zu allen Zeiten: Apium graveolens.
Eppich.
av/.ei], Th. u. D. at'z»], ngr. ffi'/i], ac/dd, Ficus
carica; eQiveog, desgl. bei Th., dort auch tr/Qta
ffi/(], das letztere Synonym auch bei Diosc , ngr.
dQv{i)6g, oQviä ist der wilde F'eigenbaum.
'Tmtvd-og, desgl. Th. D. u. ngr. Hyacinthus
orientalis. Andere freilich meinen Iris germanica,
Delphinium ajacis, und Gladiolusarten kämen in
PVage (vgl. Kanngießer, Erklärung der Pflanzen-
namen. Gera 1909, p. 86). Bemerkt sei, daß icnoivd-i
usw. jetzt ein Synonym für Poiyanthes tuberosa
ist. Diese Pflanze, desgl. die Hyazinthe selbst
werden neugriechisch meist ^iftßovXi [Zwiebel?]
genannt. Über L'dxivd-og soll auch Murr im Progr.
des Gymn. zu Innsbruck i888 abgehandelt haben,
(desgl. über die f/)i;yo'L; Frage), doch ist mir die
Schrift leider nicht zugänglich.
'I>r;yög, Th. D. auch ngr. desgl. Ngr. auch
(fd'/og und o|i« {6'ivu des Th.) Fagus silvatica.
Buche. Hier hatVoß im Gegensatz zu anderen,
die Eiche oder Kastanie übersetzen wolle, m. E.
recht.
(poh'i^ oder cpoUii. {01 wird wie i gesprochen,
vgl. den Doppelsinn des Orakels: lotiiög u. hftög),
desgl. Th. D. u. ngr. Jetzt /ocp/fad;« gebräuch-
licher. Phoenix dactylifer, nicht dactylifera, wie
durchgehends geschrieben wird. Phoenix ist so-
wohl im Griech. wie im Lat. masculinum. (Auch
heißt es nicht Orchis mascula, sondern masculiis, da
()p;f<i,': der Hoden, nach dem die Pflanzen wegen der
Ähnlichkeit ihrer Bulben mit den Testikeln genannt
sind, sc. männlich ist. Auch darauf, daß es nicht
die, sondern der Aster heißt, hat mich H. Voss
aufmerksam gemacht, der bisher vergeblich gegen
diese offensichtlichen Fehler ankämpft und u. a.
die Forderung aufstellt, daß Speziesnamen stets
klein zu schreiben, welcher Aufforderung ich in
dieser Arbeit nachkam.)
Zu diesen 43 Pflanzennamen, die Homer er-
wähnt, kämen noch einige Namen wie döva^
(Arundo donax.'), axolvog (Scirpus lacustris?), d-qvov
(Imperatar), oQorpog kayj'iieig (}), rz-rzog (Meeralgen)
und andere Kollektivbegriffe hinzu. Auch könnte
man den wilden Feigen- und Ölbaum doppelt zählen,
desgl. olcga und Ceta als nicht nahverwandt
auffassen und so eine höhere Ziffer ermitteln.
Doch trotz der geringen Zahl gibt uns Homer
manche Nuß zu knacken, ganz abzusehen von
der geheimnisvollen Pflanze jU(olf, von der gua
ni/.gi], deren Pulver auf Wunden gestreut den
Schmerz lindert und dem mildtätigen (pdgiia/.ov
der Helena. Doch über die letzteren Dinge ge-
denke später zu schreiben und bitte schon jetzt
um diesbezügliche freundliche Mitteilungen, desgl.
was etwaige Korrekturen meiner homerischen Flora
betrifft.
170
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. II
Einzelberichte.
Physik. Neue Untersuchungen über die Radium-
emanation. Bekanntlich wiesen zum erstenmal
im Jahre 1900 Elster und Geitel nach, daß
die Atmosphäre stets Radiumemanation entliält,
ein gasförmiges Zerfallsprodukt des Radiums, das
sich dadurch zu erkennen gibt, daß es an negativ
geladenen Drähten, die man der Luft aussetzt,
einen „aktiven Beschlag" erzeugt. Für die Ermitt-
lung des Emanationsgehaltes der Luft wurde die
Rutherford'sche Entdeckung wichtig, daß aus
Kokosnußschalen hergestellte Holzkohle in hohem
Grade die Fähigkeit besitzt, Radiumemanation zu
absorbieren. Hierauf gründet sich folgende Methode
zur Bestimmung der Emanation: Man schickt wäh-
rend einer bestimmten Zeit Luft mit bekannter
Geschwindigkeit durch Röhren, die mit Kokos-
kohle gefüllt sind, treibt die absorbierte Emanation
durch Erhitzen der Röhre aus, sammelt sie über
Wasser und leitet sie in eine Ionisationskammer,
die mit einem Elektrometer in Verbindung steht.
Ebenso verfährt man mit der Emanation, die aus
einer Radiumsalzlösung von bekanntem Radium-
gehalt ausgetrieben werden kann. Aus dem Poten-
tialabfall, den man in beiden Fällen mit dem Elek-
trometer erhält, läßt sich dann die in einem be-
stimmten Volumen Luft enthaltene Emanations-
menge bzw. die ihr entsprechende Radiummenge
berechnen. Da die Emanation, die aus dem in
der Erdkruste vorhandenen Radium stammt, nach
3,86 Tagen zur Hälfte zerfallen ist, ist die Frage
von Interesse: Wie weit kann die aus dem Boden
entweichende Emanation durch Diffusion und verti-
kale Luftströmungen aufwärts getragen werden,
ohne daß viel von ihr zerfällt? Zu erwarten wäre,
daß die Menge der Emanation in der Atmosphäre
mit zunehmender Höhe abnimmt. Die bisher vor-
liegenden Beobachtungen haben aber zum Teil zu
anderen Ergebnissen geführt. So fand z. B. F 1 e m -
ming bei Ballonaufstiegen, daß sich in 3000 m
Höhe an einem negativ geladenen Draht ungefähr
die gleiche Menge „aktiven Beschlags" absetzt
wie an der Erdoberfläche. Saake und Gockel
stellten dagegen bei Beobachtungen auf Berggip-
feln fest, daß der akti\^e Beschlag in großen Höhen
beträchtlicher ist als auf dem Meeresniveau.
Einen neuen Beitrag zur Beantwortung dieser
Frage haben vor kurzem die Amerikaner J. R.
Wright und O. F. Smith geliefert (vgl. Physi-
kal. Zeitschr. 15, Heft i, S. 31), indem sie nach
der Methode der Absorption mit Kokoskohle fast
ein Jahr lang Beobachtungen in Manila (annähernd
Meeresniveau) und auf dem Mount Pauai (2460 m)
anstellten. Der Mittelwert der Emanationsmenge
im cbm Luft, durch das Äquivalent an Radium
ausgedrückt, wurde für Manila zu 82, 48X10"^^ g,
für den Mount Pauai zu 19, iSXiO"'- g gefunden.
Damit scheint also endgültig bewiesen zu sein, daß
der Gehalt der Luft an Emanation tatsächlich in
großen Höhen abnimmt. Ferner ergab sich, daß
an einem gegebenen Orte die Emanationsmenge
in der Atmosphäre großen Schwankungen unter-
worfen ist, die in naher Beziehung zu der Ände-
rung der meteorologischen Verhältnisse stehen.
Regnerisches Wetter lieferte z. B. niedrige, schönes
Wetter hohe Werte.
Über den Emanationsgehalt der Bodenluft hat
K. K ä h 1 e r kürzlich eine wichtige Arbeit veröffent-
licht (vgl. Physikal. Zeitschrift 15, Heft i, S. 27).
In der Nähe des Potsdamer Observatoriums wurde
auf einer Wiese ein ca. i '/o m tiefes und '/j m
breites Loch gegraben und seitlich mit einem Zink-
blechzylinder ausgekleidet, in dessen Achse ein
Kupferdraht isoliert aufgehängt war. Der Kupfer-
draht führte zur Nadel eines Benndorf-Elektro-
meters, das automatisch alle viertel Stunden auf
ein bestimmtes Potential, dessen Abfall das Elektro-
meter alle Minuten registrierte, aufgeladen wurde.
Auf diese Weise konnten die von der Emanation
erzeugten positiven Elektrizitätsträger in dem Meß-
raum ermittelt werden (die gleichzeitig gebildeten
negativen Träger entluden sich an der Metallwand) ;
parallel hiermit gingen Messungen des elektrischen
Leitvermögens der Atmosphäre. Der Mittelwert
für den Gehalt der Bodenluft, der sich aus den
Beobachtungen eines Jahres ergab, war o,22XiO~'
elektrostatische Einheiten pro ccm. Dieser Wert
ist bedeutend kleiner als der im Jahre 1907 von
Endrös in München registrierte Wert (i,2XiO~')
oder der von Gockel in Freiburg (Schweiz) er-
mittelte (2 — 7Xio~'). Der brandenburgische Sand
ist also viel weniger radioaktiv als der steinige
Boden Münchens oder der Schweiz. Dem Wert
0,22 KiO~" elektrost. Einh. entspricht, wenn man
für die Ladung eines Elektrizitätsträgers den von
Millikan gefundenen Betrag 4,9X10^'" zugrunde
legt, eine Zahl von 45 Elektrizitätsträgern; d. h.
die Emanation in ^j^ m Tiefe ist imstande, pro
Sekunde und ccm 45 positive (und negative) Träger
zu erzeugen.
Am stärksten emanationshaltig erwies sich die
Bodenluft im Sommer, am schwächsten im Winter.
Dies erklärt sich natürlich so, daß bei stärkerer
Bodenerwärmung mehr Emanation aus den „ge-
sättigten" Tiefen (unterhalb 2 m) in die näher der
Oberfläche liegenden Tiefen und damit auch in
die Atmosphäre tritt. Auch die täglichen Schwan-
kungen des Emanationsgehaltes der Bodenluft er-
gaben bestimmte Regelmäßigkeiten: ein Haupt-
maximum um 7 Uhr abends, ein kleineres Maxi-
mum um 6 Uhr morgens, ein Hauptminimum
mittags und ein weniger ausgesprochenes Mini-
mumkurz nach Mitternacht. Diese tägliche Schwan-
kung zeigt eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit
den täglichen Schwankungen des Luftdrucks. Die
wichtigste Ursache der Schwankungen ist in der
Luftbewegung zwischen Atmosphäre und Boden
zu suchen; die aufsteigende Luft wirkt erhöhend
auf den Emanationsgehalt, die absteigende ver-
mindernd. Bugge.
N. F. XIII. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Woch cnschrift.
171
Botanik. Über den Einfluß der radioaktiven
Emanation auf die Entwicklungder Pflanzen berichten
in den Comptes Rendus de l'Academie des Sciences
(Paris) 157, S. 1082, J.Stoklasa und V. Zdob-
nicky. Daß das Radium und seine Emanation
treibend auf die Knospen mancher Pflanzen (z. B.
Flieder) wirkt, hat 1912 IVIolisch gezeigt (vgl.
Naturw. Wochenschrift lttl2, S. 378). Eine Be-
stätigung und Ergänzung dieses Ergebnisses bringen
die Versuche von Stoklasa und Zdobnicky,
die sowohl mit künstlich aktiviertem als auch mit
natürlichem aktivem Wasser (von Brambach und
Franzensbad) ausgeführt wurden. Es zeigte sich,
daß Erbsen, Linsen und Weizen in einer emana-
tionshaltigen Knoop 'sehen Nährlösung mehr als
doppelt so hohe Ausbeuten lieferten wie bei Paral-
lelversuchen ohne Emanation. Ähnliche, wenn auch
nicht so in die Augen fallende Ertragssteigerungen
in bezug auf Frucht und Stengel bewirkte die
Emanation bei Mohn, Lupinen, Zuckerrüben und
Wicken, die in Erde aufgezogen und mit radio-
aktivem Wasser begossen wurden. In allen Fällen
trat Blütenbildung und Befruchtung in den Versuchs-
reihen mit Emanation früher ein als in denen ohne
Emanation. Auch in „PJmanatorien" — großen
Behältern, deren Atmosphäre Emanation zugeführt
wurde — äußerte sich deutlich der günstige Ein-
fluß der radioaktiven Wirkung. Interessant ist, daß
alle diese guten Erfolge nur bei mäßiger Dosierung
der Emanation erzielt werden. Zu starke Emana-
tionsmengen wirken gegenteilig, da sie offenbar
das Chlorophyll der Pflanzen zerstören und Plas-
molyse hervorrufen. Bugge.
Vom Anthocyan. Guillermond gibt an,
daß das Anthocyan in den jungen Blättern des
Rosenstocks und des Nußbaums, in Rizinus-
keimlingen , in Korknieristemzellen der jungen
Knollen gewisser Kartoffelsorten, in Herbstblättern
von Ampelopsis Veitchii und in der Blüte von
Iris germanica in Chondriosomen (Mitochondrien)
gebildet werde, indem entweder von vornherein
eine farbige Phenolverbindung in ihnen auftritt
oder zunächst eine farblose Phenolverbindung vor-
handen ist, die erst später zum Pigment wird.
Guillermond bemerkt, daß dieses Ergebnis
völlig im Einklang stehe mit den Resultaten, zu
denen Raoul Combes und Viktor Gräfe
gelangt sind, wenn auch dieser ein Entstehen
von Anthocyan durch Umwandlung farbloser
Phenolverbindungen nicht angenommen habe.
(Comptes rendus 1913, t. 15", p. 1000.)
Combes hatte schon früher aus grünen Blät-
tern des sog. wilden Weins (Ampelopsis hedera-
cea) eine in rosettenförmig geordneten Nadeln
kristallisierende braungelbe Verbindung erhalten, die
gleich dem Anthocyan mit neutralem Bleiacetat
einen gelben Niederschlag gab. Er hat nun ge-
funden, daß eine mit HCl angesäuerte alkoholische
Lösung dieses braungelben Körpers bei Einwir-
kung von naszierendem Wasserstoff (mit Natrium-
amalgam erhalten) violettrosafarben wird, und daß
sich diese Färbung immer mehr vertieft. Filtriert
und neutralisiert liefert die Flüssigkeit beim Ver-
dampfen eine purpurfarbene Substanz, die in
rosettenförmig gruppierten Nadeln kristallisiert.
Dieselbe Farbe und Kristallform zeigt das aus
roten Ampelopsis-Blältern ausgezogene natürliche
Anthocyan. Die nach zweimaligem Umkristalli-
sieren in Alkohol und dreimaliger Kristallisation
in Wasser erhaltenen reinen Pigmente zersetzen
sich, das natürliche wie das künstliche, bei der-
selben Temperatur (165 ") und schmelzen auch
bei derselben Temperatur (212" — 215"). Die
braungelbe Verbindung zersetzt sich und schmilzt
etwas später (182" bzw. 226"— 229"), ist auch in
Wasser weniger löslich als die beiden purpurnen
Farbstoffe. Da diese auch in ihren chemischen
Reaktionen übereinstimmen, so zieht Combes
den Schluß, daß das natürliche Anthocyan aus
der in den grünen Blättern enthaltenen Verbin-
dung durch Reduktion entsteht.
Wenn dem so ist, so liegt der Versuch nahe,
das natürliche Anthocyan durch Oxydation in den
gelben Farbstoff überzuführen. Auch diese Um-
wandlung wurde von Combes erzielt, indem er
eine alkoholische Lösung des natürlichen Pigments
mit Wasserstoffsuperoxyd versetzte. Er erhielt
eine gelbe Lösung und aus dieser ein in Nadel-
rosetten kristallisierendes braungelbes Pigment,
das in allen Eigenschaften mit dem natürlichen
übereinstimmte.
Nach Combes gehören beide natürliche h'arb-
stoffe, das gelbe Pigment sowohl wie das Antho-
cyan, zur Gruppe der Phenol-y-Pyrone. Man hat
einige dieser Verbindungen aus Pflanzen ausge-
zogen, wo sie gelbe I'arbstoffe bilden, und hat
sie synthetisch herstellen können. Verf. hat solche
synthetisch erzeugten Pigmente durch naszieren-
den Wasserstoff in rote P'arbstoffe von den Eigen-
schaften der Anthocyane übergeführt. (Comptes
rendus 1913, t. 157, p. 1002, 1454.) ')
F. Moewes.
Zoologie. Umkehrbarkeit in der Entwicklungs-
erregung des Seeigeleies. Zahlreiche Versuche
der letzten Zeit haben gezeigt, daß die Eier vieler
wirbelloser Tiere, Stachelhäuter, Würmer, Schnek-
ken und sogar die von Wirbeltieren (Frösche),
ohne befruchtet zu sein, durch die verschiedensten
äußeren Eingriffe (chemischer, thermischer und
mechanischer Natur) veranlaßt werden können,
sich mehr oder minder weit zu entwickeln.
Jacques Loeb (Archiv für Entwicklungs-
mechanik der Organismen Bd. 38, 1914) ist es
nun gelungen, den durch chemische Mittel (Alka-
lien und Säuren) veranlaßten Beginn der Entwick-
lung des Eies einer Seeigelart (Arbacia) rückgängig
zu machen, insofern, als die Eier wieder in den
Zustand des unbefruchteten Eies zurückkehrten.
') Inzwischen hat Combes eine erste Mitteilung über
seine Versuche in deutscher Sprache veröffentlicht (Berichte
der Deutschen Botanischen Gesellsch. 1914, Bd. 81, S. 570
bis 578).
172
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. II
Während sie sonst nach Einleitung der künst-
lichen Parthenogenese sich entweder furchen oder
zerfallen, kehren sie nach Behandlung mit cyan-
natriumhaltigem Seewasser wieder in den ursprüng-
lichen Zustand zurück und können aufs neue durch
die Befruchtung mit Samenfäden oder durch
,, künstliche Parthenogenese" zur Entwicklung ver-
anlaßt werden. Obwohl also bei ihnen der Zell-
teilungsapparat — Zentrosomen, Astrosphären —
vorhanden und in Bewegung gesetzt war, gingen
die Blastomeren doch wieder in den Ruhezustand
zurück.
Je früher die Eier nach der Alkalibehandlung
in die Cyannatriumlösung gebracht werden, um
so größer ist der Prozentsatz jener, die in den
Ruhezustand zurückkehren. Als Ursache dafür
ist vielleicht die Herabsetzung der O.xydations-
vorgänge durch das Cyannatrium zu betrachten.
Veranlaßt wurde L. zu seinen Versuchen durch
die Wahrnehmung, daß die Furchungszellen, in
welche die bei künstlicher Parthenogenese ent-
standenen Entwicklungsstadien eines anderen See-
igels (Strongylocentrotus purpuratus) auf dem 2-
oder 4- bis 8- oder i6-Zellenstadium auseinander
fielen, am Leben blieben und noch am nächsten
Tag durch Samen oder durch Buttersäurebehand-
lung zur normalen Entwicklung gebracht werden
konnten. Daß die Entwicklung bei Strongylo-
centrotus schwerer rückgängig gemacht werden
kann als bei Arbacia , liegt nach L. daran , daß
hier die Befruchtungsmembran weniger durch-
gängig ist. Dr. phil. et med. L. Kathariner.
Astronomie. Die Bestimmung des Mondortes
behandelte Hayn auf der Astronomenversammlung;
er wies daraufhin, daß bei dem Mangel eines scharfen
Randes sich der Mondmittelpunkt nicht bestimmen
läßt. Auch die Methode, den in der Mitte der
Mondscheibe liegenden Krater Mösting A zu be-
obachten, und dessen Ort durch Mikrometer-
messungen an den Mondrand anzuschließen, sei
nicht ausreichend. \'ielmehr erscheine als der
beste Weg der, durch alle die Teile der Mond-
oberfläche, die uns wegen der Libration als Rand
erscheinen können, eine Kugeloberfläche zu legen
und deren Mittelpunkt als Mondmittelpunkt zu
betrachten. Der Mondschwerpunkt wird an sich
nicht mit diesem Punkte zusammenfallen, die
Differenz ist aus der Theorie zu bestimmen, da
die Beobachtung sich auf den eben bestimmten
Mittelpunkt, die Theorie aber auf den Schwer-
punkt bezieht. Schon aus den bisherigen Beob-
achtungen geht ein nicht Zusammenfallen beider
Punkte deutlich hervor. Es sind nun durch Hayn
schon eine große Menge photographischer Auf-
nahmen hergestellt worden, und die selenographi-
schen Koordinaten von über loooo Punkten ge-
messen. Hat man dann noch einen gut bestimmten
Stern auf der Platte, an den der gemessene Mond-
mittelpunkt angeschlossen werden kann, so erhält
man Mondörter auch außerhalb des Meridianes
von einer bisher noch nicht erreichten Genauig-
keit. Denn es war bisher immer der Übelstand,
daß man nur den einen Teil der Mondbahn aus
Meridianbeobachtungen kannte, in der der Mond
im Meridian erscheint, oder wo der Krater
Mösting A beleuchtet ist, daß also die eine Hälfte
der Mondbahn so wenig bekannt war, daß gewisse
Glieder von sehr kurzer Periode sich nicht be-
stimmen ließen. Nun kommt hier aber noch hin-
zu, daß, wenn man Mond und Stern in zwei um
etwa 6 Stunden verschiedenen .Stundenwinkeln
beobachten kann, daß man dann aus der paral-
laktischen Verschiebung sofort die Entfernung des
Mondes erhält, also alle drei Koordinaten des
Mondortes. Hier ergibt sich nun aber die große
technische Schwierigkeit, daß in den Sekunden,
die der Stern zur Belichtung braucht, der Mond
überexponiert wird, ferner muß bei der schnellen
Bewegung des Mondes das Fernrohr auf diesen
gehalten werden, so daß der Stern eine Linie
zieht. Es scheint, daß man dieser Schwierigkeit
am besten begegnet, indem man durch eine
rotierende Sektorscheibe den Mond abblendet,
wie es schon immer am Heliometer gemacht
wurde, wenn hier zwei Sterne von sehr ver-
schiedener Helligkeit aneinander angeschlossen
werden sollten. Die Untersuchungen über die
Brauchbarkeit dieser Methoden ist noch im Gange.
[Vierteljahrsschrift der astronom. Ges. 1913 S. 231.]
Riem.
Kleinere Mitteilungen.
über die Walloneneichen in ihrer pflanzen-
und wirtschaftsgeographischen Bedeutung hat
Karl Burk (Jahrb. des Nassauischen Vereins für
Naturkunde, 66. Jahrg., Wiesbaden 191 3) ein-
gehende Untersuchungen angestellt. Unter den
Walloneneichen versteht man jene Gruppe der
laubabwerfenden Eichen der Mittelmeerländer, die
charakterisiert ist durch große und dicke, gerb-
stoffhaltige Fruchtbecher mit extrem entwickelter
Beschuppung. Wegen des reichlichen Gerbstoff-
gehaltes werden die Becher, meist von ihren
Früchten befreit, als Wallonen und die abge-
brochenen Schuppen als Drillo in den Handel ge-
bracht. In den Schuppen ist der Gerbstoffgehalt
am größten (bis über 40%), in den Bechern
selbst etwas geringer.
Die Lebensbedingungen der Walloneneichen
sind nicht allgemein anzugeben, da es sich bei
ihnen um einen größeren Formenkreis handelt,
dessen einzelne Elemente sehr verschiedene An-
sprüche stellen. Für alle Arten ist aber jedenfalls
ein Klima mit völlig regenfreiem Sommer erfor-
derlich. Als Höhengrenze ist etwa eine Höhe
von 700 m anzusehen.
N. F. Xm. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
»73
Das Maximum der Ausdehnung erlangen die
VValloneneichen in den Ebenen der Westküste
Griechenlands und in den Flußtälern an der
Westküste von Kleinasien.
Die Ernte der Wationen wird in allen Ge-
bieten in fast gleicher Weise gehandhabt: Die
Bäume werden vor dem Herausfallen der Eicheln
aus den Bechern abgeklopft , die gesammelten
Früchte in hohen Lagen aufgeschichtet und zu-
gedeckt. Die durch die entwickelte Feuchtigkeit
verursachte Gärung ermöglicht dann, die Eicheln
leicht aus den Bechern zu lösen. Die geringste
Übergärung ist für das Produkt von Nachteil.
Daher kann natürlich auch Regen die ganze Ernte
vernichten.
In manchen Teilen Griechenlands befinden
sich die Walloneneichen in Halbkultur, in Klein-
asien (mit Ausnahme des Nordwestens von Ana-
tollen) sind sie dagegen rücksichtsloser Raubwirt-
schaft preisgegeben. Neuanpflanzungen finden
dort nicht statt, und zum Schutze des Nach-
wuchses gegen Ziegen, die ja großen Schaden in
der Vegetation dort anrichten, geschieht auch
nichts.
Der Bedarf Europas an Wallonen wird im wesent-
lichen von Smyrna, ferner aber auch von Patras
und dem Piräus aus gedeckt. Der Export Smyrnas
übertrifft den der griechischen Häfen schon seit
langem um das 7 — 10 fache.
Man unterscheidet die Wallonensorten des Han-
dels entweder nach Verbreitungsgebieten in klein-
asiatische oder Smyrna-, griechische Insel- und
Festlands-, albanische, Golfo- und Caramania- Wallo-
nen aus dem südöstlichen Kleinasien; oder nach
Eitner in kleinasiatische, griechische und alba-
nische Wallonen; oder nach dem Grade der Reifung:
(Chamada = junge geschlossene Früchte, im April
gesammelt; Rhavdisto = große ausgereifte Früchte,
im September gesammelt; Charchala = nach dem
ersten Oktoberregen gesammelt, Becher völlig offen
und leer, aber auch gerbstoffarm.)
Die allgemeine Verwendung der Wallonen in
der mitteleuropäischen Gerbindustrie besteht kaum
ein Jahrhundert. Die erste Einfuhr fand 1780
statt (von Smyrna nach Wien).
Fr. J. Meyer.
Tollwut. — Nachdem sich schon seit längerer
Zeit ein dringendes Bedürfnis für einen Neubau
der Tollwutstation in Berlin fühlbar gemacht hatte,
wurde zu dem Bau eines neuen Instituts geschritten,
das allen modernen Anforderungen entspricht.
Zu dessen Eröffnung, die in diesem Jahre stalt-
fand, hielt Prof Koch eine Rede über den
„gegenwärtigen Stand der Lyssaforschung"
(Deutsch, med. Woch. Nr. 42, 191 3).
Über die Erkrankung selbst seien mir ein
paar kurze Worte zur Erläuterung gestattet. Die
Übertragung der Wut auf den Menschen erfolgt
fast ausschließlich durch den Biß wutkranker
Tiere (in erster Linie Hunde, seltener Wölfe oder
Katzen). Die Infektion erfolgt um so sicherer,
je mehr Speichel des betreffenden Tieres in die
Wunde gelangt, und wenn bei dem Biß Nerven-
äste verletzt werden, da das Gift sich weniger
auf dem Blut- und Lymphwege als vielmehr längs
der Nervenbahnen verbreitet. Ferner ist von
Wichtigkeit die Bißstelle, die um so gefährlicher
ist, je näher sie dem Gehirn sich befindet, in erster
Linie sind also Kopfwunden zu fürchten. Der Verlauf
der Tollwut gestaltet sich folgendermaßen. Nach
einem sog. Prodromalstadium mit allgemeineren
Symptomen von Kopfschmerz, unruhiger Stimmung,
und einer beginnenden Abneigung gegen Flüssig-
keiten, tritt der Kranke in das hydrophobische Sta-
dium ein. Dieses äußert sich in außerordentlich
quälenden Krampfzuständen der Atemmuskulatur,
des Rumpfes, der Gliedmaßen und der Kehlkopf-
muskeln. Die Anfälle werden bei den geringsten
äußeren Anlässen ausgelöst, manchmal bei dem
Versuch zu schlucken, sogar schon bei dem bloßen
Anblick eines Getränkes (daher der Name hydro-
phobisch i'diüQ — (poßelv). Darnach erfolgt im
dritten Stadium der Lähmung der Tod.
Koch weist nun in seinem Vortrage darauf
hin, daß die Tollwut eigentlich zu den seltensten
Erkrankungen Deutschlands gehöre, und vor allem
nur in den östlichen Grenzgebieten, in der Eifel,
sowie vereinzelt in einzelnen Teilen Sachsens und
Bayerns beobachtet wird. Das zurzeit gehäuftere Auf-
treten in der Umgegend Berlins sei darauf zurück-
zuführen, daß wohl ein zugelaufener Hund, dessen
Krankheit nicht rechtzeitig erkannt worden wäre,
Gelegenheit hatte, andere zu infizieren. Man war
nun bisher der Meinung, daß die Wut die einzige
Infektionskrankheit sei, die, einmal beim Menschen
ausgebrochen, unrettbar zum Tode führe. Doch
haben experimentelle Tierversuche gezeigt, daß
es auch leichtere P'ormen der Erkrankung — sog.
abortive Formen — gibt, und dieselbe Beobach-
tung konnte Koch auch bei Menschen machen.
Derartige Fälle enden dann nicht tödlich.
Die jüngsten P"orschungen haben uns einen
Weg weiter bezüglich der Diagnose und der
Ätiologie gebracht. Da wutkranke Tiere mit
Vorliebe Steine, Holz verschlingen, ist der Befund
solcher Sachen im Magen eines getöteten Hundes
immer verdächtig auf eine zu seinen Lebzeiten
bestandene Wutkrankheit. Sodann ist man viel-
leicht der Frage der Erreger der Tollwut näher
gekommen durch Auffinden feinster Gebilde im
Hirn und Knochenmark, die nach Ansicht Koch 's
die parasitären Erreger dieser Krankheit darstellen.
Er kommt dabei auf die ausführlichen Arbeiten
Noguchis zu sprechen, der den Erreger gefun-
den haben will in der Form kleinster chromatoider
Körperchen, die durch besondere Kulturverfahren
hergestellt werden (Berl. klin. Woch. Nr. 42, 1913).
Weiterhin bezweifelt Koch die früher allge-
mein angenommene Meinung der Verbreitung des
Giftstoffes durch die Nervenbahnen (cf oben!),
da Versuche, in denen das Gift direkt in die Ner-
ven eingespritzt worden war, trotzdem ergebnislos
verlaufen waren. Ebenso hält er es für belanglos,
174
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 1 1
wo die Bißstelle sitzt, da unabhängig von deren
Lokalisation der Wuterreger vorzugsweise im
Lendenmark als einer Prädilektionsstelle sich an-
siedelt.
Dagegen ist man bisher noch nicht bezüglich
der Therapie weiter gekommen. Es kommen auch
jetzt immer noch Fälle vor, wo — trotz energi-
scher Schutzimpfung — „wie ein Blitz aus heite-
rem Himmel" der Ausbruch der Wutkrankheit,
selbst noch nach einem Jahre erfolgt. Koch
glaubt nun aus gewissen theoretischen Erwägungen
heraus eine Jodbehandlung auch in prophylakti-
scher Beziehung empfehlen zu können, von dem
er sich, bis ein Spezifikum gegen die Wut ge-
funden ist, doch immerhin einige Vorteile ver-
spricht. Dr. med. Carl Jacobs.
Die Giftigkeit des Methylalkohols. — Seit
dem Sc härm ach 'sehen Prozesse in Berlin
schwoll die Literatur über Methylalkohol lawinen-
artig an. Nach der eidlichen Aussage einiger
Zeugen richtete Methylalkohol, längere Zeit hin-
durch in größeren Mengen genossen, keine wesent-
lichen körperlichen Schädigungen an, während
einzelne Individuen bereits bei einmaligem Genüsse
dem Tode verfallen. Oberapotheker Ludwig
Kroeber in München - Schwabing stellte die
neuere Literatur über die Giftigkeit des Methyl-
alkohols ausführlich zusammen und referierte da-
rüber auf dem 1 1. Internationalen pharmazeutischen
Kongreß in Haag und Scheveningen vom 17. bis
21. September 191 3:
Juckenack glaubte den bei der Oxydation
des Methylalkohols intermediär auftretenden Form-
aldehyd in statu nascendi verantwortlich machen
zu sollen. Nach Hund und Harnack soll die
aldehydische Ameisensäure, als Produkt der lang-
samen Oxydation des Methylalkohols, am Orte
ihrer Entstehung eine starke Giftwirkung entfalten.
Harnack hält diese im statu nascendi angreifende
Säure für viel gefährlicher als eingeführte freie
Ameisensäure, bei der baldige Bindung an Basen
erfolgt. Nach anderen soll gerade diese Bindung
zu einer gefährlichen Verarmung des Blutes an
Alkali Veranlassung geben. Auch eine Verarmung
des Blutes an Sauerstoff soll die Folge der Oxy-
dation des Methylalkohols zu Formaldehyd, Ameisen-
säure und Kohlensäure sein. v. Buchka wider-
spricht der .■\nschauung, als ob das aus der Ameisen-
säure sich möglicherweise abspaltende Kohlenoxyd
die Vergiftung bewirke, da im Blute der Er-
krankten Kohlenoxyd nicht nachgewiesen wurde.
F ü h n e r hält Methylalkohol aus Oxalsäure dar-
gestellt für giftiger. O h 1 e m a n n sucht die Ur-
sache in einer Verunreinigung des Methyalkohols
mit Furfurol. Hingegen vertritt Aronsohn die
Auffassung, daß Methylalkohol nach seinen Unter-
suchungen mit Sicherheit nicht als schweres Gift
in Betracht kommt, eine These, die sich auch in
Übereinstimmung mit dem biologischen Bilde be-
findet. Bekanntlich steht nach dem durch Expe-
rimente gestützten Rieh ardson 'sehen Gesetz
die Stärke der physiologischen Wirkung der Al-
kohole in direktem Verhältnisse zur Menge der
in dem betreffenden Alkohole vorhandenen Kohlen-
stoffatome. Demgemäß müßte Methylalkohol am
schwächsten in der Reihe wirken. Nach Aron-
sohn handelt es sich dabei um Beimengungen
zum Methylalkohol. Kobert glaubt das Vor-
handensein von Idiosynkrasien zur Erklärung der
wechselnden Wirkung annehmen zu müssen.
Joffroy und Serveaux halten Methylalkohol
in einmaliger Dosis für harmlos; bei fortgesetztem
Genüsse wirke er jedoch, da kohlenstoffarme Al-
kohole nur schwer oxydierbar sind und infolge-
dessen nur langsam verbrennen, durch Kumulierung
der nicht oxydierten Anteile schädlicher als höhere
Alkohole. Im Zusammenhang hiermit steht wohl
die Ansicht, daß jene Asylisten, die sich nach dem
Braimtweingenuß sofort körperlicher Arbeit hin-
gaben, infolge der beschleunigten Oxydation dem
Tode entgingen. Zum Schlüsse sei noch der
Tierversuch von Langgaard angeführt, dessen
Schlußfolgerung lautet: In kleinen wiederholten
Dosen ist Methylalkohol giftiger als der Athj-l-
alkohol. In großen einmaligen Dosen ist der
Äthylalkohol giftiger als der Methylalkohol.
Aus den gemachten Beobachtungen sollten
ähnliche Vergiftungserscheinungen bei allen Prä-
paraten auftreten müssen, welche ein Methylradikal
enthalten. Es ist jedoch noch kein Fall bekannt
geworden , der diese Ansicht bewiesen hätte.
Kroeber sucht die Ursache für die zeitweilige
Giftwirkung des Methylalkohols in einer Verun-
reinigung desselben durch Dimethylsulfat(CH3).jS04,
welches sich bei der Reinigung des Rohalkohols
unter gewissen Bedingungen bilden kann.
R. Ditmar.
Bücherbesprechiingen.
Dr. Karl Groos, Das Seelenleben des Kin-
des. Ausgewählte Vorlesungen. Vierte durch-
gesehene und ergänzte Auflage. 334 Seiten.
Berlin, Verlag von Reuther & Reichard, 1913.
— Preis geh. 4,80 Mk., geb. 5,70 Mk.
Der bekannte Psychologe K. Groos bietet
uns in bereits vierter Auflage ein Werk, das alle
Erwartungen, die man berechtigterweise von einer
Kinderpsychologie haben kann, reichlich er-
füllt. Er liefert in ihm den Beweis, daß man
trotz der außerordentlichen Schwierigkeit, das aus
Einzel- und Massenbeobachtung gewonnene Mate-
rial kindlicher Ausdrucksbewegungen richtig zu
deuten, doch einen wertvollen Einblick in die
ontogenetische sowie selbst in die phylogenetische
Entwicklung des menschlichen Geisteslebens zu
gewinnen vermag.
Der Verf macht uns nicht nur mit beachtens-
werten allgemeinpsychologischen Auffassungen be-
kannt, sondern gibt auch dem Erzieher und Lehrer
bedeutsame Anweisungen. Der naturwissenschaft-
lich gebildete Leser wird es begrüßen, daß die
N. F. Xin. Nr. 11
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
175
psychische und physische Seite des kindlichen
Verhaltens gleichmäßig beachtet werden, daß die
seelischen Zustände nicht bloß als Folgen voraus-
gegangener bewußter Lebensprozesse, sondern
auch als Folgen rein physiologischer Vor-
gänge aufgefaßt werden.
Bei der allgemeinen Anerkennung, die die
Schriften des bekannten Psychologen gefunden
haben, haben wir es nicht mehr nötig, dessen
eigenartige, wohlbegründete Ansichten näher an-
zuführen oder Proben der gewandten , durchaus
klaren Darstellung zu geben.
Möge das lehrreiche Buch viele für die scientia
amabilis der Kinderpsychologie erwärmen 1
Angersbach.
James C. Philip, Physical chemistry, its
bearlng on biology and medicine.
2. Auflage. London 191 3, Edward Arnold.
326 Seiten 8».
Die physikalische Chemie ist heute zu einer
unentbehrlichen Grundlage für die Physiologie
geworden, und jeder Blick in eine referierende
Zeitschrift zeigt, wie erstaunlich der Anteil an der
jährlichen physiologischen Literatur steigt, welcher
auf die physikalisch-chemische Arbeitsrichtung
entfällt. Zu einem Verständnis dieser modernen
Behandlung biologischer Fragen will das vor-
liegende aus Vorlesungen vor Studenten der Bio-
logie hervorgegangene Buch dem mit dem ge-
wöhnlichen physikalischen und chemischen Schul-
wissen ausgerüsteten Leser als Leitfaden dienen.
Es behandelt demgemäß unter Vermeidung mathe-
matischer Betrachtungen in mehr anschaulicher
Weise vor allem die lonenlehre mit ihren Grund-
lagen, das chemische Gleichgewicht und das
Massenwirkungsgesetz, die kolloiden Lösungen usw.
Dabei werden mit bemerkenswertem Geschick die
Beispiele möglichst der Physiologie entnommen
und weitere Anwendungsmöglichkeiten betont.
Zahlreiche Hinweise auf die Originalliteratur und
auf ausführlichere zusammenfassende Darstellungen
sind beigefügt, zu deren Studium sich ohne Zweifel
zahlreiche Leser durch das kleine Buch angeregt
fühlen werden. Ruhland (Halle a. S.).
O. M. Reuter, Lebensgewohnheiten und
Instinkte der Insekten bis zum Erwachen
der sozialen Instinkte. Vom Verfasser revidierte
Übersetzung nach dem schwedischen Manuskript,
besorgt von A. u. M. B u s c h. Mit 84 Textfiguren.
XVI u. 448 S. Berlin, R. Friedländer u. Sohn,
191 3. — Preis 16 Mk.
Eine zusammenfassende Übersicht über die
Lebensgewohnheiten der solitären Insekten hat
bisher gefehlt. Reuter hat eine Fülle wertvollen
Materials zusammengetragen und unter einheitliche
Gesichtspunkte zu bringen gesucht. Bei dem für
einen einzelnen nicht mehr zu übersehendem Ge-
biet ist es begreiflich, daß auch hier nur eine Aus-
lese hat geboten werden können. Die einzelnen
Kapitel befassen sich mit den Lebensgewohnheiten
der „Tätigkeit und Ruhe", mit den verschiedenen
„Nahrungsinstinkten", ,, Wanderinstinkten im Dienste
der Nahrung", „Reinlichkeitsinstinkten", „Schutz-,
Metamorphose-, Paarungs-, Eierlege , Brutpflege-,
Parasitäre-, und Gcselligkeitsinstinkten" bei nicht
sozialen Arten und schließen mit Ausführungen
über „das Aufdämmern der sozialen Instinkte".
Da ein zweiter Band über die sozialen Insekten
in nahe Aussicht gestellt ist, wird eine eingehen-
dere Besprechung bei der Fülle der gemeinsamen
Gesichtspunkte am richtigsten mit diesem zugleich
vorgenommen. Der Preis erscheint zu hoch.
Büttel-Reepen.
C. Lloyd Morgan, Instinkt und Erfahrung.
Autorisierte Übersetzung von Dr. R. Thesing.
Berlin, Verlag von Julius Springer, 19 13. VIII
u. 216 Seiten. Preis geh. 6, geb. 6,80 M.
Der bekannte Forscher behandelt in überaus
fesselnder Weise das Problem von Instinkt und
Erfahrung und alle damit verbundenen Teilprobleme.
Instinkthandlungen sind fix und fertig auftretende,
von der Erfahrung unabhängige Handlungen, die
der Erhaltung des Individuums und der Art dienen,
die ferner von allen Vertretern einer mehr oder
minder geschlossenen Tiergruppe in gleicher Weise
ausgeführt werden und durch Erfahrung modifizier-
bar sind. Sie sind das Ergebnis subkortikaler An-
lagen. Diese Anlagen sind die strukturellen Kor-
relate der Funktion eines vollständig organisierten
Systems von Nervenbahnen. „Wie diese Bahnen
in jedem Moment funktionieren, hängt ab von der
ererbten Organisation, der Konstellation der im
selben Moment einwirkenden Reize und der Art
und Weise, wie sie schon funktionieren".
Das bewußte Verhalten dagegen ist an
Rinden prozesse geknüpft. Da die Rinde mit
den subkortikalen Gebieten verbunden ist, so be-
ginnt wohl unmittelbar mit den ersten Instinkt-
tätigkeiten auch die Erfahrung. Die Tätigkeiten
der subkortikalen Zentren werden mehr und mehr
abhängig von der Tätigkeit der kortikalen Zentren,
d. h., die Intelligenz übernimmt immer stärker die
Leitung des instinktiven Verhaltens. Die ange-
borenen Verbindungsbahnen der Rinde be-
stimmen die Geistesrichtungen oder ererbten
Anlagen.
Jeder Gebildete sollte sich rtiit dem Inhalte des
vorliegenden Werkes, das durch die geistvollen
Auseinandersetzungen mit bekannten Naturforschern
und Philosophen noch einen eigenen Zauber aus-
übt, vertraut machen. Die Übersetzung scheint
gewandt zu sein. Angersbach.
Anregungen und Antworten.
Herrn R. Z., Berlin VV.
Ist der Begriff des „Abso-
luten" für die Beschreibung des Vorgefundenen zu entbehren,
wo doch der Begriff des ,, Relativen" nur seinen Sinn erhält
gegenüber dem „Absoluten" ?
Der naive Mensch erlebt tagaus tagein, daß zahllose
Gegenstände seiner Umgebung zeitweise ruhen, zeitweise in
Bewegung sind; niemals dagegen erlebt er, daß der liefere
176
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. II
Grund und Boden, auf dem er wohnt, oder die Erde als
Ganzes sich bewegt, und ebensowenig, daß die Gestirne je-
mals zur Ruhe gelangen. Gegenüber der eine kürzere oder
längere Zeit wälirenden Ruhe und Bewegung der meisten
Dinge der Umgebung deutet er die Ruhe der Erde und die
Bewegung des Himmels als etwas Ewiges. Mit anderen
Worten: Während ihm Erde und Himmel als ,,absolut"
ruhend und bewegt gelten , so fast alle Objekte der näheren
Umgebung als ,,relativ" ruhend und bewegt. Auf Grund
einer solchen teils positiven, teils negativen Erfahrung ent-
stehen wohl die einander durchaus bedingenden Begriffe des
.■\bsoluten und Relativen,
Aber die Begriffe der absoluten Ruhe und Bewegung
von Erde und Himmel werden mit einem Schlage aufgehoben,
als Aristarch und Kopernikus sich, wenn auch nur in
Gedanken, auf die Sonne versetzen und von hier aus die
kosmischen Verhältnisse beschreiben. Jetzt ist die zuvor
ruhende Erde ein Bewegtes, der zuvor bewegte Himmel ein
Ruhendes. Vielleicht werden die neuen Kennzeichnungen
wieder in absolutem Sinne genommen. Wer jedoch durch
jene Begriffsumkehrung stutzig gemacht ist, wird auch ein-
sehen , daß immer wieder ein neuer Standpunkt denkbar ist,
von dem aus der frühere den Charakter eines , .Absoluten"
verliert, daß es ferner unmöglich ist, einen allerletzten oder
allerhöchsten Standpunkt und eine alles umfassende Perspek-
tive zu gewinnen. Nichts zwingt mich mithin, irgendeinen
Gegenstand als absolut ruhend oder als absolut bewegt
anzusehen; aber ebensowenig bin ich genötigt, irgendeinen
Gegenstand als relativ ruhend oder als relativ bewegt zu
bezeichnen. Habe ich mich für einen Standpunkt entschie-
den, so genügt es völlig, dem zu beurteilenden Gegenstande
schlechtweg die Merkmale der Ruhe oder der Bewegung,
eventuell die Merkmale unbestimmt lang währender oder mehr
oder weniger rasch vorübergehender Ruhe bzw. Bewegung zu
geben. Die getreue Wiedergabe unseres sinnlichen Erlebens
sowie unseres Vorstellens und Fühlens bedarf demnach wed e r
des Begriffes des „Absolute n" noch den des ,,Relati ven".
Trotzdem gibt es scheinbare Ausnahmen I Ohne die
Überzeugung, daß das wirkliche Geschehen mit beliebiger An-
näherung als ein eindeutiger Funktionszusammenhang begriff-
lich charakterisiert werden kann , ist ex.akte Wissenschaft un-
möglich. Die .Aufstellung eines Eunklionszusammenhangcs ver-
langt aber, wie J. Petzoldt, der Hauptvertreter des relati-
vistischen Positivismus, selbst sagt, einen letzten Parameter,
für den selbst nicht wieder bestimmende Faktoren gefordert
werden können; die Forderung der Eindeutigkeit schließt ge-
radezu die Beziehung auf eine einzige absolute Zeit, einen
einzigen absoluten Raum und eine absolute gleich-
förmige und geradlinige Bewegung in sich ein.
Diese Begriffe, deren reale Gültigkeit durch keine sinnliche
Erfahrung bewiesen oder widerlegt werden kann, werden nur
durch Definition und Vereinbarung aufrecht erhalten.
Wenn Natorp eine noch näher zu definierende ,, Energie"
als Substanz der Veränderungen fordert, so tut er das auch
nur, um ,, alle Rechnungen der Natur aus einem einzigen
letzten F'ond zu bestreiten". Das Verfahren widerspricht
nur scheinbar den Grundsätzen einer relativistischen Philo-
sophie; es dient ja nicht der direkten Beschreibung des
Vorgefundenen, sondern dem Aufbau eines logischen
Schematismus, der möglichst viele durch abstrahierendes
und isolierendes Denken aus der Vorstellungswelt gewonnene
Begriffe und Begriffszusammenhänge umfassen soll.
Weiteres hierüber finden Sie in der Natur w. Wochen-
schrift 1912, N. F. XI, auf den Seiten 14 u. 15, ferner bei
J. Petzoldt, ,,Das Gesetz der Eindeutigkeit". Viertel-
jahrsschrift f. wiss. Phil. XIX, 1S95.
J. Petzoldt, „Die Gebiete der absoluten und der rela-
tiven Bewegung". Annalen der Naturphilosophie Vll.
P. Natorp, ,,Die logischen Grundlagen der exakten
Wissenschaften". Leipzig, B. G. Teubner, 1910.
F. Enriques, ,, Problem der Wissenschaft". 2 Bände.
Leipzig, B. G. Teubner, 1910.
H. Poincare, ,, Letzte Gedanken". Leipzig, .•\kadem.
Verlagsgesellschaft, 1913. Erste und zweite Abhandlung.
J. B. Stallo, „Die Begriffe und Theorien der modernen
Physik". Leipzig, J. A. Barth, 1901. Angersbach.
Herrn R. Z., Berlin W. — Gibt es eine gemeinverständ-
liche Darstellung des Relativitätsprinzipes der modernen Physik?
Ohne gewisse mathematische Vorkenntnisse ist es kaum
möglich , das Relativitätsprinzip klar zu erfassen. Ich selbst
habe eine elementare Ableitung desselben versucht (Beilage
des Programms des Kgl. Gymn. in Weilburg, 1913). Nach-
träglich ist es mir aber gelungen, die Darstellung weit kürzer
und überzeugender zu gestalten ; ich hoffe die Umformung ge-
legentlich veröffentlichen zu können. Zurzeit ist, so viel ich
weiß, J. Petzoldt ebenfalls mit einer elementaren Darstel-
lung beschäftigt, die wohl in einer der nächsten Nummern
der Zeitschrift für positivistische Philosophie erscheinen dürfte.
Neuere Veröffentlichungen über das Relativitätsprinzi]) und
das Zcitproblcm nebst zahlreichen Literaturangaben (S. 369
und 370) finden Sie von Laue und Frischeisen-Köhler
in den ,,f ah r b ü c h e r n der Philosophie" (Berlin 1913).
Angersbach.
Literatur.
1) F"uß, Konrad und Hensold, Georg, Lehrbuch der
Physik für den Schul- und Selbstunterricht. Mit zahlreichen
Schülerübungen, vielen Rechenaufgaben, einer Spektraltafel in
Farbendr. und 400 Textbildern. 11. u. 12. verb. Aufl. Ge-
kürzte Ausgabe. F'reibnrg i. Br., Herder'sche Verlagshandlung.
— Geb. 5,70 Mk.
2) Sieveking, Prof. Dr. H., Moderne Probleme der
Physik. Mit 21 Abb. im Text. Braunschweig '14, F>. Vieweg
& Sohn. — Geb. 5,50 Mk.
3) Kerner V. Marilaun, Anton, Pflanzenleben. 3. Aufl.,
neubearbeitet von Prof. Dr. Ad. Hansen. 2. Bd.: Die
Pflanzengestalt und ihre Wandlungen (Organlchre u. Biologie
der F'ortiiflanzung). Mit 250 Textabb., 20 farbigen, lo schwar-
zen und 4 doppelseiligen Tafeln usw. Leipzig u. Wien '14,
Bibliographisches Institut. — Geb. 14 Mk.
4) Densraore, Francis, Chippewa Music 11. Smitbsonian
Institution , Bureau of .\merican Ethnolcgy Bull. 53. Wa-
shington '13.
5) Bernays, Privatdozent Dr. Paul, Über die Bedenk-
lichkeilen der neueren Relativitätstheorie. 24 S. Göttingen
'13, Vandenhoeck & Ruprecht. — 80 Pf.
6) Meyerhof, Privatdozent Dr. Otto, Zur Energetik der
Zellvorgänge. Ein Vortrag. 32 S. Göttingen '13, Vanden-
hoeck & Ruprecht. — t Mk.
7) Brandt, Dr. Bernhard, Studien zur Talgeschichte der
großen Wiese im Schwarzwald. Mit Karten und Tafeln.
Abhandlungen zur badischen Landeskunde. 53 S. Karlsruhe
'14, G. Braun'sche Hofbuchdruckerei und Verlag. — 2,40 Mk.
8) Boveri, Prof. Dr. Theodor, Zur F'rage der Ent-
stehung maligner Tumoren. Mit 2 Abbild. 64 S. Jena '14,
G. Fischer. — 1,50 Mk.
9) Bürgi, Roderich, Die Tätigkeit der Ionen in der
Natur. In allgemein verständl. Form. 233 S. Leipzig '14.
In Kommission bei O. VViegand. — 7,50 Mk.
Inhaltt F. Stellwaag: Neuere Untersuchungen über den Farbensinn der Insekten. Gustav Rauter: Zur Kombinations-
lehre. Friederich Kanngießer: Die Flora des Homer. — Einzelberichte: J. R. Wright, O. F. Smith: Gehalt
der Atmosphäre an Radiumemanation. K. Kahler: Emanationsgehalt der Bodeuluft. J. Stocklasa und V. Zdob-
nicky: Einfluß der radioaktiven Emanation auf die Entwicklung der Pflanzen. Guillermond und Combes: Vom
.\nthocyan. Jacques Loeb: Umkehrbarkeit in der Entwicklungserregung des Seeigeleies. Hayn: Bestimmung des
Mondortes. — Kleinere Mitteilungen : Karl Burk: Die Walloneneichen in ihrer pflanzen- und wirtschaftsgeographischen
Bedeutung. Koch: Tollwut. Kr o eher: Die Giftigkeit des Methylalkohols. — Bücherbesprechungen: Karl
Groos: Das Seelenleben des Kindes. James C. Philipp: Physical chemistry, its bearing on biology and medicine.
O. M. Reuter: Lebensgewohnheiten und Instinkte der Insekten. C. Lloyd: Instinkt und Erfahrung. — Anregungen
und Antworten. — Literatur : Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H.Mi ehe in Leipzig, Marienslraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 22. März 1914.
Nummer 12.
Die modernen wissenschaftlichen Forschungen über die Entstehung
und willkürliche
Bestimmung
des Geschlechts.
Von Dr. Albert Koch (Münster i. W.).
[Nachdruck verboten.] M^^ 3 ^
Ein Problem, mit dem sich der Forschunigsgeist
beschäftigt hat, seitdem es denkende Menschen
gibt, und dessen endgültige Lösung den tiefst-
gehenden Einfluß auf das Schicksal der ganzen
Menschheit ausüben könnte, ist die Frage nach der
Entstehung und willkürlichen Bestimmung des Ge-
schlechts.
Die ältere Geschichte des. Problems ist voll von
Irrtümern, und stets stellten sich den gewagten
Hypothesen unüberwindliche Schwierigkeiten in
den Weg. Erst mit der Entdeckung der Sper-
matozoen durch Anton van Leeuvenhoeek
(1677) und des Säugetiereies durch Karl Ernst
von Baer (1827) war eine sichere anatomische
Grundlage für die weitere Forschung auf diesem
Gebiete gegeben. Wir wissen heute, daß diese
Geschlechtszellen bei ihrem Zusammentreffen voll-
ständig miteinander verschmelzen, d.h. zu einer
neuen Zelle werden, die durch fortgesetzte Teilun-
gen allmählich das neue Individuum heranwachsen
läßt.
Stellen wir uns nun die Frage, wann bei diesem
Werdeprozeß die Geschlechtsdifferenzierung eintritt,
so können wir rein theoretisch folgende Fälle als
möglich hinstellen:
1. Das Geschlecht wird während des Embryonal-
lebens entschieden, z. B. beim Menschen dann,
wenn die bis zum dritten Monat hin für beide
Geschlechter gleiche Genitalanlage sich zu männ-
lichen oder weiblichen Geschlechtsorganen zu
differenzieren beginnt.
2. Die Geschlechtszellen sind — genau wie im
ersten Falle — ,, geschlechtslos", d. h. weder Männ-
chen noch Weibchen bestimmend, die Geschlechts-
differenzierung tritt aber nicht erst während des
Embryonallebens, sondern im Augenblick der Ver-
einigung von Ei- und Samenzelle ein, eventuell auf
Grund irgendeines unbekannten, vielleicht psychi-
schen oder mystischen Vorgangs.
3. Das Ei ist zum Männchen-Erzeuger resp.
Weibchen-Erzeuger prädestiniert, die Samenfäden
sind „geschlechtslos".
4. Die Umkehrung vom vorigen Falle: Die
Samenfäden sind die geschlechtsbestimmenden Fak-
toren, die Eier sind indifferent.
Bei den modernen Arbeitsmethoden zur Er-
gründung des Sexualproblems lassen sich verschie-
dene Phasen unterscheiden: Einmal die statistische
Richtung, die im wesentlichen an den Namen des
ehemaligen Tübinger Professors der Tierheilkunde
J. D. Hofacker und an den Engländer Sadler
extfiguren.
anknüpft, dann die Versuche willkürlicher Beein-
flussung, wie sie seinerzeit der Wiener P^mbryologe
S c h e n c k vorschlug ; ferner die anatomisch-histolo-
gische F"orschung, die sich mit einem eingehenden
Studium der Geschlechtszellen befaßt, wie es heut-
zutage auf Grund der vervollkommneten mikro-
skopischen Untersuchungsmethoden möglich ist,
und schließlich die experimentelle Richtung, die
hauptsächlich auf den Münsterschen Professor der
Botanik, Dr. Correns, zurückgeht.
Die statistische Forschung stellt mittels
der durch die staatlichen Institute festgelegten
Zahlen oder mit Hilfe von eigens zu diesem Zweck
angefertigten Tabellen Berechnungen an über das
Geschlechtsverhältnis der Neugeborenen, über das
Alter und den Altersunterschied der Eltern, kurz
über alles, was sich zahlenmäßig von irgendwelchen
Beziehungen der Eltern zueinander und dem darauf
beruhenden Einflüsse auf die Geschlechtsziffer der
Kinder sagen läßt. Sie berücksichtigt ferner die
Ergebnisse, zu denen die praktische Tierzucht im
Laufe der Jahre gekommen ist. Auf diese Weise
ist es dann gelungen, das sogenannte Hofacker -
Sadler'sche Gesetz aufzustellen, das tatsächlich
eine Beziehung zwischen dem Alter und dem Alters-
unterschiede der Eltern einerseits und dem Ge-
schlechte der Kinder andererseits zahlenmäßig aus-
spricht. Es erübrigt sich, das ganze Gesetz hier
anzugeben, da es einmal viele Gegner gefunden
hat, vor allem aber für den Menschen selbst, was
die willkürliche Bestimmung des Geschlechtes an-
geht, keine Bedeutung haben kann. Ein Beispiel
möge das beweisen. In dem Gesetze heißt es
u. a. : Ist der Vater 4—6 Jahre älter als die Mutter,
so ist das Geschlechtsverhältnis 108 (auf 108 Knaben
kommen demnach 100 Mädchen). Das heißt doch
mit anderen Worten : Zwei Ehegatten, zwischen
denen dieser Altersunterschied herrscht, können
mit einer Wahrscheinlichkeit von 108 : lOO darauf
rechnen, männliche Nachkommen zu erzielen! Da
obendrein die Wahrscheinlichkeitsrechnung nur
für ganz große Zahlen unbedingte Gültigkeit hat,
so ergibt sich daraus, daß das Gesetz für den
Menschen nur vom rein theoretisch-wissenschaft-
lichen Standpunkt aus größeres Interesse bean-
spruchen kann.
Jedoch läßt sich für die Tierzucht eine ge-
wisse Bedeutung ähnlicher Forschungen nicht
leugnen, da man es ja auch hier meist mit einer
weit größeren Nachkommenschaft ein und der-
selben Generation zu tun hat als beim Menschen ;
178
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 12
und so hat man denn auch Sätze aufgestellt, wie
z. B. die folgenden :
„Paare alte Stuten mit jungen Hengsten, wenn
du verhältnismäßig mehr männliche Fohlen haben
willst", und:
„Paare junge Stuten mit alten Hengsten, wenn
du verhältnismäßig mehr weibliche Fohlen haben
willst." —
Worauf es uns bei diesen Dingen besonders
ankommt, ist die Tatsache, daß wir auf Grund
solcher Feststellungen annehmen müßten, daß
weder Ei noch männlicher Same zur Erzeugung
des einen oder anderen Geschlechts prädestiniert
sei; denn sonst könnten unmöglich Altersunter-
schiede der Eltern einen Einfluß auf die Geschlechts-
bestimmung ausüben. Fall 3 und 4, ebenso natür-
lich Fall I unserer oben erwähnten Möglichkeilen
für den Eintritt der Geschlechtsdifierenzierung
wären demnach hinfällig, und wir hätten uns für
den Fall 2 zu entscheiden, in dem von einem
geheimnisvollen Faktor die Rede war, der im
Augenblick der Vereinigung von Ei und Same
über das Geschlecht des entstehenden Wesens
entscheiden würde.
Bei der Betrachtung der zweiten Gruppe von
Beobachtungen und Forschungen wollen wir uns
an die Mitteilungen erinnern, durch die seinerzeit
Prof. Schenck allgemeines Aufsehen zu erregen
wußte. Dieser nahm an, daß die Geschlechts-
bestimmung während der Entwicklung des Eies
im Eierstock vor sich gehe, und daß demnach
im reifen Ei das Geschlecht endgültig festgelegt
sei. Wie kam Schenck dazu? Seine Theorie
gründet sich auf zwei Beobachtungen im Tierreich.
Die eine wichtige Stütze seiner Auffassung be-
ruht auf den allerdings sehr selten beobachteten
Fällen, in denen man es schon vor der Befruch-
tung dem Ei ansehen kann, ob es ein Männchen
oder ein Weibchen liefern wird. So kann man
z. B. in dem Eierstock von Dinophilus, einem
kleinen im Meere lebenden Ringelwurme, stets
zwei durch ihre Größe leicht unterscheidbare
Arten von Eiern nachweisen, von denen es fest-
steht, daß die kleinen Formen Männchen, die bei
weitem größeren der anderen Art stets Weibchen
liefern. Ja, in der neuesten Zeit hat man be-
obachtet, daß bei den — allerdings äußerlich
vollständig gleich erscheinenden — Eiern von
gewissen Seeigelformen (Strongylocentrotus lividus
und Echinus microtuberculatus) ein deutlicher
Unterschied in der Beschaffenheit des Kernes
nachzuweisen ist, und daß man auf Grund dieser
Tatsache ebenfalls zwei Arten von unbefruchteten
Eiern unterscheiden kann , von denen die einen
Männchen, die anderen nur Weibchen hervorbringen.
Diese letzten von Baltzer ausgeführten und
1909 veröfTentlichten Untersuchungen beweisen,
daß wir in gewissen Fällen tatsächlich mit einer
vom weiblichen Geschlecht ausgehenden Ge-
schlechtsbestimmung zu rechnen haben.
Weiter stützte sich Schenck darauf, daß für
verschiedene Tierformen , so z. B. für Pflanzen-
läuse (Phytophthiren), Wasserflöhe (Daphniden),
Rädertierchen (Rotalorien) und vielleicht auch für
einzelne Säugetiere angegeben wurde, das Ge-
schlecht der nächsten Generation ließe sich durch
äußere Einflüsse und Existenzbedingungen, wie
Ernährungs- und Ten.peraturverhältnisse, denen
man die Eltern aussetzt, bestimmen. So berichtet
z. B. später (1907) der Italiener Russo, daß es
ihm gelungen sei, von Kaninchenweibchen, die vor
der Begattung mit einem Fette, Lecithin, gefüttert
worden waren, vorwiegend weibliche Junge zu
erhalten.
Für Schenck, der annahm, daß sich solche
Tatsachen verallgemeinern ließen, war somit das
Problem der Geschlechtsbestimmung gelöst. Es
kam darauf an, die Lebensbedingung der Frau
während der Eireifung — also vor der Konzeption ^)
— durch entsprechende Ernährung so zu gestalten,
daß nur Knaben- resp. Mädchen- erzeugende Eier
in dem Eierstock heranreifen konnten.
Wir wissen, welche Angriffe diese Lehre
Schenck's bei ihrem Erscheinen von den ver-
schiedensten Seiten aus erfahren hat und wie
oft es die praktischen Versuche an dem gewünsch-
ten Erfolge fehlen ließen. Erst in der allerneuesten
Zeit werden Stimmen von Forschern laut, die auf
ganz anderem Wege als Schenck zu ähnlichen
Überzeugungen gelangen, insofern sie ebenfalls
den Prozeß der Geschlechtsbestimmung bei der
Eireife, also im weiblichen Körper zu finden
glauben. Hierher gehören von älteren VeröfTent-
lichungen die zum Teil experimentellen Unter-
suchungen von Lenhossek und Oskar Schnitze
und aus den letzten Jahren die Arbeiten der
Münchener Schule (R. Hertwig), des Berliner
Zoologen Gutherz u. a.
Mit der Erwähnung dieser Arbeiten haben
wir uns aber schon der dritten Untersuchungs-
methode zugewandt. Es kommt hierbei besonders
auf eine Erscheinung bei der Ei- und Samenreifung
an, die wissenschaftlich als Reduktionsteilung be-
zeichnet wird.
Bei einer in Teilung befindlichen Zelle bildet
das Chromatin, die leicht färbbare Substanz des
Kerns, eine gewisse Anzahl von haken- oder
stäbchenförmigen Gebilden, die man Kernsegmente
oder Chromosome nennt und die als Träger der
Vererbung angesehen werden. Die Zahl dieser
Chromosome ist nun für jedes Tier konstant, sie
wechselt bei den verschiedenen Arten von nur
2 bis zu 100 und mehr.
Die reifen Geschlechtszellen unterscheiden sich
nun von allen anderen Zellarten des Körpers da-
durch, daß sie nur halb so viel Chromosome ent-
halten wie diese. Das muß der Fall sein, weil
bei dem Befruchtungsakt, d. h. bei dem Ver-
schmelzen von Ei- und Samenkern zu dem Kern
der neuen Zelle, die richtige Chromosomenzahl
auf diese Weise wieder hergestellt wird.
') Nur zur Sicherheit empfahl Schenck, die betreffende
Kur auch während der ersten Schwangerschaftsmonate fort-
zusetzen.
N. F. XIII. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
179
Die Verminderung der Chromosomenzahl findet
bei der oben bezeichneten Reduktionsteilung statt.
Und zwar geschieht dies auf dem einfachsten
Wege, der möglich ist: Sind z.B. 12 Chromo-
some vorhanden, so bekommt jede der Tochter-
zellen 6 davon.
Als nun vor etwas mehr als 20 Jahren H e n -
king diesen Vorgang bei der Samenreifung der
Feuerwanze untersuchte, fand er, daß in der ur-
sprünglichen männlichen Keimzelle 23 Chromosome
vorhanden waren, von denen bei der Reduktions-
teilung 12 auf die eine, 11 auf die andere Tochter-
zelle iibergingen. Es resultierten also schließlich
Samenfäden , die bei gänzlich gleichem Äußeren
in ihrer inneren Struktur verschieden waren in-
folge des Mangels resp. des Besitzes eines Chro-
mosoms, das deswegen den Namen Heterochromo-
som oder auch X-Chromosom erhielt; und zwar
ist genau die eine Hälfte im Besitze dieses X-
Chromosoms, die andere nicht.
Studiert man auf die gleiche Weise die Vor-
gänge bei der Eireifung der Feuerwanze, so findet
man, daß hier alle Eier die gleiche Chromosomen-
zahl, nämlich 12, besitzen. Prüft man jetzt die
übrigen Zellen, die den Körper der Feuerwanze
zusammensetzen, auf ihre Chromosomenzahl, so
findet man die merkwürdige Tatsache bestätigt,
die sich ja nach dem Gesagten schon vermuten
ließ, daß nämlich das Männchen 23, das Weibchen
24 Chromosome in allen — in Teilung befind-
lichen — Zellen des Körpers besitzt. Das Männ-
chen besitzt also ein, das Weibchen aber zwei
X-Chromosome.
Nun ist natürlich der Sprung von der Be-
obachtung dieser merkwürdigen Tatsache bis zur
Anwendung auf das Geschlechtsproblem nicht
mehr weit. Es genügt ein einfaches Rechen-
exempel: Es existieren zwei Arten von Sperma-
tozoen, solche mit 1 1 -j- i und solche mit 1 1 -|- o
Chromosomen, aber nur eine Sorte von Eiern;
sie haben alle 1 1 + i Chromosome. (Das X-
Chromosom ist immer besonders geschrieben.)
Kommt nun ein Spermatozoon der ersten Art,
also ii-j-i, mit einem Ei, 1 1 -|- " > zusammen,
so entsteht eine befruchtete Eizelle mit (u -H 1)
-{-(ii -j- i) = 24 Chromosomen, und daraus ein
weibliches Junges. Ein Spermatozoon 1 1 -|- o,
kombiniert mit einem Ei, liefert eine befruchtete
Eizelle mit (i i -f- o) -f (n + i) = 23 Chromo-
somen, also ein iVlännchen.
Hier wäre somit Fall 4 der Einleitung verwirk-
licht.
Und wie es bei der F'euerwanze ist, so haben
es andere Autoren, z. B. Montgommery,
Sinety, McClung für mehrere andere Tier-
arten, besonders für Insekten, dann aber auch für
Fadenwürmer und einige Wirbeltierformen , be-
stätigen können, und Gelehrte wie Wilson,
Miss Stevens, Morgan, Boveri, Gold-
schmidt, Gutherz u. a. haben durch ausge-
dehnte vergleichende Studien sich um den Aus-
bau dieses F"orschungszweiges verdient gemacht.
Freilich liegen nicht immer die Verhältnisse so
einfach und sind so leicht zu überschauen wie
bei dem angegebenen, fast als Schulbeispiel zu
bezeichnenden Falle.
An der von Wilson angefertigten und aus der
Plate'schen „Vererbungslehre" (Leipzig 1913)
entnommenen P'ig. I können wir uns einen Be-
griff machen über die Mannigfaltigkeit der Formen,
in denen die Heterochromosome auftreten können.
« _Q_
I •
0
1
X
Y
0 -^ X4
8.
«•
10. 11-
Fig. I. Verschiedene Formen von Heterochromosomen.
(Nach Wilson, aus Plate: Vererbungslehre, 19 13.)
I Protenor, Anasa. 2 Syromastes, Homo? 3 Ascaris lumbri-
coides. 4 Nezara viridula. 5 Euschistus coenus. 6 Nezara
hilaris. 7 Thyanta calceata. 8 Rocconota, Fitschia. 9 Prio-
nidus, Sinea. lo Gelastocoris. H Acholla multispinosa.
Die obere Reihe zeigt, daß das X-Chromosom
nicht immer, wie im Fall i, einfach zu sein braucht,
sondern aus zwei oder mehr — sich wie ein Chro-
mosom verhaltenden — Komponenten bestehen
kann (vgl. Fig. i, 2 u. 3). Fall 2 ist deshalb von
besonderem Interesse, weil er auch nach Guy er
für die Samenreifung des Menschen Geltung haben
soll. Nach dessen Angaben besitzt der Mann
20 -j- 2 =: 22 Chromosome, die Frau 20 -|- 2 -|- 2 = 24
Chromosome in allen Zellen des Körpers. Die
Teilungen, die Ei- und Samenreifung bewirken,
gehen hier etwas anders als gewöhnlich vor sich:
Es sollen Spermatozoeri mit 5 und 5+2 = 7 Chro-
mosomen und Eier mit stets 7 Chromosomen ge-
bildet werden. Ob es sich wirklich so verhält, ist
bis jetzt noch nicht einwandfrei entschieden. So
bestreitet z. B. Gutherz, daß überhaupt beim
Menschen Heterochromosome vorhanden seien.
Das X-Chromosom kann nun auch einen Partner
besitzen, das sogenannte Y-Chromosom, das sich
von ihm durch geringere Größe unterscheidet.
Dies ist in den Figuren 4— n der Wilson'schen
Tafel der Fall. Bei der Reduktionsteilung wandert
das X-Chromosom in die eine, das Y-Chromosom
in die andere Zelle, so daß wir schließlich reife
Spermatozoen erhalten, von denen die Hälfte ein
X-, die übrigen ein Y-Chromosom neben der
gleichen Anzahl von gewöhnlichen oder ,, Auto-
chromosomen" besitzen. Die Eier enthalten auch
in diesem Pralle stets ein X-Chromosom, so daß
sich folgendes Schema für den Befruchtungsvorgang
ergibt: (Die Zahl der Autochromosome sei n.)
i8o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 12
Eikern plus Spermakern gleich befruchteter also
Kikern entsteht :
n + X „ n + X „ 2n + 2.x Weibchen
n + x „ n + y .. 2n + x-|-y Männchen
Ist nun auch in diesem Falle das X-Chromosom
nicht einfach (wie in Figur i, 4-6), sondern zu-
sammengesetzt (Fig. 1, 7— 11), so ergeben sich bei
den Samenreifungen Bilder wie Fig. 2, die drei
Stadien einer solchen Kernteilung bei der Spermato-
zoenentwicklung schematisch darstellen soll. (Nach
Payne aus R. H e r t w i g , Biol. Zentralbl. 1 9 1 2, S. 8.)
In Fig. 2, I sind die Chromosome paarweise grup-
piert in der sog. Äquatorialplatte vereinigt. Das
vierteilige X-Chromosom liegt neben seinem Partner,
dem Y-Chromosom. Fig 2, 2 zeigt das Auseinander-
weichen der Chromosome bei der Reduktions-
teilung; das V- geht nach der einen, das X-Chro-
mosom geht nach der anderen Seite. Fig. 2, 3
stellt das Ergebnis der Teilung dar; ein Chromo-
somensortiment enthält das X-, das andere das
Y-Chromosom. (Es sind der besseren Übersicht
halber in Fig. 2, i und 2 nicht alle l'aare von Auto-
chromosomen gezeichnet.)
'^<
llt
Fig. 2. Galastocoris occulatus. Spermatozoencnlwick
(Erklärung im Text.)
)\
tm
3.
''X
lung.
Stand die Entdeckung der X-Chromosome wirk-
lich in Zusammenhang mit dem Sexualproblem,
so mußten sich auch solch komplizierte Erschei-
nungen, wie Hermaphroditismus (Zwitterbildung)
und Heterogonie, ^) mit dieser Lehre von den „Ge-
schlechts"-Chromosomen vereinbaren lassen.
Die Vorgänge bei der Zwitterbildung haben
Boveri und Schleip bei einem Fadenwurme,
Rhabdonema nigrovenosum, eingehend untersucht.
Rhabdonema hat zwei Generationen; Die getrennt-
geschlechtlichen und freilebenden Formen erzeugen
Eier mit 6 resp. Spermatozoon mit 6 oder 5 Chro-
mosomen. Von diesen degeneriert nun aber die
letzte Kategorie noch vor der endgültigen Reife,
es bleiben deshalb nur „Weibchen"-liefernde Sper-
matozoon übrig. Alle befruchteten Eizellen müssen
somit Weibchen ergeben. Wir wissen nun, daß diese
') Unter Heterogonie versteht man eine zyklische Fort-
pflanzung, wie sie z. B. Blattläuse, Wasserflöhe, Rädertierchen
zeigen, bei der eine geschlechtliche mit einer oder mehreren
parthenogenetischen Generationen abwechselt.
„Weibchen", die parasitisch in der Lunge des Frosches
leben, ihrem Geschlechtscharakttr nach „Zwitter"
sind. Dies beruht histologisch auf der Tatsache, daß
in ihren Geschlechtsorganen abwechselnd Schichten
von Eiern und Spermatozoon gebildet werden.
Ursprünglich sind sämtliche Keimzellen zu Eiern
bestimmt, d. h. sie enthalten alle 6 Paare von je
zwei untereinander gleichen Chromosomen. Bei
den Reifungsteilungen geht aber in den zu Sper-
matozoon werdenden Geschlechtszellen ein Chro-
mosom zugrunde, so daß aus den nunmehr 1 1
Cliromosome enthaltenden Zellen bei der Teilung
schließlich reife Spermatozoon mit 5 oder 5 + l
Chromosomen entstehen. Die Eier machen natür-
lich die reguläre Entwicklung durch; sie enthalten
im reifen Zustande sämtlich 5 + i Chromosome.
Es entstehen auf diese Weise in der Zwittordrüse
2 Arten von .Spermatozoon und lauter unter sich
gleiche Eier. Es ergibt sich mithin dasselbe Re-
sultat, wie wir es von einer ganzen Reihe getrennt-
geschlechtlicher Tiere berichtet haben.
Auch bei den als Heterogonie bezeich-
neten Phallen zyklischer Fortpflanzung findet man
bei der Entwicklung der männlichen Geschlechts-
produkte die Erscheinung, daß aus dem weiblichen
Chromosomenbestand durch Vernichten eines Chro-
mosoms die für das Männchen charakteristische
Anzahl von Chromosomen hergestellt wird. Es
ist leicht einzusehen, daß gerade solche Entdeckun-
gen von manchen p-orschern als besonders wichtige
Stütze für die Hypothese von der geschlechtsbe-
stimmenden Eigenschaft der X-Chromosome an-
gesehen werden.
Auf Grund dieser, sowie der oben erwähnten
Beobachtungen bezeichnet Wilson das weibliche
Geschlecht als h omogametisch, d. h. es ist in
Bezug auf die Chromosomenverhältnisse der reifen
Eier gleichartig, es bildet stets Gameten (Ge-
schlochtsprodukte) einer und derselben Art; das
männliche Geschlecht ist hingegen heteroga-
me tisch; denn in ihm entstehen zweierlei Ga-
meten, in diesem Pralle Spermatozoon, die sich
durch den Besitz resp. Mangel des Hetorochromo-
soms unterscheiden.
Nun ist es aber bis jetzt noch nicht gelungen,
bei allen Tierarten einen heterogametischen Cha-
rakter des Männchens nachzuweisen. Ja, in man-
chen Fällen ist es direkt umgekehrt, wie bei den
oben erwähnten Seeigelformen. Hier sind näm-
lich die Spermatozoon gleichartig gebaut, sie ent-
halten alle n + i Chromosome, jedoch kann man
die Eier einteilen in solche mit und solche ohne
X-Chromosom, d. h. in Eier mit der Chromo-
somenzahl n -f- I und n -f- o. Es kommt also in
diesem Falle dem Weibchen der heterogameti-
sche Charakter zu: der geschlechtsbestimmende
Faktor ist hier das Ei, nicht das Spermatozoon.
Manche Forscher gehen nun so weit, dies über-
haupt als Norm anzunehmen. Sie sehen dann
bei heterogameten Männchen in der Differenzierung
der Spermatozoon nur eine sekundäre Erscheinung,
während die primäre Geschlechtsdifforonziorung
N. F. XIII. Nr. i:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
i8i
in den homogametischen weiblichen Geschlechts-
zellen zu finden sein soll. Denn hier gibt es —
nach Ansicht dieser Forscher — solche Eier, die
nur Männchen -erzeugende, und andere, die nur
Weibchen bestimmende Spermatozoen in sich auf-
nehmen. Diese Vorstellungen gründen sich auf
den Gedanken einer sog. „selektiven Befruchtung":
Das Ei ist von vornherein zu einem Männchen-
resp. Weibchen Erzeuger „determiniert", kann
also nur von Männchen- resp. Weibchen • bestim-
menden Spermatozoen befruchtet werden , wenn
es zu einer ,, Geschlechts realisieru ng" — wie
Gutherz „die Herstellung der für das Geschlecht
charakteristischen Chromosomenzahl" nennt —
kommen soll.
Interessant ist schließlich noch die Tatsache,
daß bei manchen Arten überhaupt keine Hetero-
chromosome nachgewiesen werden köimen, wie z.B.
bei Culex, der gemeinen Singschnake. Wollte
man in diesem Falle auch von einer geschlechts-
bestimmenden Funktion der Chromosome reden,
so könnte man diese Tatsache höchstens auf
Grund einer physiologischen statt morphologischen,
d. h. anatomisch nachweisbaren , Differenzierung
derselben erklären.
Aus alledem ersehen wir, wie mannigfaltig die
Entdeckungen sind, die in den letzten Jahren auf
diesem Spezialgebiet der mikroskopischen Ana-
tomie gemacht wurden. Es ist deshalb vorläufig
noch nicht möglich, ein für alle Fälle geltendes
Schema aufzustellen. Das wissenschaftliche Er-
gebnis, das wir heute schon mit Sicherheit aus-
sprechen können, besteht wohl darin, daß es sich
— - wenigstens für eine ganze Reihe untersuchter
Fälle — um keine Hypothese mehr, sondern um
die Tatsache einer Beziehung der Heterochromo-
some zum Sexualproblem handelt.
Eine äußerst wichtige Stütze dieser Theorie
bilden nun die Ergebnisse der experimen-
tellen Vererbungslehre, d. h. der seit Anfang
dieses Jahrhunderts von botanischer wie zoologi-
scher Seite aus mit großem Erfolge betriebenen
modernen Bastardforschung. Es handelt sich
dabei um Versuche, das Sexualproblem nach der
Methode der mendelistischen Vererbungsversuche
in Angriff zu nehmen. Als Grundlagen hierfür
kommen hauptsächlich drei Tatsachen in Betracht:
1. die Erscheinung des sexuellen Dimorphismus,
2. das Zahlenverhältnis der Geschlechter, und
3. die Spuren eines latenten Hermaphroditismus.
Punkt I und 2 sind ohne weiteres verständlich.
Die in 3 ausgesprochene Hypothese, daß in vielen,
wahrscheinlich sogar in allen Fällen jedes Ge-
schlecht auch die Merkmale des anderen latent
enthalte und in der Lage sei, unter gewissen Be-
dingungen diese verborgenen Eigenschaften zur
Entfaltung zu bringen, geht auf Darwin zurück.
Die Hahnenfedrigkeit der Hennen, im Alter Ge-
weihe tragende Weibchen hirschartiger Tiere galten
diesem als Beweismaterial. Als modernes Beispiel
sei die Krabbe Inachus erwähnt, bei der ein Parasit,
der Wurzelkrebs Sacculina, die männlichen Keim-
drüsen teilweise in weibliche verwandelt, wobei
auch die sekundären Geschlechtscharaktere eine
entsprechende Umwandlung erfahren können.
Lassen sich diese Beobachtungen verallge-
meinern, so müssen wir annehmen, daß es sich
bei Männchen und Weibchen um eine völlige
Gleichheit der Geschlechter in bezug auf ihre
Anlagen handelt, und daß die Geschlechts-
bestimmung in der Förderung der einen und
Unterdrückung der anderen Geschlechtsanlage be-
steht.
Wie verhalten sich in dieser Beziehung nun
die Keimzellen? Entweder übertragen sie nur die
Eigenschaften des einen Geschlechts oder sie
besitzen , ebenso wie das Individuum, die F"ähig-
keit, männliche und weibliche Merkmale zu ent-
falten.
Mit der Lösung dieser l'Vage nach der „ge-
schlechtlichen Tendenz der Keimzellen" beschäf-
tigen sich nun die experimentellen Versuche, die
man in drei Kategorien einteilen kann :
1. Untersuchungen über natürliche und künst-
liche Parthenogenese,
2. Zuchtversuche mit annähernd eingeschlech-
tigen Individuen,
3. Bastardierungsversuche.
Bei der Parthenogenese entwickelt sich
eine Keimzelle ohne Zusammentritt mit einer
anderen zum fertigen Individuum. Man müßte da-
her durch das Geschlecht derselben sicheren Auf-
schluß über die Tendenz dieser Keimzelle erlangen
können. Da aber bei den sich parthenogenetisch
fortpflanzenden Tieren die Ergebnisse von Fall zu
Fall verschieden sind, da bald Weibchen, bald
Männchen, bald beide gleichzeitig oder nacheinan-
der entstehen, können wir aus dieser natürlichen
Parthenogenese keine allgemein gültigen Schlüsse
ziehen. Anders ist es bei der künstlichen
Parthenogenese, wo befruchtungsbedürftige Eier
anstatt durch Spermatozoen durch mechanische oder
chemische Einflüsse zur Entwicklung gebracht
werden. Diese Versuche sind aber bisher an tech-
nischen Schwierigkeiten fast stets gescheitert, so
daß es leider nicht möglich ist, jetzt schon Resul-
tate angeben zu können.
Auch die Versuche mit annähernd eingeschlech-
tigen Individuen haben bis jetzt keine eindeutigen
Ergebnisse gezeitigt.
Correns, Strasburger und Bitter trenn-
ten bei dem Bingelkraut, Mercurialis annua, die
fast rein getrenntgeschlechtigen Pflanzen voneinan-
der und zogen die durch Selbstbefruchtung der
„vorwiegend männlichen" und „vorwiegend weib-
lichen" Individuen entstandene Nachkommenschaft
auf Sie fanden, daß beiderlei Pflanzen ihresgleichen
hervorbringen, während sonst das Sexualverhältnis
annähernd i:i ist. Die von Correns mit der
Ackerdistel angestellten analogen Versuche er-
gaben ein etwas anderes Resultat, indem zwar die
weiblichen Pflanzen nur Weibchen brachten, die
männlichen jedoch außer den männlichen auch
weibliche.
182
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. XIII. Nr. 12
Die an dritter Stelle bezeichneten und weitaus
wichtigsten Bastardierungsexperimente wurden zu-
erst von Correns mit den beiden Zaunrübenarten
Bryonia dioica und Bryonia alba angestellt.
Von Bryonia dioica gibt es männliche und
weibliche Pflanzen, von alba dagegen nur einhäusige
Exemplare.
Es handelt sich um vier Versuchsreihen;
1. 9 dioica X c? dioica. Resultat: SO^/j, weibliche
und 50 "/y männliche Pflanzen.
2. $ dioica )< cj alba. Resultat: 100% weibliche
Bastarde.
3. $ alba X c? alba. Resultat: 100%, zwittrige
Pflanzen.
4. $ alba X 3 dioica. Resultat: 50 "/g männliche
und 50 "/g weibl. Bastarde.
Versuch i und 3 liefern das im voraus zu er-
wartende Resultat. Versuch 2 und 4 sagen aus:
„Bestäubt man die Weibchen der getrenntge-
schlechtigen Pflanzen mit dem Pollen der gemischt-
geschlechtigen, so erhält man lauter Weibchen,
bestäubt man dagegen die gemischtgeschlechtige
Pflanze mit dem Pollen der getrenntgeschlechtigen,
so erhält man zur Hälfte Männchen, zur Hälfte
Weibchen.
Wie man auch die Versuchsergebnisse deuten
will, eines ist sicher: Die Keimzellen der Bryonia
dioica- Weibchen stimmen unter sich überein, es
gibt ihrer nur einerlei, während es bei den Männ-
chen zweierlei Keimzellen geben muß. Die Weib-
chen sind homogametisch, die Männchen hetero-
gametisch." ')
^17 ^17 ^i7 ^17
Fig. 3. Schema für den Befruchtungsvorgang zwischen einem
homogametischen (weibl.) und einem heterogametischen (männl.)
Eher.
Wir haben somit auf ganz andere Weise das-
selbe Resultat erhalten, wie wir es im vorigen
Abschnitt alsErgebnis deranatomischhistologischen
') C. Correns, Vererbung und Bestimmung des Ge-
schlechts. Verh. d. Ges. deutscher Naturf. u. Ärzte. 84. Vers.
1912. p. 173.
Forschungen kennen gelernt haben. Wir wissen,
daß die mit Hilfe des Bastardierungsversuches
festgestellte Hetero- resp. Homogametie mit der
anatomischen Entdeckung derX- oder,, Geschlechts"-
Chromosomen in guten Einklang gebracht werden
kann.
Den ersten Versuch der Bryonia - Kreuzung
kann man durch das in Fig. 3 angegebene Schema
darstellen :
In der oberen Reihe der Figur sei eine weib-
liche homogametische und eine männliche hetero-
gametische Keimzelle schematisch dargestellt. Die
zweite Reihe zeige die infolge der Reduktions-
teilung der Keimzellen entstandenen 4 Gameten.
Dann sind nach der Wahrscheinlichkeits-Rechnung
für die Befruchtuug 4 Kombinationen möglich,
deren Ergebnisse die letzte Reihe veranschaulichen
soll.
Dieses Schema erinnert ohne weiteres an die
Erscheinung, die ein den Mendel'schen Ver-
erbungsgesetzen folgender Bastard bei Kreuzung
mit einem seiner Eltern ') zeigt. Es ist deshalb
berechtigt, mit Correns von einer „Vererbung
des Geschlechts" zu sprechen und die Vererbungs-
gesetze auf das Sexualproblem zu übertragen.
Aus obigem Schema ersieht man nun auch,
daß das Geschlechtsverhältnis eigentlich stets i : i
sein müßte. Daß dies aber in der Natur fast immer
nur angenähert beobachtet wird, ist wohl auf sekun-
däre Einflüsse zurückzuführen.
Durch Bastardierungsversuche, bei denen es
sich um die sog. „gcschlechtsbegrenzte Vererbung"
handelt, d. h. um die Vererbung von Merkmalen,
die stets mit einem bestimmten Geschlecht vererbt
werden, hat man z. B. für den Stachelbeerspanner,
Abraxas, nachgewiesen, daß die Weibchen dieses
Schmetterlings heterogametisch, die Männchen da-
gegen homogametisch sein müssen. Im vorigen
Teile ist von einem solchen — auf Grund histolo-
gischer Studien beobachteten — Falle bei Seeigel-
formen berichtet worden.
Gegenüber den Ansichten, die von Castle
u. a. vertreten worden sind, daß Männchen und
Weibchen in bezug auf das Geschlecht heteroga-
metisch seien, scheinen die neuen experimentellen
wie histologischen Untersuchungen darauf hinzu-
') Riiclcbastardierung. (Verbindung eines Bastardes mit
einem seiner Eltern.) Kreuzt man eine bänderlose und eine
gebänderte Gartenschneckc, so erhält man bänderlose Bastarde.
D. h.: „bänderlos" dominiert über ,, gebändert". Bildet der
Bastard nun Gameten, so erhält auf Grund des Spaltungs-
gesetzes die Hälfte der männlichen wie der weiblichen Ga-
meten die Anlage für bänderlos, die übrigen die für gebändert.
Bei Kreuzung mit dem einen Elter, z. B. mit dem gebänderten,
ist folgende Gametenkombination möglich:
Elter: Bastard:
Gameten : G , G . B , G .
Befruchtete Eier: GB , GB , GG , GG.
(G: Anlage für gebändert, B für bänderlos.)
Da B über G dominiert, ist die eine Hälfte der entstandenen
Bastarde bänderlos, die andere gebändert.
Setzt man nun für G die Tendenz Weibchen zu erzeugen
und für B die Fähigkeit Männchen zu bestimmen, so ergibt
sich ohne weiteres die Übereinstimmung mit dem oben ange-
gebenen Schema.
N. F. XIII. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
183
weisen, daß diese Eigenschaft nur einem Geschlecht
zukommt, und daß man deshalb hei jeder Spezies
zwischen einem homogametischen und einem hetero-
gametischen Geschlecht unterscheiden muß.
Nachdem wir nun so einen kurzen Einblick in
die Arbeitsmethoden der modernen Forscher über
das Sexualproblem getan haben, ergibt sich, daß
es auf Grund der bis jetzt feststehenden Ergebnisse
auf jeden Fall verfrüht wäre, irgendwelche Theorien
über eine willkürliche Bestimmung des Geschlechts
anzuknüpfen, so sehr ja auch der Stoff zu solchen
Gedankengängen reizen mag. Vorläufig müssen
wir uns damit begnügen, daß wir in den Mecha-
nismus des ganzen Apparates um ein Bedeutendes
tiefer eingedrungen sind, aber gleichzeitig lehrt uns
diese Erkenntnis auch wieder, wie weit wir trotz
allem noch von dem letzten Ziel entfernt sind.
Künstliche Seide ans Zellnlose.
Von Dr. Günther Bugge.
[Nachdruck verboten. 1
Die Chemie hat uns die Herstellung einer Reihe
von Kunstprodukten ermöglicht, die in vielen
Fällen in bezug auf stofi'liche und sonstige Eigen-
schaften mit den Naturerzeugnissen identisch sind.
In anderen Fällen handelt es sich um Ersatzpro-
dukte, die zwar bezüglich der für die Verwendung
in Betracht kommenden Eigenschaften den natür-
lichen Vorbildern mehr oder weniger nahe kommen,
in chemischer Hinsicht sich aber von ihnen unter-
scheiden. Als Typus der ersten Art von Kunst-
stoffen sei der Farbstoff des synthetischen Indigos
genannt, der sich in keiner Weise von dem des
natürlichen Indigos unterscheidet. Zur zweiten Klasse
von Kunststoffen gehört die künstliche Seide, die
zwar der natürlichen Seide in ihren physikalischen
Eigenschaften sehr nahe steht, ihrer chemischen
Zusammensetzung nach aber eine ganz andere Sub-
stanz darstellt.
Der Kernfaden der Naturseide, wie sie die Raupe
des Seidenspinners erzeugt, besteht aus Fibroin,
einem zu den Eiweißstoffen gehörenden Mate-
rial. Man könnte daher zunächst daran denken,
künstliche Seide aus Eiweißstoffen herzustellen.
Aber da unsere Kenntnisse von dieser Körperklasse
noch sehr in den Anfängen stecken, liegt eine
synthetische Gewinnung der Seidensubstanz noch
in weiter Ferne. Es hat nicht an Versuchen ge-
fehlt, aus eiweißähnlichen Produkten, wie Ge-
latine oder Casein, Kunstseide herzustellen; aber
diesen Versuchen ist ein praktischer Erfolg nicht
beschieden gewesen. Alle heute technisch ange-
wandten Verfahren gehen von der Zellulose
aus, also einem chemisch von den Eiweißstoffen
grundverschiedenen Material.
Um künstliche Seide aus Zellulose herzustellen,
ist es nötig, diese zunächst in eine Verbindung
überzuführen, die in irgendeinem Lösungsmittel
löslich ist. Als ältestes Verfahren ist hier das des
Grafen Hilaire de Chardonnet anzuführen, das
die Nitrozellulose als Ausgangsstoff benutzt.
Zur näheren Orientierung über das Sexualproblcm seien
folgende Werke besonders empfohlen:
Baur, E., Einführung in die experimentelle Vererbungs-
lehre. Berlin, Bornträger, 191 1.
Correns, C, Die Bestimmung und Vererbung des Ge-
schlechts nach Versuchen an höheren Pllanzcn. Rassenbiol. 4, 1907.
Gold Schmidt, R., Einführung in die Vererbungswissen-
schaft. Leipzig, Engelmann, 1911.
Correns und Goldschmidt, Vererbung und Bestim-
mung des Geschlechts. Berlin, 1913.
Gutherz, S., Über den gegenwärtigen Stand der Hetero-
chrosomenforschung. Sitz.-Ber. d. Ges. naturf. Freunde Berlin.
1911.
Haecker, V., Allgemeine Vererbungslehre. Braun-
schweig, 19 II.
Hertwig, R. , Über den derzeitigen Stand des Sexual-
problems nebst eigenen Untersuchungen. Biolog. Zentralblatt
1912.
Plate, L., Vererbungslehre. Leipzig, Engelmann, 1913.
Wilson, E. B. , The Sex Chromosoms. Arch. f. mikr.
Anat. 77, 191 1, H.
Nitrozellulose wird bekanntlich erhalten, wenn man
Zellulose (meist wird gebleichte Baumwolle —
,,Linters" — gewählt) mit einem Gemisch von
Salpetersäure und Schwefelsäure behandelt. Die
Überführung von Zellulose in Nitrozellulose (die
,, Nitrierung" der Zellulose) ist chemisch als Ver-
esterung der Hydroxyle des Zellulosemoleküls auf-
zufassen, bei der je nach der Zusammensetzung
des Nitriergemisches eine verschieden große Anzahl
von Nitrogruppen in das Molekül der Zellulose
eintreten kann. Die höchst nitrierten Zellulosen
(ca. 13,5% Stickstoff) nennt man Schießbaumwolle
oder Fyroxylin ; sie finden hauptsächlich als Ex-
plosivstoffe Verwendung. Für die künstliche Seide
kommen die weniger hoch nitrierten Zellulosen
(11 — 12,5% Stickstoff in Betracht, die man als
Kollodiumwolle bezeichnet. Die wichtigste Eigen-
schaft der Kollodiumwolle ist ihre Löslichkeit in
einem Gemisch von Alkohol und Äther, mit dem
sie mehr oder weniger zähflüssige Lösungen bildet.
Meist löst man das bei 40" getrocknete Produkt
in einem Gemisch von 3 Teilen Alkohol und
2 Teilen Äther.
Die so erhaltene Lösung wird nun versponnen.
Nach dem ursprünglichen Ch ardon n et 'sehen
Verfahren erfolgte das Verspinnen in der Weise,
daß die Spinnflüssigkeit nach vorhergegangenem
Filtrieren unter einem Druck von 8 — 10 Atmo-
sphären durch feine Glaskapillaren („Düsen") in
Wasser ausgepreßt wurde. Das Wasser bringt den
Fiüssigkeitsstrahl in Form eines Fadens zum ober-
flächlichen Gerinnen, indem es dem Kollodium den
Alkohol und Äther entzieht. Dieses „Naßspinn-
verfahren" ist jetzt meist aufgegeben worden zu-
gunsten des „Trockenspinnverfahrens", bei dem man
das sehr konzentrierte Kollodium durch die Düsen
direkt in die Luft austreten läßt. Alkohol und
Äther verdunsten, und die Nitrozellulose bleibt in
Fadenform zurück. Der an der Luft erstarrte Faden
wird sofort auf eine Spule gelegt, die ihn mit kon-
stanter Geschwindigkeit von der Düse abzieht und
aufwickelt.
Wie bei der natürlichen Seide der Faden aus
i84
Naturwissenschaftliche Wociienschrift.
N. F. XIII. Nr. 12
einer Anzahl von dünnen Einzelfäden besteht, so
läßt man auch bei der Kunstseide mehrere Fädchen
sich zu einem einzigen Faden vereinigen. Dies
erreicht man, indem man das Kollodium durch
sogenannte „Brausendüsen" preßt, kleine Metall-
scheiben (meist aus Platin), die mit einer Anzahl
von feinen Durchbohrungen versehen sind.
Der getrocknete Faden hat eine sehr unange-
nehme Eigenschaft: er ist sehr explosiv. Wegen
dieser Feuergefährlichkeit war eine Verwendung
der Kunstseide aus Nitrozellulose in der Textil-
industrie erst möglich, als es gelang, die Fäden
zu „denitrieren", d. h. die bei der Nitrierung in
das Molekül eingeführten Salpctersäurereste nach-
träglich wieder zu beseitigen. Dies geschieht am
besten, indem man die Seidenstränge in ein Bad
mit Ammonium- oder Natriumsulfhydratlösung
bringt. Bei der chemischen Umsetzung, die sich
hierbei zwischen der Nitrozellulose und den Sulfhy-
draten abspielt, wird der Stickstoff der ersteren (bis
auf einen unwesentlichen Rest) entfernt. Der nun
nicht mehr feuergefährliche Faden wird vorsichtig
gebleicht, nochmals gründlich mit Wasser ausge-
spült und dann in warmer Luft getrocknet.
Das Chardonn e t 'sehe Verfahren hat im
Laufe der Zeit verschiedene L'mänderungen und
Verbesserungen erfahren. In Deutschland war es
vor allem Lehner, der sich um seine Weiter-
entwicklung Verdienste erwarb. Er ersetzte das
schwerflüssige Spinnkollodium Chardonnets
durch eine dünnflüssige Spinnlösung, die ein F"il-
trieren und Verspinnen ohne großen Druck ermög-
lichte.
Da Alkohol und Äther (zumal in Deutschland)
relativ teure Lösungsmittel sind, ist das Problem
der Wiedergewinnung dieser Stoffe von größter
Bedeutung für das Nitrozelluloseverfahren; zahl-
reiche Verfahren sind zu diesem Zweck vorge-
schlagen worden. Meist wird die mit Alkohol-
und Ätherdämpfen gesättigte Luft durch Absorp-
tionsflüssigkeiten (z. B. Schwefelsäure oder flüssige
Fette) geleitet, aus denen dann durch Destillation
die Lösungsmittel wiedererhalten werden können.
Ein Konkurrent ist der Chardonnetseide in der
Kupferoxydammoniakseide erstanden, die
auch unter dem Namen Glanzstoff oder P a u 1 y -
Seide bekannt ist. Zu ihrer Herstellung löst man
in geeigneter Weise vorbehandelte Baumwolle in
Kupferoxydammoniak („Schweizers Reagens") und
spinnt dann die Lösungen in saure oder — besser —
alkalische Flüssigkeiten hinein, wobei sich der
Zellulosefaden ausscheidet. Das Kupfer kann aus
den „angereicherten" Lösungen wiedergewonnen
werden. Zur Darstellung der Kupferoxydammoniak-
lösung kann man im Großbetrieb vom metallischen
Kupfer ausgehen, das in Form von Drehspänen
usw. mit konzentriertem Ammoniak übergössen
und bei niederer Temperatur in intensive Berüh-
rung mit Luft gebracht wird. Hierbei sollen ge-
wisse Zusätze, wie Milchsäure usw. das Lösungs-
vermögen des Ammoniaks bedeutend fördern. Die
Bereitung der Kupferlösung und das Auflösen der
Zellulose kann auch in einer Operation ausgeführt
werden, indem man die Zellulose mit Ammoniak-
wasser tränkt und dann mit Kupferhydroxyd paste
mischt.
Ein drittes Verfahren — zurzeit das aussichts-
reichste, da es am billigsten ist — wurde von den
englischen Zelluloseforschern Groß und Bevan
entdeckt. Es gründet sich auf die interessante
Beobachtung, daß Zellulose bei der Behandlung
mit Natronlauge und Schwefelkohlenstoff eine Ver-
bindung CßHoO^CS.jNa (Natriumzellulosexantho-
genat) liefert, die mit Wasser eine schleimige, dick-
flüssige Substanz (,,Viskose") bildet. Als Aus-
gangsmaterial braucht man nicht wie bei den
anderen Verfahren Baumwolle zu benutzen, sondern
kann den aus Holz hergestellten Zellstoff verwenden.
Die filtrierte und „gereifte" Viskose kann nach
verschiedenen Verfahren versponnen werden. Man
benutzt z. B. als Fällflüssigkeit eine Lösung von
Ammonchlorid oder -sulfat, der man Eisenvitriol
zusetzt. Der letztere Zusatz beseitigt die bei der
Regenerierung der Zellulose aus dem Xanthogenat
auftretende Klebrigkeit der Fädchen, indem der
größte Teil des in Sulfidform vorhandenen Schwefels
auf dem Faden als Schwefeleisen gefällt wird.
Nach dem Erstarren des Fadens läßt sich der
Sulfidniederschlag wieder durch verdünnte Säuren
entfernen. Oder man verspinnt die Viskose in
einem Bad von Schwefelsäure, die ein Sulfat gelöst
enthält, ein Verfahren, das wegen seiner Billigkeit
vorgezogen wird.
Ghardonnetseide, Glanzstoff und Viskoseseide,
die in trockenem Zustande die Festigkeit der
natürlichen Seide zwar nicht erreichen, ihr aber
doch nahe kommen, haben die Eigenschaft, in
feuchtem Zustande eine bedeutend verringerte
Festigkeit zu zeigen, ein Nachteil, der das Waschen
der Gewebe aus Kunstseide erschwert bzw. un-
möglich macht. Man hat zwar versucht, durch
Behandlung des Fadens mit Formaldehyd und
einer Säure (,,Sthenosieren") die Wasserfestigkeit
zu erhöhen; es hat sich aber gezeigt, daß diese
Verbesserung mit einer nicht unbeträchtlichen
Verschlechterung anderer wichtiger textiler Eigen-
schaften (Elastizität, Färbbarkeit usw.) verknüpft ist.
Eine größere Wasserfestigkeit kommt der
Azetatseide zu, deren Herstellung der jüngste
Erfolg der nicht rastenden Kunstseideindustrie ist.
Das Material der Azetatseide ist die Azetyl-
zellulose, ein Zelluloseester der Essigsäure.
Ihre technische Darstellung erfolgt in der Weise,
daß man Zellulose mit Essigsäureanhydrid in
Gegenwart gewisser Katalysatoren, wie Schwefel-
säure, Chlorzink usw. verestert. Die Azetylzellu-
lose, die nicht nur für die Seidenfabrikation, son-
dern auch zur Herstellung schwer verbrennbarer
Kinematographenfilms und wetterbeständiger Lacke
verwendet wird, kann auf künstliche Seide ent-
weder so verarbeitet werden, daß man die bei der
Azetylierung sich bildende zähflüssige Masse direkt
in Wasser oder andere Fällmittel verspinnt, oder
in der Weise, daß man die Azetylzellulose zunächst
N. F. XIII. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
185
durch Ausfällen mit Wasser in fester Form isoliert
und dann die Lösung dieses Produkts in Chloro-
form oder anderen organischen Lösungsmitteln
verspinnt.
Die Verwendung der Kunstseide hat in den
letzten Jahren in erstaunlicher Weise zugenommen;
es werden heute jährlich mehr als 5 Millionen
Kilogramm fabriziert, eine Menge, die ^j^ — '/s der
Jahresproduktion an natürlicher Seide ausmacht.
Trotzdem hat die künstliche Seide, soweit die
Herstellung von Kleiderstoffen in Frage kommt,
der natürlichen wenig Konkurrenz gemacht. Da-
gegen hat sie sich wegen ihres schönen Glanzes
und ihres festen „Griffes" verschiedene spezielle
Anwendungsgebiete (Möbelstoffe, Kravatten, Be-
satzstoffe usw.) erobert. Eine wichtige Rolle
spielt heute das aus dem Material der Kunstseide
hergestellte künstliche Roßhaar, das unter
verschiedenen Namen (Sirius, Meteor, Viszellin usw.)
in den Handel kommt. Die Verfahren zur Er-
zeugung von künstlichem Roßhaar unterscheiden
sich von denen der Kunstseideherstellung nur da-
durch, daß man die Zelluloselösungen durch Düsen
von größerem Durchmesser preßt oder mehrere
Fäden zu einem stärkeren verzwirnt.
Es sei noch erwähnt, daß es vor kurzem ge-
lungen ist, auch kü nstliche Gaze und künst-
lichen Tüll herzustellen. Man verfährt hierbei
so, daß man die Kunstseidemasse (Nitro- oder
Kupferoxydammoniakzelluloselösung) nicht ver-
spinnt, sondern auf einen rotierenden Metallzylinder
gießt, auf dem das Tüllmuster eingraviert ist.
Die überschüssige Masse wird durch eine beson-
dere Vorrichtung abgestrichen , so daß nur das
Linienmuster des Tüllgewebes ausgefüllt ist. Die
Koagulierung des Gewebes erfolgt entweder direkt
auf der Walze, die sich durch das Gerinnungsbad
bewegt, oder in der Weise, daß der noch nicht
feste Tüll auf ein Band, an dem er haftet, abge-
preßt und dann in dem Bad koaguliert wird.
Auf den verschiedensten Wegen ist es also
geglückt, aus der Zellulose ein Ersatzprodukt für
unseren edelsten Gewebestoff herzustellen. Es ist
nicht ohne Interesse, daß der Gedanke, die Tätig-
keit der Seidenraupe nachzuahmen, schon vor fast
200 Jahren zum erstenmale auftaucht. In einem
1734 erschienenen Buch des französischen Physikers
Reaumur über die Geschichte der Insekten lesen
wir, wie den Naturforscher der Anblick einer sich
einspinnenden Seidenraupe zu der Überlegung an-
regt: Wäre es nicht möglich — da die Seide doch
eine Art von eingetrocknetem Gummi darstellt — ,
aus den uns zur Verfügung stehenden „Gummi-
oder Harzstoffen" künstliche Fäden zu ziehen?
Die Idee Reaumurs ist jetzt verwirklicht worden,
und die Lösung dieser Aufgabe reiht sich würdig
anderen Erfolgen an, die wir dem Zusammenarbeiten
von Wissenschaft und Technik verdanken.
Einzelberichte.
Botanik. Der Eichenmehltau auf amerikanischen
Eichen. Vor einigen Jahren trat plötzlich in
Europa auf Eichen ein die Blätter und Sprosse
mit einem weißen Mehltau überziehender Pilz auf,
der, insbesondere in Frankreich, große Schädigun-
gen hervorrief. Es wurde zuerst als Oidium quer-
cinum bezeichnet, und man nahm an, daß er aus
Amerika stamme. Diese Ansicht wurde wieder
aufgegeben, als sich herausstellte, daß der Pilz die
amerikanischen, in Europa angepflanzten Eichen
nur wenig befiel. In Deutschland konnte P. M a g n u s
oft amerikanische Arten beobachten, die inmitten
stark vom Mehltau befallener Ouercus robur stan-
den, aber völlig gesund waren. Neuerdings nun
hat Magnus in der Baumschule von Bad Nau-
heim das Oidium nicht nur auf Quercus robur,
sondern auch auf den jungen, zweijährigen Pflanzen
der amerikanischen Ouercus rubra allgemein ver-
breitet gefunden, während alle älteren Bäume
dieser Art vom Mehltau völlig frei waren. Nach
der Angabe eines Gärtners ist das Auftreten des
Mehltaus auf den amerikanischen Saateichen erst
seit 191 2 in der Baumschule beobachtet worden.
Magnus nimmt an, daß die jungen Saatpflanzen
von Ouercus robur aus infiziert worden seien,
und daß sich der Mehltau von den ersten infi-
zierten Pflanzen auf die anderen übertragen habe.
Er hält es für möglich, daß sich so eine besondere
Rasse des Eichenmehltaus ausbilde, die Quercus
rubra leichter infiziere. Nach Griffon und
Maublanc gehört der Pilz übrigens zu einer
besonderen Art der Ascomycettengattung Micro-
phaera (M. alphitioides), deren Fruchtgehäuse
(Perithecien) von denen der amerikanischen Micro-
sphaera-Arten verschieden sind. Woher dieser
Mehltau stammt, bleibt noch immer ein Rätsel.
(Jahresbericht der Vereinigung für angewandte
Botanik 191 3, Jahrg. 11, Teil I, S. 14 — 15).
F. Moewes.
Astronomie. Zum Studium des Nordlichtes
durch photographische Aufnahmen ist im Frühjahr
191 3 eine Expedition der Herren Störmer und
Birkeland nachBossekop im nördlichen Norwegen
unter 70" Breite gegangen. Da es auch darauf
ankam, die Höhe des Nordlichtes zu bestimmen,
wurden zwei Stationen in einem Abstand von
27 "2 km bezogen und telephonisch verbunden.
An beiden Stationen lagen je 40 Kassetten bereit,
so daß in einer Nacht 80 Aufnahmen gemacht
werden konnten, deren Gleichzeitigkeit durch
telephonische Verständigung erreicht wurde. Es
wurden in der Zeit vom 28. Februar bis i. April
636 Aufnahmen gemacht, von denen 447 gelungen
sind. Auf diesen Platten sind alle Arten von
Nordlichtern zu sehen, und es sind etwa 4000
Messungen angestellt zum Zweck der Höhenbe-
i86
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 12
Stimmung. Da auf den Platten immer Sterne
erscheinen, so sind die Fixpunkte gegeben, nur
die Unbestimmtheit der Formen des Nordlichtes
macht die Sache unsicher. Auch mit dem pris-
matischen Objektiv sind mehrere Aufnahmen ge-
macht, auf denen neben den Sternspektren die
Linien des Nordlichtes deutlich erscheinen. Von
besonderem Interesse sind kinematographische
Aufnahmen , bei denen jedes Bildchen zwei
Sekunden belichtet wurde , nur bei sehr hellen
Lichtern war eine Belichtung von einer Sekunde
ausreichend. Diese Aufnahmen sind von größtem
Werte für die Darstellung der oft sehr schnellen
Veränderungen innerhalb des Nordlichtes. [Comptes
rendues 156, 1871 und Knowledge 10, 263, 1913.]
Riem.
Anthropologie. Im Jahre 1912 führte Prof-
Dr. F. v. L u s c h a n anthropologische Unter-
suchungen auf der Insel Kreta aus, deren Ergeb-
nisse in der Zeitschrift für Ethnologie, 191 3, S. 307
bis 393, veröffentlicht wurden. Prof. v. Luschan
nahm Messungen an alten und rezenten kretischen
Schädeln vor, das Hauptgewicht legte er aber auf
das Studium der lebenden Bevölkerung. Doch
wurden nur Männer untersucht; auf Messungen
und Beobachtungen an Frauen, Kindern und Halb-
erwachsenen wurde wegen der Kürze der verfüg-
baren Zeit und aus anderen Gründen von vorn-
herein verzichtet. Die Schädelmessungen ergaben,
daß die kretischen Schädel jetzt bedeutend breiter
sind, als sie in der vorgriechischen Zeit waren.
Der Prozeß des Breitervverdens hat wohl bereits
vor der Einwanderung der Achäer und Dorier
begonnen, was ein Vergleich der LängenBreiten-
indizes der Schädel (Breite, ausgedrückt in Pro-
mille der Länge) aus verschiedenen Perioden zeigt.
Die mittleren Indizes betragen bei den ältesten
bisher bekannten Schädeln von Kreta aus der
mittelminoischen Zeit 735, bei Schädeln aus dem
Anfang der spätminoischen Zeit 765, bei Schädeln
vom Ende der spätminoischen Zeit 791, bei rezen-
ten männlichen Schädeln von Hiraklion und Khania
780 und bei rezenten weiblichen Schädeln von
denselben Orten 809. Die Zunahme der Menschen
mit kürzeren und breiten Köpfen führt v. L u s c h a n
auf Kreta, wie anderwärts, auf die Einwanderung
einer rundköpfigen Rasse zurück.
Die 320 untersuchten lebenden Männer weisen
in allen körperlichen Merkmalen eine große Varia-
tionsbreiteauf Die Körpergröße schwankt zwischen
154 und 189 cm, im Mittel beträgt sie 169; die
größte Kopflänge ist 22 cm, die geringste 17,4 cm,
die größte Kopf breite 17,4 cm, die geringste Kopf-
breite 13,8 cm, der Längenbreitenindex des Kopfes
bewegt sich zwischen 920 und 673 bei einem
Mittel von 789, der Gesichtsindex zwischen 977
und 645 (Mittel 865) usw.
Die Augen färbe variiert zwischen den
Nummern 2 und 16 der Martin'schen Augen-
farbentafel. Die dunkelste Augenfarbe, Nr. i,
wurde auf Kreta nicht notiert; sie kommt wohl
nur bei farbigen Rassen vor. Bei 165 Männern
oder 5 1 "lg wurden dunkle Augen festgestellt, die
den Nrn. 4 und 5 der Martin'schen Tafel und
einem dazwischenliegenden Rehbraum entsprechen.
Ganz helle Augen, Nr. 12 — 16, hatten bloß 23
Männer. Sehr selten sind hellblonde Kopf haare,
die nur bei einem Mann unter 319 beobachtet
wurden; blond kam 12 mal, dunkelblond 8 mal
vor. Am häufigsten ist die Haarfarbe braun,
dunkelbraun oder braunschwarz; grauschwarzes
Haar wurde in 5 Fällen und schwarzes in 72 Fällen
notiert. Die Hautfarbe wurde an der Beuge-
seite des Vorderarmes bestimmt. Von 318 Männern
wiesen 23 ganz helle Hautfarben auf, nämlich
Nr. 7 bis 9 der v. Luschan 'sehen Tafel; die
Nrn. 10 — 12 kamen 210 mal vor, die schon ziem-
lich dunklen Nrn. 13 — 15 80 mal (ungefähr
„brünett" im gewöhnlichen Sprachgebrauch) und
die Nrn. 16 — 18 fünfmal.
Die heutige Bevölkerung Kretas scheint das
Produkt einer Kreuzung einer kleinwüchsigen, lang-
köpfigen mit einer großwüchsigen, kurzköpfigen
Rasse zu sein. Das langköpfige Bevölkerungselement
ist in der Regel auch durch breitere Nasen und
dunkleres Pigment ausgezeichnet als das breit-
köpfige. Bemerkenswert ist überdies, daß große
Gestalten, breite Köpfe und helle Farben im Westen
der Insel häufiger sind, während im Osten kleine,
langköpfige und dunkle Leute vorherrschen. Die
letzteren sind wohl die älteren Bewohner Kretas,
denn v. Luschan fand, daß sie in der Schädel-
bildung mit den Langschädeln aus der minoischen
Zeit oder der Bronzezeit von Kreta übereinstimmen.
Jene alte Bevölkerung ist sehr wahrscheinlich auch
durch geringe Körpergröße ausgezeichnet gewesen.
Von woher sie nach Kreta kam, ist schwer zu
entscheiden; gewiß nicht aus Vorderasien, denn
dort war die älieste Bevölkerung, wie v. Luschan
schon bei früherer Gelegenheit feststellte, extrem
kurz- und hochköpfig, sowie groß- und meist schmal-
nasig. Uralte Kultur beziehungen bestehen zwischen
Kreta und Ägypten, doch darf man daraus nicht
auf einen somatischen Zusammenhang schließen. Der
Tj'pus der Ostkreter erinnert stark an den der
Sarden und Sizilier, und es kann als sichere Tat-
sache gelten, daß diese den alten Kretern soma-
tisch sehr nahe standen; beide Gruppen gehören
zur ,, mediterranen Rasse". Woher sie kamen, wird
wohl die Zukunft lehren. Unentschieden ist auch
noch die Herkunft der großen breitköpfigen Be-
völkerung, die man hauptsächlich in Westkreta trifft.
Wohl sind Historiker und Philologen gleichmäßig
der Meinung, daß man die verhältnismäßig reinsten
Nachkommen der alten Dorier in der Sphakia,
Westkrefa, erwarten dürfe, aber vom Standpunkt
der physischen Anthropologie ist das unerwiesen.
Nach landläufiger Ansicht sind die Dorier, wie vor
ihnen die Achäer, aus einer nördlichen oder gar
,, nordischen" Heimat nach Griechenland und
Kleinasien gewandert. Aber es ist mit der Mög-
lichkeit zu rechnen, daß die große dorische Wan-
derung „wenigstens zum Teil nur eine Rückkehr
N. F. XIII. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
187
vorderasiatischer Elemente nach Vorderasien be-
deutet. Denn wie immer die Dorier bei ihrem
ersten Auftreten in Griechenland ausgesehen haben
mögen, so ist es doch sehr wahrscheinlich, daß
sie bei ihrem Eintreffen auf Kreta und auf dem
kleinasiatischen Festland schon reichlich mit den
Nachkommen der vorgriechischen Bevölkerung von
Griechenland durchsetzt waren". Die Venetianer
und selbst die Türken, die in der nachgriechischen
Zeit auf Kreta herrschten, kamen zuversichtlich in
so kleiner Zahl, daß sie keinen merklichen Einfluß
auf die somatischen Eigenschaften der Kreter aus-
übten. H. Fehlinger.
Physiologie. Ein Mensch ohne Großhirn.
Von L. Edinger und B. Fischer (Pflüger's
Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen
und der Tiere. Bd. 152, 191 3).
Wiederholt, zuerst von Goltz, wurden die
Großhirnhemisphären beim Hund experimentell
entfernt und die Tiere blieben längere Zeit
am Leben, so daß die durch den Ausfall des
Großhirns bedingten Störungen genau festgestellt
werden konnten. Auch ohne Großhirn geborene
Menschen sind schon mehrere Tage am Leben
geblieben. Die von ihnen ausgeführten Lebens-
tätigkeiten, wie Bewegung der Glieder, Saugen,
Schreien, Lidschluß, auch gewisse mimische Be-
wegungen, haben alle ihre Zentren im verlängerten
Mark und im Rückenmark. Sie konnten dasselbe
leisten wie der normale Neugeborene. Bei diesem
ist ja auch nur das Urhirn (Palaeencephalon) und
noch kein Assoziationszentrum im Großhirn (Neen-
cephalon) entwickelt. Edinger beobachtete nun
einen bisher noch nie dagewesenen Fall, daß ein
ohne Großhirn geborener Mensch längere Zeit
(3'/4 Jahre) am Leben blieb. Er untersuchte das
Gehirn anatomisch und bespricht an der Hand
der von der Mutter gegebenen Schilderung die
Lebensäußerungen dieser Mißgeburt. ')
Das mikroskopisch genau untersuchte Gehirn
zeigte eine auffallende Ähnlichkeit mit dem des
„Goltz 'sehen Hundes". Während aber bei jenem
die Hemisphären total fehlten, waren sie bei dem
Kind durch eine ganz dünne vielgefaltete Membran
vertreten. Es sah so aus, als ob sie einmal vor-
handen gewesen seien und dann durch einen
krankhaften Prozeß zugrunde gegangen wären,
so daß von ihnen nur noch jene oben erwähnte
Blase übrig blieb. Das Kind starb schließlich an
Entkräftung und einer Lungentuberkulose. Bei
der Sektion der sehr abgemagerten Leiche ent-
leerte sich nach Abnahme des Schädeldaches,
dessen Fontanellen verwachsen waren, eine große
Menge einer klaren, wässerigen Flüssigkeit. Sie
hatte sich anscheinend zwischen der Dura und
Pia mater befunden.
Im Leben hatte das Kind folgende Erschei-
nungen gezeigt. Außer beim Saugen, zu dem es
erst geweckt werden mußte, lag es beständig im
') Es war das Erstgeborene einer 25jährigen Frau, deren
Schwester ein blödsinniges Kind hatte.
Schlaf Im i. Jahre hörte man es nie weinen,
manchmal gab es nur leise Töne von sich. Durch
kein Zeichen verriet es, daß es Hunger oder
Durst hätte. Wollte man es nicht verhungern
lassen, so mußte man es immer wecken und ihm
Milch geben. An nichts erkannte die Mutter,
wenn es genug hatte, und so fütterte sie meistens
so viel, als das Kind nehmen konnte; es erbrach
sich dann oft tagelang und nahm in den darauf
folgenden Wochen fast gar nichts zu sich. Arme
und Beine lagen starr im Krampf gestreckt. Nie-
mals suchte es mit der Hand nach der Milch-
flasche zu greifen. Es lag vollständig bewegungs-
los im Bett. Den Kot und den Urin ließ es unter
sich gehen und blieb, ohne sich zu rühren, darin
liegen.
Die Augen reagierten auf starke Belichtung
durch krampfhaftes Schließen; sie waren, wenn
geöffnet, stets nach oben gerichtet, aber fast immer
geschlossen. Durch Zusammenschrecken bgim
Hinfallen eines Gegenstandes verriet es eine Ge-
hörempfindung. Das Schmerzgefühl schien ganz
zu fehlen. Wurde es in die Fingerbeeren gekniffen,
verzog es keine Miene. Daß es aber eine Tast-
empfindung hatte, erhellt daraus, daß es sich be-
ruhigte, wenn der Kopf in die Kissen gedrückt
und gerieben wurde, während es sonst vom
2. Jahre an bis zum Lebensende Tag und Nacht
laut schrie. Zähne erschienen schon im 4. Monat
und alle hatten eine gesägte Kante.
In diesem Zustande lebte das Kind 3^/4 Jahre,
ohne daß sich etwas Wesentliches in seinem Zu-
stande änderte, außer daß es vom 2. Jahre an
viel schrie, vielleicht im Zusammenhang mit der
Entwicklung des verlängerten Marks. Denn um
diese Zeit beginnt ja auch sonst die Sprache sich
zu entwickeln.
Die genaue mikroskopische Untersuchung ergab
das völlige Fehlen des Großhirns, von dessen
Hemisphären nichts übrig geblieben war als einige
dünnwandige Cysten; es gab keine einzige mark-
haltige Nervenfaser, welche aus diesem hinunter
zu dem Urhirn führte. Alle Teile des letzteren
dagegen waren normal und nur etwas kleiner
als die eines ca. 2 jährigen Kindes. Auch die
Faserung des Urhirns vom Corpus striatum nach
hinten zum Rückenmark war ganz normal. Da-
gegen fehlten sämtliche aus ihm in das Großhirn
einstrahlenden Faserzüge.
Es liegt zum erstenmal ein menschliches Wesen
vor, das ganz auf das Urhirn angewiesen war und dem
ein Großhirn ebenso fehlte, wie etwa einem Fisch.
Besonders bemerkenswert ist, daß dieser Mensch
ohne Großhirn viel weniger leistete, als ein Tier
unter gleichen Umständen. So lernte der Hund
Rothmanns, der gleichfalls über 3 Jahre ohne
Großhirn lebte, bald wieder laufen, sogar die Hürde
überklettern. Das Kind dagegen lag stets bewegungs-
los, versuchte nie sich aufzurichten oder auch nur
die Hände zum Greifen zu benutzen. Der Hund
mußte nur anfangs gefüttert werden und lernte
bald die Schüssel leer zu fressen, wenn sie an seine
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 12
Schnauze gebracht wurde. Das Kind dagegen
mußte stets mit Einlöffeln gefüttert werden. Bei
dem Hund wechselten Schlaf und Wachen, während
das Kind beständig schlief. Auch war es unmög-
lich, es irgend etwas zu lehren, während dies beim
Hund bis zu einem gewissen Grad gelang.
Aus allem ergibt sich, daß die Säuger zwar
nicht, wie die Fische, Amphibien und Reptilien,
mit dem Urhirn allein auskommen können, daß
aber der Mensch das Großhirn überhaupt nicht ent-
behren kann. Er ist absolut auf die ungestörte
Funktion desselben angewiesen. E. schließt:
„Unser Kind ohne Großhirn war weniger leistungs-
fähig als ein Fisch oder ein Frosch ohne Großhirn."
Totales Fehlen des Gehirns und Rückenmarks
lag bei dem ausgetragenen Kind eines syphiliti-
schen Vaters vor. Darüber berichtet Gustavo
M o d e n a (Deutsche Zeitschrift fürNervenheilkunde,
46. Bd., Heft 2, 191 3).
Bei der Geburt waren die Herztöne regelmäßig
und ebenso sollen die Beine einige Bewegungen
gezeigt haben; beides hörte aber nach wenigen
Minuten auf. Die anatomische Untersuchung ergab
ein völliges Fehlen des Gehirns und der vorderen
Wurzeln des Rückenmarks. Einige der Gehirn-
nerven (Trigeminus,- Facialis, Acusticus, einige
Vagus- und Glossopharyngeuswurzeln) hatten sich
entwickelt und endigten frei in der Schädelhöhle.
Während von den vorderen Wurzeln des Rücken-
marks jede Spur fehlte, waren die hinteren Wurzeln
mit den Spinalganglien entwickelt.
Prof. Dr. phil. et med. L. Kathariner.
Chemie. Ein neues Kohjenoxyd. Seit langem
kennt man zwei Verbindungen des Kohlenstoffs
mit Sauerstoff: das Kohlendioxyd oder die Kohlen-
säure (CO.3) und das Kohlenmonoxyd oder Kohlen-
oxyd (CO). Durch die Untersuchungen von
D i e 1 s ist 1906 zu diesen beiden Kohlenstoffoxyden
ein drittes hinzugekommen, das Kohlensuböxyd
(CgOo). Es entsteht aus der Malonsäure durch
Wasserentziehung mittels Phosphorpentoxyd nach
dem Schema
COOH C = O
! II
CHj > C +2H.,0,
I II
COOH C r= O
ist also das Anhydrid der Malonsäure. Die von
Diels angewandte Methode der Anhydrisierung
einer Dikarbonsäure müßte theoretisch, auf andere
Polykarbonsäuren von geeigneter Struktur über-
tragen, zu den verschiedensten „Kohlenoxyden"
führen. Tatsächlich ist es vor kurzem Hans
Meyer und Karl St ein e r gelungen, auf diesem
Wege ein neues Kohlenoxyd von der Zusammen-
setzung Ci.,0., zu isolieren (vgl. Berichte d. Deutsch.
Chem. Ges. 46, 813). Meyer und Steiner
gingen von der Mellitsäure aus, einer Hexakarbon-
säure, die bekanntlich bei der Oxydation von
Holzkohle mittels Kaliumpermanganat in alkali-
scher Lösung erhalten werden kann. Erhitzt man
diese Säure längere Zeit mit viel Benzoylchlorid,
so geht sie unter Wasseraustritt in ihr Anhydrid
über:
COOH
CO — ü
HOOC
HOOC-
• COOH
C i-yCOOH
CO.
>-► o
CO..C 0
CO
■ CO
+ 3H,0.
COOH CO 0
Das aus der Lösung auskristallisierende Kohlen-
oxyd hat also, nach Art seiner Entstehung und nach
seiner Zusammensetzung (so»/,, Kohlenstoff, 50%
Sauerstoff) die Formel CigO«. Es ist in kaltem
Wasser fast unlöslich; beim PIrwärmen mit Wasser
geht es wieder in Mellitsäure über. Auf Tempe-
raturen oberhalb 320° erhitzt wird es dunkel, bei
weiterem Erhitzen versprüht es unter Erglühen,
und schließlich verbrennt es mit rußender, dunkel-
roter Flamme. Im Vakuum läßt es sich subli-
mieren. Bugge.
Zoologie. Feminierung von Männchen und
Maskulierung von Weibchen. In der Keimdrüse
sind bekanntlich zweierlei Arten von Drüsengewebe
vereinigt, die gänzlich verschiedene Funktionen
haben: die Samenzellen und die intersti-
tiellen Zellen, die den innersekretorischen
Anteil des Hodens bilden. Vor einigen Jahren
gelang es Steinach auf dem Wege der
autoplastischen Transplantation diese
Elemente gänzlich isoliert, also von generativen
Elementen frei, zur Ausbildung zu bringen. Wäh-
rend sie sich bei Transplantation der Hoden
im infantilen Alter in abnormer Menge entwickel-
ten, fehlen die Samenzellen vollständig. Da trotz-
dem sämtliche sekundäre Sexualmerkmale wie alle
psychischen und funktionellen Veränderungen, die
für den Pubertätszustand charakteristisch sind, auf-
traten, mußte angenommen werden, daß die Ge-
schlechtsreife nicht mit den samenbereitenden
Organen in Zusammenhang zu bringen ist, sondern
allein von der sekretorischen Funktion
der inneren Drüse veranlaßt wird, die Stei-
nach nach ihrer Wirkung Pubertätsdrüse
nannte. Die Versuche ergaben ferner, daß der
Grad der Pubertät nach der Menge dieser Drüsen-
substanz wechselt , daß also z. B. bei abnormer
Entwicklung übertriebene Männlichkeit in Erschei-
nung tritt, während bei teilweiser Entfernung die
für sie bezeichnenden Erscheinungen wieder zurück-
gehen. ^)
Versuche an niederen Tieren erwiesen nicht mit
Sicherheit, ob die Wirkung der männlichen und
weiblichen Pubertätsdrüse in bezug auf Ausbildung
der Geschlechtscharaktere identisch sei, d. h. ob
sich nach der Transplantation von Ovarien auf
kastrierte Männchen dieselben Erscheinungen zeigten
') Physiol. ZentralblatI, Bd. 24, igio. — Pflüger's .Archiv,
1912.
N. F. XIII. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
189
wie bei der autoplastischen Transi)]antation oder
bei normalen Männchen. Die an Säugetieren ge-
machten Beobachtungen ergaben indessen, daß die
Pubertätsdriise eines Geschlechts nur die homo-
logen sekundären Charaktere hervorrufen kann,
daß also ihre Wirkung spezifisch ist.
Autoplastische Eierstockstransplantationen, eben-
so solche von Weibchen auf Weibchen werden
schon lange mit Erfolg ausgeführt. Die Ovarien-
transplantation von weiblichen auf männliche Indivi-
duen führte Steinach zum erstenmal mit Resul-
tat aus. Sie gelang allerdings nur, wenn vorher
die Kastration vorgenommen war. Kontrollversuche
mit Beibehaltung der Hoden zeigten bald eine
Degeneration der Transplantate. Es wurde bei
den Experimenten, die an jugendlichen Ratten
und Meerschweinchen vorgenommen worden sind,
folgendermaßen verfahren : Man ließ eine einem
größeren Wurfe entnommene Vergleichsserie unter
denselben Bedingungen zusammen aufwachsen. Sie
enthielt nach vollzogener Operation ein normales
Männchen, ein normales Weibchen, ein im frühesten
Alter kastriertes Männchen und ein oder mehrere
Männchen mit nach der Kastration implantierten
Ovarien. Bei letzteren ergab sich nun ein Anheilen
und Wachsen der Ovarien, in histologischer Be-
ziehung eine starke Anhäufung des interstitiellen
Gewebes, also der weiblichen Pubertätszellen. Die
männlichen sekundären Geschlechtscharaktere
blieben dagegen wie bei gewöhnlichen Frühkastra-
ten auf infantiler Stufe stehen. Durch Kontroll-
wägungen von normalen Männchen und Kastraten
desselben Wurfes ließ sich nachweisen, daß die
bei den Tieren mit implantierten Ovarien auftreten-
den Hemmungen im Wachstum wie die Umwand-
lung der männlichen Formen nicht auf die
Kastration zurückzuführen sind, also allein
durch die innersekretorische Tätig-
keit der Pubertätsdrüsen veranlaßt
werden. Wenn das implantierte Ovarium nach
Ansatz zur Anheilung wieder resorbiert wird
oder wenn es überhaupt nicht zum Anwachsen
kommt, bilden sich die auftretenden weiblichen
Geschlechtseigentümlichkeiten sofort zurück oder
sie entwickeln sich gar nicht. Die charakteristisch-
sten dieser firscheinungen sind folgende: Das
Skelett und die Körperformen der Männchen
mit implantierten Ovarien nehmen nach und nach
die des Weibchens an. Die Gestalt wird schlanker
und kürzer, es bildet sich Fettansatz und das in
der Jugend bei beiden Geschlechtern vorhandene
glatte weiche Haarkleid, das beim heranwachsen-
den männlichen Tiere allmählich in ein grobes
Struppiges übergeht, bleibt fein und geschmeidig
wie es war. Am auffälligsten ist aber die U m -
bildung der beim Männchen rudimentären An-
lagen der Brustwarzen und Brustdrüsen
zu gut entwickelten weiblichen Organen. Neue
Beiträge zu dieser Erscheinung lieferten die jüngsten
St ei nach 'sehen Versuche, die gleichfalls an der
Wiener biologischen Versuchsanstalt ausgeführt
wurden. *) Die bei normalen Weibchen erst zur
Zeit der (iravidität eintretende Hyperplasie der
Mamma, ein außerordentlich starkes Wachsen
und Wuchern der Alveolen und Drüsenlappen, die
in der Pubertätszeit noch weit auseinander liegen,
tritt merkwürdigerweise bei den feminierten
Männchen auch ein, was die derzeit gellende An-
nahme, daß die die Hyperplasie der Mamma wie die
Milchsekretion hervorrufenden Hormone aus dem
P"ötus (der Plazenta) hervorgehen, wohl ins Wanken
bringen muß. Diese Feststellung eröffnet eine
Reihe interessanter Möglichkeiten. In Pflüger's
Archiv, Bd. 39, äußert sich S t e i n a c h folgender-
maßen : „Der Gedanke liegt nahe, das Implantations-
verfahren bei normalen weiblichen Tieren praktisch
zu verwerten und durch Verstärkung des Wachs-
tums durch entsprechend größere Ausbreitung
der Milchdrüsenanlage eine günstige Disposition
für eine gravide Weiterentwicklung, mittelbar für
eine reichere Milchproduktion zu schaffen. Diese
Methode käme zunächst für junge Milchtiere in
Betracht. Da auch heteroplastische Transplan-
tation (d. h. in diesem Falle Transplantation von
Tieren auf Menschen) der Ovarialsubstanz gelingt,
könnte man es schließlich auch wagen, die Dis-
position für die Stillfähigkeit beim Menschen zu
verbessern."
Gemeinsam mit dem Wiener Radiologen
Guido Holzknecht hat S t e i n a c h schon mit
Erfolg den Versuch unternommen, das Ovarium des
normalen jungfräulichen Meerschweinchens durch
Röntgenbestrahlung derartig zu beeinflussen,
daß die für die Schwangerschaft charakteristischen
Erscheinungen — starkes Wachstum des Uterus,
Ausbildung der Zitzen, Hyperplasie der Mamma,
Sekretion fettreicher normaler Milch — auftreten,
eine Tatsache, die vielleicht Aussicht zur Behand-
lung des pathologischen Infantilismus
auf diesem Wege eröffnet.
Auch das Benehmen der feminierten Männchen
wird dem der Weibchen ähnlich : Sie nehmen die
Jungen, die man zu ihnen setzt, an, säugen sie, wobei
sie dieselbe Geduld und Aufmerksamkeit wie eine
wirkliche Mutter zeigen. Ebenso sind die anderen
psychosexuellen Charaktere weiblich geworden : die
feminierten Männchen sind ohne Mut und Rauflust,
ohne männlichen Trieb, sie zeigen die typischen
weiblichen Reaktionen und Bewegungen (Schwanz-
reflex, Abwehrreflex), und werden — das ist wohl
die beweiskräftigste Erscheinung für die erfolgte
Feminierung — von den normalen Männchen ganz
wie Weibchen behandelt, d. h. leidenschaftlich ver-
folgt, besprungen, was bei Kastraten absolut nicht
der F'all ist. ,,Das zentrale Nervensystem der femi-
nierten Männchen ist in weiblicher Richtung ero-
tisiert."
Natürlich müßte theoretisch die Maskulierung
von Weibchen ebensogut möglich sein wie die
Feminierung der Männchen. Bei der praktischen
Durchführung ergaben sich insofern Schwierig-
keiten, als das Hodengewebe bei der Übertragung
') Phys. Zentralblatt, Bd. 27, 19 13.
IQO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 12
nicht so widerstandsfähig ist wie das Ovarium.
Abgesehen davon ist das Implantat auch weniger
dauerhaft. Doch gelang es Steinach nach
manchen Fehlschlägen durch wiederholte Implan-
tation oder Ausnützung der Blutsverwandtschaft
(Verpflanzung des brüderlichen Hodens in die
vorher kastrierte Schwester) Weibchen in
Tiere mit somatischer und psychi-
scher männlicher Sexualität umzu-
wandeln. In histologischer Beziehung zeigt die
implantierte männliche Drüse vollständige Degene-
ration resp. Zerstörung der Samenkanäle (im Ova-
rium entwickeln sich auch die generativen Gewebe
und bestehen eine Weile in funktionsfähigem Zu-
stande fort) und eine mächtige Wucherung der
männlichen Pubertätszellen (Leydi g'schen Zellen)
im interstitiellen Gewebe. Auch hier bleiben alle
weibliche Anlagen unentwickelt, während sich die
indifferenten in männlicher Richtung umbilden.
Mamma, Mamilla, Uterus bleiben rudimentär, da-
gegen werden alle Sexualcharaktere, die vor, mit
oder nach der Pubertät auftreten bzw. fertig aus-
gebildet werden, ausgesprochen männlich. Am
auffälligsten sind das starke, weit über das des
kastrierten Weibchens hinausgehende Wachstum
des männliche Formen annehmenden Körpers, das
lange, struppige Haarkleid, das teilweise, bisweilen
auch vollständige Verschwinden der vaginalen
(Öffnung. Wie die feminierten Männchen zum Teil
feinere Formen zeigen als ihre normalen Schwestern,
so übertreffen die maskulierten Weibchen auch
die normalen Männchen oft an Robustheit und
Größe (besonders des Kopfes). Hand in Hand mit
der Umbildung der körperlichen Merkmale geht
die der psychischen Eigenschaften. Der Ge-
schlechtstrieb wird ausgesprochen männlich, ein
brünstiges Weibchen wird augenblicklich von
einem nicht brünstigen unterschieden und verfolgt.
Setzt man ein normales Männchen zu den mas-
kulierten Weibchen, so wird es angegriffen, genau
wie von einem wirklichen männlichen Tiere.
Auch die übrigen Eigenschaften der männlichen
Psyche haben die der weiblichen verdrängt.
Die Ergebnisse der St ei nach 'sehen Ver-
suche bringen uns der Lösung des schwierigen
und vielumstrittenen Problems der sekundären
Geschlechtscharaktere um einen bedeutenden
Schritt näher. Sie haben gezeigt, daß der Ge-
schlechtscharakter nicht fixiert oder
vorausbestimmt ist — es wäre ja sonst nicht
möglich, ihn durch Austausch der Pubertätsdrüsen
beim infantilen Individuum vollständig umzuwan-
deln. Die Annahme, daß die Anlage des Embryos
weder ein- noch zweigeschlechtig, sondern asexuell
oder indifferent ist, gewinnt durch die erwiesenen
Tatsachen sehr an Wahrscheinlichkeit. Die von
S t e i n a c h angekündigte Veröffentlichung weiterer
Versuchsreihen wird noch auf manche dunkle
Fragen ein Licht werfen und — wie es ja schon
durch die bisherigenVersuche in bedeutendem Grade
geschehen ist — den biologischen Wissenschaften,
insonderheit der Erblichkeitsforschung eine Anzahl
neuer, höchst interessanter Probleme und Unter-
suchungsmethoden auftun.
R. Aichberger-München.
Kleinere Mitteilungen.
Geschichtliche Notizen zur allmählichen Vi
vollkommnung der Tmte.
Jahre
Schon ungefähr 3000
V. Christi Geburt war den Chinesen Tinte
bzw. Tusche bekannt. Diese erste Tinte, als deren
Erfinder Tien-Tschen genannt wird, war eine
Art Lack, mit der man auf Seide schrieb. Später
verwandte man Ruß zur Tintenherstellung, beson-
ders war dies bei den Römern und Griechen Sitte.
Als Klebemittel wurde schon damals der Tinte
zu 3 Teilen Ruß i Teil Gummi zugesetzt. In
dem vom Vesuv verschütteten Herculanum hat
Winkelmann Schriftstücke aufgefunden, die mit
Rußtinte geschrieben und tadellos leserlich erhalten
sind'). Diese Schreibvveise bedeutete sicherlich
einen gewaltigen Fortschritt gegenüber dem vor-
her üblichen Eingraben der Schriftzeichen in Holz,
Stein, Ton oder Metall.
Außer der oben erwähnten schwarzen Tinte
kannte das Altertum auch schon farbige, vor allem
rote Tinten, zu deren Herstellung Zinnober, Ali-
zarin und Mennige verwendet wurden. Zu der be-
') Man vgl. Dr. Paul Mar teil: „Einige Beiträge zur
Geschichte der Tinte". (Zeitschrift für angewandte Chemie
1913. 27-)
sonders von den byzantinischen Kaisern benutzten
Purpurtinte diente der Saft der Purpurschnecke.
Goldtinte stellte man oft nach folgendem Rezept
dar: „Mischung von fein zerriebenem und mit Wein
geschlämmten Gold in Verbindung mit Ochsen-
galle oder Gummi, auch Eiweiß." Solche Goldtinten
haben sich zum Unterschied von den unscheinbar
gewordenen Silbertinten gut gehalten. Diese Tinten-
arten wurden bis in das 15. Jahrhundert beibe-
halten. Da erst kamen die heute noch viel be-
nutzten Eisengallusiinten auf, die damals von den
hauptsächlichsten Trägern des Schrifttums, den
Mönchen, hergestellt wurden.
Ein aus dem Jahre 141 2 herdatierendes Rezept
für Eisengallustinte lautet: Man übergieße fein ge-
pulverte Galläpfel mit Regenwasser oder Bier,
mische dazu Vitriol (Eisensulfat) und filtriere die
Masse nach einigen Tagen. Nach Cardamus
(De rerum varietate, libri XVII. 1557) setzt man der
Tinte Schalen der Granatäpfel zu, um einen guten
Glanz zu erreichen. Auch Tintenpulver zum Mit-
nehmen auf Reisen erwähnt schon dieser Autor.
In dem Werke „De secretio libri Septem" bringt
der Verfasser Alexius Pedemontanus ein
N. F. XIII. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
191
Rezept, um alte, verblichene Tinte wieder lesbar
zu machen: Man zerstoße Galläpfel grob und lege
das Pulver einen Tag in Wein und destilliere das
Wasser ab. Die verblaßte Schrift betupft man
mit einem Baumwollläppchen, worauf sie wieder
lesbar wird.
Von Bedeutung für die Tintenherstellung sind
auch die wissenschaftlichen Arbeiten des englischen
Naturforschers Robert Boyle's. Er untersuchte
die Reaktion der Galläpfel und anderer pflanzlicher
Stoffe auf die Lösungen der Vitriole in Gegenwart
von Säuren und Salzen. Außer Galläpfeln sind
nach ihm Eichenrinde, Blätter der roten Rose, Rinde
der Granatäpfel, Blauholz und Sumach zur Tinten-
herstellung zu verwenden. Otto Trachenius
fand, daß sich nur Eisenvitriol zur Tintenfabrikation
verwenden läßt. Kobalttinte wird zum ersten Male
1705 in einem Werke von D. J. Waitz erwähnt.
Einen weiteren Fortschritt bedeutete die von
Scheele 1785 gemachte Entdeckung der Gall-
äpfelsäure und die der Gerbsäure von Deyeux
(1793)- I" <i^n 30 er Jahren des letzten Jahrhunderts
beschäftigte man sich vor allem damit, die Tinte
dauerhaft zu machen und vor Fälschungen zu
schützen. Auf eine von der französischen Regierung
ausgehende Anregung hin schlugen angesehene
Chemiker Frankreichs eine Tinte vor, die aus
chinesischer Tusche mit einem Zusatz von ver-
dünnter Salzsäure oder essigsaurem Mangan be-
stand. Bei den alten tierisch geleimten Papieren
tat sie auch ganz gute Dienste, als man jedoch
gestärkte und harzgeleimte Papiere verwendete,
versagte diese Tinte. Wertvoller war die von dem
deutschen Professor Runge 1847 entdeckte Chrom-
blauholztinte, die auch vor allem die Stahlfedern
nicht angriff
Den Übergang zu den neueren Tinten bildet
die Alizarintinte von Aug. Leo nhardi -Dresden
(1856). Diese Alizarintinte enthielt nicht das gerb-
und gallusäaure Eisen in fertiger Bildung, sondern
stellte eine klare Lösung dar. Das gerbsaure Eisen
bildete sich erst nach dem Eintrocknen der Schrift
durch Oxydation, die sich hauptsächlich innerhalb
der oberen Schichten des Papieres vollzog, und
so ein stärkeres Anhaften der Tinte vermochte.
Das Mittel, das der Tinte diese Eigenschaften gab,
war Indigosulfosäure. Den Namen hat die Tinte
von dem holländischen Krapp, einem Zusatzmittel,
das Alizarin enthält.
Die Indigosulfosäure wurde in den darauffolgen-
den Jahren durch wasserlösliche Anilinfarbstoffe
ersetzt. Die so entstandenen Anilintinten fanden
bald durch ihre schöne Farbe viele Anhänger und
verdrängten so die Eisengallustinten. Da sie je-
doch wenig widerstandsfähig gegen Luft und
Licht sind, so hatte man bald, besonders in bezug
auf wichtige Schriftstücke, seine Bedenken. Bismarck
machte daher auf diese Tatsachen aufmerkam und
erließ am i. 8. 1888, die „Grundsätze für amtliche
Tintenprüfung". Auf die neuere Geschichte der
Tinte noch einzugehen, würde zu weit führen.
Otto Bürger.
„Über den heutigen Stand der Organtrans-
plantationen" berichtet Stich (Deutsch, med.
Wochenschr. Nr. 39, 19 13). Die Versuche, ganze
Organe in ihrem Zusammenhange ausgelöst,
anderen Menschen wieder einzusetzen, sind ganz
neuesten Datums, und erst von dem Zeitpunkt
aus praktisch am Tierexperiment in größerem
Umfange erprobt worden, als die sog. Gefäßnaht
Gemeingut der Chirurgen geworden war. Wäh-
rend man nämlich sonst die Überpflanzungen der-
art ausführte, daß das zu überpflanzende Stück in
die neue Umgebung einfach eingenäht wurde,
ging man nach den grundlegenden Arbeiten
Carrel's nunmehr dazu über, die das betreffende
Organ mit der Nachbarschaft verbindenden Haupt-
blutgefäße durch direkte Naht mit den Blutgefäßen
der neuen Stelle zu vereinigen, um so durch eine
schneller einsetzende Blutzirkulation in dem neu
verpflanzten Gewebe dessen vorzeitiges Absterben
zu verhindern. Nun erfordert aber die Ausführung
dieser Gefäßnaht einmal eine ganz ausgezeichnete
Technik, sodann aber die Einhaltung einer absolut
einwandfreien Asepsis (d. i. Keimfreiheil), die weit
über den Rahmen der sonstigen Operationen
hinausgeht.
Man hat nun bei Überpflanzungen zu unter-
scheiden: I. die autoplastischen Transplantationen
(d. i. Überpflanzungen von einzelnen Organteilen
bei demselben Menschen), 2. die homoioplastischen
Transplantationen (das sind Überpflanzungen von
Organen oder Teilen desselben auf Lebewesen
derselben Art also zum Beispiel von Mensch zu
Mensch, oder Hund zu Hund) und endlich 3. die
heteroplastischen Transplantationen (das sind Über-
pflanzungen auf Geschöpfe verschiedener Art also
zum Beispiel von Affe auf Mensch, von Katze auf
Hund u. a. m.). Die praktischen Ergebnisse dieser
äußerst interessanten Forschungen, die, wie ich
bemerken muß, bislang hauptsächlich bei Tieren
experimentell erprobt wurden, während vom
Menschen nur spärliche Berichte vorliegen, sind
kurz folgende:
1. Autoplastische Transplantationen sind mit
Erfolg bei Tieren und Menschen ausgeführt worden.
Die besten Resultate lieferten Nierenverpflanzungen,
daneben auch solche der Schilddrüsen und der Milz.
2. Homoioplastische Transplantationen ge-
langen, wenn auch nicht so sicher ebenfalls, und
zwar sind es wieder die Nieren, die ein dankbares
P'eld dafür bieten. Bei Schilddrüsenverpflanzungen
waren die Erfolge nicht so gute wie bei auto-
plastischen.
3. Heteroplastische Überpflanzungen gelangen
in keinem Falle.
Die praktische Seite dieser Forschungen wird
klar, wenn man sich die Perspektiven vor Augen
hält, die sich eröffnen, wenn es gelingen würde
zum Beispiel schwer nierenkranken Menschen durch
Einpflanzung neuer Nieren, sterilen (unfruchtbaren)
Frauen durch Einsetzung neuer Ovarien den Zu-
stand zu bessern. Dr. med. Carl Jacobs.
192
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 12
Bücherbesprecliungen.
Dr. Vittorio Benussi, Psychologie der Zeit-
auffassung. Mit 36 Figuren und 60 Dia-
grammen im Text. Rand 6 der Psychologie
in Einzeldarstellungen, herausgegeben von H.
Ebbinghaus f und E. Meumann. X und
581 S. Heidelberg 191 3, Carl Winters Universitäts-
buchhandlung. — Preis geh. 9 Mk., geb. 10 Mk.
Die von Winters Universitätsbuchhandlung
herausgegebene Bibliothek der Psychologie in
Einzeldarstellungen ist durch ein Werk bereichert
worden , das in mustergültiger Weise auf Grund
eines außerordentlichen Beobachtungsmateriales
das vielleicht schwierigste aller psychologischen
Probleme, das Zeitproblem, nach den verschie-
densten Richtungen hin behandelt. Der stattliche
Band verlangt wohl einen aufmerksamen, geduldi-
gen Leser, hinterläßt aber, da er nach jedem
größeren Abschnitte einen wohldisponierten Rück-
blick enthält und bei Vermeidung alles Über-
flüssigen durchweg klar und gewandt geschrieben
ist, einen nachhaltigen Eindruck. Besonders wird
den Philosophen der Abschnitt über die Prove-
nienz der Zeitvorstellung interessieren, der zwar
nicht zu bedeutsamen positiven Ergebnissen führt,
aber um so gründlicher die Schwierigkeiten auf-
deckt, mit der die Zeitanalyse zu kämpfen hat.
Wir wünschen dem Buche weiteste Verbreitung.
Angersbach.
G. L. de Haas-Lorentz, Die Brown 'sehe Be-
wegung undeinigeverw andteErschei-
nungen. Bd. 52 der Sammlung „Die Wissen-
schaft". VI u. 103 Seiten. Braunschweig, Verlag
von Friedr. Vieweg u. Sohn, 1913. — Preis ge-
heftet 3,50 Mk., gebunden 4,20 Mk.
Über VVesen und Bedeutung der Brown 'sehen
Bewegung sind die Eeser der Naturwissenschaft-
lichen Wochenschrift bereits durch eine ausführ-
liche Darstellung (Bd. IX, S. 35 — 43, 1910) unter-
richtet, und es genügt daher, an dieser Stelle auf
die vorliegende kleine Schrift, eine etwas ergänzte
deutsche Ausgabe der holländischen Dissertation
der Verfasserin, als auf eine Arbeit wesentlich
theoretisch-mathematischen Charakters hinzuweisen.
In der Tabelle auf Seite 39 des Büchleins ist der
im Deutschen kaum verständliche Ausdruck ,,Ureum-
lösung" durch den Ausdruck ,, Harnstofflösung" zu
ersetzen. Werner Mecklenburg, Clausthal i. H.
Anregungen und Antworten.
Herrn F. Iringer, Naumburg a. d. S. Die Stellung der
Wissenschaft gegenüber den Kugelblitzen ist zunächst einmal
dadurch gegeben, daß sie heute an die Wirklichkeit der Er-
scheinung glaubt. Mit zunehmender Verbreitung physikalischer
und besonders meteorologischer Vorbildung sind mit der Zeit
so viele naturwissenschaftlich klar gefaßte Beschreibungen ge-
sehener Kugelblitze bekannt geworden, daß jetzt umgekehrt
ein Zweifel erst zu begründen wäre, /war ist ein objektiver
Beweis ihres Bestehens, d. h. eine Photographie noch nicht
gelungen, doch liegen Messungen, oder besser gesagt, objektive
Schätzungen über F.igengeschwindigkeit, Größe, Höhe über dem
Erdboden u. dgl. vor, und schließlich gibt es eine ganze Anzahl
deutlicher Photographien der wohl nah verwandten Perlschnur-
blitze.
Dazu kommt, daß man, vor allem durch die Laboratoriums-
Studien von A. T o e p 1 e r , Dresden, über leuchtende Entladungen
in freier Luft über die physikalischen Vorgänge der Blitzbildung
Vorstellungen gewonnen hat, die den wahren Verhältnissen
bei der Blitzenlladung wohl sehr nahe kommen. Es kann hier
nicht näher auf die so entstandene Tiicorie vom Blitz einge-
gangen werden, doch sei bemerkt, daß das Typische darin
liegt, daß der Ausgleich der Elektrizitäten zwischen einem guten
Leiter (Erde) und einem Halbleiter (Wolke) stattfindet. Je nach
der durch die Umstände gegebenen Möglichkeit, im Halbleiter
rasch oder langsam Elektrizitätsmengen zuführen zu können,
richtet sich die Form der Entladung (Funke, Gleitfunke, Büschel-
licht, Büschellichtbogen u. a. m.). Ist der Elektrizitätszufluß
sehr gleichmäßig, so entstehen im Laboratorium geschichtete
Entladungen, denen in der Natur die Perlschnurblitze entsprechen
werden, bei nahezu kontinuierlichem Zufluß bildet sich im Labo-
ratorium nur eine einzige leuchtende Masse, deren Widerspiel
in der Natur der Kugelblitz sein wird. Künstliche Nachahmun-
gen des Kugelblitzes hat schon Plante gemacht, sowie
F. V. Lepel. Für eingehendere Fragen verweise ich aui
A. Toeplers .Arbeit zur Kenntnis der Kugelblitze in der
Meteorologischen Zeitschrift d. J. igoo; auch das Lehrbuch
der Physik von MüHer-l'ouillet, 10. Aufl., wird im Kapitel über
l'rdelektrizität sich mit den Blitzen im Rahmen der gesamten
Luftelektrizität eingehend befassen. A. Nippoldt.
Herrn Dr. R. H., Berlin-Friedenau. — Beruht das Lispeln
(Anstoßen mit der Zunge) lediglich auf einer schlechten An-
gewohnheit oder auf physiologischen Ursachen, und gibt es
Mittel, um bei Kindern die üble Gewohnheit zu vertreiben?
Lispeln (= mangelnde Fähigkeit oder totale Unfähigkeit, die
s-Laute zu bilden) ist streng von Stottern zu scheiden. Die
Aussprache des s ist verfälscht, es klingt gewöhnlich wie das
englische th. Diese falsche Lautbildung ist an jeder Stelle,
wo ein s-Laut gebildet werden muß. Die Zunge führt dabei
abnorme Bewegungen aus : sie hält einen falschen Laut. Das
weist darauf hin, die letzten physiologischen Ursachen nicht in
lediglich peripheren Verhältnissen des Sprechapparates (z. B.
ungünstige Zahnstellung, etwa Verschleppung einer verkehrten
Angewohnheit aus der Zeit des Zahnens, d. h. des Zahnwechsels)
zu suchen. Wohl die meisten der von mir behandelten Lispeier
hörten den richtigen Laut nicht, wenigstens zunächst nicht.
Das läßt an primäre Unvollkommenheiten der Gehörapparate
denken, die wenigstens eine Zeitlang bestanden haben mögen.
Die Behandlung ist nicht leicht durchführbar; sie besteht in
einer Verbindung von mechanischen und Hörübungen.
Dr. Th. Hoepfner-Eisenach.
(„Professor Rudolf Denhardts Sprachheilanstalt").
Literatur.
Bart hei, Dr. Ernst, Die Erde als Totalebene. Hyper-
bolische Raumtheorie, mit einer Voruntersuchung über die
Kegelschnitte. Mit Abbildungen. 1 10 S. Leipzig '14, O. Hill-
mann. — 2,50 Mk.
Inhalt; Albert Koch: Die modernen wissenschaftlichen Forschungen über die Entstehung und willkürliche Bestimmung
des Geschlechts. Günther Bugge: Künstliche Seide aus Zellulose. — Einzelberichte: P. Magnus: Der F.ichen-
mehltau auf amerikanischen Eichen. Störmer und Birkeland: Studium des Nordlichtes. F. v. Luschan: Anthro-
pologische Untersuchungen auf der Insel Kreta. L. Edinger und B. Frischer: Ein Mensch ohne Großhirn. Gustavo
Mode na: Totales Fehlen des Gehirns und Rückenmarks. Bugge: Ein neues Kohlenoxyd. St ei nach: F"eminierung
von Männchen und Maskulierung von Weibchen. — Kleinere Mitteilungen: P. Martell: Geschichtliche Notizen zur all-
mählichen Vervollkommnung der Tinte. Stich: Über den heutigen Stand der Organtransplantationen. — Bücher-
besprechungen: Vittorio Benussi: Psychologie der Zeitauffassung. G. L. d e H a as - Lo r e n tz : Die Brown'sche
Bewegung und einige verwandte Erscheinungen. — Anregungen und Antworten. — Literatur: Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Mi ehe in Leipzig, Marienstraße na, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d, S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Keihe 2g. Band.
Sonntag, den 29. März 1914.
Nummer 13.
Das Problem der Elberfelder Pferde und die Telepathie.
[Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. H.
Nachdem ich die rechnenden Pferde des Herrn
Krall zu vier verschiedenen Malen — insgesamt
neun Tage — beobachtet habe, bin ich in dieser
Frage vorläufig zu einem Abschluß gekommen,
da meine Zeit und die vorhandenen Umstände es
mir nicht gestatten, dieses Problem in gleich inten-
siver Weise weiter zu verfolgen.
Ziehe ich das Fazit aus meinen bisherigen Ein-
drücken, so muß ich sagen, daß meine beim ersten
und zweiten Besuch (Ende 191 2) gewonnenen An-
sichten sich im ganzen nicht verändert haben. ^)
Leider hatte ich bei sämtlichen Besuchen mit zum
Teil stark indisponierten Tieren zu tun, so daß
meine Eindrücke nicht die besten sein konnten
und daher nur ein Teilgebiet umfassen, da ich
z. B. keinerlei befriedigende „spontane" Äußerungen
der Pferde erlebte. Wenn ich daher im nach-
folgenden etwas abweichende Ansichten äußere,
abweichend von dem Urteil anderer Beobachter,
die durch die Umstände mehr begünstigt waren,
so ist diese meine persönlichen Erfahrungen ein-
schränkende Sachlage wohl zu beachten.
Es kommt hinzu, daß ich mein Hauptaugenmerk
bei den beiden ersten Besuchen (6 Beobachtungs-
tage) lediglich darauf richtete, festzustellen, ob die
Pfungst'sche Hypothese der unbewußten opti-
schen Zeichengebung das vorliegende Problem löse
oder nicht. Ich kam zur Ansicht, daß diese Hypo-
these nicht ausreiche, die Leistungen der Pferde
zu erklären und verweise auf das blinde Pferd
„Berto" '), dessen vollkommene Blindheit übrigens
keinem Zweifel unterliegen kann. Aber auch mit
einer bewußten Zeichengebung kommt man nicht
durch das ganze Problem hindurch. '") Der
Krall'schen Hypothese einer menschlichen Intel-
ligenz bei den Pferden vermag ich nicht zuzu-
stimmen. ')^) Ich habe das ausführlich in meiner
erwähnten kleinen Broschüre auseinandergesetzt.
Ich kam ferner zur Überzeugung, daß ein Aus-
rechnen im gewöhnlichen Sinne bei den schwierig-
sten Aufgaben (Wurzelziehen) nicht vor sich geht,
daß man hier vorläufig vor einem „Rätsel" steht,
dessen Lösung, „falls fortgesetzte Beobachtungen
nicht einen einfacheren Weg finden lassen" \),
vielleicht auf einem bei den Pferden vorhandenen
„Rechensinn" (Zahlensinn) beruht, der mit eigent-
licher Intelligenz nichts zu tun hat. ^) Feinden wir
') Vgl. ,, Meine Erfahrungen mit den ,, denkenden" Pferden".
Jena 1913, 48 S. m. 5 Textfig. , wie auch diese Zeitschrift
Nr. 16 u. 17, 1913.
'") Büttel- Reepen , Tierverstand und Abstammungs-
lehre. Biol. Centralbl. Bd. 33, p. 512 — 515. Erlangen 1913.
^) Arch. f. Rassen- u. Gesellschaftsbiologie. 1913, p. 77t-
von Buttel-Reepen.
ihn doch auch bei geistig Minderwertigen und Ver-
blödeten."'')
Sehr merkwürdig erscheint es, daß dieser
Zahlensinn bei einigen Rechenkünstlern (z. B. bei
Richard Whately, Zerah Colburn u. a.)
mit den Kinderjahren ,,mit der Zunahme der In-
telligenz — bei fortschreitender allgemeiner Bil-
dung — wieder verschwindet, hier also gewisser-
maßen in Gegensatz zur Intelligenz tritt". ^) In
einer jüngst erschienenen Arbeit "") befaßt sich
V. Maday — ein Gegner Krall 's — mit diesen
Verhältnissen und zieht daraus einige forcierte
Schlüsse. Er meint, „wenn sich Rechentalent und
Intelligenz tatsächlich nicht vertrügen, so müßten
die Angeführten in ihrer Jugend beschränkt und
erst später intelligent gewesen sein, was jedoch
nicht berichtet wird". Es wäre doch denkbar,
daß anscheinend neben der Intelligenz diese be-
sondere Rechengabe einhergeht, die unter uns
unbekannten Umständen sogar wieder ausnahms-
weise verschwinden kann, ohne die eigentliche
Intelligenz anscheinend zu tangieren. Mit dem
Worte ,, gewissermaßen" soll eben nur dar-
getan werden, daß es sich um eine nebenläufige
F"ähigkeit handelt, die mit der Intelligenz nicht
direkt verknüpft zu sein braucht, es handelt sich
gewissermaßen nur um einen Gegensatz.
V. Mäday gibt dann zu, daß „jene Ansicht ge-
stützt wird durch die Tatsache, daß es Rechen-
künstler gibt, die unintelligent, ja solche, die
schwachsinnig, idiotisch sind und sonst gar keinen
Beweis einer auch nur niedrigen Intelligenz liefern".^'')
„Aber", sagtv.Maday weiter, „daraus, daß einer,
der sonst dumm ist, nur das eine kann, zu schließen,
daß dieses eine so leicht oder einfach sei, daß es
jeder Idiot trifft — was gar nicht stimmt! —
dies ist ein offenbarer Fehlschluß". Ich jedenfalls
habe niemals behauptet, daß „jeder Idiot" ein
Rechenkünstler sei. Es scheint mir, daß man
mit derartigen „Fehlschlüssen" dem eigentlichen
Problem aus dem Wege geht. Tatsache ist, daß
gewisse Idioten Rechenkünstler sind, — ob diese
Gabe eine „leichte" oder „schwierige", darüber
habe ich mich nie geäußert — und daß sie
zweifellos ihre eigenen Methoden dabei haben
(s. a. Claparede). ^) Wenn v. Mäday meint:
„das Erfinden von neuen Verfahrungsweisen"
') Vgl. auch Ed. Claparede, Les Chevaux Savants
d'Elberfeld. Arch. Psych. T. 12. Nr. 47. Genive 1912;
siehe auch „Tierseele". Heft 1/2. i. Jahrg. Bonn 1913.
'") Stefan v. Mäday, Die Fähiglccit des Rechnens
beim Menschen und beim Tiere. Z. f. angew. Psych. Bd. 8,
p. 204—227, 1913.
194
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 13
(Methoden) „gelte aber auf der ganzen Welt als
die Blüte der geistigen Tätigkeit", so wäre der
logische Schluß, daß die hier in Betracht kommen-
den jeglicher Intelligenz baren Idioten trotzdem
hochintelligente Leute seien. Sollte hier nicht
ein „Fehlschluß" vorliegen ?
Bei den Pferden findet ein Wurzelziehen im
umfassenden Sinne übrigens nicht statt, es han-
delt sich ausschließlich um das Radizieren rest-
loser Potenzen.*)
Was nun die sog. „unwissentlichen Versuche"
anbetrifft, also Aufgaben, die nur dem Pferde sicht-
bar sind, oder deren Lösung keinem der Anwesen-
den bekannt ist, so sehen wir, daß derartige Ver-
suche, obgleich schon viele derselben, und soweit
sich ersehen läßt, mit günstigem, einwandfreiem
Erfolge gemacht wurden, mit einigem Widerstreben
zugelassen werden. So heißt es in Heft 3 der
unter ■*) angezogenen „Mitteilungen": ,, Andererseits
sind an Herrn Krall auch mancherlei unbrauchbare
Vorschläge gekommen, welche abgelehnt werden
mußten". Es wird dann ein Vorschlag angeführt; hier-
auf heißt es: „Andere Psychologen wollten die Auf-
gaben aus einem Mechanismus herausspringen
lassen, so daß bei der Stellung derselben jede per-
sönliche Beziehung ausgeschaltet wäre. Dieser
Vorschlag ist ebensowenig brauchbar, wie wenn
jemand in einer Schule den Lehrer durch einen
Mechanismus ersetzen wollte". Dieses Argument
erscheint unriclitig. Es handelt sich ja bereits
um erzogene Pferde und es ist zweifellos, daß in
der Rechenkunst einigermaßen bewanderte Schüler
eine Aufgabe ebensogut lösen, gleichviel, ob sie
von dem Lehrer an die Tafel geschrieben wird,
oder ob sie durch einen Mechanismus sichtbar ge-
macht würde. Vielleicht hat aber etwas anderes
ausgedrückt werden sollen. Es ist nämlich eine
eigentümliche Tatsache, daß Kinder z. B. einen
Buchstaben, der ihnen aus der P'ibel neu beigebracht
wurde, nicht sofort mit absolut demselben an der
Tafel oder an anderen Orten vorgezeigten Buch-
staben zu identifizieren vermögen. Immerhin lernen
Kinder das sehr schnell. Auch dem Erwachsenen
kann es passieren, daß er z. B. eine gewisse Per-
sönlichkeit, trotzdem sie sich äußerlich nicht im
Geringsten verändert hat, in anderer Umgebung
nicht wiedererkennt. Es handelt sich in diesen
Fällen offenbar nicht um ein deutliches Aufnehmen
von Einzelheiten, sondern um das Auffassen von
Situationskomplexen, die ihre besonderen Quali-
täten haben.
Das in bezug auf die Pferde gezeigte Wider-
streben muß aber doch wohl auf der Erfahrung
beruhen, daß die Pferde bei derartigen Mechanis-
men versagen resp. derartige Schlüsse einfacher
Art nicht zu machen verstehen, denn sonst wäre
die Ablehnung nicht verständlich. Immerhin muß
man mit einer Beurteilung dieser ganzen Aneelegen-
*) Vgl. auch H. E. Ziegler, Über das Angeben der
Grundzahlen zu Potenzzahlen. Mitt. d. Gesellsch. f. Tierpsych.
Nr. 2. I. Jahrg. 19 13. Redaktion: Prof. H. E. Ziegler,
Stuttgart, Ameisenberg 26.
heit sehr vorsichtig sein, wir kennen die i'ferde-
psyche — trotz aller neuen Erkenntnisse — recht
wenig.
Meine „skeptische Grundstimmung" ') klingt
aber noch immer bei diesen ,, unwissentlichen"
Versuchen an.
Andererseits glaube ich, soweit es bei den in
Elberfeld gegebenen Verhältnissen möglich er-
scheint, aus den sonstigen Leistungen festgestellt
zu haben, daß wir nicht umhin können, den Pferden
eine gewisse Intelligenz, ein gewisses begriffliches
Denken, ein Zählvermögen und ein ausgezeichnetes
Gedächtnis zuschreiben zu müssen, das aber wahr-
scheinlich der Auffrischung, wenigstens soweit
Zahlen in Betracht kommen, häufig bedarf. Hier-
mit wäre schon sehr Bedeutsames gegeben.
In bezug auf das Buchstabieren habe ich die
Erkenntnis gewonnen, daß die Buchstabentabelle *),
die den Pferden stets sichtbar aufgehängt ist, über-
flüssig sein dürfte. Die Pferde klopfen, wie mir
auch der vielgenannte Pferdepfleger
Albert bestätigte, die Buchstaben auch ohne
daß die Tafel dort hängt. Man muß also, wenn
man eine Zeichengebung ablehnt, annehmen, daß
die Pferde die ganze sehr verwickelte Tabelle im
Kopf haben! Hier dürfte eine weitere Forschung
zu prüfen haben.
Bei meinem dritten Besuch in Elberfeld
(30.31. Okt. V. ].), der ein mehr zufälliger war,
stand ich überhaupt unter dem vielleicht unrich-
tigen Eindrucke, daß alles Geleistete auf Gedächtnis-
prozesse zurückgeführt werden könne, welches
Urteil aber nur auf das an jenen Tagen von den
wenig willigen Pferden Vorgebrachte zu beziehen
ist. Ich äußerte mich in diesem Sinne einem an-
wesenden Herrn gegenüber. Herr Krall war ab-
wesend. Als ich mich etwas später an den Pferde-
pfleger Albert wandte mit der Frage, wie er
über die Leistungsfähigkeit der Pferde im allge-
meinen dächte, sagte er ungefähr wörtlich: „Ich
denke wie Herr Professor darüber". „Wieso?" ent-
gegnete ich. ,,Ja, ich glaube, daß es Gedächtnis-
leistungen sind", ,, allerdings", so fügte er plötzlich
zögernd und überlegend hinzu, „lösen sie ja auch
unbekannte Aufgaben". Es ist immerhin von In-
teresse, die Ansicht des Pferdepflegers, der seit
3 Jahren bei den Pferden ist, kennen zu lernen.
Nun mag man vielleicht mit Recht derartigen
Äußerungen eines einfachen und nicht sehr ge-
bildeten Mannes wenig Gewicht beilegen. Ich er-
wähne diese Äußerung aber aus dem Grunde, weil
ich weiterhin die Erkenntnis gewonnen habe, daß
nicht Herr Krall, sondern Albert die „Autori-
tätsperson" bei den Pferden ist! Die Verhältnisse
liegen hier also umgekehrt wie bei dem „klugen
Hans". Das Problem \ereinfacht sich hierdurch,
wie mir scheint, ein wenig. Erwägt man eine
Zeichengebung, die ja dem Fernerstehenden stets
das Nächstliegende sein wird, so müßte man schon
annehmen, daß Albert — man bedenke die schwie-
rigen Wurzelaufgaben — ein Rechenmeister ersten
Ranges wäre und dabei ein beispiellos geschickter
N. F. XIII. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
195
Dresseur. Wie dem auch sei, es erscheint jeden-
falls sehr unwahrscheinlich, daß Herr Krall ge-
rade zufällig solch ein ungebildetes Genie als
Stallburschen gefunden hätte. Dann sind auch
viele Wurzelaufgaben in ,, Abwesenheit"*) des
Pferdepflegers geglückt, des weiteren konnte bisher
von zahlreichen wissenschaftlichen Forschern keiner-
lei Zeichengebung irgendwelcher Art entdeckt
werden und überdies unterschrieb mir Albert
folgende Bescheinigung:
„Ich, Endesunterzeichneter, erkläre hierdurch an
Eidesstatt, daß ich nicht imstande bin, die zweiten
bis fünften Wurzeln aus mehrstelligen Zahlen, wie
sie insbesondere durch das Pferd Muhamed zur
Lösung gebracht werden, im Kopfe auszurechnen,
noch daß ich jemals den Pferden des Herrn Krall
in der Weise bei der Lösung der ihnen gestellten
Aufgaben behilflich gewesen bin, daß ich Zeichen
gegeben habe.
Elberfeld, im Dezember 191 3.
gez.: Albert Bühren.
Diese Erklärung ist immerhin von Interesse.
Vielfach — namentlich durch Prof. Dr. H. E.
Ziegler — ist auch darauf hingewiesen worden,
daß eine Zeichengebung außerordentlich erschwert
ist durch das eigenartige Klopfen der Pferde.
Bei einer dreistelligen Lösung müßten beispiels-
weise 3 — 4 Zeichen gegeben werden, da die Einer
mit dem rechten, die Zehner mit dem linken und
die Hunderter wieder mit dem rechten P"uß ge-
klopft werden, und schließlich müßte ein Schluß-
(Aufhör-)Zeichen stattfinden, das eventuell mit dem
dritten Zeichen zusammenfiele.
Da nun aber Albert „Autoritätsperson" bei
den Pferden ist, liegt, wie gesagt, eine gewisse
Vereinfachung des Problems darin, daß Herr Krall
in der gegenwärtigen Lage völlig ausscheiden
kann. Es ist tatsächlich irrelevant, ob Herr Krall
jetzt bei den Pferden anwesend ist oder nicht,
nicht so liegt die Sache bei Albert, dessen An-
wesenheit oder Nähe namentlich bei „Unlust" und
„Bockigkeit" der Tiere nicht gut entbehrt werden
kann. Hier liegen Richtlinien für die weitere Er-
forschung des Problems.
Wie schon Cl aparede '') betonte, ist ein das
wissenschaftliche Gewissen völlig befriedigendes
Arbeiten unter den in Elberfeld gegebenen Ver-
hältnissen oft nicht möglich. PZs müßten noch
bessere — Verdachtsmöglichkeiten ausschließende
— Vorkehrungen getroffen werden. Es sollte
beispielsweise, wie das schon mehrfach öffentlich
betont wurde, ein Vorhang angebracht werden,
hinter den der Pferdepfleger zu treten hätte, wenn
seine Anwesenheit nun einmal als Autoritätsperson
zuzeiten vonnöten ist u. a. m.
Bezüglich einer Zeichengebung gebe ich hier
*) Ob das auf den Hof schicken eine wirkliche „Ab-
wesenheit" bedeutet, bedürfte wohl noch weilerer Feststellun-
gen ; in manchen Fällen war es jedenfalls genügend.
^) „Encore les Chevaux d'Elberfeld". Arch. de Psycho-
logie. Vol. 13. p. 244 — 284. Geneve 1913.
noch folgende persönliche Erfahrungen aus un-
veröffentlichten Protokollen.
30. Okt. 191 3. Der blinde „Berto" wird von
Herrn Krall gefragt: „Wieviel ist sechs hoch
zwei? Nur mit dem rechten Fußl!" Während
die Lösung auf dem normalen Wege (Erledigung
der Einer mit dem rechten und der Zehner mit
dem linken F'uß) nur ein geringfügiges Klopfen
erfordert, so schließt dieser Befehl eine „Pferde-
gedulds"-Probe ein. Sowie Berto mit dem Klopfen
beginnt, steht man unter dem zwingenden
Eindruck: das Pferd weiß, daß es ein vielmaliges
Klopfen gilt!, denn die Schläge erfolgen schnell,
mehr gewischt, da der Huf nur wenig gehoben
wird. Ohne Irrtum eilt Berto bis zum letzten
Schlag (36), der mit besonderer Wucht er-
folgt! Das Betonen des letzten Schlages wurde
schon häufig beobachtet ! Dieses ganze höchst
charakteristische Verhalten des vollkommen blinden
Pferdes wird unverständlich, wenn man eine
Zeichengebung annimmt. Das Pferd stand allein
in der Box. Eine Berührung war ausgeschlossen.
Akustische Signale wurden trotz größter Auf-
merksamkeit nicht bemerkt.
31. Okt. 191 3. Krall ist verreist. Albert
steht auf dem Hofe; Häuschen steht in der Box.
Ich bemerke aus dem Protokoll nur, daß ich von
zwei richtigen unter einer Anzahl von falschen
Antworten mit größter Sicherheit behaupten kann,
daß diese richtigen Resultate nicht durch eine
Zeichengebung von selten des Pferdepflegers be-
wirkt werden konnten, da es dem sehr kleinen
Pony (Rückenhöhe 92 cm) gar nicht möglich ist,
Albert zu sehen, der, wie erwähnt, auf dem Hofe
steht. Man vergleiche hierzu auch die gleichartigen
Erfahrungen Dr. H. Haenel's*) und verschiedener
anderer Beobachter. Im übrigen muß ich auf
meine Broschüre verweisen. Die Ansicht, daß
einige wenige richtige Antworten unter einer grö-
ßeren Anzahl von falschen, wie bei den eben er-
wähnten von Hänschen, nichts Beweisendes hätten,
da sie auf einem Zufall beruhen könnten, widerlegt
H. E. Z i e g 1 e r treffend. ') Eine unbewußte Zeichen-
gebung meinerseits erscheint ausgeschlossen , da
ich hinter dem Pferde stand.
Einer merkwürdigen Unklarheit begeg-
net man des öfteren noch in der Zurhilfenahme
der Telepathie in bezug auf eine Lösung der Pferde-
Frage. Es kommen hier in erster Linie die reinen
Gedankenübertragungen in Betracht, im weiteren
auch die mediumistischen Vermittlungen. Ganz
neuerdings ist es Maeterlinck, der nach dieser
Seite hinüberneigt. Auch Dr. R. A. Reddingius
beschäftigt sich ausführlich hiermit.*) Es sei mir
^) „Eine Prüfung der Elberfelder Pferde". Mitt. d. Ges.
f. Tierpsych. Nr. 3. 1913. Derselbe, Neue Beobachtun-
gen an den Elberfelder Pferden. Z. f. ang. Psych. Bd. 8,
Heft 3/4, 1914, p. 193—203.
'J ,, Falsche Statistik". Mitt. d. Ges. f. Tierpsych. Nr. 4.
1913-
") „Het probleera van de onderwezen dieren en de tele-
pathie." Handelsblad v. 6. Janr. Amsterdam 1914.
IQÖ
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 13
gestattet, hier in Kürze einige Äußerungen wieder-
zugeben, die ich an abseits liegender Stelle als
Entgegnung gab "), indem ich mich auf das eigent-
liche Gedankenübertragen beschränke. Ich bin
der Ansicht, daß es psychologisch unrichtig
ist, hier überhaupt telepathische Phänomene zur
Erklärung heranzuziehen, ganz abgesehen davon,
daß selbst zwischen Mensch und Mensch eine
wirkliche, ganz einwandfreie Gedankenübertragung
bisher meines Wissens noch nicht konstatiert werden
konnte. Man muß sich über die Vorbedingungen,
die eine Gedankenübertragung überhaupt ermög-
lichen können, klar werden. Eine „drahtlose"
Übertragung ist nur zwischen zwei oder mehreren
gleichartigen und gleichwertigen Systemen mög-
lich. Pferdehirn und Menschenhirn sind nun aber
doch sehr verschieden. Wäre es möglich, Ge-
danken in ein Pferdehirn zu projizieren, so müßten
die gegebenen Impulse im Pferdehirn die gleichen
Gedanken, d. h. alle die notwendigen adäquaten
N e r V e n p r o z e s s e mit ihren Folgeerscheinungen
auslösen. Mit anderen Worten: das Empfangshirn
im Pferdeschädel müßte dem menschlichen Sende-
hirn gleichartig und gleichwertig sein, sonst wäre
es eben nicht imstande, die gleichen Impulse auf-
zunehmen und gleich artig zu verwerten. Nimmt
man aber diese Möglichkeit an oder ist gar fest
davon überzeugt, so wäre der Fall erledigt, das
Pferd wäre eben ein Mensch. — —
Man könnte hier einwenden: das Pferd rechnet
aber doch leichte und schwierige Aufgaben richtig
aus. Es kommt also zu denselben Resultaten wie
der Mensch wenn auch anscheinend nur in dieser
Hinsicht. Es wäre immerhin möglich, daß wenig-
stens hier adäquate Prozesse vor sich gingen. —
Nun ist aber gerade die Hypothese einer tele-
pathischen Einwirkung aufgetaucht, weil man der
Überzeugung war, daß die Pferde nicht rechnen
wie wir oder daß sie überhaupt nicht rechnen
können. Da sie nun aber richtige Lösungen pro-
duzieren , erschien diese Leistung nur erklärlich
durch eine telepathische Vermittlung der ferti-
gen Lösungen. Derartige Hypothesen erscheinen
aber aus den vorerwähnten Gründen nicht ernst-
lich diskutierbar.
Von Interesse ist, daß die Pferde in der letzten
Zeit immer schlechter arbeiten (s. a. Haenel,
1914). Ebenso wie der „kluge Hans" ausgeschie-
den werden mußte, sind zwei weitere Pferde, die
längere Zeit unterrichtet wurden, wie auch der
Elefant „Kama", abgeschafft worden. Unlängst
wurde aus gleichem Grunde der vielgenannte
„Zarif aus dem LJnterricht genommen. Er wird
jetzt geritten. Auch ,,Muhamed" versagt mehr
und mehr. Der König von Württemberg sandte
an Krall drei Araberhengste, denen aber trotz
ungefähr 6 wöchigem Unterricht nichts beigebracht
werden konnte. Es eignet sich also nicht jedes
Pferd zum Unterricht. Es sollen jetzt zum ersten-
mal Versuche mit weiblichen Pferden gemacht
werden. Das alles spricht gegen eine Dressur.
Ein Zirkusdirektor hätte die Pferde gezwungen zu
Leistungen, die innerhalb der Dressurgrenze liegen.
Hier handelt es sich aber um anderes.
Auf die vielfachen Fragen, ob die jahrelang
unterrichteten so Erstaunliches leistenden Pferde sich
im Behaben verändert zeigen, ist zu antworten,
daß die Pferde sich anscheinend in gar nichts von
anderen Pferden mit denen viel umgegangen wird
und die daher eine gewisse Zutraulichkeit erwerben,
unterscheiden. Die Psyche erscheint unverändert.
Der Unterricht ist ihnen offenbar etwas Lästiges,
was namentlich auch Kindern sehr begreiflich
erscheinen dürfte.
Inzwischen genießt Herr Krall alle die Leiden
eines Entdeckers, der das Altgewohnte erschüttert
hat. Sein besonderer Kummer aber ist es, daß
die Wissenschaft ihn insofern bisher in Stich ge-
lassen hat, als sie alles seinen Schultern aufbürdet,
die die Last kaum noch zu tragen vermögen.
Vergebens war bisher sein Wunsch, daß man an
anderer Stelle gleichartige Unterrichtsversuche an
Pferden vornähme, um damit, das ist seine feste
Überzeugung, sehr bald seine Angaben in wirkungs-
vollster Weise zu unterstützen. HofTentlich geht
sein Wunsch bald in Erfüllung. ^^)
Auf die wunderbaren Leistungen des rechnen-
den Hundes „Rolfi'" der Frau Paula Moekel in
Mannheim gehe ich nicht ein, da ich ihn noch
nicht gesehen habe und mir daher kein Urteil
erlaube.
') „Het probleem der rekenende paarden en de tele-
pathie." Handelsblad v. 15. Janr. Amsterdam 1914.
"•) Man vgl. hierzu die ,, Aufforderung" in Heft 3 der
„Tierseele". Bonn, Verlag Emil Eisele, 1914.
Zur
Staiiiinesgeschiehte des Schildkrötenpanzers.
Von Dr. Heinrich Völker-Dicburg [Hessen).
Mit 8 Abbildungen.
[Nachdruck verboten.]
Nach dem Bau ihres Panzers zerfallen die heu-
tigen Schildkröten in zwei außerordentlich scharf
gesonderte und ungleich große Gruppen: Mosaik-
schildkröten oder Atheken und echte Schildkröten
oderThecophoren. Die Atheken werden nur durch
eine einzige lebende Art, die seltene Lederschild-
kröte (Dermochelys coriacea L.) vertreten (Fig. i).
Alle übrigen Vertreter der Ordnung sind Theco-
phoren.
Das mit sieben Längsk'ielen versehene Rücken-
schild der Lederschildkröte setzt sich aus einer
großen Anzahl von rundlichen oder vieleckigen
Knochenplättchen zusammen, die durch zackige
Nähte miteinander verbunden sind. Unter diesem
Knochenmosaik, aber vollständig getrennt davon,
liegen die Nackenplatte und die Rippen (Fig. 2).
Aiif dem Bauche finden sich oberflächlich fünf
N. F. XIII. Nr. 13
Naturwissenschaftliclic Wochenschrift.
197
Längszonen von Hautverknöcherungen und darunter
das aus acht paarigen Stücken bestehende Plastron
(Fig. 3).
Als ein besonders auffälliges Merk-
mal des At hekenpanzers mußalso seine
F"ig. I. Lederschildkröte (Dermochelys coriacea L.).
dem Rücken 5 Haupt- und 2 Nebenkiele. * Reste
Neljenkielpaares auf dem Halse.
(Umriß nach der J ae ck el'schen Figur.)
Auf
eines
\
Fig. 3. Lederschildkröte (Dermochelys coriacea L). Kombi-
nationsbild des thekalen Plastrons und der epithekalen Ver-
knöchcrungen der fünf Längskiele. Mittelkiele eine Doppel-
reihe von Verknöcherungen; I : 12. (Nach Völker, (1913), Zool.
Jahrbücher, Bd. 33, Tafel 30, Fig. 2.)
Fig. 2. Lederschildkröte (Dermochelys coriacea L). Rumpf-
wirbelsäule mit Rippen, Nackenplatte (Nu) und Rückenpanzer ;
m Elemente der Randkiele 1:12. Die schneidenartig verbreiter-
ten Rippen völlig frei vom Rückenschild. (Nach Völker, (1913),
Zool. Jahrbücher, Bd. 33, Tafel 30, Fig. I.j
3'
T
Fig. 4. Schematischer (Querschnitt durch den Panzer der
Lederschildkröte (Original). Auf dem Rücken der oberfläch-
liche Panzer sehr stark als Mosaik entwickelt, mit 7 Kielen
(543 I 345)1 ä"f ^^^^ Bauche nur schwach vertreten in
5 Längszonen (3' 2' l' 2' 3'). P Plastron, tiefere Panzerlage
der Bauchplatte. Ri Rippe. Die Punktierung des oberen
Randes soll andeuten, daß mit der Rippe möglicherweise noch
rückgebildete Rippenplattcn in Verbindung sind. (2) verloren
gegangener Längskiel des RUckenscliildes. In allen folgenden
Figuren ist die oberflächliche Panzerlage getont, die tiefere
punktiert.
198
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 13
Zusammensetzuiigauszweivollkommen
getrennten Knochenschichten bezeich-
net werden (Fig. 2, 3 u. 4).
Die Thecophoren (Fig. S u. 6) besitzen
im Gegensatz zu den Atheken eine aus
wenigen großen Knochentafeln ein-
schichtig zusammengesetzte, starre
Panzerkapsel, die äußerlich von großen
Hornschuppen abgedeckt wird. Auf der
Rückenseile finden wir zunächst am Vorderrande
eine Nackenplatte wieder und daran anschließend
längs der Mittellinie eine Serie großer Knochen-
tafeln, die wegen ihres Zusammenhanges mit den
Dornfortsätzen der Wirbel als Wirbelplatten (Neu-
ralia) bezeichnet werden. Die Hauptfläche des
Rückens bedecken mehrere Paare sehr großer
Rippenplatten (Costalia), und den Seitenrand bildet
eine Serie kleinerer, mit dem Innenskelett nicht
in Verbindung stehender Randplatten. Der Bauch-
teil des Thecophorenpanzers, der mit dem Rücken-
schild beiderseits durch eine Brücke verbunden ist,
setzt sich in der Regel aus neun großen Knochen,
einem unpaaren Mittelstück und vier ])aarigen
Teilen zusammen.
Die Grenzen der Hornschilder, welche sowohl
die Rücken-, wie Bauchfläche bedecken , fallen
bemerkensvyerterweise nicht mit den Nähten der
unter ihnen liegenden Knochentafeln zusammen,
eine Tatsache, die uns nochmals beschäftigen wird
(Fig. 5 u. 6).
b(3'i
Pl''i
Fig. 5. Scheraatischer QuerschniU der Panzermitte von Chelonia
(Thecophore). (Original.) W. Wirbelplatte, w Hornsclüld der
Wirbelzone (Wirbelschild). Kp. Rippenplatte. Ri. Rippe, ri Horn-
schild der Rippenzone (Rippenschild). Ra. Randplatte,
ra Randplattenhornschild. P Plastron, p Hornschild, s Bauch-
platte (Bauchschild), b Hornschild der Panzerbrücke. Die
eingeklammerten Zahlen deuten an, auf welche Kiele des
primitiven Panzers die Hornschuppen zurückzuführen sind.
Diese beiden so sehr verschiedenen Zustände
im Panzerbau der Schildkröten müssen sich nach
neueren Untersuchungen ^) aus einer gemeinsamen
Wurzel entwickelt haben. Es ergab sich nämlich,
daß die Ledersclüldkröte unbedingt mit den anderen
lebenden Seeschildkröten, den thecophoren Chelo-
niiden -) (vgl. Fig. 5) blutsverwandt sein muß.
') Vgl. des Verfassers Arbeit : ,,Über das Rumpf-, Glied-
mai3en- und Hautskelett von Dermochelys coriacea L." in:
Zool. Jahrbücher Bd. 33, p. 431— 552 (1913), ferner: L.Nick:
„Das Kopfskelett von Dermochelys L.", ebenda p. i — 238.
Das Hautskelett jener gemeinsamen Urform
(Fig. 7) bestand, wie noch deutlich bei der Leder-
schildkröte erhalten geblieben ist, aus zwei voll-
kommen unabhängigen Panzerlagen, einer ober-
flächlich gelegenen (epithekalen) und einer tiefer
im Bindegewebe verankerten (thekalen). Letztere
(5)
Fig. 6. Querschnitt durch Panzer einer Landschildkröte (etwas
scSematisiert). Original. Extrem der thecophoren Panzer-
entwicklung. Bezeichnungen wie in Fig. 5. Bei Rippen-
platten Rippenteil rudimentär.
5(ra)-
Fig. 7- Querschnitt durch den Panzer der hypothetischen
Stammform von Atheken und Cheloniiden (Thecophoren). Der
Panzer erinnerte mehr an den Zustand bei den Thecophoren,
als an denjenigen bei Atheken. Tiefere Panzerlage gut ent-
wickelt. Oberflächliche in Gestalt von 9 dorsalen und 5 ven-
tralen Längszonen von Hautverknöcherungen. Auf dem Rücken
5 Hauptkiele (schwarz) und 4 Nebenkiele, auf dem Bauche
2 Haupt- und 3 Nebenkiele. Mit oberilächlichem Panzer ein
Hornschuppensystem in Verbindung. (Bei jungen Lederschild-
kiöten in ähnlicher Weise vorhanden.) Die Panzerlagen sind
der Übersichtlichkeit halber weit auseinandergerückt angegeben.
war allem Anscheine nach verhältnismäßig stark
entwickelt und erinnerte ziemlich an den Zustand
bei den Thecophoren. Die oberflächliche stand
2) Hierzu gehören 4 Arten; die bekanntesten sind: die
Suppenschildkröle (Chelone mydas) und die echte Karette oder
Bissa (Chelone imbricata).
N. F. XIII. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
199
mit einem Hornschuppensystem in Verbindung und
war jedenfalls in Gestalt mehrerer Längszonen von
Hautverknöcherungen ausgeprägt. Als ursprüng-
liche Zahl dieser Längszonen muß man
auf dem Rücken neun annehmen; sieben
davon, der mittlere und jederseits drei, sind bei
der Lederschildkröte in den Rückenkielen noch gut
erhalten geblieben, zwei wurden bei dieser Form
jedoch, wie Verfasser gezeigt hat, bis auf einen
kleinen Rest auf dem Halsteil ') rückgebildet (vgl.
Fig. i). Auf dem Bauche waren vermut-
lich, wie bei der Lederschildkröte, aber
in besserer Ausbildung, fünf Längszonen
von Knochenplättchen vorhanden. Zu
diesen als ursprünglich anzunehmenden Zahlen-
verhältnissen der Längskiele bietet eine sehr wert-
volle Ergänzung der Befund an der Schwanzwurzel
einer Thecophore, Chelydra serpentina, was New-
man beschrieben, aber vollkommen falsch gedeutet
hat. Bei dieser Schildkröte finden sich nämlich
auf der Schwanzwurzel ^) alle Kiele, die bei der
Lederschildkröte auftreten, wieder: 9 dorsale und
5 ventrale. Nach der Größe der sie zusammen-
setzenden Schuppen lassen sie sich in Haupt- und
Nebenkiele ordnen, die miteinander abwechseln.
Übertragen auf die Verhältnisse bei der Leder-
schildkröte hätten wir auf dem Rücken 5 Haupt-
und 2 -\- (2) Nebenkiele und entsprechend auf dem
Bauche 2 Haupt- und 3 Nebenkiele zu unterscheiden.
Diese Gruppierung der primitiven Längskiele in
solche erster und zweiter Ordnung dürfte auch
noch aus einem anderen Befund gerechtfertigt sein,
der zugleich sehr wahrscheinlich macht, daß die
Hornschuppen tatsächlich mit dem Epithekalpanzer
in Verbindung standen: nämlich aus den Reihen-
verhältnissen der Hornsc huppenplatten bei
den Thecophore n. Es ist klar, daß bei ein-
tretender Rückbildung des Epithekalpanzers bei
den Vorfahren der Thecophoren die Nebenkiele
zuerst verschwinden mußten (vgl. Lederschildkröte,
Fig. i). Wenn Hornschuppen übrigblieben, werden
wir erwarten dürfen, daß sie zu Knochenelementen
der Hauptkiele gehörten. Nun haben wir aber
noch, was wir bei Chelydra und Dermochelys
fanden, dorsal 5 und ventral 2 Hauptkiele anzu-
nehmen und genau so viele Längsreihen von Horn-
schuppenplatten finden sich auf dem Thecophoren-
panzer. Unter diesem Gesichtspunkt wird auch
die eigentümliche Tatsache verständlich, daß die
Hornschuppen der Thecophoren durchaus nicht den
darunter liegenden Knochenplatten entsprechen ; bei-
de, die epithekalen Hörn- und die thekalen Knochen-
tafeln hatten ja ursprünglich nichts miteinander zu
tun. Die ursprünglich bei der Stamm-
form von Atheken undThecophoren vor-
handenen 14 Kiele zerfallen also in 5-|-2
Haupt- und 4+3 Nebenkiele. Die Horn-
') Daß diese Reste auf dem Halse nachgewiesen werden
konnten, braucht nicht zu überraschen, da bei den Vorfahren
der Schildljröten die Längszonen des Epithelcalpanzers auch
auf den Hals- und den Schwanzteil übergetreten sein müssen
(vgl. auch Krokodile ! und Fig. 8).
platten der Thecophoren sind h^rvor-
gegangen aus den Hornschuppen, die
ursprünglich mit Knochenelementen
der Hauptkieleverbunden waren. Wenn
Rückbildung des Epithekalpanzers ein-
trat, verschwanden zuerst die Neben-
kiele, wie die Thecophoren und die
Lederschildkröte zeigen.
Diese Längsreihen, die dorsalen so-
wohl wie die ventralen, bildeten jedoch
bei der Urform höchstwahrscheinlich
keinen geschlossenen Panzer, wie heute
bei der Lederschildkröte und spielten
überhaupt mit Ausnahme der Rand kiel-
elemente nur eine untergeordnete Rolle
bei der Bildung des Panzers.
Zu der eben . .
gegebenen Auf-
fassung von der
Zusammen-
setzung des Pan-
zers der Stamm-
form von Atheken
und Cheloniiden
wird man vor
allem auch durch
einige neuerliche
paläontologische
Befunde geführt,
z. B. bei Toxo-
chelys, besonders
aber bei Archeion
ischyros, einer
richtigen Theco-
phore, von der
zugleich auch ein
epithekaler Mit-
telkiel bekannt
ist. welcher über
typischen theka-
len Wirbelplatten
lag und aus gro-
ßen Elementen
bestand.
Wenn wir nun
nach der Ursache
fragen , welche
die verschiede-
nen, geradezu
entgegengesetzten Ausbildungsformen des Theco-
phoren- und Athekenpanzers bedingte, so werden
wir wohl ganz von selbst auf die Anpassungs-
bestrebungen kommen, welche aus den äußeren
Lebensverhältnissen sich ergaben , unter denen
jene Tiere heute leben oder in früheren Entwick-
lungsabschnitten ihrer Stammesgeschichte lebten.
DerThecophorenpanzer mußbetrach-
tet werden als eine ganz speziell e An -
passung an die Bedürfnisse landbewoh-
nender Tiere. „Für so schwerfällige und wehr-
lose Geschöpfe, wie es die ältesten Schildkröten
schon gewesen sein müssen, muß die Ausbildung
Fig. 8. Verlauf der ejjithekalen
Kückenkiele bei den Schildkröten-
ahnen. (Original.)
200
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 13
einer festen, aus großen, starr verbundenen Knochen-
platten zusammengesetzten Knochenkapsel, welche
auch noch Raum zum Schutze des Kopfes, Halses
und der Gliedmaßen bot, vorteilhaft gewesen sein;
die epithekalen Elemente waren von geringer Be-
deutung, verfielen der Rückbildung und sind meist,
mit Ausnahme der Marginalia (Randplatten) ver-
schwunden". Als ein besonders wichtiges Er-
gebnis der eingangs zitierten Arbeit muß hervor-
gehoben werden, daß die Randplatten der Theco-
phoren ihrer Herkunft nach nicht gleichwertig sind
mit jenen Hautkiiochen, welche in den Rippen und
Wirbelplatten des Thecophorcnpanzers enthalten
sind (Hg. 5 u. 6, Rp. u. W.), sondern als Homologa
der Dermochelysrandkiele zu der oberflächlichen
Panzerlage gehören. Die Knochenkapsel der
Thecophoren ist also ebenfalls ein Doppelpanzer,
entstanden durch Zusammenschluß epilhekaler und
thekaler Elemente, wobei aber die letzteren weit-
aus überwiegen.
Wenn nun bei den Atheken ganz gegen die
allgemeine Regel der Epithekalpanzer besonders
verstärkt worden ist, während der Thekalpanzer,
wie sich bei der Lederschildkröte nachweisen läßt,
in allen Stücken Rückbildung erfuhr, so müssen
wir uns sagen, daß hier ganz andere Bedürfnisse
vorgelegen haben müssen, als bei den Theco-
phoren. Es liegt nun auf der Hand, daß wir
für die eigentümliche Panzerentwicklung der
Atheken das Meeresleben dieser Tiere verant-
wortlich zu machen haben.
Die Lederschildkröte ist heute eine Hochsee-
form. Wie aber die fossilen Ichthyosaurier, Me-
triorhynchlden (Meerkrokodile), ferner auch die
Mosasaurier beweisen, die unter dem Einfluß des
Hochseelebens fast vollkommen nackthäutis se-
worden waren, geht Hand in Hand mit dieser
Lebensweise nicht Verstärkung, sondern im Gegen-
teil hochgradige Rückbildung eines etwa vorhan-
denen Hautskeletts. Zweierlei ergibt sich hieraus:
Die Lederschildkröte kann unter dem
Einfluß der Hochsee ihr Panzermosaik wohl kaum
erworben haben, und dieses muß unter dem Ein-
fluß des pelagischen Lebens neuerdings wieder in
Rückbildung begrifi'en sein. Durch diese beiden
Schlüsse finden aber einige Tatsachen eine sehr
einleuchtende Erklärung. Zunächst zum ersten
Punkt. Wenn nicht die Hochsee das Panzermosaik
geschaffen hat, kann es wohl nur in der Strandzone
entstanden sein. In diesem durch starken Wellen-
schlag gekennzeichneten Gebiet wäre auch die
Zweckmäßigkeit des Athekenpanzers verständlich,
indem er bei seiner hohen Elastizität der Gefahr
eines Bruches durch Wellenschlag weniger aus-
gesetzt war, als etwa der starre Thecophoren-
panzer und auch bei seinem Aufbau aus vielen
kleinen Knochenplättchen unterstützt durch eine
sehr zähe und dicke Lederhaut ein etwa ent-
stehender Bruch eine weniger ernste Beschädigung
bedeuten wird und besser heilen dürfte, als bei
einer Thccophore. Unmittelbar auf eine erfolgte
Rückbildung des oberflächlichen Dermochelys-
panzers — und damit kommen wir zu dem zwei-
ten Punkt — weist der Zustand desselben bei der
fossilen Atheke Psephophorus hin, eine Form, die
anscheinend noch nicht die skelettrückbildende
Einwirkung des Hochseelebens erfahren hatte, und
immer im Strandgebiet verblieben war. Bei dieser
Schildkröte war der Mosaikpanzer nicht allein auf
dem Rücken , sondern auch auf dem Bauche ge-
schlossen und erreichte eine Dicke von bis 10 mm
gegenüber i — 2 mm bei der Lederschildkröte. Im
Vergleich zu diesem Zustand bei Psephophorus
erscheint der Epithekalpanzer der Lederschild-
kröte tatsächlich stark rückgebildet nicht allein
auf dem Bauche, sondern auch auf dem Rücken.
P^unktionell ersetzt wurde er zum Teil durch die
ungeheuer dick gewordene Lederhaut, welche auf
dem Bauche bis 3 cm Dicke erreicht und auch
unter dem Rückenschild nahezu 2 cm dick wird.
Übrigens hat sich auch bei den Cheloniiden der
skelettrückbildende Einfluß des Hochseelebens Gel-
tung verschafft, was sehr deutlich aus dem L^mstand
hervorgeht, daß bei Thalassochelys erst im späteren
Alter, bei Chelonia sogar nie mehr die allmählich
nach den Seiten hin sich ausdehnenden Rippen-
platten bis an die Wirbelplatten herankommen (vgl.
Fig. 5 u. 6).
Die Cheloniiden (Thecophoren) und
die Atheken (Dermochelys) sind also
Zweige desselben Stammes, die anfangs
u nt er dem Ein flu ß verschieden erLebens-
weise gerade entgegen gesetzteWegeder
Panzerent Wicklung einschlugen. Wäh-
rend die Vorfaliren der Atheken schon frühzeitig
ins Meer und zwar zunächst in die Strandzone
gingen, wobei sie ihr Panzermosaik erwarben und
Hand in Hand damit den Thekalpanzer rückbilde-
ten, blieben die unmittelbaren Stammeltern der
Cheloniiden noch auf dem Lande oder im Süß-
wasser und entwickelten sich dabei zu Thecophoren.
Ihr Thekalpanzer erlangte weitaus das Über-
gewicht über das oberflächlich gelegene Epithekal-
skelett. Später aber wandten sich beide
Zweige, Cheloniiden und Dermochely-
iden, nachdem die ersteren vorher auch
eine Zeitlang in der Strandzone gelebt
hatten, gemeinsamen Lebensverhält-
nissen, derHochsee zu, und es läßt sich
auch erkennen, daß sie gemeinsam neuer-
dings den skelettrückbildende n Ein-
flüssen dieser Lebensweise unterworfen
gewesen sind.
N. F. XIII. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
201
Einzelberichte.
Chemie. Die Bestimmung des Schmelzpunktes
„refraktärer", d. h. sehr schwer schmelzbarer
Stoffe bietet erhebliche Schwierigkeiten. Diese
Schwierigkeiten liegen erstens in der Konstruktion
eines Ofens, der genügend hohe Temperaturen zu
erreichen und auf ein für die Versuche aus-
reichendes Gebiet innerhalb des Ofens konstant
zu erhalten gestattet, zweitens in der Wahl eines
geeigneten Gefäßmaterials, das selbst gegen hohe
Temperaturen widerstandsfähig ist und sich bei
diesen hohen Temperaturen chemisch indifferent
gegen die zur Untersuchung stehende Substanz
verhält, und drittens in der genauen Messung der
Temperatur. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten
erscheint es begreiflich, daß die Schmelzpunkte
selbst technisch wichtiger refraktärer Materialien,
wie sie etwa zur inneren Auskleidung von Ofen,
zur Herstellung der Elektrolytglühstifte (Nernst-
stifte) oder des Auerstrumpfes usw. verwendet
werden, nicht oder doch nur sehr unzureichend
bekannt sind. Daher verdient eine von C. W.
Kanolt im Bureau of Standards in Washington
ausgeführte Untersuchung über die Schmelzpunkte
einiger refraktärer Oxyde (Zeitschr. f. anorg. Chem.
Bd. 85, S. I — 19, 1914) sowohl in methodisch-
experimenteller Hinsicht als auch in Hinsicht auf
die erhaltenen Resultate allgemeinere Beachtung.
Zur Erhitzung der zu schmelzenden Substanzen
wurde ein Graphitwiderstandsofen benutzt, der
in ein evakuiertes Gefäß eingeschlossen wurde,
wodurch einerseits Wärmeverluste durch Leitung,
andererseits die Oxydation des Graphits vermieden
wurde. Die Messung wurde mittels eines opti-
schen Pyrometers vom Holborn-Kurlbaum-
Typus ausgeführt, durch das die in dem Ofen
befindliche Substanz direkt, aber natürlich unter
Zwischenschaltung von Absorptionsgläsern von
genau bekanntem Absorptionsvermögen anvisiert
wurde. Da die schmelzenden Substanzen im
Ofenloch als „schwarze Körper" wirkten , waren
sie selbst nicht sichtbar, ihr Schmelzen konnte
nicht mit dem Auge wahrgenommen, es mußte
vielmehr durch Aufnahme einer ,, Schmelzkurve"
festgestellt werden, d. h. es wurde beim Anheizen
des Ofens etwa alle 20 Sekunden die Temperatur
gemessen und die gemessenen Temperaturen
dann als Funktion der Zeit in ein rechtwinkliges
Koordinatensystem eingetragen : die Schmelzung
gibt sich dann dadurch zu erkennen, daß die zu-
nächst ganz kontinuierlich mit der Zeit erfolgende
Zunahme der Temperatur plötzlich infolge des
mit der Schmelzung verbundenen Wärmeverbrau-
ches der schmelzenden Substanz eine durch Tem-
peraturkonstanz gekennzeichnete Unterbrechung
erfährt, der dann, sobald die Substanz vollständig
geschmolzen ist, wieder die regelmäßige Zunahme
der Temperatur folgt; die sich während einiger
Zeit konstant erhaltende Temperatur stellt den
Schmelzpunkt der Substanz dar. Eine wesentliche
und bei früheren Versuchen nicht genügend be-
achtete Fehlerquelle bei den Temperaturmessungen
wurde durch Dämpfe hervorgerufen, die von den
zu schmelzenden Substanzen vor Erreichung des
Schmelzpunktes ausgingen, sich in den Raum
zwischen Substanz und Pyrometer zogen und
einen kleinen Teil des von der Substanz ausge-
sandten Lichtes verschluckten. Da nun gerade
diese von der Substanz ausgesandte mit wachsen-
der Temperatur rasch wachsende Lichtmenge als
Maß für die Temperatur benutzt wird, so erscheint
die Temperatur niedriger, als sie in Wirklichkeit
ist. Ein Vorteil des Vakuumofens besteht nun
gerade darin, daß bei seiner Verwendung diese
schädlichen, die Genauigkeit der Messungen emp-
findlich beeinträchtigenden Dämpfe ausbleiben.
Zur Eichung der Temperaturmeßanordnung
dienten folgende Materialien mit ihren genau be-
kannten Schmelzpunkten :
Antimon 630" C
Kupfer Silber-Eutektikum 779
Silber 960,5
Kupfer 1083
Diopsid 1391
Die Schmelzung der untersuchten Oxyde MgO,
CaO, Al.jOg und CrgOg wurde meist in Wolfram-
tiegeln, z. T. auch in Graphittiegeln vorgenommen.
Calciumoxyd ließ sich im Vakuum nicht schmelzen,
weil es vorher sublimierte; es mußte dalier unter
Atmosphärendruck geschmolzen werden , wobei
die unter diesen Bedingungen auftretenden Dämpfe
durch einen Strom von Wasserstoffgas beiseite
gedrängt wurden, so daß sie nicht stören konnten.
Die Ergebnisse der sehr sorgfältig und unter Be-
rücksichtigung aller erforderlichen Kontrollmaß-
regeln an sehr reinem Versuchsmaterial ausge-
führten Versuche sind in der folgenden Tabelle
zusammengestellt, in die auch der zur Kontrolle
der Ergebnisse bestimmte, schon durch frühere
Messungen genau bekannte Schmelzpunkt des
Platins (1755" C) aufgenommen ist:
Mittlere Ab-
,, , . , Sclimelz- . , j !■• 1
Material , weichung der r.inzel-
werte vom Mittelwert
pun
Magnesiumoxyd MgO 2800" C
Calciumoxyd CaO 2572
Aluminiumoxyd AljOg 2050
Chromoxyd Cn^Og 1990
Platin Pt " 1755
13-0
3
5
6
S
Mg.
Physik. Energieträgheit. Wird ein elektrisch
geladener Körper in Bewegung gesetzt, so ver-
hält er sich wie ein elektrischer .Strom, der ja
nach der heutigen Anschauung auch nichts anderes
ist als eine Wanderung der elektrisch geladenen
Elektronen , d. h. es treten um seine Bahn mag-
netische Kräfte auf, die z. B. imstande sind, einem
ruhenden Magneten eine Beschleunigung zu er-
teilen, also Arbeit zu leisten. Die auftretende
Energie kann nur von der Kraft herstammen, die
den Körper in Bewegung setzt. Zur Beschleuni-
202
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 13
gung eines elektrisch geladenen Körpers muß also
mehr Arbeit aufgewandt werden als zur Beschleu-
nigung eines ungeladenen Körpers, und dieses
Mehr wächst mit zunehmender Geschwindigkeit,
und zwar mit dem Quadrate. Man kann das so
ausdrücken, als wüchse die träge Masse des be-
wegten Körpers. Diese Variabilität der Masse ist
nun beiden meisten Vorgängen unmerklich, bemerk-
bar wird sie nur dort, wo es sich um extreme
Energiemengen bei kleiner Masse handelt, also in
erster Linie bei den mit fast Lichtgeschwindigkeit
bewegten Elektronen.
Nun muß man aber jeden Körper als aus
gleichviel positiven und negativen Teilchen be-
stehend betrachten, deren Ladung getrennt ganz
maßlose Beträge darstellt, wie man aus den elektro-
chemischen Vorgängen weiß. Andererseits be-
deutet jede Energiezuführung letzten Endes eine
Beschleunigung, so die Wärmezuführung eine Be-
schleunigung d^ kleinsten Teilchen. Man ist also
wohl berechtigt, wenigstens versuchsweise, ein
allgemeines Gesetz aufzustellen, das besagt: Jeder
Energieänderung eines Körpers geht eine Massen-
änderung parallel, in Formel:
Dabei bedeutet V- den an elektrischen Vor-
gängen gemessenen Proportionalitätsfaktor, der
gleich dem Quadrate der Lichtgeschwindigkeit ist,
m ist die träge Masse, E der gesamte Energie-
inhalt des Körpers.
Langevin versucht nun,') an welchen Vor-
gängen sich das Gesetz prüfen ließe. Eine ein-
fache Erwärmung des Körpers genügt nicht. Denn
bei einer Erwärmung von Wasser von i — 100"
ergibt die Rechnung trotz der hohen spezifischen
Wärme nur eine Änderung der trägen Masse um
das 5- io~'- fache.
Bei der chemischen Vereinigung von Sauerstoff
und Wasserstoff zu Wasser werden sehr viel
höhere Energiemengen frei, nämlich 69000 cal.
= 3- 10^'- Erg. für das Mol. Aber auch hier be-
trägt die Massenänderung nur etwa ^ig-io~'^ g.
Günstiger liegen die Verhältnisse bei den
radioaktiven Substanzen, i g Radium entwickelt
130 cal. in der Stunde und geht unter Helium-
entwicklung über Radium A, B, C in Radium D
über. Die mittlere Lebensdauer eines Radium-
atoms beträgt dabei 2600 Jahre, also ist die von
I g Radium entwickelte Energie gleich
I30-2600-365 •24-4,i8- 10" Erg. ^= i,i-io"' Erg.
Dieser Energiemenge entspricht eine Massenände-
rung nach der Formel von i,2-iO"~* g — eine
recht gut meßbare Größe. Bei gleichem Gewichte
müßten also z. B. Uran und seine Zerfallsprodukte
(Helium und Blei) verschiedene Beschleunigungen
durch die Erdanziehung erfahren, was sich leicht
feststellen ließe, indem man Pendel aus ihnen
fertigte und ihre Schwingungsdauer beobachtete.
Nun zeigen aber die Versuche, daß die Erdbe-
schleunigung verschiedener Substanzen sicher auf
ein Zwanzigmillionstel gleich ist. Man muß also
schließen, daß nicht nur die träge, sondern in
gleicher Weise auch die ponderable (wägbare)
Masse durch Energieaufnahme oder -abgäbe ver-
ändert werden.
Man müßte den Versuch also so anstellen,
daß man ein Quantum Radium einschlösse, so
daß von seinen Zerfallsprodukten nichts entweichen
kann, und es dann vor und nach dem Zerfall
wöge. Das würde aber etwas viel Zeit in An-
spruch nehmen, mindestens einige hundert Jahre.
Eine glänzende Hypothese Langevin's zeigt
da einen bequemeren Weg: Bekanntlich weichen
die Atomgewichte der chemischen Elemente, be-
sonders die von niedrigem Betrage, auffallend
wenig von ganzen Zahlen ab, doch um mehr als
sich durch die Unsicherheit der Messungen er-
klären läßt. Langevin faßt nun diese Ab-
weichungen als das Gewicht der Energie auf, die
bei der Bildung des betreffenden Elementes aus
anderen gebunden oder abgegeben wurde. Man
könnte dann ein Sauerstofifatom als einen Kom-
plex von 16 Wasserstoff- oder 4 Heliumatomen
auffassen. In beiden Fällen wären bei der Ent-
stehung des Sauerstoffatoms Energiemengen von
der Größenordnung der Radiumzerfallsenergie frei
geworden. Zur Prüfung dieser Hypothese wäre
fürs erste eine Bestimmung des Atomgewichtes
des Radiums und seiner Produkte nötig, die auch
die Zehntel sicherstellt.
Auch die frei im Räume sich ausbreitende
Energie, z. B. die Sonnenstrahlung besitzt Iräg-
heit und außerdem müßte sie, wenn die oben
gegebene Herleitung richtig ist, auch durch Massen
nach dem Newton 'sehen Gesetze angezogen
werden. Doch ist diese Wirkung gering und, wie
es scheint, der Messung nicht zugänglich.
Das eingangs erwähnte Verhalten eines elek-
trisch geladenen, bewegten Körpers, magnetische
Kraftlinien wie ein elektrischer Strom um seine
Bahn zu breiten, ist auch die Grundlage der
Wien'schen Arbeit über die magnetische Be-
einflussung der Wasserstoffkanalstrahlen. ^) Die
Kraft, die im elektromagnetischen Felde auf einen
geladenen Körper ausgeübt wird, ist
I
f=@ +
V
0^)
® ist der elektrische, § der magnetische Vektor
und ö die Geschwindigkeit des Körpers. Also
nur wenn der Körper sich bewegt, wirkt auch
die magnetische Kraft auf ihn. Ist dieser geladene
Körper nun ein Elektron, das schwingend Licht
aussendet, so besteht die Erscheinung darin, daß
das Licht eine Beeinflussung seiner Wellenlänge
erfährt, daß seine Spektrallinien aufgespalten wer-
den, wie man es ja vom Zeema nn- Effekt kennt.
Der Effekt des Gliedes ® ist von Stark vor
kurzer Zeit nachgewiesen worden, worüber in
') Langevin, Journal de Physique, Juli 1913.
') Wien, Berl. Ber. 1914, S. 70.
N. F. XIII. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
^03
einer der nächsten Nummern berichtet werden
soll. Auch das Glied
V
0|)
kann bei geeig-
neter Versuchsanordniing so groß gemacht werden,
daß es eine beobachtbare Aufspaltung liefert.
Wien brachte ein enges Wasserstoff kanalstrahl-
rohr zwischen die Pole eines Elektromagneten in
ein F'eld von 17000 Gauß und beobachtete durch
eine Bohrung in den Polen in Richtung der mag-
netischen Kraftlinien. Der Effekt stimmte sehr
annähernd mit dem berechneten überein. Doch
zeigten sich die Linien nicht scharf aufgespalten,
sondern nur über die entsprechende Breite ver-
waschen, was ja auch natürlich ist, da die leuch-
tenden Teilchen sehr verschiedenes 0 besitzen.
Bräuer.
Bakteriologie. Haben polare Tiere einen
sterilen Darm .? Der Darm der Tiere enthält stets
eine ganz ungeheuere Menge von Bakterien, schon
kurze Zeit nach der Geburt des Kindes ergreifen
die Bakterien Besitz von seinem Darm, um ihn
nicht mehr zu verlassen. Sehr merkwürdig ist
nun, daß von verschiedenen Forschern, die bei
Gelegenheit von Polarexpeditionen bakteriologische
Untersuchungen anstellten, übereinstimmend ver-
sichert wird, daß der Darm von polaren Säuge-
tieren gelegentlich, der von Vögeln sogar sehr oft
vollkommen steril war. Auch Hesse hat dies
neulich wiederum bestätigt (Centralblatt für Bak-
teriologie usw., I. Abteil. Orig. Bd. 72, 1914, S. 454).
Platten, die mit dem Darminhalt einer Lumme,
einer Ente und einer Schnepfe beimpft wurden,
die an der Nordwestküste von Spitzbergen ge-
schossen waren, blieben vollkommen steril. Da-
gegen enthielt der Dickdarm einer zweiten Schnepfe
zahlreiche Keime. Allerdings hat Hesse nur Rück-
sicht auf die luftbedürftigen Bakterien genommen,
wie wohl die meisten der früheren Beobachter
auch. Doch wird z. B. von dem Bakteriologen
der Deutschen Südpolexpedition 1902 bis 1903,
Gazert, angegeben, daß in dem Darm von Pin-
guinen, Sturmvögeln und Seeschwalben auch Anae-
robe, d. h. nur bei Sauerstofifabwesenheit wachsende
Bakterien vollständig fehlten.
Die Erklärung für die zunächst sehr verwunder-
liche Keimarmut bzw. -freiheit des Darmes polarer
Tiere könnte zunächst in der bekannten außer-
ordentlichen Reinheit der polaren Luft und Ge-
wässer gesucht werden. Man (z. B. Levin) hat
tausende von Litern Luft filtriert, ohne einen ein-
zigen Keim zu finden. Platten, auf die man frisch
gefallenen Schnee brachte, blieben steril. Auch
das Meerwasser im hohen Norden ist ungewöhn-
lich keimarm. Allerdings würde dies noch nicht
das Entscheidende sein. Um die Sterilität des
Darmes polarer Tiere zu erklären, müßte man auch
annehmen, daß der Darm der Meertiere, z. B. der
Fische, von denen sie sich nähren, auch steril sein
müßte, und darüber ist nichts bekannt. Dabei wäre
noch ein wichtiger, meist nicht genügend berück-
sichtigter Punkt zu bedenken, die Temperatur. Die
polaren Bakterien sind sicher an sehr niedrige
Temperaturen angepaßt, so daß man folgerichtig
zu ihrem Nachweis in Wasser, Luft, Schnee die
Platten ebenfalls nur bei diesen Temperaturen halten
müßte. Möglicherweise ist ihnen die Temperatur
des geheizten Zimmers bereits zu hoch. Daß dann
solch extrem kälteliebenden Bakterien, wenn sie
mit der Nahrung in den besonders warmen Vogel-
darm gelangen, nicht weiterzuwachsen vermögen,
wäre ganz plausibel. Andererseits sollte man aber
doch annehmen, daß sich in dem Verdauungs-
traktus (z. B. auch im Maul, bzw. Schnabel) un-
abhängig von den klimatischen Bedingungen eine
lokale Bakterienflora ansiedeln und durch Kon-
taktinfektion erhalten könnte. In diesem Zusammen-
hange wäre es z. B. interessant nachzusehen, ob
auch die Nester der brütenden Vögel steril sind,
sowie ihre Körperoberfläche. Die Erde, das
Gletscherwasser hat man gewöhnlich keimhaltig
befunden. Sollte wirklich es sich als die Regel
herausstellen, daß der Darm polarer Tiere absolut
steril ist, so wäre dies auch von allgemein-physio-
logischem Interesse, nämlich für das Problem, ob
die Bakterienvegetation des Darmes notwendig für
die normale Verdauung ist. Mehrfach hat man
diese Frage durch sehr mühevolle Experimente zu
entscheiden gesucht, während die Natur selbst sie
in dem hohen Norden in eleganter Weise lösen
würde. Miehe.
Bücherbesprechiingen.
Dr. Nicolai Hartmann, Philosophische
Grundfragen der Biologie. Bd. 6 der
Sammlung „Wege zur Philosophie",
Schriften zur Einführung in das philosophische
Denken. 172 Seiten. Göttingen, Vandenhoeck
& Ruprecht. — Preis geh. 2,40 Mk.
Ein Philosoph der Marburger Schule behandelt
in knapper, aber durchaus erschöpfender und ver-
ständlicher Weise das Problem des Lebens und
dessen Teilprobleme, nämlich die systematischen
Voraussetzungen des Lebens, Lebensform und
Lebensprozeß, Individuum und Gattung, Kausalität
und Zweckmäßigkeit, Deszendenz und Selektion,
Leben und Bewußtsein. Wir wüßten kaum ein
Werk zu nennen , das bei so geringem Umfange
eine gleiche Fülle belehrender und anregender
Gedanken brächte. Die Erörterungen des Zweck-
mäßigkeitsbegriffes, namentlich die Ansichten über
die methodische Leistung der teleologischen Be-
griffe und ihre Selbstauflösung in Kausalmomente
und über die regulierende Bedeutung des Vitalis-
mus, ferner die Auseinandersetzungen über De-
szendenz und Selektion werden den Biontologen
lebhaft fesseln. Die Gedanken Darwins erhalten
204
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
13
eine Beleuchtung, die vorteilhaft absticht gegen
die vielen leidenschaftlichen , oft wenig sachge-
mäßen Verkleinerungen der immer noch bedeut-
samen Theorie. Angersbach.
William Kingdon Clifford, Der Sinn der
exakten Wissenschaft, in gemeinverständ-
licher Form dargestellt. Mit loo Figuren. Deut-
sche Übersetzung nach der 4. Auflage des eng-
lischen Originals von Dr. Hans Kleinpeter.
VIII und 282 Seiten. Leipzig, Verlag von Jo-
hann Ambrosius Barth, 191 3. — Preis geh.
6 Mk., geb. 6,75 Mk.
W. K. Clifford, der als Mathematiker und
Philosoph bekannte englische P'orscher, hatte die
Absicht gehabt, denjenigen, die, ohne mathematisch
geschult zu sein, die Grundbegriffe und wichtig-
sten Probleme der Mathematik kennen zu lernen
wünschen, ein Werk zu widmen unter dem Titel:
„Die ersten Grundlagen der mathematischen
Wissenschaften, erörtert in einer dem Nichtmathe-
matiker verständlichen Weise." Leider wurde er
durch den Tod an der Ausführung verhindert.
Auch der mit der Herausgabe des Werkes be-
auftragte Prof. R o w e starb bald nach Clifford,
und erst Prof. Karl Pearson konnte das zwei-
mal unterbrochene Werk ergänzen und veröffent-
lichen.
Clifford hat seine Aufgabe nicht ohne Ge-
schick erfüllt , wenn er auch mehrfach über die
Fassungsgabe und über die Bedürfnisse des Laien
hinausgeht; vor allem hat er dem unterrich-
tenden Mathematiker manche wertvolle An-
regung gegeben.
Der philosophisch orientierte Leser wird
mit Interesse den in dem Werke vertretenen er-
kenntnistheoretischen Standpunkt beachten.
Als entschiedener Empirist läßt Clifford die
mathematischen Begriffe und Grundsätze durch
abstrahierende Verarbeitung von Erfahrungstat-
sachen gewinnen; er macht ferner auf den tief-
gehenden Unterschied zwischen den Begriffen
„Zahl", „Raum", ,, Größe" und „Lage" aufmerksam,
denen er je ein Kapitel widmet; er hebt scharf
die Bedürfnisse hervor, die zur Erweiterung mathe-
matischer Begriffe führen, und gibt klar die Gründe
an, die die vollzogene Begriffserweiterung als
logisch zulässig rechtfertigen.
Möge das Buch dem nach Bildung strebenden
Laien wie dem Mathematiker, namentlich dem
unterrichtenden, empfohlen sein!
Angersbach.
Eugenio Rignano, L'evolu tion du raisonne-
ment. Premiere partie: Du raisonnement
concret au raisonnement abstrait. Deu-
xieme partie: De l'intuition ä la deduc-
tion.
Extrait de „Scientia" Vol. XIV, 7'""- Annee
(191 3), N. XXX, 4 u. 5. Bologna, Nicola Zani-
chelli.
Schon die niedersten Tiere üben eine affek-
tive Klassifikation aus, d. h. es gilt ihnen
alles als gleich, was ein gegebenes Bedürfnis be-
friedigt, ein gegebenes Verlangen stillt. Die affek-
tive Tendenz führt auch zu den Gattungsnamen
der menschlichen Gebrauchsgegenstände, sie ist die
Grundlage aller Begriffe, selbst der wissenschaft-
lichen.
Aus der direkten, rein affektiven Klassifikation
geht die indirekte hervor, zunächst die tech-
nische oder die Nützlichkeit 's -Klassifi-
kation, und schließlich die wissenschaft-
liche. Das verallgemeinernde und abstrahierende
Denken bedeutet gegenüber dem auf das greifbare
Einzelobjekt gerichteten Denken eine „technische
Leistung" höheren Grades, durch die bei jedem
neuen Einzelfall wesentlich Arbeit erspart wird.
DieWissenschaftsentwicklungbesteht im Anwachsen
der technischen Leistung der Vernunft, sie führt
zu einer möglichst bündigen Beschreibung der Dinge.
Die geistige Entwicklung beginnt mit einfachen
Intuitionen und schreitet zu sehr verwickelten deduk-
tiven Leistungen fort.
Die Intuition bedeutet ein unerwartetes, spon-
tanes Feststellen. Eins ihrer wichtigsten Ergebnisse
ist das Auffinden von Analogien zwischen Erschei-
nungen, die vordem als durchaus verschieden auf-
gefaßt waren. .Sie bietet am meisten Aussicht auf
Entdeckung völlig neuer Wahrheiten.
Auf innerem Erschauen in Verbindung mit einer
gewissen Dosis von Überlegung beruht der Syllo-
gismus. Er ist ein gerichtetes, in mehreren Zeit-
abschnitten sich abspielendes inneres Wahrnehmen,
eine Übertragung des Interesses auf ein gegebenes
Einzelattribut. Auch e r vermag zu neuen Wahr-
heiten zu führen.
Im Denken verbinden sich geistige Tätigkeiten,
die dasselbe festzustellen vermögen wie wirkliches
Beobachten oder Versuchen ; zuweilen spielt sich
das Denken rein intuitiv ab.
Zum Schlüsse beschäftigt sich der \'erfasser
mit der kausalen Erklärung, der ,, Geschichte der
Dinge", die immer ökonomischer, stenographischer
und schematischer wird.
Die vorliegenden Aufsätze fesseln uns durch
die klare, zahlreiche Beispiele heranziehende Dar-
stellung und durch Ergebnisse, die vielfach mit
denjenigen Machs übereinstimmen.
Angersbach.
Wohlgemuth, J. , Grundriß der Ferment-
methoden. Berlin, Springer, 191 3. — Preis
geh. 10 Mk.
Verf. gibt eine ausführliche Darstellung der
vorwiegend in der medizinischen Physiologie, aber
auch seitens der Pflanzenphysiologie, hier vor-
wiegend in der Gärungskunde, ausgearbeiteten
Methoden, die verschiedenartigen Funktionen der
Enzyme (hier leider noch „Fermente" genannt)
exakt zu verfolgen. Da auf dem hochwichtigen
Gebiet viel gearbeitet wird, ist eine sorgfältige
Zusammenstellung der Methodik sehr zu begrüßen.
— Leider wird auch hier (quousque tandem.?) die
N. F. XIII. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
205
Spaltung der Disaccharide (in iVIonosaccharide)
und die ganz anders geartete Verarbeitung der
letzteren gleichermaf3en als „Spaltung" bezeichnet;
wäre es nicht an der Zeit, für so grundverschiedene
Dinge auch verschiedene Namen zu gebrauchen ?
Hugo Fischer.
Cresson, A., L'espece et son serviteur.
Paris, F. Alcan, 19 13. — Preis 6 fr.
Verf gibt eine allgemeinverständliche, an einer
großen Zahl von z. T. bildlich dargestellten Einzel-
fällen erläuterte Abhandlung über die verschiedenen
Weisen, wie in der Natur für die Erhaltung der
Art gesorgt ist, wobei in den Schlußkapiteln auch
soziale und ethische Gesichtspunkte erörtert wer-
den. — Die Nachwirkung der Befruchtung auf
eine spätere, mit einem anders gearteten Vater
erzeugte Generation dürfte nach dem heutigen
Stande der Wissenschaft wohl nicht mehr als
Talsache anzuführen sein. Hugo Fischer.
Charles S. Minot, Die Methode der Wissen-
schaft und andere Reden. Übersetzt von Dr.
Joh. Kaufmann (Bonn). 205 Seiten. Jena,
Verlag von Gustav P'ischer, 191 3. — Preis ge-
heftet S Mk.
Neun Reden sind in erster Linie an Mediziner
gerichtet, enthalten aber so viel Gedanken von
allgemeiner Bedeutung, daß auch rein naturwissen-
schaftlich orientierte Leser ihren Gefallen daran
finden werden. Der erste Vortrag behandelt gerade-
zu die Aufgabe des Naturforschers in der Welt.
Den meisten Beifall verdienen wohl die schönen
Abhandlungen über die embrj'ologische Basis der
Pathologie, über genetische Interpretationen auf
dem Gebiete der Anatomie und über die Beziehun-
gen der Embryologie zu den Fortschritten der
Medizin. Der vierte Vortrag über das Problem
des Bewußtseins in seinen biologischen Beziehun-
gen kommt trotz manchen beachtenswerten Aus-
führungen zu einem Ergebnis, das wir ablehnen.
Der Verfasser bedient sich einer klaren, gemein-
verständlichen, jeder Phrase abholden Sprache,
einer wohlgegliederten Form und versteht es treff-
lich zu belehren. Die Übersetzung scheint wohl-
gelungen zu sein. Angersbach.
K C. Rothe, Vorlesungen über allgemeine
Methodik des Naturgeschichtsunter-
richts. I. Heft. Seybold, München, 1914.
Das I. Heft von Rothe 's Vorlesungen enthält
eine Geschichte der Methodik des Naturgeschichts-
unterrichts im 19. Jahrhundert, sowie eine Dar-
stellung und Kritik des gegenwärtigen Standes der
Methodik. Von anderen Schriften ähnlichen Inhalts
unterscheidet sich die vorliegende durch das liebe-
volle Eingehen auf die Persönlichkeit der Männer,
die neue Wege für den Naturgeschichtsunterricht
gewiesen haben. Dabei sucht Rothe auch der
älteren Methodik gerecht zu werden, die — wie
z. B. Lüben und Leunis — die Systematik in
den Vordergrund stellte; ist doch der Sammler
immer in Berührung mit der Natur, und das Be-
stimmen der Lebewesen bringt noch viel wichtigere
Erfahrungen als die Kenntnis des Namens. So
weist Rothe hin auf eine künftige Gestaltung
des Naturgeschichtsunterrichts: Die rein „biolo-
gische" Richtung, die — als Reaktion gegen die
rein systematische und morphologische Richtung
— über ihr Ziel hinausschoß, muß ausgebaut
werden. Die berechtigten Elemente der älteren
Methode müssen beibehalten bzw. wieder aufge-
nommen werden, neue Forschungswege der Wissen-
schaft müssen auch die Methodik des Schulunter-
richts durchdringen. Vielleicht ist es angebracht,
daß man sich wieder mehr den Gedanken Pried-
rich Junge's zuwendet, der der eigentliche Pfad-
finder für den neueren Naturgeschichtsunterricht
gewesen ist. Dr. Brohmer.
C. B. Klunzinger, Die Rundkrabben (Cyclo-
metopa) des Roten Meeres. Mit 7 Tafeln
und 14 Textfiguren. 40 Bogen Text. Nova
Acta der Leop. Carol. Deutschen Akademie der
Naturforscher. Bd. IC, Nr. 2. Halle a. S., 1913.
(Auch einzeln zu beziehen durch die Buchhand-
lung von W. Engelmann in Leipzig. Laden-
preis 25 Mk.).
Hierzu gehörig als I. Teil ;
Die Spitz- und Spitzmundkrabben
(Oxyrhyncha und Oxystomata) des Roten
Meeres. Mit 2 Tafeln und 13 Abbildungen
im Text. 12 Bogen Text. Im Verlag von
Ferd. Enke, Stuttgart 1906. Ladenpreis 10 Mk.
Der Verf hatte vor mehr als 40 Jahren von
einem mehrjährigen Aufenthalt in Coseir am Roten
Meere reiche Sammlungen nach Hause gebracht
und auf Grund dieses Materials bereits früher die
F"ische sowie die Korallentiere des Roten Meeres
systematisch bearbeitet und herausgegeben. Alle
diese älteren Arbeiten zeichnen sich wie die neueste
jetzt vorliegende aus durch eine außerordentliche
Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, die der Verfasser
sowohl dem Text wie den Abbildungen hat zuteil
werden lassen. Diese Werke sind daher unent-
behrliche und äußerst zuverlässige literarische
Hilfsmittel für die Spezialforscher auf den betreffen-
den Gebieten geworden.
Das vorliegende Werk enthält eine Beschrei-
bung nebst Literaturangabe von sämtlichen bisher
aus dem Roten Meere bekannt gewordenen Arten
von Rundkrabben; es sind das 166 Arten in 59
Gattungen ; davon sind 70 vom Verfasser selbst
gesammelte Arten, darunter 8 nov. species, be-
sonders eingehend „monographisch-kritisch" be-
handelt. Auch die Gattungen und höheren Gruppen
sind sorgfältig charakterisiert und begründet. Es
werden die zwei Familien der Xanthidae mit 10
und der Portunidae mit 8 Unterfamilien behandelt.
Die zur Unterscheidung der Formen dienenden
Merkmale werden eingehend besprochen und ihr
Wert für das System festgestellt. Auf die Form-
abänderungen, die vom Alter oder Geschlecht
abhängig sind, ist ein besonderer Wert gelegt.
206
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 13
Zahlreiche sehr gute Detailabbildungen im Text
und auf drei von den sieben Tafeln erleichtern das
Verständnis. Von den übrigen Tafeln enthalten
zwei Originalphotographien der ganzen Tiere,
und endlich finden sich auf zwei weiteren Tafeln
photographische Reproduktionen der vorzüglichen
Abbildungen von Krabben aus der „Description
de l'Egypte'', was zu begrüßen ist, da dieses nicht
leicht erhältliche Werk auch infolge seines mon-
strösen Formats sehr schwer benutzbar ist.
Als Hauptzweck seines verdienstvollen Werkes
bezeichnet der Verf. selbst „die genaue und kriti-
sche Feststellung der Arten" , um dem Tiergeo-
graphen eine zuverlässige Grundlage zu bieten.
Und diesem Ziel ist Prof. Klunzinger in vor-
bildlicher Weise nahe gekommen.
Prof L. Döderlein in Straßburg.
Schrenck-Notzing, Dr. Freiherr von, M a t e r i a 1 i -
salionsphänomene. Ein Beitrag zur Erfor-
schung der mediumistischen Teleplastie. Mit
150 Abbildungen und 30 Tafeln. München '14,
E. Reinhardt. — Preis 14 Mk.
Dies vorzüglich ausgestattete, 523 Seiten starke
Werk des bekannten Münchener Nervenarztes
schien anfangs der dem Spiritismus ablehnend
gegenüberstehenden Wissenschaft eine harte Nuß
aufgeben zu wollen. Hier trat ein Mann für
die Echtheit der vielumstrittenen Geistermateriali-
sationen ein, dem hervorragende Sachkenntnis,
gründliche psychologische Erfahrung und eine
weitgehende Erfahrung mit allen landläufigen
Schwindeltricks spiritistischer Berufsmedien nicht
abzustreiten waren, ein Mann, der durch seine
Entlarvung des Mediums Linda Gazzerra noch vor
wenig Jahren bewiesen hat, daß er eine von den
viel zu seltenen Persönlichkeiten ist, die spiritistische
Darbietungen sachlich zu beurteilen und scharf zu
beobachten vermögen. Keine von allen den wissen-
schaftlichen Autoritäten, die im Laufe der Zeit für
die Wahrheit spiritistischer Lehren und insbeson-
dere der Materialisationsphänomene eingetreten
sind, war auf dem Gebiete der Psychologie und
der Taschenspielerei so sehr Sachkenner wie Dr.
V. S c h r e n c k. Auch das Zeugnis des Physikers
Crookes für die beiden Medien Home und Flo-
rence Cook in den 70 er Jahren konnte nicht an-
nähernd so überzeugend und maßgebend wirken
wie jetzt die Stellungnahme v. Schrenck-
Notzing 's, da dieser eben in allen Sätteln
spiritistischen Betruges gerecht war, während
Crookes bei seinen Untersuchungen nur ein
guter Physiker, aber ein herzlich schlechter Psycho-
loge war, dessen fleißige Arbeit durch die spätere
einwandfreie Entlarvung seines ,,Katie King"-
Mediums Florence Cook (9. Januar 1S80) und den
von der ursprünglichen Publikation bedenklich ab-
weichenden Wortlaut seiner erst 1891 veröffent-
lichten Sitzungsprotokolle wertlos gemacht und
heut als erledigt zu betrachten ist.
Noch nie zuvor schien die Stellung der den
Spiritismus und die Materialisationstheorie ableh-
nenden „offiziellen" Wissenschaft so schwer er-
schüttert, so unhaltbar zu sein, wie in den ersten
Tagen nach der Ausgabe des v. Schrenck-
Notzing 'sehen Buches. Und heute schon,
wenige Monate später, ist eben diese Stellung be-
festigter als je, der Skeptizismus darf nur um so
stolzer sein Haupt erheben, und der spiritistischen
Lehre ist eine tiefe Wunde geschlagen, von der
sie sich nicht so bald erholen wird. Auch
Schrenck-Notzing ist — das steht heute be-
reits mit unbedingter Sicherheit fest — das Opfer
eines unglaublich raffinierten Betruges geworden,
auf den auch er, der gewiegte Sachkenner, unmög-
lich verfallen konnte und dessen Enthüllung ledig-
lich einem Zufall zu danken ist, einer einmaligen,
sehr plumpen Entgleisung des angeblichen Mediums,
wie sie sich ja auch der schlaueste Betrüger ge-
legentlich zuschulden kommen läßt.
Die Entlarvung des Schre nck 'sehen Haupt-
Mediums Eva C. läßt eine genauere Beschreibung
der über 4 Jahre sich erstreckenden Beobachtungen
und Untersuchungen überflüssig erscheinen. Dr.
V. Schrenck hat alle nur denkbaren Vorsichts-
maßregeln angewendet, um sich gegen Betrug
zu sichern, hat in der Tat auch alle Betrugsmöglich-
keiten, die von früher her bekannt waren, aus-
geschaltet, hat durch schärfste Kontrolle des Me-
diums in der Tat selbst das so beliebte Einschmug-
geln von allerhand fremden Gegenständen in die
Sitzungen auf den gewöhnlichen Wegen vereitelt,
aber — er konnte freilich nicht ahnen, daß sein
Medium die „Apparate", die es zur betrügerischen
Hervorbringung von Materialisationen benötigte,
verschluckte, um sie später im Bedarfsfall wieder
aus dem Schlund heraufzuwürgen. Eva C. war
eine „Ruminantin", die, ähnlich wie der neuerdings
vielfach aufgetretene ,, Froschschlucker", wie ehedem
Justinus Kerner u. a., in der Lage war, verschluckte
Gegenstände willkürlich und nahezu geräuschlos
wieder von sich zu geben, um alsdann mit ihnen
die fabelhaftesten „Materialisationen" hervorzurufen.
Man lese nach, was ein Teilnehmer derSchrenck-
schen Versuche, Dr. v. Gulat, in der „Münchener
Medizinischen Wochenschrift" vom 18. November
191 3 und den „Münchener Neuesten Nachrichten"
vom 23. November geschrieben hat, man vergleiche
ferner den verblüfi'enden Nachweis der Betrügereien
durch Dr. Kafka in den „Naturwissenschaften"
vom 19. Dezember 191 3, eine kürzlich bei J. F.
Lehmann-München erschienene Broschüre des Dr.
V. Gulat und der Frau Dr. v. Kemnitz, das
zusammenfassende Referat des Grafen Carl von
K 1 i n c k o w s t r o e m in Nr. 1 266 des „Prometheus"
vom 31. Januar 1914, die Ausführungen des Prof
Hellpach in der „Psychologischen Rundschau"
des „Tag" vom 6. Januar und manche andere neuere
Untersuchung des >interessanten Falles, und man
erkennt, wie hier die Findigkeit einer Betrügerin
selbst der höchstgesteigerten, wissenschaftlichen
Sachkenntnis und der vorurteilslosesten Objektivität
ein bedenkliches Schnippchen zu schlagen wußte.
Dr. V. S c h r e n c k - N o t z i n g 's höchst fleißige
N. F. XIII. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
207
und gewissenhafte Arbeit bleibt auch unter den
geänderten Verhältnissen ein sehr wertvolles Doku-
ment zur wissenschaftlichen Erforschung der spiri-
tistischen Lehre. Irren ist menschlich, und einem
Manne, der mit so ausgeprägtem Willen zur wissen-
schaftlichen Wahrheitsfindung unter außergewöhn-
lichsten Umständen irrt, wird man kaum minder
Hochachtung zolleri müssen, als wenn er in der
Tat der Forschung neue Wege in ein unbetretenes
Gebiet gewiesen hätte. Schrenck's „Materiali-
sationsphänomene" enthalten eine ernste Mahnung,
allen unbewiesenen spiritistischen Behauptungen,
allen angeblichen „Beweisen" für die Existenz einer
unsichtbaren, intelligenten Hinterwelt mit noch
mehr Skepsis und Vorsicht gegenüberzustehen,
als es die Fachwissenschaft ohnehin bereits tut.
R. Hennig.
A. Sieberg, „Einführung in dieErdbeben-
und Vulkankunde Süditalien s." 226 S.
(Mit 2 farbigen Ansichten, 67 Abbildungen und
Karten.) Gustav Fischer, Jena, 1914. — Preis 4Mk.
Der als Erdbebenforscher wohlbekannte Ver-
fasser wendet sich mit diesem Buche an ,, weiteste
Kreise", auch an die große Zahl von Touristen,
die Süditalien alljährlich besuchen. In der Tat ist
ja auch Süditalien der europäischen Wissenschaft
der klassische Boden für das Studium der vulka-
nischen Kräfte gewesen und hat uns zugleich die
erste regional gefaßte monographische Behandlung
eines Schüitergebietes aus der Meisterhand eines
E. Sueß geschenkt, wie auch noch in unferner
Vergangenheit seine furchtbaren seismischen Kräfte
aller Welt kundgelan. Kaum ließe sicli also ander-
wärts mit besserem Erfolge die Lehre des Vulka-
nismus und der Erdbeben durch ein populäres
Werk so sehr als Anschauungsunterricht
gestalten. Der Verfasser ist zudem bestrebt, durch
zahlreiche selbstangefertigte Zeichnungen nach der
Natur, die größtenteils absichtlich schematisch ge-
halten sind, einem ungeübten Auge die zu be-
achtenden Züge in der Landschaft recht eindring-
lich nahe zu bringen und so die erste und vor-
nehmste Lehrmeisterin Anschauung nach Möglich-
keit zu unterstützen. Die reiche und zweckmäßige
Illustrierung des Werkes darf deswegen in diesem
Falle noch besonders hervorgehoben werden. Als
besonders instruktiv sei die „Tektonische Übersichts-
karte des Einbruchsbeckens von Neapel" (nebst
Profil) auf S. 60 genannt.
Die enge Verknüpfung der beiden voneinander
doch recht wesentlich verschiedenen Wissenszweige
im Titel birgt eine gewisse Gefahr, daß nämlich
die allzutief eingewurzelte Anschauung des größe-
ren Publikums von einem alleinigen direkten Zu-
sammenhange der Erdbeben mit den vulkanischen
Kräften neue Nahrung daraus entnehmen könnte.
Freilich ist auf S. 3 und 4 auf das Irrige dieser
ursächlichen Verknüpfung nachdrücklich hinge-
wiesen, aber eindringlicher vielleicht hätte es ge-
wirkt, wenn beide Stoffe inhaltlich voll auseinander
gehalten worden wären.
Der Weg, den der Verfasser einschlägt, hat
dafür den Wert weniger strenger Gelehrsamkeit
und damit größerer Natürlichkeit für sich : Das
Büchlein gibt sich mehr als Reiseführer und ge-
leitet den Leser in geographischer Anordnung durch
die in der Natur wahllos verstreuten Haupterschei-
nungsgebiete der vulkanischen und seismischen
Kräfte Süditaliens. Nach einer allgemeinen Ein-
führung geht es von der Römischen Campagna
zum Vesuv und dem auch tektonisch so wichtigen
und interessanten Golf von Neapel, weiter ins erd-
bebenreiche Kalabrien und das oft und schwer
heimgesuchte Land von Messina, sodann werden
Ätna, die Liparischen Inseln und der Stromboli
besucht. Gewiß eine Reise, auf der sich unter so
sachkundiger Führung viel Wissenswertes lernen
läßt. Ein Literaturverzeichnis bietet dem, der
tiefer zu schürfen wünscht, die nötigen Anhalts-
punkte, ein Register erinöglicht die Handhabung
des Buches auch als Nachschlagewerk. Auch Ein-
geweihte werden die anschauliche Zusammenfassung
eines reichen Tatsachen- und Datenmaterials daher
gelegentlich mit Nutzen gebrauchen können, jeden-
falls nie ohne Interesse darin blättern.
E. Hennig.
Th. Wegner, „Geologie Westfalens und
der angrenzenden Gebiete". Westfalen-
land, Bd. I. (304 S. m. 197 Abbild, und einer
Tafel.) F. Schöningh, Paderborn. — Preis 7 Mk.,
geb. 8 Mk.
Eine wissenschaftlich sehr ernsthafte und er-
freulich vielseitige Heimatkunde einzelner deutscher
Gaue ist seit einiger Zeit in entschiedenem Auf-
schwünge begriffen. Es sei nur an derartige mono-
graphische Behandlungen Schleswig-Holsteins, der
Rheinlande, Schlesiens erinnert. Die Sammlung
,, Westfalenland", herausgegeben vom Verfasser des
hier genannten ersten Bandes scheint sich in würdig-
ster Weise solchen Vorgängern anzureihen. An-
gekündigt sind folgende weiteren Bände:
Süßwasserfauna von Thienemann, Pflanzen-
decke von Brockhausen, Geschichte (der
in Aussicht genommene Verfasser ist vorzeitig
gestorben und noch nicht ersetzt), Baukunst
von Ehrenberg, Malerei von Koch, Die
Dichter der Roten Erde von Gast eile.
Was die vorliegende ,, Geologie Westfalens" be-
trifft, so kann sie als eine hervorragende Einführung
in den Bau und die geologische Geschichte des
engeren Landes nicht nur, sondern ganz Mittel-
deutschlands gelten. Ist doch die Reihe der geolo-
gischen Formationen auf westfälischem Boden in
seltener Vollständigkeit zu studieren und auch der
Gebirgsbau übersichtlich und vielgestaltig zugleich.
Zudem ist nicht die Projektion des Aufbaues auf
die Oberfläche allein, sondern durch emsigen Berg-
bau wirklich der ganze Körper recht wohl be-
kannt. Dem Verfasser, a. o. Professor der Geologie
und Paläontologie an der Landesuniversität Münster,
verdankt das dortige Museum ein Querprofil durch
Mittel- und Nord Westfalen, im Jahre 1912 aus den
208
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 13
natürlichen Gesteinen in 26 m Länge aufgebaut.
Die Tafel gibt dies Profil mit zahlreichen Erläu-
terungen und einer Übersichtskarte wieder. Es
ist ein wahrer Genuß, sich in dieses Profil zu ver-
tiefen, aus dem allein die stratigraphischen und
tektonischen Hauptzüge der gesamten geologischen
Vergangenheit Westfalens aufs lebhafteste zu dem
Beschauer sprechen. Ihm ganz besonders wäre
die allerweiteste Verbreitung zu wünschen, auch
außerhalb der Grenzen Westfalens! Es gibt
kaum ein anschaulicheres Mittel für die mannig-
faltigsten Fragen und Probleme der Geologie.
Der erste Teil des Werkes „Die geologische
Geschichte Westfalens" ist eine historische Ver-
folgung der mannigfachen Geschicke des behan-
delten Gebietes seit dem Devon. Dabei müssen
einige zu verschiedenen Zeiten eingetretene ge-
birgsbildende Vorgänge besprochen werden, ohne
die der vielfache Wechsel von Land und Meer,
sowie die fossilen einander folgenden Faunen und
Floren nicht verständlich würden. Der durch sie
zustande gekommene heut vorliegende tektonische
Bau erfährt jedoch noch eine besondere eingehende
Darstellung im zweiten Teile: ,,Der geologische
Aufbau des Landes". Denn auch umgekehrt sind
diese gebirgsbildenden Vorgänge nicht zu erfassen
ohne genaue Berücksichtigung und Keimtnis der
stratigraphischen Verhältnisse. Der Bau des vari-
stischen und des saxonischen „Gebirges" (in einem
allgemeinverständlichen Werke vielleicht besser
„Faltung", da es sich z. T. um fossile, nicht mehr
vorhandene Gebirge handelt), sowie das zwischen
beiden gelegene Westfälische Tafelland bilden
den Gegenstand der Schilderungen in diesem
zweiten Teil, so daß im großen und ganzen die
Beschreibung des bestehenden Zustandes auf die
Schilderung der Vergangenheitsschicksale folgt.
Es ist selbstverständlich, daß die Wissenschaft den
umgekehrten Weg hat gehen müssen. Doch hat
der Leser den entschiedenen Vorteil davon, das
Sein aus dem Werden heraus verstehen zu lernen.
Die Darstellung nimmt dauernd, auch in der
gewissenhaften Erläuterung der unvermeidlichen
Fremdwörter, Bedacht darauf, auch dem ungeüb-
ten Leser versländlich zu bleiben, insbesondere
sorgt dafür auch die reiche Auswahl und die sehr
genaue Erläuterung der Abbildungen. Anderer-
seits geht sie allenthalben in der Herzählung aller
Daten und Beweise so sehr in die Tiefe, daß auch
der Fachmann sich in zahlreichen Fragen an Hand
des Buches sehr wohl orientieren kann, insbeson-
dere aber Studierenden die Lektüre warm emp-
fohlen werden kann. Wo Entscheidungen noch
ausstehen oder verschiedene Anschauungen neben-
einander bestehen, wird nicht einseitig Partei ge-
nommen, sondern das Problem klar und umfassend
genug dargelegt. Die Darstellung des Buntsand-
steins und Keupers, sowie der Entstehung der Porta
westfalica, die Wiedergabe der jüngeren Anschau-
ungen über die einzelnen Phasen der mesozoischen
und tertiären Faltungsvorgänge u. a. m. mögen in
diesem Zusammenhange hervorgehoben werden.
Das 222 Nummern umfassende und reichlich
zitierte Verzeichnis der Karten und Spezialarbeiten
ist übersichtlich angelegt und zugleich eine aus-
gezeichnete Bibliographie der Geologie Westfalens.
E. Hennig.
Literatur.
Handbuch der Entomologie , herausgegeb. von Prof. Dr.
Chr. Schröder. 4. Lieferung (Bd. I, Bogen 31 — 33 und
Bd. III, Bogen 1—7). Mit 84 Abbild i. Text. Jena '13,
G. Fischer. — 5 Mk.
Haecker, Prof. Dr. Valentin, Über Gedächtnis, Ver-
erbung und Pluripotenz. .August Weismann zum 80. Geburts-
tage gewidmet. Mit 14 ,-\bbild. im Te.\t. 97 S. Jena '14,
G. Fischei. — 2,50 Mk.
Lanessan, J. L. de, Transformisme et Creationisme
Contribution a l'histoire du transformisme depuis l'anliquite
jusqu'i nos jours. 352 S. Paris '14, Fcli.\ .'\lcan. — 6 fr
.^bendroth, Dr. Robert, Das bibliographische System
der Naturgeschichte und der Medizin (mit Einschluß der all-
gemeinen Naturwissenschaft). Nach den Fachkatalogen der
Universitätsbibliothek zu Leipzif; dargestellt, historisch-kritisch
eingeleitet und erläutert. 230 S. Borna und Lei|]zig '14,
Roh. Noske. — 4,50 Mk,
Die Süßwasserflora Deutschlands, Österreichs und der
Schweiz. Herausgegeben von Prof. Dr. A. Pascher. Heft i.
Flagellatae. I. Allgemeiner Teil von A. Pascher. Pantosto-
malinae, Protomasliginae, Distomatinae von E. Lemmermann.
Mit 252 Abbild, im Te.\t. Jena '14, G. Fischer. — Brosch.
3,50 INIk.
Oppel, Prof. Dr. .Albert. Leitfaden für das embryologi-
sche Praktikum und Grundriß der Entwicklungslehre des Men-
schen und der Wirbeltiere. Mit 323 Abbild, im Te.^t in 484
Einzeldarstellungen. 313 S. Jena '14, G. Fischer. — Geb.
II Mk.
Study, E., Die realistische Weltansicht und die Lehre
vom Räume. Geometrie, Anschauung und Erfahrung. Mi/ie'n
dy^oj/urorjTO^ ttiiicu. Braunschweig '14, Fr. Vieweg ^ Sohn.
— Geb. 5,20 Mk.
Rosenthal, Prof. Dr. Werner, Tierische Immunität.
Mit einer Abbild, im Text. 329 S. (Die Wissenschaft Bd. 53.)
Braunschweig '14, Fr. Vieweg & Sohn. — Geb. 7,20 Mk.
Zi cgier, Dr. J. H., Die Umwälzungen in den Grund-
anschauungen der Naturwissenschaft. Acht kritische Bemer-
kungen. 153 S. Bern '14, Fr. Semminger vorm. J. Heu-
berger's Verlag. — Brosch. 3 fr.
Inhalt: H. v. Büttel- Reepen: Das Problem der Elberfelder Pferde und die Telepathie. Heinrich Völker: Zur
Stammesgeschichte des Schildkrötenpanzers. — Einzelberichte: C. W. Kanolt; Die Schmelzpunkte einiger refrak-
tärer Oxyde. Langevin: Energieträgheit. Wien: Über die magnetische Beeinflussung der Wasserstoff kanalstrahlen.
Hesse: Haben polare Tiere einen sterilen Darm.' — Bücherbesprechungen: Nicolai Hartmann: Philosophi-
sche Grundfragen der Biologie. William Kingdon Clifford: Der Sinn der exakten Wissenschaft. Eugenio
Rignano: L'evolution du raisonnement. Wohlgemuth, J. ; Grundriß der Fermentmethoden. Cresson, A. : L'cs-
pece et son serviteur. Charles S. Minot: Die Methode der Wissenschaft. K. C. Rothe: Vorlesungen über all-
gemeine Methodik des Naturgeschichtsunterrichts. C. B. Klunzinger: Die Rundkrabben (Cyclometopa) des Roten
Meeres, v. Schrenck-Notzing: Materialisationsphänomene. .A. Siebe rg: Einführung in die Erdbeben- und Vulkan-
kunde Süditaliens. T h. Wegner: Geologie Westfalens und der angrenzenden Gebiete. — Literatur: Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Mich e in Leipzig, Marienstrafle IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Fulgc 13. lianH ;
der ganzen Reihe 29 H.i
Sonntag, den 5. April 1914.
Nummer 14.
rNachdruck verboten.]
Die Ursachen der Eiszeiten.
Von Alfred Frey.
Im Vordergriinde des Interesses in der Geologie
stellt gegenwärtig unzweifelhaft das Problem nach
den Ursachen der Eiszeiten. Die deutlichen Spuren,
die speziell die jungdiluviale Vereisung in der
Morphologie unserer Erde zurückließ, bedingen es,
daß nicht nur der Geologe, sondern auch der
Geograph mit dieser Erscheinung in Berührung
kommt. Durch diesen Kontakt mit einer Wissen-
schaft, die sich z. T. im Gegensatz zu der Geologie
ganz im Rahmen der Gegenwart bewegt, wurde
auch das kausale Problem enger an die Gegenwart
angeschlossen.
Bei der Betrachtung der verschiedenen Hypo-
thesen, die im Laufe der Zeit über diesen Gegen-
stand aufgestellt worden sind, können wir prinzi-
pielle Änderungen konstatieren. Diese stehen
unzweifelhaft im Zusammenhang mit dem jeweiligen
Stande der Forschung. Zuerst, als man die Spuren
einer Vergletscherung kannte, glaubte man mit
einer katastrophalen Erklärung auszukommen. In
der Tat ist es ganz begreiflich, daß eine Erscheinung,
die einzig dasteht in der Erdgeschichte, auch eine
besondere Erklärung benötigt.
Mit dem Fortschreiten der geologischen I-'or-
schung kamen Ergebnisse zum Vorschein, welche
die diluviale Vereisung nicht mehr isoliert in der
Erdgeschichte stehen ließen, sondern ihr ähnliche
Erscheinungen in anderen Epochen an die Seite
stellte. Es erfolgte die Entdeckung gewaltiger
Blocklehme (Tillit) und gekritzten Geschiebes in
gewaltigen Ablagerungen im Innern von Vorder-
indien und von Kaschmir. Ferner ließen sich ähn-
liche Gebilde konstatieren in Afrika, hauptsächlich
im Süden dieses Kontinents, dann in Südamerika
und Australien. ') Unzweifelhaft haben wir es hier
mit einer typischen Glazial-Fazies zu tun, die nach
ihrem geologischen Vorkommen als jungpaläo-
zoisch zu deuten ist. Nach dem gegenwärtigen
Stande der F'orschung beschränkt sie sich haupt-
sächlich auf die Kontinente der Süd-Hemisphäre.
Ferner wurde konstatiert, daß im Diluvium nicht
nur eine Verglelscherung stattfand, sondern deren
mehrere. Im allgemeinen werden die Interglazial-
zeiten zu kurz angesehen. Wir müssen annehmen,
daß die Interglazialzeiten bedeutend länger ge-
wesen sind als die Postglazialzeit. -) Es könnte
hier die Frage aufgeworfen werden, ob alle jungen
Glazialzeiten in ein und dieselbe Periode zu rechnen
seien. Tatsächlich haben auch Forscher, wie
Delafond und Deperet,'') fußend auf palä-
ontologischen Funden, die älteste Veigletscherung
ins Jungtertiär (Pliocän) gestellt. VVir möchten
damit nur andeuten, daß wir unter Umständen
nicht berechtigt sind, von einer diluvialen Eiszeit
zu sprechen im Gegensatz zu einer andern, sondern
daß jede diluviale Eiszeit einer andern gegenüber-
gestellt werden kann.
Ferner sind nach S e m p e r ■*) zweifelhafte Spuren
von Eiszeiten in der Ob. Kreide von England, im
Ob. Karbon und Unt. Perm Europas zu konstatieren.
Sehen wir von diesen zweifelhaften Spuren ab,
so können wir doch konstatieren, daß größere
Vereisungen nicht nur auf die jüngste Zeit unserer
Erde beschränkt sind, sondern auch in früheren
Perioden stattgefunden haben. Ja, James Groll '')
glaubt sogar annehmen zu dürfen, daß in jeder
Erdperiode Vereisungen vorgekommen seien.
Es ist nun klar, daß mit der Erkenntnis dieser
Tatsachen die Hypothesen zur Erklärung der Eis-
zeiten wesentlich andere geworden sind. Vor allem
haben sie den katastrophalen Charakter verloren.
Credner") sagt: ,, Nicht als ein katastrophenartig
unvermittelt über die Erde hereingebrochenes ein-
maliges Ereignis erscheint sie uns mehr, sondern
als ein von bestimmten Gesetzen beherrschtes,
klimatisches Phänomen, ein System mehrerer perio-
disch wiederholter großer Schwankungen des Klimas
unseres Planeten."
Von diesem Standpunkte aus, indem sie das
Glazialphänomen mit anderen klimatischen Er-
scheinungen der Vorwelt unserer Erde in Zu-
sammenhang brachten , betrachteten Frech')
und W. R. Eckardt*) das Eiszeitproblem.
Daß die diluvialen Vereisungen immer den Aus-
gangspunkt für dieses Problem bilden, verstehen
wir, wenn wir bedenken, daß die Spuren dieser
jüngsten Vereisung uns doch am besten erhalten
sind und uns daher am besten zugänglich, tatsäch-
lich auch am besten bearbeitet sind.
Das Natürlichste und Nächstliegende, ganz
dem Prinzip des Aktualismus Entsprechende wäre
die Erklärung, daß die Eiszeiten bedingt sein
müssen durch die jeweilige Verteilung von Wasser
') Vgl. Em. Kayser, Lehrbuch der Geologie, II. Teil,
1913. S. 277.
') Vgl. R. Credner „Das Eiszeit-Problem", Vlll. Jahres-
bericht d. geogr. Gesellschaft. Greifswald igoo — 1903.
') Delafond et Deperet. Les terrains tertiaires de la
Bresse. Paris 1893.
*) M. Sem per, Handwörterbuch der Naturwissenschaften,
Bd. 111, S. 78.
"1 Vgl. R. Credner a. a. O.
") Vgl. R. Credner a. a. O.
") F. Fr ech , ,,Studien über das Klima der geol. Vergangen-
heit". Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde, Berlin, Bd. 37,
igo2.
') \Vi 1 h. R. Ec kar d t. Das Klimaproblem. Braunschweig
1909.
2IO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 14
und Land und die damit hervorgerufenen klima-
tisclien Erscheinungen, wie Luftdruck, Winde und
Niederscliläge. PIs ist klar, daß die \"erteilung von
Wasser und Land immer einen bedingenden Faktor
für das Klima eines Gebietes sein müssen.
Die quartäre Vereisung ist aber weltumfassend
gewesen bei einer annähernd gleichen Verteilung
von Wasser und Land; zum mindesten war sie
nicht so verschieden, daß sie in einzelnen Gegen-
den eine Depression der Schneegrenze um mehr als
1000 m, wie z. B. in den Alpen, bewirken konnte!
Eine andere Erklärung geht darauf hinaus, die
Vergletscherungen aus den damaligen beträchtlichen
Erhebungen zu erklären. Unzweifelhaft muß eine
positive oder negative Höhenverschiebung Einfluß
auf die Schneegrenze haben. Wir müssen zugeben,
daß das westliche Europa und Nordamerika höher
gelegen haben als heute"); dazu addieren sich
dann noch die beträchtlicheren Höhen der da-
maligen Gebirge. England besaß eine selbständige
Vergletscherung. '") Es erhob sich soweit über
dem Meeresniveau, daß es mit dem Kontinente
in landfester Verbindung stand. Diese Höhe, ver-
bunden mit der ganzen Topographie, bedingen
aber noch lange keine \'ergletscherung dieser
Gegend bei Annahme der sonst gleichen klima-
tischen Bedingungen. Wäre diese Erklärung richtig,
daß allein durch die größeren Erhebungen eine
\^ergletschcrung möglich sei, so müßten uns aus
den Gebieten der gewaltigen Erhebungen der
kaledonischen und herzynischen Faltungen aus der
Zeit ihrer größten Erhebung glaziale Spuren vor-
handen sein, ebenso müßte die größte Vergletsche-
rung in den Alpen ins Tertiär fallen. Wohl dürfen
wir annehmen, daß die höhere Lage der nördlichen
Kontinente die Vereisungen begünstigt habe, daß
sie aber die Ursache der Vergletscherung ist,
müssen wir verneinen.
Allgemein bekannt und z. T. auch anerkannt ist
die Theorie von Arrhenius. ^') Sie beruht da-
rauf, daß der wechselnde CO.^-Gehalt der Atmo-
sphäre eine verschiedene Absorption der Wärme-
strahlen bewirkt. Nach eigenen experimentellen
LTntersuchungen sollte ein großer CO.,-Gehalt der
Atmosphäre die Absorption der Sonnenstrahlen
begünstigen, zugleich die Wärmeausstrahlung der
Erdoberfläche mehr oder weniger verhindern. Ein
geringer CO., Gehalt würde das Gegenteil bewirken.
Frech ^-) hat dann diese Theorie ausgebaut und
sie anzuwenden gesucht auf die ganze Erdgeschichte.
Nach ihm fallen die Zeiten der höchsten vulka-
nischen Tätigkeit zugleich mit Wärmeperioden
zusammen und Vergletscherungen mit Zeiten einer
minimalen vulkanischen Tätigkeit. Nach den Unter-
suchungen von Angström ^^) würde ein Plus von
COo gegenüber dem heutigen Gehalt der Atmo-
sphäre wirkungslos sein für die Absorption derjenigen
Strahlen, die absorptionsfähig sind. Nach seinen
Untersuchungen wären nicht einmal soviel nötig,
^,5 würde genügen. Dadurch ist natürlich der
Theorie von Arrhenius-Frech der experimen-
telle Boden genommen. Aber auch in geologischer
Hinsicht weisen Koken") und Gregory''')
darauf hin, daß Befunde vorhanden sind, die gegen
diese Theorie sprechen.
Gestützt auf die Beobachtungen , daß in der
Gegenwart die Polhöhen ein und desselben Ortes
kleine Schwankungen aufweisen, was auf eine
Schwankung der Erdpole zurückzuführen ist, suchen
einige Forscher den Vereisungen der Erde mit
der Annahme von Polschwankungen beizukommen.
Man nimmt an, der Nordpol habe sich zur dilu-
vialen Eiszeit auf die Gegend Spitzbergen — Grön-
land verschoben. Dabei wird aber nur eine atlan-
tische Vereisung vorausgesetzt. Wir wissen aber,
daß auch Alaska "'l vollständig vergletschert war.
Ferner ist sicher festgestellt, daß die diluviale Ver-
eisung, wie schon oben bemerkt, eine wellum-
fassende war. Eine Polverschiebung im ange-
deuteten Sinne erklären diese Tatsachen nicht.
Die bis jetzt besprochenen Theorien nehmen
zur Erklärung der Eiszeiten rein terrestrische Ver-
änderungen an. Wir müssen sie als unzureichend
erklären.
In scharfsinniger Weise hat James Groll'')
die Entstehung der Eiszeiten auf die wechselnde
Exzentrizität der Erdbahn zurückgeführt. Bekannt-
lich haben bei dem momentanen Betrag der Ex-
zentrizität der Erdbahn die beiden Hemisphären
ungleiche Wärmemengen; die Nordhalbkugel be-
sitzt mehr Wärme als die Südhalbkugel. Durch
eine Änderung in der Exzentrizität könnten für
die eine Halbkugel so ungünstige thermische Ver-
hältnisse entstehen, dai3 eine Vereisung wohl
möglich wäre. Sie müßte sich dann je nur auf
eine Hemisphäre beschränken. Wir wissen aber,
daß z. B. die diluviale Vereisung gleichzeitig auf
beide Erdhälften sich erstreckte.'*) Nach Groll
soll sich die Exzentrizität der Erdbahn in großen
Perioden ändern. Die im Verhältnis sich rasch
abwechselnden Glazial- und Interglazialzeiten fän-
den in der Croll'schen Hypothese keine Er-
klärung.
Eine prinzipielle Frage bei der Erklärung der
Eiszeiten dreht sich darum , ob die Vergletsche-
") Vgl. Em. Kayser a. a. O., S. 673 und S. 733.
">) Vgl. Em. Kayser a. a. ( >., S. 729.
") On the Influence of Caibonic Acide in the Air upon
the Temperature of the Ground. Philosophical Magazine 1S96.
Bd. XU.
'2) F. Frech a. a. O.
'■') Angst rö m , „Über die Bedeutung des Wasserdampfes
und der Kohlensäure bei der Absorption der Erdatmosphäre
(Anm. d. Physik N. F. 3).
Derselbe, Einige Bemerkungen zur Absorption der Erd-
strahlen durch atmosph. CO2 (Övfers. Vetensk. Akad. Förhandl.
190 II.
"1 Koken, Neues Jahrbuch f. Mineralogie usw. Festband
1907.
'•'■) Verh. internal. Geol. Kongreß, Mexiko 1906, I.
"*) Vgl. Xaturw. Wochenschr. N. F. XI. Bd., 1912, Xr. 23,
S. 3^8 Anm. _ ij
"'■) James Groll, „Climate and time in thcir geologi- li
cal relations , a Iheory of secular changes of the earths cli-
mate." London 1S75.
'») Vgl. E. Kayser, a. a. O. S. 740.
N. F. XIII. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
211
rung durch vermehrte Niederschläge oder durch
Temperaturerniedrigung hervorgerufen worden sei.
Zur Erzeugung größerer Niederschläge müssen
größere Verdunstungen stattfinden. Dies wurde
auf das Vorhandensein größerer Wasserflächen
oder auf vulkanische Ausbrüche zurückgeführt.
Zum ersteren Argument müssen wir einwenden,
daß, wie schon oben hervorgehoben, die Ver-
teilung von Wasser und Land bei der letzten
Glazialzeit annähernd gleich war wie heute; zum
zweiten wissen wir, daß eine vulkanische Tätig-
keit in größerem Maßstabe aus jenen Zeiten nicht
bekannt ist. Rekonstruiert man nach den heutigen
Erfahrungen die vorherrschenden Winde für Europa,
so müssen wir annehmen , daß dieselben vor-
herrschend aus kalten, aus dem Innern des Kon-
tinents stammenden Luftströmungen bestanden.
Über dem vereisten Europa lag ein barisches
Maximum, von dem aus antizyklonale Luftbewegun-
gen ausgingen. Wir nehmen mit l'enck'") an,
daß die Vergletscherungen durch Temperatur-
erniedrigungen hervorgerufen worden seien.
Nicht nur alles Lebendige auf der Erde, son-
dern auch alle Bewegungen und Vorgänge in der
Atmosphäre müssen wir in letzter Linie abhängig
machen von der Strahlungsintensität der Sonne.
Wäre nun diese in jedem Momente des Jahres
gleich stark durch Jahrzehnte hindurch, so müßte
theoretisch jeder Moment des Jahres durch einen
festen genau bestimmten Zustand charakterisiert
sein. Daß dem nicht so ist, wissen wir alle zur
") Penck und ürückner, ,,Die Alpen im Eiszeitalter",
III. Bd., S. 1146.
Genüge. Allerdings müssen wir zugeben, daß sich
das Relief der Erdoberfläche durch Abtragung
und Aufschüttung ändert, daß dadurch auch die
Strahlungswirkungen andere werden. Das sind
aber Vorgänge, abgesehen von vulkanischen Er-
scheinungen, die sich allmählich abspielen, daraus
können wir die Tatsache nicht erklären, daß sich
oft Jahre ablösen mit ganz verschiedenem Witte-
rungscharakter. Dies ließe sich daraus erklären
daß die Strahlungsintensität der Sonne nicht kon-
stant ist. Ist die Strahlungsintensität in der
Gegenwart nicht konstant, so muß sie auch in
der Vergangenheit Schwankungen unterworfen ge-
wesen sein. So können wir die Eiszeiten erklären
als eine Zeit, die im Vergleich zu heute ausge-
zeichnet war durch eine große negative Strahlungs-
anomalie, die ihre Ursache in der Sonne hatte.
Dadurch ist das Problem in engsten Zusammen-
hang mit anderen paläoklimatischen Problemen
gebracht. Im Grunde erwächst uns in der Tat-
sache, daß das Tertiärklima sich wesentlich vom
heutigen unterscheidet, das nämliche Problem wie
bei der Erklärung der Eiszeiten. Beide Erschei-
nungen sind im Vergleiche zur Gegenwart Ex-
treme, die sich aus StrahlungsanomaHen erklären
lassen. Ob sich darin Gesetzmäßigkeiten erkennen
lassen, wissen wir noch nicht. Es ist nicht aus-
geschlossen, daß uns die heute noch am Anfang
stehenden Untersuchungen über die Solarkon-
stante -") einst Aufschluß geben wird über die
Gesetze und Ursachen der Inkonstanz der Strah-
lungsintensität.
2») Vgl. auch Naturw. Wocliensclir. N. F. XII. Bd., 1913,
Nr. 45, S. 716.
Das Wesen der Enzyiiiwirliiiug.
Von 0«o Bürger.
[Nachdruck verboten.]
Nach den Kenntnissen, wie wir sie heute be-
sitzen, definieren wir Enzyme als durch lebende
Wesen hervorgebrachte Katalysatoren. ^) Es soll
damit jedoch nicht etwa gesagt sein, daß man
nicht vielleicht später einmal die Enzyme im La-
boratorium synthetisch herstellen könnte.
Ein Katalysator ist ein Stoff, welcher, ohne
selbst durch die Reaktion verbraucht zu werden,
die Geschwindigkeit ändert, mit welcher eine Re-
aktion ihre Gleichgewichtslage erreicht. Sauerstoff
und Wasserstoff verbinden sich bei gewöhnlicher
Temperatur so langsam, daß wir eine Bildung von
Wasser nicht wahrnehmen können. Erhitzen wir
jedoch das Gasgemisch oder lassen wir elektrische
Funken durchschlagen, so findet eine merkliche
Vereinigung der beiden Elemente statt. Aber
auch schon die Gegenwart einer winzigen Menge
fein verteilten Platins genügt, um bei Zimmer-
temperatur eine Vereinigung zu bewirken. Dieses
') Man vgl. auch meine Arbeit in Nr. 42 dieser Zeit-
schrift (Jahrgang 1912), Seite 666—68.
Beispiel aus der endlosen Kette der Katalysen
mag die Erscheinung an und für sich erklären.
Um nun die wesentlichen Merkmale einer
Katalyse zu erkennen, wie sie bei Reaktionen auf-
treten, deren Agenzien eine bekannte chemische
Zusammensetzung besitzen, teilen wir die Reak-
tionen in 2 Klassen; einmal in solche, die sich
zwischen Ionen abspielen und die augenblicklich
verlaufen (Schwefelsäure fällt sofort aus einem
löslichen Bariumsalz das unlösliche Sulfat aus),
andererseits in solche, die eine meßbare Zeit nötig
haben, um ihr Endstadium zu erreichen (Hydrolyse
des Rohrzuckers).
Nach unserer Erklärung ist ein Katalysator
ein Stoff, der die Geschwindigkeit einer Reaktion
ändert, sie also entweder beschleunigt, oder aber
sie verzögert. Das angeführte Beispiel für kata-
lytische Reaktionen bezieht sich auf Reaktions-
beschleunigung. Ein Beispiel für den umgekehrten
Fall, eine sogenannte ,, negative Katalyse", ist die
Hemmung der Phosphoroxydation durch eine Spur
Ätherdampf.
Läßt man einer Reaktion genügend Zeit zu
ihrer Vollendung, so ist es gleich, ob man eine
geringe oder eine größere Menge des Katalysators
212
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 14
dem Reaktionsgemisch zusetzt, vorausgesetzt natür-
Hcli, daß der Katalysator nicht etwa vorher para-
lysiert oder zerstört wurde. Der Grad der Re-
aktionsbeschleunigung ist der Konzentration des
vorhandenen Katalysators proportional. Trotz
dieses Gesetzes müssen wir darüber erstaunt sein,
wie geringe Mengen eines Katalysators noch dazu
imstande sind, eine merkliche Wirkung zu erzeugen.
Nach B r e d i g und v. B e r n e c k ist kolloidales
Platin imstande, auf eine Menge Wasserstoffsuper-
oxyd einzuwirken, die 1000 000 fach so groß ist,
wie das eigene Gewicht.
Eine große Anzahl katalytischer Reaktionen
ist auf die Bildung von Zwischenprodukten zurück-
zuführen. Nach Ostwald ist die Summe der
Geschwindigkeiten jener Zwischenreaktionen immer
größer als die Geschwindigkeit der nicht kataly-
sierten Reaktion, wenn es sich überhaupt um eine
Katalyse mit Bindung von Katalysator und Substrat
handelt. Die Reaktionsgeschwindigkeit zwischen
Jodwasserstoffsäure und VVasserstoffsuperoxyd wird
bedeutend gesteigert, wenn als Katalysator Molyb-
dänsäure zugesetzt wird. Dies ist nach Brode
eine katalytische Reaktion mit intermediärer Bin-
dung; es konnten nämlich als Zwischenprodukte eine
Reihe von Permolybdänsäuren nachgewiesen werden.
Als man schon frühzeitig aus dem lebenden
Organismus den Katalysatoren sehr ähnliche Stoffe
hergestellt hatte, wie z. B. 1833 die Diastase,
nannte man diese Körper Fermente und unter-
schied nach Pasten r zwei verschiedene Gruppen:
Diastase und ähnliche Fermente nannte man lös-
liche oder anorganische Fermente, während man
z. B. Hefe ein organisiertes h'erment nannte.
Diese Bezeichnung führte jedoch zu mancherlei
Verwirrung, die K ü h n e veranlaßten, einen neuen
Namen ,, Enzym", einzuführen. Nach dieser Be-
zeichnungsweise definieren wir Enzyme als durch
lebende Organismen hervorgebrachte Katalysatoren.
Wie wir oben gesehen haben, gibt es nur zwei
Eigenschaften, die allen Katalysatoren gemeinsam
sind, einmal ändern sie. die Geschwindigkeit einer
in Gang befindlichen Reaktion, ohne jedoch andrer-
seits in die Endprodukte der Reaktion einzutreten.
Wenn nun unsere Definition richtig ist, müssen
die Enzyme ebenfalls diese Eigenschaften besitzen.
Auf den Beweis hier einzugehen, würde mich zu
weit führen. Auch bei den Enzymen genügen
winzige Spuren, um eine Katalyse zu beschleunigen.
Invertase kann nach O'Sullivan und Tompson
ihr 2poooofaches Gewicht Saccharose hydroly-
sieren; Labferment vermag nach Hammarsten
sein 400000 faches Gewicht Kasein in Milch zur
Gerinnung zu bringen.
Die chemischen und physikalischen Eigen-
schaften der Enzyme werden hauptsächlich durch
ihre kolloide Natur gekennzeichnet. Enzyme be-
sitzen daher die Fähigkeit, Bestandteile einer
Lösung, aus der sie ausgefällt werden, durch
Adsorption mitzureißen. Was man über die che-
mische Natur der Enzyme sagen kann, sind alles
mehr Vermutungen als Talsachen.
Zum Unterschied von den anorganischen Kata-
lysatoren werden Enz)-me bei Temperaturen von
etwa 100" zerstört. Dies scheint eine h'olge der
kolloiden Natur dieser Stoffe zu sein und stellt ein
oft angewandtes Hilfsmittel dar, um zu entscheiden,
ob es sich um ein Enzym oder einen Katalysator
handelt.
189S sprach van 'tHoff die Vermutung aus,
Enzyme könnten auch chemische Synthesen aus-
führen bzw. beschleunigen. Diese Vermutung
wurde in den verflossenen Jahren durch zahlreiche
Versuche bewiesen. Graft Hill beobachtete
im gleichen Jahre eine synthetische Wirkung der
Hefemaltase. Wirkt Hefemaltase monatelang auf
40 " 0 'gc Glukoselösung bei 30" ein, so wird ihr
Reduktions- und Drehungsvermögen im Sinne einer
Maltosebildung geändert. Wie jedoch Emmer-
ling nachwies, beruht die beobachtete Wirkung
nicht auf der Bildung von Maltose, sondern von
Isomaltose und dextrinartigen Produkten. Isomal-
tose wird auch durch Maltase nicht weiter ge-
spalten. Emulsin verhält sich Maltose gegenüber
umgekehrt wie Maltase; es spaltet Isomaltose, aber
synthetisiert Glukose zu Maltose. Diese Versuchs-
ergebnisse verallgemeinerte Armstrong dahin,
daß ,, Enzyme gerade diejenigen Moleküle aufbauen,
welche sie nicht zu spalten vermögen". Ist diese
Behauptung richtig, so muß man annehmen, daß
diejenigen Enzyme, welche ein chemisches Gleich-
gewicht von beiden Seiten aus herstellen, Ge-
mische eines sj-nthetisierenden und eines hydro-
l\sierenden Enzyms darstellen.
Bei der Hydrolyse des Rohrzuckers entsteht
eine d-Glukose, die von Tau r et als a-Glukose
bezeichnet wurde. Diese d-Glukose geht allmäh-
lich in eine t-Glukose über, die ein Gleichgewicht
zwischen der a-Glukose und der optisch isomeren
Form, der ^-Glukose, darstellt.
In jeder Hefe, die Maltose fermentiert, ist, wie
Fischer gezeigt hat, ein Enzym vorhanden, das
Maltose hydrolysiert, dieses Enzym ist die Maltase.
Die Maltase vermag das «-Mcthylglukosid, aber
nicht die ,i-Form zu hydrolysieren, während um-
gekehrt das Emulsin das a-Glukosid nicht an-
greift und das p'-Glukosid, mit Leichtigkeit hydro-
lysiert. Maltose erscheint also seiner Struktur nach
als « Glukosid, während die natürlichen Glukoside
l'z. B. das Salizini /i-Glukoside sind. — Außer diesen
enzymatischen Synthesen sind uns auch noch andere
bekannt.
Wird ein Ester von Wasser hydrolysiert, so
verläuft die Reaktion zumeist sehr langsam, wird
aber in dem Maße, wie die Konzentration der ge-
bildeten freien Säure zunimmt, sehr beschleunigt.
Ostwald hat diesen Vorgang mit dem Namen
.Autokatalyse" belegt. Verschwindet im Verlaufe
der Reaktion der Katalysator, so handelt es sich
um eine negative Autokatalyse.
Die Faktoren, welche die Reaktionsgeschwin-
digkeit einer Enzymlösung beeinflussen, sind etwa
folgende :
A) Verzögerung erfolgt durch:
N. F. XIII. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
213
1. Reversibilität (Gleichgewichtsänderung).
2. Verbindung des Enzyms mit dem Sub-
strat.
3. Negative Autokatalyse.
4. Zerstörung der Enzymeigenschaften.
B) Beschleunigung erfolgt durch :
I. Wie A) 2., wenn ein verhältnismäßig
großer Überschuß des Substrates vor-
handen ist.
Soll ein Enzym seine Aktivität entfalten , so
muß es vorher irgendeine Bindung mit dem Sub-
strat eingehen. Da die Enzyme Kolloide sind,
neigen sie besonders zur Bildung sog. „Adsorp-
tionsverbindungen".
Von größerer und allgemeinerer Bedeutung
für das Zustandekommen enzymatischer Reak-
tionen, als man bis vor kurzem angenommen
hatte, sind die sog. Aktivatoren oder Ko-Enzyme.
iVIagnus unterwarf einen Leberextrakt der Dia-
lyse, dabei verlor dieser nach und nach seine an-
fängliche lipolytische Fähigkeit, die er jedoch
wiedergewann, sobald das Dialysat wieder hinzu-
gefügt wurde. Der dialysierte inaktive Extrakt
konnte auch durch Vermischen mit gekochtem
Leberextrakt wieder aktiv gemacht werden. Der
Teil, der bei der Dialyse nicht heraus diffundierte,
wurde durch Kochen zerstört, kann also als das
eigentliche Enzym betrachtet werden. Der dialy-
sable Stoff dagegen heißt „Kocnzym". Bertrand
beobachtete eine vermehrte Oxydationskraft der
Laccase beim Zusatz von geringen Mengen Man-
gansalzen und verwandte hierbei zum ersten Male
den Namen „Koenzym" oder „Koferment", ob-
gleich wir es hier eher mit einem sog. „Accelera-
tor" zu tun haben. Auch für das Enzym des
Hefepreßsaftes konnten Harden und Young
ein koenzymatisches Verwandtschaftsverhältnis
feststellen. F"iltriert man Hefesaft durch ein
Martin'sches Gelatinefilter, so erhält man eine
Substanz, die, obgleich sie die Zymase enthält,
inaktiv ist. Bringt man nun einen Teil des Fil-
trates (das für sich allein ebenfalls inaktiv ist) zu
dem Enzym, so findet eine starke Fermentation
statt, wobei jedoch vorausgesetzt ist, daß das
Filtrat auch anorganische Phosphate gelöst ent-
hält, die gleichfalls als Koenzym wirken. Die
Natur des anderen Koenzyms ist uns bis jetzt
noch unbekannt.
Ähnlich , wie man durch Einspritzen von
Toxinen in den lebenden Organismus Antitoxine
erhält, so bildet der Organismus auch sog. Anti-
enzyme als Schutzmittel gegen körperfremde
Enzyme. Aber auch das normale Serum enthält
Substanzen, welche z. B. die Trypsinwirkung mehr
oder weniger vollständig aufheben; da es nach den
bis jetzt bekannten Tatsachen nicht wahrscheinlich
ist, daß diese Körper von den eigentlichen Anti-
enzymen wesentlich verschieden sind, so kann man
sie ebenfalls unter die Antienzyme rechnen. Das
Blut enthält normalerweise einige Antienzyme, so
Antitrypsin und Antilab; andere können durch
subkutane Injektion von Enzymen erhalten werden.
(So hergestellt wurden die Antikörper von Lipase,
Emulsin, Amylase, Pepsin, Papain und Urease.)
Wie verschieden hohe Temperaturen auf En-
zyme einwirken, wurde oben erwähnt. Auch ver-
schiedenartige Bestrahlung äußert sich in ver-
schiedener Weise. Zwar scheinen die Enzyme
keine so hohe Lichtempfindlichkeit zu besitzen
wie die Toxine. Strahlen der Wellenlänge 280 ((/(
schwächen Trypsin, Diastase und Labferment,
allerdings erfordern die Enzyme zu ihrer Zer-
störung eine bedeutend längere Zeit als die Toxine.
Wie Jamada und Jodlbauer fanden, schädigen
die durch Glas durchtretenden Sonnenstrahlen
Invertase , aber ausgesprochen nur dann , wenn
Sauerstoft' zugegen ist. Stärker hemmend als ge-
wöhnliche Strahlen wirken ultraviolette Strahlen.
So fand R. Green, daß Diastase durch ultra-
violette Strahlen zerstört wird, während sichtbare
Strahlen im Gegenteil dieses Enzym aktivieren.
Von Röntgenstrahlen werden Enzyme nicht ge-
schwächt, während Radiumstrahlen und Radium-
emanation nicht immer ohne Einfluß auf Enzyme
sind. ^)
Experimentelle Ergebnisse über den Verlauf
enzymatischer Reaktionen anzugeben dürfte sich
aus dem Grunde nicht empfehlen, da dies doch
lediglich nur ein Aufzählen und Aneinanderreihen
von Zahlen sein würde, die nicht von allgemeinem
Interesse sind.
Der lebende Organismus ist mit Hilfe der
Enzyme bei gewöhnlicher Temperatur und bei
Gegenwart gewisser Stoffe in der Lage, eine
ganze Reihe oft verwickelter chemischer Reak-
tionen ablaufen zu lassen, zu deren Gelingen wir
außerhalb des Körpers höhere Temperaturen und
oft kräftige Reagenzien benötigen.
Im allgemeinen können wir sagen, daß sich
Enzymreaktionen auf die Wirkungen der Kataly-
satoren zurückführen lassen.
') Man vgl. auch; W. M. Bayliss: „Das Wesen der
Enzymwirkung", deutsch von K. Schorr. (Th. Steinkojjff,
Dresden 1910.)
Einzelberichte.
Paläontologie. Über eine Platte mit pracht-
voll erhaltenen Crinoideen berichtet R.S. Baßler
(Proceedings of the United States National Mu-
seum Bd. 46, S. 57 — 59, Washington 191 3). Es
handelt sich um die Gattung Scyphocrinus, die
dem Obersilur und Unterdevon angehört. Das
auf zwei Tafeln wiedergegebene Stück ist nicht
allein ein paläontologisches Wertstück, das nun-
mehr der Schausammlung des National Museum
zur Zierde gereicht, sondern es ist auch bemer-
214
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 14
kenswert als ein kleines Kunstwerk der Präpara-
tion und auch durch die Fundgeschichte. Der
Fundort ist in der Umgebung des Cape Girardeau,
Missouri am Mississippi gelegen und zwar fern
jeder Station oder Landungsstelle, so daß die
Funde im Gesamtgewicht von 4500 Pfund nur
durch besondere Vorkehrungen geborgen werden
konnten. Das Wichtigste ist aber, dai3 die
schöne Ausbeute das Ergebnis planvollen Suchens,
also ein von vornherein erstrebtes Ziel war. Ein
Reweis mehr zu manchen anderen in neuerer Zeit,
wie sehr die Paläontologie durch das in der Ar-
chäologie längst angewandte Forschungsmittel
systematischen Sammeins oder Grabens gewinnen
kann, während sie bisher auf die zufällig beim
Verfolgen anderer Zwecke abfallenden Brocken
angewiesen zu sein pflegte. E. Hennig.
Geologie. Die Wärmeleitung der Gesteine
und die Temperatur in der Tiefe. ^) Die Gesteine
besitzen eine verschiedene Wärmeleitfähigkeit, die
auf die Temperatur von gewissem Einfluß ist, was
mit ein Grund ist für die Verschiedenheit der
geothermischen Tiefenstufe. Je größer die Unter-
schiede in der Wärmeleitfähigkeit und je mäch-
tiger die verschiedenen Gesteine sind, desto be-
deutender ist dieser Einfluß. Einheitliche Kristalle
besitzen ein größeres Wärmeleitungsvermögen mit
einer anderen Temperaturabhängigkeit als Gesteine,
die aus denselben aber kleinen Mineralkörnern zu-
sammengesetzt sind. Ouarzit zeigt eine viel ge-
ringere Wärmeleitfähigkeit als ein Quarzkristall,
weil sich zwischen den Trennungsflächen der ein-
zelnen Mineralkörner häufig noch Luft befindet,
die bekanntlich ein schlechter Wärmeleiter ist.
Poröse Gesteine leiten die Wärme viel schlechter
als dichte Gesteine. Umgekehrt sind poröse Ge-
steine, deren Lumina mit Wasser erfüllt sind, durch
eine sehr erhebliche Wärmeleitfähigkeit ausge-
zeichnet, die unter LTmständen auf das doppelte
und dreifache steigen kann (Wasser leitet gegen-
über Luft viel besser). In nicht allzu großer Tiefe
pflegen aber die Gesteine meist bergfeucht zu sein.
Der Einfluß des Wassers als Bergfeuchtigkeit wirkt
ausgleichend zwischen porösen und weniger porösen
Gesteinen.
Parallel geschichtete Gesteine besitzen eine mit
der Richtung verschiedene Wärmeleitfähigkeit. Beim
Bau des Simplontunnels wurde man zum ersten
Male mit der Tatsache bekannt, daß die Erdwärme
in der Schichtrichtung viel leichter abfließt als
quer zu dieser. Bei steiler Schichtstellung erfolgt
die Temperaturzunahme langsamer als bei horizon-
taler. So beobachtete man im Simplontunnel bei
steil stehenden Schichten eine geothermische Tiefen-
stufe von 50 m, während sie bei flacher Schichten-
stellung nur 30—40 m betrug. Da im Simplon-
tunnel nur in der Nähe des Nordportales steil
stehende Schichtung vorkommt und im ganzen
') J. Koen igsb er ge r , Geologische Rundschau, Bd. 4,
H. 7, 1913.
Übrigen Teil mehr oder weniger flache Lagerung
auftritt, so traf man lo — 12 " höhere Temperaturen
an, als man nach den Erfahrungen in den anderen
Alpentunnels erwartet hatte. In 8',, km Entfer-
nung vom Nordportal stieg die Temperatur auf
fast 54 " C, während man auf eine Temperatur
von 42 " C gerechnet hatte.
Normaler Granit, Gneis (im Mittel), sowie Kalk
und Marmor zeigen praktisch nahezu das gleiche
Wärmeleitungs vermögen.
Neben der verschiedenen Wärmeleitfähigkeit
muß noch die Begrenzung und Mächtigkeit der
Gesteine beachtet werden. Einlagerungen von
Gesteinsschichten mit größerer oder kleinerer
Wärmeleitfähigkeit können nur dann eine erheb-
lich andere Temperatur besitzen, wenn Gesteins-
komplexe von größerer Mächtigkeit vorliegen.
Selbst bei recht verschiedenen Leitfähigkeiten tritt
kein Temperatursprung, sondern nur ein langsamer
Übergang ein.
Von praktischer Bedeutung ist die Wärme-
leitung der Gesteine für den Bergbau. Große
P^rzmassen zeigen eine erheblichere VVärmcleit-
fähigkeit als das Nebengestein, wodurch die Tiefen-
stufe vergrößert wird. Durch die natürliche Ven-
tilation (Schächte) wird aber die Temperatur in
Bergwerken erheblich vermindert. In Bergwerken
mit oxydierbaren Mineralien (so am Rammeisberg,
in Rio Tinto, sowie in den Schwefelgruben Sizi-
liens) macht sich durch die wenn auch langsam
diffundierende Luft eine Erwärmung geltend, wo-
mit eine Verkleinerung der normalen Tiefenstufe
eintritt. Hier sind in abgesperrten Stollen viel
iiöhere Temperaturen zu beobachten, als in dem
offenen, aber nicht ventilierten Bergwerke. In den
nicht abgesperrten Stollen geht aber die Oxyda-
tion noch stärker vor sich. Auf der andern Seite
ist aber die Luftkühlung dann so stark, daß die
entwickelte Wärme größtenteils weggescliaftt wird.
In Bergwerken, in denen oxydierbare Mineralien
fehlen (z. B. im Siegener Gebiet), wird die natür-
liche Ventilation kühlend wirken und auch auf die
abgesperrten Räume indirekt durch das Gestein
hindurch sich geltend machen.
V. Hohenstein.
Geographie. „Polygonboden und thufur auf
Island" sind Untersuchungen betitelt, die Th.
Thoroddsen angestellt hat (Petermann's Geogr.
Mitteilungen 1913, Heft 11).
Schon Meinardus hat auf den Bodenfliiß
und die damit nicht ohne weiteres zusammen-
hängenden Strukturböden hingewiesen. ^) Beide
Erscheinungen sind auch in Island sehr häufig,
dazu kommen dort noch die Bülten (thufa, PI.
thufur), die von großer Bedeutung für den Pflanzen-
wuchs und Bodenbau sind. Diese ,, thufur" stehen
in enger genetischer Beziehung zum Polygonboden;
die wesentliche Bedingung für die Bildung beider
ist das Bodeneis. Die Tiefe, in der das isländische
') Naturw. Wochenschr. N. F. XI, 1912, .S. 817.
N. F. XIII. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
215
Bodeneis im Frülijahr angetroffen wird, ist äußerst
ungleich nach den verschiedenen Landesteilen und
nach der Witterung; es kann sicli in den nörd-
lichsten Gegenden nahezu den ganzen Sommer
halten, es ist im größten Teil des Landes im Juni
in einer Tiefe von i — 1 '/., m vorhanden, im Moch-
land den ganzen Sommer. Nur an Stellen be-
deutender Erdwärme fehlt es.
Der Polygonboden bildet sich im allge-
meinen nur auf flachem Lande, wo der Erdboden
mit Ton und Schutt vermischt ist; der Boden ist
in mehr oder minder regelmäßige Vielecke ge-
teilt, die durch Reihen von Steinen oder Schutt
getrennt sind, während das Innere von steinfreiem
Ton eingenommen wird. Pflanzenwuchs findet
sich gewöhnlich nur in den Schuttringen, da der
Tonboden in der Mitte zu feucht ist. Erst wenn
der Boden trockener wird, breitet sich die Vege-
tation allmählich iiber die P'elder aus, besonders
wenn der Wind Staub hinzuträgt. Die Polygone
sind von verschiedener Größe und zeigen im all-
gemeinen einen Durchmesser von i — i V2 rn-
Beim Austrocknen bilden sich in tonhaltigem
Boden eine Menge Risse, die auch unter dem
Einfluß der Kälte entstehen können. Daher ist
die Erdschicht der Oberfläche von einem Netz
von Rissen und Spalten in unregelmäßige Stücke
oder eckige Zylinder geteilt. Bodeneis und Spalten
sind nach Thoroddsen's Meinung zur Bildung
von Bodeneis und Büken erforderlich, wozu noch
Frost und ungleiche Verdunstung auf der Ober-
fläche kommen.
In flachem sandigen, abflußlosen Schuttboden
wird bei der Schneeschmelze der ganze Erdboden
von Wasser gesättigt. Das Wasser steht eben
zur Erde oder erhebt sich noch über die Ober-
fläche. Im Laufe des Frühjahrs verdampft es
teilweise, zum anderen Teil fließt es ab. In mit
Ton vermischtem und mit einem Netz von Rissen
durchzogenen Schuttboden, wo während des Früh-
jahrs der Boden am Tage auftaut, nachts wieder
gefriert, ist es anders. Da bildet das Bodeneis
eine Grenze, durch die das Wasser nicht abfließen
kann, aber durch die Risse im Boden wird ein
gleichmäßiges Verdunsten an der Oberfläche ver-
hindert. Das Wasser sammelt sich in diesen
Rissen und Vertiefungen, in denen die Verdunstung
langsamer vor sich geht als auf den Polygonen
selbst, so daß von der Mitte derselben das Wasser
von den Spalten aus aufgesaugt wird ; toniger
Erdboden besitzt große Kapillarität, die durch
Vermischung mit Humus noch vermehrt wird.
Nachts friert der Polygonboden teilweise wieder,
im Laufe des Tages steigt das Wasser vermöge
der Kapillarität und der Verdunstung, so daß sich
die Mittelpartie des Kreises hebt. Hierdurch
wird eine Wanderung der leichteren Teilchen nach
oben verursacht, und die schwereren an die Seite
geschoben. Der Druck von unten, der so bedeu-
tend ist, daß er 10—20 cm dicken Rasentorf zu
sprengen vermag, schiebt den gröberen Schutt
zur Seite, so daß er in den Rissen des Erdbodens
liegen bleibt. LTntcr der Schicht des Bodeneises
ist der Schutt unregelmäßig im Ton verstreut, er
ordnet sich nur an der Oberflächenschicht. So-
bald im Sommer das Bodeneis schmilzt, fließt das
Wasser ab und der Boden trocknet aus. Wo der
Boden aus tonfreiem Sande besieht, und wo sich
kein Bodeneis bildet, fehlt der Polygonboden.
Die BültenM (thufur), sind größere oder
kleinere Erdhügelchen, die massenweis auftreten.
Sie besitzen einen Durchmesser von '/g — 2 m und
'/i — V-, rn Höhe, sind meist länglich und werden
nur durch schmale Rinnen voneinander getrennt.
Der mit Rasentorf bedeckte Boden und die Vege-
tation sind ähnlich wie der Polygonboden von
einem Netz von Rissen durchzogen. Die Büken
sind ebenfalls durch Spaltensysteme des Unter-
grundes bedingt. Der humusreiche Rasentorf
kann vermöge seiner Kapillarität und großen
Wasserkapazität viel Wasser aufnehmen (50 — 60 *" „).
Im Frühjahr ist der Torf auf den kleineren Büken
wie ein Schwamm mit Wasser getränkt. Streifen
vulkanischer Asche im Erdboden haben sich der
Form der Büken gemäß nach oben in Kurven
gebogen — ein Beweis für den lokalen Druck
von unten. Bei der Schneeschmelze sind die
Rinnen zwischen den Büken häufig zur Hälfte
mit Wasser gefüllt, während die Büken selbst
durch Verdunstung trocken sind. Große Büken
sind zuweilen bis in den Sommer mit Eis ange-
füllt. Da sie sich schnell wieder bilden, wenn
der Boden nicht dräniert wird, so richten sie im
Ackerboden viel Schaden an. Auch auf un-
bebautem Grasland und Heideland, jedoch nur
auf flachem Boden, finden sich Büken derselben
Art. .Sie sind häufig durch eigentümlichen Pflanzen-
wuchs gekennzeichnet, in der die Polygone mit
bräunlichem Calluna und Empetrum, die Risse
zwischen ihnen mit dem grauen Moos Grimmia
hypnoides bewachsen sind. Die Büken bestehen
aus Mohellaton; auf nacktem Tonboden fehlen sie,
erst wenn der Boden sich mit Vegetation über-
zieht, beginnen sie sich zu heben und behalten
ihre Form. An Abhängen konnten sie nie be-
obachtet werden , ein Zusammenhang mit den
Erscheinungen des Bodenflusses wurde also nicht
nachgewiesen.
Auf dem Hochland finden sich eigentümlich
große Büken von unregelmäßig länglicher Form,
besonders an der Grenze von Mooren , wo sie
beim Schmelzen des Schnees mit dem E"uß im
Wasser stehen. Sie erreichen hier i — i^/jmHöhe,
15 — 20 m Länge und 8 — 10 m Breite. Sämtliche
Büken bestehen aus Mohellaerde und Humus, aber
enthalten nicht soviel Steine wie der Polygon-
boden. Auf dem Hochlande kommt der Polygon-
boden selten vor. Hier sind jedoch Fließerde-
erscheinungen häufiger, indem an Abhängen die
Steine in Streifen und in anderer Weise angeordnet
sind. Polygonboden und Büken haben mit Boden-
') Naturw. Wochenschr. N. F. X, 191 1, S. 55g. Bulte
oder Kupsten.
2 l6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 14
flußphänomenen direkt nichts zu tun; es kann
aber der Boden mit diesen Erscheinungen vom
Bodenfluß betroffen werden, was dann eine
sekundäre Erscheinung ist. Polygonboden und
„thufur" sind in ihrer Verbreitung auf arktische
Gebiete beschränkt und erklären sich aus deren
klimatischen Verhältnissen.
Dr. Gottfried Hornig.
Bakteriologie. Zersetzung von Kautschuk.
Bekanntlich ist der vulkanisierte Gebrauchskaut-
schuk außerordentlich widerstandsfähig gegen Fäul-
nis, selbst wenn er in dauernder Berührung mit
Feuchtigkeit ist. Anders verhält sich aber der
Rohkautschuk des Handels. Er stellt ja die ge-
ronnene Milch der Kautschukbäume dar und ent-
hält, auch nach dem Waschen, noch genug dem
Milchsaft entstammende organische Substanzen,
um Mikrorganismen Wachstum zu gestatten, voraus-
gesetzt, daß er hinreichend feucht ist. Man findet
infolgedessen auf den Kuchen und Scheiben
(crepcs, sheetes) des Handels oft Flecke, die von
verschiedenen Mikroben herrühren ; ja man hat
sogar vermutet, daß das sogenannte Leimigwerden
des Kautschuks auf die Wirkung von Bakterien
zurückgehe. Doch ist diese Frage noch nicht ent-
schieden.
N. L. Söhn gen und J. G. Fol (Centralblatt
für Bakteriologie usw., II. Abteil. Bd. 40, 19 14,
S. 87) haben nun allgemein die Frage aufgeworfen,
inwieweit Kautschuk als Nährboden für Mikro-
organismen dienen könne. Sie fanden, daß selbst
sehr reiner Handelskautschuk, wenn er feucht ge-
halten und mit Erde oder Schmutz verunreinigt
wird, eine üppige Vegetation von Schimmelpilzen
und Bakterien auf sich erblühen läßt. War dieser
Erfolg wegen der stets vorhandenen kleinen Mengen
von stickstoffhaltigen Substanzen und Kohlehydra-
ten nicht weiter verwunderlich, so ist doch die
weitere Feststellung von Interesse, daß auch die
möglichst gereinigten spezifischen Kautschuksub-
stanzen, die Kohlenwasserstoffe, von ganz bestimm-
ten Mikroben angegriffen und verzehrt werden
können. Wurden nämlich sorgfältig hergestellte
und fast ganz reine dünne Kaulschukhäutchen mit
einer Nährsalzlösung befeuchtet und mit etwas
Erde oder Grabenwasser geimpft, so entwickelten
sich 2 Arten äußerst dünnfädiger Pilze (sog.
Aktinomyceten oder Strahlenpilze) auf ihnen, die
schließlich Löcher in die Häutchen fraßen. Daß
diese Pilze spezifische Kautschukzerstörer waren,
zeigte sich, als zum Vergleich verschiedene andere
gewöhnliche Bakterien und Pilze auf die Häutchen
zusammen mit den erwähnten .Strahlenpilzarten
gesät wurden. Wie die Abbildung erkennen läßt,
entwickelten sich nur diese beiden üppig, alle die
anderen hingegen äußerst kümmerlich.
Merkwürdig ist, daß sich diese Kaut-
schukzersetzer ganz gewöhnlich in Erde
und Schmutzwasser (wenigstens bei
Delft in Holland) finden, trotzdem sie
wohl nur sehr selten Gelegenheit haben,
eigentlichen Kautschuk anzugreifen.
Doch werden ihnen wohl unter natür-
lichen Verhältnissen ähnliche aus der
Zersetzung von Pflanzenresten hervor-
gehende Körper zu Gebote stehen.
Miehe.
Chemie. Die Ergebnisse der
Kolloidforschung ist der Titel eines
Vortrages, den der bekannte schwedi-
sche Physiko - Chemiker The Sved-
berg am 29. November 191 3 auf Ein-
ladung der Deutschen Chemischen
Gesellschaft im I lofmann-Hause in Berlin
gehalten hat (vgl. Ben d. D. Chem. Ge-
sellsch. Bd. 47, S. 12—38, 1914). ')
Der Begriff ,, Kolloid" ist bekanntlich
etwa in der Mitte des vergangenen
Jahrhunderts im Anschluß an die Be-
obachtung gebildet worden, daß manche
Stoffe, die „Kolloide", die meist, wie
z. B. der Leim (colla) in kristallisierter
') Über die Entwicklung der Kolloidchetnie ist in der
Xaturw. Wochenschr. bereits häufig bericlitet worden [vgl.
Bd. IV, S. 81—89 (igo';), Bd. V, S. 10-12 (igobl, Bd. VI,
S. 763—765 (1907), Bd'. VII, S. 417—422 (190S), Bd. VHI,
S. 121 und S. 769 — 781 (igog), Bd. IX, S. 35—43, S. 312
und S. 3S5 — 396 (1910), Bd. X, .S. 279 — 281 und S. 425 bis
426 I1911), Bd. XI, S. 404 — 405 und S. 701 — 702 (1912),
Hd. XII, S. 182, S. 411 — 414 und .S. 785—790 (1913)], der
beste Beweis für die Wichtigkeit dieses Gebietes und seine
rasche Entwicklung. Trotzdem glauben wir, daß den Lesern
der Xaturw. Wochenschrift das oben stehende Referat über den
S V e d b e rg ' sehen Vortrag in seiner knappen Form nicht un-
erwünscht sein wird.
N. F. XIII. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
217
Form nicht vorkommen, im Gegensatz zu den ,,K r i -
stall oiden", d. h. typisch kristallisationsfähigen
Stoffen, wie etwa dem Kochsalz, in Lösungen nur ein
äußerst geringes Diffusionsvermögen besitzen, und
wenn auch manche kristaliisationsfähige Stoffe in
kolloidaler Form vorkamen , so wurde von zwei
allotropen Modifikationen, der kristalloidalen und
der kolloidalen, gesprochen. Die neuere Forschung
hat aber gezeigt, daß die Unterschiede zwischen
Kolloiden und Kristalloiden nicht intramolekularer,
sondern extramolekularer Natur seien. Der grund-
legende Fortschritt, der zu dieser Erkenntnis
führte, war die Entdeckung der ultramikroskopi-
schen Versuchsanordnung, ') die gerade in dieser
Zeit ihr zehnjähriges Jubiläum feiern konnte.
Beleuchtet man ein kleines Gebiet einer kolloidalen
Lösung von der Seite her mit sehr intensivem
Lichte und betrachtet dann die kolloidale Lösung
von oben her, d. h. senkrecht zur Richtung des
beleuchtenden Lichtes, so sieht man einzelne helle
Teilchen auf dunklem Hintergrunde, gerade wie man
in einer mondlosen klaren Nacht die Sterne auf
dem dunklen Himmel sieht. Der Vorteil dieser
Untersuchungsmethode liegt vor allen Dingen
darin, daß im Ultramikroskop noch Teilchen sicht-
bar gemacht werden können , die sich der Be-
obachtung im gewöhnlichen Mikroskop vollkommen
entziehen.
Da die Einzelteilchen kolloidaler Lösungen
äußerst klein sind, lassen sie sich durch gewöhn-
liche F"ilter nicht abfiltrieren : Sie laufen durchs
Filter. Um sie zu filtrieren, muß man, wie Bech-
hold") gezeigt hat, die Poren der Filter enger
machen, eine Aufgabe, die man durch Behandlung
gewöhnlicher Filter mit Kollodium oder mit Ge-
latine lösen kann. Auch papierfreie Kollodium-
membranen haben sich als ausgezeichnete ,,Ultra-
filter" bewährt.
Durch verschiedene Mittel, über die noch
weiter unten gesprochen werden wird, kann man
die Hinzelteilchen einer kolloidalen Lösung zum
Zusammentritt zu größeren Kemplexen veran-
lassen, ein Vorgang, der als „Ausflockung"
oder „Koagulation" bezeichnet wird und die
Zerstörung der kolloidalen Lösung zur Folge hat.
Die Koagula, zu denen die feste Gelatine, Agar-
Agar und ähnliche Stoffe gehören, werden als
„Gele" bezeichnet. Wesentlich bei der Gelbildung
ist — das ist wenigstens für einige Fälle mit
Sicherheit nachgewiesen — , daß die Einzelteilchen,
die in der kolloidalen Lösung enthalten waren,
in den Gelen ihre Individualität behalten, so daß
das Gel unter geeigneten Versuchsbedingungen
wieder zu der ursprünglichen kolloidalen Lösung
aufgelöst werden kann. Der Aufbau der Gele
aus den Einzelteilchen ist bereits seit längerer Zeit
besonders mit Rücksicht auf das in den Gelen
enthaltene Wasser eingehend diskutiert worden.
Anfangs glaubte man wohl an eine verhältnis-
mäßig grobe Struktur, neuerdings aber hat sich
herausgestellt, daß die Struktur im Gegenteil
äußerst fein ist; so beträgt z.B. der Durchmesser
der Hohlräume im Gel der Kieselsäure, d. h. der
Raum zwischen den eigentlichen Kieselsäureteil-
chen nur etwa 5 ßfi, ist also viel kleiner als die
Wellenlänge des Lichtes.
Die kolloidalen Lösungen unterscheiden sich
dadurch von den echten Lösungen, daß die in
ihnen enthaltenen Teilchen verhältnismäßig groß
sind, d. h. die kolloidalen Lösungen stehen zwi-
schen den echten Lösungen und den Suspensionen
und Emulsionen. Danach ergeben sich grund-
sätzlich zwei einander gewissermaßen entgegen-
gesetzte Methoden zur Gewinnung kolloidaler
Lösungen: Entweder kann man gröbere Teilchen
in irgendeiner Weise so weit zerteilen oder man
kann einzelne Moleküle zu so großen Aggregaten
zusammentreten lassen, daß die entstehenden
Komplexe die richtige Teilchengröße haben.
Wesentlich ist bei diesen Vorgängen nur, daß die
Bedingungen zweckmäßig gewählt sind. Die ent-
stehenden kolloidalen Lösungen müssen beständig
sein, eine Bedingung, deren Erfüllung nicht nur
von der Größe der Teilchen, sondern auch von
anderen Faktoren , so vor allen Dingen von der
Zusammensetzung und der Konzentration der Lö-
sung abhängt.
Die Eigenschaften der kolloidalen Lösungen
erweisen sich unter sonst gleichen Bedingungen
in sehr hohem Maße als eine Funktion der
Größe der kolloidalen Teilchen, und es ist daher
wesentlich, solche Lösungen herzustellen, deren
Teilchen sämtlich die gleiche Größe haben. Die
Aufgabe, kolloidale Lösungen von gleicher Teilchen-
größe herzustellen wird in der Regel in der Weise
gelöst, daß man aus einem Gemisch von Teilchen
sehr verschiedener Größe durch ein geeignetes
Fraktionierungsverfahren die Teilchen gleicher
Größe aussondert. Als Fraktionierungsverfahren
kommt für größere Teilchen die Zentrifugierung,
für kleinere Teilchen die fraktionierte Fällung in
Frage. Auch durch fraktionierte LUtrafiltration
erreicht man bisweilen das Ziel.
Ahnlich wie nach der kinetischen Gastheorie
die größeren Moleküle eine trägere Bewegung auf-
weisen, als die kleineren Moleküle, ist auch die Be-
wegung der Teilchen in kolloidalen Lösungen, die
heute gewöhnlich als Brown sehe Bewegung
bezeichnet wird, träger als die Bewegung der
Moleküle in echten Lösungen. Daher verläuft
die Diffusion in kolloidalen Lösungen viel weniger
lebhaft als in echten Lösungen, eine Tatsache,
die ja gerade als Ausgangspunkt für die Aufstel-
lung des Begriffs der Kolloide gedient hatte, und
darum ist auch der osmotische Druck bei ihren
Lösungen viel geringer als derjenige wirklicher
Lösungen, denn der osmotische Druck ist der
Anzahl der Einzelteilchen proportional, von ihrer
Größe aber ganz unabhängig. ') Wenn ein Stofit
') Vgl. Naturw. Wochenschr. Bd. VII, S. 421 (1908).
") Vgl. Naturw. Wochenschr. Bd. VI, S. 763 (1907).
') Vgl. Naturw. Wochenschr. Bd. IX, S. 35—43 (1910).
2l8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 14
einmal in echter Lösung, und das andere Mal in
kolloidaler Lösung vorliegt und die Kolloidteilchen
tausendmal größer als die Moleküle sind, so wür-
den die beiden Lösungen darnach den gleichen
osmotischen Druck ausüben, wenn die absolute
Konzentration der kolloidalen Lösung tausendmal
größer als die der echten Lösung ist. Hätten
wir etwa eine kolloidale Goldlösung, deren Teil-
chen den ganz außerordentlich kleinen Durch-
messer von einem Millionstel Millimeter haben
und enthielte die Lösung ein Gramm Gold im
Liter — konzentriertere kolloidale Goldlösungen
lassen sich rein kaum darstellen — dann würde
der osmotische Druck der Lösung nur <:|,5-iO"^
Atmosphären betragen, also mit unseren heutigen
Mitteln nicht mehr meßbar sein. Trotzdem ist
es möglich gewesen, in Lösungen anderer Kolloide,
die sich in sehr viel höheren Konzentrationen ge-
winnen lassen , den osmotischen Druck direkt zu
messen.
Die Teilchen der kolloidalen Lösungen sind
in der Regel elektrisch geladen, sind also gewisser-
maßen als sehr große Ionen anzusehen, allerdings
Ionen mit so großen elektrischen Ladungen , wie
sie in der Elektrochemie nie vorkommen; so er-
gab sich z. B. die elektrische Ladung eines kollo-
idalen Silberteilchens zu 62 Einheitsladungen, es
lag also ein ,,62 wertiges Ion" vor. Auch sind
die elektrischen Ladungen der Kolloidteilchen im
Gegensatz zu denen der echten Ionen, bei denen
das Vorzeichen der Ladung in stärkstem Maße
von der chemischen Zusammensetzung des Ions
bestimmt wird, von ihrer chemischen Natur in
weitesten Grenzen unabhängig. Je nach den Ver-
suchsbedingungen kann dasselbe Teilchen eine
positive oder eine negative, eine große oder eine
kleine Ladung mit sich führen , ja es ist sogar
möglich, die Ladung eines Teilchens beliebig zu
verändern. Die Ursache für diese Erscheinung
liegt in erster Linie darin, daß die Ladung der
Kolloidteilchen sekundären Ursprunges ist. Die
kolloidalen Teilchen verdanken ihre Ladung ge-
wöhnlichen Ionen, die sich an ihnen festgesetzt
haben, oder, wie man sich meist ausdrückt, von
ihnen „adsorbiert" sind. Entzieht man einem
Kolloidteilchen seine elektrische Ladung stufen-
weise, so nimmt sein Bestreben, sich mit anderen
Teilchen zu größeren Aggregaten zu vereinigen,
sein Koagulationsbestreben, zu, im Neutralpunkt
erreicht die Beständigkeit der kolloidalen Lösung
ein Minimum, und sie steigt wieder an, wenn
man den Teilchen nunmehr die entgegengesetzte
Ladung, als sie ursprünglich besessen liaben, er-
teilt. Diese Veränderung der elektrischen Ladung
kann, wie die direkte Beobachtung gezeigt hat,
durch Hinzufügung eines Elektrolyten zu der
kolloidalen Lösung bewirkt werden, denn wenn
dadurch auch der Lösung gleich viele Ladungen
positiver wie negativer Elektrizität zugeführt wer-
den, so zeigen doch die Ionen ein verschiedenes
Bestreben, sich an die Kolloidteilchen anzuheften.
Iksitzt daher ein Kolloidteilchen eine negative
Ladung und führt man der Lösung einen Elektro-
lyten zu , dessen positives Ion von dem Teilchen
besonders stark adsorbiert wird, so nimmt die
Größe der auf dem Kolloidteilchen haftenden
Ladung infolge der Adsorption ab, und damit
sinkt die Beständigkeit der Lösung. Es wird also
durch diese Anschauung erklärt, in welcher Weise
die Koagulation kolloidaler Lösungen durch Elek-
trolyte zustande kommt. Wenn auch das Pro-
blem der Koagulation kolloidaler Lösungen noch
nicht vollständig gelöst erscheint, so sprechen
doch für die skizzierte Theorie sehr viele Einzel-
heiten, so daß man sie wohl als einen adä(]uaten
Ausdruck der Wirklichkeit ansehen kann.
Die große IMehrzahl der Untersuchungen ist
an kolloidalen Lösungen, d. h. an Systemen durch-
geführt worden, bei denen die kolloidalen Teilchen
in einem flüssigen Medium schweben. Von sehr
großer Bedeutung sind aber neuerdings die Systeme
mit gasförmigem Medium geworden, und die grund-
legenden ultramikroskopischen Untersuchungen, die
die neuere Entwicklung der Kolloidchemie inaugu-
riert haben, sind an Goldrubingläsern, d. h. an
kolloidalen Lösungen von metallischem Golde in
Glas angestellt worden.
Zum Schluß seines Vortrages weist S v e d b e r g
darauf hin, daß die Lehre von den Kolloiden
keineswegs etwa nur ein theoretisch-wissenschaft-
liches, sondern daß sie auch ein sehr großes prak-
tisches Interesse habe. Beruhen doch viele wich-
tige Zweige der Industrie, wie z. B. die Photographie,
auf kolloidchemischen Vorgängen. Die Prozesse,
welche sich im lebenden Organismus der Pflanze
und des Tieres abspielen, sind kolloidchemischen
Charakters, und für manche Krankheit, wie etwa
das Oedem, konnte durch die zielbewußte Anwen-
dung der Erkenntnisse kolloidchemischer Forschung
eine Methode erfolgreicher therapeutischer Behand-
lung gefunden werden. ,,Wenn ein Forschungs-
zweig sich in rascher Entwicklung, befindet, so
schließt Svedberg seinen Vortrag, und die Me-
thoden und Ergebnisse desselben auf viele, zum
Teil fernstehende Gebiete Anwendung finden, so
liegt immer die Gefahr einer Überschätzung der
Bedeutung dieses Forschungszweiges und seiner
Ergebnisse sehr nahe. Vielleicht ist die Kolloid-
chemie diesem Schicksal nicht ganz entgangen.
Es scheint mir aber, daß diese Forschung, auch
im Lichte einer gesunden Kritik gesehen, schon
jetzt so wertvolle Ergebnisse zu verzeichnen hat,
daß wir berechtigt sind, in der eifrigen Bearbeitung
dieses Gebietes ein Versprechen für wichtige künf-
tige Fortschritte auf verschiedenen Gebieten der
Naturwissenschaft und speziell der Chemie zu er-
blicken". Mg.
Bekanntlich nimmt die Geschwindigkeit che-
mischer Reaktionen mit wachsender Temperatur
zu, und zwar wird sie nach einer allgemeinen
Regel bei einer Steigerung der Temperatur um
10" C etwa verdoppelt. Insbesondere war ein
einfacher Fall von Abnahme der Reaktionsge-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
219
schwindigkeit mit steigender Temperatur bisher
nicht bekannt. Nun muß, wie Ä. Skrabal auf
der letzten Naturforscherversammking in Wien
gezeigt hat, der Temperaturkoeffizient einer che-
mischen Reaktion eine Veränderung erfahren, wenn
der eine oder der andere der an der Reaktion
beteiligten Stoffe in eine komplexe Verbindung
übergeführt wird, denn in diesem Falle lagert sich
ja bei einer Steigerung der Temperatur über die
dadurch bedingte Beschleunigung der Reaktion
eine Vergrößerungoder Verkleinerung der Komplex-
bildung und damit eine Veränderung der Konzentra-
tion eines der an der Reaktion teilnehmenden und
durch seine Konzentration ihre Geschwindigkeit
mitbestimmenden Stoffe. Nun wird nach dem
Le Chatelier-van'tHoff sehen Prinzip durch
Temperatursteigerung immer der Vorgang be-
günstigt, bei dessen Ablauf Wärme verbraucht
wird. Wenn man also zu einem reaktionsfähigen
System einen Stoff hinzufügt, der mit einer Kom-
ponente des Systems eine komplexe Verbindung
bildet, und die Komplexbildung die Zuführung
einer erheblichen Wärmemenge verlangt, so kann
der Fall eintreten, daß von den beiden entgegen-
gesetzt wirkenden Faktoren, der Vergrößerung
der Reaktionsgeschwindigkeit durch die Tempe-
ratursteigerung und ihrer Verkleinerung infolge
des durch die Temperatursteigerung bewirkten
Fortschrittes in der Komplexbildung, der zweite
Faktor überwiegt, d. h. daß im ganzen die Ge-
schwindigkeit der Reaktion, anstatt vergrößert zu
werden, verringert wird. Einen derartigen Fall
hat nun Skrabal in Gemeinschaft mit S. R.
Weberitsch (Ber. d. D. Chem. Gesellsch. Bd. 47,
S. 117 bis 119; 1914) in der Reaktion
SJ' + JOs' + ÖH — > 3j3' + 3H,0
aufgefunden, deren Geschwindigkeit v in mineral-
saurer Lösung dem Quadrat der Wasserstoft'ionen-
konzentration, dem Quadrat der Jodionenkonzen-
tration und der ersten Potenz der Jodsäureionen-
konzentration proportional ist :
Durch Hinzufügung einer größeren Menge von
Natriumsulfat wird das Wasserstoffion H' in das
komplexe Ion HSO,' umgewandelt, ein Vorgang,
bei dem, wie die Gleichung
H- + SO," — ^ HSO/ — 5000 cal.
zeigt, etwa 5000 Kalorien verbraucht werden, der
also durch Temperatursteigerung stark gefördert
wird. In der Tat wird in diesem Falle, wie sich
auch aus der Wärmetönung der Reaktion berech-
nen läßt, die Reaktionsgeschwindigkeit durch die
Abnahme der Wasserstoft'ionenkonzentration bei
einer Temperatursteigerung in stärkerem Maße
verringert, als sie durch die Temperatursteigerung
an sich erhöht wird: Der Temperaturkoeffizient
der Reaktion
8J' + J03' + 6H — > 3J3' + 3H.,0
ist bei Anwesenheit von vielem überschüssigen
Natnumsulfat kleiner als i, er hat den Wert 0,83,
d. h. die Geschwindigkeit der Reaktion nimmt bei
einer Steigerung der Temperatur um 10" C, an-
statt auf etwa das Doppelte zu steigen, auf den
0,83. Teil ab. Mg.
Entwicklungsmechanik. Über die Verschie-
bung der Vererbungsrichtung unter dem Einfluß
der Kohlensäure berichtet Theodor Hinderer
(Archiv f. Entwicklungsmechanik der Organismen,
38. Bd., 2. u. 3. H.). Er ließ die Eier von Sphaer-
echinus granularis sich in Seewasser entwickeln,
das aus einer Mischung von normalem Seewasser
mit solchem Seewasser bestand, durch welches
ein Kohlensäurestrom hindurchgeleitet worden
war. Die Eier blieben verschieden lange Zeit
(ungefähr 5 und 8 Stunden) darin und kamen
dann wieder in gewöhnliches Seewasser zurück.
Die Mischung bestand aus 70 ccm kohlensäure-
haltigem und 30 ccm gewöhnlichem Seewasser;
ein dritter Teil endlich verweilte 5 Stunden lang
in reinem Kohlensäurewasser. Ein Teil der so
behandelten Eier zeigte keine sichtbare Verände-
rung, ein Teil entwickelte sich parthenogenetisch,
die meisten aber zeigten eine Vergrößerung des
Kerns schon vor der Befruchtung. Nach der
Befruchtung mit den Samen einer anderen Art,
Strongylocentrotus lividus, entwickelten sich aus
den großkernigen Eiern Larven, die in den For-
men und Körperverhältnissen des Skeletts viel
mehr Übereinstimmungen mit der Larve der
mütterlichen, als jener der väterlichen Art zeigten.
Die Unterschiede waren so deutlich und standen
mit der Kerngröße so regelmäßig in Zusammen-
hang, daß man aus der Form des Skeletts bereits
auf die Größe der Kerne — ob klein- oder groß-
kernige Larven — schließen konnte.
Die großen Kerne waren aus solchen von ge-
wöhnlicher Größe dadurch entstanden , daß die
ursprüngliche Chromatinmenge sich verdoppelte
oder vervierfachte oder verachtfachte, ehe die
Furchungsteilungen begannen.
Die Rauminhalte der unbefruchteten Eikerne
verhielten sich wie i : 2 : 4 : 8, standen also zu-
einander in geradem Verhältnis ihrer Chromatin-
mengen.
Die Gastrulae, welche parthenogenetisch ent-
standen, hatten teils kleine, teils große Kerne, je
nachdem sie aus Eiern entstanden waren, deren
Kerne sich sofort geteilt hatten, oder deren Kerne
sich erst vergrößert hatten. Wie bei den Fur-
chungskernen stand auch bei den Kernen der
Larve der Inhalt in direktem X'erhältnis zur
Chromatinmenge.
Die Chromatinmenge jener Eikerne von Sphaer-
echinus, in welche ein Spermakopf eingedrungen
war, verhielten sich wie 2:3:5:9. Die Kubik-
inhalte aber entsprachen nicht diesem Verhältnis.
Der Grund dafür liegt sicher darin , daß der
Spermakopf in bereits vergrößerte Kerne eintritt.
Die mit kohlensäurehaltigem Seewasser be-
handelten Eier bildeten keine Doltermembran;
eine Mehrfachbefruchtung blieb aber trotzdem aus.
220
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 14
Vielleicht war durch jene Behandlung die Ober-
fläche widerstandsfähiger gegen das Eindringen
des Samenfadens geworden.
Der Spermakopf dringt in den behandelten
Eiern langsamer gegen den Eikern vor. Nicht
selten blieben jene auch ganz unbefruchtet.
Die Ergebnisse der Versuche von H. stimmen
damit überein, daß die Entwicklung an einen ge-
steigerten Sauerstoffverbrauch geknüpft ist. Wird
nun die Sauerstoftaufnalime in das Wasser infolge
der durch die Kohlensäuredurchströmung herbei-
geführten Gasspannung herabgesetzt, so unter-
bleiben die Furchungsteilungen, während der Ei-
kern seine Chromatinmenge vermehrt. Dieselbe
übertrifft schließlich die des Samenkerns um das
Mehrfache. Die Mischung der Gestaltsmerkmale
oder: die Vererbungsrichtung der Nachkommen
hängt aber von dem Mischungsverhältnis der elter-
lichen Kernmengen ab. Da jene des Eikerns
überwiegt , so werden auch bei Bastardlarven die
Eigenschaften der mütterlichen Art überwiegend
zur Geltung kommen. Kathariner.
Zoologie. Über die beschleunigende Einwir-
kung des Hungerns auf die Metamorphose teilt
Krizenecky (Biol. Centralblatt, 34. Bd., 1914,
S. 46) folgendes mit. Bei den Wirbeltieren zeigen
sich die Wirkungen des Hungerns in einer Ab-
nahme des Glykogengehalts der Leber und einer
Verminderung der Gallenproduktion. Nusbaum
und Oxner (1912) hatten durch Hungern bewirkte
Reduktionen, ähnlich jenen bei der Regeneration
der Nemertinen festgestellt. Morgulis (1912)
hatte gefunden, daß das Hungern auch ein positiv-
katalytischer Faktor sein kann. Tiere von Triton
cristatus, welche eine Zeitlang gehungert hatten
und dann wieder ad libitum gefüttert wurden,
ersetzten nicht nur das, was sie während des
Hungerns verloren hatten, sondern übertrafen bald
an Gewicht die regelmäßig gefütterten Kontroll-
tiere. Das Hungern greift als förderndes Prinzip
ein, indem es die morphogenetischen Vorgänge
beschleunigt. D. Barfurt h erkannte dies als
erster im Jahre 1887. Durch Hungern wurde die
normale Metamorphose von Kaulquappen abge-
kürzt. Es liege daran, meint er, daß überflüssige
Gewebe schneller resorbiert würden. Auch die Natur
bedient sich des Hungerns bei Metamorphosen.
Schon Marie von Chauvin hatte gefunden, daß
die Schwanzlurche während der Metamorphose nor-
malerweise fasten, und nach Po we rs ( 19131 tritt die
Metamorphose beim Axolotl nur dann ein, wenn
man den Tieren nach guter Ernährung plötzlich
die Nahrung entzieht. Ob dabei auch das Wasser
entzogen wird, spielt keine Rolle. Weismann
(1866) gibt an, daß die Larven von Corethra
plumicornis, nachdem sie vollständig ausgewachsen
sind, einige Zeit vor der Verpuppung keine Nah-
rung mehr aufnehmen, womit sie nach seiner .An-
sicht die Histolyse der inneren Gewebe ermög-
lichen. K. nun fand diese Ansicht bei Versuchen
mit den Larven des Mehlkäfers (Tenebrio) be-
stätigt. Sie hören einige Tage vor der Verpuppung
auf zu fressen, nehmen eine bogenförmige Gestalt
an und bleiben so bis zur Verpuppung. Schon
1 887 hatte Keller beobachtet, daß durch Nahrungs-
entzug die noch nicht ausgewachsenen Rebläuse
zur Verwandlung in geflügelte Tiere veranlaßt
werden. Pictet (1914) experimentierte mit Raupen
von Vanessa spec. und fand eine Beschleunigung
der Metamorphose durch Hungern. Uberernährte(!)
Tiere ergaben melanotische, hungernde albinotische
Formen. Kellog und Bell (1904) konnten da-
gegen beim Seidenspinner durch Hungern keine
Beschleunigung der Metamorphose erzielen.
K. stellte Versuche über die Regeneration an
Tenebriolarven an, die er hungern lassen mußte.
Um zu sehen, was bei seinen Versuchen auf Rech-
nung des Hungerns und was auf Rechnung der
Regeneration kam, legte er eine Kontrollkultur
an. Er unterwarf seinen Versuchen drei Gruppen
von Larven, die dem Aussehen nach untereinander
gleich alt waren, zwei von je 100, eine von 80
Tieren. Davon wurde je die Hälfte reichlich,
die andere nicht mit Futter versehen. In allen
drei Gruppen begann die Verpuppung der hungern-
den Larven früher. Die hungernden Larven zeigten
verschiedenes Verhalten: bei den einen hatte das
Hungern eine positive, bei den anderen eine negativ-
katalytische Wirkung.
Es gibt nämlich in der Larvenentwicklung einen
kritischen Punkt; ist derselbe schon erreicht evtl.
überschritten, führt das Hungern zu einer Be-
schleunigung der Metamorphose, bei noch jüngeren
Larven dagegen zur totalen Verhinderung derselben
und die Larven gehen zugrunde.
Ahnliches zeigen auch die Larven anderer Tiere.
Laufberger (1913) fand, daß Larven vom Axo-
lotl (Amblystoma mexicanum) sich normal ver-
wandelten, wenn sie mit Schilddrüse gefüttert
wurden, nachdem sie sich bereits über 10 Jahre
lang neotenisch fortgepflanzt hatten. Auch hier gab
es ein Optimum und ein Minimum. Jedenfalls
steht die Tatsache fest, daß die Metamorphose der
Insekten durch das Hungern der Larven beschleu-
nigt werden kann.
Nach Barfurth ist die beschleunigende P^in-
wirkung des Hungerns auf die Metamorphose sehr
einfach zu erklären. Einige Tage nach Entstehung
der Hintergliedmaßen kann man schon mit bloßem
Auge oder der Lupe bei der Froschlarve jederseits
in der Gegend der Kiemenhöhle einen Hautwulst
sehen, unter dem beim Zappeln des Tieres eine
lebhafte Bewegung stattfindet. Dieselbe wird her-
vorgerufen durch die \"ordergliedmaßen, welche
schon mit Füßen und Zehen vollständig ausge-
bildet unter der Haut liegen. Nur die letztere
hält sie noch zurück und sie brechen durch, so-
bald die Haut dünn genug geworden ist. Letzteres
wird dadurch herbeigeführt, daß die Elemente der
Kutis resorbiert werden, und diese Resorption
wiederum geht bei fastenden Tieren schneller vor
sich. So würde sich die paradoxe Tatsache er-
klären, daß der Hunger auf die Entwicklung för-
N. F. XIII. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
221
dernd einwirkt. Aber bei den Insel<ten liegt die
Sache komplizierter, da hier eine Beschleunigung
der Metamorphose nicht nur in rein morpho-
logischem Sinn, sondern auch eine solche der
Geschlechtsreife stattfindet, wie dies namentlich
bei den \^ersuchen von Keller (1887) mit Phyl-
loxera vastatrix der Fall war.
Analoge Erscheinungen finden sich auch bei
anderen nicht metamorphosierenden Tieren, bei
Bakterien, Protozoen, Pilzen und höheren Pflanzen.
Schultz konnte nachweisen, daß die Ge-
schlechtszellen von Hydra bei der Reduktion nicht
nur erhalten bleiben, sondern sich mächtig ent-
wickeln und Samenzellen bilden zu einer Zeit,
wo die Tiere in der freien Natur sich nur durch
Knospung fortpflanzen. Eine analoge Erscheinung
bietet der Lachs, der während seiner Wanderung
monatelang hungert und seine Geschlechtszellen
auf Kosten der Muskulatur entwickelt. Auch fällt
die Brunstzeit fast aller Tiere in das Frühjahr,
resp. die Regenzeit, also nachdem die Tiere wäh-
rend des Winter- oder Trockenschlafs mehr oder
weniger gehungert hatten.
Bei den Bakterien findet die Sporenbildung
unter Bedingungen statt, welche das vegetative
Wachstum verlangsamen oder ganz hemmen.
Nach Klebs (1913) hat bei Pilzen, die auf
flüssigen Substraten wachsen, Abnahme der organi-
schen Nahrung die Bildung von Sporen zur Folge.
Bei Blütenpflanzen kann sogar durch Wiederzufuhr
von Nahrung die Rückbildung der Blütentriebe
veranlaßt werden (Driesch 1905).
In den angeführten Tatsachen, daß die Bildung
der Geschlechtszellen besonders dann stattfindet,
wenn die äußeren Lebensbedingungen ungünstig
sind, kommt nach K. die Betätigung des einen
der zwei Grundinstinkte der Lebewesen zur Gel-
tung, welche sind: erstens sich selbst und
zweitens die Art zu erhalten. Kathariner.
Sitz des Gehörsinnes bei niederen Insekten.
Weder die biologische Beobachtung noch die
anatomische Untersuchung konnte bisher mit
Sicherheit feststellen, welche Organe bei niederen
Insekten als Gehörorgane funktionieren. Um hier
Klarheit zu bekommen, stellte Regen mit der
j Laubheuschrecke Thamnotrizon Versuche an.
I (J. Regen: Haben die Antennen für die alter-
nierende Stridulation von Thamnotrizon apterus
Fab. (J eine Bedeutung? Pflüg er 's Archiv für
die gesamte Physiologie, 1913, Bd. 155). Unver-
I sehrte Männchen dieser Tiere bringen bei ihrer
Stridulation eine Periode von mehreren Zirplauten
in rascher Aufeinanderfolge hervor und lassen dann
eine kürzere oder längere Pause eintreten. Jede
Periode kann sich im allgemeinen auf dreierlei
Weise abspielen. Entweder bringen zwei oder
mehrere Männchen ihre Stridulationsgeräusche ab-
wechselnd hervor oder es zirpt nur ein einzelnes
Männchen oder es zirpen zwei oder mehrere Männ-
chen regellos durcheinander.
Zürn Versuch wurden sieben frisch gefangenen
Männchen die Fühler abgenommen. Die Beobach-
tung ergab, daß die Versuchstiere in den Zirp-
lauten mit normalen im wesentlichen überein-
stimmen. Die Zahl der Pralle von alternierendem,
einzelnem und regellosem Zirpen war beidemale
annähernd gleich. Die Antennen können also für
die alternierende Stridulation keine Bedeutung
haben. Das Gehör muß bei Thamnotrizon apt.
Fab. anderswo als in den Fühlern seinen Sitz haben.
Dr. Stellwaag.
Über die Anlockung des Weibchens von Gryllus
campestrisL. durch telephonisch übertragene Stridu-
lationslaute des Männchens. Die Zirplaute des
Männchens von Gryllus campestris L, der Feld-
grille, sind sehr hoch, ungemein schrill und er-
klingen wie Rrrr, so daß man sie als intermittierend
bezeichnen kann. Sie lassen sich nach J. Regen
(Pflüger 's Archiv für die gesamte Naturwissen-
schaft, 1913, Bd. 155) auf zweierlei Weise über-
tragen, entweder mit einem Kugelmikrophon in
V^erbindung mit einem sehr empfindlichen Dosen-
telephon oder mit einem Starktontelephon und
dem dazugehörigen Mikrophon. Obwohl durch den
zweiten Apparat nach menschlichem Emi)finden
die Wiedergabe am besten erfolgte, gelangen die
Versuche vorläufig besser mit dem Kugelmikrophon.
Regen gebrauchte folgende Versuchsanordnung.
Auf dem Fußboden eines Zimmers wurde eine
Fläche von vier qm durch vertikale Glasplatten
abgegrenzt. Innerhalb dieses Versuchsfeldes befand
sich ein zirpendes Männchen in einem von einer
schwarzen Papiermanschette umgebenen Glasgefäß.
Ein Drahtgitter über dem Tier konnte leicht zum
Fallen gebracht werden und dieses am Zirpen ver-
hindern. In einem entfernt gelegenen Zimmer wurde
ein anderes zirpendes Männchen untergebracht,
dessen Laute bei geschlossenen Türen durch das im
Versuchsfeld aufgestellte Telephon zu hören waren.
Ein noch unbefruchtetes und dem Lockruf des
Männchens zugängliches Weibchen wurde nun unter
besonderen Vorsichtsmaßregeln im Versuchsfeld
freigelassen und das Telephon ausgeschaltet. Es
näherte sich langsam und vorsichtig dem zirpenden
Männchen, bis es zum Glasbehälter gelangte. In
diesem Augenblick wurde das Fallgitter ausgelöst,
so daß das Männchen verstummte, während durch
das nun eingeschaltete Telephon das zweite Männ-
chen zu hören war. Nach wenigen Minuten be-
wegte sich das Weibchen zögernd in der Richtung
zum Telephon und blieb in einer Entfernung von
I cm etwa stehen, um auf das Zirpen zu lauschen.
Das gleiche wiederholte sich stets, wenn das Tele-
phon eingeschaltet worden war. Bei einem anderen
Versuch blieb das Männchen innerhalb des Ver-
suchsfeldes weg, ohne daß das Weibchen sein Be-
nehmen geändert hätte. Daraus folgt: 1. Die
Zirplaute werden vom Weibchen wahrgenommen.
2. Sie wirken auf das Weibchen orientierend ein.
3. Das Weibchen wird durch sie angelockt, 4. Das
Weibchen findet das zirpende Männchen vermöge
seines Gehör- und Tastsinnes. Dr. Stellwaag.
222
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 14
Astronomie. Eine Untersuchung über die Be-
deutung der Photographie für das Studium der Photo-
sphäre der Sonne hat Chevalier in Zose in China
angestellt, in der er zu ganz unerwarteten Ergeb-
nissen kommt. Die so wichtige Granulation hat
zuerst Secchi und Dawes beobachtet, während es
Janssen in Meudon gelungen ist, sie zu photo-
graphieren. Bei der ungeheuren Helligkeit in der
Sonne haben wir hier aber eine unangenehme
Fehlerquelle. So ist es die Frage, ob eine Sonnen-
.\cer platanoides, angegriffen von Daedalea unicolor,
Ablenkung soll vor allem innerhalb des Fern-
rohres bei dem zwischengeschalteten Vergröße-
rungsapparat stattfinden. Chevalier stützt diese
seine .Ansichten durch eine Anzahl von Abbil-
dungen der Sonnenoberfläche, die er auf photo-
graphischem Wege erhalten hat. [Veröffenll.
Zose III 191 2.] Riem.
Botanik. Daedalea unicolor als Baumschädiger.
Viele 1 lautpilze (Hymenomyceten), von denen man
früher glaubte, daß sie sich als Saprophyten nur
auf totem Holze ansiedelten, sind
in neuerer Zeit als Baumschädiger
erkannt worden, deren junges Mycel
in lebende Holzzellen eindringt und
das Holz tötet. Ein solcher .Schäd-
ling ist nach Beobachtungen von
P. Magnus und P. Baccarini
auch der Löcherschwamm Daedalea
unicolor Bull., dessen dachziegelig
beieinander stehende Fruchtkörper
häufig an Laubbäumen angetroffen
werden, der zumeist aber nicht als
Baumschädiger betrachtet wird. Daß
ihm tatsächlich diese Bedeutung zu-
kommt, beweist mit aller Deutlich-
keit ein Fall, den Magnus im
vorigen Jahre in Badenweiler be-
obachtet hat. Er fand dort einen
jungen Ahornbaum (Acer platano-
ides), der an der einen Seite mit
l'ruchtkörpern von Daedalea unicolor
bedeckt war. (Siehe die Abbildung.)
Ein starker Ast war vor Jaliren vom
Baume abgesägt worden. Von dieser
.Astnarbe aus hatte sich der Pilz, wie
deutlich zu erkennen war, nach unten
auf den Stamm, nach oben auf die
Äste verbreitet; nach beiden Rich-
tungen nahm die Zahl der Frucht-
körper mit der Entfernung von der
.Astnarbe ab. An der Pilzseite waren
die Äste z. T. abgestorben, während
die Krone auf der anderen Seite
noch in vollem Grün prangte. Auch
konnte man an Ästen, die auf der
Pilzseite abgingen, beobachten, daß
nach der gesunden Seite gerichtete
Zweige noch frische Blätter trugen,
während die nach der Pilzseite zu
gelegenen abgestorben waren. (Jahres-
bericht der Vereinigung für ange-
wandte Botanik, 191 3, Jahrg. II, Teil I,
S. 16— 18.) F. Moewes.
Photographie in allen Fällen eine wahrheitsgetreue
Abbildung der Sonnenoberfläche ist. Nach
Chevalier ist dies nicht immer der Fall. Das
von Janssen entdeckte photosphärische Netz soll
nicht der Sonne angehören, sondern vielmehr auf
physikalischem Wege dadurch entstanden sein,
daß Lichtstrahlen in einer unnormalen Weise im
Instrument abgelenkt werden. Diese unnormale
J-
Bücherbesprechiingen.
Stickers, Was ist Energie? Eine erkennt-
niskritische Untersuchung der Ostwaldschen
Energetik. 225 Seiten. Berlin-Wilmersdorf im
Verlag von Hans Schnippel. 1913-
Obwohl O s t w a 1 d s qualitative Energetik schon
N. F. XIII. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
223
von den verschiedensten Seiten melir oder wenjfrer
gründlich beurteilt worden ist, so verdient doch
auch die vorliegende kritische Arbeit, die eine
einwandfreie Fuiidierung der Energielehre anstrebt,
allgemein beachtet zu werden. Uer Verfasser be-
antwortet vom Standpunkte eines „philosophischen
Empirismus" aus eine Reihe wichtiger, mit dem
Gegenstande der Untersuchung zusammenhängen-
der Einzelfragen, um dann im zweiten, kritischen
Teile überzeugend nachzuweisen, daß von den
sieben bestehenden Formen des Energiebegriftes
nur diejenige haltbar ist, in der die Energie ledig-
lich als IVIaßzahl, als Skalar, auftritt. Er kommt
dann zu dem Ergebnis, daß Ostwalds Energe-
tik weder ein einheitliches naturphilosophisches,
noch ein einheitliches naturwissenschaftliches System
ist und einer ,,liypothesenfreien Wissenschaft" durch-
aus nicht entspricht. Energie als reine Denk-
form und empirische ,, Energieübergänge"
dürfen nie und nimmer miteinander verwechselt
werden. Der temperamentvolle Verfasser stützt
seine recht annehmbaren Ansichten durch zahl-
reiche, wohlgewählte Zitate. Merkwürdigerweise
scheint er die schöne Arbeit von Fr. W. Adler
über die IVIetaphysik in der Ostwaldschen Ener-
getik (Leipzig, Reisland, 1905) nicht zu kennen.
Durch eine ISIachprüfung habe ich mich überzeugt,
daß eins der in Anführungszeichen stehenden Zitate
(S. 175) zwar sinngetreu, aber nicht ganz wort-
getreu wiedergegeben ist. Angersbacli.
Dr. Paul Flaskämper, Die Wissenschaft vom
Leben, biologisch - philosophische Betrachtun-
gen. 309 Seiten. München, Verlag von Ernst
Reinhardt, 191 3. — Preis geh. 6 Mk.
Dieses schlicht und verständlich geschriebene
Buch verdient nicht nur die Beachtung derjenigen,
die ein klares Bild vom Verhältnis zwischen Mecha-
nismus und Neovitalismus bekommen wollen, son-
dern auch die .Aufmerksamkeit aller, die überhaupt
biologische Gesichtspunkte in die Philosophie ge-
tragen sehen möchten. Freilich müssen wir so-
wohl den Mechanismus wie den Neovitalismus als
allgemeinphilosophische Richtungen ablehnen.
Den einen, weil er sich lediglich auf das physische
Geschehen beschränkt und somit dem Psychischen
nicht gerecht zu werden versteht; den anderen,
weil er in seinem Deuten der organischen Vor-
gänge über die Grenze desjenigen hinausgeht, was
uns als methodisch zulässig erscheint, und weil er
einen teleologischen Faktor einführt, der mit dem
Kausalprinzip kaum verträglich ist. Wenn wir
nun doch zahlreichen Folgerungen des neovita-
listischen Verfassers zustimmen, namentlich seinen
Gedanken über Natur und Kultur, so liegt das
daran, daß das „Es ist" desselben für uns doch
ein „Es ist, als ob" bedeutet, und daß wir dieses
„Als ob" aus demselben Strom des unmittelbaren
Erlebens schöpfen, wie der Verfasser sein „Es ist".
Das anregende Werk möge daher empfohlen sein !
Angersbach.
Anregungen und Antworten.
Herrn K. Schmidt, Luckenwalde. — Das vegetative oder
sympathische Nervensystem zerfällt in zwei Teile : den eigent-
lichen Sympathikus und den Parasym|iathikus.
Was den eigentlichen Sympathikus anbetrilTt, so besteht
eine sympathische Bahn durchgangig aus zwei Neuronen. Das
erste Neuron hat seine Zelle im Rückenmark (Vordersäulen
der grauen Substanz) und in den Kernen verschiedener Iliru-
nerven z. B. der .Augenmuskelnerven. Der Nervenfortsatz ver-
läßt das Rückenmark in der hinteren Wurzel resp. das (iehirn
mit den Hirnnerven. Diese Nervenfasern verlaufen nun nicht
direkt zum Erfolgsorgan, sondern ein Neuron wech sei ist
zwischengeschaltet (Umschaltstalion). Die Zelle dieses zweiten
Neurons liegt entweder im Grenzstrangganglion. Der Grenz-
strang steht ja durch die Rami communicantes der Spinal-
nerven mit diesen in Verbindung. Das .Xeuron I verläuft in
diesen Verbindungen. Oder die Umschaltstation liegt weiter
periphcrwärls, im Ganglion coeliacum oder noch weiter peri-
jiherwärts in den nervösen Plexus der Erfolgsorgane selbst,
Plexus myentericus, Herzganglien, Gefäßplexus usw. Die sen-
siblen d. h. zentripetalen Bahnen des Sympathikus sind sehr
wenig bekannt. Vorhanden sind sie sicher da es Rellexe im
Sym[iathikus gibt. Durch die eben skizzierte Anordnung der
efferenten Käsern ist einmal eine Verbindung mit dem Zentral-
nervensystem gegeben, da der Schluß des Reflexbogens an
jeder Neurongrenze erfolgen kann. Der Reflex kann also
laufen, über beliebige Stationen des Zentralnervensystems und
die Neuronen 1 und II; ferner nur über die Neuronen 1 und
11; endlich nur über das Neuron II, unter Umgehung der
Zentralorgane.
Der Parasympathikus ist in seiner Funktion Antagonist
des Sympathikus. Seine Fasern verhalten sich ähnlich wie
die des Sympathikus, sie verlaufen besonders im Nervus vagus
und in den spinalen Beckennerven. Das bekannteste Beispiel
der enigegengesetzten Funktion beider Systeme ist die Inner-
vation des Herzens. Der Sympathikus bringt beschleunigende,
der Vagus verlangsamende Reize zum Herzen.
Literatur: Tigers tedt, Lehrbuch der Physiologie,
Bd. 11; Meyer, Gottlieb, Pharmakologie, besonders
Metzner, Sympathikus in den Vorträgen und Aufsätzen über
Anatomie und Physiologie, herausgegeben von Gaupp und
Nagel; Müller und Dahl, Deutsches Archiv für klin.
Medizin 99, 1910, S. 4S. Petersen.
Wetter-Monatsübei'sicht.
Der diesjährige Februar zeichnete sich während seiner
ersten Hälfte in ganz Deutschland durch sehr schönes, gr()ßten-
teils trockenes Wetter aus, während später die Witterung einen
recht veränderlichen Charakter annahm. Die Temperaturen
blieben anfangs in den meisten Gegenden Norddeutschlands
bei Tage und bei Nacht über dem Gefrierpunkt und stiegen
in den Mittagsstunden für die Jahreszeit sehr hoch empor, in
Aachen schon am 2. Februar bis auf 14*' C. Dagegen kamen
im Süden nur mäßig hohe Tagestemperaturen und andauernd
mehr oder weniger strenge Nachtfröste vor, die sich allmäh-
lich auf immer weitere Landesteile ausdehnten, während nur
in höheren Lagen der Boden mit Schnee bedeckt war. In
der Nacht zum 6. Februar brachten es Meiningen, Coburg
und Regensburg auf — 13, Passau sogar auf — 16" C. Bald
darauf trat wieder eine Milderung der Kälte ein , wenn auch
im Süden und Osten die Nachtfröste sich noch häufig wieder-
holten.
Besonders um Mitte des Monats herrschte bei sehr leb-
haften Südwestwinden in West- und Mitteldeutschland überaus
mildes Frülilingswetter, in Aachen und Karlsruhe stieg das
Thermometer bis auf 16" C. ; weniger warm war es im Nord-
osten. Am 22. Februar führten heftige östliche Winde zu-
nächst in der Provinz Ostpreußen eine emptlndliche Abkühlung
herbei, die sich ziemlich rasch weiter nacli Westen fortpflanzte,
am 24. früh hatten Königsberg 5, Memel und Marggrabowa
7" C Kälte. Bis zum Ende des Monats blieben dann die
Temperaturen im größten Teile des Landes meist in der Xähe
des Gefrierpunktes. Im Monatsmittel überschritten sie überall
ihre normalen Werte , in Süddeutschland zwar nur etwa um
einen, in Norddeutschland aber an den meisten Orten um 3
224
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
14
bis 4, an einzelnen sogar um 4^2 Celsiusgrade. Ebenso war
die Anzahl der Sonnenscheinstunden allgemein viel größer als
gewöhnlich. In Berlin z. B. hat die Sonne im letzten Februar
Temperatur -ißinima citiiacr ©rfc imIctruarlSl'i',
I.F«bru»p 6. «. ^ ü. 26.
^-«•-^-4^
I I I I I I I I I I I I I I
I I I I
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Berliner Wefferbure a w .
an 86 Stunden geschienen, wogegen hier in den trülicren
Februarmonaten durchschnittlich nicht mehr als 60 Stunden
mit Sonnenschein verzeichnet worden sind.
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Ilici^«rsc^fa^.s"]^*l7in im flSruar 1914.
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PeuFschland.
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ISIH.IS.IZ.II. 10.09.
^ä"5 ^3-5'
mm
20
1. bis 12. Februar.
UmilüLLi_
13.bis 18. februap. |
In den ersten 12 Tagen des Monats kamen last allein
an der Küste, ferner im Rhein- und Wesergebiete bisweilen
leichte Regen, stellenweise auch Schneefälle vor, während
sonst das trockene, obschon vielfach etwas nebelige Wetter
ununterbrochen anhielt. Dann wurden die Regenfälle im
Westen allgemeiner und breiteten sich sehr langsam weiter
ostwärts aus. Nachdem sich in verschiedenen Gegenden
Südwestdeutschlands vorübergeliend Schneestürme eingestellt
hatten, gingen seit dem ig. in weiter Umgebung des Rheins
und der Weser längere Zeit hindurch fast täglich heftige
Regengüsse hernieder; in Metz kam am 21. nachmittags
auch ein Gewitter zum Ausbruch. Auch im mittleren Nord-
dcutschland traten am 24. etwas ergiebigere Kegenfälle ein,
die dort am 25. größtenteils in Schneefälle übergingen. Gegen
Ende des Monats ließen die Niederschläge aber im ganzen
Lande wieder nach. Ihre Monatssumme belief sich für den
Durchschnitt aller bericiitenden Stationen auf 25,3 mm. wäh-
rend die gleichen Stationen in den Februarmonaten seit 1S91
im Mittel 39,0 mm Niederschläge geliefert haben.
*
Die beständige Witterung der ersten Hälfte des Monats
spiegelt sich sehr deutlich in der außerordentlichen Gleich-
mäßigkeit wieder, die die allgemeine Anordnung des Luft-
druckes während dieser Zeit in ganz Europa aufwies. Der
größere Teil des Festlandes wurde fast dauernd von einem
ausgedehnten Hochdruckgebiet eingenommen , dessen Mitte
sich gewöhnlich in L^ngarn oder Siebenbürgen befand , wäh-
rend mehr oder weniger tiefe barometrische Minima vom .At-
lantischen Ozean über Schottland nordostwärts nach der skan-
dinavischen Halbinsel und von da nach Nordrußland zogen.
Seit Mitte Februar schlugen aber mehrere atlantische Depres-
sionen gerade nach Osten gerichtete Straßen ein, auf denen
sie nach Mittelskandinavien, später nach der südlichen Ostsee
gelangten und daher das Wetter in Deutschland stärker be-
cinllussen konnten. Nachdem sich bald darauf in Nordruß-
land ein neues Barometermaximum ausgebildet hatte , waren
einer anderen, außerordentlicli tiefen Depression, die am 21.
westlich von Schottland erschien , die Wege nach Osten und
Nordosten versperrt. Sie mußte daher mehrere Tage in der
Nähe der britischen Inseln verweilen, führte daselbst schwere
Stürme herbei und zerfiel dann in mehrere getrennte Minima,
die langsam nach Süd- und Mitteleuropa vordrangen und in
verschiedenen Gegenden zu ernsten Unwettern Veranlassung
gaben. Dr. E. Leß.
Literatur.
Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig und Berlin, B. G.
Teubner. — Jedes Bändchen geb. 1,25 Mk.
Bd. 30: Janson, Prof. Dr. Otto, Das Meer, seine Er-
forschung und sein Leben. 3. Aufl. Mit 40 Abbild.
Bd. 35: Scheffer, Prof. Dr. W. , Das Mikroskop.
2. Aufl. Mit 99 .\bbild. im Te.it.
Bd. 1 44 ; B i e d e r m a n n , E., Das Eisenbahnwesen. 2. verb.
Aufl. Mit zahlr. Abbild.
Bd. 38S : Heilborn, Dr. Adolf, Entwicklungsgeschichte
des Menschen. 4 Vorlesungen. Mit 60 .Abbildungen nach
Photogr. u. Zeichn.
Bd. 41S: Bardeleben, Prof. Dr. Karl v., Die Anatomie
des Menschen. Teil I: Zellen- u. Gewebelehre. Entwick-
lungsgeschichte. Der Körper als Ganzes. 2. .Aufl. Mit
70 .Abbild, im Text.
Bd. 433: Lu.\, Dr. H., Das moderne Beleuchtungswesen.
Mit 54 Abb. im Text.
Bd. 452: Preuß, Prof. Dr. K. Th., Die geistige Kultur
der Naturvölker. Mit 9 Abbild, im Text.
Handbuch der Tropenkrankheiten, herausgegeben von
Prof. Dr. Carl Mense. 2. Aufl. I. Bd. 295 S. Mit 200 Abbild,
im Text, 10 schwarzen und 2 farbigen Tafeln. Leipzig '14,
1. A. Barth. — Geb. 18 Mk.
Inhalt: Alfred Frey. Die Ursachen der Eiszeiten. Otto Bürger: Das Wesen der Enzymwirkung. — Einzelberichte:
R. S. Baß 1er: Über eine Platte mit jirachtvoll erhaltenen Crinoideen. J. Koen ig sb e rger : Die Wärmeleitung der
Gesteine und die Temperatur in der Tiefe. Th. Thoroddsen; Polygonboden und thufur auf Island. N.L. Söhn-
gen und J.G.Fol: Zersetzung von Kautschuk. The Svedberg; Die Ergebnisse der Kolloidforschung. A.Skrabal:
Ein einfacher Fall von Abnahme der Reaktionsgeschwindigkeit mit steigender Temperatur. Theodor Hinderer:
Über die Verschiebung der Vererbungsrichtung unter dem Einfluß der Kohlensäure. Krizenecky: Über die beschleu-
nigende Einwirkung des Hungerns auf die Metamorphose. J. Regen; Sitz des Gehörsinnes bei niederen Insekten,
y. Regen: Über die Anlockung des Weibchens von Gryllus campcstris L. durch telephonisch übertragene Stridulations-
iaute des Männchens. Chevalier: Photographie der Ph'otosphäre. P.Magnus: Daedalea unicolor als Baumschädiger.
— Bücherbesprechungen; J. Stickers; Was ist Energie? Dr. Paul Klaskämper: Die Wissenschaft vom Leben.
— Anregungen und Antworten. — Wetter-Monatsübersicht. — Literatur ; Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. IL Mi ehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'scheu Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 12. April 1914.
Nummer 15.
Neue Ergebnisse des Ringversuches.
[Nachdruck verboten.]
Seitens der verscliiedenen Beobaclitungs-
stationen und ihrer privaten Mitarbeiter werden
seit einigen Jahren niclit nur typische Zugvögel,
sondern auch Stand- und Strichvögel der Heimat
beringt, um über diese und jene biologische Frage
Aufschluß zu erhalten. So hat Dr. K eil hack
im Jahre 191 2 Meisen und Kleiber mit Ringen
versehen. Bei 17 dieser Ringvögel konnte er
22 Wiederfänge erzielen. Es ließen sich bei der
Fütterung am selben Ort wiederfangen 10 Kohl-,
3 Blau-, I Sumpf- und i Tannenmeise und
2 Kleiber, Kohlmeisen nach i, 4, 4, 6, 6, 10, 11,
13, 26 Tagen, drei nach ungefähr 10 Monaten,
Blaumeisen nach 3 und 14 Tagen, eine andere
nach 8 Monaten zweimal kurz nacheinander, eine
dritte nach 9 Monaten 9 Tagen , Sumpf- und
Tannenmeisen nach je 7 Tagen, Kleiber nach
14 Tagen und knapp 10 Monaten, 2 Blaumeisen
ließen sich zweimal, i Kohlmeise zweimal, eine
andere dreimal wiederfangen. Die Vögel
machen sich al so aus dem Eing efangen -
und Beringt werden nichts. Eine zu Ende
des Winters am Futterplatz beringte Kohlmeise
wurde später an Ort und Stelle mit einem eben-
falls beringten Männchen brütend angetroffen.
Man hat es also in der Hand, durch
Winter- und Frühlings fütterung und
Darbietung von Nistkästchen sich die
nützliche Tätigkeit der Meisen dem
eigenen Garten zu sichern.
Auf den Rat Dr. Curt Weigold's hat Dr.
Keilhack die Vogelberingung in den Dienst
der Erziehung zum Naturschutz und
zur Naturbeobachtung gestellt. Er läßt
seine Schüler im Winter Vogelfütterungen ein-
richten, unter Aufsicht Meisen und Kleiber fangen,
beringen , beobachten , im Frühjahre Nisthölilen
aufhängen, zieht mit ihnen in den Wald und
unterweist sie im Aufsuchen der Horste, im rich-
tigen Ansprechen der Vögel, in der Beobachtung
ihres Lebens. Die eifrigsten Schüler dürfen zu
den Nestern hinaufklettern und die Nestlinge
markieren.
Über das Ziehen der Stare hat das Ring-
experiment weitere Aufklärungen gebracht. So
ist man sich heute über den Wanderweg der
ungarischen Stare fast völlig klar. Im Jahre 19 13
liefen bei der ungarischen ornithologischen Zentrale
in Budapest ') sieben Rückmeldungen über Stare
ein, die Bela Szeöts als Nestlinge in Tavarna be-
Von Dr. Friedrich Knauer.
') Bericht über die Vogelmarkierungen der königl. ungar.
ornith. Zentrale im Jahre 1913. Von Jakob Schenk, Buda-
pest 1913.
ringt hat. Ein am 16. Mai 1910 mit Ring Nr. 3576
gezeichneter Star wurde Ende Juni 1913 am
Sebkha de Sidi el Hani-See in Tunis, also 1800 km
von der Heimat entfernt und 2 Jahre 8 Monate
alt, von Eingeborenen erlegt. Ein am 22. Juni
1910 mit Ring Nr. 4383 versehener Star wurde
im März 1913 von Eingeborenen bei El Gohra
in Tunis erbeutet. Ein am 21. Juni 191 1 mit
Ring Nr. 101 gezeichneter Star im Januar 191 3
wieder an dem vorhin genannten See erlegt und
ebenda und zur selben Zeit auch die mit Ring
Nr. 614 und Nr. 629 markierten Tavarnastare.
Über diese fünf ungarischen Stare ließ der deut-
sche Konsul Graf v. Hardenberg der ungarischen
Zentrale Mitteilung zukommen. Zwei andere Ta-
varnastare, mit Ring N'-. 627 und Nr. 640 gezeich-
net, wurden in Osima in Italien und in Gaiba in
Italien aufgefunden. Der Zug der Tavarna-
stare geht also durch Italien und endet
im Tunesischen Winterquartier. Diese
Rückmeldungen über die ungarischen Ringstare
ergeben auch, daß sich da Individuen dreier ver-
schiedener Jahrgänge im selben Winterquartier
vorgefunden haben, also die Jungen mit den
Eltern beisammen bleiben, mit ihnen
die gleichen Winterquartiere beziehen
und mit ihnen in die Geburtsorte zu-
rückkehren.
Es liegt jetzt auch der erste Beweis für die
Rückkehr des Hausrotschwanzes an die
alte Brutstelle vor, indem ein am 22. Juni 1912
in Oberndorf (Oberösterreich) mit dem Ring
Nr. 1599 der ungar. ornithol. Zentrale gezeichneter
Hausrotschwanz am 11. Juni 1913 an der gleichen
Stelle nistend vorgefunden wurde.
Über in Ungarn beringte Rauch- und
Mehlschwalben sind zahlreiche Rückmeldungen
eingelangt. Zwei Fälle verdienen da besondere
Erwähnung. Am 16. Juni 1908 markierte Peter
Müller in Ujbessenyö eine Rauchschwalbe mit
Ring Nr. 887 und zeichnete auch gleichzeitig ihren
Ehegenossen. Am 4. August 1911 wurde die
Schwalbe mit dem Ring 8S7 auf dem alten Neste
brütend aufgefunden, hatte aber einen unberingten
Ehegefährten, der nun gleichfalls beringt wurde
und den man am 23. Juni 191 2 im selben Neste
wieder vorfand. Die ersterwähnte Schwalbe
wurde im Vorjahre wieder im alten Neste brütend
aufgefunden, ihr beringter Genosse konnte aber
nicht eingefangen werden. Eine andere Rauch-
schwalbe war am 23. Juli 1909 mit Ring Nr. 2403
gezeichnet worden, wurde am 29. Juli 1910 im
alten Neste brütend vorgefunden, auch am 4. Mai
und 12. Juni 191 1 mit dem vorjährigen Gatten
226
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 15
im alten Neste brütend getroffen und am 21. Juli
1913 mit gebrochenem Flügel aufgefunden. Es
sind also da Schwalben sechs und vier
Jahre ihrem Neste treu geblieben!
Der Drang der brutfähigen Zugvögel, im Früh-
jahre den heimischen Brutstätten zuzueilen, ist
jedenfalls größer als der, im Herbste die süd-
licheren Winterquartiere aufzusuchen. Man sollte
da meinen, daß die Brutpaare mit aller Schnellig-
keit, der sie fähig sind, zu ihren Brutgebieten
zurückkehren. Das ist aber nach den Beobach-
tungen nicht der Fall. Prof. Dr. Thienemann^)
hat die Eigengeschwindigkeit der Nebelkrähe mit
13,9 m für die Sekunde berechnet. Es müßte
also eine Nebelkrähe imstande sein, den Weg
von der Vogelwarte Rossitten nach St. Petersburg
in i6 Stunden, oder, wenn sie täglich nur acht
Stunden flöge, in zwei Tagen zurückzulegen. Eine
am 18. April 1904 bei Rossitten aufgelassene be-
ringte Nebelkrähe wurde am 26. April in der
Umgebung von St. Petersburg erlegt, v. Kaygoro-
dofifs vom Forstinstitute in St. Petersburg läßt
sich in jedem Frühjahre die ersten bei Rossitten
durchziehenden Krähen melden. Sie brauchen
nach seinen genauen Beobachtungen durchschnitt-
lich zwölf Tage, um von Rossitten nach St. Peters-
burg zu kommen. Die Krähen ziehen also
gemächlich und das dürfte, sagt Dr. Th iene-
mann, für die Zugvögel im allgemeinen gelten.
Nach der , .Theorie des Überfliegens"
kann es vorkommen, daß mitunter bei einigen
Arten die nördlichen Stämme südlichere Winter-
quartiere haben als die südlicheren. Eine positive
Grundlage für diese Theorie haben Beobachtungen
Dr. Curt Weigold's'-) geliefert. Das Be-
ringungsexperiment hat nämlich die überraschende
Tatsache ergeben, daß die deutschen Austern -
fisch er (Haematopus ostralegus) Stand- oder
Strichvögel sind, während man bei der Auffällig-
keit des Durchzuges von Austernfischern im
Herbste, wenn auch Tausende von Austernfischern
in den Watten überwintern , hätte annehmen
müssen, daß da ein etappenweises Verschieben
der Bestände vor sich gehe , die deutschen
Austernfischer südwärts abzögen und nordische an
ihre Stelle rücken.
Wie sehr man bei den Beringungsversuchen
mit dem günstigen Zufall rechnen muß, mag die
Beringung von Lummen zeigen. Am 25. Juni
191 2 fuhr Dr. Weigold mit einem anderen
jungen Zoologen abends im kleinen Ruderboot
unter den bekannten Lummenfelsen von Helgo-
land und gelang es ihm, von den jungen Lummen
(Uria troille), die gerade soweit waren, in das
Wasser zu gehen, fünf abzufangen und zu be-
ringen. Er hatte da nicht die geringste Hoffnung,
einmal etwas über das Schicksal dieser Ringvögel
zu erfahren, da ja im Winter Tausende und
') Untersuchungen über die Schnelligkeit des Vogelfluges.
Von Dr. J. Thienemann, Journ,il für Ornithologie, 1910.
^) IV. Jahresbericht der Vogelwarte der kgl. biolog. An-
stalt auf Helgoland. Von Dr. Hugo Weigold, Leipzig 1 9 1 3.
Tausf ndc Alken aus dem Norden nach Helgoland
kommen. Um so erstaunter war er, als er vom
Museum Stavanger in Norwegen den Ring einer
dieser Lummen zugesandt erhielt, die am 14. No-
vember 191 2 bei Fogn in Ryfylke in der Nähe
von Stavanger geschossen worden war. Es ist
wieder gegen alles Schema, daß, während Un-
mengen nordischer Lummen sich bei Helgoland
aufhalten, um dieselbe Zeit Helgoländer Lummen
im Norden sich befinden. Offenbar breiten sich
die Lunimenscharen nach allen Seiten auf der
hohen -See aus und geht nicht eine scharf staffel-
weisc, sondern nur eine regellose Verschiebung
nach Süden vor sich.
Bezüglich des Verhaltens der Silbermöven
(Larus argentatus) der deutschen Nordseeküsten
haben die Ringversuchc volle Klärung gebracht.
Diese Silbermöven ziehen nicht, breiten sich auf
der Nahrungssuche in der ganzen deutschen Bucht
aus, überschreiten dabei selten die jütische Halb-
insel bis an deren Ostküste. Ihre Ausbreitung
erreicht von November an das Maximum. Es
bleiben aber immer große Mengen in der Nähe
der Heimat.
Ein vielberingter Vogel ist die Lachmöve
(Larus ridibundus). Die Ausbreitung der Schles-
wiger Lachmöven erreichte nach den Ergebnissen
der Beiingungen der Helgoländer Vogelwarte
diesmal .luf jeder Seite weitere Ausdehnung, nach
Nordosten bis Fünen, in England bis Holderneß
nördli>:h des Humber, bis Irland, fast bis Gibraltar
und im Südosten bis Norditalien. So ist jetzt in
den Hauptzügen die Natur und der Wanderzug
der Sclileswiger Lachmöven geklärt.
Die Markierungen von deutschen S e e -
schwalben lassen es vorläufig auf Grund der
eihaltenen Rückmeldungen als wahrscheinlich er-
scheinen, daß aller Zug nur der Küste folgt und
Besuche des Binnenlandes nicht sehr ausgedehnt
und selten sind. Interessante Ergebnisse er-
brachten die Rückmeldungen über in Ungarn be-
ringte Lachmöven. Außer der Lachmövenkolonie
im See von Velencze wurde eine zweite Kolonie
im Nordosten Ungarns in Bodrogszerdahely auf-
gefunden. Aus den zahlt eichen Rückmeldungen
— eine 4Y2 Jahre alte, am 19. Juni 1908 mit
Ring Nr. 615 markiert — ist zu ersehen, daß,
während ein Teil der Velenczer Lachmöven die
Kolonie erst im November zu verlassen begann,
andere Ende November schon bei Napoli, Mitte
Dezember bei Fiume, Mitte Jänner in Brindisi
und Tunis, jedenfalls im Winterquartier, sich be-
fanden. So bevölkert also die Lachmövenkolonie
eines kaum einige Quadratkilometer weiten Brut-
gebietes ein Winterquartier, dessen extreme Punkte
in der Luftlinie 1500 km voneinander entfernt
sind. Mit Ringen der ungar. ornitholog. Zentrale
hat Forstmeister Curt Leo; zahlreiche Lachmöven
am Hirnsensee in Nordböhmen gezeichnet. Über
diese böhmischen Lachmö/en sind im Jahre 191 3
bei der ungarischen Zentiale 11 Rückmeldungen
eingelaufen, welche besagen, daß diese Möven der
N. F. Xra. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
227
Elbe folgend, also in nordwestlicher Richtung,
ihr bis zur Seinemündung sich erstreckendes
Winterquartier aufsuchen, während man im Hin-
bUck darauf, daß die Lachmöven von Rossitten
zum Teile ebenfalls wie die ungarischen das Mit-
telmeer als Winterquartier aufsuchen, auch die
Winterquartiere der böhmischen Lachmöven viel
südlicher gesucht hätte. Vor der Einführung des
Ringversuches in die Vogelzugforschung waren
eben unsere Zugtheorien ganz auf die
südliche Richtung eingestellt. Hier hat
also wieder der Ringversuch Aufklärung gebracht.
Deutlich zeigt sich da die Wichtigkeit der Elbe
als topographischer Faktor. Auch für den Rück-
zug ist sie im Frühjahre den Lachmöven der
Wegweiser. Es scheint sich da auch für die Lach-
möve zu bewahrheiten, was Jakob Schenk')
für den weißen Storch festgestellt hat, daß als
Winterquartiere jene klimatisch und
hinsichtlich der Ernährungsverhält-
nisse entsprechenden Gebiete gewählt
werden, welche am leichtesten, also
am sichersten zu erreichen sind.
Bei dem großen Interesse, daß der Wald-
schnepfe in allen Jägerkreisen entgegengebracht
wird, und der ausführlichen Berichterstattung der
fachmännischen Presse über das Kommen und
Gehen dieses Vogels hat man sich von der Mar-
kierung dieses Wandervogels reichliche Ergebnisse
versprochen. Aber die technischen Schwierigkeiten
der Schnepfenberingung, die eine größere Aktion
wie bei den kolonienweise brütenden Vögeln un-
möglich machen, sind sehr große. In Ungarn ist
der erste diesbezügliche Versuch gescheitert. Gün-
stiger waren die Ergebnisse anderen Ortes. W.
V. Dietz hat im Juli 191 1 bei Gatschina (in der
Umgebung von St. Petersburg) eine junge Wald-
schnepfe beringt. Diese ist im Dezember 191 1
im Departement Gers in Südfrankreich geschossen
worden. Im Sommer 1912 hat Jägermeister W.
V. Dietz-) im Gatschinarevier wieder sechs junge
Waldschnepfen beringt. Von diesen wurde eine,
die am 21. Juli den Ring Nr. 4618 erhalten hatte,
im Dezember 191 2 in der Gegend von Visignano
in Istrien erlegt. Diese beiden Rückmeldungen
über Ringschnepfen erweisen, daß in einem und
demselben Revier erbrütete Waldschnepfen in zwei
auf einander folgenden Jahren ganz verschiedene
Winterquartiere aufsuchten, einmal westlich, einmal
östlich an den Alpen vorbei ihren Weg genommen
haben. Und noch über eine dieser von v. Dietz
beringten Waldschnepfen kam eine Rückmeldung. •')
Es wurde nämlich die am 27. Juli 191 2 mit Ring
Nr. 4621 markierte Waldschnepte am 24. März
191 2 im Freckenfelder Gemeindewalde, südlich
von Landau in der Rheinpfalz, auf dem Abend-
*) Das Experiment der Vogelzugforschung. Von Jakob
Schenk, Budapest 19 10.
^) Bericht von Dr. J. Thienemann in Reichenow's
Ornithologische Monatsberichte, 19 13, Märzheft.
^) Bericht von Dr. Th ienemann. Reichenow's Ornitho-
logische Monatsberichte, 1913, Maiheft.
Striche erlegt. Drei Rückmeldungen auf sieben
Beringungen ist wohl ein so günstiges Resultat,
daß es zu fortgesetzter Schnepfenberingung an-
spornen muß. Auf der Vogelwarte Helgoland
wurde am 6. November 1910 vormittags eine
Waldschnepfe im Drosselbusch gefangen und mit
Ring Nr. 3851 gezeichnet. Diese Schnepfe wurde
am 16. August des nächsten Jahres bei Jönköping
in Südschweden im Brutgebiete erlegt. Dieser
Fall bestätigt die von Dr. Hugo Weigold
wiederholt ausgesprochene Ansicht, daß die
Helgoländer Wald Schnepfen wenigst ens
zum Teil in Südschweden brüten.
Es müßte doch zum mindesten für den Jäger
von Interresse sein, gewiß aber auch praktischen
Wert haben, bestimmt zu wissen, was mit den
jährlich in einem bestimmten Gebiete erbrüteten
jungen Rebhühnern geschieht, ob auch sie wie
die Eltern in den Gebirgsrevieren bleiben oder
fortziehen und ob die Rebhühner größere Wande-
rungen unternehmen. Auch hier würde der Ring-
versuch Aufklärung bringen. Ein solcher Versuch
ist von Harald Baron Loudon') gemacht
worden. Er markierte in Lisden bei Wolmar am
I. August 1909 auf seinem Gute drosselgroße
junge Rebhühner mit Ringen der Rossittener
Vogelwarte. Am 21. August 191 1, also nach
2 Jahren 20 Tagen, wurde eines dieser Hühner,
mit Ring Nr. 1050 markiert, in Osthof am Burt-
neksee, etwa 20 km nordwestlich von der seiner-
zeitigen Markierungsstelle, erbeutet. Der Vogel
ist also der näheren Umgebung seiner Heimat treu
geblieben und hat da auch gebrütet.
Durch die früheren und die im Vorjahre be-
kannt gewordenen Rückmeldungen über in Ungarn
beringte Purpurreiher (Ardea purpurea) ist die
Zugsweise dieser Reiher völlig klargelegt. Sie
überwintern im südlichsten Italien, in Kalabrien
und auf Sizilien und kehren in ihre Geburts-
kolonien oder deren nächste Umgebung wieder
zurück. Aber man kennt das Durchzugsgebiet
noch nicht, da keine der eingelangten Rückmel-
dungen von einem zwischen den beiden Endpunkten
ihres Reiseweges gelegenem Orte stammt. Auch
die Nachtreiher (Nycticorax nycticorax) über-
wintern, wie aus den eingelangten Rückmeldungen
zu ersehen ist, im südlichen Italien und kehren
in ihre Blutkolonien zurück. Von einer bestimmten
Gesetzmäßigkeit ihres Zuges kann aber nicht die
Rede sein, man findet einzelne Nachtreiher noch
im Oktober in der Nähe ihrer Brutplätze, andere
schon anfangs September in den südlichen Winter-
quartieren.
Über die weißen Störche, diese idealen
Ringvögel, bringen die Markierungsversuche immer
wieder neue Aufschlüsse. Über von der Vogel-
warte Rossitten beringte Störche sind im Jahre
1912 wieder 16 Rückmeldungen, über 3 einjährige,
2 zweijährige, 8 dreijährige, 2 vierjährige und i
') Bericht von Dr. J. Th ienemann in ,, Deutsche Jäger-
zeitung", 61. Bd., Nr. 7.
228
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 15
fünfjährigen Ringstorch, eingelangt. Sie erweisen
neuerlich, daß die norddeutschen Störche von ihren
südlichen Winterquartieren in ihr engeres Heimats-
gebiet und oft in die unmittelbare^ Nähe ihres
heimatlichen Horstes zurückkehren, und zwar schon
im ersten Jahre, wenn sie noch nicht fortpflanzungs-
fähig sind. Auch eine bisherige ganz auffällige
Lücke in der Reihenfolge biologischer Details aus
dem Storchleben, daß es nämlich bisher nicht
möglich gewesen, einen beringten Storch
am Horste anzutreffen, erscheint jetzt aus-
gefüllt.^) Am 27. Juni 1913 wurde auf einem
Horste in Seligenfeld bei Königsberg ein männ-
licher Storch erbeutet, der mit Ring 1321 der
Rossittener Vogelwarte gezeichnet war. Man konnte
daher feststellen, daß dieser Storch vor genau fünf
Jahren im Juni 1908 in Adl. Spandienen bei Königs-
berg, etwa 7,5 km von der Erbeutungsstelle ent-
fernt, beringt worden war. Er hatte sich mit seiner
Ehegenossin im F'rühjahre auf dem Horste ein-
gefunden, ohne das es aber, obschon das Paar den
ganzen Sommer dablieb, zum Aufziehen von Jungen
gekommen wäre. Was die 1 1 Rückmeldungen
über beringte ungarische Störche betrifft, die im
Vorjahre bei der ungar. ornitholog. Zentrale ein-
gelangt sind, so verdienen da zwei Fälle eine be-
sondere Erwähnung. Am 25. Juni 191 2 wurde
in Hödsäg ein Jungstorch mit Ring Nr. 48 11 ge-
zeichnet. Dieser Ringstorch wurde am 3. März
am Kasiliefluß bei Ekwendeni in British Nyassaland
erlegt. Damit ist eine neue Winterstation der
weißen Störche bekannt geworden. Am 30. Juli
191 3 wurde in Kuvuklia bei Brussa in Kleinasien
ein ungarischer Ringstorch aufgefunden, dessen
Ring Nr. 4948 besagte, daß er am 26. Juni 1912
in Apatin beringt worden ist. Diese kleinasiatische
Station gehört nicht in den heute bekannten Reise-
weg des weißen Storches und besagt, daß die
noch nicht fortpflanzungsfähigen
Störche sich nach Weg und Zeit nicht
an den normalen Zug halten, daß sie ihre
Reise bummelnd zurücklegen, daß sie sich viel-
leicht über die Reiseroute orientieren. Das ist bei
den Schwalben, bei welchen auch die einjährigen
Individuen schon fortpflanzungsfähig sind, anders.
Hier haben es die alten und jungen Vögel gleich
eilig, in die Brutgebiete zurückzukommen.
Über eine andere das Storchleben betreffende
Frage ist jetzt Aufklärung geworden. Es treiben
sich nämlich in jedem Jahre im Mai und Juni, zu
einer Zeit also, da die brütenden Paare mit den
verschiedentlichen Aufgaben des Brutgeschäftes
vollauf zu tun haben, einzelne Storchindividuen
auf den Wiesen und F"eldern herum. Das Volk
nennt sie in der Meinung, daß es Männchen seien,
die keine Weibchen gefunden haben, ,,Storch-
j unggeseU en". In manchen Jahren treten sie
zahlreicher, in anderen spärlicher auf. Die Jäger
bezeichnen diese herumvagierenden Störche, weil
sie eifrig hinter Junghasen, jungen Rebhühnern
und Fasanen her sind, als „Raubstörche" und
schonen sie nicht. Eingehende Untersuchungen,
die Dr. J. T h i e n e m a n n anatomisch an ihm ein-
gesandten Exemplaren und in Rücksprache mit
Jägern angestellt hat, haben nun ergeben, daß
diese Einzelstörche durchaus incht lediglich Männ-
chen sind, sondern unter ihnen beide Geschlechter
vertreten sind, die sich also untereinander paaren
könnten, daf3 solches Herumstreifen eheloser Störche
mit den Nahrungsverhältnissen in den verschiedenen
Jahren zusammenhängt. Es gibt gute und schlechte
Storchjahre. Das Jahr 1912 war, wie J. Schenk
betont, ein ausnehmend gutes Storchjahr, in welchem
viel weniger Horste unbesetzt blieben, die Gelege
eine größere Anzahl von Eiern aufwiesen. Auf
dieses Maximum folgte im Jahre 1913, in welchem
viele Horste unbesetzt blieben, die Nahrungsverhält-
nisse schlechte waren, heftige Stürme die Horste
beschädigten oder gnnz vernichteten, ein sehr
schlechtes Storchjahr. In solchen schlechten Jahren
tritt bei vielen Individuen eine Pause im Geschlechts-
leben ein, sie nisten nicht, sondern treiben sich
vagabundierend herum. Solch ein Vagant war
gewiß auch der fünf|ährige Ringstorch, der, am
10. Juli 1908 von J. Schenk in Hidveg mit Ring
Nr. 207 markiert, am 31. Juli 191 3 in nächster
Umgebung von Hidveg tot aufgefunden worden
war. Diese Ergebnisse über die „Raubstörche",
die sich in gleicher Zahl aus Männchen und Weib-
chen zusammensetzen, stellen auch die An-
nahme, daß in derVogelwelt die Männ-
chen numerisch überwiegen, in Furage.
Seit Mai des Vorjahres besitzt auch Österreich,
das bisher neben Spanien, Italien und den Balkan-
staaten einer Vogelmarkierungsstation entbehrte,
eine solche in der von Eduard Paul Tratz
aus eigenen Mitteln begründeten Ornithologi-
schen Station in Salzburg, die auch schon
ihren ersten Jahresbericht ') veröffentlicht hat. Es
wurden im Jahre 1913 an 1650 Ringe versendet,
von denen 365 bereits zur Markierung verwendet
worden sind. Trotz der kurzen Zeit, während
welcher die Salzburger Station in die Vogelmar-
kierung eingetreten ist, liegen schon zwei Rück-
meldungen vor. Eine am 5. Juli 191 3 von Graf
M e nsdorff-Poully in Chotelice (Böhmen) mit
Ring Nr. 580 markierte junge Krickente wurde
am 22. Oktober, etwa 5 Kilometer vom Beringungs-
orte entfernt, erlegt. Eine am 15. Mai 191 3 von
Tratz in Salzburg mit Ring Nr. 594 versehene
Rabenkrähe wurde arri 8. August in nächster Nähe
des Beringungsortes geschossen. Diese beiden
Fälle ergeben, daß junge Krickenten und
junge Krähen verhältnismäßig lange in
der Nähe ihres Brutortes verweilen.
So hat man alle Ursache, mit den fortgesetzten
Erfolgen des Ringversuches sehr zufrieden zu sein.
Wer hätte in so kurzer Zeit solche Resultate er-
') Bericht von Dr. J. Thicnemann in Reichenow's
Ornithologische Monatsberichte 1913, Septemberheft.
') I. Jahresbericht der Ornithologischen Station in Salz-
burg, 1913. Von Eduard Paul Tratz.
N. F. XIII. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
229
warten dürfen. Freilich sind noch zahlreiche
Lücken auszufüllen, steht noch auf so manche
Frage die Antwort aus. Obschon in Ungarn J.
Schenk allein jährlich an 50 — 70 Störche seit
1909 beringt hat, ist noch kein einziger dieser
ungarischen Ringstörche irgendwo als Brutvogel
aiigetroften worden. Ebenso noch keine ungarische
beringte Lachmö\e. Bis zum heutigen Tage ist
es auch noch nicht geglückt, auch nur über eine
einzige der beringten iVIehl- und Rauchschwalben
von einem Orte außerhalb der Grenzen Ungarns
eine Rückmeldung zu erhalten. Von etwa 700 be-
ringten Sichlern ist noch keiner außerhalb der
ungarischen Landesgrenze angetroffen worden.
Die Vogelmärkte in Italien, Griechenland, Nord-
afrika könnten da wohl manchen Beleg liefern !
Mit Recht macht Dr. Hugo Weigold weiter
Die Bedeiitniig der Konjugation bei den
Infusorien.
Von Dr. Hans Nachtsheim, Freiburg i. B.
[Machdruck verboten.]
Vor einigen Jahren schrieb der amerikanische
Protozoologe C a 1 k i n s in einem größeren Werk
über Protozoenkunde : ')
„Wenn wir solch eine vollständige Reihe von
Zellen nehmen könnten, wie sie durch die wieder-
holten Teilungen eines befruchteten Protozoons
gebildet wird, und wenn wir sie dann zu einer
Masse von Zellen vereinigen könnten, so erhielten
wir das Analogon zu einem Metazoon und wür-
den finden, daß das Protoplasma, das der Haufen
von Zellen darstellt, die gleichen aufeinander fol-
genden Perioden von Lebenskraft aufweist, die für
die Metazoen charakteristisch sind: Jugend, Reife
und Alter. Wir würden finden, daß die jungen
Zellen sich rascher teilten, als sie es später in
dem Zyklus tun; wir würden finden, daß sie nach
einer gewissen Zeit ihre geschlechtliche Reife er-
langen und fähig sind zu konjugieren und so die
Rasse fortzusetzen; und wir würden finden, daß
1 schließlich Zeichen einer geschwächten Lebens-
1 kraft und einer Degeneration sichtbar werden in
dem Haufen von Zellen, und daß sie schließlich
1 alters sterben."
Calkins ist also der Ansicht, daß ein Infusor,
ein Paramaecium z. B., sich eine Zeit lang unge-
schlechtlich durch Teilung fortzupflanzen vermag,
daß aber dann schließlich eine Zeit kommt, wo
es konjugationsbedürftig wird. Durch die Konju-
gation wird der ganze Organismus vollständig
verjüngt, das Tier wird zu neuer ungeschlecht-
licher Vermehrung befähigt. Unterbleibt aber die
Konjugation, so gehen die Tiere einer Degenera-
tion entgegen und sterben schließlich ab.
Die Theorie, daß die Konjugation eine Ver-
jüngung des Organismus zur Folge hat, ist nicht
darauf aufmerksam, wie wünschenswert es wäre,
wenn junge eifrige Mitarbeiter verschiedene wich-
tige zoogeographische Unterlagen für die Vogelzug-
forschung bearbeiten würden, Dissertationen dieser
Art erscheinen würden.
Eine sehr gute Idee war die Abhaltung eines
fünftägigen Kurses (während der Pfingstferien) über
Vogelschutz und ])raktische Vogelkunde an der
Vogelwarte Rossitten. Wie not solche Unter-
weisungen besonders für angehende Landwirte
tun, mag die Mitteilung Prof. Thienemanns
zeigen, daß ein Ackerbauschüler, also ein junger
Mensch, der acht Jahre lang eine Land- oder Stadt-
schule durchgemacht hat, auf eine bezügliche Frage
des Lehrers antwortete: „Die Krähe bringt
acht lebendige Junge zur Welt, welche
15 cm lang sin d."
neu; sie wurde bereits in den 70er Jahren des
vorigen Jahrhunderts von Bütschli aufgestellt
und hat zahlreiche Anhänger gefunden. Seit
langem weiß man, daß bei der Konjugation der
Makronukleus zugrunde geht, daß in jedem der
konjugierenden Tiere die Mikronuklei die sog.
Reifungsteilungen durchmachen und dann ein Aus-
tausch von Kernsubstanz erfolgt. Hierauf trennen
sich die Konjuganten wieder, und der Makronukleus
wird vom Mikronukleus neu gebildet. Das macht
allerdings den Eindruck, als ob hier eine „Ver-
jüngung" vor sich gehe. Der alte Makronukleus,
der den somatischen Funktionen des Organismus
vorsteht, wird aufgelöst, es wird ein neuer ge-
bildet vom generativen Kern, dem Mikronukleus,
jedoch auch nicht von dem alten Mikronukleus,
sondern dieser hat zuvor Substanz abgegeben und
statt dessen Substanz von einem anderen Indivi-
duum aufgenommen.
Aber ist denn wirklich eine solche „Verjüngung"
des Organismus nötig, vermag sich wirklich ein
Infusor ohne Konjugation nicht unbegrenzte Zeit
ungeschlechtlich zu vermehren.? Ausgedehnte, in
den letzten Jahren ausgeführte Experimente haben
in der Tat gezeigt, daß eine solche Vermehrung
möglich ist. Woodruff) ist es gelungen, eine
Rasse von Paramaecium 5V.2 Jahre lang zu züch-
ten. In dieser Zeit erzeugte die Rasse, die sich
unter täglicher Beobachtung befand, 334oGene-
rationen, ohne daß jemals eine Konju-
gation in dieser Rasse erfolgte. Eine
Abnahme der Lebenskraft konnte nicht festgestellt
werden. ,,Die Organismen der jetzigen Genera-
tionen", schreibt Woodruff, der die Rasse noch
weiter fortführt, „sind ebenso normal in ihren
morphologischen und physiologischen Verhält-
nissen wie das originale „wilde" Individuum, das
') Callsins, G. N., Protozoology. New York and Phila-
delphia, 1909.
') Woodruff, L. L. , Two thousand generations of
Paramecium. Arch. f. Protistenk., 21. Bd., igil.
— — , Dreitausend und dreihundert Generationen von
Paramaecium ohne Konjugation oder künstliche Reizung. Biol.
Ccntralbl., 33. Bd., 1913.
230
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. IS
als Ausgangstier der Kultur isoliert wurde."
Woodruff kommt daher zu dem Resultat, „daß
das Protoplasma einer einzigen Zelle
unter günstigen äußeren Umständen
ohne Hilfe von Konjugation oder einer
künstlichen Reizung imstande ist, sich
unbegrenzt fortzupflanzen", und ,,daß
das Altern und das Befruchtungsbedürf-
nis nicht Grundeigenschaften der leben-
digen Substanz sin d".
Was bewirkt nun aber die Konjugation? Wenn
wir in der Literatur Umschau halten, so finden
wir, daß wirklich einwandfreie größere Unter-
suchungen über die Wirkung der Konjugation
bisher fehlten. Man hat zwar des öfteren konju-
gierende Protozoenstämme mit nichtkonjugieren-
den verglichen und will gefunden haben, daß die
konjugierenden in mancher Hinsicht im Vorteil
waren gegenüber den nichtkonjugierenden, aber
man hat niemals — jedenfalls nicht in ausreichen-
der Weise — konjugierende Infusorien mit solciien
verglichen, die zwar zur Konjugation bereit waren,
die man aber künstlich an der Konjugation ver-
hindert hat. Diese Lücke durch ausgedehnte
Untersuchungen ausgefüllt zu haben, ist das Ver-
dienst des amerikanischen Protozoenforschers
Jen nings. ')
Jennings benutzte zu seinen Experimenten
ebenfalls das klassische Objekt der experimentellen
Protozoenforschung, das Paramaecium. Konju-
gierende Tiere erhält man leicht, wenn man das
Medium, in dem sich die Tiere befinden, schroff
wechselt. Wurde am Abend eine größere Anzahl
Paramaecien einer Stammkultur entnommen und
in Uhrgläschen gebracht, so konnte Jennings
damit rechnen, am folgenden Morgen Tiere in be-
ginnender Konjugation zu finden. In diesem
Stadium — die Tiere legen sich zunächst mit
den Vorderenden aneinander — hat die Reifung
der Mikronuklei noch nicht begonnen, und es ist
jetzt noch leicht, die beiden Individuen wieder
zu trennen. Die künstliche Trennung, welche
durch wiederholtes Einziehen der Tiere in eine
fein ausgezogene Pipette geschieht, überstehen
diese ganz gut, vorausgesetzt nur, daß die Tren-
nung im Anfangsstadium der Konjugation erfolgt.
Einen Teil der konjugierenden Tiere trennte
Jennings auf die soeben beschriebene Weise,
einen anderen Teil ließ er die Konjugation be-
enden; erstere bezeichnet er als „splitpairs" im
Gegensatz zu den letzteren, den „pairs". Nach
der Konjugation wurden die beiden Individuen
eines „pair" in Einzelkultur genommen und ihr
weiteres Verhalten ebenso wie das der , split-pairs"
beobachtet. Um die Nachkommen der ,, pairs"
und „split-pairs" miteinander vergleichen zu können,
ist es natürlich notwendig, alle unter ganz den
') Jennings, H. S., The effect of conjugation in Para-
meciuni. Journ. of e.xperim. Zoöl., Vol. 14, 1913.
Jennings, H. S. and Lashley, H. S., Biparental in-
heritance and the question of sexuality in Paramecium. Journ.
of experim. Zoöl., Vol. 14, 1913.
gleichen äußeren Bedingungen zu halten. Und
um z. B. die Teilungsrate einer Linie genau fest-
stellen zu können, ist es notwendig, die Kulturen
täglich zu kontrollieren und, falls sich ein Tier
geteilt hat, die Tochtertiere wieder zu isolieren.
Jennings teilt die von ihm in großer Zahl
angestellten Experimente ausführlich mit. An der
Hand einiger seiner Tabellen wollen wir seine
Resultate kurz betrachten.
In Tabelle i ist die Zahl der Teilungen in den
ersten drei Wochen von je 1 5 Linien von „pairs"
und „split-pairs" wiedergegeben. Ein Tier, das
konjugiert hatte, teilte sich also in der ersten Woche
nach der Konjugation omal, in der zweiten Woche
mial, in der dritten Woche starb diese Linie aus
(t^tot); ein anderer „Exkonjugant" — wie wir
die Tiere, die konjugiert haben, auch nennen —
teilte sich in der ersten Woche imal, wieder ein
anderer 5mal usw. Ein Paramaecium, das künst-
lich an der Konjugation verhindert worden war,
machte in der ersten Woche 6 Teilungen durch,
in der zweiten 4, in der dritten 7 usw.
Tabelle i.
Erste Woche:
„Pairs"
0
1
5
S
4
2
I
5
0
S
6
3
2
4
0
,, Split-pairs"
6
6
8
7
7
7
7
7
7
8
7
8
7
7
7
Zweite Woche :
,, Pairs"
1
2
6
5
6
6
0
S
2
4
S
5
I
2
6
,, Split-pairs"
4
6
6
7
ö
5
4
6
6
4
5
6
5
6
6
Dritte Woche:
,, Pairs"
t
t
8
6
8
I
0
5
0
6
6
3
3
t
8
„Split-pairs"
7
9
6
9
7
6
6
8
6
5
9
10
9
8
7
Wenn wir die Tabelle überschauen, so fallt uns
sofort auf, daß die Abkömmlinge der „split-pairs"
sich viel reger vermehrten als die der „pairs".
So teilten sich die 15 Abkömmlinge der „pairs"
in der ersten Woche zusammen 43 mal, die 15
der„split pairs" hingegen in derselben Zeit 106 mal.
In der dritten Woche gingen 3 von ,, pairs" stam-
mende Linien zugrunde, die übrigen 12 vermehrten
sich 54 mal. Die Fortpflanzungsrate der 15 „split-
pairs"-Linien in der dritten Woche ist wieder be-
trächtlich höher, sie vermehrten sich 112 mal
Ähnliche Resultate erhielt Jennings in allen
seinen übrigen Experimenten. Zwar war in einigen
wenigen Fällen ein Unterschied in der Teilungs-
rate der ,, pairs"- und der ,,split-pairs"-Linien nicht
zu bemerken, niemals aber teilten sich die Para-
maecien nach der Konjugation schneller als die an
der Konjugation verhinderten Tiere.
Dieses Resultat mag zunächst überraschen. Sind
doch die zahlreichen Anhänger der Verjüngstheorie
größtenteils der Ansicht, daß die Konjugation das
Infusor zu zahlreichen neuen Teilungen befähigt,
daß durch sie die Teilungsrate gehoben wird.
Und doch ist die Feststellung Jennings nicht
neu. Zwei so ausgezeichnete Protozoenforscher
N. F. XIII. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
231
wie Maupas') und R. Hertwig'-j sind bereits
vor längerer Zeit zu dem gleichen Resultat ge-
kommen. R. Hertwig, trotz dieser Beobachtung
— ebenso wie Maupas — ein Anhänger der
Verjüngungstheorie, suchte seine Befunde in der
Weise zu erklären, d?Q er annahm, durch die
ständige ungeschlechtliche Vermehrung werde die
Teilungsrate erhöht und schließlich eine Höhe er-
reicht, die für den Organismus schädlich ist, durch
die Konjugation aber werde dann die Vermehrungs-
fähigkeit wieder in normale Bahnen gelenkt. Jen-
nings hingegen sieht in der Wirkung der Kon-
jugation auf die Teilung; rate wohl mit Recht einen
Beweis gegen die Richtigkeit der Verjüngungs-
theorie.
Ein weiterer wichtiger Grund, die Verjüngungs-
theorie entschieden abzulehnen, ist für Jennings
die Tatsache, daß die Sterblichkeit unter den Ex-
konjuganten viel größer ist als unter den an der
Konjugation verhinderten Tieren. Betrachten wir
nochmals die Tabelle 1. Die „split-pairs"-Lii ien
zeigen in der dritten Woche alle eine normale
Vermehrung. Von den ,,pairs"-Linien sind drei
eingegangen, zwei Tiere, die auch in den beiden
ersten Wochen sich kaum vermehrt hatten, haben
sich nicht geteilt. Das ist also nichts weniger als
eine Erhöhung der Lebenskraft infolge Konjugation I
Nur in zwei Fällen war die Sterblichkeit unter
den Nachkommen der „split-pairs" größer als die
der Exkonjuganten. Da aber in beiden Fällen
besondere Umstände vorlagen, kommen sie hier
nicht in Betracht. In dem einen Falle wurden die
Kulturen einer abnorm hohen Temperatur —
32 " C ■ — ausgesetzt. Diese hohe Temperatur
vertrugen die ,,pairs" wesentlich besser als die
,,split pairs". Wir werden weiter unten noch darauf
zu sprechen kommen, wie dieses Resultat zu er-
klären ist. Im zweiten Falle handelte es sich um
Tiere, die sich in einer sog. ,, Depressionsperiode"
befanden; schwache Vermehrung und große Sterb-
lichkeit war für diese Kultur charakteristisch. Es
ist schon seit langer Zeit bekannt, daß solche
Tiere außerordentlich schwer zur Konjugation zu
bringen sind. Jennings aber legte besonderen
Wert darauf, gerade in dieser Kultur Konjuganten
zu erhalten. Denn wenn tatsächlich die Konjuga-
tion den Organismus verjüngt, so mußte das hier
am deutlichsten zutage treten. Es gelang Jen-
nings denn auch, wenigstens drei Paare zur
Konjugation zu bringen, die er alle die Konjuga-
tion beenden ließ. Die sechs von diesen Konju-
ganten stammenden Linien verglich er mit Tieren,
der gleichen Kultur, die nicht konjugiert hatten,
wohlgemerkt also nicht, wie in den übrigen Ex-
') Maupas, E., Recherches experimentales sur la tnulti-
plication des infusoires cilies. Arch. d. Zool. experim. et ^en.,
Ser. 2, Tome 6, 1888.
— — , La rajeunissement karyogamique cliez les cilies.
Arch. d. Zool. experim. et gen., Ser. 2, Tome 7, 1889.
^) Hertwig, R., Über die Konjugation der Infusorien.
Abhandl. d. II. Kl, d. königl. bayr. Akad. d. Wiss., 17. Bd.,
1889. '
perimenten, mit ,, split-pairs", mit zur Konjugation
bereiten Tieren, sondern mit solchen, die unter
keinen Umständen zur Konjugation zu bringen
waren. Die Tiere, welche nicht konjugiert hatten,
starben alle nach kurzer Zeit ab. Aber auch die
Exkonjuganten zeigten keineswegs eine erhöhte
Lebenskraft. Vier Linien starben ebenfalls sehr
bald aus. Daß wenigstens zwei Linien von P^x-
konjuganten sich weiter fortpflanzten, findet darin
seine Erklärung, daß in dieser stark in Depression
befindlichen Kultur nur die lebenskräftigsten In-
dividuen überhaupt noch zu konjugieren vermoch-
ten, während den meisten die Kraft dazu bereits
fehlte. Daß also die letzteren in kurzem zugrunde
gingen, kann uns nicht wundern, daß aber auch
das Schicksal jener die Konjugation nicht zu ändern
vermochte, beweist uns die Unhaltbarkeit der Ver-
jüngungstheorie.
Wenn wir von diesen beiden eine besondere
Betrachtung verlangenden Experimenten absehen,
war, wie gesagt, die Sterblichkeit in den „pairs"-
Linien regelmäßig größer als in den „split-pairs"-
Linien und zwar erwies es sich als ganz gleich-
gültig, ob die beiden Konjuganten einer „wilden"
Kultur entstammten oder ob sie in irgendeiner
verwandtschaftlichen Beziehung zueinander standen,
ob sie, um einen Ausdruck aus der Vererbungs-
wissenschaft zu gebrauchen, einer „reinen Linie"
angehörten. Der Grund für die größere Sterblich-
keit unter den Exkonjuganten ist vielleicht in dem
Verlaufe der zytologischen Prozesse während der
Konjugation zu suchen. Irgendwelche Unregel-
mäßigkeiten bei der Reifung oder beim Austausch
der Kernsubstanzen können zur Bildung von In-
dividuen führen, denen infolge irgendeines Mangels
die weitere Lebensfähigkeit durch die Konjugation
genommen ist. Vielleicht werden auch durch die
Konjugation neue Kombinationen, neue Varianten
geschaff'en, von denen ein Teil den gegebenen
Verhältnissen nicht genügend angepaßt ist.
Daß die Bildung von Abnormitäten durch die
Konjugation gefördert wird, dürfte auf dieselbe
Ursache zurückzuführen sein wie die Erhöhung
der Sterblichkeit.
Wir haben bisher nur vernommen, in welcher
Hinsicht die „pairs" im Nach teil sind gegenüber
den „split pairs". Welchen Vorteil aber bringt
die Konjugation den Konjuganten? Auch auf diese
Frage glaubt Jennings eine Antwort geben zu
können.
In Tabelle 2 sind die Zahlen der Teilungen in
einer Anzahl „pairs"-Linien den Teilungszahlen in
einer Anzahl „split-pairs"-Linien in der gleichen
Zeit gegenübergestellt, und zwar das Minimum
einerseits, das Maximum andererseits. Die Nach-
kommen von „pairs" teilten sich also z. B. in acht
Wochen im Minimum 25 mal, im Maximum 38 mal,
die Nachkommen von „split-pairs" in der gleichen
Zeit im Minimum 37 mal, im Maximum 47 mal.
In den in der Tabelle angegebenen Experimenten
ist überall der Unterschied zwischen Minimum und
Maximum der Teilung bei den Nachkommen der
232
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 15
Exkonjuganten größer als bei den „split- pairs"-
Linien. Jennings zieht hieraus den wichtigen
Schluß, daß die Konjugation die Variabilität —
hier also die Variationsbreite der Teilungszahl —
erhöht. Die Berechnung des Variationskoeffizienten
und der Standardabweichung ') ergab , daß diese
bei den Abkömmlingen von „pairs" mehr als
doppelt so groß sein können als bei denen von
„split-pairs". '')
Tabelle 2.
Zeit
„Pairs"
„Split-
Dairs"
M
nimum
Maximum
Minimum
Maximum
Wilde Kulturen:
I. u. 2. Woche
0
12
7
15
3. u. 4. Woche
0
16
6
20
8 Wochen
25
3S
37
47
4 Tage
2
10
8
13
Reine Linien :
20 Tage
I
17
6
17
6 Tage
0
6
4
()
12 Tage
6
16
8
'5
S Tage
I
17
8
IS
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß eine Ver-
größerung der Variabilität für einen konjugieren-
den Infusorienstamm von hoher Bedeutung sein
muß. Die Konjugation erfolgt, wie bereits her-
vorgehoben wurde, besonders dann, wenn die
äußeren Bedingungen wechseln. Durch die Kon-
jugation können dann Varianten geschaffen wer-
den, denen die neuen Verhältnisse mehr zusagen,
die besser an sie angepaßt sind als die Individuen
vor der Konjugation. Andere Varianten freilich
werden auch schlechter angepaßt sein, sie sind
vielleicht teilweise überhaupt nicht lebensfähig in
den neuen Verhältnissen. Immerhin wird durch
die Konjugation die Gefahr, wenn auch nicht be-
'1 Die Art und Weise, wie in der modernen Vererbungs-
forschung Variationskoeffizient und Standardabweichung be-
rechnet werden, schildert ausführlich Goldschmidt in seiner
vor kurzem in zweiter .-\uflage erschienenen ,, Einführung in
die Vererbungswissenschaft" (Leipzig und Berlin 1913I.
*) Es sei hier nicht unerwähnt gelassen, daß Jollos
(Über die Bedeutung der Konjugation bei Infusorien, Arch. f.
Protistenk., 30. Bd., 1913) gegen diese letzten Resultate von
Jennings einige Einwendungen gemacht hat, die zum wenig-
sten teilweise der Berechtigung sicher nicht entbehren.
Jollos sieht durch die Experimente Jennings' den Beweis
nicht erbracht, daß tatsächlich die Konjugation eine Erhöhung
der Variabilität zur Folge hat. Immerhin hält es auch Jollos
für sicher, daß die Konjugation neue Varianten schaffen kann.
Die nächste Zeit dürfte uns wohl auch hierfür noch einwand-
freie Beweise bringen.
seitigt, so doch beträchtlich herabgesetzt, daß bei
Änderung der äußeren Lebensverhältnisse der
ganze Infusorienstamm zugrunde geht. Betrachten
wir z. B. nochmals das Wärmeexperiment. Die
künstlich an der Konjugation verhinderten Tiere
zeigten in der hohen Temperatur eine außer-
ordentlich hohe Sterblichkeit (über 68 "/o). Die
Exkonjuganten hingegen erwiesen sich teilweise
als sehr gut angepaßt an die höhere Temperatur;
nur 23^/2 "/o ungefähr starben.
Ein weiteres Resultat der Konjugation ist die
,, zweielterliche Vererbung". ^)
Frühere Untersucher hatten die Vermutung
geäußert, daß die beiden Konjuganten geschlecht-
lich different sind, ein ,, männliches" Paramaecium
sollte mit einem „weiblichen" konjugieren. Nur
die „weiblichen" Tiere sollten dazu berufen sein,
die Rasse fortzupflanzen , während die Teilungs-
fähigkeit der „Männchen" sehr gering sein sollte.
Vermittels experimenteller und rechnerischer
Methoden vermögen indessen Jennings und
sein Mitarbeiter Lashley zu zeigen, daß von
einer geschlechtlichen Verschiedenheit der Kon-
juganten nicht die Rede sein kann. Bei der Kon-
jugation tauschen die beiden Tiere ihre Eigen-
schaften gegenseitig aus, und wenn sie nach der
Konjugation unter gleichen Bedingungen gehalten
werden , sind ihre Lebenswege bzw. die ihrer
Nachkommen ganz ähnliche. Lebenskraft, l'ort-
Pflanzungsgeschwindigkeit, Größenverhällnisse usw.
sind in zwei von einem Konjugationspaar abge-
leiteten Linien nahezu gleich. Trennt man hin-
gegen ein Konjugationspaar im Anfang der Kon-
jugation, so unterscheiden sich diese Individuen
in ihren verschiedenen Eigenschaften ebenso, wie
wenn man zwei beliebige Individuen einer ,, wilden"
Kultur miteinander vergleicht.
„Was die Konjugation tut", so schließt
Jennings seine interessanten Ausführungen, „ist:
sie bringt neue Kombinationen von
Keimplasma zustande, gerade wie es
bei der geschlechtlichen Vermehrung
der höheren Tiere geschieht. Eines
ihrer Resultate ist, daß sie zweielter-
liche Vererbung erzeugt; ein anderes,
daß sie zahlreichen Variationen den
Ursprung gibt, im Sinne von erblichen
Verschiedenheiten zwischen verschie-
denen Stämmen. Einige von diesen
neuen Kombinationen sind besser an-
gepaßt an die bestehenden Verhält-
. nisse als andere; jene überleben, wäh-
rend die anderen aussterben".
') Die folgenden Resultate veröffentlicht Jennings m
einer besonderen Abhandlung gemeinsam mit Lashley. S.
.'\nm. 2 oben.
N. F. XIII. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
23,?
Einzelberichte.
Astronomie. Der Komet 1910a, der im Januar
des Jahres in Johannisburg entdeckt wurde, und
durch seine Größe auffiel, so daß er im Süden in der
Nähe der Sonne mit bloßem Auge gesehen werden
konnte, hat nach einer eben erschienenen Arbeit
von Lampland auffallende Schweifentwicklungen
gezeigt, wie aus der Bearbeitung einer Anzahl
von Photographien hervorgeht. Zunächst lag der
Schweif nicht in der Richtung Sonne-Komet,
sondern rechtwinklig dazu, er zeigte ferner eine
Anzahl Verdichtungen, deren Weiterbewegung
sich verfolgen ließ, und ergab, daß sie sich mit
einer Geschwindigkeit von etwa 100 km in der
Sekunde bewegten, wahrscheinlich die Schnellig-
keit, mit der die Schweifentwicklung vor sich
geht. Diese selber war äußerst lebhaft, es zeigten
sich Nebenschweife und eine auf die Sonne ge-
richtete Ausstrahlung. Die starkgelbe Farbe der
Erscheinung rührte von dem Vorwiegen des
Natriumlichtes her, das später durch Cyan ersetzt
wurde. Lampland zeigt nun, daß die lebhaftesten
Vorgänge in der Zeit vorkamen, wo der Komet
niedere heliographische Breiten hatte, wie sie die
Zone der Sonnenflecken auch hat, und er zieht
die Kometen Donati 1858 und Chesaux 1744 zum
Vergleich herbei, von denen der erste einen
riesigen Schweif hatte, der zweite einen 6 teiligen
Fächerschweif, um zu beweisen, daß die Aussen-
dung von Energie bei der Sonne an gewisse
Zonen hauptsächlich gebunden sei, und daß die
Kometen gegen den Wechsel dieser Energie-
strahlung sehr empfindlich seien. [Lowell Observ
Bull. Nr. 57.]
Die Stabilität unseres Planetensystems liegt
unter anderem auch darin begründet, daß sich
die Umlaufszeiten der Planeten nicht wie ganze
Zahlen verhalten. Die Planeten kommen also nie
an denselben Stellen der Bahn wieder in gleiche
Längen, so daß sich ihre Störungen im Laufe der
Zeit bald summieren, bald aufheben. Nach einem
von La place untersuchten Sonderfall gibt es
aber eine Ausnahme, wenn nämlich die drei
Körper, also Sonne, störender und gestörter Planet
ein gleichseitiges Dreieck bilden. Dieser Fall tritt
nun tatsächlich ein, es gibt in der Entfernung des
Jupiter 4 kleine Planeten, die zum Unterschied
von den anderen die Namen Achilles, Patroklos,
Hektor und Nestor erhalten haben, die sich in
einem Abstände von etwa 60" vom Jupiter ent-
fernt in derselben Bahn bewegen. 3 davon haben
größere heliozentrische Länge, einer kleinere.
Nach den Untersuchungen von Brown hat diese
Trojanergruppe Störungen durch Jupiter von einer
etwa 150jährigen Periode, und diese Störungen
haben den Charakter von Librationen, also von
Schwankungen um einen mittleren Ort, können
freilich ziemlich bedeutende Beträge erreiclien.
Riem.
Physiologie. Das Auge des Grottenolms
(Proteus anguineu.s), eines in den Gewässern der
Höhlen von Krain lebenden Schwanzlurchs, ist
normalerweise als .Sehorgan unbrauchber. t^s bleibt
auf dem Stadium der sekundären Augenblase stehen.
Da es mit dem Wachstum des übrigen Körpers
nicht Schritt hält, erscheint es beim erwachsenen
Tier unverhältnismäßig klein und wird auch fast
oder ganz unsichtbar, weil es von der Haut über-
deckt wird. Paul Kammerer (Pflüger 's Archiv
für die gesamte Physiologie des Menschen und
der Tiere, 153. Bd., 19 13) ließ nun, noch ehe die
Rückbildung der Augen begonnen hatte, direkt
nach der Geburt einen kräftigen Lichtreiz ein-
wirken. Unter natürlichen Verhältnissen ist der
01m lebendig gebärend, während er im Aquarium
bei einer Temperatur von durchschnittlich über
15" C schon die Eier ablegt. Es werden zwei
IG — 12 cm lange Junge geboren, von denen jedes
aus einem der beiden Ovidukte stammt. Zuerst
versuchte K. die Entwicklung des Auges zu er-
reichen, indem er das junge Tier dem Tageslicht
aussetzte. Aber dann verdunkelte sich auch die
Haut, welche das Auge überzieht, in tiefstes Blau-
oder Braunschwarz, so daß dieses jetzt wieder im
Dunkeln war. Indem K. die Jungen während der
Aufzucht abwechselnd zwei Wochen im Tageslicht
und eine Woche im roten Licht hielt, erreichte
er es, daß die Entwicklung vom Pigment in der
Haut eingeschränkt wurde. Die Augen dagegen
vergrößerten sich um das 4 fache, während es im
Dunkeln nur um das 1,6 fache an Größe zunimmt.
Auch die einzelnen Teile des Auges — Linse,
Aderhaut, Iris, Glaskörper, Sehzellen usw. — bilde-
ten sich aus. Durch wiederholte unter allen Kau-
telen angestellte Versuche konnte K. nachweisen,
daß die Tiere mit derartigen Augen auch wirklich
sahen. Es bedurfte dabei besonderer Vorsichts-
maßregeln, um mit Sicherheit auszuschließen, daß
die für andere Sinnesreize außerordentlich empfind-
lichen Tiere nicht durch Erschütterungen ihres
Behälters, Bewegungen der Luft und des Wassers
angelockt wurden. Eine positive Reaktion auf
den optischen Eindruck eines außerhalb der Wanne
sich bewegenden Objekts — zappelnder Regen-
wurm — wurde 14 mal erzielt, wiederholt mehr- •
mals nacheinander an demselben Tage.
Kathariner.
Entwicklungsmechanik. Über künstliche
Parthenngenese haben neuerdings Dorothy Jor-
dan Lloyd und Jacques Loeb (Archiv für
Entwicklungsmechanik der Organismen, 38. Bd.,
1914) weitere Mitteilungen gemacht.
Nach der Methode von Vves Delage wird
künstliche Parthenogenese dadurch hervorgerufen,
daß man dem die Eier des Seeigels enthaltenden
Seewasser Ammoniak, Rohrzucker und Gerbsäure
zufügt. Nach beiden Autoren ist letztere zum
Hervorbringen des Effekts ganz entbehrlich. Das
234
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 15
Ammoniak wirkt als cytolytisches Agens und bringt
so die Oberflächenänderung hervor, welche nach
L o e b eine wesentliche Bedingung für das Eintreten
der Entwicklung des unbefruchteten Eies ist. Die
Zuckerlösung wirkt stark hypertonisch.
Er zeigt, daß die Amine und die in Spermato-
zoen enthaltene Base Protamin besonders geeignet
sind, die Entwicklung der Eier des Seeigels (Arba-
cia) anzuregen. Außer den schon frülier bekannten
hat er auch andere schwache Basen wie, Butyla-
min und Benzylamin als sehr wirksam gefunden.
Dasselbe war der Fall bei dem aus dem Lachs-
sperma gewonnenen Protamin. Schwache Basen
und Säuren sind wirksamer, weil sie besser in der
Rindenschicht des Eies löslich sind, als die starken.
Angenommen, die Rindenschicht des Eies sei auch
nur dünn, so wird eine schwache Base durch seine
ganze Dicke hindurch wirken können, die starken
Basen aber nur an der Oberfläche. In der alka-
lischen Lösung beginnt die Membranbildung,
in der hypertonischen Lösung wird sie beendet.
In ihr bleiben die Eier etwa 10 — 15 Minuten, je
nach der Temperatur. In der alkalischen Lösung
bleiben sie oft nur recht kurz, manchmal nur 3 — 5
Minuten bei 22 ". Die alkalische Lösung besteht
aus 50 cm-' m/2(NaCl-|-KCl + CaCl2) + Oi3 cm^
N/io(NHj|OH') oder Butylamin oder eine andere
schwache Base. NaCl, KCl und CaCl, sind in dem
Verhältnis gemischt, in dem sie im .Seewasser
enthalten sind. Während die Expositionsdauer in
der alkalischen Lösung nicht so eng abgegrenzt
ist, machen 2 oder 3 Minuten mehr oder weniger
in der hypertonischen Lösung schon einen merk-
lichen Unterschied aus. Wenn die Eier lang genug
in der ammoniakalischen Lösung sind, tritt eine
ziemlich deutliche Membranbildung ein. Im all-
gemeinen aber bildet sich bei kurzer Exposition
im Alkali nur ein heller Saum, der andeutet, daß
in der Rindenschicht eine Änderung eingetreten
ist. Loeb versuchte durch eine Änderung in der
Konstitution der Lösung die Membranbildung zu
beschleunigen und fand, daß dies geschieht, wenn
man das Kalium wegläßt. Am günstigsten für
die Membranbildung durch neutrale Lösungen ist
eine Mischung von NaCl -f- CaCl.j. Bei der ge-
wöhnlich angewandten Mischung von 50 cm'^
m/2(NaCl -f KCl -f CaCl.,) -\- 0,3 cm^' N/io(NH40H)
bestand die Membranbildung nur in einem hellen
Saum, der erst in der hypertonischen Lösung deutlich
wird. Welches ist nundieWirkungderhypertonischen
Lösung? Bringt man die mit alkalischer Lösung be-
handelten Eier gleich ins Seewasser, so tritt meist
eine abnorme P\irchung ein. Das Ei verlängert sich,
wird bohnen- oder hufeisenförmig und zerfällt in
zwei Zellen; weitere Teilungen können folgen.
An der Oberfläche der Zelle erscheint ein Tröpf-
chen und schließlich können die ganzen Furchungs-
zellen in kleine Tröpfchen zerfallen. Durch Be-
handlung mit hypertonischer Lösung wird dies
verhindert. Bei zu langer Expositionsdauer in
dieser aber tritt eine andere Störung auf, nämlich
multipolare Mitosen ohne darauffolgende Furchung.
Statt die Eier erst 20 Minuten in die Ammoniak-
lösung und dann 20 Minuten in die hypertonische
Lösung zu bringen, können auch beide Lösungen
gleichzeitig angewandt werden. L. stellt sich vor,
daß die membranbildende Wirkung des Alkali und
jene der hypertonischen Lösung in ganz verschie-
denen Richtungen liegt. Dann würde das Resultat
auch nicht befremden. R. Lillie hatte die Ver-
mutung ausgesprochen, daß die Membranbildung
in einer Erhöhung der Permeabilität des Eies be-
stehe, und daß dann eine durch die hypertonische
Lösung herbeigeführte Erniedrigung derselben folge.
Wäre dies richtig, so würden sich beide in ihrer
Wirkung aufheben. Außerdem wird ja bei suc-
cessiver Anwendung die Expositionsdauer in der
hypertonischen durch jene in der alkalischen Lösung
abgekürzt, was ja gerade umgekehrt sein müßte.
Wie L. schon 1906 aussprach, werden durch
das Spermatozoen mindestens zwei Substanzen in
das Ei eingeführt, von denen die eine die Membran-
bildung anregt, die andere korrektiv wirkt. Denn
die membranbildende Substanz kann man auch
aus toten Spermatozoen gewinnen, aber nur aus
artfremden, ebenso aus artfremdem Blut.
Würden die eigenen Körpersäfte die Entwicklung
anregen können, so würden die Eier entweder
frühzeitig zerfallen oder ausschließlich männliche ')
Tiere ergeben. Daß das Spermatozoon noch eine
korrektive Substanz in das Ei hineinbringt, ergibt
sich aus folgendem. Wird nur eine Oberflächen-
veränderung des Eies mit Basen oder Säuren herbei-
geführt, so furchen sich die Eier, gehen aber bald
zugrunde, wenn man nicht den zweiten Faktor
zuführt. Unbefruchtete Eier, zur Entwicklung durch
Zusatz von 2,0 cm'' Buttersäure zu 50 cm'' See-
wasser (2 — 5 Minuten bei 23") angeregt, gehen
im Seewasser alsbald zugrunde, wenn sie nicht
auch noch in hypertonischer Lösung gewesen sind.
Mit Samen befruchtete Eier dagegen vertragen die
Behandlung mit Buttersäure ohne weiteres. Dasselbe
gilt für dieBehandlung mit schwachen Basen. Werden
sie aber einige Minuten nach der künstlichen
Membranbildung besamt, so bleiben alle am Leben.
Dies deutet darauf hin, daß durch das Sperma-
tozoon eine zweite unentbehrliche Wirkung bei
der Befruchtung ausgeübt wird.
Kathariner.
Chemie. Im wasserfreien Magnesiumchlorid
haben K. A. Hofmann und Kurt Höschele
(Ber. d. D. Chem. Gesellsch., Bd. 47, S. 238 bis 247;
1914) einen ausgezeichneten Mineralisator aufge-
funden. Das Magnesiumchlorid MgCl., ist ein bei
708 " zu einer leichtbeweglichen Flüssigkeit schmel-
zendes Salz, das als überaus lästiges Nebenprodukt
der deutschen Kaliindustrie zu einem äußerst billigen
Preise in den Handel kommt. Nach den Versuchen
von Hofmann und Höschele ist es ein sehr
brauchbares Lösungs- und Kristallisationsmittel für
') Nach unseren derzeitigen Anschauungen von dem Bau
und von der Natur der Chromosomen.
N. F. XIII. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
235
viele anorganische Oxyde. Schmilzt man das Salz
für sich allein unter Luftzutritt in einem Porzellan-
tiegel, der von der Schmelze kaum angegriffen
wird, so kristallisiert aus dem Magnesiumchlorid
durch die Flinwirkung des Luftsauerstoffes nach der
Gleichung
MgCI.3 + O — > MgO + CI2
entstandenes Magnesiumoxyd in großen glänzenden
Oktaedern (Periklas) aus, die in Essigsäure oder
verdünnter Salzsäure leicht löslich sind und mittels
dieser beiden Lösungsmittel von anderen Stoffen,
die bei Benutzung der Schmelze als Lösungsmittel
auftreten, leicht getrennt werden können. Aus
Eisenoxyd erhält man bei kürzerer Schmelzdauer
einen mehr oder minder FeO-haliigen, nach länge-
rem Schmelzen reinen Magnesioferrit FcgO.j-MgO.
Besonders schöne Präparate liefert das Cerdioxyd
CcO.j, das in diamantglänzenden Würfeln oder
Oktaedern des regulären Systems kristallisiert;
das spezifische Gewicht der Kristalle ist 7,3, ihr
Brechungsexponent liegt über 1,9. Löst man die
Oxyde oder die Sulfate der seltenen Erden, z. B.
von Erbium, Neodym, Praseodym, Samarium in
geschmolzenem Magnesiumchlorid auf, so kristalli-
sieren die Oxychloride ErOCl, NdOCl, PdOCl,
SmOCl in prächtigen Kristallen aus. Nichtflüchtige
Säuren, wie die Borsäure oder die Uransäure,
dagegen nicht die als reines Zirkondioxyd ZrOo
auskristallisierende Zirkonsäure liefern die ent-
sprechenden Magnesiumsalze, so daß Magnesium-
orthoborat B.,03-3MgO oder das Magnesiumuranat
aUrOj-ßMgÖ. Bei mineralsynthetischen Arbeiten
dürfte nach dem Gesagten das Magnesiumchlorid
ein wertvolles Hilfsmittel bilden. Mg.
Über die Darstellung und die Eigenschaften
von Selenschwefelkohlenstoff CSSe und Tellur-
schwefelkohlenstofT CSTe berichtet AlfredStock
in Gemeinschaft mit zwei Schülern (Alfred
Stock und Paul Praetorius. Ben d. D.
Chem. Gesellsch. Bd. 47, S. 131 bis 144, und
Alfred Stock und Ernst Willfroth , ebenda
S. 144 bis 154, 1914). Die dem Schwefelkohlen-
stoff CS., entsprechenden Verbindungen, der Selen-
kohlenstoff CSe., und der Tellurkohlenstofif CTe.,,
sind bisher nicht bekannt, und die wenigen No-
tizen, die sich in der Literatur über die gemischten
Verbindungen, den Selenschwefelkohlenstoff und
den Tellurschwefelkohlenstoff, finden, sind un-
sicher. Es bedeutet daher für die präparative
Chemie einen erheblichen Fortschritt, daß es
Stock gelungen ist, die beiden gemischten Ver-
bindungen in analysenreiner Form darzustellen
und ihre Eigenschaften zu bestimmen. Das Ver-
fahren, dessen sich Stock bediente, ist im Prinzip,
wenn auch wohl nicht in der Ausführung verhält-
nismäßig einfach : Aus Selen und Graphit und
aus Tellur und Graphit wurden unter Verwendung
von Zuckerlösung Elektroden geformt und mittels
eines unter Schwefelkohlenstoff brennenden Licht-
bogens bei 20 bis 40 Volt Spannung und etwa
5 Ampere Stromstärke anodisch zerstäubt. Es
bilden sich unter diesen Umständen neben nicht-
flüchtigen Zersetzungsprodukten des Schwefel-
kohlenstofifs TellurschwefelkohlenstofT oder Selen-
schwefelkohlenstoff, beides leicht flüchtige Verbin-
dungen, welche bei der Destillation der erhalte-
nen Schwefelkohlenstofflösungen mitdestillieren,
und außerdem das ebenfalls flüchtige Kohlen-
stoffsubsulfid C3S2. Die Trennung des Selen-
schwefelkohlenstoffs resp. des Teilurschwefelkohlen-
stoffs von dem Kohlenstoffsubsulfid bot besonders
große Schwierigkeiten, deren Überwindung aber
schließlich, allerdings auf ziemlich kompliziertem
und darum hier nicht im einzelnen zu schildern-
dem Wege gelang. Die Analysen und die Er-
mittlung des Molekulargewichtes der Präparate in
benzolischer und beim Tellurschwefelkohlenstoff
auch in Schwefelkohlenstofflösung bewiesen, daß
Stock die reinen Verbindungen CSSe und CSTe
isoliert hat.
Eine Übersicht über die physikalischen Eigen-
schaften des Selen- und des Tellurschwefelkohlen-
stoffs im Vergleich mit denen des Schwefelkohlen-
stoffs selbst gibt die nachstehende Tabelle.
Eigenschaft
CSo
CSSe
CSTe
Farbe
farblos
gelb 1
rot
Dichte
1,26
1,9s 2,9
(bei —50» C)
Molvolumen
60
62 [59
(bei —50» C)
Schmelzpunkt
— 112»
-85» i
-54»
Siedepunkt
46»
84«
—
Uampfdruck bei 10» C
198 mm
45 "it"
ca. 2 mm
Brechungsexponent
1.63
1.73
—
Bemerkenswert ist die große Empfindlichkeit
von Selen- und besonders von Tellurschwefel-
kohlenstoff gegen Licht und Wärme. Schon bei
längerem Aufbewahren bei Zimmertemperatur
zersetzen sich die beiden Stoffe, und bei der Her-
stellung muß natürliches oder lebhaftes künst-
liches Licht sorgfältigst ferngehalten werden. Durch
Behandlung mit Natrlumalkoholat C^Hj.ONa ließ
sich der Selenschwefelkohlenstofif in das Natrium-
monoselenxanthogenat
CSe(SNa)(0CoH5)
umwandeln, eine Verbindung, die dem durch Ein-
wirkung von Natriumalkoholat auf Schwefelkohlen-
stoff entstehenden gewöhnlichen Natriumxantho-
genat CS(SNa)(0C.3HJ entspricht.
Andeutungen für die Entstehung von Selen-
kohlenstoff CSe., und Tellurkohlenstoff CTe., hat
Stock weder bei der Darstellung der beiden
schwefelhaltigen Verbindungen noch auch bei
ihrer Zersetzung bemerkt. Mg.
236
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 15
Kleinere Mitteilungen.
Ein wichtiger Fund aus der Ancyluszeit. —
Aus der Zeit der ersten Hebung nach der Eiszeit,
der sog. Ancyluszeit, als noch die ganze westliche
Ostsee ein Binnensee mit süßem Wasser war, weiß
man sehr wenig, da nur spärliche Funde aus jener
Zeit bekannt sind. Um so erfreulicher ist es da-
her, wenn durch neue Funde ein Beitrag zur Klar-
stellung jener fernen Zeit geliefert werden kann.
Einen hierher gehörigen F"und machte man kürz-
lich bei dem Ausbaggern des Flensburger Hafens.
Schon mehrfach hat man früher ähnliche Funde
an der Nordseite des Hafens gemacht, die aber
leider fast ganz unbeachtet geblieben sind; zum
Glück wurde der letzte h'und auf der Südseite,
dem sog. Kielsenger Haken, nahe der Marine-
station Mürwik rechtzeitig bemerkt, so daß er für
die Wissenschaft gerettet werden konnte.
Die Baggermaschine brachte aus einer Tiefe
von etwa 2 m Waldtorf an die Überfläche und
in dem Torf lagen viele Geweihstücke, teils be-
arbeitet, ferner Knochen, ganz primitive P'euer-
steingeräte u. dgl. Über der Torfschicht lagerte
eine Schicht Meeressand mit zahllosen Muscheln,
teils Arten, wie sie jezt nur in der Nordsee, in
der Ostsee aber nicht mehr vorkommen; diese
Schicht ist also zweifellos der Zeit der zweiten
Bodensenkung nach der Eiszeit, der Litorinazeit
zuzurechnen, und die darunter liegende Schicht
ist jedenfalls zur Prälitorinazeit, wenn nicht zur
Ancyluszeit gehörig.
Die Moorschicht war nicht sehr stark, nur
etwa 10 cm. Ordentliche Moorproben zur ge-
nauen botanischen Bestimmung waren leider nicht
erhältlich , doch konnte man an den Holzresten
deutlich Weide, Birke, Erle und Eiche erkennen.
Danach stammt die Schicht aus der letzten Periode
der Ancyluszeit, als bereits die Eiche Waldbaum
wurde und die Birke so ziemlich verdrängt hatte. 2000 — 800 v. Chr. zur Einbalsamierung verwen-
Die Ansiedlungen an der Nordseite des Hafens deten harzigen Massen. Er untersuchte mit Hilfe
scheinen etwas älter gewesen zu sein. Die von umständlichen chemischen Methoden die Zu-
Gerätschaften waren aus Feuerstein bearbeitet
und da sieht man Schaber, Beile, Messer, Späne,
aber alle einfach behauen und ungeschliffen. Die
Spanmesser hat man aber damals schon ebenso
geschickt abzuspalten verstanden, wie in der weit
späteren neolithischen Steinzeit. Ferner liegen
die Scherben von einem roh gebrannten Gefäß
vor, unverziert und plump; doch zeigen die dem
Ton beigemengten Steinbrocken, daß man auch
schon in der Keramik eine nicht unbedeutende
Fertigkeit erlangt hatte. Vielleicht die wichtig-
sten Fundstücke sind mehrere menschliche Schädel-
fragmente, die aber noch der genauen Unter-
suchung von Autoritäten auf diesem Gebiete
harren.
Die Wichtigkeit dieses Fundes braucht nicht
besonders betont zu werden ; es geht deutlich
daraus hervor, daß der jetzt tief unter dem Meer
liegende Boden einst Waldboden war und viel
höher gelegen haben muß, was nur zur Ancylus-
zeit gewesen sein kann. Aber bereits damals gab
es hier Ansiedlungen, deren Bewohner aber schon
weit über die ersten Anfänge der Kultur hinweg
waren, und die sich zur Hauptsache von den
Jagdtieren des Waldes nährten. Wenn auch aus
anderen südlicheren Gegenden prähistorische
Funde aus den interglazialen Perioden bekannt
sind, so kennt man solche hier im Norden nicht;
hier bleiben jedenfalls die Ansiedlungen aus der
Ancyluszeit die ältesten Beweise für das Auftreten
der Menschen. Philippsen-Flensburg.
Zusammensetzung der zur Einbalsamierung
dienenden Harze. — In der Sitzung vom 11. De-
zember 191 3 der Sociele de Chimie de Geneve
berichtet L. Reu tt er über die Zusammensetzung
der von den alten Ägyptern und Karthagern
Schicht senkte sich nach der Tiefe des Hafens zu,
doch reichten die Baggermaschinen technisch nicht
aus, um die Schicht bis zum Ende zu verfolgen
und Bohrungen wegen der hohen Kosten vor-
läufig unterbleiben mußten. Sehr wahrscheinlich
ist damals die ganze Binnenförde ein langgestreck-
sammensetzung der Harze, welche zur Einbalsa-
mierung dienten. Unter anderem gelang es
Reutter, in dem Harz des einbalsamierten
Körpers des Admirals Heckan M. Saf folgende
Bestandteile zu finden : Mastix, ein Harz, welches
aus Pistacia lentiscus und aus den Anacardiaceen
ter Süßwassersee gewesen, dessen steile Abhänge des Mittelmeergebietes stammt, ferner ein Harz
mit Waldungen bedeckt waren. An den Ufern von Pinus Halepensis, dann den gewöhnlichen,
des Sees waren die Hütten der damaligen Be- kleinasiatischen Styrax (ein trüber, wasserhaltiger,
völkerung. zäher, klebriger, grauer Balsam), Asphalt, Zedern-
Aus den verschiedenen Fundsachen kann man harz und Pflanzenreste von Koniferen wie Juni-
sich ein Bild machen von der Lebensweise dieser perus Oxycedrus, ferner Weinreste, Natriumkarbo-
Urmenschen. Sie jagten in den Wäldern Rot- nat, Sulfat und Chlorid, sowie verschiedene Steine
hirsche, Damhirsche und Elche, deren Knochen
und Geweihe zahllos umherliegen. Manche Ge-
weihe sind bearbeitet und als Hacken, Dolche,
Spieße u. dgl. benutzt. Auch finden sich Knochen
vom Wildschwein, ebenso vom Büffel und Bären.
Eine genauere Untersuchung dürfte noch die Zahl
der Jagdtiere bedeutend erhöhen. Die meisten
und Perlen.
R. D.
Wärmeapplikation ist ein beliebtes Mittel bei
Krankheiten verschiedener Art, das aber gewöhn-
lich nur für oberflächlich gelegene Prozesse prak-
tisch anwendbar ist. Bei dem noch nicht lange
geübten Verfahren der Diathermie benutzt man
N. F. XIII. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
237
„IiochfrequciUe elektrische Ströme von erheb-
licher Spannung und Intensität", „die durch den
Körper geleilet und dort infolge des Wider-
standes in sog. Foulesche Wärme umgewan-
delt werden", um Tiefenwirkungen zu erzielen
(Dreesen, Deutsch, med. Wochenschr. Nr. 37,
1913). Es gelingt bei dieser iVIethode, eine ganz
allgemeine „Durchwärmung" der betreftenden
Körperstellen zu erzielen , wobei sich nicht ein
unbehagliches Gefühl übergroßer Wärme geltend
macht, sondern die allmähliche Erwärmung als
sehr angenehm empfunden wird. Bei verschiedenen
Erkrankungen bisher praktisch erprobt, dürften
das Hauptanwendungsgebiet die chronischen
Leiden bilden, bei denen man schon gute Resul-
tate gesehen hat.
Da man mit Hilfe der Sonnenbehandlung in
der Neuzeit Erkrankungen der verschiedensten
Art therapeutisch beeinflußt, suchte man bald
nach einem Ersatz der Sonnenstrahlen, der auch
in der von Prof Kromayer angegebenen Form
der Quarzlampe seine Verwirklichung fand. Das
Anwendungsgebiet dieser Lampe ist jedoch haupt-
sächlich auf Haulerkrankungen beschränkt. Um
ihr nun eine weitere Ausdehnungsbreite zu geben,
mußte man an eine Kombination der von der
Quarzlampe ausgehenden ultravioletten Strahlen
mit den warmen Sonnenstrahlen suchen. Man
fand eine solche, indem man die Lampe mit
einem Kranz elektrischer Glühlampen umgab,
und erzielte durch diese „künstliche Höhensonne"
einen der natürlichen vollkommen gleichen Erfolg.
Busse beschreibt in einem kleinen Aufsatz:
Die „künstliche Höhensonne" (Deutsch, med.
Wochenschr. Nr. 42, 191 3) die genaueren Einzel-
heiten, mit Hilfe deren es möglich ist, durch Ver-
stellung der Apparate eventuell den ganzen Körper
„besonnen" zu lassen. Dr. med. Carl Jacobs.
70 proz. Alkohol zeigt die größte desinfizierende
Wirkung. Nach S. Tijmstra scheint die An-
wesenheit von Wasser eine absolute Notwendig-
keit für die desinfizierende Wirkung des Alkohols
zu sein. Die Wirkung des Desinfektionsmittels
besteht aus vier Faktoren : i. Diffusion durch die
lipoide Substanz; 2. Diffusion durch die eiweiß-
artigen Teile des Protoplasmas; 3. Zerstörung der
lipoiden Membran ; 4. Zerstörung der Eiweiß-
substanz. Bei der Konzentration von 60 — 70 "/„
werden die Eiweißstoffe so schnell denaturiert,
daß letztere keine Zeit haben, Wasser aufzunehmen.
Oberhalb 70 "/^ findet wieder eine konstante und
starke Gewichtsabnahme statt. DerDenaturierungs-
grad sinkt also oberhalb 70 "/q. Bei ungefähr
40 "/o beginnt die denaturierte Wirkung des Alko-
hols, oberhalb 80 "/„ ist das oberflächlich denatu-
rierte Albumin undurchlässig für Alkohol.
R. Ditmar.
Bücherbesprcchungen.
Dr. Louis Löwenheim, Die Wissenschafi
Demokrits und ihr Einfluß auf die moderne
Naturwissenschaft. Herausgegeben von Leopold
Löwen heim. XI und 244 Seiten. Berlin,
Verlag von Leonhard Simion Nachf, 1914. —
Preis geh. 6 Mk.
Eine interessante Veröffentlichung, die den Nach-
weis versucht, daß D e m o k r i t derjenige Philosoph
des Altertums gewesen ist, von dem die moderne
Naturwissenschaft auf sämtlichen Gebieten die
bedeutungsvollsten Anregungen unmittelbar und
mittelbar empfangen hat! Der große Abderite hat
danach das Beharrungsgesetz klar ausgesprochen,
die allgemeine Schwere der irdischen Körper ge-
lehrt, hat gewußt, daß im leeren Räume alle Körper
gleich schnell fallen, daß die in der Luft aufsteigen-
den Körper durch den Stoß der Luftatome in die
Flöhe getrieben werden, daß alle Körper eine
wechselseitige Anziehung ausüben, daß also
die Schwere ein besonderer P"all einer allge-
meinen Anziehung ist; er hat das Kausalprinzip,
die Sätze von der Erhaltung der Materie, von der
Erhaltung der Kraft und von der Wirkung und
Gegenwirkung gekannt, den Selektions und Des-
zendenzgedanken gefaßt, die Ansicht geäußert, daß
Körperliches nicht auf Geistiges und Geistiges
nicht auf Körperliches einwirke usw. Wohl wer-
den manche der in kühner Dialektik und auf
Grund eines reichen, aber oft höchst unsicheren
Quellenmaterials entwickelten Ansichten einer
gründlichen Nachprüfung nicht standhalten; trotz-
dem dürfte das bislang herrschende Zell ersehe
Urteil über den Einfluß der antiken Philosophie
mehr zugunsten Demokrits und zuungunsten
eines Plato und Aristoteles abzuändern sein.
Der Verfasser, der ein vierbändiges Werk über
Demokrit geplant hatte, wurde durch den Tod
an der Ausführung gehindert; aber der einzige,
vom Sohne veröffentlichte Band enthält doch alle
wesentlichen Ergebnisse. Angersbach.
Newcomb- Engelmann, Populäre Astro-
nomie. F"ünfte Auflage. Herausgegeben von
Dr. P. K e m p f Mit 228 Abbildungen im Text
und auf 27 Tafeln. Gr. 8". — In Leinen gebunden
15,60 Mk.
Von diesem vortrefflichen Werk, das R. Engel-
mann im Jahre 1881 als bearbeitete Übersetzung
der Ne wcomb'schen „Populär Astronomy" er-
scheinen ließ, liegt jetzt die 5. Auflage vor; die
4. war in dem kurzen Zeitraum von 3 Jahren be-
reits vergriffen. Wie diese ist auch die vorliegende
Auflage vonKempf,Schwarzschil d, L uden -
dorff und Eberhard gemeinsam bearbeitet und
mit größter Sorgfalt auf den neuesten Stand der
Kenntnisse gebracht worden. Insbesondere sind
das Kapitel über die Sonne, die Abschnitte über
die Meteore und Sternschnuppen, die physische
Beschaffenheit der Sterne, ihre Bewegung, sowie
die Doppelsterne, die veränderlichen Sterne, die
^38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. ij
Nebelflecke und Sternhaufen wesentlich erweitert,
z. T. umgestaltet. Wir wünschen, daß sich dieses
Buch, eines der besten der populären Literatur,
recht viele neue Freunde erwerben möge; der
Preis für den 835 Seiten starken Band ist als
mäßig zu bezeichnen. Miehe.
Kolkwitz, R., Pflanzen Physiologie. Ver-
suche und Beobachtungen an höheren und
niederen' Pflanzen einschließlich Bakteriologie
und Hydrobiologie und Planktonkunde. Mit
z. T. farbigen Tafeln und 116 Abb. im Text.
Jena '14, G. Fischer. — Geb. 10 Mk.
Der Titel ist insofern nicht recht bezeichnend,
als das Buch, wenigstens der Vorrede nach, eine
Anleitung zu praktischen Arbeiten sein soll; er
ist aber auch mit dieser Beschränkung noch un-
zutreffend, da das Prinzip : Anleitung zu physio-
logischen Übungen nur zum Teil befolgt wird.
Der erste etwa 60 Seilen lange Abschnitt könnte
als physiologisches Praktikum bezeichnet werden,
doch ist die Auswahl etwas einseitig , indem
z. B. Wachstum, Heliotropismus, Geotropismus
gar nicht, die Atmung nur flüchtig behandelt sind.
Im Kapitel: Parasiten und Saprophyten ist sogar
der physiologisch-praktische Standpunkt wieder
aufgegeben. Noch mehr verschwindet er dann
als leitender Gesichtspunkt im zweiten Abschnitt,
der die Kryptogamen behandelt und mit seinen
170 Seiten den Hauptteil des Buches einnimmt.
Hier wird eine große Anzahl von Kryptogamen
in Einzelbeschreibungen aufgeführt, in die ziem-
lich willkürlich experimentelle Hinweise, gelegent-
lich auch nur physiologische Bemerkungen ein-
gestreut sind. Selbst das, was über die I<vultur
von Pilzen und Bakterien geboten wird, ist, scheint
mir, nicht ausreichend, um im strengen Sinne als
Anleitung gelten zu können, da das meiste zu
flüchtig ist. Überhaupt wird sehr oft auf andere
Hilfsmittel verwiesen, wo eine genaue methodi-
sche Unterweisung am Platze wäre. Bei den
Algen mündet die „Pflanzenphysiologie" in reine
Wasser- oder vielmehr Abwasserbiologie ein, bei
der sogar die Tierwelt ausgiebig berücksichtigt
wird ; über Moose und Farne wird schließlich nur
nach Art eines Lehrbuches referiert und zwar
fast nur anatomisch, morphologisch und systema-
tisch.
Man kann nicht sagen, daß bei der Abfassung
dieses Buches ein klares Ziel befolgt wurde, es
leidet an innerer Zusammenhanglosigkeit. Auch
muß leider bemerkt werden, daß manches etwas
flüchtig ist und auch Ungenauigkeiten und Schief-
heiten nicht fehlen (Mykorrhiza ist nicht der Pilz
selbst, sondern die verpilzte Wurzel; daß die
meisten Bewegungen durch Turgorschwankungen
Zustandekommen, kann man nicht sagen; der
Satz: „Turgordifferenzen , Wachstum und Reiz-
erscheinungen, z. B. bei Ranken, können mitein-
ander kombiniert sein" ist verworren; die revolu-
tive Nutation soll eine Variationsbewegung sein ;
die Ranken werden unter dem Kapitel: Gewebe-
spannung angeführt; die .Salpeterbakterien sollen
seine „Kohlenstoffatmung" haben usw.).
Ich glaube nicht, daß das Buch erfolgreich
mit anderen für Lehrer und Studenten bestimmten
Praktika, deren wir ja eine ganze Reihe vorzüg-
licher besitzen, konkurrieren kann. Dagegen
würde es sich namentlich in den Abschnitten
über Algen, Pilze, Plankton, Abwasseruntersuchung
für solche eignen, die hiermit zu tun haben, ins-
besondere, da hier wirklich vieles bequem zur
Hand ist, was man sich gewöhnlich erst zusammen-
suchen muß. Auch ist gerade hier das Abbildungs-
material sehr wertvoll, das überhaupt, wenn es
auch hier und da etwas willkürlich ausgewählt ist,
recht instruktiv ist. Die Ausstattung ist sehr gut.
Miehe.
Voigt, Alban, DieRiviera. Junk's Naturführer.
Berlin '14, W. Junk. — Geb. 7 Mk.
Charles Darwin sagt irgendwo in der Be-
schreibung seiner Weltreise: ein Reisender sollte
ein Botaniker sein. In der Tat ist das, was die
verschiedenen Länder in erster Linie charakteri-
siert, das Pflanzenkleid, das sie schmückt, und
jeder, der nicht ganz stumpf ist, ja mancher, der
sich sonst sehr wenig um die Flora kümmert,
empfindet in fremder Landschaft den Wunsch,
etwas über die Vegetation zu erfahren, die ihre
Eigenart bedingt. Insbesondere in dem herrlichen
Italien sollte man diesen natürlichen Trieb walten
lassen. Leider ist meist gerade das Umgekehrte
der Fall, indem der Reisende gewöhnlich stunden-
lang in den Museen verschwindet, einerlei, ob er
nun zum Kunstgenuß berufen ist oder nicht, und
dann wie gerädert wieder zum Vorschein kommt.
Während nun an Anleitungen zu historischen,
künstlerischen Genüssen kein Mangel ist, gibt es
nicht viel Möglichkeiten, die italienische Natur
genauer kennen zu lernen, wenigstens für den
Nichtbotaniker, der sich nicht der wissenschaft-
lichen Hilfsmittel zu bedienen gelernt hat. Diesem
Mangel versucht nun A. Voigt wenigstens für ein
bestimmtes Gebiet, nämlich die Riviera (die
italienische sowohl als die französische) abzuhelfen,
indem er die Pflanzen nach ihren Standorten be-
schreibt, also die natürlichen Pflanzengesellschaften
schildert. Dabei gibt er eine große Zahl von
biologischen, historischen und ökonomischen No-
tizen. Auch wird eine ziemlich ausführliche Be-
schreibung der interessantesten Pflanzen angefügt,
die in dem berühmten Garten in La Mortola
kultiviert werden, das den zahlreichen Freunden
dieses Gartens sehr willkommen sein wird. Eine
kurze Übersicht über die Geologie samt der
Prähistorie des Gebietes sowie über die Tierwelt
machen den Beschluß. Das handliche bädeker-
artig ausgestattete Bändchen kann warm empfohlen
werden. Auszusetzen und bei späteren Auflagen
des trefflichen Büchleins ev. zu berücksichtigen
wäre eine bessere Auswahl, größere Reichhaltig-
keit und z. T. größere technische Vollkommen-
heit des Abbildungsmaterials. Miehe.
N. F. XIII. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
239
Rosenthal, Prof. Dr. Werner, Tierische Im-
munität. Mit einer Abbild, im Text. 329 S.
(Die Wissenschaft Bd. 53.) Braunschweig '14,
Fr. Vieweg & Sohn. — Geb. 7,20 Mk.
Bei dem großen allgemein-naturwissenschaft-
lichen Interesse, das die Immunitätslehre bean-
spruchen kann, und der immer wachsenden
Kompliziertheit und hypothetischen Verkapselung
des Gebietes, muß es sehr dankbar begrüßt
werden, wenn es ein Fachmann unternimmt, auch
dem nicht Eingeweihten einen Überblick über die
Grundlagen dieser schwierigen Wissenschaft zu
geben. Der Versuch ist als gelungen zu be-
zeichnen. Allerdings würde trotz der Bemühungen
des Verf, so einfach und klar wie möglich zu
schreiben, doch ein nicht unerhebliches Maß bak-
teriologischer Kenntnisse erforderlich sein. Des-
halb würden speziell solche, die sich mit einem
anderen Zweige der Bakteriologie befassen, wie
Botaniker, Apotheker, Gärungschemiker, Land-
wirte, sich vor allen anderen des Buches mit
großem Vorteil zur Vertiefung ihrer allgemeinen
Kenntnisse bedienen können. Doch wird es auch
namentlich dem Arzt und Tierarzt willkommen
sein. Wenn Ref noch einen Wunsch äußern
sollte, so wäre es der, noch mehr die Tatsachen
in den Vordergrund zu stellen und diese mit
allen Mitteln, auch demjenigen der leider ganz
fehlenden bildlichen und schematischen Dar-
stellung, so anschaulich wie möglich herauszu-
arbeiten. Man kann sich leicht an Hypothesen
anpassen, wie z. B. an das Ehrlich'sche Hypo-
thesengebäude, das Verf. selbst, allerdings nur
annahmsweise , sehr anschaulich charakterisiert,
das aber gleichwohl für den Physiologen stets
einen sehr ausgeprägt hypothetischen Charakter
behält. Da ist der stete Hinweis auf die nackten
Tatsachen ein gutes Regulativ. Übrigens würde
dasselbe auch für andere Teile, wie z. B. die
Opsonintheorie zu wünschen sein. Doch soll und
kann dies kein Vorwurf sein; denn der Physiologe,
der alle jene merkwürdigen Tatsachen, die uns die
Immunitätslehre kennen gelehrt hat, in eine all-
gemein-physiologische Verknüpfung bringt, muß
erst noch kommen. Miehe.
Ziehen, Theodor, Zum gegenwärtigenStand
der Erkenntnistheorie (zugleich Versuch
einer Einteilung der Erkenntnistheorien. 73 S.
I Wiesbaden ' 1 4, J. F. Bergmann. — Brosch. 2,80 Mk.
! Auf eine sehr anziehende Art macht hier der
' Verf. den Versuch, auf dem Wege rein logischer
; Analyse eine Übersicht über die verschiedenen
I Erkenntnistheorien zu geben und ihren Wert resp.
ihre Tragweite und Leistungsfähigkeit gegeneinan-
der abzuwägen. Die bekannte klare Darstellungs-
weise des Verfassers macht das Heft sehr geeignet,
um als Einführung in die wichtigsten Grundfragen
der Erkenntnistheorie und zur Orientierung über
die Möglichkeiten, wie man sie angreifen kann,
zu dienen. Insbesondere wird mancher, der diesen
Fragen bisher fernstand, durch diese Darstellung
der Elntwicklung erkenntnistheoretischer Probleme
gefesselt und interessiert werden ; doch wird sie
auch dem Philosophen durch die Anregungen und
zahlreichen Anmerkungen und Zitate wertvoll
sein. Miehe.
Voigtländers Tierkalender 1914. Mit Ver-
gnügen machen wir auf diesen in R. Voigtländer's
Verlag erschienenen Abreißkalender aufmerksam,
der in bunter F"olge Naturaufnahmen und Wieder-
gaben charakteristischer Werke der Malerei und
Plastik, soweit sie sich auf die Tierwelt beziehen,
an uns vorüberziehen läßt und mit den kurzen
Erläuterungen ein ebenso unterhaltendes wie be-
lehrendes Bilderbuch für jeden Tierfreund darstellt.
M.
Chr. Schröder, Handbuch der Entomo-
logie, Jena, G. Fischer, 4. Lieferung.
Mit der Ausgabe der vierten Lieferung ist vom
Handbuch nun nahezu der vierte Teil erschienen.
Sie führt nur zum Teil die vorhergehenden Liefe-
rungen des ersten Bandes fort, in welchem Dee-
gener das Kapitel; Muskulatur und Endoskelett
eingeleitet hatte. Die überwiegend größere Hälfte
gehört dem Band III an, da verschiedner Umstände
halber der I. Band noch nicht weitergeführt und
auch der II. Band noch nicht begonnen werden
konnte. Die sechs Kapitel tragen folgende Über-
schriften :
Kap. I. Aus der Geschichte der Entomologie.
Kap. II. Über entomologische Literatur und
ihre Benutzung.
Kap. III. Zur entomologischen Technik.
Kap. IV. Die systematischen Grundbegriffe.
Kap. V. Nomenklatur, Typen und Zitate.
Kap. VI (zum Teil). Terminologie der für die
Systematik wichtigsten Teile des Hautskelettes.
Besonders wertvoll sind die letzten Kapitel,
da durch sie von einem bekannten Fachmann
gegenüber der vielerlei von den einzelnen Autoren
willkürlich bevorzugten Bezeichnungen eine ein-
heitliche Nomenklatur festgelegt wird.
Dr. Stellwaag.
Anregungen und Antworten.
H. M. in Heidelberg. — ,, Warum hört man aus grol3er
Entfernung die große Trommel eines Musikchors lauter als
die anderen Instrumente, während dieselbe in der Nähe nicht
an Schallstärke die übrigen Instrumente übertrifft?"
Der Fragesteller scheint mir -von einer falschen Voraus-
setzung auszugehen. Wenn mir auch keine exakten Messungen
der Schallstärken der großen Trommel und anderer musikali-
scher Instrumente bekannt sind, so scheint es mir doch zweifel-
los, daß die Schallwelle, welche durch den Schlag auf
das Fell der großen Trommel erzeugt wird, viel intensiver
sein wird als die Schallwellen, die von anderen musikalischen
Instrumenten ausgehen, die etwa durch Anblasen mit dem
Mund zum Tönen gebracht werden. Damit erklärt sich aber
wohl ohne weiteres die beobachtete Erscheinung.
O. Fischer.
Herrn Dr. Miskowsky. — Bewegung von Gasbläschen
in Flüssigkeiten. Ich nehme an, daß das durch die Schwer-
kraft bewirkte Aufsteigen der Gasbläschen in der Flüssigkeit
240
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 15
gemeint ist. Dieses folgt den einfachen Fallgesetzen , doch
spielt natürlich die Reibung dabei eine sehr große Rolle.
Die Reibung bewirkt, daß die Blase schon nach sehr kurzer
Zeit praktisch sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegt
und diese „kritische" Geschwindigkeit v ist bei kleinen Blasen,
die trotz des Widerstandes der Flüssigkeit infolge der Ober-
flächenkräfte merklich Kugelform besitzen, wenn g die Erd-
beschleunigung, o — (1 den Unterschied der Dichten der Flüssig-
keit und des Gases, ij den Reibungskoeffizienten der Flüssig-
und a den Radius der Blase bedeutet:
Bei extrem kleinen Blasen könnte noch die durch die Tem-
peratur bedingte Brown' sehe Molekularbevvegung sich be-
merkbar machen. Die Blasengröße ist nicht in faßbarer Weise
von der Höhe der Flüssigkeilssäule abhängig, sie richtet sich
vielmehr wesentlich nach der Beschaffenheit der Stelle, an der
die Blase entsteht. Nur wird die Blase durch den Flüssig-
keitsdruck zusammengedrückt; dieselbe Blase hat also in
verschiedenen Höhen verschiedenes Volumen, umgekehrt pro-
portional dem Drucke. Der Ursprung der Blase, ob natürlich
oder künstlich, ist für ihre Bewegung ganz gleichgültig.
Bräuer.
Herrn A. K. in S. — Die Funktion eines Okulars ist be-
kanntlich eine doppelte. Einmal soll es eine (möglichst starke)
Konvergenz der Hauplstrahlen erzeugen, d. h. überhaupt eine
Vergrößerung des in der Brennebene des Objektives erzeugten
Bildes bewirken ; und zweitens soll es die Strahlen , die von
einem einzelnen Punkte dieses Bildes ausgehen, parallel machen,
damit das Auge auf seiner Netzhaut sie wieder in einen Punkt
vereinigen kann. Beim Rani sden- Okular sind beide Zwecke
im wesentlichen getrennt. Eine ziemlich nahe an der Brenn-
ebene stehende (Kollektiv-)Linse ändert fast nur die Divergenz
der Hauptstrahlen und eine zweite (Augen-)Linse hat die Auf-
gabe, die Bildpunktstrahlenbüschel parallel zu machen. Beim
Huyg h ens- Okular liegt die Kollektivlinse auf der Objektiv-
seite der Brennebene , bewirkt also eine (geringe) Verkleine-
rung des Brennbildes, die Augenlinse steht etwa wie bei
R am sden. Der Vorteil des Huygh ens- Okulares besteht
in einer Verminderung der Fernrobrlänge. Bei ihm sind die
beiden oben genannten Funktionen etwa gleich auf beide
Linsen verteilt. Um auch bei starken Vergrößerungen , also
starker Konvergenz der Hauptstrahlen nach dem .austritt, den
Augenpunkt genügend weit vor dem Okulare erhalten zu
können, wendet Mittenzwey eine dreifach verkittete Bi-
konvexlinse aus zwei verschieden brechenden Gläsern, welche
den Querschnitt des Gesamtstrahlenbündels bis dicht vor die
Augenlinse größer zu erhalten gestattet, in Verbindung mit
einem nach dem Auge zu hohlen Meniskus an.
Die beim Auftreffen einer elektrischen Welle auf eine
Antenne am Fritter auftretenden Spannungen sind einigermaßen
bekannt. Legt man dieselben künstlich an , so genügen sie
bei weitem nicht, das Pulver leitend zu machen. Aus diesem
Grunde ist die Fritttheorie zu verwerfen. Bräuer.
Herrn Vinzenz Z., Triest. — Wie erklärt man , daß
der Region von Varesi in Oberitalien (Lombardei) so häufig
Zyklonen vorkommen? Die Poebene liegt auf der Zugstraße
von Zyklonen, die im Winterhalbjahr häufig vom Golf von
Genua oder vom westlichen und südlichen Mittelmeer kommen
und ostwärts am Rande der Alpen entlang ziehen. Überhaupt
stellt das gesamte Mittelmeergebiet den Sitz ständiger Baro-
meterminima dar, die durch die thermische Auflockerung der
Luflmassen entstehen. Ganz besonders auch gilt dies für die
Poebene. Sehr oft bilden sich über den Alpen durch die
Wärmeausstrahlung der Schnee- und Gletscherflächen kalte
Luftmassen, die zur Entstehung eines Hochdruckrückens führen.
Die durchschnittliche Druckverteilung im Winterhalbjahr zeigt
dieses sekundäre alpine Hochdruckgebiet sehr dtutlich. LIber
der Poebene , wo ähnliche Abkühlungsmöglichkeiten wie in
den Alpen fehlen, und wärmere Luflmassen lagern, sinkt dann
der Luftdruck, besonders wenn das Gebiet einen Zuzug mittel-
meerischer Zyklonen erhält. Ähnlich, wenn auch weniger
ausgesprochen, liegen die Verhältnisse im Sommer. Man kann
sagen, daß die Depressionen Oberitaliens einmal durch das
warme Mittelnieer, dann aber auch durch den im Norden
vorgelagerten Alpenwall hervorgerufen werden, den die Zy-
klonen nur selten zu überschreiten pflegen.
Dr. A. Peppler-Gießen.
Herrn Prof. A. Liebus, Prag. — Versteinerungen, die
auf die marine Entstehung der deutschen Zechsteinsalze hin-
deuten, sind wiederholt im grauen Salzton gefunden. (Man
vgl. C. Ochsenius, Die ersten Versteinerungen aus Tief-
bohrungen in der Kaliregion des norddeutschen Zechstein.
Zfitschr. d. d. geol. Ges. 1901 , S. 76; E. Zimmermann,
Marine Versteinerungen aus der Kaliregion des norddeutschen
Zechsteins. Ebenda 1904, S. 47; C. Rei d e m eist er , Über
Salztone und Plattendolomite im Bereiche der norddeutschen
Kalisalzlagerstätten.) Von sonstigen Organismen fanden sich
häufiger Pollen von Koniferen (vgl. H. Lück, Ein neuer
Fund organischer Reste im Salzton. Zeitschr. Kali 1913,
Heft 2. Ders., Beitrag zur Kenntnis des älteren Salzgebirges
im Berlepsch-Bergwerk bei Staßfurt nebst Bemerkungen über
Pollenführung des Salztones. Dissert. Leipzig 1913, S. 2S ff.).
Foraminiferen sind m. W. bislang nicht gefunden. Zu ent-
sprechenden Untersuchungen würden Ihnen die meisten Kali-
werke Norddeutschlands Material senden können.
Dr. E. Harbort.
Literatur.
Preyer, Dr. Axel Thierry, Lebensänderungen. Das-
Problem der Veränderung lebender Strukturen. 144 Seiten.
Leipzig '14, Th. Grieben's Verlag (L. Fernau). — Brosch.
2,40 Mk.
Kerschensteiner, Georg, Wesen und Wert des natur-
wissenschaftlichen Unterrichts. Neue Untersuchungen einer
alten Frage. 141 S. Leipzig und Berlin '14, B. G. Teubner.
— Geb. 3,60 Mk.
Ziehen, Theodor, Zum gegenwärtigen Stand der Er-
kenntnistheorie (zugleich Versuch einer Einteilung der Er-
kenntnistheorien). 73 S. Wiesbaden '14, J. F. Bergmann. —
Brosch. 2,80 Mk.
Haeckel, Walther, Ernst Haeckel im Bilde. Eine
physiognomische Studie zu seinem 80. Geburtstage. Mit einem
Geleitwort von Wilhelm Bölsche. Berlin '14. — 2,40 Mk.
Verworn, Prof. Dr. Max, Erregung und Lähmung.
Eine allgemeine Physiologie der Reizwirkungen. Mit 113 Ab-
bildungen im Text. Jena '14, G. F'ischer.
Geb. II Mk.
Inhalt: Friedrich Knauer: Neue Ergebnisse des Ringversuches. — Hans Nachtsheim: Die Bedeutung der Konju-
gation bei den Infusorien. — Einzelberichte: Lampland: Komet 1910a. Laplace: Stabilität unseres Planeten-
systems. Paul Kammerer: Das Auge des Grottenolms. Lloyd und Loeb: Über künstliche Parthenogenese.
Hofmann und Höschele: Wasserfreies Magnesiumchlorid ein ausgezeichneter Mineralisator. Alfred Stock: Über
die Darstellung und die Eigenschaften von Selenschwefelkohlenstoff CSSe und Tellurschwefelkohlenstoff CSTe. — Kleinere
Mitteilungen: Philippsen: Ein wichtiger Fund aus der Ancyluszcit. L. Reutter: Zusammensetzung der zur
Einbalsamierung dienenden Harze. D reesen : Wärmeapplikation. Busse: Die künstliche Höhensonne. S. Tijmstra:
7oproz. Alkohol zeigt die größte desinfizierende Wirkung. — Bücherbesprechungen: Dr. Louis Lö wenhe im: Die
Wissenschaft Demokrits. X e w Co mb - Engelm an n : Populäre Astronomie. Kolkwitz: Pflanzenphysiologie. Voigt:
Die Riviera. Rosen thal: Tierische Immunität. Ziehen: Zum gegenwärtigen Stand der Erkenntnistheorie. Voigt-
länder's Tierkalender :9I4. Chr. Schröder: Handbuch der Entomologie. — Anregungen und Antworten.
Literatur: Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Mi ehe m Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 2g. Band.
Sonntag, den 19. April 1914.
Nummer 16.
Begriff und
Wesen der Metamorphose der Insekten.
[Nachdruck verboten.] Von Dr. Siegfr. Hans
Die Metamorphose der Insekten ist ein allge-
mein wohlbekannter Vorgang. Aus der Raupe
wird die Puppe, aus der Puppe der Schmetterling.
Wer aber hat gesehen, wie sich die Raupe in
die Puppe umwandelte, wie der Puppe der Falter
entschlüpfte? Wem sind die Vorgänge bekaimt,
die im Innern des tierischen Körpers sich ab-
spielen, um aus der unscheinbaren Larve durch
Vermittlung der geheimnisvollen Puppe das leicht-
beschwingte Insekt hervorgehen zu lassen? Unsere
Kenntnisse davon sind erst jungen Datums.
Das Wort „Metamorphose" hat im Laufe der
Zeiten eine Begriffsverengung erfahren. An und
für sich bedeutet es ja nur so viel wie „nach-
trägliche Gestalts'Veränderung. Somit fällt unter
diesen Begriff jede postembryonale Entwicklung.
Von alters her pflegt man die Insekten ent-
wicklungsgeschichtlich in ametabole, hemi-
und holometabole Formen einzuteilen. Jedoch
hat man im Laufe der Zeiten nach einem neuen
Einteilungsprinzip Umschau halten müssen. Diese
wurde gefunden in der Organisation der Jugend-
formen.
In dieser Beziehung lassen sich 3 verschiedene
Stufen') unterscheiden: Im ersten Fall gleicht die
Jugendforin der Imago völlig oder fast völlig; sie
unterscheidet sich von ihr durch geringere Größe
und das Fehlen einzelner imaginaler Charaktere,
die allmählich durch eine Reihe successiver Häu-
tungen erworben werden, so daß kaum merklich,
graduell der Imagozustand erreicht wird: ima-
giniformejugendstadienoderepimorphe
Entwicklung. Im 2. Fall zeigt das dem Ei
entschlüpfte junge Tier zwar schon eine unver-
kennbare Ähnlichkeit mit der Geschlechtsform,
unterscheidet sich aber von ihr durch den Besitz
einzelner, mitunter erst während der postembryo-
nalen Entwicklung auftretender Organe, welche
der Imago fehlen; durch eine einmalige, selten
doppelte (Ephemeriden-) Häutung verwandelt sich
die Jugendform oft ziemlich unvermittelt in die
Imago: semimagini forme Jugendstadien
oder hemimetabole Entwicklung. Endlich
kann das junge Tier eine von der Imago gänzlich
abweichende Gestalt haben, ganz anders als diese
organisiert sein, so daß ohne Hilfe der P^rfahrung
niemand die Zusammengehörigkeit von Larve und
Imago erkennen könnte; in diesem Fall schiebt
sich zwischen Jugend- und Geschlechtsform ein
') Heymons, Ergeb. u. Fortschritte d. Zoologie I, 1907.
Deegener, Die Metam. d. Insekt. Leipzig 1909.
Börner, Sitz.-Ber. Ges. naturf. Freunde. 1909.
el, Berlin-Friedenau.
Puppenstadium ein: holometabole Entwick-
lung.
Der Begriff der Metamorphose wird gegen-
wärtig von den meisten Zoologen auf die Hemi-
und Holometabolie beschränkt. Der wesentliche
Unterschied zwischen der Metamorphose im engeren
Sinn und der Metamorphose im weiteren, älteren
Sinn (Epimorphose + Metamorphose der neueren
Autoren) ist der, daß nur bei jener die Jugend-
formen stets als Larven zu bezeichnen sind.
Die Unterschiede zwischen den vetschiedenen
Formen postembryonaler Entwicklung sind durch-
aus nicht immer scharf, so daß man mit der Auf-
stellung von nur 3 Kategorien kaum auskommen
kann M, doch genügt es für uns völlig, wenn wir
ein für allemal festlegen, was unter Jugendform,
Larve, Puppe, Imago, postembryonaler Entwicklung,
Metamorphose, Hemimetabolie, Holometabolie ver-
standen werden soll.
1. Als Jugendform ist jedes nach dem Ver-
lassen des Eies bis zur Erreichung der Geschlechts-
reife durchlaufene, zeitlich von je 2 Häutungen
(das Verlassen der EihüUen sei einer Häutung
gleichwertig betrachtet) begrenzte Entwicklungs-
stadium zu bezeichnen.
2. Die Larve stellt eine Jugendform dar, welche
durch den Besitz spezifischer Organe, „Larven-
organe", ausgezeichnet ist.
3. Die Puppe ist ein letztes präimaginales,
flugunfähiges Entwicklungsstadium, während dessen
keine geformte Nahrung aufgenommen wird.
4. Die Imago ist durch die Fähigkeit zu ge-
schlechtlicher Fortpflanzung ausgezeichnet.
5. Die postembryonale Entwicklung ist die
Summe aller nach dem Verlassen der Eihüllen — nach
Beendigimg der embryonalen Entwicklung — er-
folgenden Veränderungen des Individuums bis zum
Eintreten der Geschlechtsreife.
6. Die Metamorphose ist eine postembryonale
Entwicklung mittels Larven.
7. Hemimetabolie bedeutet Metamorphose ohne
Puppenstadium.
8. Holometabolie bedeutet Metamorphose mit
Puppenstadium.
Überblickt man die vorstehenden Definitionen,
so ist auffällig, daß weder für die Puppe noch für
die Imago eine auf morphologische Charaktere
beruhende Begriffsbestimmung, sondern ein physio-
logisches Kriterium gegeben wurde. Sowohl
•) Vgl. auch Heymons, Die Metamorphose der Insekten.
Naturw. Wochenschr. N. F. VII, p. 711.
Börner, Die Verwandlungen der Insekten. Naturwiss.
Wochenschr. N. F. IX, p. 561.
242
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. i6
Puppe wie vor allem Imago können morphologisch
so verschieden sein, daß es kein für alle Formen
hinreichendes und notwendiges morphologisches
Merkmal gibt. Im einzelnen ist zu den verschie-
denen Punkten folgendes zu bemerken :
ad I. Die Zahl der Jugendformen ist sehr ver-
schieden; sie kann bei Plphemeriden *) außerordent-
lich groß sein, 20 — 22 Häutungen umfassen. Aus-
nahmsweise kann aber auch eine Jugendform gänz-
lich fehlen, so bei den erst neuerdings bekannt
gewordenen Termitoxenidae "), einer besonderen
Familie hermajihroditer Dipteren. Jede postem-
bryonale Entwicklung ist hier unterdrückt oder
vielmehr in die embryologische Periode hinein
verlegt worden.
Betreffend Pädogenesis vgl. ad. 2.
ad 2. Man kann liäufig als Kriterium der Larve
das Vorhandensein „provisorischer Organe" ange-
geben finden; diese Definition ist besser zu ver-
meiden, da sie logisch nicht ganz einwandfrei ist.
F"ür die Larve sind die fraglichen Organe gar nicht
provisorisch; für diese sind sie dauernd, ent-
Fig. I a — c. Beispiel eines spezifischen Larvenorgans mit provisorischen Ausbildungsformen.
Endoskelett von Billaea pectinata Mg. im I., 2. u. 3. Larvenstadium, t, f Sinnespapillen, kl Kopf
Segment, I, II erstes u. zweites Thoraxsegment, vp, v, q, mk, h Teile des Chitinskelettes.
(Nach T ö 1 g.)
weder während ihrer ganzen Existenz als Larve
— z. B. Afterfüße der Raupe — oder von dem
Augenblick an, da sie im Laufe der Entwicklung
zum erstenmal auftreten — z. B. Tracheenkiemen
der Ephemeriden, die erst nach der zweiten Häu-
tung vorhanden sind. Provisorisch sind diese
Organe nur für das Individuum, die Art, die Onto-
genesis; sie treten nur während eines Teils der
gesamten Existenz auf nämlich während der Larven-
periode, fehlen aber der Puppe, wenn diese vor-
handen, und der Imago.
Der Ausdruck ,, provisorisch" in bezug auf
Larvenorgane sollte für diejenigen F"älle reserviert
bleiben, da tatsächlich für die Larve provisorische
Bildungen vorliegen, d. h. Organe, die nur während
einer Periode der Larvenzeit vorhanden sind, später
aber wieder schwinden. Beispiele derartiger echter
provisorischer Organe bieten zahlreiche Insekten
mit di- und polymorphen Larvenstadien (vgl. ad 3).
Die scharfe Trennung zwischen spezifisch und
provisorisch larval wird in der Regel keine Schwierig-
keiten machen und nur dann willkürlich oder un-
möglich werden, wenn die fragliche Bildung erst
im letzten Larvenstadium auftritt. Es kann auch
dasselbe Organsystem gleichzeitig die Prädikate
provisorisch und spezifisch larval verdienen; so
ist das Endoskelett vieler Dipterenlarven (Fig. 1)
während der ganzen Dauer des Larvenlebens vor-
handen, also typisch spezifisch larval; es be-
sitzt aber oft in jedem larvalen Entwicklungs-
stadium seine eigene morphologische Ausbildung;
die einzelne Ausbildungsform ist also typisch
provisorisch larval.
Beispiele echter spezifischer Larven-
organe sind außerordentlich reichlich: die Mandi-
beln, Spinndrüsen, Afterfüße der Schmetterlingsrau-
pen, die Tracheenkiemen der Ephemeriden, Sinnes-
organe verschieden-
ster Art, die mannig-
faltigsten Chitinbil-
dungen, mehr oder
weniger bedeutende
Teile des Darm-
systems , die Spei-
cheldrüsen undVasa
mali)ighii der Flie-
genmaden , Musku-
latur in größerem
oder kleinerem Um-
fang usw. Die Liste
läßt sich beliebig
verlängern ; es geht
aus ihr hervor, daß
die Organe, welche
als Larvenorgane
auftreten, durchaus
nicht nur bei Larven
vorzukommen brau
chen, wie die Pedes spurii der Raupen, sondern
auch der Organisation der Imago angehören können,
wie die Malpighischen Gefäße der Museiden ; dann
stellt aber das imaginale Organ eine Neubildung
während der Puppenzeit vor, ist also dem larvalen
Organ analog, aber nicht homolog. Ganz
allgemein kann jedes Organsystem als Larvenorgan
ausgebildet sein, mit alleiniger Ausnahme der Ge-
schlechtsorgane. Zwar können normalerweise
selbst Larven geschlechtsreif werden (Pädogenesis
der Cecidomyiden), doch dürfte dieser Fall als eine
physiologische Prothetelie anzusehen sein, als vor-
schnelle Entwicklung der Gonaden, wie sie anormal
besonders für die Ausbildung der Flügel ') mehr-
fach beobachtet werden konnte.
ad 3. Die drei Kriterien der Puppe, letztes
1901.
') La Baume, Sitz.-Ber. Ges. naturf. Freunde. 1909.
') Wasmann, Zeitschr. wiss. Zoolog. 67, 1900 und 70,
') Heymons, Sitz.-Ber. Ges. naturf. Freunde. 1896.
Kolbe, ibid. 1902.
N. F. XIII. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
243
präimaginales Entwickluiigsstadium , Flugunfähig-
keit, Sistieren der Aufnahme fester Nahrung sind
notwendig und hinreichend zur Charakteristik der
Puppe. Fehlt eines der Merkmale, so ist man
nicht berechtigt, von einer Puppe zu sprechen.
a) Die Pseudochrysalis oder Scheinpuppe der Me-
loiden ist flugunfähig, nimmt keine Nahrung auf,
stellt aber kein letztes präimaginales Entwick-
lungsstadium vor. Die Entwicklung dieser Käfer
spielt sich folgendermaßen ab: Dem Ei entschlüpft
eine bewegliche Larve mit gut entwickelten
Beinen, diese verwandelt sich in eine fußlose Made,
die nach einer weiteren Häutung zur Pseudo-
chrysalis wird, die äußerlich mit einer echten
Puppe Ähnlichkeit haben kann und wie diese
keine Nahrung zu sich nimmt; darauf folgen ein
weiteres Madenstadium, die echte Puppe und die
Imago. Bei dieser „Hypermetabolie" ist also in
die Larvenzeit eine Ruheperiode eingeschoben.
b) Die Subimago der Ephemeriden ist ein letztes,
mo
Puppe vom letzten Larvenstadium und der Iniago-
form stellt nichts Besonderes vor. Kommt doch
sehr häufig auch ein Di- oder Polymorphismus
der Jugendformen vor. So wird die Larve im
ersten Stadium der Hymenoptere Platygaster
(Fig. 2) als Cyclopsform wegen ihrer äußerlichen
Ähnlichkeit mit einem Copepoden bezeichnet,
während das zweite Stadium gewohnten Larven-
charakter zeigt. Die Larven der Erbsen- und
Bohnenkäfer (Bruchus) besitzen zunächst Beine,
während sie später fußlos sind. Das Endo- oder
Cephalopharyngealskelett vieler acephaler Dipteren-
larven (Fig. I) zeigt nach jeder Häutung morpho-
logische Verschiedenheiten usw.
Die abweichende Gestalt der Puppe von Larve
.«-^sd
gh
Fig. 2 a — c. Beispiel für Polymorphismus der Larven. 1., 2. u. 3. Larvenform von Platygaster sp. mo Mund, nl Unterlippe,
slkf Schlundkopf, md Mandibeln, msl Darm, cd Enddarm, e\v Erweiterung desselben, ao After, fk Fettkörper, a Antennen,
gs ae Oberschlundganglion, bnm Bauchmark, kf Krallenfüße, z zapfenförmiges Organ, f Schwanzanhänge , Im Muskeln,
gh Genitalhügel, im Imaginalscheiben, tr Tracheen, sp Speicheldrüse mit Ausführungsgang ag, ga Genitalanlage. (Nach Ganin.)
präimaginales Stadium, sie kann keine Nahrung
zu sich nehmen, da ihre Mundwerkzeuge ver-
kümmert sind, aber sie ist flugfähig und unter-
scheidet sich hierdurch von einer Puppe, c) Der
Fall, daß ein letztes präimaginales Stadium flug-
unfähig ist, aber feste Nahrung zu sich nimmt,
ist z. B. bei den Apterygogenea und vielen hemi-
metabolen Insekten verwirklicht. Auch hier ist
selbstverständlich von einer Puppe keine Rede.
Die Puppe als Ruhestadi um zu bezeichnen,
ist gänzlich verfehlt. Denn einmal kommt ihr oft
eine zeitweilige — manche Neuropteren, wie Man-
tispa — oder dauernde — Trichopteren — Be-
weglichkeit zu, andererseits spielen sich in ihrem
Innern gewaltige Umwälzungen ab, die das gerade
Gegenteil eines Ruhezustandes bedeuten.
Die morphologische Verschiedenheit der
und Imago kann durch den Besitz spezifischer
Puppenorgane noch vergrößert werden. Die
spezifischen Organe der Larve und der Puppe
haben miteinander gemeinsam, daß sie Neuerwer-
bungen, Anpassungen an spezielle Lebensbedingun-
gen darstellen. Während aber fast jedes Organ eine
spezifisch larvale Bildung sein kann, sind, zwar
nicht theoretisch, aber doch in praxi, die Puppen-
organe auf spezielle Differenzierungen des Haut-
und Respirationssystems beschränkt. Ist doch
die Haut ihrer Lage nach am ehesten Einflüssen
der Umwelt ausgesetzt und die Atmung diejenige
Funktion, welche oft während der ganzen Puppen-
zeit fast oder ganz uneingeschränkt ausgeübt wird
und bei der Dicke des oft Hautatmung aus-
schließenden Chitins besondere Einrichtungen er-
forderlich macht. Wenn ausnahmsweise innere
244
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. i6
Organe als besondere Puppenbildungen vorkom-
men — so besitzt z. B. die Puppe des Käfers
Cybister Roeselii ') ihr besonderes, von Larve wie
Imago verschiedenes Mitteldarmepithel — , so liegen
in diesem Fall doch nicht spezifische Puppen-
organe vor; denn es handelt sich hier nicht um
eine Adaption an spezielle biologische Verhält-
nisse — das ganze Darmsystem ist ja während
der Puppenzeit außer Betrieb gesetzt I — , sondern
man wird kaum fehl gehen , wenn man ein der-
artiges Verhalten als phylogenetische Rekapi-
tulation im Laufe der Ontogenesis ansieht.
ad 4. So paradox es auch scheint: den Be-
griff der Imago zu begrenzen, macht die größten
Schwierigkeiten. Morphologische Kenn-
zeichen gibt es nicht. Der Besitz von Flügeln,
der mit dem Begriff „Insekt" wenigstens für den
Laien durch eine Art Ideenassoziation verbunden
ist, kommt ganzen Ordnungen, wie den Siphona-
ptera, nicht zu. Als physiologisches Merk-
mal charakterisiert die Fortpflanzungsfähigkeit die
Imago allein ebenfalls nicht, da, wie schon erwähnt,
Pädogenesis, also parthenogenetische Fortpflanzung
von Jugendstadien , vorkommt. Dagegen scheint
die P'ähigkeit zur Fortpflanzung durch befruch-
tete Eier allein auf die Imagines beschränkt zu
sein. Außer der geschlechtlichen Vermehrung
kann selbstverständlich zugleich auch partheno-
genetische vorkommen (Bienen). Da die Reserve-
männchen und -Weibchen der Termiten schon im
letzten präimaginalen Stadium geschlechtsreif wer-
den können, da ferner die 5 einiger Ephemeriden
[Palingenia longicauda, Polymitarcys virgoj wahr-
scheinlich als Subimago bereits fortpflanzungsfähig
sind, so ergibt sich, daß auch obiges physiologi-
sches Merkmal der Imago nur bedingte Gültig-
keit hat.
Eine besondere Eigentümlichkeit der Imago
der Insekten mit Metamorphose ist die Häutungs-
unfähigkeit, während viele niedere Formen
auch in entwickeltem Zustand sich noch mehrfach
häuten können.
Die Verschiedenheit von Larve und Imago ist
biologisch zu erklären durch die verschiedene
Lebensweise, verbunden mit Arbeitsteilung: Bei
der Larve überwiegen die an i malen Funktionen
(Erhaltung des Individuums), bei der Imago die
vegetativen Verrichtungen (Erhaltung der Art).
ad 5, 6, 7 ist nichts hinzuzusetzen.
ad 8. Die Holometabolie wurde durch das
Vorhandensein einer Pujipe charakterisiert. Damit
wird, nicht mit vollem Recht, die Puppe zu sehr
in den Vordergrund gestellt. Ontogenetisch
umfaßt die Holometabolie Larve, Puppe, Imago.
Phylogenetisch ist die Imago am ältesten,
dann folgt die Larve, zuletzt die Puppe. Diese
ist also in ihrer Existenz bedingt und verursacht
durch eine Larve, welche sich in ihrer Organisa-
tion soweit von der der Imago entfernt hat, daß
nicht wie bei den meisten hemimetabolen Formen
eine einzige Häutung genügt, um die Larve zur
Imago werden zu lassen , sondern noch ein
Zwischenstadium, eben die Pujjpe, erforderlich
wird. ^) Die hochgradige Verschiedenheit der lar-
valen und imaginalen Organisation ist also der
Kernpunkt, der die Ausbildung der Holometabolie
veranlaßt hat und daher auch zu ihrer Charakte-
ristik verwertet werden sollte. Die Puppe ist nur
der äußere Ausdruck dieser organisatorischen Ver-
schiedenheit, eine allerdings notwendig gewordene
Begleiterscheinung der Holometabolie. Wie weit
sich die Organisation der Larve von der der
Imago entfernen muß, damit ein Puppenstadium
erforderlich wird, läßt sich, wenigstens zurzeit,
nicht sagen. Daher ist es auch nicht möglich,
eine Definition der Holometabolie zu geben, welche
dem eben näher auseinandergesetzten Verhältnis
von Larve, Puppe, Imago, in vollem Umfang ge-
recht wird.
Die Vorgänge der Metamorphose lassen
sich einteilen in unwesentliche und wesentliche.
Unwesentlich sind das Aufhören der Nahrungs-
aufnahme, das Aufsuchen eines geschützten Ortes
zur Verpuppung, das Spinnen eines Kokons usw.
Wesentliche Vorgänge sind: i. die Beseiti-
gung der spezifischen Larvenorgane, 2. die Ver-
änderung von Organen, die bei Larve und Imago
vorhanden sind, 3. die Ausbildung von Organen,
welche nur der Imago zukommen. Dazu tritt als
ein Prozeß, welcher in die Metamorphose ein-
geschaltet sein kann, 4. die Bildung und Beseiti-
gung spezifischer Puppenorgane.
Eine scharfe Trennung der einzelnen Vorgänge
ist oft nicht möglich, ebensowenig unterliegt ein
Organ bei verschiedenen Formen immer demselben
Prozesse.
Um die spezifischen Larvenorgane zu beseitigen,
stehen zwei gänzlich verschiedene Mittel zur Ver-
fügung, die Häutung und die Histolyse.
Die einmalige oder doppelte Häutung, welche
die Umwandlung der Larve zur Imago begleitet,
unterscheidet sich prinzipiell durch nichts von den
Häutungen, welche die einzelnen Larvenstadien
trennen. Durch sie werden sämtliche Chitin-
bildungen, damit alle chitinigen Larvenorgane, wie
Mundwerkzeuge, Afterfüße, Borsten usw. entfernt.
Durch die Histolyse werden die inneren
Larvenorgane vernichtet. Sie erfolgt als Phago-
cytose oder Autolyse oder als Kombination
beider Vorgänge. Bei der Phagocytose dringen
Leukocyten in die völlig intakten larvalen Gewebe
ein, zerlegen sie in einzelne Portionen, nehmen
sie nach Art von Amöben auf und verdauen
sie. Bei der Autolyse erfolgt die Beseitigung
der Larvenorgane durch allmähliche Auflösung,
ohne Beteiligung irgendwelcher fremder Elemente.
Bei vielen Insekten kann anfänglich Autolyse, später
Phagocytose beobachtet werden. Bei der A u t o -
') Deegener, Zoolog. Jahrb. Anat. 20, IQ04.
') Boas, Zool. Jahrb. Syst. 12, 1899.
Perez, Bull, scientif. France Belgique 37,
H e y m o n s und Deegener, 1. c.
1903.
N. F. XIII. Nr. 16
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
245
phagocytose zehren sich die larvalen Gewebe
gewissermaßen selbst auf. Ferner sollen die Leuko-
cyten nur als Transporteure der Trümmer der zer-
störten Larvenorgaiie dienen, ohne sie zu verdauen.
Endlich wird ihnen die Fähigkeit zugeschrieben,
eine Art Enzjm oder Ferment zu sezernieren,
durch welches die lar\'alen Gewebe aufgelöst
werden (L)- ocy t ose). — Die letzten drei An-
sichten bedürfen noch weiterer Bestätigung. — Im
einzelnen auf die ebenso kmplizierten wie sinne-
reichen Vorgänge der Histol)'se hier einzugehen,
würde den Raum dieser kurzen Skizze bei weitem
überschreiten.
Der zweite Prozeß, die
Veränderung von Organen,
welche bei Larve und Imago
vorkommen, kann auch als
histologische Metamor-
phose bezeichnet werden. In
diesem Falle machen die Or-
gane Veränderungen durch
(Fig. 3), durch welche spezifische
larvale Differenzierungen ent-
fernt und durch spezifische
imaginale Dift'erenzierungen
ersetzt werden. Die histologi-
sche Metamorphose stellt eine
Vermittlung zwischen totaler
Histolyse und totaler Histo-
genese dar; die Intensität der
histologischen Veränderungen
kann sehr verschieden sein; sie
kann so tiefgreifend wirken,
daß man fast ebensogut von
vollständiger Histol)-se gefolgt
von vollständiger Histogenese
reden könnte; sie kann ande-
rerseits so wenig einschneidend
sein, daß man nur von einer
leichten „Auffrischung'' oder
„Renovation" des betreffenden
Gewebes spricht. Auch hier
können die mannigfaltigsten
Organe Gegenstand der Meta-
morphose sein.
Die Ausbildung oder Histogenese rein
imaginaler Organe ist des öfteren nicht allein auf
die Puppenperiode beschränkt, sondern erfolgt auch
oft schon in der Larvenzeit; bei den Hemimetabola
muß sie ja in dieser Periode bereits sich abspielen.
Auch die gänzlich neu gebildeten Organe können
der verschiedensten Art sein; als typisch für diese
Gruppe können, wenigstens bei holometabolen
Formen, die Flügel und Extremitäten mit ihrer
Muskulatur, die Facettenaugen, die Geschlechts-
organe gelten. Die neu zu bildenden Organe sind
stets bereits in der Larve angelegt, sei es in Ge-
stalt von Imaginalscheiben, oder in F"orm
von frei in der Leibeshöhle befindlicher Haufen em-
bryonaler Zellen. Auch die Imaginalscheiben
stellen nichts anderes vor als auf embryonaler,
undifferenzierter Stufe verbliebene Zell-
gruppen, welche in die d i f f e r e n z i e r t e n Zell-
elemente der larvalen Gewebe eingeschaltet
sind. Die Histogenese besieht in einer rapiden
Vermehrung und Spezifikation der Elemente der
Imaginalscheiben, Imaginalzellnester (Fig. 3), Ima-
ginalzellringe usw.
Die Puppe stellt primär nur ein Übergangs-
stadium zwischen Larve und Imago dar, eine
Periode, in der die mannigfaltigen histolytischen
und histogenetischen Prozesse sich abspielen. Se-
kundär aber kann sie sich an spezielle Lebens-
verhältnisse anpassen und in Adaption an spezi-
fische Bedingungen spezifische Puppenorgane er-
l'ig' 3- Querschnitt duich den Mitteldarm einer erwachsenen Larve von Calliphora
crythrocephala. Die Zellen des larvalen Epithels werden während der Meta-
morphose ersetzt durch imaginale Zellen, welche an der Basis der larvalen Zellen
liegen und „Zellnester" bilden, ^'^ji- (Nach Perez.)
werben, welche ihrerseits der Larve und Imago
fehlen. Es kann somit in die Metamorphose ein-
geschaltet sein der Prozeß der Ausbildung und
Beseitigung spezifischer Puppenorgane. Als solche
sind anzusehen verschieden gestaltete paarige oder
unpaare Anhänge am Abdomen der Lepidopteren-
puppen, die Atemröhren der Culex- und Corethra-
puppen, sowie die prothorakalen .Stigmen zahlreicher
Dipterenpuppen. Das klassische Objekt für Puppen-
organe bieten die Trichopteren. „Zwei Momente
sind ausschlaggebend für die Gestaltung der Tri-
chopterenpuppen und ihrer Gehäuse, das Schutz-
und das Atembedürfnis; aus der Konkurrenz beider
läßt sich die spezifische Puppenorganisation ver-
stehen" (Thienemann, Zoolog. Jahrb., Syst.,
Bd. 22, 1905). Ich kann nichts Besseres tun, als
hier auf das Original zu verweisen.
246
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 16
Über die histologische Ausbildung von
Puppenorganen liegen nur wenige Angaben vor.
Meist gehören sie dem Hautsystem an und sind
Chitinbildungen, wie Borsten, Haare usw. der Larve
und der Imago. Größeres Interesse verdienen die
Prothorakalstigmen der Dipteren, da ihre Ausbil-
dung von besonderen Imaginalscheiben ausgeht,
genau ebenso wie z. B. die der Hügel und Halteren.
Während aber diese schon im jüngsten Larven-
stadium oder gar noch embryonal angelegt werden,
entstehen die Imaginalscheiben der Pu])penstigmen
erst im letzten Larvenstadium.') Dieses Ver-
halten bestätigt die schon oben ausgesprochene
Ansicht, daß die Puppenorgane keine primären
Resoiiaiizstrahliiug.
Ein Sammel-Relcrat von Dr. E. Bräuer-Lichlenberg.
[Nachdiuck verboten]
Die Auffindung der ,, Resonanzstrahlung" durch
Wood schließt sich unmittelbar an die Ent-
deckung der Inversion der Spektrallinien, mit der
wir schon seit Jahrzehnten vertraut sind, an.
Wood nahm ein reaeenzglasähnliches Gefäß,
in das er etwas Natrium brachte. Entfernte er
dann die Luft sehr vollständig durch Auspumpen
und erhitzte, so erhielt er in dem Gefäß eine At-
mosphäre von Natriumdampf, deren Druck sehr
stark von der Temperatur abhing. Dieser Natrium-
dampf greift zwar Glas außerordentlich stark an,
so daß es in kürzester Zeit undurchsichtig wird.
Doch gelang es bei raschem und vorsichtigem
Arbeiten, die Erscheinungen, die ein durch den
Dampf fällender Lichtstrahlenkegel bot, zu beob-
achten. Benutzte man dazu das Licht einer Natrium-
flamme, deren Strahlen durch eine Linse nach
einem Punkte im Innern des Rohres vereinigt
wurden, so sah man bei sehr geringem Drucke
des Natriumdampfes den Licktkegel fast bis zur
Rohrmitte hell leuchten, und zwar in demselben
Lichte der beiden Natrium(D)-Linien, obgleich
aller Staub o. dgl., der Licht hätte zur Seite beugen
können, sorgfältig \'erniieden war. Stieg die Tem-
peratur und mit ihr der Dampfdruck des Natriums,
so zog sich der leuchtende Teil — infolge der
Absorption — immer enger an die Wandung und
bildete zuletzt nur noch eine dünne, aber intensiv
strahlende Lichthaut. Der Dampf des Natriums
sendet also bei diesem Versuche Licht von der-
selben Wellenlänge wie das erregende Licht aus,
während bei allen bis jetzt bekannten Fluoreszenz-
erscheinungen die Wellenlänge des ausgesandten
Lichtes größer ist als die des erregenden. Und
während mangels einfacher Gesetzmäßigkeiten über
den Mechanismus der Erscheinung in diesen Fällen
gar nichts gesagt werden kann, müssen wir die neue
Erscheinung als ein Resonanzphänomen auffassen
und haben damit einen neuen überraschenden Ein-
blick in das Getriebe der molekularen Welt ge-
wonnen.
Der von Wood zu seinen Untersuchungen
Organisationseigentümlichkeiten des letzten prä-
imaginalen Stadiums sind, sondern eine sekun-
däre Anpassung an spezielle Verhältnisse. Phy-
logenetisch ist die Puppe jünger als die
Imago, daher ontoge netisch die Anlage der
Puppenorgane später als die der Imago.
Die Beseitigung der spezifischen Puppen-
bildungen erfolgt wie die der I.arvenorgane durch
Häutung und Histolyse; meist wird schon der
Häutungsprozeß allein genügen.
') Walil, Arb. zool. Inst. Wien 12, 1900 und Zeitschr.
wiss. Zool. 70, 1901.
benutzte Apparat bestand in einem T-förmigen
Stahlrohre, dessen 3 Enden mit Glasscheiben ver-
schlossen waren. Im mittelsten Teile befand sich
der zu untersuchende Körper, zumeist noch in
einer Glasretorte eingeschlossen. Durch einen
Bunsenbrennder wurde das Rohr von außen erhitzt,
nachdem die Luft weitgehend ausgepumpt worden
war. Durch das Längsrohr wurde ein Lichtkegel
geworfen und die Fluoreszenzerscheinungen durch
das Seitenrohr beobachtet.
Zunächst wurde das Absorptionsspektrum des
Natriumdampfes untersucht, um, soweit das auf
diesem Wege angeht, Klarheit über die schwingungs-
fähigen Gebilde im Natriummolekül zu gewinnen.
Dieses Absorptionsspektrum ist nun total verschie-
den von dem Emissionsspektrum. Es zeigt viele
Tausende feiner Linien, die zusammen ein kanne-
liertes Bandenspektrum bilden. Wir wollen vor-
weg nehmen, daß nur wenige dieser Absorptions-
linien eine Beziehung zum Resonanzspekirum, d. h.
zu dem Lichte, das der Dampf, in passender Weise
angeregt, als P'luoreszenzlicht aussendet, besitzen,
im besonderen, daß nur wenige dieser Eigen-
schwingungen durch Resonanz, wenn sie mit der
gleichen Frequenz angeregt werden, strahlen. Aber
diese Linien sind es auch gerade — und das ist
sehr beachtenswert — , die durch Beimengung
fremder Gase zum Natriumdampf beeinflußt werden,
indem sie sowohl ihre Lage, wie ihre Intensität
ändern.
Bei der Untersuchung der Fluoreszenz des
Dampfes ergab sich, daß eine sehr große Anzahl
von Strahlungsquellen, so der mit Kadmium, Zink,
Lithium, Kupfer, Silber, usw. gespeiste Lichtbogen
Wellenlängen aussenden, die mit der eines resonanz-
fähigen Gebildes im Natriummolekül überein-
stimmen. Das ist nicht verwunderlich, da die
Linien in den Bogenspektren eine sehr erhebliche
Breite besitzen, so daß sie häufig mehrere der
feinen Absorptionslinien des Natriumdampfes be-
decken. Andere Lichtquellen aber, wie der Queck-
silberlichtbogen, enthalten zufällig keine passenden
Wellenlängen.
Das Licht, das der Natriumdampf ausstrahlt,
wenn er passend erregt wird, besteht zunächst
aus der erregenden Wellenlänge selbst, außerdem
N. F. Xin. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
247
aber aus vielen Linien, die in gleichen Abständen,
in der Hauptsache auf Rot zu, sich an die er-
regende anschließen. Diese Abstände sind für
Natrium stets sehr nahe gleich 3,8 fifi. Da
im allgemeinen mehrere Linien erregt werden,
ist das Resonanzspektrum meist ziemlich kompli-
ziert. Ungemein typisch ist nun, daß die ge-
ringste Änderung im erregenden Spektrum, wie
sie etwa durch Andern der Stromstärke der Bogen-
lampe sich bewirken ließ, gleich sehr weitgehend
das Resonanzspektrum beeinflußt. Wood spricht
von einem Umherflattern der Spektrallinien.
Versuche mit Brom und Jod.
Des weiteren wurden die Versuche ausgedehnt
auf zwei Dämpfe, die durch die ungeheuer große
Zahl ihrer Absorptionslinien besonders interessante
Resonanzphänomene erwarten ließen, auf den Brom-
und Joddampf Bei beiden wird nämlich eine
ganze Anzahl Linien von einer Linie, die von
leuchtendem Hg -Dampf unter höherem Druck
emittiert wird, bedeckt.
Bei Brom entsprach der Erfolg nicht den Er-
wartungen. Um überhaupt ein Fluoreszenzleuchten
zu zeigen, muß ja ein Dampf eine gewisse mini-
male Dichte besitzen, damit genügend Moleküle
da sind, die angeregt werden können; bei zu hohen
Drucken und Temperaturen verschwindet aber
das Leuchten wieder, einmal wegen der Absorp-
tion in den umgebenden Gasschichten und zweitens
wegen der Störungen bei den häufigen Zusammen-
stößen der Moleküle. Brom zeigte nun, wenn sein
Dampfdruck durcli Kühlen mit Kohlensäureschnee
herabgesetzt wurde, in den Strahlen der Queck-
silberdampflampe für kurze Zeit ein schwaches
hellgrünes Leuchten, das aber bei fortschreitender
Kondensation bald wieder verschwand.
Sehr viel besser war der Erfolg bei Jod. Dessen
Spektrum ist so dicht mit Linien besetzt, daß nicht
weniger als 7 von ihnen von der grünen Linie der
mit kräftigem Strome betriebenen Quarzquecksilber-
lampe bedeckt werden. Als wirksam, d. h. zur
Erregung von Resonanzstrahlung geeignet, erwiesen
sich die Wellenlängen von 500 bis 560 /(,«. In
diesem Bereiche liegen die beiden gelben Linien
des Quecksilberdampfes und die grüne Linie bei
5461 Ä.-E.
Außer der Resonanzstrahlung zeigt sich nach
Rot, nach größeren Wellenlängen, zu — nach der
Nomenklatur von Wood — das Resonanzspek-
trum. Wurde nun mit monochromatischem Lichte,
also etwa mit der grünen Quecksilberlinie allein
angeregt, so sandte der Joddampf eine ungemein
typische Strahlung aus. Bei mäßiger Auflösung
sieht man folgendes Spektralbild: Es erscheint
zunächst die erregende Linie selbst, außer ihr aber,
ähnlich wie bei Natrium, in gleichen Abständen
voneinander 15 und mehr Linien nach der roten
Seite des Spektrums zu und außerdem auch einige
nach der blauen Seite. Die Intensität dieser Linien
ist sehr verschieden und ihre Struktur keineswegs
die einer einfachen Linie, sondern sogar recht
kompliziert, wie wir weiter unten sehen werden.
Es resonieren eben nicht bloß eine, sondern meh-
rere, wenn nicht alle der 7 Jodlinien, die in das
Bereich der Quecksilberstrahlung fallen und viel-
leicht auch außerdem schwingungsfähige Gebilde,
die sich im Absorptionsspektrum nicht bemerkbar
machen. Die Gesamtintensiiät des vom Joddampfe
ausgesandten Lichtes ist dabei außerordentlich
stark. Wurden nun statt der grünen Hg-Linie allein
auch die beiden gelben Linien benutzt, so erzeugt
jede Wellenlänge der Quecksilberstrahlung eine
ganze Serie Linien im Spektrum des Joddampfes,
und diese Serie lagert sich natürlich zu einem recht
komplizierten Bilde übereinander. Benutzt man
nun gar ein kontinuierliches Spektrum zum Erregen,
wie etwa das der Sonne, so ergibt der Joddampf
ein vollständiges Bandenspektrum, welches das
Gebiet zwischen 500 und 560 fifi und die größeren
Wellenlängen füllte.
Die anschließenden Untersuchungen, die Wood
z.T. mit h'rank in Berlin anstellte, zielten darauf
ab, ein Verständnis des Mechanismus dieser Emis-
sionsvorgänge zu gewinnen. Zu diesem Zwecke
wurde zunächst der Einfluß von Beimengungen unter-
sucht. Dabei ergaben sich ganz merkwürdige Re-
sultate. Zunächst vermindert jede Beimengung
die Intensität des Leuchtens. Setzt man dem Jod-
dampf Chlor oder ein anderes Gas mit starker
Affinität zum Elektron zu, so ist die Verringerung
sehr stark; weniger wirkt schon Äther, Kohlen-
säure, Luft (Sauerstofi), noch weniger Wasserstoff,
bei weitem am schwächsten aber die Edelgase,
Helium, Argon usw., die die Leuchtstärke erst in
größerer Konzentration beeinflussen. Das Spek-
trum selbst wird dabei durch Chlor, Brom u. dgl.
kaum beeinflußt. Doch schon bei Luft zeigt sich
unter gewissen Bedingungen ein schwacher konti-
nuierlicher Hintergrund ; und bei den Edelgasen
verwandelt sich das Spektrum des Jodleuchtens,
ohne seine Gesamtintensität allzu stark zu ver-
mindern, in ein Bandenspektrum, ganz ähnlich
dem, wie es Erregung mit kontinuierlichem (Sonnen )
Spektrum hervorruft. Bei ganz geringen Mengen
Helium (ca. 2 mm Druck) sind die Resonanzlinien
und die zugehörigen Serien äquidistanter Linien
ja noch zu erkennen, sie lösen sich jedoch bei
stärkerem Heliumzusatz völlig in dem hellen
Hintergrunde auf.
Wood und Frank stellen nun folgende
plausible Theorie dieser Erscheinungen auf. Die
Lichtwellen werden ja nach der jetzt allgemein
angenommenen Auffassung von Elektronen aus-
gesandt, welche irgendwie im Molekül gebunden
sind. Und zwar nimmt man an, daß mehrere
Elektronensysteme vorhanden sind — ob diese
nun von einem Elektron in verschiedenen Zu-
ständen oder von mehreren Elektronen gebildet
werden, ist hier ohne Belang — , die typische
Eigenschwingungen ausführen. Diese Systeme
beeinflussen sich im ungestörten Zustande nicht,
oder die Beeinflussungen sind gesetzmäßiger Art,
so daß ihnen eben wieder typische Eigen-
frequenzen zukommen. Einem solchen Elektronen-
248
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 16
Systeme soll auch eine Resonanzserie zukommen.
Prallt nun aber in unserem Falle ein Jodmolekül
auf ein dem beigemengten Gase angehörendes
fremdes Molekül, so werden die Systeme nicht
mehr unabhängig voneinander; es werden viel-
mehr durch die Schwingungen des einen, resonieren-
den Systems auch die anderen Systeme angeregf,
deren Serien sich zwischen die Serie des ersten
Systems einschieben, und es entsteht ein Banden-
spektrum. Nun liegt ja das Resonanzspektrum —
in der Hauptsache wenigstens — nach längeren
Wellen zu gegen die erregende Frequenz; wenn
seine einzelnen Frequenzen nun wieder Spektren
anregen, die überwiegend längere Wellen ent-
halten, so verschiebt sich die Energie stark nach
dem Rot, und dies ist auch für das Auge sehr
gut erkennbar, denn das grüne Leuchten des
reinen Joddampfes geht nach Beimengung von
Helium in Gelbrot über.
Die Messungen im Resonanzspektrum
des Joddampfes.
Wir haben oben gesehen, daß das Resonanz-
spektrum des monochromatisch angeregten Jod-
dampfes aus einer Serie äquidistanter Linien be-
steht. Die nähere Untersuchung dieser Linien
stellt den wichtigsten Teil der Wood 'sehen
Arbeiten dar.
Die Mittel, die Wood zur Verfügung standen,
zeigen eine interessante Mischung höchster Ver-
vollkommnung mit äußerster Primitivität, und es
ist wohl lehrreich, näher auf sie einzugehen. Es
stand ihm ein Michelsen'sches Konkavgitter von
2 m Brennweite zur Verfügung, das auf den Zoll
1 5 000 Linien enthält. Ferner verfertigte Dr.
Andersen ihm mit der 1 5 000 Strich-Maschine
ein großes Plangitter, das Wood zur Herstellung
eines 12,5 m-Spektrographen, des mächtigsten
jetzt existierenden Instrumentes, dem nur der
M icheise n 'sehe Apparat gleichkommt, benutzte.
Als Beobachtungsraum hatte er eine große
Scheune; docli waren die Winderschütterungen
so stark, daß er es vorzog, seinen Apparat im
Freien aufzubauen. Als Pfeiler für Gitter und
Linse dienten vier gesprengte, für wenig Geld
erworbene Wasserrohre, die mehrere Meter tief
in den Boden gegraben wurden. Ein langer
Holzkasten umschloß das Ganze, der mit Objektiv
und Kamera nur durch dunkle Tücher verbunden
war, die Seitenlicht abhielten, aber keine Er-
schütterung übertrugen. Beim Arbeiten zeigten
sich Spinnen als sehr störend. Ihre Gewebe zer-
störte Wood dadurch, daß er seine Katze durch
das Holzrohr jagte!
Die Resultate, die W o o d mit diesem Spektro-
graphen gewonnen hat, sind von überraschender
Schönheit. Der Joddampf zeigte insgesamt nicht
weniger als 50000 klar getrennte Absorptions-
linien. Das Problem war nun folgendes:
Die grüne Quecksilberlinie bedeckte, wie
schon gesagt, bei der benutzten Anordnung
(Hochdruckquecksilberlampe) sieben wohl definierte
Jodlinien. F'erner zeigten die Linien des Resonanz-
spektrums einen sehr komplizierten Bau. Pls war
also festzustellen, welche der sieben Jodlinien auf
die Erregung ansprachen, resp. ob die Resonanz-
linien überhaupt mit Absorptionslinien identisch
sind, und welche Linien des Resonanzspektrums
mit ihnen gekoppelt sind. Es mußten also ein-
zelne Wellenlängengebiete aus der breiten Queck-
silberlinie (welche bei diesen Dispersionen nicht
wie eine Linie, sondern wie ein breiter Streifen
[0,4 Angström-Einheiten bedeckt sie] aussieht)
ausgelöscht werden; dann empfingen die in
ihnen liegenden Jodlinien keine Erregung und
man konnte zusehen, welche Linien im Resonanz-
spektrum verschwanden. Dazu gab es verschie-
dene Wege.
1. Das Licht der Hg-Linie wurde durch Brom-
dampf filtriert. Brom hat ebenfalls innerhalb der
Hg-Linie eine Anzahl Absorptionslinien '), die
z. T. mit denen des Jod zusammenfallen.
2. Die Belastung der Ouecksilberlampe wurde
geändert. Dabei verschieben sich die Maxima
innerhalb der Linie etwas und außerdem ändern
die Komponenten ihre Breite, indem diese mit
zunehmender Belastung zunimmt.
3. Das Hg Licht wurde durch Joddampf
filtriert. Wären die Resonanzlinien mit den Ab-
sorptionslinien identisch, so müßten sie dabei alle
gleichmäßig geschwächt werden. Das war nicht
der Fall; also muß wenigstens ein Teil der
Resonanzlinien von den Absorptionslinien ver-
schieden sein.
Die Einzelresultate der Untersuchung anzu-
geben hat keinen Zweck. Es ist Wood ge-
lungen, einigermaßen Ordnung in das komplizierte
Spektralbild zu bringen. Es scheint mir aber
vorteilhaft, die Erscheinung selbst zum Schluß
etwas genauer zu beschreiben , denn sie zeigt,
wie kompliziert die Schwingungsvorgänge selbst
in diesem Falle sind, wo wir schon bis zu einem
gewissen Grade doch Klarheit über den Mechanis-
mus haben, und wie sehr verfrüht die häufig be-
liebten Schematisierungen der Molekularvorgänge
zurzeit noch sind.
Betrachten wir nämlich das Resonanzspektrum
bei einer Auflösung, die die 7 Jodlinien inner-
halb der Quecksilberlinie noch als eine einzige
erscheinen läßt, so sehen wir an ihrer Stelle die
starke Resonanzlinie als Sunime sämtlicher
Resonanzlinien des Bereiches. Über die 30 fache
Breite aber erstrecken sich noch Trabanten. Be-
zeichnen wir diese ganze Gruppe als die 0.
Ordnung bei 5461 Ä.-E., so finden wir bei 5525,
5657 und 5796 Ä.-E. in i., 3. und 5. Ordnung
fast ebenso gestaltete Gruppen, in 2., 4., 6. bis
etwa 20. Ordnung (wobei die 9. Ordnung fehlt)
viel schwächere und kleinere Gruppen Linien. Ihr
') Wood macht bei dieser Gelegenheit die Bemerkung,
daß von den Linien dieser beiden Elemente eine groflc An-
zahl bei der Auflösung seines Spektrographen als identisch
erscheinen, und zwar mehr als den Gesetzen der Wahrschein-
lichkeit entspräche.
N. F. XIII. Nr. i6
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
249
Kern wird fast stets von Doppellinien gebildet und
ihre Frequenzendifferenzen sind sehr nahe kon-
stant. Von all dem gibt es aber hier und da
Abweichungen, die nicht wohl durch Versuchs-
fehler bedingt sein können.
Polarisation des Resonanzlichtes.
Das Resonanzlicht ist teilweise polarisiert.
Das ist auch sehr verständlich, da ja der elektri-
sche Vektor des erregenden Lichtes — und
ebenso der magnetische — bei der schwachen
Konvergenz des beleuchtenden Strahlenbüschels
fast ganz in einer Ebene liegen, in die die Be-
obachtungsrichtung hineinfällt. Benutzte Wood
zum Beleuchten polarisiertes Licht, dessen elektri-
scher Vektor parallel der Beobachtungsrichtung
war, so verschwand, wie zu erwarten war, die
Polarisation. Sie stieg auf den doppelten Betrag,
wenn polarisiertes Licht mit senkrechtem elektr.
Vektor angewandt wurde, doch stieg der polari-
sierte Anteil nie tiber 30"/,,, während doch die
angeregten Systeme von polarisiertem Erreger-
licht stets in einer Richtung Energie empfangen,
man also erwarten mußte, daß auch das
Resonanzlicht vollständig polarisiert sein würde.
Das Merkwürdigste war, daß a'le Linien des
Resonanzspektrums zum gleichen Betrage polari-
siert waren. Es mußte also nach der Ursache
gesucht werden , welche Unordnung in die
Schwingungen brachte, also depolarisierend wirkte.
Am nächsten lag es, diese Ursache in den Zu-
sammenstößen der Moleküle zu suchen. Setzte
Wood aber bis zu 12 mm Stickstoff zu, wodurch
die Stoßzahl auf das Mehrfache steigen mußte,
so war keine Verminderung der Polarisation zu
bemerken. Weiter versuchte er es mit der
Hypothese, daß der Elektron an geradlinige
Bahnen im Molekül gebunden sei. Eine einfache
Betrachtung zeigte aber, daß sich in diesem Falle
eine Polarisation von 50 "/i, zeigen mußte. Ferner
kam in Betracht, die depolarisierende Ursache in
der Rotation des Moleküls beim Durchlaufen seiner
freien Wegstrecke zu suchen. Dabei blieb aber
das Bedenken, daß der Natriumdampf als ein-
atomiges Gas ja gar keine Rotationsenergie ent-
hält. Am wahrscheinlichsten ergab sich schließ-
lich die Hypothese, daß die Depolarisation durch
sekundäre Resonanzstrahlung vorgetäuscht sei,
indem ja das schwingende System auch wieder
befähigt ist, das entsprechende System in seinen
Nachbarmolekülen anzuregen.
Literatur.
Wood, Physikalische Zeitschrift 6, 903, 1905. 7, 873,
1906. 9, 450, 1908. 9,590,1908. 10,466,1909. 11,1195,
1910. 12, Si, 1911. 12, 1204, 1911. 14, 177 u. 1189, 1913.
Phil. IVlag. Ölst. 1905. Nov. 1905. Mai 1908.
Ber. d. D. Phys. Ges. 13, 72, 191 1.
Wood u. Franl«, Ber, d. D. Phys. Ges. 13, 78, 1911.
13, 84, 1911.
Zickendraht, Physik. Zeitschr. 9, 593, igo8.
Einzelberichte.
Botanik. Die Reizleitung im phototropen
Keimling. Werden Graskeimlinge einseitig be-
leuchtet, so krümmen sie sich dem Lichte zu.
Der Lichtreiz wird dabei vorzugsweise von der
Spitze des Keimlings perzipiert und dem unteren
Teile zugeleitet, der sich darauf krümmt. R o t h e r t
und Fitting hatten gefunden, daß die Reiz-
leitung in Haferkeimlingen (Koleoptilen) durch
quere Einschnitte nicht unterbrochen wird. Dar-
aus ergab sich der Schluß, daß sich der Reiz
nach allen Seiten durch die lebenden Zellen fort-
pflanzt. P. Boysen-Jensen war nun schon
1909 zu abweichenden Ergebnissen gekommen,
indem er gefunden hatte, daß die Reizleitung zwar
durch einen Einschnitt auf der (dem Lichte zugewen-
deten) Vorderseite der Koleoptile nicht verhindert
werden konnte, wohl aber unter gewissen Be-
dingungen durch einen Einschnitt auf der Hinter-
seite. In denjenigen Versuchen Fittings, in
denen die phototropische Krümmung eingetreten
war, obwohl der Zusammenhang der Gewebe an
der Hinterseite durch einen Einschnitt unterbrochen
war, hatte sich nach der Ansicht von Boysen-
Jensen der Reiz über die Wunde hinweg
fortgepflanzt. Daß derartiges überhaupt möglich
ist, beweisen die merkwürdigen Versuche, die der
Kopenhagener Physiolog mit Koleoptilen ange-
stellt hat, denen die Spitze abgeschnitten und
wieder aufgesetzt war. Solche Objekte reagierten
auf einseitige Beleuchtung der Spitze durch positiv
phototropische Krümmung und führten, im Dunkel-
raum horizontal gelegt, auch negativ geotropische
Krümmungen aus, während Kontrollpflanzen ohne
Spitze keine phototropische und nur sehr schwache
geotropische Reaktion zeigten. Um bei Versuchen
über die Reizleitung zu verhindern, daß der Reiz
sich über die Einschnitte fortpflanzte, schob
Boysen-Jensen Glimmerblättchen in diese
hinein. VanderWolk hatte bei ähnlichen Ver-
suchen Stanniolblättchen benutzt. Dieser Be-
obachter wollte das von Boysen-Jensen fest-
gestellte Ausbleiben der phototropischen Krüm-
mung bei Einschnitten an der Hinterseite darauf
zurückführen, daß der Wundreiz eine nach hinten
gerichtete Krümmung hervorruft, die die (nach
vorn gerichtete) phototropische Krümmung kom-
pensiert. Boysen-Jensen füiirt aus, daß diese
Schlußfolgerung nicht begründet sei, und daß die
von van der Wölk erhaltenen positiven Krüm-
mungen bei Einschnitten an der Hinterseite durch
unvollständige Unterbrechung der Reizleitung
(Verschiebung der Stanniolblättchen und Ansamm-
lung von Wasser in den Einschnitten im dampf-
gesättigten Versuchsraum) bedingt sein können.
Jedenfalls ergaben seine neuen Versuche wieder-
um phototropische Krümmung bei vorn ver-
250
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 16
wundeten, Ausbleiben der Krümmung bei hinten
verwundeten Pflanzen, — vorausgesetzt, daß die
Einschnitte mit (ilimmerplättchen versehen waren.
Hinten verwundete Keimlinge ohne Glimmer-
plättchen zeigten dagegen schöne phototropische
Krümmungen. Daß sich der Reiz um zwei gegen-
einander gerichtete (vorn und hinten befindliche)
Einsclinitte herum fortpflanzt, konnte (bei Anwen-
dung von Glimmerplättchen) auch nicht bestätigt
werden. Nach diesen Versuchen würde mithin
der phototropische Reiz sich nicht allseitig fort-
pflanzen , sondern die Leitung würde lokalisiert,
nämlich auf die Hinterseite der Koleoptile be-
schränkt sein. (Berichte der Deutschen Bot. Ges.
1914, Bd. 31, S. 559—566.) F. Moewes.
Geographie. Antarktische Probleme hat Prof
A. Penck am 22. Januar in einem Akademie-
vortrag behandelt (Sitz.-Ber. der Kgl. Preuß. Aka-
demie der Wissenschaften, Physika!.- Mathemat.
Klasse, Berlin 1914, Nr. IV), in dem er darauf
hinweist, daß unter dem Einfluß von A. Peter-
mann 1863 die Bezeichnung „Antarktischer Kon-
tinent" aus den deutschen Karten verschwand und
durch die Worte „.Antarktischer Ozean" ersetzt
wurde. Erst nach dem Vorstoß, den das briti-
sche Forschungsschiff „Challenger" 1874 in das
Südpolargebiet unternommen hatte, befestigte sich
die Vorstellung, daß ein großer antarktischer Kon-
tinent vorhanden sein müsse, mehr und mehr.
Hans Reiter unternahm es sogar schon 1886,
als noch nie der P\iß eines Menschen diesen
Kontinent betreten hatte, Schlüsse auf dessen
inneren Bau zu ziehen. Ist das von ihm entworfene
Bild auch in wichtigen Stücken falsch, so kann
man doch auf Grund der neuesten F'orschungen
aussprechen, daß er sich im allgemeinen eine zu-
treffende Vorstellung über die Unterscheidung
einer P'altenzone und eines Massivs in dem unbe-
kannten Lande gebildet hatte. Die planmäßigen
Forschungen zu Beginn unseres Jahrhunderts, die
durch die deutsche Südpolar-Expedition unter
der Leitung von Prof. Erich v. Drygalski, die
englische unter Scott, die schwedische unter
Nordenskjüld und die schottische unter
Bruce ausgeführt wurden, hat nicht nur zu neuen
Landentdeckungen geführt, sondern auch über den
geologischen Bau dieser Länder und die Tiefen-
verhältnisse der umgebenden Meere wichtige Auf-
schlüsse gebracht.
Der Gaußberg, jene isolierte, von der deut-
schen Expedition entdeckte eisfreie Kuppe südlich
des Indischen Ozeans, besteht aus vulkanischen
Gesteinen von atlantischem Typus, während noch
weiter südlich Urgesteine und kristallinische
Schiefer vorkommen. Das gewaltige, südlich von
Neu-Seeland gelegene Süd-Viktoria-Land dagegen
besitzt einen ähnlichen geologischen Aufbau wie
die Massive von Brasilien, von Vorderindien und
Australien, während südlich von Amerika, in
Graham-Land, fossilreiche mesozoische und tertiäre
Ablagerungen gefunden wurden, die eine weit-
gehende Übereinstimmung mit den Gesteinen
Patagoniens aufweisen. Hier war Ha ns Reit er 's
Mutmaßung, daß das westliche Graham-Land pazi-
fische Faltung zeige, zutreffend, und der von
Arctowski für den Gebirgszug dieses Landes
geprägte Name „Antarktanden" trifft insofern das
Richtige, als sich der geologische Bau von Pata-
gonien hier in den Südpolarkontinent hinein fort-
setzt.
V\'ir finden also eine fundamentale Verschie-
denheit in dem geologischen Bau von Süd-Viktoria-
Land und dem ihm benachbarten WilkesLand
einerseits und Graham-Land mit seinen Nachbar-
inseln andererseits. Balch hat diese beiden
Gebiete als Ost- und Westantarktika unterschie-
den, eine Bezeichnungsweise, die sich schnell ein-
gebürgert hat. Die Feststellung der Grenze zwi-
schen den Kettengebirgen von Westantarktika und
den Massiven von Ostantarktika ist nun eines der
Probleme, die neuerdings für die antarktische For-
schung in den Vordergrund des Interesses gerückt
sind.
Noch 1910 glaubte man mit der Möglichkeit
rechnen zu dürfen, daß die Roß See unter der auf
ihr schwimmenden mächtigen Tafel des Barriere-
Eises hindurch weit nach .Süden hin in den Kon-
tinent eingreife und vielleicht in direkter Verbin-
dung mit der Weddell-See stände, indem ein
gänzlich mit Eis bedeckter Meeresarm sich von
dem pazifischen nach dem atlantischen Südpolar-
meere hindurchziehe, der eine natürliche Scheide
zwischen Ost- und Westantarktika darstellen würde.
Obgleich nun die Deutsche Antarktische Ex-
pedition unter Filchner den Nachweis lieferte,
daß die WeddellSee weiter nach Süden reicht
als man bis dahin angenommen hatte, ja daß sie
eine nahezu ebenso tiefe Einbuchtung in den
Kontinent darstellt wie die Roß See auf der ent-
gegengesetzten Seite, sprechen doch gewisse An-
zeichen dafür, daß hier nicht die atlantische Mün-
dung jenes hypothetischen Meeresarms zu suchen
ist. Vor allem sind an der Filchner-Eisbarriere
keine großen Tiefen gelotet worden, so daß schon
aus diesem Grunde eine erhebliche Ausdehnung
der Weddell-See unter dem Eise nicht zu erwarten
ist. Die Frage, ob zwischen Weddell- und Roß-
See Wasser oder Land vorhanden ist, darf daher
mit großer Wahrscheinlichkeit als zugunsten des
Landes entschieden betrachtet werden.
Gleichzeitig aber waren auch auf der pazifi-
schen Seite von Antarktika neue Entdeckungen
gemacht worden. Auf seiner glänzend durchge-
führten Schlittenreise zum Südpol (vgl. Naturw.
Wochenschr. 191 2, Bd. XXVII, S. 449—454) hat
Amu n d s e n wichtige geographische Feststellungen
machen können, die für die Auffassung der Be-
ziehungen zwischen Ost- und Westantarktika von
großer Bedeutung sind. In etwa 85" südl. Breite
endete die Tafel des Roß-Barriere-Eises in einer
Bucht, die im Südwesten von einem Teil des
Randgebirges des zentralen antarktischen Plateaus,
den Kronprinz-Olaf-Gipfeln, im Südosten dagegen
N. F. XIII. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
251
von dem Carmen-Land begrenzt wird. Zwischen
letzterem und dem fast 800 km weiter nördlich
gelegenen König- Eduard- VIT. -Land ist östlich von
Amundsen's Route noch weiteres Land vor-
handen. Zwar spricht er in seinem Reisewerk
nur von Andeutungen eines solchen, doch hat er
in mündlicher Unterredung seiner festen Über-
zeugung Ausdruck gegeben, daß hier zwischen
81" und 82" südl. Breite Land vorhanden sei. Nur
der Umstand, daß kein schneefreier Fels sichtbar
war, habe ihn gehindert, mit Bestimmtheit von
Land zu berichten. Er habe aber dasselbe cha-
rakteristische Ansteigen der Eisoberfläche wahr-
genommen, das u. a. bei Kaiser-Wilhelm- II. -Land
und Coats-I.and als untrügliches Zeichen des
Landes genommen werde. Zwischen diesem
Amundsen-Lande, wie es am treffendsten zu be-
nennen wäre, und dem Carmen Lande existiert
noch eine unbekannte Strecke von etwa 200 km
Länge. Hier müßte also die Furche zwischen
Roß-See und Weddell-See durchlaufen , falls sie
vorhanden ist.
Amundsen hat jedoch nicht nur für die oro-
graphischen Probleme, sondern auch zu morpho-
logischen Spekulationen neues Material geliefert.
Schetelig, der die von Amundsen im
Königin - Maud - Gebirge und von Prestrud in
König -Eduard -VII. -Land gesammelten Gesteins-
proben bearbeitet hat, hält beide für Bestandteile
des Grundgebirges von Süd- Viktoria-Land. Nor-
denskjöld dagegen möchte die Frage für König-
Eduard- VII.-Land offen lassen.
Aber auch bei dem von Amundsen im
äußersten Süden entdeckten Königin-Maud Gebirge
lassen die großen Gipfelhöhen, die zwischen 4000
und 5000 m betragen, eher eine Zugehörigkeit
zur westantarktischen Kette als einen Plateaurand
vermuten, denn die großen, nicht vulkanischen
Erhebungen der Erde gehören im allgemeinen
den Kettengebirgen und nicht den Massiven an.
Die Gesteinsbeschaffenheit allein kann nicht über
die Zusammengehörigkeit von Gebirgen entschei-
den, für welche vielmehr in erster Linie die
Struktur maßgebend ist. Jedenfalls deutet ein ge-
wisser Parallelismus mit dem Gebirgsbau Nord-
amerikas eine Möglichkeit an, wie das Königin-
MaudGebirge zu Westantarktika gehören könnte,
ohne von dem Plateau Ostantarktikas durch eine
tiefe Furche geschieden zu sein. Gehört es zu
Westantarktika, so haben wir seine P'ortsetzung
in Graham-Land zu suchen, gehört es zu Ost-
antarktika, dann würde es mit Coats-Land zusam-
menhängen , jener nördlichen P'ortsetzung des
Prinzregent- Luitpold- Landes, das der Schotte
Bruce 1904 im Weddell-Meere entdeckt hat.
Zwischen diesen Möglichkeiten kann nur durch
eingehende Untersuchungen entschieden werden,
die für die nächste Zeit bevorstehen.
Der Österreicher Dr. König, ein Mitglied
der von p-ilchner geleiteten Deutschen Antark-
tischen Expedition gedenkt nämlich noch in diesem
Sommer eine neue Forschungsreise in das Weddell-
Meer zu unternehmen. Der Hauptvorstoß soll
dem Abfall des Prinzregent-Luitpold-Landes nach
Süden folgen, in der Richtung auf das Königin-
Maud-Gebirge.
Aber der erfolgreiche englische Polarforscher
Shackleton, der bekanntlich den ersten Vor-
stoß in das Herz des Südpolar-Kontinents aus-
geführt hat und auf diesem im Januar 1909 dem
Südpol bis auf 180 Kilometer nahe gekommen
war (vgl. Naturw. VVochenschr. 19 10, Bd. XXV,
S. 137 — 140), will gleichfalls von dem Südende
des WeddellMeeres aus in das Innere von Ant-
arktika vordringen, und zwar ebenfalls in der Rich-
tung auf das Königin-MaudGebirge.
Es darf uns in Deutschland mit lebhafter Freude
erfüllen, daß beide Expeditionen von der Weddell-
See ausgehen wollen, deren Benutzbarkeit als
Operationsbasis eine deutsche Entdeckung ist.
Andererseits wäre es vorteilhafter, wenn beide
Forscher nicht gleichzeitig von derselben Seite dem
gleichen Ziele zustrebten, sondern wenn König,
der die Weddell-See kennt, von dieser Seite, Shack-
leton, dem die Roß-See und ihre Umgebung be-
kannt ist, von dort ausginge, und wenn so die
große Aufgabe von verschiedenen Seiten in An-
griff genommen werden könnte.
Inzwischen hat der Australier Mawson auf
einer großzügig angelegten Expedition in den
Jahren 1912 und 1913 die Erforschung von Wilkes-
Land, jener ausgedehnten, nahezu mit dem Süd-
polarkreis zusammenfallenden Küstenstrecke süd-
lich von Australien durchgeführt. Nach den bis-
her vorliegenden Nachrichten hat dieses Land eine
nachgewiesene Küstenlänge von 2600 km, was
etwa der Entfernung von Berlin bis Ägypten gleich-
käme. Der geologische Bau würde demjenigen
von Süd- Viktoria-Land entsprechen. Weiter west-
lich scheint sich zwischen dem Gaußberg und dem
Kemp-Enderby Lande, für dessen geologischen Bau
wir keinerlei Anhaltspunkte haben, eine nach Süden
einspringende Bucht zu erstrecken. Noch weiter
westlich lassen die Gesteine, welche dieDretschzüge
des ,,Challenger", der ,,Valdivia" und der ,,Scotia"
aus den Meerestiefen ans Tageslicht gefördert haben,
die Annahme zu, daß südlich vom Indischen und
Atlantischen Ozean zwischen Kemp-Enderby-Land
und Coats Land ein stark abgetragenes Massiv von
kristallinen Schiefern mit einer Sandsteindecke vor-
liegt. Dagegen haben die beiden Süd])olar-Expe-
ditionen des Franzosen Charcot (vgl. Naturw.
Wochenschr. 191 1, Bd. XXVI, S. 552 — 555) und
die ältere belgische unter de Gerlache für die
Westküste der Westantarktis den Nachweis geliefert,
daß hier eine eigene petrographische Provinz von
andinem Charakter vorliegt, ein neuer Beweis für
die Zusammengehörigkeit dieses Gebietes mit Pata-
gonien.
Durch die Entdeckungsreisen in der ersten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts waren die antark-
tischen Küsten in einer Pirstreckung über 1 10
Längengrade bekannt geworden, während die heute
bekannten LImrisse 175 Längengrade umfassen.
;52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. i6
wobei allerdings die zahlreich vorhandenen Lücken
nicht berücksichtigt sind. Wir kennen also den
Umfang des Südpolarkontinents noch nicht einmal
zur Hälfte, und daher sind auch unsere Vorstellungen
von der Größe dieses sechsten Erdteils naturgemäß
ziemlich unsichere. Wir dürfen sein Areal zurzeit
auf etwa 13^'., Million Quadratkilometer schätzen,
ein Betrag, der zu groß sein dürfte, wenn die von
G. Neumayer vermutete Einbuchtung des Meeres
zwischen WilkesLand und Kemp-Enderby-Land
vorhanden sein sollte, der jedoch hinter der Wirklich-
keit zurückbleibt, wenn die Küsten in den noch
unbekannten Gebieten nördlicher liegen, als man
nach unserer augenblicklichen Kenntnis vermuten
muß. O. Baschin.
Meteorologie. Neuere Ansichten über die Ur-
sache der Gletscherschwaiikungen. Seit Ende der
50 er Jahre befinden sich die mächtigsten Schweizer
Gletscher im Rückgang. Millionen von Kubikmetern
Eis sind verschwunden und Hunderte von Ouadrat-
kilometern Terrain wurden aper. Für diese ge-
waltige Naturerscheinung fehlte seither noch jede
sichere Begründung. Aus dem Verhalten der Luft-
temperatur hätte niemand auf einen derartigen
Rückgang der Gletscher schließen können. Die
Temperaturinessungen der in der Gletscherzone
liegenden Alpenstationen (Einsiedeln, Andermatt,
St. Gotthard u. a.) geben keinerlei Erklärung
für diesen Gletscherschwund. Das gleiche gilt
für die Niederschlags Verhältnisse. Die
große feuchtkalte Periode 1875 — 1891 ist an den
großen Gletschern des Zentralalpenmassivs und
Berninagebietes spurlos vorübergegangen, ohne
ihren Rückzug aufzuhalten. Ebenso einflußlos
scheinen trocken-warme Klimaperioden zu sein,
insofern sie den Gletscherschwund, wie besonders
der mächtige Rhonegletscher beweist, nicht wie
man glauben sollte, beschleunigen. Man steht da
vor Rätseln und kommt stets von neuem auf den
Gedanken, daß Lufttemiieratur und Niederschlags-
menge durchaus nicht die maßgebenden Einflüsse
erschöpfend wiedergeben können. Von selbst wird
man auf ein weiteres Element, auf die direkte
Besonnung, das ist der Einfluß der wirk-
samen Sonnenstrahlung, geführt, als wich-
tigen Faktor für den Gletscherstand. Nach den
LTntersuchungenMau r er 's ') -Zürich istdieSonnen-
strahlungvoneminenter WirkungaufdenSch mel z-
p r o z e ß an der Gletscheroberfläche. Maurer hat
neuerdings an großen Eisplatten hierüber Versuche
angestellt. Er kommt zu dem Schluß, daß Eis-
flächen mindestens 40 " „ der gesamten auftreffenden
Sonnenstrahlung absorbieren. Unter Berücksich-
tigung der Strahlungsmessungen im schweizerischen
Zentralalpengebiet, wie sie besonders C. Domo
in Davos ausführt, kommt er zu dem Ergebnis,
daß in der Gletscherregion an einem heiteren
Sommertag für den Quadratkilometer Eisfläche
30000 m^ abschmelzen, d. h. etwa 32 mm Ablations-
betrag pro Tag allein durch die Sonnenwärme.
Vom Mai bis September erhöht sich dieser Betrag
auf 2,7 m. Überblickt man daher die enorme
Gletscherschwundperiode während des verflossenen
halben Jahrhunderts, so hat man kaum eine andere
Erklärung dafür, als daß sie zustande gekommen
ist durch das überaus günstige Zusammentreffen
einer langen, äußerst wirksamen Strahlungsperiode
mit einer besonders im zweiten Teil des Rückzuges
noch relativ starken Niederschlagsarmut in der
F"irnregion, beides Erscheinungen, wie sie während
Jahrhunderten nur selten in diesem Zusammenspiel
undsolcherBeharrlichkeit zurBeobachtung kommen.
A. P.
Zoologie. Das Verhältnis
zur übrigen Vogelwelt
dörfer eine
In der Zeit vom Jahre 1895 bis
1913 hat der Verf 2089 sog,
die Überreste wie Feedern,
der Raubvögel
Hierüber hat O. Utten-
interessante Arbeit veröfientlicht. ')
31. Dezember
Rupfungen", d. h.
Körperteile der Mahl-
zeiten von Raubvögeln gesammelt.
Diese 2089 von Raubvögeln erbeuteten Vögel
verteilen sich auf 101 Arten, und zwar: 102 Reb-
hühner, 169 Buchfinken, 143 Haussperlinge, iio
Stare, 103 Goldammern, 100 Eichelhäher, 95 Ringel-
tauben, 95 Haustauben, 74 Singdrosseln, 66 Feld-
sperlinge, 65 F"eldlerchen, 61 Amseln, 58 Kohl-
meisen, 52 Fasanen, 42 Nebelkrähen, 36 Grün-
finken, 27 Blaumeisen, 26 Birkhühner, 23 Rauch-
schwalben, 23 Stockenten, 20 Wintergoldhähnchen,
17 Bachstelzen, 16 Grünspechte, 16 Bluthänflinge,
16 Weindrosseln, 15 Krickenten, 15 Kiebitze,
15 Grauammern, 14 Wasserhühner, 13 Hauben-
meisen, 13 Kuckucke, 13 Wacholderdrosseln,
12 Baumpieper, 12 Turteltauben, 12 Elstern,
II Tannenmeisen, 11 Dompfaffen, 10 Rotkehlchen,
10 Misteldrosseln, 10 Rotrückige Würger, 7 Wiesen-
pieper, 7 Pirole, 7 Große Buntspechte, 5 Berg-
finken, 5 Stieglitze, 5 Kernbeißer, 4 Gartenrot-
schwänze, 4 Haushühner, 4 Birkenzeisige, 4 Ufer-
schwalben, je 3 Rotschenklige Wasserläufer,
Wasserrallen, Zwergsteißfüße, Heidelerchen, Garten-
grasmücken, Raubwürger, Waldkäuze, Wald-
olireulen, Turmfalken, Baumläufer, Spechtmeisen,
Schwanzmeisen, Kreuzschnäbel, Erlenzeisige und
Lachmöwen, je 2 Zaungrasmücken, Dorngras-
mücken, Steinschmätzer, Seidenschwänze, Schnee-
ammern, Nachtschwalben, Wiedehopfe, Blauracken,
Turmsegler, Schwarzspechte, llohltauben , Wach-
teln, Wachtelkönige, Bekassinen, Knäckenten und
Tafelenten und endlich je i Sperber, Baumfalk,
Sumpfohreule, Steinkauz, F'itislaubvogel, Weiden-
laubvogel, Gebirgsstelze, Trauerfliegenschnäpper,
Grauer F"liegenschnäpper, Sumpfmeise, Hauben-
lerche, Rohrammer, Waldschnepfe, F^ischreiher juv.,
Grünfüßiges Teichhuhn, Geflecktes Sumpfhuhn,
Moorente, Schwarze Seeschwalbe, Flußseeschwalbe
und Rothalstaucher.
Met. Zeitschrift, XXXI, 1914, S. 23 ff.
') Ornithologische Monatsschrift, 39. Jahrgang, 1914,
S. 198—205.
N. F. XIII. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
253
So groß auch die Zahl der gerupften Vögel
ist, so ist doch zu berücksichtigen, daß von den
101 Arten nur 20 mit über i "'„ unter den Beute-
tieren vertreten sind und daß diese zusammen
über ■'/a der Gesamtzahl ausmachen. Die Vögel
dieser 20 Arten gehören solchen an , welche in
einer großen Individuenzahl vertreten sind und
die auch häufig bleiben, trotzdem sie durch die
Raubvögel gezehntet werden. „Da kommen nicht
nur die 143 Haussperlinge in Betracht, sondern
noch vielmehr die 142 Nebelkrähen, 12 Elstern
und 100 Eichelhäher, die bei ungestörter Ver-
mehrung unter den Brüten ihrer Umgebung noch
eine weit größere Verheerung angerichtet hätten,
als es die Raubvögel selbst getan haben."
Ferner wurde festgestellt, daß neun Zehntel
der Funde vom Habicht und Sperber herrühren.
Albert Heß, Bern.
Physiologie. Einen außerordentlichen Fall
von menschlichem Wiederkauen hat v. G u 1 a t -
Wellenburg (Münchener Med. Wochenschrift,
1913, S. 2568) beschrieben.
Bevor die Untersuchung mit Röntgenstrahlen
in Aufnahme kam, glaubte man, daß bei mensch-
lichen „Wiederkäuern" abnorme Verhältnisse des
unteren Teils der Speiseröhre und des Magen-
mundes vorlägen. Bei der Obduktion fand man
auch bisweilen eine Erweiterung des unteren Teils
der Speiseröhre, welche die Cardia des Magens
überlagerte, auch einen sog. Sanduhrmagen. Bei
manchen „Wiederkäuern" aber kann das Wieder-
kauen nicht durch eine anatomische Besonderheit
veranlaßt sein, da es nur zeitweise auftritt. Am
häufigsten ist es bei hysterischen Frauen und
Geisteskranken, nur selten bei Männern. Die
„Wiederkäuer" würgen die Ingesta bei Inspirations-
stellung des Brustkorbs ohne Beteiligung des Zwerch-
fells und der Bauchpresse — wie das beim Er-
brechen geschieht — willkürlich oder unwillkürlich
wieder herauf und schlucken sie nochmals gekaut
oder ungekaut wieder hinunter. Durch die ge-
wohnheitsmäßige Erweiterung der Cardia des
Magens tritt allmählich eine Erschlaffung von
deren Ringmuskulatur ein, bzw. diese wird auf
nervösem Wege gelähmt. Die allmählich ein-
tretende Erweiterung des unteren Abschnitts des
Schlundrohrs ist dann eine Folgeerscheinung.
Nach W. zeigte sich Oktober 191 3 während
des Oktoberfestes in München ein Mann, der bis
4 Liter Wasser auf einmal hinuntertrank, bis 20
lebende Frösche und Goldfische schluckte, sie eine
Zeitlang im Magen behielt und dann die Tiere
lebend wieder heraufwürgte. Der Mann, 62 Jahre
alt, war durchaus gesund und hatte keinerlei An-
zeichen von Hysterie. Bis vor wenigen Monaten
war er Holzarbeiter gewesen, bis er auf die Idee
kam, den Broterwerb auf die genannte bequemere
Art zu betreiben. Schon als Säugling hatte er
alle Milch heraufgewürgt und konnte in seiner
Jugend die Speisen willkürlich in den Mund herauf-
stoßen. Ein Bruder von ihm und dessen Kind
sind gleichfalls Wiederkäuer.
Bei der Untersuchung von W. verschluckte der
Mann noch allerhand andere Dinge: so einen zu-
sammengerollten Chiffon von i qm, einen Opera-
tionsgummihandschuh, zusammengelegte Akten-
blätter usw., alles mühelos bis ungefähr auf die
Höhe der Mitte des Brustbeins; die Stelle bis
wohin, fühlte er deutlich.
Das Vorkommen des Wiederkauens in diesem
Maß gibt eine natürliche Erklärung für viele wunder-
bare Erscheinungen, wie sie in spiritistischen
Sitzungen vorgeführt werden (vgl. Nr. 13, 206)
und hat auch seine Bedeutung in kriminalistischer
Beziehung, z. B. Juwelendiebstahl usw.
Kathariner.
Grüne tierische Farbstoffe. Von Hans P r z i -
bram (Pflüger's Archiv für die gesamte Physio-
logie des Menschen und der Tiere, 153. Bd., 8. Heft,
1913-)
Schon wiederholt ist die Ansicht geäußert
worden, die grüne Farbe mancher Tiere sei mit
dem Blattgrün (Chlorophyll) identisch.
P. kam auf Grund eingehender spektroskopi-
scher und chemischer Untersuchungen der ver-
schiedensten grün gefärbten Tiere (Bacillus Rossii,
Dixippus morosus, Psophus stridulatorius, Stenobo-
thrus viridulus, Loeusta viridissima, Orphania can-
tans, Mantis religiosa, Cantharis (Lytta) vesicatoria,
Hyla arborea, Rana esculenta, Bonellia viridis) zu
der Feststellung, daß in keinem einzigen P^all, wo
pflanzliche Beimischungen ausgeschlossen waren,
die Grünfärbung durch pflanzliches Chlorophyll
verursacht wurde. Stets fehlte das für letzteres
charakteristische Absorptionsband im Spektrum.
Spektroskopisch hatten alle untersuchten Extrakte
gemeinsam eine Verkürzung am roten Ende des
Spektrums und die Lage der Absorptionsbänder.
Eigentümlich für die Gephyree Bonellia war ein
starkes Absbrptionsband. Wo ein Hinweis auf
pflanzliches Chlorophyll vorhanden war, handelte
es sich stets, wie bei den ersten fünf Arten, um
Tiere mit gemischter Nahrung. Bei ihnen fand
sich ein Schatten an jener Stelle des Spektrums,
die bei den übrigen Tieren hell, bei den Pflanzen
aber durch ein charakteristisches Chlorophyllband
ausgezeichnet ist. So erhielt es Chautard bei
Canthariden nur dann, wenn Teile des Abdomens
mit Nahrungsresten im Darm bei Herstellung der
Extrakte verarbeitet worden waren. Um mit ganz
einwandfreiem Material Versuche anzustellen, hat
P. u. a. die Flügeldecken der ägyptischen Gottes-
anbeterin (Sphodromantis bioculata) benutzt.
In Übereinstimmung mit seinen älteren Ver-
suchen hält P. an seinem Standpunkt fest, daß es
im Tierkörper wirkliches Chlorophyll von der
chemischen Konstitution des Blattgrüns nicht gibt.
Wo solches vorkommt, ist es mit der Nahrung
hineingelangt oder das Produkt symbiontischer
Algen. Es schließt das nicht aus, daß die vom
Tierkörper selbst gebildeten Pigmente nahe Ver-
wandte des Chlorophylls sind. Kathariner.
254
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 16
Chemie. Der Farbstoff der Kornblume. Die
blauen, roten und violetten F'arbstoffe, die sich in
den Blüten vieler Blumen, in Früchten und in
manchen Blättern vorfinden, faßt die Chemie unter
dem Namen Anthocyane zusammen. Diese Farb-
stoffe lassen sich mit Wasser oder wasserhaltigem
Alkohol extrahieren und sind unlöslich in Äther.
Nach ihrem chemischen Verhalten lassen sich ver-
schiedene Gruppen von Anthocyanen unterscheiden :
viele sind in saurer Lösung rot, in Sodalösung
blau (z. B. die Farbstoffe der Kornblume, der Rose,
der Weintraube, der Radieschen usw.); andere, wie
die der Nelke oder der Aster, sind sowohl in saurer
als auch in schwach alkalischer Lösung (in dicker
Schicht) rot; wieder andere (z. B. die der roten
Rübe und der Melde) sind in saurer Lösung violett
und werden mit Soda rot. Vor kurzem haben
Willstätter und Everest die Ergebnisse einer
Arbeit veröffentlicht ( L i e b i g s Annalen der Chemie,
401, 189), die sich mit dem Anthocyan der Korn-
blume beschäftigt. Dieser Farbstoff kommt in der
Kornblume in verschiedenen Modifikationen vor.
Die Randblüten enthalten hauptsächlich einen
blauen Farbstoff, der das Kaliumsalz einer .Säure
ist. Eine violette Form des F"arbstoffs, die sich
fast ausschließlich in den Scheibenblülchen vor-
findet, ist die freie Säure selbst; sie hat den Namen
Cyanin. Eine rote Modifikation, die bei Anwesen-
heit überschüssiger Säure im Zellsaft auftritt, ist
eine Verbindung des Cyanins mit einer I'flanzen-
säure. Wässerige Lösungen des blauen und roten
Farbstoffs werden bald entfärbt; es bildet sich
dabei eine vierte farblose Modifikation des Farb-
stoffs, indem sich das Cyanin isomerisiert. Will-
stätter isolierte das blaue Cyaninsalz, indem er
getrocknete Kornblumenblätter mit alkoholhaltigem
Wasser extrahierte und den Farbstoftaus der Lösung
mit Alkohol fällte. Ein Zusatz von Natriumnilrat
oder Natriumchlorid verhindert oder verzögert die
bei der Extraktion sich bemerkbar machende Um-
wandlung in die farblose Form. Durch Dialyse
läßt sich schließlich ein prachtvoll kristallisierendes
Präparat erhalten. Das Cyaninchlorid, das aus dem
Kaliumsalz hergestellt werden kann, ergab bei der
Analyse die Formel C2,H330j,Cl + 3H,0. Die
Verbindung ist ein Glukosid und wird durch Säuren
in die eigentliche Farbstoffkomponente, das Cyani-
din, und in Glukose gespalten: C^sH-jgGi-Cl -)-
2H.,0==C,eH,30;Cl + 2CoHi.,Oa. Der zuckerfreie
Farbstoff, der als Chlorid schöne Kristalle bildet,
ist in säurefreier Form violett, als Alkalisalz blau.
Bugge.
Ester der Chromsäure. Merkwürdigerweise
sind bisher in der Literatur der organischen
und anorganischen Chemie Ester der Chromsäure
unbekannt geblieben. H. W i e n h a u s hat diese
Lücke ausgefüllt, indem er auf einfache Weise —
durch Behandeln gewisser Alkohole mit über-
schüssigem Chromtrioxyd in Lösungen von Te-
trachlorkohlenstofif oder Petroläther — die Chrom-
säureester von Menthanol, Methylfenchol, Methyl-
borneol und anderen Alkoholen der Terpenreihe
darstellte (Berichte d. Deutschen Chem. Ges., 47,
322). Da Chromsäure primäre und sekundäre
Alkohole (mit der Gruppe — CH.,OH und = CHOH)
zu x'\ldehyden bzw. Ketonen oxydiert, ist die Zahl
der Alkohole, die sich mit Chromsäure verestern
lassen, beschränkt auf die tertiären Alkohole (bei
denen sich das Hydroxyl an einem Kohlenstoff-
atom befindet, das mit drei anderen Kohlenstoff-
atomen verbunden ist). Die hergestellten Ester
sind flüssig odtr kristallisiert, in Wasser so gut
wie gar nicht löslich und durch Alkalilaugen nur
schwer verseifbar. Durch die Veresterung verliert
die Chromsäure die Eigenschaft, welche sonst zu
ihrem Nachweis dient : sie färbt nicht mehr Äther
nach Zusatz von Wasserstoffsuperoxyd blau. Der
Umstand, daß sie in Gegenwart tertiärer Alkohole
aus wässeriger Lösung in Äther oder Petroläther
übergeht (was sie in freiem Zustand nicht tut),
kann analytisch zum Nachweis der Chromsäure
verwertet werden, da bei dieser Reaktion das or-
ganische Lösungsmittel sich rot färbt. Anderer-
seits hat man in dieser Reaktion ein bequemes
Mittel, um tertiäre .'Alkohole von primären und
sekundären unterscheiden zu können. Bugge.
Paläontologie. Über einen fossilen Menschen-
fund in Deutsch-Ostafrika hat Dr. H.Reck letzt-
hin verschiedentlich in der Tagespresse berichtet,
noch ehe seine Ausführungen vor dem Forum
der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu
Berlin in den Sitzungsberichten dieser Gesellschaft
erschienen sind. Naturgemäß hat eine solche
Nachlicht das allerlebhafteste Interesse auf allen
Seiten wachgerufen.
Auch Geheimrat F ritsch hat im „Berliner
Lokal-Anzeiger" das Wort dazu ergriffen in I""orm
eines Berichtes über jene Sitzung und sich dabei
in einem nicht unwesentlichen Punkte anders aus-
gesprochen als der Entdecker selbst.
Es wäre nun gut, wenn für ein Referat an
dieser Stelle ein wissenschaftlicher Bericht
abgewartet werden könnte. Wie das aber bei
dem mehr auf Fixigkeit denn auf Richtigkeit
gerichteten Betriebe des Zeitungswesens nahezu
unvermeidlich zu sein scheint, ist eine im Berliner
Lokal-Anzeiger erschienene Abbildung unter fal-
schem Titel gebracht worden und dadurch ge-
eignet ganz erheblich irrezuführen. Das betreffende h
Bild betraf, wie in Heft 13 der „Woche" richtig-
gestellt ist, eine andere Grabungsstelle im Ge-
biete der Nachforschungen des Herrn Dr. Reck,
nicht, wie in der Zeitung (Morgenausgabe vom
16. März 1914, I. Beiblatt! angegeben, die des
Menschenfundes! Was gar in ausländischen Zeitun-
gen an unautorisierten Zahlenangaben gebracht
worden ist, ist nicht wert berichtigt zu werden.
Für jeden halbwegs mit wissenschaftlichen Me-
thoden Vertrauten ergibt sich die völlige Halt-
losigkeit derartiger von der Presse künstlich auf-
gebauschter Nachrichten von selbst. Es erscheint
aber nötig, rechtzeitig solchem Treiben einen
N. F. XIII. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
255
Damm entgegenzusetzen, damit das Unheil nicht
lawinenartig anschwillt. Es wird sonst dem Ferner-
stehenden auf die Dauer dennoch unmöglich ge-
macht, durch das Gemisch wahrer und falscher
Berichte hindurchzufinden, und es besteht Gefahr,
daß das Gute mit dem Schlechten verworfen werde.
Wie Dr. Reck verschiedentlich ausgeführt hat,
hat er mit Mitteln, die die kgl. preußische Aka-
demie der Wissenschaften und die Gesellschaft
Naturforschender Freunde zu Berlin zur Verfügung
stellten, für das geologischpaläontologische Institut
und Museum der Universität Berlin, von dem auch
die Saurierausgrabungen am Tendaguru ausgingen,
nach deren Abschluß Ausgrabungen am nahezu
entgegengesetzten Ende der Kolonie vorgenommen,
die fossile Säugetiere zum Gegenstande hatten.
Entdecker der Fundstelle ist Herr Prof. Katt-
winkel in München. Sie ist in der Nachbar-
schaft des von Herrn Prof. Jaeger studierten und
beschriebenen Hochlandes der Riesenkrater gelegen
und zwar in der Oldoway- Schlucht am West-
rande des ostafrikanischen Grabensystems bzw. am
Ostabfall der SserengetiSteppe. Das nach Dr.
Reck 's genaueren Erkundungen sehr reiche
Knochenlager, das in mehrere Horizonte geglie-
dert werden konnte, befindet sich hauptsächlich
in vulkanischen Tuffen. Nach allem, was man vom
Alter der Grabenbildungen und der mit ihnen eng ver-
knüpften vulkanischen Ergüsse bisher wußte, war
anzunehmen, daß es sich etwa um jungtertiäre bis
altdiluviale P"unde handeln mochte. Das erschien um
so interessanter, als in nicht allzugroßer Entfernung,
bei Karungu am Ostufer des Viktoria-Sees auf
englischem Gebiete in freilich anders gearteten
Schichten ebenfalls fossile Säugetierreste bekannt
geworden waren, die nach Andrews Dinotherium
enthalten und miozänen bis pliozänen Alters
sein dürften. Es ist aber klar, daß die Alters-
bestimmung sich erst aus der Bearbeitung der
Fauna ergeben kann , und ihr sehr großer strati-
graphischer Wert neben dem rein paläontologi-
schen besteht gerade darin, daß wir durch sie
hier mitten im sonst fossilleeren Innern den präch-
tigsten Fixpunkt erhalten, der zur Altersbestim-
mung tektonischer, vulkanischer und morphologi-
scher Vorgänge von weittragendster Bedeutung
werden muß.
Als nun Herr Dr. Reck die erstaunliche Kunde
mit heimbrachte, daß es ihm gelungen sei, ein
fossiles Menschenskelelt aus eben jenen Schichten
und zwar aus einem der unteren Horizonte zu
bergen, mußte bei Annahme einer primären Lager-
ung des Skeletts dem Menschen die gleiche Ein-
schätzung als stratigraphischer Wegweiser zuteil
werden, wie den Säugetierformen. Da Menschen-
funde aus älteren als diluvialen Schichten nirgends
mit Sicherheit bekannt sind, hätte also unter jener
Voraussetzung das Tertiär aus der Betrachtung
zunächst ausschalten können.
Nun ergab sich aber weiter, wie Fritsch be-
richtet, aus der erwähnten Besprechung im Kreise
der Naturforschenden Freunde, bei der freilich nur
erst der sorgfältig transportierte Schädel vorlag, daß
primitive Merkmale dem Schädel höchstens in
demselben Sinne zugesprochen werden können,
wie etwa heute lebenden primitiven Völkern auch,
d. h. also ein auffällig rezenter Habitus. Es mußte
daher sofort die P"rage auftauchen, ob jene Voraus-
setzung primärer Lagerung in der Schicht auch zu-
treft'e. Es gilt demnach zunächst die Unterlagen
für die noch ausstehende genaue Untersuchung dea
Skelettfundes aufs sorgfältigste zu prüfen. Denn
ein hochentwickelter Mensch als Zeitgenosse jener
in den Tuffen begrabenen Fauna müßte den Ver-
dacht erwecken , daß sie selbst und damit man-
cher geologische Vorgang nur sehr jugendlichen,
vielleicht subrezenten Datums sein könnte oder
aber er würde, falls jene sich doch als alt heraus-
stellt, unser Wissen von der Entwicklung des
Menschengeschlechts in der ungewöhnlichsten
Weise bereichern, ja in gewissem Sinne fraglos
umwerfen. Nun wäre es selbstverständlich nicht
minder verkehrt und unwissenschaftlich, sich gegen
eine solche unerwartete Bereicherung des Wissens
zu sträuben, weil sie eine Abänderung hergebrach-
ter Überlieferung bedeutet, als ein besonders er-
strebenswertes Ziel in solchem Umsturz sehen zu
wollen. Wir haben wunschlos und voraussetzungs-
los die Natur zu befragen und zwar mit aller Kritik
gerüstet, nichts weiter 1 Für je wertvoller man den
Fund zu halten geneigt ist, desto größere Vorsicht
ist bei der Beurteilung vonnöten.
Bei jedem Fossil sind, wie das in jener Sitzung
besonders Geheimrat Branca, der Direktor des
geologisch- paläontologischen Instituts hervorhob,
zwei Fragen streng auseinanderzuhalten und ge-
sondert, aber, was wichtig ist, doch parallel zu-
einander zu behandeln, entsprechend der eigen-
artigen Doppelstellung der Paläontologie zwischen
zoologischer und geologischer, also einer „organi-
schen" und einer „unorganischen" Wissenschaft. Jede
einseilig morphologisch-paläontologische Betrach-
tung ist ebenso unvollkommen, wie eine bloß strati-
graphisch geologische. Es versteht sich von selbst,
daß am Arbeitstisch in der Heimat die letztere
überhaupt nicht vollkommen geleistet werden kann ;
sie hat im Felde zu geschehen und ist in diesem
P"alle von Dr. Reck natürlich geleistet worden. Er
hat sich nach dem an Ort und Stelle gewonnenen
Eindruck mit aller Entschiedenheit dahin ausge-
sprochen, daß dem menschlichen Skelette eine
primäre Lagerung in der Schicht zukomme, daß
dieser Mensch also tatsächlich Zeitgenosse der aus-
gebeuteten Säugetierfauna sei. Wenn diese Frage
dennoch als diskussionsfähig angesprochen worden
ist, so ist mit solchem Zweifel selbstverständlich
kein Vorwurf verbunden. Wie schwer, ja nahezu
unmöglich zuweilen dergleichen Entscheidungen
sind, zeigt der Pithecanthropus erectus von Java.
Trotz jahrelanger Diskussionen, trotz Entsendung
einer großen Forschungsexpedition und trotz ein-
gehendster Bearbeitung ihrer sehr reichen Ergeb-
nisse kann man selbst jetzt noch nicht die Behaup-
tung wagen, das Alter der Schicht sei endgültig
2S6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. i6
festgestellt, wissen wir selbst jetzt noch nicht, ob die
wenigen Knochenreste, was ja sehr wahrscheinlich
ist, wirklich einem Individuum angehört haben!
Die gegenteilige Meinung, der Mensch sei in
einem Grabe beigesetzt worden, also in eine Schicht
geraten, die vor seiner Existenz entstanden sein
müsse, stützt sich in erster Linie auf die photo-
graphischen Aufnahmen des Skeletts an seinem
Fundorte. F ritsch hat auf die vom Referenten
in der mehrgenannten Sitzung besonders betonte
Hockerstellung der Leiche hingewiesen, wie auch
auf ganz ähnliclie Befunde in prähistorischen
Gräbern der sog. Grimaldirasse. In der Tat er-
sieht man selbst in der die Photographie vor-
trefflich wiedergebenden Zeichnung des Berliner
Blattes, wie die linke Hand an der Backe ruht.
Arme und Beine eng an den Körper herangezogen
sind und Knie und Ellenbogen einander berühren.
Es ist das etwa die Lage, in der der menschliche
Körper den geringsten Raum einnimmt. Eine solche
Hockerstellung wird durch Zusammenschnüren der
Leiche gewaltsam herbeigeführt und hat unter
anderm wohl den schätzenswerten Vorteil, daß
nur eine sehr kleine Grube für die Beisetzung aus-
gehoben zu werden braucht. Daß durch natürliche
Kräfte eine solche Zusammenpressung der Leiche
hervorgerufen werden kann, könnte man bezwei-
feln. Bei einer unverwesten dürften die Bänder
widerstreben, bei einer verwesten würden die Ge-
lenkenden der Extremitäten kaum so intakt bei-
einanderbleiben.
Hält man aber in dieser Weise die Voraus
Setzung der primären Lagerung nicht für zwin-
gend, so spielt das Alter der Säugetierfauna für
die Beurteilung des Menschen gar keine Rolle.
Gräber können natürlich in den allerältesten Schich-
ten angelegt werden. Der rezente Habitus des
Oldoway-Skeletts würde dann gar keine Schwierig-
keiten bereiten. Von Wichtigkeit indessen bliebe
auch dann noch die Lage des Skeletts in der
Schichtenfolge. Die genaue Schilderung der Ver-
hältnisse durch Dr. Reck bleibt unbedingt abzu-
warten. Stellt sich heraus, daß unter den heute
obwaltenden Verhältnissen eine Beisetzung an
der Fundstelle unwahrscheinlich ist, so bliebe noch
die Möglichkeit, den Menschen zeitlich zwischen die
Entstehung der Schichten, in denen er eingebettet
liegt, und die Bildung der heutigen Oberflächen-
formen und Deckschichten zu stellen. (Hervor-
gehoben sei in diesem Zusammenhange nochmals,
daß das im Lokalanzeiger unter der Bezeichnung
,, Fundstelle des Diluvialmenschen in der Oldoway-
Schlucht, acht Meter über der Talsohle" gebrachte
Bild mit dem Menschenfunde gar nichts zu tun hat!)
Aus der Bestimmung der Säugetiere hätte sich
unter der letzteren Annahme eine ungrelähre untere
Grenze für das Alter des Menschen, nicht das Alter
des Menschen selbst zu ergeben, während der voll-
gültige Nachweis primärer Lagerung ihn, wie ge-
sagt, zum unmittelbaren Zeitgenossen der Fauna
stempeln würde. Eine obere Grenze läßt sich
bisher überhaupt nicht ziehen: sie könnte unmittel-
bar in die Gegenwart zu liegen kommen, falls der
geologische Befund nicht in dieser Beziehung eine
Einschränkung zuläßt. Wir haben es also ganz
schematisch ausgedrückt mit den drei Hauptfragen
zu tun: Primäre Lagerung, fossiles oder
rezentes Grab? Von einem Diluvialmenschen
zu sprechen, wäre bisher durchaus hypothetisch, es
spricht, solange ein wissenschaftlicher Bericht noch
aussteht, nichts dafür und nichts dagegen. Auch
ein Grab kann, wie wir aus reicher Erfahrung
wissen, noch diluvial sein, und in diesem Falle
hätten wir es noch immer mit einem Funde von
seltenem Werte zu tun, da unser sicheres Wissen
über Afrikas Bewohner, von unzähligen Steinwerk-
zeugen der heutigen Wüsten des Nordens, einem
neuerdings gemeldeten Knochenfunde mit Stein-
messern in Südafrika und hochinteressanten, aber
noch ungeklärten Bauten in Rhodesia abgesehen,
kaum einige Jahrhunderte zurückreicht, geschweige
denn bis ins Diluvium.
Es ist wohl kaum möglich, schon jetzt das
Problem im ganzen Umfange darzustellen, so viele
Fragen sich auch bereits ergeben. Von einer
Beantwortung kann demnach erst recht keine Rede
sein. Jede Meinungsäußerung ist, da das Material
noch nicht vorliegt, also jede stratigraphische wie
morphologische Bearbeitung noch aussteht, reine
Hypothese. Das muß bei einem Problem von
solcher Bedeutung auf das Allerdeutlichste hervor-
gehoben werden. E. Hennig.
Anregungen und Antworten.
Herrn Dr. Weinhold in flauen. — Das beste Werk zum
Bestimmen von Diatomeen im allgemeinen ist noch immer
Van Heurck's Synopsis des diatomees de Belgique 1885,
jedoch sehr teuer; ein Auszug davon, der jedoch alle Abbil-
dungen enthält, erschien als Traile des diatomees. Anvers
•899, 34 Taf., 200 Fig. im Te.\t. Von neueren Werken sei
genannt: Peragallo, Diatomees marines de France et des
districts maritimes voisins, 3 Teile, 1900 — 1908, mit vielen
Tafeln. Eine sehr gute Arbeit, die auch auf die Biologie und
Entwicklungsgeschichte der Diatomeen eingeht, ist; Karsten,
Die Diatomeen der Kieler Bucht (Wissensch. Meeresuntersuch.
Abt. Kiel, N. F. IV, 1899).
Über Brackwasser-Diatomeen finden Sie einiges in H.
V. Schönfeld, Diatomaceae Germaniae. Die deutschen
Diatomeen des Süßwassers und des Brackwassers. Berlin
1907. 4", mit 19 Tafeln.
Zusammenfassende Werke, in welchen alle Abbildungen
durch Photographie hergestellt sind, gibt es nicht, in kleineren
Abhandlungen finden sich öfter Mikrophotographien. Ver-
einzelte sind auch in dem umfangreichen Atlas der Diatoma-
ceenkunde von A. Schmidt, Leipzig 1874 ff., enthalten.
J. Br.
Inhalt! Siegfr. Hansel: Begriff und Wesen der Metamorphose der Insekten. E. Bräuer: Resonanzstrahlung. — Einzel-
berichte: Boysen-Jensen: Die Reizleitung im phototropen Keimling. A. Penck: .antarktische Probleme. —
Maurer: Neuere Ansichten über die Ursache der Gletscherschwankungen. — O. Uttendörfer: Das Verhältnis der
Raubvögel zur übrigen Vogelwelt. v. Gulat- Wellenburg: Ein außerordentlicher Fall von menschlichem Wieder-
kauen. Hans Przibram: Grüne tierische Farbstoffe. WiUstätter und Everest: Der Farbstoff der Kornblume.
H. W i e n h a u s : Ester der Chromsäure. H.Reck: Ein fossiler Menschenfund in Deutsch-Ostafrika. — Anregungen
und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Mich e in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pälz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Hand ;
der ganzen Reihe 29. Band
Sonntag, den 26. April 1914.
Nummer 17*
[Nachdruck verboten.]
Über die Bewohnbarkeit der Sterne.
Von Adolf Mayer.
Sind die Sterne bewohnbar? so lautet die Frage,
die vom Publikum dem Astronomen gestellt wird.
Und gewöhnlich wird die Frage so beantwortet:
Die meisten Sterne, die auch wegen ihres festen
Standes am Himmelsgewölbe Fixsterne genannt
werden, jedenfalls nicht; denn sie sind glühende
Sonnen, die also viel zu heiß sind, und von den
wenigen Wandelsternen sind einige, wie der Ju-
piter, noch gar nicht gehörig abgekühlt, so daß
von ihnen dasselbe zu sagen wäre; andere sind
in zu großer Sonnenferne oder -nähe, so daß sie
entweder zu kalt oder zu warm sind. Die Tra-
banten aber, die Monde, haben keine genügende
Atmosphäre. Und wie sollte ohne Wasser und
Luft organisches Leben zustande kommen ? Schließ-
lich bleibt gewöhnlich nur unser Nachbarplanet,
der Mars, der mit seinen der Erde ähnhchen Vor-
bedingungen die Note ,, genügend" erhält, und in
dessen mit den schärfsten Fernrohren der Beob
achtung zugänglichen Kanälen man bereits die
Spuren menschlicher Tätigkeit zu erblicken glaubte,
so daß schon Vorschläge laut wurden, sich in
heliograph ischen Nachrichten Wechsel mit den Herren
Marsiten zu stellen, bis dann diese Deutungen
wieder zweifelhaft geworden sind. Zurzeit glaubt
man, daß die Temperatur nur 17" unter Null be-
trage. Und wenn auch warm genug, das wäre
ein sehr unbefriedigendes Resultat : Unter allen
den ungezählten Welten nur dieser einzige, kleine
Weltkörper, der noch nicht einmal an die Maße
unserer kleinen Erde heranreicht. — Freilich wäre
dabei vergessen, daß alle die vielen jener lausenden
und abertausenden von Sonnen, die wir Sterne
nennen, wieder ihre eigenen Planeten haben können
in vielen verschiedenen Stufen der Abkühlung, von
denen wir nur nichts sehen, weil ihr entlehntes
Licht zu schwach ist für unsere Wahrnehmung,
und wir wollen daher auch nicht, wie manche
fromme Gemüter tun ^), aus der Not eine Tugend
rnachen und aus der ,, einzigartigen Lage" der Erde,
die sie nur mit ihrem nächsten Nachbar teilt, den
Schluß machen, daß wir Menschen uns im Zen-
trum des Weltalls befänden, und die Erde der
einzig auserwählte Stern sei, auf dem die Gottheit
mit ihren Schöpfungsversuchen experimentiere.
Wir wollen uns heute nicht in der Abwägung
aller dieser Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten
erschöpfen, sondern vielmehr die Frage von einem
weiteren Gesichtspunkte aus zu beleuchten
suchen, und zugleich bescheidentlich an die für die
menschliche Vernunft so beschämende, wie für die
■) Vgl. z. B. Riem, Unsere Welt, 1913, S. 777.
Experimentierkunst unseres naturwissenschaftlichen
Zeitalters rühmliche Tatsache erinnernd, daß der
berühmte Vertreter der „positiven Philosophie" in
F'rankreich, August Comte, genau zu demselben
Zeitpunkt die Unmöglichkeit eines Wissens in betreff
der stofflichen Beschaffenheit der Himmelskörper
aussprach, in welchem die deutschen Physiker
und Chemiker Kirchhoff und Bunsen durch
die Spektralanalyse des Sternenlichtes unsere irdi-
schen stofflichen Elemente in jenen fernen Welten
wiedererkannten, und zwarmit einer Wahrscheinlich-
keit wiedererkannten, die wegen der großen Zahl
von Linien, die manchmal für das Spektrallicht
eines einzigen Elementes charakteristisch sind, ganz
nahe an Gewißheit grenzt.
Wenn man die Frage nach der Bewohnbarkeit
gründlich erörtern will, so muß man doch wohl
zuerst fragen: Bewohnbar für wen? Für den
Menschen? Nun ja, da wird man allerdings ge-
wisse unabweisbare Bedingungen aufstellen können :
bestimmte Wärmeverhältnisse, Wasser, Luft. Das
andere wird sich dann schon finden. Aber ist das
nicht eine gar kindliche Fragestellung?
Es würde sehr vorurteilsvoll sein und unseren
wohlbegründeten Anschauungen über Entwicklung
wenig entsprechen, wollte man die Möglichkeit
abschneiden, daß sich auf jenen anderen Sternen
niedrige Organismen unter ähnlichen äußeren Be-
dingungen zu höheren mehr und mehr vernunft-
begabten entwickeln könnten. Und selbst, wenn
man der Aufstellung eines so weit folgernden
Entwicklungsgesetzes abhold ist, so ist von vorn-
herein doch nicht darüber abzuurteilen, ob gerade
die vernunftbegabten Organismen so ganz andere
äußere Lebensbedingungen nötig haben als die
Organismen überhaupt. Auf unserer Erde wenig-
stens sind sehr wenig Anzeichen einer solchen
Einschränkung vorhanden. Gerade der höchstent-
wickelte Mensch kann bekanntlich in den ver-
schiedensten Klimaten leben. Aber auch wenn
unsere irdische Erfahrung das Umgekehrte lehrte,
so wäre doch immer zweifelhaft, ob sie auch auf
ganz von Grund aus andere Verhältnisse über-
tragbar wäre.
Man wird also kaum berechtigt sein, auch wenn
man mit der ganzen Fragestellung auf menschen-
ähnliche Geschöpfe abzielt, für jene andere Welten
gerade die Bedingungen des menschlichen Seins
so in den Vordergrund zu schieben, wie gemeinig-
lich geschieht. Man wird vielmehr die Frage ganz
allgemein auf die Existenzfähigkeit von Lebewesen
richten müssen, da wir eben die Bedingungen zur
Entwicklung der Vernunftbegabten aus jenen heraus
258
Naturwissenschaflliclie Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 17
gar nicht kennen und am wenigsten für andere
Welten voraussagen können.
In bezug auf die Existenzfähigkeit von Lebe-
wesen aber müssen wir die Grenzen nach unseren
neueren Erfahrungen immer weiter und weiter
setzen, selbst die Temperaturgrenze und auch die,
die sich aus der Anwendung des Gesetzes von der
Erhaltung der Energie ergeben, eines Gesetzes, das
freilich unentrinnbar scheint, aber das man lange
auf diese Fragen in etwas kurzsichtiger oder klein-
licher Weise angewendet hat.
Nichts ist lehrreicher für die richtige Erfassung
dieser Frage als ein Rundblick auf — manche Leser
werden bei diesem plötzlichen Sprung von dem
Fernrohre zu dem Vergrößerungsglase enttäuscht
aufblicken, aber, wie ich hoffe, nicht allzu lange —
und über die Ernährung der kleinsten Lebe-
wesen, der Bakterien, da gerade diese natur-
gemäß die äußersten Möglichkeiten darstellt.
Was ist die Grundlage alles organischen Lebens,
die unwidersprechliche Einheit bei einer Vielfach-
heit der einzelnen Lebensäußerungen: der orga-
nische Stoff, eine Antwort, die wegen der
Wiederholung des Wortes „organisch" wie eine
Scheinerklärung aussieht, es aber nicht ist, denn
organischer Stoff ist nach dem heutigen Begriffe
nichts anderes als kohlenstoffhaltiger von nicht
vollständiger Sauerstoffsättigung und hat in der
heutigen Fassung des Ausdrucks gar nichts mit
dem Organisiertsein zu tun. Alle Organismen be-
stehen bekanntlich wesentlich (neben anderen rein
mineralischen Bestandteilen) aus solcher, nicht oder
nicht völlig oxydierter, kohlenstoffhaltiger Substanz.
Die Tiere suchen sie auf als Nahrungsmittel, da
fortwährend von diesem organischen Stoffe für den
langsamen Verbrennungsprozeß, genannt Atmung,
verloren geht; und es scheint nach dieser Fassung,
als ob überhaupt ohne diese Voraussetzung kein
organisches Leben möglich wäre, und als ob wir
auch auf anderen Weltenkörpern nach solchen
Stoffen suchen müßten, um die Frage nach der
Möglichkeit des Bewohntseins zu entscheiden.
Aber da kommt sogleich die erste, jedermann
bekannte Verwicklung. Die Pflanzenwelt lebt auf
mineralischem Boden, obgleich sie genau den-
selben Voraussetzungen unterworfen ist. — Warum ?
— Weil sie (genauer die grünen Pflanzen) sich
selbst die Substanz schafift, deren sie bedarf. Sie
ist aus diesem Grunde abhängig von einer ande-
ren, von außen zuströmenden Energiequelle, dem
Sonnenlichte, weil dieses eben die Arbeit zur
Sauerstoffentziehung aus der überall anwesenden
Kohlensäure leistet.
Also haben wir die beiden großen Reiche:
das der kohlen haltigen Brennstoffs be-
dürftigen Tiere und das der lichtbedürf-
tigen Pflanze. Soviel wußte man schon um die
Mitte des vorigen Jahrhunderts.
Aber die Natur erwies sich der fortgesetzten
Forschung als unendlich verwickelter, als man
damals ahnen konnte. Es gab nicht bloß Pflanzen
(Pilze und andere nichtgrüne), die in dieser Be-
ziehung lebten wie die Tiere, und diese Abweichung
war leicht in das System einzuschalten. Man
fand nach und nach niedrige Organismen, meist
den Bakterien zugehörig, die auf einem minerali-
schen Boden wuchsen und dennoch des Lichts
nicht bedürftig waren. Wie ist das möglich,
wird man sagen ohne Einbruch in das Gesetz
der Erhaltung der Energie, dem auch die organi-
sche Welt unterworfen ist r Aus nichts kann
nichts entstehen. — Gewiß.
Aber gibt es nicht noch andere Energiequellen,
oder kann nicht auch organischer Stoft' als Gas
zuströmen ? Wir wollen zunächst den letztgenann-
ten Fall ins Auge fassen ; denn er ist der ein-
fachere.
Der bekannte holländische Bakteriologe
Beijerinck hat in einer Abhandlung, die er vor
kurzem')der königl. holländischen Akademie anbot,
anschaulich beschrieben , wie man solciier Orga-
nismen, in ihrer Gesamtheit Aithrobios ge-
nannt , habhaft werden kann. Man braucht nur
etwas reines Wasser, in dem man ein bißchen
Kaliumphosphat auflöst, in eine größere Flasche
zu tun und mit etwas Bodenflüssigkeit aus dem
Garten oder noch besser mit Wasser, das wochen-
lang über Gartenerde gestanden hatte, zu impfen,
und man erhält (im Zimmer oder im Laboratorium)
wieder nach einigen Wochen eine Haut , ähnlich
der Kahmhaut auf an der Luft stehendem Wein
oder Bier, die aber nichts mit den Organismen
dieser Kahmhaut gemein hat, sondern unter dem
Mikroskope aus sehr feinen, kurzen Stäbchen be-
stehend sich zeigt, welche keine Eigenbewegung
haben und keine Sporen bilden. Nach ihrer Na-
tur gehören sie (nach der Ansicht Be ij er in ck's)
zu den Actinomyceten, wozu von manchen auch
die Bazillen der Tuberkulose und der Diphtheritis
gezählt werden. Es darf als ausgemacht gelten,
daß der betreffende Organismus (oder die Orga-
nismen — denn es sind mehrere — ) von Kohlen-
wasserstoffen, die in unreiner Luft immer vor-
handen sind, leben, denn in ganz reiner Luft geht
die Ernährung nicht von statten. Im Boden ist
oft Sumpfgas, in den Ställen gasförmige (gleich-
falls niethanhaltige) Abscheidungen der Tiere, in
menschlichen Wohnungen Leuchtgas u. dgl.
Man sieht, es handelt sich im vorliegenden
Falle nur um eine wenig bedeutende Komplikation.
Der Organismus des Aithrobios lebt genau wie
andere nichtgrüne Pflanzen und die Tiere. Nur
weil seine organische Nahrung gasförmig ist, sieht
man diese nicht, wie man die Atmung nicht
sieht, und daher es viele Jahrhunderte dauerte,
bis man von der natürlich schon den Kubus auf
Sumatra zugänglichen Kenntnis der Notwendig-
keit der Nahrungsaufnahme bis zu der Kenntnis
der Atmung fortschritt.
Nun gibt es aber immer wieder neue Gruppen
von Lebewesen, die auch in diesem Punkte ganz
bedürfnislos sind, und die wirklich auch unter
') 1913, Amsterdam bei Johannes Müller.
N. F. Xin. Nr. i;
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
259
der scharfen Kontrolle, denen sich die Hunger-
künstler unterwerfen müssen , nichts Organisches
aufnehmen und dennoch im Dunkeln leben. Wird
hierdurch denn noch immer nicht das Gesetz von
der Erhaltung der Energie verletzt.' — Nun wir
werden sehen.
Eines der Rezepte/) um einen Aufguß, in
dem sich solche Lebewesen entwickeln, zu erhal-
ten, ist folgendes: Man nehme wieder etwas ver-
dünnte Lösung von Kaliumphosphat und infiziere
mit Spuren von Grabenschlamm, füge aber dies-
mal etwas Schwefelblume und ebensoviel Kreide
zu, zwei doch gewiß rein mineralische Körper.
Läßt man d ese Mischung, am besten, in dünner
Lage wegen der Ermöglichung. des Luftzutritts,
bei etwa 30" C stehen, so sind schon nach weni-
gen Tagen de Schwefelteilchen von Bakterien
umhüllt, und die Flüssigkeit wird in steigendem
Maße gipshalt ig, wovon man sich durch mikro-
skopische, resp. durch chemische Untersuchung
überzeugen kann. Da aber bei der Oxydation
von Schwefel zur Schwefelsäure des Gi[)ses eine
Quelle der Energie sich auftut, so ist das Gesetz
der Energiekonstanz auch in diesem Falle erfüllt.
Wir machten vorzeitig absprechend nur den
Fehler, es in zu enger Fassung auf die Probleme
des Lebens anzuwenden. Alle Organismen ent-
halten kohlenstoffhaltige Substanz — gewiß; sie
müssen alle ihre Lebensenergie durch chemischen
Umsatz bestreiten — ebenso gewiß. Aber die
organische Substanz braucht nicht notwendig die
Kosten dieses chemischen Prozesses zu tragen,
das „Kind der Rechnung" kann auch der Schwefel
sein, in dessen Affinität zum Sauerstoff ebenso
eine Energiequelle offen steht wie in der des
Kohlenstoffs zu dem gleichen Elemente. Dann
kann es selbst nicht Wunder nehmen, wenn die
betreffenden Schwefelbakterien (oder besser
Schwefelsäurebakterien, denn wir brauchen jenen
Namen noch anderweit) auf Kosten dieser Energie
noch aus Kohlensäure organische Substanz er-
zeugen.
Die Schwefelsäurebakterien sind sehr verbreitet.
Man findet sie vielfach im Seeschlamm, wo sie
auf Kosten von Schwefel und Schwefelmetallen,
die, wie wir gleich sehen werden, wieder durch
andere Organismen den eigentlichen Schwefel-
bakterien, entstehen, sich nähren.
Aber es braucht auch nicht immer gerade der
Schwefel zu sein. Irgendein anderes Element, d. h.
eines derer, die ohnehin schon zu physiologischen
Leistungen in Betracht kommen und die in der
Natur in (mit Sauerstoff) ungesättigtem Zustande
vorkommen, kann es sein, z. B. Wasserstoff.
Dieser entsteht ja auch als Endprodukt mancher
Gärungen, der Buttersäuregärung z. B. Schon im
Jahre 1838 bemerkte der berühmte Genfer Pflanzen-
physiologe Theodore deSaussure, der seiner
Zeit so weit voraus und auch der eigentliche Ent-
') Beijerinck-, a.a.O. Vgl. auch Lafar, Technische
Mykologie 1906, IV.
decker der Pflanzenatmung war, daß Knallgas
unter Wasser, das mit Heideboden in Berührung
war, langsam verschluckt wurde, und schrieb diesen
auffallenden Vorgang einer „Art von Gärung" zu.-')
Knallgas aber besteht aus einem Gemenge von
Wasserstoff und Sauerstoff, und wenn das Ver-
schwinden des letzteren einer gewöhnlichen Oxy-
dation der im Boden vorhandenen organischen
Teile zugeschrieben werden konnte, so erheischte
das Verschwinden des Wasserstoffs doch eine be-
sondere Erklärung, die von de Saussure auch
in der richtigen Linie gesucht wurde.
Durch die moderne Bakteriologie ist nun ge-
nauer bekannt geworden, daß dieser Vorgang die
Arbeit ist zweier winzig kleiner Bakterien (warum
immer zwei Arten zusammen wirken müssen, ent-
zieht sich noch der Beurteilung ^), die man leicht
gewinnt, wenn man Wasser mit etwas Kalium-
phosphat und dazu etwas Ammoniaksalz versetzt
und mit den Luftgasen, Wasserstoff und etwas
Kohlensäure in Berührung bei 30" sich selbst über-
läßt. Es entsteht dann wieder, wie wir das vorhin
für Kohlenwasserstoff beschrieben, eine kahmartige
Haut, in der man unter dem Mikroskop die be-
treffenden Organismen erkennt.
Wenn aber Schwefel oder Wasserstoff als
Energiequelle dienen kann, dann braucht man sich
nicht zu wundern, wenn auch der Schwefel-
wasserstoff, die Verbindung beider, und der
als gewöhnliches Fäulnisprodukt eiweißartiger Stoffe
in der Natur überall verbreitet ist (die Nase ist
in diesem Falle der erbarmungslose Zeuge), eine
vortreffliche Energiequelle für niederes Leben abgibt.
Die Organismen aber, dieser Energiequelle an-
gepaßt, sind die Schwefelbakterien, welche
in den achtziger Jahren von Winogradsky
eifrig durchforscht wurden, fadenförmige Bil-
dungen von verhältnismäßig großen Maßen °),
in deren Innern sich nach Verbrauch des Wasser-
stoffs für die Zwecke des Lebens der größte Teil
des Schwefels ausscheidet, der nach dem Verwesen
dieser Organismen die Quelle der Energie wird,
für jene Schwefelsäurebakterien, von denen wir
vorhin sprachen. Doch können die Schwefelbak-
terien, wenn ihnen der Schwefelwasserstoff aus-
geht, diese Oxydation auch selber besorgen, so
daß ihnen der Schwefel auch als eine Art Reserve-
stoff dient.
Aber auch damit ist die Liste der Lebens-
möglichkeiten noch nicht erschöpft. Auch ein
Metall der Tier- und Pflanzenasche kann als Energie-
quelle dienen, natürlich nicht Kalium, Magnesium
oder Calcium, die in der Natur überhaupt nur in
einer Oxydationsstufe vorkommen, aber das Eisen,
von dem wir neben der Oxydstufe auch eine solche
mit weniger Sauerstoff (daher das diminutiv: Oxy-
') Journal f. prakt. Chemie, Bd. 14, p. 152 (zitiert nach
Beijerinck).
2) Vermutlich Symbiose.
^) Näheres in Botan. Zeitung, 45, S. 489 und in Meisen-
heimer, Gärungschemie 1906, S. 232, 3. Bd. von Adolf
Mayer, Agrikulturcheraie, auch Lafar, a. a. O.
200
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. I'. XIII. Nr. 17
dulum) überall vorfinden. Die das Eisenoxydul
als Energiequelle brauchenden Bakterien sind den
eben beschriebenen Schwefelbakterien nahe ver-
wandt und speichern wie diese den Schwefel so
Eisenoxyd, aber nicht im Plasma, sondern in den
Scheiden 'J. Doch sind in diesem Falle die grund-
legenden Tatsachen nicht so einwandfrei festge-
stellt, und es fehlt nicht an Forschern -), die die
Eisenoxydablagerung, welche mit der geologisch
wichtigen Bildung von Raseneisenstein und Ocker
in Beziehung steht, mehr als durch eine mecha-
nische Filterwirkung der kleinen Lebewesen zu
Stande kommend ansehen.
Schließlich besteht ein analoger Fall für die
schon seit längerer Zeit bekannten und namentlich
von Müntz'') studierten Salpeterbakterien, die
Ammoniak zu salpeteriger Säure und diese zu
Salpetersäure zu oxydieren und dabei gleichfalls
des Kohlenstoffs in einer anderen als in der F"orm
von Kohlensäure entraten zu können scheinen,
von den Wasserstoffoxydierenden zu geschweigen.
Auch die thermophilen Bakterien mit ihren
hohen Temperaturoptimen (60") wären geeignete
Beispiele. Nur liegen diese zu nahe und sind
nicht von genügender Tragweite, um großen Ein-
druck zu machen.
Also die allerverschiedensten Möglichkeiten.
Kohle bleibt zwar immer der Baustoff alles Leben-
digen, und alle Versuche, dieselbe durch das che-
misch ähnliche Silicium, das Element der Kiesel-
säure zu ersetzen, sind bis dahin gescheitert. *j
Aber darum braucht nicht der Kohlenstoff die
Energiequelle des Lebendigen zu sein. Dieser kann
beinahe durch beliebige andere chemische Elemente
ersetzt werden, wenn diese nur dem Organismus
zur Hand liegen und ihm in verschiedenen Oxy-
dationsstufen anpassungsfähig sind.
Und nun wieder vom Kleinen zum Großen,
vom Nahen zum Fernen, zur Anwendung aller
dieser Resultate der modernen Forschung über die
Lebensweise der Bakterien auf die zu Eingang ge-
stellte Frage? Welche Perspektive eröffnet sich
daraus auf die Möglichkeiten des Lebens auf ferne-
ren Weltkörpern ?
Natürlich nichts Positives. Aber wohl etwas
Kritisches und Negatives: nämlich, daß die Frage
viel zu enge gestellt ist. Was wollen wir über
solche Möglichkeiten des Lebens aussagen, da wir
noch so wenig wissen, was eigentlich Leben ist.
Wir wissen nach allen diesen minutiösen Erfahrun-
gen doch eigentlich nur so viel, daß das Leben
sich tatsächlich einordnet in das große Gesetz der
Erhaltung der Energie. Der Organismus: eine
Maschine, ja wohl, und alle chemisch-mechanischen
Gesetze der unbeseelten Natur gelten auch für ihn.
Aber darüber hinaus hat er auch eine ganze Reihe
•) Zur Physiologie vgl. L i e s k e , Jahrb. f. Botanik, 50, 32S.
2) Z. B. Molisch. Vgl. Adler, Centralbl. f. Bakterio-
logie, iq04, S. 215.
') Adolf Mayer, Bodenkunde (Lehrb. d. Agrikultur-
chemie, II, i), S. 161.
■*) Ebenda, Bd. I, die Ernährung der grünen Gewächse, S. lo.
von rätselhaften Eigenschaften, die man charakte-
ristisch „übermaschinell" genannt hat. Wir können
keinen Organismus künstlich machen, und selbst der
kühnste Chemiker, der die Synthese des Eiweiß
in die Aussicht dieses unseres zwanzigsten Jahr-
hunderts stellt, muß daran verzweifeln, da das
kleinste Protoplasmaklümpchen doch etwas ganz
anderes und unendlich Rätselhafteres ist als das
größte Eiweißmolekül. Wir wissen gleichfalls
nichts von den Ursachen des Verschleißes und
des schließlichen unausweichlichen Untergangs
eines Lebewesens. Von der Erblichkeit kennen
wir nur einige empirische Regeln, aber auch hier
— nicht mit Geringschätzung der riesenhaften
P'ortschritte auf allen diesen Gebieten, sondern
nur in kritischer Erwägung ihrer Tragweite sei
dies alles gesagt — ist uns alle Einsicht in die
Ursächlichkeit verschleiert, so sehr wir auch hier
die Lücke unseres Wissens mit verblüffenden
Fremdwörtern zu überkleistern verstehen. Und
nun gar die Entwicklung des Protozoischen zum
Tierischen, des Tierischen zum Menschlichen, das
Wachsen dessen, was wir geistig nennen. Auch
hier wissen wir nichts, und selbst die hier Wissen-
schaft vortäuschen, müssen ihr Evangelium Welt-
rätsel nennen, — und zwar Rätsel, die sie nicht
zu lösen verstehen.
Wenn nun alle Wissenschaft darauf hinausgeht
zu prophezeien, in die Zukunft, in die verschleierte
Vergangenheit oder in die Ferne, gleichviel, so
wird ein Prophezeien nur möglich sein , soweit
Wissenschaft da ist, und so wird man sagen
können : Auch auf fernen Weltkörpern wird das
Leben an Umsatz von Energien gebunden sein.
Das ist alles. Ob aber dort überall Leben und
schließlich geistiges Leben, das uns als die höchste
Steigerung des Lebens erscheint, gebunden sein
muß an unsere irdischen Temperaturen und an
die zwölf oder dreizehn physiologischen Elemente:
Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff,
Schwefel, Phosphor, Chlor, Jod, Kalium, Natrium,
Calcium, Magnesium und Eisen? Wer darf sich
unterfangen hierüber eine Meinung auszusprechen?
Wer dies doch tut, der urteilt wie ein verwöhnter
Reicher, der behauptet, daß man nicht ohne
Kammerdiener leben könne, oder wie ein Kirgise,
dem das Pferd als des Lebens erste Notdurft er-
scheint, oder wie der Philister einer Kleinstadt, ,
der nicht meint leben zu können ohne seinen ge- I
wohnten Abendschoppen. Selbst in der Glut
flammender Sonnen ist dem einzigen Prinzipe zu-
folge, das uns wissenschaftlich unumgänglich scheint,
etwas dem Leben Ähnliches sehr gut denkbar
und wer weiß, ob nicht ganze Milchstraßensysteme
zusammenschließen zu einem ungeheuren Gebilde,
das wieder den Namen eines Organismus verdient.
Mikrokosmos, Makrokosmos, in diesem Vergleiche
sind schon derartige Ahnungen eingeschlossen.
Phantastisch, allerdings. Aber die Phantasie ist
erlaubt und sogar von Wert, so weit nicht das
Gesetz des bereits Erkannten feste Schranken
zieht.
N. F. XIII. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
261
Chronialpapieri'.
Von Carl Breuer.
I Nachdruck verboten, j
Ein uraltes, lange vor der Zeit der jetzt wieder
allmählich zu Ehren kommenden Alchimisten ge-
prägtes Erfahrungswort besagt: „natura non facit
saltus" — die Natur macht keine Sprünge — mit
anderen Worten zwischen die gegensätzlichsten
Erscheinungen der Körperwelt schieben sich ständig
Zwischenformen ein, welche den Übergang ver-
mitteln. Was aber von den Dingen selber giU,
kann auch von ihrem zweidimensionalen Abbilde
mit Recht behauptet werden. Welch ein gewaltiger
Unterschied besteht z. B. zwischen der farben-
sprühenden, genial erdachten Autochromplatte und
der schlichten , schwarzweißen Darstellungsweise
eines Bromsilberbildes. Wir brauchen aber gar
nicht weit zu suchen, um zahlreiche Übergangs-
stufen zu erblicken.
Von der Pinatypie und dem farbigen Brom-
öldrucke bis zu den getonten Gaslichtpapieren
finden wir alle Grade der Farbigkeit vertreten,
und selbst die einfachen, „Ton in Ton" gehaltenen
P"ärbungen haben ihre völlige Berechtigung. Der
Stimmungsinhalt einer Abendlandschaft wird z. B.
durch das saftige van Dyk- Braun eines Pigment-
druckes viel trefflicher wiedergegeben, als durch
den Abdruck des gleichen Negativs auf irgend-
einem Auskopierpapier. Dasselbe gilt von einem
Schneebilde in gebrochenem Blau ausgeführt. Diese
besonderen Abbildungen wurden nun bisher auf
umständlichen Wegen hervorgebracht und zwar
meist durch Färbung eines ursprünglich schwarz-
weißen Bildes durch chemische Prozesse. Die
Chromalpapiere bringen nun schöne abgestufte
Töne sozusagen „prima vista" hervor, indem gleich
schon beim Entwickeln ein gefärbtes Bild entsteht.
Ihre Herstellung ist auf der Beobachtung aufgebaut,
daß gewisse Hervorruferlösungen ein gebrochenes
Schwarz des Bildes erzeugen. Dies geschieht da-
durch, daß neben dem metallischen Silber, aus dem
letzteres sich aufbaut, auch noch andere Stoffe,
die aus dem Entwickler durch Oxydation sich ab-
spalten, das werdende Bild überlagern. Diese Er-
scheinung wird aber manchmal recht lästig, indem
nicht bloß die photographische Schicht, sondern
auch Finger und Kleidung des Laboranten dadurch
in unliebsamer Weise gefärbt werden. In dem
Versuchslaboratorium einer bekannten großen
Fabrik photographischer Papiere wurde nichts-
destoweniger dem Vorgange größere Aufmerksam-
keit geschenkt. Bei den einschlägigen , Unter-
suchungen stellt sich heraus, daß die Menge dieser
Oxydationsprodukte proportional ist dem beim
Entwicklungsvorgange niedergeschlagenen metalli-
schen Silber, welches das Bild aufbaut. Es gelang
nicht bloß, erstere in unlöslicher Form das letztere
überlagern zu lassen, sondern auch sie in stark
und angenehm gefärbte X'erbindungen überzuführen.
Zunächst wurde mit Brenzkatechin und Pyro-
gallol gearbeitet. Diese Stoffe lieferten aber nur
bräunlich gefärbte Bilder. Bei weiteren Versuchen
benutzte man zwei seltenere Hervorruferstofife:
das Indoxyl und Thioindoxyl. Sie bilden bei der
Entwicklung Indigo bzw. Thioindigo. Leider
waren diese Ergebnisse jedoch ohne Belang für
die Praxis, da sich die Bilder als wenig haltbar
herausstellten. We.-entlich wertvoller für photo-
graphische Zwecke erwies sich aber die Ver-
wendung gewisser Stoffe aus der Phenolgruppe.
Diese sowohl, wie auch saure Körper aus der
IMethylengruppe haben die merkwürdige Eigen-
schaft, sich mit den Oxydationsprodukten be-
stimmter Entwickler von dem p-Phenolendiamin-
typus zu stark gefärbten und dabei völlig un-
löslichen Körpern zu verbinden, oder, wie der
chemische P'achausdruck lautet, zu „kuppeln".
Dabei geht diese Reaktion so leicht und sicher
vonstatten , daß das darauf aufgebaute Arbeiten
keine größeren Schwierigkeiten macht als das land-
läufige, tausendfach geübte PJntwickeln. Die Stoffe
aber, die sich mit den Oxydationsprodukten der
genannten Entwickler kuppeln, sind so zahlreich
und in ihren Endergebnissen von so verschiedener
Färbung, daß sie eine reiche Palette lebhafter und
schöner Farbtöne ergeben. Diese fallen dann alle
von demselben Entwickler, lediglich durch Wechsel
der Kuppelungskörper.
In der Praxis hat es sich nuti als besonders
vorteilhaft erwiesen, die letzteren der lichtempfind-
lichen Schicht einzuverleiben. Auf diese Weise
erhält man eine Reihe von Papieren, Platten oder
Films, die mit dem gleichen bestimmten Ent-
wickler mühelos und von vornherein prächtige
Farbtöne ergeben. Im Handel sind zunächst
5 Sorten käuflich, die nebenbei auf Papieren ver-
schiedener Stärke hergestellt werden. Die Fabri-
kation von Diapositivplatten nach diesem System
wird vorbereitet. Sie werden eine angenehme
Abwechslung in das Projektionswesen bringen und
dem feinsinnigen Laternisten willkommen sein.
Das Arbeiten mit den Chromalerzeugnissen ist
überaus einfach. Es gleicht der Behandlung der
weitverbreiteten, photographischen Gaslichtpapiere
aufs Haar. Letzteres ist so allgemein bekannt,
daß es sich erübrigt an dieser Stelle näher darauf
einzugehen. Der einzige Unterschied besteht darin,
daß es streng vermieden werden muß, ein Säure-
zwischenbad oder ein saures Fixierbad anzuwenden.
Auch der Gebrauch einer Alaunlösung zum Härten
der Schicht ist nicht zulässig.
Das Chromalbild besteht, wie aus obigem er-
hellt, aus zwei Komponenten, die, einander über-
lagernd, die Zeichnung aufbauen. Zunächst aus
dem normalen, schwarz- weißen Silberbilde und
kongruent mit ihm, der äquivalenten Menge un-
löslichen Chromalfarbkörpers. Dies bietet nun
eine willkommene Möglichkeit entweder die
Mischung so zu belassen, wie sie entstand oder
eines der beiden Bildelemente, das schwarze oder
das farbige vorwiegen zu lassen. Dergestalt erzielt
man je nach Wunsch eine reiche Stufenleiter von
Zwischentönen. Soll das farbige Bild den Haupt-
akzent abgeben , so entwickelt man „lege artis'
262
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
•7
recht kräftig und löst dann das schwarz-weiße
Silberbild aus dem Chromalbilde heraus. Dies
geschieht in höchst einfacher Weise durch Ein-
legen des Druckes in den bekannten, aus gelöstem
rotem Blutlaugensalze und Fixiernatron zusammen-
gesetzten Farmer'schen Abschwächer. Im Handum-
drehen verschwindet die Silberkomponente und der
Bildton wird zusehends frischer und feuriger.
Anders verfährt man, wenn gebrochene Farb-
töne erzielt werden sollen. Man entwickelt dann
das Bild mit Chromalentwickler nur bis zu ent-
sprechend geringer Stärke, wäscht es in reinem
Wasser kurze Zeit aus und gibt dem Drucke als-
dann durch Fortsetzung der Entwicklung in einem
gewöhnlichen Hervorrufer die gewünschte Kraft.
In diesem Falle überwiegt das Silberbild, dessen
Ton je nach der Art des Arbeitens, durch größere
oder geringere Mengen von Chromalfarbstoff ab-
gewandelt bzw. gebrochen wird.
Angesichts der vielfachen Ausdrucksmöglich-
keiten, die dem Lichtbüdner durch die Chromal-
papiere geboten werden, sowie der verblüffenden
Leichtigkeit und Sicherheit, mit der das Verfahren
arbeitet, dürfte die Neuerung als die wichtigste
Erfindung auf dem Gebiete photographischer
Kopiermaterialien bezeichnet werden, die seit dem
Erscheinen der Aufsehen erregenden Autochrom-
platte dem Lichtbildner dargeboten wurde.
Einzelberichte.
Physik. Mit der Beeinflußbarkeit der Zerfall-
geschwindigkeit von Radiumemanation beschäftigen
sich Versuche von L. Brunerf (Physikalische
Zeitschrift VII, 240, 1914). Überträgt man die
allgemeinen Prinzipien der chemischen Mechanik
auf den Zerfall von Radiumemanation in Radium A
und «-Teilchen, so müßte eine Vermehrung der
ß Teilchen, also der geladenen Heliumatomen, den
Zerfallprozeß zum Stillstand resp. ?ur Umkehr
bringen. Die Versuche wurden in der Weise aus-
geführt, daß die durch Auskochen aus '/40 "^S
Radiumbromid gewonnene Emanation zusammen
mit Helium in ein mit 2 Elektroden versehenes
Glasrohr gebracht wurde, durch welches die Ent-
ladungen eines Induktors eine Zeitlang hindurch-
geleitet wurden. Von Zeit zu Zeit wurde die
Radioaktivität mit Hilfe eines Elektroskopes mit Hilfe
der ß- und /-Strahlen gemessen. Das Versuchs-
resultat war negativ. Die Gegenwart geladener
Heliümatome hat keinen Einfluß auf die Zerfall-
geschvvindigkeit der Radiumemanation. Erwähnt
sei noch, daß andere Forscher schon früher fest-
gestellt haben, daß auch Temperaturänderungen
und Bestrahlen mit Kathoden- und Röntgenstrahlen
die Geschwindigkeit des Atomzerfalls nicht be-
schleunigen oder verzögern.
Dr. K. Schutt, Hamburg.
Chemie. Über die Einwirkung von geschmol-
zenem Natriumparawolframat auf die Salze -flüch-
tiger Säuren haben F. A. Gooch und S. B.
Kuzirian eine Reihe von Versuchen angestellt,
über die hier kurz berichtet werden muß, da die
Ergebnisse, die die genannten Autoren erhalten
haben, für die analytische Chemie von größerem
Interesse sind.
Zur Zersetzung solcher Karbonate, die, wie
etwa das Baryumkarbonat BaCOg, durch bloßes
Erhitzen nur schwer in Kohlenstoffdioxyd und
Metalloxyd zerlegt werden können, sind verschie-
dene Stoffe vorgeschlagen worden, so wasserfreier
Borax, Siliciumdioxyd, Kaliumdichromat und Na-
triummetaphosphat. An Bequemlichkeit der Hand-
habung und an Sicherheit der Ergebnisse ist
ihnen wohl zweifellos das vor einiger Zeit von
Gooch und Kuzirian (Zeitschr. f. anorgan.
Chem. Bd. 71, S. 323—327, 191 1) vorgeschlagene
Natriumparawolframat überlegen, eine Substanz,
die etwa der Zusammensetzung 5Na.2O-i2W03
entspricht und leicht synthetisch durch Entwässern
und Schmelzen eines bekannten Gewichtes des
normalen Natriumwolframats Na,3WO^-2H20 vor
dem Gebläse, Beigabe der berechneten Menge
ausgeglühten Wolframtrioxyds WO3 und Erhitzen
des Gemisches bis zu klarem Fluß dargestellt
werden kann. Schmelzt man abgewogene Mengen
dieses übrigens kaum hygroskopischen und leicht
zu pulvernden Salzes mit abgewogenen Mengen
eines Karbonats oder Nitrats — das geschieht
mittels des Bunsenbrenners — , so werden Kohlen-
stoffdioxyd COj oder StickstofTpentoxyd N^O.,
quantitativ ausgetrieben, während die Metalloxyde
von dem überschüssigen Wolframtrioxyd unter
Bildung von Wolframaten gebunden werden, und
der Gewichtsverlust des Tiegels gibt ohne weiteres
die Menge der beiden genannten Säureanhydride an.
Die Halogenwasserstofifsäuren werden durch
Natriumparawolframat nicht ausgetrieben , da sie
sich ja nicht wie die Karbonate und die Nitrate
in ein Säureanhydrid und ein Metalloxyd zerlegen
lassen , nur bei den Jodiden verläuft unter Mit-
wirkung des Luftsauerstoffs die Reaktion
2KJ + 0 = K,0-f J.,
quantitativ. Auch von den Salzen der Halogen-
sauerstofifsäuren werden nur die Jodate quanti-
tativ nach der Gleichung
2KJ03=k,0 + j2Ö5
in nicht-flüchtiges Kaliumoxyd und flüchtiges Jod-
pentoxvd verwandelt (Kuzirian, Zeitschr. f.
anorg. 'Chem. Bd. 84, S. 319-322, 191 3). Unter-
stützt man aber die Reaktion durch Zuführung
von Wasserdampf zu der Salz-Natriumparawolfra-
mat-Schmelze, so wird das Säureanhydrid auch
aus den Chloraten, Perchloraten und Bromaten
und aus den Chloriden, Bromiden und Fluoriden
das Halogen unter gleichzeitiger Aufnahme von
N. F. XIII. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
263
Foluol und Benzol,
der Deutschen Chemischen
, Heft 4, S. 704) veröffent-
Sauerstoff vollständig ausgetrieben (Kuzirian,
Zeitschr. f. anorg. Chem. Bd. 85, S. 118— 126,
1914).
Sulfate spalten beim Schmelzen mit Natrium-
parawolframat kein Schwefeltrioxyd ab, selbst
dann nicht, wenn sie, auf die gleiche Temperatur
für sich allein erhitzt, das Schwefelsäureanhydrid
ganz oder teilweise verlieren. Die Ursache für
dieses unerwartete X'erhalten liegt offenbar darin,
daß sich das Natriumoxyd des Parawolframats
mit dem Schwefeltrioxyd zu dem gegen über-
schüssiges Wolframtrioxyd vollkommen stabilen
Natriumsulfat vereinigt. Daher leistet das Natrium-
parawolframat oder besser noch ein Na.,0-reicheres
VVolframat, wie etwa das wasserfreie Na^O-WOa
ausgezeichnete Dienste, wenn es sich um die Be-
stimmung des Kristallwassergehaltes zersetzlicher
Sulfate handelt: Selbst so instabile Sulfate wie
das Aluminiumsulfat geben beim Schmelzen mit
Natriumwolframat nur Wasser, aber keine Spur
Schwefeltrioxyd ab (Kuzirian, Zeitschr. f. anorg.
Chem. Bd. 85, S. 127—132, 1914)- Mg.
Nitroverbindungen aus
In den Berichten
Gesellschaft (Bd. 47
licht Prof. W. Will, der Leiter der Zentralstelle
für wissenschaftlich-technische Untersuchungen
in Neubabelsberg, einen Beitrag zur Kenntnis
der Nitroderivate des Toluols und Benzols, der
anläßlich der Rummelsburger Explosionskatastrophe
erhöhtes Interesse finden dürfte. Bekanntlich ist
es der modernen Sprengstofftechnik gelungen, in
den sog. „S'cherheitssprengstoffen" Sprengkörper
herzustellen, welche trotz einer ungemein brisanten
Wirkung viel gefahrloser zu handhaben sind als
die von Nobel entdeckten Dynamitsprengstoffe.
Einer der ersten allgemeiner verwendeten Sicher-
heitssprengstoffe war die Pikrinsäure, die durch
Nitrierung des Phenols entsteht. VOn den Spreng-
stoffen, welche die Pikrinsäure allmählich verdrängt
haben, ist in erster Linie das Trinitrotoluol
zu nennen ■CuH2(N0.2);,CH.j |, das verschiedene
Vorzüge vor der Pikrinsäure besitzt ; es ist noch
sicherer in der Handhabung, zeichnet sich durch
Unlöslichkeit in Wasser aus, ist weniger giftig
und besitzt einen zum Gießen von Sprengladungen
sehr geeigneten Schmelzpunkt. Zur Herstellung
des Trinitrotoluols, das in Deutschland hauptsäch-
lich von der Carbonitfabrik in Schlebusch fabri-
ziert wird , geht man entweder vom Toluol aus
(einem Nebenprodukt bei der trockenen Destillation
der Steinkohle), oder von den einfach nitrierten
Toluolen (z. B. Mononitrotoluol), wie sie die Farb-
stofftechnik liefert. Die Überführung des Toluols
oder des Mononitrotoluols in das Trinitrotoluol
wird in gußeisernen Apjjaraten vorgenommen, die
mit einem Kühl- bzw. Heizmantel zur Regulierung
der Temperatur umgeben sind. Die Nitrierung
geschieht in der Weise, daß man das Ausgangs-
produkt mit einem Gemisch von Salpetersäure
und Schwefelsäure in geeigneten Mengenverhält-
nissen behandelt. Hierbei entsteht zuerst das
Dinitrotoluol, das dann von der Säure getrennt
und mit höchst konzentrierter Milchsäure völlig
nitriert wird. Die Nitrierung läßt sich auch in
einer Operation durchführen, wenn man das Re-
aktionsgemisch anfänglich kühlt und später auf
120 — 130" erwärmt. Das fertige Trinitrotoluol
wird noch heiß, also in flüssigem Zustand, von
dem Säuregemisch getrennt und dann mit war-
mem Wasser gewaschen , wobei man die anhaf-
tenden Säurereste mit Natriumbikarbonat neutrali-
siert. Beim Erkalten kristallisiert das Trinitro-
benzol aus ; zur Reinigung wird es noch aus Al-
kohol oder anderen Lösungsmitteln umkristallisiert.
In den zehn Jahren seit Beginn der Entwick-
lung der Trinitrotoluolindustrie sind schwere Be-
triebsunfälle, bei denen eine Explosion des Spreng-
stoffs stattgefunden hätte, nicht vorgekommen
Immerhin verzeichnet die Statistik einige Unfälle
leichter Art, die aber weniger auf die Gefährlich-
keit des Trinitrobenzols als auf gewisse bei denr
Reinigungsprozeß vor sich gehende chemische
Umsetzungen zurückzuführen sind.
Die Untersuchung des Trinitrotolyols des
Handels ergab, daß es zur Hauptsache aus einem
bei 80,6" schmelzenden Produkt, dem «-Trinitro-
toluol besteht. Dieser Körper ist nicht die ein-
zige Verbindung, welche nach den Theorien der
organischen Chemie die Formel eines Trinitro-
toluols besitzen kann; strukturtheoretisch müßten
sechs verschiedene Isomere des Trinitrotoluols
existieren. Trotz genauer Untersuchung aller
Produkte der technischen Gewinnung des Trinitro-
toluols und trotz zahlreicher Versuche, bei denen
die Bedingungen der Nitrierung auf alle mög-
liche Weise variiert wurden, konnten im ganzen
nur drei isomere Verbindungen entdeckt werden :
außer der ebengenannten «-Verbindung ein bei
112" schmelzendes jiTrinitrobenzol und ein y-
Trinitrobenzol vom Schmelzpunkt 104''. Für diese
drei Trinitrotoluole wurden folgende Konstitutions-
formeln erwiesen :
CH,
CH,
CH,
NO.
iNO,
.NOj
'nOj
NO,
Ino,,
NÖa NO2 NOo
«-Trinitrotoluol /J- Trinitrotoluol y-Trinitrotoluol
Die physikalischen Eigenschaften dieser drei
Isomeren sind, abgesehen von den Schmelzpunkten,
nur unwesentlich voneinander verschieden : alle
drei haben annähernd das gleiche spezifische Ge-
wicht, verpuffen bei ziemlich derselben Temperatur,
ergeben dieselbe Verbrennungswärme usw. Von
Interesse sind die Unterschiede in ihrem Verhalten
gegen Alkalien, ß- und j'-TrinitrotoluoI reagieren
mit alkoholischem Alkali in der Weise, daß eine
Nitrogruppe durch ein Hydroxyl bzw. Alkoxyl
ersetzt wird, so daß sich Salze oder Äther der
entsprechenden Dinitrokresole bilden; «-Trinitro-
264
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 17
toluol liefert mit Alkalien und Alkohol charakte-
ristische rotgefärbte Produkte, und in Gegenwart
von Oxydationsmitteln einen Körper, der nach
Zusammensetzung und sonstigem Verhalten ein
Hexanitrodibenzyl ist. Bemerkenswert ist, daß
sowohl die aus dem cr-Trinitrotoluol als auch die
aus dem ß- und ;'-TrinitrotoIuol entstehenden salz-
artigen Verbindungen verhältnismäßig empfindlich
und stark explosiv sind, so daß ihre etwaige Bil-
dung in Fabrikbetrieben gefährlich werden kann.
Höher nitrierte Toluole, etwa Tetra- oder
Pentanitrotoluole ließen sich auf keinerlei Weise
herstellen. Auch die Versuche, aus dem Benzol
höher als dreifach nitrierte Benzole zu erhalten,
ergaben ein negatives Resultat. Von Nietzki
ist 1901 (vgl. Berichte der Deutsch. Chem. Ges.
34-, 55) ein Tetranitrobenzol beschrieben worden,
das angeblich durch Oxydation eines Dinitro-
dinitrosobenzols entstehen soll. Eine sorgfältige
Nacharbeitung der Versuche N i e t z k i ' s führte
aber zu dem Ergebnis, daß diese Verbindung nicht
existiert und somit aus der chemischen Literatur
zu streichen ist. Bugge.
Physiologie. Ein unentbehrlicher Bestandteil
unserer Nahrung sind nach Casimir Funk (Lon-
don) gewisse bisher unbekannte Aminverbindungeni
die wegen ihrer Unentbehrlichkeit so genaimten
Vitamine (Vita = Leben). Ihr dauerndes Fehlen
in der Nahrung hat gewisse Krankheiten, Avit-
aminosen und schließlich den Tod zur Folge. Viele
in ihrer Ätiologie unbekannte Kranklieiten, Beri-
beri, Pellagra, Rachitis, Osteomalacie, infantile
Kinderlähmung u. a. werden nach F. teils sicher,
teils höchst wahrscheinlich durch eine Unterernäli-
rung verursacht. Er nennt sie Deficiency Diseases.
Geflügel, Tauben und Hühner, durch längere Zeit
dauernde Ernährung mit vitaminarmem Futter ex-
perimentell beriberikrank gemacht, wurden nach
Darreichung von vitaminreichem Futter in über-
raschend kurzer Zeit wieder geheilt. Wurden
4 — 8 mg Beriberivitamin subkutan injiziert, so
verschwanden die Krankheitssymptome in 2 — 3
Stunden.
In einer Reihe von Untersuchungen weist F.
nach, daß Avitaminosen teils sicher, teils höchst
wahrscheinlich bei den oben genannten Krank-
heiten und gewissen krankhaften Zuständen vor-
liegen. (Fortschritte der experimentellen Beriberi-
forschung in den Jahren 1911— 1913. Diät und
diätetische Behandlung vom Standpunkt der Vit-
aminlehre. [Münchener med. Wochenschrift, 36 u. 47,
1913.] Über die physiologische Bedeutung ge-
wisser bisher unbekannter Nahrungsbestandteile,
der Vitamine. Ergebnisse der Physiologie, heraus-
gegeben von L. As her und K. Spiro, XIIL
Jahrgang, 191 3.)
Es zeigte sich, daß es verschiedene Arten von
Vitaminen gibt, deren Fehlen eine bestimmte Er-
krankung zur Folge hat, nach der die Bezeichnung
des jeweiligen Vitamins gewählt wird, wie Beri-
berivitamin und Skorbutvitamin. Entsprechend
ihrer verschiedenen physiologischen Wirkung unter-
scheiden sich Beriberi- und Skorbutvitamin auch
in ihrem Verhalten und Vorkommen. Ersteres
verträgt, ohne zerstört zu werden, ein Erhitzen
auf 130" C und findet sich in der sog. Aleuron-
schicht der Frucht- und Getreidekörner (Reis,
Roggen, Weizen, Mais usw.). Letzteres kommt in
frischen Gemüsen, Früchten usw. vor und geht
schon während des Trockenprozesses verloren.
Die Untersuchung der chemischen Natur eines
Vitamins ist wegen seiner außerordentlich geringen
Menge mit erheblichen Schwierigkeiten verknüpft.
So erhielt F. bei der Verarbeitung von 100 kg
trockener Hefe erst einige dg des Beriberivitamins.
Wie bei der aus der Hypophyse isolierten Sub-
stanz (F ü h n e r : Pharmakologische Untersuchungen
über die wirksamen Bestandteile der Hypophyse.
Z. f ges. exp. Med. i, 397, 1913), die sich als
aus vier verschiedenen Verbindungen zusammen-
gesetzt erwies, gelang es auch, das Vitamin in drei
Substanzen zu zerlegen. Bei den Tierversuchen
zeigte sich, daß keine von ihnen allein eine nennens-
werte Heilwirkung hat. Werden sie dagegen zu-
sammen verabreicht, in noch kleinerer Menge als
einzeln, so wirken sie frappierend heilkräftig. Die
drei Verbindungen sind: Smp. 233 C2oH.,|,Os,N4,
Smp. 235 CgH.-OjN und Nikotinsäure. Nachdem
sich aus dem Verhalten der Schwefelsäure gegen-
über ergeben hatte, daß es sich um Slickstoffver-
bindungen handelte, wurden die mit Alkohol kalt
gewonnenen Extrakte nach der für jene üblichen
Methode fraktioniert. Bei Anwendung von Phos-
phorwolframsäure geht die wirksame Substanz in
den Niederschlag über. Teilweise wird sie mit
Sublimat in alkoholischer Lösung und Siibernitrat,
quantitativ dagegen fast vollständig mit Silber-
nitrat und Baryt gefällt. Außer in Reiskleie in
geringen Mengen wurde das Beriberivitamin später
auch in Hefe, Milch, Gehirn, Fleisch — namentlich
Herzmuskelfleisch — und Zitronensaft gefunden.
Daß die Vitamine sehr labil sind, wurde schon
gesagt. Schon Spuren von Säuren und Alkalien
können sie zerstören. Das F"ehlen des Vitamins
in einer Nahrung, die hauptsächlich aus geschältem
Reis besteht, ist nach F. die einzige primäre Ur-
sache der Beriberikrankheit. Für die Annahme
der Wirkung eines in der Nahrung sich bildenden
Giftes liegt nicht der geringste Grund vor. Ex-
perimentell lassen sich alle Symptome der Beri-
beri bei Tieren hervorrufen, wenn deren Nahrung
kein Vitamin mehr enthält, und ebenso läßt sie sich
durch Zufuhr desselben sofort heilen, während sein
dauerndes Fehlen unweigerlich zum Tod führt.
Was die Verbreitung der Vitamine angeht, so
findet sich das Skorbutvitamin in grünen Pflanzen,
saftigem Obst, frischem Gemüse, Kartoffeln usw.
Das Auftreten des Skorbuts bei langen Seereisen,
eine bei den Segelschiffern gefürchtete Krankheit,
ist gerade durch das Fehlen dieses Nahrungs-
körpers bedingt. Das Beriberivitamin hinwiederum
ist in der Aleuronschicht trockener Körner ent-
halten. Wird diese wie beim Polieren des Reises
N. F. XIII. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
265
oder vor dem Mahlen der Getreidekörner zu den
feinen Mehlsorten entfernt, so fehlt es natürlich in
der Reisnahrung und in den aus dem weißen Mehl
bereiteten Backwaren, z. B. im Weißbrot.
Aber auch noch auf andere als mechanische
Weise können die Nahrungsmittel jener für die
Ernährung so wichtigen Körper beraubt werden.
Vor allem kommt hier das Kochen in Betracht.
Schon das Trocknen zerstört das Skorbuivitamiii,
ebenso ein kurzes Kochen bei 100" C, eine Tem-
peratur, die für das Beriberivitamin noch unschäd-
lich ist. Längeres Kochen bei 100" C (unter Druck)
dagegen zerstört alle Vitamine gänzlich. Dieser
Behandlung werden aber die Nahrungsmittel dort,
wo es sich um die Speisung einer großen Menschen-
menge handelt, z. B. in Kasernen, Pensionaten,
Krankenhäusern u. dgl. meist unterworfen. Das
in Milch enthaltene Vitamin wird teilweise oder
gänzlich zerstört bei der Sterilisierung, der Konden-
sierung und langem oder wiederholtem Kochen
der Milch. Es hat dies seine besondere Bedeutung
bei der Ernährung der Säuglinge und nach F. sind
darauf gar viele Kinderkrankheiten zurückzuführen.
Kindermehl und sonstige Surrogate sind mehr oder
minder für die Säuglingsernährung wertlos. Das
Beste ist ohne Zweifel die Brustmilch. Als Beispiel
für ihren großen Wert in dieser Beziehung wird
angegeben, daß die Kindersterblichkeit in Neusee-
land fast plötzlich von 8*"^ auf 4''/(, fiel, als dort
für die natürliche Ernährungsweise der Säuglinge
erfolgreich Propaganda gemacht wurde.
Was nun die Nahrung des Erwachsenen an-
belangt, so ist der Wert eines Nahrungsmittels mit
seinem relativen Gehalt an Eiweißstoffen, Kohle-
hydraten, Fetten usw. durchaus noch nicht er-
schöpfend festgestellt, es ist vielmehr wohl zu be-
rücksichtigen, ob es arm oder reich an Vitaminen
ist. Vitaminhaltig sind : die Brustmilch, rohe oder
kurz aufgekochte Kuhmilch, Butter, Käse, Eigelb,
Fleischsaft und -brühe, frische Kartoffeln, grüne
Gemüse, Gemüsesuppen, frisches Obst, Fruchtsaft,
Kompott, schwarzes Weizen- und Roggenbrot, un-
geschälter Reis und leicht geröstetes Fleisch. Wenig
oder gar kein Vitamin hingegen enthalten: steri-
lisierte oder wiederholt gekochte Milch, Milch-
konserven, Eiweiß, sterilisiertes Fleischextrakt, ge-
kochtes Fleisch und Gemüse, weißes Weizenmehl,
Weißbrot, weißer Reis, Sago, geschliffener Mais
oder das daraus bereitete Mehl, Suppenfleisch und
Fleischkonserven. Besonders reich daran und des-
halb zu Heilmitteln geeignet sind : frische Bierhefe,
Hefeextrakte und -präparate und Lebertran.
Einen Hauptgrund für die langsame Genesung
nach Magen-Darmkrankheiten erblickt F. darin, daß
gerade die vitaminhaltigen Nahrungsmittel vom
Speisezettel derartiger Rekonvaleszenten verbannt
sind. Infolge der ihnen auferlegten Diät leiden
diese an einer Unterernährung, die noch dadurch
besonders verhängnisvoll wird, daß ein hervor-
stechendes Symptom aller Avitaminosen der stei-
gende Appetitmangel ist. Schließlich, langsam
aber sicher, geht der Patient an Entkräftung zu-
grunde. Gerade was ihn retten sollte, die strenge
Diät, war ihm zum Verderben; eine abwechslungs-
reichere Kost — natürlich unter den nötigen Kau-
telen gewährt — hätte ihn gerettet.
Eine Krankheit, die als Avitaminose zu be-
trachten ist, ist nach V. auch die Pellagra, die da-
durch verursacht wird, daß als Hauptnahrungs-
mittel der Mais in einer Form dient, in welcher
das Korn seiner vitaminhaltigen Aleuronschicht
beraubt ist. Sehr belehrend in dieser Beziehung
ist einmal die Beschränkung der Pellagraseuche
auf die Maisbezirke und ferner der Umstand, daß
die schweren F'älle mit letalem Ausgang (20 — 25 "/q)
auf die Vereinigten Staaten entfallen, wo der Mais
in Dampfmühlen energisch geschliffen wird; in
Italien und Ägypten dagegen, wo er nur primitiv
zubereitet wird, beträgt die Mortalität nur 4 "/o-
In einer neuen Arbeit (Prophylaxe und The-
rapie der Pellagra im Lichte der Vitaminlehre,
Münchener med. Wochenschr., Nr. 13, 1914) ver-
tritt Funk ganz entschieden die Avitaminosenatur
der Pellagra. Die Aleuronzellenschicht des Mais-
korns, welche beim Schälen verloren geht, ist sehr
reich an Protein, Fetten und Salzen, während das
Innere des Korns zwar stärkereich ist, aber kein
Vitamin enthält. Auch der am unteren Ende des
Kornes liegende Keim, der sehr reich an Protein,
Fetten und Salzen ist, geht verloren. Während
das ganze Maiskorn im Durchschnitt 5 "/o enthält,
haben die nordamerikanischen Maisprodukte einen
Fettgehalt von sehr oft nur 2 "'(, bis i "/(, und
weniger. Das südafrikanische Maiskorn erleidet
beim Mahlen 14 "/^ Verlust, also weniger als der
amerikanische Mais. Wenn geschälter Mais als
Hauptnahrung dient, so sind vitaminreiche Zulagen
(Kartoffeln, Obst, Milch, Butter usw.) nicht aus-
reichend.
Im Viktoriagefängnis von Rhodesia wurden
von Nightigale der Anschauung von F. ent-
sprechende Beobachtungen gemacht. Es brach
eine Pellagraepidemie aus mit 12 10 Erkrankungen.
Dabei erwies sich der ungeschälte Mais als Heil-
mittel. Ebenso wurde nach Dr. Macaulay, Cape
Town, U. S. Afrika, eine Skorbutepidemie mit
Pellagrafällen durch Ernährung mit ungeschältem
Mais siegreich bekämpft.
Als Prophylaxe empfiehlt F. das ungeschälte
Maiskorn zu gebrauchen und die zollfreie Kartoffel-
einfuhr in der Pellagrazone. In der Kartoffelzone
sei die Pellagra eine unbekannte Krankheit. Die
Therapie ergebe sich aus dem Gesagten von selbst.
Sie bestehe einfach in einer vitaminreichen Nahrung.
Ein allen Avitaminosen gemeinsames Früh-
symptom ist die zunehmende Appetitlosigkeit.
Häufig ist ferner eine Erkrankung der Nerven
(Polyneuritis) mit Krämpfen und Lähmungen, Er-
weiterung des rechten Herzens, Dyspnoe, Cyanose,
Oligurie, Anasarka, Herzbeutel-, Brust- und Bauch-
wassersucht.
Auch manche endemische Seuchen bei den
Haustieren (Rind, Pferd, Schwein, Schaf) sind viel-
leicht auf einen Mangel an Vitamin im Futter zu-
266
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 17
rückzuführen, das durch das Trocknen des Grases
zerstört wurde. Der Tierkörper aber ist nicht
imstande, diese Verbindungen aufzubauen. Sie
müssen ihm in der Pflanzennahrung zugeführt
werden. Kathariner.
Der Lichtsinn mariner Würmer und Krebse,
C. He^ (München) (Pflüger 's Archiv für
die gesamte Physiologie des Menschen und der
Tiere, 155. Bd., 8. u. 9. Heft, 1914), hat für den
Röhrenwurm Serpula contortuplicata festgestellt,
daß er schon auf sehr geringfügige Verminderung
der Lichtstärke durch Einziehen der Pentakelkrone
reagiert. Schon die äußerst geringe Verminderung
der Lichtstärke, die einem Zurückziehen der Glüh-
lampe von 50 cm auf 52 cm entspricht und die
von unserem Auge kaum wahrgenommen wird,
ist wirksam. Selbst wenn die Lampe in 60 cm
Entfernung stand und auf 61,5 cm zurückgeschoben
wurde, erfolgte nach einer Sekunde das Einziehen
vieler Kiemen. Es verhalten sich in diesem Fall
die Lichtstärken wie 1:0,95.
Durch sinnreiche Einrichtungen wurden ferner
die Wirkungen der verschiedenen Farben des Spek-
trums auf ihre Wirksamkeit hin untersucht. Es
ergab sich, daß das Spektrum in der Gegend des
Gelbgrün bis Grün für Serpula am hellsten ist
und seine Helligkeit von da nach dem Rot ver-
hältnismäßig ra'ich, nach dem Blau und Violett
langsamer abnimmt. Vorher dunkel gehaltene,
durch längeres Öffnen des Verschlusses einer in
einem Gehäuse eingeschlossenen Nernstlampe mit
verhältnismäßig hohen Lichtstärken bestrahlte Tiere
zeigten niemals Fluchtbewegungen. Wird dagegen
nach Belichtung während einer oder mehrerer Se-
kunden wieder verdunkelt, so ziehen sich die Tiere
plötzlich zurück. Wurde der \^erschluß so ein-
gestellt, daß die Belichtungsdauer etwa nur ' ,„„ Se-
kunde oder noch weniger war, so zogen sich auch
dann viele von den Tieren etwa i Sekunde nach
Auslösen des Verschlusses in ihre Röhren zurück.
Zunahme der Lichtstärke hatte gar keinen
Effekt, sondern nur die Lichtstärkenabnahme. Es
entspricht dies auch ganz den biologischen Ver-
hältnissen. Die Prüfung mit den einzelnen Spek-
tralfarben ergab, daß die Sehqualitäten jenen des
total farbenblinden menschlichen Auges ähnlich
oder gleich sind, wie H. dies schon oft für Culex-
larven Krebse, Bienen und Fische zeigte. Wenn
eine für den total Farbenblinden helle Fläche
durch eine für ihn dunklere ersetzt wird, fliehen
die Tiere jedesmal. Es ist einerlei, ob eine Fläche
dem farbentüchtigen Auge heller oder dunkler er-
scheint. So erscheint diesem z. B. Rotgelb viel
heller als Grün, und doch wirkt ersteres im Sinne
einer Verdunkelung.
Weitere Versuche beziehen sich auf ein Krebs-
tier, den Rankenfüßler Baianus. Normale Tiere
dieser .^rt pflegen ihre Rankenfüße in regelmäßigem
Tempo zwischen den Schalen hervorzustrecken und
sie wieder einzuziehen. Bei geringer Lichtstärken-
verminderung ziehen sie die Füße ein und schheßen
die Schale. Dagegen hat Lichtstärkenvermehruhg
auch bei ihnen keinen Effekt. Die Prüfung auf
den Helligkeitswert der verschiedenen Farben er-
gab auch hier, daß er für Rot sehr gering ist,
und daß für Baianus dieselben Helligkeitsgleichungen
Geltung haben, wie für den total farbenblinden
Menschen. H. wendet sich dann polemisch gegen
die von J. Loeb vorgenommene Einteilung der
Tiere in „heliotropische" und „unterschiedsempfind-
liche". Denn „unterschiedsempfindlich" sind alle
Tiere, die Lichtreaktionen zeigen, einerlei, welcher
Art letztere sind. Das Einziehen der Kiemen
bei Serpula, der Rankenfüße bei Baianus und
das Fliehen der Culexlarven nach unten bei
Beschattung ist nach H. ganz ebenso eine
zweckmäßige, durch Lichtstärkenunterschiede ver-
anlaßte Reaktion wie die Ansammlung der Fische
und Krebse im hellsten Teil ihres Behälters.
Beide Reaktionen .sollten daher nicht durch ver-
schiedene Benennungen voneinander getrennt
werden. Die Art der Abhängigkeit der Reaktionen
von der Wellenlänge des Lichtes ist bei den
„phototropischen" und den „unterschiedsempfind-
lichen" Tieren überall die gleiche und dieselbe wie
beim total farbenblinden Menschen. Die Annahme,
daß die Tiere auch „Farbensinn" haben, ist un-
haltbar. Kathariner.
Astronomie. Die Sternwarte auf dem Mt. Wilson
hat mit ihrem großen 60 zölligen Spiegelteleskop so
gute Erfahrungen gemacht, daß sie im Begriff ist,
sich ein 100 zölliges Instrument der gleichen Art zu
bauen. Die Grundmauern für das Gebäude und
den Pfeiler sind fertig, letzterer hat unten 20 zu
40 P"uß Durchmesser und ist 33 Fuß hoch. Die
Kuppel hat 100 Fuß Durchmesser und ist 105 Fuß
hoch, die Bedachung ist doppelt, indem die beiden
Lagen 2 Fuß Entfernung voneinander haben
und mit Luken versehen sind, so daß die Luft
ungehindert sich bewegen kann und ein voll-
kommener Temperaturausgleich stattfindet. Die
Kuppel ist ungewöhnlich massiv ausgeführt, da
sie stabil sein muß trotz der nicht weniger als
20 Fuß breiten Spaltöffnung. Auch die Guß-
stücke für die Teile des Instrumentes, besonders
die Achsen, sind gelungen, und die Gabel, in der
das Instrument sich dreht, und die ein Gewicht
von 28 Tonnen hat. Der große Spiegel von
100 Zoll = 250 cm ist im Schliff, die sphärische
Fläche ist nahezu vollendet, so daß dann noch
der parabolische Schliff anzubringen ist. Die
Lichtstärke dieses Instrumentes wird dann alles
andere weit in Schatten stellen, und uns von den
schwachen Nebeln Bilder von ungeahnter Kraft
geben. ^Mt. Wilson Contrib. 1913, Jahresbericht.]
Riem.
Zoologie. Inhalt von Schreiadler ■ Gewöllen.
H. Freiherr Geyr zu Seh weppenburg hat
das Resultat der Untersuchung von 42 Gewöllen des
Schreiadlers (Aquila pomerina L.) veröffentlicht.')
1) Zeitschrift für (Jologie und Ornithologie. X.Xlü. Jahrg.,
1913, S. 103-105.
N. F. XIII. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
267
Im ganzen wurden Reste gefunden in 6 Fällen
von Hasen, in 9 vom Igel, in 13 vom Maulwurf,
in 25 von Mäusen, in 14 von Vögeln und in 8
von Reptilien.
Naturgemäß erhält man durch die beschränkte
Zahl der untersuchten Gewölle kein genaues Bild
über die Nahrung des Schreiadlers. Immerhin
erhält man aber einen Einblick in seinen Speise-
zettel, wobei es interessant ist, daß der Vogel die
Stacheln des Igels verzehrt und nach der Ver-
.dauung des Fleisches wieder auswürgt, ohne
Schaden zu nehmen. Alb. Heß, Bern.
Form des Einflugloches des Schwarzspechtes.
Die Form des Einflugloches des Schwarzspechtes
(Dryocopus martius L.) wird auch in den
besten ornithologischen Werken als rund, oder
etwa oval oder elliptisch angegeben. Auch die
künstlichen Berlep'schen Nisthöhlen, die eine ge-
naue Nachbildung der natürlichen Sjiechthöhlen
sein sollen, haben ein rundes Einflugloch. Nun
hat Erich Hesse schon 191 1 und neuerdings
wieder darauf hingewiesen,') daß zahlreiche, in
verschiedenen Gegenden sogar die Mehrzahl, der
Schwarzspechthöhlen, kein rundes oder länglich
gestaltetes Einflugloch besitzen, sondern daß das-
selbe etwa die Form eines romanischen Fensters
habe , also eine fast horizontale Basis besitze.
Diese Form sei schon bei ganz frischen Höhlen
anzutreflen, so daß sie nicht etwa als eine solche
aller, ausgebrauchter und vermeißelter Höhlen
anzusprechen sei.
Dieser Hinweis hatte zur Folge, daß sie zur
genaueren Beobachtung anregte, und daß dann
aus verschiedenen Gebieten die Nachricht kam,
daß dort diese „romanische Form" sogar die Regel
sei. Diese Form ist auch in der Abb. 5 der Ar-
beit vonKoepert „.Arbeiten der Schwarzspechte" ')
deutlich ersichtlich. Auch schreibt dieser Autor
„Der Eingang ist weder kreisrund noch oval, son-
dern beinahe halbkreisförmig, insofern der untere
Rand horizontal verläuft."
Es ist nicht anzunehmen, daß der Schwarz-
specht erst in neuerer Zeit diese Form zimmert,
sondern es darf vorausgesetzt werden, daß bisher
eine mangelhafte Beobachtung vorlag.
Alb. Heß, Bern.
') Ornith. Monatsberichte, 21. Jahrg., 1913, S. 171 — 17S.
') Naturw. Wochenschrift XU, Bd., 1913, S. 21 — 23
Ein neues Verfahren zur Gewinnung von Zellu-
lose aus Holz und Gespinstfasern und zur Be-
seitigung der abfallenden Laugen veröffentliclrt
Geh. Reg.-Rat Prof Dr. J. König- Münster i.W.
zusammen mit Dr. J. Hasenbäumer und Dr.
M. Braun in der „Zeitschrift für angewandte
Chemie" (26, Nr. 73, Seite 481—485). Das neue
Verfahren besteht zusammenfassend in folgendem i')
Das zerkleinerte Holz wird mit der 4 — 5 fachen
Menge 3 — 5 proz. Ammoniak etwa 5 — 6 Stunden
bei einem Überdruck von 2 — 3 Atmosphären ge-
dämpft, die Lauge abgepreßt und zur Wieder-
gewinnung des Ammoniaks und Verwertung von
Harz und Gerbsäure (Inkrusten) weiter verarbeitet.
Der Rückstand der Ammoniakdämpftmg wird mit
Schwefelsäure zusammengebracht, wobei dann die
Hemizellulosen in Zucker übergeführt werden.
Die sirupartige Ablauge verwendet man, nach
Entfernung des Gipses direkt, oder mit Trocken-
futtermitteln zusammen zur Fütterung. Neben der
reinen Zellulose erhält man nach dieser Methode
nur noch Lignine, die sich durch Bleichflüssig-
keiten leicht beseitigen lassen. Die Restabwässer
wirken dann nicht mehr flußverunreinigend.
Heute werden täglich i 120000 kg als Futter-
mittel verwendbare Ablaugen, die einen Wert von
120000— 130000 Mark darstellen, unbenutzt in die
Flüsse geleitet. Nach obigem Verfahren können
diese Summen gespart werden, außerdem ist man
der Belästigungen wegen Verunreinigung der
Flüsse enthoben. Otto Bürger.
•) Man vgl. auch mein Referat in „Die Naturwissenschaften"
(1913, Heft 52).
Kleinere Mitteilungen.
Der Einfluß des letzten nassen Sommers auf
malakazoologischem Gebiet. Da die Feuchtigkeit
bei den Mollusken eine besondere Rolle spielt,
so sollte man eigentlich folgern, daß sich nament-
lich die Gastropoden in dem nassen Sommer 1913
besonders wohl gefühlt haben müssen. Dies dürfte
jedoch nicht zutreffend sein. Nach meinen Be-
obachtungen hat die übermäßige Feuchtigkeit eher
hemmend auf das Wachstum der Landschnecken
eingewirkt.
Bei den Arten, die mehr die trockenen Hänge
bevorzugen, blieb das Wachstum nicht so sehr
zurück; es zeigte sich aber eine länger als sonst
anhaltende auffallende Weichheit der Schale. Dies
hatte wieder zur F'olge, daß man öfters abnorme
Gehäusebildungen beobachten konnte, die auf Ver-
letzungen des zu weichen und wenig widerstands-
fähigen Gehäuses und infolgedessen auf Formver-
änderung desselben sich wohl zurückführen lassen.
Bei Arten, die schon mehr Feuchtigkeit bevorzugen
und an feuchteren Stellen leben, konnte man trotz-
dem auch ein deutliches Zurückbleiben im Wachs-
tum wahrnehmen. Am wenigsten beeinflußt schie-
nen die Waldbewohner zu sein, bei denen weder
in Form noch in der Härte der Schale Abweichun-
gen festzustellen waren.
Vorstehendes könnte sich vielleicht auf eine,
von der anhaltenden Feuchtigkeit bedingte chemi-
sche Veränderung der Pflanzen zurückführen lassen,
etwa in der Weise, daß sie weniger kalkhaltig
waren und so die Gastropoden gegen normale
Jahre mit ihrer Nahrung in demselben Zeitraum
weniger Kalk aufnehmen konnten ."
Rudolf Schmitt.
268
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 17
Bücherbesprechimgen.
Handbuch der Tropenkrankheiten, herausge-
geben von Prof Dr. Carl Mense. 2. Aufl. i. Bd.
295 S. Mit 200 Abbild, im Text, 10 schwarzen
und 2 farbigen Tafeln. Leipzig '14, J. A. Barth.
— Geb. 18 Mk.
Das Studium der Tropenkrankheiten hat sich
wegen der Eigenart dieser Krankheiten und ihrer
großen wirtschaftlichen Bedeutung zu einer be-
sonderen Disziplin, der Tropenmedizin, entwickelt,
die in den letzten Jahren dank einer außerordent-
lich regen Forschertätigkeit mächtig angeschwollen
ist. Ein anschauliches Bild dieses Wachstums wird
die im Erscheinen begriffene 2. Auflage des be-
kannten Handbuchs der Tropenkrankheiten geben,
von dem der erste Band vorliegt. In ihm hat
A. Eyßel in sehr sorgfältiger und erschöpfender
Weise die Arthropoden behandelt, soweit sie ent-
weder als Krankheitsüberträger oder als Krankheits-
erreger selbst in Frage kommen. Durch systema-
tische Übersichten und allgemein orientierende
Einleitungen in die einzelnen Gruppen der Glieder-
füßler kommt er in sehr schätzenswerter Weise
dem Bedürfnisse des Mediziners entgegen. Sehr
zu rühmen ist auch das vorzügliche Material an
klaren Abbildungen, sowie die ausgedehnte Be-
rücksichtigung der Literatur. Besteht doch z. B.
allein das Verzeichnis der Literatur über Stech-
mücken aus ca. 1270 Nummern! Ein kurzer Ab-
schnitt über die Fliegengattung Phlebotomus von
R. Doerr und Y. Ruß beschließt den Band.
Wir werden später auf dieses dem Tropen- und
Schiffsarzt unentbehrliche, in dem vorliegenden
Bande aber auch für den Zoologen, speziell den
Entomologen wichtige Werk noch einmal zurück-
kommen. Miehe.
Kerner v. Marilaun, Anton, Pflanzenleben. 3. .^ufl.,
neubearbeitet von Prof. Dr. Ad. Hansen.
1. Bd. : Der Bau und die lebendigen Eigenschaften
der Pflanzen (Zellenlehre und Biologie der Er-
nährung). Mit 159 Abb. i. Text, 21 farbigen,
4 schwarzen und 3 doppelseitigen Tafeln usw.
2. Bd.: Die Pflanzengestalt und ihre Wandlungen
(Organlehre und Biologie der Fortpflanzung).
Mit 250 Textabb., 20 farbigen, 10 schwarzen
und 4 doppelseitigen Tafeln usw. Leipzig und
Wien '14, Bibliographisches Institut. — Geb. 1 4 Mk,
Ein Buch, das eine solche ausgeprägte Eigen-
art besitzt, wie das Kerner'sche Pflanzenleben,
und das gerade dieser Eigenart seinen großen
und berechtigten bleibenden Erfolg verdankt, neu
herauszugeben, ist gewiß kein leichtes Unterfangen.
Blättern wir die beiden bis jetzt erschienenen Bände
durch, so müssen wir dem Herausgeber Ad. Han-
sen in Gießen zugestehen, daß er mit sehr \-iel
Takt und Umsicht zu Werke gegangen ist. Es
ist in der Tat der alte Kern er geblieben, aus
dem Tausende und aber Tausende Belehrung
und reinsten Genuß geschöpft haben und auch
die alten Freunde, die vorzüglichen Bilder treffen
wir alle wieder an. Hansen hat daraufgesehen,
daß vor allem der Grundcharakter der Darstellung,
den man den biologischen nennen kann und der
vorbildlich für eine ganze Literaturgattung auf
botanischem Gebiete geworden ist, in voller Rein-
heit gewahrt wurde, d. h. auch im neuen Kern er
wird das Leben der Pflanzen aus ihren natürlichen
Lebensbedingungen heraus geschildert. Über die
Berechtigung einer solchen Darstellung ist viel
diskutiert worden. Da sie notwendigerweise stets
nach dem Zwecke der Organisationen, der Reak-
tionen auf die Umwelt fragt, hängt ihre Durch-
führbarkeit gänzlich von dem Grade ab, bis zu
welchem diese Zwecke wirklich in wissenschaft-
lichem Sinne bewiesen und aufgeklärt sind. Hier
liegt nun aber der wunde Punkt. Trotz der großen
Erfolge, die die Experimentalphysiologie der Pflan-
zen erzielt hat, sind wir heute selbst bei sehr auf-
fälligen Lebenserscheinungen der Pflanzen noch
ganz außerstande, zu sagen, welche Bedeutung sie
für ihr Leben haben. Und in solchen Fällen mit
Wahrscheinlichkeiten zu operieren, ist äußerst
mißlich. Wie schwer ist es doch, sich in die
Organisation und in die „Bedürfnisse" eines Or-
ganismus hineinzuversetzen, der so weit von dem
uns besser vertrauten, nämlich dem tierischen ab-
weicht ! Jede „biologische" Darstellung muß also,
wenn sie nicht ganz lückenhaft bleiben soll (was
wiederum dem Ziel derartiger Schilderungen ab-
träglich ist), immer ein starkes hypothetisches Ele-
ment enthalten. Wenn auch K e r n e r sich stets
frei von manchen geschmacklosen Übertreibungen
gehalten hat, die manche der Epigonen sich un-
bedenklich geleistet haben, und wenn auch jene
Schilderungen viel mehr, als die schlichte Dar-
stellung vermuten läßt, auf sorgfältigsten Studien
beruhen, so ist doch auch er in diesem Punkte
nicht unverwundbar. Manches hat Hansen ge-
ändert, anderes nicht, ohne daß wir da mit ihm
rechten wollen.
Der erste Band behandelt nach einer allge-
meinen Einleitung, an deren Schluß noch ein
kurzes Kapitel über moderne Richtungen in der
Botanik angefügt ist, Bau und Leben der Zellen,
die Ernährung, die Rolle des Wassers, den Stoff-
wechsel, die Atmung, allgemeine Lebensbedingun-
gen usw. Der zweite Band umfaßt die weitgehend
umgearbeitete Gestaltenlehre und die Fortpflanzung.
Der dritte soll die Pflanzengeographie darstellen;
er wird, da dieser Abschnitt im alten Kern er nur
ganz kurz war, fast ganz von dem Herausgeber
herrühren. Der Abschnitt „Die Pflanze und der
Mensch" ist ganz gestrichen worden. Wenn zum
Schluß noch einige Wünsche angeführt werden,
so sollen diese nur Suggestionen für eine neue
Auflage sein.
Im ersten Band hätte man, wenn schon neu-
geordnet wurde, noch eine straffere Disposition
anwenden können, entsprechend den für eine biolo-
gische Darstellung in Betracht kommenden Haupt-
themen der Physiologie. Sehr lehrreich würde
auch eine besondere Darstellung der großen all-
N. F. XIII. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
269
gemeineil Beziehungen sein, die zwischen der Tier-
welt und der Pflanzenwelt hinsichtlich des Kreis-
laufes der Stoffe herrschen und die uns die Pflanzen
im Naturganzen zeigen würde. Ob man Hyda-
thoden, extraflorale Nektarien, Salzausscheidungen
als Mittel zur Wasseraufnahme auffassen kann, ist
fraglich, desgl. ob die Sarracenien die Produkte
der Verwesung direkt mit ihren Blättern aufnehmen.
Epiphyten und Schmarotzerpflanzen sollten auch
äußerlich vollständig getrennt werden. Chlorophyll
sollte immer nur den P'arbbtoff bezeichnen. Die
Darstellung der Myrmekophilie ist nicht ganz
modern. Der kurze Abschnitt über den Parasitis-
mus der Bakterien bedarf einer strengeren Revision,
u. a. z. B. sind Scharlach, Blattern, Masern ätiolo-
gisch noch ganz unbekannte Krankheiten usw.
Daß Arum italicum in seinem Blütenstande sich
um 29° über die Temperatur der Umgebung er-
wärmen kann, klingt überraschend, desgl., daß
Penicillium und Rhizopus noch bei 54 — 55
keimen und sich etwas entwickeln können. Im
zweiten Bande wäre vielleicht eine zusammenfassende
Darstellung der Fortpflanzung der Farne, Gymno-
spermen und Angiospermen mit Rücksicht auf die
biologischen Verhältnisse, etwa in der Art, wie
es V. Wett st e i n so anregend in seinem Hand-
buch der systematischen Botanik getan hat, lehr-
reich gewesen.
Wir empfehlen diese beste aller populären
Pflanzenbiologien, die Jebenso anregend für den
Laien wie, wegen der großen Zahl von Beobach-
tungen, für den Fachmann ist, auch in der neuen
Gestalt allen, denen an einem wirklich guten Buch
gelegen ist. Miehe.
Kr. Birkeland: Über die Ursache der erd-
magnetischen Stürme und den Ur-
sprung des Erdmagnetismus, Bd. I des
Werkes „Norwegian Aurora Polaris Expedition",
1902 — 1903. Roy. 4", 801 S., Teil i (1908),
Teil 2 (191 3). Leipzig, J. A. Barth.
Kein anderer Forscher hat unsere Anschauun-
gen vom Wesen der magnetischen und elektrischen
Vorgänge auf der Erde und auf den anderen
Himmelskörpern mit einer solchen Fülle von neuen
Ideen bereichert, als der Verfasser des vorliegenden
Werks, das sich dem Gesamttitel nach eigentlich
mit den Ergebnissen seiner (dritten) Expedition
zur Erforschung der Nordlichter befassen sollte.
In der Tat kommen auch die dort erhaltenen Re-
gistrierungen der magnetischen Variationen sowie
jener der Erdströme zur Verarbeitung. Der größte
Raum ist jedoch unstreitig der Begründung seiner
Gedanken über das Wesen einer großen Zahl kos-
mischer Phänomene gewidmet, und zwar sind dies :
das Polarlicht, die erdmagnetischen
Variationen, das Zodiakallicht, die
Sonnenflecken, der Sat u rnring, die Ko-
metenschweife, die Erdströme und die
Spiralnebel im Weltall.
Alle diese einzelnen kosmischen Erscheinungen
werden in dem vorliegenden Werk besprochen.
doch muß es der Referent von vornherein für un-
möglich erklären, den Inhalt der einzelnen Kapitel
hier eingehend zu schildern. F'ür ein weitergehen-
des Interesse seien als eine Art Führer durch das
Werk die kritischen Berichte in Gerlands Bei-
trägen zur Geophysik, Bd. X und XIV genannt.
Birkeland 's Haupt- und Grundgedanke ist
der, daß von den glühenden Himmelskörpern eine
Elektronenstrahlung ausgehe, also eine elektrische
Korpuskularstrahlung.
Zuerst dachte er dabei nur an die Polarlichter,
für die schon früher eine Kathodenstrahlung zur
Erklärung herangezogen worden war. Im Verlauf
seiner Studien kam er dann auch auf die Erklä-
rung der übrigen Erscheinungen durch eine solche
Ursache.
Der von ihm eingeschlagene Weg ist ein durch-
aus eigenartiger: er ahmte die Polarlichter
im kleinen im Laboratorium nachl
In große, luftleer gemachte Glasräume (zuletzt
von 70 1 Inhalt) setzte er eine kleine Nachahmung
der Erde, eine Terrella. Sie bestand aus einer
kugelförmigen, elektrischen Stromspule mit Eisen-
kern. Die Oberfläche war mit einer Masse gleich-
förmig überstrichen, und diese Masse dann mit
Platincyanür überzogen, welcher Stoff bekanntlich
die Eigentümlichkeit besitzt, unter einer Kathoden-
lichtbestrahlung phosphoreszierend aufzuleuchten.
Von einer Elektrode aus wurde die Terrella mit
Kathodenstrahlen beleuchtet. Solange kein Strom
die Windungen der in die Terrella eingelegten
Spule durchfloß, leuchtete die ganze der Kathode
zugewandte Hälfte ihrer Oberfläche phosphores-
zierend auf. Sobald jedoch ein Strom sie magne-
tisierte, zog sich das aus lauter parallelen Strahlen
bestehende Kathodenlicht in scharf umrissene
Lichträume zusammen, die nach der Terrella zu
immer spitzer wurden, und auf den Stellen, gegen
die sie gerichtet waren, leuchtende Punkte oder
Bänder hervorriefen. Außerdem umgab ein leuch-
tender Ring die Terrella konzentrisch, und zwar
in der Ebene ihres magnetischen Äquators. Die
Lichträume haben die Form gekrümmter Keile,
die mit den Spitzen in der Nähe der magnetischen
Pole gegen die Terrella gerichtet sind; d. h. sie
bewahren immerhin noch einen deutlichen Abstand
von diesen Polen, und zwar stehen sie über einer
besonders hell aulleuchtenden Stelle der Kugel-
oberfläche, die zugleich das Ende einer fast kreis-
förmigen, jedoch etwas spiralischen Lichtzone ist.
In diesiem Lichtband sieht der Verfasser das Ab-
bild der Zone größter Häufigkeit der irdischen
Polarlichter; die Lichtkeile sind das Gegenstück
der Polarlichter selbst.
Es kann hier nicht geschildert werden, wie
überzeugend diese Versuche in der Tat sind; aber
es sei bemerkt, daß Birkeland 's Ideen eine
gründliche mathematische Prüfung durch K. Stör-
m e r gefunden haben, und die physikalische Möglich-
keit seiner Vorstellungen zweifelsfrei festgelegt ist.
Das Gesamtergebnis ist, daß die Polarlichter der
Erde in der Tat eine Wirkung einer Kathoden-
270
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 17
Strahlung sind, die durch das magnetische Feld
der Erde aus dem Raum zu unserem Planeten
herabgezogen wird, und so die obersten Schichten
der Atmosphäre zum Leuchten bringt.
Nach Birkeland stammt die Strahlung von
der Sonne (und nicht etwa von der Erde selbst),
was ebenfalls nunmehr als erwiesen gelten kann.
Er faßte nun den geistreichen Gedanken, statt die
Terrella mit Kathodenlicht bestrahlen zu lassen,
sie selbst zur Kathode zu machen; sie war ihm
dann ein Abbild der Sonne. Solange sie noch
nicht als Magnet erregt war, fand sich bei dem
Versuch, daß von ihrer ganzen Oberfläche in ziem-
lich gleichmäßiger Verteilung eine disruptive Ent-
ladung ausging, durch lauter kleine, leuchtende
Punkte auf der Kugel erkenntlich. Schon eine
schwache Magnetisierung der Terrella ordnete
diese Pünktchen in zwei Breitenkreisen zu beiden
Seiten des Äquators an; die mit der Entladung
verbundene, ursprünglich die ganze Kugel gleich-
mäßig umgebende leuchtende Schicht wurde dabei
ebenfalls nach dem Äquator hin zusammengezogen.
Bei stärkster Magnetisierung schließlich zogen sich
alle Punkte und der Lichtkranz ganz in die Äquator-
ebene zusammen, nur daß die leuchtende Schicht
sich dabei auch mehr und mehr verbreiterte und
schließlich wie ein Ring die kleine Sonne umgab.
In diesen Vorgängen sieht Birkeland die
Nachbildung der Sonnenflecken oder -fackeln und
dürfte damit ebenfalls recht haben. Die Leucht-
schicht entspricht der Sonnenkorona.
Bei geeigneter Magnetisierung erreicht es der
norwegische Forscher, daß der Ring sich voll-
kommen von der Sonne loslöst; so hat er Ringe
zustande gebracht, die 74 cm vom Mittelpunkt
der Terrella entfernt waren. Solange sie noch in
der nächsten Nähe der Kugel bleiben, sieht er in
ihnen ein Abbild der Saturnringe. Die Bedenken
der Astronomen richten sich hier besonders gegen
den Umstand, daß nach dieser Idee die Ringe
aus einer immateriellen Korpuskularsubstanz statt
aus, der Schwere unterworfener Materie bestehen ;
auch kann der Schatten des Saturn auf einem an
sich leuchtenden Ring nicht so leicht erklärt werden.
Eine weitere Rolle spielt der die magnetisierte
und zugleich Kathodenstrahlen aussendende Kugel
umschwebende Ring bei der Erklärung des Zodiakal-
lichts. Es ist nach der Vorstellung Birkeland's
ein Ring, der die Sonne mit einem Radius um-
gibt, der größer ist als der der Erdbahn. Unser
Planet mit seinem magnetischen Feld ruft in ihm
eine Einbuchtung hervor und bewirkt damit das
Phänomen des Zodiakallichts und des Gegenscheins.
Die Frage unterliegt zurzeit noch weiterer Prüfung
durch den Urheber selbst.
Den vergleichsweise breitesten Raum nimmt
in der vorliegenden Veröffentlichung die Erklärung
der erdmagnetischen Störungen ein. Wenn von
der Sonne Elektronen zur Erde wandern, so kommt
diese einem elektrischen Strom in der Wirkung
gleich, da ja die transportierten Teilchen elektri-
siert sind.. Der Erdmagnet zieht sie zu sich herab,
es kommen dadurch Ströme in seine nächste Nähe,
und sie müssen selbstverständlich den Erdmagne-
tismus ändern. So einfach wird sich der Vorgang
aber doch nicht gestalten, da gar zu große Kraft-
mengen (Energien) von der Sonne zu liefern wären.
Die Wirkung der Elektronenstrahlung der Sonne
ist vielmehr die, daß sie die höchsten Luftschichten
für elektrische Ströme in erhöhtem Maße leitfähig
macht, so daß dort von den an sich vorhandenen
Ursachen (Drehung der magnetischen Erde im
Raum, Bewegung der leitfähigen Luft gegen das
magnetische Erdfeld unter Wirkung der Gezeiten)
jetzt stärkere Ströme hervorgerufen werden.
Über die Begründung dieser seiner neuen Vor-
stellungen hinaus bringen die beiden Bände auch
eine P^üUe von tatsächHchem Material, sei es aus
seinen Expeditionen, sei es aus den Ergebnissen
anderer Forscher. Und schließlich liegt in der
Ableitung seiner verschiedenen Typen erdmagne-
tischer Störungen eine schöne, erträgnisreiche Neu-
studie vor, die, ganz abgesehen von der Verwen-
dung, die ihr der Verfasser zur Unterstützung seiner
Elektronenlheorie gibt, auch eine durchaus selb-
ständige Bedeutung hat.
Im übrigen ist das ganze Werk von B i r k e 1 a n d
ein schönes Beispiel dafür, daß nicht so sehr die
P'ortführungen ewiger Beobachtungsreihen zur Er-
kenntnis leitet, als vielmehr eine die Beobachtun-
gen und mathematischen Entwicklungen als Hilfs-
mittel heranholende Phantasie. A. Nippoldt.
Dugmore, A. Radclyfif, Wild-Wald-Steppe.
Waidmannsfahrten in Britisch-Ostafrika. Mit
132 Bildern. Aus dem Englischen übersetzt
von Hans Elsrier. 8°, 252 S. Leipzig, R.
Voigtländer's Verlag. — Geb. 6,50 Mk.
Der Verfasser berichtet in der Plinleitung, wie
er von früher Jugend ein leidenschaftlicher Jäger
allmählich zu einem beobachtenden Tierfreunde
geworden ist, wie der Reiz, ein Tier zu erlegen,
gänzlich dem noch viel spannenderen wich, es in
seinen intimen Lebensregungen zu studieren. Er
hat also die Büchse mit der Kamera vertauscht
und ist in das große Reservatgebiet Britisch-Ost-
afrikas gefahren, das sich von der Ugandabahn bis
zur Grenze von Deutsch-Ostafrika und von Tsawo
bis Nairobi erstreckt. In einer liebenswürdigen
und in ihrer Schlichtheit vertrauenerweckenden,
aber gleichwohl oft höchst spannenden Art be-
schreibt er nun die Erlebnisse der viermonatigen
PIxpedition in dieses Paradies der tropisch-afrika-
nischen Tierwelt und gibt vor allem eine große |
Zahl von Naturaufnahmen, die durchweg von einer '
hervorragenden Schönheit sind und von der un-
erschrockenen Kühnheit, der Zähigkeit und dem
Geschick des Autors ein glänzendes Zeugnis ab-
legen. Viele Bilder, wie z. B. das des Rhinozeros
auf Taf. 5, suchen in der einschlägigen Literatur
ihresgleichen. Ein eingehendes Studium dieser
Naturdokumente, besonders wenn es durch eigene
Erfahrungen in tropischen Landschaftsbildern etwas
unterstützt wird, kann eine wirklich anschauliche
N. F. XIII. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
271
und zuverlässige, sonst ja sehr schwer zu ver-
mittelnde \'orstellung davon geben, wie sich diese
Tiere in ihre natürliche Umgebung einordnen.
Wir können das schöne Buch jedem, der Sinn für
die Romantik tropischen Jägerlebens besitzt, aber
auch jedem Zoologen rückhaltlos empfehlen, zumal
der Preis trotz der vorzüglichen Ausstattung als
mäßig zu bezeichnen ist. Miehe.
vergleichende Anatomie. I. Teil. Bd. 18 der „Bücher der
Naturwissenschaft". Mit 4 bunten und 4 einfarbigen Tafeln,
135 Abb. im Text und einem Gesamtregister. Leipzig, Phi-
lip|) Rcclam. — In Leinen .1 Mk.
Boas, Prof. Dr. J. E V., Leh rbuch der Zoo -
logie für Studierende. 7. vermehrte und
verbesserte Auflage. Mit 648 Abb. im Text.
Jena '13. G. Fischer. — Geb. 16 Mk.
Das Boas 'sehe Buch ist, wie die Vorrede zu
der ersten Auflage betont, für solche Studierende
bestimmt, die Zoologie als Nebenfach betreiben.
Diese Beschränkung auf das Wichtigste prägt sich
besonders in dem allgemeinen Teil aus. Er ist
rein auf Anatomie und Organographie orientiert,
auf eine allgemeine Darstellung der tierischen
Lebenserscheinungen ist verzichtet worden, der
Abschnitt über Biologie ist nur im ökologischen
Sinne dargestellt. Der spezielle Teil ist ungleich
reichhaltiger, auf ihm ruht der Schwerpunkt des
Buches. Die durch eine große Zahl instruktiver
Abbildungen unterstützte, leicht faßliche und klare
Darstellung ist ein besonderer Vorzug des Buches,
das sich, wie die große Zahl der Auflagen beweist,
einer dauernden Wertschätzung erfreut.
Miehe.
Literatur.
Hegi, Prof. Dr. Gustav, Illustrierte Flora von Mittel-
europa. Mit besonderer Berücksichtigung von Deutschland,
Österreich und der Schweiz. Zum Gebrauch in den Schulen
und zum Selbstunterricht. VI. Band. Bearb. von Privatdoz.
Dr. med. et phiL Aug. von Hayek. 4. Lief. München, I. F.
Lehmann. — 1,50 Mk.
Handbuch der mikroskopischen Technik, herausgegeben
von der RedakUon des „Mikrokosmos". Apparate und Arbeits-
methoden der Bakteriologie. Bd. I; Allgemeine Vorschriften,
Einrichtung der Arbeitsräume, Kulturverfahren, Färbeverfahren,
Bestimraungstabellen. Von Dr. Adolf Reitz. Stuttgart '14,
Geschäftsstelle des ,, Mikrokosmos", Frankh'sche Verlagshand-
lung. — Geb. 3 Mk.
Werner, Prof. Dr.-Alfr., Über die Konstitution und
Konfiguration von Verbindungen höherer Ordnung. Vortrag,
gehalten in Stockholm am 11. Dezebmer 1913, im Anschluß
un die Entgegennahme des Nobelpreises. Berlin '14, J. Springer.
— 1,20 Mk.
Auwes, K. V. und Böen necke, A., Tabellen zur Be-
rechnung der ,, theoretischen" Molrefraktionen organischer
Verbindungen. Berlin '14, J. Springer. — 1,20 Mk.
Mi 11, H. R. und Allen, F., Elementary commercial
geography. Cambridge '14, University Press.
Aus Natur und Geisteswelt. Sammlung wissenschaftlich-
gemeinverständlicher Darstellungen. Leipzig und Berlin '14,.
B. G. Teubner. — Jedes Bändchen geb. 1,25 Mk.
Bd. 83: Hanse mann, Prof. Dr. v.. Der .'Kberglaube
in der Medizin und seine Gefahr für Gesundheit und Leben.
2. Aufl.
Bd. 399: Abel, Prof. Dr. O., Die Tiere der Vorwelt.
Mit 31 Abbild, im Text.
■ Bd. 414: Prelinger, DipL-Ing. Dr. O. , Die Photo-
graphie, ihre wissenschaftlichen Grundlagen und ihre An-
wendung. Mit. 65 Abbild, im Text.
Bd. 45S; Schmidt, Prof. Dr. M. G., Natur und Mensch.
Mit 19 Abbild, im Text.
Hempelmann, Dr. Fr., Der Wirbeltierkörper. Eine
VVetter-Moiiatsübersicht.
Während des diesjährigen März war das Wetter in ganz
Deutschland ziemlich mild, aber weit überwiegend trübe und
sehr niederschlagsreich. Am wärmsten war es in den meisten
Gegenden zwischen dem 6. und 10., dann vom 14. bis 16.
und am letzten Tage des Monats. Zu diesen Zeiten beliefen
sich die in der beistehenden Zeichnung wiedergegebenen
TagesmiUel der Temperaturen an verschiedenen Orten auf
5Bifff6rc Temgeraifurftn einiger ©rfe im 5Räril9W
I.Min 6. II. IG. "^ 21. 26. « 31.
Berliner Wetterbureiu.
10» C oder noch ein wenig darüber upd wurden in den
Mittagsstunden vielfach 15" C überschritten; am 14. stieg das
Thermometer in Stuttgart bis auf 17, in Mülhausen i. E.
Hisifer^^cßTaa^Bs^cn im SBäri 19W.
S» ^ i . ^. » n • -^^J=>E Peutschbnd.
i^ Uls"^ i'Sc.E"«-S M^^:£-="i Monafssummeim W
- n
^c.^ E_: .E"^ E
o ü n .°> S «^
-5.| 1^ S S
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L
18.bisJl.Marz.
lIlhilllllE
fAirrterepWepFK
PeuFsdiland.
^onalssumme im Mi
""1.13.12.11.10.
,0J.
"■' BerlinerWettertunu. ^
bis 18, am 31. in Cleve sogar bis 19" C. Aber auch Nacht-
fröste kamen während des ganzen Monats in allen Landes-
teilen noch sehr häufig vor, obschon sie im allgemeinen ge-
linde, nur zwischen dem 11. und 14. ziemlich streng auftraten ;
am II. März brachte es Flensburg, am 14. Bromberg und
Marggrabowa auf 8° C Kälte.
272
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 17
Die mittleren Monatstcmperaturen lagen allgemein über
ihren normalen Werten , in Nordwest und Süddeutschland
um einen bis zwei, östlich der Elbe bis zu vollen drei Grad.
Dagegen fehlte es überall nicht unbeträchtlich an Sonnen-
schein; beispielsweise hatte Berlin im ganzen Monat nicht
mehr als 84 Sonnenscheinstunden, während hier in den frühe-
ren Märzmonaten durchschnittlich 106 Stunden mit Sonnen-
schein verzeichnet worden sind.
Desto größer waren im ganzen Lande die Häutigkeit und
Mengen der Niederschläge, die in unserer zweiten Zeichnung
veranschaulicht sind. Allein in den drei ersten Tagen des
Monats herrschte bei veränderlicher Bewölkung, besonders im
Nordwesten, trockenes Wetter vor. Aber schon am 4. März
gingen an vielen Orten heftige Regengüsse hernieder, die sich
innerhalb der nächsten zwei Wochen oftmals wiederholten.
Sie waren großenteils von starken Südwest- oder Westwinden
begleitet, die am 6 und 7. namentlich im Küstengebiete,
zwischen dem 14. und 17. in Südwest- und Mitteldeutsch-
land vielfach zu Stürmen anwuchsen. Auch wechselten die
Regenfälle nicht selten mit Graupel-, Hagel- und Schnee-
schauern ab, zwischen denen sich der Himmel immer kurz
vorübergehend aufklärte, so daß die Witterung schon in der
ersten Hälfte des März völlig dem bekannten „Aprilwetter"
glich. Am 6. März kamen im westlichen Küstengebiet, am
14. in Süddeutschland, am 16. und 17. in Thüringen, Sachsen,
Schlesien und Brandenburg verschiedentlich Gewitter zum
Ausbruch. Infolge der unaufhörlichen Unwetter traten in
vielen Teilen des Reiches um die Mitte des Monats Hoch-
wasser ein, die namentlich im Ruhrgebiet und in der Um-
gebung der Unterelbe erheblichen Schaden anrichteten.
Seit dem 18. ließen die Niederschläge an Stärke wesent-
lich nach, jedoch wiederholten sich leichte Regenfälle in allen
Gegenden noch beinahe täglich. Zwischen dem 27. und 28.
gingen sie im Norden vielfach in Schneefälle über, die be-
sonders im Elbe- und Üdergebiete lange anhielten und ziem-
lich ergiebig waren. Die Niederschlagssumme des Monats
betrug für den Durchschnitt aller berichtenden Stationen
87,5 mm, während die gleichen Stationen in den früheren
Märzmonaten seit 1891 nicht mehr als 44,5 mm Niederschlag
geliefert haben. Noch in keinem der Jahre ist im März auch
nur annähernd so viel Regen wie diesmal gefallen.
In der ersten Hälfte des Monats wurde die nördliche
Hälfte Europas von zahlreichen, zum Teil sehr tiefen und
umfangreichen Barometerdepressionen durchzogen, die meistens
in der Nähe von Island auftraten und über das Nordmeer
und die skandinavische Halbinsel nach Nordwestrußland ge-
langten. In Südwesteuropa lag dabei beständig ein Hoch-
druckgebiet, dessen östlicher Teil zwischen dem 13. und 14.
rasch nordostwärts vorrückte und sich mit einem zweiten, von
Nordwesten herbeigeeilten zu einem sehr hohen Maximum in
Nordösterreich verband. Durch eine gleichzeitig bei Schott-
land erschienene, außerordentlich tiefe Depression wurde je-
doch das Barometermaximum bald weiter nach Südosten ver-
schoben, worauf verschiedene neue Minima vom Atlantischen
Ozean ostwärts vordringen und ihre Gebiete über ganz West-
und Mitteleuropa ausbreiten konnten. Hier herrschten daher
im allgemeinen milde, sehr feuchte südwestliche Winde von
größerer oder geringerer Stärke, nur am 28. März, als wiederum
ein Maximum von Südwest- nach Mitteleuropa vorrückte und
mit einem zweiten, auf dem Nordmeere gelegenen in Verbin-
dung trat, stellte sich vorübergehend eine kühle Nordwest-
strömung ein. Dr. E. Leß.
Anregungen und Antworten.
Chinesische Kenntnisse von der Verwandlung der Schmetter-
linge. — Bei dem Aufsatze ,,Die Chinesen und der Schmetter-
ling" sind zeitliche Angaben , aus welchem Jahre diese oder
jene chinesische Aussage stammt, unterblieben. Bei der an-
geführten Stelle, die zeigt, daß die Chinesen die Verwandlung
der Schmetterlinge und sogar das Osmaterium der Papilioniden-
raupen schon lange kannten, dürfte eine zeitliche Angabe aber
von allgemeinem Interesse sein. Die Stelle findet sich im
Log-knei mung-tsag, der Biographie des Log knei-mung. Dieser
Autor schrieb das Buch zur Zeit des Kan-tsu, des ersten
Kaisers der Tang-Dynastie, also zwischen 61 8 u. 627 n. Chr.
Die in Rede stehenden Kenntnisse sind also in China schon
recht alt. _
Er wohnte in Tsungl---kongT pol lei und scheint das
Rousseau'sche »Retournans ä la nature« schon lange vor dem
Franzosen durch die Tat betätigt zu haben. Es wird von
ihm erzählt: vor seinem Hause pflanzte er Chrysanthemen zur
Nahrung (die großen Blütenblätter, bzw. Randblüten der voll-
blütigen größten Arten werden gekocht gegessen). Mit Bett
und Ofen , Pinsel und .^ngel fuhr er auf dem Flusse herum
und nannte sich selbst ,,den freien Mann des Flusses".
Dieser auch in China nicht ganz gewöhnlichen Lebens-
weise, die ihn in nahe Berührung mit den Naturgebilden
brachte, hatte er ohne Zweifel seine noch heute in China un-
gewöhnlichen Naturkenntnisse zu verdanken. Meli.
Herrn Prof. W. B. in H. — Nutzen und Schaden des
Maulwurfes. — Sie senden uns einen Ausschnilt aus einer
Tageszeitung, in dem auf Grund der Arbeiten des französischen
Zoologen Raspail dem Maulwurf jeder Nutzen abgesprochen
und dieses Tier im Gegenteil als überaus schädlich hingestellt
wird. Ich habe vergeblich nach dieser Arbeit Raspail 's
in allen französischen Zeitschriften gesucht, auch widersprechen
alle mehrfach gemachten Untersuchungen der ausgesprochenen
Ansicht. Es ist natürlich zuzugeben, daß ein schön gepflegter
Garten durch die Miniertätigkeit des unterirdischen Pioniers
oft zum Ärger des Besitzers zerstört werden kann, anderer-
seits muß aber auch gerechterweise anerkannt werden, daß der
Maulwurf durch die massenhafte Vertilgung tierischer Schäd-
linge sowie durch die Rajolarbeit dem Landwirte von großem
Nutzen ist. Der von Ihnen übersandte Artikel ist nichts weiter
als eine Reklame für eine Pelzfirma, die die verwerfliche
Modenarrheit der Maulwurfspelze zu entschuldigen sucht. Es
ist außerordentlich zu bedauern, daß wissenschaftliche Probleme
und Grundsätze durch diese Art neuerdings sehr beliebter
Reklame — prostituiert werden, und daß die Tageszeitungen
solche Artikel veröffentlichen. Diese Kampfesweise der Pelz-
und Federhändler zeigt deutlich, daß den Naturschutzbestre-
bungen gar nicht genug Interesse und Unterstützung entgegen-
gebracht werden können. Ferd. Müller.
Herrn Dr. A. M. in Gr.
Reptilieneier.
Um Rep-
tilieneier zu embryologischen Untersuchungen zu erhalten,
würde das beste sein, die betreffenden Tiere im Terrarium zu
halten, da man so am sichersten die einzelnen Stadien be-
kommt und am besten fixieren kann. Ob konservierte Eier
käuflich zu haben sind, ist mir unbekannt. Eine Anzeige in
dem Inseratenteil dieser Zeitschrift und Anfragen bei ver-
schiedenen Naturalienhandlungcn können von Erfolg sein.
Ferd. Müller.
Inhaltl Adolf Mayer: Über die Bewohnbarkeit der Sterne. Carl Breuer: Chromalpapiere. — Einzelberichte: L.
Brunerf: Beeinflußbarkeit der Zerfallgeschwindigkeit von Radiumemanation. Gooch undKuzirian: über die
Einwirkung von geschmolzenem Natriumparawolframat auf die Salze flüchtiger Säuren. W. Will: Nitroverbindungen
aus Toluol und Benzol. Casimir Funk: Ein unentbehrlicher Bestandteil unserer Nahrung. C. Heß: Der Lichtsmn
mariner Würmer und Krebse. Riem: 60 zölliges Spiegelteleskop. Geyr zu Schweppenburg: Inhalt von Schrei-
adler-GewöUen. Erich Hesse: Form des Einflugloches des Schwarzspechtes. — Kleinere Mitteilungen: König,
Hasenbäumer und Braun: Ein neues Verfahren zur Gewinnung von Zellulose aus Holz und Gespinstfasern und
zur Beseitigung der abfallenden Laugen. Ru d o 1 f S c h mi 1 1 : Der Einfluß des letzten nassen Sommers auf malaka-
zoologischem Gebiet. — Bücherbesprechungen: Handbuch der Tropenkrankheiten. Kerner v. Marilaun: Pflanzen-
leben. Kr. Birkeland: Über die Ursache der erdmagnetischen Stürme und den Ursprung des Erdmagnetismus. Dug-
more: Wild-Wald-Steppe. Boas: Lehrbuch der Zoologie für Studierende. — Literatur: Liste. — Wetler-Monats-
übersicht. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Mi ehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Bund;
der ganzen Reihe 29. Band
Sonntag, den 3. Mai 1914.
Nummer 18.
Die Quelle der Muskelkraft.
:ibotei
[Nachdruck
Es ist in letzter Zeit mehrfach die Aufmerk-
samkeit weiterer Kreise auf die Frage nach der
Quelle der Muskelkraft gelenkt worden. Dies ver-
anlaßt uns, auch die Leser der „Naturwissenschaft-
lichen Wochenschrift" an diesen Erörterungen zu
i beteiligen. Im vergangenen Jahre stellte J. M a t u 1 a
in der Zeitschrift „Die Naturwissenschaften" \) die
; Quellungstheorie der Muskelkontraktion dar. Kurz
darauf wurde von S. Gutherz-) diese Theorie
I verworfen, dann von R. Hob er in einem Vor-
j trage vor der deutschen Bunsengesellschaft in Bres-
lau ^) wieder verteidigt und jüngst von R. Pütt er
in einem .Artikel der „Naturwissenschaften" *) nur
mit bestimmten Einschränkungen gelten gelassen.
Diese Ouellungstheorie nimmt an, daß gewisse
mikroskopische Gewebselemente der Muskeln nach
erfolgter Reizung aufquellen, wodurch eine Ver-
kürzung des Muskels eintrete. Sie hat einen Rivalen
in der Oberflächenspannungstheorie. Diese stellt
sich vor, daß die wirksamen Gewebselemente im
gereizten Muskel eine Vermehrung ihrer Ober-
flächenspannung erfahren und somit zu schrumpfen
bestrebt sind.
Jede Muskeltheorie muß natürlich die Eigen-
tümlichkeiten des Baues und der Verrichtung
dieser Organe berücksichtigen und physikalisch
möglich sein. Bezüglich des Baues der Muskeln
wissen wir, daß ihre anatomischen Elemente die
Fibrillen sind, lange, mikroskopische dünne Fäden,
die bündelweise in mit Flüssigkeit erfüllten Schläu-
chen stecken. Die Flüssigkeit heißt Sarkoplasma
und der Schlauch .Sarkolemm. Die beiden Enden
des Sarkolemms, an denen die Fibrillen angeheftet
sind, gehen in die Sehne des Muskels über, die
diesen zwischen zwei Knochen oder dergl. aus-
spannt. Beim quergestreiften Muskel zeigt sich
nun die Fibrille zusammengesetzt aus Stücken, die
abwechselnd heller und dunkler sind. Die dunk-
leren haben die Eigenschaft der Doppelbrechung.
Sie sind es, die bei der Kontraktion ihre Gestalt
verändern und im besonderen ihren Längsdurch-
messer verkürzen. Von K. Hürthle ist in einer
vortrefflichen Untersuchung nachgewiesen worden,
daß „bei der Kontraktion weder eine Volumzu-
nahme der Fibrillen im ganzen, noch ihrer doppel-
brechenden Abschnitte" vorkommt.^) Hürthle
weist daher jede Ouellungstheorie ab. Ich glaube,
daß man nicht umhin kann, seinem Schlüsse zu
folgen.
Von Emil Baur-Zürich.
') Bd. 1, 109 (19131.
2) Ebenda, Bd. 1, 38S (1913).
■') Zeitschr. f. Elektrochemie, 19, 73S (1913).
') Bd. 2, 31 (1914I.
'') Pflügers Archiv, 126, 151 I1909).
Somit bliebe fernerhin nur die Oberflächen-
spannungstheorie in ernstliche Erwägung zu ziehen.
Sie betrachtet die ganze Fibrille als Elüssigkeits-
faden oder ihre doppelbrechenden Anteile als eine
Perlschnur von Tropfen. Mit den mikroskopischen
Tatsachen steht sie nach Hürthle nicht im
Widerspruch, wohl aber, wie mir scheint, mit der
Art der Tätigkeit des Muskels. Derselbe arbeitet
nämlich so, wie wenn er eine gespannte, lange,
elastische Spiralfeder wäre. PJne solche kann bei
größter Dehnung das größte Gewicht heben; je
mehr sie sich verkürzt, desto kleiner wird das
Gewicht, das sie weiterhin noch heben kann. Für
den Muskel gilt das nämliche. Dagegen wäre eine
gegebene Oberflächenspannung von der Verkürzung
unabhängig. Daraus muß man schließen, wie mir
scheint, daß der Muskel elastische Kräfte besitzt,
die bei der Kontraktion ins Spiel treten.
Es liegt nahe, diese in die doppelbrechenden
Scheiben zu verlegen. Die Doppelbrechung deutet
auf Spannung; in der Tat nimmt die Doppel-
brechung ab, wenn die Scheiben sich verkürzen.
Diese hätte man einfach als elastische Bänder zu
betrachten. Wohl aber könnte man Oberflächen-
kräfte in Anspruch nehmen, um die nach erfolgter
Kontraktion entspannten Bänder wieder zu spannen.
Diese Oberflächenkräfte müßten dann ihren Sitz
in den einfachbrechenden Scheiben der Fibrillen
haben.
Um nun zu erfahren, welche Geschehnisse den
Wechsel in der Oberflächenspannung jener Elemen-
tarorgane hervorrufen, muß man den Chemismus
des Muskels heranziehen. Das Sarkoplasma ent-
hält in der Ruhe einen Vorrat an Zucker, zum
Teil in P'orm von Glykogen. Nach der Reizung
verschwindet dieser durch Umwandlung in Milch-
säure, und bei der Rückkehr zum Ruhestand wird
die letztere zu Kohlensäure oxydiert. Diese Ände-
rungen in der chemischen Zusammensetzung des
Mediums, in dem die Fibrillen eingebettet liegen,
können nun sehr wohl, ja sogar: sie müssen eine
Änderung in der Oberflächenspannung kontraktiler
I'ormelemente herbeiführen.
An der Grenze zweier Medien oder „Phasen",
wie die physikalische Chemie sagt, reichern sich
gelöste Stoffe im allgemeinen an. Man nennt
diesen X^organg eine Adsorption, und diese hat
auf die an der Phasengrenze herrschende Spannung
einen Einfluß, der natürlich um so größer sein
wird, je bedeutender die Adsorption ist. Das
hängt nun wieder von der Natur des adsorbier-
baren Stoffes ab. In dieser Beziehung wissen
wir, daß die Kohlenhydrate wenig, die aliphatischen
Säuren dagegen stark adsorbierbar sind. Das
274
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. i8
Interesse richtet sich daher vornehmlich auf die
Milchsäure, mit deren Auftreten und \'ersch\vinden
erhebliche Änderungen in der Oberflächenspannung
der einfachbrechenden Scheiben der Fibrillen ver-
bunden zu denken sind.
Ein gelöster Stoff kaim sich nur dann in der
Oberfläche anreichern, wenn die dort herrschende
Spannung erniedrigt wird. Zunehmender Konzen-
tration einer Lösung muß also Abnahme der an
ihren Grenzen herrschenden Spannung entsprechen,
und zwar gelangt man zu einem, von W. Gibbs
entdeckten quantitativen Zusammenhang zwischen
der Verdünnung einer Lösung und der Änderung
ihrer Oberflächenenergie, wie man aus folgendem
Gleichgewicht ableiten kann : Zwei Gefäße, vgl.
Fig. I, sind durch einen Zylinder verbunden, in
dem ein halbdurchlässiger Stempel gleitet. Das
rechte Gefäß enthält die Lösung eines .Stoffes
Fig. I.
mit dem osmotischen Druck p, das linke Gefäß
dieselbe Lösung etwas konzentrierter, mit dem
osmotischen Druck p+ dp. In den beiden Gefäßen
stehen in fester Lage rechtwinklig gebogene Rahmen
mit vertikal beweglichen Querstegen. In den so
geschaffenen V^ierecken sind Lamellen einer Flüssig-
keit ausgespannt, die sich in der umgebenden
Lösung nicht auflösen soll. Wegen der Adsorp-
tion des gelösten Stoftes auf den Lamellen ist ihre
Spannung links etwas geringer, nämlich o — da,
als rechts, wo sie a betragen möge. Um beide
Lamellen am Schrumpfen zu verhindern, sind die
Stege mit Schnur und Rolle miteinander verbunden.
An der Schnur links ist ein Gewicht angebracht,
das den Unterschied der beiden Spannungen aus-
gleicht. Schließlich wird der osmotische Stem])el
am Vorrücken nach rechts verhindert durch ein
ebenfalls an Schnur und Rolle passend angehängtes
Gewicht.
Wenn man nun dieses letztere senkt, so ant-
wortet das andere Gewicht mit einer entsprechen-
den Hebung und umgekehrt. Wenn der Stempel
nach links vorrückt und im linken Gefäß das Vo-
lum V, in dem z. B. ein Mol des gelösten Stoffes
enthalten sein mag, zum Verschwinden bringt,
so entsteht dafür die Oberfläche w, die diese Stoft'-
menge aufnimmt. Auf der rechten Seite ist gleich-
zeitig ein Volumen v entstanden und eine Ober-
fläche io verschwunden. Das linke Gefäß hat da-
bei die Volumenergie — (p-j-dp)v verloren und
die Oberflächenenergie -|-(ff — da)(ii gewonnen, das
rechte Gefäß hat -|-pv gewonnen und — wer ver-
loren. Die Summe dieser Beträge muß, da es
sich um ein Gleichgewicht handelt. Null ergeben,
so daß folgt;
— vdp = (oda.
Wir lernen daraus, daß es Gebilde gibt, die
Oberflächenenergie aufnehmen, indem sie Volum-
energie abgeben. Die entstandene Oberflächen-
energie können wir in Arbeit verwandeln und so
zu Maschinen kommen, in denen aus dem Ver-
brauch eines gegebenen Vorrates von Volumenergie,
d. h. aus Konzentrationsänderungen, durch Ver-
mittelung von Oberflächenkräften Arbeit gewonnen
wird. Da nun alle aus chemischer Energie zu
gewinnende Arbeit im letzten Grunde auf Konzen-
trationsänderungen beruht, so kann man eine
Maschine der gedachten Art passend eine kapillar-
chemische Maschine nennen.
1
i
^Ji_ß_Ä_fi_fi_ajüL
1 1
_.
'.\
1
o*
Fig.
Die .Aufgabe, eine solche Maschine zu kon-
struieren, könnte folgendermaßen gelöst werden.
Wir denken uns einen rechtwinkligen Rahmen,
wie Fig. 2, mit zwei beweglichen Querstegen.
Der linke sei zunächst festgeklemmt und zwischen
beide Stege eine Flüssigkeitslamelle gebracht.
Dann wird der rechte Steg nach dem linken hin-
gezogen werden. Wir hindern ihn daran, indem
wir zwischen ihm und dem Rahmen Federn aus-
spannen. Bei einer gewissen Stellung des Steges
wird die Spannung der Federn der Oberflächen-
spannung das Gleichgewicht halten. Wenn wir
nun an dem anderen Stege mit Schnur und Rolle
eine Wagschale befestigen und auf diese Gewichte
legen, die der an dem Stege wirkenden Ober-
flächenkraft das Gleichgewicht halten, so können
wir die Arretierung des Steges lösen, ohne daß
etwas geschieht. Wir wollen nun noch in der
N. F. XIII. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
275
Lamelle von Steg zu Steg Fäden knüpfen, die nur
eben etwas lose sind.
Nun bringen wir das Ganze in die Atmosphäre
eines ad.sorbierbaren Gases. Der Erfolg wird sein,
daß die Oberflächenspannung sinkt und daß die
Fäden sich straffen. Von nun an hängen die (Ge-
wichte nicht mehr an der Lamelle, sondern an
den Federn. Nehmen wir jetzt Gewichte stück-
weise ab, so schrumpfen die Federn und ziehen
die übrigen Gewichte empor. So läßt sich fort-
fahren, bis Gewicht bzw. Federspannung gerade
unter den Wert der Oberflächenspannung herab-
sinken. Dies macht sich dadurch bemerklicli, daß
in diesem Augenblick die Fäden in der Lamelle
locker werden oder sich zu kräuseln anfangen.
Durch Erhöhung der Konzentration des adsorbier-
baren Gases kann man den Vorgang wiederholen,
bis die Feder- und Oberflächenspannung und da-
mit auch die Last minimal geworden sind.
Die \'orgänge lassen sich prompt umkehren
dadurch, daß man die Konzentration des Gases
erniedrigt, etwa indem man es durch chemische
Reaktion fortschafft. Sonach muß die beim Hub
vom System geleistete Arbeit der verschwundenen
Oberflächenenergie der Lamelle gleich sein, und
der Gewinn an dieser bei der Zurückführung auf
den Anfangszustand muß der Abnahme der Volum-
energie des Gases entsprechen. Wir haben also
die Arbeitsgleichung:
A= I wdff= I vdp = RTln^
Hier bedeuten a^ die Oberflächenspannung bei
dem großen Druck p, oder der entsprechenden
molaren Konzentration Cj, a, die Oberflächen-
spannung bei dem kleinen Druck p.^ bez. c.,.
Die Hubarbeit A ist bezogen auf die Adsorption
von einem Mol Gas auf der Oberfläche w. R ist
die Gaskonstante bezogen auf das iMolarvolumen
V und T ist die absolute Temperatur.
Rechnet man die Oberflächenarbeit aus, so
kommt man zu einer Beziehung zwischen den
Spannungen und Gaskonzentrationen zu Anfang
und zu Ende des Prozesses. Sie lautet^):
') Anmerkung. Zur Ableitung kombinieren wir die
Adsorptionsformel :
1
I — ist die Adsorption pro Flächeneinlieit in Molen) mit der
Oberiliichenspannungsformel (siehe Freundlich, Kapillar-
chemie, Leipzig 1909, S. 65):
J_
n
Oq — o = sc
{Oq ist die Spannung der reinen Oberfläche, a die der Lösung).
Das n der Adsorptionsformel ist
" = nRT
(siehe Freundlich, ebenda, Seite 76).
Man erhält ;
I
.K— ")
©-
ffo— ff.,
und besagt: je größer der Konzentrationsquotient
wird, desto mehr muß die Differenz ff,, — ff._, sich
der Null annähern, was ja nur ein anderer Aus-
druck dafür ist, daß zu einer extrem kleinen Kon-
zentration c, eine ebenfalls extrem kleine Adsorp-
tion gehört. Der Exponent stellt die Konzen-
n
trationsabhängigkeit
bei
der Adsorption dar. Für
denen natürlich der osmotische
I
Lösungen,
Druck an die Stelle des Gasdruckes tritt, hat
n
Werte ') zwischen 0,1 und 0,5.
Nunmehr wollen wir zum quergestreiften Muskel
zurückkehren und uns fragen, inwieweit eine
Hbrille anatomisch und physiologisch der geschil-
derten kapillarchemischen Maschine vergleichbar
ist. Wie mir scheint, liegt es äußerst nahe, die
Segmente einer Fibrille mit einer Strickleiter
zu vergleichen, deren Sprossen abwechselnd durch
elastische Bänder, entsprechend den doppelbrechen-
den Säulchen, und durch Flüssigkeitslamellen, ent-
sprechend den einfachbrechenden Säulchen der
Fibrille, verbunden sind. Ist ein solches Gebilde
von einem mit Lösung gefüllten Sack umschlossen,
wie die Fibrille von Sarkolemm und Sarkoplasma,
und zwischen den Armen eines Gelenkes ausge-
spannt, wie die Fibrille mit ihren sehnigen Enden
zwischen zwei Gelenkknochen, so wird dieses Ge-
bilde sich energetisch ebenso betragen, wie ein
Muskel es tut. Abzusehen ist allerdings von der
wellenförmigen Ausbreitung des Reizes und von
einer am Muskel zweifellos noch vorhandenen Vor-
richtung zur automatisch wirkenden Arretierung
und Dehnung.
Um dies einzusehen, stellen wir uns die ver-
schiedenen Zustände des Muskels einzeln vor. An
einem nicht gereizten, ausgeruhten Muskel hänge
eine Last, die er gerade noch heben kann. In
diesem Zustand besitzt der Muskel seine volle
Spannkraft. Nun erfolge die Reizung. Sie erzeugt
Milchsäure, diese schaltet die Oberflächenspannung
der Lamellen aus und löst wohl gleichzeitig eine
Arretierung, die an unserem Strickleitermodell nicht
vertreten ist. Nun folgt die. Zuckung und Hebung
der Last. Danach hat der Muskel seine Spann-
kraft eingebüßt. Jetzt muß am entlasteten Muskel
eine — wohl elastische — Dehnung ins Spiel
treten, welche die einfachbrechenden Glieder der
Fibrille in die Länge zieht und so die ganze Fi-
brille auf ihre ursprüngliche Länge zurückführt.
Unser Modell hat für diesen Vorgang kein ent-
sprechendes Organ. Zuletzt gewinnt der, in seiner
Somit wird;
I ai^ii = n
fi "1
nRT
RTln-
— = RTln -,
- a, Co
S. 149.
Vgl. Freundlich, Kapillarchemie, Leipzig 1909,
276
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 18
natürhchen Länge gewissermaßen arretierte, Muskel
seine Spannung zurück, indem ein Oxydations-
prozeß die Milchsäure auf eine sehr niedrige
Konzentration herunterbringt. Bei diesem Vor-
gang, der das Werk gewissermaßen aufzieht, werden
die elastischen Bänder der doppelbrechenden
Scheiben ebensoviel gedehnt, als die einfachbrcchen-
den an Länge abnehmen.
Daß die freie Energie einer derartigen chemi-
schen Reaktion, wie die Verbrennung der Milch-
säure, im Muskel gespeichert wird, liegt daran,
daß die adsorbierte Milchsäure die Oberfläche
nicht verlassen kann, ohne deren Spannung zu
vermehren. Es ist die Triebkraft der chemischen
Reaktion, die den adsorbierten .Stoff gewissermaßen
aus der Oberfläche herausholt, .»Arbeit an ihn leistend.
Offenbar ist, daß die ganze Erholungszeit, bis
zum Aufbrauch der auf die Reizung hin in Wirk-
samkeit getretenen Milchsäure, mit zum Kreis-
prozeß gehört. Handelt es sich also um die
Energiebilanz des Vorganges, so muß der LTnter-
schicd der \'erbrennungswärme q eben jener
Milchsäure (oder der entsprechenden Menge Zucker,
was nur sehr wenig mehr ausmacht) und der ge-
leisteten Arbeit A mit der gesamten beobacht-
baren Wärmeproduktion des Muskels O verglichen
werden. Beide müssen gleich sein:
Q = q-A.
Welcher Teil von Q gerade während des kurzen
Zeitintervalles einer Zuckung auftritt, ist für die
Energiebilanz gleichgültig und in seinem Verhält-
nis zu A uninteressant. Ich kann daher nicht zu-
stimmen, wenn, wie gegenwärtig geschieht, ^) die
Bestimmung dieses Verhältnisses, das mit Auf-
wendung nicht gewöhnlicher Mittel vor kurzem
ermittelt wurde, ■) als besonders wertvoll ange-
sehen wird. Allein wichtig ist das Verhältnis der
Größen q und A in der obigen Gleichung. Dies
Verhältnis ist längst bekannt und beträgt für an-
nähernd maximale Belastung etwa A = ''j^ q. Mit
Rücksicht auf die weiter oben gegebene Gleichung
erhält man :
A=RTln^'= 329500^3
Co 4
woraus Cj == etwa iO~"" für c, = i folgt.
Diese minimale Konzentration ist aufzufassen
als die Konzentration der Milchsäure (oder ihrer
Umwandlungsprodukte) im chemischen Gleicli-
gewicht mit Sauerstoff und Kohlensäure. Die
freie Energie dieser oder einer ähnlichen Oxyda-
') A. Pütt e r und K, H ober, a. a. O., auch C. O pp en-
heimer, Naturwissenschaften, Bd. 2, 82 (1914).
^) A. V. Hill, lourn. of Physiology, Bd. U, 466(1912),
46, 28, 435 (1913'-
tion ist es, die die Muskelmaschine aufzieht. Der
Ort der Verbrennung ist die wirkende Oberfläche;
sie wird durch die Tendenz zur Gleichgewichts-
einstellung sozusagen beständig gereinigt, ihre
Spannung dadurch immerfort regeneriert und die
Federkraft der Fibrille so oft wieder hergestellt,
als sie unter Leistung von Hubarbeit aufgehoben
wurde, indem rhythmisch wiederkehrende Reize
einen ruckweisen Zufluß des adsorbierbaren Stoffes
in die wirkende Oberfläche hinein auslösen. Daß
die Quelle der Muskelkraft letzten Endes eine
chemische sein muß, ist selbst\erständlich. Frag-
lich konnte bloß die Art des Mechanismus sein,
wodurch chemische Energie sich im Muskel in
Arbeit umsetzt.
Wenn die Antwort, die wir versucht haben,
daß nämlich der Muskel eine kapillarchemische
Maschine sei, völlig befriedigen soll, so muß außer
der energetischen Möglichkeit auch das Zustande-
kommen der Kraftwirkung des Muskels nachge-
wiesen werden. Auf i qcm Muskelquerschnitt
kommen rund 30 Millionen Fibrillen, deren jede
einen Radius von etwa '.ii,,,,, mm besitzt. Denkt
man sich die Fibrillen als zylindrische Fäden , so
kann man fragen, wie groß muß ihre Oberflächen-
spannung sein, damit die tatsächlich beobachtbare
Tragfähigkeit einer Muskelsäule von l qcm Ouer-
schnitt herauskomme. Die letztere beträgt beim
l'roschmuskel 3000 g und soll beim Menschen
noch mehr als doppelt so groß sein. Die Rech-
nung ist von J. Bernstein') durchgeführt wor-
den mit dem Ergebnis, daß die Oberflächen-
spannung der l'ibrillen (oder, nach vorstehender
Darstellung, ihrer einfach brechenden Teile) gegen
das Sarkoplasma etwa den Wert derjenigen des
Uuecksilbers gegen Wasser erreichen müßte, was
für organische Stoffe außer dem Bereich des
Plausiblen liegt. Man müßte daher die Ober-
flächenspannungstheorie des Muskels fallen lassen,
wenn man nicht annehmen dürfte, daß die maß-
geblichen, einfach brechenden Segmente der
Fibrillen tatsächlich nicht kompakt sind, sondern
in Wahrheit einen z. B. lamellaren Bau hätten.
Eine derartige Anordnung kann der Mikroskopie
leicht verborgen bleiben, wenn etwa der Unter-
schied der Lichtbrechung der aneinander grenzen-
den Phasen nur klein ist. Man wird daher
J. Bernstein nur beipflichten können, wenn er
die von ihm aufgedeckte, vorläufige Unstimmig-
keit zwischen Rechnung und Beobachtung nicht
für hinreichend hält, um der Oberflächenspannungs-
theorie den Boden zu entziehen.
') Pflüger's Archiv, Bd. S5, 271 (1901).
Die Chemie des Chloroitlijlls.
Von Dr. Günther Bugge.
[Nachdruck verboten.]
Das Chlorophyll hat seit langem das besondere
Interesse der chemischen P'orschung erregt, da aus
der .'Kufklärung seiner chemischen Konstitution
eine Beantwortung der wichtigsten Fragen der
Pflanzenphysiologie zu erhoffen ist. Wenn man
bedenkt, daß der Mensch und die Tiere von der
organischen Materie leben , welche die Pflanzen
durch die Wirkung des Chloroph}-lls in sich auf-
bauen , begreift man die Wichtigkeit dieser Sub-
N. F. XIII. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
277
stanz, die Darwin als den interessantesten aller
organischen Stoffe bezeichnet hat. Durch die vor
8 Jahren in Angriff genommenen Untersuchungen
von R i c h a r d W i 1 1 s t ä 1 1 e r ist die Frage nach
der Natur des Blattgrüns ihrer Lösung um ein er-
hebliches Stück näher gerückt, und der vorläufige
Abschluß dieser mit viel Scharfsinn und experi-
mentellem Geschickdurchgeführten Untersuchungen
mag einen Bericht über den jetzigen Stand der
Chlorophyllchemie rechtfertigen.
Als Willstätter seine Forschungen über
den Blattfarbstoff begann , lag eine einwandfreie
Methode zur Isolierung des Chlorophylls aus den
Pflanzen nicht vor. Zwar hatte schon in den
dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts Berzelius
versucht, das Blattgrün durch Anwendung starker
Säuren und Laugen aus Blättern zu extrahieren;
aber dieses Verfahren trug, wie die meisten später
versuchten Methoden, bei denen Säuren oder
Alkalien benutzt wurden, nicht der überaus großen
Zersetzlichkeit des Chlorophylls Rechnung, das bei
diesen „rohen" Kingriffen schon tiefgehend ver-
ändert wird. Andererseits bot aber die Unter-
suchung dieser durch Säuren und Alkalien ver-
ursachten Veränderung die Möglichkeit, Aufschluß
über die Atomgruppierungen zu erhalten, aus denen
sich das Chlorophyllmolekül zusammensetzt. Die
schon früher gemachte Beobachtung, daß aus
alkoholischen Blätterauszügen mit Alkalilauge grüne
Stoffe erhalten werden, die im Gegensatze zum
Chlorophyll wasserlöslich sind, wurde für Will-
stätter der Ausganspunkt, an den die weitere
Erforschung des Chlorophylls anknüpfte. Es lag
nahe, anzunehmen, daß diese bei der alkalischen
Hydrolyse entstehenden Körper Alkalisalze einer
Säure sind, welche bei dem Abbau des esterartig
konstituierten Chlorophylls durch Verseifung ge-
bildet wird. Ferner ließ sich vermuten, daß die
gelinde Einwirkung von Säuren, bei der die grüne
Farbe des Chlorophylls in Grünbraun umschlägt,
in anderer Weise das Molekül angreift wie die
Wirkung der Alkalien, und daß hier keine Ver-
seifung eintritt, sondern eine Zerstörung der sauren
Komponente, die bei der alkalischen Verseifung
abgespalten wird.
Die sehr zersetzlichen Produkte der Einwirkung
von Alkali auf Chlorophyll, dieChlorophylline,
konnten nach Ausarbeitung geeigneter Methoden
isoliert und genauer untersucht werden. Sie er-
wiesen sich bei der Analyse als magnesiumhaltig.
Und zwar stellte sich heraus, daß das Magnesium
in den Chlorophyllinen nicht , wie bei den ge-
wöhnlichen Magnesiumsalzen , in elektrolytisch
dissoziierbarem Zustand vorhanden ist, sondern in
„komplexer" Bindung, d. h. in einer Form, in der
es durch die üblichen lonenreaktionen nicht nach-
gewiesen werden kann. Selbst beim Erhitzen mit
Alkalien läßt sich das Magnesium nicht abspalten,
sondern der Metallkomplex bleibt unversehrt. Wohl
aber werden bei dieser Reaktion die in den Chloro-
phyllinen vorhandenen Säureradikale, die Karboxyl-
gruppen, nacheinander unter Kohlendioxydbildung
eliminiert. Es entstehen auf diese Weise prächtig
gefärbte Abbauprodukte, die den Namen Ph\-lline
erhalten haben (z. B. das intensiv fluoreszierende
Glaukophyllin und das Rhodophyllin). Beim Er-
hitzen der Phylline mit Natronkalk wird auch die
letzte Karboxylgruppe abgespalten, und es re-
sultiert eine sauerstofffreie Substanz von der Formel
C..jH.;^N_iMg, das Ät iophyllin. In dieser Stamm-
substanz der Chloroph\'lline hat man eine Bindung
des Magnesiums an die vier Stickstoffatome in der
Weise anzunehmen, daß das mit zwei Valenzen
an Stickstoff gebundene Metall durch „Neben-
valenzen" komplex befestigt wird :
Mg
/ ! \
NNNN
Dem Ätiophyllin kommt deshalb besondere Be-
deutung zu , weil es auch aus dem Hämin ge-
wonnen werden kann, eine Tatsache, die auf die
zuerst von Ne n cki entdeckte Verwandtschaft von
Blut- und Blattfarbstoff deutlich hinweist.
Während das Magnesium der Phylline gegen
alkalische Eingriffe sehr beständig ist, zeigt es
gegenüber der Einwirkung von Säuren nur geringes
Widerstandsvermögen. Unter Abspaltung des
Magnesiums bilden sich mehrbasische und ein-
basische Aminosäuren, die Porphyrine, und
schließlich entsteht eine Substanz, die keinen Sauer-
stoffmehr enthält, das Ätioporphyrin (CgiHgiN^).
Durch das Verhalten der Phylline gegen Säuren
ergaben sich wichtige Hinweise auf den Mecha-
nismus der Einwirkung von Säuren auf das Chloro-
phyll selbst. Bei dieser Reaktion, die durch einen
auffälligen Farbenumschlag gekennzeichnet ist,
bildet sich — am besten bei Anwendung alko-
holischer Oxalsäure — ein Chlorophyllderivat, das
ebenso wie die Porphyrine frei von Magnesium
ist. Dieser Körper, das Phäophytin, ist eine
olivgrüne Substanz von wachsähnlichem Aussehen,
die aus mehr als 200 verschiedenen Pflanzen von
Willstätter isoliert werden konnte. Sie ist"
identisch mit dem 1879 von Hoppe-Seyler
erhaltenen Chlorophyllan. Führt man in das Atom
des Phäophytins Metalle ein, die, wie das Kupfer
oder das Zink, zu komplexer Bindung neigen, so
entstehen Stoffe, die in bezug auf Farbe und
andere Eigenschaften große Ähnlichkeit mit dem
Chloroplnll zeigen. Die Wiedereinführung von
Magnesium in das Phäophytin, die durch Methyl-
magnesiumjodid bewirkt werden kaim, ermöglicht
die Rückverwandlung von Phäoph\"tin in Chlore-
phyll.
Seiner chemischen Natur nach ist das Phäo-
phytin ein Ester. Behandelt man es daher mit
alkoholischer Kalilauge, so wird es verseift, indem
einerseits ein hochmolekularer Alkohol, andererseits
eine Säure entsteht. Der Alkohol hat die Formel
C.,oHo,,OH und führt den Namen Phytol. Er
steht wahrscheinlich, seiner Struktur nach, in nahen
Beziehungen zum Isopren, einem Kohlenwasser-
278
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. i8
Stoff, von dem sich der Kautschuk ableitet. Da
dieser Alkohol auch bei der hinwirkung von Al-
kalien auf das Chlorophyll selbst entstehen muß,
gibt uns das durch die Säure gebildete Chloro-
phyllderivat erwünschten Aufschluß über die
Alkoholkomponente des als Ester aufzufassenden
Chlorophylls; das Chlorophyll ist also ein Phyto]-
ester.
Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, bedurfte
es einer mühsamen Untersuchung zahlreicher
Pflanzen und der richtigen Deutung der sich hier-
bei ergebenden Resultate. Der Phytolgehalt von
Phäophytinpräparaten verschiedener Herkunft zeigte
nämlich in vielen Fällen unerklärliche Schwan-
kungen ; er stieg zwar niemals über eine gewisse
Grenze (SS"/,,), aber manchmal sank er beträcht-
lich unter diesen Wert oder es ließ sich überhaupt
kein Phytol nachweisen. Zur Lösung dieses
Rätsels verhalf die Beobachtung, daß diejenigen
Pflanzen, die einen abnorm niedrigen Ph)-tolgehalt
aufwiesen, sich dadurch auszeichneten, daß aus
ihnen mit besonderer Leichtigkeit das Chlorophyll
in einer eigenartigen kristallisierten Form isoliert
werden konnte. Dies „kristallisierte" Chloroph)-ll
war 1881 von dem russischen Botaniker Borodin
in Blattschnitten mit Hilfe des Mikroskops ent-
deckt und später von Monteverde spektralana-
lytisch untersucht worden. VV il 1 s t ä tt e r stellte
fest, daß das kristallisierte Chlorophyll frei von
Phytol ist, also nicht etwa eine physikalische
Modifikation des eigentlichen amorphen Chloro-
phylls vorstellt, sondern ein Derivat dieses Pigments
ist. Ferner fand er, daß das Chlorophyll in den
grünen Pflanzenteilen stets von einem Enzym, der
Chlorophyllase, begleitet ist, und daß dieses Enzym
bei der alkoholischen Extraktion des Chlorophylls
eine Reaktion zwischen dem Alkohol und dem
Chlorophyll auslöst, bei der eine „Alkoholyse",
d. h. eine Verdrängung des Phytols durch Alkohol
unter Bildung von Methyl- oder Äthylchlorophyllid
bewirkt wird. Das phytolfreie Chlorophyllderivat
tritt also immer dann auf, wenn der Plxtrakt längere
Zeit mit dem Mehl der getrockneten Blätter, aus
denen man das Chlorophyll gewinnt, in Berührung
bleibt ; bei schnellem Extrahieren wird dagegen
die Alkoholyse eingeschränkt oder verhindert und
ein normaler Phytolgehalt beobachtet.
Für die Konstitution des Chlorophylls ergaben
sich weitere wichtige P'olgerungen aus der Llnter-
suchung der Verseifungsprodukte, die außer dem
Phytol bei der Behandlung des Phäophytins mit
Alkalien gebildet werden. Es gelang, die Abbau-
methoden so zu vervollkommnen, daß schließlich
immer zwei Endprodukte resultierten: das grüne
„Phytochlorin e" und das rote „Phytorhodin g".
Das erstere, eine Tricarbonsäure, hat die Zu-
sammensetzung CjjHjiO-.N^ , das letztere, eine
Tetracarbonsäure, die Formel C.5|H.,^0-Nj. Es
entstand jetzt die I'rage: wie läßt sich das gleich-
zeitige Auftreten dieser beiden chemisch sich sehr
nahe stehenden Produkte erklären? Man konnte
zunächst denken, daß das Phäophytin in zwei
Bruchstücke zerfiele. Diese Annahme schied aber
deshalb aus, weil zwischen dem Molekulargewicht
des Phäophytins einerseits und dem des Phyto-
chlorins und Phytorhodins andererseits nur eine
unerhebliche Differenz vorhanden war. So blieb
nur die Erklärung, daß das Phäophj-tin und da-
mit auch das Chlorophyll aus zwei Komponenten
besteht, von denen die eine beim Abbau das
Phytochlorin e, die andere das Phytorhodin g
liefert. Diese Hypothese hat der experimentellen
Nachprüfung stand halten können : tatsächlich be-
steht das Ch!oroph)-ll aus zwei Komponenten, dem
Chlorophyll a, einer blaugrünen Substanz, die beim
Abbau zum Phytochlorin e führt, und dem Chloro-
phyll b, einem gelbgrünen Stoff, der das Phyto-
rhodin g liefert.
Die Will statt ersehen Forschungen haben
damit zu einem t>gebnis geführt, das schon früher
durch Beobachtungen von Stokes (1864) und von
Tswett wahrscheinlich gemacht worden war.
Aber die von Stokes ausgesprochene Ansicht
über die Doppelnatur des Chlorophylls konnte sich
nicht auf ein experimentelles Material von so
zwingender Beweiskraft stützen, wie es die VVill-
stätter'sche Hypothese vermag; insbesondere
war früher mit der Möglichkeit zu rechnen, daß
erst durch die Extraktions- und Trennungsmetho-
den eine Zerlegung des Chlorophylls in zwei
Komponenten erfolgte, während wir heute wissen,
daß diese beiden Bestandteile schon im chemisch
nicht veränderten Chlorophyll gemeinsam vorhan-
den sind.
Die Isolierung des Chlorophylls in reinem Zu-
stand wird durch die Tatsache ermöglicht, daß
sich durch Anwendung zweier organischer Lösungs-
mittel iz. B. Alkohol und Petroläther) eine ver-
schiedene Verteilung des Chlorophylls und seiner
Begleitstoffe (hauptsächlich der gelben P^'arbstoffe)
in beiden P'lüssigkeiten erzielen läßt. Man kann
so durch genügend häufige Wiederholung dieser
Entmischungsoperationen aus Extrakten , die nur
8— lö^o Chloroph\il enthalten, ca. 70 i)roz. Chloro-
phylllösungen herstellen. Der Reinheitsgrad der
Lösungen läßt sich hierbei durch kolorimetrische
Methoden kontrollieren. Hat das Chlorophyll einen
bestimmten Reinheitsgrad erreicht, so löst es sich
nur noch in alkoholhaltigem Petroläther, aber nicht
mehr in reinem Petroläther. Man braucht dann
also nur noch den Alkohol durch Auswaschen zu
entfernen, um das Chlorophyll zur Ausscheidung
zu bringen. Durch Umfallen des Chloroi^hylls
aus der ätherischen Lösung mit reinem Petrol-
äther kann die letzte Reinigung des Farbstoffes
bewirkt werden.
Die Komponenten a und b verteilen sich bei
den Entmischungsvorgängen, die zur Isolierung des
Chlorophylls dienen, in ungleicher Weise zwischen
dem Alkohol und dem Petroläther. Durch syste-
matische Fraktionierung kann die Verteilung der
beiden Stoffe so geleitet werden, daß sie schließ-
lich zur Isolierung jeder einzelnen Komponente
führt. Die Methoden der Extraktion und Ent-
N. F. XIII. Nr. iS
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
2/9
miscluing sind jetzt so vervojll^ommnet, daß man
ohne Schwierigkeit in wenigen Stunden zu größeren
Mengen Ciiloroph)'ll kommen kann. Es lassen sich
beispielsweise aus 250 g frischen Brennesselblättcrn
nach der Angabe VVi llstätt er's in 40 Minuten
0,25 g völlig reines Chlorophyll isolieren.
Chlorophyll a und b haben trotz ihrer ojitischen
Verschiedenheit nahezu die gleiche chemische Zu-
sammensetzung: die I'ormcl der a-Komponente ist
Cj,-,H;,,OjNjMg, die der b-Komponente C-^H^nO,.
N4Mg. Das Gewiclnsverhältnis, in dem beide im
Chlorophyll anwesend sind, ist fast ganz unab-
hängig von der Pflanzenart und von dem biolo-
gischen Zustand der Pflanze; auf drei Moleküle der
a- Verbindung kommt stets ein Molekül der b-
Komponente.
Die oben erwähnten gelben Pigmente,
die das Chloroph)-ll in der Pflanze begleiten, sind
ebenfalls von Willstätter untersucht worden.
Für das schon früher bekannt gewordene Carotin
ließ sich die Formel C^^iHr,,; sicherstellen; für das
Xanthoph)'ll , das zum erstenmal in reiner Form
hergestellt wurde, ergab sich die Zusammensetzung
CjdH,-,i;0.,. Ein dritter ,, carotinoider" h'arbstoff, der
in den Braunalgen vorkommt, wurde als eine Ver-
bindung von der F'ormel C4,|H,r,40|5 erkannt.
Ebenso wie das Verhältnis von Chlorophyll a :
Chlorophyll b konstant ist, stehen auch die Mengen
der Carotinoiden Farbstoft'e zu den Mengen der
Chlorophylle, die sie begleiten, in einem bestimmten
Verhältnis. Aus i kg trockener Hollunderblätter
lassen sich z. B. 8,48 g Chlorophyll (6,22 g a und
2,26g b) und 1,48g gelbes Pigment (0,55 g Carotin
und 0,93 g XanthophyllJ isolieren. Die Konstanz
dieser Verhältnisse deutet schon darauf hin, daß
die Carotinoiden Farbstoffe in nahen Beziehungen
zur Funktion des Chloroph)'lls stehen müssen.
Willstätter hat hier eine kühne Hypothese auf-
gestellt, die vom Standpunkt des Chemikers eine
Vorstellung von der Rolle geben soll, welche die
verschiedenen Farbstoffe bei der Assimilation der
Kohlensäure spielen. Er denkt sich die Chloro-
phyllfunktion in der Weise, daß die Reduktion
der Kohlensäure, die durch die Affinität der
Magnesiumverbindungen angezogen wird , unter
Verbrauch der absorbierten l.ichtenergie durch die
a-Komponente bewirkt wird, wobei diese sich in
die b-Komponente umwandelt. Das durch ().\y-
dation gebildete Chlorophyll b wird unter Abgabe
von Sauerstoff wieder in a zurückverwandelt, und
zwischen beiden Vorgängen stellt sich ein Gleich-
gewichtszustand ein. An der Rückverwandlung
von b in a beteiligen sich möglicherweise die
gelben P'arbstofie, vielleicht derart, daß sie das
Verhältnis der Chlorophyllkomponenten regulieren.
Dies könnte beispielsweise so erfolgen, daß das
Carotin dem Chlorophyll b den Sauerstoff ent-
zieht und sich dabei in Xanthophyll umwandelt,
das dann den Sauerstoff unter der Wirkung eines
Enzyms wieder abgibt.
Wieweit diese interessanten Hypothesen zu-
trefl'en , müssen künftige Untersuchungen zeigen,
zu denen die Wi llstä t ter'schen Arbeiten eine
sichere Grundlage geschaffen haben. Jedenfalls
erscheint heute die Chemie des Chloroph\-lls, wenn
auch die Struktur dieses Stoffes noch nicht völlig
erschlossen ist, schon soweit aufgeklärt, daß ihre
weitere Erforschung in vorgezeichneten Leitlinien
erfolgen kann. Die P'ülle von Anregungen , die
wir dem Werk Willstätter 's verdanken, läßt
erhoffen, daß wir jetzt tiefer in das Problem der
Kohlensäureassimilation eindringen werden , und
daf3 schließlich auch die Aufgabe ihre Lösung
finden wird, unabhängig von der Pflanze mit den
chemisch isolierten Substanzen die Assimilation
zu erzielen.
Einzelberichte.
Anthropologie. Über die vielumstrittene
Frage der Kreuzung von Menschenrassen hielt
F. V. Reitzenstein auf der 44. deutschen Anthro-
pologenversammlung einen Vortrag, der kürzlich
im Korrespondenzblatt der deutschen Gesellschaft
für Anthropologie (44. Jahrg., S. 103 — 1 10) im
Druck erschien. Der Vortragende bekannte sich
zu der Ansicht, daß die Kreuzung verschiedener
Rassen im allgemeinen nicht nachteilig wirkt, weil
er an eine Minderwertigkeit der F"aibigen nicht
glaubt. Den Umstand, daß die farbigen Rassen
bisher nur geringe kulturelle Fähigkeiten entwickel-
ten, führt v. Reitzenstein hauptsächlich auf
ungünstige Beeinflussung seitens der Weißen zurück;
die Wegnahme des Landes, das Aufzwingen euro-
päischer Kleidung und die Versorgung mit Alkohol,
dessen Genuß den Zwang zu verbrecherischen Hand-
lungen fördert, sind für die farbigen Rassen ver-
derblich. Die Weißen haben aber in den meisten
Gebieten, welche sie den Farbigen abgenommen,
keine Aussicht auf Akklimatisation. F. v. R e i t z e n -
stein führt eine Reihe von Beispielen an, die
zeigen, daß europäische Bevölkerungen in tropi-
schen Kolonialländern in wenigen Generationen
an Kopfzahl stark abnehmen, oder daß nur Misch-
linge zurückbleiben. — Gewiß trägt hieran zum
Teil der Umstand Schuld, daß die Körperkonsti-
tution der Europäer, und namentlich der Mittel-
und Nordeuropäer, der tropischen Umwelt nicht
angepaßt ist.') Aber es ist zu beachten, daß in
allen diesen Phallen der Degeneration von Kolonial-
bevölkerungen Kreuzungen mit den Eingeborenen
siattfanden. Das legt den Gedanken nahe, daß
denn doch beide Erscheinungen in ursächlichem
Zusammenhang stehen. Überdies wurde auch be-
') Vgl. Fehlinger, Die Akklimatisation der Europäer
in den Tropen. Politisch. -Anthrop. Revue, 9. Jahrg., Heft II.
28o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. i8
reits gezeigt, ') daß in tropischen wie in außer-
tropischen Ländern nach Massenl<reuzungen zwi-
schen Eingeborenen und Europäern die Volks-
zahl beträchtlich zurückgeht. Bei den Negern
der Vereinigten Staaten läßt sich der statistische
Nachweis erbringen, daß die auf eine bestimmte
Zahl gebärfähiger Frauen treffende Kinderzahl
um so geringer ist, je weiter vorgeschritten die
Rassenkreuzung in dem betreffenden Gebiet ist.
In einem Falle wurde allerdings nachgewiesen, und
zwar von Prof. Eugen Fischer an den Bastards
von Südwestafrika, -) daß nach Rassenkreuzung die
Vollfruchtbarkeit der IViischlinge weiterbesteht. Es
weisen jedoch verschiedene Umstände darauf hin,
daß die farbige Stammrasse der Bastards, die
Hottentotten, vornienschengeschichtlich noch nicht
allzu langer Zeit in Südeuropa ansässig war und
von da nach Afrika wanderte. Man braucht sich
deshalb nicht sehr zu wundern, wenn die Differen-
zierung zwischen Europäein und Hottentotten noch
nicht bis zu einem Grade gediehen ist, bei dem
nach Kreuzungen eine Minderfruchtbarkeit der
Mischlinge besteht.
Um bei der Behandlung der Mischlingsfrage
grenzenlose Verwirrung zu vermeiden, ist es er-
forderlich, zwischen Mischrasse und Mischvolk zu
unterscheiden, was in der Regel nicht geschieht.
Man geht so weit, von den Deutschen als Misch-
rasse von Germanen und Slawen zu sprechen,
während dies in Wirklichkeit nur verschiedene
Völker einer Rasse sind. Richtig ist es, wenn
V. Reitzenstein die Japaner als Misch volk
bezeichnet, denn sowohl die Chinesen, Koreaner
als Malaien, die zur Bildung der japanischen Nation
beitrugen, gehören zu der gelben körperhaararmen
Rasse, die man gewöhnlich als Mongolen bezeich-
net. Allerdings fällt mit dem Einbekenntnis, daß
die Japaner ein Misch volk sind, die Möglichkeit
fort, sie als Beispiel biologischer und kultureller
Tüchtigkeit von Mischrassen anzuführen. Die
Zahl der in die Japaner aufgegangenen Aino war
hingegen sicher viel zu klein, als daß diese Ver-
mischung von nennenswertem Einfluß auf die
Körpereigenart der Japaner gewesen sein könnte.
F". V. Reitzenstein ist dagegen im Recht,
wenn er die Behauptung als falsch zurückweist,
daß die Mischlinge nur die schlechten Eigenschaften
der Elternrassen erben. Da die Vererbung nach
den allgemein gültigen Mendel'schen Gesetzen
erfolgt, so müssen bei den Mischlingen zum Teil
auch jene Eigenschaften vorhanden sein, die man
innerhalb eines Kulturkieises zu einer gegebenen
Zeit als „gut" betrachtet.
Wichtig ist V. Rei t zens t ei n 's Konstatierung,
daß in den deutschen Kolonien, mit Ausnahme
von Samoa, die Zahl der Mischehen äußerst ge-
ring ist, so daß von einer tatsächlich infolge der
Vermischungen drohenden Gefahr nicht die Rede
sein kann. H. Fehlinger.
Zoologie. Das Schnellen der Springkäfer wird
nach der bisherigen Anschauung dadurch hervor-
gebracht, daß der auf dem Rücken liegende Käfer
seinen Rücken hohl macht, indem er einen kleinen
Brustdorn gegen den Rand einer Grube des zweiten
Brustringes stützt und dann den Dorn in die Grube
einschnappen läßt. Dadurch krümmt sich der
Fig. I. SpringliKfer Semiotus. Auf dem Rücken liegend, zum
Sprunge bereit, Brusidorn aus der Grube gezogen.
Nacli T h i 1 o.
Rücken so stark nach vorn, daß er heftig gegen
den Boden schlägt und das ganze Tier in die Höhe
schleudert. Den Springprozeß hat neuerdings
Thilo genauer studiert [Das Schnellen der
Springkäfer (Elateriden), Biol. Ctrbl., Bd. XXXIV,
1914]. Er ging von der Beobachtung aus, daß
eine durch Federung funktionierende Mausefalle,
oder das Klippholz, ein bekanntes Kinder-
spielzeug, in die Höhe hüpft, wenn auf das eine
Ende ein Schlag ausgeführt wird, obwohl die
Grundfläche ganz eben ist, und konstruierte ein
sinnreiches Drahtgestell, das in seinen Dimensionen
dem Längsschnitt eines Springkäfers entspricht.
') Vgl. Fehlinger, Kreuzungen beim Menschen. Archiv
f. Rassen- und Gesellschaftsbiol., Jahrg. 1911, Heft 4. — Der-
selbe, Neues v. d. Biul. d. Menschen, Xaturw. Wochcnschr.,
N. F., IX. Bd., S. 86— 87.
-) Vgl. Neues von der Biologie des Menschen. Nalurw.
Wochenschr., N. F., XII. Bd., S. 641—644.
Fig. 2. Springendes Modell des SpringkUfers.
ü Gummizug, Z Zündschnur. Nach Thilo.
,,Der einarmige Hebel vorn am Gestell (siehe
Fig. 21 wird mit einer Zündschnur befestigt, und
hierauf wird ein Gummizug von einem Ende zum
anderen gespannt. Entzündet man jetzt die Schnur,
so schlägt der Hebel gegen eine Gabel und schleu-
dert das ganze Gestell so in die Höhe, daß es sich
in der Luft in der Pfeilrichtung überschlägt." Da
das Modell die gleiche Form und den gleichen
Mechanismus besitzt wie der Springkäfer, so be-
weist es, daß auch bei diesem die Bewegung
durch einen Schlag auf das vordere Ende erfolgt.
T h i 1 o fand am Käfer auch die kräftigen Muskeln
des .Sprunggelenkes. Das Gelenk selbst erinnert
in seinem Bau an das Gelenk einer Wage, wo
der Balken auf einer Schneide ruht. Um ein seit-
liches Ausgleiten zu verhindern, greifen seine beiden
Teile durch Höcker ineinander wie die Schalen-
N. F. XIII. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
281
liälften der meisten Muscheln. Durch die Be-
wegung des Gelenkes gleitet der ventrale Dorn
am ersten Rrustring in die korrespondierende Grube
des folgenden, und zwar so, daß er wie ein krummer
Säbel in der Scheide ruht und die beiden Seg-
mente fest zusammenschließt. Somit dient der
Dorn nicht nur zum Sprung, sondern auch zum
Schutz der Intersegmentalparlien.
Dr. Stell waag.
Die Lebensfähigkeit der Dauereier von Hy-
datina senta und die Vererbung dieser Eigen-
schaft. Im Verlaufe seiner umfassenden Unter-
suchungen über die Faktoren , de den Ab-
lauf des Generationszyklus bei den Rotatorien
regeln'), machte Shull die Beobachtung, daß bei
weitem nicht aus allen Dauereiern — im Gegen-
satz zu den parthenogenetischen Eiern — junge
Tiere ausschlüpfen, und zwar war die ,, Lebensfähig-
keit" der Dauereier in verschiedenen Linien sehr
verschieden groß. Durch eine Reihe von Experi-
menten kommt Shull nunmehr zu dem Resultat"),
daß die ,, Lebensfähigkeit" der Dauereier von Hyda-
tina senta eine erbliche Eigenschaft ist. '') Kreuzt
man ein Weibchen von Hydatina senta mit einem
Männchen, das derselben parthenogenetischen Linie
entstammt, so ist ein bestimmter Prozentsatz von
lebensfähigen Dauereiern für diese neue Linie
charakteristisch. In einer Linie schlüpfen aus
nur 5 ^jii der Dauereier junge Tiere aus, in
einer anderen aus 4o''/(,, in wieder einer anderen
aus 70
usw. Shull beobachtete auch eine
Linie, in der sich kein Dauerei als ,, lebensfähig"
erwies. Das Schicksal einer solchen Linie ist,
falls sie sich nicht parthenogenetisch fortzupflanzen
vermag, natürlich besiegelt.
Was uns an den Ergebnissen ShuU's beson-
ders interessiert, sind seine Resultate, die er bei
Kreuzung von Linien mit einem verschieden hohen
Prozentsatz lebensfähiger Dauereier erhielt. Es
erwies sich nämlich durchaus nicht als gleich-
gültig, ob die zu der Kreuzung verwandte Mutter
der einen oder der anderen Linie entstammte,
d. h. mit anderen Worten, reziproke Kreuzungen
führten nicht zu dem gleichen Resultat. Wurde
z. B. eine Linie, für die 5 % lebensfähiger Dauer-
eier charakteristisch war, mit einer anderen mit
45 "/o lebensfähiger Dauereier gekreuzt und gehörte
das zur Kreuzung benutzte Weibchen der ersten
Linie an, so näherte sich der Prozentsatz lebens-
fähiger Eier der neuen Linie 5 " „, entstammle das
') Siehe das Sammelreferat in Nr. 5 des vorigen Jalirganges
dieser Zeitsclirift.
-) Shull, A. F, Inherilance in Hydatina senta. I. Via-
bility of the resting cggs and the sc\ ratio. Journ. of. e.xpcrim.
Zoöl., Vol. 15, 1913.
') Über die Faktoren, die den Prozentsatz der ,, lebens-
fähigen" Dauereicr bestimmen, lassen sich nur Vermutungen
äußern. Nach der Darstellung von Shull scheinen nicht
anormale Entwicklungsprozesse die Ursache zu sein, daß aus
zahlreichen Eiern liein junges Tier ausschlüpft, sondern die
Tiere entwickeln sich vollständig, vermögen aber die Eischale
nicht zu durchbrechen und gehen innerhalb derselben zugrunde.
Weibchen aber der zweiten Linie, so näherte er
sich 45 "/^|. Die Hybriden waren also hinsichtlich
dieser Erbeigenschaft immer der Mutter ähnlicher.
Daß reziproke Kreuzungen ungleiche Produkte
liefern können, wußte man bereits auf Grund von
Experimenten mit Tieren und Pflanzen. In den
meisten Fällen ist es so wie bei Hydatina: die
Bastarde sind der Mutter ähnlicher. Bei gewissen
Seeigelbastardierungen wird, wie Baltzer zeigen
konnte, im Laufe der Furchung der zur Kreuzung
benutzten Eier ein Teil der vom Spermakern stam-
menden Chromosomen eliminiert und geht zu-
grunde. Die Verschiedenheiten zwischen den rezi-
proken Bastarden sind also hier darauf zurückzu-
führen, daß die Träger der väterlichen Erbeigen-
schaften zum Teil überhaupt nicht mehr vorhanden
sind bei der Ausbildung des jungen Tieres. Aber
nicht alle obengenannten Fälle können in dieser.
Weise eine Erklärung finden. Wenn man solche
Fälle als einen Beweis dafür angesehen hat, daß
auch das Plasma ein Träger erblicher Eigenschaften
ist, so muß doch hervorgehoben werden, daß da-
mit dieser Beweis nicht erbracht ist. Mit Recht
vertreten in einer kürzlich erschienenen Abhand-
lung über Kreuzungsversuche an Knochenfischen
Günther und Paula Hertwig') — sie be-
obachteten ebenfalls Verschiedenheiten zwischen
reziproken Bastarden — den Standpunkt, daß
sich dieser Beweis aus dem Vergleich der
ersten Generation überhaupt nicht erbringen
läßt. Erst wenn die zweite Generation der rezi-
proken Bastarde noch die bisherigen Unterschiede
zeigte, könnte man eine Mitbeteiligung des Proto-
plasmas an der Vererbung als bewiesen betrachten.
,,Erst aus dieser Beobachtung würde sich der
Schluß ziehen lassen, daß die Geschlechtszellen
der beiden P', -Generationen trotz identischer Kern-
zusammensetzung einander nicht gleich wären,
daß sich also tatsächlich die Verschiedenheiten
des Protoplasma auch auf die Geschlechtszellen
des neuen Individuums vererbt hätten." In den
bisherigen Experimenten dieser Art verhinderte
indessen meist die LIngunst des Materials die Auf-
zucht der zweiten Generation, sei es, daß die erste
Generation überhaupt nicht bis zur Geschlechts-
reife gebracht werden konnte — so z. B. in den
Experimenten der Geschwister Hertwig — , sei
es, daß die Unfruchtbarkeit der Bastarde eine
Weiterzucht unmöglich machte — ich erinnere
an Maultier und Maulesel.
Bei Hydatina bietet die Aufzuciit weiterer
Generationen nach der ersten Kreuzung keine
Schwierigkeiten und Shull findet, daß in der
Tat späterhin zwischen den reziproken Bastarden
keine Unterschiede mehr zu bemerken sind. Wurde
von jedem der beiden — unter sich also ver-
schiedenen — reziproken Bastarde eine partheno-
genetische Linie abgeleitet und in beiden Linien
dann eine Kreuzung vorgenommen, so unter-
') Hertwig, Günther und Paula. Kreuzungsversuche an
Knochenfischen. Arch. f. mikr. Anat., 84. Bd., 1914.
282
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. i8
schieden sicli die von den Weibchen der beiden
Linien erzeugten Dauereier hinsichtlich ihrer
Lebensfähigkeit nicht mehr, wie in der ersten
Generation. Das Zellplasma hat also — das ist
das wichtige Resultat, zu dem Shull kommt —
keinen Anteil an der Vererbung, es ist als ein
Teil der Umgebung zu betrachten, und dem reifen
Ei kommt, um mit den Geschwistern Hertwig
zu sprechen, nur deshalb ,,eine gewisse höhere
Wertigkeit der Übertragung der elterlichen Eigen-
schaften" zu als dem Spermatozoon, weil es ,, wäh-
rend der ganzen Zeit seiner Entwicklung von der
Ureizelle an unter dem Einfluß des rein mütter-
lichen Idioplasma gestanden hat", während „erst
mit dem Moment der Befruchtung auch dem väter-
lichen Idioplasma Gelegenheit gegeben wird, auch
seinerseits dem neuen Individuum seine Eigen-
schaften aufzuprägen". Nachtsheim.
Leistungsfähigkeit des Haussperlings im Eier-
legen. Daß unser Haussperling (Passer domes-
ticus L.) eine große Fortpflanzungskraft hat,
ist schon lange bekannt. Diesbezüglich enthält
der Bericht eines Oologen, I^ich. Schlegel,
einige interessante Angaben. ') Um die Pigmen-
tierung der Nachgelege studieren zu können, be-
seitigte er stets die Gelege. Es legten dann :
Weibchen Nr. i 6 Gelege zu 24 Eiern in 71 Tagen,
,.25 „ „ 24 „ „ 49
„ 3 3 .. ..13 V „ 48 „
„ 4 6 ., „ 33 n „ 83^ „
Die I-'ruchtbarkeit ist eine sehr verschiedene,
aber docli durchwegs eine große.
Alb. Heß, Bern.
Vogelzug über die schweizerischen .Alpen-
pässe. Eine interessante Zusammenstellung über
die Vögel, welche die schweizerischen Alpen-
pässe als Zugstraße benutzen, hat K. Bretscher
geliefert. -)
Er stellt fest, daß z. B. über den Golthard
mehr oder weniger regelmäßig als Zugstraße
wählen ; 49 Sänger, 3 Spechte, 7 Raub-, 2 Girr-,
I Scharr-, 4 Schreit-, 27 Laufvögel, 10 Schwimm-
vögel, 3 Seeflieger und 2 Taucher, insgesamt
108 Arten.
Noch stärker wird das Oberengadin benutzt.
Das Verzeichnis weist auf: 55 Singvögel, i Tag-
schläfer, 3 Spechte, 7 Raubvögel, 3 Girr-, i Scharr-,
4 Schreit-, 24 Laufvögel, 16 Zahnschnäbler,
I Ruderfüßler, 12 Seeflieger, 6 Taucher, Summa
133 Arten.
Bemerkenswert sind auch die Beobachtungen
für die einzelnen Pässe.
Am Sp lügen (21 17 m ü. M. I wurden be-
obachtet: Hlaukehlchen, Singdrossel, Mistel-
drossel, Weiße Bachstelze, Rauchschwalbe, Felsen-
schwalbe, Mauersegler, Graugans =^ 8 Arten.
\m Lukmanier (191 7 m) : Nachtigall, Rot-
kehlchen, Blaukehlchen, Singdrossel, Rotdrossel,
Gartengrasmücke, Dorngrasmücke, Feldlerche,
Weiße Bachstelze, Stieglitz, Rauchschwalbe, Alpen-
strandläufer, Waldschnepfe, Graugans = 14 Arten.
Am Flüelapaß (2388 m) : Schwarze See-
schwalbe = I Art.
Am Ob er alppaß (2038 m) ; Wiesenpieper,
Heller Wasserläufer = 2 Arten.
Am Fürkap aß (2436 m) : Weidenlaub vogel,
Wasscrralle = 2 Arten.
An der Grimsel (2172 m) : Turteltaube =
I Art.
Am Sanetsch (2234 m): Bläßhuhn = i Art.
Am Simplon (20I0 m): Weiße Bachstelze,
Mauersegler = 2 Arten.
Am Großen St. Bernhard (2472 m): Nach-
tigall, Rotkehlchen, Weiße Bachstelze, Rauch-
schwalbe, Mehlschwalbe, Uferschwalbe .^ Mauer-
segler, Alpensegler = 8 Arten.
Am Theodul (,3322 m): Weiße Bachstelze
= I Art.
Die größte Artenzahl hat der niedrigste dieser
Pässe, der Lukmanier, aufzuweisen.
Am höchsten hinauf hat nach dem vorliegen-
den Material sich die Weiße Bachstelze (Theodul,
3322 ml gewagt.
Beim Sanetsch wäre noch die Zwergtrappe
nachzutragen, die nach V. Fatio auf diesem
Paß gefunden wurde. ')
Natürlich handelt es sich in allen Fällen um
mehr zufällige Beobachtungen, aber sie sind den-
noch von Bedeutung, als aus ihnen hervorgeht,
daß die Zugvögel nötigenfalls auch größere Höhen
überfliegen. Alb. Heß, Bern.
Chemie. „Über einige neue Verbindungen von
Stickstoff und Wasserstoff mit den Erdalkali-
metallen" ist der Titel einer vor kurzem von
F. W. Dafert und R. Miklauz veröffentlichten
.Abhandlung (Wiener Monatsh. Bd. 34, S. 1685
bis 1712, 191 3), der die folgenden Angaben ent-
nommen sind.
.'\!s Ausgangsmaterial für die Versuche diente
reines metallisches Calcium, das durch Destillation
des käuflichen Metalls im Vakuum gereinigt war,
sowie reines metallisches Strontium und reines
metallisches Baryum, die sich nach der Vorschrift
von Guntz und Galliot leicht und in guter
Au.sbeute durch Destillation eines Gemisches von
Sirontiurnoxyd oder Baryumo.xyd mit der berech-
neten Menge metallischen Aluminiums im Vakuum
darstellen lassen. Durch Erhitzen der reinen Me-
talle in Stickstoff- oder in Wasserstoffatmosphäre
erhält man die Nitride CagNj, SrgNj und BajN.,
oder die Hydride CaH.,, SrH, und BaH, in reiner
Form. Die Temperaturen, bei denen die Reaktion
zwischen den Metallen und den beiden Gasen
') Zeitschrift für Oologie und i/irnilhologie
gang, 19 13, S. 84— S6,
XXIII. Tahr-
') Principales lignes de passage des Oiseau.x ii travcrs la
ä) Vierteljahr'sschrift der nalurf. Gesellschaft Zürich, Jahr- Suisse et les ..\lpes. Compte rendu des seances du 6i"e Con-
gang 59 (1914). grcs international de Zoologie, Berne 1904, S. 553.
N. F. XIII. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
283
lebhaft zu werden betiinnt, erweisen sich, wie ja
zu erwarten ist, als Funktion der Atomgewichte:
Beginn der Reaktion
Metall Wasserstoff- Stickstoff-
atmosphäre almosphäre
Ca -iio" (■ 300" C
Sr 380» j 215°
Ba 260'' I 170»
Erhitzt man die Nitride der Erdalkalimetalle
in einer Wasserstoftalmosphäre, so entstehen die
Verbindungen CagN.^H^, SrgN.,H, und BajN.jHj,
von denen sich jedoch nur die beiden ersten in
reinem Zustande isolieren ließen, da die Baryum-
verbindung schon bei verhältnismäßig niedrigen
Temperaturen nach der Gleichung
Ba.NjH, -L H2 = 2 BaH., -f N.,
in Baryumhydrid und elementaren Stickstoff' zer-
fällt. Der Beginn der Reaktion zwischen den
Nitriden und Wasserstoff ist ebenfalls eine Funk-
tion der Atomgewichte der Metalle:
Die Reaktion j beginnt bei
Ca^X., + 2 H.> = CajNoHi 230° C
SrjXj -)- 2 Ha = Sr^NoHi 270"
BajNa -f 2 Hj = Sr-NjUi 300"
Die Erdalkalimetalle selbst, ihre Hydride und
ihre Nitride geben bei Behandlung mit einem
Gemisch von gleichen Teilen Stickstoff und
Wasserstoff Imide von der P'ormel CaNH, SrNH
und BaNH, Stoffe, die sich ebenso wie die ent-
sjirechende Lithiumverbindung, am Licht dunkel
färben, jedoch gelang den Autoren die Reindar-
stellung dieser Imide selbst beim Calcium noch
nicht, bei dem die Imidbildung am leichtesten
verläuft. Mg.
Geographie. Koch und Wege n er 's Durch-
querung Grönlands 1912/13.^) Bei dieser Reise,
die September 191 2 bei Königin-Luise-Land an
der Ostküste ihren Anfang nahm, kam es vor
allem darauf an, die geplante Überwinterung auf
dem Eise durchzuführen; falls diese nicht gelang,
mußte die Expedition in wissenschaftlicher Hin-
sicht als verfehlt betrachtet werden. Es war
nicht leicht, nach dem Eisrande zu kommen.
Außer Koch und W e g e n e r waren ein dänischer
Seemann und ein isländischer Bauer an der Reise
beteiligt. Da es' nötig war, 20C00 kg Gepäck
auf das Inlandeis zu schaffen, wurden Pferde an-
stelle von Hunden mitgenommen. Dies bedingte
eine Verlangsamung der Reise über das Inlandeis,
die für Sommer 1913 geplant war.
Der Storströmmen, ein Gletscher, der
sich zwischen dem Königin-Luise-Land und der
Küste herunterschiebt, besteht in seinem südlichen
') J. P. Koch, Unsere Durchi|uerung Grönlands 1912 13.
(Z. Ges. Erdkunde 1914, H. I.)
A. Wegener, Vorläuliger Bericht über die wissenschaftl.
Ergebnisse der E.xpedition [Z. G. E. 1914, H. i).
Teile aus stark gefaltetem Eise, das beschwerlich
zu überschreiten war. Im Herbst gibt es nur
einen schmalen Gürtel mitten im Gletscher, der
eine Schlittenreise ermöglicht. Das Gepäck war
Ende September in einem Tal gesammelt worden,
das sich einige 100 m in den Gletscher hinein
erstreckte. Hier konnte zum erstenmal von Augen-
zeugen das Kalben des Gletschers beobachtet
werden. Es begann mit Spaltenbildung. Bei
Niedrigwasser öffnen sich die Spalten, und Brocken
von Eis stürzen von oben hinein und füllen sie
an. Die Hochflut, die die Spalten wieder schließen
will, findet Widerstand und sprengt den Eisberg
von unten ab. In der Nacht vom 30. September
geschah die überaus packend geschilderte Kata-
strophe, in der eine 35 m hohe Eiswand an der
südwestlichen Talseite zusammenstürzte und auch
noch die Hälfte der Zeltscholle zerbrach , ohne
daß jedoch das Gepäck der Expedition gefährdet
wurde. Gleichzeitig hat eine etwa 15 m hohe
Woge die Eismassen gehoben und einen Teil
über die noch vorhandene Hälfte der Zeltscholle
geworfen. Später konnte vom Gletscher aus der
Schauplatz der Kalbung deutlich übersehen wer-
den. Längs der Gletscherwand, auf einem Gebiet
von 800X600 m war derBorgfjord vollständig
von Eisbergen und Kalbeisbrocken bedeckt —
ein Zeugnis von der Entfaltung ungeheurer Kräfte.
Anfang Oktober wurde auf dem Storströmmen
das Überwinterungshaus Borg eingerichtet, 3 km
vom Rande des Gletschers entfernt, da es nicht
möglich war, nach Königin-Luise-Land zu kommen.
Es dauerte einen Monat, ehe die wissenschaftliche
Arbeit in Gang kam.
Nachdem Mitte Februar die Sonne zurückge-
kehrt war, wurde am 20. April nach Westen auf-
gebrochen. Während des Anstieges aufs Inlandeis
wehte und stöberte es jeden Tag, aber auf dem
Eise wurde es stiller, je mehr man nach der Mitte
kam. So konnte die Reise mit einer Durch-
schnittsgeschwindigkeit von 15 km vonstatten
gehen. Am 7. Juli war das Land an der West-
küste — die kleine Bergkolonie Pröven — erreicht.
Von wissenschaftlichem Interesse sind außer
dem Profil der Eiskappe, das westlich der Mitte
3020 m Höhe erreicht, die glaziologischen
und meteorologischen Arbeiten, über die
Wegener einen vorläufigen Bericht gibt.
Für die Frage nach der Natur der Blau-
bänder des Eises konnte reiches Material ge-
sammelt werden. Es wurden zahlreiche Aufnah-
inen der inneren Struktur dieser Blaubänder ge-
macht; Verwerfungen konnten in zahlloser Menge
photographisch aufgenommen werden. Auf der
Winterstation wurde die Temperat u r im Inne-
ren des Eises in Bohrlöchern gemessen, die zuerst
im Freien 8 m tief ins Eis gestoßen wurden,
später im Fußboden des Hauses 24 m unter die
Gletscheroberfläche getrieben werden konnten.
So konnte festgestellt werden, daß die Temperatur
des Eises in derjenigen Tiefe, in der ihre jährliche
Schwingung verschwindet, nur wenig von der
284
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. i8
mittleren Jahrestemperatur des Ortes abweicht.
Mit größerer Tiefe zeigte sich eine Erwärmung
von i" auf 20 m.
Auf der großen Schliltenreise wurden Beobacli-
tungen über die Schichtung des Schnees ge-
macht, und festgestellt , daß schon in 2000 m
Höhe, sehr nahe an der Küste, alle sommerlichen
Schmelzwirkungen aufhören. Eine feinkörnige
Schicht, die dem Winterniederschlag entspricht,
hob sich deutlich von dem darunter liegenden
grobkörnigen Eise ab. Sie nahm von ^/o m an
der Ostküste auf 30 cm im Inneren ab und er-
reichte an der Westküste ihren gröfjten Wert,
I m. Wäiirend sich für den Ostrand eine mitt-
lere Jahrestemperatur von — 15" ergab, ging diese
im Zentrum Grönlands auf — 32" herab. Sie
wurde auch hier durch Tiefbohrungen an zwei
Rasttagen festgestellt.
Auch die meteorologischen Beobachtungen sind
besonders wertvoll, da sie in dieser VVeise in
jener Breite noch niemals gemacht worden sind.
Mit einem mikrophotographischen Apparat wurden
Schnee- und Reifkristalle untersucht. In der
Winternacht wurde aus dem Verschwinden der
Dämmerungsbögen die Höhe der betreffenden
vom .Sonnenlicht durchstrahlten Schichten ermit-
telt, am ,,Hauptdämmerungsbogen" (Stickstoff-
sphäre, 70 km Höhe entsprechend), ,,Nachdämme-
rungsbogen" (Wasserstoffsphäre, bis 200 km Höhe)
und „letzten Dämmerungsbögen" (die hypothetische
Geokoroniumsphäre in mehr als 600 km Höhe).
Ebenso gelangen Beobachtungen desZodiakal-
lichtes als flacher Pyramide am Horizont. Mit
dem Sa vart- Jensen'schen Polariskop wurde die
Polarisation des blauen Himmelslichtes unter-
sucht und von Euft Spiegelungen und Nord-
lichtern zahlreiche photographische Aufnahmen
gewontien. — Erst wenn die wissenschaftlichen
Ergebnisse der Expedition in den „Meddelser om
Grönland" erschienen sein werden, wird man sehen
können, wie erfolgreich sie gewesen ist.
Dr. Gottfried Hornig.
Kleinere Mitteilungen.
Fischfang mit Drachen. Über eine eigenartige,
im malaiischen Archipel, aber auch weiter ostwärts
geübte Methode des Fischfanges berichtet H. Bal-
four in der Festschrift für Wil liamRidgeway. 'j
Abb. I. Nach einer Origiualpholographie von II. Miehe
*) Essays and sludics prcsented lo William R i d g e w a y
on his si.\ticth birtliday b. Aug. 1913. Edited by E. C. Quig-
gin. Cambridge, University Press. — Kite-tishing. S. SS3. Außer
den dem vielseitigen Gelehrten dargebrachten Abhandlungen
aus dem Gebiete der klassischen Philologie, der Archäologie,
der mittelalterlichen Literatur und Geschichte sowie der ver-
Da Referent bei einer Seegelfahrt auf der Reede
von Batavia in der Nähe der Insel I.eyden (Poeloe
njamok) die nicht häufige Gelegenheit hatte, selbst
diesen merkwürdigen Fischfang zu sehen und zu
photographieren , sei hier
eine kurze Schilderung ge-
geben. Wie die Photogra-
phie (Abb. II zeigt, sitzen
in dem Boote zwei Fischer
und halten eine lange Bam-
busstange in der Hand, die
in einem Loch in einer
Planke steckt. An der
Stange läuft, geführt von
zwei Ringen, eine Leine,
an deren Ende ein Drache
befestigt ist. Dieser besteht
aus einem jener festen, perga-
mentartigen Blätter, welche
bei dem in den Wäldern
von Java verbreiteten , epl-
gleichenden Religionswissenschaft
sind in dem vorzüglich ausgestat-
teten, starliep Bande noch folgende
ethnographische und anthropologi-
sche Aufsätze enthalten: E. Th ur-
ston, The number sevcn in
Southern India; S.A.Cook, Tho
evolution and survival of primitive
Ihought ; W. Boyd DawUins,
The settlement of britain in the
prehistoric age ; W. W r i g h t ,
The mandible of man from the morphological and anthropo-
logical poinls of view ; W. L. H. Dückwortli, The pro-
blem of the Galley Hill skeleton ; W. H. R. Rivers, The
contact of peoples; G. Elliot Smith, The evolution of
the rock-cut tomb and the Dolmen; C. S. Myers, The be-
ginning of music; A. C. Haddon, The outrigger canoes of
Torreys Straits and North-Queensland.
N. F. XIII. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
285
phytischen I-"arn Drjnaiia quercifolia Humus
sammeln und unter dem Namen Nischenblätter
bekannt sind (vgl. Abb. 2). Von dem Drachen
hängt, gewissermaßen seinen Schwanz darstellend,
die eigentliche Angelschnur herab, die in eine
kleine Schlinge aus einer einzelnen Faser von der
Palme Arenga saccharifera endigt, an der außer-
dem noch der aus einem kleinen Fisch bestehende
Köder befestigt ist. Wenn nun der Fischer die
Leine locker läßt, so treibt der Wind den Drachen
Abb. 2. l-)iynaiia queicifülia, an einem Baumstamm kletternd.
Man bemerkt neben den großen gefiederten Laiibbluttern die
kleineren dem .Stamm angcdiückten Nischenblätlcr. (X)
Original|iliotcigra|>liie von II. Miehe.
horizontal durch die Luft und die Schlinge samt
dem Köder spielt, durch geschickte Manöver ge-
leitet, über die Meeresoberfläche dahin. Sobald
der Fisch nach dem Köder schnappt, wird die
Schlinge angezogen und der Usch an den Kiefern
gefangen. Mit dieser von den Javanen als pantj-
ing (Angeln) lajangan (Drachen) bezeichneten
Methode wird der Nasenhecht (Belone) gefangen.')
" Miehe.
') Wegen weiterer Einzelheiten siehe ,,De Hulpmiddelen
-der Zeevisscherij op Java en Madoera in gebruik" Batavia
1909 von Dr. P. \. v a n K a m p e n , der auch den Referenten
bei jener Segelfahrt auf die Drachenfischerei aufmerksam
machte.
Bücherbesprechungen.
Dr. Heinrich Karny , Tabellen zur Be-
stimmung einheimischer Insekten. I.
Mit Ausschluß der Käfer und Schmetterlinge.
Wien 191 3. — Preis geb. 1,50 Mk.
Das Büchlein bildet den ersten Teil eines drei-
bändigen Bestimmungswerkes, dessen andere Teile
die Käfer und .Schmetterlinge behandeln. Da
ähnliche Bücher, wie ,,die Insekten well" von
Karsch und „die Insekten" von Schlechten-
dal- Wünsche gänzlich veraltet sind, füllt das
Werk eine fühlbare Lücke aus. Der Verfasser
folgt im allgemeinen dem vorzüglich ausgearbeiteten
phylogenetischen S)'stem von Handlirsch, nur
die Parasiten sind nicht nach äußeren Merkmalen,
die dem Ungeübten weniger geläufig sind, sondern
nach den Wirtstieren geordnet. Dabei kann die
Gattung wohl nach den Tabellen aufgefunden
werden, doch wird die Bestimmung der Art nach
den Wirten vorgenommen. Nach der im Buche
getroffenen Anordnung fällt es nicht schwer, ein
Objekt zu bestimmen, da die Merkmale so definiert
sind, daß sie sich gegenseitig ausschließen. Man
geht zunächst die allgemeinen Merkmale durch
und wird durch Leitzahlen dahinter auf die immer
niedrigeren Begriffe P^amilie, Gattung und Art
hingewiesen, eine Methode, wie sie jetzt all-
gemein bevorzugt wird. Die heute gültigen Namen
sind den bisher gebräuchlichen vorgezogen und
hier und da durch deutsche Namen ergänzt. Ein
ausführliches Literaturverzeichnis gibt dem fort-
geschrittenen Sammler die Möglichkeit, sich ein-
gehendere Kenntnisse zu erwerben.
Das Buch wendet sich an die Anfänger im
Sammeln, ist aber sicher wertvoll für jeden, der
in der entomologischen Systematik nicht .Spezialist
ist. Da auch der Preis sehr gering ist, kann es
jedem empfohlen werden, dem an einer raschen
und exakten Bestimmung liegt.
Dr. Stellwaag.
Robert Gradmann, Das ländliche Siedlungswesen
des Königreichs Württemberg. — Die städtischen
Siedlungen des Königreichs Württemberg. Mit
einer Karte. (F"orschungen zur deutschen Landes-
und Volkskunde. XXI. Heft i u. 2.) Stuttgart,
J Engelhorns Nachf., 1913/14. 6,80 u. 9,30 Mk.
Der Verfasser, der durch wertvolle Arbeiten
über die Beziehungen zwischen Pflanzengeographie
und Siedlungsgeschichte bekannt geworden ist,
faßt hier die P-rgebiiisse seiner auf Württemberg
bezüglichen Studien in abschließender Darstellung
zusammen, will aber zugleich einen Beitrag zur
methodischen Behandlung siedlungsgeographischer
1^'ragen überhaupt bieten. Beides ist ihm in vor-
züglicher Weise gelungen; die Arbeit verdient un-
eingeschränkte Anerkennung.
Der erste Abschnitt ist den physisch-geogra-
phischen Verhältnissen des untersuchten Siedlungs-
gebiets gewidmet. In überzeugender Auseinander-
setzung mit den bisher vorgetragenen Erklärungs-
286
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. i8
theorien, namentlich bezüglich der Morphologie
des schwäbisch fränkischen Stufenlandes, begründet
der Verfasser seine Ansicht, die der tatsächlich
vorhandenen Mannigfaltigkeit der Oberflächen-
formen besser gerecht zu werden sucht und
damit einer allzu einseitigen Deutung der sied-
lungsgeographischen Gegensätze aus Unterschieden
der Landesnatur (hier Muschelkalkgebiet, dort
Keuperlandschaft und Moränengelände) vorbeugt.
Im zweiten Abschnitt werden Form und Lage der
ländlichen Siedlungen besprochen; unter ihren
wichtigsten Merkmalen (Siedhmgsgröße, Siedlungs-
dichte, Ortsform und Flurforml wird die Flurform
für das Wesentlichste erklärt, die für den Geo-
graphen noch darum besonders vorteilhaft ist, weil
sie das geschlossenste Verbreitungsbild bietet. Es
wird also in sehr bemerkenswerter Weise von
geographischer Seite ein Anschluß an die agrar-
historische Art der Untersuchung gewonnen, nicht
mehr bloß in der Übernahme gewisser Grund-
begrifte, sondern in eigener selbständig geographi-
scher Weiterbildung der Methode. Ausführungen
über die Hausformen, den wirtschaftlichen und
kulturellen Charakter, sowie die Lage der Sied-
lungen schließen sich an. Der dritte umfänglichste
Abschnitt bringt die historisch geographische Be-
trachtung: für die vorrömi'^che, die römische, die
alemannisch-fränkische Periode wird die Ausdeh-
nung der Besiedlung des Landes bestimmt; der
mittelalterliche Landesausbau, das Wüstwerden
mancher Orte, die Wandlungen der Siedlungen
während der Neuzeit werden dargelegt. So wird
die geschichtliche Entwicklung des Siedlungs-
wesens mit besonderer Berücksichtigung der je-
weiligen Verbreitung aus den Quellen selbständig
(allerdings bei günstigem Stande der historischen
Vorarbeiten) herausgearbeitet. Das Ergebiüs ist,
daß gewisse Grundzüge des Siedlungsbildes im
Bereich des offenen waldarmen Geländes schon
seit frühen vorgeschichtlichen Zeiten vorhanden
waren und sich aus anderen Naturbedingungen
erklären, als sie heute bestehen, für die geschicht-
liche Zeit aber die natürliche Beschaffenheit des
Bodens zwar auch mit bedingend ist, aber vieles
nur aus besonderen historischen Vorgängen erklärt
werden kann. Die großen Gewanndörfer sind auf
altem Kulturland von den einwandernden Aleman-
nen begründet worden ; die Waldhufendörfer ge-
hören dem mittelalterlichen Laiidesausbau an, eben-
so größtenteils die Weilersiedlungen, die Einödhöfe
im Südosten aber einer wirtschaftlich begründeten
Bewegung seit dem 16. Jahrhundert.
In entsprechender Weise wird die L'ntersuchung
der städtischen Siedlungen durchgeführt. Für die
Bestimmung der Merkmale einer Stadt genügt
die Größe nicht ; andere, wie geschlossene Bau-
weise, Mauerring, .\nlage, kultureller Charakter,
müssen hinzukommen. Die Bestimmung der Städte-
typen lehnt sich an die in der Reichsstatistik üb-
liche Unterscheidung nach Größenklassen an; nur
wird den Groß-, Mittel-, Klein- und Landstädten
noch die Gruppe der Zwergstädte angefügt. Würt-
tembergs hohe Städtedichtigkeit und die Art der
Verbreitung der Städte erklärt sich aus der Ge-
schichte. Meist sind sie neben schon bestehenden
ländlichen Siedlungen entstanden, aber planmäßig
gegründet; maßgebend dafür ist vor allem die
günstige Lage für den Nahverkehr, die Marktlage.
Auf die jüngere Entwicklung wirkte die Lage zum
großen Handelsverkehr ein, bis die moderne Tech-
nik neue Bedingungen der Entwicklung schuf,
wofür sich auch politische Momente geltend machten.
Eine geographische Übersicht über die Sied-
lungsweise in den verschiedenen Landschaften
Württembergs faßt das Vorausgehende zusammen
und dient zur Erläuterung der beigegebenen Karle.
Den Beschluß bilden knappe Aufstellungen über
die Grundsätze der siedlungsgeographischen Me-
thode, die in der Arbeit Anwendung gefunden
haben, wesentlich nach dem Satze Hettner's,
daß eine zeitlose Auffassung der Naturbedingtheit
des Menschen eine L'topie ist. — Diesen Aus-
führungen stimme ich rückhaltlos zu, möchte nur
betonen, daf5 bei der Durchbildung der Grund-
begriffe, die Gemeingut der Wissenschaft werden
sollen — z. B. bei Bestimmung des Groß , Mittel-
und Kleinbauerntums — die Berücksichtigung ganz
Deutschlands oder noch größerer Beobachtungs-
gebiete einzelne Änderungen bringen dürfte.
R. Kötzschke.
Karl Scheid, Chemisches Experimentier-
buch. Zweiter Teil. VIII und 207 Seiten
mit 51 .\bbildungen im Text. Bd. 15 der von
Bastian Schmidt herausgegebenen natur-
wissenschaftlichen Schülerbibliothek. B. G. Teub-
ner, Leipzig und Berlin 1914. — Preis in Leine-
wand gebunden 3 Mk. -.
Ein recht hübsches Büchlein, mit dem man
älteren Jungen, welche ein wenig zu „chemischer
Bastelei" neigen, eine große Freude machen wird.
Die Darstellung ist schlicht und klar, die Vor-
schriften sind leicht verständlich und die Erklä-
rungen einwandfrei. Das Büchlein verdient daher
eine gute Empfehlung, mag auch im einzelnen
hier und da eine Kleinigkeit auszusetzen sein. So
wird z. B. die Erläuterung der Begriffe „Atom-
gewicht" und „Äquivalentgewicht", wie der Referent
aus eigener Erfahrung weiß, erheblich klarer, wenn
man das Atom, wozu man ja nach den neueren
Fortschritten der Wissenschaft durchaus berechtigt
ist, als Realität voraussetzt und vom Begriff des
Atoms deduktiv die Begrifte ,, Atomgewicht" und
..Äquivalentgewicht" ableitet und nicht, wie es
Scheid in Anlehnung an Wilhelm Ostwald
tut, induktiv, ohne Hinzuziehung des eigentlichen
Atombegriffes, direkt aus dem Experiment er-
schließt. Auch der Begriff der chemischen Formel
würde so an Klarheit gewinnen.
Werner Mecklenburg.
A. Strei^Ier, Öldruck, Bromöldruck und ver-
wandte Verfahren. Leipzig, Ed. Liesegang's
Verlag. — Brosch. 2,50, geb. 3 Mk.
N. F. XIII. Nr. 18
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
28;
Verfasser gibt eine ausführliche Darstellung der
neuerdings in der künstlerischen Photographie mit
V^orliebe benutzten Verfahren. Die Wirkung der
dem Werk beigegebenen Probetafeln ist in der
Tat so hervorragend kiinstlerisch, daß man eher
die Reproduktion eines Ölgemäldes als einer Photo-
graphie zu sehen glaubt. Das Werk kann unseren
Lesern, die sich mit der Photographie beschäftigen,
angelegentlichst empfohlen werden ; inhaltlich ist
es saclilich und gediegen angelegt. Als Mangel
muß das Fehlen von Literatur und Quellenangaben
bezeichnet werden, um so mehr, als dies die erste
Veröffentlichung über genannte Verfahren in Buch-
form ist. Gustav Blunck.
O. Prelinger, Die Photographie, ihre Grund-
lage und Anwendung. Verlag B. G. Teubner,
Leipzig, 1,25 Mk.
In dem neuen Bändchen der Sammlung ,,.Aus
Natur und Geisteswelt" behandelt der Verfasser
kurz und gedrängt in gemeinverständlicher Weise
die Photographie. Das kleine Werk ist kein Lehr-
buch, sondern bestimmt, Fernstehenden eine Über-
sicht über das interessante, für Wissenschaft, Kunst
und Technik so bedeutende Gebiet zu geben.
Gustav Blunck.
Röseler, P. u. Lamprecht, H. Handbuch für
Biologische Übungen. Zoologischer
Teil. Mit 467 Abbildungen und 574 Seiten
Text. Berlin 19 14, Verlag von Jul. Springer.
Preis 27 Mk. geb. 28,60 Mk.
Man kann den Verfassern für ihre vorliegende,
wohlgelungene Arbeit nur Dank zollen. Das Buch
enthält nicht etwa Vorschriften, wie biologische
Übungen abgehalten werden sollen; dagegen ver-
wahren sich die Autoren ausdrücklich, sondern es
soll den Leitern biologischer Übungen ein Hilfs-
mittel sein, dieser soll sich über den zu be-
handelnden Stoff rasch orientieren können. Das
Buch ist keinesfalls so gedacht, daß der ganze
Inhalt nachgearbeitet werden soll in den Übungen,
sondern es bleibt dem Unterrichtenden volle Wahl-
freiheit, was er auswählen will je nach den be-
treffenden L-mständen.
Es sind zahlreiche technisch ausgeprobte An-
gaben und praktische Winke gegeben in jedem
Abschnitt, die namentlich denjenigen willkommen
sein werden , die im Anfang ihrer Unterrichts-
tätigkeit stehen und noch nicht über viel eigene
Erfahrung verfügen.
Der Inhalt ist kurz folgender, denn auf Einzel-
heiten können wir hier nicht eingehen. Der
allgemeineTeil (Abschnitt 1 —4 S. i — 1 1 1 ) be-
handelt die Ausstattung des biologischen Labors
und die technischen Behandlungsmethoden des
Materials. Dann folgt ein Abschnitt aus der all-
gemeinen Histologie und aus der Ph\-siologie. In
letzterem könnten meines Dafürhaltens Kürzungen
eintreten , denn gerade Versuche aus der Ver-
dauungsphysiologie setzen doch schon eine ziem-
lich weitgehende Kenntnis in der Chemie voraus,
sollen die Versuche nicht einfach vom Lernenden
hingenommen, sondern auch voll verstanden werden.
Der Raum, der durch solche .Streichungen frei
würde, wäre ja sehr leicht für andere Darstellungen
aus dem Gebiete der Physiologie auszunutzen,
z. B. Bewegungserscheinungen der Protozoen; Be-
fruchtungserscheinungen an Seeigeleiern usw.
Im speziellen Teil (8 Abschnitte S. 112
bis 564) werden die einzelnen Stämme des
Tierreichs im großen und ganzen der syste-
matischen Stufenfolge nach abgehandelt. Auch
hier hönnte manches wegfallen, um anderem Platz
zu machen , z. B. die Kapitel über Spirochäten,
Sagitta, Chitonen, Ascidieneier, über das C o r t i'sche
Organ. — Dafür wären einzuschalten Kapitel über
den Menschenbandwurm, die Leberegel (Distom.
hep. und lanc), über Daphnia und Cyclops, über
Corethra-Larven, Nais; auch das Kapitel Plankton
könnte noch einige Erweiterung erfahren. Da
Dytiscus sehr ausführlich behandelt wird, könnte
das Kapitel über Hydrophilus gestrichen werden.
Recht lobenswert sind die mit großer Sorgfalt
ausgeführten sehr zahlreichen Abbildungen und es
erhöht die Brauchbarkeit des Buches wesentlich,
daß damit nicht gespart wurde. Von den
467 Abbildungen sind 439 völlig neu; gerade
unter letzteren sind sehr instruktive Bilder. Ich
habe, mit aus letztem Grunde, das Buch mit
vollem Erfolg bei den zoologischen Kursen an
der Universität Jena verwendet. Betonen möchte
ich noch , daß die Bilder das zeigen , was man
tatsächlich am Präparate sieht, und es sich nicht
um Schemabilder handelt. — Eine kleine Revision
bedürfen Fig. 82 u. 83. Fig. 126 ist wohl nur
versehentlich als „Mitteldarm" vom Krebs be-
zeichnet, es muß „Enddarm" heißen. Die Frost-
schnittbilder (Krebs, Kaninchen u. a.) könnten
wegfallen. Aber dies sind ganz unwesentliche
kleine Mängel.
Alles in allem liegt ein sehr wertvolles Hilfs-
mittel des biologischen Unterrichtes vor, wie wir
es bisher noch nicht besaßen. Die Reproduktion
der P'iguren und die äußere Ausstattung sind ein-
wandfrei. Der Preis ist in Anbetracht der vielen
Abbildungen und des LImfanges nicht zu hoch
angesetzt. Albrecht Hase-Jena.
Anregungen und Antworten.
Das Dynamit im Dienste der Landwirtschaft. (Eine Ent-
gegnung zu dem Artikel in Nr. 4 dieses Jahrgangs.) Wenn
Herr R. Ditmar der Landwirtschaft mit seinen .Ausführungen
hätte einen Dienst erweisen wollen , wäre es besser gewesen,
sich erst einmal in der Praxis umzusehen, statt sein Urteil
lediglich aus Reklameschriften, z. T. sogar wörtlich , zu ent-
nehmen. Damit ist jedoch niemandem gedient aufler dem
Fabrikanten, und die Öffentlichkeit wird in bedauerlicher
Weise irregeführt.
Wir können in Deutschland nicht ohne weiteres die Me-
thoden der extensiven amerikanischen Betriebe nachahmen.
Das würde uns 50 % t^^r Krnten kosten.
Im übrigen ist die Bodensprengung der Landwirtschaft
und besonders dem Obstbau heute nicht mehr neu. Seit einer
Reihe von Jahren sind durch ganz Deutschland Versuche ge-
macht, die eben nicht e.i n so glänzendes Resultat
288
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. i8
ergeben haben, wie die Reklameschriften der Sprengmittel-
fabrikanten angeben.
Der Wasserhaushalt des Bodens ist nach Sprengungen
im allgemeinen nicht zu seinem Vorteil verändert. Im Gegen-
teil, es wird die Kapillarität in unvorteilhafter Weise gestört,
was besonders in trockenen Sommern sehr merklich in Er-
scheinung tritt.
In schweren Böden verbleiben im Boden Hohlräume,
deren Wände verhärten, so daß eine Sprengung hier mitunter
den Boden geradezu verderben kann. Das sofortige .Nach-
gießen von Wasser in die Sprenglöcher kann diese Schäden
nur zum Teil verhindern. Zur Herstellung von Pflanzgruben
mag in vereinzelten Fällen Sprengung mit Vorteil anzuwenden
sein. Im heutigen Erwerbsobstbau rigolt man jedoch die
ganze Fläche ! Pflanzung in Baumlöcher ist heute eiu glück-
licherweise ziemlich überwundener Standpunkt. Zum Obstbau
gehört bester, tiefgründiger Boden. Wo erst undurch-
dringliche Schichten durchbrochen werden müs-
sen, bleibe man ja fort mit i'bstbäuraen! Die Ver-
kittungen im Boden sind meistens übrigens mit einer bloßen
Durchbrechung nicht beseitigt, sondern sie beginnen von
neuem.
Zwischen alten Bäumen zu sprengen, ist ein
sehr gewagtes Unternehmen wegen der dabei unver-
meidbaren Wurzelzerrcißungcn. Es ist ein alter Aberglaube,
daß die Wurzeln nur bis zur Kronentraufe reichen.
Die Preise sind sowohl für einzelne Gruben wie auch
für ganze Flächen sehr viel zu niedrig angegeben.
Schon aus diesem Grunde allein würden die bisherigen Me-
thoden der TiefkuUur dem Sprengverlahren überlegen bleiben!
Denn jede Kulturmaßnalime ist im letzten Grunde eine Frage
der Rentabilität.
Die Düngung des Untergrundes aus Sprengkapseln, die
inzwischen patentiert wurde, ist wirklich , .künstlich" !
Die Sprengung bleibt also ein Xotbehelf für
einzelne Fälle, nicht aberist sie ein Kultur mittel
ersten Ranges! Diesen Standpunkt hat auch die Obst-
und Weinbauabteilung der Deutschen Landwirt-
schaftsgesellschaft am 17. F'ebruar dieses Jahres auf
der Versammlung in Berlin vertreten. Sowohl der Vortragende
(Direktor Seh in d 1 e r-Proskau) wie auch die meisten Dis-
kussionsredner sprachen sich ungünstig über das Sprengver-
fahren aus. (Referat in den Mitteilungen der D. L. G., Stück
8/1914.)
Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen, bemerke ich
ausdrücklich, daß meine Ausführungen sich nicht gegen
das Sprengmittel Romperit C richten, — das halte
auch ich für eines der geeignetsten — sondern gegen die Art
und Weise, in welcher der Verfasser des genannten Artikels
sich seine Informationen beschallt hat. F. Meyer.
Herrn ( Jberlehrer Dr. Hackenberg, Lennep. — Können
Singvögel Tuberkulose übertragen ? Man unterscheidet ver-
schiedene Tuberkelbazillen, die mehr oder weniger deutlich
voneinander abweichen und die man je nach der .Auffassung
als verschiedene Arten oder Varietäten oder Standortsformen
bezeichnet, nämlich den Menschen-T.-B. , den Rinder-T.-B.,
den Hühner-T.-B. und den KaUblüter-T.-B. Am ähnlichsten
sind sich die beiden erstgenannten, doch ist bekanntlich der
sich bis in die Gegenwart erstreckende Streit, ob die Rinder-
T.-B. Tuberkulose beim Menschen hervorrufen können und
dementsprechend die Perlsucht der Rinder auch für den Men-
schen gefährlich ist, noch nicht endgültig entschieden. Weiter
weicht schon der durch sein hohes Wachstumsoptimum der
Temperatur ausgezeichnete Hühner-T.-B. von dem Menschen-
T.-B. ab. Er ist kräftig pathogen für alle Vögel, nicht
aber für den Menschen und auch für die größeren Säugetiere
nicht. Dagegen scheinen die kleinen Nager nicht ganz un-
empfänglich zu sein. Umgekehrt sind fast alle Vögel immun
gegen den Menschen-T.-B. Eine merkwürdige .Ausnahme
macht nur der Papagei, der sowohl durch die Hühner-T.-B.
als auch durch die Rinder- und Menschen-T.-B. infiziert wer-
den kann, spontan sogar am häufigsten durch den letzteien.
Gegen den Kaltblüter-T.-B., der wahrscheinlich alle Kaltblüter
angreift, besonders heftig die Frösche , sind alle Warmblüter
vollständig unempfänglich.
Sie können also Ihre kleinen Freunde ruhig weiter halten.
Miehe.
Der Ausschuß der akademischen Ferienkurse zu Hamburg
spricht sich über die Ziele dieser Kurse folgendermaßen aus :
„Die akademischen Ferienkurse zu Hamburg, die in
enger Verbindung mit unseren wissenschaftlichen Instituten
und Krankenhäusern 1913 zum ersten Male stattfanden, wollen
wissenschaftlich interessierten Hörern, Lehrenden wie Lernen-
den, in knapper Form und von sachverständiger Seite her,
eine Orientierung bieten über den gegenwärligen Stand aus-
gewählter Forschungs- und Kulturprobleme, die das geistige
Leben im heutigen Deutschland beschäftigen.
Es ist ihr besonderer Zweck, die inneren methodischen
Zusammenhänge zwischen der wissenschaftlichen Arbeit, wie
sie auf allen Einzelgebieten der Forschung geleistet wird , zu
zeigen und zu fördern.
Sie wollen insbesondere wissenschaftlichen Persönlich-
keiten, die an den Problemen ihres eigenen Fachs interessiert
sind, in Vorträgen über Probleme verwandter Fächer metho-
dische .Anregung geben, neue und vielversprechende Wege,
die einzelne Disziplinen eingeschlagen haben, klären und den
anderen eröffnen.
Es sind keine Fortbildungskurse zur .Auffrischung ver-
loren gegangener oder zur Übermiulung noch nicht erworbener
akademischei Berufskenntnisse.
Sie wenden sich aber nicht nur an wissenschaftlich den-
kende Deutsche, sondern an die Vertreter des geistigen Lebens
und die Studierenden aller anderen Länder. Dem Ausländer,
der an Ort und Stelle die deutsche Sprache praktisch erlernen
und sich über die Erscheinungsformen der heutigen deutschen
Kultur orientieren will, wollen sie ein Studienplatz und ein
Wegweiser sein, ihm die Möglichkeit geben, sich bei uns
selbst ein Bild von dem Stande des wissenschaftlichen Slrebens
zu machen, das Deutschland heute mit seiner Heimat auf den
verschiedenartigsten F'achgebieten verknüpft, die Art und den
Inhalt, die Materien, Fragestellucgen und die Organisatinn
des geistigen Lebens in Deutschland ihm nahebringen.
Diesen persönlichen Kontakt des wissenschaftliclien und
studierenden Auslands mit Deutschland wollen die Ferien-
kurse in einem Zentrum des internationalen und überseeischen
Lebens, in Hamburg, herstellen."
Die für Ausländer bestimmten Vorlesungen und Übun-
gen erstrecken sich größtenteils über die Zeit vom 13. Juli
bis 8. August, zum Teil auch über die Zeit bis 22. August.
Die für Ausländer und Deutsche bestimmten Vorlesun-
gen linden in der Zeit vom 10. bis 22. .August statt.
Ein detailliertes A'orlesungsverzeichnis mit Stundenplan
erscheint im Frühjahr 1914 und wird an Interessenten kosten-
frei von der
Geschäftsstelle der Akademischen Ferienkurse,
Martinistraße 52, Hamburg 20,
versandt.
Inhalt; F.mil Baur; Die tjuelle des Muskelkraft. Günther Bugge; Die Chemie des Chlorophylls. — Einzelberichte:
F. v. Reitzen stein: Kreuzung von Menschenrassen. Thilo: Das Schnellen der Springkäfer. Shull: Die Lebens-
fähigkeit der Dauereier von Hydatina senta und die Vererbung dieser Eigenschaft. Rieh. Schlegel: Leistungsfähig-
keit des Haussperlings im Eierlegen. K. Bretscher: Vogelzug über die schweizerischen Alpenpässe. Dafert und
Miklauz: Über einige neue Verbindungen von Stickstoff und Wasserstoff mit den Erdalkalimetallen. Koch und
Wegener; Durchquerung Grünlands 1912,13. — Kleinere Mitteilungen: H. Balfour: Fischfang mit Drachen. —
Bücherbesprechungen: H ei nr i ch K arny : Tabellen zur Bestimmung einheimischer Insekten. Robert Grad-
mann; Das ländlrche Siedlungswesen des Königreichs Württemberg. Karl Scheid: Chemisches E.K|ierimentierbuch.
.A. StreiUler: Öldruck. O. Prelinger: Die Photographie. Röseler und Lamprecht: Handbuch für Biologi-
sche Übungen. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m, b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band
Sonntag, den lo. Mai 1914.
Nummer 19.
Die Methode „of trial and error" (des Versuchs und Irrtums)
und ihre psychologische Bedeutung.
[Nachdruck verboten.]
Im Jahre 1906 veröffentlichte Jennings, ein
ameril<anischer Tierpsychologe, ein Werk unter
dem Titel: „Das Verhalten der niederen
Organismen unter natürlichen und ex-
perimentellen Bedingunge n." Er beschreibt
hierin Beobachtungen über die Bewegungen von
Protozoen und Cöienteraten und gelangt zu der
Überzeugung, daß sich das Verhalten dieser Tiere
und analog diesem ein großer Teil der Bewegungen
höherer Organismen auf die Methode „of trial and
error", des Versuchs und Irrtums, zurückführen läßt.
Als Beispiel eines einfachen, nach der Probier-
methode vor sich gehenden Aktionstypus stellt
Jennings die Bewegungsweise der Amöbe dar.
Gelangt das Tier bei seinen Bewegungen zu irgend-
einer Reizung, die mechanischer, chemischer oder
photischer Natur sein oder durch Wärme, Kälte,
Schwerkraft, Zentrifugalkraft oder durch irgend-
eine Wasserströmung hervorgerufen sein kann, so
versucht das Tier eine andere Richtung; führt
diese Bewegung wiederum zu einer Reizstelle, so
wendet sich das Tier nach einer neuen Richtung
und setzt nötigenfalls seine Reaktionen so lange
fort, bis es in Regionen gelangt, in denen kein
Reiz mehr wirkt. Auf diese Weise stellt also die
Amöbe alle möglichen Versuche an, unter denen
schließlich einer von Erfolg begleitet ist. Sie
produziert ein gewisses Übermaß von Ortsver-
änderung, welches die Möglichkeit zuläßt, unter
mehreren Bewegungen eine als definitive auszu-
wählen und somit neue Lebensbedingungen zu
finden.
Bei Paramaecium, einem Infusor, lassen sich die
Reaktionen auf verschiedenartige Reize nach der
Methode des Versuchs und Irrtums noch deut-
licher wahrnehmen. Erschütterungen des Wassers,
Einwirkungen des Lichtes oder der Wärme ver-
anlassen das Tier, mit Bewegungen der ver-
schiedensten Art auf den Reiz zu reagieren. Er-
hält Paramaecium z. B. einen etwas wärmeren
VVasserstrom als gewöhnlich, so hält es mit seinen
Bewegungen inne, schwingt sein Vorderende im
Kreise herum, so daß sich die Spitze des Tieres
nacheinander nach verschiedenen Richtungen
wendet, während das hintere Ende unbeweglich
bleibt. So probiert das Tier der Reihe nach alle
möglichen Richtungen aus, bis es schließlich mit
seinem Vorderende in Wassermengen gerät, die
nichts mehr von der Reizursache enthalten. In
dieser neu gefundenen Richtung schwimmt das
Tier davon. Der Übergang von einer Richtung
zur anderen geschieht also in einer besonders
Von Fritz Schmidtsdorf.
charakteristischen Weise , die es dem Tiere ge-
stattet, durch ein systematisches Ausprobieren der
Umgebung alle möglichen Schwierigkeiten zu um-
gehen und ebenso wie die Amöbe eine Auswahl
unter den verschiedenen Bedingungen, zu welchen
die Bewegungen führen, zu treffen.
Trifft das Tier auf Wassermassen, die inten-
siver beleuchtet werden, so antwortet es auf diesen
Reiz mit der sogenannten Fluchtreaktion; es be-
wegt sich rückwärts und dreht das Vorderende
soweit, bis es von der belichteten Stelle ab-
gewendet ist, und schwimmt in der durch Probieren
gefundenen Richtung davon. Man braucht hierbei,
wie später noch gezeigt werden soll, keinen Photo-
tropismus anzunehmen, sondern kann den Vorgang
vollständig mit Hilfe der Methode „of trial and
error" erklären.
Schlägt eine Aktionsmethode fehl, so versucht
der Organismus eine neue, bis er mit einer von
ihnen Erfolg hat. Hierbei werden die Einzelheiten
der Reaktionsreihen oft variiert. Manchmal wird
der eine oder andere Schritt ausgelassen, oder es
ändert sich die Reihenfolge der verschiedenen
Schritte. Jedoch läßt sich immer ein sukzessives
Probieren verschiedener Reaktionen bemerken,
welches von der Reizung befreit und den Orga-
nismus allmählich zu neuen Lebensbetätigungen
führt.
Unter den Cöienteraten liefert Hydra ein
interessantes Beispiel für das Verhalten nach der
Methode ,,of trial and error". Das Tier krümmt
sich auf Reize hin abwechselnd zusammen und
streckt sich wieder aus. Hiermit ist ein Wechsel
der Anheftungsstelle des Polypen an der Unter-
lage verbunden. Da das Ausstrecken des Körpers
nach allen nur möglichen Richtungen erfolgt, so
erforscht das Tier auf diese Weise gründlich die
Umgebung seiner Anheftungsstelle, eine Probier-
methode, welche die Möglichkeit der Nahrungs-
aufnahme beträchtlich vergrößert. Denn auch
die Anwesenheit von Nahrungsstoffen übt, wie
Jennings an einer Meduse beobachten konnte,
einen Reiz auf das Tier aus und veranlaßt es,
durch probierende Bewegungen, sogenannte Angel-
bewegungen, der Tentakel des Beutestückes hab-
haft zu werden. Diese Bewegungen sind jedoch
nicht nur unmittelbare Reaktionen auf Reize hin,
sondern, soweit sie die Nahrung betreffen, Be-
wegungen mehr spontaner Art. Die Meduse wird
durch die Gegenwart der Nahrung veranlaßt um-
herzuschwimmen und kommt auf diese Weise
früher oder später mit der Nahrung in Kontakt.
290
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 19
Das Verhalten besteht demnach nicht in einer
durch die Reizursache in bestimmter Weise fest-
gesetzten Tätigkeit, sondern in einem Probieren,
das so lange fortgesetzt wird, bis der Erfolg sich
einstellt.
Mit den Cölenteraten schließen Jennings'
eigene Beobachtungen ab, jedoch macht die
Methode „of trial and error", die hauptsächlich
diesem Forscher ihren Namen verdankt, an dieser
Stelle des Tierreiches nicht halt. Wie die Beob-
achtungen anderer amerikanischer Gelehrter über
das Verhalten niederer und höherer Tiere zeigen,
ist diese Methode bis hinauf zu den intelligentesten
Säugetieren, ja sogar bis zum Menschen zu ver-
folgen. Jennings war der erste, der darauf
hinwies, daß das Verhalten aller tierischen Orga-
nismen von diesem Gesetz beherrscht wird.
Läuft der Plattwurm (Planaria) Gefahr, infolge
zu hoher Temperatur zu vertrocknen, so versucht
er alle möglichen Reaktionen, um sich von dem
thermischen Reize zu befreien. Er wendet seinen
Kopf hin und her, führt rasche und heftige Kon-
traktionen des Körpers aus, legt sich auf den
Rücken, kurz, versucht alles, um dem Tode zu
entgehen.
Legt man einen Seestern auf den Rücken, so
streckt er, wie Preyer (1886) beschreibt, seine
Füßchen hervor und bewegt sie in allen Richtungen
herum, bis schließlich ein .'\rm mit seinen P'üßchen
bei der Suche nach einem festen Halt Erfolg hat,
sich umwendet und die anderen Arme, die in-
zwischen ihre suchenden und windenden Be-
wegungen fortgesetzt haben, ebenfalls zum An-
heften veranlaßt. Diese Reaktion stellt ein gutes
Beispiel für die Ausführung verschiedener pro-
bierender Bewegungen dar, in Verbindung mit
der Auswahl einer bestimmten, zum Ziele führenden
Bewegung. Während anfangs alle Füßchen und
Strahlen versuchen, eine Anheftungsstelle zu finden,
glückt es nur einigen von ihnen, diese Bewegung
mit Erfolg auszuführen. Hindert man einen See-
stern durch Nadeln, die man zwischen den Radien
dicht an der Scheibe in ein untergelegtes Brett
einschlägt, an seiner Bewegungsfreiheit, so sucht
sich das Tier mit aller Anstrengung von den
Nadeln zu befreien, indem es sich bald hindurch-
zwängt, bald über die Nadelspritzen hinüberklettert,
bald sich auf eine Seite dreht.
Uexküll, der sich im allgemeinen recht
geringschätzig über die Methode des Versuchs
und Irrtums ausspricht, berichtet selbst über ein
Beispiel dieser Reaktionsmethode bei Krabben ;
,,So hat mich folgende einfache Beobachtung an
einem Carcinus viaenas in überraschender Weise
über die Anpassung des Krebses an sein Milieu
aufgeklärt. Unter eine große Actinie legte ich
ein kleines Stück Plschfleisch so nahe dem Stamm,
daß die Tentakel es nicht erreichen konnten. Ein
ins Bassin gesetzter Carcinus eilte, sobald er
Witterung empfangen, auf die Actinie los, an der
er sich bei jeder Berührung verbrannte. Von allen
Seiten und immer wieder wiederholte die Krabbe
den Angriff'. Immer verwehrten ihr die nesselnden
Schläuche den Weg. Da änderte die Krabbe ihre
Angrififsweise ; anstatt einfach darauf los zu rennen,
kniff sie mit ihren Scheren nach den Tentakeln,
diese verkürzten sich, und das Fleischstück wurde
freigegeben. Schnell wurde es erwischt und fort-
fortgetragen." Dies ist, wie sich C. C. Schneider
ausdrückt, ein geradezu glänzendes Beispiel der
Methode des Versuchs und Irrtums.
Um die Methode auch bei höheren Tieren,
speziell Säugetieren, beobachten zu können, hat
Thorndike das Labyrinth- und Vexierkasten-
verfahren angewandt. Der Versuch besteht darin,
daß das Tier seinen Weg aus der Mitte des
Labyrinthes herausfinden oder durch irgendwelche
Kunstgriffe verschlossene Türen öffnen muß, um
zu seinem Futter zu gelangen. Man zählt dabei
die Irrtümer, die das Tier begeht, sowie die Zeit,
welche es zu dem Versuch nötig hat, und kon-
struiert danach Kurven, an denen man die Fort-
schritte des Tieres, die durch die Vervollkommnung
der Assoziationen zustande kommen, sofort de-
monstrieren kann. Die Triebfeder ist Hunger oder
Furcht. Als Versuchstiere dienten Katzen und
Hunde. Die Tiere sollten, um aus ihrem Ge-
fängnis entschlüpfen zu können, entweder auf eine
Klinke drücken oder einen Türknopf drehen oder
an einem Faden ziehen. Durch eine zufällige Be-
wegung des Tieres öffnete sich die Tür. Diese
Bewegung merkte sich das Tier und versuchte
offenbar, sie nachher, wenn es wieder eingesperrt
war, zu wiederholen. In einer Reihe von Ver-
suchen gelang es dem Tier in immer kürzerer
Zeit, die Tür zu öffnen.
Kinnaman wiederholte diese Versuche an
zwei Affen. Ihre Käfige waren mit ganz kompli-
zierten Verschlüssen , sogar mit Schlössern ver-
sehen. Trotzdem lernten die Affen noch schneller
als Hunde und Katzen die Tür öffnen.
LI. Morgan stellte Untersuchungen mit
Hunden an, um ebenfalls die Methode des Ver-
suchs und des Irrtums in ihren Handlungen nach-
zuweisen. Er ließ einen Hund einen hakig ge-
krümmten Stock durch eine enge Spalte hindurch-
transportieren. Der Hund faiJte zuerst, wie ge-
wohnt, den Stock in der Mitte und hatte keinen
Erfolg. Er versuchte es dann auf verschiedene
Weise, den Stock hier oder dort erfassend, ohne
zum Ziele zu gelangen; erst als er den Stock am
Haken erwischte, gelang ihm die Aufgabe.
Eine weitere interessante Beobachtung machte
LI. Morgan an seinem Foxterrier Tony. Dieser
pflegte durch die Stäbe des Hoftores, das zur
Straße führte, seinen Kopf zu stecken und hinaus-
zusehen. Anfangs suchte er sich eine beliebige
Öffnung der Stäbe aus, schließlich aber geriet er
mit seinem Kopf an eine Stelle unterhalb der Tür-
klinke, wodurch diese gehoben wurde. Er zog
nun den Kopf zurück und begann an einer anderen
Stelle hinauszusehen, als er sah, daß das Tor auf-
ging. Sofort stürzte er hinaus. Von dieser Zeit
an wartete LI. Morgan stets, bis der Hund die
N. F. Xin. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
291
Klinke hob , statt ihm selbst die Tür zu öft'ncn.
Allmählich ging der Hund, nachdem er weniger
oft den Kopf an der unrechten Stelle hinaus-
gesteckt hatte, zu der einen Öffnung, durch welche
die Klinke gehoben werden konnte. Aber es
dauerte beinahe drei Wochen, bis er sofort an die
richtige Stelle ging, ohne zu zögern oder vorher
wirkungslose täppische Manöver mit seinem
Kopfe unterhalb der Klinke vorzunehmen.
Schließlich seien noch Sokolowsky's Be-
obachtungen über das Verhalten eines Schimpansen
erwähnt. Sokolowsky schreibt hierüber: „In
der Art und Weise, wie sich der Schimpanse aus
der Haft seines Käfigs zu befreien versuchte, war
das Tier direkt erfinderisch. Obwohl von der
Verwaltung des Tierparks jeweilen nach einer ge-
glückten Befreiung sofort wieder Mittel getroffen
wurden, um eine Wiederholung zu verhindern,
fand der Schimpanse nicht lange danach wiederum
Mittel und Wege, dieselbe dennoch mit Erfolg in
Szene zu setzen. Diese Affen teilen seit längerer
Zeit mit den Giraffen zusammen den Innenraum
des Giraffenhauses. Von diesen letzteren sind die
Affen durch eine hohe Holzwand, die aber nicht
bis zur Decke des Hauses hinaufreicht, getrennt.
Man hatte es unterlassen, die Trennungswand der
Abteilungen bis an die Decke fortzuführen , da
man es nicht für möglich hielt , daß die Affen
das hohe Gesims erreichen konnten , um den
Giraffen einen Besuch abzustatten, resp. auf diese
Weise aus ihrem Käfig heraus ins Freie zu ge-
langen. Dieses wäre auch gänzlich ausgeschlossen
gewesen, wenn sich die Affen nicht besonderer
Mittel bedient hätten, um das Ziel der Freiheit
zu erreichen. Im Käfig der Affen befand sich
eine große Holzkiste , die denselben des Nachts
als Schlafstätte diente. Diese Kiste war rechts
in der Ecke des Käfigs aufgestellt und war so
schwer, daß sie von den Tieren nicht bewegt
werden konnte. Außerdem hatten die Tiere in
ihrem Käfig eine sehr große Blechkugel , welche
seinerzeit zur Dressurschaustellung diente, indem
die großen Raubtiere darauf ihre Kunststücke auf-
führen mußten. Diese Biechkugel war den Affen
zur Unterhaltung in den Käfig gegeben worden.
Da die Kugel inwendig hohl war, war sie sehr
leicht und ließ sich ohne Schwierigkeit fortbe-
wegen. Der Schimpanse veranlaßte nun seine
Freundin Rosa (ein Orang), gemeinschaftlich mit
ihm die Kugel auf die Schlafkiste zu bugsieren,
was ihnen auch nach verschiedenen vergeblichen
Versuchen gelang. Da aber der dadurch bewirkte
Steigapparat noch nicht hoch genug war, um das
Gesims zu erreichen, veranlaßte der Schimpanse
seine Freundin, auf die Kugel zu klettern, sich an
der Wand aufzurichten und ihm mit ihrem Rücken
als Kletterbock zu dienen. Die Sache gelang auch
vortrefflich, der Schimpanse gelangte auf diese
Weise auf das hervorragende Gesims des Innen-
raumes des Hauses und von dort mit leichter
Mühe zu den Giraffen in den Käfig herunter.
Um künftigen ferneren Befreiungsversuchen
vorzubeugen, wurde die Holzwand bis an die
Decke weitergeführt, wodurch ein Entweichen nach
obenhin ausgeschlossen ist. Der Affe hatte sich
aber gemerkt, daß der Wärter, wenn er in den
Käfig zu ihm trat, stets vorher mit dem Schlüssel,
der mit anderen an einem Schlüsselbund hing,
das Hängeschloß aufschloß. Da das Tier oft
neugierig zuschaute, hatte ihm der Wärter wieder-
holt spielend die Schlüssel gezeigt. Als nun die
Befreiungsversuche nach obenhin nicht mehr
fruchteten, kam der Affe auf den Gedanken, die
Gegenwart des Wärters im Käfig zu benutzen, um
das Schloß zu öffnen und so ins Freie zu gelangen.
Als eines Tages die Schlüssel wieder in seine
Hände gelangten, lief der Schimpanse zum Schloß
hin und versuchte, indem er Schlüssel für Schlüssel
probierte, das Schloß damit zu öffnen. Endlich
gelang ilim dieses, der Wärter hatte es aber be-
merkt und vereitelte seinen Fluchtversuch. Seit
diesen Tagen versuchte er jeweilen, sobald ihm
die Schlüssel gereicht wurden, das Schloß damit
zu eröffnen. Ich habe wiederholt den Affen dabei
beobachtet und mich gewundert, welche Mühe
sich das Tier gab, die einzelnen Schlüssel nach der
Reihe zu probieren, bis es den rechten gefunden
hatte.
Aber auch der männliche Orang Jakob ver-
suchte sein Heil in einem Befreiungsversuch, der
ihm so gut gelang, daß nicht nur er, sondern
auch der weibliche Orang und der Schimpanse
mit ihm ins Freie gelangten. Er brachte dieses
auf folgende Weise fertig. Von den aus Holz
angefertigten Turngeräten hatten die Affen ein Holz-
stück abgebrochen. Der Orang benutzte dieses
Holzstück, fuchtelte damit am Hängeschloß umher
und steckte dessen Spitze in den Henkel des
Schlosses hinein. Da er mit großer Kraftan-
strengung dabei zu Werke ging, wirkte das Holz
als Hebel, das Schloß wurde gesprengt, dann von
den Affen entfernt, die Tür geöffnet, — und hinaus
ging es mit allen Dreien ins Freie."
Soweit die Beispiele. Betrachtet man nunmehr
das Verhalten der Organismen in Rücksicht auf
die Methode des Versuchs und Irrtums etwas all-
gemeiner, so findet man in dieser Methode den
Ausdruck eines höchst wichtigen Grundsatzes, der
für das Verständnis des Verhaltens eine weit-
tragende Bedeutung besitzt. Der Reiz ruft nicht
direkt eine einzelne einfache Bewegung (eine
Reflexbewegung) hervor, von der Art, daß sie den
Organismus sofort von dem Zustande der Reizung
befreit, sondern es folgen der Reizung viele ver-
schiedene Bewegungen, aus denen die erfolgreiche
dadurch ausgewählt wird, daß sie ein Aufhören
der Reizung herbeiführt. Die Probiermethode
kann daher folgendermaßen formuliert werden:
Auf Reizung hin führt der Organismus eine Reihe
von probierenden Bewegungen aus, die ihn ver-
schiedenen Bedingungen aussetzen. Aus dieser
Überproduktion von Bewegungen wählt das Tier
diejenige Reaktion, welche Erfolg hat, aus, um
der Reizung oder dem Hindernis zu entgehen.
292
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 19
Diese Auswahl von Bewegungen hängt zum größten
Teile von dem ab, was man bei höheren Tieren
als Unterscheidungsvermögen bezeichnet, d. h. von
der Genauigkeit, mit welcher sich das Reaktions-
bestreben der Schädlichkeit des einwirkenden
Reizes anpaßt. Durch die Steigerung der Ge-
nauigkeit in der Unterscheidung verschiedener
Reize erfolgt der I'ortschritt in dieser Methode
des Verhaltens. Durch das Unterscheidungsver-
mögen wird eine Auswahl unter den Bewegungen
derart getroffen, daß gewisse Arten von Reaktionen
auf geeignetere Weise als andere den Organismus
von einer unvorteilhaften Reizung befreien oder
ihm eine günstige sichern. Das ganze Schema
der Reaktion durch Auswahl aus den Resultaten
verschiedener probierender Bewegungen ist daher
kein festes, vollkommenes, endgültiges, vielmehr
ein Versuchsplan, berechnet für die verwirrenden
Ereignisse, wie sie sich im Leben abspielen ; es
ist Abänderungen und Fehlern unterworfen und
daher entwicklungsfähig.
Durch Wiederholung desselben Reaktions-
schemas gelangt schließlich der Organismus dazu,
prompter und schneller mit der wirksamen Bewegung
zu antworten. Hierbei sind früher empfangene
Reize und früher ausgeführte Reaktionen nicht
nur bei Protozoen und Cölenteraten, sondern auch
bei höheren Tieren wichtige bestimmende Faktoren
für das gegenwärtige Verhalten ; sie können ent-
weder das Aufhören der Reaktion auf einen ge-
gebenen Reiz oder einen vollständigen Wechsel
des Wesens der Reaktion herbeiführen, mit der
Tendenz , daß eine vorher bereits ausgeführte
Tätigkeit prompter und schneller ausgeführt
wird. Nachdem sich auf diese Weise die Reiz-
beantwortungen des Organismus durch Auswahl
und ein gewisses Erinnerungsvermögen an frühere
Reaktionen bis zu einem bestimmten Grade fest-
gelegt haben, können sich die Bedingungen derart
ändern, daß diese Reaktionen nicht länger zweck-
mäßig sind. Das Tier befindet sich dann in einer
weniger vorteilhaften Situation, als wenn das Ver-
halten mehr nur durch I'robierbewegungeii be-
stimmt wird. Es wird jetzt die Tendenz bestehen,
daß die festgelegten Reizbeantwortungen abge-
brochen werden , und die Probiervorgänge sie er-
setzen, bis neue feststehende Reaktionen, die den
gegenwärtigen Bedingungen angepaßt sind, sich
ausgebildet haben. So kann der Organismus auf
Grund der Methode „of trial and error" immer neue
und besser geeignete Methoden der Bewegung
annehmen. Dadurch , daß nur die vorteilhaften
Reaktionen beibehalten werden, reguliert der
Organismus sein Verhalten in einer bestimmten
Richtung.
Vermutlich hat jedes Tier durch vieles Pro-
bieren alle erforderlichen Tätigkeiten gelernt und
verfügt nun über einen Erfahrungsschatz, der es
veranlaßt, die einzig richtige Reaktion unter vielen
auszuwählen. Nach der gemachten Erfahrung
richtet sich also das Verhalten des Tieres; dies
kommt besonders bei höheren Tieren zum Aus-
druck. Es fragt sich nun, ob sich auch bei niederen
Organismen Erscheinungen, z. B. der Wechsel im
Verhalten von Stentor, finden, die in irgendeiner
Weise dem Lernen eines höherenOrganismus ähnlich
sind. Die Hauptsache ist, daß der Organismus nach
seinen Erfahrungen in einer wirksameren Weise
reagiert als vorher. Tatsächlich zeigt das Ver-
halten von Stentor in einer rudimentären Weise
Erscheinungen, die in Übereinstimmung mit der
von ihm gemachten Erfahrung stehen, indem näm-
lich entweder der Reiz, auf den zuerst eine starke
Reaktion erfolgte, gar nicht mit seinen Funktionen
interferiert, so daß die Reaktion dann aufhört,
oder indem die bereits erfolgte Reaktion ohne
Nutzen bleibt, da die Interferenz mit seinen Lebens-
funktionen bestehen bleibt, so daß eine andere
Reaktion hervorgerufen wird. Jedoch dauert die
Veränderung des Verhaltens infolge der gemachten
Erfahrung nur sehr kurze Zeit.
In einer von J e n n i n g s angegebenen Versuchs-
reihe machte ein Krebs nach 400 Versuchen einen
P"ehler auf 50 Versuche. Der Krebs hatte gelernt,
die richtige Reaktion fast sofort auszuführen. So
können die niedersten Tiere in der Tat auf die
verschiedenste Weise lernen. Lernfähigkeit ist
eben eine charakteristische Eigenschaft des Proto-
plasmas.
Bei höheren wirbellosen Tieren, z. B. bei
Ameisen und Bienen, und bei Wirbeltieren wird
dieses Verhalten, welches sich auf die Methode
,,of trial and error" in Verbindung mit der Erfahrung
gründet, außer durch Assoziation auch durch Nach-
ahmung und Überlegung geleitet und erlangt dann
große Bedeutung. Nicht nur ganze Tiergruppen,
sondern auch einzelne Individuen derselben Art
machen hierbei verschiedene Erfahrungen. So
können zwei Exemplare vonConvoluta (Turbellarie)
nebeneinander zu gleicher Zeit, das eine positiven
Geotropismus, das andere negativen Geotropis-
mus zeigen, je nach ihrer Vergangenheit.
Dieses Lernen aus Erfahrung kann sich auf die
eigene Körpertätigkeit beziehen , die dabei ver-
vollkommnet wird. Hier tritt das Problem wo-
möglich noch prägnanter auf. Wenn der Hund
z. B. einen Sprung über den Zaun versucht, um
zu seinem Herrn zu kommen, ein solcher Sprung
aber höhere Anforderungen an sein Können stellt,
als er auszuführen gewohnt ist, so bedeutet das
gleichfalls die Methode des Versuchs und Irrtums.
Indem das Tier die verschiedensten Versuche an-
stellt, bis es zum Ziele gelangt, und sich so übt
und trainiert, macht es nach all den probierenden
Bewegungen die Erfahrung, daß der Weg zu
seinem Herrn nur über die Mauer führt. In der
Folgezeit wird der Hund auf Grund seiner früheren
Erfahrung, die ihm das Erinnerungsvermögen auf-
bewahrt hat, die Gewohnheit erlangt haben, die
einmal als zweckmäßig erprobten Bewegungen
immer wieder von neuem auszuführen.
Während die Ausbildung der Handlungsweise
nach der Methode „of trial and error" zu einem
zweckdienlichen Aktionstypus auf der durch Er-
N. F. XIII. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
293
fahrung begründeten Auswahl bestimmter Be-
wegungen beruht, hängt der Erfolg des Probierens
nur vom Zufall ab. Dies zeigen deutlich die Ver-
suche an Hunden und Affen. Die auf die oben
creschilderte Weise erfolgte Öffnung des Schlosses
durch den Affen beruht auf einem glücklichen Zu-
fall. Denn Zufall ist aller Handlungserfolg, der
weder auf Grund von Erfahrung vorausgesehen
noch durch Überlegung herbeigeführt wird. Die
Erfahrung geht den Affen vorläufig ab, aber auch
Überlegung braucht man nicht anzunehmen ; denn
es genügt, von Versuch zu reden, der von Erfolg
begünstigt ist. Die zwekmäßigen Reaktionsbe-
wegungen assozieren sich auf Grund der Versuche
allmählich mit den durch Reize ausgelösten Emp-
findungen, z. B. bildet sich eine feste Assoziation
zwischen der Türklinke eines Tores und dem Ver-
such des Hundes, diese emporzudrücken und dann
das Tor zu öffnen.
Sowohl bei Tieren als auch beim Menschen wird
das Vorhandensein von Wahrnehmung, Wahlver-
mögen, Begehren, Gedächtnis, Gewohnheit, Gemüts-
bewegungen, Lernfähigkeit, Intelligenz und Nach-
denken aus gewissen objektiven Tatsachen — be-
stimmten Dingen, die diese Wesen treiben — beurteilt.
Sowohl höhere als auch niedere Organismen be-
sitzen ein Unterscheidungsvermögen, ein Wahl-
vermögen oder zeigen Aufmerksamkeit, Abneigung;
bei beiden finden sich negative Reaktionen auf
starke schädigende Einwirkungen, die, wie man
sagt, sich beim Menschen und bei höheren Tieren
in Schmerzen äußern. Die Hauptursache der dem
Schmerz entsprechenden Zustände liegt in der
Beeinträchtigung aller Vorgänge, die sich in dem
Organismus abspielen. Die diesen Zuständen ent-
sprechende Betätigung ist eine Veränderung der
Ortsbewegung. Diese findet nach der Probier-
methode so lange statt, bis es dem Tier gelingt,
sich von der Reizung zu befreien. Es findet also
ein Versuchen statt, das durch einen dem Unlust-
gefühle der höheren Tiere und des Menschen ent-
sprechenden Zustand ausgelöst wird, bis der Erfolg
sich einstellt. Als Erfolg ist zu bezeichnen, daß
das Tier sich in günstigen äußeren Bedingungen
erhält, die einem Zustand entsprechen, der den
Begleiterscheinungen des Vergnügens bei dem
Menschen und den höheren Tieren entspringt.
Dieser Zustand ist mit einer Befreiung von der
Beeinträchtigung der Lebensprozesse verbunden.
Da wir bei uns selbst Bewegungen und Re-
aktionen nach der Methode „of trial and error" vor-
finden , die in mancher Beziehung denen der
niederen Organismen gleichen, uns z. B. von Hitze,
Kälte und schädlichen Einflüssen entfernen, so
handeln wir darin gerade wie ein Paramaecium.
Indessen kommt bei uns selbst noch die höchst
interessante Tatsache hinzu, daß diese Bewegungen,
Reaktionen und physiologischen Zustände oft von
subjektiven Zuständen begleitet sind, den Zu-
ständen des Bewußtseins. Wenn wir bei uns selbst
von dem Verhalten sprechen und ebenso meist
auch bei den höheren Tieren, so gebrauchen wir
Bezeichnungen, die auf diesen subjektiven Zu-
ständen beruhen, wie Lust, Unlust, Empfindung,
Gedächtnis, Furcht, Ärger, Vernunft und der-
gleichen mehr. Solche Zustände, die nur von der
einen Person wahrgenommen werden können, die
sie unmittelbar betreffen, dem Subjekt, können
nicht durch Beobachtung und Versuch an Lebe-
wesen außer uns entdeckt werden. Beobachtung
und Versuch sind aber die einzigen direkten Mittel,
um das Verhalten bei den niederen Organismen zu
studieren. Man kann über ihr Verhalten For-
schungen anstellen und durch Analogiebetrach-
tungen vielleicht zu dem Schlüsse kommen, daß
auch sie Bewußtseinszustände haben.
So ergibt sich die Möglichkeit, manche von
den Erscheinungen, von denen man aus objektiven
Gründen weiß, daß sie in dem Verhalten des
Menschen und der höheren Tiere auftreten, bis zu
den niedersten Lebewesen zurückzuverfolgen. Viele
Zustände, die man beim Menschen deutlich unter-
scheiden kann , lassen sich auf einen einzigen
physiologischen Zustand bei den niederen Orga-
nismen zurückverfolgen. Die Differenzierung geht
in der aufsteigenden Tierreihe ebenso in diesen
Dingen vor sich wie in anderen.
Die Methode ,,of trial and error" gibt uns also
die Möglichkeit an die Hand, durch vergleichende
Betrachtungen über das auf dieser Methode be-
ruhende Benehmen der Tiere Rückschlüsse auf
ihre psychischen Fähigkeiten zu machen. Man
muß annehmen, daß die Wirbeltiere und wenigstens
auch die höheren Evertebraten, sobald sie einmal
eine Aktionsmethode durchprobiert haben, bei
Wiederholung derselben von gewissen Vorstellungen
geleitet werden, daß sie während des Probierens
Erfahrungen sammeln und lernen können. Vor-
stufen dieser an ein Gedächtnis geknüpften psychi-
schen Fähigkeiten finden sich auch bei niederen
Metazoen und Protozoen, wie die Versuche zeigen.
Dabei ist es nicht erforderlich, daß der erste Erfolg
in dieser Methode durch bestimmte Vorstellungen
bedingt ist, daß gewissermaßen schon die ersten
probierenden Bewegungen einen Zweck haben.
Das Zweckdienliche in diesem Verhalten stellt
sich erst nach einer Reihe von z. T. erfolglosen
Versuchen ein. Der Erfolg in der Methode „of
trial and error" hängt vielmehr ganz und gar bei
allen Tieren vom Zufall ab.
1906.
Literatur.
Jennings, Behavior of the lower organisms. New York
6.
Morgan, Animal behaviour. London igoo.
Thorndike, Aniraal behaviour. 1906.
Schneider, Tierpsychologie. 1909.
G. Bohn, Die neuere Tierpsychologie. 1912.
Zur Straßen, Die neuere Tierpsychologie. Berlin 190S.
Wasmann, Instinkt und Intelligenz im Tierreich. 1905.
294
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 19
Zerealieufiiude vorgeschichtlicher Zeit
aus den thüringisch-sächsischen Ländern.
Von Hugo Mötefindt, Wernigerode.
[Nachdruck verboten.]
Die prähistorische Forschung der letzten Jahre
hat hinsichtlich des Alters der Kulturpflanzen ganz
wunderbare Ergebnisse geliefert. Noch B u s c h a n
konnte in seinem vortrefflichen zusammenfassenden
Werke „Vorgeschichtliche Botanik der Kultur- und
Nutzpflanzen der alten Welt auf Grund prähisto-
rischer Funde" (Breslau 1895) die Kulturpflanzen
durchweg nur bis zur neolithischen Periode zurück-
verfolgen. Jetzt haben die epochemachenden Aus-
grabungen von Piette u. a. ergeben, daß im süd-
westlichen Frankreich der paläolithische Mensch
bereits im Magdalenien Zerealien kannte und aller
Wahrscheinlichkeit nach auch in roher Weise kulti-
vierte ^). Wie im südlichen Frankreich, so sind
auch vor wenigen Jahren in Campign^ in Nord-
frankreich in einer Wohngrube aus der Übergangs-
zeit zwischen dem Paläolithikum und dem Neo-
lithikum eine Gefäßscherbe mit dem Abdruck eines
Gerstenkornes und Mahlsteine, die auf Feldbau
deuten, gefunden.
Aus der neolithischen Zeit (vor 2000 vor Chr.
Geburt) sind bereits seit langem zahlreiche Getreide-
funde aus den Schweizer Pfahlbauten bekannt, die
beweisen, daß Weizen, Gerste, Hirse und Flachs
u. a. m. dort bereits in der jüngeren Steinzeit ge-
baut wurden. Getreidefunde wurden dann später
auch in Bosnien, in Ungarn, Österreich, Italien,
Schweden, Dänemark und auch in Deutschland
entdeckt.
Sehr wichtig für unsere Kenntnis der vorge-
schichtlichen Kulturpflanzen ist eine Beobachtung
geworden, die ein Dorfschullehrer in Jütland, Frode
Kristensen, im Jahre 1894 gemacht hat, daß sich
nämlich an prähistorischen Gefäßen öfters Ab-
drücke von Körnern oder verkohlte Körner selbst
finden, die bei der .Anfertigung der Gefäße zufällig
in die Tonmasse geraten waren. Durch diese Ent-
deckung wurden zahlreiche weitere Getreidefunde
und sichere Zeitbestimmungen im Laufe der Jahre
ermöglicht.
Merkwürdig wenig Funde von prähistorischen
Vegetabilien liegen bis jetzt aus Deutschland vor,
obwohl gerade hier in allen Teilen des Reiches
eine unzählige Menge vorgeschichtlicher .-^nsied-
lungen aufgedeckt und erforscht sind. Man könnte
daraus folgern, daß in Deutschland der Ackerbau
In vorgeschichtlicher Zeit weniger verbreitet ge-
wesen sei als in den Alpenländern und in Nord-
europa. Ein derartiger Schluß wäre jedoch völlig
falsch ; jene immerhin sehr auffällige Tatsache findet
ihre Erklärung vielmehr darin, daß in früheren
Jahren auf der Suche nach wertvollen Gegen-
ständen die unscheinbaren und doch so außer-
ordentlich wichtigen pflanzlichen Reste nur in den
seltensten Fällen oberflächlich registriert wurden.
Seitdem in den letzten Jahren durch die verdienst-
Hchen Arbeiten von Buschan und Hoops die
Aufmerksamkeit nachdrücklicher auf die vegetabi-
lischen Reste gelenkt wurde, sind dann auch bald
eine größere Anzahl von Funden dieser Art zur
Kenntnis gelangt.
Aus den thüringisch-sächsischen Ländern ^}
waren bereits fünf Funde von Zerealien bekannt
und von Buschan in seinem oben angeführten
Werke verzeichnet. Seitdem sind dort drei neue
Funde zutage gekommen, von denen zwei bis
zur Stunde noch unpubliziert sind; in Anbetracht
der Wichtigkeit gerade dieser neuen Funde sehe
ich mich veranlaßt, einmal alle vorgeschichtlichen
Zerealienfunde aus meinem Arbeitsgebiet zusammen-
zustellen und bekannt zu geben.
I. Mertendorf, Verwaltungsbezirk
Apolda (Sachsen- Weimar).
Bei Mertendorf wurden von Klop fleisch
im Jahre 1880 vier ovale Hügel untersucht, in
denen er mit lockerer Erde gefüllte Gruben,
Scherben, gebrannten Lehm, Kohle, Reibsteine,
einige Steinbeile und Feuersteinsplitter fand, aber
keine Skelette oder sonstige Grabeinrichtungen.
In einem der Hügel entdeckte Klop fleisch
sieben „inwendig mit gebranntem Ton ausgeklei-
dete Gruben, die in den Grundboden eingegraben"
waren und augejischeinlich als Kornbehälter ge-
dient hatten. In einer dieser sieben Zylindergruben
lacr gerösteter Weizen, in anderen Reste von Back-
formen und Getreidereibern "). B u s c h a n rechnet
den Weizen (auf Grund einer untersuchten Probe?)
zur Art Triticum vulgare''), die schon in der
Steinzeit die häufigste und verbreitetste Sorte des
Weizens war; in fast allen Ländern, wo überhaupt
Weizenfunde gemacht worden sind, ist auch Triti-
cum vulgare vertreten.
2. Ettersberg bei Ettersburg, Verwal-
tungsbezirk Apolda (Sachsen-Weimar).
In einer Lehmgrube des Ettersberges nördlich
von Weimar wurde eine Niederlassung aus neoli-
thischer Zeit — und zwar der bandkeramischen
Kultur angehörig — entdeckt, in der Weizen,
Gerste und Apfelkerne zum Vorschein kamen *).
Der Weizen gehört nach der Untersuchung Bu-
sch an 's*) zur Art Triticum vulgare. Bei der
Gerste handelt es sich — ebenfalls nach Buschan
— wahrscheinlich um Hordeum hexastichum sanc-
tum Heer*'), die kleine sechszeilige sog. Pfahlbau-
gerste, das häufigste Getreide der Schweiz in prä-
*) Nähere Angaben findet man am besten in dem aus-
gezeichneten Werke von Joh. Hoops, Waldbäume und
Kulturpflanzen im germanischen Altertum (1905), auf das ich
hier ein für allemal verweise.
1) Unter thüringisch-sächsischen Ländern verstehe ich hier
wie in meinen anderen Arbeiten die Provinz Sachsen mit den
historisch nicht scharf von ihr trennbaren angrenzenden Ge-
bietsteilen.
2) Korrespondenzblatt der deutschen Gesellschaft für An-
thropologie usw., 18S1. S. 139 — 142.
3) Buschan a. a. O. S. 12.
*) Götze-Höfe r-Zschiesche, Die vor- und früh-
geschichtlichen Altertümer Thüringens. S. 263.
6) A. a. O. S. 12.
6) A. a. O. S. 41.
N. F. XIII. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
295
historischen Zeiten. Die Apfelkerne zählt Bu-
schan wohl in seinem „Verzeichnis der Fundorte
mit vorgeschichtlichen Kulturpflanzen" (a. a. O.
S. 252) auf, berücksichtigt sie aber bei der Be-
sprechung der Apfelfunde (a. a. O. S. 166 ff.) nicht.
Merkwürdigerweise hat auch Hoops diesen Fund
übersehen. Meine an die in Frage kommenden
Museen in Berlin und Halle a. S. gerichteten An-
fragen, ob dort vom Fttersberge Apfelreste vor-
handen seien, sind bis jetzt leider unbeantwortet
geblieben.
3. Erfurt.
Am Andreastor in Erfurt fand Zschiesche
bei der Erforschung neolithischer und zwar wiederum
bandkeramischer Ansiedlungen auf dem Boden
eines zertrümmerten Topfes verkohlteWeizenkörner.
Bei diesem Weizen handelt es sich nach der An-
gabe von Buschan (a. a. O. S. 6 u. 12), der auch
von hier Proben untersucht hat, um Triticum
vulgare.
4. Schlichen, Kr. Schweinitz.
Von dem durch die Untersuchungen des Kreis-
physikus Wagner ') bekannten Burgwall aus der
Zeit der sog. Lausitzer Kultur (Jüngere Bronzezeit,
1400 — 500 vor Chr. Geburt) sind auch Getreide-
funde bekannt. Buschan hat noch Proben von
diesen Funden zur Untersuchung bekommen können
und dabei stellte es sich heraus, daß vier Frucht-
sorten von hier vorliegen : Bohnen, Erbsen, Weizen
und Hirse. Bestimmbar war zunächst Vicia Faba
L. maior, die im Gebiet derselben Lausitzer Kultur
bereits mehrfach belegt ist"). Ferner Pisum sa-
tivum L., Erbse. Letztere ist in der Steinzeit
scheinbar sehr spärlich verbreitet gewesen ; sie ist
dort nur für das Pfahlbautengebiet und für Ungarn
belegt, während sie sich im eigentlichen Deutsch-
land erst durch einige mit dem hier von Schlieben
vorgelegten gleichaltrige Funde nachweisen läßt.
Schließlich sind Reste von Hirse (Panicum) vor-
handen. Steinzeitliche Hirse ist in Deutschland
und Böhmen überhaupt nicht nachgewiesen, wäh-
rend sie in den skandinavischen Ländern, in der
Schweiz und Oberitalien aus dieser Zeit bereits
bekannt ist; in Deutschland ist sie erst in der
Bronzezeit durch mehrere Funde im Lausitzer
Kulturkreise belegt. Der in diesem Funde von
Schlieben vertretene Weizen gehört zur Art Triti-
cum vulgare, die übrigens im Bereich der Lausitzer
Kultur noch einmal belegt ist ^).
5. Aschersleben.
Aus einem Gräberfelde „aus der Zeit des Lau-
sitzer Typus" hat Buschan durch Vermittlung
des damaligen Museumsdirektors Dr. Schmidt in
Halle a. S. Getreideproben von Weizen erhalten ■*).
Da Buschan diesen Fund im weiteren Verlaufe
seiner Arbeit nicht weiter erwähnt, so vermute
ich, daß eine genaue Bestimmung der Weizenart
nicht möglich war.
6. Gleich berg bei Römhild (Sachsen-
Meiningen).
Ein sehr wichtiger Fund vom kleinen Gleich-
berge ist bisher, obwohl er von seinem Entdecker
in einer Sonderpublikation bekannt gegeben wurde'),
den Augen der Forscher entgangen.
Am Südrande des Thüringer Waldes befinden
sich in der Nähe von Römhild zwei große Be-
festigungen aus vorgeschichtlicher Zeit, der große
und der kleine Gleichberg, die beide zahlreiche
Funde aus der Latenezeit (500 vor Chr. Geb. bis
um Chr. Geb.) geliefert haben ^).
Am kleinen Gleichberge entdeckte im Jahre
1906 der Technikumslehrer C. Kumpel aus Hild-
burghausen eine Wohn- oder Vorratsgrube, über
welche früher der Wall mit seiner größten Mächtig-
keit gelagert haben soll und die demnach älter
als der Wall selbst sein müßte. Bei der Unter-
suchung ihres Inhaltes stieß Kumpel auf einige
Körner, und nun aufmerksam geworden, fand er
durch Sieben und Schlämmen großer Bodenmassen
an der Stätte aus einer bestimmten Schicht an
Zerealien ^|^ 1 Weizen, i 1 Mohn, '/^ 1 Bohnen und
kleinere Mengen von anderen Fruchtsorten.
Um zunächst über das Alter des Fundes zu
sprechen, so ist die von Kumpel gegebene Da-
tierung in die Bronzezeit wohl anzuzweifeln. Der
Fund gehört wahrscheinlich der Latenezeit an;
später als diese ist er auf keinen Fall anzusetzen.
Nach derBestimmungvonB raungart in München
sind in dem Funde folgende Fruchtsorten vertreten:
1. Triticum monococcum L, Einkorn. Aus
neolithischer Zeit bereits aus Bpsnien, Ungarn, den
Schweizer Pfahlbauten, der württembergischen neoli-
thischen Station von Schussenried und aus Däne-
mark bekannt, während in Mittel- und in Nord-
deutschland Funde dieser Art aus vorgeschicht-
licher Zeit bisher überhaupt fehlten.
2. Triticum spelta L., Spelt im engeren Sinne,
auch Dinkel genannt, wie er noch heute in der
Umgebung des kleinen Gleichberges gebaut wird.
Spelt war bisher nur ein einziges Mal aus ganz
Mittel- und Nordeuropa aus vorgeschichtlicher Zeit
überhaupt durch einen Fund aus dem bronzezeit-
lichen Pfahlbau der Petersinsel im Bieler See be-
kannt. Im Hinblick auf die von Buschan und
Gradmann") über die Herkunft der Kultur des
') Vgl. besonders Wagner, Die Tempel und Pyramiden
der Urbewohner auf dem rechten Eibufer (1828) und derselbe,
Ägypten in Deutschland (1833).
^) Hoops a. a. Ci. S. 402.
») A. a. O. S. 7.
*) A. a. O. S. 7 u. 250.
') C. Kumpel, Ein Zerealienfund vom kleinen Gleich-
berge bei Römhild. Mit einer Tafel. Ohne Ort und Jahr.
8 Seiten.
-) Jacob, Die Gleichberge bei Römhild. Vorgeschicht-
liche Altertümer der Provinz Sachsen. Heft 5 — 8. Halle a. S.
18S7. — Verhandlungen der Berliner anthropologischen Ge-
sellschaft 1900, S. 416 (Götze). Neue Beiträge zur Geschichte
deutschen Altertums. Lieferung 16. Meiningen 1902 (Götze).
Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens. Heft 31, 1904, S. 466
(Götze).
') Buschan a. a. O. S. 24. — Grad mann, Der
Dinkel und die Alemannen 1902. — Hoops a. a. O. S. 411 ff.
— Gradmann, Getreidebau im deutschen und römischen
Altertum (Jena 1909I. — Aug. Schulz, Geschichte des Ge-
treidebaues. Band 1. (1913).
296
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 19
Speltes aufgestellten Hypothesen ist der hier ge-
gebene Nachweis von vorgeschichtlichem Spelt
um so wichtiger.
3. Triticum vulgare compactum nuticum, Binkel-
oder Igelweizen. Es handelt sich um eine beson-
dere Art des Weizens, die aus Bosnien und der
Schweiz bekannt ist. Eine Varietät von ihr, die
in den Fundberichten meist nicht geschieden ist,
ist Triticum vulgare globiforme Buschan, das
sich für die Steinzeit in Bosnien (?), Ungarn, Ober-
italien, in den Schweizer Pfahlbauten, Württem-
berg nachweisen läßt. Erst während der Bronze-
zeit haben diese beiden Weizensorten ihr Gebiet
bis nach Dänemark hin ausgebreitet. Aus der
Latenezeit waren beide Sorten in Deutschland
noch in keinem Funde vorhanden.
4. Triticum vulgare antiquorum O. Heer,
kleiner Pfahlbauweizen. Braun garten hat bei
seiner Bestimmung diese Weizensorte ausdrücklich
von Triticum compactum Host, getrennt; ich weiß
aber nicht, inwieweit sich beide decken, und
möchte eine eingehende Untersuchung einem bota-
nischen Fachmann überlassen.
5. Hordeum hexastichum sanctum, kleine Pfahl-
baugerste. Das steinzeitliche \'orkommen dieser
Sorte haben wir bereits oben erwähnt, wir tragen
hier nur noch nach, daß aus der Bronzezeit nur
in drei Funden diese Sorte belegt ist, während in
den späteren vorgeschichtlichen Zeiten diese Sorte
in keinem Funde vorkommt.
6. Vicia Faba L. var. celtica nana Heer, kleine
keltische Zwergbohne, nur eine Varietät, vielleicht
die Stammform der heutigen großen kultivierten
Formen. In welchen Gebieten sich diese Varietät
für vorgeschichtliche Zeiten nachweisen läßt, ver-
mag ich leider nicht anzugeben.
7. Pisum sativum L., Erbse. Vgl. oben.
8. Papaver somniferum var. antiquorum,
Gartenmohn. Die Körner sind ungewöhnlich groß.
Diese Auffindung von Gartenmohn ist sehr wichtig,
denn Gartenmohn war bisher prähistorisch noch
nicht bezeugt '). Eine Abart, Papaver setigarum
D. C, ist in den Pfahlbauten in großen Mengen
gefunden worden. In Robenhausen ist u. a. ein
ganzer Kuchen von verkohltem Mohnsamen ge-
funden worden, woraus man erschließen kann, daß
der Samen in F"orm von Mohnkuchen genossen
wurde. Außerdem wird Mohn zur Ölgewinnung
benutzt sein; die berauschenden Fähigkeiten des
IVIohnsamens als auch des daraus gewonnenen
Öls werden gleichfalls die Leute zu seinem Bau
und seiner Pflege angeregt haben.
9. Ein Fruchtkorn, das unbestimmbar geblieben
ist; wahrscheinlich handelt es sich um einen
Apfelkern.
7. „Diebeshöhle" bei U f t r u n g e n ,
Kr. S a n g e r h a u s e n.
In der „Diebeshöhle" zwischen Uftrungen und
Breitungen hat der Klempnermeister GüntherRoßla
a. H. außer einem Grabe der ältesten Bronzezeit
') Hoops a. a. O. S. 334.
(Aunjetitzer Kultur) auch eine Herdstelle mit
Scherben der sog. Lausitzer Keramik (Periode
IV — V) entdeckt. In dieser Herdstelle hat er u. a.
einen Scherben gefunden, auf dem zahlreiche ver-
kohlte Getreidekörner lagen. Diese Funde bilden
heute den wissenschaftlich wertvollsten Teil der
Günther'schen Antiquitätensammlung, und sie
werden demnächst an anderer Stelle von mir aus-
führlich veröffentlicht werden ; hier soll nur über
die Getreidereste berichtet werden. Herr Prof Dr.
August Schulz in Halle war so freundlich,
die Untersuchung der Getreidereste zu übernehmen
und schreibt mir darüber wie folgt : ,,Es handelt
sich um Saatgersten- und Weizenreste, doch läßt
sich, da ganze Ähren oder größere Ährenbruch-
stücke fehlen, nicht mit Bestimmtheit sagen, zu
welchen P^ormengruppen dieser beiden Getreide
die Reste gehören. Da bei den wenigen Saat-
gerstenfrüchten, an denen noch die Basis der Deck-
spelze haftet, diese vorn eine tiefe Kerbe (Nute)
trägt, und bei einem Teile der P^rüchte nach der
Außenkante hin konvex gebogen ist, und da die
obere Partie der Deckspelze dieser letzteren Früchte
da, wo sie vorhanden ist, entsprechend schief ist,
so ist es sehr wahrscheinlich, daß Hordeum poly-
stichum pyramidatum Körnicke vorliegt. Ein Teil
der Weizenfrüchte gleicht so vollständig rezentei\
Früchten von Triticum vulgare Vill. Körnicke,
wenn sie auch kleiner als die der meisten Formen
dieser Formengruppe sind, daß ich es für sehr
wahrscheinlich halte, daß sie in der Tat zu dieser
Formengruppe gehören. Und ich würde auch
keine Bedenken getragen haben, auch die übrigen
Früchte zu Triticum vulgare zu rechnen, wenn ich
nicht zwischen den Früchten vier Ährenachsen-
glieder mit anhaftenden Hüllspelzenresten gefunden
hätte, die nur von Spelzweizen, wohl Triticum
dicoccum Schrank, zu stammen scheinen. Ich habe
aber vergeblich versucht, die vorhandenen Früchte
auf Triticum vulgare und Spelzweizen, etwa Triti-
cum dicoccum, zu verteilen, ja ich habe keine
PVucht gefunden, die ich mit Bestimmtheit zu
Triticum dicoccum oder zu einem anderen Spelz-
weizen rechnen möchte. Ich bezweifle es, daß
man Früchte von Triticum vulgare und Triticum
dicoccum in verkohltem Zustande und ohne Spelzen
und größere Achsenreste sicher voneinander unter-
scheiden kann." Zu Hordeum ist zu bemerken,
daß gerade die Varietät ,, pyramidatum", wie Hoops
einmal treffend sagt, ,,im ganzen Altertum an-
scheinend die gewöhnlichste Kulturart" war; immer-
hin läßt sie sich durch vorgeschichtliche Funde
nicht allzuoft belegen. Über Triticum vulgare
haben wir bereits oben gesprochen. Triticum di-
coccum Schrank ist in den neolithischen Pfahl-
bauten der Alpenländer vollkommen sicher fest-
gestellt, ebenso in der steinzeitlichen Siedlung auf
dem Michelsberge bei Untergrombach, bei Heidel-
berg und in Böhmen, sowie auch in Dänemark
und Schweden. Aus Nord- und Mitteldeutschland
war kein Fund bekannt. Aus der Bronzezeit ist
aus ganz Mittel- und Nordeuropa nur ein einziger
N. F. XIII. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
297
Fund aus dem Pfahlbau von Auvernier bekannt.
Daraus wurde geschlossen, daß Triticum dicoccum
sich bereits seit der Steinzeit südwärts zurückge-
zogen habe; das trifft jedoch nicht zu, da es durch
unseren Fund jetzt für die Bronzezeit noch aus
Mitteldeutschland nachgewiesen wird. Wann es
seinen Rückzug nach der Schweiz und Südwest-
deutschland angetreten hat, wo es heute lediglich
gebaut wird, darüber vermögen wir eben heute
noch kein Urteil abzugeben, hoffen aber auf Grund
weiterer Funde in Zukunft auch über diesen Zeit-
punkt einmal etwas ermitteln zu können.
8. Kloster Berge bei Magdeburg.
Im Magdeburger Museum für Natur- und
Heimatkunde fand ich eine Probe von verkohltem
Getreide zusammen mit einer Scherbe ausgestellt,
die bei Kloster Berge bei Magdeburg gefun-
den waren. Die Scherbe möchte ich für neo-
lithisch halten, sie kann aber auch bronzezeit-
lich sein. Herr Prof. Dr. C.Schröter in Zürich
war so liebenswürdig, auf meine Bitte eine Unter-
suchung des Getreidefundes zu übernehmen, wofür
ich ihm auch an dieser Stelle meinen besten Dank
aussprechen möchte; danken möchte ich auch
Herrn Prof Dr. Mertens, der so freundlich war,
einen Teil des Getreidefundes zur Untersuchung
an Herrn Prof Dr. Schröter zu übersenden.
Über die Untersuchung des Getreides berichtet
Schröter wie folgt: „Ich habe die von Ihnen
eingesandte Probe prähistorischen Getreides unter-
sucht. Ich halte es aus folgenden Gründen für
Triticum dicoccum L. (Emmer): a) Die Art der
Verkohlung (matte Oberfläche, wenig aufgetriebene
Seitenfläche der Körner) stimmt mit den prähisto-
rischen Proben von Triticum dicoccum (aus der
neolithischen Station von Czernoseck bei Lobositz,
Böhmen) völlig überein. b) Die für das Emmer-
korn charakteristische Abflachung der Furchenseite
des Kornes (von dem gegenseitigen Druck der
beiden Körner herrührend) ist bei den meisten
Körnern gut ausgebildet, oft so stark, daß die
abgeflachte Bruchseite mit einer scharfen Kante
gegen die Seitenfläche abgeht, c) Auch eine
Rückenkante ist vorhanden, die bei Triticum vul-
gare doch fehlt, d) Das Korn ist meistens seit-
lich zusammengedrückt. Die Dimensionen sind
etwas kleiner als beim Emmer von Lobositz (die
Körner sind im Mittel aus 35 Messungen 5 mm
lang). Es fehlen auch in dem wenigen Material,
das mir vorliegt, die so charakteristischen „Klapper-
gabeln" des Emmer (richtiger Hülsenspelzgabeln
nach neuerer Terminologie); vielleicht finden sie
sich bei näherem Nachsuchen noch. Insbesondere
wäre die Hülsenspelzgabel des Gipfelährchens, die
ich unter dem Material von Klein-Czernoseck nach-
weisen konnte, von besonderem diagnostischem
Wert." Herr Prof Dr. Mertens bemerkt hierzu
noch, daß .sich die Spelzengabeln in dem übrigen
Material des Magdeburger Museums auch nicht
gefunden haben.
*
Es ist ganz interessant, zu sehen, wie aus
einem doch verhältnismäßig kleinen Gebiete wie
den thüringisch -sächsischen Ländern eine ganz
beträchtliche Anzahl von Zerealienfunden vorliegt.
Buschan gab in seinem „Verzeichnis der Fund-
orte mit vorgeschichtlichen Kulturpflanzen" *) nur
37 Funde aus Deutschland an; unter ihnen be-
fanden sich fünf Funde aus unserem Gebiet. Bei
unserer jetzigen Zusammenstellung konnten wir
allein aus unserem speziellen Arbeitsgebiet acht
Funde nachweisen. Das ist doch ein erfreuliches
Zeichen dafür, daß sich im Laufe der Jahre die
Getreidefunde beträchtlich vermehrt haben ! Eine
derartige Vermehrung des Materials wird aber
nicht nur in dem hier behandelten Gebiete statt-
gefunden haben, sondern in allen Provinzen unseres
Vaterlandes, in denen die vorgeschichtliche For-
schung tätig ist. Neuere Publikationen von Ge-
treidefunden sind jedoch unseres Wissens nicht
erschienen. Hoffentlich en tschli eß en sich
die betreffenden Forscher zur baldigen
Bekanntgabe ihres Materials zu Nutz
und Frommen der Wissenschaft!
') Busch an a. a. O. S. 249.
Einzelberichte.
Mineralogie. Über ein neues Mineral be-
richtet M. H e n g 1 e i n - Karlsruhe in Heft 5 des
Jahrganges 191 4 des Centralbl. f Mineral., Geol.
und Paläontol., S. 129, in einer Arbeit, betitelt:
„Über Kobaltnickelpyrit von Musen im
Siegenschen,ein neues Mineral der Kies -
gruppe". Die chemische Formel ist (Co, Ni, Fe)
S.,, analog dem Pyrit. Von einem kobalt- und
nickelhaltigem Pyrit unterscheidet sich das neue
Mineral durch seine stahlgraue Farbe, seine gute
Spaltbarkeit und darin, daß der Gehalt an Nickel
und Kobalt demjenigen an Eisen gleichkommt.
Der Kobaltnickelpyrit ist regulär, pentagonal-hemie-
drisch. Die vorhandenen Kristalle waren flächen-
arm; es konnten nur das Pentagondodekaeder
(023), seltener die Würfelfläche und noch seltener
die Oktaederfläche beobachtet werden. Die Dimen-
sionen der ziemlich ideal ausgebildeten Kristalle
sind verschieden. Während die kleinsten etwa
0,5 mm nach 3 Richtungen aufweisen, erreichen
die größten Kristalle nur selten 3 mm. Die Kriställ-
chen sind meist regellos aggregiert und durch-
dringen sich oft unregelmäßig, manchmal sitzen
mehrere übereinander und bilden gestrickte Aggre-
gate.
Der Kobaltnickelpyrit ist undurchsichtig, hat
starken Metallglanz und stahlgraue Farbe. Die
Kristalle sind oft angelaufen. Der Strich ist grau-
298
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 19
schwarz; die Härte 5 — 5V2; das spezifische Ge-
wicht bei 19 — 20" C 4-716^0.028. Der Bruch
ist muschehg; die Spaltbarkeit nach dem Würfel
ziemlich deutlich.
Nach einer der verschiedenen in der Original-
arbeit angeführten Analysen ist die chemische
Zusammensetzung folgende:
Co = 10.6
Ni — 11.7
Fe = 22.8
S =53-9
Unlösl. Rückst. = 0.7
99-7
Das Mineral ist löslich in HNOg, wobei der
Schwefel oxydiert wird. Im geschlossenen Röhr-
chen erhitzt, gibt es sehr leicht ein Sublimat von
Schwefel ab, was anzeigt, daß eine Verbindung
auf hoher Schwefelungsstufe, etwa von der Zu-
sammensetzung RS, vorliegt. In der Boraxperle
erhält man die Kobaltfärbung, die alle anderen
Farben überdeckt.
Der beschriebene Kobaltnickelpyrit stammt
aus der Grube Viktoria bei Musen. Das Vor-
kommen brach mutmaßlich vor etwa 10 Jahren
ein und ist ein sehr seltenes. Soviel aus der
Stufe zu ersehen war, sitzen auf dem Eisenspat
und wenig Quarz als Gangart darüber Pyrit und
auf diesem als jüngste Bildung Kobaltnickelpyrit
und Kupferkies, seltener auch tafeliger Schwerspat.
F. H.
Chemie. Verbindungen des einwertigen
Nickels sind bisher kaum bekannt, denn die in
der Literatur vorhandenen Angaben über das
Nickelsuboxyd NioO, das Nickelsubsulfid NL^S und
das Nickelsubsulfat Ni.jSO^ können nicht als wirk-
licher Nachweis für die Existenz der genannten
Verbindungen angesehen werden. Um so be-
achtenswerter ist daher eine soeben von J. Bellucci
und R. Corelli veröffentlichte Untersuchung
(Zeitschr. f. anorgan. Chem. Bd. 86, S. 88 bis 104,
1914), in der der Beweis für die Existenz des
vom einwertigen Nickel ableitenden Komplex-
salzes Ni(CN).5K,j in einwandfreier Weise geführt
wird, eine Arbeit, die nicht nur von Wichtigkeit
ist, weil in ihr eine neue Wertigkeitsstufe des
Nickels beschrieben wird, sondern auch deswegen,
weil durch die Entdeckung des einwertigen Nickels
die Analogie zwischen diesem Metall und dem
Kupfer, bei dem ja die einwertige Form charak-
teristisch ausgebildet ist, erheblich schärfer, als es
bisher möglich war, präzisiert wird.
Schon im Jahre 1879 hatte Papasogli be-
obachtet, daß sich in der Umgebung eines in eine
Lösung von Nickelkaliumcyanid K2Ni(CN)4 ge-
tauchten Zinkblechs dichte Wolken einer intensiv
roten Flüssigkeit bilden , eine Reaktion , die von
dem genannten Autor auch als ein sehr charak-
teristischer und gleichzeitig sehr empfindlicher
analytischer Nachweis für Nickel empfohlen wurde.
Eine Reihe von Jahren später wurde die Reaktion
von T. Moore untersucht, aber die von ihm er-
haltenen Ergebnisse konnten von Reitzenstein
nicht bestätigt werden und sind auch, wie die
Versuche von Bellucci und Corelli beweisen,
fehlerhaft.
Bellucci und Corelli reduzierten eine reine
wässrige Lösung von Nickelkaliumcyanür Ni^CNj^Kj
unter Luftabschluß mit etwa 30proz. Natrium-
amalgam, ein Vorgang, bei dem weder merkliche
Mengen von Nickelamalgam entstehen, noch auch
Quecksilber in Lösung geht, sondern nur das
komplexe Nickelsalz zu Ni(CN)3K„ reduziert wird.
Ni(CN),K.3 + [Hg, Na] - Ni(CN)3K + NaCN + Hg.
Die hierbei entstehende rote Lösung ist gegen
Oxydationsmittel äußerst empfindlich, ja sie oxy-
diert sich sogar ähnlich wie das Kobalticyan-
kalium, das beim Kochen der wässrigen Lösung
nach der Gleichung
2Co(CN)ßK, + 2H0O = 2Co(CN)eK3 + 2KOH + H,
unter Wasserstoffentwicklung in Kobalticyankalium
übergeht, spontan ebenfalls unter Wasserstofif-
entwicklung zu dem komplexen Salz Ni(CN)jK2.
Die Reaktion verläuft quantitativ: ein Atom
Nickel liefert ein Atom VVasserstoff. Ebenso er-
gab sich durch die jodometrische Analyse, daß
ein Atom Nickel in der roten Lösung zur Oxyda-
tion zu zweiwertigem Nickel ein Atom Jod ver-
braucht, und bei der Titration mit Wasserstoff-
superoxyd erforderte die Oxydation von zwei
Atomen Nickel ein Molekül Wasserstoffsuperoxyd:
Das Nickel ist also in der rotenLösung
zweifellos einwertig.
Die Gewinnung des roten Nickelcyankaliums
in fester Form ist möglich, wenn man zu der
roten Lösung einen Überschuß von Alkohol gibt.
Man erhält eine rote Masse, in der sich nach der
Analyse Ni : CN : K verhalten wie 1:3:2, die
Verbindung entspricht also dem bekannten
Kupferkaliumcyanür Cu(CN)3K2. Da das Nickel-
kaliumcyanür Ni(CN)3K2 äußerst empfindlich gegen
Sauerstoff ist, läßt es sich nicht trocknen. Ver-
setzt man die wässrige Lösung des .Salzes mit
verdünnter Säure, so scheidet sich das gegen
Oxydationsmittel ebenfalls außerordentlich unbe-
ständige Nickelcyanür Ni(CN) ab.
„Der so anschauliche Farbübergang, von dem
die Reduktion des KaliumNickelcyanids in einer
4 — 5 proz. Lösung begleitet ist, läßt sich als
Schulversuch zur Demonstration der Bildung des
einwertigen Nickels verwerten. Tatsächlich voll-
zieht sich die Reduktion bei gewöhnlicher Tem-
peratur schnell, wenn man zur geschüttelten Lö-
sung des Cyanids kleine Stücke Natriumamalgam
zufügt. Die Farbe der Lösung geht dann von
gelblich in Intensivrot über, und die rote Farbe
ändert sich wieder in die gelbliche, wenn man
bei Gegenwart von Luft schüttelt oder einige
Tropfen Wasserstoffsuperoxyd zugibt. Außerdem
kann man zeigen, daß bei Zufügung von ver-
dünnten Säuren ') aus der gelben Lösung des ge-
') Vorsicht 1 Blausäureentwicklung I (Ref.).
N. F. XIII. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
299
wohnlichen Kalium-Nickelcyanids NiCyjKg das
grünliche Nickelcyanid NiCyj gefällt wird, während
aus der roten reduzierten Lösung das orangerote
NiCy ausfällt, dessen hohe Oxydationsfähigkeit
sich durch Zufügung von Wasserstoffperoxyd er-
gibt." Mg.
Daß durch eingehendere Untersuchungen
auch bei altbekannten und regelmäßig und
unbedenklich benutzten Methoden der analyti-
schen Chemie erhebliche Fehlerquellen aufge-
funden werden können, beweist eine vor kurzem
von C. Rothaug veröffentlichte Studie über die
Bestimmung des Chroms als Chromoxyd (Zeitschr.
fT anorg. Chem. Bd. 84, S. 165 bis 189, 1913).
Rothaug stellte nämlich mit voller Sicherheit
fest, daß beim Glühen von Chromoxyd unter
Luftzutritt stets eine partielle Oxydation zu
Chromichromat Cr2(Cr04)3 nach der Gleichung
5Cr.,03 + 90 ^ 2Cr.,(CrOj3
erfolgt. Diese Oxydation ist bei niedrigen Tem-
peraturen kaum merklich, erreicht zwischen 200
und 400" C ein sehr stark ausgesprochenes Maxi-
mum , dessen Spitze bei etwa 300" C liegt, und
nimmt oberhalb 400 " langsam wieder ab. Man
wird also bei der üblichen Art des Arbeitens je
nach der Art des Glühens und vor allen Dingen
je nach der Leichtigkeit, mit der der Sauerstoff
der Luft zu dem erhitzten Chromoxyd treten kann,
bei gleicher Chrommenge verschiedene Auswege
erhalten, die alle mehr oder minder weit über
den wirklichen Wert liegen; bei gutem Luftab-
schluß und sehr hohem Erhitzen wird man auch
wohl bisweilen annähernd richtige Resultate er-
zielen können. Die einfachste Art, die von Roth-
aug erkannte Fehlerquelle zu vermeiden, liegt in
der Fernhaltung des Luftsauerstoffs, und darum
glüht Rothaug das Chromoxyd zuletzt in be-
bannter Weise unter Benutzung eines Rosetiegels
im Wasserstoffstrom. Die so erhaltenen Resultate
sind ausgezeichnet. Mg.
Zoologie. Über Perlen und Perlbildung hat
Fr. Alverdes neue Untersuchungen angestellt,
die zu folgenden Ergebnissen führten. ') Er hat
durchaus nicht in allen Perlen einen zentralen Kern
gefunden, der den Anreiz zur Perlbildung gegeben
haben kann; die vorgefundenen sind teils körper-
fremde, teils körpereigene Bildungen. Rubbel
hatte, wie in einem früheren Artikel berichtet,
gelbe Körnchen im Bindegewebe als Ursache der
Perlbildung angesehen. Sie sind aber nach Alver-
des durch ihre Farbenreaktion von den zuweilen
im Perlinnern vorkommenden Körnchen verschieden.
Der die Perle erzeugende Perlsack ist ein Gebilde
des Ektoderms, was auch das Vorkommen von
Becherzellen beweist. Bei zahlreichen, besonders
kleinen Perlen war ein Perlsack allerdings häufig
nicht zu finden; er mag hier abgestorben sein.
weshalb die Perlen nicht weiter wuchsen. Die
Entstehungsart der schon in frühen Stadien an-
gelegten Perlsäcke ist noch zweifelhaft. Experi-
mentell konnte AI verdes zeigen, daß ins Binde-
gewebe eingeführte Epithelfetzen dort einheilen und
perlensackartige Cysten bilden, in denen konzen-
trische Perlmutterschichten abgeschieden werden.
In der Natur können wahrscheinlich Epithelzellen
durch Einwanderung von Parasiten ins Parenchym
gelangen und einen Perlsack bilden.
Ferd. Müller.
Farbe und Zeichnung der Kuckuckseier
ähneln den Eiern der Vogelarten oft auffallend,
in deren Nestern sie abgelegt werden. E. Stuart
Baker hat die Ursachen dieser Erscheinung bei
unserem Kuckuck (Q/ciiliis cniionis) und dem in
Indien heimischen Khasia-Kuckuck (Ciicidtts caiio-
rus büken') zu ergründen versucht ^). Er kommt
zu dem Schluß, daß die Eier unseres Kuckucks
sich langsam denjenigen der Pflegeeltern angepaßt
haben und zwar durch „Auslese des Untauglichen"
von selten des brütenden Pflegers, nicht von selten
des eierlegenden Kuckucksweibchen. Die den
Eiern der Pflegeeltern unähnlichen Kuckuckseier
werden in viel größerer Menge zurückgewiesen
als die ähnlichen. Daher muß jener Stamm von
Kuckucken allmählich aussterben, der unangepaßte
Eier legt. Hierbei ist die Hauptbedingung, daß
die Pflegeeltern die fremden Eier auch als solche
zu erkennen imstande sind. Auf Grund langjähriger
Beobachtungen glaubt Baker, daß Abweichungen
von der Größe von den Pflegeeltern meistens nicht
bemerkt werden, wohl aber solche in der Färbung.
Diese Auslese nach dem Grundsatz der Ähnlich-
keit der Eier ist bei einigen indischen Gattungen
(Coccysfes, Cacoinaiifis) bereits soweit gediehen,
daß der Kuckuck nur noch völlig angepaßte Eier
legt. F. Müller.
Schellente in künstlicher Nisthöhle. Im Herbst
191 1 hat W.Rüdiger 9 passende Nistkasten
angefertigt und am Uferrande des Großen Segelin-
Sees in der Königl. Oberförsterei Hochzeit (Neu-
mark) aufgehängt. Laut veröffentlichtem Bericht^)
wurden im Jahre 191 2 die Kasten nicht ange-
nommen. Im Jahre 191 3 wurden aber die Kasten
bezogen und zwar nistete in 7 die Schellente,
I enthielt ein Eichhornnest und nur einer blieb
unbesetzt.
Es ist dies das erstemal, daß für die Schell-
ente (Nyroca clangula L.) in Deutschland Nist-
kasten aufgehängt wurden. Der sofort eingetretene
schöne Erfolg wird zur Nachahmung ermuntern.
Alb. Heß, Bern.
Physiologie. Der Farbensinn ist beim Menschen
und bei den Tieren — vor allem bei den Wasser-
tieren — gänzlich verschieden. Zu dieser Ver-
') Fr. AI verd es, Über Perlen und Perlbildung. Zeitschr.
f. wissensch. Zoologie, Bd. 105, 1913, p. 598—633. — Vgl.
auch Nalurwissensch. Wochenschrift, Bd. XI. 1912.
') E. C. S. Baker, The evolution of adaptation in para-
sits cuckoo's egg. In: The Ibis. ser. 10. vol. I. 1913- pag.
384-398.
2} Blätter für Naturschutz, Nr. i, 19 14.
300
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 19
schiedenheit in physiologischer Hinsicht kommen
noch physikalische Umstände, denen bei der Be-
antwortung biologischer Fragen Rechnung zu tragen
ist. Die lebhaften Farben, welche bei den Männ-
chen mancher Fische zur Laichzeit erscheinen und
das sog. „Hochzeitskleid" darstellen, sind nach den
Untersuchungen von C. H e ß in München (Neue
Untersuchungen zur vergleichenden Physiologie
des Gesichtssinnes, Zool. Jahrb., 33. Bd., 3. H.,
191 3) auch für das farbentüchtige Menschenauge
schon bei einer geringen Tiefe im Wasser nicht
mehr als Farbe sichtbar. Durch einen eigenen
Apparat beobachtete H., bis zu welcher Tiefe das rote
Licht in Wasser eindringt. Schon ca. 3 m unter
der Oberfläche — im Schliersee, an einem sonnigen
Dezembertag zwischen 11 — 12 Uhr vormittags
— erschien eine rote Fläche unter einem Winkel
von etwa 45" nach unten reflektiert im Spiegel
als ein schmutziges Braungrau, das sich kaum
merklich vom Boden abhob. Wurde die Fläche
voll von den Sonnenstrahlen getrofi'en, die von
dem schräg abfallenden Seeboden zurückgeworfen
wurden, erschien sie heller und mehr gelbgrau,
sonst bräunlichgrau. Im günstigsten Falle war
ein rötliches Graugelb wahrzunehmen. Der Saib-
ling des Königssees laicht in 60 m Tiefe. Hier
können rote und gelbe Färbung schon in 8 — 10 m
Tiefe nicht mehr als Farbe wahrgenommen werden.
Es fehlt also jede Berechtigung, sie als „Schmuck-
farbe" zu deuten.
Die Angaben von v. h'risch über die Farben-
anpassung der Pfrille an den Grund ihres Wohn-
gewässers erwiesen sich sämtlich als unzutreffend.
Die Farbe des Grundes hat keinerlei Einfluß.
Junge Aale werden beim Aufsuchen ihrer Nah-
rung vorwiegend vom Geruch geleitet. Sie sind
positiv phototropisch. Im ultravioletten Licht
zeigen sie an einem großen Teil ihrer Körper-
oberfläche lebhafte Fluoreszenz.
Mit Larven von Culex angestellte Unter-
suchungen ergaben, daß ihre Sehqualitäten jenen
des total farbenblinden Menschen ähnlich oder
gleich sind. Die Larven zeigen zwei voneinander
grundverschiedene Reaktionen. Bei Beschattung
fliehen sie nach unten, dann aber bei Belichtung
wieder vom Licht weg nach oben.
Bei den gänzlich der Sehorgane entbehrenden
Aktinien Cereanthus und Bunodes gemmaceus fand
H. die ausgesprochene Neigung, sich zum Licht
zu wenden. Lichtreaktionen bei diesen Coelente-
raten waren bisher nicht bekannt. Kathariner.
Der Gesichtssinn der Fische. Wie C. Heß
(München) („Zeitschrift für Biologie", Bd. 6^, 6.
und 7. Heft, 1914) mitteilt, zeigten kaum i cm
lange Süßwasserjungfische (einer nicht
näher bestimmten Weißfischart) deutlich die
Neigung zum Hellen zu schwimmen (ältere Fische
nicht mehr). Wurde ein ca. 20 cm breites Gefäß
von dem etwa 20 cm breiten Spektralband einer
500 kerzigen Nernstlampe getroffen, so sammelte
sich in wenigen Sekunden die Mehrzahl der Fische
in der Gegend des Gelbgrün bis Grün, während
in den übrigen Farben des Spektrums wenige oder
gar keine Fische zu sehen waren. Die Durch-
lüftung des Aquariums verhinderte die sonst ein-
tretende Ansammlung in der Nähe der Wasser-
oberfläche. Die Wellenlänge des Lichtes in der
Gegend, welche der stärksten Ansammlung ent-
sprach, wurde auf ca. 525 bis 535 ///< bestimmt.
Die Grenze nach Rot war oft etwas schärfer, als
die nach Blau. Die Angabe, daß die jungen Fische
gewisser Arten (Atherina hepsetus und Charax
puntazzo) vom Rot abgeschreckt würden und in
den dunklen Teil des Behälters flüchteten, ist un-
richtig. Wurden derartige Fische in einem Be-
hälter gehalten, der zur Hälfte verdunkelt war,
zur Hälfte mit rotem Licht durchstrahlt wurde, so
suchten sie den roten Teil auf
In einer Anmerkung weist H. darauf hin, daß
die verbreitete Meinung, Truthahn und Stier würden
durch die rote Farbe erregt, unrichtig ist. 30
Simmentaler Zuchtstiere, welche er durch das Vor-
halten roter Tücher reizte, verhielten sich dem-
gegenüber vollständig gleichgültig.
Wird ein schwarzer Karton vom kurzwelligen
Ende her langsam über das Grün und Gelbrot
hin vorgeschoben, so sammeln sich die Fische in
einem schmalen Streifen zwischen dem äußersten
Rot und dem Rande des Kartons im Gelbrot.
Unmittelbar nach dem Wegziehen des Kartons
schwimmen sie wieder dem Gelbgrün bis Grün
zu. Wird ein Behälter zur Hälfte verdunkelt, zur
Hälfte rot durchstrahlt, bevorzugen sie die letz-
tere Hälfte. Wird nun die andere nicht verdun-
kelt, sondern von blauem Glaslicht durchleuchtet,
gehen sie alsbald in die blaue Hälfte, auch wenn
sie uns dunkel erscheint. Ferner halten sich die
Fischchen in dem für sie helleren Teil des Be-
hälters näher der Oberfläche auf, während sie in
dem dunkleren Teil mehr nach unten schwimmen.
Setzt man einen dunklen Karton vor einen mit
diffusem Tageslicht durchleuchteten Behälter, so
schwimmen die meisten nach unten, nach Weg-
ziehen des Kartons wieder nach oben.
Auch eine neue Methode zur Untersuchung
des Lichtsinnes bei Fischen ergab aufs neue, daß
die Fische nach der Seite schwimmen, welche
auch für das total farbenblinde Menschenauge die
hellere ist, einerlei, ob das auch für das farben-
tüchtige Auge zutrifft.
Im 3. Kapitel erörtert H. den Einfluß der
Farbe des Wassers auf die Sichtbarkeit der Fisch-
färbungen (s. das vorige Referat).
In bezug auf die somatischen Eigenschaften der
Tiere vertritt man mit Recht den Standpunkt,
daß jedes Organ aus seinen Beziehungen zur Um-
gebung zu verstehen ist. Wenn nun die physika-
lischen Bedingungen für die Wahrnehmung der
Farben im Wasser von jenen in der Luft ver-
schieden sind, so darf man auch nicht annehmen,
daß die Wassertiere einen Farbensinn haben, wie
die Lufttiere. Sie haben nur die Fähigkeit, Helligkeits-
unterschiede wahrzunehmen.
N. F. XIII. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
301
Von den Kiementen der Netzhaut sollen nach
M. Schnitze (1866) die Stäbchen dem Licht-
und Raumsinn dienen, die Zapfen daneben außer-
dem noch den Farbensinn vermitteln. Wenn nun
neuere Autoren (Franz 1913) aus dem Vorkommen
von Zapfen in der Netzhaut der Fische auf einen
Farbensinn schließen wollen, so ist darauf hinzu-
weisen, daß auch in der normalen menschlichen
Netzhaut in den peripheren Teilen noch Zapfen
vorkommen, obschon diese gänzlich farbenblind
sind. Hier können die Zapfen nur der Empfindung
von farbloser Helligkeit dienen.
Im Kapitel über die Bedeutung des Silber-
glanzes der Fische bekämpft H. die von Popoff
(1906) und Kapelkin ( 1907) geäußerte Meinung,
ein im Wasser nach oben blickendes Auge sähe
die Wasseroberfläche silberglänzend infolge einer
totalen Reflexion des Lichtes. Das vom Himmel in
das Wasser eintretende Licht wird aber einmal schon
an der Oberfläche zum Teil reflektiert, ein weiterer
Teil beim Durchdringen des Wassers absorbiert
und nur ein kleiner Teil endlich vom Boden des
Gewässers und den im Wasser suspendierten Teil-
chen nach oben reflektiert. "Dieser kleine Teil
erst kann an der Wasseroberfläche nach unten
zurückgeworfen werden. Ein im Wasser nach
oben blickendes Auge wird daher nur ein mehr
oder weniger gleichmäßiges Hell sehen. Ein
Wasserspiegel dagegen existiert nicht. Man kann
sich davon leicht überzeugen, wenn man beim
Tauchen nach oben blickt. Die Bedeutung des
Silberglanzes liegt darin, daß er das von oben
kommende Himmelslicht nach unten zurückwirft,
und der Fischkörper sich so von dem hellen
Hintergrunde möglichst wenig unterscheidet.
Über die biologische Bedeutung der Licht-
reaktion bei Fischen sagt H., die sog. phototak-
tischen Bewegungen der Jungfische hätten ihren
Grund darin, daß die winzigen Gebilde und Lebe-
wesen, welche deren wesentliche Nahrung bildeten,
für sie um so leichter wahrnehmbar seien, in je
hellerer Umgebung sie sich befänden. Warum
Franz die Phototaxis der Fische als „Flucht-
bewegung" deute, sei ihm dagegen unverständlich,
zumal er auch bei häufiger Wiederholung eines
von F. angegebenen Versuchs nie das gemeldete
Resultat erhalten habe. Kathariner.
Ein Farbensinn fehlt den Krebsen. C. Heß
(München) (Archiv für vergleichende Ophtal-
mologie Bd. IV, U. i, Dez. 1913) gibt an, wie
man in einfacher Weise dies nachprüfen kann.
Ein Glasbehälter B etwa 8 cm lang 4 cm breit
und 2 cm hoch wird mit einigen Hunderten
möglichst frischer Daphnien in einigem Abstand
vom F'enster F aufgestellt. Das direkt vom Fenster
einfallende Licht wird durch einen schwarzen
Karton c abgehalten. Rechts und links vom Be-
hälter werden zwei Schirme aufgestellt, Sj und Sj.
Sj ist mit einem weißen, S.^ mit einem schwarzen
Katton überklebt. Beide stehen in gleichem
Winkel (45 "j zum Fenster. 5 — 10 Minuten vor
dem Versuch wird der Behälter mit einem schwar-
zen Tuch überdeckt. Wird dasselbe weggenommen,
so schwimmen die Krebschen (die Daphniden
Simocephalus und Daphnia pulex, sowie Artemia
saüna) nach S^ hin. Werden die Kartons ver-
tauscht, so kehren die Tiere rasch um. Bringt
man an Stelle der weißen und schwarzen rasch
eine rote oder orangefarbige, bzw. blaue oder
grüne Fläche, so schwimmen die Tiere nach Rot
oder Orange, obschon diese Farben dem normalen
helladaptierten Auge beträchtlich heller erscheinen.
F
In der Dämmerung ist auch für das normale
Menschenauge ein helles Rot oder Gelbrot dunkel-
grau , fast schwarz; ein Blau dagegen, das am
Tag viel dunkler erscheint als Rot, ist nun viel
heller als dieses. Wie das Auge der genaimten
Tiere verhält sich auch das des total farbenblinden
Menschen. Heß fand die Angaben von v. Frisch
und Kupelwieser (Über den Einfluß der
Lichtfarbe auf die phototaktischen Reaktionen
niederer Krebse, Biol. Zentralbl. Bd. XXX, Nr. 9,
1913) nicht bestätigt, wonach Gelb und Blau ent-
gegengesetzt wirken sollen, auch bei gleichem
Helligkeitswert. Vertauschen einer blau und einer
gelb gefärbten gleich hellen Fläche hat gar keinen
Effekt. Kathariner.
Bücherbesprechimgen.
Franz Bendt, Grundzüge der Differential-
und Integralrechnung. Fünfte Auflage,
durchgesehen und verbessert von Dr. phil. G.
Ehr ig. XVI und 268 Seiten mit 39 Abbildun-
gen im Text. Verlag von J. J. Weber (Illu-
strierte Zeitung), Leipzig 1914. — Preis in Leinw.
geb. 3 Mk.
Das vorliegende Lehrbuch der Differential- und
Integralrechnung, ein Band der bekannten Samm-
lung Weber's illustrierter Handbücher,
verfolgt rein praktische Zwecke: Es will den Leser
mit dem praktischen Gebrauch von Differentialen
und Integralen vertraut machen. Daher ist auf
die Strenge der theoretischen Ableitungen ver-
zichtet und der Hauptwert auf die Verständlich-
machung der F'ormeln gelegt worden. So ist ein
theoretisch allerdings nicht immer ganz einwand-
freies, praktisch aber recht brauchbares Büchlein
geschaffen worden, das sich ja offenbar, wie das
Erscheinen der fünften Auflage beweist, in der
302
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 19
Praxis auch schon gut bewährt hat. Wünschens-
wert wäre, daß der Verfasser in das Buch bei Ge-
legenheit der nächsten Auflage praktische Beispiele,
aus Physik, Chemie und Technik aufnähme, wie
es etwa Nernst und Schdenflies in ihrer
„Einführung in die mathematische Behandlung der
Naturwissenschaften" (vgl. Naturw. Wochenschrift,
Bd. 13, S. 158, 1914) und andere Lehrbuchautoren
gemacht haben; das Buch würde nach Ansicht
des Referenten zwar an Umfang etwas zunehmen,
dafür aber an Brauchbarkeit sehr gewinnen.
Werner Mecklenburg.
Albert Oppel. Leitfaden für das embryo-
logische Praktikum und Grundriß der
Entwicklungslehre des Menschen
und der Wirbeltiere. Mit 323 Abbildungen
im Text. 313 S. Jena, Gustav F'ischer, 19 14.
— Preis 10 Mk., geb. 11 Mk.
Wie im Vorwort hervorgehoben wird, ist das
vorliegende Buch nicht nur für Studierende und
Ärzte, sondern auch für einen weiteren Kreis von
Freunden der Entwicklungslehre bestimmt. Das
Buch soll, wie der Titel sagt, nicht allein einen
Leitfaden für das embryologische Praktikum dar-
stellen, sondern auch ein Grundriß der Ent-
wicklungslehre des Menschen und der Wirbeltiere
sein. Ob es ein glücklicher Gedanke war, in
einen solchen Leitfaden das gewaltige Gebiet der
allgemeinen und speziellen Entwicklungsgeschichte
hineinzupressen, erscheint höchst zweifelhaft. Da-
gegen ist eine Zusammenfassung der gebräuch-
lichsten embryologischen Methoden und vor allem
die Abbildung und Beschreibung einer größeren
Anzahl von Schnittserien für den Lehrbetrieb zu
begrüßen.
Das Buch zerfällt in vier Hauptteile. Im ersten
werden zunächst die Ziele und Wege des embryo-
logischen Praktikums besprochen. Es folgt eine
kurze Erklärung der wichtigsten entwicklungs-
geschichtlichen Begriffe und der Faktoren der Ent-
wicklung. Dabei bekennt sich der Autor als An-
hänger der Roux'schen Schule. Dann werden
die gebräuchlichsten Methoden embryologischer
Technik besprochen. Es folgen Angaben über
einige entwicklungsmechanische Experimente. Am
Schlüsse dieses Teiles gibt der Verf die Stoffein-
teilung an, wie er sie in Halletin seinem embryo-
logischen Praktikum eingeführ hat.
Der zweite Hauptteil gibt einen kurzen Abriß
der allgemeinen Entwicklungsgeschichte der Wirbel-
tiere. Referent ist der Ansicht, daß ein so wich-
tiges und schwieriges Forschungsgebiet nicht in
so kurzer Weise abgehandelt werden kann, ohne
daß der Wert der Darstellung darunter leidet.
Es folgen im dritten Hauptteil Beschreibungen
und Abbildungen einer größeren Anzahl von
Schnittserien, durch Embryonen von Unke, Frosch,
Blindschleiche, Huhn, Kaninchen, Schwein und
Mensch. Nützlich ist, daß den meisten Schnitt-
bildern ein durchsichtiges Modell des betreffenden
Embryos vorangestellt ist, in das die nachher ein-
zeln abgebildeten Schnitte hineingezeichnet sind.
Die Figuren sind, bis auf diejenigen menschlicher
Embryonen, welche zum größten Teile der Normen-
tafel von Keibel und Elze entlehnt sind. Origi-
nale.
Der vierte Hauptteil endlich stellt einen sehr
kurzen Grundriß der speziellen Entwicklungs-
geschichte der Wirbeltiere und vor allem des
Menschen dar. Die sehr zahlreichen Abbildungen
dieses Teiles sind, mit zwei Ausnahmen, aus anderen
Werken entlehnt, vor allem aus den Handbüchern
von O. Hertwig und Keibel und Mall, so-
wie aus den Lehrbüchern von O. Hertwig, Koll-
mann und Bonnet. von Berenberg-Goßler.
Karl V. Bardeleben. Die Anatomie des
Menschen. Teil I. Zellen- und Gewebelehre,
Entwicklungsgeschichte, der Körper als Ganzes.
II. Auflage. Aus Natur und Geisteswelt. 418.
Bändchen.
Das Buch enthält alles Wesentliche, um als
sicherer Führer in die Anfangsgründe der allge-
meinen Anatomie dienen zu können. Petersen.
A. Heilborn. Entwicklungsgeschichte
des Menschen, ebenda 388. Bändchen.
Das Büchlein, dem eine Widmung an E.H a e c k e 1
vorangestellt ist, schöpft wesentlich aus älteren
Quellen; die Abbildungen sind reichlich, z. T.
gut (nach Photographien von K o p s c h) , z. T.
recht minderwertig (Abb. 42, S. 55). Der Ab-
schnitt (S. 9 ff.) über das biogenetische Grundgesetz
und die Entwicklungsmechanik ist verfehlt. Im
übrigen kann das Büchlein bei einiger Vorsicht
wohl zur ersten Orientierung dienen. Petersen.
A. Th. Preyer, Lebensänderungen. Leip-
zig, Th. Grieben's Verlag (L. Fernau) 19 14.
Kant teilte bekanntlich die Urteile ein in
analytische und synthetische Urteile. Charakte-
ristisch für die ersteren ist es, daß sie unseren
logischen Bestand iPetzoldt) nicht eigentlich
erweitern, daß sie „durch das Prädikat nichts zum
Begriff des Subjekts hinzutun". So nützlich sie
sind, um sich sämtliche Folgerungen eines einge-
führten oder einzuführenden Begriffs klar zu machen,
so notwendig es ist, eine Theorie zu Ende zu
denken, um zu prüfen, ob sie mit allem ,, Vorge-
fundenen" sich vereinbaren läßt, die Arbeit, die
das analytische Urteil leistet, ist eine wesentlich
kritische. D. h. wenn man einen Begriff auch
noch so viel herumwendet, es kommt nichts Neues
dabei heraus, und man weiß hinterher nicht mehr
als was man vorher wußte, nicht mehr als das,
was eben zur Aufstellung des Begriffs geführt
hatte. Es ist nun ein Charakteristikum einer ge-
wissen Art von Schriften, die revolutionierend
sein wollen, die den Anspruch machen, die „Wahr-
heit" (S. 112) wenigstens in vielen Dingen ihren
im Dunkel tappenden Zeitgenossen nun endlich
zu bringen, daß sie sich im wesentlichen auf
solchen analytischen Urteilen aufbauen. Auch
N. F. XIII. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
303
Preyer geht von wenigen Begriffen aus und
glaubt eine mehr oder minder neue Ansicht von
den Lebensvorgängen daraus entwickeln zu können.
Seine Hauptbegriffe sind ,, Energiewechselstruktur",
Veränderung, lebendes Plasma, Variabilität. Die
„Energiewechselstruktur" ist eine verworrene Ver-
allgemeinerung der metabolischen Auffassung des
Stoffweclisels, d. h. der Vorstellung, daß die Stoffe
bei den, den Stoffwechsel ausmachenden, chemi-
schen Vorgängen durch die lebendige Substanz
hindurch gehen, die lebendige Substanz also in
einem fortwährenden Zerfall und Wiederaufbau
begriffen sei. Der Begriff des Biogens, der vor
allem von Verworn als Bezeichnung für die
kleinste stoffwechselnde Einheit aufgestellt wurde,
ist in den der „Energiewechselstruktur" verflochten.
Das Wort Variabilität wird in einem von dem
gewöhnlichen vollständig abweichenden Sinne ge-
braucht, was nun eigentlich darunter verstanden
werden soll, bleibt unklar (S. 25). Das Proto-
plasma erscheint z. B. gleich anfangs mit der
Bezeichnung schleimig flüssig. Die Schrift ist im
Jahre 1901 abgefaßt, und der Vei fasser hat es
nicht für nötig befunden, seitdem irgend etwas
Wesentliches daran zu ändern (Vorwort). So sind
denn die ganzen Forschungen über den Mendelis-
mus, das Werk Johan nsen's über Variation und
Erblichkeit, die Ideen HansDriesch's, Wil-
helm Roux's, — obgleich die des letzteren
eigentlich schon vor 190 1 im wesentlichen fertig
vorlagen — , die Forschungen über Kern- und
Plasmastrukturen und deren Verhalten zur Ver-
erbungslehre und vieles andere fast spurlos an
dem Buch vorübergegangen. Charakteristisch ist,
daß in dem Literaturnachweis außer den Neu-
auflagen von Verworn's „Allgemeiner Physio-
logie" nur ein Werk aus dem letzten Jahrzehnt
zitiert ist, nämlich Bergson's „Evolution crea-
tive". Es kommt aber noch eins hinzu: Je all-
gemeiner die verhandelten Dinge sind, je mehr
sie sich dem nähern, was man als Weltanschauung
zu bezeichnen pflegt, desto dringender wird die
Forderung, die einfachsten Lehren einer kritischen
Erkenntnislehre zu berücksichtigen. Wie es damit
in diesem Buche steht, beweist der folgende Satz:
„Die plasmatische Energiewechselstruktur der ein-
zelligen Organismen ist wohl als identisch anzu-
sehen mit Haeckel's Zellseele, der Urform der
Psyche; sie ist der Komplex, welchem die meisten
Empfindungen, die Reflexe, das Reproduktions-
gedächtnis zugehören (S. 11). Wie sich der Ver-
fasser diese „modernen unabhängigen Ideen und
neuen Anschauungsweisen, auch offenen Angriffe
gegen manche alten wissenschaftlichen Vorurteile"
(aus dem Vorwort) in die Praxis der wissenschaft-
lichen Forschung umzusetzen denkt, darüber
schweigt er sich allerdings aus. Petersen.
W. Schoenichen, Methodik und Technik
desnaturgeschichtlichenUnterrichts.
611 Seiten und 32 Tafeln. Leipzig 1914, Quelle
und Meyer. — 8 Mk., geb. 14 Mk.
Das umfangreiche und reich ausgestattete Werk
bildet den fünften Band des von Norrenberg
herausgegebenen Handbuchs des naturwissenschaft-
lichen Unterrichts. Der erste, weitaus größte Teil
behandelt die Methodik, der zweite die Technik.
Zunächst werden die „Aufgaben und Ziele des
naturgeschichtlichen Unterrichts" erörtert, wobei
die Verstandesbildung, die ästhetische und ethische
Bildung berücksichtigt werden; ein zweiter Ab-
schnitt behandelt die Ausgestaltung des Unterrichts,
mit Rücksicht auf Umfang und Stoffbehandlung,
wobei vor allem das Verhältnis „biologischer"
Betrachtungen zur Systematik und Morphologie,
die Biocönosen, sowie die Abstammungslehre be-
handelt werden. An einige durchgeführte „Lehr-
proben" schließen sich Erörterungen über die Be-
ziehungen des naturgeschichtlichen Unterrichts zu
anderen Lehrfächern und die dadurch gegebene
Gelegenheit konzentrierender Verknüpfungen. Hier
wird auch die Behandlung der Geschichte der
Biologie im Unterricht gewürdigt. Ein weiterer
Abschnitt behandelt die Lehrmittel im weiteren
Sinn — Lehrbücher, Bilder, Modelle, Zeichnungen,
Versuche, die Schulsammlung, Vivarien, Unterrichts-
garten und Exkursionen — ; mit einem Kapitel über
die verschiedenen Formen, in denen die Selbst-
tätigkeit der Schüler sich äußern kann — Zeichnen,
Modellieren, Photographieren, Sammeln, endlich
praktische biologische Übungen auf den verschie-
denen Stufen — schließt der methodische Teil ab.
Der zweite, der Technik gewidmete Teil be-
handelt die Unterrichtsräume, die Verwaltung der
Sammlung, die Vivarien, den Schulgarten, sowie
die Technik des Sammeins.
Diese kurze Inhaltsübersicht läßt erkennen, daß
der Verfasser dem angehenden Lehrer der Biologie
ein sehr reichhaltiges Material bietet; es dürfte
sich kaum eine diesen Unterrichtszweig betreffende
FVage finden, die hier nicht wenigstens gestreift
wäre.
In der allgemeinen Auffassung des Unterrichts,
namentlich in der Art, wie Schoenichen die
biologischen Deutungen im Unterricht behandelt
zu sehen wünscht, in der Forderung nach mög-
lichst weitgehender Anschaulichkeit des Unterrichts
und Selbstbetätigung der Schüler, nach Verknüpfung
des naturgeschichtlichen Lehrstoffes mit dem, was
in anderen Fächern geboten wird, namentlich mit
Chemie, Physik und Geographie, endlich auch in
der Forderung ausreichender und gut ausgestatteter
Unterrichts- und Arbeitsräume wird man dem Ver-
fasser nur beistimmen und seinen Forderungen
weitestgehende Erfüllung wünschen können.
In manchen Punkten allerdings vermag der
Referent dem Verfasser nicht zuzustimmen. Der
einleitende Abschnitt über den erziehlichen und
bildenden Wert der Naturwissenschaften wird meines
Erachtens dieser Bedeutung nicht in vollem Umfang
gerecht; der Leser gewinnt leicht aus diesen Aus-
führungen den Eindruck, als ob doch die Natur-
wissenschaften den Sprachen als Bildungsfaktor
nicht gleichwertig seien. In bezug auf die Gebiets-
304
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 19
des Königreichs Württemberg von Dr. Rob. Gradniann. Mit
I Karte. Stuttgart, J. Engelhorn's Verlag.
Karny, Dr. Heinrich, Tabellen zur Bestimmung einhei-
mischer Insekten. Mit Ausschluß der Käfer und Schmetter-
linge. Für Anfänger, insbesondere für den Gebrauch beim
Unterricht und bei Schülerübungen zusammengestellt. Mit
68 Abbild. Wien '13, A. Pichler's Witwe & Sohn. — Geb.
2,50 Kr.
Jahrbuch der Deutschen Mikrologischen Gesellschaft.
V. Jahrgang 1913. Inhalt: Prof. Dr. A. Wagner, Die Ge-
Üntersekunda empfohlene Art, Chemie und Biologie Sichtspunkte der modernen Pflanzenanatomie. Prof Dr. L.
. . • „.„1 A, 1 , ^„,„CaU\^„c- Lämmermayr, Einführung in die Elemente der physiologischen
ZU vereinigen — ein an sich durchaus emptenlens- - ' ' . --.".- _ r.^ , 5
werter Gedanke — in der hier gegebenen Form
abgrenzung zwischen Naturwissenschaft, Religion
und Philosophie — die allerdings dem Schüler
gegenüber Sorgfalt und Takt erfordert — geht
Schoenichcn auch etwas einseitig vor; auch
erscheint die Polemik gegen einen Mann von der
wissenschaftlichen Bedeutung Haeckels als zu weit-
gehend. — Um einen anderen Punkt herauszu-
greifen, so dürfte sich doch die vom Verfasser für
auf dieser Stufe kaum durchführen lassen. Auch
an anderen Stellen überschreitet Schoenichen
m. E. mehrfach die Grenzen dessen, was sich durch-
schnittlich an Schulen mit im Beobachten und
Präparieren doch noch ungeübten Schülern durch-
arbeiten läßt.
Zu weiterem Ergehen auf Einzelheiten ist hier
nicht der Ort. Bei der Behandlung eines so um-
fangreichen Gebietes werden sich in bezug auf
Einzelheiten immer Meinungsverschiedenheiten er-
geben. Dem angehenden Lehrer, der die hier
gemachten Vorschläge nicht kritiklos aufnimmt,
sondern sie praktisch erprobt und als Wegweiser
zu eignen, selbständigen Erfahrungen benutzt,
dürfte das sehr fleißig durchgearbeitete und reich
Pflanzenanatomie. Mit 10 Abb. Praktische Winke f. pflanzen-
anatom. Untersuchungen. Mit I Abb. M. Gamgera, Fort-
schritte a. d. Gebiet mikroskop. Hilfsapparrte. Mit 1 1 Abb.
München '14, Verlag der Deutsch, mikrolog. Gesellschaft. E.
V. L. — 60 Mk.
Kryptogamenflora für Anfänger. Bd. VI. Die Torf- und
Lebermoose von Dr. Wilhelm Lorch. Mit 296 Fig. im Text.
Die Farnpflanzen (Pteridophyta) von Guido Brause, Oberst-
leutnant a. D. Mit 73 Fig. im Te.xt. Berlin '14, J.Springer.
— Geb. 9,20 Mk.
Anregungen und Antworten.
Herrn Ph. Fauth, Landstuhl (Pfalz). Die Gewitter, die
am 21. Februar d. J. in der Pfalz auftraten, waren Wirbel-
gewitter. Es sind das solche, deren Kraftvorrat aus der
wirbelnden Bewegung stammt, welche die barometrischen
Minima umzieht, im Gegensalz zu den sommerlichen Wärme-
gewittern, die ihren Kraftvorrat aus der Überhitzung schöpfen.
^ .An dem genannten Tage lagen drei tiefe Minima über Europa,
illustrierte Buch viel wertvolle Anregungen geben. j^ eins über England, Rußland und Tirol. In der Pfalz be-
Tj HanQtpin stand zudem noch ein örtliches, kleineres, ein sog. 1 eilmini-
r^. \. nansiem. ^^^^^ ^^ ^^g ^^^ ^^^ Fachmann das beobachtete Auftreten
von Gewittern bald erklärt ist. Im Grunde ist das eben Ge-
sagte aber noch keine Erklärung; es erhebt sich nämlich die
weitere Frage , warum Luftwirbel bestehen und wodurch sie
zu Gewittern führen können.
Die an den Wirbeln teilnehmende Luft ist zwischen den
Erdkörper und den höheren Schichten eingeschlossen, die an
dem Zustandekommen des täglichen Wetters nicht mehr be-
teiligt sind. Durch die tägliche Sonnenstrahlung wird sie
immer wieder in Bewegung versetzt, eine Bewegung, auf die
die Einflüsse des verschiedenen Klima der Gebiete durch die
sie wandern muß, abändernd eingreifen. Es ist eine gar nicht
zu umgehende Folge dieser Ursachen und der eigentümlichen
Gestalt des Raums, daß bei der Bewegung Wirbel entstehen.
In der Nähe der Mittelpunkte der Wirbel, besonders der
Teilminima, findet ein schnelles .Aufsteigen der Luft statt; sie
muß sich dabei abkühlen, und eine Folge davon ist das Aus-
fallen von Wasser. Dieser Vorgang des Ausfallens von Wasser
ist die Ursache des Auftretens der elektrischen Erscheinungen.
Bei Platzregen oder Schneegestöber sind die elektrischen
Spannungen so groß, daß sie durch Blitze ausgeglichen wer-
den. Im Sommer hat man es mit anders gearteten Luftbe-
wegungen zu tun, die Ursache für den Regen ist eine ver-
schiedene, aber stets ist er die Ursache der elektrischen Be-
gleiterscheinung.
Im übrigen sind Wintergewitter durchaus etwas Zeitge-
mäßes und kommen Jahr aus Jahr ein vor, nur sind sie nicht
über so große Gebiete ausgedehnt und daher am einzelnen
Ort weniger zu merken. Nippoldt.
Literatur.
Pahde, Prof. Dr. ,\dolf, Meereskunde. Bd. 20 der
,, Bücher der Naturwissenschaft". Mit 3 farbigen Kartenbei-
lagen, 7 schwarzen Tafeln, i Porträtbeilage und 13 Abbil-
dungen im Text. Leipzig, Philipp Reclam. — In Leinen I Mk.
Wilckens, A. , Aus Chiles Vergangenheit. Valparaiso
'14, C. F. Niemeyer.
Streissler, Alfred, Öldruck, Bromöldruck und verwandte
Verfahren. Mit 19 Abb. und 15 Tafeln. Bd. XV von Liese-
gang's photographischem Bücherschatz. Leipzig '14, Ed.
Liesegang's Verlag, M. Eger. — Geb. 3 Mk.
Bortkiewics, Prof. Dr. L. v. , Die radioaktive Strah-
lung als Gegenstand wahrscheinlichkeitstheoreüscher Unter-
suchungen. Mit 5 Textfiguren. Berlin '13, J. Springer. • —
4 Mk.
Secerov, Dr. Slavko, Licht, Farbe und die Pigmente.
Beiträge zu einer Pigmenttheorie. Heft XVIII der Vorträge
und Aufsätze über Entwicklungsmechanik der Organismen.
Leipzig und Berlin '13, W. F^ngelmann. — 3 Mk.
Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde.
Bd. 20. 1913. Heft 5: Beiträge zur physikalischen Geogra-
phie und Siedlungskunde des Schleswig-Holsteinischen Sandr-
(Geest-)Gebietes von Dr. Hans Fürchtenicht-Boening. Mit
I Karte und I Tafel. Heft 6 : Hausgeographie der Wüster
Marsch von Dr. W. Peßler. Mit I Karte, 4 Tafeln u. I Tcxt-
abbild. Bd. 21 '14. Heft 2: Die städtischen Siedelungen
Inhaltt Fritz Schmidtsdorf: Die Methode „of trial and error" (des Versuchs und Irrtums) und ihre psychologische
Bedeutung. Hugo Mötefindt: Zerealienfunde vorgeschichtlicher Zeit aus den thüringisch-sächsischen Ländern. —
Einzelberichte: M. H engte in: Ein neues Mineral. J. Beiluc ci und R. Corelli: Verbindungen des einwertigen
Nickels. C. Rothaug: tjber die Bestimmung des Chroms als Chromoxyd. Fr. Alverdes: Über Perlen und Perl-
bildung. E. Stuart Baker: Farbe und Zeichnung der Kuckuckseier. W. Rüdiger: Schellente in künstlicher Nist-
höhle. C. Heß: Der Farbensinn ist beim Menschen und bei den Tieren — vor allem bei den Wassertieren — gänz-
lich verschieden. C. Heß: Der Gesichtssinn der Fische. C. Heß: Ein Farbensinn fehlt den Krebsen. — Bücher-
besprechungen: Franz Bendt: Grundzüge der Differential- und Integralrechnung. Albert Oppel: Leitfaden für
das embryologische Praktikum und Grundriß der Entwicklungslehre des Menschen und der Wirbeltiere. Karl v. Barde-
leben: Die Anatomie des Menschen. A. Heilborn: Entwicklungsgeschichte des Menschen. A. Th. Preyer:
Lebensänderungen. W. Schoenichen: Methodik und Technik des naturgeschichtlichen Unterrichts. — Literatur;
Liste. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Mi ehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 39. Band.
Sonntag, den 17. Mai 1914.
Nummer 20.
Über die biologische Wirkung der Radiumstrahlen, insbesondere über
die Strahlenbehandlung von bösartigen Geschwülsten.
Von Prof. Heineke-Leipzig.
[Nachdruck verboten.] Mit 2 Textfiguren.
Seit einer Reihe von Monaten steht für den
Mediziner die Frage der Behandlung von bös-
artigen Geschwülsten mit radioaktiven
Stoffen im Vordergrund des Interesses. Die
?'rage bewegt aber nicht nur die ärztliche Welt.
Bei der großen Verbreitung der furchtbaren und
auch dem Laien wohlbekannten Krebskrankeit ist
es leicht begreiflich, daß die guten Erfolge der
Strahlenbehandlung, über die die medizinischen
Kongresse des letzten Jahres berichtet haben,
auch in Laienkreisen großes Aufsehen erregt haben.
Welche Bedeutung die Krebskrankheit hat, erhellt
aus der Tatsache, daß noch heute allein in Deutsch-
land etwa 50000 Menschen pro Jahr am Krebs
und ähnlichen Geschwülsten sterben. Soweit wir
die Dinge übersehen können, ist es nicht wahr-
scheinlich , daß die weiteren Fortschritte der
operativen Technik an dieser Zahl noch sehr viel
ändern werden. Wenn das Radium und Mesothorium
in Zukunft mehr leistet und mehr Krebsgeschwülste
zur Heilung führt, als bisher das Messer, so würde
das einen der größten Fortschritte auf medizini-
schem Gebiete bedeuten.
Von einem abschließenden Urteil über den
Wert der Radiumbehandlung der Geschwülste sind
wir aber heute noch weit entfernt. Die augen-
blicklichen Erfolge sind erstaunlich und über-
treften alle Erwartungen; bei weit fortgeschrittenen
Krebsgeschwülsten, die wir mit dem Messer über-
haupt nicht mehr angreifen können, sehen wir die
Geschwulstmassen unter der Bestrahlung oft voll-
kommen verschwinden; die Eiterung und Jauchung
hört auf, die Geschwüre vernarben ; die Kranken
blühen auf und zeigen keinerlei Krankheits-
erscheinungen mehr. Über die Dauer dieser
Erfolge ist ein Urteil aber erst nach mehreren
Jahren möglich. Darin liegt ja gerade das Un-
heimliche der bösartigen Geschwülste, daß sie die
Eigenschaft haben, nach anscheinend vollständiger
Ausrottung wieder zu wachsen, sobald auch nur
kleinste, mit blossem Auge nicht sichtbare Teile
der Geschwulst zurückgeblieben sind. Diese Eigen-
schaft vereitelt so oft die mit dem Messer er-
zielten Erfolge. Ob das Radium uns hier weiter
bringt, das steht noch dahin.
Man sollte meinen, daß der große Aufschwung,
den die Radiumbehandlung des Krebses seit einem
Jahre genommen hat, auf ganz neuen Erkenntnissen
über die biologische Wirkung der Strahlen be-
ruhen müsse. Das ist aber auffallenderweise nicht
der Fall. Das, was wir über die Wirkung der
Strahlen auf lebende Zellen wissen, ist nicht neu,
sondern in den Grundzügen bereits seit etwa
10 Jahren bekannt. Auch die Einschmelzung von
Geschwülsten durch Radiumstrahlen ist bereits seit
langen Jahren festgestellt und praktisch verwertet
worden. Neu ist jetzt nur die Technik und die
Steigerung der Wirkung durch die Verwendung
großer Radiummengen. Neu ist vor allem die
Energie und der Wagemut, mit dem einige Ärzte,
unter denen die Gynäkologen an erster Stelle
stehen, die Radiumbehandlung wieder aufgenommen
haben.
Wenn wir die Wirkung der Radiumstrahlen
auf bösartige Geschwülste verstehen wollen, so
müssen wir uns klar darüber sein, wie die Strahlen
auf normale Zellen einwirken. Wir kennen diese
Veränderungen ganz gut, so weit sie mikro-
skopisch festzustellen sind. Damit ist die Wirkung
der Strahlen allerdings nicht erschöpft. Außerdem
wird nämlich auch der Stoffwechsel beeinflußt,
die Tätigkeit des Nervensystems, die Wirkung der
Fermente usw. Aber diese Dinge sind noch sehr
wenig erforscht; wir können uns zunächst nur
an die gut bekannten histologischen Ver-
änderungen halten. Diesesind dendurch Röntgen-
strahlen erzeugten Veränderungen voll-
kommen gleich.
Die Wirkung der Strahlen auf die lebende
Zelle kann zweierlei Art sein. Kleine Strahlen-
dosen üben eine Reiz Wirkung aus, d. h. sie
beschleunigen das Wachstum , sie regen die Zell-
teilung an. Große Strahlendosen hemmen das
Wachstum oder wirken sogar zerstörend, zelltötend.
Beim Menschen, insbesondere bei der Geschwulst-
behandlung machen wir im allgemeinen nur von
der zerstörenden Wirkung der Strahlen Gebrauch,
doch ist auch die Kenntnis der Reizwirkung von
großer praktischer Bedeutung.
Die Reiz Wirkung der Strahlen läßt sich am
besten an Pflanzen zeigen. Es gelingt z. B.
ruhende Pflanzen (Syringen) durch Radiumwirkung
zu treiben (Molisch); ferner sieht man, wie
Schwarz gezeigt hat, Bohnen, die während des
Auskeimens mit geringen Dosen bestrahlt werden,
wesentlich schneller wachsen, als die Kontroll-
pflanzen. Abbildung i zeigt eine Kultur von
Gartenkresse, die am ii. Februar gesät und am
13. und 14. zur Hälfte je i Minute lang bestrahlt
worden ist. Die am i8. P'ebruar aufgenommene
3o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 20
Pliotographie zeigt, daß die bestrahlte Hälfte viel
schneller gewachsen ist. — Wesentlich schwieriger
ist die Reizwirkung am Tierkörper zu de-
monstrieren , doch kann man z. B. Hautdefekte
durch Strahlenwirkung zu schnellerer Überhäutung
anregen (Schwarz). Ferner lassen sich gerade
an Geschwülsten bisweilen lebhafte Zellteilungs-
vorgänge nach kurzdauernder Bestrahlung nach-
weisen.
Es ist leicht verständlich, daiJ diese Reizvvirkung bei der
Behandlung vun Geschwülsten von großer Bedeutung ist. Wir
müssen sie natürlich sorgfältig zu vermeiden suchen, da
wir sonst gerade das Gegenteil des beabsichtigten Effektes,
nämlich ein schnelleres Wachstum der Geschwülste erreichen
würden. Wir müssen also stets mit so hohen Strahlendosen
arbeiten, daß die Schwelle der Reizwirkung mit Sicherheit
überschritten ist. Das ist keineswegs immer leicht, da die
Intensität der Sirahlenwirkung proportional dem Quadrat
der Entfernung abnimmt. Es kann leicht vorkommen, daß
eine .Strahlenquantität, die genügt, um oberflächliche Teile
einer Geschwulst zu zerstören, in der Tiefe gerade eine Reiz-
wirkung hervorruft.
Abb. I.
Hinsichtlich der z eilzerstöre ii den Wirkung
der Strahlen ist die Frage von der größten
Bedeutung, ob die Strahlen elektiv wirken,
d. h. ob ihre Wirkung nur gewisse Zellarten, nur
bestimmte Gewebe trifft, während andere un-
berührt bleiben.') Die Radiumbehandlung wäre
sehr einfach, wenn z. B. nur die Geschwulst-
') Eine elektive Wirkung dieser Art finden wir ja bei
zahlreichen Medikamenten, die nur an bestimmten Zellen
verankert werden und nur hier- zur Wirkung kommen. Ich
erinnere z. B. an die Schlafmittel, deren Wirkung sich
an den Zellen des Zentralnervensystems erschöpft.
Zellen, die wir zerstören wollen, getroffen würden,
das umgebende gesunde Gewebe aber intakt bliebe.
Bei den Strahlen besteht nun eine solche
elektive Wirkung sicher nicht, wenigstens nicht
in dem Sinne, daß es Zellen gibt, die auf die Be-
strahlung überhaupt nicht reagieren. Bei genügend
intensiver Wirkung kommt es vielmehr einfach zu
einer wahllosen Gewebszerstörung bis zu
einer gewissen Tiefe. Es entsteht ein Schorf und
nach Abstoßung des verschorften Gewebes ein
Defekt, der mit Narbenbildung heilt. Diese ver-
schiirfendc Wirkung großer Strahlenmengen können
wir brauchen , wenn es sich um die Zerstörung
oberflächlich liege nder Geschwülste handelt.
Wenn aber Geschwülste zerstöit werden sollen,
die in der Tiefe liegen, von gesundem Gewebe
gedeckt, das erhalten bleiben muß, so liegen die
Dinge ganz anders. In solchen Fällen wäre das
Problem der Strahlenbehandlung nur dann in
idealer Weise lösbar, wenn eine elektive Wirkung
auf die Geschwulstzellen bestünde. Das ist nun
nicht der F"all, aber die einzelnen Gewebe des
l'ierkörpers und die einzelnen Zellarten unter-
scheiden sich außerordentlich stark in bezug auf
die .Strahlenempfindlichkeit. Die Unter-
schiede sind so groß, daß wir imstande sind, durch
eine bestimmte Strahlendosis das eine Gewebe
zu zerstören, während ein anderes von gleich
starker Strahlung getroft'enes ganz unbeeinflußt
bleibt. Unsere Aufgabe ist also, festzustellen, in
welcher Reihenfolge die einzelnen Zellartcn der
Strahlenwirkung unterliegen, also gleichsam eine
.Skala der Strahlenempfindlichkeit aufzustellen.
Wenn man ein kleines Tier, z. B. eine Maus,
längere Zeit hindurch in tote den Röntgen- oder
Radiumstrahlen aussetzt, so geht es rasch zugrunde.
Schon nach einigen Stunden wird es krank, das
1 laar sträubt sich, die Augen werden klein, das
Tier frißt nicht mehr, sitzt ängstlich zusammen-
gekauert und zitternd da, bekommt Durchfall und
stirbt schließlich, meist nach einigen Tagen.
Wenn wir die Sektion eines durch Strahlen
getöteten Tieres machen, so findet sich makro-
skopisch recht wenig, höchstens eine auffallende
Füllung des Darmes mit flüssigen oder blutigen
Massen. Bei der histologischen Untersuchung
sehen wir als auffallendsten Befund eine starke
Verminderung derZahl der weißen Blut-
körperchen, die so weit gehen kann, daß das
Blut überhaupt frei von Leukocyten wird. Ferner
zeigt sich, daß die weißen Blutkörperchen in ihren
Bildungsstätten, in den sogenannten lym-
phatischen Organen und im Knochenmark hoch-
gradig vermindert sind. Sonst aber finden wir,
wenn die Tiere innerhalb von 2 — 3 Tagen zugrunde
gegangen sind, keine mikroskopischen Ver-
änderungen, insbesondere nicht an der Haut. —
Auch beim Menschen sind Tod esfälle durch
Strahlenanwendung vorgekommen, nämlich nach
Einspritzung des wasserlöslichen Thorium X in.
die Bluibahri. Auch bei diesen Fällen hat man eine
starke Verminderung der weißen Blutkörperchen
N. F. XIII. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
307
und bei der Sektion alle Anzeichen einer Klut-
zerstörung nachweisen können.
Wenn wir die Organe eines Tieres einzeln be-
strahlen und zu verschiedenen Zeiten untersuchen,
so bekommen wir schließlich ein Bild über die
Strahlenempfindlichkeit der einzelnen
Gewebsarten und über die Reihenfolge und
Art der in ihnen vorgehenden Veränderungen.
Da erweist sich, daß am allerempfindlichsten gegen
die Strahlen die Lymphocyten sind, eine Abart
der weißen Blutkörperchen, die etwa den vierten
Teil der weißen Blutkörperchen des zirkulierenden
Blutes ausmachen und in großen Anhäufungen in
allen Lymphdrüsen in der Milz, den Mandeln und
in der Wand des Darmkanals vorkommen. Diese
Zellen sind so empfindlich gegen die Strahlen, daß
eine Einwirkung von wenigen Sekunden genügt,
um sie zum Zerfall zu bringen. Der Zerfall geht
dabei in sehr charakteristischer Weise vor sich :
die Kerne der Lymphocyten zerfallen schon nach
I — 2 Stunden, die Kerntrümmer werden von Freß-
zellen aufgenommen und verschwinden innerhalb
von 24 Stunden (Abbildung 2). — In ähnlicher
Weise, nur etwas langsamer, werden die anderen
Formen der weißen Blutkörperchen, die im Knochen-
mark gebildet werden, zerstört.
Was wir sonst an charakteristischer Strahlen-
wirkung im Körper entstehen sehen, das verläuft
auffallenderweise zeitlich ganz anders.
Während die bisher genannten Veränderungen
ganz gesetzmäßig schon wenige Stunden nach der
Bestrahlung beginnen und innerhalb von i — 2 mal
24 Stunden ablaufen, treten die Veränderungen
an den noch zu nennenden Organen erst nach
einer längeren Latenzzeit auf, deren Länge von
der Stärke der Bestrahlung abhängig ist. Diese
Latenzzeit kann Tage, Wochen und selbst viele
Monate betragen.
Um Veränderungen an diesen Zellen hervor-
zurufen, sind auch viel größere Strahlen-
dosen nötig als zur Zerstörung der oben ge-
nannten hochempfindlichen Zellen. Endlich sind
auch die Einzelheiten der Zellzerstörung und -auf-
lösung anderer Art. Die Zellen zerfallen nicht
plötzlich, gleichsam explosiv, sondern ihre Kerne
entarten allmählich und die Zellen verschwinden
langsam und fast unmerklich im Laufe von Tagen
und Wochen.
In dieser Weise reagieren auf die Strahlen vor
allem diejenigen Zellen der Keimdrüsen, der
Hoden und Eierstöcke, denen die Bildung der
Samen- und Eizellen obliegt. Werden diese
Zellen zerstört, so hört die Bildung der Samen-
fäden und die Reifung der Eier auf und das hat
je nach der Intensität der Zellzerstörung die vor-
übergehende oder dauernde Sterilisierung des Indi-
viduums zur Folsfe. M — In ganz ähnlicher Weise
') Innerhalb der Keimdrüsen findet sich noch eine zweite
Art von Zellen, die, so viel wir wissen, eine innere Sekretion
haben, d. h. gewisse Stoffe in die Blutbahn abgeben. Der
Verlust dieser Zellen ruft die charakteristischen, nach Entfer-
nung der Keimdrüsen auftretenden Ausfallserscheinun-
wie die Keimdrüsenzellen reagieren auch die
Deckepithelien, die Deckzellen, die die äußere
Haut und alle Schleimhäute überziehen und auch
alle Drüsengänge des Körpers auskleiden. Auch
diese gehen erst nach einer längeren Latenzzeit
und ganz langsam zugrunde, wobei sich die Drüsen-
epithelien als etwas weniger empfindlich erweisen, als
die Epithelien der äußeren Haut. — Der Verlust
des Deckepithels an einer bestrahlten Stelle führt
zur Gesch wü rsbild u ng und zum Haarausfall,
denn die Haare sind Abkömmlinge der Epithelien.
Neben den bisher genannten Zellarten gibt es
noch eine Reihe von sehr wenig" strahlen-
empfindlichen Zellen. Dazu gehören vor
allem die gesamten Bindesubstanzen, das
Binde- und Fettgewebe, die' Muskulatur, Knorpel,
Knochenhaut und Knochen. An diesen Zellen
kann man nur durch sehr intensive Bestrahlung
überhaupt Veränderungen hervorrufen.
: •i'eii.:'.'^-'.
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'■!.■ •v.•^:;•;.^•^i>«5s).•:*/y
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Abb. 2. Meerschweinchen; Milz; 5 Min. direkt bestrahlt.
Tötung nach 6 Stunden. Kernzerfall im Zentrum des Follikels.
Die Strahlenempfindlichkeit der einzelnen Zell-
arten ist also außerordentlich verschieden. Wir
können gleichsam drei Empfindlichkeits-
stufen unterscheiden: Erstens gibt es hoch-
empfindliche Zellen, die nach der Bestrahlung
fast explosiv in ganz kurzer Zeit zerfallen. Zweitens
gibt es weniger, aber doch spezifisch emp-
findliche Zellen, die nach der Bestrahlung unter
Einhaltung einer Latenzperiode allmählich de-
generieren und der Auflösung verfallen. Drittens
gibt es unempfindliche Zellen, die nur durch
große verschorfende Strahlendosen angegriffen
werden.
Wodurch dieses verschiedene Verhalten der
gen hervor. Durch Strahlen werden diese Zellen nur sehr
wenig beeinflußt.
^,o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 20
Zellen den Strahlen gegenüber bedingt ist, darüber
wissen wir noch wenig. Der anatomische Bau
der Zellen liefert uns keine Erklärung. Wir wissen
nur das eine, daß die St rahle nempfind lieh -
keitdereinzelnenZellartenungefährder
Lebhaftigkeit der in ihnen ablaufenden
Wachstumsvorgänge proportional ist.
Die Zellen sind um so empfindlicher, je kürzer
ihre Lebensdauer ist, je schneller sie sich ver-
mehren und durch neue Zellen ersetzt werden,
je lebhafter also die Teilungsvorgänge innerhalb
der Kerne des betreffenden Gewebes sind. Eine
sehr lebhafte Neubildung finden wir aber gerade
bei den hochempfindlichen Zellen, den weißen Blut-
körperchen; in geringerem Grade auch bei den Keim-
drüsenzellen und bei den Dcckepithelzellen der
Haut und der Schleimhäute, in noch geringerem
Grade bei den Epithelien der Drüsen. Die un-
empfindlichen Zellen, die Zellen der Bindesubstanzen,
des Knorpels und Knochens vermehren sich dagegen
wenigstens beim erwachsenen Menschen nur sehr
langsam. — Man kann aus diesen Tatsachen den
Schluß ziehen, daß die Zellen während der
Kernteilung der Strahlenwirkung am
meisten zugänglich sind. Wir kommen
noch darauf zurück.
Ich komme nun zur Nutzanwendung dieser
Erkenntnisse auf die Bestrahlung der bös-
artigen Geschwülste. Wir unterscheiden
zwei Formen von bösartigen Geschwülsten , den
Krebs und das Sarkom; beide wachsen
schrankenlos zerstörend in die Umgebung hinein,
auf Kosten des Organismus, der ihnen schließlich
zum Opfer fällt. Es sind aber ganz andere Zellen,
die den Krebs und das Sarkom zusammensetzen.
Der Krebs geht von den Epithelien aus, d.h.
von den Deckzellen der Haut, der Schleimhäute
und der Drüsengänge, das Sarkom aber von den
Bindesubstanzen, zu denen das Bindegewebe,
der Knorpel und Knochen, ferner auch das Lymph-
gewebe und das Knochenmark gehört. — Bei denbös-
artigen Geschwülsten finden wir nun ganz dieselben
Unterschiede in der St ra hl enempfindlichkeit
wie beim normalen Gewebe. Die Zellen der Ge-
schwülste sind im allgemeinen ebenso strahlen-
empfindlich wie die Zellen des Mutter-
gewebes, von denen sie ausgegangen sind, nur
ist ihre Strahlenempfindlichkeit durchschnittlich
und gleichmäßig etwas größer, als die des Mutter-
gewebes, weil die Zellen der schnell wachsenden
bösartigen Geschwülste in lebhafter Vermehrung
und Teilung begriffen sind (s. o.)
Unter den Sarkomen gibt es Geschwülste
von höchster Strahle nempfindlichkeit,
(z. B. die sogenannten Lymphosarkome, die von
den Zellen des lymphatischen Gewebes, den
Lymphocyten ausgehen), die nach der Bestrahlung
manchmal wie Butter an der Sonne innerhalb von
wenigen Tagen verschwinden. Leider gibt es aber
auch Sarkome, d i e auf die Strahlen gar nicht
oder fast gar nicht reagieren, z. B. die
häufigen von der Knochenhaut ausgehenden Ge-
schwülste, die die geringe Strahlenempfindlich-
keit mit ihrem Muttergewebe teilen und deshalb
mit Radium- oder Röntgenstrahlen kaum angreif-
bar sind.
Etwas gleichmäßiger liegen die Verhältnisse
bei den viel häufigeren und wichtigeren K rebs -
gesell Wülsten, deren Zellen im allgemeinen
die ziemlich hohe Strahlenempfindlichkeit der
Deckepithelien zeigen. Wie diese zerfallen auch
die Zellen des Krebses nach der Bestrahlung
ganz allmählich innerhalb von Wochen unter den
Zeichen der fortschreitenden Kerndegeneration.
Die Krebse der Schleimhäute reagieren etwas
weniger gut als die der äußeren Haut und die
Krebsgeschwülste der Drüsen noch etwas weniger,
aber spezifisch zu beeinflussen sind sie offenbar
alle. Man kann sie ohne schwere Schädigung des
umgebenden gesunden Gewebes durch die Be-
strahlung zerstören — so lange sie sich nicht im
ganzen Körper veilireitet haben.
Aus diesen Ausführungen geht also hervor,
daß die St rahle nempfindlichkeit der Ge-
schwülste sehr verschieden ist. Ferner sieht
man, daß die meisten Geschwülste, vor allem alle
Krebsgeschwülste, weniger strahlenemp-
findlich sind als manche normale Zellen,
insbesondere die weißen Blutzellen und ihre
Bildungsstätten. Wir müssen also, wenn wir Ge-
schwülste an solchen Stellen bestrahlen, an denen
die Strahlen auch diese normalen Organe treffen
müssen, damit rechnen, daß an ihnen Zellzer-
störungen frühzeitiger und in größerem Umfange
auftreten als an der Krebsgeschwulst selbst. Die
dadurch bedingte Gefahr scheint aber bei vor-
sichtigem Vorgehen und bei Bestrahlung nicht zu
ausgedehnter Partien des Körpers nicht sehr groß
zu sein, weil gerade die hochempfindlichen sich
schnell vermehrenden Zellen, insbesondere die
weißen Blutzellen, auch eine sehr ausgesprochene
Regenerationsfähigkeit besitzen.
Wie kommt es nun eigentlich, daß
die lebende Zelle durch Röntgen- und
Radi umstrahlen beeinflußt wird? Welche
Kräfte sind dabei wirksam .?
Eine befriedigende Antwort auf diese Frage
können wir heute noch nicht geben, trotz aller
Arbeit, die man auf die Lösung dieses Problems
verwandt hat. Wir stecken da noch ganz in den
Hypothesen.
Man kann bei der Erklärung zunächst an die
bekannten physikalischen Wirkungen der
Strahlen anknüpfen, d. h. an die Fähigkeit, nicht
leitende Körper zu ionisieren, d. h. leitfähig zu
machen und an die Eigenschaft, Fluoreszenz zu
erregen. Daß derartige Vorgänge sich auch im
lebenden Gewebe abspielen , ist sehr wahrschein-
lich, doch ist es bisher nicht möglich gewesen,
über Vermutungen in dieser Hinsicht hinauszu-
kommen.
Man kann ferner auf die Tatsache zurückgreifen,
daß die Strahlen die Eigenschaft haben , überall
dort, wo sie auftreffen, wo sie in ihrer Bahn ge-
N. F. XIII. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
309
hemmt werden, eine sekundäre Strahlung
hervorzurufen. Diese Sekundärstrahlung ist z. T.
eine körperliche, eine Elektronenstrahlung, d. h.
die auftreftenden Primärstrahlen sind imstande,.
Elektronen aus dem getroftenen Gewebe heraus-
zuschleudern. Zum anderen Teil ist die Sekundär-
strahlung eine Atherbewegung, wie die Röntgen-
strahlen und die y-Strahlen des Radiums, und dann
in ihrer Stärke von dem Atomgewicht der betreffenden
Substanz abhängig. Man kann sich nun wohl vor-
stellen, daß dieser Vorgang der Sekundärstrahlung
mit einer Zerreißung des Zellzusammenhaltes ver-
bunden ist, und kann diese Annahme auch zur
Erklärung des explosiven Kernzerfalls an den hoch-
empfindlichen Zellen gelten lassen. Ferner ließe sich
auch die verschiedene Reaktion der einzelnen
Zellarten auf diese Weise erklären, da die ver-
schiedene chemische Zusammensetzung der Ge-
webe die Art und Stärke der Sekundärstrahlung
bestimmt. Aber diese Theorie liefert uns keine
Erklärung für die zwischen Bestrahlung und Ein-
tritt der Reaktion liegende, u. a. bis zu mehreren
Monaten betragende Latenzzeit.
Man hat auch die chemische Wirkung
der Strahlen, die wir von der photographischen
Platte her kennen, zur Erklärung des biologischen
Effektes herangezogen. Schwarz hat schon 1903
die Beobachtung gemacht, daß sich bei der Be-
strahlung von Hühnereiern eine Verfärbung und
Geruchsveränderung des Eidotters entwickelt, die
durch Zerstörung des charakteristischen F"ettstoffes
des Dotters, des Lezithins bedingt ist. Bei weiterer
Verfolgung dieser Untersuchungen, um die sich
namentlich Werner verdient gemacht hat, hat
sich herausgestellt, daß die Einverleibung des
durch Strahlen zerlegten Lezithins und seiner
synthetisch darstellbaren Spaltungsprodukte (in
erster Linie des Chol in) im Tierkörper ähnliche
Veränderungen hervorruft wie die Bestrahlung
selbst. Daran hat man die Hypothese geknüpft,
daß die Strahlenwirkung durch Lezithinspaltung
zu erklären sei und daß die nach der Bestrahlung
auftretenden histologischen Veränderungen auf
einer Giftwirkung des abgespaltenen Cholins be-
ruhen.
Die chemische Erklärung der Strahlenwirkung
ist aber sicher nicht ganz zutreffend. Zwar ist
es richtig, daß man durch Einspritzung von Cholin
strahlenähnliche Veränderungen, z. B. Kernzerfall
im Lymphgewebe und in den Keimdrüsen und
auch gewisse Hautveränderungen erzeugen kann,
aber diese Eigenschaft teilt das Cholin mit
manchen anderen Giften. Die Hoffnungen, die
man an die Cholinhypothese knüpfte, nämlich bös-
artige Geschwülste durch Einspritzung von Cholin-
lösungen heilen zu können, haben sich nicht er-
füllt. — Man kann aber auch durch einen ein-
fachen Versuch zeigen, daß das Wesen der Strahlen-
wirkung mit den chemischen Veränderungen, die
sie zweifellos hervorrufen, nicht erschöpft ist. Wenn
man ein Kaninchen zur Hälfte bestrahlt, so sieht
man die charakteristischen Strahlenveränderungen
nur in der exponierten, nicht aber in der ge-
schützten Körperhälfte auftreten. Wären die
chemischen Umsetzungen im bestrahlten Gewebe
so bedeutend, so müßten die Spaltungsprodukte
durch den Blutstrom sofort im ganzen Körper
herumgetragen werden und überall die gleichen
V^eränderungen auslösen, was tatsächlich nicht der
Fall ist. Übrigens würde sich auch die Latenz-
periode durch die chemische Hypothese schwer
erklären lassen.
Den besten Einblick in die feineren Vorgänge
bei der Strahlenwirkung haben uns die hochinter-
essanten Versuche von H e r t w i g gebracht. H e r t -
w i g fand bei der Bestrahlung von Eiern des Pferde-
spulwurms und von PVöschen, daß die Bestrahlung
des befruchteten Eies Anomalien der Kern-
teilung und des Furchungsvorganges nach
sich zieht und daß die Embryonen entweder auf
einem frühen Entwicklungsstadium absterben oder
sich zu Mißbildungen weiter entwickeln. Die
gleichen Mißbildungen lassen sich erzeugen, wenn
man die Eier- und Samenzellen vor der Befruchtung
isoliert mit mittleren Dosen bestrahlt, und zwar
ist der Effekt derselbe, gleich ob eine bestrahlte
Eizelle mit einer normalen Samenzelle oder eine
normale Eizelle mit einer bestrahlten Samenzelle
verbunden wird. Nun verhält sich aber die Masse
des Lezithins der Samenzelle zu der der Eizelle
„wie ein Weizenkorn zu einem ganzen Sack voll
Weizen". Wäre die Wirkung auf das Lezithin
das eigentliche Wesen der Strahlenwirkung, so
müßte der Effekt ganz verschieden ausfallen, je
nach dem die kleine Sperma- oder die große Ei-
zelle bestrahlt wird. Das ist aber nicht der Fall.
Die Gleichartigkeit des Effektes in beiden Fällen
weist vielmehr darauf hin, daß die Strahlenwirkung
an denjenigen Teilen der Zellen angreift, die in
der Ei- und Samenzelle in gleicher Menge vor-
handen sind. Das sind die Elemente des
Zellkerns, die Chromosomen.
Die Hert wig'schen Untersuchungen führen
uns aber noch weiter. Es hat sich nämlich heraus-
gestellt, daß die isolierte Bestrahlung der Samen- und
Eizelle vor der Befruchtung ziemlich normale
Individuen entstehen läßt, wenn mit sehr
hohen Dosen bestrahlt wird, während eine ge-
ringere Bestrahlung, wie eben erwähnt, Miß-
bildungen hervorruft. Diese anscheinend paradoxe
Erscheinung erklärt sich dadurch, daß die nach
intensiver Bestrahlung entstehenden anscheinend
normalen Individuen haploide Organismen
sind, d. h. Organismen, deren sämtliche Zellkerne
nur die halbe Chromosomenzahl, nämlich nur die
Chromosomen des nicht bestrahlten Elters ent-
halten. ^) Die Chromosomen der bestrahl-
ten Zelle teilen sich nämlich nicht mehr
und treten nicht, wie in der Norm, mit in den
Komplex der Tochter- und Enkelzellen ein.
') Daß solche haploide Organismen bei Pflanzen und
Tieren vorkommen, ist bekannt. Man weiß auch , daß sie
sich zu anscheinend ganz normalen Individuen entwickeln
können.
310
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 20
Durch die Bestrahlung ist also dem
Samen- oder Eikern die Fähigkeit ge-
nommen worden, sich zu teilen, nicht
aber die Fähigkeit, zu befruchten oder
befruchtet zu werden.
Ähnliche Beobachtungen hat auch Halberstädter
bei der Bestrahlung von Trypanosomen gemacht. Er hat
gefunden, daß die bestrahUen Trypanosomen nicht absterben,
sondern sich in anscheinend normaler Weise weiter bewegen,
daß sie aber die Fähigkeit, Aft'en zu infizieren, verloren haben.
Offenbar ist diese hähigkeit an die — durch die Bestrahlung
aufgehobene — Vermehrung der Parasiten gebunden. —
V. Wassermann hat vor kurzem auch an Mäusegeschwülsten
zeigen können, daß die Strahlen die Zellteilung verhindern
können.
Die Tatsache, daß die Bestrahlung die Tei-
lungsfähigkeit des Kernes aufheben
kann, ohne die Zelle direkt abzutöten,
ist für die Kenntnis der biologischen Strahlen-
wirkung von großer Bedeutung; sie erklärt uns
vor allem die bisher so rätselhafte lange Latenz-
zeit der Strahlenwirkung: jede Zelle des Körpers
hat eine bestimmte Lebensdauer, nach deren Ablauf
sie durch eine neue, durch Zellteilung entstehende
Generation ersetzt wird. Bleibt die Zellteilung aus,
so verschwindet die alte Generation, ohne daß die
Lücke ausgefüllt wird : es entsteht ein Gewebsdefekt.
Je kürzer die natürliche Lebensdauer einer Zelle
ist, desto schneller muß das Ausbleiben des Zell-
ersatzes nach ihrem Tode in Erscheinung treten.
Nimmt man solchen Zellen , deren Lebensdauer
Neuere Meteoriteiifiinde in Europa.
Sammelreferat von F. Heide (Jena).
[Nachdiuck verboten.]
Das nachfolgende Referat umfaßt die seit dem
Jahre 1900 neu in Europa aufgefundenen Meteoriten.
Ihre Zahl beträgt insgesamt elf, und zwar ein
Achondrit (eisenarme Steine, im wesentlichen
ohne runde Chondren), sechs Chondrite (im
wesentlichen aus Bronzit, Olivin, Nickeleisen be-
stehend, mit runden oder runden und polyedrischen
Chondren), zwei Lithosiderite (Übergänge von
den Eisen zu den Steinen; kristallinisch-körnige
Silikate in einem auf Schnittflächen zusammen-
hängend erscheinenden Nickeleisennetz) und zwei
Meteoreisen.
Die Literaturangabe bezieht sich jedesmal auf
die Originalarbeit. Wer weitere Angaben wünscht,
der sei auf die vorzüglichen Zusammenstellungen
von F. B er wert h in Bd. I, II, III der „Fort-
schritte der Mineralogie, Kristallographie und Petro-
graphie", herausgegeben von Prof. Dr. L i n c k
(Verlag von Gustav Fischer, Jena), verwiesen.
Stein meteoriten.
Achondrite. Am 12. Juni 1910, 7h25"i
abends fiel bei dem Dorfe Pekkola in der Nähe
der Bahnstation Hietanen im Kirchspiele S t. M i c h e 1
im Gouvernement gleichen Namens ein Meteor-
stein. Er wurde von L. H. Borgström be-
schrieben („Der Meteorit von St. Michel". Bull.
Comm. Geol. de Finlande. Nr. 34. Helsingfors;
August 1912; S. I — 49; Tafel I — III). Der Meteorit
nur nach Stunden zählt — wie dies vielleicht bei
den weißen Blutzellen der F'all ist — die Ver-
mehrungsfähigkeit, so muß sich der Ausfall schon
nach kürzester Zeit bemerkbar machen, handelt es
sich um Zellen mit längerer Lebensdauer, wie die
Epithelien, so tritt die Wirkung erst nach Tagen
oder Wochen, d. h. nach Ablauf ihres Lebens in
Erscheinung. Endhch werden wir überhaupt keine
Wirkung zu sehen bekommen, wenn wir solchen
Zellen die Teilungsfähigkeit nehmen, die sich beim
ausgewachsenen Individuum überhaupt kaum mehr
vermehren , wie diejenigen des Skelettes. ') Der
Tod der Zelle wird dann mit dem Tode des Indi-
viduums zusammenfallen müssen.
Durch die Vernichtung der Zellteilung lassen
sich aber keineswegs alle bei der Bestrahlung
lebender Zellen auftretenden Erscheinungen er-
klären. Die Einwirkung der Strahlen auf die
lebende Zelle ist offenbar recht komplizierter
Natur und es ist uns vorläufig nicht möglich, alle
biologischen Wirkungen einheitlich zu erklären.
Von einem klaren Einblick in die bei der biologi-
schen Strahlenreaktion wirksamen Kräfte sind wir
noch weit entfernt und es wird noch vieler For-
scherarbeit bedürfen, bis unsere theoretischen
Kenntnisse der heute weit vorausgeeilten Praxis
der Strahlenbehandlung folgen können.
') Die Bestrahlung der Knochen von kindlichen Individuen
hat aber starke Störungen des Längenwachstums zur Folge 1
muß ziemlich senkrecht herabgefallen sein ; ein
7 kg schweres Stück hatte ein 59 cm tiefes, ein
anderes Stück von 10 kg ein 50 cm tiefes Loch
in die Erde geschlagen. Von diesen beiden, beim
Aufschlagen zertrümmerten Stücken konnten 6,802
und 9,650kg geborgen werden; sie befinden sich
in der geologischen Landesanstalt. Die Schmelz-
rinde ist 0,05 — 0,2 mm dick, unter ihr liegen eine
Saugzone von 0,03 — 0,15 cm Dicke und schließ-
lich eine Imprägnationszone von 0,20—0,45 mm
Mächtigkeit, die mit Magnetkies von der äußersten
Zone imprägniert ist.
Die chemische Analyse ergab:
Fe
^=
11,71
Ni
=
1,16
Co
=
0,13
Cu
=
0,01
SiO.,
:^=
.39,52
TiOa
=
0,02
Al„0,
=
.3,31
Cr,0,
=
0,56
FeO
=
13,44
MnO
=
0,41
CaO
=
1,64
MgO
=
24,60
KjO
=
0,13
Na,0
•
I,.32
P
=
0,08
S
=
2,22
100,26 Sp.G. = 3,557.
N. F. XIII. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
;ii
Aus der Analyse läßt sich folgende mineralo-
gische Zusammensetzung berechnen:
Nickeleisen ^ 8,71
Schreibersit = 0,51
Magnetkies =^ 6,11
Chromit = 0,82
Olivin = 43.22
Bronzit = 26,25
Plagioklas = 14,63
100,25
Der Olivin ist sehr eisenreich; das Verhältnis
von FeO : IVIgO = i : 3,18. Der Bronzit ist farblos
und weist normale Eigenschaften auf; bei ihm ist
das Verhältnis von FeO : MgO = i : 3,73- Der
Feldspat ist ein Oligoklas, Ab^Anj, mit sehr nie-
driger Doppelbrechung (höchstens 0,06) und einer
Auslöschung von 2 — 3". Das Nickeleisen setzt
sich zusammen aus 86,6% Fe, ii,8''/o Ni, 1,5 7o
Co; Sa. 100,00 "Z^,.
Unter dem Mikroskop erweist sich der Meteorit
als ein kristallinisch-körniges Gemenge von vor-
waltend farblosen Silikaten mit Körnchen von
metallischen Mineralien und nur vereinzelten Chon-
dren oder Chondrenfragmenten. Der Meteorit ist
seiner Zusammensetzung und seinem Gefüge nach
als ein sehr chondrenarmer Rodit (Ro) zu bezeich-
nen. Der Verfasser ist der Meinung, daß die
Struktur des Steines das Resultat einer unvoll-
ständigen Metamorphose eines Trümmergesteines
(Tuffes) ist, dessen Partikelchen wegen der Ab-
wesenheit jeglicher Schichtung keinen Lufttrans-
port erlitten haben. Daraus zieht Borgström
den Schluß, daß sich die meteorischen Tufife im
Gegensatz zu den irdischen in einer extrem dünnen
Atmosphäre gebildet haben.
Chondrite. Am 22. Januar 1910, abends
9V2 Uhr, fiel in Vigarano Pieve bei Ferrara ein
Meteorstein, den Aristide Rosati unter dem
Namen Cariani beschreibt. („Mikrosk. Studium
des in Vigarano Pieve bei Ferrara im Januar 1910
gefallenen Meteoriten". Atti. R. Accad. dei Lincei,
Roma; [5]; 19. I. S. 841—846. 16./VI. Rom.)
Der Meteorit hat ein Gewicht von 11,5 kg, seine
Abmessungen sind 17,5 : 18,5 : 20 cm. Die glän-
zend schwarze Schmelzrinde ist 2 mm dick.
Die Mineralbestandteile sind Olivin, Bronzit,
Nickeleisen, Magnetkies; akzessorisch Chromit,
Plagioklas, Augit, Glas und C-haltige Substanzen.
Unter dem Mikroskop zeigen sich zahlreiche
Chondren von Olivin und Bronzit. Auch schwarze
Chondren kommen vor. Die Struktur ist tufifartig.
Der Meteorit wird als schwarzer Chondrit (Cs)
bezeichnet.
Aus derselben Gegend stammt der im Februar
1910 gefundene und von Rosati unter dem
Namen Morandi beschriebene Meteorit (Atti
R. Accad. dei Lincei, Roma. [5] 19. IL 25—27.
3./VII. Rom.) Er hat ein Gewicht von 4,5 kg und
zeigt dieselbe mineralogische Zusammensetzung
und dieselbe Struktur wie der eben angeführte
Meteorit Cariani.
99,614')
Am 28. April 1904, 6'' 20'" nachmittags fiel
unter donnerartigem Geräusch in der Umgebung
der Dörfer Gumoschnik, Wrabewo, Debuewo
ein Meteorstein, den G. Bontschew untersuchte.
(„Der Meteorit von Gumoschnik im Bezirke Trojan
in Bulgarien." Mit einer topographischen Skizze
und einer Tafel mit einigen Photographien und
Mikrophotographien. Periodizesko spisanie. 71. p.
373 — 390. Bulgarisch mit deutschem Auszug.
Sofia 19 10.) Von diesem Meteoriten wurden 5 — 6
Stücke in einer Tiefe von 10 — 60 cm gefunden;
das schwerste wog 3,815 kg; das Gesamtgewicht
aller Stücke betrug 5,669 kg. Die Stücke sind in
des Richtung von N-S niedergefallen und sind von
einer dünnen, schwarzen Rinde bedeckt.
Die chemische Analyse ergab folgenden Befund :
Magnetischer Teil Nichtmagnetischer Teil
Fe = 67,141 SiOj = 45,980
Ni = 2,135 Cr^Og = 0,062
Fe^Sg = 2,028 Fe.,03 = 22,834
Silikate = 28,310 FeO = 4,082
MnO ^ 0,190
CaO = 2,460
MgO = 24,470
100,078
Die Analyse des gesamten Meteoriten ergab:
Fe = 15,012
Ni = 0,467
Fe-Sg = 0,453
SiOs = 42,363
CrjOg = 0,048
Fe.Og = 17,872
FeÖ = 3,29s
MnO = 0,147
CaO = 1,916
MgO = 18,998
Glühverlust = 0,163
^ö;734r
Die mineralogische Zusammensetzung ist: Oli-
vin, Enstatit, Augit, Nickeleisen, Magnetkies, Chro-
mit und eine feinkörnige bis dichte Masse von
unbestimmter Natur.
Die Farbe des Meteoriten ist grau, übersät
mit schwarzen und braunen Pünktchen, die von
Eisen- und Erzteilchen herrühren. Die Struktur
ist tuffös. Chondren treten sehr zahlreich auf und
lassen sich zum Teil aus der Grundmasse loslösen.
Sie bestehen aus Olivin und Enstatit.
Der Meteorit ist der zweite in Bulgarien auf-
gefundene.
In den Comptes rend. beschreibt Meunier
einen Meteoriten, der am 30. Juni 1903 beim Gute
K e r m i c h e 1 , Gemeinde Limerzel, Kanton Roche-
forten-Terre (Morbihau) gefallen ist. („Sur deux
meteorites frangaises recemment parvenues au Mu-
seum et dont la chute avait passe inapergue".
C. r. Bd. 154, 1912. S. 1739 — 1741.) Aufgefunden
wurde dieser Meteorit erst am 10. April 191 1.
Infolge des langen Liegens war der Meteorstein
schon ziemlich verwittert.
') Im Original stellt 99,814.
312
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 20
Die chemische Analyse ergab:
SiO,
= 36,60
MgO
= 24,14
CaO
= Spur
K„0
= 1,64
Na^O
= 1,70
AUO,
= 8,00
Fe„0,
= 2,90
FeO
= 21,60
Ni,03
= 1,20
97.78
Die Struktur ist klastisch. In einer schwärz-
lichen Grundmasse liegen zahlreiche metallisch
glänzende Körnchen von Nickeleisen. Die Silikat-
körner sind teilweise von Kristallflächen begrenzt.
Nach der in Frankreich gebräuchlichen Klassifika-
tion der Meteoriten, die vonMeunier aufgesteUt
wurde, ist der Meteorit dem Typus der Luceite
(Olivin, Bronzit und Enstatit; Struktur sehr fein)
zuzuweisen.
Am 30. November 1901 fiel mittags um 2 Uhr
ein kristallinischer Kügelchenchondrit (Cck) im
Chervatt ez- Walde bei Chatillens,Waadt, Schweiz.
Er wurde beschrieben von M. Lugeon. („Le
met. de la Chervettaz. Bull, des laboratoires de
Geol., Geogr. etc. de l'universite de Lausanne.
Nr. 6, 1904. S. 487 — 496. S. a. Bull. Soc. Vau-
doise de sience natur. iO. Nr. 149. Der Meteorit
ist 800 g schwer und hätte beim Niederfallen
beinahe einen Waldarbeiter getroffen.
Weitere Angaben können nicht gemacht werden,
da es dem Ref trotz aller Bemühungen unmög-
lich war, in die angeführte Literatur einzusehen.
Der Meteorit von H vittis fiel am 21. Oktober
1901 kurz vor 12 Uhr mittags im Kirchspiel
Hvittis, AboLän, Finnland, unter donnerähnlichem
Getöse. Er wurde der geologischen Kommission
eingehändigt und von L. H. Borgström unter-
sucht. („Die Meteoriten von Hvittis und Marja-
lahti." Diss., Helsingfors 1903.) Sein Gewicht
beträgt 14,050 kg, die Abmessungen sind 28X23
Xi3,S cm. Die Form ist gerundet, länglich ab-
geplattet. Er gehört zu den ,, orientierten" Me-
teoriten. Die Brustseite ist kuppeiförmig und mit
einer nur rund 0,1 mm dicken Rinde bekleidet.
Die Rückenseite ist ausgefüllt mit flachen Gruben,
die Rinde ist hier 2 — 3 mal so dick wie auf der
Vorderseite.
Der Meteorit besteht hauptsächlich aus einer
feinkörnigen Mischung von Silikaten mit metalli-
schem Nickeleisen und Sulfiden. Die chemische
Analyse ergab :
SiOj
=
41.53
Fe
^=
24,66
FeO
=
0,34
Ni
=
1,96
Co
=
0,07
A1,0,
^
I.S5
Cr,0,
=
0,57
CaO
=
1,41
K^O =
Na,0 =
0,32
1,26
S =
P =
3.30
0,08
100,28
Die aus dieser Analyse ermittelte mineralogi-
sche Zusammensetzung ergab folgenden Befund:
Oldhamit (CaS) = o,861
Daubreelith(FeSCr.,S3)= 0,57^8,74 °/o Sulfide
Magnetkies = 7,31)
Schreibersit = 0,50( 22,0 ^/^ gediegen
Nickeleisen = 21,50) Metalle u.Phosphor
•instatit =59,Oi\g8 8 0/ Siiij-^te
Oligoklas = 9,86( ' ^ '<•
Chromit = 0,32} 0,32 % Chromit
Der Enstatit kommt in bis 1,5 mm langen
Kristallen oder als Cliondren vor. Seine Dichte
beträgt bei sorgfältig gereinigtem Material 3,217.
Seine Zusammensetzung ist:
SiO, =
Al,03
FeO
CaO
MgO
Na^O
K,0
59.05
1,09
0,90
: 0,98
37.10
: 0,68
■ °'4L
100,27
Er ist also fast eisenfrei. Der Plagioklas ist
später auskristallisiert als der Enstatit und bildet
zuweilen eine „Zwischenklemmungsmasse" zwischen
den Enstatitkristallen. Hin und wieder findet man
Schnitte, die aus Lamellen aufgebaut sind. Seine
Dichte ist 2,60 — 2,65. Die Analyse ergab:
AbjAni
SiO, = 63,5
SiO., = 63,3
AloOg = 22,2
AUOg = 23,1
CaO = 4,0
CaO = 4,2
Na,0 = 9,2
Na,0 = 9,4
K,0 = 1,1
KjO = 0,0
100,0
100,0
MgO = 23,23
Der Plagioklas ist demnach, wie sich aus der
daneben angeführten Analyse des Oligoklases
(Ab^AnJ ergibt, ein Oligoklas, wofür auch der
optische Befund spricht. Der Oldhamit erscheint
in mikroskopischen Präparaten als kleine, hell
braungelbe, isotrope Körnchen mit zwei gleich
gut entwickelten, aufeinander senkrecht stehenden
Spaltrichtungen. Das Nickeleisen bildet Körner
und Klümpchen bis zu 2 mm Durchmesser. Seine
Zusammensetzung wurde, wie folgt, berechnet:
Fe = 91,11
Ni = 8,56
Co = 0,33
100,00
Der Magnetkies bildet kleine goldgelbe Körner.
Der Daubreelith wurde im Hvittis-Meteoriten zum
ersten Male in einem Meteorstein nachgewiesen.
Graphit wurde in zwei kleinen Knollen von 2 und
1^/2 mm Länge und etwa i mm Durchmesser
N. F. Xm. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
313
gefunden. Ferner wurden noch geringe Mengen
Glas und eines unbestimmbaren Minerals und
stellenweise zahlreiche Gasporen beobachtet.
Der Meteorit ist sehr fest und zäh, sein Bruch
ist muschelig. Die Bruchflächen haben eine
dunkelgraugrüne Farbe. Chondren treten nur ver-
einzelt auf und sitzen sehr fest in der Grundmasse.
Sie werden beim Zerschlagen mit zersprengt.
Seinem Gefüge nach besteht der Meteorit aus
einer Grundmasse von kristallisierten Silikaten mit
eingemengten Sulfiden und Metallpartikelchen,
sowie aus einzelnen Chondren. Seiner mineralogi-
schen Zusammensetzung nach unterscheidet er
sich wesentlich von den übrigen Chondriten. In
ihm wurde der erste Vertreter einer neuen Meteo-
ritengruppe erkannt, nämlich die der kristallinen
Enstatitchondriten (Gek.). ^)
Eisenmeteoriten.
Lithosiderite. Ein dem Pallaseisen von
Krasnojarsk sehr ähnlicher Pallasit wurde im Sep-
tember 1902 in Finnmarken unter 69''42' n.Br.
und 22" 13' ö. L. V. Gr. gefunden. E. Cohen
veröffentlichte eine kurze Mitteilung über ein ihm
zugesandtes Stück dieses Meteoriten („Ein neuer
Pallasit von Finnmarken". Mitt. des naturw. Ver-
eins von Vorpommern und Rügen. Bd. XXXV,
1903, S. i). Der Meteorit ist 77,5 kg schwer.
Der metallische Teil zeigte sich sehr reich an
Nickel. Er hinterließ beim Auflösen in HCl
einige schwarze Körnchen, die die Chromreaktion
ergaben und wohl als Chromit zu deuten sind.
Die Anwesenheit von Schreibersit lies sich eben-
falls erkennen. Das Nickeleisen zeigte beim Ätzen
prächtige Widmann statten' sehe Figuren.
Die Silikate werden von Wickelkamazit um-
geben. Die deutlich von Taenit umsäumten Bal-
ken sind schmal und in der Regel geschart.
Fülleisen herrscht stark vor. Kleinere F"elder be-
stehen aus dunklem , feinkörnigem Plessit mit
winzigen glänzenden Füttern. Die großen Felder
wiederholen auf das zierlichste den Aufbau des
ganzen Nickeleisens, indem kleine, 0,05 — 0,1 mm
breite von Taenit umsäumte Balken und dunkle
Felder — besonders unter dem Mikroskop —
scharf hervortreten. Die Silikate scheinen reich-
lich vorhanden zu sein. Die noch erhaltenen
Olivine erreichen eine Größe von 1,5 cm und
scheinen, soweit man ohne Dünnschliff beurteilen
kann, aus kompakten, gerundeten, wie angeschmol-
zen aussehenden Kristallen zu bestehen.
Ebenfalls ein Pallasit ist der Meteorit, der am
I. Juni 1902 gegen 10 Uhr abends bei Marja-
lahti am Ladoga-See, Kirchspiel Jaakkima,
Viborgs Län, Finnland, fiel und der von L. H.
Borgström beschrieben wurde („Die Meteoriten
von Hvittis und Marjalahti". Diss., Helsingfors
1903). Durch den Aufprall wurde der Meteorit
zertrümmert. Die größten Stücke wiegen 22,7
und 4,8 kg; das gesamte gefundene Material zu-
sammen 44,8 kg. Die Rinde, die sich leicht ab-
lösen läßt, ist papierdünn bis 0,5 mm dick.
Die Untersuchung ergab, daß der Meteorit ein
Pallasit ist. Er besteht hauptsächlich aus einem
Gemenge von Nickeleisen und Olivin, untergeordnet
kommen Troilit und Schreibersit vor. Das Nickel-
eisen macht 80 "/o der gesamten Masse aus. Seine
Zusammensetzung ist:
Fe = 92,28
Ni = 7,13
Co = 0,42
"99,83"
Beim Ätzen treten Widmannstätten' sehe
F'iguren auf Der Plessit ist nicht einheitlich, son-
dern wird von einem feinkonstruierten Lamellen-
system, das parallel mit den Balken verläuft, durch-
zogen. Der Kamazit zeigt reichlich „Feilhiebe"
und ist abgekörnt. Der Olivin zeigt auf den
Schnittflächen eine gerundete, polyedrische Be-
grenzung und ist von gelblicher Farbe. Sein
spez. Gewicht ist 3,3778. Die chemische Analyse
ergab:
SiO, = 40,26
= 11,86
0,12
= 47.26
= 0,05
= 0,21
FeO
Cr.Og
MgO
K,0
Nä,0
99.76
Das Verhältnis von MgO : FeO
') Als zu dieser Gruppe gehörig haben sich noch die
Meteoriten von Pillistfer und St. Marks in Südafrilfa erwiesen.
7:1. Der
Magnetkies kommt in runden Partikeln bis zu i cm
Durchmesser vor. Seine Zusammensetzung ist:
Fe = 63,63
S == 35.93
99.56
Der Schreibersit ist weniger häufig als der
Magnetkies und kommt in Individuen bis zu 0,5 cm
Durchmesser vor. Seine Dichte ist 7,278. Die
Analyse ergab:
Fe = 55,15
Ni = 29,15
Co = 0,21
P ^ 14,93
99,44
Der Meteorit von Marjalahti ist der einzige
Pallasit, dessen Fall beobachtet wurde.
Oktaedrite. Im Sommer 1906 wurde ein
Meteoreisen bei Muonionalu sta im nördlichen
Schweden gefunden und von A. G. Högbom
beschrieben (,,Uber einen Eisenmeteorit von
Muonionalusta im nördlichsten Schweden". Bull,
of the Geolog. Inst, of the Univers, of Upsala, 9,
1908 — 1909, S. 229 — 238. Mit I Tafel). Sein
Gewicht beträgt 7,53 kg, seine Dichte ist 7,9.
Der keilförmige Meteorit ist von vier Hauptfiächen
begrenzt, die eine charakteristische Oberflächen-
skulptur zeigen und der Lage von Oktaederflächen
entsprechen. Brust- und Rückenseite sind deut-
lich zu unterscheiden. Die den Meteoriten ganz
überziehende Rostrinde ist dünn. Stellenweise
314
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 20
läßt sich noch eine schwarze Braiidrinde erkennen,
von der dünne Adern in das Innere des Meteo-
riten eindringen.
Das Eisen setzt sich zusammen aus der Nickel-
eisentrias, Magnetkies und Daubreelith. Die Menge
der Trias beträgt etwa 99 '%, Magnetkies und
Daubreelith sind, nach Messungen auf den Schnitt-
flächen, höchstens 0,2 % vorhanden. Die von R.
Manzelius ausgeführte Analyse ergab:
Fe = 91,10
Ni = 8,02
Co = 0,69
Cu = 0,01
Cr = 0,01
P = 0,05
99.88
C und S wurden nicht bestimmt. Der Dau-
breelith bildet Einschlüsse im Magnetkies, von
dem einige Körner parallel den Widmann-
stät t en'schen Lamellen orientiert sind.
Der Dicke der Lamellen nach gehört der
Meteorit zu den Oktaedriten mit feinen Lamellen
(Of). Der Kamazit zeigt den gewöhnlichen
Schimmerreflex. Der Taenit weist keine Be-
sonderheiten auf. Der Plessit, der etwa 1 7 ^l„ der
Trias ausmacht, ist mitunter von feinen Lamellen
durchsetzt und wiederholt so im kleinen den
Aufbau des ganzen Eisens.
Das Meteoreisen von Westböhmen wurde
1909 gefunden und von K. Vrba beschrieben
(„Ein neuer Fund von Meteoreisen''. Böhmisch
im Anzeiger der Akademie Prag, 1910. S. 265
bis 266. Sitzungsberichte der naturw. Klasse vom
27. Mai 1910). Das Gewicht des keilförmigen
Eisens ist 2,269 kg. An den beiden breiteren
Seiten ist die Rostrinde schon sehr stark ent-
wickelt, auf der dritten Fläche, die eine Bruch
fläche zu sein scheint, ist sie dünn.
Am Aufbau des Meteoriten beteiligen sich
Nickeleisen, Magnetkies und Schreibersit, dieser
teilweise in der Modifikation des Rhabdites.
Beim Ätzen treten prächtige Widmann-
stätten'sche Figuren und Reiche nbach 'sehe
Lamellen hervor. Die Breite der Kamazitlamellen
beträgt 0,5 — 1 mm, der Meteorit gehört also zu
den Oktaedriten mit mittlerer Lamellenbreite (Om).
Die Taenitbänder sind sehr fein, der Taenit tritt
auch als feine Lamellen im Plessit auf. Die Wider- I
Standsfähigkeit des Plessits ist 5 "/„ HNOg gegen-
über verschieden stark. Der Magnetkies bildet
einmal die bis zu 3 cm langen Reiche nbach-
schen Lamellen, weiterhin tritt er in ziemlich
großen Körnern auf, die Abmessungen bis zu
4,75X2,25 cm haben können. Der Schreibersit
begleitet teilweise die Re iche nbach 'sehen La-
mellen und umgibt die Magnetkieskörner, teilweise
kommt er auch selbständig als nadeiförmiger Rhab-
dit vor, dessen Enden schief oder gegabelt sind.
Die Spalteueruptioii der Hekla
vom Jahre 1013.
Von M. phil. Carl Küchler.
(Mit 2 erklärenden Skizzen nach der Natur im Te,\te.)
[Naclidruck verboten.^
Die Hekla auf Island, der berüchtigtste der
130 bekannten Vulkane der nordischen Eis- und
Feuerinsel, hat nach 3 5 jähriger Ruhe seit ihrem
letzten Ausbruche am Krakatindur im Frühjahre
1878 durch eine erneute gewaltige Spalteneruption
im April und Mai vorigen Jahres aufs neue von
sich reden gemacht. Der Ausbruch am Krakatindur
erfolgte aus einer Reihe von 14 Kratern und
förderte einen Lavastrom von i'j.j Meile Länge
und I —2 km Breite bei einer Höhe von oft mehr
als 30 m zutage. Die vorjährige jüngste Eruption,
die aus einer Reihe von 10 Kratern erfolgte, hat
einen Lavastrom von durchschnittlich i km Breite
und etwa 5 km Länge bei einer Höhe von 12
bis 16 m produziert, dessen Volumen von 60 bis
80 Millionen cbm also erheblich hinter dem der
Lava [des Krakatindur zurücksteht. Aber trotz-
dem hat dieser jüngste Lavaerguß genügt , ein
ehedem fruchtbar grünes Weidegelände, nach dem
die Bauern der nächstliegenden Bezirke alljährlich
ihre Schafe zur Sommerweide zu treiben pflegten,
die „Lambafit", vollständig zu vernichten, während
die Lava des Krakatindur sich über schon vordem
völlig wüstes Gelände ergossen hat.
Es war mir, der ich im Sommer 1913 nach
einem zweitmaligen längeren Aufenthalte auf den
Färöern ') zum vierten Male auf Island'-) weilte,
vergönnt, diese beiden jüngsten Ausbruchsstellen
der Hekla zu besuchen und namentlich als erster
die noch brennenden Krater der vorjährigen Erup-
tion — wenn auch unter höchster Lebensgefahr
— zu betreten. Beide Ausbruchsstellen liegen
ziemlich entfernt von dem eigentlichen Hekla-
stocke, nämlich fast 2 geographische Meilen weit
im Nordosten dieses, aber einander selbst ziem-
lich nahe, so daß wohl angenommen werden darf,
daß der Magmaherd des alten Vulkanriesen sich
mehr und mehr nach dieser Richtung verschiebt.
Von den letzten menschlichen Wohnstätten im
Süden, dem Bauernhofe Galtalaekur oder dem
Pfarrhofe Fellsmuli nordwestlich der Hekla, sind
es 4 bzw. 5 Meilen trostlosen Wüstenlandes, die
man zu Pferde durchsprengen muß, um zu-
nächst den gewaltigen Lavastrom des Krakatindur
zu erreichen, der nicht zu umgehen ist, sondern
vielmehr selbst in mühsamer Kletterei über-
') Siehe mein reich illustriertes Reisewerk „Die Färber.
Studien und Wanderfahrten" (München 1913, Georg Müller
Verlag).
2) Über meine früheren Reisen siehe meine 3 illustrierten
Reisewerke ,, Unter der Mitternachtssonne durch die Vulkan-
und Gletscherwelt Islands", Leipzig 1906; „Wüstenritte und
Vulkanbesteigungen auf Island", Altenburg 1909; und „In
Lavawüslen und Zauberwelten auf Island", Berlin 191 1.
N. F. Xni. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
315
schritten werden muß. Dann hat man aber auch
sofort das — leider auf den Karten des dänischen
Generalstabs nicht mehr verzeichnete — von den
düsteren Höhen des Valahnükur, der Hrafnabjarga-
alda, der Hrafnabjörg und der Krukagilsalda
Abb.
I. Die nördliche Ausbruclisstelle der Hekla vom
Nach der Natur gezeichnet von Carl Küchl
umschlossene Gelände der jüngsten Eruption vor
sich liegen.
Als ich am 19. Juli 191 3 an der zu meiner
Rechten bleibenden Kraterreihe des Krakatindur
mit dem großen blutroten Schlackenhügel des
Hauptkraters im Vordergrunde vorüberritt, ehe
ich seinen Lavastrom selbst überkletterte, stieg
aus einem der Krater noch ein leichter Rauch auf,
ein Zeichen, daß nach 35 Jahren hier noch nicht
alles zur Ruhe gekommen war! Und dann lag
mit einem Schlage das allenthalben lebhaft
rauchende und dampfende unheimliche jüngste
Eruptionsgelände vor mir, das ich in einer mit
von dem anstrengenden weiten Ritte zitternden
Händen entworfenen Bleistiftskizze (siehe Abb. i)
festzuhalten suchte, so gut ich es vermochte, da
keine photographische Kamera ein Gesamtbild
des ganzen , mehr als 3 km breiten Komplexes
hätte liefern können.
Der schon an seinem Rande bis zu etwa 10 m
Höhe ansteigende wildzerrissene Lavastrom war
hier jedoch so breit, daß ich es von dieser Seite
kaum wagen konnte, über dieses Chaos hinweg
bis an den am lebhaftesten rauchenden großen
Hauptkrater, dem er in der Hauptsache entflossen
ist, und der mich am meisten interessierte, hin-
über zu gelangen. Ich bog deshalb nach rechts
nach der steilen Krukagilsalda aus, die zu erklettern
für die seit 9 Stunden abgehetzten Pferde freilich
nichts Leichtes war, da ihr Hang von tiefer
schwarzer jungvulkanischer Asche bedeckt war,
durch welche die armen Tiere immer wieder in
den darunter liegenden Schnee einbrachen. Auf
ihrer Höhe sah ich mich vor einem neuen Hinder-
nis. Hier war der Berg von einer grundlos tiefen,
breiten Spalte , die von der etwa 3 km weit im
Norden gegenüberliegenden Hrafnabjargaalda her-
kam, mitten durchgerissen. In sie hinab führten
zwei, ziemlich dicht beieinander gelegene enge
Kraterschlünde, aus denen glühend heiße Luft
heraufstieg, und in denen ich keinen Stein an-
schlagen oder fallen hörte. Ein kleinerer Lava-
strom hat sich von hier aus über die Krukagilsalda
südwärts ergossen, wo er ein kleines,
auf der beigegebenen Kartenskizze
(siehe Abb. 2) nicht mehr verzeich-
netes Tal vollkommen ausfüllt.
Schließlich fand ich doch eine Stelle,
wo die unheimliche Kluft von noch
warmer Lava überbrückt war, so
daß ich auch die Pferde, sie vorsich-
tig hinter mir herziehend, hinüber-
brachte, um nun die von vielen
kleineren Nebenspalten auch weiter-
hin zerrissene Krökagilsalda wieder
hinab auf die Helliskvisl zuzureiten,
einen von (3sten her durch den Paß
Lambaskard kommenden kleinen
reißenden Gletscherfluß, der jetzt
unmittelbar unterhalb der Kröka-
gilsalda unter dem großen Lava-
strome von 1913 verschwindet.
Jahre 19 13
er.
Abb. 2.
Skizze des nördlicheren Heklaausbruches vom Jahre 1913.
Nach Gudm. Magnussen ergänzt und verbessert von
C. Küchler.
Nach seiner Durchquerung gelangte ich über
ein in gewaltigen Erdwogen aufgetriebenes, gleich-
falls von tiefer schwarzer Asche angefülltes Ge-
lände um das östHche Ende des Lavastromes
3i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 20
herum glücklich in die Nähe des Hauptkraters.
Einen Blick in diesen selbst zu werfen, ist mir
leider nicht gelungen, wenn ich auch über das
Chaos hoch übereinander getürmter Lavaplatten
und wild durcheinander geschleuderter Lavablöcke,
aus dem eine fast unerträgliche trockene Hitze
aufstieg, bis an seine Außenwände gelangte , da
mir schließlich nicht mehr zu überspringende
Spalten, in denen die rotglühende Lava floß, den
Weiterweg versperrten. Bis auf die Höhe der
beiden ihm vorgelagerten Nebenkrater vermochte
ich jedoch durch die ätzenden Salmiakdämpfe
und beißenden Schwefeldampfwolken, die mir von
dorther entgegenwehten, vorzudringen, indem ich
die dicken Wollhandschuhe vor Mund und Nase
preßte. Beide Krater fand ich noch geschlossen,
mit einer festen Rinde gelben und weißen Schwefels
bedeckt, die freilich an zahllosen Stellen zoll- bis
fußbreite Risse aufwies, in denen die rote Glut
hell leuchtete. Die Hitze dieser Schwefeldecke
war so stark, daß ich trotz der dicken Sohlen
meiner Reitstiefel unablässig von einem Beine
auf das andere treten mußte, wenn ich nur einen
Augenblick still zu stehen versuchte. Eine etwa
2 Zoll starke Lavaplatte, die ich weiterhin auf-
brach und umwälzte, brannte an ihrer Unterseite
noch hell, und aus dem aufgerissenen Loche
leuchtete mir gleichfalls die sengende Glut ent-
gegen, so daß ich wohl oder übel zurückweichen
mußte. An Ausscheidungen habe ich wie hier
neben dem massenhaften Schwefel so auch in dem
Lavastrome selbst namentlich erhebliche Mengen
von Salmiak vorgefunden.
Die gewaltige Erdspalte, über der sich auch
die 6 Krater des Talkessels aufbauten, verfolgte
ich die Hrafnabjargaalda aufwärts, vermochte vor
in sie hinabgestürzten Tuffblöcken und aus ihr
aufsteigenden Dampfwolken jedoch nirgends bis
auf ihren Grund hinabzusehen. In ziemlicher
Höhe entdeckte ich mitten über ihr einen präch-
tigen Hornito, in den ich mühelos hinabzuklettern
vermochte, und noch weiter aufwärts war sie
durch zwei mächtige gegeneinandergestürzte Felsen
überbrückt, auf denen ich sie überschreiten konnte.
Auch dieses nördliche Ende der Spalte hat eine
kleine Lavazunge ostwärts nach den Hrafnabjörg
zu entsandt, und am Nordhange der Hrafnabjarga-
alda schließt sie mit zwei weiteren , ziemlich
großen Kratern ab, die gleichfalls noch lebhaft
dampften, mich aber nach den voraufgegangenen
Erfahrungen zu keinem näheren Besuche zu ver-
locken vermochten. Um Mitternacht stieg ich
wieder zu Tal und in den Sattel, um auf dem-
selben Wege nach der Krökagilsalda zurückzu-
kehren, von wo mich ein neuer nächtlicher Ge-
waltritt nach dem fernen Fellsmuli zurückführte.
Einzelberichte.
Physiologie. Die Beweglichkeit von Körper-
zellen. Sie hat ihre Ursache in der Zelle selbst,
„Selbstbewegung" in der Roux'schen Termino-
logie. Beispiele dafür bilden die Erscheinungen,
welche an Explantaten, d. h. vom Körper eines
Lebewesens abgetrennten und in einem geeigneten
Kulturmedium (Ringer'sche Lösung, Plasma)
überlebend erhaltenen Teilen des Körpers, von
H i r ß - E 1 i a O s o w s k i beobachtet wurden ( Arch.
f Entwicklungsmechanik der Organismen, 38. Bd.,
4. H. , 1914). Entsprechende Versuche wurden
angestellt mit der Kaulquappe des Grasfrosches,
Embryonen der Forelle und des Huhns. Durch
einen Schnitt wurde der Schwanz von 3 — 4 Wochen
alten Kaulquappen nahe dem Rumpf quer abge-
schnitten und in die verdünnte Ringer'sche
Lösung gebracht. Nach 24 Stunden war die
Wundfläche mit Epithel überzogen. Dasselbe war
der Fall bei Explantaten von Forellenembryonen
(i — 6 Tage nach dem Ausschlüpfen), sowohl bei
Schwanzstücken, als bei davor gelegenen Rumpf-
stücken mit zwei Wuntlflächen. Die gleichen
Erscheinungen zeigten die Embryonen des Huhns
(48 — 60 Stunden lang bebrütet). Durch einen
Schnitt wurden sie nach Entfernung des Gefäß-
hofs in eine vordere und hintere Hälfte zerlegt
und bei 37" in Plasma gehalten. Die genannten
Explantate überlebten bis 24 Stunden. Die Über-
häutung der Wundflächen geschah vom angren-
zenden Epithel aus und zwar nicht durch eine
Zellvermehrung — wenigstens waren nirgends
Zellteilungsfiguren zu sehen — , sondern durch
aktive Ortsbewegung der schon vorhandenen
Zellen. Diese beruhte auf einer gleitenden Be-
wegung. Sie ging ohne Pseudopodienbildung vor
sich; Druck- und Zugwirkungen spielten dabei
gleichfalls keine Rolle.
Beim Forellenembryo wurde sogar die 3 — 4 mm
aus der Wundfläche vorspringende Chorda über-
häutet. Selbst eine Regeneration derselben trat
insofern ein, als die normale kegelartige Form
des Chordaendes wieder hergestellt wurde.
Kathariner.
Chemie. Eine einfache Methode zur Erzeugung
einer sehr intensiven Natriumflamme, wie sie für
viele Zwecke der Chemie und der Physik er-
wünscht ist , wird von R. W. Wood (Phil. Mag.
(6) '27, 530, 1914) angegeben. Legt man auf den
Rost eines Meker-Brenners') ein Stück vom
Mantel eines Auerglühstrumpfs und darauf einige
Brocken vorher bis zum Schmelzen erhitzten
Kochsalzes und zündet den Brenner an, so schmilzt
das Kochsalz, verteilt sich über den Glühstrumpf
und verdampft, da die Wärmekapazität des Quer-
') Über die Konstruktion des ,,Meker- Brenn ers"
wurde in der Nalurw. Wochenschr. Bd. 12, S. 729 bis 730
(1913) berichtet.
N. F. XIII. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
317
mantels sehr gering ist, außerordentlich rasch und
färbt die Mamme intensiv gelb. Nach der Angabe
von Wood ist die Helligkeit der so erzeugten
Natriuniflamme annähernd so groß wie die der
viel schwerer zu handhabenden Knallgas-Natrium-
Flamnie. Mg.
Zoologie. Im Anschluß an Beobachtungen
der Kopulation bei Protozoen war die Meinung
aufgetaucht, daß für die unbegrenzte Dauer
der Fortpflanzungsfähigkeit die Kopulation die
„conditio sine qua non" sei, und daß Vermeh-
rung durch andauernde .Selbstteilung zur Degene-
ration und schließlich zum Tode führe. Daß dies
aber durchaus nicht immer der Fall zu sein braucht,
hat L. L. Woodruff in einer interessanten Arbeit
mitgeteilt. ') Er hat eine große Zahl von Rassen
von Paraiiiacciitui aurdia gezüchtet, von denen
eine nach 5 '/o jähriger Zuchtdauer die 3340. Ge-
neration erzeugte, ohne daß jemals in dieser langen
Zeit Konjugation eingetreten wäre. Bemerkens-
werterweise zeigte die Vitalität, insbesondere die
Teilungsgeschwindigkeit durchaus keine Einbuße,
so daß VVoodruff zu dem Ergebnis kommt, daß
das Altern und das Befruchtungsbedürfnis nicht
Grundeigenschaften der lebendigen Substanz sind.
„Die Ausgangszelle der 3340. Rasse hatte die Po-
tenz, ähnliche Zellen bis zu einer Zahl von 2^^^"
und eine Masse Protoplasma von mehr als jo"""'-
mal der Masse des Erdballes zu erzeugen."
Ferd. Müller.
Biologie der Hokkohühner. — Eine bemer-
kenswerte Eigentümlichkeit aus der Biologie der
zu den Hühnervögeln gehörenden neotropischen
Gattung Ortalis teilt Lowe mit"). Die erwach-
senen „Hokkohühner" führen bekanntlich ein reines
Baumleben und erbrüten die Jungen in ziemlich
sorgfältig auf hohen Urwaldbäumen angelegten
Nestern. Bald nach dem Ausschlüpfen begeben
sich die jungen Vögel auf die Erde, wo sie bis
zur Erlangung der Flugfähigkeit ganz wie unsere
Hühner leben. Sobald sie aber fliegen können,
verlegen sie ihre Wohnsitze auf die Bäume. Das
*) L. L. Woodruff, Dreitausend und dreihundert Gene-
rationen von Paramaeciiim ohne Konjugation oder künstliche
Reizung. — Biolog. Centralbl., Bd. 33, 1913, p. 34 — 36.
^) R. P. Lowe, Sorae notes and observations on a Guan
{Orlalis orlula). The Ibis. 1913. vol. I. p. 283 — 301.
Baumnisten dieser Vögel darf, wie Lowe ausführ-
lich darlegt, nicht als ein Rückfall in frühere Ge-
wohnheiten betrachtet werden. Vielmehr erblickt
er in dem Verhalten der jungen Tiere einen un-
vollendet gebliebenen Versuch eines sehr alten
Vogchypus, zur rein terrestrischen Lebensweise
der phylogenetisch jüngeren Hühnergattungen über-
zugehen. Zur Stütze seiner Theorie zieht Lowe
morphologische und biologische Merkmale heran,
so die F'ärbung des Dunenkleides, die frühzeitige
Entwicklung der Dunenfedern bei gleichzeitiger
Reduktion der äußeren Handschwingen und andere
den Hokkohühnern eigentümliche Merkmale.
Ferd. Müller.
Spätbruten der Ringeltaube. In Eutin (Fürsten-
tum Lübeck) hat R. Biederman n -Imhoof ')
zu wiederholten Malen, so in den Jahren 1910
und 1911 , festgestellt, daß die Ringeltaube (Co-
lumba palumbus L.) im September und bis Mitte
Oktober brütete und Junge aufzog. Als normale
Brutzeit gilt April bis Juni. Alb. Heß, Bern.
Jedem Seereisenden sind die ununterbrochen
dem Schiffe folgenden Vögel bekannt, und
sicher haben besonders die Möven die Auf-
merksamkeit auf sich gezogen, die ohne Flügel-
schlag horizontal gleitend das Schiff auf Windseite
begleiten. Es i.st klar, daß der horizontale Gleit-
flug der Möven nur durch aufwärts strebende Luft-
ströme ermöglicht wird. Der bekannte englische
Ornithologe Bre wster hatte aber aus seinen Be-
obachtungen geschlossen, daß dies nicht immer
der Fall sein könne und der horizontale Gleitflug
deshalb unerklärlich sei, weil an den Beobachtungs-
tagen das Schiff nur von rein horizontalen Wind-
stößen getroffen wurde. Demgegenüber zeigt nun
A. F'orbes'-), daß durch die schnelle Fortbe-
wegung des Schiffes beim Durchschneiden der Luft
und durch die den Schornsteinen entströmende
Hitze vertikal oder diagonal aufsteigende Luftströme
gebildet werden. Der Ausgleich der nach unten
wirkenden Schwerkraft durch diese Luftströme ge-
stattet den Möven das unbewegliche Gleiten in
horizontaler Richtung. F. Müller.
') Ornith. Monatsberichte, 21. Jahrg., 1913, S. 25 — 26.
2) Alex. Korbes, Concerning the flight of Gulls. The
Auk. vol. 30. pag. 359—366.
Bücherbesprechungen.
O. Abel, „Die Tiere der Vor weit". Samm-
lung „Aus Natur und Geisteswelt" Nr. 399.
Teubner-Leipzig, 1914.
Der Inhalt des vorliegenden Heftchens wäre
genauer durch einen Titel „Probleme, Methoden
und Möglichkeiten der Paläontologie" oder der-
gleichen wiedergegeben. Denn vom Leben, der
Entwicklung, dem Aussehen der Fossilien ist nicht
viel die Rede; derartige Darstellungen gibt es
ja aber auch schon im verschiedenartigsten Ge-
wände. Ist so der Titel als etwas irreführend zu
bezeichnen, so ist es doch um so erfreulicher, ein-
mal ein neues wichtiges Thema in gemeinverständ-
licher Weise behandelt zu sehen, dessen Behand-
lung zur richtigen Einschätzung der Paläontologie
und ihres Gegenstandes ganz gewiß notwendig
ist. Was der Verfasser gibt, ist mehr eine persön-
liche Auseinandersetzung mit der Entwicklung der
Paläontologie und den Folgen , die sich daraus
für unsere heutige Stellungnahme zu dieser Wissen-
schaft ergeben.
Die einzelnen Kapitel behandeln : i . Das Quellen ■
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 20
material der Paläozoologie. 2. Die ErschHeßung
vorvvehlicher Tierreste. 3. Die fossilen Tiere im
Volksglauben und in der Sage. 4. Die Phantasten-
zeit der Paläontologie. 5. Die Bahnbrecher der mo-
dernen Paläontologie. 6. Entwicklung, Fortschritt
und Ziele der Paläontologie. Es sind höchst lesens-
werte Zusammenstellungen interessanter Daten,
die uns unter diesen Themen geboten werden.
Mag manches nicht neu sein und hier und da im
Büchlein selbst eine Wiederholung sich einge-
schlichen haben, die einzelnen Kapitel sind doch
gar wohl in sicli abgeschlossen und z. T. recht
lehrreich.
Die Einsicht, daß die Paläontologie der syste-
matischen Erschließung der Fossilreichtümer
der Erde dringend bedarf, will sie ein rechtes Bild
von dem Tier- und Pflanzenleben der Vergangen-
heit bieten, bricht sich neuerdings allenthalben
Bahn und wird hier durch sehr einleuchtende Bei-
spiele gestützt.
Innig zusammengehörig sind Kapitel 3 und 4.
Wie sehr Sage, Aberglaube und Wissenschaft an
der Wurzel ineinander übergehen, ist keineswegs
genügend bekannt. Und wie schwer es selbst
führenden Geistern zuweilen gefallen ist, ihre bloße
Phantasie von der Wirklichkeit zu trennen, welche
Zeiten vergingen, ehe eine ernste Selbstkritik zur
unumgänglichen Mitarbeiterin erhoben wurde, das
kann gar nicht eindringlich genug ausgesprochen
werden. Wer wollte behaupten, daß wir in der
Paläontologie die Phantastenzeit endgültig hinter
uns hätten ! Alles Für-Wahr-Halten ist eben noch
kein Wissen, und eine geschichtliche Betrachtung,
wie sie hier geboten wird, kann nur zu allergrößter
Bescheidenheit auffordern und deshalb sehr heil-
sam sein. Für ,, modern" (vgl. Kap. 5I) hat sich
noch jede Zeit und jede Wissenschaft geiialten
und die näciiste Generation sieht doch wieder
weiter und klarer. \'on bloßen Maßnahmen, wie
der von Abel warm befürworteten und gewiß
erstrebenswerten Trennung der geologischen und
paläontologischen Leiirstühle das Heil erwarten
zu wollen, erscheint gerade in diesem Zusammen-
hange bedenklich. Obendrein ist die Forderung
für „alle Hochschulen" doch wohl etwas extrem.
Die Befürwortung einer Emanzipation von der
(.geologischen Brille" scheint dem Referenten oben-
drein eine Ungerechtigkeit gegen eine treue Hel-
ferin zu enthalten, da ein P'ossil zoologisch und
biologisch nie erschöpft werden kann, sondern der
stratigraphisch-geologische Rahmen zur rechten
Beurteilung unbedingt berücksichtigt werden muß.
Doch kann und soll durch solche Einwände, zu
denen mancher Leser angeregt werden wird, der
Wert des Büchleins als einer sehr ausgesprochenen
und interessanten Stellungnahme des bekannten
Wiener Vertreters der ,,Paläobiologie" nicht herab-
gemindert werden. Vielleicht liegt im Gegenteil
gerade in dieser Anregung zu lebendiger und för-
dernder Diskussion ein besonderer Vorzug des
Bändchens. Besonders beachtenswert ist die re-
signierte Auffassung des biologischen Wertes der
Wirbellosen durch den Autor. Auch da wird
mancher nicht zustimmen wollen. Um so allge-
meiner dürfte die Anerkennung des wissenschaft-
lichen Programms zur Auswertung des fossilen
Wirbeltiermateriales sein.
Wie ein großer Teil des Heftes keineswegs
allein für ein weiteres Publikum, sondern auch für
engere F'achkreise bestimmt zu sein scheint, so
richtet sich auch die Aufforderung, die Populari-
sierung der Paläontologie nicht Unberufenen zu
überlassen, die paläontologische „Schundliteratur"
zu bekämpfen, unmittelbar an die F"achgenossen.
Der Bilderschmuck darf nicht vergessen werden :
Die Auswahl der Illustrationen ist sehr sorgsam
geschehen und das Ergebnis recht instruktiv, denn
es findet sich mit voller Absicht gar manches
Bild eingestreut, wie es nicht sein soll !
E. Hennig.
Handbuch der mikroskopischen Technik,
herausgegeben von der Redaktion des „Mikro-
kosmos". Apparate und Arbeitsmethoden der
Bakteriologie. Bd. I: Aligemeine Vorschriften,
Flinrichtung der Arbeitsräume, Kulturverfahrcn,
Färbeverfahren, Bestimmungstabellen. Von Dr.
Adolf Reitz. Stuttgart 191 4, Geschäftsstelle des
„Mikrokosmos", Frankh'sche Verlagshandlung. —
Geb. 3 Mk.
Das Heft stellt eine ganz brauchbare Anleitung
zum bakteriologischen Arbeiten dar, insbesondere
sind die allgemeinen Vorschriften sowie die Dar-
stellung der Apparatur und des Arbeitsplatzes
recht gut. Weniger einverstanden würde man
schon mit der Beschreibung der Nährsubstrate
sein. So ist die ja für gewöhnlich notwendige
Neutralisation der Brühe und des Agars vergessen,
eine 45 Min. dauernde t^rhitzung der Nährgelatine
würde wohl nur in den seltensten Fällen zur ab-
solut sicheren Sterilisation ausreichen, weshalb
nur 0,3 — O,^"!^ Traubenzucker genommen werden
soll, ist nicht einzusehen, doch ist das nicht be-
langreich. Was dann die Auswahl der Methoden
und der Beobachtungsobjekte anbelangt, so wäre
dem Zweck des Buches entsprechend die Berück-
sichtigung der pathogenen Bakterien entbehrlich,
dafür müßten aber mehr andere ,, gewöhnliche"
Formen herangezogen werden und namentlich
müßte, was ich für sehr wesentlich halte, irgendwo
einmal angegeben werden, wie man sich denn
überhaupt Untersuchungsmaterial beschaft't. Dann
fehlt ganz die wichtige Anleitung zur mikro-
skopischen Beobachtung der lebenden Bakterien
und ihrer Entwicklungszustände, die gerade für
den Interessentenkreis von großer Bedeutung ist.
Ob die Tabelle zur Bakterienbestimmung not-
wendig ist, kann bezweifelt werden, man würde da
viel besser eine genaue Beschreibung einiger
häufiger Bakterien anschließen, wobei immer an-
gegeben werden sollte, wie man sich das Material
beschaffen kann und wo es vorkommt. Man
würde also zusammenfassend sagen können, daß
das Heft wohl recht brauchbar als Nachschlage-
N. F. Xm. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
?>^9
buch für solche sein würde, die schon eine all-
gemeine bakteriologische Vorbildung haben, da-
gegen für solche, die aus Freude an mikrobiolo-
gischen Arbeiten sich auch den interessanten
Bakterien zuwenden wollen, weniger geeignet
sein würde. Für diese wäre auch eine Be-
schränkung auf recht einfache aber zuverlässige
Hilfsmittel wünschenswert gewesen. Miehe.
Jahrbuch der Deutschen Mikrologischen Ge-
sellschaft. V.Jahrgang 1913. Inhalt: Prof Dr.
A. Wagner, Die Gesichtspunkte der modernen
Pflanzenanatomie. Prof. Dr. L. Lämmermayr,
Einführung in die Elemente der physiologischen
Pflanzenanatomie. Mit lo Abb. Praktische
Winke f. pflanzenanatom. Untersuchungen.
Mit I Abb. M. Gamgera, Fortschritte a. d. Ge-
biet mikroskop. Hilfsapparate. Mit 1 1 Abb.
München 1914, Verlag der Deutsch, mikrolog.
Gesellschaft E. V. L. — 60 Mk.
Das Heftchen ist nicht übel geeignet als hand-
licher kurzer Begleit er bei botanisch-mikroskopischen
Übungen. Inwieweit freilich der etwas anspruchs-
volle Untertitel: ,,P~ortschritte der mikroskopischen
Technik und Erkenntnis" gerechtfertigt ist, ist
eine andere Sache. Auch Wagners (nicht ge-
rade kritischer) Aufsatz über den „verblüffenden"
I''ortschritt von de Bary bis Haberlandt scheint
entbehrlich. Der praktische Abschnitt von Lämmer-
mayr ist aber für den belehrungsuchenden Laien
durchaus zu empfehlen. Miehe.
Johannsen, Prof Dr. W., Elemente der exak-
ten Erblichkeitslehre. Zweite deutsche,
neubearbeitete und sehr erweiterte Ausgabe in
30 Vorlesungen. Mit 33 Abb. im Text. Jena
191 3, G. frischer. — Geb. 16 Mk.
Das Hauptziel und der Hauptwert des ganz
ausgezeichneten Johan nse n'schen Buches, das
nach verhältnismäßig sehr kurzer Zeit bereits in
der 2. Auflage vorliegt, besteht in der Darstellung
der auf dem Gebiete der exakten, d. h. nicht
spekulativ, sondern experimentell vorgehenden
Vererbungslehre anzuwendenden Methodik, und
damit in der Erziehung zu kritischer Arbeit und
kritischem Urteil auf diesem bis in die Gegenwart
hinein leider, insbesondere von der Mehrzahl der
sog. Praktiker, aber auch von Theoretikern vor-
zugsweise spekulativ angebauten Gebiete. Überall
ist somit auf die rechnerische Analyse von Be-
obachtungsreihen , Kreuzungsexperimenten usw.
das größte Gewicht gelegt, überall sind instruktive
Schulbeispiele herangezogen, Tabellen angeführt
und Formeln entwickelt. Indem dadurch die zu-
sammenhängende Darstellung der Erblichkeitslehre
immerfort unterbrochen wird, ja indem geradezu
auf eine solche leicht faßliche lehrbuchartige Dar-
stellung verzichtet wird, ist die Lektüre des Buches
nicht leicht und erfordert die größte Hingabe des
Lesers. Um so größer ist aber der Gewinn und
wir können jedem, der nicht eine „Einführung",
wohl aber eine kritische Darstellung der l'unda-
menle der Vererbungslehre zu haben wünscht,
kein anderes Buch mehr empfehlen als das
Johannsen 'sehe. Insbesondere seien auch die
Zoologen auf sein sorgsames Studium hingewiesen,
weil sie manchen der hier vertretenen Anschau-
ungen aus historischen Gründen \'oreingenommen
gegenüberstehen , sowie allen den Züchtern resp.
denen , welche Zuchtlehre ex cathedra zu lehren
haben, soweit sie den Wunsch haben, sich über
prinzipielle Dinge klar zu werden.
Der immer wieder angeschlagene Grundton
des ganzen Buches ist die scharfe Scheidung der
realisierten Erscheinungen und des eigentlichen
Substrates der Erblichkeitsvorgänge oder nach
der Ausdrucksweise des Verfassers des „Phäno-
t\'pus" und des ,,Genotypus". Nach einer auch
methodisch sehr ausführlich geschilderten Dar-
stellung der alten, in Galton kulminierenden Ver-
erbungslehre, die an der Außenseite gegebener
Massen von Individuen angreift , geht der Autor
zu der modernen über, die darauf ausgeht, durch
exakte Nachkommenprüfungen das zu präzisieren,
was in einzelnen Individuen der „ruhende Pol in
der Erscheinungen P'lucht" ist, d. h. die Elemente
der genotypischen Konstitution zu ergründen. Er
geht da zunächst von seinen eigenen seinerzeit
bahnbrechenden Untersuchungen über die Erblich-
keit in Populationen und in „reinen Linien" aus
(deren Fortsetzung übrigens, wie Verf hier mit-
teilt, neuerdings eine merkwürdige Anomalie er-
geben haben), betont die Ohnmacht der Selektion
und legt seine Nomenklatur fest. Dabei sei gleich
hier erwähnt, daß er im Gegensatz zu seiner in
der ersten Auflage vertretenen Auffassung den
strengen Parallelismus zwischen den ,, Genen" und
den sichtbaren Eigenschaften zugunsten einer
anderen Konzeption fallen läßt, nach der die Ge-
sanitwirkung des Erbplasmas und die Variabilität
seiner Funktion infolge der Entfaltungsbedingungen
betont wird. Energisch weist er jedoch die Potenz-
variabilität der Gene zurück. Es folgt dann eine
ausführliche Behandlung des Korrelationsproblems,
darauf eine eingehende Auseinandersetzung mit
den Anhängern der Lehre von der Erblichkeit
erworbener Eigenschaften, die mit wirksamen
Argumenten bekämpft wird. Mendelismus und
Mutationstheorie werden in 5 weiteren Vorlesungen
behandelt und im 30. und letzten Kapitel in
aphoristischer Form Rückblicke, Anwendung der
Erblichkeitslehre auf den Menschen, Rassenhygiene
und allgemeine Erörterungen über Evolution ge-
geben. Wertvoll ist auch die Zusammenstellung
der Formeln und Zeichen am Schluß sowie der
für die exakte Erblichkeitslehre grundlegenden
Literatur.
Die Schreibweise ist sehr ausdrucksvoll, oft
geistreich und amüsant. Es würde aber gewiß
der originellen Sprache gar keinen Abbruch tun,
wenn bei der nächsten Auflage, die sicher nicht
lange auf sich warten lassen wird, einige schmerz-
hafte Stilwidrigkeiten (so der Komparativ mit
320
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 20
„mehr") ausgemerzt würden. Abbildungen fehlen
abgesehen von Kurvenbildern ganz (absichtlich?).
Miehe.
Literatur.
Röseler, Prof. Dr. Paul und Lamprecht, Oberlehrer
Hans, Handbuch für biologische Übungen. Zoologischer Teil.
Mit 467 Textfig. Berlin '14, J. Springer. — Geb. 28,60 Mk.
Schmidlin, Prof. Dr. Julius, Das Triphenylmethyl.
Bd. VI der ,, Chemie in Einzeldarstellungen". Mit 23 Fig.
im Text. Stuttgart '14, Ferd. Enke. — Geb. 8,80 Mk.
Planck, Prof. Dr. Max, Neue Bahnen der physikalischen
Erkenntnis. Rede, gehalten beim Antritt des Rektorats der
Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin am 15. Oktober IQI4.
Leipzig '14, Joh. Ambr. Barth. — t Mk.
Procter, Prof. R. H., Taschenbuch für Gerbereichemiker
und Lederfabrikanten. Kurze Anleitung zu analytischen Ar-
beilen. Aus dem Englischen übersetzt und unter Mitwirkung
des Verfassers bearbeitet von Ing.-Chem. Josef Jettmar. Dres-
den und Leipzig '14, Th. Steinkopff. — 5 Mk.
Dr. Doiiarius (Joh. Ed. Böttcher"), .Mle Jahreskalender
auf einem Blatt. Leipzig '14, B. G. Teubner. — 30 Pf.
Neger, Prof. Dr. F'. W. , Die Laubhölzer. Kurzgcfaßle
Beschreibung der in Mitteleuropa einheimischen Bäume und
Sträucher, sowie der wichtigeren in Gärten gezogenen Laub-
holzpflanzen. Mit 74 Texlabbild, und 6 Tabellen. Sammlung
Guschen '14. — 90 Pf.
Rothe, Prof. Dr. R., Darstellende Geometrie des Ge-
ländes. Mit 82 Figuren im Text. Leipzig. Berlin '14, B. G.
Teubner. — 80 Pf.
Poincare, Henri, Wissenschaft und Methode. Autori-
sierte deutsche Ausgabe mit erläuternden .Anmerkungen von
F. u. L. Lindeniann. Bd. XVll von ,, Wissenschalt und Hypo-
these". Leipzig-Berlin '14, B. G. Teubner. — Geb. 5 Mk.
Swart, Dr. Nikolas, Die Stoffwanderung in ablcbendcn
Blättern. Mit 5 Tafeln. Jena '14, G. Fischer. — 6 Mk.
Haenlein, Prof. Dr. F. H., Das .Mter der Erde. Fest-
vortrag, geh. am 7. Dez. 1913 anläßlich der Feier des 50jäh-
rigen Bestehens des Naturw. Vereins zu Freiberg i. S. Frei-
berg i. S. '14, Graz u. Gerlach (Joh. Stettner). — 80 Pf.
Himmel und Erde. Volksausgabc. Lieferung 3. Berlin-
München - Wien. .MIgemeine Verlagsgesellschaft (_i. m. b. H.
60 Pf, (Vollständig in 40 Lieferungen zum Gcsamipreisc von
24 Mk.)
Anregungen und Antworten.
Herrn Dr. S. in B. Gibt es eine Arbeit, die in elemen-
tarer Weise die mechanische Erklärung der elektrischen Er-
scheinungen behandelt? Auf diese Frage ist es nicht ganz
leicht, zu antworten, da der Begrifl" ,, elementar" nicht ganz
eindeutig ist. Wenn man sich spez'ell über Elektronentheorie
in Metallen orientieren will, so mag man mit Nutzen die
beiden Bändchen von J. J. Thomson ,, Elektrizität und Ma-
terie" (Sammlung Wissenschaft, Heft 3] und ,, Korpuskulartheorie
der Materie" (Heft 25) zu Rate ziehen, die recht leicht ver-
ständlich und sehr interessant geschrieben sind. Etwas all-
gemeiner und einfacher sind gehallen die Bändchen von
Righi ,,Die moderne Theorie der physikalischen Erscheinun-
gen (Radioaktivität, Ionen, Elektronen)", deutsch von Dessau
(Barth, Leipzig 190S) und ,,Die Bewegung der Ionen bei der
elektrischen Entladung", deutsch von Iklc (Barth, Leipzig
1907). Sehr einfach sind die „Leichtfaßlichen Vorlesungen
über Elektrizität und Licht" von Ja u mann (Barth, 1901),
sie werden aber vielleicht zu wenig das gerade enthalten, was
gewünscht wird. Wenn der Herr Dr. S. sich überhaupt über
die neueren Forschungen auf dem Gebiete der Elektrizität
unterrichten will, so kann ihm sehr warm das leicht faßliche
Buch von Kalähne ,, Die neueren Forschungen auf dem Ge-
biete der Elektrizität und ihre Anwendungen", in dem auch
ein Abschnitt über Elektronen enthalten ist, empfohlen werden
(Quelle & Meyer, Leipzig 1908). Vielleicht ist auch ein Hin-
weis auf den Aufsatz von Mecklenburg, Naturw. Wochen-
schrift Bd. Vlll und IX, 1909 und 1910 „Die experimentelle
Grundlegung der .\tomistik", welcher als Sonderabdruck käuf-
lich ist (Falscher, Jena 1910), angebracht. V.
Herrn Dr. H. in Üibeon, Dtsch.-S.-W.-Afrika. — Afrika
nische Stachelschweine. — Sie machen Mitteilung von
der
Verwundung eines Negers .am Knie durch einen Stachel, den
nach der Aussage des Erkrankten ein Stachelschwein auf ihn
abgeschossen haben soll und fragen, ob dies überhaupt mög-
lich ist. Schon Plinius erzäült, daß das Stachelschwein
seine Stacheln durch eine Spannung der Haut fortschleudern
könne und der römische Dichter O p p i a n schildert dies nach
Brehm mit folgenden Worten: ,,Die Stachelschweine sehen
erschrecklich aus und sind die allergefährlichsten Tiere. Wer-
den sie verfolgt, so fliehen sie mit Windesschnelle, nicht aber,
ohne zu kämpfen; denn sie schießen ihre todbringenden
Stacheln gerade hinter sich gegen den Feind " Auch der
Dichter Claudian erwähnt in einem Gedicht diese Fähigkeit
und warnt ausdrücklich vor zu großer Annäherung an die
kampfeslustigen Tiere. Wie Sie selbst mitteilen und wie ich
in Deutsch - Ostafrika von Negern erfahren habe , wird in
Afrika den Stachelschweinen die erwähnte Schießfertigkeit
ausdrücklich zugeschrieben, auch Bauern aus der römischen
Campagna erzählen unglaublich klingende Geschichten hier-
über und Satuni n berichtet von den Bewohnern des Kau-
kasus dasselbe. Es ist nur auffällig, daß die Tiere ihre
furchtbaren Waffen niemals gegen Menschen richten, deren
Aussagen jederzeit nachzuprüfen sind. Ich habe seit drei
Jahren über Slachelschweine gearbeitet, habe häufig die nicht
immer eindruckslose Bekanntschaft mit den in unseren Zoolo.
gischen Gärten befindlichen Exemplaren gemacht, aber noch
niemals ein ,, .Abschießen" von Stacheln bemerkt. .Auch die
Wärter der Tiere verneinten jede dahingehende Beobachtung.
Anatomisch-physiologisch würde eine Erklärung des willkür-
lichen Fortschleuderns der Stacheln gleichfalls auf Schwierig-
keiten stoßen. Denn die Stacheln sind anatomisch nichts
anderes als außerordentlich stark verhornte Haare, und von
willkürlich erfolgendem Haarausfall hat man bisher noch nichts
gehört. Die .Stachelschweine sind überhaupt recht harmlose
Geschöpfe, die angegriffen alle Stacheln des Körpers sträuben,
mit den Hinterfüßen auf den Boden stampfen und mit den
hohlen Schwanzslacheln ein rasselndes Geräusch erzeugen.
Bei diesen heftigen Körper- und Schwanzbewegungen fallen
häufig Stacheln aus, die wohl die Veranlassung zu der Er-
zählung vom .Abschießen der Stacheln gegeben haben.
Übrigens kommt in Süd- und Ostafrika nicht, wie Sie
schreiben, Hystrix cristata vor, sondern eine durch den
Schädelbau ganz von dieser nordafrikanischen verschiedene
Art, Hystrix afyicae-atistralis. Ferd. Müller.
Berichtigung. Das in Nr. 14 besprochene Buch von
Fl as kam per (Die Wissenschaft vom Leben) kostet geh.
nicht 6 Mk., sondern 4,50 Mk.
Onhaltn Heineke: Über die biologische Wirkung der Radiumstrahlen, insbesondere über die Strahlenbehandlung von
bösartigen Geschwülsten. F. Heide: Neuere Meteoritenfunde in Europa. Küchler: Die Spalteneruption der Hekla
vom Jahre 1913. — Einzelberichte: Hirß-Elia Osowski: Die Beweglichkeit von Körperzellen. Wood: Eine
einfache Methode zur Erzeugung einer sehr intensiven Natriumflamme. Woodruff; Kopulation bei Protozoen. Lowe;
Biologie der Hokkohühner. B i e d e r m a nn - 1 m h o o f ; Spätbruten der Ringeltaube. Forbes: Der horizontale Gleit-
flug der Möven. — Bücherbesprechungen: O. Abel: Die Tiere der Vorwelt. Handbuch der mikroskopischen Tech-
nik. Jahrbuch der Deutschen Mikrologischen Gesellschaft. Johannsen; Elemente der exakten Erblichkeitslehre.
— Literatur ; Liste. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstrafie IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Fulge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band,
Sonntag, den 24. Mai 1914.
Nummer 31.
Eine Kritik der Leistunnen der „Elberfelder denkenden Pferde'
Von Prof. Dr. Christoph Schröder, Berlin.
[Nachdruck verboten.]
Der Gegenstand dieser Darlegungen ist in der
„Naturw. Wochenschrift" bereits berührt worden
(namentlich von den Herren Prof. Dr. H. v. B u 1 1 e I -
Reepen, „Meine Erfahrungen mit den denkenden
Pferden", 1913 S. 241,245 und 257/263; Prof. Dr.
L. Plate, „Beobachtungen an den denkenden
Elberfelder Pferden des Herrn K. Krall", 1913
S. 263/268). Mich hatte s. Zt. gerade der von
ersterem hervorgehobene Erfolg mit 4 „unwissent-
lichen" Aufgaben veranlaßt, der Frage näher zu
treten.
Als erstes Ergebnis dieser Studien habe ich
in der „Natur" (Heft 23, Jahrg. 1913, S. 543 — 548)
einen Beitrag „Zum Geheimnis der Elberfelder
denkenden Pferde" veröffentlicht, dem die genann-
ten Autoren an gleicher Stelle (S. 548 — 550) einige
„Anmerkungen" haben folgen lassen, denen ich im
Hefte 14 (Jahrg. 1914) derselben Zeitschrift erwiderte.
Von der „Deutsch. Naturw. Ges." in eine Kommission
zur Nachprüfung der Leistungen der Pferde designiert,
habe ich mich bemüht, zunächst die vorliegende
Literatur in monatelanger, ob der oft ausgesproche-
nen Kritiklosigkeit ihres Inhaltes recht wenig be-
friedigender Arbeit sorgfältig zu vergleichen.
Der Juwelier K. Krall zu Elberfeld , be-
kanntlich der Besitzer jener Pferde, hatte
zwar zunächst grundsätzlich zugesagt, die Tätig-
keit der übrigens aus Zweiflern und Gläubigen
„gemischten" Kommission zuzulassen und zu
fördern. Er ist aber nicht um Vorwände verlegen
gewesen, ihren Arbeitsbeginn immer wieder hin-
auszuschieben, bis ihn die Zähigkeit ihrer Ersucher
zu dem Bekenntnis veranlaßle, sie glatt abzu-
lehnen. Die Leistungen seien bereits hinreichend
nachgeprüft. K. Krall scheint hierin leider von
Anhängern wissenschaftlichen Namens — ich be-
tone, nicht den oben genannten Autoren — unter-
stützt zu sein , die fürchten mochten , von einer
solchen planmäßigen, nüchternen Untersuchung
eine Erhöhung ihres Ansehens nicht zu erfahren.
Eine betreffende Aufklärung scheint daher,
wenigstens einstweilen, nicht mehr zu erwarten.
Ich möchte daher glauben, daß es auch für wei-
tere Kreise nicht ohne Interesse sei zu erfahren,
was eine kritische Durcharbeitung der
Literatur dem obj ektive n Urteil zu leh-
ren geeignet ist.
Ich sehe klar genug, um zu wissen, daß wir
uns nur des Strebens nach (Objektivität der For-
schung rühmen sollten. Dieses Bestreben wird
— hoft'e ich — die folgende Ausführung nirgend
vermissen lassen, auch dort nicht, wo mich die
Bedeutung des Gegenstandes zu einer freimütigen
Aussprache nötigt.
Ich bitte, allein aus Rücksicht auf den
verfügbaren Raum, mich wesentlich auf
die rechnerischen Leistungen derPferde
in dieser Kritik beschränken zu dürfen.
Wie ist Herr K. Krall, Juwelier in Elberfeld,
zu der aufsehenerregenden Entdeckung des Denk-
vermögens der Pferde gekommen ? Er war s. Zt.
„von Anfang an dem Verlaufe der Angelegenheit
gefolgt, soweit dies aus Zeitungsberichten möglich
war" ('' S. 3); der Angelegenheit nämlich, wie
sie die bekannten Unterrichtserfolge des Herrn
W. von Osten zu Berlin mit seinem „Klugen
Hans" bildeten. ,, Gewichtige Umstände, die von
scharfen Beobachtern, namentlich von erfahrenen
Pferdekennern, berichtet wurden", erachtete K.
Krall als mit dem Urteile der W isse nsch af t-
lichen Kommission , .durchaus im Wider-
spruch stehend". Er machte sich daher im Mai
1905, als der „Kluge Hans" schon vergessen war,
mit W. von Osten persönlich bekannt, führte
sich in dessen Methoden und Ideen ein, suchte
diese auszubauen und pflegte die Beziehungen bis
zu dessen Tode im Juni 1909. Der ,, Kluge Hans"
fiel dann an K. Krall als Erbteil. Aber schon am
1. November 1908 waren bei ihm 2 Pferde, Hengste
arabischer Abstammung, Muhamed und Zarif,
ersterer 2- und letzterer 2 '/.i -jährig, eingetroffen,
mit denen K. Krall versuchen wollte, ,,in das
schier undurchdringliche Gebiet der Tierseele
weiter vorzudringen" (''S. 8). Diese Genesis
seiner tierpsjchologischen Versuche
aus vorgefaßter Meinung erklärt be-
reits zu einem wesentlichen Teile die
Möglichkeit der grotesken Irrungen
über die Bedeutung des Erreichten und zugleich
über das Wesen der Tierseele.
Die Tiere sind zuvörderst, wie es so bei
Menschenkindern üblich ist, im Lesen und Rechnen
unterrichtet worden. Ich gebe in Rücksicht auf den
Raum nur die Anfangsdaten des „zeitlichen Ver-
laufes des Rechenunterrichts" für Muhamed
('S. 447 u. f.; die Einer werden mit dem rechten,
die Zehner mit dem linken Fuß geklopft): i. No-
vember 1908 (s. o.) Eintreffen der Pferde. —
2. Nov. „Übungen im Zählen am Rechenknecht,
mit Paiiptäfelchen und Kegeln : die Zahlen i und 2."
— 3. Nov. „Die Zahlen 3 und o (Bewegung links-
rechts)". — 5. Nov. „Lesenler n en von Zahl-
Wörtern [auf Papptafeln. Verf.] eins zwei drei
(in Verbindung mit der entsprechenden Anzahl
322
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 21
von Kegeln)". — 6. Nov. „M(iihamedj zählt tem-
peramentvoller als Z(arif). Beide Pferde wissen,
daß sie zu scharren haben, wenn etwa der Befehl
erfolgt: ,Zähle drei'. Es wird Wert auf eine
schwungvolle Art des Tretens gelegt. _Die^ah\_j.
Hingehen und Berühren der Zahltafeln |j_| |^| |j_|.
— 8. Nov. ,,Von links nach rechts liegt Rot an
der wievielten Stelle?" — 9. Nov. „M. gibt beim
Zählen mehrfach richtige Antworten". — 14. Nov.
„M. zählt bis zur Zahl 4 richtig. Er lernt darauf
das Zählen bis zur Zahl 10, sowie Zuzählen, Ab-
ziehen, Malnehmen und Ausrechnen gemischter
Aufgaben" (mehr als 2 Summanden, Addition,
Subtraktion, Multiplikation zu einer Aufgabe \er-
eint, z. B. 2 + 3 — I, 2X2+3- Verf.). — 1 7. Nov.
„M. Erklärung der Zehner (Ausführung mit dem
linken Fuß): ,Die Zehner setzen sich aus Einern
zusammen'. Nach einer halben Stunde hat M. die
Zähhveise begriffen und führte einige neue Auf-
gaben richtig aus, z. B.
20
-I-40
32
13
(an die
Tafel geschrieben. Verf). M. Malnehmen mit der
I
X 3
nach
Zahl 3. Er führt Aufgaben -wie
Igarzer Unterweisung richtig aus; desgleichen
IS X 3 + 2I l? X 3 +"41- Erklärung, daß 4>3
^3X4 'St. Kopfrechnen: einfache Zuzählauf-
gaben. — 18. Nov. M. Teilen: Aufgaben ohne
Rest. Nach kurzer Unterweisung, die durch Bei-
spiele - wie die beiden nebenstehenden
4X2 = 8
8:2 =
4X3= i;
12:3= -ergänzt wird, rechnet M. folgende
(neue) Aufgaben richtig aus: 8:4; 8:8; 12:6;
6 : 3 usw. Zuzählaufgaben mit mehreren zwei-
stelligen Zahlen, z. B.
r (d. h. richtig ge-
löst. Verf.) 67". — 19. Nov. „Spielkarten: Zählen
der Augen. Deutsche Reichsmünzen." — 20. Nov.
„Die Hunderter (Ausführung mit dem rechten
Fuß)." — 21. Nov. „M. Brüche: Erläuterung an
Papierstreifen. Zähler , Bruchstrich , Nenner,
l^-j-^ -|- I _|- I = ||." — 24. Nov. M. Malnehmen
mit der Zahl 6." — 25. Nov. „M. Malnehmen mit
der Zahl O." — 27. Nov. „Zählen mit verbundenen
Augen. Rechenaufgaben mit gedruckten Zahl-
eins plus zehn
I + 10
Wörtern (zum Lesenlernen) :
2. Dez. ,,M. Bruchrechnen (mit verschiebbaren
Holzklötzen)." — 3. Dez. „M. beantwortet bei der
Wiederholung einfache Aufgaben richtig, z. B. :
II
,Ein Ganzes hat wieviel Halbe.-' |-^
+ f
\l+i= A-" — ^3- Dez. „M. macht gute Fort-
schritte im Bruchrechnen." — 14. Dez. „M. Mal-
nehmen; Aufgaben mit gedruckten Zahlwörtern
multipliziere zwei mit drei . Er fängt an, seine
I //. Hafer 2 .4
Regel de tri: 3 „ „ ? „ (//.-, .Ä-, „-Zeichenl
Verf). Zahlwörter, sowie einfache Aufgaben in
französischer Sprache (mündlich und schriftlich),
zunächst in Verbindungr mit den entsurechenden
un et deux deux fois deux
Ziffern: 1+2 2X2 ." — 21. Dez.
„M. zählt verschiedene Zahlen richtig, die ihm in
französischer Sprache genannt werden: un, trois,
quatre, dix." — 28. Dez. „M. Lesenlernen deut-
scher und französischer Zahlwörter :
zehn und zwei
dix et deux
— 30. Dez. ,,M. Vorübung für das Rechnen einer
(? = o!
unbekannten Zahl:
2X5
.0 +
10
10
Verf.)
h'ehler selbst zu verbessern." — i6. Dez. „M.
2 ,-, 6^12
10+ ^12 . Nach kurzer Unterweisung gibt
er (bei neuen Aufgaben) die fehlende Zahl richtig
an." C S. 447— 450).
Usf. Denn der Raum gestattet leider nicht,
den Unterrichtsverlauf weiter zu verfolgen; so be-
deutsam gerade die Kenntnis desselben für die
kritische Prüfung seines Ergebnisses auch ist. Die
wiedergegebenen Monate November/Dezember
werden — denke ich — genügen. „Die Dauer
der gesamten Unterweisung betrug für jedes
Pferd ungefähr i"., — 2 Stunden täglich" ( ^' S. I02);
,,je eine Stunde vormittags und eine nachmittags
oder abends" ( '' S. 89). „Nach einem Jahre
mußte K. Krall sich ,,auf eine Stunde täglicher
Unterweisung für jedes Pferd beschränken" ( '' S. 89
und 90). „Bei der Vielseitigkeit des Lehrstoffes
konnte selbstverständlich von einer regelmäßi-
gen Wiederholung des Durchgenommenen keine
Rede sein" (''S. 447).
In diesen nicht selten überhaupt
oder durch gänzlich andersartigen
Lehrstoff unterbrochenen, kurzen 2
Monaten von durchschnittlich höch-
stens V2 — Vi Stunde täglich soll Muha-
med gelernt haben: das Verständnis
des Zahlenkreises bis in die Hunderte
hinein, die 4 Grundrechnungsarten
wenigstens im ersten Hundert, die Ele-
mente der Bruchrechnung, Regeldetri,
Vorübung für das Berechnen einer Un-
bekannten; das alles nach Wortlaut
bzw. als Ziffern oder Zahlwörter — in
deutscher, auch französischer Sprache
— angeschrieben.
K. Krall hat sich offenkundig bemüht, die
Methoden des menschlichen Unterrichts zu be-
nutzen. Was pflegt ein Menschenkind von
6 Jahren demgegenüber zu begreifen? Das
I.Schuljahr mutet ihm die Grundrechnungsarten
I — 20, das 2. innerhalb der Zahlen I — 100, das
dritte in größeren Zahlen, das 4. in mehrfach oder
ungleichbenannten Zahlen (Münzen, Gewichte,
Regeldetri) zu; usf
Man zögere nicht, die ganze überwältigende
N. F. XIII. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
.123
Armseligkeit unserer über Jahrtausende geschul-
ten Unterrichtserfolge mit dem zu vergleichen,
was K. Krall 's schulmeisterliche Fähigkeiten
aus seinem Muhanied in spärlichen Wochen schufen !
Vielleicht aber hat der Lehrmeister der Pädagogik
neue Bahnen gewiesen? Wohl ist die Darstellung
des Unterrichtsweges in den dürftigen Protokollen
allgemein sorgfältig gefeilt; trotzdem aber be-
gegnet man nicht ein mal verein zeit Lehr-
proben, die nur erstauntes Kopfschüt-
teln, bzw. herzhafte Heiterkeit auszu-
lösen vermögen. (^'S. 116): „Das Bruchrechnen
brachte ich (K. Krall. Verf.j ihnen bei, indem
ich einen Papierstreifen in zwei, vier, acht
gleiche Teile zerschnitt und diese erläuternder-
weise wieder zu einem Viertel , einem Halben
und einem Ganzen zusammenfügte; des weiteren
auch, indem ich an geteilten Stäben die Halben,
Drittel, Viertel usw. veranschaulichte". Wieviel
saure Kinderplage könnte unser L^nterricht er-
sparen, wieviel spielfreie Zeit könnte er gewinnen,
vermöchte er so bequem, so schnell dasselbe Ziel
zu erreichen ! Oder S. 450 (s. Auszug) : „M. Vor-
übung für das Rechnen mit einer unbekannten Zahl:
2 X, 5 ^
10 — =
10 2X6 = 12
10 , 10 -|- = 12 . Nach kurzer
Unterweisung gibt er (bei neuen Aufgaben) die
fehlende Zahl richtig an." Diese Zusammenstel-
lung z. B. von 2-5=iomitiO — x^io, um
die Berechnung der Unbekannten zu erklären, be-
deutet m. E. völligen Unsinn. Wenn die Pferde
das Rechnen mit einer Unbekannten nach dieser
„Unterweisung" betätigt haben, so konnten sie es
eben schon vorher; und ich wundere mich nur,
daß sie durch solchen ,, Unterricht" nicht irre ge-
worden sind ! Oder die Tafel „zur Erläuterung
der Zehner" (am 17. Nov.! Verf)
0 I
23456789
10
II
12 13 14 15 16 17 18 19
20
21
22 23 24 25 26 27 28 29
3c
31
32 33 34 35 36
40
41
42 43 44
50
60
70
80
90
Wahrhaftig, K. Krall hat auch hier versucht,
seine Pferde die schwierigsten, wunder-
lichsten Unt errich ts wege zu führen,
wenigstens im Vergleich zu der minderwerten
menschlichen Auffassungsgabe !
Derartige — kritisch gesprochen — gänzlich
unwahrscheinliche Unterrichtserfolee mit einer
jochgewohnten Kreatur könnten uns nur zu leicht
derart von einer Überraschung in die nächste
größere stürzen, daß wir versäumen möchten zu
prüfen, was bisher die anatomisch-
physiologischen Untersuchungen zu-
nächst der Sinnesorgane des Pferdes
ergeben hatten. K. Krall unterrichtet durch
das Wort und Tafelschrift bzw. Schriftdruck; er be-
ansprucht also das Gehör und Gesicht des Pferdes.
Es ist daher, bei der rein anthropomorphen Unter-
richtsweise, unbedingt vorerst zu fragen, welcher
Art die betreffenden Reiz- und Wahrnehmungs-
vorgänge sein dürften. Stef. von Maday
('^' S. 26) faßt das Urteil dahin zusammen, daß
„das Gehör des Pferdes dem menschlichen insofern
überlegen sei, als es viel leisere Geräusche wahr-
zunehmen vermöge als wir, daß es andererseits
auch hinter unserem Gehör zurückbleibe, indem
das Pferd Worte und musikalische Töne nur in
geringem Grade unterscheiden könne.
Bezüglich des Gesichtssinnes derselbe Autor
(S. 15): „Der Gesichtssinn des Pferdes steht dem
des ;\Ienschen im allgemeinen nach;, besonders die
genauen Konturen und die Details der Körper,
dann die in größerer Entfernung liegenden Gegen-
stände sind es, die vom Pferde nicht unterschieden
werden. Diese Schwachsichtigkeit ist ein Haupt-
grund für das häufige Scheuen des Pferdes. . . . Die
Ansicht, welcher zufolge das Pferdeauge nicht
bloß im Vergleiche mit dem Auge des Menschen,
sondern auch absolut genommen, d. h. was seine
Brauchbarkeit betrifft, als ein minderwertiges
Organ zu betrachten ist, kann durch eine Anzahl
von Beobachtungen gestützt werden." So kommt
der Astigmatismus, eine Sehstörung, bei welcher
die Gegenstände verzogen und an den Rändern
verschwommen, ohne scharfe Grenzen gesehen
werden, neben anderen Ursachen derselben Er-
scheinung häufiger vor. Blinden Pferden begegnet
man zu Hunderten; und das blinde Wagenpferd
verrichtet seine Arbeit so gut wie das sehende.
Der Mangel seines Gesichtssinnes verrät sich kaum
im Benehmen des Pferdes; usf. (nach-' S. 17/18).
Diese Tatsachen erweisen, daß das Verhalten des
Pferdes allgemein durch seine übrigen Sinne be-
stimmt wird.
Andererseits aber ist das Pferdeauge dem mensch-
lichen außer durch die günstigere Stellung, die sie
fast den ganzen Horizont auf einmal übersehen
läßt, insofern überlegen, alses in seinernäheren
Umgebung die minimalsten Bewegun-
gen wahrzunehmen imstande ist. Sei es
— nach R.Berlin — infolge eigentümlicher Krüm-
mungs- und Lichtbrechungsverhältnisse seiner Ele-
mente, welche kleinste Bewegungen verhältnis-
mäßig größer erscheinen lassen würden. Sei es
— nach Oskar Pfungst — wegen der im Ver-
gleich zur menschlichen 3 mal größeren Ausdehnung
der Netzhaut bei feinerer Struktur der Stäbchen
und Zapfen, welche das Sehen vermitteln. Nehmen
wir an, daß durch die Ausbreitung des Reizes
von einer bestimmten Sehzelle auf die benachbarte
die Empfindung eines bewegten Lichtpunktes er-
zeugt werde, so versteht sich auch hiernach, daß das
Pferd nochsolchekleinsten Bewegungen vonObjekten
bemerken wird, welche unsere derber organisierte
Netzhaut nicht zu fassen vermag (nach -' S. 18).
Demgegenüber „ist nach übereinstimmender
Aussage der meisten Pferdekenner der Geruchs-
324
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 21
sinn der wichtigste Sinn des Pferdes" ( -' S. 32).
Es darf jedoch innerhalb dieser Darlegungen von
einer Erörterung der Frage abgesehen werden,
wie weit dieser Sinn etwa beim Apportieren von
Tafeln usw. beteiligt sein l<önnte. Die gänzlich
anthropomorphe Unterrichtsmethode K. Krall's
würde dem Riechvermögen ohnedem keinen An-
teil an einem Erfolge gewähren. Wenn nun so
auch die Möglichkeit vorliegt, daß das Pferd auf
dem Wege durch das Ohr zu Vorstellungen und
Assoziationen solcher gelange, bleibt es höchst
unwahrscheinlich, daß das Auge solche
ruhenden Lettern, gedruckt oder ge-
schrieben, vermitteln werde. Es sollen
aber selbst Photographien u. a. unterschieden, er-
kannt werden. Vielleicht wäre es denkbar, daß
die durch die Handführung (an der Tafel) ent-
stehenden Schriftzeichen von dem Pferde schärfer
wahrgenommen werden. Die Unterrichtsmethode
K. Krall's arbeitet aber gerade auch mit ruhen-
den Lettern; seine Unterrichtserfolge ver-
fallen daher von Anbeginn wiederum einem hohen
Grade von Unwahrscheinlichkeit.
Seine L^nterrichtserfolge im Rechnen, welche
in der Fähigkeit des Radizierens von 2., 3., auch 4.
und selbst 5. Wurzeln gipfeln ! Man würde nun
einen grundsätzlichen Irrtum begehen, wollte man
— um die Kritik einstweilen auf diese rechnerische
Höchstleistung zu beschränken — etwa auf Grund
einzelner Protokolle aimehmen, die Pferde hätten
solche Aufgaben in beliebiger Mannigfaltigkeit ge-
löst. Ich könnte hiergegen eine ganze Zahl
von gleichen Wurzelaufgaben anführen,
die sich beiden verschiedenstenGästen
wiederholt haben. Teils zeitlich zusammen-
fallend: F. Hern pel mann (vom 14. März 1912)
yig36 := r. 44 (Zarif) und (vom 15. März) f. 43 r.
44 (Muhamed) wie L. Plate {*' vom 5., 10. und
II. März 1912) f. 23, f. II, r. 44 (Muhamed) und
ebenfalls O te Kloot C*' vom März 1912) r. 44.
Oder: L. Plate l'ii56 = f. 32, r. 34 (Muhamed)
wie Hartkopf (vom 3. März 1912; zitiert nach
O. t e K 1 o o t , S. 28) ^r. 34 (Muhamed). Oder :
F. Hempelmann 115876 = r. 126 (Muhamed)
wie A. Ritter (vom 27. März 1912, zitiert nach
O. te Kloot, S. 41) } 15876 — } 12769 = (126—
113) r. 13. Usf.
Andere übereinstimmende Aufgaben liegen
i, - -
auch zeitlich mehr auseinander; so yi7850625 bei
H. V. Buttel-Reepen ("^ vom Dezember
1912) mit f. 56, f. 66, f. 75, bei L. Plate
(^' im März 1913) mit f. 45, r. 65. Die Aufgaben-
sammlung ist hiernach recht beschränkten Um-
fanges. Und die betreffenden Leistungen der
Pferde sprechen wiederum nicht gerade für einen
Denkakt; denn auf dieser Grundlage ließe sich
die Mannigfaltigkeit solcher Aufgaben ohne jede
Einschränkung lösen. Wenn möglich, noch weni-
ger die rechnerisch gänzlich sinnlosen Folgen der
3,
Antworten; z. B. (nach L. Plate) y32768=:ff.
18, 8, 7, 38, 45, 34, 8, 44, schließlich r. 32. Auch
nicht die Tatsache, daß die Pferde nach j eder
Aufgabe, sie mag schwer oder leicht
sein, augenblicklich zu klopfen be-
ginnen.
Man wäre wohl schon berechtigt zu fragen,
weshalb sich denn die Wissenschaft nach solchen
Feststellungen überhaupt noch mit diesen „denken-
den" Pferden beschäftige. Da sind aber die „un-
wissentlichen Aufgaben", d. h. solche, die
weder K. Krall noch der Prüfende zuvor gekannt
halten. H. v. Buttel-Reepen verzeichnet ( "',
S. 258) deren 4, die ihm von Prof. Krause in
versiegelten Umschlägen zugleich mit ihren ge-
trennt versiegelten Lösungen gegeben waren.
Die Aufgabe wurde erst vor ihrer Niederschrift
an die Tafel entnommen, die bezügliche Lösung
erst am Guckloch hinter der Stalltüre. Ich muß
nochmals gestehen, daß mir gerade dieser Teil des
Berichtes H. v. B u 1 1 e 1 - R e e p e n ' s, den ich
als kritischen Beobachter schätze, Anlaß ge-
worden ist, mich näher mit dem Problem der
„denkenden Pferde" zu beschäftigen. Es sind die
Aufgaben: V3364 = f. 32 f. 44 f. f. r. 58; yi2i67
:= f . 33, f. r. 23 (undeutlich) r. 23; }'4096 = f. 36
f. 74 f. 46 f. 46 r. 64; 16241 = vielmals f.
Schon ehe ich weitere Protokolle hierzu durch-
gearbeitet halte, mußte ich {'' S. 239) aus den
Antwortreihen der gelösten Aufgaben schließen,
daß diese den Pferden nicht das erste Mal vorgelegt
waren. Das leitete mich damals zu der von
H. v. Buttel-Reepen berichtigten Annahme,
daß Herr Prof. Krause auch früher bereits
solche Aufgaben verfaßt und sich wiederholt
habe. Dies war zwar nicht der Fall. Meine
Voraussage hat aber dennoch insoweit eine
glänzende Bestätigung gefunden, als ich
2 jener 3 Aufgaben als zuvor „durchge-
nommen" nachzuweisen vermag. P. Sara-
3
sin *) nennt als Aufgabe vom i.Juni I9i2:yi2i67
mit f. 13 r. 23 ; H. v. B u 1 1 e 1 - R e e p e n 's Besuch
datiert vom 17. — 19. Dez. 1912! Beide Aufgaben
beziehen sich auf Leistungen Muhameds. Und nach
dem handschriftlichen Protokoll F. H e m p e 1 -
m a n n's (S. 3) war eine der aus K. Krall's
Aufgabensammlung (!) an Zarif gestellten Aufgaben:
] 4096 = r. 64 ; dieses Protokoll datiert vom 1 5. März
1912! Nach derartigen Erfahrungen lassen sich,
von anderen Einwänden gegen sie ganz abgesehen,
auch solche Aufgaben nicht mehr dafür zitieren,
daß die vorhandenen richtigen Lösungen etwa
gerade von den Pferden ausgerechnet worden sein
mußten.
L. Plate möchte dies jedoch ( ^' S. 264/5)
aus einer Statistik dartun. Er ordnet die
beobachteten Leistungen z. B. Muhamed's in leichte,
schwere und sehr schwere Aufgabenantworten.
Die I. Gruppe von 29 Aufgaben verzeichnete nach
ihm 13 (44,82 "/o) sofort richtig gegebene Lösungen
gegen 4 (13,8%) völlige „Versager"; die 2. Gruppe
N. F XIII. Nr. 2 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
325
mit 34 Aufgaben 14 (41,17 7o) gegen 11 (32,35 "/ol
Versager; die 3. Gruppe von 20 sehr schweren
Aufgaben 2 (10%) gegen 4 ('207,,) Versager.
Dieses mathematische Gewand könnte über den
Wert seines Inhaltes täuschen. Ich habe mich
deshalb die Mühe einer Nachprüfung auf genau
rrleichcr Grundlage an dem von F. Hempel-
niann gewonnenen Antwortenmaterial Muha-
med's nicht verdrießen lassen. Dieser nennt
neben wenigen unter die i. der obigen
Gruppen zu weisenden 29 Rechenaufgaben der
2. und 18 Aufgaben der 3. Gruppe, also fast die-
selbe Anzahl, welche L. Plate die Grundlage
seiner Statistik geliefert hat. Ich finde unter den
29 .Aufgaben der 2. Gruppe: 7 sofort und i sofort
„mit Einhilfe" richtig gegebene Lösungen , 8
nach Fehlschlägen richtige nebst i sodann mit
„Einhilfe" richtigen, 2 später (inmitten folgender
Fragen) richtige, 9 gänzlich versagte Antworten.
Ich verzeichne für die 3. Gruppe: 4 sofort
richtige und 2 mit ,, Einhilfe" richtige, 7 nach
Fehlschlägen richtige, 3 später richtige Ant-
worten und nur i, die einzig in einer anderen
richtigen Antwort zutreffend enthalten war ! Hier-
mit ist der Unwert der L. Plate'schen
Statistik vollkommen erwiesen. Aber
selbst, wenn sie sich bestätigt hätte, würde sie in
Rücksicht auf die noch folgenden t^inwände nur
eine Parallelitä t zwischen menschlicher
Leistung und jener der Pferde dartun,
keineswegs „nur die Erklärung zulassen, daß
es sich bei den Pferden (d. h. eben bei diesen
und nicht etwa bei K. Krall! Verf) um Ver-
standcsoperationen handelt, welche um so öfter un-
richtig ausfallen, je schwieriger die gestellten Auf-
gaben sind" (■*' S. 265). Übrigens würde der
ganze statistische Bau schon über die stetig wieder
berichtete Eigenart der Pferde stürzen, daß sie
in spontaner „Unlust", wie es heißt, gerade b e i
den leichtesten Aufgaben nicht selten
versagen.
Auch II. E. Ziegler, einer der erklärtesten
Anhänger K. Krall's, versucht") vergebens, in
das Gebiet der Mathematik zu flüchten,
tlr wendet sich gegen gewisse statistische Nach-
weise von Gegnern; ich muß mich getroffen er-
klären, ohne genannt zu sein. Ich würde aber
den Rahmen dieser Ausführungen weit überschreiten,
wollte ich an der ganzen Folge von Unrichtig-
keiten hier Kritik üben. Ich treffe auch den Inhalt
des Irrtums zu einem wesentlichsten Teile,
wenn ich die Prüfung auf H. Fl Ziegler 's Worte
beschränke: „Wenn ich einem Kinde 10 gleich-
artige Divisionsaufgaben stelle, wobei jeweils eine
zweistellige Zahl herauskommt, und es werden nur
ein oder zwei Aufgaben richtig gelöst, so ist da-
mit schon bewiesen, daß das Kind das Divisions-
verfahren verstanden hat, denn sonst hätte es keine
einzige Aufgabe lösen können."
Vollkommen unrichtig, besonders auch im vor-
liegenden Falle. Die mathematische Wahr-
scheinlichkeit ist gleich einem Bruche, dessen
Zähler gleich ist der Anzahl der günstigen Fälle,
dessen Nenner der Zahl der möglichen Fälle gleich-
kommt. Zur Gewißheit (,, bewiesen") wird die
Wahrscheinlichkeit nur dann, wenn jeder mögliche
Fall günstig, der Bruch gleich i ist. Variationen
von 10 Elementen zur 2. Klasse mit Wiederholung
gibt es rein mathematisch 100 Komplexionen, hier
verwertbar 90 (es entfallen 00, Ol bis 09). Für
jede einzelne der 10 Aufgaben gibt es eine einzige
richtige Lösung. Die Wahrscheinlichkeit, eine
der Aufgaben mit zweistelligem Ergebnis in diesem
richtig zu erraten, wird daher gleich . Werden
^ ^90
aber 10 Aufgaben gestellt und soll dieVerschiedenheit
bestimmt werden, daß eine dieser voneinander unab-
hängigen Aufgaben zutreffend im Ergebnis erraten
werde, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit damit auf
denSummenwert der ioBrüche;sie ist daher = .
90 9
Das Eintreffen ist also immer noch unwahrscheinlich.
Nun scheint aber H. E. Ziegler dabei gänz-
lich zu übersehen, daß die Lösungstreffer
meist erst nach einer ganzen Reihe von
F"ehlschlägen erzielt worden sind. So zählt
L. Plate (*', S. 265) unter den 20 sehr schweren
(d. h. Wurzel-Aufgaben) 2 sofort, 4 nicht richtig
beantwortete ; d. h. 70 "/o derart nach Fehlschlägen
gefundene Lösungen. Es wäre für die genauere
weitere Bestimmung der fraglichen Wahrsclieinlich-
kcit notwendig, statistisch nachzuweisen, wie groß
durchschnittlich die Zahl der E'ehlschläge bzw.
E^inhilfen gewesen ist. Leider reichen dazu die
Protokolle schlecht aus; mit Ausdrücken „Viel-
mals f ', „Nach vieler Mühe" ist nichts anzufangen.
Wenn ich z. B. nur die 9 betreffenden Wurzel-
aufgaben bei L. Plate in Betracht ziehe, deren
eine Ergebnisfolge (für y32768) lautet: 18, 8, 7,
38, 45. 34, 8, 44, endlich r. 32), so begegne ich
23 Fehlantworten vor den 9 richtigen, d. h. je
2 ; im ganzen 3 Antworten zu jeder Aufgabe.
9' " -^9 '
Doch müssen auch die oft erheblich längeren
Reihen von Fehlschlägen der ungelöst gebliebenen
Aufgaben berücksichtigt werden, welche die durch-
schnittliche Zahl der Antworten auf sicher nicht
weniger als 4 erhöhen dürfte. Es ist aber ganz
selbstverständlich, daß sich die Wahrscheinlichkeit
proportional der Zahl der Antworten erhöht. Sie
• -1 lo 40 j4i
würde im obigen Beispiele von aut -^1
'^ ' 90 90 \ 9/
steigen.
Nunmehr eine andere bedeutungsvolle E'est-
stellung. Bisher ist vorausgesetzt worden, daß die
10 Ziffern o bis 9 in den zweistelligen Ergebnis-
komplexionen uneingeschränkt gleichmäßig auf-
treten. Alles andere als das! Schon '' S. 546 habe
ich hervorheben müssen, daß die Ziffern eine
sehr weitgehende Auswahl erleiden.
So fanden sich unter den betreffenden 13 r. Lö-
sungen der H. v. Büttel -R eep en sehen bzw.
326
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 21
L. riate'schen VVurzelaufgaben, also 26 Ziffern,
die Ziffer 3 viermal, 4 siebenmal, 5 viermal, 6 fünfmal.
F. Hempelmann äußert sich hier/Ai ( '"' S. 233):
Unter den 354 als Antwort auf Rechenaufgaben ge-
tretenen Ziffern „waren nur 7 Achten und nur 2
Neunen . . . Allerdings betont schon K. Krall,
daß die Hengste diese beiden Zahlen nur ungern
treten, und er bittet, bei etwa selbst gestellten
Aufgaben das Resultat so einzurichten, daß keine
8 oder 9 darin vorkommt". Oder K. Krall selbst
( '', S. III): „Eigentümlicherweise gaben sie im
Anfang des Rechenunterrichts die Zahl i fast nie
richtig an, sondern statt dessen 2 oder 3"; wie
auch (S. 362): „Da Hans (das W. v. Osten 'sehe
Pferd. Verf ) sich schon widerspenstig zeigte, wenn
er bei Zähl- oder Rechenaufgaben mehr als 6 zu
treten hatte, wollte ich ihm das , langweilige'
Klopfen ersparen".
In dieser Erscheinung liegt zunächst alles
andere denn ein Moment, geeignet, zu-
gunsten des Denkvermögens gerade der
Pferde zu sprechen. Sie erklärt sich sehr
einfach, wenn man sich dessen erinnert, daß das
Scharren jene Ausdrucksbewegung des
Pferdes ist, „die am meisten bekannt ist und
auch vielen Zirkuskünsten als Grundlage dient":
,,Das wiederholte Heben und Senken des Vorder-
fußes, das als Stampfen, Klopfen, Bodenkratzen
bezeichnet wird" ("', S. 145). „Wiederholt"!
Das bedeutet die angeborene Gepflogenheit der
Pferde, innerhalb etwa der Zahlen 3 — 6 zu „klopfen".
Und K. Krall dachte seine Pferde zu ,, unterrichten",
während er sich wiederum nur zum .Sklaven der
Instinkte der Tiere machte.
(Schluß folgt.)
Nene Vakniiiiiröliroii für Deiiioiistratioiis-
zAveeke und tt'clmische Aerweiidiiiig.
Von I'rivaldozent Dr. H. Greinacher.
Mit S Textfiguren.
[Nachdruck verboten.]
Serienentladungsröhren. Ikvor wir
auf die Beschreibung der sog. Serienentladungs-
röhren eingehen wollen , sei zunächst an die
Funktionsweise des Hörnerblitzableiters erinnert.
Zwei Drähte sind hier hörnerartig um-
gebogen (Fig. I) und so montiert, daß
sie einander unten in einem .'\bstand
von wenigen Millimetern gegenüber-
stehen. Wird auf irgendeine Art ein
Lichtbogen an der engsten Stelle ge-
zündet, so wandert dieser selbsttätig
nach oben und erreicht
an den Hörnern schließ- ,-^^b?x
lieh eine solche Länge,
daß er auslöscht. Wie
in einer früheren Ar-
beit ') gezeigt wurde,
beruht das Wandern
tischen Wirkung des Stroms in den Zuleitungs-
drähten.
Verbindet man die Horner statt mit einer
Batterie mit den Polen eines Induktoriums, so
erhält man statt eines Lichtbogens eine sog. Bogen-
cntladung. Die Stromstärke ist bei dieser Art
Entladung viel geringer. Man erhält zwar eben-
falls ein \\'andern des Bogens, die Bewegung
findet jedoch viel lang.<;amer statt und ist zum
größten Teil der nach oben treibenden Wirktini?
Fis- .•^.
Fig. 4-
des Lichtbogens fast ausschließhch auf der magne- der warmen Luft zuzuschreiben. Da einlnduktorium
die nötige P^ntladungsspannung liefert, so zündet
■) Verhandlungen der Ueutsch. Physika!. Ges. 15, 123, 1913. hier die Entladung von selbst an der engsten
N. F. XIII. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Stelle, steigt mit mäßiger Schnelligkeit bis zu den
Hörnern hinauf, löscht hier, um von neuem an
der engsten Stelle einzusetzen.
Besonders interessant wird die Erscheinung,
wenn man die Hörner unter eine Glasglocke setzt,
die man evakuiren kann. Bereits fertige Demon-
strationsröhren für solche Versuche liefert die
Glasinstrumentenfabrik Emil G u n d e 1 a c h in Gehl-
berg (Thüringen) (Fig. 2). Man verbindet den
Hahnansatz etwa mit einer Wasserstrahlpumpe
und beobachtet die wandernden Lichtbogenent-
ladungen, indem man allmählich zu steigender
Luftverdünnung übergeht. Während man bei
Atmosphärendruck das Bild eines gewöhnlichen
Lichtbogens hat, verändert sich die I"'arbe mit
abnehmendem Druck zunächst in rotgelb und
schließlich ganz in rot, wobei zugleich an den
Drähten blaues Glimmlicht erscheint. Zugleich
enthüllt die Bogenentladuiig immer mehr ihren
diskontinuierlichen Charakter.
Besonders schön ist das Experiment, wenn
man das Indukiorium bezw. einen Hochspannungs-
transformator mit Wechselstrom z. B. von 50 Peri-
oden speist. Dann löst sich der Lichtbogen in
lauter Einzelcntladungen auf, die abwechselnd an
den beiden Drähten ansetzen und lebhaft in die
Höhe steigen. Oben löscht die Erscheinung und
beginnt alsobald wieder unten. Obwohl ein Auf-
stieg nicht länger dauert als etwa eine halbe
Sekunde, ist es gelungen, einzelne Aufstiegsperioden
direkt zu photographieren. Fig. 3 gibt eine solche
Aufnahme wieder, die bei einem Druck von un-
gefähr 7 cm Quecksilber gemacht wurde. Man
sieht sehr deutlich die Ansatzstellen des negativen
Glimmlichts und die langen Zacken der anodischen
Entladung. In Wirklichkeit ist die Erscheinung
infolge der roten und blauen harben und bei
dem lebhaften Spiel der Einzelentladungen über-
aus ansprechend.
Eine weitere Photographie ist in Fig. 4 wieder-
gegeben. Hier wurde das Induktorium mit
Gleichstrom und Wehneltunterbrecher betrieben.
Wie man sieht, befinden sich alle anodischen
Streifen am einen, alle Glimmlichtpunkte am
anderen Draht. Auch hier ist die Auflösung in die
Einzelentladungen trotz der höheren Frequenz der
Unterbrechungen noch sehr deutlich.
Das Aussehen der beschriebenen Erscheinungen
variiert übrigens etwas mit dem Gasdruck. Um
eine gute Auflösung in die Plinzelentladungen zu
bekommen, ist es zweckmäßig, den Druck nicht
zu weit zu erniedrigen. Die Firma Gundelach
liefert auch solche fertige Röhren, die passend
dimensioniert und evakuiert sind (Fig. 5). Zu
Demonstrationszwecken werden diese Röhren mit
verschiedenen Gasfüllungen (Stickstoft', Kohlen-
säure, Helium usw.) versehen. Zu beachten bleibt
bei Verwendung der Röhre Fig. 2, daß sich aus
der Luft durch die Bogenentladungen NO.,- Dämpfe
bilden. Die Stickoxydbildung ist sehr deutlich an
der Gelbfärbung des Gasinhalts zu ersehen. Da-
mit die Kupferdrähte nicht angefressen werden,
ist nach Beendigung der Versuche eine Erneuerung
des Luftinhalts zu empfehlen. Die Serienentladungs-
röhren können zu den verschiedensten praktischen
Aufgaben Verwendung finden:
1. Sie lassen den Stromcharakter feststellen
(Wechselstrom, kontinuierlicher bezw. intermittie-
render Gleichstrom). Jede Deformation des
Wechselstromes, z. B. durch Ventilzellen, läßt
sich an der Serienenlladungsröhre erkennen. Diese
stellt also im Prinzip einen selbsttätigen Oszillo-
graphen dar.
2. Die Röhren geben ein Bild von der Funk-
tionsweise von Gleichstromunterbrechern. Da
überdies starke Schließungsströme leicht erkenn-
bar sind, so sind sie ohne weiterem zur Prüfung
des Stromes von Röntgeninduktorien geeignet.
Will man etwa die Unterbrechungszahl selbst
bestimmen, so photographiert man eine Aufstiegs-
periode und zählt die vorhandenen Partialentladuii-
gen. Bestimmt man noch die Zeit einer Auf-
stiegsperiode so gibt der Quotient die gesuchte
Unterbrechungszahl.
3. Kleine Zeiten lassen sich
ebenfalls mit der Röhre bestim-
men. Der Zeitunterschied zwi-
schen zwei Zacken bei Wechcl-
strom von 50 Perioden ist ^/jfK,
Sekunde. Will man nun beispiels-
weise die Expositionsdauer eines
photographischen Momentver-
t'g- 5-
Fig. 6.
Schlusses prüfen, so beobachtet man etwa das
Bild der Serienentladungen auf der Mattscheibe.
Sieht man während des P'unktionierens des Ver-
schlusses z. B. 6 Zacken, so beträgt die Exposi-
tionszeit 0,06 Sekunden.
Glühlamp en rö hren. Eine weitere Er-
scheinung, die ebenfalls bei der Entladung im
luftverdünnten Raum auftritt und sich sowohl zur
Demonstration als zu technischer Verwendung
eignet, ist die Erwärmung der negativen Elektrode.
Wie bereits Wiedemann und Ebert gezeigt
haben, kann sich ein Platindraht, der als Kathode
in einer Geißlerröhre verwendet wird, so weit
erwärmen, daß er zur Weißglut kommt. Pis ge-
nügt, auch schon bei Atmosphärendruck zwischen
zwei Platindrähten I-'unkenentladungen übergehen
zu lassen, um ein lebhaftes Aufglühen des nega-
tiven Drahtes zu beobachten. Die starke Er-
wärmung der Kathode hängt damit zusammen,
328
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 21
daß der Entladungswiderstand fast ausschließlich
an der Kathode liegt. Während das Anodenge-
fälle im allgemeinen nur 20 — 30 Volt beträgt, hat
das Kathodengefälle, das zwischen der Kathode
und der Grenze des blauen Glimm.lichts herrscht,
Werte von mehreren hundert Volt. Die positiven
Ionen, welche auf die Kathode aufprallen, erhalten
daher im Kathodengefälle eine solche Energie, daß
sie die Kathode lebhaft erwärmen. Im allge-
meinen ist diese Erscheinung allerdings sehr wenig
erwünscht (z. B. beiRönlgenröhrcn, Spcklralröhrcn).
Sie kann jedoch zu einem sehr schönen Demon-
strationsversuch verwendet werden. In Fig. 6 ist
eine fertige Demonstrationsröhre wiedergegeben,
wie sie ebenfalls von der Firma G u n d e 1 a c h
hergestellt wird. Zwei Kohlcfaden- oder Metall-
faden-Glühlampen sind durch eine Glasröhre zu
einer einzigen Vakuumröhre vereinigt. Der Kaum
ist bis auf wenige mm Ilg luftleer gemacht.
Jeder der beiden Glühlampcnfäden wird mit den
Polen eines Induktors verbunden, so daß Entladungen
von der einen Glühlampe zur anderen übergehen.
Zugleich wird man bei genügend kräftigem Pri-
i-ig.
märstrom des Induktors beobachten, wie die
kathodische Glühlampe zu lirennen beginnt, wäh-
rend die anodische Lampe vollständig dunkel
bleibt. Man kann die negative Glühlampe leicht
so hell brennen machen, wie bei dem üblichen
Gebrauch.
Da die Entladungsspannung nicht übermäßig
hoch ist, so kann man den Induktor auch einfach
mit gewöhnlichem Wechselstrom speisen und den
transformierten Sekundärstrom anlegen. In diesem
Fall leuchten dann beide Glühlampen. Will man
das unipulare Bild haben, so hat man nur eine
Ventilröhre einzuschalten. Die Glühlampenröhre
ist namentlich im Hinblick auf die farbenprächtigen
Lumineszenzeffekte, welche das Aufleuchten der
(ilühlampen begleiten, ein vorzügliches Demonstra-
tionsobjekt. Die Röhre darf allerdings nicht sehr
andauernd beansprucht werden, denn mit den Ent-
ladungen zugleich findet eine merkliche Zerstäubung
der Glühfäden statt (Kathodenzerstäubung). Die
Glaswand wird daher nach längerem Gebrauch
schwarz und der Glühfaden bricht. Da die Lampe
dabei weiterbrennt, so kann die Demoiistrations-
röhre immerhin so lange gebraucht werden, bis
der Faden vollständig aufgezehrt ist. Schließlich
ist auch eine Neubeschaffung der Röhre bei dem
niedrigen Preis derselben keine große Sache.
Die Ka t h od e n gl ü hl am p e. Die Richtung,
in welcher eine praktische Verwendung der be-
schriebenen Erscheinung zu suchen ist, liegt nun
nahe. Pralls es möglich ist, die Demonstralions-
röhre derart umzuändern, daß eine Zerstäubung
der Kathode vermieden wird und die Helligkeit
der glühenden Elektrode eine genügende ist, so
muß sich eine brauchbare Licht(|uelle nach dem
Prinzip der Kathodenerwärmung lierstellen lassen.
Die Kathodenzerstäubung ist nun im allgemeinen
um so geringer, je kleiner das .'\tomgewicht des
betreffenden Materials ist. Aber selbst bei einem
so leichten Material wie die Kohle ist die Zer-
stäubung noch sehr lebhaft.
Ich habe nun versucht, ob vielleicht Materialien
geeignet sind, die
erst bei höheren
Temperaturen zu
P^lcktrizitätsleitern
werden. Besonders
einfach schien mir
ein Versuch unter
Verwendung von
Nernststiften als
PHcktroden. Und
in der Tat hat es
sich gezeigt, daß
man unter Verwen-
dung dieser Maße
eine Glühlampe
von hinreichender
Dauerhaftigkeit her-
stellen kann. Die
Konstruktion , die
ich ausgeführt habe,
wird in h'ig. 7 im Schnitt wiedergegeben.
Eine Glaskugel von 14 cm Durchmesser be-
sitzt zwei diametral gegenüberliegende Ansatz-
röhren R, wobei die eine den Ansatz
Pumpe trägt. Zwei dickwandige Röhren
billigem Ouarzgut ragen in die Kugel
Die Weite der Quarzröhren beträgt etwa
An den Enden sind die Ouarzröhren
jungt, daß gerade zwei Nernststifte
A zur
Q aus
hinein,
mm.
so weit ver-
S hindurch-
gesteckt werden können. Die Stromzuleitung zu
den Nernststiften befindet sich noch innerhalb der
Ouarzröhren. Um der Zuleitung festen Halt zu
geben, sind sie an den Stellen K eingekittet. Die
Lampe ist bis auf wenige mm Hg ausgepumpt.
Die zum Betrieb nötige Wcchselspannung von
etwa 1000 Volt wird an die Platinösen der Röhren
R angelegt. Im Anfang setzt blaue Glimment-
ladung an der Basis der Stifte S ein. Diese
schreitet rasch bis zur Spitze vor, so daß die
N. F. XIII. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
329
Stifte ganz von blauem Glimmlicht umgeben sind.
Zugleich erwärmen sich die Stifte von der Basis
her. Infolgedessen steigt die Stromstärke, bis die
Stifte auf heller Weißglut sind. Dieses Anbrennen
der Lampe dauert nur wenige Sekunden. Eine
Photographie der breiuienden Lampe gibt Mg. 8.
Man sieht die Enden der Ouarzröhren, aus denen
die leuchtenden Stifte herausragen. Ferner beob-
achtet man die radial von den Stiften ausgehende
Glimmentladung, die hier bis an die Glaswand
reicht.
Fig. 8.
Das Vorwärmen der Stifte besorgt hier, wie
ersichtlich, die anfänglich bereits einsetzende Glimm-
entladung. Die neue Lampe hat also gegenüber
der gewöhnlichen Nernstlampe den Vorteil, daß
sie nicht besonders vorgewärmt zu werden braucht.
Zu bemerken ist, daß eine Entladung von den Zu-
leitungsdrähten außen um die Quarzröhren herum
durch die Glaskugel nicht stattfindet. Der Raum
zwischen den Ouarzröhren O und den Ansatzröhren
R braucht dabei gar nicht besonders abgedichtet
zu sein.
Die neue Lampe laßt sich also in einfachster
Weise herstellen. Man braucht auch keine Hoch-
vakuumpumpe. Es ist sogar zweckmäßig, wenn
man das Vakuum nicht zu weit treibt. Das blaue
Glimmlicht und damit auch Kathodenstrahlen
würden sonst die Glaswand erreichen, wodurch
letztere bedeutend heißer würde bei derselben
Helligkeit der Stifte. Dies würde aber einen grö-
ßeren Energieverbrauch der Lampe bedeuten. Bei
passend gewähltem Vakuum erwärmt sich das
Glas nur so weit, daß man es noch anfassen kann.
Da man die Temperatur der Nernststifte ziemlich
hoch treiben kann, so ist die Lichtausbeute sehr
bedeutend. Immerhin konnte mit der so kon-
struierten Probelampe noch keine Wirtschaftlich-
keit erzielt werden, die eine unmittelbare tech-
nische Verwendung zuließe, doch ist bei tech-
nischer Vervollkommnung der Lampe eine erfolg-
reiche Konkurrenz mit den bestehenden Systemen
zu erwarten. Der Verbrauch der Lampe ergab
90 Watt (820 Volt 0,11 Ampere). Die Hellig-
keit der Lampe war dabei mindestens die einer
50 kerzigen Glüiilampe.
Was für die definitive Kon.->truktion einer Glüh-
lampe nach dem Prinzip der Kathodenerwärmung
in Betracht kommt, sind etwa folgende Punkte.
Es müssen Versuche gemacht werden über die
Abhängigkeit des Wattverbrauchs vom Grad der
Luftverdünnung, ferner über den Einfluß verschie-
dener Gase, über die geeignetste Form und das
zweckmäßigste Material der Elektroden. Es wird
vor allem auch von Interesse sein, ob man durch
passendeWahldieserFaktoren die Betriebsspannung
so weit heruntersetzen kann, daß die Lampe an
demselben Netz wie die gewöhnlichen Glühlampen
brennen. Man wird diese Möglichkeit um so eher
ins Auge fassen dürfen, als man ja unter geeig-
neten Verhältnissen schon unterhalb hundert Volt
Glimmentladung erzeugen kann (Heliumfüllung und
Kaliumkathode). Immerhin dürfte die Lampe in
der vorliegenden Ausführung zunächst haui)tsäch-
lich für direkten Anschluß an Hochspannungs-
leitungen zu gebrauchen sein.
Einzelberichte.
Bakteriologie. Erbliche Gewöhnung niederer
Organismen an Gifte. Charles Riebet ver-
öffentlicht einen interessanten Bericht über Ver-
suche mit einem Milchsäureferment (es ist nicht
näher bezeichnet), das sich an das Leben in Milch,
der giftige Stoffe zugesetzt waren, gewöhnte. Er
arbeitete zunächst mit Kaliumarseniat. Kuhmilch
wurde mit dem gleichen Volumen destillierten
Wassers verdünnt und durch einige Tropfen Kali-
lösung genau neutralisiert. Diese normale Milch-
flüssigkeit heiße N, eine andere, ebenso herge-
stellte, aber mit einer bestimmten Menge Kalium-
arseniat versetzte werde mit A bezeichnet. Sehr
reines Milchsäureferment wurde nun einige Zeit-
lang auf N kultiviert, indem man es sukzessiv
immer auf neue N-Llüssigkeit überimpfte. Parallel
damit wurde das gleiche Ferment auf A kultiviert
unter sukzessiver Übertragung von A auf A. Nach
einigen Tagen wurde das Ferment N auf je 10 ccm
Milchflüssigkeit übertragen, die in einem Falle
kein Arseniat, im zweiten , im dritten A, im
' 2
vierten 2A Arseniat enthielt; ebenso wurde das
Ferment A viermal auf Milchflüssigkeit von der
gleichen Beschaffenheit gesät. Man konnte so
durch Bestimmung der gebildeten Säure die Ak-
tivitäten dieser beiden Fermente, die gleichen Ur-
sprung hatten, deren eines aber immer auf N,
330
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 21
deren anderes immer auf A gewachsen war, mit-
einander vergleichen. Das Verhältnis der Aziditäts-
ziffer des Fermentes A zur Aziditätsziffer des
P'ermentes N (= loo gesetzt) stellt das Verhält-
nis der funküonellen Aktivität der beiden P^er-
mente dar. Die Säurebestimmung erfolgte durch
Titrieren mit Kalilösung, wobei Phenolphthalein
als Indikator diente. Es ergab sich, daß das
Ferment A in reiner Milch eine geringere Aktivität
hatte als das h'erment N, aber in arsenhaltiger
Flüssigkeit eine höhere Lebenstätigkeit zeigte als
dieses, derart, daß ^ mit steigendem Arsenge-
halt der Kulturflüssigkeit wuchs. Das Ferment A
hatte sich also in den A Flüssigkeiten an das
Kaliumarseniat gewöhnt, so daß es in der mit
diesem Salze versetzten Milch besser gedieh als
das nicht daran gewöhnte Ferment.
Bei Verwendung von Kaliumphospliat, Kalium-
seleniat, Bromkalium, Kaliumnitrat, Thalliumnitrat.
Kupfersulfat, Chlornatrium und auch von Saccha-
rose wurden ganz entsprechende, natürlich in den
Ziffern nicht übereinstimmende Ergebnisse erhal-
ten. Es handelt sich also hier um ein aligemeines
Gesetz. Wenn man die beobachtetei\ Ziffern ver-
einigt und die Mittel der Mittel nimmt ( Ergebnisse
von loooo Säurebestimmungen), so erhält man für
A A
, : Auf reiner Milch 85; auf Milch mit - iio;
N 2 '
auf Milch mit A 150; auf Milch mit 2 A 190.
Das Ferment, das auf A gewachsen ist, hat sich
also von dem Ferment, das auf reiner Milch ge-
wachsen ist, differenziert; es ist gegen die toxi-
sche Wirkung von A widerstandsfähiger geworden.
Die Gewöhnung an die fremde Substanz ist
verschieden je nach deren Natur. Unter den ge-
prüften Verbindungen ist sie am größten beim
Kaliumarseniat. Sie geht hier zuweilen so weit,
daß das an Kaliumarseniat gewöhnte Ferment auf
normaler Milch fast nicht mehr wächst. Die Ge-
wöhnung vollzieht sich sehr schnell ; schon nach
24 stündiger Gärung macht sie sich geltend.
Meistens erreicht sie aber erst nach 4, 5 oder
selbst 8 Stunden ihr Maximum. Bei zu starker
Konzentration der fremden Substanz entwickelt
sich das F"erment gleich schlecht in der toxischen
wie in der normalen Milch. Das an eine fremde
Substanz gewöhnte Ferment nimmt , wenn es in
normale Milch versetzt wird, sehr rasch seine ge-
wöhnlichen Eigenschaften wieder an (meist nach
24 Stunden); eine beständige, an das Gift ange-
paßte Rasse wurde nicht erzielt.
Die Anpassung der lebenden Zelle an ein
abnormes Medium, eine der regelmäßigsten und
eigentümlichsten Erscheinungen der Biologie, voll-
zieht sich nirgends rascher und intersiver als in
diesen Fermentkulturen in vitro, die schon in 24
bis 48 Stunden ihre biologische Reaktion stark
verändern und die Änderung auf ihre Nachkom-
menschaft übertragen. (Comptes rendus de l'Acad.
des Sciences 1914, t. 158, p. 764 — 770.)
F. Moewes.
Physik. Über ein akustisches Verfahren zur
Dichtemessung von Gasen und Flüssigkeiten berich-
tet A. Kai ahne (Danzig-Langfuhr) in den Be-
richten der Deutschen Physikalischen Gesellschaft:
16, Seite 81 — 92 {1914). Schwingt eine Stimm-
gabel in einem flüssigen oder gasförmigen Medium,
so nehmen die benachbarten Teile des Mediums
an der Bewegung teil, so daß die Masse der Gabel
vergrößert und dadurch ihre Frequenz (Zahl der
Schwingungen in der Sekunde) verkleinert wird.
Die auf diese Weise verstimmte Stimmgabel gibt
daher mit einer in Luft tönenden zweiten. Schwe-
bungen, und zwar um so zahlreicher, je mehr die
Dichte des Mediums von der der Luft abweicht.
Aus der Zahl der Schwebungen läßt sich die
Frequenzänderung der Gabel und aus dieser die '
Dichte des Mediums berechnen. Da Stimmgabeln
wegen ihrer großen Masse in ihrer Frequenz nur
unwesentlich durch die Massenvergrößerung be-
einflußt werden, benutzte der Verfasser in seinem
,,Sch wi n g u ngspy knometer für Gase" ein
gut 80 cm langes Aluminiumrohr von 4 cm Außen-
durchmesser und 0,4 mm Wandstärke, das an zwei
je 17 cm von seinen Enden liegenden Punkten 1
(den Knoten) fest eingespannt und in der Mitte 1
angeschlagen wird, so daß es Ouerschwingungen
macht (n ^= 360). Eine gleichgestimmte Stimm-
gabel dient zur Feststellung der Schwebungen,
die auftreten, wenn das Rohr in einem von I.uft
verschiedenen Gase schwingt. Die Fehler der
Methode sind klein für Gase, deren Dichte größer
ist als die der Luft, so daß der .Apparat sich be-
sonders für komprimierte Gase eignet. Kalähne
gibt eine besonders einfach zu handhabende Form
seines Dichtemessers für technische Anwendungen
an (D. R.-P. Nr. 26S353): An dem Aluminiumrohre
sitzt in seinem Schwingungsbauch ein Stück weichen
Eisens, dem die Induktionsspulen eines kleinen
Telephonmagneten gegenüberstehen. Schwingt
das durch den Anschlag eines elektromagnetisch
betätigten Hammers erregte Rohr, so nähert und
entfernt sich das Weicheisenstück periodisch von
den Spulen und erzeugt in ihnen Wechselströme.
Diese werden beliebig weit fortgeleitet und durch
einen kleinen Elektromagneten geschickt, dem
nach Art eines Frequenzmessers für Wechselströme
Stahlzungen von verschiedener (bekannter) Frequenz
gegenübenstehen. Man beobachtet nun einfach,
welche von den Zungen auf den in den Induk-
tionsspulen erzeugten Wechselstrom anspricht (re-
soniertl Ihre Frequenz ist dann ebenso groß wie
die der im zu untersuchenden Gas schwingenden
Aluminiumröhre. Die Vorzüge des Schwingungs-
pyknometers liegen in der Schnelligkeit der Messung j
und in der Möglichkeit, aus der Ferne die Dichte
(auch an unzugänglichen Orten) zu bestimmen.
Ob der Apparat wie die in dieser Zeitschrift schon
beschriebene Schlagwetterpfeife von Haber
auch geeignet ist, den Gehalt der Grubenluft an
brennbaren Gasen anzuzeigen, darüber macht der
Verfasser keine Angaben.
Dr. K. Schutt.
N. F. XIII. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
331
Astronomie. Einen Beitrag zur Physik der
ihrem Wesen nach immer noch unaufgeklärten
Erscheinung des Tierkreislichtes gibt Roß, der
mit seiner Frau in Westaustralien unter sehr
günstigen atmosphärischen Bedingungen dies
Licht beobachtet hat (Brit. Astronom. Ass. Bd. 24,
5, 1914). Er hält es für einen Ring um die
Sonne in der Gegend der Erdbahn, in den diese
nach Art der Teilungen im Saturnsring einen
leeren Raum gerissen hat. Es handelt sich um
die Frage, ob der Ring in der Ebene des Sonnen-
äquators liegt oder der Ekliptik. Nach Veeder
soll der Ring zwiefach gespalten sein, entsprechend
den beiden Zonen der Sonnenflecken. Die Be-
obachtungen von Roß zeigen, daß der Zielpunkt
des Lichtes genau in der Ebene der Ekliptik liegt.
Die Verteilung der Intensität des Zodiakallichtes
aber ist unsymmetrisch zur Ekliptik, der südliche
Teil ist heller und der südliche Rand verwaschener
als der nördliche. Das müßte dann eintreten,
wenn die mittlere Ebene der Teilchen innerhalb
der Erdbahn ein wenig gegen die Ekliptik geneigt
ist. Dies scheint für die Idee von Veeder zu
sprechen. Ferner zeigte sich das Licht in einem
leicht grünlich opalisierenden Schimmer, ganz
anders als das bläulich getönte Licht der Milch-
straße, und übertraf diese wesentlich an Helligkeit.
Riem.
Die von den Herren Müller und Krön
vom astrophysikalischen Observatorium Pots-
dam in Teneriffa angestellten spektralphoto-
metrischen Messungen zur Bestimmung der Aus-
löschung des Lichtes in der Atmosphäre und der
Energieverteilung im Sonnenspektrum haben zu
sehr bemerkenswerten Ergebnissen geführt (Publ.
des astroph. Obs. Potsdam Nr. 64). Während
diese Aufgabe meist mit dem Bolometer bearbeitet
worden ist, kam hier die photometrische Methode
zur Anwendung, um erstens die Beobachtungen
gegenseitig zu kontrollieren , und um zweitens
Ergebnisse unter anderen Umständen zu erhalten.
Um den Einfluß der Luftschicht auszuschalten,
wurde an zwei Stellen, in 1950 und 3260 m Höhe
je eine Beobachtungsreihe gewonnen. Es wurden
1 1 verschiedene Strahlengattungen des sichtbaren
Spektrums benutzt, die mit einer kleinen Metall-
fadenlampe verglichen wurden. Zu den Berg-
stationen kam noch eine nahe am Meere gelegene,
so daß der Einfluß der Luftmasse über dem Be-
obachter genügend berücksichtigt werden konnte.
Die Berechnung der Weite ergibt zunächst das
bemerkenswerte Resultat, daß für die Mitte des
Spektrums, bei Wellenlängen von 0,560 — 0,570
im Gange des Transmissionskoeffizienten eine
Einbiegung zu sehen ist, indem hier die gleich-
mäßige Abnahme der Konstanten einen Stillstand
zeigt. Die Veranlassung dazu ist in der Atmo-
sphäre selber zu suchen, vielleicht in der Bei-
mischung von Ozon oder einem anderen perma-
nenten Gase. Die Werte selber zeigen dann in
auffallender Weise die großen Vorzüge der Höhen-
stationen. Für die Höhenstation von 3260 m ver-
lieren die roten Strahlen bei senkrechtem Durch-
gang durch die Lufthülle nur 4 %, die Strahlen
von der Wellenlänge 0,430 nur 18"/,,, während
für einen niedrig liegenden Ort die gleichen
Werte sind 19 "'(, und 40 •*/„. Die Bestimmung
der Energieverteilung im Sonnenspektrum diente
dann dazu , nach dem Wien' sehen Gesetz die
Temperatur der Sonnenatmosphäre zu bestimmen.
Die unter den verschiedenen Bedingungen erhal-
tenen Werte der drei Stationen ergeben diese
Temperatur zu 6332 Grad, eine Zahl, die in guter
Übereinstimmung ist mit der Zahl, die Kurl-
bäum in Ägypten erhalten hat, die sich auf
6390 Grad stellte. Riem.
Eine Veränderung der Umdrehungszeit des
Mars glaubt Lowe 11 nachgewiesen zu haben,
der in den Bull, de la Soc. astronomique
de France, Band 28 erklärt, daß nach seinen
Beobachtungen der Nullmeridian um 12 Mi-
nuten früher durch die Mitte der Marsscheibe
gehe, wie es die Berechnung angebe. Nun gehört
die Umdrehungszeit des Mars zu den bestbekannten
Konstanten unseres Systems, so daß diese Nach-
richt sehr auffallen muß. Seit 1695 sind auf dem
Mars Flecke beobachtet , und eine ganze Anzahl
Rechner haben 24 Stunden 37 Minuten 22,65 Sek.
als Länge des Marstages abgeleitet. Diese Zahl
soll um wenige hundertstel Sekunden unsicher
sein, so daß der Betrag von 12 Minuten undenk-
bar erscheint. Wie Fla m marlon annimmt,
handelt es sich hierbei ofifenbar um eine Ver-
schiedenheit in dem Aussehen des Meerbusens,
durch den der Nullmeridian gelegt ist. Ofi'enbar
vermögen der Wechsel in den Eisverhältnissen
und in den atmosphärischen Zuständen auf dem
Mars scheinbare Veränderungen der Art herbei-
zuführen, daß die betreffende Bai nicht immer
dieselbe Form hat, so daß man nicht immer den-
selben Punkt als den des Anfangsmeridianes auf-
faßt Riem.
Auffallende Vorgänge auf dem Mars hat
h^ournier beobaciitet und mit Zeichnungen
im Bull, de la Soc. astr. de France Bd. 28
veröffentlicht. Die Gegend Libyen erschien am
II. Oktober 191 1 plötzlich in einem ungewöhn-
lichen Glänze, der den des Schneefleckes übertraf
und ein wenig gelblich aussah. Am Morgen des-
selben Tages war alles normal gewesen. Die
fortgesetzte Beobachtung dieser Gegend zeigte,
daß sich die Stelle dieses Glanzes langsam auf der
Oberfläche des Mars fortbewegte. Sie folgte der
Richtung der Landschaft Hesperia und hatte im
Laufe von 9 Tagen einen Weg von etwa 3500 km
zurückgelegt. Comas Sola in Barcelona hat
Ähnliches an derselben Stelle zu gleicher Zeit be-
obachtet. Später kam dann an einer anderen
Gegend etwas ganz Ähnliches vor. Von dem
südlichen Schneefleck dehnte sich eine gelblich
332
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 21
strahlende Masse auf eine weite Strecke hin aus
und bedeckte in einigen Tagen eine Fläche von
1800 km Länge, um dann wieder si)urlos zu ver-
schwinden. Solche Vorgänge sollen gar nicht so
selten vorkommen, und erst im Dezember 191 3
haben zwei Beobachter im Gebiete Amazonis eine
Fläche von ungewöhnlichem Glänze wahrgenom-
men. Es scheint, daß bestimmte Gebiete auf dem
Mars diese Eigenschaften in besonderem Maße
zeigen. Riem.
Bticherbesprechungen.
Warburg, Prof Dr. Otto , Die Pflanze nw e 1 1.
I. Bd. Protophyten, Archegoniophyten, Gymno-
spermen und Dikotyledonen. Mit 9 farbigen
Tafeln, 22 meist doppelseitigen schwarzen
Tafeln und 216 Textfiguren. Leipzig und Wien
1914, Bibliographisches Institut. — Geb. 17 Mk.
Dieses auf 3 Bände berechnete vorzügliche
Werk stellt eine sehr erwünschte Ergänzung zu
dem bekannten im gleichen Verlag neuerdings
neu herausgegebenen „Pflanzenleben" von K e r n e r
dar, indem es die Einzelobjekte der Pflanzenwelt
in sj'Stematischer Anordnung vorführt. Eine
solche das gesamte Pflanzenreich, sowohl die in-
ländische wie die ausländische Flora, die niederen
wie die höheren Pflanzen berücksichtigende, gut
lesbare und zuverlässige Darstellung kommt einem
wirklichen Bedürfnis entgegen. Besonders schät-
zenswert ist auch , daß überall die mannigfachen
Anwendungen der pflanzlichen Objekte sowie
pflanzengeographische und ökologische Notizen,
entsprechend der reichen Erfahrung des Verfassers,
in umfangreichem Maße mitgeteilt werden. Ein
eanz besonderer Vorzug sind die zahlreichen
durchweg vorzüglichen Abbildungen (teils Zeich-
nungen, teils Aquarelle, teils schöne Naturaufnah-
men), die mit Verständnis ausgewählt sind, und
die auch der Fachmann mit Wohlgefallen be-
trachtet. Einige beim Durchblättern notierte
kleine Bemerkungen seien für später angeführt.
Arthrosporen sind bei Bakterien mit Sicherheit
nicht bekannt. Die Ptomalne und Toxalbumine
sind nicht die eigentlichen Giftstoffe der patho-
genen Bakterien. .Aclinomyces darf nicht mit
Sphaerotilus konfundiert werden. Daß sexuelle
Vorgänge außer bei den Algenpilzen nicht fest-
gestellt sind, kann man nach den L'ntersuchuiigen
z. B. an Ascomyceten nicht mehr sagen. Daß in
der systematisciien Anordnung der Verfasser auch
seiner eigenen Auffassung Ausdruck gibt, ist
durchaus versländlieh. Es wäre aber doch bei
einem Buche wie dem vorliegenden zu überlegen,
ob es nicht besser wäre, bei der Aufstellung der
großen Gruppen der Nomenklatur eines sich all-
gemeinerer Anerkennung und Anwendung er-
freuenden Systems anzuschließen, wie z. B. des
(ja auch sonst in dem Buche benutzten) Engler-
schen und neue Namen zu vermeiden, um dem
sowieso in allen Nomenklatur- und Definitions-
fragen übermäßig ängstlichen Laien nicht zu ver-
wirren. Miehe.
Chodat, P., Mo nograpliie d 'algu es en cul-
ture pure. Mit 9 farbigen Tafeln und 201
Textfiguren. Bd. IV, Heft 2 der Matcriaux
pour la flore cryptogamique suisse. Bern 191 3.
K. J. Wyss. — 14,40 Mk.
Die einfachen, niederen Algen sind die Crux
der Systematik, da sie in ihren Erscheinungsformen
stark von den Bedingungen des Substrates be-
einflußt werden. Um da zu entscheiden, was zu-
sammengehört und was nicht, ist eine Unter-
suchungsmethode notwendig, die sich auf einem ver-
wandten Gebiete, nämlich auf dem der Bakterio-
logie längst als ganz unumgänglich herausgestellt
hat und eine conditio sine qua non ist, nämlich
die Reinzucht. Verf führt uns nun eine Reihe
genauer Beschreibungen von Algen vor, die er
aus Anreicherungskulturen auf dem Wege des
Plattengusses isoliert hat, wobei er immer die
Methode der Isolation angibt. Das mikroskopische
Aussehen wird durch Textabbildungen, das Ma-
kroskopische der Kolonien durch 9 farbige Tafeln
illustriert. Außer den häufigsten im süßen Wasser
(sowohl der Seen wie der Sümpfe und Moore) vor-
kommenden einfachen Algen (z. B. Scenedesmus,
Chlorella, Hormidium Stichococcus, Chlaydomonas
und andere, meist in zahlreichen Arten) werden
auch die Flechtenalgen sowie die ihnen verwandten
Formen berücksichtigt: dagegen fehlen die Cy-
anophyceen. Den Schluß bildet eine Auseinander-
setzung mit Wille über das System der grünen
Algen. Das Buch ist ein sehr wertvoller Beitrag
zur Kenntnis der einfacheren grünen .Algen, der
jedem Algologen empfohlen sei. Miehe.
Gohlke, Kurt, Die Brauchbarkeit der Serumdiagno-
stik für den Nachweis zweifelhafter \'erwandt-
schaftsverhältnisse im Pflanzenreich. Stuttgart
und Berlin 191 3. Fr. Grub. — Geh. 4 Mk.
Nachdem U h 1 e n h u t h den Nachweis gefunden
hatte, daß mit Hilfe der Serumdiagnostik es mög-
lich war, biologisch das Blut eines Tieres von dem
eines anderen streng zu dift'erenzieren, wurde diese
Erfindung für die verschiedensten Wissenschafts-
zweige von Bedeutung. Besonders interessant
wurde die Serumdiagnostik, als sich die Tatsache
zeigte, daß nicht nur eine Differenzierung der ver-
schiedensten Blutarten von Tieren herbeizuführen
war, sondern sich auch verwandtschaftliche Be-
ziehungen feststellen ließen. Uhlenhuth gelang
es nicht nur, die verschiedenen Vogeleier biologisch
und verwandtschaftlich zu differenzieren, neben
ihm stellten auch Wassermann und Stern eine
„Blutsverwandtschaft" zwischen dem Menschen und
den verschiedenen Aft'enarten auf
N. F. XIII. Nr. 2 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
333
Naturwissenschaftlich hochinteressante Tat-
sachen erbrachte dann Kowarski mit der Fest-
stellung, daß nicht nur tierisches, sondern auch
pflanzliches Eiweiß sich durch die serodiagnosti-
schen Methoden differenzieren ließ. Es folgten Ver-
suche vonRelander, Bertarelli und anderen
Forschern, die diese Beobachtung bestätigten.
Magnus und Fri ed enthal zeigten, daß Trüffel
(Tuber brumale) und Bierhefepiiz (Saccharomyces
cerevisiae) eine Eiweißverwandtschaft aufwiesen.
Jedoch sind diese Versuche noch zum Teil recht
lückenhaft und mit widerspruchsvollen Resultaten
publiziert worden, so daß eine Verwendung der Me-
thoden zum Zwecke systematischer Familienver-
knüpfung nicht möglich war, um darauf irgend-
welche weiteren Versuche aufzubauen.
Die Brauchbarkeit der Serumdiagnostik für
derartige Untersuchungen, besonders aber die ver-
schiedenen Methoden zu erweisen, stellte ich mir
in dem vorliegenden Buche als Aufgabe.
Es kommen in Hauptsache 4 Methoden in Frage,
nämlich die Präzipitation, die Komplementbindungs-
methode (Wasser man n'sche Reaktion), die Ana-
phylaxie und die Konglutination.
Die Anaphylaxie war für den Botaniker wohl
von vornherein auszuschalten. Führt man in den
Organismus eines Warmblütlers artfremdes Eiweiß
ein, und zwar auf parenteralem Wege, so ent-
wickelt sich nach einiger Zeit eine spezifische
Uberempfindlichkeit (Hypersensibilität), die dadurch
bemerkbar wird, daß ein derartig behandeltes Tier
auf die neuerliche Reinjektion derselben Eiweiß-
lösung, auch wenn diese völlig atoxisch ist, mit
stürmischen Krankheitserscheinungen reagiert und
oft nach wenigen Minuten verendet. Dieser Zu-
stand, den man als Anaphylaxie bezeichnet, reagiert
streng spezifisch, d. h. mit Pferdeserum vorbehan-
delte Tiere sind nur gegen dieses, nicht etwa gegen
Ziegen- oder Rinderserum anaphylaktisch; es lassen
sich jedoch verwandtschaftliche Beziehungen er-
kennen.
Da in der Botanik ein sehr ungleichmäßiges
Impfmaterial, es handelt sich dabei fast ausschließ-
lich um das aus den Samen gewonnene Eiweiß,
in Betracht kommt, das noch mit allerlei giftigen
bzw. nicht antigen wirkenden Stoffen vermischt ist,
so ergibt sich von selbst, daß die Beurteilung einer
derartigen Erscheinung zum Zwecke von systema-
tischen Feststellungen zur Unmöglichkeit gemacht
wird.
Ebensowenig gut erweist sich die Komple-
mentbindungsmethode für botanisch-systematische
Forschungen. Die Reaktion besteht darin, daß
beim Mischen eines Antigens mit einem homolo-
gen, inaktiven Immunserum (Ambozeptor) und mit
Komplement das letztere gebunden wird, was
durch ein hämolytisches System (Hammelblutauf-
schwemmung -(- Immunserum für Hammelblut)
nachgewiesen wird. Tritt die Reaktion ein, so
bleibt letzteres unaufgelöst bei passendem Antigen
und Ambozeptor, wird aber zur Lösung gebracht
bei einem Antigen, das nicht zu dem Ambozeptor
gehört. Die Methode ist besonders bei der Unter-
suchung von Lues in Verwendung und als W a s s e r -
mann' sehe Reaktion wohlbekannt. Mit derselben
lassen sich auch verwandtschaftliche nahestehende
Antigene nachweisen, jedoch ist die Reaktion so
streng spezifisch, daß sie sich für den Nachweis
weiterer Verwandtschaftskreise kaum eignet. Es
gelingt leicht, mit Hilfe der Methode das zur
Immunisierung verwendete Antigen festzustellen,
die Reaktion tritt auch ein, wenn das Antigen
von einer ganz nahe verwandten Spezies herrührt,
aber weiter auch nicht, während es doch im In-
teresse der Systematik liegt, den Nachweis recht
weiter Verwandtschaften zu erreichen.
Wohlgeeignet für die Untersuchungen erweisen
sich die Präzipitation und die Konglutinations-
methode. Erstere, die älteste und bekannteste,
ist besonders einfach und erfordert nur ein Antigen
und ein Immunserum. Beim Mischen eines solchen
Immunserums mit dem in verschiedensten Ver-
dünnungen sich abstufenden Antigen tritt eine
Reaktion ein, die sich als Niederschlag zeigt, und
nur dort zeigt, wo das zu dem Antigen gehörige
Immunserum Verwendung fand, d. h. die Reaktion
ist spezifisch. Ein Niederschlag, der durch eine
nahestehende Eiweißart mit dem Immunserum des
Ausgangsmaterials auftritt, zeigt eine Verwandt-
schaft an, und speziell die Präzipitation hat in
dieser Beziehung für die Botanik insofern den
großen Vorzug neben ihrer einfachen Handhabung,
daß sie verwandtschaftliche Beziehungen weit über
die Ausgangsfamilie hinaus zu anderen Familien
derselben Reihe nicht nur, sondern, was noch
wichtiger ist, zu anderen Reihen hinüber zur An-
schauung bringt.
Die Konglutinationsmethode ist etwas kompli-
zierter. Das Immunserum wird mit dem dazugehöri-
gen Antigen bei 37 " C 2 Stunden sensibilisiert, d. h.
gemischt, und zwar ist hierbei die Verdünnung des Ei-
weißextraktes in allen Versuchsgläsern dieselbe, aber
das sehr geringe Immunserumquantum abstufend
verteilt (0,08, 0,02, 0,01, 0,005 ccm von Glas I — 4).
Zu dieser so sensibilisierten Mischung wird nach
der vorgeschriebenen Zeit aktives, frisches Rinder-
serum hinzugefügt. Dort, wo größere Mengen von
Immunserum vorhanden sind, entsteht dann eine
deutliche Konglutination, d. h. eine Ausflockung,
die von einer solchen der Präzipitation und Agglu-
tination streng zu unterscheiden ist.
Diese Zusammenballung, die im Rinderserum
bei Gegenwart von Antigen, Ambozeptor und
Komplement entsteht, beruht darauf, daß im Rinder-
serum Stoffe enthalten sind, die als Konglutinine
bezeichnet werden und die Konglutinationen her-
vorrufen.
Die Vorteile dieser Methode bestehen in der
idealen Empfindlichkeit, welche die der Präzipita-
tion im wesentlichen überragt, vorausgesetzt, daß
das Immunserum ein vorzügliches, hochwertiges
ist. Hierin ergeben sich aber für den Botaniker
Schwierigkeiten. Das Material, das zur Extraktion
des Eiweißes bzw. zur Injektion dient, zeigt nicht
334
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 21
die gute und gleichartige Beschaffenheit des zu
analogen Versuchen verwendeten Blutes von Tieren
in der Hygiene und Zoologie.
Die Pflanzensamen wurden zur Herstellung des
Impfmaterials zu Mehl zerstoßen und in Kochsalz-
lösung die in demselben enthaltenen Eiweißstoffe
extrahiert. Der Extrakt, der je nach dem Eiweiß-
gehalte des Samens verschiedenen Gehalt an Eiweiß-
stofifen hatte, wurde sowohl zur Injektion als auch,
in natürlich viel größeren Verdünnungen, zur Unter-
suchung verwendet. Der Extrakt wurde von dem
Satz durch Doppelfilter filtriert, bis er ganz klar war.
Hierbei zeigten sich die für pflanzliche Extrakte
charakteristischen Nebenerscheinungen. Es wurden
bei dem Ausziehen der Eiweißstoffe aus dem Samen
auch ein Teil weiterer Stoffe gelöst, von denen
man annehmen muß, daß sie für den Tierkörper
von Nachteil sein müssen. Die vorhandenen Fette
und < )le wurden durch Alkohol und Äther zu ex-
trahieren versucht, die in verschiedenen Samen
vorhandenen Säuren und Gifte sowie die nicht
antigen wirkenden Stoffe wie Stärke, Glykogene,
Zucker usw. wurden bei ersteren durch Neutrali-
sieren, die anderen Stoffe durch Dialyse, Behand-
lung mit Alkohol usw. zu entfernen versucht.
Es wird jedoch nicht immer gelingen, sämtliche
schädlichen Stoffe zu entfernen. Es hat deshalb
die Frage nach der Verwendbarkeit eines Unter-
suchungsobjektes die Voruntersuchung nach dem
Vorhandensein von derartigen Stoffen zur Voraus-
setzung, und die Vorbereitung des oben erwähnten
Extraktes wird deshalb je nach der spezifischen
Eigenart des Samens eine verschiedene sein.
Die Extrakte wurden Kaninchen injiziert ent-
weder intravenös, d. h. in die Ohrvene, oder intra-
peritoneal, also in die Unterbauchgegend. Die
Dosierung und Häufigkeit der Injektionen richtete
sich nach dem Eiweißgehalte des Extraktes. Nach
wenigen Impfungen, ca. 3 — 4, kann dann zuweilen
schon ein hochwertiges, brauchbares Immunserum
erzeugt werden, bei etwa 10 ccm Extrakt bei jeder
Injektion. Die Individualität des Impftieres spricht
jedoch zuweilen so mit, daß oft auch nach zehn-
maliger Injektion eine Immunität nicht erreichbar
war, ganz abgesehen davon, daß einzelne Pflanzen-
samen so geringen Eiweißgehalt aufwiesen, daß
eine Immunisierung unmöglich wurde.
Zur Untersuchung, ob das Serum Immunität
zeigt, wird eine Probeblutentnahme aus der Ohr-
vene vorgenommen, und sofern sich die Brauch-
barkeit des Serums erweist, die Schlachtung und
Entblutung des Tieres durch Karotidenschnitt
herbeigeführt. Das in sterilen Gefäßen aufge-
fangene Blut wird zum Erstarren gebracht, zentri-
fugiert, und das so gewonnene Serum steril auf-
bewahrt. Es hält sich bei Beobachtung jeder Vor-
sicht, steril in dunklen Gläschen konserviert, sehr
gut und ist nach langer Zeit noch völlig brauchbar.
Wer mit Hilfe der Serumreaktionen Unter-
suchungen über Verwandtschaften anzustellen hat,
muß sich dessen bewußt sein, daß Fehlerquellen
überaus häufig und nur mit größter Vorsicht zu
vermeiden sind. Wer jedoch längere Zeit mit
den Methoden operiert hat, gewinnt bald eine
genaue Kenntnis der Reaktionen und Sicherheit
in ihrer Beurteilung, so daß er ein völliges Ver-
trauen den Untersuchungen entgegenbringen kann.
Dieses Vertrauen wird noch unterstützt durch das
Arbeiten mit Samen unbekannter Herkunft und
Kontrollversuchen mit normalem Kaninchenserum,
wie auch mit reinem Extrakt usw.
Die Serumdiagnostik hat ihre Brauchbarkeit
erwiesen für systematisch botanische Zwecke. Eine
große Anzahl von Familien ist bereits auf ihre
Stellung im System untersucht worden. Es zeigte
sich, daß der Stammbaum der höheren Pflanzen
nicht von den Filices eusporangiatae zu den Cycado-
filices — Cycadales — Bennettitales — Magnoliaceae
geht, sondern daß die Entwicklungsreihe IVIuscineae
— Lycopodiales eligulatae — Lycopodiales ligu-
latae— Coniferales-Magnoliaceae eingehalten wurde.
Wahrscheinlich sind die Gymnospermaediphyletisch,
und zwar stammen möglicherweise die Cycadales
aus Bennettitales von den Cycadofilices ab, nicht
aber die Coniferales. Durch die Eiweißreaktionen
ist die Verwandtschaft der Pinaceae zu den Gneta-
ceae erwiesen.
Es hat sich gezeigt, daß der Stammbaum der
Angiospermen von den Selaginellen über die Pina-
ceae nach den Magnoliaceae sich erstreckt, wobei
sich die Taxaceae von den Pinaceae abzweigen,
während die Gnetaceae einen anderen Seitenzweig
der Coniferales bilden usw., siehe ') und ^).
Ich verweise hierbei neben meinen Unter-
suchungen auf die unten angeführten Abhandlungen,
in denen die bisherigen Resultate verzeichnet sind,
da eine Ausführung hierüber den Rahmen dieses
Referates überschreiten würde.
Es ist hervorzuheben, daß die bisher angestellten
Untersuchungen in keinem Falle einen Widerspruch
mit den morphologischen Erwägungen gebracht
haben, vielmehr gibt uns die Serumdiagnostik
einen Weg an, auf dem wir in dem schwierigen
Gebiete der phylogenetischen Forschung vorwärts
zu schreiten haben. Der Wert der scrobiologischen
Methoden für den Nachweis von besonders zweifel-
haften Verwandtschaftsbeziehungen im Pflanzen-
reiche ist deshalb keineswegs zu verkennen.
Dr. K. Gohlke.
Haeckel, Walther, Ernst Haeckel im Bilde.
Eine physiognomische Studie zu seinem 80.
Geburtstage. Mit einem Geleitwort von Wilhelm
Bölsche. Berlin 1914. — 2,40 Mk.
Der hübsche Band zeigt uns eine bildliche
Darstellung der Entwicklungsgeschichte des äußeren
Menschen „Haeckel" vom Abiturienten bis zum
80 jährigen, eine höchst interessante Serie für
') Mez, K. und Gohlke, K., Physiol.-systemat. Unter-
suchuDgen über die Verwandtschaft der Angiospermen (C o h n ' s
Beiträge z. B. d. Yi\., 1913).
'') I. ange, L., Serodiagnostische Untersuchungen über
die Verwandtschaften innerhalb der Pflanzengruppe der Ranales.
Dissert. 1913.
N. F. XIII. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
335
jeden, der sich auch für die Menschen in den be-
deutenden Männern interessiert, doppelt interessant
bei einem solchen Individuum, dessen starker per-
sönlicher Zauber Freund und Gegner in seinen
Bann zwingt. Die ausgezeichnet reproduzierten
Bildnisse sind mit einem Kommentar von Wil-
helm Bölsche versehen, der manche feine und
geistreiche Bemerkung enthält. Miehe.
Maurer, Prof. Dr. Fr. Ernst, Haeckel und die
Biologie. Festrede zur Feier von Ernst
Haeckel's 8o. Geburtstag (i6. Februar 1914) in
der Aula der Universität bei Gelegenheit der
Sitzung der medizinisch-naturwissenschaftlichen
Gesellschaft in Jena am 13. Februar 1914.
Jena 1914, G. Fischer. — 80 Ff.
In ruhiger, vorurteilsloser Weise wird hier
von kompenteter Seite die Summe von Ernst
Haeckel's wissenschaftlicher Arbeit gezogen. Wir
möchten das Bändchen gerade den vielen emp-
fehlen, die gar zu leicht (oder zu gern ?) über dem
streitbaren Naturphilosophen den Forscher ver-
gessen, den Forscher, von dem der Verf. sagt,
daß wir zugleich die Breite und Tiefe seiner
wissenschaftlichen Tätigkeit bewundern müssen,
und daß die E^rucht seiner Geistesarbeit nicht in
Äonen untergehen werde. Miehe.
Literatur.
Brückmann, Dr. R. , Beobachtungen über Stranaver-
schiebungen an der Küste des Samlands. Im Auftrage der
Zentralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von
Deutschland. Mit 9 Tafeln, 13 Kartenskizzen und 2 Text-
bildern. III. Palmnicken. Leipzig-Berlin '14, B. G. Teubner.
— 3 Mk.
Maurer, Prof. Dr. Fr. Ernst, Haeckel und die Biologie.
Festrede zur Feier von Ernst Haeckel's 80. Geburtstag (16. Fe-
bruar 1914) in der Aula der Universität bei Gelegenheit der
Sitzung der medizinisch-naturwissenschaftlichen Gesellschaft in
Jena am 13. Februar 1914. Jena '14, G. Fischer. — 80 Pf.
P. Zeeman, Magnetooptische Untersuchungen, mit be-
sonderer Berücksichtigung der magnetischen Zerlegung der
Spektr.illinien. Deutsch von Max Ikle. Mit 74 Abb. im Text
und 8 Lichtdrucktafeln. Leipzig '14, Joh. Ambr. Barth. —
Geb. 9 Mk.
Hörn, Dr. Carl, Goethe als Energetiker, verglichen mit
den Energetikern Robert Mayer, Ottomar Rosenbach , Ernst
Mach. Leipzig '14, Joh. Ambr. Barth. — 2 Mk.
Block, Robert, Die Grundlagen der Rechtschreibung.
Eine Darstellung des Verhältnisses von Sprache und Schrift.
Mit 4 Abb. Veröftentlichung der ,,Literaturgesellsch. Neue
Bahnen". Leipzig '14, R. Voigtländer. — Geb. 1,80 Mk.
Bronsart v. Schellendorf, Fritz, Novellen aus der
afrikanischen Tierwelt. 2. Aufl. Leipzig '14, E. Ilaberland.
Goßner, Priv.-Doz. Dr. B. , Kristallberechnung und
Kristallzeichnung. Ein Hilfsbuch der Kristallographie. Mit
Betonung der graphischen Verfahren sowie der analytischen
und zonalen Bezieliungen- Mit i Taf. und 109 Abb. im Text.
Leipzig u. Berlin '14, Wilh. Engelmann. — 8 Mk.
Lorscheid, Prof. Dr. Jakob, Lehrbuch der .unorgani-
schen Chemie. 20. u. 21. Aufl. Mit 153 Abb. im Text und
I Spektriltafel in Farbendruck. Freiburg i. Br. , Herder'sche
Verlagshandlung. — Geb. 4,20 Mk.
Magnus, Prof. Dr. Werner, Die Entstehung der Pflanzen-
gallen, verursacht durch Hymenopteren. Mit 32 Abb. im Text
und 4 Doppeltafeln. Jena '14, G. Fischer. — 9 Mk.
Hughes, Arthur Llewelyn, Photo-electricity. (Cambridge
Physical Series) Cambridge University Press '14. — 6 sb.
Freundlich, Prof. Dr. II., Kapillarchemic und Physio-
logie. 2. erweiterte Aufl. Mit 5 Fig. Dresden und Leipzig
'14, Th. Steinkopff. — 1,50 Mk.
Wedekind, Prof. Dr. E. , Stereochemie. Mit 42 Fig.
im Text. 2. umgearb. u. verm. Aufl. (Sammlung Göschen.)
Berlin und Leipzig '14. — 90 Pf.
Heilig, Robert, Die Deszendenztheorie und ihre Hilfs-
theorien. F.ine kritische Studie. Stuttgart '14, Franckh'sche
Vcrlagshandlung.
Estreicher, Prof. Dr. Tad., Über die Kalorimetrie der
niedrigen Temperaturen. (Sammlung ehem. und chcm.-techn.
Vorträge.) Stuttgart '14, F. Enke. — 1,50 Mk.
Sarasin, Paul, Über die Aufgaben des Weltnaturschutzes.
Denkschrift gelesen an der Delegicrtenversammlung zur Welt-
schutzkommission in Bern am 18. Nov. 1913. Basel '14, Hel-
bing und Lichtenhahn. — 2 Mk.
Illustrierte Länderkunde. Herausgegeben von Ew. Banse
usw. Braunschweig und Berlin '14, G. Westermann. — Geb.
6 Mk.
Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Lieferung 72
und 73 (enthaltend Bogen 49 — 68 des V. Bandes). Jena '14,
G. Fischer. — pro Lieferung 2,50 Mk.
Dahl, Prof. Dr. Fr., Vergleichende Physiologie und
Morphologie der Spinnentiere, mit besonderer Berücksichtigung
der Lebensweise. I. Teil : Die Beziehungen des Körperbaues
und der Farben zur Umgebung. Mit 223 Abbild, im Text.
Jena '13, G. Fischer. — 3,75 Mk.
Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig und Berlin '14, B.
G. Teubner. Jedes Bändchen geb. 1,25 Mk.
Bd. 28: M. Geitel, Schöpfungen der Ingenieurtechnik der
Neuzeit. Mit 32 Abb. im Text.
Bd. 437: F. .Auerbach, Die graphische Darstellung. Eine
allgemeinverständliche, durch zahlreiche Beispiele aus allen
Gebieten der Wissenschaft und Praxis erläuterte Einführung
in den Sinn und den Gebrauch der Methode. Mit 100 Fig.
im Text.
Bd. 200; M. Verworn, Die Mechanik des Geisteslebens.
3. Aufl. Mit 19 Abb. im Text.
Bd. 36: Joh. Rehmke, Die Seele des Menschen. 4. völlig
umgearbeitete Aufl.
Galen i in Hippocralis de natura hominis in Hippocratis
de victu acutorum de diaeta Hippocratis in morbis acutis.
Ediderunt Joannes Mewaldt GeorgiusHelmreich Joannes Westen-
berger. Teil V 9, des,. Corpus medicorum graecorum. Auspi-
ciis academiarum associatarum ediderunt academiae beroli-
nensis, havniensis, lipsiensis. Lipsiae et Berolini MCMXIV.
In aedibus B. G. Teubner. 20 Mk.
Philumeni de venenatis animalibus eorumque remidiis.
Ex codice vaticano primum edidit M. Wellraann. Ebenda.
2,So Mk.
Brehm's Tierbilder. Kleine Ausgabe. 2. Teil. Die
Vögel. I. Die einheimischen Vögel. II. Ausländische Vögel.
Leipzig und Wien '14, Bibliographisches Institut.
Paul Ehrlich, Eine Darstellung seines wissenschaft-
lichen Wirkens. Von zahlreichen Forschern herausgegebene
Festschrift zum 60. Geburtstage des Forschers (14. März 1914).
Mit l Bildnis. Jena '14, G. Fischer.
Pole, Dr. I. C, Die Quarzlampe, ihre Entwicklung und ihr
heutiger Stand. Mit 47 Textabbild. Berlin '14, Jul. Springer.
4 Mk.
Sitzungsberichte der mathematisch-physikalischen Klasse
der K. B. Akademie der Wissenschaften zu München. 1913.
Heft HI. Inhalt u. a.: Die Glazialhypothese und der Mond,
von S. Günther. — Zum Turbulenzproblem von O. Blumenthal.
Bar d egg, Dr. K. , Natur, Wissenschaft und Zweck.
Leipzig '14, O. Hillmann. 3 Mk.
Wölbling, Prof. Dr. H. , Die Bestimmungsmethoden
des Arsens, Antimons und Zinns und ihre Trennung von den
anderen Elementen. Mit 39 Textabbild. Bd. XVU/XVllI von
„Die chemische Analyse". Stuttgart '14, Ferd. Enke. 13 Mk.
Koepert, Prof. Dr. Otto, Jagdzoologisches aus Alt-
sachsen. Beiträge zur sächsischen Jagdgeschichte. Mit 2 .Abb.
Beilage zum Jahresbericht des Vitzthumschen Gymnasiums zu
Dresden auf das Schuljahr 1913/14. Dresden '14.
Brücke, Prof. Dr. E. Th. v., Über die Grundlagen und
Methoden der Großhirnphysiologie und ihre Beziehung zur
Psychologie. Nach einer am 18. Dezember 1913 an der
336
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 21
Universität Leipzig gehaltenen Antrittsvorlesung. Heft 24 der
„Sammlung anatomischer und physiologischer Vorträge und
Aufsätze". Jena '14, G. Fischer. 50 Pf.
Heinricher, Prof. Dr. E., Das neue botanische Institut
der Universität Innsbruck. Mit 3 Tafeln, lena'14, G. Fischer.
80 Pf.
Lundegardh, Dr. Henrik, Grundzüge einer chemisch-
physikalischen Theorie des Lebens. Jena '14, G. Fischer.
2 Mk.
Die Kultur der Gegenwart. Berlin und Leipzig '14, B.
G. Teubner. Teil 111. Abteiig. I. A. Voß: Die Beziehungen
der Mathematik zur Kultur der Gegenwart.
Timerding H. E. , Die Verbreitung mathematischen
Wissens und mathematischer Auffassung. 6 Mk.
Andree, Dr. K. , Über die Bedingungen der Gebirgs-
bildung. Vorträge. Mit 16 Te.xtabbild. Berlin '14, Gebr.
Borntraeger. 3,20 Mk.
The Cambridge British Flora. By G. E. Moss, assisted
by specialists in certain genera. lUustrated frora drawings by
E. W. Hunnybun. Vol. II Salicaccae to Chenopodiaceae.
Mit einem Band Tafeln. Cambridge '14, University Press.
Einfach gebunden 2 £ 10 sh.
Suter, Henry, Manual of the New Zealand Mollusca.
With an Atlas of quarto plates. Wellington, N. Z. '13, John
Mackay Government Printer.
Brandt, Dr. Otto und Most, Dr. Otto, Heimat- und
Wirlschaftskunde für Rheinland und Westfalen. Im Auftrage
des zur Förderung des kaufmännischen Fortbildungsschulwescns
in Rheinland und Westfalen unter Mitwirkung zahlreicher
Fachmänner herausgegeben. 2 Bände. Essen '14, G. D.
Baedeker. Geb. 8 Mk.
Hansen, Prof. Dr. Adolf, Repetitorium der Botanik für
Mediziner, Pharmazeuten, Lehramiskandidaten und Studierende
der Forst- und Landwirtschaft. Mit 8 Tafeln und 41 Text-
abbild, g. umgearbeitete und erweiterte Auflage. Gießen '14,
Alfr. Töpelmann. Geb. 4 Mk.
Bavink, Dr. Bernhard, Allgemeine Ergebnisse und Pro-
bleme der Naturwissenschaft. Eine Einführung in die moderne
Naturphilosophie. Mit 19 F'iguren und 2 Tafeln. Leipzig '14,
S. Hirzel. Geb. 7 Mk.
Anregungen und Antworten.
Herrn Lyzeallehrer E. B. in E. — „Gibt es eine maß-
analytische Methode zur quantitativen Bestimmung des Sauer-
stoffgehaltes des Wassers?"
Zur maßanalytischen Bestimmung des Sauerstoffs im Wasser
sind verschiedene Verfahren vorgeschlagen worden, von denen
das von L. W. Winkler heute wohl am meisten angewendet
werden dürfte: In das zur Untersuchung stehende Wasser
wird vorsichtig und unter sorgfälligem Luftabschluß Mangan-
chlorür und Natronlauge gegeben. Es entsteht Mangano-
hydroxyd , das durch den im Wasser enthaltenen Sauerstoff
rasch zu Manganihydroxyd oxydiert wird. Nunmehr säuert
man die Flüssigkeit mit Salzsäure an — nach dem Ansäuern
ist LuftabschluÜ nicht mehr erforderlich, weil saure Mangano-
salzlösungen durch den Luftsauerstoff nicht oxydiert werden
— und fügt Jodkalium hinzu. Dabei wird in bekannter Re-
aktion Jod in Freiheit gesetzt und dessen Menge mittels
Natriumthiosulfats bestimmt. Da zwei Atome Jod einem
Atom Sauerstoff äquivalent sind, läßt sich der Sauerstoffgehalt
des Wassers leicht aus dem Ergebnis der Titration berechnen.
Ist das Wasser unrein, so kann ein Teil des entstehenden
Jods von den Verunreinigungen verbraucht werden , so daß
man bei der Titration zu wenig Jod findet und damit zu
wenig Sauerstofi" berechnet. In diesem Falle hilft man sich
durch Blindversuche. Ist das Wasser nitrithaltig, so findet
man zu viel Jod , weil die salpetrige Säure unter Reduktion
zu Stickoxyd ebenfalls Jod in Freiheit setzt, das Stickoxyd
dann mit dem Luftsauerstoff salpetrige Säure zurückbildet,
diese wieder mit Jodkalium reagiert usw., d. h. also weil
wenig Nitrit die Reaktion zwischen Jodkalium und Luftsauer-
stoff stark katalysiert. In diesem Falle muß man also die
salpetrige Säure vorher in geeigneter Weise entfernen oder
unschädlich machen.
Einzelheiten über die praktische Ausführung der Methode
sind in den Lehrbüchern der Maßanalyse, z. B. Beckurts,
,,Die Methoden der Maßanalyse" (Braunschweig 1913, Verlag
von Friedrich Vieweg und Sohn), S. 286 bis 293, enthalten.
Mg.
Bemerkung zur Beantwortung der Frage von H. M. in
Heidelberg: ,, Warum hört man aus großer Entfernung die
große Trommel eines Musikchors lauter als die anderen In-
strumente, während dieselbe in der Nähe nicht an Schallstärke
die übrigen Instrumente übertrifft?" Siehe Seite 239.
Außer der von Herrn O. Fischer bei der Beantwortung
dieser Frage hervorgehobenen Tatsache, daß wahrscheinlich
der Ton der großen Trommel lauter ist als der der übrigen
Instrumente, spielt noch ein zweites Moment eine wichtige
Rolle, nämlich die Beugung der Schallwellen. Treffen
Wasserwellen auf irgendein Hindernis, z. B. eine im Wasser
liegende Insel, so ist das Wasser hinter der Insel nicht in
Ruhe, sondern die Wellen umfassen die Insel und zwar um so
mehr, je mehr sich die Größe des Hindernisses der Länge
der Wellen nähert: so zeigt ein im Wasser stehender Pfahl,
wenn längere vom Wind oder einem Dampfer erregte Wellen
an ihn heran kommen, keinen Wellcnschatten hinter sicli,
dieser wird dagegen bemerkbar, wenn kurze von einem leich-
ten Windstoß erzeugte Kräuselwellen über das Wasser laufen.
Zur Beugung der sehr kurzen Lichtwellen bedarf es Körper
von sehr geringen Dimensionen, sehr feiner Spalte, mit be-
sonderer Sorgfalt hergestellter Gilter, der winzigen Wasser-
tröpfchen des Nebels, des feinen Seidengewebes eines Regen-
schirms. Ja, um Beugungsversuche mit den Röntgenstrahlen,
die ja Licht von außerordentlich kleiner Wellenlänge sind,
zu erhalten, muß man als Gitter die regelmäßig angeordneten
Moleküle eines Kristalls benutzen. Da die Schallwellen ziem-
lich große Wellenlängen haben — die der eingestrichenen
Oktave liegen ca. zwischen 1,20 m und 0,60 m — , so werden
sie stark gebeugt, es kann von einem scharfen Schallschalten
nirgends die Rede sein. Wir vernehmen mühelos die Klänge
einer in der Nachbarstraße spielenden Kapelle, da die Schall-
wellen an den Begrenzungen der dazwischen liegenden Häuser
gebeugt werden , und zwar werden die tiefsten Töne am
stärksten, die höheren schwächer gebeugt. Aus diesem Grunde
ist es möglich, daß die höheren Töne gar nicht oder doch
stark geschwächt in unser Ohr gelangen , während die liefen,
langwelligen kräftig erklingen. Wenn man auch von einer
genau definierten Tonhöhe der großen Trommel wohl nicht
sprechen kann (die ursprüngliche Stimmung der beiden Pauken
ist a (n^io9, ^. = rund 3 m) und das höhere d, so ist ihr
Ton aut jeden Fall ziemlich tief; daher haben die von ihr
ausgehenden Schallwellen große Wellenlängen und werden
stark gebeugt. Diese Tatsache im Verein mit der großen
Lautstärke erklärt die in Frage stehende Erscheinung.
K. Schutt, Hamburg.
Inhalt: Christoph Schröder: Eine Kritik der Leistungen der „Elberfelder denkenden Pferde". H. Greinach er:
Neue Vakuumröhren für Demonstrationszwecke und technische Verwendung. — Einzelberichte: Charles Riebet;
Erbliche Gewöhnung niederer Organismen an Gifte. A. Kalähne: Über ein akustisches Verfahreen zur Dichtemessung
von Gasen und Flüssigkeiten. Roß: Tierkreislicht. Müller und Krön: Spektralphotometrische Messungen zur Be-
stimmung der Auslöschung des Lichtes in der Atmosphäre und der Energieverteilung im Sonnenspektrura. Lowe 11;
Umdrehungszeit des Mars. Fournier; Vorgänge auf dem Mars. — Bücherbesprechungen: War bürg: Die Pflanzen-
welt. Chodat: Monographie d'algues en culture pure. Gohlke: Die Brauchbarkeit der Serumdiagnostik für den
Nachweis zweifelhafter Verwandtschaftsverhältnisse im Pflanzenreich. Haeckel: Ernst Haeckel im Bilde. Maurer:
Haeckel und die Biologie. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschritten werden an den Redakteur Professor Dr. H.Mi ehe in Leipzig, Marienstraße na, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 2g. Band.
Sonntag, den 31. Mai 1914.
Nummer 32.
Eine Kritik der Leistungen der
„Elberfelder denkenden Pferde".
[Nachdruck verboten.]
Von Prof. Dr. Christoph Schröder, Berlin.
(Schluß.)
Was aber bedeutet dieser Nachweis für die
begonnene Wahrscheinlichkeitsbestimmung? Auch
hier fehlt es an statistischen Unterlagen für eine
gänzlich genaue Berechnung. Wie schon ge-
zeigt, erscheinen die Ziffern 3, 4, 5 und 6 aig
bevorzugt; demgegenüber fehlt die Ziffer o
— die nicht geklopft, sondern durch Kopf-
schütteln markiert wird , also die sonstige
Ausdrucksform verläßt! — z. B. auch unter den
obigen 354 Ziffern F. Hempelmann's
völlig, die 8 und 9 kommen unter ihnen zu-
sammen 9 mal vor. Zu diesen so gut wie
ganz ausfallenden Ziffern gesellen sich dann
noch jene anderen: i, 2 und 7, die doch sehr
viel spärlicher vorkommen als die übrigen:
3, 4, 5 und 6; so bei den v. Buttel-Reepen-
schen und Plate'schen Aufgabenergebnissen nur
6 mal gegenüber 20 mal.
Ich gehe nunmehr wieder von den lOO mathe-
matischen Komplexionen der 10 Zififernelemente
aus. Statt der 10 Elemente aber sind es deren
nur noch 7 (ohne O, 8 und 9 gerechnet); d. h.
statt der lOO (10-) allein 49 (7") mögliche Kom-
plexionen. Hierzu das spärlichere Auftreten der
Ziffern i, 2 und 7 im Vergleich zu den 4 übrigen,
die für sich nicht mehr als 16 mögliche Kom-
plexionen ergeben würden. Schätze ich daher
etwa selbst auf 35 mögliche Fälle, wäre die
Wahrscheinlichkeit mithin auf - erhöht; d. h.
35
es ist die Gewißheit einer richtigen Zufallslösung
unter 10 solchen Aufgaben. Schließlich bleibt
noch auf die Neigung der Beobachter hinzuweisen,
in ihren Ziffern umgekehrt geklopfte Zahlen als
ein der Methode des links- bzw. rechtsseitigen
Schiagens zur Last fallendes Versehen zu be-
trachten. Daraus würde eine Gewißheit von
mehr als 2 richtigen Zufallslösungen
unter 10 Aufgaben folgen! Mathematische
Methoden des Inhaltes wie bei L. Plate und
H. E. Ziegler könnten einen Nachweis nur vor-
täuschen.
Jedoch auch, wenn eine dieDaten schärfer berück-
sichtigende Berechnung zugrunde gelegt und sich
ein Mehr an Wahrscheinlichkeitslösungen ergeben
würde, scheint ein Übriges an zutreffenden Ant-
worten der Pferde zu bleiben, das der Erklärung be-
darf. Es ist mir äußerst interessant zu sehen, wie sich
die verschiedenen Autoren hierzu aussprechen. Da
äußert K. C. Schneider in geistvollen Satz-
gefügen (**)S. 173) sein Urteil: „Daß Mathematik
ein apriorisches Vermögen ist, daran kann wohl
heutzutage kein Einsichtiger mehr zweifeln." —
„Wer möchte mit Sicherheit sagen , daß die
Bienen nicht zählen, wenn sie arbeiten ?" — „Ein
Hund berechnet seinen Sprung; ja, kann er das,
ohne zu zählen?" (S. 174). — „Es ist nicht nötig,
daß sich die Pferde logisch strapazieren, um eine
5. Wurzel zu ziehen; sie haben einfach den Sinn
dafür, und wenn man auch nicht sagen kann, daß
sie die Zahlen anschauen , so bewältigen sie sie
doch auf Grund einer Veranlagung, die mit An-
schauung wenigstens verwandt ist" (S. 179). Wie
man schon nach diesen Auszügen erkennt, zögert
K. C. Schneider nicht, sich zu einem recht
sorglos ad hoc gefertigten Urteil zu
bekennen, das in schroffstem Wider-
spruch steht zu dem aller jener, die
sich ein Leben lang mit der Didaktik
des Rechenunterrichts beschäftigt
habe n.
So C. Kehr ('-' S. 249): ,,Das Rechnen ist
eines der vorzüglichsten Mittel der menschlichen
Geistesbildung". Oder Max Simon -J. Kieß-
ling ( !•" S. 39): „Die Arithmetik ist eine
reine Vernunft Wissenschaft, ja, man kann
fast sagen, es ist die reine Vernunftwissenschaft,
denn die formale Logik geht, ich erinnere an
Graßmann, Frege, Schröder, mehr und
mehr in Arithmetik über. — (S. 41) : ,,Dem Rechen-
unterricht fällt in den unteren Klassen, was die
Ausbildung der Denkkraft betrifft, geradezu die
führende Stellung zu." Daß dem in der Tat so
ist, ,, daran kann wohl kein Einsichtiger zweifeln",
niemand jedenfalls, der die Kindespsyche be-
obachtet hat.
K. Krall hatte jene wundersamen Unterrichts-
erfolge in kurzen Stunden gezeitigt, nachdem er
sich einmal für diesen Nachweis berufen fühlte.
Was haben demgegenüber andere erfah-
rene Tierfreunde in hartem Mühen hierin
erreicht? P. Hachet -So u p le t ( '^' S. 82):
,,Wenn man interessante Dressurresultale durch
Überredung erzielen will, so muß man dieser Auf-
gabe fast seine ganze Zeit widmen." Und er be-
zeichnet es als eine ganz vereinzelte Leistung, daß
es derart gelungen sei , unter ., Verwerfung aller
in den Zirken üblichen Dressurmittel einem
Pferde das Apportieren beizubringen." H. Rothe
( '^' S. 744) stellte 9 Monate hindurch Unterrichts-
versuche mit einem übrigens „sehr intelligenten"
Hunde und Pferde an. „Vor dem Pferde hing
(er) in gleichen Abständen zu beiden Seiten Zucker,
den es gern fraß, auf, und zwar erst auf der einen
1 Stück und auf der anderen 2 Stücken, danach
2 bzw. 3. Stets langte es nach den meisten. Als
338
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 22
(er) aber 3 bzw. 4 aufhing, wurde es irre und
wählte die Zuckerstückchen verschiedene Male
unregelmäßig." Während das Pferd bei einer
anderen Versuchsanordnung, ,,um festzustellen, ob
die Tiere einen Begriff vom Zählen haben", schon
nach der Zahl 2 völlig versagte, ist es H. Rothe
gelungen, einen Hund so abzurichten, daß er lernte,
erst nach 5 maligem Werfen von Holzstücken
beim 6. Male auf den Leckerbissen zuzuspringen.
Aber ,,auch bei ihm konnte von einem Zählen
keine Rede sein; denn sobald (H. Rothe) die
Stücken in ungleichen Zeitabständen in die Krippe
warf, versagte auch er."
Unter den manchen anderen gleichstimmigen
Berichten kritischer Forschung darf der folgende
für die vorliegende Frage besonderes Interesse
erwarten. Auf Anregung und unter Aufsicht von
George Romanus hatte der Wärter (mit einer
Schimpansin Sally) in den Zoological Gardens von
London Versuche über das Zählvermögen des
Affen angestellt. Durch geduldige Dressur sollte
das Tier dahin gebracht sein, eine bestimmte An-
zahl von Strohhalmen — fünf und darüber — in
den Mund zu nehmen, um sie dem Wärter dar-
zureichen. Doch Lloyd Morgan (,,Introduction to
comparative Psychologie", London, 1903; p. 253) be-
richtet zu diesem Erfolge: ,,Währendmeines Besuches
jener Gärten sah ich Sally diese Handlung 16 mal
vornehmen, darunter 1 1 mal mit richtigem Resultat.
Aber an einem Tage, als sie 2 mal geirrt hatte
— indem sie statt 3 Strohhalmen deren 5, und
dann 4 statt 3 reichte — , sagte der Wärter, sie
sei müde und schlecht aufgelegt (genau wie bei
K. Krall! Verf). Ich sah überhaupt keine Ver-
suche, die über die Zahl fünf hinausgingen" (zit.
aus ^'" S. 202). — Mit den Worten: ,, Apriorischer
Zahlensinn" wird schlechthin also gar nichts ge-
wonnen; so leicht auch sollten wir eine Wahrheit
bis heute nicht in die Rumpelkammer werfen.
Und wiederum nichts, das geeignet wäre,
die Krall 's chen Erfolge als möglich er-
scheinen zu lassen. Nichts als legendäre
Mitteilungen älterer Jahrhunderte, die
K. Krall mit rührender Sorgfalt gesammelt hat.
Allerdings und gewiß, ein apriorisches
Auffassungsvermögen für unterschied-
liche Quantitäten haben wir sehr wohl anzu-
nehmen. Das Rind, das junge Wirbeltier werden
ganz allgemein das größere Stück beliebter Nah-
rung wählen, vorausgesetzt allerdings, daß der
Unterschied einen je augenfälligen Wert
besitzt, eine je gewisse Schwelle überschreitet.
Hierbei kann es nicht grundsätzlich verschieden
sein, ob jene Quantitäten als Massen physikalisch-
chemischen Zusammenhanges erscheinen oder aus
etwa gleichartigen Einzelkörpern gehäuft
werden. Im letzteren hier interessierenden Falle
ist das Unterscheidungsvermögen gleichzeitig ab-
hängig von der Höhe der kleineren Summe der
verglichenen Zählobjekte. So vermag ein Kind
bereits im 2. Jahre zu erkennen, wenn ihm von
2 oder 3 gleichen Objekten eins genommen wurde,
zunächst aber nicht bei einer größeren Anzahl.
Und gleichsinnig verhält sich z. B. der Vogel
seinem beraubten Eigelege gegenüber. Bei einer
höheren Einerzahl bedarf es für die
Wahrnehmung auch eines größeren
Verlustes. Das Kind entwickelt erst sehr all-
mählich, insbesondere an Objekten, die seine
Aufmerksamkeit durch ihre Eignung zum Naschen
oder Spielen fesseln, ein feineres Anschauungs-
vermögen für solche Unterschiede, ohne deshalb
irgendwie mit Zahlenbegriften zu arbeiten.
Für es bleiben die Objekte eine einfache Folge von
Gleichartigem, das es aneinandereiht, wie die
Perlen einer Kette: ,, Noch eins, noch eins." Nicht
selten selbst dann noch, wenn es die Zahlen bis 10
und 20 sicher herzuplappern vermag. Es verbindet
vielleicht bereits mit der 2 und 3 die Möglichkeit,
sie auf verschiedene Objekte richtig anzuwenden,
und ist doch völlig außerstande, eine der höheren
Zahlen zu erkennen. Oft genug bezeichnet
es längst ein Dutzend und mehr z. B. der
Zahlenbezeichnungen elektrisch er
Straßenbahnen, die ihm genannt wur-
den, mit irrt ums freier Sicherheit, be-
vor e s ein e der Ziffe rn an anderer St el 1 e
wieder zu erkennen wüßte. Die Zahlen-
eindrücke haften völlig, sie sind untrennbar asso-
ziiert mit dem betrefienden Gegenstande des
Interesses. Und es bedarf des Geschickes und
der Mühen eines ganzen ersten Schuljah-
res, die Zahlen innerhalb der Grenzen
bis 20 von bestimmten Objekten zu lösen (zu
abstrahieren) und sie an das (gesprochene und
geschriebene) Wort wie an das Zahlenbild zu bin-
den. Und die Sprache wird dann zum
vornehmsten Mittel der Durchdringung
des Stoffes als Vorbereitung für die nach fer-
neren langen 5 Jahren einsetzende Algebra, die
als eine erste Grundlage für die „Mathematik" zu
dienen berufen ist.
Nach alledem erscheint es sehr wohl
möglich, daß ein Tier wie das Pferd
mit einem bestimmten Zahlenbilde
oder einer charakteristischen Laut-
folge eine gewisse, seiner Natur gemäße
Ausdrucks weise in Hufschlägen asso-
ziiere, wenigstens, sofern es unsere Kenntnis
der Anatomie-Physiologie seines Auges nicht aus-
schließt; auf derselben Stufe, wie sie ein Kind |l
von 2 Jahren bei der Benennung z.B. der Zahlen-
schilder elektrischer Wagen äußert. Es mag selbst
angenommen werden, daß das Pferd oder doch die
höchsten seiner Säugetiergenossen, so Hund und
Affe, auf eine gesicherte Anschauung der Zahlen
bis 3, 4, 5, vielleicht noch um die eine und andere
fernere Einheit dressiert werden könne. Aber
von einem Verständnis füi abstrahie-
rendes Zählen nirgend eine Spur, um
so viel weniger von der Möglichkeit eines Ein-
dringens in die höheren Rechnungsarten; nirgends
bis auf K. Krall, der sich für diesen besonderen
Nachweis Pferde zulegte.
N. F. XIII. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
339
Wenn man nun aber auch bereit ist, in diesen
Leistungen nichts als Assoziationen des sinnlichen
Gedächtnisses zu erkennen, bedarf es doch noch
einer Würdigung der heterogenen Mannig-
faltig k e i t d e s G e b o t e n e n. Es ist zu prüfen,
ob eine solche Fülle rein gedächtniswertiger
Leistungen denkbar ist. Das Gedächtnis des
Pferdes scheint ganz einstimmig gerühmt zu wer-
den. So urteilt G. Bohn {^'' S^ 122), daß „das
Gedächtnis sich (bei den Wirbeltieren) in eminen-
tem Maße entwickle". Oder nach St. vonMaday
('-' S. 51): „Das Gedächtnis ist die am meisten
angestaunte Fähigkeit des Pferdes. ,Das Pferd
sei ein dummes Vieh, es habe aber ein vorzüg-
liches Gedächtnis', sagt ein uralter Spruch, und
es gibt noch heute viele Dresseure, die sich an-
gebhch einzig und allein an dieses Talent wenden.
,Es ist wenig intelligent', sagt auch Le Bon,
,doch scheint sein Gedächtnis dem mensch-
lichen weit überlegen zu sein."
Schließlich noch eine der Notizen bei K. Krall
("S. 405, Anm.): „Derartige Gedächtnisleistungen
habe ich zahlreich erlebt. Herr General Zobel schrieb
mir hierzu ergänzend: ,Ich war Hans (dem , Klugen
Hans' W. von Osten 's. Verf) als General vor-
gestellt, und er hat mich mehrfach so genannt.
Erstaunt aber war ich ganz außerordentlich , als
ich bei einer der ersten öffentlichen Vorführungen
durch G. Schillings nach Monaten zum ersten
Male wieder zu Hans kam, ihn fragte, ob er mich
noch kenne, und er nickte, ihn auf den Hof führen
und durch Schillings fragen ließ, wer ich wäre.
Er antwortete prompt: .General'." Wie man
sieht, darf dem Gedächtnis des Pferdes nach dem
Urteile erfahrenster Kenner eine außergewöhnliche
Aufgabe gestellt werden, größer vielleicht als
jene, mit deren Leistung das Gedächtnis des
Kindes überrascht. Und, wie gesehen , jedenfalls
infolge der Vielseitigkeit des Unterrichtsstoffes,
waren auch die betreffenden Assoziationen derart
wenig sicher, daß es angängig erscheinen
könnte, die restlichen Treffer unter
den Leistungen als einen Ausfluß des
sinnlichen Gedächtnisses für befriedi-
gend erklärt zu erachten.
Doch die Pferde sollen Aufgaben gelöst haben,
die ihnen nicht gelehrt worden seien. Überall,
bis zum Überdrusse, liest man die Versiche-
rung K. Kral l's, daß er selbst nichtradi-
zieren könne. So, nach P. Sara sin (*', S. 249),
von M. Döring („Neue Bahnen", '12, S. 413):
. . ., der (K. Krall; Verf) eingestand, daß er kein
großer Rechner sei"; oder von P. Sarasin (^'
S. 251 1: „. . ., daß mir Krall nicht nur mündlieh,
sondern auf besonderes Verlangen auch schriftlich
versichert hat, daß weder er noch der Wärter Albert
imstande seien, hohe Wurzelrechnungen, wie der
Hengst Muhamed sie löste, in kurzer Zeit im Kopfe
auszuführen". Oder von H. v. Buttel-Reepen
("', S. 261): „Herr Krall gab mir auf Wunsch
folgende schriftliche Erklärung : Ich bin nicht im-
weder im Kopfe noch schriftlich — lösen zu
können . . ." Usf.
Demgegenüber zitiere ich einige Stellen, die
das Gegenteil besagen. Unter manchen anderen
P. Sarasin's Darstellung C*', S. 248): „j/ 147008443.
Krall, er (Muhamed ; Verf) hat noch nie so etwas
Schweres gemacht ! Er nennt die Zahl : ,Fünfte
Wurzel aus 147 Millionen 00 (?, \'erf.) 8 Tausend
443, mach das!' Antwort sogleich: f 23, f 24,
f ^2 oder 33 (die Hufschläge des rechten Fußes
unklar zwischen 2 und 3), f 22, f63, f 33. Krall:
, Albert, die Reitpeitsche her' . . . richtig 43! Da
strahlte Krall vor Freude . . ". Auch H. v. Büttel-
Reepe n zur 2. (unwissentlichen 1) Kouvertaufgabe
(«', S. 258): }T2T67 = f33. Obgleich ich Krall
die richtige Lösung (23) nicht mitgeteilt habe, ruft
er ,falsch'! und läßt dem Pferde durch Albert einen
Peitschenschlag geben".
Leider sind Widersprüche dieser Art
zuzüglich jener eigentümlichen Fest-
stellungen betreffs der schon zuvor be-
handelten „unwissentlichen" Wurzel-
aufgaben nicht die einzigen geblieben,
welche sich mir aufgedrängt haben.
Sie würden dartun, daß K. Krall's Gedächtnis
wenigstens dort recht unzuverlässig erscheinen
möchte, wo es dem Interesse seiner
Wünsche dient. So schreibt P. Sarasin
( '' S. 242) über seinen Besuch in Elberfeld vom
1.6. '12: „Man zeigt ihm ein Bild mit 3 Pferde-
köpfen : ,Zarif, was siehst du ? ' (lispelnd gefragt),
Fudrzeinfärd. ,Wie viele'?, fff Er wird abgeführt;
er kenne dieses Bild noch nicht, es sei das erste
Mal, daß man es ihm gezeigt." — „Muhamed wird
vorgenommen. Man zeigt die Pferdeköpfe . . ."
Dagegen entnehme ich K. Krall's Buch („Nieder-
schrift vom 18. 7. '09) S. 141 : „Die nebenstehende
Pferdekarte (Abb. 82) wurde Muhamed gezeigt:
,Was ist das?' Er antwortete aus sich: Drei
Färt . . . Die Form der Mehrzahl einzuüben, wurde
absichtlich unterlassen; ja es wurde sogar statt
dessen in einzelnen Fällen die von den Pferden
angewandte Form, drei Färt von uns im Unter-
richt beibehalten".
Oder: Nach dem handschriftlichen Protokoll
F. Hempelmann's S. 7: „Muhamed soll jetzt
eine für ihn neue Aufgabe rechnen, wo nämlich
in Worten , addiere ... zu' geschrieben ist, wäh-
rend bis jetzt immer nur ein -|— Zeichen geschrieben
wurde." Dagegen lese ich in K. Krall's Buch
(14. Dezember 1908): „M Malnehmen. Aufgaben
mit gedruckten Zahlwörtern (es geht aus dem
Folgenden hervor, daß K. Krall unter ihnen in
Buchstaben angeschriebene Zahlen versteht, Verf):
multipliziere zwei mit drei. „Hierzu vom 28.: „M.
Stande, Wurzeln wie die angegebenen (y 12167)
Lesenlernen deutscher und französischer Zahl Wörter".
Da ist schwer zu glauben, daß das nächstliegende,
sehr viel einfachere: „Addiere zu" übersehen sein
sollte. Ich verweise den Zweifler zudem auf K.
Krall's Buch S. 484: „. . .; ein Halb und ein
Viertel sollst du addieren" ...(vom 12. 4. '10)
340
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 22
oder S. 479: „Nicht addieren", „Addiere" (vom
18. 2. '10); u. a. O.
So frei sich aber auch K. Kr all 's Buch von
jeder Selbstkritik auf wissenschaftlichem Boden
hält, es hieße doch der sonst gern hervorgehobenen
Intelligenz desselben ein gänzlich unverdien-
tes Armutszeugnis ausstellen, wollte man an-
nehmen, daß nicht jedenfalls i h n sein Rechen-
unterricht so weit gefördert haben sollte, jene mit
elementarsten Kenntnissen lösbaren Ra-
dizier ungen gründlich zu beherrschen.
Diese bestehen in nichts weiterem als zu wissen,
daß die Radikanden von Quadratwurzeln 2 ziffrig,
von kubischen 3 ziffrig, von vierten 4 ziffrig (u. s. f.)
von rechts nach links abzustreichen bzw. abzuzählen
sind, um die Ziffernzahl der Wurzellösung sofort
zu erkennen; ferner als die 2., 3. und evtl. 4. Po-
tenzen der Ziffern 2 bis 9 im Kopfe zu haben,
um nach ihnen aus der Restkomplexion links und
der Endziffer rechts allsogleich jede derartige
Wurzel zu ziehen. Allerdings ist mir nach dem
gesamten Protokollmateriale aufgefallen, daß neue
(unwissentliche) Aufgaben erst nach Fehl-
antworten, wenn überhaupt, richtig gelöst
wurden. Doch das „H eranrate n", das L. P 1 a t e
nennt, hat kaum je menschliche Züge; am
2
meisten noch bei ^c,S2i6g — mit den Antworten
523. 347, 177. 132, 747. 7^7. 773, ^75, 7&3, 363,
schließlich r 763 — die Betonung der Hunderter-
ziffer 7 und der Einerziffer 3.
Schwerer, unter Umständen sehr viel schwieriger
ist es, die I^ösung für eine nicht restlos
radizierbare Zahl anzugeben; mit solchen Ver-
suchen, welche allein die Rechenfähigkeit der
Tiere bezeugen würden, eben da, wo sie für die
menschliche Schätzung aufzuhören beginnt, scheint
sich K. Krall nie bemüht, seine „Unterrichts"-
Ergebnisse an ihnen nie selbst nachgeprüft zu
haben. — Hierauf weist übrigens auch eine aus-
führlichere Zuschrift des Herrn Dr. Jul. Pikler
(Budapest) vom 16. Sept. '13 au mich hin. —
So wenig, wie sich ein Vermerk darüber finden läßt,
daß es K. Krall aufgefallen wäre festzustellen, wie
seine Pferde keine anderen als die alier-
niedrigsten Potenzier ungen auszuführen
vermögen. Und hier glaube ich K. Krall gerne,
daß auch er weiteres nicht kann.
Solche ausnahmslose Parallelität
dieser menschlichen und tierischen
Leistungen legt die Frage nahe, ob nicht ein
direkter Zusammenhang beider in der Weise
denkbar sei, wie ihn Osk. Pfungst für den
„klugen Hans" nachgewiesen hat, der, gleichfalls
durch die dargebotenen Rüben zur Aufmerksam-
keit veranlaßt, infolge unfreiwilliger Futter-
dressur zu gelegentlich richtigen Antworten ge-
langt war. Je tiefer ich in die Literatur über
den Gegenstand eingedrungen bin, desto mehr
halte ich mich überzeugt, daß auch bei
den Leistungen dieser Pferde derartige
Beziehungen mit inFrage stehen. Nichts
spricht dagegen; und K. Krall dürfte diese Mög-
lichkeit selbst fürchten, wenn er, wie zu Anfang
hervorgehoben, die Nachprüfung durch eine Kom-
mission auf ungeradem Wege abgelehnt hat.
Daß die Rechenleistungen der Pferde
nicht auf einem begrifflichen Denken
beruhen können, glaube ich im vorigen
objektiv erwiesen zu haben. Und ich hätte
die Darlegung gleichermaßen auf die gesamten
Leistungen ausdehnen können. Wie weit sie
als Ergebnis gedächtnismäßiger, bloßer
sinnlicher Assoziationen zu betrachten
sind, wie weit sie etwa der Erfolg un-
bewußter Zeichengebung im Sinne der
O. Pfungst'schen Erklärung sein könn-
ten, wie weit sie selbst in manchen
Fällen der suggestiven Wirkung K.
Krall's auf seine Hörer bzw. Zuschauer
entspringen dürften, das gegeneinan-
der abzugrenzen würde nur möglich sein,
wenn umfassendere, sorgfältigste, kritische Proto-
kolle und Beobachtungen einer Kommission
vorlägen, deren aus beiden Streitlagern, aus ver-
schiedenen anschließenden Disziplinen gewählte
Mitglieder eine angemessene Arbeit verbürgen
würden.
Ich meine aber, selbst ohnedem dürften die
Herren, deren unkritischer Beifall, von ungezügelten
Wünschen für eine anthropomorphe „Tierseele" ge-
boren, „K. Krall welken Lorbeer geflochten hat,
dessen bald zufrieden sein, wenn schon eine nahe
Zukunft dies mit den ,Elberfelder denkenden
Pferden' zugleich in Vergessenheit geraten
läßt. Bis, nun bis einmal wieder ein K. Krall
legendäre Berichte zur Tierpsychologie für seine
Zwecke aus älteren Jahrhunderten sammelt".""
Nachschrift. Inzwischen ist in der ,,Naturw. Wochen-
schrift" (1914, S. 193 — 196) eine weitere Ausführung H. v.
Bu tt el-Reep e n's erschienen äoi : ,, Das Problem der Elber-
l'eldcr Pferde und die Telepathie". In li' S. 259 hat derselbe
seine Beurteilung der einfacheren Rechenleistungcn dahin aus-
gesprochen, daß er sie sich ,, nicht ohne ein eigenes Zählver-
mögen , nicht ohne eine gewisse Denktätigkeit und ein vor-
treffliches Gedächtnis*' vorzustellen vermöge. Demgegenüber
würde H. v. Butt el- Re ep en nach i'' S. 261 geneigt gewesen
sein, eine Erklärung für ,,die Leistungen der Pferde bei der
Lösung komplizierter Rechenaufgaben" ,, vielleicht auf einem
ganz besonderen Gebiete" zu sehen , „auf dem uns die sog.
Zahlenwunder und die Rechenkünstler begegnen".
Hiermit sei eine Stelle des ProtokoUes -<>' S. 194 ver-
glichen, das H. V. Buttel-Reepen vom 3. seiner 4 Besuche
bei den Pferden veröffentlicht: „Herr Krall war abwesend.
Als ich mich etwas später an den Pferdepileger .Albert
wandte mit der Frage, wie er über die Leistungsfähigkeit der
Pferde im allgemeinen dächte, sagte er ungefähr wiirtlich :
,Ich denke wie Herr Professor darüber'. , Wieso f entgegnete
ich. ,Ja, ich glaube, daß es Gedächtnisleistungen sind. . . ."
Ohne mich hier über den ferneren Inhalt der Ausführungen
unter 20 1 auseinandersetzen zu können (vgl. zu ihm und in be-
zug auf weitere Gesichtspunkte; Chr. Schröder, ,,Die
rechnenden Pferde". In: „Biolog. Centralblatt", Bd. XXXIV),
erachte ich es doch für recht bemerkenswert, daß der Pferde-
pfieger Albert, der nach 201 S. 194 zudem ,,die Autoritäts-
person bei den Pferden ist", während man sonst angenommen
hat, das wäre K. Krall, daß der Pferdepfleger Albert in
einem Augenblick, in dem er sich offenbar frei von Rück-
sichten fühlte, die Leistungen der Pferde als rein gedächtnis-
N. F. XIII. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
341
mäßige bezeichnete und dafi sich auch H. v. B u 1 1 e 1 • R e c p e n
nach seinen weiteren Besuchen nicht mehr ausdrücklich gegen
diese von mir schon 7' vertretene Auffassung zu wenden
scheint.
Wenn aber H. v. Bu 1 1 el - R e e p e n schließlich (S. 196)
K. Krall als Märtyrer beldagt, den „die Wissenschaft bis-
her insofern in Stich gelassen habe, als sie alles seinen
Schultern aufbürde , die die Last kaum noch zu tragen ver-
möge", so kann die Wissenschaft diesen Vorwurf glatt ab-
lehnen mit dem Hinweise auf Tatsachen wie die K. Krall
vorgeschlagene Kommission und Versuche nach 'in.
i) Krall, K., „Denkende Tiere". 532 S., zahlr. (phot.)
Abb. u. Taf. Fr. Engelmann, Leipzig, 19 12.
2) von Maday, Dr. Stef., ,, Psychologie des Pferdes und
der Dressur". 349 S., 7 Abb. Verlag Paul Parey, Berlin,
1912.
3) Hempelmann, F., ,,Bei Hans, Muhamed und Zarif
in Elbcrfeld." ProtokoUmanuskript, mir gütigst zur Benutzung
überlassen. 12 S.
4) Plate, L., ,, Beobachtungen an den denkenden Elber-
felder Pferden des Herrn K. Krall". In: ,,Naturw. Wochen-
schrift", 1913, S. 263 — 268.
5) te Kloot, O., „Die denkenden Pferde Hans, Muha-
med und Zarif. 96 S., Abb. F. Lehmann, Berlin, 1912.
6) v. Buttel-Reepen, H., ,, Meine Erfahrungen mit den
denkenden Pferden". In: „Naturwiss. Wochenschrift", 1913,
Hef\ 16 u. 17.
7) Schröder, Chr., ,,Zum Geheimnis der Elberfelder
„denkenden" Pferde". In: „Natur", 1913, Heft 23.
S) Sarasin, P. , „Ein Besuch bei Herrn Karl Krall
und seinen denkenden Pferden". In: ,,Zool. Anzeiger", 1912,
S. 23S — 254.
9) Ziegler. H. E., ,, Falsche Statistik". In: „Mitt. Ges.
Tierpsychologie", i. Jahrg., S. 65/66.
10) Hempelmann, F., ,,Das Problem der denkenden
Pferde des Herrn Krall in Elberfeld". In: „Verh. D. Zool.
Ges.", 1912, S. 228—234.
11) Schneider, Karl Camillo : ,,Die rechnenden Pferde".
In: „Biolog. Centralbl.", 1913, S. 170 — 179.
12) Kehr, C, ,,Die Praxis der Volksschule". 40S S.
E. F. Thienemann, Gotha, 1S85.
13) Simon, Max, und J. Kießling, „Didaktik und
Methodik des Rechen-, Mathematik- und Physikunterrichts".
C. H. Beck, München, 1S95.
14) Hachet-Souplet, P., „Untersuchungen über die
Psychologie der Tiere". 186 S. E. Ungleich, Leipzig, 1910.
15) Rothe, H., ,,Vom Zahlenbegriffsvermögen des Pfer-
des". In: „Umschau", 1913, S. 744/45.
16) Wasmann, E., S. J. , ,, Instinkt und Intelligenz im
Tierreich". 276 S. Herder'scher Verlag, Freiburg i. Breisg.,
1905- ..
17) Bohn, Georges, ,, Die Neue Tierpsychologie". (Übers,
v. R. Thesing.) 179 S. Veit & Co., Leipzig, 19 12.
18) Pfungst, Oskar, „Das Pferd des Herrn v. Osten
(Der kluge Hans)". 191 S. Job. Ambr. Barth, Leipzig, 1907.
19) Schröder, Chr., ,, Berichtigungen zu den , .Anmer-
kungen' der Herren Profs. Drs. L. Plate und H. v. Buttel-
Reepen . . ." In; „Natur" 1914, Heft 14, S. 312 — 314.
Einzelberichte.
Botanik. Latentbleiben der Rostkrankheit.
Vor drei Jahren hatte G. Tischler sjezeigt,
daß es durch Veränderungen der Außenbedin-
gungen möglich ist, einzelne Sprosse von Euphor-
bia Cyparissias, die bereits vom Mycel des Rost-
pilzes Uromyces Pisi durchzogen waren, äußerlich
gesunden zu lassen. Tischler hat inzwischen
diese interessanten Versuche fortgesetzt und fest-
gestellt, daß man den Ausbruch der Rostkrankheit
immer verhindern kann, wenn man die winterliche
Ruheperiode der Wolfsmilch (durch Einbringen ins
Warmhaus) aufhebt und die Pflanze so zu dauern-
der vegetativer Tätigkeit nötigt. Die Krankheit
kann dann mehrere Vegetationsperioden hindurch
latent bleiben, tritt aber, wenn man die Pflanzen
eine Winterruhe durchmachen läßt, an den sodann
entstehenden Trieben sofort wieder auf. Bei Brand-
pilzen hat Brefeld schon ein Latentbleiben der
Krankheit beobachtet und gefunden, daß gewisse
Pflanzenarten in einigen Jahren ganz brandfrei
werden können, während andere dauernd krank
bleiben. Tischler sah bei der mikroskopischen
Untersuchung der Vegetationspunkte seiner schein-
bar gesundeten Wolfsmilchpflanzen, daß sie sämt-
lich Myzel enthielten, aber nur in bestimmter Ent-
fernung von den rein meristematischen Zellen
(höchstens bis zur 6. oder 7. Periklinalreihe), so
daß die jüngsten Blattanlagen dem Pilze entrückt
waren. Die Aufhebung der Winterruhe hatte
somit nicht ein Wachsen des Myzels überhaupt
unmöglich gemacht, sondern das Myzel hatte nur
nicht bis in die jungen Blattanlagen dringen können ;
der Sproß war hier dem Pilz „entwachsen". Tisch-
ler findet, daß während der scheinbaren Ruhe-
periode von Pilz und Wirtspflanze die Krankheit
weiter fortschreitet, das Myzel sich also im Rhizom
immer weiter verbreitet und neue Knospen infiziert.
Der Pilz wuchert sowohl zwischen den parenchy-
matisch gebliebenen Holzfaserzellen wie zwischen
den Parenchymzellen des Markes. Zu Beginn des
Austreibens könnte der Pilz in den Winterknospen
überall zwischen den Zellen vordringen, aber in
den vorzeitig entwickelten Trieben entwächst die
Euphorbia dem Pilz bezüglich ihrer eigentlichen
meristematischen Zellen. Zur Erklärung des Phä-
nomens verweist Tischler auf die Untersuchungen
Mac Dougals, nach denen die Möglichkeit
parasitischen Lebens davon abhängt, daß in den
Zellen des Schmarotzers ein höherer osmotischer
Druck herrscht als in denen des Wirtes. Bei einer
Verschiebung der Entwicklungsperioden (seasonal
cycles) könnte eine nicht harmonische Regulierung
des osmotischen Druckes in den beiden Symbion-
ten erfolgen, die zur Folge haben würde, daß der
Parasit nicht weiterwachsen kann. Mit dieser
„Arbeitshypothese" ließe sich auch die Beobachtung
erklären, daß an einigen infizierten, dann äußerlich
gesundeten Euphorbien sich Blütenstände mit ver-
pilzten und deformierten Blattorganen entwickelten
(Engler's Botanische Jahrbücher, Bd. 50, Supple-
mentband ^Festband für A. E n g 1 e r] , S. 95 — 1 10).
F. Moewes.
Geographie. Neues Land im Nordpolbecken.
Die Bemühungen, eine freie Durchfahrt an der
Nordküste Sibiriens zu finden, wurden zuerst und
342
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 22
bisher ohne Nachfolge von Nordenskjöld ge-
löst, der mit der „Vega" um Asien herumfuhr.
Später haben mehrere Schiffe der Nansen 'sehen
und Toll 'sehen Expeditionen Taimyr glücklich
umschifft, und andererseits hat die russische Re-
gierung versucht, eine Seefahrt vom Stillen Ozean
bis zur Kolymamündung durchzuführen \). Das
Kolymagebiet wurde 1905 — 1909 aufgenommen
und erforscht. Im Jahre 1909 wurden in Peters-
burg zwei Eisbrecher „Taimyr" und „VVaigatsch"
im Bau vollendet, die in Wladiwostok liegen.
191 1 vollführten sie Küstenaufnahmen bis zur
Kolymamündung, 1912 erreichten sie die Lena-
mündung wieder von Wladiwostok aus. So ist
der Warentransport in das Kolymagebiet leichter
geworden, auch amerikanische Schiffe aus .Maska
sind 191 1 nach Nischnekolymsk an der Mündung
der Kolyma gelangt. Als Endziel der Schiffahrt
vom Pazifischen Ozean her erscheint einstweilen
das Gebiet der Lena, das ja den größten Teil des
J a k u t e n 1 a n d e s umfaßt.
Das Jakutengebiet, welches von 300000 Men-
schen bevölkert ist, aber eine Fläche umfaßt, die
dem des westlichen Europa gleichkommt, ver-
dient große Beachtung wegen des Reichtums
seiner Naturprodukte und wegen seiner Tauglich-
keit im südlichen Teile für die Ansiedelung
einer seßhaften Bevölkerung. Im Tal der Lena
und ihrer Nebenflüsse Olekma und Aldan rückt
die Landwirtschaft immer mehr nach Norden
vor; viele Eingeborene leben hier ansässig oder
halbansässig. Die Korngewächse haben sich
den rauhen klimatischen Verhältnissen angepaßt;
in den südlichen Teilen des Kolymsker Gebietes
können noch Kartoffeln und Gemüse angebaut
werden. Vor der Entwicklung der Landwirtschaft
war Viehzucht, vor allem Pferde- und Rindvieh-
zucht, die Hauptbeschäftigung der Jakuten; im
Tundragebiet ist die Renntierzucht verbreitet.
Ebenfalls wichtig ist der Fischreichtum der großen
Flüsse, die nach dem Eismeere gehen. Die Be-
völkerung leidet aber sehr unter dem Mangel an
Verbindung mit Verbrauchsländern. Die Jagd
auf Pelztiere spielt auch eine große Rolle; diese
sind im Jakutengebiet noch in ziemlich großer
Menge vorhanden. Eine Hauptbeschäftigung der
Bewohner ist das Aufsuchen von Mammutstoß-
zähnen am Ufer des Eismeeres und auf den Neu-
Sibirischen Inseln. Entschieden von Bedeutung
könnten auch die mineralischen Reichtümer (Wasch-
gold, Steinkohlenlager, Salzlager) werden. Aber
ein schnelles Wachstum der Bevölkerungsdichtig-
keit kann nur durch geeignete Verkehrswege
befördert werden. Dies erklärt zur Genüge die
Bemühungen der russischen Regierung um Nord-
Sibirien.
Bei Gelegenheit der letztjährigen hydrogra-
phischen Expedition -) unter Kapitän \Vilkitskij
') B. M. Shitkow, Die nordöstliche Durclifalut (G. Z.
1913, H. 12).
*) Neues Land im Nordpolbecken (Z. Ges. Erdkde. 1914,
H. 2, mit Karte u. Geogr. Zeitschr. 1914, II. 2).
mit den Eisbrechern „Taimyr" und „Waigatsch",
die im August 1913 vom Anadyrbusen auf-
brachen, wurde nördlich vom Kap Tscheljuskin
neues Land entdeckt. Während ,, Waigatsch" ver-
geblich versuchte, Wrangelland anzulaufen, fuhr
,, Taimyr" bis Kaji Baranow in der Nähe der Küste.
Hier trennten sich die Schiffe. Der „Taimyr" ge-
lang es, nördlich der Neu-Sibirischen Inseln in
geradem Wege Kap Tscheljuskin zu erreichen.
Hierbei wurde nordöstlich von diesen Inseln eine
kleine Insel (Wil kitskij -Insel) entdeckt. Die
,, Waigatsch" folgte der sibirischen Küste und
machte Vermessungen an der Chatangabucht und
der ihr vorgelagerten Begitschew-Insel. Bei Kap
Tscheljuskin, wo sich die Schiffe wieder trafen,
war der Weg nach W. versperrt. Nach N. aus-
biegend fanden sie nach 50 km Fahrt eine etwa
12 km lange Insel, „Zesarowitsch Alexis" und im
NW. nach abermals 50 km ein neues hohes Land
mit Gletschern bei 80" 4' n. Breite und 97" 12'
ö. Länge. .Sie folgten der Küste 35 km weit,
dann zwang sie das Eis (bei -p 81", 96" O.) zur Um-
kehr. Das neue Nikolaus II -Land schiebt
sich vor die Lücke zwischen Franz Josef-Land und
Nowaja-Semlja und erklärt so auch die Eissperre
am Kap Tscheljuskin, die der Schiffahrt so un-
überwindliche .Schwierigkeiten bereitet.
Dr. Gottfried Hornig.
Astronomie. Über ein lichtabsorbierendes
Medium im Räume gibt King (Harvard Coli.
.-^nn. Bd. 76, i) neue Messungen, nachdem schon
früher (ebenda, Bd. 59, 179) Untersuchungen über
diese wichtige Frage gegeben waren. Der leitende
Gedanke ist der, daß ein absorbierendes Medium
zunächst die kurzen Lichtwellen beeinflussen wird,
so daß also bei Sternen desselben Spektralt}-|)us
mit zunehmender Entfernung eine zunehmende
Färbung ins Rötliche bemerkbar sein müßte. Das
zugrunde liegende Material ist nicht sehr ausge- I
dehnt, weil es schwierig ist, die notwendigen
Parallaxen zu beschaffen. Der Sicherheit halber
sind nur die Sterne genommen, bei denen gut
zusammenstimmende Parallaxen von wenigstens
zwei Beobachtern vorhanden sind. Die Parallaxen
sollten 0,030 Sek. überschreiten, und die Sterne
wegen der Photographie des Spektrums nicht
schwächer sein als von der 5. Größe. So erhielt
man 28 Sterne. Das in der früheren Arbeit er-
haltene Resultat wird bestätigt, dort erhielt man
0,0377 Größen Absorption der photographischen
Strahlen und 0,0184 für die optischen, hier 0,0189
für die optischen Strahlen mit einem Fehler von
0,0065 Größen. Dieser Wert der Absorption be-
zieht sich auf eine Rnumstrecke von der Länge
von 32,6 Lichtjahren oder einer Parallaxe von
0,1 Sek. Riem.
Einen Begleiter zur Capella hat Furuhjelm
gefunden (.A.str. Nachr. 47x5), und zwar in dem
sehr großen Abstand von 12 Minuten, in einem
Positionswinkel von 141,3 Grad. Daß Capella
N. F. XIII. Nr. 2:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
343
ein spektroskopischer Doppelstern sei, war
bekannt. Dieser Begleiter ist dadurch gefunden,
daß er dieselbe Eigenbewegung besitzt wie Ca-
pella, so daß an einem inneren Zusammenhang
nicht gezweifelt werden kann. Denn die sonst
in der Nälie liegenden Sterne haben nicht dieselbe
Eigenbewegung. Nimmt man hinzu, daß Capeila
keine meßbare Parallaxe besitzt, also mindestens
100 Lichtjahre entfernt ist, vielleicht sogar sehr
viel weiter, so stellt jener Abstand von mehr als
12 Minuten eine ungeheure Entfernung dar, so daß
man den inneren Zusammenhang nach der Er-
klärung der Hörbiger'schen Glazialkosmogonie
in der gemeinsamen Entstehung beider Gestirne
aus einer Riesensonne suchen wird. Riem.
Eine Untersuchung über Nebelflecken hat
Fath von der Sonnenwarte auf dem Mt. Wilson
angestellt. Mit dem dortigen Reflektor sind an
139 Stellen der Milchstraße Aufnahmen gemacht
worden (Astronom. Journal 28 Nr. 10 — 11)
und der angrenzenden Partien des Himmels,
zwischen dem Nordpol und 1 5 Grad südl. Dekl.
Jede Platte ist an dem lichtstarken Spiegel des
öoZöllers eine Stunde belichtet worden, so daß
sehr schwache Objekte noch erhalten sind. Es
handelte sich darum, außer der Lage am Himmel
die Größen, die Lage der großen Achsen und die
Helligkeiten zu bestimmen. Es zeigte sich eine
sehr große Zahl von rundlichen Nebeln, vom Kreis
bis zur langgestreckten Ellipse, aber ohne daß
sich eine gemeinsame Orientierung auf eine be-
stimmte Ebene feststellen ließ. Sowohl die run-
den wie die Spiralnebel liegen in allen denkbaren
Ebenen. Das Instrument würde am ganzen
Himmel mit einstündiger Exposition etwa 162000
Nebel zeigen , bei längeren Belichtungen ent-
sprechend mehr. Das kosmologisch wichtigste
Ergebnis ist die Bestätigung der schon früher
mit kleinerem Material abgeleiteten Tatsache, daß
die Nebel am dichtesten gegen die Pole der Ebene
der Milchstraße zusammentreten. Eine Karte,
in der gleichgroße Flächen eingezeichnet sind,
in denen die vorkommende Zahl der Nebel ein-
geschrieben ist, beweist dies auf das deutlichste.
Riem.
Physik. Neues von der Lichtelektrizität. Die
von Hall wachs vor gut 25 Jahren entdeckten
lichtelektrischen Erscheinungen bestehen bekannt-
lich darin, daß bei Bestrahlung mit Licht (ultra-
violettes ist besonders wirksam) aus Metallober-
flächen negative Elektrizität (Elektronen) entweicht.
In den Verhandlungen der Deutschen Physikalischen
Gesellschaft (Jahrg. 16 [191 4, S. 107) veröffent-
lichen Hall wachs und Wiedmann Versuche,
die interessante Aufschlüsse über den Mechanismus
und den Sitz dieser Erscheinungen geben. Die
Verfasser untersuchen das Kalium, welches von
allen Metallen am wirksamsten ist und finden,
daß sich der Effekt durch die große Gasaufnahme
des Kaliums erklärt, daß das Vorhandensein
von Gas eine notwendige Bedingung
merklicher Lichtelcktrizität ist; entfernt
man jede Spur von Gas, so verschwindet die Wir-
kung. Da ein Volumen Kalium 126 Volumina
Wasserstoff aufnimmt und recht festhält, so machte
die Entfernung des Gases, also die Herstellung
eines guten Vakuums beträchtliche Schwierigkeiten.
Man verfuhr folgendermaßen : Das in einem Glas-
kolben zunächst unter Wasserstoff eingebrachte
Metall wurde unter fortwährendem Laufen einer
Sprengel'schen Luftjjumpe mehrere Tage bis
zum Kochen erwärmt, bis ein mit dem Kolben
verschmolzenes Geißlerrohr auch bei lebhafterem
Sieden des Kaliums grüne Fluoreszenz bei Durch-
gang eines Induktiorstromes zeigte. Jetzt wurde
das Kalium bei fortdauerndem Gang der Pumpe
langsam in einen zweiten, und von hier in einen
dritten, vierten und fünften Kolben, die alle hinter-
einander geschaltet waren, überdestilliert und das
Vakuum durch flüssige Luft und Kokosnußkohle,
die besonders bei niedriger Temperatur Gas ab-
sorbiert, so weit gesteigert, daß die Entladung des
Induktors nicht mehr durch das Geißlerrohr, son-
dern über eine ihm parallel geschaltete, 6 cm lange
Funkenstrecke ging. Der nach viermaliger De-
stillation erhaltenen Kaliumschicht stand eine auf
-|- 8 Volt geladene Elektrode gegenüber, während
der Kaliumbelag durch eine Platinelektrode mit
einem H a 1 1 w a c h s - Elektrometer verbunden war.
Bei Belichtung des Kaliums mit einer Ouarzqueck-
silberlampe zeigte das Elektrometer keinen Aus-
schlag, während eine Vergleichszelle mittlerer
Empfindlichkeit einen solchen von 500 Skalenteilen
ergab. Lim sicher zu gehen, wurden noch meh-
rere andere Zellen nach demselben Verfahren her-
gestellt; alle zeigten dasselbe Resultat. Welcher
Art die Wirkung des Gases ist, darüber zurzeit
eine Aussage machen, lehnen die Verfasser ab.
Aus den Versuchen geht mit Sicherheit hervor,
daß die lichtelektrische Wirkung in der
mit Gas beladenen Metalloberfläche,
also in einem Gemisch von Metall und
Gas ihren Sitz hat.
In ähnlicher Richtung wie die geschilderten
bewegen sich Versuche von Fredenhagen, die
ebenfalls in den Verhandlungen der Deutschen
Physikalischen Gesellschaft (16 [1914], S. 201) mit-
geteilt werden. Der Verfasser untersucht sowohl
die thermische Elektronenemission als auch den
lichtelektrischen Effekt des Kaliums. Dieses ist
in einem mittels G ae de 'scher Molekularluff pumpe
evakuierbaren Glasrohr eingeschlossen und wird
mittels eines um das Rohr herumgeführten Heiz-
drahtes elektrisch auf 275" bis 375" erwärmt.
Es gibt dann Elektronen ab, so daß eine einerseits
an das Kalium, andererseits an eine ihm gegen-
überstehende Elektrode angelegte Spannung (2 bis
200 Volt) einen Strom erzeugt, dessen Stärke
mittels eines empfindlichen, in die Leitung gelegten
Galvanometers gemessen werden kann. Zur Ver-
meidung lichtelektrischer Störungen wurden die
Versuche im Dunkeln ausgeführt. Dieselbe Kalium-
oberfläche wurde in der gleichen Anordnung auf
344
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr. 22
ihr photoelektrisches Verhalten untersucht, indem
sie mit einer 50 kerzigen Metallfadenlampe bestrahlt
wurde. In Übereinstimmung mit den H a 1 1 w a c h s -
W i ed m an n 'sehen Versuchen ergab sich, daß
mehrmaliges Destillieren (bis 3mal) die Effekte,
den lichtelektrischen sowohl als auch den ther-
mischen, beträchtlich herabsetzte, so daß
der Verfasser zu dem Resultat kommt, daß zwi-
schen beiden Effekten ein Zusammen-
hang besteht, der auf Beziehungen zwischen
den Ursachen beider Effekte hindeutet. Ein wirk-
sames Agens, wahrscheinlich Wasserstoff, ruft die
Erscheinungen hervor.
In wertvoller Weise bestätigt und ergänzt
werden diese Ergebnisse durch eine von Freden-
hagen angeregte Arbeit von Küstner, die in
der physikalischen Zeitschrift 15 (1914) Seite 18
veröffentlicht ist und die das Verhalten des Zinks
untersucht. Die Strahlen einer Ouecksilberlampe
fallen auf eine in einem mittels Gaede- Pumpe
evakuierten Glasrohr eingeschlossene Zinkplatte,
deren Oberfläche mittels einer ebenfalls in das
Glasrohr eingeschlossenen, elektromagnetisch zu
betätigenden Schabvorrichtung jederzeit erneuert
werden kann. Reaktionsfähige Gase werden durch
Induktorentladungen und durch geschmolzenes
Kalium entfernt, das in einem mit dem Zinkrohr
verschmolzenen Nachbarrohr enthalten ist. Unter
diesen Umständen erweist sich das Zink als
lichtelektrisch unwirksam und zwar zeigt
es sich, daß der geringste Effekt in einem
ziemlich schlechten Vakuum auftritt. Es
kommt also nicht auf besonders gutes \'akuum
an, sondern vielmehr darauf, daß wirksame Gase
durch das erhitzte Kalium entfernt werden.
K. Schutt.
Anatomie. Die Kurzfingerigkeit (Brachydac-
tylie) ist eine nicht allzu seltene erbliche Miß-
bildung. Sie besteht in einer Verkürzung der
Finger oder der Zehen oder beider zusammen.
Die betreffenden Individuen haben außerdem, be-
sonders die Männer, eine geringere Körpergröße;
die Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten ist
in beiden Geschlechtern gesteigert, ebenso die
Fruchtbarkeit der Weiber.
Bezüglich der Frage, ob das Merkmal der
Kurzfingerigkeit sich den Mendel'schen Ver-
erbungsregeln fügt, kommt Dr. Emile Guyenot
(Le mendelisme et l'heredite chez l'homme, Bio-
logica, 4. Jahrg., 1914, Nr. 37) im Anschluß an
Rabaud zum Resultat, daß dies nicht der
Fall ist.
Zu einem anderen PIrgebnis gelangte H. Drink ■
water (Account of a family showing Minor-
Brachydactyly. Journal of Genetics. February 19 12,
Vol. 2, Nr. i). Während die gewöhnliche Brachy-
dactylie in der Verschmelzung der kurzen zweiten
und der dritten Phalange besieht, versteht er
unter Minorbrachydactylie jene P'orm der Miß-
bildung, bei der die Glieder selbständig bleiben, aber
sehr verkürzt sind (Fig. a). Finger und Hände
Kurzfingerigkeit des 2., 3. und 5. Fingers.
Hände von der Palmarfläclie.
Nach Rabaud (L'anthropologie 1911).
sind kürzer und plumper (Fig.). Die Ursachen für
diese Form der Brachydactylie können dreierlei
Art sein : kürzerer Körper der Mittelphalange,
Fehlen der basalen Epiphysen und vorzeitige Ver-
kiiöcherung des Epiphysenknorpels. Im extrem-
sten P'all sind alle 4 Finger (außer dem Daumen)
betroffen. In einem anderen Fall war nur der
Zeigefinger und der kleine Finger verkürzt. Bei
jedem abnormen Individuum der betreffenden Fa-
milie war die Anomalie an den Händen und
an den Füßen symmetrisch. Die Mißbildung zeigte
bei 5 Generationen einer P'amilie folgendes Bild.
Wenn sie übertragen wurde, betraf sie stets beide
Hände und beide Füße. Sie wurde nur von ab-
normen Eltern vererbt, während die Kinder der
normalen alle normal waren. Kathariner.
Bücherbesprechungen.
Jean Perrin , Die Atome, mit Autorisation
des Verfassers deutsch herausgecreben von A.
T 0 ö
Lottermoser. 196 S. mit 13 Abbildungen
im Text. Verlag von Theodor Steinkopff, Dres-
den und Leipzig 1914. — Geh. Mk. 5, — , geb.
Mk. 6,—.
„Die Atomtlieorie hat triumphiert. Ihre un-
längst noch zahlreichen Widersacher verzichten,
da sie endlich überzeugt sind, einer nach dem
andern auf die Einwürfe, welche lange Zeit be-
rechtigt und ohne Zweifel nützlich waren. Nun
kann der Konflikt der Meinungen, die teils aus
Klugheitsgründen, teils in kühnem Vorwärtsstreben
geäußert werden, an anderen Gegenständen ent-
brennen. Das Gleichgewicht zwischen ihnen ist
notwendig für den langsamen Fortschritt der Wissen-
schaft."
Diese stolzen und doch bescheidenen Worte
N. F. XIII. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
345
finden sich am Schluß des Buches von Per r in.
Kein anderer konnte sie mit größerer Berechtigung
schreiben als der Verfasser, dessen Untersuchungen
der alten Hypothese von der atomistischen Struktur
der Materie zum endgültigen Siege verholfen haben.
Das erste Kapitel zeigt, was die Dalton'sche
Atomtheorie und die Regel von Avogadro für
die Entwicklung der Chemie geleistet haben. Sie
sind die Grundpfeiler der chemischen Systematik,
der Yalenztheorie und der Strukturchemie; ohne
sie wäre der beispiellose Aufschwung der Chemie
im 19. Jahrhundert undenkbar. Angesichts dieser
geschichtlichen Tatsachen ist es dem Chemiker
immer schwer geworden, an die dereinstige Ent-
behrlichkeit der Atomtheorie zu glauben, die Wil-
lielm Ostwald noch im Jahre 1906 in einem
seiner schönsten Bücher, den Leitlinien der Chemie,
voraussagte. ') — Am Schluß des ersten Kapitels
behandelt Perrin die Übertragung der Gasgesetze
und der A vo gad ro ' sehen Regel auf verdünnte
Lösungen, ferner das Faraday'sche Gesetz und
die Theorie der elektrolytischen Dissoziation. Die
Grundlagen für die später durchgeführte Berech-
nung der ,, Elementarladung" einwertiger Ionen sind
damit gegeben.
Die Molekularbewegung ist der Gegen-
stand des 2. Kapitels. Durch die von Clausius
und Krönig aufgestellte, von Maxwell, Boltz-
mann, van der Wa als u. a. ausgebaute kine-
tische Gastheorie findet eine Reihe bekannter
physikalischer Gesetze eine einheitliche Erklärung;
neue Gesetze werden abgeleitet und durch das
Experiment in überraschender Weise bestätigt.
Mit ihrer Hilfe gelingt die erste annähernde „Aus-
wertung molekularer Größen".
Nun folgen in Kapitel III und IV die Unter-
suchungen, an denen der Verf. den Hauptanteil
hat, und die zu einem direkten experimentellen
Beweis für die reale Existenz der Moleküle geführt
haben. Sie nehmen ihren Ausgang von der zuerst
von Brown beobachteten und nach ihm benann-
ten Bewegungmikroskopisch kleiner, in Flüssigkeiten
(oder Gasen) suspendierter Teilchen. Die Brown-
sche Bewegung wird verursacht durch die unauf-
hörlichen, unregelmäßigen Stöße von Seiten der
bewegten i\IoIeküle des umgebenden Mediums.
Diese selbst sehen wir zwar nicht, wohl aber die
von ihnen hin- und hergestoßenen suspendierten
Teilchen. Ebenso bleiben, um ein anschauliches
Bild zu brauchen, dem entfernten Beobachter
die Meereswellen unsichtbar, aber er erkennt ihre
Wirkung, wenn in Sehweite ein Boot auf den
Wellen schaukelt (Perrin). Durch genial ausge-
dachte und experimentell bewundernswert durch-
geführte Versuche wies Perrin nach, daß die
Gasgesetze auf verdünnte Emulsionen anwendbar
sind, daß sich die suspendierten Teile der Emulsion
in einer P'lüssigkeitssäule in derselben Weise ordnen
wie die Gasmoleküle in einer senkrechten Gas-
') In 2. Auflage unter dem Titel ,, Werdegang einer
Wissenschaft" erschienen.
säule, und daß es so gelingt, die A vogadro'sche
Zahl (Zahl der Einzelmoleküle im Grammolekül)
direkt durch Zählung der suspendierten Teilchen
unter den Mikroskop zu ermitteln. Die gefundene
Zahl ist der aus der kinetischen Gastheorie abge-
leiteten fast gleich aber ungleich genauer, weil ,,sie
nicht wie diese aus vereinfachenden Hypothesen
hervorgeht, sondern durchaus nur von der Ge-
nauigkeit der Versuche abhängt". Als wahr-
scheinlichsten Wert gibt Perrin N = 68,2 >< 10-'-.
Der Mechanismus der Brown' sehen Bewegung
ist von Einstein analysiert worden. Die experimen-
tellen Beweise von Perrin und Svedberg bringen
der Theorie von Einst ein eine glänzende Bestätigung
und öffnen zugleich neue Wege zur firmiitlung von
,,N". Auch die von Kamerlingh Onnes und Kee-
som ausgeführte Prüfung der Theorie von Smolu-
chowsky für die „kritische Opaleszenz" und die
zuerst von Lord Rayleigh gegebene Erklärung
für die blaue Farbe des Himmels führen zu dem
gleichen Ziele. Dasselbe gilt von den Gesetzen der
Strahlung des schwarzen Körpers (Quantentheorie
von Planck) und von der Bestimmung des elek-
trischen Elementarquantums durch T o w n s e n d ,
Wilson, J. J. Thomson und M i 1 1 i k a n
(Kapitel VI und VII). Den Schluß der Beweiskette
bildet ein Abschnitt über die radioaktiven Elemente,
den Atomzerfall und die Atomzählung, wie sie
zuerst von Regener und von Rutherford und
Geiger durchgeführt wurde. Alle diese von-
einander unabhängigen und sehr verschiedenartigen
Wege führen immer wieder zu dem gleichen Werte
für die A v o g a d r o'sche Zahl. Die F'üUe der
Beweise ist fast erdrückend. ,,Die Atomtheorie
hat triumphiert 1"
,,Aber in dem Triumphe selbst sehen wir das,
was die ursprüngliche Theorie an Starrem und
Endgültigem hatte, verschwinden. Die Atome
sind nicht jene ewigen und unteilbaren Elemente,
deren unabänderliche Einfachheit allen Möglich-
keiten ein Ziel setzte, wir fangen an, ein unend-
liches Gewimmel neuer Welten zu ahnen . . . Jedes
neue Mittel der Erkenntnis zeigt uns die Natur
mannigfaltiger, fruchtbarer, überraschender, schöner
und reicher in ihrer unergründlichen Unermeß-
lichkeit."
Das Buch ist von A. L o 1 1 e r m o s e r sehr
gut übersetzt. M Für flüchtige Lektüre ist es nicht
geschrieben. Der Gegenstand fordert vom Leser
angespannte Aufmerksamkeit, aber die aufgewen-
dete Mühe wird belohnt durch eine reiche Fülle
des Interessanten und Anregenden, von dem in
diesen Zeilen nur eine Andeutung gegeben werden
konnte. A. Sieverts, Leipzig.
H. Gro^mann, Die B e s t i m m u n g s m e t h o d e n
des Nickels und Kobalts und ihre
Trennung von anderen Elementen.
140 S. Verlag von Ferdinand Enke. Stuttgart
191 3. — Preis geh. 5 Mk.
') Bei einer Neuauflage wären die Formeln auf S. 142/143
zu revidieren.
346
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 22
Die vorliegende Monographie erscheint als
XVI. Band der von Margosches herausgege-
benen Sammlung „Die chemische Analyse". Die
Bestimmung von Nickel und Kobalt wird zuerst
besprochen, sodann ihre Trennung von anderen
Metallen, und endlich die Scheidung der beiden
Elemente voneinander. Sie gehörte früher für den
Chemiebeflissenen 7ai den gefürchteten Aufgaben
der analytischen Chemie. Durch die Methoden
von Großmann (des Vcrf) und von Tschu-
g a e f f- B r u n c k ist aber die Kobalt-Nickeltrennung
seit einigen Jahren zu einem einfachen und schnell
ausführbaren Verfahren geworden.
Der Inhalt des Heftes ist sehr reichhaltig;
behandelt werden qualitative und quantitative
Methoden, unter diesen gewichtsanalytische, maß-
analytische, elektroanalytisclie, kolorimetrische,
spektrometrische und gasvolumetrische Verfaliren.
Ein Abschnitt über die ,, Untersuchung technisch
wichtiger nickel- und kobalthaltiger Materialien"
beschließt das Buch, das allen empfohlen sei, die
sich über das behandelte Spezialgebiet näher unter-
richten wollen oder müssen.
A. Sieverts- Leipzig.
A. Berg, Geographisches Wanderbuch.
(Prof. Dr. Bastian Schmid's Naturwissensch.
Schülerbibliothek Bd. 23). Verlag B. G. Teub-
ner, Leipzig 19 14. — Preis geb. 4 Mk.
Der mit zahlreichen Abbildungen geschmückte
Band ist eine vorzügliche Anleitung für Schüler,
Wandervögel und Pfadfinder zu geographischer
Beobachtung. .\usführ]ich wird in die Kartenkunde
elngefüiirt, in das Messen im Gelände mit ein-
fachen selbst herzustellenden Hilfsmitteln, in Ge-
ländeaufnahmen und in das Kartenlesen, wobei
dem Meßtischblatt der Vorzug vor der General-
stabskarte gegeben wird. .Auf die amtlichen
Kartenwerke wird mit nützlichen Angaben hin-
gewiesen, die Anfertigung von Reliefs eingehend
dargestellt. .■\uchdieMittelzurVerständigung(Helio-
graph, Telegraphie) werden in ihrer Herstellung
und Wirkungsweise erklärt, wobei leider bei der
Angabe des Morsealphabets ein kleiner Irrtum
untergelaufen ist, indem vor dem Zeichen für o
die Zahl 10 steht; aucli in dem Beispiel auf S. 188
haben sich einige Zeichenfehler eingeschlichen.
Kürzer, doch ausreichend im Rahmen dieses Ban-
des, wird auf Wind und Wetter, Bach und Fluß
eingegangen. Die folgenden Abschnitte behandeln
Fragen der Pflanzen- und Tiergeograj:)hie, sowie
den Menschen und seine Werke, vor allem Eisen-
bahn und Schiffahrt. Der Ilauptwert ist auch
hier auf die Beobachtung der Erscheinungen selbst
gelegt, die sich dem Schüler und jungen Geogra-
phen darbieten. Im ganzen Buche wird von den
Formeln der einfachen Trigonometrie wiederholt
Gebrauch gemacht und ihre praktische Anwen-
dung gelehrt. Auch der Lehrer der Geographie
und Mathematik wird das Buch mit Nutzen ver-
wenden können. Dr. G. Hornio-.
S. Becher und R. Demoll, Einführung in
diemikroskopischeTechnik für Na t u r -
Wissenschaftler und Mediziner. 183 S.
Verlag v. Quelle und Meyer in Leipzig 191 3.
— Preis geh. 2,50 Mk., geb. 3 Mk.
Das Buch gibt in kurzer und sehr klarer Form
Anleitungen zur Herstellung mikroskopischer
Präparate. Die Methoden der Bakteriologie und
parasitischen Protozoologie, für welche es bereits
genug Leitfäden gibt, sind nicht berücksichtigt.
In der Einleitung, die über die allgemeine Metho-
dikmikroskopischer LIntersuchungen handelt, finden
sich manche gute Ratschläge für Anfänger in
selbständiger Forschung. Auf die mikroskopische
Beobachtung des lebenden Objektes wird mit
Recht großer Wert gelegt, ebenso auf das Zeichnen
des Gesehenen. Dabei wird vor zu großer Über-
schätzung der Mikrophotographie gewarnt.
Es folgen dann Anweisungen über die spe-
ziellen Methoden der mikroskopischen Technik. Die
Autoren stellen dabei die bewährten und zuver-
lässigen in den Vordergrund. Was das Buch be-
sonders auszeichnet, ist, daß es nicht eine ein-
fache Aufzählung gibt, sondern daß überall in
außerordentlicli klarer Weise allgemeine Gesichts-
punkte hervorgehoben werden. Überall merkt
der Leser, daß die Ausführungen auf eigener Er-
fahrung der Autoren basieren.
Das vortreffliche Buch eignet sich nicht allein
für den Anfänger, sondern auch für den Fortge-
schrittenen. Auch solchen, die nicht Berufsmikro-
skopiker sind, sondern mehr zu dem weiteren
Kreise der Freunde mikroskopischer Forschung
gehören, ist es sehr zu empfehlen. Der Preis ist
für das, was geboten wird, sehr gering.
V. Berenberg-Goßler, Freiburg i. B.
Friedrich Bergius, Die Anwendung hoher
Drucke bei chemischen Vorgängen
und eine Nachbildung des Ent-
stehungsprozesses der Steinkohle.
Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen.
Druck u. Verlag v. Wilhelm Knapp, Halle (Saale)
191 3. — Preis 2,80 Mk.
Bergius gibt eine systematische Betrachtung
über die Rolle des Druckes bei chemischen Re-
aktionen und schildert dann die Versuchsanordnung
für das Arbeiten mit hohem Druck. Den Haupt-
teil der Schrift bilden Spezialitäten wie die Disso-
ziation und Bildung von Kalziumsuperoxyd, Re-
aktionen des überhitzten Wassers und endlich die
Nachbildung des natürlichen Steinkoiilenbildungs-
vorganges im Laboratorium. Von alledem werden
sich weitere Kreise namentlich für den zuletzt ge-
nannten Gegenstand interessieren.
Der Versuch, künstliche Kohle herzustellen,
ist nicht neu. Schien es doch außerordentlich
einfach, die Bedingungen, unter denen totes
Pflanzenmaterial mit der Zeit zu Kohle wird, im
Laboratorium nachzuahmen. Man dachte sich,
daß Hitze und Druck die maßgebenden Faktoren
seien, und daß es deshalb gelingen müßte, durch
N. F. XIII. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
347
Variation eines oder beider Faktoren, den Prozeß
der Kohlewerdung zu beschleunigen. Warum
sollte sich nicht ein Vorgang, der sonst Zeiten
dauerte, denen die ganze menschliche Geschiciite
nicht zum Maßstab dienen kann, z. B. durch eine
höhere Temperatur in nur wenigen Stunden ab-
spielen können r Diese und ähnliche Fragen ver-
anlaßten 1841 auch Alexander Petzoldt zu
dem folgenden Experiment: Er konstruierte fest
verschließbare Büchsen, in die frisches Holz ge-
füllt wurde, und setzte sie dem Feuer aus. Bei
( )ft'nung der Büchsen fand sich darin eine wie
Steinkohle aussehende Masse.
Bergius bemerkt mit Recht, daß das Pro-
dukt Petzoldt 's keine Kohle gewesen sei. Bei
der großen Hitze wird sich das Holz, wie dies
bei der Destillation geschieht, unbedingt in Holz-
kohle und Teer zersetzt haben. Was Petzoldt
darstellte, war also nichts als ein Gemisch dieser
beiden Bestandteile. Lenken wir deshalb unsere
Aufmerksamkeit auf eine andere Mitteilung
P e t z o 1 d t ' s.
Einst sollten mit einer Dampframme Holz-
pfähle in den Untergrund geti ieben werden und
sie schienen auch den Stößen zu weichen. Es er-
gab sich jedoch, daß sie auf hartes Gestein ge-
raten waren und sich nur oberhalb des Eisen-
schuhes, der ihre Spitze umgab, gestaucht hatten.
Als nun das Innere der Pfähle an den gestauchten
Stellen untersucht wurde, da fand sich, daß im
Zentrum ein wie Anthrazit aussehendes Ma-
terial entstanden war, weiter außen ein mehr
brau nko hl i ges und schließlich zu äußerst nur
ein angebräuntes bis gelbliches Holz. Sicherlich
ist unter diesen Produkten zum mindesten eines ge-
wesen , das gewissen Kohlen sehr nahe stand,
und man muß nur bedauern, daß Petzoldt
seiner Beschreibung dieser Produkte nur ganz
mangelhafte chemische Daten beigegeben hat.
Jedenfalls zeigt diese Beobachtung Petzoldt 's,
daß es keineswegs fern liegt, den Prozeß der
Kohlebildung im Laboratorium nachahmen zu
wollen. Bildet sich doch auch zuweilen in den
Stempeln der Bergwerke, die einem besonders
starken Druck ausgesetzt waren, ein kohleartiges
Material.
Das Verdienst von B er gi u s ist es nun, einmal
unter genau bekannten Bedingungen künstliche
Kohle hergestellt zu haben. So ist der Prozeß
der Kohlewerdung definitiv in ein klares Licht ge-
rückt worden. Endgültig wird man jetzt aufhören,
fabelhaften Druck und kolossale Hitze für unbe-
dingt notwendige Faktoren zu halten; man wird
in Geologenkreisen nun einen großen Schritt dem
Gedanken näher kommen, daß schon bei normalem
1 )ruck und bei normaler Temperatur Kohle werden
kann, wenn nur das Pflanzenmaterial hinreichend
vom Sauerstoff der Luft abgeschlossen ist, um
nicht zu verwesen, d. h. ,, spurlos zu ver-
schwinden".
Da die Zellulose keine stabile Verbindung ist,
fällt sie dem Selbstzersetzungsprozeß anheim. Sie
wird also freiwillig zur Kohle. Große Hitze und
großer Druck wirken nur reaktionsbeschleunigend,
sind aber nicht einmal nötig, um den Prozeß
einzuleiten, was ja die Torfbildung deutlich zeigt.
Als maßgebender Faktor ist also einzig
und allein die Tendenz aller toten Zel-
lulose zu betrachten, von selbst zu zer-
fallen.
Bergius setzte das pflanzliche Material Tem-
peraturen aus, von denen er annehmen durfte,
daß sie noch keinen Destiüationsprozeß bedingen,
sondern nur den selbständigen Zellulosezerfall
beschleunigen würden. Er erhielt poröse Mate-
rialien, deren Zusammensetzung der der Fett-
kohlen glich. Um den so gewonnenen Produkten
den bekannten Glanz zu verleihen, setzte er sie
hohen Drucken aus. Es ergab sich dabei, daß
auch der Druck den Zellulosezerfall beschleunigt.
Robert Potonie.
O. Dittrich, Die Probleme der Sprach-
psychologie und ihre gegenwärtigen Lösungs-
möglichkeiten. 148 S. Leipzig 1913. — Geh.
Mk. 3,20, geb. Mk. 3,80.
F"ußend auf P. Kretschmer, W. v. Hum-
boldt, Steinthal, H. Paul, J. Geyser, E.
Husserl, A. Marty, H. Gompetz, E. Martinak, F.
Saran, Brugmann u.a., die er aber auch manch-
mal befehdet, gelingt es dem Verf. der schon
durch seine„Grundzüge der Sprachpsychologie" u.a.
bekannt ist, seine Selbständigkeit im Denken und
Forschen auch gegen einen Wundt mit Erfolg
zu behaupten. Für dessen von Paul abgelehnten
Ausdruck „Völkerpsychologie" setzt er „Gemein-
psychologie, der die nur aus der Sondergemein-
schaft von Individuen erwachsenden psychischen
Tatsachen zur Erforschung zufallen", und ordnet
ihr die Sprachpsychologie unter, ohne die Mög-
lichkeit zu bestreiten, daß alles das, wodurch die
Wirkung eines Individuums auf das andere ermög-
licht wird, nicht psychisch sei. P'erner ist ihm
,,Zweiheit von Individuen zur Entstehung von
Sprache eine unerläßliche Bedingimg, Vielheit da-
gegen nicht", und so definiert er: ,, Sprache ist die
Gesamtheit aller jemals aktuell gewordenen bzw.
aktuell werden könnenden Ausdruckslcistungen der
menschlichen bzw. tierischen Individuen, insofern
sie von mindestens einem anderen Individuum zu
verstehen gesucht werden können." Diese Ein-
schränkung ist aber eine klare Lossage von Wundt
(vgl. von mir Sprachentwicklung der Kinder und
der Menschheit, Langensalza 1899, S. 26 — 28 und
R e i n ' s Enzyklopäd. Handb. d. Päd., 2. Aufl., S. 768
bis 771). Nach der aligemeinen Einführung und
Gliederung der Probleme behandelt D. die p h y 1 o n -
togenetischen, besonders das der Bedeu-
tung, dann die ontoge netischen (Syntax und
Wortbildung), endlich die phylogenetischen.
Hierbei gilt ihm als wichtigste l<"rage, wie der
Sprachusus entstehe, wobei es ihm aber entgeht,
daß ihre Beantwortung wenigstens ver^ucht worden
ist: Der durch die hilflose Lage des Kindes ge-
348
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 22
gebene lange Verkehrszwang zwischen der Mutter
und diesem führte zunächst einen Ausgleich zwi-
schen den Lautäußerungen beider herbei, Nach-
ahmungstrieb, Respekt vor dem redegewaltigen
Führer und gemeinsame Tätigkeit, dann später
innerhalb der Horde (vgl. von mir „die mutm.
SprachederFiszeitmenschen", Halle 19 13,5.47 — 97).
Manche formelle Neuerung Dittrich's muß
die Sprachforschung ablehnen, so den Ersatz der
ihr gebräuchlichen Bezeichnungen ,, Satzwort" oder
„Einwortsatz" (Stern) durch Häufungssatz, welches
Wort eher das besagen könnte, was sie mit mehr-
fachem oder zusammengesetztem Satz bezeichnet,
also gerade das Umgekehrte von dem, was D.
meint, nämlich e i n Wort (Lautung), auf das Sub-
jekt und Prädikat gehäuft sind. Die Einführung der
Begriffe Generalsubjekt, Generalprädikat usw. als
Oberbegriffe von Satzaussage, Satzgegenstand usw.
mag vielleicht auch für die Sprachforschung fruchtbar
werden können. Doch übergeht D., daß diese in den
Begriffen „logisches Subjekt, logisches Prädikat"
und in der Unterscheidung zwischen ,, Inhalt- und
P'ormwort" schon etwas sehr Brauchbares hat.
Ja, gerade seine Beweisführung läßt mir diese Be-
griffe brauchbarer erscheinen als seine General-
subjekte usw. Denn mit Hilfe dieser kommt er
zu der Behaujitung: „Wo sind die Gefangenen?"
wäre ein wortloser Satz. „Wo", „sind" und ,,die"
sind ja allerdings nur P'ormwörter und „Gefange-
ner" bezeichnet die Person nicht eindeutig, wohl
aber den Zustand, in dem sich diese befindet,
und ist daher ein relativ selbständiges subjekt-
oder prädikatseitig-integrales Satzbedeutungsglied,
wie D. ,,Wort" definiert. Gleichwohl verdient
diese Schrift eingehende Beachtung aller Sprach-
forscher, auch der, die in der Zoologie die wert-
vollste Bundesgenossin der Sprachwissenschaft er-
kennen (Kosmos 1886, I, S. 98: Über die Ent-
wicklung der menschl. und der tier. Sprache. Die
mutm. Spr. d. Eiszeitmenschen, S. 3 — 13).
Prof. Dr. Carl Franke.
G. Kerschensteiner , Wesen und Wert des
naturwissenschaftlichen Unterrichts.
141 S. 8". Leipzig und Berlin 1914, Teubner.
— Geb. 3,60 Mk.
Die sehr lesenswerte kleine Schrift, die in er-
weiterter Form den Inhalt eines vom Verfasser
auf der Münchner Hauptversammlung des Vereins
zur Förderung des mathematischen und natur-
wissenschaftlichen Unterrichts gehaltenen Vortrages
wiedergibt, geht aus von einer Betrachtung über
die Merkmale, nach denen der Erziehungswert
eines Lehrfaches abzuschätzen sei, und findet
diese in der Nötigung zur sinngemäßen, den gerade
vorliegenden Verhältnissen entsprechenden An-
wendungen der Begriffe, die uns übermittelt wer-
den. Hierzu zu erziehen sei an sich Sprachunter-
richt und naturwissenschaftlicher Unterricht in
gleichem Maß imstande. Der Verfasser führt dies
näher an drei Beispielen aus: der sinngemäßen
Übersetzung einer griechischen Strophe aus Pindar,
und je einem physikalischen und chemischen Be-
obachtungsbeispiel. Der Schüler, der selbständig,
ohne besondere Anleitung diese Aufgaben zu
lösen hat, vollzieht dabei, wie Kerschensteiner
im einzelnen ausführt, ganz analoge Verstandes-
operationen. Da auf naturwissenschaftlichem Ge-
biet bei solchem Verfahren übereilte I'olgerungen
und Trugschlüsse meist schneller und sicherer
erkannt werden, so kommt diesem ein gewisser
Vorzug zu. Auch sei hier die „eindeutige Zu-
ordnung eines Begriffs zu einem Wortsymbol"
besonders scharf ausgeprägt. L
; In bezug auf die Ausbildung des Beobachtungs- f
Vermögens schreibt Ke rsc h e nst ei n e r, dafi der
ganz auf Erfahrung und Beobachtung beruhende
naturwissenschaftliche Unterricht diese Fähigkeit
naturgemäß besonders gut entwickelte, daß dies
aber nicht als ein allgemeiner Erziehungsgewinn
zu betrachten sei, da jedes Fach seine eigene Art
zu beobachten habe, und daher jedes F"ach auch
nur eine spezielle Art der Beobachtung entwickeln
könne. Sonst aber sei eine regelmäßige Übung
des Beobachtungsvermögens als Gegengewicht
gegen die die Lust und Fähigkeit zu eigener Be-
obachtung beeinträchtigende vorwiegende Be-
schäftigung mit Büchern zu empfehlen. Einen
besonderen Wert schreibt dabei Kerschen-
steiner dem „aktiven" Beobachten, d. h. dem
Experiment zu. Als moralische Erziehungswerte
des naturwissenschaftlichen Unterrichts erscheinen
dem Verfasser die Einführung in den Geist der
Gesetzmäßigkeit alles Weltgeschehens, das Gefühl
der Verantwortlichkeit für die Genauigkeit des
Feststeilens, die Ehrfurcht vor allem streng wissen-
schaftlichen Denken sowie die Erziehung zu Wahr-
heitsliebe und Objektivität. Dagegen könne die
Naturwissenschaft in die „Welt des Sollens" nicht
einführen, wie Verfasser in einem besonderen Ab-
schnitt, im Gegensatz zu Unold und Ostwald
ausführt.
Um nun die angeführten Erziehungswerte im
Unterricht auszulösen, bedarf es des natürlichen
Interesses eines selbst von P'orschergeist erfüllten
Lehrers, endlich aber einer Lehrmethode, die nicht
auf möglichst umfangreichen Lehrstoff, auf „Enzy-
klopädismus", sondern auf Konzentration und auf
möglichst ausgedehnte Selbsttätigkeit der Schüler
den Nachdruck legt. Ein enzyklo])ädischer Über-
blick, der nachher zu dem Dünkel führe, , .bereits
alles zu wissen", bleibe äußerlich, dagegen die
gründliche Beschäftigung mit einem kleinen Ge-
biet, mit dem Bestreben, „den Geist des For-
schens in die Schüler zu tragen" hinterlassen einen
,, unstillbaren Hunger", nun auch andere Teil-
gebiete durchzuarbeiten". Den Schluß des Buches
bildet der Entwurf eines Lehrplans für ein „natur-
wissenschaftliches Gymnasium", in dem die Natur-
wissenschaften als wesentliches Fach mit einer
größeren Stundenzahl ihre bildenden und erzieh-
lichen Eigenschaften entfalten können.
Der Verfasser wünscht „mehr kritische, als
geneigte Leser"; es sei daher, bei aller Anerken-
N. F. Xm. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
349
nung vieler der in der kleinen Schrift geäußerten
Gedanken, doch betont, daß der Verfasser in der
— an sich wohl berechtigten — Warnung vor
enzyklopädischem Vollständigkeitsstreben etwas zu
weit geht. Die Schule soll doch nicht n u r for-
male Bildung vermitteln, sondern auch ein ge-
wisses Maß von dem , was man als ,, positive
Kenntnisse" zu bezeichnen pflegt. Wohl kann
auch nach des Referenten Ansicht der Unterricht
dem Umfang nach auf allen Gebieten einge-
schränkt werden , aber ganz darf doch auch das
„stoffliche" Interesse nicht hintangesetzt werden.
Auch wird Kersch ensteiner den biologischen
Fächern nicht ganz gerecht. Schon der Ausdruck
„beschreibende Naturwissenschaften" sollte, weil
er einen inneren Widerspruch einschließt — eine
„Wissenschaft" kann niemals ,, beschreibend" sein,
wenn man dies Wort nicht in dem von Kirch-
hof gebrauchten, weiteren .Sinn faßt — nie mehr
gebraucht werden. Ein Gegensatz aber zwischen
Zoologie und Botanik einerseits und Biologie
andererseits, wie ihn der Verfasser mehrmals
bringt, existiert nicht. Solche Ausstellungen, deren
sich noch weitere machen ließen, beeinträchtigen
aber den wahren Wert der Schrift nicht, be-
sonders ist der Gedanke , eine Schulgattung zu
gründen, die wirklich den naturwissenschaftlichen
Fächern zur Entfaltung ihrer eigentümlichen Bil-
dungselemente volle Gelegenheit gibt, ernstester
Erwägung wert. R. v. Hanstein.
J
L. de Lanessan, Transformisme etCre-
ationisme; contribution ä l'histoire
du transformisme depuis l'antiquite
j usq u 'ä nos j ou rs. Bibliotheque scientifique
internationale, Librairie Felix Alcan, Paris 19 14.
Das Werk ist in fünf Bücher eingeteilt. Das
erste behandelt in neun Kapiteln die Gedanken
über „Schöpfung" und „Entwicklung" im Alter-
tume, speziell die griechischen Philosophen ; das
zweite Buch behandelt in fünf Kapiteln das
Mittelalter und die Renaissance. Diese beiden
ersten Bücher haben mir ganz besonders gefallen;
dem Naturwissenschaftler, der sich nicht speziell
mit Philosophie des Altertums und des Mittelalters
befassen kann, hat der Autor hiermit einen großen
Dienst erwiesen. —
Die acht Kapitel des dritten Buches werden
ausgefüllt durch die Darstellung der Lehren Buffons
über Evolution. Das Buch scheint mir unverhält-
nismäßig umfangreich ausgefallen zu sein: hin-
sichtlich der Einschätzung Buffons kann man
anderer Meinung sein; vide a. e. : Max Rauther,
„Über den Begriff der Verwandtschaft", Zool.
Jahrb. 191 2, Suppl. XV, 3. Bd. pag. 95. —
Im vierten Buche (das in fünf Kapitel zer-
fällt) wird die Lehre Lamarck's ausführlicher dar-
gestellt : die Bedeutung dieses Gelehrten erscheint
mir richtig erkannt. — Trotz der Überschätzung
Buffons und trotz der Unterschätzung der histo-
rischen Bedeutung Etienne Geoffroy Saint-Hilaires
— dem der Autor mit Unrecht nur wenige Seiten
widmet — müssen die klaren Darlegungen des
dritten und vierten Buches dem Leser empfohlen
werden. —
Das fünfte Buch (fünf Kapitel) bringt die
Darlegung der Leiire und Bedeutung Darwins.
Die Ausführungen und Ansichten des französischen
Autors werden den deutschen Leser ganz beson-
ders interessieren. Zweifellos indes ist die Be-
deutung Darwins unterschätzt. — Das Werk, dem
ein zweiter Teil folgen soll, verdient unbedingt
Beachtung. —
Eins freilich ist dem Autor, wie so manchem
anderen Autor, nicht zu verzeihen, nämlich, daß
er den größten „Naturforscher" nicht kennt,
der mit dem Anspruch auftrat, „die menschliche
Vernunft in dem, was ihr Wißbegierde jederzeit,
bisher aber vergeblich, beschäftigt hat, zur völligen
Befriedigung zu bringen" . . .
Oristano, Sardinien, März 191 4.
Dr. Anton Krauße.
über
Kleinere Mitteilungen.
.postmortale Veränderungen beim Wild
bret" referierten auf der Herbstversammlung des
Vereins der Tierärzte des Regierungsbezirks Düssel-
dorf die Herrn Weis eher und Dr. Möller').
Es wurden im besonderen diejenigen Vorgänge be-
handelt, die für Wildfleisch eigentümlich sind und
hier häufiger beobachtet werden als bei Schlacht-
tierfleisch. Sie interessieren allgemeiner vom wissen-
schaftlichen und sanitären Standpunkte aus, vom
Standpunkt des Jägers und Jagdliebhabers. Es
wurde früher angenommen, daß Wildfleisch für ge-
wisse Verderbnisvorgänge von Natur aus empfäng-
licher wäre wie das Fleisch der Schlachttiere. Das
ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil kann be-
') Bericht in der
I9M, Nr. 14, S. 247.
Berliner Tierärztlichen Wochenschrift
hauptet werden, daß Wildfleisch, weil es zäh und
derb ist, einen hohen Grad von Widerstands-
fähigkeit besitzt. .'\uch scheint nach den Be-
obachtungen des einen Referenten das Wildblut
mit besonderen bakteriziden Fähigkeiten ausge-
stattet zu sein. Aber das Wildbret wird gewohn-
heitsgemäß vom Abschuß bis zum Verbrauch
unzweckmäßig behandelt. Es unterliegt keiner
besonderen Durchkühlung und Kältekonservierung
und wird häufig unzweckmäßig verpackt über
weite Strecken transportiert. Es ist leider nicht
mehr allgemein üblich, erlegte Tiere sofort auf-
zubrechen. Dies geschieht häufig viel zu spät und
wird bei kleinem Wild meist überhaupt nicht mehr
vorgenommen. Durch diese Unsitte verdirbt viel
Wildbret. Dr. Möller schlägt nach seinen Er-
fahrungen und Untersuchungen eine neue Ein-
350
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 22
teilung der Zersetzungsvorgänge vor. Er erklärt
die Begriffe „Verhitztsein" und „saure Gärung"
für unbrauchbar und spricht von : I. Reifung (Auto-
lyse), 2. stickiger Reifung (stickiger Autolyse) und
3. der Fäulnis. Daneben kommen Bereifen, Ver-
schimmeln, Vermaden des Fleisches usw. in Frage.
Als .AiUtolyse bezeichnet man die nicht durch
Bakterien hervorgerufene Spaltung des toten Ei-
weißes , die die sog. Tafelreife des Fleisches
herbeiführt. Da Wildbret viel länger aufbewahr-
bar ist wie Schlachttierfleisch, ohne daß es in
Fäulnis übergeht, läßt sich bei ihm ein hoher
Grad der Reifung erzielen, die ihm den pikanten,
aromatischen Geschmack verleiht. Die fortge-
schrittenen Grade der Autolyse bezeichnet man
als „Hautgout". (Fälschlicherweise wird häufig
Fleisch, das bereits begonnen hat, in Fäulnis über-
zugehen, als mit Hautgout versehen bezeichnet.)
Bei der stickigen Autolyse erfolgt die Zer-
setzung ebenfalls durch Enzyme, aber rascher und
meist unter Bildung unangenehm riechender Stoffe.
Sie tritt ein, wenn Wild zwar sachgemäß ausge-
weidet, danach aber warm aufbewahrt oder über-
einander geschichtet wird. Bei der F"äulnis sind
2 Formen zu unterscheiden: die durch aerobe Bak-
terien hervorgerufene, bei der die häulniskeime
von außen auf das I'leisch gelangen, und die
durch Anäerobin bedingte Leichenfäulnis. Bei
letzterer dringen die Bakterien bei zu spät aus-
geweideten Tieren durch die Darmwand in das
Fleisch. Der Ref spricht dann noch über den
geringen Wert der früher allgemein angewendeten
chemischen Untersuchungsmethoden, die er durch
histologische und biologische bei der Nahrungs-
mittelkontrolle ersetzt zu sehen wünscht, an-
schließend daran über die Beurteilung des ver-
dorbenen Wildfleisches im Sinne der Nahrungs-
mittelpolizei. Als Regeln für die Behandlung und
Aufbewahrung von Wildbret werden von den Ref.
angegeben: Sämtliches Wild muß rechtzeitig
ausgeweidet werden. Das Zerlegen des Großwildes
muß sofort nach dem Einbringen erfolgen, wenn
hohe Außentemperatur herrscht, oder auf andere
Weise ein schnelles Abkühlen nicht zu erreichen
ist (Aufbrechen und Zerlegen nach den An-
weisungen des allgemeinen deutschen Jagdschutz-
vereins). Kein Wildslück soll versandt werden,
ehe es vollkommen ausgekühlt ist. Beim Trans-
port sind die Stücke luftig aufzuhängen. Die Auf-
bewahrung soll an einem möglichst kühlen, luftigen
t)rte geschehen. So behandeltes und aufbewahrtes
Wildfleisch hält sich wochenlang unverdorben und
besitzt den echten Wildgeschmack. W. ligner.
Ein Mittel gegen die Schlaflosigkeit gibt Dr.
E. Ebst ein-Elbing in der Zeitschrift für physika-
lische und diätetische Therapie (Bd. 1 8, 3. Heft, 1 9 1 4)
an, das sich durch seine vollkommene Unschäd-
lichkeit vor den Mitteln chemischer Natur (die
zwar meist sicher wirkend und bequem anzuwenden
sind, auch jetzt fast frei von Nebenwirkungen her-
gestellt werden, aber gerade dadurch eine nicht
zu unterschätzende Gefahr in sich bergen) und
durch überaus große Einfachheit vor den Methoden
auszeichnet, die auf physikalisch-diätetischem Wege
die Hebung des Leidens versuchen und im Gegensatz
zu den chemischen Mitteln zwar harmlos, aber
auch meist in der Anwendung umständlich (z. T.
Benötigung einer zweiten Person !) und in ihrer
Wirkung nicht immer sicher sind.
Auf das Mittel führte den Verfasser ein Zufall,
der ihn in einer schlaflosen Nacht nach einer der
senkrechten Stangen greifen ließ, die das Kopfende
seiner Bettstelle bildeten, worauf nach kurzer Zeit
Ermüdung der Arm- und Schultermuskulatur, bald
darauf auch ein starkes psychisches Müdigkeitsgefühl
und Schlaf eintrat. Die wissenschaftliche Erklärung
dieser Wirkung läßt sich nach Dr. E. aus der Berück-
sichtigung der Ursachen der Schlaflosigkeit ableiten,
die letzten Endes jedenfalls auf — durch organische
oder funktionelle Erkrankungen des Herzens und
der Gefäße oder psychische Störungen veranlaßte —
unregelmäßiger Blutzirkulation im Ge-
hirn beruht. Die Sorgen und Gedanken des
Tages werden auch in der Nacht weiterges])onnen,
die oftmalige Verzögerung im Eintritt des Schlafes
veranlaßt bald eine Art Autosuggestion, die durch
Anwendung der chemischen Schlafmittel nicht be-
seitigt, sondern noch verstärkt wird. Durch die
Lageänderung der Arme, die so schnell den Schlaf
herbeizuführen imstande ist, wird nach Dr. E. der Blut-
abfluß aus dem Schädelinnern, der bei aufrechter Hal-
tung durch die fast senkrechte Richtung der Kopf-
venen gegeben, aber in horizontaler Lage durch den
geringen Höhenunterschied zwischen Kopf und Herz
fast vollkommen aufgehoben ist, sehr gefördert,
denn da Arm- und Kojifvenen dann dieselbe Rich-
tung haben und beide Blutströme in der Vena
anonyma zusammentreffen, so wirkt der stärkere
Armstrom, der durch die erhobene Haltung der
Arme beiderseits ein sehr starkes Gefäll erhält,
durch Aspiration verstärkend auf den schwächeren
Kopfstrom. Nicht nur bei Hyperämie, auch
bei Anämie im Gehirn übt diese Haltung eine
wohltätige Wirkung aus. Ihre Folgen rufen allerlei
Störungen im Stoftwechsel hervor, dessen normales
Vorsichgehen ja nicht allein von der absoluten
Menge des Blutes, sondern auch von der Schnellig-
keit und Regelmäßigkeit der Zirkulation abhängt.
Einem schwachen Herzen wird nun aber der Nach-
schub neuen Blutes durch eine energische Ent-
leerung des Blutes aus dem Gehirn viel leichter
gemacht. Abgesehen von der Regelung der Blut-
zirkulation ist die ungewohnte Haltung und das
Bestreben sie beizubehalten, insofern von Vorteil,
als sie die Gedanken in eine bestimmte Richtung
zwingt und — ein nicht zu unterschätzendes
Moment — die Ermüdung bestimmter Muskel-
gruppen veranlaßt, die aber anfangs nicht durch
') Für Patienten, denen ein Bett mit eisernen Stäben oder
Holzknäufen, die man durch ein Tuch verbinden und so eine
Art Handgriff schaffen kann, nicht zur Verfügung steht, hat
Dr. Ebstein einen kleinen einfachen Apparat konstruiert,
den er ,,Hypnophor" nennt.
N. F. XIII. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
351
ein Herunternehmen der Arme aufgehoben werden
soll — am besten schläft man in der Stellung ein
und ändert sie erst bei dem evt. wieder folgenden
Erwachen in die gewöhnliche Schlafstellung um.
R. Aichberger-München.
Nachrichten aus der wissenschaftlichen Welt.
Der Preis der Otto Vahlbruch-Stiftung , der alle 2 Jahre
im Betrage von 12000 Mk. dem Verfasser derjenigen in deut-
scher Sprache geschriebenen und verölTentlichten Arbeit ver-
liehen wird, die in diesem Zeitraum den größten Fortschritt
in den Naturwissenschaften gebracht hat, ist in diesem Jahre
von der als Jury fungierenden philosophischen Fakultät der
Universität Göttingen zwei Autoren zuerkannt worden, und
zwar je zur Hälfte dem Herrn Dr. Job. Stark, Professor
an der Technischen Hochschule Aachen, für die Entdeckung
der Zerlegung der Spektrallinien im elektrischen Felde, und
dem Herrn Dr. M. v. Laue, Professor an der Universität
Zürich, für die Entdeckung der Beugung der Röntgenstrahlen
durch die Raumgitter der Kristalle. K. S.
86. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte^
Hannover, 20. bis 26. September 1914.
Das Programm ist in seinen Grundzügen festgelegt. Aus
der großen Zahl der bisher angemeldeten Vorträge seien be-
sonders hervorgehoben; W. HeUpach (Karlsruhe): Die
kosmische Abhängigkeit des Seelenlebens; O. Lämmer
(Breslau): Die Verflüssigung des Kohlenstoffes; Br. Tacke
(Bremen): Die Entstehung und Kultivierung der Moore;
H. Stille (Göttingen): Das tektonische Bild des deutschen
Bodens; R. Hennig (Berlin-Friedenau): Über die Aussichten
des Panamakanals; E. Abderhalden (Halle a. S.): Über
die Abwehrmaßnahmen des Organismus gegen blutfremde
Stoffe; E. Gaupp (Tübingen): Probleme der Degeneration;
A. N o c h t (Hamburg) : Tropenmedizinische Fragen von allge-
meinerer Bedeutung; H. Wieland (Straßburg); Über Beri-
Beri vom physiologisch-chemischen Standpunkt; W. Uhthoff
(Breslau) und L. Bruns (Hannover); Ophthalmologisches zur
Hirnchirurgie; O. C. Sprengel (Braunschweig) und L.
Aschoff (Freiburg i. Br.) : Über Gallensteinkrankheiten; W.
Schütz (Berlin); Die Serodiagnose in der Veterinärmedizin;
H. Ziegler (Stuttgart) und H. Dexler (Prag); Probleme
der Tierpsychologie; u. a. An Besichtigungen sind vorge-
sehen solche größerer industrieller Werke in Hannover, sowie
eines Kaliwerkes in der Nähe. Ausflüge sind geplant nach
Bad Nenndorf, Elisen, Minden (Besichtigung der Kanalbauten),
Bad Rehburg, Pyrmont, Hildesheim, Goslar, Harzburg, Lüne-
burg. Am 26. und 27. September soll bei genügender Be-
teiligung ein Ausflug nach Helgoland staltfinden (Preis für die
ganze Fahrt Hannover-Helgoland (über Bremen-Bremerhaven-
Hannover mit Eisenbahnfahrkarte 111. Kl. etwa IG Mk., 11. Kl.
entsprechend teurer; rechtzeitige Anmeldung dringend er-
wünscht).
Teilnehmer an der Versammlung kann jeder werden, der
sich für Naturwissenschaften oder Medizin interessiert. Die
Teilnehmerkarte kostet 20 Mk. Ein ausführliches Programm
wird Ende Juli versandt werden. Nähere Auskunft erteilt
gern das Büro der Geschäftsführung, Bahnhofstr. 6/7 1.
„Bringt materielles und soziales Aufsteigen den Familien
Gefahren in rassenhygienischer Beziehung?", so lautet das
Thema eines Preisausschreibens, welches die Berliner Gesell-
schaft für Rassenhygiene unter Verdoppelung der vorher aus-
gesetzten Preise wiederholt erläßt. Zur abermaligen Aus-
schreibung dieses Themas sah sich die Berliner Gesellschaft
für Kassenhygiene deshalb veranlaßt, weil dem Einsender der
wertvollsten Arbeit der Preis aus formalen Gründen nicht zu-
gesprochen werden konnte, und weil die übrigen Einsendungen
den gestellten Anforderungen nicht entsprachen. Für die
besten Arbeiten sind nunmehr 2 Preise von je Soo und 400 Mk.
bestimmt. Die Einsendung der Arbeiten hat bis 31. Dezember
191 5 zu erfolgen. Alle Einsendungen sind an die Berliner
Gesellschaft für Rassenhygiene, z. H. des Schriftführers Dr.
G. Heinemann, Charlottenburg, Cauerstr. 35, zu richten, die
auch über die Bedingungen des Preisausschreibens Auskunft
gibt und Drucksachen über die Ziele der Berliner Gesellschaft
für Rassenhygiene versendet.
Ferienkurse in Jena finden vom 5. — 18. August auf
folgenden Gebieten statt: Naturwissenschaften; Pädagogik;
Theologie; Psychologie und Philosophie; Geschichte, Literatur,
Nationalökonomie ; Sprachen, Vortragskunst, Modellieren und
Zeichnen; Staatsbürgerkunde. Anmeldungen und Auskunft
beim Sekretariat (Frl. Clara Blomeyer, Jena, Gartenstr. 4).
Kurse für Meeresforschung an der Zoologischen Station
Rovigno (Adria). Das Institut für Meereskunde veranstaltet
in der Zeit vom 9. — 22. August 19 14 einen Kurs für Meeres-
forschung an der Zoologischen Station in Rovigno. Dieser
Kurs bezweckt die Einführung in die Beobachtungs- und Ar-
beitsmethoden der Hydrographie und Hydrobiologie. Er wird
Demonstrationen und Übungen im Laboratorium und Arbeiten
in der Natur umfassen. Letztere zerfallen in Küstenstudien
und Ausfahrten auf das Meer.
Der Kurs gliedert sich in eine hydrographische Abteilung,
die der Abteilungsvorsteher am Institut für Meereskunde und
a. o. Professor an der Universität Berlin, Dr. Alfred Merz,
leiten wird, und in eine hydrobiologische Abteilung unter der
Leitung des Kustos am Institut für Meereskunde und Direktors
der Zoologischen Station in Rovigno, Dr. Thilo K ru mbac h.
Gesuche um Zulassung zum Kurse sind bis zum 20. Juli
d.Js. an die Direktion des Instituts für Meereskunde zu richten.
Die Anmeldung soll die Angabe enthalten, ob die Teilnahme
an beiden Abteilungen oder nur an einer derselben erwünscht
ist. Der Kurs ist unentgeltlich, doch sind für den Verbrauch
an Chemikalien usw. 20 Mark zu entrichten. Dieser Betrag
ist bis zum 1. August d. Js. beim Institut für Meereskunde
einzuzahlen.
Nähere Mitteilungen über Wohnungsverhältnisse und Ver-
pflegung erteilt auf Wunsch das Ilntel in Rovigno, das für
6 Kronen (= 5 Mark) den Tag volle Pension geben wird.
Pe nck
Direktor des Instituts für Meereskunde.
V. Reinach-Preis für Paläontologie. Ein Preis von 500 Mk.
soll der besten Arbeit zuerkannt werden, die einen Teil der
Paläontologie des Gebietes zwischen Aschaffenburg, Heppen-
heim, Alzey, Kreuznach, Koblenz, Ems, Gießen und Büdingen
behandelt; nur wenn es der Zusammenhang erfordert, dürfen
andere Landesteile in die Arbeit einbezogen werden.
Die Arbeiten, deren Ergebnisse noch nicht anderweitig
veröffentlicht sein dürfen, sind bis zum I. Oktober 1915 in
versiegeltem Umschlage, mit Motto versehen, an die unter-
zeichnete Stelle einzureichen. Der Name des Verfassers ist in
einem mit gleichem Motto versehenen zweiten Umschlage bei-
zufügen.
Die Senckenbergisclie Naturforschende Gesellschaft hat
die Berechtigung, diejenige Arbeit, der der Preis zuerkannt
wird, ohne weiteres Entgelt in ihren Schriften zu veröfi'ent-
lichen, kann aber auch dem Autor das freie Verfügungsrecht
überlassen. Nicht preisgekrönte Arbeiten werden den Ver-
fassern zurückgesandt.
Über die Zuerteilung des Preises entscheidet bis spätestens
Ende Februar 1916 die unterzeichnete Direktion auf Vorschlag
einer von ihr noch zu ernennenden Prüfungskommission.
Die Direktion
der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft.
Wetter-Monatsübersicht.
Der diesjährige April wies zwar in seinen Witterungs-
verhältnissen nicht unbedeutende Schwankungen auf, jedoch
herrschte heiteres, mildes Wetter in ganz Deutschland bei
weitem vor. Die Temperaturen waren besonders am Anfang,
ferner zwischen dem II. und 14., dann wieder um den 22.
und gegen Ende des Monats für die Jahreszeit sehr hoch.
An diesen Tagen überschritten sie im Mittel vielfach 15 und
in den Nachmittagsstunden 20" C, zwischen dem 21. und
23. sowie am 29. April stieg das Thermometer z. B. in
Frankfurt a. M., Kleve, Münster, Magdeburg, Bromberg
und Lauenburg i. P. bis auf 25 oder 26° C. Allerdings
352
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 22
kamen, namentlich um den S., 15. und 26., auch beträchtlich
kühlere Zeiten vor, die aber viel weniger als die warmen von
den normalen Verhältnissen abwichen. Nachtfröste waren
nicht mehr gar zu häufig und traten fast überall nur gelinde
auf.
SlZitmr« JUmBeraTurcn einiaer ©rfe im «yippiriSlil.
I.Apfil
I I I I I I
BerlincrWetfertureaM.
Die mittleren Temperaturen des Monats waren in den
meisten Gegenden um 2 bis 3 Grad zu hoch. Am geringsten
war der Überschuß im äußersten Nordosten und Süden, wo
er nur etwa einen Grad betrug, während er im Nordsee-
gebiete bis auf fast 4 Grad anwuchs. Ebenso war der Monat
in ganz Deutschland durch einen großen Reichtum an Sonnen-
schein ausgezeichnet. Beispielsweise sind in Berlin insgesamt
208 Sonnenscheinstunden vorgekommen, während hier im
Mittel der früheren .Aprilmonate nur 166 solcher Stunden
verzeichnet worden sind. Namentlich zwischen dem 17. und
22. war der Himmel im größten Teile des Landes nahezu
wolkenlos.
Nur in den ersten 1 1 Tagen des Monats war das Wetter
überwiegend trübe und sehr regnerisch. Zwischen dem 2. und
6. gingen in den meisten Gegenden länger anhaltende, heftige
Regengüsse hernieder, während später kurze, aber kräftige
Regen- und Ilagelschauer häutiger mit klarem Himmel ab-
wechselten. Dabei wuchsen die westlichen Winde zeitweise
zu Stürmen an und kamen in Nordwest-, Süd- und Mittel-
deutschland auch vielfach Gewitter vor. In München wurden
am 5. und S.April Niederschlagshöhen von 23 und 22 mm
gemessen.
Gerade zum Osterfest stellte sich in ganz Deutschland
freundlicheres, im allgemeinen trockenes Wetter ein, das dann
bis zum Ende des Monats nur noch kurze Unterbrechungen
erfuhr und namentlich anfangs zur Fortführung der Frühjahrs-
bestellung und für die Weiterentwicklung der Wintersaaten
äußerst willkommen war. In Berlin sind z. B. vom 11. bis
22. nur wenige Regentropfen gefallen , Trockenzeiten von
solcher Länge kommen hier durchschnittlich nur in jedem
dritten Aprilmonat vor. Die Niederschlagssumme des ganzen
Monats war aber doch wegen der Nässe der vorangegangenen
en 13 5
" ^ ^ 5 _L ^ifHererWerfföi'
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1. bis 11. April.
lüi
/llonafssumm» im April
1914.13.12.11.10.09
ßerlintrWetterburtaw
Zeit nicht viel geringer als gewöhnlich. Für den Durchschnitt
aller berichtenden Stationen belief sie sich nämlich im letzten
April auf 38,2 mm, während im Mittel der früheren April-
monate seit iSgx von den gleichen Stationen 44,9 mm Regen
geliefert worden sind.
Der Gegensatz zwischen der nassen und trockenen Zeit
des Monats spiegelte sich auch sehr deutlich in den allge-
meinen Luftdruckverhältnissen Europas wieder. In der ersten
Hälfte des April wurde der Nordwesten von verschiedenen
tiefen Barometerdepressionen durchzogen, die meistens zwischen
Island und Schottland auftraten und an deren Südseite sich
vielfach Teilminima ausbildeten. Hochdruckgebiete lagen in
dieser Zeit gewöhnlich in Südwesteuropa und Nordrußland.
Seit dem 9. .April rückte aber das südwestliche Barometer-
maximum rasch nach Osten vor, vereinigte sich nach einigen
Tagen in Rußland mit dem dort schon befindlichen Maximum
und breitete bald darauf sein Gebiet auch über Mitteleuropa
aus. Von da an gelangten noch mehrere neue hohe Maxiraa
nach dem westeuropäischen Festlande, wo sie immer ziemlich
lange verweilten und daher statt der früheren dampfgesättigten
westlichen Luftströmungen jetzt im allgemeinen trockene, oft-
mals östliche Winde wehten. Dr. E. Leß.
ihalt: Christoph Schröder: Eine Kritik der Leistungen der „Elberfelder denkenden Pferde". (Schluß.) — Einzel-
berichte: Tischler: Latentbleiben der Rostkrankheit. Shitkow: .Neues Land im Norpolbecken. King: Licht-
absorbicrendcs Medium im Räume. Furuhjelm; Begleiter zur Capella. Fath; Nebelflecken. Hall wachs, VVied-
mann, Fredenhagen: Neues von der Lichtelektrizität. Guyenot,Drinkwater: Die Kurzfingerigkeit. — Bücher-
besprechungen: Jean Perrin: Die Atome. Großmann: Die Bestimmungsmethoden des Nickels und Kobalts und
ihre Trennung von anderen Elementen Berg: Geographisches VVanderbuch. Becher und Dem oll: Einführung iii
die mikroskopische Technik für Naturwissenschaftler und Mediziner. Bergius: Die Anwendung hoher Drucke bei
chemischen Vorgängen und eine Nachbildung des F.ntstehungsprozesses der Steinkohle. Dittrich: Die Probleme der
Sprachpsychologie. K ers c hens t e i n e r : Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts, de Lanessan:
Transformisme et Creationisme ; contribution ä l'histoire du transformisme depuis l'antiquite jusqu'ä nos jours.
Kleinere Mitteilungen: Weischer und Möller: Postmortale Veränderungen beim Wildbret. Ebstein: Ein Mittel
gegen die Schlaflosigkeit. — Nachrichten aus der wissenschaftlichen Welt. — Wetter-Monatsübersicht.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. MiJhe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folpe 13. Kand ;
der ganzen Reihe 29. Band
Sonntag, den 7. Juni 1914.
Nummer 23
Die ältesten Dokumente paläontologischer Überlieferung.
[Nachdruck verholen.] Von A.
Vor wenigen Jahrzehnten noch war der Ausdruck
Präkambrium in der Hauptsaclie ein petrograjjhi-
scher Regriff. Er war gleichbedeutend mit der Be-
zeichnung Archaikum, die erst 1876 von J. D. Dana,
einem amerikanischen Geologen vorgeschlagen
wurde. Man faßte unter dem Begriff Archaikum die
aus kristallinen Schiefern, Graniten und anderen
Eruptivgesteinen bestehenden ältesten Grundge-
birgskomplexe zusammmen. Erst viel später er-
kannte man, daß sich zwischen diese kristallin ent-
wickelte archäische und die fossilführende kamb-
rische Formation Gesteine einschalten, die in ihrer
petrographischen Beschaft'enheit z. T. klastisch
entwickelt sind und sich prinzipiell von jüngeren
schichtigen Gesteinen nicht unterscheiden. Die
stratigraphische Selbständigkeit dieser Schichten
ergibt sich an vielen Stellen durch Diskordanzen,
die sie nach oben und unten begrenzen. Wo
solche Diskordanzen fehlen, da ist allerdings ihre
Abgrenzung mit großen Schwierigkeiten verbun-
den. Diese jüngere Gruppe von Gesteinen hat
man nun mit sehr verschiedenen Namen belegt,
so z. B. als agnotozoisch, kryptozoisch, protero-
zoisch, eozoisch bezeichnet. Von der geologischen
Landesanstalt der Vereinigten Staaten von Nord-
amerika wurde der Name Algonkium vorgeschla-
gen. In der europäischen Geologie hat sich mehr
und mehr die Bezeichnung Archäozoikum ein-
gebürgert. Was nun die archäozoischen Schichten in
den Vordergrund des Interesses rückt, das ist die
Tatsache, daßsich in ihnen dieältcsten unanfechtbaren
Spuren organischen Lebens gefunden haben. Es
ist das eine Tatsache von eminenter Bedeutung
in rein geologischer wie phylogenetischer Hinsicht.
Die Gesamtheit der präkambrischen Formationen
gliedert sich also in 2 Abteilungen, in das ältere
Archaikum und das jüngere Archäozoikum.
Obwohl nun im Archaikum sedimentogene
Äquivalente vorkommen, galt es doch von jeher
als ein feststehender Lehrsatz, daß das Archaikum
fossilfrei ist. Zwar schien dieser Satz schon Ende
der fünfziger Jahre vorigen Jahrhunderts erschüttert
zu werden, als man zuerst in Kanada, dann aber
auch in Schottland, Skandinavien und Böhmen in
körnigen Kalken ästig verzweigte Serpentinknollen
fand, die man als riesige Foraminiferen deutete.
Sie erhielten den Namen Eozoon. Möbius hat
aber überzeugend dargetan, daß es sich nur um
anorganische Gebilde handeln könne.
Eine genaue Durchforschung des Archaikums
hat nun aber in der Tat ergeben, daß da und
dort eine Umdeutung archäischer Gesteine in ar-
chäozoische nötig wird, wenn anders man an
Wurm.
der Fossilfreiheit archäischer Gesteine festhalten
will.
So spricht der reiche Kohlcnstoffgehalt ge-
wisser bisher dem Archaikum zugerechneter Schiefer
Finnlands ziemlicli deutlich dafür, daß organisches
Leben schon damals existierte. Nun ist ja wohl
geltend gemacht worden, daß der Kohlenstoff, der
hier gewöhnlich in der Form des Graphites auf-
tritt, auch auf anorganischem Weg entstehen
kann. Graphit findet sich ja häufig z. B. in Cey-
lon und in Kanada in pegmatitähnlichen Gängen.
Aber in diesen finnländischen Schiefern tritt der
Kohlenstoff als Zement der klastischen Körner
und in naher Verbindung mit den ursprünglichen
Gemengteilen des Gesteins auf und läßt sich eben
deshalb nur als organischer Detritus deuten.
Sederholm, der sich um die Gliederung und
die petrographische Untersuchung des finnländischen
Archaikums hochverdient gemacht hat, konnte
schon 1S9O in sog. bottnischen Schichten der
Umgebung von Tammerfors, also in Schichten,
die bisher allgemein dem Archaikum zugerechnet
wurden und durch eine große Diskordanz von
dem darüber liegenden Kalevian getrennt sind,
eigenartige, sackförmige Gebilde feststellen, die er
Cor\-cium cnigmaticum nannte. Die Schichten,
in denen sie sich fanden, sind deutlich klastischer
Natur und führen oft reichlich Kohle. Die Ge-
bilde selbst bestehen aus einer dünnen Kohlehaut
und haben im Querschnitt ungefähr diese Form o ;
sie sind im Durchschnitt 2—3 cm, in einigen
Fällen 10 — 15 cm groß. Sederholm, der die
archäische Formation seit mehr als 20 Jahren
untersucht hat, ist immer mehr zu der Überzeu-
gung gekommen, daß hier in der Tat organische
Gebilde vorliegen. Welcher Natur sie aber sind,
läßt sich schwer sagen. Man könnte vielleicht
versucht sein an gewisse fossile Algen zu denken.
Alle diese Spuren organischen Lebens wurden
in Schichten gefunden, die bisher dem Archaikum
zugerechnet wurden. Sollte sich die organische
Natur dieser Reste bestätigen, so ergeben sich, wie
schon oben kurz angedeutet, zwei Möglichkeiten :
Das Fehlen von Fossilien im Archaikum darf ent-
weder nicht mehr als ein wesentliches Kennzeichen
dieser Formation betrachtet werden, die Bezeich-
nung azoisch darf nicht als synonym mit archäisch
angewandt werden. Diesen Standpunkt vertritt
Sederholm'). Oder man ist gezwungen, große
Komplexe, die bisher als Archaikum galten, ins
Archäozoikum zu stellen. Ich glaube, diese zweite
S. 541.
Archaikum, Handwörterbuch der Nalurwissenschaftcn,
354
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
23
Lösung der ersten vorziehen zu müssen, und zwar
hauptsächHch aus praktischen Gründen. Die Ab-
grenzung des Archaikum vom Archäozoikum ist
ohnedies mit großen Schwierigkeiten verbunden
und unterhegt häufig subjektiven Entscheidungen.
Die Fossilfreilieit war bisher wenigstens theoretisch
das einzige durchgreifende Unterscheidungsmerkmal
des Archaikums und schon zu Werner 's Zeit
als Lehrsatz ausgegeben. So scheint es mir an-
gebracht, an diesem Prinzip festzuhalten, schon
deshalb, um niclit dem Begrift' Archaikum, der so
wie so nicht genau umgrenzt ist, eine noch un-
schärfere Fassung zu geben.
Unzweifelhaftes Archäozoikum ist nun von
vielen Punkten der hrde beschrieben worden.
Namentlich in Nordamerika erreicht es ungeheure
Ausdehnung. Nordamerika weist fünf Hauptver-
breitungsgebiete algonkischer Gesteine auf: den
Grand Canon von Arizona, Montana, Neufund-
land, das Gebiet der großen Seen und die
Llanos von Texas. Von den vier ersten
Stellen sind auch Fossilien bekannt geworden.
Die großartigsten .Aufschlüsse des Algonkiums
bietet der Grand Canon in Arizona. Den Sockel
dieses gewaltigen Profils bildet ein archäisches
Grundgebirge, das von Fruptivgängen und Erup
tivlagern förmlich durchwoben ist. Dieses Grund-
gebirge wurde schon vor Beginn der algon-
kischen Periode gefaltet und wieder abgetragen
und auf der ziemlich ebenen Denudationsfläche
lagerten sich in einer Mächtigkeit von 3800 m
algonkische Sedimente ab. Eine weitere scharfe
Diskordanz trennt diese von dem darüber liegen-
den mittelkambrischen Tontosandstein. Sehr be
merkenswert ist, daß das Algonkium nicht oder
nur wenig gefaltet ist, meist nur etwas gekippt
oder durch Verwerfungen zerstückelt ist und im all-
gemeinen nur ganz geringe Metamorphose aufweist.
Das Algonkium des Grand Canon gliedert sich in
2 Abteilungen, in die untere Unkarformation und
die darüber liegende Chuarformation. Diese
Chuarserie ist es nun, in der organische Reste ge-
funden wurden. Aus der oberen Abteilung sind
Gebilde bekannt geworden, die den Namen Cryp-
tozoon Dawsoni erhalten haben. Es sind
konische, schwach gekrümmte Körper, die aus
einzelnen Kieselsäurelamellen aufgebaut sind. Sie
liegen in Kalk eingebettet und zeigen beim Heraus-
lösen mit Salzsäure netzartiges Gefüge.
In sandig tonigen Schichten, etwa 200 m unter
der Decke der Chuarformation, fanden sich kreis-
förmige diskusartige Reste, die nach Walcott,
einem amerikanischen Paläontologen, als gepreßte
konische Schalen von Muscheln aufzufassen sind
und alsChuaria circularis bezeichnet worden
sind. Die Schale ist sehr dünn und zart und kon-
zentrisch gerunzelt. Außerdem ist in eben diesen
Schichten ein Rest von Hyolithes triangularis,
einem Pteropoden und eine Brachiopodenschale,
entdeckt worden, die dem Genus .Acrothele nahe-
steht. Eine schmale .Spange könnte vielleicht als
Pleurallobus eines Trilobiten zu deuten sein.
Es ist das Verdienst VValcott's, in den
nordamerikanischen Kordilleren im Staate Montana
eine Fauna entdeckt zu haben, die ein ganz neues
Licht auf die Organisationshöhe algonkischer Tier-
formen geworfen hat. Der F'undort dieser F'auna
liegt in den sog. Little Belt- und Big Belt-Moun-
tains. Die Beltserie ist ein rund 40CO m mäch-
tiger Komplex von Schiefern, Kalksteinen und
Quarziten. In der unteren Hälfte des ganzen
Komplexes liegt der sog. Newiand Limestone,
welcher die Fossilien enthält. Die Fauna besteht
nur aus Kriechspuren und den Panzerfragmenten
von Arthropoden. Unter den Kriechspuren sind
von Walcott verschiedene Typen als Helmin-
thoidichnites beschrieben worden. Sie dürften wohl
von Würmern und Mollusken herrühren. Aus-
güsse der Röhren von grabenden Würmern, die
oft deutliche Ringeluiig zeigen, hat Walcott als
Planolites bezeichnet. Die eigenartige Form all
dieser Spuren und ihre Übereinstimmung mit
solchen aus kambrischcn Schichten läßt wohl keinen
Zweifel, daß es sich um organische Gebilde han-
delt. Nicht diese Kriechspuren aber sind es, welchen
die Greyson Shales ihre Berühmtheit verdanken,
sondern das Vorkommen von hochorganisierten
Arthropoden. In ungeheurer Menge finden sich
ihre Bruchstücke und lassen so ahnen, welch reiches
Leben in dieser altersg'-auen Zeit herrschte. Leider
sind sie nicht sehr günstig erhalten, stark defor-
miert und plattgedrückt. Ganze Panzer haben sich
noch nicht gefunden, immer nur Panzerfragmente.
Nach allem, was wir bis jetzt wissen, gehören die
Reste zu den Merostomata, jener auf die ältesten
Zeiten der Erdgeschichte beschränkten Klasse der
Arthropoden. Es ist wahrscheinlich, daß mehrere
Genera und Spezies vertreten sind. Jedenfalls lassen
sich zwei Haupttypen ausscheiden, die einerseits
durch viereckiges Kopfschiid und langen spieß-
förmigen Telson, anderseits durch breit abgerun-
detes Kopfschild und schildförmigen Telson aus-
gezeichnet sind. Auch Anhänge des Rumpfes
und des Kopfschildes z. T. mit Mundwerkzeugen
sind von Walcott beschrieben worden. Eine
Pterygotus-ähnliche F'orm hat Walcott als Bei -
tina Danai bezeichnet. Neuerdings sind an
anderer Stelle in Montana Rumpfschilder dieser
Art gefunden worden, welche noch die ursprüng-
liche Konvexität und eine Oberflächenskulptur er-
kennen lassen. Ja in jüngster Zeit ist derselbe
Fossilhorizont viel weiter nördlich in Britisch-
Kolumbia nachgewiesen worden. Cryptozoon
Arten, das sind korallenähnliche Gebilde, sind an
vielen Punkten des Algonkiums in Montana ge-
funden worden, besonders häufig ist im sogenann-
ten Siyeh-Limestone Cryptozoon frequens
mit ganz eigentümlichen blumenkohlartigen Wachs-
tumsformen.
Die große Laurentische Platte, die den Grund-
sockel des ganzen NO von Nordamerika bildet,
enthält namentlich in Neufundland algonkische
Gesteine. Es ist eine 3800 m mächtige Schicht-
serie, deren stratigraphische Gliederung schon mit
N. F. XIII. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
35S
viel Erfolg von amerikanischen Geologen in An-
griff genommen wurde. Leider sind die Bemüh-
ungen, organische Reste zu finden, ziemlich erfolg-
los geblieben. Nur aus den sog. Momable-Schich-
ten ist von Billings ein Rest angegeben worden,
den er As pideil a terranovica nennt und der
wohl organischen Ursprungs ist. Es handelt sich
um ovale Körper, die in der Mitte einen aufge-
wulsteten Ring besitzen, von dem radiale Rinnen
nach dem Rande ziehen. Vielleicht könnte man
an eine Patella -ähnliche Napfschnecke denken.
Weitaus die mächtigste Entwicklung erreicht
die algonkische Formation im Gebiet der Großen
Seen, namentlich am Lake superior. Leider haben
aber fast alle Fossilreste, die aus diesem Gebiet be-
kannt geworden sind, einer eingehenden Nachprü-
fung nicht Stand gehalten. Nur in der Gegend
des Steeprock Lake in Ontario hat Lawson
eigentümliche Gebilde entdeckt, deren organische
Natur keinem Zweifel unterliegt. Sie sind von
VValcott in 2 verschiedenen Spezies als Atiko-
kania beschrieben worden. Auf der verwitterten
Oberfläche erscheinen sie als kreisförmige radial-
strahlige Körper. In ihrer Struktur sind sie mit
den Spongien verwandt, zeigen aber auch vielleicht
Beziehungen zu den Archäocj-athinen.
In der alten Welt gibt es nur ein Gebiet, in
dem algonkische Gesteine größere Ausdehnung
erreichen: Fennoskandia. Die viele Kilometer
dicke algonkische Serie wird jetzt in 3 große Ab-
teilungen eingeteilt, in das stark gefaltete Kalevian
und Jatulian und das ungefaltete Jotnian. Hoch-
interessant ist das Vorkommen eines 2 m
starken Kohlenflötzes im Jatulian bei Schunga im
Gouvernement Olonetz an der russisch finnlän-
dischen Grenze. Diese Kohle ist ohne Zweifel
organischer Natur. Erkennbare organische Reste
ließen sich in ihr allerdings nicht nachweisen,
was nicht verwunderlich ist, da sie anthrazitischer
Natur ist. Dieses F"lötz von Schunga ist das
älteste bekannte Kohlenlager der Erde. Es
beweist, daß schon zu algonkischer Zeit an ein-
zelnen Stellen wenigstens üppiges pflanzliches
Leben vorhanden war.
In Schweden sind nur kleinere Denudations-
reste algonkischer Gesteine erhalten geblieben so
am Wetternsee. In der obersten Abteilung der
sog. Wisingsöformation haben sich in weichem
Schiefer, stark plattgedrückte, kreisrunde schwarze
Körperchen von i — 2 mm im Durchmesser ge-
funden, die zuerst von Nathorst beobachtet und
später von Wiman genauer beschrieben wurden.
Die Substanz dieser Gebilde scheint aus Chitin
zu bestehen. Die Form war ursprünglich wohl
aufgebläht und ist erst durch Zusammendrückung
zu einer Scheibe geworden. Über die Natur der
Körperchen läßt sich wenig sagen, Nathorst
hat sie als kleine Schalenkrebse gedeutet.
Einen besseren Einblick in die Organismen-
weit der algonkischen Zeit hat uns die Bretagne
eröffnet. Hier sind es die Schiefer von St. L6,
die von Barrois genau untersucht wurden. Zy-
lindrische Spuren in diesen Schiefern scheinen
auf WLuniähnliche Organismen zu deuten. In dem
derselben Gesteinsfolgc angehörigen Kalke von
St. Thurial haben sich Crinoidenstiele gefunden.
Besonderes Interesse verdient aber der Nachweis
von Radiolarien, von Foraminiferen und Spongien,
die von Cayeux genauer beschrieben worden
sind. Verblüffend ist die hohe Dififenenzierung
dieser Reste. Die Radiolarien treten in einer
staunenswerten Formenfülle auf und zwar sind
die beiden Typen der Nasselarien und Spumellarien
vertreten, unter den Kieselschwämmen haben sicli
Lithistiden, TetraktinclHden und Hexaktinelliden
nachweisen lassen. Nun hat Rauff die Existenz
dieser präkambrischen Organismen angezweifelt
und einige seiner Bedenken mögen, was die
Spongien betrifft, Berechtigung haben. Andere
Gelehrte allerdings, denen Schliffe und Präparate
dieser präkambrischen Organismen vorlagen, haben
diese Bedenken fallen lassen.
Wollen wir nun einen Rückblick auf die Be-
deutung der präkambrischen Fauna werfen ! Wenn
man sie in ihrer Gesamtheit betrachtet, so kann
man sich nicht verhehlen, daß sie sich durch
recht bemerkenswerte Armut und Dürftigkeit aus-
zeichnet. Man hat von jeher nach Ursachen dafür
gesucht, und es sind sehr viele mehr oder minder
geistreiche Theorien ersonnen worden. Daß die
Tiere des Präkambriums der Kalk- und Chitin-
panzer größtenteils entbehrt und deshalb keine
Reste hinterlassen hätten, erscheint wenig glaub-
haft, wenn wir die mit mächtigen Panzern aus-
gestatteten Trilobiten des Kambriums damit ver-
gleichen. Eine andere Hypothese fußt auf der
Anschauung, daß das Leben auf der Erde nicht
zuerst im Meere, sondern auf dem Lande haupt-
sächlich in den über das Land zerstreuten Süß-
wassertümpeln und Seen entstanden sei. Vielleicht
war die präkambrische P'auna und Flora haupt-
sächlich noch an das Land gebannt, vielleicht
hat die Besitzergreifung des Meeres erst in spät-
algonkischer Zeit stattgefunden; dann würde sich
ja das Fehlen und die Dürhigkeit präkambrischer
Reste wenigstens in den marinen Schichten des
Algonkiums auf diese Weise erklären. Eine dritte
Hypothese geht von der Annahme aus, daß das
archäozoische Meer reicher an COg war als das
heutige. War doch noch nicht so viel Kohlen-
säure durch Kalk und Kohle gebunden als heute,
und außerdem wurde der Atmosphäre durch die
damalige lebhafte vulkanische Tätigkeit relativ
viel COo zugeführt. Vielleicht war der Kohlen-
säuregehalt der damaligen Meere so groß, daß
sich alle kalkschaligen Organismenreste auflösen
mußten.
Alle diese Theorien erscheinen aber bei ge-
nauerer Überlegung doch recht unwahrscheinlich;
man muß nach anderer Ursache suchen, und man
geht wohl nicht fehl, wenn man diese in der aus-
gedehnten Metamorphose erblickt, welche archäo-
zoische Sedimente erfahren haben. Es ist ja
gewiß kein zufälliges Zusammentreffen, daß wir
356
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. V. XIII. Nr. 23
unsere Kenntnisse der arcliäozoischen Fauna
hauptsächlich Nordamerika verdanken. Wenn wir
die Wahrscheinlichkeit archäozoische Faunen zu
finden, genauer analysieren, so ergibt sich, daß
die Gebiete am vielversprechendsten sind, die
möglichst wenig von Faltungen betroffen wurden.
Sueß, der Altmeister der Geologie, hat die Ge-
biete der Erde regional in verschiedene tekto-
nische Einheiten eingeteilt. Unter allen diesen
Gebieten ist das sog. laurentische Festland , das
einen großen Teil Nordamerikas umfaßt, seit
kambrischen Zeiten von jeglicher Faltung unbe-
rührt geblieben. In Europa sind die Bedingungen
für die Erhaltung präkambrischcr Faunen viel un-
günstiger. Hier entstanden am Schluß der paläo-
zoischen Zeit mächtige Gebirge, durch welche
die tiefen archäozoischen Gesteine mit empor-
gefaltet und stark metamorphisiert wurden. Der
Faltungsprozeß hat sie in kristalline Schiefer um-
gewandelt und hier sucht man gewöhnlich ver-
gebens nach Fossilien. In Afrika und Asien,
namentlich in China dürften vielleicht noch Gebiete
liegen, wo präkanibrische Faunen zutage kommen
können.
Nun sind uns, wie erwähnt, in Nordamerika
in ungeheurer Ausdehnung archäozoische Gebiete
erhalten, deren Gesteine z. T. keine oder nur ge-
ringe Metamorphose aufzuweisen haben. Und den-
noch sind auch hier Fossilien nur als große Selten-
heit gefunden worden. W a 1 c o 1 1 führt diese
Fossilarmut auf den terrigenen kontinentalen Charak-
ter der algonkischen Sedimente Nordamerikas zu-
rück. Walcott geht im Gegensatz zu Seder-
hol m von der Annahme aus, daß das Leben sich
zuerst im offenen Ozean entwickelt habe. Damals
war die Verteilung von Land und Meer im Ge-
biete von Nordamerika so ziemlich die gleiche
wie heutzutage. Deshalb liegen die marinen Ab-
lagerungen, in denen sich die Entwicklung der
Lebewesen zu algonkischer Zeit vollzog, außerhalb
des heutigen Kontinentes im Ozean begraben und
sind der Beobachtung nicht zugänglich. Die algon-
kischen Gesteine Nordamerikas sind zum größten
Teil kontinentaler Entstehung, in Binnen- oder
Süßwasserseen entstanden. Die wenigen Faunen
aus dem Algonkium, wie z. B. die Arthropoden,
sind aus dem ozeanischen Meere eingewandert, zu
einer Zeit, in der diese Binnengewässer mit dem
Ozean in Verbindung standen. So erklärt sich
das plötzliche Erscheinen von Bell in a in der
Beltserie.
So müssen wir uns eben mit dem Wenigen,
was uns aus algonkischer Zeit erhallen geblieben
ist, begnügen. Und in der Tat, dieses Wenige
ist schon von außerordentlicher Bedeutung. Bis
jetzt haben sich folgende Tierklassen in algon-
kischen Gesteinen nachweisen lassen: Protozoen,
Zölenteraten, Echinodermen, Mollusken, Mollus-
koideen, Würmer und Arthropoden. Die Art und
der Charakter dieser Faunen spricht ganz dagegen,
daß uns hier die Uranfänge des Lebens vorliegen.
Darüber gibt uns paläontologische Überlieferung
keinen Aufschluß. Alle diese Faunen zeigen be-
reits eine staunenswerte Differenzierung und Or-
ganisationshöhe, die darauf hinweisen, daß ein
weiter Weg der Entwicklung vor ihnen liegt. Ich
habe bereits bei der Forrnenfülle der Radiolarien
aus der Bretagne darauf aufmerksam gemacht, ein
weiteres Beispiel bieten die Merostomata von Mon-
tana. Die Arthropoden nehmen im Entwicklungs-
stamm der Tierwelt allein durch ihre Organisation
eine sehr hohe Stellung ein. Darum muß es sehr
überraschen, sie in so alten Ablagerungen zu finden.
Es hat den Anschein, als lägen im Archäozoikum
nicht nur die Wurzelstellen des Lebens begraben,
sondern auch lange Entwicklungsreihen mit vielen
Gabelungstellen, die der Ausgangspunkt wurden
für viele Tiergruppen, die uns am Anfang des
Kambriums vollkommen gesondert entgegentreten.
Sicher waren fast alle wichtigeren Tierstämme
schon zu archäozoischer Zeit geprägt.
Wir können nun allerdings über die Zeitspanne
des Archäozoikums nur Vermutungen anstellen.
Daß aber in der Tat das Archäozoikum eine ge-
waliige Periode umfaßt, das geht aus der Strati-
graphie archäozoischer Ablagerungen zur Genüge
hervor. Betrachten wir das Algonkium des Lake
superior. Es erreicht an einigen Stellen über 14000
Meter Mächtigkeit, die einzelnen Abteilungen, das
Keweenawan, das untere und obere Huron werden
durch Diskordanzen mit oft mächtigen Grund-
konglomeraten voneinander geschieden. Diese
Diskordanzen weisen auf zeitliche Unterbrechungen
hin, die oft von so langer Dauer waren, daß ältere
Gesteine zu Gebirgen emporgesattelt, abgetragen
und wieder überflutet wurden. Das spricht für
eine sehr bedeutende Länge der archäozoischen
Zeit und hat mehr und mehr zu der Erkenntnis
geführt, daß die archäozoische Zeit nicht einer
bestimmten Formationsgruppe, wie etwa dem Kar-
bon oder Jura gleichgestellt werden darf, sondern
daß sie einer Periode entspricht, die vielleicht der
Summe der paläozoischen, mesozoischen und neo-
zoischen Formationen gleichwertig ist. Und von
diesem Gesichtspunkte betrachtet erscheint uns
die für die Entwicklung der algonkischen Faunen-
welt nötige Zeitdauer hinreichend gewährleistet.
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Botanik. Die Giftwirkung von Metall-Ionen
und der Lipoidgehalt der Zellmembran. B. Han-
stee n hatte schon vor einigen Jahren die Ergeb-
nisse von Versuchen über das Verhalten von Kultur-
pflanzen zu den Bodensalzen veröffentlicht. Wie
andere Forscher ') konnte er die Giftwirkung der
K-, Na- und Mg Ionen auf Wurzeln von Keimpflanzen
und die meiir oder weniger weitgehende Aufhebung
dieses Einflusses bei Anwesenheit von zwei Kat-
ionen-Arten in der Lösung feststellen. Ca-Salze
zeigten keine wurzelzerstörenden Eigenschaften,
beförderten im Gegenteil die Ausbildung der
Wurzeloberfiäclie und hoben die schädliche Wir-
kung der andern Salze vollständig auf. In den
giftigen Lösungen fallen, wie Hansteen weiter
ermittelte, nicht die Wurzelspitzen mit ihren be-
sonders großkernigen Zellen, sondern immer die
Streckungszonen mit ihren in starkem Flächen-
wachstum begriffenen Zellwänden zuerst der Zer-
störung anheim. Experimentell und durch direkte
mikroskopische Beobachtung wurde festgestellt,
daß die Erkrankung nicht in einer Zerstörung der
Kernsubstanz ihren Grund hat (wie O. Loew und
seine Schüler wollen), sondern in erster Linie auf
Oberflächenwirkungen beruht; denn die Zell wände
lösen sich unter Schleimbildung allmählich von
außen nach innen auf, worauf die Plasmakörper
zerplatzen und eine schleimige Masse entsteht.
Der Angriff ist immer streng lokalisiert; er trifft
nur Wurzelteile, die mit der Lösung in unmittel-
barer Berührung stehen. Der in den Wurzeln
selbst enthaltene Kalk hat keinen Einfluß auf die
Dämpfung der Wirkung.
Untersuchungen über die Wasserökonomie von
Weizen, Roggen und Hafer bei Zuführung der
verschiedenen Salze ergaben, daß die Ca-Ionen die
^) Da in der hier zu besprechenden Abhandlung Han-
steen's diese Arbeiten nicht erwähnt werden, so sei für die
weniger unterrichteten Leser bemerkt, daß sich seit Loew
(1892) eine ganze Reihe von Pflanzenphysiologen mit der Frage
der To.\izität und des Antagonismus der Salze beschäftigt hat.
Neue wertvolle Versuche sind neuerdings von M. M. McCook
im Memoir 2 der Cornell University Agricultural Experiment
Station (August 1913) veröffentlicht worden. Einer kleinen
Mitteilung von Mlle. C. Robert (Compt. 'rend. de l'Acad. des
Sciences 1913, T. 156, p. 915) möge hier gleichfalls gedacht
sein.
Wasserzufuhr durch die Wurzeln erschweren und
gleichzeitig die Transpiration relativ stark befördern,
während die K-Ionen die Wasserzufuhr durch die
Wurzeln befördern, aber die Transpirationsgröße
relativ stark herabsetzen; die Na-Ioneii hemmen
im Verhältnis zu den K-Ionen sowohl die Auf-
nahme wie die Abgabe des Wassers. Weim da-
gegen im Nährmedium K- und Ca-Ionen gemischt
vorkommen, so ist sowohl die Transpiration wie
auch die Wasseraufnahme stärker als in einer
isosmotischen K-Lösung. Die Ergebnisse dieser
Versuche stehen im Einklang mit der Erfahrung,
daß Pflanzen auf kalkreichem Boden geneigt sind,
xerophytische Struktur anzunehmen.
Die streng lokalisierte Wirkung der Ionen
wurde auch durch Kulturversuche mit blauen Lu-
pinen, Pferdebohnen, Kürbis- und Maispflänzchen
erwiesen. Interessant ist, daß die Keimwurzeln der
Pferdebohne, deren Streckungszone durch den
Aufenthalt in Magnesiumnitratlösung so stark be-
schädigt worden war, daß die gesund gebliebenen
Wurzelspitzen nur durch das zentrale Gewebe wie
durch einen feinen Draht mit den oberen Wurzel-
teilen in Verbindung standen, nach Einbringung
in eine Lösung von Kalknitrat vollständig heilten.
Die Versuche mit giftigen Salzlösungen sollten
nun auch zu wichtigen Aufschlüssen über die Kon-
stitution der Zellmembran führen. Vtrf. beobach-
tete nämlich, daß Magnesialösungen, in denen eine
Schädigung der Wurzeln eintrat, Trübungen in
Gestalt schwebender weißer Wolken zeigten, die,
wie die mikroskopische Prüfung lehrte, von äußerst
kleinen Stoffpartikelchen herrührten, unter denen
sich nicht Gewebs-, Zellwand- oder Plasmafrag-
mente befanden. Hansteen fand, daß sie teils
Pektinsubstanzen, teils Lipoidstoffe, nämlich Fett-
säuren und kleinere Mengen von phytosterinartigen
Stoffen enthielten. Die ersteren stammten zweifel-
los aus der Membran, die ja allgemein, auch in
ganz jungen Organen, Pektinstoffe enthält. Lipoid-
stoffe aber, worunter Verf mit Ivar Bangs durch
Äther oder ähnliche Lösungsstoffe extrahierbare
Zellbestandteile versteht, sind noch nie in den
Membranen ganz junger Zellen, sondern nur in
kutinisierten und verkorkten Zellwänden nachge-
wiesen worden. Um ihr Auftreten in jungen Mem-
358
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 23
branen zu beweisen, darf man die Zellwände nicht
mit Hau de Javelle oder Äther, Alkohol und ver-
dünnten Alkalien vom Zellinhalte befreien, da dabei
auch Lipoide aus der Zellwand entfernt werden.
Hansteen verfuhr so, daß er das fein zerquetschte
und in Wasser verteilte Material (lebende, beim
Stoffaustausch kräftig tätige Parenchymgewebe ver-
schiedener Pflanzen und Pflanzenorgane) zentrifu-
gierte, die in der Zentrifuge zurückbleibende Masse
wieder im Mörser behandelte, mikroskopisch unter-
suchte, mit viel Wasser anrührte, wiederum zentri-
fugierte und dieses Verfahren so oft wiederholte,
bis das abgeschleuderte Wasser klar blieb und die
in der Zentrifuge zurückbleibende Masse nur aus
ganz reinen Zellwandfragmentcn bestand. So
wurden kleine Mengen (bis 87 cg) einer schnee-
weißen Masse erhalten, in der stets die Anwesen-
heit von Lipoiden festgestellt werden konnte. Die
Gesamtmenge der Lipoide betrug gewöhnlich 3,06
bis 5,52, bei der Kartoffelknolle 10.39, bei Pfeide-
bohnenwurzeln 13,21 Prozent der trocknen Wand-
substanz. Von diesen Mengen waren 2,37 - I7,78'\n
verseif bar und nur 0,24 — 1,64"/,, unverseifbar, phyto-
sterinartig. Der verseifbare Anteil bestand sowohl
aus flüssigen wie aus festen Fettsäuren ; die Schmelz-
punkte der letzteren, sowie die Löslichkeitsverhält-
nisse ihrer Kali- und Natronseifen ließen darauf
schließen, daß sie in der homologen Reihe Glieder
bilden, die höher als die Kaprinsäure und niedriger
als die Myristinsäure stehen.
Wie Hansteen fand, gehen Pektinsubstanz
(aus Mohrrüben erhalten) und (käuflich bezogene)
Laurinsäure (eine feste Fettsäure, deren Schmelz-
punkt den Schmelzpunkten der festen Fettsäuren
der Zelhvand am nächsten liegt) eine eigentüm-
liche Verbindung ein, die aus kleinen kristallinischen
Teilchen mit schwacher, aber deutlicher Doppel-
brechung besieht. Beim Zusammendrücken klebten
diese Teilchen aneinander und bildeten eine knet-
bare Masse, aus der Verfasser Membranen herstellen
konnte, die mindestens ebenso kohärent waren
wie gewöhnliches Papier von derselben Dicke.
Dies Verhalten weist auf die Bedeutung ähnlicher
Verbindungen in der Zellwand für deren Kohä-
renz hin. Wahrscheinlich bilden die Salze der
Fettsäuren mit den Pektinstoffen und auch mit
der Zellulose Adsorptionsverbindungen. Die jugend-
liche Membran dürfte als ein H)xlrogelkomplex
anzusehen sein, dessen feste Phase aus den hydro-
philen Kolloiden Zellulose -j- Pektin -\- kolloidalen
Seifen zusammengesetzt ist. Auch ohne die letzleren
bildet die Zellwand ein Kolloidsystem, das für den
Austausch der gelösten Stoffe nicht indifferent ist.
Verf. verweist u. a. auf die Untersuchungen von
Bau mann und Gully über Humussäure (1910),
wonach die Zellhäute der Torfmoose durch ihren
kolloidalen Zustand in hervorragendem Maße die
Fähigkeit besitzen, Salze zu zerlegen und die Basen
zu adsorbieren, eine Beobachtung, die die Ver-
mutung nahelegt, die höheren Pflanzen möchten
sich die Nährstoffe in ähnlicher Weise aus dem
Boden aneignen. Daß die Wandung einer leben-
den Pflanzenzelle nicht einfach wie eine Pergament-
membran wirkt, zeigen noch folgende Versuche
des Verfassers.
Er stellte sich eine Zellmembran her, indem
er von der ganz reinen (aus dem Blattstielmark
der weißen Rübe gewonnenen) Zellwandmasse eine
gewisse Menge in Wasser verteilte und die Flüssig-
keit unter stetem Umrühren in ein Porzellansieb
goß, auf dessen Boden Pließpapier wagerecht aus-
gebreitet war. Die erhaltene dünne Schicht von
Membransubstanz wurde unter passendem Druck
zwischen Fließpapier getrocknet und ließ sich
nachher leicht abheben. Sie besaß mindestens so
große Kohärenz und Festigkeit wie gewöhnliches
Papier von gleicher Dicke (90 — 100 //). i> 3 cm
große Stücke solcher Membranen wurden in 0,1
bis 0,2 Mol starke Lösungen von Salzen, Säuren
und Alkalien gelegt und auf die Größe ihrer
Wasseraufnahme und -Abgabe Innerhalb einer be-
stimmten Zeit geprüft. Nebenher gingen ent-
sprechende Versuche mit Stücken aus Pergament-
papier. In einigen Phallen waren die aus Zellwand-
masse hergestellten Membranen durch Extraktion
mit heißem salzsaurem Alkohol von ihren Lipoid-
stoffen befreit worden. Solche Membranen waren
nicht biegsam, sondern sehr spröde und quollen
in K-Lösungen abnorm stark auf; das weist nach
Hansteen daraufhin, daß der Lipoidgehalt auch
für die Festigkeit und Plastizität der jugendlichen
Zellwand von Bedeutung sein kann. Die mit den
lipoidhaltigen Membranen ausgeführten Versuche
ergaben, daß jene immer viel weniger Wasser auf-
nahmen, wenn sie von Ca-Ionen, als wenn sie
von K- oder Na-Ionen beeinflußt wurden, und daß
sie (in trockener Luft) am meisten Wasser ab-
gaben, wenn sie vorher mit Ca Ionen in Be-
rührung gewesen waren. Die isolierten Zellmem-
branen zeigen also in bezug auf Wasseraufnahme
und Wasserabgabe unter dem Einflüsse der ge-
nannten Ionen ganz dasselbe Verhalten, das nach
den früheren Darlegungen bei lebenden ganzen
Pflanzen oder Pflanzenteilen zu beobachten ist, so
daß sich dieses auf die Eigenschaften der Zellmem-
branen zurückführen läßt. Pergamenlmembranen
treten nicht oder nicht in so ausgesprochener Weise
mit der Umgebung in Reaktion. .Auch wich ihr
Verhalten insofern von dem der Zellmembranen
ab, als diese gewisse Mengen von Ca und K, die
nicht ausgewaschen werden konnten, aus den Lö-
sungen aufnahmen, was bei den Pergamentmem-
branen nicht der Fall war.
Hansteen bemerkt, daß die geschilderten Er-
scheinungen ganz den von Jacques Loeb nach-
gewiesenen Einflüssen der genannten Ionen aut
die Flüssigkeilsresorption in Mu.-keln gleichen, und
daß Loeb auf das analoge Verhalten der Kalk-,
Kali- und Natron-Seifen gegen Wasser hinweist. Bei
den pflanzlichen Membranen müssen auch Pektin-
stoffe an den Erscheinungen ursächlich beteiligt
sein, da diese auch bei den lipoidfreien Membranen,
obschon nicht so ausgeprägt, zum Ausdruck kamen.
Künstlich hergestellte Zellulosemembranen, die in
N. F. XIII. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
359
verschiedener Weise mit l'el<tinverbindungen und
mit festen kolloidalen Seifen imprägniert waren,
verhielten sich analog (P r i n g s h e i m ' s Jahrbücher
f. wiss. Bot., 1914, Bd. 5:}, S. 536— 598)-
F. Moewes.
Nachweis der Gasvergiftung bei Straßen-
bäumen. In der Theaterstraße in Hannover
kränkelten je 7 zu beiden Seiten des Fahr-
dammes einander gegenüberstehende Linden,
wäiirend die Bäume an den beiden Enden der
Straße vollständig gesund blieben. Filscher Gas-
geruch war an dem Boden nicht wahrzunehmen,
doch zeigten Erdproben nach längerem Verweilen
im dichtgeschlossenen Glasgefäß einen scharfen
Geruch, der in gewisser Weise an Leuchtgas er-
innerte. Paul Ehrenberg, der diese Untersuch-
ungen ausführte, stellte ferner massenhaftes Eisen-
oxydul in den Erdproben fest; es mußten also im
Boden Reduktionsvorgänge stattgefunden haben, ein
Zeichen, daß seine Beschaffenheit für das Wachstum
ungünstig war. Da noch Erdschichten in i m Tiefe
diese Reduktionserscheinungen aufwiesen, so konnte
die Erkrankung nicht etwa durch böswilliges Auf-
schütten von Chemikalien hervorgerufen worden
sein. Für Leuchtgasvergiftung sprach außerdem
der Umstand, daß Schwefelverbindungen im Boden
auftraten; doch konnten diese auch aus den Ka-
nalisationsleitungen stammen. Daß aber die
Schädigung wirklich durch Leuchtgas verursacht
war, lehrte der von Ehrenberg geführte Nach-
weis von Azet}'len im Boden. Dieses Gas findet
sich im Leuchtgas allerdings nur in sehr geringer
Menge (o,o6'\, ), läßt sich aber durch seine rote
Kupferverbindung noch in minimalen Dosen nach-
weisen (angeblich bis zu 0,005 rng)- Durch
Übergießen mit konzentrierter Kochsalzlösung
(worin sich Azetylen sehr wenig löst) und lang-
sames Erhitzen verjagt man das Azetylen aus
einer Erdprobe und treibt es in eine mit ammo-
niakalischer Kupferchlorürlösung beschickte Vor-
lage. (Der rote Niederschlag von Azetylenkupfer
explodiert beim Erhitzen und durch Schlag.)
Man kann auch einfach auf den die Erdprobe und
die Kochsalzlösung enthaltenden Kolben eine
Kugelröhre aufsetzen, in deren Kugel man mit
der Kupferlösung getränkte Watte lose eingestopft
hat; die rote Färbung tritt dann hier auf. Die
durch die Bodenuntersuchung ermittelte Gasver-
giftung wurde hinterher durch Auffindung einer
schadhaften Stelle an der in der Mitte derStraße unter
dem Fahrdamm liegenden Rohrleitung bestätigt.
Augenscheinlich hatte sich das Gas, da es durch den
dicht betonierten Straßendamm nicht nach oben
entweichen konnte, von der Bruchstelle aus seit-
lich bis zu den Wurzeln der zunächst stehenden
Bäume ausgebreitet, um dann durch die Erd-
scheiben der Bäume und das neben die-en be-
findliche Kleinpflaster nach außen zu gelangen.
So werden die weitgehenden Reduktionserschei-
nungen im Boden (durch die Wirkung des Wasser-
stoffs und des Kohlenoxyds) leicht erklärlich.
Die Schädigung der Bäume dürfte sowohl auf
der Entziehung des Sauerstoffs und der Unter-
drückung des nützlichen Bakterienlebens wie auf
der direkten Giftwirkung des Kohlenoxyds, des
Äthylens und des Azetylens beruhen. Die Krank-
heit äußerte sich daran, daß die Blätter nicht die
Giöße der normalen Blätter erreichten, sich nach
den Rändern zu bräunlich verfärbten und dort
\ertrockncten. Die Aussicht auf Heilung solcher
Bäume ist sehr gering, doch gibt Ehrenberg
einige Fingerzeige für Heilmaßnahmen (Zeiischr.
f Pflanzenkrankheiten 1914, Bd. '2i, S. 33 — 40).
F. Moewes.
Physik. In einer Arbeit über die Grundlagen
der Atommodelle in den Berichten der Deutschen
Physikalischen Gesellschaft XVI (i9r4) Seile 281
führt F. A. Lindemann folgende Eigenschaften
der Atome an, die durch die experimentellen
Untersuchungen der letzten Jahre sicher gestellt
sind:
1. Die Atome sind undurchdringlich, solange
sie von Elektronen oder Atomen getroffen werden,
deren Geschwindigkeiten kleiner sind als etwa
3'iO*bezw. fvio'"' cm pro Sekunde. Bei höheren
Geschwindigkeiten können sowohl PLlektronen als
auch geladene Atome (ß-Strahlen) die Atome
durchsetzen. Aus der Größe der Ablenkung läßt
sich ein unterer Grenzwert für die Anzahl La-
dungen im Atom berechnen. Der Raum des
Atomvolumens kann daher nicht kontinuierlich
erfüllt sein.
2. Die Atome sind mit Ausnahme derjenigen
der radioaktiven Substanzen über außerordentlich
große Zeiten stabil.
3. Die Atome enthalten Elektronen, die in
den Spektrallinien sehr wenig gedämpfte elek-
trische Strahlen aussenden. Die Erregung der
strahlenden Elektronen kann durch thermische
Bewegung, durch chemische Reaktionen, durch
Stoß von Elektronen oder durch elektrische Re-
sonanz erfolgen. Die Spektrallinie eines Elemen-
tes lassen sich vielfach nach empirischen I'ormeln
zusammenfassen.
4. Auch im Gebiet der höchsten F"requenzen,
im Röntgenspektrum, sind ungedämpfte Spektral-
linien vorhanden. Die Hauptlinien der Elemente,
deren Atomgewichte zwischen 40 und 65 liegen,
lassen sich nach Moseley durch die Formel
n = konstu- darstellen, wo u ganze Zahlen be-
deutet, die von 19 bis 29 steigen.
5. Ein unterer Grenzwert für die Anzahl der
im Atom enthaltenden Elektronen läßt sich aus
der Zerstreuung der Röntgenstrahlen in der Ma-
terie berechnen, so lange die Frequenz der be-
nutzten Röntgenstrahlen groß ist im Vergleich
zur Frequenz der Elektronen. Die nach diesem
Verfahren bestimmten Zahlen sind in guter Über-
einstimmung mit den nach i berechneten Werten.
Sie scheinen nach Van den Broek einfach der
Ordnungszahl zu entsprechen, wenn die Elemente
nach den Atomgewichten geordnet sind.
36o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
23
6. Die Erscheinungen des selektiven Photo-
effektes zeigen uns stark gedämpfte Elektronen-
schwingungen, von denen wir heute noch nicht
wissen, ob sie dem Atom als solchem oder wie die
Reststrahlen im Ultraroten nur den Molekülaggre-
gaten der festen und flüssigen Körper angehören.
Ein Atommodell muß mit diesen Erfahrungs-
tatsachen in Einklang gebracht werden.
K. Schutt-Hamburg.
Meteorologie. Meteorologisches von derOster-
insel. Auf dieser mitten im stillen Ozean gelegenen
Insel wurden von Seiten des chilenischen meteoro-
logischen Zentralobservatoriums auf Anregung von
dessen Direktor, Dr. W. Knoche, ein volles
Jahr hindurch (Mai 1911 bis April 1912) sehr
vollständige meteorologische und seismographische
Beobachtungen durch E. Marti nez angestellt,
über deren Ergebnisse in Nr. 4 der Publikationen
des genannten Instituts ausführlich berichtet wird.
Unter großer Aufopferung hat der Beobachter auf der
sehr spärlich bevölkerten, stark vom .Aussatz heim-
gesuchten Insel in der Nähe des eii\zigeii, doit
befindlichen Europäerhauses zu Mataveri am h'uße
des Vulkans Ranakao die Stationsbeobachtungen
durchgeführt und noch ergänzt durch Beobachtungen
an zwei Nebenstationen, von denen die eine in
höherer Lage (300 m), die andere im Zentrum der
Insel auf dem Vulkan Manuga Terevaca sich be-
fand. Die Beobachtungen erstreckten sich außer
auf Lufttemperatur, Barometerstand, P'euchtigkeit,
Niederschläge, Wind und Bewölkung auch auf
Bodentemperatur, Sonnenscheindauer und Ver-
dunstung und wurden sowohl mit Registrier-
instrumenten, als auch durch Terminbeobachtung
gewonnen. Es ist klar, daß dadurch bei der außer-
gewöhnlichen Lage so fern von jeder größeren
Landmasse ein sehr wertvolles Material gesammelt
wurde. Das Klima ist natürlich ein sehr gleich-
mäl3iges und es zeigen z. B. die Barometerangaben
fast das ganze Jahr hindurch eine sehr niedrige regel-
mäßige täglicheDoppelwclle von I ' jmm Amplitude,
deren Maxima auf 9''a und 9''p fallen. Gleichwohl
hatte die jährliche, ziemlich unregelmäßige
Schwankung eine Amplitude von 19 mm. Da
gelegentliche Depressionen später nach Osten
wandern, würde eine bleibende Station auf dieser
Insel für die Wetterprognose der südamerikanischen
Westküste von Wert sein. Gewitter kamen im
Beobachtungsjahr nur zweimal zum Ausbruch.
Die Sonnenscheindauer ist ungefähr ebensogroß
wie in Rom (54 "i, der möglichen Dauer), obgleich
die Bewölkungszahl (6,6 gegen 4,1) und die Zahl
der Tage mit Niederschlag (209 gegen 97) auf
der Osterinsel weit höher liegt als in Rom. Die
Temperatur schwankte zwischen 31,0" und 10,6"
und betrug im Mittel 20,4", gut übereinstimmend
mit den Isothermen des Be rgh aus'schen Atlas.
Die tägliche Schwankung differierte zwischen 2,2"
und 13". Bezüglich weiterer Angaben verweisen
wir auf die Publikation selbst. Diese enthält noch
Aufsätze über die Flora (von Fuentes), die
Geomorphologie (von K n o c h e), die Gesteine (von
Felsch) und namentlich über die Seismizität der
Insel (von Monstessus de Ballore). Dieser
letztere Aufsatz stützt sich auf Beobachtungen einer
Komponente eines Pendels, die gleichfalls von
Marti nez ausgeführt wurden und 65 mal seismische
Bewegungen anzeigten, ohne daß ein fühlbarer
Erdstoß vorgekommen wäre. Die drei geologisch
jungen Vulkane sind völlig erloschen und ruhen
auf einem sehr ausgedehnten und sehr tiefen sub-
marinen Sockel. Montessus meint, daß diese
unterseeische Hochebene nur peneseismisch ist und
schließt daraus auf ein hohes geologisches Alter
der Tiefen dieses Teiles des Pazifik. F. Kbr.
Zoologie. „Dauermodifikationen" bei Mikro-
organismen. In den letzten Jahren sind „Muta-
tionen" bei Bakterien, Trypanosomen und anderen
Mikroorganismen speziell von medizinischer Seite
in großer Zahl beschrieben worden. Wenn z. B.
Bakterien oder Trypanosomen allmählich an ver-
schiedene Gifte gewöhnt werden konnten, und
wenn dann weiter festgestellt wurde, daß die
einmal erworbene Giftfestigkeit jahrelang fortbe-
stand, so wurde vielfach hieraus der Schluß ge-
zogen, daß eine Veränderung der Erbeigenschaften
in dem betreffenden Bakterien- bzw.Trypanosomen-
stamm vor sich gegangen sei. Sind aber in der
Tat in allen diesen Phallen am Erbfaktorenkomplex
bleibende Veränderungen erfolgt, ist also hier
wirklich das eingetreten, was wir bei den Meta-
zocn als „Mutationen" zu bezeichnen pflegen?
Diese F"rage behandelt Jollos^) und kommt zu
dem Resultat, daß die zahlreichen Bakterien,
Trypanosomenmutationen usw. prinzipiell ver-
schiedensind von den durch Vererbungsexperimente
mit höheren Tieren bekannt gewordenen Muta-
tionen. P> sieht in den sog. Bakterienmutationen
„Dauermodifikationen", ein Begriff, zu dessen Auf-
stellung ihn eigene Experimente mit Infusorien
geführt haben. -)
Jollos züchtete Stämme von Paramäcium bei
verschiedenen Temperaturen sowie unter Zusatz
von arseniger Säure zu dem Kulturwasser. Wurden
die Paramäcien einer wilden Kultur entnommen,
handelte es sich also um eine Population , so
konnten zunächst mehrere Rassen isoliert werden,
die höhere Temperaturen sowie die arsenige
Säure verschieden gut vertrugen. Während z. B.
bei den einen 0,3 " „ der verwandten Lösung ge-
rade tödlich war, gingen andere erst bei 1,5 "/„
zugrunde. An den Individuallinien konnte Jollos
unter der Einwirkung von arseniger Säure Ver-
änderungen verschiedener Art feststellen. Bei
einer bestimmten Giftkonzentration vermag eine
bestimmte Individuallinie eben noch zu existieren.
Bei ganz allmählicher Steigerung der Giftkonzen-
') Jollos, V., Variabilität und Vererbung bei Mil;ro-
organismen. Zeitschr. f. indukt. Absl. und Vererbungslehre.
12. Bd., 1914.
2) Jollos, V., Experimentelle Untersuchungen an In-
fusorien. Biol. Centralbl., 33 Bd., 1913.
N. F. XIII. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
361
tration kann dieses Maximum ohne Schaden für
die Rasse noch überschritten werden , bei der
einen Rasse nur ganz wenig, bei anderen aber
doch reciit beträclitlich, so daß schHcßhch eine
Konzentration erreicht wird, die, wenn sie sofort
angewandt würde, den Tod der Rasse zur Folge
hätte. Bringt man die Rassen nunmehr zurück
in das giftfreie Medium und prüft nach einiger
Zeit wieder ihre Giftfestigkeit, so findet man, daß
diese vollständig verloren gegangen ist. Wird
das für die Rasse bekannte Maximum der Gift-
konzentration auch nur um ein Geringes über-
schritlen, so geht sie zugrunde. Die Veränderung,
die an der Rasse erzielt worden war, ist also
nicht erblich gewesen, sie verschwindet sehr bald
wieder. Solche Veränderungen bezeichnen wir
als Modifikationen. Neben diesen Modi-
fikationen konnte JoUos aber noch Verände-
rungen beobachten, die ohne eine genaue Prüfung
wohl als Mutationen bezeichnet worden wären.
Bei lange andauernder, in der Konzentration häufig
wechselnder Einwirkung konnte nämlich in ver-
schiedenen Fällen eine ,, Giftfestigung" erzielt wer-
den. Linien, die anfangs bei einer Konzentration
von 0,8 "/(i cler Lösung arseniger Säure abstarben,
konnten sciiließlich noch bis 5 "/„ ohne Schädigung
vertragen. Abgesehen davon, daß hier die Kon-
zentration beträchtlich höher ist, ist der wesent-
lichste L^nterschied zu den Modifikationen der,
daß in diesen Fällen die Widerstandsfähigkeit
gegen das Gift nicht verloren geht, wenn die
Linie einige Zeit im giftfreien Medium gehalten
wird. Ein gefestigter Stamm, der nach sieben
Monaten arsenfreier Kultur plötzlich wieder in
eine Konzentration von 5 "/g gebracht wurde, über-
stand dies, während die Ausgangslinie bereits bei
1,1 "/o abgetötet wurde. Hier lag also die Ver-
mutung nahe, daß in der Tat eine erbliche Ver-
änderung der Rasse vor sich gegangen sei. Aber
dem war nicht so : Das Verhalten des gefestigten
Stammes änderte sich vom achten Monat ab, die
Giftfestigkeit ging allmählich zurück, bis schließ-
lich nach ungefähr zehn Monaten der Stamm sich
von der Ausgangslinie nicht mehr unterschied.
Es war also die Veränderung ebensowenig erb-
lich wie bei den Modifikationen, nur hielt sie be-
trächtlich länger an, weshalb auch lollos solche
Veränderungen als Dauermodifikationen
bezeichnet. Daß solche Veränderungen den Erb-
faktorenkomplex unberührt lassen, wird am
schlagendsten bewiesen durch das Verhalten der
betreffenden Rassen nach der Konjugation , d. h.
mit anderen Worten nach der Befruchtung. Die
Befruchtung vernichtet die Giftfestigkeit der Tiere
mit einem Schlage.
Daß neben diesen Modifikationen und Dauer-
modifikationen bei den Protisten auch echte Mu-
tationen vorkommen, bestreitet natürlich Jollos
nicht, aber diese sind außerordentlich selten, wer-
den zum wenigsten äußerst selten beobachtet.
Jollos selbst konnte bei Paramäcium eine echte
Mutation feststellen. In einer Individuallinie, die
bereits seit längerer Zeit bei 31 " C gehalten
wurde, traten plötzlich Tiere auf, die erheblich
kleiner waren als die übrigen. Bei isolierter Zucht
stellte sich dieses Merkmal als konstant heraus,
und außerdem unterschied sich die neue Rasse
noch dadurch von der alten, daß sie ohne Schä-
digung bei 39" konnte kultiviert werden, eine
Tem^ieratur, bei der keine andere Paramäcienrasse
zu existieren vermochte. Wie bei vegetativer
Vermehrung so erwies sich die neue Rasse auch
bei der Konjugation im Gegensatz zu den Dauer-
modifikationen als konstant.
Bei den Bakterien sowie bei den Trypano-
somen, bei denen Befruchtungsvorgänge sehr selten
sind oder vielleicht überhauiH fehlen, ist es natür-
lich außerordentlich schwierig, von einer im Ex-
periment erzielten Veränderung nachzuweisen, ob
es sich um eine Dauermodifikation oder eine
Mutation handelt. Ist es nun aber schon von
vornherein unwahrscheinlich, daß hier so massen-
haft Mutationen vorkommen, während sie sonst
so außerordentlich selten sind, so überzeugt uns
Jollos durch die Sichtung der vorliegenden Be-
obachtungen vollkommen, daß es sich bei den
meisten sog. ,, Mutationen" um Dauermodifikationen
handelt. Und wir können ihm vollkommen zu-
stimmen, wenn er sagt; „Handelte es sich bei
den Veränderungen wirklich um eine Beeinflussung
der Erbanlagen und nicht nur um Dauermodifi-
kationen, wie schnell hätte dann der stolze Bau
der bakteriologischen Diagnostik in sich zusammen-
sinken müssen ! Denn wie wäre besonders bei
unseren, rein biologisch betrachtet, recht unvoll-
kommenen Kenntnissen und Hilfsmitteln eine
sichere Identifizierung möglich, wenn so leicht
und schnell immer neue, erblich verschiedene
Formen entständen ?" Nachtsheim.
Anzahl der Spermatozoen beim Coitus der
Hunde. Mittels einer besonderen Apparatur
hat Amantea (Atti della Reale Accademia
dei Lincei. Bd. XXIII, S. 457. 1914.) Hunde
einen künstlichen Coitus ausführen lassen und die
Dauer des Aktes, die Menge des Sekretes sowie
die Zahl der Spermatozoen gemessen. Er findet,
daß die Dauer individuell verschieden, aber für
das einzelne Tier annähernd konstant ist (ent-
sprechende Pausen vorausgesetzt). Sie schwankt
etwa zwischen 7 und 15 Minuten. Die Menge
des Sekretes bewegt sich zwischen 1,7 und 19,1 ccm,
die Zahl der in ihm enthaltenen Spermatozoen
zwischen 38740000 und 679960000. Die letztere
steht weder mit der Menge der Spermaflüssig-
keit, noch mit der Dauer des Aktes noch mit der
Größe des Hundes in Beziehung; auch war ein
ganz deutliches Verhältnis von Sekretmenge und
Größe der Tiere nicht festzustellen. Erwähnens-
wert ist noch, daß die Ejakulation während der
ganzen Dauer des Coitus anhält, daß aber die
Menge der Spermatozoen im Anfang am größten
ist, dann abnimmt und in einem letzten Stadium
gleich Null wird, und daß die Zahl der Spermata-
362
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 23
zoen beim ersten Versuch nach langer Entlialt-
samkeitsdauer geringer als bei dem zweiten ihm
einige Tage später folgenden befunden wurde.
Miehe.
Physiologie. Das Auge von Periophthalmus,
Boleophthalmus und Änableps hat einen sehr merk-
würdigen Bau, entsprechend der eigentümlichen
Lebensweise der genannten Fische. Diese leben
an den Küsten der tropischen Meere, vom Roten
Meere bis Japan entlang der Südküste des asiati-
schen Kontinents, am Strande der Inseln des
indoaustralischen Archipels und des westlichen
Stillen Ozeans, Änableps in Südamerika und Perioph-
thalmus koelreuteri Fall, an der Westküste Afrikas.
Sie halten sich in der Nähe des Strandes auf, der
zur Ebbezeit trocken liegt, um dann auf demselben
ihre Beute zu jagen. Dabei können sie stunden-
lang außerhalb des Wassers leben und, indem sie
sich auf Schwanz und Messen stützen, überraschend
schnell laufen. Ihre Augen sind, abweichend von
denen der anderen Fische, an das Sehen in der
Luft angepaßt. Sie stehen, dicht nebeneinander,
weit über die Oberfläche des Kopfes hervor; durch
besondere Muskeln können sie zurückgezogen
werden. Die Hornhaut ist sehr stark gewölbt,
auf dem Schnitt fast halbkreisförmig. Die Linse
ist kugelig. Die Brechkraft des Auges ist infolge-
dessen zu groß zum deutlichen Sehen in die Ferne,
wie es in der Luft notwendig ist. Durch einen
besonderen Akkommodationsmuskel aber kann die
Linse und mit ihr das Bild fast bis an die Netz-
haut herangebracht werden.
Nach V o 1 z ') bildet die Endsehne dieses „Skleral-
muskels" vor der Linse eine durchsichtige Mem-
bran. Zwischen ihr und der Hornhaut bleibt ein
großer Raum, welcher der Linse eine ausreichende
Bewegung gestattet.
Nach L. Baumeister (Die Augen der
Schlammspringer [Periophthalmus und Boleoph-
') Der junge Berner Zoologe fand am 18. April igo8
einen vorzeitigen Tod .luf einer Forschungsreise durch das
Hinterland von Liberia.
thalmusj. Bemerkungen zu dem von W. Volz
verfaßten usw., Zool. Jahrb., Bd. 35, Anat., 1913)
aber ist jene Membran nur die hintere Lamelle
der gespaltenen Hornhaut, und der Raum zwischen
ihr und der vorderen Lamelle ein Lymphraum.
Die Retraktoren von V. seien nur welliges Binde-
gewebe.
Die Ansicht von B. bestätigt W. Harms (Über
die Augen der am Grunde der Gewässer lebenden
Fische, Zool. Anz., Bd. XLIV, Nr. i, 31. März 1914).
Er untersuchte gelegentlich eines Aufenthalts auf
der Insel Lanzarote im Herbst 19 13 die Augen
verschiedener Lepadogasterarten (zu den Gobieso-
eiden gehörig). Er vergleicht ihre Hornhaut mit
der „Brille" der Schlangen. Dieselbe Einrichtung
fand er bei den verschiedensten Gobiiden der
Ebbezone, bei Anguilla canariensis und einer dem
Periophthalmus verwandten Art. Spätere Unter-
suchungen an Cottus gobio (Cottidae) sowie Cobi-
tis fossilis und barbatula (Cyprinidae) zeigten hier
ähnliche Einrichtungen; ziemlich sicher fand sich
dasselbe bei Scorpaciia und Antennarius. Mit V.
und B. hält er den Hohlraum vor dem Auge der
erstgenannten Fische für eine Einrichtung zum
Schutz gegen das Trockenwerden der Hornhaut
beim stundenlangen Aufenthalt in der Luft, sein
Vorkommen bei den anderen am Grunde der Ge-
wässer lebenden Fischen dient zum besonderen
Schutz für das Auge durch den elastischen Kon-
junktivalsack bei sehr schneller Fortbewegung,
z. B. auf der Flucht.
Nach einem kleinen seitlichen Einschnitt in
die „Brille" konnte H. leicht die Linse oder das
Auge oder beide zugleich entfernen. Die Wunde
heilte innerhalb weniger Tage zu. Schon nach
10 — 14 Tagen war die ganze ,, Brille" mit Pigment
durchsetzt, das von der umgebenden Haut in sie
eingewandert war. Durch diesen merkwürdigen
Vorgang verliert die „Brille" natürlich ihre Durch-
sichtigkeit. Bei einseitiger Operation blieb diese
Störung am anderen Auge aus. Die Pigment-
einwanderung ist offenbar eine Folge der Auf-
hebung der Funktion des Auges.
Kathariner.
Bücherbesprechungen.
Prof H. R. Procter, Taschenbuch für
Gerbereichemiker und Leder fabri-
kanten. Kurze Anleitung zu analytischen
Arbeiten , verfaßt unter Mitwirkung von Prof.
Dr. Edmund Stiasny und HaroldBrum-
well. Aus dem Englischen übersetzt und unter
Mitwirkung der Verfasser bearbeitet von Ing.-
Chem. Josef Jettmar. VIII und 248 Seiten.
Dresden und Leipzig 1914, Verlag von Theodor
Steinkopff. — Preis 5 Mk.
Das in Fachkreisen bekannte Handbuch der
Lederindustrie von Procter (Leather Industries
Laboratory Book), das auch in einer deutschen
Bearbeitung ^von Dr. Joh, Paß 1er) erschienen
ist, hat sich für den Gebrauch der Studierenden
an technischen Schulen und für die praktische Ver-
wendung in Gerbereien als etwas zu umfangreich
erwiesen. Da es ferner in manchen Punkten die
letzten Forscliungsergebnisse nicht mehr berück-
sichtigt, darf die Herausgabe eines kurzgefaßten
und die neuesten Methoden enthaltenden ,, Taschen-
buchs" als eine willkommene Ergänzung des
größeren Handbuchs begrüßt werden. Aus dem
Inhalt des Büchleins, das sich durch handliches
Format und soliden Einband auszeichnet, seien
u. a. folgende Abschnitte erwähnt : Äschern, Ent-
kalken und Beizen; die qualitative und quanti-
tative L'ntersuchung der Gerbstoffe; die Analyse
des Formaldehyds, des Kochsalzes, der Seifen usw.;
Öle und Fette; Nachweis und Bestimmung des
N. F. Xm. Nr.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
363
Traubenzuckers; Analyse des Leders; Bakteriologie
und Mykologie in der Gerberei und Lederfabrikation.
Ein zuverlässiges Namen- und Sachregister erhöht
die Brauchbarkeit des empfehlenswerten Buches.
Bugge.
R. Brückmann, Palm nicken. (Beobachtung
über Strandverschiebungen an der Küste des
Samlands. IIL) Im Auftrage der Zentral-
kommission für wissenschaftliche Landeskunde
von Deutschland. Seite 117 — 144. Mit 9 Tafeln,
13 Kartenskizzen und 2 Textbildern. Leipzig
1913, B. G. Teubner.
Der vorliegende Abschnitt ist ein Teil des
umfassenden Werkes, das sich im allgemeinen
mehr mit Uferabbrüchen und Versetzung des ab-
gebrochenen Materials beschäftigt als mit wahren
„Strandverschiebungen", worunter doch eine Land-
einwärts- oder Seewärts- Verschiebung der Strand-
linie zu verstehen ist. Brückmann stellt für
die Gemarkung Sorgenau, die, wie alle von ihm
behandelten, an der Westküste des Samlandes
liegt, einen Abbruch von o,il ha, für die Ge-
markung Palmnicken 4,96 ha, für die Gemarkung
Kraxtepelle 4,59 ha in einem Zeitraum von
68 Jahren fest, was einen durchschnittlichen Ab-
bruch von 0,5 m Breite für das Jahr ergibt. Der
bergmännische Abbau des Bernsteins hat in diesen
Gebieten die Uferzerstörung wesentlich befördert.
Die Erörterung über Strömungen in der Ostsee,
die der Verf anstellt, um den Verbleib des Materials
zu untersuchen, ist sehr wenig tiefgehend. Denn
die Tatsache der Verfrachtung nach Nordosten
hin hätte ihn schon ein Blick auf eine Übersichts-
karte lehren können, setzen doch alle Nehrungen
im Westen an. Glänzend ist die Ausstattung mit
Karten und Abbildungen. W. Behrmann.
Die Süßwasserflora Deutschlands, Österreichs
und der Schweiz. Bearbeitet von zahlreichen
Fachgelehrten und herausgegeben von Prof. Dr.
A. Pascher (Prag). Jena 1913 — 191 4, Gustav
Fischer.
Heft I : Flagellatae L Allgemeiner Teil von
A.Pascher; Pantostamatinae, Protomastiginae,
Distomatinae von E. L e m m e r m a n n (Bremen).
Mit 252 Textabbild. Geb. 4 Mk.
Heft 2 : Flagellatae IL Chrysomonadinae,
Cryptomonadinae, Eugleninae, Chloromonadinae
und gefärbte Flagellaten unsicherer Stellung von
A. Pascher und E. Lemmermann. Mit
398 Textabbild. Geb. 5,50 Mk.
Heft 3 : Dinoflagellatae (Peridineae) von A. J.
Schilling (Darmstadt). Mit 69 Textabbild.
Geb. 2,30 Mk.
Heft 6: Ulotrichales, Mikrosporales, Oedogo-
niales. (Chlorophyceae III) von W. Heering.
Mit 38s Abbild, im Text. 6,60 Mk.
Heft 9: Zygnemales von O. Borge (Stock-
holm) und A. Pascher. Mit 89 Textabbild.
Geb. 2 Mk.
Heft 10: Bacillariales (Diatomeae) von H.
V. Schön feldt (Eisenach). Mit 379 Textabbild.
Geb. 4,50 Mk.
Heft 14: Bryophyta (Sphagnales, Bryales,
Hepaticae) von C. Warnstorf (Friedenau),
W. Mönkemey er (Leipzig) und V. Schiffner
(Wien). Mit 500 Textabbild. Geb. 6,20 Mk.
Die Flora des Wassers in ihrer biologischen
Geschlossenheit, ihrer besonders bei den mikro-
skopischen Vertretern reichen Formenmannigfaltig-
keit und in ihrer Fülle von besonders auffallenden
Anpassungserscheinungen in einer Serie von Be-
stimmungsbüchern zu behandeln, ist ein glück-
licher Gedanke. Insbesondere ist es für die Klein-
welt des Wassers äußerst wünschenswert, einen
zuverlässigen literarischen Ratgeber zu besitzen,
der die meist nur mit schwer zugänglichen Hilfs-
mitteln möglichen Bestimmungen der Formen,
die der Wasserbotaniker heimbringt, auszuführen
gestattet. Weniger notwendig 'scheint mir die
Berücksichtigung der höheren Pflanzen zu sein;
doch sind von den geplanten 16 Heften einer-
seits nur 2 hierfür bestimmt, andererseits ist ge-
rade das eine von diesen , nämlich das über die
Moose deswegen besonders wertvoll , weil es auf
diesem Gebiete gegenwärtig sehr an guten Be-
stimmungsbüchern mangelt.
Erschienen sind bisher die oben angegebenen
Bändchen. Jedes wird eingeleitet durch eine
kurze allgemeine Darstellung des äußeren und
inneren Baues, der Entwicklung, der Fortpflanzung,
der Ernährung, Lebensweise, des Vorkommens,
des Sammeins, Fixierens und Präparierens der be-
treftenden Organismen. Im systematischen Teil
sind klare Bestimmungsschlüssel der Familien,
Gattungen und Arten gegeben. Diese sind dann
noch durch zusammenhängende, durch gute Ab-
bildungen unterstützte Einzelbeschreibungen cha-
rakterisiert, wobei stets der Standort angeführt
wird. Wie es schon durch die Namen der als
Spezialforscher bekannten Bearbeiter gewährleistet
ist, stellen die Bändchen keine bloße Kompilation
dar, sondern sind auf genaue Sachkenntnis gegrün-
dete, selbstständige, wissenschaftliche Leistungen,
ganz besonders da, wo eine kritische Bearbeitung
bislang nicht vorlag. So ist z. B. die Anführung
der Literatur sehr wertvoll. Die Zahl der aufge-
nommenen Arten ist recht bedeutend. Besonders
hübsch erscheinen mir die Bändchen über die
Flagellaten und über die Moose, womit aber
nichts gegenteiliges über die anderen ausgedrückt
werden soll.
Wir können die handlichen in Taschenformat
gehaltenen Büchlein als sehr nützliche Hilfsmittel
beim Studium der Pflanzenwelt des Wassers durch-
aus empfehlen , ja sie stellen für die Liebhaber
sowohl wie für die Mehrzahl der Fachleute eine
sehr dankenswerte Bereicherung der Literatur dar.
Wir werden auf die Sammlung bei dem weiteren
Erscheinen der Bändchen noch zurückkommen.
Miehe.
364
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
23
Philippson, Alfr., Das Mittelmeergebiet,
seine geographische und kulturelle
Eigenart. 3. Aufl. Mit 9 Fig. im Text, 13 An-
sichten und 10 Karten auf 15 Tafeln. Leipzig-
Berlin 1914. B. G. Teubner. — Geb. 7 Mk.
Das schöne und vielen Reisenden , die der
Weg nach Süden führt, als anmutiger und zu-
verlässiger Begleiter unentbehrliche Buch Philipp-
son's liegt nunmehr bereits in der dritten Auf-
lage vor. Sie ist von dem Verf sorgfältig durch-
gesehen und auf den neuesten Stand der Keiuit-
nisse gebracht worden. Bei dem Durchblättern
des mit guten Bildern und Karten versehenen
Buches ist man immer wieder von der Reichhaltig-
keit des Inhaltes überrascht und von dem Zauber
der klaren und ausdrucksvollen Darstellung ent-
zückt. Im übrigen sind ja seine Vorzüge allge-
mein bekannt und gewürdigt, so daß wir uns hier
mit der erneuten warmen Empfehlung des vor-
trefflichen Buches begnügen dürfen. Außer dem
die Gestade des Mittelmeeres aufsuchenden Rei-
senden wird es gerade gegenwärtig jedem als
gutes Belehrungsmittel willkommen sein, der sich
für die politischen Fragen im Mittelmecrgebiet,
besonders in seinem östlichen Teil, interessiert.
Miehe.
E. Study, Die realistische Weltansicht
und die Lehre vom Räume. Bd. 54 der
Sammlung „Die Wissenschaft". X und
145 Seiten. Braunschweig 1914, Fr. Vieweg
& Sohn. — Preis geh. 4,50 Mk., geb. 5,20 Mk.
Nach Aufstellung eines realistischen Weltbildes
und nach schroffer Ablehnung idealistischer, posi-
tivistischer und pragmatistischer Lehren spricht
der Verf. die Möglichkeit eines Systems abstrakter
Begriffe und Lehrsätze aus, das als Gedanken-
bild des empirischen Raumes gelten darf und
diesen zum Gegenstand des quantitativen Er-
kennens macht. Die mathematische Analysis
liefert ein Mitte! , die Euklidische Geometrie auf
eine vollkommen einwandfreie Form zu bringen,
sie gestattet eine „abstrakte Koordinatengeometrie",
in der die der Anschauung entnommenen Begriffe
„Punkt", „Entfernung", ,, Bewegung", ,, Kongruenz"
usw. in möglichster Allgemeinheit durch algebra-
ische Symbole vertreten sind. Unsere gegen-
wärtigen Hilfsmittel gestatten gar nicht oder nur
sehr schwer, einen Unterschied zwischen dieser
„natürlichen Geometrie" und irgendeiner der
4 Arten der Maßgeometrie (der sphärischen,
elliptischen , pseudosphärischen und Euklidischen)
festzustellen. Einstweilen gestattet jedoch die
,, natürliche Geometrie" der Euklidischen eine
Vorzugsstellung. Zum Schlüsse bekämpft der
Verf. diejenigen, die die analytische Grundlegung
der Geometrie verwerfen und ein System von
aus der Anschauung entsprungenen Axiomen
vorziehen.
Wer eine philosophische Richtung bekämpfen
will, hat die Pflicht, sich in erster Linie mit
den Forschern auseinanderzusetzen , die in ihr
die vollendetste Ausbildung gegeben haben. So
hätte der Verfasser von R. Avenarius und
J. Petzoldt erfahren können, daß M a c h s ( jkono-
mieprinzip ') keineswegs als Eckpfeiler des Positi-
vismus zu gelten hat, und daß kaum ein Philosoph
in schärferem Gegensatz zu dieser philo-
sophischen Weltanschauung steht als W. Ostwald,
der leidenschaftliche Verfechter eines energetischen
Absolutismus! Wenn der Positivismus, der
gerade die gesunden Gedanken des naiven
Realismus zu retten sucht, hinsichtlich der Möglich-
keit einer natürlichen Geometrie zu gleichen Er-
gebnissen wie der moderne Realismus gelangt, so
braucht er damit keineswegs seine Grundgedanken
aufzugeben. Gewiß verwirft der Positivismus die
I<"orderung eines Standpunktes, auf dem wir uns
gar nicht stehend denken können , nimmt aber
unbedenklich Hypothesen und Theorien auf sofern
deren „arbeitsfähige" Bestandteile mit den u n ■
mittelbar aus dem Erleben hervorgegangenen
Begriffen in eindeutigem Zusammenhang stehend
gedacht werden können.
Indes bieten die auf die natürliche Geometrie
sich erstreckenden Abschnitte so viel gehaltvolle
Gedanken und Anregungen, daß wir dem vor-
liegenden Buche aufmerksame Leser wünschen.
Mögen analytisch weniger geschulte Freunde des
Raumprobleins sich nicht durch das Motto des
Titelblattes abschrecken lassen! Angersbach.
K. V. Auwers und A. Boennecke, Tabellen
zur Berechnung der ,,theoretischen"
Moire fr aktionen organischer Verbin-
dungen. 27 Seiten. Berlin 1914. Verlag
von Julius Springer. — Preis 1,20 Mk.
Die vorliegenden Tabellen, die als Ergänzung
der Hilfsmittel des refraktometrischen Werkes von
W. A. Roth und F. Eisenlohr dienen sollen,
erleichtern die oft umständlichen und zeitrauben-
den Berechnungen der „theoretischen" Mol-Re-
fraktionen und -Dispersionen. Sie sind für die
Untersuchung von Kohlenwasserstoffen, sauer-
stoffhaltigen Körpern und Halogenderivaten be-
stimmt, lassen sich aber auch für Substanzen mit
anderen Elementen verwenden, wenn man deren
Atomrefraktionen kennt. Im allgemeinen sind Ver-
bindungen und Radikale bis zu einem Gehalt von
1 5 Kohlenstoffatomen berücksichtigt worden. Der
Berechnung wurden die vierstelligen Eisen loh r-
schen Atomrefraktionen unverändert zugrunde ge-
legt; nur für Brom wurden verbesserte Werte
(von Karvonen) verwendet. Die durch beide For-
cher unabhängig voneinander erfolgte Berechnung
und Vergleichung der Werte dürfte die Zuver-
lässigkeit der Tabellen verbürgen.
Bugge.
Prof. Dr. Julius Schmidlin, Das Triphenyl-
methyl. Mit 23 Figuren im Text. VI. Band
') Man lese auch nach, was Mach selbst über den
Sinn des Ökonoraicbcgriffes auf Seite 393 der „Prinzipien der
Wärmelehre", 2. Aufl., sagll
N. F. XIII. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
365
der „Chemie in Einzeldarstelkmgen", heraus-
■ gegeben von Prof. Dr. Julius Schmidt. XII u.
233 Seiten. Stuttgart 1914. Verlag von Fer-
dinand Enke. — Preis geh. 8 Mk , in Leinwand
geb. 8,80 Mk.
Ebenso wie die \orhergegangenen „Einzeldar-
stellungen" behandelt auch die neueste Monogra-
phie dieser Sammlung ein Thema, daß der letzten
Entwicklung der organischen Chemie angehört.
Man könnte es — auf den ersten Blick — für
nicht ganz angebracht halten, einer speziellen or-
ganischen Substanz, der keinerlei praktische Be-
deutung zukommt und deren Erforschung über-
dies noch nicht abgeschlossen ist, ein umfangreiches
Buch wie das vorliegende zu widmen. Aber die
theoretische Bedeutung, die das Triphenylmethyl
für die organische Chemie besitzt, läßt diesen
naheliegenden Einwand hinfällig erscheinen. Das
1900 von Gomberg entdeckte Triphenylmethyl
hat sich als der erste Vertreter einer Klasse von
Verbindungen erwiesen, in denen der Kohlen-
stoff nicht als vierwertiges, sondern als dreiwer-
tiges Element fungiert. Es sind zwar verschiedene
Versuche gemacht worden, die merkwürdigen
Eigenschaften dieser Substanz in Parallele mit
schon bekannten Tatsachen zu setzen und durch
das Bild bewährter Formeln mit vierwertigem
Kohlenstoff zu veranschaulichen; aber diese Ver-
suche haben wenig Erfolg gehabt, so daß heute
die herrschende Ansicht dahin geht, im Triphe-
nylmethyl und seinen analogen Verbindungen
ganz neuartige Erscheinungen zu sehen, die eine
Erweiterung der alten theoretischen Vorstellungen
nötig machen. Der Verfasser des Buches, der
selbst tätigen Anteil an der Erschließung des
Triphenylmethyl Problems genommen hat, ver-
steht es, mehr als eine nur die Spezialforschung
interessierende Literaturzusammenstellung zu geben;
man durchwandert unter seiner Führung eines
der reizvollsten Gebiete der organischen Chemie.
Bugge.
Prof. Dr. Alfred Werner , Über die Konsti-
tution und Konfiguration von Ver-
bindungen höherer Ordnung. 21 S.
Berlin 1914, Verlag von Julius Springer. — Preis
1,20 Mk.
Die kleine Schrift ist die Wiedergabe eines
Vortrags, den der bekannte Züricher Chemiker
am II. Dezember 191 3 bei der Entgegennahme
des ihm verliehenen Nobel-Preises in Stockholm
gehalten hat. Der \^erfasser, dessen experimentelle
und theoretische Arbeiten grundlegend für die
moderne Systematik der anorganischen Chemie
geworden sind, entwirft in kurzen Zügen ein an-
schauliches Bild seines Forschungsgebietes; durch
die Klarheit der Darstellung und die Weglassung
verwirrender experimenteller Einzelheiten dürfte
die Schrift den Zweck erfüllen, die neueren An-
schauungen über die Konstitution und Konfiguration
der sog. Molckülverbindungen — und damit die
Fortschritte unserer Kenntnis vom Bau der Mole-
küle — auch demjenigen zugänglich zu machen,
dem es an Zeit fehlt, die schon stark angeschwollene
Literatur über dies Thema in Originalarbeiten
oder umfangreichen Monographien nachzulesen.
Bugge.
Hann, Prof. Dr. Julius, Lehrbuch der Me-
teorologie. 3. unter Mitwirkung von Prof.
Dr. R. Süring, Potsdam, umgearbeitete Auflage.
Mit mehreren Tafeln, Karten u. Tabellen sowie
zahlreichen Abbildungen im Text. Lieferung
I — 3 191 3. Chr. Herrn. Tauchnitz. — Jede
Lieferung 3,60 Mk. (etwa 10 Lieferungen).
Das allgemein bekannte und den Meteorologen
von F"ach ebenso wie dem Biologen gleicherweise
unentbehrliche Hann' sehe Lehrbuch der Meteo-
rologie beginnt in der zweiten Auflage lieferungs-
weise zu erscheinen. Wie der Prospekt mitteilt,
unterscheidet sich die neue Auflage, abgesehen da-
von, daß sie überall auf den neuesten Stand des
Wissens gebracht worden ist, von der zweiten
dadurch, daß die in der letzten z. T. fortgelassenen
Literaturnachweise wieder aufgenommen und
bis auf die Gegenwart fortgeführt sind. Außer-
dem ist ein besonderes Kapitel über die wichtigen
neuen Ergebnisse der aerologischen Forschung ein-
geschaltet, das von Prof. Süring in Potsdam
verfaßt ist. Das ganze Werk ist auf 10 Liefe-
rungen berechnet, 3 sind bereits erschienen. Wir
begnügen uns vorläufig, auf dieses wichtige Werk
hinzuweisen, und werden, wenn es vollständig
vorliegt, ausführlich darauf zurückkommen. M.
Fritz Münch, Erlebnis und Geltung. Ber-
lin 191 3, Reuther und Reichard.
In diesem Buche konzentrieren s'ch die Er-
gebnisse der Erkenntnistheorie der letzten
25 Jahre, um, gleichsam durch die richtende Kraft
der von Kant, Fichte, Hegel über L o t z e
und Windelband in die Gegenwart reichenden
Grundgedanken ein vollständiges System der
Kulturlogik herauszukristallisieren. — Die
Angelpunkte der von Münch entwickelten Ge-
samttheorie der ,, historischen Wirklichkeit über-
haupt" erkenne ich in folgenden drei Sätzen ;
I. Es gibt „Seiendes" = „reines Erlebnis", und
den Begriff davon == ,, reine Geltung" = „Sinn
des Seienden". 2. Es gibt eine „Realisation"
der geltenden Begriffe in der Wirklichkeit des
Seienden und eine „Aktualisierung" derselben
durch die handelnden Subjekte ^= Realisations-
prozeß des Geltenden in der Subjektbezogen-
heit. 3. Es gibt „Begründungszusammenhänge"
sämtlicher realisierbarer Begriffe gemäß Ideen,
die als solche „objektive Werte" darstellen , und
deren Gesamtheit in ihrer geschichtlichen Erfüllung
die „Kultur" ist. — Hat man die drei Grund-
einsichten gewonnen, so wird man dem Verfasser
bis in die schwierigsten logischen Probleme folgen
können, deren letztes die Möglichkeit des Zusam-
menfallens von „Weltanschauung" und „Lebens-
anschauung" fordert. Die Bedeutung des Münch-
366
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr. 23
sehen Buches liegt jedoch nicht z.um geringsten
Teile in der klaren , dabei eigenartigen Heraus-
arbeitung dessen, was für den wissenschaftlich
orientierten Erkenntnistheoretiker Gemeingut ge-
worden ist. Besonders wertvoll war mir auch die
vorzügliche und gewissenhafte Einführung in die
um das Grundproblem gruppierte Literatur der
neuesten Zeit und deren scharfe Kritik von seilen
des Verfassers. Eberhard Zschimmer.
Kafka, Gustav, Einführung in die Tier-
psychologie auf experimenteller und etho-
logischer Grundlage. Erster Band : „Die
Sinne der Wirbellosen". Mit 362 Ab-
bildungen im Text. XII u. 593 S. Leipzig,
Johann Ambrosius Barth, 1913. — Preis 18 Mk.
Ein grundlegendes für jeden synthetisch Den-
kenden, insbesondere für den Tierpsychologen
unentbehrliches Werk. Der erste vorliegende
Band erörtert in der Hauptsache das Tatsächliche
des Sinneslebens bei den Wirbellosen, dem zahlreiche
psychologische Definitionen angeschlossen sind.
Der zweite Band wird die Sinne der Wirbeltiere
und die Entwicklung der höheren psychischen
Fähigkeiten in der Tierreihe (Instinkihandlungen,
Gedächtnis, Intelligenzäußeruiigen usw.) behandeln.
Soweit Ref. das Gebiet zu überschauen vermag,
ist Kafka gründlich und mit Kritik vorgegangen
und bietet weit mehr und Zuverlässigeres als das
hier kürzlich besprochene Werk von O. M. Reu-
ter (Nr. II). Zahlreiche gute Abbildungen unter-
stützen die Textangaben. Nicht völlig befriedigend
ist die Quellenangabe, obgleich ein ausführliches,
eine erstaunliche Übersicht beweisendes, Literatur-
verzeichnis vorhanden ist, aber im Text fehlen
die Hinweise auf die Autoren häufig, so daß eine
Benutzung erschwert und man nicht weiß, wem
die Beobachtung oder besondere Ansicht zuzu-
schreiben ist. In der Einleitung legt Kafka
seinen Standpunkt gegenüber extremen Richtungen
dar, anerkennt vollkommen das Begehren des
Physiologen alles rein physiologisch analysieren
zu wollen, aber es fragt sich, ob wir hiermit zu
einer erschöpfenden Analyse der Lebenstätigkeiten
kommen, denn es steht — nach Kafka — fest,
daß die psychischen Phänomene, die jeder in
seiner eigenen Erfahrung vorfindet, in funktio-
nellerAbhängigkeit von den physiologischen
Prozessen stehen. Wir werden, wenn es uns noch
nicht möglich ist, alle Bahnen einer Reizreaktion
darzulegen, doch zur Einschaltung psychischer
oder psychoider Faktoren unsere Zuflucht nehmen
und selbst dort, wo es uns ausnahmsweise einmal
gelungen ist, z. B. einige Tropismen auf physi-
kalisch-chemische Prozesse zurückzuführen, dürfen
wir psychische Begleiterscheinungen nicht als aus-
geschlossen gelten lassen, wenn natürlich auch die
Unmöglichkeit solcher Zurückführung keineswegs
zwingt psychoide oder psychische Zwischenglieder
anzunehmen. Die Grundlage einer fruchtbaren
Tierpsychologie ist — nach Kafka — sich streng
an die Ergebnisse der objektiven Forschung zu
halten als ihrer einzigen Grundlage, ohne sich
dazu verleiten zu lassen, psychologische Interpre-
tationen als kausale Erklärungen der physischen
Phänomene auszugeben.
Es ist dem Ref. nicht zweifelhaft, ganz gleich-
gültig, wie man sich zu den einzelnen Auffassungen
Kafkas stellt, die hier natürlich nur zum klein-
sten Teile angedeutet werden konnten, daß seine
ganze Art und Weise der Problemerfassung bei
durchaus objektiver Würdigung gegnerischer An-
sichten, sehr geeignet erscheint, diesem besonde-
ren psychologischem Gebiete, auch auf der ex-
tremen Seite, Freunde zu gewinnen. Nach dem
Erscheinen des zweiten Bandes wird auf die vor-
treffliche Leistung noch wieder zurückzukommen
sein. Buttel-Reepen.
H. Lux: Das moderne Beleuchtungs-
wesen. Aus Natur u. Geisteswelt. Verlag v.
B. G. Teubner, Leipzig u. Berlin 1914. — In
Leinwand geb. 1,25 Mk.
Das lesenswerte und interessante Büchlein
gibt in allgemein verständlicher Weise einen Über-
blick über den gegenwärtigen Stand des modernen
Beleuchtungwesens. Nach einem Hinweis auf die
elektromagnetische Natur des Lichtes und seine
Erreger, die in den Atomen schwingenden Elek-
tronen, geht der Verfasser auf die Strahlung, ihre
Messung und ihre Gesetze (Wien Planck'sche
Strahlungsgleichung) ein, um dann die Methoden,
die zur Bestimmung der Temperatur leuchtender
Körper (Temperaturstrahler) dienen, zu schildern.
Der erste Teil schließt mit einem Kapitel über
photometrische Einheiten und Messungen und
einem Hinweis auf die I,uminiszenzerscheinungen,
betreffs der praktischen Verwendung wir erst am
Anfang der Entwicklung stehen. Im umfang-
reicheren zweiten Teil werden die sämtlichen
künstlichen Lichtquellen von der Kerze und der
Öllampe bis zum Vakuumlicht und der Queck-
silberdampflampe besprochen. Sehr dankenswert
sind die Kurven über die räumliche Lichtverteilung
der wichtigeren Lichtquellen und Angaben über
Ökonomie fast aller Beleuchtungsarten. Eine
große Anzahl von Abbildungen unterstützt den
Wortlaut des Textes. Am Schluß sind zwei Ta-
bellen aufgenommen, die Aufschluß geben über
Verbrauch und Kosten einer Tisch und Zimmer-
beleuchtung, letztere von 200 Hefnerkerzen, wenn
man als Lichtquelle eine Petroleum-, Spiritus-
glühlicht-, Gasglühlicht- oder elektrische Glühlampe
wählt. Es sei noch erwähnt, daß es im Interesse
der Klahrheit vielleicht besser gewesen wäre,
wenn in Abbildung 23 nur die Emissionskurve (d)
des Auerkörpers allein, die im Text auch wirklich
besprochen wird, aufgenommen wäre. K. Seh.
Anregungen und Antworten.
Herrn M. F. in Zw. — Was versteht man unter einer
„apiitischen Injektion" in der Geologie?
In Weinschenck's „petrographischem Vademekum"
(Freiburg i. Br. 1907, Herder'sche Verlagsbuehhandlung) finden
N. F. XIII. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
367
sich über diese in kurzen Worten schwer zu behandelnde
Krage folgende Definitionen:
Petrographiscli (S. Iio): „Die Aplite sind typische
Feldspatgesteine , meist mit ganz untergeordnetem basischem
Gemen<^teil, daher licht gefärbt, von mittlerem bis feinem
Korn, oft auch ganz dicht."
Über die Art des Auftretens (S. ly): feinkörnige Aplite,
.welche in großer Anzahl und in schmalen , mannigfach sich
verästelnden Gängen besonders in Graniten und deren Um-
gebung auftreten". . . . „Diese gangförmigen Bildungen sind
als Nachschübe der Intrusion selbst zu betrachten.
Außer diesen zweifellos jüngeren Gängen trifft man in der
Umgebung der Tiefengesteine bald vereinzelt, bald das ganze
Nebengestein durchtränkend und injizierend normal zu-
sammengesetzte oder aplitische Apophysen, welche
die Abzweigungen der Hauptmasse darstellen."
Rosenbusch (Elemente der Gesteinslehre, 3. .\ufl.
1910, Schweizerbart-Stuttgart) sagt (S. 262): ,,Die aplitischen
Ganggesteine . . . treten nur selten in größerer Entfernung
von, meistens in den Tiefengesteinen auf, zu deren
Gefolgschaft sie gehören".
Gibt es einen geologischen Führer, der über Helgoland,
Kieler Bucht, die dänischen Inseln und Rügen orientiert f
In der von Borntraegei-Berlin herausgegebenen „Samm-
lung geologischer Führer" behandelt
Band 111 vonW. Deecke die Insel Bornholm (erschienen
1899).
Dänemark insgesamt findet sich behandelt in den beiden
dänischen Beschreibungen von
N. V. Ussing, Danmarks Geologi, Kopenh.agen 19C4
(2. Aufl.)
undK. Bördam, Danmarks Geologi, Kopenhagen 1909.
Eine kurze übersichtliche Zusammenfassung des Stoffes in
deutscher Sprache hat Ussing ferner auch im ,, Handbuch
der regionalen Geologie" Band 1, Heft 2 (Heidelberg 1910,
Winter's Universitätsbuchhandlung) gegeben.
Leider sind wir für die deutschen Gebiete nicht so gut
gestellt, so zahlreiche Arbeiten auch über Rügen, sodann auch
über die Kieler Bucht und Helgoland erschienen sind.
„Über die Gliederung der Flözformationeu Helgolands"
hat W. Dam es in den Sitzungsberichten der Königl. Preuß.
Akad. der Wissensch. schon 1893 (S. 1019 — 1039) berichtet
und dort auch die älteren Arbeiten von Wiebel und Volger
zitiert. Über einen neuen wichtigen VVirbeltierfund hat neuer-
dings Schröder (Jahrb. d. Kgl, Preuß. geolog. Landesanstalt)
Mitteilungen gemacht. Eine moderne Gesamtdarstellung der
interessanten Insel steht noch aus.
■\uf Rügen steht naturgemäß die Kreideküste im Vorder-
grunde des Interesses, insbesondere in neuerer Zeit ihre Tek-
tonik. Philippi,Jaekel, Keil hack haben ihr in jüngerer
Zeit die .Aufmerksamkeit besonders zugewendet, letzterer auch
eine Kartierung geliefert. Das Diluvium der Insel ist meines
Wissens für sich nicht ausführlicher behandelt worden. Viel-
leicht interessieren auch Zusammenfassungen in größerem
Rahmen und nicht rein geologischer Natur, wie
Braun, Das Ostseegebiet (Aus Natur und Geisteswelt),
Leipzig 1912;
Ders., Entwicklungsgeschichtliche Studien an europäischen
Flachlandsküslen und ihren Dünen. Institut f. Meeres-
kunde zu Berlin, He't I, 1911; und besonders
Spethmann, Meer und Küste von Rügen bis Alsen.
Ebenda Heft 71, 1912.
Daselbst auch weitere Literatur. Nie zu vergessen sind
für eng umgrenzte Spezialgebiete etwa bereits vorliegende Ver-
öffentlichungen der eingehenden -Aufnahmen seitens der geo-
logischen Landesanstalt, die freilich ein gewisses Maß von
Vorkenntnissen voraussetzen. E. Hennig.
teilhaftesten ab) , und auf welche Weise weicht man spröde
gewordene Käfer auf, damit man sie nadeln und ausrichten
kann? — Waren die Käfer mit Straßenstaub, Aas oder Kot
beschmutzt, so werden sie mit Benzin abgepinselt; größere
reinigt man vorher eventuell auch mit warmem Wasser. Han-
delt es sich um alte, verschimmelte oder verstaubte Samm-
lungsc.\emplare, so säubert man zunächst mit einem trockenen
Pinsel vorsichtig und wendet dann erst Benzin an. Bei be-
haarten Käfern ist zu beachten, daß die Haare nicht zusammen-
kleben. Man vermeidet das, indem sie nach der Behandlung
mit Benzin mit feinem Sägemehl bestreut werden. Nach dem
Trocknen wird dieses behutsam abgebürstet. — Bezüglich des
Aufweichens schreibt Handlirsch in der vierten Lieferung
des Handbuches der Entomologie : Über eine etwa 2 cm hoch
mit feuchtem, reinem Sand gefüllte Glasschüssel wird eine
mäßig hohe Glasglocke gestellt, unter welche die aufzuwei-
chenden Objekte je nach Größe einige Stunden bis zu einigen
Tagen liegen bleiben. Fäulnis- oder Schimmelbildung wird
vermieden, wenn man einige Tropfen Karbolsäure oder Kreosot
auf den Sand gießt. — Eine etwas umständlichere Methode ist
folgende : Man wäscht F'lußsand so lange, bis das Wasser
klar abfließt, und erhitzt ihn stark, um Fäulniserrcger abzu-
töten. Der heiße, feuchte Sand wird mit einer alkoholischen
ThymoUösung Übergossen. Auf dem so behandelten Sand
werden die trockenen Käfer aufgeweicht. Käfer, die nach dem
Aufweichen erst genadelt werden, haben gewöhnlich nicht
genügend Halt an der Nadel und man muß sie mit Syndetikon
festkleben. Größere Formen unterstützt man auch durch ein
Korkscheibchen. Dr. Stellwaag.
Gibt es ein neueres größeres Werk mit bunten , zuver-
lässigen Tafeln über die Haut- und Zweiflügler? — In der
Frage ist nicht genau ausgedrückt , ob Werke systematischen
oder biologischen Inhaltes gemeint sind. Bestimmungsbücher
mit bunten Abbildungen gibt es meines Wissens nicht, da die
einzelnen Spezies sehr häufig nach mikroskopischen Merk-
malen unterschieden werden, die sich in einem Habitusbild
selten zur Anschauung bringen lassen. Daher enthalten die
modernen Bestimmungsbücher (z. B. Schmiedeknecht,
Mitteleuropas Hymenopteren , Friese, Die Bienen Europas
nach ihren Gattungen, Arten und Varietäten auf vergleichend
morphologisch-biologischer Grundlage bearbeitet) im besten
Falle Abbildungen, die systematische Merkmale darstellen.
Das gleiche ist der Fall bei K. Grünberg, Dyptera (Bd. 2
von A. Brauer, Die Süßw.asserfauna Deutschlands). Es
ist übrigens ein großes Werk von Friese, Enslin u.a.
in Vorbereitung, das die Hymenopteren biologisch und syste-
matisch behandelt und auch bunte Tafeln enthalten soll. Be-
züglich der vorhandenen systematischen Literatur verweise ich
auf Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. Bd. IV, S. 223
und 224 und N. F. Bd. X, S. 799. Nur über die Hummeln
existiert eine Abhandlung mit bunten Tafeln und zwar Friese
und Wagner, Zoologische Studien an Hummeln, I. Die
Hummeln der deutschen Fauna, Zoologische Jahrbücher, Ab-
teilung für Systematik, Geographie und Biologie der Tiere.
Bd. 29, 1910. Ähnlich steht es mit Büchern biologischen In-
haltes. Soviel ich weiß, existiert auch hier nur ein Buch über
Hummeln, wie Sie es wünschen : The Humble Bee von F. W.
L. S laden. Zahlreiche vorzügliche aber schwarze Abbil-
dungen enthält Zander, Handbuch der Bienenkunde in
Einzeldarstellungen. Bd. 3: Bau der Biene, Bd. 4 : Leben der
Biene, und Escherich, Die Ameise. In beiden Büchern ist
auch weitere biologische Literatur zitiert. Dr. Stellwaag.
Herrn M. F. in Zt. — Kuckuck's nützliches Buch
,,Der Strandwanderer" ist eigentlich für die Nordsee bestimmt.
Etwas ähnliches für die Ostsee gibt es meines Wissens nicht;
daher ist vorläufig das Werk auch für die Ostsee anzuwenden.
H. Harms.
Herrn M. F. in Zwickau. — Wie präpariert man schmutzig
gewordene Käfer wieder auf (womit pinselt man sie am vor-
Herrn O. S. in Frankfurt a. M. — Verschiedenheiten
zwischen den Eiern des rechten und linken Ovariums sind
meines Wissens nirgends erwähnt, wenigstens soweit es sich
um spezifische Merkmale irgendwelcher Art handelt, die kon-
stant nur auf einer Seite sich finden oder fehlen. Überhaupt
ist von sichtbaren Unterschieden zwischen verschiedenen Eiern
wenig bekannt. Es kommen zweikernige Eier vor; die meisten
von der Norm abweichenden Befunde gehören wohl in das
Gebiet der Pathologie. Daß die einzelnen Eier ebenso wie
die Sjiermien in ihrem Erbmaterial differieren geht aus den
Mendel 'sehen Regeln hervor. Die Reinheit der Gameten
368
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 23
in bezug auf eine Eigenschaft war ja schon eine der von
Mendel selbst aufgestellten Forderungen.
Über einen eventuellen Turnus in der Ovulationstätigkeit
der Ovarien ist mir gleichfalls nichts bekannt. Es ist auch
schwierig einen Modus auszudenken, wie man das konstatieren
soll. Es wird sich wohl schwerlieh eine Frau finden, die sich
etwa ein halbes Dutzend mal hintereinander im Menstruations-
intervall den Bauch aufschneiden hißt, um nachsehen zu lassen,
wo das zugehörige Corpus luteum sitzt. Bei Tieren mit mehr-
facher Gravidität ist die Anzahl der Embryonen in jedem
Uterushorn sowohl , wie der Sitz der Corpora lutea ein un-
regelmäßiger. Petersen.
Herrn W. L. in Neukölln. — „Gibt es den Karbiden
analoge Verbindungen von I. Silicium mit Calcium und Alu-
minium; II. Bor mit Calcium und Aluminium!' Gibt es ferner
Aluminiumkarbid f Wie ist die Herstellung, welche chemi-
schen Eigenschaften und welche Verwendung haben diese
Verbindungen?"
Von Verbindungen des Calciums mit Silicium sind mit
Sicherheit zwei bekannt, das Caiciumsilicid Ca^Sia und das
Calciumsilicid CaSij. Beide Silicide lassen sich durch gemein-
schaftliches Erhitzen der Elemente, aber auch auf anderen
Wegen herstellen; auch technisch werden sie vonTh. Gold-
schmidt in Essen gewonnen (D. R. P. 19g 193 KI. 12 i [190S').
Das in reiner Form dargestellte Silicid CajSio kristallisiert in
Nadeln und wird durch Mineralsäuren unter Bildung von
selbsteutzündlichen Siliciumwasserstoffen und gleichzeitiger
Entstehung von Siliciumdioxyd zerstört. Das andere, bisher
in reiner Form nicht erhaltene Silicid CaSi., ist gegen Säuren
widerstandsfähiger. In der Technik werden die beiden Cal-
ciumsilicide als Ersatz des Aluminiums bei Thermitreaktionen
verwendet. Weitere Einzelheiten über die Herstellung und
die Eigenschaften der Calciumsilicide sind in der soeben er-
schienenen Monographie von Hönigschmid, ,, Karbide
und Silicide" (Halle 1914, Verlag von Wilhelm Knapp,
S. 165 und S. 166) zu finden.
Verbindungen, die nur Aluminium und Silicium enthalten,
sind bisher mit Sicherheit nicht bekannt.
Calciumborid CaB^ ist von Moissan und Williams
durch Reduktion von Calciumborat mit .aluminium und Zucker-
kohle im elektrischen Ofen hergestellt worden. Es ist ein
sehr hartes, glänzendes, schwarzes kristallinisches Pulver, das
selbst überhitztem Wasser widersteht. Wird das Calcium-
borid im elektrischen Ofen geschmolzen, so erleidet es irgend-
eine Veränderung, denn danach zersetzt es Wasser unter
Wasserstoffentwicklung. Weitere Einzelheiten siehe Gmelin-
Kraut-Friedheim, Handbuch der anorganischen Chemie
(Heidelberg 1909, Verlag von Carl Winter), Bd. II, .■\bt. 2,
S. 311 und S. 715.
In der Literatur sind zwei .Muminiumboride BjAl,, und
B04AI2 beschrieben. Sie entstehen bei hoher Temperatur und
sind durch große Härte ausgezeichnet. Weiteres siehe
Gm el in - Kr au t - Fr ied heim a. a. O. , Bd. 11 , .'\bt. 2,
S. 644.
Das bislang allein bekannte Alurainiumkarbid von der
Formel .M4C.1 wurde zuerst von Moissan durch Verschmelzen
eines Gemisches von Aluminium und Kohle oder Kaolin und
Kohle bei der Temperatur des elektrischen Lichtbogenofens
erhallen. Es ist ein schön kristallisierter Stoff, von dessen
Eigenschaften besonders das Verhalten gegen Wasser bemer-
kenswert ist: Mit Wasser liefert das Aluminiumkarbid nach
der Gleichung
A\^L-^ -|- 6 H.jO = 3 CH4 -f 2 Al.O;,
neben hydratischem Aluminiumoxyd reines Methan. Näheres
siehe Hönigschmid, 1. c. S. 59. Mg.
Herrn L. L. in W. — Über die Aufgaben und Ziele der
Phänologie, der Wissenschaft, die sich mit der zeitlichen
Entwicklung des Pflanzenlebens im Laufe eines Jahres (vor-
nehmlich mit der Belaubung, dem Aufblühen, der F"ruchtreife,
der Laubvcrfärbung, dem Laubfall) und ihrer Beziehung zum
Klima beschäftigt , unterrichtet man sich am besten aus den
Schriften H. Hoffmann' s und E. Ihne's, der F'orscher,
die sich ganz besonders um die Förderung der Phänol ogie
verdient gemacht haben. Es sind zu nennen die Arbeiten:
H. Hoffmann, Resultate der wichtigsten pllanzenphänologi-
schen Beobachtungen in Europa; mit F^rühlingskarle , Gießen
1X85; ders., Phänologische Untersuchungen, Gießen 1887. —
H o f fm ann und I h ne , Beiträge zur Phänologie, Gießen 1884,
— E. Ihne, Phänologische Mitteilungen, 1S9S — 1911; Phä-
nolog. Karte des Frühlingseinzugs im Großherzogtum Hessen,
mit Erläuterungen, 2. Aufl., 1911; Beziehungen zwischen
Pflanzenphänologie und Landwirtschaft (Arbeiten der Deutsch.
Landwirtschaflsgesellschaft, Heft 161 , Berlin 1910). Hoff-
niaun's und Ihne's Arbeiten sind größtenteils in den Be-
richten der Oberhessischen Gesellschaft für Natur- und Heil-
kunde, später in den Abhandlungen der Naturhistorischen
Gesellschaft in Nürnberg erschienen; Ihne's Mitteilungen in
den letzten Jahren in den .-arbeiten der Landwirtschaftskammer
für das Großherzogtum Hessen (Beigaben zur Hessischen
Landwirtschaftl. Zeitschrift). — Ferner sind zu nenuen : S.
Günther, Die Phänologie, ein Grenzgebiet zwischen Biologie
und Klimakunde, 1895; Bemerkungen zur Geschichte der
Phänologie (Archiv f. d. Geschichte der Naturwissensch. und
Technik, 111. 1911). — E. Beiche, Blütenkalender der deut-
schen Phanerogamenflora, 2 Bde.. Hannover 1872. — In Wien
hat früher Fritsch eine eifrige Tätigkeit auf diesem Gebiete
entfaltet; er veröffentlichte viele Mitteilungen (in Jahrb. der
Wiener Zentralanstalt f. Meteorologie, bis 1877). F'ür Ungarn:
M. Staub und J. Bernatsky, Resultate der phytophänolog.
Beobaclitungen in der Umgebung des Balatonsees, Wien 1906.
In Rußland hat sich F. Herder mit solchen Studien befaßt
(z. B. die wichtigsten Bäume, Sträucher und Stauden des K.
Bot. Gart. St. Petersburg mit Rücksicht auf ihre periodische
Entwicklung; 1864). In mehreren Teilen Deutschlands hat
man fast jährlich die Resultate der Beobachtungen zusammen-
gestellt. So z. B. Th. Schübe für Schlesien (in Jahrbuch
Schles. Gesellsch. vaterl. Kultur); H. Töpfer für Thüringen
(Mitteilg. Sachs. Tliüring. Vereins f. Erdkunde in Halle a.S.;
z. B. 1910); J. Ziegler für Frankfurt a. M. (z. B. Pflanzen-
phänol. Beob. zu Frankfurt a. M. 1891). — Schließlich sei
noch O. Drudc's Werk, Deutschlands Pflanzengeographie,
1895, genannt. Ein sehr guter allgemein orientierender Ab-
schnitt ist enthalten in Meyer's Konversationslexikon, 6. Aufl.,
Bd. XV, wo auch 4 lehrreiche Karten beiliegen. Mehrere
der genannten Arbeiten und auch andere sind unter Phänologie
angezeigt im .\ntiquariatskataloge von Max Weg (Leipzig,
Königstrafle 3) Nr. 129 (19U) S. 241. Schließlich möchte ich
noch auf ein kleineres für die reifere Jugend bestimmtes Werk
hinweisen, das bei mir früher das Interesse für solche Be-
obachtungen geweckt hat: Otto Dammer, Der Naturfreund
(Berlin und Stuttgart, W. Spemann, 1885); S. 61 ist dort ein
längerer Abschnitt, der Anleitungen gibt, auch ist H off-
mann's und Ihne's ,,Phänologischer Aufruf" abgedruckt.
H. Harms.
Inhalt: A. Wurm: Die ältesten Dokumente palänntologischer Überlieferung. — Einzelberichte: Hansteen: Die Gift-
wirkung von Metall-Ionen und der Lipoidgeh.ilt der Zellmembran. Ehrenberg: Nachweis der Gasvergiftung bei
Straßenbäumen. Lindemann: Über die Grundlagen der Atommodelle. Knoche: Meteorologisches von der Oster-
insel, Jollos: ,, Dauermodifikationen" bei Mikroorganismen. Amantea: Anzahl der Spermatozoen beim Coitus der
Hunde, Volz, Baumeister, Harms: Das Auge von Periophthalmus, Boleophthalmus und Anableps. — Bücher-
besprechungen: Procter: Taschenbuch für Gerbereichemiker und Lederfabrikanten. Brückraann: Palmnicken.
Die Süßwasserflora Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Philippson: Das Mittelmeergebiet, seine geographi-
sche und kulturelle Eigenart. Study: Die realistische Weltansicht und die Lehre vom Räume. Auwers und Boen-
necke: Tabellen zur Berechnung der ,, theoretischen" Molrefraktionen organischer Verbindungen. Seh midiin: Das
Triphenylmethyl. Werner: Über die Konstitution und Konfiguration von Verbindungen höherer Ordnung. Hann:
Lehrbuch der Meteorologie. Münch: Erlebnis und Geltung. Kafka: Einführung in die Tierpsychologie. Lux: Das
moderne Beleuchtungswesen. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstrafle IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue P'olge 13 liaml ;
der ganzen Keihu 29. Band
Sonntag, den 14. Juni 1914.
Nummer Ji4.
Methoden /Air Untersuchung des „Sehens
[Nachdruck verboten.] Von Dr. Friedrich Keyl (Frankfurt a. M.).
Bis fast ZU den Tagen Darwins hatte man
von einer Tierpsychologie, dem Zweige der Psycho-
logie, der sich mit den geistigen P""ähigkeiten der
Tiere befaßt, nahezu keine Ahnung. Man hatte
sich daran gewöhnt, den Tieren jede Regung
geistigen Lebens abzusprechen und alle ihre Hand-
lungen, die für uns den Begriff der Zweckmäßig-
keit erkennen lassen, einfach als Äußerungen des
Instinktes aufzufassen. Darwins Lehre von der
allmählichen Weiterentwicklung auch auf das
feelische, geistige Gebiet übertragen, führte dann
nach und nach zur Herausbildung eines eigenen
Wissenschaftszweiges der Tierpsychologie. Beob-
achtung der Tierwelt in ihrem Leben und Trei-
ben in der Freiheit und in der Gefangenschaft
haben den Biologen und Psychologen mehr und
mehr dazu gebracht, das Experiment im Dienste
der Tierpsychologie als den allein ausschlaggeben-
den und weiterführenden Faktor anzuerkennen.
So haben sich denn seit den Tagen Hermann
Müllers und Preyers die experimentellen
Untersuchungsmethoden zu immer größerer Voll-
kommenheit und Sicherheit herausgearbeitet. Wie
es ja nun aber so oft in der Wissenschaft geht,
hat man auch hier, nachdem einmal geistige, sinn-
liche Eigenschaften den Tieren zugesprochen
waren, gern und leicht über das Ziel hinausge-
schossen und zuviel Menschliches auch auf die
Tiere übertragen. Immer wieder mußten Stim-
men laut werden, um solche Analogie- und Fehl-
schlüsse zu hindern oder doch vor ihnen zu war-
nen. So sagten schon 1852 Bergmann und
Leuckart: „Hüten wir uns, auf die Tiere mit
zu großer Sicherheit zu übertragen, was wir von
unseren eigenen sinnlichen Wahrnehmungen her
kennen . . . Praktisch wichtiger sind die L^nter-
suchungen über die Grenzen, innerhalb welcher
die Tiere mittels ihrer Sinneswerkzeuge die Außen-
welt zu erkennen vermögen . . ."
In den folgenden Zeilen möchte ich nun einen
Überblick und eine Beschreibung der Untersuchungs-
methoden geben, die man herausgebildet hat, das
„Sehen" der Tiere zu prüfen. Da heißt es nun
in erster Linie festzustellen, was man unter „Sehen"
verstehen will. Daß dies nicht ganz leicht ist,
zeigt ein Blick in die ausgedehnte Literatur, aus der
ich einige Definitionen als Beispiele anführen will.
Noel definiert; „Le mot „voir" supposant generale-
ment une distinction visuelle est une representation
visuelle et psychique des objets." Max Schnitze er-
klärt: „Sehen ist Umwandlung derjenigen Bewe-
gung, auf welcher das Licht beruht, in eine
andere, welche wir Nervenleitung nennen." Nach
der Tiere.
A. v. Gräfe versteht man unter Sehen „die Emp-
findung des Leuchtenden haben" — das Sehen
im engeren Sinne ist aufzufassen als ,,die Perzep-
tion der optischen auf der Netzhaut entstehenden
Bilder". Nagel ^), dem die beiden letzten Defi-
nitionen entnommen sind, führt noch eine weitere
an, die einem Urteilsspruch des Reichsgerichts
vom 6. März 1895 entstammt, der aus Anlaß
einer Sehstörung durch Verletzung herbeigeführt
wurde; „Der Verlust des Sehvermögens ist an-
zunehmen, wenn das Auge zwar noch für die
Lichteindrücke empfänglich, das Unterschei-
dungsvermögen oder die Fähigkeit, äußere
Gegenstände wahrzunehmen, aber erloschen ist."
Alle diese Erklärungen, bis auf die von Schnitze,
bedürfen des Auges als desjenigen Apparates, der
Bilder entwirft und schalten somit von vornher-
ein die Tiere von der Fähigkeit zu ,, sehen" aus,
die keine Augen besitzen ; und doch vermögen
diese auch Helligkeitsunterschiede wahrzunehmen.
Lubbock'-j sagt ja schon: „Einfaches Empfinden
des Lichtes ist möglich ohne irgendeinen op-
tischen Apparat." Um auch diese Fähigkeit mit
in meine Ausführung einzubegreifen, möchte ich
folgende Definition geben; Jede Reaktion, die
durch eine Änderung am Lichtstrahlen aussen-
denden Objekt, sei es durch Vermehrung oder
Verminderung der Größe oder der Intensität des
Lichtes, sei es durch eine Änderung in der Rich-
tung der ausgehenden Strahlen, an dem von den
Strahlen getroffenen Tierkörper hervorgerufen
wird, ist ein Zeichen dafür, daß das Tier ,, sieht",
oder um den landläufigen Begriff des ,, Sehens"
als Bildempfindung ganz zu umgehen, daß das
Tier Licht empfindet, also nach Beer^) photiert.
Es soll aber hierbei keineswegs ausgedrückt
sein, wie diese Lichtempfindung vor sich geht,
ob als t^mpfindung von Helligkeit und Dunkel-
heit, ob als Gefühl des Schmerzes oder der Un-
lust usw.
Die verschiedenen Methoden zur Untersuchung
des Sehens der Tiere lassen sich in drei Haupt-
gruppen einteilen:
1. die Methoden der direkten Reaktion,
2. die Wahlmethoden,
3. die Strukturmethoden.
I. Methoden der direkten Reaktion.
Die Untersuchung nach der ersten Art beruht
') Nagel, Der Lichtsinn augenloser Tiere, Jena 1896.
2) Lubbock, Die Sinne und das geistige Leben der
Tiere. Intern, wiss. Bibl. iSSg.
'■') Beer, Über primitive Sehorgane. Wiener klinische
Wochenschrift 1901.
370
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 24
darauf, daß man auf ein Tier einen bestimmten
Reiz einwirl<en läßt und dabei nun beobachtet,
ob irgendwelche Reaktionen des Versuchstieres
ausgelöst werden.
Zu dieser Methode gehören die einfachsten
Untersuchungen, die man angestellt hat, um zu
prüfen, ob ein Tier überhaupt „sieht", sei es nun,
daß es wirkliche Gegenstände erkennen kann, also
mit Nagel ') zu reden „ikonoptisch" ist oder dal3
es nur Hell und Dunkel, Licht und Schatten unter-
scheidet und mithin nur „photoskoptisch" ist.
Betrachten wir zuerst kurz die Versuche, die
sich damit befassen, das Sehen von Gegenständen
seitens der Versuchstiere festzustellen. Diese be-
ruhen auf der Beobachtung, daß, wenn ein Gegen-
stand in irgendwelcher Weise vor einem augen-
tragenden, also ikonoptischen Tiere eine Verände-
rung erfährt, das Versuchstier darauf reagiert, sei
es nun, daß es den Gegenstand mit den Augen
verfolgt oder eine Reflexbewegung ausführt, sei
es, daß es auf ihn zueilt oder ihn flieht. Bezüg-
lich des Sehobjektes läßt sich diese Art der Unter-
suchung sehr vielseitig modifizieren. .So kann
man das Gesehenwerden von bewegten und un-
bewegten Gegenständen prüfen. Weiter läßt sich
das Erkennungsvermögen als abhängig von der
Größe, der Farbe, der Helligkeit usw. des Objek-
tes feststellen.
Eine besondere Art dieser Methode ist die,
bei der die Sichtbarkeit bzw. die Unsichtbarkcit
gebotenen F\itters als Grundlage dient. Hierbei
streut man dem Versuchstiere Futter aus und
bestrahlt es entweder mit zusammengesetztem oder
mit homogenem Licht und stellt fest, ob das Tier das
Futter nimmt, es also sieht ; zu berücksichtigen
ist hierbei, daß man kein F^utter benutzt, was sich
durch den Geruch verrät. Man kann auch so vor-
gehen, daß man das F'utter in einem auf den
Boden geworfenen Spektrum ausstreut und das
Versuchstier dann fressen läßt. Es läßt sich nun
an dem F'ehlen bestimmter F'utterpartien feststellen,
welche Farben für das Tier sichtbar waren und
welche nicht. Durch passende Anordnung von
verstellbaren Blenden vor der Lichtquelle läßt sich
auch genau der Helligkeitsgrad des Lichtes be-
stimmen, bei dem es zu sehen anfängt. Stets ist
aber bei diesen Versuchen zu berücksichtigen, ob
das Versuchstier vor dem Beginn der Beobachtung
im Dunkeln gehalten wurde oder im Hellen, d. h.
ob das Auge im Zustand der Dunkeladaption sich
befand oder in dem der Helladaption.
Viel zahlreicher als die eben angeführten Ver-
suche, bei denen das Tier einen bestimmten Gegen-
stand erkennen soll, sind die, bei welchen Licht-
strahlen als solche unabhängig von einem bestimm-
ten Objekt, von denen sie ausgehen, zur Reaktion
gebracht werden.
Die relativ einfachsten Untersuchungen, ob ein
Tier überhaupt auf Lichtstrahlen reagiert, sind der-
art angestellt worden, daß man Tiere, die sich
vorher im Dunkeln befanden, plötzlich beleuchtete
oder umgekehrt, daß man auf sich im Hellen be-
findlichen Tieren einen Schatten fallen ließ. Von
R c a u m u r ') stammt wohl die älteste diesbezüg-
liche genauere Angabe, die ich aus historischem
Interesse hier anführen will. Er machte in einem
Stück Holz eine kleine Höhlung, ähnlich der, welche
die Weidenbohrerraupen anfertigen. Nun setzte
er eine solche Raupe in den Hohlraum hinein
und verschlotiJ ihn nach außen fest mit einer Glas-
scheibe, da die Tiere die Berührung mit der äußeren
Luft scheuen. Es ließen sich also nun die Be-
wegungen des Tieres durch das Glas genau ver-
folgen. Näherte R e a u m u r eine Kerze so, daß
die Strahlen auf die Raupe fielen, so kroch sie
vor- oder rückwärts und suchte sich zu verbergen.
Er schließt dann die Beschreibung seines Ver-
suches mit den Worten : „il y a grande apparance
qu'il avoit des yeux capables de voir".]
Auch bei diesen einfachen Methoden lassen
sich, je nachdem man zusammengesetztes, weißes
Licht oder homogenes, einfarbiges verwendet, Auf-
schlüsse geben, ob die Tiere für die einzelnen
F'arben unterschiedsempfänglich sind. Die Reak-
tion, die durch den Licht- oder Beschattungsreiz
ausgeübt wird, tritt aber nicht in allen Fällen
augenblicklich ein, sondern es befindet sich oft
dazwischen eine mehr oder weniger lange Latenz-
zeit. Um die verschiedene Reizstärke der spek-
tralen Farben zu prüfen, kann man so vorgehen,
daß man die Versuchstiere längs eines Spektrums
bewegt und beim Übergang in die einzelnen F'arben
genau beobachtet oder indem man diese mittels
eines Spiegels nacheinander auf die Tiere wirft.
Für augentragende Tiere sind nun im Laufe
der Zeit noch mehrere Methoden ausgearbeitet
worden, die an Genauigkeit und Reizempfindlich-
keit die bis jetzt genannten weit hinter sich lassen.
1892 veröffentlichte Sachs'-) eine neue Me-
thode zur Untersuchung des Einflusses des Lichtes
auf das Auge, die er auf den von ihm geschaffenen
Begriff der motorischen Valenz des Lichtes auf-
baute. Darunter versteht er das Vermögen des
Lichtes, Reflexbewegungen der Iris auszulösen.
Je größer die Valenz ist, um so kleiner ist die
Öffnung der Pupille. Motorisch-äquivalente Lichter
sind solche, deren motorische Valenzen gleicii sind.
Er benutzte bei seiner Methode als Versuchsobjekt
nur den Menschen; auch nachher noch, als er sie
ausbaute zu einer „Methode der objektiven Prüfung
des F'arbensinnes". Schirm er'") verwandte die
Sachs 'sehe Methode nur beim menschlichen
Auge, indem er noch besonders die Beziehungen
') Nagel, Experimentelle sinnesphysiologische Unter-
suchungen an Cölenleraten. Pflügers Archiv, Bd. 57, 1S94.
') Reaumur, Memoires pour servir a l'histoire des In-
sectes. Amsterdam 1798.
^] Sachs, Über den Einfluß farbiger Lichter auf die
Weite der Pupille. Pflügers Arch., Bd. 52, 1892.
— , t'ine Methode der objektiven Prüfung des Farben-
sinnes. Arch. für Ophthalmologie, Bd. 39, 1893.
') Schirmer, Unters, zur. Phys. der Pupillenweite. Arch.
f. Ophthalm., Bd. 40, 1894.
N. F. XIII. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
371
zwischen der Helligkeit, dem Adaptionszustande
und der Pupillenweite besonders feststellte. Abels-
dorff^) wandte dann diese Methode auf Ver-
suchstiere an. Im Dunkelzimmer wurden die Ver-
suche v'orgenommen und sowohl für weißes Licht
als auch für farbige Glas- und Spektrallichter vor
allem von Heß") mit den verschiedensten Ver-
suchstieren erprobt und vervollkommnet.
Ganz analog wie das VVirbeltierauge den Liclit-
reiz durch Erweitern oder Verengern seiner Pupille
beantwortet, reagiert das Auge der Cladoceren
und das decapoder Krebse auf ein Mehr oder
Weniger der Belichtung durch Veränderung seiner
Achsenstellung. R ä d 1 ") machte diese Beobach-
tung zuerst 1901 an Daphnien. Er stellte durch
einfache Versuche fest, daß der Scheitel des Auges
sich der Lichtquelle oder dem Mehr der Licht-
intensität zudreht. Unter Scheitel versteht er den
in der Normalstellung, d. h. der Rücken ist gegen
das Licht gerichtet, dem Rücken zugekehrten Pol
des Auges. Befinden sich unter einem Mikroskope
Daphnien in dieser Normalstellung und schließt
man das von unten kommende Licht durch die
Irisblende ab, so dreht sich der Scheitel des Auges
nach oben, also dorthin, wo das meiste Licht
herkommt. Deckt man andererseits das von oben
auffallende Licht ab, so dreht sich das Auge nach
unten. Für farbige Lichter hat Heß*) diese R ä d 1 -
sehen Versuche angewendet.
Eine weitere exakte Methode, den Einfluß der
Lichtstrahlen auf das Auge zu zeigen, ist die, die
das elektromotorische Verhalten der Netzhaut ver-
wertet. Bei Belichtung des Wirbeltierauges läßt
sich nachweisen, daß nach einer gewissen Latenz-
zeit, die mit der Temperatur in umgekehrtem
Sinne sich ändert, an der Cornea bzw. an der
Faserseite der Netzhaut ein stärkeres positives,
am Sehnerven bzw. der Stäbchenschicht der Retina
ein stärkeres negatives Potential, als vorher dort
gewesen, auftritt. Dieses nach Kühne und
Steiner^) als das Gesetz der konstanten Span-
nungsänderung bekannte Gesetz bezieht sich in den
Bezeichnungen positiv und negativ auf einen äußeren
Stromkreis. Der entstehende Strom ist durch
G o t c h ") in 3 Phasen eingeteilt worden. In
I. den „on-effect", der ein steiles Ansteigen und
dann einen geringen Wiederabfall der elektro-
motorischen Kraft zeigt, 2. den „continous-effect".
') Abelsdorff, Zur Erforschung des Helligkeils- und
Karbensinnes bei Menschen und Tieren. Arch. f. Anat. u. Phys.
1900.
— , Die Änderung der Plipillenweite durch verschieden-
farbige Belichtung. Zeitschr. f. Phys. der Sinnesorgane. Bd. 22.
1900.
^) Heß, Vergleichende Physiologie des Gesichtssinnes
Jena 1912.
') Rddl, Über den Photolropismus einiger Arthropoden.
Biol. Centralbl., Bd. 21, 1901.
*) Heß, Vergl. Physiologie usw.
°) Kühne und Steiner, Über das elektrom. Verhalten
der Netzhaut. Unters, d. phys. Inst. Heidelberg 1S80.
*) Gotch, The time relations of the photo-electric
changes in the eyebae of the frog. Journal of Phys. 1903.
Bd. 29.
einen nur wenig oszillierenden .Strom, der den
Dunkelstrom im Auge um einen konstanten Wert
überragt, und 3. den ,,off-effect". Dieser tritt erst
nach Verdunkelung wieder ein und zwar nach
einer Latenzzeit von 0,14 — 0,22 Sekunden und
verhält sich ganz ähnlich wie der „on-effect",
doch zeigt er meist größere und schneller abflauende
Schwankungen als dieser. Die Latenzperioden
sind bei den einzelnen Augen verschieden lang,
je nach der Farbe und der Intensität des Lichtes.
Piper') war es, der diese Methode ausbaute
und zur Untersuchung von Kaninchen-, Katzen-,
Hunde- und Vogelaugen benutzte und sich dazu
komplizierte Apparate herstellte. Auch fürCephalo-
poden versuchte er sie. Himstedt und Nagel")
u. a. untersuchten auf diese Weise das Froschauge.
Zur Untersuchung, ob Krebse und Insekten
ultraviolettreiches Licht wahrnehmen können und
um schließen zu können, in welcher Helligkeit
ihnen dieses im Vergleich zu der Helligkeit be-
nachbarter Strahlen des Spektrums (z. B. violett)
erscheint, hat Heß'') eine einfache Methode er-
dacht. Diese beruht auf der Fluoreszenzerscheinung,
die viele Augen bei Belichtung erkennen lassen.
So hat er das Licht einer gewöhnlichen kleinen
Bogenlampe im Dunkelzimmer durch eine Quarz-
linse auf das Arthropodenauge geworfen. Nun
beobachtete er dieses bei etwa 20^ — Sofacher Ver-
größerung durch das Mikroskop oder eine Bin-
okularlupe. Vor der Lichtquelle war eine Blau-
violglasplalte eingeschaltet. Das durch sie hin-
durchgehende Licht ruft nun in den Facetten des
Auges reiche Fluoreszenz hervor, z. B. bei For-
mica rufa, Dytiscus marginalis, Notonecta glauca,
Schmetterlingen, Bienen, Stubenfliegen, Astacus
fluviatilis, Daphnien usw. Wird nun eine Schwerst-
flintplatte vor die Strahlen eingeschaltet, die den
größten Teil der ultravioletten Strahlen löscht, s©
verschwindet sofort die Fluoreszenzerscheinung
und erscheint erst wieder bei Entfernung der vor-
gestellten Platte. Diese Erscheinungen ergeben,
daß den Tieren, bei denen sie auftreten, ultra-
violettreiches Licht wohl heller erscheint als violett-
armes; das läßt sich durch Tiere, bei denen Hellig-
keitsunterschiede leicht Bewegungen auslösen, wie
z. B. Daphnien usw., auch gut feststellen.
Wie nun bei den bis jetzt betrachteten Metho-
den Lichtstrahlen entweder Bewegungen des Tieres
oder optische Erscheinungen und elektrische Re-
aktionen im Auge selbst auslösten, so hat O r b e 1 i *)
gezeigt, daß auch bestimmte Drüsen, wie z. B.
die Speicheldrüse, durch von dem Auge wahr-
genommene Lichtstraiilen in ihrer Tätigkeit be-
einflußt werden können. Diese Eigenschaft baute
er zu einer Methode zur Untersuchung des Farben-
') Piper, Archiv f. Physiol. 1905, Suppl.-Bd.
") Himstedt und Nagel, Versuche über die Reizwir-
kung verschiedener Strahlenartcn auf Menschen- und Tieraugen.
Festschrift d. Univ. Freiburg 1902.
') Heß, Vergl. Phys. usw.
*) Orbeli, Reflexes conditionnels du cnte de l'oeil chez
le chien. Arch. d. Sciences biol. 1907.
372
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 24
Unterscheidungsvermögens des Hundes aus. Er
ließ auf einem weißen Schirme ein rotes Quadrat
erscheinen und jedesmal verabreiclite er dabei dem
Hunde Futter, was eine Speichelsekretion veran-
laßte. Nach einiger Zeit hatte er es dann erreicht,
daß schon allein bei dem Erscheinen des roten
Quadrates Speichelfluß eintrat auch ohne daß der
Hund gefüttert wurde. Nun ließ er andere Farben
auftauchen; Futter bekam das Tier jedoch nur bei
roten Scheiben. Es trat aber nun nicht das, was
O r b e 1 i vermutete, ein, daß nämlich bei den anderen
Farben die Speichelabgabe ausblieb. Er kam dann
zu dem Schlüsse, daß eben der Speichelfluß aus-
gelöst wurde durch den Wechsel der Lichtinten-
sität, nicht aber durch die verschiedene Wellen-
länge des Lichtes.
Alle bis jetzt angeführten Versuche bestanden
darin, daß man den Einfluß beobachtete, den eine
mehr oder minder große Intensität von Licht aus-
übte. Die nun folgenden beruhen darauf daß man
das Tier der Organe, mit denen es die Lichtstrahlen
aufnimmt, beraubt und dann sein Verhalten be-
obachtet im Vergleich zu dem des normalen Tieres.
In erster Linie sind hierher die;zahlreichen Biendungs-
versuche zu rechnen. Diese können wieder auf
verschiedene Weise vorgenommen werden. Ent-
weder es werden die Augen auf operativem Wege
entfernt oder ihre nervöse Reizbarkeit zerstört,
oder aber sie werden auf mechanischem Wege
durch Verdeckung unfähig zum Sehen gemacht.
Die Operation kann nun so vorgenommen werden,
daß man entweder die Augen aussticht, abhebt
oder daß man nur den Nervus opticus durch-
schneidet. Bei allen den operierten Tieren ist
mit einer Ruhezeit zwischen der Operation und
den Versuchen zu rechnen, um so wenig wie mög-
lich durch den Eingriff beeinflußte Beobachtungen
^u erhalten. Hier müssen auch die Versuche
wenigstens erwähnt werden, die man anstellte,
um bei augentragenden Tieren eine Lichtwahr-
nehmung auch durch die Haut feststellen zu können.
Eine weniger in den Organismus des Tieres
eingreifende Art der Blendung ist die Lackierung
oder Befirnissung der Augen, wie man sie vielfach
für Insekten benutzte. Hierbei dürfen natürlich
keine farbigen oder riechenden Stoffe benutzt
werden. Plateau ') fand die alte Methode
Swammerdamms sehr zweckmäßig, nämlich
mit Leinöl angerührten, längere Zeit eingedickten
Kienruß. Der Auftrag ist öfters zu erneuern, da
die Insekten sich desselben durch Putzen mit den
Beinen zu entledigen suchen. Graber benutzte
zur Blendung seiner Insekten Wachs, mit dem er
die Augen kuppenförmig überdeckte. Dubois
verwandte zur Verdeckung der rudimentären Augen
von Proteus anguineus einen Firnis, bestehend aus
Gelatine und Kienruß.
Damit möchte ich die Reihe der Versuche unter
dem Sammelbegrifi" der Methoden der direkten Re-
aktion abschließen und wende mich nun zu der
Wahlmethode.
2. Die Wahlmethode.
Will man diese Methode zur Untersuchung
der Einwirkung der Lichtstrahlen auf Tiere an-
wenden, so läßt man zu gleicher Zeit zwei oder
mehr verschiedene Lichtreize das Tier treffen
und stellt dann fest, welcher von ihnen das Ver-
suchstier anziehend oder abstoßend erregt. Da-
bei läßt man dem Tiere dann völlig die Möglichkeit,
sich dem einen Reiz mehr zuzuwenden und sich da-
mit dem anderen zu entziehen; kurz, das Tier kann
sich aus den Reizen welche auswählen. Die
hierher gehörigen Versuche beschäftigen sich
auch damit, festzustellen, ob die Tiere einmal
überhaupt weißes Licht wahrnehmen und dann
auch wieder, ob sie farbiges Licht unterscheiden
können. Betrachten wir zuerst die Anordnungen,
die weißes, also zusammengesetztes Licht benutzen
lassen. Da kann man nun so vorgehen, daß man
die zu untersuchenden Tiere zwei Lichtquellen
aussetzt, die in bezug auf ihre Intensität gleich
oder ungleich sind. Im ersten Falle können die
Lichtquellen entweder beide feststehen und dann
verschieden groß sein oder sie sind gleichgroß,
dann aber bewegt sich die eine, während die andere
fest bleibt. Auf die letzte Art prüfte Plateau')
Insekten, auf die erste Cole'-j die verschieden-
sten Tiere, wie Würmer, Insekten, auch Amphibien.
Zu Beginn seiner Beobachtungen brachte er seine
Versuchstiere stets in die sog. Normalstellung,
d. h. er veranlaßte sie, oft durch sinnreich aus-
geklügelte Vorrichtungen, daß sie in dem Augen-
blick, in dem sie von den rechts und links be-
findlichen Lichtern getroffen wurden, senkrecht zu
deren Verbindungslinie standen. Er stellte dann
jeweils den Winkel fest, unter dem das Tier sich
der einen Lichtquelle näherte.
Ganz ähnlich stellen sich die Versuche dar,
wenn man zwei Lichtquellen verschiedener In-
tensität benutzt, und sie lassen sich auch in dem-
selben .Sinne variieren wie die eben angeführten.
Daß sich diese Methoden auch für wasserlebende
Tiere anwenden lassen, bedarf wohl nur kurzer
Erwähnung.
Man kann die Versuchsanordnungen nun aber
auch so vereinfachen, daß man dem Tier die
Wahl läßt, zwischen verschieden erhellten Teilen
seines Aufenthaltsraumes sich den ihm angenehm-
sten auszusuchen. Hierher gehören in erster
Linie alle die Versuche, die den Phototropismus
der Tiere festlegten. Die angewandte Lichtquelle
kann entweder das einseitig in den Behälter fal-
lende Tageslicht oder eine Lampe usw. sein.
Gehen die Tiere nun in den hellen Teil, so sind
sie positiv phototropisch, gehen sie ins Dunkle
') Plateau, Recherches cxperimentales .... usw.
) Plateau, Recherches cxperimentales sur la vision ') Cole, An experimental study of the image-forming
chez les Arthropodes. Bull. d. l'Acad. roy. d. Belg. 3 Serie. powers of various types of eyes. Proc. Amer. Acad. Ans a
Tom. 15 ff. iSSSfif. Sc, Vol. 42, 1907.
N. F. Xra. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
373
oder besser wenden sie sich vom Lichte ab, so
sind sie negativ phototropisch.
Anstatt nun den Behälter der Versuchstiere
einseitig zu beleuchten, ihn also immerhin in
allen seinen Teilen, wenn auch verschieden stark,
diffus zu erhellen, ist man auch so vorgegangen,
daß man die Tiere in einen dunklen Raum brachte,
der nur durch eine kleine Öffnung oder einen
Spalt Licht erhielt, was bei weitem nicht aus-
reichte, den Behälter nur schwach zu erhellen.
Man beobachtete dann, ob eine Ansammlung der
Tiere dicht an der Öffnung eintrat oder nicht.
So war auch hier eine Wahl zwischen Hell
und Dunkel seitens der Versuchsobjekte möglich.
Bei den nun anzuführenden Methoden besteht
dagegen eine Wahl zwischen zwei verschiedenen
Farben. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß
dem Versuchstier die Farben nun so erscheinen
wie uns, ja nicht einmal das, ob sie ihm über-
haupt als P'arben erscheinen. Die einfachste
Anordnung ist die, daß man über das Ge-
fäß, in dem sich die Tiere, seien es nun land-
oder wasserlebige, befinden, zwei verschiedenfarbige
Gläser legt und nach einiger Zeit beobachtet, un-
ter welchem sich die Tiere oder wenigstens die
meisten angesammelt haben. Bei diesem Vor-
gehen ist es ratsam, der größeren Sicherheit der
Schlußfolgerungen wegen, die Farben öfters zu
vertauschen. Forell legte auf seinen Kasten mit
Ameisen erst zwei flachwandige, mit Wasser ge-
füllte Glasflaschen, um die Wärmestrahlen abzu-
halten, und darauf dann z. B. auf die eine Hälfte
ein Violettkobaltglas und auf die andere eine
flache Plasche mit Eskulinlösung. Diese ist sehr
durchsichtig, läßt aber die ultravioletten Strahlen
nicht durch, ähnlich wie der Schwefelkohlenstoff.
Merzbacher ^) ging so vor: Von einem größeren
Räume aus führten zwei Öffnungen nebeneinander in
zwei gleichgroße Räume, von denen der eine rot
ausgekleidet und mit einer roten Glasplatte be-
deckt war, während der andere in gleicher Weise
blau oder schwarz ausgestattet war. In den ge-
meinsamen hellen Vorraum wurden die Versuchs-
frösche gesetzt^und festgestellt, in welchen Raum
sie sich flüchteten. Alle diese Versuche lassen
sich zusammenfassen unter dem Begriff der
„Zweikammermethode", wie sie als solche Graber
einführte.
An diese Anordnungen, bei denen es auf die
Wahl der Tiere zwischen zwei Farben ankommt,
ordnen sich die an, bei denen den Versuchstieren
Gelegenheit geboten wird, aus einer Anzahl von
Farben zu wählen. In Betracht kommen dabei
farbige Glaslichter und die Spektralfarben. Die
Versuche mit ersteren gestalten sich wieder so,
daß man eben'mehrere farbige Glasplatten über
den Behälter der Versuchstiere legt. Die meisten
hierher gehörigen Versuche wurden aber mit den
Spektralfarben angestellt und zwar derart, daß man
auf den Behälter von oben oder von der Seite her
ein objektives Spektrum warf.
Bei allen bis jetzt unter der Wahlmethode an-
geführten Versuchen trat eine natürliche Bevor-
zugung seitens des Tieres ein, man kann diese
aber auch durch eine künstliche, angelernte Bevor-
zugung ersetzen. Dabei kommt man dann zu den
sog. „Dressurmethoden", die ich aber immer noch
unter den Hauptbegriff der Wahlmethoden ein-
fügen will. Katz und Revesz^) färbten Reis-
körner mit bestimmten Farben und klebten die
einer bestimmten Farbe (z. B. die roten) auf der
Unterlage fest („Klebemethode"), während die
anderen lose ausgestreut wurden. Dadurch brachten
sie die Hühner bald dahin, die roten Körner, auch
wenn sie nun nicht mehr festgeklebt waren, liegen
zu lassen. Diese Methode hat Ähnlichkeit mit der
Seebeck- Holmgrenschen Wollprobe. Hier
wird der zu untersuchenden Person ein Bündel
Wollfäden verschiedener Farbe vorgelegt. Eine
Farbe wird ihr nun bezeichnet und sie muß dann
die gleichen und ähnlichen Farben auslesen. Dem
Zeichen der Farbe entspricht hier bei dem Ver-
such mit den Hühnern das Ankleben, das Aus-
suchen aber dann dem Liegenlassen und Zuletzt-
picken. Solcher Dressurmethoden sind eine ganze
Anzahl ausgearbeitet und versucht worden und ver-
weise ich nur auf die Arbeiten von Eimer Gates,")
Samoiloff und Phe ophilakt o wa ") u. a. m.
3. Struktur methode.
Eine letzte, aber viel weniger benutzte Methode,
Aufschluß über das Sehen der Tiere zu gewinnen,
ist die sog. „Strukturmethode", die z. B. Exner^)
für das zusammengesetzte Auge der Arthropoden
und DemolP) für Squilla mantis besonders ge-
brauchten. Diese Methode beruht darauf, daß die
Struktur eines Sinnesorganes bis zu einem ge-
wissen Grade gestattet, uns Rechenschaft zu geben
über die Natur und die Vollkommenheit von Emp-
findungen, die ein Tier hat. Diese Methode ist
aber, wie Claparede bemerkte, schon eigentlich
keine psychologische mehr.
Im vorstehenden habe ich nun einen Über-
blick zu geben versucht über Methoden und Ver-
suchsanordnungen, die man angewendet hat, das
„Sehen" der Tiere zu untersuchen. Nicht be-
rücksichtigt habe ich, als vom Thema zu weit
abführend^ die Methoden der indirekten Reaktion,
') Merzbacher, Über die Beziehungen der Sinnes-
organe zu den Reflexbewegungen des Frosches. Pflügers
Archiv., Bd. 81,
') Katz und Revesz, Experimentell -psychologische
Untersuchungen mit Hühnern. Zeitschr. f. Psychologie, Bd. 50,
190S.
^) Gates, Eimer, The Science ofMentation and some
ncw general Methods ot Psychologie Research. The Monist 5.
1894—95-
") Samoiloff and Pheophilaktowa, Über die
Karbenwahrnehmung beim Hunde. Centralbl. f. Physiol., Bd. 21,
1907.
*) Exner, Die Physiologie der facettierten .'\ugen von
Krebsen und Insekten. Leipzig u. Wien iSgi.
s) Dem oll, Über die .\ugen und Augenstielreflexe von
Stjuilla mautis. Zool. Jahrb., Bd. 27, 1909.
374
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 24
wie z. B. Yerkes ^) sie benutzt hat bei seinen Ver-
suchen mit dem Frosch. Er stellte fest, ob z. B. ein
Geräusch in irgendeiner Weise die Reaktionen des
Gesichtssinnes beeinflußt.
Viele Versuche nun, die der eine Forscher an-
stellte, sind von einem anderen als ungenau oder
') Yerkes, Bahnung und Hemmung der Reaktionen auf
taktile Reize durch akustische Reize beim Frosche. Pflüger's
Archiv, Bd. 107, 1905.
täuschend späterhin verworfen worden. Auf die
so entstandene Polemik habe ich mich ebenfalls
nicht eingelassen, um den Rahmen dieser Zeit-
schrift nicht zu verlassen. Für das Gültig- oder Un-
gültigsein der Versuche müssen eben andere Ver-
suche selbst wieder reden. In diesem Sinne sagt
ja auch Plateau:
,,0n ne repond ä des experiences physiologique
que par des experiences."
[Nachdiuck verboten.]
Zui- Frage der Ateinreguliition in der Tierreihe.
Von Prof. Dr. Edward Babäk (l'rag).
In dem ganzen Tierreiche treten in unüberseh-
barer Mannigfaltigkeit Atembewegungen auf, als
wirksame Hilfsmittel, um den Gasaustausch an
den Atemflächen der Organismen zu fördern. Bei
den niederen Wirbellosen wird das Atemmedium
(Wasser) vermittels rhythmischer Flimmertätigkeit
an der Körperoberfläche erneuert, oder durch den
Körper bzw. durch gewisse mit mächtig entwickel-
ter Atemfläche ausgestattete Organe — Kiemen —
geleitet; es werden aber auch scfion hier auffällige
Muskelbewegungen im Dienste des Atemgeschäftes
angetroffen, inid sie erreichen insbesondere bei
den Insekten und Cephalopoden eine hohe .Stufe
der Ausbildung. Bei den Wirbeltieren sind die
Atembewegungen insgesamt so auffällig, daß man
die „Atmung" allgemein als Kriterium des Lebens
des Tieres (neben der Herztätigkeit) aufzufassen
sich gewöhnt hat. Und doch handelt es sich um
eine sekundäre Einrichtung; durch Atembewegun-
gen wird nur der Atemgaswechsel erleichtert, in-
dem die zur eigentlichen (Gewebs-) Atmung nötige
Sauerstoftzufuhr und die Ausfuhr des bei der Ge-
websatmung entstehenden Kohlendioxyds ausgiebig
beschleunigt wird. In der Tat sehen wir oft bei
einem und demselben Organismus, daß die jungen
Stadien seiner Entwicklung keine Atembewegun-
gen aufweisen (z. B. manche Larven der Insekten
oder der Amphibien), während das entwickelte Tier
rhythmische auffällige Atembewegungen aufzeigt:
dies scheint mit der Intensität der Lebensprozesse,
insbesondere derGewebsatmungbei denaufeinander-
folgenden Entwicklungsstadien im Zusammenhange
zu sein (teilweise auch mit der Körpergröße, d. h.
mit der relativen Oberflächenentwicklung, denn
kleine Körper besitzen verhältnismäßig größere
Oberflächen als große Körper, und demzufolge
auch günstigere Gaswechselbedingungen usw.).
Über die Regulation der primitivsten Atem-
bewegungseinrichtungen, der Plimmerorgane der
wasserlebenden Wirbellosen, ist bisher wenig be-
kannt. Man sieht größtenteils die Flimmer-
bewegung beständig fortdauern, aber doch zeugen
manche Beobachtungen dafür, daß je nach den
äußeren Einflüssen und nach den inneren Bedürf-
nissen Änderungen des Flimmerschlages Zustande-
kommen. Neuerdings haben wir bei den Muscheln
nachgewiesen, daß gewisse als eigentliche „respira-
pern in den Kiemen je nach dem Sauerstoffgehalte
des Wassers stärker und rascher, oder schwächer
und langsamer tätig sind und auf diese Weise
den Atemstrom regulieren. Diese Eigenschaft
kommt auch den betrefienden aus dem Körper
entfernten P'limmerzellen zu, so daß es wahrschein-
lich ist, daß auch bei dem unberührten Tiere durch
lokale Einwirkung des sauerstoffreichen oder sauer-
stoffarmen Wassers die betreffenden F"limmerhaare
direkt zu schwacher oder mächtiger Schwingung
angeregt werden, ohne Vermittelung des Nerven-
systems (es ist bemerkenswert, daß es bei den
Muscheln aber noch andere Arten von P"limmer-
zellen gibt, denen diese Eigenschaft nicht zukommt:
es sind dies P'limmerorgane, die zur Reinigung
der Körperoberfläche usw. dienen).
Demgegenüber wird die Regulation der Atem-
bewegungen meistens nervös vollführt, indem je
nach den (äußeren oder inneren) Reizen das er-
regte oder gehemmte Zentralnervensystem Ver-
stärkung oder Abschwächung des Atemspieles
anordnet. Wir wollen uns die Verhältnisse bei
den Wirbeltieren beleuchten, wo sie heutzutage
weit gründlicher erkannt sind; aber damit ist nicht
gesagt, daß wir da zu den definitiven Schlüssen
gelangt sind, im Gegenteile — auf Grund der un-
zähligen Einzelforschungen ist hier die ganze Kom-
pliziertheit der Frage über die Atemregulation
dargetan, und es scheint, daß wir vielleicht eher
mit Hilfe der an primitiver gebauten Organismen
ausgeführten Untersuchungen das Problem erfolg-
reich anfassen werden. ^)
Der Atemrhythmus des Menschen, der Säuge-
tiere usw. wird vermittels der afferenten Nerven-
bahnen (von den Sinnesorganen, z. B. Seh-, Geruchs-,
Schmerzorganen usw. aus) — reflektorisch — ab-
geändert, was die tägliche Erfahrung lehrt. Aber
es scheint, daß der ganze Atemmechanismus auf
reflektorischer Grundlage basiert, auf die Weise,
daß die sämtlichen mechanischen (Bewegungs-,
sowie Lage-) Bedingungen der peripheren Atem-
apparate (der Atemwege, der Atemflächen, der
Atemmuskeln usw.) am Ende der Einatmung (In-
spiration) durch zentripetale Beeinflussung des
torische"
Plimmerorgane
anzusprechende Wim-
') Siehe die zusammenfassende Arbeit des Verfassers
„Die Mechanik und Innervation der Atmung" in Winter-
st ein 's Handb. d. vergl. Physiologie (Verlag G. Fischer-Jena).
N. F. XIII. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
375
Zentralnervensystems (resp. der zentralen Atem-
organe) die Ausatmung (Exspiration) auslösen, und
daß umgekehrt der Ausatmungszustand der peri-
pheren Atemorgane vermittels des Gehirns die
Einatmungsbewegung hervorbringt usw. Man ist
geneigt, auf Grund von vielen eingehenden experi-
mentellen Ermittelungen, heutzutage insbesondere
die in den Bewegungsorganen (den Muskeln, Seh-
nen, Gelenken) während der Bewegung (oder fixier-
ten Lage) entstehenden Reize als wesentlich für
die Atemregulation anzusehen, während man früher
mehr an die Schleimhäute der Atemwege und der
eigentlichen Atemorgane (Kiemen, Lungen) als
Quellen der „Atemreize" dachte. Dies ist die
Reflextheorie des Atemrhythmus.
Eine andere Gruppe der täglichen Erfahrung
lehrt, daß bei ungenügender Sauerstoffversorgung,
insbesondere unter Erstickungsbedingungen, die
Atembewegungen mächtig angefacht werden. Ver-
armung des Blutes an Sauerstoff, Bereicherung
desselben an Kohlendioxyd wirkt reizend auf die
zentralen Atemorgane oder die „Atemzentren".
Es handelt sich da um ,, innere", oder noch besser
zentrale Reize, im Gegensatze zu den bei der
reflektorischen Atemregulation tätigen äußeren
oder peripheren : das die Gehirnapparate der Atem-
bewegungen ernährende Blut wirkt als Regu-
lator vermittels seines Sauerstoff- und Kohlen-
dioxydgehaltes so, daß die Steigerung des Sauer-
stoffmangelsund Kohlendioxydgehaltes Verstärkung
des Atemspieles (Vertiefung und Vermehrung der
Atemakte = Dyspnoe), die Verringerung des
Kohlendioxydgehaltes und Bereicherung des Sauer-
stoffgehaltes aber Abschwächung des Atemrhyth-
mus (bis sogar Einstellung = Apnoe) hervor-
bringt. Nach Verallgemeinerung dieser Verhält-
nisse hat man eine Theorie der Blut- oder
Zentralreize — sogar der oben skizzierten
reflektorischen entgegen — aufgestellt, obgleich
es nicht angemessen ist, beide so extrem und aus-
schließlich zu formulieren. In der Tat berührt die
reflektorische Theorie mehr das Zustandekommen
der einzelnen unmittelbar nacheinander folgenden
Ein- und Ausatmungen, die Theorie der zentralen
Reize aber den allgemeinen Gang des Atemrhyth-
mus, der gefördert oder gehemmt wird.
Wir halten dafür, daß wahrscheinlicher als die
ausschließliche Theorie des ,,r efl ekt orischen
(nervösen) A u t oma tism us", welche den
Atemrhythmus durch die afferenten Nervenbahnen
von der Peripherie aus induzieren läßt, und wahr-
scheinlicher als die ausschließliche Theorie des
durch das innere Medium (Blut) zentral
erzeugten Automatismus folgende An-
schauung gelten kann. Das Atemzentrum ist
einer „autochthon" automatischen
Tätigkeit fähig (bei grobem Vergleiche
ähnlich wie das ausgeschnittene Herz) : die Inner-
vationsimpulse, welche in die Atemmuskeln ab-
gesendet werden, werden in den zentralen Atem-
Organen selbst geboren, zu hohem Grade unab-
hängig von den afferenten Nervenbahnen und so-
gar von dem inneren Medium (man kennt in der
Tat auch nach der weitgehendsten Isolierung des
Gehirns und ohne das innere Medium fortgesetzte
rhythmische Atemzentrumtätigkeit). Diese von
uns gleichsam als „primär e" unterschiedene
Automatic würde den „sekundären" A t e m -
rhythmen entgegenzuhalten sein, welche infolge
der vermittels der Nervenbahnen oder des inneren
Mediums ausgeübten Beeinflussung = A t e m -
regulation zustande gebracht werden.
Wir wollen nun aus unseren vergleichenden
Untersuchungen über den Atemrhythmus einige
Beispiele anführen, welche die eben skizzierte Auf-
fassung stützen und weiter zu erörtern erlauben.
Die Libellenlarven weisen rhythmische Be-
wegungen des Abdomens auf, wodurch Atem-
wasser in den Hinterdarm, wo mächtig entwickelte
Tracheenkiemen angebracht sind, eingesaugt und
wieder nach außen entleert wird; in gut durch-
gelüftetem Wasser wird ein periodisches Atembild
beobachtet, indem Gruppen von kleinen Atemakten
durch große (apnoische) Pausen getrennt sind.
Wird der Sauerstoffgehalt des Wassers erniedrigt,
so wachsen die Atemperioden (sowie die einzelnen
Atemakte in den letzteren) an und die Atempausen
nehmen ab, bis sich ein ununterbrochener, viele
Stunden lang unermüdlich fortgesetzter ange-
strengter Atemrhythmus (= Dyspnoe) entwickelt.
Dasselbe sieht man an den außen dem Körper auf-
sitzenden Kiemenplättchen der Eintagsfliegenlarven
(Ephemeriden). Und ähnliches Verhalten gibt unter
den Fischen z. B. der Schlammpeitzger (Cobitis
s. Misgurnus fossilis) kund; der Fisch atmet auch
durch die Haut und den Darm : lassen wir ihn
aus reiner Sauerstoffatmosphäre den Darm füllen
(oder beobachten wir den F'isch in kälterem Wasser
mit Luftatmosphäre), so werden bald nachher die
Kiemenatembewegungen eingestellt, um nur vor
erneuter Gasverschluckung als eine Periode auf-
zutauchen — es ibt nämlich das Kiemenatem-
zentrum von dem Darm aus mit Sauerstoff reichlich
versorgt; ventiliert aber der Fisch aus einer Stick-
stoffatmosphäre, so besteht ein ununterbrochener
Kienienatemrhythmus (ähnHches Verhalten sieht
man bei den Labyrinthfischen, welche ausgiebiger
als durch die Kiemen aus dem luftatmenden Laby-
rinthorgane ihr Blut mit Sauerstoff versorgen, usw.).
Es wird also die unter günstigen Gaswechsel-
bedingungen periodische Atemzentrumtätigkeit
durch bloße Erniedrigung der Saue rst of f-
zu fuhr in den ununterbrochenen Atem-
rhythmus verwandelt, wobei alle möglichen
Übergänge zu verfolgen sind. Der Mechanismus
dieser regulatorischen Erscheinung kann allerdings
bei den angeführten Insekten und Fischen wesent-
lich verschieden sein. Während wir für die lösche
mit der größten Wahrscheinlichkeit behaupten
dürfen, daß der Sauerstoffmangel als zentraler
(= Blut-) Reiz einwirkt, indem auch unsere neuen,
bisher nicht veröffentlichten speziellen Unter-
suchungen über die reflektorische Wirkung desSaucr-
stoffmangels in demselben Sinne sprechen, läßt
3/6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 24
sich gewissen Versuchsanordnungen bei den Odo-
natenlarven entnehmen, daß hier das sauerstoffarme
Wasser höchstwahrscheinlich als peripherer
Reiz (von der Haut, Hinterdarmoberfläche ?) ver-
mittels afferenter Nervenbahnen die Atemzentren
beeinflußt.
Dieselben Verhältnisse legen auch die (von
uns so benannten) „provisorischen" Atemmechanis-
men zutage, welche bei den Fischembryonen vor
der Entwicklung der Kiemenatmung angetroffen
werden, indem (Cichliden) der Schwanz oder (Haplo-
chilus im Ei) die Flossen unter günstigen Gas-
wechselbedingungen periodische, im Sauerstoff-
mangel beständig rhythmische Atembewegungen
vollführen. Sogar erwachsene Fische können wir
da anführen: Die welsartige Loricaria atmet in
der Norm periodisch, bei niedrigem Partial-
druck des Sauerstoffs aber (zentraler Reiz I) oder
bei starker Beleuchtung, schwachen Erschütterungen
usw. (periphere Reize!) ununterbrochen
rhythmisch.
Bei den Amphibien sehen wir die Kaulquappen
periodische oder ununterbrochen rhythmische Atem -
bewegungen je nach dem Sauerstoffgehalte des
Wassers vollführen; und der Frosch weist in der
Ruhe fast überhaupt keine Lungenatmungen auf
(indem ihm die Hautatmung den Sauerstoffbedarf
deckt), aber nach peripherer (reflektorischer) oder
zentraler (durch Sauerstoffmangel bewirkter) Rei-
zung bricht sogar ein ununterbrochener Lungen-
atemrhythmus aus.
Bei den Fröschen (sowie auch bei den ge-
schwänzten Amphibien) tritt aber noch ein be-
sonderer Atemrhythmus neben der Lungenatmung
(welche hier durch Luftverschluckung zustande-
kommt) auf, nämlich die Kehloszillationen, welche
nur die Mundhöhle durchlüften. Auch dieser
Atemrhythmus pflegt periodisch zu sein, wie
man sich bei vollkommen ruhigem (insbesondere
in rotem Lichte gehaltenem) Tiere überzeugen
kann, während die verschiedensten Reizwirkungen
ununterbrochene Respiration bedingen.
Ähnliches haben wir neuerdings bei den Panzer-
echsen nachgewiesen ; der Alligator z. B. weist in der
Norm in i — 2 Min. eine Gruppe von zwei Atem-
akten auf, wogegen das gereizte Tier (z. B. nach
Fixierung und nach Aufsetzen der Aiemkappe) in
regelmäßigen Abständen auftauchende Atemakte
(4 — 6 in I Min.) zeigt.
Das eben erwähnte Beispiel der Kehl- (oder
Mund-) Oszillationen der Amphibien, durch welche
nur der Luftinhalt der blutreichen Mundrachen-
höhle erneuert wird, dient zugleich zur Illustration
des Verhaltens, wo ein Atemzentrum sehr feine
Einstellung auf die nervösen Beeinflussungen
besitzen kann, während es keine Regulation
in Hinsicht auf die Blut reize aufweist. Dies
legen ausgezeichnet deutlich insbesondere die
lungenlosen Salamandriden zutage, z. B. der italie-
nische Spelerpes fuscus: das ruhige Tier zeigt nur
kleine, langsame, gruppenweise erfolgende Kehl-
oszillationen, die aber äußerst fein durch nervöse
Reize beeinflußt werden und dann sogar über 300
in I Min. betragen ; ja es genügt schon, wenn das
Tier (bei vollkommener äußeren Ruhe) spontan
sich zu bewegen anschickt : schon einige Sekun-
den, bevor das Tier ein Bein oder den Kopf be-
wegt, werden die Kehlbewegungen merklich ver-
größert und vermehrt ; aber bei den Erstickungs-
versuchen, von den Folgen der Muskelunruhe ab-
gesehen, konnte keine Regulation dieser Atem-
bewegungen durch den Sauerstoffmangel nach-
gewiesen werden. Ahnliche Verhältnisse wurden
bei den Kiemenschwingungen einiger geschwänzter
Amphibien sichergestellt usw.
Man könnte den Gedanken fassen, daß die Re-
gulation des Atemrhythmus vermittels des Sauer-
stoff- resp. Kohlendioxydgehaltes des inneren
Mediums eine höhere Entwicklungs-
stufe der Regulationsmodi vorstellt, während die
nervös vermittelte primitiver wäre. Bei kleinen
.'\xolotln konnten wir in der Tat beobachten, daß
sie zuerst überhaupt keine Atembewegungen be-
sitzen (höchstens wäre es denkbar, daß die bei
der Schvvimmlokomotion erscheinende Schwingung
der äußeren Kiemenbüschel als Atembewegung zu
deuten sind); wenn dann bei etwas größeren Tier-
chen die ersten das Wasser durch die Mundhöhle
gegen die Kiemenlöcher hin treibenden Kehlatem-
laewegungen zum Vorschein kommen, werden sie
nur reflektorisch (nicht aber durch den Sauerstoff-
gehalt des Blutes) reguliert; erst bei weiterer Ent-
wicklung des wachsenden Tieres, wenn der Sauer-
stoffbedarf des massigen, fortschreitend relativ
kleinere äußere Oberfläche aufweisenden Körpers
anwächst, kommt die „chemische" Regulation dieser
Atembewegungen zum Vorschein.
Nicht nur die Art der Regulation, sondern
auch das Bild des Atemrhythmus kann man onto-
genetisch verfolgen. Es ist z. B. bemerkenswert,
daß die jungen Forellcnembryonen (sowie andere
Fischkeime) zuerst unregelmäßig vereinzelte, dann
periodisch gruppierte Atembewegungen aufweisen;
der spätere ununterbrochene Atemrhythmus scheint
sich hier erst allmählich als ein Produkt der
sich entwickelnden Regulationsmechanismen ein-
zustellen.
Hier können wir wiederum an die Verhältnisse
des Atemrhythmus bei den Säugetieren anknüpfen.
Die Apnoe ,(.'\temlosigkeit) des Fötus steht in
schroffem Gegensatze zu der ununterbrochen rhyth-
mischen Atemtätigkeit des Neugeborenen. Man
hat den ersten Atemzug und den folgenden Rhyth-
mus einerseits als durch äußere Reize ausgelöst
aufgefaßt (Kältereize, mechanische Reize usw.),
andererseits hat man behauptet, daß die Atem-
bewegungen durch die Blutreize (nach Hinderung
des den Gasaustausch des Fötus vermittelnden
Plazentarkreislaufes während des Geburtsaktes) aus-
gelöst werden (die Apnoe des Fötus resultiert
aus der Abwesenheit der äußeren Reize und aus
hinreichendem Gasaustausche in der Plazenta).
Es ist aber wahrscheinlich, daß, wie sich dies
Ahlfeld auf Grund seiner Untersuchungen an
N. F. Xm. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
377
Schwangeren vorstelh, der Fötus in der zweiten
Hälfte des intrauterinen Lebens periodische „Atem-
bewegungen" ausführt, welche allerdings kein Atem-
medium an die Lungenflächen befördern können,
sondern nur gleichsam eine ,, Übung" des Atem-
zentrums für seine unmittelbar nach der Geburt
in Gang zu setzende, lebenslang dauern sollende,
ununterbrochen rhythmische Tätigkeit darstellen.
Bei vorzeitig geborenen Kindern hat auf
meine Anregung D e d e k Beobachtungen angestellt,
wobei es ihm gelungen ist, ähnliche Atemperi-
oden aufzuzeichnen, wie sie nach Ahlfeld
intrauterin vorkommen, sowie ihre Weiterentwick-
lung in den normalen un unterbrochen rhyth-
mischen Atemtypus des (reifen) Neugeborenen
zu verfolgen : es sind dies wohl die nervösen sowie
Blutreize, welche diesen Atemrhythmus aus der
ursprünglichen Periodik entwickeln, ähnlich wie
wir dies oben bei den niederen Wirbeltieren und
den Wirbellosen skizziert haben. Es ist wahr-
scheinlich, daß sich auch die pathologischen Fälle
der periodischen Atmung (Cheyne-Stokes-
scher Typus usw.) von ähnlichem Standpunkte
auffassen ließen.
Auch in betreff der Atemregulation durch
Blutreize lassen sich vergleichend physiologische
Tatsachen anführen, welche die Verhältnisse bei
den Wirbeltieren in neues Licht stellen. Es gibt
da z. B. bei den Amphibien gewisse Atemmecha-
nismen, wo überhaupt keine Regulation vermittels
der Blutreize vorkommt (s. oben); die Kiemen-
atembewegungen der Fische und Lungenatem-
bewegungen der Amphibien werden aber durch
den Sauerstoffgehalt im Blute geregelt
(obwohl da bedeutende Unterschiede zwischen
den verschiedenen Arten bestehen); dagegen liegt
kein unzweideutiger Nachweis vor, welcher dafür
zeugen würde, daß auch dem Kohlendioxyd-
gehalte des Blutes eine regulatorische Rolle zu-
kommt. Bei den Vögeln und Säugetieren
dagegen kann man nach manchen Autoren gerade
dem Kohlendioxydgehalte des Blutes die Haupt-
aufgabe in dieser Hinsicht zuschreiben, so daß der
regelnde Einfluß des Sauerstoffmangels nebensäch-
lich wäre; unlängst haben wir aber bei dem winter-
schlafenden Ziesel sowohl durch Sauerstoffmangel
als auch durch Kohlendioxyd in der Atemluft starke
dyspnoische Zustände hervorgerufen. Von beson-
derer Bedeutung ist hier das Verhalten der Repti-
lien, welche man gleichsam als Verwandten der
einstigen Vorfahren des heutigen Säugetierstammes
ansprechen kann. Unsere neuen Untersuchungen
an Eidechsen (Leguanen) haben da nachgewiesen,
daß durch Sauerstoflmangel und ebenfalls durch
Kohlendioxyd der Atemrhythmus dyspnoisch be-
einflußt wird, wobei insbesondere die kombinierte
Einwirkung der beiden Faktoren in Betracht
kommt; eingehendere Erforschung hat zu den Er-
gebnissen geführt, daß in diesen Fällen der Sauerstoff-
mangel die Reizbarkeit des Atemzentrums steigert,
worauf auch durch ganz niedrige Kohlendioxyd-
mengen mächtige Anfachung der Ventilation be-
wirkt wird. Es bleibt aber zu ermitteln, wie sich
die übrigen Abteilungen der Reptilien in dieser
Hinsicht verhalten: denn die Panzerechsen
(Krokodilier), welche wir zu untersuchen Gelegen-
heit gehabt haben, weichen schon beträchtlich von
den Eidechsen darin ab, daß bei ihnen von einer
regulatorischen Rolle des Kohlen-
dioxyds im Blute keine Rede sein kann,
und was den Sauerstoffgehalt betrifft, ist seine
regulatorische Bedeutung deutlich schwächer als
bei den Eidechsen. Es ist also wahrscheinlich,
daß die Reptilien erst den bedeutungsvollen
Schritt in der Entwicklung der Atemregulation
vermittels des inneren Mediums vollbracht haben,
indem der Kohlendioxj-dgehalt des Blutes als
wichtiger Faktor derselben gewonnen worden war.
Dieser Umstand könnte vielleicht sogar in Be-
ziehung sein mit der phylogenetischen Entstehung
der Vogelwelt und der Säugetierwelt, der homoio-
thermen Wirbeltiere, aus den Poikilothermen.
Einzelberichte.
Physik. Mit der Beugung des Lichtes an
Raumgittern beschäftigt sich eine Arbeit von
E. Buchwald (Breslau), die in der Physikalischen
Zeitschrift 15 (1914) Seite 331 veröffentlicht ist.
Der Verfasser ist zu der Arbeit angeregt worden
durch die schönen Beugungsbilder, die zuerst Laue,
Friedrich und Knipping^) erhalten haben
beim Durchgang von Röntgenstrahlen durch
Kristalle, deren Moleküle nach Bravais ganz
regelmäßig raumgitterartig angeordnet sind. Zur
Herstellung der Gitter benutzte er im Papierhandel
erhältliche, weiße Pappbogen, Stramin genannt, die
in der ganzen Fläche regelmäßig mit kreisförmigen
Offnungen von 0,58 mm Durchmesser und 1,06 mm
') Siehe A. Wenzel: Kristallstruktur und Röntgen-
strahlen in dieser Zeitschrift 13 (1914) Seite 70.
gegenseitigem Abstand besetzt sind. Durch Photo-
graphieren erhielt er Kreuzgitter von beliebiger
Gitterkonstanten ; von den so gewonnenen Nega-
tiven wurden auf gutem Spiegelglas Diapositive
angefertigt, die demnach undurchsichtige Beugungs-
scheibchen auf durchsichtigem Grunde enthielten.
Da es nicht gelang, Interferenzerscheinungen mit
zweien solcher hintereinander gestellten Kreuzgilter
zu erhalten, wandte der Verfasser ein schon 171 5
vom H erzog von Cha u Ines benutztes Verfahren
an, um ein Raumgitter zu erhalten, indem er in ge-
ringem Abstand hinter dem Gitter eine auf der Vor-
derseite versilberte Glasplatte aufstellte, so daß das
durch einen Z e i ß ' sehen Monochromator hindurch-
gegangene Licht einer Bogenlampe nach dem Durch-
gang durch das Gitter an dem Spiegel in sich selbst
reflektiert wurde und dann das Gitter nochmals
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 24
durchsetzte. Das zweite Gitter wurde demnacli
durch das Spiegelbild des ersten ersetzt, so daß er
auf diese Weise ein Raumgitter erhielt, das allerdings
dem von Lane verwendeten insofern nicht voll-
kommen entsprach, als es nur aus zwei Schichten
bestand. Die Interferenzerscheinungen wurden ent-
weder mit dem Fernrohr beobachtet oder photogra-
phisch festgehalten, die erhaltenen Bilder ausge-
messen und mit der Laue'schen Theorie verglichen.
Die Versuchsresultate ergeben, daß die Theorie im
vorliegenden F"all zwar qualitativ, nicht aber allge-
mein quantitativ anwendbar bleibt, daß man dem-
nach aus den Photogrammen keine bindenden
Schlüsse über Wellenlänge und Gitterkonstante
ziehen kann. Der Grund der Abweichungen dürfte
in einer Schattenwirkung der beugenden Partikeln
zu suchen sein. K. Schutt, Hamburg.
Zoologie. Einen neuen Beitrag zu dem Problem
des Vogelzuges hat jüngst S. Eckmann ge-
liefert ^). Palmen und W e i s m a n n hatten an-
genommen, daß die heutigen Zugstraßen der Vögel
den Bahnen entsprechen, auf denen sich in früheren
Zeiten die Arten von Süden nach Norden aus-
breiteten. Daraufhin hat nun Eckmann die
Einwanderungswege einiger schwedischer Brutvögel
untersucht, um die Richtigkeit dieser Theorie zu
prüfen. Es zeigte sich, daß von den sicheren, nord-
östlichen Einwanderern Skandinaviens nur eine
Art, Anser erythropus, heute der alten Be-
siedlungsbahn auf ihrem jährlichen Zuge folgt.
Aus diesem dürftigen Beweismaterial folgt aber
keineswegs die Nichtigkeit der Palmen'schen
Theorie, denn nur die Vogelarten können beim
Zuge die alten Ausbreitungswege ihrer Ahnen ein-
schlagen, bei denen Alte und Junge im Herbste
zusammenziehen. Das ist gerade bei Anser
erythropus der P'all, nicht aber bei den übrigen
schwedischen Zugvögeln. Eine ähnliche Theorie
ist von Jäger aufgestellt worden zur Erklärung
der Wanderungen, die von den Lachsen alljährlich
flußaufwärts unternommen werden, um ihre Eier
in den klaren, kalten Ouellflüssen der großen Ströme
abzusetzen. Der Lachs ist ein Winterlaicher, er
zieht vor allem die kurzläufigen, raschströmenden
Flüsse vor, wie sie von den schottischen und skandi-
navischen Gebirgen herabkommen, er liebt also
offensichtlich kaltes Wasser. Daraus kann man
auf die nordische Herkunft des Lachses schließen.
Wenn wir uns nun, wie Jäger sagt, in die Jura-
zeit zurückversetzen, als die Rheintalebene ein
Meerbusen war und die ganze norddeutsche Tief-
ebene gleichfalls Meer, so war das Aufsteigen der
Lachse in die kurzen Gebirgsflüsse der Schweiz
und der deutschen Mittelgebirge ganz dieselbe Er-
scheinung, wie das jetzige Wandern in die schot-
tischen und norwegischen Bergströme. Anderer-
seits hatten die Fische keine Veranlassung, zur
') S. Eckraann: Sind die Zugstraßen der Vögel die
ehemaligen Verbreitungsstraßen der Arten? — Zoolog. Jahrb.
.■\btlg. f. Systematik. Bd. 33 p. 521—546.
Eiszeit in den Flüssen zu bleiben, in deren kaltem
Wasser sie keine oder nur wenig Nahrung fanden,
während das Salzwasser solche in überreicher
Menge enthielt, was schon daraus hervorgeht, daß
der Lachs im Meere erstaunlich rasch wächst. Als
nun das Vorland wuchs, das Meer immer weiter
in die P'erne rückte und der Stromlauf länger
wurde, zog die alte Anhänglichkeit den Lachs
immer noch nach seiner alten Heimat. So steigen
sie noch heute die Flüsse empor, der Quelle, dem
Gebirge und somit dem kalten Wasser entgegen,
uns damit ein schönes Beispiel für die Macht der
Vererbung bietend. Ferd. Müller.
Astronomie. Eine sehr auffallende Beziehung
zwischen den Elementen der bekannten Monde
unseres Systems gibt Ol live (Comptes rendus,
Bd. 157, S. 1501). Ist Rj die mittlere Distanz
eines Satelliten von seinem Hauptkörper, \\ seine
Geschwindigkeit in der Bahn, R der mittlere Ab-
stand des betreffenden Planeten von der Sonne
und r der Radius des Planeten, so hat man die
Beziehung: r* = kRR,Vi-. Ausgedrückt in c. g. s. ist
k = 4,3i3 X lO"**. Die Anwendung dieser Glei-
chung auf die 26 bisher bekannten Monde unseres
Systems ist in einer Tabelle gegeben. Für die
Erde ist der Radius aus der Mondbewegung sehr
genau abgeleitet. Der berechnete Radius verhält
sich zu dem gemessenen wie i : 1,0001. Bei Mars
stimmen die aus den beiden Monden abgeleiteten
Werte unter sich genau, ebenso mit der Messung.
Bei Jupiter und Saturn ist die Übereinstimmung
ebenfalls sehr gut, außer den bei den beiden äußer-
sten Saturnmonden, wo ein Fehler von 6 % und
2 '7o übrig bleibt. Bei Uranus und Neptun stimmt
die E'ormel gar nicht. Diese beiden Körper nehmen
ja auch in anderer Hinsicht eine Ausnahmestellung
ein. Riem.
Über Veränderungen am Mondkrater Eimmart
berichtet Pickering in Astr. Nachr. 4704. Dieser
Krater liegt am NW-Rand des Mare Crisium, und
hat etwa 40 km Durchmesser. Früher war der
Krater beim jedesmaligen Aufgang der Sonne an-
gefüllt mit einem weißen Material, das dann über-
lief, und das aus einer Quelle am Fuß des nörd-
lichen Abhanges stammte. Jetzt ist das nicht mehr
der Fall. Das letzte Mal trat die Erscheinung auf
im Januar des Jahres 191 3, nahm dann zusehends
ab, und war im Mai kaum noch wahrzunehmen.
Zwei Zeichnungen geben die Verhältnisse wieder.
Auch der Vergleich mit früheren photographischen
Aufnahmen zeigt die Veränderung gegen die heutige
Ansicht des Kraters. Es kommt nun darauf an,
durch oft wiederholte Aufnahmen und Zeichnungen
diesen Krater unter beständiger Kontrolle zu halten,
um sofort feststellen zu können, wenn sich die
Lage der Dinge wieder ändern sollte. Riem.
Physiologie. Die Abweichungen des Stoff-
wechsels von der Norm bei übermäßiger Muskel-
arbeit können mitunter bei Sportveranstaltungen
geprüft werden. Stoffwechseluntersuchungen ge-
•N. F. XIII. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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legentlich eines Sechstagerennens, welches im Januar
d. J. im Palais des Sports in Paris stattfand, wurden
von Dr. H. Aurenche und M. G. Loncheux
(Contribution ä l'etude des rcactions physiologiques
ä la fatigue, Biologica, Nr. 39, 1914) angestellt.
In dem Rennen, das 144 Stunden dauerte,
wurden 4500 km zurückgelegt. Auf jeden der
4 Rennfahrer, deren Stoffwechsel untersucht wurde,
entfallen — nach Abzug der von Ersatzmännern
zurückgelegten Strecke — 3000 km. Die zwei
ersten Tage wurden stündlich 35 km, die anderen
vier Tage 30 km zurückgelegt. Die Rennfahrer,
ein Franzose, ein Deutscher, ein Amerikaner und
ein Italiener, waren 29, 35, 36 und 28 Jahre alt
und wohltraiiiierte Berufsathleten mit einem über-
normalen Brustumfang. Alle nahmen viel Fleisch
zu sich, 1000 — 1500 g täglich; als Getränk Mineral-
wasser, leichten Tee und dünnen Kaffee, je i 1 pro
Tag. Der Preisträger allein aß auch gebackene Fische.
Verf. sprechen die Vermutung aus, daß er der phos-
phorhaltigen Nahrung die große Ruhe verdankte,
welche er bis zum Schluß bewahrte. Auffallend war
die Konstanz des Pulses. Nach 144 Stunden war die
Zahl der Pulsschläge im Vergleich zu der bei der
Abfahrt 92 (80), 60 (60), 70 (76) ; einer hatte nach
120 Stunden mit 104 Pulsschlägen abbrechen
müssen. Von den 24 Stunden des Tages wurden
14 Stunden gefahren, 4 kamen auf den Schlaf und
6 blieben für Massieren und Einnahme der Mahl-
zeiten übrig.
Bemerkenswert sind die außerordentlich hohen
Dosen von Giften, welche ohne Schaden vertragen
wurden. Pro 24 Stunden wurden mit den Ge-
tränken 5 g Koffein aufgenommen ; am letzten Tag
5 cg schwefelsaures Strychnin in Injektionen von
je 5 mg-
Während die abgeschiedene Urinmenge während
des Rennens immer geringer wurde, stieg das
spezifische Gewicht des Harns. Die Harnanalyse
ergab eine Steigerung des Gehalts an Harnsäure
und auch eine Vermehrung der abgeschiedenen
Fleischmilchsäure. Der Koeffizient von Bouchard
(das Verhältnis von Harnstoff zu den übrigen im
Harn enthaltenen Verbindungen) war verkleinert,
ebenso das Verhältnis des Chlornatriums zum
Harnstoff. Kathariner.
Botanik. Die Einwirkung kolloidaler Metalle
auf Zellen^ SchoiTvor 13 Jahren hat Galeotti
den Einfluß kolloidaler Kupferlösungen auf Spiro-
gyren mit den Wirkungen von Kupfersulfat ver-
glichen und kolloidales Kupfer in geringeren Mengen
tödlich gefunden als das ionische Kupfer, obschon
die Wirkung des ersteren weniger rasch war; er
nahm an, das ionische Kupfer übe dadurch, daß
es sich mit dem Protoplasma verbinde, eine
schnellere Wirkung aus, während das kolloidale
Metall, wenigstens in niederen Konzentrationen,
langsam als Katalysator wirke und gewisse Ab-
bauprozesse in den Zellen beschleunige. Die Ent-
wicklung von Bakterien wird nach Foä und
-Aggazzotti (1909) durch kolloidales Platin,
Gold und Silber gehemmt, doch erwiesen sich
kolloidales Pt und Au nur für zwei Arten der
untersuchten Bakterien als tödlich, während fein
zerteiltes kolloidales Ag schon in geringerer Kon-
zentration alle untersuchten Bakterien tötete. Die
ionischen Lösungen aller dieser Metalle sind für
das Protoplasma giftig. Max Morse (191 3)
konnte bei Versuchen mit Infusorien, Diatomeen
und Desmidiaceen keine merkliche Schädigung
des Protoplasmas durch kolloidales Pt feststellen.
W. D. Hoyt bestätigt auf Grund von Versuchen,
die er bei Klebs in Heidelberg mit Spirogyren
ausgeführt hat, die starke Giftigkeit des kolloidalen
Ag, das noch in äußerst geringen Konzentrationen
die Spirogyrazellen tötete. Die schwächeren Lö-
sungen wurden fast oder ganz ungiftig gemacht,
wenn ihnen kolloidales Pt, Tierkohle oder unorga-
nische Salze (0,5 proz. Crone'sche Nährlösung)
zugesetzt wurden. Galeotti hatte bereits ge-
funden, daß Zusatz von Kochsalz zu höheren
Konzentrationen von kolloidalem Cu diese etwas
weniger giftig machte und in niederen Konzentra-
tionen die Giftigkeit fast ganz aufhob; anderer-
seits wurde die Giftigkeit von ionischem Cu durch
die Gegenwart von NaCl nicht verändert. Kollo-
idale Goldlösung wirkte viel weniger giftig als
die Silberlösung. Um das kolloidale Gold zu ge-
winnen und in Lösung zu erhalten, hatte Hoyt
Natriumhydroxyd dem Wasser zugesetzt, mit dem
die kolloidale Lösung hergestellt war, so daß diese
NaHO enthielt.*) Diese Lösung war nur in sehr
geringem Maße schädlich, während eine reine
NaHO-Lösung von gleichem Prozentgehalt (0,02)
alle Algenfäden tötete. Die kolloidalen Pt-Lösungen
waren fast unschädlich, und in geringeren Kon-
zentrationen hoben sie die giftigen Wirkungen
des Wasserleitungswassers, des gewöhnlichen (in
Kupfergefäßen hergestellten) destillierten Wassers
sowie der Lösungen von Chlorkalium, Magnesium-
sulfat und kolloidalem Ag teilweise auf. Alle drei
kolloidalen Metalle, in geringerem Grade selbst
Ag, wirkten in niederen Konzentrationen der Gift-
wirkung des NaHO entgegen; Zusatz von Gold-
chlorid zu einer toxischen Lösung von NaHO oder
von Platinchlorid zu einer toxischen Lösung von
MgSO^ machten dagegen diese Lösungen nicht
weniger giftig. In den Lösungen, die kolloidales Pt
oder Au nebst NaHO enthielten, schwollen die
äußeren Teile der Zellwände gallertartig an, was be-
sonders auffällig wurde, wenn die Fäden aus den
alkalischen Kolloidlösungen in nichtgiftiges Wasser
übertragen wurden. Die angeschwollene, durch
die Metalle gefärbte Masse trennte sich oft von
der übrigen Wand und ließ diese ungefärbt und
anscheinend unbeeinflußt zurück. Hoyt erinnert
an analoge Ergebnisse, die Klebs erhalten hat,
') Die von Hoyt benutzten Kolloidlösungen wurden im
B red ig' sehen Laboratorium durch Zerstäubung von Metall-
eleklroden im elektrischen Lichtbogen unter Wasser hergestellt.
Hierzu diente nichtgiftiges Wasser, das durch Destillation in
Glas mit Ticrkohle in der Retorte gewonnen war.
38o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 24
als er gewisse Salze und organische Metallverbin- vielen Fällen von enzymatischer Katalyse in die-
dungen in den gelatinösen Scheiden mehrerer selbe Kategorie bringen lassen. (The Botanical
Zygnema-Arten und anderer Algen niederschlug, Gazette 1914, Vol. 57, p. 193 — 212.)
und er glaubt, daß beide Erscheinungen sich mit F. Moewes.
Bücherbesprechungen.
L. Lerch, „Geologische Wanderungen in
der Umgegend von Hannover", mit 38
Lichtdrucktafeln und einer Karte. Hahn'sche
Buchhdlg., Hannover 1913.
Den hohen Anforderungen, die auch an popu-
läre Darstellungen nun einmal zu stellen sind, kann
das vorliegende Werk leider nicht entsprechen.
Von den 128 Textseiten des Büchleins halten
eigentlich nur 36 (S. 67 — 102), was der Titel ver-
heißt, Seite 7—64 dagegen sollen die nötigen Vor-
kenntnisse vermitteln, wobei Seite 61 — 63 noch
für eine Übersicht der Autorennamen abgehen !
17 Seiten müssen herhalten, um ein Orts- und
Sachregister zu liefern, auf 6 Seiten endlich wird
anhangsweise eine recht brauchbare Skizzierung
des Kalibergbaues bei Hannover gegeben. Man
könnte in dieser immerhin auffallenden Disposition
einen äußerlichen Schönheitsfehler sehen. Man
kann auch den im Vorwort beklagten Tiefstand
der geologischen Kenntnisse im breiteren Publikum
als Erklärung dafür gelten lassen, daß ein Extrakt
der gesamten Paläontologie und Stratigraphie zur
Einführung für nötig erachtet wird. Aber eine
keinerlei Vorkenntnisse voraussetzende Darstellung
muß schon etwas anziehender gestaltet sein, um
sich einen größeren Leserkreis zu gewinnen. Der
tote Wissensstoff allein mag sich, wie das manchem
aus der Schulzeit her erinnerlich sein dürfte, aus-
gezeichnet zum „Überhören" eignen, wenn nur
dies Wort nicht so eine fatale Doppelbedeutung
hätte! Aus all den fleißig zusammengestellten
Fossilientafcln gähnt der Tod und die gewiß sorg-
same Aufzählung der Hauptfundorte bei Hannover
oder wichtiger Eigenschaften einzelner Formationen
erweckt vielleicht Begriffe, aber keine lebendigen Vor-
stellungen. Es ist beschreibende Naturwissenschaft
in ihrem kältesten Gewände: Namen und Zahlen,
Dinge, mit denen man sich weiß Gott auch heute
schon auf den .Schulen den Magen überladen kann.
Sollte es wirklich nur der ,, Lehrplan" sein, aus
dem sich, „obwohl das Interesse fast überall vor-
handen ist, (Tas oft mangelnde Verständnis erklärt''.?
Könnte man wenigstens die Abbildungen loben !
Aber die neuerdings öfters zu beobachtende Methode,
Fossilien in einer gewissen impressionistisch an-
mutenden Weise zu zeichnen, so daß bei geschickter
Zeichnung (die nicht abgestritten werden soll) zwar
der Gesamteindruck gut wiedergegeben wird, aber
beim genauen Hinsehen kaum die Umgrenzung,
geschweige denn andere Einzelheiten zu erfassen
ist, ist ganz entschieden zu bekämpfen. Zum ge-
nauen Hinsehen kann ja in der Naturwissenschaft
gar nicht genug erzogen werden! Und wenn ein
geologischer Führer sich mit Karte ankündigt, so
erwartet man gewiß zunächst etwas mehr als eine
rein topographische, obendrein recht schematische
Schwarzdruckkarte im Maßstabe 1:200000.
Wenigstens wenn das nicht sehr umfangreiche
Büchlein, das sich an einfachere Kreise zu wenden
scheint, 4,50 Mk. (gebunden) kostet!
E. Hennig.
Dr. Frhr. von Schrenck-Notzing : „D e r K a m p f
um die Materialisationsphänomene".
Eine Verteidigungsschrift mit 20 Abbildungen
und 3 Tafeln. München 1914, Verlag Ernst
Reinhardt.
Seinem ersten sensationellen Buch „Materiali-
sations Phänomene", das so viel Staub aufgewirbelt
hat und das ich am 29. März an dieser Stelle
besprach, läßt der Verfasser eine kürzere zweite
Schrift folgen, in der er sich mit seinen zahlreichen
Gegnern auseinandersetzt. Zweifellos hat er dies
in hervorragend geschickter Weise getan, und ein
großer Teil der scheinbaren Widerlegungen und Ein-
wendungen ist durch den Verfasser, der von seinen
ersten Behauptungen kein Wort zurücknehmen zu
müssen erklärt, endgültig entkräftet worden. Das
moiiatelange Schweigen v. Schrenck's auf die
von allen Seiten erfolgenden Angriffe mufäte man
zunächst wohl oder übel als eine Anerkennung
der Einwände deuten und deren Richtigkeit da-
durch für erwiesen haken. Die jetzige „Ver-
teidigungsschrift" führt aber allerdings den bündigen
Beweis, daß die Publikationen und Thesen seiner
Gegner z. T. auf sehr schwachen P'üßen stehen,
teilweise sogar überhaupt von keiner Kenntnis des
Tatbestands getrübt sind und in ganz vagen Kom-
binationen gipfeln.
So sei denn auch an dieser Stelle, entgegen
den Darlegungen der Besprechung vom 29. März,
betont, daß von einer wirklich geglückten Wider-
legung der Schrenck' sehen Beweise für das Vor-
kommen echter Materialisations-Phänomene nach
den Ausführungen der „Verteidigungsschrifi" bis-
her nicht die Rede sein kann. v. Schrenck-
Notzing ist ein so ausgezeichneter, vorurteilsloser
und sachkundiger Forscher und Wahrheitsucher,
ist seinen Widersachern an langjähriger psycholo-
gischer Erfahrung, Sachkenntnis und strengster
Objektivität so unbedingt überlegen, daß man seine
Erklärung, die erhobenen Einwände genügten nicht
zur Widerlegung seiner unbegreiflichen Beobach-
tungen, rundweg als maßgebend ansehen muß.
— Und dennoch, dennoch bleibt bei dem un-
parteiischen Betrachter des Streitfalls ein Gefühl
des Unbehagens, des absoluten Nicht-Befriedigtseins
zurück. Mindestens in einem Punkte kann ich
N. F. Xm. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
381
Dr. V. Schrencks Widerlegunfj der Einwände
nicht als unbedingt geglückt betrachten, und gerade
dieser Punkt ist von höchster Wichtigkeit: die
verblüffende Ähnlichkeit einzelner seiner „materiali-
sierten" Köpfe mit gewissen Bildern berühmter
Persönlichkeiten in der Zeitschrift „Le Miroir" ist
schlechterdings nicht hinwegzuleugnen. Der Ver-
fasser wendet einen großen Apparat auf, um zu
zeigen, daß die Ähnlichkeit keine absolute ist,
aber der Übereinstimmungen bleiben nach meinem
Gefühl doch allzu viele. Und was mich noch mehr
stutzig macht, ist die Tatsache, daß die materiali-
sierten Gestalten Kragen, modernste Krawatten
und Zwicker tragen, Warzen aufweisen usw. Ich
kann mir nicht helfen, auch bei weitherzigster Be-
reitwilligkeit zu K^onzessionen an die Lehre von
den Materialisationen muß man an derartigen
Erscheinungen argen Anstoß nehmen! Schrenck's
Vorkehrungen, um sich gegen Betrug zu sichern,
sind schlechthin als mustergültig, als einzig da-
stehend in ihrer Gewissenhaftigkeit zu bezeichnen,
ich finde keine einzige Lücke darin, durch die sich
Fehlerquellen einschleichen könnten. Und dennoch
muten die photographierten Materialisationen
großenteils so überaus verdächtig, so kindlich „ge-
macht" an, daß die Annahme eines trotz aller Vor-
sichtsmaßregeln unentdeckt gebliebenen Tricks des
Mediums mir immerhin noch plausibler erscheint
als die Hypothese materialisierter Gestalten, die
nach den Moden von 191 2 und 191 3 gekleidet
gehen. — Das Endurteil über die höchst sorgfältige
Schrenck-Notzing'sche Untersuchung muß
daher doch leider wieder lauten : Non liquet !
R. Hennig.
Jentscb, Dr. Ernst, Julius Robert Mayer,
seine Krankheitsgeschichte und die
Geschichte seiner Entdeckung. Geb.4,8oM.
Berlin 1914 Julius Springer.
Erfahrungsgemäß ist bei geistigen Krankheiten,
die Anstaltsbehandlung notwendig machen, das
große Publikum leicht geneigt, für den Kranken
Partei zu nehmen. Um so leichter, wenn es sich
um eine geistig hervorragende Persönlichkeit
handelt, weil der Laie sich gewöhnlich ein ganz
falsches Bild von Geisteskrankheit macht und
glaubt, daß sie immer mit kompletter Verrückt-
heit oder Tollheit identisch sein müsse. So hat
sich auch um die geistige Erkrankung Jul. Robert
Mayer's, des genialen Entdeckers des mecha-
nischen Wärmeäquivalents ein Sagenkreis gebildet,
der fast ganz von medizinischen Laien herrührt und
den großen Kranken als das Opfer seiner verständnis-
losen Umgebung hinstellt. Dr. E. Jentsch hat
sich nun als Anwalt der Psychiatrie gegen diese
Art von Mayer's Biographen und ihre Nachbeter
gewandt und in einer in ihrer ruhigen Sach-
lichkeit vertrauenerweckenden , auf zuverlässiges
Ouellenmaterial gegründeten Untersuchung den
Fall „Mayer" vom irrenärztlichen Standpunkte
aus studiert. Er kommt etwa zu folgender Auf-
fassung: Auf der Grundlage einer manisch-depres-
siven Veranlagung, die sich in starkem Stimmungs-
wechsel, Wunderlichkeiten und maßlos heftigem
Temperament äußert und die ihn sein ganzes
Leben nicht verlassen hat, kommt es zu wieder-
holten Malen zu Ausbrüchen starker psychischer
und physischer Erregung maniakalischer Natur,
die in einer Anstalt überstanden werden. Mit
einer Ausnahme hat Mayer selber im Vorgefühl
des Anfalles die Anstalt freiwillig aufgesucht. Eine
Schädigung der intellektuellen Sphäre hat, abge-
sehen von den Höhepunkten der Manien, nicht
stattgefunden. Verf. erörtert dann, auf den Spuren
Lombrosos und Möbius, aber in durchaus
selbständiger Weise wandelnd, die Frage, inwie-
weit bei Mayer eine Beziehung zwischen seiner
genialen Leistung und seiner psychopathischen Ver-
anlagung anzunehmen sei. Seine interessanten Aus-
führungen über Genie und Irrsinn gipfeln im Falle
Mayer's etwa in dem Satze, daß seine subpatho-
logische Veranlagung, das mächtige Temperament,
die unbeugsame Hartnäckigkeit die Leistungen
seines Geistes disponierend begünstigt habe, daß
diese selbst aber die Resultate einer hohen intellek-
tuellen Veranlagung sind, die mit der Krankheit
nichts zu tun hat, ja die durch ihre akuten Aus-
brüche nur gehemmt wurde.
Wertvoll und lehrreich sind auch die histo-
rischen Erörterungen über die Entwicklung der
psychiatrischen Behandlungsmethoden im Verlauf
des vorigen Jahrhunderts, sowie besonders die
Entstchungs- und Entwicklungsgeschichte der
geistigen Großtat Rob. Mayer's (merkwürdiger-
weise der einzigen wissenschaftlichen Leistung
seines Lebens). Miehe.
Hirt, Dr. med. Walther, das Leben der an-
organischen Welt. Eine naturwissenschaft-
liche Skizze. München 1914. Ernst Reinhardt.
Der Versuch, den Verf. in dem vorliegenden
Buche macht, ist nicht neu. Man hat immer
wieder getrachtet, die Grenze zwischen anorga-
nischen und organischen Vorgängen zu verwischen.
Dieses dem instinktiven Empfinden absurd vor-
kommende Unterfangen erfahrt durch die moderne
wissenschaftlich-physiologische Forschung eine
scheinbare Unterstützung. Das, was diese nämlich
an den Organismen erforschen kann, muß sie mit
den Methoden und auf Grund der Kenntnisse der
Chemie und Physik tun. Es ist deshalb auch
nicht verwunderlich, daß man allerlei Ähnlichkeiten
und Analogien konstatieren kann, wenn man ein-
mal umgekehrt die anorganische Welt vom
Standpunkte der organischen zu betrachten Lust
hat. Das da ein Fintenerfolg herauskommt, ist
klar. Man setzt Physik und Chemie als Grund-
lage, um überhaupt etwas Gesetzmäßiges über die
Organismen zu finden und überträgt dann das,
was man auf diese Weise bekommt, auch auf
solche chemisch-physikalischen Vorgänge, die
nicht an organischen Wesen verlaufen. Jeder
Physiologe ist sich der begrenzten Leistungsfähig-
keit seiner Methodik gegenüber den letzten Ge-
382
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 24
heimnissen des Lebens bewußt. „Ins Innere der
Natur dringt kein erschaffner Geist, glückselig,
wem sie nur die äußere Schale weist", zitiert der
Dichter, den der Verf. leider nicht in diesem
Punkte, sondern in der Frage des Lebens von
Elfenbein als Gewährsmann anruft. Dabei ist es
eine ganz neue h>age, ob der Physiologe von
heute glaubt, daß bei fortschreitender Erkenntnis
schließlich einmal das ganze Leben sich in seine
chemischen und physikalischen Komponenten
auflösen lasse oder, ob er, was wohl die
philosophischeren unter ihnen tun, glaubt, daß
dieses eine über die Fähigkeiten der Naturwissen-
schaften hinausgehende Angelegenheit ist, die in
das Gebiet gewisser letzter erkenntnistheoretischer
Fragen gehört. Einerlei, wie er sich zu diesen
Fragen stellt, wird der Physiologe jeden Versuch,
die Äußerungen eines so unendlich zusammen-
gesetzten und trotz seiner Zusammengesetztheit
so geschlossen von innen heraus einheitlich re-
agierenden Systemes, wie es selbst das einfachste
Bakterium darstellt, mit irgendwelchen Erschei-
nungen an leblosen Massen in eine ernsthafte Pa-
rallele zu setzen, nur als roh bezeichnen. Daß
solche Betrachtungen aber deshalb ganz zu verwerfen
wären, soll damit nicht gesagt werden, ja, sie
können sogar, wie meinetwegen das Studium der
Kolloide lehrt, uns wesentlich klarere Vorstellungen
über gewisse Eigenheiten der lebendigen Substanz,
soweit wir sie experimentell zu isolieren trachten,
verschaffen und sehr wertvolle Anregungen zu
neuen Forschungen geben, aber „das Ganze geht
wiederum in euern Kopf so wenig wie in meinen"
(Goethe). Überhaupt, man kommt auf diesem
Wege gar zu leicht zu zwecklosen Spielereien. Es
kommt eben ganz darauf an, wie weit man den
Begriff „Leben" faßt, um dann alles irgend wün-
schenswerte in ihn hinein zu packen. Und da
man überhaupt keine vollständig eindeutige Defi-
nition des Lebens aufstellen kann, so kann man
ganz nach Wunsch verfahren. Zudem werden
in dem, übrigens mit vielem Fleiß zusammenge-
stellten Buche die physiologischen Vorgänge zu
oberflächlich betrachtet und die wissenschaftliche
Analyse fehlt. Es genügt hier, z. B. auf das Ka-
pitel „Atmung und Ernährung" hinzuweisen und
manche andere physiologische Grobheiten. Zu
weilen wird auch den Tatsachen Gewalt angetan
(Holz soll z. B. auch ohne Kontakt mit Plasma
wachsen). Miehe.
Ewald Banse, Illustrierte Länderkunde.
335 S. mit Tafeln und Karte. 8". Braunschweig,
Berlin, Hamburg, George Westermann 1914. —
Preis 5 Mk.
Ein interessanter und dankenswerter, im ganzen
wohlgelungener Versuch, die großen natürlichen
Einheiten der festen Erdoberfläche ohne Rück-
sicht auf die politischen Grenzen in engem Rahmen
und lesbarer Form weiteren Kreisen darzubieten.
Als eigentliches Lehrbuch für den Studierenden
der Geographie dürfte sich das Werk weniger
eignen wie zur Lektüre für die zahlreichen Freunde
der Geographie, einschließlich der Fachgeographen.
Die von dem Herausgeber bereits seit längerer
Zeit mit viel Temperament vertretene Anschau-
ung, daß die alte Einteilung der Erde in 5 Kon-
tinente unzweckmäßig sei, hat ihn dazu geführt,
dieser Länderkunde seine neue Abgrenzung der
Erdräume zugrunde zu legen. Es ist ihm gelungen,
eine Reihe von hervorragenden Fachleuten für
die Bearbeitung der einzelnen Teile zu gewinnen.
Da der Herausgeber selbst ein guter Kenner des
Orients ist, so hat er diesen, den er den ältesten
aller Erdteile nennt, selbst bearbeitet und hinter
einer kurzen allgemeinen Einleitung an die Spitze
der Länderbeschreibung gestellt. Es folgen dann
Europa von W. Schjerning, Groß-Sibirien,
d. h. das Russische Reich mit Ausnahme der Ost-
seeprovinzen und Finlands, von F. Zugmayer,
Mongolien und Hochasien von demselben Ver-
fasser, Ostasien von E. Tießen und Indien von
M. Holz mann. Als Groß-Australien wird dieser
Erdteil einschließlich der großen Inseln Neusee-
land und Neuguinea sowie der Inselschwärme
Mikronesiens und Polynesiens bezeichnet, ein außer-
ordentlich weit ausgedehntes Gebiet, das J. V.
D a n e s bearbeitet hat. Während Nordafrika etwa
nördlich vom 17. Grad nördlicher Breite zum
Orient gerechnet wird, hat der übrige, Nigritien
genannte Teil eine Darstellung durch K. S c h w a b e
gefunden. Ost-Südamerika und Andina (d. h.
West-Südamerika) und Mittelamerika schildert W.
Ule, Kordilleria (d. h. West-Nordamerika) und
Amerika (d. h. Ost-Nordamerika) A. Oppel. Der
Arktis und Antarktis schließlich sind zusammen
neun Seiten Text von O. Nordenskjöld ge-
widmet. 56 meist geschickt ausgewählte schöne
Abbildungen auf 17 Tafeln tragen viel zur Ver-
anschaulichung bei. Eine Umrisskarte, auf der
die von dem Herausgebeber abgegrenzten natür-
lichen Erdteile durch Flächenkolorit unterschieden
sind, beschließt das Werk. O. Baschin.
Neger, Prof. Dr. F. W., Die Laubhölzer.
Kurzgefaßte Beschreibung der in Mitteleuropa
einheimischen Bäume und Sträucher, sowie der
wichtigeren in Gärten gezogenen Laubholz-
pflanzen. Mit 74 Textabbild, und 6 Tabellen.
Sammlung Göschen 1914. — 90 Pf.
Das kleine Büchlein kann als ein sehr nütz-
liches Hilfsmittel bei der Bestimmung der ein-
heimischen Laubhölzer empfohlen werden. Recht
praktisch erscheinen mir die die Unterscheidung der
Arten erleichternden, hie und da eingestreuten
kleinen Tabellen, sowie ganz besonders die größe-
ren Tabellen am Schluß, zum Bestimmen i. der
wichtigsten Laubholzsamen und -fruchte, 2. der
wichtigeren Laubholzkeimlinge, 3. der wichtigeren
Laubbäume im Sommer- und 4. im Winterzustande
und schließlich 5. des Holzes nach mikroskopischen
Merkmalen. Ob nicht der Verf. später auch ein-
mal den Versuch machen könnte, für die wich-
N. F. XIII. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
383
tigsten VValdbäume eine Bestimmungstabelle nach
den Eigenheiten der Rinde und der Verzweigung
auszuarbeiten? Da diese Merkmale bei hohen
Räumen oft die allein oder hauptsächlich zugäng-
lichen sind, wäre eine solche Tabelle besonders
nützlich, abgesehen davon, daß sie auch sehr lehr-
reich in bezug auf die Physiognomik des Waldes
sein würde. Miehe.
Kleinere Mitteilungen.
Tuberkulose und Milch. Auf der letzten in
Berlin abgehaltenen Tuberkulose - Konferenz er-
stattete der Direktor der Veterinär-Abteilung im
Kaiserl. Gesundheitsamt Geheimrat v. Ostertag
einen umfassenden Bericht über die Frage, in
welchem Maße durch den Genuß von Tiermilch
Tuberkulose auf den Menschen übertragen werden
könne. ^) Er führte aus, daß schon der Umfang,
in dem Milch als Nahrungsmittel für Menschen
dient, zeige, um welch wichtige Frage es sich
hierbei handele. In Deutschland werden im Jahre
rund 252 Millionen Hektoliter Milch gewonnen,
von denen ^/,o als F"rischmilch, '^/jg als Butter und
nur ^/lo als Futtermilch für Tiere verwendet
werden. Die Bedeutung der Tiermilch als mensch-
liches Nahrungsmittel tritt erst recht hervor, wenn
man bedenkt, wie das Kind auf die Tiermilch als
ausschließliches oder doch an erster Stelle stehen-
des Nahrungsmittel angewiesen ist. Die Gefahr
scheint auf den ersten Blick eine sehr große zu
sein, sobald man in Betracht zieht, in wie hohem
Maße die Tuberkulose unter den Rindern der
Kulturstaaten verbreitet ist. Wir besitzen seit 1904
in Deutschland eine Statistik über die Ergebnisse
der amtlichen Fleischbeschau. Nach dieser sind
im Jahre 1910 als Beispiel 30,88 "/'(, der geschlach-
teten Kühe mit Tuberkulose behaftet gefunden
worden. Noch schlechter stellen sich die Zahlen,
wenn man die Ergebnisse der Tuberkulin-Prüfun-
gen heranzieht. Danach kann die Zahl der auf
Tuberkulin reagierenden, also höchstwahrschein-
lich an Tuberkulose erkrankten Tiere in Hoch-
zuchtbetrieben, in die häufig zu Verbesserungs-
zwecken fremde Tiere gebracht werden, 50 — 60 "/q,
selbst 90 "/q betragen. Eine Reihe von Unter-
suchungen sind über den Tuberkelbazillengehalt
der auf den Markt gebrachten Milch und Butter
angestellt worden. Die Häufigkeit der Funde von
Tuberkelbazillen in der Milch waren sehr ver-
schieden; sie schwankten von o — 61 "/^ der Proben.
Schon daraus ist zu schließen, daß bei der gleich-
mäßigen Verbreitung der Tuberkulose besondere
Umstände bei der Infektion der Milch mitsprechen
müssen. Bollinger war wohl der erste, der auf
den starken Tuberkelbazillengehalt und die hohe
Virulenz der aus tuberkulösen Eutern stammenden
Milch hingewiesen hat. v. Ostertag stellte fest,
daß außer den an Eutertuberkulose erkrankten
Kühen, die mit offener Lungen-, Gebär-
mutter- oder Darmtuberkulose behafteten
Tiere tuberkelbazillenhaltige Milch liefern. Jedoch
') Zeitschr. f. Fleisch- und Milchhygenie, 14. Jahrg., Heft
3. 4, 5. 6.
gelangen bei den letzteren die Bazillen gewisser-
maßen „von außen" in die Milch. Der Vortragende
berichtet dann in der eingehendsten Weise über
alle auf diesen Gebieten angestellten Untersuchun-
gen. In eigenen umfassenden Versuchen hat
V. Ostertag nachgewiesen, daß die Milch von
Tieren, die lediglich auf Tuberkulin reagieren, ohne
klinische Erscheinungen zu zeigen, frei von Tuber-
kelbazillen ist. Demnach darf man die Gefahr,
die dem Menschen durch die Milch tuberkulöser
Tiere droht, auch nicht überschätzen. Das Euter-
sekret der an Eutertuberkulose erkrankten Tiere
ist allerdings stets in hohem Maße virulent und
kann infolge seines hohen Gehalts an Tuberkel-
bazillen— 50 bis 100 000 Bazillen in i ccm Milch
sind nichts seltenes, bis zu i Million sind schätzungs-
weise festgestellt worden — auch die Sammel-
milch von vielen Kühen in hohem Maße infizieren.
Es wurden 0,1 — 0,3 "/g aller Kühe an Eutertuber-
kulose erkrankt gefunden. Diese Tiere also stellen
die Hauptgefahr für den Menschen dar. Danach
kommen die übrigen mit „offener" Tuberkulose
behafteten Rinder in Betracht. Da es feststeht,
daß die Tuberkulose der Haustiere durch Milch-
genuß übertragen werden kann, sind die oben ge-
nannten Formen der Tiertuberkulose zu bekämpfen,
in der Weise, wie es in dem neuen deutschen
Viehseuchengesetz vorgeschrieben ist (Änzeige-
pflicht, Tötungsbefugnis, Verkehrsbeschränkungen
für die Milch). Diese Maßnahmen sollten auch
auf die anderen Milchtiere, insbesondere die Ziegen
ausgedehnt werden. Bis allgemein eine regelmäßige
tierärztliche Kontrolle der Milchviehbestände zur
Einführung gelangt ist, sollte zur Verhütung der
Übertragungsgefahr die Milch vor dem Gebrauch
stets abgekocht werden. W. ligner.
Wendehals und Sperber. Am 16. April 1914
konnte ich in Treis a. d. Mosel eine Beobachtung
machen, zu der man nicht oft Gelegenheit hat.
Schon einige Tage vorher hatte mir der Wende-
hals mit dem gleichförmigen Frühlingsrufe wiep,
wiep, wiep . . . seine Ankunft in der schon älteren
Obstbaumpflanzung oberhalb Treis angemeldet.
An dem bezeichneten Tage beobachtete ich in
der Morgenfrühe zwei dieser Vögel, welche lebhaft
hin und her flogen. Bald trennten sie sich und
einer setzte sich in meiner Nähe quer auf einen
Ast und ließ fleißig seine charakteristische Stimme
erschallen. Das Gefieder war bei dieser Gelegen-
heit stark gelockert. Plötzlich wurde es glatt an-
gelegt, der Ruf ertönte nicht mehr und nach einer
schnell ausgeführten Viertelwendung saß er, wie
es ja für die Nachtschwalbe bekannt ist, so auf
384
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 24
dem Aste, daß die Längsrichtung des Vogels mit
der des Astes zusammenfiel. Gleichzeitig hörte
ich in der Nachbarschaft einen kräftigen Flügel-
schlag: ein Sperber hatte einen kleineren Vogel
verfehlt.
Längere Zeit wagte der dem Aste dicht an-
geschmiegte Wendehals sich nicht zu rühren.
Nahrungssuche und Neckereien waren unter diesen
Umständen zur Nebensache geworden. Das ganze
Streben des eingeschüchterten Vogels war jetzt
daraufgerichtet, nur nicht als Frühstück im Sperber-
magen zu verschwinden. Zur Erreichung dieses
Zieles war jedenfalls ein recht zweckmäßiges Ver-
fahren beobachtet worden.
Prof. Dr. Brockmeier, M.-Gladbach.
Über die Verwendung des Kupfers in dem
1898 gegründeten Kabelwerk Oberspree der
AEG gibt die Mai - Nummer der von dieser
Gesellschaft herausgegebenen Zeitung interessante
Auskünfte. Der Verbrauch betrug
1898/99 5 103 t
1904/05 14800 t
1909/10 22948 t
1912/13 33778 t
Die gesamte deutsche Kupferproduktion würde
nicht genügen, den Jahresbedarf des Kabelwerkes
zu decken. Das Kupfer wird aus Nordamerika
bezogen. Es wird als reines IVIetall und als Bronze
zu Leitungsdraht verarbeitet und in I^egierung mit
Zink als Messing zu Konstruktionsmaterial ver-
wendet. Die gesamte seit 1898 verarbeitete Kupfer-
menge beträgt über eine Viertelmillion Tonnen
(257631 t), das sind 29OOO cbm. Ein Kupfer-
würfel von 30 m Kantenlänge würde etwa das-
selbe Volumen haben. Seh.
Literatur.
Findlay, Dr. Ale.'iander, Der osmotische Druck, .'auto-
risierte deutsche Ausgabe von Dr. Guido Scivessy mit einer
Einführung zur deutschen Ausgabe von Wilh. Ostwald. Dresden
und Leipzig '14, Th. Steinljopff. 4 Mk.
Simroth, Prof. Dr. Heinrich, Die Pendulationstheorie.
2. Aufl. Berlin '14, Konrad Grethlein. Geb. 10 Mk.
gar nichts. Inzucht, wozu ja aucli die Verwandtenheiraten
gehören, ist bei gesundem Zuclitmaterial gänzlich unscliädlich.
Sonst wiire eine rationelle Tierzucht gar nicht möglich. Wie
hierbei, der mit Auslese verbundenen Inzucht, eine Ansamm-
lung wünschenswerter Merkmale statthat, lindet bei Verwen-
dung pathologischer Individuen zur gegenseitigen Befruchtung
natürlich eine Häufung pathologischer Merkmale statt. Daß
durch die Vereinigung zweier nahe verwandter Gameten an
und für sich, oder allein die Ursache zum Auftreten eines
]iathologischen Merkmales gegeben wäre, ist weder irgendwie
erwiesen, noch wahrscheinlich. Die Ursachen der Hemmungs-
mitibildungen sind wohl vielfach gar nicht in der Keimkonsli-
tuüon zu suchen, sondern irgendwelche während der Entwick-
lung auftretenden ungünstigen Bedingungen , ,, Entwicklungs-
störungen" rufen sie hervor. Petersen.
Anregungen und Antworten.
Herrn stud. rer. nat. G. v. B., Stuttgart. — Hasenscharte
und Wolfsrachen rechnet man in der Tat zu den „Degene-
rationsmerkmalen". Vgl. z. B. Ziehen, Psychiatrie (p. 212
und 213, 3. Aufl. 1908). Über die eigentlichen „Ursachen"
dieser, wie der meisten Hemmungsmißbildungen weiß man
Herrn G. v. B. in Stuttgart. Sind Hühnereier in ihrem
Innern bakterienfrei? Gemäß der Entstehung der Eier ist zu
erwarten, daß sie unter Umständen schon dann , wenn sie ge-
legt werden, von Mikroorganismen infiziert sind. Die Eiweiß-
hülle und die Schalen werden ja erst im Eileiter resp. im
Uterus gebildet, so daß falls einmal von der Kloake aus eine
Infektion dieser Organe stattgefunden hat, die eingedrungenen |
Mikroorganismen mit in das Ei eingeschlossen werden. Wenn
nun solche Eindringlinge oder wie man besser sagen könnte
Gefangene sich in der Substanz des Eies zu entwickeln ver-
mögen, verdirbt dies nach einiger Zvit. Wahrscheinlich wer-
den die meisten faulen Eier auf diese Weise faul. Die Art
des Fäulnisvorganges kann verschieden sein. In den meisten
Fällen werden die Eier in eine mißfarbene Jauche verwandelt,
wobei viel Gas, hauptsächlich H„S, gebildet wird, oft so viel,
daß das Ei platzt. In anderen werden sie breiig, ockergelb
und riechen stark nach menschlichen Fäces. Als Ursachen
dieser Zersetzungsvorgänge werden verschiedene Bakterien an-
gegeben. Es können aber auch Schimmelpilze im Ei sich
entwickeln. Man trifft dann lokale, verfärbte Herde unter
der Schale. Der Geruch ist in diesem Falle weniger heftig.
(Vgl. Lafar, Techn. Mykologie, 2. Aufl., Bd. 111, p. 100 ff.
und Bd. IV, p. 274.)
Die Infektion kann aber auch nachträglich am fertigen,
gelegten Ei erfolgen, da es durch verschiedene Versuche (vgl.
z.B. Lind, Jahrb. f. wissensch. Botanik, Bd. 32, 1898, sowie
Buller, Leipziger phil. Dissertation 1899) erwiesen wurde,
daß Pilze und Bakterien durch die bekanntermaßen poröse
Eischale hindurchzudiingen vermögen. Man wird aber an-
nehmen können, daß diese Art der Infektion nur bei älteren,
feucht und dumpf gelagerten Eiern eintritt, da für gewöhnlich
die Oberfläche der Schale zu trocken ist, als daß die Mikroben
auf ihr Fuß zu fassen vermöchten. Immerhin besteht bei
Eiern, die längere Zeit lagern müssen, diese Gefahr durchaus.
Man sucht deshalb solche Eier dadurch zu konservieren , dafl
man entweder ihre Oberfläche imprägniert, z. B. mit Fett,
Vaseline, Paraffin, Wasserglas, Kollodium, oder sie ganz in
antiseptische Flüssigkeiten eintaucht (wie Kalkwasser, Wasser-
glas), resp. mit Desinfektionsmitteln bestreicht. Ob während
des Brütens eine Infektion stattfinden kann, ist mir nicht be-
kannt, auch scheint die Frage bisher noch nicht erörtert zu
sein, ob für erfolgreiche Ausbreitung der auf diese oder jene
Weise in das Ei gelangten Keime etwa die Eizelle tot sein
muß, was ja nicht ganz undenkbar wäre. Auch wäre zu be-
rücksichtigen, daß die hohe Bruttemperatur, die für sehr viele
Bakterien bereits ihre obere Wachstumsgrenze darstellt, die
Infektion erschwert. Miche.
Inhalt; Kcyl; Methoden zur Untersuchung des „Sehens" der Tiere. Babak: Zur Frage der Atemregulation in der Tier-
reihe. . — Einzelberichte: Buchwald: Beugung des Lichtes an Raumgittern. Eckmann: Problem des Vogelzuges.
011 ive: Elemente der bekannten Monde. Pickering: Veränderungen am Mondkrater Eimmart. Aurenche und
Loncheux: Die Abweichungen des Stoffwechsels von der Norm bei übermäßiger Muskelarbeit. Galeotti: Die Ein-
wirkung kolloidaler Metalle auf Zellen. — Bücherbesprechungen: Lerch; Geologische Wanderungen in der Um-
gegend von Hannover. Schrenck-Notzing: Der Kampf um die Materialisationsphänomene. Jentsch: Julius
Robert Mayer, seine Krankheitsgeschichte und die Geschichte seiner Entdeckung. Hirt: Das Leben der anorganischen
Welt. Banse: Illustrierte Länderkunde. Neger: Die Laubhölzer. — Kleinere Mitteilungen : ligner: Tuberkulose
und Milch. Brockmeier: Wendehals und Sperber. Schutt: Verwendung des Kupfers. — Literatur: Liste. —
Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H.Mi ehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 2g. Band
Sonntag, den 21. Juni 1914.
Nummer 25.
[Nachdruck verboten.]
Es ist eine alte Erfahrung, daß nicht alle Pflan-
zen Samen liefern, welche gleich nach der Reife
keimen. Wenn wir einen ausgereiften Kohlsamen
der Schote entnehmen und ihn sogleich wieder
zur Keimung in die Erde legen, so wird er, wenn
nur die übrigen notwendigen Keimungsbedingun-
gen vorhanden sind, alsbald wieder auskeimen.
in sehr vielen anderen Fällen ist das aber nicht
der Fall. Wir kennen aus unserer Kinderzeit alle
Beispiele von Kirschkernen, die wir in den Boden
steckten und welche dann lange Zeit zu unserem
eigenen Leidwesen ungekeimt im Boden verblieben.
Endlich aber lieferten sie doch nach langer Zeit
kleine Pflänzchen. Aber auch der Gemüsezijchter
weiß, daß der Same der Möhre, Daucus Carola,
lange im Boden liegt, ehe er keimt, während Erbsen
bei günstiger Witterung sehr schnell aufgehen.
Und wie mancher Blumenfreund ist nicht auf eine
harte Probe gestellt worden, wenn Blumensamen
wie Canna, Primula, manche Phloxarten usw. nicht
aufgehen wollten. Dabei erhielten sich aber alle
diese Samen völlig gesund und frisch, und wenn
der Züchter nur Geduld genug hatte, dann war
er endlich auch noch in der Lage, die ausgelegten
Samen keimen zu sehen. Wir wollen uns im
folgenden derartige Fälle von Keimverzug etwas
näher betrachten.
Da sind einmal solche Samen zu nennen, welche
trotz günstiger Keimungsbedingungen durch eine
oder auch mehrere Vegetationsperioden hindurch
im Boden liegen können, ohne überhaupt Keim-
linge zu ergeben. So berichtet z.B. Tittmann
im Jahre 1821, daß die Früchte der Rosen andert-
halb Jahre im Boden liegen, ehe die Keimung
der eingeschlossenen Samen erfolgt. Und Nobbe
(1876, S. 352) teilt mit, daß die Saalkörner der
Eibe, der Esche, Kirsche, des Weißdornes, über-
haupt der Pomaceen, Amygdaleen, mancher Palmen
regelmäßig eine, bisweilen zwei Vegetationsperioden
über liegen. „Wenn hier im Jahre der Aussaat
trotz günstiger Witterung keine Pflanze erscheint,
ist die Hoffnung nicht aufzugeben, der nächste
Lenz werde alles einbringen, wenn wir sonst des
Ursprungs und der Aufbewahrung des Saatgutes
sicher sind." Bei diesen Samen ist also der Keim-
Über Keimverzug.
Von Ernst Lehmann.
Verzug sehr ausgesprochen. Und so verhalten sich
noch die Samen vieler unserer Waldbäume, vgl.
dazu Kienitz, Forstl. Blätter (Grunert und Borg-
greve, l(j, 1886, S. 1—6).
In vielen anderen Fällen werden nicht alle
Samen einer Ernte gleichmäßig vom Keimverzug
betroffen. Es keimen vielmehr einige Samen schon
bald nach der Ernte, andere erst im darauffolgen-
den Jahre, noch andere noch später und so kann
sich die Keimung solcher Samen über viele Jahre
erstrecken. Schon 1834 hat Duvernoy hierauf
für eine Anzahl von Monokotylensamen hinge-
wiesen. Er zeigte z. B., daß Samen der Herbst-
zeillose (Colchicum autumnale), welche bald nach
der Reife in Töpfe gesät werden, die den Winter
über in einem mäßig geheizten Zimmer gehalten
wurden, zum nächsten Frühjahr erst in einigen
wenigen Exemplaren keimten; im darauffolgen-
den Frühjahre erschienen wieder einige Keim-
linge und wieder andere erst im dritten Jahre.
Dabei war merkwürdig, daß diese Samen ebenso
wie diejenigen vieler anderer Monokotylen gerade
immer — trotz dauernd ungefähr gleichmäßiger
Wärme — im Frühjahr keimten. Auch durch
neuere Untersuchungen, z. B. der dänischen Samen-
kontrollstation, hat sich das für eine Reihe von
Samen immer wieder gezeigt. Du vern oy wollte
dies durch einen inneren periodischen Trieb er-
klären; Nobbe wehrte sich dagegen sehr lebhaft.
Dennoch haben wir sicher heute für viele dieser
Samen noch keinen ausreichenden Grund, warum
sie immer im Frühjahr auskeimen.
Besonders eingehende Untersuchungen mit
langsam keimenden Samen haben daim Nobbe
und Hänlein (1877) angeslelll. Sie geben z.B.
für Kleesamen folgende Keimverhällnisse an : Es
quollen von 64 bei 18—20° C 10 Tage lang feucht
gehaltenen Körnern
am 12., 14., 63., 75-. 79-. 167., 18S., 209., 247., 292. Tage
111221 3 2 I 2 Samen.
Aus einer größeren Anzahl untersuchter Un-
kraulsamen seien folgende hierhergehörige, beson-
ders instruktive Fälle zahlenmäßig angeführt. Es
keimten nach
3
8
•5
20
30
40
50
70
100
200
300
400
500
640
724
Tagen
Apera spica Venti
—
37
31
27
39
—
10
2
—
22
I
1
Scleranthus annus
— 88
50
5
63-4
3
3
—
—
15
I
—
Samen
Myosotis intermedia
-
.58
■32
3
—
I
38
5
-
4
—
-
2Ü
-
—
386
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 25
Sehr auffälüg sind diese Nachkeimungen auch
bei Tithymalus Cyparissias, der Cypressenwolfs-
milch, wo Winkler zeigte, daß sie innerhalb
4 — 7 Jahren zustande kommen.
Seit den Jahren 1898/99 durch das ganze erste
Dezennium des jetzigen Jahrhunderts sind dann
an der dänischen Samenkontrollstation in Kopen-
hagen mit sehr vielei\ Samen Keimungsversuche
angestellt worden, welche immer neue Beispiele
für solche langsame Keimung erbrachten.
Schließlich kennen wir noch andere Samen,
welche zwar nicht direkt nach der Reife, aber
doch innerhalb ein oder weniger Monate nach
derselben vollständig auskeimen. Hierfiir
brauche ich keine besonderen Beispiele anzuführen,
denn so verhalten sich sehr zahlreiche Samen.
Dieser Keimverzug ist naturgemäß praktisch
von außerordentlicher Bedeutung. Der Landwirt,
Forstmann, Gärtner, wie jeder, der sich mit der
Anzucht von Sämlingen beschäftigt, will einmal
wissen, in wie langer Zeit er nach der Aussaat
die Keimung seiner Samen erwarten kann. Dann
aber ist es noch von viel größerer Bedeutung,
daß er erfährt, von einem wie großen Prozentsatz
er innerhalb einer bestimmten Zeit Keimlinge er-
zielen kann. Denn von diesem Prozentsatz an
Keimlingen hängt für ihn der Wert seiner Samen-
probe ab. Dieser Prozentsatz wird im Samen-
handel vom Händler für die zu verkaufende Samen-
menge angegeben und, soweit es der Käufer ver-
langt, von einer staatlichen Samenkontrollstation
beglaubigt. Für diese Samenprüfung ist aber, wie
leicht ersichtlich, eine sichere Kenntnis des Keim-
verzugs unumgänglich notwendig. Und so ging
denn auch die Erforschung dieses Keimverzugs
von Samenprüfungsanstalten aus, während sich
heute auch die theoretische Pflanzenphysiologie
der Aufklärung dieses interessanten Vorganges
angenommen hat.
Nachdem einmal die Tatsache des Keimver-
zuges festgestellt war, handelte es sich vor allem
um die Beantwortung der Frage, auf welche Ur-
sachen das Zustandekommen des Keimverzuges
zurückzuführen ist. Für eine ganze Reihe von
Phallen sind diese Ursachen heute in befriedigender
Weise aufgehellt, während andere noch der Auf-
klärung harren.
Man könnte nun vielleicht daran denken, daß un-
günstige äußere Bedingungen den Keimverzug be-
wirken. Wir wollen von der Erörterung solcher
Fälle hier einstweilen absehen und annehmen, der
Same sei unter für seine Keimung durchaus gün-
stige Bedingungen verbracht worden. Unter solchen
Umständen lägen aber noch zweierlei prinzipiell
ganz verschiedene Möglichkeiten vor, welche den
Keimverzug verursachen könnten. Wir können
uns nämlich dann das keimungshemmende Prinzip
entweder in der Samenschale liegend denken,
oder es käme das Sameninnere in Frage. Betrach-
ten wir zuerst den Einfluß der Samenschale.
Es ist einmal sehr wohl denkbar, daß Samen,
welche mit einer sehr harten und dicken Schale
umgeben sind, oder welche sogar noch von einer
festen P'ruchtschaie umschlossen werden, dem Aus-
tritt des Würzelchens und der Plumula erheblichen
Widerstand in den Weg setzen. Das kommt natür-
lich nur für solche hartschalige Samen in Frage,
welche nicht über eine besonders ausgebildete
Durchtrittszone für das Würzelchen verfügen, wie
das oftmals der Fall ist.
Dann aber kann die harte Schale auch die
Quellung stark hindern und damit die Aufnahme
von Wasser und Sauerstoff hemmen. Wir wollen
nun einmal einige ältere und neuere Untersu-
chungen betrachten, welche sich mit dem Keim-
verzug bei solchen hartschaligen Samen beschäf-
tigt haben.
Hart- und dickschalige Samen, welche Keim-
verzug aufweisen, kommen beispielsweise bei Koni-
feren und Leguminosen häufig vor. Schon Nobbe,
der bekannte Tharandter Keimungsforscher und
Begründer der deutschen Samenkontrolle beschäf-
tigte sich mit der Untersuchung dieser Hartschalig-
keit. Wir sahen ja, daß er gemeinsam mit Hän-
lein gezeigt hatte, daß Leguminosensamen ein
teilweise sehr erheblicher Keimverzug zukommt.
Gerade von diesen Leguminosensamen konnte nun
aber gezeigt werden, daß hier die Keimungs-
hemmung in der Samenschale liegt. Die Samen-
schale der Leguminosen ist von sehr vielen For-
schern eingehend untersucht worden. Wir können
auf die Erörterung dieser Untersuchungen hier nicht
weiter eingehen. Die Schale besteht sehr häufig
aus einer Reihe sehr schwer wasserdurchlässiger
Schichten. Das Innere des Samens bleibt in vielen
Fällen auch nach jahrelangem Quellen in Wasser
noch völlig trocken. Der Same keimt nicht. Der
Prozentsatz dieser nicht bzw. langsam keimenden —
harten — Samen ist in einzelnen Samenproben
sehr verschieden, aber oftmals recht hoch. Wenn
aber die geringste Verletzung, ein Riß oder etwas
derartiges der Samenschale zugefügt wird, wodurch
das Wasser ins Innere vordringen kann, dann be-
ginnt der Same alsbald zu quellen und zu keimen.
Das konnte von Nobbe für Klee, Medicago,
Acacia, Robinia und viele andere Papilionaceen
festgestellt werden.
Diese Erkenntnis wird in der Praxis heute viel-
fach benutzt, indem man besonders Kleesämereien
einem Ritzverfahren unterwirft, wodurch die be-
treffenden Sämereien mit kleinen, auch mikro-
skopisch kaum wahrnehmbaren Ritzen versehen
werden, die aber genügen, um dem Wasser den
Zugang zum Sameninnern zu ermöglichen und
so die Keimung auch der harten Samen zustande
zu bringen. Von verschiedenen Seiten sind allerlei
Ritzmaschinen zu diesem Zwecke konstruiert worden,
welche von P u c h n e r ausführlich beschrieben
wurden.
Es ist aber nicht nur möglich, diese Hart-
schaligkeit und damit den Keimverzug solcher
Samen auf mechanischem Wege zu beseitigen.
Auch auf chemischem Wege gelingt dies in vielen
Fällen, wie von verschiedenen Forschern — es
N. F. XIII. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
387
seien vor allem genannt Todaro, Wübbena,
Miltner — gezeigt wurde. Vor allem eine Be-
handlung mit konzentrierter Schwefelsäure wäh-
rend verschieden langer, ungefähr eine Stunde
betragender Zeit hat sich hierfür geeignet erwieseji.
Durch diese Behandlung werden die meisten harten
Samen der Leguminosen keimfähig gemacht. Die
Wirkung der Schwefelsäure beruht in diesen Fällen
darauf, daß die für Wasser schwer durchlässigen
äußeren Schichten, nach Hiltner besonders die
sogenannte Lichtschicht, abgebeizt werden und
dadurch dem Wasser ungehinderter Eintritt ver-
schafft wird. Auch eine Behandlung solcher harter
Samen mit kochendem Wasser führt zu dem Er-
gebnis, daß die Samen ihre Keimunfähigkeit ver-
lieren. Nobbe (S. 229) hatte früher angenommen,
daß eine Sprengung der Samenschale verursacht
wird; Lakon zeigt neuerdings für Gleditschia,
daß diese Behandlung zu gesteigerter Imbibitions-
fähigkeit der Samenschale führt.
In ganz spezieller Weise wurde der Keimverzug
von Glcditsdua fnacaiithos neuerdings von Ver-
schaffelt untersucht. Derselbe brachte diese harten
Samen statt in Wasser in Äthylalkohol. Wenn man
sie dort einige Stunden beläßt und dann in Wasser
überführt, beginnen sie alsbald zu quellen. Ver-
schaffelt zeigt nun, daß diese Wirkung des
Alkohols darauf zurückzuführen ist, daß der Alkohol
in feine Spalten der Samenschale eindringt, in
welche das Wasser nicht einzudringen vermag.
Wenn der Alkohol aber einmal vorangegangen
ist, kann sich das Wasser auf dem Wege der
Diffusion mit dem Alkohol vermischen und so
ebenfalls in diese feinen Spalten gelangen. Übrigens
beruht dieser Einfluß des Alkohols in diesem Falle
aber nicht etwa darauf, daß er verschließende
Substanzen aus der Wand herauslöst, denn wenn
man mit Alkohol behandelte Samen trocknet und
dann das Wasser etwa direkt eindringen lassen
möchte, so gelingt das nicht. Es müßte das aber
doch dann der Fall sein, wenn der Alkohol hin-
dernde Stoffe aus der Samenschale herausgelöst
hätte.
Recht interessant sind sodann die Feststellungen,
Wübbenas und Hiltner s, daß die Hartschalig-
keit von äußeren Bedingungen stark beeinflußbar
ist. So erhöht z. B. starke trockene Erwärmung
die Hartschaligkeit von Lupinen, Kleesamen und
anderen nach Hiltner erheblich. Zu demselben
Ergebnis führte Trocknung der Samen über
Schwefelsäure.
Schon Nobbe (S. 364) wollte die Ursache des
Keimverzugs von Koniferensamen — er spricht
von der Zirbelkiefer — auch in der harten Samen-
schale suchen. Hiltner und K i n z e 1 vertraten
diese Ansicht dann weiterhin für eine ganze Reihe
anderer Koniferensamen, deren Keimverzug sich
ebenfalls durch Abbeizen mit konzentrierter
Schwefelsäure beseitigen lassen soll. Neuerdings
aber kommt Lakon zu dem Ergebnis, daß bei
verschiedenen Kiefernarten (Pinus Strobus, Cembra
usw.J die Ursache des Keimverzuges nicht in der
harten Schale zu suchen sei, sondern vielmehr im
Sameninnern. Dagegen werde der Keimverzug
der Samen von Taxus baccata durch die Hart-
schaligkeit verursacht.
Von besonderem Interesse sind dann die eben-
falls in neuerer Zeit besonders lebhaft untersuchten
verschiedenartigen Früchte oder Samen e i n
und derselben Spezies. Wir kennen be-
sonders unter Kompositen, Chenopodiaceen und
Kruziferen nicht wenige Arten, welche zweierlei
verschiedene Samen ausbilden ; es sei beispiels-
weise an unsere bekannte Ringelblume (Calendula
officinalis) erinnert. Die umschließenden Frucht-
oder Samenhüllen sind bei den beiden verschiede-
nen Fruchtsorten dieser Arten anders ausgebildet
und hemmen offenbar einmal den Wasserzutritt,
dann aber besonders den Sauerstoffzutritt in ver-
schiedenem Maße. Es wurde von Crocker
für die verschiedenartigen Früchte von Xanthium,
dann neuerdings von Becker für sehr vielerlei
Kompositen, Chenopodiaceen und Kruziferenfrüchte
gezeigt, daß der Keimverzug der minder günstig
gestellten Früchte dieser Arten durch den Mangel
an Sauerstoffzutritt in erster Linie bedingt wird.
In einem anderen Falle, nämlich dem der weit-
bekannten Pflanze Chenopodium album, deren
Samendimorphie von Baar beschrieben wird, stellt
dieser Autor fest, daß hier nicht der geringe
Sauerstoffzutritt, sondern die durch die dicke Schale
veranlaßte schwächere Wasseraufnahme den Keim-
verzug veranlaßt.
Haben wir bisher eine Reihe von Fällen be-
trachtet, bei denen, sei es in der oder jener Weise,
die Samenschale den Keimvc^zug verursacht, so
wenden wir uns nun zu anderen, wo zweifelsohne
das hemmende Prinzip im Innern des Samens zu
suchen ist.
Da kennen wir vor allem einmal eine Anzahl
von Samen, welche zur Zeit des Abfalls wohl
äußerlich den Eindruck völliger Reife hervorrufen,
innerlich aber schon deswegen keimunfähig sind,
weil der Embryo entweder noch gar nicht geglie-
dert oder jedenfalls noch nicht genugsam heran-
gewachsen ist, um auszukeimen.
Solcher Fälle kennen wir schon seit langem
eine ganze Reihe. Goebel stellt deren in seiner
Organographie verschiedene zusammen. Man kann
unter diesen Samen einmal solche unterscheiden,
welche ihren Embryo während der ganzen Ruhe-
periode der Samen nicht weiter entwickeln. Es han-
delt sich hier in der Regel um Parasiten, Saprophyten
und in besonderer Weise organisierte Pflanzen,
auf deren Verhalten wir weiter nicht eingehen
wollen.
Dagegen kennen wir viele andere Pflanzen,
bei welchen der Embryo zur Zeit des Samen-
abfalles noch ungegliedert ist, später aber, während
der äußerlichen scheinbaren Ruhe — also losgelöst
von der Mutterpflanze — geht im Samen die
Weiterentwicklung des Embryos vonstatten. Zu den
bekanntesten Beispielen hierfür zählen die häufig
vorkommenden Frühlingsblumen, Eranthis hiemaüs
388
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 25
und Ficaria verna, in deren reif abgefallenen
Samen der Embryo noch ohne jede Differenzierung
ist, noch kein Würzelchen und keine Kotyledonen
erkennen läßt. Bis zum nächsten Frühjahr aber
ist der Embryo auf Kosten des Reservestoffmate-
rials des Samens herangewachsen und ist dann
fähig auszukeimen, während vorher auch die gün-
stigsten Keimungsbedingungen den Samen eben
nicht zur Keimung hätten bewegen können, aus
dem sehr einfachen Grunde, weil der Embryo
noch nicht in differenziertem, keimfähigen Zustande
sich befand. So verhält es sich noch besonders
bei einer Reihe weiterer Frülilingspflanzen. Es
erweist sich das für diese auch als durchaus
zweckmäßig. Sie keimen so erst nach längerer
Ruhe aus, und zwar gerade daim , wenn es für
sie besonders vorteilhaft ist, nämlich im Frühling.
Ein nicht ganz so extremer Fall unvollständiger
Reife, welcher uns zu den weiter zu besprechen-
den Fällen von Keimverzug hinüberleitet, wurde
neuerdings von Lakon beschiieben. Derselbe
zeigte nämlich, daß Eschensamen nach dem Ab-
fallen wohl schon einen ausgebildeten Embryo
aufweisen; derselbe macht aber vor dem defini-
tiven Keimen erst eine Vorkeimung innerhalb der
Samenschale und des Endosperms auf Kosten des
letzteren durch. Erst wenn er sich so vergrößert
hat, wird die Schale gesprengt und das Würzel-
chen tritt aus.
Ganz anders liegen nun aber wieder die Ver-
hältnisse bei Samen, bei denen der Keimling völlig
entwickelt ist, bei denen auch die Samenschale
dem Elintritt des Wassers kein Hindernis entgegen-
setzt, die aber dennoch, trotzdem das Sameninnere
im Keimbett von Wasser durchtränkt ist, lange
nicht zur Keimung gelangen. Schon Nobbe und
H ä n 1 e i n (S. 80) kannten mancherlei solche
Samen. Sie wußten aber gar nichts damit anzu-
fangen. ,,Die beharrliche Regungslosigkeit des
wasserdurchtränkten Embryo steht uns zurzeit als
ein Rätsel entgegen. Wir müssen uns einstweilen
begnügen, die Tatsachen zu registrieren", schreiben
sie hierüber.
Die Neuzeit beginnt uns aber auch für diese
Fälle einen Aufschluß zu erbringen. Es ist ein-
mal kaum in Abrede zu stellen, daß unter solche
Fälle früher durchaus unverständlichen Keimver-
zugs eine ganze Menge von Samen gehören, für
die heute sicher festgestellt ist, daß die damals
verwendeten Keimungsbedingungen doch nicht
zur Keimung genügten. Die Neuzeit hat gezeigt,
daß das Licht eine früher ungeahnte Rolle bei der
Keimung vieler Samen spielt. Legte man solche
Samen nun bei bestimmten Temperaturen ins
Dunkle, so keimten sie eben entweder nicht oder
nur sehr langsam und man hatte einen vermeint-
lichen Keimverzug vor sich. Temperaturwechsel,
Lichtwechsel, wechselweises Befeuchten und Aus-
trocknen sind ebenfalls Faktoren, deren Bedeutung
man erst in neuester Zeit vollauf zu würdigen be-
ginnt.
Weiter aber erscheint von besonderer Bedeu-
tung für den Keimverzug mancherlei Samen die
Wirkung von Säuren in sehr schwacher Konzen-
tration. So hat F"ischer (1906) gezeigt, daß
Wasserpflanzensamen, welche in reinem Wasser
durch Jahre hindurch nicht zur Keimung zu be-
wegen waren, nach Behandlung mit schwachen
Säuren innerhalb weniger Tage auskeimten. Wenn
C r o c k e r diese Säurewirkung nicht auf das Samen-
innere, sondern auf die Schale beziehen will, so
sind doch in neuerer Zeit durch Promsy, den
Verfasser dieser Zeilen, und O t ten wälder zahl-
reiche Fälle bekannt geworden, wo kaum noch ein
Zweifel obwalten kann, daß die Säurewirkung sich
auf das Sameninnere geltend macht. Um Ver-
wechslungen etwa mit der oben beschriebenen
beizenden Wirkung konzentrierter Schwefelsäure
auf die Samenschale von harten Leguminosensamen
durchaus auszuschließen, sei hervorgehoben, daß
die Säurewirkungen, von denen hier die Rede ist,
von Salzsäure, Salpetersäure und anderen ausgeübt
wird, wobei aber die Säuren teilweise nur in mole-
kularen Verdünnungen von 0,0I oder ähnlichem
Gehalt ausgeübt werden. Diese Säurewirkungen
sind wohl als kataly tische aufzufassen, in der Art
etwa, daß sie den L^msatz der ReservestofTe be-
schleunigen und damit in die Tätigkeit der En-
zyme eingreifen oder die Lebenstätigkeit des Em-
bryo anregen, während die starken Säuren natür-
lich auf den Embiyo selbst sofort tödlich wirken
würden.
In diese Vorgänge leuchtet eine jüngst er-
schienene Arbeit von Eckerson in recht inter-
essanter Weise hinein. Schon 1912 hatten Davis
und Rose gezeigt, daß die Samen von Crataegus
mollis innerhalb der intakten Fruchtschale ein
oder mehrere Jahre zur Keimung brauchen. Wenn
die Fruchtschale aber beseitigt wird, ist die Zeit
der Nachreife bei 5 — 6" C auf 90—96 Tage
abgekürzt. Wird dann auch noch die Samenschale
beseitigt, so wird die Nachreifezeit dennoch nicht
völlig aufgehoben, sie beträgt immer noch ungefähr
28 Tage. Dieser Keimverzug muß also sicher auf
Ursachen im Sameninnern zurückgeführt wei'den.
Eckerson versucht deshalb auf mikrochemischem
Wege die Veränderungen festzustellen, welche vom
reifen lufttrockenen Samen bis zur Keimung im
Embryo vor sich gehen.
Eckerson zeigte auf diese Weise, daß der
Embryo zuerst Fette und Öle, dazu Lezithin ent-
hält. Weder Zucker noch Stärke ist derzeit darin
enthalten. Die Reaktion der Kotyledonen ist sauer,
das Hypokotyl aber ist schwach basisch. Die Ab-
sorptionskapazität des Hypokotyls für Wasser ist
geringer als 25^/0 des Frischgewichts.
Während der Nachreife beginnen nun bald
Umsetzungen im Embryo. Dieselben nehmen
ihren Anfang mit Erhöhung des Säuregehaltes.
Damit Hand in Hand geht eine Steigerung der
Wasserabsorptionskapazität und eine Zunahme der
Aktivität von Katalase und Peroxydase.
Gegen Ende der Nachreifeperiode tritt dann eine
plötzliche Zunahme im Säuregehalt auf, desgleichen
N. F. XIII. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
389;
wieder in der Absorptionskapazität. Jetzt tritt
auch zuerst Oxydase auf. So stehen die Verhält-
nisse ungefähr, wenn das Hypokotyl 3 — 5 cm lang
ist. Zu dieser Zeit zeigt sich zugleich mit einer
Verminderung des Fettes ein erstes Auftreten von
Zucker.
All diese Vorgänge und Umsetzungen können
nun erheblich beschleunigt werden, wenn die
Samen mit verdünnten Säuren behandelt werden.
Salzsäure, Buttersäure und Essigsäure werden dazu
mit Erfolg angewandt.
Hier sehen wir also als Ursache des Keim-
verzugs offenbar Stoffwechselverhältnisse vorliegen.
Erst wenn die genügende Menge Säuren oder
auch anderer Substanzen gebildet ist, kann der
Samen aus seiner Keimruhe erwachen und sich
zum Keimen anschicken. Jedenfalls wird eine
genaue chemische Untersuchung der Samen von
der Zeit des Abfalls bis zur Keimung noch mancher-
lei solche interessante chemische Umsetzungsvor-
gänge erbringen, die dann auf das Problem des
Keimverzugs weiter klärend wirken werden.
Ehe wir unseren Gegenstand verlassen, sei nur
ganz kurz noch auf die biologische Bedeutung
solcher Nachreife hingewiesen. Es ist nicht zu
verkennen, und ist auch schon seit langem ge-
würdigt worden, daß diese Bedeutung eine recht
große ist. Wenn Samen jahrelang ungekeimt
im Boden liegen können, ohne abzusterben, so hat
das, wie leicht einzusehen, eine sehr große Be-
deutung für die Erhaltung der Art an diesem
Platze. Denn wenn auch in dem einen Jahre die
Bedingungen zum Fortkommen dieser Art nicht
günstig waren, so sind sie es vielleicht im folgen-
den oder einem späteren. Hätte die Pflanze gleich
im ersten Jahre alle ihre Samen keimen lassen,
so würde sie die Vorteile im folgenden nicht aus-
nutzen können. Wir können die Wirkung solchen
Keimverzugs am besten an unseren Unkräutern
erkennen, welche oft jahrelang trotz sorgfältigsten
Ausjätens, nicht zu vertreiben sind, weil eben
immer wieder neue noch im Boden verbliebene,
ungekeimte Samen in den folgenden Jahren aus-
keimen.
Oder man denke, alle Samen einer Art würden
schon durch geringe Erwärmung zur Keimung
veranlaßt, könnten aber unseren Winter nicht über-
stehen. Die betreffende Art wäre dann rettungs
los dem Untergange in unseren Klimaten geweiht.
So ließe sich die biologische Bedeutung des Keim-
verzugs noch an manchem Beispiel klarlegen.
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[Nachdruck verboten.]
Das Naniioplaiikton.
Von H. Bachmann.
Die Planktonforschung hat hauptsächlich drei
Fragen zu erledigen: 1. Welches sind die Lebe-
wesen, die in einem Gewässer schwebend oder
frei schwimmend vorkommen? Die Beantwortung
dieser Frage führte zu den zahlreichen F'anglisten,
die in den letzten Jahrzehnten publiziert wurden.
Jede Fangmethode ergab ihre eigenen Resultate,
die eine oberflächlichere, gröbere, die andere ein-
gehendere, feinere. Der Gebrauch der feinma-
schigen Seidennetze (frühere Nr. 20, jetzt Nr. 25)
schien genügend, um über die Zusammensetzung
der Bevölkerung eines Gewässers Aufschluß zu er-
halten.
2. Welches ist die Lebensgeschichte der ein-
390
Naturwissenschaftliche Woch enschrift.
N. F. XIII. Nr. 25
zelnen Planktonorganismen ? Wir sind noch weit
entfernt, den Lebenslauf auch nur der häufigsten
Planktonten zu schildern. Immerhin haben die
Planktologen jahrelange Beobachtungen einem ein
zelnen Gewässer zugewendet und dadurch peri-
odische Veränderungen in der Population festgestellt,
die von großem Interesse sind. Durch Stufen-
fänge, Schließnetze, Pumpen werden die ver-
schiedensten Tiefenzonen auf ihre Bewohner hin
untersucht. Man beobachtete temporäre morpho-
logische Veränderungen einzelner Planktonten und
suchte die dabei wirkenden Ursachen dadurch
aufzudecken, daß man die physikalischen und
chemischen Verhältnisse der Gewässer studierte
und letztere in Verbindung zu bringen trachtete
mit den vorerwähnten Veränderungen der Orga-
nismen. Auch das Experiment bemächtigte sich
der Planktonorganismen. Und wenn die Erfolge
noch bescheiden sind, so sind diese Experimente
doch am ehesten berufen, in die Lebensverhältnisse
der Planktonten Licht zu bringen. Für weitere
Forschungen ist noch ein großes Feld offen.
3. Welches ist die Quantität der in einem Ge-
wässer auftretenden Planktonten ? Die Gewässer sind
nicht nur für den Wissenschaftsmann interessant,
sie sind ein wichtiger Faktor in der Wirtschafts-
lehre des Menschen, der den Gewässern jährlich
große Mengen organischer Substanzen entnimmt
und ein Interesse daran hat, zu wissen, welchen
Ausgangspunkt diese organische Substanz besitzt.
Da hat es sich nun gezeigt, daß die Plankton-
organismen in der Entwicklungsreihe organischer
Substanzen sich befinden, ja geradezu am Anfange
der Reihe stehen, deren Endglieder der Mensch
ausnutzt. Es ist daher von eminent praktischem
Interesse, zu wissen, welche Quantität organischer
Substanz die Planktonten eines Gewässers repräsen-
tieren. Mit der bloßen Netzmethode konnte z. B.
Schröter (1897) zu folgendem Schlußsatze für den
Zürichsee kommen : „Setzen wir für den ganzen
See nur 100 cm* (unter i m-), was aber jedenfalls
zu wenig ist, so würde das für den Hektar 0,43
Kilozentner Trockensubstanz ergeben, und für den
ganzen Untersee eine Menge von 2910, sagen wir
rund 3000 Kilozentner ; das würde einem schwer-
beladenen Güterzug von 34 Wagen entsprechen."
Kofoid (1897) hatte schon 1897 darauf aufmerksam
gemacht, daß das feinste Seidennetz den größten
Teil des Planktons durchfiltrieren lasse und daß
zu gewissen quantitativen Studien Pumpe, Schlauch
und Filter nötig seien. Lohmann (1900) wid-
mete sich mit großer Ausdauer der quantitativen
Planktonbestimmung des Meeres, bestätigte die
Resultate Kofoid 's und zeigte, wie man durch
Filtration des gepumpten Wassers den Netzverlust
bestimmen könne. Auch bei den Süßwasser-
untersuchungen wurde die Pumpe und die Filtration
häufig angewendet (Frenzel [1897], Bachmann
[1900]) '). F'reilich zeigt die Pumpmethode nament-
') Als Filter verwendet man: gehärtete Faltenfilter von
Schleicher und SchüU, Seidenstoffe, feines Ziegenleder usw.
lieh zwei große Fehler : erstens werden die mit
genügender freier Bewegung ausgerüsteten Plank-
lonten dann nicht gefangen, wenn ihre Eigen-
bewegung größere Geschwindigkeit hat, als die-
jenige des angesaugten Wassers ist. Zudem wird
die durch die Pumpe verursachte Strömung des
Wassers schreckend auf die Kruster einwirken,
und diese werden vor dem Schlaucheingang die
Flucht ergreifen. Zweitens wirkt die Ventilpumpe,
wie sie gewöhnlich gebraucht wird, auf die Or-
ganismen zerstörend ein.
190J erschien von Loh mann die schöne
Arbeit „Neue Untersuchungen über den Reichtum
des Meeres an Plankton". Loh mann untersuchte
den Darminhalt verschiedener Planktontiere, be-
sonders von Tunicaten, ,,um ein Bild von der Zu-
sammensetzung des Planktons an dem Fangorte
der Tiere zu gewinnen, soweit dasselbe aus Kiesel-,
Kalk- oder Chitinskelett besitzenden Arten besteht".
Dabei machte er die Wahrnehmung, daß die Appen-
dicularien in ihren Gehäusen eine Einrichtung be-
sitzen, welche die kleinsten, skelettlosen Organis-
men des Wassers zurückhalten und in vorzüglicher
Erhaltung dem Studium zugänglich machen. Vor
allem günstig erwiesen sich die Gattungen Oiko-
pleura und Fritillaria. Oikopleura z. B. stellt Formen,
die wasserklar durchsichtig sind und eine mikro-
skopische Beobachtung sehr leicht gestatten.
Manteltiere von 5 — 100 mm Durchmesser, be-
stehen sie aus dem eigentlichen Tierkörper und
einer farblosen Gallerlhülle. Das Tierchen besteht
aus einem ovalen Rumpfe mit einem undulierten
Schwanzanhange. Eine weite, eiförmige Gallert-
blase mit einem schnabelförmig verlängerten Vorder-
teile und zwei nachschleifenden Schleppfäden am
Hinterende umhüllt den gesamten Tierkörper.
Über dem Schnabel liegen die 2 großen Ein-
strömungsöffnungen, die mit aus feinen Fibrillen
gebildeten Gitterfenstern abgeschlossen sind und
wo die erste Filtration des Wassers stattfindet.
Hier werden alle Organismen, die über 30/* Durch-
messer haben, zurückgehalten. Diese Gitterfenster
filtrieren also noch besser als die feinste Müllergaze.
Und doch müssen die Oikopleuren, so schloß
Lohmann, noch genug Nahrung in dem ein-
tretenden Wasser finden, daß sie sich ernähren
und zu der Üppigkeit vermehren, wie sie oft im
Mittelmeere auftreten. Durch die Undulationen
des Schwanzes wird das Wasser in den hinteren
Teil der Gallerthülle getrieben, wo ein zweiter,
noch feinerer Fangapparat ausgebildet ist, in
welchem die zweite Filtration des Wassers statt-
findet, wo also die kleinsten Organismen zurück-
bleiben, die noch im Wasser enthalten waren, und
die, vom Mundrohr angesogen, die Nahrung des
Tieres bilden. Das Wasser verläßt dann am
Hinterende das Gehäuse. Ist der hintere Fang-
apparat verstopft, so verläßt das Tier das Gehäuse
und erzeugt wieder eine neue Wohnung. (Die
ausführliche Beschreibung der Gallertblasen der
Appendicularien hat Lohmann in einer kleinen
Abhandlung 1899 gegeben.) Da die Appendicu-
N. F. XIII. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
391
larien mit ihren Gehäusen sehr verschwenderisch
umgehen und sie oft nach wenigen Stunden ab-
werfen, und da sie auch nur einen Teil der im
Fangfilter zurückgehaltenen Planktonten verzehren,
konnte Loh mann ein äußerst interessantes Re-
sultat herausrechnen, daß der Inhalt des Fang-
apparates von Oikopleura albicans stets weniger
repräsentiert als der Filterrückstand von 0,1 1.
Und doch wurden Gehäuse beobachtet, in denen
nicht weniger als 1674 Amöben gezäiilt wurden.
In den Schlußbemerkungen sagte Loh mann:
„Durch die Filtration von weniger als 100 cm^
Wasser füllen die Appendicularien ihren F'ang-
apparat mit großen Mengen von Gymnodinien,
Chrysomonadinen, Flagellaten, kleinsten Diatomeen
und Bakterien." „Es stellte sich noch deutlicher
als durch die früheren Untersuchungen in der
Ostsee heraus, daß die Fänge mit MüllergazeNetzen
nur einen sehr kleinen Bruchteil der Plankton-
organismen in genügender Menge fangen und daß
dieselben nicht imstande sind, uns ein zuverlässiges
Bild von der wirklichen Menge und Zusammen-
setzung des Auftriebs zu geben." In einem Vor-
trage, den Loh mann 1909 in der Deutschen
zoologischen Gesellschaft hielt, bespricht er die
Gewinnung der kleinsten Planktonten durch die
Zentrifuge und gibt für die westliche Ostsee das
verblüffende Resultat : „Im Jahresdurchschnitt ließen
sich in i cm^ Wasser 'j'^y'] Organismen nachweisen,
von denen 722 Protophyten, 15 Protozoen und
nur 0,1 Metazoen waren." In diesem Vortrage
schlug er vor, diejenigen Planktonformen, ,,die
uns erst durch die Zentrifuge und die Fangapparate
der Appendicularien erschlossen werden", NailllO-
plauktou zu nennen. 1911 gab Lohmann eine
hübsche Zusammenfassung über Nannoplankton
und die Zentrifugierung kleinster Wasserproben.
Angeregt durch Lohmann's Untersuchungen
und infolge der Diskussion der Pütt er 'sehen
Ernährungstheorien prüfte Woltereck die Zentri-
fugensedimentation in den Lunzerseen. Ihm war
schon lange aufgefallen, daß im Lunzer Obersee
der Ernährungszustand von Daphnia longispina
viel besser war als im Lunzer Untersee, obschon
der erstere See eine bedeutend geringere Menge
an Netzphytoplankton aufwies. Die Untersuchung
von Wasserproben mit einer Turbinenzentrifuge
förderten das Resultat zutage, daß im Obersee
ein bedeutend reicheres Zentrifugenplankton vor-
handen war. Ruttner (1909) führte diese Unter-
suchungen weiter fort und konstatierte in 10 cm''
Wasser nach lo Minuten langem Zentrifugieren
600 nackte Chrysomonadinen, 12 Mallomonas, 30
Gymnodinium, 300 Cyclotella comta, i02oCyclotella
sp., 240 Staurastrum, 18 Oocystis, 72 Bakterien-
zoogloen, also 2190 Algenarten. Brehm (1910)
vergleicht das Netzplankton mit dem Zentrifugen-
plankton eines kleinen Teiches bei Ellbogen in
Böhmen und konstatiert, daß die Kurve des Netz-
planktons stets gleichartig verläuft mit derjenigen
des Zentrifugenplanktons, und zwar folgt sie der-
selben stets nach.
Die Methode des Zentrifu giere ns ge-
staltet sich kurz folgendermaßen. Bis jetzt habe
ich mit 2 Zentrifugen gearbeitet, welche von der
Firma Hugershoff in Leipzig geliefert wurden.
Die erste war eine Handzentrifuge, Modell Medico F.
Sie gestattet bei geringer aufzuwendender Mühe
eine Geschwindigkeit von 3000 Umdrehungen in
der Minute. Das Vorteilhafte dieser Zentrifuge
ist auch der Umstand, daß die Aufhänger in einem
Verschluß eingeschlossen sind, so daß bei even-
tuellem Losspringen von Teilen des rotierenden
Apparates der Experimentator keinen Schaden
leidet. Die zweite Zentrifuge, die ich gegenwärtig
benutze, hat elektrischen Betrieb. Die Zahl der
Umdrehungen beträgt ca. 4000 in der Minute.
Die Aufhänger sind auch da in einen Blechmantel
eingeschlossen. Diese Zentrifuge, die an jedem
Steckkontakt der Lichtleitung angeschlossen werden
kann, arbeitet außerordentlich gut. Schon Loh-
mann hat daraufhingewiesen, daß es nicht nötig
ist, große Wassermengen zu zentrifugieren. Meine
Sedimentiergläser fassen 22 cm'', was auch für
planktonarme Gewässer vollständig genügt. In
den meisten Fällen und vor allem bei bloß quali-
tativen Studien reichen 10 Minuten vollständig
aus, um ein Bild über die Zusammensetzung des
Nannoplanktons zu erhalten. Für quantitative
Untersuchungen ist das Zentrifugieren keine so
einfache Sache. Pascher (191 2) macht darauf
aufmerksam, daß im Plankton Organismen existieren,
die zufolge ihres spezifischen Gewichtes nicht sedi-
mentiert werden können. Um auch diese Orga-
nismen in einer Kalotte aufzufangen, benutzt er
ein Sedimentierglas, in welches ein zweites so ein-
geschoben wurde, daß sein zugespitztes Ende beim
Zentrifugieren zentripetal gerichtet war. Nach dem
Zentrifugieren wurden die beiden Gläser rasch
auseinander gezogen und die Flüssigkeit ausge-
gossen. Als Pipetten verwendet man am besten
solche mit lang ausgezogenem, dünnem Ende und
einer länglichen oder kugeligen Erweiterung, wo-
durch die Eichung von i oder wenigen Kubik-
zentimetern ein leichtes ist. Der Fang wird nun
auf einem breiten Objektträger, der in Quadrate
eingeteilt ist, ausgebreitet und ausgezählt. Steht
ein beweglicher Zähltisch zur Verfügung, so ist
die Zählung bedeutend erleichtert. Für tierische
und für seltene pflanzliche Planktonten ist die
Zählung leicht; für Flagellaten und bei Massen-
entwicklung von Phytoplanktonten ist die Zählung
sehr mühsam. Pascher weist in der obgenannten
Abhandlung darauf hin, daß der Zwischenraum
zwischen den beiden Spitzen der Sedimentiergläser
immer noch Organismen enthält. Je mehr die
spezifisch leichteren Organismen vorherrschen,
desto größer ist die Individuenzahl der im Zwischen-
raum schwebenden Organismen, so daß im letz-
teren Falle mindestens 30 Minuten zentrifugiert
werden muß.
Noch auf einen Punkt muß mit Nachdruck hin-
gewiesen werden, daß nämlich das Zentrifugieren und
die Untersuchung rasch nach der Wasserentnahme
392
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 25
vorgenommen werden sollen. Schon nach wenigen
Stunden sind die zarten Flagellaten nicht nur ab-
gestorben, sondern ganz aufgelöst und nicht mehr
nachweisbar. Auch auf Temperaturänderungen
der Proben muß geachtet werden. Wenn man
im Winter Wasserproben schöpft, wo der be-
treffende See Wassertemperaturen von +4'' bis
-|- 5 " C, die Luft dagegen — 5 "^ C aufweisen, da
ist es nötig, die Wasserprobe vor zu starker x-Xb-
kühlung zu schützen, sonst wird man vergeblich
nach Flagellaten fahnden.
Es dürfte hier auch Gelegenheit sein, die
Wasserentnahme zum Studium des Nanno-
planktons zu besprechen. Zur Wasserentnahme,
die ja auch in verschiedenen Tiefen gemacht
werden soll, dienen die verschiedenen Schöpf-
flaschen, die in der Planktonliteratur schon be-
sprochen worden sind, und die Pumpe. Die letz-
tere, meistens in der Form der Flügelpumpe ver-
wendet, hat den großen Übelstand, daß viele
Planktonten verstümmelt und getötet werden.
Einen sehr brauchbaren Schöpfapparat hat (Jptiker
Friedinger in Luzern nach den Ideen von Dr.
Theiler konstruiert. Der Grundgedanke dieses
Apparates ist folgender: Ein Metallzylinder von
2 1 Inhalt mit offenem Boden und offenem
Deckel wird auf die gewünschte Tiefe versenkt.
Da die Wassersäule ohne Strudelbewegung durch
die Röhre streicht, so wird ein Verscheuchen der
sensiblen Kruster viel weniger eintreten, als es
durch den Wasserzug der Pumpe geschieht. Ein
Ruck genügt, und es schließen sich Boden und
Deckel so dicht, daß kein Tropfen von dem ein-
geschlossenen Wasser beim Heraufziehen verloren
geht. Die Wassermenge kann dann leicht durch
einen Hahn abgelassen werden. So stehen 2 1
Wasser zur Verfügung, wovon die größte Menge
filtriert und auf die größeren Planktonten unter-
sucht werden kann. Der kleinere Teil wird zentri-
fugiert.
Überblicken wir die Organismen, die
durch die Zentrifuge aus dem Süßwasser erhalten
werden, so können wir folgende Gruppen nam-
haft machen :
1. Von den größeren Planktonten treffen wir
hier und da ein Rotatorium. Die Kruster ent-
fliehen bei der Probeentnahme durch die Sedi-
mentiergläser. Größere Phytoplanktonten sind
dagegen vertreten, z. B. Peridinium, Ceratium,
Dinobryon, Fragilaria usw. Diese interessieren
uns hier nicht. Wir wenden unsere Aufmerksam-
keit vielmehr zu
2. den kleinsten Formen, von denen uns das
Netz nur wenige liefert.
Da erwähnen wir:
a) Flagellaten. Wir lernen eine Menge
farbloser Flagellaten kennen, die zu den Ord-
nungen der Pantostomatineae und Protomastigineae
gehören. Die Organismen der ersten Ordnung
sind farblose, nackte Zellen, die an allen Stellen
der Oberfläche durch Pseudopodien feste Nahrung
aufnehmen können. Da ist es besonders die
Familie der Rhizomastigacee, Zellen mit i oder
2 Geißeln, die im Nannoplankton vertreten ist.
Die zweite Ordnung umfaßt diejenigen Flagellaten-
zellen, die eine zarte, hautartige Plasmabegrenzung
haben und an bestimmten Stellen die Nahrungs-
aufnahme besorgen. Eine bedeutende Rolle spielen
die farbigen Flagellaten : Chrysomonadinen und
Crj'ptomonadinen. Erstere zeigen einen regulären
Körper mit meistens braunen, hier und da grünen
Chromatophoren. I — 2 Geißeln sind terminal,
selten seitlich stehend.
Pascher(i9ii) hat folgende Chrysomonadinen
im Nannoplankton gefunden:
Chrj'sapsis agilis, Länge 3 — 5 //, Breite 2 — 3 /(
mit netzförmigem Chromatophor. i Geißel.
Chromulina-Arten, metabolische, oft amöboide
Zellen, 2 — 4 // lang, 2 /< breit.
Chrysococcuspunctiformis, 2 — 3/* Durchmesser
haltende kugelige Zellen mit derber Schale und
I langen Geißel.
Kephyrion sitta und Ovum, die kleine Zelle
sitzt in einem zarten, eiförmigen oder spindel-
förmigen Gehäuse, i Geißel
Kephyriopsis, 9 /« lang, mit 2 Geißeln, in
einem eiförmigen, breit abgestutzten Gehäuse.
Chrysocapsa planctonica, kugelige Zellen von
2 — 4 (( Größe, mit muldenförmigem Chromato-
phor in einer Gallerthülle von 20 /( Durchmesser.
Die Cryptomonadinen zeichnen sich durch
den dorsiventralen Bau, die median ventral ge-
legenen 2 Geißeln und durch den von der medianen
Furche in den Plasmaleib führenden Schlund aus.
Besonders die Gattung Cryptomonas ist regelmäßig
im Nannoplankton vertreten.
b) Peridineen. Diese an der Ouerfurche
leicht erkennbaren Planktonten sind im Nanno-
plankton namentlich durch die Gattung Gymno-
dinium vertreten, von der auch farblose Formen
vorkommen.
c) Diatomeen. Hier sind es namentlich die
kleinen Arten der Gattung Cyclotella, die von der
Zentrifuge in weit größerer Zahl nachgewiesen
werden, als es die Netzfänge vermochten.
d) Desmidiaceen. Welch ungenügende
Resultate Netzproben ergeben, zeigten Unter-
suchungen, die am Rotsee am 25. X. 1913 vor-
genommen wurden. Die Proben enthielten ganz
spärlich ein kleines Cosmarium von 12 // Durch-
messer. 20 ccm geschöpftes Wasser wurden
zentrifugiert und ergaben ein Sediment dieses
Cosmarium pygmaeum, daß eine Zählung utimög-
lieh war.
e) C h 1 oro phy ceen. Nach den bisherigen
Planktonuntersuchungen traten häufig die Chloro-
phyceen quantitativ hinter den übrigen Familien stark
zurück. Auch da wird die Zentrifuge noch man-
cherlei Korrekturen vornehmen. Lantzsch hat
das Zentrifugenplankton des Zugersees studiert
und dabei konstatiert, daß eine Bumilleria-Art, die
im Netzplankton sozusagen verschwand, zu ge-
wissen Zeiten der vorherrschende Organismus
war. Die vorerwähnte Probe vom Rotsee sowie
N. F. XIII. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
393
eine Probe vom 27. November 1913 ergaben so
viele Individuen von Phacotus lenticularis, Scene-
desmus bijugatus und Polyedrium punctulatum, daß
sie immer noch als zahlreich bezeichnet werden
mußten. Auch in dieser Familie sind Zellen von
bakterienartiger Kleinheit nachgewiesen worden.
So fand Pascher neben einer Chlamydomonas
von 2 — S i-i Länge kugelige, grüne Zellen von
kaum 2 |(( Durchmesser.
f) Seh i z op h )'Cee n. Sie sind meistens spe-
zifisch gleich oder leichter als Wasser und daher
schwer zu zentrifugieren. Über ihre Bestandteile
am Nannoplankton liegen noch sehr wenige Mit-
teilungen vor.
Die Nannoplanktonbestimmung hat, wie wir
oben schon erwähnten, aucli einen großen prak-
tischen Wert. Fütter hat daraufhingewiesen,
daß die Planktonmengen nicht genügen, um den
Kohlenstoffbedarf derjenigen Tiere zu decken, die
keine größere Nahrung aufnehmen. Er kam dann
zum Schlüsse, daß die im Wasser gelösten Kohlen-
stoffverbindungen für die Ernährung viel wichtiger
seien als die geformten Substanzen. Pütt er hat
bei seinen Untersuchungen mit denjenigen Plankton-
mengen gerechnet , die man durch die früheren
Methoden konstatierte. Die Entdeckung des
Nannoplanktons hat die Annahme einer so unge-
wohnten Ernährungsweise der Fische (Aufnahme
gelöster organischer Substanzen durch die Kiemen)
überflüssig gemacht.
Die neuesten Untersuchungen vonLantzsch
und Colditz über die Beziehungen des Zentri-
fugenplankton zum Zooplankton haben die Ab-
hängigkeit des letzteren vom Nannoplankton er-
geben. Von dem P ü 1 1 e r ' sehen Ernährungsmodus
für diePlanktoncrustaceen sehen die beiden Autoren
ab. Sehr interessant sind die Untersuchungen von
Lantzsch deswegen, da sie die ersten Nanno-
planktonstudien an einem tiefen Alpensee dar-
stellen. In diesem 150 m tiefen Zugersee ging
die Nannoplanktonzone im Sommer bis zur Tiefe
von 80 m , wobei eine deutliche Schichtung der
Komponenten zu konstaüeren war. Die winter-
lichen Konvektionsströmungen heben nicht nur
die Schichtung der Nannoplanktonten auf sondern
sie führten letztere auch in die größeren Tiefen.
Ebenso bestimmt über die Beziehungen zwi-
schen Zentrifugen- und Netzplankton spricht sich
Colditz aus. Der Satz: „Das gesamte tierische
Plankton der pelagischen Zone eines Sees ist an
das Vorhandensein geformter Nahrung gebunden",
läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.
Jedem Planktologen, der an Gebirgsseen Studien
betrieben hat, ist die Tatsache bekannt , daß oft
ein äußerst reiches Crustaceenmaterial vorhanden
ist, während das Phytoplankton sehr spärlich auf
tritt. Die wenigen Nannoplanktonuntersuchungen,
die über Gebirgsseen vorliegen, geben Aufschluß,
worin die Nahrung jener reichen Planklonfauna
besteht. Es ist das Nannoplankton, dessen Be-
standteile dem Mikroskopiker noch manch harte
Arbeit schaffen werden.
Lileraturaugaben.
Bachmann, Die Planklonfänge mittels der Pumpe.
Biol. Cenlralbl. 1900.
Brehm, Einige Beobachtungen über das Zentrifugen-
plankton. Internat. Revue jgil.
Colditz, Beiträge zur Biologie des Mansfeldersees.
Zeitsclir. f. wiss. Zoologie 1914.
Lantzsch, Studien über das Nannoplankton des Zuger-
secs und seine Beziehung zum Zooplankton. Ebenda 1914.
Loh mann, Über das Fischen mit Netzen aus Müllergaze.
Nr. 20. Wissensch. Meeresuntersuchungen 1901,
— — , Neue Untersuchungen über den Reichtum des
Meeres an Plankton. Ebenda 1902.
, Die Gehäuse und Gallertblasen der Appendicularicn
und ihre Bedeutung für die Erforschung des Lebens im Meer.
Verhandl. d. d. zool. Ges. 1909.
— — , Über das Nannoplankton und die Zentrifugierung
kleinster Wasserproben zur Gewinnung derselben in lebendem
Zustande. Internat. Revue 1911.
Pascher, Versuche zur Methode des Zentrifugierens bei
der Gewinnung des Planktons. Internat. Revue 1912.
— — , Ober Nannoplankton des Süßwassers. Deutsche
bot. Ges. 191 1.
Ruthner, Über die Anwendung von Filtration und
Zentrifugierung bei den planktologischen Arbeiten an den
Lunzer Seen. Internat. Revue 1909.
Schröter, Die Schwebeflora unserer Seen. Neujahrsblatt
der Naturf. Ges. Zürich 1897.
Einzelberichte.
Chemie. Über das Anemonin. Beim Destillieren
von Anemonen und Ranunculaceen mit Wasser-
dämpfen erhält man ein scharf riechendes, wenige
Öltröpfchen enthaltendes Destillat, aus dem man
durch Äther oder Chloroform das sog. Ranunkel-
oder Anemonenöl extrahieren kann. Das Ranunkelöl
soll nach Beckurts (Archiv der Pharmacie 230,
182 [1892]) aus zwei Substanzen bestehen: aus
dem Anemonin, einem bei 150—152" schmelzen-
den, geschmack- und geruchlosen Stoffe von der
Zusammensetzung C,„H,0,j, und dem Anemonen-
kampfer, der oberhalb 300 <" verkohlt und angeb-
lich für den scharfen brennenden Geschmack und
die reizende Wirkung frischer Ranunculaceen ver-
antwortlich zu machen ist. In einer Mitteilung ')
aus dem pharmazeutischen Institut der Universität
Tokio berichtet Yas u h ik o Asahina über einige
Versuche zur Aufklärung der Konstitution des
Anemonins, das er in größeren Mengen aus dem
frischen Kraut von Ranunculus japonicus isolierte.
Durch Destillation von je 10 kg der in Japan als
Unkraut massenhaft vorkommenden Pflanze mit
VVasserdampf wurden nach Extraktion des Destillats
mit Äther und Eindampfen des Extraktes 12 g
eines gelben Öles erhalten, das die Schleimhäute
heftig angreift und blasenziehend wirkt. Beim
') Berichte der Deutsch. Chem. Ges. 47, 914.
394
Naturwissenschattliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 25
Stehen in der Kälte scheidet sich daraus allmäh-
lich das Anemonin in Form von tafelförmigen
glänzenden Kristallen aus. Durch katalytische
Reduktion der in Eisessig suspendierten Substanz
mittels Platinschwarz und Wasserstoff wurde ein
Tetrahydroanemonin (CjuHj.^O^) erhalten. Das
Anemonin nimmt also hierbei 4 Atome Wasser-
stoff auf, woraus zu schließen ist, daß sein Molekül
zwei doppelte Bindungen enthält. Der von
Beckurtsals Anemonenkampfer bezeichnete Stoff
wurde in Kristallen erhalten, die immer etwas
getrübt vorkamen und beim Kochen mit Alkohol
erhebliche Mengen Anemonin unter Zurücklassung
einer amorphen Substanz (Isoanemonsäure) ergaben.
Vermutlich ist das zuerst aus den Pflanzenteilen
destillierte Ol eine labile Form des Anemonins,
die sich bei der Umlagerung in Anemonin teil-
weise polymerisiert. Demnach wäre also der
Anemonenkampfer von Beckurts nichts anderes
als Anemonin, verunreinigt mit seinem Polymeri-
sationsprodukt. Bugge.
Anatomie. Verhältnis des Binnenraums des
Schädels, der ,, Schädelkapazität" zum Gehirn. So
ist es z. B. bekannt, daß der „Wasserkopf (Hydro-
cephalus) der geistigen Entwicklung durchaus nicht
hinderlich zu sein braucht, im Gegenteil förder-
lich sein kann, weil das Gehirn infolge der ver-
späteten Verknöcherung der Schädelnähte sich
über die Norm hinaus vergrößert. Ist es doch von
einer Reihe hochbegabter Männer bekannt, daß
sie in ihrer Jugend einen mehr oder minder aus-
gesprochenen Hydrocephalus hatten.
Nach Otto Rudolph (Untersuchungen über
Hirngewicht, Hirnvolumen und Schädelkapazität,
Beitr. path. Anat., 1914) ist das Verhältnis des
Gehirns zur Kopfhöhle beim Menschen folgendes.
Die Differenz zwischen Hirnvolumen und Schädel-
kapazität ist am geringsten beim Neugeborenen,
nur 2,5 "/o des F"assungsraumes der Schädelhöhle.
Sie wächst dann — 3 ^% im sechsten Jahre —
und erreicht bis zum Ende der Pubertät einen
konstanten Wert, beim Erwachsenen im Durch-
schnitt in beiden Geschlechtern 7,5 %; individuelle
Schwankungen von 5 — lO "/^ sind noch normal.
Mit der Involution im höheren Alter tritt eine
Verkleinerung des Gehirns ein, und die Differenz
zwischen Schädelkapazität und Gehirngröße beträgt
7,5 — 15 "/„. Das im Laufe des Lebens sich ändernde
Verhältnis von Gehirngröße und Schädelkapazität
erklärt es, daß die Symptome des Hirndrucks bei
Kindern sich viel schneller und stärker bemerkbar
machen als bei Erwachsenen und daß Hirnge-
schwülste bei alten Leuten eine erstaunliche Größe
erreichen können.
Säugetiere zeigen ganz andere Verhältnisse und
können daher zum Vergleich nicht herangezogen
werden. Kathariner.
Botanik. Barymorphose und StatoHthentheorie.
Beim Auswachsen der Brutknospen, die der un
geschlechtlichen Vermehrung der Lebermoose
Marchantia und L u n u 1 a r i a dienen, ent-
scheiden äußere Einflüsse allein, welche Seite des
dorsiventral gebauten Thallus Rücken- und welche
Bauchseite wird. Auch das Auswachsen der
Initialzellen, aus denen die Wurzelhaare, die
Rhizoiden, hervorgehen, wird durch äußere
Einflüsse bestimmt. Diese Initialzellen liegen
entweder, wie bei Marchantia, auf beiden Seiten
der Brutknospe, oder sie finden sich, wie bei
Lunularia, nur nahe dem Rande der Brutknospe
und durchsetzen diese ihrer ganzen Dicke nach,
so daß jede Initialzelle zwei freie Außenwände
hat. Wie für Marchantia nachgewiesen ist, fördert
die Schwerkraft die Produktion von Wurzelhaaren
auf der erdwärts gewandten Seite der Brutknospe,
und auch ein hoher Feuchtigkeitsgehalt der Luft
übt einen begünstigenden Einfluß auf das Aus-
treiben und das VVachstum der Rhizoiden aus,
während Belichtung die entgegengesetzte Wirkung
hat. Für Lunularia liegen keine ausführlicheren
Untersuchungen über den Einfluß dieser Faktoren
auf die Rhizoidbildung der Brutknospen vor, doch
wird angegeben, daß er dem bei Marchantia analog
sei. Die bisher nicht behandelte Frage, worauf
die Wirkung der äußeren Einflüsse be-
ruhe, hat G. Haberlandt nunmehr, vorzugs-
weise durch Untersuchungen an Lunularia
cruciata L., zu lösen gesucht. Er ging dabei
von der Annahme aus, „dafä etwaige Umlagerungen
des Zellinhaltes der Rhizoidinitialen, ihrer Plasma-
körper, ihrer Zellkerne, Stärkekörner — Umlage-
rungen, die dem Auswachsen der Rhizoiden vor-
ausgehen — gewisse Anhaltspunkte dafür bieten
könnten, auf welche Weise die den Ort der An-
lage bestimmenden äußeren Einflüsse zur Geltung
kommen".
Fig. I.
Fig. 2.
Die Lage der Initialzellen zeigt der in Fig. 1
abgebildete Querschnitt durch den Randteil einer
Brutknospe von Lunularia. Das Plasma in der
dargestellten Initialzelle hat die Lage, die es erhält,
wenn man Thallusstücke mit Brutbechern und
reifen Brutknospen in Petrischalen, die mit nassem
Fließpapier ausgekleidet sind, i — 3 Tage lang am
Klinostaten derart rotieren läßt, daß die Brut-
knospen der einseitigen Licht- und Schwerewirkung
entzogen sind. Der plasmatische Wandbeleg ver-
dickt sich in der Mitte der ausgebauchten Innen-
wand der Zelle zu einer mächtigen Plasmaansamm-
lung, in deren Mitte der Zellkern liegt, umgeben
von zahlreichen kleinen Stärkekörnern.
Wurden Brutknospen auf nasses Fließpapier
ausgesät, mit welchem der Boden und der Deckel
von Petrischalen ausgekleidet waren, so bildeten
N. F. XIII. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
395
im feuchten Raum und bei diffuser Beleuchtung
sowohl die dem Deckel innen anhaftenden, wie
die auf dem Boden liegenden Brutknospen stets
auf der physikalisch unteren Seite weit mehr
Rhizoiden als auf der oberen. Dies zeigt den
übermächtigen Einfluß der Schwerkraft auf die
Anlage der Rhizoiden. Er bewirkt, wie die Ver-
suche und Beobachtungen zeigten, daß sich die
Plasmamasse samt Zellkern und Stärkekörnern
erdwärts bewegt und den unteren VVandteilen an-
legt (Fig. 2). Diese Umlagerung vollzieht sich
schon im Laufe von 1 '/., Stunden, ein Zeitraum,
der freilich noch beträchtlich größer ist als der
für die Wanderung der Stärkekörner in den Stato-
lithenorganen erforderliche. Die Umlagerung er-
folgt auch, wenn die Brutknospen auf Chloroform-
wasser oder Eosinlösung schwimmen, woraus hervor-
geht, daß sie, wie die Umlagerung der Statolithen-
stärke ein rein physikalischer Vorgang, keine geo-
taktische Reizbewegung ist.
Einige Zeit nach der erfolgten Umlagerung
slülpt sich die Außenwand, der die Plasmamasse
anliegt, papillös vor; in die so entstandene Rhi-
zoidanlage wandert zuerst feinkörniges Plasma,
später erst der Zellkern mit den Stärkekörnern
ein. Dreht man die Brutknospen um 180", so-
lange Zellkern und Stärkekörner noch außerhalb
des Rhizoids verweilen , so fallen beide auf die
entgegengesetzte Außenwand herab, und jetzt
wächst diese zum Rhizoid aus. Waren aber Zell-
kern und Stärkekörner schon in das Rhizoid ein-
gedrungen, so bleiben sie darin, und die andere,
nunmehr untere Außenwand wächst nicht mehr
zu einem Rhizoid aus. Mithin ist die Schwerkraft
nur dadurch wirksam, daß sie Plasma samt Kern
und Stärke auf die physikalisch unteren Wände
sinken läßt.
Werden die auf Wasser schwimmenden Brut-
knospen von unten kräftig beleuchtet und oben
verdunkelt, so entstehen die Rhizoiden auf der
Oberseite, wenn auch der Plasmaklumpen auf der
unteren Außenwand liegt. Erst später wandert
er mit Kern und Stärkekörnern nach aufwärts
und dringt in das junge Rhizoid ein. Worauf
hier die Rhizoidbildung an der Schattenseite be-
ruht, bleibt völlig ungewiß. Daß auf der physi-
kalischen Unterseite in diesem Falle keine Wurzel-
haare entstehen, beweist, daß das Licht eine Um-
stimmung in den Rhizoidinitialen herbeiführt, die
die Wirkung der Plasmaansammlung auf der
Unterseite aufhebt. Zur Erklärung der Plasma-
wirkung in dem normalen Falle, wo die Anlage
der Rhizoiden unter dem Einflüsse der Schwer-
kraft erfolgt, ergibt sich nach Haberlandt aus
dem Ausfall des Lichtversuchs, daß sie nicht auf
der Herbeiführung einer besseren Ernährung oder
auf chemischer Reizung oder auf der speziellen
Funktion des Zellkerns beruht, sondern daß das
Auswachsen der Außenwand zum Rhizoid nur
durch den Druck der Plasmaanhäufung
und ihrer Einschlüsse bedingt sein kann.
Versuche mit wachsenden Thallussprossen,
deren Rhizoidinitialen stets stärkefrei sind, lehren,
daß die Stärkekörner zur Auslösung des Reizes,
der die Rhizoidbildung im Gefolge hat, nicht
immer nötig sind. Bei umgekehrter Lage der
Thallussprosse konnte allerdings die Rhizoidbildung
nur durch Zugabe von etwas Traubenzucker er-
zielt werden, was das Auftreten von Stärkekörnern
in den Zellen zur Folge hatte. Anscheinend ist
die Plasmahaut hier in demjenigen Teile der
Initialen, wo normal die Rhizoiden entstehen (dem
basiskopen Teil) für Druck empfindlicher als in
dem gegenüberliegenden (dem akroskopen) Ab-
schnitt.
Bei Marchantia spielen sich die Dinge in ähn-
licher, doch weniger leicht zu beobachtender
Weise ab.
Die mitgeteilten Versuchsergebnisse, durch die
„das Prinzip derStatolithentheorie des
Geotropismus auf das Gebiet derBary-
morp hosen übertragen wird", d. h. auf
diejenigen Gestaltungsprozesse, die (nach dem
Ausdruck von Sachs) durch Reizbarkeit gegen
die Einwirkung der Schwerkraft hervorgerufen
werden, sind von hohem Interesse und werden
zweifellos weitere Untersuchungen anregen. (Sitz.-
Berichte d. Kgl. Preuß. Akad. d. Wiss. Mathem.-
Naturw. KL, 1914, 12, S. 384 — 401.)
F. Moewes.
Zoologie. Über die experimentelle Beein-
flussung der Dauereibildung und des Geschlechts
bei Cladoceren. Durch eine Reihe von Experi-
menten suchte v. Scharfenberg^) die Faktoren
zu ergründen , die ein Daphnia- Weibchen veran-
lassen, bald parthenogenetisch sich entwickelnde
Eier („Subitaneier"), bald befruchtungsbedürftige
Eier (,, Dauereier") zu bilden, und die ein Subitanei
einmal zu einem Weibchen, ein anderes Mal zu
einem Männchen sich entwickeln lassen. Zu den
Experimenten wurden Daphnia magna und Daphnia
pulex benutzt. Obwohl diese beiden Arten in
ihrem äußeren Habitus ^ie überhaupt anatomisch
ganz nahe verwandt sind, kann doch die Ei- und
Geschlechtsdifferenzierung nicht bei beiden durch
äußere Faktoren in gleicher Weise beeinflußt
werden.
Bietet man Daphnia magna grüne Algen als
Nahrung dar, so behalten die Weibchen die ein-
geschlechtliche Fortpflanzung bei, sie erzeugen
nur Jungferneier. Durch Passieren des Darmes
der Daphnien werden die grünen Algen in einen
braunen Detritus, in „Mudd" verwandelt. Führt
man nun keine frische Algennahrung der Kultur
zu, so fressen die Tiere den ,,Mudd", und diese
Ernährung hat zur P"olge, daß Daphnia magna
von der eingeschlechtlichen Fortpflanzung alsbald
zur zweigeschlechtlichen übergeht, sie beginnt
Dauereier zu produzieren. Die Dauereibildung
') Seh arfenberg, U. v. , Weitere Untersuchungen an
Cladoceren über die experimentelle Beeinflussung des Ge-
schlechts und der Dauereibildung. Internat. Rev. d. ges.
Hydrobiol. u. Hydrogr., Biol. Suppl. zu Bd. 6, 1914-
396
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 25
läßt sich zu jeder Zeit in jeder Generation bei
Ernährung mit Mudd erzielen , in späteren par-
thenogenetischen Generationen allerdings leichter
als in der ersten. In der ersten Generation, also
bei aus dem Dauerei geschlüpften Weibchen, ist
die Tendenz, sich parthenogenetisch fortzupflanzen,
gewöhnlich so stark, daß trotz Muddnahrung
wenigstens die ersten Brüten aus Subitaneiern
bestehen. Die Tendenz ist aber bei den ver-
schiedenen Weibchen sehr verschieden stark. So
gelang es v. Seh arfenbcrg, einige aus Dauer-
eiern stammende Weibchen sofort zur Dauerei-
bildung zu veranlassen. Bleibt den mit Mudd ge-
fütterten Weibchen auch weiterhin grüne Algen-
nahrung versagt, so erfolgt offenbar eine Unter-
ernährung. Nachdem die Weibchen eine Anzahl
Dauereier produziert haben, treten die Eierstöcke
außer Funktion, die Tiere erhalten ein kränk-
liches und hyalines Aussehen und gehen schließ-
lich zugrunde.
Man ist zunächst vielleicht geneigt zu glauben,
daß der Übergang zur Dauereibildung lediglich
auf die ungenügende Ernährung der Tiere zurück-
zuführen ist. Dem ist aber nicht so, wie sich
durch Hungerexperimente zeigen läßt. Es dürfte
vielmehr die verschiedene chemische Zusammen-
setzung der Nahrung in dem einen und dem
anderen Falle von Bedeutung sein. In der grünen
Algennahrung ist stets reichlich Sauerstoff vor-
handen , während der Mudd sicher reich ist an
Schwefelwasserstoff. Lediglich das Vorhandensein
von O und H.,S in der Kultur kann allerdings
nicht Ursache der Bildung von Jungfern- bzw.
Dauereiern sein, da ein Einleiten von O bzw. H^S
in das Gläschen, in dem sich die Tiere befinden,
erfolglos ist. Die Reaktion muß vom Darm aus-
gehen.
Eine Abhängigkeit der Produktion von Männ-
chen von der Dauereibildung konnte v. Scharfen-
berg nicht feststellen. Die Männchen entstehen
aus den parthenogenetischen Eiern ganz regellos.
Gewöhnlich nimmt allerdings die Zahl der Männ-
chen mit der Zahl der parthenogenetischen Gene-
rationen und der Zahl der Würfe etwas zu. Durch
verschiedene Nahrung läßt sich die Geschlechts-
differenzierung der Jungferneier in keiner Weise
beeinflussen. Auch die Temperatur spielt keine
Rolle. Sie ist — übrigens auch bei der Dauer-
eibildung — nur insofern von Bedeutung, als es
ein bestimmtes Optimum gibt; bei niedrigen
Temperaturen geht die Entwicklung langsamer
vor sich. Es scheinen lediglich innere, im Orga-
nismus selbst gelegene Faktoren zu sein, die die
Geschlechtsdifferenzierung der parthenogenetischen
Eier veranlassen.
Ganz anders, fast umgekehrt, verhält sich
Daphnia pulex. Eine verschiedene Nahrung ver-
ändert hier die Eibildung nicht. Für die Ge-
schlechtsdifferenzierung aber ist die Art der Flr-
nährung wichtiger. Muddnahrung begünstigt in
Verbindung mit hoher Generations- und Wurfzahl
ganz unverkennbar das männliche Geschlecht.
Trotzdem dürften auch bei Daphnia pulex innere
Faktoren in erster Linie den Ausschlag geben bei
der Geschlechtsdifferenzierung.
Den Unterschied in dem Verhalten der beiden
Daphnienarten führt v. Scharfe nberg auf den
verschiedenen Wohnort der Tiere zurück. Daphnia
magna bewohnt kleine Teiche und Tümpel, die
gelegentlich austrocknen können, der Aufenthalts-
ort von Daphnia pulex hingegen sind größere
Seen. Das erinnert, wie mir scheint, an das Ver-
halten der in Pfützen, Straßengräben usw. vor-
kommenden Hydatina senta, das auch von dem
anderer, ausgedehnte Wasserflächen bewohnender
Rotatorien sehr verschieden ist. Während bei den
letzteren Rotatorien fast ausschließlich innere F"ak-
toren den Ablauf des Generationszyklus regeln,
kann er bei Hydatina durch äußere Faktoren sehr
stark beeinflußt werden. Für Hydatina senta so-
wohl wie auch für Daphnia magna ist eine solche
Reaktionsfähigkeit auf äußere Veränderungen der
Umgebung natürlich äußerst zweckmäßig. Er-
möglichen doch die Dauereier beider Spezies,
Zeiten der Trockenheit zu überstehen.
Nachtsheim.
Neue tropische Planktonorganismen. Die Hydro-
biologen waren lange Zeit der Ansicht, daß die
Mikrofauna des Süßwassers ziemlich kosmopolitisch
sei — die Art ihrer Verbreitung, die vorwiegend
durch sog. ,, passive Wanderung" (d. h. die Über-
tragung von Dauereiern und Cysten durch Wasser-
vögel, Insekten und Luftströmungen) vor sich geht,
legte diesen Gedanken nahe. In jüngster Zeit
wurde er indessen sehr ins Wanken gebracht, und
zwar trugen dazu größtenteils Untersuchungen
über tropische Planktonten bei. Das Plankton der
Tropenseen ist nicht so reichhaltig an Arten und
Individuen wie das unserer Seen. Das Wasser zeigt
dort, wie die darüber ruhende Luft, das ganze Jahr
hindurch eine gleichmäßig hohe Temperatur, meist
über 20". Doch herrscht eine gewisse Periodizität
insofern, als Masse und Zusammensetzung nach
den einzelnen Monaten ziemlich wechseln, was
mehr als in dem verschiedenen Entwicklungsgang
der einzelnen Arten darin liegen dürfte, daß
mit dem Wechsel der Trocken- und Regenzeiten
der Gehalt an Phytoplankton und damit die Nahrung
für die tierischen Planktonten sehr schwankt. Einen
interessanten Beitrag zu diesen Fragen liefert die
in: Voyage d'Exploration seien t. en Co-
1 o m b i e (Mem. de la Soc. Neuchäteloise des
Scienc. natur. V) Neuchätel 1913 erschienene Be-
arbeitung tropischer Cladoceren, die von
der Expedition von Dr. O. Fuhrmann und Dr.
E. Mayor in Kolumbien gesammelt worden sind,
durch den Schweizer Planktologen Stingelin.
Die 34 gefundenen Arten geben von neuem einen
Beleg dafür, wie vorsichtig man bei der Frage
des Kosmopolitismus' der Limnobionten sein muß.
Arten, die bei uns gar nicht oder nur sehr selten
vorkommen, scheinen in den Tropen häufig auf-
zutreten, während andrerseits solche, die bei uns
N. F. XIII. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
397
gewöhnlich sind, dort vollständig fehlen. Die
meisten der hier festgestellten Arten gehören bei
uns EU den selteneren. Besonders auffällig ist
das sehr zahlreiche Vorkommen von Lynco-
daphniden. Interessant ist auch der Fund von
Sida (cr)-stallina), die damit nicht nur für Süd-
amerika, sondern für die Tropen überhaupt zum
erstenmal festgestellt wurde, wie ja manche Arten
von Cladoceren — so Leptodora und Polyphemus
und die Kosminiden — sowohl in Südamerika als
Zentral-Afrika noch immer unbekannt sind. Neu be-
schrieben sind eine Art und vier Varietäten.
Männchen, VVintereier, Ephippien fanden sich
außerordentlich selten vor. Die Cladoceren wurden
in Lagunen und Sümpfen in den Zentralkordilleren
und Ostkordilleren bei Bogota in Höhen von
1575 bis 3671 m gesammelt.
R. V. Aichberger.
Bticherbesprechungen.
Dr. Jacob Lorscheid, Lehrbuch der an-
organischen Chemie. 20. und 21. Auf-
lage, herausgegeben von Dr. Friedrich Leh-
mann. 8", VIII und 336 Seiten mit 153 Ab-
bildungen im Text und einer Spektraltafel in
Farbendruck. Freiburg i. B. 1913, Herder'sche
Verlagsbuchhandlung. — Preis geheftet 3,60 Mk.,
gebunden 4,20 Mk.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat der Charakter
der anorganischen Chemie dank der Entwicklung
der allgemeinen Chemie eine vollkommene Ver-
änderung erlitten, und so muß auch ein Lehrbuch
der anorganischen Chemie heute ganz andere Auf-
gaben als vor 20 oder 30 Jahren lösen. Das Wich-
tige und Wesentliche der anorganischen Chemie
sind heute die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, und
die Einzeltatsachen, die jetzt dem Chemiker in
früher ungeahnter Fülle entgegentreten, sind in
kleineren Lehrbüchern in erster Linie als Beispiele
und Belege für die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten
zu behandeln. Daher ist ein älteres Lehrbuch der
anorganischen Chemie nach dem derzeitigen Stand-
punkte der Wissenschaft seiner ganzen Anlage nach
als veraltet anzusehen, mag es auch einst, wie der
alte Lorscheid, ein recht gutes und zweckent-
sprechendes Werk gewesen sein.
Die Neuauflage des Lorscheid ist besonders
in technischen Einzelheiten sinngemäß ergänzt.
Die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten aber, die das
Werk als belebendes Prinzip durchdringen sollten,
sind in ziemlich dürftiger Weise in einem Anhang
zusammengestellt worden. Auch in Einzelheiten
sind die Fortschritte der wissenschaftlichen Chemie
nicht gebührend berücksichtigt. So wird bei der
Besprechung des Radiums, bei der übrigens von
den grundsätzlich verschiedenartigen «-, ß und y-
Strahlen nicht gesprochen wird, auch die Emanation
behandelt (S. 264): „Trotz dieser beständigen Emana-
tionsabgabe hat sich erstaunlicherweise (!) bisher
keine Gewichtsverminderung bei den Radiumsalzen
aufweisen lassen. Es muß daher weiteren For
schungen überlassen bleiben, diese auffällige Er-
scheinung sowie die der fortgesetzten selbsttätigen
Energieentwicklung bei den Radiumsalzen mit den
Gesetzen von der Erhaltung der Materie und der
Energie in Einklang zu bringen." Offenbar ist
also die ganze Entwicklung, die die Lehre von
der Radioaktivität im Laufe der letzten Jahre ge-
nommen hat, dem Bearbeiter unbekannt geblieben.
Die Angabe, daß über die Abweichungen vom
D ulong-Petit'schen Gesetz nichts bekannt sei
(S. 287), beweist, daß der Bearbeiter die neueren Ar-
beiten von Nernst nicht verfolgt hat. Über das
absolute Gewicht der Atome ist die Wissenschaft
jetzt wesentlich besser unterrichtet, als man nach
den Worten auf Seite 9 des Lehrbuches meinen
möchte. Wenn auf Seite 278 gesagt wird, daß
die Zusammensetzung des Ca ssius' sehen Gold-
purpurs nicht bekannt sei, so sind die klassischen
Arbeiten von Zsigmondy nicht berücksichtigt.
Von Kolloidchemie und Metallographie, zwei
Forschungsrichtungen, ohne die die anorganische
Chemie heute nicht mehr denkbar ist, erfährt der
Leser des Buches nichts. Wohl aber wird ihm mit-
geteilt (S. 129), daß das Molekül des „Kohlenstoffs"
(Diamant?, Graphit?) aus zwei Atomen besteht,
das Molekulargewicht dieses Elements also 23,82^)
sei, während in Wirklichkeit über die Molekular-
größe des Kohlenstoffs bislang nichts Sicheres be-
kannt ist. Kurz, das einst ausgezeichnete Lehr-
buch der anorganischen Chemie von Lorscheid
entspricht in der neuen Auflage in keiner Weise
mehr den Anforderungen, die man heute an ein
Lehrbuch der anorganischen Chemie zu stellen
berechtigt und — als Rezensent — verpflichtet ist.
Clausthal i. FI. Werner Mecklenburg.
E. Rädl, Geschichte der biologischen
Theorien in der Neuzeit. I.Teil. 2. Aufl.
351 S. Leipzig, Engelmann, 1913. — 8 — 9 Mk.
Die vorliegende zweite Auflage des Rädl-
schen Buches wird als ,, gänzlich umgearbeitet"
bezeichnet, und mit Recht. Abgesehen von einer
kleinen Änderung im l'itel sind die beiden Ka-
pitel über Lamarck und Erasmus Darwin,
die den ersten Band der ersten Auflage abschlössen,
hier fortgeblieben und für den zweiten Band be-
stimmt; aber auch alle übrigen Kapitel sind mehr
oder weniger umgestaltet, die Reihenfolge zum Teil
verändert, ganze Abschnitte neu eingefügt usw.,
so daß das Buch sich als eine völlige Neubearbei-
tung des Stofi'es darstellt.
') Als Einheit der .Atomgewichte wird in dem Buch —
auch das erscheint dem Rezensenten charakteristisch — noch
immer das Atomgewicht des Wasserstoffs H = 1,000 genommen.
398
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 25
Einleitend betont Radi, daß eine Geschichte
der wissenschaftlichen Theorien sich nicht geben
läßt ohne den konkreten Subjekten der wissen-
schaftlichen Persönlichkeiten , die sich mit der
Begründung theoretischer Ansichten beschäftigten,
gerecht zu werden. „Die Wissenschaft lebt nur
in den Menschen und durch dieselben, ist durch
ihre persönlichen Eigenschaften begrenzt, sie stellt
sogar ebenso eine Eigenschaft des Menschen dar
wie sein Gesicht und sein Knochenbau ; ihre
Physiognomie verändert sich je nach dem Cha-
rakter des einzelnen Menschen oder der einzelnen
Epoche. Diese Arten der Wissenschaft, diese
mannigfachen Äußerungen des wissenschaftlichen
Triebes, die Weise, wie sich jede einzelne wissen-
schaftliche Begebenheit vom dunkeln Chaos der
Unendlichkeit abhebt, zu beachten, ist die Auf-
gabe des Geschichtsschreibers." Nicht als eine
„lineare Entwicklung" im Sinn eines allmählich
zunehmenden Fortschritts seit dem Anfange
wissenschaftlichen Denkens will Rädl die Ge-
schichte der Biologie dargestellt wissen , sondern
als eine Abwechslung verschiedener, aufeinander-
folgender Systeme, deren jedes in sich seine Be-
rechtigung hatte; diesen objektiv, ohne Vorein-
genommenheit durch den heute herrschenden
Standpunkt gerecht zu werden , sei die Aufgabe
des Geschichtsschreibers der biologischen Theorien.
Der in diesen Sätzen kurz dargelegte Standpunkt
des Verfassers wird weiter gekennzeichnet durch
die — unbestreitbar richtige — Ausführung im
Anfange des ersten Kapitels, daß gewisse Grund-
auffassungen des Naturgeschehens, wie sie z. B.
im Piatonismus , in der Scholastik usw. zutage
treten, durch individuelle Anlage des Einzelnen
bedingt erscheinen, daß daher keine dieser ver-
schiedenen Hauptrichtungen je völlig überwunden
werden kann. Dies gilt, wie Ref. hinzufügen
möchte, auch für die Frage des Monismus und
Dualismus, des Vitalismus und Mechanismus, es
ist daher keine dieser Grundauffassungen an sich
als besser oder tiefer eindringend zu bezeichnen,
es sind nur verschiedene, durch die persönliche
Geistesanlage bedingte Anschauungsformen für
das Naturgeschehen.
Wenn nun Rädl diese Leitsätze seinem Buch
voranstellte, so befremdet es, daß in der Darstellung
die hier geforderte Objektivität durchaus nicht
immer waltet. Daß der offenbar dem Vitalismus
zuneigende Standpunkt des Verfassers deutlich er-
kennbar ist, ist selbstverständlich des Autors gutes
Recht; wenn aber an verschiedenen Stellen die
vitalistische Auffassung als die tiefere, phisolophi-
schere bezeichnet und die entgegengesetzte als
Verflachung betrachtet wird, so ist dies schon nicht
mehr eine objektiv dem individuellen Standpunkt
des einzelnen Forschers gerecht werdende Dar-
stellung. Und noch in einer anderen Beziehung
vermißt Referent die wünschenswerte Objektivität.
Es ist dies die geringe Einschätzung der von Rädl
als „Epigonenwissenschaft" bezeichneten Leistun-
gen der Forscher des 17. Jahrhunderts. Redi,
Malpighi, Swammerdam, Leeuwenhoek,
Rcaumur, Spallanzani — in diesen Namen
verkörpert sich doch eine so gewaltige Summe
ernster und vielfach grundlegender Arbeit, daß die
Abschätzung: ,,Die biologische Forschung aus dem
17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
bietet ein unerfreuliches Bild", nicht als gerecht
anerkannt werden kann. Daß unter dem Einfluß
der als neues Beobachtungswerkzeug in Gebrauch
genommenen Mikroskope und ihrer schrittweisen
Vervollkommnung zunächst die Bewältigung des
in ungeahnter Fülle neu sich darbietenden Stoffes
in den Vordergrund tritt, ist historisch wohl ver-
ständlich, und die sorgfältigen Beobachter, die
denn übrigens doch auch manches Ergebnis von
allgemeiner Tragweile erzielten — so z. B. Redi 's
Nachweis der Entstehung der Fliegenmaden aus Eiern,
Leeuwenhoek's Entdeckung der mikroskopischen
Lebewelt usf. — werden durch den wiederholten
Hinweis darauf, daß durch sie keine neue biolo-
gische Disziplin geschaffen, keine fruchtbaren
Ideen ausgesprochen wurden, zu einseitig beurteilt.
Seltsam berührt in einem den philosophischen
Standpunkt stark betonenden Buch die Bezeichnung
der Insekten als „fade Tiergruppe". Überhaupt
neigt Rädl stark zu Schlagworten. So z. B.
S. 16: „Während Hippokrates ein großer Prak-
tiker, Plato ein genialer Essayist, Aristoteles ein
wissenschaftlich gebildeter Philosoph , Plinius ein
aristokratischer Dilettant war, war Galen, der
Sproß der Alexandrischen Schule, ein Gelehrter von
Standesbewußtsein"; oder die Charakteristik von
Leibniz als typischer Repräsentant „des nach Viel-
seitigkeit und Genialität strebenden, aber an Klein-
lichkeiten haftenden Zeitalters" , des „Zeitalters
der langen Perrücken, der Jesuiten, der adeligen
Wissenschaft , der Blütezeit der Mathematik und
Mechanik, des Zeitalters, wo Newton das ein-
fachste Gesetz für das Sonnensystem entdeckte
und wo die Völker Europas dreißig Jahre lang
das Gesetz des gegenseitigen anständigen Be-
nehmens im eigenen Blute gesucht haben". Wenn
er Leibniz's Philosophie einer ,, unangenehm
kompromißartigen, alles Echte, Radikale, wahrhaft
Tiefe und Gesunde beiseite schiebenden Tendenz"
beschuldigt, so ist ihm Linne, der „sein Leben
lang keine einzige biologisch wichtige Tatsache
entdeckt" [war die Einführung des Artbegriffes,
die Verfasser einige Seiten später als „Linne's
unsterbliches Verdienst" bezeiclinet, nicht biologisch
wichtig?!, (Jet- „für die natürlichen Beziehungen
der Tiere und Pflanzen, für ihre natürliche Er-
scheinungsform .... so wenig Verständnis ge-
zeigt hat", ein „stiller, fleißiger, weltberühmter,
pedantischer" Gelehrter, ein „vom Staub der Ge-
lehrsamkeit bedeckter Forscher". Solche einseitigen
Beurteilungen finden sich in dem Werke noch
mehrfach.
Diesen Ausstellungen gegenüber, die zur Krhik
und teilweise zum Widerspruch herausfordern, sollen
die Vorzüge des Werkes nicht unerwähnt bleiben.
Es ist zunächst, wie schon aus dem Mitgeteilten
N. F. Xm. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
399
hervorgehen dürfte, eine durchaus originelle Arbeit.
Manche Persönlichkeit — so z.B. der von Rädl
mit besonderer Ausführlichkeit behandelte Para-
celsus — erscheint hier in neuem Licht; die
zahlreichen Literaturangaben setzen den Leser in
den Stand zu weiterer Nachprüfung; die ganze
Darstellungsweise des Verfassers ist lebendig, an-
ret^end, zum Nachdenken über die Probleme und
ihre Entwicklung stimmend, wenn auch, wie ge-
sagt, ein stark subjektiver Zug hindurchgeht.
Ausgehend von dem „Vermächtnis des Alter-
tums und Mittelalters", unter dessen Vertretern
namentlich Aristoteles und die an ihn anknüpfende
Scholastik näher besprochen werden, wendet sich
Verfasser zunächst zu Paracelsus, als Vertreter der
Renaissance, dem allein 4 Bogen gewidmet sind,
und dem etwas kürzer Vesal, Leonardo und Seve-
rino angereiht werden. Den Neu - Aristotelikern
Caesalpin und Harvey folgen die „Encyklopä-
disten" Wotton, Gesner, Aldrovandi u.a. Im folgen-
den Kapitel wird die Begründung der mechanisti-
schen Theorien durch Galilei, Bacon.Descar-
t e s , B o r e 1 1 i erörtert ; es folgt die schon erwähnte,
etwas einseitige Beurteilung der „Epigonenwissen-
schaft des 17. Jahrhunderts". Zwei weitere Kapitel
sind dem Paracelsisten van Helmont und den Vita-
listen (Stahl, Bichat) gewidmet. Der etwas gering-
schätzig bewerteten „Entomologenbiologie" des
17. Jahrhunderts wird die durch Leibniz, Bonnet,
v. Haller vertretene Periode, die „die Notwendigkeit
der Kompromisse mit vitalistischen Systemen an-
erkannte", als Aufschwung der Biologie gegenüber-
gestellt. C. F. Wolff als Hauptbegründer der
Epigenesis leitet über zu den drei abschließenden
Kapiteln, in denen Linne, Buffon und Cu vi er
behandelt werden. Der Streit Cuvier's mit Geofifroy
de St. Hilaire schließt den Band ab.
R. V. Hanstein.
derzeitigen Stand der Stereochemie interessieren,
um so mehr empfohlen werden, als sie auch die
Ergebnisse der neuesten Forschungen gebührend
berücksichtigt.
Clausthal i. H. Werner Mecklenburg.
E. Wedekind, Stereochemie. Bd. 201 der
„Sammlung Göschen". Kl. 8", 126 Seiten mit
42 Abbildungen im Text. Berlin und Leipzig
1914, G. J. Göschen'sche Verlagshandlung m.b.H.
In Leinewand gebunden 0,go Mk.
In dem vorliegenden Büchlein, dessen Verfasser
als Forscher eine große Reihe wertvoller Beiträge
zur Stereochemie des Stickstoffs geliefert hat, wird
nach einer Einleitung zunächst die Stereochemie
des Kohlenstoffs, dann die des drei- und fünfwertigen
Stickstoffs, des Schwefels, Selens, Zinns, Siliziums
und Phosphors besprochen. Dann folgt eine Dar-
legung der äußerst interessanten Ergebnisse, die
Werner bei den anorganischen Komplexverbin-
dungen erhalten hat und die in der Entdeckung
des asymmetrischen Kobalt-, Chrom-, Eisen- und
Rhodiumatoms gipfeln (vgl. Naturw. Wochenschr.,
Bd. II, S. 657 — 666; 1912). Ein Kapitel über die
sog. sterische Hinderung, d. h. die Beeinflussung
chemischer Reaktionen durch räumliche Faktoren,
schließt das Buch.
Die vorliegende „Stereochemie" ist klar und
sachgemäß und kann allen denen, die sich für den
Literatur.
Klingelhöffer, Dr. W. , Augenarzt, Das Auge und
seine Erkrankungen. Nr. 113 — 114 der „Thomas Volks-
bücher". Mit 22 Abbild. Leipzig, Theod. Thomas. Geb.
65 Pf.
Jentsch, Dr. Ernst, Julius Robert Mayer, seine Krank-
heitsgeschichte und die Geschichte seiner Entdeckung. Berlin
'14, Julius Springer. Geb. 4,80 Mk.
Voig tländ er 's Quellenbücher. Bd. 32: .\us der Ent-
deckungsgeschichte der lebendigen Substanz. Herausgegeben
von Dr. Gottfried Brückner. 60 Pf. Bd. 39: Im Kampf um
d.as Weltsystem (Kopernikus und Galilei). Von Adolf Kistner.
80 Pf. Bd. 45: Die Entdeckung des Generationswechsels in
der Tierwelt. Von Prof. Dr. Fr. Klengel. I Mk. Bd. 49:
Geschichte der Dampfmaschine bis James Watt. Von Max
Geitel. 1,20 Mk. Bd. 69: Die Lebenskraft in den Schriften
der Vitalisten und ihrer Gegner. Von Dr. Alfr. XoU. 80 Pf.
Hegi, Dr. Gustav, Aus den Schweizerlanden. Natur-
historischgeographische Plaudereien. Mit 32 Illustr. Zürich,
Orell & Füssli. Geb. 2,50 Mk.
Bauer, Dr. Hugo, Geschichte der Chemie I. 2. verb.
Aufl. Berlin und Leipzig '14, G. J. Göschen. Geb. 90 Pf.
Parsons, H. Franklin, Isolation Hospitals. Aus der
„Cambridge Public Health Series". Cambridge '14, University
Press. 12 s. 6 d.
Sa vage, William G. , The Bacteriological Examination
of Food and Water. Ebenda. Mit 16 Illustr. Cambridge
University Press '14. 7 s. 6 d.
Prof. Dr. Bastian S c h m i d ' s Naturw. Schülerbibliothek.
Leipzig und Berlin '14, B. G. Teubner.
Bd. 24: Prof. Dr. Konrad Guenther, Vom Tierleben
in den Tropen. Für 12 — isjährige Schüler aller Schulgattun-
gen. Mit 7 Abbild, im Text und I färb. Taf. I Mk. ;
Bd. 25: Prof. Dr. W. May, Große Biologen. Für reife
Schüler. Mit 21 Bildnissen. 3 Mk.
Hendschel's Luginsland, Heft 43 : Dr. Otto G o e b e 1 ,
Über Sibirien nach Ostasien, St. Petersburg und Moskau,
Tscheljabinsk-Mandschuria , Wladiwostok und Dairen. 2
Karten, 3 Streckenprofilen und 80 Abbild. Frankfurt a. M.
'14. 5 Mk.
Hoffman, Prof. Dr. Curt, Ältere und neuere Ansichten
über das Erdinnere. Vortrag bei der von der Oberrealschule
in Ravensburg gemeinsam veranstalteten Feier des Geburts-
tages S. M. des Königs Wilhelm II. am 26. Februar 1914.
Ravensburg '14, Fr. Alber. 80 Pf.
Rüst, Prof. Dr. Ernst, Grundlehren der Chemie und
Wege zur künstlichen Herstellung von Naturstoffen. Leipzig
und Berlin '14, B. G. Teubner. — Geb. 2 Mk.
Seubert, Prof. Dr. Karl, Ira Remsens Einleitung in das
Studium der Chemie. 5. Aufl. Mit 50 Abbild, im Text und
2 Tafeln. Tübingen '14, H. Laupp. Geb. 7 Mk.
Vol terra, Vito, Drei Vorlesungen über neuere Fort-
schritte der mathematischen Physik , gehalten im September
1909 an der Clark-University. Mit Zusätzen und Ergänzungen
des Verfassers. Deutsch von Dr. Ernst Lamla. Mit 19 Fig.
und 2 Tafeln. Leipzig und Berlin '14, B. G. Teubner. 3 Mk.
Palagyi, Melchior, Prof. Dr., Die Relativitätstheorie in
der modernen Physik. Vortrag, gehalten auf der 85. Natur-
forscherversammlung in Wien. Berlin '14, Georg Reimer.
1,50 Mk.
Vorträge über die kinetische Theorie der Materie und
der Elektrizität von M. Planck, P. Debye, W. Nernst, M. v.
Smoluchowski, A. Sommerfeld, H. A. Lorentz u. a. (Mathe-
matische Vorlesungen an der Universität Göttingen: VI.) Mit
7 Textfig. Leipzig und Berlin '14, B. G. Teubner. 7 Mk.
Dr. L. Rabenhorst's Kryptogamenflora von Deutsch-
land, Österreich und der Schweiz. Bd. 6: Die Lebermoose
(unter Berücksichtigung der übrigen Länder Europas). Mit
400
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. XIII. Nr. 25
vielen Te.xtabbild. Bearbeitet von Dr. Karl Müller. 19. Lief.
Leipzig '14, Ed. Kummer. 2,40 Mk.
Mäday, Dr. Stefan von, Gibt es denkende Tiere? Eine
Entgegnung auf Krall's „Denkende Tiere". Mit 6 Fig. im
Te.xt. Leipzig und Berlin '14, VV. Engelmann. — 9,60 Mk.
Wolff, Prof. Dr. F. v. , Der Vulkanismus. I. Band:
Allgemeiner Teil. 2. Hälfte. Die vulkanischen Erscheinungen
der Oberfläche. Lunarer und kosmischer Vulkanismus. Ge-
schichte der Vulkanologie. Mit 141 Textabbild. Stuttgart '14,
F. Enke. 13,40 Mk.
Stern, Dr. med. Lina, Über den Mechanismus der Oxy-
dationsvorgänge im Tierorganismus. Mit 12 Abbild, i. Text.
Jena '14, G. Fischer. 2,20 Mk.
Handbuch der Tropenkrankheiten. Unter Mitwirkung
von usw. . . herausgegeben von Prof. Dr. Carl Mense. 2. Aufl
II. Band. Mit 126 Abbild, im Text. 14 schwarzen und 6
farbigen Tafeln. Leipzig '14, J. A. Barth. Geb. 42 Mk.
Anzeiger der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften.
Mathematisch -naturwissenschaftl. Klasse. I. Jahrgang 1913.
Nr. I— XXVII. Wien '13, K. K. Hof- u. Siaatsdruckerei.
Sitzungsberichte der mathematisch-physikalischen Klasse
der K. B. Akademie der Wissenschaften zu München 19 13.
Heft III. München '13.
Verhandlung.n der Schweizerischen Naturforschenden Ge-
sellschaft. 96. Jahresversammlung vom 7. — 10. September
1913 in Frauenfeld.
Papers and Proceedings of the Royal Society of Tasmania
for the year 1913.
Rodway, Leonhard , Tasmanian Bryophyla Vol. 1.
Mosses. Hobart '14, The Royal Society of Tasmania.
Ostwald's Klassiker der exakten Wissenschaften. Leipzig
und Berlin '14, W. Engelmann.
Nr. 191: Abhandlungen über jene Grundsätze der Mechanik,
die Integrale der Differentialgleichungen liefern, von Isaac
Newton (1687), Daniel BernouUi (1745) ""^ I '74^) uod Patrick
d'Arcy (1747). Aus dem Lateinischen und Französischen
übersetzt von A. v. Oettingen. Herausgegeb. von Philip E. B.
Tourdain. Mit 34 Textfig. 2,80 Mk.
Ni. 193; Über die dynamische Theorie der Wärme usw.
von William Thomson. Ins Deutsche übertragen und heraus-
gegeben von Dr. W. Block. Mit 6 Fig. im Text. 5,20 Mk
Hentschel, Dr. E., Die Meeressäugeliere. Leipzig '14,
Th. Thomas, i Mk.
Thoraas, Prof. Dr. Friedrich A. W., Das Elisabeth
Linne-Phänoraen (sog. Blitzen der Blüten) und seine Deutungen.
Zur Anregung und Aufklärung, zunächst für Botaniker und
Blumenfreunde. Mit einer kleinen Farblafel. Jena '14, G.
Fischer. 1,50 Mk.
Klein, F. und Sommerfeld, A., Über die Theorie
des Kreisels. Heft 1. Die kinematischen und kinetischen
Grundlagen der Theorie. 2. durchgesehener .Abdruck. Leip-
zig und Berlin '14, B. G. Teubner. Geb. 6,60 Mk.
Bjerrum, Dr. Niels, Die Theorie der alkalimetrischen
und azidimetrischen Titrierungen. Mit II Textabbild. Aus
der Sammlung chemischer und chemisch-technischer Vorträge.
Stuttgart '14, F. Enke. 4,50 Mk.
Gräfe, Dr. Viktor, Ernährungsphysiologisches Praktikum
der höheren Pflanzen. Mit 186 Textabbild. Berlin '14, P.
Parey. 17 Mk.
Fester, Dr. Gustav, Die chemische Technologie des
Vanidins. Ebenda. 3 Mk.
Dr. Julius Hoffmann's Alpenflora für Alpenwanderer
und Pflanzenfreunde. Mit 283 farbigen Abbild, auf 43 Taf.,
meist nach Aquarellen von Hermann Friese. In 2. Auflage
mit neuem Text herausgegeben von Prof. Dr K. Giesenhagen.
Stuttgart '14, Schweizerbart'sche Verlagsbuchhandlung. Geb.
6 Mk.
Anregungen und Antworten.
Herrn Dr. L., Essen. — I. Zur Ansiedlung bedarf die
Auster eines festen Substrats und zwar bevorzugt sie sandigen
oder schlickigen Untergrund ; auf felsigem Boden kommt sie
seltener vor. Sie geht nur in geringe Tiefe, bis etwa 30 m,
herab, ist also eine typische Litoralform. Zum Gedeihen be-
nötigt sie einen Salzgehalt von mindestens i,7°'o; daher
kommt sie in der salzarmen Ostsee nicht vorwärts. Sehr gut
wächst sie jedoch in der Nähe von Flußmündungen, da hier
die Strömung für reichliche Nahrungszufuhr sorgt. Als Feinde
kommen hauptsächlich der Taschenkrebs, Carcinus maenas,
sowie Murex erinaceus , eine Verwandte der Purpurschnecke
in Betracht, ferner Seesterne, die sie gerne öffnen und ver-
zehren; auch Bohrschwämme und Bohrschnecken spielen eine
Rolle, da sie sich in die Schalen einbohren. Auf den Austern-
bänken siedeln sich gerne noch andere Muscheln wie Cardium
edulis und Mytilus edulis, die Miesmuschel, an; Moebius
hat gerade an diesen Beispielen den Begriff der Lebens-
gemeinschaft oder Biocoenose geprägt.
Literatur; Moebius, Die Austern und die Austernwirt-
schaft Berlin 1877.
2. Wenn wir hier ganz von den wenigen, das Süßwasser
bewohnenden Formen absehen, so teilen sich die marinen
Fo raminif e r en biologisch in die frei schwebenden, pcla-
gisch lebenden und die benthonisch, d. h. am Boden lebenden
Formen. Erstere sind an Artenzahl bei weitem in der Minder-
heit, indem nur einige 20 planktonischer Foraminiferen be-
kannt sind ; doch ersetzen sie diesen Mangel durch die unge-
heure Individuenzahl, so daß die herabgesunkenen Schalen der
toten Tiere den bekannten Globigerinenschlick bilden, der in
Tiefen von 700 — 5000 m den Boden , hauptsächlich des At-
lantic und des Indic bedeckt. Planktonisch lebend sind einige
Arten der Gattungen Globigerina, Pulvulina, Orbiculina u. a.
Die meisten Foraminiferen leben aber am Boden und zwar
sind hier solche, die direkt auf Steinen, Korallen, Muschel-
schalen mit ihrer Schale feslgewachsen sind, zu unterscheiden
von anderen, die an Pflanzen oder auf dem Boden leben, und
sich nur mit ihren Scheinfüßchen befestigen. Sie kommen
hier in allen Tiefen vor, doch nimmt die Arienzahl in der
Tiefsee bedeutend ab. Immerhin hat man unterhalb 4500 m
Tiefe noch 19 Arten gefunden gegenüber 138 Arten in Tiefen
von o — 100 m. Die Temperatur hat insofern einen Einfluß
auf die Gestalt, als bei manchen Arten, deren Schale aus
organischer Substanz — nicht aus Kalk — besteht, die Kälte
eine Vergrößerung der Schalen bewirkt, so daß hier die Indi-
viduen aus der Arktis oder der Tiefsee bedeutend größer sind
als die des tropischen Litorals. Bei Arten mit Kalkschale ist
dies Verhältnis umgekehrt, indem hier die Wärme die Kalk-
abscheidung begünstigt So waren die Nummulitcn, die ja
die Größe eines Talers erreichten, Warmwasserbewohner, so
daß man nach ihrem Vorkommen glaubt, die frühere Richtung
der Meeresströmungen feststellen zu können. Bemerkenswert
ist, daß manche Arten sich an Brackwasser mit bedeutend
verringertem Salzgehalt anpassen können; bei diesen wird dann
auch die Kalkschale bedeutend reduziert. Auch der Wellen-
schlag scheint einen Einfluß auf die Schalenbildung zu haben,
indem die Schalen um so kräftiger werden, je flacher und
bewegter das Wasser ist.
Literatur; Rhumbler, L. , Die F'oraminifcren. In Er-
gebnisse der Planktonexpedition Bd. III, Abt. L, 1912. Dof-
lein. F., Lehrbuch der Protozoenkunde. Jena. Steuer, A.,
I'lanktonkunde. Leipzig 1909. Walther, J, Einleitung in
die Geologie als historische Wissenschaft. Jena 1 892. Stromer
von Reichenbach, E., Lehrbuch der Paläozoologie. Bd. 1.
Leipzig 1910. May, W. , Korallen und andere gesteinsbil-
dende Tiere (Aus Natur und Geisteswelt. Populär.)
Dr. H. Balß, München.
Inhalt: Lehmann; Über Keimverzug. Bachmann; Das Nannoplankton. — Einzelberichte: Vasuhiko Asahina:
l'ber das Anemonin. Rudolph; Verhältnis des Binnenraums des Schädels, der „Schädelkapazilät" zum Gehirn.
Haberlandt; Barymorphose und Statolithentheorie. v. Sc h ar f e nber g ; Über die experimentelle Beeinflussung der
Dauereibildung und des Geschlechts bei Cladoceren. Stingelin; Neue tropische Planktonorganismen — Bücher-
besprechungen: Lorscheid; Lehrbuch der anorganischen Chemie. Kadi: Geschichte der biologischen Theorien
in der Neuzeit. Wedekind; Stereochemie. — Literatur: Liste. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H.Mi ehe in Leipzig, Marienslrafle IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert S Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 28. Juni 1914.
Nummer 26.
Die neuere Entwicklung der Lehre von der chemischen Affinität.
[Nachdiuck verboten.]
\^on Werner
I. Einleitung. Das alte und vielbearbeitete
Problem der chemischen Affinität, d. h. die Frage
nach den Gesetzen, denen das Wechselspiel der
Atome bei der Bildung der molekularen Verbände
gehorcht, hat in den letzten Jahren, besonders
dank den umfassenden Arbeiten von Walt her
Nernst und seinen Schülern, grundsätzliche För-
derung erfahren, und so möge denn im folgenden,
gewissermaßen zur Feier des fünfzigsten Geburts-
tages von Nernst,^) ein kurzer Bericht über die
Entwicklung der Lehre von der chemischen Affi-
nität in der neueren Zeit erstattet werden.
Die neuere Affinitätslehre ist in erster Linie
durch die Anwendung der Thermodynamik auf
chemische Vorgänge gekennzeichnet, nachdem
van't Hoff als Maß für die chemische Affinität
die maximale Arbeit eingeführt hatte, die der
chemische Vorgang zu leisten vermag, wenn er
bei konstanter Temperatur („isotherm") und ohne
Arbeitsverlust durch sekundäre Vorgänge („rever-
sibel") verläuft. Diese maximale Arbeit A , die
auch als „freie Energie" bezeichnet wird, weil sie
den Teil der gesamten umgesetzten Energie dar-
stellt, die der Experimentator ganz beliebig zur
Leistung äußerer Arbeit oder zu anderen Zwecken
verwenden kann, ist, wie die Thermodynamik
lehrt, mit der Abnahme /\U, die die Gesamt-
energie des reagierenden Systems erfährt, durch
die Fundamentalgleichung
-AU = -a-KtQ^,
(!)
verbunden, in der T die absolute Temperatur und
l-5-=| den auf konstantes Volumen bezogenen
Temperaturkoeffizienten der maximalen Arbeit
darstellt. ')
') Hermann Walther Nernst wurde am 25. Juni
1864 in Briesen in Westpreußen geboren. P> studierte 1S83
bis 1887 in Züricli, Berlin, Graz und Würzburg und ging
nach der in V\'ürzburg eifolgten Promotion 18S7 als Assistent
zu Wilhelm Ostwald nach Leipzig. Im Jahre 1889 habi-
litierte er sich in Leipzig, wurde 1891 an die Universität
Göttingen in das neu gegründete Extraordinariat für physika-
lische Chemie berufen und wirkte dort — seit dem Jahre
1894 als Ordinarius — bis zum Jahre 1905, in dem er als
Nachfolger von Hans Landolt als ordentlicher Professor
und Direktor des Instituts für physikalische Chemie nach
Berlin berufen wurde.
^) In diesem Bericht werden bei der Aufstellung der
Energiebilanz sämtliche dem reagierenden System als Arbeit
oder Wärme oder in irgendeiner anderen B'orm zugeführten
Energiemengen als Gewinn gebucht und darum mit dem Plus-
zeichen versehen, während alle von ihm als Arbeitsleistung
oder Wärmeentwicklung an die .\ußenwelt abgegebenen
Energiemengen auf das Verlustkonto geschrieben und darum
Mecklenburg.
Die Abnahme der Gesamtenergie — /\JJ läßt
sich leicht messen: sie ist gleich der Wärme-
entwicklung — Q der Reaktion, sofern bei der
Reaktion auf Arbeitsleistung überhaupt verzichtet
und sie allein zur Abgabe von Wärme nach außen
benutzt wird:
-AU = -Q (2)
Wir können Gleichung (i) also auch in der Form
-Q = -A+Tg4)^ (la)
schreiben.
Nun hatte man früher, bevor van't Hoff
als Maß für die Affinität die maximale Arbeit
der Reaktion eingeführt hatte, im Anschluß an
Thomsen und vor allen Dingen an Berthe -
1 o t die Wärmeentwicklung — O chemischer Vor-
gänge als Maß für die Affinität angesehen. Die
Gleichung (la) zeigt, daß das Berthelot-
sche und das van't Hoff sehe Maß im allge-
meinen nicht identisch sind; Wärmeentwicklung
und maximale Arbeit sind nur dann einander
gleich, wenn das zweite Glied auf der rechten
Seite der Gleichung (la)
T-(dTl = °
ist, d. h. wenn entweder der Temperaturkoeffizient
der Affinität
|dA\
(dT)v = °
ist oder wenn die Reaktion sich beim absoluten
Nullpunkt
T = o
abspielt. In allen anderen Fällen geben die beiden
Meßmethoden verschiedene Werte, und es handelt
sich daher um die Frage, ob die van't Hoff-
sche oder ob die B e r t h e 1 o t ' sehe Methode
zweckmäßiger ist. Diese Frage ist dahin zu be-
antworten, daß als Maß für die Affinität nur eine
Größe in Betracht kommen kann, die bei allen
freiwillig verlaufenden Vorgängen einen negativen
Wert hat, und diese Bedingung wird wohl von
der freien Energie — A , nicht aber von der
Wärmeentwicklung — O erfüllt; kein einziger frei-
willig verlaufender Vorgang ist init Aufnahme
von freier Energie verknüpft, während viele frei-
willig verlaufende Vorgänge mit einer Aufnahme
von Wärmeenergie verbunden sind. Demnach ist
die Berthelot' sehe Methode der Affinitäts-
messung weniger zweckmäßig als die van't Hoff-
negativ gerechnet werden. Die .^flinität selbst muß darnach
als Arbeitsleistung des reagierenden Systems mit dem negativen
Vorzeichen versehen werden.
402
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 26
sehe. Im folgenden wird daher als Affinität einer
Reaktion allein die maximale Arbeit oder die freie
Energie bezeichnet; die drei Ausdrücke „Affinität",
„maximale Arbeit" und „freie Energie" werden
unterschiedslos nebeneinander gebraucht werden.
2. Die Methoden zur Messung der chemi-
schen Affinität. — Um die in Gleichung (i) ent-
haltene theoretische Definition der chemischen
Affinität für die Chemie nutzbar zu machen, muß
der Chemiker außer der Änderung der Gesamt-
energie
-AU = — Q (2)
vor allen Dingen die Affinität A selbst auswerten,
d. h. er muß erstens dafür sorgen , daß die Re-
aktion vollkommen isotherm und reversibel ver-
laufe, und zweitens die bei diesem isothermen
und reversibelen Verlauf in maximo zu gewinnende
Arbeit — A messen.
Hier kommen vor allen Dingen zwei Methoden
in Frage :
Die genaueste und bequemste, leider aber nicht
immer anwendbare Methode der Affinitätsmessung
besteht in der Messung der elektromotorischen
Kraft E, die ein aus den reaktionsfähigen Stoffen
zweckmäßig aufgebautes, isotherm und reversibel
arbeitendes galvanisches Element liefert. Werden
in dem Element m Wasserstofifäquivalente der
wirksamen Stoffe umgesetzt, so ist, da bei der
Umsetzung eines WasserstofTäquivalents 96 540
Coulomb durch das Element fließen, die maxi-
male Arbeit — A, die das Element bei der Um-
setzung liefert,
— A= — m -96 540- E- Volt-Coulomb (3)
oder, im Wärmemaß ausgedrückt,
— A = — m • 0,2388 • 96 540 • E = — 23046 m • E cal.
(3a)
E ist nach bekannten Methoden leicht meßbar,
m ist durch die Gleichung der in dem Element
ablaufenden chemischen Reaktion gegeben , also
läßt sich — A aus den Gleichungen (3) oder (3a)
berechnen.
Die zweite Methode beruht auf der Messung
der Gleichgewichtskonstanten reversibler chemi-
scher Reaktionen im homogenen System und
wird hauptsächlich bei Gasreaktionen, nicht selten
aber auch bei Reaktionen im Lösungen ange-
wendet. Wenn eine Reaktion im homogenen
System nach dem Schema
5^1 + ^^2 + ^'3 + • • • <=^ Xj + X., + Xg -f- . . .
bei konstantem Volumen verläuft, so ergibt sich,
wie van't Hoff gezeigt hat, die maximale Ar-
beit, die die Reaktion bei isothermem und rever-
siblem Verlauf zu leisten vermag, nach der Glei-
chung (4)
■A = — RTln
■Cn-c,
C, -C^ -Cg
-RTln
Cj • Cj -L-g .. .
in der
(4)
A die Affinität der Reaktion
R die Konstante der Gasgleichung
T die absolute Temperatur
^17 ^2' *^3
Cj,C.,,C.,,
c., c.
C ' C ' C '
i3 2
TD ^3
O a;
\^, X.i, x^ . . .
Molekularkonzen-
die Molekularkonzentrationen
der Molekülarten Xj,x.2,x.j ...
die Molekularkonzentrationen
derMolekülartenXj,X.,,X3 ...
. die Molekularkonzen-
trationen der Molekül-
arten X,
. die
trationen der Molekül-
arten Xj, X2, Xg . . .
und In den natürlichen Logarithmus bedeutet.
Inir die Bildung von Wasserdampf aus seinen
Elementen, die nach der Gleichung
H2 + H.3 + 0.3 <i± H.,0 + H.jO
verläuft, wäre die Affinität also
chj • chj • Co, Ti -T-1 _ C'h,o -^'hjO
■c'h,-c'o.
'S Pi _y w
j^ t/) 'C 4-1
y c .2 S
fj CD
bß
-A = — RTln
= — RTln
ChjO • Ch^o
C-H,, -Co,
C-H..(l
— RTln
Q2
RTln
H2O
C'^H.-C'o,
wenn die c die Molekularkonzentrationen der als
Indices angegebenen Molekülarten auf der linken
Seite der Reaktionsgleichung, die C die auf der
rechten Seite der Reaktionsgleichung vor Beginn
der Reaktion und die c' und C' in entsprechen-
derweise die Molekularkonzentrationen nach Er-
reichung des Reaktionsgleichgewichtes darstellen.
Nach dem Massenwirkungsgesetz '') ist der Quotient
aus den Produkten der Molekularkonzentrationen
der rechten und der linken Seite der Reaktions-
gleichung im Reaktionsgleichgewicht konstant:
c' -c' -c' ~ ^^''
•- 1 <- 2 *- 8 • • •
eine wichtige Gleichung, die, da sie nur unter der
Voraussetzung konstanter Temperatur T gilt, als
Reaktionsisotherme bezeichnet wird.
Setzen wir Gleichung (5) in Gleichung (4) ein,
so erhalten wir die Beziehung
A = — RThw
* Co ■ Co
— RTlnk (6),
C .C -C
^1 ^2 "^s • • •
die die Affinität einer bei konstantem Volu-
men verlaufenden Gasreaktion aus den Anfangs-
konzentrationen der reagierenden Stoffe und der
durch die chemische Analyse des Reaktions-
gemisches experimentell zu ermittelnden Gleich-
gewichtskonstanten k der Reaktion zu bestimmen
gestattet.
3. Die Integration der allgemeinen Affinitäts-
gleichung. Nach dieser Abschweifung über die
Methoden, die der Chemie zur Messung der chemi-
schen Affinität zur Verfügung stehen, kehren wir
zur allgemeinen Affinitätsgleichung (1) oder (la)
-AU=-a+t(^)v=:-o
zurück. Die vollständige Integration dieser Differen-
tialgleichung ist offenbar ohne weiteres nicht mög-
lich, weil die Wärmeentwicklung Q der Reaktion
') Vgl. A. Orechow, „Das Massenwirkungsgesetz und
seine Bedeutung" (Naturw. Wochenschrift, N. F. Bd. VI, S. 536
bis 541 ; 1907).
N. F. XIII. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
403
ja keine Konstante ist, sondern ähnlich wie die
Affinität selbst auch von der absoluten Temperatur
T abhängt. Wir müssen uns also zunächst mit
einer partiellen Integration begnügen:
(7)
^ „ f QdT , „
In dieser Gleichung ist J die Integrationskonstante.
Nun läßt sich die Abhängigkeit der Wärmetönung
Q der Reaktion von der Temperatur leicht aus den
Änderungen berechnen, die die spezifischen Wärmen
der an der Reaktion teilnehmenden und der durch
sie gebildeten Stoft'e mit der Temperatur erleiden:
Nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik
ist der Temperaturkoeffizient der Reaktionswärme
gleich der algebraischen Summe der spezifischen
Wärmen der Reaktionsteilnehmer, wenn die spezi-
fischen Wärmen der reagierenden Stoffe auf der lin-
ken Seite der Gleichung mit positivem, die der
Reaktionsprodukte auf der rechten Seite der Glei-
chung mit negativem Vorzeichen versehen werden.
Da nun die spezifische Wärme nur verhältnismäßig
langsam und vollkommen kontinuierlich mit der
Temperatur ansteigt, kann die Abhängigkeit der
spezifischen Wärme '!i eines Stoffes von der
Temperatur durch eine Interpolationsgleichung
von der I'orm
d.n_
dT
= a,+ftT + y,T^ +
dargestellt werden, in der a^ die spezifische Wärme
beim absoluten Nullpunkt, ß^, Yi ■ ■ ■ die Tempe-
raturkoeffizienten bedeuten. Folglich wird der
dQ
Temperaturkoeffizient der Reaktionswärme
dT
^=«l+«2+«3+ •••+(A+A.2+,^3+ • • OT
durch die Gleichung
dQ
dT"
+ (yi+r-3 + ;'3+ ...)t^+. ..
wiedeigegeben, die nach der Integration die Form
Q = Q„ + («, + a, + a, + . . . ) T + ^ (A + ß, +
ß,+ . . .)T^' + H;'i + J'2 + ;':i + ---)T^+ • • •
oder, wenn wir
«1 + «2 + «3 + • • • = «
i (/i + 72 + ^3 + ■ • •) =y
setzen, die Form
Q = Qo + «T + /Sr^ + yT3+... (8)
annimmt, in der die Integrationskonstante Q,, die
Reaktionswärme beim absoluten Nullpunkt bedeutet.
Durch Einführung dieser Interpolationsgleichung
(8) in die partiell integrierte Affinitätsgleichung (7)
und vollständige Integration erhalten wir
— A = — Qo + öTlnT+,iT-^4-^T3+...— J.T
Auf der linken Seite dieser wichtigen Gleichung
(9) steht nur die chemische Affinität, auf der
rechten Seite aber außer den thermischen Größen
Qo) ''i ß< 7 ■ • • und T noch — und das ist das
Wesentliche — die Integrationskonstante J : Selbst
wenn die Abhängigkeit der Wärmetönung einer
Reaktion von der absoluten Temperatur bekannt
ist, läßt sich die Affinität der Reaktion doch nicht
allein aus den thermischen Größen berechnen,
weil wir den Zahlenwert der Integrationskonstanten
J zunächst nicht kennen. Diesen können wir
nur experimentell bestimmen, indem wir A für
eine beliebige Temperatur T messen und dann
J aus der Affinitätsgleichung (9) berechnen. Da-
gegen gibt es keine Möglichkeit, J mit den Hilfs-
mitteln der klassischen Thermodynamik, d. h. den
beiden Hauptsätzen allein zu berechnen: Die Integra-
tionskonstante J wird von der klassischen Thermo-
dynamik unbestimmt gelassen. Um den Zahlen-
wert von J auf theoretischem Wege zu ermitteln,
bedürfen wir etwas grundsätzlich Neuem, das in
der klassischen Thermodynamik nicht enthalten
ist, und dieses grundsätzlich Neue hat N e r n s t
der Wissenschaft geschenkt. Es ist das N ernst -
sehe Theorem.
4. Das Nernst'sche Theorem. Den Ausgangs-
punkt für Nernst's Überlegungen bildet u. a.
die Tatsache, daß die Berthelot 'sehe Regel,
nach der die Affinität einer Reaktion ihr Maß in
der die Reaktion begleitenden Wärmetönung haben
sollte, zwar, wie bereits weiter oben dargelegt
wurde, keineswegs ein allgemeingültiges Gesetz ist,
daß aber, wie N ernst betont, „im großen und
ganzen allerdings der Eintritt von Reaktionen,
welche Wärme entwickeln, mit bedeutend größerer
Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist als derjenige
endothermischer Reaktionen, daß also sehr häufig
der Sinn der chemischen Kräfte mit dem zusammen-
fällt, in welchem ein chemischer Vorgang unter
Wärmeentwicklung verläuft. Diese Regel, die
wir als unbedingtes Naturgesetz durchaus verwerfen
mußten, trifft in der Tat denn doch gar zu häufig
zu, als daß wir sie gänzlich ignorieren dürften;
die unbedingte Anerkennung wäre daher nicht ver-
kehrter als ihre gänzliche Außerachtlassung."
Versucht man, die integrierte Affinitäts-
gleichung (9)
-A = -Q,-|- «TlnT+/^T'^+^T«+ . . . - JT
(9)
graphisch wiederzugeben, so erhält man (vgl. Abb. i)
1
T3
C
<:
-Ai
"■■■■r^,
-Ae:
■■:A5
••-A,
->T
Abb. I.
404
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 26
je nach dem Zahlenwerte, den man der Integrations-
konstanten J beilegt, unendlich viele Kurven, Aj,
A.,, A.J . . ., die nur darin übereinstimmen, daß sie
sämtlich gegen die Temperaturachse konkav ge-
krümmt sind und sämtlich im absoluten Nullpunkt
init der Kurve O zusammentreffen, die die Abhängig-
keit der Reaktionswärme von der Temperatur
darstellt. Aus den unendlich vielen Kurven Aj,
A.i, A.; . . . die richtige herauszusuchen, vermag
die klassische Thermodynamik nicht.
N ernst traf nun eine außerordentlich glück-
liche Auswahl unter den A-Kurven. Aus der Tat-
sache, daß die Bert helot'sche Regel besonders
häufig bei den sogenannten „kondensierten Reak-
tionen" zutrifft, d. h. bei solchen Reaktionen, die
sich nur zwischen reinen festen (oder auch flüssigen)
.Stoffen, also „im kondensierten System" abspielen,
an denen aber Gase oder Lösungen nicht beteiligt
sind, bildete er sich die Vorstellung, daß die A-
Kurve und die 0-Kurve nicht nur beim absoluten
Nullpunkt zusammenfallen, sondern daß sie sich —
diese Hypothese gilt nur für kondensierteReaktionen !
— schon vorher asymptotisch nähern. Da die
Krümmung der beiden Kurven mathematisch ihr
Maß in den beiden Differentialquotienten
dA j dO
dT ""'^ df
hat, so wäre die Nernst 'sehe Vermutung durch
den Satz wiederzugeben, daß die Grenzwerte
,. dA , ,. dQ
lim ^pi, und hm -^
dT dl
für T = O einander gleich werden :
,. dA ,. dO .... T, ,
hm -:z^ = hm (für I --o) (10).
Durch diese Hypothese, das Nernst' sehe
Theorem, das, im Jahre 1906 aufgefunden, seit-
dem sowohl in physikalischer als auch in chemi-
scher Hinsiclit vielseitigster experimenteller Prüfung
unterworfen worden ist und bislang in keinem
einzigen Falle versagt hat oder gar als unzutreffend
befunden worden ist, wird unter der Gesamtzahl
der A-Kurven eine einzige ausgewählt; ihren Ver-
lauf im Verhältnis zur OKurve zeigt das Diagramm
in Abb. 2, das die Abhängigkeit der Wärmetöiiung
Q und der Affinität A von der absoluten Temperatur
für die kondensierte Reaktion zwischen kristall-
wasserfreiem Ferrozyankalium und Eis
KjFe(CN)« + 3H,,0 = K,Fe(CN), • 3H.,( )
wiedergibt.
5. Die Anwendung des Nernst'schen Theo-
rems auf die Affinitätsgleichung. Um das
Nernst 'sehe Theorem auf die Affinitätsgleichung
anwenden zu können, müssen wir zunächst die
beiden Difterentialquotienten
dA , dQ
dT ""^ dT
berechnen, in den beiden Gleichungen dann T = o
setzen und die beiden so erhaltenen Werte einander
gleichsetzen. Aus der Affinitätsgleichung (9), in
der wir die Reihe hinter dem dritten Gliede ab-
brechen, also der Gleichung
- A = - Qo + oTlnT + ^T -' - J F (9a)
folgt
dA
^y = — ölnT — « — 2/:?T + J (11)
und aus der ebenfalls hinter dem dritten Gliede
abgebrochenen Interpolationsgleichung (8)
y = Qü + "T + ,i'T-^ (Sa)
folgt
g = «+2iST (12)
Für T = 0 gehen die Gleichungen (ii) und (12)
in die Grenzwerte über
dA , ,
: J — «InO— «
lim
dT
I la
und
,• dQ
hm ,.„= c(
d 1
(12a)
Diese beiden Werte (iia) und (i2a) sind nach
dem Nernst'schen Theorem einander gleich zu
setzen, also ist
J — « Ino — a = a (13)
oder J = « Ino ('Sa)
Nun ist der Logarithmus von o bekanntlich
negativ unendlich
In O = — 00
Wenn das « einen endlichen Wert hätte, so
müßte die Integrationskonstante J ebenfalls negativ
unendlich werden, was offenbar unzulässig ist.
Also muß sein
« = 0 (14)
-1500-f
Abb. 2.
d. h. die algebraische Summe der spezifischen
Wärmen der Reaktionsteilnehmer beim absoluten
Nullpunkt ist gleich Null, ein sehr überraschender
Satz, der jedoch durch direkte Messungen, die im
Nernst'schen Laboratorium in den letzten Jahren
ausgeführt worden sind, vollkommen bestätigt
worden ist; Die spezifische Wärme aller einzelnen
Stoffe wird beim absoluten Nullpunkt gleich Null,
also ist auch ihre algebraische Summe gleich
N. F. XIII. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
40s
Null 0 Aus (Tleicliung (14) folgt ohne weiteres
J = o (15)
und damit muß auch
,. dA ,. dO . ,,
hm ,^ = hm;j-4r = o (16)
dl dl
sein, d. h. die A- und die O-Kurve triflt im Winkel
von 90" aut die A- und 0-Achse des Koordinaten-
systems.
Die von der klassischen Thermod)-namik un-
bestimmt gelassene Integrationskonstante J der
allgemeinen Affinitätsgleichung (9) hat also nach
dem N e r n s t ' sehen Theorem den Wert Null, und
die Gleichung der Wärmetönung (Sa) und insbe-
sondere die Affinitätsgleichung (9 a) nehmen darum
die h'ormen
-Q = -Oo-,^T-^ (17)
und — A = — Qo+^T^ (18)
an: Die beiden Kurven sind in der Nähe des
absoluten Nullpunktes symmetrisch, wie das Bei-
spiel in Abb. 2 ja auch zeigt; bei höheren Tempe-
raturen, wenn die anderen Glieder hinter dem
;:?-Glied, hinter dem die beiden Gleichungen ab-
gebrochen worden sind, nicht mehr vernachlässigt
werden dürfen, verschwindet die Symmetrie, wie
schon die Betrachtung der Gleichungen (8) und (9)
erkennen läßt.
Das Ergebnis dieses Abschnittes läßt sich in
folgende Worte zusammenfassen; Durch das
Nernst'sche Theorem ist die Berechnung che-
mischer Affinitäten allein aus thermischen Größen
wenigstens für kondensierte Reaktionen, für die
allein ja die Gleichung
dA ,. dO ,... _ , , ,
hm ,^ = hm ~(furT=o) (10)
dT
nur gilt, möglich geworden. Für kondensierte
Reaktionen ist danach vom Standpunkte des
Thermodynamikers aus das Problem der chemischen
.Affinität gelöst, und daß es damit im Prinzip
auch für homogene Gasreaktionen (und Lösungen)
und weiter auch für heterogene Reaktionen ge-
löst ist, werden die folgenden Abschnitte zeigen.
6. Die Reaktionsisochore. — Wie aus der
Gleichung (6)
— A = — RTlnk — RTln "
hervorgeht, hängt die maximale Arbeit, die eine
bei konstantem Volumen verlaufende homogene
Gasreaktion zu leisten imstande ist, in hohem
Maße von den zufälligen Konzentrationsverhält-
nissen ab, in denen sich das reaktionsfähige System
vor der Reaktion befunden hat, und es hat daher
auch keinen Sinn, diese maximale Arbeit zur Grund-
lage weiterer Untersuchungen zu machen. Un-
abhängig von den zufälligen Konzentrationsverhält-
nissen aber ist die Gleichgewichtskonstante k, und
an sie haben daher die weiteren Überlegungen
anzuknüpfen.
■*) Vgl. die demnächst in der Naturw. Wochenschrift er-
scheinende Besprechung von Estreicher, ,,Die Kalorimetrie
der niedrigen Temperaturen".
Um zunächst die Gesetzmäßigkeit, nach der
die Gleichgerichtskonstante k von der Temperatur
abhängt, kennen zu lernen, führen wir den aus
Gleichung (6) entnommenen Wert für die Affini-
tät der Gasreaktion und ihres Differentialquotienten
in die allgemeine Affinitätsgleichung
-Q = -A + Tp^ da)
ein und erhalten dann, indem wir, um Irrtümern
vorzubeugen, Qoas anstatt O setzen, sobald es
sich um
handelt.
oder
die Wärmetönung von Gasreaktionen
O
Gas ■
dlnk:
+ RT-
Qoas
RT'-
dlnk
dT
dT
(19)-
Um diese Gleichung, die sog. „Reaktionsiso-
chore", die die Abhängigkeit der Gleichgewichts-
konstanten k von der Reaktionswärme Qg;,^ und der
Temperatur T angibt, zu integrieren, müssen wir
für Qcas wieder eine Interpolationsgleichung
Qoas = QoGas + aT + bT'^ (20)
einsetzen, in der QuGas wie früher die Reaktions-
wärme bei der absoluten Temperatur o und a und b
wieder die algebraische Summe der spezifischen
Wärme der Reaktionsteilnehmer und ihrer Tempe-
turkoeffizienten sind. Die integrierte Form der
Reaktionsisochore ist dann
QoGas a . „, b ,
RT ~R R
wenn mit J' die auch hier wieder von der klas-
sischen Thermodynamik unbestimmt gelassene,
mit der Konstanten J der nur für kondensierte
Reaktionen geltenden Gleichung (9) natürlich nicht
identische Integrationskonstante bezeichnet wird.
Die Auswertung dieser Integrationkonstanten ist
die nächste Aufgabe.
7. Die Auswertung der Integrationskon-
stanten J' der Reaktionsisochore. — Die Affinität
einer Gasreaktion läßt sich, wie weiter oben dar-
gelegt worden ist, nach der Gleichung
Ink:
T + J' (19a),
A = — RTln
c, -c.
Uj • L.2 • V'S '
RTlnk (6)
aus den Anfangskonzentrationen c^, c,,, c.
und
C,, C, Cg . . . der Reaktionsteilnehmer, der Gleich-
gewichtskonstanten k, der absoluten Temperatur T
und der Gaskonstanten R berechnen. Diese
Gleichung (6) gilt — darauf wurde bereits hinge-
wiesen — unter der Annahme, daß die Reaktion
bei konstantem Volumen verläuft. Für den F^all,
daß die Reaktion nicht bei konstantem Volumen,
sondern bei konstantem Druck verläuft, muß die
Gleichung etwas erweitert werden, da ja mit dem
Verschwinden und dem Neuauftreten von Gas-
406
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 26
molekülen bei konstantem Druck eine Arbeits-
leistung verbunden ist: Für jedes verschwindende
Mol wird die Arbeit RT gewonnen, und für jedes
neu auftretende Molekül muß die gleiche Arbeit
RT aufgewendet werden. Verschwinden also bei
der Reaktion n Mole und werden gleichzeitig n'
Mole neu gebildet, so ist der Arbeitsgewinn
nRT n'RT = (n ~ n')RT
zu buchen, so daß sich als maximale Arbeit Ai
der Gasreaktion bei konstantem Druck der Wert
Ai
RTln ^ '-
— RTlnk -|- (n — n')RT (21)
ergibt.
Nun kann dieselbe Gasreaklion, anstatt sich
direkt im Gaszustande abzuspielen, auf einem Um-
wege über das kondensierte System verlaufen.
Die auf diesem Umwege in maximo gewinnbare
Arbeit — sie werde als An bezeichnet — be-
rechnet sich als .Summe folgender Einzelarbeiten:
a) Zunächst werden die Gase, deren .Anfangs-
druck p sein möge, bis zum Sättigungsdampfdruck
p' komprimiert; dabei haben wir für jedes Mol
die Arbeit
A'i = RTln P' ,
V
für alle Gase zusammen also die Arbeit
RTlnP'^ + ..
1>3
A, =RTlnP' +RTlnl'- 4
Pi P2
Pi-Ps-Pa---
zu leisten.
b) Die unter dem Sättigungsdampfdruck stehen-
den Gase werden zu festen Körpern oder reinen
Flüssigkeiten kondensiert; das bedeutet für n Mole
den Arbeitsgewinn
A., = nRT.
c) Nunmehr lassen wir die Reaktion im konden-
sierten System vor sich gehen, wobei die .Arbeit
^H = Atond.
geleistet wird.
d) Die Reaktionsprodukte — n' Mole — lassen
wir so verdampfen, daß sie nach der Verdampfung
gerade wieder unter dem .Sättigungsdruck P' stehen.
Dieser Vorgang schenkt der Außenwelt die .Arbeit
A, = — n'RT.
e) Die unter dem Sättigungsdruck P' stehenden
Gase werden dilatiert, bis sie wieder unter dem
Anfangsdruck P stehen, ein \'organg, bei dem das
System die Arbeit
?' .P' .P'
^ 1 ■ ^ 2 ■ ^ 3 • • •
leistet.
Der Gesamtarbeitsertrag An, den die Reaktion
auf diesem Umwege leistet, ist also
- A„ ^ A, + A., + A3 + A, + A,
RTln
Pi-Po-Pa
+ nRT - Ak
Pi-P-2-p3 • • •
P'
RTln '
n'RT
P' .P'
P . P
oder, wenn wir an Stelle der Anfangs- und End-
dampfdrucke pj, p.j, pa . . . und P], P.,, P.5 ... die
Konzentrationen in der früheren Bezeichnung
Cj, c.,, C3 . . . und C, , Cj, Co . . . und an Stelle der
Sättigungsdampfdrucke p'j, p',,, p'g . . . und V\, V\,
P'3 ... die Konzentrationen der gesättigten Dämpfe
J'i' 72' "/i ■■■ und I\, I'o, Tg... einführen und die
zusammengehörigen Glieder zusammenfassen,
-A,
— RTln
• c, -c.
C j • Ug • L3 ,
-RTln^
ri-j'2
-Aucui. + (n-n')RT
Da sich nun beide Reaktionen , die direkte
wie die indirekt über das kondensierte System
verlaufende, bei konstantem Druck isotherm und
reversibel abgespielt und beide vom gleichen An-
fangs- zum gleichen Endzustand geführt haben,
so müssen auch die maximalen Arbeiten gleich
sein:
— Ai = — Au.
Also ist auch
-RTlnAlMj
= — RTln
RTln
c .c .r
^1 ^2 ^3 • •
Ci-Cj-C,...
r .r .r
v,j ^2 ^3 • •
i\-r,-i\..
RTlnk -|-(n — n')RT
+ (n- n')RT
— A
kond.
ode
— RTlnk = — RTln '^'■''i^:'^--Ako.j (22)
■/i-y-i-Y-i---
Die Gleichgewichtskonstante einer Gasreaktion
läßt sich also aus der Affinität der kondensierten
Reaktion und den Konzentrationen berechnen, die
die bei der Reaktionstemperatur T gesättigten
Dämpfe der Reaktionsteilnehmer besitzen. Um
sie allein aus thermischen Daten berechnen zu
können , müssen wir also schließlich noch die
Konzentration der gesättigten Dämpfe als Funk-
tion nur thermischer Größen ausdrücken.
Wenden wir die Gleichung der Reaktions-
isochore
.<2oG3._a,_^.j._b^_^j, (.9a)
Ink^
RT R
R
auf den Verdampfungsvorgang an, so ist k gleich
der Konzentration des gesättigten Dampfes /',
-(-OyGas gleich der latenten Verdampfungswärme
— L„ beim absoluten Nullpunkt, während die Tem-
peraturkoeffizienten a und b der Wärmetönung Qc.ns
gleich den Temperaturkoeffizienten A und B der
Verdampfungswärmen zu setzen sind. Wenden wir
auf die Temperaturkoeffizienten A und B den be-
reits weiter oben benutzten Satz an, daß der
Temperaturkoeffizient der Reaktionswärme, hier
also der Verdampfungswärme, gleich der algebra-
ischen Summe der spezifischen Wärmen der Re-
aktionsteilnehmer, also der der Flüssigkeit und
N. F. XIII. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
407
der des gesättigten Dampfes ist, so gilt für jeden
einzehien Stoft:
dl
= (A*Uo,Kl. — A*r,as) +(Bkond. — Bcas) T,
wenn durcli die Indices „kond." und „Gas" der
A'TCTregatzustand bezeichnet wird, auf den sich die
Ternperaturkoeffizienten beziehen und der Stern
bei A*ko,ui. und A*Gas davor warnt, die Temperatur-
koeffizienten A*kond. und A*Gas rnit den Affinitäten
Akond. und Aoas z" verwechsehi.
^A/ir erhalten danach für das erste Gas die
Gleichung
I (Bjkond. BiGas) .
In/',
R
T + L
(23)
-RTln'' '^— ''-^-Akund. (22)
«-•-■• = ln/\+ln/, + lny,+ ...
in der I, wieder die von der klassischen Thermo-
dynamik unbestimmt gelassene Integrationskon-
stante ist. Analoge Gleichungen gelten für die
anderen Gase. Führen wir alle diese Gleichungen
(23) in die Affinitätsgleichung
/ 1 ■ /'■_> ■ /s ■
ein, so erhalten wir, da
— Inj'i
ist, die Gleichung
- RT Ink = + A, — (A*kond. — A*Gas) T In T
— (Bk„„d. — BGas) l' — I<-Ti — Akond. (24)
in der
'•0 == L,,, -j- L(,., -|- Ly;5 -|- • • . ''-ui ''•02 '■US • ■ •
(A^kond. A'-"'Gas) ^ (A'^jkoiul. A*jGas) -f" ( A*.,kond.
— A*„Gas) + (A*3kond. — A^Gas) + • . . — (ajkond.
3lGas) (a2kond. SaGasj (a3koiid. ^^Gasj •■ •
(Bkond. Egss) = (Bl kond. — B, Gas) "T (B2kond. B., Gas)
+ (Bakond. BgGas ) + ■ . . (blkond. b, Gas)
'nj'2
In 73
— (b.,k
J2G,
s) (bakond.
■'s Gas
:)-•■•
und
ist.
^Ii+l2+l3 + -
Nun ist
_ — Akond. = - Qokond. + ßT-' ( 1 S)
oder, da ja ß gleich der Summe der Temperatur-
koeffizienten der spezifischen Wärme der festen
Stofie, also mit dem soeben als Bkond. bezeichneten
Gliede identisch ist,
Akund. = QoUund. -|- Bkond. • T ' ( 1 8a )
also ist
— RT Ink = — Q„kond. + A„ — (Akond. — Acas) TlnT
(Bkond. Bkond. Bgis) T" Rl i
oder, da, wie wir früher gesehen haben,
Akond. = ö = 0 (141
ist
- R'I- Ink = - O.kond. + K + AGas T In T + BnasT-
-RTi (24a)
wenn wir mit — Q„kond. die Wärmetönung der
kondensierten Reaktion bezeichnen ; dieses Uokon.i.
ist natürlich nicht identisch mit dem O,
((Gas
der
Gleichung (19 a), denn in dieser bedeutet ja QoGas
die Wärmeentwicklung bei der Gasreaktion: Die
beiden Wärmetönungen
Qokond._ und Qo Gas
müssen scharf unterschieden werden.
Sind nunQiikond. und Qo Gas auch nicht identisch,
so stehen sie doch in sehr engen Beziehungen zu-
einander, wie wir sogleich ersehen, wenn wir die
Wärmetönung einer Reaktion einerseits im kon-
densierten System, andererseits nach Vergasung
des reaktionsfähigen Systems im Gaszustande
messen und die Energiebilanz der beiden Vorgänge
aufstellen. Im ersten Falle ist die Änderung der
gesamten Energie — /\U gleich der Wärme-
entwicklung Quond.
,AU ^ Qkond.
Im zweiten Falle haben wir zunächst n Mole-
küle zu vergasen, was erstens die Zuführung der
latenten Verdampfungswärme
erfordert und zweitens mit der Arbeitsleistung
— nRT
verknüpft ist. Nun folgt die Reaktion im Gas-
zustande mit der Wärmeentwicklung
- ÜGas
und schließlich wird wieder kondensiert, ein Vor-
gang, bei dem die latente Verdampfungswärme
-(Li+I.., + L, +...) = -L
nach außen abgegeben und die Arbeit
-f n'RT
Enereiebilanz der
ganzen
gewonnen wird. Die
Rcaktionsfolge ergibt sich also zu
;. _ n RT — QGas — I^ + n' RT
Die Energiebilanz muß in beiden Fällen das gleiche
Endergebnis haben, d. h. es ist
- Qkond = 0^ - L) — (n - n'i RT CjGas (25 >
Diese Gleichung gilt für jede beliebige Tempe-
ratur T; für den absoluten Nullpunkt folgt aus ihr
Q„
Qn
6)
wenn wir wie vorher die algebraische Summe der
Verdampfungswärmen l —
punkt mit /.„ bezeichnen.
Gleichung (24a) geht
Gleichung
, beim absoluten Null-
demnach über in die
— RTlnk
- K - Q,
II Gas
oder
-4-BGasT-^-RTi
+ A„ 4- AGas TlnT
Ink:
Q,
oGas
Ar
MnT-
.^l^T + i
(24 b)
(24c).
RT R
Diese Gleichung (24c) ist offenbar identisch mit
der integrierten Gleichung der Reaktionsisochoren
Ink^^^^^-|lnT-J^T + J' (iga)
denn a und b sind ja genau wie AGasUnd Bgss
die Summe der spezifischen Wärmen der an der
Reaktion teilnehmenden Gase
a = A Gas
und die Summe ihrer Temperaturkoeffizienten
b = BGas-
4o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 26
P'olglicli ist
J'=i (26)
d. h. die thermodynamisch unbestimmte Inte-
grationskonstante J' der Reaktionsisochore ist gleich
der algebraischen Summe der Integrationskon-
stanten der Gleichungen, die für die einzelnen an
der Reaktion teilnehmenden oder durch sie ent-
stehenden Gase die Konzentrationen der ge-
sättigten Dämpfe als Funktion der Temperatur
und der Verdampfungswärmen beim absoluten Null-
jjunkt darstellen:
J' = i = Ji+J-2+J3 + ■•■-!,--!.-!.-•■■ (26a).
Die theoretische Berechnung der Integrationskon-
stanten i selbst ist bisher nicht möglich gewesen;
wir sind also auf ihre empirische Bestimmung
angewiesen.
8. Die Berechnung der Gleichgewichts-
konstanten heterogener Reaktionen. — Nach-
dem durch das Nernst'sche Tlieorem die Be-
rechnung der Affinität kondensierter Reaktionen
und die Affinität homogener Gas- (oder Lösungs-)
Reaktionen ermöglicht worden war, bot die Be-
rechnung der Affinität heterogener Reaktionen, d.h.
solcher Reaktionen, die sich, wie z. B. die Ent-
wicklung von Gasen aus festen Körpern, im
heterogenen System abspielen, keine -Schwierig-
keiten mehr. Wie sich die Gleichgewichtskon-
stante einer Gasreaktion beim Übergang zu einer
heterogenen Reaktion verändert und sich die
Gleichgewichtskonstante der heterogenen Reaktion
aus der der homogenen Reaktion berechnen läßt,
soll im folgenden gezeigt werden.
Bei einer heterogenen Reaktion ist — das ist
das wesentliche — in der Gasphase (oder der
Lösung) die Konzentration derjenigen Reaktions-
teilnehmcr, die gleichzeitig als Bodenkörper vor-
handen sind, konstant. Die Gleichgewichtskonstante
der reinen Gasreaktion
C -C -C
k = —^-—^— '---'- '' (k)
nimmt also, wenn z. B. die beiden Stoffe, deren
Konzentration in der Gasphase C, und c'.. beträgt,
gleichzeitig Bodenkörper
System sind, den Wert
C-K',
dem heterogenen
c'i • C, • k'3
an, wenn wir
C, = konstant ^ K'.^
und c'.j = konstant = k'^
setzen. Ziehen wir die Konstanten K',_, und k'.,
in die Gleichgewichtskonstante k hinein, so erhalten
wir die Gleichgewichtskonstante K der heterogenen
Reaktion
K = k
3
oder
cV
7)
In K = In k + ( In k'3 — In K'., ) (2; a)
Der natürliche Logarithmus der Gleichgewichts-
konstanten einer heterogenen Reaktion ist dem-
nach gleich dem natürlichen Logarithmus der
Gleichgewichtskonstanten, die dieselbe Reaktion
besitzen würde, wenn sie als reine Gasreaktion
verliefe, plus der algebraischen Summe der mit
dem richtigen Vorzeichen versehenen natürlichen
Logarithmen derjenigen Stoffe, die als Boden-
körper im System vorhanden sind.
9. Schlu§bemerkungen. — In den vorstehen-
den Abschnitten ist gezeigt worden, wie sich, dank
der zweckmäßigen Definition der chemischen
Affinität als maximaler Arbeitsleistung durch
van't Hoff und dank insbesondere der Auffindung
des Nernst 'sehen Theorems die Lehre von der
chemischen Affinität in neuerer Zeit entwickelt
hat: Die klassische Thermodynamik hat eine Diffe-
rcntialformel für die chemische Affinität gegeben,'
die bei der Integration dieser Differentialformel
auftretende Integrationskonstante aber unbestimmt
lassen müssen. Nernst hat den beiden Haupt-
sätzen der klassischen Thcrmodj'namik einen neuen
Hauptsatz, das Nernst 'sehe Theorem, beigesellt,
der, wohl als gleichberechtigt neben den beiden
ersten Hauptsätzen stehend, die Auswertung der
Integrationskonstanten wenigstens für kondensierte
Reaktionen ermöglicht hat. h'ür kondensierte
Reaktionen hat die Integrationskonstante den Wert
Null. Damit ist das IVoblem der chemischen
Affinität kondensierter Reaktionen vom Stand-
punkte des Tliermod)'namikers aus als definitiv
gelöst anzusehen, besonders wenn man berück-
sichtigt, daß sich an Stelle der Interpolations-
gleichung, die wir hier aus Bequemlichkcitsgründeii
für die Abhängigkeit der Reaktionswärme von der
Temperatur benutzt haben, aus der Ouantenthcorie
eine rationelle Formel ergeben hat. Bei Gas-
reaktionen spielt die Affinität an sich eine geringere
Rolle, weil die maximale Arbeit, die die Reaktion
zu leisten vermag, in hohem Maße von den zu-
fälligen Konzentratioiisverhältnissen abhängt, unab-
hängig von den zufälligen Konzentrationen aber
ist die Gleichgewichtskonstante. Für Berechnung
der Abhängigkeit der Gleichgewichtskonstanten
von der Temperatur hat die klassische Thermo-
d\'namik ebenfalls eine Differentialgleicliung ge-
liefert, die bei der Integration ebenso wie die
allgemeine Affinitätsgleichung eine Gleichung mit
einer von der klassischen Thermodynamik wieder
unbestimmt gelassenen Integrationskonstanten er-
gibt. Diese Integrationskonstante ist gleich der alge-
braischen Summe der natürlichen Logarithmen der
Konzentrationen der gesättigten Dämpfe der Re-
aktionsteilnehmer bei der Reaktionstemperatur. Sie
läßt sich daher auch aus den uns bis jetzt allein
zur Verfügung stehenden Interpolationsgleichungen
berechnen, die die Abhängigkeit der Konzentration
der gesättigten Dämpfe von der Temperatur an-
geben; diese Interpolationsgleichungen enthalten
als Integrationskonstanten eine Größe, die für die
betreffende chemische Molekülart charakteristisch,
unabhängig aber von ihrer Erscheinungsform, also
unabhängig davon ist, ob der Stoff flüssig oder
fest ist, ob er diesem oder jenem Kristallsystem
angehört. Der Wert dieser stoftlichen Konstanten
läßt sich aus thermischen Größen bisher nicht
N. F. XIII. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
409
berechnen. Für den rhcrniodynamiker ist also
das Problem der Affinitcät für nichtkondensierte
Reaktionen noch nicht vollständig gelöst.
Zum Schluß sei darauf hingewiesen, daß die
thermodynamische Betrachtung chemische Reak-
tionen bisher nicht vollständig zu charakterisieren
o-estattet. Besonders vermag die Thermodynamik
nur wenig über die Geschwindigkeit chemischer
Reaktion zu sagen, und darum entzieht sich vor
allen Dingen die Chemie der Kohlenstoffver-
bindungen, die durch verhältnismäßig sehr große
Beständigkeit der Komplexe und im allgemeinen
sehr geringe Umwandlungsgeschwindigkeit ge-
kennzeichnet ist, der auf die Thermodynamik be-
gründeten Erforschung. Die große Mehrzahl der
organischen Stoffe lassen sich als Xichtgleich-
gewichtszustände thermodynamisch nicht be-
handeln, ja sie sind vom Standpunkte des Thermo-
d3-namikers aus betrachtet eigentlich überhaupt
nicht existenzfähig, haben eigentlich gar nicht das
Recht zu existieren. In F^ällen dieser Art führt
eine andere Betrachtungsweise, die Atom- und
Molekulartheorie weiter; sie hat die organische
Chemie geschaffen, vor der die Thermodynamik
heute noch ratlos steht.
Literatur.
Außer der Originalliteratur und dem bekannten Lehrbuch
von
Walt her Nernst ,, Theoretische Chemie vom Stand-
punkte der Avogadro'schen Regel und der Thermodynamik",
VlI. Auflage, Stuttgart 1913,
kommen für diejenigen, die sich für das nähere Studium der
Lehre von der chemischen Affinität interessieren, noch folgende
Werke in Betracht:
Walther Nernst, ,,Experiniental and Theoretical Ap-
plications of Thermodynamics to Chemistry", X und 123 Seiten
kl. 8", London 1907 ;
lUto Sackur, „Die chemische Affinität und ihre Messung",
Vlll und 129 Seiten, kl. S", Braunschvvcig 1908;
F. Pollitzer: „Die Berechnung chemischer Affinitäten
nach dem N e r ns t ' sehen Wärmetheorem", 170 Seiten, gr. 8°,
Stuttgart 1912;
Ivarl Jellinek, „Physikalische Chemie der homogenen
und heterogenen Gasreaktionen unter besonderer Berücksich-
tigung der Stvahlungs- und (Juantcnlchre, sowie des Nernst'schcn
Theorems", XIV und 844 Seiten, gr. 8", Leipzig 1913.
Eiuzelberichte.
Anthropologie. Die „blonden Eskimo". Ge- der Existenz eines Eskimovolkes, das bis dahin
egentlich seiner ersten Reiste nach dem^ktischen "o^h gar nicht mit Weißen in Berührung ge-
.Amerika erfuhr Vilhjalmur Stefansson von
kommen war und augenscheinlich manche interes-
.Abb. I. Eine Gruppe von Victorialand-Eskimos.
(Aus Stefansson, „My Life with the Eskimo"; Verlag Macmillan, London und Xew York.)
410
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 26
sante Eigenarten besaß. Wo diese Eskimo hausten,
war nicht genau festzustellen, aber Stefansson
nahm an, es müsse sich um Bewohner der großen
Victoria-Insel handeln, die als menschenleer ge-
golten hatte. Um mit dem unbekannten Volk in
Verbindung zu treten, unternahm Stefansson
mit Unterstützung des amerikanischen Museums
für Naturgeschichte in den Jahren 1908 — 1912 eine
zweite Forschungsexpedition nach dem fernen
Norden, auf der er von dem Zoologen Dr. R. M.
Anderson begleitet wurde. Über diese Reise
berichtet Stefansson in dem Buch „My Life
with the Eskimo", das eben bei Mac mi 11 an in
London und New-York erschien (IX u. 527 S., mit
sie mit den Eskimo überein, aber ihre helle Pig-
mentation fällt sofort auf, obzwar sie es auch er-
klärlich macht, warum Eskimo, die mit den Leuten
von Victorialand in Verkehr stehen, nichts Sonder-
bares an Stefansson 's hellbraunem Bart und
seinen blauen Augen fanden, sondern ihn einfach
als Eskimo betrachteten — hatten sie docli solche
Eskimo schon gesehen !
Blaue Augen kommen bei den Bewohnern der
Victoria-Insel vor, aber sehr selten. Unter einer
Bevölkerung von fast 1000 Personen wurden nur
etwa 10 beobachtet, die blaue Augen hatten.
Doch ist zu bedenken, daf3 sonst die Irisfarbe der
Eskimo tiefdunkelbraun ist. Das Kopfhaar ist
Abb. 2. Frauen und ein Mann vom Prinz-Albert-Sund.
[(Aus Stefansson, ,,My Life with llie Eskimo"; Verlag Macmillan, London und Xew York.)
vielen Tafeln und 2 Karten; Preis 17 Schillinge)
und sich durch reichen Inhalt wie gediegene Schreib-
weise auszeichnet, so daß man es zu den besten
.Stücken der Literatur über Polarreisen zählen darf.
Das Buch trägt wesentlich zur Bereicherung und
Berichtigung unserer anthropologischen, ethno-
graphischen und geographischen Kenntnis der ark-
tischen Gebiete .Amerikas bei.
Stefansson 's wichtigstes Ergebnis ist die
Entdeckung der „blonden Eskimo". Sie
leben auf der Victoria-Insel, an der Dolphin- und
Unionstraße und dem Prinz Albertsund, in einem
äußerst dürftigen Kulturzustande. In ihrer Klei-
dung, ihrer Sprache und ihren Handlungen stimmen
niemals goldblond, wie etwa bei typischen Skan-
dinaviern, aber viele Personen haben dunkelbraunes
oder rostrotes Haar. Die Barthaare zupfen viele
Männer aus, so wie es die Indianer tun; von den
bärtigen Männern hatten jedoch zahlreiche hell-
braune Barte. Die Augenbrauen sind bei nahezu
der Hälfte der Personen dunkelbraun bis ganz
hellblond. Doch ist nicht allein die helle Pigmen-
tierung der Victoria-Insulaner auffallend, sondern
auch ihre Kopfform. Bei den typischen Eskimo
ist das Gesicht breiter als der Plirnschädel ; bei
den blonden Eskimo aber ist das Verhältnis um-
gekehrt: die Stirn ist breiter. Auch sonst gemahnt
die Erscheinung vieler Personen an Europäer. Der
N. F. XIII. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
411
Gedanke ist naheliegend, daß man es hier mit
Nachkommen verschollener europäischer Forscher
zu tun haben könnte, namentlich mit Nachkommen
von Angehörigen der Franklin- Expedition. Aber
von allen Stämmen dieses Gebiets sind wohl nur
drei mit jenen Forschern in Berührung gekommen
und es leben unter ihnen noch Männer, die sich
des Ereignisses erinnern, ohne daß sie von einer
Vermischung berichten könnten. Überdies wiirde
eine solche Vermischung so wenig ausgiebig ge-
wesen sein, daß sie keine auffallende Änderung
des physischen Typus herbeizuführen vermocht
hätte. Stefansson sagt, es ist nun über 100
Jahre, seitdem die Eskimo im westlichen Alaska
mit den Russen in Kontakt kamen. Über ein
halbes Jahrhundert lang stehen sie mit den ameri-
kanischen Walfischfängern in Verkehr, worunter
sich manchmal an 1000 weiße Männer befanden;
viele von diesen ließen sich dauernd im Norden
nieder und heirateten Eskimofrauen; doch von
ihren Nachkommen ist ein großer Teil vom rein-
blütigen Eskimo nicht zu unterscheiden und im
ganzen haben die Gruppen, unter denen die Misch-
linge leben, nichts von Europäerähnlichkeit. — Für
wahrscheinlicher hält Stefansson, daß die blon-
den Eskimo Nachkommen der ersten europäischen
— nämlich norwegischen — Ansiedler auf Grön-
land sind. Kurz nach 870 wurde Island von Nor-
wegern besiedelt und über ein Jahrhundert später,
985, zogen isländische Kolonisten nach dem von
Erich dem Roten entdeckten Grönland. Jahr-
hunderte hindurch bestanden rege Handelsbeziehun-
gen zwischen Grönland einerseits und Island sowie
■ Norwegen andererseits; ferner ist sicher, daß die
Kolonisation Grönlands auch zur ersten Entdeckung
Amerikas Anlaß gab. Doch die im Jahre 1294
erfolgte Monopolisierung des Grönlandhandels ver-
nichtete nicht bloß den Wohlstand der Kolonie,
sondern führte schließlich dazu, daß sie ganz von
j der Verbindung mit Europa abgeschnitten wurde.
Über das Schicksal der norwegischen Kolonisten
in Grönland ist nichts Sicheres bekannt. Soviel
steht fest, daß sie um die Mitte des 14. Jahrhun-
derts von Eskimo bedroht wurden, die von Norden
her vordrängten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß
die in den Kämpfen mit den Eskimo überlebenden
Kolonisten es schließlich vorzogen, auszuwandern
— und das Polareis mag ihnen als Weg nach
Westen gedient haben, bis die Wanderung auf der
, Victoria-Insel ihren Abschluß fand.
Es könnte wohl auch gesagt werden, daß die
„blonden Eskimos" das Ergebnis einer „Mutation"
seien; doch bleibt erst abzuwarten, ob der Nach-
weis des Auftretens von Mutationen beim Menschen
und der Entstehung neuer Menschenrassen durch
Mutation tatsächlich erbracht werden wird. S t e f ä n s -
son bemerkt, daß auch kein Grund für die An-
nahme vorhanden ist, die tellurischen Bedingungen
auf der Victoria-Insel seien der Hervorbringung
und Erhaltung einer blonden Variation besonders
günstig; denn die Lebensbedingungen, die hier die
Erde darbietet, sind in keiner Weise von denen
verschieden, wie sie in den von echten Eskimo
bewohnten Gebieten herrschen.
Stefansson ist noch vor dem Erscheinen
seines hier erwähnten Buches wieder in die ark-
tische Eiswelt gezogen und man darf gespannt
auf die weiteren Resultate seiner Forschungen
warten. H. Fehlinger.
Physiologie. Das Verhältnis der nötigen
Nahrungsmenge zur Außentemperatur. Mira-
mond de Laroquette (Variations de la ration
alimentaire et du poids du corps sous l'action du
rayonnement solaire dans les diverses Saisons.
Nutrition par la chaleur, C. R. Ac. sc. Nr. 8, 23 fev.
1914) machte diesbezüglich genaue Feststellun-
gen an Meerschweinchen. Die Tiere wurden in
einem Glaskäfig auf einer Terrasse in Algier ge-
halten. Sie bekamen als Futter täglich dieselbe
Ration von 100 g Grünfutter. Aus einem Rezi-
pienten konnten sie so viel Hafer nehmen, als sie
fressen wollten. Sie wurden, anfangs täglich, später
an jedem vierten Tage gewogen. Auf 100 g
Körpergewicht berechnet wurde Hafer genommen:
im Frülijahr und Herbst (bei einer Durchschnitts-
temperatur von 22") 3 g, im Winter (Temperatur
15") 4 g. irn Sommer (Temperatur 30") 2 g. Das
Körpergewicht nahm vom Juni an ab und stieg wieder
im Oktober. Bemerkenswert ist die Gewichts-
zunahme vom Februar bis Juni, obgleich die Hafer-
kurve von 4,2 auf 2,7 g sank. Es scheint L, daß
das Steigen der Luftwärme und der Sonnenstrah-
lung ausgleichend gewirkt hat. Im Herbst sank
das Körpergewicht, obgleich die Haferkurve stieg.
Im Sommer war die Verminderung des Körper-
gewichts nicht proportional zur Haferkurve; letz-
tere fiel auf 1,6. Es hat die Herabsetzung des
Körpergewichts ihren Grund wahrscheinlich in der
sehr gesteigerten Wasserabgabe.
Die Gewichts- und die Haferkurve kommen sich
am nächsten im Mai und November, gehen dagegen
am weitesten auseinander in der Zeit vom 20. August
bis 10. September, als die Temperatur in Algier
durchschnittlich 34" betrug. L. glaubt, daß auch bei
den homöothermen Tieren, wie bei den Pflanzen
und den heterothermen Tieren, die Schwankungen
im Nahrungsbedürfnis der Außentemperatur ent-
sprechen, weil die Strahlenenergie der Sonne
von den Tieren absorbiert und ausgenutzt werde
wie von den Pflanzen. Es erkläre dies gewisse
Wirkungen der Lichtbäder und entspreche dem
geringen Nahrungsbedürfnis des Menschen in süd-
lichen Ländern. So kämen die Eingeborenen in
Südalgerien mit 200 — 300 g Mehl oder Datteln
aus, entsprechend 1200 — 1500 Kalorien, statt 3000
Kalorien in Mitteleuropa. In Abessinien und Java
genügten 1160 und 1240 Kalorien, statt 140c in
den südlichen gemäßigten Ländern. Die Wärme-
strahlung, selbst von künstlichen Wärmequellen,
sei imstande, den Geweben direkt Energie zu
liefern; es könnte dadurch die Nahrung teilweise
ersetzt werden. In hygienischer Beziehung werde
die Nützlichkeit eines verschiedenen Regimes im
412
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 26
Winter und im Sommer, in kalten und in warmen
Ländern, bei Arbeit und bei Ruhe verständlich.
Im ersten Fall muß es reichlicher sein, um mehr
Kalorien zu enthalten, während es im zweiten Fall
wasserreicher sein müsse, um dem Wasserverlust
bei hoher Temperatur die Wage zu halten. \^om
therapeutischen Standpunkte aus würden die Liege-
kuren in der Sonne bei gleichzeitiger Herabsetzung
des Regimes verständlich.
Im Gegensatz zu diesen Ausführungen sieht
Louis L a p i c q u e (Sur l'economie d'aliment rcali-
sable par Fclcvation de la tempcrature exterieure,
C. R. Äc. sc. Nr. 10, 9 mars 1914) in den genannten
Erscheinungen durchaus nichts, was uns veranlassen
könnte, von den bisherigen .•Anschauungen abzu-
weichen und von einer direkten Ausnutzung der
strahlenden Wärme zu sprechen. Die homöother-
men Tiere (V^ögel, Säugetiere) verlieren fortwährend
durch Ausstrahlung VVärme; diese Körperwärme
muß ersetzt werden, und zwar ist der Verlust um
so größer, je kälter die Umgebung ist. Wird sehr
viel Wärme abgegeben, so muß auch entsprechend
viel Nahrung aufgenommen werden.
Im allgemeinen ist die bei der Muskeltätigkeit
erzeugte Wärme nicht ausreichend, um die Wärme-
abgabe an die Umgebung zu decken. Diese muß
daher, um die Körperwärme konstant zu erhalten,
durcli eine erhöhte Nahrungsaufnahme gedeckt
werden. Es kann dies auch, außer durch die bei
der Muskeltätigkeit entstehende Wärme, auf andere
Weise geschehen, z. B. durch den elektrischen Strom
(Diathemie).
Bei warmem Wetter ist weniger Nahrung nötig,
weil der Wärmeverlust des Körpers geringer ist.
Umgekehrt muß bei Kälte mehr Nahrung auf-
eenommen werden, vor allem solche, die mög-
liehst viele Kalorien enthält. Die Bewohner der
Polargegenden müssen deshalb viel, namentlich
fett essen (Tran), während der Mensch in Süd-
algerien, der halb nackt in der Sonne ausgestreckt
liegt, mit 200 — 300 g Mehl oder Datteln aus-
kommen kann, ungefähr 1200 — 1500 Kalorien statt
der für den Europäer nötigen 3000. Larguier
des Bancels fand, daß bei einer Taube die Tages-
ration bei 9" 80 Kalorien, bei 25 " nur 55 Kalorien
enthalten mußte. Lapicque nahm entsprechende
Versuche mit einer Reihe von Körnerfressern vor.
Der Bengalifink, der nur 7 — 8 g wiegt, braucht
bei einer Temperatur von 39 " nur -/g der Futter-
ration, die er bei 16" nötig hatte.
Als sekundäre Geschlechtsmerkmale bezeich-
nete man nach H u n t e r alle Verschiedenheiten
zwischen den beiden Geschlechtern einer Art,
außer den Keimdrüsen selbst, welche als
primäre davon unterschieden wurden. Zahl-
reiche V^ersuche der letzten Zeit haben indes er-
geben, daß man damit zwei ganz verschiedene
Gruppen von Eigenschaften unter einem gemein-
samen Terminus zusammenfaßte. Es ergab sich
nämlich, daß die einen Charaktere von Anfang an
unveränderlich und ebenso primär sind wie die
Keimdrüsen selbst, während die anderen vom Vor-
handensein der Geschlechtsdrüsen abhängen. Sie
werden offenbar durch ein „Hormon" bestimmt, das
von jenen ausgeht. Während beim kastrierten
Hahn der Kamm klein bleibt wie beim Huhn,
entwickelt sich das Gefieder und der Sporn wie
beim Hahn. Dadurch wird bewiesen, daß der
Kamm vom Vorhandensein der Geschlechtsdrüse
abhängig ist, während die anderen Geschlechts-
charaktere davon unabhängig sind. A. P e z a r d
(Developpement experimental des ergots et crois-
sance de la crete chez les femelies des Gallinaces,
C. R. .Ac. sc, Paris, 16 fev. 1914) untersuchte nun,
ob das Fehlen des Sporns beim Huhn durch
einen verhindernden Einfluß des Eierstocks bedingt
würde. Er entfernte bei 4 von 5 Hühnern die Eier-
stöcke. Beim ersten wurden die Eierstöcke am
1. Juli 191 3 entfernt; die Sporen erschienen im
Oktober desselben Jahres, zu derselben Zeit, wie
bei den gleichalterigen Hähnen und erreichten
8 mm Länge. Die Autopsie im Januar 19 14 er-
gab ein vollständiges Fehlen der Eierstöcke. Beim
2. Huhn, das im Oktober und November noch
keine Sporen besessen hatte, erschienen solche
nach der Ovariotomie am 9. Dezember und hatten
am I.Februar 1914 bereits eine Länge von 5 mm
erreicht. Beim 3. Huhn, das am 3. Oktober 1913
kastriert worden war, zeigte sich bis zum 9. Januar
1914 keine Spur eines Sporns. Bei einer Wieder-
holung der Operation fand sich ein Rest des Ova-
riums; nach dessen Entfernung erschienen die
Sporen und hatten im Februar bereits 3 mm Länge
erreicht. Das 4. Huhn wurde nicht operiert und
blieb spornlos. Ebenso ein 5. Tier, bei dem die
Eierstöcke nur teilweise entfernt worden waren.
Das Erscheinen der Sporen wird beim normalen
Huhn also verhindert durch einen vom Eierstock
ausgehenden Einfluß.
Bezüglich des Kamms kann man nicht das
gleiche sagen, da er klein, weich und wenig ge-
färbt blieb wie bei normalen Hühnern. Beim
4. und 5. Huhn trat eine bemerkenswerte Rück-
bildung im Dezember ein, während bei den anderen
der Kamm zu wachsen fortfuhr.
Es bildet dies eine Bestätigung der Beobach-
tungen von G. Smith, wonach der Kamm in
Beziehung zur Tätigkeit des Eierstocks steht.
Kathariner.
Astronomie. Über die dunklen Stellen in
der Milchstraße hat Knox Shaw (Observatory
471, 1914I Untersuchungen angestellt. Die An-
sicht, daß diese Höhlen oder tunnelartige Löcher
seien, hat nur für wenige Stellen Gültigkeit. Sehr
oft sind die schwarzen Stellen mit Nebelmassen
verbunden , und diese lagern um einen helleren
Stern herum. Neben solchen Nebeln findet sich
oft ein starker Mangel an Sternen, die paar Sterne
sind dann meist veränderlich. Auch solche Nebel
sind in manchen Fällen veränderlich. Bedenkt
man, daß diese Sternleeren oft in Sternhaufen
sich finden, .so muß man zugeben, daß eine große
N. F. XIII. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
413
Wahrscheinlichkeit vorliegt, daß von den helleren
Sternen Nebelmassen, Gase ausgestoßen werden,
die sich dann abkühlen und nun als lichtabsor-
bierendes Medium wirken. So zeigt eine Auf-
nahme des großen Sternhaufens Messier 8 zahl-
reiche kleine Fleckchen, die noch dunkler sind als
der dunkle Himmelshintergrund, so daß man un-
mittelbar den Eindruck eines Schleiers erhält, der
vor diesem Sternliaufen liegen muß , und durch
seine flockige Struktur den beschriebenen Eindruck
hervorruft. Freilich soll diese Erklärung nicht für
alle Löcher in der Milchstraße gelten, aber sicher
dort, wo die Sterne in oder am Rande der Stern-
leere veränderlich sind. Riem.
Die Leistungsfähigkeit des großen Lickrefrak-
tors wird durch die Entdeckung und Ausmessung
immer engerer Doppelsternpaare bezeugt. Die
soeben herausgegebene 21. Liste enthält die
Nummern 2601 — 2700 der dortgemessenen Sterne
(Lick Obs. Bull. 251). Es befinden sich darunter
Paare von 0,16 Sek. Distanz, die noch gut ge-
trennt werden, und deren Positionswinkel ge-
messen werden kann. Die Paare gehören meist
der 8. — 9. Größe an, die Begleiter werden bis zu
der 14. Größe geschätzt. Riem.
Botanik. Ein merkwürdiger Mikroorganismus.
In leicht schwefelwasserstoffhaltigen Gewässern
entdeckte Buder (Ben d. Deutsch. Botan. Gesell-
schaft, Generalversammlungsheft 1913, S. 80) ein,
gewöhnlich in Gesellschaft von Schwefelbakterien,
namentlich Chromatien vorkommendes, außer-
ordentlich merkwürdiges Kleinwesen. Es sind
zylindrische, winzige, in ihrer Bewegung sehr an
Chromatien erinnernde Gebilde von einer eigen-
tümlichen, durch kleine grüne Körnchen hervor-
gerufenen, granulären Struktur. Ein eingehendes,
mit geeigneter Präparation verbundenes Studium
bei sehr starker Vergrößerung hatte das über-
raschende Ergebnis, daß es sich gar nicht um
einen einheitlichen Organismus, sondern um eine
Symbiose handelte. Buder konnte (vgl. die Ab-
bildung) ein farbloses, stäbchenartiges, mit einer
1II
a b
Chloronium mirabilc.
a normale .\nsicht, b die isolierten Symbiunten, Geißelfärbung.
3000 fache Vergrößerung. (Nach Buder.)
endständigen Geißel versehenes, zentrales Klein-
lebewesen unterscheiden und auf seiner Oberfläciie,
es mit einem lockeren Mantel umgebend, eine
Anzahl winzigster grüner Kügelchen oder Stäb-
chen, über deren Struktur sich nichts Näheres fest-
stellen ließ. Wie diese Symbiose zustande kommt
und welche physiologische Bedeutung sie hat,
wird erst durch weitere Untersuchungen des Ver-
fassers endgültig festgestellt werden können. Die
grünen kokkenartigen Gebilde scheinen Chloro-
phyll zu enthalten und auch wirklich assimilieren
zu können. Miehe.
Chemie. Die kolorimetrische Bestimmung des
Schwefelwasserstoffs in Form des Methylenblaus
ist von Werner Mecklenburg und Felix
Rosenkränzer einer eingehenden Untersuchung
unterzogen worden, über die im folgenden kurz
berichtet werden möge (Zeitschr. f. anorg. Chem.,
Bd. 86, S. 143—153, 1914).
Als bei weitem empfindlichste Reaktion auf
Schwefelwasserstoff ist von Emil Fischer die
Bildung des von H. C a r o entdeckten Methylenblaus
empfohlen worden, das bei der Oxydation eines
Gemisches von Schwefelwasserstoff und Dimethyl-
p-phenylendiaminsulfat
(CH3),N-
H H
I I
H H
-NH.-HaSOi
mittels Ferrichlorid in ziemlich stark salzsaurer
Lösung nach der Gleichung
2(CH3).,N-C6H3-NH2.H.2S04 +6FeCl3 + H,S =
.N\v
^S'
(CH3),N . C,H,\'yC,U, : N(CH3 l^Cl + 2 H,S0, +
NH,Cl + 6FeCL+4HCl
entsteht. Da sich dasMethylenblau, ein äußerst inten-
siver, reinblauer Parbstoff, wie die meisten anderen
Farbstofi'e gut kolorimetrieren läßt, lag es nahe,
die Reaktion auch für die quantitative Bestimmung
des Schwefelwasserstoffs nutzbar zu machen. Der
Verwirklichung dieses Gedankens treten jedoch
erhebliche Schwierigkeiten in den Weg: Zunächst
zeigte sich, daß das bei der Reaktion entstehende
Methylenblau — vermutlich infolge der bei der
analytischen Reaktion allein in Frage kommenden
starken Verdünnung der Lösungen — gegenüber
dem reinen Blau des technischen Methylenblaus
einen leicht grünlichen Ton aufweist und sich m.it
wässerigen Lösungen des reinen Methylenblau im
Kolorimeter überhaupt nicht vergleichen läßt; man
muß daher an Stelle von Lösungen technischen
Methylenblaus zum Vergleich eine Serie von Lö-
sungen benutzen, die unter den für die analj-tischen
Bestimmungen in Betracht kommenden Bedingungen
414
Naturwissenschaitliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 26
mit bekannten Schwefelwasserstoffmengen her-
gestellt sind. Ferner stellte sich heraus — und
das ist das Wichtigste — , daß die Intensität der
Blaufärbung nicht nur von der Menge des vor-
handenen Schwefelwasserstoffs, sondern in sehr
erheblichem Maße auch von den speziellen Ver-
suchsbedingungen, so von der Reihenfolge, in der
die Reagentien (Schwefelwasserstoffwasser, Salz-
säure, Dimethyl-p-phenylendiaminsulfat und Ferri-
chlorid) gemischt werden, von der Temperatur
und von der Konzentration des Diaminsulfats und
des Ferrichlorids abhängt, eine Tatsache, die auch
ein recht beträchtliches theoretisches Interesse
besitzt. Hält man nun aber, was praktisch leicht
zu erreichen ist, die angegebenen Bedingungen
konstant, arbeitet also bei konstanter Temperatur
und mit konstanter Menge von Diaminsulfat und
Ferrichlorid , so erweist sich die Blaufärbung als
streng proportional der Schwefelwasserstoffmenge
und ist daher als deren einfaches und sicheres
Maß anzusehen. Es gelang so, von G bis 3000 /<g ^)
Schwefelwasserstoff im Liter mit der Normal-
genauigkeit kolorimetrischer Messungen zu be-
stimmen. Mg.
') 1 /lg = 0,001 mg.
Bücherbesprechungen.
Planck, Max, Neue Bahnen der physikali-
schen Erkenntnis. Rede, gehalten beim
Antritt des Rektorats der Friedricli -Wilhelm-
Universität Berlin. Leipzig, Joh. Ambr. Barth,
1914.
Mit besonderer Freude wird es stets in der
gesamten gebildeten Welt begrüßt, wenn einer
von denen, die ganz vorn in der ersten Reihe
der Pioniere der Wissenschaft arbeiten, das Wort
ergreift, den Wesr zu weisen, der zur letzteroberten
Stelle führt, ohne die Schwierigkeiten und Um-
wege zu fordern , die die ersten Kämpfer
hatten überwinden müssen. Max Planck hat
in seiner Rektoratsrede in kurzen kräftigen Strichen
das Gebäude der modernen Physik gezeichnet und
es muß ein hoher Genuß gewesen sein ihm, der
als F"orscher, Lehrer und Redner gleich bedeutend
ist, zuzuhören. Im folgenden sei kurz sein Ge-
dankengang wiedergegeben :
Er geht aus von dem verwirrend raschen und
wohl noch nicht ganz geklärten Vorwärtsdringen
der neuesten physikalischen P'orschung. Doch
bedeuten die tiefgreifenden prinzipiellen Ände-
rungen nichts weniger als ein Zusammenstürzen
des Gebäudes der Physik. Im Gegenteil — ge-
rade die wesentlichsten und wichtigsten Funda-
mente : der Energiesatz, das Prinzip der Erhaltung
der Bewegungsgröße, das Prinzip der kleinsten
Wirkung, die Hauptsätze der Thermodynamik,
haben ungeahnte glänzende Bestätigungen gefun-
den. Die Axt wurde nur gelegt an meist
als selbstverständlich empfundene und kaum aus-
gesprochene Annahmen. So hat die Entdeckung
des Radiums den Glauben an die Unveränderlich-
keit der Atome zerstört, die Erkenntnis, daß die
Lichtgeschwindigkeit im Räume unabhängig von
der Bewegung der Lichtquelle konstant ist, hat
mit der Annahme der Unabhängigkeit von Raum
und Zeit aufgeräumt, und schließlich hat der Satz
von der Stetigkeit der dynamischen Wirkungen
fallen müssen :
,, Stellen wir uns ein Gewässer vor, in welchem
starke Winde einen hohen Wellengang erzeugt
haben. Auch nach völligem Aufhören der Winde
werden die Wellen noch eine geraume Zeitlang
sich erhalten und von einem Ufer zum anderen
wandern. Aber dabei wird sich eine gewisse
charakteristische Veränderung vollziehen. Die
Bewegungsenergie der längeren, größeren Wellen
wird sich besonders beim Aufschlagen ans Ufer
oder an andere feste Gegenstände, in immer
steigendem Maße in Bewegungsenergie von kür-
zeren und feineren Wellen verwandeln, und dieser
Prozeß wird so lange andauern, bis schließlich die
Wellen so klein, die Bewegungen so fein geworden
sind, daß sie sich dem äußeren Anblick vollständig
entziehen. Das ist der allbekannte Übergang der
sichtbaren Bewegung in Wärme, der molaren
Bewegung in molekulare, der geordneten Be-
wegung in ungeordnete; denn bei der geordneten
Bewegung haben viele benachbarte Moleküle eine
gemeinschaftliche Geschwindigkeit, während bei
der ungeordneten jedes Molekül seine besondere
und besonders gerichtete Geschwindigkeit besitzt.
Der hier geschilderte Zersplitterungsprozeß geht
aber nicht ins Unendliche weiter, sondern er findet
seine natürliche Grenze in der Größe der Atome. . . .
Nun denken wir uns einen anderen , ganz
analogen Vorgang sich vollziehen, aber nicht mit
den Wellen des Wassers, sondern mit solchen
der Licht- und Wärmestrahlung, indem wir etwa
annehmen, daß die von einem stark glühenden
Körper emittierten Strahlen durch passende
Spiegelung in einen gut abgeschlossenen Hohl-
raum eingesammelt worden sind und dort zwischen
den reflektierenden Wänden des Raumes beständig
hin und hergeworfen werden. Auch hier wird
sich eine allmähliche Umwandlung der Strahlungs-
energie \'on längeren Wellen zu kürzeren, von ge-
ordneter Strahlung in ungeordnete vollziehen;
den längeren, gröberen Wellen entsprechen die
ultraroten Strahlen, den kürzeren , feineren die
ultravioletten Strahlen des Spektrums. Man muß
also nach der klassischen Theorie erwarten, daß
die ganze Strahlungsenergie sich schließlich auf
den ultravioletten Teil des Spektrums zurück-
ziehen wird, oder mit anderen Worten, daß die
ultraroten und auch die sichtbaren Strahlen all-
N. F. Xni. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
415
mählich ganz verschwinden und sich in unsicht-
bare, vorwiegend nur chemisch wirksame ultra-
violette Strahlen verwandeln.
„Von einem solchen Phänomen ist
nun aber in der Natur keine Spur zu
entdecken. Die Umwandlung erreicht vielmehr
früher oder später ihr ganz bestimmtes, genau
nachweisbares Ende" .... und das läßt sich
nur erklären durch die Annahme, daß, wie die
Atome mechanisch unteilbar zusammenhalten,
so auch gewisse Elementarquanten der Strahlungs-
energie nicht mehr sich weiter zersplittern, son-
dern gleichsam als Energieatome beisammenbleiben.
Eine gewaltige Stütze erhält diese Theorie
dadurch, daß auch die Thermodynamik keinen
anderen Weg zum Verständnis der Temperatur-
abhängigkeit der spezifischen Wärme weiß als
den, ebenfalls diese Elementarquanten der Energie
anzunehmen. Wenn erst ein ganzes solches
Quantum beisammen sein muß, ehe es abgegeben
werden kann, dann ist ohne weiteres ersichtlich,
daß bei sehr tiefer Temperatur die Temperatur
eines Körpers durch eine viel kleinere Energie-
menge um einen Grad gesteigert werden kann
(denn er gibt ja eben viel schwerer Wärme wieder
ab) als bei hoher Temperatur, bei der stets genug
Energie im Atom steckt, daß im günstigen Mo-
ment ein Quantum ausgeschleudert werden kann.
Bräuer.
Eggeling, H., Physiognomie und Schädel.
Samml. anat. u. physiol. Vorträge und Aufsätze,
2. Bd., 4. Heft. Jena, Gustav Fischer.
Die Grundlinien des Gesichtes sind zwar
durch die Skelettunterlage bedingt, aber viele Be-
obachtungen zeigen, daß für die Einzelheiten der
Gesichtsbildung das Verhalten der Weichteile von
größtem Einfluß ist. An einer Reihe von Beispielen
untersucht der Verfasser, welchen Anteil die den
Schädel bedeckenden Weichteile in ihrer Gesamt-
heit und in einzelnen ihrer Bestandteile an der
Gestaltung des Gesichtsausdruckes besitzen. Das
Material, das für den Zweck zur Verfügung steht,
ist noch recht spärlich und es bedarf dringend
eines regeren Betriebes der Weichteileforschung.
Man kann v. E. vollauf zustimmen, wenn er sagt,
daß neue praktische PVagen und wissenschaftliche
Gesichtspunkte uns die Unzulänglichkeit der viele
Jahrhunderte alten Kenntnisse menschlicher
Anatomie vor Augen führen und eine intensive
Wiederaufnahme der Forscherarbeit auf einem
scheinbar gründlich bekannten Gebiet notwendig
machen. Das Vorhandensein von Rassen-
unterschieden im Bau der Kopfweichteile ist
ganz gewiß, aber es ist erst in wenigen Fällen
an ihre wissenschaftlich einwandfreie Feststellung
gegangen worden. Arbeiten auf dem Gebiet
sind jedoch mindestens so sehr erforderlich wie
die Pflege der Skelettmessung. H. Fehlinger.
gegeben von W. Lietzmann und A. Witting XlV.j.
IV und 67 Seiten mit 82 Fig. im Text. B. G.
Teubner, Leipzig 19 14.
Das Bändchen nimmt eine Zwischenstellung
zwischen den Wissensgebieten der Mathematik,
und zwar dem Abschnitt der darstellenden Geo-
metrie und der Geographie ein, von der die
Topographie als Unterabteilung in Frage kommt.
Es werden die Prinzipien der kotierten Projektionen
besprochen und an kurzen, einfachen Beispielen er-
läutert. Dann werden Anwendungen auf die
Topographie gemacht, indem ständig das Interesse
des Autors bei der mathematischen Darstellung
bleibt, auf die Schlußfolgerungen aber wenig ein-
gegangen wird. So werden Aufgaben wie Auf-
schüttung eines Dammes, Tunnelmündungen usw.
erläutert. Der folgende Abschnitt lehrt die Dar-
stellung komplizierter Raumgebilde, teilweise rein
mathematischer Flächen oder Kurven, in Isohypsen-
form. Auch die Aufgaben und Anwendungen, die
der Schlußabschnitt bietet, lassen rein mathema-
tiche Fragen in den Vordergrund treten. So
wird der Mathematiker Anregungen und neue Bei-
spielsgruppen aus dem Schriftchen ernten, der
Kartograph aber nur wenige ihn interessierende
Fragen behandelt sehen. W. Behrmann.
Rothe, R., Darstellende Geometrie des
Geländes. (Mathematische Bibliothek, heraus-
Bronsart v. Schellendorf, Fritz, Novellen aus
der afrikanischen Tierwelt. 2. Aufl.,
Leipzig 1914, E. Haberland.
Der Verfasser macht hier den eigenartigen
Versuch, die ostafrikanische Tierwelt dadurch zu
schildern, daß er einige der wichtigsten Vertreter
handelnd als „Helden" einfacher Naturromane auf-
treten läßt. Wenn solche „Novellen" nach der
Art der Tierfabeln nicht eben rein phantastische
P^abeln bleiben sollen, müssen sie der Niederschlag
eines sorgfältigen Studiums sein. Diese Voraus-
setzung trifft für den Verfasser durchaus zu, der
viele Jahre im intimsten Verkehr mit der afrika-
nischen Natur gestanden hat und sich durch scharfe
Beobachtungsgabe und fein entwickeltes Natur-
gefühl auszeichnet. Sehr sympathisch berührt auch
die sich in seinen Schilderungen offenbarende Liebe
zur Kreatur. So stellen denn die beiden Ge-
schichten „Löwenleben" und „Eines Nashorns
Freud und Leid" eine wunderhübsche und dank
der novellistischen Kunst des Verfassers spannende
und gleichzeitig belehrende Lektüre dar, die Alten
und Jungen gleicherweise warm empfohlen werden
kann. Desgleichen sind die beiden kürzeren Kapitel
„Streiflichter aus Steppe und Savanna" und „Urwald",
die Einzelbeobachtungen und Schilderungen wieder-
geben, interessant, zumal mancherlei neues (ebenso
wie in den Novellen) mitgeteilt wird.
Miehe.
Reicheno w, A., D i e V ö g e 1. Handbuch der syste-
matischen Ornithologie. In 2 Bänden. Stutt-
gart 1913. Verlag von Ferdinand Enke. I. Bd.
15 Mk.
Wenn ein Ornitholosje vom Rufe Reich enow's
4i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 26
ein Handbuch der systematischen Ornithologie ver-
öffentlicht, so darf man mit den besten Hoffnungen
dieses Werk in die Hand nehmen. Und in der
Tat — von allen mir bekannten ornithologischen
Schriften ist keine auch nur annähernd mit dem
vorliegenden Handbuch vergleichbar. Vollständig-
keit und Übersichtlichkeit, die wichtigsten Erforder-
nisse einer systematischen Arbeit, lassen in keiner
Hinsicht zu wünschen übrig. Das Ziel, das sich
\'erf. gesetzt hatte, war: „in gemeinverständlicher
Weise in die Vogelkunde einführen, die für syste-
matisches Unterscheiden der Formen bedeutsamen
Teile des Vogelkörpers erläutern und sämtliche
gegenwärtig unterschiedenen größeren Gruppen,
Ordnungen, Familien und deren Unterabteilungen
kennzeichnen". Auch die scharf ausgeprägten
Gattungen sind beschrieben, auf nebensächliche
bei den nächstverwandten Formen wenigstens hin-
gewiesen worden. Alle „guten" Arten, die in
Europa vorkommen und in unseren Kolonien
heimisch sind, sowie die richtigen außereuropä-
ischen Spezies sind sicher gekennzeichnet. Der
I. Band beginnt mit einer anatomischen Übersicht
über den Vogelkörper, wobei besonders die syste-
matisch bedeutsamen Merkmale hervorgehoben
sind. Auf die Biologie, die Verbreitung und die
Phylogenie wird kurz eingegangen und dann im
systematischen Teil die Ratitae, Natatores, Gralla-
tores, Cutinares und Fibulatores in Bestimmungs-
tabellen genau beschrieben. 185 Textbilder, von
G. Krause gezeichnet, ergänzen den Text aufs
glücklichste. Auch mehrere Register der wissen-
schaftlichen und deutschen Vogelnamen, sowie
vielfache Hinweise auf die einschlägige Literatur
tragen zur Brauchbarkeit des Buches, dem die
weiteste Verbreitung zu wünschen ist, bei. Der
Preis ist in Anbetracht der vorzüglichen Ausstattung
durchaus angemessen. Ferd. Müller.
Fischer, J. , Das Problem der Brütung.
Eine thermo-biologische Untersuchung. Leipzig
1913. Verlag von Quelle und Meyer. — Preis
3,80 Mk.
In dem vorliegenden Büchlein stellt Verfasser
den Satz auf, daß bei der Brütung die Temperatur
der Eierunterseiten wesentlich niedriger sein muß
als die der Oberseite. Die Richtigkeit dieses Satzes
wird an einem außerordentlich umfangreichen Tat-
sachenmaterial nachgewiesen, auch die Unzweck-
mäßigkeit der meisten Brutapparate dargelegt und
die dadurch entstandenen Mißerfolge erklärt. Das
Buch sollte bei Ornithologen und in Züchterkreisen
mehr Beachtung finden, zumal verschiedene falsche
Ansichten über das Wesen der Brütung und die
Wirkung der dabei entstehenden Wärme in ganz
allgemein gebräuchlichen Lehrbüchern vorhanden
sind. Der Preis des Buches ist niedrig.
F. Müller.
Bluntschli, H., Über die individuelle Variation
im menschlichen Körperbau und ihre Beziehungen
zur Stammesgeschichte. Leipzig, Quelle u. Meyer.
In kurzen Skizzen unterrichtet Dr. Bluntschli
über die Arten der individuellen Variation und ihre
Bedeutung für die Hervorbringung neuer Formen
die sehr groß ist, angesichts der Tatsache, daß
die stammesgeschichtliche Entwicklung stets an
indifferente Formen mit geringer Abweichung,
das heißt geringer Anpassung an bestimmte Ver-
hältnisse, anknüpft. VVeit nach einer bestimmten
Richtung abgeänderte Formen — oder Endformen
— sind nach allem , was wir wissen , stammes-
geschichtlich steril. H. Fehlinger.
Twenty-eight Annual Report oft he
Bureau of American Ethnology. Washington
191 2. Government Printing Office.
Dieser über 300 Seiten starke und mit zahl-
reichen Bildern ausgestattete Band enthält den
Jahresbericht des Vorstands des amerikanischen
ethnologischen Instituts, worin der Stand ver-
schiedener wissenschaftlicher L'ntersuchungen und
die Verwaltungsangelegenheiten behandelt werden;
daran schließen sich 3 Abhandlungen. In der
ersten davon beschreibt J. W. F e w k e s die Ruinen-
stätte von Casa Grande im Staat Arizona und
gibt gute Einblicke in eine altindianische Kultur.
Derselbe Autor berichtet in der zweiten Abhand-
lung über die Altertümer vom oberen Walnutriver-
und Walnutcreekthal , und T. Michelson hat
einen Bericht über die linguistische Einteilung der
Algonquinstämme beigetragen, der durch eine Karte
erläutert wird. Warum diese 3 Abhandlungen
zusammen mit einem Verwaltungsbericht in einem
Bande veröffentlicht werden, ist nicht einzusehen.
Praktischer wäre es, wenn das ethnologische In-
stitut in Washington diese Art von „Jahresberichten"
endlich abschaffen und die einzelnen Abhandlungen
getrennt veröffentlichen würde, geradeso wie die
einzelnen Bände oder Hefte des „Bulletins" der-
selben Anstalt. H. Fehlinger.
Inhalts Werner Mecklenburg: Die neuere Entwicklung der Lehre von der chemischen Affinität. — Einzelberichte:
Stefansson: Die ,, blonden Eskimo". Miramond de Laroquette: Das Verhältnis der nötigen Nahrungsmenge
zur Außentemperatur. Pezard: Sekundäre Geschlechtsmerkmale. Knox Shaw: Über die dunklen Stellen in der
Milchstraße. Riem: Immer engere Doppelsterupaare. Buder: Ein merkwürdiger Mikroorganismus. Mecklenburg
und Rosenkränzer; Die kalorimetrische Bestimmung des Schwefelwasserstoft's in Form des Methylenblaus. — Bücher-
besprechungen: Planck: Neue Bahnen der physikalischen Erkenntnis. Eggeling; Physiognomie und Schädel.
Rothe: Darstellende Geometrie des Geländes. Bronsart v. S c h e 1 1 en d o r f : Novellen aus der afrikanischen Tier-
welt. Reichenow: Die Vögel. Fischer: Das Problem der Brütung. Bluntschli: Über die individuelle Varia-
tion im menschlichen Körperbau und ihre Beziehungen zur Stammesgeschichte. Twenty-eight Annual Report of the
Bureau of -American Ethnology.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H.Mi ehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 2g. Band.
Sonntag, den 5. Juli 1914.
Nummer 37.
Die deutschen Ausgrabungen von Dinosauriern im letzten Jahrfünft.
[Nachdruck verboten.] Dr- Edw.
Es ist wohl niclit nur blinder Zufall, daß die
letzten fünf Jahre Deutschland einen ganz auf-
fallenden Reichtum fossiler Reste von Dinosauriern
an mehreren Stellen beschert haben, während
vordem nur ganz vereinzelt isolierte und keines-
wegs immer sehr gut erhaltene Knochen und
Knochenbruchstücke von jenen hochinteressanten
Formen in unseren Museen aufbewaiirt wurden.
Die in der Archäologie so erfolgreich angewandte
Methode der systematischen Ausgrabung bricht
sich erst seit kurzer Zeit allenthalben auch in der
Paläontologie Bahn, die bisher sich mit den von
des Geologen Tische zufällig abfallenden Brocken
begnügte. L'nd Deutschland ist durch seinen wirt-
schaftlichen Aufschwung jetzt in der glückl'chen
Lage, die für solche rein wissenschaftlichen, also
geschäftlich unrentablen Unternehmungen erforder-
lichen Gelder auftreiben zu können, d. h. aber
auch in kapitalkräftigen Kreisen ein gut Teil Ver-
ständnis und Begeisterung für eine dem Einzelnen
natürlicherweise zunächst recht fernliegende gute
Sache zu finden. Wie sehr sich die neue Methode
paläontologischer Forschung und die Bereitwillig-
keit zu ihrer Unterstützung durch wissenschaft-
liche Korporationen und ideal gesinnte Förderer
belohnt gemacht hat, geht in hohem Maße aus
dem nunmehr vorliegenden wissenschaftlichen
Rechenschaftsablegungen der drei Unternehmungen
hervor, die nahezu gleichzeitig der Bergung fos-
siler Saurierskelette auf deutschem Boden nach-
gingen. ')
Die drei Hauptfundstellen der letzten Jahre
dürften bekannt sein: Es ist der Keuper von
^) E. Fraas, „Die neuesten Dinosaurierfunde in der
schwäbischen Trias." Vortrag auf der S5. Versammlung deut-
scher Naturforscher und Arzte in Wien, September 1913,
Abt. II b u. 13 und Autorreferat in ,,Die Naturwissenschaften"
1913, S. 1097 — iioo.
U. Jaekel, ,,Über die Wirbclticrfundc in der oberen
Trias von Halberstadt." Paläontolog. Zeitschrift Bd. I u. II,
s- 155-215-
„Wissenschaftliche Ergebnisse der Tendaguru-Expedition."
Archiv f. Biontologie Bd. III, Heft I, 1914:
Branca, Allgemeines über die Tendaguru-Expedition
1909— 1911.
— — , Kurzer Bericht über die von Dr. Reck erzielten
Ergebnisse im vierten Grabungsjahr 1912.
— — , Allgemeines über die Nebenergebnisse der Tenda-
guru-Expedition.
— — , Die Riesengröße sauropoder Dinosaurier vom
Tendaguru, ihr Aussterben und die Bedingungen ihrer
Entstehung.
Janensch, Der Verlauf der Tendaguru-E.\pedition 1909
bis 1911.
, Übersicht über die Wirbeltierfauna der Tendaguru-
Schichten.
Hennig.
Halberstadt und die gleiche F'ormation von Tros-
singen und Pfaffenhofen in Württemberg, sowie die
Grenzschichten von Jura und Kreide im südlichen
Deutsch-Ostafrika, im Hinterlande der dortigen
Hafenplätze Lindi und Kilwa. Im letzteren Falle
war es natürlich erforderlich, nach der ersten Er-
kundung durch Herrn Prof. Fraas in Stuttgart
und auf seine günstige Beurteilung der Fundstelle
hin eine besonders für den Zweck ausgerüstete
F-xpediiion zu entsenden. Bei den heimischen
F\indorten war die Organisationsfrage natürlich
wesentlich leichter zu lösen, dafür aber, wie
Jaekel in seinem interessanten Fundberichte
mitteilt, manches in den hochentwickelten wirt-
schaftlichen und rechtlichen V^erhältnissen eines
Kulturlandes wurzelnde Hindernis zu beseitigen.
Daß den Eingeborenen des afrikanischen Busches
zur Zeit der Ankunft der Expedition die Knochen-
natur der vielfach herausgewitterten Reste nicht
bekannt war, wird niemand wunder nehmen. Daß
aber in der reichhaltigen Halberstädter Fundstelle
ca. looooo cbm Ton mit nach Jaekel's Schätzung
,, wenigstens loo Dinosaurierskeletten" (!) Inhalt zu
Ziegeln vermählen wurden, ehe durch das Inter-
esse eines zufällig aufmerksam gewordenen Samm-
lers die Aufmerksamkeit wissenschaftlicher Kreise
auf das Knochenlager gelenkt wurde, regt in
mehrfacher Richtung zum Nachdenken an. Denn
einmal würde der Erfolg eines Ausgrabungsgesetzes,
das die Meldung wichtiger Funde zur Pflicht
machen wollte, höchst zweifelhaft bleiben,
solange weiteren Kreisen das Leben der Ver-
gangenheit eine nie gehörte terra incognita bleibt
und selbst Gebildete, ja akademisch Gebildete
von der Existenz fossiler Reste nichts ahnen, wie
das mindestens in Norddeutschland betrübend oft
festgestellt werden kann. Kurze Hinweise, die
sich im Schulunterrichte gewiß leicht einstreuen
lassen ohne großartige Abänderung des Lehrplans,
dürften sich zehnfach besser belohnt machen als
theoretische Vorschriften, zu denen die Voraus-
setzung nicht gegeben ist. Sodann darf wohl
auch die Wissenschaft selbst aus den FJrgebnissen
der wenigen bisher vorliegenden Beispiele syste-
matischer, organisierter Nachforschung unter man-
chem anderen Wissenswerten die eine wesentlich
neue Erfahrung entnehmen, daß der Reichtum an
Zeugen der Vergangenheit bedeutend größer ist,
als die allgemeine Vorstellung gewesen sein dürfte.
Denn wäre die Wahrheit darüber bekannt gewesen,
so hätte sie die aus den gewonnenen Daten sich
durch einfache Überlegungergebende ungeheure Zer-
störung wertvollster Sciiätze kaum zugeben können.
4iS
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
27
Die paläontologischen Ausgrabungen der letzten
Jahre werden von selbst für ihre Fortsetzung
sorgen, doch es wäre vielleicht kein Schaden,
wenn diese Weiterführung bewußt und rationell
in Angriff genommen würde ! *"
Entdeckt wurde die Dinosaurierlagerstätte in
der deutschen Kolonie im Jahre 1906 durch
Herrn W. B. Sattler, der in der Umgebung
des Fundbereichs bei einem kleinen Granaten-
abbau tätig war. Während soeben die Grabungs-
arbeiten an Ort und Stelle in Gang gebracht
waren, wurde der seither verstorbene Herr Zahn-
arzt E. Torger aus Halberstadt auf das Vor-
kommen von Knochen in der Bae recke 'sehen
Ziegelei - Tongrube aufmerksam und lenkte das
Interesse Professor Jaekel's auf diesen Schatz,
dessen I3edeutung sich natürlich, wie in allen ge-
nannten Fällen, erst in der Folge ergab. Auch der
Plnder der Dinosaurier von Trossingen, Hau[)t-
lehrer Münz, ist schon gestorben. Hier in
Württemberg war es Herr Professor E. Fr aas,
dem wir schon vom Tendaguru erste wissen-
schaftliche Kunde verdankten, welcher sich haupt-
sächlich um die Bergung der Funde von Trossingen
und Pfaffenhofen verdient gemacht hat. Freiherr
von Huene, der ausgezeichnete Kenner gerade
der triassischen Dinosaurier hat gleichfalls an der
Ausbeutung Anteil genommen, auch in Aixheim
neues Material gewonnen. Die beiden württem-
bergischen Landesmiiseen von Stuttgart und Tü-
bingen sind denn auch in den Besitz der Ausbeute
gelangt. Die Ergebnisse der Tendaguru-Expedition
sind zunächst der einheitlichen Verarbeitung halber
im Berliner Naturkunde-Museum im ganzen Um-
fange vereinigt, dem auch tunlichst die in Grcifs-
wald fertig präparierten Skelette von Halberstadt
zugute kommen, da durch Professor Jaekel's
Vermittlung an allen I'^ossilfunden aus der dortigen
in Privatbesitz befindlichen Tongrube der preußi-
sche Staat das Anrecht erworben hat.
Die Bereicherung, welche unseren heimischen
Sammlungen und der Wissenschaft aus den drei
Unternehmungen erwachsen ist, ist überraschend,
ja überwältigend zu nennen. Die Ausbeute in
der noch keineswegs erschöpften Fundgrube von
Halber Stadt beträgt nach J aekel (bis Ende
1913):
Reptilien.
Dinosaurier: ca. 40 Individuen , darunter
einige nahezu vollständige Skelette und ,,der
vollständigste Schädel, der wohl je bei einem
Dinosaurier gefunden wurde".
Phytosauria: Reste verschiedener Belo-
donten.
Schildkröten: 2 l'ormen in je 2 Individuen.
Stegocephalen. 4 Exemplare eines gepanzerten
Miosauriers, i neuer Labyrinthodont mit ge-
kielten Zähnen.
Fische. 2 Selachier, 2 Ganoiden, 2 Teleostier,
I Dipnoer.
Wirbellose. 2 Süßwassermuschelformen, i Süß-
wasserschneckentypus.
In Württemberg ergaben die Grabungen
seit 1908 nach Fr aas:
A. Bei Pfaffenhofen:
a) im unteren Horizonte, dem sog. S t u ben-
sandstein:
Stegocephalen. Labjrinthodonten-.Schädel.
Reptilien.
P h\- 1 osau ria: „Isolierte Knochen und Zähne,
zuweilen sogar ganze Schädel von Pliyto-
sauriern", wie Belodon Plieningeri und My-
stiosuchus planirostris.
Dinosaurier: i annähernd vollständiges Ske-
lett von Thecodontosaurus diagnosticus n. sp.
Zusammenhängende Teile von Thecodonto-
saurus posthumus von Huene.
Sciiädel von Halticosaurus longotarsus.
Ein großenteils vollständiges Skelett einer
neuen höchst wichtigen Form; Procomp-
sognathus triassicus n. g. n. sp.
b) Im oberen Horizonte, dem sog. Knollen-
mergel:
Teratosaurus minor von Huene.
,, Zahlreiche Reste von Sellosaurus, mindestens
von 4 Individuen herrührend" (darunter
Sellosaurus F'raasii, der nach gütiger Privat-
miltcilung mit S. gracilis identisch ist).
B. Bei Trossingen, gleichfalls im Knollen-
mergel:
I vollständiges Skelett von Plateosaurus
Trossingcnsis (das auch einen neuen Art-
namen erhalten dürfte).
Wichtige und ergänzende Überreste von
Plateosaurus Reiniger! und Erlenbergcnsis
V o n H u e n e.
Über die von der Tendaguru-Expedition
erzielte Ausbeute ist vielfach Berufenes und Un-
berufenes berichtet worden. Janensch führt
folgende Liste bisher festgestellter Wirbeltiere aus
den Dinosauiierschichten Deutsch - Ostafrikas an.
Mammalia. i kleiner, ca. 2 cm langer Unter-
kiefer (Polyprotodontier?)
Dinosauria.
.S a u r o p o d a : Außer mindestens zwei noch
nicht genauer definiei baren Formen:
Gigantosaurus africanus P'raas, wahrschein-
lich Diplodocus sehr nahestehend.
Gigantosaurus robustus Fr aas.
Brachiosaurus Brancai nov. sp.
Brachiosaurus Fraasii nov. sp.
Dicraeosaurus Hansemanni nov. gen. nov. sp.
Dicraeosaurus Sattleri nov. sp.
Stegosauria: Zwei Arten mit kräftiger Stachel-
bewehrung.
Ornithopoda: Eine recht kleine P'orm aus
der Verwandtschaft des amerikanischen Lao-
saurus und des englischen Hypsilophodon
(Oberschenkel nur 30 cm!)
Theropoda: Skeletteile von wahrscheinlich
zwei Arten. Zähne überaus häufig.
Aves. Vereinzelte Reste, vielleicht Archaeopteryx
nicht allzufern stehend.
Pterosauria. Einzelknochen und Knochengruppen
N. F. XIII. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
419
in beträchtlicher Zahl, besonders in der Aus-
beute des Herrn Dr. Reck.
Crocodilia. Wenige kleine Zä!:;;e.
Pisces.
G a n o i d e n : Lepidotus äff. minor in zahlreichen
Exemplaren, Einzelschuppen einer zweiten Art.
Sclachier; Einige Zähne von Orthacodus sp.
Über die Zahl der in dieser Aufzählung ver-
tretenen Dinosaurierindividuen einigermaßen zu-
treffende Angaben zu machen, geht nun sclilecliter-
dings nicht an. Es erscheint keineswegs ausge-
schlossen, daß sie, wenn überhaupt eine BerccJi-
rechnung möglich wäre, vierstellig sein würde.
Mit Sicherheit darf man von Hunderten von Ske-
letten sprechen, von denen Reste geborgen wurden.
Betrug doch die Ausbeute eines einzigen Grabens
während zweier Jahre schätzungsweise 20000
Einzelknochen, die von entsprechend zahlreichen
Individuen einer großen Herde kleiner Ornitho-
poden herrühren müssen. In einem anderen nahe
benachbarten Graben fanden sich in gleicher
herdenweiser Anhäufung gegen 1000 Stegosaurier
Knochen. Sind dies auch die bei weitem ertrags-
reichsten Arbeitsstellen der bloßen Zahl nach ge-
blieben, so gab es doch andere genug, deren Inhalt
nach der Freilegung nur als wahres Knochcnfeld
zu bezeichnen war, und erstreckten sich die Aus-
grabungen doch auf ein Gebiet, das in Nord-Süd-
richtung einen Breitengrad ausfüllte I Naturgemäß
wurde bei weitem nicht alles gefundene Knochen-
material als verwertbar befunden und geborgen,
doch ist andererseits nicht minder selbstverständ-
lich, daß einige erste Grabungsjahrc in solchem
Gebiete wohl das leicht Erreichbare einigermaßen
erschöpfen, aber den wahren Gehalt der Erd-
schichten wohl kaum annähernd erfassen lassen.
Am Tendaguru selbst waren übereinander drei
sich auf oberen Jura und untere Kreide verteilende
Knochenhorizonte am Erosionsrande des Plateaus
erschlossen, nur die oberste konnte auf große
Flächen hin verfolgt werden, alle aber, oder doch
mindestens die eine hauptsächlich ausgebeutete,
ziehen sich nachweislich unter ca. 300 m hohen,
in Teilstücken aufgesetzten Plateaus hindurch. Es
ist klar, daß bis zu höchstens lo m in das Erd-
reich hinabgreifende Schürfgräben niemals den
ganzen Schichtkörper einigermaßen werden aus-
beuten können, daß für den praktisch nicht ver-
wertbaren Gewinn aber keine Bergwerke angelegt
werden können und somit gewaltige Areale mit
gewiß nicht geringerer Knochenführung für immer
unangetastet werden bleiben müssen. Wenn man
bedenkt, in welcher großzügigen Weise die unge-
heuren Gebiete Nordamerikas, aus denen man
schon Dinosaurier in Mengen kennt, seit Jahr-
zehnten durchforscht werden und wie sich mit
fortschreitender Erfahrung die Ergebnisse eher
verbessert als verringert zu haben scheinen, wird
man mit einem endgültigen Urteil über die Mög-
lichkeitweiterer brauchbarer F'undplätze in Deutsch-
Ostafrika auch noch nach der großen Ausfuhr
durch die Tendaguru-Expedition recht zurück-
haltend sein müssen.
Daß die bisher bekannt gewordenen h'und-
stellen vollständiger Dinosaurierskelette im deut-
schen Keuper nun auf immer die einzigen bleiben
sollten , wird man wohl ebenfalls nicht voraus-
setzen dürfen. Nicht der krönende Schlußstein
jahrzehntelanger Forschung ist in all diesen Fun-
den zu sehen, sondern viel eher der Übergang
zu einer Periode, die von sicheren Voraussetzungen
ausgehend mehr finden wird, weil sie mehr suchen
wird. Ein Teil des erforderlichen systematischen
Vorgehens in Zukunft wird freilich, wie oben dar-
gelegt wurde, in weitgehender gewissenhafter
Popularisierung der Paläontologie bestehen müssen.
Es ergibt sich jedenfalls aus dieser kurz ge-
faßten Übersicht, daß uns an allen drei Fundplätzen
die Ausgrabungen nicht fossile Reste, wie sie früher
das Arbeitsmaterial bildeten, auch nicht allein eine
große Reihe vollständiger Wirbeltierskelette, son-
dern wahre fossile F'aunen geliefert haben, in denen
sich auch der geologische Zustand der betreffenden
Zeiten widerspiegelt. Die Ursachen der Auf-
S])eicherung so großer Schätze an immerhin lokal
begrenzten Stellen sind noch keineswegs restlos
zu überblicken. Von der Landschaft im Gebiete
des heutigen Halberstadt zur Zeit des Keuper
entwirft Jaekel ein anschauliches Bild. Daß man
neuerdings weit mehr mit kontinentalen Ablage-
rungen rechnet als früher, wo man mehr bereit
war, jedes Sediment dem Meere zuzuschreiben,
wird ja durch die Auffindung reicher, dem Binnen-
landc nebst seinen Seen und Müssen angehörigen
Tiergemeinschaften nur gerechtfertigt. Um so er-
staunlicher ist es, daß die Saurierschichten Deutsch-
Ostafrikas, die so große Ähnlichkeit mit den für
kontinentale Bildungen zu haltenden nordamerika-
nischen haben, ohne die Annahme einer Mitwirkung
des Meeres unverständlich bleiben müßten. Fanden
sich doch an verschiedenen Stellen Dinosaurier-
Knochenansammlungen mit zahlreichen Belemniten
zusammen! Fisch- und Muschelreste erinnern
überall an das Vorhandensein von Gewässern und
lassen sich nicht als Süßwasserbewohner deuten.
Interessant ist es daher, daß auch Jaekel eine Nähe
des Meeres anzunehmen sich genötigt sieht, selbst
da, wo er Wüstenbildungen vermutet. Wenn die
Voraussetzung, es handle sich in gewissen Hori-
zonten um Absätze in einem Deltagebiet, zutrifft,
so ist damit freilich noch nicht unbedingt gesagt,
daß die Mündung des betreffenden Stromes ins
Meer sich ergossen habe. Als „marine Küsten-
bewohner" in der Halberstädter Fauna werden
angeführt „ein Sauropterygier, einige Haifische und
vielleicht auch ein großer Teleostier". Es sei aber
betont, daß der anscheinend besonders beweis-
kräftige Selachier der Gattung Hybodus angehört,
die auch aus etwa gleichaltrigen und faziell recht
ähnlichen Bildungen des südafrikanischen, ohne
Zweifel kontinentalen Karroo angeführt wird !
Man braucht deswegen vielleicht nicht einmal un-
bedingt Mündungsgebiete, sondern überhaupt nur
420
Naturwisscnschaftliclic Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
27
Niederungen des Stromlaufes anzunehmen, für die
ganz ähnliche Absatzbedingungen gelten. Wichtig
dagegen ist der Nachweis, daß die höheren Ab-
lagerungen der Halberstädter Grube an Stelle des
Tons mehr und mehr sandiges, oft taschenförmig
in die Unterlage eingreifendes Material und auch
eine entsprechend andere Fauna führen. An sie
hauptsächlich sind die Reste der Flußbewohner
(Krokodile, Fische) gebunden, während die Dino-
saurier sich in den tieferen Tonlagen finden und
demnach, wie Jaekel meint, ,, offenbar vom Ufer
her in den Schlammsumpf geraten waren". Es
mögen des öfteren nachträgliche Umlagerungen und
teilweise Verwesungsvorgänge an nicht genügend
eingebetteten Körperleilen mitgespielt haben und
die Schuld tragen, wenn ganz und gar unversehrte
Skelette auch hier nicht vorliegen.
l'ür die gleichzeitigen Dinosaurierlager in Württem-
berg darf man wohl sehr ähnliche Verhältnisse
voraussetzen, natürlich unter Beachtung der großen
Mannigfaltigkeit heutiger Oberflächenformen. Nur
ist dort die entgegengesetzte Überlagerung der
Sandsteine mit Flußbewolincrn durch die haupt-
sächlich Dinosaurier führenden mehr mergligen
höheren Lagen zu beobachten. Hier wie dort
aber handelt es sich um die mittleren Partien des
germanischen Keupers.
Fraas stellt für die württembergischen Ab-
lagerungen die Mitwirkung mariner Kräfte durch-
aus in Abrede und rechnet sogar vorwiegend mit
äolischen, lößähnlichen Bildungen, die durch Regen-
fluten zu Schlamm verwandelt den Dinosauriern
ein Grab bereiteten. Im übrigen verweist er nicht
nur auf die Unterschiede der Fossilführung inner-
halb des Stubensandsteinhorizonts, wo die Dino-
saurier lediglich auf die Tonlinsen („Fäule") be-
schränkt sind, sondern auch auf den Gegensatz
der darin auftretenden durchweg kleinen Dino-
saurierformen zu den weit größeren des über-
lagernden Knollenmergels.
Sehr bemerkenswert demgegenüber ist eine
den Gesamthabitus betreffende Übereinstimmung
der Gesteinsfazies der drei Dinosaurierlagen unter-
einander, wie auch nach F'raas' Zeugnis rnit den
nordamerikanischen Atlantosaurus-beds. Überall
finden sich die bunten Mergel, nicht nur in unserem
Keuper; rote und grünliche Farben herrschen vor.
Reine Tone kommen wohl nur gelegentlich vor.
Ich sah in den höher gelegenen Straßen Stuttgarts
beispielsweise eine frische Ausschachtung zu Kanali-
sationsanlagen und konnte mich beim Anblick der
Grubenwände durchaus an einen Grabungsplatz
des Tendaguru-Gebiets versetzt fühlen; fast über-
raschend war es mir, daß sich nirgends Knochen
darin zeigen wollten. Diese Faziesgleichheit zu-
sammen mit der allgemeinen faunistischen Über-
einstimmung in so verschiedenaltrigen Formationen
und auf so weit getrennten drei Kontinenten ist
ganz gewiß höchster Beachtung wert und scheint
darauf hinzudeuten, daß die endgültige Entscheidung
über die Entstehung der Schichten nicht in einem
Gebiete allein zu- treffen ist, sondern unter Be-
achtung aller lokalen Eigenheiten nur im Hinblick
auf die Gesamtheit.
Die lokalen Abweichungen, von denen ja einige
wichtige schon genannt wurden, üben natürlich,
soweit sie das Gestein und den Erhaltungszustand
der Knochen betreffen, einen entscheidenden Ein-
fluß aus auf die Art und Weise der Bergung.
So berichtet Fraas von Trossingen, daß es nicht
möglich gewesen sei, das dort gefundene vielleicht
vollständigste aller bekannten Dinosaurierskelette
schon am Fundplatze frei zu präperieren und so
einen Einblick in die Vollständigkeit und Lagerung
des Tieres zu erhalten, da das Gestein an jener
Stelle zu hart und mit dem Knochen zu fest ver-
wachsen war. Erst in den Museumsräumen zu
Stuttgart konnte dieser Teil der Arbeit erfolgen,
nachdem alle knochenführenden Bestandteile des
Grabens in großen Blöcken abgehoben und trans-
portiert worden waren. Um so bewundernswerter
freilich ist die Leistung, daß nicht ganz ein halbes
Jahr für Präparation und Montierung des Skeletts
in seiner natürlichen Lage genügte. P'rcilich han-
delt es sich in der Trias noch nicht um jene ab-
sonderlichen Riesengestalten, die man bei dem
Namen Dinosaurier gern im Sinne hat.
Auch am Tendaguru war es in einigen Fällen
erforderlich, das Rohmaterial mit den Knochen
in ganzen Blöcken zu verpacken und zu trans-
portieren. Nur war hier der Grund ein anderer:
der embarras de sichesse in jenem oben genannten
Graben, der viele Tau?ende einzelner Knöchelchcn
enthielt, ließ den Gedanken an Präparation gar
nicht aufkommen.
Der würflich zerbrechende übliche Mergel hat
im übrigen die beiden guten Eigenschaften, daß
er sich verhältnismäßig leicht abpräparieren läßt
und andererseits doch die Knochen einigermaßen
fest umschließt. Je fester und widerstandsfähiger
das Gestein, imi so günstiger ist oft die Erhaltung
der Knochen. Im lockeren Material zerfallen sie
zu leicht in ein winziges Mosaik kleiner Teilchen.
Es bedarf dann langwieriger Härtungen und be-
sonders sorgsamer Verpackung. Zumal die ex-
tremen Riesenformen Dcutsch-Ostafrikas neigen
infolge des hohen Gewichtes einzelner Knochen
(bis zu 5 Zentner!) in dem während der Regenzeit
tief durchweichten Erdreich zu einem Auseinander-
brechen und werden dort in dem kalkarmen Boden
obendrein mit Vorliebe von den Wurzeln der
üppigen Vegetation (selbst noch in 10 m Tiefe I)
aufgesucht, angebohrt, ja völlig gesprengt. Es
sind demnach bei all diesen Ausgrabungen mancher-
lei technische Schwierigkeiten zu überwinden und
entsprechend bedeutende Mittel erforderlich. Aber
sie haben sich in allen Fällen auf das glänzendste
belohnt gemacht!
Es ist nicht möglich, über den rein paläozoolo-
gischen Gewinn der Saurierausgrabungen an dieser
Stelle mit einiger Vollständigkeit Übersicht zu ver-
schaffen. Liegt doch noch keine einzige der zu
erwartenden ausführlicheren Bearbeitungen über-
haupt bisher vor und ist doch an eine annähernde
N. F. XIII. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
421
Erschöpfung in diesem Sinne vielleicht erst nach
Jahrzehnten zudenken! Branca erinnert daran,
daß die Bergung und Aufstellung eines Bronto-
saurusskelettes im New -Yorker Museum nicht
weniger als 9 Jahre gedauert hat.
Die triassischen Dinosaurier waren uns nach
allerdings unvollkommenem Material doch durch
eine um so verdienstvollere Monographie v o n
Huene's bekannt. Hier ist nun mancherlei nach
den neuen Funden zu berichtigen und zu ergänzen,
das Gesamtbild gestaltet sich reicher. Die jüngere
Diiiosaurierfauna der Jura-Kreidezeit ist in einer
seiner Großartigkeit nicht immer entsprechenden
Weise durch die Arbeiten nordamerikanischer
Forscher immerhin in weitem Umfange bekannt
geworden und wirkte durch die zahlreichen Ab-
bildungen ganzer rekonstruierter Exemplare viel
unmittelbarer als jenes nur durch intensivstes
Studium verständliche Material. Hier haben die
ostafrikanischen Grabungen in erster Linie über-
raschendes Licht auf die \'erbreitung und den
ungeheuren Individuum-Reichtum dieser F'ormen
geworfen, einen gewiß unerwarteten neuen Fundort
kennen gelehrt. Aber die weitgehende Überein-
stimmung des Faunenbildes, die sich, soweit man
bisher übersehen kann, selbst auf einige in beiden
Kontinenten vertretene Gattungen (Brachiosaurus,
?Diplodocus, Stegosaurus) erstreckt, ist fast er-
staunlicher als das Auftauchen ganz neuer Typen,
wie sie z. B. in seltsamen Formen mit tiefgeteil-
tem Dornfortsatz (Dicraeosaurus Janensch) gegeben
sind. Die Stegosaurier treten uns hier überhaupt
zum ersten Male mit Bestimmtheit auf der Süd-
hemisphäre entgegen. Es ist geradezu überraschend,
wie sehr sie Einzelheiten des Körperbaues, so das
Verhältnis des Gehirns zu der Anschwellung des
Rückenmarks in der Beckenregion, wiederholen.
Auch daß wir in Afrika absonderlich riesenhaften
Gestalten begegnen, die beispielsweise den Diplo-
docus um etwa das Doppelte, wenigstens an Höhe
übertreffen, ist richtig. Nur ist eben der Diplo-
docus auch in Nordamerika durchaus noch nicht
die größte F'orm. Vielmehr ist es gerade die
imposanteste der ostafrikanischen Gattungen, der
bisher mit einiger Gewißheit der Name eines
nordamerikanischen \'etters (Brachiosaurus) von
ganz ähnlichen Dimensionen beigelegt werden
konnte. Aber allerdings beruhte die Kenntnis
dieser P^orm bisher lediglich auf ganz wenigen
Knochenelementen, während am Tendaguru das
größte Exemplar merkwürdigerweise auch eins
der vollständigsten und obendrein besonders vor-
trefflich erhalten war.
Hinsichtlich der Trias-Dinosaurier ist besonders
bemerkenswert die P^ntdeckung des Procompso-
gnathus, der in die Ahnenreihe des Compsognathus-
Skelettchens aus den lithographischen Schiefern
Bayerns zu stellen ist und damit das Alter einer
weit abgezweigten Gruppe sehr hoch hinaufrückt.
Fr aas möchte darin eine Art Ursprungstj-pus der
Vögel, wenigstens der Laufvögel sehen. Haltico-
saurus, den man auch hier eingereiht hat, zeigt
nach Fraas eher Anklänge an die gleichfalls
„springenden'' Coeluriden und würde dann eine
zweite wichtige Gruppe schon in so früher Zeit
vertreten. Nur entfernt verwandt mit jenen ist
die hauptsächlich vertretene Abteilung der Plateo-
sauriden, der die große Mehrzahl aucli der neuen
Württemberger und Halberstädter Dinosaurier an-
gehört. Sie zeigen etwas indifferenteren Bau und
könnten außer für die echten jüngeren Theropoden
auch fürdieeinseitigentwickeltengigantischenSauro-
poden der Ausgangspunkt gewesen sein oder ihnen
doch nahe stehen, wie sie andererseits noch Merk-
male primitiverer Reptilien bewahrt haben. Ihr
Bau ist nunmehr ganz wesentlich besser bekannt ge-
worden und das verspricht weitere wichtige Resultate.
Über die wahre Anzahl der Wirbel bei ihnen, die
bisher nur vermutungsweise errechnet werden
konnte, über den feineren Bau und die Zahl der
Halswirkel hat J aekel schon wichtiges Material
beigebracht. Die etwas kleineren und primitiveren
Thecodontosaurier gehen den Plateosauriden nach
den bisherigen P'unden auch im Alter wenig voran.
Es besteht also in dieser Hinsicht jetzt ein ge-
wisser Übergang. Dagegen tritt die Gesamtheit
der Dinosaurier uns nunmehr in der Trias schon
vielgestaltiger und verzweigter entgegen. Es ist
das ja ein Problem, das sich so oft in den Palä-
ontologie darbietet, daß eine soeben erst auf-
tauchende Tiergruppe auch alsbald eine schwer
verständliche große Mannigfaltigkeit aufweist.
L^ber eine wichtige, durch Tornier aufge-
rollte Frage, diejenige nach der Gangart und Fuß-
stellung der Dinosaurier, sind die Ansichten offen-
bar noch im Fluß. Schematisieren ist auch hier
das größte Übel. Es darf wohl angenommen
werden, daß so reichhaltiges neues Material auch
hierin manche neue Anregung und Vertiefung des
Problems uns bringen wird. Wie nämlich aus
neueren Arbeiten von Huene's^) hervorgeht,
werden wir uns wohl sogar bequemen müssen
den Namen Dinosaurier ganz fallen zu lassen.
Denn es scheinen unter diesem Namen zwei ge-
netisch zu scheidende Entwicklungszweige, Sau-
rischia und Ornithischia nach von Huene, zu-
sammengefaßt worden zu sein !
') von Huene, Über die Zweistümmigkeit der Dino-
saurier usw. Neues Jahrb. f. Min. Beil. Bd. 37, 1914-
— — , Das natürliche System der Saurischia. Zcntralbl.
f. Min. 1914.
422
Naturwissenschaft lirhc Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 2
[Machdruck verboten.'
Das Fußskelett des Tapirs.
Von
Univ. -Prof. Dr. phil. et med. L. Kathariner, Frcihurg (Schweiz).
Mit 4 Te.Kttiguren.
Im Gegensatz zu den Paarzehern, Artiodactyla,
zu denen unter anderen die Schweine, Schafe,
Rinder, Hirsche usw. gehören, faßte R. ( ) w e n
die Pferde, Tapire und Nashörner als Unpaarzeher,
Perissodactyla, zusammen. IVIarsh bezeichnete
sie als Mesaxonia im Gegensatz zu jenen, den
Paraxonia. Die Richtung, in der die Körperlast
auf die Extremitäten wirkt, fällt nämlich in die
Richtung der Längsachse der Gliedmaße, die nur
mit der dritten Zehe den Boden berührt; bei den
Paarzehern dagegen fällt sie zwischen die dritte
und vierte Zehe. Die dritte Zehe ist bei den
Unpaarzehern weitaus am stärksten entwickelt;
die anderen sind entweder gänzlich verschwunden
oder mehr oder minder rudimentär. Die Rhinoce-
Nordamerika. In Europa reichen sie bis in das
Pliozän. Die jetzt lebenden vier Arten sind auf
die Tropen beschränkt. Drei davon : Gemeiner
amerikanischer Tapir, Anta (T. americanus L), T.
pinchacus Blainv. und T. Bairdii Gill. kommen in
IVlittcl- und Südamerika, eine, der indische Tapir,
F
««;
t
Fig. I. Linker Vorderfuß: K = Radius, U ^ Ulna,
Mpli 2, 3, 4, 5 = 2., 3., 4. und 5. Mittelhandknochcn ;
-1 3i 4. 5 = -•! 3> 4- ""J 5- Finger.
Fig. 2. Linker Hinterfuß: T = Tibia, F = Fibula, C = Calcancus,
Mt 2, 3, 4 = 2., 3. und 4. Mittelfußknochen ; 2, 3, 4 ^ 2., 3. und 4. Zelic
Beide I'"iguren beziehen sich auf den Knibryo von Tajiirus americanus L
rotidae haben am vorderen und hinteren Fuß drei
Zehen, 2., V und 4., die Tapiridac vorn vier, 2., 3 ,
4. und 5.; hinten drei, 2., 3. und 4. Am weitesten
geht die Reduktion des P'ußskeletts bei den Equidae.
Vorn und hinten kommt nur eine einzige, die
dritte Zehe zur Ausbildung. Die den Metacarpalia
bzw. den Metatarsalia 2 und 4 entsprechenden
sog. Griffelbeine erreichen bei den jetzt lebenden
Equiden nicht den Boden.
Die rezenten Perissodactyla gehören zu den
drei Familien der Rhinocerotidae, Tapiridae und
Equidae. Fossile F"amilien sind die Titanotheriidae
und die Chalicotheriidae. Fossile Tapiriden sind
bekannt aus dem Untereozän von Europa und
Schabrackentapir, Maiba (T. indicus Desm.) in
Hintcrindien, dem südlichen China und Sumatra vor.
Von einem Sammler erhielt ich den Embryo
eines amerikanischen Tapirs aus dem Amazonen-
gebiet. In Beistehendem gebe ich zwei Röntgen-
aufnahmen des F"ußskeletts der vorderen und
hinteren Extremität. Die Maße des Tieres von
der Schnauzenspitze bis zur Schwanz wurzel sind der
Krümmung nach gemessen 39,5 cm, die direkte
Länge 32,5 cm. Von den Carpalia ist nocii nichts
zu sehen, in der I-'iißwurzel ist dasegen das h^rsen-
(NB. Fig. I und 2 ist in je einem Exemplar gegeben, von
denen auf dem einen die Hinweisstriclie eingetragen sind.)
N. I''. .Mir. Nr. 27
Naturwissenschaftliche VVocliciischrift.
bein (Calcaneus c) bereits deutlich. Von den
fehlenden iMngern und Zehen ist keine Spur vor-
handen. VV'ie beim au.sgewachsenen Tier sind auch
hier Radius (R) und Ülna (U) bzw. Tibia (T) und
Fibula (F) deutlich selbständige Stücke. Zwischen
Unterarm bzw. Unterschenkel und Mittclhand-(Mi>h I
bzw. Miitelfußknochen (Mt) ist eine weite knochen-
lose Uücke. Kine Abbildung vom Fuf'i des mensch-
lichen Embrj'os aus der Mitte des 4. Monats
( J. Kollmann, Handatlas der Entwicklungsgeschichte
des Menschen, Bd. I, Jena 1907, Fig. 300) zeigt
ein ganz entsprechendes Verhalten.
Einzelberichte.
Physik. El u c k e n ') ist es geglückt, die Ad- ling^l nachgeprüft und ihre Kenntnis auf Hohen
bis zu 9000 m ausgedehnt worden. Die Messungen
wurden im bemannten Freiballon ausgeführt. Da
der Ballon fast stets, besonders bei raschem Steigen
oder Fallen und bei Ballastabgabe, eine Eigen-
ladung besitzt, stört er elektrische Messungen er-
heblich. Um ihn mit der Umgebung ins elektrische
Gleichgewicht zu setzen, wurden in einigen Fällen
blanke Magnaliumbleche benutzt, die, von der
Sonne bestrahlt, einen genügend starken Photo-
effekt zeigten, um die Ballonladung zu zerstreuen.
Außerdem waren bei den meisten Fahrten ständig
tropfende, mit Kalziumchloridlösung gefüllte
Gummisäcke am Ballon angebracht. Die Resultate
sind interessant genug. Es nimmt nämlich die
Leitfähigkeit nach ihnen in etwa exponentiellem
Verhältnisse mit wachsender Höhe zu , was auf
eine außerordentlich starke Ionisation der Luft in
höchsten Schichten durch die Sonnenstrahlung
deutet. Li 9000 m ist die Leitfähigkeit wenigstens
40 mal so groß wie an der Erdoberfläche. Der
erhöhten Leitfähigkeit entsprechend, aber vielleicht
nicht allein durch sie bedingt, sinkt das Spannungs-
gefälle. Es beträgt nur noch 3 — 4 Volt pro m in
90CO m Höhe. Interessant ist es, daß die an der Erd-
oberfläche häufigen starken Störungen in größeren
Höhen fast oder ganz verschwinden. Br.
Sorptionserscheinungen in die allgemeine kinetische
Theorie der Materie einzureihen, wenigstens für
die Fälle, bei denen sie nicht mit chemischen Vor-
gängen (wie z. B. beim Färben) verknüpft sind.
E u c k e n geht von der allgemeinen Attraktionskraft
aus, die zwischen gleichartigen und ebenso zwischen
ungleichartigen Molekülen herrscht und die sich
vor allem durch das Vorhandensein einer Ver-
dampfungswärme und der Oberflächenspannung
bemerkbar macht. F'ür diese Attraktion ist rech-
nerisch charakteristisch das Attraktionspotential,
das sich bei gleichartigen Molekülen nahe gleich
dem Siedepunkt bei Atmosphärendruck ergibt.
Wird nun in dem Falle der Adsorption von Gasen
(Stickstoff, Argon und andere Gase) für Kohle
dieses Attraktionspotential = 3600, und außerdem
der Exponent des Abstandes, mit dem die Kraft
abnehmen soll, gleich 4 gesetzt, so ergibt sich für
nicht allzu tiefe Temperaturen eine geradezu
glänzende Übereinstimmung zwischen Theorie und
Beobachtung. Die Abweichungen, die sich bei
sehr tiefen Temperaturen ergeben, lassen sich
zwanglos dadurch erklären, daß bei der sehr ge-
ringen Geschwintligkeit mit der in diesen F'ällen
die Adsorption vor sich geht, das Gleichgewicht
noch nicht erreicht war. Größere, nicht restlos
zu erklärende Abweichungen ergeben sich aller-
dings bei Wasserstoff, der sich ja aber auch sonst
in seinen molekularen Erscheinungen abweichend
verhält. Sehr gut ist auch die Übereinstimmung
für die Adsorptionswärme, die sich natürlich auch
aus der Rechnung ergibt.
Ferner zeigt die Beobachtung, daß bei mäßigen
Drucken die adsorbierle Menge dem (iasdrucke
proportional ist. Dasselbe ergibt die Theorie und
auch die Temperaturabhängigkeit der Adsorption
wird durch die Theorie im allgemeinen richtig
wiedergegeben. Betreffs der Adsorptionserscheinun-
gen bei Dämpfen muß auf die Originalarbeit ver-
wiesen werden.
Die beiden wesentlichsten elektrischen
Daten der Erdatmosphäre, die Leitfähig-
keit und das Spannungsgefälle, sind
von Wigand-},Lutze,BongardsundEver-
') A. Eucken, Zur Theorie der Adsorption. Ber. d. D.
Phys. Ges. 1914, 345.
'') Wigand, Messungen der elektrischen Leitfähigkeil in
der freien Atmosphäre bis 9000 m Höhe. Ber. d. D. Hiys.
Ges. 1914, 232.
Astronomie. Eine Beziehung zwischen Durch-
messer und Temperatur der Sterne sucht Hnatek
aufzustellen (Astr. Nachr. 4731). Aus den bekann-
ten Strahlungsgesetzen ist die Sterntemperatur zu
ermitteln, und diese in Verbindung mit der Ent-
fernung des Sternes muß die scheinbare Größe
ergeben. Das nicht sehr zahlreiche Material zeigt
zunächst, daß bei 5500 Grad ein kritischer Punkt
liegt. Die heißeren Sterne sind alle von der Größe
unserer Sonne, die selber etwa 6600 Grad hat,
während die kühleren Sterne sehr groß sind. Hier
gehen die Temperaturen bis 2800 Grad herunter,
und die Durchmesser bis zum 100 fachen der Sonne,
ja bei ß Ursae minoris bis zum 330 fachen der Sonne.
Dieser Kör[)er ist also der Größe der Erdbahn ver-
gleichbar und hat das 36 Millionenfache der Sonne
an Oberfläche. Es erscheint dem Autor fraglich,
ob diese riesigen Durchmesser reell sind, da doch
die Sterne sich mit zunehmender Abkühlung
zusammenziehen sollten. Er meint daher, daß
diese Ausmaße nur zum Teil reell seien. Bei der
*) Everling, Messungen des elektrischen Spannungs-
gefälles in der freien Atmosphäre bei goo m. licr. 1914,250.
424
Naturvviescnschaftli
VVochcnsclirift.
N. F. XIII. Nr.
kritischen Temperatur fangen chemisclie Verbin-
dungen an sich zu bilden. Dies geschielit bei
starker WärmeentwickUiiig und gewaltigen Ex-
plosionen, die die großen Durchmesser erzeugen.
Auf der anderen Seite wirken diese Verbindungen
als stark lichtabsorbierende Gase, und zwar zu-
nächst auf die kurzwelligen Strahlen, so daß wir
im Spektrum das Knergicmaximum an die ialsche
Stelle legen, also auch zu niedrige Temperaturen
bestimmen und daraus auf zu große Durchmesser
schließen. Vielleicht wirken beide Ursachen zu-
sammen. Riem.
Zoologie. Die Fortpflanzung der Süßwasser-
ostrakoden. Einen wesentlichen Beitrag zur Kennt-
nis der Biologie der Sijßwasseroslrakoden liefert
Wohlgemuth mit einer kürzlich erschienenen
Arbeit '). Von besonderem Interesse scheinen mir
die von dem Verfasser angestellten Beobachtungen
und Untersuchungen über die Fortpflanzung dieser
Entomostraken zu sein.
Unsere bisherigen Kenntnisse über die Ver-
mehrungsweise der Süßwasserostrakoden sind recht
lückenhaft. Wohlgemuth suchte diese Lücken
auszufüllen nicht nur durch die Untersuchung mög-
lichst zahlreicher F"änge zu verschiedenen Jahres-
zeiten, sondern er beobachtete auch eine größere
Anzahl .'\rten längere Zeit in der Kultur. Die
Zucht mancher besonders empfindlicher Arten
macht allerdings große Schwierigkeiten, immerhin
konnte Wohlgemuth von 30 beobachteten
Arten 21 züchten, eine Anzahl von diesen wurde
ein bis zwei Jahre hindurch auf ihre Fortpflanzungs-
weise untersucht.
Nach ihrer F'ortpflanzung teilt W o h 1 g e m u t h
die Süßwasserostrakoden in zwei große Gruiipen
ein. Die einen pflanzen sich rein zweigeschleciit-
lich fort, bei den anderen fehlt das männliche
Geschlecht vollständig, sie vermehren sich aus-
schließlich parthenogenetisch. Durch Übergänge
sollen diese beiden Typen verbunden sein. Nach
den Beobachtungen VVohlgemuth's erscheint
es mir richtiger, drei Gruppen zu bilden, ähnlich
der von Lange') für die Rotatorien gegebenen
Einteilung. Der ersten Gruppe sind dann die
Formen mit ausschließlich bisexueller Fortpflanzung
einzureihen, der dritten die, welche sich rein
parthenogenetisch vermehren. Einen Übergang
von dem einen zu dem anderen Extrem stellt die
zweite Gruppe dar, Formen, die einen Wechsel
zwischen pnrthcnogenetischer und bisexueller Fort-
pflanzung, eine Heterogonie, aufweisen. Für Ostra-
koden hat W o h 1 g e m u t h diesen Fortpflanzungs-
modus als erster nachgewiesen. Diese Einteilung
') Wohlgemuth, R., Beobachtungen und Untersuchun-
gen über die Biologie der Süi3wasserostrakoden ; ihr Vorkom-
men in Sachsen und Böhmen, ihre Lebensweise und ihre Fort-
pflanzung. Intern. Rev. d. ges. Hydrobiol. u. liydrogr., Biol.
Suppl. z. Bd. 6, 1914.
^) Lange, A. , Unsere gegenwärtige Kenntnis von den
Fortpfl.inzungsverhältnissen der Kädertiere. Kritisches Sammel-
referat. Intern. Rev. d. ges. Hydrobiol. u. Hydrogr., Bd. 6,
1913-
läßt sich freilich bei den Ostrakodeii nicht in
gleicher Weise durchführen wie bei den Rotatorien.
Während bei den Rädertieren die drei Gruppen
mit den von Plate aufgestellten drei Familien
einigermaßen zusammenfallen, gibt es bei den
Ostrakoden einzelne Arten, die je nach der Ürt-
lichkeit, wo sie vorkommen, verschiedenen Gruppen
zugewiesen werden müssen. Rotatorien sowohl
wie Ostrakoden zeigen, phylogenetisch gesprochen,
die Tendenz zu einer, .progressiven Parthenogenese",
bei den Ostrakoden aber ist, möchte ich sagen,
der Zustand mancher rezenten Arten ein labilerer
als bei den Rotatorien. Cypris virens z. B. wurde
von Wohlgemuth, genau wie von allen früheren
Untersuchern, nur in weiblichen Exemplaren be-
obachtet. In Afrika (Algier) hingegen — und
wahrscheinlich auch in Nordamerika — pflanzt
sich diese Spezies zum mindesten zeitweise zwei-
geschlechtlich fort. Ähnliche Beobachtungen liegen
auch für andere Arten vor. Von manchen Arten
allerdings mögen die Männchen noch gefunden
werden bei ausgedehnteren Untersuchungen, als
sie bisher vorliegen.
Besonders eingehend hat sich W ohl gcni ut h
mit der F'ortpflanzungsweise von Cj'prinotus incon-
gruens befaßt. FIs ist dies auch die Art, für welche
er einen Generationswechsel mit Sicherheit nach-
weisen konnte. Cyprinotus incongruens, ein sehr
weit verbreiteter und außerordentlich häufiger
Ostrakode, lebt in Pfützen, Straßengräben, Dorf-
teichen ohne Vegetation, in Gewässern also, die
gelegentlich austrocknen. Die meisten Beobachter
haben diese Art nur in weiblichen Exemplaren
gefunden, an gewissen Stellen aber — z. B. in
Böhmen — sind auch Männchen beobachtet worden.
Man kam infolgedessen zu der Ansicht, daß die
Artsich gewöhnlich parthenogenetisch, an manchen
Orten aber zweigeschlechtlich vermehrt, ähnlich wie
die oben genannte Cj'pris virens. Man unterschied
also zwei hinsichtlich ihres Fortpflanzungsmodus
verschiedene Rassen. Wohlgemuth versuchte
nun, die eine ,, Rasse" in die andere überzuführen.
Eine lehmige Pfütze vor dem Dorfe Bösig bei
Llirschberg in Böhmen wurde vom August 191 1
bis Finde März 1913 beobaclitet. Sie enthielt aus-
schließlich weibliche Individuen. Die Pfütze trock-
nete im Sommer ab und zu aus, fror im Winter
bis zum Grund vollkommen zu, immer traten aber
hernach wieder die parthenogenetischen Weibchen
von Cyprinotus auf. Mehrere Dorftümpel in Alt-
Kalken ebenfalls bei Hirschberg wiesen während
der ganzen Zeit, wo sie beobachtet wurden —
die gleiche Zeit, wie die obige F"orm — Weibchen
und Männchen auf. Die eingeschlechtliche Form
wurde 2''., Jahre lang — zeitweise unter den ver-
schiedensten Bedingungen — in Kultur gehalten. Die
einen Tiere wurden bei Zimmertemperatur gezüchtet
und reichlich mit Schneckenfleisch gefüttert, andere
kamen in 28—30", in 17 — 19", in 9—1 1" C, wieder
andere in ^/m und ^Z., normal Nordseewasser, die
einen wurden reichlich mit Schneckenfleisch ge-
füttert, andere knapp mit Schlamm. Alle Ver-
N. F. Xlll. Nr. 27
Natur wisscnscliaftlichc Wochenschrift.
425
suche — auch Hintrocknungsversuche wurden unter-
nommen — blieben erfolglos : Es entstanden aus-
schließlich patthenogeneiische Weibchen. Mehr
Glück hatte Wollige muth hei Versuchen mit
der zweigeschlechilichen Form von Kalken. Auch
diese wurde unter ähnlich verschiedenen Be-
dingungen gezüchtet wie die eingeschlechtliche
Form, hinzu kam noch eine Kultur, welche mit
Schlamm von der Fundstelle der parthenogene-
lischen Form in Bösig versehen wurde ider Schlamm
wurde vorher erhitzt, um etwa noch vorhandene
Eier abzutöten). Alle Kulturen wurden am
5. Dezember 191 1 mit kopulierenden Pärchen be-
setzt. Nach der Kopula wurden die Männchen
entfernt und nur die begatteten Weibchen weiter-
gezüchtet. Während bis dahin, wie gesagt, alle
beobachteten Generationen von Kalken aus Weib-
chen und Männchen bestanden, wurden jetzt plötz-
lich von den begatteten Weibchen nur noch
W e i b c h e n erzeugt, ganz gleichgültig, unter
welchen Bedingungen sich die Tiere befanden.
Die verschiedenen Lebensbedingungen waren nur
insofern von Bedeutung, als die Entwicklungsdauer
eine verschiedene war. Am 22. F"ebruar 191 2
war in allen Kulturen die rein weibliche Nach-
kommenschaft vorhanden. Die Weibchen lieferten
parthenogenetisch sich entwickelnde Eier, aus
denen auch in den nächsten Generationen immer
wieder nur Weibchen entstanden. Die in der
Kultur parthenogenetisch gewordene Kalkencr
Form versuchte sodann Wohlgemut h in den
zvveigeschlechtlichen Zustand zurückzuführen. Aber
das Resultat aller Versuche war ebenso negativ
wie das bei den Versuchen mit der Form von
Bösig erhaltene.
Ist der beobachtete Generationswechsel nun
ausschließlich ein Produkt der künstlichen Züchtung,
oder kommt er auch in der Natur vor? Die
höchst interessante Tatsache, daß die Kalkener
Form in der Natur nicht zur Parthenogenese
überging, sondern, solange sie beobachtet wurde,
die zweigeschlechtliche F'ortpflanzung beibehielt,
scheint für die erstere Alternative zu sprechen.
Es gelang indessen Wohlgemuth, an anderen
Stellen auch in der Natur einen Generationswechsel
bei Cyprinotus festzustellen, dreimal in Böhmen,
sowie sehr genau in Maßlau bei Leipzig. Während
des Jahres loii fand er dort ausschließlich Weib-
chen. Im Spätherbst (November) verschwand die
Art. Überwinterte Eier wurden im März 1912
gesammelt: Es entstanden aus ihnen überraschender-
weise Weibchen und Männchen. Das ganze Jahr
191 2 vermehrte sich die Maßlauer F"orm zwei-
geschlechtlicb, auch im F'rühjalir 1913 traten wieder
beide Geschlechter auf. Ob auch an anderen Orten
Cyprinotus incongruens einen Generationswechsel
besitzt, muß vorläufig unentschieden bleiben. Da
nach den Beobachtungen Wohlgemuth 's der
Wechsel in der Fortpflanzungsart nur nach längeren
Zeiträumen eintritt, sind ausgedehnte Unter-
suchungen notwendig, um auf diese Frage eine
sichere Antwort geben zu können. In Nordafrika
scheint sich Cyprinotus incongruens ausschließlich
zweigeschlechtlich fortzupflanzen, im Westen
Europas ausschließlich parthenogenetisch. Lassen
sich diese Angaben be.'^tätigen, so haben wir in
diesem Ostrakoden eine Spezies vor uns, die alle
bei den Ostrakoden überhaupt vorkommenden
F'ortpflanzungsmodi aufweist. Es ist möglich oder
vielmehr sogar wahrscheinlich, daß auch noch bei
anderen Ostrakoden ein solcher Generationswechsel
vorkommt. Über die Ursachen des Generations-
wechsels bei den Ostrakoden sind wir bisher ganz
im unklaren. Ähnlich wie bei den Rotatorien,
Cladoceren usw. mögen in erster Linie innere
F'aktoren maßgebend sein für den Ablauf des
Generationszyklus. Aber gerade die Tatsache,
daß die zweigeschlechtliche F'orm von Kalken
nur in d e r K u 1 1 u r zur Parthenogenese über-
ging, zeigt, daß die äußeren Bedingungen keines-
wegs gleichgültig sind. Die Faktoren freilich,
welche von Bedeutung sind, lassen sich aus den
Angaben Wohlgemuth's nicht erkennen. Zu-
künftige Untersuchungen werden uns wohl auch
darüber noch Aufschluß bringen.
Nachtsheim.
Entwicklungsmechanik. MerkwürdigeDoppel-
bildungen bei den Nemertinen ^) beschreiben
Nusbaum und Oxner (Archiv für Entwicklungs-
mechanik der Organismen, i. H., 39. Bd., 1914).
Verf haben schon früher von Lineus ruber Müll,
die merkwürdige Tatsache beschrieben, daß es in
den sog. Kolben, welche je 2, 3, 4—8 Eier ent-
halten, sehr oft zum Zusammenfließen von zwei
benachbarten Eiern kommt, wobei aus einem solchen
Komplex ein einziges Individuum sich entwickelt.
Ein solcher „diovogonischer" Embryo zeichnet
sich nur durch seine Größe aus, ist aber unzweifel-
haft nur ein Individuum. Bei der Bearbeitung
des embryologischen Materials fanden sich indes
auch durch das Zusammenfließen entstandene
Doppelbildungen. Es werden zwei Typen solcher
Doppellarven unterschieden. Bei dem einen Typus
sind zwei Köpfchen vorhanden mit je einem Ge-
hirn, Augen, Rüssel usw. Der Schlund eines
jeden führt in einen gemeinsamen Darm, der mit
einer unpaaren Afteröffnung mündet. Beim anderen,
,, Kreuztypus", sind zwei Mund- und zwei After-
öffnungen vorhanden, die je an einem Ende des
kurzen bzw. des langen Kreuzarms liegen.
Was die Entstehung solcher Doppelindividuen
angeht, so ist sie oftenlDar auf die Verschmelzung
späterer Entwicklungsstadien zurückzuführen, wäh-
rend die frühzeitige Verschmelzung, bis zum
Blastulastadium, die Bildung eines Riesenembryos
zur Folge hat.
Ganz allgemein können die auch bei ver-
schiedenen anderen Tieren — besonders Strudel-
und Regenwürmern — beobachteten Zwillings-
bildungen auf zweierlei Art entstehen und dem-
') Eine hauptsächlich im Meere vertretene Gruppe von
Würmern.
426
Naturwisscnscliaftliche Wocliensclirift.
N. F. XIII. Nr. 27
nach als „fissiembryonale'' und „diovogonische"
Doppelbildungen bezeichnet werden. Erstere wird
durch eine Spaltung der Keimblättcranlageii ver-
anlaßt. So fand V e j d o v s k )• die Spaltung eines
Eies in zwei Blastoineren beim Regenwurm. Doch
ist die Verallgemeinerung dieser Entstehungsart,
wie esSekera will, nicht berechtigt. Es können
vielmehr, wie das namentlich an den Keimen von
Seeigeln gefunden wurde, auch aus einer Ver-
schmelzung, je nach der Lage der Keime zuein-
ander, solche Zwillinge hervorgehen. Namentlich
entscheidet die Lage und der Winkel der Achsen
zweier Keime zueinander, ob eine große Einheits-
oder eine Zwillingsbildung entstehen soll.
Hei den Nemertincn scheint es außerdem davon
abzuhängen, in welchem Stadium die Eier oder
Keime miteinander verschmelzen.
Besonders bemerkenswert ist, daß sich beim
Zusammenfließen von zwei bilateralen Individuen
eine Bilateralität des Ganzen wieder herstellen
kann, während von den zwei Individuen jedes
seine Bilateralität verliert. Letztere scheint eine
kardinale Eigentümlichkeit der lebendigen Sub-
stanz zu sein. Kathariner.
Geographie. „Über Abtragungsvorgänge in
den regenfeuchten Trojien und ihre morphologischen
Wirkungen" veröffentlicht Karl Sapper in der
G. Z. 1914, H. 1/2 eine ausführliche Lhitersuchung.
In den Tropen muß unterschieden werden
zwischen Gebieten mit regelmäßiger Trockenzeit
und Gebieten mit Rcgenfall das ganze Jahr über,
und in jedem dieser Gebiete zwischen den höheren
Regionen mit Frost und den tieferen frost freien
Regionen, die allein betrachtet werden. Während
der Zeit des üppigsten Pflanzenwuchses erreichen
beide Regionen ähnlich starken Vegetationsschutz,
aber je liöher man kommt, desto mehr erinnern
die Bergformen unmittelbar an die der gemäßigten
Zone. Im tropischen Regenwald hingegen fällt
die außerordentliche Üppigkeit der Vegetation auf
durch die das Eindringen des Regenwassers er-
leichtert und die oberflächliche Abspülung erschwert
wird. Dadurch wird der Untergrund rasch zer-
setzt, die große Mehrzahl der Gesteine unterliegt
in gleicher Weise der chemischen Umsetzung;
nur Kalksteine, Quarzite oder Sandsteine findet
man bisweilen anstehend. Der Zersetzungsboden
neigt zur Herausbildung ähnlicher Geländeformen,
die aber der Waldbedeckung wegen meist sehr
schwer zu studieren sind.
I. Die Abtragungsvorgänge. Das Maß
der Abspülung ist jahreszeitlich verschieden, doch
scheinen Messungen der Sedimenlführung reiner
ürwaldflüsse noch nicht ausgeführt zu sein. Die
Abtragung steigert sich außerordentlich bei Herab-
setzung des Vegetationsschutzes durch grabende
Tiere, Wildpfade und Fußpfade der Menschen.
Auch die Erosionswirkung der Flüsse ist bedeutend ;
da aber wenig festes Gesteinsmaterial in die F'luß-
betten gelangt, so sind die LTrvvaldflüsse arm an
Gerollen. Die Seitenerosion ist durch die dichte
X'egetation entschieden erschwert. Der Boden
selbst f 1 i e ß t mehr als daß er abwärts rückt, doch
nur in den unteren Lagen, wo das Wurzclwerk
der Bäume nicht stört. Diese beiden Boden-
regionen, die \ bis i m mächtige Wurzel-
region und die wurzelarme müssen unter-
schieden werden. Schlammausflüsse bei Verletzung
der Wurzelregion sind ab und zu zu beobachten.
Häufiger sind während der Regenzeit Erd-
schlipfe, die mit ihren Abrißstellen und Lauf-
bahnen den bekannten Erscheinungen der ge-
mäßigten Zone gleichen. Sie bewegen sich vor-
zugsweise innerhalb des Verwitterungsbodens ').
Wesentlich anders sind die Abtragungsvorgänge
im Gebiet löslicher Gesteine (Gipse, Kalk-
steine und Dolomite), die der Abspülung einen
bemerkenswerten Widerstand entgegensetzen, aber
die Höhlenbildung und Versickerung fördern. In
ausdauernden Flüssen bilden sich an Gefällsknicken
nicht selten K a 1 k t u f f d ä m m e aus. Im allge-
meinen sind hier die Erscheinungen der Abtragung
ähnlich denen der gemäßigten Zone.
II. Die Gelände formen im Gebiet des
regenfeuchten T r o p e n w a 1 d e s. Im Gegen-
satz zu den ariden und semiariden Gebieten der
gemäßigten Zone und dem Zurücktreten der Vege-
tation in denselben, gewinnt diese in den Tropen
eine große Bedeutung für die Entstehung der
h'ormen ; sie setzt die mechanische Verwitterung
herab, begünstigt aber sehr die chemische Ver-
witterung, erhält die Geländeformen durch ihren
intensiven Schutz, ohne aber die Abtragung hindern
zu können. In Guatemala und Neu-Mecklenburg,
den Gebieten, in denen Sapper derartige morpho-
logische Beobachtungen anstellen konnte, zeigen
sich Tatsachen, die auf bedeutende Hebungen
aus tiefem Niveau schließen lassen. Wenn auch
in Guatemala die Abtragung erst mäßig gewirkt
hat, so konnten in Nikaragua und Britisch Hon-
duras Rumpfflächen beobachtet werden, die
erst vor kurzem gehoben und erst teilweise wieder
durch Erosion zerschnitten wurden. S a p p e r
glaubt deshalb, daß auch in den regenfeuchten
Tropen die Abtragung (xebirge und Hochländer
in Rumpfflächen verwandeln kann.
Es liegt nun nahe, die Formen reihen zu
skizzieren, die bei der allmählichen Abtragung im
feuchten Tropenland entstehen dürften. Sofern
die Hebung einer Scholle nicht bis in die Region
regelmäßiger Fröste geschieht, dauern auch die
vorhin geschilderten Abtragungsvorgänge in der
neuen Ilage fort. Gegen die ungemein bedeut-
samen Rau mbeziehungen zu den Hauptwegen
der Abtragung, den Flußtälern, tritt wesentlich
zurück der in trockenen Gebieten bedeutsame
Gegensatz der Gesteine gegeneinander; harte
Gesteinsschichten als Leisten oder Terrassen sind
M W. Volz, Bodcniluß in den Tropen (Z. Ges. lüdkde
1913, II. 2).
N. F. XIII. Nr. 27
Naturvvisscnscliaftliclic Wochenschrift.
427
nirgends an den Hängen, sondern nur in den Fliiß-
tälern angedeutet. So ist die Rücke nforni
der Kämme nicht nur eine Folge der Zeiteinflüsse,
sondern viehnehr der Raumeinflüsse, indem sie
sich zur Grat form umwandelt, wo die den Kamm
begleitenden Flußläufe sich nähern. Der zu-
schärfende Einfluß beiderseitiger Rutschungen ist
dabei unverkennbar. Durch diese geht die Ab-
tragung gehobener Landstriche in den feuchten
Tropen ziemlich rasch vor sich.
Doch ist die Rückenform in Mittel Amerika
weit häufiger; sie bringt es mit sich, daß trotz
der gewaltigen Höhenunterschiede die Gebirge
den Eindruck von Mittelgebirgen machen. Trotz
starker Abtragung sind die Flußtäler noch kerb-
förmig ohne Sohle.
Dagegen ist Borneo (nach Molengraaff)
schon ein Gebiet von greisenhafter Gestaltung:
ein abgerundetes Bergland, breit von Tiefland um-
säumt. Es scheint sich dem Zustande einer Rumpf-
fläche stark zu nähern.
So zeigt sich, daß im Gebiet der feuchten
Tropen die Formenreihen vielfach geringeren
Reichtum aufweisen als in Gebieten der ge-
mäßigten Zone; die größere Üppigkeit der Vege-
tation erlaubt auch weit stärker bewaldete Hänge
als hierzulande. Das Mäandrieren der Flüsse da-
gegen ist ziemlich gleichartig mit den Erscheinun-
gen in unseren Klimaten. Auch die Erreichung
des Reifezustandes bringt ähnliche Formen in beiden
Gebieten zustande.
In den Gebieten durchlässiger Gesteine
(Sandsteine usw.) dürften ähnliche Formen ent-
stehen wie in der gemäßigten Zone, besonders
aber in denen löslicher Gesteine (Kalksteine), in
denen auch hier die auffälligen Dolinen- und
Höhlenformen vorherrschen
Dr. (lottfried Hornig.
Bücherbesprechungen.
Eberhard Zschimmer, Philosophie der
Technik. 1S4 Seiten. Jena 19 14, Verlag von
Eugen Diederichs. — Preis brosch. 3 Mk. , geb.
4 Mk.
Die Technik, ein Kind der modernen Natur-
wissenschaften , deren Fortschritte sie groß ge-
macht haben, hat sich in kurzer Zeit selbst zu
einer Wissenschaft entwickelt. Ihre Arbeits-
methoden sind dieselben geworden wie die der
Naturforschung, die Männer, die an ihren Erfolgen
arbeiten, sind exakte Naturwissenschaftler, und
während früher die Technik in der gegenseitigen
Wechselwirkung mit der Wissenschaft mehr der
empfangende als der gebende Teil war, liefert sie
jetzt täglich der Wissenschaft immer mehr neue
Hilfsmittel, neue Anregungen und neue Problem-
stellungen. Wenn auch heute noch wichtige
Fragen der Naturwissenschaft ungelöst sind und
weite Gebiete unseres Wissens, die nur in den
äußersten Umrissen abgesteckt sind, des Ausbaues
harren, so scheint doch zunächst ein gewisser
Abschluß erreicht zu sein. Diese Bekenntnis
kommt in verschiedenen Symptomen zu Ausdruck;
einmal in dem neu erwachten Sinn für die Ge-
schichte der Wissenschaft , dann aber vor allem
in dem Bestreben, sich Rechenschaft über das
Gesamtresultat des bisher Erreichten zu geben und
sich über den eigentlichen Wert der Wissenschaft
klar zu werden. Die Zahl der Skeptiker, denen
die Motivierung der Wissenschaft als Drang zur
„Wahrheit" Anlaß zur Kritik gibt, ist gewachsen,
und gerade aus den Reihen der Fachwissen-
schafiler kam jene bescheidenere, aber positivere
Definition, daß sie irn besten Fall eine „Ökonomie
des Denkens" sei. Ähnliche Erscheinungen be-
obachten wir in der Entwicklung der Technik.
Auch sie hat jetzt einen Reifezustand erreicht,
der es angebracht erscheinen läßt, eine Weile
von der Arbeit aufzusehen und darüber nachzu-
denken, welchen Sinn die Technik hat und wohin
sie uns führt. Bedeutet sie weiter nichts als die
Anwendung der Ergebnisse der Naturwissenschaft
auf die Lösung nüchterner Nützlichkeitsfragen ?
Erschöpft sich ihr Sinn, wie Pessimisten meinen,
in der animalischen Notdurft der Millionen Ar-
beiter und in der zwecklosen Profitsucht einiger
Tausend Unternehmer? Oder liegt ihr irgendeine
höhere Idee zugrunde, die über das Prinzip
der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit hinausgeht?
Diese Fragen , die in zunehmendem Maße
unsere Zeit bewegen, behandelt E. Zschimmer
in seinem lesenswerten Buch über die „Philosophie
der Technik". Der Verfasser, der selbst in der
Industrie tätig ist und durch Veröffentlichungen
über verwandte Themata schon früher mehrfach
hervortrat, ist, um es vorweg zu nehmen, ein
Lobredner der Technik. Aber seine Wertschätzung
der Technik entspringt einem Standpunkt, der
nichts gemein hat mit der mehr oder weniger
materialistischen Begründung, die man gerade bei
..philosophierenden" Technikern so häufig antrift't.
Auch der Stil des Buches unterscheidet sicli durch
seine stets anschauliche, nie langweilende Eigen-
art vorteilhaft von der Form , in der das Thema
,, Kultur und Technik" in manchen technisch orien-
tierten Abhandlungen schon vorgetragen worden
ist. Zschimmer betrachtet die Technik als die
,, organische Teilerscheinung eines größeren Phä-
nomens, der Kulturentwicklung überhaupt". Da-
durch , daß sie unsere Sinne erweitert und uns
eine immer größere Macht über die Stofile und
Kräfte der Natur verschafft, ist sie berufen, dem
Menschengeschlecht die materielle Freiheit zu
sichern, die es braucht, um seine organische Fort-
entwicklung bewußt - schöpferisch zu vollenden.
Diesem in seiner Vollkommenheit zur „Idee" er-
428
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. V. XIII. Kr. 27
hobenen Ziel dient der Techniker, dessen Tätig-
keit im letzten Grunde mit dem Schaffen des
Künstlers zu vergleichen ist. Allerdings läßt sich
hier einwenden , daß gewisse Arbeitsformen, wie
Teilarbeit und Mechanisierung, die als Folge tech-
nischer Kulturentwicklung immer stärker hervor-
getreten sind, so sehr die Idee der Technik be-
einträchtigen, daß ihr ideeller Wert unter diesen
schädigenden Begleiterscheinungen kaum noch
zu erkennen ist. Daß derartige unerfreuliche
Nebenfolgen tatsächlich existieren , leugnet auch
der Idealist Z s c h i m m e r nicht ab ; aber er glaubt
nicht, daß sie notwendigerweise zu einem alle
Lebensfunktionen des IVIenschen unterjochenden
Vernützlichungsprinzip ausarten müssen , und er
deutet an, auf welchen Wegen dieser ,,Verameisung"
des Menschen — wie es ein spöttischer Kritiker
genannt hat — erfolgreich entgegengearbeitet
werden kann. Aus jeder Zeile seiner Ausführungen
spricht der starke Glaube an das neue Geschlecht,
dem die Technik den Boden bereitet; und in der
Überzeugungskraft dieser echten Begeisterung
liegt, mehr noch als in der Beweiskraft der philo-
sophischen Deduktionen, der Hauptwert dieses
tapferen Bekenntnis-Buches. Günther Bugge.
Dr. C. H. Stratz, Die Darstellung des
menschlichen Körpers in der Kunst.
Mit 252 Textfiguren. Berlin, Verlag von Julius
Springer, 19 14. — • Preis geb. 12 Mk.
Die von dem bekannten Verfasser, dem wir
bereits mehrere verbreitete Monographien über
den menschlichen Körper verdanken, in dem vor-
liegenden Werke verfolgte Absicht kennzeichnet
er selbst im Vorwort als eine „naturwissenschaft-
liche Kunstbetrachtung". Der etwas gewagte
Ausdruck meint, daß das Buch durch Text und
Illustratlonsmaterial dem Leser die Möglichkeit
geben soll, sich darüber klar zu werden, welche Rolle
der menschliche Körper als Naturmaterial
für die bildende Kunst (Plastik und Malerei) bei
den verschiedensten X^ölkern und in den verschieden-
sten Entwicklungszuständen der Kunst gespielt
hat. Dies Thema ist im einzelnen fast unüber-
sehlich, und demgemäß hat der Verfasser sich in
dankenswerter Weise bemüht, die großen Haupt-
linien des Bildes zu unterstreichen. Nach einer
kurzen Einleitung, in der man den Satz nicht
überlesen sollte, daß der Verfasser nur die Ab-
sicht hat, den menschlichen Körper, wie er in
den Kunstvverken erscheint, vom Standpunkte des
Naturforschers resp. Arztes zu beurteilen und aus-
drücklich feststellt, daß dieses Urteil von dem
künstlerischen oder kunsthistorischen Wert der
betreffenden Werke unabhängig ist, folgen vier
Kapitel. Das erste enthält allgemeine Bemerkungen
über die künstlerische Wiedergabe des Menschen
und stellt dabei besonders, mit einer glücklichen
Prägnanz, den einschneidenden Unterschied der
vorchristlichen und nachchristlichen Epochen her-
aus — ein Punkt, über den sich noch viel sagen
ließe. Es folgt sodann ein instruktives Kapitel
über die Normalgestalt und den Kanon des Men-
schen, wobei es interessant ist, sich von dem
Oszillieren um gewisse Mittelmaße nähere Rechen-
schaft zu geben. Im Anschluß an diesen allge-
meinen Teil kommen dann die beiden, mit mehr-
fachen Unterabteilungen versehenen Hauptkapitel:
Der Mensch in der Plastik, und der Mensch in der
Malerei. Besonders in diesem Teile sind schon
die Illustrationen von großem Interesse, indem oft
neben das Kunstwerk ein lebendes Modell in
gleicher oder doch ähnlicher Stellung gesetzt ist.
Diese sehr glückliche Veranschaulichungsmethode
ist übrigens bekanntlich auch schon anderweitig,
so in L. V o 1 k m a n n ' s Buche „Naturprodukt
und Kunstwerk" zur Anwendung gekommen.
Besonderen Nachdruck legt der Verfasser, wie
natürlich , auf die griechische Kunst, sodann auf
Michelangelo, und unter den Neueren auf Rodin.
Auf die vielen interessanten Einzelheiten kann
natürlich in einer Anzeige nicht näher eingegangen
werden, auch würde es unvermeidlich sein, damit
das eigentlich künstlerische Gebiet zu betreten.
Doch wird man gut tun, sich stets an den oben
erwähnten Ausspruch des geistreichen Autors zu
erinnern, daß nämlich anatomische Korrektheit
und künstlerischer Wert zwei sehr verschiedene
und in hohem Maße voneinander unabhängige
Begriffe sind.
Als besonders interessant soll hier nur die
Erörterung S. 146 — 158 über Michelangelos be-
rühmte vier Tageszeiten in der Medicikapelle von
San Lorenzo (Florenz) erwähnt werden , speziell
der Nachweis, in wie hohem Grade sämtliche so
verschieden wirkende Figuren aus demselben
Grundmotiv entwickelt sind.
Noch einige beim Lesen Ref. aufgefallene Einzel-
heiten. — S. 195 müßte neben Klinger vor
allem ArturVolkmann als Vertreter moderner
farbiger Plastik genannt werden. — Adam und
Eva auf Dürer's Stich von 1 504 (Fig. 167) haben
doch wohl eher 8 und nicht beinahe 9 Kopf höhen, wie
Verf. S. 217 angibt. — Für die Entwicklung des
Barock ist Michelangelo, wenn nicht in höherem
Maße, so doch sicher mindestens ebenso aus-
schlaggebend geworden wie Tizian (zu S. 230
oben). — Die Decke der sixtinischen Kapelle ist,
soweit Ref. bekannt , niemals übermalt worden,
es handelt sich S. 234 um eine Verwechslung mit
dem im gleichen Räume befindlichen jüngsten
Gericht Michelangelo's.
Dr. Waldemar v. Wasielewski.
R. R. Schmidt, Der Sirgenstein und die
diluvialen Kulturstätten W'ürttem-
b e r g ' s. 47 S. u. I Tafel. Stuttgart, E. Seh weizer-
barth'sche Verlagsbuchh.
R. R. Schmidt beschreibt in dieser Broschüre
die prähistorischen P"unde vom Sirgenstein (zwischen
Schelklingen und Blaubeuren) und von einigen
anderen Orten, worauf er eine Einreihung der
älteren paläolithischen Funde Württemberg's in
das System der älteren Steinzeit vornimmt. Die
N. F. XIII. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
429
Darstellung, die auf gründlicher eigner Kenntnis
der vorgeschichtlichen Fundstellen Süddeutschlands
wie der einschlägigen Literatur beruht, ist sehr
leicht verständlich und man kann die Schrift bestens
empfehlen. H. Fehlinger.
Tad. Estreicher, Über die Kalorimetrie
der niedrigen Temperaturen. (Sonder-
ausgabe aus der „Sammlung chemischer und
chemisch-technischer Vorträge" von A h r e n s (f)
und Herz.) Gr. 8'\ 66 Seiten mit 6 Abbil-
dungen im Text. Stuttgart 1914, Verlag von
Ferdinand Enke. — Treis geh. 1,50 Mk.
Kalorimetrische Messungen bei niedrigen Tem-
peraturen sind erst durchführbar geworden, nach-
dem durch die Gewinnung flüssiger Gase, zunächst
von flüssiger Kohlensäure, die, mit Alkohol oder
Äther zu einer Paste angerührt, eine konstante
Temperatur von — 78,3" C liefert, dann von flüssi-
gem Äthylen vom Siedepunkt — 103" G und
weiter von flüssiger Luft und flüssigem Wasser-
stoff die bequeme Erreichung niedriger Tempera-
luren ermöglicht worden war. Die große Mehr-
zahl der bei diesen niedrigen Temperaturen aus-
geführten kalorimetrischen Messungen knüpfen in
der Hauptsache, wenn auch nicht ausschließlich,
an das Dulo n g-Petit'sche Gesetz an, nach
dem die Atomwärme der festen Elemente, d.h.
das Produkt aus der spezifischen Wärme und dem
Atomgewicht etwa 6 Kalorien betragen soll. Von
diesem Gesetze machen einige Elemente, beson-
ders Silizium, Bor und Kohlenstoff insofern eine
Ausnahme, als ihre Atomwärmen viel zu niedrig
sind. Es ist das Verdienst von H. F. Weber,
im Jahre 1875 festgestellt zu haben, daß die
Atomwärme im allgemeinen keine Konstante ist,
sondern in der Weise von der Temperatur ab-
hängt, als die Atomwärme bei niedrigen Tempe-
raturen kleiner als bei hohen Temperaturen ist,
und daß sich insbesondere die Atomwärme der
drei Elemente Silizium, Bor und Kohlenstoff mit
steigender Temperatur mehr und mehr der Normal-
zahl 6 nähert. Ihre theoretische Deutung und
deren experimentelle Verifizierung hat diese Tat-
sache in neuerer Zeit durch die Arbeiten zunächst
von Boltzmann, dann besonders von Einstein
und von Nernst und seinen .Schülern gefunden:
Die Atomwärmen sämtlicher Elemen-te fallen, wenn
man sich dem absoluten Nullpunkte nähert, äußerst
rasch. Die folgende Tabelle, die einige im
Nernst 'sehen Institut experimentell bestimmte
Daten enthält, diene als Beleg für das Gesagte:
Element Beobachtungstemperatur Atomwärme
Schwefel
Silber
—71» c
4,88
— 190
2,68
-216
2,06
—250,4
0,96
-65« c
5,92
-187
4,35
— 219,2
2,90
-238
1,58
Element Beobachtungstemperatur Atmosphäre
Diamant —53" C oj2
— 181 0,03
— 226,8 0,00
— 249,7 0,00
Für den Diamanten wird also schon bei
— 226,8" die Atomwärme, d. h. auch die spezifische
Wärme gleich Null , bei dieser Temperatur ver-
liert der Temperaturbegriff für den Diamanten
seinen Sinn. Diese Tatsachen sowie ihr Zusam-
menhang mit dem Nernst 'sehen Theorem und
damit mit den fundamentalen F'ortschritten, die
die Theorie der chemischen Affinität in jüngster
Zeit gemacht, lassen die „Kalorimetrie der niedri-
gen Temperaturen" als ein interessantes und
wichtigesKapitel moderner ])hysikalisch chemischer
F'orschung erscheinen, das auch schon die Auf-
merksamkeit weiterer Kreise des naturwissenschaft-
lich gebildeten Publikums auf sich gelenkt hat.
Estreich er's Schrift gibt eine gewissenhafte
historische Darstellung der Fintwicklung, die die
experimentelle Technik der kalorimetrischen Mes-
sungen bei niedrigen Temperaturen gefunden hat,
die Ergebnisse der mittels dieser Technik durch-
geführten Untersuchungen aber und ihre theore-
tische und praktische Bedeutung werden leider
nur kurz gestreift. Trotz dieser Beschränkung im
Umfange des abgehandelten Stoffes wird sie in
den Kreisen der Physiker und Chemiker lebhaftes
Interesse und die verdiente Beachtung finden, und
zwar um so mehr, als Est reich er selbst als
erfolgreicher F'orscher auf dem von ihm be-
sprochenen Gebiete tätig war und so manche
wertvolle kritische Bemerkung in den Gang der
Darstellung einflechten konnte.
Clausthal i. H. Werner Mecklenburg.
Dr. Carl Hern, Goethe als Energetiker,
verglichen mit den Energetikern Robert Mayer,
Ottomar Rosenbach, Ernst Mach. Lei])zig,' Ver-
lag von Johann Ambrosius Barth, 1914. —
Preis Mk. 2.—
Referent hat die kleine Schrift mit besonderem
Interesse gelesen, da auch er zu der (immer mehr
anwachsenden) Zahl derer gehört, die eine ein-
dringliche Beschäftigung unserer Zeit mit Goethes
Naturansichten und naturwissenschaftlichen Arbeiten
für eine höchst wünschenswerte und reiche Aus-
beute verheißende Angelegenheit halten. Trotzdem
hat er sie mit zwiespältigen Empfindungen aus
der Hand gelegt.
Einerseits ist unbestreitbar, daß Goethe auf
die Prinzipien der Polarität und der Analogie ent-
scheidendes Gewicht legt, und in diesem Umstände
sind zum mindesten, um uns vorsichtig auszu-
drücken, Beziehungen zu einer energetischen Welt-
auffassung gegeben. Ähnlich steht es mit dem
Prinzip der Ökonomie. Goethe redet nicht selten
von der (Ökonomie in der Natur, z. B. bei der
Ausgestaltung des tierischen Organismus. Erkennt
auch den ökonomischen Gedanken in der Natur-
430
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr
27
forschung und tritt damit Mach merkwürdig nahe.
Klarer übrigens als in der vom Verfasser S. "]"] ff.
zitierten Stelle finde ich das Letztere von Goethe
in den meteorologischen Schriften, besonders am
Schlüsse des „Versuchs einer VVitterungslehre"
ausgesprochen und habe auch seinerzeit auf dieses
merkwürdige und nachdenkenswerte Phänomen
aufmerksam gemacht ^).
Rückt also Goethe mit derartigen, seiner
Zeit höchst genial vorgreifenden Ideen einer energe-
tischen Weltanschauung unverkennbar nahe, so er-
geben sicii doch auf der anderen Seite gewichtige
Bedenken, ob wir ihn mit Hörn kurz und gut
zum „Energetiker" stempeln dürfen. Ganz davon ab-
gesehen, daß bei einem Geiste wie dem G o e t h e ' s ,
weit und unermeßlich, wie die Natur selber, jede
unbedingte Inanspruchnahme für diese oder
jene Auffassung ihr Bedenkliches hat. Goethe
als Monist (Häckel), Goethe als Okkultist (Sei-
ling), Goethe der Heide, Goethe der Christ
— wer dürfte sich anmaßen, die Formel gefunden
zu haben, vor der alle diese scheinbaren oder
wirklichen Widersprüche verschwinden — wenn
sie nicht in der einfachen Anerkenntnis liegt, daß
alles dies und noch mehr in ihm war, weil er ein
Mensch war und weil wir nie erschöpfend wissen
werden, was dies bedeutet und in sich schließt:
ein Mensch sein. Aber davon soll hier nicht ge-
redet werden.
Ich vergegenwärtige mir, welches die Grund-
lagen der energetischen Auffassung sein müssen
und sage; Prinzip der Erhaltung der Energie,
und Prinzip der kleinsten VVirkung. Und
ich sage mir: Goethe war kein Energe-
tiker, oder doch nicht in dem gebräuchlichen
Sinne des Wortes, schon weil er wenigstens den
ersten dieser Sätze nicht besaß, und auch den
zweiten nicht in irgendwie umfassender und strenger
Weise. Streiche ich aber speziell den ersten Satz,
habe ich nicht die klare \'orstellung, daß bei allen
Vorgängen in der Welt ein Etwas unverändert
bleibt — und ich sehe nicht ein, wie man vor
Entdeckung der Beziehungen zwischen Wärme
und Arbeit eine klare Vorstellung hiervon haben
konnte, so scheint mir die notwendigste Vor-
bedingung, Goethe einen Energetiker zu nennen,
zu fehlen.
Der Verfasser weiß zwar ebenfalls, daß Goethe
den Satz von der Erhaltung der Energie nicht
hat, er sagt S. 32 sogar, er (G.) könne ihn seinen
Anschauungen nach nicht anerkennen. Wenn er
ihn trotzdem als Flnergetiker zu bezeichnen fort-
fahrt, so meint er das Wort eben in einem weit
allgemeineren, lockereren Sinne. Von diesem Ge-
sichtspunkte aus nun versciiwinden die Schwierig-
keiten zum Teile allerdings. Vielleicht wird man
sich dahin einigen können, daß Goethe hier wie
auch anderswo (z. B. in der Deszendenzfrage) durch
') W. V. Wasielewski, Goethc's meteorologische
Studien. Leipzig, Inselverlag 1910. Seite 44, und besonders
52-54.
tiefgreifende geniale Intuition Erkenntnisse voraus-
nahm, auf die der forschende Menschengeist lang-
samer und schrittweise, dafür aber in mehr durch-
gebildeter und systematischer Form mittlerweile
ebenfalls gekommen ist. Dabei aber schwebt die
intuitive Erkenntnis, gerade weil teilweise mehr
in Andeutungen als in genau umgrenzten, in System
gebrachten Begriffen sich ergehend, auch uns noch
wie ein Leitstern vor. So glaube ich persönlich,
daß in G o e t h e ' s Begriff der Steigerung, mit
dem die heutige Energetik imgrunde nichts anzu-
fangen weiß, ebenfalls ein wichtiges Element steckt,
das eines Tages naturwissenschaftlich in Beleuch-
tungen treten wird, von denen wir noch nichts
ahnen. Vielleicht bringt uns die Entwicklung der
organischen Energetik, die Hörn im Anschluß
an Mayer und Rosenbach ankündigt, schon
in Bälde Überraschungen in dieser Hinsicht.
Der Verfasser stellt eine ausführlichere Gesamt-
darstellung von Goethe als Energetiker — oder
wie wir es nennen möchten: von Goethe's
Verhältnis zur energetischen Naturanschauung —
in Aussicht. Es wird also seinerzeit auf die Materie
zurückzukommen sein. Jedenfalls ist weiteres
Durcharbeiten, und in seinem Gefolge weitere
Klärung des ebenso interessanten wie schwer zu
durchdringenden Stoft'es sehr erwünscht. Sjiäße
wie auf Seite 25, wo die Energie mit dem Logos
des Johannisevangeliums oder gar Seite 45, wo
sie in allem Ernste mit der — Jungfrau Maria (!)
identifiziert wird, würden aber wohl auf jeden Fall
besser vermieden. Überhaupt, hier und da etwas
mehr Klarheit, und weniger Argumentieren mit
Erwägungen, wie die, daß Goethe in der Sonne
die allgemeine Kraftquelle für die Erde erkannt
und bekannt habe. Das ist noch keine Energetik,
oder man gerät in Gefahr, den Begriff überhaupt
aufzulösen. Es kommt ja doch nicht darauf an,
Goethe ä tout prix zu einem -etiker dieser
oder jener Art zu stempeln, sondern diesen
machtvollen Geist immer besser in seiner ureignen
Wesenheit verstehen zu suchen, um i h n besser
zu lieben und uns mehr zu fördern.
Ich möchte auch diese Gelegenheit nicht ohne
ein bescheidenes Ceterum censeo vorbeigehen lassen :
Möchten alle, die über die Natur nachdenken,
Goethe's naturwissenschaftliche Schriften und
besonders die Farbenlehre lesen — aber mindestens
dreimal.
Noch ein Wort. In der Literaturübersicht
(S. 84 — 86) zitiert Hörn Goethe's Werke nach
der Co tta 'sehen Ausgabe von 1868 nach Band
und Seitenzifi'er, ohne den geringsten anderweiten
Hinweis, auch ohne den Titel der betr. Arbeit
anzugeben. Es ist also für jeden, der nicht zufällig
das Glück hat, dieselbe Ausgabe benutzen zu
können, fast unmöglich gemacht, die Zitate bei
Goethe selbst zu finden. Dies ist — man kann
es unmöglich anders ausdrücken — eine Rücksichts-
losigkeit gegenüber der Zeit und Geduld des
Lesers, die unbedingt hätte vermieden werden
müssen. Dr. Waldemar v. Wasielewski.
N. F. XIII. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
431
Friedrich A. W. Thomas, Das Elisabeth
Linne-Phänomen (sog. Blitzen der Blüten)
und seine Deutungen. Zur Anregung und
Aufklärung, zunächst fiir Botaniker und Blumen-
freunde. Mit einer kleinen Farbtafel. 53 S.
Jena, Gustav Fischer, 191 4. — Preis 1,50 Mk.
Im Jahre 1762 sah Linne's Tochter Elisa-
beth eines Abends, wie die Kapuzinerkressen
im Garten des väterlichen Gutes Hammarby auf-
leuchteten, und sie beschrieb diese Erscheinung,
die sie noch wiederholt beobachtete und anderen
Personen, darunter Lin ne selbst, zeigte, in einem
Bericht, der in den Verhandlungen der Schwedi-
schen Akademie erschien. Später haben sich
noch zahlreiche Beobachter und Beurteiler mit
diesem „Blitzen der Blüten" (das auch an anderen
Blumen wahrgenommen wurde) beschäftigt, ohne
daß die Frage nach seiner Ursache zum Austrag
gebracht worden wäre. Die einen betrachteten
die Erscheinung als objektiv und führten sie zu-
meist auf elektrische Ursachen zurück; die anderen,
an ihrer Spitze Goethe, erklärten sie für sub-
jektiv und physiologischer Natur. Nachdem 1908
schon A. Schi ei e r mach e r auf Grund von
Beobachtungen für die letztgenannte Deutung ein-
getreten war, beschrieb Friedrich Thomas
1910 in der „Naturw. Wochenschr." (Bd. 9, S. 573)
einen interessanten Versuch, der die Möglichkeit
bot, zu einem besseren Verständnis des Phäno-
mens zu gelangen. Thomas klebte auf einen
blauen Untergrund einige Stückchen feuerroten
Papiers und zeigte, daß diese, die in der Dämme-
rung schwarz auf hellgrau erscheinen, nachein-
ander rot und lichtstark werden , wenn man sie
(in der Dämmerung, die noch eben das Lesen
gewöhnlicher Druckschrift gestattet) der Reihe
nach fixiert. In der Tat wird jeder, der den
Versuch angestellt hat, durch das prompte Auf-
leuchten der roten Flecke überrascht worden sein.
Inzwischen hat Thomas den Gegenstand lite-
rarisch und experimentell weiter verfolgt, und er
gibt in der jetzt veröffentlichten Schrift eine
historische und kritische Darstellung sowie die
eingehende Begründung seiner Erklärung der Er-
scheinung, die er, um sie präzis zu bezeichnen,
das Elisabeth Linne-Phänomen nennt. Er
kommt auf Grund seiner Versuche zu folgenden
Schlüssen: i. Das ursprüngliche El. L.-Ph. ist nur
wahrnehmbar, wenn bei geeignetem Grade der
Dämmerung das Bild der roten Blume von den
peripherischen Teilen der Netzhaut auf die Netz-
hautgrube wandert. 2. Die im peripherischen
Teile der Netzhaut vorherrschenden Stäbchen sind
rotblind. Sobald das Bild von ihnen auf die (von
Stäbchen nicht durchsetzten) Zapfen der Fovea
wandert, wird das Rot schon darum etwas leb-
hafter als vorher empfunden. 3. Der Eindruck
dieses Bildes fällt zusammen mit dem Purkinje-
schen Nachbild der Umgebung. Ist dieses ein
helles, wie bei blauem und grünem Untergrund,
so summiert sich die Empfindung seiner Hellig-
keit mit der Rotempfindung zu einem Aufleuchten.
Daß diese Erklärung in jeder Richtung und für
alle an das ursprüngliche El. L.-Ph. sich an-
schließenden Erscheinungen restlos erschöpfend sei,
nimmt der Verf. nicht an; doch meint er, daß
sie die hauptsächlichsten Momente enthalte. Nach
seinen Beobachtungen ist das El. L.-Ph. nur an
roten, besonders feuerroten, vielleicht auch an ge-
wissen gelben Blüten wahrzunehmen. Anhangs-
weise macht Verf. einige Angaben über Erschei-
nungen, die häufig mit dem El. L.-Ph. zusammen-
geworfen worden sind (St. Elmsfeuer an Pflanzen,
Aufflammen der Blütenstände von Diclamnus
Fraxinella bei Entzündung ihres ätherischen C )les,
Blütenfunkeln infolge der Anwesenheit leuchten-
der Collembolen). Das Literaturverzeichnis weist
66 Nummern auf. Mit der lose beigefügten Farb-
tafel kann man in einer halbdunklen Zimmerecke
auch bei Tage den Versuch leicht ausführen.
F. Mocwes.
Anregungen und Antworten.
Herrn Prof. E Weise, Plauen i. V. — ,,Sind außer der
Arbeit von H. B. Brady in den Veröffentlichungen der Palae-
ontographical Society 1876 und derjenigen von V.v. Möller
in den Memoires de l'Acad. Imp. Sc. St. Petcrsbourg 187S
neuere Arbeiten über karbonische Foraminiferen erschienen?
Uer wichtigste Beilrag zur Kenntnis karbonischer Kora-
rniniferen in der angegebenen langen Zeit dürfte die „Mono-
graphie der Fusulinen" sein. Sie wurde von Schellwien
geplant und begonnen, nach seinem Tode fortgeführt von
5'rech und seinen Schülern von Staff und Dyhrenfurth
und findet sich in den „Palaeontographica" (Schweizerbart-
Stuttgart): Teil I ,,Die Fusulinen des russisch-arktischen Meeres-
gebietes" in Band 55 (1908,09); Teil II ,,Dic asiatischen Fusu-
linen" in Band 56 (190g!; Teil 111 „Die Fusulinen (Schell-
wicnien) Nordamerikas" in Band 59 (1912). Zu letzterem ver-
gleiche die nomenklatorischen Einwände vonGirty in Journal
of Geology Bd. 22, April-Mai-Heft 1914, S. 237. v. Staff
berichtete noch besonders ,,Über Schalenverschmelzungcn und
Dimorphismus bei Fusulinen" in Sitz.-Ber. Ges. Naturf. Freunde
Bln. 190S und über ,, Die Anatomie und Physiologie der Fusu-
linen" in „Zoologica" H. 58 (Stuttgart 1910), sowie zusammen
mit Wedekind über den ,,oberkarbonen Forarainiferensa-
propelit Spitzbergens" im Bull. Geol. Inst. Upsala 1910.
Es ist aber naturgemäß nicht möglich über derartige klei-
nere Beiträge hier Vollständigkeit zu erzielen. Gute Führer-
dienste in der Literatur leistet das „Geologische Zentralblalt"
(Borntraeger-Berlin) und die Repertorien des „Neuen Jahr-
buchs" für Min., Geol., Pal. (Schweizerbart-Stuttgart).
E. Hennig.
Wettei'-Monatsuberslclit.
Während des diesjährigen Mai änderte das Wetter in
Deutschland zweimal von Grund aus seinen Charakter. Bis
gegen Mitte des Monats und dann wieder vom 25. bis fast
zum Schlüsse war es größtenteils külil, trübe und regnerisch,
wogegen in der Zwischenzeit überaus freundliches, trockenes
Sommerwetter herrschte. .\m 2. und 3. Mai kamen im größ-
ten Teile des Landes Nachtfröste vor, die in vielen Gegen-
den, namentlich an der Obstblute, Kartoffeln und Frühgemüse
erheblichen Schaden anrichteten; in der Nacht zum 3. brach-
ten es z. B. Eberswalde und Glinau bei Neutoniischel auf 5,
Tremessen auf 6" C Kälte. Nach vorübergehender Zunahme
gingen die Temperaturen dann seit dem 8. wieder mit jedem
Tage liefer herab, auch die Nachtfröste und Reif bildungen
wiederholten sich zwischen dem 11. und 15. noch mehrmals,
432
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. XIII. Nr. 27
waren aber jetzt weniger verbreitet und im allgemeinen nur
leicht.
In der zweiten Hälfte des Monats trat überall eine starke
Erwärmung ein. Seit dem 19. wurden im größeren Teile des
Binnenlandes 25° C überscliritten ; am 23. stieg das Thermo-
meter in Magdeburg bis auf 31, in Halle und Ludwigshafen
bis 30° C. Aber bereits am folgenden Tage erfolgte bei
frischen nördlichen Winden in Nordwest-, Süd- und Mittel-
deutschland ein jäher Temperatursturz, während östlich der
Oder das warme Wetter noch mehrere Tage länger anhielt.
Auch die mittleren Monatstemperaturen überschritten in den
nordöstlichsten preußischen Provinzen um ungefähr einen Grad
ihre normalen Höhen, im übrigen waren sie allgemein zu
5ßifflereTsmpcrafurcn ciniaer ©rfe im 5Bai 1914 .
BcrIinerWeffertureau.
niedrJCT, bis zu 2 Grad in Süddeutschland. Ebenso nahm die
Anzahl der Sonnenscheinstunden von Nordosten . nach Süd-
westen ziemlich gleichmäßig ab und war im Durchschnitt etwas
kleiner als gewöhnlich. Beispielsweise hat in Berlin die Sonne
im vergangenen Mai an 1S9 Stunden geschienen, während hier
im Mittel der früheren Maimonate 226 Stunden mit Sonnen-
schein verzeichnet worden sind.
Fast täglich fanden bis zur Mitte des Monats in den
meisten Gegenden ausgedehnte Regonfälle statt, die in der
ersten Woche von zahlreichen Gewittern und Hagelschauern
begleitet waren. An einzelnen Orten im Osten, z. B. in
Königsberg i'Pr., Landsberg a/W., Cottbus, Görlitz, Oppeln
fiel am 2. auch etwas Schnee. Am 16. stellte sich im
größten Teile Norddeutschlands heiteres, trockenes Wetter ein,
während sich im Süden, anfangs auch in Schlesien und im
Königreich Sachsen, die Niederschläge weiter fortsetzten ; be-
sonders kamen im östlichen Bayern noch starke Kcgenfälle
vor, die z. B. am 19. in Passau 26 mm ergaben.
Nachdem der durch trockene östliche Winde noch ver-
schärfte Regenmangel, der sich seit dem 21. auch auf ganz
Süddeutschland erstreckte, zuletzt schon sehr empfindlich ge-
worden war, leiteten zwischen dem 23. und 24. Mai weitver-
breitete Gewitier in West- und Mitteldeutschland neues Regen-
wetter ein, das sich allmählich ostwärts fortpflanz'.e und fast
ununterbrochen bis kurz vor Schluß des Monats anhielt. In
vielen Gegenden gingen außerordentlich starke Regengüsse
hernieder, die sich öfter wiederliolten, z. B. fielen vom 24.
zum 25. in Torgau 45, in Frankfurt a/M. und in Zittau
38 mm Regen. Erst gerade zum Pfingstfeste ließen die
Regenfälle überall nach und klärte sich der Himmel im größten
Teile des Landes wieder auf. Die Niederschlagssumme des
Monats ergab sich für den Durchschnitt aller berichtenden
Stationen zu 78,4 mm und übertraf um 21,7 mm die Regen-
mengen, die die gleichen Stationen seit dem Jahre 1891 durch-
schnittlich geliefert haben.
Ißisferjgc^racj^^ö^cn im 5Bai 1914.
(yiitrierer Wertfär
PeuFschland.
1911.13. 12.11. 1D.Ü9.
BErlmerWetoburMi..
Auch die allgemeine Anordnung des Luftdruckes in
Europa wies im Laufe des vergangenen Monats mehrmals
stärkere Änderungen auf. Ein in den ersten Tagen von Island
über Schottland und die Nordsee nach Mitteleuropa gelangtes,
sehr hohes barometrisches Maximum wurde bald durch eine
nachfolgende umfangreiche atlantische Depression nach Süd-
rußland getrieben. Das Minimum drang dann aber nur ziem-
lich langsam nordostwärts vor und verbreitete im größten
Teile West- und Mitteleuropas dampfgesättigte westliche Winde,
die sich später, als bei Irland ein neues Hochdruckgebiet er-
schien, mehr nach Norden hin drehten.
Um Mitte des Monats rückte auch das neue Maxiraum
ostwärts vor. Am 22. befand es sich mitten in Deutschland,
jedoch schon am folgenden Tage gelangte eine llache Baro-
meterdepression vom biscayischen Meere nach der südlichen
Nordsee hin und schob, nordostwärts weiterziehend, wiederum
das ganze Hochdruckgebiet rasch vor sich her, worauf bald
verschiedene flache Minima, größtenteils von Süden her, ins
Innere des europäischen Festlandes eindringen konnten.
Dr. E. Leß.
Inhalt: Hennig: Die deutschen Ausgrabungen von Dinosauriern im letzten Jahrfünft. Kathariner: Das Fußskelett des
Tapirs. — Einzelberichte: Eucken: Adsorptionserscheinungen. Hnatek: Durchmesser und Temperatur der Sterne.
Wohlgemuth: Die Fortpflanzung der Süßwasserastrakoden. Nusbaum und Oxner: Merkwürdige Doppelbildungen
bei den Nemertinen. Sa p per: Über Abtragungsvorgänge in den regenfeuchten Tropen und ihre morphologischen
Wirkungen. — Bücherbesprechungen: Zschimmer: Philosophie der Technik. Stratz: Die Darstellung des mensch-
lichen Körpers in der Kunst. Schmidt: Der Sirgenstein und die diluvialen Kulturstätten Württembergs. Estreicher:
Über die Kalorimetrie der niedrigen Temperaturen. Hörn: Goethe als Energetiker. Thomas: Das Elisabeth Linne-
Phänomen. — Anregfungen und Antworten. — Wetter-Monatsübersicht.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H.Mi ehe in Leipzig, Marienstrafle IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schcn Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 29. Band
Sonntag, den 12. Juli 1914.
Nummer 28.
Vererbung bei vegetativer Vermehrung.
Von Paul Vogler, St. Gallen.
[Nachdruck verboten.] M'' 2 Tex
Das Problem der Vererbung ist bekanntlich
eines der praktisch und theoretisch wichtigsten
Probleme der Biologie. Denken wir nur daran,
welche Bedeutung es für die Tier- und Pflanzen-
zucht und für die Rassenhygiene des Menschen
hätte, wenn wir die Gesetze der Vererbung genau
kennen würden und dann zielbewußt anwenden
könnten, ferner aber auch daran, daß es in der Bio-
logie von heute eine Frage nach der Entstehung
der Arten aus anderen gibt, von der ein wesent-
licher Teil diejenige nach der Vererbung der auf
irgendeine Weise entstandenen Unterschiede ist.
Während die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
sehr reich ist an Versuchen, das Problem der
Vererbung großzügig zu lösen durch theoreti-
sche Spekulation, ist die Vererbungswissenschaft
im 20. Jahrhundert erst zu einer experimen-
tellen Wissenschaft geworden. Die Resultate
dieser eigentlich noch so kurzen Spanne exakter
Forschung sind bekanntlich großartig: wir brau-
chen nur zu erinnern an all das, was man zu-
sammenfaßt unter der Bezeichnung: Mendel Is-
mus und an das, was steckt hinter der scharfen
Fassung der Begriffe: Population und reine
Linie, Phänotypus und Genotypus.
Es ist nicht meine Absicht, hier des näheren
auf die Erfolge der Erblichkeitsforschung der letzten
zwanzig Jahre einzutreten. Ich begnüge mich
mit einigen Erinnerungen , die notwendig sind,
um die Fragestellung, die meinen Untersuchungen
zugrunde liegt, klar zu legen.
Mit Population bezeichnen wir jede Gruppe
von Individuen einer Art oder Rasse, deren Ab-
stammung nicht näher bekannt ist. Die Individuen
einer solchen Population sind niemals einander
vollständig gleich : sie variieren. Ihre Verschieden-
heiten können aber verschiedenen Ursprungs sein :
Entweder sind sie bedingt durch verschiedene,
von den Eltern mitgebrachte innere Anlagen, oder
sie sind bei gleichen Anlagen bedingt durch äußere
Einflüsse. Die bloße vergleichende Betrachtung
wird uns nie Aufschluß über die Ursache der
Verschiedenheit in einem bestimmten Falle geben
können. Geht man von einer solchen Population
aus und wählt zur Fortpflanzung jeweils nur die
extremsten Formen aus, etwa die größten und die
kleinsten Individuen, so kann man meist durch
solche Selektion zwei verschiedene Gruppen von
Individuen erhalten, deren Unterschiede erblich
konstant bleiben. Darauf beruhen bekanntlich die
meisten Erfolge der gewöhnlichen Tier- und
Pflanzenzucht.
tfiguren.
Unter reiner Linie dagegen faßt man zu-
sammen die Gesamtheit der bei engster Inzucht,
womöglich bei Selbstbefruchtung, erhaltenen Nach-
kommen eines einzigen Individuums oder eines
Elternpaares. Dabei wird noch die Voraussetzung
gemacht, daß das Ausgangsindividuum, nach dem
Sprachgebrauch des Mendelismus, ein Homo-
zygot sei, daß also vorausgehend keinerlei
Bastardierung stattgefunden habe.
Auch die Individuen einer Generation inner-
halb einer solchen reinen Linie sind untereinander
nicht vollständig gleich. Da sie aber von den
Eltern alle gleiche Anlagen mitbringen, so
können ihre Unterschiede nur durch äußere Ein-
flüsse (Nahrung, Luft, Licht, Temperatur usw.)
hervorgebracht sein. Daß dem so ist, lehrt der
Vererbungsversuch: Lesen wir aus einer Generation
einer reinen Linie etwa die größten und kleinsten
Individuen zur Fortpflanzung aus, so ist diese
Selektion vollständig wirkungslos. D. h. : die
Mittelwerte der Nachkommen der beiden extremen
Gruppen fallen wieder zusammen. Dabei ist selbst-
verständliche Voraussetzung, daß die Nachkommen
unter möglichst gleichen Bedingungen aufwachsen.
So können wir also auf dem Wege des Ver-
erbungsversuches die beiden verschiedenen Arten
von Variabilität trennen : die durch innere Anlagen
und die durch äußere Einflüsse bedingte. Die
aus der ersten Ursache hervorgehenden Verschie-
denheiten sind vererbbar, die aus der zweiten
hervorgehenden sind nicht vererbbar. Die letzte-
ren nennt man heute auch Modifikationen.
p;in durch vielfache Experimente festgelegter Satz
der modernen Vererbungslehre lautet nun : M o d i -
fikationen sind nicht vererbbar. Das ist
eigentlich nur eine andere Ausdrucksweise für die
Tatsache, daß Auslese nach Plus- und Minus-
varianten innerhalb einer reinen Linie nicht wirk-
sam ist, oder auch für die Tatsache, daß die auf
die Eltern verändernd wirkenden äußeren Lebens-
bedingungen nur den Körper beeinflussen , nicht
aber die Keimzellen.
Soweit mehrzellige Pflanzen und Tiere in Be-
tracht kommen, sind diese Sätze das Ergebnis
von Versuchen bei sexueller Fortpflanzung.
Im Pflanzenreich sehr häufig, im Tierreich auf
einzelne Abteilungen beschränkt, gibt es aber
neben der sexuellen Fortpflanzung noch eine
asexuelle oder vegetative Vermehrung.
Es entsteht nun die Frage, ob der Satz von der
Nichtvererbbarkeit der Modifikationen auch gültig
sei bei asexueller Fortpflanzung.
k
434
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 28
Zunächst haben wir uns Rechenschaft zu geben
über die wesentlichsten Unterschiede zwischen
sexueller und asexueller Fortpflanzung. Bei der
sexuellen steht am Anfang des neuen Individuums
eine befruchtete Eizelle, eine Zygote, also
ein Verschmelzungsprodukt zweier Zellen, deren
Bildung eine Reduktionsteilung vorausgegangen
ist. Ist nun diese Zelle prinzipiell verschieden
etwa von einer Zelle in einem noch nicht difte-
renzierten Vegetationspunkt einer Pflanze? Da die
beiden Komponenten der Zygote häufig verschie-
dener Abstammung sind, so kann sie in ihren
Anlagen von den Zellen der Eltern verschieden
sein, weil jedes der beiden Eltern sich selbst vom
andern unterscheiden kann. Stammen aber Ei-
und Samenzelle vom gleichen Individuum, aus
derselben Blüte, so kommt bei homozygoten
Individuen dieser Unterschied nicht in Betracht.
Da nun ein Vegetationspunkt durch Differen-
zierung stets neue Wurzeln, Stengel, Blätter und
Blüten erzeugen kann, also seine Zellen die sämt-
lichen für die Art charakteristischen Anlagen be-
sitzen müssen und die befruchtete Eizelle ebenso
diese sämtlichen Anlagen und nur diese enthält,
so ergibt sich, daß prinzipiell, soweit die vererb-
baren Anlagen in Betracht kommen, kein Unter-
schied besteht zwischen einer noch nicht differen-
zierten Zelle eines Vegetationspunktes und einer
befruchteten Eizelle eines homozygolischen Indivi-
duums derselben Art. (Natürlich können Unter-
schiede anderer Art zwischen den beiden Zellen
bestehen, die sich z. B. in der Tatsache äußern
können, daß manche nur auf vegetativem Wege
vermehrte Pflanzen schließlich degenerieren.)
Neben der bisexuellen Forlpflanzung gibt es
eine unisexuelle, die jedenfalls als eine Rückbildung
zu betrachten ist. Die Eizelle ist imstande, ohne vorher-
gehende Befruchtung zu einem neuen Individuum
auszuwachsen. Diese Parthenogenese leitet sich zwar
von einer echten sexuellen Fortpflanzung ab, ist
aber im Prinzip bereits eine asexuelle. Da hier
keine Mischung der Anlagen zweier verschiedener
Individuen stattfinden kann, ist die Vererbung der
Anlagen und damit der Eigenschaften des Mutter-
individuums eine sehr „strenge".
Zwischen der parthenogenelischen Fortpflanzung
durch eine unbefruchtete Eizelle und der vegeta-
tiven Vermehrung im gewöhnlichen Sinne gibt
es keinen prinzipiellen Gegensatz mehr. Denn
ob schließlich die Zelle, aus der das neue Indivi-
duum entsteht, als Eizelle in einem Fruchtblatt
erzeugt wird, oder irgend eine nicht differenzierte
Zelle eines Vegetationspunktes darstellt, die ja in
ihren Anlagen vollständig mit einer befruchteten
oder unbefruchteten Eizelle übereinstimmen muß,
konmit weiter nicht in Betracht.
Bei der asexuellen oder vegetativen Ver-
mehrung der Pflanzen kommt es bekanntlich nur
darauf an, daß sich irgend ein Sproß oder Sproß-
teil oder auch nur eine einzelne Zelle von der
Mutterpflanze auf natürlichem Wege loslöst oder
vom Menschen losgelöst und unter Verhältnisse
gebracht wird, wo er weiter wachsen kann. Dieser
Sproß mag nun ein abgeschnittener Zweig sein
oder ein Ausläufer oder eine Knolle oder eine
Brutzwiebel, das macht keinen Unterschied; das,
worauf es ankommt, ist immer der dort vorhan-
dene Vegetationspunkt. Seine noch nicht differen-
zierten Zellen sind in diesen Fällen die Träger
der Vererbung.
Aus diesen Überlegungen folgt also als theo-
retisch wahrscheinlich, daß zwischen der Ver-
erbung bei sexueller Fortpflanzung eines Homozy-
goten einer reinen Linie und bei der vegetativen
P'ortpflanzung kein Unterschied besteht.
Anders verhält es sich bei heterozygoten In-
dividuen, also bei Bastarden. Diese spalten be-
kanntlich bei sexueller Fortpflanzung nach den
Gesetzen des Mendelismus. Die Praxis hat aber
schon längst gelehrt, daß bei vegetativer F"ort-
pflanzung die Bastarde in der Regel nicht spalten.
Darauf beruht ja die große Bedeutung dieser Art
der Vermehrung für unsere Kulturpflanzen. Ge-
legentlich mag allerdings auch vegetative Spaltung
vorkommen, die dann in Erscheinung tritt als
Knospenmutation. Normalerweise aber verhalten
sich bei vegetativer Vermehrung heterozygotische
Individuen ganz wie homozygotische.
Aus rein theoretischen Überlegungen definitive
Schlüsse zu ziehen, ist aber in der Biologie ge-
fährlich. So steht also noch nicht ohne weiteres
fest, daß die Gesetze der Vererbung bei sexueller
Fortpflanzung auch für die asexuelle Fortpflanzung
gelten. Man kann nämlich aus anderen theoretischen
Überlegungen auch zum gegenteiligen Schluß
kommen. Die Reduktionsteilung, die der Bildung
der Sexualzellen vorausgeht, ist ein in die Organi-
sation der Zelle sehr tief eingreifender Vorgang.
Wenn nun auf eine Pflanze während ihres vegeta-
tiven Lebens allerlei äußere Einflüsse wirken, die
sich eben in den Modifikationen äußern, so kann
das vielleicht auch so aufgefaßt werden, daß davon
die Zellen des Vegetationspunktes sogar in ihren
Anlagen verändert weiden. Bei der Reduktions-
teilung aber und der späteren Wiedervereinigung
zweier Sexualzellen wäre die Möglichkeit vorhanden,
die früher durch äußere Einflüsse erzeugten Störun-
gen wieder auszumerzen. Bei der asexuellen Ver-
mehrung aber, wo es sich in Wirklichkeit doch
um ein bloßes Fortwachsen eines Vegetations-
punktes handelt, kommt es nicht zu einer solchen
Regeneration der beeinflußten Zellen. Aus der-
artigen Überlegungen heraus könnte man also eine
Vererbung von Modifikationen bei asexueller Ver-
mehrung prinzipiell für möglich erklären. In der
Praxis ist man sogar geneigt, das als Tatsache hin-
zunehmen, und man versucht durch direkte Ein-
wirkungen auf die Mutterpflanze extreme Formen
zu bekommen, wobei man hofft, daß sich diese
Einflüsse auch in den folgenden Generationen,
wenn sie nicht mehr direkt wirken, geltend machen
werden, daß also eine Vererbung der erworbenen
Eigenschaften stattfinden wird.
N. F. Xm. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
435
Es kann also auch diese Frage nur durch das
Experiment gelöst werden.
Sehen wir uns in den zusammenfassenden Wer-
ken über Vererbungslehre um, so suchen wir ver-
geblich nach exakten Daten über die Vererbung
bei vegetativer Vermehrung mehrzelliger Organis
men. Suchen wir nach Spezialarbeiten, so ist
unsere Ausbeute auch sehr gering. Als ich vor
Jahren anfing, mich mit diesem Problem näher
zu befassen, war mein Suchen danach sogar voll-
ständig ergebnislos '). So kam ich dazu, eine
eigene Versuchsreihe anzufangen, die nun, trotz-
dem ich, unter ungünstigen Verhältnissen arbeitend,
die Versuche nur in verhältnismäßig kleinem Maß-
stabe ausführen konnte, schon nach vier Jahren,
eigentlich fast wider Erwarten, zu einigen klaren
Resultaten geführt hat, über die ich an dieser
Stelle auch berichten möchte '').
Zunächst muß aber noch eine Frage der Ter-
minologie kurz erledigt werden. Dürfen wir die
Bezeichnungen Population und reine Linie auch
übertragen auf Individuengruppen, die durch vege-
tative Vermehrung erhalten wurden? Was Be-
zeichnung und Begrift' Population anbetrifft, so be-
steht kein Zweifel, denn unter Population verstehen
wir ja einfach eine Gruppe von Individuen gleicher
Art oder Rasse, ganz unbekümmert um ihre Ab-
stammungsverhältnisse.
Anders verhält es sich mit der reinen Linie.
Gewiß ließe sich dieser Begriff so definieren, daß
auch die durch asexuelle Fortpflanzung erhaltene
Generationenfolge eines einzigen Individuums
darunter fallen würde. Aber es ist zu beachten,
daß mit dem Begriff der reinen Linie der der
Homozygote eng verbunden ist. Wie wir ausge-
führt haben, spielt aber die Frage: Homo- oder
Heterozygot bei der asexuellen Fortpflanzung
keine Rolle. Daraus ergibt sich, daß man besser
eine neue Bezeichnung einführt.
Die richtigste wäre wohl ,,p h y s i o 1 o g i s c h e s
') Natürlich habe ich mir auch weiterhin Mühe gegeben,
Spezialarbeiten über dieses Thema zu finden. Was ich auf-
finden konnte, sind folgende zwei Arbeiten:
Hanel, Elise, Vererbung bei ungeschlechtlicher Fort-
pflanzung von Hydra grisea. (Disserl. der philosophischen
Fakultät II, Zürich 1907.) Das Resultat dieser Arbeit ist ganz
kurz gesagt folgendes: .Auch bei asexueller Fortpflanzung ist
Selektion der Modifikationen wirkungslos.
East E. M., The transmission of variations in ihe Potato
in asexual reproduction (Agr. Station Report, Connecticut 1910
pp. 119 — 160). Mir im Original nicht zugänglich. Nach dem
Referat in der Zeitschrift für induct. Abstammungs- und Ver-
erbungslehre 191 1 wird das Ergebnis dieser .Arbeit in folgenden
Satz zusammengefaßt: This paper stows the Similarity between
the inheritance of flucluations in asexual reproduktion in multi-
cellular Organismus and that in the pure Lines of Johannsen
and Jennings.
'-) Siehe meine: Vorläufige Mitteilung über , .Versuche über
Selektion und Vererbung bei vegetativer Vermehrung von
AUium sativum L. Zeitschrift für induktive Abstammungs- und
Vererbungslehre 1914, Bd. XI, H. 3.
Ferner meine ausführlichere Arbeit im Jahrbuch 1913,
Bd. 53 der naturw. Gesellschaft St. Gallen, St. G.allen 1914:
Vererbung und Selektion bei vegetativer Vermehrung von
AUium sativum L. Experimentelle Untersuchungen. 44 S.
mit 9 Textfiguren.
I n d i V i d u u m". Denn nach dem strengen Sprach-
gebrauch der Physiologie bilden alle Pflanzen, die
durch bloß vegetative Vermehrung von einem aus
einer befruchteten Eizelle hervorgegangenen In-
dividuum abstammen, in Wirklichkeit ein einziges
Individuum. Das kann sich oft physiologisch
im Altern und Degenerieren der stets nur vege-
tativ vermehrten Kulturpflanzen äußern. Deut-
licher noch in der Erscheinung der Stocksterilität.
Diese wirkt ganz unabhängig davon, ob die ein-
zelnen Teilstücke eines solchen Individuums einer
bestimmten Apfelsorte z. B. als Zweige auf einem
Stamm stehen oder durch Pfropfung auf ver-
schiedene Stämme verteilt sind.
Aber ,, physiologisches Individuum" ist ein
recht schwerfälliger Ausdruck. Dazu kommt noch,
daß es dem natürlichen Sprachgefühl wider-
spricht, von einem Individuum zu sprechen,
wenn man ein paar hundert einzelne Pflanzen meint.
Vergeblich suchte ich aber nach einem kurzen
treffenden deutschen Ausdruck. Shull (Science
XXXV, 191 2) möchte die Bezeichnung Clone
einführen, die er definiert als „.A group of indi-
viduals traceable through asexual reproductions
to a Single ancestral Zygote, or eise perpetually
asexual". Vielleicht bürgert sich diese Bezeichnung
mit der Zeit ein. Vorläufig möchte ich sie noch
nicht brauchen. Für diese Arbeit genügt ein neu-
trales deutsches Wort, das sich einschränkend
definieren läßt. Ich spreche im folgenden einfach
von Stämmen. Unter der Bezeichnung Stamm
verstehe ich also die durch vegetative Ver-
mehrung erhaltenen Nachkommen eines
einzigen Individuums.
Die F"ragestellung für die Versuche lautet
nun :
1. Bleiben quantitative Unterschiede zwischen
verschiedenen Stämmen erhalten auch bei vege-
tativer Vermehrung und Kultur unter gleichen
äußeren Bedingungen?. D. h. mit andern Worten :
Läßt sich eine Population durch Selektion bei
vegetativer Vermehrung in dauernd unterscheidbare
Stämme zerlegen?
2. Ist Selektion nach Plus- und Minusvarianten
innerhalb eines Stamines wirksam oder nicht ?
Oder anders ausgedrückt : Vererben sich
Modifikationen bei vegetativer Ver-
mehrung?
Zunächst handelte es sich darum, ein für
solche Untersuchungen günstiges Untersuchungs-
material zu finden. Ein solches glaube ich ge-
funden zu haben in unserem gewöhnlichen Knob-
lauch (Allium sativum L.). Eine sogenannte
Knoblauchzwiebel besteht bekanntlich aus meist
ziemlich zahlreichen „Brutzwiebeln", die einzeln
ausgepflanzt, wieder eine zusammengesetzte Zwiebel
ergeben. Dazu kommen zwei leicht exakt quan-
titativ feststellbare, stark variable Eigenschaften :
das Gewicht der Zwiebeln und die Anzahl ihrer
Brutzwiebeln.
Über die Anordnung der Versuche sei folgen-
des mitgeteilt. Im Frühjahr 1910 wurden von
436
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 28
10 Knoblauchzwiebeln verschiedener Größe (die
schwerste wog 61, die leichteste 12 g; das Maxi-
mum der Brutzwiebeln betrug 20, das Minimum
8 g) und verschiedener Herkunft die sämtlichen
auf 0,1 g genau ausgewogenen Brutzwiebeln aus-
gepflanzt. Im folgenden Winter wurden von jeder
erhaltenen Zwiebel bestimmt: das Totalgewicht
der sämtlichen aus den alten Hüllen herausge-
schälten Brutzwiebeln und die Anzahl der Brut-
zwiebeln. Dabei ergab sich, was von vornherein
zu erwarten war: Aus den großen Brutzwiebeln
erhielt ich größere Zwiebeln mit zahlreicheren
Brutzwiebeln als aus den kleinen Brutzwiebeln.
Die Erklärung dafür ist sehr einfach. Je größer
die Brutzwiebel ist, mit der die neue Pflanze be-
ginnt, um so kräftiger wird diese Pflanze, um so
mehr organische Substanz wird sie zum Aufspeichern
produzieren können.
Für die weitere Untersuchung aber sagt dieses
Resultat: Bei vergleichend enUnt ersuch un-
gen dürfen nur aus Brutzwiebel 11 glei-
chen Gewichts erhaltene Zwiebeln
direkt miteinander verglichen werden.
Im folgenden Frühjahr 191 1 wurde nun mit
allen zehn Stämmen in der Weise weiter gearbeitet,
daß je etwa von der Hälfte der Zwiebeln jedes
Stammes 2 Brutzwiebeln von 2 g und 2 Brut-
zwiebeln von I g Gewicht in gleicher Weise in
ein möglichst ausgeglichenes Gartenbeet wie 1910
ausgepflanzt und auch sonst in gleicher Weise
weiterbehandelt wurden. Jetzt ergaben sich ver-
gleichbare Zahlen. 1912 und 1^13 wurde, um
für die einzelnen Stämme größere Zahlen zu er-
halten, nur noch mit 4 Stämmen und mit Brut-
zwiebeln von 2 g Gewicht weitergearbeitet. (Das
ganze Zahlenmaterial, auf das sich die folgenden
Schlüsse stützen, findet sich in der erwähnten
Publikation im St. Galler Jahrbuch.)
Die wichtigsten Resultate meiner Unter-
suchungen lassen sich folgendermaßen in Kürze
zusammenfasse'n und erläutern :
Als ich 191 1 die Stämme nach dem mittleren
Gewicht der aus den Eingramm Brutzwiebeln er-
haltenen Zwiebeln ordnete, ergaben sich für die
in der Reihe unmittelbar aufeinanderfolgenden
nur sehr kleine Difterenzen, die ihren mittleren
F'ehler meist nicht überstiegen. Betrachtete man
aber nur die beiden Extreme, so zeigle sich eine
Maximaldifferenz von 4,217 ± 1,834 g. Ordnete
ich sie in gleicher Weise nach dem mittleren
Gewicht der aus den Zweigramm-Brutzwiebeln
erhaltenen Zwiebeln, so erhielt ich im wesent-
lichen die gleiche Reihenfolge. Die Differenz der
beiden zitierten Stämme (sie mögen hier mit A
und B bezeichnet werden) beträgt jetzt 6,727 ±
1,400 g. 191 2 beträgt diese Differenz A — B
4,066 ± 0,949 g, 191 3 4,238 ± 0,775 g.
Wir haben also in den drei aufeinanderfolgen-
den Jahren zwischen den beiden Stämmen A und
B gleichsinnige, im Vergleich mit ihrem mittleren
Fehler ziemlich große Differenzen. Mit anderen
Worten: In drei aufeinanderfolgenden Jahren haben
die Stämme A und B ihren Unterschied im Ge-
wicht der aus Brutzwiebeln gleichen Gewichts
erhaltenen Zwiebeln beibehalten. Dieser Unter-
schied ist also vererbbar. Die beiden Stämme
verhalten sich also zueinander wie zwei reine
Linien bei sexueller Fortpflanzung.
Die Versuche gaben, wenn auch etwas weniger
scharf ausgeprägt, das gleiche Resultat für die
Anzahl der Brutzwiebeln. Unsere hrage i.
kann also für Allium sativum mit Ja
beantwortet werden.
Es seien hier für das Gewicht der beiden
Stämme noch die Zahlen aufgeführt und zwar
zunächst die absoluten Werte. Daneben stelle
ich die zur Ausschaltung des „Einflusses des Jahr-
gangs" jeweils auf das Mittel gleich 100 umge-
rechneten Werte, die den in der F'ig i. gegebenen
graphischen Darstellungen zugrunde liegen.
Fig. 1.
Mittleres Gewicht der Zwiebeln der Stämme A und B
in den Jahren igii — 1913.
A B
Fig. 2.
Selektion nach Plus- und Minusmodifikationen innerhalb
der Stämme A und B.
(Links jeweils Mutterzwiebeln, rechts Tochterzwiebeln.)
Stamm
A
Stamm B
absolut
relativ
absolut
relativ
QU
24,1 g
58,1
17.4 S
41,9
912
26,8
54
22,8
46
914
18,7
56,5
14.4
43.5
Wie verhält es sich nun init unserer Frage 2.f
Ist Auslese innerhalb eines Stammes wirksam oder
N. F. XIII. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
437
nicht? Schon die Versuche von 191 1 ergaben
wichtige Anhaltspunkte. Damals wurden in jedem
Stamm von mehreren Zwiebeln der Ernte 1910
Brutzwiebeln von i g Gewicht ausgepflanzt. Die
Untersncbung der Ernte mußte dann sofort er-
geben, ob ein Zusammenhang besteht zwischen
Gewicht und Brutzwiebelzahl der Mutterzwiebeln
einerseits und Gewicht und Brutzwiebelzahl der
Tochterzwiebel andererseits. Das Resultat war in
allen Stämmen durchaus negativ. Das Gewicht
der Mutterzwiebel hat keinen Einfluß auf das Ge-
wicht der Tochterzwiebel und das gleiche gilt für
die Anzahl der Brutzwiebeln. Das mag für das
Gewicht belegt werden mit den Zahlen der beiden
Stämme A und B.
Stamm
A
Stamm B
Gewicht
der
Tochter-
Mutter-
Tochter
Mutterzwiebel
zwiebel
zwiebel
Zwiebel
16,8
15,3
30,4
12,9
13,1
20,1
27,2
12,9
11,2
18
25,7
16,3
6,9
12,7
23,6
11,9
—
—
18,4
10,6
Das weist schon darauf hin, daß innerhalb
eines Stammes die Selektion kaum wirksam sein
dürfte.
Erst die Versuche von 191 3 wurden wieder
so angelegt, daß eine definitive Antwort auf unsere
Frage 2. zu erwarten war. Die Ernte von 191 2
wurde in jedem der vier Stämme je in drei Gruppen
geteilt: Schwerste, mittlere und leichteste Zwiebeln.
Bei Aussaat und Ernte 19 13 wurden die drei Gruppen
scharf auseinander gehalten. Das Resultat war
in allen vier Stämmen genau gleichsinnig. Die
großen Differenzen der beiden extremen Gruppen
a und c bei den Mutterzwiebeln sind bei den
Tochterzwiebeln vollständig verschwunden. Auch
hierfür seien die Zahlen unserer Stämme A und B
aufgeführt, und zwar wiederum die absoluten und
die der graphischen Darstellung zugrunde liegenden
relativen.
Stamm A
Mutterzwiebeln Tochterzwiebeln
absolut relativ absolut relativ
29.5 g 56,0 17,4 g 48,6
23,2 44,0 18,4 51,4
— I — 2,8
Differenz -\-6,2 +12
Stamm B
Mutterzwiebeln Tochterzwiebeln
absolut relativ absolut relativ
a 25,3 g 56,6 14 g 47,6
c 19,4 43,4 15,4 52,3
Differenz +5,9 +13,2 —1,4 —4,7
Mit Worten ausgedrückt: Selektion innerhalb
eines Stammes erwies sich als vollständig wirkungs-
los. Modifikationen vererben sich also
bei vegetativer Vermehrung von Allium
sativum nicht.
So hätten wir unsere beiden Hauptfragen beant-
wortet. Wir kommen zu dem Schluß, daß auch bei
vegetativer Vermehrung die Unterscheidung zwi-
schen Populationen und Stämmen notwendig ist und
daß die Ergebnisse der Versuche über
Vererbung in Populationen und in
reinen Linien bei sexueller Fortpflan-
zung auch Gültigkeit haben für vege-
tative Vermehrung, soweit bis jetzt
exakte Untersuchungen vorliegen.
Damit erhält unser aus theoretischen Über-
legungen hervorgegangener weiterer Schluß, daß
zwischen der Vererbung bei sexueller und asexueller
P"ortpflanzung keine prinzipielle X'erschiedenheit
besteht, eine experimentelle Stütze.
Endlich noch eine kurze Schlußbemerkung.
Ich bin mir voll bewußt, daß vier Versuchsjahre
noch eine etwas kurze Dauer vorstellen, und daß
die Anzahl der Individuen jedes Stammes selbst
1913 mit 50 noch klein genannt werden muß.
Zur absoluten Sicherstellung der Ergebnisse ist
eine Fortsetzung der Versuche, womöglich in
größerem Maßstabe, erforderlich. Das soll in
den nächsten Jahre geschehen.
Reflexion uud spektrale Zeii
[Nachdruck verboten.]
Sammelreferat von K,
Das Dunkel, das über dem Wesen der Röntgen-
strahlen geruht hat, ist durch die schönen Ver-
suche von Laue, Friedrich und Knipping,
über welche schon in dieser Zeitschrift berichtet
wurde, gelichtet worden. Die Beugungs- und
Interferenzerscheinungen , die die Strahlen beim
Durchgang durch das Raumgitter eines Kristalls
zeigen, beweisen , daß sie elektromagnetische
Strahlen, also dem Lichte wesensgleich sind, daß
sie ferner eine außerordentlich kurze Wellenlänge
(etwa 0,01 — 1 fi/x) haben. Fast gleichzeitig ist
zwei englischen Forschern, W. H. und W. L.
BraggM (Vater und Sohn) der Nachweis ge-
lungen, daß die R-Strahlen an der Oberfläche von
egiing der ßöntgenstrahleii.
. Schutt, Hamburg.
Kristallen eine regelmäßige Reflexion*) er-
leiden, die sich allerdings in wesentlichen Punkten
von der des Lichtes unterscheidet, ferner daß man
die Reflexion zur Bestimmung des Spektrums
der Strahlen benutzen kann und daß man aus
dem Spektrum wiederum wertvolle Schlüsse über
die Anordnung der Moleküle in den
Kristallen ziehen kann.
Nach der schon von Bravais vor etwa
60 Jahren ausgesprochenen Theorie sind die Mole-
küle in einem Kristalle ganz regelmäßig in einem
*) Die Theorie nimmt eine Beugung an den Molekülen
an, deren Ergebnis aber mit einer Reflexion identisch ist.
438
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 28
Raumgitter angeordnet: stellen wir uns einen
Kochsalzwürfel viele Millionen mal vergrößert vor
und nehmen wir nun an, daß wir senkrecht zu
den Flächen in den Kristall hineinblicken, so sind
die Moleküle stets ausgerichtet, sie liegen auf
einer Geraden, stehen also auf Vordermann. Denkt
man sich auf einer Würfelflache durch die Mitten
der Moleküle die Parallelen zu den Seiten der
Ouadratfläche gezogen, so wird dadurch die Würfel-
fläche in lauter gleich große Quadrate zerlegt, in
deren Ecken je ein Molekül sitzt. Man nennt
eine solche mit Molekülen besetzte Plbene eine
„Netzebene". Der Kristall baut sich aus äqui-
distanten Netzebenen auf. Während die Laue-
schen Versuche Aufschluß gaben , wie sich ein
Bündel R- Strahlen beim senkrechten Auf-
treffen auf die Netzebenen des Raumgitters (Ein-
fallswinkel o") verhält, untersuchten die beiden
englischen Forscher ein streifend (Einfallswinkel
nahezu 90") auffallendes Bündel; sie fanden, daß
es reflektiert wird.
Abb. I.
Man kann sich jede Netzebene des Kristalls
als spiegelnde Fläche vorstellen : in Abb. i sind
nur 2 nämlich Fj und F., gezeichnet, die etwa der
Vorder- und I linterfläche einer planparallelen Glas-
platte entsprechen. Die unter dem Winkel (p ein-
fallenden Strahlen i und 2 werden zum Teil an
Fj reflektiert, zum Teil dringen sie ein und wer-
den an F"», F3 usw. zurückgeworfen. Fi Richtung 3
fallen mithin zwei Strahlen aus, die miteinander
interferieren und sich verstärken oder schwächen
je nach ihrem Ganguntcrsclüed a. a ist gleicii
AB-|-BC — DC. Eine einfache Rechnung ergibt,
daß a = 2d • cos ij ist, wo d der Abstand der
Netzebenen ist. Die in Richtung 3 ausfallenden
Strahlen zeigen maximale Intensität, wenn ihr
Gangunterschied a ein ganzes Vielfaches n von /
ist, da dann die beiden interferierenden Strahlen
die gleiche Phase haben. Es ist demnach in allen
den Richtungen verstärkte Helligkeit zu erwarten,
für welche 2 d ■ cos 71 = n • / ist, wo n = i, 2, 3 usw.
ist. Nehmen wir nun an, daß monochromatische
Strahlen, die also nur die Wellenlänge /.„ entlialten,
unter allmählich abnehmendem Einfallswinkel '/
auf die Kristallfläche fallen, so tritt das erste Maxi-
mum für den Winkel '/j ein, wenn 2d-cos'/
= I )< ■^0' '^^^ zweite und dritte für den Winkel
</)., resp. f/'.j , wenn 2 d • cos rp = 2 >( ^n resp. =^
3 X ^(1 ist. Besteht das einfallende Strahlenbündel
aus mehreren Wellenlängen, z. B. aus dreien A,,
/„ und /,, (Aj ■ Ag f.,,), so wird zunächst bei großem
Einfallswinkel die kleinste Wellenlänge /.j , dann
bei etwas kleineren der Reihe nach '/.„ und A^ ver-
stärkt, so daß demnach zu beiden Seiten des oben
erwähnten , in Richtung r/j liegenden Maximum
von /„ je ein Maximum von A, und A., liegt.
Für alle drei Maxima ist der Gangunterschied
I >; A, die drei Maxima bilden zusammen das
Spektrum erster Ordnung. Ebenso liegen zu
beiden Seiten des zweiten Maximums, das in
Richtung (p^ hegt und das zur Wellenlänge A„
gehört, die Maxima von A, und /.,,. Der Gang-
unterschied der Wellen , die diese drei Maxima
durch Interferenz erzeugen , ist 2 X ^, sie bilden
das Spektrum zweiter Ordnung. Auf dieselbe
Weise entstehen bei weiterer Verkleinerung des
Einfallswinkels Spektren höherer Ordnung, die
aber sehr bald sehr lichtschwach werden. Man
sieht, daß die Reflexion der Strahlen nach ganz
ähnlichen Gesetzmäßigkeiten erfolgt, wie beispiels-
weise die Reflexion des Lichts an der Vorder-
und Hinterfläche einer Seifenlamelle (nur findet
hier, da die Reflexionen einmal am dichteren und
zweitens am dünneren Medium erfolgen, bei der
einen eine Phasenverschiebung statt) oder wie die
Spiegelung des Lichtes an den planparallelen
Silberschichten einer Lippmann'schen farbigen
Photographie.
Die \' e rs u ch sa n o r d n u n g, mit welcher
die beiden Bragg die Helligkeitsunterschiede in
den reflektierten Strahlen feststellen konnten, war
die folgende: Durch zwei schmale spaltartige Blei-
blenden wird ein Strahlenbündel von einer Röntgen-
röhre ausgeblendet, fällt auf die vertikale Fläche
des Kristalls, der auf dem Tische eines Gonio-
meters montiert ist, wird von dieser unter dem-
selben Winkel reflektiert und fällt in eine mit
Schwefeldioxyd gefüllte Ionisationskammer, die
auf dem einen drehbaren Arm des Goniometers
befestigt ist. Mittels eines Elektrometers wird die
ionisierende Wirkung der reflektierten Strahlen
gemessen; sie dient als Maß für ihre Intensität.
Durch Drehen des Tischchens läßt sich der P^in-
fallswinkel ändern und die, .Helligkeit" der unter ver-
schiedenen Richtungen zurückgeworfenen Strahlen
messen. In Abbildung 2 ist auf der horizontalen
Achse der Einfalls-(Ausfalls-)winkel (p, auf der
vertikalen die zugehörige Intensität der gespiegel- I
ten Strahlen angegeben. Bei nahezu streifendem
Einfall, also großem Winkel if, ist die Intensität
beträchtlich (doch wird nur etwa '/js,,,, der die
Kristallflächen treffenden Strahlen reflektiert); sie
nimmt mit abnehmendem (/' schnell ab. Das |
Spektrum der Strahlen ist kontinuierlich (die ge- '
strichelte Linie), darüber lagert sich ein diskon-
tinuierliches Spektrum mit drei scharfen Maxima,
N. F. XIII. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
439
denen je eine ganz bestimmte Wellenlänge
(Ap A„ und L) entspricht. Bis zur 3. Ordnung
war das Spektrum noch festzustellen. Die Lage
der Maxima (die Winkel */) und mithin die Wellen-
länge hängt vom Material der Antikathode ab,
die" bei den ersten Bragg' sehen Versuchen aus
Platin bestand. Die Maxima geben uns mithin
Aufschluß über die charakteristische
Röntgenstrahlung des Antikathoden-
m e t a 1 1 s.
1
2
3 Ordnung
V
^
1 I 1 1 1
-^Ts /iv
90 80 70 60
^jAflAo A, /li) ^, A , Aq (A;)
< ^ *^ * -e — >
Sangunrerschied 1 x/t 2 «d ixA
Abb. 2.
Als die Bragg' sehen Versuche bekannt
wurden, glaubte man die Reflexions- und Inter-
ferenzerscheinungen auf feine, im Glimmer wirklich
vorhandene Spaltflächen zurückführen zu können '-).
Doch ließ sich zeigen, daß dieselben Erscheinungen
bei einer ganzen Reihe anderer Kristalle, wie
NaCI, KCl, Pyrit, Diamant auftreten. Ein weiterer
Beweis für die Richtigkeit liegt in folgendem:
Die Richtungen, in denen die 3 Maxima der
Wellenlänge /„ liegen, sind bestimmt durch die
Gleichungen:
jd-cosf/i = I -Aj,
2 d • cos fPi^ -• ^0
2d.cos</'3 = 3-/t„
Mithin muß sein cos r/i, : cos 71.3 : cos <f.-= 1:2:3
Die beiden Bragg's haben die Winkel für eine
Würfelfläche (100) des Steinsalzes gemessen und
fanden für die Kosinus 0,200, 0,401 und 0,597.
F'erner gelang ihnen die Feststellung, daß die
Massenabsorptionskoeffizienten der drei für Platin
charakteristischen Wellenlängen in Aluminium an-
nähernd II, 18 und 26 sind. Hierdurch wurde
zum ersten Mal bewiesen, daß der Absorp-
tionskoelfizient mit abnehmender
Wellenlänge kleiner wird, daß also kurz-
wellige Strahlen weniger verschluckt werden.
Mit Hilfe der Reflexion der R-Strahlen sind
wir imstande, Aufschluß über die Lagerung der
Moleküle in den Kristallen und über die Abstände
der Netzebenen zu bekommen. Dadurch, daß die
beidenBragg's')die an den Flächen eines Diamants
durch Reflexion entstandenen Spektren verschie-
dener Ordnung (Rhodiumantikathode: ihr Spek-
trum besteht im wesentlichen aus einer Wellen-
länge A = 0,607- 10 '^ cm) untersuchten, gelanges
ihnen, ein eingehendes Bild von dem Raumgitter
dieses Körpers zu erhalten, das sie in einem räum-
lichen Modell auf der Tagung der British Associa-
tion in Birmingham im September 1913 vorgeführt
haben. Bezüglich der Einzelheiten sei auf die
Originalabhandlung •') verwiesen, in der sich auch
eine, allerdings schwer zu übersehende .Abbildung
des Modells befindet. Das Interessante dabei ist,
daß von jedem Kohlenstofifatom je 4 gleich-
lange Arme durch die Ecken eines Tetraeders,
in dessen Mitte das C-Atom gedacht ist, ausgehen,
und daß die C-Atome sich zu regulären Sechs-
ecken gruppieren, wie sie dem Chemiker aus der
Strukturformel des Benzols geläufig sind.
Das Spektrum der R-Strahlen läßt sich auch
photographisch fixieren: ersetzt man die Bragg-
sche lonisierungskammer durch eine feststehende
photograpliische Platte und dreht jetzt das Gonio-
metertischchen mit dem Kristall, so erhält man
auf der Platte das Spektrum. J. Herweg^)
(Greifswald) hat einen Spekt r ographen für
R-Strahlen konstruiert, der auf diesem Prinzip
beruht. Auf dem Tischchen stehen eine Gipsplatte
(3,5X2 cm-, I mm dick) und dahinter senkrecht
zur Fläche des Kristalls die photographische Platte.
Mittels PHektromotor, Schneckenrad, Schlitten-
verschiebung und eines automatischen Umschalters
wird es erreicht, daß das Tischchen mit Kristall
und Platte eine langsame, gleichförmige, hin- und
hergehende Bewegung um eine vertikale Achse
ausführt (Drehwinkel 10", Dauer eines Hinganges
ca. 5 Minuten). Dadurch ändert sich der Einfalls-
winkel des R-Strahlenbündels; nach 5- bis 6 stün-
diger Exposition erhält man das Spektrum des
Antikathodenmaterials auf der Platte. Herweg
findet für das Platin fünf Linien, deren Lage
(Winkel '/) er mißt; seine Messung ist in guter
Übereinstimmung mit der von Mosel ey und
Darwin •"'). Das Wolframspektrum ließ sich nicht
mit ganz scharfen Linien herstellen. Doch ist es
wahrscheinlich, daß es dasselbe charakteristische
Spektrum nur in anderer Intensitätsverteilung hat.
— M. de Broglie und F. A. Linde man n •')
(Paris) fanden, daß sich die Spektren auch auf einem
iiarium-Platincyanier- Schirm zeigen lassen. Sie
photographierten die Spektren von Platin, Wolfram
und Kupfer. Die Bilder sind sehr schön. Die charak-
teristischen Wellenlängen heben sich als schmale,
scharf begrenzte dunkle Linien von dem weniger
geschwärzten Hintergrund ab. Als interessantes
Phänomen, welches indessen noch nicht als sicher
hingestellt werden darf, sei erwähnt, daß beim
Durchgang der von einer Platin-Antikathode aus-
gehenden Strahlen durch ein dünnes (io.h) Platin-
blech , die Zentren sämtlicher Linien ausgelöscht
waren, was auf eine den Frauen hofer'schen
Linien ähnliche Erscheinung hindeutet.
Literaturnachweis.
1. Physika!. Zeitschrift XIV (1913) 472: Bragg, Die
Rellexion der Röntgenstrahlen an Kristallen.
2. Physikal. Zeitschrift XIV (1913) 220: Mandelstam
und Rohmann, Reflexion der R-Strahlen.
440
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 28
3. Proc. Roy. Soc. London Vol. 89, Xr. 610 u. l'hysikal.
Zeitschr. XIV. 1303.
4. Verh. d. Deutsch. Physikal. Ges. XVI (1914) 73; J.
Herweg, Über das Spektrum der R-Strahlen.
5. Phil. Magazine (6) 26, 210 (1913).
6. Verh. d. Deutsch. Physikal. Ges. XVI (1914) 195; M.
de Broglic und F. A. Linde mann, Einige Bemerkungen
über R-Strahlspektren.
Einzelberichte.
Physik. Die Krweiterungen, die unsere Kennt-
nisse und Anscliauungen über die (5-Strahlen in
der letzten Zeit erfahren haben, lassen wohl einen
Überblick über unsere gegenwärtigen Kenntnisse
über die Delta-Strahlen als angebracht erscheinen. ^
Zum besseren Verständnis der jetzigen Definitionen
seien zuerst einige geschichtliche Tatsachen mit-
geteilt.-) Den Namen (5- Strahlen hat J. J.
Thomson geprägt und ihn den negativ geladenen
Strahlen beigelegt, die er nach seinen Unter-
suchungen als Elektronen erkannte, welche zu-
sammen mit «-Strahlen vom Polonium emittiert
werden. Rutherford bestätigte diese Beobach-
tungen und zeigte weiter, daß die sich langsam
bewegenden Elektronen, die rf-Strahlen, nicht nur
von dem radioaktiven Körper ausgesandt wurden,
sondern auch von jedem beliebigen anderen Körper,
der von «-Strahlen getrofi'en wird und vermutete,
daß die d-Strahlen teilweise eine seitens der a-
Strahlen erregte Sckundärstrahlung wären. Ge-
schwindigkeitsmessungen wurden seitens mehrerer
Forscher ausgeführt, die aber zu wenig miteinander
übereinstimmenden Resultaten führten, immerhin
waren sie noch gut genug, um die d-Strahlen als
Elektronen erkennen zu lassen von einer Anfangs-
geschwindigkeit, die jedenfalls nicht viel größer
ist als die, welche zur Ionisierung der Atome eines
Gases erforderlich ist. Wenn die Eigenschaften
der dStrahlen dieselben sind wie jene der aus
den Atomen eines Gases bei dessen Ionisierung
entbundenen Elektronen, so vermag vielleicht das
Studium der d Strahlen wertvolles Licht auf die
wichtige Frage nacii dem Mechanismus der Ioni-
sierung zu werfen.
Nachdem jetzt neuere Untersuchungen gezeigt
haben, daß d-Strahlen nicht nur zusammen mit
«-Strahlen von radioaktiven Körpern ausgestrahlt
oder von den «-Strahlen an festen Körpern erzeugt
werden, sondern daß auch andere Strahlen eben-
solche langsame negative.Sekundärstrahlen erzeugen,
kann man nach Hauser zurzeit die d-Strahlen
vielleicht am besten folgendermaßen definieren''):
d-Strahlen sind eine aus Elektronen be-
stehende Sekundärstrahlung, deren Ge-
schwindigkeiten sich von o— 10" cm/sek.
erstrecken. Die Geschwindigkeitsverteilung in
den (5 -Strahlen ist unter denselben Versuchs-
bedingungen unabhängig von der Geschwindigkeit
') Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik 10, p. 447
(1913)-
') Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik Q, p. 419
(1912).
') Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik 10, p. 447
(1913)-
der erzeugenden Straiilcn und vom Material der
aussendenden Elektrode.
Daß die () Strahlen nichts anderes sind als
langsame Elektronen, ließen die früher für das
e
Verhältnis und für die Geschwindigkeit erhalte-
m ^
nen Resultate erkennen. Diese Schlüsse früherer
h'orscher sind jetzt selir gut bestätigt worden.
Während man weiter früher zwischen primären
und sekundären (3-Strahlen je nach ihrem Ursprung
unterschied, betrachtet man alle (5-Strahlen jetzt
zutreftender als Strahlen sekundären Ciiarakters.
Was den Ursprung der (5-. Strahlen betrifft,
so hat Campbell gefunden'), daß dieselben
nicht nur von den «-.Strahlen aussendenden Stoffen
und den von « Strahlen getroffenen Körpern aus-
gesandt werden, sondern auch von festen Körpern,
die von /i?-Strahlen oder Kathodenstrahlen getroffen
werden. Es wurden Stromspannungskurven von
(5-StrahIen aufgenominen, einmal, wenn sie durch
« Strahlen, das andere mal, wenn sie durch ;:i-
Strahlen, welche selbst wieder durch Bestraiilung
mit Röntgenstrahlen an den Elektroden hervor-
gerufen wurden, erzeugt waren. Aus der guten
Übereinstimmung der erhaltenen Kurven kann
geschlossen werden, daß auch bei Bestrahlung
mit Röntgenstrahlen eine sekundäre Elektronen-
Strahlung auftritt, welche den von «-Strahlen er-
zeugten rf-Strahlen wesensgleich ist, und da nach-
gewiesen werden konnte, daß diese Sekundär-
strahlung nicht direkt durch die Röntgenstrahlen,
sondern erst durch die von diesen ausgelösten
Kathodenstrahlen erzeugt wird, so ist die Wesens-
gleichheit der Sekundärstrahlen der ß- und Kathoden-
strahlen mit den durch «-Strahlen erzeugten ö-
Strahlen erwiesen.
Zahlreiche Versuche hatten früher gezeigt, daß
es jedenfalls ein Hauptmerkmal der t)Strahlen sei,
daß sowohl ihre Maximalgeschwindigkeit
als auch ihre Geschwindigkeitsverteilung
unabhängig vom Material der aussendenden Elek-
trode sei. Dieses Resultat wurde in neuerer Zeit
bestätigt') bei Verwendung eines Apparates,
welcher gestattete, die von der Elektrode, auf
welche «-Strahlen auftreffen, kommenden d'-Strahlen
für sich zu untersuchen. Aus den Resultaten der
einzelnen Forscher können wir folgendes sciilicßen,
wenn wir die Abhängigkeit von der Apparatforni
berücksichtigen: Fallen «-Strahlen unter verhältnis-
mäl3ig stumpfen Winkeln auf ein Metall auf, oder
durchdringen sie eine dünne Schicht desselben, so
') N. R. Campbell, Phil. Mag. 24, 783— 7SS (1912),
-) Phil. Mag. 24, 527—540 (1912).
N. F. XIII. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
441
ergibt sich als Maximalgeschwindigkeit der ö-
Strahlen im allgemeinen eine solche, wie sie ein
Elektron beim Durchfallen einer Potentialdifterenz
von 20 bis 40 Volt annehmen würde, bei ganz
empfindlichen lonisationsmessungen sogar im
Maximum von 75 Volt. Eine große Zahl schneller
d-Strahlen tritt auf, wenn die erzeugenden a-
Strahlen ein Röhren- oder Kästchensystem durch-
fliegen und daher die Oberflächen unter ziemlich
spitzen Winkeln treften.
Die Frage, ob es d-Strahlen gibt, welche zu
ihrem Austritt ein kräftiges elektrisches Feld be-
nötigen oder nicht, ist dahin zu beantworten, daß
bei glatten Metalloberflächen zum Austreiben
der dStrahlen kein beschleunigendes elektrisches
Feld nötig ist, während die an den rauhen Ruß-
und Kohleiiflächen erzeugten () Strahlen nicht alle
ohne elektrisches Feld die Elektroden verlassen.
Hieraus läßt sich schließen, daß für das Austreten
der d-Strahlen aus einer Elektrode nicht deren
Material, sondern die t>berflächenbeschaffenheit
in Betracht kommt.
Eng \erknüpft mit der Geschwindigkeit der
(3'-Strahlen ist ihre I-'ähigkeit, Gase zu ionisieren,
Sekundärstrahlen zu erzeugen und Materie zu
durchdringen. Der Nachweis einer Ionisation
durch (J-Strahlen mißlang früher, da die Versuche
bei zu hohem Gasdruck durchgeführt wurden, bei
dem die durch die (J-Strahlen hervorgebrachte
Wirkung im Vergleich zu dem lonisationsstrom
der «-Strahlen unmerkbar ist. Es wurde nun zu-
erst der lonisationsstrom mittels des Bragg'schen
Apparates gemessen bei solchen Drucken, bei
denen die «Strahlen allein zur Wirkung kommen.
Hieraus wurde der durch die a-Strahlen erzeugte
lonisationsstrom für die kleinsten Drucke berechnet
und es ließen sich die Abweichungen, welche die
bei kleinsten Drucken gemessenen Ströme von
den bereclmeten zeigten, auf Ionisation durch eine
leicht absorbierbare Strahlung zurückführen. Da
der durch letztere erzeugte Strom im Magnetfelde
etwas abnahm, so muß diese leicht absorbierbare
Strahlung aus einem magnetisch nicht ablenkbaren
und einem magnetisch ablenkbaren Teil bestehen,
von denen der erste Teil als aus Atomen des
Zerfallproduktes der benutzten radioaktiven Sub-
stanz bestehend erkannt wurde, während der andere
den an den Innenwänden des Rohres erzeugten
(5-Strahlen seine Entstehung verdankt. Schnelle
(5-Strahlen sind auch imstande, Sekundär-
strahlen geringerer Geschwindigkeit auszu-
lösen, und da schätzungsweise bei obigem loni-
sationsversuch 'V^j der Sekundärstrahleu nicht
durch die «-Strahlen, sondern durch jene schnellen
(5-Strahlen erzeugt wurden, so sind einige Forscher
der Ansicht, daß die Ionisation der Gase möglicher-
weise nicht direkt durch c(-Strahlen, sondern durch
Vermittlung von an den Gasmolekülen erzeugten
(5-Strahlen stattfinde. Die D u rchd r i n gu n gs -
fähigkeit der ()'-Strahlen ist keine sehr große.
Die Grenze ihrer Durchdringungsfähigkeit ist er-
reicht, wenn sie bei 760 mm Druck in Luft eine
Strecke von 0,13 mm durchlaufen haben, was
einer Aluminiumdicke von etwa 0,08 /t entspricht.
Zahlreiche Untersuchungen galten der Zahl
der ausgesandten (5-Strahlen in ihrer Ab-
hängigkeit von den verschiedensten Größen. Ver-
suche über die Abhängigkeit von der Geschwindig-
keit der erzeugenden ((-Strahlen, bei verschiedenem
Elektrodenmaterial bei den verschiedenartigsten
Gasfüllungen und Drucken und im Vakuum lassen
einen starken Einfluß der im Innern oder an der
Oberfläche der aussendenden Elektrode okkludier-
ten Gasmengen erkennen, so daß Bumstead zu
dem Schluß kommt, daß möglicherweise die festen
Körper überhaupt keine (5-Strahlen aussenden,
sondern daß die ganze (5-Strahlung nur von nicht
entfernbaren Resten anhaftender Gasschichten her-
rühre. Sollten die (5 Strahlen also wirklich aus
anhaftenden Gasschichten stammen, so würde die
Ionisation eines Gases in der Weise vor sich gehen,
daß die Elektronen aus den Gasmolekülen mit be-
trächtlicher Anfangsgeschwindigkeit ausgeschleu-
dert werden. Für die Anzahl cler pro «-Teilchen
eine radioaktive Schicht verlassenden cl-Strahlen
hat man gefunden, daß dieselbe um so kleiner
ist, je dicker die aktive Schicht ist, infolge der
großen Durchdringungsfähigkeit der «-Teilchen
und der geringen der (5-Strahlen. Die Zahl liegt
zwischen 60 und 125. Die Zahl der pro «-Teilchen
austretenden Aufprall- und Austrittsstrahlen hängt
sehr von der Geschwindigkeit der erzeugenden
«-Strahlen ab, zwischen 7 und 17, und muß daher
auch von dem mittleren Winkel abhängen, unter
dem die «-Strahlen die Elektrodetioberfläche treffen,
welche Abhängigkeit bei sekundären und primären
/:?-Strahlen auch in der Tat gefunden ist.
H. Schönborn.
Völkerpsychologie. Die Anfänge von Kunst
und Religion in der Urmenschheit behandelt Prof
Dr. H. Klaatsch in der ihm eigenen geistvollen
Weise in einer eben im Verlag Unesma zu Leipzig
erschienenen Schrift. ') Die ältesten Bewohner
Europas, die einen auffällig hohen Kunstsinn ver-
raten, waren paläolithische Jäger, die sonst nach
unseren heutigen Begriffen sehr wenig Kultur be-
saßen, nämlich die Menschen vom „Aurignactypus".
In den von ihnen hinterlassenen Schnitzereien aus
Knochen, Einritzungen, sowie Malereien von Tieren
auf Felswänden, die man vorzugsweise in Spanien
und Südfrankreich fand, kommt eine Naturtreue
zum Ausdruck, die in späteren Perioden vergeb-
lich gesucht wird; Man muß einen Zeitraum von
mindestens zwanzigtausend Jahren überspringen,
vom Ende der Eiszeit bis zur Entfaltung myke-
nischer und hellenischer Kunst, um wieder auf
jenen großen Zug in Malerei und Plastik zu stoßen,
der den ,, geborenen" Künstler kennzeichnet.
Bemerkenswert ist ferner, daß den Zeitgenossen
der Aurignacmenschen, den Neandertalern, jeder
Kunstsinn mangelte; man hat in ihrem Kultur-
63 S. mit 30 Abb. Preis 2 Mk.
442
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 28
inventar bisher gar nichts gefunden, was auf faltung nicht der von Malerei zur Skulptur ge-
künstlerische Betätigung hinwiese. wesen sein dürfte , sondern daß umgekehrt das
Die Schichten des Aurignacien lassen eine scheinbar kompliziertere, die plastische Form-
deutliche Gliederung in einen unteren, mittleren gebung, älter ist als flächenhafte Darstellung,
und oberen Horizont unterscheiden. Die älteste I'^rner lenkt die Tatsache, daß nicht tierische,
Schicht enthält neben schön bearbeiteten Werk- sondern mcnscliliche Körper das älteste Objekt
Abb. 1. Skulpturen und Einritzungen der Aurignacmensclicn.
(Aus Klaatsch, Die .Anfänge von Kunst usw.,
Verlag Unesma, Leipzig.)
Abb. 2. Aurignacienkunst. Speerwerfer mit Raubtierkopf
und Geweihstück worauf der Kopf eines Huftieres graviert
ist. (Aus Klaatsch, Die .Knfänge von Kunst usw., Verlag
Unesma, Leipzig.)
zeugen und Geräten Schnitzereien aus Knochen,
die den weiblichen Körper darstellen. Wohl
kommen solche auch in den späteren Horizonten
vor, aber in den früheren sind sie allein da ohne
Begleitung von Tierdarstellungen — Skulptur
allein und noch nichts von Malerei. Diese Er-
scheinung hält K. für sehr beachtenswert ; Sie be-
lehrt uns darüber, daß der Gang der Kunstent-
■\bb. 3. Aurignacienkunst. Farbige Halbreliefdarstellung
eines Wisent mit Benutzung eines Felsvorsprungs.
(Aus Klaatsch, Die Anfänge von Kunst usw.,
Verlag Unesma, Leipzig.)
Abb. 4. Farbige Tierdarstellungen der Aurignacmenschen.
(Aus Klaatsch, Die Anfänge der Kunst usw.,
Verlag Unesma, Leipzig.)
künstlerischer Darstellung gewesen zu sein scheinen,
unsere Aufmerksamkeit darauf, daß möglicher-
weise die älteste Betätigung des Triebes, Dinge,
die die Phantasie beschäftigen , mit Händen zu
formen, mit dem Sexualtrieb in genetischen Zu-
sammenhang zu bringen ist. Das frühe Auftreten
menschlicher Figuren ist um so erstaunlicher, als
späterhin die Darstellung solcher keinen wesent-
lichen P'orlschritt macht und gegen die Tierbilder
entschieden zurückbleibt.
Die Darstellungen von Tieren an den Wänden
von Grotten sind oft dem beschränkten Raum in
merkwürdig geschickter Weise angepaßt, freilich
N. F. XIII. Nr. 2S
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
443
ist dabei vielfach der Darstellung von Einzelheiten
Zwang angetan, wie z. B. den Zähnen und dem
Rüssel des Mammuts, dem Geweih der Huftiere usw.,
aber gerade in dieser Kinschachtelung liegt ein
Beweis für künstlerischen Scharfsinn. Es ist sehr
schwer verständlich , wie die Künstler jener Zeit
mit einfachen Steininstrumenten solche Wunder-
werke herstellen konnten; besonders erstaunlich
ist, daß man keine Fehlgriffe findet, die ja gar
nicht wieder gut gemacht werden konnten. Zu
bedenken ist überdies, daß in diese unterirdischen
Stätten künstlerischen Schaffens nie ein Sonnen-
strahl fiel, daß die Leute bei künstlicher Beleuch-
tung zu arbeiten hatten.
Bei den Darstellungen an den Felswänden
wurden zwei auch lokal gesonderte Methoden an-
gewendet : nämlich erstens einfache Einritzung
ohne Bedacht auf natürliches Relief und ohne
Farbengebung; und zweitens die Kombination der
Umrißzeichnung mit Malerei auf P'elsvorsprüngen.
Was mag nun aber der Ansporn gewesen
sein, der die Aurignacmenschen zu ihren Kunst-
leistungen trieb? Klaatsch verweist darauf, daß
die sonst nicht sehr kunstsinnigen Neger Tier-
figuren herstellen, um durch sie Zaubereinfluß auf
bestimmte Jagdbeute zu gewinnen. Ähnliche
Regungen können gewiß auch die Eiszeitmenschen
Europas beherrscht haben. Mit ihren Venus-
statuetten und Tierbildern strebten sie etwas zu
beherrschen, zu gewinnen; in beiden Fällen han-
delt es sich um eine Jagd, nur die Art der Beute
ist verschieden. Die Grundidee, um die es sich
hier handelt , ist dieselbe wie bei der „Fern-
zauberei" lebender primitiver Völker. Es ist auch
möglich, daß die europäischen Steinzeitmenschen,
gleich den Australiern, an eine direkte Verwandt-
schaft zwischen Menschen und Tieren, an das
Stattfinden einer Seelenwanderung, glaubten. Bei
den Australiern geht dieser Glaube auf ihre Un-
fähigkeit zurück , die Entstehung des Menschen
zu erklären. Sie meinen, das Kind dringe in den
Körper der Mutter ein, kurz bevor seine ersten
Bewegungen verspürt werden. Aber woher kommt
es? Von irgendeinem Tier, das sich zufällig in
der Nähe befindet. Auf diese Weise wäre die
Tierverehrung und die Vorliebe für Darstellung
von lierkörpern seitens der Aurignacmenschen
ebenfalls zu erklären, obzwar es schwer sein wird,
den Nachweis zu führen, daß bei ihnen tatsäch-
lich ein dem australischen ähnlicher Seelen-
wanderungsglaube bestand.
Auf jeden Fall aber spielt die Furcht vor umher-
wandernden Seelen bei primitiven Menschen eine
große Rolle. Wer im Leben als großer Krieger ge-
fürchtet war, bleibt es auch nach dem Tode. Das ist
noch nicht Ahnenkultus (denn es mangelt das Bestre-
ben, den Toten versöhnlich zu stimmen), sondern
einfach reale Furcht vor Schädigungen, die von dem
Tolen ausgehen könnten; denn das der Tod ein
Ende ist, begreift der Wilde nicht, er stellt ihn
vielmehr mit dem Schlaf auf eine Stufe. Wegen
seiner Unfähigkeit, sich komplizierte Vorstellungen
über sog. übernatürliche Kräfte zu machen, hält
der Wilde ferner jedes Naturereignis für die I''olge
menschlicher Wirkung, und die h'urcht vor dem
Einfluß des mächtigen Mannes — des lebenden
wie des toten — darf man als Vorstufe der
Gottesfurcht der höheren Religionssysteme be-
trachten. Je nach der Macht , die ein Krieger,
Zauberer usw. im Leben besaß, wird die Furcht-
enipfindung, die er hinterläßt, kürzer oder länger
andauern. Je länger sich die Erinnerung an je-
mand und die Furcht vor ihm hält, desto größer
ist die Wahrscheinlichkeit der Vergöttlichung.
Klaatsch legt das Hauptgewicht seiner l^rklä-
rung darauf, daß das Persönliche als das älteste
und primitivste am Gottesbegrift' erscheint , wäh-
rend früher allgemein darin die mühsam erklom-
mene höchste Stufe der Gotteserkenntnis erblickt
wurde. Durch Herstellung von Götzenbildern
suchen die primitiven Menschen auf die gefürchteten
Verstorbenen geradeso einzuwirken, wie auf Tiere
durch Tierbilder. Es ist sehr interessant, sagt
Klaatsch, wie der alttestamentarische Gott
gegen die Anfertigung von Bildnissen eifert. Durch
solche würde ja der Mensch Einfluß auf seinen
Gott gewinnen können. Ganz leicht verständlich
wird uns auch die Verehrung von Tieren nach
allem, was Klaatsch über den Totemismus vor-
bringt. Man wird geradezu an die Gemälde-
grotten der Aurignacmenschen mit den Stieren
und Wisents erinnert, wenn man an die vielfache
göttliche Verehrung gerade stierähnlicher Wesen
bei den ältesten Kulturvölkern denkt. Es ist
immerhin möglich, daß bereits bei den Gemälde-
grotten auch die Anfänge solcher Tiervergötterung
in Frage kommen.
Wie schon aus den hier angeführten Beispielen
hervorgeht, ist Klaatsch 's Schrift an neuen
Gedanken und Anregungen über Probleme der
Völkerpsychologie ungemein reich.
H. Fehllnger.
Mineralogie. Mit den Namen Custerit be-
legen J. B. Umpleby, W. T. Schall er und
E. S. Larsen in Washington ein neues kontakt-
metamorphes Mineral, das der erstgenannte Autor
in einem großen Kalkeinschluß südwestlich von
Mackay, Custer County, Idaho, gefunden hat
(Zeilschr. f Krist. u. Mineral, Bd. 53, 1914, H. 4).
Der Custerit tritt in feinkörnigen Massen auf, die
leicht für grünlichen Marmor gehalten werden
können. Auf verwitterten Oberflächen ist eine
hauptsächlich aus Karbonat bestehende kreidige
Kruste nicht selten. Die Härte ist ungefähr 5 ;
die Dichte = 2,91; Glanz: fettig bis glasartig;
Strich weiß; Farbe: grünlichgrau, spröde, durch-
scheinend. Das Mineral hat drei Spaltrichtungcn,
die sich nahezu rechtwinklig schneiden. Parallel
zu einer Spaltungsrichtung, der vollkommensten,
ist polysynthetische Zwillingsbildung sehr schön
ausgebildet. Die Doppelbrechung ist gering.
Im geschlossenen Rohr gelinde erhitzt, wird
der Custerit vorübergehend gelb und phospho-
444
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 28
resziert mit goldgelbem Licht. Im verdunkelten
Zimmer gleicht die Piiosphoreszenzfarbe der eines
tief goldgelb gefärbten Berylls. Bei zunehmender
Temperatur wird die Phosphoreszenz zerstört und
Wasser abgegeben. Das Mineral dekrepitiert dabei
nicht. Wenn man schließlich das Mineral bis zum
Schmelzen des Rohres erhitzt, erhält man einen
weißen Ring, der von Fluordämpfen herrührt.
Vor dem Lötrohr schmilzt Custerit nur schwer
zu einer trüben, weißen, Emaille. Von Säuren
wird er leicht zersetzt, mit HCl befeuchtet, scheidet
sich gallertartige Kieselsäure ab. Das Mittel aus
zwei Analysen ist folgendes:
SiO.,
CaÖ
H„0
F =
MgO =
Fe^O, =
102,89
Überschuß von O wegen F = — 3,42
99,47
Aus dieser Analyse leiten die Verfasser folgende
Strukturformel ab
CaOH
= 3^-17
= 55,11
= 5.30
= 8,12
= 1,19
1,00
Si03<
CaF
Es ist nicht anzunehmen, daß der Custerit ein
weitverbreitetes Mineral ist, denn seine optischen
Eigenschaften sind so charakteristisch, daß er
wohl kaum übersehen worden wäre. In den Hand-
stücken sieht er jedoch so wenig auffallend aus,
daß bisher vielleicht Dünnschliffe noch nie her-
gestellt worden sind. Jedenfalls müßte man das
Mineral in fluorhaltigen Kontaktzonen besonders
gegen den Rand der metamorphischen Bildungen
hin suchen. V. H.
Zoologie. H. Ch. Bryandt behandelt in
einer gründlichen Arbeit (University of California
publications in zoology) die Frage nach dem Nutzen
und Schaden der westlichen Wiesenlerche (Stur-
nella neglecta), eines Vogels, der in dem west-
lichen Teile der Vereinigten Staaten etwa die
ökonomische Bedeutung hat wie bei uns der Star.
Er geht dabei in ähnlicher Weise zu Werke, wie
Kör ig in seinen grundlegenden Untersuchungen
über die Nahrung unserer einheimischen Vögel.
Veranlaßt wurde der Verfasser zu seiner Studie
durch die California Fish and Game Com-
mission, von welcher evtl. die Aufhebung der
Gesetze zum Schutze gewisser Vögel, u. a. der
Wiesenlerche, geplant wurde. Diese Vögel schaden
gerade zur Zeit des keimenden Getreides; es wurden
daher Untersuchungen über die Verdauungszeiten
und die Art und Menge der Nahrung angestellt
und ca. 2000 Magenuntersuchungen angestellt.
Die Größe des Schadens ist abhängig von der
Zahl der Vögel und davon, wie tief die Saat liegt.
Junge Vögel werden mit Insekten gefüttert. Als
Verdauungszeit für Körner ergaben sich 4 — 6, für
Insekten 3 — 4 Stunden. Der Nahrungsbedarf stellt
sich pro Jahr auf 63,3 "/q animalische und 36,7 "/„
vegetabilische Nahrung. Das Maximum der Körner-
nahrung fiel in die Monate November, Dezember,
Januar, der Insektennahrung auf den Frühling und
■Sommer. Bei abnormem Auftreten der hisekten
vergrößert sich auch die Aufnahme animalischer
Nahrung. Alles in allem verdient die VN'iesenlerche
Schonung, da sie mehr Nutzen wie Schaden bringt.
Die Saat könnte man durch Tieferlegen schützen.
Als Nebenergebnisse seiner Untersuchungen fand
Bryandt noch folgendes: Die Schutzvorrichtungen
der Insekten, wie Stachel, schädliche Ausscheidun-
gen, Haare usw. sind als schützende h'aktoren
gegenüber den Angriffen von Vögeln überschätzt
worden. Bei den Coccinelidcn (Blattlauskäfern)
scheinen aber die Ausscheidungen derart übel zu
wirken, daß die Käfer von den Vögeln nicht gefressen
werden. Im übrigen beeinflußt der Nährwert der
Insekten zumeist die Nahrungsgewohnheiten der
Vögel. Insekten mit Schutzfärbung im Ruhe-
zustande werden von Vögeln und anderen Feinden
entdeckt, sobald sie sich bewegen. Ein Insekt
außerhalb seines gewöhnlichen Wohnorts wird
leicht entdeckt. Beides erklärt das Vorkommen
von Insekten mit Schutzfärbung unter der Nahrung
der Wiesenlerche. Der 115 Seiten umfassenden
Abhandlung sind noch ein Literaturverzeichnis,
das bez. der deutschen Literatur indes auf Voll-
ständigkeit keinen Anspruch machen kann, sowie
vier Tafeln beigegeben. Letztere veranschaulichen
zumeist den Mageninhalt pflanzlicher oder anima-
lischer Provenienz. Dr. Koepert.
Astronomie. Die Beziehungen zwischen
Farbe, Spektrum und Parallaxe der Fixsterne hat
Nashan untersucht (.Astr. Nachr. Nr. 4722). Da
der Mangel an genügend vielen und gut bestimmten
Parallaxen immer bei solchen Aufgaben eine sehr
fühlbare Rolle spielt, so ist das Material nicht
sehr reichhaltig, aber doch ausreichend , so daß
loi Sterne benutzt werden konnten. Daß sich
die roten und weißen Sterne am Himmel gesetz-
mäßig verteilen, war schon bekannt, und zwar in
bezug auf die Milchstraße. Hier sind 12 weiße
Sterne, 48 gelbe und 41 rote Sterne verarbeitet
worden. Es zeigt sich zunächst, daß die Anzahl
der Sterne von weißer Farbe um so größer ist,
je weitere Entfernungen vorkommen. Die roten
Sterne verhalten sich umgekehrt, sie stehen ver-
hältnismäßig nahe. Für die gelben Sterne ist ein
solcher Satz nicht auszusprechen. Nun ist be-
kannt, daß die Reihe der Spektralklassen der
Farbenreihe parallel läuft, so daß also die Gesetz-
mäßigkeit zwischen Spektrum und P'arbe und die
zwischen F'arbe und Parallaxe auch eine zwischen
Spektrum und Parallaxe hervorrufen muß. Das
hier zur Verfügung stehende Material ist reicher,
es umfaßt 246 Sterne. Auch hier wird das kos-
mologisch wichtige Verhältnis festgestellt, daß die
relative Anzahl der weißen Sterne und die Spektral-
tyjien B und A nach Picke ring mit wachsen-
der Parallaxe abnimmt, während die Relativzahl
N. F. Xin. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
445
der roten, Typ K und M mit steigender Parallaxe
wächst. ' l^iem.
Eine bisher unbekannte Form von Stern-
schnuppen hat Ho ff meist er mehrfach be-
obachtet 7Astr. Nachr. Nr. 4733), die in der
Literatur nicht beschrieben werden. Das Meteor
besteht aus einem mehrere Grad langen schweif-
artigen Streifen, der sich in seiner Längsrichtung
fortbewegt, ohne daß ein helleres Kopfstück zu
sehen ist. Die Bewegung ist langsam und lang-
dauernd. Ein Meteor dieser Art dauerte 4 Se-
kunden und war von rötlicher F'arbe. Es blieb
schließlich in der Luft stehen, verlor seine Farbe
und verlosch wie ein gewöhnlicher Meteorschweif,
indem die rötliche Farbe in ein mattes Silbergrau
überging. Da die Meteore diese Gestalt schon
vom Moment des Aufleuchtens an besitzen, so
kann sie nicht eine Folge des Widerstandes der
Luft sein. Der Beobachter glaubt, daß es sich
hier um staubförmige Massen, also Siaubmeteore
handelt, die schon in diesem Zustande in die
Atmosphäre eindringen. Sie sind sehr selten,
unter 5600 beobachteten Meteoren nur 4 dieser
Art. Aufmerksame Beobachtungen auch von
anderer Seite sind wünschenswert. Riem.
Meteorologie. Über Aufgaben und Probleme
der meteorologischen I""orschung in der Antarktis
spricht Wilhelm Meinardus in der Geogr.
Ztschr. (Bd. 20, 19 14, H. i).
Die bisherigen meteorologischen Beobachtungen
aus der Antarktis rühren her von festen Stationen,
Schlittenreisen und Eistriften, daneben auch Ballon-
und Drachenaufstiegen. Besonders der „Deutschen
Antarktischen Expedition" unter Filchner ge-
langen im Weddellmeer 255 Aufstiege von Drachen
und Ballons. Aus allen diesen Beobachtungen
ist es möglich, allgemeine Schlüsse zu ziehen.
Für die Te m pera t u r verte il u ng im Süd-
polargebict ist die niedrige S o m m e r t e ni p e r a -
tur kennzeichnend. Schon die mittlere Temperatur
des wärmsten Monats liegt am Rande der Antark-
tis fast überall unter o". Die Isotherme von
0° fällt ungefähr mit dem südlichen Polarkreise
zusammen. Im Nordpolargebict, das ungleich
günstiger gestellt ist, liegt die eben bezeichnete
Linie jenseits 85" Nord. Je weiter nach Süden
im inneren Südpolargebiet, desto mehr sinkt die
Temperatur. Wenn auch das Innere mehr als
3000 m hoch liegt, so können dadurch doch nicht
Sommertemperaturen von — 50" erklärt werden.
Die Ursache für diese Erscheinung ist noch zu
finden! Die Wintertemperatur ist recht
gleichmäßig. Ganz im Gegensatz zur nördlichen
Halbkugel erscheint die Temperaturkurve hier
abgeflacht. Auch in dem Verhalten einzelner
Stationen ergeben sich ganz überraschende Ab-
weichungen. Amundscn's Framheim und die
englische Station am Mac MurcoSund unter der-
selben Breite im Meeresniveau zeigen einen Unter-
schied der Jahresmitte von /^a"- Auch die Lage
des Kältepols, der vielleicht exzentrisch nach dem
Indischen Ozean liegt, ist noch zu bestimmen.
Luftdruck und W i n d v e r t e i 1 u n g weisen
im Südpolargebiet im allgemeinen die theoretisch
erwarteten Züge auf. Aus den Windverhältnissen
konnte man schließen, daß das Südpolargebiet
zwischen 60" und 70" Breite von einer F'urche
niederen Druckes durchzogen wird, die man als
subantarktische Windscheide bezeichnen
kann. Die Ostwinde südlich davon hielt man
früher für antarktischen Lirsprungs, aber sie sind
feucht und warm. Sie tragen zyklonalen Charakter,
ihr Ursprungsgebiet ist der südliche Indische Ozean.
Die Subantarktische Luftdruckfurche gilt als Zug-
straße für Depressionen, die in der Richtung des
Uhrzeigers das Südpolargebiet umkreisen. Die
Ostwinde an der Südseite dieser Depressionen
kommen aus wärmeren Gegenden und vom Meere
her, wodurch sich ihre Eigenschaften erklären.
Der Mechanismus dieser Depressionen ist zwar
viel verwickelter, als man früher annahm — L'm-
bildungen der Tief- und Hochdruckgebiete finden
auch hier in buntem Wechsel statt. Eine Frage,
die noch gelöst werden muß, ist die der großen
Konstanz der Ostwinde. So wehten sie in der
Winterstation der „Gauß" fast ununterbrochen.
Die Niederschläge im Südpolargebiet fallen
fast nur als Schnee. Lls ist deshalb schwer, einen
genauen Wert der Niedersclilagsmenge zu finden.
\IVenn die Ostwinde zyklonalen Charakter haben,
so ist es wahrscheinlich, daß sie besonders nieder-
schlagsreich sind. An der Grenze zwischen zyklo-
nalem und antizyklonalem Gebiet findet die Nieder-
schlagsbildung infolge der Abkühlung meist als
Schnee statt. An der „Gauß Station" beträgt die
Niederschlagshöhe wahrscheinlich mehr als 800 mm
im Jahr; dagegen ist sie kleiner im Weddellmeere,
da hier trockene Südwestwinde vorherrschen, die
aus dem Inneren kommen.
Von großer Bedeutung sind diese Unter-
suchungen für die Frage: durch welche
meteorologischen Verhältnisse wird die
Ernährung des Inlandeises bewirkt?
Aus der inneren Antarktis findet ein beständiger
Abfluß von Eis statt. Daraus muß geschlossen
werden, daß die Niederschlagsmenge im Ganzen
größer ist als die Verdunstung. So muß durch
Luftströmungen eine entsprechende Zufuhr von
Wasserdampf stattfinden. Um diese zu erklären,
müssen wir auf die Frage eingehen: wie ist
die Luftdruckverteilung in höherem
Niveau? Das Randgebiet der Antarktis steht
unter zykloiialer Luftbewegung, die antarktische
Antizyklone könnte also nur die inneren Teile
einnehmen. Dann ist es aber schwierig, die Schnee-
bedeckung des Inneren zu erklären. Diese Über-
legung führte Meinardus zu einer Revision der
Ansicht, daß die Antarktis von einer Antizyklone
bedeckt wäre, die nur im Meeresniveau in Er-
scheinung tritt. Wegen der niedrigen Temperatur
des Kontinents muß oberhalb eines gewissen
446
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 28
Niveaus der Luftdruck niedriger sein als in seiner
Umgebung. Über der unteren Antizyklone liegt
also eine Zyklone, der Polarwirbel, der über
2000 m seinen Anfang nimmt. Der südpolare
Kontinent läßt nur einen Teil der Antizyklone
und der östlichen Winde in Erscheinung treten
und ragt selbst in das Gebiet der Zyklone und
der westlichen Winde hinein. In Ostantarktis,
wo das Land steil ansteigt, ist das Gebiet der
Ostwinde am kleinsten, im Roßmeere am aus-
gedehntesten. Im Bereich des obei'en Polarwirbels
findet nun ein Zuströmen von Luft und Wasser-
dampf in die Antarktis statt. Diese Auffassung,
die durch mehrere Figuren erläutert wird, daß die
Landmassen des Südpolargebietes in das Gebiet
der oberen Zyklone emporragen, löst die Schwierig-
keiten der Erklärung der zentralen Eisbedeckung
leiciit. Im einzelnen muß die zukünftige P'orschung
diese H)'pothese weiter begründen, die auch wichtig
erscheint für die Erklärung der Inlandeisdecken
von Nordeuropa und Kanada während der dilu-
vialen Eiszeit. Dr. G. Hornig.
Bücherbesprechimgen.
A. Li. Hughes, Phot o -Elec trici ty. Cam-
bridge, Universiiy Pres, 19 14.
Das Buch erhebt den Anspruch auf Vollstän-
digkeit in seinem Gebiete; es will den gegen-
wärtigen Stand der photoelektrischen Forschung
darstellen. Das ist auch zweifellos erreicht bei
dem ersten wesentlichen Teile, der sich auf die
lonisationserscheinungcn bezieht, die Licht in
Gasen hervorruft. Auch die IMessungen der Ge-
schwindigkeit der Photoelektronen sind wohl voll-
ständig da. .Aber das Kajjitel über den selektiven
Photoeffekt, der doch augenblicklich im Vorder-
grund des Interesses steht, mit seinen schönen
Aufschlüssen über die Eigenschwingungen der
Moleküle und seinen ungeheuer weittragenden
Beziehungen zur Thermodynamik usw., kommt
recht stiefmütterlich weg. Bräuer.
H. Wölbling, Die Bestimm ungsmethoden
des Arsens, Antimons und Zinns und
ihre Trennung von den anderen Ele-
menten (Bd. XVII und XVIII der von B. M.
Margosches herausgegebenen Sammlung ,,Die
chemische Analyse"). Gr. 8", 377 Seiten mit
39 -Abbildungen im Text. Stuttgart 1914, V^er-
lag von Ferdinand Enke. — Preis geheftet 13 Mk ,
gebunden 13,80 Mk.
Das vorliegende Werk, zu dem der Verfasser
nicht nur die zurzeit vorliegende Literatur zu-
sammengetragen, sondern auch mancherlei eigene
Erfahrungen beigesteuert hat, wendet sich, der
Tendenz der ganzen Sammlung entsprechend, in
erster IJnie an die Analytiker von Fach. Nur der
Fachmann wird die P'ülie der in ihm enthaltenen
Einzelheiten zu würdigen und nach den jeweiligen
Anforderungen, die die Praxis an ihn stellt, aus-
zunutzen verstehen, während der weniger Ge-
wandte eher Gefahr läuft, von ihr erdrückt zu
werden. Die in dem Buch enthaltenen .Angaben
sind, wie ja bei dem fast ausschließlich analytisch
tätigen Verfasser nicht anders zu erwarten ist,
sachgemäß und klar dargelegt, und so scheint
das Werk wohl geeignet, die Aufgabe zu erfüllen,
die ihm im Rahmen der Sammlung zugefallen ist.
Clausthal i. M. Werner Mecklenburg.
Geologische Karte von Preußen und benach-
barten Bundesstaaten. Herausgegeben von
der Königlich Preußischen Geologischen Landes-
anstalt. Lieferung 188. Wriedel, Eimke, Unter-
lüß. Berlin 191 J— 191 3. — Preis 6 Mk.
Die Lieferung umfaßt einen Ausschnitt aus dem
Gebiet der Zentralheide westlich der Bahnstrecke
Ülzen — Lüneburg und gehört der äußersten Zone
an, bis zu welcher das Landeis der letzten Ver-
gletscherung in die Lüneburger Heide vordrang.
Von hohem Interesse ist die diluviale Hydrographie
des Gebietes, die zwei Hauptphasen der glazialen
Entwässerung unterscheiden läßt: in der ersten
geschah sie vollständig in südlicher Richtung durch
das Talnetz der Ortze zum Allerurstromtal, in der
zweiten konnte sich ein Teil der Schmelzwasser,
die den toten, schwimmenden Eisschollen des Ge-
l)ietes entströmten, unter vorübergehender Bildung
von Eisstauen nordwärts zu dem inzwischen vom
Eise ausgekehrten Eibtal einen Weg bahnen.
Von altern Diluvialbildungen, die im Gebiet auf-
geschlossen sind und studiert werden konnten, sind
namentlich die interglazialen Süßwassermergel und
die interglaziale Kieselgur zu neiuien.
Lieferung 177. Zu beziehen durch die Ver-
triebsstelle, Berlin N 4, Invalidenstraße 44, zum
Preise von 10 Mk. für die ganze Lieferung, von
2 Mk. für das einzelne Blatt.
Blatt Calbe a. S. |
Blatt Staßfurt J bearbeitet von K. Keil hack.
Blatt Güsten )
Blatt Nienburg ( bearbeitet von K. Keil hack
Blatt Bernburg ) und B. Damm er.
Die Lieferung umfaßt das Gebiet zwischen
dem nordöstlichen Harzrande und der Elbe und
gehört in ihrer ganzen Ausdehnung jener frucht-
baren Lößlandschaft an, deren nördlicher Teil unter
dem Namen der Magdeburger Börde bekannt ist.
An seinem .Aufbau beteiligen sich die Formationen
vom Oberrotliegenden bis zum Mittleren Keuper
lückenlos; vom Tertiär finden sich Eocän, Unter-
und Mitteloligocän, vom Quartär Vertreter aller
drei Eiszeiten und jugendliche Bildungen der heutigen
Gewässer.
Die glazialen .Ablagerungen gehören ausschließ-
lich der vorletzten Eiszeit an, jungglaziales Alter
N. F. Xni. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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besitzen nur der Löß und die Talsande der Elb-
talterrassen.
Die Tektonik dieses Gebietes ist verhältnis-
mäßig einfach. Die gesamte 2000 m mächtige
Schichtenfolge permo-triassischcn Alters bildet ein
System flacher Mulden und Sättel, die teils von
SO nach NW teils von O nach W streichen. Die
Einfachheit dieses Baues erfährt eine Beeinträch-
tigung durch die Herausbildung steil aufgerichteter,
schmaler Sättel, in deren Kern die Zechsteinsalze
emporgepreßtsind, und sodann durch Verwerfungen,
die den Faltenbau teils im Streichen, teils spieß-
eckig durchsetzen. Unter den vier in unserm Ge-
biet auftretenden Zeclisteinsätteln ist der seit alters-
her bekannte Staßfurter Rogensteinsattel der
längste. Vom Ascherslebener Sattel fällt nur ein
kurzes Stück in unser Blatt; der Calber Sattel er-
scheint nicht an der Oberfläche und der Beesen-
laublinger Sattel nur in einer domförmigen Auf-
wölbung von Zechsteingips.
Unter den Verwerfungen, von denen die Sättel
selbst nicht betroffen zu sein scheinen, spielen die
Grabenbrüche eine wichtige Rolle. Sie verlaufen
im allgemeinen den Sätteln parallel und enthalten
in sich die einzigen heute noch vorhandenen Ab-
lagerungen des Keupers, in den dann wiederum
in Spezialgräben Streifen von Tertiär eingesenkt sind.
Die Lagerungsbeziehungen des Tertiär zu den
Verwerfungen lassen erkennen, daß ein Teil der
Störungen voreocän, wahrscheinlich cretaceisch,
ein anderer Teil postmitteloligocän, wahrscheinlich
miocän ist.
Im bodenkundlichen Teil der Erläuterungen
ist insofern eine Neuerung eingeführt, als die sämt-
lichen mechanischen und chemischen Analysen zu
Tabellen zusammengestellt und in den Text ein-
gearbeitet sind.
Im bergbaulichen Teil werden einerseits die
Braunkohlen, anderseits die Salzablagerungen be-
handelt.
In der Kartendarstellung sind zum erstenmal
in größtem Umfang die Untergrundverhältnisse
berücksichtigt. Zunächst sind alle unter dem Löß
auftretenden Schichten, mit Ausnahme weniger
Gebiete, in denen seine IVIächtigkeit 4 — 5 m über-
schreitet, durch farbige SchrafTen, Punkte, Ringe
oder Balken, letztere im Tertiär und Mesozoikum
dargestellt. Außerdem sind die unterirdischen
Grenzen der einzelnen P'ormationen und ihrer
wichtigeren Stufen durch breite farbige Linien be-
zeichnet.
Farbige Profile am unteren Kartenrande stellen
die Lagerungsverhältnisse eines bis 2000 m mäch-
tigen Schichtenkomplexes dar, und lassen beson-
ders die verschiedenartigen Lagerungsverhähnisse
des Salzgebirges überaus klar erkennen.
Alle künstlichen Aufschlüsse der einzelnen
Blätter sind in der Karte numeriert und diese
Zahlen entsprechen kurz gehaltenen Aufschluß-
beschreibungen in der Erläuterung. Hierdurch
wird das Studium der Aufschlüsse in der Natur
erleichtert.
Vanino, Prof. Dr. L., Handbuch der präpa-
rativen Chemie, ein Hilfsbuch für das Arbeiten
im chemischen Laboratorium, unter Mitwirkung
verschiedener Fachgenossen.
I. Band: Anorganischer Teil; mit 82 Abbil-
dungen. Stuttgart 191 3, Verlag von Ferdinand
Enke.
Der nahezu 760 Seiten umfassende I. Band
des Werkes behandelt eingehend die Darstellungs-
methoden der anorganischen Präparate. Das Werk
ist nicht wie z. B. Gattermann „Methoden des
organischen Chemikers" in erster Linie ein Lehr-
buch, sondern in ihm wird jeder Chemiker, sei es
in wissenschaftlicher oder in technischer Praxis,
eine große Unterstützung und Erleichterung für
viele präparative Arbeiten finden. Daher hat
Verf. fast ausschließlich die Herstellungsmethoden
der anorganischen Präparate beschrieben, während
er über die Eigenschaften und das Aussehen der
Präparate nur das Wichtigste gesagt hat. Nicht
erwähnt sind einerseits Präparate, die in der Groß-
industrie billig hergestellt werden, andererseits
solche, die zu spezieller Art sind. Aber von
sämtlichen billigen Präparaten der Großindustrie
sind eingehend die speziellen Reinigungs- und
Prüfungsmethoden behandelt. Auch finden wir
in dem Werke viele gründlich geprüfte Literatur-
angaben, wodurch es Spezialinteressenten möglich
ist, über ein bestimmtes Präparat und dessen
Pligenschaften usw. Ausführlicheres zu finden. Im
Anhang gibt uns der Herausgeber in klarer, kurzer
und übersichtlicher Form Ratschläge und Hilfs-
präparate für das Laboratorium.
Mit diesem Werk ist es dem Verfasser glän-
zend gelungen , dem Chemiker ein äußerst prak-
tisches Hilfsbuch an die Hand zu geben, weshalb
es jedermann nur empfohlen werden kann.
Parzival Runze, BerlinLichterfelde.
Pole, J. C. , Die Quarzlampe, ihre Ent-
wicklungundihr heutigerStand. S4 S.
Berlin 1914, Julius Springer. — Preis ungeb.
4 Mk.
Das Buch, das von dem früheren Chefingenieur
der Cooper Hewitt Electric Co (Hoboken U. S. A.)
verfaßt ist, gibt eine ausführliche und gründliche
Darstellung über die Entwicklung, die wissen-
schaftlichen Grundlagen und die technischen Typen
der Quecksilber-Quarzlampe. Eine große Reihe
von Figuren , Kurven und Tabellen stellt eine
wertvolle Bereicherung des Textes dar; zahlreiche
Literaturangaben weisen auf die Originalarbeiten
hin. Allen denen, die sich eingehend über diese
neue Beleuchtungsart , deren zukünftige Entwick-
lungsmöglichkeit sich heute noch nicht übersehen
läßt, informieren wollen, sei es zum Studium an-
gelegentlich empfohlen. K. Seh.
Prof Dr. August Forel, Die sexuelle Frage.
Gekürzte Volksausgabe, I. bis 20. Tausend.
Verlag von Ernst Reinhardt in München, 1913-
— Preis kartonniert Mk. 2.80.
448
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 28
Forel 's Buch über die sexuelle Frage ist ein
so kekanntes und in vielen Auflagen so allgemein
verbreitetes Werk, daß eine Besprechung seines
Inhalts an dieser Stelle weder vonnölen noch selbst
angebracht erscheinen kann. Die Volksausgabe
ist in den mehr wissenschaftlichen Erörterungen
vielfach gekürzt und auch im übrigen, z. B. durch
ein Fremdwörterverzeichnis am Schlüsse, dem
Verständnis möglichst weiter Kreise näher gerückt
worden.
Forel's hauptsächlichster Beweggrund für die
Schaffung einer derartigen billigen und allgemein
verständlichen Ausgabe ist ein sozialer. Die gegen-
wärtige gesellschaftliche und gesetzliche Regelung
der ganzen Materie erscheint ihm in vieler Hin-
sicht derartig verfehlt und — bestenfalls — ver-
altet, daß er nur in einer Änderung der gesamten
öffentlichen IVleinung, die dann neue und bessere
Sitten und Gesetze nach sich ziehen müsse, den
Weg zu einer Gesundung erblickt und erhofft.
Man weiß, daß der Gelehrte mit dieser Auffassung
vielen unter uns aus dem Herzen redet. Wenige
werden heute tatsächlich so glücklich sein, daß
sie nicht die immer noch steigende Misere unserer
sexuellen Verhältnisse irgendwie am eigenen Leibe
und eigener Seele zu fühlen bekommen hätten.
Die Erschwerung und daher Verzögerung der
Eheschließung speist direkt oder auf dem Umwege
über das „Verhältnis" den Sumpf der Prostitution,
dieser erhält und verbreitet neben anderen Scheuß-
lichkeiten die venerischen Krankheiten in üppigem
Flor, von dort aus werden diese wiederum in die
Familien verschleppt und oft unbeschreibliches
Unheil angerichtet — und so steigern sich die
Mißgeschicke, die recht eigentlich am Marke der
zivilisierten Menschheit zehren, gegenseitig. Von
der Rolle, die (lold, sozialer Ehrgeiz usw. usw.
in der ganzen Erage spielen, gar nicht zu reden.
Ob bloße Belehrung viel helfen kann? Dies
ist die Frage, die zweifelnd ein jeder tun möchte,
dem es gegenwärtig ist, wie tief jene Schäden
mit der gesamten Gestaltung unserer gesellschaft-
lichen Ordnung zusammenhängen, und der be-
gründeten Zweifel hegt, ob irgendeine gesellschaft-
liche Ordnung, die mit vielen Millionen Einzelner
zu rechnen gezwungen ist, gerade auf diesem Ge-
biete eine völlige Wandlung zu schaffen vermögen
könnte. Bisher wenigstens gehören alle diesbe-
züglichen Spekulationen dem Gebiete der Uto-
pien an.
Diesem skeptischen Gefühle gegenüber, dem
sich weniestens der Referent nicht entziehen kann.
darf jedoch mit Zuversicht behauptet werden, daß
Belehrung ein erster Schritt ist, und daß sie auch
wohl vermag, dem und jenem wirklich zu helfen,
sei es, daß sie ihn in dem Entschlüsse stählt, sich
der Prostitution in jeder Weise fern zu halten, sei
es, daß sie seine Energie anspornt, möglichst bald
den Hafen einer gesunden Ehe zu erreichen. Und
so sei denn dem Werke, das im einzelnen, wie
bekannt, reiche Belehrung und reichen Stoff zum
Nachdenken enthält, auch in dieser Form weiteste
Verbreitung und soviel Nutzen, als ein Buch über
diesen Gegenstand nur zu stiften vermag, von
Herzen angewünscht.
Dr. Waldemar v. Wasielewski.
Literatur.
Lehrbuch der vergleichenden mikroskopischen Anatomie,
lierausgegeben von Prof. Dr. A. Oppel. S. Teil : Die Hypo-
physis cerebri von Dr. W. Siendell. Mit 92 Textabbildungen.
Jena '14, G. Fischer. S Mk.
Ostwald's Klassiker d. exakt. Wissensch. Nr. 194. Die
erste Integralrechnung. Eine .Auswahl aus Job. Bernoulli's
Mathematischen Vorlesungen über die Methode der Integrale
und anderes. Aus dem lateinischen übersetzt und herausge-
geben von Dr. Gerh. Kowalewski. Mit 119 Texlfig. Leipzig
und Berlin, W. Engelmann. Geb. 5 Mk.
Kryptogamenflora für Anfänger. Bd. IV, I. Die Algen.
I. Abteil, von Prof. Dr. Gustav Lindau. Mit 489 Fig. i. Text.
Berlin '14, J. Springer. Geb. 7,80 Mk.
Meyer, Friedrich, Der deutsche Ubstbau. Mit 79 Abb.
und 3 Tafeln. Leipzig '14, Quelle & Meyer. Geb. 1,80 Mk.
Verhandlungen der k. k. zool.-botan. Gesellschaft in
Wien. LXIV. Band. '14. I. und 2. Heft. Enthalt u. a. :
Uandlirsch, Anton, Eine interessante Crustaceenform aus
der Trias der Vogesen. Michaelsen, Prof. Dr. W. , Ein
neuer Regenwurm aus Griechenland. Heikertinger, Franz,
Untersuchungen über das Käfcrleben der Mediterranflora
Österreichs. Karny, H., Beilrag zur Thysanopterenfauna des
Medilerrangebietes. Verhoeff, Dr. K. W. , Einige Chilo-
gnalhen aus Palästina.
Schlechter, Dr. Rudolf, Die Orchideen, ihre Beschrei-
bung, Kultur und Züchtung. Handbuch für Orchideenlieb-
haber, Kultivateure und Botaniker. Lieferung I (vollständig
in 10 Lieferungen). Mit 12 in Vierfarbendruck nach farbigen
Naturaufnahmen hergestellten Tafeln und über 200 Texlabbild.
Berlin '14, P. Parey. — 2,50 Mk.
Dahl, Prof. Dr. F'r., Kurze Anleitung zum wissenschaft-
lichen Sammeln und Konservieren von Tieren. 3. verb. und
vermehrte Auflage. Mit 274 Abbild, im Text. Jena '14,
G. Fischer. Geb. 4,80 Mk.
Ostwald, Wilhelm, Die Schule der Chemie. Erste
Einführung in die Chemie für jedermann. 3. verb. Aufl. Mit
74 Tcxttig. Braunschweig '14, Fr. Vieweg & Sohn. Geb.
5,50 Mk.
Ulmer, Dr. Georg, Aus Seen und Bächen. Die niedere
Tierwelt unserer Gewässer. Mit zahlr. Textabbild, und 3 Taf.
I^eipzig '14, Quelle & Meyer. Geb. i,So Mk.
Sticker's J., Monistische Möglichkeiten. Haeckel, l->st-
wald und der Monistenbund. Dresden '14, B. Sturm.
Inhalt; Vogler; Vererbung bei vegetativer Vermehrung. Schutt: Reflexion und spektrale Zerlegung der Röntgenstrahlen.
— Einzelberichte: Schönborn: Überblick über unsere gegenwärtigen Kenntnisse über die Delta-Strahlen. Klaalsch:
Anlange von Kunst und Religion in der Urmenschheit. Umpleby, Schaller und Larsen: Custcril. Bryandt:
Nutzen und Schaden der westlichen Wiesenlerche. Nashan: Beziehungen zwischen Farbe, Spektrum und Parallaxe
der Fixsterne. II o f f m e is t er : Sternschnuppen. Meinardus: über Aufgaben und Probleme der meteorologischen
Forschung in der Arktis. — Bücberbesprechungen : Hughes: Photo-Eleclricity. Wölbung: Die Bestimmungs-
melhoden des Arsens, Antimons und Zinns und ihre Trennung von den anderen Elementen. Geologische Karle von
Preußen und benachbarten Bundesstaaten. Van in o: Handbuch der präparativen Chemie. Pole: Die Quarzlampe,
ihre Entwicklung und ihr heutiger Stand. F'orel: Die sexuelle Frage. — Literatur: Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. M i e h e in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lipperl & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 19. Juli 1914.
Nummer 29.
Grundzüge einer vergleichenden Geo- und Aphroditographie.
(Erd- und Abendsternkunde.)
Von ®r. Dr. C. Schoy.
[Nachdruck verboten.] Mit I Ti
Im Jahrgang 191 3, Heft Nr. 11 dieser Zeit-
schrift habe ich versucht, aus unseren wenigen
einigermaßen als gesichert geltenden Kenntnissen
vom Planeten Venus insbesondere den Schluß zu
ziehen, daß ihm ebenfalls ein Achsenumschwung
eignet wie unserer Erde. Gleichzeitig habe ich
darauf hingewiesen, daß es nicht immer ratsam
ist, irdische Analoga da zu suchen, wo sie möglich
oder gar wahrscheinlich sind. Allein weiteres
Nachdenken hat mich zu der Ansicht geführt, daß,
solange uns keine anderen als irdische Erfahrungs-
tatsachen zur Seite stehen, wir unmöglich anders
als vergleichend und spekulativ vorgehen
können; mithin diese Methode zunächst wissen-
schaftliche Berechtigung hat. Freilich sind ihre
Ergebnisse dafür auch nur hypothetischer Art.
Zunächst sei in Kürze hier alles aufgeführt,
was wir von Venus wissen : Größe und Dichte
sind nahezu gleich der der Erde. Die Entfernung
von der Sonne ist rund 14 Mill. Meilen, diejenige
der Erde hingegen 20 Mill. Meilen. Aus dieser
Tatsache folgt, daß die Sonnenbestrahlung am
oberen Rand der Venusatmosphäre 4 mal stärker
ist, als an der Grenze der Erdatmosphäre ^).
Daraus ergibt sich, auf dem Abendstern, ein
Luftmeer ganz ähnlich dem unsrigen vorausgesetzt,
extügur.
eine etwa 4 mal stärkere Beleuchtung und Er-
wärmung seiner Oberfläche, also am Äquator eine
mittlere Jahreswärme von ca. 100" C. Aber diese
Zahl wird ganz erheblich modifiziert durch den
zweifellos viel dichteren Luftmantel, in den sich
Venus hüllt. Ich habe für dessen Existenz in dem
schon erwähnten Aufsatz mehrere Belege gegeben;
hier sei noch hinzugefügt, daß C. H. Vogel 1871
in Bothkamp eine 30 — 40 Grad breite sich an die
Lichtgrenze anschließende Zone im Dämmerlicht
erblickte, und nach den neuesten Beobachtungen
von A. Fock in Kopenhagen (Astron. Nachrichten
191 3) ragte die eine Spitze der schmalen Sichel
ungefähr 1 5 Grad, die andere bis zu 60 Grad über
ihre mathematische Grenze hinaus in die dunkle
Nachtseite des Planeten hinein. Wenn solche be-
trächtlichen Partien der Atmosphäre noch vom
Sonnenlicht auf direktem Wege erreicht werden
sollen, so muß man der letzteren eine außerordent-
lich große lichtbrechende Kraft zuschreiben, ver-
möge deren sie imstande ist, einen Lichtstrahl
unter Umständen in eine stark gekrümmte Kurve
umzuwandeln. Dazu muß aber das Luftmeer ent-
•) Nicht 2'/-) mal, wie ich in meinem Aufsatz angab und
wie sich in vielen Büchern findet. Ist nämlich in der Figur o
der Sonnenradius und sind y und i/- die Winkel, unter denen
derselbe von der Erde, resp. Venus aus gesehen wird, so ist
^ ' 20 ^ ' 14
mithin
tgy^U^ 7
tg <!■ 20 10'
und da bei so kleinen Winkeln die Bogen '/ und 1" selbst
statt der Tangenten gesetzt werden dürfen:
10
V' = yy
Also erblickt das Auge von 9 aus den Sonnenradius — mal
größer als von g aus. Der Inhalt der scheinbaren Sonnen-
/io\2
Scheibe ist in 5 : F = </V, in 9 : Fj = — p^n; mithin ist
/I0\2
Fl = I — -F^zF (rund). Nach dem Grundsatz der Photo-
metrie verhalten sich aber die Beleuchtungsintensitüten Ji und
J in 9 und A wie ''' : ''„ d. i. ^' = ^, also
14" 20^ J
JO'
Ji=J-2- 2 =4-J (--nnd).
weder sehr hoch und dicht oder sehr kalt sein.
So würde ein Lichtstrahl in der Luft die ganze
Erde umkreisen können, wenn jene eine Tempe-
ratur von — 209" C besäße. Das gleiche würde
auch eintreffen, wenn die Masse der Atmosphäre
bei o" C um das 4,2866 fache vermehrt würde.
Eine so dichte Atmosphäre muß natürlich
einen großen Teil des Sonnenlichts beim Durch-
gang verschlucken, selbst wenn sie wolkenfrei ist.
Daß sie umgekehrt bei reichlichem Wasserdampf-
gehalt — und dieser ist in der Atmosphäre der
Venus nachgewiesen — besonders in größeren
Höhen häufig Kondensationsprodukte enthalten
wird, ist fast unausbleiblich. Die große Albedo
der Venus wird ja eben damit erklärt, daß das
Sonnenlicht zum größten Teil schon an der
Wolkenhülle reflektiert werde. Wenn Venus aber
gar eine spiegelnde Kugel wäre, wie Christie
(vgl. meinen ersten Aufsatz) anzunehmen geneigt
ist, so müßte die Reflexion des Sonnenlichtes
i
450
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr. 29
höchstwahrscheinlich an einer flüssigen Oberfläche
erfolgen. Daß jedoch ein reflektiertes Sonnen-
bildchen, dessen Größe und Intensität gleich der
scheinbaren Größe und Helligkeit der Sonne auf
der Venus sein müßte, hier auf Erden noch sicht-
bar sein würde, ist kaum glaublich.
Was läßt sich nun als physikalisch möglich
aus diesen Prämissen deduzieren? Welche meteo-
rologischen und klimatischen Möglichkeiten können
wir aus denselben erschließen? Hierzu müssen
wir in erster Linie wieder auf irdische Verhält-
nisse zurückgreifen. Nach vielen Beobachtungen
auf den verschiedensten Höhenstationen hat sich
ergeben, daß die Erdatmosphäre von senkrecht
aus dem Zenit des Beobachters einfallendem Licht
nur 83,5 % durchläßt und nahezu 17 % verschluckt
oder reflektiert. Nach Hann (Handbuch der
Klimatologie i. Bd., 3. Aufl. 1908, S. 105) ist der
Transmissionskoeffizient der gegenwärtigen Atmo-
sphäre für Wärmestrahlen nur 0,7 , so daß also
30 "/o tlcr Sonnenwärme nicht zum Erdboden ge-
langen können. Je schiefer die Sonnenstrahlen
einfallen , desto länger ist ihr Weg in der Luft
und desto mehr wird ihre Licht- und Wärme-
menge geschwächt.
Verdoppeln wir nun einmal diese 2 Zahlen-
werte für die Atmosphäre der Venus, so würden
also aus dem Zenit 66 "j^ Sonnenlicht hernieder-
fluten, hingegen 60 "/(, der Wärmemenge verloren
gehen, d. h. die Tageshelligkeit wäre bei zenitalem
Sonnenstand „ - = ^ — = 3,1 mal so groß als
83-S 835
auf der Erde, die augenblickliche Erwärmung bei
demselben Sonnenstand = i^ 2 - derjeni-
70 7
gen auf der Erde. Setzt man den Transmissions-
koeffizienten der Erdatmosphäre für Wärme = 0,78
(der nur für rote Strahlen gilt), so entsprechen
sich folgende Zahlenwerte:
durchgelassene Wärme
in Prozenten:
0%
5%
17 "/o
31%
44 »/o
55 7«
65 7o
72»/«
76 7o
90" 78 \
Wir sehen hieraus, daß auch auf der Venus bei
tieferen Sonnenständen sehr viel Licht (und noch
mehr Wärme) durch die Atmosphäre zurück-
gehalten wird, und dies um so mehr, als schiefer
auffallende Sonnenstrahlen infolge starker Krüm-
mung einen verhältnismäßig viel weiteren Weg
zurücklegen müssen als auf der Erde. Freilich
steht diesen großen Licht- und Wnrmeverlusten
wieder ein stark kompensierender h^aktor gegen-
über: die diffuse Strahlung des Tageshimmels. Das
So
nnenhöhe
0«
20»
30«
40»
so«
60"
700
80"
von der Luft verschluckte Licht wird Ursache
einer sekundären Licht- und Wärmequelle, und
besonders in höheren Breiten, wo die Zerstreuung
und Absorption der direkten Strahlung bei tiefe-
rem Sonnenstand sehr groß ist, wird die diffuse
Strahlung des Himmels von großer Wichtigkeit.
Es ist das Licht, das wir auch im Schatten und
in unseren Wohnräumen haben, und das bei Ab-
wesenheit der Atmosphäre fehlen würde.
Folgende Zahlen geben das Verhältnis zwischen
der Intensität des direkten Sonnenlichts und dem
diffusen Himmelslicht für verschiedene Sonnen-
höhen (auf die Erde bezogen):
höhe"' '°" ^°" 3°° 4°" 5°° ^°" 7°"
sl°aWung 37o iS7o ^S«/« 4i7o 52''/o 62% 690/„
"hcht"''' 77o ii7o 14% 16% I7'V„ 18"/,, .80/„
Je stärker absorbierend die Venusatmosphäre wirkt,
desto mehr verschieben sich vorstehende Zahl-
verhältnisse zugunsten der diffusen Himmelsstrah-
lung. Nimmt man noch hinzu, daß wahrschein-
lich auch die Venusatmosphäre die blauen Strahlen-
gattungen des Sonnenlichts stark verschluckt, die
roten aber am meisten durchläßt, so könnte man
auf der Oberfläche des Abendsterns — wolken-
losen oder nur teilweise bedeckten Himmel voraus-
gesetzt — sich folgendes Bild ausmalen : Als trüb-
roter und durch starke Horizontalrefraktion sehr
verzerrter Ball erhebt sich die Sonne, briciit viel-
leicht erst in größerer Höhe über dem Horizont
aus dem Dunstschleier hervor, von überwältigen-
dem Morgenrot begleitet, das über einen großen
Teil des Himmels hinflutet. Erst um Mittag, und
auch dann nur wenige Stunden, glänzt und gleißt
das gewaltige Tagesgestirn und der ganze Himmel
in weißem Lichte, so daß die Schatten fast gänz-
lich schwinden, wie diese überhaupt nur schwache
und verschwommene „Halbschatten" sein werden.
Schon bei viel höherem Sonnenstand als auf der
Erde wird die starke Absorption der Venusatmo-
sphäre in Erscheinung treten und sehr zeitig das
Abendrot herbeiführen, hinter dem sich zuletzt die
sinkende Sonne vollständig verbirgt. Aber selbst
aus zenitnahen Teilen des Firmaments grüßen
ihre in gewaltigem Bogen herumgeführten Strahlen
noch lange herab, sodaß das Dämmerungsphänomen
auf dem Abendstern nicht nur durch ein gut Teil
der Nacht hindurch währt, sondern evtl. auch in-
folge des sicher sehr kräftigen Gegenscheins am
Osthimmel ein an Intensität ab- und wieder zu-
nehmendes Farbenspiel darstellt.
Hingegen dürfte der Anblick des Sternhimmels
weniger majestätisch sein. Auf- und Untergänge
der Sterne sind wohl nicht sichtbar; nur der
zenitale Teil des Nachthimmels läßt das Sternen-
licht zum Auge des Beobachters gelangen. Ent-
sprechend ihrer Helligkeit verschwinden sie in
einer gewissen Höhe über dem Horizont im Dunst-
kreis.
Die Erwärmung der Luft wird sich infolge
N. F. Xm. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
451
der reichlichen dift'usen Himnielsstrahlung durch
große Gleichmäßigkeit auszeichnen und die Tem-
peratur im Schatten fast dieselbe sein wie in der
Sonne. Die nächtliche Abkühlung kann nicht
merklich sein, da VVasserdampf auf die Ein- und
Ausstrahlung verhindernd wirkt. Aus diesen An-
nahmen würde ein Zustand großer Windstille folgen.
Das barometrische Gleichgewicht muß aber sehr
gestört werden, wenn eine Gegend bei hohem
Sonnenstand zur Mittagszeit klaren, die andere
bedeckten Himmel hat; die elektrischen, barischen
und thermischen Ausgleichungen werden dann
wohl viel heftiger sein als bei uns.
Und welche Niederschlagsverhältnisse werden
dort oben voraussichtlich statthaben ? Um diese
Frage einigermaßen richtig beantworten zu können,
müßte man irgendetwas von der Wasser- und
Landverteilung auf der Oberfläche unseres Nachbar-
planeten wissen. Eine warme Luft vermag viel
mehr Wasserdampf aufzunehmen als eine kühlere.
Die sehr dichten unteren Luftmassen, die zudem
unter mindestens doppeltem Atmosphärendruck
stehen, werden über Wassern lagernd einen ganz
enormen Feuchtigkeitsgehalt aufweisen. Andrer-
seits steht dem Herabfallen der Regentropfen die
Dichte der Luft im Wege, die Wasserkugeln von
nicht unbeträchtlichen Dimensionen noch zu tragen
vermag. Ob herabfallender Regen überhaupt den
Boden in Tropfenform erreicht, ist eine Frage;
vielleicht zerstiebt er vorher als triefender Nebel.
Für die meteorologische Optik dürfte das
Studium der Venusatmosphäre ganz besonders
interessant sein. Brechungen und Dispersionen
des Lichtes und optische Anomalien werden hier
gar oft zu den merkwürdigsten Regenbogen-
erscheinungen und Luftspiegelungen, zu kräftigem
Wasserziehen der Sonne und Hofbildung um
dieselbe führen.
In den dichten Luftschichten können allerlei
Fremdkörper sich schwebend erhalten, die bei uns
bald zu Boden sinken. Hier sei nur an die Rauch-
und Aschenprodukte eines Vulkanausbruchs er-
innert. Wenn dort oben die inneren Gluten in
Wallung geraten und Feuersäulen himmelan schleu-
dern, dann werden noch viel mehr als bei uns
beim Ausbruch des Krakatau (1883) starke Trübun-
gen der Venusatmosphäre in anormalen Dämme-
rungserscheinungen lange nachwirken. Ob nicht
das öfters wahrgenommene schwache Leuchten
der Nachtseite des Planeten hiermit zusammen-
hängen mag?
Auch lassen sich leicht zahlreiche physikalische
Konsequenzen aus der großen Dichte der Luft
ziehen. Nicht nur der fallende Regentropfen,
sondern sämtliche fallenden oder in der Luft fliegen-
den Körper erfahren einen so bedeutenden Wider-
stand, daß die Endgeschwindigkeit beim freien
Fall, auch aus großen Höhen, bei den meisten
Körpern nur eine ganz mäßige sein wird. Die
parabolische Bahn geworfener Steine, abgeschosse-
ner Projektile oder springender Wasserstrahlen
wird in eine ganz ausgesprochen ballistische Kurve
umgewandelt, so daß die Wurfweite und -höhe
unter den gleichen Anfangsbedingungen wie auf
Erden viel geringer sein müssen. Der Steilwinkel
beim Niedergang übertrifft stets den Elevations-
winkel um ein Beträchtliches. Der große Atmo-
sphärendruck verzögert das Verdunsten und Kochen
des Wassers. Schallstärke und Schallgeschwindig-
keit werden in der Luft größer sein als bei uns;
hingegen ist die Durchsichtigkeit derselben wahr-
scheinlich geringer trotz der — übrigens nicht
immer zutreffenden — Annahme, daß Wasser-
dampf dieselbe erhöht.
' ; So reizvoll es nun erscheinen mag, die Frage
nach der Bewoh n barkeit unseres Nachbar-
planeten im Detail auszumalen, uns mit Vernunft
begabte menschliche Wesen in einer reichen F'auna
und üppigen Flora zu denken, so möchten wir
trotzdem diesem so beliebten Thema hier grund-
sätzlich keinen Raum geben. Nur einigen bei
näherem Zusehen ganz haltlosen aber viel ver-
breiteten Ansichten möchten wir entgegentreten.
Unser Versuch, Licht- und Wärmeverhältnisse auf
dem Abendstern etwas näher zu illustrieren, hat
ergeben, daß eine Bewohnbarkeit durchaus mög-
lich ist. Die stets wiederkehrende Lesart, organi-
sches Leben sei dort oben unmöglich wegen der
100" Hitze, die Zeit der Bewohnbarkeit des Pla-
neten sei noch nicht gekommen, die Erde sei
diesbezüglich das Mittelglied zwischen Venus und
Mars usw. entbehrt jeglicher wissenschaftlichen
Begründung. Wir haben es unterlassen, unter
Annahme eines möglichen Transmissionskoeffi-
zienten für die Venusatmosphäre eine Berechnung
der daraus folgenden Wärmezonen vorzunehmen,
weil sich bei der Unsicherheit dieses Koeffizienten
die mühevolle Arbeit nicht lohnen würde. Aber
es ist ein Leichtes, diese Zahl so zu wählen, daß
für das organische Leben auf Venus durchaus
günstige Bedingungen resultieren, wenn nur auch
dort oben Land- und Wasserfläclien abwechseln.
Würden die ganze Oberfläche ziemlich tiefe Ozeane
umlagern, so wäre die Hutreibung infolge der
großen Sonnennähe so beträchtlich , daß sie die
Rotation des Planeten sehr verlangsamt, wenn
nicht gar schon zum ewigen Stillstand gebracht
hätte. Diesem Zustand widerspricht aber das in
meinem ersten Aufsatz Ausgeführte. Lebende
Wesen, deren Fortbewegung keine kriechende ist,
haben in der Luft, besonders wenn die Bewegung
eine lebhafte ist, wie die unserer Schnellläufer
und Flieger, einen enormen Widerstand zu über-
winden. Dazu wird sie die Natur, die ja „mehr
Mittel hat als der arme Mensch ahnen kann" aus-
gerüstet haben durch eigenartige Flug- und At-
mungsorgane und durch eine zweckentsprechende
Körpergestalt.
Ganz von selbst wird dieses Luftmeer denkende
Wesen zur Luftschiffahrt geführt haben, in der
uns der Venusbewohner vielleicht in jeder Weise
voraus ist. Und will er sich an dem ungetrübten
Anblick unserer Mutter Erde und ihres lieblichen
Begleiters, des Mondes, erfreuen, so steigt er als
Aeronaut hinauf über den trüben Dunstkreis ins
lichte Blau.
4S2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 29
Das Verhalteu der Bieuciiköiiigiii und anderer Hj nienoptereuweibclieu bei der Eiablage.
[Nachdruck verboten.]
Seit Dzierzon und Siebold um die Mitte
des vorigen Jahrhunderts den Beweis erbrachten,
daß die männlichen Tiere im Bienenstaat, die
Drohnen, aus unbefruchteten Eiern ihren Ursprung
nehmen, sind unsere Kenntnisse über die Fort-
pflanzungsverhältnisse der Hymenopteren durch zahl-
reiche biologische und zytologische Untersuchungen
sehr erweitert worden. Es hat sich ergeben, daß
die Dzierzon' sehe Lehre nicht nur für die Bienen
gilt. Nicht nur bei der Honigbiene entsteht das
männliche Geschlecht parthenogenetisch, es ist
ebenso bei den solitären Bienen, bei den Hummeln,
Wespen, Ameisen usw., d. h. wahrscheinlich in
der ganzen Gruppe der Hymenopteren. ^j
Das Sperma, das die Hj-menoptcrenweibchen
bei der Begattung empfangen, gelangt in das
Samenbläschen, das Receptaculum seminis, und
kann hier bei manchen jahrelang am Leben bleiben.
Ein sehr komplizierter Apparat, die „Spermapumpe",
ermöglicht es dem Hymenopterenweibchen, kleinere
Portionen von Sperma aus dem Receptaculum in
den Eileiter zu befördern, und diese Samenfäden
befruchten dann die abzulegenden Eier. Tritt
aber bei der Eiablage die Spermapumpe nicht in
Funktion, so verläßt das Ei unbefruchtet die Scheide.
Wie aber, so fragen wir uns bei diesen Tat-
sachen, ist es möglich, daß die Spermapumpe
während der Eiablage bald funktioniert, bald nicht
funktioniert? Vermag das Hymenopterenweibchen
willkürlich die Spermapumpe in Tätigkeit zu
versetzen, oder wird es durch die äußeren Ver-
hältnisse — die Bienenkönigin etwa durch die
Form der Zelle, die sie gerade „bestiftet" ■ — ge-
zwungen, ein befruchtetes bzw. ein unbefruch-
tetes Ei abzusetzen?
Es ist nicht verwunderlich, daß bereits Dzier-
zon und S i e b o 1 d sich diese Fragen vorlegten
und eine Antwort auf sie zu geben versuchten.
Während die beiden Begründer der Dzierzon-
schen Lehre aber überzeugt waren, daß die Bienen-
königin die Fähigkeit besitzt, ,,nach Willkür männ-
liche oder weibliche Eier zu legen", -) stellten sich
viele ihrer Nachfolger auf den entgegengesetzten
Standpunkt. Die Größe der verschiedenen Zellen
sollte es sein, die das Verhalten der Königin be-
stimmt. Steckt die Königin ihren Hinterleib in
eine enge Arbeiterinnenzelle, sagte man, so wird
auf diesen ein Druck ausgeübt, durch den ein
Reflex ausgelöst wir, die Spermapumpe tritt in
Funktion. Bestiftet die Königin hingegen eine
weite Drohnenzelle, so unterbleibt dieser Druck
auf den Hinterleib, das Ei wird unbefruchtet ab-
gelegt. So schreibt z. B. Petrunkewitsch in
seiner Arbeit über die Reifune des Bieneneies:
Von Dr. Hans Nachtsheim, Freiburg i. B.
„Je nach dem Eindruck wird also die Königin
reflektiv die Wirkung des den Ausführungsgang
des Receptaculums schließenden Sphinkters ^) auf-
heben oder denselben in tonischer Kontraktion
lassen, und ihr Wille wird dabei gar nicht in An-
spruch genommen, ebenso wie beim Menschen
z. B. der Geruch, ja selbst der Anblick einer schmack-
haften Speise die Absonderung des Magensaftes
hervorrufen kann, während der Geruch oder der
Anblick von etwas Ekelhaftem nicht nur keinen
sekretorischen Eindruck auf die Tätigkeit der
Magenschleimhaut ausübt, sondern vielmehr oft
Brechbewegungen des Zwerchfells und der Bauch-
muskeln bewirkt. Von einer bewußten Verschieden-
heit in der Art der Eiablage der Königin kann
also keine Rede sein." -')
Zahlreiche Beobachtungen und Experimente
am Bienenstand zeigen indessen die Unhaltbarkeit
dieser Ansicht. Die Bienenkönigin vermag in der
Tat über den Charakter des abzulegenden Eies
zu entscheiden, und auch hier wieder hat es sich
gezeigt, daß nicht die Bienenkönigin allein diese
Fähigkeit besitzt, sie kommt vielmehr auch anderen
Hymenopterenweibchen zu.
Ein bereits des öfteren ausgeführtes Experiment
beweist sehr schön, daß nicht die Größe der
Zelle die Bienenkönigin zur Ablage eines befruch-
teten resp. unbefruchteten Eies zwingt. Setzt
man ein Bienenvolk auf lauter Drohnenbau, so
ist die Königin gezwungen, alle ihre Eier in Drohnen-
zellen abzulegen. Wenn Petrunkewitsch's
Ansicht richtig wäre, müßten dann lauter Drohnen
entstehen, da ja die Königin nur unbefruchtete
P^ier absetzen kann. Das ist aber durchaus nicht
der P"all. Besonders schlagend wird das Resultat
dieses Experimentes sein, wenn wir es im Herbst
anstellen. Der Trieb, die Drohnenzellen zu be-
stiften, ist normalerweise um diese Jahreszeit nicht
mehr vorhanden, und die auf Drohnenzellen ge-
setzte Königin zaudert zunächst mit der Eiablage.
Je nach den gegebenen Verhältnissen wird aber
der Legedrang früher oder später doch so groß,
daß sie schließlich die Drohnenzellen bestiftet.
Und was entsteht? Größtenteils Arbeiterinnen,
nur wenige Drohnen entschlüpfen den Drohnen-
zellen. Die Königin hat also befruchtete Eier in
die Drohnenzellen gelegt, die Spermapumpe ist
in Tätigkeit getreten, ohne daß ein Druck auf
den Hinterleib der Königin von den Zellwänden
ausgeübt worden ist.
Ein ähnliches Resultat erhalten wir bei einem
anderen Experiment. Hängt man im Frühjahr,
wenn die Bienen große Baulust zeigen, eine so-
genannte künstliche Mittelwand, wie man sie den
') Siehe Nach tsh eim, H., Cytologische Studien über die
Geschlechtsbestimmung bei der Honigbiene (Apis mellilica L.).
Arch. f. Zellf., II. Bd., 1913.
■') Siebold, C. Th. E. v. , Wahre Parthenogenesis bei
Schmetterlingen und Bienen. Ein Beitrag zur Fortpflanzungs-
geschichte der Tiere. Leipzig 1856.
') Der hier erwähnte Sphinkter existiert nicht; Petrun-
kewitsch war die Einrichtung der Spermapumpe noch un-
bekannt.
2) Petrunkewitsch, A. , Die Richtungskörper und ihr
Schicksal im befruchteten und unbefruchteten Bienenei. Zool.
Jahrb., Abt. f. Anat., 14. Bd., 1901.
N. F. Xin. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
453
Bienen gibt, um ihnen einen Teil der Bauarbeit
zu ersparen, mitten in das Brutiiest, so beginnen
die Bienen sogleich, die Wabe auszubauen. Im
Brutnest wird jedoch keine leere Wabe geduldet,
und zugleich ist der Legedrang der Königin im
Frühjahr so groß, daß sie alsbald anfängt, die
Wabe zu bestiften. Noch sind die Arbeiterinnen
eifrig mit Bauen beschäftigt, und schon sehen wir
die wei(3en „Stiftchen" in den noch unfertigen
Zellen. Häufig habe ich bestiftete Zellen gefunden,
welche die Bienen zwar zu bearbeiten begonnen
hatten, deren Seitenwände aber kaum bis zur
Hälfte der normalen Zellhöhe fertiggestellt waren.
Die aus diesen Eiern ausschlüpfenden Larven ent-
wickelten sich zu normalen Arbeiterinnen ; die
Eier waren also befruchtet, obwohl von der Aus-
übung eines Druckes auf den Hinterleib der Königin
auch hier nicht die Rede sein konnte.
Auch Königinnenzellen werden nicht selten in
unfertigem Zustande bestiftet, als sogenannte
„Weiselnäpfchen". Diese besitzen die charak-
teristische eicheiförmige Gestalt der VVeiselwiegen
noch nicht, es ist nur der Boden der Wiege vor-
handen, die „Cupula" der Eichel, wenn man im
Bilde bleiben will.
Daß eine Königin in diesem Augenblick eine
.\rbeiterinnenzelle, im nächsten Moment eine
Drohnenzelle normal zu bestiften vermag, ist von
verschiedenen Seiten behauptet worden ; vom
theoretischen Standpunkte aus ist ein solches Ver-
halten auch durchaus als möglich zu betrachten.
Gewöhnlich pflegt indessen, soweit meine Be-
obachtungen reichen, ein solcher schroffer Wechsel
der Zellart bei der Eiablage nicht stattzufinden.
Die Königin legt ihre Eier periodenweise ab, eine
Zeitlang bestiftet sie Arbeiterinnenzellen, dann
kommt vielleicht eine Periode, in der sie unbe-
fruchtete Eier absetzt. Daß normalerweise nicht
Drohnen- und .'^rbeiterinneneier in buntem Wechsel
gelegt werden, wird schon durch die Verteilung
der einzelnen Zellen im Stocke unmöglich gemacht.
Die meisten Waben setzen sich ja überhaupt nur
aus Arbeiterinnenzellen zusammen, wo Drohnen-
zellen vorhanden sind, stehen diese in kleineren
oder größeren Gruppen beisammen, bilden mit-
unter auch einmal eine ganze Wabe. Der Bienen-
züchter allerdings, der möglichst viel Honig ernten
möchte, sieht solche Waben ohne große Freude
entstehen, er betrachtet ein Heer von Drohnen
als lästigen Konsumenten und sucht ihre Zahl
nach Möglichkeit zu beschränken. Vollständig
jedoch — es wäre das ja aber auch wieder
nicht im Interesse des Bienenzüchters gelegen —
läßt sich unter gewissen Verhältnissen die Drohnen-
produklion nicht unterdrücken. Es ist allgemein
bekannt, daß nicht zu allen Zeiten im Bienenstaat
männliche Tiere erzeugt werden, aber wenn im
Frühjahr das Volk sehr individuenreich ist, wenn
die Tracht- und Temperaturverhältnisse günstige
sind, so regt sich bei der Bienenkönigin der Trieb
zur Erzeugung von Drohnen. Wie mächtig dieser
Trieb zu solchen Zeiten werden kann, davon kann
man sich durch einen Versuch überzeugen. Ent-
fernt man nach Möglichkeit die Drohnenwaben,
so sucht die Königin im ganzen Stocke nach
Drohnenzellen, und häufig bestiftet sie dann ganz
abseits gelegene, z. B. ganz am Rande der Wabe
gelegene Zellen, die normalerweise überhaupt nicht
benutzt werden. Die Sucht der Königin, in der
Schwarmzeit Drohneneier abzulegen, wird sogar,
wie mir ein Imker mitteilt, in der Praxis ausgenützt,
um sich das Ausfangen der Königin zu erleichtern.
Hängt man eine Drohnenwabe als letzte oder
vorletzte Wabe zur Schwarmzeit in den Stock und
nimmt sie nach 12 — 16 Stunden vorsichtig wieder
heraus, so findet man sehr oft die Königin auf
der Wabe.
Die Hauptfaktoren, die bei der Bestiftung der
Drohnenzellen eine Rolle spielen, sind, wie gesagt,
Temperatur und Ernährung. Je günstiger die
Witterung ist, je länger infolgedessen die Tracht
dauert und im Bienenstock sich flüssiger, frisch
eingetragener Honig findet, desto länger hält der
Trieb an, Drohnen zu erzeugen, fast zu gleicher
Zeit hört in den verschiedenen Stöcken einer
Gegend dieser Trieb auf, fast zu gleicher Zeit
findet die „Drohnenschlacht" statt. Füttern wir
im Spätsommer, zu einer Zeit, wo die Drohnen-
schlacht normalerweise schon vorüber ist, ein
Bienenvolk stark mit Honig oder aufgelöstem
Zucker, so werden, falls auch die übrigen Be-
dingungen erfüllt sind, die Drohnenwaben trotz
der vorgeschrittenen Jahreszeit bestiftet. So er-
hielt ich z. B. im Jahre 191 1 durch intensives
Füttern, begünstigt durch das anhaltend gute
Wetter im Sommer dieses Jahres, noch Ende
August fast täglich zahlreiche Drohneneier, indem
ich eine Drohnenwabe mitten in das Brutnest
hing. Daß es sich hier tatsächlich um „Drohnen-
eier" handelte und nicht etwa um befruchtete
Eier in Drohnenzellen — vgl. das oben erwähnte
Experiment — , wurde zunächst einmal durch die
mikroskopische Untersuchung der Eier bewiesen,
dann aber auch durch die Beobachtung, daß den
Eiern, wenn sie in den Zellen belassen wurden,
eben nur Drohnenlarven entschlüpften. Während
jedoch die Drohnen eier von den Arbeiterinnen
genau ebenso gepflegt wurden wie die Eier in
Arbeiterinnenzellen, verhielten sie sich den Larven
gegenüber anders. Schon in den ersten Tagen,
nachdem sie ausgeschlüpft waren, wurden die
Drohnenlarven aus den Zellen entfernt, keine
einzige wurde aufgezogen. Der Trieb zur Auf-
zucht von Drohnen war also trotz des reichlichen
Futters bei den Arbeiterinnen nicht mehr vor-
handen ').
Bei den Wespen liegen die Verhältnisse insofern
etwas anders, als hier die männlichen Tiere nicht
im Frühjahr, sondern im Herbst erzeugt werden.
Im übrigen dürfte aber auch die Wespenkönigin
ebensowenig zur Ablage eines bestimmten Eies
gezwungen sein wie die Bienenkönigin. Die
') Das Verhalten der Arbeiterinnen spricht dafür, daß sie
die „Drohneneier" nicht von „Arbeiterinneneiern" zu unter-
scheiden vermögen, erst die Larven lassen sie das Geschlecht
der Tiere erkennen.
454
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xffl. Nr. 29
Spermapumpe zeigt nach den Untersuchungen
Adam 's') im Prinzip die gleiche Einrichtung,
daß aber die oben erwähnte Theorie Petrun-
kewitsch's auch für die Wespen keine Gültig-
hat, wird schon allein dadurch bewiesen, daß im
Wespenstaat überhaupt keine besonderen Zellen
für die männlichen Tiere vorhanden sind. Während
des Sommers finden wir in einem Wespennest,
z. B. einem Nest unserer gewönlichen Erdwespe,
Vespa germanica, nur eine Sorte von Zellen, in
denen sich die Arbeiterinnen entwickeln. Bis
Mitte August besteht die Kolonie nur aus der
Königin und den Arbeiterinnen. In der ersten
Hälfte des August beginnen die Arbeiterinnen,
eine oder zwei Waben mit größeren Zellen zu
bauen. Diese sind für die jungen Königinnen
bestimmt, welche überwintern, um im nächsten
Frühjahre neue Kolonien zu gründen. Zu gleicher
Zeit wie die jungen Königinnen erscheinen auch
die ersten Männchen. Diese entwickeln sich in
den gleichen Zellen wie die Arbeiterinnen. Während
also die Wespenkönigin bis Mitte .August ungefähr
— es wechselt das natürlich in den verschiedenen
lahren und auch in verschiedenen Gegenden —
nur befruchtete Eier abgelegt hat, beginnt sie um
diese Zeit, dieselben Zellen auch mit unbefruch-
teten Eiern zu besetzen. Aber auch hier enthalten
dann benachbarte Zellen nicht männliche und weib-
liche Larven in buntem Gemisch. Wir finden
vielmehr in einem Bezirke von ungefähr 30 — 40
Zellen in der Regel nur eine Sorte von Eiern
bzw. Larven oder Puppen. Liegen einmal zwischen
Arbeiterinnenlarven einige Drohnenlarven oder
-puppen, so lassen die Umstände meist darauf
schließen, daß diese von einer eierlegenden .Arbeiterin
stammen. Bei den Wespen scheinen ja überhaupt
,, Drohnenmütterchen" viel häufiger zu sein als bei
den Bienen.
Über die Verteilung der Geschlechter und das
Verhalten der solitärcn Bienen bei der Eiablage
besitzen wir höchst interessante Beobachtungen
des ausgezeichneten Insektenforschers I. H. Fabre, -)
Beobachtungen, die jüngst von Armbruster^)
größtenteils bestätigt und erweitert worden sind.
Die Untersuchungen Fabre's führen uns zunächst
einmal zu dem Schluß, daß auch hier die Männchen
wie bei der Honigbiene und den Wespen aus un-
befruchteten Eiern entstehen.*) Sodann aber zeigen
') Adam, A., Bau und Mechanismus des Receptaculum
seminis bei den Bienen, Wespen und -Ameisen. Zool. Jahrb.,
.Abt. f. Anat., 35. Bd., 1912.
') Fabre, J. H, Souvenirs entomologiques. Etudes sur
l'instinct et les moeurs des lusectes (3. serie). Paris 1890.
') Armbruster, L. , Chromosomenverhältnisse bei der
Spermatogenese solitärer .Apiden (Osmia cornuta Catr.). Bei-
träge zur Geschechtsbestimmungsfrage und zum Reduklions-
problem .\rch. f. Zellf., II. Bd., 1913.
*) Fabre freilich zog diesen Schluß, so naheliegend er
war und so gut dadurch die Tatsachen erklärt wurden, ledig-
lich infolge eines ganz unbegründeten Vorurteiles gegen die
D zierz on 'sehe Theorie nicht. ,,Die Theorie ist sehr ein-
fach, klar, bestechend" gesteht er, aber ,,da sie von Deutsch-
land kommt", kann er sie nur ,,mit großem Mißtrauen" be-
trachten. Die F,.\istenz entwicklungsunfähiger Eier ist schließ-
lich für ihn Grund genug, die Theorie abzulehnen : damit
sie uns, daß auch hier die Weibchen willkürlich
ein befruchtetes oder ein unbefruchtetes Ei zu
legen vermögen.
Die Osmien — speziell diese solitären Bienen
wurden eingehender untersucht — lieben als Nist-
plätze schachtartige Höhltingen, wie hohle Zweige,
Schilfrohr usw., auch ein Gartenschlauch erscheint
ihnen brauchbar, wie ich einmal sah. In solchen
Höhlungen bringen sie dann in einzelnen über-
einander liegenden Zellen ihre ganze Nach-
kommenschaft unter, etwa 15 Junge, normaler-
weise Männchen und Weibchen in ungefähr glei-
cher Zahl. Bei Osmia tridentata, deren Männ-
chen und Weibchen ungefähr gleich groß sind,
haben alle Zellen die gleiche Größe, und es ist
in der Verteilung der Männchen und Weibchen
im Nest keine Regel zu konstatieren. Bei den
übrigen Osmienarten und anderen solitären Bienen
hingegen sind die Weibchen größer als die Männ-
chen, diese entwickeln sich in kleineren Zellen,
die viel kärglicher mit Pollen und Honig versehen
werden als die großen für die Weibchen bestimmten
Zellen. Es ist nun eine interessante Tatsache, daß
diese Osmien in der Regel zuerst die großen Zellen
bauen, eine über der anderen, und sie mit — be-
fruchteten — Eiern versehen. Erst dann kommen
die kleinen Zellen mit den unbefruchteten Eiern.
Ich sagte „in der Regel" ist es so. Nicht selten
aber kommt es vor, daß der Platz, den die Osmia
sich für ihr Brutgeschäft ausgesucht hat, nicht
reicht für die ganze Nachkommenschaft, sie muß
diese dann auf zwei oder mehrere Plätze verteilen.
Die Osmien, die Fabre züchtete, legten ihre
Eier in leere Kammern von Nestern anderer Bienen
ab, sodann in kurze Glasröhrchen, Schnecken-
häuschen u. dgl., das er ihnen darbot. Und
wie verhielten sie sich jetzt hinsichtlich der Ver-
teilung di.r Geschlechter? Es zeigte sich, daß
die Osmia durchaus nicht einem Zwange folgt,
wenn sie in der Regel zuerst nur die befruchteten
Eier absetzt, dann die unbefruchteten. Man könnte
ja daran denken, ihr Spermienvorrat sei außer-
ordentlich gering, erschöpfe sich bereits durch die
Ablage weniger Eier, und es müßten dann natür-
lich die weiteren Eier unbefruchtet abgesetzt
werden; wenn auch die verschiedene Größe der
Männchen- und Weibchenzellen, sodann die Größe
des Hodens der Männchen und des Receptaculum
seminis der Weibchen sehr gegen diese Erklärung
spricht, so ist immerhin damit ihre Unrichtigkeit
noch nicht bewiesen. Bewiesen wird sie aber
dadurch, daß die Osmien in die kurzen Glasröhrchen
nicht etwa in die ersten beiden nur befruchtete
fclier, in drei und vier aber unbefruchtete Eier ab-
legten, sie bauten vielmehr in jedem Röhrchen
zunächst einige Weibchenzellen, dann einige
Männchcnzellen, und eine jede wurde mit dem
entsprechenden Ei versehen. Die leeren Kammern
der verlassenen Nester wurden jede entsprechend
ihrer Größe gefüllt, die großen mit einem „Weib-
„stürzt die deutsche Theorie in sich zusammen", und er ver-
zichtet lieber auf jede Erklärung seiner Beobachtungen.
N. F. Xm. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
455
chenei", die kleinen mit einem „Männchenei".
Stellte Fahre den Osmien nur ganz kleine Höh-
lungen zur Ablage ihrer Eier zur Verfügung, so
konnte das Geschlechtsverhältnis in ganz auffälliger
Weise verschoben werden : die Osmien bauten
fast nur kleine Zellen, es entstanden fast aus-
schließlich Männchen. Alle diese Beobachtungen
zeigen, daß die Osmien sich ganz nach den ge-
gebenen Verhältnissen zu richten vermögen und
ganz nach Belieben die Spermapumpe können
in Funktion treten lassen oder nicht.
Untersuchungen über die Eiablage bei Ichneu-
moniden, die Chewyreuv') angestellt hat, er-
innern in ihren Resultaten sehr an die obigen
Beobachtungen F a b r e ' s. Die von Chewyreuv
benutzten Ichneumoniden gehörten der Gattung
Pimpla an. Diese Schlupfwespen pflegen ihre
Eier in Raupen von verschiedenen Schmetter-
lingen abzulegen, in denen und auf Kosten deren
sie sich entwickeln. Als den isolierten begatteten
Pimpla-Weibchen zur Ablage ihrer Eier nachein-
ander verschiedene Raupen dargeboten wurden,
zeigte es sich, daß diese Schlupfwespen in ganz
bestimmter Weise befruchtete und unbefruchtete
Eier verteilen. Erhält die Schlupfwespe eine
große Raupe - eine solche von Sphinx, Saturnia
oder Gastropacha — . so legt sie ein befruchtetes
Ei hinein : es entsteht ein Weibchen. Ist die
Raupe klein — von Pieris, Bupalus oder Panolis — ,
so legt das Pimpla-Weibchen ein unbefruchtetes
Ei ab: es entsteht ein Männchen. Gibt man den
Schlupfwespen nur große Larven, so kann man
hier das Geschlechtsverhältnis vollkommen um-
stoßen: man erhält eine rein weibliche Nach-
kommenschaft. Zwingt man eine Schlufwespe,
alle ihre Eier in kleine Larven abzulegen, so ist
zwar die Mehrzahl der Nachkommen männlichen
Geschlechts, aber das weibliche Geschlecht läßt
sich nicht ganz unterdrücken, wenn auch die ent-
stehenden Weibchen infolge mangelhafter Ernäh-
rung kleiner als gewöhnlich sind. Bei Verwendung
von Schmetterlingsraupen mittlerer Größe ist das
Resultat verschieden, je nachdem die Schlupf-
wespe vorher eine große oder eine kleine Raupe
infiziert hatte.
Aus den Lüern unbegattet gebliebener Ichneu-
moniden entwickelten sich ausschließlich Männ-
chen. Die Größe der Raupe war für den Para-
siten nur insofern von Bedeutung, als die aus
') Chewyreuv, J., Le nMe des femelies dans la deter-
mination du sexe de leur descendance dans le groupe des
Ichneumonides. Comptes rend. hebd. d. s. de la Soc. de
Biol., Tome 74, 19 13.
großen Raupen ausschlüpfenden Männchen größer
waren als die, welche sich in kleinen Raupen ent-
wickelt iiatten. Eine nachträgliche Begattung der
Pimpla-Weibchen hatte zur Folge, daß sie von
jetzt ab in normaler Weise Männchen und Weib-
chen erzeugten.
Für eine Reihe von Hymenopteren haben wir
ihr Verhalten bei der Eiablage kennen gelernt.
Die Beobachtungen berechtigen zu dem Schluß,
daß die Hymenopterenweibchen den
Charakter des abzulegenden Eies bis
zu einem gewissen Grade willkürlich
zu bestimmen vermögen. Zwar legt die
Bienenkönigin normalerweise in die Drohnenzellen
nur unbefruchtete Eier, fehlen ihr aber Arbeite-
rinnenzellen gänzlich, so bestiftet sie auch die
Drohnenzellen mit befruchteten Eiern. Die soli-
täre Biene legt zwar gewöhnlich zuerst die be-
fruchteten Eier ab, dann die unbefruchteten, sind
aber besondere Verhältnisse gegeben, so geht auch
sie von ihrer Gewohnheit ab und legt unter Um-
ständen zuerst die unbefruchteten Eier. Wenn
es nun aber auch von dem „Willen" des Weibchens
abhängig ist, ob ein Ei befruchtet wird oder nicht,
so heißt das natürlich nicht, daß das Weibchen
auch „Kenntnis" davon hat, was aus diesem oder
jenem Ei entstehen wird, wie Jakob Christian
Schäffer') im 18. Jahrhundert glaubte. Nicht
weil sie weiß, daß nur Arbeiterinnen dem Volke
nützlich sein können, legt die im Herbste auf
Drohnenbau gesetzte Bienenkönigin in die Drohnen-
zellen befruchtete Eier, sie tut es vielmehr instink-
tiv, es ist eine Instinkt handlung, die wir
mit Morgan") definieren können als „fix und
fertig auftretende Handlung, die für das Individuum
zweckmäßig ist, zur Erhaltung der Art beiträgt und
die von allen Vertretern einer mehr oder minder
geschlossenen Tiergruppe in gleicher Weise aus-
geführt wird und durch Erfahrung modifizierbar ist".
Freilich haben wir, wenn wir das Verhalten der
Hymenopterenweibchen bei der Eiablage als In-
stinkthandlung bezeichnen, das Problem keines-
wegs gelöst. Mit der Bezeichnung „Instinkthand-
lung" bringen wir zum Ausdruck, daß, obwohl
unter bestimmten äußeren Verhältnissen die Sperma-
pumpe z. B. nicht notwendigerweise in F"unktion
treten muß, trotzdem ein gewisser Zwang die Hand-
lungen des Tieres beherrscht, ohne daß es uns mög-
lich wäre, den Eiablageinstinkt genau zu analysieren.
') Schaeffer, J. Chr., Abhandlungen von Insekten,
Bd. 2. Regensburg 1764.
^) Morgan, C. L., Instinkt und Erfahrung. Berlin 1913.
Einzelberichte.
Mineralogie. Über die Unterschiede zwischen
Birma- und Siamrubinen berichtet H. Michel
(Wien) in Heft 6, Bd. 53, 1914 der „Zeitschr. f.
Krist. u. Mineralogie". Die Hauptmenge der im
Handel befindlichen Rubine stammt aus Birma
und Slam. Zwischen beiden bestehen empfind-
liche Preisunterschiede, die zumeist in der ins
bräunlich-orange spielenden Farbe des Siamrubins
ihre Ursache haben. Dieser Farbunterschied und,
in Zweifelsfällen, die mikroskopische Untersuchung
ermöglichen es, eine Unterscheidung herbeizuführen.
Bei den Birmarubinen finden sich, in der Rieh-
456
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 29
tung der optischen Achse betrachtet, ein System
von langen, äußerst zarten Nadeln, die sich unter
60" schneiden und wohl Rutil sind. Die Licht-
brechung dieser Gebilde ist so hoch, daß sie ganz
schwarz erscheinen. Stets ist ihre Orientierung
im ganzen Stein dieselbe, und es ist festzustellen,
daß die Nädelchen parallel der Basis eingelagert sind.
Außer diesen feinen Nädelchen treten noch gröbere
Rutileinschlüsse auf, die die Kombination eines
stark horizontal gerieften Prismas und einer Pyra-
mide darstellen und meist in Reihen geordnet sind.
Seltener sind rölirenförmige, ungleichmäßig krumm
verlaufende Hohlräume, die teils mit Flüssigkeit,
teils mit Gas angefüllt zu sein scheinen und ferner
schwach lichtbrechende Flüssigkeitseinschlüsse, die
bisweilen die Form des Wirtes haben oder un-
regelmäßig begrenzt sind.
In den Siamrubinen fehlen derartige Einschlüsse
nahezu ganz. In diesen treten dünne, dafür breiter
ausgedehnte Hohlräume auf, die vielfach geradlinige
Umgrenzung zeigen oder aber vollkommen regellos
umgrenzt erscheinen. Nahezu immer aber sind
im Innern zarte, meist sechsseitig umgrenzte
Täfelchen zu sehen, die einander parallel sind und
zwischen denen verschieden breite Kanäle hinziehen,
die mit Flüssigkeit gefüllt sind. Die Täfelchen
dürften auch Rubin sein. Außerdem zeigt der
Siamrubin noch reichlichere I'lüssigkeitseinschlüsse,
die häufig ganze Fahnen bilden und in Reihen
geordnet sind. Des weiteren scheinen bei den
Siamrubinen die Zwillingsbildungen häufiger und
die einzelnen Lamellen dünner und zahlreicher
zu sein.
Der Unterschied in der Färbung rührt wohl
von einer Beimengung von Eisen her, der den
Birmarubinen zu fehlen scheint, denn die Erfahrungen
bei der künstlichen Darstellung des Rubins haben
gezeigt, daß das Ausgangsprodukt absolut eisenfrei
sein muß, um die reinrote Farbe der Birmarubine
zu erzielen. Die Analysen von Pfeil geben zwar
für Birma- und Siamrubine einen Gehalt an FejO^
in der Höhe von ungefähr 1"/^ an, doch scheint
das Färbemittel des Birmarubins hauptsächlich
Chrom zu sein, das bei den Analysen nicht ge-
sucht wurde. F. H.
Physiologie. Der Cholesteringehalt des Blutes
ist nach den Arbeiten von Chauffard, Guy
Larocheund Grigaut während der Schwanger-
schaft erhöht. Nach den Untersuchungen von P.
Mauriac und M. Strymbau, die sich auf 50
Schwangere erstreckten (C. R. Soc. Biol., Bordeaux,
6 janv. 19 14), schwankt der Prozentsatz im Laufe
der Schwangerschaft, und zwar zeigen sich in den
Schwankungen zwei Perioden. In der ersten, vom
Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende des
2. Monats, steigt der Gehalt sehr rasch, um dann
wieder bis zum Anfang des 5. Monats zu sinken.
Dann steigt der Cholesteringehalt wieder bis
zur Geburt. Bisweilen, gegen das Ende der
Schwangerschaft, tritt abermals eine Verminderung
ein. Die Kurve deckt sich im großen ganzen
mit der, welche Bar bezüglich des Stoffwechsels
an Stickstoff, Kalk, Schwefel usw. im Laufe der
Schwangerschaft entworfen hat.
Diese Resultate sind aber nur gültig für die
normale P'rau, während gewisse Infektionskrank-
heiten, wie die Tuberkulose und die Syphilis, den
Gehalt des Blutes an Cholesterin von Grund aus
ändern können, indem sie ihn bis auf den nor-
malen Gehalt oder darunter herabsetzen.
Kathariner.
Zoologie. Die im Körper des Menschen
lebenden Parasiten schaden nicht nur dadurch, daß
sie die von ihnen befallenen Organe in ihrer Funk-
tion beeinträchtigen, sondern sie geben auch Ver-
anlassung dazu, daß gewisse Stoffe in den Kreis-
lauf gelangen, die als Gifte auf die lebenden Zellen
des Körpers wirken. Teils werden diese als Neben-
produkte des Stoffwechsels des Parasiten gebildet,
teils sind sie Zerfallsprodukte zerstörter Gewebe
des Wirtskörpers. Dr. Georg B. Gruber (Straß-
burg i. E.) beschäftigt sich (Neue Studien über die
Pathologie der Trichinose, Münchener med. Wochen-
schrift, Nr. 12, 1914) mit den Toxinwirkungen,
welche die Anwesenheit der Trichinen im Körper
bedingt. Als Gifte wirken sowohl die Zerfalls-
produkte der Muskulatur als auch von den Tri-
chinen selbst herrührende Absonderungen. Bekannt
ist schon die Steigerung der Zahl der ,, eosinophilen"
Zellen. ') Deren Bildungsstätte ist vorzüglicii im
Knochenmark zu suchen, dagegen ist die direkte
Bildung der eosinophilen Granula aus Muskel-
hämoglobin nicht zu erweisen. Eine von Romano-
witsch behauptete Gifiigkeit des Serums trichi-
nöser Tiere konnte nicht nachgewiesen werden.
Auch ist die Angabe von R., daß die Wanderungen
der Trichinenlarven das Eindringen von Bakterien
aus dem Darm in die Blutbahn veranlassen, höchst
unwahrscheinlich. Seine diesbezüglichen Angaben
konnten nicht bestätigt werden. Ebensowenig
können pathologische Erscheinungen an der Leber
und der Niere bis jetzt mit Sicherheit auf die In-
fektion mit Trichinen zurückgeführt werden.
Kathariner.
Astronomie. Ein neues Glied der Kometen-
familie des Neptun ist durch die Entdeckung des
Kometen Delavan vom 26. September 191 3 fest-
gestellt worden. Dieser Komet erweist sich als
identisch mit dem Kometen von 1852 Westphal,
dessen Umlaufzeit nur sehr ungenau bekannt war.
Nun ist sie zu 61,6 Jahren bestimmt worden. Der
Neptunsfamilie gehören nun an die Kometen
Westphal, PonsBrooks mit 71,6 Jahren Umlauf,
Olbers mit 72,7 und Halley mit 76,0 Jahren.
Neptun selber hat 64,8 Jahre Umlaufzeit. Wäh-
rend also die Umlaufzeiten ziemlich gleich sind,
sie sind das charakteristische für die Zusammen-
') Man versteht darunter weifle Blutkörperchen, welche
sich mit sauren Farbstoffen intensiv färben. Ihre Zahl, nor-
malerweise 2 — 4 %, ist bei der Trichinenl<rankheit erheblich
gesteigert. Diese Steigerung wird diagnostisch verwertet.
N. F. XIII. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
457
gehörigkeit zu derselben Familie, sind die Neigun-
gen der Bahn gegen die Ekliptik sehr verschieden,
sie betragen 41—74—45 — 162 Grad, während
Neptun nur 1,8 Grad hat. Man sieht hieraus, daß
unter den Kometen selber keine innere Verwandt-
schaft sein kann, sie sind aus ihren ursprünglich
ganz anderen Bahnen durch den Neptun in die
jetzigen gelenkt worden, die an Größe der Neptuns-
bahn ähnlich sind. Riem.
Chemie. Neue Beiträge zur Chemie d^^
Tabaks. W. Halle und E. Pfibram veröffent-
lichen in den Berichten d. Deutsch. Chem. Ges.
[47, 1394] die Ergebnisse einer Untersuchung über
die ätherischen Öle des Tabaks. Sie extrahierten
ca. 300 kg ungarischen Tabak mittels organischer
Lösungsmittel in der Wärme und erhielten aus
diesem Extrakt ca. 140 g eines gelben Öles, das
sehr stark nach Tabak roch; es erwies sich als
stickstoffrei und reagierte sauer. Dieses Öl wurde
in Äther aufgenommen, mit verdünnter Sodalösung
behandelt und mit Wasser geschüttelt; die zurück-
bleibende ätherische Lösung wurde nach Ver-
dampfen des Äthers im Vakuum destilliert. Aus
einem Teil der so erhaltenen Fraktionen konnte
durch Ausschütteln mit Sodalösung, Ansäuern und
Ausäthern eine Säure gewonnen werden, die durch
Geruch, Siedepunktsbestimmung, Titration usw.
als Isovaler iansäure identifiziert wurde. Aus
140 g Öl resultierten 1,5 — 1,7 g dieser Säure.
Ein anderer Teil der Fraktionen, der zwischen
170 — 185" (755 mm) überdestillierte, ergab nach
mehrmaliger Vakuumdestillation eine Flüssigkeit,
deren Zusammensetzung C, ,H.>„ (oder vielleicht
auch CjgHjs) ist. Um die Konstitution dieses
Kohlenwasserstoffes, der offenbar der Reihe CnH_)„-L'
angehört, weiter aufzuklären, wurde sein Abbau
durch Kaliumpermanganat bei verschiedenen Tem-
peraturen in wässerigalkalischer Lösung genauer
untersucht. Die sauer reagierenden Oxydations-
produkte ließen sich durch Cliloroform in zwei
Teile zerlegen : der in Chloroform unlösliche Teil
enthält eine Substanz, die beim Erhitzen ohne zu
schmelzen sublimiert und mit Terephthalsäure
(CgH^Oj) identisch zu sein scheint; der in Chloro-
form lösliche Bestandteil schmilzt bei 40 — 42",
riecht nach Schweiß und ist, nach der Anah'se
des Calciumsalzes zu schließen, wahrscheinlich
Isobut)lessigsäure.
Über den Ätherextrakt von Tabakblättern hat
auch E. Traetta Mosca einige neue Resultate
publiziert (Gazzetta chim. ital. 43, II, 440). Dieser
Autor erhielt beim Ausziehen von 20 kg Kentucky-
tabak mit Äther ca. i kg eines Extraktes, der
mit kaltem Alkohol behandelt wurde. Aus dem
in Alkohol unlöslichen Teil konnte eine weiße,
schuppige Substanz vom Schmelzpunkt 62—63"
isoliert werden. Dieses Harz gibt die Lieber-
mann-Burchard' sehe Reaktion auf Phytosterin-
ester und enthäh 77,9% Kohlenstoff, 10,7 "/n
Wasserstoff und ii,4"lo Sauerstoff. Es lieferte
ein sauerstoffreies Bromderivat und ein Oxydations-
produkt vom Typus der Hexahydrophthalsäuren.
Offenbar ist die Substanz der eigentliche Träger
des Tabakaromas.
In einer weiteren Arbeit (Gazzetta chim. ital.
43, II, 431 u. 451) beschäftigt sich Traetta
Mosca mit den Fermenten, die in der Pflanze
des in Italien angebauten Kentuckytabaks enthalten
sind. Aus seinen Versuchen geht hervor, daß die
grünen Blätter zahlreiche hermente enthalten
(Oxydasen, Katalasen, Invertin, Emulsin, proteo-
lytische Fermente und andere), daß aber in den
getrockneten Blättern keine Fermente vorhanden
sind. Den Prozeß der Fermentation bei der Gärung
führt der Verfasser auf die in der Umgebung vor-
handenen Keime zurück, aus denen sich im gären-
den Tabak die verschiedensten Mikroorganismen
entwickeln. Durch Innehalten der günstigsten
Bedingungen läßt sich eine gewisse Auswahl der
Gärungserreger erreichen. Es erscheint daher nicht
aussichtslos, zu versuchen, die nützlichen Gärungs-
erreger bzw. Fermente in reinem Zustande zu ge-
winnen und so die Qualität der Gärungsprodukte
erheblich zu verbessern.
In den Aschen von Tabakblättern fand Traetta
Mosca (Gazzetta chim. ital. 43, II, 437) außer den
schon früher bekannten Metallen noch Lithium,
Caesium und Titan. Von dem letzteren Element
nimmt er an, daß es ein wesentlicher Bestandteil
ist und bei dem Stoffwechsel der Zelle als Kataly-
sator eine wichtige Rolle spielt. Dasselbe gilt
wahrscheinlich für das Barium, das McHargue
(vgl. Journ. of the Americ. Chem. Soc. 35, 826)
aus Tabakblättern mit Wasser extrahieren konnte.
Bugge.
Das Hexanitroäthan. Die große Flüchtigkeit
des Tetranitroäthans macht eine sprengtech-
nische Verwendung dieser Substanz unmöglich.
W. W i 1 P) hat daher (zusammen mit Knöffler
und Beetz) die nächsthöhere, völlig nitrierte,
homologe Verbindung, das Hexanitroäthan, her-
gestellt. Diese Substanz läßt sich aus dem Kalium-
salz des Tetranitroäthans durch Behandeln mit
einem Gemisch von Salpetersäure und Schwefel-
säure erhalten; Voraussetzung für eine gute Aus-
beute ist die Verwendung eines sehr reinen Kalium-
Tetranitromethans. Die letztere Verbindung, die
in bezug auf Empfindlichkeit gegen Stoß etwa
dem Kaliumpikrat gleichkommt, wird neben Brom-
kalium gebildet, wenn man eine Lösung von Cyan-
kalium und KaHumnitrit in eine solche von Brom-
pikrin (aus Calciumpikrat, Kalkwasser und Brom)
in Methylalkohol unter Kühlung einträgt. Das
Hexanitroäthan bildet farblose Kristalle, schmilzt
bei 142", riecht ähnlich wie Kampfer, ist unlöslich
in Wasser und leicht löslich in Benzol, Chloroform,
Äther und Petroläther. An der Luft verflüchtigen
sich in 18 Stunden bei 20—22" 1,5—1,8"/,, Hexani-
troäthan (gegenüber iOO"/o Tetranitroäthan). Mit
Naphthalin bildet die Substanz eine charakteristische
') Berichte der Deutsch. Chem. Ges., 47, 961 ; vgl. Naturw.
Wochenschr. 1914, S. 263.
4S8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr. 29
rote Doppelverbindung. Plötzliches Erhitzen be-
wirkt eine schwache Verpuffung, gegen Stoß,
Schlag und Reibung ist die Verbindung sehr un-
empfindlich. Mischt man Hexanitroäthan mit
wasserstoffhaltigen organischen Substanzen, so er-
hält man je nach dem Mischungsverhältnis und
der Art der Bestandteile sehr kräftig wirkende
Sprengstoffe oder Zündmittel. Bugge.
Bticherbesprechimgen.
Andr^e, K., ,,Über die Bedingungen der
Gebirgsbildun g", mit 1 6 Textabbild. Born-
traeger, Berlin 1914. — Preis 3,20 Mk.
Das Werk ist aus Vorträgen hervorgegangen,
wie so manches andre Buch auch. Man würde
ihm aber ohne die Versicherung des Autors eine
solche Herkunft kaum anmerken. Denn es han-
delt sich keineswegs um einen behaglich anzuhören-
den oder auch nur leichthin zu lesenden Text
über das Thema, sondern um eine recht konzen-
trierte Abhandlung, deren ganzer Inhalt sich wohl
nur dem mit den betreffenden Problemen bereits
einigermaßen vertrauten Leser erschließt.
Die Geologie im üblichen Sinne des Wortes
hat gegenüber den in den Gebirgsfaltungen ge-
fundenen Aufgaben, je emsiger sie ans Werk ging,
um so mehr ein Gefühl der (Minmacht beschlichen.
Wie immer man die durch eifrigstes Beobachten
aufgedeckten Phänomene zu erklären trachtete, die
Schwierigkeiten und Gegengründe, die sich jedem
Deutungsversuche entgegenstellten, schwollen stets
sofort in's Unermeßliche und ließen kaum eine
Theorie wirklich zur Entfaltung kommen. Nun
zieht man sich in die Tiefen der Erde zurück,
sucht sich die dortigen Vorgänge vorzustellen und
faßt die Umformungen der Erdoberfläche nur als
eine für sich allein garnicht verständliche, dem
Ganzen gegenüber mehr untergeordnete Begleit-
erscheinung auf. .\mpferer machte in seiner
Theorie der Erdhaut den Anfang und auf der
von ihm geschaffenen Grundlage baut Andree
weiter.
Gewiß: Das Gebiet der unmittelbaren geolo-
gischen Beobachtungen verlassen wir auf diese
Weise und die Gefahr des ,,SpekurLerens" wächst
dabei natürlich. Aber doch nur für den, der da
glaubt, dat5 jedes geologische Phänomen auch
einzig und allein innerhalb der engsten Grenzen
des einen Wissenszweiges seine Erklärungsgrund-
lagen finden muß. Das Reich exakter I3eobach-
tung überhaupt brauchen wir keineswegs zu ver-
lassen, wenn wir der Geologie als selbstverständ-
liches Operationsfeld den ganzen Erdball, nicht
nur seine äußere Kruste zuerteilen. Nur werden
wir die Beihilfe anderer Disziplinen nicht ver-
schmähen dürfen, wenn wir in den tiefen Schoß
der Erde hinabsteigen, ja wir werden den Interessen-
kreis garnicht weit genug spannen können. ')
Ohne Physik und Chemie, Petrographie und die
') In einem Referat „Neues aus der Geophysik" (diese
Zeitschrift 1909, S. 309 — 312) suchte ich bereits Iturz auf den
hohen Wert hinzuweisen, den gewisse Nachbarwissenschaften
bei rechter .Anwendung für die Geologie haben können.
gesamte sog. „allgemeine" Geologie (Vulkanismus,
Erdbcbenlehre, Tektonik, auch Regionalgeologie
usw.), d. h. also auch ohne ein sehr umfassendes
Literaturstudium insbesondere auf allen Grenz-
gebieten läßt sich die Aufgabe nicht erfolgreich
anfassen. Es muß dem Verfasser nachgerühmt
werden, daß er in dieser Beziehung hervorragend
gerüstet ans Werk geht. Nicht minder anerkennens-
wert ist bei einem derartig mannigfaltigen, nach
allen Seiten überquellenden Stoff, die unbeirrte
Verfolgung des Themas, wobei es der Natur der
Sache nach unvermeidlich ist, daß die F'üUe und
der Umfang der P'ußnoten zuweilen den Satz-
spiegel zu sprengen droht. Diese starke Erweite-
rung des eigentlichen Textes enthält nicht nur
die zahlreichen Literaturhinweise und Zitate, son-
dern auch manche interessante Auseinandersetzung
mit wichtigen Einzelproblemen der Gegenwart.
Der Verfasser befaßt sich zunächst mit den
hergebrachten Theorien über Gebirgsbildung, läßt
insbesondere die Kontraktionstheorie vom
Schauplatze der Tektonik verschwinden. Dann
schürft er tiefer, läßt den Leser Vorstellungen
gewinnen vom inneren Bau der Erde nach
dem, was neuere Forschungen, insbesondere die
Seismologie darüber gelehrt haben. Die
Kontinente erscheinen, roh gesprochen, als
schwimmende Schollen auf einer schwereren,
aber plastischen Unterlage wie Eisberge auf dem
Wasser. Mit solchen Anschauungen gerüstet wird
der Leser ohne bedeutende Schwierigkeiten zu
dem für den Uneingeweihten wohl schwer zu-
gänglichen Begriff der „Unterströmungen",
d. h. Zustandsänderungen in der liefe, die trotz
des festen Gesteins als ein Fließen aufzufassen
sind, hinübergeleitet. Die Petrographie der meta-
morphen Gesteine, die Erfahrungen des
Vulkanismus, die Beobachtung erd magne-
tisch er A nomalien im Zusammenhange mit
Erdbeben, werden zur Stütze für diese Vorstellun-
gen herbeigerufen. Jene Zustandsänderungen
haben auch Volumenvermehrung und -Verminde-
rung zur Folge, die durch die Schwerkraft im
Verein mit der „Flüssigkeit" der Lithosphäre
wieder ausgeglichen werden können (Lehre der
Isostasie). Gleichgewichtsstörungen solcher
Art sind durch die systematischen Schwere-
messungen zu Wasser und zu Lande klargestellt
worden, doch spielen die isostaslschen Verschie-
bungen keine führende Rolle bei der Gebirgs-
bildung, sondern sind lediglich Begleiterscheinungen.
Am Rande der Kontinentalmassen müssen die
Gegensätze am ehesten in Berührung treten und
N. F. XIII. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
459
diese Frage führt über zu den eigentümlichen
durch eine derartige Lage gekennzeichneten Zonen
namens Geosy nkli nale n, deren geologische
Geschichte sie als besonders wechselreiche, labile
Streifen der Erdoberfläche erscheinen läßt und aus
deren Schöße ja tatsächlich bekanntermaßen die
großen Faltengebirge erwachsen sind. Alsbald
stellen sich weitere vielbehandelte Fragen ein,
wie die nach dem Wandern der Gebirgs-
faltung, dem Vorhandensein und der Erklärung
der „Einseitigkeit" des Gebirgsdrucks
oder besser gesagt des Gebirgsbaues, nach dem
Auftreten von Zerrungen und ihrem Verhältnis
zu den Schubkräften, der Deck e nbild u ng, der
Bogenform in den Faltengebirgen. So sieht
sich der Leser (stets nur mit wenigen Sätzen oder
gar nur durch eine Abbildung) über alle Teile
der Erde geführt, in die Appalachien, in die Alpen,
nach Ostasien.
Endlich wird — es handelt sich nicht allein
um Faltengebirge! — die sehr schwierige Frage
nach dem Verhältnis epeirogenetischer^)
Bewegungen zu orogenetischen , wie auch die
Spaltung in eine pazifische und eine atlan-
tische Eruptivgesteinsprovinz seit dem
Tertiär in ihrem Zusammenhange mit der Tektonik
behandelt und auch die Unterscheidung von
Bruch- und Faltungsbeben andeutungsweise
damit in Parallele gesetzt. Zusammenfassend
skizziert der Verf am Schluß seine Auffassung
„des Zyklus der Bewegungsvorgänge, welche die
Lithosphäre durchmacht".
Gewiß war hier in der Beschränkung wahre
Meisterschaft erforderlich; der Raum ist fast all-
zuknapp bemessen, und doch : wo wäre bei jedem
einzelnen dieser Themata überhaupt ein Ende ab-
zusehen? Hier sind ihre gegenseitigen Beziehungen
ins rechte Licht gerückt und das ist verdienstlich
genug. Eine endgültige „Erledigung" des Problems
oder der Probleme wird gerechterweise niemand
erwarten wollen. Der sorgsam gefaßte Titel
spricht nicht von „Wesen" und „Ursachen", son
dern von Bedingungen der Gebirgsbildung!
Der Hauptwert der Arbeit ist in der kritisch
würdigenden Vereinigung all der Bestrebungen zu
suchen, aus denen der Erforschung der Gebirgs-
bildung Hilfsquellen zufließen können, woraus eine
starke Vertiefung des Problems hervorgeht.
E. Hennig.
Kalähne, Prof Dr. Alfred, Grundzüge der
mathematisch -physikalischen Akustik.
2. Teil, 8", 225 S. mit 57 Abb. Leipzig und
Berlin 1913, B.G. Teubncr. Geb. 6 Mk. (Samm-
) Wenn auf S. 72 die cpeirogenetischen Bewegungen
ausdrücklich als Abwärtsbewegungen definiert erscheinen und
in diesem Sinne den orogenelischcn gegenüberstehen sollen
(Stille), so ist damit doch wohl der ursprüngliche Sinn des
Wortes fast in's Gegenteil umgedreht und wir erhalten nur
emen neuen Namen für den Begriff der säkularen Hebungen
und Senkungen, statt einer wirklichen Bereicherung des geologi-
schen Anschauungsschatzes.
lung mathematisch - physikalischer Schriften,
herausgegeb. von E. Jahnkc, II, 2.)
Der zweite Teil des vortreftlichen Kalähne-
schen Werkes über Akustik enthält die Theorie
der Schwingungen elastischer Körper. Nach einer
kurzen Einleitung über die Grundlagen der Elastizi-
tätstheorie werden der Reihe nach die Saiten, die
zylindrischen und konischen Pfeifen, die Stäbe,
die Membranen und die Platten behandelt; ein
Schlußkapitel bringt die von Helmholtz stam-
mende vervollkommnete Theorie der offenen
Pfeifen. Das Buch stellt beträchtliche Anforde-
rungen an die inathematische Vorbildung der
Leser; sein Schwerpunkt liegt in der streng mathe-
matischen Durchrechnung der Probleme und in
der eingehenden Diskussion der Ergebnisse der
Theorien. Die Darstellung ist überall sehr klar,
geschickt und gründlich. Wallot.
Gesellschaft für Linde's Eismaschinen, Abtei-
lung für Gasverflüssigung. Technik der
tiefen Temperaturen, gr. 8". 63 S. mit
34 Abb. München und Berlin 191 3, R. Olden-
bourg. — Geb. 3 Mk.
Das vorliegende kleine Werk ist von der Ge-
sellschaft Linde für die Teilnehmer an dem 3. inter-
nationalen Kältekongreß in Chikago 1913 verfaßt
worden. In einem ersten Teil behandelt C. Linde
die physikalischen und technischen Grundlagen;
in einem zweiten setzt R. Wucherer ausein-
ander, wie sich in verhältnismäßig kurzer Zeit aus
dem Linde 'sehen Verfahren zur Verflüssigung
der Luft eine bedeutende Industrie entwickelt hat,
die schon jetzt die drei für die Technik so wich-
tigen Gase Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff
in einer großen Zahl von Anlagen technisch rein,
billig und in großen Mengen gewinnt. Dem ur-
sprünglichen Zweck des Büchleins entsprechend
ist sein physikalischer und technischer Inhalt für
den Laien teilweise schwer verständlich; der
Fachmann dagegen wird es als eine knappe, durch
die zahlreichen beigegebenen Abbildungen sehr
anschauliche Übersicht über die Technik der tiefen
Temperaturen begrüßen. Wallot.
Abderhalden, Emil, Abwehrfermente des
tierischen Organismus gegen körper-,
blutplasma- und zell fremde Stoffe,
ihr Nachweis und ihre diagnostische
Bedeutung zur Prüfung der Funktion
der einzelnen Organe. Mit 1 1 Textfiguren
und I Tafel. 2. vermehrte Auflage. Berlin
1913, J. Springer. — Geb. 6 Mk.
Bereits nach Jahresfrist erscheint das Büchlein,
in welchem der Verf eine übersichtliche und les-
bare Darstellung der vorwiegend auf seine und
seiner Schüler zurückgehenden LIntcrsuchungen
über die spezifischen Gegenreaktionen des Orga-
nismus gibt, in einer neuen Auflage. Da der
Inhalt seinerzeit in der Naturw. Wochenschrift be-
reits ausführlich charakterisiert ist (vgl. Jahrg. 1912,
S. 749), so sei hier darauf verwiesen. Erwähnt
460
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 29
sei nur, daß Verf. den Namen Schutzfermente gegen-
über dem etwas neutraleren Abwehrfermente hat
fallen lassen. Das Buch ist für den Physiologen
von gleichem Interesse wie für den Kliniker, der
hier z. B. eine Schilderung der biologischen
Diagnose der Schwangerschaft und mannigfache
Hinweise auf weitere Anwendungsmöglichkeiten
auf dem Gebiete der Pathologie (so z. B. beim
Karzinom) findet. Besonders wertvoll ist die am
Schluß gegebene ausführliche Darstellung der
Methodik Miehe.
Verworn, Max, Erregung und Lähmung
eine allgemeine Physiologie der Reizwirkungen.
304 S. mit 113 Abb. im Text. Jena, G. Fischer,
1914.
Verworn gibt in diesem Buche eine allen
Physiologen sicher sehr willkommene Zusammen-
fassung der von ihm und unter seiner Leitung
ausgeführten Versuche, soweit sie zu einer Er-
kenntnis der Reizwirkungen im Allgemeinen bei-
tragen können.
Nach einer Analyse und Definition des Reiz-
begriffes werden die einzelnen Reizarten im
Speziellen charakterisiert und ihre allgemeinen
VVirkungen erörtert. Der übrige Teil des Buches
ist den mannigfaltigen Problemen des Erregungs-
vorganges gewidmet. (Die Analyse des Erregungs-
vorganges, die Erregungsleitung, Refraktärstadium
und Ermüdung, die Interferenz von Reizwirkungen,
rhj'thmische Entladungen, die Lähmungsvorgänge
und die spezifischen Leistungen der lebendigen
Systeme.)
Die klare und präzise Darstellung der einzelnen
Probleme dürfte diesem Werke Verworn's auch
unter den Nichtfachleuten manchen Freund ge-
winnen. Für den Physiologen liegt ein besonderer
Reiz des Buches in der konsequenten Durchführung
des Versuches, ein großes und mannigfaltiges
Tatsachenmaterial auf einige wenige allgemeine
Grundsätze der Erregungsphysiologie zurück-
zuführen. Bei der großen Rolle, welche hierbei
rein theoretische Betrachtungen spielen müssen,
werden sich wohl manche Leser den Ansichten
des Verfassers nicht immer anschließen können,
aber auch in dieser Anregung zur Diskussion möchte
der Referent eher einen Vorzug als einen Nachteil
des Buches erblicken.
El. Th. V. Brücke, Leipzig.
Barthel, Dr. Ernst, DieErdealsTotalebene,
hyperbolische Raumtheorie mit einer Vorunter-
suchung über die Kegelschnitte. Leipzig 1914,
O. Hillmann. — Preis 2,50 Mk.
Der Verfasser, der offenbar ernst genommen
werden will, läßt bei einer Kugel und einem
Kreise den Krümmungsradius über unendlich
wachsen , und erhält so einen hyperbolischen
Raum, ein Hyperboloid, das eine Fläche ist. Die
Erde ist ihm dann der Raum selbst, kein Körper,
und zwar eine absolute Fläche ! Sie ist kreisförmig,
mit dem Radius unendlich, und zwar ist die Größe
unendlich gleich der Entfernung Pol — Äquator,
gleich 40000 km, da es größere Entfernungen
nicht geben kann. Auch die astronomisch ge-
messenen Abstände der Sterne sind LInsinn. Die
Erde bewegt sich auch nicht, sie ist eine „absolut
flache Totalität, auf welcher jeder Ort als ein
biologisches Zentrum angesehen werden kann, die
aber selbst kein Zentrum ist, sondern das unvor-
stellbar Weitgebreitete".
Für uns ist der Unsinn dieses Buches auch
unvorstellbar weitgebreitet. Die Sonne steht z. B.
auch nachts nicht unter dem Horizont, da es kein
„Unten" bei der Erde gibt, und daher werden die
Mondfinsternisse durch eine Dunkelsonne hervor-
gerufen. Diese Proben genügen wohl.
Riem.
"Doliarius, Dr., Alle Jahres kalender auf
einem Blatt. Leipzig, Teubner. — Preis in
Tasche 30 Pf.
Eine Tabelle enthält alle Osterdaten julianisch
und gregorianisch, von 1470 bis 2000. Indem
man für ein bestimmtes Jahr das Osterdatum ent-
nimmt, und mit diesem Datum in eine zweite
Tafel eingeht, kann man sofort für dies Jahr den
Wochentag jeden Datums feststellen, sowie an-
geben, auf welches Datum ein beliebiger Sonntag
des Jahres fällt. Ein außerordentlich sinnreiches
und brauchbares Werkchen. Riem.
Swart, Dr. Nicolas, Die Stoffwanderung in
ablebenden Blättern. Jena 1914, Gustav
Fischer. 117 S., 5 Tafeln. — Preis 6 Mk.
In vorzugsweise historisch-kritischer Darstellung
behandelt Verf. die Frage, ob während der herbst-
lichen Verfärbung des Laubes, kurz vor bis un-
mittelbar nach der beendigten Vergilbung, eine
Auswanderung der für die Pflanze wichtigen Nähr-
stoffe aus den Blättern in den Stamm erfolgt.
Seitdem diese Lehre zum ersten Male von Sachs
vor 40 Jahren deutlich ausgesprochen wurde, hat
man an ihr ganz allgemein festgehalten, bis
Weh m er 1892 die experimentellen Arbeiten,
auf die sie sich gründete, einer scharfen Kritik
unterwarf und namentlich auf die Unzulässigkeit
der Verwendung von Prozentzahlen der Aschen-
analysen hinwies. Swart bespricht eingehend
die vorWehmer's Kritik erschienenen Arbeiten
und kommt mit diesem zu dem Ergebnis, daß sie
einen einwandfreien Beweis für die herbstliche
.Auswanderung der Nährstoffe in ihrer Gesamtheit
nicht liefern können. Indessen pflichtet er
Wehmer nicht bei, wenn dieser behauptet, daß
die in Frage stehenden Untersuchungen gerade
gegen die Theorie sprächen; vielmehr kommt er
zu dem Schluß, daß die gewonnenen Ergebnisse
eher eine Bestätigung als eine Widerlegung der
Theorie durch die späteren .Arbeiten erwarten
lassen. Diese Annahme findet dann in der kriti-
schen Darstellung der neueren Untersuchungs-
ergebnisse und in den eigenen Versuchen des
Verfassers ihre Begründung.
N. F. Xni. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
461
Swart gewann sein Versuchsmaterial nach
einer von Stahl (1909) angegebenen Methode.
Um nämlich gleiche Blattflächen der grünen und
der gelben Blätter zum Vergleiche zu erhalten,
wurde das IVIaterial zu den Analysen mittels einer
Schablone (Korkbohrer) aus den Blättern heraus-
gestanzt. Die Blätter wurden einmal kurz vor
der herbstlichen Verfärbung und dann wieder, als
die Gelbfärbung ihren Höhepunkt erreicht hatte,
geerntet; die Frist zwischen beiden Terminen be-
trug im Durchschnitt drei Wochen. Außer den
Blättern von Bäumen und Sträuchern wurden
einige perennierende Kräuter zu den Versuchen
verwendet. Im ganzen kamen 25 Arten zur Unter-
suchung; alle entstammten einem ausgesprochenen
Kalkboden. Wie die meisten Autoren hat sich
Verfasser auf die Bestimmung des Stickstoffs und
der Aschenbestandteile beschränkt.
Die Analysen ergaben übereinstimmend, daß
die Blätter in der kurzen Zeit vor ihrem Abfall
— während der Verfärbung — einen Verlust an
Stickstoff, Phosphorsäurc und Kali erlitten hatten,
und daß dieser Verlust, im besonderen der an
Stickstoff und Phosphorsäure, zumeist recht be-
deutend war. Hierdurch werden die Angaben der
früheren Beobachter über die Auswanderung jener
Stoffe bestätigt. Kalk und Kieselsäure (auch
Schwefelsäure und Chlor), Stoffe, die sonst in den
Blättern angereichert werden, nehmen wenig oder
gar nicht zu, woraus zu schließen ist, daß die
Blätter in dieser letzten Lebensperiode nur noch
wenig Nährsalze aus dem Boden aufnehmen.
Verf diskutiert dann die Frage, was mit dem
Chlorophyll und den anderen geformten Inhalts-
stoffen der Zelle beim Vergilben geschieht. Ge-
■Btützt auf Versuche Stahls, die er selbst zumeist
mit gleichem Erfolge wiederholte, pflichtet er der
Ansicht seines Lehrers bei, daß der grüne Farb-
stoff zersetzt und in Form seiner Abbauprodukte
in den Stamm übergehe, während die gelben Farb-
stoffe, die das Chlorophyll begleiten (Carotin,
Xanthophylle), im Blatte verblieben. An der Aus-
wanderung der Bestandteile des grünen Farbstoffs
scheine allerdings das Magnesium nicht teilzu-
nehmen. Die Stärke verschwinde nahezu voll-
ständig aus dem Blatte. Plasmaschlauch und
Zellkern bleiben in den vergilbenden Blättern
erhalten, doch werden Zerfallsprodukte des
Plasmas augenscheinlich durch die Gefäßbündel
des Blattes abgeleitet.
Die Einwände gegen die Auswanderungstheorie,
die sich darauf gründen, daß die Bildung der den
Laubfall bedingenden Trennungsschicht im
Blattstiel vor dem Vergilben des Blattes stattfinde,
wird vom Verf zurückgewiesen, einerseits auf Grund
von Versuchen, die zeigen, daß Farbstofflösungen
(Indigokarmin) in abgeschnittene Zweige mit ver-
gilbenden Blättern bis in die Blattspreite vordringen,
andererseits durch den Hinweis auf den Verlauf
des Vergilbens und der Stärkeauflösung, auf die
Versuche Stahls und das mikroskopische Bild
der Leptomelemente, die zweifellos während der
Vergilbung den Durchtritt der plastischen Nähr-
stoffe gestatten. Unter gewissen Bedingungen er-
folgt allerdings der Trennungsprozeß so rasch, daß
eine Auswanderung der Stoffe nicht mehr möglich
ist. Der Fall, daß eine Pflanze in ihrer Heimat
die Blätter normalerweise grün und unver-
ändert abstößt, gehört zu den Seltenheiten. Die
umgekehrte Erscheinung, daß die Blätter vergilbt
und abgestorben noch längere Zeit am Baume
verbleiben, beruht, wie Verf. ausführt, darauf, daß
die Ausbildung der Trennungsschicht in diesen
Fällen durch die niedrige Temperatur verhindert
und erst im nächsten Frühjahr bewerkstelligt wird.
Nach allem kommt Swart zu dem Schluß, ,,daß
die anatomischen Veränderungen im Blattgrunde,
welche die Abtrennung der Blätter herbeiführen,
zwar unter bestimmten Bedingungen unabhängig
von dem Verfärbungsprozeß erfolgen können, daß
aber beim normalen Laubfall die beiden Prozesse
mit wenigen Ausnahmen so eng miteinander ver-
knüpft sind, daß auch der eigentliche Trennungs-
akt nicht eher erfolgt, als bis die Verfärbung des
Blattes eine vollständige ist".
Den Einfluß des in den Herbstblättern einiger
Arten auftretenden Anthokyans auf die Stoff-
wanderung, den Stahl annimmt und auf die
Wärmeabsorption des Blattrots zurückführt, hat
Verf durch vergleichende Versuche an grünen,
gelben und roten Blättern von Parottia persica
nachzuweisen gesucht. Die Stickstoffbestimmungen
ergaben aber einen fast gleichen Gehalt in roten
und in gelben Blättern (2,024 "/o N, auf Trocken-
substanz bezogen, in grünen, 0,532 "/g in gelben,
0,5 1 3 "/o ir* roten Blättern). Verfasser hält es jedoch
für ,, zumindest verfrüht", wenn man hiernach den
Einfluß des Anthokyans auf die Stoffwanderung
leugnen wollte.
Schließlich erörtert Swart eingehend die in
neuerer Zeit so viel behandelte Frage nach den
Ursachen des Laubfalls. Er kommt zu dem
Ergebnis, daß der Laubwechsel sowohl in Gegenden
mit gleichmäßigem, wie in solchen mit periodischem
Klima in erster Linie von inneren Ursachen
bedingt werde und als eine Alt erser schein ung
betrachtet werden müsse, obwohl auch ein direkter
Einfluß des Klimawechsels auf den Laubfall zu
beobachten sei. Der Stoffverlust, den die Blätter
vor dem Abfallen erleiden, charakterisiert sich als
eine Folge derjenigen Prozesse, die mit der Alters-
degeneration des Blattes verknüpft sind. Wieder-
holt hebt der Verf. hervor, daß die vergilbten
Blätter keineswegs tot seien. Der Assimilations-
prozeß kommt in ihnen zum Stillstand; die Dissi-
milation schreitet ruhig fort, und die Spaltungs-
produkte werden weiter dem Stamme zugeführt.
Auf den fünf Tafeln ist die Zu- und Abnahme
der Nährstoffe in den Blättern während des Sommers »
und des Herbstes auf Grund der Analysenresultate
verschiedener Autoren graphisch dargestellt.
¥. Moewes.
462
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 29
Smiles, S., Chemische Konstitution und
Physikalische Eigenschaften. Aus dem
Englischen von P. Krassa, bearbeitet und
herausgegeben von O. Herzog. XII u. 676 S.
Dresden, 1914, Steinkopf. — 20 Mk.
Von dem vorliegenden Gegenstande ist seit
der Darstellung, die derselbe 1889 in dem großen
Werke der „Allgemeinen Chemie" von Willi.
O s t w a 1 d gefunden hat, keine umfassende Be-
arbeitung in der deutschen chemischen Literatur
erschienen. Die seither verflossenen fünfundzwanzig
Jahre haben nun zwar den Wissensbesitz auf diesem
Gebiete nicht gerade groß verschoben, wenigstens
nicht groß, wenn man die Veränderung in vielen
anderen Gebieten der Physik und Chemie zum
Vergleich nimmt. Immerhin sind natürlich auch
hier wenigstens viele neue Messungen hinzuge-
kommen. Somit wird eine Darstellung, die die
neue Literatur verarbeitet enthält, von allen In-
teressenten gern ergriffen und benutzt werden.
Das Wissensgebiet, um das es sich hier handelt,
läuft auf die PVage hinaus, wieweit kann man
einem Stoffe sein chemisches Verhalten, das es
doch erst bei Umwandlungen und im Verkehr mit
anderen Stoffen äußern kann, schon zuvor ansehen ?
Das ist natürlich eine sehr interessante Frage, die
man auch so ausdrücken kann: Wiewe't kann
Chemie physikalisch begründet werden? Oder
wieweit kann das Ergebnis der Wechselwirkung
der Stoffe aus deren persönlichen Eigenschaften
ermessen werden ?
Die chemische Natur der anorganischen Stoffe
ist von so großer Mannigfaltigkeit, daß sie sich
nur unvollkommen in abgestufte Reihen ordnen
läßt. Nur das Periodengesetz der Elemente bringt
ein System in deren Oualitäten. Viel besser steht
es in dieser Hinsicht mit den zahllosen Stoffen
der organischen Chemie. Ihre chemische Natur
findet systematischen Ausdruck in den Konstitu-
tionsformeln. Sie vermitteln eine scharf umgrenzte
und abgestufte Definition chemischer Oualitäten.
Daher ist die Chemie der Kolilenstoffverbindungen
der eigentliche Übungsboden für das gestellte
Problem, und es lautet dann die experimentelle
Fragestellung dahin, es seien die physikalischen
Eigenschaften der Verbindungen mit deren Kon-
stitution zu vergleichen.
Solches kann nun mit allen möglichen mecha-
nischen Eigenschaften, wie Gewicht, Dichte, Reibung
usw. geschehen, vor allem aber mit den optischen
Eigenschaften. In diesen steckt die individuellste,
reichste, intimste, innerste Art und Weise, wie ein
Körper zu uns sprechen kann; sie führen daher
am weitesten in die Verborgenheiten seiner che-
mischen Natur hinein. Dementsprechend füllt die
Abhandlung die optischen Merkmale etwa die
Hälfte und den interessanteren Teil des vorliegen-
den Bandes aus.
Man wird nicht fehlgehen in der Vermutung,
daß wir hier knapp vor der Einsicht in allgemein
gültige, quantitative Gesetze stehen. Seit etwa
zehn Jahren, seit Drude's letzten Arbeiten (1904),
hat sich immer mehr Material angehäuft für den
Satz, daß die Reaktionsfähigkeit von den Frequen-
zen gewisser Valenzelektronen im Molekül ab-
hängt. Zweifellos wird es gelingen, die Konstanten
der Reaktionsgeschwindigkeit mit den Wellenlängen
die Lichtabsorption in einen quantitativen Zu-
sammenhang zu bringen. Es fehlt dazu nur noch
ein ausgiebigeres Material reaktionskinetischer
Messungen.
Bei dieser bevorstehenden Entwicklung dürfte
nun das vorliegende Handbuch ein recht nützliches
Nachschlage-Hilfsmittel werden. Es ist zwar, wie
die meisten englischen Bücher, reichlich trocken
geschrieben. Die englischen Autoren lassen ge-
meinhin vermissen, was wir in Deutschland von
einer richtigen Darstellung verlangen. Wie das
englische Recht nur Kasuistik, so ist ein englischer
wissenschaftlicher Traktat nur eine chronologische
Aufreihung einzelner Arbeiten. Das hindert in-
dessen nicht, daß das Buch durchaus klar ge-
schrieben und entsprechend zuverlässig zu hand-
haben ist. Auch finden sich kurze, eigens gekenn-
zeichnete Zusammenfassungen, die sehr zweck-
mäßig erscheinen.
Der deutsche Herausgeber hat von verschie-
denen Bearbeitern noch eine Anzahl Kapitel hinzu-
fügen lassen, die den Umfang des Buches gegen-
über dem englischen Original um ein Viertel er-
weitert haben. Um die im Titel gegebene In-age-
stellung zu erschöpfen, war dies durchaus geboten.
Baur.
Lehrbuch der vergleichenden mikroskopischen
Anatomie der Wirbeltiere. Herausgegeben
von A. Oppel. 8. Teil. Die Hypophysis cerebri
von Dr. phil. Walter Stendell. 168 S. Mit
92 Textabb. Jena 19 14, G. Fischer. — Preis
brosch. 8 Mk.
Das Werk bildet die 8. Fortsetzung des rühm-
lichst bekannten Oppel' sehen Lehrbuches,
welches nach unserer jetzt geltenden Ausdrucks-
weise eigentlich mehr den Namen eines Hand-
buches der vergl. mikr. Anatomie verdient, da von
dem Herausgeber und seinen Mitarbeitern so ziem-
lich alles darin zusammengetragen und kritisch
beleuchtet wird, was auf diesem gewaltigen Gebiete
bekannt ist.
Es war ein guter Gedanke, die vergl. mikr.
Anatomie der Hypophyse als einen besonderen
Abschnitt erscheinen zu lassen, da dieses merk-
würdige Organ, vor allem seit den Entdeckungen
der letzten Jahre auf physiologischem, patholo-
gischem und pharmakologischem Gebiete, ge-
steigertes Interesse für sich in Anspruch nimmt.
Trotzdem eine fast unübersehbare Fülle von medizi
nischer Literatur über sie entstanden ist, wurde
ihre vergleichende Histologie bisher sehr stief
mütterlich behandelt, so daß ein großer Teil der
Darstellung auf eigenen Untersuchungen des Ver-
fassers basiert. Als sehr angenehme Zugabe ist
das ausführliche Literaturverzeichnis zu bezeichnen,
welches auch viele pathologische und physiologische
N. F. XIII. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
463
Arbeiten aufzählt und geeignet ist, es späteren
Untersuchern zu erleichtern, sich auf dem Gebiete
der Hypophysenforschung einzuarbeiten.
Das Buch beginnt mit einer Darstellung der
Embryonalentwicklung der Hypophyse, welche
bei den verschiedenen Gruppen der Wirbeltiere
im allgemeinen ziemlich gleichartig verläuft. Das
Organ entsteht bekanntlich aus zwei gesonderten
Anlagen, von denen die eine vom Gehirn geliefert
wird, während sich die andere aus dem Epithel
der ektodermalen Mundbucht entwickelt. Der von
der Mundbucht herstammende Abschnitt sondert
sich später in Zwischenlappen und Hauptlappen.
Verf. ist der Ansicht, daß der Zwischenlappen
später in den Zwischenhirnboden hinein sezerniere,
während der Hauptlappen zu einer echten Epithel-
körperdrüse wird, deren Sekret von reichlichen
Blutkapillaren in die Karotiden abgefiihrt wird.
Dem sollen die Lagebeziehungen dieser Teile ent-
sprechen. Der Zwischenlappen bleibt meistens
solide und liegt dem Boden des Zwischenhirns
fest an. „Dafür aber geht der Boden des Zwischen-
hirns seinerseits verschiedene Bildungen ein, um
zur Aufnahme des Zwischenlappensekretes geeignet
zu sein." Dementsprechend soll dieser Teil der
Hirnwand zu demjenigen Gebilde werden, welches
als Hirnteil der Hypophyse bezeichnet wird.
Auf der Einteilung in drei verschiedene Lappen
beruht die Disposition der Darstellung. Von jedem
der drei Teile wird zuerst Form und Lage, dann
der histologische Aufbau in der Reihe der Wirbel-
tiere besprochen.
Es folgen dann einige Abschnitte über die
Rachendachhypophyse , über Drüsenskapsel usw.,
zuletzt ein Kapitel über die Phylogenie des Organs.
Auch dieses gründet sich auf die im ganzen Buche
leitende Hypothese des Verfassers, nach welcher
der Zwischenlappen sein Sekret in den Hirnteil
ergießen soll, während der Hauptteil eine echte
Drüse mit innerer Sekretion, d. h. mit Sekretion
in die Blutgefäße herein, ist. Als Stütze dieser
Anschauung werden die Untersuchungen einiger
Autoren über die mutmaßliche Wirkung der Sekrete
kurz herangezogen.
Diese Ansicht, welche der Verf. sich über die
Sekretionsweise des Zwischenlappens und über seine
funktionellen Beziehungen zum Hirnteil gebildet
hat, ist einstweilen noch eine weitgehende Hypo-
these, deren Bestätigung durch eingehende physio-
logische und vor allen Dingen chemische Unter-
suchungen erst noch abgewartet werden muß.
Dadurch fällt die Darstellung aus dem Rahmen
eines Lehrbuches heraus.
Wenn man diesen Teil des Oppel'schen
Lehrbuches aber lediglich als eine wissenschaft-
liche Arbeit betrachtet, so ist er als eine Neu-
erscheinung, welche eine Lücke in der vergleichend-
anatomischen Literatur ausfüllt, zu begrüßen,
von Berenberg Goßler, F'reiburg i. B.
Bragg, Durchga ngder «-,/!?-, y-undRöntgen-
Strahlen durch Materie; deutsch von
Max Ikle; mit 70 Figuren. Leipzig 1913,
Verlag von J. A. Barth. — Preis 6,80 Mk., geb.
7,80 Mk.
Verf hat in seinem Werk einen allgemeinen
Überblick über den Durchgang der verschiedenen
Strahlen durch die Materie gegeben. Er hat die
Strahlen einzeln beschrieben und deren Beziehun-
gen zueinander erörtert. So z. B. die von «-Teil-
chen erzeugte Ionisation in verschiedenen Gasen,
das Zerstreuungsgesetz, der Energieverlust und
die Absorption des /i-Strahles, als auch seine
sekundäre Erzeugung durch den Röntgenstrahl.
Er geht auf die korpuskulare Gestalt und Energie
des Röntgenstrahles ein, ferner auf die Natur und
Zerstreuung der Röntgen- und j'-Strahlen. Der
Verfasser legt also nicht nur das Ergebnis seiner
Forschungen auf diesem Gebiete klar, sondern
bringt sie in nahe Beziehung zu den z. T. von
seinen Arbeiten unzertrennlichen F"orschungen an-
derer Gelehrter, wodurch das Werk an Wert be-
deutend zunimmt. Besonderes Gewicht hat Verf.
darauf gelegt, eine Brücke zwischen ß- und y-
Strahlen herzustellen, wodurch er seine eigene
Korpuskulartheorie der y- oder Röntgenstrahlen
uns wesentlich verständlicher macht. Verf. gibt
der Anschauung Ausdruck, daß bezüglich der
Strahlungsvorgänge sowohl der Begriff der Welle
mit ihrer regelmäßigen Periodizität, als auch seine
Korpuskulartheorie richtig sein und schließlich in
eine Theorie übergehen können. — Auch der
Übersetzer hat den Verf. inhaltlich richtig ver-
standen. P. Runze.
Kleinere Mitteilungen.
Weitere Zerealienfunde vorgeschichlicher Zeit
aus den thüringisch - sächsischen Ländern. Nach
Erscheinen meines Aufsatzes „Zerealienfunde vor-
geschichtlicher Zeit aus den thüringisch-sächsischen
Ländern" (Naturwissenschaftliche Wochenschrift
1914, Heft 19, S. 294—297) sind mir einige neue
Zerealienfunde aus den thüringisch - sächsischen
Ländern bekannt geworden, die ich, um die in
meinem Aufsatz gegebene Übersicht zu vervoll-
ständigen, im folgenden kurz bekannt machen
möchte:
I. Braunsdorf, Kr. Quer fürt.
Von Herrn Rentier O r t m a n n , dem Leiter
des Museums des Merseburger Geschichtsvereins,
ist ein sehr interessanter hallstattzeitlicher I'und
mit Kulturpflanzen- und Unkrautresten in einer
Herdgrube bei Braunsdorf, Kr. Querfurt gemacht
worden. In dem Funde befanden sich Weizen,
Gerste, Vicia Faba (Saubohne), Linum usitatissi-
mum (Flachs), Camelina sativa (Gebauter Lein-
dotter oder Butterraps; auf Äckern als schädliches
Unkraut hauptsächlich bei Lein vorkommend, aber
464
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 29
auch zur Ölgewinnuiig gebaut), Avena fatua (Wild-
hafer), der hier wohl zum ersten Male prähistorisch
sicher nachgewiesen und im Hinblick auf die
Frage nach der engeren Heimat des Kulturhafers
von ungeheurer Bedeutung ist, ^) und schließlich
Agustemma Githago (rote Kornrade), die aus prä-
historischen Funden nur zweimal bekannt war.
Herr Prof. Dr. August Schulz hat diese
Braunsdorfer Pflanzenreste sorgfältig untersucht
und bestimmt; wir dürfen von ihm eine ausführ-
liche Abhandlung hierüber im 85. Bande der Zeit-
schrift für Naturwissenschaften erwarten.
2. Gleichberg bei Römhild (Sachsen -
M ei ni n gen).
Am kleinen Gleichberge bei Römhild — vgl.
Naturw. Wochenschrift 1914, S. 295 — hat Herr
Technikumslehrer Kumpel aus Hildburghausen
einen zweiten Fund von Getreide in einer Wohn-
grube — wohl aus der Latenezeit (500 v. Chr.
Geb. bis um Chr.) — entdeckt. Der Fund ent-
hält — nach einer freundlichen Mitteilung des
Herrn Kumpel — ,, nur Weizen einer Sorte und
zwar in ganz anderen Körnern als der erste Fund".
Herr Kumpel wird darüber selbst ausführlich
— hoffentlich bald — berichten.
Herr Kumpel hat übrigens brieflich seine
von mir angezweifelte Datierung des ersten Ge-
treidefundes am kleinen Gleichberge in die Bronze-
zeit aufrecht gehalten. Mir persönlich fehlt jeg-
liche nähere Kenntnis des Geländes und ich ver-
mag mich deshalb über die sichere Zeitstellung
des Fundes nicht bestimmt zu äußern. Es steht
aber zu erwarten, daß der beste Kenner des
Gleichberges, Herr Prof. Dr. A. Götze, dem-
nächst ausführlich zu dieser Frage Stellung nehmen
wird.
3. Burg Kyffhäuser bei Kelbra,
Kr. Sangerhausen.
Herr Klempnermeister Ed. Gü nth er-Roßla
hat in der l'luine der Burg Kyffhäuser, die nach
Zerstörung einer früheren (von Heinrich V. er-
bauten) Burg II 52 durch Friedrich Barbarossa
wiederhergestellt wurde, einen Getreidefund ent-
deckt, der ebenfalls von Herrn Prof. Dr. Schulz
untersucht ist und über den wir von diesem be-
rufenen Forscher gleichfalls einen Bericht erwarten
dürfen. Ich erwähne nur, daß das Getreide zum
Roggen und zu Triticum compactum globiforme
gehört, eine Sorte, die bisher nur prähistorisch
bekannt war.
Dieser P"und vom Kyffhäuser gehört , da er
mittelalterlich ist, eigentlich nicht in den Rahmen
dieses Aufsatzes hinein; ich hielt es jedoch für
angebracht, auf ihn infolge seiner Wichtigkeit auch
in diesem Zusammenhange hinzuweisen.
Durch die zwei neuen Funde von Braunsdorf
und Römhild ist die Zahl der vorgeschichtlichen
Getreidefunde aus den thüringisch - sächsischen
Ländern auf zehn gestiegen. Hoffentlich vermehrt
sich das Material im Laufe der Jahre entsprechend
weiter! Hugo Mötefindt, Wernigerode.
Literatur.
Schrenck-Notzing, Dr. Freiherr v., Der Kampf um
die Materialisationspliänomene. Eine Verteidigungsschrift. Mit
20 Abbild, u. 3 Tafeln. München '14, E.Reinhardt. I,6oMk.
Brauns, Prof. Dr. Reinhard, Vulkane und Erdbeben.
Mit 74 Abbild, u. 6 Tafeln. Leipzig '14, Quelle & Meyer.
Ueb. 1,80 Mk.
Himmel und Erde. Volksausgabe. Lieferung 12. Berlin-
München-Wien, .Allgemeine Verlagsansialt. 60 Pf.
Beiträge zur Kenntnis der Land- und Süßwasserfauna
Deutsch-Südwestafrikas. Ergebnisse der Hamburger Studien
reise 1911. Herausgegeben von W. Michaelsen. Lieferung I
12 Mk. Beiträge zur Kenntnis der Meeresfauna Westafrikas,
Herausgegeben von demselben. Lieferung I. Hamburg '14,
L. Friederichsen. 6 Mk.
Jahrbuch f. d. Gewässerkunde Norddeutschlands. Her^
ausgegeben von der Preuß. Landesanstalt f. Gewässerkunde
Besondere Mitteilungen Bd. 2 (Heft 4). Der Zusammenhang
der Rhumei)uelle mit der Oder und Sieber von Karl Thürnau,
Berlin '14, S. Mittler. 2 Mk.
') ^'s'- H o o p s , Waldbäume und Kulturpflanzen im
germanischen Altertum. S. 300.
Am'egungen und Antworten.
Herrn Lehrer Hauerstein, Nürnberg. — Werke über die
fossilen Reptilien bzw. über das „Zeitalter der Reptilien". —
Besonders reiches Bildermaterial , und zwar von ganzen Ske-
letten, also Rekonstruktionen findet man in A. Smith-
Wood ward's ,, Outlines of Vertebrate Palaeontolugy" (Cam-
bridge 1898). Wie der Titel sagt, beschränkt das Werk sich
nicht auf Reptilien. Eine derartige Darstellung von allge-
meinverständlichem Charakter ist mir in der Paläontologie
überhaupt bisher nicht bekannt. Auch nicht in geologischer
Abgrenzung („Zeitalter der Reptilien"). Die Themata pflegen
weiter gefaßt zu werden. Ich erwähne die ausgezeichnete,
wenn auch nicht ganz neue Arbeit von E. Koken: „Die Vor-
welt" (Leipzig 1893). D'^ neueren Lehrbücher in deutscher
und französischer Sprache sind naturgemäß für den Fachmann,
aber doch für den studierenden abgefaßt (Zittel, Kayser, Hang).
Eine Sammlung paläontologischer Projektionsbilder war vor
kurzem in Vorbereitung, doch ist mir über den Stand des
Unternehmens nichts bekannt. E. Hennig.
InhaDt; Schoy; Grundzüge einer vergleichenden Geo- und Aphroditographie (Erd- und Abendsternkunde). Nachtsheim;
Das Verhalten der Bienenkönigin und anderer Hymenopterenweibchen bei der Eiablage. — Einzelberichte: Michel:
Unterschiede zwischen Birma- und Siamrubinen. Mauriac undStrymbau: Der Cholesteringehalt des Blutes.
Gruber; Toxinwirkungen, welche die Anwesenheit der Trichinen im Körper bedingt. Riem: Kometenfarailie des
Neptun. Halle und Pribram: Neue Beiträge zur Chemie des Tabaks. Will: Das Hexanitroäthan. — Bücher-
besprechungen: Andree: Über die Bedingungen der Gebirgsbildung. Kalähne: Grundzüge der mathematisch-
physikalischen Akustik. Gesellschaft für Linde's Eismaschinen, Abteilung für Gasverflüssigung. Abderhalden: Ab-
wehrfermente des tierischen Organismus gegen körper-, blutplasma- und zellfremde Stofl'e. Verworn: Erregung und
Lähmung. Barthel: Die Erde als Totalebene. Doliarius: Alle Jahreskalender auf einem Blatt. Swart: Die
Stoffwanderung in ablebenden Blättern. Smiles: Chemische Konstitution und Physikalische Eigenschaften. Lehrbuch
der vergleichenden mikroskopischen Anatomie der Wirbeltiere. Bragg: Durchgang der a-, 3-, •/■ und Röntgenstrahlen
durch Materie. — Kleinere Mitteilungen: Mötefindt; Weitere Zerealienfunde vorgeschichtlicher Zeit aus den thü-
ringisch-sächsischen Ländern. — Literatur; Liste. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. M i e h e in Leipzig, Marienstraße 1 1 a, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Nene Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29 Band,
Sonntag, den 26. Juli 1914.
Nummer 30.
Neuere Untersuchungen über den Farbensinn der Fische.
[Nachdruck verboten.]
Die Sinnespsychologie der Fische gehört zwar
zu den am gründlichsten bearbeiteten Gebieten
der Tierpsychologie, dennoch aber ist diese Ar-
beit bisher nicht in dem Sinne von Erfolg gekrönt
gewesen, daß sie zu feststehenden positiven Re-
sultaten geführt hätte, vielmehr hat sie bisher zur
Entwicklung recht widersprechender Theorien
Anlaß gegeben. Man braucht nur an die ver-
schiedenen Hypothesen über die Funktion der
Seitenorgane zu denken — , obzwar gerade dieses
Problem dank den Untersuchungen Hofer 's
neuerdings geklärt zu sein scheint, — an den
Streit über den Einfluß des Labyrinthes auf die
Regulation des Gleichgewichtes, an die lebhaften
Diskussionen über das Hörvermögen, über die
Verbreitung und die Bedeutung des Geruchs-
sinnes usw., um zu erkennen, wieweit alle diese
PVagen noch von einer endgültigen Lösung ent-
fernt sind.
Der Farbensinn der Fische ist erst relativ spät
einer Analyse unterzogen worden, deren Methodik
den Erfordernissen einer wissenschaftlichen Farben-
lehre genügt, und V.Heß, dessen Untersuchungen
auf diesem Gebiet bahnbrechend gewirkt haben,
glaubt auf Grund zahlreicher Beobachtungen be-
haupten zu können, daß der Lichtsinn der Fische
ebenso wie derjenige der Wirbellosen dem des
total farbenblinden Menschen entspricht, daß die
Fische also die einzelnen Farben nicht nach ihrer
spezifischen Farbqualität, sondern nur nach ihrem
farblosen Helligkeitswert zu unterscheiden ver-
mögen. Den Beobachtungen von v. H e ß stehen
jedoch zum Teil die Angaben anderer Forscher
entgegen, über deren Beweiskraft man verschie-
dener Ansicht sein kann, die jedoch in einem
objektiven Bericht über den gegenwärtigen Stand
des Problems keineswegs mit Stillschweigen über-
gangen werden dürfen.
Eine brauchbare Handhabe zur Erforschung
des Farbensinnes bieten in erster Linie die sog.
„phototaktischen" Erscheinungen, deren Vorhanden-
sein bei Larven und Jungfischen namentlich von
Franz (0) festgestellt wurde. Geht man nämlich
von der Tatsache aus, daß bestimmte Arten stets
die hellsten, andere die dunkelsten Stellen ihrer
Umgebung aufsuchen, so läßt sich aus dem Ver-
halten der Tiere gegen Strahlen von verschiedener
Wellenlänge ein Schluß auf die Helligkeit ziehen,
in der sich ihnen die verschiedenen Farben dar-
stellen, — vorausgesetzt natürlich, daß die Farben
keine spezifische, von der Helligkeit unabhängige
Wirkung ausüben. Unter Anwendung dieser
Methode gelangte v. Heß (16, 18, 19) zu dem
Von Privaldozent Dr. Gustav Kafka, München.
bereits angedeuteten Ergebnis, daß besonders die
Jungfische gewisser positiv phototaktischer Arten
(von Seefischen namentlich Atlicn'iia Jirpsd/ts,
A/iigü und Sargus (?), von Süßwasserfischen
Lrncisciis , Alburnus, Squalnis (.?) und Karpfen),
das Spektrum in der gleichen Hellig-
keitsverteilung perzipieren, wie das dunkel-
adaptierte oder total farbenblinde mensch-
liche Auge, d. h. am hellsten in der Gegend des
Grüngelb, und das Blau erheblich heller als das
Rot. V. Heß stützt seine Hypothese auf die
Beobachtung, daß die Tiere, wenn man in dem
allseitig verdunkelten Aufbewahrungsgefäß ein
Spektrum entwirft, stets in die Gegend des Grün-
gelb schwimmen und, wenn sie durch Vorschieben
eines schwarzen Kartons in andere Gegenden
des Spektralstreifens gedrängt werden, nach dem
Fortziehen des Kartons alsbald wieder in das
Grüngelb zurückkehren, und daß sie von zwei
verschiedenfarbig beleuchteten Bassinhälften stets
diejenige aufsuchen, welche für das dunkeladap-
tierte menschliche Auge den größten Helligkeits-
wert besitzt. ') Die Annahme einer spezifischen
Wirkung bestimmter Strahlen widerlegt v. Heß
durch den Nachweis, daß man die Tiere zum
Aufsuchen jeder beliebigen Farbe veranlassen
kann, wenn man deren Intensität genügend erhöht.
Umgekehrt gelingt es nur dann, zwischen zwei
verschiedenen Farben oder zwischen farbigen und
farblosen Lichtern Helligkeitsgleichungen herzu-
stellen, d. h. eine gleichmäßige Verteilung der
F'ische in beiden Bassinhälften herbeizuführen, wenn
die Helligkeitswerte der Versuchslichter für das
dunkeladaptierte Auge übereinstimmen. Weiterhin
konnte v. Heß feststellen, daß die für das farben-
blinde menschliche Auge charakteristische Ver-
kürzung im roten Ende des Spektrums auch für
das Fischauge besteht, weil sich die Fische durch
das Vorschieben eines Kartons von dem kurz-
welligen gegen das langwellige Ende des Spek-
trums nur bis ins Gelbrot drängen lassen, sich
dagegen regellos im Gefäß verteilen, sobald der
Karton nur mehr das äußerste rote Ende des
Spektrums frei läßt. Beim Antpliioxus fand
v. Heß ebenfalls, daß die Kurve der photokineti-
schen Reizwerte der homogenen Lichter annähernd
der Kurve ihrer farblosen Helligkeitswerte ent-
spricht. Diese Übereinstimmungen zwischen dem
Lichtsinn der Fische und des farbenblinden Men-
') In einer primitiveren Form wurde diese ,,Walilmctliode"
(vgl. 22, 370) bereits von Graber angewendet, doch sind
seine Resultate wegen der Vernachlässigung des farblosen
Ilelligkeitswerles der verwendeten Lichter wenig verwertbar.
466
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr.
30
sehen betrachtet v. Heß als ebensoviele Argumente
gegen das Vorhandensein einer qualitativen
FarBenunterscheidung bei dem untersten Stamm
der Wirbeltiere.
Eigentümlicherweise gelangte Bauer bei
seinen Versuchen über den Farbensinn der Fische
(I, 3) zu Resultaten, die zum Teil erheblich von
denen v. Heß' abweichen. Bauer verwendete
nicht ganz dieselbe Methode wie v. Heß, indem
er die Tiere in einem sog. „Phototaxistrog" be-
obachtete, einem innen geschwärzten, aber oben
unbedeckten Gefäß , das von einer Schmalseite
her durch Vorhalten verschiedenfarbiger Papiere
oder durch Einschaltung verschiedenfarbiger Gläser
verschiedenes Licht empfangen konnte. Während
nun die Reaktionen der dunkeladaptierten Tiere
im wesentlichen mit den Angaben von v. Heß
übereinstimmten, fand Bauer, daß sich Charax
funtnz::o, wenn er sich zuvor längere Zeit im
Hellen befunden hatte, gegen rotes Licht nicht
bloß indifferent verhielt, sondern sich, trotz seiner
positiven Phototaxis, von der roten Lichtquelle
fortbewegte; desgleichen, daß helladaptierte
Atherinen im Spektrum stets vom Rot weg-
flohen, sich durch Vorschieben eines schwarzen
Schirmes niemals ins Rot treiben ließen, sondern
die verdunkelten Bassinteile den rot beleuchteten
vorzogen, und sich bei Anwendung der ,, Wahl-
methode" in einem Blau ansammelten, das ihnen
im Zustand der Dunkeladaptation — ihren photo-
taktischen Reaktionen nach zu schließen — er-
heblicher dunkler erschien als ein gleichzeitig
dargebotenes Rot. Auch konnte Bauer bei
helladaptierten (.7/()';'(7.v-Individuen eine Verkürzung
des Spektrums im Rot nicht beobachten. Bi>x
salpa wiederum zog zwar im dunkeladaptierten
Zustand, seiner negativen Phototaxis zufolge , das
hellere Weiß der blauen Farbe vor, im helladap-
tierten Zustand dagegen begab er sich ins Blau,
obgleich dieses naturgemäß weniger lichtstark
war als das Weiß, und suchte auch im Spektrum
stets die Gegend des Blau auf.
Der Gegensatz zwischen der Phototaxis der
untersuchten Fische und ihrer „Rotscheu" oder
„Blauvorliebe" läßt sich nach Bauer nur durch
eine spezifische Wirkung der genannten Farben
erklären. Daß dieser Gegensatz im Zusammen-
hang mit Adaptationsphänomenen stehe , scheint
Bauer auch deshalb wahrscheinlich, weil er bei
Aliigil , Athcriiia und Sargiis ein Analogon des
Pu rkin j e'schen Phänomens, d. h. ein Über-
wiegen der Wirkung kurzwelliger über langwellige
Strahlen im dunkeladaptierten Auge, nachweisen
zu können glaubte. Die Tiere nämlich , die im
Zustand der Helladaptation ein bestimmtes Grün
einem bestimmten Blau vorzogen, trafen im Zu-
stand der Dunkeladaptation die entgegengesetzte
Wahl zwischen beiden Farben.
Den Angaben Bauer's gegenüber verharrte
V. Heß (17, 18) auf seinen früheren Befunden
und betonte insbesondere, daß seine Beobachtungen
sowohl an dunkel- wie an helladaptierten Fischen
angestellt worden seien, und daß es bei den hell-
adaptierten Individuen nur einer Verstärkung der
Gesamthelligkeit des Spektrums bedürfe, um die-
selben Reaktionen hervorzurufen wie bei den
dunkeladaptierten. Von den Einwänden, die er
gegen die Methodik Bauer's erhob, ist der eine
zweifellos berechtigt, daß Bauer nicht im Dunkel-
zimmer experimentierte und daher eine gewisse
Unübersichtlichkeit der Versuclisbedingungen
schuf Auch die Heranziehung des Purkinje-
schen Phänomens will v. Heß nicht gelten lassen,
vielmehr sieht er die Bedeutung des Adaptations-
zustandes für die Farbenwahrnehmung der F"ische
lediglich darin (18), daß im dunkeladaptierten
Auge das bräunlich-gelbe Pigment zwischen die
perzipierenden Elemente vorrückt, die kurzwelligen
Lichtstrahlen stärker absorbiert und dalier ihre
Wirksamkeit beeinträchtigt. Dieser geringere
Helligkeitswert, den das Blau für das dunkel-
adaptierte Fischauge besäße , wäre aber natürlich
eine dem Purk inj e'schen Phänomen entgegen-
gesetzte Erscheinung. Im übrigen bestreitet
v. Heß die Richtigkeit der Angaben Bauer's,
so daß sich auf diesem Gebiet die Anschauungen
beider Forscher über die beobachteten Tatsachen
schroff gegenüberstehen und daher vorläufig keine
einheitliche theoretische Deutung zulassen.
Eine andere Methode zur Analyse des Farben-
sinnes besteht in der Feststellung der synchro-
matischen Farbenänderungen , welche gewisse
Fische auf verschieden gefärbten Unterlagen er-
leiden. Dieses Phänomen wurde bereits von
Pouchet (28) zum Gegenstand eingehender Be-
obachtungen gemacht und hat seither das Inter-
esse der Forscher immer Avieder auf sich gezogen.
Das Ergebnis der bisherigen Lhitersuchungen —
die Literatur bis 1906 siehe bei v. Rynberk (31),
die spätere wird sich vollständig bei Fuchs (1-1)
finden — läßt sich kurz folgendermaßen zu-
sammenfassen: Die Farbenänderungen kommen
durch die Tätigkeit von Ciiromatophoren zustande,
pigmentierter Zellen , die sich meist in einer für
die betreffende Art charakteristischen Anordnung
in der Haut verteilen, mit verschiedenfarbigem
Pigment versehen sind und sowohl von einem
zerebralen wie von einem medullären Zentrum
aus auf dem Weg über das sympathische Nerven-
system in einem tonischen Kontraktionszustand
erhalten werden. Die Erregung der Kolorations-
zentren bewirkt eine verstärkte Kontraktion, ihre
Zerstörung eine Expansion der l'igmentzellen.
Die beschriebenen Innervationsverhältnisse dürften
nach den Untersuchungen v. Frisch's (7,9) für
alle Teleostier und für alle Arten von Pigment-
zellen die gleichen sein.
Auch die adaptativen Farbenänderungen scheinen
wenigstens zum Teil nur von der Helligkeit und
nicht von der Farbqualität der Umgebung abzu-
hängen und werden in diesem Fall vornehmlich
durch Veränderungen im Kontraktionszustand der
schwarzen Pigmentzellen oder Melanophoren her-
beigeführt. Über den Zusammenhang der Farben-
N. F. XIII. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
46
/
Labriden (Crciiüahrus)
Karauschen und Fluß-
regulation mit dem optischen Apparat liegen be-
reits ijenügend zahlreiche Beobachtungen vor, um
feststellen zu können, daß eine Anpassung der Tiere
an ihre Unterlage nur durch die Augen vermittelt
wird, da nach Blendung bei Hechten (24), Bart-
grun'deln (33), Schollen (36), Cyprinoiden, Salmo-
niden (7) und Labriden (S, 11) die Tiere stets eine
dunklere Färbung annehmen und die Fähigkeit
zur .Anpassung an die Unterlage verlieren. Diese
Dunkelfärbung kann jedoch, wie v. Frisch an
seinen Versuchstieren konstatierte, einige Wochen
nach der Operation wieder verschwinden oder
sogar einer helleren Färbung Platz machen, ohne
daß sich allerdings die Fähigkeit der Farben-
anpassung wieder herstellte. Auch der Farben-
wechsel, mit dem die Tiere jede Beunruhigung
beantworten (s. u.), wird durch die Operation
nicht beeinträchtigt. Bei
und Cyprinoiden (Pfrillen,
barschen), weniger deut-
lich bei Salmoniden und
Aalen, besteht ferner ein
direkter Einfluß des
Lichtes auf die Färbung,
indem die geblendeten
Tiere im Licht einen dunk-
leren, im Dunkel einen
helleren Farbton anneh-
men. Bei den Pfrillen konn-
te v. Frisch nachweisen
(7), daß die Farbwechsel-
reaktionen der geblende-
ten Tiere von der Pineal-
gegend des Gehirnes aus-
gelöst werden, an welcher
das seiner Funktion nach
sonst wenig erforschte
unpaare Medianauge liegt.
Wie es sich bei den
übrigen Arten verhält,
ist noch nicht bestimmt,
doch scheint eine un-
mittelbare Einwirkung des
Lichtes auf die Chromatophoren nicht stattzufinden.
Insbesondere konnte v. Lyrisch (9) auf Grund
histologischer Untersuchungen die Hypothese
SeO erov's (33) nicht bestätigen, daß die Farben-
anpassung bei den Bartgrundeln eine mechanische
im Sinne Wiener's (38, vgl. 22, 448) sei, indem
sich der schwarze Farbstoff der Melanophoren
unter der Einwirkung einer bestimmten P'arbe
so lange zersetze, bis er die Beleuchtungsfarbe an-
genommen habe, die, da sie nicht mehr absorbiert
werde, auch keine chemischen Veränderungen
hervorzurufen vermöge. Die gegen v. Frisch
gerichtete Antikritik Sererov's (35) erscheint
nicht überzeugend.
Auffallenderweise sind die Reaktionen der ge-
blendeten Fische auf Intensitätsänderungen der
Beleuchtung den Farbwechselreaktionen gerade
entgegengesetzt, welche unter Vermittlung der
Augen durch die Beschaffenheit der Unterlage be-
stimmt werden, da sich die Tiere an einen hellen
und an einen dunklen Grund in der Helligkeit
ihrer Körperfärbung zweckmäßig anzupassen ver-
mögen (Fig. i). Zugleich hat sich aus den oben
angeführten Versuchen Mayerhofe r's, Sece-
rovs, Sumners und v. Frisch 's überein-
stimmend ergeben, daß der P'arbwechsel tatsäch-
lich durch die Farbe des Grundes und nicht durch
die Farbe des oberhalb liegenden Teils der Um-
gebung modifiziert wird. So stellten Mayerhofe r
und Secerov fest, daß beim Hecht und bei der
Bartgrundel die charakteristische, durch Expansion
der Chromatophoren bewirkte Anpassung an einen
dunklen Grund nur dann eintritt, wenn sich das
Tier auf einer dunklen Unterlage befindet und von
oben beleuchtet wird, aber nicht, wenn das Licht
von unten einfällt und das Gefäß mit einer schwarzen
Kappe bedeckt ist, und Sumner beobachtete,
daß bei den Schollen infolge der eigenartigen An-
Fig. I.
Rhomboiduhthys pcitlas , /\ nach 4 tägigem Aufenthalt auf schwarzem Sand, B nach
I4tägigem Aufenthalt auf einem weißen Marmorboden. Nach Sumner.
Ordnung ihrer Augen zwar nicht der Grund allein,
sondern auch die unteren Teile der vertikalen Ge-
fäßwände die Färbung beeinflussen, daß sich aber
dieser Einfluß der Gefäßwände selbst im günstigsten
P^all nicht weiter als bis zu einer Höhe von ca.
4'/2 cm erstreckt.
v. Frisch fand (7), daß bei Forellen ein Ver-
kleben der unteren Augenhälften, also eine Aus-
schaltung der oberen Netzhautpartien, stets den
gleichen oder sogar noch einen stärkeren Erfolg
hatte wie das Versetzen auf einen dimkeln Boden,
daß dagegen auf einem weißen Boden das Ver-
kleben der oberen Augenhälften, also die Aus-
schaltung der unteren Netzhautpartien, ohne Wir-
kung auf die (helle) Färbung der Tiere blieb.
Daß die Forellen im ersteren Fall eine dunklere
P"ärbung annahmen als nach totaler Verdunklung
der Augen, führt v. F r i s c h auf Kontrastphä-
nomene zurück, welche zwischen den durch Ver-
468
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 30
kleben der unteren Augenhälften verdunkelten
oberen Netzhautpartien und den durch direkte
Beleuchtung von oben erhellten unteren Netzhaut-
partien auftreten, und stützt diesen Schluß auf die
Beobachtung, daß auf dunklem Boden auch die
totale Verdunklung eines einzigen Auges eine
dunklere Färbung der Fische herbeiführt als die
totale Verdunklung beider Augen. Denn wenn
man von der Annahme einer (konsensuellen)
Kontrastwirkung zwischen oberen und unteren
Netzhautpartien ausgeht, wird bei totaler Verdunk-
lung des linken Auges die Wirkung, welche die
Verdunklung der oberen Netzhautpartien des linken
Auges auf die Chromatophorentätigkeit ausübt,
durch die Erhellung unterstützt, welche die unteren
Netzhautpartien des rechten Auges erfahren, wäh-
rend das diffuse Licht, welches von der schwarzen
Unterlage und dem Glasboden des Aquariums in
die oberen Netzhautpartien des rechten Auges
reflektiert wird, die Kontrastwirkung nicht erheb-
Fig. 2. Schema der Kontrastwirkungen im Fischauge.
Die schraffierten Felder bedeuten verdunkelte, die punktierten
diffus und die weißen direkt beleuchtete Netzhautpartien.
Das Nähere siehe im Text.
lieh beeinträchtigt (Fig. 2 A). Eine Herabsetzung
der Kontrastwirkung und damit eine Aufhellung
der Körperfärbung tritt vielmehr erst dann ein,
wenn die obere Hälfte des rechten Auges ver-
klebt wird und die Verdunklung der unteren Netz-
hautpartien des rechten Auges der Verdunklung
der oberen Netzhautpartien des linken Auges ent-
gegenwirkt (Fig. 2B). Dagegen wird der anta-
gonistische Effekt einer diffusen Beleuchtung der
rechten oberen Netzhautpartien vollkommen aus-
geschaltet und dadurch eine maximale Verdunk-
lung der Körperfärbung herbeigeführt, wenn die
rechte untere Augenhälfte verklebt wird, so daß
die oberen Netzhautpartien des rechten Auges
maximal verdunkelt, die unteren maximal erhellt
erscheinen (Fig. 2C). Es besteht also offenbar in
der funktionellen Ausbildung der Augen eine analoge
Wechselwirkung der verschiedenen Netzhautstellen
wie bei gewissen Crustaceen (vgl. 22, 449), nur
daß es sich dabei nicht um Kontrastphänomene
zwischen beliebigen Netzhautpartien handelt, son-
dern die Reaktion stets durch die obere, biologisch
wichtigere Augenhälfte bestimmt wird.
Nach den Angaben Buytendyk's (5) hat bei
Tarbutten eine allgemeine Verdunklung des Ge-
sichtsfeldes sogar überhaupt keinen Erfolg, adap-
tative Änderungen der Körperfarbe sind vielmehr
nur nach partieller Verdunklung wahrzunehmen.
Die Wichtigkeit der Kontrastphänomene für die
Regulation der Körperfärbung wird durch eine
weitere Beobachtung Sumners an Schollen be-
stätigt (36), daß die Wirkung des Grundes in
weitem Umfange von der absoluten Intensität der
Beleuchtung unabhängig ist, daß also ein grauer
Grund unter allen Umständen eine Verdunklung,
ein weißer Grund unter allen Umständen eine
Aufhellung der Körperfarbe hervorruft, selbst wenn
die Lichtintensitäten, mit denen man beide Unter-
lagen beleuchtet, in der Weise abgestuft sind, daß
der graue Grund eine größere absolute Lichtmenge
reflektiert als der weiße. Diese Tatsache ist ver-
mutlich dem aus der Lehre vom menschlichen
Lichtsinn bekannten Phänomen der „Gedächtnis-
farben" (Hering) zu subsumieren, und es bedarf
daher zu ihrer Erklärung nicht der Hypothese
eines „Vergleiches", den der P'isch zwischen seiner
Körperoberfläche und der LTnterlage oder zwischen
der Intensität des einfallenden und des reflektierten
Lichtes zu ziehen hätte; vielmehr dürfte sie sich
in derselben Weise wie die Gedächtnisfarben auf
eine Wechselwirkung der verschiedenen Netzhaut-
stellen zurückführen lassen, welche durch adapta-
tive Veränderungen im Sinne der Gültigkeit des
Web er 'sehen Gesetzes unterstützt würde.
Die Frävalenz der oberen Netzhautpartien
scheint ferner darauf hinzudeuten, daß von hier
aus die wichtigsten afferenten Bahnen zu den
Kolorationszentren führen. Ein weiterer Hinweis
auf die Innervationsverhältnisse liegt in den Be-
obachtungen über die Wirkung einseitiger Blendung.
Diese Operation hat nach v. Frisch (7) bei
Cyprinoiden eine beiderseitige Verdunklung (die
in kürzerer Zeit abklingt als nach beiderseitiger
Blendung), bei den Salmoniden eine auf die ge-
kreuzte Körperseite beschränkte Verdunklung zur
Folge, was vermutlich mit einer verschiedenen Aus-
bildung zentraler Kommissuren zusammenhängt.
Interessant ist ferner die von Mast (23) be-
stätigte Beobachtung Sumner's (3G), daß sich
die Schollen nicht nur in ihrem Farbton an die
Helligkeit der Umgebung anpassen, sondern auch
die Musterung des Grundes bis zu einem gewissen
Grad nachzuahmen vermögen; zwar ist die Varia-
bilität ihrer Zeichnung durch die Konstanz der
Punkte beschränkt, an denen eine Aufhellung oder
Verdunklung eintreten kann, dennoch pflegt aber,
durch eine verschieden weit gehende Kontraktion
oder Expansion des Pigmentes, auf einem grob
N. F. Xm. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
469
gemusterten Grund eine grobe, auf einem fein ge-
musterten eine feinere Zeichnung zu entstehen
(F'S- 3)- ^s "^'J'^ daher die ÜLialität der von den
Kolorationszentren ausgehenden Erregungen auch
durch die Abstände der gereizten Netzhautpartien
voneinander in irgendeiner Weise modifiziert
werden.
Ein von v. Rynberk (32) behaupteter, von
Suniner (30) geleugneter Einfluß der von der
Bodenfläche ausgehenden taktilen Reize auf die
Körperfärbung scheint sich nach den Untersuch-
ungen von P o 1 i in a n t i (27) darauf zu beschränken,
daß ein ganz ebener oder ein mit größeren Steinen
bedeckter Boden einen lästigen Reiz ausübt, der
die Tiere zu beständigem Umherschwimmen ver-
anlaßt, und daß diese dynamogene Wirkung in-
direkt auf den Chromatophorenmechanismus über-
greift.
Wie bereits im frühe-
ren angedeutet wurde,
sind die Reaktionen der
farbigen Pigmentzclien
im wesentliclien mit
denen der Melanoplioren
identisch. Ihr Tonus
wird ebenfalls durch ein
zerebrales und ein medul-
läres Kolorationszentrum
in der Weise reguliert,
daß Erregung des Zen-
trums eine Kontraktion,
seine Ausschaltung eine
Expansion der Pigment-
zellen bewirkt, und die
synchromatische Anpas-
sung an die Unterlage wird
nur durch Impulse vermit-
telt, die dem Kolorations-
zentrum vom Auge aus zu-
fließen, da nach Blendung
die adaptativen Verände-
rungen verschwinden ')
und nur mehr ein durch
„psychische Erregungen"
(v. Erisch), d. h. durch störende Einwirkungen
beliebiger Art bedingter Farbwechsel erhalten
bleibt. Dieser „emotionale" I<"arb\vechsel kann
sich bei gewissen Arten in einer Aufhellung, bei
anderen wieder in einer Verdunklung äußern, und
besonders bei den Pfrillen unterscheiden sicli die
sehenden Individuen von den geblendeten dadurch,
daß bei jenen die „psychische Erregung" eine
Aufhellung, bei diesen dagegen eine Verdunklung
und meist auch eine Rotfärbung zur P^olge hat (9).
Ein charakteristischer Unterschied zwischen farbigen
und schwarzen Pigmentzellen besteht nur darin,
daß die Reaktionen der ersteren bedeutend lang-
samer verlaufen.
Die Untersuchung der synchromatischen Phäno-
mene hat nun zugleich zu Resultaten geführt, welche
gewisse Aufschlüsse über den P'arbensinn der
Fische zu erteilen scheinen, v. Frisch beobach-
tete nämlich (8, 9), daß sich Pfrillen (Plioxüms
lacvis) an roten und gelben Grund durch Expan-
sion ihrer gelben und meist auch ihrer roten
Chromatophoren adaptieren, auf blauem, grünem
und violettem Grund dagegen die gleiche Färbung
zeigen wie auf einer farblosen Unterlage, indem
sie die farbigen Chromatophoren kontrahieren.
Daß es sich dabei um eine spezifische Wirkung
m
m
Fig. 3. KhomhoUlichthys poi
betreuenden Muster.
') Daß eine gelegentlich beobachtete Farbenanpassung
geblendeter Bartgrundeln durch eine Erregung des Opticus-
stumpfes zustande kommen könnte (34), erscheint mehr als
fraglich; vielleicht handelt es sich in diesem Falle, der sich
noch dazu bei einer Wiederholung der Versuche nicht be-
stätigen ließ, um eine Perseverationstendcnz der Anpassung an
eine, kürzere oder längere Zeit vor der Operation verwendete
Unterlage, wie sie von Bauer (2), Buytendyk (5) und
Sumner (.36) bei Schollen nachgewiesen wurde, oder um zu-
fällige Erscheinungen, wie sie y. Frisch (!)) bei Crciiüabnis
roissa/i beobachtete,
las, A nach ötägigem, B nach 3t3gigem Aufenthalt auf dem
(Verkl. in beiden Fällen ca. '/a)- Nach Sumner.
der gelben und der roten Farbe und nicht etwa
bloß um die Wirkung verschiedener flelligkeits-
werte der verwendeten Farben handelt, erschließt
V. Frisch aus folgendem Experiment. Er suchte
eine Helligkeitsgleichung zwischen gelben oder
roten und grauen Papieren in der Weise herzu-
stellen, daß er zwei Fische, deren Chromatophoren-
mechanismus mit der gleichen Präzision funk-
tionierte und die auf HelHgkeitsänderungen durch
übereinstimmende adaptative Veränderungen re-
agierten, abwechselnd auf eine farbige und eine
farblose Unterlage versetzte und die Helligkeit
der farblosen Unterlage durch Verwendung einer
Serie grauer Papiere so lange variierte, bis die
Fische beim Übertragen von der einen auf die
andere Unterlage ihre Helligkeit nicht mehr ver-
änderten. Unter diesen Bedingungen zeigten die
tische auf der farbigen Unterlage nach einiger
470
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 30
Zeit, im Gegensatz zu den auf dem farblosen
Grunde gehaltenen Kontrolltieren, immer eine
deutliche gelbe und, wenn sie zur Expansion der
roten Chromatophoren überhaupt befähigt waren,
an bestimmten Stellen (Maul, Rücken, Augen-
gegend, Unterflossen) auch eine rötliche F"ärbung.
Bei allmählicher Aufhellung eines gelben und
eines blaugrünen Grundes (durch Verdünnung der
verwendeten Strahlenfilter) trat die Gelbfärbung
ebenfalls nur auf der gelben Unterlage auf, wäh-
rend sie doch offenbar auch auf dem blauen
Grunde bei einer bestimmten Lichtstärke hätte
stattfinden müssen, wenn bloße Helligkeitsdifferen-
zen für die Färbung maßgebend wären.
Gegen die Versuche v. Frisch 's erhob je-
doch V. Heß ("20) verschiedene Einwände, die
sich zum Teil gegen die Methodik, zum Teil
gegen die Interpretation der Beobachtungen
V. Fr isch's richteten. Die Methodik v. Frisch 's
erschien v. Heß deshalb ungeeignet, weil in
seinen eigenen Experimenten die Helligkeits-
anpassung der Pfrillen an farblose Unterlagen so
ungenau war, daß sich Helligkeitsgleichungen aus
der Färbung der Tiere überhaupt nicht ableiten
ließen. Überdies leugnete v. Heß den Eintritt
einer Gelbfärbung auf gelbem Untergrund.
V. Frisch stellte jedoch in seiner ersten Replik
(10) fest, daß v. Heß eine Versuchsanordnung
verwendet hatte, in welcher den Fischen die Farbe
nur unter einem relativ kleinen Gesichtswinkel in
einer farblosen Umgebung erscheinen konnte, und
wies zugleich nach, daß die Helligkeitsanpassung
der Pfrillen keineswegs so ungenau sei, wie
v. Heß behauptet hatte, sondern sich bereits bei
Helligkeitsdifferenzen deutlich äußere, die für das
menschliche Auge nur eben merklich seien. Als
weitere Bestätigung seiner früheren Beobachtungen
führte er an, daß Pfrillen, die nach Herstellung
einer Helligkeitsgleichung zwischen einem hell-
gelben und einem grauen Papier auf ein dunkel-
gelbes Papier versetzt werden, eine deutliche Ver-
dunkelung erfahren, daß also der Helligkeitsunter-
schied lediglich die Helligkeit , aber nicht den
Farbton modifiziere, weil sich die gelbe Färbung
auf allen gelben Papieren, aber nur auf diesen
und niemals auf den grauen Papieren einstelle.
Dieser Replik v. P"r isch's gegenüber hielt
V. Heß (21) seine Behauptung aufrecht, daß ein
gelber Grund keinen eindeutigen Einfluß auf die
Färbung der Pfrillen ausübe, die Gelbfärbung viel-
mehr auch auf farblosen Gründen eintreten und
auf gelbem und rotem Grund ausbleiben könne.
Gegen die Methodik v. Frisch's erhob er ein
weiteres Bedenken, daß nämlich der durch „psy-
chische Erregung" hervorgerufene Farbwechsel die
Schlüsse illusorisch mache, die man aus der
Körperfärbung auf den Farbensinn zu ziehen ge-
neigt sein möchte. ^)
') Neuerdings leugnet auch Frey tag auf Grund eigener
Experimente das Bestehen einer gesetzmäßigen l'arbenanpassung
bei der Pfrille (Lichtsinnesuntersuchungen bei Tieren, 1., Arch.
f. vergl. Liphth. 4, 1914).
V. Frisch hinwiederum (12) erkannte diesen
Einwand nicht als beweiskräftig an, weil man die
Fehlerquelle, die in dem „emotionalen" Farb-
wechsel liege, durch Verwendung genügend ,, ein-
geübter" Tiere und häufige Wiederholung der
Versuche ausschalten könne. Seine Behauptung
einer spezifischen Wirksamkeit der gelben und
der roten Farbe stützte er ferner durch Herstel-
lung von Helligkeitsgleichungen zwischen farbigen
und farblosen Papieren, die für das dunkeladap-
tierte menschliche Auge den gleichen Helligkeits-
wert besaßen und von denen trotzdem nur die
farbigen Papiere zu einer bunten Körperfärbung
Anlaß gaben.
Die zweite Reihe der Einwände, die v. Heß
gegen die Versuche v. Frisch's erhebt, richtet
sich gegen die teleologische Bedeutung einer
adaptativen Körperfärbung für die Fische. Da die
gelben und roten Chromatophoren oft Stunden
lang bis zu ihrer vollen Expansion brauchen,
scheint ihm dieser Prozeß viel zu langsam vor
sich zu gehen, als daß er den Tieren einen wirk-
samen Schutz durch Anpassung an die Unterlage
gewähren könnte, und er findet zugleich einen
Widerspruch darin, daß die spezifische Wirkung
der P'arben auf das Auge mit zunehmender Adap-
tation abnehme, während die Farbenänderungen
gerade erst nach einer Zeit auftreten, in der sich
eine Adaptation an die Farbqualität bereits voll-
zogen haben müßte. Überdies erklärt er es für
eine physikalische Unmöglichkeit, daß rote und
gelbe Farben in größerer Wassertiefe überhaupt
noch perzipiert werden könnten, da natürlich im
Wasser die langwelligen Strahlen besonders stark
absorbiert werden (20).
Aufden ersten Einwand erwiderte v. F" r i s c h (10),
daß der Nachteil, der den Fischen aus dem lang-
samen Funktionieren der farbigen Chromatophoren
erwachse, durch die schnelle Anpassung der
Melanojjhoren ausgeglichen werde , zumal eine
genauere Adaptation an die Farbqualität des Grundes
nur dann erforderlich sei, wenn sich die Plsche
länger an derselben Stelle aufhalten. Ferner sei
das Abklingen der farbigen Erregung im Auge
mit der zunehmenden Expansion der farbigen
Chromatophoren im Laufe einer länger dauernden
Adaptation sehr wohl zu vereinigen, wenn die Ver-
zögerung in der Funktion des Chromatophoren- 1
mechanismus nicht auf den Verhältnissen der Reiz- i'
perzeption, sondern auf der durch die eigentüm-
liche Physiologie der Pigmentzellen bedingten
Reizübertragung beruhe. Insbesondere aber weist
er darauf hin, daß die Bedeutung eines P'arbkleides
bei den F'ischen nicht nur in dem adaptativen Schutz
liege, den es ihnen in einer bestimmten Umgebung
biete, sondern daß namentlich die rote Farbe
eine Schmuckfarbe sei und sich daher von 32
darauf untersuchten Arten bei 18 Arten finde, die
an der Oberfläche des Wassers oder in geringen
Tiefen laichen, während sie bei anderen 14. Arten,
die zur Naclit oder in größeren Tiefen laichen,
nicht zur Ausbildung gelange.
N. F. Xm. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
471
Eine weitere Duphk von v. Heß (21) be-
schränkte sich auf die experimentelle Feststellung,
daß eine rötliche Farbe in einer Wassertiefe unter
6 — 8 ixi nicht mehr ihrem Farbwerte nach erkannt
werde, und auf die Anführung eines Fisches (des
Königsseesaiblings), der trotz eines prächtigen
roten Hochzeitskleides in beträchtlichen Tiefen
(20-80 m) laiche. Auch fragt v. Heß, in wel-
cher Weise wohl die Schmuckfarben als sexuelle
Anlockungsmittel zu wirken vermögen, wenn sie
auf der Bauchseite, also gerade unter den un-
günstigsten Lichtverhältnissen angebracht sind.
Demgegenüber betont v. Frisch (12), daß
der experimentelle Beweis des geringen Farb-
wertes langwelliger Strahlen im Wasser, den
v. H e ß für das menschliche Auge erbracht habe,
nicht auch für das Fischauge unbedingte Gültig-
keit besitzen müsse, daß ferner die Färbung des
Königsseesaiblings eine Ausnahme bilde, die nicht
hinreiche, um eine aus der Beobachtung von
32 Arten gewonnene Regel umzustoßen , zumal
sie sich als eine gewissermaßen rudimentär ge-
wordene Erbschaft strandlaichender Vorfahren er-
klären ließe, und daß sich endlich Schmuckfarben
überall nur an den Körperstellen finden können,
wo sie nicht den Zwecken der Schutzfärbung zu-
widerlaufen.
Auch über die Farbenanpassung des Crc)iilahrns
hat sich zwischen v. Frisch und v. Heß eine
heftige Polemik entsponnen. Der Farbenwechsel
bei Crciiilabrus kommt in derselben Weise zu-
stande wie bei Plwxiiius, nur daß hier außer dem
in Chromatophoren eingeschlossenen roten und
gelben Pigment noch ein blaugrüner Farbstoff
diffus in der Haut verteilt ist, der sich in blauem
und grünem Licht zu vermehren scheint. Nach
der Blendung geht jede gesetzmäßige P'arben-
anpassung verloren, obgleich die Reaktionen der
Chromatophoren auf partielle Belichtung oder auf
sonstige Reize nicht beeinträchtigt erscheinen.
Die ersten Versuche an Crciiilabrus wurden
von Gamble (15) an der Species iiuiops ange-
stellt und führten zu dem Ergebnis , daß die
Wirkung allseitiger monochromatischer Belichtung
und die Wirkung eines farbigen Grundes einander
insofern entgegengesetzt sind, als sich die Fische
einem farbigen Grund im allgemeinen anpassen,
also auf schwarzem Grund dunkelbraun, auf weißem
hellgrün, auf braunem (durch Expansion der
Chromatophoren) braun, auf grünem, allerdings
aber auch auf rotem Grund (durch Expansion des
gelben Pigments in Verbindung mit der Wirkung
des diffusen blauen Farbstoffes) grün erscheinen,
in allseitiger monochromatischer Belichtung da-
gegen die Komplementärfarbe, also in grünem
Licht (durch Expansion des roten Pigments) eine
braune, in rotem Licht (durch Expansion des gelben
Pigments) eine grüne Färbung annehmen sollen.
Eine analoge Komplementärwirkung allseitiger
monochromatischer Belichtung hatte Gamble
für gewisse Crustaceen nachgewiesen (vgl. 22, 449).
v. Frisch (8, 9, 11) konnte jedoch weder bei
Criiti'labnis roissali noch bei Crcnilabnis occllahis
das Auftreten einer Komplementärfarbung in mono-
chromatischem Lichte bestätigen. Allerdings setzte
er die Fische keiner im strengen Sinn allseitigen
Beleuchtung aus, da bei seiner Versuchsanordnung
von oben her überhaupt kein Licht in das Gefäß
eindrang, doch läßt sich aus den Angaben Gam-
bles nicht entnehmen, ob diese Bedingung für
den Ausfall der Versuche wesentlich ist. Andrer-
seits gelang es v. P'risch nicht, eine Farben-
anpassung zu erzielen, wenn er das monochroma-
tische Licht nur vom Boden und nicht auch zu-
gleich von den Seiten her einfallen ließ, was er
auf die Lichtschwäche der verwendeten Strahlen-
filter zurückführt. Dagegen beobachtete er, daß
sich Crciiilabrus roissali durch Expansion der
roten und gelben Pigmentzellen an rotes und
gelbes Licht, durch Kontraktion der farbigen
Chromatophoren und eine besonders im Grün
erfolgende Vermehrung des blaugrünen Pigmentes
an grünes und blaues Licht adaptierte. Bei
Crciiilabrus uccllatus war die Farbenanpassung
nicht so genau (die Tiere reagierten auf rotes,
gelbes und grünes Licht in gleicher Weise und
nur auf blaues Licht deutlich synchromatisch) und
bei Crciiilabrus iiiassa blieb sie überhaupt ganz
aus. Da sich nun die von v. Frisch verwendeten
Farben ihrem farblosen Helligkeitswert nach in
der gleichen Reihenfolge anordnen ließen wie die
Spektralfarben für das dunkeladaptierte menschliche
Auge, nämlich zuerst Gelb und Grün, dann Blau,
dann Rot, ist es wenig wahrscheinlich, daß die
F"arbenanpassung lediglich durch die farblosen
Helligkeitswertc bestimmt wurde; sonst müßten
nämlich maximale und minimale Helligkeit im
gleichen, die Zwischenstufen dagegen im entgegen-
gesetzten Sinne wirken. Einen stringenten Schluß
auf das Vorhandensein eines F"arbensinnes beim
Crciiilabrus glaubt allerdings auch v. Frisch
nicht aus dieser Tatsache ziehen zu dürfen, doch
bestreitet er die Beweiskraft eines Gegenversuches
von V. H e ß (20), in dem Crciiilabrus (sp. ?) auf
rotes Licht und Lichtabschluß in der gleichen
Weise reagierte, weil v. H e ß selbst zugibt, daß
die von ihm verwendeten Tiere zu farbenphysio-
logischen Experimenten wenig geeignet erschienen.
Auch der negative Ausfall der Versuche
v. Frisch's mit einer monochromatischen Unter-
lage bietet dem Einwände von v. H e ß (21) keine
Stütze, daß eine Anpassung der Körperfarbe in
der Natur immer nur an die Unterlage, aber nicht
an allseitiges monochromatisches Licht erfolgen
könne, da sie sonst nutzlos wäre. Denn einerseits
sprechen die Versuche mit farblosen Helligkeiten
infolge der Prädominanz der oberen Netzhaut-
partien (s. o.) für eine identische Wirkung des
allseitig und des von unten her einfallenden Lichtes
auf die Fische ^), andrerseits wäre es natürlich für
ein Tier, das überhaupt ein Farbkleid besitzt, von
der größten Wichtigkeit, nicht etwa durch eine
') Anders verhält es sich bei Crustaceen (vgl. 22, 449).
472
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 30
zur Beleuchtungsfarbe komplementäre Körper-
färbung schwarz zu erscheinen.
Über eine synchromatische Farbenanpassung
bei Flundern hat neuerdings Mast (23) eine kurze
Notiz veröffentlicht, in der er, im Gegensatz zu
Sumner's (30) Angaben über die Beschränkung
der adaptativen Veränderungen bei Schollen auf
eine Helligkeitsanpassung, über das Bestehen einer
Farbenanpassung an gelbe, blaue und rote Unter-
lagen berichtet und, wiederum im Gegensatz zu
Sumner, behauptet, daß die Tiere, wenn sie,
nacli eingetretener Adaptation an eine bestimmte
Unterlage, in eine neue Umgebung versetzt werden,
mit Vorliebe einen der früheren Unterlage gleich-
gefärbten Grund aufsuchen.
Für das Vorhandensein eines Farbensinnes
sprechen auch die bei gewissen Teleostieren in
regelmäßiger Zahl und Anordnung über den Rumpf
verteilten Leuchtorgane, die nach Brauer (4)
verschiedenfarbiges Licht laterad und ventrad oder
candad und dorsad entsenden und daher nicht,
wie die am Kopf, an den Tentakeln oder an der
Rückenflosse angebrachten Leuchtorgane alsSchein-
vverfer zur Erhellung desGesichtsfeldes funktionieren
können, sondern vermutlich zum Anlocken der
Artgenossen dienen und das Aufsuchen der Ge-
schlechter vermitteln. Speziell bei den Mycto-
phyiden entwickeln sich die Leuchlorgane erst
mit der Differenzierung der Geschlechtsorgane
und stellen somit charakteristische sekundäre Ge-
schlechtsmerkmale dar.
Wieweit allerdings die Schutz- und Schmuck-
farben ihren biologischen Zweck tatsächlicJi er-
füllen, steht noch keineswegs mit genügender
Sicherheit fest. Insbesondere hatReighard (30)
bei den lebhaft gefärbten Korallenrifffischen kon-
statiert, daß der Färbung vi'eder eine adaptative
noch eine sexuelle Bedeutung zukommt, ja I' uchs
(13) sucht sogar den Nachweis zu erbringen, daß
der Chromatophorenapparat nur zur Wärmeregu-
lation des Organismus diene. Allerdings erscheinen
die Argumente, die er in seiner vorläufigen Mit-
teilung gegen die Annahme einer Schutzfärbung
und eines Farbensinnes der Fische vorbringt, nicht
gerade überzeugend.
Aufschlüsse über den Farbensinn der Fische
lassen sich endlich auf Grund einer dritten Me-
thode, nämlich durch hütterungsversuche mit
Nahrungsstoffen von bestimmter Farbe, gewinnen.
Die älteren Experimente dieser Art sind jedoch
sämtliche dem Einwand ausgesetzt, daß die be-
obachteten Unterschiede im Verhalten der Fische
gegen verschiedene Farben nur auf L'nterschieden
im farblosen Helligkeitswert der verwendeten
Lichter, nicht aber auf einer spezifischen Wirkung
der einzelnen Farbqualitäten beruhen, und v. Heß
suchte diesen Einwand in seiner Besprechung der
früheren .Arbeiten (17) ausführlich zu begründen.
Wenn nämlich Zolotnitsky (39) fand, daß
Makropoden, insbesondere Schleien, die er mit
roten C/iiroitoiiii/sA^zvvcn gefüttert hatte, nur auf
rote, aber nicht auf wei(3e, grüne und gelbe
Wollfäden losfuhren, die er an die Aquariumwand
heranbrachte, — Ähnliches berichtet Pieron ("26)
vom Goldfisch, Carassms auratus, — so läßt sich
dieses Resultat ohne weiteres aus dem geringen
farblosen Helligkeitswert der langwelligen Strahlen
erklären, zumal auch total farbenblinde Menschen
aus eben diesem Grund im allgemeinen zu einer
hinreichend genauen Erkennung der roten F"arbe
befähigt sind. Wenn ferner Washburn und
Bentley (37) bei Semotihis atromacitlatiis eine
Assoziation zwischen der Nahrung und der Farbe
einer Pinzelte herzustellen vermochten, mit der
dem Fische die Nahrung dargeboten wurde, und
die Ausbildung dieser Assoziation durch die
wechselweise Verwendung verschieden gefärbter
Pinzetten prüften, so genügt die Differenz zwischen
den farblosen Helligkeitswerten von Dunkelrot und
Grün einerseits und von Hellrot und Hellblau
andererseits, um die Grundlage der Unterscheidung
zu bilden, während sich allerdings über das Ver-
hältnis von Hellrot zu Grün, die von den Fischen
ebenfalls auseinandergehallen wurden, ohne Kennt-
nis der verwendeten Farbengrade a priori nichts
aussagen läßt. Wenn endlich nach R e i g h a r d (30)
Lutiaiitis i^risf/zs, dessen gewöhnliches Futter
die farblos silberglänzenden Atherinen bilden, bei
gleichzeitiger Darbietung von weißen und blau
gefärbten Atherinen zuerst nach den weißen, bei
gleichzeitiger Darbietung blauer und roter Athe-
rinen zuerst nach den blauen schnappte, und wenn
er rote Atherinen, die durch die Einführung von
Nesselquallen ungenießbar gemacht wurden , von
weißen Atherinen zu unterscheiden lernte, so steht
einer Zurückführung dieser Erscheinungen auf die
farblosen Helligkeitswerte der verwendeten Farben
nichts im Wege. Weniger gut stimmt es dagegen
zu dieser Erklärung, daß Liitiaiius keinen Unter
schied zwischen blauen und grünen Atherinen
machte, zumal neben einem dunkleren auch ein
sehr helles Grün benutzt wurde, und die relative
Aufhellung, die das Blau dem Grün gegenüber
beim Übergang vom Tages- zum Dämmerungs-
sehen erfährt, vermutlich zu gering gewesen wäre,
um das Helligkeitsverhältnis zu invertieren. Auch
zog der Fisch die blauen den gelben Atherinen
vor, obzwar das verwendete Gelb noch erheblich
heller erschien als das Hellgrün.
V. H e ß versuchte aber, ebenfalls auf Grund
der Fütterungsmethode, einen direkten Nachweis
für die Farbenblindheit der Fische zu erbringen
(16,18). Er beobachtete nämlich, daß Jiili's pavo,
Mt(gil und Phoxinns Oüro>iomus-\jix\zr\, die in
dem rot belichteten Teil des Aquariums zu Boden
sanken, nicht mehr zu sehen vermochten, wenn
die Intensität der Beleuchtung nicht allzusehr ge-
steigert wurde, was er auf den geringen farblosen
Helligkeitswert der langwelligen Strahlen zurück-
führt. Er beobachtete ferner, daß Mugil und
Plwxinus, die mit (roten) CIiironotints-L^rven ge-
füttert zu werden pflegten, ohne Unterschied auf
rote, schwarze, dunkelgelbe, dunkelgrüne und
dunkelblaue Attrappen von der Form der Üiiro-
N. F. Xin. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
473
nomus-LüTvcn losschwammen, die an die Glas-
wände herangebracht oder zwischen Glasplatten
in das Aquarium eingetaucht wurden, und es ge-
lang ihm endlich, Helligkeitsgleichungen zwischen
farbigen Unterlagen und Attrappen herzustellen,
deren Bestehen sich daraus erschließen ließ, daß
die Fische niemals auf Attrajipen losfuhren, die
den gleichen farblosen Helligkeitswert besaßen
wie die Unterlage, während jede Differenz der
farblosen Helligkeitswerte genügte, um die Fische
zum Angriff auf die Attrappen zu veranlassen.
Auch bei diesen Experimenten vermochte v. Heß
festzustellen, daß der Helligkeitswert des Blau
durch die Absorption der kurzwelligen Strahlen
im innenständigen Pigment (s. o.) nicht wesentlich
beeinflußt wurde.
Wiederum aber war es v. Frisch, der bei der
Untersuchung von PJwxiiuis zu abweichenden
Resultaten gelangte (9). Wenn er nämlich Pfrillen
längere Zeit hindurch mit gelb gefärbtem Schab-
fleisch gefüttert hatte, fuhren die Tiere stets auf
gelbe Papierflecke los, die, auf einen grauen Karton
geklebt, an die Aquariumswand herangebracht
wurden, selbst wenn dieses Gelb den gleichen
farblosen Helligkeitswert besaß wie die graue Unter-
lage, ließen dagegen hellere und dunklere graue
Papierstückchen, die auf dieselbe Unterlage aufge-
klebt waren, ausnahmslos unberücksichtigt, v. H e ß
bestritt allerdings wieder die Richtigkeit dieser
Beobachtung und behauptete (21), daß bei An-
wendung farbiger Attrappen unter Glas selbst
Tiere, die auf die gelbe Farbe dressiert waren,
keinerlei Bevorzugung des Gelb erkennen ließen.
Demgegenüber wiederholte v. Frisch seine Ver-
suche und gelangte zu dem Ergebnis (12), daß
sowohl die auf Gelb wie die auf Rot dressierten
Fische nicht nur Gelb, sondern auch Rot auf einem
Grund von gleichem farblosem Helligkeitswert
erkennen und nur auf diese Farben losfahren, daß
sie dagegen Gelb und Rot miteinander verwech-
seln. Eine Anziehung der auf Gelb und Rot
dressierten Individuen durch Grün und Blau war
nur in Ausnahmefällen zu beobachten. Endlich
vervollkommnete v. Frisch seine Methode, indem
er die Pfrillen daran gewöhnte, ihr Futter aus
Glasnäpfchen zu holen, die durch eingeschmolzene
graue und bunte Papiere eine verschiedene Färbung
erhalten hatten. Dabei zeigte sich, daß die Fische
nicht nur Gelb und Rot, sondern auch Grün und
Blau von allen Abstufungen des Grau unterschieden,
daß sie ferner imstande waren, Blau un'd Grün von-
einander und von den übrigen Farben zu sondern,
daß sie dagegen Rot und Gelb wie in den früheren
Experimenten miteinander verwechselten. Über
die farblosen Helligkeitswerte der verwendeten
Papiere gibt v. Frisch allerdings ebensowenig
Auskunft wieOxner(25) in seinem Bericht über
analoge Versuche mit Seefischen.
Wie sich aus diesem kurzen, nur die wichtig-
sten Streitpunkte berücksichtigenden Überblick er-
gibt, besteht vorläufig noch keine IVlöglichkeit, die
vielen einander widersprechenden Beobachtungen
und Behauptungen über den Farbensinn der Fische
zu einem befriedigenden Gesamtbilde zu vereinigen.
Die anatomischen Daten können natürlich zur
Klärung der Frage keinen entscheidenden Beitrag
liefern. Doch ist zu beachten, daß sich bei den
meisten Fischen „Stäbchen" und „Zapfen" (von
denen die ersteren im menschlichen Auge als
Träger der farblosen, die letzteren als Träger der
farbigen Empfindung betrachtet werden) nicht nur
ihrer Gestalt nach unterscheiden lassen , sondern
daß bei den Sehzellen der Selachier und der
Teleostier auch die P'orm der Fußstücke und die
nervöse Versorgung Differenzen aufweisen, welche
nach Puetter (29) den eigentlichen Unterschied
zwischen Stäbchen und Zapfen begründen, indem
sich das Fußstück der Zapfen dendritisch ver-
zweigt und nur mit einer einzigen Nervenfaser in
Verbindung steht, während das Fußstück der
Stäbchen knopfförmig endigt und zugleich mit
den Fußstücken mehrerer anderer Stäbchen von
den Ausläufern derselben Nervenzelle umsponnen
wird. Daneben kommen aber bei den Selaclüern
auch dendritisch endigende Stäbchen und bei den
Teleostiern summierend abgeleitete Zapfen vor.
Literaturverzeichnis.
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der Fische. Pflüger's Arch. 133, 1910. — 2) Ders., Über die
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der Fische. Ibid. 34, 1913. — 13) Fuchs, R. F., Die phy-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 30
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(Notes et Revues) ser. 3, t. 9, 1895.
Einzelberichte.
Mineralogie. Neue Mineralien. Hodgkinsonit
benennen C. Palache (Cambridge, Mass.) und
W. T. Sc ha 11 er (Washington) ein neues Mineral,
das vom Bergwerksinspektor H. H. H o d g k i n s o n
in der Parkcr-Mine, Franklin Furnace, N. J., auf-
gefunden wurde, und das sie in Heft 6, Bd. 53,
1914 der ,,Zeitschr. f. Kristallographie u. Minera-
logie" beschreiben. Hodgkinsonit ist ein mono-
klines, wasserhaltiges Zink-Mangansiiikat und kommt
in Spalten in derbem, körnigem Erz immer ver-
gesellschaftet mit weißem Baryt und nicht selten
mit Blättchen von gediegenem Kupfer vor. Die
Paragenesis und die Art des Vorkommens weisen
beide auf pneumatolytische Entstehung hin.
Kristalle sind nicht häufig und sind teilweise
durch Lösung stark angegriffen, ihre flächen sind
im allgemeinen matt oder fazettiert. Sie gehören
der monoklinen Holoedrie an. Das Achsenverhält-
nis ist a: b : c ^ 1,539 : I : 1,1165, ß^'^'i'* ll^'.i'-
Beobachtet wurden hauptsächlich Basis, Prisma,
Klinodoma und verschiedene P)-ramiden. Die
Kristalle sind spitzpyramidal. Die Spaltbarkeit ist
voUkoinmen und geht parallel der Basis. Die
Dichte beträgt 3,91, die Härte ist etwas geringer
als 5. Die optischen Eigenschaften konnten nur
unvollkommen bestimmt werden, der mittlere
Brechungsexponent (bestimmt mit der Immersions-
methode) ist 1,73. Die Farbe des Minerals wechselt
von hellem Blaßrosa bis zum blassen Rötlichbraun.
Der Glanz ist glasartig, der Strich weiß.
Das Mineral verknistert vor dem Lötrohr und
schmilzt leicht und ruhig zu einer braunen Schmelze.
Im geschlossenen Rohr erhitzt, dekrepitiert es
heftig und zersplittert in zahlreiche dünne Spalt-
blättchen, die beim weiteren Erhitzen Wasser ab-
geben und braun werden. Es löst sich ferner
leicht in Säuren unter Bildung gelatinöser Kiesel-
säure. Das Mittel aus drei Analysen ergab folgende
Zusammensetzung :
SiO., = 19,86
MnÖ = 20,68
ZnO = 52,93
CaO = 0,93
MgO = 0,04
H,,0= 5,77„
100,21
Außerdem fand sich noch eine zweifelhafte
Spur von Blei. Bei 1 10" gab das Mineral kein
Wasser ab. Die Verfasser leiten aus der Analyse
folgende Formel ab: Mn-(ZnOH)-SiOi.
F. H.
Astronomie. Den Druck in der umkehren-
den Schicht der Sonne versucht Evershed ab-
züschätzen (Kodaikanal Obs. Bull. Nr. 18 und 36),
indem er die Annahme macht, daß die hier vor-
kommenden Linien, die die größte und die
schwächste Einwirkung des Druckes zeigen, sich
auf der Sonne ebenso verhalten, wie im Labora-
torium. Unter der Erwägung, daß die wahrschein-
lich vorkommenden Unterschiede in der Höhe
der Schichten Druckunterschiede hervorrufen, zeigt
er, daß die Bewegungen der Linien gegen das
rote Ende ganz gut als Bewegungen in der Ge-
sichtslinie erklärt werden können. Es handelt
sich um sehr geringe Größen, so daß große wahr-
scheinliche Fehler vorkommen, aber es scheint
doch , daß der Druck nicht der Hauptfaktor ist.
An manchen Stellen kommen sogar sehr geringe
Drucke vor, geringer als beim elektrischen Licht-
bogen. Es müssen also aufsteigende Strömungen
vorkommen, die dem Druck entgegen wirken.
Die starken Linien zeigen auch stärkere Bewegung,
wie die schwächeren. Riem.
Meteore in sehr bedeutenden Höhen hat
Denning teleskopisch häufig bei der Suche
nach Kometen beobachtet. Nimmt man an,
daß sie etwa ebenso schnell sich bewegen,
wie die mit bloßem Auge sichtbaren, so findet
man Höhen von über 2000 — 3000 km. Schon
Mason hatte in einem Falle eine Höhe von über
2000 km festgestellt. Leider hat man noch keinen
Fall, wo ein solches teleskopisches Meteor an
zwei Stationen gleichzeitig beobachtet worden ist,
um die genaue Höhe festzustellen. Bei unserer
Kenntnis" der Abnahme der Dichtigkeit der At-
mosphäre scheint es, daß so hoch fliegende Kör-
per, um leuchtend zu sein, sich von den gewöhn-
lichen Meteoren erheblich unterscheiden in ihrem
Wesen, ihrem Material und ihrer Bewegung. Jeden-
falls verdient diese Erscheinung ein eingehendes
Studium. (Observatory Mai 1914-) Riem.
N. F. Xni. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
475
Chemie. Das Kahumcarbonyl. Geschmolzenes
Kalium absorbiert Kohlenoxyd unter Bildung des
sog. Kohlenoxydkaliums, das zuerst von Liebig
1834 untersucht wurde. Dieses Kohlenoxydkalium
ist ein Hexaoxybenzolkalium Co^OK)^. Von dieser
Kohlenoxydverbindung verschieden ist eine Sub-
stanz, die Joannis (Compt. Rend. 11(5, 1518)
dadurch erhalten hat, daß er in eine Lösung von
Kaliumammonium in kaltem flüssigem Ammoniak
bei — 50" trockenes Kohlenoxyd einleitete. Das
so entstehende Kalium carbonyl, dem die
Bruttoformel KCO zukommt, ist sehr explosiv,
detoniert bei loo" und zersetzt sich bei Zutritt
von Luft oder einem Tropfen Wasser schon bei
gewöhnlicher Temperatur. Über die Konstitution
dieser Verbindung berichtet Joannis (Compt.
Rend. de rAcademie des Sciences 158, 874).
Bringt man das Kahumcarbonyl, am besten in
flüssigem Ammoniak suspendiert, sehr vorsichtig
mit Wasser zusammen, so bildet sich Glykolsäure.
Die Reaktion verläuft nach dem Schema
K . CO • CO • K -f 2 H.3O = CH.,OH • COOK + KOH.
Das Kahumcarbonyl ist also als Dikaliumglyoxal
[(KCOjä] aufzufassen. Bugge.
Bücherbesprechungen.
Dr. A. Goldhammer, Dispersion und Ab-
sorption des Lichtes. Mit 28 Figuren.
Leipzig 1913, Verlag von Teubner. — Preis
3,60 Mk.
Ausgehend von der Planck' sehen Theorie
hat sich Verfasser damit beschäftigt, die Theorie
über die verwickelten Erscheinungen der Disper-
sion und Absorption des Lichtes in ruhenden iso-
tropen Körpern zu erklären. Von den drei
Theorien von Drude, Lorentz und Planck,
hat sich die erste in ihren Grundlagen als un-
richtig herausgestellt. Die beiden anderen sind
insofern nur zu speziell, weil sie nur für die Nicht-
leiter mit einem Absorptionsstreifen hinreichend
geklärt sind. Verfasser verallgemeinert nun, wie
oben erwähnt, die Pia nck 'sehe Theorie, so daß
sie auch die Erscheinungen in den Nichtleitern
mit mehreren Absorptionsstreifen und in den
Metallen erklärt, indem die elektromagnetischen
Schwingungen elektrischer Dipole in einer Form
dargestellt werden, in welcher die Leiter als Grenz-
fall der Nichtleiter erscheinen. Eingehend berück-
sichtigt sind die Folgerungen der Dispersions-
theorie für die durchsichtigen und lichtabsorbieren-
den Körper, ferner für Körper in verschiedenen
Aggregatzuständen, für Lösungen und chemische
Verbindungen , wobei Verfasser zu interessanten
neuen Resultaten gelangt ist. Die elektromagne-
tischen Schwingungen der Dipole wurden dabei
als mechanische Schwingungen gewisser elektri-
scher Kerne betrachtet. Diese Theorie lehnt sich
an die modernen Theorien an, da man aus den
Konstanten der Kerne schließen kann , daß die-
jenigen Kerne, durch deren Schwingungen die
Absorption der ultravioletten und sichtbaren
Strahlen veranlaßt werden, Elektronen sind. Die
Beweisführung dieser Theorie ist gründlich durch-
geführt, wie auch ihre Ausdehnung auf die allge-
meine Elektronentheorie der elektromagnetischen
Erscheinungen in den Metallen. P. Runze.
Dr. Bryk, Kurzes Repetitorium. II. Orga-
nische Chemie nach den Werken und Vor-
lesungen von Arnold, Bernthsen , Erdmann,
P'ischer, Graham-Otto, Krafft, Lieben, Ludwig,
E. v. Meyer, Nernst, Oppenheimer, Ostwald,
Pinner, Richter, Roscoe-Schorlemmer, E. Schmidt
usw. IV. Auflage. Breitenstein's Repetitorium
Nr. 8. Leipzig 1913, Verlag von J. A. Barth.
— Preis 6 Mk., geb. 6,45 Mk.
Erwähntes Repetitorium ist eine kurze Zusam-
menstellung möglichst viel organisch- chemischer
Stoffe, die technisch oder rein wissenschaftlich
wichtig sind , ihrer Beziehungen zueinander und
deren Darstellungsmethoden. Verf. hat besonders
Wert darauf gelegt, von allen angeführten Ver-
bindungen die allgemeinen Eigenschaften zu be-
schreiben und meistens auch gut gewählte Bei-
spiele der betreffenden Körperklasse anzuführen.
Vor allem bietet das Wiederholungsbüchlein viel
in bezug solcher Körper, die technologisch oder
pharmazeutisch von Bedeutung sind, ferner solcher,
die in der Färb- und Riechstoft'industrie eine
Rolle spielen. Der Vorteil des Werkes, durch die
Berücksichtigung zahlreicher Lehrbücher und Vor-
lesungen erster Gelehrten sehr vielseitig zu sein,
hat natülich den Nachteil zur Folge, daß das
Buch als Repetitorium viel zu umfangreich er-
scheint. Dieser Vorwurf, den man dem Buche
bei oberflächlicher Betrachtung machen kann, ist
aber unbegründet, da das wichtigste durch größeren
Satz hervorgehoben und sehr übersichtlich darge-
stellt ist. Das Werk dient daher auch als Nach-
schlagewerk, das die wichtigsten Forschungen und
Erfahrungen, auch in Einzelheiten, der organischen
Chemie schildert. Auch sind überall deutlich die
Konstitutionsformeln angegeben.
Nicht nur der Examenskandidat, sondern der
wissenschaftlich, theoretisch oder praktisch arbei-
tende Chemiker wird es viel benutzen können.
P. Runze.
Magnus, Prof. Dr. Werner, Die Entstehung
der Pflanzengallen, verursacht durch
Hymenopteren. Mit 32 Abbild, im Text und
4 Doppeltafeln. Jena '14, G. Fischer. — 9 Mk.
Der Autor gibt in dieser Schrift einen zu-
sammenfassenden Bericht über seine bisherigen
Untersuchungen, die das Ziel hatten, die „näheren
Ursachen aufzuhellen, welche die Entstehung der
476
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 30
Pflanzengallen bedingen", und versucht am Schluß
auf breiter spekulativer Grundlage eine allgemeine
theoretische Erörterung des Gallenproblems zu
geben. Seine neuen I^eobachtungen erstrecken
sich vornehmlich auf die Schlafäpfel der Rose, die
Triebspitzengalle der Eiche, auf Isosomagallen, auf
Luftwurzeln von Ficus und Orchideen, sowie auf
etliche Pontaniagallen der Weide, besonders die
von Pontania proxima hervorgerufenen.
Bei der Rhodites rosea-Galle stellt er fest, daß
das Ei des Insektes mit seinem Ende in eine
Epidermiszelle hineingedrückt wird, also doch eine
Verwundung eintritt. In der Nachbarschaft des
Eies tritt dann eine auf Giftwirkung zurück-
zuführende Auflösung des Gewebes ein, so daß
das Ei allmählich in diese Höhlung hineinsinkt.
Erst jetzt beginnen die angrenzenden Zellen zu
wuchern, bis die durch die Auflösung des vom
Verf. als Lysenchym bezeichneten Gewebes hervor-
gerufene Höhlung geschlossen ist. Er hält also,
indem er dem Lysenchym eine allgemeine Be-
deutung zuschreibt, die .Annahme, daß eine Um-
wallung des Eies oder der Larve erfolge, nicht
für erwiesen. In ganz ähnlicher Weise konstatiert
der Verf. bei den Triebspitzengallen der Eiche,
daß nach dem Durchbruch der EihüUe von der
Larve zunächst eine destruktive Wirkung auf die
ihr zunächst liegenden Zellen der Knospe ausgeübt
wird, worauf ein ähnlicher Auflösungsprozeß und
eine L'mwalluiig der lysenchymatisch entstandenen
Larvenhöhle stattfindet, wie oben. Er versucht
hier nun, die von der Larve ausgehenden Wirkungen,
die an diejenigen von Enzymen proteolytischer
oder diastatischer Art erinnern, zu präzisieren, indem
er mittels der Diffusionsmethode Eier und Larven
auf etwaige .'\usscheidung von Diastase und pro-
teolytischen Enzymen untersucht. Wie zu er-
warten war, zeigten zerquetschte Eier und Larven
derartige Ausscheidungen, dagegen wurden sie bei
ungeöffneten Eiern vermißt. Wie sich die aus-
geschlüpften Larven in dieser Hinsicht verhalten,
ist nicht angegeben. \'erf. meint, daß Enzyme
nicht in Frage kommen, vielmehr irgendein Gift-
stoff die Auflösung bewirke. Auch bei den
Isosomagallen weist Verf. einen spezifischen auf
etwaiger Sekretion eines gallenbildenden Sekretes
von Seiten des Eies zurückzuführenden Reiz ab.
Von besonderen-! Interesse ist dann die erneute
Untersuchung der durch Beyerincks klassische
Studien bekannt gewordenen , von Pontania be-
wirkten Weidengallen. Verf. bestätigt Beyerincks
Angabe, daß das Ei nicht die Entwicklung der
Galle bewirkt, indem er beobachtet, daß nach dem
Herauspräparieren der eben abgelegten Eier nor-
male, allerdings etwas kleinere Gallen entstehen,
daß also der Stich allein genügt. Da jedoch
Injektion des Sekretes der Giftdrüse des Insektes
in künstliche Wunden erfolglos blieb, ist er geneigt,
der Art der Verwundung den Haupterfolg zuzu-
schreiben.
In dem allgemeinen Teil faßt der Verf. seine
Ansicht über die Entstehung der Hymenopteren-
gallen zusammen, indem er scharf zwischen einem
ersten, im Anschluß an die stets vorhandene Wunde
auftretenden „unspezifischen Entwicklungsstadium"
unterscheidet und einem zweiten „spezifischen",
das von der ständigen Beeinflussung durch die
lebende und sich fortentwickelnde Larve abhängt.
Wie nun diese letztere zu denken ist, erörtert
Verf. in längeren spekulativen Auseinandersetzungen,
wegen derer auf das Original verwiesen sei. Er-
wähnt sei nur, daß er die z. B. von Küster scharf
formulierte Ansicht, jede hochentwickelte Galle
sei eine durch spezifische Giftstoffe hervorgerufene
Chemomorphose ablehnt und betont, daß die all-
gemein-physiologischen Beziehungen der in engem
Kontakt miteinander lebenden Komponenten ebenso
gut zur Erklärung ausreichen könnten.
Miehe.
Die Kultur der Gegenwart. 3. Teil, 4. Abteil.,
4. Band. R. Hertwig und R. v. Wet t ste in:
Abstammungslehre, Systematik, Paläontologie,
Biogeographie. 620 S. mit 112 Fig. Leipzig
1914, Verlag von B. G. Teubner.
1) Die Abstammungslehre von R. Hertwig.
2) Prinzipien der Systematik mit besonderer
Berücksichtigung des Systems der Tiere von
L. Plate.
3) Das System der Pflanzen von R. v. Wett-
stein.
4) Biogeographie von A. Brauer.
5) Pflanzengeographie von A. Engler.
6) Tiergeographie von A. Brauer.
7) Paläontologie und Paläozoologie von O.
Abel.
8) Paläobotanik von W. J. Jongmans.
9) Phylogenie der Pflanzen von R. v. Wett-
stein.
10) Phylogenie der Wirbellosen von K. He id er.
1 1) PhylogeniederWirbeltierevonJ. E.V.Boas.
12) Namen- und Sachregister von E.Janchen.
1) In klarer und umfassender Weise behandelt
der Autor das schwierige Gebiet, indem er sich
über den Artbegriff, die Variabilität, die vermut-
lichen Ursachen der .'Artbildung und über die
Stammesgeschichte verbreitet. Zu strittigen Fragen
nimmt er dabei sehr vorsichtig Stellung.
2) Von großem Wert für jeden, der sich mit
Systematik beschäftigt, sind die folgenden Aus-
führungen, die sich mit den Aufgaben der Syste-
matik und den Begriffen, mit welchen dabei ope-
riert wird, beschäftigen. Erwähnenswert ist, daß
der Autor nicht nur die Individuen, sondern auch
die Arten im Gegensatz zu den höheren syste-
matischen Kategorien als real ansieht, und sehr
beachtenswert sind seine praktischen Vorschläge
für Nomenklatur. Eine etwas eingehendere Be-
handlung der morphologischen Artmerkmale und
des Gegensatzes der paläontologischen zur zoolo-
gischen und botanischen Systematik wäre wün-
schenswert gewesen.
3) Die sehr kurzgefaßte Geschichte der Grund-
züge des jetzt herrschenden Pflanzensystems ist
N. F. Xm. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
477
für nicht mit der Botanik schon gut Vertraute
schwer verständlich.
4) Die ausschlaggebende Bedeutung der Bio-
logie wird hervorgehoben; als Hauptaufgaben
werden die Klarlegung der heutigen Verbreitung,
der Wechselwirkung zur Umgebung und der Ent-
stehung der jetzigen Verbreitung bezeichnet, auch
werden die für die Verbreitung wichtigen Faktoren
erörtert. Daß je nach dem verschiedenen geolo-
gischen Alter die Verbreitung einer Organismen-
gruppe verschieden sein muß, wäre dabei nach-
zutragen, schon weil daraus die große Bedeutung der
Paläogeographie für die Biogeographie hervorgeht.
5) Bei der Erörterung der Geschichte der
Pfianzengeographie werden relativ viele Abhand-
lungen aufgezählt, eingehender werden die Grund -
züge dieser Wissenschaft erörtert. Die außerordent-
liche Vielseitigkeit und großeBedeutungder Pflanzen-
geographie erhellt klar aus diesen Ausführungen.
6) Wenn auch nicht so vielseitig, so doch sehr
instruktiv ist die Tiergeographie behandelt. Die
Erörterung der Aufgaben ist allerdings — wohl
wegen der Ausführungen des Autors in Nr. 4 —
sehr kurz ausgefallen und die der Landfaunen
berücksichtigt die Wirbellosen zu wenig. Sehr
klar und belehrend ist aber die Besprechung der
marinen Tiergeographie.
7) In der ausführlichen Geschichte seiner
Wissenschaft bringt der Verf sehr viel Interessantes,
z. B. seine Erklärung der Polyphemsage. (Zwerg-
elefantenschädel aus sizilischen Höhlen, deren
Nasenöffnung für das Stirnauge gehalten wurde,
sollen Anlaß zu ihr gegeben haben.) Die Haupt-
epochen sind gut charakterisiert, aber des mehr
Anekdotischen ist doch wohl zu viel gegeben,
auch vermißt man bei der Geschichte des 19. Jahr-
hunderts manche sehr wichtige Namen, z. B. M.
Neumayr bei der Abstammungslehre, endlich
wird der Nutzen der Faunenbeschreibungen und
der rein deskriptiven Arbeit bei einer noch so jungen
beschreibenden Naturwissenschaft zu gering ein-
geschätzt und der gegenwärtige Wissensstand im
einzelnen viel zu kurz behandelt. Sehr viel An-
regung geben aber die Ausführungen über die
Aufgaben und Ziele sowie über die heutigen
Arbeitsmethoden der Wissenschaft. Mit Recht
wird betont, daß die bei uns übliche Behandlung
der Paläozoologie als bloße Anhangswissenschaft
der Geologie verfehlt ist, weil sie engen Anschluß
an die Zoologie bedarf. Manch interessante Einzel-
heiten werden endlich über die Fossilfunde erzählt.
8) Etwas trocken erscheint dagegen die Be-
handlung der Paläobotanik, dafür gibt sie uns
viele exakte Daten über den .Stand des Wissens
über die einstigen Floren und deren Entwicklung,
wobei allerdings das Tertiär sehr kurz weg-
kommen muß, da eben hier moderne Bearbeitun-
gen fehlen. Der Mangel an Abbildungen macht
sich stark fühlbar.
9) Sehr kurz, aber klar und großzügig ist die
Phylogenie der Thallophyten und Kormophyten
nach den heute herrschenden Ansichten dargestellt.
10) Dadurch, daß der Verf. sich vor allem auf
die Ontogenie stützt und möglichst monophyleti-
sche Abstammung vertritt, ist eine gewisse Ein-
seitigkeit gegeben , dafür gewinnt aber die Dar-
stellung, die natürlich stark hypothetisch , aber
hochinteressant ist, sehr an Einheitlichkeit, auch
erleichtern instruktive Abbildungen das Verständ-
nis. Wünschenswert wäre eine kurze Ausführung
über die Methoden, die Phylogenie zu erschließen.
11) Hauptsächlich auf Grund des Tierbaues
wird unter Beigabe zahlreicher Figuren die Stam-
mesgeschichte der einzelnen Wirbeltiergruppen
erörtert. Diese sind aber sehr ungleichmäßig be-
handelt, so die Säugetiere sehr viel ausführlicher
als die niederen Wirbeltiere, bei welchen auch die
Paläontologie zu wenig berücksichtigt ist; auch
sind speziell bei jenen zu viele Details besprochen,
statt daß die Leitlinien der Entwicklung, z. B.
in der Umbildung des Gebisses, des Schädels und
der Gliedmaßen dargestellt werden.
Alles in allem kann man sagen, daß das Werk
manch Heterogenes und Ungleichwertiges enthält,
wie bei der Beteiligung mehrerer Mitarbeiter kaum
anders zu erwarten war. Der Aufgabe, eine groß-
zügige und wirklich sachkundige Darstellung des
gewaltigen Gesamtstoffes zu geben, ist eben kein
einzelner Forscher mehr gewachsen. Den Heraus-
gebern ist es aber gelungen, für die Bearbeitung
jedes Faches ausgezeichnete Vertreter zu finden.
Jedenfalls enthält das Buch eine Fülle des Wissens-
werten und gibt reichliche Anregung, auch ver-
meidet es Oberflächlichkeit, ohne — im ganzen
genommen — für einen Gebildeten unverständlich
zu sein. Es erfordert jedoch seine Lektüre ein
ernstes Studium. Erleichtert wird eine Vertiefung
in den Stoff durch Angabe der wichtigsten Lite-
ratur am Schlüsse jeden Abschnittes und durch
ein ausführliches Namen- und Sachregister.
Ernst Stromer (München).
Hay, Oliver, P. , The extinct Bisons of
North America; with description of a
new species, Bison regln s. Proceed. Un.
St. nation. Mus., Vol. 46, p. 161 — 200, Taf. 8
bis 19, Washington 1913.
Über fossile altweltliche und speziell europäische
Wisente sind in den letzten Jahren mehrere Ab-
handlungen erschienen, vor allem von La Baume
1909 und von Hilzheimer 1910. Der Umstand,
daß die Hornzapfen des noch lebenden europäi-
schen Wisents in ihrer Form sehr konstant sind,
gab Veranlassung, auf Unterschiede fossiler Horn-
zapfen Arten zu begründen. In Nordamerika nun
wurden schon seit längerer Zeit auf z. T. sehr
dürftige Reste neue Arten aufgestellt und der
Autor, der großenteils schöne Schädelreste be-
schreibt und abbildet, bemüht sich, sie mit solchen
zu identifizieren; höhere tiergeographische oder
stammesgeschichtliche Gesichtspunkte sind aber
in der Abhandlung nicht zu finden.
Ernst Stromer (München).
478
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 30
Hoffmann, C, „Ältere und neuere Ansich-
ten über das Erdinnere." (^Festvortrag.
1914, Alber-Ravensburg.)
Der Vulkanismus ist zu den Erdoberflächen-
erscheinungen zu rechnen und kommt für die
Erforschung des Erdinnern wenig oder gar nicht
in Frage. Die keineswegs wenigen Mittel und
Wege, deren sich demgegenüber die Physik zu
bedienen weiß, um über das große Problem ins
Klare zu kommen, werden übersichtlich und klar
auch in ihren wechselseitigen Beziehungen und
Ergänzungen dargestellt. Unter diesen Mitteln
stehen zurzeit die Methoden der Seismologie im
Vordergrunde. Ausführlichkeit konnte in einem
Vortrage bei Gelegenheit einer Schulfeier nicht
angestrebt werden. Durch zahlreiche Anmerkungen
hat Verf. einiges nachzuholen gesucht. Auch
ohne diese ist aber die Zusammenstellung der
wichtigsten einschlägigen Daten vollauf gelungen
und wird gewiß von manchem Interessenten dank-
bar begrüßt werden. E. Hennig.
Gönner, B., Kristallberechnung und
K r i s t a 1 1 z e i c h n u n g. Ein Hilfsbuch der
Kristallographie mit Betonung der graphischen
Verfahren, sowie der analytischen und zonalen
Beziehungen. Leipzig u. Berlin, 1914, W. Engel-
mann. 4". VII und 128 S., I Tafel, 109 Abb.
im Text, geh. 8 Mk.
Kristallberechnung und Kristallzeichnung ent-
halten neuerdings eine Vielseitigkeit von Methoden
und eine Mannigfaltigkeit von Aufgaben, die in
einem Lehrbuch der Kristallographie höchstens
in einzelnen Beispielen angedeutet werden können.
Das übrige bleibt in den einzelnen, oft schwer zu-
gänglichen Abhandlungen zerstreut. Dazu hatte
P. von Groth den Wunsch geäußert, seine be-
kannte „Physikalische Kristallographie" zu entlasten
und insbesondere den Teil fortzulassen, den der
Autor nunmehr zu einem besonderen Hilfsbuch
hat werden lassen. Dasselbe soll der leichten und
bequemen Ausnutzung der sich aus den graphischen
Verfahren und der erweiterten Nutzbarmachung
analytischer und zonaler Beziehungen ergebenden
Hilfsmittel dienen. In der besonderen Betonung
dieser Hilfsmittel will das Buch nicht allein der
angewandten Wissenschaft dienen; auch beim Stu-
dium der Kristallographie gebührt den einfachen
Verfahren erweiterte Verwendung.
K. Andree.
Freundlich, H., Kapillarchemie und Phy-
siologie. Zweite erweiterte Auflage. 48 S.
Dresden und Leipzig 1914, Verlag von Theodor
Steinkopff. — Preis 1,50 Mk.
Ein Vortrag, dessen Text nach der ersten
Auflage unverändert wiedergegeben wird. Eine
Reihe von Anmerkungen am Schluß berücksich-
tigen den neuesten Stand der rasch fortschreiten-
den Wissenschaft von den Kolloiden, in welcher
der Verfasser einen ehrenvollen Platz ein-
nimmt. Da das die beiden Hauptgruppen der
Kolloide, die Gele und Sole in jeder Beziehung
charakterisierende ihre hohe Oberflächenentwick-
lung ist, so gebraucht der Verfasser statt des
meist üblichen Begriffes „Kolloidchemie" den
weiteren „Kapillarchemie", deren Aufgabe da-
hin definiert wird, daß sie die Eigentümlichkeiten
der Oberflächenenergie an irgendeiner Grenzfläche
zweier Phasen und die Zusammenhänge mit an-
deren Energiearten, vor allem der thermischen,
chemischen und elektrischen Energie kennen
lehren soll. Leider sind diese Zusammenhänge
und Wechselwirkungen noch wenig geklärt, am
besten noch die zwischen der chemischen und
der Oberflächenenergie, deren Phänomene unter
der Bezeichnung ,, Adsorption" zusammengefaßt
werden. Die Anwendung und weitere Anwend-
barkeit dieser für die Physiologie wird vom Verf.
kurz besprochen, und unter dieser Rubrik auch
der physiologisch so wichtigen Quellung gedacht.
Als das für die Zukunft wichtigste Kapitel be-
trachtet der Verf. aber die Wechselwirkung der
Oberflächenenergie mit der chemischen und elek-
trischen Energie, wobei besonders die fällende
und suspendierende Wirkung der Ionen besprochen
wird. Die physiologischen Beispiele des Verf.
sind ausschlitßlich der Tierphysiologie entnommen,
obwohl gerade die neuere Pflanzenphysiologie
noch manches Interessante hätte beisteuern können.
Ruhland (Halle a. S.).
Weinschenk, E., Petr ographisches Vade-
mekum. 2. Aufl. Schmal-8«. (VIII u. 210 S.).
Mit I Tafel und lOi Abbildgn. Freiburg i. B.
191 3, Herder'sche Verlagshandlung. — Preis
geb. in Leinw. 3,20 Mk.
,,Ein Hilfsbuch für den Geologen" auf seinen
Wanderungen ist die richtige Bezeichnung für
diese handliche „Petrographie ohne Mikroskop",
die nunmehr zum zweiten Male die Presse ver-
lassen hat. Format und Ausstattung sind dieselben
wie bei der ersten Auflage und durchaus prak-
tisch und gut. Lim eine Vergrößerung des Um-
fanges, welche bei dem praktischen Zweck nicht
angängig gewesen wäre, zu vermeiden, sind an
Stelle notwendiger Neueinfügungen Kürzungen an
anderer Stelle vorgezogen. Mag der Spezialist
im einzelnen auch hier oder da anderer Anschauung
sein, als der Autor, welcher bekanntlich in man-
chen Dingen von der Mehrheit der Petrographen
nicht geteilten theoretischen Anschauungen hul-
digt, so kann das Büchlein doch nur als seinen
Zweck wohl erfüllend bezeichnet werden.
K. Andree.
Prof. Dr. Haenlein, „Das Alter der Erde",
(F"estvortrag anläßlich der Feier des 50jährigen
Bestehens des Naturwissenschafil. Vereins zu
Freiberg in Sachsen). Graz u. Gerlach, Freiberg
1914 (Preis 80 Pfg.).
Gegenüber der gewiß noch recht verbreiteten,
vielfach vielleicht unbewußten oder unklaren Vor-
stellung von einer ca. 5675 Jahre (jüdische Zeitrech-
N. F. XIII. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
479
nung) alten Erde bzw. „Welt" gibt der Verfasser hier
eine übersichtliche Zusammenstellung der bisher
seitens der Wissenschaft gemachten Anstrengungen,
vom wirklichen Alter der Erde eine wenigstens
angenäherte Vorstellung zu erlangen oder doch
we^nigstens eine I\Iethode allmählich zu gewinnen,
mittels derer dereinst dem hohen Ziele näher zu
kommen wäre. Nach interessanten Vorbemerkungen
über die Möglichkeit einer derartigen Methode
überhaupt (woher die Zeiteinheit nehmen, falls bei-
spielsweise die Umlaufs- und Drehungsgeschwindig-
keiten der Erdkörper nicht von Anbeginn stetig
geblieben sein sollten?) werden die z. T. kaum
oder nur für beschränkte zeitliche Grenzen brauch-
baren Schätzungen nach der chemischen und
mechanischen Tätigkeit des Wassers, nach den
Wirkungen des Eises, nach beobachteten Hebungen
oder Senkungen des Landes, nach der Dünen-
fortbewegung, die besonders wichtigen Berech-
nungen, die die Radiumforschung uns jüngst be-
schert hat, etwa mögliche Herleitungen aus dem
organischen Leben der Erde kurz, klar und mit
der nötigen kritischen Dämpfung des Urteils zu-
sammengestellt. Dabei wird Gelegenheit genommen,
wichtige, die Einzelwissenschaften beschäftigende
Probleme allgemeiner Art mit scharfen Streiflichtern
zu beleuchten. Zuletzt wird die Fragestellung noch
erweitert und auf die Zeit der Erdwerdung über-
haupt, nicht nur die Entwicklung seit Beginn der
Sedimentation und des Lebens übertragen. Um
nicht mit für das übliche Vorstellungsvermögen
wesenlosen hohen Zahlen zu jonglieren, werden
endlich die gewonnenen Ergebnisse, soweit man
von solchen zurzeit schon sprechen darf, veran-
schaulicht, indem ihr relatives Verhältnis mit
den entsprechenden Bruchteilen einer Stunde oder
eines Tages verglichen werden. Der Versuch
(nach Häckel und Arldt) dürfte für viele etwas
Verblüffendes haben.
Die Darstellung bleibt dauernd allgemeinver-
ständlich, so daß die dankenswerte Zusammen-
stellung der Daten in weitesten Kreisen anregend
zu wirken berufen wäre, wenn ihr die durchaus
wünschenswerte Verbreitung zuteil werden sollte.
E. Hennig.
Findlay, Alexander, Der osmotische Druck.
Autorisierte deutsche Ausgabe von Dr. Guido
Szivessy, mit einer Einführung zur deutschen
Ausgabe von Geh. Hofrat Dr. Wilhelm Ostwald.
96 Seiten. Dresden und Leipzig 1914, Verlag
von Theodor Steinkopff. — Preis 4 Mk.
Mit Hilfe des Begriffes des osmotischen Druckes
ist bekanntlich von van't Hoff die Analogie
zwischen Lösungen und Gasen durchgeführt und
damit einer der wichtigsten Teile der physikali-
schen Chemie geschaffen worden. Die Physio-
logie, speziell die der Pflanzen, hat zu den Grund-
lagen der auf diese Weise geschaffenen Theorie
der Lösungen einen Hauptanteil beigesteuert und an
der weiteren Entwicklung dieses Zweiges der all-
gemeinen Chemie ein hervorragendes Inter-
esse gehabt. Deshalb ist die vortreffliche Dar-
stellung des Verfassers auch besonders vom Stand-
punkt des Physiologen zu begrüßen. Es werden
in klarer und einfacher Weise, die auch dem An-
fänger das Einarbeiten in den schwierigen Stoff
ermöglicht, die Theorie und das wichtigste experi-
mentelle Material in ihrem neuesten Stande .Schritt
für Schritt besprochen, wobei man auf jeder Zeile
den ausgezeichneten Lehrer spürt. Für den Phy-
siologen ist u. a. das letzte Kapitel, das die An-
schauungen über das Wesen der Osmose und
die Wirkung der halbdurchlässigen Membranen
behandelt, besonders interessant. Es zeigt, daß
der Verfasser auch die physiologische Literatur
kritisch durcharbeitet hat, obwohl ihm natürlich
hier manches entgangen ist.
Ruhland (Halle a. S.).
Wetter-Monatsübersicht.
Während des vergangenen Juni hatte das Wetter in ganz
Deutschland einen sehr veränderlichen Charakter. Anfangs
war es größtenteils trübe und für die Jahreszeit überall sehr
kühl. In der Nacht zum 4. sank das Thermometer in Coburg
bis auf einen, in Bamberg auf zwei Grad über Null; an
freigelegenen Stellen, besonders in den Provinzen Ostpreußen
und Posen, bildete sich Reif und kamen Bodenfröste vor.
Selbst die Nachmittagstemperaturen gingen um diese Zeit in
vielen Gegenden nicht über 12, am 7. in Cleve und Remscheid
sogar nicht über lo" C hinaus.
Xsm^sfafur-Sßa.-v'ima einiger ©rfc im sVuni 19 Vi .
I I I I I I I
BerlinerWetrerburexu.
Zwischen dem 8. und g. Juni trat bei trockenen Ostwinden
zunächst in Nordostdeutschlaud eine stärkere Erwärmung ein,
die sich allmählich weiter nach Westen und Süden forlptlanzte.
Dann blieb das Wetter bis zur Mitte des Monats im allge-
meinen warm , während in seiner zweiten Hälfte die Tempe-
raturen bedeutende Schwankungen aufwiesen. In Norddeutsch-
land wurden oftmals 25" C überschritten, stärkere Hitze kam
aber nur an wenigen Tagen und allein im Nordosten vor, am
16. lirachte es Königsberg i/Pr. , am 22. Memel auf 31° C.
Auch die mittleren Temperaturen des Monats überschritten
in den nordöstlichsten preußischen Provinzen bis zu 2 Grad
ihre normalen Werte, wogegen sie in Nordwest- und Süd-
deutschland durchschnittlich um 2 Grad zu niedrig waren.
48o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 30
Desgleichen nahm die Zeit der Sonnenstrahlung, wie schon
im vergangenen Mai, in der Richtung von Nordost nach Süd-
west ziemlich gleichmäßig ab. Im allgemeinen Durchschnitt
war sie bedeutend kürzer als gewöhnlich. Beispielsweise
halte Berlin im diesjährigen Juni nicht mehr als 207 Stunden
mit Sonnenschein, während hier im Mittel der früheren Juni-
monate 245 Sonnenscheinstunden verzeichnet worden sind.
Die in der nebenstehenden Zeichnung wiedergegebenen
Niederschläge w.iren auf die einzelnen .Abschnitte des Monats
und die verschiedenen Landesteile sehr ungleich verteilt. In
den ersten vier Tagen waren sie zwar im Norden ziemlich
häufig, jedoch überall, außer im östlichen Ostseegebiele, nur
gering. Mit dem 5. Juni begann eine längere Regenzeit, in
der namentlich auf der Strecke zwischen der Oder und Weser
überaus'^zahlreiche Gewitter, heftige Regengüsse und an vcr-
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schiedenen Orten mehr oder weniger starke Hagelschauer her-
niedergingen. Am 9. fielen z. B. in Borkum 47, in Neu-
münster 36, in Eberswalde 34 mm , am 11. Juni während
mehrerer schwerer Gewitter in Neumünster 84 mm Regen.
Seit dem 13. Juni ließen die Regenfälle im Norden bis
zum 22. größtenteils nach, wogegen sie im Süden, zunächst
auch in Mitteldeutschland und im Niederrheingebiete noch
zunahmen ; z. B. wurden am 13. in Kissingen 87, in Plauen
82, in Cöln 44, am 17. in Worms 46 mm Niederschlag ge-
messen. Neue starke Gewitterregen, die am 23. beispiels-
weise in Erfurt 59, in Torgau 41 mm ergaben , kamen auch
im größten Teile Norddeutschlands bis zum 26. Juni vor. Erst
in den letzten Tagen des Monats blieb das Wetter fast un-
unterbrochen trocken und ziemlich heiter. Seine Niederschlags-
summe ergab sich lür den Durchschnitt aller berichtenden
Stationen zu 63,8 mm, während die gleichen Stationen in den
früheren Junimonaten seit dem Jahre 1S91 im Mittel 67,1 mm
Regen geliefert haben.
« •
In der allgemeinen Luftdruckverteilung Europas vollzogen
sich die Änderungen von einem Tage zum anderen im dies-
jährigen Juni größtenteils langsam. In seinen ersten Tagen
breitete ein westlich von Irland gelegenes ziemlich hohes
barometrisches Maximum sein Gebiet allmählich weiter sud-
ostwärts aus, während eine mäßig tiefe Depression vom Nord-
meer durch die skandinavischen Länder ins Innere Rußlands
zog. Ein am 6. Juni bei Island erschienenes Minimum drang
aber rasch in südöstlicher Richtung vor und gelangte am 8.
auf das westeuropäische Festland , wo es dann längere Zeit
hindurch verweilte, sich verschiedentlich umgestaltete und
durch neue Minima von Südwesten her Zuzug erhielt. In der
nördlichen Hälfte Deutschlands wurden daher die anfänglichen
kühlen Nordwestwinde durch wärmere östliche Winde abge-
löst, während weiter im Süden selir veränderliche, aber vor-
herrschend westliche Luftströmungen wehten.
Erst nach Mitte des Monats wurde durch ein aus Nord-
rußland heranziehendes Barometermaximum das Tiefdruck-
gebiet aus Mitteleuropa vertrieben. Aber wenige Tage später
rückten von Schottland ein neues Minimum, vom Atlantischen
Ozean ein Maximum südostwärts vor. Von da an wurden
Südwest- und Nordosteuropa gewöhnlich von Hochdruck-
gebieten eingenommen, während der Nordwesten von ver-
schiedenen Depressionen durchzogen wurde, die nicht selten
nach dem Nordsee- und Ostseegebiete flache Teilminima ent-
sandten. Dr. E. Leß.
Literatur.
Festgabe der Philosoph. Fakultät II zur Einweihungsfeier
der Universität Zürich. Enthält folgende Abhandlungen;
Kleiner, Über die Bedeutung leitender Prinzipien im Aus-
bau der Physik. Lang, Geschlechtlich erzeugte Organismen
mit ausschließlich väterlichen oder mit ausschließlich mütter-
lichen Eigenschaften. Grubenmann, Der Gr,anat aus dem
Maigelstal im Bündneroberland und seine Begleitmineralien.
Werner, Über die asymmetrisch gebauten chemischen Mole-
küle. Hescheler, Über die Bedeutung einiger Ergebnisse
der Paläontologie für die Ausgestaltung einer zoologischen
Schau- und Lehrsammlung. Ernst, Frucht- und Samen-
bildung bei den Blütenpflanzen. Schardt, Die geothermi-
schen Verhältnisse des Simplongebirgcs in der Zone des großen
Tunnels. Pfeiffer, Moderne Ergebnisse der Eiweißforschung.
Schlaginhaufen, Über die Pygmäenfrage in Neu-Guinea.
Laue: Die Interferenzerscheinungen an Röntgenstrahlen, her-
vorgerufen durch das Raumgitter der Kristalle.
Hesse-Doflein, Tierbau und Tierleben, in ihrem Zu-
sammenhang betrachtet. II. Bd. : Das Tier als Glied des
Naturganzen von Fr. Dof lein. Mit 740 Abb. im Text und 20
Tafeln in Schwarz- und Buntdruck. Leipzig und Berlin '14,
B. G. Teubner. Geb. 20 Mk.
Rinne, Prof. Dr. F., Gesteinskunde für Studierende der
Naturwissenschaft, Forstkunde u. Landwirtschaft, Bauingenieure,
Architekten und Bergingenieure. 4. vollständig durchgearbeitete
Auflage. Leipzig '14, Dr. M'. Jänecke. Geb. 14 Mk.
Kassowitz, Prof. Dr. Max, Gesammelte .Abhandlungen.
Mit einem vollständigen Verzeichnis der Arbeiten des Ver-
fassers, einem Porträt und 2 Figuren im Text. Berlin '14,
J. Springer. Geb. 14 Mk.
Synopsis der mitteleuropäischeu Flora von P. Ascherson
und P. Graebner. 84. und 85. Lieferung. Bd. VII, Bogen 6
bis 15. Preis 4 Mk. 86. Lieferung. Bd. V, Bogen 15 — 19.
Preis 2 Mk. Leipzig und Berlin '14, W. Engclmann.
Wettstein, Prof. Dr. Richard von, Leitfaden der Bo-
tanik für die oberen Klassen der Mittelschulen. Mit 9 Farben-
drucktafeln und 1030 Figuren in 216 Textabbildungen. 5. AuH.
Wien '14, E. Tempsky. Geb. 3 K. 9 h.
Inhalt; Kafka; Neuere Untersuchungen über den Farbensinn der Fische. — Einzelberichte: I'alache und Schaller;
Neue Mineralien. Evershed; Druck in der umkehrenden Schicht der Sonne. Denning; Meteore. Joannis; Das
Kaliumcarbonyl. — Bücherbesprechungen: Goldhammer: Dispersion und Absorption des Lichtes. Bryk: Kurzes
Repititorium. Magnus: Die Entstehung der Pflanzengallen. Die Kultur der Gegenwart. Hay: The extinct Bisons
of North America; with dcscription of a new species, Bison regius. Hoffmann; .Ältere und neuere Ansichten über
das Erdinnere. Goßner: Kristallberechnung und Kristallzeichnung. Freundlich; Kapillarchemie und Physiologie.
Weinschenk: Petrographisches Vademekum. Haenlein: Das Alter der Erde. F'indlay: Der osmotische Druck.
— Wetter-Monatsübersicht. — Literatur ; Liste.
Manuskripte und Zuschritten werden an den Redakteur Professor Dr. H.Mi ehe in Leipzig, Marienstraße lia, erbeten.
Verlag von Gustav Frischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 2. August 1914.
Nummer 31.
Der Einfluß äußerer Schallempfindungen
auf die Tonhöhe der menschlichen Sprache.
[Nachdruck verboten.] Von S. Bagl
Unter den F"aktoren, durch welche wir imstande
sind, die verschiedenen elementaren Eigenschaften
der gesprochenen Worte (Höhe, Stärke und Dauer)
zu ändern und zu regeln, spielt derjenige der vom
Ohre dabei vermittelten Schallempfindungen eine
Hauptrolle. Dies wird ganz deutlich schon im
Falle der geborenen Taubstummen bewiesen,
die eben taub sind, nur weil sie keine Gehör-
enipfindungen vernehmen können.
Daß diese Regelung eine durchgreifende Be-
deutung auch für den Fall der normalen gewöhn-
lichen gesprochenen Sprache hat, und daß durch die-
selbe eine Anzahl wichtiger Fragen der Phonetik
und der Sprachwissenschaften gelöst werden
dürfte, wird, meiner Ansicht nach, durch folgende
Beobachtungen und experimentellen Versuche
demonstriert.
Der Däne G. Forchhammer hatte schon
beobachtet (1903), daß, wenn man eben ein Musik-
stück gehört hat, man in derselben oder nahe
verwandter Tonart spricht. Bei mehreren Ver-
suchen gelang es ihm, die Tonart eines von ihm
selbst nicht gehörten Musikstückes einzig dadurch
zu bestimmen, daß er auf die Sprechweise seines
Bruders lauschte, der eben aus dem Musikzimmer
kam; in einigen Fällen war das Resultat nicht
ganz genau , jedoch immer annähernd richtig.
Bisweilen kann die Melodie eines gesprochenen
Satzes so stark an ein Lied erinnern , das man
gut erkennt, daß zwei Personen, ohne den Grund
dazu zu wissen, plötzlich dieselbe Melodie durch
den Kopf geht und sie dieselbe vor sich hin zu
trällern anfangen. Wenn zwei Personen zusammen
sprechen, suchen sie immer in derselben Tonart
zu sprechen, vielfach, wie es scheint, so, daß der
musikalische sich nach dem weniger musikalisclien
richtet. Sonst wird wohl in der Regel die Tonart
von dem bestimmt, der das Gespräch einleitet;
jedermann kann es aber nach Belieben ändern.
„So habe ich selbst wiederholt den Versuch ge-
macht, die Tonart willkürlich in der Mitte eines
Gespräches zu ändern, und jedesmal mit dem
Ergebnis, daß die anderen Stimmen mir folgten." ')
Seit Jahren hatte ich (sowie C. Biaggi) ähn-
liche zufällige Beobachtungen gemacht. Nachdem
ich am Harmonium ein Musikstück ausgeführt
oder eine Folge von Melodien oder Akkorde, die
einer bestimmten Tonart gehörten, improvisiert
hatte, begann ich (ohne an das Vorhergespielte im
') Zitiert nach O. Jespcrsen, Lehrbuch der Phonetik,
IV. Aufl. Teubner, 1913, S. 241 ff.
ioni (Sassari).
geringsten zu denken) in derselben Tonart zu reden,
d. h. es war die Tonhöhe der Mehrzahl der von
mir gesprochenen Worte dieselbe wie die des
Haupttones des eben gespielten Musikstückes.
Dasselbe galt auch für die Sprache meiner Kinder,
die die Musikübung gehört hatten.
Ferner hatte ich bei Eisenbahnreisen oft be-
obachtet, daß, wenn der Zug in Bewegung war
und ich oder die Mitreisenden zu reden oder zu
trällern anfingen, die Stimme dem eigentümliclien
Akkorde des von den erschütterten Rädern, Achsen
und Geleise erzeugten Geräusches sich intoniert.
In diesem Akkorde (wie ich vor kurzem feststellen
konnte) herrschen a — c vor.
Wenn ich in verschiedenen Sälen oder Audi-
torien spreche, habe ich oft beobachtet, daß die
Höhe meiner Stimme, d. h. der Mehrzahl der ge-
sprochenen Vokale, verschieden ist und zwar je
nacli den Schallen, die in den entsprechenden
Sälen am besten wiederhallen.
Obige zufälligen Beobachtungen veranjaßten
mich, die Frage nach dem Einfluß der äußeren
Schallempfindungen auf die Tonhöhe der ge-
sprochenen Sprache unter Anwendung einer
strengeren Untersuchungsmethode experimentell
zu ergründen. Die Methode, die mich dabei zum
Ziele führte, besteht darin, daß ich die Versuchs-
person einen Passus aus irgendeinem Buche oder
einer Zeitung laut vorlesen lasse, während ein
bestimmter Ton eines graduierten Harmoniums
ertönt. Ich stelle nun fest, ob und wie der Leser
die Höhe seiner Stimme dabei ändert. Die äußere
Schallempfindung wirkt hier also auf eine eigen-
tümliche Redeart (die laute Lektüre), die zwar
nicht zu den gewöhnlichsten Redearten ge-
hört, die aber sich mir für derartige Versuche am
besten zu eignen schien, weil die Aufmerksam-
keit des Lesers (dem übrigens die Bedeutung und
die Tragweite des Experiments unbekannt waren)
vom Texte gefesselt wird und keine Gelegenheit
hat, sich nach der Schallempfindung zu richten.
In der F^olge beabsichtige ich jedoch, die Unter-
suchungen noch auf die übrigen Arten des Reden
(freien Vortrag, Zwiegespräch, Vorlesung usw.)
auszudehnen.
Die Lektüre wird in der Mehrzahl der Per-
sonen dadurch charakterisiert, daß die Stimmhöhe
eine geringe Anzahl Schwankungen (Modulationen
oder Kadenzen) erfährt. Selbst dem Laien er-
scheint sie eintöniger als irgend jede andere Sprech-
weise. Davon hängt es wenigstens zum Teil ab,
daß das Hören eines vorgelesenen Vortrages gewöhn-
482
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 31
hch weniger genußreich und langweiliger wirkt,
als das Hören eines freien Vortrages.
Über die Tonhöhe und deren Variationen bei
der gesprochenen Sprache besitzen wir allerdings
noch nicht klare und übereinstimmende Kennt-
nisse, obwohl mehrere diesbezügliche Unter-
suchungen schon vorliegen, deren Resultate
O. Jespersen') neuerdings zusammengefaßt
hat. Bei den europäischen Sprachen dienen die
Schwankungen der Tonhöhe vor allem zum Aus
druck der Empfindungen und Affekte, die die von
den Worten bezeichneten Begriffe begleiten: Frage,
Zweifel, Bewunderung, Erwartung, Schmerz, Reue
und alle übrigen mannigfaltigen Nuanzen der Ge-
fühle werden eben durch besondere Variationen
der Stimmhöhe ausgedrückt. ,,Wir sehen (schreibt
Jespersen), daß der Ton, außer einem Gefühls-
thermometer und Stimmungsbarometer auch ein
Seziermesser vom feinsten Stahle für unsere Ge-
danken ist." Von dem Redner, welcher derartige
Modulationen stark betont, sagt man, daß er mit
Pathos spricht.
Wird von dieser hohen Aufgabe der Tonhöhe
der Sprache (worin eigentlich die Sprach-
melodie besteht) abgesehen, so gibt es in
unserer gewöhnlichen Sprache noch typische und
immer wiederkehrende regelmäßige Modulationen
der Stimmhöhe, die man als grammatische Ka-
denzen bezeichnen könnte, durch welche wir ge-
wisse Phasen der Perioden oder Sätze aus-
zeichnen. .Sie sind die eigentümlichen Kadenzen
oder Modulationen, welche den verschiedenen
Pausen (die von dem Bedürfnis, nach dem langen
Expirationsakte, der die Phonation bedihgt, einzu-
atmen, oder von dem Bedürfnis, dem Muskelnerven-
system der Stimmorgane einen Augenblick Ruhe
zu gönnen, geboten werden) vorhergehen und
dieselben angeben. Dabei unterscheidet man zu-
nächst die Kadenz (Tonfall), welche der Pause
des Punktes, d. h. des Endes eines Satzes voran-
geht. Sie ist eine absteigende Kadenz, indem die
Stimmhöhe um ein veränderliches (übrigens
noch nicht genau in allen Fällen festgestelltes)
Intervall heruntersinkt, das jedoch meist eine
musikalische Quart oder Ouint beträgt.
Die Kadenzen oder Modulationen, welche kür-
zeren Pausen (die den Satzsinn unterbrechen und
durch die übrigen Interjuinktionszeichen, d. h.
Komma, Semikolon i;]. Kolon, Fragezeichen in der
gewöhnlichen Schreibweise angegeben werden),
vorangehen, sind dagegen aufsteigend; die Stimm-
höhe erhöht sich um veränderliche Intervalle (die
ebenfalls noch nicht genau in allen Fällen fest-
gestellt wurden), die jedoch zwischen einer musika-
lischen Sekunde, Terz, Quart und Quint schwanken.
Schon Helmholtz hatte diese allgemeinen
Merkmale der grammatischen Kadenzen deutlich
gekennzeichnet.
„Übrigens (schrieb er in seinem Meisterwerk
„Die Lehre von den Tonempfindungen"
S. 391 f. V. Ausgabe, Braunschweig 1896) lehrt eine
etwas aufmerksamere Beobachtung bald, daß auch
beim gewöhnlichen Sprechen, wo der singende Ton
der Stimme hinter den Geräuschen, welche die
einzelnen Buchstaben charakterisieren, mehr ver-
steckt wird, wo ferner die Tonhöhe niciit genau
festgehalten wird und schleifende Übergänge in
der Tonhöhe häufig eintreten, sich dennoch ge-
wisse, nach regelmäßigen musikalischen Intervallen
gebildete Tonfälle unwillkürlich einfinden. Wenn
einfache Sätze gesprochen werden ohne Affekt
des Gefühls, so wird meist eine gewisse mittlere
Tonhöhe festgehalten, und nur die betonten Worte
und die Enden der Sätze und Satzabschnitte werden
durch einen Wechsel der Tonhöhe hervorgehoben.
Das Ende eines bejahenden Satzes vor einem
Punkte pflegt dadurch bezeichnet zu werden,
daß man von der mittleren Tonhöhe um eine
Quarte fällt. Der fragende Schluß steigt empor,
oft um eine Quinte über den Mittelton. Zum
Beispiel eine Baßstimme spricht:
Ich bin spazieren gegangen.
Bist du spazieren gegangen ?
Akzentuierte Worte werden ebenfalls dadurch
hervorgehoben, daß man sie etwa einen Ton höher
legt als die übrigen, und so fort."
Sämtliche Wortsilben, welche den erwähnten
Kadenzen vorangehen (wahrscheinlich mit Aus-
nahme der Anfangsworte, deren Aussprache mir
Schwankungen der Tonhöhe zu erfahren scheint),
werden in einer konstanten mittleren Höhe aus-
gesprochen, welche nur individuell verschieden ist.')
Die Mehrzahl der zwischen Einsetzen und Enden
jedes Satzes gesprochenen Worte, welchen eine
konstante Tonhöhe entspricht, kann man also
leicht mittels eines Tonometers messen und die
Zahl ihrer Schwingungen genau angeben. Auf
diese Tonhöhe, die man als konstante spon-
tane oder individuelle beherrschende
(dominierende) Stimmtonhöhe bezeichnen
kann, lenkte ich eben bei meinen Untersuchungen
die Aufmerksamkeit, folgenderweise verfahrend.
Die neben dem geeichten Harmonium sitzende
Versuchsperson bat ich bei mittlerer Stimm-
stärke, bei aller Ruhe und ohne jegliche An-
strengung, der eigenen Gewohnheit gemäß, einen
Passus irgendeiner Zeitung oder eines Buches
') O. Jespersen, Lehrbuch der Plionelik , 2. Aufl.
Teubner, 1913, Kap. 15, Ton (S. 224 — 245).
') Auch bei derselben Person kann sie übrigens, abgesehen
von den unten besprochenen Änderungen, unter verschiedenen
Umständen, 2. B. bei den verschiedenen Tagesstunden, Änderun-
gen crfaliren. Wenn aber die Beobachtung nicht für längere
Zeit fortgesetzt wird, dann tritTt die Konstanz der mittleren
Tonhöhe durchaus zu.
N. F. XIII. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
483
laut zu lesen und dabei die Aufmerksamkeit aus-
schließlich auf den Text zu konzentrieren, ohne auf
meine Handlungen acht zu geben. Letzteres, das
von wesentlicher Bedeutung ist, wenn man aus
dem Versuche das Eingreifen bewußter Vorgänge
möglichst ausschließen will, kontrollierte ich am
Ende, indem ich den Inhalt des gelesenen Stückes
auswendig wiederholen ließ.
Den mit der spontanen individuellen Stimm-
höhe der Zwischenworte übereinstimmenden Ton
des Harmoniums heraussuchend, stellte ich am
Beginne der Lektüre die Tonhöhe der Mehrzahl
der ausgesprochenen Worte (dominierende
Tonhöhe) fest. Hierauf ging ich zum eigent-
lichen Versuch über, welcher darin bestand, einen
anderen Ton des Harmoniums für einige Minuten
zu einer kleinen oder mäßigen Stärke (nie sollte
dadurch die Stimme des Lesers verdeckt werden)
zu erzeugen und zu ermitteln, ob und wie dadurch
der eigene Stimmton beeinflußt wurde. Hiernach
prüfte ich den Einfluß eines anderen Tones des
Harmoniums und so weiter, so daß bei jedem Ver-
such vier oder fünf verschiedene Töne angewendet
wurden. Am Ende ließ ich mir evtl. angeben, ob
und welche Gehörsempfindungen während des Ver-
suches zu Wahrnehmungen kamen; ferner stellte
ich den Umfang sowohl der Brust- wie der Kopf-
stimme fest.
Den Untersuchungen dienten zwei Arten Har-
moniums; die eine war ein gewöhnliches mit tem-
periertem Leiter versehenes Harmonium, dessen
Stimmen ich jedoch geeicht hatte; die andere war
ein Harmonium, das ich in einen kontinuierlichen
Tonmesser umgewandelt hatte, indem jede Stimme
mit einer, im Prinzip der des Reisetonometers von
V. Hornbostel ähnlichen Vorrichtung versehen
war. Letzteres Harmonium gestattete die Erzeugung
jeder beliebigen Töne, auch derjenigen, die nicht
den musikalischen Leitern gehören. Für einige
Versuche diente die kontinuierliche Tonreihe
Bezolds (Edelmann, München) von Stimmgabeln,
die ich ebenfalls für alle Töne graduiert hatte.
Schließlich sah ich gelegentlich, daß für die Ver-
suche auch der kleine Tonmesser von v. Horn-
bostel innerhalb seiner Grenzen gut angewendet
werden kann.
Zahlreiche Personen verschiedenen Alter?,
beider Geschlechter, mit musikalischer und ohne
musikalische Begabung, verschiedenen Standes
(Kollegen, Schüler, Kinder, Diener) unterzogen
sich gern den Untersuchungen, die zu den folgen-
den kurz zusammengefaßten Ergebnissen führten.
Die Höhe des eigenen spontanen Stimmtones
wird fast ausnahmslos nach verschiedener Zeit
geändert; die Änderungen gestalten sich jedoch
verschieden nach mehreren Faktoren, von denen
die Höhe des fremden beeinflussenden Tones am
wichtigsten ist.
a) Liegt dieser Ton innerhalb des Umfanges
des mittleren Stimmregisters des Lesers, d. h.
schwankt sein Intervall zu dem spontanen Slinim-
ton zwischen einer absteigenden oder aufsteigenden
Sekunde, Per/,, Uuart, (Juint bis mitunter einer
Sext (je nach den Individuen), so intoniert der
Leser unwillkürlich seinen Stimmton einstimmig
mit dem fremden erklingenden Ion, indem er die
Höhe seines eigenen mittleren Slimmtones deni-
ents[)rechend ändert. Diese Änderung findet ge-
wöhnlich dann statt, wenn der Leser nach der Pause
am Ende eines Satzes zu dem folgenden Satze
überschreitet. Auf die Weise gelingt es, die kon-
stante Stimmtonhöhe um einen, zwei, drei, fünf
und mehr Halbtöne experimentell erhöhen bzw.
erniedrigen zu lassen, um so leichter, je mehr die
aufeinanderfolgenden Variationen des beeinflussen-
den Tones langsam , stufenweise oder nach kon-
sonanten Intervallen erfolgen. Dasselbe gilt auch
für Intervalle und Töne, die der musikalischen
(diatonischen oder chromatischen) Tonleiter fremd
sind.
b) Liegt der beeinflussende Ton außerhalb
(ober- oder unterhalb) des Umfanges des mittleren
Stimmregisters des Lesers, so wird auch dann
(jedoch mit geringerer Frequenz) die Höhe des
eigenen Stimmtones geändert, der in einem kon-
sonanten Intervalle (meist Oktav, minder häufig
Quint oder Quart) zu dem fremden Ton akkordiert
wird. Wenn der P'remdton zu hoch oder zu tief
liegt, so daß es dem Leser nicht leicht gelingt, seine
Stimme mit ihm zu akkordieren, dann können
mannigfaltige Schwierigkeiten in der Fortsetzung
der Lektüre entstehen, die langsamer oder mühsamer
wird. In der Schwierigkeit, bzw. Unmöglichkeit,
den eigenen Stimmton mit einem außergewöhn-
lich hohen oder tiefen Premdton in Einklang zu
bringen, ist meiner Ansicht nach die Erklärung
der von v. Urbantschitsch') bei ähnlichen
Bedingungen beobachteten Störungen zu suchen.
c) Auch bei den vorliegenden Untersuchungen
spielt der individuelle Faktor eine wichtige Rolle.
Im allgemeinen gelingen die Versuche bei allen,
sowohl musikalischen wie nichtmusikalischen
Italienern; nicht alle eignen sich jedoch dazu in
gleichem Maße, die musikalischen besser als die
unmusikalischen. Einige sind gehorsamer als
andere. Auch in diesem Verhalten äußert sich
wahrscheinlich die verschiedene Stärke des Selbst-
gefühls der eigenen Personalität. Um jedoch
etwas Näheres über das individuelle Verhalten
anzugeben, ist eine größere Anzahl Versuche
nötig, die ich vorläufig noch nicht besitze. Übri-
gens hat dabei der Redeton (der oben erwähnte
Ausdruckston) einen beträchtlichen Einfluß, indem
je mehr derselbe zur Geltung kommt, desto weniger
die Stimmtonhöhe geändert wird.
Vielleicht hat dabei auch die Nationalität eine
durchgreifende Bedeutung. Die Italiener, an denen
ich meine Versuche fast ausschließlich bisher an-
gestellt habe, eignen sich dazu vortrefi'lich, weil
ihre gewöhnliche Sprache reich an Modula-
') V. Urbantschitsch, Über den Einfluß von
Schall empfindungen auf dieSp räche, Ptlüger's .\rch.
Bd. 137, 191 1, S. 422—434.
484
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 31
tionen ist und die Stimmtonhöhe dank der zahl-
reichen mit Vokalen versehenen Silben sehr rein
und deutlich zum Ausdruck kommt. Ein junger
Engländer, Professor der Biologie, zeigte dagegen
fast ein völlig negatives Verhalten.
d) Einen deutlichen Einfluß hat auch die Natur
des beeinflussenden Tones, indem er je mehr er,
nicht nur in der Höhe, sondern auch in den übrigen
Eigenschaften (Tonfarbe), der menschlichen Stimme
nahekommt und je stärker und dauernder er ist, desto
besser Änderungen in der Stimmtonhöhe erzeugt.
Deswegen liefern die Klänge der Kontroktave, der
kleinen und ersten Oktave des Harmoniums, bedeu-
tend bessere Resultate als die entsprechenden
Stimmgabeln.
Diesbezüglich sei jedoch hinzugefügt, daß es
zur Herbeiführung der genannten Variationen der
Stimmtonhöhe gar nicht nötig ist, einen sehr
starken Ton zu gebrauchen. Es genügt auch ein
so schwacher Ton, den der Leser eben vernehmen
kann. Dies schließt den Verdacht aus, daß der Eeser
seine Stimme instinktiv zu erhöhen sucht, um den
PVemdton zu beherrschen. Dieser Einwand wird
übrigens auch von dem Umstand widerlegt , daß
der eigene Stimmton sinkt, wenn der Fremdton
tiefer ist, auch wenn die Stärke des letzteren sehr
groß ist.
Die Leser, welche eine nähere Kenntnis der
bisher bei diesen Versuchen erzielten Resultate
haben möchten , verweise ich auf die italienische
ausführliche Mitteilung. ') Hier gebe ich noch das
Gesamtergebnis wieder.
Wenn man laut spricht (liest) und
zugleich ein Fremdton, der in einem
dissonanten oder diskordanten^) Inter-
valle bezüglich der eigenen Stimm töne
liegt, das Ohr trifft, strebt man unwill-
kürlich und unwiderstehlich dahin, die
Höhe seiner Stimme, namentlich die
Höhe der am häufigsten wiederkehren-
den Phoneme (sog. mittlere oder kon-
stante bzw. dominierende Stimmton-
höhe) zu ändern und dadurch an dieHöhe
des Fremdtones anzupassen, indem
die erstere mit letzterer im Einklänge,
oder in einem konsonanten Intervalle
(je nachdem der Fremdton innerhalb oder außer-
halb des mittleren Stimmregisters der Versuchs-
person liegt) akkordiert wird. Wurde somit
eine gewisse Stimmtonhöhe erreicht, die von der
anfänglichen spontanen abweicht, so hat man die
Neigung, dieselbe für eine gewisse Zeit beizube-
halten, auch nachdem der beeinflussende Fremd-
ton aufgehört hat.
') ,,Vox" Internat. Zentralbl. f. experim. Phonetik, 24. Jahrg.
Heft 2, 1914.
^) Als ,, dissonante" Intervalle sind die musikalischen
Intervalle Sekunde. Sexte, Septime, als ,,diskordante" Intervalle
alle übrigen unzähligen niclitmusikalischen Intervalle zu ver-
stehen.
Für die somit erwiesene Tatsache wollen wir
zunächst eine theoretische Erklärung suchen und
dann einige praktische Folgen erwähnen.
Biologen werden darin ein schönes Beispiel
der immer mehr an Zahl und Kenntnis zunehmen-
den Erscheinungen von Anpassungsfähigkeit
an die LTmgebung erblicken, wodurch die
Lebewesen dank der großen Funktionsvariabilität
ihrer verschiedenen Organe imstande sind, die
eigenen funktionellen Eigenschaften und Bedürf-
nisse nach den mannigfachen äußeren Bedingungen,
unter denen sie leben, so zu modifizieren und ein-
zuschränken, daß der normale Ablauf der Lebens-
vorgänge dadurch nicht gehindert, sondern viel-
mehr begünstigt wird.
Der introspektiven Analyse der Selbstbeob-
achtung würde diese Anpassung als ein Beispiel
jener psychischen Vorgänge erscheinen, die unter
dem Namen Einfühlung heute hervorgehoben
werden, wodurch unsere Psyche instinktiv dahin
strebt, einem äußeren Einflüsse zu folgen und sich
mit ihm übereinzustimmen.
Eine andere, vielleicht überzeugendere Erklärung
wird von der physiologischen Analyse geliefert.
Die Versuchsperson wird zu gleicher Zeit von
zwei verschiedenen (dissonanten und diskordanten)
Schallempfindungen getroffen, die eine stammt von
der eigenen Stimme, die zweite von dem Fremdton.
Wie es immer unter ähnlichen Bedingungen der Fall
ist, wenn also beide Schallempfindungen den gleichen
Entstehungsort haben, d. h. wenn zweistimmige
dissonante oder diskordante Akkorde von Instru-
menten oder Stimmen erzeugt werden, empfinden
alle Menschen (selbst die Unmusikalischen) einen
unangenehmen Eindruck und infolgedessen suchen
alle dem Verdruß sich zu entziehen, indem ange-
nehme, d. h. konsonante Intervalle (Einklang,
Oktav, Quint, Quart) verlangt werden. Der Leser
vernimmt in unserem Falle mit der Schall-
empfindung seiner Stimme die Schallempfindung
des Fremdtones. Wenn diese zwei Empfindungen
nicht übereinstimmen, erlebt er die unangenehme
Wirkung der dissonanten oder diskordanten zwei-
stimmigen Akkorde (wie es übrigens von allen
einer genauen Selbstbeobachtung fähigen Versuchs-
personen tatsächlich angegeben wird) und er sucht
sich instinktiv dem Verdruß zu entziehen, eben
indem er den dissonanten oder diskordanten Akkord
in einen konsonanten umwandelt. Da er dabei
den beeinflussenden Fremdton nicht, sehr wohl
dagegen die Tonhöhe seiner Stimme zu ändern
vermag, dank jener innigen Beziehung, welche
die sensoriellen Gehörszentren der Hirnrinde mit
den motorischen Sprachzentren verbindet, modi-
fiziert er die Höhe seiner Stimme, d. h. die Höhe
der von derselben erzeugten Schallempfindung
derart, daß sie ein konsonantes Intervall (Einklang
oder Oktav) mit der fremden Schallempfindung
bildet. Somit verschwindet die unangenehme
Wirkung; ja sogar, wenn die neue Tonhöhe dem
Sprachorgane angemessen ist, entsteht dagegen
Lust und Erregung weiter zu sprechen, wie es
N. F. Xm. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
485
ebenfalls von den Versuchspersonen behauptet
wird.
Von dem Kinflusse, den die äußeren Schall-
empfindungen auf die Eigenschaften (Tonhöhe)
der gesprochenen Sprache ausüben oder auszuüben
vermögen, stammen einige praktische Folgen !ier.
Zunächst verstehen wir den Grund für den
Brauch alter römischer Redner, die am Anfange
ihrer Reden den Sprachton von einem Fistula
blasenden Sklaven geben ließen. A m n i e n u s
Marcellinus (Schriftsteller des 4. Jahrb. n. Ch.)
erwähnt z. B. die F" i s t u 1 a c o n t i o n a t o r i a
Gracchi. Wahrscheinlich ließ sich jeder Redner
den Ton geben, der am besten dem eigenen
Stimmregister entsprach.
Die Tatsache hat aber eine wichtige pädago-
gische Bedeutung. Die Schüler passen ihre Stimme
an diejenige der Lehrer an oder (minder häufig) um-
gekehrt. Dies wird am leichtesten vorkommen, weil
diebeeinflussenden PVemdtöne auch in der Stärke und
Klangfarbe der beeinflußten Stimme nahekommen.
Denn es handelt sich hier um zwei menschliche
Stimmen. Somit wird es verständlich, daß bei
einer Unterhaltung nach den ersten Worten alle
Redner sich gegenseitig beeinflussen und die mitt-
lere Tonhöhe ihrer Sprache im Einklang oder
nach konsonanten Intervallen intonieren. C. B i a g g i
hat unabhängig von mir mittels des v. Horn-
bostel 'sehen Tonometers experimentell festge-
stellt, daß die Höhe der Stimme der Kinder einer
Mailänder Volksschule und diejenige ihrer Lehrerin
sich tatsächlich gegenseitig beeinflussen und parallel
gehende Schwankungen zeigen.
Obwohl nun der Umfang des mittleren bei
der gewöhnlichen Aussprache am meisten ge-
brauchten Stinimregisters innerhalb ziemlich weiter
(irenzen (etwa einer Ouint, Quart oder Terz)
schwanken kann, ist es doch eine Tatsache, daß
nicht jeder innerhalb dieser Grenzen ausgewählte
Tonhöhenwert den einzelnen Stimmen im gleichen
Maße gut paßt. Für jede Person scheint vielmehr
nur eine bestimmte Tonhöhe die geeignetste, die
den Sprechorganen am besten angemessen ist, die
geringste Anstrengung erfordert und die geringste
Ermüdung erzeugt. Es leuchtet dann ein, daß die
eine angemessene Stimmtonhöhe besitzenden Lehrer
die Sprache ihrer Zöglinge günstig beeinflussen
können, während die mit einer zu hohen oder
zu tiefen oder rauhen Stimme begabten Lehrer
einen schädlichen Einfluß auf die Sprache der
Schüler notwendig ausüben werden. Von den
Lehrern ebenso wie von den Eltern, Brüdern und
Freunden, mit denen wir am häufigsten nament-
lich in den ersten Jahren verkehrt haben, erwerben
wir Redearten, Sprachfehler und Tonhöheneigen-
schaften (ebenso wie Kadenzen und Modulationen),
die uns das ganze Leben begleiten und unsere
Sprache kennzeichnen.
Auf die Weise kann die tägliche Erfahrung
von den allen .Angehörigen einer Familie oder einer
Schule gemeinsamen Spracheigenschaften (familiäre
Sprachgruppen) erklärt werden, wenigstens soweit
sie sich auf die Tonhöheneigenschaften beziehen.
Ahnlicherweise gewinnen wir auch eine Erklärung
für die ebenfalls tägliche Beobachtung, daß die Ein-
wohner eines Dorfes, einer Stadt, einer Gegend
und selbst einer Nation übereinstimmende Charak-
tere ihrer .Sprache besitzen. Durch diese Tatsache
behaupten wir freilich, weder alle Eigenschaften
noch den Ursprung der besonderen Modulationen
der Stimmtonhöheder verschiedenen Sprachgruppen
erklären zu dürfen. Es ist nur ein Faktor der
Sprache, den wir hier betrachten, d. h. die Ton-
höhe. Bezüglich seines ersten Auftretens sind wir
zwar immer noch im Dunkel; auf Grund der mit-
geteilten Beobachtungen sind wir jedoch imstande
zu behaupten, daß sich derselbe, nachdem er einmal
entstanden ist, von Generation zu Generation er-
halten und übermittelt werden konnte durch den
Einfluß, den er auf die Stimme aller Glieder der
Gesellschaft ausgeübt hat.
Obige Betrachtungen gelten nicht nur für die
europäischen Sprachen, bei denen die Tonhöhe
fast nur zum Ausdruck der Gefühle dient, sondern
auch (vielleicht in einem höheren Maße) für die-
jenigen Sprachen (chinesische und einige afrika-
nische Sprachen), bei denen durch die verschie-
dene Tonhöhe der Silben eine verschiedene Inhalts-
bedeutung des Wortes angegeben wird.
Es gibt ferner noch eine andere Möglichkeit, die
hierher gehört und die wir nicht vergessen wollen,
die Möglichkeit nämlich, daß die verschiedenen
Schallquellen der äußeren Umgebung auf die Ton-
höhe der menschlichen Sprache einen ähnlichen
Einfluß ausüben können. Von den Schallquellen
der Llmeebune seien die Tierstimmen, namentlich
aber die Klänge oder Geräusche erwähnt, welche
einige Naturerscheinungen begleiten, wie z. B. die
Wasserfälle, die Flußläufe, die Meereswellen, das
Windrauschen, welches verschiedene Höhe und
Klangfarbe je nach der Art und Zahl der Bäume
zeigt usw. Daß alle solche Naturerscheinungen
durch ihre Schalhvirkungen am meisten charak-
terisiert und vom Menschen erkannt werden, ist
zweifellos. Die zu ilirer Bezeichnung erfundenen
Si^rachworte enthalten selbst bei den verschiedenen
Sprachen Klänge oder Geräusche, die an dieselben
stark erinnern (sog. onomatopoetisciie Nachahmung).
Doch gehört diese Besonderheit nicht zu unserem
Gegenstande; dagegen gehört hierher die Tatsache,
daß die Menschen, welche Gegenden oder Ort-
schaften bewohnen, wo solche Schallwirkungen
stets vorkommen (wie z. B. die Einwohner der
Meeres- oder der Flußiifer), dem Einfluß dieser
Schallempfindungen beständig ausgesetzt sind. Die
besonderen Tonhöhenwerte, welche in diesen Ge-
räuschen immer vorkommen, werden schließlich
auf die Tonhöhe der Sprache einen dem oben
erwähnten ähnlichen Einfluß ausüben, so daß
schließlich die Stimmtonhöhe dieser Einwohner
den äußeren Klängen akkordiert wird.
Ähnlicherweise glaube ich, daß die Sprache
der Einwohner eines Dorfes von den besonderen
Klangtönen der Glocken ihrer Kirche beeinflußt
486
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 31
werden kann und daß vielleicht in einem größeren
IVIaße die Sprachlaute der Bauhandwerker, der Tisch-
ler, der Schreiner, der reisenden Eisenbahnbeamten
usw. von den Schallempfindungen, die von ihren
Gewerben erzeugt werden, beeinflußt werden. Es
sind also vielleicht nicht nur die rhythmischen
Eigenschaften (Bücher), sondern auch die melo-
dischen Eigenschaften (Tonhöhe) dieser Gewerbe,
welche die physiopsychologischen Äußerungen der
betreffenden Individuen modifizieren und regeln
und in den Merkmalen ihrer Sprachen sich wider-
spiegeln.
Schließlich wollen wir den Einfluß erwähnen,
welcher die Umgebung durch ihre Resonanz auf
die Sprachtonhöhe ausüben kann. Bekanntlich
besitzen die verschiedenen Zimmer und Säle, wo
man spricht, ganz verschiedene Resonanzfähigkeiten.
Es gibt einige, welche fähig sind, alle Töne gleich-
mäßig zu verstärken , während andere dagegen
nur bestimmte Töne und andere schließlich keinerlei
Töne zu verstärken vermögen. Es leuchtet ein,
daß die S[>rache eines Redners, der in diesen
verschiedenen Räumen zu sprechen hat, ganz ver-
schieden von der Resonanz derselben beeinflußt
werden muß. Im ersteren Falle, wo alle Ton-
höhenwerte gleichmäßig verstärkt werden , wird
der Redner am wenigsten gestört. Er kann seine
[lersönliche beste Stimmtonhöhe auswählen und
fortsetzen, ohne daß die Umgebung ihn auf eine
andere Tonhöhe lenkt. Der zweite Fall kann
dagegen schlimme Folgen haben , wenn der
Raum Töne verstärkt, welche der Sprache der
Redner nicht adäquat sind. Er wird daini auf
diese Tonhöhe von der Umgebung unwillkürlich
gebracht, die zu tief oder zu hoch für seine Sprach-
organe ist ; infolgedessen verliert seine Stimme
die gewohnte Wirkung, und er wird dadurch
ziemlich bald müde.
Auf Grund der Tendenz und Fähigkeit, die
der Mensch in so ausgesprochenem Maße besitzt,
die Höhe seiner mittleren Stimme beim Sprechen
durch die Schallempfindungen der Umgebung zu
regeln, können wir also eine Anzahl auffälliger
Tatsachen und täglicher Erfahrungen verstehen;
vielleicht kann daraus in der Zukunft auch ein
Mittel zur pädagogischen Bildung der Stimme und
Heilung von Sprach- und Gesangfehlern gewonnen
werden.
SteinwerkzeHge aus dem noiMlischcu (Jletscliermergel.
Von Prof. Dr. Ferd. Richters f.
Mit 6 Textliguren.
[Nachdruck verboten.]
Der nordische Gletscher der Eiszeit hat ge-
waltige Massen Gebirgstrümmer mit sich geführt
und über Norddeutschland ausgestreut. Teils sind
es ungeschichtete Mergel mit Geschieben von allen
Größen, teils in Zwischen - Eiszeiten sortierte
Schwemmprodukte der Gletschermergel : ge-
schichtete Sand- , Lehm-, Mergel-, Kieslager und
Blockpackungen.
Außer natürlichen Gesteinsbrocken schloß der
Gletschermergel auch solche ein, die Spuren
menschlicher Tätigkeit erkennen lassen. Die hoch-
nordischen Gefilde müssen schon während, ver-
mutlich sogar schon vor der Eiszeit von Menschen
bewohnt gewesen sein, dafür liefern eben die im
Gletschermergel sich findenden Manufakte den
unumstößlichen Beweis.
Eine besonders wichtige Rolle spielen bei
der Untersuchung der Geschiebe die Gletscher-
schrammen, das sind Verletzungen, welche dieselben
beim Abwärtsrutschen des Gletschereises, durch
Berührung untereinander oder mit der Sohle und
den Wandungen des Gletscherbetts erhalten haben.
Nach Maßgabe des Härleverhältnisses zwischen
dem ritzenden und dem geritzten Gestein sind sie
verschieden kräftig ausgebildet. Weiche Kalksteine
werden leichter ..gekritzt" als harte, kristalline
Gesteine oder gar Feuersteine. Meistens sind es
schnurgerade .Striche und Schrunden, oft zu vielen
untereinander jiarallel, die unter dem gewaltigen
Druck Hunderte von Metern hoher Eismassen,
durch Ecken und Kanten von Kristallen und
Körnern eines harten Minerals auf der ( )berfläclie
eines weniger harten Gesteines erzeugt werden.
Früher oder später gelangen die geschrammten
Geschiebe auf der Gletschersohle in die schlam-
migen Abwässer des Gletschers und werden durch
diese poliert. Gletscherschrammen haben daher
ein mehr oder weniger verwaschenes Aussehen
und unterscheiden sich dadurch von anderen Druck-
spuren. So ist es auch bei dem Feuerstein, dem
Material, aus dem fast ausschließlich die Manufakte
bestehen. Auf dem Acker und am Wege liegende
Feuersteine können auch, unter Umständen, durch
menschliche Tätigkeit, durch Ackergeräte, Wagen-
räder usw. Druckspuren annehmen ; diese sind
aber ganz anderer Art. Die Feuersteine, die von
derartigen Eingriffen betroffen werden, sind im
Laufe der Zeit meistens mit einer Kruste von
„Patina" überzogen. Diese schilfert in flachen
Druckspuren auch noch unter dem Druck eines
Wagenrades ab, vgl. „Umschau" Nr. 16 19 14;
friscli zerschlagene Steine mit gesunder Oberfläche
nehmen auf diese Weise keine Schrammen an.
Finden wir daher ein Feuersteingerät mit deut-
lichen Gletscherschrammen auf den geschlagenen
Flächen, so dürfen wir sicher sein, daß es den
Gletschertransport, schon bearbeitet, mitgemacht
hat, also sicherlich der Alt-Steinzeit angehört. Für
den Archäologen ist dieses Erkennungsmittel manch-
mal von hoher Bedeutung, denn gar oft liegen die
Inmdstücke nicht an der Stelle, wo der Gletscher
sie deponierte: sie sind verschwemmt, vom Regen
N. F. XIII. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
487
ausgewaschen, vom Menschen verschleppt. Alle
solche Oberflächenfunde wertete man früher sehr
Fig. I. Faustkeil von Labö. 10 cm.
wenig, weil sich nichts über ihr geologisches Alter
sagen lief5. Darauf müssen wir eben bei Gletscher-
mergel-Vorkommnissen verzichten, denn selbst
wenn wir ein Stück in einer geologisch noch so
sicher festgestellten interglazialen Kiesschicht finden,
so wissen wir über sein Alter doch noch nichts
Sicheres. Trägt es Gletscherschrammen auf ge-
schlagenen Flächen, so wissen wir wenigstens,
daß es altsteinzeitlich ist; trägt es keine, so kann
es immerhin doch den Gletschertransport mit-
gemacht haben; nicht alle Geschiebe werden ge-
schrammt. Aber das steht fest, daß ein ge-
schrammtes Werkzeug nicht neusteinzeitlich sein
kann.
Zurzeit wird angenommen, daß der sog. „Obere
Geschiebelehm" Norddeutschlands der vierten Eis-
zeit Penck's, der „Würmeiszeit", angehört und
Fig- 3-
Faustkeil von Strande.
13 cm.
Fig. 4.
Keule von IloUenau.
16,5 cm.
Fig. 2. Faustkeil von Kitzeberg. Natürl. Größe.
urgeschichtlich in die Zeit der Mousterienperiode
fällt. Demgemäß dürften wir in den unteren
Schichten des Diiuviallehms noch Werkzeuge aus
den Perioden des Acheulcen, Chelleen und Stre-
pyien und des Eolitiiicums erwarten. Und darin
werden wir nicht getäuscht, wie ich durch Funde
aus der Umgebung der Kieler Förde glaube er-
weisen zu können.
Als Eolithe habe ich in meiner Sammlung
mehrere Oberflächenfunde aufgelegt, die mit großer
Wahrscheinlichkeit als solche aufzufassen sind.
Es sind natürliche Steinknollen und -brocken von
handlicher Form mit Verletzungen, die man für
das Produkt menschlicher Tätigkeit halten kann;
volle Gewißheit kann bei keinem Eolithen, in
diesem engeren Sinne des Wortes, gegeben werden.
Absichtlich geformte Stücke finden sich im
,, Untern (jeschiebelehm", in dem wir mal ein
Produkt der Rißeiszeit erblicken dürfen; ich habe
488
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 31
solche eigenhändig dem intakten Gletschermergcl
mit seinen zahlreichen, schön geschrammten und
polierten Silurkalkgeschieben und seinen vorwiegend
Fi?-
■;.
a
Sar^cac,
Aurignacien ;
b
Haffkam
p; c
le
Moustier,
Mo
lusterien ;
Labo
e
le
Moustier,
, Moust
crien ;
; f
Labö; g
Labö ;
h le Moustier,
Mouslericn.
'/5
nat. Größe.
e
Fig. 6. a Labö
e Haff kamp ;
b le Moustier, Aclieuleen; c Haffkarap; d Longueroche, Magdalenien;
f le Moustier, Mousteriea ; g Brodersdorf; h le Moustier, Mousterien.
^/j nat. Größe.
tiefschwarzen heuersteinknollen entnommen. Die
Bearbeitung ist noch eine sehr rohe; man begnügte
sich damit, einer Feuersteinknolle durch wenige
Schläge eine Spitze (Fig. i)
d oder eine Schneide (Fig. 2) zu
geben. Die Kruste der Knolle
wurde im übrigen nicht ent-
fernt. Solche Stücke ent-
sprechen den Strepyien Belgiens.
Die abgebildeten sind Ober-
flächenfunde; Fig. I, ein typi-
scher coupde poing, den ich
auf einer Straße in Labö, Fig. 2,
ein Faustkeil mit zickzackför-
migcr Schneide, und hinten
mit Anpassung an die Hand
durch Abrundung, den ich im
Walde bei Kitzeberg auflas.
Typische Stücke aus dem
Clielleen, die künstlich entkrustet
waren, hat mir besonders der
Strand von Strande bis Büjk
geliefert. Fig. 3, ein Faustkeil
von Strande von 13 cm Länge,
entspricht auf das genaueste dem
in allen Lehrbüchern der Urge-
schichte wiedergegebenen Bild
eines h'austkeils von ChcUes
aus Mortillet, Musce prae-
historique pl. V., Fig. 28. Die
in Fig. 4 dargestellte, 16,5 cm
lange Keule (casse-tete) aus
einer Sandgrube in Hol-
tenau, ist durchaus das
Ebenbild eines im Bulletin
de la societe d'anlhro-
pologie de Bruxelles,
1 89S, Fig. I 5 abgebildeten
h'undstückes vonTrien im
Hennegau, von 11,5 cm
Länge.
Besonders reich sind
h'ormen des Acheuleen
und Moustcrien unter den
Funden aus der Umge-
bung der Kieler h'örde
vertreten. In Heft 12 der
,, Prähistorischen Zeit-
schrift" 1914 habe ich
bereits je drei Manufakte
von Labö und Umgegend
neben Fundstücken aus
dem Acheuleen und Mou-
sterien des Vezere-Tals
abgebildet. Unsere Ab-
bildungen 5 und 6 zeigen
weiter e i n solches Paar
von Pendants aus dem
Acheuleen, P"ig. 6 a, b, fünf
aus dem Mousterien, Fig.
5c -h, Fig. 6 c — h. Es
sind Schaber von ver-
N. F. XIII. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
489
schiedener Gestalt, alle mit Retuschen, resp. mit
Gebrauchsspuren ; drei von diesen haben Gletscher-
schrammen.
Mit dem diluvialen Mousterien aber sind die
Funde in der Kieler I-'örde nicht erschöpft; Aurig-
nacien, Solutreen, Magdalenien schließen sich an.
In der Prähistorischen Zeilschrift veröffentlichte ich
vier Fundstücke aus dem französischen Aurignacien
und entsprechende Gegenstücke zu diesen von
der Kieler Förde. In Fig. 5 a, b füge ich ein
fünftes Paar hinzu und gebe auch ein Bild eines
Stichels (burin) aus den Magdalenien von Longue-
roche, F"ig. 5 d, verglichen mit einem solchen von
Haffkamp bei Labö, Fig. 5 c.
Aus allen Perioden des französischen Palaeo-
lithicums finden sich typische Fundstücke an den
Ufern der Kieler Förde; ob dieselben den franzö-
sischen durchaus gleichalterig sind, ist eine andere,
noch eingehender zu prüfende h'rage. Die Gletscher-
schrammen tragenden Werkzeuge aber sind von
nördlichen seßhaft gewesenen Nachbarn herge-
stellt.
Einzelberichte.
Anatomie. Aniphibienlarven können längere
Zeit ohne Kopf leben. C. Eycleshymer (Some
observations on ihe decapitated young Necturus.
Anat. Anzeiger, 46. Bd., 1914) fand, daß von 10
bis 15 mm langen Necturuslarven, die bei einem
Versuch infolge heftiger Bewegungen des Wassers
in Stücke gegangen waren, 3 kopflose Individuen
am Lieben blieben ; zwei noch einige Wochen, ein
drittes 3 Monate. Fs wurde in einem weiteren
\^ersuch eine größere Zahl von Larven absichtlich
durch einen scharfen Schnitt enthauptet. Die
Schnittlinie lag vor den Kiemen, direkt hinter dem
Kleinhirn. Einige von den Larven überlebten den
Eingriff um ungefähr 3 Monate, bis der Dotter
gänzlich aufgebraucht war. Das Wachstum war
langsamer als bei der unverletzten Larve. Die
Differenzierung der Organe dagegen verlief in dem-
selben Tempo. Die Bewegungen waren weniger
häufig, zeigten im übrigen aber keine Veränderung.
Die Verteilung des F'arbstofls war normal, ob-
gleich die Chromatophoren stark zusammengezogen
waren. Die ersten Pigmentstreifen fielen mit den
großen dorsolateralen Venen zusammen. Die
anderen Bänder und Flecken zeigten keine Be-
ziehung zu den Blutgefäßen, weder in ihrer Ent-
stehung noch in ihrer Entwicklung. Von den
Hautsinnesorganen war das Auftreten des Pig-
ments unabhängig. Die beiden Pfoten bildeten
sich wie bei den normalen Larven, nur langsamer.
Die Reaktion auf Licht war im wesentlichen
dieselbe und zeigte, daß der Hautlichtsinn den
durch die Entfernung der Augen entstandenen
Verlust decken kann. Katharincr.
Geographie. Walter Behrmann faßt die
„Geographischen Ergebnisse der Kaiserin-Augusta-
Fluß-Expedition" in derZeitschr. Ges. Erdkde., 1914,
H. 4, zusammen.
Die F.xpedition, die Ende 191 1 ihre Ausreise
nahm und September 1913 aufgelöst wurde, halte
die Hauptaufgabe, den westlichen Anteil des
deutschen Gebietes zu erforschen und besonders
die Nebenflüsse des Sepik, wie der Kaiserin-
Augusta-Fluß kurz genannt wird, zu erkunden, von
diesen aus in das unbekannte Innere einzudringen,
um die Gebirge desselben zu erforschen. Der
Sepik, der in seiner Größe dem Rhein vergleich-
bar ist, fließt in großen Windungen dahin, aber
das Fahrwasser ist sehr wechselnd. Es kommt
sehr häufig zu Flußverlegungen, der F'luß wird
deshalb von vielen abgeschnittenen Schleifen be-
gleitet. Auch durch Änderungen des Pegelstandes
— der größte Unterschied betrug 7,25 m — wegen
der häufigen Hochwasser, können bedeutende
Flußverlegungen zustande kommen. Die jährliche
Regenhölie in Malu betrug 2919 mm. Das Hoch-
wasser lagert viel schwebende Erdteilchen seitlich
am Ufer ab, sie erhöhen das umliegende Land und
bilden einen natürlichen Damm, der bei einer
Breite von 200 m eine Höhe von 3 — 4 m erreichen
kann. Bei Niedrigwasser dagegen erodiert der
Fluß seitlich stark und führt große Schlamm- und
Vegetationsmassen mit sich, die ein Anwachsen
des Landes in der Nähe der Küste bedingen.
Aber der Fluß baut trotzdem kein regelmäßiges
Delta auf, denn alle Sedimente werden seitlich
verlagert. Nicht nur an der Mündung, sondern
auch zu beiden Seiten sucht der Fluß Land zu
erobern; die Grasflächen hier sind fast nie passier-
bar. Die Entdeckungen der Nebenflüsse, die Haupt-
aufgabe der Expedition, fielen in ihre erste Zeit.
Der Maifluß und der Leonhard Schnitze -Fluß
brachten die P'orscher mit Eingeborenen in Be-
rührung, die noch niemals Weiße gesehen hatten.
Der interessanteste Nebenfluß war der Töpferfluß,
der in die hochkultivierten Zentren der Topf-
industrie führte und weiter zu Eingeborenen, die
kein Eisen kannten und vor Streichhölzern die
Weiter im Osten war wieder
ganz andere Kulturzone; eine zeitweilige
Wasserverbindung zwischen Ramu und Töpferfluß
wurde hier festgestellt. Sepik und Ramu haben
ein weites Delta aufgeschüttet. Dem zweiten
Ethnologen, Dr. Thurwald ist es gelungen,
auf seiner Durchquerung des Landes noch viele
primitive Eingeborene auch fern vom Fiußdamm
zu finden. Beide Geschlechter gehen unbekleidet,
schmücken sich aber schön durch F'rüchte. Zwischen
den einzelnen Stämmen, die nicht volkreich sind,
liegen weite unbewohnte Gebiete gewissermaßen
als Schutzzonen. Am oberen Fluß bilden Bogen
und Pfeil, am unteren Speerschleuder und Lanze
Flucht ergriftVn.
eine
490
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 31
die Bewaffnung. Den Ilaustyi) bilden am oberen
Fluß das große Pfahlhaus (Breithaus), weiter strom-
abwärts hohe viereckige spitze Häuser (bei Tsenap).
Die gemeinsamen Versammlungshäuser sind mit
kunstvoller Bemalung und Schnitzereien versehen ;
hohe Dächer mit schöngeschwungenen Giebeln
sind nicht selten. Gegen diese hohe Kultur am
Malu stechen die jirimitiven Häuser an der Küste
und am Ramu sehr ab.
Von Malu aus wurden Vorstöße ins de-
birge unternommen. Es erheben sich hier links
und rechts des P'lusses Gebirge, südlich aus Gneis
und Schiefer, nördlich aus Glimmerschiefer be-
stehend. Sie tauchen unter die AUuvionen des
Sepik unter. Bis zur Umgebung des Südflusses
zeigt sich diese Erscheinung, daß das Gebirge sich
in Ketten auflöst, die von Alluvialebenen beinahe
erstickt werden. Vier Vorstöße ins Gebirge ge-
langen der Expedition. Der eine führte auf die
Hunsteinspitze, ein zweiter an die Wasserscheide
im zentralen Guinea, der dritte wurde dem Zwischen-
gebiet zwischen Ramu und Sepik gewidmet und
im letzten sollte Anschluß an die Arbeiten von
Leonhard Schnitze gesucht werden.') Da
das Gebirge so gut wie unbewohnt ist, muß man
sich mit dem Messer erst selbst den Weg bahnen.
So ist die Maximalleistung des Tages höchstens
7 km; auch die Proviantversorgung verlangsamt
das Vordringen sehr. Nur wenige Stunden des
Tages stehen zur Arbeit zur Verfügung, bis 8 Uhr
des Morgens lagert der Nebel in den Tälern, mit
der höher steigenden Sonne hob sich die Nebel-
decke. Der Vorstoß zur Zentralkette führte über
Bergstürze, die eine häufige Erscheinung im Inneren
sind. Das Zentralgebirge fällt mit hoher Kette
gegen das Vorland ab, das durch eine alte durch
Korallenkalk bezeichnete Küstenlinie vom Meere
getrennt ist. Kurz zusammengefaßt ergibt sich
folgendes:
Von Holländisch -Neuguinea streicht ein bis
über die Schneegrenze reichendes Gebirge in unsere
Kolonie; es teilt sich östlich der Grenze in einzelne
Ketten, die an Höhe abnehmen und unter die
AUuvionen des Kaiserin Augusta-Flusses tauchen.
Das aus altem Gesiein und Vulkanen bestehende
Gebirge hat in der Schatteburgketie eine unge-
faltete Sandsteinauflageruiig. Während nun der
Ostteil langsam versinkt, steigt der Westteil empor,
Schollen Landes werden gegeneinander verschoben.
Auf- und .'\bbewegungen bildeten das Gebirge.
Die P'lüsse schmiegen sich dem Gebirgsverlauf
an und gestalten im Inneren das Relief aus.
Dr. Gottfried Hornig.
Physiologie. Der Cholesteringehalt der Neben-
nierenkapscln unterliegt bei den verschiedenen
Krankheiten großen Schwankungen. Nach C h a u f -
fard, La rose he und A. Grigaud (C. Soc.
biol., 28. März 1914) beträgt er bei: Septikämie
^) Forschungen im Inneren (_ler Insel Neuguinea. (Mitteil,
dtsch. Scliutzgeb., Erg.-Heft Nr. 11), Berlin 1914.
4,io"||||. Lungentuberkulose 4,16 "/„n, Lungenent-
zundiuig 4,44 "/ Krebs (des Uterus und der Leber)
7,21 "/(,(,, Chronische tuberkulöse Nephritis 22,8o''/„j,
Geschwür des Zwölffingerdarms 31,20 "/„„, Nephritis
mit Retinitis (Nieren- und Netzhautentzündung)
72,^4"'iji,, Gehirnblutung und Netzhautentzündung
78,74 ",,:„r- 82,86 "„„.
Der mittlere Gehalt ist (20— 25 "/„„) ; die ge-
ringste Quantität findet sich bei Infektionskrank-
heiten und der Tuberkulose. Katluuiner.
Physik. Ein Röntgenspektroskop beschreibt
H. Roh mann (Straßburg) in der Physikalischen
Zeitschrift XV (1914) Seite 510. Wie früher in
dieser Zeitschrift auseinandergesetzt ist, werden
Röntgenstrahlen, die unter dem Winkel (f eine
Kristallfläche treffen, in derselben Weise gebeugt,
als wenn sie an den im Abstände d hintereinander
liegenden Netzebenen (Molekülschichten) reflektiert
würden. Die an den parallelen Ebenen zurück-
geworfenen Strahlen interferieren und zwar ergibt
sich in der Richtung fp ein Maximum, für welche
die Beziehung besteht n-/ = 2d sin fp, wo n eine
kleine ganze Zahl und/ die Wellenlänge der Strahlen
bedeutet. Die Braggs, Moseley und Darwin,
de Broglie und Herweg haben dadurch, daß sie
den Kristall drehten und dabei den Winkel (p
änderten, das Spektrum der Röntgenstrahlen ent-
weder photographisch oder mit Hilte der ionisieren-
den Wirkung untersucht. Ein viel einfacheres Ver-
fahren benutzt Roh mann. Er läßt ein schmales
Bündel Röntgenstrahlen (Spaltbreite 0,7 mm) auf
ein zylindrisch gebogenes Glimmerblatt
fallen (Krümmungsradius = 5 cm). Trifft der mitt-
lere Strahl des Bündels das Blättchen z. B. unter
einem Winkel von 45", so ist es ohne weiteres
klar, daß die links und rechts von ihm liegenden
Strahlen unter größeren resp. kleineren Winkeln
auffallen, so daß auf diese Weise ohne Drehung
des reflektierenden Kristalls für eine Änderung des
Winkels <p gesorgt ist. Die zurückgeworfenen
Strahlen fallen auf eine photographische Platte und
ergeben nach einstündiger Belichtung das Spek-
trum. Die mit einer G u n d el ac h 'sehen Patent-
röhre c mit Platinantikathode erhaltene Aufnahme
zeigt neben dem bei kleinen Wellenlängen liegen-
den kontinuierlichen Spektrum zwei Gruppen (i.und
2. (Ordnung) von je vier Linien, also im wesent-
lichen dasselbe Resultat, wie es auch de Broglie
erhalten hat. K. Schutt.
Geologie. Über die niederschlesischen Gold-
vorkommen berichtet Dr. H. O u i r i n g in Heft 6,
Jahrgang XXII, 1914, der „Zeitschr. i. praktische
Geologie". Oitsnamen, Urkunden und Chroniken,
sowie' ausgedehnte Halden- und Pingenzüge in
dem Hügelgebiet, das dem niedersclilesischen
Berglande vorgelagert ist, zeigen den Umfang des
einstigen Bergbaues an. Es können örtlich drei
Gruppen von Goldseifenlagerstätten unterschieden
werden: um Löwenberg (Vorkommen von
Buiizlau, Hohlstein, Deutmannsdorf und Höfel),
N. F. Xm. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
491
Goldberg (Vorkommen von Kopatsch und
Geiersberg) und Nickolstadt (Vorkommen von
Wahlstatt und Wandrisl.
Wann der Goldbergbau eingesetzt hat, läßt
sich nicht mit Sicherheit angeben. Nach den
Untersuchungen des Verfassers kann als sicher-
gestellt gelten, daß schon der slawischen Be-
völkerung einzelne Goldvorkommen, insbesondere
die Lagerstätte von Goldberg-Kopatsch, bekannt
waren. Bereits am Ende des 12. Jalirliunderts
übernahmen deutsche Bergleute die Ausbeute der
Seifen, nur das Goldvorkommen von Nickolstadt
wurde erst im Jahre 1 340 entdeckt, zu einer Zeit,
als die Lagerstätten von Löwenberg und Bunzlau
bereits erschöpft, und die Ausbeute des Vor-
kommens von Goldberg im Absteigen war. Im
Jahre 1404 war der Goldbergbau in Schlesien er-
loschen, und zwar infolge Erschöpfung der Gruben,
mit Ausnahme des Vorkommens von Nickolstadt,
das den nicht mehr zu haltenden Wasserzugängen
erlag. Jedenfalls ist nicht der Einfall der Mon-
golen um 1240 an dem Eingehen schuld, wie
vielfach berichtet wird. Später, vom Ende des
18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts, sind verschiedent-
lich Wiederaufnahmeversuche gemacht worden,
so bei Goldberg in den Jahren 1775 — 1784, 1842
bis 1843 und 1853 von der preußischen Berg-
verwaltung. Die Untersuchungen sind insofern
von Wert gewesen, als sie über die Art des Gold-
vorkommens und das Wesen des alten Bergbaues
einigermaßen Klarheit brachten. Die Ergebnisse
waren bei den Versuchsarbeiten von 1775 — 1784
und 1842 — 1S43 sehr unbefriedigend. Die letzten
Versuchsarbeiten von 1853 hatten insofern einen
Erfolg, als ein Fabrikbesitzer aus Reichenstein
Mutung einlegte und ihm auch ein Goldsand-
distriktsfeld verliehen wurde. Einen Betrieb er-
öffnete er jedoch nicht. Soviel bekannt, hat seit
1853 eine Erschürfung der Goldberger Lagerstätte
nicht mehr stattgefunden.
Zu gleicher Zeit wie in Goldberg bzw. im
Anschluß daran wurden Wiederaufnahmeversuche
in der Umgegend von Nickolstadt vorgenommen;
die Schürfschächte mußten jedoch sehr bald wieder
wegen beträchtlicher Wasserzugänge verlassen
werden. Nachhaltiger, jedoch mit demselben nega-
tiven Ergebnis, nahm man 1844 die Versuche
wieder auf, und zwar infolge des mysteriösen
Fundes einiger Goldstufen, die aber wahrscheinlich
gar nicht der Gegend entstammten. Bei Löwen-
berg haben Untersuchungsarbeiten größeren Um-
fanges soweit bekannt nicht stattgefunden.
Geologisch eingehender bekannt ist nur die
Lagerstätte von Goldberg-Kopatsch. Von den
Alten ist ein sedimentäres, i — 2 m mächtiges
Sandlager abgebaut worden, das an einzelnen
Punkten, so bei Kopatsch, zutage ausgeht, meist
jedoch unter 20—30 m mächtigen diluvialen Sauden
und Mergeln liegt. Das Gold tritt in Form von
kleinen, bis erbsengroßen Körnern, Blättchen und
Schüppchen auf, an denen Quarzteilchen haften.
Mit dem Golde sonderten sich bei der Aufbereitung
zahlreiche Magnet- und Titaneisenkörnchen, sowie
Edelsteine (Rubin, Saphir, .Spinell, Hyazitith, Topas,
Cyanit, Granat) ab. Der Verf. betrachtet das
Goldsandlager als eine normale fluviatile -Seife,
eine goldführende Terrasse, die aus erodierten,
talabwärts geführten, aufbereiteten und wieder
abgesetzten Trümmern einer Ouarzgoldlagerstättc
besteht, die in wahrscheinlich granitischem Gestein
(? (iranitstock Hirschberg - .Schmiedeberg - Kupfer-
berg) aufgesetzt hat. Es ist wahrscheinlich, daß
die Ablagerung der Sande im Tertiär erfolgt ist.
Der Goldgehalt erwies sich bei gewöhnlicher
Sieb- und Wascharbeit als sehr niedrig, nämlich
nur rund 0,20 g in I t Sand (0,020 g Feingold).
Durch Siebarbeit und Amalgamation stieg die
Ausbeute auf 0,045 g Feingold in i t Sand. Im
Jahre 1853 betrug die Ausbeute bei Siebarbeit und
Chlorierung 0,823 S? Feingold in i t Sand. Welche
Höhe der Rohgoldgehalt in den von den Alten
abgebauten Teilen der Lagerstätten besessen hat,
läßt sich nur mit geringer Sicherheit schätzen.
Jedenfalls kann er erheblich höher angenommen
werden und dürfte mindestens i g in der Tonne
betragen haben. F. H.
Chemie. Die Stabilitätsbeziehungen der Kiesel-
säuremineralien sind im geophysikalischen Labo-
ratorium der Carnegie Institution in Washington,
einem Institut, dem wir bereits eine Fülle der
wertvollsten Beiträge zur chemischen Experimental-
Geologie und -Mineralogie zu verdanken haben,
von neuem einer eingehenden Untersuchung von
Clarence N. Fenn er unterworfen worden.
Über die wichtigsten Ergebnisse dieser Unter-
suchung (Zeitschr. f. anorg. Chem., Bd. 85, S. 133
bis 197, 1914), die eine wesentliche Klärung des
schwierigen Sachverhaltes bedeuten, möge im fol-
genden kurz berichtet werden.
Abgesehen vom Chalcedon, der sich noch mehr
durch den Habitus als durch die eigentliche Kristall-
form der wahrscheinlich kryptokrislallinen Masse
von den anderen, in wohldefinierter Kristallform
vorkommenden Erscheinungsformen der wasser-
freien Kieselsäure unterscheidet, kann das Silicium-
dioxyd SiOj, sowohl das künstlich hergestellte,
als auch das natürlich vorkommende in drei Formen
auftreten, als hexagonaler (trapezoedrisch-tetar-
toedrischer) Quarz, als ebenfalls hexagonaler
Tridymit und als tetragonaler Cristobalit. Bei viele
Stunden lang fortgesetztem Erhitzen der drei
Mineralien bei konstanter Temperatur und mit
geringen Mengen von Natriumwolframat, das als
Katalysator die sonst extrem langsam verlaufende
Umwandlung der drei Mineralien ineinander be-
schleunigte, ergaben sich nun, daß sowohl die
Umwandlung
Quarz ~> Tridymit bei 870° f 10"
als auch die L'mwandlung
Tridymit ^r*: Cristobalit bei 1470"+ 10"
enantiotrop verläuft, d. h., daß oberhalb der Llm-
wandlungstemperatur von 870" Quarz sich immer
in Tridymit und unterhalb dieser selben Tempe-
492
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 31
ratur Iridymit immer in Quarz und oberhalb der
Umwandlungslemperatur von 1470" Trid)-mit sich
immer in Cristobalit und unterhalb dieser selben
Temperatur Cristobalit immer in Tridymit um-
wandelt. Man erhält also, von welchem der drei
Mineralien man auch ausgehen möge, unterhalb
870" inmTcr Quarz, zwischen 870" und 1470"
immer Tridymit und zwischen 1470" und 1625"
— dem Schmelzpunkte des Cristobalits — immer
Cristobalit als kristalline Erscheinungsform des
Kieselsäureanhydrids. Unerläßliche Voraussetzung
für den Erfolg ist aber die, daß man auch wirk-
lich bis zur Einstellung des Gleichgewichtes wartet.
Erhitzt man z. B. etwas Kieselsäureglas oder ge-
fällte Kieselsäure unter Zusatz von Natrium-
wolframat während einiger Stunden auf 800" bis
850", so erhält man nicht, wie man erwarten
sollte, Quarz, sondern Tridymit, obwohl der Tridy-
mit in diesem Temperaturgebiet dem Quarz gegen-
über instabil ist, und erst, wenn man das Erhitzen
erheblich länger fortsetzt, verwandelt sich der
zunächst entstandene Tridymit in Quarz. .Ahn-
liche Erscheinungen sind auch bei anderen Tem-
peraturen beobachtet worden. Wir haben hier
ein Beispiel der bekannten ,, Stufenregel" von Ost-
wald, nach der wenigstens in vielen Fällen die
Umwandlung eines Stoffes A in einen zweiten
Stoff B nicht direkt, sondern über eine Reihe von
Zwischenstufen Aj, A.,, A.. . . . A„ erfolgt, von dem
Aj weniger stabil als A.,, A., weniger stabil als
A3 sind und A,, endlich weniger stabil als B ist.
Im vorliegenden Fall ist zwischen 800" und 850"
der Tridymit zwar — das ist die Bedingung dafür,
daß er überhaupt zunächst entsteht — stabiler als
das Kieselsäureglas, aber weniger stabil als der
Quarz, und er tritt als Zwischenprodukt auf, weil
seine Bildungsgeschwindigkeit, die mit der Stabilität
in keinem einfachen Zusammenhange steht, größer
als die des stabileren Quarzes ist.
Beweise dafür, daß die von Fenn er erhaltenen
Kristalle rein (insbesondere frei von einem Gehalt
etwa in Form einer festen Lösung aufgenommenen
Natriumwolframats) und identisch mit den natür-
lichen Mineralien Quarz, Tridymit und Cristobalit
waren, wurde durch die chemische und vor allen
Dingen durch die kristallographisch-optische Ana-
lyse erbracht.
Die Umwandlungen
Quarz ^ > Trid)'mit "^zt. Cristobalit
finden selbst unter den günstigsten Bedingungen
nur langsam statt, und jedes einzelne Mineral kann
Temperaturen außerhalb seiner Stabilitätsgrenzen
ausgesetzt werden, ohne daß die Umwandlung
auch wirklich stattfindet. Von einem ganz anderen
Charakter sind nun eine Reihe von anderen Um-
wandlungen, die sich, ebenfalls reversibel, bei der
Über- und Unterschreitung bestimmter Temiiera-
turen ohne jede Verzögerung und praktisch momen-
tan vollziehen. Während es sich bei den zuerst
besprochenen L^mwandlungen um eine vollkommene
Änderung der Kristallsj-steme handelt, treten hier
nur geringe .Änderungen in den optischen Eigen-
schaften auf Man sieht daher die Erscheinungs-
formen des Kieselsäureanhydrids, zwischen denen
sich die rasch verlaufende Umwandlungsreaktion
abspielt, nicht als besondere Mineralien wie Quarz,
Tridymit und Cristobalit, sondern nur als ver-
schiedene Modifikationen desselben Minerals an
und unterscheidet sie durch Hinzufügung der
griechischen Buchstaben a und ß voneinander,
wobei sich der Buchstabe a auf die Modifikation
bezieht, deren Existenzgebiet bei niedrigerer Tem-
peratur liegt. So geht der gewöhnliche «Quarz
beim Erhitzen über 575" in den /t^-Quarz und
der /i'-Quarz beim Abkühlen unter 570" wieder in
«•Ouarz über:
575"
ß-Quarz ^z^ /^-CHiarz.
5/-0"
Ein ähnliches Umwandlungsschema gilt für den
Tridymit
I170 163«
«-Tridymit — > /t^j-Tridymit — >■ /?., Tridymit,
nur ließen sich hier die Temiieratureti, bei denen
sich der/y.,-Trid\'mit während der .Abkühlung wieder
in ;i, -Tridymit und in «-Tridymit verwandelt, nicht
mit genügender Sicherheit festlegen. Tlieoretisch
müßte ja die Umwandlung der einen Modifikation
in die andere unabhängig von der Richtung, in
der sich der Wärmegrad des Systems ändert, bei
durchaus konstanter Temperatur erfolgen. Die
beim Quarz angegebenen Umwandkingstempera-
turen 570" und 575" sollten also eigentlich iden-
tisch sein, indessen treten wohl auch bei
diesen rasch verlaufenden Umwandlungen kleine
Verzögerungen auf, die beim Quarz nur geringe
Bedeutung haben, bei Tridymit die Beobachtung
der Umwandlungspunkte bei fallender Temperatur
aber doch merklich erschweren.
Erheblich verwickelter ist die Sachlage beim
Cristobalit, bei dem Fenner ähnliche Erscheinun-
gen beobachtet hat, wie sie schon seit langem
beim Schwefel bekannt sind. Der Erstarrungs-
l)unkt des Schwefels ist keine Konstante, sondern
hängt von den Bedingungen ab, unter denen die
.Schmelze vor dem Erstarren gestanden hat, vor
allen Dingen von der Temperatur, auf die sie er-
hitzt worden war, und von der Zeitdauer der
Reaktion. Eine Erklärung für diese Erscheinung
hat A. Smits gefunden. Nach Smits besteht
eine Schwefelschmelze aus einem Gemisch zweier
Molekülarten, zwischen denen .sich ein Gleich-
gewicht nur langsam und allmählich einstellt,
und der Erstarrungspunkt der Schmelze wird je
nach dem zufälligen Mengenverhältnis, in dem die
beiden Molekülaiten in der Schmelze gerade vor-
handen sind, verschieden gefunden. Ganz ähnlich
liegen nun nach Fenn er die Verhältnisse beim
Cristobalit: „Cristobalit besteht nicht aus einer
einzigen, sondern wenigstens aus zwei verschiede-
nen Molekülartcn in demselben Kristalle. Die
relativen Mengen dieser Molekel hängen von den
Bedingungen zur Zeit der Kristallisation ab, z. B.
von der Natur der Lösung, wenn der Cristobalit
N. F. XIII. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
493
aus einer Schmelze, und von der Temperatur zur
Zeit der Umwandlung, wenn er auf trockenem
Wege gebildet wurde. Die relativen Mengen der
polymeren Molekel, die durch die Bildungsbedin-
o-ungcn festgelegt sind, werden nicht beeinflußt
durch schnelles Abkühlen aut Zimmertemperatur,
aber durch ein zweites starkes Erhitzen wird eine
Umwandlung von Molekeln der einen Art in die
der anderen Art und damit eine Änderung ihrer
relativen Menge herbeigeführt, und beim Abkühlen
findet man dementsprechend wieder andere Eigen-
schaften".
Die Erscheinungen bei der Umwandlung des
«-Cristobalits in die /i-Form haben folgenden all-
tremeinen Charakter: Ist der Cristobalit bei sehr
hoher Temperatur entstanden, so tritt die Um-
wandlung bei der Abkühlung bei etwa 240" und
bei der Wiedererwärmung bei etwa 270" ein;
läßt man nun aber den Cristobalit bei niedrigerer
und niedrigerer Temperatur entstehen, so fallen
auch die beiden Umwandlungspunkte, und zwar
bei der niedrigsten Grenze, bei der der Cristobalit
überhaupt noch entstehen kann, bis auf 198" resp.
220" : Die Umwandlungstemperatur des Cristobalits
ist eine Funktion seiner Bildungstemperatur
2 19,7"- 274,6"
«-Cristobalit
/5-Cristobalit.
198,1° — 240,5"
Betreffs zahlreicher weiterer Einzelheiten bei der
Umwandlung der verschiedenen Erscheinungs-
formen des Siliciumdioxyds sei auf die Original-
arbeit F e n n e r ' s verwiesen. Mg.
Botanik. Die Parthenokarpie der Eßbananen.
Zu den ersten Pflanzen, für die man Parthenokarpie
(Jungfernfrüchtigkeit) angegeben hat, gehören die
Kulturformen der Bananen, die fast alle samenlose
Früchte und nach Fritz Müller „untauglichen"
Pollen haben. Der experimentelle Nachweis aber,
daß die Früchte tatsächlich ohne Mitwirkung des
Pollens gebildet werden, ist erst von A. d ' A n g r e -
mond geliefert worden, der seine Versuche 1909
bis 191 1 in Surinam ausführte und in den nächsten
Jahren im Botanischen Institut von Prof. Ernst
in Zürich die Entwicklungsgeschichte und Zytologie
der Sexualorgane an fixiertem Material studierte.
Zu den Versuchen dienten drei Kulturbananen :
Gros-Michel und Appelbacove, beides Varietäten
von Musa paradisiaca L. subsp. sapientum (L.)
O. Ktze., sowie Musa Cavendishii Lamb. Zum
Vergleich wurden zwei samenerzeugende Bananen
untersucht, nämlich Musa basjoo Sieb, et Zucc.
und eine im Botanischen Garten zu Paramaribo
als Musa ornata chittagong bezeichnete Form.
Durch Einhüllen der Blütenstände in Säcke sowie
durch frühe Entfernung der männlichen Blüten
in den einzelnen Blutenständen wurde jede Be-
stäubung ausgeschlossen. Trotzdem entwickelte
sich jeder der 2914 PVuchtknoten in den 20 be-
handelten Blütenständen der drei Eßbananen zu
einer völlig normalen Frucht. Damit ist nachge-
wiesen, daß bei diesen Varietäten die P'ruchtbildung
von der Bestäubung ganz unabhängig ist. Da-
gegen ergaben alle derartigen Versuclie mit den
beiden andern Musaarten Fruchtbildung nur nach
Bestäubung. Bei der Pollenenlvvicklung der Appel-
bacove tritt frühzeitig Degeneration ein, und die
Antheren zeigen sich fast leer. Auch bei der
Gros-Michel ist die Entwicklung des Pollens ab-
norm ; es entstehen Tetraden mit überzähligen
Kernen und Zellen, und die Pollenkörner sind un-
gleicli groß, häufig plasmaarm und selten keimungs-
fähig. Musa basjoo und M. orn. chitt. zeigen da-
gegen normale Pollenentwicklung. Die künstliche
Bestäubung von Eßbananen mit solchem normalen
Pollen hatte keinen Einfluß auf die Gestaltung
der Früchte, wohl aber wurde die Samenbildung
beeinflußt. 1539 so bestäubte Gros-Michel-Blüten
bildeten nur 4 Samen; die Bestäubung von 11 56
Appelbacove-Blüten ergab die Ausbildung von 38
vollen, nebst 10 tauben Samen. Die mikroskopische
Untersuchung der Ovula zeigte, daß bei Gros-
Michel fast nie ein entwickelter Embryosack ge-
bildet wird; bei der Appelbacove fanden sich
neben früh degenerierten auch weiter entwickelte
Embryosäcke mit Andeutung von Eiapparat und
Antipodenkernen. Die Verfolgung der einzelnen
Entwicklungsstadien ließ erkennen, daß bei der
Bildung der Embryosäcke abnorme Teilungen auf-
treten. Bei Musa orn. chitt. war die zum Ver-
gleich geprüfte Embryosackentwicklung völlig
regelmäßig. Die diploide Chromosamenzahl ist
bei Gros-Michel allem Anschein nach 32, während
sie bei den beiden samenerzeugenden Arten 22
beträgt; für die Appelbacove konnte sie nicht
genau festgestellt werden (Schätzungen zwischen
22 und 24). Über die vermutete (von Tischler
bezweifelte) Bastardnatur der Kulturformen läßt
sich aus diesen Beobachtungen nichts Sicheres
schließen. D'Angremond ist aber zu der An-
nahme geneigt, daß die Eßbananen durch Kreuzung
in freier Natur entstanden seien, sich durch vege-
tative Sprößlinge vermehrt hätten und dann vom
Menschen weiter verbreitet worden seien. (Fest-
schrift zur Eröffnung des neuen Instituts für all-
gemeine Botanik an der Universität Zürich. Jena,
Gustav Plscher, 1914, S. 233 — 286. Auch: Flora,
N. F., Bd. 7, 1914, H. I, S. 57—110.)
F. Moewes.
Bücherbesprechungen.
I Friedländer, J., Beiträge zur Kenntnis der
I Kapverdischen Inseln. Mit einer Über-
sicht über die Gesteine der Inseln von W. Bergt.
Berlin 1913, Dietrich Reimer.
494
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 31
Friedländcr hat im Jahre 1912 während
vier Monaten sämtliche Inseln der Kapverden
durchwandert. Galt der Hauptzweck der Reise
auch vulkanologischen Studien, so hat der Verf.
doch stets einen offenen Blick für allgemeine
Fragen gehabt und sie dankenswerterweise
auch in dem vorliegenden Buche vereinigt. Es
folgen dem flott beschriebenen Verlauf der Reise
kurze Abschnitte über die Geschichte des Archi-
pels, sein Klima, über Flora und Fauna sowie
über die Bevölkerung und die Gesundheilsverhält-
nisse, so daß ein guter geographischer Überblick
gegeben wird. Der zweite Teil des Buches bietet
dann im einzelnen die geologischen Beobachtungen.
Den Schluß bildet eine Denkschrift über die
Wasserverhältnisse der Inseln sowie eine Über-
sicht der Gesteine, die von W. Bergt herrührt
und auchStübel's Anscliauuiigen von 1863 be-
rücksichtigt.
Dem gut ausgestatteten Werke sind neben
zahlreichen photographischen Originalaufnahmcn
zehn Spczialkarten der einzelnen Inseln und eine
geologische Übersichtskarte beigegeben , die die
besten kartographischen Darstellungen des Archi-
pels, die gegenwäicig existieren, geben.
Hans Spethmann.
Mitchell, P.C., Die Kindheit der Tiere.
Deutsche Übersetzung von Hans Pander.
Stuttgart, Verlag von Julius Hoffmann.
In dem vorliegenden Buche, dessen Übersetzung
ins Deutsche von H. Pander eben erschienen
ist, hat der Verf. versucht, alles, was über die
Kindheit der Tiere im weitesten Sinne bekannt
ist, in allgemeinverständlicher Form zur Darstel-
lung zu bringen. Der überaus anziehende und
reichhaltige Gegenstand ist in der umfassendsten
Weise beliandelt; alles, was aus den Lebensstadien
der Tiere von der Entwicklung aus dem Ei bis
zum erwachsenen Alter von Wichtigkeit erscheint,
findet eine Erwähnung.
Wenn auch die Kindheit der Tiere aus allen
Gruppen des Tierreiches in dem Buche besprochen
wird, so ist doch der weitaus größte Teil des
Textes den Wirbeltieren, und unter diesen vor-
nehmlich den Vögeln und Säugern gewidmet,
deren Junge Mitchell in seiner Eigenschaft als
Sekretär der Londoner Zoologischen Gesellschaft
im Zoologischen Garten, aber auch an eignen
zahmen Tieren, zu beobachten reiche Gelegenheit
hatte.
Verf. bespricht nicht nur die Entwicklung der
jungen Tiere, die Dauer ihrer Jugend, sondern
auch die Mauserung, den Haarwechsel, die Unter-
schiede im Aussehen zwischen jungen und erwach-
senen Tieren, woran sich ein Kapitel über Färbung
und Zeichnung schließt, ferner die Größe der
Familie, die Anzahl der Nachkommenschaft, die
Entwicklung der Familie durch die Stufenleiter
des Tierreichs hindurch , die Brutpflege und Be-
schränkung der Nachkommenschaft, die Ernährung
der jungen Tiere und anderes mehr. Dabei sucht
Verf. auch den Zweck der Jugend und die Er-
ziehung der jungen Tiere durch die Alten ver-
ständlich zu machen.
Bei dem allgemeinen Interesse, das man neuer-
dings dem Verhalten der Tiere zuwendet, wird
nicht nur der naturwissenschaftlich interessierte
Laie, sondern auch der Fachmann manche An-
regung und Belehrung aus dem Buche schöpfen
können. Besondere Beachtung verdienen die
durch eine eigenartige, nicht unschöne Manier
auffallenden Farbentafeln von E. Yarrow Jones,
welche die dargestellten Tiere in äußerst markanten
und charakteristischen Umrissen und in vortreff-
lich beobachteter Stellung wiedergeben.
F. Hempelmann.
Bavink, Allgemeine Ergebnisse und Pro-
bleme der Naturwissenschaft. Eine
Einführung in die moderne Naturphilosophie.
Leipzig 1914, Hirzel. — Preis geh. 6 Mk., geb.
7 Mk.
Bavink bezeichnet als Naturphilosophie das
Streben nach Erkenntnis desjenigen Allgemeinen,
das der Naturwissenschaft zugrunde liegt oder
aus ihr sich ergibt. Damit ist zugleich die wesent-
liche Absicht des Buches bezeichnet. Bavink
geht bei der Darstellung von den Naturwissen-
schaften selber aus und versucht, die allge-
meinen Probleme , die über die Behandlung der
Vorgänge selber hinausführen, herauszuschälen.
Vielfach ist ihm das recht gut gelungen. Der
reiche Inhalt des Buches gliedert sich in 4 Kapitel:
Kraft und Stoff, das die Grundlagen der Chemie
und Physik behandelt; Weltall und Erde; Materie
und Leben ; das Problem der Artbildung. Bavink
will eine Einführung in die moderne Natur-
philosophie geben und so setzt er im allgemeinen
auch keine größeren Kenntnisse in den Einzel-
fächern voraus. Trotz dieser gewissen Populari-
sierung in der Darstellung ist diese jedoch stets
sachlich und kritisch und hält sich von der Art
naturphilosophischen Schrifttums, wie sie etwa
im „monistischen Jahrhundert'; verbreitet wird, einer
Katogorie, an die man durch das Wort „Natur-
philosophie" zunächst zu denken verführt wird,
durchaus fern. Denn was Bavink bringen will,
und auch bringt, ist keine Naturphilosophie als
System, sondern eine Philosophie der Naturwissen
schaffen. Hervorzuheben ist, daß auch dort,
Bavink kritisch aburteilt, andere Ansichten
kämpft, ein vornehmer und sachlicher Ton
wahrt wird. Natürlich gibt es eine Menge
einzelnen Anschauungen und Darstellungen
denen der nicht einverstanden ist, der
über ausgebildete Anschauungen in
wo
be-
ge-
von
mit
selber
diesen
Punkten verfügt. Von mehr prinzipiellen Dingen
wäre vielleicht auszusetzen, daß Bavink nicht
zu den eigentlichen Problemen der Erkenntnis-
theorie durchdringt. Vielleicht ist das beabsich-
tigt; daß der Verfasser selbst diesen Problemen
nicht fernsteht, beweist die Auswahl der im Lite-
raturverzeichnis angeführten Schriften, die wohl
N. F. XIII. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
495
den Leser nach erfoljjreichcm Studium der „Ein-
führung" weiterführen sollen. In dem letzten Teil,
dem Abschnitt von dem Ursprung und der Stel-
lung des Menschen rennt Bavink wohl größten-
teils offene Türen ein, denn bei einer Stellung-
nahme zu dem besagten Problem spielt wohl
nirgends mehr die Genesis eine Rolle.
Petersen.
Bateson, William, Problems of Genetics.
I,\ u. 258 Seiten, mit Tafeln und Abbildungen.
New Haven (V. St. v. Am.) 191 3. Yale Uni-
versity Press. — 4 Dollars.
Das Buch enthält die im Jahre 1907 von dem
bekannten englischen Biologen Prof Bateson
gehaltenen Silliman- Vorlesungen, die vor der
Drucklegung auf die Höhe der Zeit gebracht wur-
den. Der Inhalt gliedert sich wie folgt: Das
Problem der Art und Varietät; meristische Pheno-
mena; organische und mechanische Segmentation ;
die Klassifikation der Variation und die Natur der
Substantiven Variation; die Mutationstheorie; Va-
riation und Örtlichkeit; Lokale Differenzierung;
die Wirkungen veränderter Lebensbedingungen;
die Sterilität der Hybriden. Bateson hat eine
Masse Material aus den verschiedensten Quellen
zusammengetragen, an Hand dessen er sich be-
müht, die grundsätzliche Richtigkeit der Lehren
Mendel's und die Unrichtigkeit der Selektions-
lehre, namentlich der Annahme vom Selektions-
wert kleinster Variationen , darzutun. Allerdings
weiß er nichts an die Stelle dieser Lehre zu setzen,
er vermag den Mechanismus der Variation nicht
zu erklären. Die Darstellungsweise ist, wie in
allen Schriften Bateson's, äußerst schwer ver-
ständlich und es kostet nicht geringe Mühe, dem
Gedankengang des Verfassers zu folgen.
Hans Fehlinger.
Lundegardh, Henrik, Grundzüge einer che-
misch-physikalischen Theorie des
Lebens. Jena 1914, Verlag von Gustav
Fischer. — Preis 2 Mk.
Der Verfasser versucht in dieser kleinen Schrift
eine „Maschinentheorie" des Lebens zu entwickeln,
und zwar auch die Lebensäußerungen, welche der
Vitalismus als spezifische ansieht, also die Regu-
lationserscheinungen, die organische Formbildung
und die Regeneration aus dem Gesetz der Massen-
wirkung zu erklären. Die Beispiele, an welche
diese rein chemisch physikalische Theorie anknüpft,
und mit denen der Verfasser seine Auffassung
annehmbar zu machen sucht, sind fast durchweg
der modernen Pflanzenphysiologie entnommen.
Diese wird als bekannt vorausgesetzt und alles
sehr knapp auf nur 63 Seiten angedeutet, so daß
die interessante Schrift für den Anfänger kaum
j in Frage kommt.
Eine kritische Würdigung, wobei man sich
auch vielfach über Begriffe mit dem Verfasser
auseinandersetzen müßte, würde erheblichen Raum
beanspruchen, und kann somit nicht Zweck dieser
kurzen Zeilen sein; deshalb sei nur folgendesbemerkt :
Am gelungensten erscheint die rein chemisch-physi-
kalische Betrachtung des Stoffwechsels, die auch
manches Neue bringt. Mit Recht wird die Be-
deutung der komplizierten physikalischen Organi-
sation, der physikalischen Hcterogenität des Proto-
plasmas für die sehr komplexen chemischen Gleich-
gewichte in demselben besonders hervorgehoben
und etwas eingehender behandelt. Zu den Regu-
lationen leitet der Verfasser nun über, indem er
die Auffassung zugrunde legt, daß sie „ihren
eigentlichen Sitz im Stoffwechsel haben" und also
durch die gegenseitige Anpassung der chemischen
und physikalischen Organisation des Protoplasmas
zustande kommen. Scheint dem Ref schon die
Durchführung dieses Gedankens nicht besonders
geglückt, so gilt dies noch mehr von den folgenden
Kapiteln, die die „ontogenetische Formbildung"
und die Regeneration in eine solche chemisch-
physikalische Theorie zwängen wollen.
Als Ganzes ist der Versuch des Verfassers auch
für den interessant, der in allem Wesentlichen,
wie der Ref, auf anderem Standpunkt steht. Er-
schwert wird das Verständnis der Schrift leider
durch das ziemlich fehleriiafte „Ausländer-Deutsch",
sowie durch eine gerade bei schwierigen, prinzipiellen
Fragen unangebrachte Kürze. So ist dem Ref
z. B. nicht klar geworden, wie die „generative
Kraft" des Protoplasmas (S. 6, 17) sich in die
Theorie des Verfassers fügen soll.
Ruhland-Halle a. S.
Anregungen und Antworten.
Herrn Gymnasiallehrer H. A. in Bern. — Der llöhen-
gewinn beim fiügelschlaglosen Flug, d. i. beim Segelflug,
den Sie an einem über dem Haslital in Spiralen aufsteigenden
Raubvogel beobachteten, lätit sich folgenderinaßcn erklären:
Voraussetzung für die Ausführung der oft bewunderten Flugart
ist Windbewegung. Aufsteigende Luftströme, wie sie manch-
mal hinter Schiften, an Waldrändern oder an Felswänden
(Helgoländer Windphänomen) beobachtet werden, sind dazu
nicht erforderlich, nur ein irgendwie pulsierender Wind über-
haupt. In gewisser Höhe ist der ja fast immer vorhanden,
und deshalb kann der Vogel erst von hier ab ausschließlich
zum Segelflug übergehen. Auch der beste Segler muß den
Ruderflug anwenden, solange er nicht in die Kegion der
Windpulsationen gelangt ist. Die beim Rudeiflug durch die
Flügelschläge erzeugte Hubkraft wird durch einen Geschwindig-
keitsgewinn ersetzt, den sich der Segler durch den Kurvenflug
schafft. Es gibt kein Segeln ohne Kurve, immer geschieht
es bei Wind in kreisförmiger, elliptischer, schleifenförmiger,
spiraliger oder sonst irgendwie gekrümmter Bahn. Im Luvbogen
der Kurve, die konvex gegen die Windrichtung gewendet ist,
führt der Segler seine Flugflächen proniert gegen den Flugwind
an. Dabei nimmt der Körper eine schräge Haltung ein; der
eine Flügel ist gegen die Horizontale gehoben, der andere
gesenkt, der Vogelrücken ist dem Zentrum der Kurve zuge-
wandt. Deshalb trifft der Flugwind die Flugflächen etwas von
unten. Der Widerstand, der sich dabei an den parabolisch
gekrümmten, in Fronation verharrenden Flügeln ergibt, verleilit
dem Segler einen Vortrieb, und damit einen Gewinn an Ge-
schwindigkeit. Dieser Geschwindigkeitsgewinn wird noch ver-
größert durch das Auftreten der Zentrifugalkraft, die den im
Bogen segelnden Vogel aus der Bahn zu werfen strebt wie
den Reiter im Zirkus, wenn er sich nicht nach der Bahnniitte
neigt, also keinen zentripetalen Gegendruck ausübt. Denselben
Gegendruck wie der Zirkusreiter erzeugt der Vogel durch seine
496
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 31
schräge Haltung; er stützt sich gewissermaßen auf die Zentri-
fugalkraft, sich mit ihrer Hilfe einen größeren Schwung ver-
leihend. Die so auf doppelte Weise gewonnene Geschwindig-
keit kann er im Leebogen der Kurve zum Steigen verwenden.
Nur muß er dabei traversieren, d. h. seine Längsachse unter
einem kleinen Winkel zur Klugrichtung einstellen, so daß der
Schnabel im Winde bleibt. Denn sonst würde ihn der Wind
nicht auf der Unterseite der in vortreibender Vorneigung ge-
haltenen Flügel treften, sondern direkt im Rücken, was seinen
Absturz zur Folge hätte. Das Geheimnis des Segeins beruht
also darin, daß der Vogel im Bogenflug den Wind als arbeits-
fähige Kraftquelle geschickt auszunutzen weiß , selbstverständ-
lich reflektorisch-instinktmäßig. — Zur Orientierung seien Sie
auf zwei Veröffentlichungen des Unterzeichneten verwiesen:
I. Die Atmung der Vögel während des Fluges, 2. Der Ruder-
flug der Vögel. Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung
Jahrgang 1912 Nr. I und Jahrgang 1913 Nr. 21. Preis je
10 Pfennige.
Leipzig.
Prof. Dr. William Fritzsche.
In der Besprechung meines Werkchens „Entwicklungs-
geschichte des Menschen", Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 388,
(Nr. 19 [10. 5. 14] der Naturw. Wochcnschr. S. 302) bemerkt der
Referent, mein „Büchlein schöpfe wesentlich aus älteren Quellen".
Das muß auf den Leser des Referats den Eindruck machen, das
von mir in meinem Büchlein Vorgetragene sei veraltet. Ich sehe
mich deshalb genötigt, in Kürze zu konstatieren wie folgt:
Zugrunde legte ich meiner Darstellung, die für ein in das Ge-
biet der Keimesgeschichte des Menschen einzuführendes
Laienpublikum (was man nicht übersehen wolle !) bestimmt
ist, die klassischen Arbeiten Oskar Hertwig's und zwar
vornehmlich, wie ich mehrfach betont habe (siehe z. B. S. 3,
47 usf.) das „Lehrbuch" in der 9. Aufl. (1910) und die „Ele-
mente" in der 4. Aufl. (1910). Aus zahlreichen Zitaten geht
dann weiter hervor, daß ich die Fachliteratur der allerletzten
Jahre, soweit sie für meine besonderen Zwecke in Frage kam,
recht ergiebig benutzt habe. Ich verweise dafür z. B. auf
S. 15, 25, 27, 28, 29, 33, 34, 35, 36, 37, 39, 43. 49, 58, 68,
71, 72, 76, 81, 82, wo Arbeiten (Spezialwerke und Aufsätze
in Archiven usf.) aus dem Jahrfünft 1909 — 1913 zitiert sind.
Der Leser mag danach selbst beurteilen, ob Petersen's
Behauptung berechtigt ist.
Daß ich im historischen Teile (S. : — 14) auf die frühesten
Schriften zurückgreifen mußte , versteht sich doch wohl von
selbst. Schließlich sei mir gestattet, in diesem Zusammenhange
zu bemerken, daß die vom Referenten als „recht minderwertig"
monierten Embryonenbildcr (Abb. 42, S. 55) Kopien (für
Strichätzung) aus Ranke („Der Mensch" 191 1, Bd. 1, Tafel
auf S. 141 Nr. 10 u. 24) bzw. nach Bis („Menschliche Em-
bryonen", i8So)sind, was in meinem Büchlein anzugeben leider
übersehen wurde — die einzige Abbildung ohne Quellen-
vermerk. Dr. A. Heilborn (Steglitz).
Herrn Oberlehrer Lud. Frölich, Colmar i. Eis. Ein
modernes Werk , welches Bestimmungstabellen für das ganze
Tierreich enthält, gibt es leider nicht. Der alte Leunis-
Ludwig (letzte Auflage, die III. von 1883/S6) ist, obwohl
in bezug auf die Nomenklatur als auch manche systematische
Einzelheiten veraltet, doch immer noch das einzige Buch,
welches in dieser Art existiert. Als Bestimmungswerke, welche
der modernen Systematik und Nomenklatur gerecht werden,
siud u. a. zu empfehlen, fürSüflwassertiere: Brauer, Die
Süßwasserfauna Deutschlands, Lampert, Das Leben der
Binnengewässer. Für Mollusken: Geyer, Die Weichtiere
Deutschlands.
IV. Aufl.
Für Wirbeltiere: Brehm's Tierleben,
Hempelmann.
Herrn J. Seh. in O,
oberirdischen Stamm, sondern ein
Die Banane hat keinen eigentlichen
unterirdisches
Rhizom.
Aus diesem treten die riesigen Knospen über die Erde, die
aus umeinandergewickelten Blättern bestehen. Bei ihrer wei-
teren Entwicklung bleiben die Blattscheiden umeinandergerollt,
so daß der Stamm nur aus diesen Scheiden besteht und z.B.
mit einem scharfen Buschmesser auf einen Streich durchhauen
werden kann. In dieser Rolle, dem Scheinstamm, schiebt
sich nun in einem gewissen Entwicklungsstadium der Schaft
des Blütenstandes in die Höhe und kommt schließlich aus dem
riesigen Blattbüschel zutage; er ist also nicht seitlich am
Scheinstamm ,, befestigt". Er biegt sich dann im Bogen um,
so daß der Fruchtstand nachher abwärts hängt. Die Kämme,
d. h. die Gruppen der in der Achsel großer Hüllblätter neben-
einander angelegten Früchte stehen bei der natürlichen t)rien-
tierung aufrecht. Im Obstladen ist der Fruchtstand also
dann richtig aufgehängt, wenn die Früchte auf ihren Stielen
stehen. Die Abbildung im Schmeil ist richtig, aber insofern
nicht instruktiv, als nicht zu sehen ist, wie die Früchte be-
festigt sind.
Literatur.
Miehe.
im mittleren
von Mittel-
F. Lehmann.
Hundt, Rudolf, Geologische Wanderungen
Elstertale. Lobenstein, Fr. Krüger.
H e g i , Prof. Dr. Gustav , Illustrierte Flora
europa. VI. Band, 5. Lieferung. München, J.
1,50 Mk.
Himmel und Erde, Volksausgabe, Lieferung 10 — 15.
Berlin- München-Wien, Allgem. Verlagsgesellsch. m.b.H. aöoPf.
Karsten -Schenck, Vegetationsbilder. 12. Reihe.
Heft 2 u. 3 : Vegetationsbilder vom Kilimandscharo von Ger-
trud Tobler-Wolff und Fr. Tobler. Jena '14, G. Fischer.
8 Mk.
Gebbardt, Paul, Mit der Kamera auf Reisen, Ratschläge
für die Ausrüstung und Ausübung der Photographie fern von
der Heimat. Mit eingehender Erörterung der Zollverhältnisse
und Photographieverbote. Mit 38 Abbild, im Text u. 3 An-
lagen. Leipzig, Liesegang's Verlag, M. Eger. Geb. 3 Mk.
Keller, H., Ursprung und Verbleib des Festland-Nieder-
schlags. Mit I Tafel. Berlin '14, E. S. Mittler und Sohn.
1,25 Mk.
Schaefer, Prof. Dr. Clemens, Einführung in die theo-
retische Physik in zwei Bänden. I. Bd. Mechanik materieller
Punkte, Mechanik starrer Körper und Mechanik der Kontinua
(Elastizität und Hydrodynamik). Mit 249 Textfig. Leipzig
■14, Veit & Co. Geb. 20 Mk.
Viel Weber, Tafel der Steinobst- und Beerensorten.
1,20 Mk.; Prof. Dr. Rasch ke, Tafel der Bäume und Sträucher.
90 Pf. Graser's Verlag (R. Liesche), Annaberg i. S.
Weimarn, Prof. Dr. P. von. Zur Lehre von den Zu-
ständen der Materie. 2 Bde. Dresden und Leipzig '14, Th.
Steinkopff'. Geb. 9 Mk.
Pohl, Dr. R. und Pringsheim, Dr. P., Die licht-
elektrischen Erscheinungen. Heft i der Sammlung Vieweg.
Tagesfragen aus den Gebieten der Naturwissenschaften und
Technik. Braunschweig '14, Fr. Vieweg & Sohn. 3 Mk.
Hägglund, Lic. E., Hefe und Gärung in ihrer Ab-
hängigkeit von Wasserstoff- und Hydroxylionen. Mit 4 Text-
abbild. Stuttgart '14, F. Enke. 1,50 Mk.
Inhalt; Baglioni: Der Einfluß äußerer Schallemptindungen auf die Tonhöhe der menschlichen Sprache. Richters:
Steinvi-erkzeuge aus dem nordischen Gletschermergel. — Einzelberichte: Eycleshymer: Amphibienlarven können
längere Zeit ohne Kopf leben. Behrmann: Geographische Ergebnisse der Kaiserin-Augusta-Fiuß-Expedition. Chauf-
fard, Larosche und Grigaud: Der Cholesteringehalt der Nebennierenkapseln unterliegt bei den verschiedenen
Krankheiten großen Schwankungen. Roh mann: Röntgenspektroskop. Quiring: Über die niederschlesischen Gold-
vorkommen. Fenn er: Die Stabilitätsbeziehungen der Kieselsäuremineralien. d'Angremond: Die Parthenokarpie der
Eßbananen. — Bücherbesprechungen: Friedländer: Beiträge zur Kenntnis der Kapverdischen Inseln. Mitchell:
Die Kindheit der Tiere. Bavink: Allgemeine Ergebnisse der Probleme der Naturwissenschaft. Bateson; Problems
of Genetics. Lundegardh: Grundzüge einer chemisch-physikalischen Theorie des Lebens. — Anregungen und
Antworten. — Literatur : Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstrafie IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 2g. Band.
Sonntag, den 9. August 1914.
Nummer 33.
Das geologische Alter der Angiospermen.
[Naclidnick verboten.]
Eine der überraschendsten Tatsachen, die uns
im Laufe der Entwicklung der Pflanzenwelt in
den geologischen Epochen entgegentreten, bildet
das anscheinend plötzliche Erscheinen der höch-
sten Pflanzengruppen, der Angiospermen, und
zwar sowohl der Monokotylen wie Dikotylen mit
dem Beginn der oberen Kreidezeit, im Cenoman.
Dieses Verhältnis finden wir wenigstens in Deutsch-
land, Österreich und der Überzahl der übrigen
Länder deutlich ausgeprägt. In der unterhalb des
Cenomans lagernden Abteilung der Kreide-
formation, dem Gault, hatte sich bisher bei uns
niemals eine Spur dieser seit dem Cenoman mit
so elementarer Gewalt die früheren Pflanzentypen
zurückdrängenden Gewächsgruppen gefunden. Ist
doch von da an in den meisten Fällen das Ver-
hältnis der Überreste der mesozoischen Pflanzen-
welt zu den Angiospermen ungefähr dasselbe wie
heute. Auch heute haben wir ja noch eine An-
zahl solcher Überbleibsel der Juraflora, wie z. B.
den Ginkgobaum, verschiedene Farne (Mahonia,
Dipteris, Todea u. a.), die in ähnlicher Weise wie
jetzt lokal in der oberen Kreide und zum Teil
noch in der Braunkohlenformation ganz unterge-
ordnet auftreten. Von einem allmählichen Ein-
treten einer neuen Ära der Pflanzenwelt, etwa
von dem allmählichen Auftreten einzelner zer-
streuter Vorkommnisse von Dikotylen in der
oberen Juraformation scheint nichts zu spüren zu
sein. Betrachtet man dagegen den Übergang der
alten Zeit der Pflanzenwelt, also das Ende der
Steinkohlenformation im Verhältnis zu der Flora des
Zechsteins, so ist der Schritt hier keineswegs so un-
vermittelt, indem einige Vorläufer der Zechsteinflora,
z. B. Ulmannia Baiera u. a., in den ersten Spuren
bereits im Rotliegenden auftreten. Betrachtet man
den nächstfolgenden ziemlich fühlbaren Schritt im
Laufe der Entwicklung der Pflanzenwelt, so liegt
dieser im allgemeinen in den obersten Schichten
der Keuperformation, den sog. Rhätschichten.
Auch hier stellen sich speziell in der Gruppe der
cykadeen-ähnlichen Gewächse, dann in der Farn-
welt anscheinend ziemlich plötzlich eine große
Menge neuer Formen ein; ihr Auftreten verliert
jedoch dadurch bedeutend an der Unvermittelt-
heit, daß an einigen Stellen, nämlich z. B. in dem
Keuper von Lunz in Niederösterreich und von
Basel (Schweiz) ähnliche nahe verwandte Typen
bereits etwas früher auftreten.
In neuerer Zeit hat nun die Frage des Er-
scheinens der Angiospermen verschiedentlich neue
Beleuchtung und Klärung erfahren, und verschie-
dene an mich direkt oder indirekt gelangte An-
Von W. Gothan.
fragen geben mir Veranlassung im folgenden den
Stand des Problems im Augenblicke kurz in den
wesentlichen Zügen auseinanderzusetzen, um so
mehr, da die Lehrbücher, die sich mit der fossilen
Pflanzenwelt beschäftigen, diese neuen Ergebnisse
noch nicht enthalten.
Bei uns in Deutschland, in Österreich und
vielen anderen Gegenden steht die Frage noch
auf dem alten Standpunkt: wir haben einerseits,
wie schon oben gesagt, in der oberen Kreide eine
erdrückende Menge dieser höheren Pflanzen, ande-
rerseits in der unteren Kreide und zwar speziell
den VVealden- und Neokom Schichten eine noch
total mesozoische, d. h. angiospermenlose Pflanzen-
welt, der dazwischenliegende Gault enthält da-
gegen bedauerlicherweise außer einigen überaus
traurigen Holzresten sozusagen absolut keine
Pflanzenreste.
Eine andere Sachlage schien in Nordamerika
nach den Untersuchungen von F"ontaine vorzu-
liegen, wo an der atlantischen Küste von Mary-
land usw. Schichten der unteren Kreide mit reicher
Flora bis zur oberen Kreideformation hinauf ent-
wickelt sind. Die Formation, die früher allgemein
unserem Neokom und Wealden als gleichaltrig
angesehen wurde, wurde nach dem Namen eines
dortigen Flusses als Potomac-Formation bezeichnet.
Diese enthielt nun nach der Darstellung Fon-
ta ine's ein Gemisch von Typen der früheren
jurassischen (oder genauer Wealden-Flora), wie
Sphenopteris mantelli, gewisse Koniferen (Brachy-
phyllum, P'renelopsis , Sphenolepidium), Ginkgo-
phyten, Nilssonien, Bennettiteen usw. und daneben
eine große Masse von Angiospermen, speziell
Blätter von Dikotylenbäumen, deren nähere Ver-
wandtschaft allerdings in vielen Fällen fragwürdig
erscheint. Wenn diese Darstellung einer aus
älteren und jüngeren Typen derart gemischten
Flora richtig gewesen wäre, so hätte sich daraus
zweierlei entnehmen lassen: nämlich erstens, daß
in gewissen Gebieten der Erde die Angiospermen
ganz bedeutend früher erschienen als bei uns und
dann wahrscheinlich von hier aus ihren Eroberungs-
zug über die noch unbesiedelten Gebiete antraten,
und zweitens, daß in dem genannten amerikanischen
Gebiet und vielleicht noch anderswo sich gewisser-
maßen ein Kampf zwischen beiden Vegetations-
formen abgespielt habe, der mit dem baldigen und
vollständigen Siege der Angiospermen endete.
Es war dies jedoch nicht die einzige .Stelle,
von wo aus tieferen Schichten der Kreideformation
das Auftreten dieser Gewächse angegeben wurde.
Schon vorher hatte O. Heer aus der unteren
498
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 32
Kreide von Grönland ebenfalls neben einer An-
zahl von mehr mesozoischen Formen das Auf-
treten einiger dikotyler Blätter, z. B. einer Pappel-
art, angezeigt. Fs handelt sich hier um die sog.
Komeschichten , deren reiche Flora namentlich
durch das Auftreten zalilreicher Gleichenien, C}--
cado]ihytcn, Ginkgogewächsen einen recht meso-
zoischen Anstrich erhielt. Weiterhin hatte Sa-
porta aus Portugal eine Flora beschrieben, in
der ebenfalls eine größere Anzahl von Angiospermen
auftreten, die etwa als in die Stufe des Gault
gehörig angesehen wurden. Doch haben diese
beiden letzteren Vorkommnisse anscheinend auf
die Anschauung über das Alter der Angiospermm
bei uns nur geringen fc^influß gehabt.
In neuerer Zeit hat nun diese Frage eine ganz
neue Beleuchtung erfahren durch die Unter-
suchungen des Amerikaners E. W. Berry,\) der
die von Fontaine im Jahre 1889 veröffentlichte
Potomacflora einer Revision unterzog und darüber
eine Reihe von kleineren Mitteilungen und beson-
ders 191 1 eine zusammenfassende Abhandlung
verfaßt hat, in der er zu ganz anderen Resultaten
als Fontaine kommt. Das Abweichende seiner
Resultate mit Beziehung auf die Benennung und
nähere systematische Stellung der einzelnen F"or-
men interessiert uns hier nicht weiter; der für
uns bedeutungsvollste Punkt ist, daß das Vor-
handensein der von Fontaine behaupteten
Mischflora im Neokom sich als ein
höchst bedauerlicher Irrtum heraus-
stellte. Es zeigte sich nämlich bei genauerer
Untersuchung, daß die als mesozoische Formen
aufzufassenden Gewächse sich meistens auf eine
untere .Abteilung der Potomacformation beschränk-
ten, die als Patuxentformation bezeichnet wiid
und etwa unserem Neokom entspricht; eine An-
zahl dieser geht zwar noch in die höhere Etage
der Potomac hinauf, die sog. Patapscostufe, aber
in dieser erscheinen erst die Angio-
spermen, die früher angeblich in der
ganzen Potomacformation auftreten
sollten. Die Patapscoformation entspricht etwa
unserem Gault, und mit dieser Verschiebung
werden die Verhältnisse, wie wir gleich sehen
werden, für eine ganze Reihe von Gegenden der
Erde, die darauf untersucht sind, sofort bedeutend
Iiomogencr. Wir hatten schon oben erwähnt, daß
aus Europa von Portugal aus demselben Horizont
die ersten Angiospermen angegeben waren; vor
einiger Zeit wurde nun aus dem gleichen Horizont
der Insel Madagaskar ein Laubholz angegeben,
das von dem LIntersucher der Lorbeerfamilie zu-
gewiesen wurde (Fliehe 1905). In außerordent-
lich wertvoller Weise sind nun diese Funde ergänzt
worden vor kurzer Zeit durch die Untersuchungen
von M. Stopes in London, die aus einem unse-
rem Gault entsprechenden Horizont Südenglands,
dem Lower Greensand, zwei ganz zweifellose
M ^^gJ- besonders seine Arbeiten in Geolog. Survey of
Maryland, Lower cretaceous, Baltimore 1911.
Dikotylenhölzer beschrieb unter dem Namen
Aptiana und Woburnia (Thil. Trans. Roy. Soc.
London, B, Vol. 203, p. 75—100, 1912).
Überblicken wir die hieraus sich ergebende
Folgerung, nämlich daß an einer ganzen Reihe
von Lokalitäten der Erde die ersten Angio-
spermen in Horizonten auftreten, die etwa unserem
Gault entsprechen, so sehen wir einerseits, daß
die früher so befremdend erscheinende Ungleich-
mäßigkeit in dem Auftreten dieser Pflanzen z. B.
bei uns und in Nordamerika so gut wie ausge-
glichen erscheint, daß aber bei uns die Verhält-
nisse offenbar nur deswegen anders erscheinen,
weil der Pflanzengehalt des Gault bei uns eben ein
überaus minimaler und erbärmlicher ist. Anderer-
seits war oben darauf hingewiesen worden, daß
in Nordamerika ein Teil der Repräsentanten der
unteren Potomacformation, also den mesozoischen
Typen noch in den Angiospermenhorizont, die
Patapscostufe hinaufreicht und dort also in Mischung
mit den Repräsentanten der neuzeitigen Pflanzen-
welt auftritt. Der alte Charakter der Potomacflora
als einer Übergangs und Mischflora älterer und
neuerer Pflanzenform bleibt also mehr oder weniger
erhalten, nur daß diese Mischflora eben in Horizon-
ten auftritt, in denen auch anderwärts Angio-
spermen bereits vorhanden waren, leider aber
durch die Ungunst der Verhältnisse sich nebst
der älteren Flora weniger zahlreich erhielten.
Die Periode des Gault ist also als diejenige auf-
zufassen, in der sich der Daseinskampf der meso-
zoischen und neuzeitlichen Pflanzenelemente im
wesentlichen abspielte ; der Ausgang dieses Kampfes
ist ja bekannt und wurde auch oben bereits
berührt.
(Ib nicht in noch früheren Zeiten ausnahmsweise
und lokal bereits Spuren der Angiospermen vor-
handen gewesen sind, ist eine Frage, die oft auf-
geworfen, aber noch nicht völlig beantwortet worden
ist. Von der Hand zu weisen ist diese Möglich-
keit ja nicht, da man daran denken kann, daß in
ähnlicher Weise, wie im Rhät Bonebed die ersten
Spuren primitiver Säugetiere auftreten, auch die
höchsten Pflanzengruppen solche zerstreuten Vor-
läufer gehabt haben könnten. Sichere Hinweise
darauf fehlen nun zwar, doch hat man z. B. im Lias
vonStonesfield in England einigeBlattreste gefunden,
die, wenn es sich um Tertiärflora handeln würde, an
standslos als Dicotyle passieren würden, so aber
mit Vorsicht aufgenommen sind, um so mehr, da die
Blätter von Gnetum, einer Gruppe, die zwar zu
Gymnospermen gestellt wird, aber eine ganze
Reihe von Angiospermencharakteren zeigt, durch-
aus dikotylenartig aussehen. Daherwird es schwierig,
die Gnetacecn überhaupt in der fossilen Flora
nachzuweisen. Vorhanden müssen sie aber sein
und sehr alt muß diese Gruppe auch sein, da sie
so außerordentlich inhomogene Angehörige, wie
Welwitschia, Ephedra und Gnetum enthält. Vor
einiger Zeit haben übrigens zwei Franzosen (Li-
g n i e r und T i s o n) sie für primitive Angiospermen
erklärt.
N. F. Xni. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
499
Recht auffallend ist ferner der Fund von H. H. ration mit HNO., -j-KClOj) sich als mehrere Samen
Thomas') im Brauiijura von Yorkshire, wo er enthaltend entpuppten; diese Caytonia genann-
geschlossene Früchte fand, die bei Präparation ten Früchte weisen also auch auf Angiospermen,
mit bleichenden und oxydierenden Mitteln (Maze- Es ist also möglich, daß in der Tat schon im Jura
einzelne Spuren der höchsten Pflanzengruppen auf-
') Report Brit. .^ssoc. Adv. .Sciences. Portsmouih 191 1. tauchen, sicher ist CS aber noch nicht.
Die Entstehung der Erstarrnngsgesteine.
[Nachdruck verboten.] Von Adolf
Wenige Wissenschaften sind noch so vollständig
im Stadium der bloßen Erfahrung befangen, wie
die Gesteinskunde, die Petrographie. Nimmt man
eines ihrer Kompendien zur Hand, so stößt man
auf eine Unsumme von Einzelerscheinungen, die
man alle seinem Gedächtnisse einprägen muß, um
mitreden zu können, und die Regeln, die man
sich im Interesse der Übersichtlichkeit bilden
möchte, erleiden alle viele Ausnahmen. Selbst ein
gemeinschaftlicher Name, wie z. B. der des Melaphyrs,
umschließt manchmal noch recht Ungleichartiges
und Wechselndes, nicht bloß in bezug auf die
hier und da vorkommenden, sog akzessorischen
mineralogischen Bestandteile (was beinahe für
jedes Gestein gilt) sondern — sogar in bezug auf
die mineralogischen Grundbestandteile, die man
sonst die charakteristischen nennt. Da wird zwar
Plagioklas und Augit als Hauptbestandteil genannt,
aber dieser letztere tritt oft stark zurück und wird
lokal durch Hornblende ersetzt, und Plagioklas
ist überhaupt keine einzelne Mineralspezies sondern
eine ganze Familie, in der bald natronreiche und
kalkreiche Formen aus lediglich kristallographischen
Gründen zusammengefaßt werden. Ja man würde
die rein mineralogische Beschreibung manches
Melaphyres mit der mancher Basalte oder Dolerite
vertauschen können, ohne es zu merken, und man
muß die feinere mikroskopische oder die Mandel-
struktur des Melaphyrs zu Hilfe nehmen, um den
Unterschied einigermaßen greifbar zu machen, was
für den Lernenden, der die Verhältnisse nach ein-
fachen Gesichtspunkten übersehen möchte, keine
angenelime Sache ist. Und wirklich hat man
neuerdings in der Gesteinskunde die Konsequenzen
dieses unhaltbaren Zustandes gezogen und faßt
die Melaphyre einfach als ältere Basalte mit nur
etwas modifizierter Ausbildung.
Solche einfachen großen Gesichtspunkte, durch
welche die geschichteten Gesteine längst von den
Erstarrungsgesteinen und jene unter sich geschie-
den wurden, fehlen für die Petrographie der Er-
starrungsgesteine noch beinahe ganz. Wohl hat
man gelernt, die Ergußgesteine oder Laven von
den Tiefengesteinen zu unterscheiden. Man glaubt
jetzt — hauptsächlich auf Grund der mikroskopi-
schen Beobachtungen der Dünnschliffe, aber auch
auf Grund der Gebirgsformen — zu wissen, daß
der- Quarzporphyr, ehedem als selbständiges Ge-
stein behandelt, nur die Lava des Granits ist, der
quarzfreie Porphyr die Lava des Syenits und der
Porphyrit die Lava des Diorits, daß also diese
Mayer.
Gesteine in flüssiger P'orm sich ergossen haben,
wie noch heutzutage basaltische und andesitische
Laven sich ergießen oder in Bimssteinstruktur
von den Vulkanen in die Luft geblasen werden
und nach dem Niederfallen lose Tuffe bilden.
Hier besteht eben bei aller Verschiedenheit des
Aussehens und der äußeren Struktur eine so auf-
fällige Gleichförmigkeit der elementaren chemischen
Zusammensetzung zwischen Tiefengestein und dem
dazu gehörigen Ergußgestein, dazu ist die Gebirgs-
form der beiden zueinander gehörigen Gesteins-
arten so charakteristisch, daß hier nur die einfache
Kenntnis dieses leicht übersichtlichen Sachver-
haltens nötig war, um eine greifbare und leicht
zu erhärtende Hypothese aufzustellen.
Auch in einer anderen Richtung hat man
schon lange einen theoretischen Fortschritt ver-
sucht. Es ist natürlich, sobald die ersten chemi-
schen Analysen der hauptsächlichsten Gesteins-
arten vorlagen, aufgefallen, daß man die Erstar-
rungsgesteine auch nach ihrer Zusammensetzung
gruppieren kann, in kieselsäurereichere, sog. Acidite
und ärmere (die an Stelle der Kieselsäure mehr
basische Bestandteile besitzen) Basite. Für die
ersteren ist der Granit (mit seiner zugehörigen
Lava, dem Quarzporphyr) der beste, für die letz-
teren der Olivin - Gabbro mit der gewöhnlichen
dunkeln Basaltlava der beste Vertreter. Granit
besteht zu ungefähr -/g aus Kieselsäure, Basalt
kaum zur Hälfte, hat aber dafür 10 "/o Kalk und
noch mehr Eisenoxydul, von dem im Granit nur
I oder wenige Prozente anwesend ist. Das sind
die greifbaren Unterschiede. Worauf aber sind
diese Unterschiede zurückzuführen ?
Der erste Forscher, der sich mit dieser Frage
ernstlich beschäftigte und auf Grund seiner eigenen
Studien eine (freilich nur für das beschränkte Ge-
biet dieser bezügliche Theorie) aufstellte, war
Robert Bunsen. Er hatte um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts Island bereist, die dortigen
vulkanischen Gesteine gesammelt und analysiert
und meinte aus seinen Analysen zu dem Schlüsse
berechtigt zu sein, daß alle diese vulkanischen
Gesteine Mischlinge seien aus zwei feuerflüssigen
Massen, sog. Magmen, von denen die eine die
Zusammensetzung eines Trachyts, die andere die
eines augithaltigen Gesteines '), etwa des Basaltes
') Bunsen sprach von normaltrachytisch und normal-
pyroxenisch. Pyroxen ist eine Mineralspezies, zu der der
Augit gehört.
500
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xra. Nr. 32
hatte, Mischungen in den verschiedensten Ver-
hältnissen von I bis 100 fortschreitend.
Man erkennt, welche Vorteile die Bestätigung
dieser Theorie gehabt haben würde, obgleich es
an sich wenig plausibel erscheint, daß die feuer-
flüssige Masse des Erdinnern, die doch als die
letzte Ursache aller vulkanischen Erscheinungen
aufgefaßt wird, gerade in zwei Sorten vorhanden
sein könne, wie Sodawasser und Himbeersyrup
in dem Ausschank von Limonaden. — Warum zwei
Sorten ? Das Magma des Erdinnern müßte doch
eigentlich ganz gleichartig sein. Genug Zeit zum
Mischen hat es doch gehabt, wenn es nicht schon
bei seiner Entstehung gleichartig war. Und, wenn
nicht, warum gerade zwei Mutterlaugen? Dafür
gab es keine theoretischen Gründe. Es war ledig-
lich Erfahrungssatz, und als solcher blieb er —
ohne Bestätigung.
Infolge dieser, namentlich durch die massen-
haften Analysen des großen geologischen Instituts
zu Washington mehr und mehr sich zeigender
Unstimmigkeit kam selbst gegen Ende des Jahr-
hunderts die ganze Einteilung von Aciditen und
Basiten in Mißkredit. Die Mannigfaltigkeit der
Gesteine war viel zu groß, um sie in solche enge
Formeln zu bannen.
Aber Theorien sind keine Spielereien unseres
müßigen Geistes. Sie sind bekanntlich notwendig
für den Forlschritt der Wissenschaft, die ohne
dieselben jede Übersichtlichkeit über das endlos
sich dehnende Tatsachenmaterial verlieren würde,
und ebenso für die Befähigung zur Stellung von
Fragen nach neuen besonders wichtigen Tatsachen.
Nach einer aus der Reaktion gegen Mißbrauch
der Phantasie entstehenden Periode der Empirie
folgt immer wieder der Hunger nach vielumfassen-
den Theorien, genau wie in der Geschichte der
Kunst naturalistische und idealistische Perioden
einander ablösen nach den bekannten Gesetzen
von Aktion und Reaktion, von These und Anti-
these. So tauchen jetzt auch wieder in der Wissen-
schaft der Geologie Hypothesen auf, die die Ver-
schiedenheit der Erstarrungsgesteine zu erklären
suchen, ohne in die Fehler der verlassenen Theorien
zu verfallen. Man ist vorsichtiger geworden und
baut nicht mehr auf wenige, noch so feststehende
Tatsachen allein, sondern auf viele, die sich nicht
bloß bei den im engeren Sinne des Worts vulka-
nischen Gesteinen, sondern bei allen Erstarrungs-
gesteinen wiederholen.
Eine solche Tatsache ist die der Differen-
zierung vieler Gesteine von ihrer massigen
Mitte aus nach den Rändern zu, Erscheinungen,
die sich meist in der Weise wiederholen, daß die
Gesteine nach den letzteren zu basischer, in Sonder-
heit reicher an Kalk und Eisen und ärmer an
Kiesel werden. Als solche Tatsachen werden z. B.
die folgenden genannt. DieGranitmassedesBrockens
wird überall da, wo sie an andere Gesteine grenzt,
zu Diorit oder Gabbro. Ebenso zeigt das Meißner
Granitmassiv eine breite Randzone von Syenit,
und dieselbe Erscheinung konnte auch im Schwarz-
walde beobachtet werden ^). Gabbro, Diorit und
Syenit sind aber alle basischere Gesteine als der
Granit.
Dieselbe Erscheinung findet sich im kleineren
Maßstabe in Gängen, wo Porphyr am Rande des
Ganges in sog. Salbänder von Melaphyr oder
Diabas übergeht. Melaphyr und Diabas sind aber
wieder basischere Gesteine als der Porphyr.
Also, wie es den Anschein hatte, eine ganz
allgemeine Regel, die bei der natürlichen Annahme,
daß ursprünglich das Magma doch überall chemisch
gleichgewesen sein muß oder vielleicht höchstens
infolge der Einwirkung der Schwerkraft von oben
nach unten differenziert, zu einem Erklärungs-
versuche herausfordert. Eisen und Kalk wandern
nach außen ; Kieselsäure und Kali bleiben mehr
im Kern der Gesteinsmasse. Was kann davon
die Ursache sein?
An zwei ^) differenzierende Ursachen war hier
zu denken ; Die eine ist die Temperaturdifferenz. An
den Rändern stößt die Masse an schon erhärtetes
Gestein, das schon Abkühlung erlitten hat, oft
gar an geschichtetes, das schon mit der stark ab-
gekühlten Luft und den atmosphärischen Nieder-
schlägen in Berührung war. Hier in den äußeren
Teilen der Masse wird also die Kristallisation zuerst
beginnen, und was kristallisiert zuerst? Das
Studium der Dünnschliffe gibt hierüber Auskunft.
Die mikroskopische Beobachtung derselben lehrt,
welche Mineralien ungestört durch andere Minera-
lien ihre nach den Regeln der Kristallographie
erfolgende Ausbildung finden. Das sind die E^rst-
linge. Die Nachkömmlinge müssen sich einrichten
in dem Räume, den jene übrig gelassen haben.
Die Reihenfolge ist nun diese : „Die Verfestigung
beginnt . . . mit der Kristallisation der Erze, des
Apatits . . ., darauf folgt die Ausscheidung der
eisen- und magnesiahaltigen Silikate: Hornblende,
Pyroxen, Glimmer, dann diejenige der Feldspäte
und endlich des Quarzes". ^) Freilich ist das kein
allgemein gültiges Gesetz, sondern nur eine Regel
mit ihren Ausnahmen.
Also erst — der Gehalt an Erzen ist ja nur
gering — die eisen- und magnesiahaltigen SiHkate,
die meist auch kalkreich sind; dann erst die Feld-
späte, die kieselsäurereicher und eisenarm sind,
mehr Kali und weniger Kalk enthalten und zuletzt
die kristallisierte reine Kieselsäure selber. Hier-
durch ist aber ein Impuls zur Wanderung gegeben,
und zwar zur Wanderung in einem ganz bestimm-
ten Sinne, in einem Sinne, der mit dem tatsäch-
lichen Befunde derselbe ist. Denn jeder Punkt,
wo Kristallisation statthat, dient ja als Anziehungs-
') Crcdn er, Geologie, 10. Auflage, S. 1S7. Gute Belege
bei Rosenbusch, Elemente der Gesleinslehre, S. 183.
^) Wenn wir nämlich die Hypothese einer Verwandlung
der sog. chemischen Elemente selber zur Seite lassen (eine
Hypothese, die in unserer Zeit der zerfallenden Elemente und
bei den ungeheuren Zeiträumen, die in geologischen Dingen
zur Verfügung stehen, nicht völlig ungereimt erscheint, so
wenig auch die gerade in Frage kommenden Elemente Ver-
anlassung zu solchen Vermutungen geben).
') Credner, Geologie a. a. O. S. 286.
N. F. Xm. Nr. 3:
Naturwissenschaftliche Wochenschrilt.
501
punkt für die durch dieses Festwerden sich der
Diftusionsmöglichkeit entziehenden chemischen
Bestandteile, genau wie der in den Zwischenzell-
räumen sich bildende Eiskristall dem ganzen
Pflanzengewebe langsam das Wasser entzieht, weil
hier das Wasser mit der Tendenz zur Gegen-
bewegung ausscheidet. Und der Umstand, daß
es sich bei geologischen Prozessen um große Ab-
stände handelt, legt der Langsamkeit der Diffusions-
bewegung keine weitere Schwierigkeiten, als Er-
klärungsprinzip dienen zu können, in den Weg, da
auch groi3e geologische Zeiträume für solche Prozesse
zur Verfügung stehen. In den Klüften und Gängen
aber, in denen wir die gleiche Differenzierung
vor sich gehen sahen, handelt es sich gar nicht
um große Abstände, und hier genügen kürzere
Zeiten, wenn hier die Erstarrung rasch von außen
nach innen fortschreitet, so daß auch hier von
einem Mißverhältnis von Weglängen und Zeiten
nicht die Rede sein kann.
Neben der allerdings sehr plausiblen Tem-
peraturdifferenz gibt es noch ein anderes Moment,
das manchmal in derselben Richtung, manchmal
modifizierend auf die erste Ausscheidung wirken
könnte, so daß auf diese Weise vielleicht die
Verschiedenheiten der jungen und alten Erstarrungs-
gesteine zu erklären wären. Freilich könnten auch
wohl die Temperaturen an sich in dieser letzteren
Richtung modifizierend wirken, indem die Stärke
der seitlichen Abkühlung nicht immer dieselbe
und mit der fortdauernden Abkühlung unseres
ganzen Planeten eine mit der Zeit größere zu
werden die Aussicht haben muß. Denn man
weiß (z. B. aus den klassischen Untersuchungen
van't Hoff 's) über die Salzwasserausscheidungen,
daß schon ein Temperaturunterschied von wenigen
Graden aus einer komplizierten Lösung die Erst-
ausscheidung eines anderen Minerals (z. B. des
Natronsulfats statt des Kochsalzes bei gewissen
asiatischen Ablagerungen) veranlassen und damit
der ganzen Geologie eines Salzlagers eine andere
Richtung geben kann. Man hat daraus selbst auf
die bei geologischen Ablagerungen herrschenden
Temperaturen Rückschlüsse gemacht. — Und
warum sollte es bei einem Magma anders
sein?
Trotzdem ist jener andere Gesichtspunkt doch
wohl noch von größerem Interesse. Ich meine jenen,
der sich uns durch das Studium der Kontaktmeta-
morphosen auftut. Unter Kontaktmetamorphosen
versteht man die Veränderungen , welche schon
erkaltete oder vielleicht schon geschichtete, also
umgebildete Gesteine durch die direkte Berührung
mit Laven oder nicht zum Ausbruch gelangenden
Schmelzmassen erleiden. Diese Veränderungen
sind äußerlich oft sehr bedeutend, und auf hun-
derte von Metern, ja über tausend Meter, sich er-
streckend (wenn auch gering in bezug auf die
elementare Zusammensetzung), aber wir haben
direkt mit denselben nichts zu tun. Ich will also
nur erwähnen, daß Kalksteine sich in Marmor
verändern, Braunkohlen in anthrazitähnliche Koke,
Tonschiefer in Glimmerschiefer oder glasartige
Massen u. dgl. mehr.
Weniger beachtet wurde bisher der umge-
kehrte Einfluß, der natürlich auch nicht ausbleibt.
— D. h. wohl wird überall beschrieben, daß
Bruchstücke des anstehenden Gesteines, natürlich
gleichfalls in der angedeuteten Weise umgewan-
delt, in der Schmelzmasse eingebettet sich finden,
seltener jedoch von einer Veränderung dieser
selbst durch die Berührung gesprochen. Und
doch ist anzunehmen, daß ein derartiger Einfluß
vorhanden sein muß. Und wirklich dergleichen
Fälle sind bekannt. Selbst der Fall ist beobachtet,
daß so viel von den anstoßenden Gesteine ab-
geschmolzen und mit der Schmelzmasse vermischt
wird, daß dadurch eine wesentliche Veränderung
in deren Zusammensetzung und durch diese
Resorption schließlich ein wesentlich differenziertes
Erstarrungsgestein aus dieser Mengung hervor-
gegangen ist. Dafür stehen zuverlässige Daten
zur Verfügung. Um so mehr aber erscheint es
als eine Konsequenz aller unserer auf dieses Ge-
biet bezüglichen Anschauungen, daß solche Ein-
dringlinge unter Umständen auf die Anregung zur
Erstkristallisation gewisser Mineralien wirken
müssen, deren Ausbildung dem vorhin erwähnten
Diffusionsstrome der chemischen Körper, die an
dem Aufbau dieser Mineralien sich beteiligen, zum
Zielpunkte dient. Ist doch bekannt, dal3 man in
übersättigten Lösungen von Gemischen von ver-
schiedenen chemischen Stoffen durch „Impfen"
(mit dem, den man zu haben wünscht) die Kristalli-
sation dieses zwingen kann, ja, daß man in Labo-
ratorien, in denen man aus einem gemischten Syrup
Fruchtzucker erzielen will, den unsichtbaren Staub
von Traubenzucker (als Aussaat in der unwillkom-
menen Richtung) meiden muß genau wie Wund-
fieberkeime enthaltende Luft in einem Operations-
raume.
Es handelt sich einfach darum, die Konse-
quenzen dieser Erscheinungen für die Erstarrungs-
vorgänge der Gesteine zu ziehen, und wirklich
sind gewisse Anzeichen dafür vorhanden, daß
gerade bei der Berührung zweier ungleichartigen
Gesteine bei hohen Temperaturen das eine durch
die Struktur des anderen — angesteckt wird.
Aber so weit brauchen wir nicht einmal zu gehen
und wollen es nicht, weil auch hier noch zu viel
F'ußangeln und Selbstschüsse liegen und zu wenig
Tatsächliches auf dem Gebiete bekannt (wenig-
stens uns) ist. Aber der naheliegende Schluß
ist doch wohl erlaubt, daß, wenn auch in den
anstehenden geschichteten Gesteinen, die ja in der
Geschichte ihres Entstehens schon tiefgreifende
Verwitterungsprozesse durchgemacht haben, auch
gewöhnlich keine Mineralien mehr vorhanden sind,
die als Impfstoff im eben angedeuteten Sinne
wirken können, doch die bloße lokale Anreiche-
rung an Kieselsäure aus einem benachbarten
Sandsteine, an Ton aus einem Schiefer, an Kalk
aus einer nach diesem Stoffe genannten Gebirgs-
art Veranlassung geben kann zu der Bildung eines
502
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 32
besonderen Minerals, dessen Entstehen der Aus-
gangspunkt für den Differenzierungsprozeß abgibt,
mit dem wir es hier zu tun haben. Und bei
dieser Überlegung steht die nicht wegzuleugnende
Tatsache vor Augen, daß die neueren basischen
Gesteine, die Basalte und Dolerite, reicher an
Augit, die älteren Syenite, M Gabbros und Diorite
im allgemeinen reicher an Hornblende sind. Augit
aber ist das kalkreichere IVIineral, und es könnte
gar wohl zur Ausbildung dieses aus ein und der-
selben Schmelzmasse durch die lokale Zufügung
von etwas Kalk Veranlassung gegeben werden.
Und die Tatsache des stärkeren Überwiegens
des Augits in den neueren Erstarrungsgesteinen
wäre dann zusammenzuhalten mit der anderen
Tatsache, daß Kalkgebirge unter den geschichteten
Gesteinen erst auftreten nach Auftreten einer
Organismenwelt, die sich aus dem kohlensauren
Kalke ihre Panzer baut, also nicht zu Anfang der
Erdgeschichte, wo vielmehr eine Erstarrungsmasse
nur Aussicht hatte, außer mit erstarrten Gesteinen
von verwandter Zusammensetzung mit mehr
kieseligen oder tonigen Gesteinen in Berührung
zu kommen, während der bei d.-r Verwitterung
ausgelaugte Kalk gewiß zum größten Teile noch
Bestandteil des Weltmeeres war.
Und nun kommen allerdings Einwürfe, die für
das eben Entwickelte vernichtend zu sein scheinen.
Die sich in der Wissenschaft häufenden Erfahrun-
gen haben neuerdings den Satz erschüttert von
der Regel des sauren Kerns und der basischen
Randfazies. Es gibt auch eine Reihe von umge-
kehrten Fällen : in Amerika, in den südlichen
Alpen, überall. Auch die Hilfsh)-pothese, von der
wir ausgegangen sind, ist unsicher. Ich meine
die Reihenfolge der zuerst kristallisierenden Mine-
ralien. Es gibt auch Ausnahmen von dieser
Regel. Es gibt auch Fälle, wo die Feldspäte zu-
erst kristallisiert sind vor den schwarzen basischen
Mineralien. Das Studium der Dünnschliffe zeigt
das deutlich.
Aber gerade weil dies alles noch unsicher
ist, ist freilich nichts bewiesen aber auch nichts
widerlegt. Es fragt sich nun, ob sich das eine
mit dem anderen kombinieren ließe, so daß die
Sache in allen Phallen zum klappen kommt. In
jedem Falle ist ein neues Erklärungsprinzip aufge-
stellt, um das sich die Tatsachen grui)pieren
können, und das unwiderstehlich neue, entscheidende
Tatsachen hervorlockt.
Natürlich wird es nicht genau so gewesen sein,
wie wir es uns hier vorstellen; aber etwas der Art,
wie wir es uns vorstellen, muß gewesen sein. Es
gibt also voraussichtlich für die Verschiedenheit
der Erstarrungsgesteine eine ganze Reihe von Ur-
sachen : Temperaturdifferenzen einer empordrängen-
den Erstarrungsmasse zwischen außen und innen,
die spezifische Anregung durch das Kontaktgestein
zu ganz bestimmten Mineralindividuen, wodurch
eine Wanderungstendenz der zuerst sich verfestigen-
den Verbindungen angeregt wird. So ist doch
vielleicht die große Mannigfaltigkeit der Erstarrungs-
gesteine bei der großen Anzahl von chemischen
Körpern, die das Magma enthält, und mit deren
Potenz die Anzahl von möglichen Mineralien wächst,
erklärlich auch bei dem Ausgang von einer ein-
heitlichen Urschmelzmasse. Diese kann der Zu-
sammensetzung des Granits ähnlich gewesen sein
mit einer Abweichung nach den basischen Ge-
steinen zu, wiewohl keineswegs ein arithmetisches
Mittel zwischen den äußersten Typen, da der
Granit in seiner gesamten Masse den anderen
und namentlich den basischen Gesteinen gegenüber
so ungeheuer erscheint, und auch theoretisch klar
ist, daß diese letzteren sich in ihrer Masse zu
jenem Verhalten müssen etwa wie die Schale zu
dem Kern, von denen wir Bewohner der Schale
nur immer relativ viel von dieser ansichtig werden.
Dazu ist dann die Komjilikation zu beachten,
die die Stübel'schen und ähnliche z. T. ältere,
z. T. neuere Anschauungen, für welche der ge-
nannte Geologe gern seinen Namen lieh, in das
Verständnis des Vulkanismus hineingebracht hatten.
Die Eruptionen, aus denen die neuen Gesteine
entstehen, geschehen nicht mehr, wie man früher
glaubte, aus dem allgemeinen zentralen P'euerherde
des Erdinnern, sondern aus kleinen, zwischen er-
starrten Gesteinen eingeschlossenen Magmaherden,
und die Eruption erfolgt nicht so sehr unter dem
Druck der sich zusammenziehenden Erdkruste,
sondern durch den des gerade erstarrenden und
dabei sich ausdehnenden Magmas, oder vielmehr
durch komplizierte physikalische Reaktionen, über
deren Mitwirkung die Wissenschaft noch nicht
entschieden hat ^), wodurch der noch flüssige Teil
partiell ausgepreßt wird. Durch diese Komplika-
tion und durch die allseitige Berührung der Lava
mit sehr verschiedenen Erstarrungs- und geschich-
teten Gesteinen entstehen so viel verschiedene
Möglichkeiten, daß wir uns nicht mehr wundern
dürfen über das überaus bunte Bild, das eine
Sammlung der verschiedenen Erstarrungsgesleine
uns darbietet.
') Obgleich es auch junge Syenite usw. gibt.
') Namentlich kommt hierfür das bekannte Henry 'sehe
Gasabsorplionsgesetz in Betracht, aus dem zu berechnen ist,
bei welciicn Temperaturen und Drucken Gasabscheidungen
stattlinden müssen, um ihrerseits Druckerhöliungen zu liefern,
die als vulkanische Kraft in Betracht kommen.
Einzelberichte.
Botanik.
Die mechanischen Eieenschaften
der Pflanzengewebe. W. Rasdorsky hat die bis-
herigen Untersuchungen über die mechanischen
Eigenschaften der Pflanzengewebe, die in den be-
rühmten Arbeiten Schwendener's ihren Aus-
gangspunkt und ihre Grundlage haben, einer kriti-
N. F. XIII. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
503
sehen Prüfung unterworfen. Dabei ist er einmal zu
dem Ergebnis gekommen, daß die bisherigen Ver-
suche lückeniiaft sind, da nur der Widerstand auf Zug
und auch dieser nur bei dem eigentlich mechanisciien
Gewebe (Stereom) eine eingehende Untersuchung
erfahren hat. Sodann findet er die Grundlagen
unzureichend, auf denen die drei S c h w e n d e n e r -
sehen Regeln ruhen: i. Das Tragvermögen des
Bastes bei der Elastizitätsgienze ist selbst dem
Schmiedeeisen und in den besten Fällen sogar
dem Stahl ebenbürtig; 2. der Bast unterscheidet
sich aber von den Metallen durch die ungleich
größere Dehnbarkeit und durch den Umstand, daß
3. zwischen Tragmodul und Pestigkeitsmodul des
Bastes (d. h. zwischen den Zugkräften, die bloß
eine Verlängerung bis zur Elastizitätsgrenze, und
denen, die ein sofortiges Zerreißen bewirken) eine
ganz geringe Differenz vorhanden ist. Die bisherigen
Versuchseinrichtungen zur Bestimmung des Zug-
widerstandes sind, wie Rasdorsky im Verein
mit J. A. K a 1 i n n i k o w ausführt, zu unvollkommen
gewesen, um die Aufstellung allgemeiner Sätze
zu rechtfertigen. Der Festigkeitsmodul und die
Ausdehnung der mechanischen Gewebe sind infolge
der Beschädigung der geprüften Pflanzenteile durch
die Klemmen, in die sie eingespannt wurden, kleiner
als es in Wirklichkeit der Fall ist. Eine genaue
Bestimmung der Elastizitätsgrenze ist nach dem
bisherigen Verfahren der „mittelbaren" Bestimmung
der Längenänderung nicht möglich, da sie auf der
Bestimmung der Längenänderung zwischen zwei
Marken auf den Klemmen beruht, wobei insbe-
sondere das Herausrücken des Probestückes aus
den Klemmen nicht berücksichtigt wird. Um
diese Übelstände zu beseitigen, halDcn die beiden
Moskauer Herren sowohl die Längenänderungen
unmittelbar gemessen mit Hilfe von Apparaten,
deren einer (von Kalinnikow konstruiert) die
Messung größerer Längeiiänderungen mit einer
Genauigkeit von i/j^ mm gestattete, als auch
den Probestücken eine Form gegeben, durch die
die erwähnte schädliche Wirkung der Klemmen
beseitigt (Köpfchen an beiden Enden), sowie eine
ungleiche Beanspruchung der Probestücke ver-
mieden wurde (möglichst großer Querschnitt).
Die genaue Messung der Zugbelastung war
durch Benutzung der in der technischen Hoch-
schule in Moskau vorhandenen Maschinen gesichert.
Eine sorgfältige Bestimmung der Querschnitts-
fläche der Stereidenwände in den untersuchten
Pflanzenobjekten mit Hilfe des Zeichenapparates
und eines Zeiß'schen Projektionsapparates vervoll-
ständigte die experimentellen Maßnahmen. Die
Zugversuche wurden an Blattstielen und Blatt-
spreiten von Palmen, an den Blättern von Phor-
mium tenax und Pandanus, dem Stengel von
Cyperus Papyrus und einjährigen Stengeln einiger
dikotylen Pflanzen vorgenommen. Bei der Ver-
gleichung der an Phormium tenax erhaltenen Re-
sultate mit den von Schwendener und andern
für diese Pflanze gewonnenen Zahlen ergibt sich,
daß die Zugfestigkeit und die Normaldehnung 2
und I ','2 mal so groß erhalten wurden als bei den
früheren Versuchen. Bezüglich des Verhältnisses
der mechanischen Eigenschaften der Stereiden zu
denen des Pilsens und Stahls stellen die Ver-
fasser folgendes fest: Die mechanischen Gewebe
der Pflanzen im frischen Zustande geben an Zue-
festigkeit durchschnittlich dem Schmiede- und
Plußeisen wenig nach, in einzelnen Pällen aber
kommen sie dem Stahl nahe. Die Zähigkeit
(Duktilität), die durch die Fähigkeit des Materials,
beim Bruch dauernde Verlängerungen zu geben,
charakterisiert und durch die Größe der nach dem
Bruch verbleibenden Dehnung des Probestücks
gemessen wird, ist bei den Pflanzengeweben im
Vergleich mit Eisen und Stahl äußerst gering.
Andererseits unterscheiden sie sich durch ihre
sehr große Elastizität von diesen Metallen. Die
Elastizitätsgrenze nimmt wahrscheinlich in bezug
auf den Zugfestigkeitskoeffizienten bei den in
Warmhäusern kultivierten und den unter natür-
lichen Bedingungen wachsenden Pflanzen eine
verschiedene Lage an. — Die Stereiden in den
verschiedenen Strecken des Blattstiels und der
Blattstiele zeigen ungleiche mechanische Eigen-
schaften, die z. B. bei den Blattstielen der Palmen
eine Beziehung zu ihrer Beanspruchung unter der
Einwirkung starker Winde erkennen lassen. (Bulle-
tin de la Soc. imper. des Naturalistes des Moscou,
Annee 191 1, N. S., T. 25, p. 351 — 523, Moskau
1913. In deutscher Sprache). F. Moewes.
Zoologie. Zur Frage der konjugierenden und
nichtkonjugierenden Rassen von Paramäcium. —
Die Veröffentlichungen Jennings', die kürzlich
an dieser Stelle schon besprochen wurden, haben
einer Gruppe der ziliaten Infusorien, den Paramä-
cien, allgemeines Interesse zugewendet. In neuester
Zeit sind zwei Mitteilungen von Woodruff
erschienen, die unerwartet neue und wichtige Ge-
sichtspunkte speziell über die Konjugation dieser
Tiere bringen.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Para-
mäcien sich unter gewissen künstlichen Bedingungen
oft sehr leicht zur Konjugation bringen lassen,
und daß andererseits, oft bei gleichen Bedingungen,
jeder Versuch, sie zur Konjugation zu bringen,
vollkommen erfolglos bleibt. Jennings schreibt
dieses Verhalten den Rassenunterschieden zu :
„Some races conjugate frequently and under con-
ditions readily supplied in experimentation. Others,
under the same conditions, conjugate very rarely
or not at all". '■)
Diese Veränderlichkeit der Konjugationstendenz
hatCalkins zu der Äußerung veranlaßt, daß „die
übliche Annahme, daß jedes Paramäcium eine
potentielle Keimzelle ist, nicht richtig ist". Er
vermutet, daß es Paramäcienrassen gibt, die unter
keinen Umständen konjugieren, und überhaupt
ihre Konjugationsfähigkeit verloren haben, also
') Einige Rassen konjugieren häufig und unter im Experi-
ment leicht zu beschaffenden Bedingungen. Andere lionjugieren
unter gleichen Bedingungen sehr selten oder gar nicht.
504
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 32
rein somatische ungeschlechtliche Zellen darstellen.
Woodruff bestätigte anfangs diese Ansicht, da
er eine Paramäcienrasse, die von einem einzigen
Individuum stammte, über 6^/4 Jahre kultivierte,
ohne sie zur Konjugation zwingen zu können.
Eine neue Serie von Experimenten jedoch, die
am 12. Januar 1913 mit der 4162. Generation
dieser Tiere begonnen wurde, lieferte unerwatteter-
weise mehrere Konjugationspärchen. Cytologische
Untersuchungen der Präparate von konservierten
Tieren dieser Rasse brachten weitere Klärung der
Tatsachen. Es stellte sich nämlich heraus, daß
bei Paramäcien, die von der normalen Konjugation
durch irgendwelche unbekannten äußeren Lebens-
bedingungen abgehalten werden, eine vollstän-
dige Reorganisation des gesamten
Kernapparates und vor allem der Neuaufbau
des großen vegetativen Kerns (Makronukleus) mit
Hilfe gewisser Veränderungen an dem kleinen ge-
schlechtlichen Kern (Mikronukleus), innerhalb
eines einzigen Individuums stattfinden
kann! Ein Prozeß, der in seinem Resultat voll-
ständig der Konjugation äquivalent zu setzen wäre!
— Auf diese Weise scheint also die alte, in der
letzten Zeit von verschiedenen Seiten sehr heftig
angefochtene Annahme R. Hertwig's, daß das
Endziel der Konjugation in einer Reorganisation
und damit in einer Auffrischung sämtlicher Lebens-
funktionen der tierischen Zelle bestehe, wieder
zur Geltung zu kommen; im Gegensatz zu Jen-
nings, der zu behaupten geneigt ist, daß das
Endziel der Konjugation in der Vereinigung der
Anlagen zweier Individuen und dadurch in einer
eventuellen Verbesserung der Rasse beruhe.
Durch diese Ergebnisse wäre uns aber auch
die Möglichkeit genommen, an normalen Paramä-
cien zu beweisen, daß diese Reorganisation, diese,
wie man oft sagt, Verjüngung des gesamten tierischen
Apparates, unter Umständen für ihre Lebensfähig-
keit nicht unbedingt notwendig wäre, d. h. zu be-
weisen, daß die Paramäcien sich auf einem rein
vegetativen Wege, durch unzählige Generationen
hindurch, vermehren können.
Um dieser Frage näher zu treten, muß man
sich einer komplizierten Experimentanordnung be-
dienen, und die Funktion des in dieser Richtung
tätigen Faktors, des geschlechtlichen IVlikronukleus,
paralysieren. Um dies zu erreichen, habe ich schon
im April 191 3 Radium angewendet. Mit Hilfe
günstig konstellierter Radiumbestrahlungen gelang
es mir auch (wie schon Herr Geheimrat Prof.
Boveri in einem Vortrag in der physikalisch-
medizinischen Gesellschaft Würzbürg im November
1913 berichtete), die chromatischen Teile des
Mikronukleus, die allein als Träger der geschlecht-
lichen Funktion gelten, zu vernichten, ohne den
Makronukleus oder das Plasma im geringsten zu
schädigen. Die gemischten Kulturen und die
reinen Linien, die von so bestrahlten Tieren
stammen, gedeihen bis jetzt (Juni 1914), ohne daß
ich sie, trotz der sorgfältigsten Versuche, zur
Konjugation veranlassen konnte. Voraussichtlich
wird mir dies auch nicht gelingen, da die Zellen be-
kanntlich nicht imstande sind, das Idiochromatin,
und von einem solchen wäre hier hauptsächlich
die Rede, zu regenerieren. Es ist nur die Frage,
ob die Lebensdauer dieser Kulturen beschränkt
ist, was sich in der Folge ja noch ergeben wird.
Literatur.
Woodruff: So-called Conjugaling and non-Conjugating
Races of Paramaecium.
Rcprinted from The Journal of Experimental Zoology
Vol. 16, Nr. 2, ]9i4.
Woodruff and Erdmann: Complete periodic nuclear
reorganization wilhout cell fusion in a pedigreed race of
Paramaecium.
Reprinted from tlie Proceedings of the society for Ex-
perimental Biologie and Medicine, Vol. XI, Nr. 3, 1914.
Dr. L. V. Dobkiewicz (Würzburg).
Geologie. Die preußische Geologische Landes-
anstalt beging am 29. November 1913 das Fest
ihres 40jährigen Bestehens, verbunden mit der
Einweihung des Erweiterungsbaues ihres Dienst-
gebäudes, wobei ihr derzeitiger Direktor, Geh.
Oberbergrat Professor Dr. F. Beyschlag die
Festrede hielt über Entwicklung und Leistun-
gen, Aufgaben und Ziele der Anstalt.')
Anfänglich ein bescheidenes Institut mit 19
Beamten, wurden mit dem raschen Fortschreiten
von Wissenschaft und Technik wie auch der wirt-
schaftlichen Verhältnisse zahlreiche Erweiterungen
und Ergänzungen der ursprünglichen Aufgaben
nötig, die einen fortwährenden Ausbau zur Folge
hatten, so daß der heutigen Landesanstalt mit
ca. 170 Beamten und einem Etat von 900000 Mk.
eine führende Rolle unter den Schwesteranstalten
der Welt zukommt.
Die Haupttätigkeit einer geologischen Landes-
anstalt liegt naturgemäß in der Herstellung einer
geologischen Karte. Bereits 1866 begann
man als Grundlage der aufzunehmenden und zu
veröffentlichenden Kartenblätter den Maßstab
1:25000 der Meßtischblätter des Generalstabes
zu benutzen. Damals war die topographische
Unterläge nicht selten mangelhaft, was die geolo-
gische Arbeit wesentlich erschwerte.
Das Gesamtaufnahmegebiet wird in das Ge-
birgsland (Mitteldeutschland) und das Flachland
(norddeutsche Tiefebene) geschieden.
Am weitesten vorangeschritten sind die Ge-
birgslandsaufn ahmen. Von den insgesamt
veröffentlichten 93 1 Blättern im Maßstab 1:25000
entfallen allein 406 auf dieses Gebiet, ebenso auch
die Mehrzahl der Übersichtskarten. Kartierung
und Sammlung von Belegmaterial waren anfangs
die alleinigen Aufgaben. Allmählich ging man
auch zu vergleichenden Untersuchungen der ein-
zelnen Gebiete Mitteldeutschlands über. Außer-
ordentliche Schwierigkeiten bereiteten infolge der
Zerrissenheit des Schichtenbaues und der vielfach
') F. Beyschlag, Die preußische Geologische Landes-
anstalt. Entwicklung und Leistungen, Aufgaben und Ziele.
P'estrede am 29. XI. 1913. Zeitschrift für praktische Geologie,
1914, H. I, S. 22.
N. F. XIII. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
505
eintönigen Gesteinsbeschaffenheit das Rheinische
Schiefergebirge, der Harz und das Niederschlesische
Schiefergebirge. Die anderen Gebiete boten ein
verhältnismäßig klareres Bild. Doch immerfort
beginnt sich auch in den strittigen Gebieten das
Bild zu klären und man darf unumwunden zuge-
stehen, daß Großes getan ist. Von außerordent-
licher volkswirtschaftlicher Bedeutung waren die
Gebiete des Steinkohlen-, Braunkohlen- und Salz-
bergbaues, die auch der Hauptsache nach unter-
sucht und veröffentlicht sind.
p"ür die Flach landsau fnahmen war der
wenige Jahre nach der Gründung am 3. November
1875 zu Berlin in der Deutschen Geologischen
Gesellschaft gehaltene Vortrag Otto Torrel's
von weittragender Bedeutung. Torr eil erklärte
den im norddeutschen Flachlande weit verbreiteten
Geschiebemergel als Grundmoräne des aus seiner
skandinavischen Heimat stammenden flächenhaften
Inlandeises, das er an den Gletscherschrammen
der Rüdersdorfer Kalkberge zu beweisen vermochte.
Damit fiel die alte Drifttheorie (Verfrachtung durch
kalbende Gletscher). Rasch wurden die Urstrom-
täler Norddeutschlands als Randgewässer des
einstigen Binneneises gedeutet, die weithin zu-
sammenhängenden Endmoränenzüge als Stillstands-
lagen des Eises erkannt. Schwieriger indessen
arbeitete sich die Erkenntnis verschiedenaltriger
Glazialablagerungen durch, wenngleich heute die
Vorstellung einer dreimaligen diluvialen Ver-
gletscherung Norddeutschlands eine fast allgemeine
ist. Mancherlei Schwierigkeiten dürften die viel-
fachen Oszillationen und Schwankungen des sich
zurückziehenden Eises und die dabei unter wech-
selnden klimatischen Bedingungen entstandenen
interglazialen und interstadialen Faunen und Floren
bieten. Die weitere Festlegung der interglazialen
Meerestransgressionen in Westpreußen wie der
jüngeren Meeresüberflutung des südlichen Holstein
und Hannovers harrt noch der Lösung. Tekto-
nische Erdbewegungen zur Diluvialzeit haben dazu
noch das Bild verwirrt. Die Beziehungen zwischen
den Ablagerungen vergletscherter Gebiete und
gleichzeitigen eisfreien Ablagerungen sind weiter-
hin festzustellen. Für die Geschichte der Ost-
und Nordsee ist von einer sorgfältigen und aus-
gedehnten Grundprobenuntersuchung wichtige
Förderung zu erwarten. Die Aufklärung des Fels-
gerüstes des norddeutschen Flachlandes bleibt
eine der größten Aufgaben. Es ist sehr wahr-
scheinlich, daß mancherorts unter der Bedeckung
von Tertiär und Quartär aus der weiten Kreide-
bedeckung Salzpfeiler wie in der Lüneburger
Heide und Mecklenburg oder bei Hohensalza in
bergmännisch erreichbare Höhen aufragen.
Von besonderer Bedeutung sind die Flachlands-
karten (geologisch - agronomische Karten) für die
Land- und F"orstwi rtschaft. Durch Fest-
stellung des Bodenprofils bis zu 2 m Tiefe wird
auf einem Meßtischblatt in mehreren Tausend
2 m - Bohrungen der Befund der Oberflächen-
kartierung vervollständigt. Damit der Landwirt
in das richtige Verhältnis zur geologisch-agrono-
mischen Karte kommt, ist alljährlich eine Aus-
bildung von Kulturtechnikern in bodenkundlichen
Aufnahmen geplant, die alsdann in der Praxis die
Karten dem Landwirt verständlicher machen sollen.
In den letzten Jahren erschienen jährlich 40
Kartenblätter und in den nächsten Jahren
sollen 45 Blätter erscheinen.
Alljährlich werden in 2 Jahrbuchsbänden
und zahlreichen größeren Abhandlungen, von
denen bisher über lOO erschienen sind, die Er-
gebnisse geologischer, paläontologischer und petro-
graphischer Forschung niedergelegt.
Arbeiten, die sich mit der Schilderung der
Lagerstätten nutzbarer Mineralien befassen , sind
unter dem Titel „Archiv für Lagerstätten-
Forschung" zusammengefaßt.
Die immer weiter wachsende Inanspruchnahme
der Geologischen Landesanstalt durch das Reichs-
kolonialamt und aus den deutschen Kolonien führte
zur Gründung einer besonderen vom Reich sub-
ventionierten Abteilung unter dem Namen „Geo-
logische Zentralstelle für die deut-
schen Schutzgebiete".
Außerordentlicher Wertschätzung erfreut sich
die Geologische Landesanstalt im Ausland. Der
Internationale Geologenkongreß zu Bologna im
Jahre 1881 beauftiagte die damaligen Direktoren
der Kgl. Preußischen Geologischen Landesanstalt
Hauchecorne und Beyrich mit der Bear-
beitung und Herausgabe einer geologischen
Karte von Europa (i : i 500000), die nunmehr
nach 30jähriger Arbeit unter alleiniger Leitung
von Geh. Oberbergrat Prof Dr. Beyschlag im
Herbst 191 3 vollendet wurde. In ihrer schmucken
Ausführung mit ihren farbenprächtigen Tönen
gibt sie einen guten Überblick der geologischen
Verhältnisse von Europa. Die das zentrale Europa
darstellenden Blätter sind bereits für eine 2. .'\uf-
lage vorbereitet. Eine noch größere Ehre wurde
Geh. Oberbergrat Beyschlag und damit der
Geologischen Landesanstalt vom Internationalen
Geologenkongreß zu Stockholm 19 10 zuteil durch
Übertragung der Herstellung einer inter-
nationalen geologischen Karte der Erde
(i : 5000000), eine hohe Anerkennung deutscher
Arbeit, die nicht ohne Neid geblieben ist.
Das bei den Aufnahmen gewonnene Material
gelangt im Geologischen Landesmuseum
zur Aufstellung (Erweiterung desselben nach Frei-
gabe der Räume der Bergakademie). Einerseits
soll es ein Belegmaterial der gedruckten Arbeiten
sein, andererseits mit einer gewissen Auswahl der
Belehrung des Publikums dienen. An die strati-
graphische und nach Landschaften geordnete
Heimatsammlung schließt sich die paläontologische
Vergleichssammlung mit den für die Bearbeitung
der heimischen Objekte nötigen fremdländischen
Vorkommen an, daran die paläobotanische Samm-
lung hauptsächlich mit den Floren unserer Stein-
kohlen- und Braunkohlengebiete, dann die Samm-
lung der Lagerstätten nutzbarer Mineralien, wobei
5o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 32
das ausländische Vergleichsmaterial dem heimi-
schen zwischengeordnet ist, endlich eine Bau-
materialiensanimlung und schließlich die Samm-
lung aus den deutschen Schutzgebieten. Weiter-
hin soll auch die wissenschaftliche und praktische
Tätigkeit der Geologischen Landesanstalt veran-
schaulicht werden.
Neben der rein wissenschaftlichen Tätigkeit
hat die Geologische Landesanstalt auch prakti-
schen Interessen zu dienen zur Wohlfahrt und
Förderung unseres Vaterlandes, ohne indessen in
wirtschaftliche Abhängigkeit irgendwelcher Unter-
nehmen zu geraten. Im letzten Jahrzehnt hat
sich die Zahl der amtlich gelösten praktischen
Arbeiten wesentlich gesteigert. (Gutachten für
Wasserversorgungsprojekte, Talsperren, Stau-
anlagen, Heilquellen, Wasser- und Kanalbauten,
Eisenbahn- und Tunnelbauten, bergbauliche Unter-
nehmungen.)
Die Rolle Deutschlands in der Weltwirtschaft
zwingt zu einer kritischen Beobachtung aller die
mineralische Urproduktion der übrigen Länder be-
treffenden Vorgänge. In diesem Jahre ist die
Herausgabe einer mit lehrreichen graphischen Dar-
stellungen ausgestatteten Wel t mo n t a ns t at i -
stik in Aussicht genommen, ähnlich wie es von
Amerika und England bereits geschehen ist. Mit
der Ermittlung der Weltvorräte an Steinkohlen
und Eisenerzen haben sich die beiden letzten
Internationalen Geologenkongresse zu Stockholm
und Toronto (Canada) beschäftigt, woran die
Geologische Landesanstalt wesentlich mitarbeitete.
Den Versuch einer h'esistcllung des heimischen
Kalireichtums hatte die Geologische Landesanstalt
bereits vorher gemacht.
Angestrebt ist fernerhin eine objektive und
zuverlässige Informationsstelle über die
nutzbaren Mineralschätze der Erde, so-
wie die Bedingungen ihrer Gewinnung und Ver-
wertung, die sowohl dem Privatmann als auch
den staatlichen Behörden Auskunft erteilen soll.
Zur Vertiefung geologischer Kenntnisse werden
Lehrkurse für Bergassessoren und -referendare,
Markscheider, Landwirtschaftslehrer, Meliorations-
baubeamte, Forstleute abgehalten. Durch popu-
läre Vorträge, Exkursions- und Museumsführungen
soll mehr wie bisher den Bedürfnissen des ein-
fachen Mannes entgegengekommen werden. Um
das Verhältnis zur Schule zu festigen , werden
Karten zu ermäßigten Preisen abgegeben, außer-
dem Steinsammlungen zum Selbstkostenpreis und
unter besonderer Berücksichtigung des Lehrzweckes
zusammengesetzt. Damit dürften derartige Schul-
sammlungen gut und billig werden.
V. Hohenstein, Halle a. S.
Physiologie. Die Abhängigkeit der Haut-
färbung von äußeren Faktoren bei den Wirbel-
tieren. Als besonders geeignet zur Prüfung der
Frage, inwiefern ihre Hautfarbe durch äußere Ein-
flüsse bedingt wird, haben sich die Fische und
Amphibien erwiesen.
Über die Abhängigkeit der
Hautfarbe von
P.
äußeren Einflüssen bei Amphibien hat P. Muri-
sier (Notes sur les Chromatocytes intracpidermi-
ques des Amphibiens, extrait des C. R. de l'Asso-
cialion des anatomistes, quinz. reunion, Lausanne
191 3) Beobachtungen am Axolotl angestellt. Bei
niederer Tem])eratur gehalten und schlecht ge-
nährt, verfärbten sich vorher dunkelgrau und schwarz
gefleckte Tiere zu partiellen Albinos. Das Haut-
pigment wurde, wie schon E. J. Ogneff (1908)
beobachtet hatte, resorbiert und die Entfärbung
geschah durch Zerstörung der Chromatocyien
(Chromatophoren) der äußeren Haut und der
Schleimhäute auf dem Wege der Phagocytose.
Eingehend behandelt M. die P>age des Ursprungs
von Pigment in der Epidermis selbst. Ehr mann
(1885, 1892) und Borel (1913) hatten eine ent-
sprechende von M. bestätigte Aufstellung gemacht.
Danach ist es unzweifelhaft in der Epidermis ge-
bildet. In den Zellen selbst treten beim Axolotl,
Salamander und Triton schwarze Farbstoffkörnchen
auf Bei den jungen Larven der beiden ersten
P'ormen kann ihre Entwicklung verfolgt werden,
da sie sich schon im Leben mit Neutralrot färben.
Sie liegen um die von den Zellen eingeschlossenen
Eiweißschollen und P"etttröpfchen herum. Bei in
Teilung begriffenen Zellen umgeben sie den Kern.
Wenn sich infolge eines Lichtreizes, welcher die
Netzhaut trifft, die Chromatophoren zusanmien-
ziehen, so sitzt das Pigment dem Pole der Zelle
in Form einer Kalotte auf Auf den ersten An-
blick bei der Entfärbung der Haut des Axolotls
scheint es zunächst, daß die rapide Entfärbung
dadurch verursacht werde, daß die Pigmenlkörn-
chen in die interzellulären Zwischenräume aus-
treten. In Wirklichkeit aber liegen sie gar nicht frei.
Die äußeren Ausläufer der Chromatocyten
verlieren sich zwischen den abgeplatteten Zellen
der äußeren Lage der Haut, während die inneren
die Basalmembran erreichen, bisweilen durchsetzen.
M. sagt, die Phagocyten entstammten nicht dem
Bindegewebe, sondern seien Epidermiszellen, mit
denen sie auch bei ihrer Entstehung durch Zell-
brücken zusammenhängen. Mit Kodis (1889)
und P r o w a z e k ( 1 900) hält er die F"arbstoffkugeln
für Zerfallprodukte der Zellen. Es würde sich
damit ihr Auftreten bei Tieren erklären, die durch
langes Fasten geschwächt sind. Als M. aufmerk-
sam die Haut an den Stellen untersuchte, wo
beim Axolotl die Wanderzellen in größerer Zahl
erscheinen, fand er eine andere Art des Durch-
dringens des Blutfarbstoffs in die Epidermis, als
es Rabl beschrieben hat. In den tiefen Schichten
der Haut bilden sich kleine Anhäufungen von
Blutkörperchen, welche durch Verschwinden oder
Bersten der Kapillaren in Freiheit gesetzt werden.
Die stark verdünnte Basalmembran verschwindet
an der Stelle des Extravasats und es bildet sich
ein enger Durchgang für die roten Blutkörperchen.
In einem früheren Versuche untersuchte M. die
Abhängigkeit der Färbung der Seeforelle (Trutta
lacustris L.) von Licht und Temperatur. Die von
N. F. Xm. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
507
denselben Kitern stammenden Tiere wurden vom
Ausschlüpfen aus dem Ei an 9 Monate lang unter
verschiedener Beleuchtung und bei verschiedener
Temperatur gehalten. Die chemische Zusammen-
setzung des Wassers, seine Gasspannung, sowie
die Menge und die Qualität des Futters waren
die gleichen.
Bei hoher Temperatur (18 — 20") bewirkte das
Licht, welches von einem weißen Untergrund
reflektiert wurde, nicht nur eine dauernde Zu-
sammenziehung der Pigmentzellen, sondern auch
einen Stillstand in der Bildung von Hautpigment.
Am Ende der 9 Monate hatten sich zwei Varie-
täten gebildet, eine sehr blaß gefärbte, auf weißem
Untergrund, und eine dunkel gefärbte mit stark
markierten schwarzen Flecken auf dunklem Grund
und in der Dunkelheit. Die Verschiedenheit in
der Färbung beruht auf der Menge der Melano-
phoren und der Quantität des gebildeten Pigments.
Sie ist nicht die Folge einer direkten I.ichtwirkung
auf die Farbstoffträger. Auf weißem Grund werden
blinde Forellen dunkel. Der von der Netzhaut
ausgehende Reiz bedingt nicht allein die Zu-
sammensetzung der Chromatophoren, sondern ver-
hindert auch die Bildung des Pigments in ihnen
und die Umwandlung von Bindegewebszellen in
Melanophoren.
In einer Untersuchung: Über den Einfluß
chemischer Faktoren auf die Farbveränderung des
P'euersalamanders (Archiv fiir Entwicklungsmecha-
nik, 39. Bd., 1914) behandelt Irena Pogonoska
(Lemberg) jenen von Kochsalzlösung. In der
Haut treten zwei P'arbstoffe auf, eine schwarze
Grundfarbe und eine gelbe Zeichnungsfarbe. Nach
dem gegenseitigen Verhältnis beider unter-
scheidet man zwei P"ormen, Salamandra maculosa
var. typica und maculosa taeniata. Während die
erstere auf der ganzen Körperoberfläche unregel-
mäßige gelbe Flecken auf schwarzem Grund zeigt,
sind bei letzterer die gelben Flecken, zu schmäleren
oder breiteren Längsstreifen, beiderseits der Mittel-
linie des Rückens verschmolzen. Jede der beiden
Formen bewohnt bestimmte Gebiete: Salamandra
typica die Gebirge Österreich-Ungarns, S. taeniata
Frankreich, die Niederlande, Deutschland, die
Schweiz und die Pyrenäen. Nach Kammerer
erwies sich die Färbung in hohem Maße abhängig
von jener des Untergrunds und dem l-'euchtigkeits-
gehalt. Auf hellem Untergrund (Lehmerde, gelbes
Papier) und in feuchter Luft trat eine stärkere
Entwicklung des gelben P'arbstofifes auf, dunkler
Untergrund (schwarze Gartenerde, schwarzes Papier)
und Trockenheit verhinderten seine Ausbildung.
Von der Annahme ausgehend, daß eine verschie-
dene chemische Beschaffenheit des Wassers, in
dem die Larven groß geworden sind, für die
Färbung des alten Tieres maßgebend ist, hielt
Verf die Larven in drei verschieden starken
Lösungen von Kochsalz: 0,15 7o, 0,3 »/(, und 0,6%.
Einige Larven wurden zur Kontrolle in Leitungs-
wasser gehalten.
Das Vorhandensein von Natrium chloratum
im Wasser wirkt ungünstig einerseits auf die
Bildung des gelben Farbstoffs, andererseits auf die
Entwicklung und das Wachstum. Die Ursache
für die Beeinflussung der Hautfarbe ist nach Verf.
die chemische Wirkung des Natrium chloratum.
Weitere Versuche bezüglich anderer chemischei'
Bestandteile, die im Gebirgswasser vorkommen,
in verschiedenen Prozenten, des Calcium carboni-
cum, sulfuricum, der Ferrum- und Aluminium-
verbindungen sind in Aussicht genommen.
Während die Versuche von Paul Kammerer
sich auf die Änderungen in der Hauifärbung des
verwandelten Tieres beziehen, hat Secerov (Über
das Farbkleid von P^euersalamandern, deren Larven
auf gelbem oder schwarzem Untergrund gezogen
waren, Biol. Zentralbl., Bd. 34, 1914) ein ent-
sprechendes Verhalten schon bei den verschiedenen
Lichteinwirkungen auf die Larven festgestellt.
Er faßt seine Resultate folgendermaßen zu-
sammen:
1. Die Salamanderlarven von der gelbgestreiften
Varietät zeigten Farbenanpassungsersclieinungen
wie die metamorphosierten;
2. sie werden auf dem gelben Untergrunde,
sobald sie sich zu verwandeln beginnen, mehr
gelb gefärbt als die Mutter; die Flecken werden
größer, die Streifen zeigen eine Tendenz zum Zu-
sammenfließen an den beiden Seiten ; die Unger
werden ebenso reichlicher gelb gefärbt als bei der
Mutter;
3. dieSalamanderlarven zeigen auf dem schwarzen
Untergrunde eine Vergrößerung der Zahl der gelben
F"lecken, die etwa nicht durch Vermehrung des
Gelb entsteht, sondern durch Zerstückelung der
Längsstreifen in Plecken, Verschwinden kleiner
mütterlicher P'lecken, also überhaupt eine Reduk-
tion des Gelb.
Nach photometrischen Messungen wirft — wie
in den Versuchen von Kammerer — das glän-
zende Versuchspapier '30 des auffallenden Lichtes,
das glänzend schwarze '/go zurück. Die Versuchs-
papiere sind die gleichen bei beiden Versuchen.
Kathariner.
Physik. Mit den sogenannten Cyanbanden
beschäftigt sich eine Arbeit von G r o t i a n und
Runge (Göttingen) in der Physikalischen Zeit-
schrift XV (1914) Seite 545 — 548. Untersucht
man spektroskopisch einen kurzen Kohlelichtbogen
in Luft, so findet man, wie eine ganze Reihe
von Beobachtern festgestellt hat, im ganzen Bogen
Banden, deren Hauptkanten bei 4606, 4216, 3883,
3590 und 3360 liegen. Da man die Anwesenheit
und N und C für ihr Auftreten für nötig hielt und
sie sich andererseits in der Cyanflamme zeigen,
so schrieb man sie dem C y a n zu. In der ge-
nannten Arbeit wird gezeigt, daß die Banden
nicht dem Cyan, sondern dem Stickstoff
angehören. Zu den Versuchen verwenden die
Verfasser bis 100 cm lange Hochspannungslicht-
5o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 32
bögen in Luft von Atmosphärendruck, wie sie die
badische Anilin- und Sodafabrik in einer Länge
von 8 m zur Stickstoffgewinnung aus Luft benutzt.
Um den gegen ungleichmäßige Luftströmungen
empfindlichen Bogen zu stabilisieren, läßt man
ihn nach Schönherr in einem zylindrischen
Rohr brennen, in welches man unten tangential
einen Luftstrom hineinbläßt; in der Mitte des
schraubenförmig aufsteigenden Wirbels brennt dann
der Lichtbogen völlig ruhig. Geht der Bogen
in Stickstoff über, so treten die „Cyanbanden"
auf, ohne daß eine Spur von Cyan, Kohlenstoff
oder Kohlcnstoffverbindungen zugegen ist. Ersetzt
man die Metallelektroden durch solche aus Kohle,
so werden dadurch die Banden nicht heller. Bringt
man in den zwischen Metallelektroden übergehen-
den N-Lichtbogen kleine Luftmengen, so ver-
schwinden die „Cyanbanden" sofort; sie werden
von dem Sauerstoff-Spektrum überdeckt
und verdrängt, wie man auch nur das 0-Spek-
t r u m sieht, wenn ein langer Lichtbogen zwischen
Metallelektroden in Luft brennt, während vom
Stickstoffspektrum nichts zu merken ist. Nimmt
man im letzten Fall aber Elektroden aus Kohle,
so bindet diese bei der hohen im Bogen herr-
schenden Temperatur den Sauerstoff, so daß das
Spektrum des Stickstoffs, zu dem auch
die sogenannten Cyanbanden gehören,
herauskommt. In einem langen Bogen treten
sie nur in der Nähe der Kohleelektroden auf, in
der Mitte überwiegt, weil hier nicht genügend C
zur Bindung des O vorhanden ist, das 0-Spek-
trum. Kurze Kohlelichtbögen in Luft zeigen sie
dagegen in ihrer ganzen Länge. Leitet man den
Luftstrom vorher durch einige mit Pyrogallussäure
gefüllte Waschfiaschen, so zeigt der (zwischen
Metallelektroden übergehende) Bogen die „Cyan-
banden", da der Sauerstoff in den Flaschen ab-
sorbiert wird. Sie verschwinden aber sofort, wenn
Sauerstofi( zugeführt wird. In der Cyanflamme
findet eine Verbrennung des Kohlenstoffs statt;
es wird demnach auch hier der Sauerstoff ge-
bunden, so daß das N-Spektrum herauskommen
kann. Die Versuche lassen wohl keinen Zweifel
darüber, daß die „Cyanbanden" dem Stickstoff
zuzuschreiben sind. K. Schutt, Hamburg.
Kleinere Mitteilungen.
„Was ist Schweinepest?" Diese Frage hat in den
letzten Jahren in hervorragendem Maße die For-
scher und Fachleute und wohl auch schon man-
chen durch diese Seuche schwer geschädigten
Tierbesitzer beschäftigt. In der jüngeren Zeit ist
die Schweinepest in erheblichem Umfange be-
sonders in Preußen und ganz besonders in den
viehreichen östlichen Provinzen aufgetreten und
hat dort gewaltigen Schaden angerichtet. Fast
allgemein entschlossen sich die Besitzer großer
Schweinemästereien sofort nach dem Auftreten
der Pest in ihren Ställen die gesamten, oft viele
Hundert Stück zählenden Bestände der Schlacht-
bank zu überliefern, nur um den Fleischwert der
noch gesunden Tiere zu retten, da alle Tilgungs-
versuche erfolglos blieben. Über den Begriff
„Schweinepest" herrscht augenblicklich in der
Veterinärmedizin ziemliche Verwirrung. Vielleicht
trägt eine kürzlich von Prof. Dr. Sehern und
Prof. Dr. Stange auf Grund ihrer in Jowa ge-
machten Erfahrungen veröffentlichte Arbeit') zur
Klärung bei. Die Verff erinnern daran, daß im
Jahre 1S85 von Salmon eine Schweinekrank-
heit, die Hogcholera, beschrieben wurde, als
deren Erreger er den Bacillus suipestifer isolierte.
Auf Grund der bei dem Sektionsbilde im Vorder-
grunde stehenden schweren Darmveränderungen
(Diphtherie und Nekrosen) bezeichnete man die
Krankheit als eine infektiöse Darmkrank-
') Zeitschr. f. Infektionskrankheiten usw. der Haustiere,
XV. Band, Heft 2, S. 107.
heit. Diese Befunde sind auch in Dänemark
und Deutschland bestätigt worden. In neuerer
Zeit ist man nun mehr und mehr zu der Über-
zeugung gekommen, daß die primäre Ursache der
Schweinepest ein filtrierbares Virus sei, das in
erster Linie bei der Erkrankung der Tiere das
Bild einer hämorrhagischen Septikämie
hervorrufe. Erst sekundäre Bedeutung wohne
dem Bacillus suipestifer bei, der im wesentlichen
die Darmnekrosen verursache. Über die Rolle,
die der Bacillus suispestifer spielt, wogt der Streit
ganz besonders hin und her. Die Verft". glauben
nun behaupten zu können, daß man drei ver-
schiedene Formen der „Schweinepest" auseinan-
der zu halten habe. Und zwar i. die alte, durch
den Bacillus suipestifer erzeugte „klassische"
Schweinepest, 2. eine mit ähnlichem Bilde ver-
laufende, durch eine „Mischinfektion" hauptsäch-
lich des Bacillus suipestifer mit einem filtrier-
baren Virus hervorgerufene Schweineseuche, und
3. eine ganz unter dem Bilde einer hämorrha-
gischen Septikämie verlaufende , .Viruspest". Die
unter 2 genannte ,, Mischinfektion" ist die in der
Praxis am häufigsten beobachtete Form der sog.
„Schweinepest". Sie wollen die Verff. daher mit
dem Namen „Pest" bezeichnet wissen. Für die
erste „klassische" Form schlagen sie den Namen
„Parapest" vor und für die letzte den Namen
„X'iruspest". Auf dem nächsten internationalen tier-
ärztlichen Kongreß wird die F'rage „Schweinepest"
weiter diskutiert werden.
W. ligner.
N. F. Xm. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
509
Bücherbesprechiingen.
Weimarn, Prof. Dr. P. P. von, Zur Lehre von
den Zuständen der Materie. 2 Bände.
Dresden und Leipzig 1914, Verlag von Theodor
Steinkopff. — Preis 7 Mk., geb. 9 Mk.
Nach einem Buche „Zur Lehre von den Zu-
ständen der Materie" von P. P. von Weimarn
wird ein Jeder greifen ; auch den Lesern dieser
Zeitschrift sind die Ideen dieses Forschers bekannt.
Vorhegendes Buch bringt in etwas gekürzter und
umgearbeiteter Form eine Reihe von .Abhandlungen,
die ursprünglich in der Kolloid-Zeitschrift erschie-
nen sind. Es handelt sich um die Untersuchungen
und Betrachtungen des Verfassers über den kristal-
loiden und kolloiden Zustand der Materie, in denen
er nachweist, daß zwischen beiden kein prinzipieller,
sondern nur ein gradueller Unterschied besteht,
nämlich: Verkleinerung der Korngröße und zu
gleicher Zeit Vergrößerung der Oberfläche. Die
Darstellung jedes beliebigen Körpers in deutlich
kristallinischer oder in kolloidamorpher, gallert-
artiger Form, je nach den Konzentrationsbedingun-
gen beim Entstehen — die Änderung nicht nur
der physikalischen, sondern auch der chemischen
Eigenschaften mit der Korngröße — die Nicht-
existenz spezieller Adsorptionsverbindungen, die
den stöchiometrischen Gesetzen nicht gehorchen
— die Betrachtung der Kolloide als Dispersoide,
Systeme von allerkleinsten Kriställchen, worin die
Eigenschaften der Oberfläche vorherrschend sind
— dies sind nur die am meisten hervorragenden
aus der h'üUe von neuen Ideen , die dieses Buch
behandelt. Mag für den NichtSpezialist auf diesem
Gebiet das Buch vielleicht noch etwas zuviel die
Zeichen tragen von dem Stürmen und Drängen
in der Entstehungsperiode dieser neuen Ideen, und
wäre ihm die klare Ruhe einer fest gewonnenen
Überzeugung vielleicht lieber, so wird man Ver-
fasser und Verleger doch nur dankbar sein, daß
sie diese wichtigen Untersuchungen durch diese
Ausgabe dem Studium leichter zugänglich gemacht
haben, um so mehr als der zweite Band in einer
Reihe ausgezeichneter Mikro- und Makrophoto-
graphien den Gedankengang des Verfassers in
schönster Weise illustriert. O. de Vries.
Neophilosophos Tis, DerMensch und seine
Kultur. 100 Seiten. Konstanz, Ernst Acker-
mann. — Preis 3 Mk.
Nach einer kurzen Einführung werden in dieser
Schrift die nach Ansicht des Verfassers bei der
Menschwerdung wirksamen Kräfte dargelegt und
in der Entwicklung der menschlichen Kultur wird
das Fortwirken der gleichen Kräfte verfolgt. Im
Schlußabschnitt werden Mensch und Kultur als
Naturerscheinungen betrachtet. H. Fehlinger.
Lenz, Fritz, Über die krankhaften Erb-
anlagen des Mannes und die Bestim-
mungdesGeschlechtsbeimMenschen.
170 Seiten mit 23 Abbild. Jena, Gustav Fischer.
— Preis 4,50 Mk.
In den ersten Kapiteln veranschaulicht Dr.
Lenz die Vererbung gewisser Abnormitäten oder
Kränkelten, von denen die Bluterkrankheit (Hämo-
philie) am ausführlichsten behandelt wird. Die
Krankheit tritt nur bei männlichen Personen her-
vor. Von den Kindern der Kranken aber erben
nur die weiblichen, nicht auch die männlichen die
Krankheitsanlage, denn nur unter der männ-
lichen Nachkommenschaft der weiblichen Linien
kommt die Krankheit wieder zum Vorschein.
Hierfür vi'urden verschiedene Erklärungen gegeben,
aber sicher festgestellt ist die Ursache dieser Er-
scheinung noch keineswegs. Die betreffenden
Krankheiten stehen zum männlichen Geschlecht
bloß in somatischer, zum weiblichen jedoch in
idioplasmatischer Beziehung. Die idioplasmatische
Korrelation zwischen Geschlecht und pathologi-
scher Anlage ist nicht auf die Menschheit be-
schränkt, sondern sie findet sich auch sonst im
Reiche der Organismen. Lenz zeigt ferner, daß
die Vererbung der pathologischen Anlagen den
M e nde Ischen Regeln folgt und in Einklang mit
der Sutton-Boveri' sehen Chromosomentheorie
steht. In folgenden Abschnitten stellt der Ver-
fasser Betrachtungen über die allgemeine Ätiologie
und die Therapie der krankhaften Erbanlagen an.
Es ist zu bemerken, daß Lenz die ,, einzige Mög-
lichkeit der Beseitigung erblicher Krankheiten in
der negativen Selektion der pathologischen Ein-
heiten des Idioplasmas" erblickt. Jedoch kann
„eine positive Gesundung der Rasse nicht ohne
die damit nur teilweise zusammenfallende positive
Selektion gesunder Idioplasmastämme erreicht
werden". In bezug auf die Bestimmung des Ge-
schlechts beim Menschen ist Lenz der An-
sicht, daß das Zustandekommen der primären
Sexualcharaktere beim Menschen wie bei allen
Tieren mit intrauteriner Fetalentwicklung von
äußeren Einflüssen kaum bestimmt werden kann;
„denn es ist nicht recht denkbar, wie es derart
gesetzmäßige Schwankungen des die Keimzellen
oder den Fötus beeinflussenden Milieus geben
sollte, daß immer gerade die empirische feste
Sexualproportion .sich im Durchschnitt ergeben
sollte". Die Tatsachen sprechen hingegen dafür,
daß die Vererbung der primären Sexualcharaktere
durch Mendeln geschlechtsbestimmender Erbein-
heiten zu erklären ist. — In den Schlußabschnitten
des Buches befaßt sich Lenz mit den Problemen
der Erblichkeit der geistigen Begabung und der
pathologischen Geschlechtsdisposition.
H. Fehlinger.
Hundt, Rudolf, Geo logische Wandern ngen
im mittleren Elstertale. Fr. Krüger-
Lobenstein R. j. L. (1914?)
,,Nur in der Natur selber läßt sich Geologie
treiben." Das ist der Leitsatz dieser ausgezeich-
5IO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 32
neten, populären und doch auch für den orts-
fremden Fachmann äußerst brauchbaren Einführung
in die Stratigraphie und Paläontologie eines eng-
umgrenzten Bezirkes, der weiteren Umgebung von
Gera. Die Tektonik mag mit Absicht bei Be-
handlung eines verhältnismäßig so kleinen Ge-
bietes fast ganz außer Betracht geblieben sein.
„Nach einer Übersicht der in der Geraer Gegend
vorhandenen Schichten . . . folgen zwölf geologi-
sche Wanderungen, auf denen alle in I'rage kom-
menden Schichten an Ort und Stelle ihres An-
stehens studiert werden können." Dazwischen
findet sich ein sorgfältiges Literaturverzeichnis,
auf das im Text fleißig verwiesen wird, und An-
leitungen zum Sammeln für Anfänger nebst sehr
dankenswerten Hinweisen auf Belehrungsmittel und
■Stätten. Kincn interessanten Beitrag hat Soergel
über die Lindentaler Hyänenhöhle beigesteuert.
Eine Anzahl lehrreicher und z. T. sehr wohl-
gelungener Aufnahmen erläutert den Text. Da-
gegen vermag ich dem „Buchschmuck" (von
Kunstmaler P a s c h o 1 d gezeichnet ) gar keinen Ge-
schmack abzugewinnen. Soweit er sich auf Leisten
beschränkt, stört er wenigstens nicht, einige wenige
Textfiguren aber, besonders die Fossiltafeln auf
S. 130 und 138 können neben der wesentlich
wertvolleren Tafel der Zechsteinversteinerungen
auf S. 48 schwerlich bestehen. DemgegenüJDer
gewährt eine aus Pfeiffer's Werk übernonmiene
Abbildung der prähistorischen Zeichnung eines
Hasenkopfes auf Renntiergeweih aus der erwähnten
Höhle wahrhaft ungetrübten Genuß. Sie ist wert,
allgemeiner bekannt zu werden.
[NB. Die Ansicht, daß die Graptolithen den
Echinodermen zuzuzählen seien, kann wohl kaum
als die „bisher gültige" (S. 16) bezeichnet werden!!
E. Hennig.
Brandt, Bernhard, Studien zur Talge-
schichte der Großen Wiese im Schwarz -
wald. Abh. z. badischen Landeskunde. Heft 3.
Mit 2 Karten und 3 Tafeln. Karlsruhe 1914.
— Preis geh. 2,40 Mk.
Kennern und Freunden des lieblichen Wiesen-
tals im südlichen Schwarzwald wird die genaue
Analyse des Formenschalzes und die aus ihr sich
ergebende Entwicklungsgesciiichte dieses Tal-
systems willkommen sein. Den einzelnen Ab-
schnitten folgt jedesmal eine Zusammenstellung
der wichtigsten Ergebnisse, die gesamte Talge-
schichte erscheint zum Schluß noch einmal in
einer klaren Tabelle.
Auch die reiche Ausstattung des Heftes erhöht
den Wert der Ausführungen. E. Hennig.
Handbuch der naturgeschichtlichen Technik,
für Lehrer und Studierende der Natur-
wissenschaften, herausgegeben von B. Sc hm id.
555 S. S". Leipzig und Berlin 1914, B. G.
Teubner. — Preis geb. 16 Mk.
Seitdem die Biologie in den oberen Klassen
der höheren Schulen einer»., wenn auch zunächst
noch bescheidenen Platz errungen hat, sind eine
ganze Reihe von Leitfäden , Lehrbüchern und
methodischen Schriften erschienen, die sich mit
diesem Lehrfach befassen. Auch der Herausgeber
des vorliegenden Handbuches hat sich an dieser
Arbeit mehrfach mit wertvollen Schriften beteiligt.
Die Aufgabe, die er sich bei der Herausgabe
dieses Buches gestellt hat, ist aber eine andere.
Die Anforderungen, die der biologische Unter-
richt heute an den Lehrer stellt, sind umfassen-
dere als die, mit denen noch vor wenigen Jahr-
zehnten gerechnet wurde. Nicht mehr der kon-
servierte, in der Sammlung aufbewahrte, sondern
der lebende Organismus mit all seinen Lebens-
äußerungen und Wechselbeziehungen tritt mehr
und mehr in den Vordergrund des Unterrichts;
nicht das fertige Präparat allein soll den Schülern
den Einblick in den Aufbau der Lebewesen ver-
mitteln, sondern sie sollen zu eigner Mitarbeit, zu
eignem Präparieren, Experimentieren und Beobach-
ten angeleitet werden. Neben der Schulsammlung
sind der Übungsraum, der Schulgarten, das Aqua-
rium und Terrarium, neben dem Klassenunterricht
die Übungen und Exkursionen zu wesentlichen
Hilfsmitteln geworden. Aus alledem erwachsen dem
Lehrer der Biologie, der zudem in der Regel auch
noch chemischen, mineralogischen, geologischen,
eventuell auch physikalischen, geographischen
oder mathematischen Unten-icht zu erteilen hat,
neue Aufgaben, denen gerecht zu werden nament-
lich an kleinen Orten, fern von den Universitäten
und anderen Zentren der fortschreitenden Wissen-
schaft durchaus nicht leicht ist. Der Gedanke,
die gesamte Technik des naturge^chichtlichen
Unterrichtsbetriebes, wie sie in all den angedeu-
teten Einzelzweigen erfordert wird, zum Gegen-
stand einer einheitlich zusammenfassenden Dar-
stellung zu machen, ist daher ein wohl berech-
tigter.
Sollte nun das Buch seinen Zweck, so weit
dies einem Buche auf diesem Gebiet überhaupt
möglich ist, erfüllen, so mußten die Grenzen weit
gezogen werden. Auch konnte bei der weiten
Ausdehnung der biologischen Wissenschaften etwas
allen Anforderungen Entsprechendes nur durch die
vereinigte Arbeit einer Anzahl erfahrener Spezial-
forscher geschaffen werden. Da nun erfreulicher-
weise auch unter den Universitätslehrern die Zahl
derer, die dem naturwissenschaftlichen Scliulunter-
rieht ihr Interesse zuwenden, in stetem Wachsen
begriffen ist, so ist es dem Herausgeber gelungen,
eine Anzahl namhafter Fachmänner zur Mitarbeit
heranzuziehen.
Die ersten Abschnitte des Buches betreffen die
im Laboratorium auszuführenden Arbeiten. Die
zoologisch-mikroskopische Technik wird von H.
Po 11, die botanische, nebst Pilz- und Bakterien-
kultur von H. Fischer behandelt. Beide Ab-
schnitte gehen, und zwar wohl mit voller Absicht,
nicht unerheblich über das hinaus, was günstigsten
Falls in Schülerübungen behandelt und geleistet
werden kann. Den Verfassern schwebte als Ziel
N. F. Xril. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
5"
offenbar auch die Einführung des Lehrers in die
neuere mikroskopische Technik vor, und vielen,
deren Studienjahre bereits um einige Jahrzehnte
zurückhegen, dürfte diese kurz gehaltene und da-
bei doch sehr viel bietende Anlehung für eigene
Arbeiten von hohem Wert sein. Neben der tech-
nischen Anleitung geben beide Verfasser auch
dankenswerte Hinweise auf die Beschaffung des
Untersuchungsmaterials.
Den Anleitungen zur Mikroskopie schließen
sich zwei Kapitel über physiologische Versuche
an. Die Verfasser, der Botaniker P. Clausscn
und der Physiologe R. R o s e m a n n , haben schon
in früheren Veröffentlichungen Winke und Rat-
schläge für Schulversuche erteilt, die hier, etwas
erweitert und teilweise anders gruppiert, wieder-
holt werden. Soweit die von den Verfassern hier
angegebenen Versuch^anordnungen Neues bieten,
kann Referent auf Grund eigner mehrfacher Nach-
prüfung deren Zweckmäßigkeit bestätigen.
Eine Reihe weiterer Kapitel behandeln das
.Aufsuchen und Sammeln der Tiere und Pflanzen
im Freien. Über hydrobiologische Sammelmetho-
den berichtet E. Wagler, über Sammeln und
Präparieren von Insekten O. St ec h e, über Fund-
plätze, Fang und Transport der Weich- und
Wirbeltiere P. Kamm er er. Diesen Abschnitten
sind auch Literaturangaben , sowie Mitteilungen
über Anfertigung und Bezug der notwendigen
Sammel- und Fangapparate beigefügt. Wie das
heimgebrachte Material zu konservieren und
sammlungsmäßig aufzubewahren ist, erörterte für
die Pflanzen B. Schorler, für Tiere B. Wan-
dolleck. Auch diese beiden Abschnitte sind
recht vielseitig, es werden die für die verschiede-
nen Tier- und Pflanze nteile geeignetsten Methoden
der Präparation, Konservierung, Aufstellung, die
Konservierungsflüssigkeiten, Verschlußmassen usw.
unter Angabe von Bezugsquellen besprochen.
Die Beobachtung lebender Organismen ermög-
lichen einerseits Vivaricn aller .Art, andererseits
Schulgärten. Die ersteren haben in F. Urbahn
einen kundigen und erfahrenen Bearbeiter gefun-
den; betreffs der Schulgärten hat F. Esser, der
Leiter des botanischen Gartens der Stadt Köln,
für die allgemeine Anlage, sowie für die verschie-
denen in Betracht kommenden Formen desselben
leitende Gesichtspunkte aufgestellt. Er unter-
scheidet zwischen Zentralzuchtgarten, der wesent-
lich zur Anzucht des für die Schulen erforderlichen
Materials dient, Zentralschulgarten, der der Be-
obachtung dienen soll und daher neben systema-
tischen auch ökologische und ökonomische Ge-
sichtspunkte im .'\uge behalten muß, und Einzel-
schulgarten, und erörtert im einzelnen die Anlage,
die Bepflanzung, die Unterhaltung und die Kosten.
Auch diesem Abschnitt sind Literaturangaben bei-
gefügt.
Der folgende, von H. Fischer bearbeitete
Abschnitt über das Mikroskop, seine optischen
Leistungen, seine Teile und seine Behandlung, mit
Fingerzeigen für Auswahl, Prüfung und Aufstellung
der Instrumente hätte wohl besser am Anfang
des Buches, vor den Kapiteln über die mikrosko-
pischen Arbeiten seinen Platz gefunden, während
die von B. Wandoll eck verfaßte Anleitung zur
Photographie besser hinter das von K. Fr icke
geschriebene Kapitel über Exkursionen gestellt
wäre. Es wäre dann eine natürlichere Reihenfolge
der einzelnen Abschnitte gewonnen worden.
Ein vom Herausgeber selbst bearbeiteter Ab-
schnitt behandelt „zeitgemäße Einrichtungen für
den naturgeschichtlichcn Unterricht"; unter Hin-
weis auf neuere, namentlich in Schulprogrammen
enthaltene Mitteilungen und Illustrationen wird
die Einrichtung des Unterrichtszimmers , der Vi-
varien , des Übungsraumes, der Schulsammlung
erörtert, anhangsweise finden sich noch einige be-
sondere Einrichtungen — Schaukasten, Pflanzen-
kulturschrank, Vorrichtungen für Baktcrienkultur,
Stoffwech'^elkäfig — erwähnt. Mit Recht betont
der Verfasser am Schluß seiner Ausführungen
nachdrücklich die Notwendigkeit ausreichender
Etatsmiitel für einen nutzbringenden Unterricht.
Beschäftigen sich die bisher erwähnten Kapitel
wesentlich mit dem biologischen Lehrstoff, so be-
handelt ein von A. Berg bearbeiteter weiterer
Abschnitt die Errichtung geologischer, paläonto-
logischer und mineralogischer Schulsammlungen.
Ausrüstung für geologische Exkursionen, Ausstat-
tung des Arbeitsraumes, Einrichtung und Auf-
stellung der Sammlungen finden Berücksichtigung,
ebenso die — neben der Beobachtung im Freien
— zu benutzenden Anschauungsmittel — Bilder,
Karten, Reliefs, Modelle, Zeichnungen, sowie aus
Gesteinen aufgebaute Profile und andere Frei-
luftanlagen. Auch auf Übungsarbeiten und Ex-
perimente wird kurz hingewiesen. Außer einer
Reihe von Literaturangaben findet sich hier end-
lich noch ein Hinweis auf Bezugsquellen.
Den Abschluß des ganzen Bandes bildet ein
Kapitel über Pflege der Naturdenkmäler von W.
Bock.
Von einem näheren Eingehen auf den Inhalt
der einzelnen Abschnitte muß hier, schon mit
Rücksicht auf den verfügbaren Raum, abgesehen
werden. Es konnte nur Zweck dieser Besprechung
sein , dem Leser eine Vorstellung zu geben von
dem, was dieses Handbuch enthält. Daß natür-
lich manches an mehreren Stellen Erwähnung und
Besprechung findet, daß z. B. auch die den mikro-
skopischen und physiologischen Arbeiten gewid-
meten Kapitel sich mit der Einrichtung und Aus-
stattung der Arbeitsräume beschäftigen u. dgl. m.,
liegt in der Natur der Sache. Wo die einzelnen
Bearbeiter in ihren Ratschlägen voneinander ab-
weichen, wird dies kein Fehler sein. Kann es
sich doch bei diesen Fragen, wo so vielfache
Rücksichten auf den verfügbaren Raum, die Lage
der Zimmer, die Etatsverhältnisse usw. mitsprechen,
immer nur um Vorschläge handeln. Sehr viele
Anstalten werden noch auf lange Zeit hinaus ge-
nötigt sein, sich mit relativ einfachen Mitteln zu
behelfen. Allen aber wird dieses Handbuch, das
512
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 32
eine wesentliche Lücke unserer biologisch-uiiter-
richtlichen Literatur ausfüllt, viele wertvolle An-
regungen geben. Zur Anschaffung für Schul-
bibliotheken sei es in erster Linie empfohlen.
R. V. Hanstein.
Anregungen und Antworten.
Herrn X. D. in A. — Ist es möglich , aus dem Atom-
gewicht eines Elementes sein spezifisches Gewicht zu berechnen?
Eine einfache, exakt formulierbare Beziehung zwischen
dem Atomgewicht eines Elementes und seinem spezifischen
Gewicht ist nur für die einatomigen Gase bekannt. Nach
dem Satz von Avogadro enthalten nämlich die gleichen
Volumina der verschiedenen Gase beim gleichen Druck und
gleicher Temperatur die gleiche Anzahl von Molekülen , also
wenn die Moleküle aus je einem Atom bestehen, was bei den
Edelgasen, beim Quecksilberdampf, beim Natriumdampf usw.
der Fall ist, auch gleich viele Atome. Die spezifischen Ge-
wichte der G.ase sind demnach proportional den Molekular-
gewichten und bei den einatomigen G.asen proportional den
Atomgewichten.
Für feste und flüssige Elemente, die in der Anfrage wohl
in erster Linie gemeint sind, ist ein analoges Gesetz nicht be-
kannt. Wohl aber weist, wie Lothar Meyer schon im
Jahre 1869 gezeigt hat, die Kurve, welche die Atomvolumina
der Elemente, d. h. die Produkte A v der Atomgewichje A
und der spezifischen Volumina v oder, was d.asselbe ist, die
Quotienten A/s aus den Atomgewichten .\ und den spezifischen
Gewichten s als Funktion der Atomgewichte darstellt, unver-
kennbare Kegelmäfligkeilen auf. Dank diesen Regelmäßig-
keiten ließen sich, wie besonders D. Mendelejeff bewiesen
hat, in ähnlicher Weise wie andere Eigenschaften auch die
spezifischen Gewiclite einzelner, damals nicht bekannter, aber bei
der Anordnung der chemischen Elemente im periodischen System
vermißter und später tatsächlich aufgefundener Elemente voraus-
sagen. So sagte M en d el ej e ff im Jahre 1871 für das „Ekalalu-
minium" mit dem hypothetischen Atomgewicht 6S und das ,,Eka-
silicium" mit dem hypothetischen Atomgewicht 72 die spezifischen
Gewichte 6,0 und 5,5 voraus, während das 1875 von Lecoq
de Boisbaudran entdeckte Gallium mit dem Atomgewicht
69,9 und das 1886 von Gl. Wink 1er entdeckte Germanium
mit dem Atomgewicht 72,3 die spezifischen Gewichte 5,96 und
5,469 besitzen. Es handelt sich in allen Fällen dieser Art
aber nicht um eine strenge Berechnung, sondern nur um eine
auf mathematisch nicht streng formulierbaren Überlegungen
beruhende Schätzung. W. Borchers (Die Beziehungen
zwischen .\quivalentvolumen und .Atomgewicht; Halle 1904)
fand, daß die Kurve regelmäßiger wird, wenn man an Stelle
der Atomvolumina die Äquivalentvolumina, d. h. die Quotienten
.\tomvolumina
^ i — r^— r — , als Funktion der Atomgewichte graphisch
maximale Valenz '
darstellt. Mg.
Zur Frage der Schädlichkeit einiger Beeren. — Auf meine
diesbezüglichen Notizen in Nr. 37 und 46 Jahrg. 1913 dieser
Zeitschrift hatte Herr Apotheker A. Müller (Kreuznach) die
Freundlichkeit mir mitzuteilen , daß er schon nach Genuß
weniger Nachtschattenbeeren Herzschwäche, Übelkeit und Er-
brechen bekomme. Die Beeren von Solanum nigrum werden
also mit Recht als giftig bezeichnet, was nicht ausschließt.
daß sie von manchen anstandslos vertragen werden. Auch
über die Giftigkeit der Einbeere (Paris quadrifolia) sind die
Meinungen geteilt. In botanischen Büchern werden sie als
stark betäubend, abführend und brechenerregend bezeichnet.
Nach Kunkel ist bei Kindern nach größeren Mengen Schwin-
del, Kopfweh, Leibschmerzen und heftiges Erbrechen be-
obachtet worden. Heim beobachtete nach Verschlucken
zweier Beeren Übelkeit, Konstriktionsgefühl, Stuhl- und Harn-
zwang, Herzdelir, Sensibilitätsstörungen und Verkleinerung der
Pupillen. Husemann hat von 6 genossenen Einbeeren gar
keine Wirkung verspürt. Ich selbst schluckte 25 Einbeeren,
die ich vorher zerkaut hatte, herunter. Brennender und wider-
licher Geschmack im Mund, den ich dieserhalb mit Wasser
ausspülte. Außer einem Biechreiz beim Herunterschlucken
der Beeren und außer wiederholtem Aufstoßen bald nach Ge-
nuß verspürte ich keinerlei weitere Symptome. In den Binde-
hautsack des Auges geträufelt macht der spärliche Beeren-
saft, wie ich zweimal an mir selbst konstatierte. Brennen und
wohl lediglich infolge des Brennens leichte Verkleinerung der
Pupille. Vielleicht haben gütige Leser die Liebenswürdigkeit
mich durch Mitteilungen über Giftbceren und Idiosynkrasien
gegen eßbare Beeren zu erfreuen.
Dr. med. et phil. F. Kanngießer (Braunfels ob der Lahn).
Literatur.
Gaupp -Trendelenburg, Sammlung anatomischer
und physiologischer Vorträge und Aufsätze. Heft 25 : Die
Erregungsleitung im Wirbellierherzen von Prof. Dr. E. Man-
gold. 1,20 Mk. Heft 2ö: Das Herzflimmern usw. von Priv.-
Doz. Dr. L. llaberlandt. 40 Pf. Jena '14, G. ?~ischer.
Handwörterbuch der .Naturwissenschaften. Lieferung 76
und 77 (Wärmehaushalt— Zellteilung). Jena '14, G. Fischer.
:i 2,50 Mk.
Güldi, Prof. Dr. Emil August, Die Tierwelt der Schweiz
in der Gegenwart und in der Vergangenheit. Bd. I. Wirbel-
tiere. Mit 2 Karten und 5 farbigen Tafeln. Bern '14, A.
Francke. Geb. 14,40 Mk.
Sieghardt, Erich, Vom Leben in Wald und Feld.
Biologische Bilder aus der Pflanzenwelt. Ravensburg '14,
Otto Maier.
Biologen- Kalender. Herausgegeben von Prof. Dr. B.
Schmid und Dr. C. Thcsing. I. Jahrgang. Mit einem Bildnis
von August Weismann und 5 Abbild, und 2 Karten. Leipzig-
Berlin '14, B. G. Teubner. Geb. 7 Mk.
Soddy, Frederick, Die Chemie der Radioelemente.
Deutsch von Max Ikle. 2. Teil; Die Radioelemente und das
periodische Gesetz. Leipzig '14, J. A. Barth. Geb. 2,So Mk.
Lodgc, Sir Oliver, Radioaktivität und Kontinuität. Zwei
Vorträge. Leipzig '14, J. A. Barth. Geb. 6 Mk.
Tornquist, Prof. Dr. A., Die Wirkung der Sturmflut
vom 9. — 10. Januar 1914 auf Samland und Nehrung. Sonder-
abdruck aus den Schriften der Physik. -ökonomischeu Gesell-
schaft zu Königsberg i. Pr. LIV. Jahrg. 19 13. III. Leipzig-
Berlin '13, B. G. Teubner. 1,20 Mk.
Mangold, Prof. Dr. Ernst, Hypnose und Katalepsie
bei Tieren im Vergleich zur menschlichen Hypnose. Mit 18
Abbildungen im Text. Jena '14, G. Fischer. 2,50 Mk.
Hann, Prof. Dr. Julius, Lehrbuch der Meteorologie.
3. .Aufl. Lieferung 4 — 7. Leipzig '14, Chr. Hcrm. Tauchnitz.
Jede Lief. 3,60 Mk.
Annuario Meteorologico de Chile. Primera Parte {30 esta-
ciones in extenso) 1912. Santjago de Chile '14.
Inhalt; Gothan; Das geologische Alter der .Angiospermen. Mayer: Die Entstehung der Erstarrungsgesteine. — Einzel-
berichte: Rasdorsky: Die mechanischen Eigenschaften der Pflanzengewebe. v. Dobkiewicz; Zur Frage der konju-
gierenden und nichtkonjugierenden Rassen von Paramäcium. Bey schlag: Die preußische Geologische Landesanstalt.
Murisier: Über die Abhängigkeit der HauU'arbe von äußeren Einflüssen bei Amphibien. Pogonoska: Über den
Einfluß chemischer Faktoren auf die Farbveränderung des Feuersalamanders. Grotian und Runge: Sogenannte
Cyanbanden. — Kleinere Mitteilungen: Sehern und Stange: Was ist Schweinepest? — Bücherbesprechungen:
Weimarn: Zur Lehre von den Zuständen der Materie. Neophilosophos Tis: Der Mensch und seine Kultur.
Lenz: Über die krankhaften Erbanlagen des Mannes und die Bestimmung des Geschlechts beim Menschen. Hundt:
Geologische Wanderungen im mittleren Elstertale. Brandt: Studien zur Talgeschichte der Großen Wiese im Schwarz-
wald. Handbuch der naturgeschichtlichen Technik, für Lehrer und Studierende der Naturwissenschaften. — Anregungen
und Antworten. — Literatur : Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Mi ehe in Leipzig, Marienstrafie II a, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. liniiJ ;
der ganzen Reihe 29. Baiul.
Sonntag, den i6. August 1914.
Nummer 33.
Einige bemerkenswerte Registrierungen und Beobachtungen
vom deutschen Spitzbergen-Observatorium 1912—13.
[Nachdruck verboteu. 1
Von I>r. Max Robitzsch, Marburg in Hessen.
Das von I Icrni Geheimrat H e r g e s e 1 1 - Straß-
burg ins Leben gerufene Observatorium auf Spitz-
berffen wurde 1912 am Ebeltoflliafen, einer kleinen
Lagune der Crossbay, Nordwest Spitzbergen, er-
baut, naclidem im Winter zuvor die Herren Dr.
Rempp und Dr. Wagner in Adventbay-Eisfjord
überwintert hatten, um die nötigen Erfahrungen
für den Betrieb eines definitiven Observatoriums
zu sammeln. Die Nachfolger genannter Herren,
Dr. Kurt Wegen er und der Verfasser, über-
winterten 1912 — 13 auf dem neuen Observatorium.
Die Observatoriumsarbeiten hatten in der Haupt-
sache den Charakter geophysikalischer Unter-
.suchungen.
Es mögen in folgenden Zeilen einige meteo-
rologisch interessante Fälle berührt werden.
I. Gewitterbeobachtung.
Zunächst mag erwähnt werden, daß die im
Oktoberheft 1912 der Meteorologischen Zeitschrift
beschriebenen Gewittererscheinungen ^) auch vom
Verfasser vor dem Eingange des Eisfjords in der
Nacht vom 13. auf 14. August 1912 beobachtet
wurden. Auch in Kingsbay wurden von den dort
stationierten Engländern auf dem Observatorium
Gewittermeidungen gemacht. Auf der Funken-
station Greenharbour wurden an genanntem Tage
starke atmosphärische Störungen bemerkt.
2. „Talphänomen."
Seit Anfang August 191 2 wurden neben den
Registrierungen der meteorologischen Elemente
beim Observatorium Temperaturregistrierungen
auf dem 596 m hohen Mt. de la Brise (S km nord-
westlich des Observatoriums) gewonnen, seit An-
fang 191 3 solche an dem am Eingange der Cross-
bay gelegenen Kap Mitra (7 km südwestlich des
Observatoriums) {Vig. i).
Der Vergleich der gewonnenen Temperatur-
kurven ist recht interessant, zumal während der
Perioden des „Talphänomens". Diese Erscheinung,
bekanntlich hervorgerufen durch eine bei stillem,
klarem Wetter dem Talboden auflagernde, hin-
und herpendelnde kältere Luftschicht, deren Be-
wegung zeitweise das Registrierinstrument mit
einer darüber lagernden wärmeren Schicht in Be-
rührung bringt, ist charakterisiert durch mehr
oder weniger starke, in unregelmäßiger Periode auf-
tretende Schwankungen der Temperaturkurve. ^)
Diese Temperaturschwankungen, die übrigens
nicht nur in der Arktis auftreten, bei geschützter
Lage des Beobachtungsortes aber für diese und
vornehmlich für die dunkle Zeit charakteristisch
sind, dürfen naturgemäß in den Registrierungen
der Bergsiation nicht auftreten. Fig. 2 zeigt
dieses an einem beliebig gewählten Beispiele vom
Dezember 1912. Die Basisstalion beim Obser-
vatorium zeigt Schwankungen bis 7 Grad, wäh-
rend die Registrierung auf dem Mt. de la Brise
eanz glatt verläuft und nur hier und da schwach
5iruation5pian
Fig. I.
Orienlierungskarte für die Umgebung des Observatoriums.
I ; 200000.
ausgeprägte Zacken zeigt. Die mittlere Tempe-
ratur auf dem Berge ist bei den Kurven höher
als die des Tales, auch die mittlere Temperatur
der Bergstation über größere Zeitintervalle ge-
nommen, liegt um etwa 2 Grad über dem Mittel
der Basisstation.
Registrieraufstiege , die während der Dauer
der Erscheinung des „Talphänomens" ausgeführt
wurden, zeigten, wenn Auf- bzw. Abstieg gerade
') Rudolf Jamojlowitz, Gewitter auf Spitzbergen.
M. Z. 29 p. 485.
') Vgl. hierüber A. W e g e n e r , Terminbeobaclitungen am
Danmarljs-Havn. Kopenhagen 1911, sowie seine ,, Thermo-
dynamik der Atmosphäre". Auch in den Temperaturkurven
von dreenharbour und Advcntbay treten diese Schwankungen
in typischer Weise auf.
SI4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 33
in entgegengesetzten Phasen der Ersclieinung
stattfanden, bis zu einer gewissen Höhe vom Erd-
boden beim Vergleich der Angaben des Registricr-
instrumentes beim Auf- und Abstieg zweideutige
Temperaturen. Da während der dunklen Zeit
eine Fälschung der Angaben durch Strahlung
ausgeschlossen ist, ist auf diese Weise die Mög-
3. Temperaturverhältnisse.
Die Temperaturverhältnisse Nordwest -Spitz-
bergens, hauptsächlich die der Küste, sind im
Vergleich zu der nördlichen Lage des Landes recht
wenig arktisch. Wir haben es hier, um ein Schlag-
wort zu gebrauchen, mit einem ,,Gollstromklima"
zu tun, denn der Tempcraturverlauf ist zeilweise
Observcit.
Mt. Brise
DezemDer 1912
17
-10
18
,,r^YwV--^,_,,..^~^A,
Temperatur
19
X^^vW
ZO
KA^Vv^iA/^^'V^^lW"
21
Fig. 2. Teniperaturscliwankungen des , .Talphänomens" sowie gleichzeitige Registrierung auf dem de la lirise-Berg.
daß obiges Schlagwort die Verhältnisse recht gut
2? Mar; 1913
Mt. Brise
Kap Mitra
März 1913
0 15
16
Ol
-10 ^--0 . />J
1^AA./\ y ^ j, -10
0
0
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_____^
0
0
-10
— -.__
-10
Fig. 3. (Ueichzeitige Temperaturkurven am Obseratorium,
dem de la Brise-Berg und Kap Mitra
phänomens" nicht zeigen. Das in Fig. 3 gege-
bene Beispiel vom März 191 3 zeigt neben den
Kurven der Temperatur beim ( )bservatorium und
auf dem la Brise-Berge noch die gleichzeitige
Kurve vom Kap Mitra. Diese weist allgemein
denselben Gang der Temperatur auf, wie die des
Observatoriums, zeigt aber nicht die typischen
Schwankungen, die auch auf dem la Brise-Berge
fehlen.
?■' lt> Man
lichkeit gegeben, die Höhenerstreckung der Kr- derartig von der Wirkung der Ausläufer des noch
scheinung des „Talphäiiomens" in der freien At- in diese Breite eindringenden Golfstroms abhängig,
mosphäre zu bestimmen. In den zur Untersuchung
brauchbaren Plillen ergab sich für diese etwa die
Höhe der umliegenden Berge (500 ml).
Am Ausgange des Tales, wo die Bildung einer
stagnierenden Luftschicht am Erdboden infolge
der exponierten Lage erschwert ist, darf natürlich
ein Thermogramm die Schwankungen des „Tal-
Temperatur
Observat.
Ipmperaturshdia
ü -1
Fig. 4. Gleichzeitige Registrierungen des Luftdruckes, Windes
und der Temperatur gelegentlich des Vorüberziehens einer
barometrischen Depression am 27. März 1913.
N. F. XIII. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
515
charakterisiert. Zu Zeiten vorherrschender Winde
aus südlichen Gegenden ist die Lufttemperatur
auch während des eigentlichen Winters recht
hoch, zeitweise einige Grade über Null, während
bei Perioden nördlicher Winde oder Wind-
stille die Temperatur mehr an arktische Ver-
hältnisse erinnert und im Mittel — 20 — 30 Grad be-
trägt. Diese Abiiängigkeit der Luftwärme von
der*^ Windrichtung ist der Grund für die enormen
Temperaturschwankungen, die vornehmlich an der
Nordwestküste Spitzbergens im Laufe des Winters
auftreten. Ob diese Verhältnisse allerdings als
Norm anzusehen oder nur als Eigentümlichkeit
des Winters 191 2 — 13 mit seinem anomalen
Witterungsverlauf aufzufassen sind, muß noch
dahingestellt bleiben.
Ein Beispiel vom 27. März 191 3 möge zeigen,
daß sich diese Verhältnisse nicht nur bei größeren
W i 1 1 e r u n g s [) e r i o d e n bemerkbar machen, son-
dern sich auch im Detail widerspiegeln. In den
Nachmittagsstunden genannten Tages passierte
eine kleine barometrische Depression das Obser-
vatorium. Die Luftdruckkurve des R i c h a r d ' sehen
Barographen gibt Fig. 4 wieder. Die Schwankung
betrug nur wenig über 2 mm. Der relativ langsam
fallende Luftdruck brachte, wie aus der Kompo-
nentendarstellung des Windes in der Figur hervor-
geht, langsam an Stärke zunehmenden SSE-Wind.
Die Kurven der Windrichtung und Stärke wurden
gewonnen mit einem einfachen Instrument. Ein
vertikal hängendes Pendel wird vom Winde aus
seiner Ruhelage abgelenkt und seine Bewegungen
werden vermittelst eines „Pantographen" in N-S
bzw. W-E Komponenten des Windes auf rotieren-
dem Zylinder und berußtem Papierstreifen dar-
gestellt. Der langsam an Stärke gewinnende SSE
bringt bei allen Stationen für Temperaturregistrie-
rung Erwärmung um ungefähr 2 Grad. Kurz vor
10 p steigt der Luftdruck ziemlich plötzlich, ebenso
plötzlich schlägt der Wind bei zunehmender Stärke
nach NNW um; die Temperatur fällt an allen
drei .Stationen um ungefähr 6 Grad. Der Tem-
peraturabfall beginnt natürlich zuerst bei der Berg-
station, an der exponiertesten Stelle, folgt dann
zeitlich an zweiter Stelle am Kap Mitra, das eben-
falls für NNW leichter erreichbar als das relativ
geschützt liegende Observatorium.
4. T r i e b s c h n e e.
Bei trockener Schneedecke und bewegter
Luft finden sich in den dem Erdboden zunächst
liegenden Luftschichten fast zu jeder Zeit Schnee-
kristalle, die als Triebschnee vom Winde fort-
geführt werden. Es sind dieses nicht vollständige
Kristalle von der bekannten Form sechsstrahliger
Sterne, sondern zumeist Eis nadeln, die teils in
dieser Form in der Luft entstanden, teils sich in-
folge eines Sublimationsprozesses an der Oberfläche
der Schneedecke bildeten. Auch Trümmer der
Schneesterne finden sich im Triebschnee.
Der Triebschnee ist nur eine spezifische Er-
scheinung in der dem Erdboden naheliegenden
Luft. Je nach der Windstärke ist seine Höhen-
erstrcckung verschieden. Bei geringen Wind-
geschwindigkeiten, bis etwa 6 m/sek., werden bei
ebenem Terrain nur die untersten zehn Dezimeter
der Luft Triebschnee führen, bei größeren W'ind-
stärken reicht die Erscheinung unter sonst gleichen
Bedingungen bis zu etwa 5 — 10 Meter Möhe.
Die Zone des Triebschnecs schmiegt sich im
allgemeinen den Terrainverhältnissen an. Im Lee
von flachen Hügeln, wo man in größerer Nähe
eine größere Höhe des Triebschneebereiches
findet, trifft man in einiger Entfernung wieder
normale Verhältnisse an. Infolge des Windschutzes,
der eine geringere Windgeschwindigkeit bedingt,
sammeln sich nahe dem Hügel größere Trieb-
schneemengen an, die einen flach auslaufenden
Wall bilden, dessen Längsrichtung mit der Rich-
tung des beim Triebschnee herrschenden Windes
identisch ist. Auf diese Weise entstehen die auch
bei uns bekannten eigentümlichen Gebilde an der
Oberfläche einer Schneedecke, bei denen ein kleiner
störender Körper lange, in keinem Verhältnis zu
der Größe der Störung stehende Schneewälle ver-
ursachen kann. Bei uns in Norddeutschland bilden
sich aber diese Formen zumeist nur während der
Schneefälle selbst („Sclineetreiben"), während in
der Arktis und im Hochgebirge das eigentlich
bildende Element der „Triebschnee" ist, da
hier sich auch ohne Schneefall Form und Rich-
tung der Wälle ändert.
Fallen die Hindernisse im Lee steil ab, wie es
Fig. 5. Schneefalinen über den Gipfeln der Berge nördlich
Mt. Scoresby am 26. Februar 191 3.
bei hohen felsigen Bergen der Fall ist, so wird
auf der dem Winde abgewandten Seite nahezu
Windstille herrschen; ja es wird sich hier eine Art
Wirbel bilden, der im Tale eine Luftbewegung
entgegen der allgemeinen Windrichtung zur
Folge hat, und die Luft nahe dem Steilabfalle des
Berges zwingt, vertikal emporzusteigen. Die mit
Triebschnee angefüllte Luftmasse im Luv des
Berges gleitet den Bergabhang hinauf und strömt
an der Bergspitze in der Richtung der allgemeinen
Luftströmung ab; die Folge hiervon ist die Bildung
von Schnee fahnen, die von dem Berggipfel
ausgehen, deren Bestand aber wesentlich mitbe-
dingt wird durch die Existenz der aufsteigenden
Luftbewegung im Lee des Hindernisses. Fig. S
stellt eine Zeichnung dieser Erscheinung dar, die
5i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 33
am 26. I'^ebruar 191 3 mittags über den Bergen
nordwestlich des Observatoriums beobachtet wurde.
In der freien Atmosphäre herrschte damals in der
Höhe der Berge ein Wind von 6 — 7 m pro Sek.
aus NNK.
Der Schnee dieser Windfahnen treibt häufig
sehr weit mit dem Winde fort und kann Anlaß
geben zu „Schneefällen aus heiterem Himmer', wie
sie oft beobachtet wurden und die häufig optische
Erscheinungen (Nebensonnen) verursachen.
5. Schneekristalle.
Was die Form der S c h n e e k r i s t a 1 1 e be-
trifift, so fand Verfasser die bekannten Schnee-
s t e r n e in Spitzbergen in der Regel nur bei Tcmpe-
Robitzsch phot. 15. 3.
12 strahliger Schneestern. 16 ; I.
13-
Robitzsch phot. 15. 3. 13.
I2strahligcr Schneestern. 16 : I.
raturen bis zu etwa — 10 Grad. Bei tieferen Tem-
peraturen, bei denen die Schneefälle selten und
wenig ergiebig waren, ist die vorherrschende Form
die „Eisnadel" (das sechsseitige Prisma) und das
„Plättchen". Die Größe der Kristalle nahm, wie
bekannt, auch hier in Spitzbergen mit der Tem-
peratur ab. Eigentlich schön ausgeprägte Sterne
fanden sich nur bei Temperaturen unter Null,
da bei höherer Luftwärme naturgemäß die
l'lockenbildung es fast unmöglich macht, die
Kristalle zu isolieren. Deshalb gehören auch die
meisten Kristallformen, die mikrophotographisch
aufgenommen wurden, zu den bei — 4 bis — 10
Grad auftretenden Formen.
Robitzsch phot. 15. 3.
Schneekristall-Zwilling. 16 : 1.
Robitzsch phot. 15. 3. 13.
Normaler Schneestern. 8:1.
Die Größe der Flocken war im allgemeinen
die auch bei uns für normal geltende. Nur einzelne
Schneefälle, so z. B. ein am 10. Dezember 1912
bei +4 Grad auftretender, brachten ungewöhnlich
große Flocken von etwa 4 cm Durchmesser.
Die große Menge der Mikrophotographien,
speziell angefertigt zum Studium der Abhängigkeit
der Kristallform von den Witterungsfaktoren, vor-
nehmlich der Luftfeuchtigkeit (Sättigung in
bezug auf Eis), bietet viele interessante Details,
deren Besprechung aber einer anderen Notiz vor-
behalten werden muß. Es mag hier nur erwähnt
werden, daß die Kristallform in der Hauptsache
wohl eine Funktion des Ortes im barome-
trischen Minimum ist, an welchem die
N. F. XIII. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
517
Bildung der Iv ristalle vor sich ging, und
daß man möglicherweise von einer der Vorderseite
bzw. Rückseite der Depression typischen Kristall-
form sprechen kann. Die prinzipielle Entscheidung
dieser Frage erfordert aber noch weit mehr syste-
matisch gewonnenes Material, wie bisher vorliegt.
In dem Folgenden mögen nur einige interes-
sante Anomalien der Form der Schneekristalle
berührt werden. Zwar sind die beobachteten
Formen schon in der Literatur bekannt, doch ist
es wohl nicht unangebracht, zu den beigelegten
Bildern einige erläuternde Worte zu geben.
Während weitaus die größte Zahl der Schnee-
fälle normale Kristall formen zeigen, die zwar
hier und da „Mißbildungen" und ,, Verwachsungen"
aufweisen, so wird man bei aufmerksamer Ver-
folgung der Erscheinung bald zu der Überzeugung
i^elangen, daß diese Mißbildungen bei dem einen
Schneefalle häufiger sind, wie bei dem anderen.
Die Tatsache, daß die Schneeform überhaupt von
den äußeren Bedingungen für die Kristall-
bildung abhängig ist wie auch die Verschiedenheit
der Kristallfonn selbst, läßt ohne weiteres eine
Erklärung hierfür zu. Es sind eben nicht immer
die für die Bildung der Anomalien notwendigen
äußeren Bedingungen vorhanden; sind diese ge-
geben, so muß notwendigerweise das Auftreten
anomaler Formen häufiger sein.
Ein in den Nachmittagsstunden des 15. März
191 3 stattfindender Schneefall war sehr reich an
ungewöhnlichen Formen. Leider waren die Be-
leuchtungsverhältnisse sehr schlecht, so daß von
den zahlreichen mikrophotographischen Aufnahmen
nur wenige brauchbar wurden. Es war unsichtiges
Wetter, die Luft war mit Feuchtigkeit (in bezug
auf Wasser) gesättigt. Die Temperatur betrug
— 7,5 Grad. Die Übersättigung in bezug auf Eis
betrug also etwa 0,2 mm Hg. Es herrschte fast
Windstille, so daß die Kristalle leicht und unver-
letzt aufgefangen werden konnten.
Unter diesen Verhältnissen beobachtete man
neben normalen Kristallformen sehr häufig
„Zwillingskristalle". Die Plättchen im
Zentrum des Sternes, an die sich normal die
Strahlen des Schneekristalls ansetzen und sich
dann weiter ausbilden, lagen bei diesen Formen
mit einer Seite aneinander. Nur an den „freien
Nebenachsen" des so entstandenen Kristallaggre-
gates war es zu einer Ausbildung von Strahlen
gekommen. Die Richtung der kristallographischen
Hau[)tachsen der Kristallzwillinge war in den
meisten Fällen parallel, d. h. die Ebenen der
Zentralplättchen fielen zusammen. Weniger häufig
lagen diese in einem stumpfen Winkel zueinander,
so daß die eine Zwillingskomponente nicht in
der Ebene der anderen lag. Unser Bild zeigt
einen Vertreter der letzterwähnten Form. Infolge
der ungleichen Reflexion des Lichtes an den
Kristalloberflächen erscheint auf der Mikrophoto-
graphie die eine Komponente lichtschwächer wie
die andere und tritt deshalb weniger hervor.
Während die meisten Sterne sich nur in der
Richtung der Nebenachsen des Kristalls aus-
bilden und nur relativ wenige andeutungsweise
oder doch weniger ausgebildet Ansätze zeigen,
deren Richtung mit der Winkelhalbierenden
der Nebenachsen zusammenfällt, so daß man von
einem ungleich ausgebildeten zwölfstrahligen
Sterne sprechen kann , so brachte der erwähnte
Schneefall völlig ausgebildete Vertreter dieser
Formen. Zwei Photographien dieser Reihe mögen
diese Kristallform repräsentieren. Die Strahlen
sind recht gleichmäßig ausgebildet und sind „nackt",
d. h. ohne seitliche Abzweigungen.
Die letzte Mikrophotographie zeigt ein unge-
wöhnlich großes Kristall, das bei einer Temperatur
von — 9 Grad am 9. März 191 3 aufgenommen
wurde. Nach Hell mann beträgt der mittlere
Durchmesser strahliger Sterne in Europa bei
dieser Temperatur etwa 2 mm. Unser der Form
nach wenig auffallendes Kristall ist nur 8 fach ver-
größert, besaß also in Wirklichkeit einen Durch-
messer von rund 6 mm und übertrifft also an
Größe die Norm um das dreifache.
6. Vergletscherung.
Die meisten Schneefälle traten bei einer Wind-
richtung aus NW auf Hierdurch erklärt sich eine
Tatsache, die Dr. Kurt Wegener auf seiner
Schlittenreise nach Wijdebay beobachtete. Je
weiter man nach Osten in das Innere Spitzbergens
eindringt, um so geringer ist die Höhe der Neu-
schneedecke. Die von der See kommende feuchte
Luft verliert beim Übersteigen der verschiedenen
Parallclplateaus Nordwest - Spitzbergens durch
Niederschlagsbildung immer mehr von ihrem
Feuchtigkeitsgehalt. Bedingt wird hierdurch die
schwächere Entwicklung der Gletscher im Land-
inneren, wo Täler ohne Gletscher angetroffen
werden (Nebentäler der Wood und Wijdebay), eine
Tatsache, die in den Küstengegenden unbekannt
ist. Auch die Vergletscherung des Nordostlandes
wird so wieder erklärlich, da zu ihm die aus NW
kommenden Winde, ohne vorher Berge zu pas-
sieren, freien Zutritt haben und ihren Feuchtig-
keitsgehalt dort in P'orm von Schnee nieder-
schlagen können.
7. Fall winde.
Die Windregistrierungen waren häufig charak-
terisiert durch plötzliches Einsetzen der Wind-
strömungen, die gleich von vornherein ihre volle
Stärke besaßen. Auf dem Observatorium war
dieses nur bei Nordwinden der Fall. Schon im
Herbst 191 2 hatte es sich bei Pilotballonaufstiegen
herausgestellt, daß in Höhe der Berge gelegent-
lich solcher Nordwinde eine starke Geschwindig-
keitsabnahme des Windes vorhanden war. Als
am 30. Oktober 191 2 eine Exkursion nach dem
nördlichen Bergplateau unternommen wurde,
herrschte unten im Tal seit etwa 7 a ein scharfer
NE bei — 25 Grad Celsius. Je näher man (gegen
10 a) dem Plateau kam, das um etwa 200 m den
Talboden überragt, um so mehr ließ der Wind an
5i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 33
Stärke nach. Oben auf dem exponierten Plateau
selbst herrschte völlige Windstille. Dieser Befund
spricht dafür, daß die erwähnten, plötzlich ein-
setzenden Nordwinde den Charakter von typischen
Fallwinden tragen, deren Bildungsgebiet die nörd-
lich des Observatoriums gelegenen
ausgedehnten l'latcaus darstellen.
8. F ö h n e r s c h e i n u n g e n.
Im Frülisommer zur Zeit der Schnee-
schmelze hält sich die Lufttemperatur
tagelang um Null Grad ; die durch die
immer höher steigende Sonne wach-
sende Wärmezufuhr wird aufgebraucht
zur Schmelze des Schnees. Je mehr
sich schneefreie Bodenflächen ausbilden,
um so mehr wird die Sonnenstrahlung
eine Erhöhung der Lufttemperatur über
dem Lande herbeiführen, welche ihrer-
seits wiederum Luftzufuhr von der
kälteren Meeresoberfläche — See-
winde — bedingt. Diese Seewinde
haben im allgemeinen nur eine geringe
Stärke, geben aber Anlaß zu Föhnerscheinungen,
die zwar im kleinen aber recht typisch vor sich
gehen. Ein Bild von Ende Juni 19 13 zeigt die
schön ausgeprägten „Föhnwolken" über den Bergen
seewärts vom Observatorium. Mehr im Land-
inneren bildeten sich dann gelegentlich solcher
Föhntage, allerdings nur über höheren Erhebungen,
die bekannten ,, Hinderniswolken" oder „Wind-
fahnen" aus, die recht weit über den störenden
Robitzsch pliot. Juni 1913.
FöluiiiKuier über den Bergen im Westen des Ebcltofthafens.
Berggipfel hinaus verfolgt werden konnten. Nahe
am Horizont erschienen sie dann als System
paralleler Wolkenstreifen, deren Anfang bestimmt
war durch die Lage der störenden Berge.
AiiiinoiiiaUsyiillieseu.
[Naclidiuclc verboten.] Von Otto
Bei der Eröffnungsversammlung der British
Association in Bristol im Jahre 1898 sprach Sir
William Crookes die Befürchtung aus, daß es auf
die Dauer unmöglich sein würde, der stetig an-
wachsenden Bevölkerung der Erde Brot zu be-
schaffen, wenn es nicht gelänge, auf künstlichem
Wege dem Boden die erforderliche Stickstofif-
düngung zu geben, und daß es eine der größten
Erfindungen wäre, den Stickstoff der Luft zu binden.
In der Tat hat man, während der Bedarf an
stickstoffhaltigen Düngemitteln in ständiger Steige-
rung begriffen ist, mit aller Wahrscheinlichkeit mit
einer relativ rasch fortschreitenden Erschöpfung
der natürlichen Vorräte an Chilisalpeter zu rechnen.
Andererseits kann auf einen Ausgleich durch rasche
Steigerung der Produktion von Ammoniak bzw.
schwefelsaurem Ammoniak nicht gerechnet werden,
da sie vom Betriebe der Gasfabriken und Kokereien
abhängig, als Selbstzweck auf diesem Wege aber
unmöglich ist. Das Problem, den elementaren
Stickstoff dennoch zu bezwingen, wirft sich daher
immer gebieterischer auf und hat seit einiger Zeit
eine sehr aktuelle Bedeutung gewonnen.
Die Natur bietet uns den freien Stickstoff
überall auf der Erde an; die uns umgebende Luft-
schicht enthält neben 20,833 "/^ Sauerstoff und
geringen Mengen sog. Edelgase 79,167 "/„ Stick-
Bürger.
stoft'. Über einem einzigen Ouadratkilometer unserer
Erde lagern solche Mengen Stickstoff (ca. 8 Millio-
nen Tonnen), wie sie 25 Jahre hindurch den Welt-
bedarf an gebundenem Stickstoff decken würden.
Die Natur hat es uns überlassen, die richtigen
Methoden zu finden, den freien Stickstoff in ge-
btindene Form überzuführen.
Außer dem schon erwähnten Stickstoff des
Chilisalpeters ist noch der Stickstoff von Bedeutung,
der sich in der Kohle vorfindet. Der durchschnitt-
liche Stickstoffgchalt der Kohle beträgt etwa i %,
und wenn auch hiervon nur etwa 70 " „ bei der
gewöhnlichen Form der Vergasung gewonnen
werden können, so bildet doch die Kohle heute
noch die Hauptquelle unseres Bedarfs an Ammoniak.
Von einer eigentlichen Ammoniakindustrie war
um die Mitte des vorigen Jahrhunderts noch nichts
zu bemerken. J. Dumas sagt in seinem von
L. A. Buchner übersetzten Handbuch der an-
gewandten Chemie') folgendes:
„Die Zeit kann nicht mehr fern sein, wo die
Ammoniaksalze eine bedeutende Rolle spielen
werden. Gegenwärtig gebraucht man sie, um
das Verzinnen von Eisen, Kupfer, Messing und
Hausgeräten zu erleichtern. Auch zur Gewinnung
') Nürnberg 1S4Ö, 7, 7 16 ff.
N. F. Xni. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
519
des Platins werden sie gebraucht. In der Medizin
wird der Salmiak als Reizmittel und Auflösungs-
mittel angewendet. Das schwefelsaure Ammoniak
nimmt man zur Bereitung des Ammoniakalauns,
welcher mit Vorteil in mehreren I'^ällen den Kali-
alaun ersetzt, und für diese einzige Anwendung ist
' der Verbrauch des seil wefelsauren Ammoniaks schon
' beträchtlich. Einen viel größeren Verbrauch würde
die Benutzung des schwefelsauren Ammoniaks als
Düngemittel in der Landwirtschaft zur Folge haben,
(legenwärtig macht man in mehreren Ländern
Versuche im großen hierüber, und es ist beinahe
gewiß, daß sie für die Kultur einiger wichtiger
Gewächse ein sehr gutes Resultat geben werden." ')
Auch die allgemeine Einführung der I^euchtgas-
fabrikation aus Steinkohlen ließ es zu keinem
Aufschwung der Ammoniakindustrie kommen; sie
war vielmehr lange Jahre liindurch eine Ouelle von
Unannehmlichkeiten für die Leuchtgasfabrikanten,
sei es wegen zu geringen Nutzens, sei es, daß die
Behörden die Verarbeitung des Gaswassers wegen
der Belästigung der Anwohner durch den „üblen
Geruch" verboten.
Genau so, wie man die ersten Schiffsladungen
Salpeter ins Meer versenken mußte, weil man sie
auf dem Markt nicht unterbringen konnte, so war
man glücklich , wenn man , unbehelligt von den
Behörden, die Gaswässer auf dem kürzesten Wege
im nächsten Flusse zum Abfließen bringen konnte.
Erst Ende der 70er Jahre, nachdem man
schon längst dmch Liebig und dessen Schüler
auf den Wert des schwefelsauren Ammoniaks als
Düngemittel aufmerksam gemacht worden war,
wurde von den Gaswerken mit der Verarbeitung
des Ammoniakwassers begonnen und .Anfang der
80 er Jahre nimmt die Ammoniakindustrie einen
nahezu ungeahnten Aufschwung, da neben der
I^andwirtschaft auch die chemische Großindustrie
Massenabnehmerin geworden ist. Auch die Eisen-
industrie ist neuerdings der Ammoniakgewinnung
nähergetreten, so daß in Deutschland die Ver-
wertung des Kohlenstickstoffs ihr Maximum an-
nähernd erreicht haben dürfte. Anders steht es
in Nordamerika. Dort ist man jetzt erst in den
großen Eisenwerken daran , den Kohlenstickstoff
auszunutzen, so daß wir innerhalb 2 Jahren etwa
mit einer Jahresproduktion von 500000 Tonneu
Ammoniumsulfat von selten Nordamerikas zu
rechnen haben.
Diese Tatsache konnte den Anschein erwecken,
die synthetische Ammoniakherstellung habe nun-
mehr nicht die volkswirtschaftliche Bedeutung, die
ihr von manchen .Seiten zugeschrieben wird. Wenn
wir jedoch bedenken, daß die Bevölkerungszunahme
eine beträchtliche Konsumzunahme von Ammoniak
bedingt, und daß wir die Summen, die jährlich
an das Ausland für den Salpeterbezug bezahlt
! werden, dem Lande erhalten möchten, so recht-
fertigt sich schon das Streben nach einer praktisch
') Zeitschrift für angewandte Chemie, 27, Nr. S, S. 41—48.
') J. Soc. Chem. n, Nr. I und z.
durchführbaren, rentablen Ammoniaksynthese. Zum
Schluß ist dann auch das Ammoniak dazu be-
rufen, das Rohmaterial zur Herstellung von .Salpeter-
säure zu liefern.
1835 machte Dawes") die Beobachtung, daß
sich in den Schmelzen von Hochöfen Cyankalium
bildet und 1839 gelang es Lewis Thompson
durch Erhitzen von Koks, Pottasche und Feil-
spänen bei Gegenwart von Luft Cyankalium her-
zustellen. Auf diesen Beobachtungen fußend, er-
hielt Swindells 1844 ein englisches Patent auf
die Erzeugung von Ammoniak durch l'berleiten
von Wasserdampf über erhitzte Cyanide. Die
.Ammoniakabgabe der Cyanide erklärt sich aus
folgender Gleichung :
KCN + 2H.,0 = NH., + HCOOK
Margueritte und Sourdeval benutzten das Barium-
cyanid zur Ammoniakerzeugung:
Ba(CN).3 -|- 4H.,0 = l^U,, + Ba(OH)., + 2CO
Mond') änderte dieses Verfahren etwas um. Er
formte aus 32 T. Bariumkarbonat, 8 T. Koks und
1 1 T. Pech Briketts, die nach dem Ausglühen
unter Luftabschluß in Stücke gebrochen werden.
Die Stücke kommen in Retorten, die in Kammern
eines Ringofens eingebaut sind und von außen
geheizt werden. In die Retorten wird Stickstoff
eingeleitet. Diese Verfahren hatten sehr unter
dem ('beistände zu leiden, daß kein reiner Stick-
stoff verwendet wurde, sondern durch CO verun-
reinigter.
Auch die Badische Anilin- und Sodafabrik er-
hielt auf ein Ausführungsverfahren der Margue-
ritte- und S ou rde val'schen Reaktion ein
Patent, wonach die Bariumoxydkohlemischung in
senkrecht aufeinander gesetzten Kapseln durch
Flammgase, die parallel zur Achse der Kapsel-
stöße geführt sind, erhitzt wird, während reiner
Stickstoff zuströmt. In fast quantitativer Weise
entsteht nachher Ammoniak, wenn die Erdalkali-
cyanide mit Wasser im Autoklaven bei etwa 150"
behandelt werden ; als Nebenprodukt entsteht dabei
ameisensaures Barium.
Dieses Alkalicyanidverfahren ist das erste, das
zur synthetischen Ammoniakgewinnung in Vor-
schlag gebracht wurde. Jedoch ist aus dieser
Ouelle bis heute noch nicht viel Ammoniak ge-
flossen. Wichtiger ist das Cyanamid- oder Kalk-
stickstoffverfahren, das auf der Verwendiuig von
Calciamkarbid beruht, einem ausgezeichneten Ab-
sorptionsmittel für Stickstoff. In der ersten Karbid-
fabrik (Spray in Nordcarolina) wurden 1895 von
Wilson die ersten Versuche zur Bindung von
Stickstoft' mittels Calciumkarbid unternommen.
Frank und Caro fanden dann, daß fein gepulfer-
tes Karbid bei ca. looo" mit Stickstoff im Sinne
der Gleichung
CaCo +N,, = CN.CNCa
reagiert, welches Produkt als Salz des Cyanamides
CNNL1._, anzusehen ist. Die Stickstoffbindung auf
Calciumkarbid vollzieht sich jedoch nur dann in
») D. R. P. 21 175.
520
Naturwissenschaltliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 33
glatter Weise, wenn man äußerst reinen Stickstoff
anwendet. Ein kleiner Zusatz von Metallchloriden
zum gepulverten Karbid beschleunigt jedoch die
Reaktion. Nach diesem \-on Polzenius gefun-
denen Verfahren wunle der erste auf dem Markte
erschienene Kalkstickstoff hergestellt. Das heute
im großen mit Erfolg durchgeführte Verfahren
beruht darauf, daß das in einem isolierten Gefäß
befindliche zerkleinerte Karbid durch einen im
Inneren befindlichen elektrisch geheizten Kohlen-
Stab erhitzt und der Stickstoff direkt in die Meiz-
zone zugeführt wird. Nach diesem Verfahren sollen
pro Pferdestärkenjahr 2000 kg Calciumcyanamid
herzustellen sein.
Eine ganze Reihe von iMetallen hat bei mehr
oder weniger erhöhter Temperatur die h'ähigkeit,
elementaren Stickstoff zu binden; diese Metall-
Stickstofifverbindungen nennt man Nitride. Einige
von diesen Nitriden haben die Eigenschaft, ihren
Stickstoff mittels Wasser als Ammoniak abspalten
zu lassen, diese Nitride kommen denn auch haupt-
sächlich für die synthetische Gewinnung von
Ammoniak in Frage. Für den Großbetrieb eignen
sich natürlich nur diejenigen Nitride, die billig
hergestellt werden können, infolgedessen schrumpft
die Zahl der verwendbaren Nitride auf einige
wenige zusammen. Zuerst wurde hauptsächlich
das Bornitrid (BN) angewendet, das man durch
Erhitzen von mit Borsäure getränkter Kohle in
Gegenwart von Stickstoff herstellte (Banet, 1879,
Engl. Fat. 4338). L y o n s und B r o a d w e 1 1 stellen
BN durch Elektrolyse eines auf looo" erhitzten
Bades von Boraten her, in Gegenwart von Stick-
stoff. Durch Behandlung mit Wasser erhält man
aus dem Bornitrid Ammoniak, nach der Gleichung:
BN -j- 3H.,0 = B(0H)3 + NHo
Behandelt man Bornitrid mit einer Säure, so er-
hält man Borsäure und das entsprechende Ammo-
niaksalz.
Auch Silicium verbindet sich bei 1250 — 1300"
mit Stickstoft' zu Siliciumnitrid ; da jedoch dieses
hauptsächlich nur durch Alkali und zwar sehr
langsam in Ammoniak übergeführt wird, so hat
es für die Ammoniaksynthese keine große Be-
deutung.
Wichtiger für die Ammoniakerzeugung ist das
Aluminiumnitrid AIN. Matignon beobachtete,
daß beim starken Erhitzen von Aluminiumpulver
das Aluminium verbrennt, und daß sich neben
Al.^Og stets auch Aluminiumnitrid bildet. Die
Vereinigung von Aluminium und Stickstoff geht,
wie Fichter 1907 gezeigt hat, bei einer Tem-
peratur von 720 — 740^' vor sich. Da jedoch
metallisches Aluminium zu teuer ist, so läßt sich
diese Methode zur technischen Gewinnung des
Nitrids nicht anwenden. Es lag jedoch nahe, statt
des Metalles das Oxyd (Al.,Og) anzuwenden, was
auch Ende der 90er Jahre von Willson, Chal-
mott und Mehner in ihren Patenten zur Nitrid-
herstellung benutzt wurde. Die Schwierigkeiten
bei der Ausführung dieser Patente überwandt jedoch
erst O. Serpek, der extrem hohe Temperaturen
vermied und die Bildung von Aluminiumkarbid
Alj^Cg schon im Keime vermied. Wohl läßt sich
AljCg zur Nitridherstellung heranziehen, gemäß
der Gleichung: AL.Og + A1.,C. -f 6N = 6 AIN +
3CO. Diese Reaktion vollzieht sich bei einer
Temperatur von etwa 1500"; erhöht man jedoch
die Reaktionstemperatur nur um etwa 50 "1 so
kann man ohne Karbidzusatz allein aus Tonerde
und Kohle das Aluminiumnitrid herstellen (D. R. P.
224628 vom 16. 3. 1909). Am vorteilhaftesten
verwendet man als Ausgangsprodukt Bauxit. Setzt
man jedoch der Tonerde Katalysatoren wie Eisen,
Kieselsäure, Titansäure, Mangan usw. zu, so kann
diese ebenso leicht wie der Bauxit in das Nitrid
übergeführt werden.
Eine Erniedrigung der Reaktionstemperatur
erreichte Serpek dadurch, daß er dem Stickstoff
etwa 5 Vol.-"/,, Wasserstoff beimischte. Bei dieser
Versuchsanordnung ist es erforderlich 5 — 6 Stun-
den bei nur 1250 — 1300" zu erliitzen und zwar
bei einem ca. 5 fachen N-Uberschuß , da das sich
bildende, die Reaktion hemmende CO stark ver-
dünnt werden muß. ') Dieser Vorteil kommt je-
doch erst bei einer Erhöhung der Temperatur
zum richtigen Ausdruck; so kann man z.B. schon
durch ein halbstündiges Erhitzen von Bauxit auf
iCoo" in richtig konstruierten Apparaten sämt-
liche Tonerde in Nitrid umwandeln. Bei weiterer
Erhöhung der Temperatur läßt sich die Reaktions-
zeit noch bedeutend abkürzen und bei einer Tem-
peratur von 1900" endlich erreicht man eine voll-
ständige LImwandlung von Tonerde in Nitrid inner-
halb 5 Minuten ja sogar, in letzter Zeit, innerhalb
von Bruchteilen von Sekunden.
Das Aluminiumnitrid wird durch Wasser in
Ammoniak und Tonerdehydrat gespalten:
2AIN + 6H,0 = 2NH3 + Al.,(OH)ß.
Diese Zerlegung findet im Rührautoklaven
statt. Um reine Tonerde zu erzeugen, zerlegt man
das Nitrid nicht mit Wasser , sondern mit Alu-
minatlösung (2o''Be). Bei einem Druck von 2 Atmo-
sphären vollzieht sich die Zersetzung in i '/., bis
2 Stunden. Durch Dekantation läßt sich die Ton-
erdelösung leicht von den ungelösten Verunreini-
gungen trennen und man erhält aus ihr nach
Bayer 's Vorschrift durch Autoausfällung reine
Tonerde. Die zurückbleibende Aluminatlauge
kann zur Zerlegung neuer Mengen AUmiinium-
nitrid benutzt werden.
Bei den oben besprochenen Verfahren der
synthetischen Ammoniakerzeugung wurde Wasser
oder Wasserdampf bei höherer Temperatur in
Gegenwart von Cyaniden oder Nitriden zerlegt,
so daß der Stickstoff aus diesen Körpern sich
mit dem frei gewordenen Wasserstoff zu Ammoniak
vereinigte. Jetzt wenden wir uns einer Methode
zu, bei der Wasserstoff und Stickstoff direkt in
') Man vgl. auch; Adolph Sprengel, Über Aluminium-
nitrid (Diss. Basel 1912) und W. Fränkel's Studie über die
Bildung von Aluminiuninitrid aus Tonerde, Kohle und Stick-
stoff (Zeitschrift für Elektrochemie 19, Nr. 8, 362).
N. F. Xm. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
521
Reaktion gebracht werden, es ist dies die Haber-
sche Ammoniaksynthese.
Bei gewöhnlicher und auch bei erhöhter Tem-
peratur vereinigen sich Sticksioft' und Wasserstoff
kaum merklich miteinander. Bei fast genau looo"
zerfällt Ammoniak in seine Elemente, umgekehrt
sollte man meinen, müßte bei dieser Temperatur
auch Ammoniak aus Stickstoff und Wasserstoff
herstellbar sein. In der Tat bildete sich auch
hierbei 0,0048 1 ";„ (Habe r), bzw. 0,0032 "/„ (J o s t) ;
bei 700" betragen diese Mengen 0,0221 und
0,0174 '%. Hiernach scheint also das Problem der
synthetischen Ammoniakerzeugung aus den Ele-
menten mehr denn je ein schöner Traum. Den-
noch gelang es Haber zusammen mit der Badi-
schen Anilin- und Sodafabrik (Dr. Bosch und
Mittasch) dieses schwierige und wichtige Pro-
blem zu lösen. Das Verfahren wird wohl am
besten durch das D. R. P. 235429 charakterisiert,
dessen Patentanspruch lautet:
I „Verfahren zur synthetischen Darstellung von
Ammoniak aus den Elementen, wobei ein geeig-
netes Gemenge von Stickstoff und Wasserstoff
kontinuierlich der Ammoniakbildung mittels er-
hitzter Katalysatoren und nachfolgender Ammoniak-
entziehung unterworfen wird, dadurch gekenn-
zeichnet, daß hierbei unter dauerndem Druck und
unter jeweiligem Ersatz des zu Ammoniak ver-
bundenen und zweckmäßig durch Abkühlung und
Abscheidung in flüssiger oder fester Form ent-
fernten Anteiles durch neue Stickstoffwasserstoff-
mischung gearbeitet untl dafür gesorgt wird, daß
die Wärme der ammoniakhaltigen Reaktionsgase
auf das von neuem der Reaktion zu unterwerfende
ainmoniakfreie Gasgemisch übertragen wird."
Einen besonderen Fortschritt erzielte Haber
durch die Auffindung von Katalysatoren, die schon
bei weit niedrigeren Temperaturen als den bisher
erforderlichen eine genügend schnelle Vereinigung
von Stickstoff und Wasserstoff zu Ammoniak be-
wirken. So entfaltet Osmium schon bei 550" eine
derart günstige Wirkung, daß bei einem Druck
von 175 Atni. 8 Vol.-"/,, Ammoniak erhalten wurden.
Ein sehr guter Katalysator ist auch das Uran,
hierbei ist jedoch Abwesenheit von Wasser Haupt-
bedingung. Setzt man dem Katalysator gewisse
Oxyde, Hydroxyde oder Salze der Alkalien, alka-
lische Erden und Erdmetalle usw. zu, so wird er
aktiviert, d. h. in seiner Wirksamkeit außerordent-
lich verbessert. Andererseits gibt es jedoch auch
sogenannte Kontaktgifte, welche die Reaktion be-
einträchtigen oder verhindern, so z. B. Schwefel,
Selen, Tellur, Arsen, Phosphor, Bor, Schwefelwasser-
stoff usw.
Zum Schluß sei die dritte, bekannteste Stick-
stoffverwertungsmöglichkeit angeführt, die Oxyda-
tion des Luftstickstoffs unter Bildung von Salpeter-
säure, auf die einzugehen nicht hierher gehört.
So haben unsere Chemiker und Ingenieure auch
dieses Problem gelöst, und unseren Ländereien
neuen Stickstiff gesichert, ehe die von Chile drohende
Stickstoffnot an unsere Türen pocht.
Einzelberichte.
Botanik. Sind die Wurzeln der Pflanzen fähig,
Temperaturunterschiede wahrzunehmen ? Bekannt-
lich kommt den Wurzeln die Fähigkeit zu, auf
Licht-, Schwere- und F'euchtigkeitsreize durch
Krümmungen zu reagieren. Sachs, van Tieg-
hem. Wortmann, afKlercker glaubten nun
auch eine Empfindlichkeit für Temperaturdifferen-
zen nachgewiesen zu haben, dergestalt, daß sich die
Wurzeln von zu hoher Temperatur fort- und nach
günstiger Temperatur zukrümmen. Da aber die
Versuche noch kritische Einwände zuließen, hat
neuerdings H. D. Hook er (The Plantworld, Vol. 17,
Nr. 5, 1914) auf Veranlassung von L. Jost in
Straßburg die P'rage von neuem aufgenommen.
Steckte er Keimlinge in ein zweifächriges Gefäß,
dessen eine Hälfte mit feuchten Sägespänen aus-
gefüllt war, und dessen durch eine Scheidewand
abgetrennte andere von kühlem strömendem Wasser
durchflössen wurde und erhitzte er dann die Außen-
wand des die Wurzeln bergenden Sägemehlfaches,
so entstand hier ein Temperaturgefälle, das nun
tatsächlich die Wurzeln zu Krümmungen ver-
anlaßte. ¥.s stellte sich aber bald heraus, daß der
Erfolg nicht auf den Temperaturabfall, sondern
auf das mit ihm bei dieser Versuchsanordnung
notwendigerweise verbundene Feuchtigkeitsgefälle
zurückzuführen war. Wurden nämlich die Wurzeln
in Agar-Gallerte eingeführt und wiederum in dieser
ein Wärmeabfall hergestellt, so blieb jede Art von
Krümmung aus, trotzdem das Wachstum und die
P'ähigkeit, z. B. geotropische Krümmungen aus-
zuführen, nicht beeinträchtigt waren. Es muß also
den Wurzeln die Fähigkeit abgesprochen werden,
mit Hilfe einer besonderen Empfindlichkeit die
Orte günstiger Wärme im Erdboden aufzusuchen.
Miehe.
Zoologie. Ein fremder Ansiedler der Warm-
häuser (Branchiura Sowerbyi Beddard). Seit dem
Jahre 1892, in dem Beddard als Erster den am
Hinterende dorsiventral stehenden, zirrenförmigen,
Kiemen tragenden oligochäten Wurm Branchiura
Sowerbyi im Schlamm des Victoria regia-Beckens
des Royal Botanical Socicty's Garden, Regents
Park in London fand, ist dieser Wurm des öfteren
in unseren Warmhäusern beobachtet worden. So
in Dublin, Hamburg, P>ankfurt a. M. und Göttingen.
Stephenson gibt als außer europäische Fund-
orte an: ein kanalartiges Behältnis in den Agri-
horticultural Gardens in Madras, einen Teich des
Museumsgartens in Kalkutta und eine „nullah"
(d. i. ein Wasser, das zeitweilig trocken liegen
c 22
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. Xm. Nr. 33
kann) in Lahore. Nach einer mir durch Herrn
Dr. Annandale (Superintendent Indian Museum,
Kalkutta) zugeg-angenen Mitteilung, daß Brancliiura
Sowerbyi in Indien in Teichen gemein ist, glaube
ich annehmen zu dürfen, daß Indien wohl die
Heimat dieses Oligochäten ist und er mit Pflanzen
bei uns eingeschleppt wurde. Einmal in einem
oder einigen unserer Warmhäuser angesiedelt,
war seine Weiterverbreitung möglicii durch den
Pflanzenaustauschverkehr, in dem unsere Gärten
untereinander stehen.
Daß Branchiura die Strapazen einer solchen
Verschickung, wie evtl. Trockenheit und große
Temperaturunterschiede gut verträgt, das zeigten
mir meine Beobachtungen in Göttingen nur zu
deutlich.
Im November 1909 beim Entleeren des Victoria
regia Hauses wurden Branchiuren zum ersten Male
dort beobachtet. Ich holte mir eine Anzahl der-
selben ins Laboratorium und hielt sie dort den
ganzen Winter hindurch sehr gut bei einer Tem-
peratur, die immerhin bedeutend unter der tropi-
schen Temperatur des Warmhauses lag. Im Früh-
jahr 1910 trat unser Wurm wieder in sehr großen
Mengen im Warmwasserbecken auf. Wie ist er
dorthin gekommen, da doch den Winter über die
Becken vollständig geleert waren und man die
Erde im I-'reien hatte durchfrieren lassen.? Die
Erklärung fand sich bald. Einen Teil der Pflanzen
hatte man in einem anderen Warmhause in Töpfen
überwintert und in den von mir davon untersuchten
fanden sich einheimische Tubifexformen und auch
Branchiuren. Die Überwinterung war so erklärt,
und wenn dann die Tiere in die günstigeren Ver-
hältnisse der Warmasserbecken kamen, konnten
sie sich besser entwickeln und rascher vermehren.
Nun aber zeigte sich im März 1911 nur 2 Wochen
nach dem Beschicken eines Beckens mit der im
Freien überwinterten Erde Branchiura in großer
Zahl und in fast völlig geschlechtsreifen Exemplaren.
Der leitende Obergärtner versicherte mir, es sei
noch keine überwinterte Pflanze im Becken ge-
wesen. Diese Tatsache bewog mich nun, den
kleinen Rest der noch im P'reien lagernden P>de
zu durchsuchen. Ich fand auch bald in einem
Erdballen ein lebendes Teilstück von Branchiura.
Damit war gezeigt, daß Branchiura in fast trockener
Erde, ohne sich in einen Kokon einzuschließen,
bei uns im Freien überwintert hatte. Diese an
und für sich für eine tropische Form zuerst er-
staunende Anpassungsfähigkeit wurde durch weitere
Beobachtungen auch solcher anderen Autoren ge-
stützt. So korrespondiert das Vorkommen von
Branchiura in der zeitweilig trocken liegenden
Nullah von Lahore mit meinem Fund des Bran-
chiurateilstückes in der trockenen Erde. Die Eury-
thermie wird dann auch noch durch die Tatsache be-
wiesen, daß der Wurm in Göttingen in den im
Winter zwar überdeckten aber nur auf einer Tem-
peratur von 1 5 " C erhaltenen Becken im Freien
auch vorkommt, ohne seine Lebensweise irgendwie
merkbar zu ändern. Damit kommt ein neuer
Gesichtspunkt zu der Beurteilung unseres Wurmes
hinzu, nämlich der, daß er als tropischer Oligochäte
doch auch in unserem Klima im Freien leben
kann. Für Frankfurt liegen mir noch, allerdings
nicht selbst geprüfte Angaben vor, daß im heißen
Sommer 191 1 Branchiura im P'reien in einem
Teiche mit tropischen Wasserpflanzen vorgekom-
men sein soll.
Diese Beobachtungen finden nun eine Parallele
in den Angaben Perrier's. Dieser fand Bran-
cliiura Sowerbyi in den Jahren 1906 und 1907 in
einem Altwasser der Rhone nahe der Einmündung
des Doux in der Nähe von Tournon. Dieses Alt-
wasser stand mit dem Strom durch einen unter-
irdischen Zufluß in Verbindung, war nicht tief
und sein Boden war mit dichtem Schlamme be-
deckt. Hier fand Perrier die Tiere entweder
tief im Schlamme versteckt oder frei mit ihren
Hinterenden im Wasser flottierend. Im nächsten
Jahre war dieser Fundort leider ausgetrocknet
und seitdem auch ausgestorben. Perrier fand
aber ganz in der Nähe am Ufer des Doux einen
neuen P^undort, der von besonderer biologischer
Bedeutung ist. Das Wasser hatte hier einen
ziemlich raschen Lauf und daher war der Grund
auch zum größten Teil rein sandig und nicht mit
.Schlamm bedeckt, der sich nur an einzelnen Ufer-
stellen ansetzen konnte aber dann immer sehr
mit granitischem Sandmaterial vermischt war.
Gegenüber dem ersten Beobachtungsorte war die
Zahl der gefundenen Individuen geringer. Rhone-
abwärts fanden sich noch zwei weitere Verbrei-
tungsstelleii, die der erst beschriebenen völlig
gleich kamen. Auch hier wirft sich nun die
Frage auf, ob Branchiura in der Rhone autoch-
thon oder eingeschleppt ist. Perrier gibt hier-
über keine abschließende Antwort, immerhin er-
scheint es ihm möglich und ist auch wohl wahr-
scheinlich, daß der Wurm durch mit der Rhone
in Verbindung stehende Abzugskanäle von Warm-
häusern zahlreicher an ihren Ufern liegender
Gärten in die Rhone gelangte. Dem wäre natür-
lich weiter nachzuforschen; auch wäre zu prüfen,
ob die jährliche Wiederkehr auf erneuter Ein-
schleppung oder auf Überwinterung beruht. Das
letztere ist nach den in Göttingen gemachten
Befunden ja keineswegs von der Hand zu weisen.
Seit ihrem zum ersten Male beobachteten Auf-
treten hat sich Branchiura in Göttingen ständig
vermehrt und ich schätze ihre Anzahl auf viele
Tausende. Durch dieses massenweise Auftreten
und durch ihre Lebensweise ist sie zu einem
Schädling geworden. Branchiura baut nämlich
ganz ähnlich wie der ihr verwandte heimische
Tubifex tiefgehende Wohnröhren in den Grund
der Wasserbecken. Dieser besteht nun z. B. in
Göttingen aus guter Gartenerde, in der die Pflanzen
wurzeln und einer darüber liegenden Kiesschicht.
Diese wird durch die zahlreichen Wohnröhren
unterminiert, was oft zu unliebsamen Senkungen
Veranlassung gibt. Weiter schaff": sie die Erde,
die vorher die Röhren ausfüllte und die beim
N. F. Xm. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
523
Bau den Darm des Wurmes passiert hat , als
speckigen Mutt in kurzer Zeit über den Kies.
Dadurch werden oft junge Pflänzchen verschüttet,
am Fortkommen gehindert oder gar getötet.
Natürlich ist es das Bestreben des Gärtners,
diesen schlechten Gast aus seinem Behälter zu
entfernen. Obwohl der Wurm gegen chemische
Reagenzien und Gifte, wie z. B. Coccain, Chloro-
form, Nikotin sehr empfindlich ist, so vermag er
sich doch durch Zurückziehen in seine Röhren
dagegen zu schützen, auch ist ja stets zu beachten,
inwieweit diese Gifte nicht auch den Pflanzen
schaden. Zahlreiche in die Becken eingesetzte
Fische scheinen sich auch nicht als ihre Veniichler
zu erweisen; denn sie vermögen ja auch nicht
den Würmern in ihren Röhren zu folgen. Das ein-
zige mir bis jetzt als wirksam bekannt gewordene
Mittel, unter den Branchiuren aufzuräumen, ist das
Einsetzen von Planarien. Diese haben sich näm-
lich in meinen Kulturen als die gefährlichsten
Vernichter der Würmer erwiesen.
Hiermit ist vielleicht der Weg angegeben, wie
man Branchiura Sowerbyi Bedd. wieder aus dem
Warmhause entfernen kann. Selbstverständlich
muß dann erst, ehe man Planarien in großer Zahl
in die Becken einsetzt, geprüft werden, ob diese
wiederum selbst nicht in irgendeiner Weise
schädlich auf den Pflanzenwuchs einwirken. \)
Keyl.
Nahrungswahl bei Infusorien. M. S. Metal-
nikov stellt in seiner vor einiger Zeit er-
schienenen Arbeit: Contribution k l'etudc
de la digestion intracellulaire (Arch.
Zool. exper. T. 9) die Ansicht auf, daß die Infu-
sorien imstande sind, zur Nahrung ungeeignete
Stoffe von nahrhaften zu unterscheiden. Er erwies
ihre Richtigkeit durch eine Anzahl von Versuchen,
die im Archiv für Protistenkunde, Bd. 34,
H. I, 1914 beschrieben sind.-) Es wurde mit der
Gattung Paramaecium experimentiert und zwar
gab man in die verschiedenen diese Infusorien ent-
haltenden Kulturen Giftstoffe, im Wasser un-
lösliche Blei- und Arseniksalze. Es bildeten sich
wie gewöhnlich bei der Aufnahme fester Stoffe
Nahrungsvakuolen, nach deren Anzahl Metal-
') Beddard, F. K. , A new brancliiate Oligochactc.
Journ. of microscopical Science. Vol. 33, 1892.
Keyl, F., Beiträge zur Kenntnis von Branchiura Sower-
byi Beddard. Zeitschrift f. wiss. Zoologie Bd. 107, 2, 1913.
— , Zur Verbreitung von Branchiura Sowerbyi Beddard.
Zool. Anzeiger Bd. 43, 1914.
Michaelscn, W., Zur Kenntnis der TubiBciden. Arch.
f. Naturg. 74. Jahrg. Bd. I.
Perrier, L. , Une Station rhodanienne de Branchiura
Sowerbyi Bedd. .^nn. Univ. Grenuble. Vol. 21, 1909.
Stephenson, J. , Ün Branchiura sowerbyi Beddard,
and on a new species of Limnodrilus with distinctiv charac-
ters. Trans. Roy. Soc. Edinb. Vol. 48, 1912.
-—, On a new species of Branchiodrilus and certain other
aquatic Oligochaeta, with remarks on cephalization in thc
Naididae. Kecords of the Indian Museum Vol. 7, Part. 3,
Nr. 21, igi2.
") Les infusoires peuvent-its apprendre a choisir leur
nourriture ?
n i k o V die Menge der aufgenommenen Substanzen
festzustellen versuchte: einige Minuten nach Plin-
zufügung der betr. Substanz wurden die Tiere
durch Osmiumdämpfe getötet, bei 20 Individuen
die Vakuolen gezählt und das ganze durch 20 ge-
teilt, so daß ein Durchschnittswert erhalten wurde.
Ebenso wie bei diesen Kulturen mit den Arsenik-
resp. Bleisalzen, deren Bewohner kurze Zeit nach
Aufnahme der Stoffe eingingen, xerfulir der Ver-
fasser bei den Kulturen, denen er Substanzen von
geringerer Giftigkeit oder solche, die vollkommen
unschädlich, aber ohne Nährwert für die Tiere
waren, beigegeben hatte. Wie die trifte, so wurden
auch diese Stoffe zuerst sämtlich wahllos aufge-
nommen. Nach einiger Zeit zeigte sich jedoch
eine Auswahl nach Wert der betr. Substanzen. So
wurden z. B. Individuen 20 .Stunden nach Ver-
bringen in einer Kultur mit beigefügtem A 1 u m i-
n i u m aus dieser herausgenommen und in eine
andere versetzt, wo sie nichts mehr davon berühr-
ten. Schneller als bei dem Aluminium, das keinen
Nährwert hat, geht die Reaktion bei Sepia und
Carmin, die als organische Substanzen ihrer ge-
wöhnlichen Nahrung ähnlich sind, vor sich. Die
dargereichten Bakterien und Albumin wurden
immer aufgenommen. Ebenso ein Gemisch von
Nahrungsstoffen und neutralen Stoffen. Bei der
Darbietung dieser Mischungen zeigte sich die sehr
interessante Erscheinung, daß ihre Aufnahme ganz
von der Zusammensetzung des Gemisches abhängt.
Befanden sich giftige Substanzen darunter oder
auch solche ohne Nährwert, so nahm die Zahl der
Vakuolen bald ab und verschwand schließlich ganz.
Bei Menschen und höheren Tieren würde man
in diesem Falle von einer Lernfähigkeit
sprechen, welche die nach einiger Zeit getroffene
Auswahl der Nahrung im Gefolge hat, somit an-
nehmen, dal3 sich die Tiere in ihren Handlungen
von einer vorhergehenden P^fahrung leiten lassen.
Das setzt aber die P'ähigkeit der Erinnerung, des
Vergleichs, der Folgerung voraus, wenigstens wenn
wir den Ausdruck „lernen" im psychologischen Sinne
nehmen. Kann man somit von einem Gedächt-
nis bei den Infusorien sprechen nach dem Schluß,
daß, weil wir hier bei niederen Organismen ähn-
liche Handlungen wahrnehmen wie bei uns, auch
ihre psychische F'ähigkeiten nur graduell von den
unseren verschieden sind (Jennings) oder muß
man mit Bohn, der die Lebenstätigkeit der
niederen Tiere durch Anwendung der Begriffe
Tropismen und Unterschiedsemiifindlichkeit analy-
siert, diese Wahlfähigeit einfach als einen Fall
von physiologischer Anpassung auffassen?
V. Aichberger.
Vererbungslehre. Vererbung bei Kreuzung
von Knochenfischen. Während die Echinodermen,
speziell die Seeigel, von jeher zu Bastardie-
rungsexperimenten und Vererbungsstudien viel
benutzt worden sind, hat man die Knochenfische
bisher verhältnismäßig wenig zu Versuchen dieser
Art verwandt. Und doch sind gerade bei ihnen
524
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 33
Kombinationen in fast unbescliränkter Zahl mög-
lich, und in mancher Hinsicht stellen sie ein viel
geeigneteres IVIaterial als die Echinodermen dar.
In der letzten Zeit scheint man nun allgemein
zu dieser Erkenntnis gekommen zu sein, denn es
liegt uns in diesem Jahre bereits eine ganze Reihe
von Untersuchungen vor, die an Teleostierbastarden
ausgeführt wurden. Während die einen das Ver-
halten des fremden Spermiums im Ei und der
väterlichen Chromosomen während der Furchung
untersuchten, wandten die anderen ihre Aufmerk-
samkeit den verschiedenen Eigenschaften zu, die
die Bastardtiere bzw. -larven zeigten. Hier soll
von den Untersuchungen NewmansM die Rede
sein, dem wir bereits mehrere ähnliche Arbeiten
verdanken.
Newman benutzte zu seinen Experimenten
drei Vertreter der Gattung h'undulus: F. hetero-
clitus, V. majalis und F. diaphanus, außerdem
Cyprinodon variegatus. Die zwischen diesen vier
Spezies theoretisch möglichen Kreuzungen lassen
sich alle ausführen, aber die Embryonen der ver-
schiedenen Kreuzungen zeigen eine sehr verschie-
dene Entwicklungs- und Lebensfähigkeit. Am
erfolgreichsten ist die Kreuzung F. diaphanus >;
F. heteroclitus, was um so merkwürdiger erscheinen
muß, als die erstere Spezies im Süßwasser heimisch
ist, während F. heteroclitus im Meere lebt. Es
ist behauptet worden, daß die Kreuzungen um so
leichter gelingen, je mehr die Lebensgewohnheiten
und Aufenthaltsorte der verwandten Spezies über-
einstimmen. Daß diese Ansicht zum mindesten
keine allgemeine Gültigkeit haben kann, beweist
Newman mit seinen Experimenten. Bei Kreuzung
ausschließlich mariner Fundulusarten entstanden
weniger lebenskräftige Larven als bei der oben
genannten Kreuzung, und zwar war es bei dieser
Kreuzung gleichgültig, welcher Spezies der Vater
angehörte. Die Entwicklung dieser Bastard-
embryonen geht schneller vor sich als die der
reinen Embryonen der elterlichen Spezies, die
Bastardlarven schlüpfen früher aus, sie sind sehr
kräftig und wachsen schneller als die reinen Larven.
Die Beschleunigung des Entwicklungsprozesses
bei den Bastardlarven möclite Newman auf die
Wirkung eines fremden Enzyms, das durch das
Spermatozoon eingeführt wird, zurückführen. Die
Angabe, daß die Entwi('klung durch fremdes Sperma
immer verlangsamt wird, ist nicht richtig. Ver-
schiedene (Objekte können sich hier ganz verschieden
verhalten. Befruchtet man z. B. drei Portionen von
F. diaphanus-Eiern, die eine mit Sperma der eigenen
Art, die zweite mit Sperma von ¥. majalis und
die dritte mit F. heteroclitus-Sperma, so wird in
dem einen Falle von Bastardierung (F. majalis-
Sperma) die Entwicklung verlangsamt, während
sie in dem anderen Falle (F. heteroclitus-Siierma)
beschleunigt wird. Es scheint, daß im allgemeinen
bei Kreuzung sehr nahe verwandter Formen die
') Newman, H. H., Modes of inheiitance in Teleost
hybrids. Journ. of. Exper. Zoöl., WA. Ib, 1914,
Entwicklung beschleunigt wird, bei entfernt ver-
wandten verlangsamt, ohne daß notwendigerweise
hier ein bestimmtes Verhältnis zu bestehen
braucht. Die Entwicklungsgeschwindigkeit wird
also nicht durch Vererbung bestimmt, sondern
beruht auf physiologisch-chemischen Wirkungen.
Die Erbmasse, die das Spermatozoon mitbringt,
tritt während der Furchuiig überhaupt noch nicht
in Funktion, erst wenn sich der Embrj-o zu differen-
zieren beginnt, fängt auch die väterliche Erbmasse
an, ihren Einfluß auf die Entwicklung geltend zu
machen. Damit hängt es zweifellos auch zu-
sammen, daß mit Beginn oder während der Ga-
strulation viele Bastardembryonen, die sich in ganz
noimaler Weise gefurcht haben, absterben.
Von großer Bedeutung ist es nach Newman
für das Resultat der Kreuzung, ob die benutzten
Geschlechtsprodukte ganz frisch gewesen sind.
Bei der Kreuzung F. heteroclitus X F. majalis
wird die Entwicklung nur verzögert, wenn frisches
Sperma verwandt wird. Bewahrt man das Sperma
aber einige Zeit auf, so erfolgt eine ganz normale
Entwicklung, und die Larven zeigen kaum Sjjuren
eines väterlichen Einflusses, während die mit
frischem Sperma befruchteten Eier typische Hybri-
den liefern. Es liegt nahe, hier die Versuche über
Entwicklungserregung mit künstlichen IVIitteln oder
über Besamung von Seeigeleiern z. B. mit Mollusken-
oder Wurmsperma zum Vergleich heranzuziehen.
Das Sperma s]iielt hier nur die Rolle wie dort das
künstliche Mittel, es ist nur Entwicklungserreger,
das Ei entwickelt sich trotz Besamung — von
„Befruchtung" dürfen wir hier nicht sprechen —
parthenogenetisch, und infolgedessen zeigt die
„Bastardlarve" nur mütterliche Eigenschaften, sie
ist in Wirklichkeit gar kein Bastard. Ob in diesen
mit abgestandenem Sperma ,, befruchteten" P'un-
duluseiern das Spermatozoon eine ähnliche Rolle
spielt, kann nur durch eine cytologische Unter-
suchung entschieden werden.
Bei den Kreuzungen F. majalis $ >( V. diapha-
nus (J und F. majalis $ > F. heteroclitus (J ent-
wickeln sich die Eier zwar, aber es entstehen nie
ausschlüpfende Larven. Zurückzuführen ist dies
offenbar auf die Unfähigkeit der Larven, den Dotter
zu verarbeiten. In den letzten Stadien der Ent-
wicklung ist regelmäßig noch ein großer Sack
voll unverdauten Dotters vorhanden. Bei Kreuzung
von Cyprinodon mit einer Fundulusspezies ent-
steht nie eine Larve oder auch nur ein weiter
fortgeschrittener Embryo mit spezifischen Charak-
teren. Verschiedene Kreuzungen sowie reziproke
Kreuzungen führen aber auch hier zu sehr ver-
schiedenen Resultaten. Überhaupt darf man aus
diesen Angaben nicht den Schluß ziehen, daß die
Entwicklung des Bastards bzw. seine Entwicklungs-
fähigkeit in einem bestimmten Verhältnis steht
zu dem Verwandtschaftsgrade der elterlichen Tiere.
Schon die häufig konstatierte Tatsache, daß selbst
nahe verwandte Formen sich in ihren reziproken
Kreuzungen sehr verschieden verhalten, beweist die
Irrigkeit dieser Annahme. Nicht selten lassen sich
N. F. XIII. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
525
Knochenfische, die verschiedenen Ürdnungen an-
gehören, leichter kreuzen als solche aus verschie-
denen Familien derselben Ordnung oder sogar aus
verschiedenen Gattungen derselben Familie.
Von erblichen Merkmalen untersuchte New-
man eingehend Farbe und X'erteilung des Pig-
ments bei den Bastardlarven, und zwar bei den
Larven der vier Kreuzungen F. diaphanus >; F.
heteroclitus und F. diaphanus X F. majalis. Jede
dieser drei Arten weist eine ganz charakteristische
Verteilung des Pigments auf, so hat, um nur ein
Beispiel herauszugreifen, ¥. heteroclitus am Kopf
rote Chromatophoren, V. majalis gar keine und
F. diaphanus rotbraune. Das wichtige Resultat,
zu dem Newman kommt, ist: Bei der Vererbung
des Pigmentcharakters kann man alle gut bekann-
ten Vererbungsmodi konstatieren, d. h. der Bastard
zeigt nicht etwa allgemein die Pigmentierung des
Vaters oder aber die der Mutter oder eine Mischung,
sondern in dem einen Merkmal der Pigmentierung
kann der Bastard rein dem Vater ähnlich sein,
in einem anderen rein der Mutter, wieder eine
andere Gruppe von Pigmentzellen kann hinsichtlich
der Farbe z. B. eine Mittelstellung einnehmen
zwischen den entsprechenden Pigmentzellen des
Vaters und der Mutter, sodann kommt Mosaik-
vererbung vor usw. Die genaue Analyse des
Pigments der Bastardlarven deckt also äußerst
komplizierte Verhältnisse auf. Es wäre für unsere
theoretischen Vorstellungen über die Vererbung
natürlich von größtem Interesse, ließe sich das
Verhalten der Pigmentzellen auch in der zweiten
Bastardgeneration studieren. Hier scheinen indessen
andere Kreuzungen als die Newman 's mehr
Aussicht auf Frfolg zu versprechen.
Nachtsheim.
Physik. Die optischen Konstanten dünner
Kupferschichten werden in einer Arbeit von
W. Planck (Göttingen) bestimmt, die in der
physikalischen Zeitschrift XV (1914J Seite 564
bis 569 veröffentlicht ist. Die Metallschichten,
deren Dicke zwischen 46 und 1,3 ;((/< liegt, wurden
durch Kathodenvcrstäubung auf Glas hergestellt
und ihre Dicke aus dem Polarisationszustande des
durchgegangenen Lichtes dreier verschiedener
Farben berechnet. Aus den Azimuten und Phasen-
verzögerungen des reflektierten und durchgelassenen
Lichtes, die mit Hilfe eines Polarisationsspektro-
meters in Verbindung mit einem Monochromator
(das Licht lieferte eine Bogenlampe) bestimmt
wurden, lassen sich nach von Försterling auf-
gestellten Formeln Brechungs- und Absorptions-
index bestimmen. Der ersterc nimmt mit ab-
nehmender Dicke der Kupferschicht beträchtlich
zu, während der letztere beträchtlich abnimmt, so
daß mithin die Schichtdicke von wesentlichem
Einfluß auf die optischen Parameter ist.
K. Schutt, Hamburg.
J. R. Partington (Manchester) berichtet
in der Physikalischen Zeitschrift XV (1914)
Seite 601 — 605 über die Bestimmung des Ver-
hältnisses der spezifischen Wärmen des Chlors
nach der von K u n d t angegebenen und von
Behn und Geiger modifizierten, hübschen Me-
thode. Ein 125 cm langes und 4 cm dickes Glas-
rohr wird nach sorgfälliger Reinigung und Trock-
nung mit reinem Chlor von Atmosphärendruck
gefüllt, dann wird etwas Kieselsäurepulver hinzu-
gegeben und das Rohr auf beiden Seiten zuge-
schmolzen. Klemmt man es jetzt in der Mitte
ein und reibt das eine Ende mit einem angefeuch-
teten Tuch, so werden im allgemeinen im Rohre
keine Kundt'schen Staubfiguren auftreten, da
die Rohrlänge kein ganzes Vielfaches der Halb-
wellenlänge des betreffenden Tones darstellt. Ver-
größert man aber hinreichend die Masse des
Rohres dadurch, daß man mittels Siegellack Blei-
scheiben auf seine Enden kittet, so spricht die
Chlorsäule im Rohr an und man kann durch
Messung an den Staubfiguren die Wellenlänge
des Rohrtones in Chlor feststellen. Um die
Wellenlänge dieses Tones in Luft zu finden, be-
nutzt man ein 150 cm langes und 4,25 cm weites
Glasrohr, das einen Korkstempel enthält, so daß
die Länge der Luftsäule verändert werden kann.
Auch in dieses Rohr bringt man in einem langen
schmalen Streifen Kieselsäurepulver und hält vor
das offene Ende das Chlorrohr. Bringt man dieses
zum Tönen, so treten auch in dem Luftrohr bei
geeigneter Einstellung des Kolbens Staubfiguren
auf, deren Ausmessung die Wellenlänge in Luft
gibt. Aus den beiden Wellenlängen läßt sich das
Verhältnis der spezifischen Wärmen berechnen ;
es ergibt sich für Chlor von 16" und i Atmosphäre
1,329 + 0,001, Cv = 6,39 cal u. C,, = 8,49 cal.
K. Schutt, Hamburg.
Chemie. Kolloidale Lösungen von Mono-
natriumurat. Auf der 21. Hauptversammlung der
Deutschen Bunsengesellschaft in Leipzig (21. — 24.
Mai) berichtete Professor Bechhold über Ver-
suche, welche die Frage entscheiden sollten, ob
es kolloidale Lösungen von Mo nonatriumu rat
gibt. Dieser Frage, die nach den Untersuchungen
von Bechhold bejahend zu beantworten ist,
kommt eine große biologische Bedeutung zu, weil
das Natriumsalz der Harnsäure im Organismus
des gesunden und kranken Menschen eine wich-
tige Rolle spielt. Bei der normalen Bildung von
Natriumurat im gesunden Körper wird das gelöste
harnsaure Natrium teils durch die urikolytischen
Fermente zerstört, teils durch die Niere ausge-
schieden. Der Teil des Mononatriumurats, der in
kolloidem Zustande, also nicht in echter Lösung
vorliegt, vermag infolge der relativen Größe seiner
Teilchen die Niere nicht zu passieren und kann
daher nur durch die Tätigkeit der urikolytischen
Fermente aus dem Körper entfernt werden. Ver-
sagen diese — wie es beim Gichtiker der Fall ist
— , so scheidet sich die I larnsäure in fester L'orm
in den Gichtknoten aus. Der Nachweis, daß
kolloidale Lösungen von Mononatriumurat existie-
526
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 33
ren, gelang Bechhold dadurch, daß er Lösungen
dieses Salzes von bestimmter Konzentration unter
StickstofTdruck ein sogenanntes Ultrafiltcr passieren
ließ und durch Titration mit Kaliumpermanganat
den Uratgehalt in der Lösung und im F"ilterrück-
stand ermittelte. Es ergab sich, daß die ursprüng-
liche Lösung ca. 15";,, des Mononatriumurats in
kolloider Lösung enthielt, und daß durch die Ultra-
filtration eine Anreicherung der kolloiden Form
auf 25 ",;, erzielt worden war. Bugge.
Kleinere Mitteilungen.
Eine Austerbank aus der Litorinazeit. In
Nr. 15 dieser Zeitschrift wurde bereits von einem
wichtigen h'und aus der Ancyluszeit im Flens-
burger Hafen berichtet und zugleich einer Auster-
bank erwähnt, die über der Kulturschicht sich
befindet. Inzwischen habe ich Zeit und Gelegen-
heit gehabt, alle Schichten eingehend zu unter-
suchen und dabei mancherlei interessante Funde
gemacht, auch in der Austerschicht.
Die alte Austerbank zeigte manche Ähnlich-
keit mit den lebenden Bänken der Nordsee. Die
Schalen bedeckten förmlich den Boden, bildeten
aber nie Klumpen, obwohl mehrere Schalen An-
wachsstellen von anderen Muscheln zeigten. Die
Schalen selbst waren etwas kleiner und dünner
als von den Austerbänken bei Sylt, vermutlich
weil sie in einer verhältnismäßig ruhigen Meeres-
bucht mit geringem Salzgehalt wuchsen. r-"ast
alle Schalen zeigen die bekannten Bohrlöcher des
Wurmes Dodecaceraea concharum , genau so wie
auf den Nordseebänken. Aber merkwürdieer-
weise ist bisher noch keine Auster, überhau|it keine
Muschel mit Ansätzen der sonst so häufigen
Baianusarten gefunden. In einer Schale fanden
sich mehrere größere Perlenansätzc, die größten
Perlen noch recht gut erhalten. Vielleicht ist
dies der erste Fund von Perlen aus der Urzeit,
sicher aus der Litorinazeit.
Der sonstige Muschelreichtum der Austerbank
war ganz enorm , freilich von etwas anderer Zu-
sammensetzung als gewöhnlich, da alle Hochsee-
arten fehlten. Die Miesmuscheln, Mytilus eduU
waren außerordentlich häufig, davon kamen eigen-
artig gekrümmte Schalen vor; aber Perlen suchte
ich bisher vergebens, obwohl man solche in der
Nordsee fast in jeder anderen Miesmuschel finden
kann. Noch zahlreicher kamen die Herzmuscheln,
Cardium edule vor, bei denen man noch klarer
eine ganze Reihe von Varietäten unterscheiden
konnte als bei den jetzt lebenden Arten. Auch
die kleinen Arten Cardium fasciatum und exignum
waren nicht selten. Die größere Herzmuschel
erreichte eine Größe, wie man sie lebend in der
Ostsee jetzt vergebens sucht, und es ist mir wäh-
rend meines siebzehnjährigen Aufenthalts an der
Nordsee auch nicht möglich gewesen, dort jemals
eine lebende Muschel von dieser Größe zu be-
kommen. Besonders die schiefe Varietät, als
Cardium rusticum bekannt, zeichnete sich durch
besondere Größe aus. Die verschiedenen Arten
der Uferschnecken, Litorina, waren natürlich häufig
vertreten, alle großen Gehäuse aber an der Spitze
von dem kleinen Bohrwurm zerstört. Dieser
Wurm scheint im Litorinameer eine bedeutende
Rolle gespielt zu haben, da er in der jetzigen
Nordsee nicht so häufig zu sein scheint, wie da-
mals hier. Ziemlich häufig waren Nassa reticulata
und pygmaea; wahrscheinlich stammen alle an
der Ostsee gefundenen Gehäuse aus jener Zeit,
wenigstens war es mir bisher nicht möglich,
lebende Tiere zu bekommen.
Ein gewisses Kopfschütteln wird in den Kreisen
der Gelelirten vielleicht das Vorkommen von
Scrobicularia und Mya verursachen. Die Scrobi-
cularia war sehr häufig und hat mit den Austern
in derselben Schicht gelebt, habe ich doch Auster-
schalen bekommen, die zwischen den Klappen
die andere Art bargen, die dort eingeschwemmt
lag. Aber die Mya. Wer weiß genauer über die
Zeit der Einwanderung? Sie muß früher hier
eingedrungen sein, als man bisher angenommen
hat. Mehrere verkrüppelte Schalen zeigen, daß
sie in der harten Kulturschicht bohrte, also ihre
Bohrlöcher durch die untersten noch schwachen
Litorinaschichten führte. Sonst erreichten ihre
Schalen eine bedeutende Größe wie jetzt in der
Nordsee, während sie in der Ostsee lebend nur
bis etwa 5 cm lang wird. Zahlreiche kleinere
Gehäuse von Hydrobia baltica und stagnalis, so-
wie Rissoa labiata und turris lagen im Sande
verschwemmt.
Merkwürdigerweise scheinen Tapes undModiola
gefehlt zu haben da keine einzige Schale davon
gefunden wurde; wahrscheinlich aber liegt der
Grund darin, daß die Bank zu geschützt lag,
kommen doch beide Arten in den Resten eines
Abfallhaufens derselben Zeit vor, der freilich etwas
weiter nach der offenen See liegt.
Die Litorinaschichten waren 2 m stark. Nach
oben zu nahmen allmählich die Austerschalen ab;
die Schalen von Cardium und M\-a wurden kleiner,
bis sie in den oberen Schichten die Größe zeigten,
wie die jetzt lebenden. Eine genaue Grenze
zwischen Litorina- und Myaablagerung ist nicht
möglich. Eine Grabung würde die allmähliche
Veränderung freilich deutlicher zeigen, als dies
beim Ausbaggern geschehen kann, leider aber ist
diese Untersuchung hier unmöglich ; doch ist die
Arbeit so sorgfältig ausgeführt worden, daß an
dem Ergebnis nichts geändert werden könnte.
Philippsen, Flensburg.
Die Juni-Nummer der A. E. G.- Zeitung be-
richtet über den A. E. G.-Zweidecker, der in der
1910 begründeten Flugtechnischen Abteilung der
N. F. XIII. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
527
Allgemeinen Elektrizitäts - Gesellschaft gebaut ist.
Der Rumpf der Maschine ist aus nahtlos gezogenen
Stahlrohren hergestellt, die mittels autogener
Schweißung miteinander verbunden werden. Sein
Gewicht (70 kg) ist nicht höher als das eines
solchen aus Holz von gleicher Festigkeit. Der
besondere Vorzug des Stahls liegt in seiner VVetter-
beständigkeit ; VVerfen und Verziehen durch Luft-
feuchtigkeit ist ausgeschlossen. Das Flugzeug hat
eine Spannweite von 15,5 m und ein Gewicht
von 650 kg. Der Antrieb geschieht durch einen
4zylindiigen N. A. G.-Motor, der bei einer Leistung
von 95 PS nur 180 kg wiegt. Die im Luftstrom
liegenden Streben und Drähte sind auf ein Mindest-
maß beschränkt; die schädliche Stirnfläche beträgt
nur 2,2 qm. Die Geschwindigkeit beträgt 92 km
pro Stunde. Ein besonderer Vorzug des Zwei-
deckers ist die Möglichkeit ihn leicht zu trans-
portieren: Die Flügel können um ihren Holm ge-
dreiit und nach hinten fächerartig übereinander
geklappt werden, so daß das Eisenbahnprofil so-
wohl in der Höhe als auch seitlich eingehalten
wird. Für kürzere Transporte wird das im F'luge
vorn sitzende Sturzrad durch einige Handgriffe
herausgezogen und an die Stelle der Kufe am
Schwanz eingesteckt. Für lange Transporte ist
eine auf 2 Rädern ruhende Hinterachse vorhanden.
Auf diese Weise hat ein Doppeldecker durch ein
Automobil gezogen 700 km zurückgelegt, ohne
daß sich Mängel zeigten. Alle lösbaren Teile
lassen sich ohne Hilfe irgendeines Werkzeuges
herausnehmen und einsetzen. Diesem Zweck
dient ein besonderer Steckbolzen, der durch eine
herausklappbare Zunge in seiner Lage festgehalten
wird. Die fertige Maschine wird durch Belastung
der Flügel mit Sand auf ihre Bruchfestigkeit ge-
prüft. Das A. E. G.-Flugzeug besitzt eine sechs-
fache Sicherheit. K. Seh.
In der Zeitschrift für experimentelle Patho-
logie und Therapie (Bd. 14, Heft 3) bringt Dr.
Grumme interessante Angaben über die Mög-
lichkeit den Fettgehalt der Milch zu steigern.
Man weiß schon längere Zeit, daß es möglich
ist, die Menge der Milch durch die den betreffen-
den Milchtieren verabreichte Nahrung zu beein-
flussen. Bekanntlich wird in landwirtschaftlichen
Betrieben eine Zunahme der Miclimenge durch
Kraftfutter erreicht. Der Verf. legte bei seinen
Versuchen nicht nur auf die Menge, sondern auch
auf die Zusammensetzung der Milch, besonders
ihren Fettgehalt Wert. Er ging folgendermaßen
vor: die zu den Versuchen verwandten 3 — 4
Ziegen erhielten wochenlang ein stets gleich-
mäßiges, täglich abgewogenes Futter, daneben
zeitweise täglich 200 g Malztropon. Die alle
zwölf Stunden gemolkene Milch wurde sofort
zentrifugiert , der Rahm nach 3 bis 4 Tagen als
saurer Rahm verbuttert. Dabei zeigte sich , daß
durch das Malztropon eine durchschnittliche Ver-
mehrung der Milchmenge um i8"/(| und eine Er-
höhung des prozentualen F'ettgehaltes der Milch
um fast ein Drittel, eine Steigerung der Tages-
leistung an P'ett um mehr als die Hälfte gegen-
über der gewöhnlichen F'ütterung erzielt wurde.
v. Aichberger.
Bücherbesprechungen.
Bauer, Hugo, Geschichte der Chemie I
von den ältesten Zeiten bisLavoisier.
Zweite verbesserte Auflage. Band 264 der
„Sammlung Göschen", kl. 8". 96 Seiten. Berlin
und Leipzig 1914, G. J. Göschen'sche Verlags-
buchhandlung m. b. H. — In Leinw. geb. 90 Pf
Die vorliegende ,, Geschichte der Chemie von
den ältesten Zeiten bis Lavoisier" kann als Ein-
leitung in das Studium der Geschichte der Chemie
empfohlen werden, weil es bei klarer und sach-
gemäßer Darstellung auch die interessanten und
wichtigen Ergebnisse neuerer geschichtlicher P'or-
schungen gebührend berücksichtigt. Auf S. 50
muß es auf der 6. Zeile von unten „Zinnchlorid"
anstatt „Zinnchlorür" heißen.
Clausthal i. H. Werner Mecklenburg.
The Cambridge British Flora. By G. E. Moss,
assisted by specialists in certain genera. lUu-
strated from drawings by E. W. Hunnybun.
Vol. II Salicaceae to Chenopodiaceae. Mit
einem Band Tafeln. Cambridge 1914, Univer-
sity Press. — Einfach geb. 2 ^^^ 10 sh.
Im Verlage der Cambridger Universitäts-
druckerei beginnt ein großes Florenwerk zu er-
scheinen, auf das wir die Leser der Naturwissen-
schaftlichen Wochenschrift hinzuweisen niciit ver-
fehlen möchten. Das große P'oliowerk soll die
gesamte Flora der Britischen Inseln umfassen und
zwar sowohl die einheimischen, wie die einge-
bürgerten Arten und ist auf 10 Bände berechnet,
die in jährlichen Abständen erscheinen sollen.
Der Text ist von dem Kurator des Cambridger
LIniversitätsherbariums, Dr. C. E. Moss über-
nommen, der von einer größeren Zahl von Spe-
zialisten unterstützt wird ; die Illustrationen sind
ganzseitige klare Federzeichnungen , die E. VV.
Hunnybun in natürlicher Größe nachlebenden,
genau charakterisierten Exemplaren entworfen hat.
Augenblicklich liegt der zweite Band vor, der
einen Einblick in das weitausgreifende L^nterneh-
men gestattet. Er umfaßt die Archichlamydeen
bis zu den Chenopodiaceen einschließlich und ist
mit 206 Tafeln illustriert, die entweder in den
Text eingefügt oder in einem besonderen Bande
beigegeben sind. Als allgemeine Grundlage ist
das sich immer mehr einbürgernde Engl ersehe
System gewählt. Auf analytische oder künstliche
Bestimmungsschlüssel ist verzichtet worden. Die
Sprache ist nicht Lateinisch, sondern Englisch.
528
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 33
Bei vielen Arten ist die Verbreitung durch kleine
Kärtchen veranschaulicht. Der I. Band soll die
Koniferen, Farne und Schachtelhalme und viel-
leicht auch die Lebermoose und Moose enthalten,
während der Einschluß von Algen, Pilzen und
Flechten in Anhängen einer späteren Berück-
sichtigung vorbehalten ist.
Bei der Ähnlichkeit der deutschen und der briti-
schen Flora werden auch bei uns sich viele Lieb-
haber für dies moderne und wissenschaftlich-
kritische, so vorzüglich illustrierte Werk finden.
Miehe.
Entwurf einer verallgemeinerten Relativitäts-
theorie und einer Theorie der Gravitation.
I. Physikalischer Teil von Albert Einstein
in Zürich. II. Mathematischer Teil von Marcel
Großmann in Zürich. Tcubner, 1913.
Erstgenannter Verf. hat schon früher der Über
Zeugung, daß die schwere Masse sich auf die
träge Masse zurückführen läßt, Ausdruck gegeben
in der „Äquivalenz-Hypothese". Dabei sieht er
sich allerdings genötigt, die Grundlage der bis-
herigen Relativitätstheorie, nämlich den Satz von
der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit aufzugeben.
Es ergibt sich, daß die Lichtgeschwindigkeit ab-
hängig ist von dem Gravitationspotential. Die
weitere Verfolgung dieses (iedankens führt zu dem
überraschenden Schluß, daß die Lichtgeschwindig-
keit geradezu identisch ist mit dem Gravitations-
potential. War nun in der alten Relativitäts-
theorie der Abstand zweier Raumzeitpunkte (d. h.
die Geschwindigkeit eines Körpers) durch den
Bewegungszustand des Beobachters eindeutig ge-
geben, so hängt dieser in der neuen Theorie noch
vom Schwerefelde ab, „das Gravitationsfeld be-
einflußt die Uhren und Meßkörper in bestimmter
Weise". Der Einfluß des Gravitationsfeldes auf
physikalische Vorgänge, besonders elektromagne-
tische, wird alsdann eingehender untersucht. Alle
Resultate gehen für den speziellen Fall des schwere-
freien Feldes in die der alten Relativtheorie über.
Die z. T. recht komplizierten Rechnungen sind
im II. Teil von dem zweitgenannten Verf zu-
sammengestellt.
Parzival Runze, Berlin-Lichterfelde.
Laue, M., Das Relativitätsprinzip. Zweite
vermehrte Auflage. Friedr. Vieweg u. Sohn in
Braunschweig 191 3 (Die Wissenschaft, Bd. 38).
Das Buch hat sich längst als eine kurzgefaßte,
übersiclitliche Darstellung der Relativitätstheorie
eingebürgert. Das starke Anwachsen der Literatur
in den letzten Jahren rechtfertigt eine Neuauflage.
Dabei hat sich Verf erfreulicherweise bemüht, den
ursprünglichen Rahmen des Werkchens nach Mög-
lichkeit nicht zu durchbrechen. Trotzdem schien
eine vollständige Umarbeitung und Erweiterung
des Abschnittes „Dynamik" geboten. Der grund-
legenden Bedeutung der Arbeiten von Herglotz
über die Elastizitätslehre in der Relativtheorie ist
dabei vielleicht nicht vollauf Rechnung getragen.
Einen breiten Raum nehmen dagegen die äußerst
interessanten hydrodj'namischcn Folgerungen des
Relativitätsprinzips ein. Dieses Gebiet ist erst vor
kurzem durch die aus der Planck'schen Schule
hervorgegangene Dissertation von L a m 1 a er-
schlossen worden. Auch den Erörterungen über
den T r o u t o n - N o b 1 e ' sehen Versuch ist ein
längerer Abschnitt gewidmet. Sehr zu begrüßen
sind die neuen Beispiele, an denen der sonst der
Anschauung so schwer zugängliche Begriff des
Weltvektors erläutert ist.
Parzival Runze, Bcrlin-Lichterfelde.
Literatur.
Geyer, Franz Xaver, Apostolischer Vikar von Zentral-
afrika, Durch Sand, Sumpf und Wald. Missionsreisen in
Zentralafrika. Mit 395 Bildern und 9 Karten. Neue Ausgabe.
Freiburg '14, Herder'sche Verlagshandlung. Geb. 6 Mk.
Bateso n, W., Mendel's Vererbungstheorien. Aus dem
Englischen übersetzt von Alma Wincklcr. Mit einem Beglcit-
wort von R. v. Wettstein sowie 41 Abbild, im Text u. 6 Taf.
Leipzig-Berlin '14, B. G. Teubner. Geb. 13 Mk.
Fall ad in, W. I., Pflanzenanatomie. Nach der 5. russi-
schen Auflage übersetzt und bearbeitet von Dr. S. Tschulok.
Mit 174 Abbild, im Text. Leipzig-Berlin '14, B. G. Teubner.
Geb. 5 Mk.
Bolk, Prof. Dr. L., Die Morphogcnie der Primatenzähne.
Eine weitere Begründung und Ausarbeitung der Dimertheorie.
Mit 61 Abbild, im Text und 3 Tafeln. Jena '14, G. Fischer.
7 Mk.
C o h en - K y s p e r , Adolf, Die mechanistischen Grund-
gesetze des Lebens. Leipzig '14, J. A. Barth. 8 Mk.
Scheiner, Prof. Dr. J., Der Bau des Weltalls. 4. Aufl.
Mit 26 Fig. im Text. Aus Natur und Geisteswelt Band 24.
Leipzig-Berlin '14, B. G. Teubner. Geb. 1,20 Mk.
Johnstone, James, The Philosophy of Biology. Cam-
bridge '14, University Press.
Fortschritte der Mineralogie, Kristallographie und l'etro-
graphie. Herausgegeben von der Deutschen Mineralogischen
Gesellschaft unter der Redaktion von Prof. Dr. G. Linck.
4. Bd. Mit 23 Abbild. Jena "14, G. Fischer. 12 Mk.
Osburn, R. C, The care of Home-aquaria. New York.
Published by the New York Zoological Society March, 1914.
Rusch, Franz, Winke für die Beobachtung des Himmels
mit einfachen Instrumenten. Mit 6 Abbild. Leipzig-Berlin '14,
B. G. Teubner. 1,50 Mk.
Inhalt; Robitzsch: Einige bemerkenswerte Registrierungen und Beoliachtungen vom deutschen Spitzbergen-lJbservatorium
1912 — 13. Bürger: Ammoniaksynthesen. — Einzelberichte: Hooker; Sind die Wurzeln der Pflanzen fähig, Tem-
]ieraturunterschiede wahrzunehmen? Keyl: Ein fremder Ansiedler der Warmhäuser (Branchiura Sowerbyi Beddard).
Metalnikov: Nahrungswahl bei Infusorien. Newman: Vererbung bei Kreuzung von Knochenfischen. Planck:
Optische Konstanten dünner Kupferschichten. Partington; Bestimmung des Verhältnisses der spezifischen Wärmen
des Chlors. Bechhold: Kolloidale Lösungen von Mononatriumurat. — Kleinere Mitteilungen: Philippsen: Eine
Austerbank aus der Litorinazeit. Schutt: A. E. G. -Zweidecker. Grumme: Möglichkeit, den Fettgehalt der Milch zu
steigern. — Bücherbesprechungen: Bauer: Geschichte der Chemie I von den ältesten Zeiten bis Lavoisier. The
Cambridge British Flora, lüitwurf einer verallgemeinerten Relativitätstheorie und einer Theorie der Gravitation. Laue:
Das Relalivitlitsptinzip. — Literatur: Liste.
Manuskripte und Zuschrilten werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstrafie IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Baiul ;
der ganzen Reihe 29, band.
Sonntag, den 23. August 1914.
Nummer 34.
Neuere Ergebnisse und Streitfragen der Raiichschadenforschung.
(Hin Sammelrefcrat.)
Von F. W. Neger (Tharandt).
Verbrennungsgase, besten tun ,
[Nachdruck verboten,]
Die Wirkung der sauren
sowie anderer in industriellen Betrieben entstehen
der und in die Atmosphäre entweichender giftiger
Gase auf die Pflanzenwelt — eine wenig erfreu-
liche Nebenerscheinung der gewaltigen Entwick-
lung menschlichen Könnens auf technischem Ge-
biet — beschäftigt seit mehr als einem Menschen-
alter sowohl Forscher wie Praktiker. Gleichwohl
ist diese Frage weit entfernt nach jeder Richtung
hin gelöst und geklärt zu sein.
Daß jene Gase für die Pflanzen mehr oder
weniger schädlich sind, darüber kann kein Zweifel
mehr bestehen. Wohl aber gehen die Anschau-
ungen der beteiligten Kreise noch sehr auseinan-
der über eine Reihe von Einzelvorgängen, welche
eben diese Schädigung ausmachen.
Die Punkte, welche noch als strittig oder gar
als ungeklärt gelten können, lassen sich in folgen-
den Fragestellungen zusammenfassen:
1. Bei welchem Verdünnungsgrad hört ein
Abgas auf, giftig zu sein.?
2. Wirken die giftigen Gase als solche, oder
nachdem sie durch die Niederschläge — Regen,
Schnee, Nebel — in Wasser gelöst wurden ? In
engstem Zusammenhang hiermit steht die P'rage :
3. Wirken die Abgase nur oberirdisch indem
sie ausschließlich die in der Atmosphäre befind-
lichen Organe schädigen, oder liegt der Schwer-
punkt ihrer Giftigkeit darin, daß sie durch die
Niederschläge niedergerissen, in den Boden gespült
werden und nun das Wurzelsystem in seiner
Leitungsfähigkeit stören.'
die Frage 3 ganz oder
ersten Alternative ent-
noch die P'ragen zu be-
4. In dem P'all , daß
teilweise zugunsten der
schieden wurde, bleiben
antworten:
a) Dringt das gasförmige Gift durch die Spalt-
öffnungen der Blätter in das Innere ein oder zer-
stört dasselbe — etwa in Wasser gelöst — infolge
äußerlicher Ätzung das Hautgewebe, um so den
Weg in die tieferlicgenden Gewebeteile zu finden ?
b) Welchen Einfluß haben die giftigen Gase
auf die verschiedenen P'unktionen des Lebens:
Assimilation, Atmung, Transpiration ?
5. Gibt es ein untrügliches Merkmal auf (irund
dessen die Rauchwirkung auf Pflanzen erkannt
und von anderen, äußerlich ähnlichen Absterbe-
vorgängen — Wirkungen des Frostes, der Hitze
usw. — unterschieden werden kann?
Wir werden, wenn wir die so angedeuteten
Probleme auf Grund der vorliegenden Unter-
suchungsergebnisse kritisch beleuchten wollen, am
die obigen Fragen der Reihe nach
zu beantworten zu suchen, und werden so finden,
was einigermaßen sichergestellt, und was der
weiteren Klärung noch harrt.
I. Die Schädlichkeitsgrenze.
Naturgemäß richtet sich die Schädlichkeits-
grenze nach der Natur bzw. dem Giftigkeitsgrad
des in Betracht kommenden Gases. Wir wissen,
daß die Fluorwasserstoffsäure bei akuten Vergif-
tungen viel intensiver wirkt als beispielsweise die
schweflige Säure. Da aber gerade die letztere
Säure bei chronischen Rauchschäden die größte
Rolle spielt und überhaupt das in der Atmosphäre
am meisten verbreitete giftige Gas ist, so haben
sich ganz besonders zahlreiche und sorgfältige
Untersuchungen mit der L'rage beschäftigt, bei
welcher Verdünnung das Schwefeldioxyd aufhört
giftig zu wirken. Auf Grund der in der freien
Natur gemachten Beobachtungen wurde bis vor
kurzem die Schädlichkeitsgrenze von SO., bis
TiTiTFD-inT bis ^tiVti-^tt angenommen (d. h. i" Vol.
Teil SO2 auf 200000 — 500000 Teile Luft).
Bei den sorgfältigen Untersuchungen , die
H. Wislicenus (12) in einem eigens für diese
Zwecke gebauten Rauchversuchhaus angestellt
hat, ergab sich aber, daß dieser Wert zu niedrig
angesetzt ist, d. h. es zeigte sich, daß die Schäd-
lichkeitsgrenze der schwefligen Säure bei noch
weitergehenden Verdünnungen zu suchen ist, näm-
lich zwischen ;,-nV(n5ü ""d y-ß-^U-a ir-
Gleichzeitig ergab sich aber bei diesen Ver-
suchen die bemerkenswerte Tatsache, daß der
Verdünnungsgrad allein nicht maßgebend ist für
das Zustandekommen oder Ausbleiben einer
Rauchbeschädigung. Vielmehr spielt dabei der
Zustand der Pflanzen eine sehr große Rolle, indem
bei aktiver Assimilation sowie überhaupt bei
energischer Lebenstätigkeit die Gefahr der Schä-
digung viel größer ist als im Zustand der Vege-
tationsruhe. Demgemäß ertragen die meisten
Nadelhölzer (z. B. Fichte) während der Winter-
ruhe weit höhere Konzentrationen von SO., als
während der Vegetationszeit, nämlich bis zu yy.-ü'onTTi
aber auch im Sommerzustand befindliche Bäume
werden durch sonst gefährliche Konzentrationen
nicht geschädigt, wenn sie sich im Dunkelraum
befinden, also nicht assimilieren köimen.
Daß dabei nicht nur die verschiedenen Baum-
arten, sondern sogar die einzelnen Individuen
einer Art beträchtliche Verschiedenheiten auf-
weisen, kann als bekannt vorausgesetzt werden,
530
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 34
erschwert aber außerordentUch die Gewinnung
eines allgemeinen Urteils über die Grenze der
Schädlichkeit eines giftigen Gases.
Man bringt diese Verschiedenheit dadurch zum
Ausdruck , daß man eine Empfindlichkeitsskala
aufgestellt hat, welche mit Fichte, Tanne, Douglas-
tanne (sehr empfindlich) beginnt und mit der
Kiefer, Schwarzkiefer, Buche, Eiche schließt.
Jedenfalls ist es unmöglich einen eindeutigen
Schwellenwert der Giftigkeit für die SO., aufzu-
stellen, indem selbst der geringe Wert von -j^j-jy^YiiiTi
unter Umständen , nämlich bei intensivster Assi-
milationstätigkeit, während des Hochsommers, an
den besonders empfänglichen Individuen rauch-
empfindlicher Holzarten noch schwere Schädigun-
gen hervorbringen kann.
Fluorsilicium und Fluorwasserstoffsäure stehen
an Giftigkeit der SO., kaum nach , ja sie über-
treffen die letztere häufig, und dementsi>rechend
ist die Giftigkeitsgrenze bei diesen Verbindungen
in ähnlicher Verdünnung zu suchen wie bei der
schwefligen Säure. Dagegen erweisen sich Nebel
von SO., merkwürdig wenig wirksam. So ertrug
bei den Versuclien von H. Wislicenus eine
Fichte dicke SOg-Nebel 14 Tage lang ohne irgend-
welche Schädigung erkennen zu lassen. Es ist
anzunehmen, daß das SO.j durch Vereinigung mit
Wasserdampf (aus der Euft) derartig große Nebel-
bläschen bildet, daß höchstens äußerliche Atz-
wirkungen zustande kommen, nicht aber das Gift
durch die Spaltöffnungen eindringt.
3. In welcher Form wirken die Gifte,
als Gas oder in Wasser gelöst, ober-
irdisch oder unterirdisch?
Man macht häufig die Beobachtung, daß in
nassen Jahren die Rauchbeschädigung der Vege-
tation durch SO., viel intensiver ist als in trockenen.
Diese Erfahrung deckt sich mit der Tatsache, daß
bei künstlichen Räucherversuchen benetzte h'ichten
— gleiche Konzentration des Giftes vorausgesetzt
— weit mehr geschädigt werden als trocken ge-
haltene. Diese Erscheinung wurde in der Regel
so gedeutet, daß die schweflige Säure durch das
Benetzungswasser niedergeschlagen werde, und
nachdem sie — große Überfläche ! — zu Schwefel-
säure oxydiert wurde, äußerlich ätzend wirke und
so durch die zerstörte Epidermis in das Blatt-
gewebe eindringt.
Um diese Vermutung auf ihre Richtigkeit zu
prüfen, stellte ich (3) folgende Versuche an: .'\b-
geschnittene Zweige von h'ichte, Tanne, Kiefer
und anderen Nadelhölzern wurden in verschiedene
Konzentrationen von Schwefelsäure eingetaucht,
darin kürzer oder länger gelassen, dann abgespült
und beobachtet. Es zeigte sich bei diesen Ver-
suchen, daß die Widerstandsfähigkeit der Koniferen-
nadeln gegen benetzende Schwefelsäure auffallend
groß ist, z. B. ertragen Fichtenzweige das Ein-
tauchen in 5 ";„ Schwefelsäure InH.iSO,) 24 Stunden
lang ohne nennenswerte Schädigung.
Wenn eine solche eintritt, so ist sie auf die
Anwesenheit mechanischer Wunden zurückzuführen,
und so erklärt sich, daß die Tanne mit ihren viel
weicheren Nadeln gegen Benetzung mit verdünnter
Schwefelsäure weit empfindlicher ist als die F'ichte
mit ihren derben, harten Nadeln, sowie daß die
Empfindlichkeit gegen wässerige Schwefelsäure
bei allen Nadelhölzern mit steigendem Nadelalter
zunimmt, indem offenbar jüngere Nadeln viel
weniger mechanische Wunden aufweisen als etwa
6— 8jährige, welche schon eine Anzahl von Win-
tern, und damit Sturm, Frost und Duftanhang über
sich haben ergehen lassen müssen. Die Bilder
in Fig. I veranschaulichen diese Verhältnisse.
Jedenfalls beweist die Erfahrung, nach welcher
Kig. I. Tannen- (links) und Fichtenzweige (rechts), nach
(n n n \
~i "p » — )•
2 b 32/
Die Fichte leidet viel weniger als die Tanne.
5 "Z,, Schwefelsäure unter Umständen keinerlei
Schädigung hinterläßt, daß auf äußere Benetzung
wohl nur wenige Rauchschäden zurückzuführen
sind und wir müssen somit annehmen, daß die
giftigen Gase als solche — und nicht in Wasser
gelöst — in das Innere der Blattorgane eindringen;
auf welchem Wege dies geschieht, werden wir im
nächsten Abschnitt sehen.
Vorher wäre allerdings noch kurz an eine
andere Hypothese, die kürzlich Wieler (10) auf-
gestellt hat, zu erinnern. Wieler meint, daß
N. F. XIII. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
531
durch die mit den Niedersclilägen in den Boden
gewasclienen Säuren der Abgase dem Boden der
darin enthaltene Kalk- entzogen werde und die
Pflanzen dann infolge von Kalkmangel zugrunde
gingen. So beachtenswert die von Wieler an-
gestellten Versuche auch sind — sie scheinen die
Richtigkeit seiner Erklärung in der Tat zu be-
weisen — , so liegt doch kein Grund vor, diese
indirekte Art von Schätligung als die allein be-
stehende und die direkte Vergiftung der ober-
irdischen (Organe durch giftige Gase als unter-
geordnet anzusehen. Denn einerseits kommen
schwere Rauchschäden auch auf reinem Kalkboden
vor, wo von Bodenentkalkung wohl nicht die Rede
sein kann, andererseits macht man die Beobachtung,
daß bei Beseitigung der
Rauchquelle die Schädi-
gungen der Vegetation
in der Regel aufhören,
was unverständlich wäre,
wenn nur indirekte Schä-
digung durch Bodenent-
kalkung vorläge. Endlich
nützt sehr häufig die Zu-
führung von Kalk auf
Rauchblößen nichts oder
nur sehr wenig, weil eben
die direkte Vergiftung
intensiver ist als die in-
direkte (durch Bodenent-
kalkung).
Die Wieler 'sehe
Hypothese ist daher in
der von ihm ge-
dachten Ausdehnung
zurückzuweisen , womit
allerdings nicht gesagt
sein soll, daß sie nicht
unter gewissen besonderen
Umständen wertvolle
Dienste leiste.
3 a. Die Eintritts-
pforten der giftigen
Gase.
Die von Reuß und
von Schröder (4) ver-
tretene Ansicht, dieschwef-
liche Säure (und andere
giftige Gase) trete nicht durch die Spaltöffnungen,
sondern durch die Epidermis — also auf osmo-
tischem Weg — in das Innere der Blätter ein,
ist für die Laubhölzer von Wieler (9) endgültig
als nicht zutreffend nachgewiesen worden. " Nur
bezüglich der Nadelhölzer hat sich Wieler nicht
in bestimmter Weise ausgesj^rochen. Er rechnete
noch mit dem von Schwab ach (5) behaupteten
dauerndem Geschlossensein der Stomata an Koni-
ferennadeln.
Diese Darstellung beruht aber auf einer falschen
Beobachtung. Denn auch die Koniferenschließ-
zellen sind ebenso bewegüch wie diejenigen der
Laubgehölze und bei hohem Turgor mehr oder
weniger weit geöffnet. Dies kann sowohl direkt
mittels der Infiltrationsniethode (nach vorhergehen-
der Evakuierung) als auch auf indirektem VVeg —
Ermittelung des Wasserverlustes durch Wägung
verdunstender Zweige — ermittelt werden. Aller-
dings ist — wie sich durch beide Methoden über-
einstinmiend ergab — der Grad der Beweglichkeit
verschieden groß bei den verschiedenen Nadel-
jahrgängen, d. h. mit zunehmendem Alter nimmt
die Beweglichkeit der .Stomata ab, derart, daß die
Spaltöffnungen an älteren Nadeln fast andauernd
offen sind und sich nur noch unvollkommen zu
schließen vermögen.
In eklatanter Weise zeigt sich die Fähigkeit
Fig. 2. Geknickter Zweig eioer mit SUo behandelten Kiclite.
der Spaltöffnungen sich bei Wassermangel zu
schließen, an folgendem Versuch:
Man knicke an einer bewurzelten und gut be-
wässerten Fichte einige Zweige, dann bringe man
die Pflanze (in i — 2 Tagen) in eine SO., atmosphäre
(durch Abdampfen aus wässeriger Lösung erhalten);
nach einiger Zeit sind alle Triebe, mit Ausnahme
der geknickten, rauchkrank und demgemäß fahlgrün.
Die geknickten Triebe dagegen haben ihre frisch-
grüne Färbung beibehalten. Indem sie ihre Spalt-
öffnungen unter dem Einfluß der VVassernot
schlössen, ließen sie kein Gift in das Innere der
Nadeln eintreten (Fig. 2).
532
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 34
Ähnlich verläuft der Versuch , wenn abge-
schnittene Triebe von Nadel- (und Laubhölzern)
teils in Wasser eintauchend, teils trockengehalten
einer SO.,- Atmosphäre ausgesetzt werden; erstere
werden rauchkrank, letztere bleiben gesund.
Die oben angedeutete Erscheinung, daß die
Nadelhölzer im beregneten Zustand sehr viel emp-
findlicher sind als bei Trockenheit, ist also ein-
fach so zu erklären: Wenn die Nadeln benetzt
sind, öfTnen sich die Spaltöffnungen weit und
lassen das giftige Gas eintreten; bei Wasser-
mangel erfolgt Schluß der Stomata, wodurch der
Eintritt des Gases verhindert wird.
3b. Die Beeinflussung der Lebens-
funktionen durch die schweflige Säure
(und andere giftige Gase).
Es sind hauptsächlich zwei Lebensfunktionen,
welche durch die in den Rauchgasen entlialtenen
flüchtigen Säuren in sehr ungünstigem Sinne be-
einflußt werden: die Assimilation und die Tran-
spiration.
Schon früher hat Wislicenus (i i) den Nach-
weis geliefert, daß bei ruhender Assimilation (d. h.
im Dunkelraum sowie während der winterlichen
Vegetationsruhe) von den grünen Pflanzen be-
trächtliche Mengen von SO._, aufgenommen werden
können, ohne daß eine Schädigung zu beobachten
ist (vgl. oben). Diese Versuche wurden im neuen
Rauchversuchshaus mit dem gleichen Ergebnis
wiederholt. Gleichzeitig wurde mittels der Eva-
kuationinfiltrationsmethode nachgewiesen, daß bei
den im Dunkelraum befindlichen Pflanzen kein
vollkommener Spaltöftnungsschluß stattgefunden
hatte, daß also das Ausbleiben der Schädigung
nicht auf Ausschluß des Giftes beruhen kann,
sondern daß die schweflige Säure eben gerade
in den Assimilationsvorgang störend eingreift.
Man könnte versucht sein das SO., geradezu als
ein Reagens auf tätige Assimilation anzusehen.
Daß dies tatsächlich zutrifl't, geht namentlich
noch aus folgendem — sich auch für Vorlesungs-
zwecke zur Demonstration eignenden — Labora-
toriumsversuch hervor.
Junge kräftige Sprosse von Elodea cana-
densis wurden (in zwei Gefäßen) in Wasser ge-
bracht, welches verdünnte schweflige Säure gelöst
enthielt, und zwar ^/.,|,g " ,^ SO.,. Das eine der
beiden Gefäße wurde dem dift'usen Tageslicht
ausgesetzt, das andere mit einer schwarzen Glas-
glocke bedeckt. Nach 24 Stunden war der Sproß
im ersten Gefäß (Licht) stark gebleicht , der im
zweiten (Dunkel) frisch grün und vollkommeti
intakt (Fig. 3).
Die Giftwirkung der schwefligen Säure auf
assimilierende grüne Pflanzen beruht wahrschein-
lich auf ihren stark reduzierenden Eigenschaften,
vermöge welcher diese Verbindung in den Che-
mismus der Assimilation eingreift, etwa durch
Anlagerung an die intermediär entstehenden Alde-
hyde. Sonst wäre nicht zu verstehen, warum die
gesättigte Schwefelsäure so viel weniger giftig
wirkt als die ungesättigte schweflige Säure.
Auch dies läßt sich mittels E 1 o d e a sprosse
in einem einfachen Laboratoriumsversuch nach-
weisen.
El odeasprosse wurden in zwei Reihen von
Gefäßen gebracht, in welchen sich SO., bzw. H.,S( \
befand, und zwar in den Konzentrationen '/m,,,
Vjoo. Vjpo. '/MIO. Viüdo"/.!. alles am dift'usen Licht.
H,,SOj wirkte noch giftig bei der Konzentration
'/iii" "io< während bei '/.,,,„ *'/(i keinerlei Schädigung
wohl aber intensive Assimilation (0-Entwicklung)
zu beobachten war. Anders bei SO.j. Hier
wirkte noch die Konzentration ^/j^^ % überaus
Fig. 3. Elodea ranadensis in verdünnter schwefliger S.iure.
Links im Dunkelraum: dunkelgrün.
Rechts dem Licht ausgesetzt; gebleicht.
giftig (vgl. oben), und der Grenzwert der Giftig-
keit wurde zwischen '/,,||(| und '/, „o,, "/„ gefunden.
Wir können demnach sagen, daß die SO2
rund zehnmal giftiger ist als die H.^SO^ — soweit
die Assimilation in Betracht kommt. Auch diese
Versuche beweisen klar, daß die Giftwirkung der
SO., weniger in einer Atzwirkung des (Xxydations-
Produktes, der Schwefelsäure, wie so vielfach an-
genommen wurde, als viel mehr in einer direkten,
von der SO., ausgehenden Störung des Assimila-
tionsvorganges zu suchen ist.
Auch die Beeinflussung der Wasseraufnahme
und -abgäbe durch die schwefliche Säure ist viel-
N. I^ XIII. Nr. 34
NaturwissenschafUichc Wochenschrift.
533
fach Gegenstand sorgfältiger Untersuchungen ge-
wesen.
Während Reuß und v. Schröder gefunden
haben wollten, daß bei rauchkranken Sprossen
die Wasseraufnahnie größer sei als die Wasser-
abgabe, demnach in solchen Sprossen eine Saft-
stauung zustande komme, kam Wieler auf Grund
seiner allerdings äußerst komplizierten und daher
bezüglich der Beseitigung der Fehlerijuellen wenig
Vertrauen erweckenden Versuchsanstellung zu dem
Resultat, daß bei schwacher Einwirkung der schwef-
ligen Säure — die äußerlich sichtbare Schädigungen
nicht hinterläßt — eine Beeinflussung der Wasser-
druckstrümung überhau])t nicht nachweisbar sei.
Man wird dem gegenüberstellen müssen, daß es
sich dann eben auch nicht um rauchkranke Sprosse
handelte, und somit das Resultat der Wiel er-
sehen Untersuchung nichts besagt. Wo Wieler
stärkere — äußerlich sichtbare Schädigungen ver-
ursachende — Konzentrationen anwandte, da fand
er auch eine Herabsetzung der Wasserbilanz.
Wie sich diese Beeinflussung der Wasserdruck-
strömung im einzelnen gestaltet, ergibt sich aus
unseren (3) Untersuchungen, bei welchen ein be-
sonderes, die individuellen Verschiedenheiten der
Vergleichspflanzen möglichst ausschließendes Ver-
fahren angewendet wurde. Eine genaue Dar-
stellung dieser Methode würde zu viel Raum in
Anspruch nehmen ; es muß in dieser Hinsicht auf
die Originalunlersuchung verwiesen werden.
Das Ergebnis der Untersuchung läßt sich in
folgender Weise kurz zusammenfassen. Rauch-
kranke Triebe (von Laub und Nadelhölzern) ver-
lieren mehr Wasser als gesunde, ofifenbar, weil das
kranke Plasma das Wasser leichter und schneller
abgibt als gesundes. Sehr bald aber erfolgt eine
Umkehrung des Verhältnisses, indem die kranken
Sprosse das Wasser viel langsamer aufnehmen als
gesunde, und daher bald Wassernot eintritt (Fig. 4).
Diese äußert sich in einer schnellen Vertrocknung
der kranken Triebe. Außerdem haben die kranken
Triebe die Fähigkeit des Deplacements des Wassers
aus der Achse in die Blätter verloren, was sich in
einer daucrndenTurgeszenz der (noch nicht verholzten
Achsenteile erkennen läßt (Fig. 5). Kurz gesagt:
Rauchkranke Triebe nehmen weniger Wasser auf
als gesunde, verlieren aber auch das ihnen eigene
Wasser schneller und erwecken daher sehr bald
den Eindruck von durch Frost getöteten und dann
vertrockneten Trieben.
10. K r a n k h e i t s b i 1 d e r , welche der Rauch-
erkrankung zum Verwechseln ähnlich
sind.
Wir kommen damit zu der für die praktische
Rauchexpertise äußerst wichtigen Frage, ob es
niöglich ist, auf Grund makro- oder mikrosko-
pischer Merkmale die Rauchschäden von anderen
Todes- oder Krankheitsursachen zu unterscheiden.
Als R. Hart ig (i) vor fast 20 Jahren mitteilte,
ein solches Mittel gefunden zu haben, schien diese
Frage gelöst zu sein. Hart ig behauptete näm-
lich, daß Raucherkrankung an einer intensiven
Rötung der Schließzellen erkennbar sei. Sehr
bald aber erhoben sich Stimmen, welche dieses
Merkmal als durchaus unzuverlässig darstellten.
So führte Wieler (8) aus, daß Rötung der Schließ-
Kig. 4. Schematische Darstellung des Verlaufs der Transpiration
bei einem rauchl<rankcn (A) und gesunden (BJ Sproß.
Fig. 5. Ahornsprosse, im welkenden Zustand, links nach Be-
handlung mit SO.,, mit aufrechter Achse (kein Deplacement
des Wassers), rechts mit schlaffer turgorlosen Achse und wonig
geweihten Blättern (es erfolgte Deplacement des Wassers aus
der Achse in die Blätter).
Zellen durchaus nicht immer nach Rauchbeschä-
digung (auch nicht bei allen Nadelholzarten, son-
dern nur bei jenen, deren Schließzellen Gerbstoff
enthielten) zu beobachten sei, ferner daß sie auch
nach anderen Todesursachen auftrete (Hitze,
Trockenheit).
534
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 34
Sorauer (7) wieder meinte, daß die Schheß-
zellenrötung sich stets einstelle, wenn Fichten-
iiiid Tannennadeln ,, unter Lichtgenuß sich langsam
ausleben".
Jedenfalls ging schon aus diesen Untersuchun-
gen hervor, daß die Rötung der Stomata kein
Kriterium für Rauchschaden bildet. Ich habe
neuerdings — wie an anderer .Stelle ausführlicher
berichtet werden soll — Rötung der Schließzellen
auch unabhängig vom Licht sowie bei plötzlichem
Tod der Fichtennadeln beobachtet, so daß also
auch die Sorauer 'sehe Beobachtung einer Hin-
schränkung bedarf.
Eine Erscheinung, welche ganz besonders häufig
mit Rauchwirkung verwechselt wird, ist die fuchs-
rote Färbung der Fichtennadeln, wie sie nament-
lich in der Übergangszeit vom Winter zum Früh-
jahr, nach sehr heißen Frühlingstagen auftritt.
Es ist hier nicht der Platz, auseinanderzusetzen,
auf welche Faktoren diese Nadelrötung zurück-
zuführen ist — man bezeichnet sie häufig als
Frosttrocknis oder auch als Frostschütte, weil die
geröteten Nadeln häufig in der Folge massenhaft
zu Boden fallen — schütten. Nur das sei erwähnt,
daß es häufig überaus schwer ist zu entscheiden,
ob in einem bestimmten Fall Frosttrocknis oder
Rauchwirkung vorliegt. Aus meinen Erfahrungen
möchte ich nur zwei Beobachtungen anführen, die
häufig imstande sind, die Sachlage zu klären
(allerdings nicht immer 1).
Die Frosttrocknis (der Fichte) tritt namentlich
an Süd- und Westhängen auf, wo infolge starker
Insolation die überwinterten Nadeln früher zur
Lebenstätigkeit erreichen, um dann durch nach-
folgende Fröste getötet zu werden, .^n Nord- und
Osthängen ist die Frosttrocknis eine überaus seltene
Erscheinung (späte Erwirkung der Triebe zur
Lebenstätigkeit). Allerdings sind auch die Rauch-
schäden — entsprechend dem Vorherrschen von
Westwinden — an Westhängen besonders häufig.
Wenn aber, was in Tallagen infolge der Beein-
flussung der herrschenden Windrichtung durch die
Talrichtung öfter vorkommen kann, Ost- und Nord-
hang die verhängnisvolle Rötung der Nadeln zeigen,
dann kann kaum je von Frosttrocknis, wohl aber
von Rauchwirkune die Rede sein.
Ein zweites zu beobachtendes Symptom für
Frosttrocknis ist, daß hauptsächlich der jüngste
Nadeljahrgang (der im vorhergehenden Jahr ent-
standen ist) der Rötung durch Frost anheimfällt,
während die Nadeln früherer Jahrgänge — infolge
späteren Erwachens zur Lebenstätigkeit — grün
bleiben.
Bei Rauchwirkungen — namentlich bei chro-
nischen — zeigt sich dagegen gerade umgekehrt,
daß die ältesten Nadeln früher als unter normalen
Verhältnissen zu Boden fallen. Ist doch die Ab-
kürzung der Nadellebensdauer bei den meisten
Nadelhölzern — bei Tanne von 10 — 12 auf 4 — 5
Jahre, bei Fichte von 6 auf i — 2 Jahre — ein
ziemlich sicheres Anzeichen für durch Abgase
stark verunreinigte Luft.
Bei alledem bedarf es doch sorgfältiger und
kritischer Überlegung und Berücksichtigung aller
Nebenumstände, wenn in einem bestimmten Fall
die Diagnose auf Rauch- oder Frostschaden ge-
stellt werden soll und gar nicht selten steht ge-
rade der gewissenhafte Gutachter vor einem un-
lösbaren Rätsel.
Literatur.
1) Hartig, Rob., Über die Einwirkung des Hütten- und
Steinkohlenrauclics auf die Gesundheit der Nadelbäume.
München 1896.
2) Hasselhoff und Lindau, Die Beschädigung der
Vegetation durch Rauch. Berlin 1903.
3) Neger und Lakon, Studien über den EinHuß von
Abgasen auf die Lebensfunktionen der Bäume (Mitt. d. forstl.
Versuchsanstalt zu Tharandt 1914).
4) Reuß und v. Schröder, Die Beschädigung der
Vegetation durch Rauch. 18S3.
5) Schwabach, Zur Entwicklung der Spaltöffnungen
bei Koniferen (Ber. d. D. Bot. Ges. 1902).
6) Sorauer, Über die Rotfärbung der Spaltöffnungen
bei Picea (Notizbl. des Kgl. Bot. Gartens Berlin 1898).
7) — , Die mikroskopische Analyse rauchbeschädigter
Pflanzen (Sammlung von Abh. über Abgase und Rauchschäden,
herausgeg. von H. Wisiicenus; tieft 7, I9t0*
8) Wieler, Über unsichtbare Rauchschäden {Zeitschr. f.
l'orst- und Jagdwesen, 1897).
9) — , Untersuchungen über die Einwirkungen schwefliger
Säure auf die Pflanzen. Berlin 1905.
10) — , Pflanzenwachstum und Kalkmangel. Berlin 1912.
11) Wisiicenus, Die Resistenz der Fichte bei ruhen-
der und tätiger Assimilation. Tharandter forsll. Jahrbuch
1898.
12) — , Über die inneren und äußeren Vorgänge der Ein-
wirkung stark verdünnter saurer Gase und saurer Nebel auf
die Pflanzen (Mitt. d. forstl. Versuchsanstalt Tharandt, 1914).
[Nachdruck verboten.]
Der Löß, diese äußerst feine, gelbliche, im
Wasser leicht zerfallende Trümmermasse ver-
schiedener Mineralien, unter denen der Quarz vor-
herrscht, ist in dieser Zeitschrift schon wiederholt
behandelt worden. In China ist er bekanntlich
in großer Mächtigkeit entwickelt. In der südlichen
Randzone des norddeutschen Glazialgebietes, ebenso
im Rhein- und Donaugebiete, ist er weit verbreitet.
Der Bördelöß in der Magdeburger Gegend und die
Kritische Betraclifniiiien über den Löß.
Von Prof. Dr. H. Brockmeier, M.-fUadbach.
Schwarzerde in Südrußland stellen einen durch
Humussubstanzen schwarz gefärbten Löß dar.
Die Fruchtbarkeit dieser Bodenart schätzt der
Landwirt; die Entstehung derselben hat schon
manchen Geologen beschäftigt, aber Einigkeit in
der Anschauung ist zurzeit noch nicht erzielt
worden. Die einen erblicken in dem Löß den
Niederschlag der Flußtrübe, während die anderen
eine Wirkung des Windes mit Sicherheit erkennen
N. F. XIII. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
535
wollen. Es ist recht gut denkbar, daß man mit
beiden Faktoren rechnen muß. In der einen
Gegend kann ein Absatz aus dem Wasser vor-
liegen, während in einer anderen der Wind feinen
Staub abgelagert hat. Die Frage nach der Knt-
stehungsursache muß also von Fall zu h'all geprüft
werden.
Die Mehrzahl der Geologen ist geneigt, den
Löß als ein Patenkind des Aeolus anzusprechen.
Schon seit Jahren habe ich mich vergeblich be-
müht, für den Löß im Rheingebicte die Berech-
tigung zu einer derartigen Auffassung zu erkennen.
In solchen P'ragen entscheiden Gründe, und nicht
Stimmenmehrheit. Niemand wird bestreiten, daß
die Mollusken für den Geologen von großer Be-
deutung sind, und sicher ist, daß ein eingehendes
Studium der lebenden Formen für eine frucht-
bringende Beurteilung der fossilen, namentlich der
jüngeren, unerläßlich ist. Wird dies unterlassen,
so sind P'ehlschlüsse unvermeidlich. — Lößbeobach-
tungen habe ich besonders im Rlieingebiete ge-
macht und meine Betrachtungen will ich an die
Ausführungen knüpfen, welche Em. Kays er in
seinem Lehrbuche der Geologie gegeben hat. In
diesem Werke wird erwähnt, daß G ü m b e 1 und
Sandberger den Rhein- und Mainlöß für das
Erzeugnis ehemaliger Hochfluten jener Ströme
halten, und Kayser hebt nun hervor: „Das Fehlen
von Süßwasserconchylien, die meist mangelnde
Schichtung, die kapillare Struktur, sowie besonders
die auf kurze Entfernung sehr wechselnde Höhen-
lage des Lößes und sein Hinübergreifen über die
Wasserscheiden machen indes jene Erklärung un-
befriedigend."
Zunächst kann von einem Fehlen der Süß-
wasserconchylien in dem Löß keine Rede sein.
In dem Löß vom Rheindahlen bei M. -Gladbach
wurde von Wunstorf*) ein Planorbis nach-
gewiesen. Ich kann dieses Vorkommen nur be-
stätigen. In einer Lößgrube bei Koblenz (Metter-
nich) wurde bei Gelegenheit einer geologischen
Exkursion (Mai 191 1) von einer Dame eine andere
Süßwasserschnecke (Limnaea palustris) gefunden.
Man hat also mit der Tatsache zu rechnen, daß
die Süßwasserschnecken den Landschnecken gegen-
über sehr zurücktreten. Es klingt nun sehr ein-
leuchtend, wenn für eine Süßwasserablagerung das
umgekehrte Verhältnis verlangt wird, trotzdem ist
das nicht immer richtig. Es trifft zu für die Kies-
und Sandablagerungen eines Flusses; aber in seinem
Überschwemmungsgebiete werden an den ruhigen
Stellen die im Wasser schwebenden Mineralbestand-
teile und zahlreiche Landschneckengehäuse abge-
lagert, denen Süßwassermollusken nur in geringer
Menge beigemischt sind. Seit einer Reihe von
Jahren habe ich den Rhein, die Mosel und die
Isar bei Hochwasser daraufhin untersucht und
unter den vorherrschenden Landschnecken auch
') \V u n s t o r f : Über Löß und SchoUcrlehm im Niederrliein.
Tiefland (Verhandl. des Naturhisl. Vereins d. preuß. Kheinlande
und Westfalens, 19 12, Seite 298).
die typischen Lößschnecken: Helix hispida, Suc-
cinea oblonga und Pupa muscorum angetroffen.
Das Zurücktreten, ja das gänzliche Fehlen von
Süßwassermollusken bietet demjenigen, der mehr
in der grünen Natur als am grünen Tische zu
arbeiten gewohnt ist, keinerlei Schwierigkeiten.
Oberhalb Treis münden verschiedene Bäche,
welche z. B. Limnaea ovata und Ancylus fluviatilis
enthalten, in die Mosel. Ein Fluß pflegt schwim-
mende Bestandteile bald an die Üferzone abzu-
geben. Bei Hochwasser sollte man also unterhalb
Treis die Gehäuse die eben bezeichneten Wasser-
schnecken an den ruhigen Stellen der Mosel er-
warten, aber selbst ein mehrtägiges Suchen lieferte
mir nicht eine einzige Schale dieser Arten. Die
Erklärung ist einfach. Zunächst sei hervorgehoben,
daß Wasserschnecken und auch manche Muscheln
an der Oberfläche des Wassers kriechen können,
was ich früher schon einmal in dieser Zeitschrift
(1909, Nr. 21) näher ausgeführt habe. Abgestorbene
Tiere (Lungen- und Kiemenschnecken und auch
Muscheln) können ebenfalls an der Oberfläche
schwimmen, wenn sie durch die bei der Fäulnis
sich bildenden Gase emporgehoben werden. Für
Lungenschnecken ist hierzu eine Fäulnis nicht
einmal nötig: die lufthaltige Lunge hat hinreichende
Tragkraft. Was nicht schwimmt, könnte am
Boden des Baches fortgeführt werden. In beiden
Fällen kommen die Schalen nicht weit. Ein Bach
gibt schwimmendes Material sehr schnell an die
Uferzone ab, und diese zeigt an zahlreichen Stellen
vorspringende Erlen, Weiden usw. Unmittelbar
hinter jedem dieser Vorsprünge ist eine Sammel-
stelle für schwimmende Körper. Am Boden des
Baches sind größere Steine nicht selten, und in
der ruhigen Wasserzone hinter diesen Blöcken
habe ich ganze Sammlungen von den am Boden
fortgeführten Schnecken- und Muschelschalen an-
getroffen. Für lebende Tiere, die von einer festen
Unterlage fortgespült werden sollten, gilt natürlich
dasselbe, wobei allerdings zu bemerken ist, daß
gewarnte Tiere sich fest ansaugen und nicht leicht
losgerissen werden. Das ist jedem Sammler be-
kannt. Das Sieb oder Netz muß ganz plötzlich
durch ein Pflanzengewirr geführt werden, wenn
man gute Ausbeute haben will. Die bei Hoch-
wasser und Stürmen auftretende stärkere Wasser-
bewegung tritt nicht so ganz plötzlich auf. Die
Schnecken brauchen sich nicht einmal fest anzu-
saugen: sie haben noch Zeit, geschütztere Wasser-
stellen aufzusuchen. Hierfür 2 Beispiele. In der
Uferzone des Großen Plöner Sees sah ich eineine
größere Steine und darauf Vertreter der Gattung
Limnaea. Bei starkem Wellenschlage traf ich die
Gesellschaft friedlich versammelt an der gegen
den Wellenschlag geschützten Seite der Steine.
An der Granitküste Bornholms krochen dünn-
schalige Limnaeen neben den dickschaligen Neri-
tinen umher. Auch nach starken Stürmen hatten
die Limnaeen ihren Platz behauptet. Zwischen
den großen Blöcken, die auch bei Stürmen nicht
fortbewegt wurden, waren zahlreiche Schlupfwinkel,
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in denen die Tiere in aller Ruhe bessere Verhält-
nisse abwarten konnten. Diese .Ausführungen
zeigen, daß ein Bach mit zahlreichen Sammelstellen
in der Uferzone und am Boden Mollusken ent-
halten kann, ohne die Schalen derselben dem
Hauptstrome zuzuführen. Selbst bei einer be-
schränkten Zahl solcher Sammelstellen kann immer
noch kurz vor der Einmündung des Baches ein
Halt für abwärts wandernde Schalen dadurch zu-
stande kommen, daß durch das Hochwasser des
Hauptflusses eine Stauzone mit ruhigem Wasser
an der Mündung des Baches gebildet wird.
Schwimmendes Material könnte dann höchstens
durch den Wind in den Fluü hiiiausgefüiirt werden.
Hieraus dürfte hervorgehen, daß das Zurücktreten
der Süßwasserniollusken im Löß noch keineswegs
die äolische Natur desselben wahrscheinlich macht.
Weiter wird die meist mangelnde Schichtung
und die kapillare Struktur (von Pflanzen wurzeln
herrührend) von den Aolikern ins Feld geführt.
Das Wasser lagert allerdings, der stärkeren oder
schwächeren Strömung entsprechend, bald grobes,
bald feines Material ab und ruft dadurch deut-
liche Schichtung der Ablagerungen hervor. Jedem
Äolikcr dürfte nun bekannt sein, daß auch der
Wind wechselnde Stärke hat. Die Bimstein-
ablagerungen auf dem Vogclsberge sind vom
Winde dorihin geführt worden und zeigen deut-
liche Schichtung. Dieser Punkt müßte also eigent-
lich bei der Plrörterung ausscheiden ; aber gerade
die meist mangelnde Schichtung möchte ich für
die neptunische Natur des Lößes in Anspruch
nehmen. Den Mangel an Schichtung führe ich
auf das außerordentlich feine und gleichartige
Material zurück, welches der ti übe h'luß bei Hoch-
wasser an ruhigen Stellen, z. B. in beckenartigen
Erweiterungen oberhalb von Talverengerungen,
an der Vereinigungsstelle zweier Flüsse usw., ab-
setzt. Jedes folgende Hochwasser wird neue
Schwebstofife von derselben Feinheit dort ablagern,
während die völlige Durchtränkung mit Wasser
überdies noch eine Mischung der abgelagerten
Massen zur Folge hat. Eine Schichtung kann
unter Umständen durch eingelagerte Schnecken-
gehäuse, die schwimmend dorthin gelangten, her-
vorgerufen werden.
Warum die durch Pflanzenwurzeln Iiervor-
gerufene kapillare Struktur gegen den Lößabsatz
aus dem Wasser sprechen soll, ist mir unverständ-
lich. Wird ein so fruchtbarer Boden häufig vom
Wasser durchtränkt, so trägt er allerlei Pflanzen,
und man braucht nicht zu Steppengräsern seine
Zuflucht zu nehmen.
Um die auf kurze Entfernung sehr wechselnde
Höhenlage des Lößes und sein Hinübergreifen
über die Wasserscheiden zu erklären , möchte ich
in erster Linie auf Stauungen der Flüsse hinweisen.
Hier in M. -Gladbach ist im vergangenen Jahre
ein Sandsteinblock (Häseler Stein) von nahezu
lO m Umfang aufgestellt worden. Von Eis ein-
geschlossen, ist er in diluvialer Zeit mit zahlreichen
anderen Blöcken schwimmend hierhergelangt.
Ehe diese Eismassen die Kölner Bucht erreichten,
waren sie in engen Flußtälern. Die Vorbedingun-
gen für allerlei Stauungen waren somit gegeben.
Auch die Möglichkeit von tektonischen Störungen
sei nur kurz erwähnt.
Weiter schreibt K a y s e r in seinem Lehrbuche :
„der Löß ist sehr häulig nur an einem Talgehänge,
und zwar auf der im Schatten der herrschenden
Winde liegenden, also nach W, NW und SW ge-
kehrten, meist zugleich flacheren Talseite vorhan-
den, während die gegenüberliegende Steilseite des
Tales lößfrei zu sein ])flegt." Eine befriedigende
Erklärung muß alle h'älle umfassen. Mir ist auf-
gefallen, daß man den Löß oft da findet, wo er
nach der Windtheorie nicht sein sollte. Vergegen-
wärtigt man sich aber die Wasserverhältnisse zur
Diluvialzeit, so trifft man ihn — nach meinen
bisherigen Erfahrungen — immer da, wo ruhiges
Wasser angenommen werden muß. Dies bestätigt
auch Kays er. Es weist ja hin auf die meist
flachere Talseite, während die gegenüberliegende
Steilseite lößfrei zu sein pflegt. Die Steilseite
ist die Stoßseite des Flusses; dort äußert er die
kräftigste Wirkung und räumt fort. Die flache
gegenüberliegende Seite hat ruhiges Wasser; sie
erhält dementsprechend die Lößauflagerung. Sollte
in der Randzone des norddeutschen (xlazialgebietes
das Auftreten des Lößes mehr der Windtheorie
entsprechen — ich kenne es nicht aus eigener
Anschauung — , so gebe ich zu bedenken, daß die
diluvialen Urströme nahezu von Osten nach
Westen flössen. Aeoliker und Neptunisten würden
also den Löß an derselben Stelle zu suchen haben.
Als glänzende Stütze für die äolische Lößtheorie
führt Kayser die Steppenfauna im Löß von
Thiede (Braunschweig) an. Bei der Untersuchung
der Stoffe, welche ein Muß bei Hochwasser an
ruhigen Stellen absetzt, habe ich oft genug tote
Katzen und Hunde neben den ty])ischen Löß-
schnecken angetroffen. Ein im Wasser verun-
glückter Nichtschwimmer kann btkaniulich schwim-
men, wenn er es nicht mehr nötig hat. Die
Steppentiere werden sich nicht anders verhalten
haben. Hiernach kann jeder Leser sich selbst ein
Urteil über diese glänzende Stütze bilden.
Schließlich erwähnt Kayser noch; „Was in-
des vorläufig noch keine genügende Erklärung
gefunden hat, das ist der fast überall auftretende
Kalkgehalt des Lößes." (ianz ungezwungen er-
hält man hierfür eine Erklärung, wenn eine Löß-
ablagerung aus dem Wasser angenommen wird.
F'lußwasser ist kein Aqua destillata. Es enthält
die verschiedensten Stofte, auch Kalk, in Lösung.
Der vom Flußwasser durchtränkte Löß wird bei
tiefcrem Wasserstande das Wasser durch Ver-
dunstung aljgeben, aber die darin gelösten Stofi'e
zurückhalten. Die nächste Überschwemmung
liefert neue Minerallösungen u. s. f Findet längere
Zeit keine Überschwemmung statt, so erfolgt
durch den Regen eine Auslaugung der oberen
Schichten. Der Löß geht in Lehm über. - Das
sind kurz meine Haupibedenken gegen die äolische
N. F. XIII. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
537
Lößtheorie für das Rheingebiet und höchst wahr-
scheinüch auch für eine Reihe anderer Gegenden.
Auf weitere Punkte gedcnt:e ich bei anderer Ge-
legenlieit näher einzugehen.
Einzelberichte.
Geologie. Über einen Lößregen berichten
A. Dambergis und T. Komnenos im letzten
Hefte von „Tschermak's Mineral, und Petrograph.
Mitteilungen" (N. F. Bd. 3'2, 4. u. 5. Heft, S. 448).
Das Phänomen wurde in Athen, Andros. Thera,
Kalamata und Kreta, sowie von einem von Ägypten
nach Kreta fahrenden Dampfer beobaclitet. In
Athen wurde am :;3. .April 191 3 um 4'' nach-
mittags der Himmel dunkel und mit Nebel be-
deckt. Die Atmosphäre zeigte einen eigentüm-
lichen, goldgelblichen Schimmer. Ein starker
SW-VVind wehte, und nach kurzer Zeit begann
ein schlammartiger Regen. Später zeigten dann
die Straßen von Athen und Umgebung eine ocker-
gelbe Farbe, was darauf hinwies, daß der gefallene
Schlammregen keinen inländischen Staub enthielt.
Der gesammelte Staub wurde der chemischen
Analyse unterworfen und aus deren Ergebnis die
mineralogische Zusammensetzung berechnet. Zu-
gleich wurde eine Probe des gewöhnlichen Staubes
von Athen auf gleiche Weise untersucht.
Nachfolgend ist die mineralogische Zusammen-
setzung angeführt, und zwar unter A die des
gewöhnlichen Staubes und unter B die des ocker-
gelben.
A
B
MgCO,
= 2,52
1,55
CaC03
= 48,64
33,43
CaS0,.2H.,0
= 0,83
1,07
Ca,(PO,).,
= 0,55
0,46
CaSiOa
= 3.5s
Al^SiO,
= 2,81
11,19
SiO.,
= 36,81
4443
Fe(OH),
= 2,66
4,19
NaC!
= 0,11
0,80
H.,0
= 0,79
2,14
Org. Subst. u. Verl.
= 0.73
0,74
100,00
100,00
Aus der Zusammensetzung ziehen die Verfasser
den Schluß, daß der Staub B kein Saharasand ist,
da dieser einen viel höheren Kieselsäuregehalt
aufweist als der Staub B. Die Analyse sowie
auch die mikroskopische Untersuchung, bei der
Prof Ktenas, Athen, abgerundete Körnchen von
Quarz, Kalkspat, seltener Feldspat, Glimmer,
Magneteisen und Turmalin fand, lassen vielmehr
den Schluß zu, daß der Schlammregen aus Löß
bestand, der wahrscheinlich den Steppen an der
Nordküste Afrikas entstammte. F. H.
Jahrgang V, 1914, der „Zeitschr. für Flugtechnik
und Motorluftschiffahrt", dem Organ der „Wissen-
schaftlichen Gesellschaft für Luftfahrt". Die Ver-
suche wurden mit der Absicht ausgeführt, Anhalts-
punkte über die Größe des Luftwiderstandes, den
ein Freiballon beim Steigen bzw. Sinken erfährt,
zu gewinnen. Als Modell diente ein dem Nieder-
sächsischen Verein für Luftschiffahrt gehöriges
Freiballonmodell mit rund 352 mm Kugeldurch-
messer, das in seinen Einzelheiten ziemlich gut
einem (~)riginalballon nachgebildet war bis auf die
Schnüre des Netzes, die im Verhältnis etwas zu
dick waren. Für die wagerechte Aufhängung des
Modells im Versuchskanal erwies es sich als not-
wendig, es mit einer durchgehenden Metallstange
zu versehen, durch die der Korb in wagerechter
Lage gehalten und die Schnüre gespannt wurden.
Der Ballonkörper selbst bestand aus einer mit
Ballonstoff überzogenen Metallkugel. Die Messun-
gen, die in einem Geschwindigkeitsbereich von
5 bis 15 m/sec stattfanden, wurden zunächst —
entsprechend dem Steigen des Ballons — mit
vorangehendem Ballonkörper und hierauf mit vor-
angehendem Korb ausgeführt, welch letzteres dem
Sinken entspricht. Schließlich wurde auch noch,
nachdem Netz und Korb entfernt worden waren,
der Widerstand der Kugel für sich gemessen.
Die Versuchsergebnisse wurden in einer Kurven-
tafel wiedergegeben. Es zeigt sich, daß das qua-
dratische Widerstandsgesetz keine genaue Gültig-
keit in diesem Falle besitzt. Der Widerstand des
Ballons mit vorangehendem Korb, also beim
Sinken, ist größer als im umgekehrten Pralle. Im
letzteren Falle, also beim Steigen, befindet sich
nämlich der Korb im Windschatten der Kugel
und erleidet dadurch nur einen geringen Wider-
stand. Die Ablösung der Strömung erfolgte, wie
zu erwarten war, erst hinter dem Äquator der
Kugel. Am Schluß spricht der Verf den Wunsch
aus, diese A'^erhältnisse an einem wirklichen Frei-
ballon zu untersuchen. Durch Abgabe einer be-
stimmten, abgewogenen Menge Ballast ist der
freie Auftrieb bekannt. Dieser nimmt allerdings
mit der Höhe ab; unter Zugrundelegung einer
linearen Abnahme des Auftriebes mit der Höhe
und des quadratischen Widerstandsgesetzes ließe
sich jedoch alles Nötige aus der Steiggeschwindig-
keit und der Vertikalbeschleunigung berechnen.
F. H.
Aeromechanik. Den Luftwiderstand eines Chemie. Über einen Versuch zur Bestimmung
Freiballonmodelles untersuchte im Anschluß an
Beobachtungen über den Luftwiderstand von Kugeln
C. Wiesel sberger in der Göttinger Modell-
versuchsanstalt. Er berichtet darüber in Heft 1 1,
des Hydratationsgrades von Salzen in konzentrier-
ten wässerigen Lösungen berichtet E. H. Riesen-
feld in Gemeinschaft mit C. Milchsack in der
Zeitschr. f. anorg. Chem., Bd. 85, S. 401 — 429.
538
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 34
Daß bei den Lösungsvorgängen in der Mehr-
zahl der Fälle chemische Verbindungen zwischen
Lösungsmittel und gelöstem Stoff, die sogenannten
„Solvate" (Hydrate, wenn Wasser, Alkoholate, wenn
Alkohol das Lösungsmittel ist) entstehen, kann
nach den Untersuchungen der letzten Jahre kaum
mehr bezweifelt werden. In wässerigen Salz-
lösungen wird man demnach einerseits hydratisierte
Ionen, andrerseits hydratisierte Salzmoleküle zu
erwarten haben, und zwar werden in verdünnten
Lösungen jene, in konzentrierten Lösungen diese
überwiegen. Eine Vorstellung über den Teil von
der Gesamtmenge des Salzes, der in der Lösung
als Hydrat vorliegt, läßt sich, wie Riesen feld
und Milchsack zeigen, wenigstens für konzen-
trierte Lösungen in folgender Weise gewinnen:
Man bestimmt den Schmelzpunkt des reinen
kristallisierten Hydrats, z. B. den des Zinknitrat-
hexahydrats ZntNOglj -öRjO. Dieser Schmelz-
punkt ist der Temperaturpunkt, bei dem das
Hexahydrat unter Abspaltung von drei Mole-
külen Wasser in das nächstniedrigere Trihydrat
Zn(NO,),-3H.,0 übergeht:
Zn(NO;)., ■6H.,0 :^ Zn(NO,)., ■ 3H,,0 + 3H.,0.
Nun wird nach den bekannten van't Ho ff sehen
Gesetzen ') der Schmelzpunkt eines Stoffes, z. B.
des Eises, durch Anwesenheit solcher Fremdstoffe,
welche sich in der Schmelze zu lösen vermögen,
erniedrigt. Dieser Fall tritt beim Zinknitrathexa-
hydrat ein : Der eigentliche, der „theoretische"
Schmelzpunkt des Salzes, d. h. der Temperatur-
punkt, bei dem das Salz schmelzen würde, wenn
es sich nicht gleichzeitig zersetzte, muß höher
liegen als der tatsächlich gefundene, der „wirk-
liche" Schmelzpunkt, denn bei diesem wirken ja
als Fremdbestandteile, die sich in der Schmelze
zu lösen vermögen, das Zinknitrattrihydrat und
das Wasser mit. Diese Schmelzpunktserniedrigung
ist proportional der Anzahl der in der Schmelze
gelösten fremden Moleküle, aber unabhängig von
ihrer chemischen Natur. Bezeichnet man daher
die molekulare Schmelzpunktserniedrigung, d. h.
die Anzahl Grade, um die der Schmelzpunkt sinkt,
wenn in loo Molen des schmelzenden Stoffes ein
Mol eines Fremdstoffes aufgelöst ist, mit E, so
wird, wenn n fremde Mole in lOO Molen aufgelöst
sind, die Erniedrigung /\ beobachtet werden:
^ = nE oder n =^
Kennt man also im Falle der schmelzenden Hydrate
die molekulare Schmelzpunktserniedrigung E und
außer dem wirklichen auch den theoretischen
Schmelzpunkt und damit die beobachtete Schmelz-
punktserniedrigung /\, so kann man den Dissozia-
tionsgrad des Hydrates berechnen.
Um A^ und E zu erhalten, verfuhren Riese n -
feld und Milchsack in folgender Weise: Sie
ermittelten zunächst den Schmelzpunkt des reinen
Hydrats, setzten dann etwas Wasser hinzu und
ermittelten den Schmelzpunkt wieder und so fuhren
sie einige Male fort. Trugen sie die so gewonnenen
Zahlen als Funktion der dem Hydrate zugesetzten
Wassermenge in ein Koordinatensystem ein, so
erhielten sie die in der nebenstehenden Abbildung
dargestellte typische Kurve; Mit steigendem Wasser-
zusatz sinkt der Schmelzpunkt des Hydrats erst
langsam, dann etwas rascher und nimmt schließ-
lich streng proportional mit der zugefügten Wasser-
menge ab. Die Deutung dieser Kurve ist die
folgende: In der Schmelze besteht, wie bereits
weiter oben angegeben wurde, das Gleichgewicht
Zn(N0J.,-6H.;0 ^=>: ZnlNOg)., ■ 3H.,0 + 3H.3O.
Die Lage des Gleichgewichts ist also nach dem
Massenwirkungsgesetz ') durch die Gleichung
[Zn(NO,)o-6H..O]
[Zn(N03),.3H;ö:[H.,0]«^
konstant,
gegeben, wenn die eckigen Klammern die Mole-
kularkonzentrationen der in ihnen angegebenen
Stoffe darstellen. Wird nun mehr und mehr
Wasser zu der Schmelze gefügt, so wird der Zer-
fall des Hexahydrats mehr und mehr zurück-
eedränet, bis schließlich bei starkem Wasserzusatz
der Zerfall des Hydrats praktisch überhaupt aus-
bleibt. Anfangs wird also ein Teil des Wassers
zur Rückbildung des Hexahydrats verbraucht, und
darum bleibt die wirkliche Schmelzpunktserniedri-
gung hinter derjenigen zurück, die man der Größe
des Zusatzes nach eigentlich erwarten sollte. Mit
wachsendem Zusatz von Wasser spielt dieser Ver-
brauch an Wasser eine geringere und geringere
Rolle, und wenn schließlich die Dissoziation des
Hexahydrats vollständig zurückgedrängt ist, wird
die Schmelzpunktserniedrigung einfach proportio-
nal der zugesetzten Wassermenge, die Schmelz-
punktskurve wird zu einer Geraden. Das zeigt
nun das Diagramm. Würde der Zusatz von
ZOO
wo
600
800
äi 0
E
I I I ' 1 . V
Mol ri;0 in 100 Hol (lexahydrar
Wasser zur Schmelze keinen Verbrauch an Wasser
zur Folge haben, so würde die Erniedrigung des
Schmelzpunktes, wie es die gestrichelte Kurve
andeutet, vom Schmelzpunkt des Hexahydrats
(36,4" C) proportional der zugesetzten Wasser-
') Vgl. z. B. W e r n e r M e c k 1 e n b u r g , ,,Die verdünnten
Lösungen", Naturw. Woclienschr. X. F. Bd. II, S. 15 — 20;
1903.
') Vgl. A. Orechow, Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. VI,
s. 536— .>4i; 1907.
N. F. XIII. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
5,^9
menge sinken. Tatsächhch aber ist die beobach-
tete Erniedrigung des Schmelzpunktes infolge des
Wasserverbrauchs geringer, wie der Verlauf der
die wirklichen Beobachtungsdaten zusanmien-
fassenden ausgezogenen Kurve zeigt. Verlängert
man nun das gerade Stück der ausgezogenen Kur\c,
ohne Rücksicht auf die Krümmung zu nehmen,
bis zum Schnittpunkt mit der Ordinate (46" C),
so erhält man den theoretischen Schmelzpunkt
des Hexahydrats, denn dieser Schnittpunkt ent-
spricht ja demjenigen Temperaturpunkte, bei dem
das reine Hexahydrat ohne Wasservusatz schmelzen
würde, wenn kein Zerfall in Trihydrat und Wasser
stattfände. In der Gleichung
ist also
A = 46,0 - 36,4 = 9,6" c.
Die molekulare Schmelzpunktserniedrigung E er-
gibt sich aus dem Winkel « = 47,5, den die Ge-
rade mit der Ordinate bildet, zu 0,93 ; es ist also,
da die Abszisse einen zehnmal kleineren Maßstab
als die Ordinate hat,
E = 0,093.
Nun verläuft der Zerfall des Hexahydrats nach
der Gleichung
Zn(N03)., -öRjO = ZnlNOgl, • 3H,0 + sH.O,
d. h. aus einem Molekül Hexahydrat entstehen
4 andere Moleküle. Wenn also beim Schmelz-
punkt von 100 Molekülen Hexahydrat x Moleküle
zerfallen, so sind 4x „verunreinigende Moleküle"
vorhanden. Es gilt demnach die Proportion
4x n
100 — X 100'
in der n wie früher die Anzahl der Fremdmole-
küle in 100 nichtzersetzten Molekülen Hexahydrats
angibt. Setzen wir diesen Wert von n in unsere
Gleichung ein, so erhalten wir
oder
0,092
9,6 • 1 00
400 X
100— X
= 19.
400-0,092 -f- 9,6
d. h. im Schmelzpunkt sind von 100 Molekülen
Zinknitrathexahydrat 19 Moleküle in Trihj-drat
und Wasser zerfallen.
Nach demselben Schema sind von Riesen-
feld und Milch sack noch eine Reihe anderer
Nitrate untersucht worden. Alle von ihnen er-
haltenen Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle
zusammengestellt, wozu nur zu bemerken ist, daß
die berechneten Werte für die prozentische Disso-
ziation beim Cadmiumnitrat und beim Kupfernitrat
unsicher sind, weil die Voraussetzung für die Rech-
nungen ,, glatter Zerfall des Hydrats in ein nie-
drigeres Hydrat und Wasser ohne Nebenreaktion"
bei ihnen wohl kaum zutrifft.
Salz
V a
■sg.
° B
Molekulare
Schmelz-
punkts-
erniedrigung
Betrag der
Dissoziation
beim
Schmelzpunkt
Mg(N03)„.6H2 0
90» C
9S» r
0,1550 c
11%
Mn(N03)2.öH20
25,8
28,5
0,076
9
Zn(N03)2-6H.20
36,4
46
0,093
19
Co(N03)2.6H20
57
63,5
0,105
13
Ni(N03)2.6HoO
56,7
60
0,0875
8
Cu(N03)2-6H20
244
45
0,070
(39?)
Cd(N03).,.4H20>)
59,5
90,5
0,113
(48?)
') Das Cadmiumnitrat kristallisiert mit vier Molekülen
Wasser; la der Schmelze wird das Gleichgewicht
Cd(N03)2-4H.>Ü -^ Cd^NOala-sHaO + aH-^ö
angenommen.
Msj.
Bücherbesprechungen.
Ulmer, Dr. Georg, Aus Seen und Bächen.
Die niedere Tierwelt unserer Ge-
wässer. Mit zahlreichen Abbildungen im
Text und 3 Tafeln. Naturwissenschaftliche
Bibliothek für Jugend und Volk. Leipzig,
Quelle & Meyer. — Preis geb. 1,80 Mk.
Seinem in der gleichen Sammlung vor 2 Jahren
erschienenen Bändchen über „unsere Wasser-
insekten" hat Ulm er jetzt ein zweites folgen
lassen, das die gesamte niedere Tierwelt unserer
Gewässer (exkl. Einzeller) behandelt. Auf eine
kurze historische Einleitung, die auch die wichtigste
zusammenfassende Literatur über die Hydrobiologie
der Binnengewässer bringt, folgen Einzelkapitel
über Bau und Lebensweise der Mollusken, Moos-
tierchen, Würmer, Schwämme, Polypen, Spinnen,
Krebse und Insekten. Im zweiten Teil wird ein
allgemeiner Überblick über die niedere Tierwelt
unserer Gewässer gegeben, und hierbei nachein-
ander die Tierwelt des Baches, die Tierwelt der
stehenden Gewässer sowie speziell das Plankton
besprochen. Das trefflich ausgestattete Büchlein
berücksichtigt überall die neuesten Untersuchungen ;
nirgends zählt es nur die Einzelformen auf, sondern
verknüpft sie im Sinne ökologischer P'orschung
und ist dabei in dem flotten, flüssigen Stil ge-
schrieben, der uns überall in den Arbeiten U 1 m e r ' s
so ansprechend entgegentritt. Es bietet weit
mehr, als man in einer Naturwissenschaftlichen
Bibliothek „für Jugend und Volk" wohl erwartet
und sollte in keiner biologischen Bibliothek fehlen.
Besonders den Zoologie-Studierenden kann es zur
Anschaffung nur wärmstens empfohlen werden.
Denn es regt zu eigner Weiterarbeit an.
Thienemann.
Auerbach, Felix, Die Weltherrin und ihr
Schatten. Ein Vortrag über Energie und
540
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 35
Entropie. Zweite ergänzte und durchgesehene
Auflage. Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1913.
Die kleine Schrift versucht mit viel Glück,
einem gebildeten Laienpublikum das Wesen und
die Bedeutung der beiden Begriffe klarzumachen,
welche das moderne System der l'hysik beherrschen.
Als „Einlauftour" vor der eigentlichen „Hochtour"
wird das erste Erhaltungsgesetz, das der Materie
kurz behandelt. Sodann leitet Verf zum Energie-
prinzip über, wobei er sich als x^nhänger der
Ostwald'schen Energetik zeigt. Aber das Energie-
prinzip ist nicht eigentlich das, was das Welt-
geschehen eindeutig bestimmt, es spielt nur die
Rolle einer „Aufsichtsbehörde". Seine notwendige
Ergänzung ist der zweite Hauptsatz, der Satz von
der beständigen Zunahme der Entropie eines voll-
ständigen Systems. Das Dämonische, welches dem
Entropiebegriffe innewohnt, ist treffend zum Aus-
druck gebracht, wie überhaupt Verf durch treffende
Vergleiche diese recht abstrakten Dinge dem Ver-
ständnis näherzubringen weiß. Auch an interessan-
ten Abschwenkungen auf das psychologische Ge-
biet fehlt es nicht.
l'arzival Runzc, Berlin-Eichterfelde.
Bolk, L., DieOntogenie derl'rimaten-
z ä h n e. Versuch einer Lösung der Gebiß-
probleme. VII und 122 Seiten mit 2 Tafeln
und 74 Abbildungen im Text. Jena 191 3,
Gustav Fischer. — Preis 5 Mk.
Prof. Bolk befaßt sich seit mehreren Jahren
mit Studien über die Ontogenie des Primatur-
gebisses. Eine abschließende Darstellung seiner
Ergebnisse ist bisher nicht erfolgt, weil es dem
Forscher, wie er selbst zugibt, an einer klaren
Einsicht mangelt, wie er die Elementarerscheinungen
zu einem organischen Ganzen zusammenfügen soll.
Denn in der Ontogenese, auch des Menschen-
gebisses, machen sichErscheinungen geltend, welche
merkwürdigerweise bis jetzt unbeachtet blieben,
obzwar deren Kenntnis die mit dem Gebiß in
Zusammenhang stehenden Probleme ihrer Lösung
wesentlich näher bringen könnte. Die vorliegende
Schrift enthält nur Teilergebnisse. Unmittelbaren
Anlaß zu ihrer Veröffentlichung liot Bolk's Be-
fürchtung, daß ohne Kenntnis der von ihm fest-
gestellten Tatsachen die Anschauung über die
Entwicklungsgeschichte unseres Gebisses in falsche
Bahnen gelenkt werden könnte. Die einzelnen
Abschnitte behandeln die laterale Schmelzleiste
und die Schmelznische, das Schmelzseptum und
den Schmelznabel, die Beziehungen des Säuger-
zahnes und Säugergebisses zum Zahn und Gebiß
der Reptilien. Im Schlußabschnitt werden auch
die auf die Entwicklung des Gebisses bezüglichen
Theorien anderer Forscher kritisch betrachtet.
Bolk's Schrift ist deshalb wichtig, weil sein
Versuch einer Lösung des Gebißproblems von
den geläufigen Ansichten stark abweicht und dabei
ein logisches Ergebnis aus wahrgenommenen Tat-
sachen ist. Hans Fehlinger.
Eisenlohr, Dr. F., Die Spcktrochemie or-
ganischer Verbindungen, Molekular-
refraktion und -Dispersion, mit 15 Fig.,
aus Chemie in Einzeldarstellungen. Herausgegeb.
von Prof J. Schmidt, III. Bd. Verlag von
Enke, Stuttgart, 19 12. — Preis 7 Mk.
Verfasser gibt uns in seinem vorliegenden
Werke einen Überblick über die Molekularrefrak-
tion und -Dispersion organischer Verbindungen.
Die Bezeichnung „Spektrochemie organischer Ver-
bindungen" entspricht allerdings nicht den modernen
Anschauungen, sondern denen von J.W. Brühl,
der diesen Ausdruck für die Beziehungen zwischen
den Refraktions- und Dispersionserscheinungen
der Körper und ihrer Konstitution geprägt hat.
Die Methoden, die Konstitutionen der Substanzen
auf diesem Wege zu bestimmen, sind jetzt für
jeden Chemiker von größter Bedeutung geworden.
Verfasser hat hier gezeigt, wie die vielen scheinbar
z. T. auseinandergehenden Gesetzmäßigkeiten, die
in den letzten Jahren aufgedeckt sind, in einer
eng zusammenhängenden Entwicklung stehen.
Nach einer Einleitung über die diesbezüglichen
Grundbegriffe gibt uns Verfasser ein klares Bild
von der Molekularrefraktion und -Dispersion als
additive Eigenschaft, von dem optischen Verhalten
der Ringbildung und von den spektrochemischen
Wirkungen von sich gegenseitig beeinflussenden
Gruppen. Ferner gewährt uns das Werk einen
Überblick über das Wesen des Drei- und Vier-
ringes, über Stoffe mit Doppelbindung, über die
spektrochemischen Wirkungen ungesättigter Ele-
mente und andere spektrochemische Erscheinungen.
Zum Schluß geht Verfasser ein auf die Anwendung
spektrochemischer Gesetzmäßigkeiten zur Kon-
stitutionsbestimmung und auf das Brechungs-
vermögen der gasförmigen, festen und flüssigen
Körper und Mischungen. — Das Werk bietet also
vieles über die Gesetzmäßigkeiten der Molekular-
refraktion und -Dispersion im Zusammenhang mit
der Konstitution der Körper und läßt den Chemiker
Leistungsfähigkeit und Grenzen der Anwendbarkeit
dieser Hilfsmethode erkennen, sowie den inneren
Zusammenhang dieser Methoden mit einigen anderen
physikalischen Hilfsmethoden. — Somit hat Ver-
fasser, der alle diesbezüglichen Fragen, wenn auch
manche nur kurz, soweit sie für den Chemiker in
Betracht kommen, erwähnt, durch diese Schrift
eine Lücke in der Literatur ausgefüllt.
P. Runze, Berlin-Lichterfelde.
Urbain, Prof. an der Sorbonne, Paris, Einfüh-
rung in die Spektrochemie, übersetzt ij
von Ülfilas Meyer, wissenschaftlicher Hilfs- 'fl
arbeiter an der Physikal. Techn. Reichsanstalt.
Mit 67 Figuren und 9 Tafeln. Verlag von Th.
Steinkopfif, Dresden und Leipzig, 191 3. — Preis
9 Mk., geb. 10 Mk.
Der Verfasser befaßt sich im vorliegenden Werke
mit einem Gebiet, der Spektrochemie, das für die
moderne Wissenschaft von der größten Bedeutung
ist. Sie ermöglicht es uns, die Konstitution der
N. F. XIII. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
541
Materie experimentell festzustellen. Dieses neue
Gebiet, eine Wissenschaft für sich, wenn auch noch
im Kntwicklungsstadium, dient den meisten Natur-
wissenschaften als unentbehrliches Hilfsmittel, wie
z. B. der Chemie und Astronomie. So hat z. B.
die Spektralanalyse, eine technisch experimentelle
Wissenschaft, zu der Entdeckung der meisten
seltenen Elemente geführt, die z. T. für Technik
und Industrie von unvergleichlichem Werte sind.
Nur mit Hilfe der Spektroskopie war es möglich,
sich in dem Chaos der vielen seltenen Erden zu-
recht zu finden und sie scharf voneinander zu
trennen. Dem Verfasser, der selbst die Methoden
der Spektrochemie sehr verbessert hat, ist es ge-
lungen, die Trennung bekannter und Auffindung
neuer seltener Erden, wie das Neoytterbium und
lAitetium, in dem früheren Ytterbium usw. zu
ermöglichen. Eine Einführung ist das Werk im
wahren Sinne des Wortes, da man ohne besondere
Vorkenntnisse die Abschnitte versteht, und viele
elementare Gesetze usw. kurz erörtert werden,
wobei die Max wel 1 - Theorie etwas sehr knapp
behandelt ist.
In ausführlicher Weise erhalten wir hier Auf-
schluß über Licht und Spektrum, über die durch
Wärme verursachte Emission und über die Flammen.
Ferner beschreibt er eingehend das Leuchten der
Gase bei geringerem Druck, sowie Herstellung
und Füllung der Geißlerröhren. Nachdem die
Vorgänge im Lichtbogen und das Bogenspektrum
behandelt sind, finden wir eine kurze klare Ab-
handlung über den elektrischen Funken, seine
Erzeugung, Beschaffenheit und Zerlegung durch
den Luftstrom, Beschreibung der Funkenspektren.
Das folgende Kapitel über Phosphoressenz ist
gründlich durchgearbeitet und enthält viele neue
Fragen behandelt und neue Beobachtungsmethoden,
ferner eine ausführliche Darlegung der Erscheinun-
gen, die von der Lichtquelle herrühren, wodurch
auf diesem Gebiete unerfahrene Beobachter vor
vielen Illusionen und Irrtümern bewahrt werden.
Sehr klar ist in dem Kapitel über die Absorption
das Lambert 'sehe und Beer 'sehe Gesetz ab-
geleitet. Die Bemerkungen des Verfassers über
den Zweck des Buches und Zukunft der Spektro-
chemie sind sehr einleuchtend. Er zeigt, wie
wichtig sie für den Chemiker ist, der noch immer
zu ungern sich mit den spektrographischen und
spektroskopischen Methoden befaßt, weil ihm die
Apparate und Resultate zu kompliziert erscheinen.
Wir sehen hier, wie die Methoden schneller und
exakter zum Ziele führen als die Gewichtsanalyse.
Allerdings vergißt Verfasser die bedeutend höheren
Ausgaben, die mit Anschaffung der Spektralapparate
verbunden sind und daher manchen Laboratoriums-
vorstand davon zurückhalten.
Durch die vielen Figuren im Text erleichtert
uns der Verfasser das Verständnis des Werkes
in sehr anschaulicher Weise, die es gestattet, an
ihrer Hand die Apparate leicht zu handhaben.
Erwähnt sei noch der Übersetzer Dr. U 1 fi 1 a s
Meyer, dem es glänzend gelungen ist, die Über-
setzung so zu gestalten, daß sich das Werk wie
ein deutsches Buch liest, das seinen vom Verfasser
beabsichtigten einheitlichen Charakter bewahrt.
Er hat viele Literaturangaben hinzugefügt, um für
Spezialinteressentcn das Nachschlagen erwähnter
Arbeiten zu erleichtern.
Der Chemiker wird aus dem Werke, zu dessen
Schöpfung Verfasser durch seine über diesen Gegen-
stand gehaltenen Vorlesungen an der Sorbonne
veranlaßt wurde, die wesentlichen Grundlagen
lernen, die nötig sind, um das theoretische und
experimentelle Studium der Chemie anzugreifen
und die aussichtsvollen Methoden kennen zu lernen.
P. Kunze.
Poincar^, Henri, Wissenschaft und Me-
thode. Autorisierte deutsche Ausgabe mit
erläuternden Anmerkungen von V. u. L. Linde-
m a n n. Druck und Verlag von B. G. Teubner,
Leipzig und Berlin, 1914. — Preis in Lwd. geb. 5 Mk.
Die bekannte Sammlung „Wissenschaft und
Hypothese", die mit zwei Werken Poincare's,
derem ersten sie ihren Namen verdankt, begann,
bringt als 17. Band eine dritte und leider wohl
letzte dieser eigenartigen Darstellungen, die man
— freilich muß das Wort erst aus dem Schmutz
gezogen werden, in den es gedankenloser Miß-
brauch getreten — im eigentlichen Sinne geist-
reich nennen dürfte. Vielleicht ist es wirklich
nur gallischem Geist möglich, in dieser Art und
in dieser Materie, als sei es nur ein Spiel, sach-
liche Gründlichkeit mit dem liebenswürdigsten
und graziösesten Plauderton zu verbinden. Ein
scharfsinniger, tiefgelehrter Geist, der gleichzeitig
anmutig ist — man darf wohl einen Augenblick
darüber nachdenken. Unwillkürlich kommt der
Vergleich mit den populären Arbeiten eines deut-
schen großen Gelehrten, der ebenfalls Mathema-
tiker war, Hermann v. Helmholtz — es
ist sehr lehrreich, ihn weiter zu verfolgen.
Das Buch zerfällt in vier Abteilungen, deren
Verbindendes ein gemeinsamer Grundgedanke ist:
die Welt ist unendlich; die uns Menschen zuge-
messene Zeit und Kräfte dagegen sind sehr endlich
und beschränkt: wie müssen wir sie anwenden,
um der Welt den möglichsten Gehalt abzugewinnen.
Natürlich behandelt Poincarc diese Frage nur
für das Gebiet der Wissenschaft (Naturwissenschaft),
aber er selbst macht darauf aufmerksam, daß sie,
wie auch teilweise die speziellen Probleme des
Buches, etwa das der mathematischen Erfindung,
einer Anwendung auf andere Gebiete fähig sind:
„so ist z. B. der Mechanismus der mathematischen
Erfindung von dem Erfindungsmechanismus über-
haupt nicht wesentlich verschieden". Dies ist
einer der F"aktoren, die das Buch für jeden lesens-
wert machen, auch wenn er zur Mathematik kein
unmittelbares Verhältnis hat.
Das Buch erschöpfend zu beurteilen, müßte
man eine Broschüre schreiben, und der sie schriebe,
müßte selbst ein hervorragender Gelehrter sein,
der die Elemente seiner, und der Wissenschaft
54:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 34
überhaupt, gleich gründlich durchdacht hätte wie
ihre derzeit letzten umstrittensten Konsequenzen.
Denn im selben Hauptabschnitte (dem 2.) finden
sich Ausführungen über den mathematischen
Elementarunterricht neben kritischen Behandlungen
einer neuesten und verwickeltsten Frage hochge-
steigerter mathematischer Kultur, der Beziehungen
zwischen Mathematik und Logik nämlich, und der
Versuche, die sich, wie es scheint, hauptsächlich
an die Arbeiten Cantor's anschließen, in diesem
abstrakten und verwickelten Gebiete weiter und
ins klare zu kommen. Über beide so weit von-
einander abliegenden Themata äußert sich Poin-
care mit der gleichen Klarheit und Eleganz, und
es gewährt ein intellektuelles Vergnügen beson-
derer Art, unter seiner hühruiig als Nichtmathe-
matiker von den abstrusen .-arbeiten (?outurat's,
Peano's, Russel's und anderer nicht nur eine
Vorstellung zu erhalten, sondern bis zu der an-
genehmen Täuschung gebracht zu werden, man
habe sogar ein Urteil darüber. Täuschung sage
ich, weil zu einem wirklichen, d. h. eigenen Urteil
in diesen Materien nur eine geringe Anzahl Spezia-
listen derzeit befähigt sein dürfte — Poincarc
war es anscheinend in besonders hohem Maße.
Von den vier Hauptabschnitten des Buches
heißt der erste : Forscher und Wissenschaft. Außer
interessanten Erörterungen zur Psychologie des
gelehrten Arbeiters und der Wissenschaft selbst
(wenn man sie als lebendigen (Organismus betrach-
tet) findet sich auch hier ein Kapitel über den
Zufall, dessen Probleme Poincarc, wie es scheint,
besonders interessierten, da er schon früher darauf
zu sprechen kam (in ,, Wissenschaft und Hypothese").
— Von der zweiten Abteilung, betitelt ,,Die mathe-
matische Schlußweise", war schon die Rede, sie
enthält die Auseinandersetzungen über den mathe-
matischen Unterricht und die Kritik der ,, Logistik",
außerdem ein Kapitel über die Relativität des
Raumes.
Das dritte Buch „Die neue Mechanik" mit den
Kapiteln „Mechanik und Radium", ,, Mechanik und
Optik" und ,,Die neue Mechanik und die Astro-
nomie" stellt mit ihren Erörterungen über die
Loren tz'sche Theorie, das Relativitätsprinzip
usw. ziemlich hohe Anforderungen an den Leser,
und vielleicht ist Poincare's Präzision und Klar-
heit diesem Abschnitte am meisten zustatten ge-
kommen. Es dürfte manchem fast unmöglich er-
scheinen, ziemlich ausführlich über diese Dinge zu
handeln, ohne eine einzige Gleichung niederzu-
schreiben. — Das letzte Buch endlich, „Die Wissen-
schaft der Astronomie", enthält eine höchst an-
regende Betrachtung über die ursprünglich von
Lord Kelvin ausgesprochene Idee einer Betrach-
tung der Milchstraße vom Standpunkte der kine-
tischen Gastheorie aus. Poincare sagt darüber,
er ,,habe hier keine neuen Resultate zu verkündigen",
er könne ,, nichts anderes tun als eine Vorstellung
von den Problemen geben, die sich darbieten,
die zu lösen aber bis heute noch niemand ver-
sucht hat". Wir befinden uns also hier dicht am
Rande des dunklen und ungeheuren Gebietes unserer
Unwissenheit, in einer Region, die die Strahlen der
gegenwärtigen Wissenschaft nur erst mit einem
schwachen Dämmerlicht zu erleuchten beginnen.
Ein zweites Kapitel entwirft eine kurze, wie das
ganze Buch sehr gut geschriebene Skizze des rühm-
lichen Anteils, den Frankreich an der geodätischen
P^orschung genommen hat.
Bei diesen kurzen Andeutungen des Inhalts
muß es an dieser Stelle sein Bewenden haben,
wenigstens geht aus ihnen so viel hervor, daß das
Buch in jedem Sinne lesenswert ist, und keines-
wegs nur, ja nicht einmal hauptsächlich, für den
eigentlichen Fachmann. Die Anmerkungen von
¥. Lindemann geben erwünschte Möglichkeiten,
durch erläuterte Literaturangaben ein tieferes Ein-
dringen in die von Poincare behandelten Pro-
bleme zu ermöglichen. Leider fehlt diesmal ein
Autoren- und Sachregister, das z. B. der ersten in
der Sammlung erschienenen Arbeit Poincare's
beigegeben war und das Referent als so nützlich
zum Studium befunden hat, daß er den Wunsch
nicht verschweigen kann, es möchte auch dem
vorliegenden Werke bei einer zweiten Auflage
ein Register angehängt werden.
Noch einige Worte über ein drolliges Ouid-
proquo. In dem höchst interessanten Kapitel über
die mathematische Erfindung ist (auf Seite 46)
öfters von dem ,, sublimen Ich" die Rede. Ich
weiß nicht, welches Wort im französischen Text
steht, da ich ihn nicht vergleichen kann. Im
Deutschen kann der Ausdruck sublim jedenfalls
nur irreführend wirken. Bei seiner ersten An-
führung ist zwar gesagt : „das unbewußte, oder
wie man sagt , das sublime Ich" — aber das
können wir eben nicht sagen. Das Fremdwort
sublim bedeutet im Deutschen schlechtweg hoch,
erhaben, vergeistigt u. dgl. Sachlich handelt es
sich aber nicht um ein erhabenes Ich, sondern
offenbar um das sublim i 11 ale Ich, das Ich sub
limine, unter der Schwelle — des Bewußtseins
nämlich. Die Engländer nennen es subliminal,
auch wohl subconscious mind, der Ausdruck ist
in der modernen psychologischen, speziell der
okkultistischen Literatur häufig. Wollen wir das
Wort subliminal oder auf deutsch „unterschwellig"
nicht brauchen, so wäre ,, unbewußtes Ich" ein
leidlicher, obwohl nicht unmißverständlicher Aus-
druck. — Da weiterhin an der betreffenden Stelle von
dem sublimen Ich ohne Zusatz die Rede ist, werden
viele Leser an ein besonders hochstehendes und
feierliches Ich in uns denken, wozu dann der letzte
Absatz der Seite 46, der beginnt: „Das sublime
Ich steht keineswegs tiefer als das bewußte Ich", ||l
einen unbeabsichtigt belustigenden Kommentar H
bildet. Wasielewski.
Hegi, Gustav, Dr., Aus den Schweizer-
landen. Naturhistorisch-geographische Plau-
dereien. Mit 32 Illustrationen. Druck und Ver-
lag: Art. Institut Orell Füßli, Zürich 191 4. —
N. F. XIII. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
543
In farbigem Umschlag brosch. Fr. 2,50 (Mk. 2),
geb. in Lwd. Fr. 3 (Mk. 2,50).
Das kleine, angenehm geschriebene und hübsch
ausgestattete Buch, dessen Illustrationen z. T.
Originalaufnahmen des Verfassers sind, enthält 9
Abhandlungen verschiedenen Umfanges und In-
teresses. \Vährend der Bericht über Zerfall und
Erhaltung der Utlibergkuppe, über eine Hochwasser-
katastrophe im Misoxtal, sowie einige andere,
lediglicii oder hauptsächlich ein schweizerisches
Lokalinteresse haben, verdienen andere unsere
ungeteilte Aufmerksamkeit. So vor allem gleich
die erste und (mit einer Ausnahme) längste Ab-
handlung, ein Bericht über den ganz neuerdings
angelegten ,, Schweizerischen Nationalpark". Da
die Naturschutzbewegung eine P>age von größter
Bedeutung hinter sich hat, nämlich ob der Begriff
der „freien Natur" wenigstens in Europa und Nord-
amerika ein bloßer Klang zu werden bestimmt ist,
dem nichts Lebendiges mehr entspricht, oder ob
wir diese (Juellc edelsten Genusses und wahrhaften
Lebensgewinns uns und unseren Nachkommen
wenigstens an einigen Punkten rein und unver-
fälscht erhalten wollen, sei auf Hegi's klaren und
verständnisvollen Bericht besonders aufmerksam
gemacht. Die Reservation liegt in der Südostecke
von Graubünden, zwischen Ober- und Unterengadin
und umfaßt das sogenannte Ofengebiet. Nach
einigen klimatischen und geologischen Angaben
behandelt der Verfasser ausführlicher die sehr in-
teressante l'lora des Gebietes, sodann die Tierwelt,
bei der die hocherfreuliche Möglichkeit bemerkens-
wert ist, daß der Bär, der in diesen wilden und
einsamen Tälern immer noch, wenngleich ver-
einzelt, beobachtet wurde, nunmehr im Schutze
des Nationalparkes hofientlich der mitteleuropä-
ischen E'auna dauernd erhalten bleiben wird. Es
folgt eine Schilderung der Straßen, der Täler selbst,
der mit den betr. Gemeinden geschlossenen Ab-
kommen, sowie der getroffenen Maßregeln, die
naturgemäß auf den Ausschluß jeder wirtschaft-
lichen Nutzung und ähnlicher Eingriffe in das
Naturleben, sowie auf die sehr nötige Überwachung
des Gebietes durch besonders angestellte Wärter
hinauslaufen. Auch der Steinbock, über dessen
versuchte und, wie es scheint, glückende Wieder-
einbürgerung in der Schweiz der letzte Aufsatz
des Buches ausführlich berichtet, soll in den Natur-
park, in dessen Gebiet er nach Hegi's Mitteilungen
früher einheimisch war, eingesetzt werden. Schließ-
lich s^oll Italien beabsichtigen, das unmittelbar an
den Schweizer Park anstoßende obere Livignotal
als „Italienischen Nationalpark" anzugliedern, was,
da die Natur keine politischen Grenzen kennt,
einer sehr dankenswerten und zu begrüßenden
Verdoppelung des geschützten Gebietes gleich-
kommen würde. Hoffentlich gedeiht die ganze
erfreuliche Unternehmung aufs beste. Übrigens
ist aus leicht verständlichen Gründen für Italien
ein Naturpark im Süden des herrlichen Landes
ein noch weit nötigeres und wünschenswerteres
Unternehmen, als jener alpine.
Von den übrigen Aufsätzen des Büchleins ist
für Deutschland der fünfte: „Unsere Blutbuchen"
von besonderem Interesse, da auch hier die alte
oft behandelte Frage erörtert wird, ob die be-
rühmte Blutbuche der Thüringer Hainleite, nahe
bei Sondershausen, ihren Ruhm als Stammutter
sämtlicher Blutbuchen, der ihr verschiedentlich zuge-
sprochen wurde, wirklich verdient. Da Referent
zufällig, in Sondershausen wohnhaft, diesen Baum
und den von Hegi zitierten Verfechter obiger
Anschauung, Herrn Oberlehrer G. Lutze, per-
sönlich kennt, und noch jüngst auf einer Radfahrt
sich von dem Wohlergehen des berühmten und
um die Pfingstzeit besonders schönen, in tief-
dunkelrotem Laubschmucke prangenden Baumes
überzeugt hat, darf er sich vielleicht noch eine
kurze Mitteilung über ihn gestatten.
Der bekannte Porstmann und Ornithologe
Joh. Matthäus Bechstein in seiner „Forst-
botanik" und R e u m in einem gleichnamigen
Werke waren wohl die ersten, die diese Buche in
die Literatur einfüiirten, kurz nach Begitm des
19. Jahrhunderts. Sie scheint auf Autorität dieser
Werke hin bei uns lange Zeit unbestritten als die ein-
zige Originalblutbuche gegolten zu haben. Neuerdings
aber haben Nachrichten über Blutbuchen in der
Schweiz (Dorf Buch im Kanton Zürich) und be-
sonders in Südtirol (bei Rovereto und an anderen
Orten), die zum Teil viel weiter hinaufreichen, als
das Alter des Sondershäuser Exemplars betragen
kann, sowohl diesem als auch den Schweizer Buchen
jenen Ruhm endgültig entrissen. Es gab nämlich
im Mittelalter in Bozen ein Geschlecht der „Rodten-
puecher", welches ein rotes Buchenblatt im Wappen
führte und im Mannesstamme schon 1471 ausstarb.
Die Sondershäuser Buche wird nur auf etwa 200
Jahre geschätzt.
Ist damit, wie schon aus Gründen allgemein
botanischer Natur von vornherein wahrscheinlich
war, als so gut wie erwiesen anzusehen, daß es eine
Originalblutbuche nicht gibt, sondern daßdiese Varie-
tät unabhängig voneinander an sehr verschiedenen
Orten aufgetreten ist, so bleibt doch derSondershäuser
Buche der Vorzug, eins der wohl zweifellos autoch-
thonen Exemplare zu sein, und zweitens, wenigstens
in Deutschland, aber auch auswärts (es wird an-
gegeben, daß u. a. sehr viele Pfropfreiser nach
Nordamerika gegangen seien) den Ursprung vieler
anderer Blutbuchen abgegeben zu haben. Der
Baum, der inmitten der wundervollen Buchen-
bestände der Hainleite nicht ganz frei, sondern
umschlossen von einer Gruppe ebenfalls sehr
schöner und z. T. noch höherer gewöhnlicher
Buchen steht, soll (nach Lutze) 27 Meter hoch sein.
Sein Stammumfang beträgt in Schulterhöhe etwa
3,50 Meter, der Durchmesser danach etwas über
einen Meter. Übrigens pflichtet auch Herr Lutze
jetzt der Ansicht bei, daß der thüringer Baum
nicht die Stammutter sämtlicher Blutbuchen sein
kann. Wasielewski.
544
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XlII. Nr. 34
Anregungen und Antworten.
Herrn D. K. in E. — Über das Gebiet der Regierungs-
bezirke Cöln und Aachen unierrichtet vollständig v. Dechen
mit der geologischen Spezialkarte von Rheinland und West-
falen (l : 80000) und den zugehörigen Erläuterungen. Über
besondere Teile der Eitel, des Siebengebirges usw. sind spe-
zielle Führer vorhanden (z. T. allerdings aus älterer Zeit).
Außerdem ist bereits ein Teil der Regierungsbezirke von der
Kgl. Preuß. Geologischen Landesanstalt zu Berlin im Maß-
stabe I : 25 000 kartiert worden. Ein Verzeichnis der bereits
erschienenen Blätter können Sie von der Vertricbsstelle der
Landesanstalt, Berlin N4, Invalidenstraße 44, kostenlos be-
ziehen. Str.
Herrn Dr. W. in F. — Ist in der Literatur bereits etwas
Näheres bekannt über die Löslichkeit einzelner Karbide, spez.
der Alkali- und Erdalkalikarbide, in verschiedenen Lösungs-
mitteln, besonders in Metallen-
Systematische Llntersuchungcn über die Löslichkeit von
Alkali- und Erdalkalikarbiden in solchen Lösungsmitteln, in
denen die Karbide keine Zersetzung erleiden, liegen nicht vor.
Über das Verhalten von Calciumkarbid gegen Metalle hat
insbesondere M o i s s a n (vgl. G m e 1 i n - K r a u t ■ E r i e d h e i m -
Peters ,, Handbuch der anorganischen Chemie", Bd. II, Ab-
teil. 2, S. 322; Heidelberg 1909) einige wenige Angaben ge-
macht, die für Sie aber wohl kaum von größerem Interesse
sind. Übrigens finden Sie wohl alles, was über die Karbide
auch der Leichtmetalle bekannt geworden ist, außer in dem
angeführten Handbuche auch in der sorgfältig bearbeiteten
Monographie von O. H ö nigsc h mi d „Karbide und Suizide"
(Halle 1914). Auch sei auf das im Erscheinen begriffene
,, Handbuch der Metallographie" von Guertler verwiesen,
das in ungemein sorgfältiger Weise die gesamte, sehr zer-
splitterte melallographische Literatur zusammenfaßt; das Heft,
das die Eisen-KohlenstolTlegierungcn bespricht, ist vor einiger
Zeit veröffentlicht worden, das Hell, in dem die Legierungen
des Kohlenstoffs mit den anderen Metallen behandelt werden,
muß in nächster Zeit erscheinen; vielleicht können Sie dann
den in dem Werke gegebenen Zustandsdiagrammen der frag-
lichen Systeme einige Sie interessierende Daten entnehmen.
Mg.
Herrn Dr. W. in Gießen. — Über das Keimen der Mistel
wurde in dem namhaft gemachten Aufsatze nichts berichtet,
weil wir über die Ursachen des Keimverzuges bei dieser
Pflanze noch nicht genügend orientiert sind und es gerade
dort vorzüglich darauf ankam, diese zu untersuchen. Zweifel-
los gehört die Mistel zu den ersten Beispielen, bei welchen
— durch Wiesner — der Keimverzug festgestellt wurde.
Im Herbst gesammelte Samen keimen nach diesem Autor nicht
oder nur zu ganz geringen Prozentsätzen vor dem nächsten
Frühjahre. In neuerer Zeit hat Heinrich er durch Ver-
bringung der Mistelsamen unter erhöhte Temperatur die Ruhe-
zeit der Mistelsamen erheblich abzukürzen vermocht. Über
neuere Untersuchungen , welche sich mit der Wirkung des
Passierens von Vogelmagen bei den Mistelsamen beschäftigen,
ist mir nichts bekannt. Dagegen liegen andere solche Unter-
suchungen vor. Es soll hier nur beispielsweise an die Mit-
teilung Ostenfeld 's erinnert werden, welcher zeigt, daß im
Kote von Schwänen aufgefundene Samen bzw. Früchte von
Potamogeton natans schneller und reichlicher keimer, als un-
gefähr gleichzeitig am selben f )rte gesammelte frische F'rüchte.
Dabei zeigte sich, daß zeitsveis erhöhte Temperatur die Keim-
geschwindigkeit in beiden Fällen steigerte. Diese Keimbe-
schleuniguug durch Passieren des Vogelmagen ist nun in ver-
schiedener Weise erklärbar. Einmal kann man eine chemische
Wirkung des Magensaftes auf das Sameninnere annehmen, sei
es, daß Säuren oder Enzyme verantwortlich gemacht würden.
Weiter wäre an eine mechanische oder chemische Veränderung
der Schale zu denken , welche ein Sprengen erleichtert oder
den Wasserzutritt beschleunigt. Schließlich wäre an die Tem-
peraturwirkung zu denken. Eine sichere Entscheidung in der
einen oder anderen Richtung ist aber heute noch nicht zu
erbringen. E. Lehmann.
1 , Der die Fliegen be-
Nähercs findet sich in
Herrn F. Br. in Elberfeld. —
fallende Pilz heißt Empusa muscae.
jedem Lehrbuch der Botanik.
2. Die Frage wegen des schnelleren Welkens von Blumen,
die von menstruierenden Frauen getragen werden , ist nicht
einmal diskutabel. Miehe.
3. Über die Ursache der von Ihnen beobachteten Unregel-
mäßigkeiten läßt sich aus der Ferne nichts Bestimmtes sagen.
Mecklenburg.
Literatur.
Annalen des k. k. Naturhislorischen Ilofmuseums, Band
XXVII, Nr. 4. Wien 1913.
Frech, Prof. Dr. Fritz, Allgemeine Geologie III. Die
Arbeit des fließenden Wassers. Eine Einleitung in die physi-
kalische Geologie. 3. erweiterte Auflage von „Aus der Vor-
zeit der Erde". Mit einem Titelbilde sowie 56 Abbildungen
im Text und auf 3 Tafeln. 209. Bd. der Sammlung ,,Aus
Natur und Geisteswelt". Leipzig und Berlin '14, B. G.Tcubner.
Geb. 1,25 Mk.
Buchner, Prof. Dr. H, Acht Vorträge aus der Gesund-
hcitslehre. 4. durchgesehene Auflage, besorgt von Prof Dr.
M. V. Gruber. Mit zahlreichen Textabbildungen. Ebenda.
I. Bd.
Unwin, Ernst, E. , Pond Problems. Cambridge '14,
University Press.
Ramsay, Sir William, Moderne Chemie. II.
Systematische Chemie. Ins Deutsche übertragen von Dr. Max
Ilulh. 2. Aufl. Halle '14, W. Knapp. 3,50 Mk.
Ruß, Dr. Karl, Die Amazonen, ihre Naturgeschichte,
Pflege und Züchtung. 2. gänzlich neubearbeitete und ver-
mehrte Auflage von Karl Neunzig. Mit einem Aquarelldruck
und 21 Abbildungen im Text. Magdeburg '14, Creutz. Geb.
3 Mk.
Tangl, Prof Franz, Energie, Leben und Tod. Vortrag,
gehalten in der Wiener Urania am 7. Februar 1914. Berlin
'14, J. Springer. 1,60 Mk.
NöUer, Tierarzt Wilhelm, Die Übertragungsweise der
Rattenlrypanosomen. Ein experimenteller und kritischer Bei-
lrag zur Kenntnis des Übertragungsproblems der Trypano-
somen überhaupt. Mit besonderer Berücksichtigung der para-
sitischen Protozoen einiger Hauslierflöhe. Mit S Textabbild,
und 2 Tafeln. Abdruck aus ,, Archiv für Prolistenkunde".
Jena '14, G. Fischer. 3 Mk.
Svedberg, The, Die Materie. Ein Forschungsproblem
in Vergangenheit und Zukunft. Deutsche Übersetzung von
Dr. H. Finkelstein. Mit 15 Abbildungen. Leipzig '14, Aka-
demische Verlagsgesellschaft m.b.H. Geb. 7,50 Mk.
Pearson, Karl, The Life, Letters and Labours of Francis
Galton. Vol. I. Birth 1S22 to marriage 1853. Cambridge
'14, University Press.
Brehm's Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs.
4. vollständig neubearbeitete Auflage, herausgegeben von Prof
Dr. Otto zur Strassen. Säugetiere 2. Band. Leipzig und
Wien '14, Bibliographisches Institut. Geb. 12 Mk.
Teil.
Inhalt: Neger: Neuere Ergebnisse und Streitfragen der Rauchschadenforschung. Brockmeier; Kritische Betrachtungen
über den Löß. — Einzelberichte: Dambergis und Komnenos; Lößregen. Wieselsberger; Luftwiderstand
eines Frciballonmodelles. Riesen feld und Milchsack; Über einen Versuch zur Bestimmung des Hydratations-
grades von Salzen in konzentrierten wässerigen Lösungen. — Bücherbesprechungen: Ulmer; Aus Seen und Bachen.
Die niedere Tierwelt unserer Gewässer. Auerbach; Die Wcltherrin und ihr Schatten. Bolk; Die Ontogenie der
Primalenzähne. Eisenlohr; Die Speklrochemie organischer Verbindungen, Molekularrcfraktion und -Dispersion.
Urbain; Einführung in die Speklrochemie. Poincare; Wissenschaft und Methode. Hegi; Aus den Schweizer-
landen. — Anregungen und Antworten. — Literatur ; Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. M i e h e in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzeil Reihe 29. Band.
Sonntag, den 30. August 1914.
Nummer 35.
Tierische Farbstoffe.
[Nachdrack verboten.] Von Dr. Emil
Den zahlreichen Farben, die uns im Tierreiche
begegnen, entspricht auch eine große Mannigfaltig-
l<eit im chemischen Aufbau der entsprechenden
Farbstoffe. Sämtliche Regenbogenfarben sind ver-
treten, vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Blau
und überdies die weiße und außerordentlich weit
verbreitet die schwarze Farbe. Leider ist die
chemische Natur dieser Farbstoffe noch viel zu
ungenau studiert, um ein allgemeines Einteilungs-
prinzip walten zu lassen. Es muß uns vielmehr
genügen in großen Farbengruppen diese Farb-
stoffe abzutun, die vom chemischen Standpunkt
meistens nicht zusammengehören. Aber auch
hier, wie überall in der Biochemie, stellt sich
zuerst der Name ein, wo längst noch die Begriffe
fehlen.
Die Farbstoffe sind im Tierkörper entweder
in den Körperflüssigkeiten gelöst (Blut-, Gallen-,
Harnfarbstoffe) oder als Gewebsfarbstoffe in den
Integumenten, Federn usw. aufgespeichert.
A. Gelbe und rote Farbstoffe.
In sämtlichen Tierklassen finden wir eine große
Anzahl gelber und roter Farbstoffe (Lipoch rome),
die zu gewissen Pflanzenfarbstoffen in Beziehung
stehen. Auf diesem Gebiete sind besonders die
Arbeiten Krukenbergs zu erwähnen, der mit
anderen Autoren die Klasseneinteilung der Lipo-
chrome auf Grund verschiedener Lösungsbedin-
gungen und auf das abweichende spektrale Ver-
halten traf. Diese Einteilung bleibt natürlich so
lange ungenügend, bis ein tieferes chemisches
Studium dieses Prinzip durch ein neues, dem
chemischen Bau der Farbstoffe entsprechendes,
ablösen wird. Die Lipochrome sind lichtempfind-
lich und verblassen im isolierten Zustande bald;
einige sind in schönen, roten Kristallen erhalten
worden, die sich als stickstofffrei erwiesen haben,
in Wasser unlöslich , dagegen löslich in orga-
nischen Lösungsmitteln sind. Zu diesen Lipo-
chromen gehört der Farbstoff des roten Flagel-
latten Euglena sanguinea, die F"arbstoffe zahl-
reicher roter und rotgelber Schwämme, Korallen,
Seerosen, Seeigel, Seesterne, die rotgefärbten Ova-
rien, der Verdauungsdrüsen der Seewalzen usw.
Unter den Crustaceen (Krebstieren) sind Lipo-
chrome auch weitverbreitet; man erhält sie z.B.
beim Kochen von Krebsen oder Hummern, die
dabei die bekannte rote Färbung annehmen (krebs-
rot). Dieser rote Farbstoff (Crustaceorubin) ent-
steht aus einem blauen Cyanokristallin genannt,
der in den Panzern der genannten Tiere an Kalk
gebunden zu sein scheint und auch in roten
Kriställchen rein erhalten, aber außerordentlich
Lenk (Darmstadt).
wenig studiert wurde. — Betrachten wir die
höheren Tierklassen der Zoologen weiter, so treffen
wir Lipochrome bei Insekten (z. B. in den Flügel-
decken der Marienwürmchen, der Feuerwanzen
usw.) an, bei Fischen (z. B. beim Goldfisch (Zoone-
rythrin genannt)), bei Amphibien (Gelb- oder Rot-
färbung von Salamandern, Fröschen usw.), bei
Reptilien (z. B. Schlangen und Eidechsen), bei
Vögeln (Schnäbel zahlreicher Vögel, Flamingo,
rote Ibis, Papagei, Eidotter usw.). Auch in der
Klasse der Säugetiere sind Lipochrome nicht selten
anzutreffen ; zu erwähnen wären nur die gelben
Farbstoffe des Blutserums, des Fettgewebes, des
Corpus luteum, die unter dem Namen Luteine
zusammengefaßt werden und sich als aus zwei
Farbstoffen bestehend erwiesen haben.
Von den Lipochromen unterscheidet Kruken-
berg die Uranidine, gelbe Farbstoffe, die auf
Alkalizusatz grün oder blaugrün fluoreszieren und
sich weiter leicht zu dunkelgefärbten Farbstoffen
umwandeln können. Auch die Uranidine sind in
Wasser unlöslich und in organischen Solventien,
wie in Alkohol oder Äther löslich, welche Lösungen
bei Luftzutritt dunkelviolett bis schwarz werden.
Speziell bei niederen Tieren finden sich diese
Farbstoffe weit verbreitet. Nimmt man z. B. den
Schwamm Aplysina aerophoba oder sulfurea aus
dem Wasser, so bemerkt man ein prächtiges
Farbenspiel: Er wird erst an der Oberfläche grün-
lich, dann blau und allmählich tief dunkelblau;
beim Erwärmen auf 70" färbt sich der Schwamm
dunkelviolett. Zu den Uranidinen gehört auch
noch eine Reihe gelber Korallenfarbstoffe, die sich
beim Absterben der Tiere dunkel färben und die
Farbstoffe einiger Seewalzen und Würmer (Are-
nicola), welche sich in Lösung oder besser beim
Ansäuern in dunkle Pigmente umwandeln.
Außer den gelben und roten Farbstoffen, die
zur Klasse der Lipochrome oder Uranidine ge-
hören, finden wir in den verschiedenen Tierklassen
noch andere rote Farbstoffe, von welchen einzelne
chemisch geklärt sind. Es gehören dazu die
Floridine, die sich durch ihre Wasserlöslich-
keit und Unlöslichkeit in organischen Lösungs-
mitteln von den Lipochromen und Uranidinen
scharf unterscheiden. Sie sind bei Spongien
(Schwämmen) und Korallen anzutreffen und fluores-
zieren in Lösung grün bis violett. Einen ähnlichen
roten F"arbstoff treffen wir im wasserlöslichen An-
tedonin bei den Haarsternen.
Zu einer anderen Gruppe von roten Farb-
stoffen gehört der Kermesfarbstoff (Schar-
lach), der in Deutschland besonders im Mittel-
alter beliebt war, und aus deutschem oder levan-
546
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 35
tischen! Kermes erzeugt wurde. Der deutsche
Kermes ist der getroct:nete Körper einer Schild-
laus (Lecanium ilicis), die von den Wurzeln ver-
schiedener Pflanzen, wie Weggras, Dünnkraut,
Scleranthus perennis usw. gesammelt wurde. Spe-
ziell zur Zeit der Hohenstaufen war die Scharlach-
rotfärberei in Deutschland sehr in der Blüte und
Heinrich der Löwe schenkt dem griechischen
Kaiser Scharlachkleider, die in Deutschland ge-
färbt waren. In der IVlark Brandenburg, in Sachsen,
Pommern und Preußen wurde so viel Kermes
gesammelt, daß er exportiert werden konnte.
Nach einem alten Rezept brauchte man zum
Färben eines Pfundes Seide 6 — 8 Pfund märki-
schen oder 10 — 12 Pfund levantischen Kermes;
der letztere besteht aus dem getrockneten weib-
lichen Insekt der auf Eichen lebenden Kermes-
schildlaus, die speziell in Italien, Spanien und
Frankreich gesammelt wurde. Der Kermesfarb-
stoff, dessen chemische Konstitution zu erforschen
noch der Zukunft vorbehalten bleibt ist ebenso
stickstofffrei, wie die Karminsäure, der P'arbstoff
der Cochenille, der merkwürdigerweise zur
selben Zeit den deutschen Kermes stark zurück-
drängte, als man den Indigofarbstoff aus Indien
bezog und der deutsche Waidbau seinem Nieder-
gang entgegenging. Die Cochenille, die getrock-
neten weiblichen auf bestimmten Kaktusarten
lebenden Nepolschildläuse (Coccus cacti) wurde bei
der Entdeckung Mexikos den Europäern bekannt.
Karminsäure enthält einen Naphtalinkern in Ver-
bindung mit einem noch unaufgeklärten Rest
Cj(|H|r,0- und ist ein Beizenfarbstoff, dessen Zinn-
oxydlack lichtecht, karminrot ist und früher na-
mentlich in der VVollfärberei benutzt wurde; heute
ist er völlig ersetzt durch rote Azofarbstoffe, na-
mentlich Echtrot, Biebricher Scharlach und ähn-
liche. Die schöne, lichtemjifindhche Malerfarbe
Karmin ist der Aluminiumlack der Karminsäure,
die auch noch in der mikroskopischen Technik
zum Färben bestimmter Präparate benutzt wird.
Ein anderer roter kupferhaltiger Farbstoff fin-
det sich in den P'edern von Musophagiden, der
mit dem Blutfarbstoff (s. u.) verwandt ist. Ähn-
liche rote und grüne Farbstoffe erhält man aus
einigen Molluskengehäusen, die mit dem Gallen-
farbstoff zusammenhängen sollen. In die Klasse
der roten Farbstoffe gehört noch ein Farbstoff,
der im Altertum alle anderen an Feuer, Schön-
heit und Echtheit übertraf, aber dessen Herstel-
lung so schwierig und kostspielig war, daß er
stets nur ein Vorrecht der Reichen und Mächtigen
blieb. Es ist der Purpur farbsto ff, dessen
Verwendung im späten Mittelalter aufhörte und
seitdem nur noch als Symbol der Herrscherwürde
in Staat und Kirche ein Scheindasein ohne reale
Bedeutung führt. Die ältesten Urkunden scheinen
darauf hinzuweisen, daß die semitischen Völker
die Kunst der Purpurfärberei ausübten; Moses
ließ aus Purpur und doppelt gewirktem Byssus
den Vorhang des Allerheiligsten in der Stiftshütte
herstellen. Hohepriester hüllten sich in blau-
oder purpurrote Gewänder, und in der salomoni-
schen Zeit findet auch das weibliche Geschlecht
Gefallen an dieser Farbe. Auch den Ägyptern
scheint das Färben mit Purpur bekannt gewesen
zu sein; in dieser Beziehung ist ein Gedicht aus
der Zeit Ramses II. (1400 v. Chr.) interessant,
worin der Verfasser die Schattenseiten der ver-
schiedenen Berufe diskutiert. Vom Färber heißt
es: ,, Seine Hände stinken, sie haben den Geruch
fauler Fische , er verabscheut alles Tuch." Man
wird kaum an einen anderen Zweig der Färberei
denken können , da der beschriebene Geruch für
die Purpurfärberei charakteristisch ist. Speziell in
der letzten republikanischen, wie in der Kaiser-
zeit, erreichte die Purpurfärberei ihre höchste
Blüte. Senatoren trugen einen breiten Purpur-
saum um den Ausschnitt der Tunica (Latus clavus),
der Ritterstand war durch einen schmäleren Streifen
gekennzeichnet (Angustus clavus). Höhere Staats-
beamte und Priester trugen die purpurumsäumte
Toga praetexta; in ganz purpurne Gewänder, im
Ornat des kapitolinischen Jupiter zogen siegreiche
Feldherren durch den Triumphbogen. Als die
antike Kunst nach dem Zusammenbruche des
weströmischen Reiches in Byzanz noch späte
Früchte trug, wurde die Purpurfärberei verstaat-
licht und die Purpurfabriken in Tyrus, Byzanz
und an anderen Orten färbten nur Gewänder, die
für die kaiserliche Familie bestimmt waren. Mit
dem Untergang des byzantinischen Reiches war
es auch um die Purpurfärberei geschehen. Mit
der Eroberung Konstantinopels durch die Türken
waren auch für die Purpurfabriken die letzten
Tage gekommen. Aber nicht nur das Gewand
der Begüterten wurde mit dem Farbstoff der
Purpurschnecke gefärbt, sondern auch kostbare
Bücher, die Codices purpurci, und Urkunden,
Handschriften, wie der Codex argentcus, die Goti-
sche Bibelversion Ulfilas und die Wiener Genesis.
Bei der Betrachtung der uns überlieferten
Reste von purpurnen Stoffen oder Pergament
werden wir vergebens in den mattroten und blau-
violetten Tönen die einstige Pracht und Schönheit
suchen. Aus der Färbe Vorschrift, die uns Plinius
hinterlassen hat, wissen wir, daß der Farbstoff
den Purpurschnecken Murex brandaris, Murex
trunculus und Purpurea haemostoma entnommen
wurde. Die Purpurdrüse, ein kleines Organ der
Purpurschnecke, liefert in winzigster Quantität
einen zu Anfang weißen Schleim, der durch Salz-
zusatz und Erwärmen in den Farbstoff umgewan-
delt wurde. Die geringe Menge des P'arbstoffes,
die eine Purpurschnecke besitzt, macht es uns
erklärlich, daß zum Färben eines Tuches o. dgl.
eine Unzahl von Schnecken benutzt werden mußten,
und in der Zeit Dioclelians ein Pfund Purpur-
wolle in unserem Gelde auf ca. 940 Mark kam.
Die Aufklärung des chemischen Baues und
die künstliche Darstellung, die Synthese des Purpur-
farbstoffes glückte vor mehreren Jahren Paul
P'riedländer. Aus der Baeyerschen Schule her-
vorgegangen, isolierte er aus ca. 12 000 Purpur-
N. F. Xm. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Schnecken (Murex brandaris) 1,5 g Purpurfarbstofif.
Die Analyse verbunden mit S)-nthetischen Versuchen
hat die große Überraschung gebracht, daß der
antike Purpur ein Bromderivat des Indigofarbstoffes
ist. In der Purpurdriise erfolgt bei diesen Schnecken
die Assimilierung des Broms des Meerwassers an
den Indigokomplex, der auch sonst in verschiedenen
Eiweißstoffen anzutreffen ist. Wir müssen somit
den Purpurfarbstoff als Eiweißabkömmling ansehen.
Leider haben diese Forschungen die eine schmerz-
liche Enttäuschung gebracht, daß die Schönheit
des Purpurfarbstoffes unseren Ansprüchen gar nicht
mehr genügt, obzwar sich sein Preis ca. 1000 mal
billiger stellen würde als in der antiken Welt.
Die Farbe des „Purpurs" ist ein mattes Rotviolett,
daß unseren an die lebhaften und reinen Töne
der Anilinfarben gewöhnten Augen nicht mehr zu
imponieren vermag. Die Begeisterung der Alten
an der „herrlichen Pracht" des Purpurfarbstoff
können wir nicht mehr teilen und es könnte viel-
leicht manchem Glänze der Antike so ergehen,
wenn er mit ähnlichen exakten Methoden, wie sie
die Chemie besitzt, vor uns neu erstehen könnte.
Der vielleicht wichtigste rote Farbstoff ist der
Blutfarbstoff, von dem man schon vor der
Erkenntnis seiner physiologischen Funktion über-
zeugt war, daß er eines der wichtigsten Lebens-
elemente, wenn nicht das Leben selbst sei. Die
rote Färbung des Blutes rührt vom Hämoglobin
her, das bei den Wirbeltieren an die roten Blut-
körperchen gebunden ist; dieser Farbstoff findet
sich aber auch sonst in den Körperflüssigkeiten
zahlreicher Wirbellosen und zwar zumeist in freier
Form im Plasma gelöst. Wir finden das Hämo-
globin im Blute zahlreicher Würmer und bei
niederen Crustaceen. Die meisten Insekten haben
farbloses Blut und ebenso in der Klasse der Wirbel-
tiere der Amphioxus und die Larvenform der
aalarligen Fische, die Leptocephaliden. Das Hämo-
globin ist eine eivveißartige Substanz, die man in
Kristallform isolieren und in 2 Bestandteile spalten
kann, in den Eiweißstoff Globin und den F"arb-
stoff Hämatin. Das Globin, das an Quantität
das Hämatin weit überragt ist für die physio-
logische Funktion des Farbstoffes belanglos. Das
Hämatin enthält Eisen, das in sog. komplexer
F'orm darin vorkommt, also mit den gewöhnlichen
analytischen Methoden nicht direkt nachweisbar
ist. In seiner Bestimmung muß die Substanz zu-
erst verbrannt werden, wobei das Eisen als Eisen-
oxyd zurückbleibt, da die anderen Stoffe vergasen.
Es ist eigenartig, daß die außerordentlich mini-
male Eisenmenge, welche im riesigen Hämoglobin-
komplex nahezu verschwindet, mit der funda-
mentalen Funktion des Blutes, mit seinem Ver-
mögen den Sauerstoff der Luft festzuhalten und
an die Gewebe abzugeben in unmittelbarem Zu-
sammenhang steht. Dadurch wird das Hämoglobin
zum Repräsentanten der respiratorischen
Farbstoffe. Durch die Sauerstoffaufnahme färbt
es sich hellrot, wird zum Oxyhämoglobin, das bei
seiner Sauerstoffabgabe an die Gewebe wieder
zum dunkelrot gefäibten Hämoglobin reduziert
wird. Der Farbstoff Hämatin ist sauerstoffhaltig,
den sauerstofffreien Farbstoff nennt man Hämo-
chro mögen. Durch Behandlung mit starken
Säuren gelangt man vom Hämatin ausgehend zum
schön gefärbten Hämotoporphyrin, das ein
prächtiges, vierstreifiges Spektrum zeigt. Wird
das Hämatin mit konzentrierter Jodwasserstoff-
säure energisch reduziert, so erhält man ein un-
angenehm riechendes Ol, das Hämopyrrol,
dessen chemischen Bau der Münchner Chemiker
Piloty vollkommen aufgeklärt hat. Von be-
sonderer allgemein biologischer Bedeutung ist die
Tatsache, daß der grüne Blattfarbstoff, das Chloro-
phyll zu denselben Abbauprodukten führt, wie
der Blattfarbstoff. So sehen wir in diesen zwei
weitverbreiteten Farbstoffen eine innere Verwandt-
schaft. Sowie der rote Blutfarbstoff für den Tier-
körper eine Rolle spielt, so hat das Chlorophyll
für die Pflanze eine ähnliche, wenn auch entgegen-
gesetzte Bedeutung; denn während das Hämo-
globin als Sauerstoffüberträger den unentbehrlichen
Sauerstoff allen Zellen liefert (respiratorischer
Farbstoff), hat das Chlorophyll die Aufgabe,
die Kohlensäure der Luft zu assimilieren und sie
zum Aufbau komplizierter Stoffe zu verwerten
(assimilatorischer Farbstoff). Das Chloro-
phyll enthält als anorganischen Bestandteil Ma-
gnesium, das sich im Chlorophyll, ebenso wie das
Eisen im Hämoglobinmolekül, in komplexer Form
befindet. Es ist also sowohl die assimila-
torische Fähigkeit des Chlorophylls,
als auch die respiratorische des Hämo-
globin an die Gegenwart von Metallen
geknüpft.
Das Studium der Hämatinderivate wurde in
den letzten Jahren noch beträciitlich erweitert, als
Hausmann im früher erwähnten Hämatopor-
pliyrin einen photobiologischen Sensibilisator fand.
Wenn man weißen Mäusen eine geringe Menge
einer Hämatoporphyrinlösung einführt, so ver-
halten sie sich im Dunkeln noch nach Wochen
normal. Im Lichte entwickelt sich aber sehr bald
ein charakteristisches Vergiftungsgebilde, welches
mit Lichtscheu, Rötung und Schwellung der
Ohren sowie mit Hautödemen einhergeht und
sehr bald zum Tode führt. Dieselben Vorgänge
findet man auch bei einigen pathologischen Pro-
zessen , wie bei der bekannten Hautkrankheit
Hydroa aestiva, die mit einer starken Einwirkung
des Sonnenlichtes zusammenhängt. Eine ganz
eigenartige Vergiftung ist die Buchweizenkrankheit,
die Ähnlichkeiten mit der Hämatoporphyrinsensi-
bilisation hat. Es ist auch wahrscheinlich, daß
eine weit verbreitete Geißel der Menschheit die
Pellagra ebenfalls zu den Sensibilisationskrank-
heiten gehört, da z. B. auch die Hautaffektionen
der an dieser Krankheit Leidenden im Frühjahr
zu beginnen pflegen, wenn sie sich mehr dem
Sonnenlichte aussetzen. Es ist noch fraglich ob
allzugroße Maisernährung mit der Pellagra zu-
sammenhängt; aber so viel ist sicher, daß sich
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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bei mit Mais ernährten Tieren charakteristische
Hautveränderungen bei Behchtung einstellen.
Blaue Farbstoffe.
Der blaue Farbstoff findet sich in der Tier-
reihe weit weniger verbreitet als der rote. Er
ist als Cyanein im Schirme blauer Medusen
anzutreffen, der nur im Wasser löslich, unlöslich
in organischen Solventien ist und auf Säurezusatz
oder beim bloßen Erwärmen auf ca. 50" eine
rote Färbung annimmt. Bei einigen dekapoden
Crustaceen findet man in den Tegumenten eben-
falls einen blauen wasserlöslichen Farbstoff, das
Cyano kristallin, bei einem Fisch Crenilabrus
pavo auch einen prächtigblauen Farbstoff, der je-
doch beim Fisch nur im Frühjahr als Hochzeits-
kleid auftritt. Einige dieser Farbstoffe studierte
der Frager Physiologe v. Zeynek; fast unbekannt
ist das Pigment der blauen Koralle, der blaue
Farbstoff des Seeigels, der Meduse Pelagia usw.
Besser bekannt ist das Blut gewisser Mollusken
und Crustaceen, das sauerstoffhaltig eine blaue
Farbe besitzt und bei Sauerstoffmangel farblos er-
scheint. Diese Eigenschaft verdankt es dem
Eiweißköper Hämocyanin, der bereits kristal-
linisch erhalten wurde und ebenso wie das Hämo-
globin der Wirbeltiere Sauerstoff locker zu binden
vermag. Das Hämocyanin enthält aber
merkwürdigerweise Kupfer statt Eisen in seinem
Molekül.
Grüne Farbstoffe.
Grüne Farbstoffe sind als Pigmente nur bei
einigen Würmern und Arthropoden anzutreffen.
Das Bonellein der Würmer ist am genauesten
studiert. Es ist wasserlöslich; die alkoholische
Lösung ist im durchfallenden Lichte grün, im auf-
fallenden blutrot; beim Ansäuern der grünen
Lösung wandelt sich die grüne Farbe in eine rote
um. Der grüne P'arbstoff der Arthropoden wurde
lange Zeit als „tierisches Chlorophyll" aufgefaßt;
er ist z. B. bei den Flügeldecken der Canthariden,
bei bestimniten Heuschrecken usw. anzutreffen.
Es ist jedoch in den letzten Jahren von Przibram
in Wien der Nachweis geführt worden, daß das
Heuschreckengrün nicht dem pflanzlichen Chloro-
phyll entspricht. — Eine weitere Gruppe grüner
Farbstoffe finden wir in der Klasse der Gallen-
farbstoffe, die mit dem roten Blutfarbstoff, dem
Hämoglobin in naher chemischer Verwandtschaft
stehen und das wichtigste physiologische Abbau-
produkt des Blutfarbstoffes darstellen, welcher
Prozeß sich in der Leber vollzieht. Die Gallen-
farbstoffe treten in zwei Formen auf, im rotgelben
Bilirubin und in seinem Oxydationsprodukt,
dem grünen Biliverdin. Das Biliverdin bewirkt
die grüne Farbe der Galle. Überwiegt seine
Menge, dann zeigt die Galle eine olivgrüne Farbe;
wenn dagegen mehr Bilirubin zugegen ist, dann
finden sich rote resp. braune Töne. Jede Tierart
hat im allgemeinen eine bestimmt gefärbte Galle.
Der Gallenstoff tritt manchmal in großer Menge
in Gallensteinen auf; beim Rinde gibt es fast reine
Bilirubinsteine. Das Bilirubin steht der chemischen
Zusammensetzung des Hämatoporphyrins nahe
und ein Abbau führt zu denselben chemischen
Substanzen, wie beim Blutfarbstoff. Durch Oxy-
dation geht das Bilirubin leicht in grüne (Biliverdin),
blaue (Bilicyanin), rote und gelbe (Choletelin)
Farbstoffe mit ihren unzähligen Modifikationen
über, eine Tatsache, die man als Gmelinsche
Reaktion zum Nachweis des BiHrubins benutzt.
Die Einwirkung des Luftsauerstoffes führt zum
grünen Biliverdin, welcher auch sonst in Gallen-
steinen, im Darminhalt, im ikterischen Harn, in
der Leichengalle usw. anzutreffen ist. Ein anderer
Gallenfarbstoff des Bilipurpurin erscheint in
Lösung im durchfallenden Lichte rotviolett und
im auffallenden saftgrün, und wird als Um-
wandlungsprodukt des Chlorophylls aufgefaßt.
Wenn der Abfluß der Galle aus irgendeiner
Ursache erschwert und verhindert wird, sei es
durch ein Konkrement, eine Geschwulst usw., so
kommt es zu einem Symptomenkomplex, der .in
die Augen fallend ist. Die Haut und besonders
auch die Konjunktiva nehmen eine gelbe Farbe
an, die durch Gallenfarbstoff bedingt ist. Die
Galle staut sich, die Lymphbahnen tragen die
Gallenbestandteile dem Blute zu, wobei das Blut-
plasma intensiv gelb gefärbt ist; es kommt dabei
zur Abscheidung von Gallenfarbstoff in den Ge-
weben und auch in der Haut. Der Urin ist auch
sehr gelb gefärbt und zeigt Gmelinsche Reaktion.
Diesen Symptomenkomplex nennt man Ikterus
(Gelbsucht).
Eng mit der Frage der Gallenfarbstoffbildung
aus dem Blutfarbstoff, hängt das Problem des
U r o b i 1 i n s zusammen, als eines Farbstoffes, der
einer Reduktion des Gallenfarbstoffes seine Ent-
stehung verdankt. Das Urobilin wurde von dem
ausgezeichneten Königsberger Physiologen Jaffe
in den 60 er Jahren im Harn aufgefunden und
verdankt seine Entstehung seiner farblosen Vor-
stufe Urobilinogen, das sich außerordentlich
leicht in Urobilin umwandelt. Im normalen Or-
ganismus wird das Bilirubin der Galle im Darme
durch einen Reduktionsprozeß, der sich zumeist
im Dickdarm vollzieht, infolge des Zusammen-
wirkens der Darmbakterien mit der Schleimhaut,
zu Urobilinogen umgewandelt. Ein Teil des im
Darm gebildeten Urobilinogens gelangt mit den
Fäzes zur Ausscheidung, das in Urobilin um-
gewandelt wird. Ein anderer Teil des Urobilinogens
wird aber vom Körper aufgenommen (resorbiert),
gelangt durch den Blutkreislauf in die Leber, dann
aus der Galle in den Darm zurück und vollführt
so einen vollständigen Kreislauf. Ob sich das
Urobilin wieder in Bilirubin, den Gallenfarbstoff,
verwandeln kann oder vielleicht Blutfarbstoff direkt
in Urobilin übergeht, steht heute noch nicht fest.
— Der typische Harnfarbstoff, welchem der Harn
seine Färbung verdankt, ist fast ausschließlich
dasUrochrom, dem sich in kleiner Menge das
Uroerythrin usw. gesellt; diese F'arbstoffe sind
N. F. Xm. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
549
jedoch noch viel zu wenig studiert, um ihre Bil-
dung im Organismus erklären zu können.
Farbstoffe der Harnsäuregruppe.
Zu diesen Farbstoffen gehört z. B. das gelbe
Pigment des Zitronenfalters, das typische Harn-
säurereaktion gibt und sich beim Erwärmen mit
Schwefelsäure in eine purpurrote Substanz um-
wandelt. Auch das weiße F"lugpigment des Kohl-
weißlings besteht aus Harnsäure und ebenso ver-
dankt die „Silbersubstanz" in den Schuppen der
Knochenfische einem Körper aus der Harnsäure-
gruppe, dem Guanin, seinen Glanz, das auch
z. B. das gelbe Hautpigment der Borstenwürmer
bildet und ein typischer Bestandteil des Zellkernes
ist. Auch das rote Pigment der amerikanischen
Eidechse Diemyctylus viridescens wandelt sich
mit kochender Salzsäure in Harnsäure um.
Schwarze Farbstoffe (Melanine).
Die Gruppe der schwarzen oder schwarzbraun
gefärbten Farbstoffe wird unter dem Sammel-
begriff M e 1 a n i n e zusammengefaßt, die bei Wirbel-
tieren und Wirbellosen außerordentlich weit ver-
breitet sind. Unter normalen Bedingungen kom-
men sie als Pigmente der Haut (z. B. bei Negern),
Haare, Chorioidea, als Farbstoff des Tintensekretes
der Kopffüßler, bei pathologischen Neubildungen
vor, im Harn, der frisch gelassen schwarz gefärbt
sein kann usw. Die Melanine sind amorph, in
Wasser, organischen Lösungsmitteln, ja selbst in
den stärksten Säuren unlöslich, weshalb es sehr
schwer ist, ein einheitliches Produkt zu erhalten,
das als Ausgangsmaterial für die Konstitutions-
ermittlung des Melanins dienen könnte. Die Re-
sultate der Analysen und Abbauversuchc sind bei
diesen schwarzen Pigmenten sehr notdürftig und
vermögen durchaus nicht ihre komplizierte Ent-
stehung im Tierkörper zu erklären. Man nimmt
heute mit v. Fürth an, daß diese Melanine aus
Eiweißprodukten stammen , von welchen sich be-
stimmte Bruchstücke (Tyrosin) unter der Wirkung
oxydativer Fermente zu den schwarzen Farbstoffen
umwandeln. Vor allem ist diese Erkenntnis dem
französischen Forscher Gabriel Bertrand zu
danken, der das bekannte Nachdunkeln der Bruch-
flächen mancher Pilze auf die Umwandlung des
chemisch einfach gebauten Eiweißbruchstückes
Tyrosin mit Hilfe oxydativer Fermente, der
„Tyrosin äsen" zurückführen konnte. Später
ist es dann v. Fürth gelungen, die Eigenschaft
des farlosen, aber an der Luft sich schnell schwarz
färbenden Insektenblutes auf die Anwesenheit von
Tyrosinasen zu basieren ; auf Grund dieser Ar-
beiten ist dann der Reihe nach der Beweis für
die Bildung fast sämtlicher schwarzer Pigmente
infolge der Anwesenheit dieser Fermente erbracht
worden. Ja kürzlich ist es Bertrand gelungen,
den Vorgang der Dunkelfärbung des Schwarz-
brotes auf das Prinzip der Melaninbildung zurück-
zuführen.
Das Hiiugerii als fördernder Faktor der organischen Entwicklung.
[Nachdruck verboten.] Von Jar. Kiizeneckj' (Prag).
Es könnte geradezu als paradox erscheinen,
wenn das Hungern als fördernder P"'aktor der
organischen Entwicklung bezeichnet wird, wie dies
z B. Jickeli') getan hat. Das Lebensgeschehen,
als dessen bezeichnetstes Charakteristikum der Stoff-
wechsel zu gelten hat, dessen mechanische und
bei den meisten Organismen (die autotrophen
Pflanzen, welche mittels ihres Chlorophylls die
Sonnenstrahlenenergie zur Assimilation benützen)
auch chemische Tätigkeit sich auf Grund der
Verbrennung des größten Teiles der Nahrung ab-
spielt, soll nun durch Hungern, durch Mangel
an Ernährung, beschleunigt werden?
Auf diese Frage gibt uns eine Reihe von Be-
obachtungen und Experimenten eine so über-
zeugende Antwort, daß man darüber nicht mehr
im Zweifel bleiben kann. Es handelt sich um
Einwirkung des Hungerns auf die Vorgänge der
Morphogenese, der Entwicklung und Metamorphose
der organischen Formen und Strukturen und ihrer
Veränderung.
Zum ersten Male wurde das Hungern als
förderndes Prinzip in der Natur im Jahre 1887
1) Jickeli, F. C. : Die Unvollkommenhcit des Stoff-
wechsels als Veranlassung für Vermehrung, Wachstum, Diffe-
renzierung, Rückbildung und Tod der Lebewesen im Kampf
ums Dasein. Berlin, R. Friedländer, 1902.
von B a r f u r t h bezeichnet, nachdem dieser Forscher
bewiesen hat, daß die normale Metamorphose von
Fröschen durch das Hungern der Kaulquappen
beschleunigt werden kann. ') Etwas Ahnliches hat
in demselben Jahre auch Keller") für Insekten
gefunden: diesem Forscher ist es nämlich gelungen,
durch das Hungern die Metamorphose von Reb-
läusen (Pkylloxcra vastatrix) zu beschleunigen.
Später unternahmen in dieser Richtung Pict et
und K e 1 1 o g g mit Bell direkte Versuche an einigen
Schmetterlingen; leider gelangten sie zu ganz ent-
gegengesetzten Resultaten: während es Bietet^)
gelungen ist, die Metamorphose der Raupen durch
das Hungern zu beschleunigen, konnten Kellogg
und Bell*) eine solche Beschleunigung nicht finden.
Durch einige zufällige Beobachtungen wurde
') Vgl. darüber: Barfurth, D. : Versuche über die Ver-
wandlung der Froschlarven, und ders. : Der Hunger als för-
derndes Prinzip in der Natur. Arch. f. mikroskop. Anatomie.
Bd. 29.
*) Keller, C. : Die Wirkung des Nahrungsentzuges auf
Phylloxera vastatrix. — Zoolog. Anzeiger Bd. lo. 1S87.
') Pictet, A.: Des Variations des Papillons provenant
des cliangements d'alimentation de leurs chcmilles et de l'hu-
midite — Comt. rendu VI. Congr. intern, de Zoologie. Geneve
1904.
*) Kellogg, V. L. und Bell, R. G. : Notes on Insect
Bionomics. — Journ. of exper. Zoology. I. 1904.
550
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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ich in letzter Zeit dazu geführt, dieser Frage an
den Larven von Toicbrio luolitor, die allgemein
unter dem Namen ,, Mehlwürmer'' bekannt sind,
näher zu treten. Dabei gelangte ich zu Resultaten '),
die mich dazu berechtigen, der Ansicht Pictet's,
daß nämlich auch bei den Insekten, ähnlich wie
bei den Fröschen, die Metamorphose durch das
Hungern beschleunigt werden kann, beizustimmen.
Ich habe nämlich gefunden, daß Larven, welche
ein gewisses Alter überschritten haben und danach
absoluter Hungerung ausgesetzt worden waren,
ihre Metamorphose recht früher beendigen, als
gleich alte Kontrollarven, welche normalerweise
gefüttert wurden.
Aus dem Angeführten geht, glaube ich, ohne
Zweifel hervor, daß die Metamorphose, wie der
Amphibien, so auch der Insekten, in einem Zu-
sammenhange mit Ernährung steht. Diese Er-
scheinung tritt auch bei normaler Entwicklung
dieser Tiere in der Natur zutage. Schon Bar-
furth wies darauf hin, daß nach Marie von
Chauvins Versuchen''), „die Urodelen überall
während ihrer Metamorphosen fasten". Neuerdings
wurde dann direkt von Po wers ") bewiesen, daß
die Metamorphose des Axololl's in voller Un-
abhängigkeit von den äußeren Lebensbedingungen,
wie z. B. Feuchtigkeit des Mediums steht und
nur durch Ernährung sich regulieren läßt. Dieser
in der freien Natur vorkommende Zusammenhang
führte Barfurt h^) zu einer Erklärung der von
ihm beobachteten Beschleunigung: er weist darauf
hin, daß bei der Metamorphose von Fröschen es
sich in erster Reihe um eine Resorption verschie-
dener Gewebe handelt, z. B. des Schwanzes und
des die hinteren Füße bedeckten Häutchens. Da
diese Resorptionen im Falle des Hungerns schneller
vor sieh geht (wobei die Tiere diesen Vorgang
selbst fördern, indem sie gegen das Ende ihrer
Metamorphose fasten), so handelt es sich bei der
Beschleunigung der Metamorphose durch das
Hungern um keine direkte, sondern um eine
indirekte Wirkung derselben, indem der
natürliche Hungerungsvorgang durch den künst-
lichen verstärken wird.
Es scheint aber, daß diese Erklärung Bar-
furth's sich nicht leicht verallgemeinern läßt. Z.B.
bei den Insekten, wo auch die Metamorphose
durch das Hungern sich beschleunigen läßt, sind
die bei derselben vorkommenden inneren histolo-
gischen Umwandlungen grundsätzlich von den bei
der Metamorphose von Kaulquappen verschieden.
Hier findet keine Resorption statt, sondern alle
Gewebe zerfallen und die imaginalen Organe
') Kfizenecky, Jar. : Über die beschleunigende Ein-
wirkung des Hungerns auf die Metamorphose. — Biolog.
CeütralblaU. Bd. 34. Nr. i. 1914.
^) von Chauvin, Marie: Über die Verwandlung der
me.Nikanischen A.solotl in Amblystoma. — Zeitschr. f. wiss.
Zoologie. Bd. 27. 1876.
') Powers, J. H.: The causes of acceleration and retard
in the metamorphosis of Amblystoma tigrinum; a preliminary
raport. — American Naturlist. 37. 1 903.
*) Barfurth: Der Hunger als förderndes Prinzip. —
differenzieren sich dann von neuem mit Hilfe von
gewissen Bildungszentren, den sog. Imaginal-
scheiben. In diesem Falle ist es also nicht gut
möglich , Barfurth's Erklärung einzuwenden.
Und übrigens ist auch bei den Amphibien
der ganze Vorgang nicht so einfach, wie ihn
Bar fürt h schildert. Dieser Umstand führte mich
dazu, den Grund aller dieser Erscheinungen tiefer
zu suchen.
Man muß erwägen, daß hier nicht nur eine
Beschleunigung der Entwicklung äußerer mor-
phologisch erMerk male, sondern auch Ent-
wicklung des ganzen Tieres, welche sich
nicht in letzter Reihe durch Erreichung der Ge-
schlechtsreife auszeichnet, stattfindet. Besonders
klar kommt dieser Umstand bei den Insekten zu-
tage, wo die Imagen aus den beschleunigt sich
entwickelten Puffen immer geschlechtsreif liervor-
kommen; z.B. Keller gibt ausdrücklich von den
durch die Hungerkur zur Verwandlung gezwunge-
nen Rebläusen an, daß sie in den Zuchtgefäßen
bereits Eier abgelegt haben, welche sich als voll-
kommen entwicklungsfähig erwiesen haben.
Wenn wir nun die Beschleunigung der Meta-
morphose durch das Hungern von diesem Stand-
punkte aus betrachten, so finden wir zu dieser
Erscheinung Parallelen und Analogien nicht nur
unter den anderen mehrzelligen Tieren, sondern
auch bei den Protozoen, Bakterien, Pilzen und
endlich auch bei den höheren Pflanzen.
Als Beispiel können Schultz's^) Unter-
suchungen an den Hydren angeführt werden;
dieser Forscher hat nachgewiesen, daß bei diesen
Polypen während des Hungerns die Geschlechts-
zellen nicht nur unberührt bleiben, sondern sich
sogar mächtig entwickeln, so daß sich die hungern-
den Tiere viel früher geschlechtlich vermehren,
zu einer Zeit, wo in der freien Natur die Indivi-
duen sich noch durch Knospung fortpflanzten.
„Hunger und Reduktion", schreibt Schultz
wörtlich -) , „scheinen also nicht nur eine Reifung
zu ermöglichen, sondern sie sogar anzuregen".
Zu dieser Erscheinung besitzen wir Analogien
auch bei den höheren Tieren ; es ist allgemein
bekannt, daß bei Lachs die Reifung der Geschlechts-
zellen Hand in Hand mit monatelangem Hungern
vor sich geht. Und auch bei den meisten anderen
Vertebraten fällt die Brunstzeit in das F"rühjahr
resp. in die Regenzeit, als einem Zeitpunkt, in
welchem die Tiere nach Ablauf des Winters- oder
Trockenschlafes mehr oder weniger ausgehungert
sind. In allen solchen Fällen handelt es
sich um Forderung oder frühzeitige
Hervorrufung der Entwicklung von
Geschlechtszellen durch das Hungern.
Etwas Ähnliches kann man auch beim Menschen
beobachten. Es ist eine allgemeine bekannte Tat-
') Schultz, Eug. : Über umkehrbare Entwicklungspro-
zesse und ihre Bedeutung für eine Theorie der Vererbung. —
Vortr.' u. Aufs, über Entw.-Mech. d. Org. Heft IV. Leipzig,
Engelmann, 1908.
«) 1. c. S. 21—22.
N. F. XIII. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
551
Sache, daß sich durchschnittlich die Stadtkinder
viel flüher entwickeln als die Landkinder. Nicht
in letzter Hinsicht zeigt sich dies durch die Ge-
schlechtsreife und am klarsten ist es an der Ge-
schlechtsreife evtl. der Zeit des Menstruations-
beginnes der Mädchen zu sehen. Nach Schaeffer's
Statistischen Untersuchungen erscheint bei den
Städterinnen die erste Menstruation früher als bei
den Länderinnen. ')
Erwägen wir, daß zur normalen Ernährung
nicht nur genügende Nahrung nötig ist, sondern
auch ihre gute Ausnützung, die nur bei richtigem
Stoffwechsel und Bewegung möglich ist, so muß
man gestehen, daß die Stadtkinder viel schlechter
ernährt werden, als die Landkinder, besonders aus
den ärmeren Kreisen. Denn selbst wenn wir
annehmen, daß beide eine gleichartige Nahrung
bekommen (was aber, besonders hinsichtlich ihres
Nährwertes, sehr fraglich ist), doch gibt es einen
großen Unterschied in den äußeren Bedingungen
ihres Lebens: das Landkind befindet sich fast fort-
während in Bewegung und an freier Luft, wogegen
das Stadikind gezwungen ist, sein Leben in ge-
schlossenen Stuben ohne Bewegung zu verbringen,
und manchmal auch bei der Arbeit, was alles die
normale Ausnutzung der angenommenen Nahrung
nicht befördert. Und der Mensch lebt doch nicht
davon, was er ißt, sondern davon, was er von den
Nahrungsstoffen in richtiger Weise ausnützt.
Mit Rücksicht auf das Angeführte kann man
sagen, daß das Stadtkind schlechter ernährt wird,
als das Landkind. Und in dieser schlechten Er-
nährung bin ich sehr geneigt, eine von den Ur-
sachen der frühzeitigen Entwicklung der Stadt-
kinder entgegen den Landkindern zu sehen. Ich
sage ausdrücklich „eine von den", da ich mir
gut bewußt bin, daß dabei viele andere Einflüsse
mitwirken und daß dabei die Geschlechtsreifung
beim Menschen ein viel komplizierterer Vorgang ist.
Bezüglich des Menstruationsbeginnes weise ich
nur auf Engelmann's'') Untersuchungen, nach
welchen auch die frühzeitige geistige Arbeit der
Studentin den Eintritt der Menstruation beschleu-
nigt. Doch glaube ich, daß dabei aber auch der
Ernährung eine wichtige Rolle zukommt.
Eine Beschleunigung resp. Produktion von Ver-
mehrungselementen als Folge des Hungerns kann
man auch bei den Bakterien beobachten. Bei diesen
wurde von R f i z i c k a zwar fehllos festgestellt ■'),
daß die Bildung von Sporen auf Grund autogamer
Vorgänge eine Reaktion auf ungünstigere Er-
nährungsbedingungen ist und durch Überpflanzung
der Bakterien auf wenig ernährendes Substrat sich
künstlich hervorrufen läßt. Ähnlich findet auch
bei den Protozoen die Sporenbildung unter den
') Vgl. darüber: Schaeffer, R. : Die Menstruation. In
Veit 's Handbuch der Gynäkologie. Zweite Auflage. Bd. III.
I. Hälfte. Wiesbaden, Bergmann, 1908. S. 68 — 69.
2) Zitiert von Schaeffer: 1. c. S. 69.
') Ruzicka, Vlad.: Experimentelle Autogamie bei den
Bakterien. — Arch. f. Entwickl.-Mech. Festschrift für Roux.
1910.
dem vegetativen Wachstum ungünstigen Ernäh-
rungsbedingungen statt.
Sehr interessante Versuche hat in dieser Rich-
tung Klebs bei den Pilzen und auch höheren
Pflanzen ausgeführt. Postens stellte er für ver-
schiedene, auf flüssigem Substrate wachsende Pilze
fest, daß bei ihnen die Abnahme der organischen
Nahrung die Bildung der Sporen zur Folge hat.
Später untersuchte Klebs, ob sich ähnliche Er-
scheinungen auch bei den höheren [pflanzen be-
weisen lassen. Seine Versuche blieben nicht er-
folglos. Es gelang ihm zu finden, daß auch bei
diesen die Art und Weise der Fortpflanzung durch
die Ernährung reguliert werden kann und daß
eine schlechte Ernährung eine verfrühte Geschlechts-
vermehrung zur Folge hat. ')
Aus den angeführten Tatsachen geht hervor,
daß die Bildung der Geschlechtszellen dann statt-
findet, wenn die äußeren Bedingimgen dem Wachs-
tum oder, weiter gefaßt, dem normalen Stoff-
wechsel, welcher durch gute Ernährung bedingt
ist, ungünstig sind. Weil nun mittels des regel-
mäßigen Stoffwechsels das Leben des Indivi-
duums bedingt ist, kann man sagen, daß die be-
schleunigte oder erhöhte Produktion
von Geschlechtszellen unter solchen
Bedingungen hervorgerufen wird,
welche das Leben des Individuums be-
drohen.
Vv'elche Bedeutung hat nun diese Erscheinung,
welche ist ihre letzte Ursache ?
In jedem Lebewesen gibt es zwei Grund-
instinkte: erstens sich selbst zu erhalten,
zweitens die Art zu erhalten. Zur Selbsterhaltung
dient dem Organismus die Ernährung und der
daran anschließende Stoffwechsel; zur Erhaltung
der Art die Produktion von Geschlechtszellen,
seien dies Sporen oder Spermatozoiden und Eier.
Die Selbsterhaltung dient dem Organismus zur
Erfüllung seiner persönlichen Aufgabe. Der Be-
griff „persönliche Aufgabe des Organismus" ist
in keinem metaphysisch-teleologischen Sinne an-
zunehmen; ich meine damit etwas Ähnliches wie
die Wirkung, welche der Organismus auf die um-
gebende Außenwelt ausübt, seine Funktion als
eines Differentiales im Wesen des Ganzen. Ob
solche Funktion des Organismus einer rein mecha-
nischen oder vitalisch-zweckmäßigen Natur ist, ist
eine andere Frage.
Außer der Erfüllung seiner persönlichen Auf-
gabe hat jeder Organismus noch die Aufgabe,
Nachkommen zu produzieren. Die Erfüllung der
persönlichen Aufgabe hat für den Organismus nur
individuelle Bedeutung, die Produzierung der Nach-
kommenschaft aber Bedeutung für die ganze Art.
Wird durch ungünstige Bedingungen, wie z. B.
Hungern, das Leben des Individuums bedroht,
so tritt die zweite Aufgabe in den Vordergrund,
M Über Klebs' Versuche vergleiche: Klebs, G.:
Willkürliche Entwicklungsänderungen bei PHanzen. Jena 1903.
552
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIÜ. Nr. 35
durch Entwicklung und Reife der Geschlechts-
produkte, um die Existenz der Art zu sichern.
Von diesem Gesichtspunkt aus erweist sich die
Beschleunigung der Metamorphose und damit auch
der Geschlechtsreife durch das Hungern als eine
zweckmäßige Reaktion des Organismus im Inter-
esse der Erhaltung der Art. ^)
*) Vgl. d.-irüber auch meine oben zitierte Abhandlung
Biolog. Zentralblatt, Nr. I, 1914.
Einzelberichte.
Botanik. Zellumlagerung unter polarem Rich-
tungsreiz. Jo st hatte beobachtet, daß bei Bäumen
nach dem Abschneiden des Haupttriebes oberhalb
eines Seitenzweiges die Holzelemente an der
Verzweigungsstelle sich derart umlagern können,
daß die Fasern nunmehr in der Richtung des
Seitentriebes verlaufen. Diese und verwandte
Plrscheinungen hat Fritz Nee ff im Botanischen
Garten und Institut zu Straßburg näher unter-
sucht. Zur Zeit des Dickenwachstums oder kurz
vor dessen Eintritt wurden die Haupttriebe von
Linden, Roßkastanien, Ahornen, Weiden, Fichten
und Pappeln (auch von Ricinus und Phytolacca)
entweder unmittelbar über der Verzweigungsstelle
oder 2 — 30 cm über ihr dekapitiert. Die Schnitt-
H dekap.
Fig. I.
Fig. 2.
stellen wurden mit Baumwachs verklebt. Nach
kürzerer oder längerer Zeit (eine Woche bis
mehrere Monate) kamen die Objekte zur mikro-
skopischen Untersuchung. Immer zeigte sich eine
Veränderung des Faserverlaufs im Kambium, die
zu Zuständen führen kann, wie sie durch die
schematischen Figuren i (normal) und 2 (nach
Dekapitation des Haupttriebes) veranschaulicht
wird. Bei a in Fig. 2 haben sich die Elemente
des Haupttriebes H in die Richtung des Seiten-
triebes S um 45", bei b um 90", bei c um 180"
umgelagert. Nahe dem Seitentrieb beginnt die
Umlagerung zuerst; von da schreitet sie immer
weiter nach den Seiten hin fort. Sie erfolgt be-
sonders rasch bei Pflanzen mit starkem Dicken-
wachstum (in einem Sommer völlige Umlagerung
bei Linden, Roßkastanien usw.); sie geht um so
schneller vor sich, je stärker der Seitentrieb im
Verhältnis zum Haupttrieb entwickelt ist, und je
kleiner die Entfernung der Verzweigungsstelle
von der Dekapitationsstelle ist.
Die mikroskopische Untersuchung tangentialer
Serienschnitte ließ erkennen, daß in den Kam-
biumzellen unterhalb der Dekapitationsstelle, so-
weit sie in der Richtung des Haupttriebes orien-
tiert sind, reichlich Ouerteilungen auftreten,
die teils die unmittelbare Folge der Dekapitation
sind, teils durch einen vom Seitentrieb ausgehen-
den Reiz hervorgerufen werden müssen. Die
ziemlich isodiametrischen Teilzellen runden sich
ab, verschieben sich gegeneinander, nehmen eine
ovale Form an, spitzen sich an beiden Enden zu
und gelangen durch Spitzenwachstum und Flächen-
wachstum in die neue Richtung, wobei sie sich
zwischen die Nachbarzellen eindrängen und sie
voneinander trennen. Die Zellen gleiten dabei
an den Wänden der Zellen entlang (gleitendes
Wachstum). Die einzelnen Kambiumzellen offen-
baren eine polare Struktur, indem sie stets mit
dem ursprünglich nach oben gekehrten Ende dem
Seitentrieb zustreben. Viele Kambiumzellen, ins-
besondere solche von kurzer Form, werden von
den anderen aus der Kambiumzone ganz verdrängt,
andere wandeln sich in sekundäre Markstrahlen
um. Die schon vorhandenen Markstrahlen werden
von dem Reiz, den der Seitentrieb ausübt, nicht
beeinflußt; sie scheinen sogar die hinter ihnen
liegenden Kambiumzellen eine Weile vor diesem
Reize zu schützen. Später aber werden sie von
ihnen an vielen Stejlen durchbrochen und zerteilt.
Vielfach lagern sich die aus Kambiumteilzellen
neu hervorgehenden Markstrahlen an Zellgruppen
der zerteilten Markstrahlen an; hierdurch und
durch die Wirkung der sich streckenden Kambium-
fasern erhalten dann auch die Markstrahlen die
neue Orientierung in der Richtung des Seiten-
triebes.
Im Holzteile der Verweigungsstelle läßt
sich ein plötzlicher Übergang von normalem Holz
mit langgestreckten Elementen zu lauter kleinen,
parenchymatischen Zellen feststellen, die ijnmittel-
bar nach der Dekapitation aus dem zuletzt vom
Kambium gebildeten Jungholz durch fortgesetzte
Ouerteilung entstanden sind. Die nächst jüngeren
Bildungen zeigen bereits gestrecktere, mehrzellige
Elemente, die mit ihren neugebildeten Spitzen
schon in der Richtung des Seitentriebes orientiert
sind. Weiterhin nimmt die Länge der Holzelemente
zu, und nach völliger Umlagerung des Kambiums
erhalten sie wieder die normale Gestalt, nur daß
sie gegen den Seitentrieb orientiert sind. Bemer-
N. F. Xin. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
553
kenswert ist, daß schon auf früheren Stadien aus
Kambiumteilzellen, die noch ihre ursprüng-
liche Lage bewahrt haben , durch Resorption
der Längs wände (statt der Querwände bei nor-
maler Entstehung) Gefäßstränge hervorgehen,
die das andere, noch nicht umgelagerte Gewebe
quer in der Richtung nach dem Seitentriebe
durchsetzen; das Kambium findet also sehr zeitig
die Mittel, in der Richtung des neuen Reizes
Gefäßbahnen auszubauen. Später verschwinden
diese queren Gefäßverbindungen , während aus
den umgelagerten Kambiumzellen Gefäßelemente
hervorgehen, die von vornherein in der neuen
Richtung der Wasserleitung orientiert sind. „Die
Pflanze ist also bestrebt, die Polaritätsachse ihrer
Elemente gleichsinnig mit der Stoffbewegung zu
regulieren." Eine den queren Gefäßen analoge
Erscheinung wurde im Bast teil festgestellt, wo
sich quere Siebröhren bilden, in denen die
Stoffwanderung senkrecht zur ursprünglichen Pola-
ritätsrichtung der Zellen erfolgt; Zellen durch-
brochener Markstrahlen bilden sich dabei zu Sieb-
röhrengliedern und Geleitzellen um.
Bei der Umlagerung der Zellen müssen fort-
gesetzt Plasmaverbindungen zwischen Nach-
barzellen unterbrochen werden. Im Kambium
konnten solche Unterbrechungen nicht beobachtet
werden; wohl aber hat Verfasser in den jüngsten
Kambiumtochterzellen im Holzteil, deren Wände
schon verdickt sind und Tüpfel führen, die
Spaltung der Schließhaut eines Tüpfels (die ja
gewöhnlich von Plasmaverbindungen durchsetzt
wird) durch eine vordringende Zellspitze beschrieben
und abgebildet. Ähnliche Tüpfelspaltungen wurden
auch bei den Bastfasern beobachtet.
Im Bastteile bildet sich wie im Holzteile in-
folge der Dekapitation zuerst viel Parenchym. An
den Bastparenchymzellen wie auch an den Holz-
parenchymzellen wurden Wandfaltungen beob-
achtet, die anscheinend auf lokalisiertem Flächen-
wachstum der zwischen zwei Tüpfeln gelegenen
Wandstellen beruhen; die Tüpfel selbst sichern
den Zusammenhang der einander benachbarten
Zellwände. Ob wir es hier mit Wachstumsvor-
gängen zu tun haben, die nach Beendigung des
Wachstums der Kambiumzellen noch von deren
Tochterzellen im Holz und in der Rinde weiter-
geführt werden, entscheidet Verf. nicht. Er nimmt
aber an, daß auch an den Kambiumzellen die
Wände sich durch lokales Wachstum und Ein-
buchtung voneinander trennen und nach gegen-
seitiger lokaler Verschiebung wieder aneinander-
legen können. „Auf solche Weise könnte ein
Gleiten ganzer Zellen aneinander vorbei
stattfinden durch eine Wachstumsbewegung, die
sich beinahe mit einer Kriechbewegung einer
Raupe vergleichen ließe."
Wenn unter natürlichen Verhältnissen der
Haupttrieb sein Wachstum einstellt, dann treten
ähnliche Zellumlagerungen am Astansatz ein, so
bei Trauerbäumen, wie Salix babylonica und
Sophora japonica var. pendula, sowie bei sympo-
dialer Ausbildung der Verzweigungssysteme (Ho-
lunder, Zitterpappel, Ulme).
Auch bei Verwundungen können Zell-
umlagerungen erfolgen, die denen in dekapitierten
Haupttrieben entsprechen. Bei querer Unter-
brechung des Kambiums treten oberhalb und unter-
halb der Wunde reichlich Querteilungen ein. .'\n
Querwunden, die durch eingeschobene Zinkblech-
streifen am Verwachsen gehindert waren, ließ sich
beobachten, daß Kambiumteilzellen sich durch
Spitzenwachstum verlängerten und den Rändern
der queren Einchnitte zuwandten. „So be-
kommen die Kambiumzellen Anschluß an die zu
beiden Seiten der Wunde verlaufenden Fasern.
Diese Umlagerungen gehen ganz analog denen an
Verzweigungsstellen nach Dekapitation des Haupt-
triebs vor sich, und sie haben offenbar ähnliche
Ursachen wie dort. Dem Richtungsreiz des Seiten-
triebs entspricht in diesem P~all der Richtungsreiz
des Sprosses, dem die Zellen selber angehören;
dieser kann aber nur von der Seite her wirksam
sein, da die direkte Verbindung nach oben bzw.
unten infolge des queren Einschnitts unterbrochen
ist." Auch der Reiz eines Kallus, der an einer
Stelle der Schnittwunde bei dekapitierten Trieben
entsteht, kann zur Umlagerung der Zellen führen.
An schiefen oder an schraubigen Wunden lagern
sich die Kambiumzellen derart um, daß sie nach-
her in schiefer oder schraubiger Richtung verlaufen.
Wenn der polare Richtungsreiz des Sprosses
ausgeschaltet ist, so fehlt auch die einheitliche
Umlagerung der Zellen in bestimmter Richtung.
Als Beispiel hierfür wird vom Verfasser das Ver-
halten der Zellen in einem Tannenstumpf be-
schrieben, der sein Dickenwachstum noch 31 Jahre
nach Fällung des (127 Jahre alten) Stammes fort-
gesetzt und dabei nicht nur eine 1V2 cm breite
Holzschicht angesetzt, sondern auch die Wunde
mit einem kappenförmigen Kallus bedeckt hatte.
In der Zuwachszone sowohl wie in der Über-
wallungszone war der Verlauf der Fasern völlig
gestört worden (Wirbelbildung).
In abgeschnittenen, mit der Spitze in Erde ge-
pflanzten Trieben (Weiden) erfährt der ursprüng-
liche polare Richtungsreiz eine Umkehrung, da
am früheren apikalen Ende Wurzeln, am basalen
Seitentriebe entstehen. An den Verzweigungs-
stellen bilden sich Geschwülste, in denen sich die
Zellen im Sinne des neuen polaren Richtungsreizes
umlagern.
Im ganzen haben die Untersuchungen gezeigt,
daß die Zellen bei ihren Wachstumsbewegungen
eine gewisse Unabhängigkeit von ihren Nachbar-
zellen aufweisen, daß aber diese relative Selb-
ständigkeit der Elementarorgane durch die Pola-
rität eingeschränkt wird, die die Bewegungen
einheitlich in bestimmte Richtungen lenkt. Der
nach Dekapitation oder Verwundung eintretende
Zerfall der langgestreckten Kambiumzellen in kurze
Elemente (Kambiumteilzellen) hat den Erfolg, daß
Zellen entstehen, die leichter eine Ortsänderung
erfahren und leichter polar beeinflußt werden
554
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr. 35
können. Vermöge ihrer polaren Struktur vermag
sich die Einzelzelle gegenüber dem polaren Rich-
tungsreiz, der von den Vegetationspunkten aus-
geht, zu orientieren. Dadurch ist es möglich, daß
eine Gesamtheit von Zellen einer gemeinsamen
polaren Richtung folgt. (Zuschritt für Botanik,
1914, Jahrg. (5, H. 6.) F. Moewes.
Physiologie. Bei der Bleivergiftung lagert
sich bekanntlich das giftige Metall in der Leber
ab. A. Roncato et P. D. Siccardi (Archivio
di fisiologia 19 13) haben mehrere Versuche mit
Hunden angestellt, welche mit essigsaurem Blei
behandelt wurden, das ihnen injiziert wurde. Bei
der mikroskopischen Untersuchung des Leber-
gewebes fanden sich schwarze Körnchen, welche
zum größten Teil aus metallischem Blei bestanden,
in den Ku pffer 'sehen Vakuolen. Die Leber-
zellen sind demnach imstande, Blei zu reduzieren
und das Metall zurückzuhalten. Die Resultate
dieser Untersuchungen würden gewisse bisher
dunkle Erscheinungen der Bleivergiftung erklären.
Die Vergiftung verläuft immer mit einer gewissen
Langsamkeit; damit sie eintreten kann, muß die
aufgenommene Giftmenge im richtigen Verhältnis
zum Organismus stehen. Diese Bedingung ist
erfüllt, wenn das Blei in genügender Menge in
metallischer Form frei geworden und in den
Ku pffe r 'sehen Vakuolen abgelagert worden ist.
Andererseits beobachtet man gewöhnlich, daß der
Patient erst Krankheitserscheinungen zeigt, längere
Zeit nachdem er die Leberzelle unter gewissen
Bedingungen, die Fähigkeit verlieren, das reduzierte
Blei zurückzuhalten und sie dann wieder gewinnen.
Kathariner.
Geographie. Unter dem Titel „Der Mensch
im Wald und Grasland von Kamerun" gibt
Leo Waibcl in der G. Z. 1914, H. 3 — 5 eine
ausführliche Darstellung der vorläufigen Ergebnisse
der Forschungsreise der deutschen Kolonialgesell-
schaft nach Kamerun 1911/12 unter Leitung von
Prof F. Thorbecke (Mannheim). Da die ausführ-
liche Publikation in kurzem erscheinen wird, können
nur einige wenige Gesichtspunkte des allseitig be-
leuchteten Themas im Rahmen eines Referates der
interessanten Arbeit wiedergegeben werden.
Dem ,,WaId", dem immergrünen, feuchten Tropen-
wald steht das „Grasland" gegenüber, und zwar die
Grassavanne, unter deren Grasbestände sich zahl-
reiche Bäume mischen, im Gegensatz zur Dorn-
busch- und niederen Grassteppe, die ganz außer
Betracht bleibt. So ist das Grasland ein Über-
gangsland ; aber die Grenze gegen den Wald ist
schroff. — Wie haben nun der Wald und das
Grasland physiologisch den Menschen und seine
Kultur beeinflußt?
Der „Urwald" mit seiner immerwährenden
Feuchtigkeit und Wärme ist die Ursache eines
reichen Pflanzenlebens, das beständig zur Sonne
drängt. Auch die Tierwelt hat diesen Drang;
reicher als das Leben am Boden ist das Tierleben
der Bäume; so sind Raubtiere selten, Klettertiere,
Vögel, Insekten sind die Bewohner des Waldes.
Der andere Vegetationscharakler des Graslandes
ist bedingt durcli andere klimatische Verhältnisse,
durch das Auftreten der Trockenzeit. Deshalb sind
die Bäume niedrig und verkrüppelt, meist werfen
sie ihr Laub in der Trockenzeit ab, andere Pflanzen
überdauern in Zwiebeln und Knollen diese Periode.
Lauftiere und Grasfresser sowie Höhlentiere haben
sich diesen veränderten Lebensbedingungen an-
gepaßt.
Auch im Körperbau und in der Lebens-
weise des Menschen macht sich der Unter-
schied geltend. Die geringe Größe und „Duck-
nackigkeil" der Bagielli oder Bequelle ist
für das Waldland so bezeichnend. Im Klettern
auf den Bäumen haben sie es zu einer unglaub-
lichen Fertigkeit gebracht. Der Wald selbst gibt
keine Nahrungsmittel her; ist er aber einmal ge-
rodet, dann gedeihen die herrlichsten Produkte
zu jeder Jahreszeit; Planten (Mehlbananen) sind
ein Hauptnahrungsmittel der Waldbewohner, da-
neben das Ol und die Früchte der Ölpalme,
Knollen und Wurzeln mannigfacher Gewächse.
Ackerbau ist also die Hauptbeschäftigung, die
Jagd tritt wegen des Mangels an jagdbarem Wild
sehr zurück. (Die Pygmäen Südkameruns dagegen
sind ein auf niedriger Kulturstufe stehendes Jäger-
und Waldvolk ohne feste Wohnsitze.)
Die Graslandbewohner, die Bali, sind ganz
anders kör[)erlich entwickelt und geistig geweckt.
Es sind große schlanke Gestalten mit aufrechter
Haltung; die Länge der Beine ist vor allem auf-
fallend. Die Lebensweise dieser Menschen zeigt
eine • ausgesprochene Periodizität. Die Früchte
des Graslandes sind besonders Körnerfrüchte, die
in großen Mengen gesammelt werden und auf-
bewahrt werden können. Neben dem Ackerbau
spielen Jagd und Viehzucht doch eine viel
größere Rolle im Graslande als im Walde. Der Büffel,
das Charaktertier des Graslandes, wird nicht selten
von einem einzelnen Manne mit der Lanze erlegt.
Während die innere Urwaldregion zur Zeit des
ersten europäischen Eindringens fast gänzlich un-
bewohnt war, machte sich in der Parklandschaft
eine allmählichere Zunahme der Bevölkerungs-
dichte geltend; im Gebiet der Stadtstaaten gab
es Siedelungen, die 8— lOOOO Einwohner hatten.
Auch noch in neuerer Zeit ist das Grasland viel
dichter bevölkert als der Wald. Dieser selbst
ist von der Küste aus verhältnismäßig stark be-
siedelt worden. Während im Graslande große
geschlossene Ortschaften, ja ganze Städte liegen,
treffen wir im Walde nur kleine zerstreut liegende
Dörfer. Die schwierige Urbarmachung und die
häufige Verlegung hindert ihr Wachstum im Walde.
Auch die Form der Siedelungen wird da-
durch beeinflußt. Lang hingestreckte Reihendörfer,
längs der Wege die Felder, das ist der Siedelung-
typ im Walde; im Grasland herrscht „offene Bau-
weise", die Dörfer sind weilläufig angelegt und
oft sehr groß, indem ganze Stämme sich zu einer
Stadt vereinigen.
N. F. XIII. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
555
Natürlich hat die Siedelungsweise (und die Art
des Baumaterials) auf den Hausbau Einfluß ge-
habt. Die Langhäuser des Waldes sind aus Baum-
rinde, geflochtenen Matten von Palmblättern und
aus Lianen hergestellt; das wasserdichte Blätter-
dach hindert auch den stärksten Regen am^ Ein-
dringen. Viel sorgfältiger ist das runde Kegel-
dachhaus des Grasländers hergestellt; es ist eben-
falls ein Holzgerüst mit Lehmbewurf, ein hohes
Grasdach ermöglicht in der Regenzeit rasches
Abfließen des Wassers. Auch gegen die in der
Steppe häufigen Tornados bieten die Rundhäuser
eine geringere Angriffsfläche als Langhäuser.
Natürlich spiegelt sich in den staatlichen
und sozialen Verhältnissen, im geisti-
gen und materiellen Kulturbesitz eben-
falls der Gegensatz von Wald und Grasland.
Während im Walde die größte Zersplitterung
herrscht, haben wir es im Graslande mit fest ge-
schlossenen Verbänden oder Stämmen zu tun,
in denen eine gewisse soziale Gliederung aus-
gebildet ist. Handel und Verkehr zeigen im Gras-
land einen freieren und größeren Zug als in dem
schwer zugänglichen Walde, in dem sich die zer-
splitterten kleinen Staatswesen außerdem feindlich
gegenüberstehen. Den scheuen Waldbewohnern
gegenüber bilden die freien und offenen Gras-
länder einen angenehmen Gegensatz. Ihrer Kultur-
stufe entsprechen P'ell und Leder in Kleidung,
Schmuck und Waffen, während im Wald das
Holzmaterial (Faser, Bast, Rinde) vorherrscht.
Durch die europäische Einwanderung
ist nun in vieler Beziehung ein Wandel eingetreten.
Hand in Hand mit der I'^rschließung der Kolonie
durch Eisenbahnen und Telegraphenlinien ging
die wirtschaftliche Ausnutzung. Nun ist vor allem
der Kautschuk das wichtigste Produkt des
Waldes. Damit hat der Wald den Vorrang über das
Grasland errungen. Auch Elfenbein, Bau- und
Nutzhölzer entstammen fast ganz dem Walde. So
entfallen von der Gesamtausfuhr der Kolonie auf den
Wald heut 99 "/„. auf das Grasland nur i % 1 Das
Grasland wird sich vor allem als Ackerbau-
land entwickeln. Getreide, Zuckerrohr und Baum-
wolle finden hier ihre Lebensbedingungen. Auch
europäische Gemüse werden im Grasland gedeihen.
So wird das Grasland in wirtschaftlicher Beziehung
sich entsprechend seinen natürlichen Kräften ent-
wickeln und den Deutschen Gelegenheit zum
) dauernden Wohnen geben. Durch die zwei so
I verschiedenen Naturgebiete wird sich Kamerun
als unsere schönste und beste Kolonie zeigen !
Dr. Gottfried Hornig.
Zoologie. Die Geschlechtsbestimmung bei
Bonellia. Bonellia viridis, eine im Mittelmeer unter
F"elsen und in Höhlungen in Steinen — z. B. in
Bohrlöchern von Bohrmuscheln — lebende
Gephyree '), besitzt einen ausgesprochenen Ge-
^) Die Gephyreen oder Brückentiere, eine Klasse der
Würmer, hielt man früher für nahe verwandt mit den Echino-
dermen. Sie sollten im besonderen eine Übergangsgruppe von
schlechtsdimorphismus. Das Weibchen besteht
aus einem ca. 6— 8 cm langen Sack und einem
außerordentlich dehnbaren Kopflappen oder Rüssel,
der an seinem Ende gegabelt ist und in aus-
gestrecktem Zustande eine Länge von über % m
erreichen kann. Das Männchen hingegen ist fast
mikroskopisch klein. Es erreicht eine Größe
von ungefähr 1 — 2 mm und gleicht in seinem
Äußeren einem Turbellar. Auch in seiner ganzen
Organisation ibt das Männchen im Vergleich zum
Weibchen äußerst rudimentär. Während letzteres
durch Pigment dunkelgrün gefärbt ist, fehlt dem
Männchen dieses fast vollkommen. Es fehlen dem
Männchen ferner die Augen, das Blutgefäßsystem,
sodann die im weiblichen Geschlechte zu beiden
Seiten des Afters vorhandenen paarigen Anal-
blasen. Bauchmark, Cöiom und Darmtraktus sind
stark rückgebildet. Dem Darm fehlen ( )sophagus
und After. Ein typisch männliches Organ, das
dem Ösophagus homolog zu sein scheint, ist der
Samenschlauch. Merkwürdig ist die Lebensweise
der Männchen von Bonellia. Zunächst schmarotzen
sie auf dem Rüssel der Weibchen, dann wandern
sie — es sind immer beträchtlich mehr Männchen
vorhanden als Weibchen — in den Uterus, wo sie
die Eier befruchten.
Bei einer Untersuchung der Frage, in welcher
Weise die am Rüssel der Weibchen sich ent-
wickelnden männlichen Larven vom Rüssel ab-
hängig sind, wurde Baltzer'-) darauf aufmerksam,
daß die parasitische Lebensweise der Larve für
die Geschlechtsbestimmung von wesentlicher Be-
deutung ist. Durch eine Reihe von Experimenten
untersuchte er hierauf diese Verhältnisse genauer
und konnte einen höchst eigenartigen Modus der
Geschlechtsbestimmung ermitteln.
Zunächst einiges über die Experimente
Baltzer's, durch die er Aufschluß zu bekommen
suchte über die Beziehungen zwischen der sich
entwickelnden Larve und dem Rüssel des Weib-
chens. Eine Verbindung der Larve mit dem
Rüssel durch besondere (Organe existiert nicht.
Auch die Epidermis der Larve, mit der sie sich
an den Rüssel anschmiegt, bleibt ebenso wie
dieser unverändert. Trotzdem haftet die Larve
so fest an ihrer Unterlage, daß nur ein starker
anhaltender Wasserstrahl sie von ihr zu lösen ver-
mag. Daß die festsitzende Larve Stoffe aus dem
Rüssel aufzunehmen vermag, beweisen Versuche
mit Vitalfärbungen. Von dem Rüssel eines Weib-
chens wurden größere Stücke abgeschnitten und
mit Methylenblau oder Bismarckbraun intravital
gefärbt. Solche Stücke können wochenlang am
Leben erhalten werden. Nach der Färbung wurden
die Stücke in fließendem Seewasser sorgfältig von
dem anhaftenden Farbstoffe befreit und dann in
Schalen gebracht. Bei mikroskopischer Unter-
den Anneliden zu den Holothurien darstellen, eine irrige An-
sicht, der aber die Gruppe ihren Namen verdankt.
^) Baltzer, F., Die Bestimmung des Geschlechts nebst
einer Analyse des Geschlechtsdimorphismus bei Bonellia.
Mitteil, aus d. zool. Stat. z. Neapel, 22. Bd., 1914.
556
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 35
suchung zeigte es sich, daß der Farbstoff in Form
kleinerer oder größerer Kugeln in den Zellen der
Epidermis und der darunter liegenden Gewebe
angehäuft war. Zu den gefärbten Rüsselstücken
wurden indifferente Larven gebracht. Diese setzten
sich an den Stücken fest, die einen gleich am
ersten Tage, andere am nächsten Tage, wieder
andere noch später oder überhaupt nicht. Nach
einigen Tagen wurden die festsitzenden Tiere so-
wie auch die noch frei schwärmenden untersucht.
Erstere hatten mehr oder weniger große Mengen
des Farbstoffes — je nach der Dauer ihres Fest-
sltzens — aufgenommen, die noch frei schwärmen-
den waren vollkommen farblos geblieben. Daß
der Farbstoff tatsächlich aus den Geweben des
Rüssels übernommen wird, ist auch durch die
Beobachtung erwiesen, daß sich stets die Epider-
mis der Larve zuerst dort färbt, wo das Tier fest-
haftet. Die Möglichkeit eines Übertritts von Sub-
stanzen aus dem Weibchen in die Larve ist da-
mit jedenfalls festgestellt, was im Hinblick auf
die nunmehr zu besprechenden weiteren Resultate
Baltzer's von Wichtigkeit ist. Es handelt sich
„bei den männlichen Larven während des F"est-
sitzens um eine Art Parasitismus". Nahrungs-
stoffe allerdings werden von den Männchen aller
Wahrscheinlichkeit nach nicht aufgenommen, da
diese in Form von Öltropfen selbst ausreichendes
Nährmaterial besitzen. VVas aber übertritt, müssen
geschlechtsbestimmende Substanzen sein, Sub-
stanzen, die die bis dahin indifferente Larve zu
einem Männchen werden lassen.
Daß der „Parasitismus" der indifferenten Larven
in der Tat der ausschlaggebende Faktor für die
Geschlechtsbestimmung ist, zeigt Baltzer durch
mehrere Versuchsserien. Eine größere Anzahl
Eier, die von einem einzigen Weibchen stammten,
wurde in mehrere Portionen von je loo Eiern
eingeteilt. Den Larven, die aus den Eiern der
einen Portion ausschlüpften, wurden erwachsene
Weibchen beigegeben, an deren Rüssel sie sich
festsetzen konnten, die Larven aus Eiern einer
anderen Pottion erhielten die Möglichkeit sich
festzusetzen nicht, sie wurden in Glasschalen ohne
Weibchen weitergezüchtet. Während die Larven
am Rüssel der Weibchen sich ausnahms-
los — ■ einige Larven gingen während des Ver-
suchs verloren — zu Männchen entwickelten,
entstanden aus den Larven der zweiten Por-
tion fast ausschließlich Weibchen. Die
Larven, denen - die Möglichkeit zu parasitieren
fehlt, bleiben zunächst eine Zeitlang auf dem in-
differenten Stadium stehen, die Entwicklung wird
sistiert, erst dann werden sie in der Regel zu
Weibchen. Es ist aber der Parasitismus zur Ent-
stehung von männlichen Individuen nicht unbe-
dingt notwendig, denn auch in den Kulturen mit
isoliert gehaltenen Larven entwickelten sich einige
Männchen, wenn auch nur 2 — 6,6 "/„. Neben den
Männchen und Weibchen traten in diesen Kulturen
sodann noch einige Tiere auf, die männliche und
weibliche Charaktere zugleich besaßen. Solche
Zwitter erhält man in größerer Zahl, wenn man
die zum Parasitismus übergegangenen Larven von
ihrem Wirt trennt. Der Parasitismus darf in-
dessen noch nicht länger als zwei Tage gedauert
haben, andernfalls hat die Tendenz zu männlicher
Entwicklung bereits so sehr die Oberhand ge-
wonnen, daß auch bei isolierter Weiterzüchtung
nur reine Männchen entstehen. Die Zwitter sind
sehr verschieden gestaltet, bei den einen über-
wiegen die männlichen Charaktere, andere zeigen
stark weiblichen Einschlag, bei wieder anderen
sind männliche und weibliche Merkmale annähernd
gleichmäßig gemischt vorhanden. Erwähnenswert
ist noch, daß auch ein kurzer Parasitismus genügt,
um die sofortige Weiterentwicklung der indiffe-
renten Larve zu veranlassen.
Das befruchtete Ei und auch noch die junge
Larve ist, so schließt Baltzer aus den fest-
gestellten Tatsachen, ebenso zur Bildung eines
Männchens wie eines Weibchens fähig. Während
bei den meisten Tieren das Geschlecht mit der
Befruchtung festgelegt wird (syngame Geschlechts-
bestimmung), ist die junge Larve von Bonellia
noch indifferent, sie besitzt beide Geschlechts-
tendenzen, und äußere Faktoren lassen erst im
Laufe der weiteren Entwicklung die eine Tendenz
über die andere dominant werden (metagame Ge-
schlechtsbestimmung). Einen dritten Modus der
Geschlechtsbestimmung, gewissermaßen das ent-
gegengesetzte Extrem zu dem letztgenannten,
finden wir ebenfalls bei einem Wurm mit Zwerg-
männchen verwirklicht, bei Dinophilus. Hier ent-
hält bereits das Ovar „männliche" und „weibliche"
Eier, beide Sorten von Eiern werden befruchtet,
aber die Befruchtung hat ebensowenig einen Ein-
fluß auf den Geschlechtscharakter des zukünftigen
Tieres wie metagam auf den Embryo einwirkende
Faktoren (progame Geschlechtsbestimmung).
Die indifferente Larve von Bonellia „müssen
wir als hermaphrodit mit überwiegend männlicher
Tendenz bezeichnen". Ist der Larve die Möglich-
keit gegeben, sich am Rüssel eines alten Weibchens
festzusetzen, so erhält die männliche Tendenz das
Übergewicht über die weibliche. Zurückzuführen
ist dieses Dominantwerden der männlichen Ten-
denz auf die Übernahme „geschlechtsbestimmen-
der Substanzen" aus dem Rüssel des Weibchens,
Substanzen, die zugleich ganz allgemein auf die
Entwicklung anregend wirken. Fehlt den Larven
die Gelegenheit zu ,, parasitieren", so steht die Ent-
wicklung zunächst längere Zeit nahezu still. Dann
beginnt allmählich bei der Mehrzahl der Larven
die weibliche Tendenz die Oberhand zu gewinnen.
Einige wenige Larven aber werden trotz des
Fehlens der „geschlechtsbestimmenden Substanzen"
nach längere Zeit dauerndem indifferentem Zu-
stande zu Männchen. Wie stark überhaupt die
männliche Tendenz ist, zeigt die Tatsache, daß die
spät auftretenden Weibchen vorübergehend im
Cölom Spermien ausbilden. Bei manchen Tieren
— durch kurzen „Parasitismus" läßt sich die Zahl
dieser Tiere sehr vermehren — erlangt die eine
N. F. Xm. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
557
Geschlechtstendenz keine volle Dominanz über
die andere, es entstehen Zwitter verschiedenen
Grades, neben schwach oder stark gynandro-
morphen Individuen kommen echte Hermaphro-
diten vor.
Zum Schluß noch einige Worte über die
biologische Bedeutung dieses besonderen Modus
der Geschlechtsbestimmung für Bonellia. Der
ausgeprägte Geschlechtsdimorphismus, wie wir ihn
bei Bonellia finden, ist sicher ebenso wie der
Modus der Geschlechtsbestimmung ein sekundär
erworbener Zustand. Bonellia ist nach Baltzer
ein nur an wenigen Stellen im Neapler Golf
häufiger vorkommendes Tier. Wäre nun das Ge-
schlecht im befruchteten Ei bereits unabänderlich
festgelegt, so müßten alle männlichen Tiere, die
kein altes Weibchen auffinden — die Existenz
eines Parasitismus der Männchen an den Weibchen
sei vorausgesetzt — zugrunde gehen. So aber
werden fast alle diese Tiere zu Weibchen. Da
die aus den Eihülien ausschlüpfenden Larven an-
fangs sehr stark positiv phototaktisch sind, steigen
sie zur Überfläche des Meeres auf, verbreiten sich
so über eine größere Eläche und sorgen damit
zugleich für die Verbreitung der Art. Wenn
sie dann zu Weibchen geworden sind, können sie
der Erhaltung der Art allerdings erst dann
dienen, wenn noch indifferente Larven sie ge-
funden haben, die in wenigen Tagen sich zu ge-
schlechtsreifen Männchen entwickeln. Da immer
wieder neue Larven ausschwärmen, ist die Wahr-
scheinlichkeit, daß die noch unbemannten Weib-
chen aufgefunden werden, sehr groß, und in der
Tat birgt ja der Uterus eines erwachsenen Weib-
chens denn auch mehrere, oft sogar zahlreiche
Männchen. Nachtsheim.
Seine interessanten Untersuchungen über die
Stirnaugen der Ameisen bespricht C. J. Caesar
im 35. Band der Zoologischen Jahrbücher
Heft 2, 191 3. Die Stirn- oder Medianaugen,
jene einfach gebauten Organe, die sich zwi-
schen den großen Fazettenaugen auf der Stirn-
platte der meisten Hautflügler finden, sind zwar
schon vielfach untersucht, aber die Frage nach
ihrer eigentlichen Bedeutung und Funktion war
bis jetzt noch immer offen. August Forel
hatte bekanntlich angenommen, daß sie zum Sehen
in die Nähe dienten. Fast nur fliegende Insekten
sind bekanntlich im Besitze dieser Ocellen. Der
Verf. weist nun nach, daß ihre mehr oder weniger
gute Ausbildung in einem bestimmten Verhältnis
zu der des Flugvermögens steht. Je nach
der mehr oder minder schnellen Art der Fort-
bewegung lassen sich Unterschiede konstatieren,
sogar in der Ausbildung der Stirnaugen von
Männchen und Weibchen derselben Art, die ver-
schieden fliegen, treten oftmals welche zutage.
Bei der Arbeiterkaste, die nur Naharbeit verrichtet,
sind die Stirnaugen reduziert, bei den Männchen
besonders gut ausgebildet (Hochzeitsflug!). Ge-
naue Untersuchungen verwandter Arten mit ver-
schieden reduzierten, resp. rudimentären Stirn-
augen sind deshalb so interessant, „weil sie uns
zeigen, wie eine solche Reduktion morphologisch
sich gestaltet und weil es andererseits unter Be-
rücksichtigung der biologischen Verhältnisse nicht
unmöglich erscheint, aus der Art der Faktoren,
die eine Reduktion veranlassen, rückzuschließen
auf die Bedeutung der Ocellen". Die Ameisen
eignen sich nach Ansicht des Verf. am besten zu
diesen Untersuchungen, da ihre Stirnaugen nach
Art und Kaste verschieden ausgebildet sind und
ihre Biologie verhältnismäßig gut bekannt ist.
Den Beweis, daß auch bei ihnen wie bei allen
Hymenopteren die Ausbildung der Stirnaugen ur-
sprünglich gleichförmig ist, wie daß die meisten
Formen Reduktionsformen sind, erbrachte die
Entwicklungsgeschichte und die vergleichende Be-
trachtung der Augen der fertigen Tiere. Aus
der Phylogenie der Rückbildung lassen sich Schlüsse
ziehen auf Bedeutung und Funktion der Ocellen.
Der Verfasser weist nach, daß während die Fazetten-
augen dem Sehen in der Nähe dienen, die Median-
augen nur für den Flug von Bedeutung sind und
so jene, indem sie eine Orientierung auf größere
Entfernung hin möglich machen, in wichtiger
Weise ergänzen. Mit den Aufgaben des Fluges
und der damit Hand in Hand gehenden Ein-
schränkung des notwendigen Gesichtsfeldes tritt
regelmäßig eine Rückbildung der Ocellen ein, die
bei vielen Arten sogar zum vollständigen Verlust
geführt hat.
R. V. Aichberger.
Bücherbesprechungen.
Fortschritte der Mineralogie, Kristallographie
und Petrographie. Herausgegeben von der
Deutsch. Mineralog. Ges. (Red. Dr. G. Linck).
IV. Bd., 4», 384 S., 23 Abbildgn., Jena 1914,
G. Fischer. — Preis brosch. 12 Mk.
Das Organ der Deutschen Mineralogischen
Gesellschaft wird mit jedem Bande ein wichtigeres
Hilfsmittel, wenn es gilt, sich über besondere Ge-
biete und deren F"ortschrUte zu unterrichten.
Einen Bericht über die Hauptversammlung der
Gesellschaft in Wien 19 13 und die im Anschluß
daran ausgeführten Exkursionen folgt eine dankens-
werte Übersicht von K. A. Redlich über die
Bildung des Magnesits und sein natürliches Vor-
kommen. Darauf berichtet M. von Laue über
jenen Triumph moderner Wissenschaft, den der-
selbe im Verein mit Friedrich und K n i p p i n g
durch Sichtbarmachung des Raumgitters der
Kristalle durch Röntgenstrahlen zeitigte. Es folgt
eine Mitteilung von M. B e r e k über Zirkular-
polarisation. Arthur L. Day, das bekannte
Mitglied des Carnegie- Geopsysischen Laboratoriums
558
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 35
in Washington, schreibt (in deutscher Übersetzung
von A. Ritzel) über „Das Studium der Mineral-
schmelzpunkte", ein Thema, das im Zentrum des
Interesses der Mehrzahl der heutigen Mineralogen
und Pelrographen steht. Endlich stellt Arthur
Schwantke die „Neuen Mineralien" des letzten
Jahres zusammen. In der Abteilung für Petrographie
berichtet L. Milch über die Bedeutung der che-
mischen Zusammensetzung der Eruptivgesteine für
die Systematik. Eine sehr wertvolle Übersicht
gibt M. Stark über die „Petrographischen Pro-
vinzen", ein Thema, welches ja nicht nur den
Petrographen, sondern auch den Geologen und
zwar besonders den Geotektoniker lebhaft be-
schäftigt. Die Stark 'sehe Übersicht, welche das
Fazit aus über 500 einschlägigen Arbeiten zieht,
wird es zusammen mit der Darstellung, die von
Wolff in seinem Buche über den Vulkanismus
gegeben hat, ermöglichen, die Frage der „Petro-
graphischen Provinzen" und der verschiedenen
„Gesteinssippen" der Lösung näher zu führen, ins-
besondere auf die I<"rage zu diskutieren, in welcher
Weise diese Verhältnisse im Laufe der geologischen
Vorzeit Veränderungen unterlegen gewesen sind.
Den Schluß des, wie aus diesen kurzen Angaben
hervorgeht, sehr wichtigen Bandes bildet eine
Arbeit von K.Schulz über die Koeffizienten der
thermischen Ausdehnung der Mineralien und Ge-
steine usw., die im folgenden Bande ihre Fort-
setzung finden wird. K. Andree.
Remsen, Ira, Einleitung in das Studium
der Chemie. Autorisierte deutsche Ausgabe,
selbständig bearbeitet von Karl Seubert,
V. Auflage. XVIII u. 482 S. 8" mit 50 Abb.
im Text und 2 Tafeln. Tübingen 19 14, Veriag
der H. Laupp'schen Buchhandlung. — Preis geh.
6 Mk., in Schulband geb. 6,60 Mk., in Leinw.
geb. 7 Mk.
Die Seubert 'sehe Ausgabe der „Introduction
to the Study of Chemistry" von Ira Remsen
ist in Deutschland als ein ausgezeichnetes elemen-
tares Lehrbuch der Ciiemie wohl bekannt und
beliebt. Die Darstellung ist klar und sachgemäß,
die allgemeinen Gesichtspunkte sind scharf heraus-
gearbeitet, und zahlreiche, in den Text eingestreute
Vorschriften zu einfachen Übungen tragen zum
tieferen Verständnis des Ganzen bei. Die Be-
merkung auf S. 337, daß die /Strahlen der radio-
aktiven Stoffe den „Kanalsirahlen der Röntgenröhre"
entsprechen, ist nicht ganz verständlich , denn
„Kanalstrahlen" treten in der eigentlichen Röntgen-
röhre überhaupt nicht auf; es muß vielmehr heißen,
daß die y-Strahlen etwa den eigentlichen Röntgen-
strahlen entsprechen. Außer dem Abschnitt über
die Radioaktivität ist bei der Bearbeitung der
neuen Auflage auch ein Kapitel über „Kohlen-
wasserstoffe als Grundlage organischer Substanzen"
hinzugekommen (S. 440 bis 452). Wünschenswert
und ohne Schaden für den elementaren Charakter
des Buches wäre es, wenn der deutsche Heraus-
geber bei der nächsten Auflage auch noch kurze
Abschnitte über die Kolloidchemie und die Metallo-
graphie in das Werk einfügte, zwei neuere For-
schungsrichtungen, die nach Methodik und Ergeb-
nissen viel Besonderes bieten und auch dem An-
fänger auf dem Gebiete nicht mehr vorenthalten
werden dürfen.
Clausthal i. H. Werner Mecklenburg.
Pohl, R. und Pringsheim, P., Die licht elek-
trischen Erscheinungen. Heft i der
„Sammlung Vieweg". 114 Seiten mit 36 Text-
abbildungen. Braunschweig 1914, F. Vieweg
& Sohn. — Preis geh. 3 Mk.
Die „Sammlung Vieweg" will spezielle Wissens-
und Forschungsgebiete, Theorien, chemisch-tech-
nische Verfahren usw., die im Stadium der Ent-
wicklung stehen und ihrer Bedeutung nach von
allgemeinerem Interesse sind, durch zusammen-
fassende Behandlung unter Beifügung der wich-
tigsten Literaturangaben weiteren, der wissen-
schaftlichen Forschung nahestehenden Kreisen zu-
gänglich machen und ihren augenblicklichen Ent-
wicklungsstand beleuchten.
Ihr vorliegendes i. Heft gibt in diesem Sinne
eine vorzügliche Darstellung der gegenwärtigen
Kenntnis der lichtelektrischen Erscheinungen, deren
Studium nicht lediglich der Lösung eines be-
grenzten physikalischen Spezialproblems gilt, son-
dern ständig wachsende allgemeine Bedeutung
gewinnt für die Beantwortung der wichtigen
Fragen nach der Struktur der Atome, der Natur
der chemischen Kräfte, der Verteilung der Energie
und dem Wesen der Strahlung.
Die Verff., die selbst an der Erweiterung des
Gebietes lebhaften Anteil genommen haben, legen
besonderen Wert auf die Mitteilung der experi-
mentellen Ergebnisse. Hervorzuheben ist ihre
eingehende, mit zahlreichen quantitativen Angaben
belegte Behandlung des normalen und des selek-
tiven Photoeffekts der Metalle und die Betrachtung
über die Anfangsgeschwindigkeiten der beim nor-
malen Effekt ausgelösten Elektronen. In beson-
deren Kapiteln werden außerdem behandelt der
lichtelektrische Effekt an nichtleitenden Körpern
und die hierhergehörigen Untersuchungen Le nard's
an Phosphoren, die Bedeutung von Oberflächen-
schichten für den Photoeffekt und kurz die licht-
elektrischen Erscheinungen in Gasen. Einige
theoretische Betrachtungen finden sich im letzten
Kapitel. Besonders zu begrüßen ist die Anfügung
eines ausführiichen Literaturverzeichnisses, das
alle das Gebiet betreffenden wesentlichen Arbeiten
der letzten 3 Jahre — bis September 191 3 —
enthält. A. Becker.
Anregungen und Antworten.
Das Blitzen der Blüten. In seiner vor kurzem erschie-
nenen SchriTtriDas^Elisabeth Linne-Phänomen (sog. Blitzen
der Blüten) gibt Prof. Dr. Fr. Thomas im .Anschluß an
seinen in dieser Zeitschrift (1910, S. 573) erschienenen Auf-
satz die Ergebnisse seiner seriösen Literaturstudien über diese
N. F. XIII. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
559
Erscheinung und seiner eigenen nachlicrigcn Versuche mit
Blüten und mit Farben und farbigen Papierstückchen bekannt. Er
kommt zu dem Resultate, daß die von ihm damals gegebene
Erklärung der Erschi inung des plötzlichen Hervorlcuchtens ge-
wisser feuerroter Blüten in der Abenddämmerung zwar richtig
aber nicht ausreichend war.
Diese Erklärung lautete kurz: In der Dämmerung zu einer
Zeit, in welcher man gewöhnliche Druckschrift eben noch
lesen kann, zeigen gewisse feuerrote Blüten (Tropaeolum,
Papaver Orientale, Pelargonium usw.) ein plötzliches Aufleuch-
ten, wenn man die Augen beim Hinsehen so bewegt, daß das
Bild der Blüte zuerst auf die Netzhaut außerhalb des gelben
Flecks trifft, dann aber auf den gelben Fleck liinüberspringt,
also z. B. wenn man den Blick von der einen zur anderen
der Blüten hinübergleitcn läßt. Die physiologische Erklärung
wäre dann; Bei dem angegebenen Grad der Dämmerung funk-
tionieren die zum Sehen im Dunkeln angepaßten Stäbchen
der Netzhaut gleichzeitig mit den nachtblinden Zapfen. Die
Stäbchen sind rotblind, die Zapfen noch sehr empfindlich für
rotes Licht. Auf dem gelben Fleck befinden sich nur Zapfen,
keine Stäbchen. Fällt das Bild der roten Blüte auf die peri-
phere Netzhaut, wo die rotblinden Stäbchen vorherrschen, so
erscheint sie dunkel, fast schwarz, läßt man nun aber das
Bild auf den gelben Heck hinUberspringen , wo die rotcmp-
findlichfn Zapfen allein anwesend sind, so leuchtet die rote
Farbe plötzlich hervor.
Indes war schon 1908 (Herrn Prof. Thomas aber erst
später bekannt geworden) von A. Schleiermacher in
Karlsruhe eine ganz and' re Beschreibung und Erklärung ge-
geben worden. Schleier m acher sah die Erscheinung als
ein weißliches momentanes Aufhellen seitwärts an einzelnen
der Blüten (Papaver Orientale), als er hoch über die Blüten
hinweg sah und, ohne dieselben zu fixieren, die Augen
hin und her bewegte. Er erklärt es als ein Nachbild der
loleii Blüte auf dem griinen Hintergrunde.
Auf Grund seiner neuen Versuche gibt Prof. Thomas
jetzt an, daß das Phänomen zwar auf ganz schwarzem Grunde
noch wahrzunehmen ist, aber außerordentlich verstärkt wird
durch den Einfluß des grünen (oder noch besser blauen)
Hintergrundes. Diesen Einfluß des Hintergrundes betrachtet er
(ob mit Recht?) als ein P u r k i nj e ' sches Nachbild des an
das Objekt anstoßenden Teils des Hintergrundes.
Der anderen Angabe S c h 1 e i e r m ac h e r ' s aber, daß die
Blüte nicht fi.xiert, sondern e.'ctrafoveal gesehen werden soll,
kann Th. ganz und gar nicht beistimmen, denn es gelang ihm
niemals die Erscheinung zu sehen, wenn er nicht die Blüte so-
fort nachher fixierte. Er kommt daher in einer viele Seiten
langen Ausführung zu dem etwas gezwungenen Resultate,
Schleiermacher habe beim binokularen unscharfen Sehen
Doppelbilder der Blüte bekommen und unbemerkt mit dem
einen Auge fixiert.
Als ich eben mit dem Lesen dieses Teiles des Schrift-
chens beschäftigt war, hatte ich unabsichtlich das beigegebene
Farbtäfelchen (blau mit roten Papierstückchen) auf der unteren
Hälfte der Seite liegen. Es war in der Dämmerung aber
kurz nach Sonnenuntergang, als man im Zimmer noch ganz
gut lesen konnte; da traf mich beim Lesen der oberen Zeilen
plötzlich das wiederholte Hervorblilzen eines weißlichen Nach-
bildes seitlich an den roten Papierstückchen. Beim Lesen
einer Zeile trat es etwa sechsmal auf, offenbar weil man, wie
bekannt, beim Lesen den Blick nicht regelmäßig gleitend,
sondern in einigen Sätzen springend der Zeile entlang bewegt.
Das war also gewiß die von Schleiermacher und auch
von Goethe bei Papaver Orientale beschriebene Erscheinung
und etwas anderes als die von Thomas gemeinte.
In der angegebenen Weise wurde die Erscheinung von jedem,
der es auf meine Veranlassung versuchte, sofort wahrgenommen.
Bei der richtigen Blicküberhöhung und dem geeigneten, ganz hellen
Grad der Dämmerung (Ende Mai vor dem Fenster etwa um 8 Uhr)
ist es so stark, daß es beim Lesen sehr störend wirkt. Es
ist ganz deutlich ein hellgrünes Nachbild in der Form der
roten Quadrate odi r der aufgelegten Blumenblätter. Mit einem
Auge wird es ebensogut wahrgenommen wie mit beiden.
Damit wird also die ganze gegen Schleiermacher (und
Goethe) gerichtete Ausführung (S. 29 und 32 — 38) hinfällig.
Es ist also wohl gewiß, daß man beim ,, Blitzen der
Blüten" zu unterscheiden hat zwischen (wenigstens) zwei
vers ch ie denen Erscheinungen, die eine von Thomas und
vielleicht auch wohl von E 1 i sa b e t h Linne gemeinte, sagen
wir also das Elisabeth-Linne-Thomas-Phänomen, die beim
flüchtigen Fixieren auftritt, und die andere, die wir das
Goethe-Schleiermacher-Phänomen nennen mögen, beim peri-
pheren Sehen. Daß es Herrn Prof. Thomas und seinen
17 Helfern niemals gelungen ist das andere Phänomen zu be-
obachten, kommt wohl daher, daß sie es zu spät, d. h. bei
zu tiefer Finsternis versuchten. Denn je dunkler es wird, je
geringer man die Blicküberhöhung wählen muß, um es zu
sehen und zu der Zeit, als das Elisabeth-Linne-Thonias-Phäno-
men deutlich wahrzunehmen ist, ist von dem anderen längst
nichts mehr zu sehen.
Thomas gibt an: das Aufhellen durch Übergang auf
die Fovea fällt zusammen mit einem hellen ,,Purkinje-
schen Nachbild" des Hintergrundes, aber weil ein Purkinje-
sches Nachbild nicht auf die Fovea kommen kann , können
die beiden Bilder auch nicht zusammenfallen (höchstens bei-
nahe, am Rande der Fovea).
Auch für die andere — periphere — Erscheinungsweise
des Phänomens trifft die Erklärung der Pu r k in j e ' sehen
Nachbilder, wie sie Thomas S. 28 gibt, nicht zu. Denn ich
sehe beim Lesen das Nachbild stets rechts vom roten Objekt
erscheinen, da würde also das primäre Zapfenbild des blauen
Grundes mit dem Stäbchen-Nachbilde des roten Objektes zu-
sammenfallen, diese sind aber beide dunkel statt hell 1
F'"ür diese Erscheinungsweise am plausibelsten ersclieint
noch die Erklärung als gewöhnliches negatives Nachbild, wie
Schleiermacher es zuerst auch gemeint zu haben scheint,
dann wohl wegen ,, Ermüdung" nur der Stäbchen, die, nicht
ermüdet an der Stelle, wo das für sie schwarze Bild des
roten Objekts im Augenblick vorher auftraf, nur dort den
blauen Untergrund hell sehen.
Aus welchem Grund Schleiermacher aber dazu an-
nimmt, daß damit das nachlaufende Bild des Untergrundes
gerade zusammenfallen würde, verstehe ich nicht. V^'enn die
Erklärung als einfaches negatives Nachbild die richtige sein
würde, wäre Goethe der Wahrheit noch am nächsten ge-
kommen ! J. Heimans.
Wetter-Monatsübersicht.
Während des größeren Teiles des Monats Juli herrschte
in den meisten Gegenden Deutschlands starke Hitze und
Trockenheit, die jedoch oft durch kurze, mehr oder weniger
heftige Gewitterregen unterbrochen wurde. Schon am 3. Juli
wurden im östlichen Binnenland an vielen Orten 30^* C über-
schritten. Zwischen dem =;. und 8., später wieder um Mitte
des Monats stellte sich zwar bedeutend kühleres Wetter ein.
Tsm^crafur- Sßaxima einiger ©rie im öuli 191^
BerllntrWeftirbui
56o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 35
doch kehrte in beiden Fällen die Hitze rasch zurück und
nahm gegen früher sogar noch etwas zu. Ihren Höhepunkt
erreichte sie im größten Teile des Landes in den Tagen
zwischen dem 20. und 22., in denen es viele, namentlich ost-
deutsche Orte wie zum Teil auch schon eine Woche vorher
auf 32 bis 33° C brachten. In den Provinzen Ost- und West-
preußen, wo die glühende Hitze seit Anfang des Monats fast
ohne jede Milderung angehalten hatte, stieg das Thermometer
in Memel, Insterburg und Marienburg bis auf 34, in Königs-
berg sogar bis auf 34V.>" f-'
Zwischen dem 21. und 23. Juli fand in Nordwest-, Süd-
und Mitteldeutschland plötzlich eine starke Abkühlung statt,
die in den nächsten Tagen zunahm und sich mit frischen
westlichen Winden allmählich weiter nach Osten fortpflanzte.
Bis zum Schlüsse des Monats herrschte dann für die Jahres-
zeil sehr kühle, überwiegend trübe, regnerische Witterung.
Die mittleren Temperaturen des Monats lagen deshalb in
Nordwestdcutschland durchschnittlich nur etwa einen Grad
über und in Süddeutschland sogar ein wenig unter ihren nor-
malen Werten, wogegen östlich der Elbe der Temperaturüber-
schuß 2 bis 3, in Ostpreußen sogar volle 4 Celsiusgrade be-
trug. Auch der Sonnenschein war wiederum im Nordosten
Deutschlands reichlicher als im Südwesten, im Durchschnitt
aber etwas zu gering bemessen. Beispielsweise hatte Berlin
im letzten Monat 209 Sonnenscheinstunden und 233 im Mittel
der 22 früheren lulimonate.
üicdors'cblaaöl&c^cn im Suii 1914.
-^ " -'- ^.fflererWerrrür
Ceufschinnd.
5 g
-iJ-ir-i
ä w^ R^ R Si L t- ■^ R
120
mml
1. bis 3. Juli
JÜ_L ii i i
L ' "H.'bisS' Juli. "
9.bisZ2.Juli
blii^iikHB
[llonatssummc.mJuli
19R13.IZ.11.10.09
Wie es in Gewitterzeiten nicht selten vorkommt, gab es
im Laufe des Monats fast überall einen mehrmaligen Wechsel
zwischen großem Mangel und Überfluß an Niederschlägen.
Nach wenigen trockenen Tagen setzten zunächst im oberen
Rheingebieten die ersten Gewitterregen ein, die sich zwischen
dem 4. und 8. Juli öfter wiederholten und nach Norden und
Osten weiterverbreiteten. Besonders in einigen Gegenden
Süddeutschlands, ferner an verschiedenen Stellen zwischen der
Weser und unteren Oder gingen in dieser Zeit außerordentlich
heftige Regengüsse hernieder, die am 4. Juli in Nürnberg
78, in Fulda 57, am 8. in Hamburg 76, in Hildesheim 44,
in Stettin 42 mm ergaben.
Vom 9. bis 22. Juli hatte das Wetter überwiegend einen
trockenen Charakter. Zwar kamen noch sehr zahlreiche Ge-
witter vor, die an einzelnen Orten mit starken Regenfällen
und auch vielfach mit Hagelschlägen verbunden waren, jedoch
immer häufiger mit nur ganz geringem Regen oder ohne alle
Niederschläge auftraten. Mit dem 23. begann aber eine all-
gemeine Regenzeit, die überall bis Ende Juli fortdauerte. Die
Niederschläge fielen jetzt zwar weniger heftig als früher, hielten
dafür aber jedesmal um so länger an und, obwohl sie mehr
den Charakter starker Landregen hatten, waren sie trotz der
eingetretenen Kühle wieder oft von Gewittern begleitet. Die
Niederschlagssumme des ganzen Monats belief sich für den
Durchschnitt aller berichtenden Stationen auf ni,4 mm und
übertraf die Regenmengen, die die gleichen Stationen in allen
früheren Julimonaten seit dem Jahre 1891 geliefert haben; im
Mittel betrug der Überschuß 33,4 mm.
» •
*
Die allgemeine Anordnung des Luftdruckes in Europa
änderte sich von einem Tage zum anderen im Juli meistens
nur sehr langsam. Zunächst wurde ein barometrisches Maxi-
mum, das mit seinem Gebiete fast ganz West- und Mittel-
europa bedeckte, durch eine vom Atlantischen Ozean heran-
ziehende Depression nach Nordrufiland verschoben, wo es an
Höhe zunahm und längere Zeit verweilte. Ein Teil der at-
lantischen Depression drang am 4. in das Innere Deutschlands
ein und trennte das nordöstliche Hochdruckgebiet von einem
neuen, das inzwischen von Südwesteuropa vorgedrungen war.
Auch später rückten mehrmals Barometerma.xima von
Südwest- nach Nordwest- und Nordosteuropa vor, während
verschiedene flache Teildepressionen vom Ozean und vom
Adriatischen Meere her nach Mitteleuropa gelangten. In der
nordöstlichen Hälfte Deutschlands wehten daher größtenteils
sehr warme, trockene östliche Winde, während in Süd- und
Westdeutschland auch kühle, feuchte Südwestwinde nicht selten
waren. Erst am 23. Juli breitete ein tiefes und außerordent-
lich umfangreiches barometrisches Minimum, das aus der Ver-
einigung zweier flacherer Depressionen hervorgegangen war,
über ganz Mitteleuropa eine dampfgesättigte , frische West-
strömung aus und machte damit der Hitze und Dürre überall
ein Ende. Dr. E. Leß.
Literatur.
Zenelti, Prof. Dr. Paul, Die Entstehung der schwäbisch-
bayerischen Hochebene. Rede beim Antritt des Rektorates
des Kgl. Bayerischen Lyzeums Dillingen, gehalten am 20. Jan.
1914. Verlag Natur und Kultur. 75 Pf.
Weinschenk, Prof. Dr. Ernst, Bodenmais-Passau. Petro-
graphische Exkursionen im bayerischen Wald. Mit einem
Titelbild, 5 Tafeln und 47 Textfig. München '14, Verlag
Natur und Kultur. 2,70 Mk.
Jellinek, Priv.-Doz. Dr. Karl, Lehrbuch der Physikali-
schen Chemie. 4 Bände. Erster Band. Die Lehre von den
Aggregatzuständen (i.Teil). Mit 81 Tabellen, 253 Textabb.
und 4 Bildnissen. Stuttgart '14, F. Enke. 24 Mk.
Rosenthaler, Prof. Dr. L., Der Nachweis organischer
Verbindungen. Ausgewählte Reaktionen und Verfahren. XIX.
bis XX. Band der Sammlung „Die chemische Analyse".
Stuttgart '14, F. Enke. 34 Mk.
Brunswig, Dr. H., Die Explosivstoft'e. Einführung in
die Chemie der explosiven Vorgänge. 2. verbesserte und ver-
mehrte Aufl. Mit 9 Abbildungen u. 12 Tabellen. Sammlung
Göschen. Berlin u. Leipzig '14. 90 Pf.
Jahrbuch der Naturwissenschaften 1913 — 1914. 29. Jahr-
gang. Unter Mitwirkung von Fachmännern herausgegeben von
Josef Plaßmann. Mit 96 Bildern auf 10 Tafeln und im Text.
Freiburg i. Br. '14, Herder'sche Verlagshandlung. Geb. 8 Mk.
Inhalt; Lenk: Tierische Farbstoffe. Krizenecky: Das Hungern als fördernder Faktor der organischen Entwicklung. —
Einzelberichte: Neeff: ZellumlagerungunterpolaremRichtungsreiz. Roncato und Si ccard i; Bleivergiftung. Waibel:
Der Mensch im Wald und Grasland von Kamerun. Baltzer; Die Geschlechtsbestimmung bei Bonellia. Caesar;
Die Stirnaugen der Ameisen. — Bücherbesprechungen: Fortschritte der Mineralogie, Kristallographie und Petrographie.
Remsen: Einleitung in das Studium der Chemie. Pohl und Pringsheim: Die lichtelekirischen Erscheinungen. —
Anregrungen und Antworten. — Wetter-Monatsübersicht — Literatur: Liste. ^
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 6. September 1914.
Nummer 36.
[Nachdruck verboten.'
Physiognomik der Tropenlandschaft.
Studien auf Ceylon von Dr. Konrad Guenther,
Professor an der Universität Freiburg i. Br.
Es war kein Geringerer, als Alexander von
Humboldt, der zu der Erkenntnis kam, daß,
wie die Menschen und die Tiere, so auch die
Pflanzen ihre bestimmte Physiognomie hätten.
Immer wieder bewunderte er auf seinen Reisen
des Naturschutzes. Ich versuchte, der bisher vor-
wiegend geübten Naturdenktnalpflege einen Schutz
aller erhaltbaren Gestalten der Natur über die ge-
samte Kulturerde hinweg an die Seite zu stellen
und wissenschaftlich zu begründen. Es mußte
im tropischen Südamerika das charakteristische dazu untersucht werden, welche Lebensbedin-
Aussehen der Bäume und die Mannigfaltigkeit gungen das oder jenes Tier unbedingt brauchte,
ihrer Formen. Gerade diese Mannigfaltigkeit suchte
er verstehen zu lernen, und um sich in ihr zu-
rechtzufinden, unternahm er es, alle verschiedenen
Pflanzenformen auf 17 Grundgestalten zurück-
zuführen. Je mehr nun seit Humboldt unsere
Kenntnis von der Pflanzenwelt wuchs, um so
weiliger glaubte man mit solch einer geringen
Zahl von Grundformen auskommen zu können.
So fand sich Grisebach genötigt, die 1 7 Grund-
gestalten Humbold t's auf 60 zu vermehren.
Noch andere Forscher arbeiteten an der Pflanzen-
und ob diese Lebensbedingungen in Wald-, Feld-
und Wasserwirtschaft geduldet oder, wenn ver-
loren, neu geschaffen werden könnten, ohne die
Ertragsfähigkeit des betreffenden Kulturgeländes
zu schmälern. Es zeigte sich, daß in der Tat
Teile der Natur oder einzelne Tiere und Pflanzen
sehr wohl auf einem vollkommen kultivierten
Boden sich erhalten lassen.') Bei dem Studium der
Frage, welche Lebensbedingungen für Tiere und
Pflanzen unsere Kultur noch bieten könne, lag
der Wunsch nahe, zum Vergleich die Lebens-
physiognomik, soWarming, Drude, Engler; bedingungen einer noch unberührten Natur herbei-
in derartig umfassender und vor allem künstleri-
scher Weise, wie Humboldt diesen Zweig der
Wissenschaft schuf und ausbaute, ist es aber seit-
dem nicht wieder geschehen.
Die Pflanzen bedecken die Oberfläche der Erde.
zuziehen. Eine solche fand ich am ehesten in
den Tropen, von denen wieder Ceylon am leich-
testen zu erreichen war. Die Summe der Lebens-
bedingungen einer Landschaft kommt aber in
ihrer Physiognomie zum Ausdruck. Und so erstand
Sie geben ihr Farbe und Abwechslung und haben die Aufgabe, die Physiognomie der Tropenland
daher an der Physiognomie der Landschaft in "
erster Linie teil. Für das einzelne Landschafts-
bild kommen freilich bestimmend auch noch die
Bergformationen, P'lüsse oder Seen in Betracht.
Der Leser wird sich erinnern, mit welch hübschen
Worten Scheffel in seinem Ekkehard von dem
„deutschen Antlitz", dem das Land der Alamannen
gleiche, gesprochen hat. Will man aber die
Physiognomie eines ganzen Landschaftskomplexes
oder gar eines großen klimatischen Gebietes
schildern, so wird man den Pflanzen eine größere
Rolle zuweisen müssen, als den Bergen und dem
Wasser, weil sie unter denselben klimatischen
Bedingungen einem einheitlichen Charakter haben auf Ceylon nämlich sowohl eine Küsten-
schaft mit der der unseren zu vergleichen und
die Gründe für die Verschiedenheiten aufzudecken.
Es wird wenig Tropenländer geben, die so
geeignet sind, wie Ceylon, dem Neuling das
Charakteristische der Tropenlandschaft zu zeigen.
Nicht nur wegen der leichten Erreichbarkeit, dem
verhältnismäßig gesundheitszuträglichen Klima,
den guten Verbindungen, die den Reisenden an
alle Teile der Insel heranführen und der sauberen
Unterkunftshäuser, der ,, Rasthäuser" ist die Insel
für das Studium empfehlenswert, sondern vor
allem auch deshalb, weil sie die wichtigsten
Formen der Tropenlandschaft in sich vereint. Wir
zustreben, während die geologischen Formationen
mehr oder weniger durch örtliche Erderschei-
nungen bestimmt wurden, wie sie auch in ganz
verschiedenen klimatischen Gebieten wiederkehren
können, mithin nicht für eines derselben charakte-
ristisch sind. So geht es nicht an, von einer
tropischen Gebirgsform zu reden — diese ent-
spricht z. B. auf Ceylon durchaus der der deutschen
Mittelgebirge — wohl aber kann man von einer
tropischen Pflanzenwelt sprechen.
region, als auch Brackwasserseen mit Mangrove-
vegetation, feuchtes und trockenes Tiefland und
Berge in Höhenlagen bis zu 2500 Meter. Am
Westabhange des Gebirges wächst prachtvollster
•) Die allgemeinen Resultate dieser Reise, Tiere, Pflanzen
und Völker betreffend, sind geschildert in meinem Buche:
Einführung in die Tropenwelt. Erlebnisse, Beobachtungen
und Betrachtungen eines Naturforschers auf Ceylon. Leipzig,
W. Engelmann, 1911.
-) Ich habe solches dargelegt in meinem Buche „Der
Es war der Wunsch, die Physiognomie der Naturschutz" Freiburg i. Br. igio. Der wissenschaftliche
Tropenlandschaft zu studieren der mich veran- Naturschutz ist ein noch jungfräuliches Gebiet, das aber
InRtn Anr, \A?:„i -.^,^1.. f /^' 1 i_ • i\ 'J'ic große Zukunft hat. Mir wenigstens scheint die Arbeit in
laßte, den Wmter 1910/1 1 auf Ceylon zuzubringen.^) ji,,,^ Gebiet so wichtig, daß ich dem Naturschutz ein eigenes
Ich kam dazu durch Beschäftigung mit Fragen Institut und einen Lehrstuhl wünsche.
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Regenwald, hier regnet es das ganze Jahr, auch
zur schönen Jahreszeit entlad sich fast jeden Tag
am Nachmittag ein Gewitter. Den Gegensatz dazu
bildet die Südostecke der Insel, auf der es nur
in einem Monat Niederschläge gibt, und auch in
diesem nur selten. Die Landschaft zeigt an dieser
Stelle daher das Bild einer Trockensteppe oder
eines dornigen Busches, charakterisiert durch
Kakteen, Euphorbien und versehen mit Salz-
inkrustrierungen. Alles in allem sind die Gegen-
sätze der Landschaften auf Ceylon so groß, daß
man kaum glaubt, in demselben Kontinent, ge-
schweige denn auf derselben Insel zu weilen, wenn
man von einer in die andere kommt. Immer aber ist
es außer dem Klima die Pflanzenwelt, die dem
Bilde den Stempel aufdrückt. Die geologischen
Formationen bieten uns nichts Fremdartiges, die
Formen des Gebirges erinnern, wie schon er-
wähnt, immer wieder an unsere Mittelgebirge. Nur
die Farbe des Bodens ist im Tiefland eigenartig.
Sie ist nämlich kräftig dunkelrot; schon wenn
man in Colombo ans Land tritt, fällt einem die
durch ihre rote Farbe ordentlich festlich aus-
sehende Straße auf. Auf dem Lande aber wirkt
das Rot der Straße noch schöner, weil Palmen
hier den Boden überschatten, durch deren glitzernde
Fiederblätter Sonnensterne auf die Straße fallen
und ihn auf das zarteste marmorieren. Es ist der
Laterit, der dem tropischen Boden die rote Farbe
gibt. Der Laterit ist ein typisch tropisches, an
feuchtes Klima gebundenes Zersetzungsprodukt
des Urgesteins, das durch Bakterienwirkung zu-
stande kommen soll. Und so häufig ist er in der
Äquatorialzone, daß man meint, er nehme ein
Viertel der gesamten festländischen Erdoberfläche
ein.
So ist die erste Farbe, die dem Reisenden in
den Tropen ins Auge fällt, Rot. Und Rot mit
allen seinen Abschattierungen nach Orange und
Gelb ist überhaupt charakteristisch für die äqua-
toriale Landschaft. Schon das Licht enthält in
den Tropen viel mehr gelbe Strahlen als bei uns.
Das merkt zuerst der Photograph. Bei dem
grellen Sonnenlicht glaubt er nur kurz belichten
zu müssen, und ist dann sehr erstaunt, beim Ent-
wickeln gänzlich unterbelichtete Platten zu erhalten.
Abends tritt das gelbe Licht auch äußerlich in
Erscheinung. Schon im Roten Meer fällt es dem
scharfen Beobachter auf, daß die Sonnenuntergänge,
die allabendlich eine wunderbare Farbenpracht
entwickeln, sich von den unseren dadurch unter-
scheiden, daß in der heißen Zone das Rot nach
Orange und Gelb sich abschattiert, bei uns nach
Rosa. Zu dem orangeglühenden Horizont stimmt
wunderbar das kräftig ultramarinblaue Meer, dessen
Wellenkämme wie mit Goldschaum bedeckt sind.
Und der Himmel erscheint durch die gelben
Strahlen fast grün, während die zarten Wölkchen,
die in ihm schwimmen, goldumsäumt sind. Noch
mehr, als beim eigentlichen Sonnenuntergang,
kommt das Gelb bei dem Nachglühen zum Vor-
schein, einer farbenprächtigen Lichterscheinung,
die für die Tropen charakteristisch ist. Etwa eine
halbe Stunde nach Sonnenuntergang, wenn es
schon etwas dunkler geworden ist, flammt der
Horizont noch einmal in leuchtendstem Goldgelb
auf, und tiefschwarz zeichnen sich von ihm die
Fiederkronen der Palmen ab. Ich habe die einzig-
schöne Kontrastwirkung immer wieder mit neuer
Bewunderung angeschaut.
Es ist merkwürdig, daß auch die tropischen
Pflanzen und Tiere viel mehr orangene Farben-
töne zeigen als bei uns, wo ja ein kräftiges Orange
in der Natur fast überhaupt fehlt. Tulpengroße
orangene Blüten hat ein buchengroßer afrikanischer
Baum, die Spathodea campanulata; die schon in
Ägypten gepflanzte Flammenakazie (Poinciana
regia) hat orangene Blütentrauben, und noch viele
ähnlich gefärbte Blüten ließen sich nennen. Aber
nicht nur sie, sondern auch die jungen Blätter
zeigen diese Farbe, so besonders der Eisenbaum
(Mesua ferrea) und die Litseen des Hochlandes.
Zwei indische Schmetterlinge, Ophideres materna
und fuUonia, gleichen unseren Ordensbändern, nur
sind ihre Hinterflügel statt rosa orange gefärbt.
Ein prächtiger Vogel, Pericrocotus flammeus, hat
ein aus Orange und Schwarz zusammengesetztes
Gefieder, auch der Kopf der chamäleonartigen
Schönechsen (Calotes) glüht orange bis zinnober-
rot. Diese Beispiele ließen sich noch vermehren.
Und es ist vielleicht kein Zufall, daß auch die
Eingeborenen in ihrer Kleidung rot und gelb
karrierte Stoffe bevorzugen.
Man denkt überhaupt, wenn man die Tropen
nennen hört, an glühende, reiche Farben. Farbig,
duftend, üppig, das sind die drei Eigenschaften,
die man bei uns mit der Tropenwelt verknüpft.
Aber wie so oft verspricht uns auch hier unsere
Phantasie mehr, als die Wirklichkeit halten kann.
Ja man kann sogar sagen, daß jene drei Eigen-
schaften eher zu der Physiognomie unserer Land-
schaft gehören , als zu der der tropischen. Und
das läßt sich beweisen.
Es sind die Blumen, die bei uns die haupt-
sächliche Farbenpracht in Wald und Feld ent-
wickeln, dazu kommen dann im Frühling das
frische Laub und die lichtgrünen Spitzen der
Tannen und Fichten, und im Herbst die bunten,
fallenden Blätter. Das Nadelholz erhält auch der
schneebedeckten Landschaft die grüne Farbe und
gibt gerade im Winter schöne Gegensätze. Dazu
ist es gerade diese Baumgruppe, die den wesent-
lichsten Beitrag zum Duft des Waldes gibt, einen
Duft, der besonders nach dem Regen kräftig und
erfrischend hervortritt. Nadelhölzer aber fehlen
im Tropengürtel der Erde. Für uns Europäer
ist das ein Verlust, den auch die Palmen nicht
wettmachen. Denn nicht nur strömen diese
Königinnen des Südens keinen Geruch aus, auch
die ernste und doch so weiche Form einer Fichte
erreichen sie, wenigstens meiner Ansicht nach, an
Schönheit nicht.
Auch Farbenpracht und Duft der Blumen ist
in den Tropen nicht in dem Maße vorhanden wie
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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bei uns. Das liegt vor allem an folgendem. In
unserem Klima haben die Pflanzen mit dem
Winter zu rechnen, also mit einer Jahresperiode,
in der es ihnen unmöglich ist, ihre Lebensfunktionen
frei zu entfalten, zu wachsen, an sich zu bauen,
sich zu vermehren. Ein Teil der Pflanzen hat
sich an den Winter angepaßt, das sind die Bäume.
Diese kapseln ihre Triebe ein, werfen das Laub
ab, um es wieder im Frühling zu ersetzen oder
haben in den Nadeln widerstandsfähige Organe
ausgebildet. Aber die Zahl der Bäume und auch
der Sträucher ist gering bei uns. Wie schon der
erste Blick in eine europäische Flora lehrt, sind
weitaus die meisten unserer Pflanzen Kräuter.
Diese haben im vorhinein auf den Kampf mit
dem Winter verzichtet, sie geben ihre oberirdischen
Triebe einfach preis und erhalten ihre Art
nur in dem durch harte Schalen geschützten
Samen oder in der Wurzel, die in der warmen
Frde den Winter überdauert. Wir haben Tausende
von solchen Kräutern in Deutschland , aber nur
36 einheimische Baumarten, dagegen hat allein
die Insel Java 1500 wildwachsende Baumarten,
und auf Ceylon sind es kaum weniger. In den
Tropen gibt es eben keinen Winter. Nicht hohe
Temperaturen zeichnen die Aquatorialländer aus
— das mittlere Temperaturmaximum von Wien
ist sogar höher wie das von Colombo, Buitenzorg
und Rio de Janeiro — , sondern gleichmäßige
Wärme. Bei uns schwankt die Temperatur im
Laufe des Jahres um 50 Grad und mehr, im
tropischen Tiefland um 3—5 Grad. Bei einer
derartig gleichmäßigen Temperatur ist es den
tropischen Pflanzen möglich , das ganze Jahr an
sich zu bauen und ununterbrochen auf dem Vor-
handenen wieder aufzusetzen , während unsere
Kräuter jeden Frühling wieder von unten, vom
Erdboden anfangen müssen. Darum ist die Mehr-
zahl unserer Pflanzen niedrig, die der tropischen
hoch, baumartig, mit holzigen Stämmen versehen.
Schon in den botanischen Gärten zu Peradeniya,
Buitenzorg, Singapore und Rio de Janeiro tritt
das hervor. Diese Gärten haben nämlich weniger
das Aussehen eines Blumengartens, als das eines
englischen Parks, eines Arboretums. ^)
Die baumartige Entwicklung einer Pflanze hat
aber zur Folge, daß sie ihre Blütenpracht in die
Höhe hebt und zum großen Teil dem Auge des
Beschauers entzieht. Es gibt natürlich herrlich
blühende Tropenbäume mit farbenprächtigen, zahl-
reichen und großen Blüten, und jedem Reisenden
werden z. B. die bereits erwähnten Spathodeen
am See von Kandy auf Ceylon oder der Bombax
mit seinen tulpengroßen, erdbeerroten Blüten, die
den ganzen, zu dieser Zeit blätterlosen Baum über-
säen, unvergeßlich bleiben. Jedoch ein solcher
Anblick bietet sich vorwiegend dort, wo die
Bäume in Alleen oder auf dem Rasen freistehend
') Ausführlich begründet hat den Unterschied zwischen
tropischen und europäischen Pflanzen Haberlandt, Eine
botanische Tropenreise. Leipzig 1910. Siehe auchHolter-
mann, In der Tropenwelt. Leipzig 1912.
gepflanzt sind. Im allgemeinen ist aber der natür-
liche Standort der Bäume der Wald, der Urwald,
und in diesem entzieht das Blätterdach und die
kreuz und quer sich rankenden Lianen dem Auge
des Wanderers das Blütenmeer der Höhe.
Bei uns hingegen legt sich die Blütenpracht
der Kräuter als bunter Teppich uns zu Füßen,
den wir weithin überschauen können. Eine solche
Farbenpracht, wie sie eine Blumenwiese oder ein
Chausseegraben unserem Auge bietet, wird man
in den Tropen vergebens suchen.
Das hat auch noch einen anderen Grund. Die
europäische Pflanzenwelt kann ihre Blüten nur
innerhalb von vier bis fünf IVIonaten bilden, während
in den winterlosen Tropen dafür das ganze Jahr
zur Verfügung steht. Es gibt zwar auch in den
Tropen regelmäßig wechselnde günstigere und un-
günstigere Bedingungen für die Organismen. Diese
Zeiten werden durch die Winde verursacht, die
bald vom Meere kommen und Regen bringen,
bald, aus großen Landmassen herüberwehend, die
Feuchtigkeit aufzehren. Aber derartige Regen-
und Trockenzeiten schneiden doch nicht entfernt
so scharf in das Leben der Organismen ein, wie
unser Winter und Sommer. Und so kann man
am Äquator zu jeder Zeit blühende Bäume sehen
oder solche mit frischen Blättern und wieder
andere ohne Laub, denn auch manche Tropen-
bäume haben, wie z. B. der obengenannte Bom-
bax, die Gewohnheit vor der Blütezeit die Blätter
abzuwerfen und diese erst nach vollendeter Blüte
neu zu entfalten, Verhältnisse, die wir an unserem
Obst und den Magnolien kennen.
Natürlich wirkt aber das Landschaftsbild farben-
freudiger, wenn die meisten Pflanzen gleichzeitig,
oder doch wenigstens in kurzer Aufeinanderfolge
blühen. Unserem Frühling haben die Tropen
nichts Gleichwertiges an die Seite zu stellen.
Genießen wir doch das Aufblühen der Natur ge-
rade deshalb so sehr, weil diese vorher monate-
lang schlummerte. Der Gegensatz ist es, der
auch den sonst der Natur fremd Gegenüberstehen-
den auf die bunte, duftige Pracht in Wald und
P'eld aufmerksam macht.
Von diesem Gesichtspunkte aus werden wir
unseren Winter nicht verdammen, sondern preisen.
Er erst lehrt uns den Sommer richtig einschätzen.
Überhaupt ist es ja der Kampf, der Kraft und
Schönheit schafft. Wie die Völker in einem
gleichmäßig schönen Klima und in einer reichen
Gegend erschlaffen, ja zugrunde gehen, so ent-
wickelt auch die Natur ihr prächtigstes Bild dort,
wo sie zu kämpfen hat. Darum wirkt die Pflanzen-
welt nicht nur farbenreicher und duftiger bei uns,
sondern auch frischer, kräftiger, ja selbst üppiger.
Wer mit übertriebenen Vorstellungen von „tro-
pischer Üppigkeit" an den Äquator reist, wird von
dem Erschauten sehr enttäuscht sein.
Es soll damit natürlich nicht gesagt sein, daß
die tropischen Pflanzen keinen üppigen Wuchs
hätten. Doch dieser zeigt sich in anderer Form
wie bei uns, wir aber gehen, wenn wir uns eine
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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tropische Üppigkeit vorstellen, von europäischen
Anschauungen aus, die wir nur noch bedeutend
steigern. Für uns ist die Pflanzenwelt dann üppig,
wenn sie in reicher Fülle saftiger Blätter schwelgt.
Gerade diese Eigenschaften aber charakterisieren
unsere, nicht die tropischen Pflanzen.
Was zunächst die Fülle des Laubes betrifft,
so ist es verständlich, daß unsere Bäume und
Sträucher mehr Blätter haben müssen als die
tropischen, da sie eben nur in wenig Monaten
sie entfalten können. Um trotzdem wachsen und
an sich bauen zu können, müssen sie die Organe
dazu, die Blätter, so viel es geht, vermehren. Der
Tropenbaum hingegen, der das ganze Jahr Blätter
tragen kann, kommt mit weniger Laub aus. Ein
so dichtes Blätterdach, wie die Buche oder gar
die Kastanie haben die äquatorialen Bäume im
allgemeinen nicht. Darum ist es auch im tro-
pischen Urwald niemals so finster wie in unseren
Buchen- oder Fichtenforsten. Die Sonne spielt
durch das dünngesäete Laub bis auf den Boden
und läßt hier reichlichen Unterwuchs aufsprießen.
Licht und freundlich, hell und glitzernd ist es
überall. Und es ist bezeichnend, daß die Tiere,
die in diesem lichten Wald \or ihren Artgenossen
auffallen sollen, damit Männchen und Weibchen
sich erkennen, ernste Farben haben. So zeigen
die handgroßen, prachtvollen Schmetterlinge In-
diens aus den Geschlechtern Papilio und Orni-
thoptera vielfach ein tiefes Sammetschwarz als
Grundfarbe, von der sich daim grün, gelb, rot
oder blau leuchtend abhebt. Unsere größeren
Tagfalter, von der Gattung Papilio gibt es bei
uns den Schwalbenschwanz und Segelfalter, sind
viel lichter gefärbt.
Bei den europäischen Bäumen ist das Geäst
mehr oder weniger von der Blättermasse verdeckt,
bei den tropischen kann man vielfach Äste und
Zweige bis in die höchsten Spitzen verfolgen.
Das Bild eines solchen Baumes gibt uns einiger-
maßen unsere Akazie (Robinia pseudacacia) wieder.
Die Akazien gehören zu den Leguminosen, sie
entstammen wahrscheinlich dem Süden, und zwar
trockenen Gegenden, wie denn viele von ihnen
Dornen tragen, eine Bewaffnung, die für Wüsten-
bewohner charakteristisch ist. Denn die Wüsten-
pflanzen haben des Wassermangels wegen nur
weniges, zartes Laub und müssen dieses vor den
Pflanzenfressern durch Dornen schützen. Auch
bei unserer Akazie kann man das Astwerk in der
ganzen Krone verfolgen. Das ist bei den tropischen
Leguminosenbäumen in ähnlicher Weise der Fall.
So wird in Indien und auch in Afrika als Allee-
baum gern der Guanco (Pithecolobium saman)
gepflanzt. Der aus Amerika stammende Baum
breitet schirmartig seine große Krone über die
Straße, durch das lichte, zart gefiederte Laub
fallen überall .Sonnenstrahlen hindurch und marmo-
rieren in hübscher Weise den Boden.
Die Tropenbäume haben mit der Gewalt
tropischer Regengüsse zu kämpfen ; die gefiederten
Blätter der Leguminosen bieten den Wasserstrahlen
weniger Angriffsraum als große, ganzrandige Blätter.
Nun gibt es in den Tropen aber auch Bäume mit
derartigem Laub. Aber dann sind die Blätter
meistens widerstandsfähig gegen die Gewalt des
Wassers, sie sind dick und lederartig. Unsere
Lorbeerbäume, besser noch der Kirschlorbcer ver-
anschaulichen diese Art von Blättern, die für die
Tropenbäume so charakteristisch sind, daß sie die
Physiognomie des Urwaldes so recht eigentlich
bezeichnen.
Nicht nur gegen die Regengüsse, auch gegen
die am Äquator senkrecht fallenden Sonnenstrahlen
müssen sich die Tropenblätter schützen. Darum
sind sie nicht nur dick und fest, sondern auch
glänzend. Sie blenden so die Sonnenstrahlen ab,
werfen sie zurück und werden nicht so durch-
leuchtet wie die transparenten Blätter unserer
Pflanzen. Sehr richtig sagt Haberlandt, daß
man den Unterschied der europäischen von den
tropischen Blättern durch die Worte Transparenz
und Reflexion ausdrücken könne. Durchscheinende
Blätter aber erscheinen frischer, saftiger als harte,
reflektierende. Und so entspricht auch diese
Eigenart des tropischen Laubes nicht unseren
Vorstellungen von Üppigkeit.
Schauen wir am Äquator von einem Berge
herab auf den Urwald oder auch auf die weiten
Haine von Kokospalmen, wie sie dort an der
Meeresküste so verbreitet sind, so gewahren wir
kein frisches Grün, sondern die glitzernde Blätter-
masse dort unten ist graugrün; scharf umgrenzt
hebt sich Baumkuppel von Baumkuppel ab, be-
sonders im Hochland wirkt alles so plastisch, daß
man jedes Blatt zählen zu können glaubt. Alles
ist klar umrissen, voneinander abgesetzt, wir haben
keine so zarten, ineinander verschwimmenden Linien
und Flächen wie bei uns. Ich hatte manchmal
das Gefühl, daß ein derartiges Bild das Auge ab-
stoße, während die Farben unserer Landschaft
von ihm aufgesaugt würden. Und in der Tat be-
obachtet man, daß die Reisenden an der glitzernden
Tropenlandschaft sehr bald ermüden. Nur wer
sich in die fremdartige Welt vertieft, der wird
auch hier, wie überall in der Natur, die hohe
Schönheit erkennen.
Man stellt sich immer vor, in den Tropen sei
alles viel grüner als bei uns, und sogar die Wissen-
schaft hat das angenommen und daraus ihre
Schlüsse gezogen. Es gibt, im Gegensatz zu
Europa, in den Äquatorialländern eine ganze Reihe
großer grüner Vögel, z. B. verschiedene Tauben,
Papageien, Spechte, Bienenfresser, Blaltvögel (Phyl-
lornis), Megalaemas. Man hat nun gemeint, diese
Farbe als Schutzfärbung in dem grünen Tropen-
walde ansprechen zu müssen. Ich aber habe zu
meinem Erstaunen bald gesehen, daß die licht-
grüne Farbe der Vögel im Laub sehr auffiel,
weil dieses eben nicht lichtgrün ist wie bei uns,
sondern dunkler und grauglitzernd. Die grüne
Farbe tropischer Vögel kann also nicht die Be-
deutung einer Schutzfärbung haben, sondern im
Gegenteil, sie hebt die Tiere aus der Natur heraus,
1
N. F. XIII. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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gibt ihnen ein charal^teristisches, weitliin erkenn-
bares Äußere und so den Artgenossen die MögHch-
keit, das andere Gesclileclit zu finden. Bestätigt
wird diese Ansiclit durch den Vergleich der grünen
mit anderen Vögeln. Wir beobachten nämlich
im allgemeinen, daß bei den Vögeln die Schutz-
färbung im Einklang mit dem Brutgeschäft steht.
Offen brütende Vögel, wie Rotkehlchen, Nachti-
gallen, Grasmücken, Lerchen, Rebhühner sind un-
scheinbar gefärbt, und in der Tat, würden sie aus
ihrer Umgebung hervorstechen, dann wären sie
dem Auge der Feinde allzu leicht sichtbar und mit
ihnen wären Eier oder Junge gefährdet. Vögel
hingegen, die in finsteren Höhlen brüten, bedürfen
der Schutzfärbung nicht, bei ihnen können in
beiden Geschlechtern die „Arterkennungsfarben"
zur Geltung kommen, und das ist denn auch bei
den Spechten, Meisen, Blauraken, Eisvögeln der
Fall, Tieren, die derartige Brutgelegenheiten auf-
suchen. Nun besteht aber die Mehrzahl jener
grünen Vögel ebenfalls aus Höhlenbrütern. In
Baum- und anderen Höhlen brüten Papageien,
Spechte, Bienenfresser, Megalaemas, und auch bei
einigen der grünen Tauben ist eine derartige Brut-
gelegenheit beobachtet worden. Ein besonders
schlagender Beweis für meine Deutung gibt eine
Gattung neuseeländischer Papageien (Eclectus).
Diese Tiere sind nämlich im männlichen Geschlecht
grün, im weiblichen rot, wir kennen aber sonst
kein Beispiel, wo das brütende und für die Art-
erhaltung wichtigere Weibchen die Schutzfärbung
entbehren muß, während das Männchen sie hat.
Vielmehr ist überall, wo die Geschlechter in der
Färbung sich unterscheiden, das Umgekehrte der
Fall.
Nicht nur die ausgewachsenen Blätter stören durch
ihre glitzernde Beschaffenheit den frisch grünen
Eindruck des Tropenwaldes, sondern auch die
jungen. Diese bedürfen nämlich wegen ihrer noch
zarten Beschaffenheit eines besonderen Schutzes
gegen Sonnenstrahlen und Regengüsse, und so
sehen wir, daß sie zunächst eine Farbe entwickeln,
die die Sonnenstrahlen weniger kräftig in ihr
Inneres dringen läßt, nämlich rot. Ich war sehr
überrascht, als ich zum ersten Male einen voll-
ständig feuerroten Baum, es war der Eisenbaum
(Mesua ferrea) erblickte. Noch stärker wirkt aber
diese Erscheinung im Hochland. In 2000 m Höhe
darf auf Ceylon der Wald nicht mehr geschlagen
werden, weil er das Wasserreservoir der ganzen
Insel darstellt. Hier oben bedeckt er daher meilen-
weit die sanftgewellten Höhen in reizvoller Ab-
wechslung mit wogenden Steppen, die aus einem
zitronenartig duftenden Grase (Andropogon martini)
zusammengesetzt sind. Im Walde überwiegen
Bäume aus den Gattungen Litsea und Calophyllum,
es sind das knorrige Pflanzengestalten, etwa von
der Höhe unserer Obstbäume mit lederartigen,
glitzernden Blättern. Darunter wogt in grüner
Üppigkeit der Dschangelbambus ') (Arundinaria
walkeriana) — der Bambus ist eine Tropenpflanze,
deren Laub wirklich lichtgrün, zart und saftig aus-
sieht — , oder der Nillu (Strobilanthus pulcherri-
mus), dessen alle 12 Jahre erfolgende, bienen-
durchsummte Biütenpracht einen herrlichen An-
blick gewährt. Von den Bäumen steht nun jeder
in einem anderen Stadium der Blätterentwicklung,
und so ist der eine karminrot, der nächste orange,
wieder einer gelb, und so geht die ganze h'arben-
skala fort bis grün. Hier hat man wirklich ein
Bild vor sich von unerhörter Buntheit und man
genießt es um so mehr, als im Hochland von
Ende Dezember an tagaus, tagein ein herrlich
blauer Himmel leuchtet und frischeste Luft dem
Wanderer die Lunge weitet. Als ich zum ersten
Male die bunte Pracht sah, wollte ich es kaum
glauben, daß die roten Baumkuppeln ihre Farbe
durch Blätter, nicht durch Blüten erhalten hatten.
Es ist eine sehr verbreitete Eigenart tropischer
Bäume, daß die jungen Blätter an den Zweig-
enden in ganzen Schöpfen hervorsprießen und
hier schlaff und weich nach unten hängen —
ebenfalls ein Schutz gegen Sonne und Regen. Der
Buitenzorger Botaniker Treub hat treffend dar-
gelegt, daß man in den Tropen nicht sagen könne:
,,die Bäume sprießen", sondern vielmehr die Wen-
dung gebrauchen müsse, „die Bäume schütten die
Blätter aus". Für uns aber macht es zwar einen
fremdartigen, aber durchaus keinen Eindruck von
Üppigkeit, wenn an den spärlich belaubten Zweig-
enden derartige braun oder gelblich gefärbte
weiche Blätterschöpfe herabhängen.
Welches ist nun der Eindruck des Tropen-
waldes auf den Europäer, wenn es nicht der der
Üppigkeit ist ? Es ist der der Wucht, der Monu-
mentalität. Während unser Wald aus einer
Säulenmasse und einem Blätterdach besteht, geht
im tropischen Urwald das Holzwerk überall durch-
einander. Da schwingen sich zwischen den
Bäumen die armesdicken Stämme der Lianen wie
elastische Riesenseile, andere verlaufen schräg nach
unten, wieder andere liegen zu Füßen eines Baum-
riesen zusammengerollt wie ein Knäuel von
Schlangen. Mächtige Holzentwicklung ist das
Wesen des Tropenwaldes. Überall sieht man
Stämme und Aste in bizarren Linien kreuz und
quer ziehen. Nur im eigentlichen Regenwald ist
das Holz vielfach verdeckt. Wie grüne Feder-
boas umgeben die Schlingpflanzen Pothos scandens
und Freycinetia die Stämme der Bäume in dem
feuchten Urwald des Westabhangs des Ceylon-
sehen Gebirges, und von den Asten nicken die
Blätter epiphytischer Baumfarne herab. Aber
auch hier verbirgt das Grün nur selten den
monumentalen Bau der Bäume. Denn monumen-
tale Gestalt ist den meisten Tropenbäumen eigen.
Bei dem einen steigt der Stamm mastgleich und
riesenhaft in die Höhe, nur ganz oben eine Blätter-
krone tragend, ein zweiter verzweigt sich schon
bald über dem Boden, und schirmartig gehen
') Es heißt Dschangel, nicht Dschungel, denn es geht
nicht an, in der englischen Schreibweise des indischen Wortes
,, Jungte" nur das J, nicht auch das u, das als reines a ge-
sprochen wird, zu verdeutschen.
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Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
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seine Äste auseinander. Auch die Linien der
Äste sind wuchtiger als bei uns. Vielfach geht
der Ast zuerst wagrecht, dann mit scharfem Knick
senkrecht nach oben. An einer solchen Biegung
beginnt dann der Regen seine zerstörende Wir-
kung auszuüben, und Höhlungen bilden sich, die
von den Vögeln als Nistrauni benutzt werden.
Überhaupt ist es diese Eigenart, wie die starke
Holzbildung der Tropenbäume, die es bedingen,
daß es am Äquator viel mehr Baumhöhlenbriiter
unter den Vögeln gibt als bei uns.
Nicht nur Stamm und Äste der Tropenbäume
haben einen monumentalen Aulbau, sondern viel-
fach auch schon die Wurzeln. Auf meterhohen
„Bretterwurzeln" erheben sich die Canariumarten,
wie Kulissen stehen diese rosettenförmig vom
Stamme ab. Ficus elastica sendet ein ganzes
Schlangengewirre von kammartig aus dem Boden
ragenden Wurzeln aus, wieder andere Bäume, wie
die Pandangs (Pandanus) stehen gar auf Stelzen.
Bei vielen tropischen P'eigcnbäumen (z. B. Ficus
benjamina), senken sich von den Zweigen Luft-
wurzeln herab, die in den Boden dringen und all-
mählich selbst zu starken Stämmen werden. An
einer Straßenkreuzung in Colombo steht ein ganzer
Hain von Bäumen. So glaubt man wenigstens
nach der Zahl der Stämme das Pflanzenbild be-
nennen zu müssen. In Wirklichkeit sind die
scheinbaren Stämme Luftwurzeln und der ge-
samte Hain ist nur ein einziger Baum.
Auch die Palmen wirken monumental, vor
allem die Fächerpalmen. Die Blätter der Talipot-
palme (Corypha umbraculifera) sind so groß, daß
sie zusammengefaltet ein Zelt bilden können. Die
Palmyrapalme (Borassus flabelliformis) hat kleinere
Blätter, aber gerade diese Palme macht einen
sehr monumentalen Eindruck. Nach allen Seiten
starren die Fächerblätter, die unteren sind ab-
getrocknet und grau von Farbe, und manchmal
glaubt man gar keinen lebenden Baum, sondern
ein Kunstwerk aus Holz und Stoff vor sich zu haben.
In der Physiognomie einer Landschaft spielen
die Tiere eine geringe Rolle. Nur zum Bilde einer
Seenlandschaft in den heißen Ländern gehören
rosenrote Flamingos und weiße Reiiier, obgleich
der Mensch diese Schönheit oft genug zerstört
hat. Für die indischen Küstenstädte sind die
Pausende von Krähen (Corone splendens) charak-
teristisch, die statt der von vielen Reisenden er-
warteten Papageien in den Palmen sich tummeln.
Schöne Schmetterlinge sieht man häufig und auch
die „gefiederten Schmetterlinge", wie wir die
Honigvögelchen (Cinnyris) nennen können, die in
den östlichen Tropen die Kolibris Amerikas er-
setzen und ihnen an Kleinheit und bronzeschillern-
der Pracht des Gefieders gleichen. Wer natürlich
gelernt hat, zu Hause sich in die Natur zu ver-
tiefen, wird in den Tropen viel Schönes und
Interessantes aus der Tierwelt auffinden. Die
meisten Reisenden verstehen das aber nicht, und
es war mir sehr charakteristisch, daß von meinen
Mitreisenden fast keiner bei einem dreiwöchent-
lichen Aufenthalt auf Cejlon Pagageien gesehen
hatte, obgleich diese Vögel dort so häufig sind
wie bei uns die Meisen. Man muß eben auf
die Stimmen der Vögel achten, wenn man sie
sehen will.
Und Stimmen gibt es im Tropenwald genug
zu hören. Auch prachtvolle Sänger sind nicht
selten, denn es ist ein Märchen, daß am Äquator
die Vögel nur schön aussähen, aber nicht sängen.
Nachts aber, wenn der Lärm des Tages schweigt,
dann kommen unzählige Zikaden und Grillen zur
Geltung. Ununterbrochen gellt ihr Schrillen, da-
zwischen tönen wie kleine blecherne Schellen die
Rufe von F"röschen, oder das klagend jauchzende
Geheul von Schakalen läßt sich aus der P'erne
hören. Und während das Ohr dem Leben und
Weben der Natur lauscht, schaut das Auge ent-
zückt auf die Myriaden von Leuchtkäfern, die
zwischen den dunklen Stämmen der Bäume ihren
schweigenden Funkentanz aufführen.
[Nachdruck verboten.]
Über den Cheniisniiis der alkoholischen Gärung.
Von Dr. H. Mengel, Marburg.
Unter Gärung im weitesten Sinne des Wortes
versteht man den Abbau von komplizierten or-
ganischen Verbindungen zu einfacheren und ein-
fachsten Substanzen unter dem Einfluß gewisser
Mikroorganismen. Es handelt sich also hierbei
um biochemische Prozesse. Im engeren Sinn
bezeichnet man mit Gärung speziell die alko-
holische. Ihr besonderes Merkmal besteht in
der Aufspaltung gewisser Zuckerarten (Mono-
saccharide) in Alkohol und Kohlensäure, die durch
die Hefe bewirkt wird. Dieser Vorgang wird
durch die bereits von Gay-Lussac zu Beginn
des vorigen Jahrhunderts aufgestellte Gärungs-
gleichung summarisch wiedergegeben :
CgH.oOe —> 2C2H5OH + 2CO2.
Über die Wirkungsweise der Hefe bei der
Gärung sind bekanntlich im Laufe des vorigen
Jahrhunderts mehrere Theorien aufgestellt worden:
Liebig erklärte sie rein mechanisch chemisch,
P a s t e u r deutete sie vitalistisch als physiologischen
Lebensprozeß der Mikroorganismen , und die
moderne Enzymtheorie vermittelt zwischen
beiden Auffassungen, indem sie annimmt, daß der
eigentliche Gärungsvorgang, also der Zuckerzerfall,
rein chemischer Natur ist, die ihn bewirkenden
Enzyme jedoch vermag, vorerst wenigstens, nur
die lebende Zelle zu erzeugen. In den Unter-
suchungen Buchners und seiner Mitarbeiter fand
diese letzte Erklärungsweise eine wichtige Stütze.
Ihm gelang es bekanntlich, die gärungserregenden
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Enzyme (Zymase) von der lebenden Zelle abzu-
trennen, indem er diese durch mechanische oder
chemische Mittel zerstörte; so schied er den rein
chemischen Prozeß von dem Lebensvorgang.')
Mit der Aufklärung des Reaktionsmechanismus
dieses Prozesses haben sich nun in den letzten
Jahren mehrere Forscher beschäftigt , und im
folgenden soll ein kurzer Überblick über den
Verlauf der Untersuchungen und die gewonnenen
Resultate gegeben werden:
Zunächst war die eigentliche Aufgabe des
Chemikers, die Feststellung der in der Gärlösung
auftretenden Verbindungen, ganz in den Hinter-
grund getreten gegen die Aufklärung der Ursachen
der Gärung. Man begnügte sich mit der alten
Erfahrungstatsache, daß der Z u c k e r in der Haupt-
sache in Alkohol und Kohlensäure vergoren
wird, welchen Vorgang man durch die angeführte
Gärungsgleichung summarisch widergab.
Bald jedoch wurde erkannt (Pasteur), daß neben
diesen wichtigsten Produkten der Zuckerspaltung
noch viele andere in größerer oder kleinerer Menge
in der Gärlösung auftreten — man erhielt nie die
aus der Gay-Lussac'schen Gleichung berechneten
Mengen Alkohol und Kohlensäure. So fand man
noch Milchsäure, Bernsteinsäure, Ameisen-
säure, Glycerin, Amylalkohol u. a., und
es ergab sich die Frage, ob diese Körper, wie
Alkohol und Kohlensäure, normale E ndprodukte
eines nur in anderer Richtung erfolgten Zerfalls
des Zuckermoleküls darstellen oder als Z w i s c h e n -
Produkte bei der doch sicher stufenweise er-
folgenden Alkoholbildung zu betrachten sind oder
endlich nur als untergeordnete Nebenprodukte,
entstanden durch Reaktionen, die mit diesem
Hauptgärungsprozeß direkt nichts zu tun
haben.
Weniger zur Klärung dieser Frage als, um
überhaupt einmal dieses schwierige Problem an
einem Ende anzupacken, stellte man Gärungs-
schemen auf, Hypothesen, die mit Hilfe der
dem Chemiker bereits bekannten Reaktionen den
Übergang des Zuckers in Alkohol und Kohlen-
säure sukzessive über verschiedene Zwischen-
produkte erklären sollten.
Unseren modernen Ansichten sehr nahe steht
ein Schema, das Baeyer im Jahre 1870 in den
Berl. Ber. d. Deutsch. Chem. Ges. veröffentlichte
in einer Abhandlung, betitelt „Über die Wasser-
< entziehung und ihre Bedeutung für das Pflanzen-
leben und die Gärung".
Nach ihm verläuft der Zerfall des Zucker-
moleküls bei der alkoholischen Gärung in zwei
Phasen: Bekanntlich stellt der Traubenzucker
(Glukose) CuHp^Og einen Körper dar, der gleich-
zeitig ein primärer und sekundärer Alkohol und
ein Aldehyd ist und dem daher folgende Konsti-
tutionsformel zukommt:
H-
OH'OHOH-OHOH^
I I I I I y.O*
-C— C-C— C-C-C<'
I I I I I ^H»^
H Hl H^ H'^ H*
In der ersten Phase nun werden nach Baeyer
4 Mol. Wasser abgespalten (durch Zusammentritt
der gleichartig numerierten Gruppen) und sofort
wieder aufgenommen, jedoch in der Weise, daß
jetzt die H-Atome sich an das Ende der stark
ungesättigten Kette addieren, die OH-Gruppen
dagegen in der Mitte. So erfolgt eine Anhäufung
(Akkumulation) des Sau erst offes in der Mitte
der Kohlenstoffkette. Der so entstehende
labile Körper wird nun im Verlauf der zweiten
Phase gesprengt: die beiden mittelständigen
C-Atome liefern mit ihrer Sauerstoffbeladung die
zwei Moleküle CO.,, die vier nach den Enden
stehenden die beiden Moleküle CH-jCHgOH.
Die Entstehung der anderen bei der alkoholi-
schen Gärung beobachteten Verbindungen erklärt
Baeyer in gleicherweise, nur erfolgt dabei die
Sauerstofifakkumulation und die Sprengung etwas
anders.
Als experimentell bestätigtes Analogon des
Vorgangs der ersten Phase — Abspatltung
von VV asser und Wiederanlagerung in
anderer Weise unter Anhäufung von Sauerstoff —
verweist Baeyer auf den Übergang von Glykol
in Acetaldehyd unter dem wasserentziehenden
Einfluß von Zinkchlorid. Für die zweite Phase
— Sprengung einer Kohlenstoffkette
an einer stark mit Sauerstoff beladenen Stelle —
gibt die Spaltung von Oxalsäure in Kohlen-
dioxyd und Ameisensäure unter Einwirkung
von Glycerin ein Beispiel.
Ein auf ganz ähnlichen Prinzipien aufgebautes
Gärschema wurde späterhin von J. Meisen-
heimer angegeben. i) Er vermied dabei nur die
un>vahrscheinliche Reduktion der endständigen
Aldehydgruppe und baut so das Glukosemolekül
zunächst ab zu zwei Molekülen Milchsäure
(CH.j— CH— COOH), die sich dann leicht in COg
I
OH
und CHgCHjOH zu spalten vermögen. Weitere
Schemen, auf die hier nicht näher eingegangen
werden soll, stammen von W o h 1 und Schade.
Bei der Aufstellung dieser Gärungshypothesen
wurden die experimentellen Tatsachen nur in
zweiter Linie berücksichtigt. Erst in neuerer Zeit
gewann die exakte Erforschung der chemischen
Vorgänge bei der alkoholischen Gärung festen
Grund, vor allem durch die bahnbrechenden Ar-
beiten von B u c h n e r und M e i s e n h e i m e r.
Man suchte nun festzustellen, ob^die in der Gär-
lösung aufgefundenen Körper in dem bereits an-
gedeuteten Sinn Zwischen- oder Neben-
produkte bei der Bildung von Alkohol und
Kohlensäure sind. Ein einleuchtendes, wenn auch
') cf. E. u. H. Buchner u. Hahn ,,Die Zymasegärung",
Monogr., München 1913.
') Berl. Ber. d. Deutsch. Chem. Ges. 37 [04], S. 417-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 36
nicht ganz einwandfreies Kriterium hierfür
bietet die Vergärbarkeit der betreffenden
Verbindungen, wenn sie in reinem Zustand den
Bedingungen der Gärung ausgesetzt werden. Durch
die Verwendung des Buc hner'schen Hefe-
preßsaftes*) an Stelle der lebenden Hefe wurde
man in die Lage versetzt, gewisse Stoffe, deren
Entstehung auf die Lebenstätigkeit des Hefepilzes
zurückzuführen ist, von vornherein als physiologi-
sche Nebenprodukte zu charakterisieren und aus-
zuschalten.
Unterwirft man unter diesem Gesichtspunkt
die in der Gärflüssigkeit aufgefundenen Verbin-
dungen einer Prüfung, so stellen naturgemäß
Alkohol und Kohlensäure die bei weitem über-
wiegenden Hauptprodukte dar. Sie entstehen
nach Buchner und Meisenheimer stets in
konstantem Verhältnis (= 1,04). Nur bei
sehr lange dauernden Gäransätzen findet man
etwas mehr Kohlensäure infolge eines schleichen-
den Verbrennungsvorganges. Bis 10 "/„ der an-
fänglichen Zuckermenge entziehen sich dem Zer-
fall in Alkohol und Kohlensäure. Sie finden sich
am Schluß zum Teil als Glyzerin vor, in der
Hauptmenge aber haben sie sich durch Poly-
merisation der Gärung entzogen. Nach deren
Beendigung kann man nämlich durch Hydrolyse
(Entpolymerisation) eine geringe Menge unver-
gorenen Zucker zurückgewinnen, der sich durch
Reduktion von P' e h 1 i n g ' scher Lösung leicht
nachweisen läßt. -)
Viel umstritten war früher die Frage der
Milchsäurebildung bei der alkoholischen Gä-
rung. Schon früh hat man ihr Auftreten beobachtet.
Pasten r's Untersuchungen sprechen gegen ihr
Vorhandensein in der Gärlösung. Baey er nimmt
sie als normales Gärprodukt an und berücksich-
tigt sie auch in seinem vorerwähnten Schema als
Zwischenglied. Auch Buchner und Meisen-
heimer schlössen sich dem anfangs an, wurden
jedoch späterhin anderer Ansicht auf Grund ihrer
eigenen Untersuchungen und der von Slator,
die übereinstimmend zeigten, daß Milchsäure
nichtvergärbar ist, also höchstens ein N e b e n -
Produkt sein kann, derart, daß sie in einer
Nebenreaktion aus direkten Zwischengliedern des
Zuckerzerfalls entsteht.^) Als solche kommen,
wie wir später sehen werden, Dioxyaceton,
Glyzerinaldehyd und Met hy Igly oxal in
Betracht. Interessant ist das Auftreten der Milch-
säure in größeren Mengen bei der Ein Wirkung
verdünnter Alkalien auf Hexoselösun-
gen, wenn man durch besondere Vorsichtsmaß-
regeln eine Verharzung vermeidet. Dabei wird
der Zucker auch in geringem Maße in Alkohol
und Kohlensäure übergeführt, ein Beweis dafür,
daß auch die alkoholische Gärung, wie viele
') cf. Anm. I auf S. 567.
2) Berl. Bcr. d. Deutsch. Chem. Ges. 39 (06), S. 3201.
ä) Cbem. Centralbl. 1906, I, S. 383 u. 1034; Berl. Ber
d. Deutsch. Chera. Ges. 43 (10), S. 1773.
andere enzymatische Vorgänge, künstlich nachge-
ahmt werden kann.
Glyzerin tritt bei der alkoholischen zellfreien
Gärung in schwankenden, doch beträchtlichen
Mengen auf (5-6% des verbrauchten Zuckers).
Auch ihm kommt wie der Milchsäure wahrschein-
lich der Charakter eines Derivates eines
Zwischenproduktes zu, und zwar des Gly-
zerinaldehyds. So erklärt sein Auftreten zu-
sammen mit der Polymerisation des Zuckers den
Umstand, daß bis 10% von letzterem nicht als
Alkohol und Kohlensäure wiedergefunden werden, 'j
Bernsteinsäure findet man nur bei der
Gärung mit 1 e b e n d e r H e f e. Das spricht schon
zur Genüge für ihre Entstehung bei dem Stoff-
wechselprozeß der Zelle. Ihre Bildung ist eng
verknüpft mit der der P^uselöle, die im Roh-
spiritus bis zu 0,7 '% vorkommen, bei der zell-
freien Gärung dagegen nur in 0,01 "/„ '). F. Ehr-
lich erklärt die Entstehung der F"uselöle (haupt-
sächlich Amylalkohol) mit der Tätigkeit proteoly-
tischer (eiweißspaltender) Enzyme, die sich auch
in der Hefe befinden. Sie bauen die Eiweißkörper
ab zu Aminosäuren, die sich dann weiterhin in
Amylalkohol, Kohlensäure und Ammoniak spalten.
Durch Zusatz einer solchen Aminosäure (Leucin)
kann man die Ausbeute an Fuselölen bei der
alkoholischen Gärung bedeutend erhöhen. -)
In viel geringerer Menge als die erwähnten
Verbindungen treten noch Essigsäure und
Ameisensäure bei der alkoholischen Gärung
auf. Sie entstehen ziemlich sicher in Neben-
reaktionen, wie denn naturgemäß die Zwischen-
produkte der Alkohol- und Kohlensäurebildung
in der verschiedensten Weise zu solchen Veran-
lassung geben können. Dadurch werden dann,
allerdings nur in Spuren, vielerlei Nebenprodukte
gebildet, die für die Aufklärung des Reaktions-
mechanismus der eigentlichen Zuckerspaltung un-
wichtig sind.
Diese Zwischenprodukte nun müssen also
so konstituiert sein, daß einerseits ihre Bildung
aus dem Glukosemolekül und ihr weiterer Über-
gang in Alkohol und Kohlensäure verständlich
ist, andererseits aber auch ihre Umwandlung in
Milchsäure und Glyzerin. Solange man sie in der
Gärflüssigkeit nicht direkt nachzuweisen vermag,
sind sie mehr oder weniger hypothetischer
Natur. Es ist fraglich, ob dieser Nachweis für
alle überhaupt zu führen ist ; denn diese Zwischen-
körper werden naturgemäß in der Gärlösung von
recht labiler Beständigkeit sein und, kaum ent-
standen, sich sofort weiter umsetzen bis zu den
stabileren genannten Endprodukten. In ihrer Ver-
gärbarkeit (in Form des reinen Präparates)
haben wir allerdings ein Kriterium, das die Wahr-
scheinlichkeit ihrer Zwischenproduktnatur wesent-
lich erhöht. Ein solches Zwischenglied sollte so-
gar stärker vergären als der Zucker selbst, da ja
der Zerfall bereits begonnen hat.
') Berl. Ber. d. Deutsch. Chem. Ges. 39 (06), S. 3201.
') Chem. Centralbl. 1905, II, S. 156.
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Naturwissenschaftliclic Wochensclirift.
569
Als solche Zwischenprodukte kommen zu-
nächst die isomeren Verbindungen Dioxyaceton
(CH, — CO— CH.,) und Glyzerinaldehyd
r I ■
011 OH
(CH.,— CH— CHO) und das um ein Molekül Wasser
OH OH
ärmere Methylglyoxal (CHO— C
XH.,
%
O
in Betracht, und zwar insofern, als sie sich durch
Spaltung des Zuckermoleküls in zwei Hälften
leicht bilden und ebenso leicht in Milchsäure
(CH3-CH-COOH) und Glyzerin (CH,,— CH— CH^)
OH OH OH OH
überzuführen sind.') Wohl hat bereits im Jahre
1904 auf sie als mögliche Zwischenstufen des
Zuckerzerfalls hingewiesen, läßt sie aber in seinem
Schema über die Milchsäure in Alkohol und
Kohlensäure übergehen, was, wie wir gesehen
haben, wegen der Nichtvergärbarkeit dieser Säure
sehr unwahrscheinlich ist. Wie steht es nun mit
der Vergärbarkeit der angeführten Verbindungen ?
— Nach älteren Untersuchungen, die von
Buchner und Meisenheim er kontrolliert
wurden, wird nur Dioxyaceton annähernd so
schnell vergoren wie Glukose. Glyzerin-
aldehyd vergärt langsam und unvollkommen
(vielleicht wegen der giftigen Wirkung der
Aldehydgruppe auf die Enzyme), dagegen ver-
gärt die zugehörige Säure, die Glyzerinsäure
(CH2 — CH — COOH), nach Untersuchungen von
I I
OH OH
Neuberg ') und A. v. Lebedew^) bedeutend
rasch er. Dabei wird Acetaldehyd
(CH3 — CHO) und Kohlensäure gebildet, wahr-
scheinlich über Benztraubensäure
(CH,— CO— COOH), die auffällig gutvergärbar
ist.^) *) Das Auftreten von Acetaldehyd bei der
zellfreien alkoholischen Gärung wurde in letzter
Zeit von verschiedener Seite bestätigt. Er müßte
dann durch Reduktion weiter in Alkohol über-
gehen. Dieser Vorgang wäre eine Kompensation
zu jener oxydativen Überführung des Glyzerin-
aldehyds in seine Säure. Die Untersuchungen
Neuberg's und seiner Mitarbeiter sprechen da-
') Berl. Ber. d. Deutsch. Chem. Ges. 43 (10), S. 1773.
') Bioch. Z. 31 u. 32 [11].
') Berl. Ber. d. Deutsch. Chem. Ges. 47 (14), S. 660.
') C. Neuberg, ,, Die Gärungsvorgänge und der Zucker-
umsatz der Zelle". Monogr., Jena 1913.
für, daß ganz allgemein die biologische Alkohol-
bildung über den Aldehyd in einem Reduktions-
vorgang erfolgt.') Dann würden also bei der
Gärung Wasserabspaltung und -anlage-
rung, Oxydations- und Reduktions-
prozesse Hand in Hand gehen. Es ist daher
wahrscheinlich, daß sich an dem Zuckerblau
mehrere Enzyme beteiligen, die alle unter
den Begriff der Buchner 'sehen Zymasc fallen.
Die Untersuchungen sind zurzeit noch in
vollem Gang und werden so schnell nicht zu Ende
geführt werden können. Man scheint jedoch auf
dem richtigen Weg ziu' Aufstellung eines ein-
wandfreien Schemas des Zuckerzerfalls zu sein.
Zum Schluß sei noch kurz darauf eingegangen,
wie man sich etwa die Wirkungsweise der
Enzyme im chemischen .Sinn deuten könnte.
Nach Donath") sind es hoch hydratische
Verbindungen, die an die zu spaltenden
Körper die Elemente des Wassers im Status
nascens abzugeben vermögen und so deren Molekül
lockern. Indem sie der zerfallenden Verbindung
dann wieder Wasser entziehen, werden sie re-
generiert. Man könnte auch daran denken, daß
die Enzyme zunächst Additionsverb in düngen
mit dem zu hydrolysierenden Körper eingehen,
die dann infolge ihrer labilen Natur leicht zer-
fallen. Geht dieser Abbau seinem Ende zu, so
werden die Enzyme wieder unverändert abge-
spalten. In diesem Fall kämen die oben dis-
kutierten Zwischenprodukte gar nicht selbständig
in der Gärlösung vor, sondern gleichsam maskiert
als Komponente einer solchen Enzymaddilions-
verbindung. Dann allerdings wäre ihr Vorhanden-
sein sehr schwer direkt zu beweisen, und man
hätte eine Erklärung für ein unterschiedliches
Verhalten, wenn die betreffenden Substanzen als
Präparate der Gärung ausgesetzt werden. Liebig
hat sich bereits den chemischen Vorgang der
Gärung in ähnlicher Weise erklärt: Er vergleicht
ihn nämlich mit der Darstellung von Oxamid
(CO — NH2) aus Cyan und Wasser bei der Gegen-
I
CO-NHj
wart von Acetaldehyd, wobei auch zunächst eine
Aldehydadditionsverbindung entsteht (Diäthyl-
idenoxamid), die sich unter Aufnahme von Wasser
spaltet unter Bildung von ( )xamid und Re-
generation des Aldehyds. Jedenfalls kommt den
Enzymen eine katalytische Kontakt-
wirkung zu.
') Berl. Ber. d. Deutsch. Chem. Ges. 46 (13), S. 2225.
2) Chem. Centralbl. 1S95, S. 158.
Einzelberichte.
Zoologie. Die Bromelienfauna von Costa Rica
hat C. P i c a d o zum Gegenstand einer interessanten
Studie gemacht (Les Bromeliacees epiphytes con-
siderees comme milieu biologique. Bull. Scienti-
fique de la France et de la Belgique 7" Serie
T. 17. Fascic. 3 p. 2 IS— 360, PI. VI -XXIV).
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 36
Die in den Wäldern Mittel- und Südamerikas
häufigen epiphytischen Bromeliaceen sammeln
zwischen ihren Blättern an der Basis die atmo-
sphärischen Niederschläge an , so daß hier viele
Liter enthaltende Wasseransammlungen hoch oben
in den Bäumen entstehen. Da fast alle größeren
Bäume dort reichlich mit diesen Bromeliaceen —
den Verwandten der Ananas — bewachsen sind,
so ist auf diese Weise Wassertieren die Lebens-
möglichkeit in Wäldern geboten, in denen Tüm-
pel und Sümpfe im allgemeinen fehlen. Schon
Fritz Müller, der große deutsche Naturforscher,
hat in den Urwäldern Brasiliens in der Mitte des
vorigen Jahrhunderts die Fauna dieser Bromelien-
gewässer beobachtet und von den „Wassertieren
in den Wipfeln des Waldes" berichtet.
Betrachtet man einen solchen epiphytischen
Bromelienbusch genauer, so sieht man, daß nur
die inneren, lebenden Blätter an ihrer Basis Wasser
enthalten und daß dieses Wasser in den verschie-
denen Blattachseln häufig verschieden hoch steht.
Es entsteht so ein „Aquarium" mit lauter ver-
schiedenen , vollständig voneinander getrennten
Abteilungen; die Scheidewände werden von den
Blättern dargestellt. Rings umgeben wird dies
„Aquarium" von einem „Terrarium", d. h. den
Resten der abgestorbenen Blätter und den sich
zwischen ihnen reichlich ansammelnden anderen
toten Pflanzenresten, die hier dauernd feucht ge-
halten allmählich in Humus zerfallen. Beide,
Aquarium wie Terrarium, werden von einer reichen
Fauna bewohnt, die zum großen Teil ganz aus-
schließlich in diesen Bromelien angetroffen wird.
Hier leben verschiedene I'rösche und Salamander,
von Würmern, Borstenwürmer, Blutegel, Strudel-
würmer; Schnecken; von Krebsen Ostracoden,
Copepoden, Isopoden, allerlei Spinnentiere, Räder-
tiere, Protozoen und vor allen Dingen Insekten
im Larven- und Imaginalzustande in größter
Arten- und Individuenzahl. So ist die Brutstätte
wohl der meisten Moskitos jener Wälder in den
Bromelienaquarien zu suchen. All diese Organis-
men leben direkt oder indirekt von dem organi-
schen Detritus, der sich zwischen den Bromelien-
blättern ansammelt und der, dank der Tätigkeit
der lebenden Blattwandungen jener Aquarien
nicht in Fäulnis gerät, sondern sich in eine braune,
torfähnliche Masse zersetzt.
Diese kleinen Teiche in der Spitze der hohen
Waldbäume , die von lebenden Pflanzen gebildet
werden, müssen natürlich ihren Bewohnern ganz
eigenartige biologische Bedingungen bieten.
In erster Linie geben sie überhaupt Bewohnern
stehenden Wassers die Möglichkeit des Vorkom-
mens in jenen Gegenden, die im großen und
ganzen „terrestre" Tümpel nicht besitzen. Das
fernerhin diese Bromelienaquarien fast ausschließlich
von dem Wasser gespeist werden, das sich aus
den tagtäglich in jene Wälder einfallenden Nebeln
kondensiert, so sind sie dauernd, während des
ganzen Jahres mit Wasser gefüllt und trocknen
nie aus. Ihre Bewohner zeigen demgemäß keine
bestimmt festgelegte Fortpflanzungsperiode, wie
man sie bei den Tieren in regelmäßig austrock-
nenden Kleingewässern sonst häufig findet. Daher
trifft man in den Bromelien zu jeder Jahreszeit
z. B. Larven von Fliegen und Libellen und Käfern
in jeder Altersstufe an. Eine weitere Eigenart
des Bromelienwassers ist — trotz der großen
Mengen organischer Stoffe, die in ihm lagern —
sein Sauerstoffreichtum, oder mit anderen Worten
das I<"ehlen von Fäulnisprozessen darin. Die Bro-
melienbewohner sind sehr sauerstoffbedürftig. —
Die Kleinheit des „Lebensraumes" macht den
Bromelientieren das Schwimmen schwierig, wo
nicht unmöglich. Und so haben manche Bromelien-
bewohner Schwimmorgane völlig verloren, wäh-
rend ihre nächsten Verwandten, die in anderen
Gewässern leben, solche besitzen. Das klassische
Beispiel hierfür ist die Puppe der Köcherfliege,
Phylloicus bromeliarum, deren Schwimmhaarverlust
Fritz Müller schon 1879 beschrieben hat.')
Von Bedeutung für seine Bewohner wird auch
die Zerteilung des Bromelienaquariums in lauter
ganz getrennte ILinzelräume; so können räube-
rische Insektenlarven, die sich sonst gegenseitig
anfallen würden, in großer Zahl in einem solchen
Bromcliengewässer hausen, da ja jedes Exemplar
gewissermaßen in Einzelhaft sitzt.
Wenn im allgemeinen auch die Bromelien
dauernd mit Wasser gefüllt sind, können doch
starke Winde einmal die Bromelienaquarien aus-
schütten. Wie Versuche gezeigt haben, können
die meisten Bromelienbewohner solches kurz-
dauerndes Trockenliegen vertragen; manche von
ihnen besitzen zudem Hxationsorgane, die sie vor
der Gefahr, aus ihrem Wasser herausgeschleudert
zu werden, schützen.
In dem das „Aquarium" umgebenden ,, Terra-
rium" finden viele feuchtigkeitsliebende und licht-
scheue Tiere äußerst günstige Lebensbedingungen.
Die Bromelienfauna der von Picado studierten
Gegend ist äußerst reich (etwa 250 Arten!) und
enthält Organismenarten, die man fast in einer
jeden Bromelie antrifft. Wie mögen die Tiere
sich verbreiten ? Bei den geflügelten Insekten
bietet die Antwort auf die Frage keine Schwierig-
keiten; auch die Verbreitung der räuberischen
Tiere mit wohl entwickelter Bewegungsfähigkeit
(Peripatus, Scolopendren, Frösche, Spinnen usw.)
ist leicht verständlich. Bei den übrigen weniger
beweglichen Tieren (Ostracoden, Copepoden, Rota-
torien , wasserbewohnenden Turbellarien usw.)
wird das Ausschütten und Anschütteln der Bro-
melienwässer durch die Stürme wohl die Haupt-
rolle für ihre Verbreitung spielen. Die feuchtig-
keitsliebenden Borstenwürmer und Schnecken
können aktiv in die Humusmassen der Bomelien-
terrarien einwandern.
Es mag zum Schluß daran erinnert sein, daß
') Sonderbarerweise hat Picado diese Angabe übersehen,
wie er in seiner sonst so erschöpfenden Arbeit überhaupt die
bromelienbewohnenden Trichopteren nicht behandelt.
N. F. XIII. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
57«
außer den Bromelien auch viele andere Pflanzen
tropischer Gegenden (Bambus, Musaceen, Sarra-
cenien, Nepenthes, Pandanaceen, Liliaccen usw.)
mehr oder weniger große Wasseransammlungen
aufweisen, deren Fauna indessen noch nicht ein-
gehender untersucht worden ist.
Thienemann (Münster i. W.).
Physik. Über das neue Röntgenrohr nach
Coolidge berichtet I"". Kerschbaum in den
Naturwissenschaften (1914) 654 — 657. Das Rohr
hat einen Durchmesser von 18 cm und trägt zwei
einander diametral gegenüberstehende seitliche
Ansätze. Der eine enthält als Anode und zugleich
Antikathode ein massives Stück Wolframmetall
von 100 g Gewicht und einer ebenen Stirnfläche
von 2 cm Durchmesser. Dieser steht in einem
Abstand von 2 cm die Kathode gegenüber, eine
winzige, 5 Windungen enthaltende Spirale aus
Wolframdraht von 0,2 mm Dicke und 23 rrmi
Länge. Die beiden Enden der Spirale sind an
2 dickere Molybdändrähte, diese wieder an 2
Platindrähte angeschweißt, die voneinander isoliert
durch das Glas des zweiten Ansatzes hindurch-
führen. Zur Herstellung des Vakuums wird das
Rohr an eine Molekularluftpumpe angeschlossen
und im Luftbade längere Zeit bis zu 470" erhitzt.
In den Heizpausen wird ein möglichst hoher Be-
lastungsstrom hindurchgeschickt. Hierdurch wer-
den alle im Metall und an der Wandung haften-
den Gasteile entfernt, so daß der Druck nach dem
Abschmelzen von der Pumpe höchstwahrscheinlich
kleiner als '/looooo ^'^™- ^st; eine angelegte Span-
nung von 100 000 Volt löst trotz des geringen
Elektrodenabstandes keine Entladung aus. Um
diese einzuleiten, schickt man durch die als Ka-
thode dienende Wolframspirale den mittels Wider-
stand regulierbaren Strom einer hochisoliert auf-
gestellten Akkumulatorenbatterie und erhitzt die
Spirale dadurch zu heller Weißglut (bis 2180°).
Dann gehen von ihr, wie durch die neuesten Unter-
suchungen La n gm uir 's einwandfrei erwiesen zu
sein scheint, auch ohne Gegenwart von Gas
Elektronen aus; diese erlangen unter dem Ein-
fluß der hohen Spannung eine sehr große Ge-
schwindigkeit und erregen bei ihrem Aufprall auf
die Wolframanode (Antikathode) Röntgenstrahlen.
Die neue Röhre mit ihrem hohen Vakuum, das
100 — looomal besser ist als das der gewöhnlichen
Röntgenröhren, benutzt demnach die „unselbstän-
dige" Entladungsform in ähnlicher Weise, wie es
auch in einem Entladungsrohr mit Wehnelt-
Kathode geschieht. Ein solches Coolidge-Rohr
hat sich 50 Minuten lang mit 25 Milliampere bei
einer Parallelfunkenstrecke von 7 cm (mittels
Hochspannungstransformator von 10 KW) be-
treiben lassen. Die Glaskugel mußte dabei
durch einen kräftigen Luftstrom gekühlt werden.
Trotz der hohen Temperatur trat keine Metall-
zerstäubung an den Elektroden auf. Das Rohr
zeigt keine Glasfluoreszenz, ein Zeichen dafür, daß
sekundäre Elektronenstrahlen fehlen. Die Über-
legenheit des Rohrs über alle früheren Typen
liegt darin, daß man Intensität und Härte der
Strahlen in weiten Grenzen und raschem Wechsel
unabhängig voneinander variieren kann. Durch
Erhöhung der Stromstärke in der Kathodenspirale
steigt deren Temperatur, damit die von ihr aus-
geschickte Elektronenzahl und die Stromstärke des
durch die Röhre gehenden Stromes. Durch Ände-
rung der angelegten Hochspannung läßt sich die
Geschwindigkeit der Elektronen und damit die
Härte (Wellenlänge, Durchdringungsvermögen)
der Strahlen variieren. Sorgt man für konstante
Spannung, so sind die Strahlen homogen. Die
neue Röhre kommt durch die General Elektric
Company in den Handel. K. Schutt.
Bakteriologie. Entstehung der Terra di Siena
durch Bakterienwirkung. Zu den mit dem Namen
Bol bezeichneten eisenoxydhaltigen Erden gehört
die gelbe „Terra di Siena", die wie andere Bole
praktisch verwendet wird. Sie findet sich am
Monte Amiata in Toskana und hat sich jedenfalls
in Teich- und Sumpfwasser gebildet. Doch be-
steht, ebenso wie über die Entstehung des Ockers
und Raseneisensteins, eine Kontroverse darüber,
ob diese gelben Erden auf rein chemisch physi-
kalischem Wege entstanden seien, oder ob Mikro-
organismen bei ihrer Entstehung mitgewirkt haben.
Als solche „Ockerbakterien" sind bisher haupt-
sächlich Fadenbakterien in Betracht gezogen worden,
wie Crenothrix, Cladothrix, Chlamydothrix (Lepto-
thrix) usw. Bei der mikroskopischen Untersuchung
von Rasenerzproben hat Molisch in einigen
wenigen Fällen das Vorhandensein der rostroten
Scheiden fädiger Eisenbakterien feststellen können;
meist war nichts von ihnen nachzuweisen, und
Molisch hat aus diesen Beobachtungen ge-
schlossen, daß die Rasenerze in ihrer Mehrzahl
nicht unter Mitwirkung von Bakterien gebildet
worden seien. Andererseits ist von demselben
Forscher nachgewiesen worden, daß zu den Eisen-
bakterien nicht bloß fadenbildende Formen ge-
hören; die von ihm zuerst beschriebene, obwohl
sehr häufige Siderocapsa besteht aus Kokken, die
in ihren Gallerthüllen große Mengen braunen
Eisenhydroxyds ablagern. Nach den Untersuchungen
von G. B. Petrucci ist die Bildung der Terra
di Siena und anderer Eisenabsätze durch die Tätig-
keit einer nicht fadenförmigen Bakterie herbei-
geführt worden, die er Bacillus ferrigenus genannt
hat, und die sowohl in der Natur wie in der
Kultur Eisen zu oxydieren und in der Form von
Hydroxyd niederzuschlagen vermag. Die Tätigkeit
dieses Mikroorganismus zeigt sich mit größerer Inten-
sität da, wo ein lebendes Substrat von grünen Algen
und Diatomeen vorhanden ist. Nach Petrucci 's
Ansicht ist die Entstehung der Eiseninkrustationen
des Bodens und der Mauern, der Ockernieder-
schläge der Gewässer und anderer Bildungen auf
die Wirksamkeit dieses Bazillus zurückzuführen.
Der B. ferrigenus bekleidet sich nicht wie die
anderen Eisenbakterien mit einer Eisenoxydscheide.
572
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 36
Er schlägt das Eisen in Form von Eisenoxyd
nieder, nachdem er es wahrscheinlich durch eine
kolloide Phase hat hindurchgehen lassen. Es ist
eine thermophile, sporenbildcnde Form, die gegen
Wärme und gegen antiseptische, chemisch und
physikalische Einflüsse ziemlich widerstandsfähig
ist. Die alten Seen unterhalb des Monte Amiala,
in denen die Terra di Siena entstand, hatten
wahrscheinlich eine üppige Vegetation ; Diatomeen
waren reichlich vorhanden ; Eisen wurde ihnen
von dem Trachyt des Berges zugeführt, und auch
die organischen Stoffe sowie die Temperatur, die
zur Entwicklung des Bazillus nötig waren, fehlte
nicht. Daß diese Bakterien in verhältnismäßig
kurzer Zeit eine nicht geringe Menge von Eisen-
hydroxyd niederschlagen können, zeigten Versuche,
in denen eine sehr verdünnte Lösung von am-
moniakalischem Eisencilrat mit Agarkulturen des
B. ferrigenus geimpft wurde. In der mikroskoj^isch
untersuchten gelben Erde fanden sich nur ein
paarmal spärliche Bruchstücke der Scheiden von
P^adenbakterien ; die meisten Erdteilchen sahen
auch nicht so aus, als ob sie aus Fadenbakterien
hervorgegangen wären: sie erinnerten vielmehr
in ihrer Struktur an die Teilchen der Eisenoxyd-
niederschläge, die sich in den Reinkulturen von
B. ferrigenus bildeten, sowie an die Inkrustationen
an Wasserpflanzen, die nach Molisch durch
Siderocapsa hervorgerufen werden. Durch die
Angabe von Vinassa de Regny, daß beim
Zusammentreffen von Eisen hydroxyd in kolloidaler
Lösung mit in Wasser suspendiertem Ton Eisen-
oxyd niedergeschlagen und ein Ton- Ocker-Sediment
gebildet werde, ist P e t r u c c i zu folgendem Ver-
such veranlaßt worden, der seine Annahme von
der allgemeinen Verbreitung der Eisenoxydbildung
durch Bakterienwirkung stützen soll. Er fügte zu
der oben erwähnten Eisenzitratlösung, die sterili-
siert worden war, nichtsterilisierten feinzerteilten
Ton aus der Umgebung von Siena. Der Inhalt
einiger Versuchsgläser wurde nachträglich sterili-
siert oder antiseptisch gemacht. In diesen Gläsern
trat keine Veränderung ein. In den anderen aber
kam ein Prozeß in Gang, durch den das Ferro-
salz zuerst in den Zustand des Ferrisalzes und
von da an in den Zustand des kolloidalen Hydroxyds
überging, um endlich als Niederschlag zu Boden
zu fallen. (Spuren von Fadenbakterien wurden in
dem Niederschlage nicht gefunden.) Hieraus schließt
der Verf., daß der „biologische" Prozeß der Eisen-
oxydation auch in gewissen Böden vor sich gehe.
Ferner spricht er die Vermutung aus, daß gewisse
Eisenabsätze in Wasserleitungsröhren , die nicht
auf die Wirkung der bekannten und verbreiteten
fädigen Eisenbakterien zurückzuführen sind, mit dem
Vorhandensein anderer Bakterien in Verbindung
stehen. (Memorie della R. Accademia dei Lincei,
19 14, Ser. 5, VoL 10, Fase, i.) F. Moewes.
Chemie. Die Hitzekoagulation der Eiweiß-
körper. Beim Erhitzen pflegen wässerige Eiweiß-
lösungen eine nicht-umkehrbare Zustandsänderung,
die sog. „Hitzekoagulation" zu erleiden, die sich
in einer Trübung der vorher klaren Eiweißiösung
oder in einer Änderung in der chemischen und
physiologischen Reaktionsfähigkeit des Eiweiß
äußern kann. Die Temperatur, bei der diese
Änderungen erfolgen, werden in der Regel als
eine Art physikalischer Konstante, die für die
betreffende Eiweißart charakteristisch sei, bt trachtet,
obwohl schon im Anfange der neunziger Jahre
des vergangenen Jahrhunderts von verschiedenen
Seiten darauf hingewiesen worden ist, daß die
Koagulationstemperatur in Wirklichkeit keine
Konstante im eigentlichen Sinne des Wortes sei,
ihr Wert vielmehr von den Versuchsbedingungen
abhinge. In der Tat handelt es sich bei der
Hitzekoagulation der Eiweißstoffe um zwei auf-
einanderfolgende Reaktionen, nämlich erstens um
einen chemischen V^organg, die Denaturicrung des
Eiweiß, und zweitens um einen kolloidchemischen
oder, richtiger gesagt kolloidphysikalischen Vor-
gang, die Koagulation oder Agglutination des
denaturierten Eiweiß. Beide Vorgänge, der
eigentliche chemische Vorgang wie der kolloid-
physikalische Vorgang, sind irreversibel, beide
verlaufen nicht momentan, sondern bedürfen zu
ihrem Ablauf einer gewissen Zeit, und beide
werden von den äußeren Versuchsbedingungen,
und zwar in verschiedener Weise, beeinflußt.
Eine eingehende Untersuchung dieser komplizierten
Vorgänge ist von Harriette Chick und C. J.
Martin im Lister-Institut in London aus-
geführt worden; der folgende Bericht schließt sich
eng an die von diesen beiden Autoren in einer
zusammenfassenden Arbeit in den Kolloidchemi-
schen Beiheften (Bd. V, S. 49 bis 140; 19 13) ge-
machten Angaben an.
Daß es sich bei der Hitzekoagulation um eine
Reaktion zwischen Eiweiß und Wasser handelt,
beweist der Umstand, daß getrocknetes Eiweiß
(kristallinisches Eieralbumin und Metliämoglobin)
selbst bei fünfstündigem Erhitzen auf 120" C
seine Wasserlöslichkeit behielt und bei vierstün-
digem Erhitzen auf 130" C — wohl infolge einer
sekundären Reaktion — erst zum kleinen Teil
verlor.
I. Die Denaturierung von Eiweiß. —
Die Denaturierungsgeschwindigkeit des Eiweiß in
wässeriger Lösung ist, sofern die Reaktion der
Lösung sich während des Vorganges nicht ändert,
in jedem Zeitmoment der Konzentration des noch
nicht denaturierten Eiweiß proportional. Die Er-
klärung für diese Tatsache liegt darin, daß die
Konzentration des Wassers, das ja auch an der
Reaktion teilnimmt, in wässeriger Lösung, auf die
sich die von den beiden Autoren gemachten An-
gaben allein beziehen, als konstant angesehen
werden darf Von Säuren als auch von Basen,
d. h. sowohl durch Wasserstoffion als auch durch
Hydroxylion, wird die Denaturierungsgeschwindig-
keit erhöht, vermutlich weil das Eiweiß als am-
photerer Elektrolyt sowohl mit Säuren als auch
mit Basen Salze bildet und Eiweißsalze leichter
N. F. XIII. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
573
als freies Eiweiß denaturiert werden. Geht man
bei der Denaturierung von einer annähernd neu-
tralen Eiweißlösung aus, so bietet der Vorgang
der Denaturierung aus folgenden Gründen ein
wesentlich komplizierteres Bild ; In der nicht-
denaturierten Lösung ist das Eiweißsalz wie die
Salze aller amphoteren Elektrolyte zum großen
Teil in Eiweiß und freie Säure, wenn in der neu-
tralen Lösung das Eiweißsalz einer Säure, in Ei-
weiß und freie Base, wenn das Eiweißsalz mit
einer Base vorliegt, hydrolytisch gespalten. Bei
der Denaturierung wird nun, wie bereits soeben
bemerkt wurde , das Eiweißsalz rascher als das
freie Eiweiß angegriffen, das hydrolytische Gleich-
gewicht wird, da das denaturierte Eiweiß ausfällt,
gestört, und es muß sich daher nach den Grund-
gesetzen der Lehre vom chemischen Gleichgewicht
neues Eiweißsalz bilden: die Konzentration des
VVasserstoffions oder die des Hydroxylions in der
Lösung nimmt ab, und damit sinkt auch die von
der Konzentration des Wasserstoff- oder des
Hydroxylions ja stark abhängige Denaturierungs-
geschwindigkeit. Auch der Zusatz von neutralen
Salzen hat — aus allerdings noch nicht befriedi-
gend ermittelten Gründen — einen stark verlang-
samenden Einfluß auf die Dcnaturierungsgeschwin-
digkeit. Mit wechselnder Temperatur nimmt die
Denaturierungsgeschwindigkeit und zwar nach
einer logarithmischen Funktion stark zu. Der
Temperaturkoeffizient ist ganz außergewöhnlich
groß: Er hat für das Albumin den Wert 1,9 und
für das Hämoglobin den Wert 1,3, während er
für gewöhnliche chemische Reaktionen etwa den
Wert 1,1 hat. Mit anderen Worten: Bei einer
Temperatursteigerung von 10" C steigt die
Denaturierungsgeschwindigkeit des Albumins auf
das 1,9^"- ^ etwa 6oofache,
Denaturierungsgeschwindigkeit des Hämoglobins
auf das 1,3'"- = etwa 14 fache,
die Geschwindigkeit einer gewöhnlichen chemischen
Reaktion aber nur auf das i '"- = 2,5 fache.
II. Die Agglutination des denaturier-
ten Eiweiß. — Die Aggluiinierung des dena-
turierten Eiweiß, ') d. h. der Zusammentritt der
einzelnen Eiweißteilchen zu größeren, filtrierbaren
Komplexen hängt, wie schon von anderen Autoren
nachgewiesen worden ist, in erster Linie von der
elektrischen Ladung der Teilchen ab: Aggluiinie-
rung tritt in dem sog. iso elektrischen Punkt ein,
d. h. dann, wenn die elektrische Ladung der Teil-
chen gerade gleich Null ist. Eine rein wässerige
') Nicht denaturiertes Eiweiß koaguliert auch im iso-
elelttrischeti Punkt nicht.
Lösung von reinem Eiweiß reagiert schwach alka-
lisch, und man bedarf daher, wenn man das Ei-
weiß neutralisieren will, eines schwachen Säure-
zusatzes. Bei Abwesenheit von Elektrolyten liegt
der isoelektrische Punkt von denaturiertem Eiweiß
bei einer Konzentralion von etwa 3-IO"'' normal
H+. Die Anwesenheit von Elektrolyten übt auf
die Agglutinierung einen sehr erheblichen Einfluß
aus, und zwar einerseits deswegen, weil Neutral-
salze die Konzentration der Wasserstoffionen in
sauren, die der Hydroxylionen in alkalischen
Lösungen nach bekannten Gesetzen verkleinern,
andererseits deswegen, weil die Ionen der Neutral-
salze in im einzelnen gegenwärtig noch nicht
recht übersehbarer Weise von den Eiweißteilchen
aufgenommen, „adsorbiert" werden und damit deren
Ladung verändern. Außer der elektrischen Ladung
ist von wesentlicher Bedeutung für die Aggluti-
nierung noch die Temperatur. Für jede denatu-
riertes Eiweiß enthaltende Lösung gibt es eine
von der Reaktion der Lösung, von der Eiweiß-
und von der Elektrolytkonzentration abhängige
,, kritische Temperatur", unterhalb deren überhaupt
keine Agglutination stattfindet. Unmittelbar ober-
halb dieser kritischen Temperatur übt eine kleine
Temperatursteigerung einen großen Einfluß auf
die Geschwindigkeit der Agglutinierung aus, mit
steigender Temperatur aber wird dieser Einfluß
kleiner und kleiner und nimmt bei weit oberhalb
der ,, kritischen Temperatur" liegenden Tempera-
turen einen konstanten Wert an, indem die Agglu-
tinierungsgeschwindigkeit dann bei einer Tempe-
ratursteigerung von 10" C regelmäßig um das
2- bis 5 fache steigt.
„Aus diesen Ergebnissen geht hervor, so
schreiben die beiden Autoren, daß es ganz un-
richtig ist, einem Eiweißkörper eine bestimmte
Koagulationstemperatur zuzuschreiben. Es ist ja
richtig, daß Eiweißlösungen, welche unter ganz
ähnlichen Bedingungen erhitzt werden, gewöhnlich
bei oder in der Nähe einer bestimmten Tempe-
ratur zu koagulieren beginnen ; es ist aber eine
ganz irrtümliche Auffassung, die ,, Koagulations-
temperatur" als eine physikalische Konstante des
betreffenden Eiweißkörpers anzusehen. Dem
hohen Temperaturkoeffizienten dieser Reaktionen
ist es zuzuschreiben, daß die Bestimmungen der
sog. Koagulationstemperatur von praktischem
Nutzen gewesen sind. Eine wirkliche Unterschei-
dung kann jedoch durch die Geschwindigkeit ge-
geben werden, mit welcher ein Eiweißkörper bei
einer bestimmten Temperatur und bei gleichen
Bedingungen (Reaktion, Salzgehalt) koaguliert."
Mg.
Kleinere Mitteilungen.
Drohende Ausrottung von Fischotter und w j- j ui- u 1 i j a
T,. -j- — TT — ; — p . '^ macht, die der angeblich drohenden Ausrottung
Fischroher? Bei den Vorbereitungen für das neue der fischereischädlichen Tiere, wie Otter, Reiher,
preußische Fischereigesetz hat sich eine starke Eisvogel, vorbeugen will. Sind die Befürchtungen,
Agitation der Naturschutzvereine bemerkbar ge- Otter und Reiher möchten durch die Nachstellun-
574
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 36
gen der Fischereiinteressenten gänzlich aus unserer
Fauna verschwinden, wirklich berechtigt? Der
Fischereiverein für Westfalen und Lippe zahlt, wie
wohl die meisten Provinzialfischereivereine, Schuß-
prämien für die Erlegung dieser Räuber, und zwar
für jeden Otter 5 Mk., jeden Reiher 1,50 Mk. Die
folgende Zusammenstellung gibt an, für wieviel
Stück Otter und Reiher seit 1902 in jedem Jahre
Prämien gezahlt worden sind.
Jahr
Fischotter
Fischreiher
Stück
Siück
1902
40
12
1903
40
7
1904
43
15
1905
41
19
1906
35
56
1907
24
99
1908
18
77
1909
39
74
19IO
38
97
1911
26
67
I912
36
62
1913
23
94
Im aanzea in
12 jähren
403
67g
Im Durchsclinilt
57
im Jahr
34
Es geht aus diesen Zahlen hervor, daß selbst
in Westfalen, einem Lande, in dem die Verhält-
nisse für Otter und Reiher keine günstigen
sind, seit 1902 trotz starker, durch Schußprämien
besonders geförderter Nachstellungen die Zahl der
Otter und Reiher keineswegs abgenommen hat,
sondern daß — von kleinen, durch nicht näher
zu bestimmende Faktoren hervorgerufenen Schwan-
kungen abgesehen — alljährlich stets etwa die
gleiche Zahl dieser Tiere zum Abschuß gelangt.
Eine Ausrottungsgefahr für Reiher und Otter be-
steht wenigstens in Westfalen nicht. — Die Ver-
eine zum Schutze der Naturdenkmäler arbeiten
leider nicht selten mit Schlagworten, die einer
schärferen Kritik nicht standhalten. Es wäre
sehr zu bedauern, wenn die stellenweise schon
hervortretenden unberechtigten Auswüchse der
Naturschutzbewegung der an sich so guten Sache
Abbruch täten. Thienemann (Münster i. W.)
Fremdkörper in Vogeleiern. Als ich vor einigen
Monaten auf einer Fußwanderung im Wirtshause
eines kleinen Gebirgsdorfes frisch gekochte Eier
verlangte, brachte mir die Frau zwei Hühnereier
und ein Entenei — ihren ganzen derzeitigen Vorrat.
An dem Entenei bemerkte ich ein kleines Haar
und suchte dasselbe durch Wischen und Reiben
mit dem Finger zu entfernen, es widerstand aber
allen meinen Bemühungen. Bei näherer Unter-
suchung sah ich, daß das Haar durch die Schale
hindurch ging und auch auf der entgegengesetzten
Seite des Eies ein kleines Ende desselben hervor-
sah. Ich konnte mir nicht vorstellen , daß das
Haar, wie es den Anschein hatte, auch durch das
Innere des Eies ging und war deshalb sehr er-
staunt, nach dem Ablösen der Schale zu sehen,
daß dieses doch der Fall war. Es zog sich durch
Schale und Eiweiß dicht an der oberen Rundung
des Dotters vorüber und trat auf der entgegen-
gesetzten Seite durch die Schale wieder heraus.
Um dieses interessante Stück aufzubewahren und
Sachkennern vorzulegen, versuchte ich die Schale
zu erhalten, doch sie war, durch den wohlgemein-
ten Eifer der Wirtin, zu sehr beschädigt und zerfiel
zu meinem größten Bedauern in kleine Stücke.
Die Frau hatte, um mir das Schälen der Eier zu
erleichtern, die Schalen mit dem Messerstiel ge-
klopft.
Ein anwesender Herr, anscheinend ein behäbiger
Gutsbesitzer, welcher mir zugesehen hatte, und
sich sehr für die Sache interessierte, teilte mir mit,
er habe vor längeren Jahren ein Weizenkorn im
Eiweiß eines gekochten Hühnereies gefunden. Da
er gewußt habe, von welcher Henne das Ei stammte,
habe er aufgepaßt und bemerkt, daß sich dieser
eigentümliche Vorfall bei von derselben Henne
gelegten Eiern in längeren Zwischenräumen mehr-
mals wiederholte. Er habe viel darüber nach-
gegrübelt, wie die Körner in die Eier gekommen
sein könnten, doch des Rätsels Lösung nicht ge-
funden. Auch eine Untersuchung der später ge-
schlachteten Henne habe kein Resultat ergeben.
Ich kann mir diese Vorgänge auch nicht er-
klären — vielleicht kommt von berufenerer Seite
eine Aufklärung dieser eigentümlichen Natur-
erscheinung, 'j _ Tii. Reineck.
') Vgl. diese Wochcnschr. Bd. XIII (N. F.) S. 3S4, wo
unter „.Anregungen und .\nt\vorten" aus der Beantwortung der
Frage: „Sind Hühnereier in ihrem Innern bakterienfrei?" auch
die Aufklärung über die oben geschilderte Erscheinung her-
vorgeht. Die Redaktion.
Bücherbesprechungen.
Tornquist , Prof. Dr. A. , Die Wirkung der
Sturmflut vom 9. bis lo. Januar 1914
auf Samland und Nehrung. S. A. aus
den Schriften der Physik.- Ökonom. Gesellschaft
zu Königsberg i. Pr. LIV. Jahrg., 19 13 III.
B. G. Teubner, 19 13.
Nachjeder großen Sturmflut setzt begreiflicher-
weise ein intensives Studium der Veränderungen
ein, die die Küste durch Landabbruch oder Land-
gewinn genommen hat. Kann doch nur durch
genaueste Kenntnis des Vorganges gehofft werden,
Vorkehrungen ausfindig zu machen, um den Zer-
N. F. XIII. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
575
Störungen der Sturmfluten vorzubeugen. Die
Arbeit von Tornquist aber gewinnt dadurch
an Wert, weil die Beobachtungen unmittelbar
nach dem Naturereignis einsetzten. Am 9. und
10. Januar 1914 war die Flut, am 13. Januar
schon war er mit den Herren des geologischen
Institutes im Felde und konnte die Sturnnvirkungen
studieren, da außerdem noch Frost Veränderungen
sekundärer Art verhindert hatte. Ein Sturm aus
NW, der das überhaupt schon hohe Wasser der
Ostsee gegen die Küste drängte, schlug abends
in NNE-Orkan um. Das angestaute Wasser wurde
in hohen Wellen gegen die Küste getrieben und
rief jetzt Zerstörungen hervor, von denen die Ab-
bildungen ein klares Bild geben. Verstärkt wurden
sie durch eine Brandungsvereisung. Es wurden
typische Abrasionsformen geschaffen, die im ein-
zelnenbeschrieben werden, und denen I icoooocbm
Gestein zum Opfer fiel. Außerdem wurde durch
Zerstörung von Dünen 850000 cbm Sand ver-
loren, so daß an der 170 km langen Küste im
ganzen 2 Mill. cbm Land verlagert wurden. Da-
gegen gab das Meer für 49726,60 Mk. Bernstein
her. Besonders haben die Buhnen sich als vor-
züglicher Küstenschutz erwiesen.
W. Behrmann.
Eckardt, Dr. Wilh. R., Praktischer Vogel-
schutz. 90 Seiten und 48 Abbildgn. Leipzig,
Verlag von Theod. Thomas. — Preis geh. i Mk.
Es ist ein erfreuliches Zeichen dafür, daß der
Vogelschutz in unserem Vaterland immer mehr
an Bedeutung gewinnt, daß fast jedes Jahr neue
Vogelschutzbücher auf den Büchermarkt kommen.
Doch ist es andererseits bei der Fülle des bereits
dargebrachten Materials nicht leicht, dem Vogel-
schutz wieder eine neue Seite abzugewinnen , so
daß sich die Berechtigung einer weiteren Arbeit
ergibt. Der Verfasser des vorliegenden Buches
ist aber, das spürt man bald, nicht nur Verarbeiter
anderer Forschungen, sondern auch selbst Praktiker.
Wo er von den Nisthöhlen für Höhlenbrüter, von
der Zurichtung des Gebüsches für Freibrüter, von
Winterfütterung spricht, überall kann er dem aus
anderen Werken Wiedergegebenen eigene Erfah-
rungen an die Seite stellen, so z. B. über die
Schaffung von Nistgelegenheiten für den Baum-
läufer. So wird auch der Kenner aus diesem
Buch manches Neue lernen, und das um so mehr,
als die ganze Darstellung in wohltuend sachlicher
Form gehalten ist. Alles in allem, ein sehr emp-
fehlenswertes Buch, dem wir für eine Neuauflage
nur noch eine Liste der wichtigsten Vereine, so-
wie einen Hinweis auf den deutschen Vogelschutz-
tag wünschen, in dem jetzt alle zwei Jahre das
im Vogelschutz Erreichte durchgesprochen und
gefestigt wird. K. Guenther.
Brücke, E. Th. v., Über die Grundlagen
und Methoden der Großhirnphysio-
logie. (Nach einer am 18. Dezember 191 1 an
der Universität Leipzig gehaltenen Antrittsvor-
lesung). Sammlung anatomischer und physio-
logischer Vorträge und Aufsätze. Herausgegeben
von Prof. Dr. E. Gaupp und Prof Dr. VV. Tren-
delenburg. Heft 24. Jena 1914, G. Fischer.
— 50 Mk.
Verfassersteht ganz auf dem Boden des psycho-
physischen Parallelismus, wonach jede psychische
Tätigkeit durch eine Veränderung der physiolo-
gischen Grundlage verursacht wird. Entsprechend
dem Gesetz von der Eindeutigkeit der Natur-
vorgänge (Petzoldt) ist das Resultat mit den Va-
riabein gegeben ; ist deren Zahl entsprechend groß,
so kann eine Tätigkeit willkürlich erscheinen, wie
denn auch selbst die F'achphysiologen noch zwischen
willkürlichen und reflektorischen Tätigkeiten unter-
scheiden, obschon doch in letzter Linie alle Lebens-
erscheinungen reflektorischer Natur sind. Da sie,
wie alle, auf die Erhaltung des Lebens hinaus-
laufen, erwecken sie den Eindruck der beabsich-
tigten Zweckmäßigkeit.
Der Petersburger Physiologe P. Pawlow hat
eine Methode eingeführt, welche es erlaubt, die
stattgefundene Reizung eines Sinneszentrums, frei
von jeder anthropomorphistischen Deutung fest-
zustellen. Es wird eine Speicheldrüsenfistel an-
gelegt ; die infolge einer reflektorischen Reizung
der Speicheldrüsennerven gesteigerte Absonderung
dient als Index für einen jeweils durch ein Sinnes-
organ oder durch einen beliebigen zentripetalen
Nerven der Großhirnrinde zugeleiteten Reiz. Der
dem Tiere angeborene „unbedingte" Reflex wird
durch einen Nahrungsbissen ausgelöst, indem der-
selbe die Endigungen der Geschmacksnerven in
der Muudhöhlenschleimhaut reizt. Ein „bedingter"
Reflex kann dem Versuchstier anerzogen werden.
Erhält z. B. ein Hund jedesmal beim Erklingen
eines bestimmten Tones Futter, so wird nach
20 — 30 maliger Wiederholung der Ton allein den
Reflex der Speichelabsonderung auslösen. ^) Selbst
Schmerzempfindungen, die sonst eine Abwehr-
bewegung veranlassen, können in dieser Weise
benutzt werden. Eine Ausnahme macht indes
das Periost, bei dessen Reizung die Abwehr-
bewegungen überwiegen.
Die Pawlow'sche Methode gestattet auch
die Höhe der Reizempfindlichkeit eines Sinnes-
organs zu prüfen. So unterscheidet z. B. der Hund
Töne, deren Höhe um weniger als einen ganzen
Ton differiert und hört solche, deren Schwingungs-
zahl höher ist (70 — 80000 Schwingungen pro Sek.)
als die eines für das menschliche Ohr wahrnehm-
baren Tones (bis 20000).
Die Erforschung der Funktionen des Groß-
hirns an einem hoch entwickelten Säugetier er-
') Diese Versuche erinnern lebliaft an das gelegentlich
der Debatte über den Hörsinn der Fische viel erörterte Ver-
halten der Fische im Teich des Klosters Kremsmünster in
Oberösterreich, die auf ein Glockensignal hin zur Futterstelle
eilen. Ob dabei freilich die in der Luft erzeugten Schall-
wellen oder die Erschütterung des Bodens durch die Schritte
des Glöckners den reflexauslösenden Reiz bilden, wird durch
das Verhalten der Fische nicht entschieden, ist übrigens auch
für unseren Fall gleichgültig.
576
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 36
scheint v. B. gerade heute von großer Wichtigkeit.
„Wiederholt haben wir ja in den letzten Jahren
sehen müssen, daß Männer der Naturwissenschaft
märchenhafte psychische Fähiglceiten bei Pferden
für möglich hielten. Vielleicht werden uns ein-
wandfreie Untersuchungen der ,, bedingten" Reflexe
beim Pferde einen in einer bestimmten Richtung
auffallend hoch entwickelten Analysator kennen
lehren, der für die Leistungen der ,, gelehrigen"
Pferde mi'.bestimmend war, so weit hier nicht viel
gröbere Irrtümer vorliegen."
V. B. meint, dieselbe Methode, welche zur Er-
forschung der physiologischen Vorgänge in den
Sinnesorganen diene, könne auch zur Ergründuiig
der physiologischen Korrelate höherer psychischer
Vorgänge benutzt werden. Kathariner.
Die erste Integralrechnung, eine Auswahl aus
Johann B e r n o u 1 1 i ' s Mathematischen Vor-
lesungen über die Methode der Integrale und
Anderes. Aus dem Lateinischen übersetzt und
herausgegeben von Dr. Gerhard Kowa-
lewski. Bd. 194 von Ostwald's Klassikern
der exakten Wissenschaften, kl. 8". 187 S.
mit 1 19 Textfiguren. Leipzig und Berlin 1914,
Verlag von Wilhelm Engelmann. — Preis gut
kartonniert 5 Mk.
Wenn auch der Begriff des Integrals sich schon
bei Leibnitz und bei Newton findet und das
Wort „Integral" selbst schon von Jacob Ber-
noulli gebraucht worden ist, so spielt doch das
von Johann Bernoulli, dem jüngeren Bruder
des eben erwähnten Jacob Bernoulli, in den
Jahren 1691 und 1692 für seinen Schüler, den
Marquis d'Hospital niedergeschriebene Werk ,,De
methodo integralium" als erstes eigentliches Lehr-
buch der Integralrechnung in der Geschichte der
Mathematik eine wichtige Rolle. Seine von
Gerhard Kowalewski besorgte und durch
eine Reihe nützlicher Anmerkungen bereicherte
Neuausgabe muß daher als eine wertvolle Be-
reicherung der verdienstvollen O s t wald ' sehen
Sammlung allen denen, die sich für die Geschichte
der Mathematik interessieren, empfohlen werden.
Auch dem mathematisch weniger Geschulten kann
die Lektüre des Büchleins angeraten werden , da
das Verständnis der abstrakten mathematischen
Vorstellungen nach Ansicht des Referenten durch
nichts so gefördert wird wie durch die Lektüre
jener guten älteren Werke, deren Autoren noch
selbst mit dem Stoff zu ringen hatten.
Clausthal i. H. Werner Mecklenburg.
Fester, Dr. Gustav, Die chemische Tech-
nologie des Vanadins. Bd. XX der Samm-
lung chemischer und chemisch technischer Vor-
träge, herausgegeben von Prof. Dr. W. Herz.
79 Seiten. Mit 3 Textabbildungen. Stuttgart
1914, Verlag von Ferd. Enke.
Das Vanadin gehört zu den Elementen, die,
wie die seltenen Erden, die Wandlung von der
„wissenschaftlichen Kuriosität" zum wertvollen
Objekt der Technik durchgemacht haben. Nach-
dem man erkannt hatte, daß geringe Vanadin-
zusätze die Qualität des Stahls in hohem Maße
verbessern , wurde dieses Element in großen
Mengen in Nord- und Südamerika aufgefunden.
Die Wichtigkeit des Vanadins für die Technik
(auch die therapeutische Verwendung scheint Be-
deutung zu erlangen) rechtfertigt die vorliegende,
klar und übersichtlich geschriebene Technologie
des Vanadins, die eine erwünschte Ergänzung der
in der gleichen Sammlung erschienenen Abhand-
lung von Ephraim (Das Vanadin und seine
Verbindungen, Bd. IX, 1904) darstellt. Wir finden
in dem F"e st er 'sehen Buche eine historische
Einleitung, eine Besprechung der wichtigsten Vor-
kommen des Vanadins, Bemerkungen über Nach-
weis und quantitative Bestimmung, einen Ab-
schnitt über die Verwendungsmöglichkeiten des
Vajiadins und seiner Verbindungen, und eine aus-
führliche Zusammenstellung der älteren und neueren
Methoden zur Verarbeitung von Vanadinerzen.
Günther Bugge.
Literatur.
Haubcrrisscr, Dr. Georg, Herstellung photographi-
scher Vergrüßerungen. Mit 50 Abbild, u. 2 Tafeln. Leipzig
'14, Dr. Licsegang's Verlag M. Eger. Geb. 3 Mk.
Mahne, Friedrich, Leitfaden der Filmphotographie.
Ebenda. Geb. 2,50 Mk.
Dähne, Major August, Bausteine zur Flugbahn- und
Kreiselthcorie. Mit 5 Textfiguren. Berlin '14, Eisenschmidt.
1,50 Mk.
West eil, W., Percival, Bird Studies in twenty-four les-
sons. Cambridge '14, University Press.
Becker, A. und Ram sa u e r , C, Über radioaktive Meß-
methoden und Einheiten. Aus dem radiologischen Institut der
Universität Heidelberg. Mit einem Vorwort von F. Lenard.
Heidelberg '14, C. Winter. 80 Pf.
Hegg, Dr. med. Emil, Das Ewige im Zeitlichen. Eine
naturwissenschaftliche Formulierung. Bern '14, A. Francke.
2,40 Mk.
Nußbaum, M., Karsten, G., Weber, M., Lehrbuch
der Biologie für Hochschulen. 2. Aufl. Mit 252 Textabbild.
Leipzig und Berlin '14, W. Engelmann. Geb. 13,25 Mk.
Jecck, Dr. B., Aus dem Reiche der Edelsteine. Mit
8 Bilderbeilagen und 8 Textfiguren. Prag '14, E. Weinfurter.
3 Kr.
Inhalt; Guenthcr; Physiognomik der Tropenlandschaft. Mengel: Über den Chemismus der alkoholischen Gärung. —
Einzelberichte: Ficado: Die Bromelienfauna von Costa-Rica. Kerschbaum: Das neue Röntgenrohr nach Coolidge.
Pe trucc i ; Entstehung der Terra diSiena durch Bakterienwirkung. Chick und Marlin : Die Hitzelioagulation der Eiweiß-
körper. — Kleinere Mitteilungen: Thienemann: Drohende Ausrottung von Fischotter und Fischreiher? Reineck:
Fremdkörper in Vogelciern. — Bücberbesprcchungen : Tornquist: Die Wirkung der Sturmflut vom 9. — 10. Januar
1914 auf Saniland und Nehrung. Eckardt: Praktischer Vogelschutz, v. Brücke: Über die Grundlagen und Methoden
der Großhirnphysiologie. Die erste Integralrechnung. Fester: Die chemische Technologie des Vanadins. — Lite-
ratur ; Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. II. Miehe in Leipzig, Marienstrafie IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schcn Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Bai
Sonntag, den 13. September 1914.
Nummer B7.
Goethe's naturwissenschaftliche Sammlungen im Neubau
des Goethehauses zu Weimar.
[Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr.
Vor den Ostertagen wurde die Aufstellung von
Goethes naturwissenschaftlichem Nachlaß in dem
schönen mit Staatsmitteln ausgeführten Anbau
des Goethehauses in Weimar vollendet. In sehr
geschickter Weise hat man vermieden, das alte
Goethehaus durch diesen Anbau in irgendwelcher
Weise zu benachteiligen. Der Neubau ist ein
selbständiges Haus im altweimarcr Stil, und es ist
A. Hansen.
als Andenken an diesen außerordentlichen Genius
die Besucher erfreuen, sondern sie werden die Mission
für das geistige Weimar, ja für das ganze Deutsch-
land erfüllen können, welche Goethe für seine mit
Plan und Absicht angelegten Sammlungen vor-
ausgesehen hat. Ein groser Saal von einfach vor-
nehmem Eindruck hat in stilvollen Schränken
die kostbare Majolikasammlung, die Broncen, die
ihm von außen die Verbindung mit dem alten
Goethehause gar nicht anzusehen. Unter der
Leitung W. von Oettingens sind in fünf
schönen und stimmungsvollen , hellen und ge-
räumigen Sälen Goethes bisher im alten Goethe-
hause sehr unvorteilhaft verstauten Sammlungen
so aufgestellt worden, daß sie besichtigt und
studiert werden können. So werden endlich diese
von Goethe mit Recht als mannigfach und be-
deutsam bezeichneten Sammlungen nicht bloß
reiche Sammlung von Medaillen und Münzen und
die antiken Gegenstände, Vasen, Lampen usw.
aufgenommen. Der anstoßende, nach dem Garten
zu gelegene Saal ist ganz von dunkeln Schränken
umgeben, die durch einzelne unter Glas gefaßte
Stiche belebt werden. Ein mächtiger Tisch von
Stühlen umgeben kennzeichnet ihn als Studiersaal.
In den Schränken usw. ist die gewaltige Sammlung
der vielen tausend Handzeichnungen Goethes, der
Kupferstiche, Lithographien, Silhoueten geborgen,
578
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 37
Schätze die bislier gar nicht zugänglich waren,
von Oett Ingen und Dr. Kröber haben diese
Sammlungen geordnet und es läßt sich erst jetzt
ihr Wert übersehen.
Fig. I. Commeliüa communis L.
Fig. 2. Helenium quadridentatum.
die
da
natur-
sie in
Am schlimmsten waren bisher
wissenschaftlichen Sammlungen daran
Bodenräumen des Goethehauses zum Teil in alten
Schränken und Schubladen sehr mangelhaft unter-
gebracht und den Blicken entzogen waren. Bedauer-
lich genug, denn wenn ein Goethe seiner Aussage
nach an jedem Stück etwas gelernt hat, so sind
auch diese Gegenstände heute noch von lehr-
haftem Wert. Ihnen sind im Obergeschoß des
Neubaues drei helle und geräumige, einfach ge-
tönte Säle eingeräumt, die sofort den Eindruck
eines gut ausgestatteten naturwissenschaftlichen
Museums machen, so daß man hier den Dichter
vollkommen verspürt. Die Frage, ob Goethe auch
Naturforscher gewesen sei, wie eine Literatur be-
hauptet, während andere das bezweifeln möchten,
ist hier durch Anschauung endgültig im bejahen-
den Sinne zu beantworten. Vier Spezialisten,
Prof Sem per aus Aachen (Geologe), Dr. Lehrs
Fig. 3. Rudbecl<ia purpurca.
vom British Museum (Zoologe), Dr. Speyerer
aus München (Physiker), Prof Hansen aus Gießen
(Botaniker) wurden veranlaßt, die Sammlungen zu
ordnen und bestätigen ihre wissenschaftliche Be-
deutung.
Ein großer Saal gibt durch seinen überraschend
reichen Inhalt Aufklärung über Goethes bedeut-
same physikalische Arbeiten, besonders über
seine optischen Untersuchungen. Die Erläuterungen,
die Goethe zu den Sätzen seiner Farbenlehre
gibt, hier liegen sie nach seinen Angaben vor
Augen und die Versuche können vom Laien nach
N. F. XIII. Nr. 3;
Natuiwissenschaftlichc Wochenschrift.
579
Goethe's Versuchsanordnung wiederholt werden.
Es handelt sich also nicht bloß um eine historische
Vorführung, sondern um eine naturwissenschaft-
liche Demonstration der optischen Phänomene in
Goethe's Laboratorium. Die Aufstellung ist ebenso
geschickt wie eindrucksvoll und durch vielerlei
Stiftungen unterstützt worden. Ein gewaltiger
Glasschrank zeugt durch seinen Inhalt von dem
ausgedehnten physikalischen Apparat, den Goethe
besessen hat.
In einem zweiten Saal sind die zoologische
und botanische Sammlung vereinigt und anschau-
lich, gut bezeichnet in schönen einfachen Glas-
schränken aufgebaut. Die Zoologie stellt eine
hübsche, in 18 Glaskästen verteilte Sammlung
deutscher Vögel, eine Sammlung von Schildkröten,
kleinen Krokodilen, Schlangen, Insekten usw. dar.
Die interessante osteologische Sammlung läßt aus
Goethe's Beschreibungen bekannte Stücke er-
kennen, z. B. den Schädel des „Hirschebers".
Ein Schrank ist der Erläuterung der Entwick-
lung des Zwischenkiefers beim Menschen gewid-
met und durch einige schöne moderne Präparate
ergänzt. Außerdem finden sich die Objekte zur
Schädellehre und für physiognomische Studien,
endlich in einem besonderen Schranke eine kleine
ethnographische Saminlung.
Die botanische Sammlung ist nicht weniger
vielseitig. Sie umfaßt das umfangreiche und
reckteckige Herbarium, welches einen historisch-
wissenschaftlichen Wert birgt und dessen Inhalt
vortrefflich erhalten ist. 1 5 große Mappen ent-
halten über 1900 Pflanzen. Ein Teil derselben ist
nach L i n n e geordnet, ein anderer Teil nach
natürlichen Familien und umfaßt nicht nur Blüten-
pflanzen, sondern auch Kryptogamen, unter diesen
eine ziemlich bedeutende Sammlung von Meeres-
algen aus dem Mittelmeer und der Nordsee. Die
I^flanzenmorphologie ist erläutert durch Palmen-
fruchttriebe und Palmenblätter, durch Blattskelette,
Rhizom- und Verzweigungsformen, ferner durch
eine anschauliche Sammlung meist exotischer
h'rüchte und Samen , Kokosnüsse und anderer
Palmenfrüchte, Früchte tropischer Lianen (Bigno-
nia, Jutsea), von Adansonia digitata (Affenbrotbaum),
eine große Zahl kleiner tropischer PVuchtformen,
Pinien- und Zedernzapfen usw.
Anschaulich ist auch die Holzsammlung, welche
das Interesse Goethe's für die praktische Botanik
bezeugt, unter diesen Hölzern ist auch ein Stück des
noch neuerlich untersuchten Lignum nephriticum.
Goethe ist einer der ersten Botaniker, die die
Bedeutung des Pathologischen bei der Pflanze
begriffen haben, ein Kapitel, welches erst in
allerneuester Zeit ausgebaut wird. Goethe hat
besonders schöne Beispiele von Verbänderungen bei
Kiefern und Eichen (P'asciationen), von Zwangs-
drehungen bei Dipsacus, Verwachsungen und
Krümmungen von Asten gesammelt. Auch andere
pathologische Objekte, Gallen, Pilzpathologisches,
Überwallungen, Maserungen finden sich in hüb-
schen Beispielen. Von eminenter Bedeutung sind
die prächtigen Aquarelle der leider vergänglichen
Objekte, die in Goethe's Schrift über die Metamor-
phosen der Pflanze beschrieben sind. Die Tulpen-
blüten, die durchwachsenen Rosen, die Metamor-
phose der Knospenschuppen, die schönen Bilder
der zahlreichen Keimpflanzen sind für alle Zeiten
durch die ausgezeichneten Abbilder aufbewahrt und
sie bilden wichtige Dokumente, daß Goethe seine
Hypothese auf exakter Beobachtung begründete.
Fig. 4. Cypcrus vegetus.
Neben dem zoologisch-botanischen Saal liegt
der Saal, der die große Gesteinssammlung und
die paläontologischen Funde enthält, unter denen
ein leider stark zerfallener Mammutzahn aus dem
Weimarer Kalk. Eine Sammlung antiker Marmore
fällt durch ihre Reichhaltigkeit auf. In Goethe's
alten Schränken und Vitrinen sind die vielen
Handstücke der Gesteine untergebracht, von denen
Goethe eine bedeutende Sammlung selbst zusam-
mengetragen hat.
So ist denn durch diese dankenswerte, lange
erwünschte Ausgestaltung des Goethehauses neben
dem Kunstsammler auch der Naturforscher Goethe
uns klar vor Augen gerückt und die Besucher des
Goethehauses werden einigermaßen darüber er-
staunt sein, wie diese Schatzkammer noch immer
Neues hervorbrintjen konnte.
58o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 37
[Nachdruck verboten.]
„Es ist ein als Wahrheit sich von selbst auf-
drängender und daher gleichsam als Axiom ver-
wertbarer Gedanke, daß Ei- und Samen-
zelle zwei einander entsprechende Ein-
heiten sind, von denen eine jede mit
allen erblichen Eigenschaften der Art
ausgestattet ist und jede daher gleich
viel Erbmasse dem Kinde überliefert.
Das Kind ist im allgemeinen ein Misch-
produkt seiner beiden Eltern; es emp-
fängt von Vater und Mutter gleiche
Mengen von Teilchen, welche Träger
der vererbbaren Eigen sc haften sind
(Bioblasten)." ') Nun sind aber Ei und Sperma-
tozoon hinsichtlich ihrer Masse zwei außerordent-
lich verschiedene Gebilde. Birgt also die winzige
Samenzelle ebenso viele Erbanlagen in sich wie
die im Vergleich dazu riesengroße Eizelle, so
müssen große Teile der letzteren für die Ver-
erbung bedeutungslos sein. Ein Teil aber, den
beide Zellen in gleicher Weise besitzen, ist der
Kern. Wir werden also in ihm zunächst die Ver-
erbungsträger suchen. In den im Kern enthal-
tenen Chromosomen hat man denn auch Zell-
bestandteile gefunden, die den Anforderungen,
welche wir vom theoretischen Standpunkte aus
an die Vererbungsträger stellen müssen, voll ent-
sprechen. Das Spermatozoon bringt ebenso viele
Chromosomen mit — von den „Geschlechts-
chromosomcn" können wir hier absehen — , wie
das Ei besitzt, die Befruchtung ist, können wir
mit O. Hertwig sagen, „eine Verschmelzung
zweier äquivalenter Kernsubstanzen." Es sollen
hier nicht die vielen Beweise auseinandergesetzt
werden, daß die Chromosomen in der Tat Ver-
erbungsträger sind. In jedem Vererbungsbuch
geschieht dies, in jedem Buch und jeder Schrift
überhaupt, die sich mit dem Wesen der Befruch-
tung befaßt. Kein einsichtiger Forscher vermag
heute die hohe Bedeutung der Chromosomen für
die Vererbung zu leugnen. Aber, so fragen wir
weiter, sind denn die Chromosomen die Ver-
erbungsträger, oder enthalten Ei- und Samenzelle
außer ihnen noch weitere Gebilde, die diesen
Namen verdienen ? Sind vielleicht in
ären Bestandteilen der Zelle, also in
Cytoplasmas, ebenfalls Erbsubstanzen
Es hat immer h^orscher gegeben, die
Siud (He MitoehoiHlrioii Vererb iiiigstriiger {
Von Dr. Hans Nachtsheim, Freiburg i. Br.
Mitochondrien will ich
extranukle-
Teilen des
lokalisiert ?
davor ge-
warnt haben, die Bedeutung der Chromosomen
für die Vererbung zu überschätzen und ihnen eine
Monopolstellung einzuräumen. Manche sehen so-
gar durch verschiedene Experimente den Beweis
erbracht, daß auch im Cytoplasma Träger erb-
licher Anlagen vorhanden sind. In den letzten
Jahren glaubt nun Meves diese Vererbungsträger
im Cytoplasma gefunden zu haben: die Mito-
chondrien.-') Auf Aussehen und Herkunft der
ier nicht des näheren
eingehen, da erst im vorigen Jahrgange dieser
Zeitschrift Wilke^) ein Sammelreferat mit zahl-
reichen Abbildungen veröffentlicht hat, in dem er
unsere bisherigen Kenntnisse über die Mitochon-
drien eingehend darstellt. Nur so viel sei zu-
sammenfassend gesagt, daß wir es in den Mito-
chondrien mit geformten Bestandteilen des Cyto-
plasmas zu tun haben, deren Aussehen im übrigen
sehr verschieden sein kann. Im folgenden wollen
wir an Hand der Feststellungen von Meves, den
wir als ausgezeichneten Beobachter sehr schätzen,
jirüfen, ob wirklich den Mitochondrien eine ähn-
liche Bedeutung wie den Chromosomen zukommt.
Nachdem Meves sich bereits eine Reiiie von
Jahren mit den Mitochondrien beschäftigt hatte,
trat er zum ersten Male 1907 'j mit der Meinung
hervor, daß diese Gebilde Vererbungsträger sind,
h'reilich war diese Ansicht nicht neu, denn schon
mehrere Jahre vorher hatte Benda"), der als
Entdecker der Mitochondrien gilt, ähnliche Ver-
mutungen geäußert. In einer Arbeit, in der er
das Verhalten der Mitochondrien in den Zellen
des Hühnerembryos von der zweiten Hälfte des
ersten bis zum Beginn des vierten Tages der Be-
brütung beschreibt, suchte sodann Meves im
nächsten Jahre — 1908") seine Anschauung
näher zu begründen. Von seinen AusfüJu-ungen
interessiert uns vor allem seine Antwort auf die
Frage, ,,\vie weit die Chondriosomen den von der
Kernsubstanz in ihrer Eigenschaft als Erbmasse
erfüllten Bedingungen genügen". Das Chromatin,
das auch nach Meves' Ansicht Vererbungsträger
ist, ist, wie schon oben hervorgehoben wurde, in
Ei- und Samenzelle in gleicher (Juantität vor-
handen. Anders aber verhält es sich in dieser
Hinsicht mit den Mitochondrien. Das Ei enthält
weit mehr Mitochondrien als der Samenfaden.
Meves bereitet diese Tatsache „keine irgendwie
erheblichen Schwierigkeiten". Er nimmt an, daß
beim Befruchtungsakt nur ein Teil der weiblichen
Mitochondrien verwandt wird, hält es auch für
möglich, daß die männlichen Mitochondrien „im
Hertwig, O., Allgemeine Biologie. Jena 1909.
^) Ich werde im folgenden nur — abgesehen von Zitaten
— den Ausdruck ,, Mitochondrien" gebrauchen. Meves h.it
ein ganzes Heer von Namen angewandt : Mitochondrien, Chon-
driomiten, Chondriokonten, Chondriosomen, Cliondriom, Piasto-
somen, Plastuchondrien, Plastochondriomitcn , Plastokonten.
Teilweise sind diese Begriffe synonym, teilweise bezeichnen sie
verschiedene Erscheinungsformen ein und derselben Substanz,
doch sind wohl öfters auch ganz verschiedene Dinge unter
diesen Bezeichnungen summiert worden.
^) Wilke, G., Über Verhalten und Herkunft der Mito-
chondrien. Naturw. Wochenschr. N. F. 12. Bd., 1913.
*) Meves, Fr., Über Mitochondrien bzw. Chondriokonten
in den Zellen junger Embryonen. Anat. Anz. 31. Bd., 1907.
'■"j Ben da, C. , Die Mitochondria. Ergebn. d. .Anat. u.
Entwicklungsgesch. 12. Bd., 1903.
°) Meves, Fr., Die Chondriosomen als Träger erblicher
Anlagen. Cytologische Studien am Hühnerembryo. Arch. f.
mikr. Anat. u. Entwicklungsgesch. 72. Bd., 1908.
N. F. XIII. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
581
Körper der Eizelle heranwachsen und sich ver-
mehren". Auch die exakte Verteilung bei der
Mitose, wie sie für das Chromatin so charak-
teristisch ist, und wie wir sie auch, wenn es sich
um Vererbungsträger handelt, postulieren müssen,
vermissen wir bei den Mitochondrien. Meves
macht dies wieder keine Schwierigkeiten : „Jede
bei der Teilung entstehende größere Ungleichheit
in der IVIenge kann durch vermehrtes oder ver-
mindertes Wachstum leicht beseitigt werden."
Die Summierung der Erbmassen wird beim
Chromatin bekanntlich durch die Reduktion ver-
hindert; vor jeder Befruchtung wird sowohl in der
Ei- wie in der Samenzelle die Chromosomenzahl
genau auf die Hälfte herabgesetzt. Ist ein ähn-
licher Prozeß auch für die Mitochondrien bekannt?
In der Spermatogenese wird ja zwar die Mito-
chondrienmasse durch die beiden Spermatocyten-
teilungen verringert, ohne daß von einer auch nur
einigermaßen exakten Halbierung die Rede sein
könnte, für die Reifungsteilungen des Eies aber
ist nichts derartiges bekannt. Bei der Verteilung
der Mitochondrien in der Zelle und der Kleinheit
der Richtungskörper ist ein solcher Prozeß über-
haupt unmöglich. Auch hier findet Meves wieder
einen Ausweg: Männliche und weibliche Mito-
chondrien bilden bei der Befruchtung ein Misch-
produkt, gleichwertige Erbträger verschmelzen.
Und so resümiert Meves: „Die Chondriosomen
könnten Erbmasse darstellen, trotzdem sie den
Bedingungen, welche die Kernsubstanz in ihrer
Eigenschaft als solche erfüllt, nicht oder jedenfalls
nicht von vornherein oder in anderer Weise ge-
nügen."
Das erste Objekt, an dem Meves sodann das
Verhalten der Mitochondrien bei der Befruchtung
genauer studierte, war Ascaris megalocephala, der
Pferdespulwurm. ^) Das Ascarisspermium enthält
Mitochondrien in großer Zahl hauptsächlich im
Protoplasma seines Kopfteils. Die Zahl der Mito-
chondrien des Eies ist noch beträchtlich größer,
jedoch sind sie wesentlich kleiner als die des
Spermiums. Die mit dem Spermium ins Ei ge-
langten männlichen Mitochondrien zerfallen nach
Meves zunäch.st innerhalb des Spermiums in
kleinere Körner, die ebenso groß sind wie die
der Eizelle, hierauf treten sie insgesamt ins Ei-
plasma über und durchmischen sich mit den Mito-
chondrien des Eies. Es findet, wie Meves sich
ausgedrückt hat, bei der Befruchtung des Ascaris-
eies eine „Aussaat männlicher Plastochondrien"
statt. Daß in der Tat die Mitochondrien des
eingedrungenen Spermatozoons in das Ei über-
treten, wird durch die Abbildungen von Meves
einwandfrei bewiesen, daß aber dann, wie es
Meves verlangt, die männlichen Mitochondrien
mit den weiblichen verschmelzen, beweisen diese
Abbildungen nicht. Meves schreibt zu diesem
Punkte: „Aus theoretischen Gründen muß ange-
nommen werden, daß, nachdem die männlichen
und weiblichen Plastochondrien sich gemischt
haben, früher oder später je ein männliches und
weibliches Korn miteinander verschmelzen. Es
ist nun in der Tat vielfach unverkennbar, daß die
Plastochondrien, welche nach Beendigung der
ersten Richtungsteilung das Spermium umgeben,
im Vergleich mit denjenigen früherer Stadien nicht
unerheblich größer sind. Ferner scheint mir, daß
gleichzeitig eine Abnahme ihrer Zahl stattgefunden
hat." Die Abbildungen, die — davon darf man
bei Meves überzeugt sein — die Wirklichkeit so
treu wie möglich wiedergeben, sind, wie gesagt,
nicht geeignet zu beweisen, daß männliche und
weibliche Mitochondrien kopulieren. Übrigens
erwägt selbst Meves die Möglichkeit, „daß diese
Erscheinungen auf Rechnung einer Quellung zu
setzen sind".
Nachdem so diese Untersuchungen Meves in
seiner Ansicht über die Bedeutung der Mitochon-
drien bestärkt hatten, wandte er seine Aufmerk-
samkeit einem zweiten Objekte zu. Bei Parechinus
miliaris, einem Seeigel, hoft'te er eine ähnliche
,, Aussaat" männlicher Mitochondrien bei der Be-
fruchtung zu finden wie bei Ascaris, aber er kam
zu einem sehr unerwarteten Resultat. ') Das sog.
Mittelstück des Echinidenspermiums enthält nach
Meves Mitochondrien. Statt daß aber diese
Mitochondrien in Körner zerfallen und in das Ei-
plasma übertreten, bleibt das Mittelstück gänzlich
unverändert im Ei liegen und gelangt in die eine
der beiden ersten Blastomeren. Man sollte meinen,
diese Tatsache genüge, um zu beweisen, daß die
männlichen Mitochondrien für das sich entwickelnde
Tier völlig bedeutungslos sind, daß sie zum min-
desten aber nicht die Rolle von Vererbungsträgern
spielen können. Doch Meves ersinnt eine neue
Hypothese, um seine alte Hypothese zu retten.
Aus dem Seeigelei entwickelt sich bekanntlich
zunächst eine Larve, der Pluteus, und erst aus
diesem entsteht dann auf sehr komplizierte Weise
das endgültige Tier, der Seeigel. Bei der Um-
wandlung des Pluteus in den Seeigel werden
große Teile der Larve eingeschmolzen, resorbiert,
und nur relativ wenige Larvenorgane werden von
dem jungen Seeigel übernommen. Zu diesen Or-
ganen gehört der Larvendarm. Meves meint
nun, „daß die später untergehenden Teile des
Pluteus aus Zellen entstehen, welche bei der Fur-
chung keine Mittelstücksubstanz erhalten haben,
daß dieses Material vielmehr ausschließlich den-
jenigen Zellen reserviert wird, welche in die An-
lage des jungen Seeigels übergehen". Schon
Buchner'-j hat in seiner scharfen aber treffenden
Kritik der Mitochondrienlehre darauf hingewiesen,
') Meves, Fr., Über die Beteiligung der Plastochondrien
an der Befruchtung des Eies von Ascaris megalocephala.
Arch. f. inikr. Anal. u. Entwicklungsgesch. 76. Bd., 191t.
') Meves, Fr., Verfolgung des sog. Mittelstückes des
Echinidenspermiums im befruchteten Ei bis zum Ende der
ersten Furchungsteilung. Arch. f. mikr. .^nat. 80. Bd., 1912.
-) Bu ebner, P., Die trophochromatischen Karj'omcriten
des Insekteneies und die Chromidienlehre. Biol. Centralbl.
33. Bd., 1913.
582
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. XIII. Nr. 37
wie gewaltsam diese Deutung der Befunde ist, zu-
mal da gerade dieses Objekt „ein klassisches Beispiel
für ein harmonisch -äquipotentielles System der
formbildenden Faktoren" ist. Wer aber trotzdem
noch daran zweifelt, daß Meves sich auf einem
falschen Wege befindet, der möge dessen neueste
Arbeit zur Hand nehmen, in der er das weitere
Verhalten des Mittelstückes des Echinidenspermi-
ums beschreibt. ') Am Schlüsse der ersten Arbeit
hatte er geschrieben: „Nach Erreichung des
Blastulastadiums müßten zu den Zellen, welche
mit Mittelstücksmasse versorgt worden sind, jeden-
falls diejenigen der vegetativen Hälfte gehören,
von welchen die Bildung des Urdarms ausgeht."
Jetzt muß er gestehen : „Auf Grund der Schick-
sale des Mittelstückes, welche ich in der vorliegen-
den Arbeit festgestellt habe , kann es nun aber
wohl als ausgeschlossen gelten, daß männliche
plastomatische Substanz in die Zellen des Larven-
darms . . . hineingelangt." Wer die der Arbeit
beigegebenen Abbildungen unvoreingenommen
betrachtet, der wird sich wohl kaum der Ansicht
verschließen köiuien , daß dem Mittelstück des
Spermatozoons bzw. seinen Mitochondrien eine
Bedeutung bei der Entwicklung nicht zukommt,
und Meves trügen seine Ahnungen wohl nicht,
wenn er sagt: „Man wird daher in meinen Be-
funden am Seeigelei vielfach wohl mehr einen
Beweis für das „Kernmonopol der Vererbung" er-
blicken, als den Gegenbeweis, den ich zu finden
gehofft hatte."
Noch an einem dritten Objekte hat Meves
das Verhalten der Mitochondrien des Spermiums
bei der Befruchtung untersucht: an Phallusia ma-
millata, einer Ascidie. -) Da er aber bei diesem
Objekte nicht einmal bis zur Befruchtung die
Persistenz der männlichen Mitochondrien nach-
weisen konnte — ich halte es auf Grund der
Abbildungen für sehr wahrscheinlich, daß das,
was Meves als „plastomatischen Bestandteil des
Spermiums" bezeichnet, sehr bald resorbiert wird — ,
so sei auf diese Untersuchung hier nicht näher
eingegangen.
Fassen wir die vorliegenden Betrachtungen
zusammen, so kommen wir zu dem Resultat:
Der Versuch von Meves zu beweisen, daß neben
den Chromosomen auch die Mitochondrien, also
Elemente des Cytoplasmas, Vererbungsträger sind,
muß als gescheitert angesehen werden. Viele
Gründe sprechen dagegen, keine dafür, daß die
Mitochondrien diese Bedeutung haben. Der An-
sicht von Meves haben sich einige Mitochondrien-
forscher angeschlossen, aber auch sie haben keine
triftigen Gründe beibringen können. „Was in
der Plastosomenlehre richtig sein kann," sagt
') Meves, Fr., Verfolgung des Mittelstückes des Echi-
nidenspermiums durch die ersten Zellgenerationen des be-
fruchteten Eies. Arch. f. mikr. .\nat. 85. Bd., 1914.
^) Meves, Fr., Über das Verhalten des plastomatischen
Bestandteiles des Spermiums bei der Befruchtung des Eies
von Phallusia mamillata. Arch. f. mikr. Anat. 82. Bd., 1913.
Retzius,*) „ist nicht neu, und was in ihr als
neu erscheint, ist nicht richtig, aber unklar und
schwankend."
Es fragt sich nun, ob, wenn es die Mito-
chondrien nicht sind, nicht doch andere Substanzen
des Cytoplasmas Vererbungsträger sein können.
Wie Meves so werden wohl die meisten Cyto-
logen und Vererbungsforscher der Überzeugung
sein, „daß die Vererbung nur durch organisierte
ungelöste Substanz erfolgen kann", und wie jener
werden sie den ablehnenden Standpunkt teilen,
„welchen O. H ert wig (1909) gegenüber neueren
Versuchen, den Befruchtungsvorgang chemisch-
physikalisch zu erklären (Miese her, Huppert,
Loeb u. a.) einnimmt". Die Mitochondrien aber
erscheinen auch Meves „als der einzige Bestand-
teil des Protoplasmas, welcher bei der Befruch-
tung wirksam sein kann". Und in der Tat, weitere
Elemente, die Vererbungsträger sein könnten,
kennen wir nicht. Wie steht es aber mit jenen
Experimenten, die eine Mitbeteiligung des Cyto-
plasmas an der Vererbung beweisen sollen? Es
soll an dieser Stelle nicht eine eingehende Kritik
an jenen Experimenten geübt werden, nur soviel
sei gesagt, daß viele Forscher sicher ganz mit
Recht auf dem Standpunkte stehen, daß dieser
Beweis sich aus jenen Experimenten gar nicht
erbringen läßt bzw. nicht erbracht ist. Es wird
niemand bestreiten, daß zwischen Kern und
Cytoplasma eine Wechselwirkung besteht, es
wird auch niemand behaupten wollen, daß es
für die Vererbungsträger, für die Chromosomen
also, gleichgültig ist, in welchem Cytoplasma sie
sich entfalten. Wie sehr diese normale Wechsel-
wirkung zwischen Kern und Cytoplasma von-
nöten ist, das zeigen viele Bastardierungsexperi-
mente. Die Chromosomen vermögen häufig in
dem fremden Cytoplasma nicht ihre normalen
Funktionen zu verrichten, sie gehen — so z. B.
bei manchen Seeigelkreuzungen — zugrunde.
Selbst das Spermatozoon der eigenen Art ist zu-
nächst wenigstens ein Fremdkörper im Ei. Die
weiblichen Chromosomen sind insofern im Vorteil
gegenüber den männlichen, die letzteren müssen
sich erst ,, einleben", möchte ich sagen. Die männ-
lichen Chromosomen treten denn auch tatsächlich
— wir haben zahlreiche Beweise dafür — in den
ersten Stadien der Entwicklung noch nicht in
Funktion. Daß aber das Cytoplasma Träger
von Erbfaktoren ist, dafür liegt ein IBe-
weis bisher nicht vor, die Theorie vom
,,Ker nmo n opol der Vererbung" ist nicht
erschüttert. „Mag sogar alles", sagt Boveri,-)
„was uns im Metazoenkörper als Leistung impo-
niert, direkt Protoplasmaleistung sein, dies schließt
so wenig die alleinige Bestimmung der indivi-
duellen Merkmale des Kindes durch die Kerne
der kopulierenden Sexualzellen aus, wie die Her-
') Retzius, G. , Was sind die Piastosomen; Arch. f.
mikr. Anat. 84. Bd., 1914.
'-) Boveri, Th., Ergebnisse über die Konstitution der
chromatischen Substanz des Zellkerns. Jena 1904.
N. F. XIII. Nr. 3;
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
583
stelking eines Hauses durch Maurer und Zimmer-
leute ausschließt, daß dieses Haus in seiner ganzen
Besonderheit nach dem Kopf eines Architekten
gebaut ist".
Duften und Riechen.
[Nachdruck verboten.] Von Dr.
Diese beiden Ausdrücke werden oft miteinander
verwechselt, und es ist jedenfalls ein Mangel des
deutschen Sprachgebrauches, daß Geruch gerade
so viel wie Duft, worunter man das Riechbare
versteht, wie auch die Fähigkeit, den Duft wahr-
zunehmen, bezeichnen kann. In den folgenden
Ausführungen soll der oben angedeutete Unter-
schied gemacht und durchgehalten werden. Um
einen Duft zum Bewußtsein zu bringen, muß
oflenbar irgend etwas von dem duftenden Gegen-
stand in unsere Nase geraten und mit unseren
Geruchsnerven in Berührung kommen.
Es wäre eine ganz eingängliche Vorstellung,
daß die Luftmoleküle die winzigen, von den Körpern
abfliegenden Duftkerne so kräftig und so lange
hin- und herwirbeln, bis sie unsere wahrnehmenden
Organe erreichen. Wir könnten uns das Gewimmel
etwa so denken wie die Wanderungen feiner
Stoffpartikel in Flüssigkeiten, wo diese schwebenden
Masseteilchen lebhafte Hin- und Herbewegungen
ausführen, die mit dem Namen Brown verknüpft
sind. In diesem Falle könnten wir vermuten, daß
die Duftkerne in s])ezifischer Reinheit als Trenn-
stücke der Duftmasse bestehen.
Man hat einiges Bedenken gegen die Annahme
gehabt, daß sich dufttragende Masse wirklich von
dem duftenden Körper entfernt, weil kleine Mengen
große Räume durchdringend erfüllen können, ohne
daß oft eine Gewichtsabnahme nachzuweisen wäre.
Aber der Gewichtsverlust kann ja so gering sein,
daß er mit unseren Wägeinstrumenten nicht mehr
zu konstatieren ist. Haben wir nicht eine ähnliche
Erscheinung bei der Wirkung unserer Kataly-
satoren, die ohne Veränderung und ohne merk-
baren Verlust an Masse Prozesse einleiten oder
chemische Reaktionen unterstützen können?
Um die Duftübertragung mit einem einfachen
Bild zu erfassen, und um sich unabhängig von
der Vorstellung abgegebener Massenbeträge zu
machen, hat man die Behauptung aufgestellt, daß
die Moleküle durch Hinstreichen über Duftquellen
in einen inneren Schwingungszustand geraten, der
durch Induktion auf unsere Geruchsnerven wirken
sollte. Das ist eine kühn hingestellte Hypothese,
da durch Molekülschwingungen z. B. auch die
Leuchterscheinungen bei Röntgenstrahlen erklärt
.werden, und das mit guter Begründung, da die
Stöße der kathodischen Elektrizität auf feste Körper
in den Molekülen zu Schwingungen führende Er-
schütterungen auszulösen vermögen. Und welche
ungeheure Anzahl von Schwingungsarten wäre
erforderlich, um allen bekannten Düften gerecht
zu werden !
Karl Wolf.
Wir wollen zur Begründung einen anderen
Vorgang benutzen, der in mancherlei Erscheinungen
untrüglich bewiesen worden ist. Es ist zunächst
sicher, daß die atmosphärische Luft stets mehr
oder minder in Elektronen zerfallen ist, vor Ge-
wittern, bei Mondlicht und bei niedrigem Baro-
meterdruck besonders stark. Diese Elektronen —
und vor allem die Negelektronen (negative Elek-
tronen) — haben eine unbeirrbare Hinneigung zu
allen Beimengungen der Luft, was sich z. B. darin
äußert, daß die Elektrizitätszerstreuung in durch
Rauch, Dampf, Staub verunreinigter Luft bedeutend
abnimmt. Sobald Partikel in der Luft schwirren,
und es sind Elektronen in der Nähe, so kommt
bald eine Vereinigung zustande, und dieser Ver-
band bleibt so lange bestehen, bis eine gewaltsame
Trennung erfolgt. Und in diesem Streben nach
Gesellschaft zeigen die Negelektronen eine aus-
geprägtere Eilfertigkeit als die Poselektronen oder
Molekülreste, da sie massegeringer und durch
Licht und elektrische Felder besser zu beeinflussen
sind. Für diese Gesellung von Materie und Elektron
hat man mannigfache Beweise. Macht man Luft,
indem man sie durch destilliertes Wasser treibt,
negativ elektrisch, sammelt sie in einem geerdeten
Blechmantel und bläst Tabakrauch in diesen, so
bleibt auch nach gründlicher Durchlüftung an der
Metallwandung ein durchdringender Nikotinduft
haften, der nur sehr langsam verschwindet. Das
läßt sich dadurch erklären, daß Negelektron und
Rauchkern von der geerdeten Metallwand auf-
genommen werden, wo das Elektron abwandert
und den Weggenossen an der Blechwand im
Stich läßt.
Wir alle wissen zu unserem Verdruß, wie in
unserer Kleidung — vor allem, wenn sie schwarz
und haarig ist — der Rauch und andere Düfte
hartnäckig verharren. Das wird durch unsere
Annahme leicht erklärlich. Die Elektronen haben
zu allen spitzen und vorragenden Gegenständen
eine lebhafte Neigung, und unser Rock ist nichts
anderes als ein Feld mit unzähligen, Blitzableiter
gleichenden Spitzen, an die die Elektronen wandern
und mit ihnen ihre Begleitung: die Beimengungen
der Luft, seien dies Rauch, Staub, P'euchligkeit,
Duft. Wir können unsere Auffassung noch durch
ein anschauliches Experiment belegen. Wir lassen
in einem raucherfüllten Glasbehälter elektrische
Entladungen aus Spitzen vor sich gehen, und die
Luft klärt sich fast augenblicklich, indem die
Rauchmassen an die Innenwand des Gefäßes
wandern und sich dort niederschlagen. So dürfen
wir ohne Zwang in unseren Folgerungen annehmen,
daß auch Duftkern und Elektron sich vereinigen
584
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr.
37
und in diesem Verbände die Luft durchwandern,
von unserer Nase aufgesogen werden und die er-
regende Ladung an unsere Geruchsnerven abgeben,
und zwar werden auch hier die Negelektronen
den Hauptanteil für das Behagen oder Unbehagen
unserer Nase liefern, da sie ihre Ladung leichter
an die Innenwand der Nase bzw. deren empfäng-
liche Schleimhäute abgeben. Um für diese Er-
scheinung einen weiteren Anhalt zu gewinnen,
lassen wir, nach dem Vorgange von Prof. Ebert,
durch einen engen Hohlkörper elektronisierte Gase
streichen, die aus Neg- und Poselektronen bestehen.
Die austretende Gasmasse ist dann vorwiegend
positiv elektrisch, da die Negelektronen großen-
teils von der Rohrwandung aufgenommen worden
sind, und unsere Nase ist ja nichts anderes wie
dieses Rohr im Experiment. In einer Flasche
befindliches Wasser, das durch Schütteln und Ab-
saugen der Luft elektronenarm gemacht werden
kann, sucht den Mangel durch Aufnahme von
Negelektronen aus der Luft wieder auszugleichen.
Aus dieser Tatsache kann sich leicht die land-
läufige Beobachtung erklären, daß ein offenes
Gefäß mit Wasser den ,, Geruch" aus der Luft
zieht, denn mit dem Elektron wird auch der Dufl-
kern mit aufgenommen.
Einzelberichte.
Botanik. Ein neues Zeugnis zugunsten der
Statolithentheorie. Um festzustellen, ob die Stärke-
körner, die nach der Statolithentheorie in geotro-
pisch reizbaren Organen, z. B. Wurzelspitzen, einen
Druck auf das sensible Plasma ausüben und so
die geotropische Krümmung veranlassen, wirklich
diese Funktion haben , ist wiederholt versucht
worden, den Zellen die Stärke zu entziehen und
zu sehen, wie sich die auf solche Weise der
Statolithen beraubten Organe zur Schwerkraft
verhalten. Gegen derartige Versuche läßt sich
aber der Einwand erheben, daß die Pflanze durch
die Anwendung künstlicher Mittel zur Beseitigung
der Stärke in ihrer geotropischen Reaktions-
fähigkeit verändert wird. Von größerer Bedeutung
sind Beobachtungen, wie sie sciion vor acht Jaiiren
G. Tischler veröffentlicht hat, der nachweisen
konnte, daß gewisse Wurzeln, die anfangs autotrop
wachsen, dann geotropisch werden (Nebenwurzeln),
oder solche, die überhaupt ageotropisch sind
(Adventivwurzeln), in der Ausbildung des Stato-
lithenapparats eine ausgesprochene Parallelität mit
der Wachstumsweise zeigen, derart, daß die ageo-
tropischen Wurzeln überhaupt keine Stärke in den
geotropisch empfindlichen Zellen der Wurzel-
haube enthalten, und daß die später geotropisch
werdenden Wurzeln auch den Statolithenapparat
erst später ausbilden. J o s t hat allerdings ageo-
tropische Wurzeln gefunden, die reichlich Stärke
enthielten. Wie jedoch Virginia Jacobacci
bemerkt, wissen wir nicht, ob diese Stärke orien-
tiert und beweglich war. Die Dame hat im R.
Istituto botanica in Rom an einem großen Ma-
terial von Keimwurzeln Beobachtungen gemacht,
die denen Tisch 1er 's entsprechen und die
Statolithentheorie zu stützen geeignet sind. Sie
nahm bei ihren Untersuchungen an Keimwurzeln
von Vicia Faba wahr, daß ein Teil der Samen,
die alle unter denselben Bedingungen zum Keimen
ausgelegt waren, Würzelchen bildeten, die sich
nicht krümmten, sondern von Anfang an hori-
zontal wuchsen. Bei der mikroskopischen Prüfung
zeigte sich, daß in diesen ageotropischen Wurzeln
die Stärke ganz oder fast ganz fehlte oder nicht
orientiert war, während sie in den geotropischen
Wurzeln vorhanden und vollständig orientiert
war. Viel zahlreicher und mannigfaltiger noch
traten die Ausnahmen von dem normalen Ver-
halten bei der Kichererbse, Cicer arietinum, auf.
Hier blieben einige Wurzeln horizontal, andere
richteten sich sogar vertikal in die Höhe. Mit dieser
Pflanze wurden dann die meisten weiteren Versuche
angestellt. Die Samen wurden bei gleichmäßiger
Temperatur und F"euchtigkeit zum Keimen ge-
bracht, wobei dafür gesorgt wurde, daß sich das
Würzclchen des Embryos innerhalb derselben Ver-
suchsreihe überall in derselben Lage zum Schwer-
kraftreize befand. Bei wagerechter Stellung des
Würzelchens wuchsen etwa 40 "/o der Wurzeln
ageotropisch. Noch größer war die Zahl der Aus-
nahmefälle, wenn die Wurzelspitze nach aufwärts
gerichtet war. Das ist die ungünstigste Lage lür
die Ausführung der geotropischen Krümmung,
und es erscheint denkbar, daß Wurzeln, die nur
schwach geotropisch reaktionsfähig sind, in dieser
Lage fortfahren, nach oben zu wachsen, oder sich
nur schwach krümmen, während die horizontal
gerichteten ohne weiteres die Krümmung aus-
führen. Die Zahl der Ausnahmen ist auch ab-
hängig von der Temperatur, indem sie von der
optimalen Keimungstemperatur (20 — 25 ") nach
oben und unten zunimmt. Das diffuse Licht
scheint dagegen keinen Einfluß auszuüben. Es
gibt ferner Varietäten der Kichererbse, bei denen
nur sehr wenige Ausnahmen vom normalen
geotropischen Verhalten der Wurzeln auftreten.
Die mikroskopische Untersuchung von 616 Wurzel-
spitzen, die aus Samen mit ursprünglich horizontal
oder nach oben gerichteten Würzelchen gezogen
waren, ergab, daß von 364 geotropischen Wurzeln
327 (go^/ii) orientierte Stärke besaßen; bei den
übrigen 37 fehlte die Stärke oder war nicht
orientiert. Von den 252 ageotropischen Wurzeln
wuchsen 153 horizontal, 99 vertikal nach oben.
Unter den 153 horizontalen hatten 58 (38 "/o)
orientierte Stärke, 33 nichtorientierte Stärke, und
62 waren ohne Stärke. Von den 99 aufwärts
wachsenden Wurzelspitzen wiesen 33 (34"/i,) orien-
tierte Stärke auf, bei 24 war die Stärke nicht-
orientiert, bei 42 fehlte sie ganz. Das Vorkommen
N. F. Xm. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
585
orientierter Stärke bei ageotropischen Wurzehi
erklärt die Verfasserin mit der Annahme, daß die
seit der Orientierimg der Stärke vergangene Zeit
die erforderliche Reaktionszeit nicht erreicht hatte.
Das auch eine kleine Anzahl Wurzeln abwärts
wächst, die keinen Statolithenapparat haben, kann
nicht auffallen, da ageotiopische Wurzeln nach
allen Richtungen wachsen können. Um dem
Einwand zu begegnen, die Orientierung der Stato-
lithen stehe zur geotropischen Reaktion nicht im
Verhältnis von Ursache und Wirkung, sondern
sei nur die Folge einer vorangehenden Krümmung,
wiederholte Verfasserin die Beobachtungen an
Samen, die am Klinostaten gekeimt hatten, also
der Schwerkraftwirkung entzogen waren und ver-
schiedene Richtung angenommen hatten. Sie
fand, daß das Verhältnis zwischen der Zahl der
Wurzeln mit Statolithenstärke und der Zahl der
stärkearmen Wurzeln ganz gleich war dem Ver-
hältnis zwischen der Zahl der geotropischen und
der der ageotropischen Wurzeln, die in Kolroll-
kulturen unter gewöhnlichen Bedingungen ge-
halten waren. (Annali di Botanica, 1914, Vol. 12,
Fase. 2, p. 165 — 175.) F. Moewes.
Zoologie. Die Bedeutung des Mengenverhält-
nisses mütterlicher und väterlicher Substanzen für
die Vererbung. Schon seit längerer Zeit ist es
bekannt, daß sich unter den Eiern des Seeigels
Sphaerechinus granularis gelegentlich Rieseneier
finden, die doppelt so groß sind wie die normalen
Eier. Das Vorkommen solcher Rieseneier legt
uns die Frage nahe: Wie verhalten sich die bei
Kreuzbefruchtung aus Rieseneiern entstehenden
Bastardlarven hinsichtlich ihrer Vererbungsrich-
tung? Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß ganz
zur gleichen Zeit zwei F'orscher Experimente ver-
öffentlichen, die die Antwort auf obige Frage
geben. Boveri') und H erbst ^j befruchteten
Rieseneier von Sphaerechinus granularis mit Samen
eines anderen Seeigels, von Strongylocentrotus
lividus, und untersuchten dann die Bastardplutei.
Beide Forscher kamen, um dies gleich voraus-
zuschicken, im wesentlichen zu dem gleichen Re-
sultat, zu einem Resultat, das für unsere Vor-
stellungen über die Wirkung der mütterlichen und
väterlichen Erbsubstanzen von großer Wichtip-
keit ist.
Was zunächst einmal die Entsteh u ng der
Rieseneier anbetrifft, so stehen Boveri und
Herbst in dieser Hinsicht auf verschiedenem
Standpunkte. Boveri ist der Ansicht, daß das
Riesenei einer unterdrückten Zellteilung, wahr-
scheinlich der letzten Ovogonienteilung, seine Ent-
stehung verdankt. Die bei der unterdrückten Zell-
') Boveri, Th. Über die Cliaraktere von Echiniden-
Bastardlarvcn bei verschiedenem Mengenverhältnis mülterlicher
und väterlicher Substanzen. Verhandl. d. phys.-med. Ges. zu
Würzburg, N. F. Bd. 40, 1914.
^) Herbst, C. Vererbungsstudien X. Die gröUere
MuUerälinlichkeit der Nachkommen aus Riesenciern. Arch.
f. Entwicklungsmech. d. Org., Bd. 39, 19 14.
teilung verdoppelte Chromosomenzahl — und damit
der doppelt so große Kern — hat ein verstärk-
tes riasmawachstum zur Folge, es entsteht das
„Riesenei", das doppelt so groß ist wie das nor-
male, in dem sich aber Kern zu Plasma verhält
genau wie in dem normalen. Im Gegensatz dazu
nimmt Herbst an, daß das Riesenei das Produkt
einer Verschmelzung zweier Ovocyten oder auch
reifer Eier ist. Eine nachträgliche Regulation der
Kernplasmarelation ist in diesem Falle nicht er-
forderlich. Die Reifungsteilungen scheinen in den
Rieseneiern sehr häufig anormal zu verlaufen, denn
Boveri und vor allem Herbst, dem eine be-
trächtlich größere Zahl Rieseneier — und auch
Larven aus solchen Eiern — vorlag, stellten fest,
daß die Kerne der reifen Rieseneier durchaus nicht
immer gleich groß sind. Wenn die zweite Reifungs-
teilung unterbleibt oder der zweite Richtungs-
körper wieder mit dem Eikern verschmilzt, erhält
das Riesenei einen Kern von doppelter Größe.
Wenn auch die erste Reifungsteilung ausfällt, so
resultiert ein Riesenei, in dem Kern und Plasma
in einem außerordentlichen Mißverhältnis stehen ;
der Kern muß viermal so groß sein wie im
„normalen" Riesenei, da ja der erste Richtungs-
körper so viele Chromosomen enthält wie reifer
Eikern und zweiter Richtungsköiper zusammen.
Die von Boveri und Herbst erzielten Plutei
aus der Kreuzung Sphaerechinus - Rieseneier
X Strongylocentrotus-Sperma waren alle — Bo-
veri konnte 5, Herbst 22 Larven untersuchen
— unzweifelhafte Bastarde, d. h. alle zeigten Merk-
male vom Vater wie von der Mutter, es hatte
also nicht etwa das Spermatozoon nur als Ent-
wicklungserreger gewirkt und eine parthenogene-
tische Entwicklung des Eikerns hervorgerufen. Ein
Vei gleich der Riesenbastardlarven mit Bastard-
larven aus normalgroßen Eiern führte indessen zu
dem ganz einwandfreien Resultat, „daß die Ver-
erbungsrichtung der Riese nlarven, wenn
sie auch im einzelnen großen Schwan-
kungen unterworfen ist, viel mehr nach
der Mutter hin liegt als diejenige der
Larven aus Eiern von normaler Größe."
Allgemein gesprochen beweisen diese Ergebnisse
„die Abhängigkeit der Vererbungsrich-
tung von der Quantität der Substanzen
der Keimzellen". Da aber in den Rieseneiern
nicht nur der mütterliche Kern, sondern auch
das Protoplasma verdoppelt ist, läßt sich zu-
nächst nicht sagen, ob die größere Mutterähnlich-
keit der Nachkommen aus den Rieseneiern auf
die Vermehrung einer bestimmten Keimsubstanz
zurückzuführen ist, ob etwa ein Plus von Kern-
substanz zur Verschiebung der Vererbungsrichtung
genügt. Würde man ein Riesenei in zwei Hälften
zerlegen, eine kernhaltige und eine kernlose, und
würde der nach Befruchtung aus der kernhaltigen
Hälfte entstehende Bastardpluteus in gleicher Weise
größere Mutterähnlichkeit zeigen wie die Bastard-
plutei aus ganzen Rieseneiern, so wäre damit be-
wiesen, daß ein Plus von Plasma für die Vererbung
586
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 37
bedeutungslos ist. Dieses Experiment ist bisher
nicht ausgeführt worden, aber Boveri sowohl
wie Herbst führen andere Experimente an, die
zur Beantwortung der obigen Frage dienen können.
Es sollen hier die Experimente Boveri s be-
sprochen werden, der mit gewohnter Klarheit und
in exakter Beweisführung zeigt, daß nur der ver-
doppelte Eikern für die Verschiebung der Ver-
erbungsrichtung verantwortlich gemacht werden
kann.
„Wenn Ei- und Spermaprotoplasma", schreibt
Boveri, „die Substanzen sind, durch welche die
elterlichen Eigenschaften übertragen werden, dann
muß die gewaltige Menge des Eiplasmas auf die
winzige Menge des Spermajirotoplasmas so ab-
gestimmt sein, daß das normalgroße Ei dem
Spermatozoon in seiner Wirkung bei der Ver-
erbung wie I : I gegenübersteht.' Dieser Schluß
wird gefordert durch die Mittelstellung der
Bastarde." Vermindert man künstlich die Menge
des Eiplasmas, so müßte eine Veränderung des
Verhältnisses i : i erfolgen, es müßte bei Teilung
des Eies in eine kernhaltige und eine kernlose
Hälfte das Plasma der kernhaltigen Hälfte sich
zu dem Plasma des Spermatozoons verhalten wie
etwa 7-3 '■ I- Von diesen Überlegungen ausgehend
machte Boveri folgenden Versuch.' Eine Portion
Sphaerechinuseier wurde durch Schütteln frag-
mentiert und dann mit Strongylocentrotussamen
befruchtet. Eine zweite Portion Sphaerechinus-
eier wurde sofort nach Entnahme der Eier mit
Strongylocentrotussamen befruchtet, nach der
ersten Furchung wurden die beiden Blastomeren
jedes Eies vermittels kalkfreien Seewassers ge-
trennt und die '/ä-Blastomercn in normalem See-
wasser weitergezüchtet. Da das Spermaproto-
plasma, wenn es überhaupt für die Vererbung
von Bedeutung sein soll, in gleicher Weise auf
die beiden ersten Blastomeren — und natürlich
auch alle folgenden — verteilt werden muß, so
unterscheiden sich die aus den beiden Eiportionen
entstandenen Larven in einem sehr wesentlichen
Punkte. Während in den der letzten Portion ent-
stammenden Pluteis das Verhältnis von Eiplasma
zu Spermaplasma überhaupt nicht verändert worden
ist, ist in den Pluteis aus den Eiern der ersten
Portion das Verhältnis zugunsten des Sperma-
plasmas verschoben. Wenn also in der Tat auch
Bestandteile des Plasmas für die Vererbung von
Bedeutung sind, so muß ein Vergleich eines Plu-
teus aus einer V-.-Blastomere mit einem gleich
großen Pluteus aus einem Eifragment eine größere
Vaterähnlichkeit des letzteren ergeben. Das ist
aber durchaus nicht der Fall! Beide Gruppen ver-
halten sich hinsichtlich der Vererbung gleich.
Die wichtigen Resultate der im Vorstehenden
mitgeteilten Experimente sind also, um es noch-
mals zusammenzufassen: die Quantität der
Vererbungssubstanzen isTvon wesent-
licher Bedeutung für die Vererbungs-
richtung und eineVermehrungoderVer-
minderung des Plasmas hat keinenEin-
fluß auf die Vererb ungsrich tu ng. Gegen-
über der einwandfreien Beweisführung von Bo-
veri müssen die von anderer Seite unternommenen
krampfhaften Versuche, eine Beteiligung proto-
plasmatischer Elemente, der Mitochondrien, an
der Vererbung zu beweisen, als gänzlich gescheitert
bezeichnet werden.^) Nachtsheim.
Physik. Ein Einfadeneleklrometer beschreibt
T h e o d. W u 1 f (Valkenburg, Holiand, Ignat Colleg)
in der Physikalischen Zeilschrift XV (1914) Seite
250—254. Das Instrument, das schon seit dem
Jahre 1909 von der Firma Günther u. Tegetmeyer
in Braunschweig hergestellt wird, besteht, wie
auch eine Reihe anderer Elektrometer, im wesent-
lichen aus einem sehr dünnen leitenden Faden
(Platin, metallbestäubte Quarz- und Spinnefäden),
der vertikal in einem aus zwei Metalhchneiden
gebildeten elektrischen Feld ausgespannt ist. Das
Neue an dem Apparat ist die Befestigung des
unteren Fadenendes, das von einem halbkreis-
förmigen Bügel aus dünnem isolierenden Quarz-
faden gehalten wird. Dieser sitzt seinerseits an
einem kleinen Hebel, der mittels einer Schraube
mit geteilter Trommel gehoben oder gesenkt
werden kann. Dadurch wird der Elektrometer-
faden nach Belieben gespannt oder gelockert und
die Empfindlichkeit verändert. Eine zwischen
Schraube und Hebel geschaltete elastische Feder
sorgt dafür, daß die Spannungsänderung sehr lang-
sam und gleichmäßig erfolgt. Beim Senken des
Hebels wird der halbkreisförmige Quarzbügel, der
das untere Fadenende trägt, zunächst zu einer
Art Ellipse verzerrt und schließlich fast zu einem
Dreieck ausgestreckt. Durch einen Anschlag ist
es unmöglich gemacht, den Faden weiter zu
spannen, so daß er vor dem Zerreißen geschützt
ist. Wegen dieser elastischen Befestigung ist der
Faden beim Arbeiten wie beim Transport vor
Zerstörung gesichert. Durch Änderung des Hilfs-
potentials an den Schneiden, des Abstandes der-
selben, der Spannung des Fadens und der Dicke
desselben kann die Empfindlichkeit in sehr weiten
Grenzen variiert werden. Die Ablesung der Faden-
stellung geschieht entweder subjektiv durch ein
Mikroskop oder indem man den beleuchteten
Faden projiziert und zwar am besten auf einen
sich bewegenden, lichtempfindlichen Papierstreifen.
Mit dieser Vorrichtung versehen ist das Elektro-
meter zum Registrieren von Wechselströmen und
elektrischen Schwingungen vorzüglich geeignet;
man spannt zu diesem Zweck am besten einen
massiven Platinfaden von einigen ft Dicke ein, da
die bestäubten Quarz- und Spinnefäden bei der
schnellen Bewegung leicht abblättern und dadurch
nichtleitend werden. Je nach Spannung und
Material (Trägheit) des Fadens erfolgt seine Ein-
stellung periodisch oder aperiodisch. Die Kapa-
zität des Instrumentes hängt von der Entfernung
') Vergleiche hierzu den in der gleichen Nummer
erscheinenden Aufsatz: „Sind die Mitochondrien Vererbungs-
träger f"
N. F. XIII. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
587
der Schneiden ab; ist die eine ganz zurückgezogen
und die zweite mit der Erde verbundene 5 mm
vom Faden entfernt, so ist seine Kapazität nur 2 cm.
In einer zweiten Arbeit (Physikalische Zeit-
schrift XV (1914) Seite 611 — 616 schildert der-
selbe Verfasser einige Anwendungen
des Einfadenelektrometers in der draht-
losen Telegraphic. Er verwendet neuerdings
von der Firma Meraeus hergestellte Fäden aus
Aluminium von 4 /( Minimaldurchmesser, die wegen
ihrer viel geringeren Dichte bei derselben Spannung
eine kürzere Schwingungsdauer und eine stärkere
Dämpfung als die Platinfäden haben. Während
die bisher üblichen Empfangsapparate (Telephon
und Galvanometer) die elektromagnetischen Wir-
kungen der ankommenden Wellen benutzen, mißt
das Elektrometer statisch die Spannung an dem
in der Empfangsleitung in der üblichen Schallung
liegenden Kondensator. Die Zeichen werden
photographisch registriert. Um das Elektrometer
zur genauen Uhrvergleichung mit Hilfe der
von den Großslationen Norddeich und Eiffelturm
regelmäßig ausgeschickten Zeitzeichen zu ver-
wenden, läßt man das Elektrometer zunächst diese
Zeichen registrieren. Um nun auf dieselbe Stelle
des photographischen Papiers die Angaben der
eignen Uhr zu erhalten, setzt man diese auf das
Gehäuse eines Mikrophons, das durch eine Induk-
tionsspule geschlossen ist. Eine diese umgebende
Sekundärspule liegt mit dem einen Ende an der
einen Metallschneide des Elektrometers, mit dem
andern an Erde. Das Ticken der Uhr setzt die
Membran des Mikrophons in Bewegung, dadurch
entsteht in der Sekundärspule ein Induktionsstrom,
der das Potential der Schneide ändert und damit
einen momentanen Ausschlag des Fadens hervor-
ruft. Dieser wird ebenfalls auf dem Papier re-
gistriert, so daß man die beiden Zeichen in ihrer
gegenseitigen Lage vergleichen kann. Eine dritte
Verwendung findet das Elektrometer bei der
Untersuchung von Delektoren. Der Ver-
fasser benutzt dazu die Sekundenschläge des Eiffel-
turms; in der Empfangsleitung liegt ein Karbo-
runddetektor. Das Elektrometer registriert wie
vorher die Spannung des Kondensators. Beim
ersten Schlag schnellt die Spannung plötzlich auf
dem Oicillogramm um etwa 4 mm in die Höhe
und bleibt auf dieser Höhe; der zweite Schlag
erhöht die Spannung ca. um weitere 2,5 mm, die
nächstfolgenden etwa um 1,5, 0,8, 0,2 mm. Die
nächsten Schläge bringen keine weitere Erhöhung
der Spannung hervor. Die Kurve des Oscillo
gramms stellt demnach eine treppenartig abgestufte
IJnie dar, bei der die Stufenhöhe abnimmt. Durch
Anlegen einer regulierbaren Vergleichsspannung
wurde die höchste erreichte Spannung zu 1,3 Volt
ermittelt. In einem außergewöhnlich günstigen
Fall betrug die höchste überhaupt erreichte Span-
nung des Kondensators 4,6 Volt (der Eiffelturm
war 350 km von der Empfangsstelle entfernt).
Dieses Verhalten des Detektors zeigt, daß er wie
ein Ventil wirkt, das heißt er läßt nur in der
einen Richtung gut, in der entgegengesetzten gar
nicht hindurch. Dann wird während der günstigen
Stromphase Kondensator und Elektrometer auf-
geladen. Da der Detektor in der entgegengesetz-
ten Richtung nichtleitend ist, bleibt die Ladung
auf dem Kondensator. Durch die nächsten Signale
wird sie solange verstärkt, bis die Kondensator-
spannung gleich der Höchstspannung der an-
kommenden Wellen geworden ist; dann kann sich
die Kondensatorspannung nicht mehr ändern und
folglich das Elektrometer keine Zeichen mehr re-
gistrieren. Solche Detektoren mit idealer Ventil-
wirkung sind indessen sehr selten, meistens läßt
er bei höheren Spannungen auch in der entgegen-
gesetzten Richtung etwas hindurch, so daß sich
ein stationärer Zustand herausbildet, indem jeder
neue Funke so viel nachliefert, als in der vorher-
gehenden Sekunde verloren gegangen ist. Man
kann das Elektrometer zur Entscheidung der Frage
verwenden, ob ein Detektor auf Ventil-
oder auf Thermowirkung beruht: Alle
Detektoren, die das Elektrometer zum Ansprechen
auf elektrische Wellen bringen, beruhen sicher
nicht auf Thermoelektrizität, — so z. B. der Glüh-
detektor, der elektrolytische und eine Reihe Kristall-
detektoren. Der vielbenutzte Bleisulfiddetektor übt
auf das Elektrometer keinerlei Wirkung aus, ob-
gleich er als Ventil wirkt, allerdings als schlechtes.
Seine Leitfähigkeit in entgegengesetzter Richtung
ist nämlich so gut, daß es lücht zu einer Auf-
ladung des Kondensators kommt. Zum Schluß
gibt der Verfasser ein Verfahren an, welche ohne
ankommende Wellen eine Prüfung von De-
tektoren gestattet, indem man mit durch Wider-
stand veränderlicher Spannung (4 Volt) den Kon-
densator durch den Detektor hindurch auflädt,
durch Umlegen einer Wippe wieder entlädt und
den Spannungsverlauf in beiden Fällen vom
Elektrometer registrieren läßt.
K. Schutt, Hamburg.
Geologie: „Über die Ursachen der vulkanischen
Ausbrüche". Auf sechs kurzen Seiten, wie es
W. Karmin (Geolog. Rundschau 1914 S. 47—53)
tut, läßt sich das unerschöpfliche Thema natür-
lich nicht mit einiger Vollständigkeit behandeln.
Aus St übel 's und von Wolff's Ergebnissen
wird eine in hypothetischer Form gehaltene ein-
heitliche Darstellung des Werdeganges der Erde,
insbesondere ihrer vulkanischen Äußerungen in
knappen Zügen zu konstruieren versucht. Das
kann nur haben und hat den Wert einer einzelnen
Meinungsäußerung innerhalb einer vieleBände füllen-
den Diskussion über den Gegenstand. Die Abkühlung
der Erde wird wie eine erwiesene Tatsache vor-
ausgesetzt. Einen letzten Urgrund der Wissenschaft
gibt es nicht und auf welchem Boden eine Lehre
fußt, sie muß zu allen Zeiten damit rechnen, sich
einmal zu überleben. Immerhin ist gerade diese
Voraussetzung doch eine Basis, an der neuerdings
recht viel gerüttelt wird, eine Vorstellung übrigens,
zu deren Stütze ja auch gerade der Geologe,
588
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr. 37
der doch dazu berufen erscheinen könnte, gar kein
Material hat bisher liefern können! Wenn unter den
Schlußfolgerungen des Verfassers Katastrophenaus-
brüche erscheinen, die gleichfalls in der Ver-
gangenheit nicht aufweisbar sind, daher aber von der
Zukunft der Erde erwartet werden, so besagt
das bescheidene Bewußtsein, daß die Natur sich
nichts vorschreiben läßt, ja noch nichts gegen
die Güte der Theorie. Kürzer als durch den Ver-
fasser selbst läßt sich natürlich seine Ansicht in
einem Referate nicht darstellen, ohne der Flüch-
tigkeit anheim zu fallen. E. Hennig.
Kleinere Mitteilungen.
Die Wiederanheiluncr einer fast vollständig
abgeschnittenen Hand mit guter Funktion gelang
nach einem Berichte von Dr. Schloeßmann
(Münchener Med. Wochenschrift Nr. 26, 30. Juni
1914) an der chirurgischen Universitätsklinik in
Tübingen. Einem zehnjährigen Knaben war durch
das Messer einer Futterschneidmaschine die rechte
Hand fast völlig abgetrennt worden. Nachdem
von den Eltern die Hand sofort wieder auf die
Wundfläche aufgedrückt und von dem herbei-
gerufenen Arzt ein Notverband angelegt worden
war, wurde der Knabe in die Klinik gebracht.
Er traf sechs Stunden nach dem Unfall ein.
Abb. I. Die abgeschnittene Hand hängt mit dem Vorderarm
nur durch einen kaum 3 cm breiten Stiel zusammen und läßt
sich so berumklappen , daß der kleine Finger dem Unterarm
anliegt und proximale und distale Wundtläche in eine Ebene
fallen.
Der erste Eindruck, den man beim Anblick
der Verletzung hatte, war derart, daß man zunächst
an Amputation dachte. Der Schnitt verlief quer
über das Handgelenk und hatte nicht nur das
Radiokarpalgelenk breit eröffnet, sondern auch die
Gelenkenden von Radius und Ulna, sowie das
Os lunatuni und naviculare quer durchschnitten.
Auf der ulnaren Seite allein war eine kaum drei
cm breite Brücke erhalten geblieben, welche die
einzige Verbindung mit dem Vorderarm bildete.
Die in ihr verlaufende unverletzte Arteria ulnaris
übernahm die weitere Ernährung der abgetrennten
Hand. Der Blutverlust aus der durchschnittenen
A. radialis war auffallend gering, und die arteriellen
Verbindungen im Hohlhandbogen zwischen A.
radialis und A. ulnaris genügten zur Versorgung
der Hand mit arteriellem Blut. Von Nerven war
der Nervus ulnaris gleichfalls erhalten geblieben.
Überraschenderweise gelang es, die Hand zur
Anheilung zu bringen. Nach der mühsamen Ver-
einigung von 22 durchtrennten Sehnen wurde die
Gebrauchsfähigkeit der Hand wieder hergestellt.
Bereits am elften Tage konnte die fixierende
Schiene fortgenommen werden. Unter Massage
und aktiver Bewegungstherapie kehrte nach und
nach die Bewegungsfähigkeit und nach längerer
Zeit auch die Sensibilität wieder. Bereits nach
acht Wochen konnte der Patient aus der Klinik
entlassen werden. Die Hand ist wieder nahezu
Abb. 2 und 3.
Die
angeheilte Hand ausgestreckt und zur
Faust geballt.
normal, nur weniger kräftig als die andere und
wird beim Essen, Trinken, Schreiben und leichter
Handarbeit benutzt. Eine Infektion der Wunde
hatte glücklicherweise nicht stattgefunden, wie
sich aus dem Ausbleiben einer Entzündung ergab.
Die ganze Wimdversorgung konnte sich auf das
übliche Verfahren einer Jodpinselung der Haut
bis zum Wundrand, sowie das Abtragen aller be-
schmutzten, zerquetschten und zerfetzten Gewebs-
teile beschränken. Kathariner.
N. F. XIII. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
SSy
Bücherbesprechungen.
Siegmund von Schumacher, Die Individua-
lität der Zelle. Antrittsvorlesung, gehalten
bei der Übernahme des histologisch- embryolo-
tiischen Instituts der K. K. Universität in Inns-
bruck am 7. Januar 1914. Sammlung anato-
mischer und i>h)'siologischer Vorträge und Auf-
sätze. Herausgegeben von Prof. Dr. E. Gaupp
und Prof. Dr. W. Trendelenburg. H. 23 (2. Bd.,
H. 10). Jena 1914, Gustav Fischer. — Preis
—,60 Mk.
Wenn auch die Zellen der Vielzelligen als
Teile des Gesamtorganismus viel von ihrer Selb-
ständigkeit verloren haben, so haben sie dieselbe
doch nicht vollständig eingebüßt. Aus dem Ver-
band gelöst vermögen sie unter günstigen Be-
dingungen eine Zeitlang weiter zu leben. Am
deutlichsten ist die Individualität derjenigen Zellen,
die in tierischen Flüssigkeiten vorkommen. Vor
allem ist dies der Fall bei den männlichen Keim-
zellen und den weißen Blutkörperchen. Bei der
Bienenkönigin bleiben die beim Hochzeitsflug auf-
genommenen Samenzellen mindestens 3 Jahre am
Leben, bei der Fledermaus vom Herbst bis zum
nächsten Frühjahr. Auch Stücke menschlicher
und tierischer Gewebe haben unter Umständen
eine erstaunliche Uebenszähigkeit. Die Bewegung
an Flinmierzellen überdauert bei Schildkröten den
Tod des Tieres wochenlang; die Rachenschleim-
haut des Frosches, in den Rückenlymphsack eines
anderen Tieres eingebracht, bildet kugelige Zellen-
komplexe, die durch Wochen hindurch weiter
leben. Das Überleben von Stücken der Haut und
der Knochenhaut wird chirurgisch längst praktisch
verwertet. Das Herz eines drei Monate alten,
an Lungenentzündung gestorbenen Knaben,
20 Stunden nach dem Tode aus der Leiche ge-
nommen und von der Aorta aus mit Locke-
scher Flüssigkeit durchströmt, fing wieder an zu
pulsieren und arbeitete über eine Stunde ziemlich
regelmäßig weiter. Andere von Kuliabko am
Herzen angestellte Versuche zeigten, daß an den
Vorhöfen und den Kammern rhythmische Pulsationen
noch 30 Stunden nach dem Tode hervorgerufen
werden können. Es kann demnach die individuelle
Überlebensdauer auch bei den gleichartigen Ge-
weben desselben Organs schwanken. Selbst die
Zellen eines Gewebes sind individuell ver-
schieden widerstandsfähig, wie sich namentlich
aus Beobachtungen am Flimmerepithel ergibt.
Bei der Kultur kleiner Partikel embryonalen Ge-
webes in einem Tropfen Lymphe unter dem Deck-
glas, wo es bis vier Wochen lebend blieb, sah
Harrison aus Zellen der Myotonie querge-
streifte Muskelfasern entstehen. Aus Zentralnerven-
zcllen wuchsen Achsenzylinder hervor.
„In rascher Folge erschienen dann die Mit-
teilungen insbesondere von CarrelundBurrows,
Lambert und Hanes, Ruth, Weil, Oppel,
Hada, Dilger, Champy u. a. über die ver-
schiedensten explantierten Gewebe und Organe
nicht nur von Embryonen, sondern auch von er-
wachsenen Tieren, so daß wir heute über das
Verhalten nahezu aller Organteile im Explantate
bis zu einem gewissen Grade unterrichtet sind."
Es fragt sich nun, ob man es bei der Gewebs-
kultur mit einer wirklichen Kultur von Geweben
oder mit Überlebenserscheinungen zu tun hat.
Im ersten Fall müßte das explantierte Gewebe
nicht nur weiter leben, sondern es müßten auch
neue Zellen gebildet werden von der gleichen
Art, wie sie für das betreffende Gewebe charak-
teristisch ist. Bezüglich des Überlebens besteht
kein Zweifel. Je nach der Art des Gewebes, des
Kulturmediums, dem Alter des Tieres usw. bleibt
das Explantat 3 — 15 Tage lang am Leben.
Carrel gelang es, mit seiner „Methode des alter-
nierenden Lebens" das Leben des Explantats wesent-
lich zu verlängern. Eine Phase des sichtbaren Lebens
im Kulturmedium und Wärmeschrank wechselt
mit einer Phase des latenten Lebens in Ringer-
scher Lösung und in Kälte. Embryonales
Bindegewebe wurde so zwei Monate lang am
Leben erhalten und Stücke des Herzmuskels pul-
sierten noch länger als drei Monate. Amöboide
Zellbewegungen blieben gleichfalls lange Zeit er-
halten. Das Herz zeigte noch rhythmische Kon-
traktionen, die Aufnahme von PVemdkörpern wurde
an Zellen der Hühnermilz beobachtet. Was die
Zellvermehrung durch Teilung anbelangt, so sind
die Meinungen darüber geteilt. Mitosen im Ex-
plantat brauchen nicht auf einem wirklichen Wachs-
tum zu beruhen, da sie schon vor der Explantation
vorhanden gewesen sein können. Ein wirkliches
Wachstum ließe sich nur durch eine genaue
Zählung der Zellen feststellen. Die dritte Frage,
ob die neugebildeten Zellen bezüglich ihrer Form,
Funktion und Lagerung für den explantierten
Organteil charakteristisch sind, wird von den
meisten Autoren verneint. Durch die Teilung
sollen Bindegewebszellen entstehen , die regellos
in das Nährmedium hineinwachsen. Die durch
Mitose neugebildeten Zellen sind indifferente
Zellen und haben auch nicht die für das Mutter-
organ charakteristische Anordnung.
Wenn man sonach auch nicht von einer eigent-
lichen Kultur des Explantats sprechen kann, so
ist die Methode doch von größtem Wert für das
Zellstudium. Kathariner.
Fuchs, C. W. C, Anleitung zum Bestim-
men der Mineralien. 6. Aufl. Neu be-
arbeitet von R.Braun s. gr. 8". 223 S. 27 Abb.
im Text. Gießen 191 3, Alfred Töpelmann. —
Preis geh. 4,50 Mk., geb. 5 Mk.
Die vorliegende 6. Auflage des bekannten
Buches ist in allen Teilen durchgesehen, ergänzt
und verbessert. Eine besondere Erweiterung er-
fuhr der Abschnitt über die mikrochemische Ana-
lyse. In den Bestimmungstafeln nach äußeren
Eigenschaften und einfachen chemischen Reaktionen
59°
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 37
sind noch mehr als in den früheren Auflagen die
kristaliographischen Zeichen und Winkelvverte ge-
strichen, da bei diesen Bestimmungen vorzugs-
weise derbe Mineralien zur Benutzung gelangen.
Dafür sind einige Winkelwerte in einem 5. Teile
zusammengestellt.
Eine besondere Empfehlung des verbreiteten
Buches erübrigt sich. K. Andree.
Franke, H. , Die Umrisse der Kristall-
flächen und die Anfertigung von Kri-
s taUm odcllen. 4". iii S. Stuttgart 191 3,
F'erd. Enke.
Verf. behandelt die Aufgabe, den Umriß einer
Kristallfläche zu finden, die von irgendwelchen
anderen Flächen desselben Kristalls begrenzt wird,
und bietet zu diesem Zweck eine Anzahl Hilfs-
tafeln, mit deren Benutzung die gesuchten Umrisse
konstruiert werden können. Von den Beweisen
ist überall abgesehen, denn der Zweck des Ganzen
ist die Benutzung in der mineralogischen Praxis.
Dementsprechend bildet der Abschnitt über die
Anwendungen den Hauptteil der Darstellung.
Der Empfehlung des Verfassers zum eigenen Ent-
werfen und Anfertigen von Kristallmodellen kann
man nur zustimmen. K. Andree.
Rüst, E., Grundlehren der Chemie und
Wege zur künstlichen Herstellung von
Naturstoffen. 138 S., Leipzig u. Berlin 1914,
Verlag von B. G. Teubner. — Preis 1,60 Mk.,
geb. 2, Mk.
Der Verfasser dieses Büchleins gibt eine popu-
läre Darstellung der wichtigsten theoretischen
Grundlagen der Chemie und daran anschließend
einen Überblick über die chemisch-technische
Synthese der Naturstoffe. Aus dem vielseitigen
Inhalt seien folgende Kapitel erwähnt : Chemische
Grundgesetze — Atom- und Molekulartheorie —
chemische h'ormeln — unorganische Naturstoffe
und ihre Herstellung (Salpeter, Pottasche, Soda,
Ammoniak, Mineralfarbstoffe, Edelsteine) — or-
ganische Stoffe und ihre Synthese — künstliche
Herstellung organischer Naturstoffe (Pflanzenfarb-
stoffe, Arzneimittel, Riechstoffe, Kampfer, Kaut-
schuk, Eiweißstoffe). Die Aufgabe, dieses weite
Gebiet von Tatsachen aus der theoretischen und
technischen Chemie auf beschränktem Raum
„populär" zu behandeln, führt naturgemäß leicht
zu Kompromissen hinsichtlich der Art der Dar-
stellung, so daß manchmal die Klarheit des Aus-
drucks unter dem Streben nach allgemeiner
Verständlichkeit leiden muß. Beispielsweise ließe
sich die Diskussion der Begriffe ,, Stoffe", „Ver-
bindungen", ,, Elemente" usw. wohl etwas präg-
nanter geben, als es im vorliegenden Buch ge-
schehen ist. Andererseits kann man verschiedener
Ansicht darüber sein, ob die Erörterung spezieller
organischer Probleme (wie z. B. Konstitutions-
bestimmung beim Kampfer) nicht etwas über den
Rahmen eines Buches, das sich an „Leser ohne be-
sondere chemische Vorkenntnisse" wendet, hinaus-
geht. Von diesen Einwänden abgesehen, möchte
ich das Buch deshalb empfehlen, weil es dem
Leser durch zahlreiche statistische Angaben über
Produktion, Einfuhr und Ausfuhr, Preise usw. einen
guten Begriff von der volkswirtschaftlichen Be-
deutung der Chemie gibt. Günther Bugge.
Bjerrum, Dr. Niels, Die Theorie der alkali-
metrischen und azidi metrischen Ti-
trierungen. Bd. XXI der Sammlung chemi-
scher und chemisch-technischer Vorträge, heraus-
gegeben von Prof Dr. W. Herz. 128 Seiten,
mit 1 1 Textabbildungen. Stuttgart, Verlag von
F'erd. Enke.
Die analytisclie Chemie hat, hauptsächlich durch
das Verdienst Wilhelm Ostwald's, längst das
Stadium roher Empirie überwunden, und immer
mehr werden — vor allem im Unterricht — ihre
durch die Fortschritte der elektrolytischen Disso-
ziationstheorie bedingten wissenschaftlichen Grund-
lagen betont. Auch das vorliegende Buch, das
aus Vorlesungen des Verfassers an der Universität
Kopenhagen hervorgegangen ist, gehört zu den
Arbeiten, die zum Ausbau des theoretischen Ge-
bäudes der analytischen Chemie beitragen sollen.
Der Verfasser gibt zunächst eine elementare Dar-
stellung der Grundbegriffe der Titrationslehre
(Stärke von Säuren und Basen, Hydrolyse usw.),
erörtert dann die Lehre von den Indikatoren und
behandelt schließlich eingehend die eigentliche
Titrierungslehre. Einen wesentlichen Teil des
letzten Abschnittes nimmt die Frage nach der
Genauigkeit der Titrierungsmethoden ein. Bei der
großen Bedeutung, welche die Titrierungsmethoden
nicht nur für die reine Chemie, sondern auch für
die Technik haben, wird eine Klarlegung ihrer
Theorien wie die vorliegende sicher zahlreiche
Leser finden. Günther Bugge.
Gebhardt, Paul, Mit der Kamera aufReisen.
Ed. Liesegang's Verlag, M. Eger, Leipzig. Mit
38 Abb., Belichtungstabelle usw. — 2,50 Mk.,
geb. 3 Mk.
Das Buch ist mit großer Sorgfalt bearbeitet
und kann unseren Lesern zur bevorstehenden Reise-
zeit warm empfohlen werden ; auch die speziellen
Zwecke des naturwissenschaftlichen Photographen
sind kurz berücksichtigt. Zum ersten Male sind hier
die Zollverhältnisse und Photographieverbote aller
Länder zusammengestellt; es wird hierdurch eine
oft empfundene Lücke der photographischen Lite-
ratur ausgefüllt. Gustav Blunck.
Rinne, F., Gesteinskunde. Für Studierende
der Naturwissenschaft, F"orstkunde und Land-
wirtschaft, Bauingenieure, Architekten und Berg-
ingenieure. 4., vollständig durciigearbeitete Auf-
lage. Leipzig, Max Jaenecke, 1914. 4", 336 S.,
I Tafel (Titelbild), 451 Abb. im Text. — Preis
geb. 14 Mk.
Ein Buch, welches sich, wie die Rinne'sche
Gesteinskunde in so vieler Hinsicht, nicht nur für
N. F. Xm. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
591
den Gebrauch des Studierenden, sondern auch den
der Lehrenden bewährt hat, wird mit jeder neuen
Auflage um so freudiger bcgriißt, wenn man beim
Durchblättern derselben überall die bessernde I land
des Autors verspürt, welche hier Zusätze machte,
dort die Darstellung im Interesse einer wissen-
schaftlichen V^ertiefung erweiterte und den Fort-
schritten der modernen Wissenschaft anpaßte.
Ein solches Buch bedarf keiner besonderen Empfeh-
lung; und es mag hier nur darauf hingewiesen sein,
in welcher Weise der Verf die Darstellung er-
weitert hat. In der Überzeugung, daß die weiter-
gehende Anwendung der physikalischen Chemie
von Nutzen sei, sind einfache Lehren dieser Wissen-
schaft noch mehr als früher vielen Betrachtungen
zugrunde gelegt, was besonders der Erkenntnis
der Bildung der Ausscheidungssedimente, der Salze,
zugute kommt. Umgekehrt aber fuhren die Er-
fahrungen, welche die Wissenschaft bei der che-
misch-physikalischen Lhitersuchung der Verhältnisse
dieser Gesteine machen konnte, zu einem besseren
Verständnis der Erscheinungen der Eruptivgesteine.
Ein gleiches Verhältnis besteht übrigens zwischen
der modernen, ebenfalls auf der physikalischen
Chemie beruhenden IWelallographie und Eruptiv-
gesteinskunde; und wir finden dementsiirechend
im Anschluß an die Eruptivgesteine eine sehr
klare Darstellung über die Meteoriten. Sehr lesens-
wert ist auch das Kapitel über die Entstehung
der kristallinen Schiefer, in welchem die neuesten
Erkenntnisse auf dem Gebiete des Gesteinsmeta-
morphismus Berücksichtigung fanden.
Nach alledem wird es nicht ausbleiben, daß
das Buch sich seine alten Freunde bewahrt und
neue hinzugewinnt, zumal auch die zahlreichen
Abbildungen, ohne die ein solches Buch nicht
denkbar wäre, auf bewährter Höhe stehen.
Der Vorzug, welcher im nachstehenden Referat
der W einschenk'schen Gesteinskunde nach-
gerühmt wurde, die glückliche Art der Gliederung
des Stoffes, gilt ebenso für das Rinne' sehe Buch.
K. Andree.
Die Lieferung 164 der geologisch - agrono-
mischen Karte von Preußen und benachbarten
Bundesstaaten umfaßt mit den Blättern Barby,
Zerbst, Aken, Wulfen und Cöthen einen Teil des
Herzogtums Anhalt und der Provinz Sachsen.
Die auf den Blättern vertretenen Formationen
sind Culm (?) bei Paschleben (Blatt Cöthen), Rot-
liegendes und Zechstein, auf dessen Kupferschiefer
früher mehrfach vergeblich ein Abbau versucht
worden ist. Von der Trias tritt nur der untere
Buntsandstein zutage, während IVIuschelkalk nörd-
lich von Cöthen erbohrt worden ist. Die Braun-
kohle, auf deren eocänes Alter v. Linstow zu-
erst hingewiesen hat, ist auf mehreren Blättern
verbreitet, im Norden bei Pömmelte von Unter-
oligocän, weiter südlich von mitteloligocänem
Septarienton bedeckt, der hier weit verbreitet ist.
Vom Oberoligocän ist das Eisensteinvorkonmien
von Brambach a. Elbe von Interesse.
Das Diluvium ist nach Ansicht des Verfassers
auf beiden Seiten der Elbe der zweiten Vereisung
zuzurechnen, abgesehen vom Löß, der während
der letzten Eiszeit abgelagert wurde. Fossilien
sind in letzterem an keiner Stelle gefunden
worden.
Weinschenk, E., Grundzüge der Gesteins-
kunde, I. Teil. Allgemeine Gesteinskunde
als Grundlage der Geologie. Dritte, verbesserte
Auflage. IWit isSTextfig. und 6 Tafeln, gr. 8".
(XII u. .274 S.) Freiburg i. Br. 1913, Herder'sche
Verlagshandlung. — Preis geh. G,6o IVIk., in
Leinw. geb. 7,30 Mk.
Nach mehr als zweijähriger Pause ist die dritte
Auflage der „Allgemeinen Gesteinskunde" in einem
um über 2 Bogen und eine entsprechende Anzahl
von Abbildungen erweiterten L^nfange erschienen.
In manchen Teilen hat eine Neugruppierung des
Stoffes stattgefunden. Bei dem raschen I-'ortschritt
der Wissenschaft in bezug auf die Kenntnis der
Verwitterungsvorgänge und Metamorphosen haben
besonders die mit diesen sich beschähigenden
Kapitel eine durchgreifende Neugestaltung erfahren.
Weinschenk's ,, Allgemeine Gesteinskunde
als Grundlage der Geologie" ist ein recht brauch-
bares Buch und wohl imstande, die Lücke auszu-
füllen, welche unsere Lehrbücher der Geologie in
dieser Beziehung bisher leider darbieten, eine Tat-
sache , die der Bedeutung der modernen Fetro-
graphie für die Geologie in keiner Weise mehr
entspricht. Besonders hingewiesen sei noch auf
die didaktisch glückliche und der Reihenfolge des
geologischen Geschehens gut entsprechende Anord-
nung des Stoffes, ein Vorzug, welcher nicht allen
Lehrbüchern der Geologie zukommt.
K. Andree.
Haberlandt, Ludwig, Das Herz flimmern.
Seine Entstehung und Beziehung zu den Herz-
nerven. Nach einem am 6. F'ebruar 1914 in
der wissenschaftlichen Ärztegesellschaft in Inns-
bruck gehaltenen Vortrag. Sammlung anato-
mischer und physiologischer Vorträge und Auf-
sätze, herausgegeben von Prof Dr. E. Gaupp
und Prof Dr. W. Trendelenburg. Heft 26
(3 Bd. Heft 2). Jena 1914, Gustav Fischer. ■ —
Preis 40 Pf
Unter Herzflimmern (Delirium cordis) versteht
man jene Koordinationsstörung der Herztätigkeit,
bei der nicht nur das Zusammenarbeiten der ein-
zelnen Herzteile gestört ist, sondern auch die
Elemente des gleichen Herzteils nicht gemeinsam
miteinander arbeiten, indem die einzelnen Muskel-
bündel sich ungleichzeitig kontrahieren.
Haberlandt erörtert die verschiedenen An-
sichten, die man bezüglich der Ursache der nicht
seilen zum Tode führenden Affektion gehabt hat.
Sie wurde in der Zerstörung eines ,,K.oordinations-
zentrums" , in einer Anämie des Herzmuskels in
kombinierter Reizung des Nervus vagus accelerans
gesehen. Unter letztgenannter Bedingung konnten
592
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 37
Rothberger und Winterberg das llerzflimmern
auch experimentell hervorrufen. Sie weisen auch
darauf hin, daß die kombinierte Nervenreizung
wohl auch die klinischen Fälle von plötzlichem
Herztod durch starken Schreck erklären dürfte,
wobei durch die .Sektion keinerlei pathologisch-
anatomische Veränderung nachweisbar ist.
Haberland t sagt am Schluß seiner Be-
trachtungen : „Danach würde sich also das Mimmer-
phänomen als Ausdruck der Interferenz zahlreicher,
dissoziierter extrasystolischer Kontraktionen der
einzelnen Muskelbündel auffassen lassen, die bei
spontanem Fortdauern der Erscheinung nach be-
endigter Reizung durch automatische Reize her-
vorgerufen werden , deren Entstehungsort im
atrioventrikulären Verbindungssystem und seinen
Verzweigungen gelegen sein dürfte."
Kathariner.
Nachrichten ans der wissenschaftlichen Welt.
Das Treub-Laboratorium in Buitenzorg auf J.-iva. Der
botanische Garten, den die Holländer vor rund hundert
Jahren auf der schönsten ihrer überseeischen Besitzungen, auf
der Insel Java angelegt haben, ist mit der Zeit nicht nur zum
reichhaltigsten Pllanzengarten der Tropen geworden, sondern
er zeichnet sich vor allem auch dadurch aus, dafi in den mit
ihm vereinigten Laboratorien eine ganz ausgezeichnete Arbeits-
gelegenheit gcschafl'en worden war, die es auch dem
Physiologen, Morphologen und Anatomen ei möglichte, die
reichen Schätze des großen Gartens wissenschaftlich auszubeuten.
Diese Annehmlichkeit haben im Laufe der Jahre auch, oder
man könnte fast sagen in erster Linie, eine staUliche Reihe
deutscher Botaniker genossen und ich glaube, daß wohl nie-
mand von ihnen die Insel ohne ein aufrichtiges Gefühl des
Dankes für die stete und mit der größten Bereitwilligkeit ge-
währte Hilfe der Verwaltung und dem der Hochachtung für
den idealen Sinn der Niederländischen Regierung verlassen
hat, die in der sorgsamen und opferwilligen Pflege ihres
's,, Lands Plantentuin" an der Spitze aller Nationen mit über-
seeischen Kolonien steht. Zur Aufnahme der fremden Forscher
diente das sogenannte Fremdcnlaboratorium, das von Melchior
Treub gegründet wurde, dem im Jahre 1910 verstorbenen
bedeutenden Direktor des Gartens und des bis dahin mit ihm
vereinigten De|iartement van Landbouw. Um das .Andenken
dieses außerordentlichen Mannes zu ehren, hat man bald
nach seinem Hinscheiden den Plan gefaßt, den fremden
Forschern ein neues größeres Heim zu schaffen. Dieses neue,
geräumige Laboratorium ist nun vor kurzem fertig geworden,
Ende Mai dieses Jahres eingeweiht und auf den Namen
,, Treub-Laboratorium" getauft worden. Das Gebäude liegt
an einer der schönsten Stellen des Gartens und hat eine 3g m
lange Front. Aus dem Vorraum, den bald eine Marmorbüste
Treub 's zieren wird, gelangt man zunächst in die Bibliothek,
in der eine Hand- und Treub 's wissenschaftliche Bücherei
aufgestellt ist. Das übrige Gebäude ist dann in drei Teile
geteilt, in den großen .\rbeitsraum, das physiologische Dunkel-
zimmer und das Laboratorium des Leiters. Der Arbeitssaal
wird auf beiden Seiten durch drei große Fenster beleuchtet;
die Arbeitsplätze sind durch Zwischenwände voneinander
getrennt. .\ußerdem sind noch ein Raum für spezielle Unter-
suchungen, eine photographische Dunkelkanmier, Magazine für
Glas und Chemikalien vorhanden, sowie auf der Rückseite
eine große oflene Halle. Hinter dem Laboratorium ist ein
geräumiges Versuchsfeld mit einem Glashause angelegt. Leiter
dieses Laboratoriums ist Herr Dr. F. C. von Faber, der vor
seiner Ijbersiedelung nach Java längere Zeit in Deutschland
tätig gewesen ist. M.
Die diesjährige Versammlung deutscher Naturfosrcher
und Ärzte wird wegen des Krieges ausfallen, wie das in
früheren Kriegs- und Epidemiejahren auch der Fall war. Eine
diesbezügliche Bekanntmachung im Reichsanzeiger ist bereits
erfolgt.
Mit 250 Abbild.
Fischer. Geb.
Experimentelle
Literatur.
Br ohmer, Dr. P., Fauna von Deutschland. Ein Be-
stimmungsbuch unserer einheimischen Tierwelt. Unter Mit-
wirkung verschiedener Gelehrter herausgegeben von Dr. P.
Brohmer. Mit 912 Abbild, im Text und auf Tafeln. Leipzig
'14, (Quelle und Meyer. Geb. 5 Mk.
Abel, I >., Die vorzeitlichen Säugetiere,
im Text und 2 Tabellen. Jena '14, G.
9,50 Mk.
Sammlung Göschen : Elektrochemie 11.
Elektrochemie, Meßmethoden, Leitfähigkeit, Lösungen von Dr.
H. Danneel. Mit 26 Figuren und mehreren Tafeln. 2. .'\uflage.
— Algebraische Kurven. Neue Bearbeitung von Prof. Dr.
H. Wieleilner. I. Teil: Gestaltliche Verhältnisse. Mit 97
Figuren. Geb. je 90 Pf.
France, R. H., Spaziergänge durch den Hausgarten.
Mit 24 Text und Vollbildern. Leipzig '14, Th Thomas. I Mk.
Wissenschaft und Bildung. Band 12S: Arznei- und
Genußmittel, ihre .Segnungen und Gefahren von Prof. Dr.
Fr. Müller. Band 125: Über Stoffwechsel und Diät von
Gesunden und Kranken von Prof. Dr. C. A. Ewald. Leipzig
'14, Quelle und Meyer. Geb. je 1,25 Mk.
S c h m e i 1 , Prof. Dr. O. und Jost Fitschen, Flora von
Deutschland. Ein Hilfsbucb zum Bestimmen der zwischen
den deutschen Meeren und den Alpen wildwachsenden und
angeb.auten Pflanzen. Mit 1000 Abbild. 15. Auflage (unver-
änderter Abdruck der 13. Aufl.) Leipzig '14, Quelle und
Meyer. Geb. 3,80 Mk.
Michaelis, Prof. Dr. L., Wasserstoffionen-Konzentra-
tion. Mit 41 Textfiguren. Berlin '14, J. Springer. Geb. 8,80 Mk.
Bubnow, Prof. Dr. N., .\rithmctische Selbstiindigkeit
der europäischen Kultur. Aus dem Russischen übersetzt von
Joseph Lezius. Berlin '14, R. Friedländer. 10 Mk.
Knauer, Prof. Dr. Fr., Der Zoologische Garten. Ent-
wicklungsgang, .Anlage und Betrieb unserer Tiergärten und
deren erziehliche, belehrende und wissenschaftliche .Aufgaben.
Mit 122 Abbild. Leipzig '14, Th. Thomas.
Mayer, Prof. Dr. P., Einführung in die Mikroskopie.
Mit 28 Textfiguren. Berlin '14, J. Springer. Geb. 4,80 Mk.
Lieb mann, Dr. Willy, Die Beziehungen der Früchte
und Samen zur Tierwelt. Leipzig '14, Quelle und Meyer. So l'f.
Inhalts Hansen: Goethe's naturwissenschaftliche Sammlungen im Neubau des Goethehauses zu Weimar. Nachtsheim;
Sind die Mitochondrien Vererbungsträger? Wolf; Dutten und Riechen. — Einzelberichte: Jacobacci: Ein neues
Zeugnis zugunsten der Statolithentheorie. Boveri und Herbst: Die Bedeutung des Mengenverhältnisses mütterlicher
und väterlicher Substanzen für die Vererbung. Wulf; Einfadenelektrometer. K; arm in: Über die Ursachen vulkani-
scher Ausbrüche. — Kleinere Mitteilungen: Schloeßmann: Die Wiederanheilung einer fast vollständig abgeschnit-
tenen Hand. — Bücherbesprechungen: v. Schumacher: Die Individualität der Zelle. Fuchs; Anleitung zum Be-
stimmen der Mineralien. Franke: Die Umrisse der Kristallflächcn und die .Anfertigung von Kristallmodellen. Rüst:
Grundlehren der Chemie und Wege zur künstlichen Herstellung von Naturstoffen. Bjerrum: Die Theorie der alkali-
metrischen und azidimetrisehen Titrierungen. Gebhardt: Mit Kamera auf Reisen. Rinne; Gesteinskunde. Die
Lieferung 164 der geologisch-agronomischen Karte von Preußen und benachbarten Bundesstaaten. Weinschenk;
Grundzüge der Gesteinskunde. Haberlandt; Das Herzflimmern. — Nachrichten aus der wissenschaftlichen Welt. —
Literatur : Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. M i e h e in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 2g. Band.
Sonntag, den 20. September 1914.
Nummer 38.
[Nachdruck verboten,]
Unsere Vorstellungen von dem Kreislaufprozeß
des Wassers, insbesondere von dem Wasserhaushalt
der Erde, sind im letzten Jahrzehnt durch die Ar-
beiten von hervorragenden IVIeteorologen, wie von
Hann, Hellmann, Woeikoff, und durch die
scharfsinnigen Deduktionen von Geographen, wie
Brückner, Meinard us, Penck, Supan
wesentlich klarer geworden. In allerneuester Zeit
hat Keller,') Direktor der Preußischen Landes-
anstalt für Gewässerkunde, welcher sich schon
früher erfolgreich mit diesen Problemen beschäftigt
hat, die Bilanz des Wasserhaushaltes der Erde
aufs neue geprüft und dabei einige neue Ge-
sichtspunkte aufgestellt, welche wohl geeignet sind,
neues Licht auf dieses noch immer der Erhellung
sehr bedürftige Kapitel zu werfen , obgleich ich
durchaus nicht der Überzeugung bin, als ob nun
alle Schwierigkeiten dieser recht spröden Materie
überwunden wären.
Die eigentliche Kernfrage, um welche es sich
hier handelt, betriftt den Austausch des Festland-
wassers in seinen verschiedenen Erscheinungsformen
in flüssigem, festem und dampfförmigem Zustand mit
dem Ozeanwasser. Ersteres steht in Menge ganz
außerordentlich hinter letzterem zurück. In einem
Aufsatz über den „Wasservorrat der Erde" -) be-
rechnete ich, daß das sogenannte Süßwasser im
allergünstigsten P'alle kaum 4 Promille des Ozean-
volumens ausmacht, wahrscheinlich aber noch
erheblich weniger, und daß von den VVasservorräten
der festen Erde die in den Eismengen des ant-
arktischen Kontinents enthaltenen sicherlich weit-
aus die größten seien.
Trotzdem wird der arme Bruder vom reichen
im großen und ganzen doch nicht aufgefressen,
wenigstens nicht in historisch-angebbarer Zeit (s. u.),
denn sonst müßte der Spiegel des Ozeans überall
merklich gestiegen sein, es muß also ein Gleich-
gewichtszustand zwischen beiden Welten, wenn
ich mich so ausdrücken darf, existieren. Aufweiche
Weise kommunizieren nun beide miteinander?
Die festen Eismassen der arktischen Länder
Vom Wasserhaushalt der Erde.
Von Prof. Dr. W. Halbfaß in Jena.
') H. Keller, Niederschlag, Abfluß und Verdunstung in
Mitteleuropa. Jahrb. f. d. Gewässerkunde Norddcutschlands.
Besondere Mitt. Bd. I, Nr. 4. Berlin 1906. Derselbe: Ur-
sprung und Verbleib des Festland -Niederschlags ; ebenda
Bd. I!, Nr. 7. Berlin 1914. Örtliche und zeitliche Beziehun-
gen zwischen Niederschlag, Abiluß und Verdunstung der Fluß-
gebiete (Zenlralblatt der Bauverwaltung Jahrg. 34, Nr, 39.
Berlin, I6. Mai 1914); vgl. auch Keller's Aufsatz: W^asser-
haushalt und Wasserwirtschaft, Festrede gehalten am 22. März
1914 io der öffentl. Sitzung der kgl. Akademie des Bauwesens,
abgedruckt ebenda Nr. 24, 1914.
■-) Zeitschrift für die gesamte Wasserwirtschaft Jahrg. VIII, 9
Halle 1913.
und des antarktischen Kontinents werden nach
einfachen mechanischen Gesetzen nach und nach
in den Ozean hinabgedrückt, in dem sie langsam
aufgelöst werden und in tiefere Breitengrade ver-
frachtet werden; ein großer Teil dieser festen
Wassermassen verdimstet nicht und wird ohne Zweifel
geradeso von den arktischen und antarktischen
Gletschern kondensiert, wie dies in den Gletschern
der Gebirge im Innern der Kontinente geschieht und
bereits rechnerisch z. B. im Rhonegebiet nachge-
wiesen werden konnte. Meinardus') hat das jährlich
ins Meer hinausgeschobene Inlandeisvolumen der
Antarktika zu 640 cbkm berechnet, dem ein Wasser-
volumen von rund 550 cbkm entspricht. Dieses
Volumen bezeichnet ungefähr den jährlichen
Überschuß des Niederschlags über die Verdunstung
innerhalb der vereisten Landschaften der Ant-
arktika, die Meinardus auf 13 — 14 Million qkm
veranschlagt, so daß die Abflußhöhe also rund
40 mm beträgt. Gegenüber den mindestens
30000 cbkm (s. u.), welche die hauptsächlichsten
Flüsse der Erde jährlich dem Ozean zuführen,
kommt dieser Umschlag nicht recht in Betracht.
Der Austausch zwischen Ozean und Festland voll-
zieht sich in den arktischen Gegenden jedenfalls
nur sehr langsam und hält sich in mäßigen Grenzen.
Unnötig zu betonen, daß der Kreislauf des Wassers
in den vereisten Gebieten sowohl im Innern der
Kontinente wie in den arktischen Gegenden sich
nur mit Hilfe des atmosphärischen Wasserdamjjfes
vollziehen kann.
Das Wasser der Seen ohne oberflächlichen
Abfluß versickert teilweise unterirdisch und ver-
mehrt das Grundwasser, teiweise verdunstet es
und kann bei geeigneten Luftströmungen zum
Ozean gelangen, um dort wieder kondensiert zu
werden, dasjenige der Seen mit oberflächlichem
Abfluß wird teils direkt durch die Flüsse mit dem
Ozeanwasser vereinigt, teils verdunstet es und
kann auf dem Lande zur Kondensation ge-
langen; Die Flüsse bringen einen großen Teil ihres
Wasserreichtums ohnehin auf dem einfachsten
Wege dem Ozean zum Opfer. Auch das in der
obersten Erdrinde aufgespeicherte Boden- oder
Grundwasser steht ohne allen Zweifel wenigstens
an manchen Orten der Erde direkt mit dem
Ozean in Verbindung, teils kommt es in Gestalt
von Quellen wieder auf dem festen Land an die
Oberfläche, kann abfließen oder verdunsten. Der-
jenige Bestandteil des Landwassers endlich, der in
') Über den Wasserhaushalt der .Antarktis. Sitzungsbcr.
der mediz.-naturw. Gesellschaft zu Münster i. W. 1910, abge-
druckt in der Met. Zeitschr. Juniheft 1911.
594
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 38
Form von Wasserdampf jedesmal über dem Festland
lagert, wird ohnehin bei günstigen Windverhältnissen
ohne weiteres dem Meer zugeführt und unter ge-
eigneten Umständen daselbst kondensiert. Die
zahlreichen Kommunikationswege des Süßwassers
beschränken sich, was gleich hier besonders betont
werden soll, keineswegs auf die sog. peripherischen
Gebiete, d. h. diejenigen mit oberflächlichem
Abfluß, sondern umfassen auch auf die scheinbar
abflußlosen Gebiete. Es ist ein Verdienst Kellers
hierauf besonders hingewiesen zu haben. In um-
gekehrter Richtung steht dem Ozeanwasser nach
dem Kontinent zu in der Hauptsache nur Ein
Weg offen, derjenige durch die Luft, und auch dieser
wird ihm je nach der Bodenkonfiguration des
Landes oder der Luftdruckverteilung häufig genug
erheblich erschwert. Daß trotzdem ein so reich-
licher Übertritt von Wasserdampf vom Ozean zum
Festland erfolgt, ist sowohl in der viel größeren
Ausdehnung des Ozeans gegenüber dem Kontinent
als auch in seiner weit stärkeren Verdunstung be-
gründet. Ein kleiner Teil des Ozeanwassers dringt
aber auch jedenfalls direkt in die Erdrinde ein
und vermehrt ihr Bodenwasser, nur sind wir bisher
über den direkten Verkehr zwischen Ozean und
Grundwasser sehr wenig orientiert und können nur
aus gewissen Vorkommnissen den sicheren Schluß
ziehen, daß er überhaupt existiert.
Eine außerordentlich wichtige Rolle im Wasser-
haushalt spielt also der in Form von Wasser-
dampf aufgespeicherte Wasservorrat und die
Frage, wieweit daran das Meer und das Festland
beteiligt ist. Meinardus^) hat diesen Wasser-
gehalt auf Grund der von Arrhenius angegebe-
nen Mittelwerte der Luftfeuchtigkeit in den ver-
schiedenen Breitengraden auf 12300 cbkm be-
rechnet und wenn selbstverständlich diese Zahl
nur als eine Annäherung an den wahren Betrag
dieser an und für sich schon schwankenden Größe
angesehen werden darf, so dürfte doch wohl der
Fehler kaum 10 — 15 "/o dieses Betrages erreichen,
so daß man wohl annehmen könne, daß er ungefähr
den 40. Teil der jährlichen Niederschlagsmenge
der gesamten Erde beträgt. Der Austausch zwi-
schen Kondensation und Verdunstung geschieht
also im großen und ganzen innerhalb 9 Tagen,
eine außerordentlich sehr kurze Zeit , wenn man
sie mit den langen Zeiträumen vergleicht, die ver-
gehen , bis ein Wasserteilchen des Ozeans im
Durchschnitt zur Verdunstung gelangt. Der
Aufenthalt des Wasserdampfes in den unteren
Schichten der Atmosphäre ist aber sehr wahr-
scheinlich noch erheblich geringer als die oben
angegebene Zeit.
Zur Entscheidung der Frage, wieviel nun von
den auf die feste Erde gelangenden Niederschlägen
dem Ozean und wieviel von der Verdunstung des
Festlandes stammt, eine Frage, die praktisch wohl
die wichtigste im Wasserhaushalt der Erde ist.
ist es notwendig, auf die verschiedene Verteilung
der Niederschläge und der Verdunstung auf dem
Ozean und dem Festlande hinzuweisen. Der
Austausch zwischen Verdunstung und Konden-
sation ist unstreitig auf dem Meer energischer
wie über dem Festlande. Brückner (s. u.) hatte
die jährliche Verdunstungsmenge auf dem Ozean
zu 384000cbkm berechnet, die neueren Messungen,
besonders die von Lütgens'') haben aber er-
geben, daß sie wahrscheinlich um ^j^ größer und
mindestens zu 450000 cbkm veranschlagt werden
dürfen. Die Verdunstungsmenge auf dem festen
Lande wird im Mhtel auf 81000— 82 oco cbkm
angenommen. Diese Zahl ergibt sich, wenn man
von der durchschnittlichen jährlichen Niederschlags-
menge diejenige Wassermenge abzieht, welche die
Flüsse dem Meere zutragen. Letztere Menge be-
läuft sich auf Grund von Messungen in 52 Fluß-
gebieten, welche zusammen 28 "/„ des Kontinents
ausmachen, nach Fritzsche auf 31000 cbbm.
Die jährliche Niederschlagsmenge auf dem Fest-
lande beträgt bei einer durchschnittlichen Regen-
höhe von jährlich 75 cm etwa Ii2000cbkm, wo-
raus eben durch Subtraktion jene Zahl für die
Verdunstungsmenge sich ergibt. Danach ist die
Verdunstung auf dem Meere gleichmäßig auf das-
selbe verteilt, auf derselben Fläche etwas mehr
als doppelt so groß wie auf dem festen Lande.
Auf Grund der damals bekannten Messungen
über die Abflußhöhen sprach Brückner in
seinem ersten Vortrag die Überzeugung aus, daß
wahrscheinlich -,'3, sicher mehr als die Hälfte des
Landregens aus Wasserdampf entsteht, welcher
den Landflächen entstammt. In einem Vortrag,
den derselbe am 31. Januar 1905 am Institut für
Meereskunde zu Berlin hielt, ^) kommt er zu dem
Ergebnis, daß sogar volle '^l^ des gesamten Regen-
falls der peripherischen Landflächen, d. h. der
Teile des festen Landes, die oberflächlichen Abfluß
besitzen, durch die eigene Verdunstung des Fest-
landes gedeckt werden. Spätere Berechnungen,
die sich auf neuere Zusammenstellungen des Be-
obachtungsmaterials durch Fritzsche stützen,
ergaben, daß der durchschnittliche Regenfall auf
den zum Meer abwässernden Landflächen um etwa
'Ib geringer sein muß, als Brückner angenom-
men hatte, dem entsprechend auch die Land-
verdunstung nicht unerheblich geringer ist, daß
aber der oberflächliche Landabfluß nicht unbe-
deutend höher erscheint. Aber auch abgesehen
davon, daß ein vervollkommnetes Beobachtungs-
material natürlich auch genauere Zahlenwerte er-
■) Über den Kreislauf des Wassers. Sitzungsber. des
Naturf. Vereins Klicinland-Weslfalen. Bonn 1909.
') Ober die Herkunft des Regens. Verh. d. 7. Internat.
Geographen-Kongresses Berlin 1899. Teil II, S. 412 ff. Ab-
gediuckt ist dieser Vortrag auch in der Geogr. Zeitschr. Bd. VI,
1900, S. 89 ff.
-) Ergebnisse einer ozeanographischen Forschungsreise
in dem Atlantischen und dem südöstlichen Stillen Ozean.
Archiv der deutschen Seewarte XXXIV. Jahrg., 191 1, Nr. I.
Hamburg 1911.
ä) Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. IV, Nr. 26, Jena 1905;
ausführlicher hat Brückner das Thema in der Geogr. Zeit-
schrift Bd. XI, Leipzig 1905, S. 436 ff. behandelt.
N. F. Xm. Nr. 38
Natuiwisscnschaftliche Wochenschrift.
595
geben muß, und örtlich wie zeitlich sich außer-
ordentlich große Abweichungen von der für den
Durchschnitt aufgestellten Bilanz sich ergeben
haben, haben sich gegen die von Brückner auf-
gestellte Bilanz des Wasserkreislaufes auf der Erde
noch nach anderen Richtungen prinzipielle Be-
denken geltend gemacht. Das eine betrifft seine
Annahme, daß nur so viel Wasserdampf vom Meer
auf das Land gebracht wird, wie durch die Flüsse
dem Meer wieder zugeführt wird, das andere seine
Voraussetzung, daß die abflußlosen Gebiete der
Erde, die von dem gesamten P'estlande immerhin
etwas mehr als 20 ° ^ ausmachen, von dem all-
gemeinen Kreislauf des Wassers ausgeschaltet sein
sollen.
Meinard US hat wohl zuerst nachdrücklich
darauf hingewiesen, daß die jährlichen Abfluß-
mengen der Flüsse durchaus nicht die einzigen
Wassermengen darstellen, welche dem Fesilande
in flüssiger Form geraubt und ins Meer überführt
werden, sondern daß in Form von Wasserdampf
eine weitere beträchtliche Menge diesen Weg geht.
Es kommen hier zunächst die abflußlosen Gebiete
in Betracht, deren Niederschlagsmenge auf minde-
stens 10 000 cbkm veranschlagt werden muß. Nimmt
man nun an, daß etwa nur "5 von ihnen von
Meereszufuhr herstammt, so ergeben sich minde-
stens 2000 cbkm. Aus den peripherischen Ge-
bieten tritt mindestens das Doppelte davon als
Wasserdampf wieder zum Meer zurück, von dem
es gekommen ist. Die jährliche Meereszufuhr
kann demnach auf rund 37000 cbkm angenommen
werden. Dabei wird von den Wassermengen, die
auf unterirdischem Wege zirkulieren, und von
den Wassermengen , die im festen Zustand vom
Kontinent in den Ozean gelangen, nur deswegen
abgesehen, weil wir bisher noch keine rechte Vor-
stellung über ihre Größe haben. Daß sie mit
einem gewissen Gewicht in die Bilanz des Kreis-
laufprozesses des Wassers eingestellt werden
müssen, unterliegt keinem Zweifel, und daher sind
auch alle Zahlen , die das Größenverhältnis des
Austausches der Wassermassen zwischen Ozean und
Festland darstellen wollen, bisher immer nur sehr
problematisch und cum grano salis aufzufassen.
Dieser Einwurf gilt auch gegenüber den neueren
Aufstellungen von Keller, einen wie großen
Fortschritt sie auch gegenüber früheren bedeuten
mögen. Bleiben wir nun einstweilen bei der
allein einigermaßen feststehenden Menge von
37 — 38 000 cbkm stehen, welcheim jährlichen Kreis-
lauf im Durchschnitt zwischen Meer und Konti-
nent hin- und herwandern, die also mehr als drei-
mal so groß ist als die in der Atmosphäre fest-
gehaltene Wassermenge, so versteht sich ganz
von selbst, daß von der auf den Kontinent im
Durchschnitt jährlich niederfallenden Regenmenge
ein sehr beträchtlicher Teil ozeanischen Ursprungs
sein muß. Es ist aber ganz unmöglich anzugeben,
wieviel von jedem einzelnen I-'all von den Nieder-
schlägen von Ozeandampf oder Landverdunstung
herrührt, da dieses Verhältnis zeitlich wie örtlicli
sehr großen Schwankungen unterliegt. Inwieweit
die vertikale Gliederung des Festlandes an der
verschiedenen Inanspruchnahme des Ozeandampfes
wie den Niederschlägen des Festlandes beteiligt
sind, darüber gibt H a n n ' s groß angelegtes Lehr-
buch der Klimatologie einigermaßen ausreichend
Bescheid. Keller hat in seiner zweiten Ab-
handlung (1914) auf Grund des neuesten Be-
obachtungsmaterials die bei Hann niedergelegten
Resultate zu vervollkommnen gesucht; er gibt aber
selbst zu , daß sich eine Karte, auf welcher die
Bezirke der Meereszufuhr auf dem Festland ein-
gezeichnet werden könnten, bisher noch nicht
konstruierbar ist und daß seine darauf bezüglichen
Ausführungen noch sehr der Ergänzung bedürfen.
Soviel scheintschon heute festzustehen, daß klimatisch
Afrika in der Hauptsache eine Provinz des Indischen
Ozeans, Europa und Amerika des Atlantischen
Ozeans ist, während in Asien sich beide Einfluß-
sphären ungefähr das Gleichgewicht zu halten
scheinen und der Stille Ozean eigentlich nur für
den australischen Kontinent in Betracht kommt.
Ein weiteres großes Verdienst hat sich Keller
durch exakte Berechnungen darüber erworben, in-
wieweit die Temperaturverhältnisse eines Gebietes
für die Ursprungsquelle der Niederschläge eine
ausschlaggebende Rolle spielen.
Schon in seiner ersten Abhandlung (Berlin 1906)
war Keller zu dem Resultat gekommen, daß für
die Flußgebiete der Memel, Pregel, Weichsel, Oder,
Elbe, Weser, Ems, Teile von Rhein und Donau,
also ein Gebiet, welches Deutschland, Westrußland,
Österreich und der Schweiz bis zum Hauptkamm
der Alpen umfaßt und ca. 834 OGO qkni groß ist,
im Winterhalbjahr der Anteil an den Nieder-
schlägen , welche durch Kondensation des vom
Meer her einem Flußgebiete zugeführten Wasser-
dampfes entsteht, größer ist als der Anteil, der
durch Kondensation des im Lande verdunsteten
Wasserdampfes erzeugt wird, während im Sommer-
halbjahr das Umgekehrte der Fall ist. Weitere
Untersuchungen, welche sich auf den Abflußkoeffi-
zienten einer größeren Anzahl über die ganze
Erde verbreiteten Stromsysteme bezogen, ergaben,
daß sowohl die Aufnahmefähigkeit der Luft für Feuch-
tigkeit, die Kondensation und die Verdunstung des
Wasserdampfes wesentlich in erster Linie von der
Höhe der Lufttemperatur abhängen. Um zunächst
einmal einen allgemeinen Überschlag über die
Einflußzonen der Lufttemperatur zu gewinnen,
unterscheidet Keller neuerdings (19 14) drei
klimatische Hauptgruppen.
I. Tro p e ngebiet e mit durchschnittlich 24"
Mitteltemperatur, 2. gemäßigte warme Fluß-
gebiete mit durchschnitthch 10" Mitteltemperatur
und 3. kalte F'luß gebiete mit durchschnittlich
etwa 1,6" Mitteltemperatur. Selbstverständlich hat
die Abgrenzung dieser drei Arten klimatischer Fluß-
gebiete sehr viel Willkürliches an sicli, sie richtet
sich eben nach dem vorhandenen Beobachtungs-
material, das sich auf 70 I'"lüsse verteilt, deren Strom-
gebiet ungefähr 28''/u der Festlandfläche der Erde um-
596
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 38
faßt. Man ersieht schon daraus, daß alle Schluß-
folgerungen, die Keller daraus zieht, nicht im
entferntesten exakt sein können und es auch gar
nicht sein wollen, daß es sich vielmehr lediglich
um skizzenhafte Darstellung handelt , welche
wenigstens vorläufig die Grundlage der Erörterung
bilden können, bevor uns eben bessere und um-
fassendere Beobachtungen zur Verfügung stehen.
Gegenüber der bekannten Zusammenstellung
Fritzsche's von 52 Flußgebieten,^) welche üb-
rigensKeller für 28 Flußgebiete ohne weiteres, für
10 andere mit geringen Abänderungen benützt
hat, bedeutet die Kelle r'sche Zusammenfassung be-
sonders deshalb einen wichtigen Fortschritt , als
sie namentlich auch ein Anzahl kalter und tropischer
Flußgebiete einbeziehen konnte, über welche früher
noch nichts Näheres bekannt war.
Indem für jedes einzelne Flußgebiet graphisch
festgestellt wurde, welcher Teil der mittleren
Niederschlagshöhe zum Abfluß kommt, ist Keller
in die Lage versetzt, die Hauptlinien der Meeres-
zufuhr für jedes der behandelten Flußgebiete zu
zeichnen.
Weil die Zunahme der Meereszufuhr natrgemäß
auf das Maß der Landverdunstung günstig ein-
wirkt, — weil ja diese indirekt doch wieder auf
jene zurückgeführt werden muß, so muß bei
steigender Niederschlagshöhe die Meereszufuhr
einen immer größer werdenden Prozentsatz ein-
nehmen, bis eine Grenze erreicht ist, von der ab
das weitere Wachsen des Niederschlags nur noch
von der zunehmenden Meereszufuhr abhängt,
während die Verdunstung von der festen Landfläche
aus einen sich gleich bleibenden konstanten
Wert ergibt. Für kalte Flußgebiete ist die Grenze
18, für gemäßigte warme 55 und für Tropengebiete
iio cm. Der gesamte jährliche Niederschlag
dieser Gebiete beträgt im Durchschnitt 36 bzw.
85 bzw. 185 cm. So kommen z.B. beiden gemäßigt
warmen Flußgebieten bei einem mittleren Nieder-
schlag von 90 cm 55 cm auf die Meereszufuhr,
35 cm auf die Landverdunstung, bei einem mittleren
Niederschlag von 60 cm dagegen 1 2 auf die Meeres-
zufuhr, 48 cm auf die Landverdunstung. Es ist
ohne weiteres klar, daß jene Grenzzahlen sich nur
auf die Durchschnitsleistungen beziehen, von
freien Wasserflächen und auch von Landflächen
wird unter besonders günstigen Bedingungen die
Verdunstung auch erheblich größer sein können.
Weicht die Mitteltemperatur eines Flußgebietes
von den oben mitgeteilten Grenzfällen erheblich
ab, so weicht auch seine Abflußquote und damit
auch der Anteil der Meereszufuhr erheblich von
jenen Mittelzahlen ab; dies ist unter den aufge-
führten Flußsystemen z. B. mit dem La Plata der
Fall, dessen Gebiet größtenteils den Tropen an-
gehört, während seine mittlere Temperatur nur etwa
17 — 18" beträgt, also erheblich geringer ist als
sonst für Tropengebiete angenommen ist.
') R. Frilzsche, Niederschlag, Abfluß und Verdunstung
auf den Landfläclien der Erde. Halle a. S. 1906.
Für kalte Flußgebiete ist dies Abflußverhältnis
ausnahmslos hoch, am niedrigsten bei der Piirteen-
wirta (Pinnland) 50, am höchsten beim Skianfluß
84. Für gemäßigt warme Flußgebiete schwankt
das Verhältnis zwischen Murray (11) und Rhein
(73), bleibt aber meist unter 50 %. Die größten
Extreme kamen dagegen in den Tropengebieten
vor, denn während beim San Carlos in Mittel-
amerika das Verhältnis 75 ist, sinkt es beim Nil
auf 4,2 "/„ , ein ganz abnormes Verhalten, wovon
noch weiter unten die Rede sein wird. Zu ähn-
lichen Resultaten ist auch Oldekop*) gekom-
men. Er sagt, daß es für jedes Flußgebiet mit
genügend großen Niederschlägen eine Grenze der
Landverdunstung gibt, nach dessen Erreichung
das weitere Wachsen des Niederschlags nur noch
von der Zunahme der Meereszufuhr abhängt. Er
unterscheidet weiter 2 Typen von Plußgebieten,
solche, in denen die jährliche Verdunstung weit
geringer ist als das mögliche Maximum der Ver-
dunstung unter den gegebenen klimatischen Ver-
hältnissen und solche, bei dem die wirkliche Ver-
dunstung das Maximum völlig oder wenigstens
nahezu erreicht. Nach den von ihm beige-
brachten Beispielen entsprechen den erstgenannten
P^lußgebieten die gemäßigt warmen, den an zweiter
Stelle genannten die kalten Flußgebiete Keller's,
während Oldekop auf die tropischen Plußgebiete
bei seiner Auseinandersetzung keine Rücksicht zu
nehmen scheint. Alle Zahlenangaben über die
Bildung des Wasserhaushaltes auf der Erde wer-
den aber so lange immer in der Luft schweben,
als wir über die Beziehungen des Grundwassers
zum Ozeanwasser, die ja schon vorhanden sind
(s. o.), wenn sie auch in einem früheren Zustand
der Erde innigere gewesen sein mögen, und über
die Herkunft und Mengen des Grundwassers über-
haupt noch so gut wie gänzlich im Dunkeln
tappen. Namentlich macht sich diese Unkenntnis
für die Wasserbilanz der abflußlosen Gebiete der
Subtropen geltend und es ist als ein glücklicher
Umstand zu bezeichnen, daß die ausgiebigen
Versuche einer künstlichen Bewässerung dieser
Gegenden gegründete Aussicht bieten , unsere
grundlegenden Kenntnisse des Verlaufes und der
Menge des Grundwassers auf einen höheren
Standpunkt zu heben. Energisch tritt Keller
der Anschauung Brückner's entgegen, als
nälimen die abflußlosen Gebiete an der allgemei-
nen Zirkulation des Wassers auf der Erde nicht
teil. Die Abflußlosigkeit eines Gebietes bedeutet
nach Keller keineswegs irgendeinen Grenzfall
im Kreislaufprozeß, sie hängt keineswegs mit
einem Mindestmaß der Niederschläge allein zu-
sammen, sondern ist in der Hauptsache die Wir-
kung bestimmter Windrichtungen, welche die Ein-
fuhr ozeanischen Wasserdampfes zu gewissen
Jahreszeiten auf ein Minimum herabdrücken, also
') Verdunstung an Flußgebieten. Sammlung von Arbeiten,
ausgeführt von Studenten am Met. Observatorium der K. Uni-
versität zu Jurjew (Dorpat), redigiert von Prof. Dr. B. Sres-
newski, Bd. IV. Jurjew 1911.
N. F. XIII. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
597
wesentlich eine Funktion der Luftdruckverteilung.
Der Austausch zwischen Ozean und Festland ge-
schieht in abflußlosen Gebieten eben nicht durch
oberflächlichen Abfluß, sondern durch Verdunstung
mit Vermittlung der Atmosphäre.
So besteht in dem zum Hinzugsgebiet des ab-
flußlosen Kaspisces gehörigen Wolgagebiet etwa
',\j der Niederschlagshöhe aus Meereszufuhr, die
wohl zum bei weitem größten Teil aus dem At-
lantischen Ozean stammt, und dasselbe ist sicher
mehr oder weniger bei allen Zuflüssen des Kaspi-
sees der Fall.
Wie wenig es darauf ankommt, ob ein Gebiet
seinen Überschuß an Feuchtigkeit durch ober-
flächlichen Abfluß, oder in Form von Wasser-
dampf abgibt, erkennt man leicht, wenn man sich
einen Augenblick überlegt, wodurch denn der
Wasserhaushalt der vielen kleinen abflußlosen
Seen im Gebiet der ballischen Seenplatte in
Nordostdeutschland, z. B. auch der Endmoränen-
zug, der Hinterpommern und Westpreußen trennt,
von denen ihrer Nachbarn untersclieidet, die
einen obei flächlichen Abfluß besitzen. Beide
vergrößern bei starken Niederschlägen ihre Spiegel-
fläche und verkleinern sie bei anhaltender Dürre,
gespeist werden sie in beiden Fällen in gleicher
Weise durch Meereszufuhr und Landverdunstung,
da die klimatischen Bedingungen für beide Arten
von Seen ja die gleichen sind. Der einzige Unter-
schied besteht darin, daß die Periode des hohen
resp. tiefen Wasserstandes bei abflußlosen Seen
eine längere, die Amplitude der Wasserstands-
schwankungen eine intensivere ist, als bei Seen
mit Abfluß. Der Unterschied in den Niveauflächen
ist aber in den seltensten Fällen so groß, daß
etwa bei hohem Wasserstand eine erheblichere
Landverdunstung — im Gegensatz zur Meeres-
zufuhr — Platz greifen kann, als bei niedrigem
Wasserstand. Der Austausch zwischen Kontinent
und Ozean ist langsamer in abflußlosen Gebieten
als in Gebieten mit Abfluß. Das ist eigentlich
der einzige klimatische Unterschied, so außer-
ordentlich tief eingehend wirtschaftliche Folgen
diese Verlangsamung auch haben mag. Nicht
Probleme des Wasserhaushaltes der Erde, sondern
der morphologischen Beschaffenheit ihrer Ober-
fläche und der petrographischen ihrer obersten
Rinde beherrschen das Gebiet der Abflußlosigkeit.
Nur bei ganz großen abflußlosen Seen, wie
beim Kaspisee, mögen sich Ereignisse abspielen,
welche scheinbar einen Ausnahmezustand dar-
stellen. So empfangen, worauf auch Keller auf-
merksam macht, die im Süden dieses Sees ge-
legenen fruchtbaren persischen Provinzen am Nord-
abhang des Eibursgebirges ihre Feuchtigkeit ohne
Zweifel in erster Linie von den Verdunstungsmengen
jenes Riesensees, während er selbst in der Haupt-
sache von seinen nördlichen und westlichen Zu-
flüssen gespeist wird. Hier liegt also die Sache
so: Der Kaspisee empfängt ozeanische Wasser-
dämpfe indirekt durch seine westlichen und nörd-
lichen Zuflüsse, gibt einen Teil seines Über-
schusses an seine südliche .Umgebung ab, wäh-
rend Zu- und Abfuhr in entgegengesetzter Rich-
tung unbedeutend sind. Wir haben hier also so-
zusagen einen etwas verwickelten Kreislauf 2. Ord-
nung vor uns, der eben, wenn auch nicht in diesem
Umfang und dieser Regelmäßigkeit, sich fast
überall auf der Erde abspielt und auch das Kaspi-
seegebiet nimmt sicherlich, wenn auch mit be-
deutenden Umwegen und erheblichem Zeitverlust,
am großen Kreislauf des Wassers vom Meere
zum Festland und zurück ins Meer ebensogut
teil wie andere Landschaften der Erde.
Zuletzt müssen wir uns noch etwas mit den
natürlichen Reserven an Wasservorräten beschäf-
tigen, welche dem Festland zur Verfügung stehen
für solche Zeiten, in denen der große Bruder
Ozean uns nicht genug von seinem Überfluß ab-
geben will, sondern zu streiken droht. Daß feuch-
tere Zeiten mit trockneren wechseln steht ohne
allen Zweifel fest. Ob dieser Wechsel in Perioden
auftritt, die etwa, wie dies Brückner wahr-
scheinlich zu machen sucht, für die ganze Erde
einen Zeitraum von 35 Jahren oder für die ver-
schiedenen Gebiete der Erde einen verschiedenen
Zeitraum umfassen, zu welcher Anschauung ich
mich persönlich bekenne, wollen wir hier uner-
örtert lassen, auch nicht die l<"ragc anschneiden,
ob etwa die Erde seit der Beendigung der Eiszeit
in einem ununterbrochenen Austrocknungsprozeß
begriffen ist, welche erst jüngst Leo Berg in
einer ausgezeichneten Arbeit *) entschieden zu
verneinen versucht hat.
Schickt uns der Ozean eine den Durchsclinitt
erheblich überragende Portion Wasserdampf über
den Hals, so vermag das feste Land diesen Über-
schuß in drei Sparkassen, wie sich Keller
hübsch ausdrückt, anzulegen. Bei durchweg
günstiger, d. h. kühler, Witterung kann es ihn
aufspeichern in P'orm von Schnee und Eis auf
unseren Gebirgen , besonders aber in den Polar-
gebieten. Einen weiteren Teil bringt sie mühelos
in ihrer obersten Rinde als Grund- oder Boden-
wasser unter und endlich vermögen unsere Seen,
sowohl die abflußlosen wie auch diejenigen, welche
einen Oberflächenabfluß besitzen, einen nicht un-
beträchtlichen Teil des Ozeansegens in sich auf-
zunehmen , sofern er sich nur nicht zu plötzlich
und zu ausgiebig ergießt. Tritt nämlich letzterer
Umstand ein, so nützt uns die P'reigebigkeit des
Ozeans wenig, denn er füllt damit nur seine
eigenen Taschen; die Erdrinde kann den Über-
schuß nicht mehr fassen, sondern gibt ihn in
Gestalt von Quellen und Flüssen sehr bald dem
Ozean sogar mit Zinsen wieder zurück und die
bis zu einer gewissen Höhe angefüllten Seen ver-
stärken bei weiterer Zufuhr nur die Abflußmengen
der P'lüsse, die sich mit dem Ozean vermähjen.
Aber selbst unter günstigen Umständen ver-
^) Das Problem der Klimaänderung in geschichtlicher
Zeit. Geogr. Abhandlungen herausg. von l'rof. Dr. A. Penck
in Berlin. Bd. X, Heft 2. Leipzig und Berlin 1914.
59«
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 38
mögen diese Sparkassen, falls die Wiederauffiillung
vom Ozean her zu stocken droht, nur verhältnis-
mäßig kurze Zeit mit ihrem Überschuß das
Manko in der Bilanz des Kreislaufes des Wassers
zu decken. Gewöhnlich macht man sich von dem
Fassungsvermögen der Festlandsvorratskammern
ozeanischer Zufuhr eine sehr übertriebene Vor-
stellung. In meiner S. 593 zitierten Arbeit über
den gesamten Wasservorrat der Erde habe ich
die Menge des in der Erdrinde zirkulierenden
Grundwassers in günstigem Falle auf etwa das
Doppelte bis Dreifache der jährlichen Niederschlags-
menge, also auf 250000 cbkm, geschätzt. Das ist
nur etwa 6-7 mal mehr als der im Durchschnitt jähr-
lich dem Festlande zugeführte ozeanische Wasser-
dampf. Ebensoviel Wasser, d. h. eine Viertel
Million cbkm, fassen etwa die Binnenseen der Erde
zusammen genommen. Dieses Volumen kann aber
keineswegs als Reservoir für solche Zeiten be-
trachtet werden, in denen der Ozean zu streiken
droht, denn der größte Teil dieser Masse fheßt
nicht ab, sondern muß als stehendes Gewässer
betrachtet werden. Das eigentliche Retentions-
vermögen der Binnenseen beträgt höchstens so
viel als der Ozean jährlich im Durchschnitt
Wasserdampf an den Kontinent abgibt. Diese
beiden Sparkassen können also weder ein großes
Kapital aufnehmen, noch auch infolgedessen in
Notstandszeiten wieder abgeben. Beträchtlicher
ist immerhin das Reservekapital an Ozeandampf,
das in den Eismassen der arktischen Gegenden
aufgespeichert ist und eventuell zur Verfügung
steht. Ich habe es auf Grund der Angaben von
Heß und Meinardus im ganzen auf etwa
4 Miil. cbkm Eis entsprechend 3 V2 Mill. cbkm Wasser
geschätzt, also eine Menge, welche etwa das
Hundertfache der durchschnittlichen jährlichen
Ozeanfracht beträgt. Man darf aber über dieser
erfreulichen Aussicht nicht vergessen, daß der
Austausch zwischen diesen Eismassen und dem
Ozean sich in der Hauptsache auf ein isoliertes
Gebiet beschränkt, das mit der übrigen Ökumene
nur in sehr losem Zusammenhange steht. Bleibt
als letztes noch die Schneemengen, welche teils
dauernd, teils während der kühleren Jahreszeit
einen nicht unbeträchtlichen Teil des festen Lan-
des bedecken. Nehmen wir an, daß dies etwa
'/^ der Landfläche sei, so erhalten wir, eine durch-
schnitdiche Schneedecke von 25 cm gerechnet,
für die ganze Erde noch nicht 1000 cbkm Schnee
und setzen wir den durchschnittlichen Wasserwert
des Schnees zu 0,25, so repräsentiert die Schnee-
decke der gesamten Erde nur den winzigen Be-
trag von 250 cbkm, das ist weniger Wasser als
der einzige Onegasee in Rußland faßt und wenig
mehr als das Doppelte des Volumens des Genfer
Sees. Und selbst, wenn wir das Zehnfache dieses
Betrages annehmen wollten, kämen wir doch nur
auf 2500 cbkm, also etwa den 14. Teil des jähr-
lichen Betriebskapitals des Ozeans. Also auch
mit den in Form von Schnee aufgespeicherten
Wasservorräten des festen Landes ist lange nicht
soviel Staat zu machen, wie man sich gewöhn-
lich einbildet.
Ein einziger Hoffnungsstrahl scheint den um
den Wasserhaushalt magerer Jahre besorgt in die
Zukunft schauenden Menschen noch zu schimmern:
Der große jüngst verstorbene Geologe Sueß hat
bekanntlich die Quellen in zwei Gruppen einge-
teilt, in solche, deren Wasser aus der Atmosphäre
stammt, die er vadose nennt, und solche, die,
wie der Wasserdampf der Vulkanausbrüche, ein
Ergebnis des allmählichen Entgasungsprozesses des
Magmas der Erde sind und juvenile genannt werden.
Nun mag man immerhin zugeben, daß alles vadose
Wasser einst juvenil war, aber die Experimente
des Genfer Apothekers B r u n i) haben es in hohem
Maße wahrscheinlich gemacht, daß es zurzeit über-
haupt gar kein juveniles Wasser mehr gibt, daß
alles Wasser in der Erdrinde vados, d. h. aus der
Atmosphäre stammt, also fiüher schon einmal an
die Erdoberfläche gekommen ist. Noch sind
diese Untersuchungen nicht abgeschlossen, weil
sie äußerst kostspielig sind, aber wir müssen mit
großer Wahrscheinlichkeit mit der leidigen Tat-
sache rechnen, daß das Erdinnere kein neues
juveniles Wasser mehr besitzt, also von sich aus
nicht in der Lage ist, den einmal \ orhandenen
Wasservorrat zu vermehren. Pessimisten sind so-
gar der Anschauung, daß sich derselbe stetig ver-
mindere (s. o.), doch wollen wir diese Frage, wie
gesagt, hier unerörtert lassen.
Es scheint also so, daß uns Menschen, wenn
wir den Wasserhaushalt der Erde zugunsten
einer geordneten Wasserwirtschaft, die in Zeiten
der Not zehren soll von den Überschüssen der
fetten Jahre, verbessern wollen , nichts anderes übrig
bleibt, als durch künstliche Maßregeln einerseits
den übermäßigen Abfluß der Flüsse in den Ozean
zu verhindern, andererseits durch Anlage von
Staudämmen und Staubecken die natürlich vor-
handenen stehenden Gewässer zu vergrößern und
ihre Zahl zu vermehren. Die zweckmäßigste Ein-
richtung aber aller wasserwirtschaftlichen Maß-
regeln, welche der Mensch in seinem eigenen
wohlverstandenen Interesse ergreift, können nur
getroffen werden auf Grund einer immer mehr in
die Tiefe gehenden Kenntnis von dem wirklichen
Wasserhaushalt der Erde, von dessen völliger Be-
herrschung wir noch weit entfernt sind. Aber
alle die erwähnten Arbeiten, vor allem auch die
von Keller, haben ihr Scherflein dazu beige-
tragen, uns diesem endgültigen Ziele mehr und
mehr zu nähern.
1) Recherches sur rexlialation volcaniquc. Genf und
Paris 191 1.
N. F. Xlll. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
599
[ Nachdruck verboten.
Stoßioiiisatiou.
Sammclreferat von Dr. Bräuer, Lichtenberg.
Freie Elektronen haben die Fähigkeit, wenn
sie mit genügend großer Geschwindigkeit auf ein
neutrales Molekül auf[>rallen, von diesem ein anderes
Elektron, also ein masseloses Elektrizitätsatom, ab-
zuspalten; die Masse des Moleküls bleibt dabei
natürlich mit dem entsprechenden Betrage positiver
Elektrizität geladen als positives Ion zurück. Läßt
man z. B. Kathodenstrahlcn, die ja nichts anderes
sind als ein Strom rasch fliegender Elektronen,
durch ein dünnes Aluminiumblättchen, ein sog.
Lcnard'sches Fenster, aus dem Entladungsrohre,
in dem sie erzeugt wurden, in die Atmosphäre
austreten, so wird die Luft in der Umgebung des
Fensters stark leitend; ebenso ionisieren (^-Strahlen
des Radiums jedes Gas, in das sie eindringen, sehr
stark. Da diese Ionisation gewissermaßen durch
Stoß erfolgt, nennt man sie Stoßionisation, ob-
wohl der Vorgang ein rein elektrischer sein muß
und wohl mehr Ähnlichkeit mit einem kurz-
dauernden Induklionsvorgange hat als mit einem
Massenstoße hat.
Man ist nun in der Lage, wie aus den unten
beschriebenen Versuchen hervorgeht, die Be-
dingungen, unter denen Stoßionisation eintritt, mit
einer für Molekülvorgänge sehr großen Genauigkeit
zu ermitteln und damit ohne erhebliche hj'pothetischc
Voraussetzungen eine der wesentlichsten und inter-
essantesten Eigenschaften der Materie messend
zu verfolgen. Die wesentlichen Versuche in dieser
Richtung sind von J. Frank und G. Hertz am
Berliner Physikalischen Universitätsinstitut ausge-
führt worden.
Das Prinzip der Messungen ist das folgende :
Man erzeugt Elektronen mit möglichst geringer
Anfangsgeschwindigkeit, entweder, indem man sie
durch ultrariolettes Licht aus einer Metallfläche
auslöst, oder durch einen glühenden Platindraht,
der ja bekanntlich spontan Elektronen geringer
Geschwindigkeit aussendet. Das letztere Verfahren
wurde von Frank und Hertz angewandt. Der
Glühdraht war von einem zylindrischen Draht-
netze umgeben und zwischen Glühdraht und Netz
wurde ein elektrisches Feld erzeugt, das die Elek-
tronen beschleunigte und sie mit einer Geschwindig-
keit, welche aus dem Potentialabfalle im Felde
ohne weiteres bekannt war, wenn keine Geschwin-
digkeitsverluste eintraten, durch die Maschen des
Netzes hindurchtrieb.
Da der Glühdraht elektrisch geheizt wurde,
lag zwischen seinen beiden Enden der durch den
Ohmschen Wiederstaud erzeugte Potentialunter-
schied, und das P'eld gegen das Drahtnetz war
um diesen Betrag nicht gleichmäßig. Es gelang
aber diesen Potentialabfall so niedrig zu halten,
daß die gewonnenen Kurven nur unwesentlich ab-
geflacht wurden.
Die das Netz durchfliegenden Elektronen ge-
langten in ein zweites elektrisches Feld, erzeugt
zwischen dem Drahtnetze und einem äußeren
Metallzylinder, welches dem inneren Felde ent-
gegengesetzt gerichtet war, die Elektronen also
abbremste. War das Gesamtgefälle des zweiten
F'eldes größer als das des ersten, so gelangte selbst-
verständlich kein Elektron bis auf den Außenzylinder.
Je schwächer das äußere Feld im Verhältnis zu
dem inneren gemacht wurde, desto mehr Elek-
tronen kamen durch, je nach dem Geschwindig-
keitsverluste, den sie auf ihrem Wege erfahren
hatten. War der Verlust Null, so schnellte der
Strom zwischen Netz und Außenzylinder, sowie
das äußere F'eld im geringsten das innere unter-
schritt, von Null auf seinen höchsten Wert empor.
Ging aber schon bei stärkerem Außenfelde ein
Strom zwischen Zylinder und Netz über, so war
das das Anzeichen, daß Stoßionisation stattfand, daß
also positive Ionen gebildet wurden, die soweit
sie sich auf der Außenseite des Drahtnetzes be-
fanden, das Feld natürlich auf den Außenzylinder
trieb.
Durch Variieren des äußeren und inneren Feldes
war man also in der Lage, zu verfolgen,
1. welchen Teil ihrer kinetischen Energie die
Elektronen beim Aufprallen auf die Moleküle des
den Apparat erfüllenden Gases verlieren, oder mit
anderen Worten, inwieweit diese Zusammenstöße
elastisch resp. unelastisch verlaufen,
2. wie sich dieser Energieverlust mit der Ge-
schwindigkeit des stoßenden Elektrons ändert,
3. bei welcher Geschwindigkeit der Stoß eine
Zertrümmerung des getroffenen Moleküls, also
Stoßionisation, zur Folge haben kann,
4. bei welchem Bruchteil der mit genügender
Geschwindigkeit erfolgenden Zusammenstöße nun
auch wirklich Stoßionisation eintritt,
5. mit welchem Energieverlust für das Elektron
eine solche Stoßionisation verknüpft ist.
Diese Fragen sind noch keineswegs alle in
vollem Umfange beantwortet. Aber die Beobach-
tungen geben doch schon ein in den Grundzügen
geklärtes Bild der Vorgänge, wenn auch über den
Mechanismus eines Elektronenstoßes noch recht
wenig ausgesagt werden kann.
Nun die Ergebnisse, zunächst bei Feldern, die
nicht stark genug sind, um ein Elektron zur Stoß-
ionisation zu befähigen : War der Apparat gefüllt mit
Wasserstoff, so ergab sich ein allmähliches An-
steigen des im äußeren Kondensator fließenden
Stromes, wenn die verzögernde Spannung immer
kleiner gemacht wurde im Verhältnis zu der be-
schleunigenden Spannung des inneren Feldes.
Das heißt, die Elektronen traten mit sehr ver-
schiedenen Geschwindigkeiten durch das Drahtnetz,
sie hatten also Energie beim Auftreffen auf die
Gasmoleküle verloren. Verdeutlicht wurde dieses
Resultat noch dadurch, daß die Zahl der bis zum
Außenzylinder durchgelangenden Elektronen, also
der gemessene Strom, mit steigendem Gasdrucke, also
bei Vermehrung der Zusammenstöße abnahm.
6oo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 38
Sauerstoff ließ überhaupt nur bei sehr kleinen
Drucken einen Strom entstehen. 0.,,CI, Br, I, und
ähnliche Gase besitzen nämlich hohe „Affinität
zum Elektron", sie lagern die Elektronen ihren
Molekülen an und bilden schwere negative Ionen,
die entsjjrechend starke Reibung der Gase erfahren.
Ganz anders war das P>gebnis, wenn Edelgase,
He, Ar, Ne, auch äußerst reiner Stickstoff und
Metalldämpfe die Kondensatoren füllten. Jetzt stieg
nämlich der Strom, sowie die verzögernde Spannung
auch nur wenig die beschleunigende unterschritt,
rasch an, und die Auswertung der Beobachtungen
ergab keinen nachweisbaren Energieverlust. Die
Elektronen werden also von den Molekülen der
elektropositiven Gase beim Zusammenstoß elastisch
reflektiert — solange ihre Geschwindigkeit nicht
den kritischen, zur Stoßionisation befähigenden
Wert überschreitet. Diese Reflexion ist auch direkt
von Frank und Hertz verfolgt worden, indem
die seitwärts abfliegenden Elektronen aufgefangen
und ihre Zahl und Geschwindigkeit gemessen
wurden. Auch diese Versuche geben als einfachste
Deutung völlig elastische Stöße bei den Edelgasen,
bei Hj merkliche Energieverluste, z. T. auch An-
lagerung, bei O.^ wohl ausschließlich Anlagerung
des Elektrons an das neutrale Molekül.
Der scharfe Unterschied zwischen den Gasen,
Sauerstoff, Chlor usw. und Wasserstoff einerseits,
den Edelgasen und Metalldämpfcn andrerseits ist
auch dann ausgeprägt, wenn das stoßende Elektron
die zum Ionisieren befähigende Geschwindigkeit
besitzt. Die elektronegativen Gase sind im all-
gemeinen leichter zu ionisieren als die Edelgase.
Drückt man die Geschwindigkeit des Elektrons
durch das T'eld aus, welches es frei durchlaufen
haben müßte, um diese Geschwindigkeit zu er-
halten, so beträgt die lonisierungsgesch windigkeit für
Volt Molekülradius, cm
He 20,5 o,g ■10-'*
Ne 16, 1,1
Ar 12 1,35
H.2 II 1,09
O2 9 1.36
N., ^ 7,5 1,48
In der Tabelle ist der gaskinetisch gewonnene
Molekülradius zugefügt. Sein Parallelgehen mit
der lonisierungsspannung ist recht interessant.
Der Moment , in dem das innere Feld die
lonisierungsspannung überschreitet, macht sich nun
aber nicht etwa in einem Anwachsen des Stromes
bemerkbar, sondern in einem völligen Ver-
schwinden eines Elektrizitätstransportes
selbst bei sehr schwachem Gegenfelde. Zunächst
ist dabei zu beachten, daß die erzeugten positiven
Ionen ja ganz überwiegend dem Einflüsse des
inneren Feldes unterliegen, also nach dem Glüh-
drahtc zurückgetrieben werden. Sie bewirken also
keinen Strom. Daß aber auch die Elektronen,
mögen sie nun ionisiert haben oder nicht, auch
nicht mehr gegen das schwächste Feld im Außen-
kondensator anzulaufen vermögen, beweist, daß sie
allesamt bei einem mit mehr als lonisationsge-
schvvindigkeit erfolgenden Zusammenstoß ihre ge-
samte Energie abgeben. Diese abgegebene Energie
dient nun in einigen F'ällen dazu, ein anders Elektron
aus dem Molekülverbande herauszuschlagen, in
anderen tritt sie als Strahlung auf
Diese merkwürdige Tatsache , daß in einem
Edelgase ein stoßendes Elektron , das geringere
als lonisierungsenergie besitzt ohne Energieabgabe
reflektiert wird, daß es aber seine gesamte
Energie verliert, sowie diese einen ganz bestimmten
Wert erreicht hat, ohne Rücksicht darauf, ob der
lonisationsvorgang eintritt oder nicht, deutet natürlich
sofort auf einen Zusammenhang mit anderen un-
stetigen quantenhaften Energieübertragungen, wie
sie die Theorie der Strahlung fordert, hin. Nach
ihr soll ja bekanntlich eine Strahlung erst dann
eintreten, wenn das schwingende Gebilde die Energie
eines Wirkungsquantums = h- )' (h Konstante, v
Eigenschwingungszahl) besitzt. Die Energie eines
,, unelastisch" stoßenden Elektrons ist aus den
Messungen bekannt, und es liegt nahe, unter v die
Eigenschwingung des gestoßenen Moleküls zu
verstehen. Von dieser Überlegung ausgehend, be-
stimmten Frank und Hertz die lonisierungs-
energie in Ouecksilberdampf. Das Molekühl des
(Juecksilberdampfes hat ja eine typische Eigen-
schwingung bei 253,6 |((/( (vgl. das Sanmiclreferat
über Resonanzstrahlung in Heft 16 d. Ztschr. 1914)
und außerdem zeigt Hg-Dampf ganz das Ver-
halten eines Edelgases. Bei den Messungen wurde
das verzögernde Feld konstant gehalten, und zwar
war sein Gefälle niedriger als die lonisierungs-
spannung. Es wurde dann der durch den Außen-
kondensator fließende Strom als F"unktion des
beschleunigenden Innenfeldes festgestellt. Die
Messungen ergaben als Kurven dargestellt äußerst
saubere Wellenlinien, deren Maxium um 4,9 Volt
voneinander abstanden. Das ist folgendermaßen
zu erklären: Solange das beschleunigende Feld
schwächer ist als das verzögernde, kommen über-
haupt keine Elektronen auf den Auffangezylinder.
Bei weitcrem Steigen des Innenfeldes zeigt sich
ein wachsender Strom, der in dem Moment, wo
die lonisierungsspannung erreicht wird und die
Elektronen alle bei einem Stoße in der Nähe des
Drahtnetzes auf Null abgebremst werden, von
einem Maximalwerte auf o fällt. Dann wächst
der Strom wieder, bis die Elektronen ein zweites
IMal ionisieren können, wobei sie wieder sämtlich
ihre ganze Energie abgeben und der Strom ver-
schwindet. Es ließ sich eine ganze Reihe solcher
Maxima erhalten, denn, wie angegeben, ergab sich
die lonisierungsspannung zu 4,9 Volt, also niedriger
als bei den möglichen störenden Verunreinigungen.
(Die gleichen Kurven fielen bei Helium weit
weniger schön aus, denn bei der hohen lonisierungs-
energie dieses Gases (20,5 Volt) wurde natürlich
jedes fremde Molekül leichter zertrümmert als die
Heliummoleküle}. Nun wurde dieser Wert 4,9 Volt
gleich h-v und v gleich der zur Wellenlänge 253,6
/(;« gehörigen Schwingungszahl gesetzt. Es ergab
sich h zu 6,59- lO""^' erg sec ± 2"!^, während aus
N. F. XIII. Nr. 38
Naturwissenschaftliche VVochcnsclirift.
( lO I
dem Strahlungsgesetze h = 6,62-io~-' folgt, also Quarzspektrograph diese Lienie und nur diese
eine glänzende Übereinstininiung. Linie als Strahlung des von Elektronen getroffenen
Um diesem schönen Resultate die volle Re- Quecksilberdampfes auf. Man kann sagen, daß
deutung zu geben, wurde nun versucht, ob sich hier zum ersten Male direkt durch das Experiment
diese Strahlung von 253,6 fift nicht auch optisch eine quantenhafte Energieübertragung nacho-e-
nachweiscn ließe. Und tatsachlich zeichnete der wiesen ist.
Einzelberichte.
Botanik. Der Antagonismus der Salze und
seine Bedeutung für den Pflanzenbau. Man ver-
steht bekanntlich unter Antagonismus der Salze
die Eigenschaft von Mineralsalzen die giftige Wir-
kung anderer Salze herabzusetzen oder aufzuheben.
Für tierische Organismen sind zuerst von Jac-
ques Loeb, für Pflanzen von Osterh out phy-
siologisch ausgeglichene Lösungen solcher Salze
hergestellt worden, d. h. Lösungen, in denen die
Salze in solchem Verhältnis vorhanden sind, daß
sie die giftige Wirkung aufheben, die ihre Bestand-
teile für sich allein ausüben würden. Natürliche
Lösungen dieser Art sind das Seewasser und das
Blut. Chas. B. Lipman von der Universität in
Kalifornien, dem wir bereits eine Reihe interessanter
Untersuchungen über diesen Gegenstand verdanken,
hat neuerdings die Bedeutung studiert, die der
Antagonismus der Salze im Erdboden für die
höheren Pflanzen und für die Bodenbakterien hat.
Da sich herausgestellt hatte, daß die mit Wasser-
kulturen erhaltenen Ergebnisse sich meist nicht
auf Bodenkulturen anwenden lassen, so führte
Lipman seine Versuche mit Alkalisalzen in
Bodenkulturen aus. Durch die Untersuchung
sollte auch festgestellt werden, ob ein Antagonis-
mus zwischen den Anionen bestehe. Dieser Punkt
war von besonderem Interesse, da in gewissen
Böden, in denen sich das Alkali in schädlichem
Maße angehäuft hat, vorzüglich verschiedene
Natriumsalze eine Rolle spielen und die Moffnung
bestand, durch genauere Kenntnis der antagonisti-
schen Beziehungen eine Waffe in dem Kampfe
um die Wiedergewinnung solcher Alkaliböden zu
erlangen. Demgemäß wurden Topfkulturen von
Gerste unter Verwendung verschiedener Böden
und einer großen Zahl verschiedener Kombina-
tionen von Chlornatrium, Natriumsulfat und Na-
triumkarbonat angesetzt. Der Einfluß der Salze
wurde gemessen an dem größeren oder geringeren
Trockengewicht der geernteten Gerstenpflanzen.
Es zeigte sich deutlich, daß die geernteten Pflan-
zen ein beträchtlich geringeres Trockengewicht
hatten, wenn z. B. der Boden nur 0,25 "/„ Chlor-
natrium enthielt, als wenn ihm außerdem noch
0,12 '7(, Natriumkarbonat zugesetzt waren. Kom-
binationen von Natriumkarbonat und Natrium-
sulfat ließen gleichfalls, wenigstens in Konzen-
trationen von einer gewissen Stärke, antagonisti-
sche Wirkung hervortreten. Da das Kation in
allen Fällen das gleiche ist, so ergibt sich, daß
ein Antagonismus zwischen den Anionen besteht.
Lipman prüfte aber auch den Antagonismus
zwischen Kationen durch Kulturversuche, in denen
dem Boden verschiedene Mengen von Natrium-
sulfat und Kalksulfat zugesetzt wurden. Wurde
Kalksulfat zu einer giftigen Menge Natriumsulfat
gefügt, so zeigte sich eine ausgesprochene Besse-
rung des Bodenzustandes für die Gerstenkultur,
vorausgesetzt, daß das zugesetzte antagonistische
Salz in genügender Menge verwendet wurde, wäh-
rend kleine Mengen von Kalksulfat eher die toxi-
sche Wirkung des Natriumsulfats verstärkten.
Diese Versuche lassen, wie Verf. glaubt, die
Möglichkeit erkennen, der giftigen Wirkung von
Alkalisalzen in Böden entgegenzuwirken.
Angesichts der Bedeutung der Bakterienflora
des Bodens für das Wachstum der höheren Pflanzen
zog Lipman auch sie in Betracht, indem er
untersuchte, wie die Tätigkeit der ammonifizieren-
den und der nitrifizierenden Bakterien durch die
Salze beeinflußt würde. Frühere Versuche hatten
gezeigt , daß 0,2 % Chlornatrium und 0,9 "/„ Na-
triumsulfat (jedes für sich) auf die ammonifizieren-
den Bakterien eines leichten kalifornischen Sand-
bodens toxisch wirkten. Bei Anwesenheit von
0,2 "/„ Chlornatrium in einer Bodenkultur wurden
beispielsweise 30,73 mg Ammoniak gebildet. Ent-
hielt der Boden aber außer 0,2 " „ Chlornatrium
noch 0,3 "/o Natriumsulfat, so wurden 37,10 mg
Ammoniak-Stickstoff erzeugt. Bei Hinzufügung
von 0,7 % Natriumkarbonat zu derselben giftigen
Menge Chlornatrium verdreifachte sich die er-
zeugte Menge Ammoniakstickstoff gegenüber der-
jenigen Menge, die in dem nur Chlornatrium ent-
haltenden Boden gebildet wurde. Eine Boden-
kultur mit der toxischen Menge Natriumsulfat
(0.9 "(o) ergab nur 28,59 mg Ammoniakstickstofi";
wurden aber 0,6 "/„ Natriumkarbonat hinzugefügt,
so bildeten sich 45,38 mg Ammoniakstickstoff.
Auch für die nitrifizierenden Bakterien wurde
eine ausgesprochene Besserung festgestellt beim
Zufügen eines toxischen Alkalisalzes zu einem
anderen. Z. B. vermehrte der Zusatz von 0,05 "/„
Natriumsulfat zu einer Bodenkultur, die 0,2 %
Chlornatrium enthielt, das Nitrifikationsvermögen
desselben Bodens um 40 "/„, und die Erhöhung
dauerte fort selbst bei Anwendung größerer
Mengen von Natriumsulfat (bis 0,15 %). 0,05 "/o
Natriumkarbonat waren entschiedenen toxisch ; aber
wenn 0,1 "/„ Natriumsulfat hinzugefügt wurden,
stieg das Nitrifikationsvermögen um 35 "'q. Wurde
Natriumsulfat in giftiger Konzentration, z. B. von
6o2
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. XIII. Nr. 38
0>35 "luf verwendet, so erhöhte der Zusatz von
0,05 "/(, Natriumkarbonat (gleichfalls in toxischer
Konzentration) das Nitrifikatioiisvermögen des
Bodens um annähernd 25 % über das desselben
Bodens, der nur die erwähnte Menge Natrium-
sulfat enthielt.
Auch diese Ergebnisse zeigen deutlich die
antagonistifche Wirkung von Anionen. Am stärk-
sten ist dieser Antagonismus bei den untersuchten
Natriumsalzen zwischen dem Karbonat und dem
Chlorid, weniger stark ist er zwischen dem Kar-
bonat und dem Sulfat, und am schwächsten zwi-
schen Chlorid und Sulfat. Der größte Antagonis-
mus wurde beobachtet zwischen 0,2 "/^ Chlorid
und 0,7 "/o Karbonat. Die Prozentzahlen beziehen
sich alle auf Trockengewicht des Bodens. (Proceed.
Sog. for the Promotion of Agricultural Science
1913, 8 pp. Centralbl. f. Bakt. Abt. II, Bd. 36,
191 3i P- 3^2—394). F. Moewes.
Bakteriologie. Einfluß der Schwermetallsalze
auf Ammoniiizierung und Nilrifizierung im Boden.
Im Laufe von Untersuchungen über den Einfluß
von Hüttcnabfällen auf das Wachstum des Getrei-
des haben C. B. Li p man und P. S. Burgeß
auch die Einwirkung von Kupfer-, Zink-, Eisen-
und Bleisulfat auf die Umwandlung organischen
Stickstoffs im Boden in Ammoniak und Nitrat,
die den Pflanzen als Stickstofifquelle dienen, ge-
prüft. Sie fanden, daß diese Salze in allen Kon-
zentrationen, von 50 bis 2500 Gewichtsteilen in
I MiU. Gewichtsteilen des trocknen Bodens, auf
die ammonifizicrende Bakterienflora eines Sand-
bodens von Südkalifornien giftig wirkten. Doch
ist die Giftwirkung verhältnismäßig gering und
in Konzentrationen unter 0,1 "/^ zumeist mehr aus-
gesprochen als darüber. Eine stimulierende Wir-
kung üben die erwähnten Metalle in keiner Kon-
zentration auf die ammonifizicrende Flora aus.
Wohl aber ist eine solche W'irkung bei der nitri-
fiziercnden P'lora zu beobachten ; sie ist häufig so
bedeutend, daß die Nitratbildung verdoppelt wird.
In sehr geringen Konzentrationen können dieselben
Metalle auf die nitrifizierenden Organismen eine
giftige oder gar keine Wirkung ausüben. Die
stimulierende Wirkung war noch sehr ausgesprochen
bei einer Konzentration von 0,15 "/(,, der höchsten
hierbei verwendeten Konzentration (davon machte
nur Bleisulfat eine Ausnahme).
Daß zwischen dem Verhalten der nitrifizieren-
den und der ammonifizierenden Bodenflora, von
denen die eine hinsichtlich ihres Rohmaterials ver-
mutlich von der anderen abhängig ist, eine so
große Verschiedenheit besteht, ist überraschend
und schwer erklärlich. Im ganzen bewirken die
Schwermetallsalze eine Erhöhung des Nitratgehalts
im Boden; denn die Ammonbildung wird höch-
stens um 30 "/(, herabgedrückt, während die Nitrat-
bildung, wie erwähnt, häufig verdoppelt wird.
Am meisten stimulierend wirkt das Kupfer, dessen
anregende Wirkung auf das Wachstum höherer
Pflanzen ja wiederholt erörtert worden ist und
z. T. damit zusammenhängen dürfte, daß Kupfer
in den Boden gelangt. Lipman und Burgeß
haben auch gefunden, daß keimende Samen und
junge Pflanzen bei Gegenwart von Kupfer eine
stärkere Wasserabsorption zeigen, und sie ver-
muten, daß dasselbe für die nitrifizierenden Bak-
terien gelte, die in physiologischer Hinsicht den
höheren Pflanzen viel mehr glichen als die übrige
Bodenflora (University of California Publications
in Agricultural Sciences 1914, Vol. I, Nr. 6, p. 127
bis 139). P. Moewcs.
Geologie. Die Entstehung von Schwarzwald
und Vogesen behandelt ein mit 13 Profilen illu-
strierter Aufsatz von Paul Keßler in den Jahres-
ber. und Mitteilungen des Oberrheinischen geolo-
gischen Vereins (N. F. Bd. 4, H. i, 1914, S. 30).
Die Forschungen der letzten Jahre haben die
Entstehungsgeschichte von Schwarzwald und Vo-
gesen im großen und ganzen geklärt. Bereits
zur präkambrischen Zeit erfolgte eine P'altung
der archäischen Sedimente und Eruptivgesteine
zu einem Gebirge, das im Oberdevon wieder ab-
getragen war. Hierauf trat eine langsame Senkung
ein, so daß zur Unterkarbonzeit das Meer ein-
dringen konnte und über der devonischen Ein-
ebnungsfläche eine Schichtfolge von mehreren
tausend Metern Sedimenten und Eruptivgesteinen
sich ausbreiten konnte. Gegen Schluß dieser
Periode setzte ein seitlicher Schub ein, wodurch ein
mächtiges Gebirge aufgetürmt wurde. Auch an
diesem jungen Gebirge wirkte während des Ober-
karbons eine kräftige Erosion, so daß die Gipfel
erniedrigt, Niederungen mit dem Schutt ausgefüllt
wurden. Bisweilen bildete sich auch ein Kohlen-
flöz. Diese Abtragungsvorgänge dauerten auch
noch während des Rotliegenden an und an seinem
Schlüsse war eine eingeebnete Landschaft vor-
handen. Da und dort erfolgten Eruptionen im
Rotliegenden — allerdings weniger bedeutend
als im Unterkarbon — , die mit denen des Saar-
Nahegebirges ungefähr zusammenfallen. Über dem
Rotliegenden, das in den obersten Teilen wohl
auch Äquivalente des Zechsteins einschließt, lagert
der Buntsandstein, im O. etwa 400 m mächtig,
gegen S. und W. langsam auskeilend. Darüber
folgen die Schichten des Muschelkalks, Keupers,
Lias, Doggers und Malms, die einschließlich des
Buntsandsteins ca. lOOOm mächtig sind. Während
dieser Zeiten befand sich unser Gebiet in lang-
samem Absinken, im N. stärker als im S. Gegen
Ende der Malmzeit trat eine Hebung über den
Meeresspiegel ein, die während der ganzen Kreide-
zeit anhielt. (Erosion!)
Im Eozän bildete sich an Stelle des jetzigen
Rheintals eine schwache von Flexuren begrenzte
Einsenkung. Im Oligozän setzte der eigentliche
Einbruch des Rheintalgrabens ein. Die mesozo-
ische Schichtentafel samt den darunter liegenden
alten Gesteinen zerbarst in einzelne Stücke. Auch
die im W. und O. gelegenen Ränder begannen
sich zu senken. Infolge der immer weiter schrei-
N. V. XIII. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
603
tenden Sent;ungsvorgäiige drang das Meer vom
Pariser Becken her in den Graben ein und schlug
eine mächtige Schichtfolge nieder. Zur Bildungs-
zeit des Septarientons im höheren Milteloligozän
erreichte das Oligozänmeer seine größte Ausdeh-
nung und war sowohl mit den Meeren im N. und
S. verbunden als auch weit über die Ränder des
Rheintalgrabcns ausgebreitet. Nach Ablagerung
des Septarientons trat eine Hebung ein. Das
Meer zog sich zurück. Es kam nun zum Absätze
von brackischen oder Süßwasserschichten. Die
Gesamtmächtigkeit des Oligozäns dürfte looo m
weit übertreffen. Wo Vogesen und Schwarzwald
heute liegen, war eine weite Fas' ebene, die auch
heute noch trefflich erhalten ist. Diese schneidet
die Schichtflächen, die stärker als die heutige
Oberfläche nach O. bzw. W. einfallen, schief ab.
Im Miozän setzten die gebirgsbildenden Vor-
gänge von neuem ein. Während früher die Ab-
senkung des Rheintalgrabens und des Ostabfalles
des Schwarzwaldes bzw. des Westabfalles der
Vogesen die Niveauunterschiede bedingten , tritt
jetzt eine gleichmäßige Hebung der beiden Ge-
birge ein. Schwarzwald und Vogesen, wie auch
Haardt und Odenwald zeigen den Aufbau von
Gewölben. Wohl im Zusammenhang mit den
tektonischen Vorgängen erwachte die eruptive
Tätigkeit wieder (Kaiserstuhl und die kleinen
Basaltvorkcnmen im Rhcintal, Schwarzwald und
den Vogesen).
In den folgenden Zeiten vom Miozän bis zur
Jetztzeit erfolgte die Herausmodellierung des
jetzigen Landschaftsbildes, vor allem der mehrere
100 m tiefen Schluchten und Täler nach dem
Rheintal zu. Am Außenrand war die Abtragung
weniger stark, doch wurde ein großer Teil der
weichen Schichten zwischen Schwarzwald und Alb
wegerodiert. Der Rhein selbst ist früher durch
die burgundische Pforte zum Rhonesystem abge-
flossen und wurde verhältnismäßig spät in seine
jetzige Richtung abgelenkt. Der Diluvialzeit ge-
hören die prächtigen Terrassen und Lößablage-
rungen im Rheintal an. Spuren der Eiszeit be-
gegnen wir in manchen Tälern. Zahlreiche Ge-
birgsseen sind durch Gletschertätigkeit entstanden.
Indessen sind manche Wasseransammlungen auch
auf moorigen Untergrund zurückzufahren.
V. Hohenstein.
Entwicklungsmechanik. Wiederholt wurde
über Erscheinungen an den unbefruchteten Eiern
von Lurchen und Vögeln berichtet, welche an die
normale Furchung des befruchteten Eies erinnern;
sie wurden als „rudimentäre natürliche Partheno-
genese^' bezeichnet
Wie aus einem Aufsatz von Lecaillon (Sur
l'existence de phenomcnes de Parthenogenese
naturelle rudimentaire chez le Crapaud commun
(Bufo vulgaris Laur). C. R. Ac. sc. Paris Nr. 25,
22 Juni 1914) hervorgeht, treten solche Erschei-
nungen in der Tat auf, haben aber mit einer
wirklichen F'urchung nichts zu tun.
Wenn man eine weibliche Kröte zur Zeit der
Eiablage aus der Umklammerung durch das
Männchen löst, sorgfältig mit Wasser und Sub-
limatlösung I : 1 000 wäscht, so fährt das
Weibchen in der Eiablage fort, die abgelegten
Eier sind aber sicher unbesamt. Ebenso kann
man von einer weiblichen Kröte, die dauernd
isoliert gehalten wurde, unbefruchtete Eier erhalten.
In derTat entwickeln sich zwar niemals Plmbryonen
aus derartigem Material. Einige Stunden nach
der Ablage jedoch zeigt das Ei auf seiner Ober-
fläche 4 — 5 nahezu parallele Furchen, die aber
nur sehr wenig tief in den Dotter einschneiden.
Bei den meisten Eiern treten daneben noch zwei
oder drei deutlichere Purchen auf, und bei einem
sehr geringen Teil der Eier außerdem solche,
welche jenen des befruchteten Eies entsprechen.
Die Oberfläche des Eies wird dann in ziemlich
zahlreiche Abschnitte geteilt. Die Furchen aber
erreichen niemals das Zentrum des Eies.
Die Furchen gleichen auffallend jenen, die nach
dem Anstich des l'roscheies zur Hervorrufung der
künstlichen Parthenogenese nach dem Battaillon-
schen\'erfahren auftreten. Letztere dürften also nicht
auf den Anstich zurückzuführen sein, da sie auch
ohne einen solchen auftreten können. Ebenso aber
stellt die Furchung des befruchteten Eies auch keine
neue Eigentümlichkeit dar, die Segmentation wird
durch die Samenzelle nur besser orientiert im
Hinblick auf einen gesicherten Verlauf der Ent-
wicklung. Kathariner.
Anatomie. Eine lebende erwachsene Doppcl-
mißbildung (Epigastrius parasiticus) beschreibt
P". Marc band (Münchener Med. Wochenschrift
Nr. 28, 14. Juli 1914). Es handelt sich um einen
30-jährigen Mann, der 1884, von italienischen Eltern
abstammend, in Buenos- Aires geboren wurde.
Seine Mutter hatte 13 Kinder; ein bei der Ge-
burt gestorbenes hatte zwei Köpfe und ein Bein-
paar.
In der Gegend des Epigastriums hängt ein
vollkommen entwickelter Körper mit 4 Extemi-
läten herab; die Bauchfläche des Parasiten ist dem
Autositen zugekehrt. Die beiden Gliedmaßen
tragen Hände und Füße. Finger und Zehen sind
entwickelt, mit je einem Nagel. Vom Skelett waren
bei der Röntgenaufnahme nur einige Knochenstücke
zu finden, die als Reste des Schulter- und Becken-
gürtels gedeutet werden. Wirbelsäure und Rippen
fehlen gänzlich. Auch ein Herz scheint nicht
vorhanden zu sein. Die Blutversorgung erfolgt
vom Autositen her durch eine Arterie. Der Puls
ist nur stellenweise schwach fühlbar und die
Extremitäten fühlen sich sehr kühl an. Ob ein
selbständiger Darm vorhanden ist, konnte mit
Sicherheit nicht entschieden werden; jedenfalls
fehlt eine Afteröffnung.
Früher bekannt gewordene derartige Doppel-
mißbildungen sind der Heteradelphus (Geofroy
St. Hilaire d. Altere) und Dipygus parasiticus
Ahlfeld.
6o4
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. XIII. Nr. 38
Die meisten starben schon vor oder während
der Geburt. Einzelne dagegen erreichen ein
höheres Alter, so der Genueser Lazarus, Colloredo
(geb. 161 7).
In mehreren Fäl-
len ließen sich auch
Reste eines Kopfes
nachweisen, in denen
diese jedoch mit
dem Kopf des Auto-
siten völlig ver-
schmolzen waren.
So wurden z. B.
wiederholt solche
beschrieben, in de-
nen der Kopf 4
Ohren trug.
Bei den meisten
Doppelmißbildun-
gen, so im vorlie-
genden h'alle, fehlt
der Kopf ganz, so
daß es aussieht, als
sei der Parasit in
die Brust seines
Trägers einge-
pflanzt, während die
Extremitäten und
Teile des Rumpfes,
mehr oder weniger
ausgebildet, frei her-
vortreten. Im Jahre 1899 beschrieb Rudolf
Virchow einen etwa 18 — 19 Jahre alten derartig
mißbildeten Indier und 1901 wurde in Prag ein
14 Jahre alter Knabe vorgestellt mit der gleichen
Mißbildung, ebenfalls indischer Herkunft.
Was die Entstehung einer derartigen Mißbildung
angeht, so beruht dieselbe nach Marchand
darauf, daß zwei Anlagen sehr frühzeitig ziemlich
ventral einander gegenübergestellt, miteinander
verwachsen, bei ungleichmäßiger Ausbildung der
beiden. Das Herz fehlt dem Parasiten ganz, während
es bei den symmetrischen Thorakopagen ver-
doppelt ist. Kathariner.
Geographie. Neuere Forschungsreisen. Die
Eröffnungssitzung des 19. deutschen Geographen-
tages zu Straßburg (Pfingsten 1914) war wie üb-
lich den neueren F"orschungsreisen gewidmet. ')
Die Kameruner Grenzexpedition, über
die H. G e h n e berichtete, hatte die Aufgabe, die
neue Südgrenze von Kamerun festzulegen. An
der Küste ist diesem Gebiet eine 5 — 10 km breite
Mangrovensumijfzone vorgelagert, der im Innern
ein sanftwelliges Hügelland folgt, aus flachge-
lagerten Sedimenten bestehend, die wahrschein-
lich alttertiäres Alter besitzen. Östlich daran
schließt sich ein kristallines Gebiet, in dem sich
zwei Zonen unterscheiden lassen. Die höhere
bildet ein Plateau von 800 m Höhe, das zur
zweiten Zone, einer 2 — 300 m niedrigen Ein-
cbnungsfläche abfällt. Das ganze Gebiet, das mit
primärem Urwald bedeckt ist, zeigt klimatisch
zwei Regenmaxima: Ende April und Oktober,
empfängt aber Regen zu allen Jahreszeiten. Die
chemische Verwitterung des (lesteins führt zur
Hu n tey debildung und zwar bilden die kristal-
linen Gesteine ockergelbe Tonerde, der faule
Mangrovenschlick dagegen tiefschwarze Erde. Der
Abs|)ülung setzen hier die Wurzeln großen Wider-
stand entgegen, während die Bodenversetzung im
allgemeinen bedeutende Beträge erreicht. So tritt
an den Rücken oft das kahle Gestein zutage, an
dem die Insolation kräftig arbeitet. Die Endform
dürfte eine Rumpffläclie sein.
Über die geologischen und geographischen
l^rgebnisse der 2. deutschen Antarktischen
Expedition berichtete F. Heim. Die Weddel-
scc, tue viel weiter ins Innere des Kontinents vor-
dringt als man bisher annahm, gehört zu einem
großen Bruchschollengebiet, dessen innere Teile,
das Luitpoldland, eine wenig mächtige Inlandeis-
decke tragen. Dem geologischen Charakter nach
weist das Kettengebirge des Grahamlandes nicht
auf die Anden, sondern eher auf Australien liin-
über — in den Moränen wurden rote Konglo-
merate mit PorphyrgeröUen gefunden. Die Eis-
barriere des Luitpoldlandes hält Heim für einen
Relikt aus der Eiszeit; unter den heutigen klima-
tischen Verhältnissen kann sich eine über tieferem
Meere schwimmende Barriere nicht neu bilden.
Beim Trifteis spielen Pressung und Packung eine
große Rolle.
Auch Süd-Georgien wurde von der Ex-
pedition untersucht; es besteht aus jungpaläozo-
ischen und mesozoischen Gebirgsketten, die 2000
bis 3000 m Höhe erreichen. Die Gebirge tragen
in den Hauptkämmen Eisbedeckung, die aber wäh-
rend der Eiszeit noch bedeutend stärker war. Die
Abtragung der fast vegetationslosen Inseln geschieht
außer durch die Gletschererosion und die Meeres-
tätigkeit vornehmlich durch den Bodenfluß.
Der Mawson'schen Südpolarexpedi-
tion, über die die G. Z. außerdem berichtet,')
die 191 1 — 1914 tätig war, begann ihre Tätigkeit
in Adelieland unter 60 " 50' s. Br. und 145" ö. L,
wo eine Station errichtet wurde. Wegen der
schwierigen Eisverhältnisse erfolgte die Landung
der übrigen Teilnehmer auf einer Eisbarriere unter
66" 18' s. Br. und 95" ö. L. in der Nähe von
Kaiser Wilhelm IL-Land. Von beiden Stationen
wurden im Süd-Sommer 19 12 größere Streifzüge
ins Innere und an der Küste unternommen; u. a.
wurde der Gaußberg bestiegen und 400 km neue
Küste — Königin Mary-Land — erforscht. Die
Küste lag unter einer mindestens 300 m hohen
Eisdecke begraben. Auch in Adelie-Land steigt
die Eisdecke bis zu 2100 m Höhe im Innern an.
Bei einem Vorstoß in die Nähe des magnetischen
Südpols 191 2/19 13 fand Lt. Ninnis durch Sturz
') S. den Bericht: ,,Petermann's Mitteil." 1914, H. 7 und
,, Geographische Zeilschrift" 1914, H. 7.
H. 7, S. 413.
N. F. Xlir. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
605
in eine Gletscherspalte den Tod, während Dr.
Merz, der andere Begleiter IVIa WS on's, den An-
strengungen der Reise erlag. Im ganzen konnte
die Expedition 1800 km Küste zwischen Adelie-
Land und Kaiser Wilhelm II. -Land aufnehmen.
Der in Adelie-Land fast beständig aus S mit 50
m/sec. Geschwindigkeit wehende Wind hat föhn-
artigen Charakter, so daß die Temparatur der Station
nicht allzu niedrig war und die Küste nicht mit
Packeis verbarrikadiert ist. In diesem Gebiet ist
der Kontinentalsockel nur schmal. Bei 120 km
Entfernung von der Commonwealth-Bai wurde
schon 2693 m Tiefe gelotet, nachdem vorher die
Tiefe des Meeresbodens nur 382 m betragen hatte.
Interessant ist ferner der Nachweis eines 3791
tiefen Grabens südlich von Tasmanien.
Über die Augustaflußexpedition ist schon be-
richtet worden; eingehender soll später über die
Expedition der Kolonialgesellschaft und über F.
Klute's h'orschungen am Kilimandscharo im Jahre
19 12 berichtet werden.
Dr. Gottfried I lornig.
Bticherbesprechungen.
Planck, M., Debye, P., Nernst W., von Smo-
luchowski, M., Sommerfeld, A. und Lorentz,
H. A. Vorträge über die kinetische
Theorie der Materie und der Elektrizität.
Mit Beiträgen von H. Kam e rling-h- Omes
und W. H. Keeson und einem Vorwort von
D. Hiebert. 196 Seiten mit 7- in den Text
gedruckten Figuren. Leipzig und Berlin 1914.
B. G. Teubner. — Preis geh. 7 Mk.
In vergangenen Jahre hat die Kommission der
Wolfskehlstiftung der Königl. Gesellschaft der
Wissenschaften zu Göttingen einen Zyklus von
Vorträgen veranstaltet, in welchen die bedeutendsten
Vertreter der modernen Forschung auf dem Gebiet
der kinetischen Theorie der Materie einen inter-
essanten Überblick über den neuesten Stand
dieser Theorie gegeben haben. Durch die vor-
liegende, von Herrn H i e b e r t besorgte Zusammen-
stellung werden diese Vorträge jetzt in dankens-
werter Weise einem weiteren Interessentenkreise
zugänglich gemacht.
Im ersten Vortrag über „die gegenwärtige Be-
deutung der Ouantenhypothese für die kinetische
Gastheorie" giebt Herr Planck einen kurzen
Vergleich der Aussagen der Quantentheorie über
das thermodynamische Verhalten eines idealen
einatomigen Gases mit den entsprechenden
Resultaten der klassischen Theorie.
Im zweiten Vortrag über ,, Zustandsgieichung
und Ouantenhypothese mit einem Anhang über
Wärmeleitung" entwickelt Herr Debye auf Grund
der Betrachtung der Helmholtz'schen freien Energie
die Zustandsgieichung des festen Körpers für den
Grenzfall niederer Temperaturen und zeigt, daß
deren Aussagen mit den bisherigen Ergebnissen
des Experiments übereinstimmen. Von besonderem
Interesse ist das Ergebnis, daß die einfachste
Annahme der Linearität der Bewewegungs-
gleichungen der Atome des festen Körpers für alle
Temperaturen den Ausdehnungskoeffizienten Null
und andererseits unendlich große Wärmeleitfähigkeit
fordern würde. Beide Forderungen scheinen nach
den bisherigen Versuchen bei sehr tiefen Tempe-
raturen tatsächlich erfüllt zu sein, so daß für sie
die genannte Annahme zuzutreffen scheint, während
für höhere Temperaturen eine Modifikation dieser
Annahme einzutreten hat.
Der Vortrag von Herrn Nernst über die
„Kinetische Theorie fester Körper" gibt einen
ausgezeichneten Überblick über die (Juantentheorie
der spezifischen Wärme und die Bestimmungs-
weisen der Eigenfrequenzen der Atome fester Körper.
Zu seinem Vortrage über die „Gültigkeitsgrenzen
des zweiten Hauptsatzes der Wärmetheorie" zeigt
Herr v, Smoluchowski, wie die atomistisch-
kinetische Auffassung der Materie dazu führt, die
Aussagen des zweiten Hauptsatzes der Thermo-
dynamik nur noch soweit vom theoretischen
Standpunkt aus als bindend anzuerkennen, als sie
sich auf das durchschnittliche Verhalten der Körper
beziehen, d. h. wenn die in dem betrachteten
physikalischen Vorgang mitspielende Anzahl von
Einzelereignissen so unmeßbar groß ist, daß eine
Abweichung des momentanen Zustands von durch-
schnittlichen Zustand außerhalb jeder Wahrnehmung
bleibt. Wird hierdurch, da diese Voraussetzung
in den allermeisten Fällen zutrifft, auch die enorme
praktische Bedeutung des zweiten Hauptsatzes in
keiner Weise eingeschränkt, so verliert er doch
seine Stellung als unerschütterliches Dogma und
wird zu einer nur sehr angenähert gültigen Regel.
Verf bespricht dies näher an den Beispielen
der zufälligen Konzentrationsschwankungen einer
Lösung und der sog. Brown'schen Bewegung.
Der Vortrag von Herrn Sommerfeld über
„Probleme der freien Weglänge" enthält in seinem
ersten Teil eine Untersuchung der Frage, wie weit
die Methode der Eigenschwingungen , die von
Herrn Debye mit so gutem Erfolge zunächst
beim Strahlungsproblem, sodann bei dem Problem
der spezifischen Wärme fester Körper in den
Dienst der Quantentheorie gestellt worden ist,
geeignet ist, auch auf die Theorie der idealen
einatomigen Gase angewandt zu werden. Wie
sich zeigt, ergeben sich hierbei trotz mancher Er-
folche noch Schwierigkeiten, die noch nicht be-
friedigend eliminierbar sind sind. Der zweite Teil
des Vortrags enthält Betrachtungen über eine
durch die Einführung derQuantentheorie erforderlich
werdende Modifikation des Begriffs der freien
Weglänge in der Gastheorie.
Im letzten Vortrag über „Anwendung der
kinetischen Theorien auf Elektronenbewegung"
bespricht Herr Lorentzdie elektronentheoretischen
6o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 38
Vorstelkingen über die Elektrizitäts- und VVärme-
leitung in Metallen und teilt neue Betrachtungen
über die thermoelektrischen Erscheinungen mit.
Dieser reiche hihalt der Sammlung gibt ein
anschauliches Bild von der gewaltigen Forscher-
arbeit und den glänzenden Errungenschaften der
letzten Jahre. A. Becker.
Das Pflanzenreich. Herausgegeben von A. Engler
Heft 55—61. Leipzig und Berlin, W. Engelmann
1912 — 1913.
Die Hefte 55 — 61 des im Auftrage der Preuß.
Akademie der Wissenschaften von A. Engler
herausgegebenen Riesenwerkes „Das Pflanzenreich.
(Regni vegetabilis conspectus)", die in dem Zeit-
raum vom 6. August 1912 bis 16. Dezember 1913
erschienen sind, legen Zeugnis von dem erfolg-
reichen und rüstigen Fortschreiten dieses Unter-
nehmens ab, das in der Botanik seinesgleichen
sucht und der deutschen Wissenschaft ebensowohl
wie der preußischen Akademie und nicht zuletzt
dem Verlage von Wilhelm Engelmann in
Leipzig zu höchstem Ruhme gereicht. Der Inhalt
der erwähnten I lefte ist der folgende :
Heft 55 (VL 23 Da.) Araceae-Philodendroideae
von A. Engler und K. Krause. Allgemeiner
Teil, Homalomeninae und Schismatoglottidinac
(mit 678 Einzelbildern in T] Figuren) von
A. Engler. 1912. (136 S., 6,80 Mk.)
Heft 56(1V.47.) Cannaceae vonFr. Kränzlin
Mit 80 Einzelbildern in 16 Figuren. 1912. (IV und
177 S., 4 Mk.)
Heft 57 (IV 147. VI.)Euphorbiaceae-Acalypheae-
Chrozophorinae unter Mitwirkung von Käthe
Hoffmann von F. Fax. Mit 116 Einzelbildern
in 25 Figuren. 191 2. (i44 S., 7,20 Mk.)
Heft 58 (IV. 147) Euphorbiaceae-Poranthe-
roideae et Ricinocarpoideae (Euphorbiaceae-
Stenolobeae) (mit 89 Einzelbildern in 16 Figuren)
von G. Grüning. (S Mk.)
Heft 59 (IV. 251) Hydrophyllaceae (mit 17S
Einzelbildern in 39 Figuren) von A. Brand.
(210 S., 10,60 Mk.)
Heft 60 (IV. 23 D b) Araceae-Philodendroideae-
Philodendreae von A. Engler und K. Krause
und Philodendrinae von K. Krause (mit 553
Einzelbildern in 45 Figuren. (143 S., 7,30 Mk.)
Heft 61 (IV. 228) Umbelliferae-Saniculoideae
von Herrn. Wolff (mit 198 Einzelbildern in
42 Figuren und einer Doppeltafel). (305 S.,
i5,8oMk.)
Hoffen wir, daß auch trotz der bedrängten
Zeiten das große Werk in gleichem Tempo
weiterrücken möge ! Miehe.
Geologische Karte von Preußen und benach-
barten Bundesstaaten i : 25000. Lieferung 141,
Blätter Herzogenrath, Eschweiler, Düren, Aachen,
Stolberg und Lcndersdorf, mit Erläuterungen,
bearbeitet von E. Holzapfel, herausgegeben
von der Königlichen Geologischen Landesanstalt,
Berlin 1912.
Von dem von der Königlichen Geologischen
Landesanstalt herausgegebenen Kartenwerk ist die
Lieferung 141 mit den Blättern Herzogenrath,
Eschweiler, Düren, Aachen, Stolberg und Lcnders-
dorf erschienen. Die Blätter sind von E. Holz-
apfel bearbeitet und umfassen ein Gebiet, zu
dem der zwischen der Landesgrenze und dem
Tal der Roer gelegene nördliche Teil der P_;ifel,
die Aachener Berge und der anschließende Teil
des Niederrheinischen Tieflandes gehören. Der
Name des Bearbeiters, der in den Blättern und
den dazu gehörenden Erläuterungen die Ergebnisse
seiner langjährigen eingehenden Beschäftigung mit
der Geologie des dargestellten Gebietes nieder-
gelegt hat, bürgt dafür, daß die Bearbeitung einer-
seits eine in jeder Richtung erschöpfende ist,
andererseits auch dem heutigen Stande der Geologie
in jeder Weise entspricht. Es ist dieses um so
höher zu bewerten, als es in Deutschland nicht
viele Gebiete gibt, in denen eine Mannigfaltigkeit
der geologischen Verhältnisse vorliegt, wie sie das
Kartengebiet enthält, das der geologischen Auf
nähme die Aufgabe stellte, sowohl in stratigraphischer
wie in tektonischerHinsicht cineFülle von Problemen
zu lösen wie auch die Verhältnisse der zahlreichen
wichtigen Lagerstätten einer Neubearbeitung zu
unterziehen.
In stratigraphischer Hinsicht interessiert zunächst
die Entwicklung des Kambriums, das mit seiner
mittleren und oberen Abteilung, derRevin- und
der Salm-Stufe den zentralen Teil des Hohen
Venns auf den Blättern Stolberg und Lcndersdorf
zusammensetzt. Die petrographische Entwicklung
gab die Möglichkeit, die beiden Stufen in je zwei
Unterabteilungen zu zerlegen. Die Tonschiefer
des Salm enthalten oft Dictyograptus flabelliformis
(Dictyonema sociale) und weisen dadurch auf
Gleichaltrigkeit mit den Dictyonemaschiefern Nor-
wegens und Englands hin, die bereits zum Silur
gestellt werden.
Wenn wir von den Dictyonemaschichten ab-
sehen, fehlt das Silur im Bereich unserer Blätter,
so daß daß Devon, das in seinen drei Abteilungen
vertreten ist und große Flächen zu beiden Seiten
des Vennrückens einnimmt, über ältere Schichten
transgrediert. Hinsichtlich des Unter devons
ist besonders bemerkenswert, daß die Coblenz-
Stufe fehlt, dafür aber auf der Nordseite des kam-
brischen Sattels ein Schichtenkomplex auftritt, der
der „Assise de Burnot" Dom ont's entspricht und
rotgefärbte Schiefertone, Sandsteine und Konglome
rate umfaßt. Holzapfel zerlegt diese Schichten-
gruppe in drei Horizonte und bemerkt, daß die
höchste Stufe vermutlich schon Vertreter des
unteren Mitteldevons umfaßt. In ihrem Hangenden
liegt die Givet- Stufe, die bereits dem oberen
Mitteldevon angehört und gleichaltrig mit den
Stringocephalenschichten ist.
Eine besonders reiche Entwicklung zeigt das
Oberdevon, das in einem breiten Band des
Mitteldevon begleitet und die Sattelkerne zwischen
den nach Nordwesten folgenden Karbonmulden
N. F. XIII. Nr. 38
Natu r wissenschaftliche Wochensch ri ft.
C07
bildet. Die beiden oberdevonischen Stufen des
Frasnien und Famennien werden in eine Reihe
von Horizonten zerlegt, die in ihrer Ausbildung
in verschiedenen Punkten auf die rechtsrheinische
Entwicklung der gleichen Formationsabteilung
hinweisen.
Das Karbon ist scharf geschieden in zwei
Abteilungen, den Kohlenkalk und das pro-
duktiv e K a r b o n. Der erstere bildet die Grund-
lage einer bedeutenden Steinbruchindustrie und
umfaßt drei Abteilungen, den Crinoidenkalk,
den Dolomit und den oberen Kohlenkalk.
Das größte Interesse von allen geologischen Bildungen
des Blattes beanspruchen aber die Schichten des
produktiven Karbons, das im Bereich der
Blätter Stolberg und Aachen in großen Flächen
zutage liegt und durcli Steinkohlenbergbau und
Tiefbohrungen unter dem Diluvium und Tertiär
des Vorlandes nach Norden bis über die Blätter
Herzogenrath und Eschweiler hinaus und nach
Osten bis an das Roertal (Blatt Düren) nachge-
wiesen ist.
Das Profil des Aachener produktiven Karbons
entspricht in seinem oberen und mittleren Teil
dem Profil des niederrheinisch-westfälischen Pro-
duktiven, greift aber nach unten weit über dieses
hinaus, indem es nicht allein Äquivalente des
Flözleeren sondern auch des oberen Kulm ein-
schließt. Der von Holzapfel unterschiedene tiefste
Horizont enthält Goniatites diadema, der auf der
rechten Rheinseite für die oberen Alaunschiefer
des Kulm charakteristisch ist. Die tieferen Schichten
des Aachener Produktiven füllen die Mulden aus,
die sich zwischen die Oberdevon- und Kohlen-
kalksättel am Nordwestabfall des Hohen Venns
einschieben, und erreichen ihre große Mächtigkeit
in der durch Bergbau seit alter Zeit bekannten
Es ch weile r- oder Inde-Mulde. In ihrem
Profil unterscheidet Holzapfel eine Anzahl von
Horizonten, von denen wegen ihrer Flözführung
die Außen werke und die Binnen werke be-
sondere Bedeutung haben. Zwischen beiden liegt
der Breitgang -Horizont, ein etwa 400 m
mächtiges flözarmes Mittel. Die Binnenwerke ent-
sprechen den Fettkohlen Westfalens. Ihr tiefstes
Flöz Padtkohl ist ident mit Sonnenschein.
Das Steinkohlengebiet des Vorlandes ist unter
dem Namen Wurmmulde bekannt und wird
von den beschriebenen Vorkommen durch die mit
einer beträchtlichen Überschiebung verbundene
Aufwölbung des Aachener Sattels getrennt.
Die tieferen Schichten des Produktiven sind hier
nicht bekannt. Sie liegen unter der Überschiebung
des Aachener Sattels. Der Bergbau geht im
wesentlichen um in einem Schichtenkomplex, der
nach unten mit dem Flöz Steinknipp und nach
oben mit Horizonten abschließt, die den Gasflamm-
kohlen Westfalens entsprechen. Steinknipp
ist Sonnenschein Westfalens, bzw. Padtkohl der
hidemulde. Seit längerer Zeit ist bekannt, daß
im Hangenden von Flöz 6 der Mariagrube eine
marine Schicht auftritt, die die Parallelisierung
dieses Flözes mit Catharina gestattet.
Von den mesozoischen Schichten sind Trias
und die obere Kreide vertreten. Die erstere
nimmt den südöstlichen Teil des Blattes Lenders-
dorf ein und schließt sich in der Entwicklung der
beiden vorhandenen Stufen, des Buntsandsteins
und des Muschelkalks, dem ausgedehnten Trias-
vorkommen an, das den Nordrand der Eifel östlich
vom Roertal bildet. Holzapfel hält abweichend von
der älteren Auffassung die untere Abteilung des
Buntsandsteins vom Eifelrand für ein Äquivalent
des mittleren Buntsandsteins. Die obere Kreide
bildet große Flächen in der Umgegend von Aachen
und zerfällt in eine Reihe von Horizonten, die so-
wohl die untere wie die obere Abteilung des
Senoris vertreten und nach oben mit den Vet-
schauer Kalken abschließen.
Von den neuzeitlichenGebirgsgliedernseihiernur
noch das Tertiär genannt, dessen Schichten den we-
sentlichenTeildesDeckgebirges in dem Steinkohlen-
gebiet der Wurmmulde und in der östlichen Inde-
mulde zusammensetzen und sich in den Stufen
des Oligozäns, des Miozäns und des Plio-
zäns einordnen lassen. Das letztere hat eine
besondere Bedeutung durch das Auftreten von
bauwürdiger Braunkohle, die an verschiedenen
Stellen Gegenstand des Bergbaus ist. Im Gebirgs-
land tritt das Tertiär in einer Zahl von isolierten
Partien auf, die sich z. T. ihrem Alter nicht genau
festlegen lassen.
Das tektonische Bild des Kartengebietes
läßt die beiden für unsere Gebirgsbildung wichtigen
Faktoren, die Faltung und die Schollenver-
schiebungen deutlich erkennen und beansprucht
durch den Gegensatz des Gebirgslandes zu dem
anstoßenden Flachlande und die sich daraus er-
gebenden strukturellen Eigentümlichkeiten beson-
deres Interesse. Neben der va riscischen Faltung,
die dem Bau des Gebirgslandes wie des alten
Untergrundes des Flachlandes seine großen Grund-
züge gegeben hat, zeigen die kambrischen Schichten
des Hohen Venns noch den Einfluß einer älteren
Faltungsperiode, die als kaledonische bezeichnet
wird. Mit der Faltung stehen in engem ursäch-
lichem Zusammenhang die als Überschiebungen
bezeichneten Gebirgsstörungen , von denen die
bekannteste die des Aachener Waldes ist. Weitere
Störungen dieser Art konnten namentlich noch
in dem zentralen Teil des Hohen Venns nachge-
wiesen werden.
Nicht weniger wichtig als die I'altung sind
die Schollenverschiebungen, die in engen
Beziehungen stehen zu den senkrecht zu den
Faltenzügen verlaufenden NW-Verwerfungen.
Für die Erkenntnis ihrer Bedeutung ist die Gegend
von Aachen geradezu ein klassisches Gebiet. Es
zeigt in ausgezeichneter Weise den Einfluß der
Schollenbewegungen auf den Bau des gefalteten
Gebirgslandes und auf seinen Absturz zum Flach-
land, und in diesem selbst ihren Zusammenhang
mit der Verbreitung der Tertiärstufen und der
6o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 38
Gliederung und Tiefelage des paläozoischen Unter-
grundes. Das erste Einsetzen der Schollenver-
schiebungen läßt sich zeitlich nicht festlegen. Für
die heutigen Verhältnisse sind aber wesentlich
maßgebend die Bewegungen der jüngeren Tertiär-
zeit. Zu erwähnen ist besonders, daß bei Aachen
zuerst nachgewiesen wurde, daß die Schollen-
verschiebungcn in der Diluvialzeit noch nicht zur
Ruhe gekommen waren.
Bei dem hohen Interesse, das das Aachener
Gebiet in bergbaulicher Hinsicht verdient,
ist es von besonderer Wichtigkeit, daß sowohl
Steinkohle als auch Braunkohle und Erze
besondere auf die Praxis und die wirtschaftliche
Bedeutung Bezug nehmende Bearbeitungen er-
fahren haben, und daß die Erläuterungen die
Profile sämtlicher Tiefbohrungen aus dem Karten-
gebiet enthalten. Die Lage der Bohrungen ist
den Karten selber zu entnehmen. Im Anschluß
an die bergbaulichen Bearbeitungen sind auch den
wichtigen nutzbaren Gesteinen und Bodenarten
besondere Kapitel gewidmet.
Praktisch und wissenschaftlich gleich wertvoll
ist schließlich noch die Bearbeitung der hydro-
logischen Verhältnisse, die bei dem Blatt Aachen
auch die Thermalquellen besondere berück-
sichtigt.
Lieferung 169 enthält 5 Blätter mit Erläu-
terungen, einer Obersichtskarte und einer Licht-
drucktafel :
Blatt Köslin bearbeitet durch L. Finckh,
„ Bulgrin „ „ O. Schneider
u. H. Menzel,
„ Seeger „ „ L. Finckh,
„ Boissin „ „ O. Schneider,
„ GroßTychow „ „ L. Finckh.
Das auf diesen Blättern dargestellte Gebiet
gehört zum Regierungsbezirk Köslin und umfaßt
Teile der Kreise Köslin, Beigard, und Bublitz.
Es gehört größtenteils in die breite, durch weit
verzweigte diluviale Talbildungen gekennzeichnete
Zone auf der nördlichen Abdachung des uralisch-
baltischen Höhenrückens, die sich zwischen der
eigentlichen Grundmoränenlandschaft und den
Endmoränengebieten auf dem Höhenrücken selbst
und der fruchtbaren Grundmoränenebene des
Küstengebietes ausdehnt. Dieses Gebiet grenzt
im Süden an den unter der Bezeiclinung „Pommer-
sche Schweiz" bekannten Teil des Höhenrückens
in der weiteren Umgebung des Bades Polzin. Am
geologischen Bau dieser Gegend beteiligen sich
vorwiegend diluviale und alluviale Bildungen.
Vordiluviale und zwar tertiäre Schichten treten
in etwas größerer Ausdehnung nur am Gollen
bei Köslin an die Oberfläche, dagegen erscheinen
sie in kleineren Flächen, sowie in künstlichen oder
natürlichen Aufschlüssen an zahlreichen Stellen,
besonders im nördlichen und westlichen Teil des
Gebietes. Abgesehen von dem Vorkommen von
Oligozän bei Ristow auf Blatt Boissin gehören
diese Bildungen vorwiegend dem Miozän an. Das
Vorhandensein von Kreide und Jura im tieferen Unter-
grund ist nur durcli einzelne Bohrungen bekannt ge-
worden. Das Diluvium gehört vorwiegend der jüng-
sten Vereisung an. Ob ein Teil der diluvialen Bildun-
gen zweifelhafter Stellung als Ablagerungen einer äl-
teren Eiszeit anzusehen ist, kann mangels vor-
handener Interglazialschichten nicht mit Bestimmt-
heit gesagt werden. Von besonderem Interesse
sind in diesem Gebiete die diluvialen Talsande,
die als Ablagerungen in Stauseen am Rande des
abschmelzenden Inlandeises aufgefaßt werden. Die
Talsandflächen werden in mehrere Stufen einge-
teilt, die verschiedenen Eisrandlagen entsprechen.
Anregungen und Antworten.
Berichtigung: In meinem Artikel ; Welclie Bedeutung
liabcn die DeckIlUgcl der Käfer (Naturwissensch. Wochenschrift
Nr. 7) habe icli mitgeteilt, daß nach der Anschauung von Voß
die Elytren für den Käfer den Wert von Drachenflächen be-
sitzen würden. Ich stützte mich dabei auf Untersuchungen,
die Voß 1905 veröffentlicht hat, in der Hauptsache aber auf
sinen Vortrag, den er auf dem deutschen Zoologenkongreß
in Bremen 1913 gehalten hat. (Siehe Verhandlungen der deut-
schen zoologischen Gesellschaft 1913). Dort bezeichnete Voß
die Käfer als sogenannte ,, Doppeldecker oder Drachenflieger".
Unsere Korrespondenz und persönliche Unterhaltung über
diesen Gegenstand hat aber ergeben, daß Voß die Drachen-
flächentheorie schon seit längerer Zait als revisionsbedürftig
erkannt hatte und dies durch das Wörtchen , .sogenannte"
und ferner in der Diskussion zum Vortrag Erhard (Verb.
1913, S. 225) ausdrückte. Die Ansicht, als ob Voß ein Ver-
treter der Drachenflächentheorie sei, ist daher hinfällig.
Dr. Stellwaag.
Literatur.
Spilger, Dr. Ludw., Biologische Versuche. Als An-
leitung zur Benutzung des ,, Biologischen Expertmenticrkastens"
zusammengestellt. Stuttgart, Prof. C. Bopp's Verlag. 1,20 Mk.
Brill, A., Das Kelativitätsprinzip. Eine Einführung in
die Theorie. 2. Aufl. Leipzig und Berlin '14, B. G. Teubner.
1,20 Mk.
Loren tz, Dr. H. A., Das Kelativitätsprinzip. Drei Vor-
lesungen, gehalten in Teylers's Stiftung zu Haarlem. Bearbeitet
von Dr. W. H. Keesom. Leipzig und Berlin '14, B. G. Teub-
ner. 1,40 Mk.
Schlechter, Dr. Rud., Die Orchideen, ihre Beschreibung,
Kultur und Züchtung. Handbuch für Orchideenliebhaber,
Kultivateure und Botaniker. Lieferung 2 — 4 (vollständig in
10 Lieferungen ä 2,50 Mk.). Berlin '14, P. Parcy.
Inhalt: Halbfaß: Vom Wasserhaushalt der Erde. Bräuer; Sloßionisation. — Einzelberichte: Lipman: Der Antago-
nismus der Salze und seine Bedeutung für den Pflanzenbau. Lipman und Burgeß; Einfluß der Schwermetallsalze
auf Ammonifizierung und Nitritizierung im Boden. Keßler: Die Entstehung von Schwarzwald und Vogesen. Lecail-
lon: Rudimentäre natürliche Parthenogenese. Marchand: Epigastrius parasiticus. Gehne, Heim, Mawson;
Neuere Forschungsreisen. — Bücherbesprechungen: Planck, Debye, Nernst, v. Smoluchowski, Sommer-
feld und Lorentz: Vorträge über die kinetische Theorie der Materie und der Elektrizität. Das Pflanzenreich. Geo-
logische Karte von Preußen und benachbarten Bundesstaaten I : 25000. — Anregungen und Antworten. — Literatur:
Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, MarienstraSe IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 27. September 1914.
Nummer 39.
Lage und Beziehungen der italienischen Vulkangebiete zu gleichzeitigen
Meeren oder Binnengewässern.
[Nachdruck verboten."
Von Alfred Braß (Berlin).
In der Spannkraft des Wasserdampfes, der im
Magma enthalten ist, wurde vielfach die Ursache
zum Aufsteigen des Magmas erblickt. Neuere
Forscher wie E. Sueß und Dölter vei treten
die Ansicht, das Wasser sei von vornherein im
Magma. Nach anderen Forschern (L y e 11 , R e y e r)
dringt das Wasser durch Spalten in die Tiefe.
Nach ihrer Ansicht wären die Vulkane also stets
an die Nähe des Meeres oder der Binnengewässer
gebunden. Die Lage der Vulkane in bedingungs-
lose Abhängigkeit von der Meeresnähe zu bringen,
ist nicht annehmbar, da die großen Vulkane von
Ecuador und Mexico in ziemlich großer Entfernung
vom Meere liegen. Antonie Täuber^) hat von
diesem Gesichtspunkte die tertiären Vulkane Un-
garns, Böhmens, Deutschlands und Frankreichs in
einer Arbeit behandelt, die mir Veranlassung zur
vorliegenden gegeben. In dieser Arbeit sollen zu-
nächst die tätigen italienischen Vulkane, die eine
Bevorzugung der Meeresnähe zeigen, hinsichtlich
ihrer Lage zum Meere betrachtet werden; im
zweiten Teile werde ich festzustellen versuchen,
ob für die erloschenen ähnliche Verhältnisse ge-
herrscht haben.
I.
Die Betrachtung beginne ich mit dem Vesuv,
dem einzigen, dauernd tätigen Feuerberg des euro-
päischen F'estlandes. Aufgabe dieser Arbeit kann
es nicht sein, einen historischen Bericht über die
Tätigkeit des Vesuv zu geben, der allein ein Buch
füllen würde. Ich beschränke mich darauf, das
Wichtigste mitzuteilen.
Der Vesuv -) hat, wie ein jedes von Neapel
aufgenommene Bild zeigt, die Gestalt einer zwei-
gipfeligen Doppelpyramide. Die dem Meere zu-
gewandte Spitze der Pyramide hat sich seit dem
Schreckenstage der Zerstörung von Pompeii und
Herculanum allmählich zur heutigen Gestalt auf-
gebaut. Vorher bestand nur der alte Ring eines
längst erloschenen Kraters, der Monte Somma.
An dem Aufbau des Vesuv beteiligen sich in der
Hauptsache Aschen und Bomben und nur unter-
geordnet Lavaströme. Die ruhige Bautätigkeit des
regelmäßigen Aschen- und Bombenauswurfs und
der gelegentlichen Lavafluten wird von Zeit zu
') Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und Palä-
ontologie. XXXVI. Beilage-Hand 1913, p. 413 — 490.
''] In der Darstellung folge ich: Mercalli, Vulcano e
fenomeni vulcanici in Italia. Mil.-ino 1S83. Parona, Trattato
di geologia. Milano 1903. J. Roth, Der Vesuv und seine
Umgebung. Berlin 1S57. Frech, Aus den Erdbeben- und
Vulkangebieten Süditaliens. 1909.
Zeit durch eine heftige Eruption unterbrochen.
Der Monte Somma besteht aus trachytischen Laven
und Bomben; seit 79 sind meist leuzitische Basalte
hervorgebrochen. Der Versuvkegel ist zweifellos
junger Entstehung. Auch die Somma zeigt keine
Spuren einstiger Meeresbedeckung; ihre Unterlage
besteht aus quartären Sedimenten. Roth und
Mercalli treten für subacre Entstehung des
Vesuv ein.
Dem Vesuv ähnelt in der Art seiner Tätigkeit
am meisten der Ätna,^) der höchste tätige Vulkan
Europas. Der Hauptkegel erhebt sich aus dem
einen Ende eines lang gezogenen, elliptischen
Kraters, des Val del Bove. Erdstöße als Vor-
aussage der Eruption wie beim Vesuv, Aschen
und Dampfexplosionen großen Maßstabes kenn-
zeichnen die zahlreichen Ausbrüche. Lavaergüsse
besitzen meist geringe Bedeutung. Die Basis des
Ätna ist zusammengesetzt aus basaltischem, sub-
marinem Material, das sich im oberen Pliozän über
die Sedimente ergossen hat. Der ganze Rest des
Riesenvulkans hat sich seit jener marinen Ab-
lagerung langsam auf diesen Sedimenten aufgebaut,
ist also von quartärem und historischem Alter.
Ich wende mich nun zu dem der Küste Siziliens
vorgelagerten liparischen Archipel, der sieben
Inseln umfaßt: Lipari, Salina, Vulcano, Stromboli,
Filicuri, Alicuri und Panaria. Auf die erloschenen
komme ich später zurück. Ich beginne mit der
Betrachtung des Stromboli, dessen vulkanische
Tätigkeit von der vesuvianischen sich wesentlich
unterscheidet. Der Stromboli zeigt eine ganz
geringfügige Aschenenlwicklung, dafür kocht in
seinem Krater beständig ein kleiner Lavasee, dessen
rasch erstarrende Decke alle 3 bis 4 Minuten von
einer Explosion zerrissen wird. I-'ür einige Minuten
erscheint der W^idcrschein der feurigen Lavamassen
auf der stets über dem Krater schwebenden Wolke.
Die Insel Stromboli -) zerfällt in zwei Teile,
die sich zu verschiedenen Zeiten gebildet haben
und geologisch stark abweichende Beschaffenheit
haben. Der eine ist der uralte Feuerberg, bereits
zerstört durch die Vorgänge verschiedenster Art,
der andere ist der junge tätige Vulkan, der sich
am nordwestlichen Abhänge des ersteren ange-
siedelt hat. Beide stehen in dem Verhältnis wie
die Somma des Vesuv zu dessen jungem Eruptions-
kegel. Das älteste vom Stromboli geförderte
') Sartorius vonWaltershauscn, Der Ätna. Hrsg.
von A. von Lasaul.'i. 2 Bde. Leipzig 1880.
■-) Alfred Bergeat, Die äolischen Inseln. München
1899.
6io
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 39
Material besteht in andesitischen Laven und gleich-
artigen Auswürflingen; beide wechsellagern in
Bänken von mehreren Metern Mächtigkeit. Das
Material des tätigen Vulkans ist basaltischer Natur.
Eine von der Tätigkeit der bisher betrachteten
Vulkane ganz abweichende zeigt der Vulcano.
Die Insel zerfällt in drei Teile; der eine stellt den
Rest eines alten Vulkans dar, der zweite wird zum
größten Teile von dem aktiven Vulkan, der Fossa
di Vulcano, eingenommen, der dritte nördliche
Teil trägt den merkwürdigen Vulcanello. Über
die Entstehung der Fossa — nach der Sage die
Schmiede des Hephaistos — liegen keine historischen
Nachrichten vor; sie ist seit Menschengedenken
tätig gewesen. Der Vulcanello, der mit der Fossa
in Zusammenhang steht, wird zum größten Teil
durch übereinandergelagerte Lavaströme gebildet.
Über die petrographische Natur der Vulcanellolaven
sind die Meinungen bis in die neueste Zeit ver-
schieden. Sabatini') bezeichnete sie als Augit-
Trachyt, Mercalli-) als in Noseanbasanit über-
gehenden Andesit. Die oberste Schicht ist als
typische Fladenlava ausgebildet.
Die Tätigkeit des Vulcano ist, wie bereits oben
gesagt, eine ganz andere als die des Ätna, Vesuv und
Stromboli. Es sind beim Vulcano intermittierende
Eruptionen begleitet von Detonationen von solcher
Stärke, daß sie auf beträchliche Entfernung ver-
nehmbar werden. Lavaerguß findet nicht statt.
Die nur kurzdauernden Eruptionen wechseln mit
langen Ruhepausen und kündigen sich nicht wie
bei vesuvianischen Eruptionen durch geodynamische
Paroxysmen •'') an. Die vulcanianische Phase konnte
man zwischen die vesuvianische und die nachher
zu betrachtende Solfatarentätigkeit stellen, für die
die Solfatara in den Campi flegrei ein Beispiel
bietet.
Die Solfatara di Pozzuoli ist ein alter Krater,
dessen letzte Lavaeruption in das Jahr 1198 fällt.
Aus zahlreichen Spalten und Rissen , namentlich
aus der bocca, einer Höhlung auf dem Grunde
des Kraters, dringt heißer Schwefelwasserstoff und
schwefelige Säure mit VVasserdampf gemischt hervor.
Die trachytischen Kraterwände sind durch sie zu
Grus zersetzt und gebleicht worden. Die Solfa-
tara repräsentiert einen noch ziemlich intensiven
Grad der sterbenden Vulkantätigkeit. Sie ruht
auf dem fossilführenden Posilipptuff, der dem
jüngeren Quartär angehört. Die Insel Vulcano
hat auch noch ein Beispiel der Solfatarenphase
aufzuweisen.
Betrachten wir nun die Lage der eben be-
sprochenen Vulkane zum tyrrhenischen Meere, so
') Cortese,E., e Sabal ini, V., Descrizione geologico-
petrogralica delle Isole Eolie. Vol. VII. delle Memorie de-
scrittive della Carla geol. d'Italia. Roma 1S92.
^) G. Mercalli, Le ullime eruzioni dell' isola Vulcano.
Bull. Tulc. it. IV. 1S79.
G. Mercalli, Le lave antiche e moderne dell' isola Vul-
cano. Giorn. d. Mineral, ecc. 111. 1892.
') Mercalli, G., Nalura delle eruzioni dello Stromboli
ed in generale della atlivil.ä sismo-vulcanica nelle Eolie. Atli
della societä italiana di scicnze naturali XXIV. iSSl.
sehen wir sie entweder an eine Steilküste (Vesuv,
Ätna) gebunden, die infolge des Hinabsinkens des
jetzt vom Meere begrabenen tyrrhenischen F"est-
landes gerade an den beiden Stellen, wo die
Vulkane aufsitzen, stark zerrüttet ist, oder als
Inseln (Stromboli, Vulcano) aus dem von drei kon-
vergierenden, sehr tief hinabreichenden Spalten
durchsetzten Einbruchskessel des liparischen Meeres
sich erheben. Überblicken wir die geographische
Verteilung der Vulkane auf der Erde, so müssen
wir feststellen, daß dieselben nicht ordnungslos
zerstreut liegen, sondern sich auf bestimmte Striche
konzentrieren. Die Ursache dieser Verteilung auf
bestimmte Zonen ist darin begründet, daß das
Magma die leichtesten Wege zur Erdoberfläche
dort vorgezeichnet fand, wo gewisse Teile der
Erdkruste infolge starker tektonischer Störungen
eine Zerrüttung oder Lockerung ihres Gefüges er-
fahren haben. Von solchen Zerklüftungen sind die
Senkungsfelder begleitet, die zur Entstehung der
Meeresbecken geführt haben. Daher sind die
Bruchfelder des Meeres und die seine Steilküste
begrenzenden Störungsgebiete, sowie kontinentale
Bruchzonen zum hauptsächlichen Schauplatz vul-
kanischer Erscheinungen geworden. Solche Ver-
hältnisse liegen für den Vesuv, den Ätna, die
Solfatara und die liparischen Inseln vor, die genetisch
in enger Beziehung stehen. Allen ist gemeinsam
das Auftreten in oder an Senkungsfeldern. Diese
Erscheinung erklärt ihre Lage an und im Meere.
IL
In als erloschen geltenden Vulkandistrikten
erlischt die vulkanische Tätigkeit nicht immer
gänzlich. Gasexhalationen sind die letzten un-
scheinbaren Nachwirkungen der großartigen Er-
eignisse früherer Zeiten. Da die Fumarolen und
Mofetten, zugleich die aufeinander folgenden Sta-
dien in dem Ersterben der vulkanischen Tätigkeit
bezeichnend, in erloschenen Vulkangebieten auf-
treten und eher einem im Zustand der Ruhe be-
findlichen, erloschenen Vulkane nahe kommen,
mögen sie an dieser Stellung Erwähnung finden.
Ich denke da in erster Linie an die Fumarolen
von Sasso, Laderello und Volterra in Toscana,
ferner an die Gasausströmungen am Monte Tabor
auf der Insel Ischia. Das letzte Anzeichen ver-
löschender vulkanischen Tätigkeit bildet die Hunds-
grotte in den Campi flegrei, eine kluftartige Höhle
im alten Krater von Agnano.
Das erste Stadium in dem Bildungsprozesse
der Vulkane repräsentieren die Vulkanembryonen
(Branca) der römischen Campagna. In dem
nördlich vom Tiber gelegenen Abschnitte der
römischen Campagna befinden sich die etruski-
schen Vulkane, zunächst im Norden der lago di
Bolsena, ein wassergefüllter vulkanischer Kessel,
dem zwei alte Eruptionskegel als Inseln entragen.
Eingebettet in einen halben Krater liegt an seinem
Südende das durch seinen Wein bekannte Städt-
chen Montefiascone. Mercalli^) erkannte im
') Mercalli, G. , Contribuzione allo Studio Geologico
N. F. Xm. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6ii
Gegensatz zu Sabatini/) nach dessen Ansicht
die Höhe von IVIontefiascone kein vulkanischer
Krater sei, verschiedene Lavaströnie, die ihren
Ausgangspunkt von den zwei Spitzen Montefias-
cone und Monte Calvario hatten. Bei Montefias-
cone hat M e r c a 1 1 i auch Anhäufungen von losen
Auswurfsprodukten, wie Bomben, Lapilli, entdeckt.
Es folgt weiter südlich der Monte Cimino.
Das Ciminer Gebirge mit dem lago di Vico stellt
einen Doppelvulkan dar, dessen älteren Teil der
Monte Cimino bildet, und dessen jüngerer, flacher
Kegel den weiten Kratersee von Vico mit dem
Monte Venere umschließt. Ponzi'-) undVerri^)
haben die innige genetische Beziehung beider
Vulkane erkannt. Am Ende der älteren Pliozän-
zeit erfolgten an der Stelle , wo sich heute der
Monte Cimino erhebt, gewaltige Trachytergüsse,
begleitet von Aschenregen und Tuffbildung. Aus
diesem Material baute sich im pliozänen Meere
über mesozoischen Kalkfelsen und jungtertiären
Sedimenten ein Berg ■*) auf, dessen Flanken später
weitere Trachytmassen entquollen. Dann öffnete
sich amSüdabhange des Vulkans ein neuer Schlund,
der Krater des jetzigen lago di Vico, der dann
der Mittelpunkt der ganzen vulkanischen Tätig-
keit wurde, während der ursprüngliche erlosch.
Durch das Auftreten von leuzitführenden Laven
unterscheidet sich der lago di Vico von dem
älteren Monte Cimino, der nur trachytische oder
andesitische Gesteine gefördert hat. Der jetzige
lago hat im Laufe der Zeiten verschiedene Phasen
durchgemacht. In seiner ersten Periode lieferte
er gewaltige Massen von Leuzitlaven, darauf folgten
Lapilli und Ascheneruptionen, deren letzte zur
Entstehung mächtiger Tuffmassen Veranlassung
gab. Diese Tuffe bedecken die ganze Umgebung
des Monte Cimino in weitem Kreise. Nach Verri
ist dann ein Einsturz des hoch aufragenden Vul-
kans erfolgt, und es hat sich das Seebecken ge-
bildet. Als Rest des Aschen- und Lavakegels sei
der Monte Venere übrig geblieben , der nicht eis
letzter zentraler Kegel aufzufassen sei. Nach
Deecke und nach vomRath") ist er als selb-
ständiger Vulkan zu betrachten. Das Gebiet der
Monti Cimini stellt sich als Analogon den Campi
dei Vulcani Viterbesi. Roma 1903. Mern. Pont. Acc. Nuovi
Lincei.
') Sabatini, V. , De l'etat acluel des recherch. sur les
volcans de l'Italie centr. C. R. Congres geol. intern. Paris
1901, pag. 366.
Derselbe, Vulcano Laziale , Mcm. descr. di Carta Geol.
d'Italia, X, 1900.
'} Ponzi, Descrizione della carta geologica della pro-
vincia di Viterbo. Atti d. Accad. Pontif. d. Nuovi Lincei.
Tomo IV. Anno IV. 1850— 1851, p. I56ff. Id. La Tuscia
romana e la Tolfa. Mem. d. R. Accad. dei Lincei. 1877.
'l Verri, I vulcani Cimini. Mem. d. R. Accad. dei
Lincei. Seria III. a. vol. Villa. 1880.
■*) Deecke, Bemerkungen zur Enstehungsgeschichte und
Gesteinskunde der Monti Cimini. Neues Jahrbuch für Mine-
ralogie. VI. Beilage-Band. 1889.
) vom Rath, Geognostisch - mineralogische Fragmente
aus Italien. L Teil, I. Rom und die römische Campagna.
Zeitschrift der deutschen geol. Gesellschaft .Will. 1867, S. 506 f.
flegrei und dem Vesuv zur Seite. Denn auch bei
diesen Eruptionszentren sehen wir in den geför-
derten Laven trotz ihrer benachbarten Lage funda-
mentale Unterschiede.
Nordwestlich von Rom erscheint das Maar von
Bracciano, das besonders gewaltige Massen von
Aschen und Schlacken ausgeworfen hat.
Die Eruptionen der etruskischen Vulkane be-
gannen im Pliozän, waren nach de Stefani')
submarin oder schleuderten ihre Produkte wenig-
stens ins Meer. Ihre Tätigkeit dauerte fort in
einer Gegend von litoralen Sümpfen , so daß sie
schließlich subaer wurden.
Als selbständiges Zentrum ragt im Südosten
der ewigen Stadt das bekannteste unter den er-
loschenen Vulkangebieten Italiens hervor, das
Albanergebirge, das bedeutend jünger ist als die
besprochenen Maare Etruskiens. Diese Bergoase
in der öden Campagna besteht vor allem aus
einem Krater von riesigem Durchmesser. Ober-
halb Frascatis beginnend, zieht sich der etwa
18 km weite Ringwall vom Tusculaner Berg an
Rocca Priora vorbei zum Monte Ceraso, dann
zum Monte Vescovo und endet endlich über dem
See von Nemi im langgestreckten Monte Arte-
misio. Dieser Höhenzug bildet keinen vollständi-
den Ringwall, sondern ist gegen Westen geöffnet,
vermutlich eingestürzt, und in dieser Lücke liegen
drei kleinere Kraterbecken, von denen zwei, der
lago di Albano und der lago di Nemi, noch heute
mit Wasser gefüllt sind, während das dritte, das
Valle di Ariccia, wenigstens jetzt trocken liegt.
Im Zentrum des großen Ringgebirges steht ein
zweiter innerer Kratergipfel, der sich zu jenem
verhält wie der Vesuv zur Somma. Dieser zen-
trale Krater des Albanergebirges ist ebenfalls
nach Westen nicht geschlossen; er umfaßt in
seinem Innern eine Ebene, das sog. Lager des
Hannibal, einen alten Seeboden. Das Albaner-
gebirge hat eine Reihe bedeutender Ströme von
Leuzitlava in die Campagna gesandt, von denen
sich die beiden größten bis nahe an Rom vor-
schieben.
Einen Ausläufer der eruptiven Bildungen der
Campagna von Rom bildet noch die Vulkangruppe
des Hernikerlandes, die nach Branca'-j folgende
Vulkane umfaßt: i. Giuliano, 2. Patrica, 3. Selva
dei Muli, 4. Tichiena, 5. Callame, 6. San Fran-
cesco, 7. San Marco, 8. Pofi. Die Vulkane liegen
am Fuße des Volskergebirges fast im Halbkreise
um die Stadt Frosinone. Der Giuliano hat Lava
hervorgebracht sowie Tuffe und Lapilli , während
bei dem Patrica Lavaerguß nur geringe Bedeutung
hat. Der Selva di Muli erhebt sich als isolierter
Hügel, auf Tuffschichten aufgesetzt, aus der Sacco-
ebene. Schlacken und zersetzte Lapilli sind an
') de Stefani, I vulcani spcnti deil' Appen. Settentr.
Boll. Soc. Geol. Ital. X, 3, 449—555, 1892.
^) W. Branca, Die Vulkane des Hernikerlandes bei
Frosinone in Mittelilalicn. Neues Jahrbuch für Mineralogie,
Geologie und Paläontologie 1S77. Dort weitere Literatur-
angaben.
6l2
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 39
verschiedenen Stellen aufgeschlossen. Das Vor-
kommen dieser Massen macht es wahrscheinlich,
daß hier ein kleiner Vulkan mit nur kurzem Da-
sein steht. Sehr bald erlosch er. Tuffe, die steten
Begleiter aller übrigen Vulkane des Hernikerlandes,
fehlen beim Tichiena. Nur Lavaströme sind durch
Steinbrüche aufgeschlossen. Der Callame ist der
einzige Vulkan, der eine Kraterbildung zeigt. Die
von dem Hügel S. Fiancesco herabkommenden
Laven sind als von einem kleinen selbständigen
Vulkan herrührend aufzufassen, da die Lage des-
selben isoliert ist, ferner nicht unbeträchtliche
Schlackenmassen, große Mengen von Lavakugeln
in der Umgebung des Vulkans zu finden sind, die
durch ihre Struktur und ihre Farbe große Über-
einstimmung mit der Masse des Lavastromes
zeigen. Diesen und den S. Marco fügte Branca
zu den sechs bereits von Ponzi entdeckten Vul-
kanen hinzu. Der San Marco liegt durch tertiäres
Gebiet fast völlig getrennt von der großen Tuff-
Lapilliablagerung, die sich um Pofi ausdehnt. Seine
Umgebung zeichnet sich durch ungeheure Massen
von Lapilli aus, während Tufte mehr zurücktreten.
Lava anstehend hat Branca nicht gefunden.
Das Dorf Pofi ist auf einem Vulkan erbaut.
Der eigentliche Kegel zeigt fast nur Schlacken,
Lapilli und Tuffe. Nur im Norden nahe vor dem
Dorfe ist ein Aufschluß von Lava, im übrigen ist
sie bedeckt von losen Auswürflingen. Den
Aruara spricht Branca nicht als selbständigen
Vulkan an. Die Zeit der Tätigkeit der Herniker-
vulkane fällt nach den Untersuchungen Branca's
zwischen Jungtertiär und Alluvium. Nach Ponzi
sind die Vulkane bei Beginn des Alluviums be-
reits erloschen. Nach Branca sind sie jünger
als die mittel- und jungtertiären Schichten, älter
als gewisse alluviale Bildungen.
Südlich vom Gebiete des Hernikerlandes hört
jede Spur von Eruptivbildungen für eine kurze
Strecke auf. Im Südosten zwischen dem Bene-
diktinerkloster Monte Cassino, dem Meere und
dem Städtchen Teano erhebt sich die Rocca Mon-
fina, deren Aschen die benachbarten Appenin-
höhen bedecken und die Täler meterhoch anfüllen.
Heute gilt der Vulkan als erloschen, 269 v. Chr.
soll er seine letzte Eruption gehabt haben. Die
Rocca Monfina besteht aus einer zentralen Kegel-
gruppe aus Trachyt, die ein aus Leuzitgestein
bestehender Ringwall umgibt.
Eine Reihe interessanter Vulkantypen liefert
die Umgebung Neapels. Unmittelbar vor dem
Westen der Stadt liegt ein Vulkangebiet mit
zahlreichen Ausbruchsstellen, das phlegräische
Gefilde. Das ganze Ausbruchsgebiet der Campi
flegrei ist als einziger Vulkan aufzufassen nach
Sieberg,') dessen Aschenkegel der langsam
gegen die Cam panische Ebene abfallende Berg
von Camaldoli ist, und den das Meer quer durch-
brochen hat. Auf dem ehemaligen Kraterboden
trägt er die zahlreichen Ringberge und Vulkan-
ruinen, die diese Gegend einer Mondlandschaft so
ähnlich machen. Der Charakter '} dieses Gebietes
besteht in dem ausschließlichen Vorherrschen
trachytischer Gesteine, in dem Zurücktreten von
Laven, in dem enormen Vorwiegen von losen
Auswurfsprodukten und aus ihnen gebildeten
Tuffen und darin, daß sich im Laufe der Zeit
bald hier, bald dort eine Bocca gebildet hat, die
bald nur eine, bald einige wenige Eruptionen
liefert und dann wieder in Ruhe versinkt. Die
Zahl der Krater ist bedeutend (einige zwanzig).
Es ist natürlich nicht möglich, hier die einzelnen
Vorkommen zu schildern, nur einige der merk-
würdigsten mögen erwähnt werden. Eine der
vollendetsten Kraterformen ist der Astroni. Er
besteht aus trachytischem Tuff, aus den losen
Auswürflingen des Vulkans, der nie Lava
zutage gefördert hat. \^on einer Tätigkeit des
Astroni in historischer Zeit ist nichts bekannt.
Der wichtigste Punkt in den Campi flegrei ist
der Monte Nuovo, der sich im Jahre 1538 im
Laufe weniger Tage durch eine heftige Eruption
aufgebaut hat bis zu einer Höhe von 139 m. Es
ist dies einer der seltenen Fälle, in denen wir
genauere Berichte -) über das Entstehen eines
neuen Vulkans haben. Der Berg besteht aus
Asche, Sand und Schlacken, gemengt mit Bruch-
stücken der durchbrochenen und zerstörten hellen
Tuffmassen des Untergrundes. Spuren eines Lava-
stromes sind nicht vorhanden. Aus demselben
Material wie der Monte Nuovo besteht nach
Deecke^) der Vulkan der Fossa Lupara. Dieser
zeigt zwei Ringwälle und einen zentralen Krater-
kegel, muß daher der Sitz einer länger dauernden,
wahrscheinlich in prähistorische Zeit fallenden
Tätigkeit gewesen sein. Dicht neben dem Monte
Nuovo liegt der Averner See, ein mit Wasser
gefülltes Kraterbecken , in dessen Nähe heiße
Quellen aufsteigen. An die phlegräischen Felder
schließen sich an die Inseln Nisida und Procida,
von denen Nisida eine ausgezeichnete Form von
Kratern aufweist, die sich bei Inselvulkanen viel-
fach wiederfindet. Der Kraterboden liegt tiefer
als der Meeresspiegel, und das Meer ist durch
eine Lücke im Ringwall eingedrungen und füllt
eine kreisförmige Bucht aus.
Weiterhin bildet die Insel Ischia eine Fort-
setzung der phlegräischen Felder. Von allen
Vulkanen , die sich in diesem Gebiete befinden,
ist Ischia der wichtigste nicht nur wegen der
Höhe des vulkanischen Gebirges und des Um-
fanges der Tätigkeit, sondern wegen der Ver-
schiedenheit der Produkte und der langen Dauer
der Tätigkeit. Der Epomeo bildet den wirklichen
Kern der Insel; rings um ihn häufen sich die
') August Sieberg, Einführung in die Erdbeben- und
Vulkankunde Süditaliens. Jena 1914.
') G. de Lorenzo, L'attivitä vulcanica nci Campi flegrei.
Rcnd. .Accad. de sc. fis. e mat. Napoli (3.) 10. 1904, 203 — 221.
'-) Berichte von Francesca del Nero und Marco Antonio
degli Falconi.
^) D e e c k e , Fossa Lupara. Zeitschrift der Deutschen
geologischen Gesellschaft 1888, pag. 166.
N. F. Xin. Nr. 39
NatunvissenscIiafUiche Wochenschrift.
613
Produkte zahlreicher Eruptionen an. Dieser zen-
trale Teil der Insel setzt sich zusammen aus einer
besonderen Art von Tuff, der an einzelnen Stellen
nach Fuchs') von den Produkten eines zersetzten
Tuffcs bedeckt wird. Der Epomeo hat schon
vor langer Zeit seine Tätigkeit eingestellt, dagegen
haben sich an seinen Planken zahlreiche Neben-
kegel gebildet. Einer von diesen, der Monte
Rotaro, hat selbst wiederum an seinem Fuße
einen kleinen sekundären parasitischen Krater er-
halten, den Monte Tabor, aus dem sich ein Lava-
strom bis in das Meer ergossen. Die letzte P^rup-
tion fand 1302 aus dem Nebenkegel Cremate am
Seitenabhang des Epomeo statt und lieferte einen
mächtigen Lavastrom. Andere Eruptionen erfolg-
ten, wie berichtet wird, 47 u. 92 v. Chr. Heute
erinnern nur noch P'umaroleii und heiße Quellen
an die einstige Tätigkeit.
In genetischem Zusammenhang mit den Vul-
kanen des neapolitanischen Einbruchsgebietes steht
die an der Westküste Neapels, unweit des Golfes
von Gaeta gelegene, pontinische Inselpruppe, die
fünf größere Inseln umfaßt: i. Ponza, 2. Palma-
rola, 3. Zannone, 4. Ventotene und 5. Santo
Stefano. Zwei Gruppen kann man unterscheiden,
eine westliche aus den drei ersten bestehend, und
eine östliche, von den zwei letzteren gebildet.
Die Insel Ponza zerfällt in drei Teile nach
Dölter. ^) Der südliche TeiP) wird von dem
Monte La Guardia und einer kleinen Halbinsel,
östlich vom Hauptorte Ponza, gebildet. Der
mittlere Teil ist der größte. Den höchsten Punkt
bildet der Monte Tre Venti. Der dritte, nörd-
lichste ist der Höhe nach der niedrigste. Das
große Massiv des Monte La Guardia besteht aus
einem dunklen zwischen Andesit und Trachyt
stehenden Gesteine, das D ö I t e r Sanidin-
Plagioklas- Trachyt genannt hat. Sehr ver-
breitet kommt auf der Insel in Gängen Rhyo-
lith vor, der ganz den von Richthofen in
Ungarn als Rhyolithe bezeichneten Gesteinen ent-
spricht. Das am weitesten über die Insel ver-
breitete Gestein ist Trachytbreccie, ) das aus fein
zerriebenem porösen Tuff besteht. Tuffschichten
erreichen eine ziemlich bedeutende Mächtigkeit.
Ein hohes geologisches Alter schreibt Dölter
dem Ponzavulkan nicht zu. Nach seiner Ansicht
hat er sich im Pliozän gebildet; dafür sprechen
die Analogien mit anderen vulkanischen Gebieten.
Die aktive Periode vulkanischer Tätigkeit ist längst
erloschen. Weder in Exhalationen noch in heißen
Quellen finden sich Nachwehen derselben. Nach
') C. W. C. Fuchs, L'isola d'Ischia. Monografia e
Carla geologica 1:25000. t'irenze 1872.
'^) Dölter, Die Vulkangruppe der pontinischen Inseln.
Wien 1875.
^) Hamilton, BericlU über den gegenwärtigen Zustand
des Vesuv und Beschreibung einer Reise in die Provinz Abruzzo
und nach der Insel Ponza (siehe bei Dölter, Vulkangruppe
der pontinischen Inseln).
*) Abbe Fortis, Osservazioni litografiche suUe isole di
Ventotene e Ponza (siehe bei Dölter, Vulkangruppe der
pontinischen Inseln).
Dölter erfolgten die Eruptionen nur an der Ost-
küste und begannen mit dem Auswurfe von
Trachytbreccie, hierauf folgten die gangförmigen
Durchbrüche des Rhyoliths und die Stromausgüsse
des Sanidin-Trachyts, denen der Auswurf der
verschiedenen Tuffe sich anschloß.
Die Insel Palmarola besteht aus einem von
Süden nach Norden ziehenden Gebirgszug und
baut sich auf aus einer Decke von Trachytbreccie,
die von zahlreichen Trachytgängen durchbrochen
ist. Alle diese (länge kommen aus ein und dem-
selben Eruptionszentrum. Gegen Süden bricht
ein mächtiger Trachytgang durch die Tuffbreccie,
derselbe nimmt ein Drittel des Gebirgsrückens
ein. Ein zweiter Gang, heute nicht mehr voll-
kommen erhalten, wird von den beiden Inseln
P'araglioni und Faraglioni pallante und der Halb-
insel della Torre gebildet. Ein weiterer Gang
ryolithischer Natur zieht sich von Westen nach
Osten. An den Küsten Palmarolas findet sich
eine größere Anzahl von Inselchen, die offenbar
früher zu derselben gehörig, durch die Wirkung
der Meereswogen von der Hauptinsel losgerissen
wurden.
Der geologische Bau der Insel Zannone ist
ein ziemlich einfacher. Bei weitem der größte
Teil der Insel besteht aus einer gangförmig auf-
tretenden Rhyolithmasse. Der nordöstliche Teil
dagegen wird von dem abgerissenen Stücke eines
geschichteten Gebirges gebildet. Das Alter konnte
Dölter wegen Mangels an Petrefakten nicht mit
Genauigkeit feststellen.
Obgleich allem Anscheine nach die Periode der
Insel Ventotene verhältnismäßig einer jüngeren
Zeit angehört, finden sich nirgends mehr Anzeichen
vulkanischer Tätigkeit. Daß andererseits auch die
Formen des rezenten Vulkans nicht in ihrer ur-
sprünglichen Gestalt zurückgeblieben sind , wird
keinen wundern, wenn man die fortdauernden
Wirkungen der Meereswässer auf die Insel ins
Auge faßt. Lavaströme mit darüber liegenden
Tuffschichten bauen die Insel auf. Die Ortschaft
Ventotene liegt auf dem jüngsten, dem Peperin
ähnlichen Gestein der Insel; an der Südwestspitze
erhebt sich aus dem Meere eine mächtige Basalt-
decke.
Der geologische Bau der Insel Santo Stefano
ist dem der Insel Ventotene ganz ähnlich. Die
Insel besteht aus Lavaströmen und darüber liegen-
den Tuffschichten. Die Lavadecke auf Santo
Stefano hat eine größere Mächtigkeit als auf
Ventotene. Nach der Ansiciit D öl t e r ' s sind die
beiden Inseln Ventotene und Santo Stefano Über-
reste eines großen Kraters, der nach Norden und
Süden, wenigstens durch Tuffschichten, geschlossen
war. Durch spätere Einflüsse der Denudation
entstand der Kanal von Santo Stefano. Ange-
nommen jedoch, es wären zwei Öffnungen ge-
wesen, aus denen die beiden Inseln sich gebildet
haben, so müssen sie ziemlich gleichzeitig bestan-
den haben, wofür die Identität der Tuffe spricht.
Die beiden Lavaströme sind nicht gleichzeitig ent-
6i4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 39
standen, da der eine zu den sauren trachytischen
Laven gehört, während der andere aus basaltischer
Lava besteht.
Ich wende mich nun zu den erloschenen
Vulkanen der äolischen Inseln. Lipari nimmt
unter diesen sowohl nach Größe als auch wegen
seiner Fruchtbarkeit und Bevölkerungszahl die
erste Stelle ein. Auch durch ihre Oberflächen-
beschaffenheit ist sie vor ihren Schwestern aus-
gezeichnet. Sie ist vielgestaltig, reich an Kuppen
und Höhenrücken und durch die gleichzeitige
Tätigkeit einer großen Anzahl von Vulkanen ent-
standen, von denen nur einer, der jüngste, näm-
lich der Monte Pelato, ') fast ganz in seiner ur-
sprünglichen Gestalt erhalten ist, während ein
Teil durch das Meer bis fast zur Unkenntlichkeit
zerstört, die Gestalt anderer durch Tuffablagerun-
gen verschiedener Herkunft mehr oder weniger
verdickt und verwischt worden ist. Nicht nur
der Ort, sondern auch die chemische Zusammen-
setzung der Produkte der lange Zeit hindurch
vor sich gehenden Ausbrüche haben gewechselt;
mit der Förderung basaltischen Materials haben
sie begonnen und sich mit dem Hervorbringen
ganz saurer Massen erschöpft. Der schönste und
besterhaltene der erloschenen Vulkane Liparis
ist der Bimsteinkratcr, dessen Umwallung im
Monte Pelato seine höchste Erhebung erreicht und
einen 2 km langen Obsidianstrom gefördert hat.
Aus den verschiedenartigen, lockeren, vulkanischen
Massen (Tuffe und Agglomcrate) kann man auf
die verschiedenen Ausbrüche schließen. Ein Teil
der Auswurfsprodukte hat sich, wie auch auf den
übrigen Inseln, unter Wasser, ein anderer, jüngerer,
auf dem Trockenen abgelagert.
Es folgt die Insel Salina, die sich aus den
Produkten von vier heute noch über dem Meeres-
spiegel wahrnehmbaren Vulkanen aufgebaut hat:
Die Fossa delle felci, der Monte dei Porri, der
Monte Rivi, der Krater von Pollara. Die Fossa
delle felci erinnert in ihrer Struktur an den Strom-
boli, übertrifft ihn aber durch die Mächtigkeit
ihrer Lavaströme und Agglomeratmassen. Der
Gipfel wird von braunen Tuffen bedeckt. Die
Laven sind Pyroxenandesite. Der Monte dei
Porri ist der jüngste Vulkan Salinas. Seine Laven
nehmen stets ein höheres Niveau ein, als die der
Fossa, sie haben sich über diese ergossen. Der
Monte Rivi stellt die Ruine des bedeutendsten der
drei Sabinakegel dar nach Hoffmann. ^) Das
vom Rivi geförderte Material ist basaltischer Natur;
er ist die älteste Bildung der Insel. Von Tuffen
der Fossa ist er bedeckt, und Laven sind auf ihn
übergetreten. Bergeat hält den Pollarakrater
für einen verhältnismäßig jungen. Die vulkanische
Tätigkeit ist auf der Insel bis auf unbedeutende
Gasausströmungen gänzlich erloschen.
Die Insel Panaria stellt ein aus Hornblende-
andesiten bestehendes Massiv dar, die Reste eines
Vulkanstockes, der ähnlich Lipari, aus einer Reihe
von Kegeln bestanden hatte. Diese sind teilweise
allmählich der Erosion zum Opfer gefallen. Nach
D o 1 o m i e u ') haben diese Kegel früher einen
ungeheuren Krater gebildet. Spal lanzini -)
schloß sich dieser Ansicht an. Nach Ho ff mann
stellt die Insel die Reste eines ungeheuren Er-
hebungskraters dar. Panaria ist nach S u e ß ^) die
älteste Bildung der äolischen Inseln. Bergeat
ist anderer Ansicht. Er weist ihr eine Stellung
inmitten der Gebilde mittleren Alters an. Die
Insel ist gleichaltrig mit gewissen Bildungen auf
Filicuri, die auch massige Struktur besitzen, und
deren Gestein in mancher Beziehung dem von
Panaria ähnlich ist.
Filicuri ist nur mehr die stark entstellte Ruine
eines ehedem bedeutenden Vulkaneilandes. Sie
gipfelt in der 773 m hohen basaltischen Fossa
delle felci. An ihrem Südabhange nehmen zwei
andesitische Erhebungen eine selbständige Stellung
ein : Montagnola und Terrione. Die Fossa ist der
älteste und wichtigste Teil der Insel. Ihre Laven
sind basaltischer Natur. Der Terrione besteht aus
einer Ubereinanderfolge von mächtigen Lava-
strömen. Sein Gipfel zeigt keinerlei krater-
förmige Vertiefung. Die losen Auswürflinge des
Urkraters bilden mächtige Bänke und sind analog
denen Salinas, des Urkegels des Stromboli, des
alten Vulcanokraters. Alle das heutige Filicuri
aufbauenden Eruptionen haben unter dem Meeres-
spiegel stattgefunden.
Alicuri ist die unbedeutendste unter den äoli-
schen Inseln. Sie erhebt sich als einziger Berg
fast ohne irgendeine ausgedehnte Strandbildung,
allenthalben steil geneigt gegen das Meer, ähnlich
dem Kegel des Stromboli. Die Insel besteht aus
zwei Teilen: Im Westen bildet eine Wechselfolge
von basaltischen Auswurfsprodukten und Laven,
stellenweise durchsetzt von Gängen, den Abhang
des Kegels, den östlichen setzen andesitische
Laven zusammen.
Möglichst in Kürze will ich auf die noch
nicht betrachteten Vulkane Sardiniens, Toscanas,
der Poebene und der übrigen Distrikte eingehen.
Auf der Insel Sardinien ist es der Monte
Ferru,'') der in dem fast ganz aus Tertiärablage-
rungen und vulkanischen Bildungen aufgebauten
NW. Viertel der Insel eine dominierende Stellung
einnimmt. Über einen aus mittelmiozänen Trachyten
bestehenden L^ntergrund haben sich im Spätmiozän
bzw. Postmiozän die Laven des Monte Ferru
ergossen. Im Norden des Monte Ferru finden
wir noch jüngere vulkanische Bildungen mit treff-
lich erhaltenen Schlackenkratern und Lavaströmen.
') A. Bergeat, Die äolischen Inseln. München 1899.
*) Hoffmann, Über die geognostische Beschaffenheit
der liparischen Inseln. Annalen der Physik und Chemie. 1832.
') Dolomieu, Voyage aux iles de Lipari 1783. Paris.
^) Spallanzini, Viaggi alle due Sicilie. 6 vol. Pavia
1792—97.
») E. Sueß, Antlitz der Erde. Wien.
*) Dannenberg, Der Monte Ferru auf Sardinien.
Sitzungsberichte der Kgl. Preußischen Akademie der Wissen-
schaften. XL, 1903 und C. Dölter, 11 vulc. Monte Ferru in
Sardegna. Boll. r. Com. Geol. 1S7S.
N. F. Xni. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
615
An der Grenze zwischen Toscana und dem
ehemaligen Kirchenstaat liegt, zugleich der nörd-
lichste Punkt der italienischen Vulkanreihe, der
Monte Amiata di Radicofano, ein bedeutender
Berg, der nach dem Eozän Ströme trachytischer
Laven ausgestoßen hat, seinen Krater indes nicht
mehr erkennen läßt.
Am Südabhange der Alpen ragt aus der Po-
ebene als Insel der von der Denudation stark an-
gegriffene, ehemalige Trachytvulkan des Monte
Venda in den Euganeen bei Padova empor, auf
den ich an Hand der Darstellungen von Reyer,')
E. Sueß und Stark-) etwas näher eingehen
möchte.
Das Zentrum des Gebietes nehmen Trachyt-
tuffe ein, durchzogen von zahlreichen Trachyt-
gängen, von denen einige auch in den Bereich
der am Rande stehenden Sedinientärhügel hinaus-
reichen. Diese Gänge laufen strahlenförmig im Zen-
trum der ganzen Berggruppe am östlichen Ende des
Monte Venda zusammen. Der Venda selbst und
seine Umgebung besteht aus Tuffen, und aus
diesen ragen die größeren und mächtigeren
Trachytgänge als langgestreckte Bergkämme hervor.
Um die Mitte der Tertiärzeit, als die Tätigkeit der
Euganeen endgültig erlosch, mag über dem Venda
ein Aufschüttungskegel ähnlich dem Ätna gestanden
haben, dessen Reste in den zentralen Tuffmassen
zu suchen sind. Die Radialgänge sind die Aus-
füllungen jener Spalten, die einst den Seitenaus-
brüchen und den parasitischen Kratern die Lava
zuführten.
Unter den italienischen Vulkanen nimmt der
Monte Vulture bei Melfi eine besondere Stellung
ein. Er ist der einzige Vulkan an der Ostseite
der Appenninen und erscheint daher als eine
durchaus selbständige Bildung, die mit keiner der
Vulkanreihe an der Westküste in direkte Ver-
bindung gebracht werden kann. Der Vulture '■)
liegt an der Grenze zwischen Apulien und der
Basilicata am Ofanto bei Melfi. Er erhebt sich
auf einem 500 bis 600 m mächtige Sedimentplateau
und steigt an bis zu einer Höhe von 1330 m. An
der Stelle, wo man den Krater vermuten sollte,
befindet sich ein weites Circustal, das Monticchio.
An der tiefsten Stelle liegen zwei kleine Seen.
Der Hauptkraterwall trägt auf seinem oberen Rande,
sieben kleine Spitzen, durch Erosion bereits stark-
ausgewaschen, deren höchste der Monte Vulture
ist. Die weitere Umgebung gehört wie der Se-
dimentsockel zu dem östlichen tertiären Vorlande
des Appennin. Die wichtigsten posttertiären
Bildungen sind die vulkanischen Gesteine des
Vulture, die das ganze Plateau zwischen der Fiu-
') Reyer, Die Euganeen. Wien 1877.
^) Stark, Beiträge zum geologisch-petrographischen Auf-
bau der Euganeen und zur Lakliolithenfrage. Tschermak,
Mineralogische und petrographische Mitteilungen, XXXI. Band,
I. Heft, 1912.
') Deeckc, Der Monte Vulture in der Basilicata (Unter-
italien). Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geognostit, Geo-
logie und Petrefaktenkunde. VU. Beilage-Band. 1891.
mara di Atelia und der Melfia bedecken und bis
Venosa, Maschito und F'orenza reichen. Es sind
sowohl Laven als auch Tuffe, letztere von sub-
aerer Fazies. Beide zusammen bilden den Kegel
des Vulture und gehören vorzugsweise zur Familie
der Tcphrite. Ihre Haupteigentümlichkeit ist
ihre Hangzuführung, die De ecke auf den Umstand
zurückführt, daß das Magma vor der Eruption in
ziemlicher Tiefe unter der Oberfläche mit größeren
Gipslinsen in Berührung gekommen ist. Die
Eruptionen des Vulture begannen nach der post-
pliozänen Faltung des Appennin und wurden erlebt
von dem prähistorischen Menschen.
Zum Schluß sei noch der Insel Pantelleria,
zwischen Sizilien und Nordafrika gelegen, gedacht.
Sie zeigt mehrere, kleinere Krater, die in histo-
rischen Zeiten keine Ausbrüche gehabt, aber teil-
weise noch in lebhafter Solfatarentätigkeit stehen.
Um so größeres Interesse bieten die submarinen
Eruptionen, die in der dortigen Gegend an
der Tagesordnung sind. Durch eine solche
Eruption wurde beispielsweise die Insel Ferdi-
nandea aufgeworfen.
Nach Betrachtung der einzelnen Vulkane von geo-
logischem Gesichtspunkte untersuchen wir nun die-
selben hinsichtlich ihrer Lage zu den gleichzeitigen
Meeren. Beginnen wir mit Süditalien unter Einschluß
der Vorkommen Siziliens, Sardiniens, der pontini-
schen und der äolischen Inseln, für welche Gebiete
die Verhältnisse fast die gleichen waren. Werfen wir
zu diesem Zwecke einen vergleichenden Blick
nach dem von Seguenza^) sorgfältig studierten
Tertiär- und Ouartärgebiet von Reggio. Nach-
dem am Schlüsse des Miozäns (MessinianoJ ein
Rückzug des Meeres stattgefunden hat, trat nach
Beginn des Pliozäns eine gewaltige Verschiebung
zwischen Wasser und Land ein, ein weites Über-
greifen des Meeres. Über den früheren Tertiär-
sedimenten, 1200 Meter über dem heutigen Meeres-
spiegel findet sich der Tiefseeschlamm des Zan-
cleano (Unterpliozän). Die gleichen Verhältnisse
dauern fort während des Astiano (Oberpliozän).
Erst im Pleistozän (Siciliano) beginnt ein Rück-
zug des Meeres, der während des ganzen Quartärs
anhält.
Die äolischen Inseln waren zur Zeit ihrer
Tätigkeit umbrandet von dem übergreifenden
und dann im Siciliano allmählich zurückweichen-
den Meere. Der Monte Vulture lag auch zur Zeit
seiner Eruptionen an der Meeresküste. Die phle-
gräischenFelder, deren Produkte dem jüngeren Quar-
tär angehören, liegen ebenfalls wie die Rocca Monfi-
na unmittelbar am quartären Meer. Der Epomeo war
unter Wasser getaucht und wurde dann wieder
gehoben. Bei den pontinischen liegen die Ver-
hältnisse so wie bei den äolischen. Der Monte
I'erni bildete sich wie alle bisher betrachteten
in der Nähe des Meeres. Für Mittelitalien haben
die Meeresbildungen der Subappenninformation
') G. Segcnza, La formazione terziaria nella provincia
di Reggio di Calabria. Mera. r. Acc. Lincei, 1880.
6i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 39
größere Bedeutung. Wo sich heute die Römische
Campagna befindet, rolhen in der jüngsten Ter-
tiärzeit die Wogen eines Meerbusens und brandeten
an der damals noch vorhandenen tj-rrhenischen
Ländermasse. Das Albanergebirge, der lago di
Bolsena, der lago die Bracciano, der Monte Cimino,
diese ganze Vulkaiireihe wurde gleichzeitig mit
der ganzen Scholle, dem heutigen Appennin
während der Pliozänzeit gehoben, lagen zur Zeit
ihrer vulkanischen Tätigkeit in unmittelbarer Nähe
des Meeres. Das Saccotal, in dem sich die
Vulkane des Ilernikerlandes befinden, war zur
Zeit, als die Vulkane tätig waren, nachBranca
seeartig erweitert. Bei den Euganeen in der Po-
ebene hat nach Reyer die vulkanische Tätigkeit
bereits im Jura begonnen; aus tiefer See hat
sich dann allmählich der Monte Venda aufgebaut
und überseeisch seine Tätigkeit noch bis ins
Quartär fortgesetzt, als die Poebene noch einen
Meerbusen bildete. Fassen wir die Untcrsucluingen
der einzelnen Vorkommen hinsichtlich ihrer Lage
zum Meere zusammen, so sehen wir, daß in der
Vergangenheit ähnliche Verhältnisse geherrscht
haben wie jetzt.
Die Lage der erloschenen italienischen Vulkane
an und im Meere ist bedingt durch die Tektonik.
Die Vulkane an der Westküste Italiens finden wir
auf Schollen, die von Spalten und Bruchlinien
durchzogen sind, da, wo am Innenrande, d. h. der
konkaven Seite der sich aufstauenden Appenninen
das tyrrhenische Festland in die Tiefe gesunken
ist und sich das tyrrhenische Senkungsfeld bildete.
Dem Rande dieses Scnkungsfeldes gehören das
toskanische Eruptivgebiet, das Latinergebirge, die
Rocca Monfina und die phlegräischen Felder an.
Die liparischen Inseln erheben sich als Inseln aus
diesem Senkungskcssel. Die Lage des Monte
Ferru ist eine ähnlche wie die der Vulkanreihe
an der Westküste Italiens. Die Pocbenc stellt
gegenüber den Alpen ebenfalls ein Senkungsfeld
dar, an dessen Rande die Basalte von Vicenza
und Verona und die Trachyte des Monte Venda
in den Euganeen emporsteigen konnten. Die
einzige Ausnahme bildet der Monte Vulture, der
sich auf einer Kreuzung von Längsbrüchen mit einer
den Appennin durchquerenden Spalte (Deecke)
erhebt. Da das Meer immer die tiefsten Stellen
erobert , so werden solche Senkungsfelder ent-
weder vom Meere überflutet, oder wenn es keinen
Zutritt hat, von Binnenseen ausgefüllt (Vulkane
des HernikerJandes im Saccotale). So kommt es,
daß die erloschenen Vulkane Italiens zur Zeit
ihrer Tätigkeit am Rande von Wasserbecken
lagen.
Einzelberichte.
Botanik
und heliotropischer
Beziehungen zwischen Spaltöffnungen
Empfindlichkeit. Bei den
Keimpflanzen der Gramineen ist die heliotropische
Empfindlichkeit nicht gleichmäßig verbreitet.
Edgar Zaepffel hat nun kürzlich die Beziehun-
gen untersucht, die zwischen dem Vorhandensein
von Spaltöflnungen und der heliotropischen Emp-
findlichkeit beim Weizen, Hafer, Panicum altissimum
und Paspalum stoloniferum bestehen. Bei allen
diesen Gramineen fehlen die Spaltöffnungen am
hypokotylen Glied, derjenigen Region also, die
zur heliotropischen Perzeption unfähig ist. Bei
den Kotyledonen des Hafers und des Weizens
sind die Spaltöß'nungen an der Spitze, dem Sitze
der größten heliotropischen Empfindlichkeit, reich-
lich vorhanden. Sie treten auch noch, aber viel
weniger zahlreich, an der subapikalen Region auf,
die nur eine schwache heliotropische Perzeptions-
fähigkeit besitzt. Bei den Kotyledonen von Pani-
cum und Paspalum sind Spaltöffnungen auf ihrer
ganzen Länge vorhanden; hier ist aber auch der
Kotyledon außerhalb der Spitze stärker reizbar.
Aus diesen Befunden schließt Zaep f fei , daß bei
den untersuchten Gramineen die Menge der Spalt-
öffnungen der Keimpflanzen dem Grade der helio-
tropischen Empfindlichkeit entspreche (Comptes
rendus 1914, T. 159, Nr. 2, p. 205 — 207).
F. Moewes.
Chemische Physiologie. Nach den Versuchen
vonHammer(i89ij,Veiel(i887),Widmark(i889)
und I'insen kaim man Erythrose und Melanose
der menschlichen Haut durch ultraviolette Strah-
len hervorrufen. Imbert und Marques (1906)
haben festgestellt, daß die Farbe des Bartes durch
die X-Strahlen verändert wird. V. Moycho (191 3)
sah in der Haut des Kaninchenohrs, unter dem
Einfluß der ultravioletten Strahlen ein bräunliches
Pigment auftreten. S. Secerov (Sur l'influence
des rayons ultraviolets sur la coloration des poils
des lapins et des cobayes. C. R. Ac. sc. Paris
Nr. 24, 15 juillet 1914) hat die Wirkung der
ultraviolletten Strahlen auf die Haarfarbe des
Kaninchens und Meerschweinchens untersucht.
Es wurde dabei eine Quarz- Ouecksilberlampe
nach dem System von Westinghouse-Cooper-
Herrwitt von iio Volt Spannung verwendet. Bei
einem vorherrschend weißen Meerschweinchen,
das täglich 4 Stunden in einer Entfernung von
9 — 10 cm den Strahlen ausgesetzt wurde, waren
nach 35-40 Stunden die weißen Haare geblich
gefärbt.
Zwei junge Albinos des Kaninchens, ein weib-
liches und männliches Tier, wurden den ultravio-
letten Strahlen 5 — 6 Stunden unterworfen. Nach
ungefähr 80 Stunden begann die Umfärbung und
nach 100 Stunden war sie sehr deutlich. Die
Haare wurden zuerst gelblich, dann rötlich gelb.
Sie waren in einer Temperatur von 18", in 6 — 7cm
Entfernung von der Lampe; in der Umgebung
war die Temperatur ziemlich niedrig, o" — 4". Nur
N. F. XIII. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
617
der Teil des Haares, welcher direkt vom Licht
fjetrofilen wurde, verfärbte sich. Verglichen mit
jenen der Kontrollüere war die Behaarung der
bestrahlten Tiere länger. Die Haare fielen nicht
aus und der Haarwechsel verlief regelmäßig.
Um den Einfluß der Temperatur zu prüfen,
wurden die abgetrennten Haare eines weißen
Kaninchens mehrere Monate einer Temperatur
von 40" ausgesetzt, ohne daß sie sich in der
Färbung irgendwie verändert hätten; selbst nicht
bei 100" in i^,. Stunden. Erst bei i 50" zeigte sich
nach i'/o Stunden eine gelbliche Färbung. Als
die abgeschnittenen Haare des weißen Kaninchens
5 — 6 Stunden lang pro Tag in 6 — 7 cm Entfernung
von der Lampe bestralilt wurden, verfärbten sie
sich viel langsamer. Der Beginn der Gelbfärbung
trat erst am Ende von 100 Stunden ein; außer-
dem glich sie viel mehr der durch hohe
Temperatur, als der durch die Bestrahlung des
Kaninchens mit ultraviolettem Licht erreichten.
S. hält die Gelb- und Rotfärbung für eine Vor-
stufe bei der Bildung des schwarzen Farbstoffes
und glaubt, daß bei längerer Dauer der Bestrahlung
auch Schwarzfärbung eintreten würde. Die Ver-
färbung der weißen Haare tritt leichter ein bei
Tieren, welche, wie das Meerschweinchen, nor-
malerweiße schon schwarze und gelbe Haare haben,
als bei jenen, die vorherrschend weiß gefärbt sind.
Die hohe Temperatur, welche zur Verfärbung
nötig wäre, kann bei lebenden Objekten nicht in
Betracht kommen. Abgetrennte Haare verfärben
sich gleichfalls, aber viel weniger rasch, als wenn
sie noch am Tiere sitzen. Kathariner.
Physik. Versuche mit einer Lochkamera für
Röntgenstrahlen beschreibt N. Uspenski (Moskau)
in der Physikalischen Zeitschrift XV (1914) Seite 717.
Sie war aus 2 mm dicken Bleiplatten hergestellt ;
in der der photographischen Platte gegenüber-
liegenden Wand war eine 2 — 3 mm große Öffnung
angebracht. Die Aufstellung des zu photogra-
phierenden Gegenstandes geschah auf optischem
Wege mit Hilfe einer Mattscheibe; diese wurde
bei der Aufnahme durch eine die Trockenplatte
enthaltende Metallkasette ersetzt, die mit einem
0,2 mm dicken , also für die Röntgenstrahlen
durchlässigen Deckel aus Aluminium versehen war.
Zur Beleuchtung diente eine mit 2 — 3 Milliampere
belastete Müller „Rapid"-Röhre mit wassergekühlter
Platinantikathode. Bei stärkerer Belastung (5—6
Milliampere) ließen sich die Bilder auch auf dem
Leuchtschirm beobachten. Als Objekt wurde zu-
nächst die Röntgen-Röhre selbst gewählt; die
Bilder, die der Verfasser durch eine Belichtung
von 1 5 Minuten erhalten hat, zeigen deutlich den
kreisförmigen Umriß der Röhre, die hellleuchtenJe
Antikathode und Andeutungen eines seitlichen
Ansatzrohres. Eine weitere Aufnahme wurde von
einem vierbeinigen hölzernen Tischchen, auf dem
eine Metallsäule stand, dadurch erhalten, daß man
diese Gegenstände mit dem Strahlen der Röhre
beleuchtete, die neben der Lochkamera so stand,
daß keine ihrer Stralilen direkt durch die ( )ffnung
auf die Platte fallen konnten. Nach sehr langer
Belichtung entstand eine Aufnaiiiiie, auf der sich die
Umrisse der Gegenstände erkennen lassen.
Ebenfalls in der Physikalischen Zeitschrift
Seite 715 veröffentlicht H. Roh mann (Straßburg)
die Röntgenspektren einiger Metalle, die
er mit seinem Röntgenspektroskop') mit
dem gebogenen G 1 i m m e r b 1 ä 1 1 c h e n er-
halten hat. Er benutzt eine Röhre, deren Antika-
thodenansatz mit einem Schliff versehen ist, so
daß die verschiedenen Metalle (Ni, Cu, Zn, Mo,
Ag, Fl, An, Th) nacheinander eingeführt werden
können. Die Vorderfläche der Röhre wird durch
eine aufgekittete Messingplatte gebildet, in der ein
I mm breiter und 4 cm langer Schlitz angebracht
ist. Dieser wird durch ein dünnes Alu miniumblättchen
nach Art der Lenard Röhren verschlossen und
dient als Spalt. Während der '/., bis 1 Stunde
dauernden Aufnahmen bleibt die Röhre mit der
Gaedepumpe in Verbindung, da die Antikathode
dauernd Gas abgibt. Die sämtlichen Spektren zeigen
eine Reihe von ziemlich scharfen Linien; Silber
liefert ein intensives kontinuierliches Spektrun.
K. Schutt, Hamburg.
Biologie. Die Raupen der meisten Bläulings-
arten (Lycaenidae) leben an Schmetterlingsblütlern
(Papilionaceae). Einige stehen in einem merk-
würdigen Verhältnis zu Ameisen, welche den von
ihnen abgeschiedenen süßen Saft auflecken und ihre
Leibwache bilden.
Alluaud und R. Jeannel (CR. Ac. sc. Paris
16, 20. April 1914) fanden in Gallen an den
Ästen einer ostafrikanischen Akazienart, die von
Kolonien einer Ameisenart der Gattung Crema-
stogaster spec. bewohnt wird, die Raupen einer
morphologisch und biologisch überaus merkwür-
digen Lycaenidenart. Sie ist etwa 10 mm lang
und hat wie die Raupe der anderen Arten, eine
asseiförmige Gestalt. Der Rücken ist außer-
ordentlich stark gewölbt, und die Segmente durch
tiefe Einschnitte getrennt, so daß sie in ihrem
Aussehen einer Käferschnecke (Chiton) gleicht.
Der Rücken ist trüb grau gefärbt und mit schwärz-
lichen Punkten übersät. Die Haut trägt lange
und kurze zylindrische Haare, sowie kelch- und
ringförmige Chitingebilde. Die von der Raupe
bewohnte Galle ist hohl und hat eine Öffnung
von etwa i mm Durchmesser. Die Ameisen
sammeln in derselben die Kelchblätter der Akazie.
Da der Durchmesser der erwachsenen Raupe viel
größer ist, als jener der Eingangsöffnung in die
Galle, muß die Raupe direkt nach dem Aus-
schlüpfen aus dem Ei hineingelangt sein.
Aus der indo australischen F"auna ist eine
Lycaenide bekannt, deren ganze Entwicklung in
dem Nest erdbewohnender Ameisen verläuft. Die
Raupe ist fleischfressend und lebt von den Larven
und Puppen ihres Wirtes.
') Der tJnterzeichnete hat kürzlich in dieser Zeitschrift
darüber berichtet.
6i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 39
Daß die neue Form dagegen pflanzenfressend
ist — sie frißt wahrscheinHcli die von den Ameisen
gesammelten Kelchblätter der Akazie, — geht
aus den schwach entwickelten IVIundgliedmaßen
hervor. Kathariner.
Zoologie. Dinoflagellaten als Ursache des roten
Schnees. Bisher wurden die Flagellaten Euglena
sanguinea und Haematococcus (Sphaerella)
nivalis als einzige Veranlasser des roten Schnees,
der besonders im Gebirge eine nicht seltene Er-
scheinung ist, angesehen. Die interessante Tat-
sache, daß auch massenhaftes Auftreten von Dino-
flagellaten Rotfärbuiig hervorrufen kann, wird von
M. Traun st ein er in der „Ztschr. d. mikr. Ges."
(Bd. 6, 1914) berichtet. In der Langau bei Kitz-
bühel traten in einem kleinen gefrorenen Fisch-
teiche, der im Sommer von einer reichen Orga-
nismenwelt, darunter auch Peridineen bewohnt
ist, gegen Ende Februar im schmelzenden Firn-
schnee ziegelrote Flecke von bedeutender Breite
und Tiefe auf Das Schmelzwasser im Teiche
wie in den Kulturen zeigte sich ebenso wie der
am Rande des Teiches gesammelte rötliche
Schnee gleichmäßig von roten Stäubchcn durch-
setzt, die sich bei mikroskopischer Untersuchung
als eine Unzahl von Peridineen erwiesen. Die
Frage, ob es sich hierbei um eine speziell an das
Leben im Schnee angepaßten Art der Gattung
Peridinium, mit welchem die Flagellaten eine
gewisse Ähnlichkeit zeigen oder nur um eine
vorübergehende Erscheinung einer sonst unter
normalen Umständen gedeihenden Peridinee handelt,
läßt Verf. zunächst offen. Für die Zugehörigkeit
zur Gattung Glenodinium spricht hinwieder
die Tatsache, daß die jungen Zellen vollständig
nackt sind, während sich an älteren beim Zusatz
Fl e m m i n g'scher Lösung die Ablösung einer dünnen
Membran konstatieren läßt. Die Form unter-
scheidet sich von Glenodinium oculatum,
mit dem es am meisten Ähnlichkeit hat, durch
die Größe (0,030 — 0,040 mm) und auffallend rote
Färbung im Zellinnern, die ihren Sitz sowohl im
Plasma als auch in zahlreichen Oltropfen hat.
Die Tatsache, daß die Randzone gewöhnlich von
strahlig geordneten gelbgrünen Chromatophoren,
bei den aus Schnee aufgetauten Individuen aber
nur von farblosen Körnchen erfüllt ist, meint
Verf. als Anpassung an die jeweilige Temperatur-
und Lichtverhältnisse auffassen zu müssen. Die
roten Peridineen zeigen eine sehr große Licht-
empfindlichkeit, die mit der Rotfärbung des
Inneren steigt. Die Zysten sind je nach den Be-
dingungen, durch die ihre Bildung hervorgerufen
wird, von verschiedener Form: die durch Tempe-
raturerniedrigung erzeugten sind eiförmig und
an den Enden farblos (wie die Schneeformen der
beweglichen Zellen) die sich in längerstehenden
Kulturen entwickelnden (Sauerstoffmangel !) sind
rotgrün und weisen eine dicke, verquellende Mem-
bran auf Solche Dauerzysten fand Verf massen-
haft an den Ranunculusrasen und in Eisenflocken
des von Mitte März an aufgetauten Teiches. Die
Annahme, daß sie wenigstens z. T. aus den roten
Peridineen entstanden, ist nicht von der Hand zu
weisen. Auch die umgekehrte Annahme, „daß
auch die roten Peridineen aus Zysten, die im
Herbst in die Schnee- und Eismassen über dem
Teich gelangt sein könnten, entstanden sind",
liegt nach Meinung v. Verf nahe.
R. Aichberger.
Physiologie. Die Zunahme der Zahl der Blut-
körperchen mit der Höhe soll nach der Meinung
verschiedener Forscher nicht auf einer wirklichen
Neubildung von Blutkörperchen beruhen, die Ver-
mehrung soll vielmehr nur relativ sein und auf
einer Konzentration des Blutserums infolge der
barometrischen Depression beruhen.
Um diese PVage zu entscheiden, haben Raoul
Bayeux und Paul Cheva liier (Recherches
comparatives sur la concentration du sang veineux
et du sang arteriel ä Paris, ä Chamonix et au
mont Blanc, par l'etude refractometrique du serum.
C. R. Ac. sc. Paris Nr. 21, 25 mai 1914). Unter-
suchungen mit menschlichem Venenblut und mit
arteriellem und venösem Blut des Kaninchens in
verschiedenen Höhenlagen angestellt, in Paris, in
Chamonix (1050 m) und auf dem Mont Blanc
(4360 m). Zur Bestimmung der Konzentration
des Serums diente der refraktometrische Index.
Nach den Arbeiten von Reiß und anderen ist
derselbe abhängig von dem Eiweißgehalt des
Serums. Die Schwankungen im Gehalt an Harn-
stoff können dabei vernachlässigt werden. Der
Eiweißgehalt wurde bestimmt nach den Tabellen
von Reiß für eine Temperatur von 17, 5". Das
menschliche Blut wurde durch Punktieren einer
Hautvene gewonnen; arterielles und venöses Blut
des Kaninchensaus der Arteria und Vena femoralis.
Das geronnene Blut wurde in einem hermetisch
verschlossenen Röhrchen aufbewahrt und durch-
schnittlich nach Verlauf von 18 Stunden untersucht.
Die Forscher verweilten zwei Monate in Cha-
monix und 9 Tage im Mont Blanc-Observatorium.
Wie die Bestimmungen ergaben, stieg die Kon-
zentration des Serums mit der Höhe; es trat eine
Anpassung ein, indem die Konzentration mit der
Zeit wieder abnahm. Am stärksten war sie am
Ende des Aufenthalts auf dem Mont Blanc bei
Chevallier; zugleich stellten sich Anfälle der
Bergkrankheit ein. Der refraktometrische Index
und der Eiweißgehalt betrug beim Kaninchen in
Paris im arteriellen Blut durchschnittlich 1,34619
bzw. 59,4, im venösen Blut 1,34709 bzw. 64,6;
in Chamonix 1,34678 bzw. 62,8; auf dem Mont
Blanc 1,34780 bzw. 68,77; für ^^^ venöse Blut
sind die entsprechenden Zahlen 1,34756 bzw. 67,34
und 1,34888 bzw. 75,05.
Zusammenfassend kann man also sagen, daß
der refraktometrische Index des Blutserums auf
der Höhe des Mont Blanc jenen in Chamonix und
in der Ebene übertrifft, daß das Serum des venösen
Blutes konzentrierter ist, als jenes des arteriellen,
N. F. XIII. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
619
daß der Unterschied mit der Höhe ausgesprochener
wird und eine Konzentration des Blutserums in
größeren Höhenlagen eintritt. Kathariner.
Astronomie. Die Veränderlichkeit der Satel-
liten des Jupiter und Saturn hat Guthnick von
neuem behandelt (Astr. Nachr. 4741) und eine
Anzahl Beobachtungsreihen verarbeitet; 4 Monde
des Jupiter und 6 des Saturn, deren Veränderlich-
keit zum Teil schon lange feststand. Während
man aber bisher annahm, daß deren Lichtwechsel
zusammenfalle mit ihrer Umlaufszeit, daß sie also
ebenso wie unser Mond ilircm Hauptkörper immer
dieselbe Seite zudrehen, kommt Guthnick auf
Grund eines sehr eingehenden Studiums der Licht-
kurven zu ganz überraschenden Ergebnissen. Die
beiden inneren Monde beider Planeten zeigen
Kurven ähnlicher Form, bei denen das Maximum
der Helligkeit in der Gegend der östl. Elongation
liegt; die äußeren Monde beider Systeme zeigen
das umgekehrte Verhalten, und die noch fehlenden
Monde gehören zeitweise dem einen, zeitweise
dem anderen Typus an. Sie haben stark ver-
änderliche Lichtkurven. Nun zieht Guthnick
die Werte der Albedo und der Dichtigkeiten der
einzelnen Monde heran, und stellt fest, daß, je
geringer die Dichte, um so geringer auch die
Albedo. Ferner wie in der Anordnung der Pla-
neten, die äußeren Monde sind die weniger dich-
ten. Im übrigen erinnert der Charakter der Lich-
kurven sehr an die veränderlichen Sterne vom
Typus ö Cephei. Die Trabanten stellen eine Ent-
wicklungsreihe dar, sie sind mit mehr oder weniger
hohen Atmosphären bedeckt, die Wolken oder
Wasserdampf enthalten. Entsprechend der Er-
klärung des Lichtwechsels der ö Cepheisterne [vgl.
diese Zeitschrift 1914, Seite 140/141] ist auch hier
die Erklärung der Veränderlichkeit in der Bahn-
bewegung zu suchen. Man muß annehmen, daß
sich in den Systemen von Jupiter und Saturn ein
dünnes, die Bahnbewegung nicht merklich hem-
mendes Medium befindet, unter dessen Einfluß
die Satellitenatmosphären ganz merkwürdige meteo-
rologische Verhältnisse ausgebildet haben müssen,
die sich je nach der physischen Beschaffenheit
eben in dem Lichtwechsel ausprägen. Man kann
auch diese Annahme verallgemeinern, und das
ganze Sonnensystem von einem solchen Medium
ausgefüllt denken, auf das eine ganze Anzahl von
Beobachtungen hinweisen. Wird doch sogar bei
der Erde trotz ihrer schnellen Umdrehung eine
Abhängigkeit meteorologischer Vorgänge von der
jedesmaligen Richtung der Bewegung gegen den
Apex oder den Antiapex vermutet. Sehr genaue
Messungen auch an den andern Trabanten müssen
noch mehr Licht auf diese Erscheinungen werfen.
Riem.
Bodenkunde. Worauf beruht die ungünstige
Wirkung des Nadelhumus? Wie dem Forstmann
längst bekannt ist, wirkt der Humus verschiedener
Bäume in ungleichem Maße auf das Wachstum
der Pflanzendecke ein. Am besten soll Haselhumus
wirken, dann in abnehmendem Maße Buche, Ahorn,
Flrle, Ulme, Linde, Akazie, Esche, Eberesche. Ganz
besonders ungünstig wirkt die durch Zersetzung
von Nadelstreu entstehende Humusdecke auf den
Pflanzenwuchs ein, so daß in ihr Sämlinge von
Waldbäumen, sogar die der Nadelbäume selber
sowie anderer Pflanzen nur sehr kümmerlich fort-
kommen, in vielen Phallen sogar ein solcher Boden
fast ganz steril bleibt. Die Aufdeckung der Ursache
dieser Erscheinung ist von erheblicher forstwirt-
schaftlicher Bedeutung, wenn man in Erwägung
zieht, daß in Deutschland in dem Bestreben, frei
werdende I'lächen mit Nadelholz zu besiedeln, in den
Jahren 1890 — 1910 die Laubholzfläche um looooo
ha abnahm, während die mit Nadelholz aufgeforstete
um 200000 ha zunahm. Auch der Gärtner bemerkt
diese schädliche Wirkung der Tannennadeln, wenn
er nach dem Wegräumen des zum Bedecken von
Rosen und anderen Pflanzen benutzen Nadelholz-
reisigs sieht, daß der Rasen unter dieser Decke
zugrunde gegangen ist.
In vielen Fällen beruht die auffallende Armut
des Nadelholzbodens an Pflanzen auf dem dichten
Schatten, der im Nadelwald herrscht. Er läßt
aus diesem Grunde ebenso wie z. B. in den Tropen
das Bambusgebüsch nichts aufkommen. Doch
trifft dies nicht so durchgehends zu, daß die frag-
liche Erscheinung vollständig dadurch erklärt wäre.
Dann spielen zweifellos die Feuchtigkeitsverhält-
nisse insofern eine Rolle als die flachstreichenden
Wurzeln der Nadelhölzer die oberflächlichen Boden-
schichten stark austrocknen. Das hat z. B. Fr icke
zeigen können, indem er junge Föhren durch
Ringgräben isolierte und damit die starken Wurzeln
der umstehenden älteren Bäume abschnitt. Solche
Föhren zeigten eine auffallend üppige Entwicklung
und gleichzeitig tauchten auch zahlreiche Wald-
kräuter auf dem isolierten Terrain auf.
Schließlich weisen viele Erfahrungen darauf
hin, daß auch eine Gift Wirkung in Betracht
kommen könnte, die von den ätherischen Ölen
sowie anderen Stoffwechselprodukten als Gerb-
stoffen, Harzen, Ameisensäure, die in der Nadel-
streu enthalten sind, ausgehen könnte. A. Koch
hat nun in einer eingehenden Untersuchung, der
wir hier folgen, speziell diese PVage der eventuellen
Giftwirkung geprüft (Zentralbl. f. Bakteriologie
usw. II. Abteilung, Bd. 41. S. 545, 1914)- Daß
ätherische Öle wirklich giftig sind, geht aus vielen
Tatsachen hervor. So gehen Pflanzen, die den
Dämpfen ätherischer Öle ausgesetzt werden, bald
zugrunde; Spatzen fressen keine Umbelliferen-
früchte, wie Stahl beobachtete, ja sie sterben, wenn
man ihnen 5 Früchte des Kümmels oder 15 des
Fenchels einführt! Bekannt ist auch die desin-
fizierende Wirkung ätherischer Öle, die der der
kräftigsten bakterientötenden Mittel, wie z. B.
Sublimat nahekommt. Das zeigt sich auch darin,
daß manche ätherische Öle enthaltende Pflanzen-
abkochungen erst nach einiger Zeit eine Entwick-
lung von Bakterien und Schimmelpilzen erkennen
620
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. XIII. Nr. 39
lassen. Das gilt aber auch für andere in pflanz-
lichen Resten häufig vorkommende Stoffe, wie die
Gerbstoffe, deren bakterienhemmende Wirkung in
der Gerberei ausgenutzt wird, die Ameisensäure,
die infolge ihrer giftigen Wirkung auf l'ilzc, Hefen,
Bakterien als Fruchtsaftkonservierungsmittel ge-
braucht wird, die Harze, die die Griechen seit den
ältesten Zeiten bis auf den heutigen Tag zum
Wein hinzusetzen, um ihn vor dem Essigstich
und dem Kahmigwerden zu bewahren. Auch in
der Spiritusbrennerei wenden die Franzosen einen
kleinen Harzzusatz an, um die unerwünschte Bak-
terienwirkung zu hemmen.
Die Wirkung solcher ätherischer Öle, Terpene,
Harze usw. könnte einmal eine direkte sein, indem
die Pflanzen in einem solche Stoffe enthaltenden
Boden vergiftet werden, oder eine indirekte, indem
das „Leben" des Bodens, d. h. die Tätigkeit der
IVlikroorganismen in ihm, in einer schädlichen
Richtung beeinflußt wird. Kulturversuche in
Buchen- und Fichtenhumus, der aus Sieber im
Harz stammte, überzeugten zunächst von der
Richtigkeit der scliädlichcn Wirkung des letzteren.
Buchweizen z. B. wuchs im Ficlitenhunuis nur
halb so kräftig als im Buchenhumus, Buchen- und
Fichtenkeimlinge verkümmerten oder gingen gar
ganz ein in ersterem, während sie in letzterem
normal gediehen. Dabei zeigte aber die chemische
Analyse, daß beide Ilumussorten einen Gehalt an
Gesamtstickstoff und an Salpeter besaßen, der
denjenigen einer guten Ackererde ganz bedeutend
übertrifft. Dasgleiche gilt für den Gehalt an
Phosphorsäure und Kalium.
Koch hat nun zunächst verschiedene Keim-
pflanzen mit ätherischen Ölen behandelt (Terpen-
tinöl, Carven, Bornylester, Edeltannenöl, Kiefernöl
usw.). indem er Samen in mit solchen Stoffen
versetzter Erde keimen ließ. Es zeigte sich, daß
wirklich eine schädigende Wirkung eintrat, doch
machte sie sich hauptsächlich in den ersten
Keimungsstadien bemerklich, und ferner nur dann,
wenn die Samen vorher angequollen waren. Edel-
tannenöl wirkte wenig schädlich, desgl. Tannin
und Kolophonium, sehr dagegen Ameisensäure.
Auch bei älteren Pflanzen war die Wirkung an-
fänglich am stärksten und flaute dann ab.
Was nun die Wirkung der oben genannten
Stoffe auf niedere Organismen anlangt, so ver-
hinderte Carven die Hefengärung vollständig in
einer Konzentration von i Proz, die übrigen Che-
mikalien hemmten nur mehr oder weniger stark.
Bornylester und Carven setzte die Zahl der Bak-
terien in Erdproben stark herab, während Ter-
pentinöl fast gar nicht und Edeltannenöl sogar
umgekehrt wirkte. In Milch wurde meist eine
Herabsetzung der Säurebildung gefunden, besonders
bei Terpentin und Kiefernöl. Ganz ähnlich schützen
diese Stoffe das Bier gegen Essiggärung. Auch
die Harnstoffgärung und Nitrifikation , d. h. die
O.xydation des Ammoniaks zu Nitrat wird im all-
gemeinen gehemmt, aber nur vorübergehend. Die
weiterhin gefiuidene Tatsache, daß die Zellulose
der Fichtennadeln die Zerstörung der Nitrate, d li.
also die Denitrifikation begünstigt, steht in einem
Gegensatz zu dem hohen Gehalt der F'ichtenstreu
an Nitraten, der oben erwähnt wurde. Überhaupt
war die Slickstofffrage nicht ganz befriedigend
aufzuklären. Laub- nnd Fichtennadelhumus zeigten
die gleiche Denitrifikation, doch ist möglicherweise
die Schnelligkeit der Salpeterzerstörung verschieden.
Deutlich wurde die Zersetzung von Fließpapier
durch zellulosezersetzende Bakterien gehemmt,
wenn z. B. Edeltannenöl, Terpentin, Kolophonium
oder Tannin zugesetzt wurden.
Wenn auch im einzelnen noch manche Un-
klarheiten eine präzise Beantwortung der Frage,
weshalb der Nadelstreuboden minderwertig ist,
heute unmöglich machen, so scheint doch so viel
aus den Versuchen des Verfassers hervorzugehen,
daß in der Tat der Giftwirkung der in den Nadeln
enthaltenen ätherischen Öle, Harze usw. eine direkte
oder eine indirekte Bedeutung bei dem Problem
zukommt. Miehe.
Bücherbesp
Ehrlich, Paul, Eine Darstellung seines
wissenschaftlichen Wirkens. Von H.
A p o 1 a n t , Frankfurt a. M. ; H. A r o n s o n , Ber-
lin; H. B e c h h o 1 d , Frankfurt a. M. ; J. B e n a r i o ,
p>ankfurt a. M. ; L. Benda, P'rankfurt a. M. ;
A. B e r t h e i m , Frankfurt a. M. ; K. B i e r b a u m ,
PVankfurt a. M. ; K. E. Boehncke, Frankfurt
a. M. ; V. C z e r n y , Heidelberg ; E. v. D u n g e r n ,
Hamburg; A. Edinger, Frankfurt a. M.; G.
Embden, Frankfurt a. IVI. ; U. P'riedmann,
Berlin; G. Gaffky, Hannover; R. Gonder,
Frankfurt a. M.; S. Hata, Tokio; A. C. Hof,
Frankfurt a. M.; M. Jacoby, Berlin; A.Laza-
rus, Charlottenburg; C. Levaditi, Paris; Th.
Madsen, Kopenhagen; L. H. Marks, Frank-
rechungen.
fürt a. M. ; E. Marx, Frankfurt a. M.; L. IMi-
chaelis, Berlin; J. Morgenroth, Berlin; P.
Th. Müller, Graz; A. Neisser, Breslau; M.
Ne isser, Frankfurt a. M.; R. Otto, Berlin;
H. Ritz, Frankfurt a. M.; H. Sachs, Frank-
furt a. M.; G. Schöne, Greifswald; K. Shiga,
Tokio; W. Waldeyer, Berlin; A. v. Wasser-
mann, Berlin; A. v. Weinberg, Frankfurt
a. M.; R. Will stätter, Berlin. Festschrift
zum 6o. Geburtstage des Forschers (14. März
1914). 668 S. Mit I Bildnis. Gustav Fischer,
Jena 1914. Brosch. Mk. 16. — , geb. Mk. 17.— •
Die von den genannten Forschern, zum großen
Teile Autoritäten auf ihrem Gebiet, gelieferten
Beiträge werden in fünf Kapiteln zusammengefaßt:
N. F. Xm. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
621
Histologie und Biologie der Zellen und Gewebe.
Immunitätsforschung, Geschwulstforschung, Chemie
und Biochemie, Chemotherapie.
Voraus geht eine biographische Darstellung,
während ein vollständiges Verzeichnis der Ver-
öffentlichungen Ehrlich's, sowie der Arbeiten, die
aus den von ihm geleiteten Instituten hervor-
gegangen, bzw., unter seiner Leitung entstanden
sind (bis zum i. Februar 1914), den Band schließt.
Kathariner.
HeinrichSchmidt, Jena, Was wir Ernst Haeckel
verdanken. Ein Bucii der Verehrung und Dank-
barkeit. Im Auftrag des deutschen Monisten-
bundes herausgegeben. 2 Bde. mit 12 Abb.,
darunter 5 Haeckel -Porträts. Leipzig 1914,
Verlag Unesma. — Preis 8 Mk.
Zum 80. Geburtstag Ernst Haeckel's hat
der Deutsche Monistenbund vorliegende P'est-
schrift herausgeben lassen, die von einem „Prolog
der Weihe" eingeleitet wird; daran reihen sich
eine 172 Seiten umfassende Abhandlung von
Heinrich Schmidt über Haeckel's Bedeutung
für die allgemeine Kultur, ein Verzeichnis der
Schriften Haeckel's und 123 meist ganz kurze
Aufsätze von Schülern und Anhängern des grei-
sen P'orschers. Darunter befinden sich Beiträge be-
kannter Biologen, wie z. B. die von Richard
Semon, München; Hermann von Ihering,
Sao Paulo, Brasilien; Paul Kammerer, Wien;
Jac. Loeb, New York; Richard von Hert-
wig, München; Alfred Gre il, Innsbruck; Max
Verworn, Bonn; Wilhelm Schallmayer,
München u. a.
Die Aufsätze behandeln die Beziehungen der
.Autoren zu Haeckel, Haeckel's Einfluß auf
sie und ihre Ansichten über Haeckel's Einfluß
auf die kulturelle Entwicklung der Menschheit.
Der Eindruck, den man aus den Aufsätzen be-
kommt ist der: Der große Jenenser Biologe hat
mehr dazu beigetragen, der freien Naturforschung
den Weg zu bahnen, Licht und Aufklärung zu
verbreiten, als irgendein anderer einzelner Forscher.
Was wäre aus dem ,, Darwinismus" geworden,
wenn nicht Haeckel mit seiner bewunderungs-
würdigen Furchtlosigkeit die Lehren Darwin 's
verkündet und unermüdlich für ihre Verbreitung
gearbeitet hätte!
Besonders lesenswert ist die Abhandlung
Heinrich Schmidt's, welche zuerst den Fort-
schritt der Naturerkenntnis wie die ihm bereiteten
Hemmungen in der Zeit vor Haeckel's Auftreten
darstellt; dann werden Haeckel's Lebensgang
und sein Wirken für die Wissenschaft und Gewissen-
freiheit ausführlich und objektiv geschildert.
Schließlich sei noch besonders verwiesen auf
Joseph Mc. Cabe's „Ernst Haeckel in Eng-
land" und des amerikanischen Ethnologen Robert
H. Lowie's ,, Haeckel's Verhältnis zu Amerika".
Beide Aufsätze zeigen deutlich, daß Haeckel's
Einfluß sogar im Bereich des englischen Kultur-
kreises größer war, als der irgendeines englisch
sprechenden Naturforschers, Darwin selbst nicht
ausgenommen.
Die Ausstattung der Festschrift ist eine gute
und die Bilder sind prächtig ausgeführt.
H. Fehlinger.
Nufsbaum, M., Karsten, G., Weber, M., Lehr-
buch der Biologie für Hochschulen.
2. Aufl. Mit 252 Tcxtabbild. Leipzig und
Berlin 1914, W. Engelmann. — Preis geb.
13,25 Mk.
Der Hauptwert des Buches, für dessen Beliebt-
heit diese bereits nach 3 Jahren notwendig ge-
wordene 2. Auflage spricht, liegt darin, daß es
gleicherweise Botanik und Zoologie berücksichtigt.
Referent möchte zunächst zur prinzipiellen Klä-
rung einige naturgemäß rein subjektive Bemer-
kungen vorausschicken, von denen aus dann ein
Rückblick auf das vorliegende Buch zu werfen
wäre. Als Ziel einer allgemeinen Biologie, die
in der Tat ein zweifellos vorhandenes Bedürfnis
befriedigen würde, dächte er sich, das organische
Leben in seinem Zusammenhange darzustellen,
von einheitlichem Standpunkte aus eine Total-
ansicht der vielgestaltigen im Wechselspiel mit
der umgebenden Natur sich bildenden Formen
und sich betätigenden Kräfte zu versuchen. In
den Bereich einer solchen Darstellung würde der
Gesamtbestand alles dessen gehören, was an ge-
sicherten Tatsachen Botanik und Zoologie über
die bloße systematische Beschreibungs- und In-
ventarisierungsarbeit hinaus geleistet haben, immer
mit dem Ziel, nicht diese durch morphologische,
anatomische, oder experimentell-physiologische
Forschung eruierten Tatsachen zu registrieren
(das tun die üblichen Lehrbücher und sollen es
tun), sondern sie in einer ganz bestimmten Weise
und zwar so zu gruppieren und zu beleuchten, daß
der Leser die näheren und ferneren Zusammenhänge
durchschaut, die die Einzelphänomene miteinander
verknüpfen. Als Grundlage dächte sich Referent
überall die Physiologie, sonst würde eine ,, Allge-
meine Biologie" herauskommen, wie sie mit Un-
recht O. Hertwig sein Buch nennt. Es dürften
aber auch nicht nur die herkömmlichen biolo-
gischen Themen berücksichtigt werden, sondern
auch das, was meist als die Domäne der experi-
mentellen Physiologie bezeichnet wird. Denn mir
scheint, daß die Biologie nicht ein gewisses Stoff-
gebiet umgrenzt, sondern nur eine bestimmte Art
der Darstellung bedeutet. Als einen interessanten
Versuch einer solchen Darstellung möchte ich
hier zur Illustration meiner Auffassung z. B. die
„Aligemeine Botanik" von A. Nathan söhn an-
führen. Schließlich dürfte nirgends die synthe-
tische Phantasie die nüchternen Tatsachen ver-
schleiern.
Schlagen wir nun das vorliegende Buch auf,
so überrascht zunächst die Einteilung. Wir finden
nämlich zunächst einen Abschnitt über experi-
mentelle Morphologie, der mit Ausnahme einiger
weniger flüchtiger botanischer Exkurse ganz zoo-
622
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 39
logisch ist. Dann schließt sich daran die Biologie
der Pflanzen und die der Tiere. Damit ist in den
Plan des Buches eine gewisse Ungleichmäßigkeit
gekommen. Es ist nicht einzusehen, weshalb den
nach den oben entwickelten Gesichtspunkten be-
arbeiteten Abschnitten einer vorausgeschickt wird,
der eine Spezialdisziplin behandelt. Daß es sich
hier, wie die Vorrede ausführt, um ein allmählich
selbständig gewordenes Gebiet von gewisser Be-
deutung handelt, das eine zusammenhängende
Darstellung verdient, soll nicht bestritten werden.
Nur ist es fraglich, ob sie als selbständiger Teil
den anderen gegenübertreten darf. Man könnte
dann auch mit demselben Rechte eine analoge
Darstellung der botanischen Tatsachen verlangen
oder meinetwegen auch andere sich selbständig
herausarbeitende Zweige der Biologie, wie z. B.
die Vererbungslehre gesondert darstellen. Um
nicht mißverstanden zu werden, möchte ich
noch betonen, daß dieser Abschnitt durchaus ver-
dienstlich ist, daß er mir aber aus dem Plane
des Buches trotz der Rechtfertigung in der Vor-
rede herauszufallen scheint. Karsten umgrenzt
die Aufgabe der Biologie mit den Worten, sie
frage nach der Bedeutung der durch die äußeren
Einflüsse hervorgerufenen Lebenserscheinungen der
Pflanzen für ihr Eeben ; ich befinde mich also hier
durchaus in Harmonie mit ihm. Nur wäre viel-
leicht erlaubt, zu fragen, weshalb eine Anzahl ge-
rade der auffälligsten Lebenserscheinungen wie
z. B. Geotropismus, Heliotropismus u. a. von einer
solchen biologisch orientierten Darstellung aus-
geschlossen werden. Auch der letzte Abschnitt
von Max Weber ist im ganzen nach einem ein-
heitlichen biologischen Gesichtspunkte geschrieben,
doch würde man auch hier gelegentlich noch eine
Erweiterung des Stoffes wünschen. So z. B. ist,
soweit ich sehe , hier (ebensowenig wie in dem
botanischen Abschnitt) die Beziehung der Orga-
nismen zum Sauerstoft', kurz das große und wich-
tige Kapitel der Atmung nicht im Zusammenhange
dargestellt.
Schließlich wäre es sehr instruktiv gewesen,
wenn in einem besonderen Abschnitte die großen
Wechselbeziehungen zwischen Tieren und Pflanzen
geschildert wären, wobei sich gerade aus der
Welt der Mikroorganismen noch manche wichtige
Einzelheit hätte heranholen lassen.
Die Darstellung verdient alles Lob. Sie
läßt überall Erfahrung, Sachkenntnis und Kri-
tik erkennen. Besonders wertvoll sind die Lite-
raturnachweise, die in den ersten beiden Ab-
schnitten jedem Kapitel, im letzten dem Schluß
angefügt sind, sowie die guten und instruktiven
Abbildungen.
Der Inhalt des Werkes ist der folgende: M.
Nußbaum behandelt nach einem umfangreicheren
Kapitel, in welchem die Regenerationerscheinungen
in den verschiedenen Gruppen des Tierreiches
geschildert werden, in weiteren kürzeren die Ka-
stration, die Transplantation, die künstliche Be-
fruchtung, die Pfropfungen (wo, wie mir scheint.
die fundamentalen Versuche Winkler's zu wenig
hervortreten), die Parabiose, d. h. die Erscheinungen,
die ganze, zusammengeheilte Individuen zeigen,
die Symbiose, die Doppel- und Mehrfachbildungen,
den Riesen- und Zwergwuchs, die künstliche
Parthenogenese, die Abhängigkeitsverhältnisse der
Organe, sowie die txpcrimentell hervorrufbaren
Abänderungen, den Einfluß des Hungers, die funk-
tionelle Anpassung, die Teilbarkeit der Organis-
men, die Polarität und Heteromorphose und die
experimentelle Erzeugung des Geschlechtes.
G.Karsten schildert nach einer allgemeinen
Einleitung zunächst die Hauptgruppen der ein-
zelligen Organismen nach wesentlich morpholo-
gischen und entwicklungsgeschichtlichen Gesichts-
punkten und geht dann zur Darstellung der Öko-
logie der Keimung, der Ernährung (die mir be-
sonders gelungen erscheint) und der Fortpflanzung
über. Den Schluß machen die Kapitel über PVucht-
und Samenverbreitung, über die Beziehungen der
Pflanzen zu gesellig lebenden Tieren, in dem sich
eine moderne Darstellung der Myrmekophilie fin-
det, und über das Zusammenleben der Pflanzen,
wo wichtige pflanzengeographische Prinzipien auf
physiologischer Basis entwickelt werden.
M. Weber beginnt mit einem Kapitel über
Wachstum, Lebensdauer und Tod, erörtert dann
die Form und ihre Bedingungen, die Körper-
größe und einige ihrer Bedingungen, die Örts-
veränderung und Sessilität, die Färbung, Zeichnung
und den Earbenwechsel, die Lautäußerung, die
Gerüche und das Leuchten der Tiere. Ein größeres
Kapitel behandelt die Lebensbedingungen der Tiere:
Temperatur, Ernährung, Licht, Wohnraum, ein
weiteres die Verbreitung und Wanderung der
Tiere; dann folgt die Fortpflanzung und den Be-
schluß macht eine Schilderung der Beziehungen
der Tiere zueinander.
Wir können das Buch dem Studenten wie dem
Forscher, der das Bedürfnis fühlt, sich den Über-
blick über das Gesamtgebiet der Biologie zu
wahren, durchaus empfehlen. Miehe.
L. V. Bortkiewicz. Die radioaktive Strah-
lung als Gegenstand wahrscheinlich-
keitstheoretischer Untersuchungen.
84 Seiten mit 5 Textfiguren. Berlin 1913, J.
Springer. — Preis geh. 4 Mk.
Die vorliegende Schrift enthält eine ins Ein-
zelne durchgeführte kritische Darlegung der mathe-
matischen Methoden, welche dazu dienen, die aus
der Beobachtung von Szintillationen zu gewinnen-
den experimentellen Daten über die Gesetze der
radioaktiven Strahlung einer wahrscheinlichkeits-
theoretischen Prüfung zu unterziehen. Es handelt
sich hierbei im wesentlichen um zwei Methoden.
Entweder werden die Zeitabstände zwischen je
zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Szintilla-
tionen betrachtet und die Verteilung ihrer Größe
studiert, oder aber es wird die Anzahl der Szin-
tillationen beobachtet, die sich in Zeiträumen von
bestimmter Dauer ereignen und die auftretende
N. F. XIII. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
623
Schwankung dieser Zahlen untersucht. Im letz-
teren Fall kann entweder der ganze Zeitraum,
über den sich die Beobachtung erstreckt, in gleiche
Zeitintervalle zerlegt werden, auf welche jeweils
eine kleine Anzahl von Szintillationen entfällt, oder
es kann die für eine Anzahl von Zeiträumen ver-
schiedener Länge festgestellte große Anzahl von
Szintillationen darauthin geprüft werden, ob sich
ihr Verlauf im Hinklang mit der Wahrscheinlich-
keitstheorie befindet.
Verf gibt eine eingehende aligemeine Dar-
stellung dieser einzelnen Betrachtungsweisen und
wendet diese dann an auf die bis jetzt vorliegenden
experimentellen Ergebnisse der Untersuchungen
von IVIarsden u. Barratt, Rutherford u.
Geiger und von Regen er. Damit ist gleich-
zeitig der Weg gezeigt, wie künftige Unter-
suchungen des Problems im Sinne möglichster
Korrektheit durchzuführen sind. A. Becker.
Wetter-Monatsübersicht.
Der vergangene August hatte in ganz Deutsch-
land einen etwas veränderlichen Witterungscharakter,
jedoch herrschte ruhiges, trockenes, heiteres Sommer-
wetter, besonders im Norden, bei weitem vor. Die
anfangs verhältnismäßig niedrigen Temperaturen
gingen seit dem 7. oder 8. beträchtlich in die Höhe,
am 10. August stieg das Thermometer in Aachen
und Magdeburg bis auf 31, am 11. beispiels-
weise in Trier, Frankfurt a M., Halle, Grünberg,
Icmj>cra[ur-Sßaxima einiaer ©m im t3uai^f IBl'f.
1. ^gguit 6. 11. ^ 2). *26. *. 31.
Berliner WcfferbuPOflu
Königsberg i/Pr. bis auf 32, in Dresden sogar
bis 33 " C. Bald darauf wurde durch frische
nördliche Winde die Hitze bedeutend gemildert,
in der Nähe der Ostseeküste, desgleichen z. B. zu
Dahme in der Mark kühlte sich die Luft während
mehrerer Nächte bis auf 7 " C. ab. Die Mittags-
temperaturen überschritten zwar noch meistens
20, jedoch nur vereinzelt 25 " C. Erst seit dem
24. August fand wieder eine stärkere Erwärmung
statt, am 27. wurden in Dahme und hVankfurt a ;ü.
nochmals 30" C. erreicht und bis zum Schlüsse
des Monats blieb das Wetter in Norddeutschland
bei größtenteils wolkenlosem Himmel hochsommer-
lich warm.
Auch die mittleren Monatstemperaturen lagen
östlich der Elbe mehr als einen Grad, im Nord-
westen einige Zehntelgrade über ihren normalen
Werten, während sie in Süddeutschland ein wenig
zu niedrig waren. Die Anzahl der Sonnenschein-
stunden nahm ebenfalls in der Richtung von Nor-
den nach Süden ab und zwar im allgemeinen Durch-
schnitt etwas größer als gewöhnlich. In Berlin
z. B. hat während des vergangenen Monats die
Sonne an 254 Stunden geschienen, während hier
in den früheren Augustmonaten durchschnittlich
215 Sonnenscheinstunden verzeichnet worden sind.
Die Niederschläge traten der großen Mehrzahl
nach in Begleitung von Gewittern und daher
selbst in benachbarten Gebieten oft an sehr ver-
schiedener Stärke auf Am reichlichsten fielen sie
im allgemeinen während der ersten acht Tage
des Monats, in denen sich das schon am 23. Juli
eingetretene Regenwetter, obschon mit vielen Unter-
brechungen, überall fortsetzte. Namentlich im
Weichsel- und Odergebiete gingen in dieser Zeit
sehr heftige Regengüsse hernieder, die z. B. am
5. in Neufahrwasser 56, in Bcuthen 30, zwei
Tage später in Neufahrwasser 21, Beuthen
46 mm ergaben.
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/MonatssummemAug.
1914.13.12, II. 10. Of.
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Seit dem 9. August stellte sich in den meisten
Gegenden trockeneres Wetter ein, das im größten
Teile Norddeutschlands bis zum Schlüsse des Monats
anhielt. In Süddeutschland wiederholten sich noch
öfter starke, strichweise mit Hagelschauern ver-
bundene Regenfälle, blieben jedoch bis zum 23.
auch im Norden nicht gänzlich aus. Beispiels-
624
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 39
weise wurden am 17. August in Ludwigsharen46,
in Kaiserslautern 30, am 17. und 18. zusammen
in Worms 67, am 22. in Trier 23, in Essen 38,
in Bremervörde 51, am 23. in Swinemünde 39,
am 28. in Bamberg 40 mm Regen gemessen.
Die Niederschlagsunimc des Monats belief sich
für den Durchschnitt aller berichtenden Stationen
auf 50,7 mm und zwar um 25,6 mm geringer als
der Betrag, den die gleichen Stationen im Mittel
der früheren Auguslmonate seit dem Jahre 1891
geliefert haben.
In der allgemeinen Anordnung des Luftdruckes
in Europa vollzogen sich die Änderungen von
einem Tage zum andern im letzten Monat immer
nur sehr langsam. In seinen ersten zehn Tagen
zogen mehrere barometrische Minima vom atlan-
tischen Ozean über Schottland und Südskandi-
navien ins Innere Rußlands hin, während Südwest-
und Mitteleuropa sowie das nördliche Skandi-
navien gewöhnlich von Hochdruckgebieten ein-
genommen wurden. Am 11. August drang ein
Maximum vom biscayischen Meere langsam nach
Norden vor und breitete später sein Gebiet süd-
ostwäits bis nach Ostdeutschland aus. Etwas süd-
licher erschienen gleichzeitig vom westlichen Mittel-
meere her verschiedene flache Teildepressionen,
die längere Zeit im südwestlichen Teile des F'est-
landes verharrten, so daß jetzt in Deutschland
trockene nordöstliche Winde von sehr geringer
Stärke vorherrschen mußten. Erst im letzten
Monatsdrittel gelangte von Westen ein neues
Barometermaximum nach Mitteleuropa hin, von
wo es durch eine nachfolgende atlantische De-
pression ganz allmählich nach Osten verschoben
wurde. Dr. E. Leß.
Anregungen und Antworten.
Eine Korrektur der photomelrischen Gesetze? In Nr. 29
(19. Juli) dieser Zeitschrift entwickelt Dr. Schoy eine Formel
über die Bestrahlungsintensität der Sonne an der Oberfläche
der Atmosphären der Erde und Venus, wobei er zu dem Re-
sultat kommt, das J'J=4J6 (rund) sei. Da die Entfernungen
dieser beiden Planeten von der Sonne sich wie 7 : 10 verhalten,
so folgte hieraus, dal3 die Strahlungsintensität sich umgekehrt
wie die 4. Potenzen der Entfernungen verhalten würden. Die
bisherige Annahme, daß sie umgekehrt proportional dem
Ouadrate der Entfernung, wäre also falsch, und es verlohnt
sich darum vrohl, die erwähnte Ableitung näher prüfen, zu
welchem Zwecke sie hier kurz wiederholt sei. Da der schein-
bare Radius der Sonne auf der Erde ('/) zu dem auf der
Venus (1,") sich wie 7:10 verhält, so folgt, daß die Sonnen-
scheibe d. h. also die strahlende Fläche, von der Venus
i'ioV-'
I mal größer erscheint, als von der Erde aus, oder
1 o\.
Fl =11" F = 2F (rund). Hieraus wird nun der folgende
Schluß gezogen: „Nach dem Grundsatz der Photometrie ver-
halten sich aber die Beleuchtungsintensitäten I, u. J in 9 u-
Fi
14^
-5, d. i. ], :
4 .1 (rund)". In Worten
läßt sich dies folgendermaßen wiedergeben :
Die Intensitäten stehen zur Größe der strahlenden Flächen
im geraden, zum Quadrate ihrer Entfernungen im umgekehrten
Verhältnis. Da also die strahlende Fläche (Sonnenscheibe)
für Venus und Erde 10^ : 7'^, die Quadrate der Entfernungen
. J. 7" 10*
7- : 10-, so ist V = ^- = :
4 (rund). Der Leser wird
sofort bemerken, daß das Neue dieser Ableitung in der Her-
anziehung der scheinbaren Größe der Sonnenscheibe
liegt, und die Frage ist kurz diese, ob es auf die scheinbare
Größe, oder auf die für beide Planeten gleichbleibende
wirkliche Größe ankommt? Da nun wohl kein Zweifel
bestehen kann, daß die Ausstrahlung der Sonne, von anderen
Faktoren abgesehen, nur von der Größe ihrer Oberfläche
abhängt, d. h. nur die wirkliche Größe maßgebend ist, so
muß eben in obiger Formel F,^F gesetzt werden. In Wirk-
lichkeit stellt die Einführung der scheinbaren Radien der
Sonne ein nochmaliges Inrcchnungstellen der verschiedenen
Entlernungen dar. Dr. Baum.
Literatur.
Berg, Dr., D.as Problem der Klimaänderung in geschicht-
licher Zeit. Leipzig und Berlin '14, B. G. Teubner. 3,60 Mk.
Jaiser, Ad., Farbenphotographje in der Medizin. Prak-
tischer Ratgeber für farbenphotographische Aufnahmen am
lebenden und leblosen Objekt zum Gebrauch für Arzte, Natur-
forscher und Photographen. Mit 6 farbigen Tafeln nach
Originalaufnahmen des Verfassers, 69 Textabbild, sowie
einem Geleitwort von Prof. Dr. Steinthal. Stuttgart '14,
F. Enke. 6 Mk.
Das Leben und die Lehre Epikurs übersetzt von Kochalsky.
Leipzig und Berlin '14. B. G. Teubner. Geb. 2,40 Mk.
Lud ewig, Dr. P., Die drahtlose Telegraphie im Dienste
der Luftfahrt. Mit 55 Te.\tabkild. Berlin '14, 11. Meußer.
3,60 Mk.
W i 1 1 g e r o d t , Prof. Dr. C., Die organischen Verbindungen
mit mehrwertigem Jod. VII. Band der ,, Chemie in Einzeldar-
stellungen". Herausgegeben von Prof. Dr. Julius Schmidt.
Stuttgart, '14. Ferd. Enke. 8,40 Mk.
Ergänzung.
Infolge einer durch die Kriegswirrnisse verursachten Ver-
zögerung im Eingang der Korrektur bei der Druckerei sind
im Artikel Physiologie Nr. 35 S. 554, Zeile 24 hinter: „Zeit
nachdem er" folgende Worte ausgefallen: ,,die giftige Sub-
stanz aufgenommen hat. Nach den Autoren kann . . . ."
Inhalt: Braß: Lage und Beziehungen der italienischen Vulkangebiete zu gleichzeitigen Meeren oder Binnengewässern. —
Einzelberichte: Zaepffel; Beziehungen zwischen Spaltöffnungen und heliotropischer Empfindlichkeit. Sccerov: Die
Wirkung der ultravioletten Strahlen auf die Haarfarbe des Kaninchens und Meerschweinchens. Uspenski: Loch-
kamera für Röntgenstrahlen. AUuaud und Jeannel: Die Raupen einer morphologisch und biologisch überaus merk-
würdigen Lycaenidenart. Traunsteiner: Dinoflagellaten als Ursache des roten Schnees. Bayeux und Cheval-
lier: Die Zunahme der Zahl der Blutkörperchen mit der Höhe. Guthnick: Veränderlichkeit der Satelliten des Ju-
piter und Saturn. Koch: Worauf beruht die ungünstige Wirkung des Nadelhumus? — Bücherbesprechungen:
Ehrlich. Eine Darstellung seines wissenschaftlichen Wirkens. Schmidt: Was wir Ernst Haeckel verdanken. Nuß-
baum, Karsten, Weber: Lehrbuch der Biologie für Hochschulen. Bortkiewicz: Die radioaktive Strahlung als
Gegenstand wahrscheinlichkeitstheoretischer Untersuchungen. — Wetter-Monatsübersicht. — Anregungen und Ant-
worten. — Literatur : Liste. — • Ergänzung.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 29, Hand.
Sonntag, den 4. Oktober 1914.
Nummer 40.
Die modernen
Heringsforschungen.
[Nachdruck verboten.]
In das Geheimnis der Lebensgeschichte der
Meeresfische einzudringen, ist keine leichte Auf-
gabe. In vielen Fällen, und gerade bei den wirt-
schaftlich wichtigsten Formen, kennt man gewöhnlich
nur einen kleinen Lebensausschnitt, wo sie in
großen Schwärmen in den küstennahen Gebieten
sich zusammenscharen und dann in großen Massen
den Fanggeräten der Fischer zum Opfer fallen.
Wo sie die übrige Zeit ihres Lebens zubringen,
ist unbekannt und es ist verständlich, daß es bei
der ungeheuren Weite ihres Lebenselementes, des
Ozeans, kein leichtes ist, die Schleier dieses Rätsels
zu enthüllen. Immerhin haben die letzten Jahre
manche Aufklärungen gebracht und vor allem
sind es hier die systematischen Untersuchungen
des „Conseil permanent international pour l'explo-
ration de la mer", an denen sich alle seefahrenden
und an der Fischerei interessierten Staaten Nord-
europas beteiligen, welche in dieser Beziehung
schon manche schönen und unerwarteten Resultate
zutage gefördert haben. Allgemein bekannt sind
wohl die Ergebnisse, die man in Bezug auf die
Geschichte des gewöhnlichen Flußaals hat fest-
stellen können, welcher, eine echter Tiefseefisch,
aus den Flüssen beim Herannahen seiner Ge-
schlechtsreife in große Meerestiefen hinunter
wandert, wo er seinen Laich absetzt. Die ausge-
schlüpften Larven, die sog. Leptocephalen, unter-
nehmen dann wieder die weite Wanderung in
die Flüsse, wo sie erst die typische Form des
Flußaals annehmen und verbleiben, bis die Zeit
der Geschlechtsreife herannaht.
An dieser Stelle soll eine Übersicht über die
Ergebnisse der Heringsforschungen gegeben werden,
die zuerst in Deutschland von Heincke in aus-
gedehntem Maße gepflogen und im letzten Dezen-
nium in Norwegen von Hjort und seinen Mitar-
beitern vor allem beim norwegischen Heringe mit
Hilfe einer neuen weit einfacheren Methode durch-
geführt wurden und zu Resultaten führten, die nicht
nur für die Praxis der Großfischereien von weit-
tragender Bedeutung sind, sondern auch in wissen-
schaftlicher Hinsicht in die Biologie der Meeresfische
und in die Lebensverhältnisse imMeere wertvolle und
neuartige Einblicke verschaffen, so daß sie auf das
Interesse eines jeden Biologen Anspruch erheben
können.
Es gibt wohl kaum eine Fischart, die eine so
hervorragende wirtschaftliche Bedeutung besitzt
wie der Hering, aber wohl auch keine, über deren
Lebensgeschichte und Biologie mehr phantasiert
und geschrieben wurde. Schon in der Mitte des
I S.Jahrhunderts wurde von dem gelehrten Hamburger
Bürgermeister Anderson in bezug auf die
Von Dr. Otto Storch (VVienl
Wanderungen des Herings die sogenannte Polar-
stammtheorie aufgestellt, nach welcher die eigent-
liche Heimat dieses Fisches das eisbedeckte Polar-
meer sein sollte. Alljährlich werden gewaltige
Wanderungen nach Süden unternommen, wo
die unendlichen Heringsmassen sich in einzelne
Schwärme auflösen sollen, die die Küsten Groß-
britanniens, Irlands und Norwegens bis zum Kanal
und bis in die Ostsee aufsuchen, um hier ihren
Laich abzusetzen. Die der Fangkunst des Menschen
entgangenen Tiere sollen dann wieder, von den
herangewachsenen Nachkommen begleitet, in ihre
nordische Heimat zurückkehren. Diese Hypothese
verlor später, wegen der Unwahrscheinlichkeit so
ausgedehnter Wanderrungen in so kurzer Zeit,
an Glaubwürdigkeit und wurde bald (zu Ende des
18. Jahrhunderts) von einer anderen, doch eben-
falls nicht bewiesenen Lehre, die M. E. Bloch
aufstellte, abgelöst. Dieser hielt den Hering für
einen Tiefseefisch, der nur zur Laichzeit die Küsten
aufsucht, sonst aber sich in den großen Tiefen
des Ozeans aufhält. Diese Lehre hat fast bis in
unsere Zeit allgemeine Anerkennung genossen,
jedoch in den letzten Jahrzehnten durch eingehende
spezielle Untersuchungen ebenfalls ihre Wider-
legung erfahren.
Während der ursprünglichen Polarstammtheorie
die Annahme eines einheitlichen Heringsstammes
zugrundelag, ist mit der Bloch'schen Lehre die
Tatsache von der Aufspaltung dieser Art in ein-
zelne, vor allem biologisch unterschiedene Rassen
schon wohl vereinbar. Und diese Tatsache der
Rassengliederung des Herings zieht im letzten
Viertel des vergangenen Jahrhunderts das haupt-
sächliche Interesse der Heringsforscher an und führte
vor allem zu den grandiosen und umfassenden Unter-
suchungen Heincke's, welcher in der aus der
Anthropologie herübergenommenen biometrischen
Methode ein Mittel fand, dieser auf exaktem wissen-
schaftlichem Wege schwer beizukommenden Tat-
sache der Rassengliedcrung des Herings Herr zu
werden. Die lange Reihe seiner mühevollen Unter-
suchungen fand ihre Krönung in der Herausgabe
seiner „Naturgeschichte des Herings"
(1898), in welcher er eine größere Anzahl von
Individuen aus verschiedenen Gegenden in bezug
auf eine ganze Anzahl (bis zu 65) ihrer Eigen-
schaften einer genauen quantitativen Untersuchung
unterzog und schließlich einen zahlenmäßigen
Ausdruck der Kombination dieser Eigenschaften
aufstellen konnte. Auf diese Weise fand er, daß
die Individuen einer und derselben Rasse sich
zwanglos um einen bestimmten Typus (das Mittel
der Rasse) gruppierten und daß die Individuen
626
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 40
verschiedener Rassen sich voneinander unterschieden,
indem ihre Eigenschaften sich auf verschiedene
Mittelwerte einstellten.
Auf diese Weise gelang es Heincke, eine
ganze Anzahl von genauer charakterisierten Rassen
aufzustellen, deren wichtigste folgende sind: i. die
nördlichen Seeheringe, die in der Nähe der Küste
im Winter und Frühjahr laichen, während des
Sommers sich aber in der ofi'enen See aufhalten.
In diese Gruppe gehören der isländische und der
norwegische Hering. 2. Die Küstenheringe, die
stets im Winter laichreif werden, in unmittelbarer
Nähe der Küste leben und in brackischem Wasser
oder in Flußmündungen ihren Laich absetzen.
Infolge der stark varierenden physikalischen Ver-
hältnisse ihrer speziellen Aufenthaltsorte zeigen
sie an den verschiedenen Lokalitäten eine größere
Variabilität als die Seeheringe. Zu dieser Gruppe
sind zu zählen: der Küstenhering der nördlichen
Nordsee und des Skageraks, dann der Küstenhering
der südlichen Nordsee, des Kattegats und des
westlichen baltischen Meeres, endlich der Früh-
jahrshering von Rügen. 3. Der Seehering der
Nordseebänke, der die offene See von den Küsten
Englands und Schottlands durch die ganze Nord-
see, den Skagerak und Kattegat bis in den west-
lichen Baltik bewohnt. Im Sommer und Herbst
sucht er zum Zwecke des Laichens die sandigen
und steinigen Bänke auf, die sich hier in einiger
Entfernung vom Lande aus den Tiefen des Meeres
erheben. Hierher zu rechnen ist der Bankhering
der nördlichen Nordsee, des Skageraks und Katte-
gats und der Bankhering der südlichen Nordsee.
Diese Resultate bedeuten einen außerordent-
lichen Fortschritt in der Heringsforschung. Und
wie wohl aus der Wiedergabe der Ergebnisse
dieser Studien hervorgeht, spricht sich darin auch
eine grundlegende Änderung in bezug auf die an-
genommenen Wanderungen aus, die schon durch
mannigfache Beobachtungen früherer Forscher an-
gebahnt wurde. Doch kann hierauf nicht näher
eingegangen werden. Die immer mehr zur Geltung
kommende Lehre ist die, daß die Spezies Hering
eine ganze Anzahl differenter Lokalrassen in sich
schließe, deren jeder ein verhältnismäßig be-
schränktes Bewegungsgebiet zukomme, und daß
das besondere jaiireszeitliche Vorkommen des
Herings nur auf die Tatsache zurückzuführen
ist, daß die Fische während der Entwicklungs-
periode ihrer Geschlechtsorgane bis zur Sexual-
reife sich in dichteren Schwärmen zusammenscharen
und so die Großfischerei ermöglichen, während
sie die übrige Zeit mehr oder weniger zerstreut
in den angrenzenden Meeresgebieten sich aufhalten
und so weder leicht zur Beobachtung gelangen
noch auch in beträchtlicher Menge gefangen
werden können.
Wenn auch diese von Heincke inaugurierte
biometrische Methode einen großen Schritt vor-
wärts bedeutete, so war sie doch nicht hinreichend,
um die vielen bei dem Ileringsproblem vorhandenen
Fragen einer Lösung zuzuführen. Auf Heincke
selbst geht dann auch eine andere, und wie sich
erwiesen hat, außerordentlich fruchtbringende
Untersuchungsmethode zuiück. Im Jahre 1904
legte er der Internationalen Meereskommission die
Resultate von Untersuchungen vor, die auf die
Bestimmung des Alters beim Kabeljau und Gold-
butt gerichtet waren und auf dem .Studium der
Knochen dieser Fische basierten. Dr. Hjort,
Fischereidirektor in Bergen, nahm diese Ergebnisse
mit großem Interesse auf und begann bald mit
Unterstützung seiner Assistenten in großem Maß-
stabe eine praktische Methode für Altersbestim-
mungen von Fischen auszuarbeiten, wobei alle
wichtigsten Fischspezies Berücksichtigung fanden.
Das Resultat dieser Untersuchungen war, daß beim
Kabeljau wie auch beim Hering die Schuppen
ein äußerst vorteilhaftes Mittel bieten, das Alter
der Tiere zu bestimmen.
Die Heringsschuppe zeigt sich im mikroskopi-
schen Bilde durch eine ausgeprägte Linie in zwei
Abteilungen geteilt (siehe Fig. 2 — 4). Während
die eine Hälfte sehr durchsichtig und strukturlos
ist, besitzt die andere außerordentlich feine Streifen
und überdies einige konzentrische scharf hervor-
tretende Halbzirkel (Ringe). Die genaueren Unter-
suchungen ergaben, daß diese Ringe ihre Ursache
im stillegelegten Winterwachstum besitzen und
so ein bequemes Mittel zur Altersbestimmung des
Herings darbieten. An der Anzahl der vorhandenen
Winterringe kann man bequem das Alter des Herings
ablesen. Mit Hilfe dieser ziemlich einfachen Methode
hat man im Laufe der zehnjährigen Untersuchungen
eine ganze Anzahl sehr interessanter biologischer
Details über die Lebensgeschichte des Herings
in Erfahrung bringen können '). Nur über die
wichtigsten der erhaltenen Resultate will ich hier
referieren.
Besonders genaue
Untersuchungen liegen
über den norwegischen
Hering vor, der fast an
der ganzen atlantischen
Küste Norwegens in
großen Mengen vor-
kommt. Schon von
altersher unterschieden
die Fischer hier zwi-
schen mehreren Sorten,
vor allem zwischen den
Frühjahrsheringen,
Großheringen, Fett- „. , t^- ,■ ,
. j T^T • ^'S- 1* -^'^ verschiedenen
beringen und Klem- Fanggebiete längs der nor-
heringen. Diese ver- wegischen Küste.
schiedenen Sorten (Aus Hjort.)
unterscheiden sich so-
wohl in bezug auf iiiren physiologischen Zustand
wie auch in bezug auf ihren Aufenthaltsort, auf
') Johan Hjort, Fluctuations in tlie great Fisheries
of northern Europe, reviewed in the light of biological research.
Conseil perm. int. pour l'exploralion de la mer, Rapports
et Proces. — Verbaux. Vol. XX. Copenhague 1914. — Hier
findet sich auch die ganze übrige Literatur zitiert.
N. F. Xin. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
627
ihre Hauptfanggebiete und die Jahreszeit ihres
massenhaften Auftretens. So werden die sog.
F"rühjahrsheringe nur in der Zeit von Januar bis
April gefangen, und zwar an der Westküste (Fig. i)
und sind durchwegs ausgewachsene laichreife
Heringe. Das Hauptgebiet der Großheringe ist
die Küste von Romsdal, die Fangzeit der Spät-
herbst und Winter; es sind erwachsene Tiere, deren
Geschlechtsorgane jedoch nicht so weit entwickelt
sind als die der P"rühjahrsheringe. Die Fettheringe
sind unreife, oft ziemlich große Tiere, die im Herbst
im nördlichen Norwegen gefischt werden, die Klein-
heringe endlich sind ganz junge Tiere , welche
die ganze Küste entlang gefangen werden.
Schon G. O. Sars hat die Annahme aufge-
stellt, daß die Fettheringe, Großheringe und Früh-
jahrsheringe die Glieder des Entwicklungszyklus
des norwegischen Herings seien, daß die aus dem
im Süden an der Westküste Norwegens abgesetz-
ten Laiche ausgeschlüpften Jungfische durch die
nordwärts gerichtete Strömung die Küste entlang
verbreitet werden und bei erlangter Schwimm-
fähigkeit ihre Wanderung südwärts beginnen und
daß auch die ausgewachsenen abgelaichten Heringe
eine korrespondierende Wanderung in weniger
ausgedehntem Maßstabe (Romsdal - Westküste)
durchführen. Durch die neue Methode der Alters-
bestimmung konnte diese Annahme exakt be-
wiesen werden. Die Untersuchung ergab näm-
lich, daß die Fettheringe nur ein durchschnitt-
liches Alter von 2 — 4 Jahren besitzen , während
Großhering und Frühjahrshering fast durchwegs
4 Jahre und darüber sind und bis zu 18 Jahren
erreichen können. Der Fetthering ist also das
noch nicht geschlechtsreife Stadium, das erst mit
4 Jahren erreicht wird, der Frühjahrshering das
geschlechtsreife Tier und der Großhering im Be-
griffe, seine Geschlechtsorgane wieder auszubilden.
Sehr interessant ist die Tatsache, daß diese
Winterringe auch noch in anderer Beziehung be-
nutzt werden können. Es ist nämlich festgestellt
worden, daß der Abstand zwischen zwei Ringen,
also die Zuwachszone der Schuppe während einer
Wachstumsperiode (eines Jahres) im Verhältnis
zum Längenwachstum des Herings in diesem Jahre
steht. Wenn man also, wie es in Fig. 2 ge-
schehen, eine Schuppe so stark vergrößert, daß
Fisches gleich wird, so geben die Abstände der
verschiedenen Winterringe unmittelbar die Länge
des Fisches im betreffenden Winter.
Dieses Faktum hat zu einem neuen Wege ge-
führt, das Rassenproblem des Herings in anderer
Weise in Angriff zu nehmen. Da nämlich die
verschiedenen Lokalvarietäten eine verschiedene
Wachstumsgeschwindigkeit besitzen, was wohl
durch die difierenten physikalischen und biologi-
schen Verhältnisse in ihrem bestimmten Aufent-
haltsgebicte bedingt ist, so muß sich dies auch
in der Anordnung der Ringe auf den Schuppen
aussprechen. Dadurch ist die Möglichkeit ge-
geben, sog. „Normalschuppen" zu konstruieren,
welche das durchschnittliche Wachstum einer be-
stimmten Heringsvarietät veranschaulichen. Die
Fig. 3 stellt neun solche Normalschuppen dar
von fünfjährigen Heringen, die aus den verschie-
Fig. 2. Die Wachstumszonen der Heringsschuppe verglichen
mit der Lange des Fisches. (Aus Hjort.)
die Distanz vom Zentrum der Teilungslinie der
Schuppe bis zum Schuppenrande der Länge des
Fig. 3. Normalschuppen eines fünfjährigen Herings aus ver-
schiedenen Fanggebieten. (Nach Lea aus Hjort.)
I Lysefjord, 2 Zuyder See, 3 Kattcgat, 4 Faröer, 5 Island,
6 Norwegen (Frühjahrshering), 7 Westlicher Teil der Nordsee,
8 AUantischer Ozean, 9 Shetland.
densten Fanggebieten stammen. Man sieht, daß
diese Normalschuppen nicht nur über die ver-
schiedene Größe des erwachsenen Fisches Auf-
schluß geben, sondern auch über die ganz ver-
schiedene Art ihres Wachstums in den früheren
Lebensjahren. Einige besitzen während der Bil-
dung des ersten Winterringes ein geringes Wachs-
tum (i und 2), andere ein besseres (3). Einige
wachsen in den ersten Lebensjahren schnell, später
aber langsamer (7 und 8), w^ährend andere bis in
ihr fünftes Jahr ein gutes Wachstum zeigen (S, 6
und 9). Das Wachstum ist häufig so charakte-
ristisch, daß schon mittels einer losen Schuppe
die Rasse bestimmt werden kann. Es ist klar,
daß damit ein ausgezeichnetes und bequemes
Mittel zur Unterscheidung der Heringsrassen an
die Hand gegeben ist, und man hat damit be-
gonnen, durch Aufsammlung von umfangreichem
Material und Bearbeitung desselben auf diese
Weise den noch lange nicht vollständig gelösten
Fragen des Rassenproblems und der Wanderungen
des Herings nachzugehen.
Wie groß die Verwendbarkeit dieser Methode
ist, zeigt folgendes Ergebnis: Es stellte sich heraus,
daß der größte Teil der nordländischen Heringe
vom Jahrgang 1904 im dritten Sommer ihres
Lebens sehr schlecht wuchsen, wodurch die be-
treffende Zone dieses Jahres auf den Schuppen
auffallend schmal wird und diese Heringe dadurch
gleichsam „markiert" erscheinen. In Fig. 4 a ist
628
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 40
die Schuppe eines 5 jährigen Herings bei normalem
Wachstum dargestellt, in Fig. 4 b diejenige eines
Fig. 4. Schuppen von zwei fünfjährigen Heringen von der
Nordliüste Norwegens; a normales Wachstum, b marinierter
Fisch. (Nach Lea aus Hjorl.)
gleichaltrigen „markierten" Herings, bei dem die
dritte Zuwachszone auffällig schmal erscheint.
Da eine ganze Anzahl von Proben aus verschiedenen
anderen Gebieten ebenfalls daraufhin untersucht
wurden, ohne eine solche Wachstumsabnormität
zu zeigen, so ist die Annahme berechtigt, daß diese
eigentümliche Wachstumserscheinung nur für die
aus dem nördlichen Norwegen stammenden Heringe
des Jahrganges 1904 charakteristisch ist. Es ist
dies gleichsam ein von der Natur veranstalteter
Markierungsversuch, ein Phänomen, das wohl auf
schlechte Ernährungsbedingungen in den nord-
ländischen Gewässern im Sommer 1906 zurück-
zuführen ist. Man konnte auf diese Weise die
Einwanderung dieser gezeichneten Heringe in
andere Gebiete feststellen. So wurde schon im
Jahre 1908 eine kleine Beimischung dieser Tiere
in den Großheringsschwärmen beobachtet, die im
Januar igio auf 12 "/^, stieg und im November des-
selben Jahres 47 "/f, erreichte. Eine gleiche Ein-
wanderung ließ sich an der Westküste Norwegens
feststellen, wo sich schon im Herbst igo8 ziem-
lich viele markierte Individuen, jedoch noch in
unreifem Zustande, vorfanden. Ahnliches gilt für
das Jahr 1909. Doch erst 1910 fanden sie sich
auch in den Laichschwärmen daselbst, und zwar
31 "/q, und im Jahre 191 1 ebenfalls mit 32%.
Außerdem wurden in der Nordsee westlich von
der norwegischen Westküste im Sommer und
Herbst 1910 ebenfalls markierte Heringe in ver-
schiedener Prozentzahl festgestellt. Auf diese
Weise hat man also einen Blick in die Wanderun-
gen des Herings tun können, weiters ist man
aber auch dadurch auf die interessante Tatsache
aufmerksam geworden, daß der Bestand an Früh-
jahrsheringen sich aus zwei ungefähr gleich großen
Komponenten zusammensetzt, deren eine diesem
nordländischen, deren andere einem Heringe noch
unbekannter Herkunft, doch wahrscheinlich aus
südlicheren Gegenden als Nordland angehört.
Diese beiden unterscheiden sich vor allem auch
dadurch, daß der nordländische erst um 2 Jahre
später als der andere die Sexualreife erlangt.
Wohl am bedeutendsten und weitreichendsten
sind jedoch die Ergebnisse, welche mit Hilfe dieser
Untersuchungsniethode in bezug auf die außer-
ordentlichen Schwankungen in der Menge der
auftretenden Heringe erhalten wurden. Seit den
ältesten Zeiten sind die großen Schwankungen
in den jährlichen Erträgnissen für alle Zweige der
Fischereiindustrie charakteristisch gewesen. Gegen-
wärtig wird über das Ausbleiben der Markrelen-
fischerei in den Vereinigten Staaten geklagt, wäh-
rend in P'rankreich eine Sardinenkrise entstanden
ist, indem das Erträgnis der Sardinenfischerei, das
1898 sich auf über 50 Millionen Kilo belief, 1899
auf unter 30 und 1902 auf weniger als 9 Millionen
Kilo herabsank. Die norwegischen Fischereien
kennen seit Hunderten von Jahren solche alter-
nierende Perioden reicher und armer Erträgnisse.
Diese periodischen Fluktuationen sind in der
Regel von beträchtlicher Dauer, eine Reihe von
Jahren erträgnisreicher Fischerei folgt auf dürre
Jahre und wird von ihnen wieder abgelöst.
Um vor allem bei der norwegischen Plerings-
fischerei zu bleiben, so zeigte diese außerordent-
lich große Variationen, sowohl in bezug: auf den
laichreichen Fisch, den F"rühjahrshering, als auch
den jüngeren unreifen Fetthering. Die Frühjahrs-
hering-Hscherei, die vom Skagerak im Süden bis
zum Kap Stat im Norden stattfindet, zeigt außer-
ordentliche Schwankungen seit der Einführung
der Statistik. 1866 belief sich das Erträgnis auf
über eine Million Hektoliter, sank jedoch während
der folgenden Jahre so rapid, daß der Totalfang
1874 24000hl, 1875 nur 208hl betrug. Noch 1883
war der Ertrag nur 100 000 hl, erhob sich jedoch
schon 1884 wieder auf über 262000 hl. In den
Jahren 1891 — 93 zeigte er dann eine Durchschnitts-
höhe von über 700000 h!, 1894 — 96 wieder we-
niger als 400000. 1909 setzte ein rapides An-
wachsen ein, und 1913 stellte die Statistik ein
Erträgnis von nicht weniger als 1V2 Millionen hl
fest, die höchste Ziffer, die je in diesem Fischerei-
zweig verzeichnet ist. Ähnliche Schwankungen
zeigt der Ertrag der Fettherings-Fischerei, der sich
z. B. in den Jahren 1892, 1896 und 1909 auf
über I Million hl belief, 1904 und 1905 jedoch
weniger als looooohl. 1907 stieg er aber wieder
auf über eine halbe Million hl, und 1909 überschritt
er eine Million.
Es ist klar, daß dieser außerordentliche Wech-
sel in der Höhe der Erträgnisse, der auf den
Wohlstand der mit diesen Fischereien sich be-
schäftigenden Küstenbewohner so einschneidend
zurückwirkt, das Nachdenken der Menschen von
altersher wachgerufen hat. Und wenn man in
früheren Zeiten den Zorn Gottes darin erblickte
und die verschiedenartigsten Sünden des Volkes
dafür verantwortlich machte, so wurde dieser
Aberglaube in unserer Zeit durch verschiedene
wissenschaftliche Hypothesen abgelöst, die jedoch
an exakter P'undierung ebenfalls vieles zu wünschen
übrig ließen. So versuchte Ljungmann eine
Erklärung der regelmäßig wiederkehrenden Perio-
den der Heringsfischerei an der Bohuslänküste
in den gleichzeitig fallenden Perioden der Sonnen-
flecke zu finden, andere machten dafür den perio-
dischen Wechsel der Meeresströmungen verant-
N. F. XIII. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
629
wortlich, wieder andere wollten die einzige Schuld
dem unvernünftigen Fischcreibetrieb des Menschen
zuschreiben. In neuester Zeit wurde von
Heiland-Nansen und Nansen (The Nor-
wegian Sea, 1909) die Hypothese aufgestellt,
daß die größere Ausdehnung des Küstenwassers,
dessen Salzgehalt unter 35 ",'„„ Hegt, mit einem
reichlichen Auftreten der Kleinheringe einhergeht.
Im allgemeinen gesprochen, war bis jetzt die
Meinung vorherrschend, daß der vorhandene Fisch-
stock stets auf ungefähr derselben Höhe bleibt, die
Erneuerung desselben in ähnlicher Weise vor sich
geht wie bei der menschlichen Bevölkerung, näm-
lich durch einen mehr oder weniger konstanten
jährlichen Zuwachs und daß irgendwelche physi-
kalische oder andere Verhältnisse in den Küsten-
wässern, wo die Fische jährlich zu bestimmten
Zeiten in ungeheuren Schwärmen zu erscheinen
pflegen, eine so unzuträgliche Änderung erfahren,
daß ihre massenhafte Einwanderung dadurch stark
beeinträchügt wird.
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Fig. 5. Alterszusammensetzung der 8 Proben vom Frühjahrs-
hering, Februar 1914. (Aus Hjort.)
Diese Anschauung ist durch die ausgedehnten
und langjährigen Untersuchungen, die Hjort und
seine Mitarbeiter nach der Methode der Alters-
bestimmung des Herings mit Hilfe der Schuppen
angestellt haben, als widerlegt zu betrachten. Es
hat sich herausgestellt, daß die Erneuerung des
Gesamtbestandes bei den untersuchten Fischen
von außerordentlich irregulärer Natur ist. Zu
gewissen Zeiten treten Jahresklassen auf, die so
überreich an Individuen sind, daß ihre numerische
Überzahl den Gesamtcharakter des Fischstockes
in bezug auf die Quantität dermaßen beeinflußt,
daß die ganze Zeit der Lebensdauer dieses Jahr-
ganges hindurch ein außerordentlicher Fischreich-
tum herrscht und dadurch auch das Erträgnis der
Fischereien entscheidend beeinflußt wird. Ist kein
solcher reicher Jahrgang vorhanden, so ist dagegen
das P'ischereierträgnis gering.
Auch in diesem Jahre (1914) war die nor-
wegische Heringsfischerei außerordentlich ergiebig,
ähnlich wie 191 3, wo das Erträgnis in bezug auf
den Frühjahrshering die Höhe von 1 '/g Millionen
hl erreicht. Von Hjort und seinen Mitarbeitern
wurden nun während der diesjährigen Fangperiode
in den Monaten Dezember 191 3 bis P'ebruar 1914
fünfzehn Proben, 7 vom Großhering und 8 vom
Frühjahrshering eingesammelt und in bezug auf
ihre Alterszusammensetzung untersucht. Die acht
Proben des Frühjahrsherings, auf die hier einge-
gangen werden soll, stammen alle vom Februar
1914 und rühren von verschiedenen Orten der
ganzen 2 — 300 Meilen langen norwegischen West-
küste von Stat bis Kristiansand her. Die Alters-
bestimmung dieser acht von so verschiedenen
Orten stammenden Proben liefert ein außerordent-
lich überraschendes Resultat. Das Ergebnis dieser
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Fig. 6. Alterszusammensetzung der Frühjahrsheringe aus den
Jahren 1907 — 1914; das Mittel aller in jedem Jahre unter-
suchten Proben. Für 1914 konnten nur die Proben vom
Februar berücksichtigt werden. (Aus Hjort.)
Untersuchungen ist in Fig. 5 graphisch dargestellt.
Man ersieht daraus unmittelbar, daß die 10 Jahre
alten Heringe, die 1904-Klasse, in bezug auf ihre
Quantität die übrigen Jahresklassen weit überragt.
Der Jahrgang 1904 macht mehr als die Hälfte,
genau 54,3 "/„ aus. Von den anderen in diesen
Proben enthaltenen Jahrgängen ist der höchste
jener von 1905, der jedoch nur 13,9% stellt.
Die Jahrgänge 1903, 1906, 1907 und 1908 machen
jeder nur zwischen 5 und 7 % aus. Und alle
übrigen noch vertretenen Altersklassen bilden zu-
sammengenommen nur 7,5 "/„. Man sieht also,
daß der Reichtum der heurigen F"angerträgnisse
vorwiegend auf die außerordentliche Ergiebigkeit
des Jahrgangs 1904 zurückzuführen ist und daß sie
bis auf die Hälfte heruntersinken würden, wenn
diese Klasse in der gleichen Quantität wie die
anderen vertreten wäre.
630
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 40
Ist schon das ein sehr guter Beleg für die
Hj ort 'sehe Tlieorie, daß der zuzeiten auftretende
enorme Fischreichtum auf das Vorhandensein
einer einzigen numerisch besonders überlegenen
Jahresklasse zurückzuführen ist, so wird der Be-
weis dafür vollkräftig, wenn man die Alterszu-
sammensetzung des Frühjahrshcrings in den Jahren
1907 — 14 kennen lernt, das ist derjenigen Periode,
wo der Frühjahrshering wieder in enormen Mengen
auftrat. Fig. 6. zeigt eine graphische Darstellung
dieser Altersanalysen. Man ersieht daraus deut-
lich, wie die reiche Jahresklasse 1904 im Jahre
1907, wo sie erst 3 Jahre alt ist und deshalb noch
nicht die Geschlechtsreife erlangt hat, in den Früh-
jahrsherings-Schwärmen noch überhaupt keine
Rolle spielt, im Jahre 1908, also vierjährig sofort
in beträchtlicher Prozentzahl (34,8 "/o) erscheint
und von da an durchweg dominierend bleibt, im
Jahre 1910, wo diese Klasse sechsjährig ist, sogar
77,3 % des Gesamtfanges ausmacht und auch noch
als zehnjähriger Fisch im Jahre 1914 50 °l^^ stellt.
Vom Jahre 1910 ab, wo dieser Jahrgang gleich-
sam sein Optimum an Anzahl erreicht hat, macht
sich eine allmähliche Abnahme desselben bemerk-
bar, obwohl diese Jahrcsklasse immer noch sehr
zahlreich vorhanden ist. Ganz ähnliche Ergeb-
nisse zeigen die Altersbestimmungen von Proben
des Großherings.
Es ist einleuchtend, daß eine solche gute
Fangperiode, wenn sie tatsächlich wesentlich auf
das Vorhandensein einer reichen Jahresklasse zu-
rückzuführen ist, woran nach den oben mitgeteilten
Tatsachen und auch nach den ähnlich durch-
geführten Untersuchungen beim Kabeljau, die ein
gleiches Ergebnis lieferten, nicht gut zu zweifeln
ist, nur solange dauern kann, als die Tiere dieser
Jahresklasse noch in beträchtlicher Anzahl vor-
kommen. Es ist also notwendig, den Prozent-
satz der Sterblichkeit der verschiedenen Altersstufen
kennen zu lernen. Das Auffinden der hierbei
obwaltenden Gesetze kann nur durch ununter-
brochene Beobachtung des Erscheinens, der Gegen-
wart und des Verschwindens solcher reicher Jahr-
gänge bewerkstelligt werden und wird noch zu
seiner Lösung der Untersuchungen vieler Jahre be-
dürfen.
Aus diesen Resultaten erhebt sich die in-
teressante Frage, die von ganz allgemeiner Be-
deutung ist, nach den Ursachen, durch die diese
eigentümlichen Schwankungen in der Erneuerung
des Fischstockes bedingt werden. Welches sind
die hydrographischen und biologischen Bedingungen,
die das Auftreten reicher oder armer Jahresklassen
verursachen? Dieses Problem ist unleugbar von
großer Schwierigkeit, da alles, wodurch das Tier
vom Eistadium bis zur Zeit, wo es gefangen wird,
beeinflußt werden kann, dabei Berücksichtigung
finden muß. Immerhin glaubt Hjort als sicher
hinstellen zu können, daß der numerische Wert
einer Jahresklasse schon sehr frühzeitig bestimmt
wird und sich im gleichen Verhältnis zu den
anderen vertretenen Jahrgängen das ganze Leben
der Individuen hindurch erhält. Es konnte jedoch
festgestellt werden , daß es nicht die Quantität
der produzierten Geschlechtsprodukte ist, welche
hier das Ausschlaggebende sind. Ein reiches Laichen
kann sehr gut einen an Zahl armen Jahrgang zur
Folge haben, wie die Unternehmungen zeigten,
während eine reiche Jahresklasse aus einem Jahre
stammen kann, wo das Laichen auf einem Tief-
punkte.
Es hat allen Anschein, als ob die frühesten
Larven- und Jungfischstadien hier von der größten
Bedeutung sind. Es ist eine lange bekannte Tat-
sache, daß sowohl bei der künslichen Aufzucht von
Fischeiern wie auch beim Studium der jüngsten
Ei- und Larvenstadien von Seetieren die Zahl der
Individuen rapid abnimmt, sobald die neu aus-
geschlüpften Larven ihren Dotter aufgezehrt haben
und nun selbständig auf Nahrungssuche ausgehen
müssen. Um diese außerordentlich interessante
Frage, die von so allgemeiner Bedeutung ist und
sicher hier ebenfalls eine wichtige Rolle spielt,
einer eingehenden Untersuchung unterziehen zu
können, hat Hjort im Jahre 191 3 bei der inter-
nationalen MeeresuntersuchungsKommission den
Vorschlag vorgebracht betreffend die Organisation
der zukünftigen Untersuchungen sowohl in bezug
auf die Ernährung der Jungfische wie auch auf das
Aufblühen der mikroskopischen Pflanzen im
Frühling, das für jene sicher von vitaler Bedeutung
ist. Man wird mit großem Interesse die weitere
Entwicklung dieser Untersuchungen verfolgen
müssen, da zu hoffen ist, daß dadurch zur Auf-
klärung des außerordentlich interessanten Problems
der Fluktuationen in der Fischerei ein weiterer
wichtiger Schritt vorwärts getan wird.
Es ist natürlich hier nur möglich gewesen, auf
einen kleinen Teil der Resultate einzugehen, die
in der inhaltsreichen Arbeit Hj ort 's niedergelegt
sind und auf den vieljährigen planmäßigen Unter-
suchungen Hjort 's und seiner Mitarbeiter be-
ruhen. Vor allem habe ich mich nur auf einen
Bericht über die Ergebnisse der Heringsforschungen
beschränkt und die ebenso zahlreichen und inter-
essanten Resultate in bezug auf den Kabeljau
wegen Mangel an Raum unberücksichtigt lassen
müssen. Hervorheben will ich jedoch , daß auch
bei diesem Fische die ebenso starken Schwan-
kungen in seinem Auftreten nach diesen Unter-
suchungen ebenfalls auf das Vorkommen von
numerisch besonders starken Jahrgängen zurück-
zuführen sind und so eine weitere wichtige Unter-
stützung für die Hjort'sche Theorie von den
Fluktuationen in den großen Fischereien liefern.
Wie wir gesehen haben, ist es eine einfache
und, wenn man so sagen darf, bequeme Methode,
diese Möglichkeit der Altersbestimmung von Plschen
mit Hilfe ihrer Schuppen, die zu diesen neuen
und vielseitigen Einblicken in die noch immer so
rätselhafte Lebensgeschichte der allerwichtigsten
Nutzfische geführt hat. Um es noch einmal kurz
zu wiederholen, sind es vor allem die Fragen der
Rasse, der Wanderungen, verschiedener biologi-
N. F. XIII. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
631
scher Details und vor allem der bisher so rätsel-
haften Fluktuationen im Auftreten der Fische, zu
deren Lösung die Untersuchungen nach dieser
Methode einen Beitrag, und vielfach den ersten
exakt wissenschaftlichen Beitrag geliefert haben.
Diese Untersuchungen, die ja noch im Beginne sind
und weiterhin in den nordischen Gewässern in
großem Umfange und mit wohldurchdachtem
Plane fortgeführt werden, lassen noch manches
Interessante erhoffen, das nicht nur in rein fischerei-
licher Beziehung von Wichtigkeit ist, sondern auch
für die so schwierige, komplizierte und noch so
rätselvolle Biologie des Meeres unerwartete und
wertvolle Beiträge liefern und auch Fragen ganz
allgemein biologischer Natur einer Lösung näher
bringen wird.
Einzelberichte.
Biologie. Neue Ansichten über die biologi-
schen Grundlagen der sekundären Geschlechts-
charaktere vertreten Julius T a n d 1 e r und Sieg-
fried Groß in einer kürzlich unter diesem Titel
veröffentlichten Schrift (Verlag Julius Springer in
Berlin). Als primäre Geschlechtsmerkmale be- .
zeichnen Tan dl er und Groß jene differenten
Eigenschaften der Gameten (der Träger der Ver-
erbungsqualitäten), die zweifellos in letzter Linie
im Interesse der Reproduktionswahrscheinlichkeit
vorhanden und als Geschlechtsmerkmale aufzu-
fassen sind; durch sie werden die Gameten in
männliche und weibliche geschieden (Mikrogameten
und Makrogameten). Anfänglich war eine mor-
phologische Differenz nur zwischen den Gameten
und den Somazellen gegeben. Im Lauf der Ent-
wicklung aber traten benachbarte Zellen und Zell-
komplexe in den Dienst der Gametenbildung, und
zwar um die Gameten zu umhüllen, zu stützen, viel-
fach auch um sie zu ernähren. Soweit diese Auxiliär-
apparate der männlichen oder weiblichen Gameten-
form selbst angepaßt erscheinen, sind sie bei bei-
den Geschlechtern verschieden und sie stellen
damit heterologe Geschlechtscharaktere des So-
mas dar. Diese in unmittelbarem Zusammenhang
mit den Gameten stehenden Zellkomplexe werden
als „Gonade n" oder Keimdrüsen bezeichnet, nach
der Geschlechtszugehörigkeit der beherbergten
Gameten als Testikel und Ovarien. Nach T a n d 1 e r
und Groß gelten diese Geschlechtsmerkmale des
Somas ebenfalls als sekundär, während sie
in der üblichen Nomenklatur als primär ange-
sprochen werden. — In ähnlicher Weise, wie die
den Gameten zunächst gelegenen Zellen des pri-
mitiven Metazoenkörpers unter Funktionswechsel
in den Dienst der Fortpflanzung getreten sind,
können auch weiter entfernt gelegene Zellkom-
plexe, die bereits auf einer gewissen Höhe der
morphologischen Differenzierung standen und
anderen Funktionen dienten, unter teil weiser oder
vollständiger Aufgabe ihrer ursprünglichen Funktion
zu Auxiliärapparaten des Fortpflanzungsaktes wer-
den. T a n d 1 e r und Groß sehen sich sogar zu der
Annahme gezwungen, daß sämtliche somatische Ge-
schlechtsmerkmale dadurch entstanden, daß be-
reits vorhandene Merkmale erst sekun-
där in den Dienst der Fortpflanzung
getreten sind: Klassen-, Ordnungs- und Art-
merkmale sind auf diese Weise zu Geschlechts-
merkmalen geworden, oder haben mindestens eine
Abänderung in diesem Sinne erfahren. Demgemäß
ist die Geschlechtsdifferenzierung im phylogeneti-
schen Sinne zunächst eine heterogame und erst
später eine hetero somatische.
In bezug auf die Ontogenese der Geschlechts-
merkmale nehmen Tan dl er und Groß an, daß
die Bestimmung des Geschlechtes spätestens im
Augenblick der Befruchtung stattfindet; denn
erstens hat es sich als unwahrscheinlich heraus-
gestellt, daß der Embryo ein indifferentes oder
bisexuelles Stadium durchmache, und zweitens ist
ohne weiteres anzunehmen, daß der phylogenetisch
uralte Vorgang der Geschlechtsdifferenzierung auch
in der Individualgeschichte als erster erledigt wird.
Die Geschlechtsmerkmale sind untereinander
phylogenetisch keinesfalls gleichwertig und sie sind
um so verbreiteter, je höher im Alter sie stehen:
Die ältesten Geschlechtsmerkmale sind bezüglich
ihres Auftretens und ihrer Ausbildung die kon-
stantesten und auch die am schwersten zu beein-
flussenden, die jüngsten dagegen weisen die größten
Variationen auf Diese Variabilität vergrößert
sich vielfach noch infolge der Tatsache, daß die
den betreffenden Geschlechtsmerkmalen zugrunde
liegenden Artmerkmale selbst schon eine große
Variationsbreite besitzen.
Zwischen den Gonaden (oder Keimdrüsen) und
den übrigen Geschlechtsmerkmalen zeigt sich ein
gewisser Zusammenhang, der darauf hinweist, daß
die Ausbildung der letzteren von den Keim-
drüsen abhängt; ihre Anlage wird bereits mit
der Bestimmung der Gesclilechtszugehörigkeit ent-
schieden, so daß der Wegfall der Keimdrüse nicht
mehr imstande ist, die Zugehörigkeit zu dem einen
oder dem anderen Geschlecht zu annulieren, aber
Veränderungen an den Keimdrüsen ziehen solche
im Bereiche des ganzen Körpers nach sich. Vor
allem treten beim Wegfall der Keimdrüsen gesetz-
mäßig Ausfallserscheinungen auf; es kommt dabei
nicht, wie früher angenommen wurde, zu einem
Hervortreten der Merkmale des anderen Ge-
schlechts, sondern zum Sichtbarwerden der Art-
merkmale ohne geschlechtliche Diffe -
renzierung. Die Kennzeichen des Geschlechts-
unterschiedes fallen aus. So z. B. nimmt auf den
Ausfall der männlichen Keimdrüse das Becken
eine bestimmte F"orm an, die, wie Tandler und
Groß darlegen, als die asexuelle Speziesform zu
632
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 40
gelten hat. Die gleichsinnige Reaktion ergibt
sich nach Wegfall des Ovariums. Ein noch auf-
fälligeres Beispiel ist das Hörn des Rindes: Der
Besitz des Hornes überhaupt ist eine Arteigen-
schaft, die Form des Hornes aber stellt ein
heterologes Geschlechtsmerkmal dar, durch wel-
ches Stier und Kuh voneinander wohl unter-
schieden sind. Nach der Frühkastration erhalten
die beiden verschiedengeschlechtlichen Individuen
eine und dieselbe Hornform, ähnlich wie sie eine
und dieselbe Körperform erlangen. Das Kastraten-
horn gleicht auffällig dem des ursprünglichen
Ahnen der heutigen Rindes, des Bos primi-
genius.
Die Unrichtigkeit der Annahme, daß nach
Verlust eines Geschlechtsmerkmals das hetero-
sexuelle Merkmal hervortritt, läßt sich ebenfalls
an Beispielen erweisen. Es sei hier nur der Bart
des Menschen erwähnt. Das Erscheinen von Bart-
haaren bei Frauen zur Zeit des Klimakteriums
wurde vielfach als Umschlagen in den männlichen
Typus bezeichnet. Tandler und Groß konnten
dagegen nachweisen , daß auch der männliche
Frühkastrat im Alter einen Bart bekommt, der
nach seiner Lokalisation und seinem Aussehen
jenem gleicht, den man bei PVauen als Altweiber-
bart bezeichnet. Es entwickelt sich also ein be-
stimmter Behaarungstypus ganz unabhängig von
der Keimdrüse und man kann diese Bartform
wieder als ein Systemmerkmal bezeichnen, das
beiden Geschlechtern gleichmäßig zukommt.
Diesem „Speziesbart" erst entstammt der Bart des
Mannes. Abgesehen von den Ausfallerscheinungen
beeinträchtigt und verzögert die Entfernung oder
Unterentwicklung der Keimdrüse allgemein bio-
logische Vorgänge des Organismus, wie z. B. die
somatische Reife. Ebenso zeitigt die vorzeitige
und besonders starke Ausbildung der Keimdrüsen
eine Reihe von Erscheinungen, die man als patho-
logische Frühreife zusammenfaßt. Die Beobach-
tungen haben auch gelehrt, daß nicht die Keim-
drüse als ganzes für die erwähnten Funktionen
verantwortlich zu machen ist, sondern nur ein
bestimmter Teil derselben, welcher nicht genera-
tive, sondern innersekretorische Wirkungen ausübt.
Die Stoffe der Keimdrüse, die das Soma ihres
Trägers beeinflussen, sind Keimdrüsen h o r m o n e.
Selbst vorübergehende Unterbrechungen oder Her-
absetzungen in der innersekretorischen Tätigkeit
der Keimdrüsen erzeugen der Kastration analoge
Veränderungen des Soma, wie sich dies an den
Säugern beispielsweise in der Gravidität zeigt.
Die Wandlungsfähigkeit, welche die einzelnen
(Geschlechtsmerkmale unter dem Einfluß der
inneren Sekretion der Keimdrüsen besitzen , ist
verschieden, je nachdem ein bestimmtes Artmerk-
mal sich früher oder später zum Geschlechts-
merkmal differenziert hat und als solches in der
Phylogenese festgelegt wurde. So erklärt es sich,
daß nach Kastration gewisse Geschlechtsmerkmale
vollkommen ausfallen , andere weniger prägnant
ausgebildet oder in ihrem Erscheinen verzögert
werden, während wieder andere eine kaum merk-
liche Störung erfahren.
Das Verschwinden periodisch auftretender
Merkmale — wie etwa des Abwerfens des Ge-
weihes beim Hirsch — nach dem vorzeitigen
Verlust der Keimdrüse deckt sich im allgemeinen
mit jenem nach Altersinvolution dieser Drüse.
Andererseits sehen wir, sagen Tandler und
Groß, daß die konstanten Geschlechtsmerkmale
in dem Grade und der Art ihrer Reaktionsfähig-
eine gewisse Abhängigkeit von dem Zeitpunkt
zeigen , zu welchem die Wirksamkeit der Keim-
drüsenhormone endgültig unterbrochen wird.
Diese Differenz ist vielfach zurückzuführen auf die
geringere Reaktionsfähigkeit, welche das Soma
mit fortschreitendem Alter zeigt, aber auch auf
eine Komponente der innersekretorischen Tätig-
keit der Keimdrüse, welche vorderhand noch un-
bekannt ist; denn abgesehen davon, daß die im
höheren Alter gleichsam erstarrten Formen über-
haupt eine geringere Wandlungsfähigkeit zeigen,
unteischeidet sich doch der Spätkastrat von einem
gleichaltrigen Individuum, dessen Keimdrüsen-
funktion physiologischerweise erloschen ist.
Andere Drüsen mit innerer Sekretion antworten
auf Veränderungen der Keimdrüsen mit weit-
gehenden Reaktionen ; und nicht nur die System-
merkmale, sondern auch die Geschlechtscharaktere
werden durch diese Drüsen mehr oder minder
beeinflußt. Die Ausdehnung dieser Einflußnahme
auf die Gesamterscheinung eines Individuums in
seinen System- und Geschlechtsmerkmalen können
Tand 1er und Groß vorderhand nicht genau
umschreiben und sie betonen , daß derzeit noch
viel mehr die Einsicht fehlt in die komplizierten
Wechselbeziehungen und die vielfachen Abhängig-
keiten, die maßgebend sind bei jenen Vorgängen,
welche die formale Ausgestaltung der System- und
Geschlechtsmerkmale zum Ziele haben. Ererbte
Qualitäten der Systemmerkmale, übernommene
Eigenschaften des Geschlechts, Einwirkungen des
Milieus, sie alle werden schließlich auf dem Wege
der innersekretorischen Tätigkeit — also der
Hormonwirkung — das Äußere des Individuums,
seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art und
zu einem bestimmten Geschlecht, beeinflussen.
H. Fehlinger.
Zoologie Über Atmung und Kreislauf des
Regenwurms veröffentlicht A. Combault im
Journal Anat. et. Phys. Paris XIV neue Unter-
suchungen. Bei den Regenwürmern ist bekannt-
lich eine Hautatmung vorhanden. Die dicke
Cuticula scheint allerdings zum Gasaustausch
wenig geeignet, es finden sich jedoch in den Seg-
menten 10 — 13, zuweilen auch im 9. Segment
Stellen mit dünner Cuticula und Epidermis, wie
einen größeren Reichtum an Gefäßen, welche
immer den Ringeln mit Seitenherzen angehörig
sind. Neben der Hautatmung findet sich noch
die durch die sog. Morren sehen Drüsen,
die in den Ösophagus, den sie mufFartig umgeben,
N. F. XIII. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
(^33
vorn und hinten mit je zwei Öffnungen einmünden.
Sie liegen im Segmente 11 — 14 und werden von
der Darmflüssigkeit durchflössen. Durch die Drüsen
zieht sich von vorn nach hinten eine große An-
zahl radiär um das Darmrohr liegende Kiemen-
blätter, von denen jedes aus zwei Lagen mit einer
dazwischen befindlichen Blutschicht, die innen
und außen in Blutsinusse übergeht, besteht. Jede
Lage setzt sich wieder aus einem Gefäßendothel
und einen Epithel zusammen. Das Blut des
Hinterleibes, das mit dem Rückengefäß bis zum
14. Segment strömt, ergießt sich zum größeren
Teil zuerst in die äußeren Sinusse des Morren.schen
Organs, dann durch die Kiemenblätter in die
inneren Sinusse, von wo es aus durch zwei seit-
liche Gefäße und den vorderen Abschnitt des
Rückengefäßes nach vorne geleitet wird, hierauf
durch die Seitenherzen in das Bauchgefäß und
die umliegenden Gefäße gelangt, in welchem es
nach hinten fließt. Von den respiratorischen Haut-
partien, zu denen ebensoviele Gefäße von den
fünf vorderen Seitenherzen her verlaufen, strömt
die Blutflüssigkeit dem Seitengefäß zu.
Daß das M o r r e n 'sehe Organ der Atem-
tätigkeit dient, meint Verf. auch daraus schließen
zu müssen, daß eine Farbänderung des Blutes in
ihm eintritt, die nur durch Ausscheidung von
Kohlensäure bedingt sein kann. Aichberger.
Physiologie. Bakterienfreie Tiere. Das Vor-
kommen einer ungemein reichen Bakterienflora
im Darm der pflanzenfressenden Säugetiere legte
den Gedanken nahe, die Tiere könnten ohne die
Tätigkeit der Mikroben ihre Nahrung gar nicht
ausnutzen, seien ohne dieselben existenzunfähig.
N u t a 1 1 und Thierfelder haben aber bereits
nachgewiesen, daß Meerschweinchen, aseptisch
gehalten, nicht nur am Leben bleiben, sondern
auch an Gewicht zunehmen.
Neue Versuche derart wurden von Küster
mit der jungen Ziege, von Michel Cohendy und
Eugene VV ol Iman n (Experiences sur la vie sans
microbes. Elevage aseptique de cobayes, C. R. Ac.
sc. Paris Nr. 18, 4 mai 19 14) mit Meerschweinchen
angestellt. Die Ziegen wurden 12 bzw. 35 Tage
gehalten; im letzten L'all nahm das Gewicht um
100 "/„ zu; von 2250g stieg es auf 5500g.
Die Versuche von N u ta 1 1 und Thierfelder
mit dem Meerschweinchen hatten sich nur auf
13 Tage im Maximum erstreckt. Cohendy und
W oll mann entnahmen die jungen Meerschwein-
chen kurz vor der Geburt durch Kaiserschnitt
dem Uterus. Der Aufzuchtkäfig enthielt eine hin-
reichende Menge sterilisierten Futters. Je ein Stück
oder mehrere Geschwister wurden als Kontrolltiere
in gewöhnlicher Weise aufgezogen. Vier Versuche
wurden 16, 18, 21 und 29 Tage durchgeführt.
Während dieser Zeit betrug die Gewichtszunahme
19g. iig. 17g- und 32g oder 21%, g'>l„, 19,9%
und 33,5"/o des Anfangsgewichts. Die Gewichts-
zunahme der Kontrolltiere stieg während der
gleichen Zeit von 8,7 ",„ auf 24 "/(,.
Im Gehalt der Exkremente an Stickstoff und
Cellulose bestand kein Unterschied gegenüber den
Kontrolltieren.
Mikroskopische Untersuchungen und Impfungen
auf Nährgelatine mit dem Darm und seinem Inhalt
ercjaben das völlige Fehlen von Bakterien.
Kathariner.
Physik. Über die Verwendung der lichtelek-
trischen Zelle als Empfangsinstrument für draht-
lose Telegraphie berichtet H. Behnken in den
Berichten der Deutschen Physikalischen Gesellschaft
XVI (1914) Seite 668—678. Mit der in der Em-
pfangsantenne liegenden Spule ist eine zweite von
großer Windungszahl gekoppelt, so daß in dieser
die von der ersteren aufgenommenen Schwingungen
auf hohe Spannung transformiert werden. Das eine
PInde der Sekundär-Spule ist mit der Kaliumschicht
der lichtelektrischen Zelle, die dieser gegenüber-
stehendende Platinanode mit dem Faden eines
Lutz-Edelmann'schen Einfaden-Elektrometers ver-
bunden. Die Kaliumschicht wird mit einer Nernst-
lampe beleuchtet. Würde man das andere Spulen-
ende unmittelbar erden, so wurde beim Leuchten
der Lampe das E.!ektrometer stets einen Ausschlag
zeigen. Um dies zn vermeiden, ist in die Erd-
leitung ein Regulierwiderstand eingeschaltet, der
es erlaubt, von einem Akkumulator einen Teil der
Spannung abzuzweigen. Dadurch werden die durch
die Belichtung am Kalium ausgelösten Elektronen
so stark verzögert, daß in nicht zur Anode und
zum Elektrometer gelangen. Wird aber die Antenne
angeregt, so entsteht in der Sekundärspule eine
beträchtliche Wechselspannung von der Frequenz
des Antennensystems. Während jeder Halbperiode,
in der dadurch die Kaliumschicht ein negatives
Potential erhält, werden die durch die Belichtung
befreiten Elektronen so stark beschleunigt, daß
sie gegen die verzögernde Spannung anlaufen und
zur Anode gelangen können, so daß der Elektro-
meterfaden die Schwingungen der Antenne mit-
macht. Es gelang in Charlottenburg das Zeitzeichen
von Norddeichmit 20 — 30, das des Eiffelturmes mit
4 — 5 Skalenteilen .Ausschlag aufzunehmen. Dabei
bestand die Empfangsantenne einfach aus einem
Kupferdraht von 3 mm Dicke, der in einer Länge von
70 m zwischen zwei Holztürmen in 15— 20 m Höhe
über dem Dach des Starkstromlaboratoriums der
Physikalisch-Technischen Reichsanstalt ausgespannt
war. Es sei noch erwähnt, daß es zweckmäßig
ist, von einer Abstimmung zwischen der in der
Antenne liegenden Spule und der mit der licht-
elektrischen Zelle verbundenen abzusehen, daß
man vielmehr der letzteren die Schwingungen
des Antennenkreises besser einfach aufzwingt.
Diese Zellanordnung hat vor den Kreistalldctek-
toren den Vorteil, daß sie nicht einreguliert zu
werden braucht, daß sie konstant ist und daß ihr
selbst starke atmosphärische Entladungen nichts
anhaben, wodurch eine große Betriebssicherheit
gewährleistet wird. K. Schutt, Hamburg.
634
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 40
Geologie. Über tropische und subtropische
Flach- und Hochmoore auf Ceylon hielt Geh.
Bergrat K. Keilhack auf der Tagung des Ober-
rheinischen geologischen Vereines in Friedrichs-
hafen a. B. einen interessanten Vortrag, der nun-
mehr in den Jahresberichten und Mitteilungen
dieses Vereins erschienen ist. (N. F. Bd. 4, H. 2.
Jahrgang 1914.)
Eine ausführliche Mitteilung über Moore mit
Torfboden aus der tropischen und subtropischen
Zone gab zum ersten Male H. Potonie in der
Naturwissenschaftlichen Wochenschrift vom Jahre
1907. Es handelte sich um ein von der Holländisch-
Indischen Expedition in Sumatra entdecktes, ca.
90 km von der Küste entferntes Flachmoor, dessen
Bestand ein immergrüner etwa 30 m hoher Misch-
wald ist. Niedrige Pflanzen und Kräuter fehlen
völlig. Gelegentlich der Arbeiten der Deutschen
Tendaguru-Expedition in Deutsch-Ostafrika wurden
durch Janensch und v. St äff Moorbildungen
im südlichen Küstengebiet des Lukulabi entdeckt.
Es herrscht dort eine üppige Vegetation, doch
ist über die Flora dieser Moore nichts bekannt.
Grasmoore, wie sie in den gemäßigten Breiten
auftreten, waren in der tropischen und subtropischen
Zone nicht bekannt. Selbst die Möglichkeit des
Auftretens des Zwischenmoores und des Hoch-
moores hielt H. Potonie in den tropischen Ge-
bieten für ausgeschlossen.
Auf einer im vorigen Jahre unternommenen
Forschungsreise nach Ostasien konnte nun Keil-
hack auf Ceylon in der Umgebung von Nurelia, i)
einer in 1850 m Meereshöhe gelegenen Sommer-
frische, die am Fuße des 2550 m hohen Talagalla
liegt, ein typisches Flach- und Hochmoor nach-
weisen. Nurelia ist in einem wannenartigen Becken
gelegen, das auf beiden Längsseiten von ziemlich
hohen Gebirgswänden begrenzt ist. Im südlichen
etwa 3 km langen Teil des Beckens befindet sich
der durchschnittlich 6 m tiefe Lake Gregory, der
infolge der immer mehr fortschreitenden Ver-
landung seiner randlichen Teile von einem Flnch-
moor umgeben ist. Wie bei der \'erlandung
unserer Seen, so lassen sich auch beim Lake
Gregory mehrere Vegetationsgürtel unterscheiden.
Im Wasser schwimmt Aponogeton, eine Najadee
mit großen elliptischen Blättern. Dann folgt ein
3 — 25 m breiter Gürtel von Juncus effusus und
Scirpus mucronatus mit vereinzelten Büschen von
Eriocaulon, Blütenpflanzen, Cyperaceen und Gra-
mineen. Der folgende ca. 15 — 50 m breite Gürtel
wird von meterhohem Eriocaulon gebildet, dessen
dichtstehende Bülten ein weißes P'arbband er-
zeugen, das dem von Eriophorum in unseren Mooren
ähnlich sieht. Auf den Eriocaulon-Bülten wachsen
') Ein treffliches Bild mit Beschreibung jener Gegend
gibt E. Haeckel in seinem Tafelwerk Wanderbilder,
Serie I und II , Die Naturwunder der Tropenwelt (Insulinde
und Ceylon), fünfte Lieferung 1905 in Wanderbild 15: Nu-
rellia-See, Blick vom Rambodde-Paß auf den Nurellia-Scc
(Ceylon), wie auch in dem Aquarell, das den See mit seiner
Umgebung deutlich zeigt.
Blütenpflanzen und Gräser, welche die Plora des
Flachmoores bilden. Der dritte zwischen 10 bis
100 m breite Gürtel besteht aus zahlreichen Bülten
von kleinen Gramineen und Cyperaceen, wozu
vereinzelt auch große Bülten des meterhohen
Grases Vetiveria zizanoides treten, dessen Haupt-
verbreitung auf das Hochmoor beschränkt ist.
Das Profil des P'lachmoores besteht zu unterst
aus gelbem Ton, der wohl ein Sediment des Sees
ist; darüber 30—60 cm typischer Faulschlamm,
der von 30—80 cm Torf überlagert wird.
An das P"lachmoor schließt sich das Hoch-
moor an, das als typisches Gehängemoor 10— 30 m
am Gehänge aufsteigt. Unter dem bis i m mäch-
tigen Torf lagert nur in den tieferen Teilen Faul-
schlamm, gewöhnlich aber verwitterter Granit.
Das Auftreten von Faulschlamm ist so zu erklären,
daß das Hochmoor ursprünglich Flachmoor war
und erst nach Senkung des Seespiegels in den
jetzigen Zustand übergegangen ist. Das Gehängemor
ist als Zwischenmoor oder wohl eher als Hoch-
moor anzusehen und unterscheidet sich in wesent-
lichen Punkten vom Flachmoor. Nächst der Ober-
flächenform liegt der wichtigste Unterschied in
der Pflanzenwelt. Unter den 80 Arten von höheren
Pflanzen, die im Moore von Nurelia auftreten, ge-
hören 42 Arten dem Flachmoor, 32 Arten dem
Gehängemoor und nur 8 Arten beiden gemein-
sam an. Auch in der Baumvegetation zeigen sich
Unterschiede. Auf dem Flachmoor sind kleine
Gruppen von künstlich angesiedelten australischen
Eucalypten verstreut, während auf dem Hochmoor
der leuchtend rot blühende Rhododendron arbo-
reum, der Charakterbaum des Urwaldes von Cey-
lon auftritt, welcher sonst 12 — 15 m Höhe erreicht,
hier aber verkrüppelt (3 — 4 m) gewachsen ist und
an die verkrüppelten Moorkiefern der deutschen
Hochmoore erinnert.
Weitere Übereinstimmung mit unseren Hoch-
mooren besteht in der völlig abweichenden Vege-
tation an Ufern von Bächen, die, vom Gebirge
kommend, das Gehängemoor durchziehen. Hier,
wo größerer Reichtum an Nährstoffen im Wasser
besteht, entwickelt sich die Plachmoorvegetation
ähnlich den Rüllen der deutschen Hochmoore,
während der übrige Teil des Hochmoores nur
mit Regenwasser getränkt wird.
Eine Besonderheit der Moorflora von Nurelia
ist die Ausbildung xerophiler Merkmale bei zahl-
reichen Arten. Auffallend ist das Fehlen von
Moosen sowohl im Flach- als auch im Hochmoor.
Die Moore sind also ausschließlich Grasmoore.
Als Torfbildner sind neben Cyperaceen und Grami-
neen noch eine Binse Juncus effusus und versch.
Arten von Eriocaulon von Bedeutung.
Große Übereinstimmung mit unseren Mooren
besteht in der Bildung von Bülten durch zahl-
reiche Pflanzen (Juncus, Scirpus, Eriocaulon, Veti-
veria, Carex, Cyperus usw.), wodurch die Moore
von Nurelia den unsrigen ähnlich sehen.
Die Familien der Moorflora von Nurelia sind
mit einigen Ausnahmen auch bei uns vertreten,
N. F. XIII. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
635
während nur mehr als die Hälfte der Gattungen
bei uns vorkommt. Dagegen sind nur 4 Arten
unserer Flora gemeinsam (u. a. Juncus effusus).
Ein Flachmoor von 30 m Breite und unbe-
kannter Länge ist im Urwald des Talagalla in
2250 m Höhe gelegen und zeigt unter 10 ge-
sammelten Pflanzen nur eine, die dem Moor von
Nurelia gemeinsam ist.
Die Moore von Nurelia gehören trotz 7 " nörd-
licher Breite bei einer Höhe von 1850 m klimatisch
bereits der subtropischen Zone an und sind als
Grasmoore entwickelt, die unseren Flach- und
Hochmooren zuzurechnen sind.
Typische tropische Flachmoore wurden noch
nahe dem südlichsten Teil der Insel im Gebiet
des tropischen Regenwaldes nur wenige m über
dem Meeresspiegel unter 6 " nördl. Breite entdeckt.
Sie liegen beiderseits von Point de Galle und er-
strecken sich 30 - 40 km der Küste entlang hinter
einem 100 — 300 m breiten Strandwall in i — 2 m
über dem Meere liegenden Niederungen. Der
Torf ist ca. i m mächtig. Faulschlamm ist zu
vermuten. Auch hier haben wir typische Gras-
moore, die von niederen Bäumen und Büschen
sowie Schlingpflanzen besetzt sind. Haupttorf-
bildner sind wiederum Gramineen und Cyperaceen,
sowie Eriocaulon. Auffallend ist der Reichtum
an Farnen. Besonders merkwürdig ist es, daß
mit Ausnahme des Kletterfarns Gleichenia linearis
keine Pflanze des tropischen Moores mit der sub-
tropischen Moorflora von Nurelia übereinstimmt.
Hinsichtlich des Charakters der Flora steht
das subtropische Moor unseren Mooren viel näher
als das tropische. V. Hohenstein.
Botanik. Beobachtungen über Protoplasma-
strömung in Pflanzenzellen. Man ist geneigt, leb-
hafte Protoplasmaströmung mit kräftiger Lebens-
tätigkeit und den sie begleitenden stofflichen
Umsetzungen und Wanderungen in Beziehung zu
bringen. Beobachtungen, die G. Lakon in den
Zellen der inneren Epidermis von Zwiebelschuppen
(Allium Cepa) gemacht hat, beweisen aber, daß
solche Beziehungen nicht zu bestehen brauchen.
In diesen Zellen strömt das Plasma nicht bloß in
dem protoplasmatischen Wandbeleg, sondern auch
in den feinen Plasmasträngen, die das Innere der
Zellen durchziehen, — eine Strömungsform, die
unter dem Namen Zirkulation des Plasmas
bekannt ist. Das Plasma zirkuliert in gleicher Weise
in verschiedenen Lebensperioden der Zwiebel ;
weder bei der Abwanderung noch bei der Auf-
wanderung der Assimilate strömt es lebhafter als
bei der völligen Ruhe im Winterlager. Die
Strömungsfähigkeit des Plasmas ist also hier von
einer erhöhten Lebenstätigkeit des Organes völlig
unabhängig, und es ist für sie auch ohne Bedeutung,
ob in den Zellen eine rege Stoffwanderung statt-
findet oder nicht. Lakon hebt hervor, daß die
beobachtete Plasmaströmung nicht etwa erst durch
die Präparation (Entnahme der Zellen mittels einer
Pinzette und Einlegen in einen Wassertropfen)
hervorgerufen werde, wenn der Reiz sie auch
möglicherweise beschleunige. Weitere Beobach-
tungen zeigten, daß osmotisch wirksame Lösungen
(am besten Kalisalpeter) die Protoplasmaströmung
in den Zwiebelschuppen in hohem Maße befördern.
Die optimale Konzentration richtet sich nach den
osmotischen Druckverhältnissen der Zellen. Im
Winter abgelagerte Zwiebeln z. B., deren Zellsaft
hoch konzentriert ist, bedürfen auch einer stark
konzentrierten Lösung, um eine deutliche Be-
schleunigung der Strömung zu entfalten. Bei der
bekannten Rotation des Protoplasmas (Strömung
nur im Wandbeleg) in Blättern von Elodea cana-
densis ist die Wirksamkeit von Salzlösungen im
Vergleich zu der bei der Zirkulation in Zwiebel-
schuppen nur sehr gering. Doch hat Verf. ge-
funden, daß die Plasmaströmung bei Elodea in
ausgezeichneterweise durch eine 0,005 proz. Lösung
von Schwefelsäure angeregt und zur Anschauung
gebracht werden kann. Da die giftigere schweflige
Säure in entsprechend niedrigerer Konzentration eine
gleiche Wirkung nicht ausübt, so schließt Lakon,
daß der Einfluß der Schwefelsäure ein spezifischer
sei, nicht auf Giftwirkung beruhe. Verf. stellte
auch einen sehr günstigen Einfluß der Verdunstung
auf die Rotation bei Elodea fest; am lebhaftesten
trat die Plasmaströmung hervor an Sproßspitzen,
die aus dem Wasser frei in die Luft ragten (Ber.
d. Deutschen Bot. Ges. 1914, Bd. 32, S. 417 — 426).
F. Moewes.
Chemie. Über die Darstellung der Elemente
Thorium, Uranium, Zirkon und Titan berichten
D. Lely j r. und L. Hamburger in der Zeit-
schrift f. anorg. Chem. Bd. 87, S. 209—228. Der
schönen, klar und zielbewußt durchgeführten Arbeit
sind die folgenden Angaben entnommen:
Die Reindarstellung der elementaren Metalle
Thor, Uran, Zirkon und Titan wird einerseits durch
ihren hohen Schmelzpunkt, andererseits durch ihre
<rroße Affinität zu den meisten anderen Elementen
erschwert. Es ist daher erforderlich, für die Ge-
winnung der Metalle nur solche Stoffe zu benutzen,
die auf das Endprodukt keinen ungünstigen Ein-
fluß ausüben und sich vor allen Dingen leicht aus
ihm entfernen lassen. Weiter muß dafür gesorgt
werden, daß das metallische Endprodukt nicht
in Form eines zu feinen Pulvers erhalten werde,
da es sonst von Luft, Feuchtigkeit usw. zu leicht
angegriffen und dadurch verunreinigt wird. Es ist
daher erforderlich:
1. Eine hohe Darstellungstemperatur, die aber
nur kurze Zeit wirken darf, da sonst die Gefahr
der Verunreinigung des Reaktionsproduktes durch
das Gefäßmaterial vorliegt.
2. Größte Reinheit des Ausgangsmaterials, da
erfahrungsgemäß selbst geringe Verunreinigungen
das Zusammensintern und Verschmelzen der bei
der Reaktion zunächst entstehenden winzigen
Metallpartikeln zu größeren und darum wider-
standsfähigeren Komplexen erheblich zu erschwe-
ren vermögen.
636
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 40
3. Ausschließung von atmosphärischen Ein-
flüssen während der Reaktion sowie sorgfältige
Auswahl des Materials für das Reaktionsgefäß.
Das chemische Verfahren, nach dem die Ver-
fasser arbeiteten, war weder neu noch kompliziert;
der Erfolg war allein durch die peinliche Sorg-
falt bedingt, mit der die Versuche unter Berück-
sichtigung der im vorstehenden angegebenen
Grundsätze durchgeführt wurden. Es wurden
zunächst die vier Chloride ThClj, UrCl^, ZrCl^
und TiCl4 aus den Oxyden durch Reduktion
und gleichzeitige Chlorierung mit Kohlenstoff und
Chlor, mit Tetrachlorkohlenstoff CCI4 oder mit
Schwefelchlorür S.,C1., vollkommen wasserfrei dar-
gestellt und, soweit es erforderlich war, durch
Sublimation im Vakuum sorgfältigst gereinigt.
Dann wurden die Chloride mit metallischem Na-
trium, das ebenfalls durch Sublimation im Vakuum
gereinigt war, in stählernen Tiegeln ebenfalls
im Vakuum bei hoher Temperatur zur Reak-
tion gebracht. Die Reaktion erfolgte nach der
Gleichung
MeCI^ + 4Na = 4NaCl -j- Me,
wobei Me eines der vierwertigen Metalle Th, Ur,
Zr oder Ti bedeutet.
Das reinste Thorium, das auf diese Weise
dargestellt wurde, bestand der Analyse zufolge
aus 99,9 "/o Thorium und 0,1 "/g Sauerstoff. Es
ist ein sehr duktiles Metall vom spezifischen Ge-
wicht 11,2 und in grober Form sehr beständig
gegen Luft, Wasser, wässerige Lösungen von Al-
kalien und sogar gegen verdünnte und konzen-
trierte Salpetersäure. Ein aus grobpulverigem Thor
zusammengepreßtes Stäbchen konnte im Vakuum
durch direkte Erhitzung mittels Wechselstroms —
also das Verfahren, das auch beim Wolfram gute
Dienste geleistet hat ■ — zu kompaktem Metall
zusammengesintert werden, ja beim elektrischen
Erhitzen auf einer Unterlage von Wolframmetall
konnte ein Stück Thorium im Vakuum nicht nur
zum Schmelzen, sondern sogar zu vollständiger
Verdampfung gebracht werden.
Das reinste Uran enthielt 99,5"/,, Uran und
o,5"/g Sauerstoff; es ist weniger duktil als das Tho-
rium, wird von Luft, Wasser, wässerigen Alkalien
und Essigsäure nicht angegrifien, von Salz- und
Salpetersäure aber rasch aufgelöst. In kompakte
Form kann es in gleicher Weise wie das Thorium
übergeführt werden.
Das von den Autoren dargestellte Zirkon
erwies sich bei der Analyse als praktisch rein.
Das Metall ist sehr duktil, gegen wässerige Al-
kalien und viele Säuren ist es widerstandsfähig,
von Königwasser und konzentrierter Schwefelsäure
wird es in der Hitze, von Fluorwasserstoffsäure
schon in der Kälte rasch angegriffen.
Das Titan endlich, in dem Verunreinigungen
nicht nachgewiesen werden konnten, ist weniger
duktil als die drei anderen Metalle, im übrigen
aber ebenfalls schwer angreifbar. Die Überführung
des bei der Reaktion entstandenen pulverförmigen
in kompaktes Metall bot größere Schwierigkeiten
als bei den drei anderen Metallen, ließ sich aber
ebenfalls durchführen. Mg.
Kleinere Mitteilungen.
Eine Beobachtung des in nördlichen Breiten
selten sichtbaren grünen Strahles, der schon im
Mittelmeer oft wahrgenommen wird, ist mir in
Wisby auf Gotland unter 57,6 Grad nördl. Breite
gelungen. Die Zeit vom 6. — 29. Juni war dort
so sehr vom Wetter begünstigt, daß an 17 Abenden
ein klarer Sonnenuntergang beobachtet werden
konnte. Es waren dabei über der See oft merk-
würdige Verzerrungen und Fata Morgana- Er-
scheinungen wahrzunehmen, wie überall. Am
16. Juni trat Regenwetter ein, verbunden mit
starker Abkühlung der Luft. Am 17. klärte es
sich auf, ohne wesentliche Erwärmung der Luft,
und das war jedenfalls die Vorbedingung für das
Eintreten der so seltenen Erscheinung. Freilich
wird auch selten mit Absicht darauf aufgepaßt,
so daß die Berichte immer nur von einem gelegentlich
gesehenen Aufblitzen beim Untergang des letzten
Sonnenstrahles erzählen. Mir stand ein aus-
gezeichnetes Prismenglas von Busch in Rathenow
zur Verfügung von öfacher Vergrößerung und
30 mm Öffnung, das also ungewöhnlich lichtstark
ist. Die Sonne ging infolge der Temperatur-
gleichheit von Luft und Wasser fast ohne jede
Formveränderung unter, und als noch soviel von
der Scheibe zu sehen war , wie sonst etwa in
30— 40 Sekunden untergeht, da erkannte ich genau,
wie an den beiden Stellen, wo Sonnenrand und
Meeresfläche sich berühren, der Rand sich grün
färbte, diese Färbung lief mit großer Geschwindig-
keit nach oben bis zur Vereinigung, so daß der
ganze noch ziemlich lange Sonnen rand in leuchtendem
Smaragd oder Malachitgrün strahlte. Dann aber ver-
schwand das ganze St ückder Sonne momentan. Dieser
ganze Vorgang hat etwa 2 — 3 Sekunden gedauert.
Es war also die Sonne durch anormale Refraktion
noch über den Horizont gehoben gewesen. Offenbar
waren an den andern klaren Tagen die Bedingungen
nicht erfüllt, weil die Luft am Tage bis zu 26 Grad
im Schatten erhitzt wurde, und nun bei Sonnen-
untergang die Schichten durch die beginnende
Abkühlung sich so durcheinander mischten, daß
eine ruhige Strahlenbrechung nicht möglich war.
Es wäre sehr wünschenswert, wenn auch von
anderen Seiten versucht würde, Material herbei zu
schaffen, um die Bedingungen festzustellen, unter
denen der „Grüne Strahl" auftritt. Große Mittel
gehören ja nicht dazu. Riem.
Mit dem Hochwasser wandernde Schmetter-
lingspuppen. Anfang Januar 191 3 sammelte ich
bei Treis und Coblenz die von dem Hochwasser
N. F. XIII. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
637
der Mosel abgesetzten Muscheln und Schnecken-
gehäuse. Unter dem angeschwemmten Material
fielen mir birnförmige Kokons auf, welche am
spitzen Ende durch elastische Borsten reusenartig
verschlossen waren. Für Unterrichtszwecke nahm
ich einige Kokons mit. Als ich einige Monate
später die Molluskenausbeute nochmals besichtigte,
fielen mir in den geschlossen gehaltenen und
trockenen Behältern zwei Weibchen des Kleinen
Nachtpfauenauges auf, welche inzwischen
den Kokons entschlüpft waren. Beide Tiere
hatten zahlreiche Eier abgesetzt. Diese Beobach-
tung zeigt, daß Schmetterlinge auch im Puppen-
zustande manchmal wandern können.
Brockmeier.
Wie dick sind die Wolken? Wenn in der
Sommerszeit aus verhäitnismäßig unscheinbaren
Wolkenbildungen bei einem Gewitter gewaltige
Platzregen niedergehen, so fragt man sich häufig,
woher nur die außerordentlich großen Nieder-
schlagsmengen herkommen mögen. Man gibt
sich über diese Dinge um so leichter einer Täu-
schung hin, als man die Dicke der Wolkenschich-
ten, aus denen es regnet, gewöhnlich unterschätzt.
Die Wolkenbildung geht auch manchmal so plötz-
lich vor sich, daß man die Mächtigkeit und die
Höhe ihrer Ausdehnung nach oben nach den vor-
herigen Anzeichen gar nicht ahnt. Aufklärungen
über diese meteorologischen Fragen vermögen
nur Balloiiaufstiege im bemannten PVeiballon zu
geben. Sehr interessantes Material darüber hat
der berühmte Wiener Meteorologe Prof. Julius
Hann in der neuen Auflage seines berühmten
Lehrbuches der Meteorologie zusammengetragen.
So wurde bei der Ballonfahrt von Barral und
Bixio am 27. Juli 1850 eine Wolkenschicht
durchkreuzt, die größtenteils aus unterkühlten
Tröpfchen bestand und mehr als 5 km Dicke be-
saß. Auch neuere Wolkenmessungen haben er-
geben, daß die senkrechte Mächtigkeit der Haufen-
wolken mehrere Kilometer erreichen kann. Dar-
über haben die Berliner Ballonfahrten einige sehr
bemerkenswerte Erfahrungen geliefert. Die Hoch-
fahrt vom 8. Mai 1894 ging zuerst in der Höhe
von 1750 — 5000 m durch eine Schneewolke, dann
setzte sie sich als P^iskristallwolke bis 5,7 km fort,
der noch ein Eisnebel bis zur Höhe von 7750 m
folgte. Diese Wolkenlager waren also 6 km
mächtig. Auch bei der Fahrt vom 14. März 1893
wurde eine Eisnebelwolke von nahezu 5 km Mäch-
tigkeit durchfahren. Die Potsdamer Wolkenmes-
sungen haben Dicken von 50 bis über 4600 m
ergeben; sie sind auch getrennt für die einzelnen
Wolkenarten registriert. Die dicksten Wolken
waren hier die Platzregenwolken. Der ausgezeich-
nete Wolkenforscher Ley sah im Sommer eine
Gewitterwolke, deren unterste Fläche sich 300 m
über dem Gipfel des Mont Blank befand, während
ihr Scheitel sich 4800 m darüber erhob. Am
13. August 1857 konnte Ley die Dicke einiger
Hagelwolken messen. Die Unterfläche war etwa
1000 m über der Erde und die senkrechte Mächtig-
keit betrug 7600 m. Aber selbst diese Dicke
wurde durch zahlreiche Gewitterwolken erheblich
übertrofifen. Am 3. September 1867 und 4. August
1878 betrug deren Mächtigkeit 9700 m. Wolken
von so größer Mächtigkeit können sich natürlich
nur in aufsteigenden Luftmassen bilden, sei es in
den großen atmosphärischen Wirbeln oder bei
lokalen Störungen des Gleichgewichts, also den
Sommergewittern. Die Dicke der Wolken ist
jedenfalls beschränkt; da die für die Witterung
wichtigen Luftschichten sich auf die zehn unter-
sten Kilometer beschränken, so werden auch die
Wolkenschichten nur in seltenen Phallen 10 km
Dicke erreichen.
Bücherbesprechiingen.
Volterra V., Drei Vorlesungen über
neuere Fortschritte der mathematischen
Physik. Gehalten im September 1909 an der
Clark-University. Deutsch von E. Lamla. 88
Seiten mit 19 Figuren und 2 Tafeln. Leipzig
u. Berlin 1914, B. G. Teubner. — Preis geh. 3 Mk.
Die hier als Sonderabdruck aus dem „Archiv der
Mathematik und Physik" in Buchform vorliegenden
Vorlesungen Volterras aus dem Jahre 1909 befassen
sich zunächst mit dem Problem der Zurückführung
der Fragen der allgemeinen Mechanik, der Elasti-
zitätstheorie und der Elektrodynamik auf Betrach-
tungen der Variationstheorie und geben dann eine
Besprechung der neuesten Probleme der Elastizitäts-
theorie mit besonderer Berücksichtigung der
elastischen Nachwirkung. Für das Verständnis der
Betrachtungen ist die Kenntnis der theoretischen
Grundlagen der besprochenen Gebiete vorausgesetzt.
A. Becker.
Boveri, Th., Zur Frage der Entstehung
maligner Tumoren. 64 Seiten. 2 Textfigg.
Jena 1914, Gustav Fischer. — Preis 1,50 M.
Boveri stellt auf Grund seiner in so verschie-
denen Richtungen erfolgreichen Untersuchungen
auf dem Gebiete der experimentellen Zelliorschung
eine Theorie des Ursprunges der bösartigen Ge-
schwülste auf, welche zwar noch unbewiesen und
nicht durch ad hoc angestellte Versuche erhärtet
ist, aber doch auch keiner der bisher bekannten
Tatsachen der Krebsforschung sowie der Zellen-
lehre widerspricht und dabei den Vorzug besitzt,
eine einheitliche Erklärung sämtlicher bösartigen
Geschwülste, so verschieden sie auch aussehen
mögen, zu ermöglichen.
Die bösartigen ') Geschwülste sind bekanntlich
') Von den gutartigen Geschwülsten unterscheiden sie sich
durch den vom Typus des Muttergewcbes abweichenden Zell-
charakter.
638
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 40
insgesamt durch die unbegrenzte Wachs-
tums- und Vermehr ungsfähigkeit ihrer
Zellen charakterisiert.
Die unbegrenzte Teilungsfähigkeit ist wohl
zweifellos eine Grundeigenschaft der Zelle. So
konnte Woodruff ein einzelliges Tier {Para-
viaeci/iiii), ohne daß geschlechtliche Vorgänge ein-
traten oder abnorme Reize angewendet wurden,
innerhalb von nahezu 6 Jahren durch etwa 3500
Generationen hindurch züchten, wobei die Tiere
sich ausschließlich durch normale Zweiteilungen
vermehrten. Hätte man alle I'aramaecien leben
lassen, so würde die gesamte Nachkommenschaft
des einen Ausgangstieres heute einen Raum ein-
nehmen, der das lo^""" fache des Erdvolumens
noch überschritte. — Während bei vielzelligen Or-
ganismen nun die Embryonalzellen in ähnlicher
Weise vermehrungskräftig sind, tritt in den Ge-
weben des erwachsenen Tieres offenbar eine
Hemmung der Teilungsfähigkeit der Zellen ein,
wie der Stillstand des Wachstums und die Seltenheit
der Zellteilungen in den verschiedensten alternden
Geweben anzeigen.
Den Mechanismus nun, der diese Hemmung
bewirkt, verlegt Boveri in die Chromosomen des
Kernes der Gewebszellen. Seine früheren Unter-
suchungen an doppeltbefruchteten Seeigelciern so-
wie andere Tatsachen haben unzweifelhaft gelehrt,
daß die einzelnen Chromosomen „Individuen" sind,
d. h. wohl charakterisierte, voneinander stofflich
und potentiell unterschiedene Einheiten. Ein
Chromosom kann im allgemeinen durch ein anderes
funktionell nicht ersetzt werden : fehlen einem Kern
bestimmte Chromosomen, so schlägt die Entwick-
lung der zugehörigen Zelle pathologische Bahnen
ein. Nun hat der geschlechtlich erzeugte Organis-
mus die Hälfte seiner Chromosomen vom Vater,
die andere von der Mutter (das normal be-
fruchtete Seeigelei z. B. 18 väterliche und 18
mütterliche Cinomosomen). Je ein solcher voll-
ständiger Chromosomensatz allein garantiert nor-
male Entwicklung, wie etwa die künstliche
Parthenogenese (Entwicklung des unbefruchteten
Eies mit nur 18 mütterlichen Chromosomen) und
die Entwicklung kernloser Eibruchstücke lehrt,
wie sie von Boveri befruchtet wurden (nur iS
väterliche Chromosome in mütterlichem Plasma).
Sobald aber in einer Zelle einzelne Chromosome
überhaupt nicht vertreten sind (wenn z. B. aus
beiden Chromosomenzätzen das erste und fünfte
der je 18 fehlen), so ist dieser Defekt im Laufe
der folgenden normalen Zweiteilungen irreparabel;
der Keim wird infolgedessen pathologisch. —
Derartige abnorme Chromosomenverteilungen
können nun auf drei verschiedenen Wegen zu-
stande kommen, nämlich erstens durch mehr-
polige Kernteilungsfiguren: Wenn z. B.
im doppeltbefruchteten Seeigelei das überschüssige
Spermatozoon ein zweites Teilungsorganell in die
Eizelle eingeführt hat; oder wenn im normal-
befruchteten Ei wie auch in der Gewebszelle in-
folge äußerer Reize (Chinin, Morphium, Nikotin,
Radiumstrahlen u. a.) entweder das Teilungsorga-
nell sich verdoppelt, oder die gerade vorbereitete
Teilung des Zellplasmas unterdrückt wird, während
Chromosomen und Teilungsorganell sich noch
verdoppeln können (doppelwertige Zelle), so muß
in allen diesen Fällen die folgende Kernteilungs-
figur mehrpolig werden. Da sich aber die Chro-
mosomen zwischen die vorhandenen (mindestens 3)
Pole wahllos dem Zufall gehorchend anordnen, so
resultieren mit Sicherheit abnorme Chromosomen-
kombinationen. Denselben Erfolg haben zweitens
die sogenannten asymmetrischen Kern-
teilungen, bei denen einige Chromosomen die
Teilungsfähigkeit verloren haben, so daß mindestens
eine der beiden Tochterzellen diese Chromosomen
nicht erhält. Wie in Baltzer's Seeigelbastar-
dierungen das artfremde Eiplasma regelmäßig
veranlaßt, daß vier der 18 Spermachromosomen
von der weiteren Entwicklung ausgeschlossen
werden und im Plasma degenieren, so könnten auch
äußere schädigende Einwirkungen auf das Plasma
(Gifte, Röntgen-, Radiumstrahlen usw.) die Teilungs-
fähigkeit einzelner Chromosomen aufheben und somit
auf dem Wege asymmetrischer Kernteilungen zu
abnormen Chromosomenkombinationen führen.
Und drittens können endlich auch in der ruhenden
Zelle, ganz unabhängig von der Zellteilung, äußere
Reize die Chromosomenkombiiiation, wenig-
stens funktionell betrachtet, verschieben, indem
sie einzelne Chromosomen abtöten oder funktions-
unfähig machen.
In allen diesen Phallen also entstehen Zellen
mit defektem Chromatinbestand, und der Defekt
bleibt bei etwa darauffolgenden Zellteilungen dau-
ernd erhalten. Viele der möglichen Kombinationen
freilich werden nicht lebensfähig sein; unter den
lebensfähigen Chrosmosomenkombina-
tionen aber — und dies ist der vorläufig freilich
durchaus hypothetische Grundgedanke Boveris
— könnnen sich, vielleicht nur in geringer Anzahl,
auch solche finden, bei denen der die Zell-
vermehrung hemmende Mechanismus
aufgehoben ist; mag er nun in einem einzelnen
Chromosom sitzen, das zufällig gerade ausgefallen
ist, oder auf dem Zusammenwirken mehrerer Chro-
mosomen beruhen, von denen eines oder mehrere
ausfielen oder funktionsunfähig wurden usw. Eine
solche Gewebezelle hat die Fähigkeit der unbe-
grenzten Zellteilung wieder gewonnen; so wird
sie zur Mutterzelle einer Geschwulst.
Der Anwendbarkeit der Theorie auf die klinischen
und zellulären Tatsachen der Geschwulstforschung
ist der unfangreichere Teil der Arbeit gewidmet.
Hier können nur wenige Punkte mehr oder weniger
willkürlich hervorgehoben werden.
Bekanntlich können aus demselben Mutter-
gewebe Geschwülste sehr verschiedener
Natur entstehen. Wenn nun allein die Ver-
doppelung sämtlicher Chromosomen (4 statt
2 Chromosomensätze) bei Umotlicra Planzen mit
Riesenwuchs und deutlich verändertem Habitus
{Oe. gigas) hervorruft, um wieviel stärker muß da
N. F. XIII. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
639
der Ausfall oder die Verdoppelung einzelner
Chromosomen bei mehrpoligen oder asymme-
trischen Kernteilungen den Zellcharakter verändern!
Da man sich nun unter den sehr vielen möglichen
Chromosomenkombinationen wohl mehr als eine
lebensfähig und gleichzeitig auch unbegrenzt
vermehrungsfähig vorstellen darf, so könnte dann
jede dieser Kombinationen einem besonderen Ge-
schwulsttypus entsprechen. — Erblichkeit des
Krebses wäre nur in indirektem Sinne denkbar.
Vererbt könnte werden: die Disposition des die
Geschwulst umgebenden Gewebes, sich leicht
schädigen zu lassen ; geringe Resistenz der Zellen
gegenüberäußerenEinwirkungen,diezu mehrpoligen
oder asymmetrischem Kernteilungsfiguren führen;
endlich die Schwäche eines einzelnen Chromosoms
(Funktions- oder Teilungsunfähigkeit). Die beiden
zuletzt genannten Schwächen könnten vielleicht
gelegentlich erst im Alter sich bemerkbar machen;
eine Analogie bieten nach Boveri alte Seeigeleier,
die tatsächlich den Mitteln zur Erzeugung abnormer
Kernteilungen weniger Widerstand entgegensetzen
als jüngere Eier. Die angewandten Reize waren hier
mechanische (Schütteln), thermische und chemische;
genau die gleichen Reize aber sind in der Ätiologie
der bösartigen Geschwülste bekannt genug, sowohl
bei vorübergehendem wie chronischem Auftreten
(mechanische Reizung : Hautkrebs der indischen
Rinder an der Basis des rechten Hornes, an dem
sie angeschirrt werden; Temperatur: Speiseröhren-
krebs der chinesischen Männer, die im Gegensatz
zu den Frauen den Reis möglichst heiß essen;
chemische Reizung: Krebs der Pfeifenraucher,
Paraffinarbeiterkrebs usw.). Ähnlich diesen chro-
nischen Reizen müssen die in so großer Zahl be-
schriebenen „Erreger" (Bakterien, Protozoen, Pilze,
Nematoden, Milben) wirken, indem sie giftige
Stoffe abscheiden und dadurch das Gewebe zu
abnormen Kernteilungen reizen. Gegen eine
direkte Wirkung der „Erreger" spricht die stets
angegebene Parasitenfreiheit der sog. Metastasen.
Auch wenn im Gefolge einer Geschwulst weitere
auftreten, liegen die Verhältnisse ähnlich: die
Ausscheidungen der ersten Geschwulst wirkten als
chronischer Reiz auf das übrige Gewebe. —
Besonders gewichtig erscheint die Tatsache,
daß bösartige Geschwülste diejenigen Organe am
häufigsten heimsuchen , in denen die meisten
Zellteilungen angetroffen werden. Auch das
„Kapriziöse", Unberechenbare im Auftreten der
Geschwülste spricht für solche Erklärungen wie
die von Boveri, wo dem Zufall eine möglichst
große Rolle zuerteilt wird. — Endlich sei an die
Versuche von O. Hertwig erinnert, wonach
Radiumstrahlen ausschließlich die Kerne, nicht
aber das Plasma schädigen. Wenn nun Radium-
wie auch Röntgenstrahlen den Krebs sowohl heilen
wie auch hervorrufen können, so kann demnach
beides nur auf Schädigungen der Zellkerne be-
ruhen: kranke Zellen sind empfindlicher als* ge-
sunde; so werden die kranken Zellen bei kurzer
Bestrahlung allein abgetötet (Heilung), während
bei längerer Bestrahlung außerdem gesunde Zellen
erkranken.
Da endlich die in Geschwülsten bisher be-
obachteten Chromosomenzahlen und Kerngrößen
der Theorie günstig sind und auch aus den Angaben
über direkte Kernteilung sich keine Schwierigkeiten
ergeben, so erscheint die Theorie Boveris als
eine fruchtbare Arbeitshypothese, um so mehr als
der Verf eine Anzahl gangbarer Wege angibt,
auf welchen sie weiterhin geprüft werden kann.
Koehler.
Kassowitz, Max, weil. a. O.Professor a. d. Universität
Wien: Gesammelte Abhandlungen. In
Verbindung mit Anderen herausgegeben von
Dr. Julie Kassowitz-Schale. Springer, Berlin, 1914.
Die gesammelten Abhandlungen eines Mannes,
der unter den Physiologen und Philosophen durch
sein Lehrbuch der allgemeinen Biologie eine her-
vorragende Stelle einnimmt, dürfen auf das
Interesse aller gebildeten Ärzte, Naturforscher und
Laien rechnen. Auch die letzteren werden in dem
Abschnitt „Die Erkenntnis der Lebenserscheinungen
im Lichte einer neuen Theorie", der 16 Aufsätze
enthält, auf ihre Rechnung kommen ; die mehr
ärztliches Interesse beanspruchenden Abschnitte
handeln von der Theorie und Therapie derRhachitis,
der Heilserumsfrage, von verschiedenen Gebieten
der Kinderheilkunde und von der Alkoholfrage.
In allen diesen Gebieten bedient sich der
Forscher als Grundlage seiner Anschauung von
der metabolischen Natur des Stoff-
wechsels. Es darf als sein unsterbliches Verdienst
angesehen werden, diese Anschauung nicht nur
im Lichte einzelner Nutzanwendungen, sondern
in einem ganzen System gezeigt zu haben. Wer
den klassisch abgeklärten Stil und Inhalt der letzten
Abschnitte des letzten Teils seiner „Allgemeinen
Biologie" über Nerven und Seele, besonders die
Stücke über „Bewußtsein", über die Seelentheorien
sowie über „Vitalismus und Teleologie" gelesen
hat, wird mit gleichem Genuß diese gesammelten
Abhandlungen lesen.
Der Grundgedanke seiner metabolischen Theorie
ist der, daß die Nahrungsstoffe „nicht unter dem
Einfluß des Protoj)lasmas zersetzt und verbrannt
werden können, ohne vorher zum Aufbau dieses
Protoplasmas verwendet worden zu sein." Die
Nahrungsstoffe werden „nicht unter dem bloßen
„Einfluß", sondern durch das Zwischenglied des
lebenden Protoplasmas zersetzt"; „dieses hat also
die Moleküle der Nahrungsstoffe nicht durch die
Schwingungen seiner eigenen Moleküle zerklopft
oder in anderer mysteriöser Weise zerstört, sondern
es hat sie dadurch in Auswurfstoffe verwandelt,
daß es sie zu seinem Aufbau benutzte und die
Auswurfstoffe bei seinem Zerfall von sich gab".
Kassowitz will den Stoffwechsel, der im Aufbau
und Reizzerfall der lebenden Substanz besteht, als
Metabolismus bezeichnet wissen.
Diese Anschauung hat sich nicht nur für die
prinzipielle Auffassung vom Wesen der Mu.skel-
640
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 40
kontraktion, der Drüsensekretion, des Wachstums
und des Nervcnleitungsvorgangesalsaußerordentlicli
fruchtbar erwiesen, sondern sie zeigt dem Fachmann
besonders die psychophysische Relation in einem
neuen Lichte. Das Kasso w i tz'sche System
hat aber noch weitere Wirkungen: es gibt einen
Untergrund für die Behandlung aller aktuellen
Weltanschauungsfragen und Entwickclungshypo-
thesen, der gar nicht zu entbehren ist. Besonders
verdient hervorgehoben zu werden, daß sich der
Forscher auf Grund einer geradezu encyklopädischen
Belesenheit mit den bestehenden Lehranschauungen
auseinandersetzt, sowohl mit den Physiologen und
Klinikern, als auch mit den Naturforschern und
Theoretikern der spekulativen Richtung. Die
letzten Kapitel seiner „allgemeinen Biologie", auf
die seine gesammelten Abhandlungen wiederholt
Bezug nehmen, sind wie letzte VVahrheiten und
schließen ein großartiges System ab, das man
ganz kennen muß, um seine Teile zu verstehen.
— Ich glaube, daß Kassowitz einmal zu den
Großen seiner Zeit gc/.ählt werden wird, in gleicher
Weise von Klinik, Naturwissenschaft und Philosophie.
Th. Hocpfner-Eisenach.
M. Geitel, Schöpfungen der Ingenieurtechnik
der Neuzeit. Aus Natur und Geisteswelt,
Band 28, 106 Seiten. Verlag von B. G. Teubncr
in Leipzig. — Preis 1,25 Mk.
Das lesenswerte kleine Buch bringt eine all-
gemein verständliche und trotz seines geringen
Umfanges gründliche Darstellung einer Reihe von
technischer Höchstleistungen, die geschickt aus
der großen Fülle des Stoffes ausgewählt sind.
Folgende Gebiete werden behandelt: i. Eiserne
Brücken und Hoclibauten, 2. Tunnelbauten, 3. Kanal-
bauten, 4. Steindämme, Talsperren und elektrische
Überlandzentralen, 5. Pilektrische F^ernbahnen,
6. Hoch und Untergrundbahnen, 7. Drahtlose Tele-
graphie, 8. Moderne Riesendampfschiffe, 9. Lenk-
bare Luftschiffe und Flugapparate. Eine große
Zahl guter Abbildungen illustriert die Worte
des Textes. Wegen des umfangreichen Zahlen-
materials wird das Buch auch dem I-'achmanu eine
willkommene Lektüre sein. K. Seh.
Plassmann, Pohle, Kreichgauer und Waagen,
Himmel und Erde. AUg. Verlagsanstalt
Berlin, München, Wien, Volksausgabe in 40 Liefe-
rungen. — Preis 24 Mk.
Das Werk, von dem 15 Lieferungen vorliegen,
bespricht im ersten Teil die Astronomie. Das
große Gebiet ist unter mehrere Bearbeiter verteilt,
so daß wir hier außer Plassmann und Kreich-
gauer vor allem in Berberich den berufensten
Darsteller des verwickelten Gebietes der kleinen
Planeten und der Kometen finden. Der zweite
Teil wird die Erde behandeln, Geologie, Minera-
logie, Paläontologie und Meteorologie aus der P'eder
mehrerer namhafter Gelehrter, wie van Bebber
von der deutschen Seewarte in Hamburg. Der
Inhalt ist sorgfältig durchgearbeitet, bis in die
Gegenwart fortgeführt, und sehr zahlreiche aus-
gezeichnete Abbildungen und Zeichnungen kommen
der Darstellung zu Hilfe. Ein abschließendes Urteil
müssen wir bis zum Erscheinen des Ganzen auf-
schieben. Riem.
Literatur.
Van in o, Prof. Dr. Ludwig, Handbuch der prJiparaliven
Chemie. Ein Hilfsbuch für das Arbeiten im chemischen
Laboratorium. Unter Mitwirkung verschiedener Fachgenossen
herausgegeben. IL Band: Organischer Teil. Mit 26 Text-
abbild. Stuttgart '14. Ferd. Enke. iS Mk.
Harros, Privatdozent Dr. W., Experimentelle Unter-
suchungen über die innere Sekretion der Keimdrüsen und
deren Beziehung zum Gesamtorganismus. Mit 126 Textabbild,
und 2 Tafeln. Jena '14. G. Fischer. 12 Mk.
Boveri, Th., Über die Charaktere von l'lchiniden-Bastard-
larven bei verschiedenem Mengenverhältnis mütterlicher und
väterlicher Substanzen. Aus den Verhandlungen der Phys.-
Med. Gesellschaft zu Würzburg N. F. Bd. XLIÜ. Würzburg
'14. C. Kabitsch. 0,80 Mk.
Jennings, H. S., Die niederen Organismen, ihre Reiz-
physiologic und Psychologie. Autorisierte Übersetzung von
Prof. Dr. Ernst Mangold. Wohlfiile Ausgabe des Werkes:
Das Verhalten der niederen Organismen unter natürlichen
und experimentellen Bedingungen. Mit 144 Textfig. Leipzig
und Berlin '14. B. G. Teubner. Geb. 6 Mk.
Brücke, Prof. Dr. Th. v., Der Säugctierorganisraus und
seine Leistungen. 22. und 23. Band der „Bücher der Natur-
wissenschaften, herausgegeben von Prof. Dr. Siegmund Günther,
2 Teile. Mit 4 bunten u. 49 Zeichnungen im Text. Leipzig,
Philipp Rcclam. Geb. 1,75 Mk.
Loeb, J., La conception mecanique de la vie. Traduit
de l'anglais par H. Mouton. Avec 58 figures dans le texte.
Paris '14. F. Alcan. 3,50 Fr.
Dubois, Prof. Dr. Raphael, La vie et la lumiere.
Biophotogenuse ou production de la lumiere par les itres
vivants. Action de la lumiere visible, des radiation ultra-vio-
Icltes, infra-rouges, fluorescentes, des rayons X, du radium
et des ondcs hertziennes sur les animaux et sur les vegetaux.
Photographie. Avec 48 figures dans la texte. Paris '14 F.
Alcan. 6 Fr.
Schiel, M., Praxis der Landschafts-Photographie Mit
32 Tafeln. Leipzig. Ed. Liesegangs Verlag M. Eger. Geb.
4,50 Mk.
Inhalt: Storch: Die modernen Heringsforschungen. — Einzelberichte: Tandler und Groß: Die biologischen Grund-
lagen der sekundären Geschlcchtscharaktere. Combault: Über Atmung und Kreislauf des Regenwurms. Küster,
Cohendy und Wollmann: Bakterienfreie Tiere. Behnken: Verwendung der lichteleklrischen Zelle als Empfangs-
instrument für dralitlose Telegraphie. Keilhack: Über tropische und subtropische Flach- und Hochmoore auf Ceylon.
Lakon: Beobachtungen über Protoplasmaströmung in PHanzenzellen. Lely und Hamburger: Über die Darstellung
der Elemente Thorium, Uranium, Zirkon und Titan. — Kleinere Mitteilungen: Riem: Eine Beobachtung des grünen
Strahles. Brock meier: Mit dem Hochwasser wandernde Schmetterlingspuppen. Wie dick sind die Wolken? —
Bücherbesprechungen: Volterra: Drei Vorlesungen über neuere Fortschritte der mathematischen Physik. Boveri:
Zur Frage der Entstehung maligner Tumoren. Kassowitz: Gesammelte Abhandlungen. Geitel: Schöpfungen der
Ingcnieurlechnik der Neuzeit. Plassmann, Pohle, Kreichgauer und Waagen: Himmel und Erde. — Lite-
ratur : Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H.Mi ehe in Leipzig, Marienstraöe IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den ii. Oktober 1914.
Nummer 41.
Die Ente, ihre Nutzung
[Nachdruck verboten.] Von R. Mel
Hühner, Enten und Gänse züchten die Chinesen
seit alters her, die Zucht der Tauben scheint viel
jüngeren Datums. Die Zucht der Gänse ist in
der mir bekannten Provinz Kuangtung wenig ver-
breitet, größere Gänseherden sah ich nur im S
und SW der Provinz, in den Küstendistrikten von
Yeungkong an nach Westen. Ganz allgemein
ist die Zucht von Huhn und Ente. Die Hausente
in Kuangtung scheint ein Abkömmling einer
kleinen sehr häufigen Wildentenart, deren wissen-
schaftlichen Namen ich noch nicht kenne.
Enteneier.
Sie sind trotz ihrer Größe billiger als Hühner-
eier, weil sie als weniger schmackhaft gelten. Ein
Hauptmarkt für Eier ist in Canton die Mak-lan-
gai. Die in den Handel kommenden Eier werden
folgendermaßen geprüft : ein Geselle nimmt in
jede Hand zwei Eier und stößt mit ausgestreckten
Armen die Eier der einen Hand an die der an-
deren. Am Klange erkennt er, ob die Schalen
gebrochen sind. — Ob die Eier noch gut — weder
verfault noch angebrütet — sind, wird untersucht,
indem jedes Ei gegen das Helle gehalten und
durch die hohle andere Hand betrachtet wird.
An jeder Straßenecke sieht man die Kleinhändler
ihre Ware jeden Morgen in dieser Weise prüfen,
sowohl Enten- wie Hühnereier.
Eier als Nahrung.
Rohe Eier zu essen , bzw. zu trinken, war m.
W. bisher in China nicht Sitte. Auch weichge-
kochte Eier werden selten genossen. Hartgekochte
Eier sind ein gewöhnliches Geschenk bei Geburt
von Kindern an die Mutter, auch später am Ge-
burtstage der Kinder an die Kinder selbst. Diese
Geschenkeier werden oft bunt — in den meisten
Fällen mit der Glücksfarbe rot — gefärbt. In
ähnlicher Art wie „Spiegeleier" zubereitet trifft
man sie auf dem chinesischen Tische nicht selten,
ebenso als „Rührei" aber statt mit Schinken mit
Kohl gemischt. In großer Zahl werden Enten-
eier als Salz- und Krusteneier konsumiert.
S a 1 z e i e r.
Die geprüften und für gut befundenen Eier
werden in eine Mischung von rotem Ton oder
Reisstrohasche und Salzwasser gelegt. . Der rote
Ton gilt als salzreich , nach chinesischer Angabe
soll er bis 70 "/„ Salz enthalten (!), man mengt
deshalb diesen Ton nur mit einer ganz schwachen
Reisstrohasche oder auch Ruß, dagegen mit einer
starken Salzwasserlösung und legt die bestrichenen
Eier irgend wohin, in einen Schrank, ein Holz-
oder Tongefäß und läßt sie hier liegen; sie blei-
und Wertung in China.
1 in Canton.
ben so mindestens 14 Tage, eine längere Ruhe-
zeit verbessert ihren Geschmack und erhöht ihren
Preis. Die Salzeier von Canton gelten als gut,
die von Fat-shan als die besten der Provinz, es
wird ihnen nachgerühmt: sie schmecken salzig
und duften. Salzeier werden gekocht und mit
Reis gegessen, in die Suppe geschnitten oder mit
Schweinefleisch gedämpft. Sie gelten als gesunde
Speise und werden deshalb Kranken empfohlen.
Krusteneier.
In der einfachsten Weise der Behandlung wird
Reisasche mit Kalk oder Erde oder auch mit
Reisspreu gemischt und dann mit Wasser ver-
mengt, die Eier hinein gelegt und wenigstens drei
Wochen darin gelassen.
Mit größerer Sorgfalt wird gute Qualität be-
handelt. Man nimmt duftende Blätter, etwa Ge-
müsearten wie Apium, Perilla, auch Bambusblätter
oder Kiefernadeln und kocht sie in einigen Litern
(sing) Wasser. Der Zweck ist, das Wasser aro-
matisch zu machen. Mit solchem lauwarmem
Wasser werden die Eier sorgsam gewaschen, even-
tuell werden sie auch einige Stunden in den Be-
hälter mit dem »Höng^-söi^^« („Duftwasser") ge-
legt. Dann wird eine Art Teig gemacht. Für
100 Eier nimmt man lo Gann Salz, 5 Gann pul-
verisierte Holzasche, i Gann Kalk und einige
Liter des aromatischen Wassers. Der Teig wird
in irdene Kübel geschüttet und die Eier sofort
hinein gebettet. Nach drei, sechs und neun Tagen
— also dreimal nach je drei Tagen vom Einlegen
an — werden sie nochmals herausgenommen, der
Brei umgerührt und die Eier wieder hinein ge-
bracht. Darauf wird das Gefäß mit einem End-
brei luftdicht verschlossen und 30 Tage so ge-
halten. Dann ist die Präparation vollendet.
Es haben sich in den verschiedenen Gegenden
verschiedene Behandlungsweisen herausgebildet.
Eine andere mir bekannte Art ist folgende: man
nimmt 4 Gann ') Bohea-Teeblätter und kocht sie
in Ouellwasser gut. Das Wasser (== Tee) wird
dann abgegossen und gemischt mit 3 gewöhn-
lichen Schalen'-) Kalk, 7 Schalen pulverisierter
Holzasche, 10 Gann Salz. Mit dieser Mischung
werden die Eier dick beschmiert und in die oben
erwähnten irdenen und gebrannten Kübel gebracht.
Damit die Eier nicht zusammenkleben, werden
sie in Holzasche gebettet und die Behälter für
40 Tage luftdicht verschlossen. Es gilt dasselbe
wie für die Salzeier: „je länger die Eier liegen,
') I Gann =; 600 g.
-) Eine solche Schale ist gleich einer 3 cm tiefen Unter-
tasse von mittlerer Größe.
642
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 41
desto besser werden sie. Gute Eier sind glatt,
spröde, durchscheinend; die besten sind fünffarbig"
(grünlich-gelblich- wasserfarbig-bläulich- rötlich). Sie
brauchen nicht gekocht zu werden und werden
nach Abbrechen der Schale „roh" als Zutat zum
Reis oder als Vorspeise oder auch Nachtisch
beim Branntweintrinken gegessen.
Es erübrigt sich, hinzuzufügen, daß die von
Europäern nicht selten gebrauchte Bezeichnung
„faule Eier" für Krusteneier ganz unzutreffend ist.
Durch Waschen werden die Eier gereinigt, durch
den starken Salzgehalt der Kruste desinfiziert,
durch die dicke Lage von Erdbrei und den luft-
dichten Abschluß des Aufbewahrungsgefäßes wird
die Luftzufuhr unterbunden, bzw. auf ein Minimum
reduziert. Eine Fäulnis der Eier kann also nicht
eintreten. Eine andere chemische Umsetzung im
Ei findet ohne Zweifel statt, aber das geschieht
— wenn auch in geringem iVIaße — bei den in
modernen europäischen Betrieben in Wasserglas
aufbewahrten Eiern auch. Die Krusteneier sind
für den europäischen Gaumen geschmacklos; eine
Art Gelee aus den Eiern, im Aussehen und Zu-
stand an Spinat erinnernd , ist dagegen recht an-
genehm und pikant. In Canton gelten die von
Schanghai kommenden Krusteneier als die besten.
Künstliche Aufzucht von Enteneiern.
Verbreitung dieser Kenntnis.
Kemmerich sagt in seinen ,,Kulturkuriosa"
(Bd. 2, p. S): „Die künstliche Bebrütung von
Eiern der Gänse, Enten und Hühner, die nach
1829 dem hVanzosen Copineau trotz vieler
Versuche nicht glücken wollte, war bereits den
alten Ägyptern geläufig. Und zwar legten sie die
Eier in Kammern aus Lehm , die mittels großer,
aus Ziegelsteinen zusammengesetzter und in die
Erde hinein gebauter Ofen täglich 3 — 4 Stunden
geheizt wurden. Die Eier lagen auf .Stroh und
wurden alle 6 Stunden umgewendet, nach 10 Tagen
untersucht und die gut befundenen in eine höhere,
wärmere Abteilung desselben Gemachs gelegt.
Die Temperatur wurde natürlich nur nach dem
Gefühl abgeschätzt und nach Bedarf durch Offnen
von Luftzügen vermindert (Aristoteles hist. anim.
VI, 2, 3 und Diodor. I, 74)."
Auch in China wird die künstliche Bebrütung
von Enteneiern schon lange betrieben, und es
scheint mir das nicht unbeachtlich. Die Ägypter
besaßen eine Bilderschrift, die chinesische war
auch anfangs eine solche und hat sich später zur
Zeichenschrift entwickelt. Die ältesten religiösen
Vorstellungen in beiden Ländern knüpfen an
Himmel und Gestirne an und .Sterndeutung spielt
eine beachtliche Rolle. Reihen von Felsengräbern
mit sorgfältig ausgehauenen Grabkammern finden
sich in Setzschuan und erinnern an die ägyptische
Bestattungsart. Auch Mumien finden sich ver-
einzelt in China, mir sind zwei solche aus der
Provinz Kuantung bekannt. Die Herstellung von
Papier aus Pflanzenstoffen ist in beiden Ländern
seit langem geübt. Auch die künstliche Bebrütung
von Eiern ist ein Typikum für diese beiden Län-
der. Es ergibt sich so eine Ähnlichkeit im Kultur-
gut beider Völker, die dem Gedanken an eine
sehr frühe Verbindung beider über Babylonien-
Assyrien Nahrung gibt. ')
Es ist in Europa jedem Bauern bekannt, daß
Enten schlecht brüten und Enteneier werden des-
halb meist Hühnern untergelegt. Auch der chine-
sische Bauer sagt: „Hühner und Gänse brüten,
Enten nicht." Ähnlich wie in Europa werden
deshalb auch hier in China Hühner zum Bebrüten
der Enteneier benutzt. Die Ausbrütung der Enten-
eier durch künstliche Wärme ist wie fast alle Ge-
werbe recht lokalisiert. In der Nähe von Canton
wird sie in großem Maße nur in dem kleinen
Dorfe Ng-an-kiu (Fünf-augen-brücke) betrieben.'")
Behandlung der Eier bei der künst-
lichen Bebrütung.
Die Eier werden nach ,,Lo^" gekauft, ein Lo
sind 606 Stück, ein Stück kostet im Einkaufe
etwa 2 Cent, i Lo also etwa 10 — 12 $ (etwa
20 Mk.). Die Eier werden gezählt und geprüft,
entweder in der oben erwähnten Weise oder auch
mit einer Hand : man nimmt drei Stück in eine
Handfläche und stößt sie gegeneinander; die,
welche voll klingen, sind gut. Die anderen wer-
den zurückgelegt und wieder verkauft. Ein Lo
von ihnen erzielt etwa ■*/-, des Preises der brütbaren,
entwicklungsfähigen Eier.
Der chinesische Name für die Eierbrutanstalt
ist GalT-ap^ä^-miu^ (= Hühner-Enten-Tempel). Ich
besuchte am 3. Mai 1914 mehrere solcher Ge-
bäude. Im Vorderraum hinter der Eingangstür
standen auf ebener Erde und ziemlich kühl viele
Körbe gefüllt mit den gezählten und geprüften,
aber noch nicht bebrüteten Eiern. In anderen
Körben daneben waren die mit Tusche gezeich-
neten, nicht brütbaren. Es scheint mir auffallend,
daß die Eier mindestens einen ganzen Tag, in
vielen Phallen aber länger liegen, ehe sie in den
Brutraum kommen oder überhaupt gewärmt wer-
den. Die eigentlichen Bruträume im Hinterteil
des Gebäudes sind durch eine automatisch schlie-
ßende Holztür abgetrennt.
Die Eier kommen zuerst in das Brutbett (pui-
tsong). Das ist ein gemauerter Schacht, ähnlich
dem Grundteil eines großen, viereckigen P'abrik-
Schornsteins von etwa 1,60 m Seitenlänge und
2,50 m Höhe. An einer Seite ist die Holztür, an
der anderen stehen gegen 0,25 m breite und
raumhohe Bambusgestelle. Auf ihre Fächer aus
Bambusgeflecht werden die Eier gelegt. Unten
auf dem Boden stehen kleine, runde, 20 cm d
haltende Ofen aus gebranntem Ton mit durch-
lochtem Messingdeckel, darin glimmt Holzkohle.
Der Raum ist ohne Licht, ein quadratischer
') Es sei hier nebenbei erwähnt, daß auch in China eine
gelbbraune Katze nicht selten gezüchtet wird, die der in W'est-
asien und Nordostafrika heimischen Stammrauttcr der Haus-
Isatze, Felis maniculata, recht ähnlich ist.
^) Eine kleine Stunde südwestlich von Canton.
N. F. XIII. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
643
(ca. 0,40 m) aufklappbarer Holzladen über der Tür
dient zur Wärmeregulierung. Im „Hrutbett" blei-
ben die Eier 24 Stunden. Die Wärme in ihm
prüft man, indem man die Eier an die Backe
hält.
Am zweiten Tage kommen die Eier in den
„Brutraum" (Pui-fong). Dieser ist, um die Sonnen-
wärme auszunützen, unter Dach. Ist es kühl, so
wird er durch dieselben kleinen Tonöfchen wie
das Brutbett geheizt. Von Anfang Mai oder Ende
April an geschieht das nicht mehr, weil die Luft-
temperatur unter dem Dache ausreicht. Auch
gebraucht man im Sommer zuweilen die direkte
Sonnenstrahlung im Hofe, um lange genug ange-
brütete Eier zum Schlüpfen zu bringen. Im Brut-
raum stehen auf kurzen I-^üßen deckellose Kisten,
der Größe des Raumes entsprechend von ver-
schiedener Länge. Sie sind etwas höher als die
darin stehenden „Entenkörbe" (Ngaplo) und so
breit, daß eine Reihe oder zwei Reihen der Körbe
bequem nebeneinander stehen können. Der Boden
von Kiste und Körben ist mit einer Schicht Reis-
spreu bedeckt, auch der Raum zwischen den Kör-
ben ist bis zum Rande von Korb und Kiste mit
der Spreu ausgefüllt. Die „Entenkörbe" sind drei
chinesische Fuß (= 1,08 m) hoch, rund, mit einem
d von I Fuß 4—6 Zoll (>== 50—58 cm). Sie sind
aus Bambusgeflecht und innen mit dickem Papier
(Bambuspapier) ausgekleidet. Etwa 40 Eier wer-
den auf ein Tuch aus Hanf) gelegt, ein solches
Bündel heißt Kuah^. Etwa fünf bis sechs (je nach
Bedarf) solcher Kuah schichtet man in die Enten-
körbe. Auf die Korböffnung wird ein gegen 2 —
3 cm dickes Tuch gelegt. Ich hielt es für Watte,
die Chinesen sagten, es sei aus Hanfwurzeln und
nannten es auch demgemäß Ma^-gänT-tsi^« =
„Hanfwurzelpapier". Auch mit dem blumigen
Namen „Entchenhülle" wird es bezeichnet. Diese
Art der Bebrütung wird von den Züchtern in
Kuang-tung als die Tung-kunMethode bezeichnet
(Tung-kun ^= Stadt, nicht weit östlich von Canton,
am Ostfluß).
Sind die Bruträumlichkeiten beschränkt, so
wendet man die Siu-hing-Methode an (Siu-hing
= Präfekturstadt der Provinz Kuangtung am West-
fluß). Bei dieser Art fallen die großen Kisten
weg, statt der Körbe nimmt man Fässer von
gleicher Größe, die frei auf dem Dachboden
stehen. Diese Fässer haben doppelte Wände, die
Außenwand ist mäßig dickes Holz, die Innenwand
ist Bambusgeflecht, der ca. 6 cm breite Zwischen-
raum zwischen beiden Wänden ist mit dem grauer
Watte ähnlichen Hanfwurzelgewebe ausgefüllt.
Die Eier liegen in dünnen, weitmaschigen Netzen.
Im Winter erhitzt man Reiskörner, packt sie
in ein Tuch -) und legt in Körbe oder Fässer
abwechselnd eine Schicht Eier und eine Schicht
Körner. Im Sommer, überhaupt bei wärmeren
•) Der chinesische Name dieses Tuches ist Neap-pa
(= Entenhülle). & v v
') (chinesisch Ngap-kuan).
Temperaturen, legt man im Wechsel je eine
Schicht Eier, die schon zehn Tage bebrütet sind
und eine Schicht frischer, d. h. aus dem Brutbett
kommender Eier.
Von Zeit zu Zeit müssen die Eier gedreht
werden. (Das tun die Vögel beim Brüten ja auch.)
Die l'ücher oder Netze werden an dem Tragfaden
gehoben , durch die eigene Schwere drehen sich
die Eier und das ganze Bündel. Im Anfange ge-
schieht dies jede Stunde, Tag und Nacht, später
tags einmal und nachts einmal. Sind die Eier
fünf Tage im Brutraum, so werden sie geprüft,
ob die Entwicklung eingesetzt hat. Man hält
Stück für Stück gegen die Flamme einer Öllampe.
Scheinen die Adern rot, und scheint in der Mitte
ein kornartiger Punkt, so hat die Entwicklung be-
gonnen. Auch die Farbe der Schale ändert sich,
wenn das Ei angebrütet ist, weiße Eier werden
schmutzig, grünliche werden dunkler. Die ange-
brüteten kommen in die Körbe zurück. Die an-
deren werden als ,,Sha^-wongT-tan^ (== Sand-
gelb-eier) ausgeschieden.
Die Entchen schlüpfen nach 27 — 28 Tagen.
Etwa 8 Tage vor dem Schlüpfen werden die Eier
aus Körben und Fässern genommen. Sie kommen
zurück in einen Raum zu ebener Erde. Hier sind
große Gestelle, in Länge und Breite dem Räume
entsprechend. Zwei Fächer mit Randleisten sind
darauf, das eine in i m, das andere etwa in 1,80 m
Höhe. Hierauf liegen die Eier in einer dicken
Schicht zu zweien und dreien übereinander. \^on
Zeit zu Zeit werden die Eier gedreht : ohne große
Sorgfalt schiebt der Gehilfe einen Arm voll Eier
nach einem anderen Platze. Sind die kleinen Enten
dem Schlüpfen nahe und man hört schon ihre
Stimme, so nimmt man die Eier herunter und
legt sie in Körbe; hier läßt man sie schlüpfen,
oft liegen 50 — 60 Eier übereinander, anscheinend
ohne den ausschlüpfenden Tieren zu schaden.
Sind lang bebrülete Eier nicht ausgekommen,
die Jungen also im Ei gestorben, so öffnet man
die Eier oder verkauft sie auch ungeöffnet an
Delikatessenläden oder Gastwirtschaften. Den
kleinen Enten werden die F"edern ausgezupft, dann
werden sie gebraten und in Reiswein (Reisschnaps)
gelegt und so ausgelaugt. Solcher Ngap'-tsai"^-
tsao^ (^ Enten-klein wein) gilt als sehr nahrhaft.
Ausfuhr angebrüteter Eier.
Die Eier scheinen wenig empfindlich zu sein;
das läßt sich aus der ganzen Art der Behandlung
vermuten und auch daraus, daß die angebrüteten
Eier ausgeführt werden. In Swatau (Ostküste
von Kuangtung) sind angebrütete Enteneier ein
ganz beachtlicher Ausfuhrartikel. Sie gehen nach
den stark mit Chinesen durchsetzten Gebieten
Hinterindiens (besonders Slam, Annam, auch
Singapore). Die Körbe mit den angebrüteten
Eiern werden unter Deck verstaut, wo ja bekannt-
lich meist Temperaturen herrschen, die beträcht-
lich höher sind als in den Brutanstalten. Die
Fahrzeit der Dampfer ist bekannt, die Brutdauer
644
Naturwissenschaftliche Wochensciirift.
N. F. Xm. Nr. 41
der Eier auch, man wählt also zur Ausfuhr Eier,
die zwei bis drei Tage nach der voraussichtlichen
Ankunft des Dampfers schlüpfen. Warum die
Eier und nicht die Enten verschifft werden ? Ge-
flügel unterliegt einem Ein- und Ausfuhrzoll, Eier
sind zollfrei. Geflügel beansprucht mehr Platz
beim Versand und außerdem Pflege. Geflügel-
versand ist also durch Zoll, höhere Fracht, sowie
Pflege- und P'uttergelder teuer. So gehen die
jungen Enten als „Eier" zollfrei und billig.
Geschäftsbetrieb.
In den Brutanstalten ist für die geschlüpften
Enten kein Raum, die Leute haben auch keine
Zeit zur Pflege. Sie verkaufen am liebsten die
Eier ein bis zwei Tage vor dem Schlüpfen. In
guten Jahren, wenn starke Nachfrage ist, sind die
Eier oft schon lange vor dem Schlüpftermin ge-
kauft, I Lo schlüjifende Eier kostet dann vielleicht
30 — 40 ,S' (60 — 80 Mk.). In Zeiten schlechter
Konjunktur arbeiten die Züchter mit beträchtlichen
Verlusten. Sind die Enten geschlüpft, so muß
sie der Brutladen um jeden Preis verkaufen, und
es kann vorkommen, daß ihm i Lo Schlüpfeier,
das im Einkaufe 12 — 18 .S' kostete, jetzt nur 5 — 6 !ji
bringt. Der Markt ist in China auf allen (lebieten
sehr starken Schwankungen unterworfen. Dieses
Jahr (1914) soll ein P^i im Einkaufe 3 Cent ge-
kostet haben, die Schlüpfeier kosteten am 3. Mai
auch nur 2 — 3 Cent — nach 28tägiger Arbeit.
In Ng-an-kiu waren im Frühlinge 1914 zehn
solcher Brutanstalten, in jeder schlüpften Anfang
Mai täglich über 5000 Enten, im ganzen also über
50000 Stück.
Aufzucht der Enten.
Zwei bis drei Tage vor dem Schlüpfen werden
die Eier an Händler der Nachbarschaft verkauft,
die die jungen Tiere zu Tausenden züchten. Etwa
sechs Stunden nach dem Schlüpfen fangen die
jungen Tiere an zu fressen. In den ersten 20 Tagen
erhalten sie weichgekochten Reis und Fischreste,
dann Kleie mit Spreu, allerhand Wassergetier,
kleine Landkrabben u. a. Sind sie groß genug,
so werden sie an die reisenden Bootshändler ver-
kauft. Diese kaufen, wenn sie abschließbare Räume
und Tonöfen haben, auch direkt von der Brut-
anstalt. Diese P^ntenboote sind große, breite Kähne,
fast von Dschunkengröße. Zum Auslaufen der
Enten ist an jeder Schififsseite noch eine breite
Plattform. Die Boote erkennt man allerdings
ebenso sehr am Geruch als an der plumpen Ge-
stalt.
Sie ziehen schwerfällig die Ufer des Husses
entlang, Auslagen hat der Züchter fast gar nicht.
Zweimal täglich je zwei bis drei Stunden läßt er
die Tiere an den Schlammufern der Flüsse und
Kanäle sich selbst die Nahrung suchen. Es haben
sich bei diesen schwimmenden Entenfarmen ganz
bestimmte Zugstraßen herausgebildet. Die Canton-
Händler ziehen zum Teil den Westfluß aufwärts
bis zur Präfekturstadt Nanningfu (Provinz Kuangsi).
Das ist eine Reise von vielen Wochen für die
schwerfälligen Boote. ^) Als Grund dieser wohl
traditionell übernommenen Fahrt wird angegeben,
daß die Enten in Nanningfu schlecht seien, da-
gegen der Reis (zur Mast der Enten) billig. Es
wird so das bessere Canton-Material eingeführt
und an Mastkosten gespart.
Verwendung der 1^ n t e n.
Der schwimmende Händler verkauft seine Ware
gelegentlich an Dorfbewohner am Ufer. Haupt-
zweck seines Unternehmens ist aber Verkauf an
die Nahrungsmittelhändler. Von Nanningfu wer-
den die Tiere im großen an die „Salzentenfabriken"
verkauft, bekannt sind die von Lui-chaw (Provinz
Kuangsi, südwestlich von Nanningfu). Bei der
\'erarbeitung der Enten gibt es keine Abfälle.
Im ersten Räume werden die Enten getötet und
gerupft. Die P'edern gelten als vorzüglicher
Dünger und werden von den Landleuten gern ge-
kauft. '-) Im zweiten Räume werden die Enten
geöffnet, ausgenommen, Schnäbel und P'üße ab-
geschnitten und die Körper flach gepreßt. Im
dritten werden Schnäbel und P^üße eingesalzen,
d. h. in große irdene Kübel in eine Salzwasser-
lösung gelegt (für spätere Verwendung als Suppen-
knochenj. Im ersten Hofe werden die eingesalze-
nen Entenkörper in der Sonne getrocknet; der
Wind gilt als wichtig bei Herstellung guter Salz-
enten (Lap-ap). Bei Nordwind braucht man wenig
Salz, die Enten trocknen schnell und werden
schmackhaft; bei Südwind braucht man viel Salz,
die Enten trocknen langsam und schmecken schlecht.
(Die Ursache ist natürlich der Feuchtigkeitsgehalt
der Luft.) In einem anderen Hofe werden Herzen,
Magen, Lungen, Leber an Schnüre gereiht und in
der Sonne getrocknet (Fleischzutat zum Reis). Die
Canton-Enten (d. h. die bei Canton ausgebrüteten)
gehen also, wie schon gesagt, zum großen Teil
nach Nanningfu, der Provinz Kuangsi, Tonkin und
benachbarten Südwestgegenden. Nach Canton
kommen die Salzenten, die in Nam-on (Provinz
Kiangsi) hergestellt werden und sind in Canton
als beste Qualität geachtet. Dieses eine Beispiel
zeigt wieder, auf welch alten, traditionell über-
nonmienen Handelsstraßen der chinesische Innen-
handel sich bewegt und welche Entfernungen er
überwindet (trotz schlechter Verkehrsverhältnisse),
wie er mit kleinsten Vorteilen und Geschmacks-
zufälligkeiten rechnet.
Lap-ap werden nur in der Trockenheit ge-
gessen, von November bis März etwa. Für Euro-
päer sind sie reiz- und geschmacklos. Eine Deli-
katesse auch für jeden europäischen Gaumen ist
dagegen die auf chinesische Art bereitete frische
') Bei den gegenwärtigen modernen Verkehrsmitteln be-
ansprucht die Reise dahin 5 Tage, 2 Tage Dampferfahrt und
3 Tage mit einem Motorboot.
-) Auch hier eine uns beinahe lächerlich vorkommende
Spezialisation: Gänsefedern werden zu Fächern ver.irbeitet,
Hühnerfedern zu Federwedeln zum Abstäuben, Entenfedern
werden als Dünger gebraucht. Ein Wechsel findet nicht statt.
N. F. XIII. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
645
Ente: gedämpft, mit Colacasium und Nam-yüli
(eine Art Gelee aus Sojabohnenextrakt).
Von der chinesischen Gepflogenheit, die Ente
zur Sodomiterei zu verwenden, hört jeder
Globetrotter von Ceylon bis Java. In China kommt
sie nicht vor; die Auswanderung von Chinesen
nach Indien und den indischen Inseln ist stark,
die Auswanderung von Frauen gering. Zum
dauernden oder gelegentlichen Erwerb dortiger
Frauen fehlen dem Ausgewanderten Geld und
Geschmack. So verfällt er auf die Sodomiterei ')
mit der Ente oder Päderastie. In China ist mir
nichts Positives über erstere bekannt geworden.
Wildenten.
Sie kommen in mehreren Arten und großer
Anzahl in Canton auf den Markt, und zwar aus-
schließlich lebend. (Totes Geflügel verdirbt infolge
der Temperatur leicht, muß schnell verkauft wer-
den und ist deshalb billig.) Sie werden aus dem
Nest genommen oder in Fallen gefangen. Enten-
jagd als S[)ort ist in Südchina zurzeit unbekannt,
wahrscheinlich auch nie hier heimisch gewesen.
Dagegen ist sie in nördlicheren Gebieten gepflegt
worden, wie das nachfolgende Gedicht beweist.
Entenjagd.
Zum Entenschießen zog ich aus
Des Morgens in der Frühe
Und kam nach langer Wege Fahrt
Des Abends hin zum See.
Der lange Regentag zerschlug
Der Trapa Stamm und Blätter.
Stumm im Verstecke hält sich noch
Der wilden Fnten Scharen.
Das harte Schilf steht hoch und dicht
Daß man sich gut kann bergen ;
Kein Führer liegt darin und lockt,
Ich probe still den Bogen.
Kalt glänzt die Flut, breit liegt das Feldl —
O weh, sie sind noch mager! —
Bleib, Fischer, weg und schrecke nicht
Die scheu ins Rohr geduckten.
War ihre Mahlzeit reich und gut,
So Schrein sie nach dem Essen;
Ihr Schnabel geht Ap-ngap, Ap-ngap,
Hell glänzt ihr bunt Gefieder.
Ich fasse nach dem Bambuspfeil
Und ziele leise, leise — —
Pfit — fliegt der kalte Todespfeil. —
Ich stehe wie das Schicksal! —
Ihre Wertung als ästhetisches Mo-
ment in Malerei und Dichuing der Chinesen ist
bekannt. Zwei Enten oder auch Mandarinenten
("^len-yöng) im Teiche schwimmend sind ein
ebenso oft gesehenes malerisches Motiv wie der
Eisvogel auf dem Stengel vom Lotosblatt.
Einige dichterische Behandlungen des Enten-
lebens und seiner Stimmungswerte sind hier an-
gefügt,
) Bekannt, wenn auch z. T. anderen Motiven entsprun-
gen, ist auch die Sodomiterei mancher mohammedanischer
indischer Stämme mit Ziegen, die sogar bei Soldaten von den
Vorgesetzten stillschweigend geduldet wird (Ziegenherden
werden umziehenden Garnisonen nachgetrieben).
Die Ente.
Wenn sie in das Wasser taucht,
Hält sie Moos im Schnabel.
In den Fluten schwimmend, wäscht
Sie ihr Kleid am Strande.
Nach Gespielen suchend, fliegt
Sie durch Rohr und Fluren
Sieht im Wasser sie ihr Bild,
Ist sie nicht mehr einsam.
Glückliches Leben.
Glücklichste Harmonie
Ist das Leben der Enten im Wasser.
Nach Belieben ziehen
Sie in des Teiches Mitte,
Nach Belieben trollen
Sie ans Ufer zurück :
Immer halten sie Gras
Friedlich spielend im Schnabel.
Sie rufen und schreien und plaudern
Und fliegen gegen den Wind.
Sie schwimmen umher ohne Pause
Und springen und s])ielen und tauchen,
Als ob es kein Hindernis gäbe,
Leicht wie die Segler der Luft.
Der Papagei kann zwar dichten
Doch läßt er sich töricht einfangen
Und in den Käfig tun.
Drum auch verlacht ihn die Ente.
Die zwei Enten.
Zwei kleine Enten schwimmen
In des Lotosteiches Flut.
Sie spielen mit dem Gras
Und halten Moos im Schnabel —
Wagen nicht, der Menschen Saaten
Gierig abzufressen ! Nein,
Glücklich sind sie, daß kein Aar
Noch kam, um sie zu scheuchen.
Winzig feiner Seidenregen
Sprüht und sprüht herunter.
Ein Wasserlinscnteppich liegt
Der See so grün und schwer.
Von der Enten Ruderspiel
Wiegt er fern und näher.
Wiegt hinaus zur Weite,
Wiegt heran zu mir.
Rote Abendsonne
Sinkt auf blaue Flut.
Niemand kommt, zum Stall
Die Enten heimzurufen.
Unterm Silbermond
Noch spielen sie herum. —
Ein ganzes Leben Frieden
Unter Wasserlinsen.
Damit auch der chinesische Humor zu seinem
Rechte komme, noch eine „Ente" aus diesem
Stalle.
Log-kuei-mung züchtete eine große Menge
Enten. Eines Tages ging ein Postbote vorbei,
der schoß die beste seiner Enten tot. Da sagte
Log: „Uh, diese Ente konnte sehr gut sprechen,
ich wollte sie dem Kaiser schenken. Warum
schössest du sie tot?" — Da kriegte es der Bote
mit der Angst. „Oh, entschuldige meine Unvor-
sichtigkeit, „sagte er, „ich spielte nur und traf un-
glücklicherweise diese Ente." hJr zog alles Geld
heraus, was er bei sich hatte und bat Log, es als
Sühne anzunehmen. Log schien befriedigt, und
der Postbote fragte ihn : „Ja, aber sage mir doch.
646
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 41
wie können Enten sprechen? Ich habe noch nie
eine sprechen hören." — „Was," sagte Log, „du
hast noch keine sprechen hören ? Sie können ja
ihren eigenen Namen rufen: Ap-ngab! Ap-ngabl"^)
— Da lachte der Bote ärgerlich, daß er sich
hatte überlisten lassen und ging weiter. Aber
Log rief ihn zurück: „Ich scherzte und du ver-
gaßest dein Geld !' —
') Die Ente heißt cliinesisch „Ap".
Direkt wirkende
[Naclidiuck verboten.) Von W.
Die großen z. T. unersetzbaren Vorteile des
stereoskopischen Bildes vor dem Flachbilde ver-
mochten bis heute dem ersteren nicht die Ver-
breitung zu verschaffen, die es verdient. Der
Grund ist wohl zum gröl3ten Teil darin zu er-
blicken , daß das stereoskopische Bild nur dann
seinen besonderen Wert entfalten kann, wenn es
mit einem Apparat , dem .Stereoskop betrachtet
wird. Diese Beschränkung in der Betrachtungs-
möglichkeit hemmt das Vordringen des Stereoskop-
bildes überall dorthin , wo es Nutzen bringen
könnte.
Diese Erkenntnis muß uns die Frage auf-
drängen, ob es nicht möglich sei, Bilder zu schaffen,
welche unvermittelt, d. h. ohne Beschauapparat,
Raum und Körperlichkeit zum Ausdruck
bringen.
Der Wunsch nach solchen Bildern ist nicht
neu und es hat auch nicht an Versuchen gefehlt,
solche herzustellen. Es wurden verschiedene Ver-
fahren angegeben, so von Ives, Rigl, Lipp-
mann, t'Hooft, h" riedmann und Reiffen-
stein. Keines derselben ließ sich aber bis jetzt
in irgendeiner Weise dem Zwecke der bildlichen
Darstellung wirklich dienstbar machen.
Die praktischen Resultate, welche ich
selbst auf neuem Wege vorgehend, erreicht habe,
bsgründen dagegen die Hoffnung, daß wir nun
tatsächlich im Besitze brauchbarer, unmittelbar
wirkender Stereoskopbilder sind. ')
Ein h'ilm , dessen eine Fläche durch Prägung
mittels Klichee eine Summe aneinander gereihter
feinster Linschen aufgepreßt erhielt, dessen Rück-
fläche die lichtempfindliche Schicht trägt, und
dessen Dicke gleich der Brennweite der Linschen
ist, erfüllt die Forderung, ein stereoskopisches
Bilderpaar so aufzunehmen , daß jedes Auge nur
das eine der beiden Bilder zu sehen bekommt.
Der optische Vorgang, welcher dies bedingt , ist
folgender :
Wenn auf einen solchen Film aus irgend-
welcher Richtung Lichtstrahlen einfallen, werden
diese von jedem Einzellinschen zu einem Punkte
gesammelt (bei Zylinderlinsen zu einer Linie), der,
wegen des gewählten Abstandes, in die lichtemp-
^) Die Bilder wirlven in der Tat vorzüglicli und sclieinen
mir ein selir beachtenswertes Hilfsmittel bei Demonstrationen
zu sein. Die Redaktion.
Stereoskopbilder.
R. Heß.
findliche Schicht zu liegen kommt und dort als
solcher zeichnet. Er wird dadurch sichtbar,
aber nicht nach allen Richtimgen ; denn das Licht
macht nun genau den umgekehrten Weg wie bei
der Erzeugung des Punktes durch Belichtung: es
tritt nach derjenigen Richtung aus dem Linschen,
aus welcher es eingefallen war.
Was sich bei einem Linschen, als optisches
Element, abspielt, wiederholt sich bei allen ande-
ren, mit denen es, ähnlich wie bei einem Insekten-
auge, zu einer zusammenhängenden Pläche ver-
einigt ist.
Wurde das kopierende Licht vor dem Auf-
treffen auf die Fläche durch ein photographisches
Negativ gesandt , so kopiert dieses infolge der
Linsenwirkung in Form von lauter kleinen Punkten
(bei Z}'linderlinscn , die aus technischen Gründen
gewählt werden können , in P'orm von feinen
Linien). Jeder derselben zeigt sich, wie erwähnt,
nur in der Richtung des eingefallenen Lichtes; in
dieser aber schließen sie sich in ihrer Gesamtheit
genau so zu einem kontinuierlichen Positiv zu-
sammen, wie sie durch Zerlegung eines kontinu-
ierlichen Negativbildes entstanden sind. War es
das links stereoskopische Teilbild und wurde es
mit Licht kopiert, das von links einfiel, so bleibt
es nur für das linke Auge sichtbar. Kopieren
wir auf dieselbe Fläche nun auch das rechte Teil-
bild, so wird es vom rechten Auge und nur von
diesem gesehen.
Es wurde also genau erreicht, was sonst vom
Stereoskop; der Anblick eines solchen Bildes muß
deshalb auch den Eindruck der Räumlichkeit
genau so hervorrufen, wie wir ihn sonst
nur im Stereoskop zu finden gewohnt sind.
Es handelt sich auch tatsächlich um stereo-
skopische Bilder. Die Negative können aus irgend-
einer stercoskopischen Camera stammen. Nur das
Mittel, jedem Auge das ihm zukommende stereo-
skopische Einzelbild zuzuführen, ist ein neues.
Es bleibt nun nur noch übrig, diese Bilder der
Allgemeinheit dienstbar zu machen; der Anfang
dazu ist dadurch gemacht, daß für Gelegenheit
gesorgt ist, jedes (gute) Stereonegativ in eine
direkt wirkende Stereokopie übertragen zu lassen. ')
'I Besorgt durch die Stereo-Photographie A.-G. Zürich,
Winterthurstrafie 40.
N. F. XIII. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
647
Einzelberichte.
Botanik. Assimilation und Atmung der Meeres-
algen. Die Untersuchung der Assimilations- und der
Atmungsgrößc bei Meeresalgen hat großes phy-
siologisches Interesse, da diese Pflanzen unter Be-
dingungen leben , die von denen der Land- und
Süßwassergewächse erheblich abweichen. Von
den dabei in Betracht kommenden Faktoren nennt
H. K n i e p den hohen Salzgehalt des Wassers
(dessen osmotischer Druck bei 35 "/^j, Salzgehalt
23 Atmosphären beträgt), die relativ gleichmäßige
Temperatur des Wassers, die in den arktischen
Meeren für lange Zeit des Jahres in der Nähe des
Nullpunktes liegende Temperatur, bei welcher die
bekanntlich der Dauerorgane entbehrenden Meeres-
algen üppig vegetieren, die eigenartigen Beleuch-
tungsverhältnisse und die mit den Gezeiten zu-
sammenhängenden Erscheinungen. Genauere
Kenntnis der Assimilations- und Atmungskoeffi-
zienten könnte auch zu Folgerungen über die
Natur der Assimilationsprodukte und Reservestoffe
der Meeresalgen führen, über die wir nur mangel-
haft unterrichtet sind. K n i e p hat in Neapel und
Helgoland einige Bestimmungen ausgeführt, die
recht bemerkenswerte Folgerungen gestatten. So
ließen die Assimilationsbestimmungen (ausgeführt
durch Messung des Kohlensäureverlustes im Ver-
suchswasser nach dem von Tornöe 1880 ange-
wandten Verfahren) erkennen, daß von den unter-
suchten Grün-, Rot- und Braunalgen die Braun-
alge Fucus serratus weitaus am stärksten assimi-
lierte, daß aber bei bedeutender Abnahme der
Lichtintensität die Assimilationskurve dieser Alge
ziemlich steil absinkt. Sollte Ähnliches auch für
andere Fucaceen festgestellt werden, so würde
man darin vielleicht einen Grund erblicken, wes-
halb diese nicht in größeren Tiefen vorkommen.
Indessen können, wie sich herausstellte, auch
einige Rotalgen, die in ziemlich tiefe Regionen
hinabsteigen, in gedämpftem Tageslicht (in dem
man noch zu lesen vermag) ihren Atmungsverlust
durch Assimilation nicht mehr decken. Im Ver-
gleich mit der Assimilation der höheren Pflanzen
ist die Assimilation der Meeresalgen im allgemei-
nen viel schwächer. Dasselbe gilt für die Atmung.
Die dünnlaubigen oder stark verzweigten Algen
atmen stärker als dicklaubige Formen. Die Be-
stimmung des Atmungskoeffizienten für L'ucus ser-
ratus ergab Werte, die wenig über oder unter i
lagen. Daraus geht mit Wahrscheinlichkeit her-
vor, daß die veratmeten Stoffe Kohlenhydrate sind.
Weiter hat ein mit Fucus serratus angestellter
Versuch großes Interesse, der von der Frage aus-
ging, wie es möglich ist, daß diese und 'andere
Algen im hohen Norden lange Dunkelperioden
überstehen können, ohne in ' ihrer Vegetations-
tätigkeit irgendwie schädlich beeinflußt zu werden.
Bekanntlich können die Phanerogamen Verdunke-
ung im allg; meinen nur kurze Zeit aushalten; sie
vergilben gewöhnlich, und die Zellen sterben ab.
K n 1 e p hielt Fucusthalli fünf Monate hindurch in
Flaschen von etwa i 1 Inhalt im Dunkelraum, in-
dem er etwa i '/.^ Monate lang die Atmungsgröße
von Zeit zu Zeit bestimmte und während der
übrigen Zeit nur das Wasser häufig erneuerte.
Die Temperatur stieg von 11" bis auf 20". Die
Pflanzen blieben völlig frisch. Im Wasser ließ
sich niemals eine Spur von Braunfärbung (die als
Zeichen des Absterbens einiger Zellen dienen kann)
feststellen. Wachstum schien nicht stattgefunden
zu haben, während die belichteten Kontrolipflanzen
beträchtlich gewachsen waren und zahlreiche junge
Sprosse gebildet hatten. Auch zeigten die Dunkel-
pflanzen keine Anzeichen des Alterns (rostbraune
Färbung) wie die Kontrollpflanzen. Es scheint
sonach, daß verschiedene vegetative Prozesse in
der Dunkelheit sehr stark gehemmt sind. Am
Schluß des Versuchs wurde die Atmung wieder
gemessen; sie hatte langsam abgenommen, doch
war kein völhger Stillstand der Atmung einge-
treten. Als die Pflanzen wieder ins Licht gebracht
wurden, trat wider Erwarten keine Kohiensäure-
assimilation in die Erscheinung, sondern es zeigte
sich ebenfalls Sauerstoffabnahme, die im Vergleich
zu der vorhergehenden Atmung sogar erheblich
gesteigert war. Das Licht fördert also in diesem
Falle den destruktiven Stoffwechsel. Wenn außer-
dem Assimilation stattfindet, so ist damit jedenfalls
kein Stoff- und Energiegewinn verbunden. Leider
mußte der Versuch aus äußeren Gründen abge-
brochen werden, und die Pflanzen starben einige
Zeit darauf ab, ohne daß die Ursache davon fest-
gestellt werden konnte. Immerhin ist es bemer-
kenswert, daß die Algen fünf Monate hindurch
am Leben blieben. In der Natur kommen nur
Dunkelperioden von erheblich geringerer Dauer
vor, und zudem liegt in den Polargegenden die
Wassertemperatur unterhalb des Nullpunktes, so
daß der Stoffwechsel verlangsamt ist. Da aber
auch während der hellen Jahreszeit die Wasser-
temperatur sehr niedrig ist, so liegt die Vermutung
nahe, daß die Meeresalgen abweichend von anderen
grünen Pflanzen auch bei niederen Temperaturen
stark assimilieren und, bei gleichzeitig schwacher
Atmung, das für die Dunkelzeit nötige Reserve-
material gewinnen können. Einige Versuche des
Verf mit P^ucus serratus stützen in der Tat die
Annahme, daß mit abnehmender Temperatur der
„ ^. Assimilation . ,
Ouotient sich vergrößert. Die Tat-
Atmung "
Sache, daß die Meeresalgen zum Unterschiede von
den submersen Phanerogamen kein im Dienste
des Gasaustauschs stehendes Interzellularsystem
haben, läßt sich nach Kniep einmal aus dem
Umstände erklären, daß ihre Membranen für Gase
besonders leicht durchlässig sind (nachgewiesen
von W i e s n e r und M o 1 i s c h für Ulva latissima)
und sodann aus dem trägen Stoffwechsel der
Meeresalgen. (Internationafe Revue der ges. Hy-
drobiologie und Hydrographie 1914, Sonderabdruck
38 S.) F. Moewes.
648
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 41
Physik. Mit Zusammenstößen zwischen Elek-
tronen und den Molekülen des Ouecksilberdampfes
und der lonisierungsspannung desselben beschäf-
tigt sich eine Arbeit von J. Frank und G. Hertz
(Berlin), die in den Berichten der Deutschen
Physikalischen Gesellschaft 1914, Seite 457—467
erschienen ist. Prallt ein Elektron, dessen Ge-
schwindigkeit und damit kinetische Energie unter
einer bestimmten Größe liegt, auf ein Molekül
eines Gases, das keine Elektronenaffinität besitzt,
so wird es ohne Energieverlust, d. h. vollkommen
elastisch reflektiert. Überschreitet die kritische
Geschwindigkeit dagegen eine bestimmte Größe,
so tritt Ionisation des Gases ein, d. h. die Stöße
werden unelastisch, das aufprallende Elektron ver-
liert seine Energie und dafür werden aus dem
getroffenen Gasmolekül Elektronen herausgeschleu-
dert. Da die Geschwindigkeit der stoßenden
Elektronen von der Spannung abhängt, die sie
durchlaufen haben, so ist die kritische Geschwin-
digkeit durch eine bestimmte, die lonisierungs-
spannung, charakterisiert. In einer früheren
Arbeit (Ber. d. D. Phys. Ges. 15, 34(1913)) haben
dieselben Verfasser diese Größe für Helium, Neon,
Argon, Wasserstoff u. a. Gase bestimmt. P'ür den
Quecksilberdampf wenden sie folgende neue Me-
thode an; Als Elektronenquelle dient ein dünner,
durch einen elektrischen Strom zum Glühen ge-
brachter Platindraht, der in der Achse eines aus
feinem Platindrahtnetz bestehenden Zylinders von
8 cm Durchmesser ausgespannt ist. Zwischen
Draht und Zylinder ist eine veränderliche be-
schleunigende Spannung angelegt. Den Zylinder
umgibt in i — 2 mm Abstand von ihm isoliert
eine zylindrische Platinfolie, die durch ein Galva-
nometer mit der Erde verbunden ist. Zwischen
Folie und Netz liegt eine konstante verzögernde
Spannung. Das ganze ist luftdicht in ein Glas-
rohr eingeschlossen, das durch ein elektrisch ge-
heiztes Paraffinbad auf etwa 110" erhitzt wird.
Während der Versuche ist die Luftpumpe dauernd
in Betrieb. Da sich in einem seitlichen Rohr ein
Tropfen üuecksilber befindet, ist das Versuchsrohr
mit Ouecksilberdampf von i mm Druck gefüllt.
Der Galvanometerstrom wird bei steigender be-
schleunigender und konstanter verzögernder Span-
nung gemessen. Nimmt die beschleunigende
Spannung von o auf 5 Volt, so nimmt der Strom
von o aus zu. Wird sie größer als 5 Volt, so
nimmt der Strom plötzlich ab, um bei 10 Volt
ein neues Maximum zu erreichen. Wird die be-
schleunigende Spannung größer als 10 Volt, so
fällt der Galvanometerstrom wieder. Das nächste
Maximum erreicht er bei 1 5 Volt usf. Dieses
Anwachsen und plötzliche Abfallen erklärt sich auf
folgende Weise: Ist die beschleunigende Spannung
kleiner als 5 Volt, so werden die von dem Glüh-
draht ausgehenden Elektronen von den Hg-Mole-
külen vollkommen elastisch reflektiert, sie dringen
durch das Platindrahtnetz hindurch und zwar ver-
mögen sie um so zahlreicher gegen die verzögernde
Spannung anzulaufen und den zum Galvanometer
führenden Platinzylinder erreichen , je höher die
beschleunigende Spannung ist. Ist die letztere
indessen gleich der lonisierungsspannung von
5 Volt, so werden die Stöße unelastisch , es tritt
Ionisation ein. Die hierbei aus den Hg-Molekülen
austretenden Elektronen durchlaufen bis zum
Durchtritt durch das Netz nur eine geringe
Spannung, erhalten demnach nur eine kleine Ge-
schwindigkeit, so daß sie nur in geringer Zahl
gegen das verzögernde Feld anlaufen können. '
Der Galvanometerstrom wird wieder klein. Wird
die beschleunigende Spannung größer als 5 Volt,
so rückt die Stelle, an der die Elektronen un-
elastische Stöße erleiden, weiter nach dem
Heizdraht zu. Die durch den Stoß befreiten
Elektronen durchlaufen demnach eine größere
Spannung als vorher und erhalten dabei eine
größere Geschwindigkeit, so daß sie wieder zum
Zylinder gelangen. Wird die beschleunigende
Spannung 10 Volt, so finden etwa in der Mitte
zwischen Heizdraht und Drahtnetz zum ersten-
mal die unelastischen Stöße statt, die dabei be-
freiten Elektronen haben dann bis zum Drahtnetz
noch 5 Volt zu durchlaufen, so daß sie, wenn sie
hier ankommen, zum zweitenmal unelastisch gegen
die Hg- Moleküle prallen. Die vermöge dieser
zweiten Ionisation entstandenen Elektronen kom-
men indessen vermöge ihrer geringen Geschwin-
digkeit nicht zum äußeren Zylinder. Bei 15 Volt
sind 3 Zonen vorhanden, in denen durch unelasti-
sche Stöße Ionisation stattfindet. Der genaue
Wert der loniserungsspannung läßt
sich demnach aus der Kurve, die den
G a 1 V a n o m e t e r s t r o m als I*" u n k t i o n der
beschleunigenden Spannung darstellt,
ablesen; ihr genauer Wert ist für Hg-
Dampf 4,9 Volt. Um die Güte der Methode
zu prüfen, wurden die Versuche mit Helium
wiederholt; in guter Übereinstimmung mit frühe-
ren Versuchen ergab sich 21 Volt.
Die Tatsache, daß die lonisierungsspannung
eine für jedes Gas charakteristische Größe ist,
entspricht durchaus der Quantentheorie; nach
dieser soll nämlich den Schwingungen der Elek-
tronen im Atom Energie nicht in beliebigen Be-
trägen, sondern nur in bestimmten Quanten zu-
geführt werden können. J. Stark hat als erster ij
ausgesprochen, daß der geringste zu übertragende ||
Energiebetrag gleich ist dem Produkte aus der
Planck' sehen Konstante h und der Frequenz
V desjenigen Elektrons, das die Energie empfängt.
Durch Versuche von Wood über Resonanzstrahlen,
über die kürzlich in dieser Zeitschrift berichtet ist,
ist bewiesen, daß in jedem Quecksilberatom ein
schwingungsfähiges Elektron mit einer der Wellen-
länge 2S3,6 ftft entsprechenden Frequenz vorhanden
ist. Es zeigt sich nun, daß der Energiebetrag,
den dasElektron nach Durchlaufen von
4,9 Volt enthält, innerhalb der Fehler-
grenzen mit dem Produkt h-v überein-
stimmt.
N. F. XIII. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
649
Ein großer Teil der (unelastischen) Stöße, bei
welchen dem schwingenden Elektron der Energie-
betrag h-v zugeführt wird, führt nicht zur Ioni-
sation. Es ist zu erwarten, daß diese Stöße
zu einer Lichtemission von der Fre-
quenz V führen, daß also eine Emission
der Resonanzstrahlung zu beobachten
ist. Die Versuche, die dieselben beiden Verfasser
in den Verh. d. Deutsch. Piiysik. Ges. 1914, S. 512
bis 517 veröffentlichen, haben diese Er War-
tung in vollem Maße bestätigt. In einem
kugelförmigen Quarzgefäß, dessen unterer Teil
mit Quecksilber gefüllt ist, wird ein Platindraht
durch einen elektrischen Strom zum Glühen ge-
bracht und sendet die Elektronen aus. Ihm steht
im oberen Teil des Gefäßes ein durch das Galva-
nometer mit der Erde verbundenes Platindrahtnetz
gegenüber. Zwischen diesem und dem Glühdraht
wird die beschleunigende Spannung angelegt. Der
Apparat wird durch einen ringförmigen Gasbrenner
auf 150" erhitzt. Zur Untersuchung der auftreten-
den Strahlung dient ein Ultraviolettspektrograph
von Fueß. Die nach ein- bis zweistündigem
Exponieren erhaltenen Photographien zeigen ein
bis ins Violette gehendes, kontinuierliches Spek-
trum, das von dem glühenden Draht herrührt, und
ferner, durch einen weiten Abstand getrennt,
deutlich die Linie 253,6 f-i/i, aber in
keinem Fall auch nur eine Andeutung
der anderen Hg-Linien. Liegt die beschleu-
nigende Spannung unter der kritischen von 5 Volt,
so tritt auch die Linie 253,6 uii nicht auf. —
Da die lonisierungsspannung sich nach der oben
geschilderten Methode recht genau bestimmen läßt,
läßt sich die Plank'sche Konstante h aus ihnen
mit einem möglichen Fehler von 2 "/o berechnen ;
h = 6,59-io~-' erg sec. K. Schutt, Hamburg.
Über Messungen der durchdringenden Strah-
lungen bis in Höhen von 9300 m berichtet
W. Kolhörster (Charlottenburg) in den Be-
richten der Deutschen Physikalischen Gesell-
schaft XVI (191 4) Seite 719. Die Messungen
sind mit dem Elektrometer nach Wulf, das vom
Verfasser verbessert wurde, auf 4 Ballonfahrten
ausgeführt, die sich zu einer Höhe von 4100, 4300,
6300 und 9300 m ausdehnten. Am Boden beträgt
die lonisierungsstärke 13,2 Ionen pro Kubikzenti-
meter und Sekunde, sie nimmt bis 700 m ab, um
dann zunächst langsam und in größerer Höhe
beträchtlicher zu steigen; so beträgt sie in 6300m
Höhe 43 Ionen cm ■' sec~'. Die folgende Ta-
belle gibt den Überschuß der lonenzahlen in der
Höhe über die Zahl am Boden an
In
looom
Höhe —1,5
2000
+ 1-2
3000
+4,2
4000
+8,8
5000
+ 16,9
6000
+28,7
7000
+44,2
8000
+61,3
9000
+80,4.
Man sieht, daß die Zunahme beträchtlich ist.
P^s scheint ausgeschlossen, daß die bekannten
radioaktiven Substanzen des Erdbodens und der
Luft hierfür verantwortlich sind. Vielmehr muß
man vermuten, daß eine sehr durchdringende
Strahlung kosmischen Ursprungs existiert, die
wohl zum größten Teil von der^. Sonne herrührt.
Zur Entscheidung dieser Frage sind u. a. Be-
obachtungen während der Sonnenfinsternis vom
21. August d. J. in der Zone der Totalität beab-
sichtigt. K. Schutt, Hamburg.
Das Programm der radiotelegraphischen Aus-
breitungsversuchebei Gelegenheit der Sonnenfinster-
nis am 21. Aug. 1914 wird von M. Wien, Jena
in der Physikalischen Zeitschrift XV (1914) Seite 746
mitgeteilt. Der Kernschatten des Mondes bewegt
sich in einer Breite von 160 km mit einer Ge-
schwindigkeit von 1,2 km von der Mitte Skandi-
naviens durch Westrußland nach der Krim. P\inf
Gebestationen, von denen jede mit einer andern
Wellenlänge sendet (zwischen 9400 und 1670 m)
sind vorgesehen. Petersburg liegt nordöstlich vom
Kernschatten, Bobruisk in demselben, Nauen, Nord-
deich und Paris südwestlich außerhalb des Kern-
schattens. Die Stationen sollen abwechselnd je
2 Minuten geben und zwar erst einen Buchstaben
dann je 4 Striche von 10 Sekunden Dauer mit
10 Sekunden Pause. Wenn die 5 Stationen hinterein-
ander geben, dauert eine Serie demnach 10 Minuten.
In der Zeit 11'' 30'" bis iS*" 30'" (Green wich)
werden diese Serien ununterbrochen hintereinander
gegeben, so daß jede Station alle 10 Minuten
2 Minuten gibt. Am Tage vor der Sonnenfinster-
nis wird das gleiche Programm gegeben und von
den Empfangsstationen beobachtet werden. Die
Konstanz der Intensität und der Wellenlänge
der Sendestationen wird durch Hitzdrahtampere-
meter und Wellenmesser auf den Stationen selbst
kontrolliert. Die Empfangstationen liegen auf bei-
den Seiten des Kernschattens und in demselben,
namentlich südwestlich desselben sind sie in großer
Zahl (Deutschland, Frankreich usw.) vorhanden.
Nach Möglichkeit sollen auch die atmosphärischen
Störungen registriert werden. Die Beobachtung
soll, wenn irgend möglich, mit Spiegelgalvanometer
(von nicht zu langer Schwingungsdauer) erfolgen.
Wenn die atmosphärischen Störungen allzu schlimm
sind, so muß auf die Parallelohm-Methode zurück-
gegriffen werden. Die Ergebnisse werden in den
einzelnen Ländern — • in Deutschland in Jena —
gesammelt und dann von der internationalen
Kommission zusammen bearbeitet. Man hofft
durch diese Versuche Aufschluß darüber zu be-
kommen, in wie weit die Sonnenstrahlung Ein-
fluß auf die Ausbreitung der elektromagnetischen
Wellen längs der Erdoberfläche hat. Daß ein
solcher Einfluß in starkem Maße vorhanden ist,
zeigt die Tatsache, daß die Reichweite der Sta-
tionen bei Nacht sehr viel beträchtlicher ist als
bei Tage. — Leider ist zu erwarten, daß dieses
Programm wegen des Krieges nicht zur Ausführung
gelangt. K. Schutt, Hamburg.
650
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 41
Medizin. Über den Einf^uß_der Ernährung
auf das Wachstum^ deTTTeschwülste haben van
A 1 s t y n e und B e e b e (Journal of niedical research
1913) sehr interessante Versuche ana Tiere ange-
stellt. Von zwei Gruppen gleich schwerer Ratten
wurde Gruppe I mit Nahrung gefüttert, welche
keine Kohlehydrate enthielt und ausschließlich
aus Casoin und Schweineschmalz zusammengesetzt
war. Die Gruppe II wurde mit Brot gefüttert.
Nach 45— 60 Tagen wurde allen Tieren zerriebenes
Sarkomgewebe inokuliert. Bei den Tieren I ent-
wickelte sich die Geschwulst gar nicht oder wenig.
hn Gegensatz dazu entstanden bei fast allen Tieren II
Sarkome, welche rasch und stark wuchsen. Wenn
man statt der Emulsion Fragmente der Geschwulst
mit dem Trokar einführte, entwickelte sich die
Geschwulst bei allen Tieren. Bei den Tieren II
aber waren die Sarkome immer viel größer, Rück-
bildungen traten sehr selten ein und die Mortalität
war erheblicher als bei den Tieren I.
In einer anderen Versuchsreihe erhielten beide
Gruppen ausschließlich Cascin und Schmalz, aber
bei den einen war eine Portion Schmalz durch
eine bestimmte Menge Milchzucker ersetzt. Wäh-
rend bei beiden Gruppen 100 % Tumoren hatten,
waren dieselben bedeutend umfangreicher bei den
Ratten, welche Milchzucker erhalten hatten.
Wenn man, statt die Tiere vorher mehrere
Wochen dem Nahrungsregime zu unterwerfen, mit
diesem erst im Moment der Übertragung des Sar-
koms begann, verhielten sich beide Gruppen gleich-
mäßig.
Genannte Autoren wollen ihre Forschungen
fortsetzen, glauben aber schon jetzt schließen zu
dürfen, daß die Art der Ernährung eine bedeutende
Rolle bezüglich der Empfänglichkeit des Tier-
organismus "für Geschwulsbildungen spielt.
Kathariner.
Physiologie. Verhalten der Kaltblüter gegen
das Tollwutgift. Bei der Mehrzahl der Forscher
ist die Meinung verbreitet, daß die „kaltblütigen"
(richtiger: Wechsel warmen) Tiere für Wutkrank-
heit unempfänglich seien. Es ist indes nur für
eine sehr beschränkte Zahl von Arten festgestellt
worden. So hat J. Remlinger das Virus fixe')
Fischen und der mauretanischen Schildkröte ohne
Erfolg eingeimpft. Högyes fand die Widerstands-
fähigkeit des Frosches aufgehoben, wenn derselbebei
35" im Wärmekasten gehalten wurde. Durch Babes
und Remlinger konnte dies indessen nicht be-
stätigt werden. In einer Mitteilung (Action du
virus rabique sur les Batraciens et les Serpents,
C. R. Ac. sc. Paris Nr. 3, 20 juillet iqh') berichtet
Marie Phisalix über ihre Versuche, welche sie
seit 1910 mit Amphibien und Reptilien zu wieder-
holten Malen und zu verschiedenen Jahreszeiten
angestellt hat. Zur Verwendung kamen: Gras-
1) Es ist das von einem spontanen Fall (Straüenvirus)
herrührende Wutgift, welches durch Tierpassage zu einer kon-
stanten Höchstvirulenz gebracht ist.
und Wasserfrosch, Kröte, Erdsalamander, Bhnd-
schleiche, Ringel- und Wassernatter und Aspisviper.
Das Gift wurde an den verschiedensten Stellen
eingeimpft : Subkutanes Bindegewebe, Peritoneum,
Muskel und vordere Augenkammer. Von den Tieren
der zehn Versuchsreihen wurden die von drei im
Wärmekasten bei 35'' gehalten. Ein Unterschied
zwischen ihnen und den Kontrolltieren zeigte sich
nicht.
Während bei den meisten die Resultate vollständig
negativ waren, erlagen die Salamander und Vipern in
den ersten 5—12 bzw. 5 — 8 Tagen unter Lähmungs-
erscheinungen. Im ganzen wurden 48 Vipern und
22 Salamander den Versuchen unterworfen. Die
Stelle der Einimpfung spielte für den Verlauf
keine Rolle. So war es einerlei, ob bei den Vipern
das Gift in das Auge oder unter die Haut ein-
o-ebracht wurde. Bei den Vipern war indessen
nur die Körpermuskulatur gelähmt, denn sie
konnten beißen, indem sie ihre Giftzähne auf-
richteten, wenn sie stark gereizt wurden; aber es
war ihnen unmöglich, ihren Körper, wie sie das
gewöhnlich tun, in Verteidigungsstellung zu bringen;
sie blieben vielmehr bis zu ihrem Tode unbeweg-
lich auf einem Platz liegen. Bei der Autopsie sah
man an der Impfstelle nichts Außergewöhnliches.
Wurde eine Emulsion des Gehirns gesunden
Tieren inokuliert, starben diese; anfangs wirkte
sie ebenso stark als das Gift selbst. Vipern und
Salamander waren aber nicht an der Wutkrankheit
zugrunde gegangen. Dies ging daraus hervor,
daß Kaninchen, denen nach dem Verfahren von
Pasteur und Roux eine Emulsion des ver-
dächtigen Gehirns unter die Meningen gebracht
worden war, nicht an der Wut eingingen. Viel-
mehr ergab sich aus anderen Versuchen, daß die
normale Nervensubstanz sowohl für Kaninchen,
als für Viper und Salamander ein Gift darstellt.
Die scheinbare Ausnahme, welche der Salamander
und die Aspisviper von den übrigen genannten
Tieren machen, erklärt sich aus der Giftwirkung
der Gehirnsubstanz, ob dieselbe nun von einem
cresunden oder einem wutkranken Tier stammt.
" Wie die gleiche Verf. schon früher zeigte
(Vaccination contre la rage experimentale par la
secretion cutanee muqueuse des Batraciens, puis
par le venin de la vipere aspic. C. R. Ac. sc.
Paris, Nr. I, 6 juillet 1914), wirkt das Gift der
Hautdrüsen der Amphibien in Verbin-
dung mit Viperngift immunisierend
gegen die Tollwut.
Kaninchen, welche mit dem Schleim der Haut-
drüsen des gefleckten Salamanders vorbehandelt
waren, widerstanden der Einimpfung einer mehr-
fach tödlichen Dosis des Viperngiftes. Da ein
cTemeinsames Symptom beider Gifte und jenes
der Tollwut die Lähmung ist, wurde mit beiden
Giften behandelten Kaninchen das Virus fixe der
Tollwut eingeimpft. .
Der Verlauf der Versuche war folgender: Bei
3 Kaninchen wurde der Hautschleim des gefleckten
Salamanders in Pausen von 3 Tagen 4 mal
N. F. XIII. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
651
intravenös eingespritzt. Er wurde gewählt, weil
er sich durch Erhitzen aseptisch machen läßt,
ohne seine Giftigkeit zu verlieren. Es wurden
jedesmal 3 ccm eingespritzt, entsprechend einer
Menge, welche von 4 Salamandern gewonnen wurde,
die durch Aether- oder Chloroformdämpfe zur Aus-
scheidung des Sekrets der Hautdrüsen gebracht
worden waren. Drei Tage nachher vertrugen die
Tiere mehr als die doppelte tödliche Dosis Vipern-
gift, dem die Kontrolltiere in weniger als 2 Stunden
erlagen. Sechs Tage nachher wurde 2 Tieren
vom Institut Pasteur in Paris bezogenes Virus
fixe unter die Bindehaut des Auges, in die vordere
Augenkammer und unter die Gehirnhäute gebracht.
Die Kaninchen erkrankten nicht an der Tollwut.
Die Immunität war nach 6 Wochen noch
vorhanden. Einzeln angewandt konnte das Sala-
mander- oder Viperngift nicht gegen die Toll-
wut immunisieren, sondern nur den tödlichen
Ausgang verzögern. Kathariner.
Der kolloidale Kohlenstoff als ein Gegen-
mittel bei Vergiftungen (nach Versuchen von
L. Sabatani, Archivio di fisiologia, settembre
191 3). Wenn man Kaninchen eine Mischung von
Strychnin und der sechsfachen Menge von kollo-
idalem Kohlenstoff subkutan injiziert, so erliegen
sie nicht der tödlichen Dosis und weisen keine
Zeichen der Vergiftung auf Wird die Dosis des
Kohlenstoffs verdoppelt oder verdreifacht, be-
obachtet man nur eine leichte und vorübergehende
Steigerung der Reflexe. Wenn die Dosis des Kohlen-
stoffs dagegen nur das Fünffache der Strychnindosis
beträgt, wird das Kaninchen vergiftet. Die Krank-
heitserscheinungen sind schwer, aber man kann
das Tier noch am Leben erhalten. Wenn die
Menge des kolloidalen Kohlenstoffs dagegen nur
das Zwei- oder Dreifache der tödlichen Dosis des
Alkalolds beträgt, erliegen die Kaninchen immer
der Vergiftung. Die Wirkung des Kohlenstoffs
wird erklärt aus einer unmittelbaren Absorption
des Strychnins durch den kolloidalen Kohlenstoff.
Strychnin und Kohlenstoff müssen gleichzeitig
und an derselben Stelle injiziert werden. Wenn
sie an zwei getrennten Stellen injiziert werden,
erliegt das Tier der Vergiftung.
Die Stelle der Injektion ist gleichfalls von hoher
Wichtigkeit. Bei der Einspritzung in eine Vene
erliegt das Tier selbst bei richtiger Dosierung.
Es wäre interessant, noch mehr Versuche an-
zustellen, um zu sehen, ob der Kohlenstoff, dank
seiner Fähigkeit zur Absorption, als Gegengift auch
bei anderen giftigen Alkaloiden wirkt und auf
Gifte im allgemeinen, sowohl auf solche, die von
außen eingeführt werden, als auf solche, die im
Körper selbst gebildet wurden. Kathariner.
Kleinere Mitteilungen.
Einige auffallende Beispiele von Mimikry bei
tropischen Insekten. Schon in der einheimischen
Tierwelt gibt es ziemlich viele Tiere, besonders
Insekten, die sich unkenntlich machen, sei es daß
sie durch bestimmte Färbung, Zeichnung oder
auch gleichzeitig durch eigenartige F'orm in der
Umgebung zu verschwinden vermögen, sei es daß
sie andere Tiere nachahmen oder durch unheim-
liche Form verblüffen oder gar schrecken können.
Ganz besonders zahlreich sind aber diese Er-
scheinungen, die immer eins der interessantesten
Kapitel der Biologie ausgemacht haben, in den
Iropen. Es ist geradezu erstaunlich, in welcher
Fülle und Eigenartigkeit sie hier selbst dem nicht
besonders auf sie eingestellten Beobachter ent-
gegentreten, so daß auch der eingefleischteste Skep-
tiker sich der starken Wirkung zum mindesten
auf seine eigene, die Natur durchstreifende Person
nicht verschließen kann. Beispiele wie die wan-
delnden Blätter, die Stabheuschrecken sind so be-
kannt, daß sie schon fast zum eisernen Bestand
des biologischen Unterrichtes gehören, ja vielen
durch private und öffentliche Terrarien und In-
sektenhäuser aus eigener Erfahrung vertraut sind.
Vielleicht ist aber die Mitteilung einiger weniger
bekannter Fälle erwünscht, die der Verfasser in
der verschwenderisch reichen Natur der paradi-
sischen Insel Java aus eigener Anschauung kennen
lernte und zum Teil photographierte. Allerdings
geben die Photographien wegen des Mangels
der Farbe den ursprünglichen Eindruck nur un-
vollkommen wieder und es bedarf der durch das
Wort unterstützten rekonstruierenden Einbildungs-
kraft, um einigermaßen in dem Leser den Eindruck
lebendig werden zu lassen, den der Verfasser hatte.
Er kann aber versichern, daß dieser Eindruck ganz
außerordentlich frappant war und nicht etwa aus
der voreingenommenen und übertreibenden Phanta-
sie eines auf sensationelle „biologische Ent-
deckungen" ausgehenden Biologen entsprang. Lei-
der war es mir wegen der durch andere Inter-
essen sehr in Anspruch genommenen Zeit nicht
möglich, von allen Objekten eine zuverlässige Be-
stimmung zu erlangen. Die Namen, die mitge-
teilt werden, gehen auf die überaus freundliche
Belehrung zurück, die mir nachträglich der Direktor
des Botanischen Gartens zu Buitenzorg auf Java,
Herr Professor Dr. Koningsberger auf Grund
meiner Photographien und Beschreibungen er-
teilte und für die ihm auch hier herzlichst ge-
dankt sei.
Eines Tages, als ich beim Mikroskopieren be-
schäftigt war, hörte ich das charakteristische
Schleifen nackter Füße neben mir, das jeder
Tropenreisende genugsam kennt, und als ich auf-
schaute, kauerte neben mir ein kleiner Sunda-
nesenjunge, der mir mit seinen schlanken Affen-
fingern ein Blatt entgegenstreckte und seine hüb-
6^-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 41
sehen, schwarzen, sanften Augen gespannt auf das
Gesicht des Tuan Propessor's ^) in Erwartung
einiger Sen heftete. Ich warf einen Bück auf das
große Blatt und wollte ihn gerade, da ich nichts
an ihm bemerkte mit einem „tida pake" -) ab-
weisen, als er „ular bulu" '''j murmelnd auf eine
Stelle des Blattes wies. Ich sah nun bei genau-
erer Prüfung in der Tat eine Raupe auf dem Blatte
sitzen von einer sehr merkwürdigen Gestalt und
Zeichnung. Sie war blattgrün gefärbt, auf dem
Rücken zog sich eine hellere Linie entlang.
Das Merkwürdigste waren aber in einem spitzen
Winkel abstehende, ebenfalls grünlich gefärbte,
verzweigte h'ortsätze, die die Raupe als einen
flachen der Blattfläche anliegenden Saum umgaben
(vgl. Fig. i). Indem sich nun diese Raupe auf
die Mitterippe
gesetzt hatte,
verschmolz sie
mit Hilfe des
Längsstriches
und des Sau-
mes, der aus
stärkeren, mit
feinen Seiten-
zweiglein be-
setzten Asten
bestand , so
vollkommen
mit der Ner-
vatur des Blat-
tes, daß sie bei
flüchtiger Be-
trachtung un-
sichtbar wur-
de. Ursprüng-
lich hatte sie
sich so gesetzt,
daß die Rich-
tung der
Hauptäste des
Fiedersaumes
parallel zur
Richtung der
Seitennerven
erster Ord-
nung waren,
später hatte
sie sich dann
umgedreht,
und da sie sich
weigerte, wieder ihre ursprüngliche Lage anzu-
nehmen und die Zeit drängte, mußte sie in dieser
Lage abgebildet werden, die weniger frappant wie
anfänglich war. Die Raupe gehört zu der Gattung
Euthalia.
Die folgenden beiden Bilder (Fig. 2 u. 3) zeigen
Raupen der Gattung Papilio. Wie man sieht, haben
Fig. I. Raupe einer Euthalia spec,
Nervatur des Blattes nachahmend.
sie eine kragenartige Wulst, unter die sie, wenn
sie still sitzen oder beunruhigt werden, den Kopf zu-
rückziehen, wie das ja auch viele einheimische Raujjen
tun. Der Buckel ist nach vorn zu flach und be-
kommt, da hier ein stark hervorstechender weißer
Saum verläuft, ein eigentümliches schnauzenförmiges
Aussehen. Zu beiden Seiten des kammartigen höch-
sten Punktes des Buckels sitzt je ein weißer, eben-
falls scharf hervortretender Fleck, in welchem
eine dunklere Stelle ausgespart ist, so daß er den
Eindruck eines glänzenden hervorspringenden Kör-
pers, eines Auges, macht. Es ist ein unbe-
schreiblich merkwürdiger Anblick, wenn man, wie
es die Fig. 3 zeigt, eine größere Zahl dieser
Raupen auf dem Aste einer Citrusart sitzen sieht,
mit den breiten Schnauzen und den überall tückisch
funkelnden Augen.
^) Die Javanen können ebenso wie die Singaleseu das
f schlecht aussprechen,
-) Malayisch : Das brauche ich nicht.
^) Raupe, eigentlich „Federschlange".
l'ig. 2. Raupen einer Papilio spec. mit .\ugen und Schnauzen.
Sehr verbreitet sind in Java die Loranthus-
arten, grüne Parasiten, die ebenso wie unsere
Misteln, mit denen sie nahe verwandt sind, über-
all als große Sträucher auf den Bäumen sitzen.
Ihre Früchte werden ebenso wie die der Mistel
von Vögeln gefressen und da sie ebenfalls klebrige
Stoffe enthalten , haften die Samen, von dem
\^ogelschnabel an Ästen abgestrichen, leicht an
ihnen fest, so daß man sie bei aufmerksamem
Suchen sehr häufig an Asten auffinden kann. Sie
keimen bald aus und treiben zunächst eine Art
Ausläufer, der bei passender Orientierung des
Samens sich dem Aste anschmiegt. Eines Tages
fand ich nun an einem Aste ein Gebilde, das so-
fort den Eindruck eines loranthusartigen Keim-
lings machte, sich aber von den typischen mir
wohl vertrauten unterschied, so daß ich glaubte.
N. F. Xni. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
653
eine mir bisher unbekannte Art mistclnrtigcr
Parasitenl<eimlinfjc vor mir zu haben. Mit einem
Male hub sich der Keimling auf und wandelte.
Es war eine Raupe. Wie Fig. 4 erkennen läßt,
hatte auch sie
einen starken
Buckel , der
aber von run-
der Form und
fein gerippter
Oberfläche
war. Dazu war
er intensiv
grün und von
einem solch
starken Glän-
ze, daß er wie
mit einer
schleimigen
Masse über-
zogen schien.
Als ich das
Wunderding
einem hollän-
dischen Fach-
genossen (der
allerdings
noch Orang
baru ^) war)
zeigte, meinte
er: aha, ein
Loranthus-
keimling! und
war dann
ebenso ver-
dutzt, als das
Ding wieder
anfing zu mar-
schieren. Der
hintere dün-
nere Teil der
Raupe war
wurzelgelb
und so scharf
gegen die
glänzend
grüne Buckel-
kugel abge-
setzt, daß es
aussah, als ob
er aus ihm
hervorwüchse.
Die aus der
Raupe sich
entwickelnde
Imago ist Ca-
rea subtilis aus
der Familie
der Noctui-
den.
Fig. 3. Wie Fig. 2.
Eine andere nicht minder merkwürdige Raupe,
von der ich aber leider weder eine Photographie
habe noch den Namen angeben kann, sah aus
und verhielt sich folgendermaßen. Die gelb und
schwarz gefleckte Raupe bewegte sich nach der Art
der Spanner. Sie hat auf dem 3., 4., 5., und 6. Seg-
ment je vier lange, stahlblaue an den Enden durch-
sichtige, bandartige, schwach spiralig gedrehte
Anhängsel, außerdem noch Haare. Das mittlere
Paar der Anhängsel des 4. Segmentes ist beweg-
lich und wird beim Kriechen rasch vor- und rück-
wärts geschlagen, und zwar in gleichem oder in ver-
schiedenem Tempo. Die Raupe sieht dadurch ganz
fremdartig aus, erinnert an kein bestimmtes Tier,
täuscht am ehesten vielleicht ein wespenartiges,
mit den Beinen zappelndes Insekt vor, macht aber
auf alle Fälle einen sehr verdächtigen Eindruck.
Das letzte Beispiel, das auf der F'ig. 5 abge-
bildet ist, betrifft eine ebenfalls nicht näher be-
stimmte Puppe, die wiederum an einem Djeruk-
zweige (Citrus spec.) befestigt war. Sie hatte die
gleiche dun-
kelgrüne
Farbe wie die
Blätter, und
da sie sich mit
einem Stiel an
dem Ast an-
geheftet hatte
und auf ihrer
Oberfläche
eine helle auf
den Stiel zu-
laufende Linie
hervortrat, rief
sie auf das
täuschendste
den Eindruck *"^
Fig. 5. Puppe, ein Blatt nachahmend,
auf Citrus.
Der Pfeil weist nach der Puppe.
Fig. 4. Raupe von Carea subtilis,
einen Loranthuskeimling nachahmend.
') Neuling, orang Mensch, baru neu (malayisch).
emes einge-
rollten Blattes
hervor; und
dieser Ein-
druck wurde
dadurch noch um so natürlicher, als, wie dies auch
das Bild veranschaulicht, die Djerukblätter oft
etwas eingerollt sind.
Zum Schluß noch einige allgemeine Bemer-
kungen ! Es fällt bei vielen Nachahmungen auf,
daß sie durchaus nicht sehr vollkommen sind, oft
auch gar kein genau zu definierendes Vorbild
haben. Der „Loranthuskeimling" existiert in der
Botanik nicht, was für Tiere die Augenraupen
und die Spanner eigentlich nachahmen, ist nicht
zu sagen. Wenn sich die Raupe von Euthalea
„falsch" auf das Blatt setzt, so wirkt ihre Ver-
mummung nicht oder wenigstens unvollkommener
und sieht man scharf hin, so erkennt man die
Raupe natürlich bald auch in richtiger Lage. Man
könnte hieraus ableiten, daß man liier oft über-
haupt falsch deutet. Doch ist folgendes zu bedenken.
Ein gewisser Schutz wird auch dann schon er-
reicht, wenn eine oberflächliche und ganz allge-
6S4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 41
meine Ähnlichkeit besteht, geradeso wie auch wir
Dinge und Menschen täglich verwechseln oder
übersehen und uns nachher darüber wundern, wie
das möglich war. Bei den ganz grotesken und
fremdartigen Formen, wie z. B. bei den Augen-
raupen, den Spannern, ist es wie ich glaube, ge-
rade auf das Fremdartige, schwer Definierbare,
Fabelhafte abgesehen, vor dem das etwa feindliche
i'ier stutzt und vorsichtig auf den Anbiß ver-
zichtet. F"reilich müßte auch wirklich der Versuch
gemacht werden, nachzuweisen, daß dieser Erfolg
eintritt. Das ist wohl nur in den seltensten I'"ällen
geschehen, so daß den Deutungen vieler solcher
,,Mimikry"-Phänomene im weitesten Sinne unver-
meidlich ein stark hypothetisches Moment anhaftet.
Miehe.
Bücherbesprechimgen.
Klein, F. und Sommerfeld, A., Über die
Theorie des Kreisels. Heft i: Die kine-
matischen und kinetischen Grundlagen der Theo-
rie. 196 Seiten und 23 Textfiguren. Leipzig
und Berlin 1914, B. G. Teubne r. — Preis geh.
5, 60 Mk.
Die mathematisch-physikalische Literatur er-
fährt durch die mit dem vorliegenden Heft im
Erscheinen begriffene umfassende Monographie eine
sehr wertvolle Bereicherung. Ursprünglich aus
Vorlesungen von Herrn Klein aus den Jahren
189596 hervorgegangen, sucht die gegenwärtige,
durch die Mitarbeit von Herrn Sommerfeld
entstandene Fassung nicht nur eine erschöpfende
Behandlung des rein mechanischen Spezialproblems
zu bieten, sondern auch dem großen Interesse ge-
recht zu werden, welches die Kenntnis der Kreisel-
bewegung für die Nachbargebiete der Mechanik,
namentlich der Astronomie, die Geophysik und
die Technik besitzt. Besonders zu begrüßen ist
die in der klaren Präzisierung der Grundlagen des
Problems und der scharfen Betonung der mecha-
nischen Ursachen der Kreisclbewegung zum Aus-
druck gebrachte Tendenz nach einer über den
Formeln stehenden mechanischen Auffassung,
welche jede Schwierigkeit für das Verständnis
auch der komplizierteren Verhältnisse beseitigt
und die Bedeutung der analytischen Verfahren
von vornherein klarlegt.
Die Darstellung beschränkt sich im wesent-
lichen auf diejenigen Probleme, welche mit Hilfe
elliptischer P"unktionen lösbar sind, d. i. die Be-
wegung eines der Schwere unterworfenen starren
Körpers mit symmetrisch um eine Achse des Körpers
verteilter Masse und mit festem Unter-
stützungspunkt. Der allgemeinere Fall eines
Kreisels mit beweglichem Unterstützungspunkt
führt auf hyperelliptische P"unktionen und wird
nur anhangsweise betrachtet.
Das vorliegende i. Heft enthält die Festlegung
der geometrischen und mechanischen Grundlagen
der Kreiseltheorie und die X'orbereitung der ana-
lyptischen Behandlung, deren Durchführung im
2. Heft erfolgt. Im i. Kapitel findet sich die
Kinematik des Kreisels, welche, lediglich mit den
Begriften Raum und Zeit operierend, die Be-
wegungen nach ihrer geometrischen Möglichkeit
untersucht. Daran schließt sich im 2. Kapitel
die einleitende kinetische Behandlung- welche durch
Hinzunahme der Begriffe von Masse und Kraft die
Bewegungen mit Rücksicht auf ihre mechanische
Möglichkeit untersucht. Die Verff. legen hier be-
sonderen Wert auf die konsetjuente Benutzung des
Begriffs des Impulses als derjenigen Stoßkraft, welche
imstande ist, die jeweilige Bewegung des Körpers
von der Ruhe aus hervorzurufen. Das 3. Kapitel
enthält die Ableitung der wichtigen Euler' sehen
(ileichungen und daran anschließend weitere Aus-
führungen zur Kinetik des Kreisels.
Das ganze Werk wird 4 Hefte umfassen.
A. Becker.
Scheffer, W., Das Mikroskop. 2te Auflage
1914, B. G. Teubner. (Aus Natur und Geistes-
welt Bd. 35.)
Nach des Verfassers Vorrede stellt sein Büch-
lein einen Versuch dar, „auf eine einfache, auch
dem Laien verständliche Weise das für den ver-
nünftigen Gebrauch des Mikroskopes und seiner
einfacheren Hilfsapparate Notwendigste in leicht
faßlicher Form vorzubringen".
Bekanntlich haben nicht nur Laien, sondern
auch viele mikroskopierenden Praktiker nur eine
recht vage Vorstellung von der Wirkungsweise
ihres Instruments und es gibt unter den Biologen,
die sich tagtäglich des Mikroskopes bedienen, nicht
wenige, denen nicht einmal so kardinale Begriffe
wie etwa die numerische Apertur, geschweige denn
die Elemente der Abbe'schen Theorie der mikro-
skojiischen Bilderzeugung geläufig sind. Mit Rück-
sicht darauf muß jeder Versuch, der sich in der
Richtung des Verfassers bewegt, von vornherein
begrüßt werden, wenn er auch das genannte Ziel
„das Notwendigste leicht faßlich vorzutragen"
nicht in allen Punkten erreichen sollte.
Die wichtigsten Kapitel stellen einen gedräng-
ten Auszug aus des Verfassers ausführlicherem
Buche: Wirkungsweise und Gebrauch des Mikro-
skopes, das im gleichen Verlage erschienen ist, dar.
Peinige Abschnitte sind dabei allerdings zu knapp
ausgefallen und nur für einen Leser verständlich,
der bereits über eine größere Kenntnis der Optik
verfügt. So wird bereits in den ersten Sätzen, die
über die Lupe handeln, diese in Figur und Text
durch die beiden Hauptebenen und die Brennebenen
angedeutet, ohne daß diese Begriffe irgendwie
erläutert werden. Ein Laie dürfte sich aber unter
den beiden Hauptebenen schwerlich etwas vor-
N. F. XIII. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
655
stellen können. Auch was über Pupillen und
Luken gesagt wird, wird kaum ausreichen,
um dem Leser eine klare Vorstellung dieser Be-
o-riffe zu vermitteln. Weit besser scheinen dem
Referenten die Kapitel, die über die Objektbe-
leuchtung handeln (Abschn. IV und VII), gelungen
zu sein. Weitere Kapitel sind den Stativen und
einigen wichtigen Hilfsapparaten gewidmet. Ein
einleitender Abschnitt bringt einige historische
Daten, schildert an der Hand von Abbildungen
die alten „Flohgläser", die Mikroskope Leeuwen-
hoek's und R. Hooke's und deren Leistungen
usw. Ein Schlußkapitel behandelt die Herstel-
lung der Präparate , wobei auch die Mikrotom-
und Färbetechnik ganz kurz gestreift werden und
die mechanische Wirkung des Mikrotommessers
beim Schneiden der Paraffinblöcke eine Besprechung
erfährt.
Zur Orientierung über die wichtigsten Fragen
kann das Büchlein jedenfalls empfohlen werden;
da dort auf weitere Literatur nicht verwiesen
wird, seien Leser, die sich eingehender mit dem
Gegenstande befreunden wollen, noch auf einige
andere einschlägige Bücher aufmerksam gemacht.
Über alle allgemeineren optischen Fragen
orientiert aufs beste die ausgezeichnete Darstel-
lung in den letzten beiden Auflagen von Müller-
Pouillets bekanntem Physikbuche aus der Paeder
Lummer's. Als erste Einführung an der Pland
ganz einfacher Versuche ist W. V o 1 k m a n n ' s
Praxis der Linsenoptik (Berlin, Gebr. Bornträger)
unübertreftlich. M. v. Rohr, die optischen Instru-
mente (Aus Natur und Geisteswelt Bd. 88. 2. Aufl.)
behandelt neben den photographischen Ob-
jektiven, Projektionssystemen, Brillen und Tele-
skopen auch Lupe und Mikroskop klar und aus-
führlich. Die im Verlage von S. Hirzel Leipzig
erschienenen 3 Heftchen ,, Übungen zur wissen-
schaftlichen Mikroskopie", zusammengestellt von
H. Siedentopf, H. Ambronn und A. Köhler
dürften in der Bibliothek eines jeden, der mikro-
skopisch arbeitet, nicht fehlen. Sie enthalten den
Übungsstoff der Ferienkurse für wissenschaftliche
Mikroskopie, die erfreulicherweise ein stets wach-
sendes Interesse finden. Buder.
Hesse, Rieh., und Doflein. Franz, „Tier bau
u n d T i e r 1 e b e n. IL Band. Das Tier als Glied
des Naturganzen" von Fr. Doflein. Mit 740
Abbildungen im Text und 20 Tafeln in Schwarz-
und Buntdruck. Leipzig und Berlin 1914. Verl.
B. G. Teubner. — Preis geb. 20 Mk.
Der von vielen Biologen und Naturfreunden
sehnlich erwartete II. Band der großzügig ange-
legten modernen Tierbiologie: Tierbau und Tier-
leben von Hesse und Doflein ist nun auch er-
schienen und damit das Werk zum Abschluß ge-
bracht. Während der von R. Hesse bearbeitete
I. Band das Tier als selbständigen Organismus
behandelt, schildert Fr. Doflein hier das Tier
als Glied des Naturganzen, d. h. in dem Zu-
sammenhang mit seiner natürlichen Umgebung,
mit seinesgleichen und mit anderen Organismen.
Äußerlich ist der Band in drei Bücher ge-
gliedert, von denen das erste das Tier im Ver-
hältnis zu den belebten Elementen seines Lebens-
raumes schildert. Nach einem kürzeren einleitenden
Kapitel, das von den Biozönosen handelt , den
Lebensgemeinschaften aller Tiere und Pflanzen,
welche an dem Ort ihres Vorkommens alle Be-
dingungen für ihre Entstehung und Erhaltung finden,
geht Verf. zu dem großen, 300 Seiten umfassenden
Kapitel der Ernährungsbiologie über. An einer
Unzahl von Beispielen aus allen Gruppen des Tier-
reiches von den Protozoen bis zu den Wirbel-
tieren werden die verschiedenen Arten der Er-
nährung, ferner Normalnahrung und Nahrungs-
wechsel erläutert, manche Ernährungssonderlinge,
wie die Mallophagen, Wachsmotten, Fettschabe,
dann die Aasfresser, Leichenwürmer, Kot- und
Fäulnisbewohner besprochen.
Daran schließen sich ausführliche Zusammen-
stellungen über die eigenartigen Lebensgemein-
schaften, die man als Symbiose und Synoecie be-
zeichnet. Diese Lebensweise und vielleicht noch
mehr die saprozoische führen viele Tierarten da-
zu, auf oder in anderen Organismen zu schma-
rotzen, weshalb Verf. hier ein paar umfangreiche
Abschnitte über den Parasitismus und das Ver-
hältnis zwischen Parasiten und Wirt einfügen
kann.
Das nächste Kapitel behandelt das Tier im
Kampfe gegen seine Verfolger, d. h. sein Ver-
halten bei Gefahr, die ihm dabei zu Hilfe kommen-
den körperlichen Schutzanpassungen, die eigen-
artige Erscheinung der Selbstverstümmelung und
endlich noch eine wichtige Schutzanpassung, näm-
lich die verschiedenen tiinrichtungen und Triebe,
durch welche eine Reinigung der Körperoberfläche
gewährleistet wird.
Verf. geht dann zu dem sich in so überaus
mannigfaltiger Weise äußernden Geschlechtsleben
der Tiere über, kommt danach auf das interessante
Gebiet der Tierwanderungen zu sprechen und
schließt daran ein großes Kapitel über die Ver-
sorgung der Nachkommenschaft. Besonders an-
regend sind die Kapitel, welche von der Gesell-
schaftsbildung im Tierreich und von den staaten-
bildenden Insekten handeln.
Das zweite Buch zeigt das Tier im Verhältnis
zu den unbelebten Elementen seines Lebensraumes.
Da sind auch jene merkwürdigen Fälle von
Periodizität in den Lebenserscheinungen mancher
Tierarten zusammengestellt, von denen manche
auf kosmische Einflüsse zu deuten scheinen. Sodann
verbreitet sich Verf. des weiteren über den Einfluß
des Mediums, in dem die Tiere leben, über den
der Quantität und Qualität der Nahrung, über
die Beeinflussung durch Temperatur, Klima und
Licht.
Das dritte Buch endlich ist der Zweckmäßigkeit
im Tierbau und Tierleben gewidmet und gliedert
sich demgemäß in ein Kajntel, das die zweck-
656
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 41
mäßigen Eigenschaften im Körperbau der Tierarten
behandelt, und in ein solches, das die zweckmäßigen
Handlungen der Tiere zum Inhalt hat. In beiden
Kapiteln werden die wichtigsten der Theorien,
welche nach einer Erklärung der Zweckmäßigkeit
streben, vorgeführt und kritisch besprochen.
Es ist bei dem hier zur Verfügung stehenden
beschränkten Raum nicht möglich, auf irgendwelche
Einzelheiten des so umfang- und inhaltreichen
Werkes näher einzugehen. Eine Fülle von Tat-
sachen findet sich hier vereinigt, wie sie nirgends
anderswo so gedrängt beieinander anzutreffen ist,
und ebenso hat Verf. es nicht vermeiden können,
bei der Behandlung mancher Fragen, die zum
ersten Male in solchem Zusammenhange auf-
tauchten, neue Gedanken und neue Gesichtspunkte
aufzuzeigen, wodurch das Werk nur an Bedeutung
gewonnen hat.
Hervorzuheben ist die reiche Ausstattung mit
Abbildungen, von denen viele Originale sind.
Dagegen scheinen manche der bunten und
schwarzen Tafeln nicht ganz auf der Höhe zu
stehen, so z. B. Symbiose bei Meerestieren,
Wüstentiere, Stillwassertiere der japanischen Tief-
see, und andere.
Im übrigen aber bildet der vorliegende Band
zusammen mit dem ersten wohl sicher eines der
monumentalsten Werke der modernen Deutschen
Biologie. Hempelmann, Leipzig.
röhr zeigen kann. 6 Abbildungen erläutern die
beschriebenen Methoden. Riem.
Rusch, Franz, Winke für die Beobachtung
des Himmels mit einfachen Instru-
menten. 49 S. Leipzig 191 3, Teubner. —
Preis 1,50 Mk.
Ein bei dem geringen Umfang ganz ausge-
zeichnetes Werk für den Oberlehrer einer Schule,
die einiges anwenden kann, um ein kleines Fern-
rohr und ein paar Nebenapparate zu beschaften.
Nach einer Beschreibung der Instrumente und
Anweisung zur l'rüfung ihrer Güte und praktischen
Anwendung wird besprochen, was mit den Instru-
menten zu erreichen ist, zunächst am Fixstern-
himmel. Das Aufsuchen und Beobachten von
Nebeln, Doppelsternen, Veränderlichen, mikro-
metrische Messungen, sodann der Mond und die
Planeten. Auf der Sonne Beobachtung der Flecken,
iMckeln und der Granulation. Umfangreiche
Tafeln mit den besten Werten geben Sterngrößen,
Doppelsterne mit der Zeit der Sichtbarkeit, Stern-
haufen und Nebelflecke und Mondgebilde an, so
daß der Lehrer unter allen Umständen zu jeder
Zeit brauchbare Objekte den Schülern im Fern-
Preufs, K. Th., Die geistige Kultur der
Naturvölker. (Aus Natur und Geisterwelt,
452. Bändchen). Leipzig 1914, Teubner.
Prof. Preuß, der durch seine ethnographischen
Forschungen in Amerika wohl bekannt ist, gibt in
diesem Büchlein eine gedrängte Übersicht des
Geisteslebens der sogenannten primitiven Men-
schen; er behandelt primitives Denken, Magie,
Götter, Religion und soziales Leben, Wissen-
schaft und Kunst. Da Preuß den Standpunkt
der Parallelentwicklung der menschlichen Kulturen
vertritt und augenscheinlich alle Zweige der
Menschheit für gleich entwicklungsfähig hält, so
meint er, daß ein Bild der geistigen Kultur der
Naturvölker auch Licht auf die geistige Entwicklung
der hochstehenden Kulturvölker unserer Zeit wirft.
Der Referent möchte bezweifeln, ob die physisch
so auffällig weit differenzierten Zweige der Menschheit
sich in bezug auf ihre geistige Kultur gleichartig
entwickelt haben. — Für die geistige Kultur der
Naturvölker besonders bezeichnend ist die magisch-
religiöse Denkweise und Preuß ist daher vor allem
bestrebt, dem Leser einen Begriff von dieser
Denkweise und von ihrem Einfluß auf die sozialen
Einrichtungen sowie auf die Kunstübung zu geben,
was ihm im ganzen recht wohl gelingt. Die aus
der Fülle des ethnographischen Materials heraus-
gehobenen Beispiele sind gut gewählt.
H. Fehlinger.
Literatur.
Kohlr .1 usch, Fr., Lehrbuch der praktischen Physik.
12. stark vermehrte Aullage (5. — 42. Tausend) In Gemein-
schaft mit verschiedenen Gelehrten herausgegeben von E. War-
burg. Mit 3S9 Textfig. Leipzig und Berlin '14. B. G. Teub-
ner. Geb. II Mk.
Hönigswald, Prof. Dr. Richard, Die .Skejisis in Philo-
sophie und Wissenschaft. Xr. 7 der Sammlung ,,Wege zur
Philosophie. Schriften zur Einführung in das philosophische
Denken". Göttingen '14. Vandenhoeck u. Ruprecht. 2,50 Mk.
Beintker, Dr. med. Erich, Apparate und Arbeits-
methoden der Bakteriologie. Bd. 11: Die Methoden des Tier-
versuches und der Serologie. Aus dem „Handbuch der mikros-
kopischen Technik unter Mitwirkung zahlreicher Mitarbeiter
herausgegeben von der Redaktion des Mikrokosmos"' Stutt-
gart '14. Frankh'sche Verlagshandlung. Geb. 2,25 Mk.
Leiss, 11. und Schneid e rh ö h n, Dr. H., Apparate
und Arbeitsmethoden zur mikroskopischen Untersuchungen
kristallisierter Körper. Aus demselben Handbuch. Stuttgart
'14, Frank'sche Verlagshandlung. Geb. 3 Mk.
Kunze, W., Geologische Streifzüge in die Werraland-
schaft. Eschwege '14. Johs. Braun.
Inhalt; Meli: Die Kntc, ihre Nutzung und Wertung in China. Heß; Direkt wirkende Stereoskopbilder — Einzelberichte:
Kniep; Assimilation und Atmung des Meeresalgen. Frank und Hertz: Zusammenstöße zwischen Elektronen und den
Molekülen des Quecksilberdampfes und der lonisierungsspannung desselben. Kolhörster: Über Messungen der durch-
dringenden Straiilungen. Wien: Das Programm der radiotelegraphischen Ausbreitungsversuche bei Gelegenheit der
Sonnenfinsternis am 21. Aug. 1914. van Alstyne und Beebe: Über den Einfluß der Ernährung auf das Wachstum
der Geschwülste. Phisali.x: Verhalten der Kaltblüter gegen das Tollwutgift. Sabatani: Der kolloidale Kohlenstoß
als ein Gegenmittel bei Vergiftungen. — Kleinere Mitteilungen: Mi ehe: Einige auffallende Beispiele von Mimikry
bei tropischen Insekten. — Bücherbesprechungen: Klein und Sommerfeld; Über die Theorie des Kreisels.
Scheffer: Das Mikroskop. Hesse und Doflein: Tierbau und Tierleben. Rusch: Winke für die Beobachtung
des Himmels mit einfachen Instrumenten. Preufi; Die geistige Kultur der Naturvölker. — Literatur: Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Redakteur Professor Dr. H. Mich e in Leipzig, Marienstrafle na, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schcn Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den i8. Oktober 1914.
Nummer 42.
Die Großfaltung der Erdrinde.
Neuere Arbeiten zur Geomorphologie und Tektonik.
Sammelreferat von Dr. G. Hornig, Erlangen.
[Nachdruck verboten.]
Die Geomorphologie erstrebt, den Bau der
ganzen Erdrinde zu erforschen. Die Grundlage
dieses Baues ist das „tektonische Gebilde", aus
dem die Erdrinde sich zusammensetzt. Die Tek-
tonik, die eine rein mechanische Wissenschaft ist,
ist die Wissenschaft von den Bewegungen der
Teile der Erdrinde. So kann es nur eine mecha-
nische Kraft sein, die diese Bewegungen erzeugt;
einzig und allein die Schwerkraft. Als Aus-
gangspunkt für die Umbildung der Erdoberfläche
nimmt Abendanon(i) die Theorie der Abküh-
lung und Einschrumpfung des Erdkernes an, also
die Kontraktionstheorie in bestimmter Abwandlung.
Welche Vorstellungen machen wir uns von dem
Bau der Erde.? Nach Wiechert (Darstellung bei
Andree, 2, 28) besteht die Erde aus einem Kern
Maßstab I : 230 Mill.
Fig. I. Hypothetischer Schnitt durch die Erdliugel
(nach Andree).
von Nickeleisen, den Sueß „Nife" nennt, der
einen Radius von 5000 km besitzt, eine mittlere
Dichte 8,5, und einem Steinmantel von 1400 km
Dicke der mittleren Dichte 3,4. Dieser zerfällt
wiederum in zwei Teile, in eine innere Schicht basi-
schen Magmas ,,Sima" und in eine äußere Schicht
saurer IVIagmen „Sal", die durch eine plastische
Schicht voneinander getrennt werden. Es ist ein
Kern, den eine mechanisch nicht homogene
Kruste umgibt, die in gegeneinander bewegliche
Blöcke gelöst wird und durch eine plastische Zone
vom Kern getrennt ist. Nach A. W eg en er's (12)
Theorie schwimmen die leichteren „salischen"
Kontinente gewissermaßen in einer schwereren
„simischen" Masse. Er kommt so zur Forderung
einer Ausgleichsfläche in ungefähr 120 km Tiefe,
die der plastischen Schicht durchaus ent-
spricht.
Was folgt aus diesen Voraussetzungen für die
Dynamik der Erdrinde? Die Abkühlung
der Erdrinde im Beginn der Erstarrung führt zu
bestimmten Kontraktionserscheinungen; sie führt
nach De ecke (2, n) zur Entstehung von Kon-
traktionsklüften, Stellen geringsten Widerstandes.
So ergibt sich eine Teilung der Erdrinde in ein-
zelne Blöcke, die aber heterogen sind. Einige
Teile der Erdrinde werden in Bewegung geraten,
die zentripetal gerichtet ist. Die größeren Blöcke
geraten eher in zentripetale Bewegung als die
kleineren, die also relativ zentrifugal bewegt
werden. So sieht das Urrelief der Erde in diesem
Anfangsstadium aus (i, 23). Die zentripetale Be-
wegung der relativ unveränderlichen Masseti der
Rinde verursacht Veränderungen des Volumens.
Also beruht der ganze Mechanismus auf der Kom-
pressibilität. Aber ist nun die Dynamik der Erd-
rinde ausschließlich Volumenabnahme? So
groß wir uns auch den Druck auf die Erdrinde
vorstellen, so ist doch jederzeit die zentrifugale
Richtung da, nach welcher ein Ausweichen mög-
lich ist. Damit ist die Möglichkeit der zentri-
fugalen Auspressung (1,26) gegeben, damit
die der Zugspannungen und der relativen Volumen-
zunahme. Aber auch ein anderer physikalischer
Gesichtspunkt führt zur Annahme der Volumen-
vermehrung. Die Abkühlung der Erde führt
schon nach den Anschauungen von Richt-
hofen's zu folgenden unmittelbaren Wirkungen:
I. Zusammenziehen der flüssigen Massen unter
der Erdkruste durch Wärmeabgabe bis zu der-
jenigen Temperatur, bei der unter dem entspre-
chenden Druck Kristallisation erfolgt, 2. Volumen-
vermehrung durch Kontraktion, 3. Zusammenziehung
der kristallisierten Massen durch Wärmeabgabe.
Tammann hat diese Erscheinungen experimen-
tell weiter untersucht. Vou besonderem Interesse
sind die Ergebnisse, die sich ihm darbieten bei
hohem Druck. Darnach erleiden Substanzen, die
bei Atmosphärendruck unter Kontraktion kristalli-
sieren, bei steigendem Druck eine Erhöhung des
Schmelzpunktes, aber nur bis zu einem bestimmten
Grenzwert, dem ,, maximalen Schmelzpunkt"; bei
weiterer Druckzunahme sinkt der Schmelzpunkt
wieder, die Kristallisation erfolgt nunmehr unter
Dilatation (Volumenausdehnung) (2, 42). Diese
Volumenvermehrung sieht Andree als mögliche
Ursache der verschiedensten geologischen Vorgänge
an der Erdoberfläche an. Aus dieser Theorie be-
6s8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 42
rechnete von Wolff die Lage einer magmatischen
Kugelschale zwischen 50 und ico km Tiefe ; sie
kann identifiziert werden mit der „plastischen
Schicht".
Auf diesen physikalischen Voraussetzungen
beruhen nun zwei Theorien, einmal die Theorie
A n d r e e ' s , und sodann Abendanon's Theorie
der „Großfalten". Andree geht aus von der
Unterströmungstheorie Ampferer's, nach der
die oberflächlichen Falten und Überschiebungen
von Bewegungen des tieferen Untergrundes be-
dingt und getragen werden. Man wird dabei
nicht an ein Fließen von Magmamassen denken
müssen, sondern an das Fließen in ,, festem" plasti-
schem Zustande. Diese Plastizität ist im vorher-
gehenden begründet worden. Auf ihr beruht
auch der Gedanke Wegen er 's (12) der Ver-
schiebung von Horizontalschollen, deren Ursachen
aber nicht recht klar sind. Aber den Grund-
gedanken der Beweglichkeit wendet auch Andree
an; es ist die Grenze der salischen und simischen
Schollen, die am leichtesten durxh Störungen be-
einflußt wird wegen ihrer verschiedenen Riegheit
(Formelastizität). Ist infolge dieser angenommenen
Volumenschwankung in der Tiefe das Gleichgewicht
gestört, dann hat die Isostasie wohl die Be-
deutung, daß sie den Gleit- und Unterströmungs-
vorgängen, für deren Entstehung die Bedingungen,
das Schweregefälle, gegeben sind, die einsei-
tige Richtung vorschreibt, die für die F"alten
unserer Kettengebirge bezeichnend sein soll. Die
Entstehung der Faltengebirge aus Geosynklinalen be-
wirkt nun in höchst einfacher Weise ihre Gestaltung ;
die Bogen form der Kettengebirge ist nur eine
Folge eines ursprünglich gebogenen Küstenver-
laufes und entsprechend verlaufender Isobathen.
Auch das „Anschmiegen" der Kettengebirge am
Rande eines größeren Beckens an ein altes Massiv
kann für seinen Verlauf ausschlaggebend sein
(2, 68). Diese Erscheinung spielt in der Tat eine
höchst bedeutsame Rolle.
Wohl ist für ein Kettengebirge der einseitig
gebogene Verlauf charakteristisch; aber wenn wir
den großen Zusammenhängen der Faltungszonen
der Erde gerecht werden wollen, so kommen wir
doch zu anderen Ansichten. Die zentrifugale
Auspressung führt zu den „Großfalten der
Erdrinde". Durch die Zugspannungen entsteht
die Erscheinung der Distraktion (Fig. 21. Als
Beispiel für die einfachsten
Falten der Erdrinde betrach-
tet Abendanon die des
Roten Beckens von Szet-
schwan, die über 250 km
Länge tadellos regelmäßig
im Streichen und im Ouer-
pr'ofil sind. Relativ breite
horizontale Synklinalen
wechseln mitrelativschmalen
horizontalen Antiklinalen
ab. Die Synklinalen weisen
keine Volumenveränderun-
Fig. 2. In Teil III mufi
Druck in der Tiefe, oben
Zug auftreten, wenn I und
II als starre Rahmen ver-
sinken. Teil III muß
zentrifugal ausweichen
(nach Abendanon).
gen auf, in den Flügeln aber hatte eine starke
Volumenabna'hme stattgefunden — je steiler
der Flügel stand, desto stärker war die Auspres-
sung. Die Antiklinalen wiesen Volumen zunähme
auf; es ist dasselbe Prinzip wie bei Entstehung
der Großfalten. Die Synklinalgebiete bewegen
sich zentripetal , die Antiklinalgebiete werden
zentrifugal ausgepreßt und infolgedessen ensteht
in der Antiklinale Dehnung oder Distraktion. An
zahlreichen Beispielen, die aber wohl nicht immer
zutreffend sind, beschreibt Abendanon die
Einzelheiten des Großfaltenmechanismus. Die
Großfalte entsteht durch Aufwölbung einer Fast-
ebene, ihr erstes Kennzeichen ist: ,,ihre Struktur
ist von der des Untergrundes durchaus unab-
hängig". Der Anfang ihrer Bildung fällt ins
Neogen; im Quartär tritt eine Beschleunigung ein,
und ihre Bildung dauert heute noch fort, wie die
Regression des Meeres an den Küsten und die
Erdbeben in den Distraktionsgrabensenkungen be-
weisen. Risse und Grabensenkungen, die Distrak-
tionserscheinungen, bilden ein weiteres Charakte-
ristikum der Großfalte, ferner das Auftreten von
Erdbeben und vulkanischen Erscheinungen in der
antiklinalen Zone ein letztes Kennzeichen. Die
Grabensenkungen können entweder median
oder bilateral sein. Als Beispiel einer Groß-
falte mit medianer Grabensenkung wird der Rhein-
graben mit Schwarzwald und Vogesen genannt.
Der Begriff „Einschrumpfung der Erdkugel" ist
nicht allein ein einzelner, sondern auch ein wissen-
schaftlich logisch denkbarer Begriff. Durch die
Einschrumpfung der Erdkugel entstehen indirekt
die Grabensenkungen. Die Tektonik von Celebes
hat bei Abendanon zu dem Begriff: Groß-
falten der Erdrinde geführt. Soll die Erscheinung
aber allgemeine Bedeutung haben, so darf diese
Großfalte nicht die einzige sein. Wir sehen
an zahlreichen Beispielen , das Phänomen geht
weiter. Sind wir dann also nicht berechtigt zu
sagen, daß dieser Mechanismus die ganze Erd-
rinde gefaltet hat? Ja! Wir sehen seine Wir-
kungen an der Oberfläche, durch Aufwölbung
einer Fastebene und hohe Aufhebung der anti-
klinalen Kerne, verbunden mit Distraktionserschei-
nungen und Erderschütterungen. Die antiklinalen
Distraktionsrisse, die vulkanische Erscheinungen
zeigen, beschränken sich auf die rigide Zone der
Erdrinde. Diese muß in den antiklinalen Zonen
dünner sein als in den Synklinalen Gebieten in-
folge zentrifugaler Auspressung und Denudation.
Es leuchtet jetzt ein, warum die vulkanischen
Erscheinungen nicht in den Synklinalgebieten der
Großfalten , sondern in den antiklinalen Zonen
auftreten, was schon Volz') in Sumatra nach-
gewiesen hat. Der junge Vulkanismus ist dort
an die Nachbarschaft der tiefsten Tiefen gebunden.
Das Einsinken der Erdräume findet nicht statt,
ohne daß in den darunter liegenden Schichten
•) W. Volz, Nord-Sumatra II, Gajoländer, S. 312/13.
(Berlin rgra.)
N F. Xffl. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
659
Massendefekte vorhanden sind, Partien einer ge-
wissen Druckentlastung im Inneren. Diese steigen
mit dem Magma in die Höhe, das an den stehen-
gebliebenen Horstblöcken als dem Punkte ge-
ringsten Widerstandes zutage tritt.
Die Faltungen entstehen in den Druckzonen
der Großfalten; es ist die intensive P'altung zu
fast senkrecht stehenden Schiefern. Biegen diese
Falten nach oben um, so erkennt man, wie aus
den stehenden Falten liegende hervorgehen. Durch
Abgleitung kann diese Erscheinung erklärt werden.
Beim Abgleitungsmechanismus bewegen sich ent-
weder alle Teile gleich schnell oder nicht gleich
schnell. Im ersten Falle entsteht eine Sediment-
decke über ungleichem Boden , im zweiten wird
die Sedimentserie gefaltet. Man könnte fast
glauben, die schönen Untersuchungen von L.
Kober (3) wären eine direkte Fortsetzung der
Studien von Abendanon; so großartig fügen
sie sich dem allgemeinen
Bilde. Kober betrachtet
die Bewegungsrichtung
deralpinen Deckengebirge
im Mittelmeergebiet im
Vergleich zum Vorland
im Süden und Norden.
Im Vorland treten ver-
schiedene Baupläne zu-
tage, der alte a r c h ä i s c h e,
der k a 1 e d o n i s c h e und
die Überreste der A 1 -
taiden. In den Decken-
gebirgen des Mittelmeeres
herrscht der alpine Stil,
in dem sich zwei Rich-
tungen der Bewegung er-
kennen lassen: N und S.
(Fig. 3.) ^'S- 3- Bewegungsric
Ein nordbewegter
Stamm der A 1 p i d e n ist
von einem südbewegten der D inariden scharf
zu trennen, die Trennung erfolgt durch Einschal-
tung eines Zwischengebirges, durch eine Disloka-
tionslinie I. Ordnung. Zum N-Stamm gehören
die betische Kordilliere und die Balearen, Pyre-
näen, Alpen und Karpathen, Balkan und Kaukasus,
zum S-Stamm .Atlas, Apennin, Dinariden, Helle-
niden und Tauriden. Die Grenze zwischen beiden
Stämmen bildet das Zwischengebirge: Die marok-
kanische Meseta, die korsosardinische Masse, dina-
rische Narbe, kroatische Masse, Rhodopemassiv,
karisch-lydische Masse im O und der armenische
Horst. Zugleich erkennen wir, daß das Phänomen
weiter geht. Beide Stämme bestehen aus mehreren
Decken, einer autochthonen Decke (ohne Grün-
steine) I, einer alpinen Decke II, und einer apen-
ninischen Decke III. Während die alpine Decke von
einer Flyschserie mesozoischen Alters gebildet wird,
besteht die apenninische Decke aus Silur auf altem
Grundgebirge, Mesozoikum und Eozän. Beide
(II und III) enthalten auch grüne Gesteine. Die
Einheit der Bewegungsrichtung ist das wesent-
liche; in dem einen Stamm die N-Richtung, im
anderen die S-Richtung. Immer ist dabei das
Bestreben vorhanden, das Vorland zu überschreiten.
Die untertauchenden Vorländer senken sich in
die Tiefe; die tieferen Decken sind in plastischem
Zustand, auf ihnen schwimmen die höheren. Da-
mit stehen in Zusammenhang Metamorphismus,
Vulkanismus, Breccien- und Molassebildung. Auch
Kober sieht in diesem Phänomen die Wirkung
der Kontraktion der Erdrinde. ,,Die alpinen
Decken des Mittelmeeres verdanken ihre Ent-
stehung bis zu einem gewissen Grade dem stän-
digen Sinken der ozeanischen Tiefen" (3, 256).
Der Großfaltenmechanismus Abendanon's
hat gewisse Züge mit der Rahmen faltung
Stille's gemeinsam. Stille (7) geht aus von
dem Zusammenhang zwischen Geosynklinalen und
Gebirgen. In seinen epochemachenden Unter-
suchungen im Niederdeutschen Becken (zusammen-
Die alten Widerlager.
t=l Der nordbewegtt Stamm der Upiden
I I Die IwLsAengebirge.
Ber siidbewegte Stamm der Dinariden..
Maßstab I : 50000000.
htuDgen der alpinen Deckengebirge im Mittelmeergebiet
(nach L. Kober).
gefaßt in 6) hatte er nachgewiesen, daß mitein-
ander abwechseln Wannenbildung und Ge-
birgsbildung; und zwar sind es Bewegungen
durch lange Perioden und episodische Unter-
brechungen. Das, was bestimmten Gesetzen folgend,
sich in langen Zeiträumen umbildet, nennt Stille
die tektonische Evolution des Bodens im Gegen-
satz zu den episodischen Unterbrechungen, den
tektonischen Erdrevolutionen. Die epiro-
genetischen Vorgänge bedeuten eine Evolution
des Bodens, es sind ,, säkulare" Erscheinungen, die
mehr oder weniger gleichmäßig durch lange
Perioden der Erdgeschichte fortgehen. Sie äußern
sich im Sinken der Sedimentationsräume (Geo-
synklinalen) und im Aufsteigen der Festland-
schwellen. Schon die Mächtigkeit der Sedimente
in bestimmten Gebieten erfordert diese Bewegun-
gen. Die orogenetischen Vorgänge bedeuten
kurze Unterbrechungen, episodische Ereignisse,
mit ihnen entstehen Faltungen, Überschiebungen
und Brüche. Die Faltung ist eine Aufwärts-
bewegung des Bodens ; kaum ist sie geschehen,
66o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 42
so setzt in den aUen Geosynkhnal-Bezirken die
Evolution, die Abwärtsbewegung, wieder ein; das
Einsinken des Bodens, das in der Entstehung der
Geosynklinalen die Gebirge vorbereitet hatte, gräbt
ihnen auch wieder das Grab. Die Gebirgsbildung
wiederholt sich; vor der kimmerischen (jung-
jurassischen) Faltung liegen die Gesteine der älteren
Formationen im Niederdeutschen Becken tief ver-
borgen unter jüngeren Gebilden, nach ihr sehen
wir sie im Kerne der ,, Sättel" am Aufbau der
Landflächen teilnehmen , über die nach Wieder-
einsetzen erneuter Senkung die postkimmerische
Transgression geht; also haben sie mit der Fal-
tung den Weg aus großer Tiefe bis zum Niveau
des Meeresspiegels und über diesen hinaus zurück-
gelegt. Die orogenetischen Phasen der Gebirgs-
bildung schaffen die Festländer und leiten die
Denudation ein. Alles dies bezieht sich auf eine
Höhenmarke, die selbst nicht unveränderlich ist,
den Meeresspiegel. Infolge der Kontraktion der
Erde streben die Gesteinsmassen in die Tiefe,
Kompessionen müssen eintreten. Die starren
Rahmen sinken ohne Kompression; die Gesteine
der Geosynklinale werden zusammengeschoben
und erheben sich in Falten über die Rahmen.
Die saxonische Faltung ist ungewöhnlich durch
die starke Zerstückelung der Falten durch Brüche,
besonders streichende Brüche. Eine „bruchlose"
Faltung setzt eine erhebliche Plastizität voraus,
während bei sprödem Gestein ein Zerspringen
leicht eintritt. Aber Bruchbildung und P'altung
schließen sich, was auch Machatschek betont,
nicht aus.
Die tertiäre Faltung in Asien ist ein groß-
artiges Beispiel randlicher Faltung. Machat-
schek betont scharf den Gegensatz zwischen den
jüngeren Bewegungen und den für das heutige
Oberflächenbild bereits wesenlos gewordenen alten
Linien. Im Tianschan unterscheidet H. Keidel
scharf zwischen den intra- und postkarbonischen
Faltungen, denen eine spätmesozoische Rumpf-
fläche folgte, den gebirgsbildenden Bewegungen
der Tertiärzeit und den posttertiären Dislokationen
der quartären Ablagerungen. Bei der tertiären
Gebirgsbildung gehen Bruchschollenbildung und
Faltung, die wesentlich sekundärer Natur ist , in-
einander über.
Genauer untersucht sind diese Verhältnisse in
Süd-China und Nord Sumatra von W. Volz (11).
Auch hier steht der Grundbau im Gegensatz
zur jüngeren Tektonik. In drei Stufen bricht
das asiatische Festland gegen den Stillen Ozean
ab; dasselbe Bild haben wir im Sunda-.Archipel.
In Süd-China streicht das Tsinling -System in
W-0-Richtung aus dem Inneren. Im äußersten
W haben wir die N-S streichenden hinterindischen
Falten; dazwischen die sinische Streichrichtung
(SW z W — NO z O). Die Schichten, aus
denen diese Gebirgssysteme bestehen (Urgebirge
bis tertiäre Beckenscliichten) , sind alle in dem-
selben Sinne gefaltet; aber diese Faltungen der
verschiedenen Schichtglieder sind verschieden
stark. Wir haben zahlreiche gleichartige Faltungs-
episoden. Das Ganze ist ein großartiges Beispiel
repetierender Faltung, wie es auch die
„saxonische" Faltung Niederdeutschlands ist. —
In Sumatra tritt neben dem hinterindischen N-S-
Streichen auch das malaiische NW-SO-Streichen
auf Es scheint hier unter Anscharung ein Um-
biegen in das andere Streichen zu erfolgen. Die
Malaiische Formation, aus der sich hier das alte
Gebirge zusammensetzt, besitzt entsprechend der
Sinischen ein sehr hohes Alter, sie reicht aber wie
jene nach neueren Untersuchungen bis ins Mesozoi-
kum hinauf und besitzt eine enorme Mächtigkeit.
Die Tertiärbildungen, die mit Basalkonglomeraten
beginnen, sind augenscheinlich in begrenzten
Becken abgelagert worden, es sind Ausfüllungen
auf sinkendem Boden. Alle diese Schichten sind
stark gefaltet, immer in gleichem Sinne, doch
nicht gleich stark. Die Faltungen sind begleitet
vom Auftreten vulkanischer Bildungen. Die Fal-
tung ist die eine große Evolution, die
durch verschiedene Revolutionen episodisch
unterbrochen wird.
Nun kommt die jüngere Tektonik, die
das Bild in einschneidender Weise umgestaltet.
In Süd-China treten langgestreckte Brüche auf,
von meridionaler hinterindischer Richtung und
von äquatorialer Kwenlun-Richtung. Ein gewal-
tiger Bruch, etwa unter 104" ö. L., die Ostab-
senkung der tibetischen Bodenschwelle, trennt
das eigentliche China von Tibet. Parallel mit
ihm schneidet ein Bruch in 110" ö. L. den Tsin-
ling shan in O ab. Östlich des Tsinling shan erstreckt
sich der Tapa shan, er gewinnt bereits die Rich-
tung WNW-OSO, obgleich die innere Anordnung
nordöstlich ist. Den Tapa shan faßt von Rieht-
hofen als Diagonalhorst auf, als schief zum
Streichen herausgeschnittenes Stück. Das Grund-
gebirge taucht hier zu erheblicherer Höhe heraus
als weiter im W; das deutet auf ein Heraustauchen
der Achsen, das durch eine Kippb ewegu n g zu-
stande kommt, indem der W sich senkte, wäh-
rend der O sich heraushob. — In Sumatra herr-
schen ähnliche Verhältnisse. 0-W-Sprünge ver-
werfen Nord-Sumatra. Auch das Gesetz des
Heraustauchens der Achsen ist bestätigt, indem
an der Westküste Nord-Sumatras Urgebirge zu-
tage tritt, während im O nur noch jüngere Schich-
ten der Malaiischen Formation auftreten. Die
Tertiärbildungen in Gajo Döröt und Gajo Luos
sind gefaltet, aber die Falten streichen ostwestlich,
parallel zu den begleitenden Gebirgszügen. Nörd-
lich des Tawarsees liegt das Tertiär fast horizontal,
es ist durch gewaltige Abbruche zerstückelt. Die
Faltung des Tertiär erweist sich so deutlich als
sekundärer Natur; sie geht, ähnlich wie es
Machatschek im Tianschan beobachtet hat, an
den Gebirgsrändern in Bruchbildung über.
Wie ist dies ganze Phänomen aufzufassen ? Zu
seiner Erklärung müssen wir vom Bauplan der
N. F. XIII. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
661
Malaiischen Scholle (10) ausgehen.') In einer
halbkuppelförmigen prätertiären „Uroberfläche"
hängt der malaiische Archipel mit Asien und
Australien zusammen. Diese Landbrücke bricht
ein längs SW — NO streichender Linien. Aber
auch der Pazifische Ozean versinkt; so entsteht
eine Zerrung, der gesamte ostasiatische Rand hat die
Tendenz, längs meridionaler Verwerfungen nachzu-
brechen. Infolge des Versinkens des Indischen
Ozeans zeigt auch hier der Festlandrand die Tendenz,
längs NW — SO streichender Spalten nachzubrechen ;
bei der erheblich geringeren Intensität dieser
Zerrung beherrscht sie nur die schmale Südwest-
zone. Kombiniert damit durchsetzt eine ostwest-
liche Bruchzone den Archipel und scheint sich
beiderseits weithin zu erstrecken. All diese Be-
wegungen werden von sekundärer Gebirgsbildung
begleitet. Die jungen Vulkane treten an den
stehengebliebenen Horstblöcken als dem Punkte
geringsten Widerstandes zutage. — Fügt sich
nicht auch dieses großartige Bild dem Großfalten-
mechanismus wundervoll ein? Der Malaiische
Archipel stellt sich als Großfalte riesiger Dimen-
sion dar.
Die großen tektonischen Grundzüge der Ge-
staltung der Erdoberfläche treten uns deutlich vor
Augen, wenn wir an die Beziehungen denken,
die zwischen der Verteilung der Faltengebirge,
des Vulkanismus und der Großbeben be-
stehen, wie sie Rudolph und Szirtes (5) auf-
geklärt haben. Der Große Ozean gliedert sich
nach ihren Untersuchungen vom seismischen
Standpunkt in zwei Teile; während der kleinere
südwestliche inselreiche Teil als seismisch be-
zeichnet werden muß, ist der weitaus größere
Teil die größte aseismische (erdbebenfreie) Region
der Erde. Die zweite große seismische Region
der Erde ist die mediterrane, sie durchquert vom
Bandabogen über den Himalaja die Zone der
Mittelmeere. Außer diesen größten Großbeben-
gebieten finden sich in Eurasien noch kleinere
Großbebendistrikte; der Graben des Roten Meeres
und das ostafrikanische Grabengebiet sind eben-
falls als seismische Linien bekannt. Zwischen dem
Großen und dem Atlantischen Ozean herrscht ein
deutlicher Gegensatz; während alle Zonen der
Umrandung des Pazifischen Ozeans durch Groß-
beben ausgezeichnet sind, sind von der Umrandung
des Atlantischen keine Großbebengebiete bekannt.
Zwischen den Großbeben und der Tekto-
nik besteht ein wichtiger Zusammenhang. Die
orogenetischen Bruchlinien, die auf die ein-
zelnen Gebirgslinien der zirkumpazifischen und
mediterranen Zone beschränkt sind, sind nicht
alle seismisch tätig; diejenigen, die es sind, be-
zeichnen Rudolph und Szirtes als seismo-
orogenetische. Dagegen sind die epiro-
genetischen Bruchlinien, die Bruchlinien der
F'estlandstafeln, die die Umrißform der Kontinente
bestimmen, vollkommen aseismisch.
') s. a. das Referat Naturwiss. Wochenschrift N. F. 13.
1914, S. 121.
Auch zwischen Großbeben- und Vulkan-
gebieten besteht ein gewisser Zusammenhang.
Im Gebiet des Großen Ozeans decken sich
beide Regionen, nicht so ausgesprochen ist die
Übereinstimmung in der mediterranen Zone. Es
soll damit nicht gesagt werden, daß alle
aus dem seismisch- vulkanischen Gebieten stam-
menden Großbeben vulkanischen Ursprungs
sind. Im einzelnen aber herrscht zwischen der
Lage von Vulkangebieten und Epizentren von
Großbeben eine auffallende Übereinstimmung.
Beide bevorzugen die Randgebiete von Senkungs-
feldern sowie die disjunktiven Bruchlinien. Das
gemeinsame Moment dabei ist nicht die Tektonik,
sondern, daß die Magmazone sich an diesen
Stellen in höheres Niveau erstreckt als an anderen.
Wir haben ja nach Becke*) zwei Magma-
provinzen zu unterscheiden, die sich durch ihre
petrographische Ausbildung unterscheiden; eine
Atlant ische Provinz von Gesteinen, die reicher
an Alkalien, ärmer an Kalk, Eisen und Magnesia
bei gleichem Kieselsäutegehalt sind als die Ge-
steine der Pazifischen Provinz; tephritische
atlantische und andesitische pazifische Gesteine.
Die Verbreitung der Pazifischen Magmen fällt bis
in die kleinsten Einzelheiten mit derjenigen der
Epizentren der Großbeben zusammen. Vom Ter-
tiär ab sind sie auf die beiden großen Geosyn-
klinalen, die zirkumpazifische und die mediterrane,
beschränkt. Das Atlantische Magma ist über
weite Flächen ohne Unterbrechung ausgedehnt,
auf die alten Festlandstafeln sowie die drei Ozeane.
Gegenüber der universalen Ausbreitung des Atlan-
tischen Magmas hat das Pazifische nur eine zonale
Ausdehnung. Ersteres ist das jüngere, letzteres
das ältere Magma. Das ältere Pazifische Magma
nimmt eine etwas höhere Lage in der Erdrinde
ein als jenes. Die engen Beziehungen zwischen
der Verbreitung der Faltengebirge, des Vulkanis-
mus und der Großbeben sind genetisch; sie
gehen zurück auf die höhere Lage und intensivere
Wirkungsweise des Pazifischen Magmas. Dem
entspricht, daß die epirogenetischen Bruchlinien
keine Epizentren besitzen, nur an großen Brüchen
kann das Atlantische Magma empordringen.
In bezug auf die Herdtiefe findet eine Dreitei-
lung der Beben statt; während die Beben der Erd-
oberfläche, die orogenetischen Beben, nur
bis etwa 10 km Herdtiefe besitzen, gehen die
Beben der zweiten Region bis zur „Plastischen
Grenzschicht" hinab, bis zu einer Tiefe von 100
bis 200 km; es sind die Tensionsbeben, die
auf Dehnungsspannungen zurückzuführen sind und
zur Entstehung von Hohlräumen und Spalten Ver-
anlassung geben. Die Beben in noch größerer
Tiefe der Magmaschicht, im „Gesteinsmantel",
werden durch Veränderungen in der Struktur des
Magmas hervorgerufen. Es sind entweder Struk-
') F r. B e c k e , Die Eruptivgesteine des böhmischen Mittel-
gebirges und der amerikanischen Anden. — Atlantische und
pazifische Sippe der Eruptivgesteine. (Tschermak's Min. und
Fettogr. Mitt. N. F. 22, 1903, S. 209—265).
662
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 42
tu r beben, die auf der Intrusion magmatischen
Materials und Volumenausdehnung beruhen, oder
Kompensationsbeben, die mit Bewegungen
der einzelnen Schollen der Erdrinde zusammen-
hängen.
Den Ausgangspunkt aller dieser Betrachtungen
bildet die K o n t r ak t ions t h eor ie. Ist sie von
absoluter Gültigkeit? Wir haben gesehen, wie
sich auf ihr alle die Phänomene der Erdoberfläche
aufbauen, die Großfalten, die Decken der Alpen,
die Zerrungserscheinungen und die der sekundären
Faltung, wie mit diesen Erscheinungen die Groß-
beben und die vulkanischen Erscheinungen zu einem
einheitlichen Bilde verknüpft sind. Können wir die
Bedingungen der Konzentrationstheorie im Experi-
ment verwirklichen ? Ein Ansatz zu solchen Ver-
suchen sind die „Schrumpfungsversuche"
Toula's (8), die das tatsächliche Verhalten schrump-
fender Körper demonstrieren. Durch Aufblasen von
Kautschukballons auf größeren Durchmesser unter
verschiedenen Bedingungen, Anstrich der Ballons
mit Zaponlack und Aufkleben verschiedener Sub-
stanzen erhielt er die mannigfaltigsten Erschei-
nungen, die auf vorzüglichen Tafeln veranschau-
licht werden. Überzüge von Zaponlack und Gela-
tine führten zu den besten Resultaten; es zeigten
sich grobe Falten, sowie Überschiebungen und
Andeutung von Überfaltungen. Auch sekundäre
Staufalten konnten auf diese Weise erzeugt wer-
den. Wieder andere Erscheinungen, die aus
Wachs und heißem Leim hervorgebracht wurden,
erinnern in ihrer feinen Fältelung an die eigen-
artigen Gebilde des Mondes. Diese Versuche
sind sicher ein aussichtsreicher Weg, der noch
manchen Aufschluß über die tektonischen Vor-
gänge der Erdoberfläche geben wird.
Literatur.
1. E. C. Abendanon, Die Großfallen der Erdrinde.
(Leiden 1914.)
2. K. A n d r e e , Über die Bedingungen der Gebirgsbildung.
(Berlin 1914.)
3. L. K o b e r , Die Bewegungsrichtung der alpinen Decken-
gebirge des Mittelmeers. (Pet. Mitt. 1914, H. 5.)
4. F. Machatschek, Neuere Arbeiten zur Morphologie
von Zentralasien. (Geogr. Zeitschr. 1914, H. c,.)
5. E. Rudolph und S. Szirtes, Zur Erklärung der
geographischen Verteilung von Groläbeben. (Pet. Mitt. 1914,
H. 3 u. 4.)
6. H. Stille, Die ,,Saxonische Faltung". (Zeitschr. d.
deutsch. Gcol. Ges. Bd. 65, 1913, Monatsbericht 11.)
7. — — , Tektonische Flvolutionen und Revolutionen in
der Erdrinde. Antrittsvorlesung. (Leipzig 1913.)
8. F. Toula, Schrumpfungsversuche. (Pet. Mitt. 191 4,
H. 7.)
9. W. Volz, Nord- Sumatra. Bd. II: Die Gajoländer.
(Berlin 1912.)
10. — ■ — , Der Malaiische Archipel, sein Bau und sein
Zusammenhang mit Asien. (Sitz.-Ber. physik.-mediz. Sozietät
in Erlangen, Bd. 44 (1912). — S.-A.)
11. — — , Süd-China und Nord-Sumatra. (Mitt. d. Fer-
dinand V. Richthofentages 1913. — Berlin 1914.)
12. A. Wegen er. Die Entstehung der Kontinente. (Pet.
Mitt. 1912, H. 4 — 6.)
Neues zur Psychologie uud Ethologie der Mäuncheiipaare der Auatideu,
insbesoudere toh Schwiiueii uud Gäuseu.
[N.ichdruck verboten.]
Zu den biologisch , insbesondere ethologisch
und psychologisch, interessantesten Schwimmvögeln
gehören mit in erster Linie die Schwäne. Ich
hatte eine Reihe von Jahren hindurch eine seltene
Gelegenheit, diese Anatidengruppe genauer zu be-
obachten und will in dieser Zeitschrift meine dies-
bezüglichen Beobachtungen, die jeden Zoologen
interessieren dürften, veröffentlichen.
Die eigentümlichsten Beobachtungen machte
ich an C/iciiopsis atrata, dem Schwarzen oder
Trauer-Schwan, der im südlichen Australien sowie
auf Tasmanien beheimatet ist. Im Herbste 191 1
kaufte man für den Schloßgartenkanal zu Hild-
burghausen 2 junge, ungefähr 5 Monate alte Tiere,
die als ein Paar geliefert und für ein solches auch
gehalten wurden. Da im Dezember das Gewässer
zufror, so kamen die Tiere in eine Winterherberge,
wo sie sich bis zum Februar zu sehr schönen und
kräftigen Vögeln entwickelten. Denn sie waren
nicht amputiert worden: ein Umstand, der der
Entwicklung aller Schwäne, und vor allem ihrer
späteren Fruchtbarkeit, außerordentlich von Vorteil
ist. Da die beiden Tiere auch sonst nicht durch
Zurückschneiden der Schwungfedern am Fliegen
gehindert wurden, so unternahmen sie im Früh-
jahr und Sommer 191 2 bald weitere Luftreisen,
Von Dr. Wilh. R. Eckardt in Essen.
die sie bald 20 bis 30 km im Umkreis bekannt
machten. Die Vögel blieben jedoch nie länger
als 24 Stunden von ihrem Wohngewässer fern:
ein Zeichen, daß sie es lieb gewonnen hatten,
denn es nährte die Vögel von Natur aus vor-
trefl'lich, während von einer regelmäßigen Füt-
terung seitens ihrer Pfleger aus diesem Grunde
nicht die Rede war. Diese Tatsache steht jeden-
falls in einem gewissen Gegensatz zu der Bemer-
kung in Dr. O. Heinroth's klassischer Anatiden-
biologie,') wo es folgendermaßen heißt:
,, Auffallend ist mir, daß Schwarze Schwäne im
Gegensatz zu den Höckerschwänen nach Entenart
sehr dazu neigen, in der Abenddämmerung zu
fliegen, und namentlich junge Vögel werden, wenn
es schon recht dunkel geworden ist, oft sehr flug-
lustig. Leider ist es auf kleineren Gewässern an-
scheinend unmöglich, flugfähige Schwarze Schwäne
zu halten: sie entfernen sich auf ihren Luftreisen
gleich sehr weit und kehren dann nicht mehr in
ihre Heimat zurück. Dies ist vielleicht auf die
durch die australischen Dürrezeiten verursachte
') Beiträge zur Biologie , namentlich Ethologie und Psy-
chologie der Anatiden. Bericht über den V. Internat. Ornitho-
logenkongreß. Berlin 1910.
N. F. Xra. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
663
UnStetigkeit der meisten gefiederten Bewoliner
dieses Erdteils zurückzuführen."
Ich zweifle keinen Augenblick an der Richtigkeit
dieser Kombinationen Heinroths, glaube jedoch,
daß diese in besagter Form nur von frisch im-
portierten Tieren, bzw. von Nachkommen solcher
Tiere gelten, bei denen der Zuginstinkt, oder besser
gesagt: die unstete Wanderlust noch zu frisch im
Blute steckt, was eben bei dem heute schon in
langen Generationen auf unseren Weihern gezüch-
teten Schwarzschwan vielfach nicht mehr der
Fall ist. ^) Schrieb mir doch auch kürzlich der
in jeder Beziehung rühmlichst bekannte und jedem
Interessenten nur zu empfehlende Tierhändler,
Herr August Fockelmann in Hamburg, daß
auch bei ihm die flugfähigen Schwarzen Schwäne
sich auf offenem Teiche befanden, ohne Versuche
zum Wegfliegen zu machen. Es kommt im vor-
liegenden Falle aber nicht nur hinzu, daß die von
mir beschriebenen Tiere nicht nur jung und un-
gepaart, sondern, um es gleich hier vorwegzu-
nehmen, überhaupt kein wirkliches Paar, sondern
zwei Männchen waren , wie sich später heraus-
stellte. Im Winter 19 12/ 191 3 starb eines der
beiden Tiere. Da es ein Männchen war, und das
andere Tier nicht auf sein Geschlecht hin unter-
sucht wurde, schaffte man dann im Frühjahr 191 3
einen Ersatz mit einem ebenfalls flugfähigen drei-
jährigen Männchen. Die beiden Tiere gewöhnten
sich auffallenderweise von der ersten Stunde ihres
Zusammenseins an sehr gut aneinander und unter-
nahmen ebenfalls, genau wie der überlebende
Schwan mit seinem verstorbenen Bruder im Vor-
jahre, weitere Luftreisen , um ebenso jedesmal
wieder nach ihrem Wohnort zurückzukehren, auf
dem sie weder geboren, noch in Gemeinschaft
ihrer Eltern groß geworden waren.
Diese Tatsachen sprechen jedenfalls ohne wei-
teres dafür, daß man auch Schwarze Schwäne sehr
wohl auf Gewässern flugfähig halten kann, vor-
ausgesetzt, daß diese groß sind und gut nähren,
oder daß die Tiere im anderen Falle wenigstens
gut und regelmäßig gefüttert werden. Ohne
Zweifel aber wird man es wagen können, wenn
nur einer der Gatten eines Paares flugfähig ist.
Das größte Kuriosum erlebte ich an den beiden
Schwarzen Schwänen aber im August 191 3. Am Ufer
des betreffenden Gewässers stand ein sogenanntes
Schwanenhaus,") welches hinsichtlich seiner Größe
und seiner Eingangsöffnung etwa einer großen
Hundehütte entsprach, und in dem sich Nistmaterial
in Gestalt von Heu und Stroh befand. Etwa von
Mitte August ab wurde das Häuschen von den
beiden Schwarzen Schwänen bezogen und das
darin befindliche Material zu einer Nestunterlage
') Vgl. auch die Abhandlung des Verfassers : Einbürge-
rungsversuche als Möglichkeiten zur Erforschung des Vogel-
zuges. Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. 13, Nr. lo, 1914.
') Dal3 die beiden Schwarzschwäne ein Häuschen am
Ufer bezogen, wo ihnen doch Gebüsch zur Verfügung stand,
ist deshalb schon bemerkenswert, weil doch Schwäne keine
Höhlenbrüter sind.
angeordnet. Bereits nach wenigen Tagen begannen
beide Tiere mit dem Brüten, indem sie sich alle
3—4 Stunden etwa ablösten. Auch das erschien
mir zunächst nicht weiter wunderbar, da ja die
beiden Gatten eines Schwarzschwanpaares stets ge-
meinsam brüten, wenn auch das Weibchen in der
Regel nur in den Mittagsstunden vom Männchen
einige Zeit abgelöst zu werden pflegt. Erst durch
den fast 14 Tage hindurch viel öfter stattfindenden
Wechsel in der Bebrütung wurde ich stutzig und
sah, als die Brutlust bei beiden Tieren allmählich
etwas nachließ, in einem unbewachten Moment
einmal nach dem Gelege. Wie groß aber war
mein Erstaunen, als ich dieses besichtigte. Denn
der Größe der Eier nach zu urteilen, konnten
diese unmöglich Schwaneneier sein; sie stellten
sich vielmehr bei genauerer Untersuchung — wenn
auch erst viel später — als die Eier einer wildfarbigen
Türkenente heraus, die im Laufe des Sommers
das Schwanenhaus als willkommenen Legeplatz be-
nutzt hatte, da es ja vorher leerstand. Diese Eier —
es waren 8 Stück an Zahl — erregten also nebst dem
Nistmaterial, in dem sie lagen, bei den beiden auf-
geregten, brutlustigen Sehwanenmännchen den
Brüteinstiukt. Die türkische Ente selbst aber,
welche die Eier gelegt hatte und jedenfalls
auch noch legen wollte, als die beiden Schwäne
von dem Häuschen Besitz ergriffen hatten, wurde
von diesen beiden Tieren wie eine zu bekämpfende
Nestgefahr behandelt und stets vertrieben, wenn
sie sich in die Nähe der Schwäne wagte, während
die letzteren jeder anderen Ente nichts zu leid
taten. Die Vögel haben also, wie schon Heinroth
bemerkt, sehr wohl ein Vermögen , nicht nur
Artunterschiede, sondern gewissermaßen auch
„Personen"-Unterschiede unter den Tieren zu
machen.
Wenn die beiden Schwarzschwäne auch Anfang
September das Häuschen und die Eier verließen, so
legte sich ihre Brutlust doch nicht ganz. Denn bald
darauf begannen sie mit der Anlage eines neuen
Nestes in eben solch einer Hütte, die 300 Meter
von der ersteren entfernt stand. Doch legte sich
die Baulust nach ca. 14 Tagen, und im Dezember
kamen die Schwäne ins Winterquartier, aus denen
sie erst Anfang März infolge strengen Frostes
befreit werden konnten. Obwohl erst der obere
Teil des Gewässers, wo sich der Einfluß befand,
eisfrei war, marschierten dennoch die beiden Tiere,
bei denen sich der Fortpflanzungstrieb bereits
mächtig zu regen begann, über die Eisdecke eine
500 Meter lange Strecke zu Fuß, um das Brut-
häuschen wieder zu erreichen, in dem sie im
August 14 Tage lang die Moschusenteneier be-
brütet hatten. Hier begannen sie bald wiederum
mit der Anlage eines Nestes, an dem sie wochenlang
bauten. Den Türkenenten gegenüber benahmen
sich die Schwäne genau so, wie im vergangenen
August, obwohl die Enten das leere Schwanennest
diesmal nicht mit Eiern bedacht hatten.
Im höchsten Grade merkwürdig war das Ver-
halten der beiden Schwäne, das bis fast auf alle
664
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 42
Momente dem eines wirklichen Paares entsprach.
Beide Tiere waren fast gleich groß und gleich
stark, nur war das eine Männchen schneidiger
und angriffslustiger. Es war der eigentliche füh-
rende Teil des Paares, dem das andere Männchen
folgte. Menschen und Hunde waren vor den
beiden wütenden Tieren nicht sicher und wurden
mit vereinten Kräften fast ausnahmslos in die
Flucht geschlagen, wenn sie sich in der näheren
Umgebung des Nestes blicken ließen. Oft wurden
sie über 100 Meter zu Lande verfolgt.
Am auffallendsten aber war auch bei diesem
gleichgeschlechtlichem Paare, daß das weniger
schneidige, aber eher noch ein wenig schönere
Männchen ein fast vollkommen weibliches Ver-
halten annahm und nur in einem Punkte hiervon
abwich. Genau wie bei einem richtigen Paare
schwamm nämlich das schneidigere Männchen —
aber auch nur dieses — , wenn sich beide Tiere
einmal etwas entfernt hatten, mit gehobenen
Flügeln, also in der für Oicnopsis atrala eigen-
tümlichen Imponierstelhing, auf das „Weibchen" los,
worauf letzteres mit knapp angelegtem Gefieder, je-
doch ohne ängstlich zu schreien, vor dem
nachrudernden Männchen flüchtete, bis das „Männ-
chen" mit entsprechender Kopibewegung seinen
Unterhaltungslaut ausstieß. Dann kehrte sich auch
das „Weibchen" beruhigt um und stimmte, gegen
das Männchen gewendet, in diese Töne ein. Es
ist nach diesen Beobachtungen wohl sicher an-
zunehmen, daß eine derartige scheinbare Angriffs-
oder Drohstellung — in Wirklichkeit natürlich
nichts anderes als eine Art Zärtlichkeitsäußerung —
eine allen schwarzen Schwänenpaaren zukommende
Eigentümlichkeit ist. ')
Während demnach, ganz abgesehen von dem
vortrefflichen und zärtlich innigen Zusammenhalten,
das Mäiinchenpaar genau einem wirklichen Paare
in seinen Gewohnheiten entsprach, wich es doch
nach meinen bisherigen Beobachtungen an Oioiopsis
afrata in einem wichtigen Punkte von einem rich-
tigen Paare ab, nämlich in dem der Begattung.
Bei diesem Akte geschah zwar die durch Kopf-
und Halseintauchen vor sich gehende Paarungs-
einleitung genau so wie bei Männchen und Weib-
chen, aber zum Tretakt kam es doch nicht so
geschwind, weil jedes Männchen durch gegenseitiges
Überlegen des Halses über den Körper des anderen,
indem sich beide Vögel gegenseitig mit Kopf
und Bürzel berührten, das andere zu treten suchte,
bis endlich fast ausnahmslos das schneidigere
Männchen das andere regelrecht trat, wonach,
anscheinend hoch befriedigt, beide Teile in ein
Triumphgeschrei ausbrachen. Diese Begattungen
geschahen im Frühjahr 19 14 mindestens 6 Wochen
täglich sehr oft.
Obwohl ich selbst Anfang April 1914 infolge
dieses Verhaltens beide Tiere als Männchen an-
sprach und eines der Tiere auch anatomisch
zweifellos als männliches Tier feststellte, ließ man
dennoch die beiden Tiere nochmals von einem
Tierarzt untersuchen, der dieselben als Weibchen
ansprach. Hierauf hin ließ man denn auch in
der Tat noch ein drittes Männchen kommen,
welches zunächst mit dem weniger schneidigen
Männchen zusammenkam und sich nach wenigen
Tagen mit diesem vollkommen verstand, so daß,
als man nach 8 Tagen das schneidigere Männchen
wieder zu dem angenommenen „Paare" setzte,
ersteres von den beiden neu zusammengewöhnten
Tieren eiligst aus dem Wasser vertrieben wurde.
Nunmehr wurden zwei Männchen abgeschafft
und dem größten und stattlichsten Männchen ein
Weibchen beigegeben, welches vom ersteren sofort
freudig aufgenommen wurde, während das kleinere
Männchen, welches man noch eine Stunde mit
dem neuen Paare zusammenließ, eifersüchtig sich
entfernte und schreiend sich in gemessenem Ab-
stände von diesem Paare hielt.
Jedenfalls zeigen diese Tatsachen, daß Um-
paarungen beim Trauerschwan sehr leicht sich
bewerkstelligen lassen. Das sollte ein wichtiger
Fingerzeig für manche Züchter sein, die unter
allen Umständen, um unfruchtbarere oder schwäch-
liche Inzucht zu vermeiden, ihre Geschwisterpaare
zu blutsfremden machen sollten. Man scheue
diese Mühe ja nicht; denn sie wird sich reichlich
lohnen!
Auffallend ist jedenfalls die große Verträglich-
keit der Schwarzen Schwäne untereinander, eben
selbst bei Männchenpaaren, was man von Cygnits
olor durchaus nicht immer behaupten kann. Denn
während bei dem von mir beobachteten Schwarzen
Männchenpaare der Tretakt trotz der längeren,
weil unter Schwierigkeiten vor sich gehenden
Einleitung sonst in aller Ruhe und vollem Ein-
verständnis der beiden Tiere vor sich ging, war
das Verhalten bei einigen Männchenpaaren von
Cygmis olor z. T. vollkommen verschieden. Wäh-
rend ein von Jugend auf aneinander gewöhntes Männ-
chen- und Bruderpaar 3 volle Jahre bis zu seiner
Trennung ebenfalls vollkommen harmonierte und,
wenn auch sehr selten, den Tretakt unter großen
Schwierigkeiten, aber ebenfalls im vollen gegen-
seitigen Einvernehmen, vollzog, war es bei dem
anderen ö/c^/'-Männchenpaar, das ich zu beobachten
Gelegenheit hatte, anders. Hier konnte ich zwei-
mal feststellen, daß das stärkere Männchen des
sonst gut zusammenhaltenden gleichgeschlecht-
lichen Paares das schwächere nach längerem
Kampfe mit brutaler Gewalt in eine Teichecke
hineindrängte, um es dann regelrecht zu treten ^).
Im allgemeinen ist der Schwarze Schwan in
größerer Gesellschaft verträglicher als der Höcker-
schwan. Ich glaube, das liegt daran, daß er als
ein Vogel der Subtropen vielmehr in Kolonien
zu brüten gewohnt ist, als seine nordischen Vettern.
In den Anlagen Düsseldorfs konnte ich übrigens
') Vgl. hierüber die oben erwähnte Anatidenbiologie von ') Vgl. Mitteilungen über die Vogelwelt, herg. von Dr.
O. Heinroth. K. Flöricke. 14. Jg. 1914 Heft 7. S. 168.
N. F. XIII. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
665
im Frühjahr 1914 eine in der Brutgeschichte der
Schwäne wohl einzig dastehende Beobachtung
machen. Hier führte ein Männchen zwei Weib-
chen und 6 Junge. Aber es war das Männchen
nicht etwa der Gemahl beider Weibchen und
Vater sämtlicher Jungen. Vielmehr verhielt sich
die Sache nach einer mir vom Gartenamt der
Stadt Düsseldorf freundlichst gemachten Mitteilung
ganz anders: Es handelte sich vielmehr um ein
Schwanenpaar, dem sich ein weiteres Weibchen
zugesellt hatte, nachdem der Nestbau seitens des
betreft'enden Paares vollendet und die Eier bereits
gelegt waren. Das Männchen des einzelnen Weib-
chens war inzwischen durch einen Hund getötet
worden. Es war nun auffällig, zu beobachten,
wie das Schwanenpaar es zuließ, daß seine Eier
von einem zweiten Weibchen mit bebrütet wur-
den. Nach dem Ausschlüpfen der Jungen teilten
sich beide Weibchen friedlich in die Ausübung
der Mutterpflichten, und die Jungen wurden lange
Zeit ohne jegliche Streitigkeiten von den drei
Schwänen gemeinsam geführt. Es wurde zweifel-
los festgestellt, daß das Zusammenleben des
Schwanenpaares rein monogam war, und daß die
hinzugekommene Witwe nur das Geschäft des
Ausbrütens mit übernommen hat. Letzteres ist
aber sicherlich um so bemerkenswerter, da doch
beim Schwarzschwan auch das Männchen sich
zeitweise am Brutgeschäft beteiligt.
Im allgemeinen ist der schwarze Schwan brut-
lustiger als CvgiiHS olor, und ich habe schon mehr-
rach beobachten können, daß einer normal aus-
gekommenen Frühjahrsbrut noch eine erfolgreiche
Herbstbrut folgte. Überhaupt schreiten Schwäne,
einerlei um welche Art es sich handelt, wie alle
anderen Vögel, noch einmal zur Brut, wenn
man ihnen das erste Gelege, sowie es voll-
stäntig ist, wegnimmt. Auch eine derartige Maß-
nahme ist für einen rationellen Züchter nicht nur,
sondern auch im allgemeinen Interesse im höch-
sten Maße beachtenswert. Denn die zweiten
Brüten der Vögel enthalten in der Regel in der
Mehrzahl die weiblichen Exemplare, während bei
der ersten Brut die Männchen fast durchweg an Zahl
vorherrschen. Bei den Schwänen sind aber die
weiblichen Geschlechter in der Minderzahl vor-
handen und darum begehrter. Freilich darf man
zur Erzeugung von zwei Gelegen nur ältere kräf-
tige Weibchen benutzen, da eine doppelte Eiablage
und eine folgende Brutperiode, auch wenn das
erste Gelege durch Truthühner oder andere Schwäne
ausgebrütet wurde, den Organismus des weiblichen
Tieres erfahrungsgemäß so schwächen kann, daß
der Tod des brütenden Weibchens die Folge ist.
Ganz ähnlich, wie gleichgeschlechtliche
Schwanenpaare, verhalten sich auch in psycho-
logischer und ethologischer Hinsicht Gansert-
paare. Ein Bekannter hatte von der domestizierten
Form Cygiiopsis cyg/ioidcs zwei Jahre lang eben-
falls ein Männchenpaar in dem festen Glauben,
ein wirkliches Paar zu besitzen: so verschieden
waren die beiden Tiere. Auch dieser „Paar" lebte
außerordentlich einträchtig miteinander, verteidigte
sich gemeinsam bei Gefahren und vollführte in
der Fortpflanzungszeit, indem es sich abwechselnd
gegenseitig begattete, den Tretakt. Da auch
zwei weibliche Tiere unter gewissen Vertretern
der Anatidengruppe den Begattungsakt nicht selten
auszuüben pflegen, so ließ der Besitzer der Tiere
noch einen einjährigen Gansert zu seinen beiden
nunmehr vermeintlichen Gänsen kommen , und
siehe da: derselbe wurde mit Freuden begrüßt
und ohne weiteres als dritter im Bunde aufge-
nonmnen. Allein die Freundschaft dauerte nur
bis zum I'Vühjahr, wo der P'ortpflanzungstrieb
erwachte. Da entstanden große Beißereien.
Man sagt den Gänsen nach, daß es außer-
ordentlich schwer halte, ein neues Tier einem
längere Zeit bestehenden Familienverbande zuzu-
führen. Es gibt aber, den von mir hier gemachten
Beobachtungen nach zu schließen, doch auch Aus-
nahmen, die allerdings vielleicht darin ihre Er-
klärung finden können, daß es sich im vorliegen-
den Falle nicht um einen festgefügten Familien-
verband handelte, sondern um ein „Paar", das sich
nur deshalb liebte, weil kein Weibchen vorhanden
war. ^) Denn als die Beißerei unter den drei
Männchen zur Fortpflanzungszeit begonnen hatte,
dauerte es auch nicht lange, bis die beiden schön-
sten der drei Gänseriche sich wieder zu einem
Männchenpaare zusammengetan hatten.
So interessant, lehrreich und nützlich für die
Psychologie und Ethologie der Tiere solche Be-
obachtungen an Männchenpaaren der Schwäne
und Gänse auch sind, so wird es doch wenige
geben, die mit Absicht solche Beobachtungen an-
stellen. Denn so seltene und schöne Tiere, wie es
Chcnopsis atrata oder gar Gygmis melanocoryphus
sind, sollten, wo sich Gelegenheit dazu bietet, viel
mehr gezüchtet werden , als es in der Tat ge-
schieht, schon aus dem Grunde, um ein Ausster-
ben, das in den Heimatländern dieser beiden Tiere
doch über kurz oder lang einmal bevorsteht , zu
verhindern. Auch im vorliegenden Falle war es
der Zufall, der die hier mitgeteilten Beobachtungen
zustande kommen ließ. Fs mag dabei noch ein
wohl auch für manchen Naturwissenschaftler neuer
Hinweis zur unzweideutigen Feststellung des Ge-
schlechtes der im Männchen- und Wcibchenkleid
gleichgefärbten Anatiden gegeben werden :
Bei den Schwänen und Gänsen ist das Ge-
schlecht auf Grund äußerer Merkmale ohne weiteres
durchaus nicht immer sicher zu bestimmen. Die
bedeutendere Länge und größere Stärke des
Halses oder Kopfes, einerlei um welche Schwanen-
art es sich handelt, ist keineswegs immer ein
sicheres Zeichen für ein männliches Individuum.
Auch in der sonstigen Körpergröße gleichen
Weibchen den Männchen bisweilen vollkommen.
Etwas anderes ist es schon, wenn man sein Augen-
merk auf die Beckenknochen richtet. Diese stehen
') Vgl. hierüber: Dr. O. Heinroth, Die Br.iutcnte.
Neudamm 1910, S. 37.
666
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 42
bei den Weibchen naturgemäß weiter auseinander
als bei den Männchen. Endgültig siclier läßt sich
das Geschlecht der Schwäne usw. aber nur durch
folgende Manipulation bestimmen: Bekanntlich
besitzen außer den Trappen, Straußen und wenigen
anderen Vogelarten auch die Männchen der An-
gehörigen der Anatidcngruppc einen Begattungs-
apparat in Gestalt einer beim Tretakt aus der
Kloake hervortretenden Rute, die mehrere Centi-
meter lang ist und an der Oberseite eine den
Samen leitende Rinne besitzt. Diese Rute kann
durch einen Handgriff bei den Männchen künst-
lich zum Vorschein gebracht werden, indem man
zunächst das Tier auf den Rücken legt und den
Schwanz zurückschlägt. Alsdann läßt sich unter
Anfassen der Kloake mittels zweier Finger durch
stärkeres melkendes Drücken die Rute ohne be-
sondere Schwierigkeiten herausdrücken. Dieses
Verfahren, welches mir bei weißen Schwänen
schon längere Zeit bekannt war, gilt auch, wie
ich mich kürzlich selbst überzeugen konnte, für
die übrigen Anatiden, die ich daraufliin unter-
suchte, so z. B. für Schwarze und Schwarzhals-
schwäne. Eine derartige handgreifliche Unter-
suchung kann dem Besitzer eines nicht brütenden
Schwanen- oder Gänse-„Paares" allein volle Gewiß-
heit verschaffen und ihm jeden weiteren Ärger
ersparen.
Einzelberichte.
Astronomie. Das Problem der Umdrehungs-
zeit der Venus behandelt Danjon auf Grund
neuen Materiales. [Bull. d. 1. Soc. Astron. de France,
1914 Maiheft]. Er bearbeitet eine große Zahl von
Zeichnungen, die von ihm und einigen Mitarbeitern
in den letzten Monaten erhalten sind. Sie zeigen
gleichmäßig dieselben leicht angedeuteten Gebilde,
dieihre Stellung vonTag zuTag nicht merklichändern.
Ein Veigleich mit Zeichnungen von S ch i aparel li
aus den Jahren 1877 und 1895 zeigt die gleichen Ge-
bilde in der gleichen Stellung der Venus in der Bahn.
Man kann diese Tatsachen nur dadurch erklären, daß
man der Venus dieselbe Umdrehungszeit zuschreibt,
wie ihre Umlaufzeit beträgt. Dies wird auch
durch die spektroskopischen Messungen von Sl i p h er
bestätigt, während die sehr ungenauen und in sich wi-
derspruchsvollen Messungen von Belopolski kein
genügendes Vertrauen verdienen, aus denen dieser
eine Umdrehung von 1,44 unserer Tage gefolgert
hatte. Riem.
Zu der Frage der Umdrehungszeit des Mars
(siehe diese Zeitschrift, 1914, S. 333) bringt
Lowell einen neuen Beitrag [Lowe 11 Obs.
Bull. 60], auf eigenen Beobachtungen fußend. Er
stellt zunächst fest, daß in der Tat die Angaben
der Vorausberechnung hinter der Beobachtung
um 11,73 Minuten zurückbleiben, eine Zahl, deren
Unsicherheit nur 7 Sekunden beträgt. Man legt
zu diesen Beobachtungen durch die Marsscheibe
den Zentralmeridian, der also die Scheibe genau
in 2 gleiche Teile teilt, und beobachtet den Durch-
gang gut bekannter Flecke durch diesen Meridian.
Das läßt sich mit einer Genauigkeit von 7 Sek.
machen, die auf dem Mars einer Größe von 2 Kilo-
metern entsprechen. Indem nun Lowell solche
Beobachtungen aus dem Jahre 1894 mit den von
1914 verbindet, also einen Zeitraum von 20 Jahren
überbrückt, erhält er einenUnterschied, der 6846 Mars-
tage enthält, so daß der kleine Fehler der Beobach-
tungen durch diese große Zahl dividiert wird. Es
ergibt sich die Umdrehungszeit des j\Iars zu 24 St.
37 Min. 22,5805 Sek., während Wislicenus ge-
funden hatte 22,585 und 22,568 Sek., jenachdem
er gewisse Beobachtungsreihen von Beer und
Mädler, Schiaparelli und Arago bewertet
hatte. Es ist also eine Veränderung der Um-
drehung des Mars nicht eingetreten, was anzu-
nehmen war, sondern der Nullpunkt der Zählung
auf dem Mars um ist einige Grad in Länge zu ver-
bessern. Riem.
Die Feststellung der Landrehung eines Spiral-
nebels ist soeben auf Lowells Sternwarte
gelungen. Wie S 1 i p h e r mitteilt [Lowell Obs.
Bull. 62] erschienen die Linien eines Nebels
in der Jungfrau deutlich geneigt, genau wie bei
einem sich drehenden Planeten. Dieser Nebel
hatte schon vor einem Jahre eine auffallend
große Geschwindigkeit in der Gesichtslinie ge-
zeigt, und nun als erster die noch nie gefundene
Drehung. Diese Entdeckung ist kosmogonisch
von der größten Wichtigkeit, da man die ange-
nommene Umdrehung der Spiralnebel als Voraus-
setzung der Nebularhypothesen dringend braucht,
ohne sie bisher beweisen zu können. Der Nebel
hier gehört zu den spindelförmigen Nebeln, also
Spiralen, die uns mehr oder weniger von der
Kante aus erscheinen. Das mächtige Instrument
Sliphers hat bisher nur bei sehr wenigen Ne-
beln Andeutungen solcher geneigten Lage der
Linien gegeben, darunter auch bei dem großen
Nebel in der Andromeda. Riem.
Geologie. Verwitterungsvorgänge am Bern-
stein. In einer neuen Schrift des durch seine
Bernsteinuntersuchungen wohlbekannten Ver-
fassers^) werden zunächst die ersten Verände-
rungen besprochen, denen der an die Luft ge-
brachte Bernstein ausgesetzt ist und Verhaltungs-
maßregeln für die Sammlungen daraufhin gegeben.
Es werden übrigens auch andere Bernsteinarten
als der heimische Succinit besprochen , z. B. der
') Dahms, F., Mineralogische Untersuchungen über Bern-
slein. XI. Schrift. Naturf. ües. Danzig. N. F. XIII, H. 3/4,
p. 175—243, 1914.
N. F. XIII. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
eej
Rumänit, der sizilianische Bernstein usw. Verf.
geht dann zu Einzelerscheinungen der Bernstein-
verwitterung über, die bei den Bernsteintechnikern
z. T. auch unter besonderen Namen bekannt sind,
wie ,, Flinten", Netzfurchungen, Krustenbildungen,
Rißbildungen. Diese Erscheinungen werden auch
zu erklären gesucht; die Rißbildungen entstehen
z. B. durch Zusammentrockiien der Harzmasse,
wodurch Spannungen erzeugt werden, deren Aus-
lösung durch die Risse erfolgt. Das Mikroskop
wurde bei der Feinheit mancher Strukturände-
rungen vom Verf mehrfach zu Hilfe genommen.
Interessant ist das Verhalten des spezifischen Ge-
wichts beim Bernstein während einer 12jährigen
Beobachtungszeit. Man bemerkt nämlich zunächst
ein Sinken, dann (oft schon nach i Jahr) ein
Steigen desselben z. T. über den ursprünglichen
Betrag hinaus durch die dann einsetzenden Oxy-
dationsvorgänge. Verf. beschäftigt sich dann weiter
mit chemischen Veränderungen im Bernstein, mit
der Rolle des Schwefels darin, der Bernsteinsäure
usw. Die benutzte Literatur geht bis auf Plinius
zurück, und in mancher Beziehung dürfte daher
auch der historisch Interessierte in manchen Ab-
schnitten Beachtenswertes finden. Ein 87 Num-
mern umfassendes Literaturverzeichnis schließt die
bemerkenswerte Arbeit, auf deren viele Details
wir hier nicht eingehen können. W. Gothan.
Untersuchungen über Gletscherstruktur und
Gletscherbewegung veröffentlicht H. Philipp in
Band V Heft 3, 1914 der Geologischen Rundschau.
Trotz zahlreicher mühsamer Arbeiten von
geologischer, geographischer und physikalischer
Seite ist die Frage der Gletscherbewegung und
die damit aufs engste verbundene Frage der
Gletscherstruktur (der sogenannten Blaublätter-
struktur oder Bänderung des Gletschers) noch
nicht genügend geklärt. Eine Reihe neuer dies-
bezüglicher Beobachtungen konnte H. Philipp
in den letzten Jahren an Spitzbergischen wie an
alpinen Gletschern anstellen.
Gletscherstruktur kommt durch Wechsellage-
rung von Lamellen eines luftarmen und daher
dunklen meist blau gefärbten Eises in das nor-
malerweise luftreiche und daher weißliche Gletscher-
eis zustande. Je nach der Höhenlage oder der
Entfernung von den Rändern oder dem Boden
des Gletschers kann das Aussehen der Struktur
von scharf geschnittenen, wenig mächtigen paral-
lelen Blättern bis zu einem weniger scharfen fase-
rigen Eise schwanken. Da wir die Bänderung
sowohl bei den kleinsten Kargletschern wie auch
bei den gewaltigen Gletschern arktischer Gebiete
antreffen, so gilt sie als spezifisches Merkmal aller
in Eigenbewegung befindlichen Eismassen.
Viel umstritten ist nun die Art und Entstehung
der Lagerung der Bänder innerhalb eines Gletschers.
Auf der Oberfläche des Gletscherfußes irgendeines
alpinen Gletschers verlaufen die Strukturen vom
Rande schräg abwärts in konvexem Bogen gegen
die Mitte und von dort entsprechend wieder
gegen die andere Seite. Hess nennt dies löfifel-
förmige Lagerung, während C rammer normaler-
weise eine fächerförmige Anordnung der Blätter
annimmt, die nur bei stationären Gletschern in
die löffelförmige übergehe. An den breiten Spitz-
bergischcn Ta'glctschern beobachtet man indessen
ein fast senkrechtes Einfallen am Rande, das in
den basalen Teilen allmählich in einen dem Un-
tergrund parallelen Verlauf übergeht (trogförmige
Lagerung). Wir hätten scheinbar eine verschie-
dene Lagerung, während sich bei näherer Unter-
suchung zeigt, daß jeweils die Struktur dem Boden
angepaßt ist.
Über die Entstehung der Bänderung sind die
Meinungen geteilt. Ein Teil der Forscher (Agassiz)
nimmt eine nur mehr oder weniger veränderte
ursprüngliche Firnschichtung an, während andere
(Tyndall, Heim) die Struktur als eine erst nach-
träglich erworbene Eigenschaft der Gletscher be-
trachten. Tyndall erblickt in der Bänderung
eine Druckerscheinung nach Art der Schieferung
der Gesteine. Gegen beide Erklärungsweisen
sprechen verschiedene Tatsachen. Gletscher,
deren innerer Zusammenhang durch Zerreißen
an einer Terrainstufe völlig zerstört ist, zeigen
die Bänderstruktur am Gletscherfuße trotz Rege-
neration aus ungeformten Eislawinen. Gelegent-
lich findet man eine Durchkreuzung zweier oder
mehrerer Struktursysteme. Danach muß also die
Bänderung ganz unabhängig von primärer Schich-
tung entstehen können. Andererseits kann die
Anordnung der Bänderung z. B. in arktischen
Talgletschern nicht mit der Schieferung von Ge-
steinen in Parallele gestellt werden; auch ist es
nicht ersichtlich, wieso etwa ein Heraustreiben
der Luft aus dem normalerweise luftreichen Eise
in regelmäßigen Abständen erfolgen soll.
Philipp konnte nun in Spitzbergen folgende
interessante Tatsachen feststellen. Auf der Ober-
fläche der Gletscher treten dem Verlauf folgend,
scharfe Längsrisse auf, die etwa in der Breite
eines Blaublattes, also meist nur wenige mm bis
ca. 2 cm klaffen, tief in den Gletscher hineingehen
und sich auf seiner Oberfläche mehrere 100 m
weit verfolgen lassen, bis dicht daneben ein an-
derer Riß einsetzt und den Verlauf des ersteren
fortsetzt. Im Querschnitt haben die Risse den
gleichen trogförmigen Verlauf wie die Blätter.
Der Abstand der einzelnen Risse beträgt etwa
1/2 — 2 m. Da es sich bei dieser Struktur nicht
um klaffende Schichtfugen handeln kann, so müs-
sen wir annehmen, daß diese Risse bei der Be-
wegung des Gletschers durch Differentialbewe-
gung entstehen und die Struktur des Gletschers
nichts anderes ist als solche wieder verkitteten
Risse, die besonders deutlich in den basalen und
randlichen Partien der Gletscher zu erkennen sind.
Die Bedeutung der Risse im Mechanismus der
Gletscherbewegungen geht daraus hervor, daß
sehr häufig ein Überragen der hangenden über
die liegende Eispartie (oft nur wenige cm, gele-
gentlich bis zu 10 oder 20 cm) mit scharfen dem
668
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 42
Riß entsprechenden Rändern erfolgt. Da außer-
dem Verschiebungen kleiner Ouerspalten an diesen
Längsrissen auftreten , so nimmt Philipp an,
daß es sich bei diesen Rissen tatsächlich um Er-
scheinungen der Dift'erentialbewegung, also um
Abscherungsflächen handelt, an denen Teile des
Gletschers gegeneinander verschoben werden.
Diese Abscherungsflächen reißen entsprecliend
den Punkten größter Reibung, also parallel dem
Untergrund auf und zwar in Abständen von ^j^ — 2 m.
Bei dem Abscherungsvorgang tritt zum Teil eine
Zermalmung des Gletschereises mit partieller
Verflüssigung infolge der Reibung ein. Wenn
die Spalten klaffen, kann von oben her feiner
Detritus eingeschwemmt werden, der bei der
Abschmelzung als feine der Struktur folgende
Schmutzbänderung auf der Gletscheroberfläche
zutage tritt. Nach dem Zugefrieren einer
Spalte reißt eine andere in der Nachbarschaft
auf. Risse und Bänder treten am zahlreich
sten dort auf, wo wir die größte Dift'erential-
bewegung erwarten müssen, also an den Seiten
und der Basis der Gletscher. Bei Änderung des
Querschnittes des Tales oder beim Vereinigen
mehrerer Gletscher tritt ein Durchkreuzen der
älteren und jüngeren Systeme unter mehr oder
weniger großen Winkeln ein. Nach dem Zu-
sammenfluß zweier oder mehrerer Gletscher be-
hält jeder eine Strecke weit seine Eigenbewegung
und Eigenstruktur bei, worauf neue den verschie-
denen Zuflüssen gemeinsame Abscherungsflächen
aufreißen.
An der steilen Längswand in der Mitte des
untersten Teiles des Unteraargletschers konnte
Philipp im Verein mit Hafferl mit Hilfe von
50 in mehreren \"ertikalreihen stehenden Stäben,
deren herausragende Köpfe jeweils mit dem Theo-
doliten eingemessen waren, eine sprungweise Be-
wegung der Gletschermassen feststellen.
V. Hohenstein, Halle a. S.
Anthropologie. Über anthropologische Be-
obachtungen an den Pygmäen am Sanga in Neu-
Kamerun berichtete Ph. Kuhn in einer Sitzung
der Berliner anthropologischen Gesellschaft (Zeit-
schrift für Ethnologie, 1914, S. 116 ff.). Kuhn
fielen mancherlei Ähnlichkeiten auf zwischen den
Buschleuten Südwestafrikas, die er früher kennen
gelernt hatte, und dem Zwergvolk am Sanga.
Lebhaft an die Buschleutewerften erinnert wurde
der Reisende am Sanga durch den eigenartigen
Geruch der Pygmäenniederlassungen ; doch kann
er nicht entscheiden, ob der Geruch von den
Menschen selbst oder von Riechstoffen ausging.
In ihrem Aufbau unterscheiden sich die Lager
der Sangapygmäen kaum von denen der Busch-
leute: Die Hütten gruppieren sich innerhalb einer
von Buschwerk gereinigten Lichtung im Urwald,
etwa im Kreise um einen Mittelraum. Die meisten
sind, wie die Windschirme der Buschleute, aus
Zweigen aufgeführt, auf die Blattwerk gelegt ist.
Das verwendete Material ist natürlich verschieden.
In den Dörfern bei Bomassa sah Kuhn außerdem
eine andere Form der Hütten, bei der ein niedri-
ger Vorbau sich an den Hauptraum anschließt,
so daß der Grundriß ungefähr die P'orm einer
bauchigen P'lasche mit breitem Halse hat. In
zwei Dörfern traf der Reisende je eine größere
Hütte nach Art des länglichen Hauses der Wald-
bantu.
In ihrer Größe gleichen die Sangapygmäen
den Buschleuten ziemlich genau. Kuhn erhielt
die Maße von 31 Männern und 37 Frauen. Die
Größe schwankt bei den Männern zwischen 140
und 172,5 cm, im Mittel beträgt sie 154 cm. Die
P'rauen waren 134 bis 164 cm groß; ihre Durch-
schnittsgröße betrug 146,9 cm. Von den Männern
hatte ein Drittel und von den Frauen hatten mehr
als drei Viertel eine Größe von 150 cm und dar-
unter.
Die Sangapygmäen sind zwar dunkler als die
Buschleute ; es besteht aber doch eine große Ähn-
lichkeit der Hautfarbe. Nach dem Waschen ent-
sprach die Hautfarbe zwischen den Schulterblättern
bei mehr als der Hälfte der erwachsenen Personen
beider Geschlechter Nr. 25 der Lu sc han 'sehen
Farbentafel. Bei den Buschleuten herrscht, nach
F. Seiner's Beobachtungen, Nr. 23 vor. Die
Sangapygmäen sind jedoch viel kräftiger als die
Buschleute, was im Körpergewicht zum Ausdruck
kommt. F. Seiner ermittelte als Durchschnitts-
gewicht der Buschmänner 40,4 kg und der Busch-
weiber 36,7 kg, Kuhn fand in Bomassa bei den
Männern ein Durchschnittsgewicht von 48,4 kg
und bei den Weibern ein solches von 44,9 kg.
Die gesunden Leute unter den Sangapygmäen sind
gut genährt. Die Spannweite ist bei allen Pyg-
mäen, mit Ausnahme von zwei Frauen, größer
als die Körperlänge; das Durchschnittsverhältnis
der Spannweite zur Körperlänge beträgt
Bei den Männer Frauen
Sangapygmäen (KuhnJ 106,1 104,3
Buschleuten (H. Werner 1)) 102 loi
Das Durchschnittsverhältnis der Sitzhöhe zur
Körperlänge ist:
Bei den Männer Frauen
Sangapygmäen (Kuhn) 50,2 50,0
Buschleuten (Werner) 49,5 50,5
Der Rumpf der Pygmäen ist lang, die Beine
sind kurz und die Arme sind sehr lang.
Die durchschnittlichen Längen- und Breiten-
maße des Kopfes sind nachstehend angegeben:
Pygmäen Buschleute
(Kuhn) (Werner)
Größte Länge, Männer 18,0 cm 17,9 cm
17,8
14.3 .- 13,6 „
13.8 .. 13.1 "
79.4 .. 76,3 „
78.0 " 73.5 .,
Prognathie ist bei den Sangapygmäen in dem-
Frauen
Größte Breite, Männer
„ „ Frauen
Kopfindex, Männer
') Werner, Beobachtungen über die Heikum- und
Kungbuschleutc. Zeitschr. f. Ethnol., 1906, Heft 3.
N. F. Xin. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
669
selben Maße vorhanden wie bei den Buschleutcn.
Bei den Sangapygmäen ist die Stirn meist ziem-
lich steil, und nur in einigen h'ällen stark fliehend.
Bei manchen Personen springt die obere knöcherne
Umrandung der Augenhöhle stark vor. Die
Schläfenlinie ist stets stark ausgeprägt. Eine auf-
fallende Besonderheit der Pygmäen bilden die
starken Nasen , deren Breite manchmal die Höhe
übertrifft. Die Nasenform macht die Gesichter
abstoßend häßlich. Die Ohren sind eher groß
als klein und nicht übermäßig abstehend. Die
Umfangslinie ist gerundet, das Läppchen ist meist
vorhanden und angewachsen. Der Mund ist breit,
die Lippen sind verhältnismäßig schmal, die Ober-
lippe ist konvex; Behaarung ist bei Männern in
vielen Fällen vorhanden. Die Augenspalte ist
mittelgroß und wird nicht so zugekniffen wie bei
den Buschleuten. Gegen Sonne sind die Sanga-
pygmäen sehr empfindlich, weshalb sie stets dem
Schatten zustreben.
Die manchmal geäußerte Annahme , daß die
Lebensdauer der Pygmäen sehr kurz sei, kann
Kuhn hinsichtlich der Sangapygmäen nicht
bestätigen, denn er traf unter ihnen Greise und
Greisinnen an. Bei älteren Frauen fand sich
mehrfach die häßliche Faltenbildung im Antlitz,
die von Buschgreisinnen bekannt ist. Der kräftige
muskulöse Körper der Pygmäen weckt zunächst
die Vorstellung, daß diese Rasse von den dünn-
gliedrigen Buschleuten verschieden ist. Aber man
muß sich vergegenwärtigen, daß die Buschleute
in der wasserarmen Steppe leben und das Wild
meist durch Hetzen erjagen; dann scheint es nicht
verwunderlich, daß sie schwächere Muskeln und
geringeren P'ettansatz haben als die Pygmäen.
Die Hauptbeschäftigung der Sangapygmäen
ist die Jagd, namentlich die Elefantenjagd. Als
Waffe dient der Speer, Bogen und Pfeil werden
nicht geführt.
Für Kuhn gibt es keinen Zweifel darüber, daß
Pygmäen und Buschleute nahe Ver-
wandte sind.
H.
Fehlinger.
Kleinere Mitteilungen.
über angebliche Hebungen und Senkungen
an Pommerns Küsten nach der Litorinazeit ist in
den letzten Jahren mancherlei Vermutung ver-
öffentlicht worden. So versuchte W. De ecke')
das Vinetariff am Nordrand von Usedom als ver-
sunkenes megalithisches Gräberfeld zu erklären,
und Lepsius'-) wollte ein Absinken der Küste
in jüngster historischer Zeit u. a. mit der Sage
von der Wendenstadt Vineta belegen. G. B r a u n ^)
Fig. I. Geröllstrand wälle an der Nordwurzel der
Schmalen Heide, nach G. Braun.
Ergänzung durch Aufnahme des Verfassers im Mai igi2,
mit Bohrungen von Th. Otto.
') Vineta, 10. Jahresber. Geograph. Ges. Greifswald 1907,
S. 43 (f. — Geologie von Pommern (Berlin) 1907, S. 228.
2) Geologie von Deutschland, II, (Leipzig) 19 10, S. 51S.
') Entwicklungsgeschichtliche Studien an europäischen
Flachlandküsten usw., Veröff. Inst. Meereskunde. Berlin 15.
1911, S. 1 19 ff.
erwähnte Feuerstein-Strandwälle der Schaabe und
Schinalen Heide auf Rügen in unmittelbarem An-
schluß an andere Strandwallebenen, welche durch
junge Hebung aus dem Bereich des Ufers gekom-
men sein sollen. — Bei der Schmalen Heide
(Fig. i) setzen deutlich gebogene Strandwälle bis
rund 3 m über Mittelwasser am östlichen Vor-
sprung des Inselkerns der Truper Tannen an.
Auf der Schaabe erkennt man in einem Ab-
rasionsbogen nördlich Breege-Bad (Fig. 2) eine
etwa ebenso hoch liegende Terrasse mit groben
marinen Gerollen; hier und beim Bad erreichen
die Geröllstrandwälle rund 3,5 m über NN. Strand-
wälle finden sich ferner im südlichen Teil ,, Wer-
der" der Rügener Landzunge „Der Bug" ; Feuer-
steingerölle liegen dort bis etwa 2,5 m über NN.
— H. Spethmann') wollte eine bis 2 m hohe
Uferterrasse am Strelasund zwischen Stahlbrode
und Stralsund, namentlich bei der Prosnitzer
Schanze, durch „geringe Hebung des Landes" er-
klären; am Einschneiden eines jungen Kliffs in ein
reifes Kreidekliff zwischen Saßnitz und Stubben-
kammer glaubte er Änderungen der Erosionsbasis
durch eine geringe Senkung zu erkennen. K. Keil-
hack-) fand hochliegende Brandungsgerölle auf
der Oberfläche von jungen Stranddünen des Mis-
droyer Hakens in der Swinepforte; die Unter-
brechungen in der Dünenbildung dieses Gebiets
erschienen ihm am ehesten durch schwache Sen-
kungen und Hebungen erklärbar. O.Ja ekel*)
') Küstenverlagerung und Meeresströmung zwischen Rügen
und Alsen, Zeitschr. Ges. Erdkunde Berlin 1912, Nr. 7. —
Naturw. Wochenschr. 1913, S. 5S6.
-) Die Verlandung der Swinepforte, Jahrb. Preuß. Geol.
L.-A. für 1911, Bd. 32. II. 2., 1912, S. 209 ff.
'} Über gegenwärtige tektonische Bewegungen in der
Insel Hiddensee, Monatsber. deutsch, geol. Ges. 1912, S. 278fT. ;
— S. 409.
670
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 42
wollte auf Hiddensee bei Rügen Bruchsysteme
erkennen, die noch in den letzten Jahren erheb-
liche Vertikalbewegungen zeigen sollten ; als Zeugen
für Hebung dort führte er auch bis 2 m hoch
liegende abgerollte Gesteinsblöcke am Alt-Bessin
auf, und ein durch
Diluvial
In^elkeri
i nm lüo JO0<.00 Soorr
seine Lage geschütz-
tes, bewachsenes
Kliff (,, Schweden-
ufer") an der rezen-
ten Strandlinie auf
der Südseite des
Dornbuschs, östlich
Kloster (Fig. 3).
Gegenüber sol-
chen Anschauungen
mahnte Verf seit
1909 ') zur Vorsicht:
Das Vinetariff könne
der Abrasionsrest
einer Geschiebe-
mergel-Steilküste
sein , wie sie zahl-
reich vor den Pom-
merschen Ufern lie-
gen; bei der Ent-
stehung der Anlan-
dungen in derSwine-
pforte sei die Mit-
wirkungjunger Sen-
kungen, nicht aber
Hebungen wahr-
scheinlich. Auch
Deecke^) faßte
1909 die Vinetabank
als einen „vollstän-
dig denudierten Ge-
schiebemergelkern"
auf, der nur noch
als Steinriff erhalten
war. Auf der Ver-
sammlung der deut-
schen geologischen
Gesellschaft 191 2
erörterte M. Frie-
derichsen, ^j daß
sich die Feuerstein-
strandwälle der
Schmalen Heide wie
der Schaabe durch
Hochwasserstände
bei stürmischem
auflandigem Wind
Fig. 3. Kliff am Schwedenufer oder durch Sturm-
östlich Kloster auf Hiddensee. fluten vollkommen
erklären ließen, und
daß auch die hohen Uferterrassen am Strelasund
innerhalb der Grenzen dieser höheren und höchsten
Wasserstände lägen. Es sei ferner unnötig, aus
dem Einschneiden eines „jungen" Khffs in ein
„reifes" Kreidekliff zwischen Saßnitz und Stubben-
kammer auf eine geringe Senkung für diese Küsten-
Fig. 2. Geröllstrandwälle
an der Nordwurzel der
Schaabe. Situation nach dem
1885 aufgenommenen, 1909 revi-
dierten Meßtischblatt. Strandwälle
vom Verf. aufgenommen Juni ig 12.
Die jüngsten GeröUe bis etwa
2'/2 I" ü. M., ältere auf einer etwa
3 m hohen Strandwallebene, z. T.
zwischen jungen Dünen, bis 3,5 m
ü. M. Zwischen Dünen wurden
von Th. Otto stellenweise ver-
wehte Riegen erbohrt. In Auf-
schlüssen einzelne GeröUe im
Dünensand.
Khff
Virter Bodden
Schilf
nw
strecke zu schließen, weil an solchen exponierte-
sten Küstenpartien mit einer allmählichen Ver-
tiefung der Schorre im Gebiet der immerhin
weichen Kreide und damit gleichzeitiger Wieder-
belebung der Brandung ohne Senkung gerechnet
werden darf Eine Exkursion im August 1912
führte die allgemeine Versammlung der deut-
schen geologischen Gesellschaft nach Hiddensee.
O. Jaekel suchte dort seine Annahme gegen-
wärtiger tektonischer Bewegungen im Dornbusch
zu erklären; die Diskussion, an der sich u. a.
Wahnschaffe, Keilhack, Tornquist,
Rauff, Bärtling und Menzel beteiligten, er-
gab aber nach Praesent,^) daß die Uferabbrüche
am Geschiebemergelkern von Hiddensee ohne
Zuhilfenahme tektonischer Kräfte erklärt werden
können. Im gleichen Sinne äußerte sich Cl.
L e i d h o 1 d. '') Er hält das Flachland der Insel
Hiddensee für einfaches Anschwemmungsland;
Hebung sei weder bei den Inselanhängen noch
beim Diluvialkern des Dornbuschs erwiesen, die
Brüche könnten auf einfache „Translokationen"
zurückgeführt werden. Für das Gebiet des Darss
und Zingst kam nach eingehenden Aufnahmen
T h. Otto ") zu der Überzeugung, daß die Bohr-
profile irgendwelche Schlüsse auf Niveauschwan-
kungen nicht zulassen; die Höhenlage der Riegen-
sohlen, die etwa der heutigen Meereshöhe ent-
spricht, sowie der Fund von Strandgeröllen in
Strandwalldünen beweist, daß das Land schon im
ersten Stadium der postlitorinen Entwicklungs-
geschichte des Darss und Zingst in der heutigen
Höhe lag.
Ausschlaggebende Beweise gegen die Notwen-
digkeit der Annahme junger Hebungen an
Pommerns Küsten auf den bisherigen morpho-
logischen Grundlagen hat aber jetzt die Fest-
stellung der Wirkungen geliefert, welche die dop-
pelte Ostseesturmflut der Jahreswende 191 3/14
auf diese Küsten hervorbrachte. Nach den vor-
läufigen Mitteilungen von M. Fri ed erichsen ')
ist z.B. bei diesem Ereignis ein 1,5 m hoher und
15 m breiter Feuersteinstrandwall bis 3,15 m über
Mittelwasser auf der Kurpromenade von Saßnitz
') W.Kranz, Hebung oder Senkung des Meeresspiegels?
Neues Jahrb. f. Mineralogie usw. Beil. Bd. 28, 1909, S. 574ff.
— Monatsber. deutsch, geol. Ges. 191 1, S. 64. — Die Um-
gebung von Swinemünde (Fritzsche, Swinemünde) 1912. —
Die heutigen Landschaftsformen in der Umgebung von Swine-
münde, Aus der Natur 1913, S. 5S3 ft'.
^) Große Geschiebe in Pommern, II. Jahresber. Geogr.
Ges. Greifswald 1909, S. 14.
') Pommerns Küsten, Monatsber. deutsch, geol. Ges. 1912,
S. 411 ff. — Vorpommerns Küsten und Seebäder, Greifswald
1912.
■*) Die allgem. Versammlung der deutsch, geol. Ges. in
Greifswald, 8. — 10. August 1912, Petermann's Mitt. 1912. II.
S. 20S.
*} Über angebliche gegenwärtige tektonische Bewegungen
in der Insel Hiddensee, Centralbl. f. Min. usw. 1913, S. I39ff.
") Der Darss und Zingst, 13. Jahresber. Geogr. Ges. Greifs-
wald 191 4, S. 235 ff.
•) Die Ostseesturmfluten der Jahreswende 1913/14 und
ihre Wirkung auf Pommerns Küsten, 14. Jahresber. Geogr.
Ges. Greifswald 1914, S. 235 fr.
N. F. Xm. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
671
abgelagert worden. An der Ansatzstelle der
Schmalen Heide an den Jasmunder Inselkern
(Fig. i) war „eine ganze Reihe von bis zu 8 m
breiten, etwa i m hohen Feuersteinstrandwällen
in einer Höhenlage zwischen 2 und 3 m über
M. W. der Ostsee durch die Sturmflut zur Ab-
lagerung gekommen. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, daß diese jüngsten Strandwälle die
rezenten Äquivalente der älteren Feuersteinstrand-
wälle im Inneren der Schmalen Heide sind".
Ebenso läßt sich nach den letzten Sturmflut-
aufnahmen die Terrassierung der Strelasundufer
völlig ausreichend durch hohen Wasserstand bei
Sturmfluten erklären. „Weitere hochgelegene
Geröllwälle wurden durch die jüngste Sturmflut
an den Küsten von Wollin geschafilen, nicht zu
reden von den zahlreichen bis 3 m und mehr
über M. W. liegenden flächenhaft ausgebreiteten
Sturmflutgeröllbestreuungen an zahlreichen anderen
Teilen der Pommerschen Küste. Diese Bestreu-
ungen gleichen nach Lage und Vorkommen durch-
aus den von Keil hack in der Swinepforte
nördlich Pritter beschriebenen , fossilen' Sturmflut-
geröllen." Fried erichsen gibt hiernach ferner
zu bedenken, ob nicht die jetzt „belegte starke
Abrasionswirkung von Sturmfluten ausreicht, um
ohne die von K. Keil hack angenommenen
schwachen Hebungen und Senkungen die Dünen-
bildungen der 2. und 3. Phase seiner ,Verlandung
der Swinepforte' zu erklären Nicht minder
wichtig sind Fragen nach der seit der Sturmflut
wieder eingetretenen Aufarbeitung der Sturmflut-
strandwälle infolge Vertiefung der Schorre und
dadurch ohne Senkung bedingter Wiederbelebung
der Abrasion mit ihrer F"olgeerscheinung der
Klifi"bildung."
Das gesamte Material über die letzte Doppel-
sturmflut wurde vor Beginn des Krieges im geo-
graphischen Institut Greifswald eingehend bear-
beitet. Man darf den weiteren Ergebnissen mit
größtem Interesse entgegensehen und erneut an-
raten, bei Fragen nach Niveauänderungen in
jungen Strandlinien äußerste Vorsicht walten zu
lassen; die gegenwärtig so beliebten Schlagworte
„Hebung" und „Senkung" im Sinne absoluter
Höhenverschiebungen sind in der Regel schneller
ausgesprochen als einwandfrei bewiesen, nament-
lich bei morphologischer Grundlage.
Hauptmann W. Kranz.
Bücherbesprecliiingen.
Geyer, Franz Xaver, Durch Sand, Sumpf
und Wald. Missionsreisen in Zentralafrika.
Mit 395 Abbild, und 9 Kartenskizzen. Neue
Ausgabe. Freiburg i. B. 1914, Herder. — Preis
6 Mk.
Der Verf., welcher Titularbischof und aposto-
lischer Vikar ist, verbrachte über 20 Jahre im
Sudan und Zentralafrika; er hatte dabei Gelegen-
heit, Land und Leute gut kennen zu lernen, und er
versteht es, die Eindrücke, die er gewann, dem
Leser recht anschaulich mitzuteilen. In dem vor-
liegenden Buche werden die Fahrten und Wande-
rungen geschildert, die Bischof Geyer in den
Jahren 1903 — 191 1 in seiner amtlichen Eigenschaft
ausführte; er zog von Assuan nach Khartum und
von da bis an die Grenze des belgischen Kongo-
gebietes und bis zum Viktoria - See; außerdem
wird über einen Ausflug von Khartum nach Suakin
berichtet. Die Gebräuche und Einrichtungen der
Eingeborenen werden so ausführlich behandelt,
als es sich im Rahmen einer Reisebeschreibung
machen läßt. Von den Abbildungen, die leider
nicht durchweg gut ausgeführt sind, stellen viele
Völkertypen dar. Missionsangelegenheiten werden
in dem Buche selbstverständlich erwähnt, doch
werden sie keineswegs in den Vordergrund ge-
schoben. H. Fehlinger.
Scheiner, Prof Dr. I. , Der Bau des Welt-
alls. 4. Aufl. 132 S., 26 Abb. Leipzig 191 3,
Teubner.
Diese noch von dem bekannten Potsdamer
Gelehrten und Forscher kurz vor seinem Tode
besorgte Ausgabe unterscheidet sich von den
früheren Auflagen durch einige Verbesserungen,
die durch neuere Beobachtungsergebnisse erhalten
waren. In 6 Teilen behandelt der Verf. die Stel-
lung der Erde im Wellall, den gestirnten Himmel,
die Spektralanalyse der Sonne, die Welt der Fix-
sterne und Nebel und den äußeren Bau des Welt-
alls. Ein späterer Bearbeiter dürfte kaum etwas
zu ändern haben, wenn nicht die allzu große
Sicherheit, mit der die fast allgemein abgelehnte
sog. ,,Kan t-Laplace'sche" Kosmogonie zu-
grunde gelegt wird, und die modernen Anschau-
ungen über den Bau des Systems, worin noch
so wenig Einigkeit herrscht. Im Anhang werden
die Zahlenwerte der Planeten und Trabantenbahnen
gegeben, sowie Material über Parallaxen, Eigen-
bewegungen, Doppelsterne und Veränderliche, die
dem Liebhaber von Nutzen sind. Riem.
Zeeman, P. Magnetooptische Untersuch-
ungen mit besonderer Berücksichti-
gung der magnetische n Zerlegu ng der
Spektrallinien. Deutsch von Max Ikle. 242
Seiten mit 74 Abbildungen im Text und 8 Licht-
drucktafeln. Leipzig 1914, Joh. Amb. Barth.
— Preis geh. 8 Mk.
Den Eingang in das in den letzten Jahren zu
stetig wachsender Bedeutung gelangte Gebiet der
Magnetooptik eröffnete P'araday durch seine im
Jahre 1845 gemachte Entdeckung der Polarisations-
ebene des Lichtes, die zum ersten Mal die Möglichkeit
einer Beeinflussung der Vorgänge der Lichtfortpflan-
zung durch magnetische Kräfte nachwies. Farad ay
6/2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 42
war es auch, der durch die Untersuchung der
quantitativen Verhältnisse der magnetischen Dre-
hung einen ersten Einblick: in das Wesen der
Erscheinung vermittelte, der in der Folgezeit mit
verfeinerten Hilfsmitteln mehr und mehr vertieft
wurde.
Während der Faraday- Effekt die Wirkung
des Magnetfeldes auf das im Innern eines Körpers
sich fortpflanzende Licht bezeichnet, haben Un-
tersuchungen, die von Kerr im Jahre 1876 be-
gonnen wurden, ähnliche, wenn auch kompliziertere
Wirkungen des Magnetfeldes auf das an ferromag-
netischen Metallen reflektierte Licht erkennen
lassen.
Die bedeutungsvollste Entwicklung der Ma-
gnetooptik knüpft sich aber an die im Jahre 1896
von Zeeman am glühenden Natriumdampf ent-
deckten Phänomene der Einwirkung des Magnet-
feldes auf die Lichtemission und Lichtabsorption,
die nicht nur die Theorie der magnetooptischen
Erscheinungen in eine neue Bahn gelenkt haben,
sondern auch neue wertvolle Aufschlüsse über den
ganzen Mechanismus der Emission und Absorp-
tion des Lichts erbrachten. Dem Studium der
qualitativen und quantitativen Verhältnisse dieses
Ze eman -Effekts verdanken wir den ersten
überzeugenden Nachweis, daß es dieselben elek-
trischen Elementarquanten sind, die einerseits die
Vorgänge der Emission und Absorption des Lichtes
bestimmen und die andrerseits in den Kathoden-
strahlen frei beweglich unserer Untersuchung zu-
gänglich sind oder in metallischen Leitern, zwischen
den ponderablen Molekülen beschleunigt, den elek-
trischen Strom darstellen.
Der Verf hat diese durch seine Entdeckung
angebahnte und durch seine fortgesetzten Unter-
suchungen wesentlich bestimmte Entwicklung der
Magnetooptik in seinem im Jahre 191 3 in England
herausgegebenen Werk „Researches in Magneto-
optics" dargestellt. Es ist sehr zu begrüßen, daß
diese Darstellung jetzt durch die hier vorliegende
von Herrn Ikle besorgte vortreffliche Übersetzung
der englischen Ausgabe in die deutsche Literatur
übergeht und dadurch auch in Deutschland wei-
teren interessierten Kreisen einen Einblick in die
reiche F'orscherarbeit des Verfs. gewährt.
Die durch größte Klarheit und Leichtverständ-
lichkeit sich auszeichnende Darstellung beginnt
mit einer übersichtlichen Betrachtung der wichtig-
sten experimentellen Hilfsmittel des Untersuchungs-
gebiets und ihrer einzelnen Eigenschaften. Daran
schließt sich die nach historischen Gesichtspunk-
ten geordnete ausführliche Besprechung aller bis-
herigen Versuchsergebnisse und der wichtigsten
Versuche ihrer theoretischen Deutung. Besonderes
Interesse bietet die im 2. und 3. Kapitel gegebene
Schilderung der Endeckung der magnetischen Auf-
lösung von Emissions- und Absorptionslinien. Im
4. Kapitel findet sich die Betrachtung kompli-
zierterer Auflösungstypen und der Beziehung
zwischen der magnetischen Auflösung der Linien
und ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Spektral-
serien. Das 5. Kapitel behandelt die magnetische
Drehung der Polarisationsebene und die magne-
tische Doppelbrechung unter besonderer Hervor-
hebung der hierhergehörigen Untersuchungen von
Voigt, Cotton und Mouton. Die folgenden
Kapitel behandeln den Einfluß des Gitters und
des Spaltes auf die Intensität der Linienkompo-
nenten, den Grad der Vollkommenheit der Zirkular-
polarisation und die an den Komponenten beob-
achtbaren Dissymmetrien. Das 8. Kapitel ist den
wichtigen Untersuchungen Haies über die
Magnetfelder der Sonne gewidmet. Im letzten
Kapitel wendet sich Verf. schließlich den Fragen
nach der Konstitution der Atome zu und geht
hier namentlich auf die Gesetzmäßigkeiten in den
Spektren und auf die zur Gewinnung eines Atom-
modells unternommenen theoretischen Versuche
von Ritz, Voigt, Lorentz und J. J. Thom-
son ein.
Ein Verzeichnis der Arbeiten des Verfs. über
die Strahlung in Magnetfeldern und ein voll-
ständiges, chronologisches Verzeichnis der ge-
samten Literatur über die magnetische Auflösung
von Spektrallinien beschließen das Werk, dessen
besondere Empfehlung sich erübrigt.
A. Becker.
Literatur.
Reinhard, Anatol v., Beiträge zur Kenntnis der Eiszeit
im Kaukasus. Geographische Abhandlungen, herausgegeben
von Prof. Dr. A. Penck. N. F. Heft 2. Mit 1 Karte, 9 Abbild,
und 9 Profilen auf 5 Tafeln. Leipzig und Berlin, B. G. Teub-
ner '14. 6 Mk.
Berichtigung.
In dem Aufsatz ,,Goethe's naturwissenschaftliche Sammlungen
im Neubau des Goethehauses zu Weimar" von Professor Dr.
A. Hansen sind leider infolge des Verlustes der Korreklur-
sendung an den Autor folgende Fehler stehen geblieben,
die wir nachträglich zu verbessern bitten: Unter dem ersten
Bilde auf Seite 577 sollte stehen: Goethe's Herbarium. Die
übrigen Bilder stellen Blätter aus dem Gocthe'schen Herbarium
dar. Ferner ist zu lesen ; S. 57S, rechte Spalte, Zeile 10 v. o.
statt verspürt vergißt; S. 579, linke Spalte, 3. Absatz, Zeile 3
statt rechteckig reichhaltig, Zeile 4 statt birgt besitzt, Absatz 4,
Zeile I statt Anschaulich Ansehnlich, Zeile 10 statt Eiche
Esche. Die Redaktion.
Inhalt: Hornig: Die Großfaltung der Erdrinde. Eckardt: Neues zur Psychologie und Ethologie der Männchenpaare
der .-^natiden, insbesondere von Schwänen und Gänsen. — Einzelberichte: Danjon: Umdrehungszeit der Venus.
Low eil: Umdrehungszeit des Mars. Slipher: Umdrehung eines Spiralnebels. Dahms: Verwitterungsvorgänge am
Bernstein. Philipp: Untersuchungen über Gletscherstruktur und Gletscherbewegung. Kuhn: Pygmäen am Sanga. —
Kleinere Mitteilungen: Kranz: Über angebliche Hebungen und Senkungen an Pommerns Küsten nach der Litorina-
zeit. — Bücherbesprechungen: Geyer: Durch Sand, Sumpf und Wald. Scheiner: Der Bau des Weltalls. Zee-
mann: Magnetooptische Untersuchungen mit besonderer Berücksichtigung der magnetischen Zerlegung der Spektral-
linien. — Literatur: Liste. — Berichtigung.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Schriftleiter Professor Dr. H.Mi ehe in Leipzig, Marienstraße iia, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., .N'aumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzeil Reihe 2g. Band.
Sonntag, den 25. Oktober 1914.
Nummer 43.
Die afrikanische Wasserfrage.
[Nachdruck verboten.]
Cavour hatte 1853 im Parlament den großen
Satz ausgesprochen : „Es gibt keine gemeinnützigeren
Werke, die größere Früchte tragen, als diejenigen,
welche wasserbedürftige Landstriche bewässern."
Das Riesenwerk der Apulischen Wasserleitung
beweist, daß Cavour 's Landsleute diese Wahr-
worte beherzigt haben. In ihrem neuen Tripo-
litanien sollen sie allerdings erst zeigen, was sie
leisten können.
Das afrikanische Wasserproblem ist
eines der schwierigsten und umstrittensten.
Kein anderes Land erscheint so wasserbe-
dürftig als Afrika, namentlich in seinen nördhchen
und südlichen Teilen und deren Hinterländern.
Deshalb war es auch immer die erste und wich-
tigste Aufgabe aller Kolonisatoren, für Wasser zu
sorgen. Meister darin waren die alten Römer
und in neuerer Zeit die Engländer. Überall, wo
sich in Afrika römische Kulturüberreste finden
• — und sie finden sich fast überall — stoßen wir
auf Brunnen, Zisternen, Wasserleitungen, Stau-
wälle und andere Wasseranlagen. Die Engländer
debütierten in größerem Maßstabe zuerst in Abes-
sinien während des Krieges gegen den Negus Jo-
hannes.
Nunmehr haben auch die Franzosen in ihren
afrikanischen Besitzungen und Protektoraten sich
in die erste Reihe gestellt.
Im nördlichen Afrika mangeln, wenn man vom
Nil und vom Atlas absieht, große Flüsse und hohe
Gebirge, die beiden großen Faktoren für eine
rationelle Wasserspendung.
Die hier alljährlich fallende Regenmenge beläuft
sieht an der Küste auf 20 — 40 cm; im Innern
und im Hinterlande auf 0—20 cm.')
Dagegen ist Luftfeuchtigkeit in hohem Maße
vorhanden. Der Tau gleicht in manchen Gegen-
den einem kleinen feinen Staubregen (bis 5 Milli-
meter und mehr) und bildet oft kleine Wasser-
lachen.-) Ähnliche Beobachtungen machte Bous-
singault in Südamerika.
Von Ur. von Bilguer.
') Nach Fraunberger (Petermann's Geographische
Mitteilungen, Gotha 1907). Die gleiche Regenmenge beträgt
in Mailand 100, in Turin 83, in Rom 7Ö, in Tripolis 43 (nach
Ewald Banse, a. a. O. 190S, Heft 111, p. 55, nur 35,4) in
Benghasi 27 , in Ghadames 25 cm. In Afrika kehren 57 %
des gefallenen Regens zur Atmosphäre zurück; 26% laufen
auf der Erdoberfläche ab, gehen in Bäche und Flüsse; 17%
dringen in die Erde und bilden unterirdische Gewässer.
^j Gottlob Adolf Krause fand — wie er mir wäh-
rend unseres gemeinsamen Aufenthalts in Tripolis 1912 er-
zählte — auf seinen wiederholten afrikanischen Reisen des
morgens auf seinem Feldstuhl vollständige kleine Wasser-
lachen. Vgl. auch sein Werk „Beitrag zur Kenntnis des Kli-
mas von Salaga, Togo und der Goldküste". iS86 — 1895.
Halle 1910.
Die milde Seeluft vermag im Winter, so sagt
Banse, ungehindert ins Innere des Landes hin-
einzuziehen und einer — im Altertum weit mehr
ausgedehnten — subtropisch-üppigen Vegetation
das Leben zu geben.
Mit dem Eindringen der Mohammedaner war es
mit dem rationellen Ackerbau vorbei und die alten
Wasser- und Bewässerungsanlagen verfielen. Die
Fruchtbäume wurden zu F'euerungs- und Bau-
zwecken verbraucht. Mit den Wäldern und der
den Boden bedeckenden Kräuterschicht ging der
Quellen- und Wasserreichtum auf der Oberfläche
zurück : die wolkenbruchartigen Regengüsse flössen
schnell ab und zerklüfteten und rasierten den
Boden, bis die Wasserarmut der oberflächlichen
Bodenschicht das heutige Maß erreichte.
Das nördliche Afrika macht daher einen durch-
aus wasserarmen Eindruck. Als der be-
kannte orientalische Eisenbahnkönig Baron Moritz
Hirsch 1891 seine Jewish Colonisation Associa-
tion ') mit einem Kapital von mehreren Millionen
Pfund Sterling gründete, um einen Teil seiner Glau-
bensgenossen zu seßhaften Ackerbauern zu erzie-
hen, schickte er auch eine englische Gelehrtenkom-
mission nach Nordafrika. Namentlich Tripolitanien
wurde „untersucht", doch lautete das Gutachten
negativ wegen — Wassermangel 1 Man wählte
Argentinien. -)
Und dennoch sind diese afrikanischen Länder
die wasserreichsten, so paradox dies auch
klingen mag. Es handelt sich nur darum, das
vorhandene Wasser zu finden und nutzbar zu
machen.
Die verschiedenen Gewässer sind :
I. Seen. 2. Einsenkungen. 3. Quellen. 4. Wild-
bäche. 5. Wasserlöcher. 6. Unterirdische Wasser-
läufe. 7. Schotts und Sebchen.
Die afrikanischen Seen stehen teils mit dem
Mittelmeer in Verbindung. Andere Salzseen liegen
zwar nahe der Küste, bilden indessen ein in sich
abgeschlossenes Ganzes, wie viele Seen Tunesiens
und der Salzsee Melaha zwischen Tripolis und
Tadjura. Aber auch inmitten der Sahara gibt es
jene 10 Seen, nördlich vom Uadi-es-Schergi,
und zwar inmitten 500 Fuß hoher Sanddünen.
Sie haben salziges, teilweise natronhaltiges, aus
dem Seegrunde selbst hervorquellendes Wasser.
Unter diesen Seen zeichnet sich besonders der
') Auch Jewish Territorial Association oder kurzweg „Ica"
genannt.
^) Dort blühen die jüdischen Ackerbaukolonien Mosesville
(Santa Fe), Clara (Entre-Rios), Mauricio und Baron Hirsch
(Buenos Ayres). Andere existieren in Klcinasien sowie auf
Cypern.
674
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 43
zirkeiförmige Rehar-el-Dud, auch Gabra'un (VVurm-
seej 'j aus, dessen Wasser so salzhaltig ist, daß
es „wie Sirup aussieht".-) Alle diese Seen sind
von gutgedeihenden Palmen eingefaßt und in ihrer
unmittelbarsten Nähe befinden sich Süßwasser-
brunnen, ja in einer Entfernung vom Südrande
des Behar-el-Dud von nur 2 — 3 m sogar eine stark-
sprudelnde Süßwasserquelle.
Wie viele ähnliche Seen mag es noch im Ge-
biet der Sahara geben, die noch ihrer Auffindung
harren 1
Die Ei nsenk u n ge n, die sich hauptsächlich
im Fesän vorfinden, sind nicht — wie man auf
den ersten Blick glauben könnte — Uadi, d. h.
alte Flußbetten, sondern grabenartige Einschnitte,
die auch in folgerichtiger Weise von den Einge-
borenen Hofra, Gräben, genannt werden. Eine
der Haupteinsenkungen des Fesän ist ca. 30 deut-
sche Meilen lang und fast eine Meile breit, eine
andere mißt sogar So und eine dritte 40 Meilen
in der Länge. In diesen Einsenkungen findet
sich überall Wasser in Hülle und Fülle. Einige
der Brunnen und Uuellen haben vollkommen
süßes Wasser, andere salziges oder mit alkalischen
Bestandteilen vermischtes. Die Brunnen haben
dort ganz verschiedene Tiefen, nach D u veyr ier
von 18 bis 45 m. Stark sprudelnde Quellen sind
hier indessen sehr selten.
Die Quellen sind selten ; wo sie sich aber finden,
bilden sie den Grund zu üppiger Vegetation und
Leben, welche Begriffe sich in Afrika mit dem
Worte Oase^) decken. Die greifbarsten Beispiele
geben die beiden großen Quellen, denen die viel-
genannten Oasen Ssiuah (Jupiter Ammon)^) und
Ghadames ^) ihr Dasein zu verdanken haben.
Die letztere Quelle ist besonders interessant,
weil sie mehr als andere den Typus einer solchen
Oasen- und Stadtgründerin darstellt. Sie liegt
inmitten des ummauerten Stadtgebietes und dient
') Nach Vogel 24 Fuß tief und 300m im Durchmesser.
Wurmsee wegen des darin lebenden, wie Kaviar schmeckenden
Insekts Artemia Oudneyi (nach Dr. Ba ir d-British Museum)
genannt.
2) Rohlfs „Quer durct Afrika" I. Teil, p. 145.
') Das Wort ,,Oase" ist in Afrika unbekannt. Nach
Ritter soll der Ursprung zu diesem Wort von .Ägypten zu
den Griechen gekommen sein: in der koptischen Sprache be-
deutet Uah Wohnung. Größere Oasen bezeichnet man mit
Bled = Land, kleinere mit Rhabba = Wald oder Rhout =
Wäldchen. Oft gebraucht man auch die Worte Ued und Uadi,
welche Flußbett bedeuten.
■*) Bereits 1S20 von Hemprich, Scholz und Ehren-
berg besucht. 49 Jahre später von Rohlfs eingehend be-
schrieben.
^) Ausführliche Beschreibungen dieser Quelle: Rohlfs
„Quer durch Afrika", 1. Teil, p. ögff. , Charles Hammer
Dickson ,, Account of Ghadames" in Journ. Geogr. Society
XXX, p. 255. London 1860. Henri Duveyrier ,,Les
Touar du Nord", Paris 1SÖ4. Oberst Mirescher ,, Mission
de Ghadames executee en Septembre , Octobre , Novembre et
Decembre l8b2 par MM. Mircher, Vatonne , de Polignac,
Ismael-bou-Derba, HotTmann. Rapports ofßciels et documcnts
ä l'appui". Alger 1S63. V. Largeau ,,Le Sahara. Premier
voyage d'e.xploration." Paris 1877. Dr. Edmond Bernet
„En Tripolitaine , voyage a Ghadames". Paris , Fontemoing
et Cie. 1912.
zur Bewässerung von etwa 75 ha. Da der um-
mauerte Teil der Oase ^) doppelt so groß ist, so
kann man wohl mit Recht annehmen, daß die
Quelle früher viel mächtiger gewesen sei. Sie ist in
ein 25 m langes und 15 m breites Bassin gefaßt,
dessen massive Steinquadern römische Arbeit ver-
raten. Aus mehreren Stellen des Bodens sprudelt
das Wasser hervor, das sich dann durch 5 Röh-
ren in die umliegenden Kanäle ergießt. Vatonne
und Duveyrier geben die konstante Temperatur
des Wassers auf 29" C an. R o h 1 f s dagegen
33 — 35" C je nach der Temperatur der Luft.
Vatonne folgert aus der fast gleichen Tempe-
ratur der Quelle und mehrerer in unmittelbarer
Nähe derselben gelegenen Brunnen auf eine 120 m
tiefgelegene Wasserschicht. Der Salzgehalt des
Quellwassers ist 2,5 g pro 1; derjenige der
erwähnten Brunnen 9 g pro 1. Welchen Wert
das Wasser in Ghadames hat, geht schon daraus
hervor, daß die türkische Regierung das Wasser
der Quelle zum Staatsmonopol machte und durch
den Verkauf desselben eine jährliche Einnahme
von etwa 50000 Frcs. erzielte").
Wie diese Quelle ihre relative Fülle haupt-
sächlich der Mächtigkeit der sie umgebenden
Hochebenen und der Kalkformation verdankt (ihre
Höhe über dem Meeresspiegel beträgt etwas mehr
als 300 m und die umgebenden Ebenen haben
etwa dieselbe Höhe), so existieren hier viele an-
dere an solchen -Stellen, wo eine mehr oder we-
niger große Felsenmasse auf eine Ebene drückt.
Solche Quellen finden sich an allen Ab-
hängen der Djebel, namentlich in Tripolitanien,
sowie Algerien und Marokko. Aber nur wenige
sind gefaßt und ausgenutzt. Ihre Wasser berieseln
in der Regel ziemlich unzugängliche Stellen oder
verlaufen sich im Sande. Typisch in dieser Be-
ziehung ist die Felsenquelle von Bu Gheilam im
tripolitanischen Djebel Gharian, wo wir die üp-
pigste Vegetation fanden: Tamarinden und selbst
Bananen.
Flüsse (Irharhar, in der Tedasprache Foti)
die fortwährend Wasser mit sich führen, sind
buchstäblich an den Fingern abzuzählen. In Be-
tracht kommen vielmehr die sehr zahlreichen Ued
oder Uadi (in der Tedasprache Hendere) Fluß-
betten ^), die nur während der Regenzeit Wasser
mit sich führen, die ganze übrige Zeit hindurch
aber ausgetrocknet daliegen, so daß sie als untrüg-
liche und bequeme Straßen von den Karawanen
benutzt werden.
Die Wasserlöcher in den Ued und Uadi
') Oberst Mircher gibt den Umfang der Oase auf
6000 m, die Durchmesser auf 1200 — 1600 m an.
'^) Nach Duveyrier genügt ein ,,Dermissa" genanntes
Maß Wasser zur Berieselung eines Gartens mit 60 Palmen
während 20 Minuten. In 13 Tagen (einem „Nuba" genannten
Zeitabschnitt) kamen im ganzen 925 Dermissa Wasser zur Ver-
teilung. Eine Dermissa wird mit So Real Sbili = 50 Frcs. 20 Cent,
bezahlt. Mircher gibt irrtümlicherweise die letztgenannte
Summe mit 700 Frcs. an.
') Auf Targisch heißen sowohl die Flüsse wie die Fluß-
betten „Agheser" (Duveyrier).
N. F. XIII. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
675
sind nichts anderes als in der Regel versandete,
iiochgelegene unterirdische Reservoirs, die jedes-
mal gereinigt werden müssen, wenn man VVasser
aus ihnen schöpfen will. Sie bilden sich durch
Infiltrierung von Regenwasser oder sie werden
durch unterirdische Zuflüsse gespeist.
Die unterirdischen Wasserläufe spielen
in Afrika die allergrößte Rolle und sind außer-
ordentlich zahlreich. Es kann als allgemeine
Regel gelten, das unter einem Ued oder Uadi
sich immer ein derartiger Wasserlauf befindet. Alle
Brunnen, mit wenigen Ausnahmen, erhalten ihr
Wasser auf diese Weise, ebenso die Seen und
Seebecken, an denen die Sahara, namentlich der
Fesän so reich ist ').
Die namentlich in den nördlichen Teilen Afri-
kas sehr zahlreichen .Schott oder Sebchen
sind zeitweise (oder auch fast ganz) ausgetrocknete
Seen, die entweder ihr Wasser aus dem nahen
Meer erhalten oder, was häufiger der Fall ist, aus
den erwähnten unterirdischen Zuflüssen. Nach der
durch die Sonnenhitze bewirkten Verdunstung
ihres Wassers bedeckt ihr Sumpf- und Schlamm-
boden sich mit einer salzhaltigen Kruste ") von
harter Erde. Der Sonnenbrand zerklüftet alsbald
die Oberfläche in ziemlich regelmäßige Sechsecke
oder erzeugt, bei großem Salzgehalt, eine förmliche
Schollenbildung ^).
Wasser ist also hinreichend vorhanden. Es
fragt sich nun, was tut der Mensch, um sich
dasselbe nutzbar zu machen, um so mehr, als in
keinem Lande das Bedürfnis an Wasser größer
ist, als in Afrika. Für die rationelle Bewässerung
eines Gartens oder Getreidefeldes von der Größe
^) Wie massenhaft müssen hier die unterirdischen Zuflüsse
sein, um bei der unausgesetzten Verdunstung einen See mit
Wasser gefüllt zu halten — so schreibt Rohlfs in ,,Quer
durch Afrika" I. Teil, p. 213.
Wir sind zu dem Schlüsse berechtigt, daß einst unter
anderen topographischen Verhältnissen das Klima in der Sa-
hara ein ganz anderes gewesen, daß reichlicher Regen fiel,
der die Flüsse mit Wasser füllte und der eine Vegetation er-
zeugte, von welcher die vielen Versteinerungen ganzer Wälder
uns deutliche Kunde geben (Rohlfs a. a. O. p. 2 12).
Man braucht nur in den zur Sommerzeit trocken da-
liegenden Uadibetten der Djefaraebene einige Fuß tief zu
graben, um den Grundwasserspiegel zu erreichen (Banse
a. a. O. p. 51).
Ich selbst sah beim israelitischen Friedhof in Tripolis
reines klares Wasser aus dem Dünensandstein ins nahe
Meer fließen.
'^) Der Boden der Sebcha von Bilma besteht aus reinem
Salz. Rohlfs a. a. O. p. 213.
^) Wahrscheinlich entsteht die — übrigens seltene —
Formation da, wo das Wasser unter der Erde sehr ungleich
verteilt ist, daher die Oberfläche nicht gleichzeitig, sondern
an der einen Stelle rascher, an der anderen langsamer aus-
trocknet. Eigentliche Salzsümpfe (sehr selten) heißen targisch
Gurra; Süßwassersümpfe (noch seltener) Daya. Süßwasser-
seen gibt es in der Sahara nicht. Zwischen Garn und Kaliila
bei Bilma gibt es Salzminen, von 20 — 30 Fuß hohem Salz-
und Erdschutt eingefaßte Gruben, in deren Tiefe Wasser,
wahrscheinlich über Steinsalzlager von Osten nach Westen
bindurchfließt. Dieses Wasser ist derartig salzhaltig, daß sich
— infolge der starken Verdunstung — in wenigen Tagen eine
oft 10 cm dicke Salzkruste auf dem Wasser bildet, die
dann abgenommen wird. Von hier aus wird ein großer Teil
Zentralafrikas mit Salz versorgt.
eines Hektars rechnet man in der Regel 0,25 1
Wasser in der Sekunde.
Als älteste Anlagen zur Wassergewinnung fin-
den wir die von den Römern angelegten Zister-
nen. Sie sind im ganzen Lande zerstreut und
zählen nach vielen Tausenden. Allein auf der
Insel Djerba fand man etwa 300 und fortwährend
stößt man auf weitere. Sie hatten die Form
einer in den Erdboden eingelassenen riesigen F'lasche.
Eine mehr oder weniger große Steinfläche fing
das Regenwasser auf, das sich dann in den unter-
irdischen Behälter ergoß. Außerdem wurden auch
flache Dächer zum Wasserauffangen benutzt.
Namentlich in Tunesien haben die Franzosen —
seit der Übernahme des Protektorats 1883 —
Großartiges im Zisternenwesen geleistet. '■)
Derartige öffentliche, von der Regierung an-
gelegte, restaurierte und verwaltete Zisternen gibt
es in Tripolitanien nicht. Dort sammelt man
ausschließlich das Regenwasser auf den Dächern.
Nur auf dem Djebel Gharian fand ich einige sehr
primitiv angelegte Zisternen zur ebenen Erde, die
nur mit Mühe ihren Zweck erfüllten.
Ein weiteres Werk der alten Römer sind die
noch zahlreich voriiandenen St au wälle, die sich
namentlich in einzelnen Teilen der Cyrenaika so-
wie in der großen Djefara-Ebene vorfinden. Die-
jenigen, welche einstmals die Gewässer der Uadi
Gerim und Rmla stauten, sind so gut erhalten,
daß sie sich mit geringen Kosten und leichter
Mühe wiederherstellen ließen.-)
Auch für Marokko plant die französische Pro-
tektoratsregierung die Wiederherstellung oder
Neuanlage solcher Stauwälle in größerem Maßstabe.
In Ägypten aber haben die Engländer ein
wahres Weltwunder, den riesigen Stauwall von
Assuan angelegt; er hat eine Länge von 2 km
und hält eine Milliarde Kubikmeter Wasser, ^j
Die ungemein zahlreichen Brunnen haben
in ganz Nordafrika dieselbe Form bewahrt, die
sie bereits zur Zeit der Pharaonen hatten. Die-
jenigen, die nahe am Meeresstrand erbaut wurden,
geben ein sehr mit Salz vermischtes und daher
für gewisse Pflanzen, für Europäer und europäische
Tiere unbrauchbares Wasser, *) das indessen von
') Nach den mir von der Verwaltung der Fonts et Chaus-
sees gemachten Angaben kostete der Bau einer Zisterne von
500 cbm 20000 Frcs.
'-) Infolge des Mangels an Waldungen fällt in diesen
Ländern der atmosphärische Niederschlag in heftigen Wolken-
brüchen. Die Römer verschlossen daher ganze Täler durch
riesige Querwälle, worauf sich dann Seen bildeten, mit deren
Wasser dann das ganze Jahr hindurch die Felder bewässert
werden konnten : ein Beweis, daß diese Gegenden schon da-
mals ebenso holzarm waren wie heute.
■') Es bestand sogar der Plan , diese Anlage für 3 Milli-
arden Kubikmeter Wasser einzurichten, doch scheiterte der-
selbe an archäologischen Rücksichten (Conferenze e Prolu-
sioni. Anno V. Vol. V. Nr. 21. Roma 1912).
■•) Aus diesem Grunde mußte während des letzten Krieges
— und muß auch heute noch das Trinkwasser für die italieni-
schen Soldaten und die aus Europa bezogenen Tiere von
Tripolis aus ins Innere geschickt werden , oder es wird auf
eigenen Zisternenschiffen von Neapel aus z. B. nach Suara
oder nach anderen Küstenplätzen befördert.
e^e
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 43
den Eingeborenen gern getrunken wird. Die
Hebung des Wassers erfolgt durch Leder- oder
Holzeimer, durch Zugtiere (Kamele, Kühe, Maul-
esel), durch primitive maschinelle Vorrichtungen, 'j
Namentlich in Ägypten wird diese Art von
Wassergewinnung im größten Maßstabe betrieben.^)
Die artesischen Brunnen haben sich im
allgemeinen gut bewährt und macht man aus-
giebigen Gebrauch davon. Auch in Tripolitanien
wurden Versuche damit angestellt, deren Erfolge
indessen erst abgewartet werden müssen. Ein
Versuch bei Sidi Masri bei Tripolis hat negativen
Erfolg gehabt. Großes dagegen wurde von den
Franzosen in Algerien und in Tunesien geleistet.'')
In Tunesien wurden bereits über hundert
artesische Brunnen gebohrt, die allerdings nicht
alle gute Resultate ergaben. Allein auf der Insel
Djerba mußten von vier artesischen Brunnen zwei
aufgegeben werden und der eine der restlichen
zeigt eine bedenkliche Verminderung seiner
Wassermenge. ^)
Die durchschnittliche Brunnentiefe beträgt
400 m. Die durchschnittlichen Kosten einer
Brunnenbohrung 100 000 Franken.
Gegenwärtig sind zwei wichtige artesische
Brunnen im Bau: derjenige von Telmine (des alt-
römischen Turris Tamellaris, im Nordosten von
Kebili), wo man bereits in einer Tiefe von 70 m
auf eine Wasserader stieß, die 3500 1 Wasser in
der Minute gibt. Zur Fassung sollen die dort
befindlichen römischen Anlagen benutzt werden.
Der andere artesische Brunnen wird auf tenesi-
schem Gebiet, gegenüber der tripolitanischen
Stadt Ghadames erbaut. Er soll den Grund legen
zu einer neuen Handelsmetropole, durch welche
man dem italienischen Karawanenhandel in Tripo-
litanien den Garaus machen will. Dieser Brunnen,
nach dem französischen General Bir Pistor ge-
nannt, hat eine Tiefe von 147 m und gibt 1740 1
Wasser in der Minute. Bereits hat sich um ihn
herum ein See von i km im Durchmesser und
') Es gibt nicht weniger als 35 — 40 verschiedene Arten
maschineller Vorrichtungen. In der Sahara bedient man sich
vielfach der Nuera oder Noria (von den Arabern in Spanien
erfunden): ein horizontales Zahnrad greift in die Zähne einer
vertikalen Walze, an der ein Tau mit Töpfen befestigt ist.
Wird durch Zugtiere in Betrieb gesetzt.
^) Nach Barois „Les irrigations en Egypte" sind dort
109000 Wasserhebungsmaschinen in Tätigkeit, die teils durch
Dampf- oder Wasserkraft, teils durch Zugtiere in Betrieb ge-
setzt werden.
^) Der algerische Kapitän Mohamed-ben-Dris zauberte
mit Hilfe von artesischen Brunnen die Oase von Talaem-
Mouidi buchstäblich aus dem Sande hervor. Nach ihm grün-
dete der Ingenieur Rolland die Ackerbau- und Industriegesell-
schaft von Batna, die in den gleichnamigen, 1020 m hohen
Bergen, südlich von Philippeville (am Ostrande des Atlas)
ihren Sitz hat. In nur 5 Jahren gelang es, mittels 7 artesi-
scher Brunnen 3 neue Oasen sowie 3 große saharische Dörfer
zu gründen. Diese (.)asen messen 400 Hektare und sind mit
50000 Palmen bestanden. Die Kosten einer jeden gepflanzten
Palme beliefen sich auf3oFrcs. Man gab also 1 500000 Pres,
für Palmen aus, die nach 6 Jahren 300 000 Pres, einbrachten
(nach Abrechnung der Betriebskosten).
*) Tiefe 242 m. Temperatur 30" C. Ursprüngliches
Wasserquantum 32 1 in der Sekunde. Seit dem 18. Dezember
1913 nur noch 15 1.
30 cm Tiefe gebildet, dessen Wasser nunmehr
die Magnesiumsalze löst, die bisher den Boden
unfruchtbar erhielten. Die in der Nähe befind-
lichen 20 — 30 m tiefen Brunnen fördern nur Brack-
wasser zutage.
Die Technik der Bewässerung selbst
läßt sich folgendermaßen einteilen: natürliche
und künstliche. Die erstere ist entweder eine
oberirdische (wie z. B. bei denjenigen Flüssen, die
viel Wasser enthalten, wie der Ued Draaj oder
eine unterirdische (z. B. wie beim Ued Sis, der
unter den Oasen des oberen Talifet sowie bei
den meisten der Oasengruppe des nördlichen
Tuat und bei den kleineren südlich vom Atlas.
Die künstlich bewässerten (dazu gehört die
Oase von Ghadames mit ihrer Quelle, sowie die-
jenige des Jupiter Ammon) sind solche Oasen
oder Ländereien, bei denen man bereits in einer
Tiefe von i bis 2 Fuß nicht fließendes Wasser
findet. Hierzu gehören die meisten Oasengruppen
des Fesän und die Oase Kauar. Ferner andere
Fesänoasen und diejenigen von Souf, wo das
Wasser aus einer Tiefe von 12 — 30 Fuß herauf-
geholt werden muß.
Endlich diejenigen Ländereien, für die das
Wasser aus größerer Entfernung durch Leitungen
herbeigeschafit werden muß, wie z. B. bei den
Oasen von Tidikelt und südlich vom Atlas. In
Tuat ist ein Kanalsyslem, Fogara genannt, in Ge-
brauch, von Duveyrier „Galleriebrunnen" ge-
nannt. Diese unterirdischen Leitungen haben 2 Fuß
im Durchmesser und verzweigen sich je nach
Bedarf.
Wie groß der Wasserreichtum hier ist, geht aus
den neuesten Untersuchungen des Ingenieur en
Hydrologie souterraine Henri Mager in Tunis')
hervor. Die überall vorkommenden unterirdischen
Gewässer sind teilweise lokale Infiltrierung von
Regenwasser oder weit herkommende Gewässer
geyserischer Form. Es gibt hier Wasserläufe, die
bis zu 4000 cbm Wasser pro Tag geben. Das
ganze Stadtgebiet von Tunis ist von zahlreichen
Wasseradern, alle von Westen nach Osten
laufend, durchzogen. Der stärkste derselben kommt
von den nordwestlichen Bergen und tritt beim
Tor Bab Sidi-AbdEs-Salem in die Stadt ein. Ein
Munizipalbrunnen bei der Ecole Israelite wird
durch iim gespeist (53 cbm pro Stunde). Andere
potente Wasserläufe geben 80 cbm pro Stunde.
Ein großes Reservoir befindet sich unter dem
arabischen Bab-el Gorjani. Südliche Strömungen
durchziehen den Friedhof El-Jellaz und das Tor
Bab-Alleona. Sie werden vom Sedjoumi genährt,
der nur Regenwasser enthält. Gej-serische Strö-
mungen existieren in stärkster Form bei Sed-
joumi, bei Ain-Kebine von Karbons usw.
Rechnet man die Summen zusammen, die
Frankreich allein in Tunesien für Wasserwerke
ausgegeben hat, so fehlen sehr wenig an lOO Millio-
nen. Graf Cavour aber hatte 1853 die Wahr-
heit gesagt.
') „Les Eaux Souterraines de Tunisie." Tunis 1914.
N. F. Xm. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
677
Die BiMleiitima: der Aslrophotographie.
Von Max Frank
[Nachiliuck verboten.]
Die Himmelkunde ist eine der ältesten Wissen-
schaften, aber solange man auf okulare Beobach-
tung angewiesen war, scliritt sie, wenn auch stetig,
nur in verhältnismäßig langsamem Tempo fort.
Seitdem aber die photographische Technik er-
funden war und immer ausgebaut wurde, also
seit etwa siebzig Jahren, machten auch die Astro-
nomen, wie auch die anderen Wissenschaftler, sie
sich in hohem Maße nutzbar und brachten dadurch
die Astronomie um ein sehr großes Stück vor-
wärts. Gerade bei der astronomischen Forschung
kommt die Eigenschaft der photographischen Platte
zur Geltung, in gleicher VVeise wie für die Licht-
intensität, also die Lichthelligkeit auch für die
Lichtdauer empfänglich zu sein, die für die Licht-
empfindung beim Sehen ohne Einfluß ist. Während
daher der Astronom bei seiner Beobachtung der
Sternenwelt durch das Teleskop, das astronomische
Fernrohr, nicht mehr an einer Stelle sieht, wenn
er diese lange Zeit betrachtet (d. h. nach Über-
windung der ersten Anpassung), empfindet die
photographische Platte ein Licht um so heller, je
länger sie diesem ausgesetzt ist. Wir können
mit unserem Auge einen Lichteindruck unter
einer gewissen fntensität überhaupt nicht mehr
wahrnehmen, ob wir nun nur ein paar Sekunden
oder einige .Stunden hinsehen. Auf eine photo-
graphische Platte wirkt jedoch eine Lichtintensität
in 10 Sekunden genau ebenso stark wie zehnfache
Lichtintensität in einer Sekunde. Infolge dieser
Addition der Lichtvvirkung durch die Platte ist es
möglich, durch eine entsprechend lange Belichtung,
die oft stundenlang, ja ganze Nächte hindurch
währen kann, durch photographische Aufnahmen
nur ganz schwach leuchtende Erscheinungen am
Himmelszelt festzustellen, die wir auch mit den
stärksten Teleskopen nicht beobachten können.
Schon allein aus diesem Grunde ist die Photo-
graphie eine unschätzbare Helferin der Astronomie,
die sie heute gar nicht mehr entbehren könnte.
Aber die photographische Aufnahme bietet
auch noch in anderer Weise gegenüber der oku-
laren Beobachtung große Vorteile. Unser Auge
ist vor allem für die gelben Strahlen des Lichtes
empfänglich, die photographischen Platten dagegen
für die blauen und violetten Strahlen, die das
Auge als ziemlich dunkel empfindet. Dadurch
werden Weltengebilde durch astrophotograj^hische
Aufnahmen festgestellt, die zwar ziemlich viel
Licht ausstrahlen, aber wegen dessen blauen und
violetten Farbe der okularen Beobachtung nicht
zugänglich sind. Das gilt noch im stärkeren IVIaße
von solchen Himmelserscheinungen, die überhaupt
kein sichtbares, sondern nur unsichtbares ultra-
violettes Licht aussenden, für das aber die photo-
graphische Platte stark empfindlich ist, weshalb
sie hier zur Erkennung verhilft. Wir haben, be-
sonders da wir durch Vorschaltung von Lichtfiltern
bei der Aufnahme nach Wunsch nur bestimmte
(M. A. S.j
Strahlengattungen wirken lassen können, äußerst
wertvolle Aufschlüsse über die Art des ausge-
sandten Lichtes und somit über die Beschaffenheit
und Zusammensetzung der Weltkörper und der
sich erst zu solchen bildenden Nebel erhalten.
Die Photographie wurde im Jahre 1839 ent-
deckt und schon 1840 machte, trotzdem die da-
malige Technik mit der heutigen gar nicht zu
vergleichen ist , der berühmte amerikanische
Physiker und Astronom Dr. John W. Drap er
die ersten photographischen Mondaufnahmen. Heute
hat man einen Mondatlas nach photographischen
Aufnahmen, bei denen die Mondoberfläche einen
L^urchmesser von 2\„ m hat. Während man
früher die Abmessungen der Gebirge und Krater
der Mondoberfläche nur des Nachts am Fernrohr
selbst zu machen vermochte, kann heute der
Astronom dieses Studium an Hand der Mondphoto-
graphien zu jeder Zeit, also ebensogut am Tage
besorgen und es verbleibt ihm für nachts um so
mehr Zeit für andere nur dann möglichen Arbeiten.
Die Mondphotographie hat ja nun nicht die ge-
waltige Bedeutung wie die übrige Astrophoto-
graphie.
Da nun am Himmelszelt die Planeten wirklich
und die Fixsterne, infolge des Erdenlaufes schein-
bar weiter wandeln, so können wir bei den oft
lange währenden Aufnahmen keine Schärfe er-
halten, wenn der Apparat stillstehen bleiben würde.
Statt heller Punkte erhielten wir mehr oder weniger
lange Striche, bei Aufnahmen des Mondes von
längerer Dauer diesen als einen breiten ver-
schwommenen Streifen. Wir müssen daher die
astrophotographischen Aufnahmeapparate genau
der Bahn des Objektes nachdrehen, so daß dieses
im Apparat stets an der gleichen Stelle sich be-
findet. Dieses Nachdrehen geschieht meist durch
besondere Uhrwerke.
Wenn wir nun den Apparat nach der schein-
baren Bahn der Fixsterne, die ja ihre gegenseitige
Lage nicht verändern, nachdrehen, so erhalten
wir zwar die Hxsterne als Punkte, die Planeten,
die, unabhängig davon, ihre besonderen Bahnen
wandeln, dagegen als Striche. Auf diese Weise
lassen sich auf dem Sternenbilde ohne weiteres
die Planeten, wie auch Kometen, von den Fix-
sternen herausfinden. Lhngekehrt werden bei
Planetenaufnahmen die Plxsterne als Striche ge-
zeigt. Es wird sich also auch der Leser die Striche
bei Astrophotographien, wie man sie zuweilen in
illustrierten Blättern findet, erklären können.
Über die geheimnisvolle Oberfläche der Sonne
mit ihren Flecken, die auf die Witterungsver-
hältnisse der Erde großen Einfluß haben, und
mit ihrer Granulation, wie man die merkwürdige
Sprenkelung nennt, hat die Photographie gleich-
falls weitere wichtige Aufschlüsse gebracht. Wegen
der außerordentlichen Helligkeit der Sonne können
hierbei Momentaufnahmen, die nur etwa '/onon
678
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 43
Sekunde währen, erzielt werden, wodurch man
eine große Schärfe erreicht. Die Sonnenkugel ist
ferner von einer gasförmigen, leuchtenden Masse
umgeben, deren Beobachtung wegen ihrer ver-
hältnismäßig geringen Helligkeit gegenüber der
blendenden Photosphäre, der Sonnenkugel, für
gewöhnlich nicht möglich ist. Bei einer Sonnen-
finsternis hingegen, die daher auch für die Sonnen-
forschung ein so wichtiges Ereignis ist, daß ihret-
halben sehr kostspielige Expeditionen ausgerüstet
werden, kann die Gashülle beobachtet werden.
Die leuchtenden über den Sonnenrand hervor-
ragenden roten Sonnenfackeln, die Protuberanzen,
die eine Höhe bis ' ,„ des Sonnendurchmessers
(also bis etwa 140000 km) erreichen, wie auch
die ganze leuchtende Sonnenkorona sind wichtige
Beobachtungsobjekte, bei denen die Photographie
völlig objektive Aufschlüsse gibt, während eine
okulare Beobachtung sich bei aller Sorgfalt nie
ganz frei von subjektiven P>hlern machen kann,
besonders da die bei einer Sonnenfinsternis auf-
tretenden Erscheinungen oft kaum eine Sekunde
dauern. So ist z. B. erst durch die Photographie
eine auffallende Erscheinung, das Flash-Spektrum,
einwandfrei festgestellt worden. Diese tritt während
des nur i — 2 Sekunden dauernden Zeitraumes
auf, in dem gerade der Mondschatten die Sonnen-
kugel völlig bedeckt, und zeigt sich darin, daß in
diesem Moment statt der dunkeln Fraunhofer-
schen Linien im Sonnenspektrum helle Linien
treten. Es ist dies das Eigenspektrum des un-
mittelbar nur in einer Schichtdicke von 1000 km
die Photos])häre umlagernde Gashülle, die man
deshalb auch als die „umkehrende Schicht" be-
zeichnet.
Überhaupt bietet das Spektrum und vor allem
das der Sonnenflecken sehr wertvolle Anhalts-
punkte für die chemische Zusammensetzung des
Sonnenkörpers.
Dann hat die Astrophotographie wertvolle
Bilder von den verschiedenen Planeten geliefert,
so auch Aufnahmen der noch nicht aufgeklärten
Marskanäle (von Lowell). Manche kleinere
Planeten sind überhaupt erst durch die photo-
graphische Aufnahme „ans Licht gekommen", weil
ihr Licht zu gering ist, um bei der okularen Be-
obachtung durch ein Teleskop erkannt zu werden.
Das gleiche gilt von dem sechsten, siebten und
achten Mond des Planeten Jupiter und dem neunten
und zehnten Monde des in der Entwicklung sich
noch sehr im Rückstande befindenden Planeten
Saturn. Von diesen Monden haben wir also erst
durch die Photographie Kenntnis erlangt.
Man ist jetzt auf vielen Sternwarten in gemein-
samer Arbeit daran, eine vollständige Himmels-
karte der Fixsterne herzustellen. Das wäre, wenn
man auf Zeichnungen angewiesen wäre, ein Ding
der Unmöglichkeit, schätzt man doch die Anzahl
der Fixsterne bis 15. Größe auf etwa 60 Millionen!
Wir haben oben g-esagt, daß die Fixsterne ihre
gegenseitige Lage nicht verändern. Das stimmt
für den Augenschein, aber in Wirklichkeit bewegen
auch sie sich ebenso wie unsere Sonne, und zwar
nicht alle nach der gleichen Richtung und in
gleicher Geschwindigkeit, sondern verschieden.
Die Menschheit wird daher nach vielen Jahrtausenden
und vor vielen Jahrtausenden einzelne Sternbilder
in ganz anderer Zusammenstellung sehen und
gesehen haben.
Mit Hilfe der Photographie können wir fest-
stellen, ob ein Stern sich uns nähert und sich von
uns entfernt und in welcher Geschwindigkeit dies
geschieht. Auch für Laien ist es sehr interessant, wie
man das ermöglicht. Schon jeder wird auf einem
Bahnhofe beobachtet haben, wenn ein Schnellzug
vorbeisaust, daß der pfeifende Ton der Lokomotive
beim Annähern einen immer höheren Ton an-
nimmt, um, wenn sich die Lokomotive wieder
entfernt, wieder allmählich tiefer zu werden. Eine
ähnliche Erscheinung gibt es aber auch beim
Licht. Entwerfen wir nämlich von dem Licht
eines Fixsternes das Spektrum mit den bekannten
Frau nhoferschen Linien, so werden die ein-
zelnen Teile gegenüber dem Sonnenspektrum das
eine Mal eine Verschiebung nach dem roten, das
andere Mal nach dem violetten Ende des Spek-
trums zeigen. Nach dem Doppl ersehen Prinzip
erklärt man dies, analog der akustischen Erscheinung,
damit, daß sich der betreffende Stern in dem einen
Falle nähert, in dem anderen Falle entfernt, während
der Grad der Verschiebung die Geschwindigkeit
angibt. Um aber nun hierbei die wahre Ge-
schwindigkeit und Bewegungsrichtung festzustellen,
muß auch die scheinbare Fortbewegung am Fir-
mament in Rechnung gesetzt werden.
In jüngster Zeit wird sogar das Prinzip der
Stereoskopie, des plastischen Sehens, auf die
Astrophotophie angewandt. Wir sehen bekanntlich
dadurch plastisch,' daß jedes unserer Augen ein
etwas anderes Bild empfängt, wodurch sich die
vorderen Objekte von dem hinteren abheben. Da
aber unser Augenabstand nur 6,5 cm ist, so werden
die beiden Bilder schließlich bald völlig gleich, und
zwar bei etwa 450 m. Von da an hört auch das
plastische Sehen auf, also für außerirdische Objekte
erst recht. Sonne und Mond erscheinen uns nicht
als Kugeln, sondern als Scheiben und die ver-
hältnismäßig sehr nahen Planeten erscheinen dem
Auge in keiner anderen Ebene als die unendlich
weiten Fixsterne. Würde man nun den Augen-
abstand künstlich erweitern, indem man zwei in
größerem Abstände voneinander aufgenommene
Bilder eines und desselben Objektes im stereos-
kopischen Betrachtungsapparat vereinigt zusammen
betrachtet, so könnte man auch plastische Bilder
von weiteren Objekten, ja von außerirdischen
Körpern erhalten, sofern nur der Bildabstand
bei der Aufnahme groß genug ist.
Und in der Tat hat man schon stereoskopische
Aufnahmen des Mondes gemacht, bei denen dieser
als Kugel wirkt und sich die Gebirge und Krater
plastisch zeigen. Wahrlich ein wunderbares Bild.
Auch sind schon Photographien erreicht worden,
N. F. XIII. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
679
auf denen sich die Planeten von dem übrigen
Himmel plastisch abheben.
Um nun die hierfür erforderlichen ungeheuren Ab-
stände der Aufnahmepunkte für die beiden Bilder
zu erzielen, macht man diese nicht zu gleicher Zeit
von verschiedener Stelle aus, sondern zu verschie-
denen Zeiten von der gleichen Stelle aus. Wir
warten für die zweite Aufnahme so lange, bis wir
uns durch die Drehung der Erde, ja des ganzen
Sonnensystems um den erforderlichen Abstand im
Weltenrauni weiter bewegt haben. Für plastische
Mondaufnahmen ist z. B. ein Abstand von 95000 km
notig, bei anderen Aufnahmen gehen die Abstände
in die Millionen Kilometer, so daß wir mit der
zweiten Aufnahme Tage, Monate ja Jahre warten
müssen. Die Himmelsstereoskopie, die noch jüngsten
Datums ist, wird der Wissenschaft noch große
Dienste leisten.
Aber auch die anderen zufälligen Ilimmelser-
scheinungen, Kometen, Leuchtkugeln usw. werden
teilweise durch die photographische Platte fest-
gehalten, wodurch der Astronom ein weit besseres
Urteil über Form und Bahn erhält.
Den größten Nutzen von den fleißigen photo-
graphischen Arbeiten der Astronomen werden je-
doch erst die künftigen Geschlechter haben.
Einzelberichte.
Paläontologie. Über Crustaceen aus dem
Voltziensandstein des Elsasses berichtet Ph. C. Bill
in den Mitteilungen der Geologischen Landes-
anstalt von Elsaß-Lothringen Bd. VIII, Heft 3,
1914.
Der nach der Abietide Voltzia heterophylla
benannte Voltziensandstein bildet die Oberstufe
des oberen Buntsandsteins oder Rots in Elsaß-
Lothringen, dem Saargebiet und der Eifel und
wird von dem in sandiger F'azies auftretenden
unteren Muschelkalk, dem Muschelsandstein über-
lagert. Der Voltziensandstein besteht vorherr-
schend aus feinkörnigen, glimmerig-tonigen Sand-
steinen. Fossilien treten fast nur in tonigen Schich-
ten auf. Neben zahlreichen Pflanzenresten (Voltzia,
Neuropteris, Doleropteris, Schizoneura) sind von
tierischen P'ossilicn vor allem zahlreiche Crusta-
ceen, seltener Muscheln (Myophoria, Pecten, Unio),
Brachiopoden (Lingula) und Fischreste nachge-
wiesen. Das Vorkommen der Krebse ist auf die
obersten 10 m des Voltziensandsteins beschränkt.
Sie liegen in der Regel in 3 m dicken und
20 — 100 m langen linsenförmicren Einlagerungen
von hellen Schieferletten im Sandstein. Der Er-
haltungszustand wechselt je nach der Art und
dem Fundpunkt. Mit Ausnahme der zu den
Schizopoden gehörenden Gattung Schimperella ist
bei keinem der Krebse irgend etwas von der
Schale erhalten. Bei der unserem Flußkrebs nahe
stehenden Gattung Cl^-tiopsis können 2 Erhaltungs-
arten unterschieden werden; entweder ist der
Panzer erhalten, wobei die Gliedmaßen fehlen
Isopoden (Anhelkocei)halon) verteilen. Die meisten
Formen sind der Trias eigentümlich, während
Penaeus und vor allem die niederen Formen
noch heute leben.
Von besonderer Bedeutung ist die Fauna für
die Phylogenie der Crustaceen. Die niedere Formen
haben geringes Interesse, denn Estheria minuta
unterscheidet sich im Körperbau kaum von den
heutigen Estherien; ebenso auch Apus antiquus
nicht viel von seinen heutigen Verwandten. Ab-
gesehen von der Kleinheit und den relativ größeren
Augen ist auch Limulites nicht viel anders als
der heute lebende Limulus. Das meiste Interesse
beanspruchen die Decapoden, zu denen unter den
heute lebenden Formen der Flußkrebs, der Hum-
mer, die Garneelen und die Krabben gehören.
Abgesehen von Palaeopemijhix, deren systematische
Stellung noch ungeklärt ist, stellen die hier vor-
kommenden P^ormen (Penaeus, Litogaster, Clytiop-
sis) die ältesten Vertreter der Ordnung dar. Die
Decapoden zerfallen in die 2 Unterordnungen
der Macruren (kräftiges Abdomen, gut entwickelte
Seitenteile der Schwanzflosse; Natantia garneelen-
artig, schwimmend; Reptantia krebsartig, kriechend)
und die Brachyuren, bei denen die vorhin er-
wähnten Eigenschaften rudimentär sind. Bereits
zu Beginn der Triaszeit bestand die Trennung
der Decapoden in Natantia und Reptantia. Er-
stere sind durch Penaeus (Penaeidea), letztere
durch Clytiopsis (Nephropsidea) vertreten.
Auf Grund interessanter Untersuchungen, die sich
vor allem auf die Ausbildung der Pereiopoden
(? bei der Häutung abgeworfener Panzer) oder und der Schwanzflosse beziehen, kommt Bill zu
das ganze Tier ist zur Silhouette zusammenge-
drückt.
Hauptfundorte für die Fauna sind Wasseln-
heim, Sulzbad, Gressweiler, Gottenhausen, Saar-
brücken.
An der Crustaceenfauna beteiligen sich 12 Ar-
dem Ergebnis, daß die beiden Gruppen der Na-
tantia und Reptantia nicht gleichwertig sind. Die
Natantia erweisen sich als einheitlich, während
die Reptantia inhomogen sind und aus Gruppen
(Nephropsidea, Eryonidea, Loricata) bestehen, die
sich zu verschiedener Zeit (und zwar vortriassischer
ten, die 10 Gattungen angehören, welche sich auf Zeit) vom Stamme der Natantia abgezweigt haben,
die Ordnungen der Decapoden (Clytiopsis, Lito- In der Trias existieren die Gruppen der Nephrop-
gaster, Penaeus), Schizopoden (Schimperella, Dia- sidea und Eryonidea, während im Jura noch die
phanosma), Syncariden (Triasocaris), Phyllopoden Grujipe der Loricata hinzukommt. Möglicher-
(Estheria, Apus), Xiphosuren (Limulites) und der weise haben sich die Loricaten und Eryoniden in
68o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 43
vortriassischer Zeit ll'ermocarbonj selbständig aus
Schizopoden entwickelt.
V. Hohenstein, Halle a. S.
Botanik. Antike Samen aus dem Orient.
Franz v. Frimmel hat eine schwierige Unter-
suchung durchgeführt, um einige antike Pflanzen-
samen zu bestimmen, die teils aus Nippur in
Babylonien, teils aus Gezer in Talästina stammten.
Zwei Proben aus Gezer gehörten offenbar der
Gattung Vicia an, und wahrscheinlich handelt es
sich um Vicia sativa L. oder Vicia Ervilia (L.)
Willd. und Vicia palaestina Boiss. Eine Probe
aus Nippur besteht aus Citrus-Samen, möglicher-
weise aus dem Formenkreise von Citrus medica.
Zerealienreste aus Nippur erwiesen sich als der
Gerste zugehörig, und die Befunde lassen darauf
schließen, daß es sich um eine der wilden Gerste
in manchen Merkmalen nicht ganz fernstehende
Kulturrasse gehandelt hat. Es war eine mehr-
zellige I'orm, bei der die Körner in verhältnis-
mäßig spitzem Winkel von der Achse abstanden,
denn nur unter dieser Voraussetzung können die
vom Verf. beobachteten grubigen Eindrücke am
Rücken des Kornes zustande kommen, ein Merk-
mal, das die Form mit der Wildgerste gemeinsam
hat ; „daß es sich aber keineswegs um eine wirk-
lich wilde Form handelt, geht aus der Größe des
Korns hervor und aus dem Umstände, daß die
Körner sozusagen so hypertrophicrt waren, daß
sie sich eben gegenseitig in der Ausbildung nor-
maler F"orm störten". Hieraus schließt Verf, daß
die fragliche Gerste das Endergebnis eines noch
unbekannten, vielleicht unbewußten Züchtungs-
prozesses gebildet habe ; denn eine noch größere
Entwicklung der Körner als die, daß sich die
einzelnen Körner gegenseitig in der Entwicklung
stören, sei undenkbar. Eine bewußte, rationelle
Züchtung würde wohl von Formen ihren Ausgang
nehmen, bei denen eine gegenseitige Entwicklungs-
hemmung gerade der größten Körner durch ein
mehr wagerechtes Abstehen von der Spindel nach
Möglichkeit verhindert würde. — Eine andere
Getreideprobe, die aus Gezer stammte, konnte als
Weizen, wahrscheinlich Triticum turgldum,
identifiziert werden. (Sitzungsberichte der Kais.
Akad. d. Wiss. in Wien. Phil.-hist. Kl. 1914,
Bd. 173, I. Abhdlg. 14 S. u. Taf.).
F. Moewes.
Physik. Mit der Demonstration und Photographie
von Strömungen im Innern einer Flüssigkeit beschäf-
tigt sich eine Arbeit von J. Zenneck (München)
in den Berichten der Deutschen Physikalischen
Gesellschaft XVI (1914) Seite 695. Während sich
Bewegungen in Flüssigkeitsob e r f I ä c h en durch
Aufstreuen z. B. von Bärlappsamen nach dem von
V. Ahlborn (Hamburg) ausgearbeiteten Verfahren
gut sichtbar inachen und photographieren lassen,
stößt man auf Schwierigkeiten, wenn es sich um
Strömungen im Innern handelt. Zenneck ver-
fährt in der Weise, daß er der Flüssigkeit sehr
kleine, durch Elektrolyse erzeugte Gasbläschen bei-
micht, die an ihrer Oberfläche das Licht einer
Bogenlampe total reflektieren und dadurch hell
leuchten. Das in einen größeren Trog ruhenden
Wassers aus einer Düse eintretende Leitungs-
wasser, dessen Stromlinien beobachtet werdensollen,
passiert zunächst einen Zersetzungsapparat, in wel-
chen zwei an die elektrische Zentrale angeschlossene
Bogenlampenkohlen hineinragen. Die durch die
Zersetzung erzeugten Glasbläschen, deren Durch-
messer zwischen 0,014 und 0,023 mm liegt und
die infolge ihrer Kleinheit eine sehr geringe ver-
tikale Eigengeschwindigkeit haben (0,16 cm pro
sec), dringen mit dem aus der Düse austretenden
Wasserstrahl in die ruhende Wassermasse ein.
Das durch einen Kondensator gesammelte Licht
der Bogenlampe fällt durch einen vertikalen
Schlitz an der der Düse gegenüberliegenden Seite
in den Trog, so daß im Wasser eine vertikale
Ebene beleuchtet ist. Man beobachtet und photo-
graphiert senkrecht in dieser Ebene; die Rück-
wand des Kastens, der Hintergrund, ist geschwärzt.
Zwei der Arbeit beigegebene Tafeln, von denen
die eine die Strömung gegen eine quadratische
Platte, die zweite die gegen einen zur Düse senk-
rechten Zylinder (exzentrisch) zeigt, lassen sehr
schön die scharfen hellen Slrömungslinien auf
dunklem Grunde erkennen. Aus ihnen kann man
nicht nur die Richtung der Bewegung ersehen,
sondern auch mit Hilfe der Expositionszeit die
Gröfje der Geschwindigkeit ausmessen. Soll die
F"lüssigkeitsbewegung in der Nähe einer im Trog
rotierenden Schraube oder einer im Trog beweg-
ten Platte dargestellt werden, so läßt man die
Glasbläschen im Trog selber in der Weise ent-
stehen, daß man auf seinem Boden eine Anzahl
von Bogenlamjienkohlen anbringt, die man ab-
wechselnd mit dem positiven und negativen Pol
der Stromquelle verbindet. Duich Regulieren des
Stromes man kann die Zahl der Bläschen ändern,
durch Anordnung der Kohlen die Bläschen auf
einzelne Stellen des Wassers mehr oder weniger
konzentrieren. Leider ist die Erscheinung nicht
so lichtstark, daß sie sich für einen großen
Zuhörerkreis wirksam projizieren läßt.
K. Schutt, Hamburg.
Kleinere Mitteilunsen.
Zwei lehrreiche Profile aus dem Frankenwald.
Zwei Natururkunden. Der Frankenwald, der in
seinem Aufbau fast nur aus paläozoischen Ge-
steinen, vorzugsweise aus Schiefern besteht, ist
ein in der Nachkulmzeit entstandenes P'alten-
gebirge mit varistisch verlaufenden Sätteln und
Mulden. Dieser Faltung, zu der als Begleit-
erscheinung die Schieferung tritt, der Lehesten,
N. F. XIII. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
68 1
ÄyT
Wurzbach , Ueincrsdorf und Röttersdorf vorzüg-
hche Dachschiefer und Gräfenthal und Ludwigs-
stadt Griffelschiefer verdanken, unterlagen alle
kambrischen, silurischen, devonischen und kulmi-
schen Gesteine.
Auf das Profil im Kicselschiefer machte ich
schon im letzten Jahres-
bericht der Gesell-
schaft von Freunden
der Naturwissenschaf-
ten zu Gera aufmerk-
sam, p. 171 — 172. Jetzt
stehen mir zwei gute
photographische Auf-
nahmen des Flerrn Prof.
Dr. Gott lieb v. Koch
zur Verfügung, die ich
einem größeren Kreise
von Naturfreunden
nicht vorenthalten
möchte.
Sechsmal hat der
Druck, der den Fran-
keinvald zur Zeit der
Aufrichtung des varisti-
schen Gebirges zusam-
menschob, an dieser
Stelle den mittelsiluri-
schen Kieselschiefer
zusammengepreßt.
Wenigstens kann man
sechs kleine Sättel und
Mulden im Profil zählen.
Das geschah auf eine
Entfernung von 2 m
hin. Der hier gefaltete
Kieselschiefer bewahrt
auch anderwärts , wie
mir Herr Geheimrat
Zimmermann mit-
teilte, die Faltung am
besten. Aber an dieser
Stelle blieb die Er-
scheinung im Franken-
walde am schönsten
erhalten. Durch sie
wird uns im kleinen
der ganze Bau und die
Entstehung des F"ran-
kenwaldes klar. So
mag im Frankenwald
ein Durchschnitt aus-
gesehen haben, ehe die
Verwerfungen und die
Durchbrüche vulkani-
scher Gesteine auf den
Schichtenbau verän-
dernd einwirkten. Jetzt
ist der Bau des Ge-
birges viel beschwer-
licher zu begreifen.
Verwerfungen haben
Sättel und Mulden zerrissen, gegenseitig verschoben
und neu gedehnt und zusammengestaucht. In den
dünnen, dunkleren Schichten des Profils, die aus
Alaunschiefer bestehen, habe ich trotz dieser
haltungen und Pressungen noch bestimmbare Ver-
steinerungen, Graptolithen gefunden. Ich konnte
Fig. I. Gefalteter Kieselschiefer vom Eselsberge bei Saalburg a. d. S, (Frankenwald).
Fig. 2. Sattelbildung im Kulm von Ziegenrück a. d. S. (Frankenwald).
682
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 43
dort Rastrites hybridus Lapw., Rastrites percgrinus
Barr, und üiplograptus folium Hiss. nachweisen.
Der ungeheure Drucl; vermoclite die tierischen
Überreste doch nicht zu vernichten.
In diesem zweiten Profil sind kulinische
Schieferschichten , die den Lehestener Schiefern
dem Alter nach gleichkommen, zu erkennen. Der
Steinbruch schlielSt uns einen Sattel auf, in dem
genau wie oben die Kieselschicferschichten hier
die Kulmschieferschichten zusammengefaltet wur-
den. Der Sattel ist bedeutend größer wie die
kleinen Sättel im Eselsbergprofil. Leider wird
dieser und auch der andere hochinteressante Stein-
bruch immer noch benutzt, so daß in kurzer Zeit
diese lehrreichen Profile verschwinden werden.
Rudolf Hundt.
In Tschermak's Mineral, petrogr. Mittei-
lungen bringt ¥. ¥^. Wright die Beschreibung
eines von ihm konstruierten neuen petrographischen
Mikroskopes, das sich besonders zur Untersuchung
sehr feinkörniger Mincrialien, also z. B. künstlicher
Silikat])räparate eignen soll. Eine starre Ver-
bindung der Nikols ermöglicht eine gleichzeitige
Drehung um die Aclise des Mikroskopes. Der
obere Nikol bleibt im Tubus. Der Polarisator wird
bei Beobachtung im gewöhnlichen Licht ausge-
schaltet, wobei sicli keine Störung des Bildes, die
bei Ein- und Ausschaltung des Analysators oft
eintritt, bemerkbar macht. Die Art der Anbringung
eines Abbekondensors in A'^erbindung mit einem
Ahrensprisma (wie bei P'uessmikr. la) macht die
Vorrichtungen, die der Ein- und Ausschaltung der
Oberlinse des Kondensors dienen, entbehrlich.
Die Platte mit der „tinte sensible", die nicht
zwischen Objekt und Analysator, sondern unter
dem Kondensor angebracht ist, kann mit ihrer
Metallfassung um die geometrische Achse des
Mikroskopes gedreht werden. Die Bestimmung
der Hauptschwingungsrichtung in einem Mineral
wird dadurch erleichtert, daß diese Drehung
schneller als die des Objekttisches vor sich gehen
kann. P^ine Abstufung in der Vergrößerung des
Bildes wird durch Verschiebbarkeit der Bertrand-
schen Linse ermöglicht, unter der sich — ebenfalls
eine Neuerung — eine Irisblende befindet, die
mit ihr auf und ab bewegt werden kann. Eine
zweite unter dem Okular angebrachte Blende soll
das nicht von dem zu untersuchenden Material,
sondern von seinen Nachbarn im Schliffe her-
rührende Licht abblenden, das sich bei Beobach-
tung der Achsenbilder oft unangenehm bemerkbar
macht. Aicliberger.
Eugenik. In jüngster Zeit wurde der Geburten-
rückgang in den europäischen Kulturstaaten von
vielen Autoren behandelt, aber nur wenige machten
den Versuch, diese Erscheinung wissenschaftlich
zu erklären, sondern sie wurde meist auf sittliche
Verkommenheit zurückgeführt. Prof Dr. Hugo
.Sellheim in Tübingen sucht nun in einer Ab-
handlung über ,,Produktionsgrenze und
Geburtenrückgang" den Beweis zu führen,
daß die Ursache der abnehmenden Geldhäufigkeit
in der Erschöpfung der menschlichen Produktions-
kraft liegt, die, aufgezehrt von der Sorge um die
Selbsterhaltung, für die Zeugung von Nachkommen
nichts oder nicht viel übrig hat. Die moderne
kapitalistische Wirtschaftsweise, welche die An-
spannung aller körperlichen und geistigen Kräfte
erfordert, hat die individuelle Selbsterhaltung
schwierig gestaltet und damit einen nachteiligen
Einfluß auf die I''orlj)flanzung ausgeübt; denn je
mehr Kraft ein Organismus für die Erhaltung des
eigenen Lebens aufzuwenden hat, um so weniger
vermag er für die Hervorbringung von Nachkommen
zu erübrigen. Das Tierreich bietet hierfür zahl-
reiche Beispiele, die es uns auch klar machen,
warum beim Menschen zu Zeiten des Aufbaues
und Abbaues seines Organismus, in Jugend und
Alter, schließlicli auch bei schweren Krankheiten,
d. h. in Zeiten, in denen der Körper mit sich
selbst genug zu tun hat, die h'ortpflanzung ver-
mindert oder ganz ausgeschlossen wird. Die
Blütezeit von Körper und Geist ist deshalb zu-
gleich die Domäne der Fortpflanzung.
Beim Übergänge von der harten Wildheit zur
bequemen Zivilisation steigt die P'ruchtbarkeit wie
bei einer Pflanze beim Kultivieren und beim Tier
durch Domestizieren. Unter günstigen Existenz-
bedingungen erfolgt nur eine spielende, nicht fühl-
bare, dalier unbewußte Aufteilung der Menschen-
kraft in Selbsterhaltung und P'ortpflanzung. Wie-
viele Kinder dabei einer P'amiiie von Natur aus
zustehen, ist im allgemeinen schwer zu sagen.
Daß die ungehemmte P"ruchtbarkeit sehr groß
sein muß, dürfte schon aus der Beobachtung her-
vorgehen, daß beim neunten Kinde der Höhepunkt
der körperlichen Entwicklung der P'rucht gefunden
wird und dann erst das .Absteigen beginnt.
Doch steigt die F"ruchtbarkeit in der Zivilisation
nur so lange, als neben Vermehrung der Nahrungs-
zufuhr auch eine Verminderung der Kraftausgabe
besteht oder wenigstens nicht eine stärkere Zu-
mutung, wie im Daseinskampfe des Menschen in
der modernen Welt, auf dem Plane erscheint.
Schließlich führt die höchste Übertreibung der
Produktion für die Selbsterhaltung zu einer Ver-
nichtung der Fortpflanzung und umgekehrt, die
Übertreibung der Fortpflanzungsproduktion zur
Selbstvernichtung.
Beim Menschen bewirkt die große .Anpassungs-
fähigkeit, seine Beherrschung der Natur, daß die
Fortpflanzung durch die Anstrengungen zur Selbst-
erhaltung lange nicht arg gefährdet wird. Den
Eintritt einer solchen Gefährdung genau festzustellen
ist überdies schwer, weil der Mensch dem Zusammen-
bruche durch eine rechtzeitige Korrektur seiner
Kräftebilanz vorbeugen kann. Sellheim sagt:
Wo eine Reibung droht, wird ihr aus dem Wege
gegangen. Der Wettbewerb wird auf allen Ge-
bieten menschlichen Lebens immer mehr durch
eine Art Schiedsgericht, statt durch den Kampf,
planmäßig zu regeln gesucht. Der Mensch ist
N. F. Xm. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
683
sich meist iiiid von vornlierein der Verteilung der
Kräfte im Kampfe bewußt. Darum unterläßt er —
z. B. durch den Schaden anderer klug geworden
— die Fortpflanzung oder wenigstens ihre emsige
Betätigung. Aus dieser Gewohnheit, sich nicht erst
durch eine wirkliche auftretende Verantwortung,
sondern schon durch die Voraussicht einer Ver-
antwortlichkeit in seiner Handlungsweise bestimmen
zu lassen, entspringt die Gefahr einer Übertreibung
der Vorsicht. Fs ist also im einzelnen Falle nicht
leicht zu sagen, ob die Unterlassung der h'ort-
pflanzung überhaupt oder weiterer Fortpflanzung
aus einer wirklichen oder eingebildeten Kraftlosigkeit,
neben der Selbsterhaltung die Sorge für die Nach-
kommen übernehmen zu können, sich herleitet.
Dazu kommt unser materielles Zeitalter mit dem
auf die Spitze getriebenen Bedürfnis eigener sowie
der Nachkommenschaft Sicherstellung gegenüber
allen Eventualitäten, wodurch jeglicher Unter-
nehmungsgeist lahmgelegt wird.
Die Befürchtung, daß mit dem Rückgang der
Geburtenhäufigkeit eine qualitative Verschlech-
terung des Menschenmaterials eintritt, hält SeU-
heim für begründet, namentlich dann, wenn die
Abnahme der Geburtenzahl durch das wahllose
Unterliegen der Fortijflanzung im Wettbewerb
mit der Selbsterhaltung bedingt wird. Zur Hebung
der körperlichen Konstitution der Bevölkerung
wünscht Seil heim eine allgemeine „Menschen -
Ökonomie", welche Selbsterhaltung und Fort-
pflanzung in das richtige Verhältnis bringt, und
als erste Maßregel dieser Art empfiehlt er die
Verhütung der Vergeudung von Frauenkraft im
Fortpflanzungsleben durch Frühgeburten, zu frühe
oder zu späte Geburten usw., und durch verkehrte
Plazierung der Frauen im Leben, hauptsächlich
ihre Teilnahme an der Produktion zur Lebens-
erhaltung.
H. P^hlingfer.
Biicherbesprechungen.
Diapositive zu H. Potoni^'s Entstehung
der Steinkohle. — In der paläobotanischen Ab-
teilung der Kgl. Geol. Landesanstalt zu Berlin sah
ich kürzlich eine durchscheinende Fenstertafel,
welche in einem Pappdeckel zwanzig ausgewählte
Diapositive nacli Abbildungen zeigt, welche von
H. l^otonie in seinen Werken über die h^ntstehung
der Steinkohle aus die Kaustobiolithe wiederge-
geben sind. Die Tafel enthält eine gute Aus-
wahl aus den 72 Diapositiven, welche der Verlag
von Otto Roth in Berlin NO, Prenzlauer Berg 21
vertreibt. Sowohl Landschafts- wie Museums-
aufnahmen, und auch einige Mikrophotogramme,
von fossilen Hölzern, Schlammbildungen usw.
waren vertreten. Die Tafel hatte, wie mir Kustos
Dr. W. Gothan, der jetzige Leiter der paläo-
botanischen Abteilung und Nachfolger von H.Poto-
nie mitteilte, seit einem Jahre am Fenster ge-
standen, so daß unter der Wirkung der Sonnen-
strahlen die Pappe verbogen war und die Farbe
verloren hatte. Dennoch wirkten die Diapositive
frisch, ihre Farben waren kräftig. Das Verzeichnis
umfaßt F'aulschlamm und seine Lagerstätten, Torfe
und ihre Lagerstätten, Braunkohle- und Stein-
kohlenprofile, deren paläobotanisch wichtigste
Eigenheiten, fossile Hölzer mit und ohne Jahres-
ringbildung, Liptobiolithe. H. Potonic hat den
Verlagsprospekt mit folgenden Worten eingeleitet ;
„Wiederholte Anfragen aus Universitäts- und an-
deren Kreisen nach den von mir in langen Jahren
zusammengebrachten Diapositiven über den im
Titel genannten Gegenstand veranlassen mich,
die wichtigsten dieser Diapositive hiermit der
()ff"entlichkeit zu übergeben. Als Führer für diese
Abbildungsreihe sind zu benutzen in erster Linie
die fünfte Auflage meines Buches „Die Entstehung
der Steinkohle usw. (1910), sodann meine drei-
bändige Arbeit „Die rezenten Kaustobiolithe und
ihre Lagerstätten" (Berlin, Kgl. Geolog. Landes-
anstalt)." Stremmö.
Janson, O., Das Meer, seine Erforschung
und sein Leben. (Aus Natur und Geisteswelt,
Nr. 30. Dritte Auflage, 1914).
Das kleine Werkchen behandelt in flüssiger
Sprache die physische Meereskunde sowie einige
Kapitel aus dem Tier- und Pflanzenleben des
Meeres. Zum besseren Verständnis des Textes
wäre die Beigabe einer Karte mit den Meeres-
strömungen sowie den Tiefen förderlich gewesen.
Ferner ist zu beanstanden, daß bei den Abbil-
dungen nie der Maßstab der Vergrößerung ange-
geben ist; der Laie, der die Dinge nicht aus
eigener Anschauung kennt — und nur unsere größ-
ten Museen können solche Seltenheiten wie z. B.
Tiefseeformen öffentlich ausstellen — muß sich nach
diesen Bildern ganz falsche Vorstellungen bilden.
H. Balss.
Schaefer, CL Einführung in die theore-
tische Physik. Erster Band: Mechanik
materieller Punkte, Mechanik starrer Körper
und Mechanik der Kontinua (Plastizität und
Hydrodynamik). 925 Seiten mit 249 Figuren
im Text. Leipzig 1914. Veit & Co. — Preis
geh. 18 Mk.
Verf. hat die mühevolle Arbeit unternommen,
ein neues Lehrbuch über das Gesamtgebiet der
theoretischen Physik zu schreiben, das, nament-
lich für Studierende bestimmt, den Gegenstand
etwa mit derjenigen Ausführlichkeit und Voll-
ständigkeit darstellt, wie er in den allgemeinen
Vorlesungen über theoretische l^hysik behandelt
werden kann. Trotz der nicht geringen Anzalil
von Gesamtdarstellungen der theoretischen Physik
ließ sich bisher in der Literatur in der Tat ein
684
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. Xm. Nr. 43
Werk vermissen, welches die großen theoretischen
Zusammenhänge mit genügender Klarheit in Ab-
leitung und Ergebnis quantitativ darlegt, die kon-
kreten phj'sikalischen Grundlagen genügend deut-
lich hervorhebt und andererseits diejenige Be-
grenzung des Stoft'es namentlich in der Richtung
der vielfach mehr mathematisches Interesse bieten-
den Spczialprobleme einhält, welche zur Erhaltung
des Überblicks für den Lernenden erforderlich
erscheint. Die Arbeit des Verfs. ist daher, da sie
einem tatsächlichen Bedürfnis gerecht wird, als
eine höchst dankenswerte zu bezeichnen. Ihre
klare Ausdrucksweise, die auch im Druck hervor-
tretende präzise Betonung der wesentlichen Be-
ziehungen werden dem Werke sicherlich viele
Freunde erwerben.
Die im vorliegenden ersten Bande gegebene
Darstellung der Mechanik ist, der Bedeutung dieser
Disziplin für die Einführung in die theoretische
Betrachtung des phx'sikalischen Geschehens ent-
sprechend, sehr umfangreich. Im ersten, der
iViechanik materieller Punkte gewidmeten Ab-
schnitt findet sich die Kinematik eines materiellen
Punktes, die allgemeine und spezielle Dynamik
eines substantiellen Punktes und eines S)-stems
materieller Punkte. Im zweiten Abschnitt über
die Mechanik starrer Körper wird die Kinematik
und die allgemeine und spezielle Dynamik dieser
Körper besprochen. Der besonders ausführliche
dritte Abschnitt über die Mechanik der Kontinua
bringt außer der Kinematik und der allgemeinen
Dynamik der Kontinua Betrachtungen über den
Zusammenhang zwischen Spannung und Deforma-
tion, spezielle Fälle des elastischen Gleichgewichts,
Gleichgewicht und Bewegung in einem unendlich
ausgedehnten Medium, Schwingungen von Saiten
und Membranen, Schwingungen von Stäben und
Platten, Gleichgewicht und kleine Schwingungen
von I'lüssigkeiten, wirbelfreie Bewegung einer
Flüssigkeit, Wirbelbewegung und Reibung von
inkompressiblen Flüssigkeiten. A. Becker.
Brohmer, P., ha u na von Deu tsc h la nd. Ein
Bestimmungsbuch unserer heimischen Tierwelt.
Mit 912 Abb. i. Text u. auf Tafeln. Leipzig,
Quelle i^C' Mayer, 1914. — Preis 5 Mk.
Eine Exkursionsfauna für unser Deutsches
Gebiet existierte bisher noch nicht. Überhaupt
fehlte es gänzlich an einem modernen Bestimmungs-
buch der Tierwelt für weitere Keise, vor allem
zum Gebrauch bei zoologischen Ausflügen und für
Scliülerübungen. Die an sich sehr wertvolle Syn-
opsis von L e u n i s - L u d w i g ist für diese Zwecke
einmal zu umfangreich, dann aber erlaubt sie nicht
immer ein sicheres Bestimmen der Tiere bis
wenigstens auf die Gattungen. Zudem sind seit
der letzten Auflage des Leunis fast dreißig Jahre
vergangen.
Die eben erschienene Fauna von Deutschland
von Brohnier versucht nun diesen Mangel zu
ersetzen. Da sie als Exkursionsfauna gedacht ist,
mußten bei der unter Mitarbeit von zahlreichen
Spezialisten zustande gekommenen Abfassung dieses
Werkes von vornherein ganz andere Gesichtpunkte
als beim alten Leu nis maßgebend sein. Obwolil
äußerlich in der P'orm eines kleinen bequem in
der Tasche mitzuführenden, nicht übermäßig starken
Bandes, enthält diese neue Fauna doch 587 Seiten,
und da sie sich nur mit der in Deutschen Landen
heimischen Tierwelt befaßt, übertrifft sie die
Synopsis ganz bedeutend in der Zahl von Gat-
tungen und Arten aus diesem Gebiet. Die in Deutsch-
land heimischen Wirbeltiere, Schwämme, Nesseltiere
und Weichtiere sind, soweit sich übersehen läßt,
sämtlich aufgenommen worden; für die anderen
Gruppen, vornehmlich die Protozoen, Spinnen und
Insekten, mußten Beschränkungen eingeführt
werden, wie das ja bei dem nicht zu überschrei-
tenden Umfang des Werkes nicht anders sein
kann. Alle Meerestiere sind fortgelassen, wodurch
ebenfalls für die anderen Raum gewonnen wurde.
Dichotomischc Tabellen führen mindestens bis
zu den Gattungen, bei denen die häufigsten und
bekanntesten Arten vermerkt stehen. Außer der
Tabelle zum Bestimmen nach morphologischen
Merkmalen findet sich für die Vögel noch eine
solche nach den Stimmen, soweit das möglich ist.
Überall erläutern schematische Skizzen das Wich-
tige an den zu unterscheidenden Merkmalen. Ein-
ausführlichcs Register erlaubt das Nachschlagen
bestimmter Namen. Hempelmann-Leipzig.
Knauer, Friedrich, Der Zoologische Gar-
ten. In: Thomas' Sammlung von Anleitungs-,
PIxkursions- und Bestimmungsbüchern. Leipzig,
Th. Thomas 1914. Mit 122 Abbildungen.
Der vorliegende Band der Thomas'schen Samm-
lung: „Der Naturforscher" will einem breiteren
Publikum den Entwicklungsgang, die Anlage und
den Betrieb unserer Tiergärten und deren erzieh-
liche, belehrende und wissenschaftliche Aufgaben
vor Augen führen, was um so notwendiger ist,
als über diese Dinge in weiten Kreisen eine große
Unkenntnis herrscht. Der Verf., der bekannte
Begründer und Direktor des Wiener Vivariums
und Tiergartens, berichtet über die Geschichte
der Tiergärten, Tierimport und Transport, Tier-
]3reise, besondere .Seltenheiten an Tieren in zoo-
logischen Gärten, Zuchterfolge in solchen, und
über das Alter der Tiere. Er gibt ferner einen
Einblick in den Haushalt der Zoologischen Gärten, er-
läutert deren Aufgaben, betont die Wichtigkeit
einer Zurschaustellung unserer einheimischen
P'auna und weist auf die Bedeutung der Tier-
gärten für die Wissenschaft, die Schule und die
Kunst hin. Es schließen sich ausführlichere Be-
schreibungen der größten Zoologischen Gärten
der Erde an, worauf kürzere von den übrigen,
nach Erdteilen und Ländern geordnet folgen. Auch
eine reiche Literaturliste über Tiergärten ist vor-
handen. Hempelmann, Leipzig.
Weinberg, Dr. med. W., Die Kinder der
Tuberkulösen. Mit einem Begleitwort von
N. F. Xin. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
68 s
Ober- Medizinalrat Prof. Dr. M. v. Gruber.
VI u. i6o S. Leipzig 191 3, S. Hirzel.
Auf Grund der Stuttgarter Familienregister und
Totenscheine untersuchte Dr. Weinberg die
Fruchtbarkeit der in Stuttgart von 1873 bis 1902
gestorbenen Tuberkulosen und das Schicksal der
ehelichen Kinder dieser Tuberkulosen bis zum
20. Lebensjahre. Zum Vergleich wurden ent-
sprechende Ermittlungen bei den Kindern der
1S76, 1879 und 1886 gestorbenen Nichttuber-
kulösen vorgenommen. Die Untersuchung ergab
die Unrichtigkeit der häufig gehörten Annahme
einer Überfruchtbarkeit der Tuberkulösen ; deren
Kinderzahl ist im Gegenteil etwas geringer als
die der nicht tuberkulösen Bevölkerung, was wohl
hauptsächlich auf das frühere Sterben tuberkulöser
Eltern zurückzufuhren ist. Von den Nachkommen
der Tuberkulösen erreichen aber im Verhältnis
erheblich weniger das Fortpflanzungsalter, als von
dem Nachkommen anderer Personen. Verfolgt
man das Schicksal der Nachkommen der in den
Jahren 1873 bis 1889 verstorbenen Eltern, so er-
gibt sich, daß vor Vollendung des 20. Lebensjahrs
starben von den Nachkommen tuberkulöser Väter
46,8"/,,, von den Nachkommen tuberkulöser Mütter
48,i''/o, von den Nachkommen nichttuberkulöser
Väter 40,3% und von den Nachkommen nicht-
tuberkulöser Mütter 40,2''/(|. Die Nettofruchtbar-
keit gemessen an der Zahl der das 20. Lebens-
jahr erreichenden Nachkommen betrug bei tuber-
kulösen Vätern wie bei tuberkulösen Müttern i,S,
bei nichttuberkulösen Vätern 2,6, bei nichttuber-
kulösen Müttern 2,3. Die Nettofruchtkarkeit der
Tuberkulösen reicht also zu ihrem eigenen Ersatz
nicht hin, was vom Standpunkte der Rassen-
hygiene gewiß nicht zu bedauern ist. Die Ur-
sachen der Übersterblichkeit der Kinder der Tu-
berkulösen sind vorwiegend sozialer Natur. Wenn
drei Wohlstandsschichten unterschieden werden,
so kommt man zu folgendem Resultat. Von je
lüoo Nachkommen Tuberkulöser starben vor voll-
endeten 20. Jahre:
Bei Tuberkulose
des Vaters der Mutter
In der wohlhabenden Schicht 370 388
In der Mittelschicht . . . 497 484
,, „ Unterschicht (Arbeiter,
Unterbeamte u. dgl.) 481 502
In Familien mit vielen Kindern sterben ver-
hältnismäßig mehr Kinder als in kinderarmen
Familien. Von sozialen Unterschieden abgesehen,
kommt dies daher, daß bei großer Kinderzahl
auch die Ansteckungsgefahr entsprechend größer
ist. Bei den ersten Kindern ist die Sterblichkeit
im allgemeinen geringer als bei den später Ge-
borenen, und der Einfluß der Geburtenfolge tritt
bei den Kindern der Tuberkulösen stärker hervor
als bei den Kindern nicht tuberkulöser Eltern.
Die Steigerung der Allgemeinsterblichkeit mit
der Geburtenzahl ist hauptsächlich, aber nicht aus-
schließlich, die Folge der Steigerung der Tuber-
kulosesterblichkeit. Namentlich im ersten Lebens-
jahr ist die Sterblichkeit an anderen Ursachen
noch wesentlich stärker gesteigert. Auffallend
ist auch, daß die Kinder der Tuberkulösen keine
erhöhte Sterblichkeit an den akuten Infektions-
krankheiten des Kinderalters aufweisen.
H. Fehlinfjer.
Zenetti, Paul, Professor am Lyzeum Dillingen,
Die Entstehung der seh wäbi seh- bay-
rischen Hochebene. Verlag Natur und
Kultur, München, o. J. (1914). — Preis 75 Pfg.
Die sich an Gümbel, Penck-Brückner
und Weithofer im wesentlichen anlehnende
Darstellung gibt ein Bild der Entstehung der
schwäbisch-bayrischen Hochebene und ihrer mor-
phologischen Umbildung im Tertiär und Diluvium.
Abgesehen von manchen nicht präzisen Formu-
lierungen („Einbruchsgebiet" für Geosynklinale (!),
ferner über die Stellung der Vulkane) ist das ge-
gebene Bild im ganzen wohl zutreffend. Strit-
tige Punkte sind hervorgehoben. Aber gegen
die Art der Darstellung muß entschieden
Einspruch erhoben werden. Die gesuchte und
z. T. in üblem Sinne schulmeisterliche und un-
sachliche Ausdrucksweise („schlimme klimatische
Veränderungen", „das Verhängnis" für die Eiszeit
sind nur ein Beispiel von vielen) ist typisch da-
für, wie eine populäre Darstellung nicht sein soll !
G. Hornig.
Sir William Rarrsay, Moderne Chemie.
II. Teil, systematische Chemie. Ins Deutsche
übertragen von Dr. Max H u t h. Zweite Auf-
lage. 8". VII und 243 Seiten. Halle a. S. 1914,
Verlag von Wilhelm Knapp. Preis geheftet
3,80 Mk., in Ganzleinewand geb. 4.30 Mk.
Ramsay 's „Moderne Chemie" ist in den
chemisch interessierten Kreisen als ein ausge-
zeichnetes elementares Lehrbuch bekannt, in dem
besonders die allgemeinen Charakteristika der
verschiedenen Stoffklassen in glücklichster Weise
hervorgehoben worden sind. Daß die Darstellung
einwandfrei ist, erscheint bei der wissenschaft-
lichen Stellung, die der Verfasser in der inter-
nationalen Chemie einnimmt, als selbstverständlich,
und Stichproben bestätigen diese Erwartung. Nur
wäre bei Hydraten vielleicht ein Hinweis auf
die Werner 'sehen Anschauungen zweckmäßig
gewesen, während — wenigstens nach Ansicht
des Referenten — bei der Diskussion der Poly-
kieselsäuren von strukturellen Vorstellungen wohl
etwas zu reichlich Gebrauch gemacht ist. Ab-
gesehen von solchen Kleinigkeiten muß das Buch
als eine der besten Einführungen in die moderne
Chemie, die zurzeit in deutscher Sprache vor-
liegen, bezeichnet und kann daher rückhaltslos
empfohlen werden.
Berlin-Lichterfelde W 3. Werner Mecklenburg.
Dr. Julius Hoffmann's Alpenflora für Alpen-
wanderer und Pflanzen freunde. Mit
283 farbigen Abbild, auf 43 Taf, meist nach
686
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr. 43
Aquarellen von Hermann Friese. In 2. Auflage
mit neuem Text herausgegeben von Prof. Dr.
K. Giesenhagen. Stuttgart '14, Schweizer-
bart'sche Verlagsbuchhandlung. — Geb. 6 Mk.
Das Buch ist für den Alpenwanderer bestimmt,
dem es das Erkennen der auffälligsten Pflanzen-
formen erleichtern soll. Ohne besondere botanische
Kenntnisse vorauszusetzen, will es ihn in den Stand
setzen, die wichtigsten Vertreter der schönen Alpen-
flora zu bestimmen. Dies wird durch eine große
Zahl sehr guter farbiger Abbildungen erreicht,
die meist nach Aquarellen von Heimann Fr i ese
hergestellt sind, sowie durch einen ausführlichen
begleitenden Text, der für diese 2. Auflage von
dem Münchener Botaniker Giesenhagen ver-
faßt ist. Ausgeschlossen sind die sehr selten
vorkommenden Pflanzen sowie die, welche auch
außerhalb der Alpen gewöhnlich sind; doch werden
hier und da auch Ausnahmen gemacht. P^erner
ist dem Zweck des Buches entsprechend darauf
verzichtet worden, solche Pflanzen zu berück-
sichtigen, denen Erkennung dem Laien größere
Schwierigkeiten macht, wie z. B. Vertreter der
auch manchem Botaniker „unsympathischen"
Familien der Umbelliferen, Kompositen, Gräser,
Riedgräser usw. Immerhin ist aber z. B. von
4 neuen Tafeln eine den Gräsern gewidmet. Auf
den übrigen dieser neuen Tafeln sind auch die
aufrälligstcnp'arne, Moose, Lebermoose.undFlechten
dargestellt. Die Beschreibungen und Bilder sind
nach P^amilien angeordnet. Der Text, der mit
großer Sorgfalt, Sachkenntnis und Liebe herge-
stellt ist, enthält außer den Beschreibungen der
Pflanzen auch Angaben über ihre Verbreitung,
Umwelt, Lebensweise, ihren Nutzen, ihre "V^olks-
namen sowie manche anderen wertvollen Notizen.
Wir können das hübsche Buch, dessen Preis in
Anbetracht der großen Zahl der farbigen Bilder
als durchaus mäßig zu bezeichnen ist, jedem
Alpenwanderer als wertvolles Ausrüstungsstück
warm empfehlen. Miehe.
Dr. H. Brunswig, Die Explosivstoffe. Ein-
führung in die Chemie der explosiven X'orgänge.
Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. Band
333 der „Sammlung Göschen", kl. 8^ 158 Seiten
mit 9 Abbildungen und 12 Tabellen. Berlin
und Leipzig 1914. G. J. Göschen'sche Verlags-
buchhandlung m. b. H. — In Leinwand geb. 90 Pf.
Die vorliegende kleine Schrift besitzt gerade
jetzt, wo die Explosivstoffe inmitten unseres Erd-
teiles ihre verheerenden Wirkungen in furchtbarster
Weise ausüben, ein besonders aktuelles Interesse.
Sie eignet sich für alle die, die mit den Grund-
tatsachen und -theorien der Chemie bekannt sind,
und wird sich unter ihnen zu den alten noch viele
neue Freunde erwerben. Denn sie arbeitet, ohne
die Praxis zu vernachlässigen, die theoretischen
Grundlagen der Explosionsvorgänge sorgfältig
heraus, eine Aufgabe, zu deren Lösung Bruns-
wig als Verfasser des Bandes „Explosivstofi'e" in
Bredigs „Handbuch der angewandten physi-
kalischen Chemie" besonders befähigt erscheint.
Die Darstellung ist im allgemeinen klar und sach-
gemäß, nur hätte vielleicht ein etwas reichlicherer
Gebrauch von Abbildungen und Diagrammen ge-
macht werden können. Jedenfalls kann das Büch-
lein in jeder Hinsicht empfohlen werden.
Berlin-Lichterfelde W 3. Werner Mecklenburg.
Jezek, B., AusdemReiche der Edelsteine.
gr. 8". 171 p., 8 Bilderbeilagen und 8 Textfig.
Prag 1914. E. Weinfurter. — Preis 3 Kronen.
Es handelt sich um den Wiederabdruck von
13 P'euilleton-Artikeln, die seit Oktober 1912 in
der Prager Tageszeitung „Union" veröffentlicht
waren. Für den Fachmann bringen sie nichts
Neues. Die Mehrzahl der Artikel behandelt böh-
mische Edelsteine und Halbedelsteine. Im Vor-
dergrunde der Behandlung stehen weniger natur-
wissenschaftliche als ökonomische und historische
Daten. K. Andree.
Hägglund, E. (Stockholm), Hefe und Gä-
rung in ihrer Abhängigkeit von Was-
serstoff- und Hydroxylionen. Sonder-
ausgabe aus der Samml. ehem. u. chem.-techn.
Vorträge, Band 21. Verl. von Ferd. Enke, Stutt-
gart. — Preis 1,50 Mk.
Der Verfasser behandelt im wesentlichen den
Einfluß von Säuren und Basen auf die
alkoholische Gärung. Er unterscheidet da-
bei, wie das jetzt seit den bahnbrechenden Ar-
beiten E. Buchners allgemein üblich ist, zwi-
schen ze 11 freier Gärung und solcher, die mit
lebender Hefe vorgenommen wird.
Der Hauptwert der Veröffentlichung liegt in
der Wiedergabe der anscheinend sehr gewissenhaft
vom Verfasser selbst systematisch aus-
geführten Versuche. Ihr geht eine ziem-
lich vollständige Zusammenfassung der bisher auf
diesem Gebiet gezeitigten Ergebnisse voraus, so-
wie ein kurze Betrachtung über die allgemeine
Dynamik der Gärung und der Giftwirkung.
Die eigenen Untersuchungen bestätigen in der
Hauptsache die alten Befunde, daß sowohl die
H-wie dieOH-Ionen bereits in sehr geringer
Konzentration einen großen Einfluß auf
die Gärtätigkeit ausüben. Dieser ist je
nach der Konzentration und Eigenart der Säure
hemmender oder anregender Art. Dabei
kommt es nicht allein auf die Konzentration der
H-Ionen an, sondern auch denAnionen kommt
eine spezifische Wirkung zu, die z.B. bei
der Oxalsäure, Salizylsäure und Phosphorsäure
besonders auffällig ist. — Bei den Alkalien
überwiegt der hemmende Einfluß auf die Gär-
tätigkeit.
Von dem Einfluß der H- und OH-Ionen auf
die Gärtätigkeit ist derauf dieHefee nt Wick-
lung, d. h. das Wachtum der Zellen, scharf zu
trennen : Es kann bei starker Hemmung der Gär-
tätigkeit nur ein geringer Einfluß auf das Wachs-
tum vorhanden sein und umgekehrt. — Alkalien
N. F. Xin. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
68 5
wirken, wie der Verfasser nachweisen konnte, aus-
schließlich schädlich auf die Hefeentwicklung.
Den besprochenen Einfluß der H- und OH-
lonen auf die Gärungsenzyme führt der Verfasser
auf eine chemische Umsetzung zurück, wobei die
Enzyme als Ionen fungieren.
Dr. Herm. Meng-el.
Die Ansiedlung von Europäern in den Tropen.
Schriften des Vereins für Sozialpolitik, 147. Bd.,
I. bis 4. Teil. München und Leipzig, 1912— 1914.
Duncker und Humblot.
Im Jahre 1910 beschloß der Verein für Sozial-
politik die Vornahme einer Erhebung über die
Ansiedlung von Europäern in den Tropen, wobei
besonders auf die Frage einzugehen war, ob sich
die weiße Rasse in den Tropen dauernd
zu erhalten vermag. Bisher wurden vier Hefte
der Schriften des Vereines ausgegeben, die diesen
Gegenstand behandeln. Das i. Heft enthält den
Bericht der im Jahre 1908 unter Führung des
ehemaligen Unterstaatssekretärs Dr. v. Linde-
quist nach Ostafrika entsandten Kommission ;
Heft 2 unterrichtet über die Zustände in Mittel-
amerika, auf den kleinen Antillen, sowie in Nieder-
ländisch- West- und Ostindien ; Heft 3 enthält Auf-
sätze über Natal, Rhodesien und Britisch-Ostafrika;
Heft 4 behandelt Britisch-Kaffraria und seine
deutschen Siedelungen. Die von verschiedenen
Autoren geschriebenen Abschnitte stützen sich
auf mehr oder minder reiches Tatsachenmaterial.
Beim Lesen der Berichte gewinnt man den Ge-
samteindruck, daß die europäischen Ansiedler
überall in den Tropen mit den Widerwärtigkeiten
des Klimas schwer zu kämpfen haben. Im wirt-
schaftlichen Konkurrenzkampf sind sie als Unter-
nehmer den Farbigen freilich überlegen und
vermögen nennenswerte Erfolge zu erzielen,
während andererseits so gut wie nirgends in
den Tropen ein Bedürfnis nach einer weißen
Arbeiterbevölkerung vorhanden ist ; im
Gegenteil, eine solche könnte den Wettbewerb
mit den Eingeborenen nicht bestehen. — In den
britischen Kolonien in Afrika haben sich die
Weißen als Rasse erhalten, die Kreuzung mit
Farbigen ist dort nicht von Belang. In den mittel-
amerikanischen Ländern sowie in Ostindien findet
jedoch legitime und freie Vermischung der Weißen
und F'arbigen statt, und wo nicht ein beständiger
Nachschub von Kolonisten aus der Heimat statt-
findet, geht die weiße Rasse in der Eingeborenen-
bevölkerung auf. H. Fehlinger.
Wetter-Monatsübersiclit.
Während des diesjährigen September wech-
selte das Wetter in Deutschland mehrmals seinen
Charakter. Anfangs war es überwiegend heiter,
trocken und sehr mild; aber bald nach dem 10.
stellte sich kühles, regnerisches, unfreundliches
Herbstwetter ein, das mit einer mehrtätigen Un-
terbrechung bis zum Ende des Monats anhielt.
In seinen ersten Tagen wurden noch im größten
Teile des Binnenlandes sehr häufig 2c," C. über-
schritten, am 3 , 6. und 7. stieg das Thermo-
meter in Remscheid, am 9. in Halle, Dresden
und Dahme in der Mark bis auf 30" C Auch
die in der vorstehenden Zeichnung wiedergegebenen
mittleren Temperaturen lagen in dieser Zeit mei-
stens über 15 und um den 10. September stellen-
weise sogar über 20" C. Zwischen dem 10. und
13. aber fand überall eine starke Abkühlung statt,
die nach kurz vorübergehender neuer Erwärmung
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Deutschland.
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sich bis gegen Ende des Monats langsam fortsetzte.
Der Himmel war seit dem 11. überwiegend be-
wölkt. So oft er sich aber in den Nachmittags-
stunden aufklärte, kühlte sich die Luft in der fol-
688
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 43
geiiden Nacht um so stärker ab. In der Nacht
zum 25. sank das Thermometer in Ilmenau und
Lindau, in der Nacht zum 26. in Erfurt bis auf
den Gefrierpunkt, Ansbach brachte es auf einen
Grad Kälte.
Die mittleren Temperaturen des Monats kamen
in Norddeutschland ihren normalen Werten meist
sehr nahe, während sie im Süden beinahe einen
Grad zu niedrig waren. Dagegen war die Zahl
der Sonnenscheinstunden, infolge der geringen
Bewölkung des Monatsanfanges durchschnittlich
etwas höher als gewöhnlich; beispielsweise hatte
Berlin im ganzen 166 Stunden mit Sonnenschein
zu verzeichnen, 27 Stunden mehr als im Durch-
schnitt der 22 früheren Septembermonate.
Meßbare Niederschläge waren bis zum il. Sep-
tember in Nordost- und Süddeulschland recht
selten und blieben im Nordwesten sogar fast voll-
ständig aus. Zu dem Mangel an Regen, durch
den das Wachstum der Futterpflanzen und der
Hackfrüchte sehr beeinträchtigt wurde, kamen
seit dem 6. September den Erdboden noch weiter
austrocknende östliche Winde hinzu. Erst nachdem
am 12. in den meisten Gegenden ergiebige Regen-
fälle eingesetzt hatten, wurde der Boden zur Weiter-
führung der Herbstbestellung hinreichend gelockert.
Zwischen dem 12. und 23. wiederholten sich
die Regenfälle in größerer oder geringerer Stärke
fast täglich. Sie waren mehrmals von stürmischen
Westwinden und stellenweise von Gewittern be-
gleitet. Besonders wurde am 18. und 19. das Ge-
biet zwischen der unteren Elbe und Weser
von einem schweren Nordweststurm und un-
gewöhnlich heftigen Regengüssen betroffen,
die vorübergehend zu einer Sturmflut führten.
Bis zum Morgen des 19. wurden z. B. in Ham-
burg 06, in Cuxhaven 44, in Bremervörde Jl und
in Wilhelmshaven 33 mm Niederschlag gemessen.
Nach wenigen ruhigeren und im allgemeinen
trockenen Tagen traten am 28. September an
der Nordküste abermals Weststürme ein und
gingen wieder in den meisten Gegenden Regen-
fälle hernieder, die zuletzt besonders östlich der
Oder ergiebig waren. Die Niederschlagsumme
des ganzen Monats belief sich für den Durch-
schnitt aller berichtenden Stationen auf 86,5 mm,
während die gleichen Stationen in den früheren
Septembermonaten seit 1891 nur 62,5 mm Regen
geliefert haben.
*
Die allgemeine Anordnung des Luftdruckes
in Europa wies mehrmals so bedeutende Druck-
unterschiede auf, wie sie im ersten Herbstmonat
nicht sehr häufig vorzukommen pflegen. In seinen
ersten Tagen zogen mäßig tiefe Barometerdepres-
sionen von Nordskandinavien ins Innere Rußlands
hinein, während ein ziemlich hohes Maximum
von Westeuropa in etwas südlicherer Breite nach-
folgte. Zwischen dem 12. und 15. September
aber erschienen auf dem Nordmeer rasch hinter-
einander mehrere außerordentlich tiefe Minima
und drangen in Begleitung stürmischer Winde
eilends südostwärts vor. Noch tiefer war ein
neues Minimum, das am 18. September von
Schottland nach der südlichen Nordsee und Ost-
see eilte. Nachdem sodann wieder ein umfang-
reiches Hochdruckgebiet von West- nach Mittel-
europa vorgedrungen war, traten am 27. und 28.
auf der skandinavischen Halbinsel wiederum sehr
tiefe Minima auf, die in Deutschland abermals
stürmisches, regnerisches Wetter herbeiführten.
Dr. E. Leß.
Anregungen und Antworten.
Dr. P. W. in G. In A. Berg, Geographisches Wander-
buch (Prof. Dr. Bistian Schmid's Naturwissenschaftliche Schüler-
bibliotheli Bd. 23 — B. G. Tcubner, Leipzig 1914, Preis geb.
4 Ml;.) findet sich auf S. Iio — 116 eine ausführliche Anleitung
zur Herstellung von Reliefs auf Grund der Maße der
Meßtischblätter aus einer Grundlage von übereinandergeschich-
telen Papp- bzw. Holztafeln und Ausfüllung der Zwischen-
räume mit Modelliermasse. Eine Grundlage aus Holz bzw.
Pappe ist nicht zu entbehren, da Plastilin ziemlich teuer
ist. Es ist aber die beste Modelliermasse, da Töpferton leicht
Risse bildet; er trocknet allerdings schneller als Plastilin.
Dieses ist in sehr guter Qualität von Günther Wagner, Han-
nover, unter dem Namen ,,Nakiplast", das Kilogramm zu
1,60 Mk. in verschiedenen Farben zu beziehen.
Um das teure Plastilin immer wieder verwenden zu
können, wird empfohlen, nach dem farbigen Holz-Plastilin-
Modell ein Gipsmodell für dauernde Erhaltung zu formen,
wozu P. Groß eine Anleitung gibt in der ausgezeichneten
Zeitschrilt: ,,Die Arbeitsschule", Monatsschrift des deutschen
Vereins für Knabenhandarbeit und Werkunterricht (Verlag
Quelle & Meyer, Leipzig. — Bezugspreis jährlich 3 Mk.). Der
sehr lesenswerte Aufsatz ist betitelt: „Werkarbeit und Werk-
stattübungen im Dienste des erdkundlichen Unterrichts" (Jahr-
gang Ig 14, Heft 6). Auch die Bemalung des Reliefs nach
geologischen Gesichtspunkten ist bei Berg und Groß ein-
gehend geschildert. Ferner ist zu erwähnen ein Aufsatz von
Reisig, Modellieren im geographischen Unterricht (Die
Arbeitsschule, Jahrg. 1912, Heft 7/8). Dr. G. Hornig.
M. H. Die übersandten Käfer ließen sich leicht be-
stimmen als Tribolium femigineum Fabr., aus der Familie der
Tenebrionidae, wohin Tenebrio molitor = Mehlkäfer
gehört. Sie leben an schimmeligen Hölzern, in verschiedenen
Spezereicn und allem Brot. F. Hempelmann.
Inhalt: v. Bilguer: Die afrikanische VVasserfrage. Frank: Die Bedeutung der Astrophotographie. — Einzelberichte:
Bill: Über Crustaceen aus dem Voltziensandstein des Elsasses. v. Kriramel: Antike Samen aus dem Urient.
Zenneck: Demonstration und Photographie von Strömungen im Innern einer Flüssigkeit. — Kleinere Mitteilungen:
Hundt: Zwei lehrreiche Profile aus dem Frankenwald. Zwei Natururkunden. Wright: Neue petrographischc Mikro-
skope. SeUheim: Eugenik. — Bücherbesprechungen: Diapositive zu H. Potonie's Entstehung der Steinkohle.
Janson: Das Meer, seine Erforschung und sein Leben. Schaefer: Einführung in die theoretische Physik. Brohmer:
Fauna von Deutschland. Knauer: Der Zoologische Garten. Weinberg: Die Kinder der Tuberkulösen. Zenetti:
Die Entstehung der schwäbisch-bayrischen Hochebene. Ramsay: Moderne Chemie. Hoffmann: Alpenflora für
Alpenwanderer und Pflanzenfreunde. Brunswig: Die Explosivstofi'e. Jezek: Aus dem Reiche der Edelsteine.
Hägglund: Hefe und Gärung in ihrer Abhängigkeit von Wasserstoft- und llydroxylionen. Die Ansiedlung von Euro-
päern in den Tropen. — Wetter-Monatsübersicht. — Anregfungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Schriftleiter Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. IL, Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den i. November 1914.
Nummer 44.
Die Mammutflora von Borna.
[Nachdiuck verboten.] Von Dr. E.
Eins der schönsten und besterhaltenen M a m -
mutskelette, die unsere naturhistorischen Samm-
lungen zieren, ist das durch große, stark gebogene
Stol3zäline besonders ausgezeichnete des Museums
für Völkerkunde zu Leipzig. Es stammt aus dem
Diluvialgebiet südlich von Leipzig und wurde im
Dezember 1908 in einer Ziegeleigrube im VVyhra-
tale bei Borna ausgehoben. Der von Professor
F"elix' (Veröffentlichungen des Städtischen Mu-
seums für V^ölkerkunde zu Leipzig, Heft 4, Leipzig
1912) ausführlicli bearbeitete Fund ist deswegen
noch von ganz besonderem wissenschaftlichem
Interesse, weil sich mit ihm in derselben Fundschicht
— einem grauen, sandigen Tone — neben einem
Stück einer Renntierstange zahlreiche P f 1 a n -
zenreste gefunden haben; diese mußten uns
einen Einblick gewähren in die Vegetation, welche
das Mammut bei Lebzeiten umgab, und aus wel-
cher letzteres seine Nahrung entnahm. Ferner
mußte die Untersuchung dieser Pflanzenreste über
die wichtige Frage des Waldwuchses während der
glazialen Phasen des Eiszeitalters Licht verbreiten
und schließlich überhaupt einen wertvollen Beitrag
liefern zur Geschichte der Pflanzenwelt unserer
Heimat. Es ist daher mit Irrenden zu begrüßen,
daß diese wichtige pflanzenführende Fundschicht,
die heute zum großen Teil abgebaut, im übrigen
aber verschüttet und nicht ohne weiteres mehr
zugänglich ist, durch einen der berufensten
P'achleute eine eingehende und kritische Be-
arbeitung erfahren hat. C. A. Weber in
Bremen hat die Resultate seiner Untersuchun-
gen kürzlich (im i. Hefte des XXIIL Bandes der
Abhandlungen des Naturwissenschaftlichen Vereins
zu Bremen [Bremen 1914]) der (Öffentlichkeit über-
geben. Da nur eine möglichst sichere Einordnung
derartiger Funde in die Glazialchronologie die
Gültigkeit der aus ihnen für die Geschichte der
Pflanzenwelt gezogenen Schlüsse gewährleistet,
so sei mir im Anschluß an die Weber'sche
Arbeit an dieser Stelle ein kurzes Eingehen auf
die Bornaer Mammutflora mit besonderer Berück-
sichtigung des angedeuteten Punktes gestattet.
Der Hauptcharakter ist der Flora der
Mammutschicht durch das Überwiegen der
Moose gegeben, die stellenweise in solchen
Mengen auftreten, daß man die betreffenden Lagen
fast als sandigen Moortorf bezeichnen könnte.
Die Moose werden daher auch die Physiognomie
des Vegetationsbildes in der Umgebung der Fund-
stelle bestimmt haben. Vorwiegend aus //>/-
nuDi vcniicosuni und H. iiitcrnicdinm zusammen-
gesetzte Mooswiesen werden die Wasseransamm-
lung umsäumt haben, in der ihre Reste zusammen
Werth.
mit dem Mammutkadaver eingebettet wurden.
Wie die genannten Arten verlangt auch die Mehr-
zahl der übrigen gefundenen Moose ähnliche
Feuchtigkeitsverhältnisse und setzt ein sehr nasses,
womöglich gelegentlich überschwemmtes Gelände
voraus.
Von den Blütenpflanzen , deren Reste die
Fundschicht lieferte, kommen unter gleichen Be-
dingungen vor: Erioplwnim Schciiclizcri, E. aii-
otisfi/otitiiii, Carcx rostrata, C. lasiocarpa, Raiuin-
culus JiypcrborcHS und CoDiariim paliistre, ferner
auch wohl Rainiiiculus acer und Coroiiaria ßus
ciicnli.
Daneben finden sich aber auch Reste von
Pflanzenarten, die trocknere Standortsverhältnisse
erheischen. Von Moosen sind hier zu nennen:
Disficliiiiii capillacciiiii, Dcsiiia/odcii latifoliits var.
vutticiis, Tartiila riiralis, T. aciphylla , Ai)ibly-
stcgiiim scrpcjis, Hypmim chrysopliyUitm, H. haiiiu-
losiiiii, H. polygamiim, H. profensiim, von Blüten-
pflanzen : Salix polaris, S. licrbacea, S. myrsinites,
Silciie i)ißata, Potciitilla aiirea, Arabis saxafilis
und ^-Inncria arciica.
Es ergibt sich mit größter Wahrscheinlichkeit,
daß die Umgebung der Mammutfundstelle aus
Moos wiesen gebildet wurde „mit einem lücki-
gen Bestände von Gräsern, Seggen und besonders
von Wollgräsern . . ., die zeitweilig ziemlich naß
und wahrscheinlich hier und da mit trockenen
Bülten durchsetzt waren, auf denen Zwergweiden,
vereinzelte Ericaceen und einige niedrige Blumen-
stauden in dem sie sonst überziehenden Moosrasen
wuchsen".
Dazu kommt eine an Arten und Individuen
geringe Zahl von Wasserpflanzen : Nifclla flcxilis,
Flypiiiim ßnitaiis, BafracJiium spec. , allenfalls
auch Ilypiiiim exaimtlaimn , IL piirpitrasccus
var. rofac , Scorpidiiiin scorpioides , Raiiiiiiciiliis
liyperboreiis. Häufiger fanden sich die Steinkerne
zweier Pofarnogeton - Arten : P. piisilliis und P.
filifonnis, namentlich diejenigen des ersteren.
Was die wichtige Frage des Bau m wuc hses
in jener eiszeitlichen Periode angeht, der die in
der Mammutschicht abgelagerten Pflanzenreste
entstammen, so können nach Weber auf solchen
nur ein paar Pollenkörner von Pinus , sowie ein
Stück abgerollte Rotföhrenborke hinweisen. Bei
der guten Erhaltung und dem reichlichen Vor-
kommen von Pollenkörnern anderer Pflanzen
scheint es undenkbar, daß Föhrenpollen in größerer,
auf einen reichlichen Bestand des Baumes in der
Gegend der Fundstätte weisenden, Menge in der
Ablagerung vorhanden gewesen ist. Wenn nicht
das gefundene Rindenstück — was bei seinem ab-
690
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 44
gerollten Zustande nicht unmöglich ist — gar aus
einer älteren, bereits denudierten Schicht stammen
sollte, so lassen die Tatsachen doch nur den
Schluß zu, daß die Kiefer zur Zeit der Ablage-
rung der Mammutschicht nur ganz zerstreut in
der Nähe der Fundstelle aufgetreten ist. Dasselbe
gilt für die Beurteilung der wenigen Pollenkörner
von Bctitla, die sich an mehreren Stellen des ge-
bankten Teiles der Schicht fanden, wenn sie
nicht überhaupt — was am wahrscheinlichsten
deucht — auf strauchartige Birken wie Bct/ila
nana zu beziehen sind. Auch die spärlich aufge-
fundenen Pollenkörner von Weiden können kaum
auf ausgedehntere höhere Weidengebüsche, wie
sie noch im südlichen Westgrönland vorkommen,
deuten und gehören mit größter Wahrscheinlich-
keit den allein in Blattresten in der Fundschicht
vertretenen Zwergweiden {Salix polaris, S. iiiyrsi-
iiitcs, S. licrbacca) an.
Wir gelangen mithin zu der Vorstellung, daß
in bezug auf den I^aumwuchs die B o r n a e r Gegend
damals ein ähnliches Bild geboten haben muß, wie
heute etwa die Gebiete der arktischen Baumgrenze.
Daß diese, zumal diejenigen Europas, auch sonst
eine ähnliche Zusammensetzung ihrer Vegetation
erkennen lassen, zeigt Weber des weiteren aus-
führlich.
Fig. I. Blau von Salix
polaris Wahlbg. s'/i/l.
(Original.)
Fig. 2. Frucht von Pottntilla
atirca L. 15/1.
(Original.)
Die Mehrzahl der Pflanzenarten der Fundschicht
hat gegenwärtig eine sehr weite Verbreitung, die
sich über die Arktis, das alpine Gebiet der ge-
mäßigten Zone sowie das mitteleuropäische Tief-
land erstreckt. Ihnen schließen sich einige Arten
an, die klimatisch gemäßigte Gebiete bevorzugend
nur unter günstigeren lokalklimatischen oder
sonstigen Verhältnissen auch in der Arktis wie
in den alpinen Lagen der gemäßigten Zone vor-
kommen: Urtica dioica, Corona ria flos citciili,
Silciic inßata, Carduus oder Cirsiiim. Eine klei-
nere Zahl der gefundenen Pflanzenarten dagegen
ist auf klimatisch enger umgrenzte Regionen be-
schränkt. Unter den hierher gehörenden Blüten-
pflanzen der Bornaer Fundschicht sind heute:
arktisch alpin
Salix polaris Arabis saxatilis
Ranunciilus liyperborcus Potcntilla aiirca
Armeria arctica
arktisch -alpin
EriopJioriim Scheuch zeri
Salix hcrbacea
Salix iiiyrsinitcs.
Von diesen Pflanzen sind wohl am häufigsten
in dem Fundmateriale die arktische Salix polaris
— eine der bekanntesten Pflanzen aus glazialen
Ablagerungen Pluropas — und die alpine Potcn-
tilla aiirca, die mit Sicherheit bisher in glazialen
Ablagerungen noch nicht angetroffen war. Beide
können mithin als die charakteristischsten Blüten-
pflanzen der Mammutschicht von Borna gelten
und sind in V\g. i — 3, zusammen mit der eben-
falls nicht seltenen Salix herbacca als Vertreter
der heute arktisch-alpinen Gruppe, in ihren in der
Fundschicht uns erhalten gebliebenen Teilen
wiedergegeben.
Die Hauptcharaktere der Vegetation aus der
Fundschicht sind nach dem Gesagten: „Baum-
losigkeit oder größte Baumarmut, ein Vorherrschen
indifferenter Typen, das Vorkommen einer Anzahl
von Arten, die an arktische oder alpine Verhält-
nisse gebunden sind, und endlich das einiger, die
nur unter günstigeren Umständen dort zu gedeihen
vermögen. Vegetationen mit annähernd ähnlichen
Charakteren begegnen uns gegenwärtig in dem
arktischen Baumgrenzgebiete des nördlichen Nor-
wegens und südlichen und
südwestlichen Islands. In
beiden Ländern treten in
der im allgemeinen indiffe-
renten Hauptmasse der Vege-
tation mehr oder minder
reichlich arktische und ark-
tisch-alpine Typen und da-
neben auch hier weniger,
dort mehr einzelne Vertreter
südlicherer gemäßigter Zo-
nen auf." Daß die klima-
tischen Verhältnisse dieser
genannten Länder nun nicht
ohne weiteres auf die Nach-
barschaft Bornas in jener eis-
zeitlichen Periode, der die pflanzenführende Ablage-
rung entstammt, zu übertragen sind, ergibt sich aus
der kontinaleren Lage der Fundstätte an sich und
der notwendigerweise zur Eiszeit noch dazu kom-
menden Verschärfung des kontinentalen Klima-
charakters durch die Inlandeismasse. Das Klima
war in Borna sehr wahrscheinlich ein ausge-
sprochen kontinentales und wir werden
dort zu der in Rede stehenden Zeit kältere Winter
und wärmere Sommer gehabt haben , als heute
an der arktischen Westküste Norwegens und auf
Island.
Unter dem Einflüsse sehr kalter Winter blieben
vielleicht auch während eines großen Teiles des
Sommers die Bodentemperaturen in geringer Tiefe
unter dem physiologischen Minimum, das die
tiefer reichenden Wurzeln von Bäumen zur unge-
störten Ausübung ihrer Funktion nötig haben,
während zugleich heftige und während der Vege-
Fig. 3. Blatt von Salix
herbacea L. y'/a/'-
(Original.)
N. F. Xm. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
691
tationszeit häufige Winde den Baumwuchs ver-
kümmern ließen. Die bezeichneten beiden F'ak-
toren beherrschen, wie K i h 1 m a n n auf der Halb-
insel Kola nachgewiesen hat, an der dortigen
arktischen Baumgrenze das gesamte Pflanzenleben.
„Auf jeden Fall haben wir das Fernbleiben des
Waldes in den Besonderheiten des mitteleuro-
päischen glazialen Klimas zu suchen", das
sich von dem der Arktis und der Hochalpen,
wenigstens zum Teil, durch den kontinentalen
Charakter (ähnlich der arktischen und subarktischen
Steppe) unterscheidet.
Unter solchem Klima lebte also bei Borna eine
Pflanzenwelt, die sich vorwiegend aus Arten von
weiter Verbreitung zusammensetzte, denen aber
eine Anzahl von Formen beigemengt war, die
heute zum Teil auf das arktische, zum Teil auf
das alpine Gebiet beschränkt, teils aber diesen
beiden gemeinsam sind. Dazu kommen einige
Arten, die gegenwärtig das gemäßigte Klima be-
vorzugen und nur unter günstigeren Verhältnissen
in die Arktis vordringen. „Baumwuchs fehlte oder
war allerhöchstens durch vereinzelte Birken und
Föhren in der weiteren Umgebung der Fundstätte
vertreten". Wie weit sich diese baumfreie Zone
vor dem Inlandeisrande südwärts erstreckte, wie
breit mit anderen Worten der „Tundragürtel"
vor dem Landeise gewesen ist, läßt sich erst nach
der folgenden Feststellung des geologischen Alters
der Bornaer Fundschicht angeben.
Die „altalluviale" Talterrasse der Wyhra, in
deren Liegendem sich die tonige Mammutfund-
schicht von Borna befindet und die sich auf der
linken Talseite des Flusses von oberhalb Plateka
über Borna bis gegeriüber Witznitz erstreckt,
ist topographisch im allgemeinen schlecht ausge-
prägt und fügt sich fast als sanfte Abdachung
zwischen Diluvialplateau und Talaue ein. Von
letzterer ist sie (vgl. Erläuterungen zur geologi-
schen Spezialkarte Sachsens, Sektion Borna- Lob-
stedt, S. 42) wenigstens lokal durch eine ausge-
sprochene, etwa 2 m hohe, Böschung abgegrenzt,
ihre Grenze gegen den Abfall des Diluvialplateaus
dagegen scheint nirgends deutlich ausgeprägt zu
sein. Man könnte daher zunächst Zweifel an der
Reellität dieser Terrasse als eines selbständigen
Gebildes hegen und sie einfach als sehr sanft ge-
böschten Abfall des Diluvialplateaus auffassen.
Ihre Selbständigkeit ergibt sich jedoch aus
ihrem petrographischen Charakter. Die Terrasse
besteht aus einem sandigen Lehme, der
in bräunlichen, gelblichen und grauen Lagen
wechselnd sowie durch kiesige Streifen im ganzen
horizontal geschichtet erscheint und nur in der
Nähe des Gehänges des Diluvialplateaus und wo
kleine Talfurchen die Terrasse durchschneiden,
gröberes, offenbar aus dem Höhendiluvium abge-
schwemmtes Material enthält. So hebt sich die
Terrasse selbst wie auch ihre Unterlage, die blau-
grauen, sandigen (bis ca. 3 m Mächtigkeit er-
reichenden) Tone der Mammutschicht, deut-
lich als selbständiges Gebilde von den Schottern
und dem Geschiebelehm des anstoßenden Diluvial-
plateaus ab. (Wie schon eingangs erwähnt, ist
die Fundstelle durch den Abbau des Tones zu
Ziegeleizwecken stark zerstört; die Terrasse ist
hier nur noch in wenigen Teilen erhalten und
alles tiefer liegende verstürzt, verschüttet und ver-
wachsen. Ich bin daher Herrn Ziegelmeister Pfeil
zu ganz besonderem Dank verpflichtet, daß er
bei meinem Besuche die große Mühe nicht scheute,
unter Benutzung eines der alten Schürfe Prof.
Weber 's, das Profil bis in die pflanzenführenden
Mammuttone hinein wieder aufzugraben und mir
so einen vollen Einblick in die Lagerungsverhält-
nisse zu gewähren.) Es ist für unsere Frage
gleichgültig, ob wir uns die „altalluviale" Terrasse
im wesentlichen durch den Hauptfluß des Tales
entstanden denken oder sie der Hauptsache nach
auf die kleinen periodischen Rinnsale zurückführen
wollen, die seitlich vom Plateau herabkommen
und ihre Schuttmassen in das Haupttal vorschieben.
Wesentlich ist, daß die Terrassenlehme und
die sie unterlagernden Mammuttone erst zur Ab-
lagerung gelangen konnten, nachdem in die älteren
Schotter und den überlagernden Geschiebelehm
die Talfurche der Wyhra eingeschnitten worden
war. Es müssen daher die Terrassenlehme und
die Mammutschichten in ihrem Liegenden wesent-
lich jünger sein, als der Geschiebelehm, von dem
die Altersbestimmung am vorteilhaftesten auszu-
gehen hat.
Dieser Geschiebelehm ist in weiter Ausdehnung,
wie die Kartenblätter der sächsischen geologischen
Landesaufnahme dartun, von einer zusammen-
hängenden Decke von Löß oder Lößlehm
überspannt und wird allgemein als Grundmoräne
der vorletzten Eiszeit angesehen. Es liegen
keinerlei Anhaltspunkte vor, welche ihn einer
(noch) älteren Eiszeit zuweisen ließen, un-
bekümmert darum, welcher nordischen Vereisung
wir die weiteste Ausbreitung nach Süden zu-
schreiben wollen. Außerdem befinden wir uns
an der Fundstätte von Borna ganz zweifellos weit
südlich der Maximalgrenze der Ablagerungen der
letzten, mit der W ü r m - Vereisung im Alpen-
vorlande zu parallelisierenden, Eiszeit. Als Grenze
dieser letzten nordischen Vereisung in dem Ge-
biete nördlich von Leipzig gilt gemeinhin — vor
allem auch nach dem Kartierungswerke der Kgl.
Preußischen Geologischen Landesanstalt — im
wesentlichen der Endmoränenzug, der von Burg
bei Magdeburg über Beizig, Dahme, Sprem-
berg usw. verlaufend den Höhenrücken des
Fläming und des Niederlau sitzer Grenz-
walles krönt. Hierbei soll es jedoch nicht aus-
geschlossen sein, daß der letzteiszeitliche Glet-
scher gelegentlich noch mit seinem Rande um
weniges diese Linie überschritten hat ohne eine
markante Moräne aufzuschütten. Unmittelbar süd-
lich des genannten Endmoränezuges, dessen nähere
Beschreibung zugleich mit einer Begründung seines
Charakters als Ju ng-Endmoräne ich früher (Zeit-
schrift für Gletscherkunde, Bd. II, 191 2, S. 250 — 277)
692
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 44
gegeben habe, treffen wir in den Braunkohlen-
tagebauen der Se nfien berger Gegend auf die
erste viele Meter tief verwitterte (irundmoräne
(Geschiebemergel), wie sie für das ältere Glazial
als bezeichnend und charakteristisch gilt.
Nicht berührt wird aber hiervon ein End-
moränenzug, der das Plateau von Gräfe n-
h a i n i c h e n durchzieht und sich gegen Westen
und Nordwesten über die Gegend von Köthen
und Kalbe ins iVIagdeburgische fortzusetzen
scheint und den ich (a.a.O.), in Übereinstimmung
mit mehreren anderen Autoren, wegen bestimmter
morphologischer Eigentümlichkeiten als „zer-
schnittene Jungmoräne" ebenfalls noch der letzten
Vereisung zurechnen zu müssen glaube. Sei dem
aber wie ihm wolle, soviel steht für jeden im
norddeutschen Tief lande sich auskennenden Glazial-
forscher fest, daß der weiter südlich folgende
Moränenzug, der gleich westlich und nördlich von
Leipzig teils in wallförmiger Gestalt, teils als viel-
kuppiges Hügelgelände erscheint, und der nach Osten
weiter über die Gegend nördlich von Dresden
bis räch Kamenz zu verfolgen ist, dem älteren
Glazial zugerechnet werden muß. Eine Zuweisung
dieses Endmoränenzuges zur letzten Eiszeit oder
die Bezeichnung desselben als Grenzmarke des
letzten Inlandeises bedarf einer ausführlichen Be-
gründung und kann nicht durch einfache Behaup-
tung geschehen, wie es R. R. Schmidt in seinem
Werke „Die diluviale Vorzeit Deutschlands" mit
Bezug auf die hocinvichtige paläolithische Station
von Markkleeberg bei Leipzig versucht.
Die.'^er zuletzt bezeichnete sog. Taucha'er
Moränenzug nun grenzt im Norden das Geschiebe-
lehm- und Lößplateaugebiet ab, welches sich süd-
lich und südöstlich der sächsischen Hauptstadt
ausdehnt und auch die Fundstätte der Bornaer
Mammutflora umfaßt.
Steht so die Zuweisung des Bornaer Geschiebe-
lehms zur vorletzten — der alpinen Riß-
Eiszeit zu parallelisierenden — Vereisung außer
Frage, so wird dieses noch durch die nähere
Altersbestimmung des in seinem Hangenden be-
findlichen , sehr häufig von ihm aber durch ein
deutliches Denudationsgebilde, eine sog. „St ein -
sohle" getrennten, Lößes oder Lößlehmes noch
bekräftigt. Dieser Löß fügt sich durch seine Be-
schaffenheit und seine Verbreitung der allgemeinen
Lößdecke des norddeutschen Randdiluviums, die
allgemein als , jüngerer Löß' auf die Haupt-
lößablagerung zurückgeführt wird, ein, und keiner-
lei Anhaltspunkte gestatten seine Zuweisung etwa
zu einem „älteren Löß".
Dieser (jüngere) Löß nun ist, wie ich ver-
schiedentlich auseinandergesetzt habe, und wie es
auch der fast allgemein heute herrschenden An-
sicht entspricht, seiner Enlstehungszeit nach in
das Maximum der letzten (Würm-)Vereisung
zu verlegen : ,,Das Fehlen des Löß in dem ausgedehn-
ten Gebiete der zweifellos] ungglazialen. Ablagerungen
und Oberflächenformen (größter Teil Norddeutsch-
lands, Dänemark, Schweden, h'innland und nord-
wosiliches Rußland) zwingt uns die Vorstellung
auf, daß seine Ablagerung vor dem definitiven
Rückzuge des letzten Inlandeises vom Maximal-
stande seiner Ausdehnung vollendet gewesen war.
Die allgemeine Lößbedeckung der (älteren) Mo-
ränen am Saume des Glazialdiluviums läßt den
Löß jünger erscheinen, als die vorletzte (weiter
ausgedehnte) Vereisung. Sein vollständiges Fehlen
aber in den Untergrundschichten der jüngsten
Moränen trotz der zahllosen bekannten Interglazial-
profile schließt seine Bildung in der letzten Inter-
glazialzeit aus. Es bleibt damit für die Ablagerung
des jüngeren Löß nur der Höhepunkt der
letzten Eiszeit übrig. Hiermit im Einklang steht
die im Löß auftretende Fauna von (eiszeitlichem)
arktisch -kontinentalem Gepräge (Elcpl/as prum-
gcniiis, Rhinoccros ticliorrliiiins, Ovibus iiioscliatus,
Rangifcr farmidus, Eqmis caballiis usw.) sowie
die Tatsache, daß die im Löß gefundenen mensch-
lichen Artefakte denen der sicher (im lokalen
Sinne) nacheiszeitlichen Magdalenienkultur bereits
außerordentlich äiineln" (Werth, Die äußersten
Jugendmoränen in Norddeutschland . . ., Zeitschr.
f. Gletscherkunde, VI, 191 2, S. 276).
Das würmeiszeitliclie Alter des Löß schließt
aber ein, von Weber befürwortetes, riß-würm-
interglaziales Alter der die Mammutschicht be-
deckenden — fossilfreien — Terrassenlehme aus.
Denn diese Terrasse müßte dann, ebenso wie das
Diluvialplateau mit seiner Rißmoräne nebenan,
eine Lößdecke tragen , die aber (abgesehen von
gelegentlichen verschwemmten — und auch von
Weber ausdrücklich als solche erkannten —
Partien) durchaus fehlt. Es muß damit die Ter-
rasse selbst unbedingt jünger oder frühestens
gleich alt sein mit dem Maximalstaiide des jüngsten
(VVürm-)Eises, dessen Rand ca. 65 bzw. 100 km
weiter nördlich lag. Das unmittelbare Liegende
der Terrassenlehme, die Mammuttone mit ihrer
glazialen Flora und P'auna, werden damit schwer-
lich in eine frühere Phase als die beginnende
letzte Eiszeit verlegt werden können. Die Zeit
ihrer Bildung ist getrennt von dem ungefähren
Maximum — wir befinden uns in Borna nur noch
49 km von der Südgrenze der nordischen Ge-
schiebe — der vorletzten (Riß-)Eiszeit, die durch
den Geschiebelehm des Diluvialpleteaus repräsen-
tiert wird, durch die zur Ablagerung der „jüngeren
diluvialen Schotter" im Liegenden des Mammut-
tones und zum vorherigen Einschneiden des Wyhra-
tales notwendige Zeit. Hierfür würde das Aus-
gehende der Riß-Vereisung und das Riß-Würm-
Interglazial zur Verfügung stehen.
Die „altalluviale" Terrasse des Wybratales bei
Borna ist damit gleichaltrig den früher gleichfalls
als „Altalluvium" bezeichneten Terrassen in den
Urstromtälern Norddeutschlands, die zum Teil in
unmittelbarer Beziehung stehen zu den Maximal-
und den Rückzugsmoränen der letzten (Wurm-)
Eiszeit. Legen wir großen Wert auf die vom
Inlandeise ausgehende Stauwirkung auf die ihm
von Süden entgegenfließenden Flüsse und bringen
N. F. XIII. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
693
damit in Zusammenhang die Aufhöhung des Tal- Terrasse nicht durch organische Einschlüsse ein-
bodcns der alten Wyhra, dessen Rest uns in der wandfrei erwiesen ist. Nun ist aber nach den
heutigen Terrasse erhalten ist, so werden wir ge- obigen Ausführungen der n i ch t interglaziale
neigt sein, die Bildung dieser Terrasse, d. h. die Charakter dieser Terrasse schon durch den Mangel
Ablagerung der Terrassenlehme in das Maximum einer Lößdecke darauf erwiesen. Letzt-(riß-würm-)
der letzten Eiszeit zu verlegen und die der unter- interglaziale Ablagerungen verlangen eine Be-
lagernden fossilführenden Tone in das zugehörige deckung durch die jüngste (Würm-)Moräne bzw.
Frühglazial. Führen wir die Ablagerung der deren fluvialglaziale Äquivalente oder, außerhalb
Terrassenlehme aber auf irgendwelche lokalen des Bereiches der letzten Vereisung — ich erinnere
(oder klimatischen?) Verhältnisse zurück, so kann nur an das als älteste bekannte paläolithische
sie ebenso gut in einer späteren
Phase der letzten Eiszeit ge-
schehen sein. Jedenfalls kann
aber, dem Charakter seiner or-
ganischen Einschlüsse(Mammut,
Ren) wegen der unterlagernde
Ton seiner Entstehungszeit
nach nicht diesseits des(VVürm-)
Spätglazials fallen. Seine Bil-
dung fällt in die letzte Eiszeit,
eine genaue Festlegung auf
eine bestimmte Phase derselben
wird nicht leicht möglich sein;
nur einige Wahrscheinlichkeit
spricht dafür, daß ihre Ab-
lagerung in das letzte Früh-
glazial zu verlegen ist.
Wir können uns die Vor-
gänge während des Diluviums
in der Gegend von Borna an
der Hand des Profiles (Fig. 4)
und des folgenden Schemas klar machen, wobei Station Norddeutschlands berühmt gewordene Profil
ich die altdiluvialen Schotter, da sie in der Gegend von Weimar- Ehringsdorf- Taubach — , durch den
^^^?^4svi=]3
Fi
Profil von der Platcauhöhe östl. Görnitz (a. d. Pleiße) im Südwesten gegen
die Mammulfündstelle bei Borna (a. d. Wyhra) im Nordosten.
Längenmaßstab 1:25000. Höhenstufen in Meterzahlen angegeben.
1 Tertiär (Oligozän) ; 2 altdiluviale Kiese; 3 Geschiebelchm ; 4 Lößlehm; 5 jüngerer
diluvialer Schotter; 6 blaugrauer, sandiger Ton (Mammutschicht); 7 sandiger
Lehm (Terrassenlehm) ; S Aulehm usw.
südlich von Leipzig nicht nur nordisches bzw.
nördliches Material führen, sondern vielfach auch
Geschiebelehm -Bänke, Schmitzen und -Nester
einschließen, als glaziale bzw. fluvialglaziale
Bildung auffasse.
(jüngeren) Löß! Der Löß vertritt in seinem
stratigraphischen Werte die Würmmoränen außer-
halb des Bereiches der letzten Vereisung.
Die Feststellung des würmeiszeillichen Alters
der Fundschicht der Mamniutflora von Borna läßt
Vorletzte (Riß-)Eiszeit
Letzte (Würm-)Eiszeit
Vorletztes (Mindel-Riß-)Interglazial ' Talbildung in den oligozänen Ablagerungen.
( Aufschüttung der fluvioglazialen Hochterrasse (altdiluviale Schotter)
I und Bedeckung derselben mit Geschiebelehm.
[ Einschneiden des Wyhratales in die Ablagerungen
Letztes (Riß Wurm - )I n t ergl azial [ der Riß Eiszeit und Aufschüttung der „jüngeren
I Diluvialschotter".
Flühglazial f Ablagerung der Mammuttone;
,, , , . , ( Auffüllung des Tales durch die Terrassenlehme
Hochglazial ^ (Niederterrasse);
( Wiedereinschneiden des Flusses in die Terrassen-
Spätglazial lehme und beginnende Ablagerung in der neuen
( Furche.
Post gl azial zeit (Alluvium) ^ Definitive Bildung der heutigen Talaue, haupt-
I sächlich durch Ablagerung des Aulehmes.
Die Möglichkeit eines würm-eiszeitlichen uns ein Minimal maß gewinnen für die Breite
Alters der Mammutschicht von Borna hat auch der baumfreien Zone am Rande des großen nord-
Weber nicht ganz von der Hand gewiesen; er europäischen Inlandeises. Selbst wenn die aus
hält sie so lange für nicht ganz ausgeschlossen, den Resten des Mammuttones rekonstruierte, oben
wie die (bei rißeiszeitlichem Alter der Schicht näher skizzierte, Vegetation während des allge-
naturgemäß) interglaziale Natur der „altalluvialen" meinen Maximalstandes dieser Vereisung (siehe
694
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 44
oben) sich bei Borna ausgebreitet hätte, hätte sie
sich noch in einem Abstände von ca. lookm von
der Eisfront befunden. Fällt aber die Ablagerung
in das Früh- oder Spätglazinl, so wächst die Breite
des baumfreien Gürtels beliebig, je nach der spe-
ziellen Phase im Vorrücken oder Zurückweichen
des Landeises. Es ist klar, daß selbst bei einem
baumfreien „Tundra"Gürtel von nur loo km Breite
eine Vegetation von durchaus gemäßigt -klimati-
schem Charakter, wie sie unsere viel angefeindeten
Interglazialprofile ergeben haben, nicht ohne ein
ganz erhebliches Zurückweichen der Vergletsche-
rung, von wirklich interglazialem Ausmaße, denk-
bar ist. Damit fallen aber die auf die fioristischen
Einschlüsse bezüglichen Bedenken , die man zu-
gunsten einer Einheitlichkeit der Eiszeit gegen
die Interglazialprofile erhoben hat.
Die Erdöl-
[Nachdruck verboten,]
In keinem Teil des Deutschen Reiches hat der
Bergbau in den letzten Jahren einen so großen
Aufschwung genommen wie in Elsaß-Lothringen.
Jeder der drei Bezirke des Landes ist durch das
Auftreten eines oder mehrerer nutzbaren Mine-
ralien in größeren Mengen ausgezeichnet. Unter
diesen nehmen in Lothringen die Steinkohle und
die Eisenerze die erste Stelle ein ; im Oberelsaß
sind es die in jüngster Zeit aufgefundenen aus-
gedehnten Kalisalzlager, welche einen bedeutenden
Bergbau entstehen lassen.
Wesentlich älter als der Bergbau auf Eisen,
Kohle und Kalisalze ist die Gewinnung von Erdöl
und Asphalt im Unterelsaß.
Das Gebiet, in welchem abbauwürdige Vor-
kommen von Erdöl und Asphalt bekannt gewor-
den sind, liegt in der weiteren Umgebung von
Sulz u. W. zwischen H a g e n a u und Weißen-
burg, vorzugsweise bei Pechelbronn, der
Annexe von Lampertsloch. Von geringerer
Bedeutung sind Dürrenbach, Biblisheim,
die Waldreviere Oberstritten und Glas-
winkel, Uhlweiler, Ohlungen und
Seh wab weil er. Der Asphalt wird ausschließ-
lich bei Lobsann gewonnen.
Schon der Name des Ortes Pechelbronn, in
elsässischer Mundart Bechelbronn oder auch
Bachelbronn, deutet auf ein hohes Alter der Be-
kanntschaft mit dem Erdöl in dieser Gegend hin.
Zum erstenmal wird es erwähnt durch
Wimpfeling, der im Jahre 1498 von dem schon
seit vielen Jahren Verwendung findenden Bitumen
spricht. Die erste zusammenfassende Arbeit über
das Erdölvorkommen im Elsaß ist das 1625 von
Joh. Volk verfaßte Buch: „Hanawischen
Erdbalsams, Petrolei oder weichen
Agsteins Beschreibung" usw. In jener
Zeit wurde das auf einer Wiese bei Pechelbronn
austretende Erdöl meistens als Arznei besonders
für „podagrische Schmerzen" verwandt.*) Wegen
') Zu was das Öl sonst noch Verwendung fand , geht
aus folgenden Worten Joh. Volk's hervor: „Für den Erb-
grind ist das Ol unter den Bauren zu Lampertsloch und in
den umbliegendcn Dörffern ein gebräuchlich und gemein
Mittel; bin auch der Meinung, daß es den Flöhen gar eine
schlechte Nahrung oder Speise sein werde. — Für die Wand-
leuß mag gewilälich nichts besseres gefunden werden, so man
und Asphaltlagerstiitteu im UiiterelsalJ.
Von Dr. W. Wagner, Strasburg.
seiner Unreinheit und Dickflüssigkeit diente es
aber für gewöhnlich als Wagenschmiere , doch
sollen die Landleute der Umgegend es auch auf
Lampen gebrannt haben.
Der erste , welcher systematisch aus dem un-
reinen Erdöl durch Destillation Brennöl gewann,
war der griechische Arzt Eryn von Erynniß,
der im Jahre 1735 nach Pechelbronn kam. Ihm
folgte 1742 de la Sablonniere, der eine Art
Fabrik zur Reinigung des Erdöls erriclitete und
seit 1745 ging man dazu über, in Gruben das
Erdöl bergmännisch auszubeuten.
Der Bergbau auf Öl, der seit 1785 in größerem
Umfang von der Familie L e B e 1 betrieben wurde,
erstreckte sich bis zu einer Tiefe von 90 m. Man
fand etwa 10 verschiedene, an Öl reiche Sand-
lagen , und aus diesen wurde das Rohöl durch
Auskochen gewonnen. Bei diesem Verfahren er-
zielte man aus den Ölsanden etwa 4 % Rohöl.
Aus den Sandlagen traten mehrfach Ölquellen
aus (das sog. Jungfernöl), die mitunter längere
Zeit von großer Ergiebigkeit waren. So wurde
beim Abteufen des Heinrich-Schachtes im Jahre
1873 83 m unter Tage eine starke Ölquelle an-
getroffen, die in 24 Stunden 15 cbm Öl lieferte.
Seit 1884 ließen aber derartige Ölquellen stark
nach und im Jahre 1888 wurde der Grubenbetrieb
eingestellt.
Schon seit 1873, besonders aber seit 1880,
ging man dann dazu über, das Ol durch Bohr-
löcher zu gewinnen. Zunächst benutze man
Handbohrer, die aber bald durch den maschi-
nellen Bohrbettieb ersetzt wurden, dem allein die
großen Erfolge in der Petroleumproduktion zu
verdanken sind.
Im Jahre 1888 wurde das noch immer unter
der P'amilie Le Bei stehende Unternehrnen in
eine Aktiengesellschaft („Pechelbronner Ölberg-
werke Aktiengesellschaft in Schiltigheim") umge-
wandelt, der sich bis 1906 drei weitere selbstän-
dige größere Firmen anschlössen. In diesem
Jahre wurden durch den Direktor der deutschen
Tiefbohr-Aktiengesellschaft in Nordhausen diese
die Örter, da sie sitzen, nur mit dem rohen Öl
gedestillierte besser darzu wäre) sonderlichen
Betladen die Fugen bestreicht ....
(wiewohl das
aber an den
N. F. Xni. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
695
4 Firmen zu einem Konzern unter dem Namen
„Vereinigte Pechelbronner Ölbergwerke"
zusammengeschlossen. Unter dieser Firma nahm
nun die elsässische Erdölindustrie unter stetiger
starker Steigerung der Produktion, worüber die
am Schlüsse befindliche Produktionstabelle Auf-
schluß gibt, einen großen Aufschwung.
Das Erdöl ist eine Flüssigkeit, oft mit reich-
lichem Gaseinschluß, die sich, wie wir später
sehen werden, aus organischen Resten gebildet
hat. Sie kann deshalb keine nur aus ihr be-
stehende Einlagerung in den Schichtgesteinen
bilden, sondern braucht einen Träger in Gestalt
eines porösen Gesteines, wie z. B. Sand oder
Sandstein. Das Öl durchtränkt das Gestein wie
Wasser einen Schwamm, und niemals, selbst bei
den ergiebigsten Lagerstätten, haben wir uns das
Ölreservoir als eine mit Ol gefüllte große Höhle
vorzustellen. Je nach der Gestalt des porösen
zur Ölaufnahme geeigneten Gesteins richtet sich
auch die Gestalt der Erdöllagerstätte. Im Elsaß
sind bei Pechelbronn die Träger des Öls Sand
und Sandsteine , die zwischen Mergel geschaltet
sind und zwar in I'orm langgestreckter, oft ge-
bogener und sich gabelnder Lager, welche bei
verhältnismäßig geringer Breite sich sehr in die
Länge erstrecken und deshalb als L,agerschläuche
bezeichnet werden. Damit sich ein Öllager bilden
kann, bedarf es aber außer eines porösen Gesteins
als Träger, eines (_)1 undurchlässigen Gesteins als
einhüllender Körper. Diesen stellen im Elsaß
vorwiegend graugrüne, seltener rote und schokolade-
braune Mergel dar.
Betrachten wir nun kurz die geologische
Geschichte des elsässischen Erdölgebietes.
Während ursprünglich Vogesen und Schwarz-
wald ein zusammenhängendes Gebirge bildeten,
begann in der Tertiärperiode der Erde, insbeson-
dere in der sogenannten Oligozänzeit, jener Vor-
gang, welcher zur Bildung des Rheintales führte.
Durch ungleichmäßigen Druck teils aus Süden,
teils aus Osten auf dieses Vogesen-Schwarzwald-
Gebirge entstanden zahlreiche Risse in demselben.
Gleichzeitig fand eine allmähliche Senkung des
Gebietes der Rheinebene statt, die an den Rän-
dern von Abbiegungen und Zerreißungen begleitet
war. In diese, in der Richtung des jetzigen
Rheintals sich erstreckende Vertiefung, die gegen
Osten und zunächst auch gegen Norden und Sü-
den geschlossen war, drang vom Westen, vom
Pariser Becken her, etwa durch die Pfalzburger Mulde,
das Meer ein.
Das Material, aus denen sich das Tertiär im
Elsaß aufbaut, besteht aus verschieden gefärbten
Mergeln, Tonen, z. T. bituminösen Mergelschiefern,
Sauden und Kalksandsteinen, die mitunter ölhaltig
sind, Konglomeraten und Kalksteinen. Dazu tre-
ten als Ausscheidungen des Meerwassers Anhydrit,
Gips, Steinsalz und Kalisalze.
Wie bei der Mannigfaltigkeit in der Aus-
bildungsweise des Materials, ferner bei dem häu-
figen Wechsel, unter dem dieses auftritt, und end-
lich auf Grund der Versteinerungen zu erwarten
ist, war das Meer nicht immer der Herrscher des
heutigen Rheintalgebietes zur Tertiärzeit gewesen. Es
müssen damals hier große Schwankungen geherrscht
haben. Bald bedeckte ein seichtes Meer Teile
der jetzigen rheinischen Tiefebene, bald vertiefte
das Meer sich, so daß das ganze Land zwischen
den Vogesen und dem Schwarzwald vom Meere
bedeckt war. Ja das Meer tritt sogar zeitweise
über die Gegenden hinaus, die heute von den
Kämmen der Gebirge eingenommen werden.
Dann wieder fanden Hebungen statt, die zu manchen
Zeiten soweit gingen, daß der größte Teil des
Gebietes völlig trocken lag. Einer solchen He-
bung verdanken wir die Entstehung der Steinsalz-
und Kalisalzlager im Oberelsaß. Besonders die
Bildung mächtiger Süßwasserablagerungen , die
als das jüngste Tertiärglied im Oberelsaß festge-
stellt wurden, kann nur durch eine starke Heraus-
hebung des Rheintales und eine gleich darauf
wieder eingetretene Senkung erklärt werden, wo-
bei das Meer aber durch stehengebliebene Erhe-
bungen davon zurückgehalten wurde, wieder Besitz
von den früher eingenommenen Gebieten des Rhein-
tales zu ergreifen.
Durch die zahlreichen Bohrungen und das Ab-
teufen von Schächten auf Kalisalze gelang es
B.Förster und W.Wagner, die mindestens 1700 m
mächtigen Tertiärschichten im Oberelsaß einer
geologischen Gliederung zu unterwerfen.
Es lassen sich vier große Gruppen unterscheiden:
Zu oberst bunte Süßwassermergel mit eingelagerten
Sandsteinen, darunter graublaue und branschwarze
Mergel und Sandsteine mariner Entstehung; unter
diesen bunte und streifige, Gips, Anhydrit, Stein-
salz und Kalisalze führende zumeist bituminöse
Mergel, die ebenfalls zum größten Teil Bildungen
des Meeres darstellen und zu unterst grüne und
schwarze Mergel, die sich als ein Wechsel von
Süß- und Meerwasserbildungen erwiesen haben.
Durch einen versteinerungsreichen Schichten-
komplex sind die bunten und streifigen Mergel
in zwei Salz führende Unterabteilungen getrennt,
wobei die obere wenige Meter über der versteine-
rungsreichen Zone die Kalisalze enthält.
Diese Gliederung läßt sich in neuerer Zeit
auch mit derjenigen des Tertiärs im Unterelsaß
vergleichen, die von dem Geh. Bergrat Dr. L.
van Werveke aufgestellt worden ist, der sich
um die geologische Erforschung der elsässischen
Erdöllager große Verdienste erworben hat.
Die Hauptträger des Öls sind im Unterelsaß
die bunten und streifigen Mergel, die in ihrem
oberen größeren Teil gewöhnlich als „Pechel-
bronner Schichten" bezeichnet werden. Wäh-
rend aber im Oberelsaß in ihnen Sandsteine feh-
len und sie nur auf kürzere Zeit eine lokale Süß-
wasserbildung darstellen, im übrigen aber dem
Meer- und Brackwasser ihre Entstehung verdanken,
ist ihre Bildung im Unterelsal.5 unter einem dauern-
den Wechsel von Süß Brack- und Meerwasser vor
sich gegangen.
696
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 44
Die gesamte IVlächtigkeit der Pechelbronner
Schichten beträgt nach den neuesten Untersuch-
ungen etwa 475 m. Sie lassen sich in eine
höher fossilarme und eine tiefere fossilreiche Zone
trennen, wobei diese letztere vollständig der ver-
steinerungsreichen Zone im Oberelsaß entspricht.
Unterlagert werden die Pechelbronner Schichten
von einer bis 100 m mächtigen roten Mergellage,
die als die rote Leit schiebt von großer Be-
deutung für die Erdölbohrungen geworden ist.
Sie gibt den Horizont an, unter dem kein Öl mehr
zu erwarten ist.
Die Pechelbronner Schichten stellen einen
Wechsel von tonigen Mergeln, Sauden und Sand-
steinen dar und sind in der Art, wie sich die Ge-
steine verteilen, zur Aufnahme von Erdöl geeignete
Bildungen. Es sind denn auch diese Sande und
Sandsteine die eigentlichen Träger des Ols, und
zwar geht aus den Versteinerungen, welche die
abgebauten ( )lsandlinsen bei Pechelbronn enthalten,
hervor, daß diese, wie die sie unmittelbar um-
gebenden Mergel, Süßwasserbildungen sind. Ferner
stellte sich heraus, daß die bituminösen Sandsteine
stets Süßwasserschichten entsprechen , während
die bituminösen Mergel mitunter auch mariner
Abkunft sind. Im Oberelsaß, im Kalisalzgebiet,
fehlen dagegen Sandsteinbildungen in den ent-
sprechenden Schichten vollständig, die marinen
z. T. salzführcnden Mergel herrschen vor und hier
treten infolgedessen keine Öllager, sondern nur
bituminöse Mergel auf, die Bedingungen für die
Entstehung von Öllagern war eben nicht vorhan-
den. Es finden sich im unterelsässischen Petrol-
gebiet zwar starke Salzwasser, aber keine Salzlager
und im Oberelsaß zwar bitumenreiche Mergel,
aber keine ölhaltigen Sande, so daß im Elsaß
Salzlager und Erdöllager sich auszuschließen
scheinen.
Wie nun die genauen Untersuchungen der
Pechelbronner Schichten gezeigt haben, befinden
sich die reichsten Öllager dort, wo Süßwasser-
schichten mit fossilreichen Schichten wechsel-
lagern. Die Dicke der schlauchartigen Erdölflöze
bei Pechelbronn, welche ringsum von einer dun-
kelen, bituminösen mit Braunkohle durchsetzten
Mergelzone umschlossen sind, schwankt zwischen
0,3 und 2 m und steigt bisweilen bis 4, in ein-
zelnen Fällen sogar bis 5 und 6 m. Die längsten
Ölschläuche erstrecken sich 800 m weit und
haben eine durchschnittliche Breite von 30 m.
Sie entsprechen in ihrer Lage jedoch nicht der
Streichrichtung der Schichten, sondern sind nur
durch die Entstehungsverhältnisse bedingt, was
das Aufsuchen der Ölschläuche sehr erschwert.
Dazu kommt noch , daß besonders nach Ablage-
rung des Oligozäns, in der nächst jüngeren Periode
des Tertiärs im Miozän, das Rheintal stark von
Störungen betroffen wurde. Diese beschränkten
sich nicht nur auf die Abbruchränder, sondern sie
haben in mindestens ebenso starkem Maße — wie
ich dies besonders in letzter Zeit bei den Auf-
schlußarbeiten im oberelsässischen Tertiär nach-
weisen konnte — auch den Untergrund der
heutigen Rheinebene betroffen. Das Einfallen
der Schichten ist im allgemeinen bei Pechelbronn
mit 2 " gegen den Rhein gerichtet, doch machen
sich im einzelnen infolge der Störungen viele Ab-
weichungen geltend.
Durch Herrn Ingenieur Tzschach mann wur-
den an der Hand zahlreicher Bohrlöcher 13 ver-
schiedene Öllager über der roten Leitschicht bei
Pechelbronn festgestellt, von denen die zwischen
58 und 191 m über derselben gelegenen Horizonte
die reichste Ölführung aufwiesen. Die
schwereren Öle finden sich häufiger in den tieferen
Lagen, sie sind reich an Paraffin, so daß sie mit-
unter ein Verstopfen der Bohrlöcher hervorrufen.
Nach der Schwere lassen sich mehrere Gruppen
unterscheiden, deren spezifisches Gewicht zwischen
0,859 """^ 0,915 schwankt. Doch waren die im
Schachtbetrieb gewonnenen Öle noch schwerer
als diese durch Springquellen oder Pumpen er-
schlossenen.
Das Öl ähnelt am meisten dem pennsylvani-
schen und zeichnet sich durch einen hohen
Asphaltgehalt aus, weshalb bei trockener Destil-
lation ein bedeutender Koksrückstand bleibt.
Während die Bohrungen vor 1880 den Zweck
hatten festzustellen, wohin der unterirdische
Abbau sich wenden sollte um neue Lager zu er-
schließen, dienen die nach dieser Zeit unter-
nommenen Bohrungen zur direkten Gewinnung
des Petroleums selbst.
Die im Jahre 1881 nördlich vom Schachte
Pechelbronn niedergebrachten Bohrlöcher ergaben,
bis auf ein ölfündiges, schwach salzhaltige Wasser
und Gas, welch letzteres so stark ausströmte, daß
Herr Le Bei es in seinem Laboratorium jahrelang
zu Heiz- und Beleuchtungszwecken benutzen
konnte. Im April 1882 wurde dann durch das
Bohrloch Nr. 146 in 138 m Tiefe eine Springöl-
quelle erschlossen, die ungefähr 6 Jahre lang un-
ausgesetzt täglich 200 Faß Öl lieferte.
Nicht immer tritt das erbohrte Erdöl als Spring-
quelle auf, sehr oft muß es erst durch Pumpen
zu Tage gefördert werden. Es beruht dieser
Unterschied auf dem Gehalt an absoibiertcn
Gasen, die zum größeren Teil aus Sumpfgas, zum
kleineren aus ölbildenden Gasen und Olefinen be-
stehen. Die Gase entweichen beim Anbohren
und treiben das Öl in die Höhe; wo der Gas-
druck zum Emporbringen des Öles fehlt, muß
der Pumpenbetrieb einsetzen. Gerade die Spring-
quellen sind es, welche das elsässische Erdöl vor-
teilhaft von demjenigen von Oelheim in der Pro-
vinz Hannover unterscheiden, da sie von Wasser
fast freies Erdöl heraufbringen.
Eines der ergiebigsten Bohrlöcher war das
Bohrloch Nr. 186, das 1884 in 135 m Tiefe fün-
dig wurde und mit 300 Faß pro Tag völlig aus-
reichte, um den damaligen Gesamtbedarf der
Pechelbronner Ölraffinerie zu decken. Ganz be-
sonders günstig gestalteten sich Bohrungen im
Jahre 1886, in welchem Jahre die bedeutendsten
N. F. XIII. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
697
Springülquellcn angetroffen wurden, so daß sich
die Gesamtproduktion an Rohöl von 2874 Tonnen
im Jahre 1885 auf 7168 Tonnen erhöhte. Heute
sind diese reichen Springquelleii als solche nicht
mehr vorhanden, sie liefern jedoch als Pump-
quellen immer noch große Ölmcngen. Was die
Produktion und Lebensdauer einer Ölbohrung be-
trifft, so herrschen die größten Differenzen. Man-
che sind nach dem Anbohren des Öllagers sofort
sehr ergiebig, erschöpfen sich aber rasch, andere
liefern pro Tag nur geringe Mengen Öl, halten
aber oft mehrere Jahre lang an und versiegen
ganz allmählich. Die zahlreichen Rohrungen er-
wiesen im nördlichen Teil des Pechelbronner
Feldes, daß die in größerer Tiefe aufgefundenen
Öllager auch Schläuche darstellen, die sich nahe-
zu in der gleichen Richtung erstrecken wie die
in früherer Zeit durch den Streckenbau erwie-
senen Schläuche, daß dagegen nach Süden nach
Dürrenbach, sich ausgedehnte cMsandlager ein-
stellen. Natürlich waren, in Anbetracht des
schlauchförmigen Auftretens des Öles, nur ein ver-
hältnismäßig geringer Teil der Bohrungen fündig
gev/orden, ja nur 3% derselben erschlossen Öl-
quellen, die mindestens 30 Faß pro Tag lie-
ferten.
Wie schon erwähnt, wurde südsüdwestlich von
Pechelbronn bei Dürrenbach und Morsbronn
das Vorkommen von Öl nicht in Schläuchen, son-
dern als Ölsandflöze nachgewiesen, von denen 4,
die 5 m, 97 m, 258 m und 298 m über der
roten Leitschicht gelegen, von abbauwerter Bedeu-
tung sind.
Ferner wurden südlich von Pechelbronn bei
B i b 1 i s h e i m und in denWaldrevierenOber-
stritten und Glaswinkel (Glaswinkel liegt
etwa 1,5 km südlich von Walburg) viele Bohr-
löcher abgeteuft, die SSW— NNO streichende gute
Ollager bei Biblisheim in 3, bei Oberstritten und
Glaswinkel in 6 verschiedenen Horizonten über
der Leitschicht ergaben. Die Breite des Öl füh-
renden Streifens erkannte man bei Oberstritten zu
400 m.
Daß sich Ölvorkommen im Elsaß aber
noch bedeutend weiter südlich finden, beweisen
die über 10 km südsüdwestlich von Pechelbronn
südlich der Moder niedergebrachten Bohrungen
von Uhlweiler und Ohlungen. Bei Uhl-
weiler liegt das reichste etwa 50 m über der
roten Leitschicht, bei Ohlungen-Ost wurde bei
80 m der reichste von 6 Olhorizonten erwiesen,
und bei Ohlungen-West war nur eine 45 m
über den roten Mergeln gelegene Schicht pro-
duktiv.
Die Ergebnisse bei Uhlweiler und Ohlungen
waren ziemlich günstig. Eine zeillang tritt das
Öl frei aus den Bohrlöchern aus, und diese lie-
fern auch noch später durch Pumpbetrieb größere
Mengen.
Merkvvürdigerwei<e wurden aber in dem Gebiet
zwischen Uhlweiler, Ohlungen und Dürrenbach
keine abbauwürdigen Ölvorkommen erwiesen;
auch ließ sich an der Ausbildung der Schichten
erkennen, daß das Pechelbronner Feld von Norden
her die ölbildenden Stoffe zugeführt bekam, wäh-
rend bei Uhlweiler die Anschwemmung der orga-
nischen Masse aus Westen erfolgte.
Einem anderen höheren geologischen Horizont
als die bisher erwähnten Vorkommen gehört das-
jenige von Schwab Weiler, südöstlich von
Pechelbronn an. In alter Zeit wurde hier wie in
Pechelbronn Ölsand durch Schachtbetrieb, der bis
70 m Tiefe ging, gewonnen. Nachdem jedoch
durch 50 Bohrlöcher in der Umgebung des
Schachtes die weitere Abbauwürdigkeit des Lagers
als ausgeschlossen erkannt wurde, kam der Gruben-
betrieb bei Schwabweiler 1883 zum Erliegen.
Hier bilden die Ölsandc, zwischen Tone und
Mergel eingeschaltet, jedoch keine Schläuche,
sondern sie erstrecken sich als 2 m mächtige zu-
sammenhängende Schichten über weite Flächen.
In den Jahren 1897 und 1898 wurden drei neue
Bohrungen niedergebracht, von denen aber nur
eine Gas und in 351 m eine warme Salzquelle
erbrachte. Öl wurde nicht gefunden.
Ebenfalls jünger als die Erdöl führenden
Pechelbronner Schichten ist das Asphalt vor-
kommen von Lobsann Das Bergwerk liegt
3 km nördlich von Pechelbronn. Hier tritt, be-
gleitet von Braunkohlenbildungen, in etwa 60 m
Tiefe ein Süßwasserkalk auf, der in mehreren
Bänken Asphalt führt, welcher seit etwa 1 20 Jahren
abgebaut wird.
Das Hangende des Asphaltkalkes wird von
einem Konglomerat gebildet, dessen Rollstücke
durch einen groben und zähen Pechsand verbun-
den sind. Die Braunkohle entstammt teils einem
Koniferenholz, teils ist sie aus Palmfasern gebildet,
welch letzteres Auftreten als Nadelkohle bezeichnet
wird. Sie ist reich an Eisenkies. Durch die Zer-
setzung desselben und das Hinzutreten von Mag-
nesiasalzen entstand natürliches Bittersalz in langen,
feinen, weißen Nadeln. Die Dicke der Asphalt-
bänke schwankt zwischen i und 2,5 m und er-
reicht stellenweise 5 — 10 m, nach der Verwerfung
am Gebirgsrande zu sogar 25 m Mächtigkeit.
Nach SO, in der Richtung auf das Dorf Lobsann
hin, keilt der Asphaltkalk aus. Auch bei Pechel-
bronn wurde der diesem entsprechende Kalk ge-
funden, ist hier aber nicht mehr asphaltführend,
so daß das Vorkommen nur als eine lokale Ein-
lagerung aufzufassen ist. Der Asphalt, welcher
ein mehr oder weniger festes Umwandlungsprodukt
des Erdöls darstellt, ist sehr fest an den Kalk ge-
bunden und kann deshalb nicht durch Auskochen
entzogen werden. Der Bitumengehalt des Asphalt-
kalkes beträgt durchschnittlich 7 — 8 "/g und steigt
gelegentlich auf 18 "/„. Spalten, die häufig in dem
Asphaltlager aufgeschlossen wurden, führen viel-
fach dickflüssiges dunkles Erdöl. Der Asphalt
dient teils als Asphaltmastix, teils wird aus ihm
ein vorzügliches Schmieröl gewonnen.
Alle Erdölvorkommen liegen ausschließlich im
Tertiär. Alle Versuche, es in anderen geologischen
698
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 44
Formationen in jener Gegend zu erschUeßen, haben
keinen Erfolg gehabt und werden — wie wir
noch sehen werden — keinen haben. Es ist des-
halb das Petrolgebiet nach Westen hin durch die
große Rheintalspalte begrenzt. Diese ver-
läuft von Weißenburg, wenig östlich von Wörth
über Merzweiler nach Mommenheim. Nach der
Rheinebene zu verdecken zumeist alluviale und
diluviale Bildungen das Tertiär, so daß hier keine
sicheren Anhaltspunkte für neue Bohrversuche
mit Aussicht auf Erfolg vorhanden sind.
Nicht nur von wissenschaftlichem Interesse,
sondern auch von weitgehender praktischer Be-
deutung ist die l'Vage der Entstehung der
Öllagerstätten.
Noch im Jahre 1797 meinte der Kanonikus
Ch. Kluk in Warschau, daß das Erdöl seine
Entstehung der Fruchtbarkeit, die im Paradies
geherrscht habe, verdanke. Der Erde sei damals
Fett beigemengt gewesen , das sich infolge des
Sündenfalles in die Tiefe der Erde verzogen und
als Erdöl in Höhlungen angesammelt habe. In
den letzten 60 Jahren sind zahlreiche Hypothesen
und Theorien über die Entstehung des Erdöls
aufgestellt worden. Die einen sehen das Urmaterial
zur Bildung desselben in anorganischen Stoffen,
die anderen in Pflanzen oder Mineralkohlen, wieder
andere in Tieren und endlich welche in Tieren
und Pflanzen. Heutzutage kann als sicher ange-
nommen werden, daß das Erdöl sowohl tierischen
als auch pflanzlichen Ursprungs sein kann, doch
ist das animalische Material in den meisten Fällen
maßgebend.
Die Vorgänge bei der Erdölbildung selbst sind
zum Teil recht komplizierte. Die Bestandteile
der organischen Reste, aus denen sich das Petro-
leum gebildet hat, sind in erster Linie Fettstoffe;
untergeordnet sind in Rechnung zu ziehen Eiweiß-
stoffe und Kohlehydrate. Nach dem Absterben
des pflanzlichen und tierischen Materials werden
zuerst Eiweiß und Zellstoff zersetzt und die wider-
standsfähigen Fettstoffe im weitesten Sinne bleiben
zurück. Die Umsetzung dieser in das Kohlen-
wasserstoffgemisch des eigentlichen Petroleums ist
nach Engler-Höfer einer gewaltsamen Reak-
tion zuzuschreiben und nicht ein Gärungsprozeß,
wie dies im ersten Stadium der Umwandlung der
Fall ist. Starker Druck auch während langer
Zeiträume genügt als P'aktor nicht für den che-
mischen Abbau der Fette zu Erdöl. Es bedarf
noch einer Erhöhung der Temperatur, die zwar
nicht so hoch zu sein braucht, wie bei den Labo-
ratoriumsversuchen iiS^")' sondern erheblich
niedere Temperaturen können in langen Zeit-
räumen dieselbe Wirkung auf die Umsetzung aus-
üben. Wahrscheinlich haben wir es mit ver-
schiedenen Temperaturen bei der Entstehung zu
tun, worauf die Verschiedenartigkeit in der che-
mischen Zusammensetzung der Erdöle hinweist.
Was den Druck anbelangt, so ist hierbei sowohl
das Gewicht der überlagernden Schichten, als auch
der durch Faltungen und Verwerfungen entstehende
Seitendruck zu berücksichtigen.
Der ganz erstaunliche Ölreichtum in manchen
Ländern setzt unbedingt eine sehr große Anhäufung
von organischen Resten voraus. Diese kann ent-
weder eine normale sein, oder aber ein katastro-
phaler Massenmord war die Ursache. In ersterem
Falle haben wir es entweder mit koloniebildenden
Tieren, wie z. B. Austern zu tun, oder die im
offenen Wasser schwimmenden Tierleichen werden
durch ständige Winde und Strömungen in einer
Bucht zusammengetrieben. Der Wellenschlag
trägt Sand herbei, bringt die Leichen zum Sinken
und begräbt sie. Eine Schlammschicht, unter der
die Umwandlung der Kadaver zu Erdöl stattfinden
kann, schließt sie endlich völlig ab. So häufen
sich am Grunde der Bucht Tierleichen an und
zwar um so stärker, wenn das Gebiet sich in
einer Phase allmählicher Senkung befindet.
Sind andererseits Änderungen in den Lebens-
bedingungen der Tiere so schnell erfolgt, daß
eine Anpassung an die neuen Verhältnisse nicht
mehr möglich war, so mußte dies einen Massen-
mord zur Folge haben. Auf diese Weise können
durch untermeerische Vulkanausbrüche, Epidemien
oder eine plötzliche starke Vermischung von Süß-
und Meerwasser die ganze Tierwelt auf eine große
Strecke hin vernichtet werden, wofür Beispiele
aus der Gegenwart mehrfach bekannt geworden
sind.
Wie haben wir uns nun die Bildung des
Erdöls im Elsaß zu denken?
Andrea und nach ihm van Werveke sehen
in den langgestreckten schlauchartigen mannigfach
verzweigten Sandlagen die vielgestaltigen wechseln-
den Arme des Mündungsdeltas eines hier
in das Meer sich ergießenden Stromes;
und erklären die Mergel als Hochwasserabsätze
in der angrenzenden Sumpf- und Lagunenland-
schaft.
Die Erklärung, die van Werveke für die
Bildung der Lagerstätten gibt, ist die folgende:
In der weiteren Umgebung von Pechelbronn
wechsellagcrn Süß- und Brackwasserschichten mit
Meeresablagerungen, „während im allgemeinen ein
Übergreifen der jüngeren über die älteren Schichten
von Süden nach Norden stattfindet. Daß zugleich
mit den Sauden Organismen, deren Reste noch
erkennbar sind, verfrachtet wurden, hat die Beschrei-
bung der ( )llagerstätten gezeigt. Weit zahlreichere
Organismen sind aber wohl vollständiger Zersetzung
anheimgefallen. Sicher haben die wechselnden
Einflüsse an der Grenze des Süßwassers und des
Meerwassers ungünstig auf den Fortbestand tieri-
schen Lebens eingewirkt, und die zugrunde ge-
gangenen Organismen samt den durch die Flüsse
gebrachten organischen Reste sind hier angehäuft
worden und haben nach ihrer Einbettung das
Erdöl geliefert. Bei Pechelbronn, wo wir Grund
haben, den häufigsten Wechsel zwischen Süß-
wasser und Meerwasser anzunehmen, haben wir
denn auch die zahlreichsten Ülhorizonte. Im
N. F. XIII. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
699
]<"aulsand, der die Reste umschlossen, hat die
Zersetzung unter Wärmeentwicklung begonnen,
diese hat, begünstigt durch die Länge der Zeit
und die allmählich zunehmende Überdeckung,
die weitere Umsetzung bis zur Rohölbildung ge-
fördert. Noch heute sind die Umsetzungen nicht
zum Abschluß gekommen, und durch sie erklären
wir die ungewöhnlich hohen Temperaturen, die
wir aus dem Erdölgebiet, insbesondere aus den
erdölführenden Schichten kennen".
Auf Grund dieser Erklärung für die Entstehung
des elsässischen Erdöls befindet sich also das
Öl im Tertiär auf primärer Lagerstätte d. h.
es ist gleichaltrig mit den Schichten, von denen
es umschlossen wird.
Nach einer anderen Anschauung soll das Pe-
troleum sich in älteren Formalionen gebildet
haben, nachträglich aus großer Tiefe auf Spalten
in das Tertiär aufgedrungen sein und in Sauden
und Sandsteinen desselber sich angesammelt haben.
(S palt en t h eor ie.) Zwar ist es eine Tatsache,
daf3 starke Zerreißungen das Tertiär nach seiner
Ablagerung betroffen haben, sie werden auch hin
und wieder eine Wanderung des Öles von einem
Horizont zu einem anderen begünstigt haben,
aber man müßte dann auch im Untergrund des
Tertiärs, in den mesozoischen Schichten, Gesteine
antreffen, welche durch Destillation Öl abgeben
könnten. Diese Schichten müßten ferner beson-
ders in den von zahlreichen Spalten durchsetzten
Vorhügeln der Vogesen ölhaltig sein. Die Unter-
suchungen in dieser Hinsicht haben ein völlig
negatives Ergebnis gehabt. Es wurden in den
letzten Jahren Tiefbohrungen durch das Tertiär
in die liegenden Schichten vorgenommen, die bis
in den oberen Buntsandstein hinabgingen. In den
mesozoischen Schichten fanden sich allerdings
bitumenhaltige Schiefer und Kalksteine, aber die
Bindung des Bitumens ist eine so innige, daß
eine Entziehung auf anderem Wege als durch
Glühen unmöglich ist. Einen weiteren Beweis
für die Ursprünglichkeit des Bitumens in den ter-
tiären Schichten sehe ich in dem reichen, zweifel-
los ursprünglichen Bitumengehalt der gleichaltrigen
Mergel im Oberelsaß, die mehrere hundert Meter
mächtig sind. Hier tritt nur selten auf Spalten
Gas und wenig Petroleum auf. Die Bedingung
zur Bildung von Erdölansammlungen in Gestalt
von zur Ölaufnahme geeigneten Gesteinen sind
hier eben nicht vorhanden. Tritt aber im Ober-
elsaß z. B. in den sog. „typischen Fischschiefern",
die im Glaskölbchen erhitzt Öl abgeben, gelegent-
lich eine Sandlage auf, so ist diese stets von Erdöl
durchtränkt.
Wenn auch einige hier nicht näher zu erör-
ternde Momente für eine sekundäre Entstehung
der elsässischen Erdölagerstätten sprechen mögen,
so sind doch die angeführten Gründe so schwer-
wiegende, daß es als vollständig erwiesen gelten
kann, daß sich das Erdöl im Tertiär auf ursprüng-
liche Lagerstätte befindet.
Es ist die Anschauung über die Entstehung
der elsässischen Erdöllagerstätten auch von großer
Bedeutung für die Praxis. Wenn man jetzt
die „Spaltentheorie" als unbegründet abweisen
kann, ist das Gebiet der Neubohrungen zwar nur
ein verhältnismäßig beschränktes, man hat aber
begründete Aussicht, in diesem günstige Funde
zu erzielen.
Bis jetzt ist durch die Ergebnisse vor etwa
1800 Bohrungen die Ölführung im elsässischen
Tertiär für ein Gebiet von rund 350 qkm nach-
gewisen worden.
Zum Schluß mögen die folgenden Zahlen
einen Einblick in die geforderten Erdöl-
und Asphaltmengen und deren Wert seit
dem Jahre 1875 bzw. 1890 geben:
Erdöl
Fördermenge in Tonnen Gesamtwert in Mark
1875 •
• • 742
51974
1880 .
. . 1053
108 231
1885 .
. . 3086
123602
1886 .
. . 7 689
550883
1890 .
• • 12977
903 854
1895 .
• • IS 439
738 940
1900 .
. . 22 586
I 285656
1905 .
. . 21 128
I 162 040
1909 .
. . 29422
I 691 705
191 1 .
• • 43 748
2 615 000
1912 .
■ • 47 176
2 831 000
I9I3 •
• • 49 584
Asp
lalt
1890 .
. . I 148
13776
1895 .
• • 3 540
36816
1900 .
. . 6988
59389
1905 .
. . 6939
S55II
1909 .
■ • 3 987
39870
I9II .
. . 5 002
50000
I9I2 .
. . s 161
52000
I9I3 •
■ ■ 6 354
Aus diesen Zahlen geht deutlich die bedeu-
tende Steigerung der Erdölproduktion besonders
in den letzten Jahren hervor.
Die Zahl der bei der Erdöl- und Asphalt-
gewinnung beschäftigten Arbeiter betrug im Jahre
191 2 447, im Jahre 191 3 516.
Einzelberichte.
Chemie. Neue Forschungen über Acetyl-
cellulose. In der diesjährigen Hauptversammlung
des Vereins Deutscher Chemiker in Bonn hielt
Prof. E. Knoevenagel einen Vortrag, der die Er-
gebnisse seiner letzten Untersuchungen auf dem
Gebiet der Acetylcellulose zusammenfaßte. Dieser
seit kurzem zu zahlreichen technischen Zwecken
(Herstellung von Films, künstlicher Seide, Zellu-
700
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 44
loidcrsatz, Lacke usw.) verwendete Stoff hat bis-
her zwar von tcclinischen Gesichtspunkten aus
eine rege Bearbeitung gefunden; seine wissen-
schaftliche PJrforschung, die Aufklärung seiner Zu-
sammensetzung und seiner Umwandlungen ist
aber noch nicht über das Anfangsstadium hinaus-
gekommen. Die Acetylcellulose wird bekanntlich
aus Baumwolle gewonnen, indem man diese mit
Essigsäureanhydrid unter Anwendung eines Ka-
talysators behandelt. Als reaktionsbeschleunigende
Substanzen werden Schwefelsäure und andere
starke Säuren sowie saure Salze benutzt. Die Wir-
kung dieser Katalysatoren besteht nicht nur darin,
daß sie den eigentlichen X'^organg der Acetylierung
beschleunigen, sondern auch darin, daß sie eine
,,acetolytische" Aufspaltung des Cellulosemolcküh
herbeiführen, d. h. einen Abbau, bei dem sicli
Essigsäureanhydrid an ätherartige Bindungen des
Moleküls anlagert. Die „Acetolyse" der Cellulose
erfolgt nach Knoevenagel in anderer Weise wie
die „hydrolytische" Aufspaltung, die durch Säuren
ohne Mitwirkung von Essigsäureanhydrid herbei-
geführt wird. Beide Reaktionsarten führen über
verschiedene Zwischenprodukte schließlich zur
Dextrose und anderen Zuckern. Um Acetyl-
cellulosen herzustellen, die sich von einem nur
wenig abgebauten Cellulosemolekül ableiten, muß
man die Acetolyse nach Möglichkeit zurückhalten,
was sich durch Auswahl milde wirkender Kataly-
satoren erzielen läßt. Man erhält so technisch
wertvolle Produkte, die aber verhältnismäßig
schwer löslich sind und in dieser Hinsiclit mit
den entsprechenden Salpetersäureestern der Cellu-
lose, den Schießbaumwollen, verglichen werden
können. Man hat sich bemüht, die sog. chloro-
formlöslichen Acetylcellulosen durch leichter lös-
liche Produkte zu ersetzen , die also mit den
Kollodiumwollen in Parallele zu setzen wären.
Da die Kollodiumwollen weniger Stickstoff ent-
halten als die Schießbaumwollen, lag es nahe,
durch Verringerung des Essigsäuregehalts, d. h.
durch partielle Verseifung der chloroformlöslichen
Acetylcellulose zu einem leichter löslichen Essig-
säureester der Cellulose zu gelangen. Tatsäch-
lich gelang es, dies Ziel zu erreichen. Nach Miles
(Am. Pat. 838350; 23. n. 1904) verfährt man
hierzu in der Weise, daß man auf Acetylcellulose
im primären Acetylierungsgemisch stark hydro-
lytisch wirkende Mittel in Gegenwart von Wasser
zur Einwirkung kommen läßt. Dasselbe erzielt
man nach einem Patent der Farbenfabriken vorm.
Fried. Bayer & Co. (PVanz. P. 371447, 27. 10.
1906) dadurch, daß man die hydrolytisch wirk-
same Substanz (z. B. Säuren) auf die fertige
Acetylcellulose in wässeriger Suspension einwirken
läßt. Man erhält so durch die gleichzeitige Wir-
kung von Hydrolyse und Verseifung eine Acetyl-
cellulose, die leicht löslich in Aceton ist.
Auf einem andern Wege konnte Knoevenagel
die Umwandlung der chloroformlöslichen Acetyl-
celluose in ein acetonlösliches Produkt bewerk-
stelligen. Er zeigte, daß man durch einfaches
Erhitzen von acetonunlöslichen Acetylcellulosen mit
Essigester, Benzol, Aceton oder andern organischen
Lösungsmitteln in Abwesenheit von Wasser mit
oder ohne Katalysatoren ebenfalls zu acetonlöslichen
Celluloseacetaten gelangt. Soll die Umlagerung
in der primären Acetylierungslösung vorgenommen
werden, so ist es, zur Vermeidung acetolytischer Pro-
zesse, nötig, das überschüssige Essigsäureanhydrid
durch Wasser zu zerstören. Genaue Untersuchungen
ergaben nun das wichtige Resultat, daß die Ace-
t\'lzahl der Acet)-lcellulose beim Eintreten der
Acetonlöslichkeit fast gar nicht heruntergeht,
und daß ferner die Kupferzahl der acetonlöslich
gewordenen Acetylcellulose — ein Maß für die
reduzierendeWirkung des entsprechenden CcIIulose-
komplexes ■ — nicht höher, sondern eher niedriger
wird, als sie bei dem Ausgangprodukt gefunden
wurde. Dies bedeutet mit andern Worten, daß
es möglich ist, auch ohne Verseifung und ohne
Hydrolj'se acetonlösliche Acetylcellulose herzu-
stellen; da die technische Brauchbarkeit aufs Engste
mit dem Grad der bei der Herstellung eingetretenen
H\-drolyse verknüpft, ist, wird es verständlich, daß
die nach dem Knoevenagelschen Verfahren gewonene
Acetylcellulose besonders wertvolle Eigenschaften
besitzt. Was die theoretische Deutung der Um-
wandlungen von chloroformlöslicher Acetylcellulose
in acetonlösliche anbetrifft, so ist die Annahme
nicht unwahrscheinlich, daß diese Erscheinungen
ihrem Wesen nach Isomerievorgänge darstellen,
d. h. auf Umlagerungcn innerhalb des Acetyl-
cellulosemoleküls zurückzuführen sind.
Bugge.
Physik. Über radioaktive Meßmethoden und
Einheiten berichten A. Becker und C. Ram-
sauer, beide am radiologischen Institut in
Heidelberg, in den Sitzungsberichten der Heidel-
berger Akademie der Wissenschaften, die bei
der Universitätsbuchhandlung Carl Winter, Heidel-
berg erscheinen (1914, 2)7 Seiten, Preis 0,80 Mk.)
Es soll hier zunächst nur über die Arbeit von
C. Raumsauer: Über die Analyse radio-
aktiver Substanzen durch Sublimation
berichtet werden.') Der Verfasser gibt ein Ver-
fahren an, das in schwach aktive n St offen,
z. B. Ouellsintern, denGehalt anRadium,
Thorium und Aktinium nebeneinander
quantitativ zu bestimmen gestattet und
zwar mit einer Genauigkeit von -|- 20°l^. Er
treibt zunächst durch Erwärmen aus den zu
untersuchenden Substanzen die aktiven Nieder-
schläge heraus; das sind die festen Zerfallprodukte
der Emanationen, die sich im Laufe der Zeit im
Untersuchungsmaterial bis zur Gleichgewichts-
menge angehäuft haben. Zu dem Zweck wird
die Versuchssubstanz in eine Mulde aus Platin-
') Ober die andere in dem Heft enthaltene Arbeit von
A. Becker: Über Emanations- und Radiummessungen nach
den meist gebräuchliclien Methoden und mit dem Emano-
meter, soll später gleichzeitig mit einer Beschreibung des
Emanometers referiert werden.
N. F. Xni. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
701
blccii gebracht, die durch den elel-;trisclicn Strom
auf 1 1 50" erwärmt wird. Diclit über der Mulde
ist von ihr isoliert das auf — 220 Volt aufgeladene
und mit Eis gefüllte Meßgefäß angebracht. Das
Ganze ist luftdicht in eine zweiteilige Glasglocke
eingeschlossen. Beim Glühen entweichen die ak-
tiven Niederschläge aus der Muttersubstanz und
sublimieren auf dem halben Roden des Meßge-
fäßes. Versuche ergeben, daß die Sublimation
hauptsächlich in der ersten Minute erfolgt; des-
halb wird als Glühdauer 4 Min. festgelegt. Nach-
dem auf diese Weise die aktiven Niederschläge
der Untersuchungsubstanz auf die zu aktivierende
Fläche gebracht sind, wird die zeitliche Abfall-
kurve bestimmt ; aus dieser läßt sich dann, wenn
man die Abfallkurven der reinen Grundbubstanzen
kennt, auf den Gehalt der Unlersuchungssubstanz
an Radium, Thorium und Aktinium schließen.
Zur Bestimmung der Abfallkurve dient folgende
Vorrichtung: Das Meßgefäß mit dem Sublimations-
niederschlag wird auf ein Metalltischchen gestellt,
das mit dem Elektrometer verbunden ist. Tisch-
chen und Meßgefäß sind als Gegenelektrode von
einem von ihnen isolierten, zylindrischen Metall-
gefäß umgeben, das auf 200 bis 3C0 Volt auf-
geladen wird. Mit dem Elektrometer läßt sich
die pro Sekunde von der aktivierten Fläche zum
Zylinder übergehende Elektrizität^mcnge und da-
mit beliebig viele Punkte der Abfallkurve be-
stimmen. — Zum Verständnis sei folgendes er-
wähnt: Die aktiven Niederschläge, die sich aus
der Emanation bilden, sind mit Ausnahme des
Thoriums sehr kurzlebig; er besteht z. B. beim
Radium i. aus RaA, Periode der halben Umwand-
lung 3,0 Min., 2. aus RaB 26.7 Min., 3. RaC,
19,5 Min. und 4. RaC, 1,38 Min. Das nächste
Umwandlungsprodukt ist dann das langsam zer-
fallende RaD (mittlere Lebensdauer etwa 24 Jahre).
Wenn mithin diese schnell zerfallenden Substanzen
isoliert sind und sich demnach nicht aus der
Muttersubstanz, der Emanation, neu bilden können,
ist es klar, daß sie schon nach kurzer Zeit ver-
schwunden sind, d. h. sich auf dem geschilderten
Wege in das beständigere RaD verwandelt haben.
Der Zerfall wird von der Aussendung von Strah-
len begleitet (« Strahlen), so daß anfangs die
Strahlung beträchtlich ist und mit der Zeit ab-
nimmt. — Die Abfallkurve wird in der oben ge-
schilderten Weise bestimmt und war zunächst für
die reinen Substanzen: ein Radiumpräparat von
bekanntem Gehalt wird 4 Minuten lang der Subli-
mation unterworfen ; dann wird die aktivierte
Fläche in den Meßraum gebracht und die Abfall-
kurve bestimmt. Dasselbe geschieht mit einem
Thorium- und einem Aktiniumpräparat.' Die
Kurven lassen sich aus den bekannten Umwand-
lungskonstanten auch berechnen; die Überein-
stimmung zwischen den beobachteten und be-
rechneten Kurven war befriedigend. Jetzt wird
in genau derselben Weise die Abfallkurve des
Versuchsmaterials (Kreuznacher Onellsinter, 2 g
wurden geglüht) bestimmt. Diese läßt sich
dann als Summe der drei Grund kurven
auffassen unddemgemäß analysieren. Da
dit aktiven Niederschläge des Thorium sehr lang-
sam zerfallen, beruht die Aktivität nach etwa
4 Stunden im wesentlichen auf dem Gehalt an
Thorprodukten, so daß man die in der Sinterkurve
enthaltene Thorkurve mit der Hilfe der bekannten
Grundkurve leicht nach rückwärts konstruieren
und von der Sinterkurve in Abzug bringen kann.
Die Restkurve ist dann als Summe der Radium-
und Aktiniumkurve aufzufassen; auf etwas kom-
pliziertere Weise lassen sich auch hier die Ein-
zelkurven finden. Das Resultat der Zerlegungs-
versuche für den Kreuznacher Sinter ist: 65%
Radium-, 25"/,, Thorium- und 10"/^ Aktinium-
Strahlung. Durch Bestimmung der absoluten
Trägermenge läßt sich auch die absolute Zu-
sammensetzung des Sinters in bezug auf aktive
Produkte berechnen. Es ergibt sich pro Tonne
Sinter 1,73 mg Radium, 1,88 ■ 10 — * mg Thorium X
und 4,88- 10 — " mg Aktinium X, ein Resultat,
das in guter Übereinstimmung mit dem nach
einem anderen Verfahren erhaltenen ist.
K. Schutt, Hamburg.
Paläontologie. Neue Cyrtograptenfunde im
Mittel- und Obersilur Ostthüringens. Die mittel-
silurischen Kieselschiefer und vor allen Dingen
die Alaunschiefer des Mittel- und Obersilurs Ost-
thüringens sind von jeher eine unendlich reiche
Fundgrube von Graptolithen gewesen. Der be-
tagte ostthüringer Graplolilhenforscher Robert
Ei sei konnte deshalb hier an der Hand des
reichlich gebotenen Vergleichsmaterials die mittel-
und obersilurischen Zonen Lapworth's (Zonen
10 — 19 für Mittelsilur und Zone 20 für Obersilur),
die dieser für England aufstellte, nachweisen. So
erfuhr das Mittel- und Obersilur Ostlhüringens
durch ihn eine gute Gliederung, die für die an-
deren Graptolithenfundgebiete Deutschlands erst
nach und nach Anwendung finden kann, sobald
von dort mehr Material bekannt werden wird.
Nun war es immer schon auffällig gewesen,
daß unter massenhaft erhaltenen Graptolithen-
resten, den Monograpten, Diplograpten, Climaco-
grapten, Dimorphograpten, Rastriten, Demirastriten
nur selten ein Cyrtograptus sich zeigte, jene
Gra[)tolithenart, bei der sich vom Rhabdosom Äste
abzweigen. In England und Schweden dagegen
sind gerade diese Arten schön erhalten und be-
schrieben worden.
1875 bildet R. Richter') in der Zeitschrift
der Deutsch, geol. Gesellschaft auf Tafel VIT,
Fig. 13 einen Graptolithen aus dem Alaunschiefer
von Schmiedefeld ab, der dem Cyrtograptus Mur-
chisoni Carr., mit dem der Autor ihn vergleicht,
. ähnlich ist. Die Zone 16, die Heimatzone dieses
Graptolithen, ist nach H. Meyer-) an der ge-
. nannten Stelle vertreten. Diese Tatsache macht
die Bestimmung wahrscheinlich. So wäre das
der erste aus Ostlhüringen bekannt gewordene
Cyrtograptus. In den ersten Graptolithenfaunen
•J02
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 44
von Ei sei'') finden sich noch Cyrtograptus Grayi
Lapw., Cyrtograptus attenuatus Lapw., Cyrtograp-
tus Carrutheri Lapw. angeführt. Stücke, die ohne
Zweifel sind, hat man noch nicht gefunden.
Cyrtograptus attenuatus Lapw. war in den un-
teren Zonen lo — 13 nachweisbar, Cyrtograptus
Grayi Lapw. findet sich in den Zonen 14 — 16
und Cyrtograptus Carrutheri Lapw., ist in Zone
20 (Obersilur) zu Hause. Als seltenere Cyrto-
grapten führt Eisel aus Zone 16 noch Cyrto-
graptus Linnarsoni und aus derselben Zone
Cyrtograptus flaccidus an. Diesem ersten von
R. Richter erwähnten Cyrtograptus fügt 1887
Leonh. Törnquist'') einen neuen Cyrto-
graptus vom Wetterahammer zu. (Ort heißt
in meiner Graptolithenfauna '') des reußischen
Oberlandes richtiger ,, Heinrichstaler Hammer". Er
wird in den folgenden Zeilen immer unter diesem
Namen genannt werden.) Er beschreibt ihn als
Cyrtograptus radians Törnquist. Zuerst ist er in
angefüinter Arbeit, Seite 491, abgebildet. Geinitz
glaubt 1890''') in dem Cyrtograptus radians Törnq.
vom Heinrichstaler Hammer eine Jugendform von
Cyrtograptus Murchisoni Carr. zu erkennen.
Das waren lange Zeit die einzigen Cyrtograpten,
die aus dem an Graplolithen so reichem Mittel-
und Obersilur Ostthüringens bekannt geworden
waren. An der Heinrichstaler Mühle fand Geheim-
rat Zimmermann einen Cyrtograptus Murchi-
soni Carr.'') und in derReußischen Geologischen Lan-
dessammlung in Gera liegt ein gleicher Cyrtograptus
aus Zone 16 von Ronneburg (Aktienweberei).*)
Den Cyrtograptus radians Törnquist konnte Karl
Walt her auch aus einem Wegeinschnitt von
Stehen nach Unterzeitclwaidt feststellen. ") Es
handelt sich hier wohl um Zone 20 (Obersilur),
denn Karl Walther gibt „gerade Grapto-
lithen" von dort an. Diesen Cyrtograptus
radians Törnq. vom Heinrichsthaler Hammer
beschreibt Törnquist dann selbst noch einmal
genauer 19 lO. ^*') Er glaubt die Zone mit Mono-
graptus testis und Monograptus Flemingi, also
Zone 19, als Heimatzone ansehen zu dürfen. In
der gleichen Arbeit beschreibt Törnquist neu
von der gleichen Fundstelle einen 16 zweigigen
Cyrtograptus multiramis Törnq. (Taf. 62, Fig. 5, 6).
Die Zone ist die gleiche wie bei Cyrtograptus
radians Törnq. Diesem Funde reiht sich der vom
Sieglitzberge bei Lobenstein an, der von mir als
Cyrtograptus Törnquisti Hundt beschrieben wur-
de. ^') Die dreimal vergrößert gegebene Abbil-
dung zeigt, wie von dem zu einer Ellipse ver-
quetschten Rhabdosom acht Zweige abgehen.
Und in ganz letzter Zeit macht uns Rob. Eisel
noch mit einigen neuen Cyrtograpten bekannt'-).
Von Triebes bildet er auf Tafel VllI, Fig. i
einen Cyrtograptus Lundgreni Tullb. aus Zone 19
ab. Als neu beschreibt er eine Varietät von
Lundgreni: Cyrtograptus Lundgreni Tullb. variatio
Trilleri Eisel ebenfalls aus Zone 19 von Triebes
(Taf. VIII, Fig. 2, 3). Diese Varietät unterscheidet
sich von Lundgreni dadurch, daß Trilleri ein
kreisförmiges Rhabdosom ausbildet, von dem
nicht 2 — 3, sondern 4 — 7 Äste in größerer Länge
(bis 14 cm lang) ausgehen. Weiter beschreibt
Rob. Eisel neu in der gleichen Arbeit von
Weckersdorf : Cyrtograptus ruthenicus Eisel (Taf. IX,
Fig. 1 — 5, Tafel X, Fig. G-|-7), Aus den ihn
begleitenden Graplolithen wie Mon. nudus, Mon.
priodon, Mon. dubius, Cyrtograptus Murchisoni
konnte er auf Zone 16 schließen. Von dem kür-
zeren, mehr gekrümmten Rhabdosom gehen
6 — 12 Äste aus, die sich dicht drängen. Mit
einem anderen Prachtstück macht uns die Arbeit
Eisel noch bekannt von Weckersdorf aus der
gleichen Zone 16. Es ist der von ihm neube-
nannte Cyrtograptus ruthenicus var. polypus Eisel,
der nicht weniger als 25 Arme vom Rhabdosom
aussendet.
Auf eine geistreiche Arbeit Rob. Eisel's,''')
die an der Hand vieler Abbildungen die Entwick-
lung von Rastriten, Demirastriten vermutungsweise
auch von Monograpten und Cyrtograpten nachweist,
muß ich noch aufmerksam machen. Nach ihm hat
sich aus Cyrtograptus attenuatus Hopk. (rastriticus
Eisel) in Zone 1 1 Rastrites spina entwickelt, der
sich in Zone 12 a in Rastrites spina Rieht., Demi-
rastrites nobilis Törnq. und Demirastrites trian-
gulatus Harkn, teilt. Aus Rastrites spina ent-
wickeln sich in den höheren Zonen die übrigen
in Ostthüringen nachgewiesenen Rastriten. Aus
den Demirastriten werden Monograpten, sobald die
Zellen sich berührend an der Achse treffen. Cyrto-
graptus rastriticus Eisel kommt auch später noch
in Zone 12 b und 13 mit spinaartigen Zellen vor.
Eisel kommt zu dem Ergebnis, daß sich in den
oberen Zonen die Cyrtograpten in Monograpten
umwandeln. Als Beispiel führt er an, daß sich
aus dem C\Ttograptus Carrutheri in Zone 19 in
der folgenden Zone 20 Monograptus Nilsoni ent-
wickelt hat. Desgleichen vermutet er auch eine
Cyrtograptus
sp.
Autor
IG
MUtels.lur ^jj^^
II I2a'l2b 13 14 15
I6[i7|i8[i9| 20
attenuatus
Lapw.
(rastriticus Eis.)
Carrutheri
Lapw.
—
—
Grayi
Lapw.
—
—
—
—
flaccidus
—
—
Linnarsoni
Lapw.
—
radians *
Törnij
—
muUiramis *
Törnq
—
murcliisoni
Carr.
—
Lundgreni
Tullb.
—
var. Trilleri *
Eisel
—
ruthenicus *
Eisel
-
var. polypus *
Eisel
—
Törnquisti *
Hundt
—
—
N. F. Xm. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
703
Entwicklung von proteus, arinatus, intermedius,
gcmmatus aus Cyrtograpten.
Im Anschluß an die Neuentdeckungen von
C_\Ttograpten aus dem Mittel- und Obersilur Ost-
thüringens will ich in einer Tabelle die bis jetzt
aus Ostthüringen bekannt gewordenen Cyrtograpten
mit ihren Zonen anführen. Die mit einem Stern
versehenen Arten sind bis jetzt nur aus Ostthüriiigen
bekannt geworden.
Literatur.
1) R.Richter, Aus dem Thüringischen Schiefergebirge.
Zeitschr. d. Deutsch, geologischen Gesellschaft ]>. 271, Taf. VIII,
Mg- ij-
2) H. Meyer, Die miltelsilurischen Graptolilhenschiefer
bei Saalfeld. p. 8. Mitteil, des Vereins für Geologie in
Saalfeld in Thüringen. 1910/1912.
3) R. Eisel, Über die Zonenfolge ostthüringischer und
vogtländischer Graptolithenschiefer. 39./42. Jahresbericht der
Gesellschaft von Freunden der Naturwissenschaften. Gera.
Separat, p. 10.
4) L. Törnquist, Anteckningar cm de äldre paleo-
zoiska leden i Ostthüringen och Voigtland. Geol. Foren, i.
Stockholm Forh. Bd. IX, p. 491.
5) R. Hundt, Beitrag zur Graptolithenfauna des Mittel-
und Obersilurs d. reußisclien Oberlandes und einiger angren-
zender Gebiete. 51. ,'52. Jahresber. d. Gesellsch. v. Fr. d.
Nalurw. in Gera. Sep. p. 9.
6) Br. Geinitz, Die Graptolithen des K. Mineralog.
Museums in Dresden. Kassel 1S90, p. 23.
7) E. Zimmermann, Das Obersilur an der Heinrichs-
thaler Mühle im Wettcratalc bei Gräfenwarth. 43. ,'44. Jahres-
bericht d. Gesellsch. v. Fr. d. Naturw. in Gera, p. 48.
8) K. Löscher, Die geologische Landessammlung.
Gera 1914, p. 6.
9) K. \Vallher, Geologie der Umgebung von Bad Stehen
im Frankenwalde, p. 151.
10) L. Törnquist, Tvä Cyrtograptus-arter frän Thü-
ringen. Geol. Foren. Förh. 1910, p. 1559 — 1564, von E.
Zimmermann übersetzt im 43-/44. Jahresb. d. Ges. v. Fr. d.
Naturw. in Gera.
11) R. Hundt, Zweiter Nachtrag zu meiner Graptolithen-
fauna. 55./56. Jahresb. d. Gesellsch. v. Fr. d. Naturw. Sepa-
ratum p. 4, Taf. VII.
12) R. Eisel, Über neuere Graptolithen des reußischen
Oberlandes. 55-/56. Jahresber. d. Gesellsch. v. Fr. d. Naturw.
in Gera. p. 171— 173, Taf. Vlll, IX, X.
13) R. Eisel, Über zonenweise Entwicklung der Rastri-
ten und Demiratriten in den mittelsilurischen Graptolithen-
schiefern Thüringens und Sachsens. 53./54. Jahresbericht der
Gesellsch. v. Fr. d. Naturw. in Gera. Mit 3 Tafeln.
R. Hundt.
Botanik; Enzymregulation bei Schimmelpilzen.
Die Untersuchungen über Enzymbildung bei Bakte-
rien, Hefepilzen und Schimmelpilzen haben gezeigt,
daß der Organismus vielfach imstande ist, die Enzym-
ausscheidung je nach den Ernährungsbedingungen
zu regulieren. Viele Enzyme (so faßt Harald
Kylin die herrschenden Ansichten zusammen)
werden unter mehreren verschiedenen oder sogar
unter allen Ernährungsbedingungen gebildet, an-
dere aber werden nur dann gebildet, wenn ein
besonderer Stoff in der Kulturflüssigkeit anwesend
ist, nämlich der, der vom Enzym gespalten wird.
Es soll demnach unter gewissen Bedingungen
eine Regulation in der Qualität der gebildeten
Enzyme, oder, wie Kylin es nennt, eine quali-
tativeEnzymregulation vorkommen können.
Außerdem gibt es eine quantitative Enzym-
regulation, die darin besteht, daß ein Enzym unter
mehreren, sehr verschiedenen Bedingungen gebil-
det wird, daß aber die Enzymmenge sich dann
vergrößert, wenn die Kulturflüssigkeit denjenigen
Stoff enthält, der vom Enzym gespalten werden
soll. Die in der Literatur über qualitative Enzym-
regulation vorhandenen Angaben findet Kylin
ziemlich unsicher. Auch ist ihr Vorkommen
neuerdings mehrfach bestritten worden. Nur eine
Angabe erscheint zuverlässig, nämlich die von
Knudson (191 3), daß das Enzym Tannase bei
Aspergillus niger und Penicillium sp. nur dann
gebildet wird, wenn die Kulturflüssigkeit Gerb-
säure oder Gallussäure enthält. Kylin hat bei
seinen Untersuchungen über die Bildung von Dia-
stase, Invertase und Maltase bei Aspergillus niger
und Penicillium glaucum immer eine quantitative,
aber keine qualitative Enzymregulation nachweisen
können. So wird bei den genannten Pilzen Dia-
stase auch dann gebildet, wenn die Kulturflüssig-
keit keine Stärke enthält; die Diastasemenge wird
aber vergrößert , wenn der Kulturflüssigkeit eine
geringe Menge Stärke zugesetzt wird. Auch wenn
die Pilze auf Malzzucker, Chinasäure, Mannit,
Glyzerin als einziger Kohlenstoffquelle kultiviert
werden, bilden sie kleine Mengen von Diastase.
Dextrin vergrößert in beiden Fällen die Diastase-
bildung ebenso sehr wie Stärke. Wenn die Kultur-
flüssigkeit neben Stärke Traubenzucker enthält,
so vermindert sich die Produktion von Diastase.
Auch Maltase und Invertase werden auf den oben
genannten Nährstoffen als einziger Kohlenstoffquelle
gebildet, wenn auch in viel geringerer Menge als
auf Rohrzucker oder Maltose. (Jahrbücher für
wissenschaftliche Botanik 19 14, Bd. 53, S. 465
bis 499.) F. Moewes.
Astronomie. Ein neuer photographischer At-
las des Mondes wird soeben in Lieferungen im
Anschluß an das Werk von Löwy undPuiseux
von deren Mitarbeiter Le Morvan herausge-
geben. Aus den sehr zahlreichen Platten, die diese
an dem gebrochenen Äquatoreal der Pariser Stern-
warte erhalten haben, und die zum Teil sehr
stark vergrößert herausgegeben sind, um als Grund-
lage für alle selenographischen Arbeiten zu dienen,
hat Le Morvan 48 Stück herausgesucht, je 24
bei abnehmendem und zunehmendem Monde. Diese
sind so verteilt, daß die 24 zusammen einen Mond-
atlas von I Meter Durchmesser ergeben, es hat
jedes Blatt 38:49 cm Größe. Die Blätter sind in
Heliogravüre wundervoll ausgeführt, mit genauer
Angabe des Alters des Mondes im Moment der
Aufnahme, und der selenographischen Koor-
dinaten der Ecken des Blattes, so daß man jede
Gegend leicht im Fernrohr nachweisen kann. Die
natürlich sehr kostspielige Herausgabe des Werkes
ließ sich nur mit Hilfe einer Unterstützung der
französischen Akademie der Wissenschaften durch-
führen. Den Text zu dem Atlas hat Pulse ux
geschrieben, der seit vielen Jahren auf diesem Ge-
biete arbeitet. Es hat ja immer etwas mißliches,
den Mond photographisch aufzunehmen, da das
704
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 44
Aussehen der einzelnen Formationen so sehr von sehen und gezeichnet hat. Nur die i8 jährige
der augenblickUchen Beleuchtung abhängt, daß eine Frfahrung des Verfassers und das ungeheure ihm
Gegen^d erst gut bekannt wird, wenn man sie im vorliegende Plattenmaterial konnten etwas so Her-
Fernrohr während ihrer ganzen Sichtbarkeit ge- vorragendes schaffen. Riem.
Bücherbesprechungeu.
Emil Hegg, Dr. med., Das Ewige im Zeit- Photographie.
liehen, eine naturwissenschaftliche Formu- arbeiten will,
lierung. Verlag von A. Francke, Bern, 1914.
loi Seiten. — Preis geb 2,40 Mk.
Der Verf der vorliegenden Schrift, der sich
zum Verkünder und Anwalt eigenartiger, nicht
ohne Scharfsinn entworfener Gedanken des Natur-
philosophen J. H. Ziegler macht, ist überzeugt,
daß das reine Denken uns das Wesen der die
Natur zusammensetzenden Uratome zu enthüllen
und ein allgemeingültiges Schema zu bieten ver-
mag, in dem alle Aggregatzustände vom Licht
bis zum festen Körper sowie alle spezifisch körper-
hchen Zustände ihrem inneren Zusammenhange
nach geordnet erscheinen und der Fluß und der
Gegenfluß des Geschehens sowie die Doppelseitig-
keit jeder Entwicklung ihren Ausdruck finden. —
Schon der Ausgangssatz der Schrift, daß zwei
Dinge, die in Wechselwirkung stehen, einander
nicht wesensfremd sein können, muß Bedenken
erwecken. Wir erfahren nämlich nicht, ob der
Verf. das Wesen der Dinge in deren Wechsel-
wirkung oder ob er es in irgendeinem and eren
Merkmale erblickt, müssen also die Aussage, daß
alle Dinge im letzten Grunde Eines seien, ent-
weder als eine inhaltsleere Identität oder als eine
unbewiesene Behauptung, als ein Dogma ansehen.
Wenn der Verf. weiterhin von grundsätzlich
Unvorstellbarem sich sehr bestimmte Begriffe zu
bilden weiß, so bestreiten wir die Berechtigung
eines solchen Denkens. Sehr fraglich erscheint
es uns endlich, ob der Physiker die in der vor-
liegenden Schrift entwickelten eigenartigen An-
schauungen von Aggregatzuständen und Farben
billigen wird. Angersbach.
Hahne, Friedrich, Leitfaden der Film-
ph ot ograph ie. Anleitung zur Ausübung
der Photographie mit Roll-, Pack- u. Flachfilms
unter besonderer Berücksichtigung der I-'ehler
und deren Abhilfe. Mit ca. 50 Abb. Ed. Liese-
gang's Verlag (E. M. Eger) Leipzig. — Preis
2 Mk., geb. 2,50 Mk.
Es werden wertvolle Ratschläge erteilt über
alles was mit der Filmphotographie zusammen-
hängt, besonders über Fehler und deren Abhilfe.
Der Verf behandelt den Stoft' gerecht und zeigt
auch die Schattenseiten und Grenzen der P'ilm-
Jedem, der mit Films arbeitet oder
sei die Anschaffung empfohlen.
Blunck.
Anregungen und Antworten.
Herr Prof. Häfele in Bozen schreibt: „Bezugnehmend auf
die Notiz: ,, Fremdkörper in Vogeleiern" in Nr. 36 der Natur-
wissenschaftlichen Wochenschrift erlaube ich mir mitzuteilen,
daß in den Sammlungen des hiesigen Gymnasiums sich ein
Hühnerei befindet, dessen Bildungs- und Nahrungsdotter von
einem Roßhaar ganz durchzogen ist. Vor etwa 8 Jahren
wurden in dem unweit Bozen gelegenen ,,Eppancrhof"-Gärteu
mehrere solche Eier in gekochtem Zustande vorgesetzt; äußer-
lich war nämlich nichts Auffallendes zu sehen. Nach dem
Öffnen der Schale wurden diese ,, Spezialitäten" selbstverständ-
lich zurückgewiesen. Ein E'xeniplar wurde mir zugesendet,
das ich in .Alkohol konservierte."
Die Erklärung, die Herr Prof. Häfele gibt, scheint mir
nicht sehr plausibel. Er meint nämlich, daß die Henne Roß-
haare verschluckt habe und diese nach Durchbohrung der
Darmwand in den Eierstock gelangten. Wahrscheinlicher
wohl ist die Erklärung, die früher (Naturw. Wochenschr. N. F.
XIll, Nr. 24, S. 384) bei der Beantwortung der Frage, wie
etwa Pilze und Bakterien in Eier hineingelangen können, ge-
geben wurde, daß nämlich bei der Anlage der verschiedenen
Hüllen im Eileiter Fremdkörper in das Ei eingeschlossen wer-
den. Es wäre dann nur noch aufzuklären, wie sie in den
Eileiter gelangen können. Doch ist dies immerhin wohl von
außer her möglich. Miche.
In Nr. 34 der Naturwiss. Wochenschrift wird von Herrn
v. Wasielewski das Buch von Hegi, aus dem Schweizer-
landc, besprochen. Dabei wird auch die Blutbuche er-
wähnt.
In den von mir herausgegebenen Mitteilungen des Pom-
merschen Provinzialkonütees für Naturdenkmal pflege Nr. 5
(1913) steht S. 12: Grabow a. Oder (Vorort nördl. von Stettin).
In PoU's Garten steht eine schöne Blutbuche von eigentüm-
lichem Wüchse. Der kurze 0,50 m hohe Schaft hat 3,20 ni
Umfang; in der erwähnten Höhe geht der unterste Ast ab.
Höhe der ganzen Baumes 21 m. Nebenäste haben noch 1,10
bis 1,50 m Umfang. Reich verzweigte Äste gehen nach allen
Seiten ab, so daß der Baum den Eindruck einer großen Laube
macht. Der Kronendurchmesser beträgt 20 m. — Der Garten
ist ein altes Grundstück, in der Familie erblich. Jedenfalls
ist der Stamm durch eine spätere Ausschüttung verkürzt.
Pfropfungsstellen sind nicht zu erkennen. J. Winkelmann.
Berichtigung.
Infolge eines Druckfehlers ergibt sich in meinem Referat
über Kafka, Gustav, Einführung in die Tierpsycho-
logie (siehe Naturw. Wochenschr. Nr. 23 vom 7. Juni 1914)
eine Sinnentstellung. Kafk.n tritt nicht für Einschaltung psy-
chischer Faktoren ein, wie das auch aus den weiteren Erörte-
rungen ersichtlich ist. Hinter „doch" ist das Wörtchen „nicht"
ausgefallen. Besondere Umstände verzögerten die Berichtigung.
Buttel-Reepen.
Inhalt; Werth: Die Mammutflora von Borna. Wagner: Die Erdöl- und Asphaltlagerstätten im Unterelsaß. — Einzel-
berichte: Knoevenagel: Neue Forschungen über Acetylcellulose. Bec ker und Ram sauer: Über radioaktive Meß-
. metlioden und Einheiten. Hundt: Neue Cyrtograptenfunde im Mittel- und Obersilur Ostthüringens. Kylin: Enzym-
regulation bei Schimmelpilzen. Le Morvan: Photographischer .'^tlas des Mondes. — Bücherbesprechungen: Hegg:
Das Ewige im Zeitlichen. Hahne: Leitfaden der F'ilmphotographie. — Anregungen und Antworten. — Berichtigung.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Schriftleiter Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstraße lia, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band,
Sonntag, den 8. November 1914.
Nummer 45.
Verschiebimaen in der Tierwelt durch den Menschen.
[Nachdruck verboten.
Von Universitätsprofessor Konrad Guenther.
Alles auf der Erde ist in steter Veränderung
begriffen. Das ist ein Naturgesetz, das jedermann
kennt. Am auffallendsten aber zeigt sich dieses
Gesetz in der Organismenwelt. Da ist ein stetes
Werden und Vergehen, ein Untersinken und Neu-
auftauchen. In der letztvergangenen Erdepoche,
dem Diluvium, lebten in Europa so manche Tiere,
die wir heute an derselben Stelle vergebens
suchen. Klimatische Veränderungen, Wechsel
von Wasser und Land, Gebirgsbildung, das alles
beeinflußt auch die Tierwelt. Immerhin hat es
in der freien Natu» im allgemeinen Jahrtausende
gebraucht, ehe eine durchgreifende Änderung in
der Tierwelt sich vollzog. Dem Menschen blieb
es vorbehalten, innerhalb weniger Jahrhunderte,
ja sogar Jahrzehnte derartige Verschiebungen in
der Tierwelt hervorzubringen, wie sie in der ganzen
Erdgeschichte noch nicht da waren.
Diese Umwandlungen hat der Mensch teils
mit Absicht vollzogen, teils haben sie ohne seinen
Willen stattgefunden. So hat Europa erst in der
Neuzeit drei unangenehme Gäste aus dem Orient
bekommen, die Küchenschabe, die Wanze und die
große gelbe Wanderratte. Alle drei Tiere kannte
das Mittelalter bei uns noch nicht. Eine Ratte
gab es zwar auch vorher in Europa, das war aber
eine kleinere, schwarze Form, die Hausratte, die
weit weniger Schaden stiftete. Die Wanderratte
überfiel erst im Anfang des 18. Jahrhunderts
unser Land und zwar von zwei Seiten. Schiffe
hatten das Tier an die Westküste unseres Erdteils
gebracht und gleichzeitig kamen ungezählte
Scharen von Osten her über Rußland herein. Und
in kurzer Zeit hatte der starke, wilde Einwanderer
die einheimische Hausratte fast überall verdrängt.
In ganz Afrika ist heute der aus Amerika
stammende Sandfloh verbreitet, dessen Weibchen
sich in die Fußzehen des Menschen einbohrt und
hier Geschwüre hervorruft. Der Durchstich durch
die Landenge von Sues hat den Haifischen des
Roten Meeres den Weg ins Mittelmeer eröffnet,
und mehrfache Unglücksfälle sind seitdem von
der italienischen und österreichischen Küste ge-
meldet worden.
Schon die Verbindung, die der Mensch mit
seinen Schiffen zwischen überseeischen Ländern
herstellt, geben manchem Tier Gelegenheit, auf
solch einer beweglichen Brücke in eine neue
Heimat zu kommen. Aber auch das Wegschlagen
von Wäldern, der Stiaßenbau, die Umwandlung
der Natur in Kulturland beeinflußt die Tierwelt
und bringt manche Art zur Einwanderung. End-
lich hat auch der Versand von Gegenständen,
besonders von Pflanzen gewisse Tiere in ein an-
deres Land gebracht, das ihrer Entwicklung nicht
selten noch günstiger war, als das alte, so daß
sie nun erst zu einer Plage wurden. Amerika
„verdanken" wir auf solche Weise den Kartoffel-
käfer, die Blutlaus und die Reblaus.
Von den Tieren, die der Mensch freiwillig
verschleppt hat, weil er sie lieb hatte oder sich
von ihnen im neuen Lande Nutzen versprach, ist
an erster Stelle sein ältestes Haustier zu nennen,
der Hund. Über die ganze Erde ist heute der
Hund verbreitet, er ist Kosmopolit geworden, wie
sein Herr. Mancherorts hat er sich sogar von
der Herrschaft des Menschen freigemacht. So in
Australien , wo aus dem von den Eingeborenen
wohl aus Südasien eingeführten Hunde der gelbe
Dingo geworden ist, der nicht nur die beiden
vorher einheimischen Raubtiere, den Beutelwolf
und den „Teufel", letzterer ein schwarzes Beutel-
tier von unbezähmbarer Wildheit, verdrängt hat,
sondern neuerdings auch den Schafherden emp-
findlichen Schaden tut. Schlimmer noch haben
es in Südamerika verwilderte Hunde gemacht.
Noch im Jahre 1850 griffen die hungrigen Tiere
in LIruguay sogar Reiter an , so daß man auf
jeden Hundeschwanz eine Prämie aussetzte. Hier-
auf wurden 5000 Hunde getötet.
Nicht nur der Hund, sondern alle unsere Haus-
tiere verwildern , sich selbst überlassen , mit ein-
ziger Ausnahme des Schafes. In Westasien sind
mehrfach verwilderte Rinder, Pferde und Kamele
gefunden worden. Dieses Land hat ja seit un-
denklichen Zeiten furchtbar unter hereinbrechenden
wilden Völkerscharen gelitten. Da wurde manch
Dorf zerstört, die Menschen wurden getötet und
nur ein paar Haustiere retteten sich und waren
nun auf sich allein angewiesen. Auch verwilderte
Ziegen und Schweine gibt es an vielen Orten.
Von den ersteren sind die von der Robinsoninsel
Juan Fernandez am bekanntesten. Im Jahre 1563
wurden sie auf dieser südamerikanischen Insel
ausgesetzt, da sie aber den Piraten zur willkom-
menen Verproviantierung dienten, wollte man sie
wieder vernichten. Man setzte Hunde aus, doch
wurden die klugen Ziegen nur scheuer und er-
hielten sich, während die Hunde eingingen.
Ein eigenartiges Schicksal hat das Pferd in
Nordamerika gehabt. In vorhistorischer Zeit
weidete es in ungezählten Scharen auf den großen
Grasflächen des Erdteils. Dann scheint es voll-
ständig ausgestorben zu sein, wodurch, ist ein
Rätsel. Seine Nahrung hat sich nicht vermindert,
neue Feinde hat es nicht bekommen, und so
bleibt uns nichts übrig, als daß wir uns entweder
vorstellen , daß irgendwelche atmosphärischen
706
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 45
Strömungen oder auch Wolken schädlicher In-
sekten (gleich der Tsetsefliege in Afrika) den
Herden den Tod brachten. Wie dem aber auch
sei, als C ort es nach Mexiko kam, staunten die
Indianer am meisten das niegesehene Pferd an.
Bald gewöhnten sie sich aber an das neue Haus-
tier, manche Stämme der Roten wurden zu ver-
wegenen Reitern und bei steter Züchtung des
Pferdes geschah es, daß wieder einige der Tiere
verwilderten und sich so stark vermehrten, daß
sie als „Mustangs" zum zweitenmal die Steppen
Nordamerikas bevölkerten.
Ein Tier, mit dessen Einführung man sehr
üble Erfahrungen gemacht hat, ist das Kaninchen.
Die Heimat dieses schädlichen Nagers ist Südwest-
europa und schon zur Zeit des Kaisers Augustus
wandten sich die Bewohner der Balearen mit der
Bitte nach Rom, man möge ihnen zur Bekämpfung
der Plage Soldaten senden. Heute gibt es Kanin-
chen in ganz Europa, auf Madeira, Jamaika, in
Kalifornien, auf den Falklandsinseln, den Kerguelen,
in Australien und Neuseeland. Besonders in den
beiden letzten Ländern ist das Kaninciien zu einer
furchtbaren Landplage geworden. Überall wühlt
es den Boden auf und verdirbt dadurch, sowie
durch Wegfressen des jungen Grases die Weiden.
Seinetwegen mußte man große Weideplätze auf-
geben, und die Schafzucht ging auf ein Viertel
ihres früheren Umfangs zurück. Das beste Weide-
land wurde umzäunt. So lief zwischen Ncusüd-
wales und Südaustralien ein 519 km langer Draht-
zaun dahin, der 600000 Mark kostete. In Neu-
südwales gab man in den 80 er Jahren über
15 Millionen Mark für Kaninchenvernichtungsmaß-
regeln aus. Aber wirklich bewährt hat sich bis-
her keine derselben.
Eingeführte Füchse, Marder, Mungos (indische
Ichneumons) gaben die Kaninchenjagd bald auf
und wählten sich das bequemer zugängliche Haus-
geflügel zur Beute. So hatte man in ihnen nur
neue Schädlinge gewonnen. Auch in Westindien
hatte man den Mungo zur Bekämpfung der Ratten-
plage eingeführt. Mit diesen Nagern wurde das
muntere Raubtier zwar fertig, aber als das ge-
schehen war, mußte es, wie natürlich, sich andere
Nahrung suchen, brach in die Hühnerställe ein
und wurde nun seinerseits bekämpft.
Viel zur Einbürgerung fremder Tiere haben
die Jäger beigetragen. Das älteste ausländische
Jagdwild in Europa ist der Fasan. Schon zur
Römerzeit bewohnte er Süddeutschland , ja, nach
der Sage sollen ihn die Argonauten über das Meer
gebracht haben vom Flusse Phasis und der Stadt
Colchis, Namen, die in der wissenschaftlichen Be-
nennung des Fasans: Phasianus colchicus nach-
klingen. In England ist das südeuropäische Rot-
huhn , die virginische und kalifornische Wachtel
eingeführt worden, in Deutschland das schottische
Moorhuhn und der amerikanische Wildputer. Den
amerikanischen Wapitihirsch und den Altaihirsch
gibt es bereits in mehreren deutschen Jagdrevieren,
Fürst Pleß hat in seinen Besitzungen den Wisent
eingebürgert, im I larz und im Taunus gedeiht das
südeuropäische Wildschaf, der Mufflon. Auch
Känguruhs hat man in der Eifel ausgesetzt. Sie
hielten sich gut, wurden aber allmählich von
Wilderern abgeschossen.
Auch Tierliebhabern ist die Einbürgerung
einiger Arten gelungen. Insektenfreunde haben
große ostasiatische Spinnerschmetterlinge bei uns
heimisch werden lassen, Terrarien- und Aquarien-
liebhaber eine Reihe von Eidechsen und Zwerg-
fischen. Von fremdländischen Nutzfischen gibt
es bei uns die Regenbogenforelle, den Bachsaibling,
Schwarzbarsch und Forellenbarsch, während unsere
Fische vielfach schon in fremden Erdteilen zu fin-
den sind. So habe ich in den Bächen des Hoch-
landes von Ceylon die muntere Forelle dahin-
schießen sehen, die hier in der kühlen Luft dem
Engländer Gelegenheit zu gesundem Angelsport
gibt.
Mehr Tiere als bei uns haben Liebhaber in
anderen Erdteilen eingebürgert, so vor allem in
Nordamerika. Der Grund ist verständlich. Die
Auswanderer, die in jenes Land kommen, haben
die Liebe zur alten Heimat nicht verloren und
denken immer wieder an das Vaterland zurück.
Alles, was sie an dieses erinnert, ist ihnen lieb,
und so vor allem auch die Stimmen der Vögel,
die sie von Kindheit auf in Wald und Feld gehört
haben. Die Vögel der neuen Heimat sagen ihnen
nichts, sie sind ihnen fremd, und so freuen sie
sich, wenn sie wieder altgewohnten Gesang hören,
dadurch wird ihnen die neue Umgebung gewisser-
maßen um einen Schritt mehr zur Heimat. Frei-
lich, besser wäre es, wenn die Ansiedler sich
Mühe gäben, mit den amerikanischen Vögeln ver-
traut zu werden, unter denen herrliche Sänger sind,
wie die Spottdrossel. Auch paßt das Einheimische
besser in die Landschaft hinein, das Fremde macht
sich oft aufdringlich bemerkbar und verdrängt die
Alteingesessenen.
F'ür letzteres ist das beste Beispiel der Spatz,
der mit solchem Erfolge in Amerika eingebürgert
worden ist, daß er zu einer Plage wurde. Aus dem
Osten des Erdteils ist er allmählich bis an den
Stillen Ozean vorgedrungen, überall Schaden
stiftend und die einheimische Vogelwelt verjagend.
Auch in Australien macht sich der dorthin eben-
falls gebrachte Spatz unangenehm bemerkbar.
Von anderen Vögeln sind in Nordamerika
bereits fest eingebürgert : Star, Amsel, Mönchs-
grasmücke, Singdrossel, Lerche, Buchfink, Hänf-
ling, Stieglitz, Grünling, Gimpel, Kernbeißer, Gold-
ammer, Kreuzschnabel, Waldschnepfe, Rebhuhn,
Fasan. Mißerfolg hat man eigentlich nur mit
Nachtigallen gehabt. Die anderen Zugvögel haben
ihre Wanderungen aufgenommen, soweit sie im
Norden nisten , und gehen im Winter an den
Stillen Ozean, ja bis nach Mittelamerika.
Dieselben Arten, die oben genannt wurden,
sind auch in Australien ausgesetzt worden. Es
waren hier 16 im ganzen. Leider haben die Tiere
häufig ihre Lebensgewohnheiten zum Nachteil des
N. F. XIII. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
707
Menschen verändert. Der Star ist in Neuseeland
zum Fruchtfresser geworden, der Grünling zum
Getreideschädling und die Lerche soll gar Rüb-
samen fressen. Der aus Indien eingebürgerte
indische Star, in seiner Heimat ein sehr nützliches
Tier, verfolgt in Australien junge Hühner und
Tauben ! Kurz, eigentlich hat man bei den Ein-
bürgerungsversuchen mehr Arger als Freude ge-
habt.
Und das ist verständlich. Denn jedes Tier ist
an die Umgebung, in der es lebt, angepaßt und
wie ein Rädchen in ein Uhrwerk eingefügt. Dar-
um hat die Veränderung jeder Tierart ihre Folgen,
die oft an ganz unvermuteter Stelle herauskommen.
Und wird ein Tier in ein fremdes Land gebracht,
so wird es aus allen seinen Beziehungen heraus-
gerissen. Zu Hause befindet es sich im Gleich-
gewicht der Natur, in der Fremde wird es das
dortige Gleichgewicht stören.
Von jedem Tier laufen gewissermaßen Fäden
aus, die es mit anderen Tieren und Pflanzen ver-
knüpfen. Versetzt man es, so reißt man diese
Fäden ab, und das Tier muß entweder zugrunde
gehen, oder es entwickelt sich plötzlich mit
rasender Geschwindigkeit, da viele dieser Fäden
auch hemmender Natur waren. Derartige Hem-
mungen üben vor allem die Feinde des betreffen-
den Wesens aus, und so sollte man, wenn man
irgendwo eine Tierart einbürgert, zum mindesten
auch seine Feinde mitnehmen. Denn auch die
übernatürliche schnelle Entwicklung führt schließ-
lich zum Ende, entweder dadurch, daß das Tier
sich so unangenehm bemerkbar macht , daß es
vernichtet werden muß oder dadurch, daß es an
Übervölkerung zugrunde geht. Übertriebenem
Wachstum folgt immer der Tod, das lehrt uns
die Geschichte der Organismenwelt tausendfach.
So sollte man Einbürgerungen nur da ver-
suchen, wo in der einheimischen Tierwelt wirk-
lich eine klaffende und sonst nicht zy schließende
Lücke vorhanden ist. Und mit größter Vorsicht
auf Grund sorgfältiger Untersuchungen sollte das
neue Tier so ausgesucht werden, daß es wirklich
vollkommen in diese Lücke hineinpaßt und die
Fäden, die seit dem Tode des alten Tieres in der
Luft hängen, sich zwanglos an das neue anknüpfen
lassen. Statt des ausgerotteten europäischen
Bibers könnte man den südamerikanischen Sumpf-
biber (Myopotamus coypu) einführen, der als
Grasfresser weniger schädlich wäre. Und dort,
wo am Ufer eines Flusses oder Sees die Schilf-
landschaft entfernt worden ist und damit den
einheimischen Enten die Brutgelegenheit entzogen
wurde, ginge es wohl an, die amerikanische Braut-
ente (Aix sponsa) auszusetzen, die in leicht an
den Bäumen anzubringenden Nistkästen brütet.
Bisher sind aber derartige Gesichtspunkte kaum
berücksichtigt worden. Und so erklärt es sich,
daß der Mensch auch da, wo er die Natur be-
reichern wollte, in seinem Unverstand und mit
seinem täppischen Zugreifen der Verödung von
Wald und Feld oft nur weiter Vorschub geleistet hat.
Die Ursache der Pellagrakraiikheit.
[Nachdruck verboten.] Von Univ.-Prof. Dr. phil. et med.
Die Pellagra ist eine in gewissen Landstrichen
Südeuropas, namentlich in Italien, auftretende Seuche,
die alljährlich Tausende von Opfern fordert. Ihre
Behandlung ist bis jetzt fast erfolglos geblieben.
So erliegen ihr in Italien allein jährlich ungefähr
4000 Menschen. Früher war die Zahl der Krank-
heitsfälle noch bedeutend größer. Sie betrug
1881 104,067 und trotzdem sie beständig abnimmt,
waren es 1910 noch 33,869 Pellagrakranke. Es
ist eine meist chronisch verlaufende Erkrankung,
besonders des Nervensystems. Sie dauert 10 — 15
Jahre und endigt gewöhnlich mit dem Tod; nicht
selten führt sie zum Wahnsinn.
Ihre Ursache ist, wie bei der Krebskrankheit,
mit Sicherheit bisher nicht bekannt. Man weiß
! nur, daß sie ihre Opfer fordert in jenen Bevölke-
rungsschichten, für die der Mais das Hauptnahrungs-
niittel bildet. Auf den darin liegenden Hinweis
stützt sich auch die älteste Theorie von Lom-
■ broso und seiner Schule, wonach die Verwen-
dung von verdorbenem Mais zu Nahrungszwecken
den Anlaß zum Ausbruch der Pellagrakrankheit
geben soll.
Tierversuche indes hatten das Ergebnis, daß
es ganz einerlei ist, ob guter oder schlechter
Mais zur F"ütterung dient.
L. Kathariner, Freiburg (Schweiz).
Nach Guido Tizzoni wäre ein bestimmter
auf verdorbenem Mais vorkommender Bazillus der
Krankheitserreger. Tizzoni nennt ihn Strepto-
bacillus pellagrae.
Nach Prof S a m b o n dagegen wäre die Pella-
gra veranlaßt durch einen tierischen Mikroorga-
nismus, ein Protozoon. Überträger desselben wäre
ein stechender Zweiflügler, eine Art der Kriebel-
mücken, Simuliidae, die bei ihrem Stich den
Krankheitskeim vom Kranken auf den Gesunden
übertragen sollte, etwa wie .'\nopheles das Plas-
modium malariae, den Erreger des Wechselfiebers.
In ganz anderer Richtung bewegen sich die
von C. Funk und zwei italienischen Forschern
aufgestellten Theorien.
Nach Funk wäre die Pellagra eine Avita-
minose, bedingt durch das Fehlen eines für das
Leben unentbehrlichen Stoffes in der Nahrung,
des Vitamins, welches beim 'Schälen des Mais
verloren ginge.
Er vertritt diese Ansicht von der Natur der
Pellagraseuche, deren Symptome die Folgen einer
Unterernährung wären, mit aller Entschiedenheit
in einem Aufsatz: Prophylaxe und Therapie der
Pellagra im Lichte der Vitaminlehre (Münchener
Med. Wochenschr. Nr. 13, 1914), indem er darauf
7o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 45
hinweist, daß dort, wo infolge gröberen Mahlens
ein Teil der vitaminhaltigen Aleuronschicht mit
ins Mehl käme, die Krankheit viel weniger ver-
derblich auftrete; so seien schwere Fälle weit
häufiger in den Vereinigten Staaten, wo der Mais
energisch geschlifi'en wird, als in Italien und Ägyp-
ten, wo er nur grob gemahlen würde.
Mit seiner Auffassung insofern verwandt, als
die Ursache ^n der chemischen Beschaffenheit der
Maisnahrung gesehen wird, ist auch die neueste
Theorie von A I essand rini und Scala (II Poli-
clinico 1913)- Die Genannten stellten fest, daß
an den Orilichkeiten , wo die Pellagra herrscht,
der Boden tonhaltig ist. Durch das Regen-
wasser nun würde der Ton hydrolysiert und
spaltete sich in Tonerde und Kieselsäure. Diese
seien dann in kolloidaler Form im Wasser ent-
halten. Beide würden sich zwar gegenseitig nieder-
schlagen, aber es bliebe ein Überschuß von kol-
loidaler Kieselsäure. Diese aber sei für den Or-
ganismus ein Gift, indem sie das Kochsalz zurück-
halte und eine Anreicherung des menschlichen
Organismus an NaCl bewirke. Beim Zusammen-
treffen mit den eiweißhaltigen Verbindungen des
Zellprotoplasmas spalte das Natriumchlorid .Salz-
säure ab, und so entstände eine Mineralsäure-
vergiftung.
Es gäbe nun andererseits gewisse Salze im
Wasser, welche die kolloidale Kieselsäure wieder
binden und so geeignet wären, die giftige Wirkung
des Wassers aufzuheben. Dies treffe z. B. für
kalkhaltiges Wasser zu.
Es empfehle sich daher, prophylaktisch dem
Pellagra verursachenden Wasser kohlensauren
Kalk in Form kleiner Steinchen beizufügen.
Im Falle einer Infektion hätten Injektionen
einer Lösung von citrate trisodique stets ausge-
zeichnete Erfolge gehabt.
Die Heilung sei sowohl beim Menschen als
bei Tieren in vielen Fällen geglückt.
Sehr interessant ist, daß in Phallen von Avita-
minosen Funk gleichfalls Zitronensaft als wirk-
sames Gegenmittel empfiehlt. So sehr die beiden
letztgenannten Ansichten auseinander gehen —
nach der einen wäre das Fehlen einer lebens-
wichtigen Substanz, nach der andern ein positives
Gift die Ursache der Pellagraseuche — , so ist
doch wieder die Therapie bei beiden dieselbe.
Dies spricht mit großer Wahrscheinlichkeit dafür,
daß eine von beiden Theorien über die Ätiologie
der Pellagra das Richtige trifft.
Erwähnt seien noch Versuche von H. Rau-
bischek und Lucksch. Sie fanden, daß aus-
schließlich mit Mais gefütterte Tiere (Mäuse,
Kaninchen , Meerschweinchen) erkrankten und
schließlich verendeten, wenn sie dauernd dem
hellen Tageslicht ausgesetzt wurden, in der Dunkel-
heit dagegen bei dieser Fütterung gesund blieben.
Ganz entsprechende Ergebnisse halten Fütterungs-
versuche im Frühjahr und Sommer, bzw. im Herbst
und Winter.
Diese Wahrnehmungen sprechen für die Ver-
giftungstheorie und zwar dafür, daß es sich um
ein Gift handelt, das sich im Lichte bildet. ')
') Vgl. dazu den Aufsatz von Dr. Emil Lenk (Darm-
stadt): „Tierische Farbstoffe" S. 547 rechts unten d. Bl.
Einzelberichte.
Zoologie. Über das Vorkommen des Rinder-
bandwurms (Taenia saginata Göze) beim Säugling
berichtet K. Grimm aus dem Kinderhospital in
Köln (Münch. Med. Wochenschr. Nr. 32, 1914).
Es handelt sich um einen 10^.2 Monate alten
Knaben. Der Bandwurm schien dem Kinde kein
Unbehagen zu verursachen, dasselbe hatte guten
Appetit und schlief gut. Erst die abgehenden
Bandwurmglieder veranlaßten zur Einleitung einer
Kur. Es wurde dabei „Kukumarin" gegeben, ein
im Handel erhältliches Extrakt des Kürbissamens.
Die Gesamtlänge der Taenia betrug 3,25 m.
Besonders interessant ist die Frage, wie es
wohl möglich war, daß die Pinne in den Darm
des Säuglings gelangte. Auf eindringliches Be-
fragen gab die Mutter an, daß das Kind vor zwei
Monaten rohes geschabtes Pleisch erhalten hatte.
Auch in zwei anderen Fällen des Vorkommens
von Taenaia saginata bei einem 8- bzw. 9 monat-
lichen Kind war rohes fein gehacktes Fleisch gegeben
worden. Bei einem 5 Monate alten Kind wurde
sogar einmal der Schweinebandwurm (T. solium
Rud.) gefunden.
Die gewöhnlich im Kindesalter beobachtete
Bandwurmart ist der Gurkenkernbandwurm (T.
cucunierina Rud.), dessen P'inne in der Hundelaus
lebt. Kathariner.
Physiologie. Eine steigende Beachtung in
der physiologischen Wissenschaft finden in den
letzten Jahren die Drüsen mit innerer Sekretion,
die endokrinen Drüsen. Es sind Organe von
drüsenähnlichem Bau, aber ohne besondere Aus-
führungsgänge. Ihr Produkt wird durch den
Lymphstrom dem Blute zugeführt und mit diesem
zu dem jeweiligen Bestimmungsorgan gebracht.
Solche Drüsen sind z. B. die Schild- und die Zirbel-
drüse, die Epi- und Hypophyse, u. a. Über ihre
Bedeutung für das Leben geben Ausfaller-
scheinungen Aufschluß, d. h. Erscheinungen, welche
mit der Ausschaltung der Tätigkeit der betreffenden
Drüse infolge ihrer Erkrankung oder ihres Fehlens
verknüpft sind. Es liegt nahe, durch absichtliche
Exstirpätion der endokrinen Drüse im Versuch
ihre Bedeutung für das Lebewesen zu ermitteln.
Leo Adler untersuchte, welche Folgen die
N. F. XIII. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
709
Entfernung der Thymus und der Epiphyse bei
der^Froschlarve hat (Metamorphosestudien an
Batrachierlarven. A. Exstirpation endokriner
Drüsen. B. Exstirpation der Thymus. C. Ex-
stirpation der Epiphyse. Archiv für Entwicke-
lungsmechanik. XXXX. Bd. 1914). Die Ent-
fernung der Thymus geschah bei 22,5- — 23 mm
langen Froschlarven mittels des Galvanokauters.
Es ergab sich, daß für die Amphibien die
Thymus kein lebenswichtiges Organ ist, wie das
schon Hammargefunden hatte. Veränderungen
im Stoffwechsel konnten nicht festgestellt werden.
Gudernatsch hatte früher beobachtet, daß bei
Fütterung von Temporarialarven mit Tiiymus das
Körperwachstum begünstigt, und die Metamorphose
verzögert wurde.
Adler glaubte nun, daß umgekehrt durch die
Entfernung der Thymus die Metamorphose be-
schleunigt würde. Es zeigte sich indes zwischen
den Versuchs- und den Kontrolltieren in der Ent-
wicklung keinerlei Unterschied. Die Keimdrüsen
aber bei drei Exemplaren übertrafen an Größe
nicht nur jene der Kontrolltiere, sondern auch die
der 17 übrigen operierten Larven. Eine genaue
Untersuchung ergab, daß bei letzteren ein Teil der
Thymusdrüse erhalten geblieben war und dieser
hatte genügt, das Wachstum der Keimanlage in
Schranken zu halten.
Schon Noel Piaton, der mit Meerschweinchen
operiert hatte, konnte wiederholt eine übernormale
Entwicklung der Hoden feststellen, wenn die
Thymektomie vor Erlangung der Geschlechtsreife
stattgefunden hatte. Von anderen Forschern
(Klose, Vogt) wurden entsprechendeBeobachtungen
gemacht, wogegen Soli, Luden und Pari so t
bei thymektomierten Hähnen, Kaninchen, Meer-
schweinchen bzw. Hunden eine Verminderung der
spezifischen Keimzellen feststellten. Soli ist ge-
neigt, die von Piaton beobachtete Keimdrüsen-
hyperplasie auf das zufällige Eintreten der Brunst-
zeit zurückzuführen. Trotz mancherlei Bedenken
scheint es aber doch, daß die Thymus das nor-
male Wachstum der Keimdrüsenanlage reguliert.
Von den anderen innersekretorischen Drüsen
zeigten die Zirbeldrüse (Epiphyse) und die Hypo-
physe keinerlei Veränderungen, wohl aber die
Schilddrüse (Thyreoidea). Sie war vergrößert,
einmal durch eine ödematöse Auflockerung ihres
Gewebes, dann aber auch durch eine Vermehrung
der absoluten Zahl der Follikel. Der kolloidale
Inhalt der Drüsenschläuche war gegenüber den
Kontrolltieren zwar absolut vermehrt, aber in der
Raumeinheit vermindert; die Wandung der Folli-
kel war an vielen Stellen geradezu schlaff. Auch
qualitativ erschien das Sekret verschlechtert. Es'sah
schaumig oder fädig aus und war nicht gleich-
mäßig färbbar. Vielleicht beruht diese Ver-
größerung der Schilddrüse auf dem Bestreben, die
Funktion der exstirpierten Thymus mit zu über-
nehmen.
In einer zweiten Versuchsreihe wurde bei 21 mm
langen Grasfroschlarven durch den Galvanokauter
die Epiphyse zerstört. Auch dieser Eingriff wurde
gut vertragen. Auffallend war die Tatsaclie, daß
4 der Tiere sich schneller entwickelten und eher
mit der Metamorphose begannen als die übrigen,
daß aber keines der Tiere die Verwandlung beendete.
Bei 7 Larven trat ein eigentümliches (Jdem auf,
das namentlich am Kiefer und an den Schenkeln
zu einer Abhebung der Haut führte. Seine Er-
klärung bereitet große Schwierigkeiten, zumal es
nur bei 7 unter 9 Versuchstieren auftrat. Daß
die Metamorphose nicht vollendet wurde, hängt
wohl mit dem Ausfall der Epiphyse als einer
endokrinen Drüse zusammen. Durch die Unter-
suchung von Gu dernatsch und B a b ä k wenig-
stens ist nachgewiesen worden, daß die Schild-
drüse, also eine andere Drüse mit innerer Se-
kretion, bei der Metamorphose eine wesentliche
Rolle spielt. Kathariner.
Eine hervorragend wichtige Rolle spielen im
Körper des Organismus die IJpoide. Es sind
dies in den Geweben und den Körperflüssig-
keiten enthaltene, durch organische Lösungen
(Äther, Benzol usw.) extrahierbare Substanzen,
besonders Cholesterin und Lezithine. Der Gehalt
an phosphorsauren Lipoiden und an Cholesterin
ist normalerweise konstant, (constancelipocytique).
Über die Schwankungen des Cholesteringehalts bei
Krankheiten wurde früher (Nr. 5 1 d. Bl.) berichtet.
In einer neuen Arbeit (Constance de la con-
centration des organismes entiers en lipoides
phosphores; concentration en lipoides au cours
de la croissance. Application ä la biometrique.
C. R. Ac. sc. Paris Nr. i, 6 juillet 1914) behandeln
Andre Mayer und Georges Schaeffer die
Frage nach dem Gehalt des Organismus
an phosphorhaltigen Lipoiden bei den
verschiedenen Tierarten und unter ver-
schiedenen Lebensbedingungen, be-
sonders während des Wachstums. Bei
warmblütigen Tieren ist er größer, als bei kalt-
blütigen und wechselwarmen Tieren. So z. B.
bei der Maus 0,77 — 0,84, Ratte 0,54—0,60, Fleder-
maus 0,84 — 0,91, Goldfisch 0,34 — 0,45, P'rosch
0,3 5 — 0,4 1 , Blutegel 0,23 — 0,27, Seestern 0,30—0,33
usw. Lipoidphosphor pro kg Körpergewicht.
Zusammenfassend kann man sagen, daß der
Gehalt an Lipoidphosphor namentlich bei den
warmblütigen Tieren für die verschiedenen Indivi-
duen derselben Art konstant ist.
Ferner bildet der Gehalt bestimmter Organe
an Lipoidphosphor einen Maßstab für den des
ganzen Körpers. Seine Menge beträgt in den
Nieren des Meerschweinchens 10 — 13, der Ratte
II — 14 mg pro kg Körpergewicht.
Während des Wachstums nimmt die Menge
des Cholesterins kurz nach der Geburt rasch zu,
um dann konstant zu bleiben; so betrug sie z. B.
bei einer Ratte von 5 g im Verhältnis gerade so
viel, wie bei einer solchen von 1 1 8 g.
Kathariner.
7IO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr. 45
Tierisches oder pflanzliches Eiweiß? Über
die hervorragende Bedeutung des Eiweißes
als eines unentbehrlichen Bestandteils unserer
Nahrung besteht kein Zweifel. Die Meinungen
sind jedoch geteilt bezüglich der zur normalen
Ernährung nötigen Menge und der Form, in der
es am zweckmäßigsten dem Körper einverleibt
wird, mit anderen Worten, ob das pflanzliche
dem tierischen Eiweiß und die vegetarianische
Lebensweise der Gemischtkost gegenüber gleich-
wertig bzw. ihr vorzuziehen sei. Anlaß zu letz-
terer Frage gibt die Tatsache, daß die Ursache
vieler Stoffwechselkrankheiten, vor allem der Gicht,
in überreichlichem Heischgenuß zu suchen ist.
Dazu kommt die viel größere Billigkeit des vege-
tarianischen Regimes. Tierisches Eiweiß liegt
vor allem im PTeisch in der verschiedensten Form
der Zubereitung vor, Pflanzeneiweiß findet sich
im Getreide als Kleber und in Hülsenfrüchten
(Bohnen, Erbsen, Linsen) als Legumin. Die Kar-
toffeln enthalten dagegen nur eine sehr geringe
Menge.
Was zunächst die Quantität des Eiweißes an-
geht, welche zur Ernährung nötig ist, so gaU
über 50 Jahre die von dem Münchener Physio-
logen Voit aufgestellte Norm. Ein Erwachsener
braucht danach täglich 120 g, bei Muskelarbeit
bis 150 g Eiweiß in der Nahrung und mehr.
Diese Zahlen werden neuerdings von manchen
Physiologen zu hoch gefunden. In einem Aufsatz
(Eiweißbedarf und Fleischnahrung. Münchener
Med. Wochenschr. Nr. 16, 1914) führt Prof. Dr.
Decker Versuche des amerikanischen Physio-
logen Chittenden an. Bei zwölf Soldaten die
neun Monate lang nur Vs der üblichen Ration
genommen hatten, blieb nicht nur das Körper-
gewicht gleich, sondern die Muskelkraft nahm
sogar während dieser Zeit um das doppelte zu.
Sieben Berufsathleten, die nach Voit ca. 150 g
Eiweiß nötig gehabt hätten, erhielten nur 50 — 60 g.
Ihre Muskelkraft stieg trotzdem um 3o'7o. Der
dänische Arzt Hind'hede hält eine Ernährung
für ausreichend, bei der nur Grütze, Brot, Butter,
Kartoffeln, Gemüße, Zucker und Früchte, besonders
Erdbeeren, genossen werden. Decker verwahrt
sich ausdrücklich dagegen, er wolle die rein vege-
tarianische Lebensweise befürworten. Geschmack
und Gewohnheit sprächen für gemischte Kost.
Das pflanzliche sei aber dem tierischen Eiweiß,
wie es die Fleischkost enthalte, im Nährwert völlig
gleich. Bei den Wettmärschen der letzten Jahre
seien -/„ der Vegetarianer ans Ziel gekommen.
bei
Berlin" seien die
Vegetarianer ge-
von den Gemischtkostessern dagegen nur
dem Dauermarsch „Rund um
vier ersten Preise gleichfalls an
fallen.
Die japanischen Karrenzieher, welche sich
hauptsächlich von Reis nährten, vermöchten einen
erwachsenen Menschen Strecken von lookm und
mehr im Trab zu ziehen. 50—60 g Eiweiß sind
nach seiner Meinung ausreichend. Es ließe sich viel-
fach einesparsamere Ernährung einführen; so könnten
in der Gefängniskost noch 2" g Eiweiß gestrichen
werden. Er schließt: 60 g Eiweiß sind für den
körperlich arbeitenden Menschen genug, und da
der Nährwert des pflanzlichen Eiweißes dem tie-
rischen gleichkommt, kann '/., davon durch Pflanzen-
kost gedeckt werden. Fleischkost einmal pro
Tag sei auch sonst ausreichend, sogar gesünder,
und ein ganz fleischfreier Tag pro Woche zu emp-
fehlen.
Im Gegensatz zu Decker betont Dr. Kiss-
kalt vom hygienischen Institut Königsberg i. Pr.
die große Bedeutung, welche die Fleischnahrung
für die Deckung des Eiweißbedarfes hat. In:
„Eiweißbedarf und Fleischnahrung" (Münchener
Med. Wochenschr. Nr. 29, 1914) sagt er, wenn
man immer die japanischen Karrenzieher als Bei-
spiel dafür anführe, daß die Volksernährung an-
derswo mit viel weniger Eiweiß auskommen
könne, so würde dabei gar nicht berücksichtigt,
daß das durchschnittliche Körpergewicht hier
auch viel geringer sei, nur 50 kg statt 70 kg bei
uns. In bezug auf die Volksernährung könnten
Japan und Ostasien überhaupt nicht vorbildlich
sein. Die Beriberi, eine Volkskrankheit, die mit
der Einführung von enthülstem Reis als Volks-
nahrungsmittel ausgebrochen sei, richte dort grö-
ßere Verwüstungen an, als in Europa die Tuber-
kulose. Ausserdem sei der Rückgang der letzteren
in Deutschland, England usw. insofern er auf
einer Besserung der sozialen Verhältnisse beruhe,
in erster Linie einer besseren Ernährung zu ver-
danken.
„Die Versuche von Reach, Hornemann
und Thomas zeigen, daß Tiere bei eiweißreicher
Kost zur Tuberkulose weniger disponiert sind,
wie auch zu gewissen Vergiftungen, und so müssen
wir denn in Übereinstimmung mit anderen Tat-
sachen die Besserung der Ernährungsverhältnisse
und besonders des Fleischkonsums der großen
Masse als Hygieniker aufs wärmste begrüßen."
Wenn Prof. Decker die Versuche von
Chittenden anführt, um zu beweisen, daß auch
bei schwerer Muskelarbeit weniger Eiweiß in der
Nahrung nötig sei, als Voit glaubte, so bemerkt
Kisskalt dazu folgendes. Die Soldaten waren
sog. Küchensoldaten und hatten außer etwas
Turnen keine nennenswerte Muskelarbeit zu lei-
sten, die Athleten aber waren keine Berufsathleten,
sondern Studenten, die sich täglich einige Stunden
dem Sport widmeten. Wenn nun auch momentan
dabei, z. B. beim Stemmen schwerer Gewichte,
eine sehr große Arbeit geleistet wird, so ist diese
doch nur von kurzer Dauer. Wenn jemand seinen
70 kg schweren Körper eine ungefähr 10 m hohe
Treppe hinaufträgt, leistet er dabei eine größere
Arbeit. Ebenso ist die Arbeitsleistung eines kräf-
tigen Karrengauls wesentlich größer als die eines
Rennpferds.
Wenn Decker weiter meint, daß pflanz-
liches dem tierischen Eiweiß gleichwertig sei, so
ist das durchaus nicht der Fall. Das Pflanzeneiweiß
N. F. Xm. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
711
hat "wegen seiner Zusammensetzung aus anderen
Aminosäuren einen geringeren Wert; lOO g
Fleisch- oder Milcheiweiß können zwar 100 g
Körpereiweiß ersetzen, 100 g Reiseiweiß dagegen
nur 88 g, Kartoffeleiweiß 70 g, Erbseneiweiß nur
56 g, Weizeneiweiß nur 40 g und Maiseiweiß
nur 30 g Körpereiweiß (Thomas). Man muß
wohl unterscheiden zwischen der Quantität der
Eiweißnahrung, welche gegessen, und der Eiweiß-
quantität, welche resorbiert wird. Die Zahlen
von Voit beziehen sich auf erstere, die von
Chittenden auf letztere. Berücksichtigt man
bei beiden Mengen die Quantität dessen, was
durch Kot und Schweiß ausgescliieden wird, so
erhält man ungefähr die gleiche Zahl etwa Si g.
Die Kost, welche Chittenden empfiehlt, ist
für die Arbeiterfrau viel zu teuer. Fische z. B.
kosten zu viel Fett. Ferner hätte die Frau eines
Arbeiters gar nicht die Zeit zur Zubereitung mancher
Speisen.
Einen radikalen Vorschlag macht Hindhede:
Kartoffeln und Zentrifugenmilch. Was die Frage
anbelangt, ob man bei einer solchen Kost gesund
und kräftig bleiben könnte, so ist dieselbe unbedingt
zu bejahen, wie schon in den 70 er Jahren an Holz-
knechten nachgewiesen wurde. Aber für die Er-
nährung körperlich weniger arbeitender Volks-
klassen würde sich eine solche Kost nicht eig-
nen.
Rechenberg hat die Kost der Zittauer
Weber untersucht und eine Aufnahme von 65 g
Eiweiß = 27S3 Kalorien gefunden. Die Ernährung
erwies sich jedoch als unzulänglich. Ohne daß
die Leute Hunger litten, waren sie unterernährt.
Außerdem birgt eine reizlose Kost die Gefahr
des Alkoholmißbrauchs in sich, da der Organis-
mus ein Reizmittel verlangt. „Reizlose, ein-
förmige Kost bedeutet für die große Masse eine
eminente Gefahr, denn bei dem berechtigten
Wunsche nach Genußmitteln pflegt unweigerlich
der Schnaps seine Ernte zu halten. (R u b n e r).
Diese Worte zeigen im Gegensatz zu den „Re-
formen" einen eminent praktischen Blick für die
Fragen der Volksernährung; denn wie Retorte
und menschlicher Organismus zwei grundver-
schiedene Dinge sind, ebenso auch Laboratorium
und Leben." (Decker.)
Eine Eiweißüberfütterung der Kinder und
übermäßiger Fleischgenuß ist sicher schädlich,
wie dies erste Hygieniker längst ausgesprochen
haben. Die Restaurationskost ist ja aus dem-
selben Grunde auf die Dauer unerträglich. Für
einen körperlich arbeitenden Mann, einen Tischler,
Dienstmann usw. aber sind 118 g Eiweiß, davon
'/g animalisches, also nicht ganz 40 g, wie sie in
etwas mehr als '/^ Pfund gekochten Fleisches ent-
halten sind, nicht zuviel, zumal wenn ein Teil
des animalischen Eiweißes etwa in Form
Milch oder Käse gegeben wird.
K isskalt sagt, das Charakteristische in dem
Kampfe gegen die Voit 'sehe Norm sei, daß sich
von
die wenigsten darüber klar sind, wie wenig Fleisch
usw. sie eigentlich fordert.
Die große Masse des Volkes erführe über-
haupt nichts von der ganzen Reform auf dem
Gebiete der Ernährung. Für die Bemittelten sei
es nur gut, wenn sie etwas weniger Fleisch essen
würden, und insofern könnten jene englischen
Äußerungen ihr Gutes haben. Entschieden aber
müßte dagegen protestiert werden, wenn man
diese Ansichten auf jene Fälle übertragen wollte,
in denen, wie in Gefängnissen, die Art der Er-
nährung von dem einzelnen unabhängig sei. Das
Sinken der Sterblichkeitsziffer in den Strafanstalten
sei wohl in erster Linie auf eine Verbesserung
der Ernährung zurückzuführen ; trotzdem wäre
die Sterbeziffer an Tuberkulose in Gefängnissen
und Zuchthäusern noch abnorm hoch und wäre
noch höher, wenn nicht zahreiche Insassen in
späteren Stadien entlassen würden und zu Hause
stürben. Wer weiß, wie der Sträfling die kleinen
Brocken der seltenen Fleischration aus dem üb-
rigen Brei seines Essens herausfischen muß, wird
nicht von einer überreichen Fleischnahrung reden
Kathariner.
Anthropologie. Über die Vermehrung und
fortschreitende Bastardierung der Negerbevö)kerung
der Vereinigten Staaten Amerikas enthält derl<ürz-
lich erschienene Bericht über die amerikanische
Volkszählung von 1910 beachtenswerte Angaben.
Die als Sklaven vom tropischen x^frika nach der
gemäßigten Zone Nordamerikas verpflanzten Neger
haben den Wechsel des Klimas und der sonstigen
Lebensbedingungen im allgemeinen gut ertragen,
was vor allem ihre starke Vermehrung nach dem
Aufhören der Sklaveneinfuhr beweist. Im Jahre 1 800
wurden i 002 000 Neger gezählt; 1870, bei der ersten
Volkszählung nach der Sklavenbefreiung, betrug
ihre Zahl bereits 5392000, 1880 betrug sie
6581000 (-1-22%), 1^890 6489000 (+i3,5"'o),
1900 8834000 (-1-18%) und 1910 9828000
(-)- ii,2°/o). Dabei sind in allen Jahren rein-
rassige Neger und Negermischlinge zusammen-
gezählt. Das Gedeihen der Neger im gemäßigten
Nordamerika wird namentlich von amerikanischen
Autoren darauf zurückgeführt, daß durch die Skla-
verei alle Schwächlinge unter den Schwarzen aus-
gemerzt wurden. So schreibt z. B. Tillinghast '),
daß nur die kräftigsten Individuen all die Leiden
und Entbehrungen überstehen konnten, welche die
Sklavenjagden und Sklaventransporte mit sich
brachten. Wer schwach oder krank war, ging
ohne Rücksicht zugrunde. Es ist wahrscheinlich,
daß sich die große Mehrheit der in Amerika an-
gekommenen Neger bald erholte und fähig war,
ihre kräftige Konstitution auf die Nachkommen
zu übertragen. Doch blieben die Neger auch in
Amerika starken selektorischen Einflüssen aus-
gesetzt. Da die Sklaven Eigentum ihres Herrn
') Tillinghasl, The Negro in Mrtca. and America,
S. 109. New York, 1902.
712
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 45
waren, über das er nach seinem Willen verfügen
konnte, so stand es ihm frei, ihre sexuellen Be-
ziehungen zu regeln und dadurch eine Verbesserung
der Rasse zu erzielen. Das geschah sehr häufig,
indem der Sklavenhalter die Vereinigung gewisser
Personen, befahl oder begünstigte. Neger, die alle
bevorzugten Eigenschaften besaßen, wurden nicht
gehindert, wenn sie mit mehreren Frauen ver-
kehren wollten. Die Fortpflanzung der Schwäch-
linge verstieß gegen das materielle Interesse der
Sklavenhalter, die sie deshalb auch gar nicht
gerne sahen. Allerdings darf nicht vergessen
werden, daß bei dieser künstlichen Zuchtwahl fast
nur auf Muskelkraft Bedacht genommen wurde.
Es ist ferner kaum zu bezweifeln, daß die aus
Afrika eingeführten Negersklaven eine sehr große
Fruchtbarkeit besaßen ; denn in Afrika, wo Kriege,
Seuchen, Hungersnöte, Menschenopfer usw. zu
wahlloser Vernichtung führen, kann sich nur eine
außerordentlich fruchtbare Rasse erhalten. Doch
hat die Fruchtbarkeit der amerikanischen Neger
mit fortschreitender Zivilisation abgenommen, denn
ihre prozentuale Vermehrung ist im ganzen lang-
samer geworden, obzwar das Jahrzehnt 1890 bis
19CO eine Ausnahme von dieser Regel bildet.
Auffallend ist, daß die Neger seit der Sklaven-
befreiung in jedem Jahrzehnt verhältnismäßig
weniger zunahmen als die von einheimischen (in
Amerika geborenen) Eltern stammenden Weißen;
es vermehrten sich nämlich die
die einheim.
Im Jahrzehnt Weißen die Neger
1870— 1880 um 25,5%, um 22,0 "Zu,
1880- 1890 „ 20,3 »/„, „ 13,5%,
1890-1900 „ 18,8 «/„, „ 18,0%,
1900-1910 „ 20,9%, „ 11,2"/',,.
Besonders im letzten Jahrzehnt war der Unter-
schied schon sehr groß. In den \'ereinigten Staaten
gibt es bedauerlicherweise keine Geburtenstatistik.
Auf einen Rückgang der Geburtenhäufigkeit kann
man jedoch schheßen aus der Abnahme der Zahl
der Kinder eines gewissen Alters, die auf eine
bestimmte Zahl gebärfähiger Frauen treffen. Es
stellt sich überdies heraus, daß der Rückgang der
Kinderhäufigkeit bei den Negern verhältnismäßig
größer war als bei den Weißen. Auf je 1000
weibliche Personen im Alter von mehr als
15 bis nicht ganz 45 Jahren trafen Kinder unter
5 Jahren:
1900 1910
Bei den
einheimischen Weißen 608 585
Negern 592 519
Im Jahre 1900 machte der Unterschied der
Häufigkeit bis zu fünfjähriger Kinder auf 1000
Frauen erst 25 zugunsten der Weißen aus, 1910
jedoch bereits 66. Das ist eine für die Weißen
als Rasse erfreuliche Erscheinung, weil sie, wenn
dieselbe Tendenz der Volksvermehrung anhält,
dadurch immer mehr Übergewicht erlangen, selbst
wenn die Einwanderung aus Europa auf ein
Mindestmaß zurückgehen sollte. Woher es kommt,
daß der Kinderreichtum bei den Negern geringer
ist und rascher sinkt als bei den Weißen, ist noch
nicht einwandfrei festgestellt. Es ist ja gewiß,
daß bei den Negern Kinder verhältnismäßig
häufiger vernachlässigt werden als bei den Weißen
und daß deshalb mehr Negerkinder als weiße
Kinder vor dem 5. Jahr sterben. Aber die all-
gemeinen Gesundheitsverhältnisse beider Rassen
erfahren nach und nach einen Ausgleich, so daß
eher eine Verringerung als eine Vergrößerung
des Unterschieds der Kinderhäufigkeit zu erwarten
wäre. Ein bemerkenswerter Unterschied besteht
schon in der Zahl der auf je looo 15 — 45 jährige
Frauen treffenden weniger als einjährigen
Kinder, die im Jahre 1910 bei den einheimischen
Weißen 122, bei den Negern jedoch nur 104 be-
trug. Der Kinderreichtum der Farbigen ist be-
sonders in den Gebieten mit starker Rassen-
m i s c h u n g gering, so vor allem in den Neu-
englandstaaten und den nordöstlichen Zentralstaaten,
obzwar hier die sanitären und wirtschaftlichen
Verhältnisse der Neger erheblich besser sind als
in den Südstaaten.
Die Volkszählungen ergaben, daß sich die
Zahl der Negermischlinge wie folgt stellte:
Zahl der Misch- ^f" '^?' gesamten
Jahr ,■ .., , ^ Negerbevolkerung
■' hnge überhaupt ^ . , ^
■^ "^ waren vermischt
1850 405800 II,2"/o
1860 588400 13,2 "/o
1870 584000 12,0%
1890 I 132 100 15,2 "/u
I9IO 2050700 20,9 "/y
Bei der Zählung von 1870 wurden aus po-
litischen Gründen unrichtige Aufzeichnungen ge-
macht; deshalb erscheint auch die Zahl der Neger-
mischlinge 1870 kleiner als sie bereits 1860 war.
In den Jahren 1880 und 1900 wurden die Misch-
linge nicht besonders gezählt.
Der Prozentsatz der Mischlinge unter der
Negerbevölkerung ist gebietsweise erheblich ver-
schieden. In der Regel ist er dort am größten,
wo die Neger nur schwach unter der Gesamt-
bevölkerung vertreten sind, während sich die Neger
in den Gebieten, wo sie in großen Massen wohnen,
am reinsten erhalten haben. Von den einzelnen
Staatengrujjpen weisen die südöstlichen Zentral-
staaten verhältnismäßig am wenigsten (19 "q) und
die Neuenglandstaaten verhältnismäßig die meisten
(33,4 7o) Mischlinge auf.
Im Jahre 1910 bildeten die Neger und Neger-
mischlinge in zwei Staaten der Union die Mehr-
heit der Bevölkerung, nämlich in Mississippi
56,2 °/q und in Südkarolina 55,2%. Von der
Negerbevölkerung waren in Mississippi 16,9 "/„
und in Südkarolina 16, i "/q Mischlinge.
Eine Zone, in der die Neger (einschließlich der
Mischlinge) die Mehrheit der Bevölkerung bilden
— der sogenannte schwarze Gürtel — erstreckt
sich in wechselnder Breite ungefähr von Rich-
mond in Virginien über den nordwestlichen Teil
des Staates Karolina (wo sie eine Strecke weit
N. V. XIII. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
713
unterbrochen wird) nach Südkarolina, Zentral-
georgia und Zentralalabama in das Mississippital,
das von etwa 35" 30' n. Br. bis zur Mündung des
Mississippistromes überwiegend von Negern be-
wohnt ist. Weiter westwärts bilden einige Graf-
schaften im südwestlichen Teil des Staates Ar-
kanas, im Nordwesten von Louisiana und im Süd-
osten von Texas Ausläufer des schwarzen Gürtels.
Es ist bemerkenswert, daß sich die Neger mehr
und mehr innerhalb des schwarzen Gürtels zu-
sammenziehen; sie wandern dahin nicht nur aus
dem nördlich davon gelegenen Regionen, sondern
auch aus dem Küstengebiet des Atlantischen
Ozeans und des Golfs von Mexiko ab.
H- Fehlinger.
Chemie. Über Rinman's Grün und Kobalt-
magnesiumrot. — Glüht man Kieselsäure, Alu-
miniumoxyd, Zinkoxyd oder Magnesiumoxyd mit
einigen Tropfen einer Kobaltnitratlösung, so ent-
stehen, wie jedem Chemiker aus der Lötrohr-
analyse bekannt ist, charakteristisch gefärbte Kom-
plexe, mit Kieselsäure eine blaue Schmelze, das
„Kobaltblau", mit Aluminiumoxyd das un-
schmelzbare „Thenard's Blau", mit Zinkoxyd
„Rinman's Grün" und mit Magnesiumoxyd
das rote „Kobalt magn esiu m rot". Das Ko-
baltblau ist eine silikatische Verbindung, für
Thenard's Blau ist durch die Untersuchungen
von Ebelmen (Journ. f. prakt. Chem. Bd. 43,
S. 479 und 484) die Zusammensetzung Al.jOg -CoO
nachgewiesen, d. h. es handelt sich bei ihm um
eine Verbindung vom Typus der Spinelle. Über
die Natur von „Rinman's Grün" und vom „Ko-
baltmagnesiumrot" ist durch zwei vor kurzem
erschienene Abhandlungen von J. Arvid Hed-
vall (Zeitschr. f anorg. Chem. Bd. 86, S. 201
bis 224, und Bd. SS, S. 296 bis 300 ; 1914) Klar-
heit geschaffen worden.
Sowohl Rinman's Grün als auch das Ko-
baltmagnesiumrot kann man, wie Hedvall
zeigt, in ziemlich schönen Kristallen erhalten,
wenn man die Komponenten Zinkoxyd oder Mag-
nesiumoxyd mit Kobaltoxyd (oder beim Glühen
in Kobaltoxyd übergehendes Kobaltoxalat oder
-karbonat) längere Zeit, am besten unter Hinzu-
fügung von Kaliumchlorid als Schmelzmittel, auf
lioo bis 1400" C erhitzt.
Beim Glühen der Kobaltoxyd-Zinkoxyd-Gemi-
sche ■ entstehen gleichzeitig rote und grüne Kristalle
Die roten Kristalle erweisen sich durch die chemische
Analyse als reines kristallisiertes Kobaltoxyd CoO,
während die grünen Kristalle, kristallisiertes Rin-
man's Grün, je nach der Zusammensetzung des
Ausgangsmaterials aus Zinkox)'d und Kobaltoxyd
in wechselndem Verhältnis bestehen:
"lo CoO I 39,s6| 26,76
"/„ ZnO
60.44' 73.24
17.71
82,29
Molekular- ( ZnO
Verhältnis ) CoO
1,41; 2,52' 4,28
13,84' I2,67[ 8,44| 4,40
86,16 87,33! 91,56 95,60
5.73; 6.35i 10,00 20,00
von Mischkristallen zwischen den Komponenten
Kobaltoxyd und Zinkoxyd aufzufassen. Es kri-
stallisiert nach Hedvall hexagonal, also ebenso
wie das Zinkoxyd, während Kobaltoxyd CoO re-
gulär kristallisiert. Ob Rinman's Grün auch
regulär kristallisieren kann, wenn Kobaltoxyd dem
Zinkoxyd gegenüber in größerer Menge vorhanden
ist, ist nicht festgestellt worden.
Für das Kobalt magnesiumrot gilt grund-
sätzlich das Gleiche wie für Rinman's Grün:
Kobalt magnesium rot stellt eine Reihe von
Mischkristallen zwischen dem, wie bereits erwähnt
wurde, regulär kristallisierenden Kobaltoxyd und
dem ebenfalls regulär kristallisierenden Magne-
siumoxyd dar, nur kristallisiert es nicht wie
Rinman's Grün hexagonal, sondern, wie ja
auch zu erwarten ist, regulär wie seine beiden
Komponenten. Mg.
Die katalytische Wirksamkeit des Ruthe-
niums bei Oxydationen ist der Gegenstand
eines Patentes,^) das der Badischen Änilin-
und Sodafabrik vor kurzem erteilt worden
ist. Es hat sich gezeigt, daß sowohl das Rutheni-
um selbst als auch seine Verbindungen (Halogen-
verbindungen, O.xyde, Ruthenatc usw.) schon in
äußerst geringer Menge ungewöhnlich starke
Oxydationswirkungen herbeiführen können. Als
sehr geeignetes Präparat zur Sauerstoffübertragung
hat sich u. a. Rutheniumasbest erwiesen , der
durch Aufbringen von Alkaliruthenat auf Asbest
hergestellt wird. Dies Material ermöglicht z. B.
die Oxydation von Methylalkohol zu Formaldehyd
durch Luft schon bei 120". Von anderen für
die organisch-chemische Industrie wichtigen An-
wendungen ist die Oxydation von Phenanthren
zu Phenanthrenchinon zu erwähnen, die durch
angesäuerte Natriumchloratlösung schon nach
Zusatz einer Spur von Rutheniumchlorid oder
Kaliumruthenat erfolgt. Diese O.xydationswir-
kungen sind weit kräftiger als die mit anderen
Sauerstoffüberträgern zu erzielenden katalytischen
Beschleunigungen. Bugge.
Astronomie. Sterne mit auffallend großer Be-
wegung in der Gesichtslinie hat eine Beobachtungs-
reihe auf dem Mt. VVilson (Contrib Nr. 79) zu
tage gefördert. Der i ' ,, Meter Spiegel hat bei
100 Sternen, die schwächer sind als 5,5 Größe,
und deren Parallaxe bekannt ist, 20 nachgewiesen,
deren Geschwindigkeit größer ist als 50 km in
der Sekunde, von diesen entfernen sich 5 und
nähern sich 15. Ein Stern der 7,4 ten Größe La-
lande 1966, mit der geringen Parallaxe von 0,oS"
hat die riesige Bewegung in der Gesichtslinie von
325 km in der Sekunde bei einer Bewegung am
Himmel von 0,69" im Jahre. Dieser Stern hat
die größte bisher bekannt gewordene Eigenbewe-
gung überhaupt. Dann ist noch ein Stern mit
Rinman's Grün ist demnach als eine Reihe
') D.R.P. No. 275518, Kl. 120.
7'4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 45
250 km gefunden worden. Auffallenderwfiise
gehören diese beiden Sterne dem Spektraltypus
F an. Riem.
Als Vergleichsspektrum wendet man meistens
das des Eisens an , weil es viele über das
Spektrum verteilte Linien hat, deren Lage
sehr gut bekannt ist , so daß man bei jedem
Sternspektrum immer geeignete Linien des Eisens
in der Nähe haben wird. Aber das Eisen ist
nicht immer rein, so daß man oft Linien auf der
Platte enthält, die erst selbst noch bestimmt wer-
den müssen. Dem gegenüber macht Lunt in
den Cape Obs. Annais Bd. 10, Teil 4 darauf auf-
merksam, daß sich das Spektrum des Graphits
oder eines beliebigen Bleistiftes als sehr brauch-
bar erweise. Dies Material gibt Linien, welche
alle in der Sonne vorkommen, sie sind sehr zahl-
reich, über das ganze Spektrum verteilt, und sehr
scharf. Die scharfen Metallinien gehören dem
Eisen, Titan, Vanadium und Chrom an, dann sind
die alkalischen Erden vertreten, Barium, Stron-
tium und Calcium , sodann erscheinen die sel-
tenen Erden, Gallium, Scandium, Yttrium, sowie
Silizium, Magnesium und Mangan. Hier ist also
die Unreinheit des Material ein Gewinn.
Riem.
Botanik. Der Einfluß der Luftfeuchtigkeit
und des Lichtes auf die Transpiration der Pflanzen.
Die Transpiration steht mehr als irgendeine andere
physiologische l'unktion unter dem Einfluß äußerer
Bedingungen. Indessen haben wir keine nähere
Kenntnis von den direkten Beziehungen zwischen
der Wasserdampfabgabe der Blätter und der Luft-
feuchtigkeit sowie dem Grade der Belichtung, weil
die Transpiration in hohem Maße von dem Ver-
halten der Spaltöffnungen (ob offen oder ge-
schlossen) abhängig ist und dieses auch wieder
durch die äußeren Bedingungen bestimmt wird.
Zu sicheren Schlüssen über jene Beziehungen
kann man nur gelangen, wenn es gelingt, das
Spiel der Spaltöffnungen aus dem Versuche aus-
zuschalten. Dies hat F ran ci s Darwin dadurch
erreicht, daß er auf der Unterseite von Blättern
des Kirschlorbeers Kakaobutter oder Vaselin ver-
rieb, so daß die Spaltöffnungen völlig verstopft
wurden und dann zur Herstellung der Ver-
bindung zwischen der äußeren Luft und den
Interzellularräumen mit der Schere oder einem
Rasiermesser 4 — 6 Einschnitte in das Blatt
machte, die zwischen den großen Seitenadern von
der Peripherie bis zur Mittelrippe verliefen. Das
Verfahren gleicht demjenigen von Stahl, der
zeigte, daß eingefettete Blätter, in die Löcher ge-
stochen worden sind, in den die Wunden um-
gebenden Geweben assimilieren und Stärke
bilden, was ohne solche Wunden nicht geschieht.
Durch eine Berechnung findet Darwin, daß in
einem Kirschlorbeerblatt mit vier solchen Ein-
schnitten die transpirierenden Offnungen, die die
Interzellularräume mit der äußeren Luft verbinden,
etwa denselben Flächenraum haben wie unter ge-
wöhnlichen L'mständen die Spaltöffnungen. Zur
Messung der Transpiration bediente er sich eines
Potometers (Potetometers), und den Wechsel der
Luftfeuchtigkeit erzielte er einfach durch Heben
und Senken einer über die Pflanze gestülpten
großen Glasglocke. Die graphische Darstellung
der Versuchsergebnisse, bei der die relative P'euch-
tigkeit als Abszissen, die Transpirationsgröße als
Ordinaten eingetragen sind, ergibt im allgemeinen
eine diagonale gerade Linie, woraus folgt, daß
zwischen Transpiration und relativer Feuchtigkeit
eine bestimmte Beziehung besteht. Dieser Schluß,
der eine physikalische Notwendigkeit ist, scheint
vorher nicht definitiv bewiesen oder diagrammatisch
dargestellt worden zu sein. Dies gilt ebenso für
die Veranschaulichung der zuerst von Sachs
hervorgehobenen Tatsache, daß auch in dampf-
gesättigter Luft Transpiration stattfindet, und die
sich darin offenbart, daß die Diagonale des Dia-
gramms nicht durch den Schnittpunkt der Koor-
dinatenachsen geht. Zum Studium des Ein-
flusses des Lichts wurde die Transpiration in
einem dunklen Zimmer mit der an einem Nord-
fenster des Laboratoriums verglichen ; die Pflanze
wurde dabei abwechselnden Perioden der Belichtung
und Verdunkelung von je einer Stunde unterworfen.
In einigen Versuchen wurde die Transpirations-
größe nicht mit dem Potometer, sondern durch
den Gewichtsverlust eines Kirschlorbeerzweiges
bestimmt. Auch kam in mehreren, von Frl. Pertz
ausgeführten Versuchen, Efeu zur Verwertung,
dessen Bllätter ebenso behandelt wurden, wie es
für den Kirschlorbeer beschrieben worden ist.
Unter normalen Umständen wird bei verdunkelten
Blättern durch den eintretenden Verschluß der
Spaltöffnungen die verdunstende Oberfläche sehr
vermindert. Bei dem Darwinschen Verfahren
bleibt sie aber konstant. Auch hier aber war
fast immer die Transpiration im Lichte größer
als die im Dunkeln. Das durchschnittliche Ver-
hältnis beider betrug für den Kirschlorbeer 132: 100,
beim Efeu 136:100. Im Frühsommer reagierte
der Kirschlorbeer gegen die Lichtwirkung stärker
als im Frühling, was zunächst unerklärt bleibt.
Bezüglich der Haupttatsache, daß die Transpiration
durch das Licht verstärkt, durch Dunkelheit ver-
mindert wird, kann man entweder der Ansicht
W iesner's beitreten, daß die Chloroplasten im
Lichte durch die Absorption strahlender Energie
erwärmt werden, oder man kann annehmen, daß
das Licht eine erhöhte Durchlässigkeit der Plas-
mahaut gegen Wasser herbeiführt (eine Ansicht,
die in den Untersuchungen von Lepeschkin
und Tröndle eine Stütze findet), oder man kann
beide Theorien miteinander kombinieren. (Pro-
ceedings of the Royal Society B., Vol. 87, 1914.
pp. 269—299). F. Moewes.
Der Einfluß der Bordeauxbrühe auf die Trans-
spiration. Seit lange ist bekannt, daß die
zur Bekämpfung parasitischer Pilze angewandte
N. F. XIII. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
715
Bespritzung der Blätter des Weinstocks, der Kar-
tofi'el usw. mit Bordeauxmischung (Kupfervitriol,
Kalk, Wasser) auch einen unmittelbar fördernden
Einfluß auf die Lebenstätigkeit und Langlebigkeit
der Pflanze hat. Auch ist namentlich bei der
Kartoffel eine beträchtliche Erhöhung des Ertrages
an Knollen bei den gespritzten Pflanzen beobachtet
worden. Über die Frage, welche Rolle eine Ände-
rung der Transpirationsgröße hierbei spielt, gehen
die Ansichten auseinander. Frank und Krüger
(1894) haben angegeben, daß die Spritzflüssigkeit
die Transpiration (der Kartoffel) erhöht. Da-
gegen hat zuerst Rumm (1893) und nach ihm
eine Anzahl anderer Forscher gefunden, daß die
Bespritzung eine Herabsetzung der Transpi-
ration herbeiführt; diese Erscheinung ist teils auf
die Verstopfung der Spaltöffnungen, teils auf die
Schattenwirkung des Kupfer-Kalk-Häutchens auf
den Blättern zurückgeführt worden. Kürzlich ver-
öffentlichte Versuche vonDuggar und Cooley
von der Washington-Universität in St. Louis haben
indessen die Angabe, daß die Transpiration durch
die Bordeauxbrühe herabgesetzt wird, nicht be-
stätigt. Diese Versuche wurden teils mit abge-
schnittenen Rizinusblättern unter Benutzung eines
Potetometers, teils mit Tomatenpflanzen in Töpfen,
die in Paraffin getaucht, und deren Bodenflächen
auch mit Paraffin überzogen waren, angestellt. In
beiden Fällen wurden Ober- und Unterseite der
Blätter sorgfältig mit Bordeauxbrühe bespritzt.
Bei den eingetopften Pflanzen kam außerdem Be-
stäubung oder Bespritzung der Blätter mit ver-
schiedenen Substanzen (Kalk, Tonerde, Holzkohle
usw.) zur Verwendung. Das Ergebnis der Poteto-
meterversuche ließ nur den Schluß zu, daß die
Transpiration durch die Bespritzung mit Bordeaux-
brühe verstärkt wird. Auch die Versuche mit
Topfpflanzen sprechen trotz einiger individueller
Abweichungen für eine Förderung der Transpi-
ration durch die Bordeauxmischung. Die anderen
Stoffe hingegen übten keinen sichtbaren Einfluß
auf die Transpiration aus. Es bliebe nunmehr
festzustellen, welches die physikalische und che-
mische Grundlage der vermehrten Wasserabgabe
ist, und ferner, ob diese mit der Erhöhung der
Lebenstätigkeit und der Verlängerung der Lebens-
dauer bei den gespritzten Pflanzen verknüpft ist.
Zurzeit kann keine dieser Fragen zuverlässig be-
antwortet werden (Annais ofthe Missouri Botanical
Garden 1914, Vol. 1, p. I — 2i,Taf.). F. Moewes.
Kleinere Mitteilungen,
Der Linsenstar des Auges (Cataracta) beruht
bekanntlich darauf, daß die normalerweise völlig
durchsichtige Linse sich trübt und den Licht-
strahlen den Durchtritt mehr oder minder er-
schwert. Als dessen Ursachen werden Ernährungs-
störungen infolge einer lokalen Schädigung oder
einer Allgemeinerkrankung angesehen; besonders
häufig tritt er im höheren Alter auf.
Nach Fritz Schanz (Über die Entstehung
der Weitsichtigkeit und des Stars. Münch. med.
Wochenschr. Nr. 34, 1914) wird der Star da-
durch veranlaßt, daß die für uns un-
sichtbaren Lichtstrahlen das Gewebe
der Linse verändern. Letzteres besteht aus
kolloidalen Eiweißstoffen. Durch das Licht werden
die kleinsten Teile kolloidaler Substanzen zu größeren
Aggregaten zusammengeballt. Leichtlösliche Stoffe
werden in schwerer lösliche umgewandelt. Wie
Dreyer und Hansen nachgewiesen haben, sind
die Eiweißstoffe besonders für kurzwelliges Licht
empfindlich, indem sie unter der Lichtwirkung
koagulieren. Aus einer solchen Lichteinwirkung
würde sich der „Blitzstar" erklären, eine Folge
der intensivsten Lichtwirkung, wenn ein Blitz nahe
dem Auge niederfährt.
Während des ganzen Lebens wirkt nun Licht
auf die Linse und wandelt die leichter löslichen
Eiweißstoffe allmählich in schwerer lösliche um.
Durch die Luftmoleküle wird das Licht „zersplittert",
am stärksten die kurzwelligen Strahlen. Da die
Diffussion des Lichtes umgekehrt proportional
zur vierten Potenz seiner Wellenlänge wächst.
werden auch die dem direkten Licht nicht ausge-
setzten Teile der Linse, wie die hinter dem Iris-
rand gelegenen, von den unsichtbaren Strahlen
getroffen.
IVIanche Eigentümlichkeiten des Stars finden
in dieser Ätiologie ihre Erklärung.
Der Star beginnt meistens in der unteren
Linsenhälfte; diese aber wird vom direkten Sonnen-
licht getroffen, die obere dagegen von Licht,
welches vom Erdboden reflektiert wurde und viel
ärmer an kurzwelligen Strahlen ist. Daß bei den
Bewohnern des Hochgebirges der Altersstar nicht
häufiger ist, als bei denen der Tiefebene, liegt
warscheinlich daran, daß das intensive Licht sie
nötigt, ihre Augen mehr vor dem Licht zu schützen.
In den Tropen und Subtropen tritt die Erkrankung
häufiger auf, weil das Licht dort an wirksamen
Strahlen, reicher ist. Jenes, dem die Glasbläser
ausgesetzt sind, wirkt weniger intensiv, als das der
Schmelzöfen.
Das verschiedene Verhalten junger und älterer
Tiere gegenüber der experimentellen Erzeugung
von Linsentrübungen erklärt sich gleichfalls daraus,
daß bei ersteren die Linse aus leicht löslichen,
bei letzteren aus schwer loslichen Eiweißstoffen
besteht. Kathariner.
Aluminiumlöt- und Schweißmethoden. Die
Bestrebungen, das Aluminium auch in der Tech-
nik an Stelle anderer Metalle zu verwenden, führ-
ten zuerst zu keinem in jeder Beziehung zufrieden-
stellenden Resultat, einmal wegen der geringen
7i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 45
Festigkeit des Aluminiums selbst und andererseits,
weil außer dem Nieten kein Verfahren bekannt
war, nach welchen man große Aluminiumgegen-
stände aus mehreren Stücken herstellen konnte.
Die gewöhnliche Lötung oder Schweißung führte
nicht zum Ziele, weil das Aluminium beim
Schmelzen eine die Verbindung störende Oxyd-
schicht bildet. Es sind verschiedene Vorschläge
von Technikern patentiert worden, die eine Lötung
oder Schweißung ermöglichen sollten, alle haben
sich jedoch nicht in der Praxis bewährt *).
Erst der Ouarzschmelze W. C. Heraus in
Hanau ist es 191 2 gelungen, ein Schweißverfahren
zur Anwendung zu bringen, das sich in der
Praxis bewährt hat. Ohne Anwendung eines
Schweiß-, Löt- oder Reduziermittels wird bei dem
He raus 'sehen Schweißverfahren das Aluminium
nicht auf den Schmelzpunkt erhitzt, sondern nur
auf Weichheit. Durch diese Schweißung wird
eine derart innige Verbindung der einzelnen
Teile herbeigeführt, daß die Schweißnaht jede
weitere Bearbeitung mit dem Hammer verträgt.
Trotzdem man mit dem Her aus' sehen Ver-
fahren in jeder Weise zufriedenstellende Resultate
erhalten hat, wurde dennoch nach einem die Oxyd-
häute beim Schmelzen des Aluminiums vollständig
lösenden Reduziermiltel weiter geforscht. Im
Jahre ujof) machte M. Seh 00p die Entdeckung,
daß Gemische von Alkalichloriden selbst bei 700"
die Oxydschicht zu lösen vermögen. Derartige
Flußmittel sind dem Erfinder durch Patente ge-
schützt und werden von der A. G. für autogene
Aluminiumschweißung in Zürich in den Handel
gebracht.
Das Heräus'sche Verfahren wird haupt-
sächlich von den Patentinhabern selbst ausgeführt,
während nach dem Schoop'schen Verfahren
bereits 36 Lizensnehmer arbeiten.
Otto Bürger.
Über die Entfernung von Druck- und Schrift-
zeichen aus bedrucktem Papier sprach Karl Kurtz-
Hähnle, Reutlingen gelegentlich der Sommer-
versammlung des Vereins der Zellstoff- und Papier-
chemiker in Leipzig. (Angew. Chemie 27, 56).
Die Druckerschwärze ist ein Gemisch von Ruß
und Leinöl und kann nicht durch Bleichen aus
dem Papier entfernt werden, man muß vielmehr
den entstandenen Firnis erst auflösen und dann
mechanisch entfernen. Die Lösung geschieht durch
alkalische Laugen, doch darf dabei die Papierfaser
nicht angegriffen und auch nicht gelb werden.
Das Verfahren zerfällt in 4 Teile: i. in die che-
mische Lösung, 2. die Entfernung des Rußes,
3. in das Zerfasern und 4. in das Auswaschen des
Stoffes. Da die Lauge keine rein alkalische sein
darf, weil sie sonst die Stoftaser angreifen und
gelb färben würde, wendet man eine Lauge der
Henkeischen Kleichsodafabrik an, in der das Alkali
zwar gebunden, aber leicht dissoziierbar ist. Ein
') Angew. Chemie 27, 42.
Zusatz von 3 "/„ Natriumsuperoxyd unterstützt die
Lösung des Leinölfirnis und übt gleichzeitig eine
Bleichwirkung aus. Das Papier gelangt zunächst
in die Papiereinlauftrommel, dann in die Lauge-
auspreßmaschine und in der Form eines Papier-
pfropfens in den Papierzerfaserer, von dort in die
Rührbütte und schließlich auf das Waschsieb. Die
Kosten für eine Anlage, die täglich 10 Tonnen
verarbeitet, gibt Verf. mit 40000 Mk. an, die Stoff-
verluste mit 21 7o bei Zeitungsdruckpapier. Die
Verarbeitung von altem Zeitungspapier, das 5 Mk.
pro 100 kg kostet, stellt sich auf 2 V,-i — 2 ','.3 Mk.
Dieses Verfahren leistet technisch zurzeit das
beste und verdient daher volle Beachtung.
Otto Bürger.
Delphine in der Gefangenschaft. Höchst an-
ziehende und einzige Schaustücke besitzt seit
einiger Zeit das New Yoiker Aquarium. In einem
37 Fuß breiten und 7 Fuß tiefen Teich tummeln
sich nämlich dort eine Anzahl Delphine und er-
götzen die Zuschauer durch ihre munteren Sprünge
ebenso wie sie den Reisenden auf hoher See über
manche Stunde der Langeweile hinweghelfen. Die
Tiere, die der Art Tursiops truncatus angehören,
wurden, wie der Direktor des genannten Aquariums,
Ch. Haskins Townsend erzählt (Zoologica, Scien-
tific Contributions to the New York Zoological
Society. Vol. I, Number 16, June 1914) in Hat-
teras gefangen. Gewitzigt durch frühere Miß-
erfolge, die darauf zurückgingen, daß die Tiere
nicht in kühlem Wasser, sondern nur mit nasser Sack-
leinwand bedeckt, transportiert wurden, wurden
die mit Netzen gefangenen Tiere in große Behälter
mit Wasser gebracht. Dies mußte aber etwa alle
5 bis 6 Stunden gewechselt werden, da es durch
die warmblütigen Tiere merkbar erwärmt wurde
und die Delphine sehr empfindlich gegen Tem-
peratursteigerung sind. Stets in dem gleichmäßig
kühlen Meerwasser lebend, müssen sie an der Luft
oder in einer relativ kleinen nicht zirkulierenden
Wassermenge geschädigt werden, da die unter
normalen Lebensbedingungen dauernd durch das
Wasser abgeleitete Körperwärme sich nunmehr
staut. Da man nicht oft Gelegenheit hat, Del-
phine so genau und mit Muße zu betrachten, wie
in dem New Yorker Aquarium, so seien hier noch
einige Schilderungen angefügt, die Townsend über
die Lebensweise dieser kurzweiligen Meersäuge-
tiere gibt : Sie schwimmen oft mit dem Bauch
nach oben unter Wasser, liegen aber niemals auf
dem Grunde oder sonnen sich an der Oberfläche
wie die Seehunde. Ob sie jemals ruhen, ist schwer
zu sagen ; wenn sie es tun, so geschieht es offen-
bar, ohne daß sie in der Vorwärtsbewegung inne-
halten. Immerhin sind sie nachts ruhiger und
geben sich nicht ihren stürmischen Spielen hin.
Zeitweilig schwammen zwei fortdauernd von links
nach rechts, während drei den entgegengesetzten
Weg nahmen, doch verließen sie schließlich diese
Gewohnheit. Oft führen sie das reine Wett-
schwimmen auf. Dann wieder spielen sie mit
N. F. XIII. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
717
einander, indem sie mit neclcischer Wut aufein-
ander zufaliren oder aus den Wasser springen.
Dabei schnappen sie auch wohl nacheinander, ohne
sich jedoch wirl<lich zu beißen. Häufig schwimmen
sie auf dem Rücken mit der Schnauze aus dem
Wasser, oder auf der Seite, indem sie wiederholt
die Wasseroberfläche mit dem Kopfe schlagen.
Wenn sie springen, so ist es ein beliebter Trick,
den Körper herumzuwerfen, bis die Rückenflosse
nach vorwärts zeigt, und so ins Wasser zurück-
zuplatschen. Wenn einer einen hohen Sprung
ausführt, so ist dies für die übrigen das Zeichen,
das gleiche zu tun. Ein anderes Spiel besteht
darin, daß sie, rund um das Becken herum-
schwimmend, fortwährend tauchen und jedesmal
mit dem flachen Schwanz auf das Wasser schlagen.
Manchmal schießen sie beim Springen vollständige
Purzelbäume nach hinten und vorn. Die gewöhn-
liche Schwimmbewegung des Schwanzes ist auf
und ab, womit sich das Tier offenbar vorwärts
bewegt, während es die beiden Flossentatzen zum
Wenden benutzt. Sie können in voller Schwimm-
geschwindigkeit rechtwinklig umbiegen. Ge-
legentlich rotten sich drei oder vier in der Mitte
des Teiches zu einem Knäuel zusammen, rollen
sich umher und reiben sich aneinander, so etwa, wie
sich junge Hunde balgen. Vielleicht kratzen sie
sich aber auch dabei; wenigstens rieb sich früher
ein einzelner Delphin oft seine Seiten oder seinen
Rücken an einem großen Stör, der im gleichen
Teich gehalten wurde. Der Hals des Delphins ist,
obwohl er äußerlich gar nicht hervortritt , doch
überraschend beweglich, so daß der Kopf mit
Leichtigkeit um 45 Grad nach unten und nach
rechts und links gedreht werden kann. Miehe.
Über Geisteskrankheiten und andere Entartungs-
zeichen im Indischen Reich. Bei Gelegenheit der
Volkszählungen im indischen Reich, die alle zehn
Jahre stattfinden, wird auch immer die Häufigkeit
gewisser Gebrechen festzustellen versucht. Voll-
ständig fallen diese Erhebungen nicht aus; es ist
vielmehr sicher, daß in vielen Fällen den Zähl-
beamten die Gebrechen, die gewöhnlich als
Schande gelten, absichtlich verheimlicht werden.
Die Zahl der ermittelten Geisteskranken
nahm von 81 132 1881 auf 74279 1891 und
66205 1901 ab; im folgenden Jahrzehnt trat eine
Zunahme auf 81006 ein; auf lOOOOO Einwohner
trafen 1881 35, 1891 27, 1901 23 und 191 1 26
Geisteskranke. Es sei gleich erwähnt, daß auch
die Häufigkeit der anderen Gebrechen von 1881
bis 1901 ab- und im letzten Jahrzehnt wieder zu-
nahm. Das ist so zu erklären, daß Hungersnöte,
die schwache und mit Gebrechen behaftete Per-
sonen am schwersten betreffen, weil diese selbst am
wenigsten oder gar nicht für ihren Unterhalt sor-
gen können, in der Zeit von 1881 — 1901 viel häufiger
und verheerender auftraten als von 1901 — 191 1.
Im letzten Jahrzehnt hat dagegen die Pest eine
Übersterblichkeit von mindestens 6^/2 IMillionen
Personen verursacht und dieser Seuche fielen ge-
sunde Personen, die mehr als die Kranken mit
anderen in Berührung kommen und der An-
steckungsgefahr ausgesetzt werden, relativ häu-
figer zum Opfer. Zudem ist wohl die letzte Zäh-
lung weniger lückenhaft ausgefallen wie die vor-
ausgegangenen Zählungen. Beim männlichen
Geschlecht waren von lOoooo Personen geistes-
krank: 191 1 31 und 1901 2S; die entsprechenden
Zahlen für das weibliche Geschlecht waren 191 1 20
und 1901 17. Von den eihzelnen Verwaltungs-
gebieten weist Birma die größte Häufigkeit der
Geisteskrankheiten auf; hier waren 191 1 85 von
lOOOOO männlichen und 74 von looooo weib-
lichen Personen geisteskrank. Weit über dem
Durchschnitt steht die Häufigkeit der Geistes-
krankheiten ferner in Belutschistan, in der Nord-
westgrenzprovinz, in Assam und in Bengalen;
von Bengalen abgesehen sind das Gebiete, wo
der Hinduismus und das Kastensystem wenig
Einfluß haben. Verhältnismäßig die wenigsten
Geisteskranken gibt es dagegen in der zentral-
indischen Agentie, in Kurg, in Sikkim und in
der neugeschaffenen Provinz Biliar und Orissa.
Die geringe Häufigkeit der Geisteskrankheiten
im indischen Reich und ganz besonders im hindu-
istischen Indien ist unter anderen wohl auf das
Kastensystem zurückzuführen, das gesellschaft-
liche Stabilität begünstigt: es hat jeder an dem
Platz zu bleiben, an den er durch die Geburt
kam ; persönliches Streben hat so gut wie keine
Aussichten. Die wirtschaftlichen Verhältnisse
sind einfach und sie verursachen nicht entfernt
die Aufregung und Anspannung wie unser euro-
päisches Wirtschaftsleben. Ebenso fallen in Indien
die Aufregungen des Liebeslebens weg, die in
Europa oft Anlaß zu Geistesstörungen geben,
denn innerhalb der Hindugesellschaft bestimmen
die Angehörigen über die Eheschließung, und
namentlich bei den besser situierten Klassen leben
die geschlechtsfähigen weiblichen Personen in
strenger Abgeschlossenheit. Beziehungen zwischen
der Zugehörigkeit zu bestimmten Kasten und der
Häufigkeit der Geisteskrankheiten scheinen nicht
zu bestehen. Dagegen scheint es, daß bei der leb-
hafteren mongolischen und iranischen Bevölkerung
der Grenzprovinzen mangelhafte geistige Veran-
lagung erheblich leichter in die Erscheinung tritt
als bei der trägen Bevölkerung der vorderindischen
Halbinsel.
Mit angeborener Taubstummheit be-
haftete Personen wurden im indischen Reich ge-
zählt: i88t 197 215 (86 auf je lOOOOO Einwohner),
1891 196861 (75), 1901 153 i86(S2)und 191 1 199S91
(64). Die Zählung von 1901 war sicher weniger
vollständig als die vorausgegangene und die darauf-
folgende. Im Jahre 1911 waren von je lOOOOO
männlichen Personen durchschnittlich 74 und von
lüoooo weiblichen Personen 53 seit Geburt taub.
Angeborene Taubheit ist in Indien ungefähr ebenso
häufig als in Europa. Auch in Indien befindet
sichTaubheit in örtlichem Zusammenhang mit Kreti-
nismus und Kropf.
7.8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 45
Die Zahl der Blinden nahm von 526 748 1 88 1
auf 458868 1891 und 354104 1901 ab und dann
auf 443653 1911 zu; auf je looooo Einwohner
kamen Blinde: 191 1 142, 1901 121, 1891 167
und 1881 229. Während Geisteskrankheit und
Taubheit beim männlichen Geschlecht häufiger
ist als beim weiblichen, ist bei Blindheit das Um-
gekehrte der Fall : Sie befällt weibliche Personen
häufiger als männliche; im Jahre 1911 waren von
100 000 männlichen Personen durchschnittlich 138
und von 100 000 weiblichen Personen durchschnitt-
lich 145 blind. In dem amtlichen Bericht über
die Volkszählung von 191 1 wird die größere
Häufigkeit der Blindheit beim weiblichen Ge-
schlecht damit erklärt, daß die weibliche Bevölke-
rung einen viel größeren Teil ihrer Zeit in den
dunklen und rauchigen Wohnungen zubringt als
die männliche Bevölkerung. Weibliche Personen
nehmen auch (bei Augen- wie bei anderen Krank-
heiten) weit seltener ärztliche Hilfe in Anspruch
als männliche Personen. Lokal ist Blindheit in
den Trockengebieten mit ihrer argen Staubplage
am häufigsten und in den feuchten Gebieten am
seltensten.
H. Fehlinger.
Bücherbesprechungen.
Frech, F., Allgemeine Geologie, Teil III
(„Aus Natur und Geisteswelt", Teubner-Leipzig
1914).
Es genügt gewiß auf das Erscheinen der drit-
ten verbreiterten Autlage dieses wohlbekannten
Bändchens zu verweisen. Er behandelt ,,D i e
Arbeit des fließenden Wassers" und leitete
seinerzeit die kleine, sechs dieser Teubner-Hefte
umfassende Darstellung wichtiger Kapitel aus der
Allgemeinen Geologie aus der Feder des Breslauer
Gelehrten ein , die anfangs den Obertitel „Aus
der Vorzeit der Erde" führte. Ein Werk, das
solchen Absatz bereits gefunden hat, bedarf keiner
Einführung und Empfehlung mehr. Nur über die
ausgezeichnet gelungene, für derartige Veröffent-
lichungen ungewöhnliche Wiedergabe der reich
zusammengestellten Abbildungen kann man nicht
ganz ohne ein Wort freudiger Anerkennung hin-
weggehen. Hennig.
van Mageren, St. G., Cöln, Ausgewählte
Kapitel aus der Geologie. (Hilfsbücher f
Volksunterrichtskurse, herausg. v. Sekretariat
f Soziale Studentenarbeit. 9. Heft m. Karte u.
Textfiguren). M. - Gladbach 1914. — Preis
30 Pfg.
Das Heftchen ist wie die ganze Sammlung
einem bestimmten Zwecke angepaßt, dem all-
seitig wärmste Unterstützung zu wünschen ist.
Es ist ein Hilfsbüchlein für jenen Elementar-
unterricht, den Studenten minderbemittelten Krei-
sen als verständigste und wertvollste Art sozialer
Betätigung angedeihen lassen. Doch ist der In-
halt des vorliegenden Heftchens offenbar trotz der
angestrebten Allgemeinsverständlichkeit des Aus-
drucks nicht für Selbststudium oder Wiederholung
der Hörer bestimmt, sondern als schematisch ge-
drängte Übersicht einiger technischer Ausdrücke
und wichtiger Zahlenangaben nur ein Leit-
faden für den Unterrichtenden , wie auch die
Fragen am Schlüsse jedes Abschnitts erweisen.
Auf den Geist, mit dem dies Gerippe erfüllt
wird, wird es im Unterricht ankommen. Unter
diesem Gesichtspunkte kann das Heft eine brauch-
bare Unterlage abgeben. Dankenswert ist die
beigefügte Karte von der Verbreitung der Vul-
kane auf der Erde. Hennig.
Mangold, Ernst, Die Erregungsleitung im
Wirbeltier herzen. Ein Vortrag nach ver-
gleichend physiologischen Untersuchungen ge-
halten am 17. Februar 19 14 in der Freiburger
medizinischen Gesellschaft. Sammlung anato-
mischer und physiologischer Vorträge und Auf-
sätze, herausgegeben von Prof Dr. E. Gaupp
und Prof Dr. W. Trendelenburg. Heft 25
(3. Bd. Heft i). Jena 1914, Gustav Fischer. —
Preis 1,20 Mk. (im Abonnement i Mk.).
Verf sucht aus der histologischen Betrachtung
des Baues des Herzens von Vertretern der ver-
schiedenen Wirbeltierklassen: Fische (Aal), Amphi-
bien (Frosch, Salamander), Reptilien (Eidechse,
Schildkröte) und Vögel (Haushuhn) entscheidende
Gesichtspunkte zu gewinnen für die Beurteilung
der Frage, ob die Reize für die Herzbewegung
neurogen oder myogen sind; d. h. ob sie in
den Herzganglien entstehen und den Muskeln zu-
geleitet werden, oder ob sie in den Muskelzellen
des Herzens selbst erzeugt werden, die Tätigkeit
des Herzens also automatisch ist. Mangold
entscheidet sich für die neurogene Natur der
Herzaktion.
Er fand z. B., daß das Vogelherz kein spezifi-
sches Muskelgewebe hat.
Von interessanten Einzelheiten wird erwähnt,
daß die Pulsfrequenz pro Minute beim Geier 2C0,
der Haushenne 330, einigen Finken 700 — 900 und
beim Kanarienvogel gar 1000 beträgt.
Kathariner.
Clements, Frederic and Edith, Rocky Mountain
Flowers. .An illustrated Guide for
Plant Lovers and Plant Users. (Die
Blumen des Felsengebirges, ein illustrierter
Führer für Pflanzenliebhaber und angewandte
Botanik.) Mit 25 kolorierten Tafeln (175 Spezies)
und 22 schwarzen Tafeln (355 Spezies). The
H. L. Wilson Company, New \'ork City. 1914.
392 Seiten gr. 8".
Diese illustrierte Flora umfaßt die Blütenpflanzen
N. F. XIII. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
719
des Felsengebirges vom Fuße bis zu den Hoch-
gipfeln von Kolorado, Wyoming, Montana, nördl.
Neu-Mexiko, östl. Utah, westl. Nord- und Süd-
Dakota, Nebraska und Kansas. Es ist ein popu-
läres Buch, für Laien zum leichten Bestimmen
eingerichtet, wozu namentlich die guten kolorierten
Abbildungen dienen. Es enthält zunächst eine
Anleitung zum Bestimmen der Familien nach
einem originellen graphischen Schema („Flower
Chart"), welches die Ordnungen mit ihren Blüten-
formeln in drei phylogenetischen Reihen darstellt,
von den Raiiunculaceen ausgehend und nach vier
Prinzipien der Progression angeordnet (Verwachsung
der Fruchtblätter, Unterständigwerden des Frucht-
knotens, Verwachsung der Kronblätter und Zygo-
morphie der Krone). Die Orchideen, die Kom-
positen, die Labiaten bilden die Endglieder der
drei Reihen.
Zum praktischen Bestimmen eignet sich diese
Tabelle wohl kaum: es fehlen eine ganze Reihe
von Familien, und die Ausnahmen (z. B. 4-gliederige
Monokotylen) sind nicht berücksichtigt: aber theo-
rethisch gibt es eine klare Übersicht über die Pro-
gression im Blütenbau der verschiedenen Familien.
Dann folgt ein gedruckter ausführlicher Schlüssel
zu den Familien; der spezielle Teil enthält
Familiendiagnosen, Gattungsschlüssel, Gattungs-
diagnosen und Schlüssel zu den Arten, welche
allerdings leider ohne Autor, ohne Synonyme und
ohne Angaben von Blütezeit, Standort und Ver-
beitung aufgeführt werden. Diese Dinge sind
offenbar für das große pflanzengeographische Werk
über das Felsengebirge aufgespart, welches die
Autoren planen.
Die Tafeln sind in Dreifarbendruck gut aus-
geführt und geben in ihrer Gesamtheit ein präch-
tiges Bild der reichen Flora des F'elsengebirges,
die so viele unseren Hochgebirgen fremde Typen
enthält (Pentstemon, Gilia, Castilleja, Oenothera,
Elephantella, Mertensia, Dodecatheon, P>asera, Erio-
gonum, Oleome, Steironema, viele Kompositen-
gattungen, während Saxifraga, Gentiana und
Primeln nur spärlich vertreten sind). Die Aus-
führung blieb freilich weit hinter den Originalen
zurück, welche den kunstgeübten Händen der
Frau Clements entstammen, und die Referent
im „Pikes Peak Alpine Laboratory" im vergangenen
Jahr einsehen konnte.
Das Buch bildet eine wertvolle illustrative Er-
gänzung zu den rein wissenschaftlichen Floren
desselben Gebiets von C o u 1 1 e r, von Nelson und
von Rydberg; es dient auch dem Pflanzen-
geographen, indem es ihm einen Einblick in die
Physiognomie der Hora jener Gebiete gewährt.
Man kann wohl mit Recht auf die von den Autoren
in Aussicht gestellte Vegetationsschilderung des
Gebietes gespannt sein. C. Schröter-Zürich.
Eine Anleitung zur Herstellung von Vergröße-
rungen, mit den primitivsten bis technisch voll-
kommensten Hilfsmitteln, wie sie einfacher und aus-
führlicher nicht gedacht werden kann. Die be-
schriebenen Arbeitsweisen sind von jedem Ama-
teur durchführbar. In Anbetracht der jetzt herr-
schenden Tendenz, kleine Aufnahmen anzufertigen
und diese nachträglich zu vergrößern, erscheint
das Buch besonders zeitgemäß. Zu dem reichen
Inhalt der Erstauflage kamen weitgehende Ver-
besserungen der einzelnen Kapitel und ein be-
sonderer Abschnitt über Bromöldruck.
Gustav Blunck.
Hauberrisser, Dr. Georg, Herstellung photo-
graphischer Vergrößerungen. 2. Aufl.
Mit 50 Abb. u. 2 Tafeln. Ed. Liesegang's Ver-
lag (M. Eger) Leipzig. Preis 2,50 Mk. geb. 3 Mk.
Weinschenk, Ernst. Bodenmais-Passau.
Petrographisc he Exkursionen im baye-
rischen Wald. 2. erweiterte und umgear-
beitete Auflage, gr. 8". 71 p., i Titelbild,
5 Tafeln und 47 Textfig. München, Verlag
Natur und Kultur. 19 14. (Ohne Angabe der Jahres-
zahl.) — Preis geb. 2,70 Mk.
Das vorliegende Büchlein des bekannten Mün-
chener Petrographen ist die 2. Auflage einer im
Jahre 1899 für die Deutsche Geologische Gesell-
schaft verfaßten Schrift aus den Sitz-Ber. der
Münchener Akademie der Wissenschaften und
umfaßt sieben verschiedene Aufsätze, die nicht
nur auf Exkursionen in das betreffende Gebiet
mit großem Nutzen Verwendung finden können,
sondern auch von allgemeinem Interesse sind. Es
genügt, zu diesem Zwecke die Überschriften an-
zugeben. I. Der Pfahl am Weißenstein bei Regen.
IL Die herzynische Gneisformation im Arbergebiet.
III. Die Kieslagerstätte im Silberberg bei Boden-
mais. IV. Die Pegmatite des Bayerischen Waldes.
V. Die körnigen Kalke und das Eozoon. VI. Die
Graphitlagerstätten bei Passau. VII. Die Eruptiv-
gesteine des Bayerischen Waldes. Petrographen,
Geologen, Mineralogen wie Bergleute werden bei
Benutzung dieses Büchleins auf ihre Kosten kom-
men. K. Andree.
Anregungen und Antworten.
Herrn O. B. in Lokstedt bei Hamburg. Exakte Unter-
suchungen über die Selbstentzündung von ptlanzlichen Stoffen
als z. B. Heu u. a. gibt es nicht. Dagegen hat man sich
mehrfach mit einem Stadium befaßt, das der Selbstent zun düng
erfahrungsgemäß vorausgeht und als eine Bedingung dafür an-
zusehen ist, nämlich mit der Selbsterhitzung. Man hat
(vgl. Mi ehe, Die Selbsterhitzung des Heues. Eine biologi-
sche Studie. Jena 1907, G. Fischer, 3,50 Mk.) sowie von
demselben Verfasser „Über die Selbsterhitzung des Heues".
Arbeiten der Deutschen Landwirtschaftsgcsellschaft, Heft 196,
191 1) nachgewiesen, daß die Erhitzung fesigepackter feuchter
Pflanzenstoffe kein rein chemisch-physikalischer, sondern ein
physiologischer, also auf der Lebenstätigkeit von lebenden
Wesen beruhender Vorgang ist. Theoretisch hat man zu
unterscheiden zwischen der Erhitzung lebender und derjenigen
toter Pflanzenstoffe. Im ersten Falle, wenn es sich also etwa
um frisches oder nur leicht angewelktes Gras handelt, läßt
sich die Entstehung der Wärme, die rasch nach dem Auf-
häufen bemerklich wird, ungezwungen durch die Atemtatigkeit
dieser betreffenden Pflanzen selber erklären; denn Tier wie
Pflanze erzeugen bekanntlich Wärme bei ihrer Atmung, wenn
sie auch infolge sekundärer Umstände bei den letzteren nicht
720
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 45
so ohne weiteres festzustellen ist als bei ersteren. Im zweiten
Falle, also im Falle toten Heues, Tabaks, Stallmists usw.
übernehmen die auf den feuchten Resten vegetierenden und
erfahrungsgemäß mit ganz besonders starker Atemenergie aus-
gestatteten Pilze und Bakterien die Rolle der Heizer, indem
sie in ungeheueren, wenn auch nicht ohne weiteres wahrnehm-
baren Massen die ihnen als gute Nahrung dienenden Pflanzen-
reste durchwuchern. Sie können natürlich auch im ersten
Falle akzessorisch mitwirken. Nun kommt aber eine Besonder-
heit! Erfahrungsgemäß steigt die Selbsterhitzung von Gras,
Heu, Mist usw. leicht auf 70 Grad und mehr. Wie sollen
solche Teniperaturgradc durch physiologische Tätigkeit er-
reicht werden, da doch im allgemeinen Pflanzen und auch
Pilze und Bakterien höchstens 40 — 45 Grad vertragen? Da
greift nun eine höchst merkwürdige (iruppe von Lebewesen
ein, die gerade nur bei hohen Temperaturen leben, erst bei
35 — 40 Grad überhaupt anfangen zuwachsen und zu gedeihen
und die sich z. B. in einer Flüssigkeit sehr wohl und behag-
lich fühlen , in der Sie sich die Hand in wenigen .Sekunden
elend verbrenen würden. Nun, diese als „Ihermophil" be-
zeichnete Kleinwelt, zu der neben Bakterien auch Schimmel-
pilze gehören, erwachen und vermehren sich, wenn entweder
durch die .\temtätigkeil der lebenden Pflanzen oder bei totem
Material die auf ihm vegetierenden gewöhnlichen Schimmel-
pilze und Bakterien ihnen die Wachstumsbedingungen, d. h.
die notwendige .^nfangstemperatur schaffen. Die Thermo-
philen heizen also weiter bis zu ihrer eigenen Höchsttempe-
ratur, die man etwa bei 70 Grad ansetzen kann. Wenn Sie
mithin einmal die Hand in einen größeren Haufen frisch zu-
sammengeschichteten und etwa 2 Tage lagernden Grases hin-
einschieben, so gelangen Sie bald in eine Zone, wo Sie
schleunigst den Rückzug antreten.
Bedingungen für die Selbsterwärmung sind erstens ein
gewisser Feuchtigkeitsgehalt des Materials und zweitens eine
genügende Größe der Stapel. Je größer diese sind, um so
rascher und sicherer wird eine hohe Temperatur im Inneren
erreicht und um so länger hält sie sich hier. Das kann
monatelang sein und schließlich sieht z. B. ein solches Heu
im Inneren schwarz und wie verkohlt aus. In diesem Zustande
ist die Masse nun außerordentlich selbstentzündlich, besonders
wenn eine gewisse Luftzirkulation, d. h. ein gewisser Zutritt
von Sauerstoff möglich ist.
Damit haben wir die Grenze des experimentell gesicherten
Tatbestandes unseres Problems erreicht. Wie jetzt die Selbst-
entflammung zustande kommt, steht trotz mancher Einzcl-
beobachtungen nicht sicher fest, doch ist es nicht schwer,
darüber gewisse Hypothesen aufzustellen. Jedenfalls handelt
es sich jetzt nicht mehr um ein physiologisches sondern um
ein rein chemisch-physikalisches Problem.
Das Material , das einer biologischen Selbsterwärmung
und damit einer gegebenenfalles sich anschließenden Selbst-
entzündung unterliegen kann, kann sehr verschieden sein;
ich nenne z. B. Heu, Futterkräuter, Rübenblätter, gestapeltes
Getreide, Stallmist, Tabak usw., immer vorausgesetzt, daß die
Massen genügend groß und feucht sind. Praktischen Gebrauch
macht man von solchen Selbsterwärmungsvorgängen z. B.
beim sog. Braunheu, beim Tabak, der durch die sog. Fermen-
tation überhaupt erst rauchbar wird (vgl. z. B. Mi ehe. Der
Tabakbau in den Vorstenlanden auf Java. Tropenpflanzer,
XV. Jahrg. 1911), beim Mistbeet und den Wärmepackungen
der Gärtner usw. ; ja die merkwürdigen Talegallahühncr
Australiens legen ihre Eier in große, von ihnen selbst ge-
stapelte Haufen von Pflanzenstoffen und lassen sie hier durch
die entstehende Fermentationswärme ausbrüten.
Wenn auch, wie gesagt, eine sichere experimentelle Grund-
lage für die wissenschaftliche Aufklärung des Vorganges der
Selbstentzündung noch nicht geschaffen ist, so kann es doch
keinem Zweifel unterliegen, daß solche Fälle wirklich vor-
kommen. Sie spielen bei Brandprozessen eine große Rolle.
Es ist nicht einmal selten, daß der Landwirt Vorräte irgend-
welcher Art, die er unter Nichtachtung der oben geschilderten
disponierenden Umstände gestapelt hat, durch Feuersbrunst
verliert und oft genug Haus und Hof dazu.
Zum Schluß sei noch erwähnt, daß auch manche andere
Stoffe der Selbstentzündung unterliegen können, wie Kohlen,
gefettete Putzwolle, Zelluloid u. a. m. Doch will ich auf
diese Vorgänge hier nicht näher eingehen. Im allgemeinen
werden hier rein chemische Vorgänge im Spiel sein.
Miehe.
Herrn Schmidt - Luckenwalde. Das freundlichst über-
s.andte Fossil in einem diluvialen Geschiebe des Golmberges
im Fläming ist der Abdruck eines Crinoiden (Seelilien)-
Stieles, sowie eines isolierten Stielgliedes, und zwar von Pen-
tacrinus. Nach dem isolierten Gliede zu urteilen könnte es
sich etwa um Pentacrinus subangularis handeln. Doch ist
eine Bestimmung bei dem vorliegenden Erhaltungszustande
nicht mit genügender Sicherheit möghch, um daraus auf obe-
ren Lias schließen zu können. Immerhin dürfte ein jurassi-
sches .Mter gesichert sein.
Ein auf der Rückseite des Steines befindlicher Abdruck
eines Dentalium (Scaphopode) gibt hinsichtlich der Altersfrage
keinen Anhaltspunkt. E. Hennig.
Preisausschreiben.
Die Rheinische Gesellschaft für wissenschaft-
liche F'orschung schreibt folgende drei Preisaufgaben aus
dem Gebiete der menschlichen Vorgeschichte aus:
1. Es sind die Materialien zusammenzustellen für die Er-
örterung der Frage nach den Landverbindungen, die zur
Tertiär- und Quartärzeit im Atlantischen Ozean und im Mittel-
mcer für die Wanderungen der Primaten bestanden haben.
Preis 800 Mk.
2. Es sind die Tatsachen zusammenzustellen und zu er-
örtern, die auf einen zeitlichen oder ursächlichen Zusammen-
hang zwischen der Umbildung der Tierwelt (und des Men-
schen) und den klimatischen Änderungen wahrend der jüngsten
Tertiärzeit und der Diluvialzeit hindeuten. Preis Soo Mk.
3. Welche anatomischen und physiologisclien Anhalts-
punkte sind vorhanden zur Erklärung des aufrechten Ganges
beim Menschen ? Preis 800 Mk.
Die Arbeiten sind in deutscher Sprache abzufassen und
in Maschinenschrift geschrieben bis zum I. Januar 1916 mit
Motto versehen an den Vors i tz enden der Rheinischen
Gesellschaft für wissenschaftliche Forschung
in Bonn, Nuß-.'\llee2, einzusenden. Ein geschlossenes
Kuvert, mit demselben Motto versehen wie die eingesandte
Arbeit, muß den Namen des Verfassers enthalten.
Inhalt: Guenther: Verschiebungen in der Tierwelt durch den Menschen. Kathariner: Die Ursache der Pellagra-
krankheit. — Einzelberichte: Grimm: Über das V'orkommen des Rinderbandwurms (Taenia saginata Göze) beim
Säugling, ."^dler: Welche Folgen hat die Entfernung der Thymus und der Epiphyse bei der Froschlarve? Mayer
und Schaeffer: Lipoide. Decker, Kisskalt: Tierisches oder pflanzliches Eiweiß? Fehlinger: Vermehrung und
fortschreitende Bastardierung der Negerbevölkerung der Vereinigten Staaten Amerikas. HedvaU: Über Rinman's Grün
und Kobaltmagnesiumrot. Bugge: Die katalylische Wirksamkeit des Rutheniums bei Oxydationen. Riem: Bewegung
in der Gesichtslinie. Lunt: Vergleichsspektrum. Darwin: Der Einfluß der Luftfeuchtigkeit und des Lichtes auf die
Transpiration der Pflanzen. Duggar und Cooley: Der Einfluß der Bordeauxbrühe auf die Transpiration. — Kleinere
Mitteilungen: Schanz: Linsenstar des Auges. Bürger: ."Xluminiumlöt- und Schweißmethoden. Kurtz-Hähnle:
Über die Entfernung von Druck- und Schriftzeichen aus bedrucktem Papier. Townsend: Delphine in der Gefangenschaft.
Fehlinger: Über Geisteskrankheiten und andere Entartungszeichen im Indischen Reich. — Bücherbesprechungen:
Frech: .-allgemeine Geologie, van Megeren: .^ausgewählte Kapitel aus der Geologie. Mangold: Die Erregungs-
leitung im Wirbeltierherzen. Clements: Rocky Mountain Flowers. An illustrated Guide for Plant Lovers and Plant
Users. Hauberrisser: Herstellung photographischer Vergrößerungen. Weinschenk: Bodenmais-Passau. Petro-
graphische Exkursionen im bayerischen Wald. — Anregungen und Antworten.
Manuskripte und Zuschriften werden au den Schriftleiter Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, MarienstraSe na, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 15. November 1914.
Nummer 46.
Probleme der Gastheorie.
Von S.
[Nachdruck verboten.]
Bald sind es sechzig Jahre her, daß unabhängig
voneinander K rön ig und Clau sius die kinetische
Theorie der Gase geschaffen haben. Mit außerge-
wöhnlichem Geschick hat besonders C 1 a u s i u s die
Vorstellungen über die Bewegungen der Moleküle
eines Gases auf Grund der Anschauung, daß die
Wärme eine Bewegung dieser kleinen Teilchen
darstelle, rechnerisch bis in viele Einzelheiten
verfolgt und in für damalige Begriffe kurzer Zeit
konnten auch von anderen Forschern aus diesen
Betrachtungen wichtige und überraschende Resultate
gewonnen werden. Eins der schönsten ist ohne
Zweifel Loschmidt's Berechnung der Anzahl der
Moleküle in einem Kubikzentimeter (1865). Immer
wieder wird den Laien ein Gefühl der Be-
wunderung, den Physiker ein Gefühl des Stolzes
und der Befriedigung überkommen, wenn er sich
daran erinnert, daß es möglich war, die Zahl der
Moleküle zu bestimmen, die Zahl von Körperchen,
die einzeln gar nicht beobachtbar sind. In der
Folgezeit haben — wie das ja häufig bei der
Entwicklung einer Wissenschaft beobachtet werden
kann — Perioden größeren und geringeren Fort-
schrittes miteinander abgewechselt, speziell was
die theoretische Weiterführung der Disziplin an-
langt. Die spätere Entwicklung ist in erster
Linie an die Namen Maxwell und Boltzmann
geknüpft.
Neben der kinetischen Theorie der Gase gibt
es eine andere Darstellungsweise des Verhaltens
der Gase, die sich entweder ebenfalls auf die An-
nahme der Wärme als Bewegungsform stützt oder
die, wie Pia nck in seinen Vorlesungen über Thermo-
dynamik ausführt, ohne bestimmte Annahme über
das Wesen der Wärme „direkt von einigen sehr
allgemeinen Erfahrungstatsachen, hauptsächlich
von den sog. beiden Hauptsätzender Wärmelehre,
ausgeht". Sie hat allgemeineren Charakter und ge-
stattet in vielen Fällen, die Betrachtung sofort
auf das Verhalten flüssiger und fester Körper zu
übertragen, sofern sie dieses nicht von vorn-
herein mit einschließt ; sie beschäftigt sich zum
Teil gerade mit den Obergängen von einem Ag-
gregatzustand in den anderen. Der Begründer
auch dieser Darstellungsweise ist im Grunde
Cl a u s i u s , da das, was seinen Arbeiten vorhergeht,
durch ihn nach neuen Gesichtspunkten zusammen-
gefaßt wurde und erst dadurch eigentlich einen
Bestandteil der modernen Thermodynamik bildet.
Nun ist jedem, der auch nur eine ganz oberfläch-
liche Kenntnis des Inhaltes der beiden Darstellungs-
arten hat, bekannt, daß diese beiden Methoden
sich durchaus nicht in ihren Resultaten überdecken
oder gar sich ausschließen. Vielmehr ergänzen
Valentiner.
sie sich
auf das schönste, so daß man keine von
ihnen missen möchte. Das endgültige Ziel wird
es freilich sein müssen, die erste Darstellungs-
weise so weit zu fördern, daß sie die Resultate
der reinen Thermodynamik mit umfaßt, fclinstweilen
kann davon noch nicht die Rede sein, denn nur
einige wenige Haupteigenschaften der Gase werden
befriedigend auf beiderlei Weise beschrieben.
Die Zurückführung einer ganzen Reihe von Er-
fahrungen an Gasen auf die einfachen Annahmen,
die der kinetischen Theorie zugrunde liegen, ist
bisher befriedigend noch nicht gelungen, während
ihrer Beschreibung mittels thermodynamischer
Formeln kein Hindernis im Wege steht.
Heute, wo alte Probleme der Gastheorie wieder
neue Bearbeitungen gefunden haben, wo man mit
oft bewährten Anschauungen über das Verhalten
der Moleküle zu brechen sich gezwungen sieht,
dürfte es von allgemeinem Interesse sein, einmal
übersichtlich zusammenzustellen, für welche Eigen-
schaften der Gase die beiden Darstellungsmethoden
geeignet sind und was sie zur Klärung der Zu-
stände des Gases leisten können. Wir werden
bei dieser Betrachtung deutlich erkennen können, wo
sich die Darstellungen berühren, und werden zeigen
können, in welcher Richtung in letzter Zeit Er-
weiterungen der Theorien versucht wurden, welches
also die modernen Probleme der Gastheorie sind.
I. Den Ausgangspunkt der thermodynamischen
Darstellungsvyeise bildet eine bestimmte P'orm der
Zustandsgieichung des betrachteten Systems, also
im besonderen des Gases. Unter Zustandsgieichung
verstehen wir eine Beziehung zwischen den Va-
riabein, die den Zustand des Gases vollständig
bestimmen, das sind : das Volumen, der Druck
und die Temperatur des Gases, wenn wir uns auf
die Masseneinheit beschränken. Für die Ent-
wicklungen ist es zunächst nicht notwendig, diese
Beziehung wirklich hinschreiben zu können. Die
Entwicklungen lassen sich in großer Allgemeinheit
durchführen; erst um die Schlußfolgerungen dieser
Entwicklungen auf einen speziellen Fall anwenden
zu können, müssen wir auch die Zustandsgieichung
wirklich kennen, also den Zusammenhang zwischen
den Variabein experimentell bestimmt haben.
Die Zustandsgieichung mag lauten :
•) '/■ (p, V, t) = o,
p ist der Druck, unter dem das Gas steht, v das
Volumen , t die Temperatur in einer beliebigen,
aber natürlich immer herstellbaren Skale, da wir
zunächst eine „absolute" Skale nicht kennen.
Diese Zustandsgieichung, die uns z. B. berechnen
läßt, um wieviel sich das Volumen ändert, w'enn
722
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 46
der Druck konstant bleibt und die Temperatur
um einen (irad steigt, oder die uns den Koeffi-
zienten der Kompressibilität bei konstanter Tem-
peratur liefert u. a. m., genügt nun aber durch-
aus noch nicht, um über die verschiedenen Eigen-
scliaften, z. B. die spezifischen Wärmen, die innere
Energie u. a. Aufschluß zu geben. Eine der für
die Kenntnis des Verhaltens der Gase wichtigsten
Größen ist gerade die innere Energie, wie aus
den folgenden Zeilen leicht erkannt werden wird.
Was den wahren Inhalt dieser inneren Energie
ausmacht, das lehrt die Thermodynamik nicht;
davon erhalten wir vielmehr nur durch die in
den Bau des gasförmigen Systems tiefer eindrin-
gende kinetische Gastheorie Kenntnis. Diese
Theorie lelirt uns, daß infolge der Bewegung der
Moleküle den Molekülen eine Energie innewohnt,
die als innere Energie des Gases angesehen wer-
den kann. Häufig werden noch weitere Energie-
beträge hinzutreten können, herrührend von den
Bewegungen der Atome im Molekül und von den
Kräften, die zwischen den Molekülen wirksam sind.
Wir wollen die innere Energie der Masseneinheit
mit u bezeichnen und müssen annehmen, daß
diese Energie u durch die Variabein p, v, t eben-
falls völlig bestimmt werden kann. In welcher
Weise u von p, v, t abhängt, wissen wir freilich
nicht und das soll uns zunächst auch nicht küm-
mern. Zweierlei können wir aber mit Bestimmt-
heit in bezug auf die Energie u sagen, es ist der
Inhalt des i. und des 2. Hauptsatzes der Thermo-
dynamik, nämlich:
I. du -\- pdv = q,
d. h. die Änderung der inneren Energie während
irgendeiner beliebigen Zustandsänderung des Sy-
stems, vermehrt um die von dem System nach
außen geleistete Arbeit ])dv (Druck mal der
Änderung des Volumens sei das Maß dieser Ar-
beit) ist gleich der Wärmemenge q , die dem
System für den Übergang vom Anfangszustand
in den Endzustand von außen zugeführt werden
muß (mit anderen Worten, die fi^nergie im
System bleibt konstant).
tr du + pdv _
T(t)
d. h. es läßt sich sicher eine Funktion T von
der Temperatur t (der willkürlichen Skale) finden,
die so beschaffen ist, daß die Größe auf der linken
Seite von (II), die sich ja auf die Änderung des
Systems von einem Anfangszustand in einen nahe-
gelegenen Endzustand bezieht, nur von dem An-
fangs- und Endzustand, nicht von dem sie verbin-
denden Weg abhängt. (Nach Clausius be-
zeichnet man die Größe als das Differential der
Entropie s.)
Diese beiden Gleichungen sagen uns wenig-
stens etwas aus über die Differenz der inneren
Energie des Systems in zwei verschiedenen Zu-
ständen, ferner über das einstweilen noch will-
kürlich gelassene Temperaturmaß. Verfolgen wir
zuerst die zweite Gleichung weiter; sie kann direkt
vollständiges Differential ^ ds
zur Definition einer „absoluten" Temperatur dienen.
Denn durch die für jede homogene Substanz gel-
tende Gleichung (II) wird uns eine bestimmte
Funktion der willkürlich zugrunde gelegten Tem-
peratur empfohlen ; nehmen wir eben gerade diese
Funktion als Maß der Temperatur (indem wir etwa
noch festsetzen, daß zwischen der Temperatur des
schmelzenden Eises und der normalen Siedetempe-
ratur des Wassers 100 Grad liegen sollen) und führen
an Stelle \on t diese Funktion T in die Zustands-
gieichung und den Ausdruck u der Energie des
Systems ein, so wird für jedes homogene System
du -1- pdv . ,, .. ,. ^^.^. . ,
7^ em vollständiges Differential.
Mathematisch können wir die Definition der Tem-
peratur T am besten durch die Beziehung wieder-
geben :
Denn statt Gleichung (II) können wir schreiben,
indem wir u und v als unabhängige Variable ein-
führen, also p und t als Funktionen von u und v
betrachten:
, du 4- pdv , /i^s\ , , /i>s\ ,
woraus sich die Definitionsgleichung (2) ergibt. Die
Indizes geben an, welche Variable bei der Diffe-
rentiation konstant gehalten werden soll.
Was nun die erste Gleichung (I) betrifft, so
gibt sie uns ein Mittel an die Hand, wie wir aus
Beobachiungsdaten auf die Energie schließen
können. Die Wärmemenge q, die wir dem System
für eine Veränderung seines Zustandes auf einem
ganz bestimmten Wege zuführen müssen, können
wir in vielen Fällen leicht messen. Halten wir
das Volumen des Systems konstant, so wird die
Wärme zur Änderung der inneren Energie ver-
wendet, die wir durch .\nderung der Temperatur
und des Druckes konstatieren können. Die Ände-
rung der inneren Energie bei Änderung der Tem-
peratur um i" ist also gerade das, was wir die
s p e z i f isc h e Wä rm e des Systems bei konstant
gehaltenem Volumen nennen. Zustandsänderungen
zwischen anderen Zustandspunkten erfordern andere
Wärmemengen, die wir wieder messen können
und die bezogen auf die Temperaturänderung von
1 " des Systems die Bedeutung spezifischer Wärmen
besitzen. Sie geben uns alle zusammen die nähere
Beschreibung der Größe u, die uns dadurch (ab-
gesehen von einer additiven Konstante) bekannt
wird.
Die weitere mathematische Behandlung der
beiden Gleichungen führt zu Beziehungen zwi-
schen den spezifischen Wärmen der Substanz und
den Zustandsgrößen p, v, t. Es sind allerdings
keine ganz einfachen Gleichungen, es sind Differen-
tialgleichungen, aus denen wir auch bei genauer
Kenntnis der Zustandsgieichung (also der Ab-
hängigkeit der p, V, t voneinander) die spezi-
fischen Wärmen nicht in expliziter Form be-
N. F. XIII. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
7^3
rechnen können. Es ist nur möglich, gewisse
Eigentümlichkeiten der Abhängigkeit der spezi-
fischen Wärme vom Druck und vom Volumen
bei konstanter Temperatur durch diese Gleichungen
anzugeben. Die Abhängigkeit der spezifischen
Wärmen von der Temperatur bleibt unbe-
stimmt. Zur Charakterisierung einer homogenen
Substanz ist daher als notwendig erkannt einmal
die Angabe der Zustandsgieichung und zweitens
eine Angabe darüber, wie sich die spezifische
Wärme mit der Temperatur verändert. Das gilt
im besonderen von den Gasen, auch von dem sog.
idealen (ias. Das „ideale Gas" wird in der Regel
durch die Gaszustandsgleichung
4) p.v = ^'.T = R-T
definiert, wenn T in der aus Gleichung (2) fol-
genden Skale gerechnet wird und m das Mole-
kulargewicht des Gases, R (bzw. R') die bekannte
Gaskonstante bedeutet; stillschweigend setzt man
oft dabei voraus, daß auch die spezifische Wärme
des idealen Gases von der Temperatur unabhängig
sei, was indessen nicht aus der Gleichung (4) folgt,
und daher stets durch die Bedingung
i^Cv\
^■> (.t) -
besonders hervorgehoben werden sollte.
Wir sehen also, und ein tieferes Eingehen
würde uns das noch evidenter zeigen, die Ther-
modynamik gibt Aufschluß über eine Reihe von
Erscheinungen, die an einem homogenen System
beobachtet werden können, sobald durch Beobach-
tungen die Zustandsgieichung und die Abhängig-
keit der spezifischen Wärme von der 1 emperatur
festgelegt werden konnte, vorausgesetzt, daß wir
die Temperaturen mit einem Thermometer haben
messen können, dessen Angaben mit der abso-
luten Skale verglichen worden sind. Von großer
Bedeutung ist es, daß auch die Arbeits- und Wärme-
verhältnisse einer Substanz bei ihrem Übergang
von einem Aggregatzustand in den anderen sich
aus den Regeln der Thermodynamik bestimmen
lassen. Als eine Einschränkung der Allgemeinheit
der Resultate müssen wir allerdings — und zwar
im Gegensatz zu den Leistungen der kinetischen
Theorie der Gase — hervorheben, daß bei allen
llberlcgungen in der Thermodynamik immer
Systeme betrachtet werden , die Gleichgewichts-
zustände durchlaufen; innerhalb desselben Systems
dürfen also nicht plötzliche Änderungen an einer
einzelnen Stelle des Systems z. B. Temperatur-
dififerenzen oder Druckdifferenzen auftreten. Nur
das System als ganzes kann die Temperatur ver-
ändern.
Bevor wir zu der Besprechung dessen übergehen,
das darzustellen sich die kinetische Gastheorie
besser eignet, möchte ich des Folgenden wegen
noch ein wenig näher auf den von Clausius in
die Thermodynamik eingeführten Begriff der H n -
tropie, also auf die linke Seite der Gleichung
(3) eingehen. Nach dem Gesagten müssen wir
annehmen, daß jedem Zustand eines homogenen
Systeins ein bestimnrter Entropiewert zukommt
(abgesehen von einer additiven Konstante); denn
es gibt ja jene Beziehung an, um wieviel die
Entropie sich verändert, wenn das System von
einem Zustand in den anderen übergeführt wird.
Und zwar ist diese Angabe unabhängig vom Weg.
Auch diese Gleichung hat ihre Gültigkeit nur beim
Durchlaufen von Gleichgewichtszuständen. Es läßt
sich nun aufGrundzahlreicherErfahrungen als äußerst
wahrscheinlich bezeichnen, daß von selbst, d. h.
ohne äußeres Zutun, ein System nur dann von
einem Zustand i in einen Zustand 2 wirklich
übergeht, wenn der Entropiewert im Zustand 2
größer ist als im Zustand 1, höchstens gleich ist.
Wird aber ein System durch irgendwelche äußere
Einwirkung z. B. durch Zuführung von Wärme
aus einem Behälter von Zustand i in den Zustand 2
gebracht, so ist auch dies wieder nur möglich,
wenn nun die Summe der Entropiewerte des
betrachteten Systems und des die Änderung ein-
leitenden Wärmebehälters bei dieser Gesamt-
änderung von System und Behälter gleich
bleibt oder wächst; nur in dem Fall könnte diese
Gesamtänderung wirklich eintreten, wenn nicht
wiederum von außenher (z. B. durch mein Ein-
greifen) diese Änderung erzwungen würde. Wir
können sogar noch etwas weiter gehen und be-
haupten, daß äußerst selten (oder nie) wirklich
Veränderungen stattfinden, bei denen nicht die
Gesamtentropie wächst. Bei Veränderungen
haben wir es nämlich in Wahrheit doch nur äu-
ßerst selten (oder nie) mit Übergängen durch
völlige Gleichgewichtszustände zu tun. Reibung
und Wärmeleitung stehen dem entgegen. Soll z. B.
ein Gas Arbeit leisten dadurch, daß es einen be-
lasteten Kolben in einem Zylinder durch Ausdehnung
infolge von Wärmezufuhr vor sich herschiebt, so
muß in Wirklichkeit auch etwas Wärme zugeführt
werden für die Überwindung der Reibung des
Kolbens im Zylinder; es wird also Wärme aus
dem Behälter von der Temperatur T, mit wel-
chem das sich ausdehnende Gas in Verbindung steht,
an die Zylinderwand abgegeben (denn die Rei-
bungsarbeit wird auch in Wärme umgewandelt),
die sich auf niedrigerer Temperatur befindet. Die
Gesamtentropieänderung setzt sich zusammen
1. aus der Änderung der Entropie des arbeitleisten-
den Gases
du -\- pdv
T~ '
2. aus der Änderung der Entropie des Behälters
infolge der Wärmeabgabe zur Aufrechterhaltung
der .Arbeitsleistung des Gases, die dazu notwendige
Wärmemenge sei q, also
T'
3. aus der Änderung der Entropie des Behälters
infolge der Wärmeabgabe zur ('berwindung der
Reibung
724
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 46
_q'
T
4. aus der Änderung der Entropie des Zyhnders
infoige der Aufnahme von Reibungswärme
+ 4- rr'<T)
Die Gesamtänderung ist positiv. Die Bedeutung
dieses Wachstums der Entropie bei Zustands-
änderungen ist die, daß Wärme eines Behälters
von bestimmter Tempertur in einen Behälter von
niedrigerer Temperatur übergeht. Damit wird also
behauptet, daß die Wärme an Arbeitswert ver-
liert, daß wir dem gefürchteten „Wärmetod" un-
aufhaltsam entgegengehen. (Daß dieses von philo-
sophierenden Geistern so oft herangezogene
Schreckgespenst nicht zu fürchten ist, darauf ein-
zugehen, müssen wir uns hier versagen.)
2. Jetzt wenden wir uns zu der kinetischen Gas-
theorie. In wildem Durcheinander, unkontrollier-
bar bewegen sich überaus zahlreiche Moleküle,
gegenseitig und gegen die sie einschließenden
Wände stoßend, hin und her. Die Stöße gegen
die Wände nehmen wir wahr als Druck gegen
sie. In der Tat, wenn in kurzer Zeit eine
große Anzahl Moleküle mit der Masse m und der
Geschwindigkeit c auf ein Stück der Wand auf-
prallt, so wird dieses Wandstück herausgestoßen
werden, wenn wir nicht einen Druck von außen
darauf ausüben. Der Druck wird um so größer
sein müßen, je mehr Stöße in der Zeiteinheit statt-
finden, also je mehr Moleküle in der Volumen-
einheit vorhanden sind, ferner auch je größer
die Geschwindigkeit ist. Eine leichte Rechnung
lehrt, daß, wenn wir es mit kugelförmigen, völlig
elastischen Molekülen von äußerst geringer Aus-
dehnung zu tun haben, der Druck p gegeben ist
durch
5 ) n ^^ n • m • c -
3
wenn n die Anzahl Moleküle in der Volumen-
einheit, und c- das Mittel der Geschwindigkeits-
quadrate bedeutet. F"ühren wir dem Gas Wärme
(also Energie) zu, so steigt, wie wir wissen,
der Druck; das kann nur dadurch kommen, daß
c^ zunimmt; denn an der Anzahl und der Masse
wird ja nichts geändert, wenn wir das Volumen
konstant halten. Die Wärme, die im Gase steckt,
ist also nichts anderes als die kinetische Energie der
Moleküle, die uns somit zugleich auch ein Maß
für die Temperatur sein wird. Bringen wir 2 ver-
schiedene Gase mit Molekülen der Masse mj und
m.,, die sich auf gleicher Temperatur und unter
gleichem Druck befinden, zusammen, ohne ihr Ge-
samtvolumen zu verändern, so werden sie auch
nachher den gleichen Druck und die gleiche
Temperatur halsen (wenn sie nicht aufeinander
in irgendwelcher Weise reagieren, was wir hier
ausschließen wollen.) Es wird also
6) UimiCj- = n.,m2C22
sein. Eine weitere Erfahrung lehrt nun, daß ein
expandierendes Gas seine Temperatur nicht ändert,
wenn es bei der Expansion keine Arbeit leistet,
es kann also n^ resp. n, nicht maßgebend für die
Temperatur sein. Daher fordert die Aussage, daß
die Gase vor und nach dem Zusammenbringen die-
selbe gleiche Temperatur behalten, die Gleichheit
der mittleren kinetischen Energie, also:
7) nijC, - = m.,c.,'-.
Aus Gleichung 6 und 7 folgt unmittelbar das
Avogadro'sche Gesetz, welches aussagt, daß in der
Volumeneinheit bei gleicher Temperatur und glei-
chem Druck eine gleiche Anzahl Moleküle vor-
handen sein müssen, wie beschaffen das Gas auch
sei (n, = n.3). Andererseits folgt auch die be-
kannte Zustandsgieichung der Gase, die von der
Erfahrung bestätigt wird, nämlich :
mpv proportional einer Funktion der Temperatur,
oder wenn wir diese Funktion selbst als Maß
der Temperatur ansehen und mit T' bezeichnen:
5') mpv=:RT'
R' ist ein konstanter Proportionalitätsfaktor
R'
= R die Gaskonstante I und v ist das Vo-
m
lumen der Masseneinheit also:
I
mv =
n
T' muß, wie der Vergleich mit den vorhergehenden
Betrachtungen, insbesondere mit Gleichung (4)
ergibt, die Temperatur in absoluter Skale dar-
stellen, wenn wir es mit einem idealen Gas zu
tun haben.
Wir sehen also, die einfachen Annahmen über
die sich bewegenden Moleküle liefern uns sofort
die grundlegenden Gesetze, die, wie wir wissen,
wenigstens für den idealen Grenzfall gelten. Einen
viel besseren Anschluß an das Verhalten der
wirklichen Gase erhält man, wenn strengere
Rechnungen durchgeführt werden und wenn über
die Beschaffenheit (Bau und Form) der Moleküle
plausible weitere Annahmen gemacht werden.
Berücksichtigen wir z. B. den l'mstand, daß in-
folge des Volumens, das die Moleküle selbst ein-
nehmen, nicht das ganze Volumen v für die Be-
wegung des Gases zur Verfügung steht, und be-
rücksichtigen wir weiter die durch zahlreiche
Versuche erwiesene Tatsache, daß zwischen den
Molekülen noch andere Kräfte wirksam sind als
die, welche beim elastischen Stoß der Moleküle
auftreten, so wird man auf Zustandsgieichungen
geführt, die von der des idealen Gases abweichen,
auf Zustandsgieichungen, wie sie von Clausius
u. a. und in ganz besonders glücklicher Weise
von van der Waals aufgestellt worden sind. Sie
stellen in vielen Fällen das wahre V'erhalten der
Gase richtig dar.
Aber hierin liegt durchaus noch nicht der
große Wert der kinetischen Gastheorie. Die Pro-
bleme, zu deren Lösung sie allein in Frage
kommt, für die diese Betrachtungsweise also von
höchster Wichtigkeit geworden ist, hängen aufs
N. F. XIII. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
72s
engste zusammen mit der Existenz der mole-
kularen Weglänge, d. i. des Weges, den im
Mittel ein Molekül zwischen 2 aufeinanderfol-
genden Zusammenstößen zurücklegen kann. Es
läßt sich leicht berechnen, daß die Geschwindigkeit
der Moleküle im Mittel unter normalen Verhält-
nissen (Zimmertemperatur) außerordentlich groß
ist; die Luftmoleküle legen im Mittel ca. 480 m
in der Sekunde zurück. Infolge dieser großen
Geschwindigkeit würde eine außerordentlich schnelle
Vermischung zweier Gase auftreten müssen, wenn
die Moleküle nicht ungeheuer oft zusammenstoßen
würden und infolgedessen auch während längerer
Zeit nicht recht von der Stelle kommen. Wie oft kann
man beobachten, daß eine Rauchwolke lange fast
unverändert erhalten bleibt. Die Schnelligkeit der
Vermischung (Diffusion) und ebenso die Wärme-
leitung und die innere Reibung werden durch die
Größe der molekularen Weglänge bestimmt
und die kinetische Theorie der Gase gibt uns
durch die Bestimmung dieser Größe auch über
die drei genannten Vorgänge und die Einflüsse
von Temperatur und Druck darauf befriedigend
Aufschluß. Man findet z. B. ohne besondere
Schwierigkeiten, daß zwischen dem Koeffizienten
der inneren Richtung ?;, den man aus Beobach-
tungen finden kann, der mittleren Molekularge-
schwindigkeit c und der molekularen Weglänge X
die Beziehung besteht:
8) A = A -"c • »;
wenn A eine berechenbare Konstante bedeutet.
(Um einen Begriff von der Kleinheit der Größe A
zu geben, sei der Wert für Luft = iXiO'^'cm
bei einem Druck von i Atm. und o" C angegeben.)
Mit der Existenz der molekularen VVeglänge hängt
nun aber wieder eng die Größe der Moleküle
zusammen; denn es können Zusammenstöße nur
dann stattfinden, es kann von einer molekularen
Weglänge nur dann die Rede sein, wenn die Mole-
küle eine Ausdehnung besitzen. Auch die Größe
der Moleküle liefert die Theorie und weiter noch
die Zahl derselben im ccm. Als Molekular-
durchmesser der als Kugel angesehenen Luftmo-
lekel findet man ca. 3 ';•/ 10 '* cm und die Zahl der
Moleküle im ccm unter normalen Bedingungen
ist nach den neusten Forschungsergebnissen
2-77X10'*. Es ist das die als Loschmidt'sche
Zahl bekannte Größe.
Bei allen Entwicklungen der kinetischen Gas-
theorie und für die Resultate, vor allem für die Be-
stimmung der in den Formeln vorkommenden Kon-
stanten ist es nun von besonderer Wichtigkeit, die
„Verteilung der Geschwindigkeitswerte auf die ein-
zelnen Moleküle" zu kennen, da man aus ihr z. B.
auf die mittlere Geschwindigkeit und das mittlere
Geschwindigkeitsquadrat schließen kann. Es war
also eine der ersten Aufgaben, möglichst sorg-
fältig die Funktion aufzufinden, die diese Verteilung
angibt, und schon Maxwell hat für gewisse Fälle
die Funktion abzuleiten vermocht.
Daß, wie man häufig der einfacheren Rechnung
wegen annimmt, die Geschwindigkeiten sämtlicher
Moleküle einander gleich sein werden, wenn das
Ciasvolumen an allen Stellen gleiche Temperatur
und gleichen Druck hat, und daß nur die Rich-
tungen verschieden sind, das ist sehr unwahr-
scheinlich. Sicher würde, wenn in einem Augen-
blick wirklich dieser Zufall ganz gleicher Geschwin-
digkeiten sich ereignete, im nächsten infolge der
Zusammenstöße diese Gleichheit verschwunden
sein. Wie werden nun die verschiedenen Ge-
schwindigkeitswerte auf die Moleküle im statio-
nären Zustand des Gases verteilt sein; wie-
viele Moleküle werden eine Geschwindigkeit
haben, die zwischen c und c -]- de liegt, wie-
viele werden eine andere zwischen c' und
c'-j-dc'? Als Kriterium der richtigen Verteilung
kann nur gelten, daß sie infolge der Stöße nicht
verändert wird. Wohl werden die einzelnen Mo-
leküle ihre Geschwindigkeiten ändern, gegenein-
ander vertauschen, in jedem Augenblick wird aber
dieselbe Anzahl von Molekülen, eine bestimmte
Geschwindigkeit besitzen. Diese Maxwell'sche Ge-
schwindigkeitsverteilung — denn Maxwell hat
sie zuerst abgeleitet — wird auch dadurch gekenn-
zeichnet sein, daß sie wahrscheinlicher ist als jede
andere, wenn Zahl und Gesamtenergie der Mole-
küle unverändert bleiben. Denn hätte eine andere
Verteilung der Geschwindigkeiten auf die Mole-
küle eine größere Wahrscheinlichkeit, so wäre
nicht einzusehen, warum sich nicht der Zustand
größerer Wahrscheinlichkeit einstellen würde. Der
Endzustand oder stationäre Zustand kann also
auch der wahrscheinlichste Zustand genannt werden.
Die Verteilung wird bestimmt durch die Beziehung :
9) dN = «e-'^'''c''dc
wenn dN die Anzahl der Moleküle bedeutet, die
eine Geschwindigkeit zwischen c und c-f-dc be-
sitzen und a und ß konstante Größen sind, die
durch die Gesamtenergie und die Molekülzahl
im ccm bestimmt sind.
Freilich gilt diese Formel nur für den statio-
nären Gleichgewichtszustand, sie kann nicht un-
mittelbar übertragen werden auf veränderliche
Zustände, wie sie bei den Problemen der Diffu-
sion, Wärmeleitung und Reibung vorkommen.
Es ist auf verschiedene Weise versucht worden,
schon von Maxwell und Boltzmann, in jüng-
ster Zeit von Chapman, eine begründete Modi-
fikation des Verteilungsgesetzes für diese Fälle
zu finden, die ja alle drei dadurch charakterisiert
sind, daß eine bestimmte Bewegungsgröße in be-
stimmter Richtung im Raum transportiert werden
soll, und die daher in vielfacher Beziehung zu-
sammen behandelt werden können. Zuletzt hat
sich auch Sommerfeld in Gemeinschaft mit Lenz
diesem Problem zugewandt, dessen Lösung zweifel-
los eine der wichtigsten Aufgaben der kinetischen
Theorie bildet.
Soviel steht fest, daß die Betrachtungsweise,
wie sie von Krönig und Clausius als kineti-
sche Gastheorie begründet worden ist, zu wert-
vollen Resultaten und Kenntnissen des Verhaltens
726
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 46
der Moleküle selbst und der Gase als Ganzes
geführt hat. Es ist die begründete Hofihung
vorhanden , daß mit der Zeit durch geignete
Hypothesen über die Beschaffenheit der Moleküle
ein immer besserer Anschluß an die Beobachtungen
erreicht werden wird. Was die Übereinstimmung
mit der Erfahrung betrifft, so kann sie nämlich
befriedigenderweise gerade in den Fällen konsta-
tiert werden , dessen Durchrechnung mittels der
kinetischen Theorie ohne gar zu bedenkliche Ver-
einfachungen möglich war. So kann man die
beste Übereinstimmung bei der Behandlung ein-
atomiger Gase erwarten und findet sie dort auch.
Denn den bisherigen Rechnungen liegt immer
die Annahme der Kugelform der Moleküle zu-
grunde, da eine andere Annahme die Rechnung
ganz ungeheuer erschwert. Die Idealisierung bei
der Anwendung der Theorie auf mehratomige
Gase ist also augenscheinlich größer und ein An-
schluß an das Experiment weniger sicher zu
erwarten.
3. Wie steht es nun mit dem Zusammenhang
der beiden Darstellungsarten? Die Thermodyna-
mik baut auf der Zustandsgleichung der Gase auf,
die durch das Experiment bestimmt ist, und leitet
daraus und mit Hilfe bekannter Prinzipien, die das
ganze Naturgeschehen beherrschen , ab , wie sich
das Gas als Ganzes verhält, führt im besonderen
zur Kenntnis der Energie des Gases (als Ganzes
genommen) und zur PIntropie, wobei noch nebenher
die Definition der absoluten Temperatur gewonnen
wird. — Die kinetische Gastheorie geht von be-
stimmten Anschauungen über die Konstitution
des Systems aus, führt auf die durch die Erfah-
rung bestätigte Zustandsgieichung, beschäftigt
sich aber im übrigen mit dem Verhalten der
Systemteile unter verschiedenen Bedingungen.
Außer dem durch die Zustandsgieichung sofort
ersichtlichen Übergang besteht anscheinend keine
Verbindung zwischen beiden Methoden. Eine
solche müssen wir aber herstellen können , wenn
es gelingt, auch mittels der kinetischen Theorie
die Werte der Energie und der Entropie des
Gases als Ganzes abzuleiten. Sie müssen über-
einstimmen mit den Werten aus der Thermo-
dynamik.
Wir beginnen mit der Entropie. In der Thermo-
dynamik wird gelehrt, daß ein System, wie z. B.
das von Molekülen, also ein Gas, nur dann im
Gleichgewichtszustand sich befinden kann, wenn
die Entropie einen größeren Wert besitzt als in
jedem anderen Zustand. In der kinetischen Gas-
theorie wurde dieser Zustand dadurch charakte-
risiert, daß man ihn als den wahrscheinlichsten
ansah. Es scheint also immerhin denkbar, daß
eine Beziehung zwischen Entropie und Wahrschein-
lichkeit eines Systems besteht.
Wenn wir von der Wahrscheinlichkeit eines
Zustandes, den ein System annehmen kann, sprechen
wollen, so hat das nur einen Sinn, wenn die Ele-
mente des Systems nicht einzeln durch die sie
bestimmenden Variabein (Koordinaten) fest ge-
geben sind, sondern wenn ein gewisser Spielraum
von Werten, die die Elemente annehmen können,
bleibt ; es muß auch ein anderer Zustand durch
geeignete Wahl der die Systemelemente bestim-
menden Koordinaten sich einstellen können, ohne
daß die uns von vornherein gegebenen Bedingun-
gen (z. B. über Druck und Temperatur), denen
das System genügen muß, verletzt werden. Es
muß mit anderen Worten der Zustand des Systems
im großen ganzen bestimmt definiert sein: das
System muß aber von Elementen abhängen, deren
Zustände im einzelnen nicht bestimmt sind und
auch nicht kontrolliert werden können. So ist
der Zustand des Gases nach dem Maxwell-
schen Geschwindigkeitsverteilungsgesetz gegeben,
dabei aber völlig frei gelassen, welche ganz spe-
ziellen Moleküle zu der Gruppe gehören, deren
Geschwindigkeit zwischen c und c -)- de liegt.
Die nähere Überlegung zeigt nun, daß auch nur
bei solchen Systemen von einer Entropie ge-
sprochen werden kann, bei Systemen, deren Zu-
stand unter anderem von einer Größe bestimmt
wird, die in nicht kontrollierbarer Weise auf die
Elemente des Systems zu verteilen ist. Sind die
Zustände und Änderungen der Systeme in allen
Einzelheiten mathematisch genau gegeben und
wissen wir, daß sie genau den Gesetzen der Mechanik
folgen, so hat es keinen Sinn, von Entropie oder
Temperatur zu reden. Z. B. die Bewegung eines
Pendels geht nach exakt bis ins einzelne gegebe-
nen Gesetzen vor sich; es handelt sich dabei um
Energietransformationen, die in der einen wie in
der anderen Richtung vor sich gehen können.
Auch die auftretende Reibung bei mechanischen
Vorgängen (die, wie wir aus der Wärmelehre wissen,
einen Teil der mechanischen Energie in Wärme-
energie überführt) wird stets durch eine besondere,
Energie verzehrende Kraft eingeführt , über deren
tieferen Ursprung man sich keine Rechenschaft gibt.
Von dem Wärmeinhalt, also der kinetischen Energie
der Moleküle, ist nie die Rede und daher auch
nicht von einer Temperatur des Systems anders,
als einem möglicherweise die wirkenden Kräfte
beeinflussenden Parameter. Immer gilt bei diesen
exakt mathematisch darstellbaren Vorgängen wie
bei allen Naturvorgängen der erste Hauptsatz:
Die Summe der im System vorhandenen Energie
bleibt konstant, und man sucht festzustellen,
welche Bewegungen und Energieumsetzungen
werden auftreten, wenn gewisse Kräfte auf Massen
einwirken. Um die Frage, ob die Vorgänge wirk-
lich eintreten oder nicht, kümmert man sich nicht. •
Mit dieser Frage beschäftigt sich der 2. Haupt-
satz, welcher angibt, daß bei jedem wirklich statt-
findenden Naturvorgang die Entropie zunimmt.
Also nur Systeme, dessen Zustände durch
Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen bestimmt werden
können, nur Systeme, die nicht bis in alle Einzel-
heiten exakt definiert sind, berechtigen zur Ein-
führung des Begriffs der Entropie. Boltzmann hat
den Zusammenhang zwischen „mathematischer
N. F. XIII. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
727
Wahrscheinlichkeit" und Entropie genau unter-
sucht und ist zu der wichtigen Beziehung gelangt:
10) S = lgW„ + const.
S ist die thermodynamische Entropie des Sy-
stems; ') mit \V(,, der mathematischen Wahrschein-
lichkeit, wird bezeichnet das Verhältnis „der dem
Ereignis günstigen Fälle, zu den überhaupt mög-
lichen Fällen". Was das bedeutet, geht aus fol-
gendem hervor. Ein gewünschter Zustand des
Systems ist durch verschiedene Verteilungsarten
erreichbar, in unserm speziellen Fall der Gas-
moleküle z. B. dadurch, daß ganz bestimmte
Moleküle die Geschwindigkeit c haben, aber auch
dadurch, daß andere willkürlich herausgegriffene
Moleküle von gleicher Zahl diese Geschwindig-
keiten besitzen. Wir nennen diese Verteilungen
Fälle , die dem Ereignis (dem gewünschten Zu-
stand) günstig sind; es gibt natürlich nun auch
zahllose Verteilungen , die den Zustand nicht er-
geben, auch wenn die Zahl der Moleküle und die
Gesamtenergie dieselben sind. Je größer die
Zahl der günstigen Fälle im Vergleich zur Zahl
der möglichen ist, um so größer ist die Wahr-
scheinlichkeit \\\.
Planck ist durch Betrachtungen, die sich auf
die Wärmestrahlung beziehen, auf eine etwas ab-
weichende Gleichung gekommen und zu einer
anderen Definition der Wahrscheinlichkeit gelangt,
die er zum Unterschied von jener die ,, thermo-
dynamische Wahrscheinlichkeit" nennt. An Stelle
von Gleichung (lo) schreibt er:
11) S = k IgW.
Dabei soll W „die Anzahl aller bei einer be-
stimmten Raumverteilung möglichen Komplex-
ionen" bedeuten, d. h. die Anzahl der dem ge-
wünschten Zustand günstigen Fälle der Verteilung.
Es fehlt in Gleichung (11) im Gegensatz zu (10) die
willkürliche additive Konstante; die Konstante k hat
einen ganz bestimmten Wert, wie wir später sehen
werden. Wenn sich die Anzahl W der dem Er-
eignis (Zustand) günstigen Fälle wirklich ein-
deutig angeben läßt, so liefert uns Gleichung (11)
einen eindeutig bestimmten Wert der
Entropie des Systems , mehr also als wir
nach den Erörterungen in dem i. Abschnitt er-
warten sollten ; denn dort war immer nur von
Entropiedifferenzen die Rede; die Entropie eines
Systems in einem gegebenen Zustand galt nur bis
auf eine additive Konstante als bekannt. In der
Tat liegt gerade darin das Wesentliche des Unter-
schiedes zwischen den Gleichungen 10 und 11 ;
Planck forderte die Möglichkeit, für alle Systeme
eindeutig definierte Entropiewerte anzugeben. Zu
dieser Angabe eignete sich die Bol tz man n 'sehe
Beziehung nur, wenn in ihr von der Konstante
abgesehen wurde und die Wahrscheinlichkeit durch
bestimmte Festsetzungen für jedes System einen
eindeutig definierten Wert erhielt. Sehen wir zu-
nächst zu, wann das letztere der Fall isti Wir knüp-
') s soll sich auf die Masseneinheit beziehen, S auf be-
liebige Massen.
fen zu dem Zweck an ein konkretes, einfaches
Beispiel an. Es sei eine große Zahl N Körner auf
die 64 Quadrate eines Schaclibrettes zu verteilen
und es sei gefordert, daß in das erste (links oben
anfangend und in horizontaler Richtung weiter-
gehend) Nj, in das zweite Quadrat N., usf. in
das 64. Quadrat N^^ Körner kommen, wobei
Ni + N2 + • ■ • + No4 = N sein soll. Welche von
den N Körnern in das i., 2, . . . 64. Quadrat fallen,
soll uns einerlei sein; jede Zuordnung der Körner,
die die Forderung: Nj ins i., N., ins 2. Quadrat
usf. erfüllt, ist eine der gewünschten Raumver-
teilung günstige Zuordnung, stellt in der Planck-
schen Bezeichnungsweise eine mögliche Kom-
plexion dar. Die Anzahl der möglichen Kom-
plexionen läßt sich nach der Permutationsrech-
nung sofort hinschreiben. Sie ist:
N'
12) W:
NJNa
N„
Nil=i.2.3...Ni
bedeutet. Würden wir jedes Quadrat des Schach-
brettes in 4 kleinere Quadrate zerlegen, und würden
nun die N Körner auf die 4 mal 64 kleineren Quadrate
verteilen, so aber, daß in Wirklichkeit (absolut
genommen) die gleiche Raumverteilung vorhanden
wäre, so würde offenbar die Anzahl VV der mög-
lichen Komplexionen einen anderen Wert als den
obigen annehmen, nämlich :
Ni
W
N/! Ni"lNi"'lNi""!N2
N„
mit den Nebenbedingungen:
Ni' + Ni" -f Ni'" + Ni"" = Ni
Ni+N.3 + ...+ N,,, =N
Wir sehen also, die Zahl W hängt ab von der
Größe der Gebiete (Elementargebiete), in die zur
Angabe der Zuordnung der Raum zerteilt wird.
Die Forderung eines ganz bestimmten Entropie-
wertes ist also zurückgeführt auf die Forderung,
bei der Wahrscheinlichkeitsbetrachtung den Zu-
standsraum in Elementargebiete ganz bestimm-
ter Größe zu zerlegen, denen die Elemente des
Systems zugeteilt werden sollen.
In dem Fall des Gases, in dem anzugeben
ist, in welcher Weise die Moleküle über den Gas-
raum verteilt und welches die Geschwindigkeiten
der Moleküle sind, müssen wir nun zur Fest-
legung des Entropiewertes nach dem Rezept
verfahren, das in den Gleichungen 11 und 12 ent-
halten ist.
Die Moleküle des Gasraumes unterscheiden
sich voneinander durch ihre Lage (Ortskoordinaten)
und ihre Geschwindigkeiten, oder besser ihre Be-
wegungsgrößen, i) das sind die Produkte aus
Masse m und Geschwindigkeit c. Bezeichnen
') Enthält nämlich das Gas Moleküle von verschiedenen
Massen, so sind in bezug auf die Bewegungen und mecha-
nischen Vorgänge überhaupt (Stöße) die Moleküle nur durch
die Größe der Bewegungsgrößen von unterschiedlicher Wirkung,
da bei den Bewegungsänderungen immer nur die Produkte
aus Masse und Geschwindigkeit eine Rolle spielen, Masse und
Geschwindigkeit aber nicht getrennt auftreten.
728
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 46
wir die Ortskoordinaten mit x, y, z, die Kompo-
nenten der Bewegungsgrößen in den Koordinaten-
richtungen mit I, j;, C, so werden also die Mole-
küle durch die Angabe dieser 6 Größen in ihrem
Verhalten bestimmt. Im stationären Gleich-
gewichtszustand des Gases werden die 6 Koordi-
naten von Ni Molekülen liegen zwischen:
X und X + dx, $' und | -|- di",
y und y -|- dy, y und t] -]- d»;,
z und z 4" '^^' ^ """^ t "i~ "^^•
von N., Molekülen in Nachbarbereichen usw. Wie
wir das Schachbrett zur Angabe der Raumver-
teilung der Körner in 64 Elementargebiete geteilt
haben, so können wir den jetzt freilich in 6 ver-
schiedenen Richtungen sich erstreckenden „Raum"
zur Angabe der Raumverteilung der Moleküle in
die Elementargebiete von der Größe
dxdy dzdid»;dc
uns zerlegt denken. Nehmen wir für diese Ele-
mentargebiete eine ganz bestimmte endliche Größe,
die wir mit G bezeichnen wollen, an, so können
wir gerade wie im Beispiel mit den Körnern auf
dem Schachbrett eine gegebene Raumverteilung
eine ganz bestimmte endliche Anzahl mal her-
stellen, indem wir alle möglichen Permutationen
unter den Molekülen vornehmen, so daß die ge-
forderte Verteilung besteht. Die Anzahl dieser
möglichen Permutationen („mit Wiederholung"),
also die Anzahl der möglichen „Komplexionen",
nennen wir W; sie ist die Wahrscheinlichkeit des
Zustandes.
Die Forderung, daß die Entropie oder
S=3=k.lgW
bei unveränderter Anzahl der Moleküle und un-
veränderter Gesamtenergie des Systems ein Maxi-
mum sei, führt zur Kenntnis der Verteilung im
stationären Gleichgewichtszustand. Diese rein
mathematische Aufgabe enthält keine bemerkens-
werte Schwierigkeit. Das Resultat ist in völliger
Übereinstimmung mit dem Max well'schen, das
in Gleichung (9) mitgeteilt wurde. Für diese jetzt
bekannte Verteilung läßt sich W und somit S
wirklich ausrechnen. Wir finden, indem wir uns
wieder auf die Masseneinheit des Gases be-
schränken :
,,^ e 1. M 1^ f v/4^em(u— un)\%\
13) s = k.N.lg^^( -^ j ;
wenn N die Zahl der Moleküle der Masseneinheit
ist, die sich im Volumen v befindet, u die Ge-
samtenergie der bewegten Moleküle (der Gas-
masse), U|| die unveränderlich gedachte innere
Energie der ruhenden Moleküle, G die Größe des
Elementargebietes bedeutet. N ist also gleich n • v,
wenn wie oben n die Zahl der Moleküle im
ccm bedeutet, (e ist die Basis der nat. Log.)
Daß die so gewonnene Größe s wirklich die
Bedeutung der aus der Thermodynamik bekannten
Entropie hat, ist durch eine einfache Probe leicht
zu zeigen.
Nach Gleichung (3) muß die partielle Differen-
tiation nach v bei konstantem u den Wert ~
oder:
ergeben. Wir führen diese Operation aus und
erhalten :
/ ÖS \ kN p
\öv/u~ V ~T
14) p = T = k-n-T
' ^ V
genau die Gasgleichung (4), wenn wir für kN setzen
R'
— - R, wodurch also zugleich über die noch un-
bestimmt gelassene Konstante k Klarheit ge-
schaffen ist.
Für diesen letzten Schluß und Beweis der
Richtigkeit der Planck'schen Beziehung zwischen
s und W, ist es offenbar ganz gleichgültig, welchen
Wert G hat, denn G kommt in der Endformel (14)
gar nicht vor; der Schluß wird sich also auch
noch ziehen lassen , wenn wir an Stelle der Be-
ziehung von Planck die von Boltzmann be-
nutzen. Was veranlaßt und was bedeutet also,
so müssen wir nun fragen, die Planck 'sehe
Festsetzung, daß die Entropie einen bestimmten
Wert, G ein Elementargebiet von bestimmter
endlicher Größe sein soll.
Von vornherein steht fest, daß die Beziehung
(11) oder (10) jedenfalls universelle Gültigkeit haben
muß, d. h. wenn sie überhaupt Bedeutung haben soll,
sie für jeden einzelnen Fall der Naturbetrachtung
gelten muß. Weiter ist klar, daß nur entweder
(10) oder (11) gelten kann. Nun hat Planck
gezeigt, daß die Beziehung (11), deren Anwendung
also ein ganz bestimmtes endliches Elementar-
gebiet bei der Wahrscheinlichkeitsbetrachtung
voraussetzt, in der Wärmestrahlungstheorie zu
einem von der Erfahrung bestätigten Gesetz der
Energieverteilung auf die verschiedenen Strahlungs-
arten , die vom schwarzen Körper ausgesandt
werden, führt, während Gleichung (10) dies nicht
leistet. Er kommt dabei zu der berühmt ge-
wordenen Forderung, daß die Strahlungsenergie
nur quantenmäßig weitergegeben werden kann,
nicht kontinuierlich.
Somit scheint also die Annahme von 1 1 not-
wendig zu sein und wir müssen weiter fragen,
was hat es zu bedeuten, daß das Elementargebiet
G = dxdydzdid*;dC einen endlichen Wert
haben soll.
Es sei da zunächst daran erinnert, daß von
Nernst schon früher (1906) die Forderung der
bestimmten Entropiewerte für kondensierte Systeme
(feste und flüssige Körper) ausgesprochen war.
„Die Entropie eines kondensierten chemisch homo-
genen Stoffes beim Nullpunkt der absoluten Tem-
peratur besitzt den Wert Null." ') Nun können
wir uns eine homogene Flüssigkeit durch Ver-
dampfung in den gasförmigen Zustand übergeführt
denken. Die bei der Temperatur T des Systems
zugeführte Verdampfungswärme L dividiert durch
') M. Planck, Vorl. über Thermodynamik, 3. Aufl.
N. F. XIII. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
729
die Temperatur ist gleich der Differenz der
Entropiewerte der Substanz im gasförmigen und
im flüssigen Zustand. Da nach dem Wärmesatz
von Kernst die Entropie des flüssigen Zustandes
einen bestimmt angebbaren Wert besitzt, so
müssen wir also auch für den homogenen gas-
förmigen Zustand diese Forderung stellen; denn
ist doch eine ganz genau definierte, meßbare
Größe; allerdings läßt sich etwas allgemein Gültiges
von vornherein über den Entropie wert der Gase
beim absoluten Nullpunkt noch nicht aussagen, wie
über den der kondensierten Systeme. (Allem An-
schein nach hat es auch gar keinen Sinn von
einem solchen Wert beim absoluten Nullpunkt
zu reden, weil vermutlich ein Gas auch unter
beliebig kleinem Druck bei dieser Temperatur
nicht mehr als Gas existiert, sondern stets als
kondensiertes System; der Sättigungsdruck ist
vermutlich bei dieser Temperatur kleiner als jeder
nur denkbare.) Wir finden also auch hier (die
Folgerungen wurden freilich erst viel später ge-
zogen) den Hinweis auf die endliche bestimmte
Entropie eines Gases, das gerade, was den Inhalt
der Forderung von Planck für den Fall der gas-
förmigen Systeme bildet. Nur eine weitere
Konsequenz ist die Forderung, daß bei der
Wahrscheinlichkeitsbetrachtung endliche Elemen-
targebiete zugrunde gelegt werden müssen.
Der tiefere Grund, warum der Zustandsraum
in Elementargebiete ganz bestimmter Größe zer-
legt werden muß, um auf Resultate zu kommen,
die mit der Erfahrung übereinstimmen, kann ganz
gewiß nur in besonderen Atomeigentümlichkeiten
gesucht werden und um Anhaltspunkte in dieser
Richtung zu gewinnen, ist es von größter Bedeutung,
den wahren Wert der Elementargebiete aufzusuchen.
Dazu kann man z. B. gelangen, wenn man den eben
skizzierten Weg, die Entropie des Gases aus der
des kondensierten Systems abzuleiten, in Fällen,
in denen genügend experimentelle Daten vorliegen,
wirklich ausführt. In der Gleichung (13) ist dann
s selbst bekannt bei gegebener Energie (Tem-
peratur) und Volumen; und die einzige Unbe-
kannte ist die Größe G. Solche Rechnungen
sind von Sackur und von Tetrode unabhängig
voneinander ausgeführt worden. Für einatomige
Gase findet man eine Zahl von der Größenordnung :
200- 10 "*"
Da G das Produkt dreier äquivalenter Fak-
toren dxdj, dydi;, dzdg ist, so ist anzunehmen,
daß jeder derselben den gleichen Beitrag liefert,
der also die Größenordnung
6.10-"
haben wird. Es müßte also das Produkt dx-d^,
— das ist das Produkt einer Strecke (dx), einer
Masse (m) und einer Geschwindigkeit de (denn
di; = m-dc) — von der Größenordnung 6- 10^-'
für Moleküle eine besondere, bemerkenswerte Be-
deutung haben, welche Veranlassung wäre, daß
gerade diese Größe die Kante des Elementar-
würfels des Zustandsraums bestimmte. Man könnte
sich vielleicht vorstellen — nur um ein Beispiel
einer möglichen Betrachtungsweise zu geben sei
dies erwähnt — daß wenn die Energie, die die eine
Molekel bei einem Zusammenstoß an die andere
abgibt, einen kleineren Wert hat als jene Größe
Ö-IO'"'^' dividiert durch die kleine Zeitdauer des
Zusammenhaftens, die Moleküle merkliche Verän-
derungen erfahren, die sich erst in einiger, wenn
auch sehr kurzer Zeit verlieren. Die Dimension
des Produktes dxdi, also auch der Größe 6- iO"~^',
ist nämlich die des Produktes einer Energie und
einer Zeit. Da die Energie einer Molekel gleich
ist der halben Masse mal dem Quadrat der Ge-
schwindigkeit, und da z. B. die Masse der Luft-
molekel zu 5 ■ io~^^ g (ca) angenommen werden
kann, so dürfte von dem Quadrat der Geschwindig-
keit multipliziert mit der sicher sehr kleinen Stoß-
zeit der Wert 1,2 • io~* nicht unterschritten werden,
wenn nicht Molekülveränderungen auftreten sollen
(z. B. die stoßenden Moleküle aneinender kleben
bleiben). In Anbetracht der sicher sehr kleinen
Stoßzeit resultiert hier eine immerhin verwunder-
lich große kritische Geschwindigkeit. Es sind
verschiedene andere Deutungen für den tieferen
Grund des Auftretens der endlichen Größe zu
geben versucht worden. Besonders hat Sackur sich
mit der Frage beschäftigt. Einstweilen steht in-
dessen eine ungezwungene Erklärung noch aus, es
ist sogar noch nicht einmal möglich gewesen, fest-
zustellen, ob der Wert von G unabhängig von
der Natur des einatomigen Gases ist, d. h. ob
für Helium ein anderes G gilt, als für Queck-
silber, oder für Argon usw. Hier ist noch manches
Rätsel zu lösen.
4. Wir wollen nun endlich noch zusehen, ob
auch der Vergleich der Energiewerte des Gases,
wie sie aus der Thermodynamik einerseits, aus
der kinetischen Gastheorie andererseits gewonnen
werden können, zu einem engeren Zusammenschluß
der beiden Methoden führt, resp. ob wir aus dem
Vergleich neue Erkenntnisse erschließen können.
Bei einem einatomigen Gas dürfen wir wohl
annehmen, daß die gesamte innere Energie des
Gases in der hin- und hergehenden Bewegung
der als elastische Kugeln vorgestellten Moleküle
steckt. Dann muß die gesamte innere Energie
des Gases auf die Masseneinheit bezogen gleich
sein:
^N-m-c^ä
wenn c- die mittlere Molekülgeschwindigkeit und
N die Molekülzahl der betrachteten Masseneinheit
ist. Aus den Formeln 4 und 5 kann man er-
sehen, daß dies nichts anderes ist als |RT.
Daraus kann man sofort die spezifische Wärme
des einatomigen Gases ableiten, denn das ist die
Änderung der Energie mit der Temperatur, oder
der Zuwachs an Energie pro i " C; es ist das |R.
Der Vergleich dieses Wertes mit dem, der an
einatomigen Gasen experimentell gefunden wurde,
wenn man das Volumen konstant hält, wenn
73°
Naturwlssenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 46
also alle zugeführte Wärme zur Erhöhung der
inneren Energie verbraucht wurde, bestätigt die
Theorie vorzüglich. Es ist im besonderen nach der
Theorie die spezifische Wärme unabhängig von
der Temperatur; und auch dies ist in sehr weiten
Temperaturgrenzen (von 200" bis über 2500")
experimentell gefunden worden. Die Thermo-
dynamik konnte aus der Gasgleichung nichts
aussagen über die Abhängigkeit der spezifischen
Wärme von der Temperatur und es wurde ge-
rade die Bedingung der Temperaturunabhängigkeit
mit zur Definition der idealen Gase herangezogen.
Wir gelangen also zu dem wichtigen Resultat, daß
ein thermodynamisch als ideal betrachtetes Gas
in der Tat als bestehend aus Molekülen vorgestellt
werden kann, die Kugelform besitzen, vollkommen
elastisch sind und von so kleinem Durchmesser,
daß ihr Volumen im Vergleich zu dem der Be-
wegung freistehenden zu vernachlässigen ist.
Zu dem Resultat, daß die spezifische Wärme
der einatomigen Gase |R ist, kommen wir auch,
wenn wir von dem Wert der Entropie (13) aus-
gehen, nach der inneren Energie differenzieren (bei
konstant gehaltenem Volumen) und den ge-
wonnenen Ausdruck gemäß der Gleichung (3) gleich
^- setzen. Wir erhalten
u— Uo = fkNT
also für die Änderung der Energie mit der
Temperatur (da kN = R ist) für die spezifische
Wärme das obige Resultat.
Ganz offenbar gelten für mehratomige Gase
nicht diese einfachen Betrachtungen. Denn zwei-
fellos besteht jetzt die innere Energie, deren Än-
derung mit der Temperatur uus als spezifische
Wärme bei konstantem Volumen interessiert, nicht
nur aus der kinetischen Energie der Moleküle;
vielmehr werden auch Atomschwingungen im
Molekül stattfinden, die eine kinetische Energie
repräsentieren und weiter die Existenz einer po-
tentiellen Energie erfordern ; ferner werden in-
folge der Zusammenstöße auch Rotationen auf-
treten können, da wir nicht mehr die mehr-
atomigen Moleküle als Kugeln uns vorstellen
dürfen.') Zur Berechnung dieser Energiemengen
hat man bisher immer einen sehr berühmten Satz
der statistischen Mechanik herangezogen, welcher
aussagt, daß für jeden Freiheitsgrad eines
mechanischen Systems gleich viel kin etisc he
Energie im Mittel bei der Bewegung der
Systemteile in Anrechnung zu bringen ist. Unter
Zahl der Freiheitsgrade oder Bewegungs-
möglichkeiten versteht man die Zahl der die
Systempunkte vollständig ihrer Lage nach defi-
nierenden von einander unabhängigen Koordinaten.
Ein System von N kugelförmigen Molekülen, deren
augenblickliche Lage durch je drei Koordinaten defi-
niert gedacht werden kann, hat demnach 3 NFreiheits-
') Durch Zusammenstöße elastischer Kugeln können diese
niemals eine Änderung ilircr Rotationsbewegung, falls sie eine
besitzen, erfahren.
grade. Sind die N Moleküle nicht kugelförmig,
sondern bestehen sie aus zwei starr mit einander
verbundenen kugelförmigen Atomen, so muß die
Richtung ihrer Verbindungslinie durch zwei
weitere unabhängige Bestimmungsstücke (z. B.
zwei Winkel) festgelegt sein. Dann sind also 5 N
Freiheitsgrade vorhanden. Sind die Atome außer-
dem noch gegeneinander beweglich, so kommt
noch ein weiterer Freiheitsgrad pro Molekül hinzu.
Für jeden der Freiheitsgrade müssen wir die
gleiche Energie in Anrechnung bringen, das sagt
der Satz der statistischen Mechanik. Durch die
Berechnung der spezifischen Wärme der ein-
atomigen Gase haben wir nun soeben erfahren,
daß die kinetische Energie, die jedem Molekül zu-
kommt, |RT : N ist ; da jedes Molekül 3 Freiheits-
grade besitzt, haben wir dem einzelnen Freiheits-
grad somit die Energie ^RT:N = 4kT zuzu-
schreiben. Danach müßte den 2 atomigen Mole-
külen mit starr verbundenen Atomen die kinetische
Energie 5N-^kT zukommen, und, wenn die
Atome gegeneinander beweglich wären, also 6
Freiheitsgrade haben, 6N-^kT. Im letzteren Fall
würde die angegebene kinetische Energie noch
nicht die ganze innere Energie ausmachen. Denn
wenn die Atome der Moleküle sich gegeneinander
infolge der zwischen ihnen wirkenden Kräfte be-
wegen, so muß der kinetischen Energie dieser
Atome nach den Prinzipien der Mechanik eine
ebenso große potentielle Energie gegenüberstehen,
so daß die Gesamtenergie nicht 6 sondern 7 mal
^NkT beträgt.
Mit Hilfe des statistischen Satzes gelangt man
also zu dem Resultat, daß die innere Energie der
Gase (auch der mehratomigen) proportional der
Temperatur ist, die spezifische Wärme also unab-
hängig von der Temperatur. Dieses Resultat
steht nun bedauerlicher Weise im Widerspruch
zu der Erfahrung. Es ist bei allen bisher unter-
suchten mehratomigen Gasen eine mehr oder
weniger starke Temperaturabhängigkeit gefunden
worden. Will man daher nicht von den so gut
bewährten Anschauungen der kinetischen Gas-
theorie abgehen, so ist man genötigt, den statisti-
schen Satz aufzugeben, wozu man sich in Anbe-
tracht der scheinbar sehr sicheren Grundlagen
derselben lange Zeit nicht entschließen konnte.
Erst neuerdings, als man sich davon überzeugt
hatte, daß dieser Satz auch in der Theorie der
Wärmestrahlung auf falsche Resultate führte, hat
man sich von ihm frei gemacht. Was, abgeselien
von einer anscheinend guten Begründung Veran-
lassung war, an ihm in der Gastheorie noch fest-
zuhalten, war der Umstand, daß man für ihn
keinen Ersatz kannte. Wie sollte man ohne ihn
einen Schluß auf die innere Energie der mehr-
atomigen Gase ziehen, wie ohne ihn die spezifischen
Wärmen berechnen.
Durch den Einstein'schen Versuch, die spezi-
fischen Wärmen fester Körper auf Grund der
Planck' sehen Anschauungen zu berechnen, denen
zufolge die Schwingungsenergie nur quantenmäßig,
N. F. XIII. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
731
nicht kontinuierlich weiter gegeben werden kann,
wurde zuerst N ernst dazu angeregt, auch auf die
mehratomigen Gase diese Planck 'sehe Theorie
anzuwenden. Planck hatte auf Grund der ge-
nannten Anschauungen ein Verteilungsgesetz der
Energie auf die verschiedenen Strahlungen (das
Spektrum) des schwarzen Körpers ableiten können,
nämlich eine Funktion U {v, T) von der Schwin-
gungszahl v der Strahlungsart und der Temperatur T
des strahlenden schwarzen Körpers, welche die
ausgestrahlte Energie darstellt. Warum sollte
diese Funktion nicht auch auf Atomschwingungen
anwendbar sein. Die Atombewegungen im Mole-
kül können zweifellos als Schvvingungsbewegungen
angesehen werden und es wird, wenn v die An-
zahl der Schwingungen pro Sekunde bedeutet,
nach der Planck 'sehen Formel und der Ein-
stein- Nernst' sehen Erweiterung jedem Molekül
bei der Temperatur T, außer der Energie der
Molekularbewegung selbst, die Energie zuzu-
schreiben sein:
R
N'
ßv
T
e — I
[ß eine gewisse Konstante
in der Planck'schen
Funktion).
ein Wert, der für hohe Temperaturen, da ßv
im allgemeinen eine kleine Zahl ist, in RT über-
geht, so daß sich für hohe Temperaturen derselbe
Wert der inneren Energie und der spezifischen
Wärme ergibt, den der statistische Satz liefert, in
Übereinstimmung mit der Erfahrung. Bei der
Rotationsbewegung der mehratomigen Moleküle
kann ferner die Umlaufszahl die Rolle der in der
Planck'schen Formel vorkommenden Schwin-
gungszahl übernehmen. Allem Anschein nach hat
man es hierbei allerdings nicht mit einer ein-
zigen Rotationsgeschwindigkeit zu tun, sondern
die Moleküle können sehr verschiedene Rotations-
geschwindigkeiten annehmen, die sich aber bei
konsequenter Durchführung der Planck'schen
Energiequantentheorie berechnen lassen. Jeder
der vorkommenden Rotationsgeschwindigkeiten
kommt die Energie pro Molekül zu, die die
Planck 'sehe Formel für die entsprechende
Schwingungszahl angibt. Ehrenfest hat an-
gegeben, wie man das Mittel all dieser Rotations-
energien zu bilden hat und ist dann zu einer For-
mel gelangt, die die spezifische Wärme zwei-
atomiger Gase unter der Annahme starrer Ver-
bindungen zwischen den Atomen angibt. Die
Abhängigkeit von der Temperatur wird nach den
Messungen von Eucken an Wasserstoff richtig
wiedergegeben.
Haben wir es mit Gasen zu tun, deren Mole-
küle aus beweglichen Atomen bestehen, bei denen
also translatorische, rotatorische und Schwin-
gungsbewegung zu berücksichtigen ist, so gewinnt
man die spezifische Wärme durch Kombination
der Ausdrücke, die für jede einzelne Bewegungs-
art gelten. Infolge der Kompliziertheit der Aus-
drücke hat sich noch nicht mit Sicherheit fest-
stellen lassen, ob die Anwendung der Quanten-
theorie in der skizzierten Weise wirklich den Tat-
sachen gerecht wird. Soviel läßt sich aber wohl
sagen, daß die bisherigen Erfahrungen nicht der
theoretischen Entwicklung widersprechen.
Die große Wichtigkeit dieser Untersuchungen
für die Kenntnis der Molekulareigenschaften liegt
auf der Hand; es dürfte auch kaum zweifelhaft
sein, daß die Übertragung der Energiequanten-
anschauung Plancks auf die Betrachtung des
Verhaltens der Gase den Beginn einer neuen be-
deutungsvollen Epoche in der Entwicklung der
kinetischen Gastheorie bedeutet. Ganz abgesehen
von dem Interesse an sich, würde die Kenntnis
der Abhängigkeit der spezifischen Wärmen von
der Temperatur in großer Allgemeinheit von
großem Wert für die weitere Entwicklung der
Thermodynamik sein.
Ich kann den kleinen Aufsatz nicht schließen,
ohne mit wenigen Worten auf einen eigenartigen
Versuch von Sommerfeld und Lenz hinzu-
weisen, die Eigenschaften der Gase in Anlehnung
an die moderne Theorie der festen Körper dar-
zustellen als Eigenschaften eines Kontinuums mit
nachträglichen Spezialisierungen. Dieser Versuch
ist wie die Theorie der festen Körper, ganz und
gar auf den Anschauungen aufgebaut, daß die
sämtlichen Substanzen von Wellen durchzogen
sind, die durch die Bewegungen der Moleküle zu-
stande kommen, und sehr verschiedene zum Teil
charakteristische Wellenlängen besitzen und daß die
Energie auf diese Wellenzüge gemäß dem Planck-
schen Energieverteilungsgesetz verteilt werden
muß. Es ist höchst bemerkenswert, daß diese
von der kinetischen Gastheorie völlig abweichende
Betrachtungsweise auch auf das Gesetz (5).
p = J nmc'
führt, nicht aber auf dieselbe Temperaturabhän-
gigkeit des Produktes p-v, sondern auf die Gas-
gleichung:
p.v = R.T[i-7.(T)]
wenn rp{T) ein von der Temperatur abhängendes
Korrektionsglied bedeutet, welches schon bei
mäßig hohen Temperaturen unmerklich wird.
Diese Gleichung würde besagen, daß Gase, deren
Moleküle eine vernachlässigbare Ausdehnung be-
sitzen und keine anderen als elastische Kräfte
aufeinander ausüben, im allgemeinen also als ideale
Gase betrachtet werden, bei tiefen Temperaturen
nicht der Gleichung folgen, die in der Thermo-
dynamik als Definitionsgleichung der idealen Gase
angesehen wird. Beobachtungen verschiedener
Art scheinen dieses Resultat zu bestätigen.
Clausthal. Kgl. Bergakademie.
732
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 46
Einzelberichte.
Chemie. Über die Entwicklung der graphi-
schen chemischen Formeln hieh Geh. Keg.Rat
Prof. Dr. R. Anschütz gelegenthch der 27. Haupt-
versammlung des Vereins deutscher Chemiker in
Bonn einem Vortrag, dem folgendes entnommen
ist: (Angew. Chem. 27. 46.):
In der alchemistischen Vorgeschichte unserer
Wissenschaft finden sich in den Schriften des i S-Jahr-
hunderts Zeichen für die 7 damals bekannten
Melalle, die auch die Astrologen für die 7 damals
bekannten Himmelskörper gebrauchten (Sonne,
Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn).
Dies sind noch keine graphischen Formeln, son-
dern lediglich eine nur dem Eingeweihten ver-
ständliche stenographische Abkürzung. Die ersten
graphischen Formeln führte Dal ton 1803 auf
Grund seiner Atomtheorie in die Chemie ein. Er
dachte sich die Atome der Elemente kugelförmig
und schrieb sie demgemäß als projizierte Kugeln,
als Kreise. Die verschiedenen Elemente unter-
schied er durch in den Kreisen angebrachte
Punkte und Linien, während er bei den Metallen
den Anfangsbuchstaben des Elementnamens in
den Kreis setzte. Verbindungen verschiedener
Elemente stellte er durch die einander berühren-
den Kreise der sie zusammensetzenden Atome
dar. Diese Bezeichnung der Kreise mit den An-
fangsbuchstaben der Elemente dehnte Berzellus
auf alle Elemente aus; schließlich ließ er die
Kreise weg, und so entstanden unsere chemischen
Zeichen für die Elemente, die also aus Dalton's
graphischen chemischen Formeln hervorgegangen
sind.
Damit verschwanden die graphischen Formeln
aus der Chemie, bis im Jahre 1S59 August
Kekule Dalton's Atomtheorie zur Valenztheorie
erweiterte und dabei auf sie zurückkam. Kekule
zeichnete nun für zwei-, drei- und vierwertige
Elemente die graphischen Zeichen zwei bis vier-
mal so groß als für das Einheitselement, den
Wasserstoff; in diese Zeichnungen schrieb er
dann das chemische Zeichen für das betreffende
Element. Von der Einführung dieser graphischen
Formeln sagte schon der Schwede Christian
Wilhelm Bio m Strand (sonst ein Gegner Ke-
kule s ) :
„Schon durch Einführung dieser graphischen
Formelsprache in ihrer neuen, erweiterten Form
hat Kekule ohne Frage genug geleistet, um
seine wissenschaftliche Ehre bleibend zu begrün-
den."
Kekule vereinfachte seine Formeln noch,
(1865) und diese vereinfachten Formeln wurden
dann noch von Naqu et und Bio mst rand ein-
facher gestaltet.
1861 führte Crum Brown in seiner damals
nicht veröffentlichten Dissertation und 1864 in
einer Abhandlung über Isomerie für die graphische
Darstellung der Elemente gleichgroße Kreise ein,
in deren Zentrum, wie bei Dal ton, das Zeichen
der Elemente eingeschrieben wurde. Von der
I^eripherie dieser Kreise gingen so viel Striche
aus, als der Valenz des Elementes entspricht.
Aus diesen graphischen Formeln entstanden
durch Weglassung der Kreise unsere Struktur-
formeln. Strukturformeln dieser Art wandte zu-
erst 1858 Archibald Scott Couper an.
Auf einer anderen Grundidee beruhen Lo li-
sch midt's graphische Formeln, die in einer
höchst seltenen, 1861 von Lohschmidt her-
ausgegebenen Schrift „Chemische Studien" ent-
halten sind, welche erst neuerdings wieder auf-
gefunden worden ist. Er stellte sich vor, die
Atome der Elemente seien von Anziehungssphären
umhüllt, die projiziert sich bei einfacher Bindung
berühren, bei mehrfacher Bindung aber schneiden.
In letzterem Falle stellte Lohschmidt als erster
zur Kennzeichnung der doppelten oder dreifachen
Bindung zwei oder drei Striche in den Aus-
schnitt.
Kekule verwendet seine vereinfachten gra-
phischen Formeln zuerst in seiner berühmten
Abhandlung über die Theorie der aromalischen
Substanzen. (Bulletin de la soicete chimique de
Paris 27. I. 1865, ein Jahr später erweitert in
Liebig's Annalen 2. 1866.) c Mittlerweile hatte er
seine Gedanken über graphische Darstellung des
Benzolkernes weiterentwicklt, für den er jetzt ein
Sechseck zeichnet mit Hinweglassung der Kohlen-
stoffatome.
Wenn auch diese Strukturformeln über Neben-
bindungen, die Reaktionen beeinflussen, Bindungs-
lockerung usw. nichts aussagen, so veranschau-
lichen sie uns dennoch den Bau der Moleküle
auch unserer am verwickeisten zusammengesetzten
Kohlenstoffverbindungen und sind uns hierfür
gerade unentbehrlich. Otto Bürger.
Über das Scandium. — Das Scandium, ein
im Jahre 1879 von Nilson aufgefundenes, zur
Gruppe der seltenen Erden gehöriges Element,
wurde bis in die neueste Zeit als außerordentlich
selten angesehen. Nilson selber hatte aus 10 kg
Euxenit nur 2 g Scandiumoxyd Sc.^O., gewonnen,
und Cleve, der sich wenig später mit dem neuen
Element beschäftigte, hatte aus 4 kg Gadolinit
0,8 g und aus 3 kg Yttrotitanit 1,2 g Sc^Og iso-
liert. Die aus diesem Mangel an Material sich
ergebende Unmöglichkeit, tiefer in die reine und
die physikaliche Chemie des Elementes einzu-
dringen, wurde besonders lebhaft empfunden, weil
das Scandium von allen seltenen Erden die mit
dem niedrigsten Atomgewicht ist und — wohl
aus diesem Grunde — in seinem Verhalten ihnen
gegenüber eine Ausnahmestellung einnimmt. So
mußte sich denn R.J.Meyer, der in seiner ausge-
zeichneten Monographie über die seltenen Erden
(Ab egg 's Handbuch der anorganischen Chemie,
Bd. III, Abteilung i) auch die bis zum Jahre 1906
erhaltenen Ergebnisse in der Erforschung des
N. F. XIII. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
733
Scandiums zusammengefaßt hat, mit dem Hinweis
begnügen, daß „eine gründliche Neuuntersiichung
dieses Elements, die leider durch die große
Schwierigkeit ausreichender Mengen reinen Ma-
terials erschwert wird, von großem Interesse"
wäre, ein Hinweis, der — ebenfalls in Abegg's
Handbuch — von Brauner durch die Bemerkung
„Das Scandium würde einen ungemein dankbaren
Gegenstand für moderne physikalisch- chemische
Untersuchungen vorstellen" noch unterstrichen wird.
Rascher, als zu erwarten war, hat sich der
Wunsch nach einer gründlichen Neuuntersuchung
des Scandiums erfüllt. Im Jahre igo8 wurde
durch die ausgedehnten spektrographischen Ar-
beiten von G. Eberhard (Sitzungsber. d. Preuß.
Akad. d. Wissensch. Jahrg. 1908, S. 851 und Jahrg.
1910, S. 404), die sich auf S25 Proben von Mine-
ralien und Gesteinen verschiedenster Herkunft
erstreckten, festgestellt, daß das Scandium in fast
allen Gesteinen, aus denen die Erdkruste zusammen-
gesetzt ist, wenn auch immer nur als akzesso-
rischer Bestandteil vorhanden ist und aus manchen
von ihnen auch verhältnismäßig leicht in größeren
Mengen gewonnen werden kann. Ein eigent-
liches Scandiumerz ist bisher nicht bekannt.
Zwischen der mineralogischen und geologischen
Art der Mineralien und Gesteine und ihrem Scan-
diumgehalt haben sich bisher nur wenige Be-
ziehungen auffinden lernen. Nur soviel läßt sich
sagen, daß die Mehrzahl der Mineralien, die Scan-
dium in relativ erheblichen Mengen führen, peg-
matitischen Ursprungs sind und — nach einer
systematischen Untersuchung von Eberhard in
dem durch den Jahrhunderte alten Bergbau weit-
gehend aufgeschlossenen Granit des Erzgebirges
— die pneumatolytisch veränderten Gesteine das
Scandium angereichert erhalten. Es ist also an-
zunehmen, daß das Scandium erst nachträglich
in die Gesteine eingewandert ist, eine Annahme,
die durch die Tatsache gestützt wird, daß der
Scandiumgehalt der Gesteine vielfach ihrem
Lithiumgehalt parallel geht. In welcher Form
das Scandium eingewandert ist, ist nicht mit
Sicherheit bekannt, nach R. J. Meyer dürfte es
in Form des verhältnismäßig leicht flüchtigen
Chlorids geschehen sein. Mit den anderen seltenen
Erden ist das Scandium häufig, aber keineswegs
immer vergesellschaftet, ein Hinweis auf die bereits
erwähnte Ausnahmestellung, die das Scandium
unter den seltenen Erden einnimmt.
Als Ausgangsmaterial für die Darstellung der
Scandiumerde ScjO., kommt zurzeit nur der
Wolframit des einen der beiden großen Granit-
eruptionsgebiete im Erzgebirge, der von Zinn-
wald-Altenburg und von der Kupfergrube Sadis-
dorf bei Schmiedeberg in Frage. Hingegen sind
-- diese Tatsache ist bemerkenswert — die Gra-
nite und Erze des zweiten der beiden Haupt-
eruptionsgebiete, die von Neudeck und Eibenstock,
nicht reicher an Scandium als die große Reihe
jener anderen wenig Scandium führenden Gesteine
und Mineralien, Die Wolfsramite von Zinnwald
und Sadisdorf enthalten neben 3 bis 4 "/(, Thorium
etwa 0,25 "/(, seltene Erden, und von diesen sind
etwa 0,15"/,,, also etwaöo"/,, der Gesamtmengen
der seltenen Erden, Scandiumoxyd. Bei der
technischen Verarbeitung des Wolframits, die
durch Aufschluß mit Soda und Auslaugen des ge-
bildeten Natriumwolframats mit Wasser geschieht,
bleiben die seltenen Erden bei dem unlöslichen
Eisen- und Manganoxyd zurück, und es empfiehlt
sich daher, anstelle des ursprünglichen Erzes
diese — käuflichen — Rückstände als eigentliches
Ausgangsmaterial zu benutzen. Aus 1000 kg
der O.xyde erhält man bis zu 3 kg Scandium-
oxyd.
Die Isolierung des Scandiums geschieht in fol-
gender Weise: Die das Scandium enthaltenden
Eisen-Mangan-Oxyde werden in Salzsäure gelöst;
zu der Lösung wird das Natriumsilikofluorid NaoSiF,;
gegeben. Dabei fallen, - von den Einzelheiten
sei hier abgesehen — die E'luoride vom Scandium
und vom Thorium gemeinschaftlich aus, und die
weitere, schwierige Aufgabe besteht nun darin,
nach der Reinigung des Gemisches von Scan-
dium und Thorium, bei der es vor allen Dingen
auf die Entfernung der letzten Sj^uren der anderen
seltenen Erden ankommt, diese beiden Elemente
quantitativ zu trennen. Zur Lösung dieser Aufgabe
stehen fünf Verfahren zur Verfügung, von denen
das erste allerdings kaum eine praktische Bedeutung
besitzt.
1. Da das Thoriumchlorid etwas leichter
flüchtig ist als das Scandiumchlorid, kann man
aus einem Gemisch von Thorium- und Scandium-
oxyd das Thoriumoxj'd mittels eines mit Schwefel-
chlorür beladenen Chlorstromes in das Chlorid
verwandeln und absublimieren. Das Scandium-
chlorid bleibt zurück.
2. Kocht man eine thoriumhaltige Scandium-
lösung mit überschüssiger Soda, so scheidet sich
das schwerlösliche krystallisierte Komplexsalz
Sc.,Nag(COg )-.6H.,0 ab, während das Thorium als
Natriumthoriumkarbonat gelöst bleibt.
3. Wie die anderen Yttererden wird auch das
Scandium aus weinsaurer Lösung mit Ammoniak
als schwerlösliches komplexes Tartrat gefällt,
während der entsprechende Thoriumkomplex leicht
löslich ist.
4. Im Gegensatz zum Scandium wird das
Thorium aus stark salpetersaurer Lösung durch
jodsaures Kalium als Jodat gefällt.
5. Wird die neutrale Lösung der Chloride von
Scandium und Thorium mit einem Überschuß von
Ammoniumfluorid behandelt, so fällt Thorium-
fluorid aus, während sich das in Wasser ebenfalls
schwer lösliche Scandiumfluorid im Überschuß
des Fällungsmittels wieder löst.
E"ür die Reindarstellung größerer Mengen von
Scandiumoxyd eignen sich vor allen Dingen das
zweite und dritte Verfahren, während die beiden
anderen Verfahren hauptsächlich für die Entfernung
der letzten Spuren von Thorium aus dem Scan-
dium von Wert sind.
734
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 46
Das Scaiidium wird gewöhnlich zu den seltenen
Erden und zwar insbesondere zu den ^'ttererden
gerechnet, indessen unterscheidet es sich doch
in einer so großen Reihe von wesentlichen
Punkten von ihnen, daß die Ansicht einiger Au-
toren, das Scandium sei überhaupt kein eigent-
liches Erdmetall, es sei vielmehr neben das ihm
in der Tat in vielfacher Hinsicht nahe verwandte
Beryllium zu stellen, verständlich erscheint. Die
Merkmale, die das Scandium von den Erden
trennen, liegen in seinem erheblich stärker aus-
geprägten negativen Charakter. So haben die
Scandiumsalze eine viel stärkere Tendenz einer-
seits zu hydrolytischer Spaltung, andererseits zur
Bildung von Komi)lcxverbindungen als die anderen
Erden. Von Aluminium unterscheidet sich das
Scandium dadurch, daß sein Hydroxyd gleich den
Hydroxyden der anderen seltenen Erden in
über schüssiger Kali- oder Natronlauge nicht
löslich ist. Von wichtigeren Komplexbildungen
des Scandiums ist vor allen Dingen das stark
komplexe Ammoniumscandiumfluorid (NHJjScF^
zu nennen, das auch in der Siedehitze durch Am-
moniak nicht zersetzt wird; es entspricht dies Salz
zwei bekannten Salzen der Aluminiumfluorwasser-
stoti'säure, nämlich dem bekannten Mineral Kryolith
NagAlFß und dem für den Analytiker wichtigen
Ammoniumsalz (NHj)^ A1I\.
Stimmung des etwa bei 44 liegenden Atomge-
gewichtes und zweitens die Darstellung des freien
Elementes, selbst zu nennen. Versuche, auch diese
beiden Aufgaben noch zu lösen, sind in Angriff
genommen. Mg.
Anthropologie. Tasmaniermischlinge. Die
Eingeborenen der Insel Tasmanien, die dem austra-
lischen Kontinent im Südosten vorgelagert ist,
sind einige Jahrzehnte nach dem Beginne der
britischen Besiedelung der Insel ausgestorben.
Der letzte reinrassige Mann soll 1865 und die
letzte reinrassige Frau soll 1877 gestorben sein.
Mischlinge von Tasmaniern und Europäern haben
sich jedoch auf Tasmanien selbst, sowie auf den
Inseln der Bass-Straße (zwischen dem australischen
Kontinent und Tasmanien) erhalten. Ihre Zahl
beträgt einige Hundert. Sie haben die europäische
Kultur angenommen und leben unter der übrigen
Bevölkerung. Da das tasmanische Element im
Vergleich mit dem europäischen nur ganz schwach
vertreten ist, so darf man erwarten, daß Körper-
merkmale, die an die Tasmanierrasse erinnern,
immer seltener werden. Wie bei anderen Bastar-
den, so fällt auch in dem Falle auf, daß manche
Mischlinge sehr den Europäern und andere wieder
den Tasmaniern ähnlich sehen. Dabei kommt es
nicht allein auf den Grad der Blutmischung an;
f'g- I-
Europäer - Tasmanicrraischling.
Fig. 2.
Europäer -Tasmanicr- Australiermischling
Fig. 3. Europäer -Tasmanier-
Australiermischling.
Der vorstehende Bericht ist in enger An-
lehnung an eine zusammenfassende, aber auch
viel Neues bringende, an Einzelheiten reiche Ab-
handlung von R.J.Meyer (Zeitschr. f. anorg. Chemie
Bd. 86, S. 257 — 290, 1914), dessen in den
letzten Jahren durchgeführten, gründlichen Unter-
suchungen helles Licht in die bislang so dunkle
Scandiumchemie gebracht haben, niedergeschrieben.
Als wichtige Aufgaben, die für die Chemie des
Scandiums noch zu lösen sind, sind nach Meyer
— darauf sei zum Schluß noch hingewiesen —
vor allen Dingen zwei, erstens die genaue Be-
es kann sogar vorkommen, daß Geschwister
einen verschiedenen Rassentypus aufweisen. So
berichtet z. B. L. W. G. Büchner in der Zeit-
schrift für Ethnologie ') über die Mischlingsfamilie
Thomas von der Kap Barren-Insel in der Bass-
Straße. Die Familie ging aus der Ehe eines See-
mannes aus Cardiff (Wales) und einer Vollblut-
tasmanierin hervor; die Stammeltcrn hatten fünf
Kinder, von welchen noch der Halbblut-Tasmanier
Phil. Thomas überlebt, dessen Züge deutlich die
•) Zeitschr. f. Ethnologie, 45. Jahrg., S. 932—934-
N. F. XIII. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
'35
mütterliche Stammrasse verraten (siehe Abb. 1).
Phil. Thomas ist 1833 geboren. Büchner sagt,
daß dieser Mischling in bezug auf geistige Be-
fähigung die übrigen Insulaner weit überragt. Kr
war zweimal verheiratet. Seine zweite Frau war
eine Halbblut-Australierin (Australnegerin) und mit
dieser hatte er neun Kinder. Einer der Nach-
kommen ist John Thomas {40 Jahre), der wieder
eine Tasmaniermischlingsfrau heiratet, die drei
Viertel europäisches und ein Viertel tasmanisches
Blut hat. Der Khe waren zur Zeit der Beobach-
tung Büchner' s drei Kinder entsprossen, wovon
das älteste, ein 10 jähriges Mädchen, ganz euro-
päisch aussieht (Abb. 2), während ihr /jähriger
iSruder dem Eingeborenen-Typus näher kommt
(Abb. 3). Das dritte Kind, ein Mädchen, nimmt
eine Mittelstellung zwischen den beiden ein.
Mischlinge wie dieses lojährige Mädchen wer-
den, sobald sie mit einer reinblütigen europäischen
Person verheiratet oder selbständig geworden $ind,
bei den Volkszählungen wahrscheinlich als Euro-
päer eingetragen, da der Zählbeamte nicht durch
die Anwesenheit tasmanierähnlicher Eltern oder
Geschwister auf den Gedanken gebracht wird, daß
er einen Mischling vor sich hat; die Mischlinge
ihrerseits aber verschweigen nur zu gern ihre Ab-
stammung von Farbigen. Auf diese Weise kommt
es, daß die Zahl der amtlich festgestellten Misch-
linge unter der tatsächlichen Zahl zurückbleibt.
Von großem Interesse wäre es gewesen, über
die Kinderzahl der Geschwister von Phil.
Thomas und John Thomas etwas zu erfahren, so
daß sich die PVuchtbarkeit der Mischehen ermessen
ließe. Bedauerlicherweise macht aber Büchner
hierüber keine Angaben.
H. P'ehlinger.
Kleinere Mitteilungen.
desselben. Auch muß man darauf achten, daß sich auf
der Spiegelglasscheibe keine Reflexe bilden. Da
ferner der Hintergrund hierbei genügend unscharf
wird, so ist es auch weit leichter passendes Ma-
terial hierfür und in der geeigneten Farbe zu fin-
den. Max Frank, (M. A. S.).
Ein neues Verfahren zur Unschädlichmachung
und Wiedergewinnung von Abfallauge haben die
Lochnerwerke G. m. b. H. in Gera-R. erfunden. Die
Bestrebungen der Behörden zielen seit einigen
Jahren darauf hin, die P'abrikwässer nicht mehr
aufwiesen oder in die Gewässer abzulassen, son-
dern sie sofort zu vernichten, um auf diesem
Wege die ungeheure Schädigung zu beseitigen,
die durch die Verunreinigung der Gewässer an
Flora und Fauna (Fischerei z. B.) entsteht. In
der Tat haben die Verfügungen der Behörden den
meisten Fabriken die Frage der Abwässerbeseiti-
gung zur Existenzfrage gemacht, so daß sie heute
zu der Vernichtung ihrer Ablaugen übergehen
müssen. Bisher wurde nun ein Verfahren ange-
wandt, welches durch Einbringen der Lauge in
entsprechende < )fen lediglich ein Verdampfen und
Unschädlichmachen bezweckte, ohne daß eine
weitere Verwendung der Reste in Aussicht ge-
nommen wurde. Dieses Verfahren ist natürlich
wenig zweckentsprechend, weil es verhältnißmäßig
hohe Betriebskosten erfordert, denen kein Äqui-
valent in Form einer Wiederverwertung dieser
Stoffe gegenübersteht. Um letzterem Übelstande
die Objekte unmittelbar auf den als Hintergrund abzuhelfen, verbrennen die Lochnerwerke die Ab-
dienenden Untergrund zu legen, oder sie an den laugen in einem speziell gebauten Ofen, wodurch
Hindergrund zu befestigen, legt man sie auf eine rein die Lauge in ihren UrstofF zurückgebracht werden
geputzte Spiegclglasscheibe oder befestigt sie daran, soll. Durch Zusatz geeigneter Chemikalien kann
In einiger Entfernung darunter oder dahinter bringt dieser Prozeß erleichtert und beschleunigt werden,
man dann den als eigentlichen Hintergrund wir- In einem Versuchsofen der genannten Firma
kenden Stoff, Karton oder dergleichen, an und wurde die Lauge einer Fabrik benutzt, welche
richtet die Beleuchtung so ein, daß die Schag- Ätznatron verarbeitet, und zwar ist die Lauge
schatten nicht auf diesen fallen, sondern außerhalb verunreinigt mit Natriumkarbonat und organischen
Aufnahmen von kleinen Naturobjekten, Schmet-
terlingen, Käfern, Muscheln, Mineralien und der-
gleichen. Solche Gegenstände lassen sich meist
schlecht an einer senkrechten Fläche anbringen,
um sie in der gewohnten Weise photographieren
zu können. Alan legt sie daher auf eine pas-
sende Unterlage und macht dann die Aufnahme
von oben herab, wobei die Unterlage als Hinter-
grund dient. Es gibt besonders Stativköpfe, die
einesenkrechteRichtung des Apparates ermöglichen,
sonst kann man sich auch in der Weise helfen, daß
man die Stativbeine (eines Holzstatives) an ein
größeres Brett schraubt , das in der Mitte eine
runde Öffnung hat. Durch dieses läßt man dann
das Objektiv des darauf gelegten Apparates ragen.
Man kann sich aber auch damit behelfen, daß
man das Brett auf die Beine eines umgestellten,
genügend hohen Schemels stellt und das Objekt
nötigenfalls unterlegt, um die richtige Entfernung
der Linse zu erhalten. Leichtere Objekte können
aber auch mit einem ganz feinen Neusilberdraht
aufgehangen oder mit Wachs an einer senkrechten
Hintergrundfläche befestigt werden. Oft ist es
sehr erwünscht, daß die Schlagschatten unsichtbar
bleiben, weil diese einem klaren Erkennen der
genauen Umrisse, besonders wenn an der Photo-
graphie Abmessungen vorgenommen werden sollen,
sehr im Wege sind. Es gibt nun ein sehr prak-
tisches Mittel, die Schlagschatten zu vermeiden,
das sich sowohl bei der horizontalen wie bei der
vertikalen Photographie anwenden läßt. Anstatt
736
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 46
Substanzen. Anstatt nun die Lauge durch Ein-
dampfen oder Ableiten zu verlieren, wird sie in
dem Ofen einem Verbrennungsprozeß unterzogen,
wobei sich die organischen Substanzen entzünden,
durch ihre Verbrennung das Verdunsten des
Laugenwassers begünstigen und so die Kosten
verringern. — Als l'rodukt des Vorgangs erhält
man einen festen Stoff, der wieder zur Laugen-
bereitung verwendet werden kann, da er die ent-
sprechenden Prozente an Natriumhydroxyd ent-
hält. Auch kann man das Produkt nach Wunsch
und Bedarf den verschiedenen P'ächern des Ofens
in verschiedener Oualität entnehmen.
Der Ofen läßt sich auch noch zu anderen
Zwecken verwenden. So wurde in einem See
natürlich vorkommendes schwefelsaures Natron
(SOjNa^ • loHoO) in die wasserfreie I-'orm über-
geführt.
Da sich dieses Verfahren auf sehr billigem
Wege durchführen läßt, und täglich eine beträcht-
liche Menge Abfallauge auf den gewünschten
Reinheitsgrad gebracht werden kann, so dürfte
die erwähnte Ofenkonstruktion in weiten Kreisen
der chemischen Industrie (Färbereien, Bleichereien,
Zellulosefabriken usw.) Anklang finden.
Otto Bürger.
Grünvogel. Edwin, Geologische Unter-
suchungen auf der Hohenzollernalb.
Inauguraldissertation Tübingen. Ellwangen-Jagst.
Buchdruckerei „Ipf- und Jagst-Zeitung" 1914.
78 S. I Tafel mit 10 Profilen, i Tafel Nachweise
und eine geologisciie Karte.
Vorliegende Arbeit behandelt die landschaft-
lich so reizende westliche Hohenzollernalb, die am
nordwestlichen .Steilrand der Schwäbischen Alb,
südlich von dem mit dem stolzen Stammschloß
des Hohenzollernhauses gekrönten Hohenzollern
gelegen ist. Die tief in die Albtafeln einge-
schnittenen 3 l'lußsysteme der Eyach, Starzel
und Schmiecha bedingen eine reiche Gliederung
des Gebietes. Wie bei allen Albflüssen, so zeigt
sich auch hier die Überlegenheit des jüngeren
Neckarsystems (Eyach, Starzel) gegenüber dem
älteren Donaus\-stem (Schmiecha), das immer
weiter nach SO zurückgedrängt wird.
Am Aufbau des Gebies beteiligen sich Schichten
des oberen Braunen Jura und des ganzen Weißen
Jura. Verfasser schließt sich bei Besprechung
des Weißen Jura der landesüblichen Einteilung
nach Quenstedt und Engel an, folgt indessen
neueren Untersuchungen von Haizmann und
Schmierer in der Auffassung der Stufen (5 u. f,
die zusammen zur Zone des Ammonites pseudo-
mutabilis vereinigt werden.
Die sonst in der Albtafel herrschenden ein-
fachen Lagerungsverhältnisse mit einem schwachen
Einfallen nach SO werden durch einen i'/., km
breiten und über 8 km langen von NW nach SO
verlaufenden Grabenbruch von im Maximum 135 m
Sprunghöhe unterbrochen. In der weiteren Fort-
setzung der Grabenbruchverwerfungen nach NW
liegt der isolierte Bergkegel (Vorberg) des Hohen-
zollern, welcher durch eine Ouerverwerfung zwischen
Zollern und Zellerhorn seine eigenartige Form
erhalten hat. V^on besonderer Bedeutung ist der
Einfluß der Tektonik auf die Gestaltung der Land-
schaft wie auch auf die hydrologischen Verhältnisse.
Büclierbesprechungen.
Erwähnt sei noch, daß in unser Gebiet die stärk-
sten Erschütterungen und Verheerungen des süd-
deutschen Erdbebens vom 16. November 191 1
fallen.
Die reich illustrierte Arbeit trägt wesentlich
bei zum Verständnis des geologischen und mor-
phologischen Baues der dortigen Gegend.
V. Hohenstein.
Dr. Albert Moll (Herausgeber) : Handbuch der
Sexualwissenschaften. XXIV und 1029 Seiten,
mit 418 Abbildungen und 11 Tafeln. Leipzig,
Vogel. — Preis 20 Mk.
Das vorliegende umfangreiche Handbuch be-
steht aus einer Reihe von Beiträgen verschiedener
Autoren, deren jeder über einen oder mehrere Gegen-
stände schreibt, mit denen er besonders ver-
traut ist. Im I. .Abschnitt, der 170 Seiten um-
faßt, behandelt Richard Weißenberg in treff-
licher Weise Anatomie und Physiologie der mensch-
lichen (xcnitalapparate. Daran schließt sich eine
weniger umfangreiche aber ebenso geistvolle Ab-
handlung über die Psychologie des normalen
Geschlechtstriebs, die H. E 1 1 i s beigetragen hat.
Dieser Autor und der Herausgeber beschreiben
ausführlich die Funktionsstörungen des .Sexual-
lebens (138 Seiten), Georg Buschan hat über
das Sexuelle in der Völkerkunde einen Beitrag
geliefert, und der Herausgeber beleuciitet die so-
zialen F'ormen der sexuellen Beziehungen speziell
bei den europäischen Kulturvölkern. Auch der
Abschnitt über Sexuelle Hygiene stammt vom
Herausgeber selbst. Die Geschlechtskrankheiten
hat ein Aufsatz von K. Z i e 1 e r zum Gegenstand.
Dazu kommen noch einige andere Abschnitte,
die außerhalb des Bereichs der Naturwissenschaften
fallen. Die jüngsten Forschungen auf den ver-
schiedenen Gebieten sind durchweg berücksichtigt.
Jedem Abschnitt ist auch ein Verzeichnis der
wichtigsten einschlägigen Literatur begegeben.
1 1. P'ehlincrer.
Inhsits Valentiner: Probleme der Gastheorie. — Einzelberichte: Anschütz; Über die Entwicklung der graphischen
chemischen Formeln. R.J.Meyer: Über das Scandium. Büchner: Tasmaniermischlinge. — Kleinere Mitteilungen :
Frank: Aufnahmen von kleinen Naturobjekten, Schmetterlingen, Käfern, Muscheln, Mineralien u. dgl. Bürger: Ein
neues Verfahren zur Unschädlichmachung und Wiedergewinnung von Abfallauge. — Bücherbesprechungen: Grün-
vogel: Geologische Untersuchungen auf der Hohenzollernalb. Moll: Handbuch der Sexualwissenschaften.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Schriftleiter Professor Dr. H. Mi ehe in Leipzig, Marienstraße IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippcrt & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 22. November 1914.
Nummer 4'?.
Die Temperaturverhältnisse der Polargebiete.
[Nachdruck verboten.
Von O. Baschin.
I. Allgemeine Grundlagen.
Von altersher sind wir gewohnt die Pole der
Erde und ihre Umgebung als die kältesten
Gegenden unseres Planeten zu betrachten. Da-
gegen herrschte über den Grad der Kälte, den
man dort zu erwarten hatte, bis vor zwei Jahrzehnten
noch eine ziemlich weitgehende Unsicherheit, die
für das Nordpolargebiet erst durch Fridtjof
Nansen 's epochemachende Durchquerung des
arktischen Ozeans mit der „Fram", für das Süd-
polargebiet durch die neuesten Expeditionen von
Shackleton, Amundsen und Scott ver-
mindert worden ist.
Die über alle Erwartung niedrigen Tempera-
turen in der Antarktis, welche von Amundsen
zuerst gemeldet und in dieser Zeitschrift bereits
kurz erwähnt wurden '), haben nun die Aufmerk-
samkeit weiterer Kreise auf die Temperaturver-
hältnisse in der Umgebung der Pole gelenkt, aber
dem Fachmann, der in dieser Frage häufig inter-
pelliert wird, ist es nur in seltenen Fällen möglich
eine völlig erschöpfende Antwort zu erteilen, weil
nicht immer eine genügende Orientierung über
die Grundlagen der Temperaturverteilung auf
unserer Erdoberfläche vorausgesetzt werden darf.
Es scheint mir daher nicht überflüssig zu sein
hier einen Überblick über dieselben, soweit die
Polargebiete in Frage kommen, zu geben.
Außer der im Laufe eines Tages sich voll-
ziehenden Drehung der Erde um ihre Achse
(Rotation), vollführt unser Planet noch eine zweite
Bewegung, die Revolution um die Sonne, indem
er in einem Jahre eine elliptische Bahn um den
im Brennpunkt derselben stehenden Zentralkörper
beschreibt.
Die halbe große Achse dieser Ellipse ist rund
152 Millionen Kilometer lang, während die halbe
kleine Achse um etwa 5 Millionen Kilometer kürzer
ist. Bei der Revolution erscheint naturgemäß
die Sonne, von der Erde aus gesehen, zu den
einzelnen Jahreszeiten an verschiedenen Punkten
des Himmelsgewölbes, die sich im Laufe des
Jahres zu einem Kreis zusammenschließen, den
man den Tierkreis nennt, weil die Namen der
von dem Kreis geschnittenen Sternbilder zumeist
dem Tierreich entnommen sind. Die durch den
Tierkreis gelegte Ebene, in deren Mitte die Sonne
steht, und in welcher die Erde ihre Revolution
um die Sonne ausführt, erhielt den Namen
Ekliptik, weil Sonnen- und Mondfinsternisse nur
dann möglich sind, wenn auch der Mond sich
') Naturwissenschaftliche Wochenschrift, 1912, XXVII.
Bd., S. 450—451.
in der gleichen Ebene befindet, so daß ein ,, Aus-
bleiben" (r/lenlug) von Sonne oder Mond ein-
treten kann. Würde nun die Erdachse, um welche
die Erde rotiert, senkrecht auf der Ebene der
Ekliptik stehen, diese also mit der Äquatorebene
zusammenfallen, so müßte die Sonne dauernd in
der Ebene des Erdäquators, an den Polen also
stets im Horizont stehen. Ein Wechsel der Jahres-
zeiten in dem heutigen Sinne wäre dann an keinem
Punkt der Erde möglich.
In Wirklichkeit aber bildet die Äquatorebene
mit der Ebene der Ekliptik oder, was dasselbe
bedeutet, die Erdachse mit der Achse der Ekliptik,
einen Winkel von ungefähr 23 '/.j ". Dazu kommt
noch , daß die Erdachse die Richtung dieser
Neigung im Räume während der Revolution um
die Sonne unverändert beibehält, so daß im Juni
der Nordpol der Erde der Sonne zugekehrt ist,
im Dezember dagegen der Südpol. Am besten
veranschaulicht man sich diese Vorgänge an der
Hand schematischer graphischer Darstellungen
unseres Sonnensystems, die heute in jedem besseren
Schulatlas zu finden sind, oder mit Hilfe kleiner
Modelle. Man erkennt dann leicht, daß die
Sonnenstrahlen während der, jetzt auf den 22. Juni
fallenden Sommer-Sonnenwende (Sommer-Solsti-
tium), der nördlichen Halbkugel, d. h. dem Zeit-
punkt, an welchem die Erdachse ihren Nordpol
gerade der Sonne zukehrt, nicht diesen Punkt
gerade noch tangieren, wie es bei senkrechter
Stellung der Erdachse auf der Erdbahn der Fall
wäre. Sie bescheinen vielmehr über den Pol
hinaus ein größeres Gebiet, und der beschattete
Teil der Erde, die Nachtseite, beginnt von der
Sonne aus gesehen, erst weit jenseits des Nord-
pols. Es ist nun einleuchtend, daß die Umgebung
des Nordpols, die am Sommer-Solstitium bei der
Rotation der Erde um ihre Achse nicht in den
Schatten eintaucht, um so größer sein muß, je
größer die Neigung der Erdachse gegen die Achse
der Ekliptik, die sog. Schiefe der Ekliptik ist.
Der Halbmesser des Gebietes, das im Sommer-
Solstitium 24 Stunden hindurch ununterbrochen
von der Sonne beschienen wird, ist, in Bogen-
graden gemessen, genau gleich der Schiefe der
Ekliptik, wobei wir allerdings von der durch die
Lufthülle der Erde verursachten Krümmung der
Sonnenstrahlen absehen müssen. Die Strahlen-
brechung (Refraktion) bewirkt nämlich, daß die
Sonnenstrahlen eine nach der Erde zu konkave
Krümmung annehmen und deshalb die Erdober-
fläche auch da noch treffen, wo die Sonne in
Wirklichkeit schon unter dem Horizont steht.
Die Größe der Refraktion wechselt aber beträcht-
738
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 47
lieh, je nach dem gerade herrschenden Zustand
der Atmosphäre, so daß man bei diesen allge-
meinen Betrachtungen von ihr absehen und einen
gradlinigen Verlauf der Sonnenstrahlen voraus-
setzen muß. Bestimmen wir unter dieser ver-
einfachenden Annahme die Grenze der beim
Sommer-Solstitium von der Sonne beschienenen
Zone um den Nordpol, so finden wir, daß sie
von einem Kreise begrenzt wird, der einen Radius
von ebensoviel Bogengraden hat als die Schiefe
der Ekliptik beträgt. Dieser Kreis heißt der
Nordpolarkreis und die von ihm umschlossene
Zone der Erdoberfläche die Nordpolarzone. Die
Südpolarzone ist die analoge, gleichzeitig im
Schatten liegende Zone um den Südpol, die durch
den Südpolarkreis abgegrenzt wird.
Nebenbei sei noch bemerkt , daß die Schiefe
der Ekliptik nicht konstant ist, daß sie vielmehr
eine kleine periodische, in 1 8,6 Jahren ablaufende
Schwankung und außerdem eine säkulare Ände-
rung hat, die sich zurzeit in einer Abnahme äußert.
Daraus folgt, daß die Polarkreise keine feste Lage
auf der Erdoberfläche haben, sondern um Beträge,
die in einem Monat mehrereMeter ausmachen können,
sich den Polen nähern. Die Polarzonen verlieren
also dementsprechend an Flächeninhalt zugunsten
der gemäßigten Zonen. Um nun den Unzuträglich-
keiten zu entgehen , welche durch die Berück-
sichtigung solcher fortgesetzten Änderungen von
wechselnder Größe hervorgerufen werden , pflegt
man bei geographischen Betrachtungen diese
kleinen , praktisch kaum ins Gewicht fallenden
Verschiebungen zu vernachlässigen und nimmt
als mittlere Lage der Polarkreise die geographische
Breite von 66 ^'o " an , was einer Schiefe der
Ekliptik von 23 '/.> " entspricht. Der genaue Wert
derselben für den Beginn des Jahres 191 5 ist
23" 27' 8".56 und für Anfang 1916 23 " 27' 6".I4.
Würde die Erde ihren Umlauf um die Sonne
in einer Kreisbahn vollenden, so wären Tag und
Nacht in beiden Polargebieten gleich lang und
müßten an den Polen je 6 Monate dauern. Da
die Revolution jedoch in einer elliptischen Bahn
erfolgt, so wird die Geschwindigkeit, mit welcher
die Erde diesen Umlauf ausführt, nach den all-
gemeinen Anziehungsgesetzen um so größer, je
mehr sie sich der Sonne nähert. Die Erde läuft
also in der Zeit vom September zum März, in
welcher sie sich in größerer Nähe der Sonne be-
findet, schneller als in den Monaten März bis
September, in denen sie weiter von ihr entfernt
ist. So erklärt es sich , daß der in den ersten
Zeitraum fallende Winter der nördlichen Halb-
kugel um mehrere Tage kürzer ist als der in
der zweitgenannten Zeit herrschende Winter der
südlichen Halbkugel. Da zudem das Winter-
solstitium der nördlichen Halbkugel nicht genau
mit der Sonnennähe, das Sonnensolstitium nicht
genau mit der Sonnenferne zusammenfällt, so er-
geben sich die folgenden Tages-, bzw. Nachtlängen
in den Polargebieten.
In n ö r d 1. B r. geht d. Sonnenmittelp. nicht unter, nichtauf
70° 64 Tage 61 Tage
75" 106 „ 97 „
So" 134 „ 127 „
85" t6i „ 1S3 „
90" 186 ,, 179 „
In s U d 1. B r. geht d. Sonnenmittelp. nicht auf, nichtunter
Bei dieser Tabelle gilt die Überschrift für die
Nordpolarzone, die Unterschrift für die Süd-
polarzone.
Wir sehen also, daß die Nacht am Nordpol
um 7 Tage kürzer ist als der Tag, während es
am Südpol umgekehrt ist. Eine nicht unwesent-
liche Änderung erleiden aber diese Werte dadurch,
daß die Größe der Sonnenscheibe eine Beleuch-
tung schon vor dem Aufgang des Sonnenmittel-
punktes und auch noch nach dessen Untergang
bewirkt, so daß die wirklichen Tageslängen
sämtlich zunehmen, während die Dauer der Nacht-
zeiten verkürzt wird. Diese Änderung ist aber,
ebenso wie der Einfluß der auf Seite ']})'] er-
wähnten Strahlenbrechung von wechselnder Größe,
weshalb die wirkliche Dauer des Tages im land-
läufigen Sinne nur durch komplizierte Rechnungen
ermittelt werden kann. Die von H. Mohn') für
den Nordpol angestellten Berechnungen haben
nun zu folgenden Ergebnissen geführt:
Die absolute Dunkelheit endet am i. Februar,
wenn der Scheitel des Dämmerungsbogens über
den Horizont steigt. Am 17. März taucht der
obere Rand der Sonne über den Horizont und
bleibt bis zum 25. September über demselben.
Am 9. November verschwindet die Dämmeriuig
unter dem Horizont und die Dunkelheit dauert
bis zum I. Februar. Die Beleuchtung durch die
Sonne währt also 191 Tage, wogegen die ganze
Sonnenscheibe nur 174 Tage unter dem Horizont
bleibt. Dazu kommt noch eine Dämmerungs-
dauer von 10 Tagen im Frühjahr und 1 1 Tagen
im Herbst, so daß es am Nordpol an 212 Tagen
hell und nur an 153 Tagen wirklich diuikel ist.
Diese eigenartigen Bestrahlungsverhältnisse
sind es, welche das Klima der Polarregionen und
vor allem die Temperatur derselben bestimmen
und dort so extreme Verhältnisse schaffen, wie
wir sie sonst nirgends auf der Erde wiederfinden.
Da die Intensität der Bestrahlung durch die
Sonne direkt von deren Höhe über dem Horizont
abhängt, indem sie dem Sinus dieser Höhe pro-
portional ist, so läßt sich der Betrag der einge-
strahlten Wärme für alle Punkte der Erde genau
berechnen, und man pflegt als Einheit der Messung
ein Tausendstel derjenigen Strahlenmenge anzu-
nehmen, die eine Flächeneinheit des Äquators
während eines Tages zur Zeit des Frühlingsanfangs,
also bei Äquatorstellung der Sonne, enthält. Be-
rechnet man nun unter Zugrundelegung der
Sonnenhöhen in den einzelnen Jahreszeiten und
unter Berücksichtigung des auf Seite 737 erörterten
Wechsels zwischen Sonnenferne (Anfang Juli) oder
Sonnennähe (Anfang Januar) die Strahlungsinten-
') Meteorologische Zeitschrift, Hann-Band, 1906, S. 18—22.
N. F. XIII. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
739
sität, so ergibt sich die folgende jahreszeitliche
Verteilung der relativen Strahlenmenge für die
gleiche Flächeneinheit am Nordpol, Äquator imd
Südpol.
21. März 22. Juni 23. September 22. Dezember
Nordpol o 1202 o o
Äquator 1000 881 9S8 942
Südpol 00 o 1284
Aus dieser Tabelle geht die, auf den ersten
Blick verblüft'ende Tatsache hervor, daß keinem
Punkt der Erde an irgendeinem Tage mehr
Wärme zugestrahlt wird als dem Südpol am
22. Dezember. Daß dieser zur Zeit des südlichen
Sommersolstitiums 82 Strahlungseinheiten mehr
erhält als der Nordpol während des nördlichen
Sommersolstitiums, ist darauf zurückzuführen, daß
die Erde sich am letzteren Zeitpunkt fast in
Sonnenferne, am ersteren dagegen nahezu in
Sonnennähe befindet. Jedenfalls läßt die
Tabelle deutlich erkennen, daß auf jeder Halb-
kugel während des Sommersolstitiums dem Pol
beträchtlich mehr Wärme von der Sonne zuge-
straiilt wird wie irgendeinem anderen Punkt der
Erdoberfläche. Der Nordpol erhält z. B. am
22. Juni 36 "/o mehr Wärme als der Äquator zur
gleichen Zeit und 20 % mehr als dem Äquator
in der günstigsten Zeit zuteil werden kann.
Aber das Bild ändert sich, sowie wir anstatt
der Einzelwerte die Jahressummen der Sonnen-
strahlung berechnen. Hierbei empfiehlt es sich
als Einheit die Wärmemenge zugrunde zu legen,
welche im Jahresdurchschnitt der P'lächeneinheit
am Äquator täglich von der Sonne zugestrahlt
wird, den sog. Thermaltag. Aus der Definition
geht schon hervor, daß der Äquator im Laufe
des Jahres 365 ' , Thermaltage erhalten muß.
Für die Polarzone ergibt sich dann ;
in 65" geographischer Breite 187,9 Thermaltage
70"
80"
850
90»
173.0
163,2
1 50,6
I52;8
151,6
Jeder Pol erhält also im Jahre nur 41 ^/.^ "/^
der Wärmemenge, die dem Äquator zugestrahlt
wird. Auch verschwindet jetzt der Unterschied
zwischen Nord- und Süd - Polargebiet. Denn
wenn auch die Bestrahlung im Südsommer wegen
der Sonnennähe stärker ist als im Nordsommer,
so ist der letztere dafür fast 8 Tage länger als der
erstere, wodurch die geringere Intensität genau
ausgeglichen wird. Die mittlere Bestrahlungs-
intensität der ganzen Polarzone beträgt 166,0
Thermaltage, jene der gemäßigten Zone 276,4
und die der Tropenzone 356,2, während der
Durchschnittswert für die ganze Erde 299 ist.
Natürlich ist es schwer sich eine greifbare
Vorstellung von diesen Wärmemengen zu machen,
doch bekommt man immerhin einen Begriff von
den Größen, wenn man die Dicke der Eisschicht
berechnet, die im Laufe eines Jahres von den
genannten Wärmemengen geschmolzen werden
kann. Die 299 Thermaltage würden ausreichen
uin eine Eisschicht von 53,8 m Dicke über der
ganzen Erdoberfläche abzuschmelzen , die 365 '/,
Thermaltage des Äquators könnten demnach einen
Eispanzer von 66 m, die 151,6 der Pole einen
solchen von 27 V2 ni Mächtigkeit auftauen. Nun
wissen wir aber, daß selbst in abnorm kalten
Wintern und unter L^mständen, die der Ent-
stehung des Polareises besonders günstig sind,
das Eis dort niemals eine Stärke von 27 ^2 m
erreicht, die Dicke der neugebildeten Eisschollen
meist sogar noch beträchtlich unter 10 m bleibt.
Daß unter diesen Umständen nicht das ganze im
Winter gebildete Eis im Sommer wieder auf-
schmilzt und wir im Spätsommer überhaupt noch
Eis in den Polarregionen vorfinden, ist darauf
zurückzuführen, daß eben nicht die ganze zuge-
strahlte Wärme, sondern nur ein kleiner Teil
derselben für den Schmelzprozeß in Betracht
kommt.
Die vorstehenden Betrachtungen haben nämlich
nur Gültigkeit für das sog. „solare Klima", d. h.
unter der Voraussetzung, daß die Wärme den
Punkt der Erdoberfläche, dem sie zugestrahlt
wird, auch wirklich erreicht. Dies ist aber keines-
wegs der Fall, denn unsere Erde ist bekanntlich
von einer Lufthülle, der Atmosphäre, umgeben,
welche die Sonnenstrahlen erst passieren müssen,
bevor sie den Erdboden zu erwärmen vermögen.
Selbst bei ganz heiterem Himmel aber wird in
mittleren Breiten nicht weniger als die Hälfte der
eingestrahlten Wärme an die Atmosphäre abge-
geben, und bei trübem Wetter gelangt oft nur
ein kleiner Bruchteil der Wärmestrahlung bis zum
Grunde des Luftmeeres herab, während der weit-
aus größte Teil unterwegs absorbiert wird. Bei
abnehmender Sonnenhöhe wird zudem der Weg,
den die Sonnenstrahlen durch die Atmosphäre
zurücklegen müssen, bevor sie den Erdboden er-
reichen, beträchtlich weiter, so daß z. B. beim
Horizontstand der Sonne die zu durchmessende
Luftschicht auf das 35 '/., fache der bei senkrechter
Bestrahlung zu durchdringenden angewachsen ist.
IVlit tiefer sinkender Sonne nimmt also die Wärme-
strahlung in einem viel rascheren Verhältnis ab,
als es ohne die Atmosphäre der Fall sein würde.
Die Polargebiete befinden sich somit in einem
beträchtlich ungünstigeren Verhältnis, als es nach
den für das „solare Klima" berechneten Werten
den Anschein hatte. Die Lage wird jedoch noch
ungünstiger, da nicht nur die Dicke der Luft-
schicht , sonderri auch die Trübung der Atmo-
sphäre gerade die Polargebiete besonders stark
benachteiligt. Schon bei normaler Durchlässig-
keit, wenn man den Transmissionskoeffizienten,
d. h. den bei senkrechtem Einfall der Strahlen
und ganz heiterem Himmel durchgelassenen Anteil
zu 0,7 ansetzt, sinkt die in der obigen Tabelle
angegebene Wärmemenge für den Pol auf ein
Drittel ihres Betrages herab, während sie für den
Äquator noch nicht auf die Hälfte reduziert wird.
740
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 47
Bei geringerer Durchlässigkeit (Transmissions-
koeffizient = 0,6) wird die Wärme am Äquator
zwar auf etwas mehr als die Hälfte herabgedrückt,
die Zahl der dem Pol zukommenden Thermaltage
dagegen um */. vermindert, so daß sich der Wärme-
unterschied zwischen Äquator und Pol nicht mehr
verhält wie 7 : 3 sondern wie 6:1. Wir sehen
also, daß durch die Einschaltung der Lufthülle
zwischen Sonne und Erdoberfläche nicht nur eine
allgemeine Abschwächung der Sonnenstrahlung
stattfindet, sondern daß auch die Unterschiede
zwischen den Tropen und den Polargebieten er-
heblich verschärft werden.
Aber auch so kommen wir noch nicht zu
einer richtigen Vorstellung von den wirklich
herrschenden Temperaturen, denn zahlreiche Trak-
toren stören die Regelmäßigkeit der zonalen An-
ordnung. Da die Strahlungsverhältnisse völlig,
der absorbierende Einfluß der Atmosphäre in der
Hauptsache, von der geographischen Breite ab-
hängig ist, so müßte, wenn nur die Strahlung in
Betracht käme, die Temperatur jeder Breiten-
zone rings um die Erde annähernd die gleiche
sein, und die Temperaturzonen würden sich in ring-
förmiger Anordnung um die Pole gruppieren, wie
es die Strahlungszonen tatsächlich tun.
Störende Faktoren sind nun einmal die Un-
gleichförmigkeiten der Erdoberfläche, die sich am
entschiedensten in dem Wechsel zwischen Land
und Meer, aber auch in den Höhenunterschieden
des festen Landes und der verschiedenartigen Be-
schaffenheit des Erdbodens bemerkbar machen,
der bald aus nacktem E^els besteht, bald mit
Vegetation bedeckt, oder gar mit mächtigen
iMsmassen überpanzert ist. Ein weiterer stören-
der Faktor von der größten Bedeutung aber ist
die Beweglichkeit der Luft wie des IVIeerwassers,
die dahin wirken, daß Temperaturgegensätze zwar
ausgeglichen, aber auch geschaffen werden können.
Das wechselnde Spiel c3er Winde und der groß-
artige Kreislauf der Meeresströmungen durch-
brechen die zonale Einteilung, so daß die
ringförmige Anordnung erheblich gestört und
stellenweise völlig verwischt wird. Es treten zu
den nord - südlich vorhandenen Temperaturunter-
schieden noch solche mit ost-westlicher Kompo-
nente hinzu, die im solaren Klima nicht vorhanden
waren.
Tatsächlich weist das Klima der Polargebiete
außerordentlich große Verschiedenheiten auf, und
nirgendwo auf der Erde finden wir so erhebliche
Temperaturdifferenzen innerhalb der gleichen
Breitenzone, wie in der Nähe des Nordpolarkreises.
So exakt auch unsere Kenntnis von dem solaren
Klima der Polargebiete ist, so unzureichend ist
das reale Klima derselben bekannt. Naturgemäß
sind es namentlich die höchsten Breiten, die am
wenigsten erforscht sind, und vor allem klafft eine
gewaltige Lücke in der Südpolarregion , von der
bisher nur aus vereinzelten Gebieten Temperatur-
beobachtungen von längerer Dauer bekannt
sind. Immerhin haben doch die neuesten Polar-
expeditionen auch hier gewisse Grundlagen ge-
schaffen , die zwar im einzelnen noch manche
Modifikation erleiden werden, aber auch jetzt schon
höchst interessante Resultate erkennen lassen.
Mit Recht führen die Polarzonen auch den
Namen der „kalten" Zonen, denn nichts ist charak-
teristischer für das Polarklima, als die Kälte, die
hier während des ganzen Jahres herrscht. Nament-
lich die niedrige Temperatur des Sommers ver-
leiht dem Polarklima sein Gepräge, denn wenn
die Winterkälte auch recht bedeutend ist, so wird
sie doch in gewissen Gebieten der nördlichen
gemäßigten Zone noch übertroffen, während der
kalte Sommer zu den typischsten Eigentümlich-
keiten der Polargegenden gehört. Diese Tatsache
erscheint auf den ersten Blick verwunderlich, weil
ja, wie wir gesehen haben, gerade dem Pol im
Hochsommer mehr Wärme zugestrahlt wird, als
selbst dem Äquator. Nichts ist daher mehr ge-
eignet den Einfluß der störenden Faktoren, die
das solare Klima in das reale oder physische um-
wandeln, besser zu illustrieren, als die Tempe-
raturverhältnisse des Polarsommers. Von der ge-
waltigen Wärmemenge, welche die Sonne dem
Pol zustrahlt, wird nämlich der Rest, der nach
dem Passieren der Atmosphäre noch die Erdober-
fläche erreicht, hauptsächlich zum Auftauen des
Eises verbraucht, das sich während der langen
Winterszeit gebildet und angehäuft hat. Die
Wärmemenge aber, die zum Schmelzen von Eis
nötig ist, erreicht den achtzigfachen Betrag der-
jenigen, welche eine Erwärmung von gleich viel
Wasser um einen Celsiusgrad zustande bringt.
Oder mit anderen Worten: Die gleiche Wärme-
menge, die einen Liter Wasser von o'' auf 80" C
zu erwärmen vermag, ist nur imstande einen Liter
Eis von o" in Wasser von o'^ zu verwandeln. Es tritt
also dabei nicht die geringste Temperaturerhöhung
auf, sondern die Wärme reicht gerade hin, um
eine Änderung aus dem festen in den flüssigen
Aggregatzustand herbeizuführen. Man erkennt
hier deutlich den Unterschied zwischen Wärme
und Temperatur, der leider so häufig nicht be-
achtet wird, und dessen Vernachlässigung vielfach
zu falschen Anschauungen und Darstellungen
führt.
Der Sommer ist demnach kühl und kurz, so
daß seine Wärme oft nicht hinreicht, um auf
ebenem Boden die Schnee- und Eisbedeckung zu
entfernen, da dieselbe nicht nur geschmolzen, son-
dern auch durch Verdunstung entfernt werden
muß, weil ein Versickern des Schmelzwassers in
den Eisboden nicht erfolgen kann. Ist dagegen
bei einer, wenn auch nur schwachen Neigung des
Bodens die Möglichkeit zum Abfließen des
Schmelzwassers gegeben, so kann der Erdboden
leicht von Eis befreit werden, und dann erhält
die Wärmestrahlung eine Angriffsfläche, die in
kurzer Zeit kräftig erwärmt wird und nun gün-
stige Bedingungen für das Gedeihen einer relativ
reichen Vegetation bietet. Man hat beobachtet,
daß schon im März in 7472" nördlicher Breite
N. F. XIII. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
74"
dunkle Steine von der Sonnenstrahlung über den
Gefrierpunkt erwärmt wurden, während die Tem-
peratur der Luft noch mehr als 30" C unter dem-
selben lag, und die Bodentemperatur- kann sich
selbst unter einer Schneedecke infolge der durch-
gehenden Wärmestrahlung über den Gefrierpunkt
erheben. Der Verbrauch großer Wärmemengen
zum Schmelzen des Eises hat die Folge, daß die
niedrigsten Temperaturen oft erst im Frühling
auftreten, während die wärmste Zeit nur eine ge-
ringe Verspätung gegen den höchsten Sonnen-
stand erleidet, weil die Sonnenstrahlung mit sin-
kender Sonnenhöhe, wie auf Seite 739 dargelegt
wurde, unverhältnismäßig rasch abnimmt.
In jeder Polarzone kann man, wie aus den
bisherigen Ausführungen hervorgeht, drei Zeit-
abschnitte unterscheiden, deren Länge sich konti-
nuierlich mit der geographischen Breite ändert,
einen, in dem die Sonne unter dem Horizont
bleibt, einen zweiten, in dem sie täglich auf- und
untergeht, und einen dritten, in dem sie über dem
Horizont bleibt. In dem letztgenannten Zeitab-
schnitt wird die tägliche Änderung der Sonnen-
höhe um so geringer sein, je näher das betreffende
Gebiet dem Pole liegt. Die tägliche Temperatur-
schwankung, die ja im wesentlichen durch die
Änderung der Sonnenhöhe bewirkt wird, muß
dann in der Nähe der Pole fast verschwinden.
Auch im Winter, wo der Tiefstand der Sonne
unter dein Horizont in sehr hohen Breiten nur
geringen Änderungen unterliegt, ist eine tägliche
Temperaturschwankung von nennenswertem Be-
trag nicht zu erwarten. Die große Gleichmäßig-
keit der Lufttemperatur in den extremen Jahres-
zeiten darf demnach als ein weiterer Haupt-
charakterzug des hochpolaren Klimas gelten.
Naturgemäß hat sich die Vegetation diesen
eigenartigen Verhältnissen angepaßt, und es wäre
höchst interessant im einzelnen die Beziehungen
zwischen Temperatur und Pflanzenleben in hohen
Breiten zu verfolgen. Diese Zusammenhänge sind
jedoch von A. Grisebach in so klassischer
Weise dargelegt worden '), daß es hier genügt
auf dessen vorzügliche und klare Schilderung zu
verweisen, die, trotzdem sie in Einzelheiten über-
holt ist, doch ein auch heute noch zutreffendes,
charakteristisches und lebensvolles Bild der ark-
tischen Vegetation und ihrer physischen Bedingun-
gen bietet.
n. Das Nordpolargebiet.
Versuchen wir nun uns einen orientierenden
Überblick über die Temperaturverteilung in der
Arktis zu verschaffen, soweit dies ohne karto-
graphische Darstellungen möglich ist. Dabei
kommt uns eine Tabelle zugute, die H. Mohn
auf Grund aller im Nordpolargebiet angestellten
Temperaturmessungen berechnet hat, so daß sie
gewissermaßen den Extrakt dieser zahlreichen
Einzelbeobachtungen darstellt. Mohn'j hat in
zwölf Karten des Nordpolargebietes die monat-
lichen Mitteltemperaturen der einzelnen Beobach-
tungsstationen für jeden Monat gesondert einge-
tragen und in jeder Karte die Orte mit gleicher
Temperatur durch Linien, die sog. Isothermen,
verbunden. Er erhielt damit für jeden Monat
eine Isothermenkarte, welche die geographische
Verteilung der Temperatur in übersichtlicher
Weise darstellt. Derartige Karten bieten die
Möglichkeit durch einfache Interpolation die
wahrscheinliche Temperatur jedes beliebigen
Punktes zu ermitteln, so daß es jetzt ein Leichtes
war für bestimmte Parallelkreise in Intervallen von
je 10 Längengraden 36 einzelne Temperaturwerte
zu bestimmen, deren Mittel dann den monatlichen
Durchschnittswert des betreffenden Parallelkreises
liefert.
Geogr. Breite
65»
70«
75°
80«
85«
90»
Januar
—23,0»
-26,3»
— 29,0"
-32,2»
-38,1"
-41»
Februar
-21,5
-25,8
—28,9
-32,5
-38,0
—41
März
— 16,1
—22,4
—26,6
—30,6
—33,0
—35
April
—7,3
— '4,0
—18,8
— 22,7
-26,5
—28
Mai
1,6
—4,4
-8,5
— 10,0
— 11,9
— 13
Juni
9,2
3,3
0,1
— 1,1
— 1,7
— 2
Juli
12,4
7,3
3,4
2,0
0,3
— I
August
10,3
6,2
1,9
0,4
-1,8
—3
September
4,7
0,3
—4-1
—7.7
-10,3
—13
Oktober
—4,1
—9,3
— 14,0
—19,1
—22,2
—24
November
-14,5
—18,1
-20,8
—23,9
— 29,2
—33
Dezember
— 20,6
— 23,6
—25,5
—28,4
—34,2
-38
Jahr
-5,8
—10,7
-.4,7
— 18,1
—21,2
— 22,7
Am Nordpol erhebt sich nach Ausweis dieser
Tabelle die monatliche Mitteltemperatur selbst
im Hochsommer nicht über den Gefrierpunkt, was
natürlich nicht ausschließt, daß in Einzelfällen auch
dort positive Temperaturen erzielt werden
können. Die Tabelle zeigt ferner, daß der Winter
weit in das Frühjahr hinein verlängert ist,
dessen niedrige Mitteltemperaturen, zum Teil da-
durch zustande kommen, daß die größte Kälte
mitunter noch auf den März fällt. Im Mai aber
steigt die Temperatur schnell und sie erreicht ihr
Maximum überall im Juli. Wenngleich es vom
.\ugust an infolge der rasch sinkenden Sonnen-
strahlung schnell kühler wird, bleibt doch der Herbst
bedeutend wärmer als im Frühjahr.
Von den durch die Tabelle dargestellten mitt-
leren Verhältnissen finden sich im einzelnen
starke Abweichungen. So hat z. B. das Innere
Grönlands wegen seiner Bedeckung mit einer
mächtigen Eisschicht in allen Monaten eine nie-
drigere Temperatur als der mittleren Verteilung
) A. Grisebach: Die Vegetation der Erde nach ihrer >) The Norwegian North Polar Expedition 1S93— 1896.
klimatischen Anordnung. 2. Aufl. Leipzig, 1884. Band I, Scientific Resullats edited by Fridtjof Nansen. Vol. VI, Lon-
Seite 15 — 67. (Jon 1905. H. Mohn; Metcorology, S. 575.
742
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 47
entspricht. Diese negative Temperatur-Anomalie
erreicht im Oktober einen Wert von — 18". Die
Norwegische See dagegen verdankt ihre dauernd
positive Anomalie, die im Januar und Februar
bis -1-2 5" ansteigt, der Wirkung des Golfstroms,
der seine warmenWassermengen bis weit nachNorden
hinauf sendet. Die großen Kontinente haben im
Sommer positive (Juli +6" in Sibirien, Juni
-\- 10" im westlichen Nordamerika), im Winter
dagegen negative Anomalie (Dezember und
Januar — 25 " in Sibirien, Januar — 10" im östlichen
Nordamerika). Das Gebiet zwischen Beringstraße
und Pol hat in allen Monaten negative Anomalie,
jedoch meist weniger als — 5"-
Es würde zu weit führen, die Temperatur-
verhältnisse der verschiedenen Nordpolarländer
im einzelnen zu erörtern. Dies kann um so eher
unterbleiben als in dem ausgezeichneten Hand-
buch von J. Hann ') zahlreiche ausführliche Tem-
peratur-Tabellen mit den nötigen Literaturangaben
wiedergegeben, bzw. neu berechnet worden sind.
Es mag hier die Angabe genügen, daß im allge-
meinen das Jahresmittel der Temperatur im süd-
lichen Grönland, sowie auf dem Inseln Jan Mayen,
Spitzbergen, Bären-Insel und Nowaja Semlja zwi-
schen o" und — 10", dagegen im nördlichsten
Grönland, F"ranz-Josef-Land, arktisch-amerikanischen
Archipel, arktischen Asien und im zentralen
Eismeer zwischen — 10" oder — 20*^' gelegen ist.
Nur den niedrigsten Temperaturen, die in der
Arktis bisher beobachtet wurden, seien einige
Worte gewidmet. Der Sitz der größten bekann-
ten Winterkälte unserer Erde ist nicht der Nord-
pol, dessen niedrigste Monatstemperatur mit der
von Mohn zu — 41" berechneten wohl ziemlich
übereinstimmen dürfte. Der winterliche Kältepol
befindet sich vielmehr in Sibirien, nur wenig
nördlich vom Nordpolarkreis, in der Nähe des
Städtchens Werchojansk, das in 67" 33' nördlicher
Breite und 1 00 m Seehöhe an dem Flusse Jana gelegen
ist. Hier tritt das kontinentale Klima (warme
Sommer, kalte Winter) in seiner extremsten Form
auf. Die Mitteltemperaturen der Wintermonate
betragen im 20 jährigen Durchsclinitt : De-
zember — 47,0", Januar — 50,5", Februar —44,1".
Der wärmste Januar im Jahre 1903 hatte noch
eine Durchschnitts-Temperatur von — 44,2", wäh-
rend der kälteste Im Jahre 1892 eine solche von
— 57,2" aufwies, die somit das niedrigste, je be-
obachtete Monatsmittel darstellt. Damals wurde
auch als absolutes Minimum — 67,8" gemessen,
eine Kälte, die heute noch in beiden Folarzonen
nicht übertroffen worden ist. Daß trotz solcher
außerordentlichen Kältegrade das Jahresmittel von
Werchojansk nur — 16,3" beträgt, ist den hohen
Sommertemperaturen zuzuschreiben, die bis über
33" ansteigen können.
Beträchtlich niedriger als im arktischen Sibirien
ist die mittlere Jahrestemperatur im nördlichen
Teile des arktisch-amerikanischen Archipels, im
nördlichsten Grönland, sowie im nördlichsten
Eismeer. Doch verdient hervorgehoben zu werden,
daß bisher nur zwei Stellen bekannt sind, an
denen das Jahresmittel unter — 20" sinkt. Die
eine ist jene, in 81 "44' nördlicher Breite gelegene
P't. Conger genannte Station am Eingang der tief
in die Ostküste von Grant Land einschneidenden
Lady Franklin Bai. Hier wurde im Jahre 1875 — 1876
ein Jahresmittel von — 20,2", im Jahre 1S81 — 1882
ein solches von — 20,4" beobachtet.
Das einzige noch weiter nördlich gelegene
Gebiet , aus dem wir eine längere Reihe zuver-
lässiger Beobachtungen besitzen , ist das zentrale
Nordpolarmeer, das von Fridtjof Nansen auf der
„Fram" in den Jahren 1893 bis 1896 durchkreuzt
wurde. Die Temperaturmessungen ergaben hier
für das Jahr 1895 in einer mittleren nördlichen
Breite von 84,6" ein Jahresmittel von — 20,5".
Das Thermometer sank in diesen höchsten Breiten
im Laufe jedes der drei Winter unter — 50" und
erreichte seinen tiefsten Stand am 12. März 1894
mit — 52,0", wogegen als höchste Sommertempe-
ratur am 20. Juni 1896 -|~4.o'' notiert werden
konnte. Während die regelmäßige tägliche Tem-
peraturschwankung im Winter fast Null war, er-
reichte die unregelmäßige Temperaturvariation
während 24 Stunden sehr hohe Beträge. Beson-
ders auffallend war der plötzliche energische
Temperaturanstieg von — 43,0" am 20. F"ebruar
1896 auf — 5,4" am nächsten Tage bei südlicher
Windrichtung.
III. Das Südpolargebiet.
Haben die Temperaturbeobachtungen im Nord-
polargebiet im wesentlichen das bestätigt, was
man auf Grund theoretischer Erwägungen erwarten
konnte, so brachten dieselben im Südpolargebiet
ungeahnte Überraschungen, und stellten die meteo-
rologische Wissenschaft vor Rätsel, die auch heute
nicht völlig gelöst sind. Noch im Jahre 1897
glaubte J. Hann die folgenden Mitteltemperaturen
der Parallelkreise im Südpolargebiet annehmen zu
können:^) Für 70" südlicher Breite — 5,8", für
80" —9,1" und für den Südpol — 11,3", also um
4,9*, 9,0" und 11,4^ wärmer als in den ent-
sprechenden arktischen Breiten. Aber schon die
erste Überwinterung im Südpolargebiet 1898, bei
welcher auf dem Schiff „Belgica" in etwa 70"
südlicher Breite eine Jahrestemperatur von — 9,6"
festgestellt wurde, machte dieser optimistischen
Auffassung ein Ende, und die in den nächsten
Jahren folgenden Südpolarexpeditionen verschie-
dener Nationen lieferten soviel Material, daß
W. Meinardus die folgende Tabelle über die
Mittelteniperaturen der Parallelkreise aufstellen
konnte, ") die freilich nicht so vollständig ist, wie
') J. liann, Handbuch der Klimatologic. 3. .Auflage.
Bd. 3. Stuttgart 191 1, S. 5S8— 699.
') J. Hann, Handbuch der Klimatologie. 2. Auflage.
I. Band. Stuttgart 1897. Seite 212.
-) Deutsche Südpolarexpedition 1901 — 1903. Hcrausgcg.
von F.. V. Drygalski. Bd. 111. Meteorologie von W. Mei-
nardus, Bd. I, 1. Hälfte, Heft 2, Seite 331. Berlin 1911.
N. F. XIII. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
743
die auf Seite 741 für das Nordpolargebiet wieder-
gegebene.
sprechenden extremen Werten, die bis dahin be-
kannt waren, zusammenstellt:
Geogr. Breite
60»
70"
So«
Januar
Juli
2,8 —1,3 —4,3
-10,6 — 22,0 —28,7
90»
— 6,0
-33,3
Jahr —3,5 —12,8 —20,6 —25,0
Ein Vergleich mit der Nordpolar-Tabelle zeigt
sofort den wesentlichen Unterschied. In der
Antarktis ist der Winter etwas wärmer als in der
Arktis, dafür aber der Sommer beträchtlich kälter,
so daß sich nicht , wie man bis dahin angenom-
men hatte, eine höhere, sondern eine beträchtlich
niedrigere Mitteltemperatur für das Jahr ergibt.
Während wir nun aus dem Nordpolargebiet
von zahlreichen Stationen zum Teil langjährige
Beobaclitungen besitzen, sind es in der Antarktis
nur vereinzelte Stellen am Rande des Südpolar-
kontinents, von denen meteorologische Beobach-
tungsreihen vorliegen. Aber nur in drei Gebieten
umfassen diese einen längeren Zeitraum als ein
Jahr, so daß wir dort von mittleren Werten
sprechen können, während an allen anderen Stellen
die Möglichkeit vorliegt, daß die Beobachtungen
nicht die normalen Verhältnisse wiedergeben. Wie
unerhört groß nämlich die Veränderlichkeit der
Witterung von Jahr zu Jahr dort sein kann, erhellt
am besten aus der fast unglaublichen Tatsache,
daß auf der schwedischen Südpolarstation Snow
Hill in 64''22' südlicher Breite die niedrigste Tem-
peratur der ganzen, i % Jahre umfassenden Be-
obachtungsperiode, — 41,4", am 6. August 1902
gemessen wurde, auf den 5. August des nächsten
Jahres dagegen das absolute Maximum mit -f"9,3"
fiel! Auf der gleichen Station stieg am 17. Juni
1903 in der Zeit von i Uhr morgens bis 10 Uhr
abends die Temperatur von — 29,8" auf +4,1°.
Die oben erwähnten drei Gebiete sind die am
leichtesten zugänglichen der Südpolarregion, so
daß ihnen schon aus diesem Grunde ein besonderes
Interesse zukommt. Es seien daher ihre von
J. Hann berechneten Mitteltemperaturen neben-
stehend wiedergegeben.
Diese Tabelle gestattet noch eine Extrapolation
bis zum 80. Breitengrad, während den Berech-
nungen der Temperatur des Südpols naturgemäß
eine große Unsicherheit innewohnt. Neuerdings
haben nun die Expeditionen von R. Amundsen
und R. F. Scott den Nachweis geliefert, daß auf
der großen Eistafel der Roß-Barriere, auf welcher
Amundsen überwinterte, noch weit niedrigere
Temperaturen auftreten als man vermutete. Es
sind deshalb zum Vergleich in der letzten Spalte
die an Amundsen's Winterquartier „Framheim"
gemessenen Werte hinzugefügt, wobei diejenigen
für Februar und März interpoliert werden mußten.
An dieser südlichsten Beobachtungsstation ist das
Thermometer überhaupt nicht mehr über den
Gefrierpunkt gestiegen. Der Höchstwert war
— 0,2" am 5. Dezember 191 1, dem eine Minimal-
temperatur von — 58,5 am 13. August gegenüber-
steht. Besonders deutlich werden die abnorm
tiefen Temperaturen, wenn man sie mit den ent-
Süd-Vilitoria-Land
l-ramheim
77°45' Süd
78138' Süd
Niedrigstes Monatsmittel
—29,5
— 44.5
Höchstes ,,
— i.i
—6,2
Absolutes Maximum
-f8,3
— 0,2
„ Minimum
—50,3
-58,5
Jahresmittel
-17,6
—25-2
Das Jahresmittel von Framheim, das noch
1266 km vom Südpol entfernt liegt, ist also bereits
um 2,5'' tiefer als dasjenige des Nordpols. Auf-
fällig ist in den hohen Breiten die große Gleich-
mäßigkeit der Wintertemperatur, die namentlich
in Süd -Viktorialand in den Mitteltemperaturen
der Monate April bis September zum Ausdruck
Ort
Breite
Länge
Jalire
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
SUd-
Vilitoria-
Land
77°4=;' Süd
i66''34' Ost
1 902/04
1 908/09
3 Jahre
Westantarktis
westlich j östlich
von Grahamland
ee^Sö' Süd 62''33' Süd
5°°5°' West
—4,0
-8,3
-J5,5
—24,2
—24,1
— 24,6
— 26,5
— 26,8
—24.5
-19,8
-9,5
—3,2
72°! I' West
1898/99
1904/05
1909
3 Jahre
Jahr
Schwankung
Mittl. Jahres-
Maximum
Mittl. Jahres-
Minimum
-17,6
23,6
5.9
-46,5
0,3
0,0
—3,0
-7,3
—7,3
— 11,1
—16,6
-7,8
—9,3
—5,9
-2,8
—0,9
1902/03
1903/04
2 Jahre
-6,0
16,9
5>7
—33,7
— 0,2
— 1,0
—5,4
—9,4
—14,1
-15,1
— 16,0
— 14,1
— 12,0
-7,4
—3,4
— 1,4
Framheim
78''38' Süd
164030' West
igt 1/12
I Jahr
-8,3
15,8
8,5
—37,3
—8,8
(-11,9)
(—22,1)
—27,3
-35.6
—34,2
—36,1
—44.5
—37.0
—23,7
— 14,7
-6,2
— 25,2
38,3
— 0,2
-58,5
kommt. Der Winter hat hier keinen Kern, denn
auch in Framheim sank vom Mai bis zum Sep-
tember das Thermometer in jedem Monat unter
— 50". An dem westlichen Ende des Roß Barriere-
Eises erlebte eine Abteilung von Scott 's Expe-
dition im Juli 1911 eine Kälte von — 60,5", die
niedrigste Temperatur, die in der Antarktis je
beobachtet worden ist.
Aus dem ganzen weiter südlich gelegenen Gebiet
haben wir nur vereinzelte Temperaturmessungen, die
auf den Expeditionen von S hack leton, Amund-
sen und Scott angestellt worden sind. Das
zentrale antarktische Plateau hat in der Nähe des
86. Breitengrades eine Höhe von 2500 Metern, die
744
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
N. F. XIII. Nr. 47
südwärts bis über 3000 Meter zunimmt. Auf
dieser öden Eiswüste sind von den drei For-
schern in den Monaten Dezember und Januar, also
im Hochsommer, Temperaturen zwischen — 18"
und — 40" beobachtet worden. In der Mehrzahl
der Fälle jedoch schwankte der Stand des Ther-
mometers zwischen ■ — 20" und — 30". Wie die
Wintertemperatur in diesem Gebiet sein mag,
entzieht sich unserer Kenntnis. Bedenkt man aber,
daß 1400 Kilometer vom Pol entfernt im Meeres-
niveau bereits eine Kälte von — 60" konstatiert
worden ist, so dürften am Pol selbst in mehr als
3000 m Höhe, Temperaturen von • — 80* und da-
runter wohl nicht zu den Unmöglichkeiten gehören.
Die reelle, nicht auf das Meeresniveau reduzierte
Temperatur des Südpols könnte man daher im
wärmsten Monat auf etwa — 25", im kältesten
vielleicht auf — 65** schätzen. Sicher ist jedenfalls,
daß jenes ferne Hochland der zentralen Antarktis
das weitaus kälteste von allen größeren Gebieten
unseres Erdballs ist, und seine Mitteltemperatur
möglicherweise in der Nähe von — 50" liegt.
Die Ursachen dieser enormen Kälte sind uns
vorläufig noch ein Rätsel, desgleichen auch die
unerhörten Schwankungen der Temperatur in dem
Randgebiet des antarktischen Kontinents, von denen
auf S. 743 ein Beispiel angeführt war. Die dort mitge-
teilten Zahlen sprechen deutlicher als es Worte ver-
mögen für die Notwendigkeit einer ständigen Be-
obachtungsstation im Südpolargebiet. Bereits ist
ein solches Projekt von schwedischer Seite aus-
gearbeitet und seine Verwirklichung in die Wege
geleitet worden. Hoffen wir, daß der Tag nicht
mehr fern ist, an dem das antarktische Obser-
vatorium seine Tätigkeit beginnen kann und da-
mit den Grundstein legt zu einer systematischen
Erforschung des interessantesten Gebietes, das auf
unserem Planeten noch der Entschleierung harrt.
Einzelberichte.
Botanik. Zustand des Plasmas und Reizbar-
keit. Der Aggregatzustand des Protoplasmas, der
jetzt ziemlich allgemein als flüssig angenommen
wird, kann, wie auf botanischer Seite Pfeffer
dargelegt hat, einen Kohäsionswechsel erfahren
und reversibel in den festen übergehen. Dies
lehrte die Beobachtung, daß das ruhende Kürner-
plasma von Plasmodien der Myxomyceten dem
Stromstoß des fließenden Protoplasmas Wider-
stand entgegensetzt, ohne selbst deformiert zu
werden. Durch direkte Belastung freier Plas-
modienstränge gelangte P fe ff er auch zu Zahlen-
werten, erklärte jedoch, daß wegen des wechsel-
seitigen Überganges eine genaue Bestimmung der
Kohäsionsverhältnisse unmöglich sei. Zellhaut-
umkleidete Protoplasten hat Pfeffer nicht unter-
sucht. Alfred Heilbronn ist jüngst auf ganz
anderm Wege zu Vorstellungen über Zustand und
Zustandswechscl der lebenden Substanz be-
häuteter Zellen gelangt. Ausgehend von dem
Gedanken, daß feste Körper in einer P'lüssigkeit
um so rascher sinken, je geringer, und um so
langsamer, je größer deren Zähigkeit ist, be-
obachtete er an Schnitten durch Stärkescheiden
von Vicia faba und Koleopülen des Hafers die
Bewegungsgeschwindigkeit umlagerungsfähiger
Stärkekörner (Statolithen) unter dem Einfluß der
Schwerkraft. Die Versuchsanstellung bestand im
wesentlichen darin, daß die zu untersuchende
Gewebspartie zunächst in ihrer natürlichen Lage
am vertikal stehenden Objekttisch des horizontal
umgeklappten Mikroskops befestigt und dann
nach Drehung des Objekttisches um 180" die
Zeitdauer bestimmt wurde, die ein Stärkekorn zu
seinem Wege von der oberen Querwand einer
Zelle bis zur unteren nötig hatte. Durch Messung
der Fallhöhe ergab sich der andere Weg, der
noch zur Berechnung der Fallgeschwindigkeit
nötig war. Bei der Umlagerung der Statolithen
gelingt es hier und da einigen Körnern, die
Vakuolcnhaut zu durchbrechen, um dann quer
durch die Vakuolenflüssigkeit hindurchzufallen.
Auch die Fallgeschwindigkeit solcher Körper
wurde bestimmt. Um die Viskosität des Plasmas
und der Vakuolenflüssigkeit von Vicia faba zu
bestimmen, wurde noch die P'allgeschwindigkeit
isolierter Stärkekörner in Wasser gemessen. Es
galt dann, wenn x die Viskosität des Plasmas
(oder der Vakuolenflüssigkeit) ist die Proportion :
X Fallgeschwindigkeit in Wasser
I I""allgeschwindigkeit in Plasma (bzw. Va-
kuolenflüssigkeit).
So ergab sich für die Viskosität des Proto-
plasmas der Stärkescheiden von Vicia faba ein
etwa 24 mal höherer Betrag als für Wasser von
18 ", während die Viskosität der Vakuolenflüssig-
keit 1,9 mal höher war als die des Wassers.
Dieser letztere Wert läßt die Vermutung auf-
kommen, daß auch im Zellsaft Kolloide vorhanden
sind, welche die doch recht große Viskositäts-
steigerung bedingen. Die kompliziertere Fest-
stellung des Viskosität strömenden Plasmas ergab
sehr verschiedene Werte; deutliche Beziehungen
zur Strömungsgeschwindigkeit waren nicht nach-
zuweisen. — Heilbronn prüfte nun weiter die
P'allgeschwindigkeit der Stärkekörner in der
Stärkescheide, wenn der Zustand des Plasmas
durch äußere Agenzien: Wärme, Narkotika,
Leuchtgas beeinflußt wurde. Es ergab sich aus
dem Verhalten der Stärkekörner, daß Tempera-
turen von 25 — 35 " bei kurzer Einwirkung wenig
Einfluß auf den Viskositätszustand des Plasmas
haben. Nach einstündigem Aufenthalt allerdings
zeigt sich eine Verzögerung der Umlagerung der
Statolithen, und entsprechend dieser Verzögerung
tritt auch die geotropische Krümmung merklich
N. F. XIII. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
745
später ein. Die Temperatur von 45 •' zeigt die
viskositätssteigernde Wirl<ung schon bei halb-
stündiger Exposition. Nach einstündigem Aufent-
halt im Wärmeschrank ist die geotropische Re-
aktion erst 6 Stunden später festzustellen,
und nach ^/^ stündigem Aufenthalt in Luft von
40 " erscheint eine geotropische Krümmung erst
3 Tage später. Bei noch höheren Temperaturen
genügen geringere Expositionszeiten, um die
Hemmung herbeizuführen; gleichzeitig mehrt sich
auch die Zahl der Pflanzen, welche, dauernd ge-
schädigt, überhaupt keine Reaktion mehr aus-
führen. Als Narkotikum wurde vorzüglich Äther-
wasser benutzt. Bei i — 5 "/oiger Konzentration
desselben (d. h. Wasser mit i — 5 % konzentrierter
Ätherlösung in Wasser) wurde Beschleunigung der
Fallgeschwindigkeit der Statolithenstärke, zwischen
5 — 10 "„ dagegen Steigerung der Viskosität fest-
gestellt; zwischen 10 und 20",) trat physikalische
Starre des Plasmas ein, und die Stärkekörner
folgten dem Zug der Schwere überhaupt nicht
mehr. Bei noch höherer Konzentration wird das
Plasma getötet. „Ist einmal Plasmastarre ein-
getreten, dann wird, wenn die Statolithentheorie
zu Recht besteht, eine geotropische Perzeption
so lange nicht stattfinden, bis nach Verringerung
der Viskosität Statolithenbewegung ermöglicht
wird. In der Tat läßt es sich leicht zeigen, daß
nach einmal eingetretener narkotischer Starre des
Plasmas in der Koleoptilenspitze von Avena
sativa geotropische Perzeption nicht mehr mög-
lich ist, und des weiteren läßt sich zeigen, wie,
bevor geotropische Reaktion wieder auftritt, stets
eine Statolithenumlagerung oder wenigstens Ver-
lagerung erfolgt ist. Diese Beobachtung spricht,
wie der Unbefangene zugeben muß, sehr zu-
gunsten von Haberia ndts Auffassung. Sie ist
nicht beweisend, weil man sagen kann, das starre
Plasma sei an sich nicht fähig, Reize zu perzi-
pieren. Da aber .... gerade die geotropische
Empfindlichkeit stärker geschädigt wird als die
heliotropische, so ist es schon möglich, daß die
direkte vorübergehende Ausschaltung des „geotropi-
sehen Sinnesorgans" dafür verantwortlich zu machen
wäre." — Die optimale Wirkung des Narkotikums auf
die Viskositätssteigerung trat bei 15 — 20% des
Ätherwassers ein; wurde das Objekt (Hafer-
koleoptilen) aus der Ätheratmosphäre entfernt, so
hielt die Viskositätssteigerung noch etwa 1/., Stunde
an; dann löste sich die Starre, 'ob nun 25 Mi-
nuten oder 2 Stunden lang narkotisiert worden
war. Durch lokalisierte Narkotisierung der Koleo-
ptile ließ sich auch die überwiegende geo-
tropische Sensibilität der Koleoptilenspitze
nachweisen ; blieb die Spitze von der Ätherwirkung
frei, so trat in ihr normale Statolithenverlagerung
ein, und die geotropische Krümmung wurde nicht
ausgeschaltet, wenn sie auch abnorme Form an-
nahm. — Auch bei Anwendung von Benzol und
Xylol als Narkotika zeigte sich die erwartete
Hemmuno- der Umlagerung und Ausbleiben der
geotropischen Reaktion. Leuchtgas, dessen An-
wesenheit in der Laboratoriumluft ja bekanntlich
physiologische Versuche störend beeinflussen
kann, verhält sich in seiner Einwirkung auf die
Viskosität des Plasmas ungefähr wie ein mäßig
starkes Narkotikum. (Pringsheim's Jahrbücher
für wissenschaftliche Botanik 1914, Bd. 54,
S. 357 — 390.) F. Moewes.
Das Ausgleiten der Insektenbeine an wachs-
bedeckten Pflanzenteilen. Der obere Teil der
Innenepidermis der Kannen von Nepenthes
ist mit einem Wachsüberzuge bedeckt, der
nach der allgemeinen Annahme den Insekten
keinen Halt bietet, so daß sie beim Empor-
klettern diese „Gleitzone" nicht überschreiten
und sich nicht aus der Kanne entfernen können.
Bobisut hat nun angegeben, daß auch nach
Entfernung des Wachsüberzuges mit Chloroform
oder Äther Ameisen nicht in der Gleitzone em-
porzuklettern vermögen, so daß der Wachsüberzug
für die Funktion der Gleitzone bedeutungslos
wäre. Diese Angabe veranlaßte F. K n o 1 1 zu
experimentellen Untersuchungen über die F"rage,
auf welche Ursachen das Ausgleiten der Insekten-
beine auf Pflanzenteilen, die mit Wachs bedeckt
sind, zurückzuführen sei. Man hatte bisher nicht
berücksichtigt, daß die Kletlereinrichtungen bei
verschiedenen Arten der Insekten von verschie-
dener Vollkommenheit sind. Die Ameisen, die
Knoll besonders zu seinen Versuchen benutzte,
besitzen Krallen und Haftlappen. Bewegen
sie sich auf einer rauhen Oberfläche, so bedienen
sie sich der Krallen; die Haftlappen sind dann
eingezogen (Abb. i). Auf glatten Oberflächen,
wo die Krallen keinen Halt finden können,
werden die Haftlappen ausgestreckt, während die
Krallen nach der Seite zurückgewendet werden
(Abb. 2). Das Klettern der Ameise mit Hilfe der
Haftlappen wird der Ameise aber unmöglich,
wenn die sonst glatte Epidermisoberfläche aus-
geschiedenes Wachs trägt, dessen Teilchen sich
Fig. I. (Nach Knoll.)
Fig. 2. (Nach Knoll.)
bei einem geringfügigen Zug oder Druck leicht
von der Unterlage ablösen. Die Wachskörnchen
bleiben leicht an der klebrigen Fläche der Haft-
lappen hängen, und diese können sich dann an
der Unterlage nicht festheften. Dieselbe Wirkung
erzielt man, wenn man eine blanke Glasplatte
leicht, aber gleichmäßig mit feinstem Federweiß
(Talkumpulver) einstäubt oder mit einem gleich-
mäßigen, kaum sichtbaren Überzuge von Kampfer-
ruß versieht: an einer so hergerichteten Platte
746
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr.
47
vermögen die Ameisen nicht emporzukriechen,
und aus einem Glaszylinder, dessen Innenfläche
derart eingestäubt ist, können sie nicht entweichen.
Setzt man Ameisen auf einen ausgesparten Bezirk
einer im übrigen berußten, senkrechten Glas-
scheibe, so vermögen sie diesen nicht zu ver-
lassen, ohne abzustürzen (vgl. Abb. 3). Der Fall
von Nepenthes klärte sich nun dahin auf, daß bei
der von ßobisut angewendeten Behandlung der
F'g- 3- (Nach Knoll.)
Wachsüberzug nicht völlig beseitigt worden war.
Knoll rieb die Gleitzone mit einem in Chloro-
form getauchten Wattebäuschchen sorgfältig ab
und erhielt eine glatte, wachsfreie Fläche, auf der
die Ameisen ohne Schwierigkeit nach allen Seiten
laufen konnten, während sie für Tiere ohne Haft-
einrichtungen, z. B. Asseln, ungangbar blieb.
Bringt man auf einer so behandelten Gleitzone
mit einem Pinsel einen gleichmäßigen feinen
Überzug von Wachspulver (gewonnen von den
Blättern der Cotyledon pulverulenta) an, so wird
sie auch für Ameisen wiederum unüberschreitbar.
Auf der Gleitzone von Nepenthes finden sich
außerdem Papillen, die aus umgewandelten Schließ-
zellen bestehen. Wie Knoll nachweist, er-
leichtern sie den Absturz des Tieres, indem sie
es in eine rüttelnde Bewegung versetzen, wenn
es haltsuchend mit den Vorderbeinen über die
Gleitzonc hinstreicht. Diese Hinrichtung kommt
an Gleitzonen der Kesselfallen verschiedener
Pflanzen vor, erscheint demnach als charakteristi-
sches Merkmal einer solchen Gleitzone. Ihr Zu-
sammentreffen mit dem feinkörnigen Wachs-
überzug und dem fugenlosen Aneinanderliegen
der flachen F.pidermiszcllen bei Nepenthes ist
nach Knoll als Anpassung zu betrachten. Tiere
mit Hafteinrichtungen, besonders Ameisen, machen
einen sehr großen Teil der Beute von Nepenthes
aus; solche Tiere können aber nur durch Ver-
mittlung des Wachsüberzuges in größerer Menge
in die Kanne geraten und dort zurückgehalten
werden. Wieweit sonst ein Wachsüberzug mit
ablösbaren Teilchen als „Schutzmittel gegen den
Besuch unwillkommener Gäste" in Betracht
kommt, hängt von der Umwelt der Pflanze ab.
Ohne das Vorhandensein von Tieren mit Haftein-
richtungen ist der Wachsüberzug in dieser Hin-
sicht bedeutungslos. In trockenen Gegenden
spricht als Funktion des Wachsüberzuges ver-
mutlich noch die Verhinderung zu starker Wasser-
verdunstung eine Rolle; in Regenwäldern kommt
(außer dem Schutz gegen den Tierbesuch) ein
Schutz gegen unerwünschte Benetzung in Frage,
„wenn überhaupt die Lage des Wachsüberzuges
und dessen Ausbildung eine ökologische Deutung
verlangt". (P rings heims: Jahrbücher für wissen-
schaftliche Botanik. 1914, Bd. 54, S. 448—495.)
F'. Moewes.
Biologie. Über merkwürdige Bewohner der
Sporangien von Pilobolus wird im Midland
Naturalist, der von der University of Notre
Dame, Indiana, veröffentlichten naturwissenschaft-
lichen Monatsschrift berichtet. Der bekanntlich
sich auf Pferdemist entwickelnde Pilz, dessen
Sporangienträger schon die Höhe von einem Zenti-
meter erreicht hatten, wurde Mitte Oktober in
das Laboratorium verbracht und nach kurzer
Untersuchung der Sporen, die ca. 14 — 20 /« groß
waren und sich von gelblichem, körnigem Plasma
erfüllt zeigten, beiseite gestellt. Als das Material
Anfang Februar in einen feuchten Raum verbracht
wurde, ließ das vorher sehr üppige Wachstum
nach, die Sporangienträger erreichten kaum die
Höhe von 0,5 cm, die Sporen waren von normaler
Größe, aber sehr hell gefärbt. Am 15. des Mo-
nats wurde die Kultur von neuem untersucht, um
den Unterschied zwischen den früher und später
entstandenen Sporangien vom selben Wachstum
festzustellen. Schon makroskopisch zeigten die
noch vorhandenen Sporangien meistenteils nicht
das gewöhnHche Aussehen. Unter dem Mikro-
skop erschienen die meisten als eine durch-
einandergevvürfelte Masse einzelner Sporen, eine
umhüllende Membran war nicht zu sehen. Ein
einziges Exemplar war noch intakt; seine Form
wechselte beständig, in seinem Innern schien sich
etwas Lebendiges zu bewegen. Wirklich kamen
auch, beim Platzen der Hülle, sechs dünne Würmer
zum Vorschein, deren innere Struktur bei starker
Vergiößerung annähernd festzustellen war. Die
Länge betrug 600 — 800 /(, der Umfang ca. 25 —
39 ,((. Sehr wahrscheinlich ist es, daß es sich
um einen Nematoden handelt, der in Coeman's
Monographie der Gattung Pilobolus als Bewohner
der Sporangienträger von Pilobolus crystalinus und
Pilobolus oedipus angeführt und vom Verf alsRhab-
ditis terricola bezeichnet wird. Ältere Autoren
beschreiben gleichfalls einen ähnlichen Wurm, der
nach ihren Angaben und Abbildungen zu schließen
höchstwahrscheinlich mit dem vorstehenden iden-
tisch ist. Die Form , die C o e m a n fand , ist in
verwesenden Substanzen gemein. Nach dem
N. F. XIII. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
747
Material, welches der Verf. an eine Autorität auf
diesem Gebiete sandte, die nur Larven darin
konstatieren konnte (auch nach langer Beobach-
tungsperiode gingen keine erwachsenen Würmer
daraus hervor), wurde angenommen, daß die Art
auf dem Pferd parasitisch sein muß. Das Vor-
kommen der Würmer in den Sporangienträgern
des Pilzes ist damit allerdings auch noch nicht
erklärt.
Bemerkentwert ist noch, daß die Sporangien
nach dem Ausschlüpfen der Würmer wieder ganz
das Aussehen der gewöhnlichen Sporenkapseln
annahmen. Die Sporen waren kleiner als die
anderen, ca. 2 — 4 /(, farblos und augenscheinlich
leer. Sie zeigten , auch im Gegensatz zu den
normalen, eine ausgesprochene Neigung, sich in
Ketten von ein oder zwei Reihen aneinander zu
legen. R. Aichberger.
Anthropologie. Prof. Dr. Franz Boas und
Helene M. Boas untersuchten das in Rudolf
Livi's ,,Antropometria Militare" niedergelegte
Material in bezug auf die regionale Variations-
breite der Kopfform der Bevölkerung Italiens. ')
Das Land wird von zwei hinsichtlich der Kopf-
form verschiedenen Typen bewohnt, nämlich einer
breitköpfigen Bevölkerung im Norden und einer
langköpfigen Bevölkerung im Süden. Beide Typen
haben sich lange Zeit hindurch miteinander ge-
kreuzt, ganz besonders in der Kontaktzone Mittel-
asiens. Wenn nun die Annahme richtig wäre,
daß intermediäre Bastarde aus Kreuzungen hervor-
gehen, so müßten in Mittelitalien mittelbreite
Köpfe vorwiegen und es wäre keine große Schwan-
kung der Kopfformen zu erwarten. Die Unter-
suchung ergab jedoch in Mittelitalien die größte
Variationsbreite der Kopfformen, die im allge-
meinen nach Norden wie nach Süden zu abnimmt.
Das Vorkommen einzelner Gebiete großer Varia-
bilität im Norden wie im Süden beeinträchtigt
das Gesamtresultat nicht, denn in jenen Gebieten
bewirken besondere Umgebungseinflüsse die Aus-
nahmeerscheinung.
Es hat sich also abermals bestätigt, daß nach
Kreuzungen die elterlichen Typen wieder zum
Vorschein kommen, daß „Entmischung" statt-
findet, so wie wir sie nach der Mendel'schen
Spaltungsregel zu erwarten haben.
H. P'ehlinger.
Chemie. Die Reaktionsgeschwindigkeit in
heterogenen Systemen unterliegt bekanntlich nicht
den Gesetzen, die für die Geschwindigkeit von
Reaktionen in homogenen Systemen gelten. Bei
einer Reaktion im heterogenen System, z. B. bei
der Auflösung in Marmor in verdünnter Salzsäure,
müssen zunächst die Moleküle oder Ionen der
Salzsäure zu der Grenzfläche Marmor-Lösung hin-
diffundieren und können erst dann in der Grenz-
') The Head Forms of the Italians. American Anthro-
pologist, N. S., Bd. 15, Nr. 2.
fläche mit dem Marmor reagieren. Für die Ge-
schwindigkeit der Reaktion kommen also zwei
Faktoren in Frage, nämlich erstens die Ge-
schwindigkeit, mit der die am Marmor durch die
chemische Reaktion verbrauchte Salzsäure durch
Diffusion aus dem Schöße der Lösung ergänzt
wird, und zweitens die Geschwindigkeit, mit der
die herandiffundierte Salzsäure mit dem Marmor
reagiert. Die durch den direkten Versuch ge-
messene ,, Reaktionsgeschwindigkeit" wird daher
offenbar durch die Geschwindigkeit des langsamer
verlaufenden Teilvorganges bestimmt, denn was
nützt ein rascher Verlauf der eigentlichen Reaktion
in der Grenzschicht, wenn die Salzsäure nur
langsam herandiffundiert, oder eine große Dif-
fussionsgeschwindigkeit, wenn die Salzsäure in-
folge zu langsamen Ablaufes der chemischen Re-
aktion nicht in dem Maße, wie sie zum Marmor
herangeführt werden kann, dort verbraucht wird ?
Nun ist in sehr vielen Fällen die Geschwindig-
keit der eigentlichen chemischen Reaktion größer
als die Diffussionsgeschwindigkeit, d. h. die ge-
messene „Reaktionsgeschwindigkeit" wird durch
den langsamer verlaufenden Teilvorgang, die
Diffussion, bestimmt, sie ist in Wirklichkeit eine
Diffussionsgeschwindigkeit. Diese Tatsache findet
ihren Ausdruck in der von Noyes und Whit-
ney und dann besonders von N ernst und seinem
Schüler Brunner entwickelten und vertretenen
,,Diffussionstheorie derGeschwindigkeit heterogener
Reaktionen". Diese Theorie ist durch das Ex-
periment vielfach bestätigt worden. So hat die
Geschwindigkeit, mit der sich Magnesiumoxyd in
verschiedenen Säuren auflöst, nichts mit der
„Stärke" der Säure zu tun, sondern ist allein von
der Diffussionsgeschwindigkeit der Säure abhängig:
Je rascher eine Säure diffundiert, um so rascher
löst sie den Marmor auf. Und ebenso ist für die
Geschwindigkeit, mit der sich die verschiedenen
Metalle Quecksilber, Kupfer, Silber, Zink, Cad-
mium, Eisen, Nickel und Kobalt in wässeriger
Jodjodkaliumlösung auflösen, nicht die chemische
Affinität zwischen dem Metall und dem Jod maß-
gebend, es lösen sich vielmehr, wie R. G. van
Name und seine Mitarbeiter festgestellt haben,
die genannten Metalle unter' gleichen Bedingungen
mit derselben Geschwindigkeit auf, weil es sich
im Grunde immer um denselben die gemessene
„Reaktionsgeschwindigkeit" bestimmenden Vor-
gang handelt, um die Geschwindigkeit, mit der
das Halogen zum Metall hindiffundiert.
Es sind aber auch Fälle bekannt, die sich der
„Diffussionstheorie" nicht fügen, ja in neuerer
Zeit scheinen sich Fälle dieser Art sogar zu
häufen. Verwiesen sei hier vor allen Dingen auf
die Untersuchungen von Rob. Marc über die
Kristallisations- und Lösungsvorgänge und eine
vor kurzem erschienene, sehr umfangreiche Ab-
handlung von M. Cent nersz wer und Js. Sachs
über die Geschwindigkeit der Auflösung von
Zink in verdünnten Säuren (Z. physikal. (Jiicm. 87,
693 — 762; 1914). Erscheint nun die Sachlage
748
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr. 47
beim KristalHsations- und Lösungsvorgang und
bei der Auflösung von iVIetallen in Säuren recht
verwickelt, so ist ein besonders einfacher P^all von
Nichtübereinstimmung mit der Diffusionstheorie
neuerdings von Felix Rosenkränzer bei der
Untersuchung der Einwirkung von verdünnter
Schwefelsäure auf Zinkblende und Bleiglanz auf-
gefunden worden (Z. anorg. Chem. 87, 319 — 334
und 88, 452; 1914). Allerdings liegt — das muß
von vornherein bemerkt werden — auch dieser
Fall nur darum so einfach, weil es durch die
Ausarbeitung eines kolorimetrischen Verfahrens
zur quantitativen Bestimmung von Schwefel-
wasserstoff in äußerst verdünnten Lösungen (vgl.
Naturw. Wochenschrift, Bd. 13, S. 413; 1914)
möglich geworden war, mit sehr verdünnten
Lösungen zu arbeiten und die Versuche auf die
ersten Stadien der Reaktion zu beschränken, also
auf das Gebiet, wo die allgemeinen Gesetzmäßig-
keiten mit besonderer Klarheit und in besonderer
Einfachheit hervortreten. Gerade die oft sehr
lästigen sekundären Störungen konnten auf diese
Weise vermieden werden.
Die Versuchsanordnung war einfach : Von
Zinkblenden verschiedener Herkunft sowie von
einer Bleiglanzprobe wurden nach der Zerkleine-
rung durch Siebung Körner von verschiedenem,
aber bekanntem Durchmesser gewonnen; dann
wurden abgewogene Mengen der Körner mit ab-
gemessenen Mengen verdünnter Schwefelsäure von
bekanntem Gehalt bei bestimmter, konstant er-
haltener Temperatur während bestimmter Zeiten
geschüttelt, und schließlich wurde der Schwefel-
wasserstoffgehalt der Lösungen nach dem früher
beschriebenen Verfahren kolorimetrisch ermittelt.
Das Ergebnis der Versuche läßt sich folgender-
maßen zusammenfassen :
Für jedes einzelne Erz ist die entwickelte
Schwefelwasserstoffmenge y der Zeitdauer Z der
Reaktion, der Schwefelsäurekonzentration [HoSO^],
der Oberfläche O von einem Gramm des Erzes
und der angewandten Gewichtsmenge M des
Erzes proportional und ändert sich mit der Tempe-
ratur & nach einer einfachen Exponentialfunktion,
d. h. es ist
y = c-Z-[H., SOjlO.M-e«^'',
wenn mit c eine für das betreffende Erz cha-
rakteristische Konstante, mit ^ die Versuchs-
temperatur in Celsiusgraden und mit o der
Temperaturkoeffizient der Reaktion bezeichnet
wird.
Bemerkenswert ist nun, daß für die fünf unter-
suchten Erze, nämlich
1. Clausthaler Zinkblende,
2. Clausthaler Bleiglanz,
3. Zinkblende von Picos de Europa (sogenannte
Honigblende),
4. Zinkblende von der Grube Berzelius bei
Bensberg,
5. Christophit (eine stark eisenhaltige, schwarze
Zinkblende),
nicht nur dieselben Gesetzmäßigkeiten gelten,
sondern auch der Temperaturkoeffizient a den-
selben Zahlenwert 0,044 hat. Verschieden ist bei
den verschiedenen Erzen nur der Zahlenwert der
Konstanten c: Nennt man die von der Ober-
flächeneinheit der Clausthaler Blende unter
irgendwelchen Versuchsbedingungen entwickelte
Schwefelwasserstoffmenge 1,000, so wird unter
den gleichen Versuchsbedingungen von der Ober-
flächencinheit des
Christophits die Schwefelwasserstoffmenge 2,2305
Bcnsb. Erzes „ „ i,772
der
Honigblende „ „ 0,510
und des
Bleiglanzes „ „ 0,159
entwickelt.
Würde die Diffusionstheorie der Geschwindig-
keit heterogener Reaktionen für den vorliegenden
Fall gelten, so müßten offenbar, da es sich ja
immer um denselben Diffusionsvorgang, die Dif-
fusion der Schwefelsäure zum Erz hin, handelt,
alle fünf Erze unter den gleichen Versuchsbe-
dingungen im gleichen Maße angegriffen werden,')
während der Angriff tatsächlich sehr verschieden
stark ist. Die Geschwindigkeit des Angriffs wird
also nicht von der Diffusionsgeschwindigkeit be-
stimmt, sondern hängt von der — offenbar ver-
hältnismäßig geringen — Geschwindigkeit der
eigentlichen Reaktion in der Grenzschicht zwi-
schen Erz und Flüssigkeit ab. Die Geschwindig-
keit dieser Reaktion erweist sich als eine cha-
rakteristische Eigenschaft der verschiedenen Erze,
deren Zurückführung auf andere, bekannte Eigen-
schaften bisher nicht möglich war. Mg.
Paläontologie. Über Saurierfunde in Deutsch-
Süd westafrika berichtet E. Stromer, dem wir
die erste Zusammenfassung unseres Wissens von
der Geologie der afrikanischen Schutzgebiete schon
1896 verdankten, im Zentralblatt für Mineralogie,
Geologie, Paläontologie 1914, Heft 17, S. 530 — 541.
Diese hocherfreuliche neue paläontologische Ent-
deckung ist dem leider inzwischen verstorbenen
Major Brentano-Bern arda zu verdanken. Es
handelt sich hier nicht, wie bei den bekannten
deutsch-ostafrikanischen Funden um die großen,
letzthin so vielgenannten Dinosaurier, sondern um
eine ganz andere Reptilgruppe von wesentlich
höherem Alter. Sie sind für Südafrika auch durch-
aus kein Novum, da sie aus dem Gebiete der jetzigen
„Union" seit langem bekannt gewesen sind, nicht ein-
mal eine völlige Überraschung für unsere Kolonie, da
das Vorhandensein der gleichen Schichten hier
wie dort festgestellt und somit auch ähnliche
Fossilführung zu erwarten war. Vielmehr in der
Erfüllung jener Erwartung und den damit sich
bietenden Aussichten auf weitere wichtige Auf-
') Höchstens müßte für die nicht-sulfidischen Verun-
reinigungen der Erze ein deren Menge entsprechender Abzug
gemacht werden. In Wirklichkeit hat sich ein einfacher Zu-
sammenhang zwischen der Angreifbarkeit der F^rze und ihrer
chemischen Zusammensetzung nicht erkennen lassen.
N. F. XIII. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
749
Schlüsse über das Tierleben einer fernen Ver-
gangenheit Südafrikas liegt ihre große Bedeutung.
Diese Erwartung weiterer ähnlicher Funde spricht
sich schon im Titel der Stromer' sehen Arbeit
aus: „Die ersten fossilen Reptilreste aus Deutsch-
Südwestafrika und ihre geologische Bedeutung."
In der Tat ist ja den gleichaltrigen , wenn
auch nicht in allem gleichartigen Schichten Süd-
afrikas eine ganze, großartige P'auna entstiegen,
und wenn, wie nun erwiesen ist, in Deutsch-
Südwestafrika die Erhaltungsbedingungen nicht un-
günstigersind als dort, so wäre es jasogarsehr befremd-
lich, wenn die Reichhaltigkeit einzelner Horizonte
nicht entsprechend sein sollte. Die Schichtenfolge,
um die es sich bei alledem handelt, die sog. Karroo-
Schichten Südafrikas, umfassen insgesamt eine sehr
große Zeitspanne, die vom Ende der Karbonzeit bis in
den Beginn der Juraperiode reicht, also die Wende
von Paläozoikum und Mesozoikum in weitestem
Umfange darstellt. Es sind durchweg kontinentale
Ablagerungen, die unter den mannigfachsten Be-
dingungen in Flüssen, Seen, Sümpfen, Mooren
(Kohleführung), auch ohne Beteiligung des Wassers
in einem gewaltigen Areale entstanden sind, dem-
gemäß natürlich faziell starken Schwankungen
unterworfen sind und eine reine Land- und Süß-
wasserfauna beherbergen. Die Fauna setzt sich
nahezu ausschließlich aus den Wirbeltieren der
damaligen Zeit zusammen : Fischen, Stegocephalen,
Reptilien. Je nach dem Alter sind die Formen
natürlich recht wesentlich verschieden, ja sie selbst
geben letzthin die Leitlinien ab für die Gliederung
des ganzen Komplexes in einzelne Schichten.
In den jüngeren, höheren Lagen sind auch triassische
Dinosaurier bekannt geworden.
In Deutsch-Südwestafrika ist seit kurzem eine
recht wesentliche Abweichung vom südafrikanischen
Normalprofil gefunden worden, die darin besteht,
daß ein mariner Horizont mit Eurydesmen, etwa
der Rotliegendzeit angehörig, in das hier noch
allein festgestellte ältere Karroo eingeschaltet ist.
Dem Hangenden dieser Eurydesma-Stufe gehören
nun die hellen Schiefer wahrscheinlich an, in
denen Major Brentano die von Stromer be-
schriebenen Reste in Kabus, zum geringen Teil
auch an andere Fundorten gesammelt hat. An
der Grenze von Land und Meer, in Delta-
Mündungen , Ästuarien oder dergleichen mögen
auch sie noch abgelagert sein, während man ihnen
rein marinen Charakter kaum noch zuschreiben
kann. Damit wäre dann für diesen Horizont die
Übereinstimmung mit den entsprechenden süd-
afrikanischen Ablagerungen nach dem kurzdauernden
Meereseinbruch von W. her wieder hergestellt.
Die Lebensbedingungen müssen ja auch für die
wasserbewohnenden Mesosaurier, denn um solche
handelt es sich nach Strom er's Untersuchungen,
hier wie dort einigermaßen gleich gewesen sein.
Die Mesosaurier gehören zu den dem Wasser-
leben angepaßten Reptilien des Mesozoikums, deren
bekannteste Vertreter die Ichthyosaurier, Noto-
saurier und Plesiosaurier sind, erreichen jedoch
bei weitem nicht deren Dimensionen. Ihre syste-
matische Stellung ist nicht endgültig geklärt. Mit
um so größerer Freude muß man daher neue an-
scheinend reichhaltige Fundstellen begrüßen, die
vielleicht genaueren Aufschluß darüber geben
können. Von den beiden Gattungen der Familie,
Stereosternum und Mesosaurus selbst, ist bisher
nur die letztere in Afrika bekannt geworden,
freilich bereits in mehreren Arten. Auch die
neuen Funde reiht Stromer bei dieser Gattung
ein. Beschrieben wurden zunächst hauptsächlich
Hand und Fuß, die ja aber in ihrer Annäherung
an Flossenbildung bei derartigen Typen sehr
charakteristisch sind. Die Erhaltung der Stücke
ist offenbar ausgezeichnet und erlaubt das Studium
interessanter Einzelheiten. Die Rippen und Wirbel
sind durch große Plumpheit (Pachyostose) aus-
gezeichnet, ebenfalls ein wichtiges Merkmal nicht
nur dieser, sondern überhaupt vieler lungenatmender
Wasserbewohner.
Die Hauptfülle der höchst interessanten Repti-
lienfunde Südafrikas stammt aus den jüngeren
permischen und besonders aus den triassischen
bis jurassischen Karroo-Schichten. Es scheint
noch keineswegs ausgemacht, ob diese späteren
Horizonte in Deutsch - Südwestafrika überhaupt
noch entwickelt sind. Wir werden also zunächst
nicht ohne weiteres auf F"ossilfunde indem gleichen
Umfange wie dort hoffen dürfen. Aber ein viel-
versprechender Anfang ist gemacht und es ist im
höchsten Maße zu wünschen , daß beim P^lintritt
ruhigererZeitendortsystematischeNachforschungen
angestellt werden mögen. E. Hennig.
Physiologie. Über den Gehalt des Körpers
an Fettsäuren und Cholesterin machte Emile F.
Terroine (Constance de la concentration des
organismes totaux en acides gras et en Chole-
sterine. Evaluation des reserves de graisses. C.
R. Ac. sc. Paris Nr. i, 6 juillet 1914) folgende
Feststellungen. Beim Bengali (Sporaegynthus
melpodus), einem kleinen körnerfressenden Vogel,
betrug der Fettgehalt in g pro kg Körpergewicht
bei normalen Tieren: 6<S,9, 44,8,66,6,61,3, 61,3 59,0;
bei 6 an Erschöpfung gestorbenen Tieren 26,9,
26,0, 27,9, 27,5, 26,6, 29,2. Es folgt daraus, daß
bei normalen Tieren der Fettreichtum großen
Schwankungen unterliegt ; eine bemerkenswerte
Konstanz aber ergibt sich bezüglich der Menge
des zum Leben nötigen Fettes. Wenn sie unter
eine bestimmte Mindestquantität sinkt, gehen die
Tiere zugrunde. Bei der Maus waren die ent-
sprechenden Zahlen 27,8—87,5, bzw. 23,0 durch-
schnittlich, beim Frosch 6,43 — 17,7 bzw. 4,7 durch-
schnittlich.
Die Individuen einer Art haben also eine kon-
stante, für alle gleich große, und daneben eine
variable Fettmenge. Die Menge des Reservefetts
wird ausgedrückt durch die Differenz zwischen
der konstanten und der individuell schwankenden
Größe.
Der Cholesteringehalt zeigt bei normalen
750
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 47
Wirbeltieren verschiedener Arten große Schwan-
kungen, und die gefundenen Zahlen haben des-
halb nur wenig Wert. Es ergibt sich indes eine
bemerkenswerte Konstanz des Cholesteringehalts
bei den verschiedenen Individuen derselben Art,
wo er um höchstens 5"/i) schwankt, und die ab-
solute Unabhängigkeit des gefundenen Wertes
von der systematischen Stellung. Meistens beträgt
er g 1,4 pro kg Körpergewicht; so bei Fischen,
dem Frosch, der Auster und dem Seestern.
Kathariner.
Mit dem Einfluß der Milzexstirpation auf
die chemische Konstitution des Tierkörpers
(Pflüger 's Archiv Band 157, 1914) beschäftigt
sich eine Arbeit von Karl Droge. Bei einer
früheren Untersuchung war einem Hunde 10 Tage
nach der Geburt die Milz exstirpiert worden. Im
Wachstum blieb das Tier den Kontrolltieren
gegenüber sichtlich zurück. D. läßt es dahin-
gestellt sein, ob darin eine Folge des operativen
Eingriffes zu sehen ist. Zur Entscheidung der
Frage, ob die Entfernung der Milz einen Einfluß
auf die Gewichtszunahme hat, die von früheren
Untersuchern in der verschiedensten Weise beant-
wortet wurde, ist der eine Fall offenbar nicht
ausreichend. Bei zwei operierten Meerschwein-
chen war die Gewichtszunahme die gleiche, wie
beim Kontrolltier.
Der Wassergehalt des Tierkörpers zeigt
eine überraschende Konstanz; selbst bei zehrenden
Krankheiten und bei Hunger erleidet der Körper
keinen Wasserverlust. Eine Ausnahme macht er
nur während des Wachstums, indem dabei sein
Wassergehalt zwar absolut zunimmt, relativ aber
abnimmt. Durch die Milzexstirpation erleidet der
Wassergehalt keine Veränderung, das Gleiche
scheint bezüglich des Fettgehalts zuzutreffen.
Dagegen ist der Aschegehalt gesteigert.
Während das Kontrolltier durchschnittlich täglich
eine Gewichtszunahme von 41,0 g bzw. 53,06 g
hatte, zeigte der Milzhund vor der Operation 36,5 g,
nach der Operation nur 26,28 g. Wie bei den
Versuchen von Thomas und Arons blieben
die Knochen im Wachstum zurück. Einmal
waren sie im Längs- und Querdurchmesser um
einige mm kleiner, als die der übrigen Hunde,
und dann waren in der Fußwurzel nur 4 statt 5
Knochenkerne auf dem Röntgenbild sichtbar. Der
Stickstoffgehalt des Eiweißes zeigte bei dem
Milzhund keine Abweichung; bei den Meer-
schweinchen wurde eine so geringfügige Vermin-
derung des N- Wertes des Eiweißes gefunden, daß
ihr D. keine Bedeutung beimißt.
Die neuen Versuche mit Meerschweinchen
haben einen besonderen Wert deshalb , weil
sie beweisen, daß auch bei artfremder Naiirung
durch die Milzexstirpation keine wesentliche Ver-
änderung im Chemismus des Tierkörpers herbei-
geführt wird. Die früheren Untersuchungen (Über
Veränderungen in der chemischen Konstitution
des Tierkörpers nach Exstirpation der Milz, der
Hoden und des Schilddrüsenapparates, Fflüger's
Archiv Bd. 152, 1914) waren in dieser Richtung
nicht beweisend, da sie mit Hunden angestellt
wurden, welche in der Säuglingsperiode nur
Muttermilch *als Nahrung aufnahmen.
Kathariner.
Büclierbesprechiingen.
Der Mensch aller Zeiten. Natur und Kultur
der Völker der Erde. Allgemeine Verlags-
geselischaft in Berlin, München, Wien. (Ohne
Jahreszahl.)
Das Werk ist seiner ganzen Anlage nach darauf
berechnet, weiten Kreisen der Gebildeten als P'ührer
auf den Gebieten der Vorgeschichte, Anthropologie
und Ethnographie zu dienen. Aber auch der
Fachmann wird es als Nachschlagwerk manchmal
nützlich finden.
Von den beiden bisher vorliegenden Bänden
ist der erste betitelt ,,Der Mensch der Vorzeit"
und verfaßt von Dr. Hugo Obermeier, der
katholischer Geistlicher und zugleich Professor
am internationalen Institut für menschliche
Paläontologie zu Paris ist. Der Verf behandelt
die Morphologie viel weniger ausführlich als Kunst
und Handwerk der prähistorischen Menschen,
ganz besonders der eiszeitlichen Menschen. \'on
den Menschen der alluvialen Perioden wird da-
gegen nur eine allgemein übersichtliche Darstellung
gegeben, da das Eingehen auf Einzelheiten der
Spezialforschung über den Grundplan des Werkes
hinausgegangen wäre. Auch die Vorgeschichte
der außereuropäischen P>dteile wird soweit als
möglich berücksichtigt. Der kirchliche Standpunkt
des Verf. kommt namentlich in den Bemerkungen
über das Deszendensproblem und in dem Kapitel
über den Diluvialmenschen nach seiner ps)-chischen
Beschaftenheit zum Ausdruck.
Der zweite Band, „Die Rassen und Völker der
Menschheit", hat den Münchener Universitätspro-
fessor Dr. Ferdinand Birkner zum Verfasser
Er behandelt vor allem ziemlich eingehend die
AnatomieundPhysiologie desmenschlichen Körpers,
sodann führt er einen Vergleich durch zwischen
den körperlichen Merkmalen des Menschen und
der Tiere, besonders der Affen. Daran reihen sich
Abschnitte über die ältesten Reste des Menschen,
die Rassen und Völker Europas und die Bevöl-
kerung der deutschen Kolonien. Der Schlußab-
schnitt betrifft die Rassengliederung und Einheit
des Menschengeschlechts. Da Prof. Birkner
ebenfalls den kirchlichen Standpunkt vertritt, so
lehnt er anscheinend auch die Abstammung des
Menschen von niederen Lebewesen ab. Er schreibt
N. F. Xm. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
751
S. 290: „Alles was über die körperliche Ab-
stammung des Menschen von niederen Wesen
behauiitet wird ist hypothetisch, kann nur auf
Ähnlichkeiten gestützt werden, wobei aber wohl
zu beachten ist, daß nicht jede Ähnlichkeit den
Schluß auf gemeinsame Abstammung zuläßt.
Manche Ähnlichkeit ist nur eine scheinbare und
darum ganz verschiedenen Ursachen zuzuschreiben,
oder mit ganz verschiedenen Begleitumständen
verbunden." Prof Birkner erinnert dabei an
die „Konvergenzen", die in der Natur häufig
beobachtet werden. Er meint ferner, daß die
scheinbaren Tierähnlichkeiten (sofern sie nicht
Konvergenzerscheinungen sind) als Hemmungs-
oder Exzeßbildungen während der individuellen
Entwicklung aufzufassen sind.
Auf den im Erscheinen begriffenen dritten
Band, „Völker und Kulturen", der sich u. a. mit
den Methoden und Zielen der Völkerpsychologie
eingehend befaßt, werden wir noch zurückkommen,
sobald er abgeschlossen vorliegt.
Die .Ausstattung des Werkes, das in etwa 40
Lieferungen zum Preise von je i Mk. erscheint,
ist eine recht gute. Die Illustrationen sind zweck-
dienlich gewählt und schön ausgeführt. Außer
den Textbildern und schwarzen Tafeln sind auch
farbige Karten beigegeben. H. Fehlinger.
Sladen, F. W. L., The Humble-Bee. Its
Life-History and how to domesticate it, with
descriptions of all the british species of Bom-
bus and Psithyrus. Illustrated with photo-
graphs and drawings by the author and five
coloured plates photographed direct from na-
ture. 283 S. Verlag Macmillan and Co., Limi-
ted. St. Martin's Street, London W. C. 191 2.
— Preis 10 s. net.
Ein wertvoller Beitrag zur Biologie der Hum-
meln. Sladen, bereits als Bienenzüchter von
außergewöhnlich scharfer Beobachtung bekannt,
gibt hier eine Beschreibung des Hummellebens
unter Beigabe zahlreicher ausgezeichneter Abbil-
dungen. Besonders hervorzuheben sind die nach
farbigen Photographien hergestellten Tafeln der
englischen Hummelarten, die alle bisherigen Ab-
bildungen weit übertreffen. Wer Hummeln in
künstlichen Wohnungen züchten will, findet in
diesem Werk vortreffliche, erprobte Angaben.
Sladen ist der erste gewesen, der das Rätsel
des Pollensammelns bei den Bienen und Hummeln
gelöst hat. Plinige wenige Ansichten, die den
Autodidakten verraten , fallen nicht ins Gewicht.
Buttel-Reepen.
Berg, Leo, Das Problem der Klima ände-
rung in geschichtlicher Zeit. Geo-
graphische Abhandlungen, Bd. X, Heft 2.
70 Seiten. Leipzig, B. G. Teubner. 1914.
— Preis 3,60 Mk.
Der Verf behandelt in 10 Kapiteln die P'euch-
tigkeitsvorräte der Atmosphäre, die Feuchtigkeit
im Boden, die Prozesse des Verschwindens der
.Seen, das mutmaßhche .Seichterwerden der P'lüsse
Rußlands, die Böden in ihrer Beziehung zu den
Klimaänderungen in Südrußland, die Änderungen
der Vegetationsdecke während der geschichtlichen
Zeit, Klimaänderungen in der postglazialcn Zeit,
die Verdunstung in den Wüsten, die Sandwüsten
und das Problem der Klimaänderung einiger
Länder während der geschichtlichen Zeit. Die
einzelnen Kapitel sind nicht mit gleicher Gründ-
lichkeit bearbeitet und tragen mitunter nur einen
aphoristischen Charakter. Auch sind die neuesten
PJrgebnisse der Forschung nicht berücksichtigt,
was darin seine Erklärung findet, daß es sich,
wie aus dem Vorwort hervorgeht, um die deutsche
Übersetzung einer Arbeit handelt, die in der
russisclien Zeitschrift Semlewjedjenie bereits im
Jahre 191 1 erschienen ist.
Der Verf gelangt zu folgenden Schlußfol-
gerungen :
1. Vergleicht man die gegenwärtige Epoche
mit der Eiszeit, so wird man fast auf dem ganzen
Festlande eine Verringerung der Binnengewässer
und der atmosphärischen Niederschläge konsta-
tieren können.
2. Eine ununterbrochene Austrocknung hat
seit dem Ende der Eiszeit nicht stattgefunden :
der gegenwärtigen Epoche ging eine solche mit
noch trocknerem und wärmerem Klima voraus.
3. Während der historischen Zeit ist nirgends
eine Klimaänderung zugunsten einer fortschrei-
tenden Erhöhung der mittleren Jahrestemperatur
der Luft oder einer Verminderung der atmo-
sphärischen Niederschläge zu bemerken. Das Klima
bleibt entweder beständig (abgesehen von Schwan-
kungen, deren Periode höchstens einige Jahrzehnte
beträgt, den sog. Brückner'schen Perioden),
oder es läßt sich sogar eine gewisse Tendenz zu
einem Feuchterwerden konstatieren.
4. Es kann daher weder von einem ununter-
brochenen Austrocknen der Erde seit der Be-
endigung der Eiszeit, noch von einem solchen im
Laufe der geschichtlichen Zeit die Rede sein.
Ein Literaturverzeichnis von 81 Nummern
bildet eine willkommene Beigabe. O. Baschin.
Verworn, Max, Die Mechanik des Geistes-
lebens. Mit 19 Abbildungen im Text. Dritte
Auflage. (Aus Natur und Geisteswelt. 200. Bänd-
chen.) Druck und Verlag von B. G. Teubner
in Leipzig und Berlin 1914. — Preis in Leinw.
geb. 1,25 Mk.
Die Brauchbarkeit des kleinen Werkes, das in
klarer und übersichtlicher Weise den Leser über
den Stand unseres derzeitigen Wissens von den
hauptsächlichsten physiologisch-psychologischen
Problemen unterrichtet, geht bereits daraus hervor,
daß eine dritte Auflage nötig wurde. Da diese, ab-
gesehen von kleinen Erweiterungen, gegenüber
den früheren keine Änderung aufweist, genüge es,
an dieser Stelle auf die neue Aullage hinzuweisen.
Ausgehend von dem populären Dualismus zwi-
schen Leib und Seele erörtert Verworn zunächst
752
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 47
die verschiedenen möglichen Auffassungsweisen,
die in eine kurz zusammengefaßte Darlegung
seines eigenen, als Psychomonismus bekannten
Standpunktes ausmünden. In den weiteren Ka-
piteln werden die Vorgänge in den Elementen
des Nervensystems, die Bewußtseinsvorgänge,
Schlaf und Traum, schließlich das große Gebiet
der Suggestion und Hypnose sachlich, knapp und
allgemeinverständlich behandelt. .So kann das
Büchlein nach wie vor zur einführenden Orien-
tierung über diese Dinge bestens empfohlen
werden. Wasielewski.
Dr. Gottfried Brückner, Aus der Entdek-
kungsgeschichte der lebendigen Sub-
stanz; Adolf Kistner, Im Kampf um das
Weltsystem; l'rof. Dr. Friedrich Kiengel,
Die Entdeckung des Generations-
wechsels in der Tierwelt; Max Geitel,
Geschichte der Dampfmaschine bis
James Watt; Dr. Alfred Noll, Die „Lebens-
kraft" in den Schriften der Vitalisten und
ihrer Gegner. — Voigtländer's Quelle n -
bücher, Band 32, 39, 45, 49, 69. R. Voigt-
länder's Verlag, Leipzig. — Preise kartonniert
60, 80, 100, 120 und 80 Pfennige.
Daß Unternehmen, die bezwecken, die origi-
nalen Arbeiten , auf denen ein wissenschaftlicher
Bau ruht, einem möglichst weiten Kreise zugäng-
lich zu machen , alle Anerkennung und Unter-
stützung verdienen, bedarf keines Beweises. Gerade
nach und in einer Zeit breitester Popularisierung,
die neben vielem Anerkennenswertem doch auch
viel Verwässertes, nicht selten gar Verfälschtes in
ihrem großen Strome mit sich führt, gewinnt das
Bestreben, die Quellen leichter und allgemeiner
zugänglich zu machen, eine symptomatische Be-
deutung. Von dem eignen Reiz, den alles Studium
von Originaldokumenten mit sich bringt, soll hier
nicht weiter geredet werden. Ein Vorteil jedoch
ist so bedeutend, daß schon allein um seinetwillen
jedes derartige Unternehmen Beachtung und För-
derung verdient: die Stärkung des historischen
Sinnes, die aus mancherlei Ursachen gerade in
der Naturwissenschaft so äußerst erwünscht ist.
Denn auch hier gilt, daß ein wirkliches tieferes
Verständnis der gegenwärtigen Wissenschaft nur
durch Würdigung der vergangenen Zustände und
der zu dem heutigen Zustande führenden Ent-
wicklung erlangt werden kann.
Von den oben angezeigten Veröfifentlichungen
sind drei biologischen Inhalts. Dr. Gottfried
Brückner (Aus der Entdeckungsgeschichte der
lebendigen Substanz) gibt ausgewählte Abschnitte
aus der Entwicklung der Zellenlehre von R. Hooke
(1667) bis zu E. Brücke (1862). Die Namen
Corti, Treviranus, R. Brown, J. Schieiden, Th.
Schwann, H. von Mohl (der die Bezeichnung Proto-
plasma einführte), C. Nägeli und M. Schnitze be-
zeichnen außer den Erstgenannten diesen Weg,
der uns bis zu der eigentlich modernen Zell-
forschung leitet. Prof. Dr. Friedrich Klengel
berichtet über „Die Entdeckung des Generations-
wechsels in der Tierwelt", die bekanntlich wesent-
lich an den Namen des Dichters Adalbert v. Cha-
misso geknüpft ist, dessen Originalabhandlung
hier zum erstenmal in deutscher Sprache erscheint.
Daran angeschlossen ist die teils polemische, teils
weiter ausbauende Weiterentwicklung der Ent-
deckung. Von besonders aktuellem Interesse ist
das von Dr. Alfred Noll herausgegebene Heft
„Die Lebenskraft in den Schriften der Vitalisten
und ihrer Gegner". In unserer Zeit, in der der
Gedanke des Vitalismus, wenngleich in teilweise
geänderter Form und unter tiefergreifenden Vor-
aussetzungen, eine sehr ernst zu nehmende Wieder-
belebung erfahren hat, jedenfalls im Mittelpunkt
grundlegender Betrachtungen und Diskussionen
steht, ist jede Anregung, sich mit den Gedanken
älterer Vitalisten und ihrer Gegner historisch zu
beschäftigen, erwünscht.
In dem einen der beiden anderen Hefte findet
sich eine Geschichte der Dampfmaschine von den
ersten hierhergehörigen Notizen aus dem Alter-
tum bis zu James Watt, von Max Geitel.
Schließlich läßt uns Prof. Adolf Kistner in
ausgewählten , z. T. neu übersetzten Stücken an
dem ewig denkwürdigen Kampfe teilnehmen, der,
indem er die Erde aus dem Mittelpunkte des
Weltalls riß und als bescheidenen Nebenstern in
den Raum hinausschleuderte, vielleicht mehr als
irgendeine andere naturwissenschaftliche Entdek-
kung zu dem großen Umschwünge der Geister
beigetragen hat, der die letzten Jahrhunderte
gegenüber dem Mittelalter kennzeichnet, und uns
wirklich in einer „andern" Welt als die Genera-
tionen vor 1500 leben läßt. Unter den vielen
Originaldokumenten dieses Heftes befinden sich
auch Abschnitte aus Galileis berühmtem „Dialog",
ferner das Urteil der römischen Kurie, Galilei's
Abschwörungsformel, und Briefe.
Sachliche Einleitungen und Abbildungen sind,
soweit nötig, sämtlichen Heften beigegeben.
Wasielewski.
Inhalt; Baschin: Die Temperaturverhältnisse der Polargebiete. — Einzelberichte: Heilbronn: Zustand des Plasmas auf
Reizbarkeit. Knoll: Das Ausgleiten der Insektenbeine an wachsbedeckten Pflanzenteilen. Coenian; Über merkwürdige
Bewohner der Sporangien von Pilobolus. F. u. M. Boas: Regionale Variationsbreite der Kopfform der Bevölkerung
Italiens. Rosenkränzer: Die Reaktionsgeschwindigkeit in heterogenen Systemen. Stromer: Saurierfunde in
Deutsch-Südwestafrika. Terroine: Über den Gehalt des Körpers an Fettsäuren und Cholesterin. Droge: Einfluß
der Milzexstirpation auf die chemische Konstitution des Tierkörpers. — Bücherbesprechungen: Der Mensch aller
Zeiten. Sladen: The Humble-Bee. Berg: Das Problem der Klimaänderuog in geschichtlicher Zeit. Verworn:
Die Mechanik des Geisteslebens. Brückner: Aus der Entdeckungsgeschichte der lebendigen Substanz; Kistner:
Im Kampf um das Weltsystem; Klengel: Die Entdeckung des Generationswechsels in der Tierwelt; Geitel; Ge-
schichte der Dampfmaschine bis James Watt; Noll: Die „Lebenskraft".
Manuskripte und Zuschriften werden an den Schriftleiter Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, MarienstraSe IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lipperl & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Baiui ;
der ganzen Reihe 29. Kand.
Sonntag, den 29. November 1914.
Nummer 4H.
[Nachdruck verboten.]
Auf den Höhen des Kilimandscharo.
Teil I.
Von Prof. Dr. Christoph Schröder, Berlin.
Als ich am i. III. 06 zum ersten Male die
Massaisteppe im Interesse zoo ■ biologischer
Studien durchstreifte, als mich zum ersten Male
inmitten der sonnendurchglühten Hjphaenen-
Bestände nahe dem Panganisumpfe, welchen der
Himo verläßt, das gewaltige Massiv des Kili-
mandscharo mit dem mannigfarbenen Grün der
Kulturfelder, des Urwaldgürteis, der Erica -Par-
zellen und noch weiter hinauf der Hochwiesen wie
des Euryops- und E ric i n e 1 1 e n - Gestrüpps,
zugleich seine in die klare Höhenluft hochragenden
Gipfel, der malerisch zerschluchtete , rotfarbene
Mawensi und der erzgraue, mit einem Dome
ewigen Eises gekrönte Kibo, grüßten: da nahm
mich dieser märchengleiche Anblick unwider-
stehlich gefangen, da mußte ich hinauf in seine
lockenden und doch so unwirtlichen Höhen, ob-
wohl ich jeder Ausrüstung für ein solches Unter-
nehmen bar war.
Ein paar wollene Decken, welche ich von
einem Inder in Moschi erstand, 2 Schlafsäcke aus
der Zeit der Besteigungen Hans Meyer's her,
welche mir von der Militärstation freundlichst ge-
liehen wurden, machten mir einen Aufstieg bis
nahe an den Ratzelgletscher 5400 m (s. „Natur"
Jahrg. III, H. 21/24) und einige wissenschaftliche
Ausbeute möglich.
Wer je den Zauber der Tropen kennen lernte,
kann sich nie wieder der Sehnsucht dieser Er-
innerung entziehen; noch mächtiger fesselt diese
jeden zur Wiederkehr, der je die hehren, er-
greifenden Einsamkeiten der Höhen des Kilima-
ndscharo geschaut hat.
Ich mußte sie wiedersehen, dieses Mal war eine
Besteigung des Kibogipfels (6010 m) vorgesehen, im
Februar 191 2. Die Bahnlinie Tanga-Moschi stand
wenige Tage vor ihrer Eröffnung; von Buiko führte
mich ein gelegentlicher Güterwagenverkehr noch
rechtzeitig nach Moschi, um auch dort als Teil-
nehmer an der Kaiser-Geburtstagsfeier zu er-
kennen, welche Fortschritte dieses nunmehr durch
die Bahn voll erschlossene Gebiet bereits ge-
macht hatte, zugleich aber auch, wie ein wesens-
fremder Schleier über die so lange unberührte
Natur und ihre Bewohner hiermit gefallen war.
Und auch der Bergriese zeigte ein anderes Ge-
sicht denn i. J. 1906; weite Schneefelder deckten
seine Gipfel bis an das Sattelplateau überall, wo
damals die vielfarbene Tönung des nackten Ge-
steins im Sonnenglanz geleuchtet hatte.
Doch auch jetzt durchglühte die Steppe heiß-
flimmernder Sonnenbrand, auch jetzt strahlten die
Höhen im Sonnenschein. Der Schnee an sich
konnte den Aufstieg, den ich diesmal über Marangu
nahm, nicht gefährden.
Diesmal über Marangu; nicht geraden Weges
von Moschi durch den Urwaldgürtel hinauf wie
i. J. 1906. Ich folgte darin einer Bitte des Herrn
Dr. phil. E. Th. Frörst er (Moschi), die von ihm
einige Zeit zuvor gleichermaßen zurückgelegte
Route zur Biwakhöhle kartographisch aufzunehmen.
Einen seiner Negerbegleiter gab er mir für die
betr. Orientierung mit, den „Kirongozi". Auch
das Maultier und dessen Aufwärter, den „boy ya
frazi", stellte er mir; eine Freundlichkeit allerdings,
die mir fast sehr teuer zu stehen gekommen wäre.
Sein Interesse lag darin begründet, daß er als
Besitzer des Gasthauses auf zunehmenden Reise-
verkehr zählen möchte; und ich kann die Ver-
bindung mit ihm empfehlen. Die Einzelheiten
der erfolgten Wegaufnahme lassen sich teils nur
ungefähr mit der im ganzen gewiß hervorragenden
Hans Meyer 'sehen Karte (1900) in Einklang
bringen ; ich werde sie daher hier nicht weiter
berühren. Für die Mehrzahl der Tage hatte ich
in einem jungen Afrikander, Herrn O. Raab, zu-
fällig in Moschi einen Begleiter gefunden, den ich
vielseitig schätzen gelernt habe und dem ich auch
an dieser Stelle für seine Teilnahme an den Mühen
und Entbehrungen bestens danken möchte.
So brach ich auf.
Aber doch, die Schneedecke hat sich als ein
böses Vorzeichen erwiesen. Furchtbare Unwetter,
welche der Expedition schwere Gefahren brachten,
warteten ihrer.
Die Schilderung des Inhaltes zunächst zweier
Tage, denen ich als Teil II jene der beiden weiteren
folgen lassen werde, dürfte über das naturwissen-
schaftliche Interesse hinaus ein solches in Be-
ziehung auf die Beurteilung der Negerpsyche be-
sitzen. Ich gebe sie fast wortgetreu wieder, wie
ich sie nach den Aufzeichnungen des Tagebuches
noch im Banne der afrikanischen Natur und unter
dem frischen Eindruck des Erlebten zu Amani
(Biologische Versuchsstation nahe Tanga) aus-
gearbeitet hatte.
3. II. 1912. Vom 4050m-Lager bis zur
Biwak-Höhle (4690 m).
Wie nun schon regelmäßig seit 8 Tagen, von
Moschi an, weckte mich zwischen 4 und 5 Uhr
früh empfindliches Frösteln, ungeachtet der wasser-
dichten „Militärzeltbahn" und einer Wolldecke
unter dem Schlafsack auf dem Ericinellen-Lager
und den zwei Wolldecken darüber. An Aufstehen
lassen Dunkelheit und Kälte nicht denken. Bevor
nicht die Morgensonne Erwärmung spendet, würde
754
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 48
nur eine sehr ausgiebige Benutzung des Kiboko
die stumpf brütenden, todesstarr regungslosen
Leute aufzurütteln vermögen.
Um es sofort hervorzuheben, wenn ich hier und
später vom „Kiboko" spreche: ich habe nie eine
Nilpferdpeitsche besessen 1 Der Ausdruck soll nur
besagen, daß es nötig wurde, der Aufforderung
handgelegentlichen Nachdruck zu geben. Unter
gewöhnlicheren Umständen ist der Neger nach
meiner Erfahrung durchweg mit dem Worte bei
wohlwollender, wenn auch strenger Behandlung
leicht lenkbar.
Die kommende Stunde wachen Träumens gilt
der Erinnerung, trägt in heimatliche Fernen, zaubert
Bilder entschwundener Tage.
Und wie ein Erschrecken durchfährt es das
Sinnen, da die aufgegangene Sonne nun die östliche
Zeltwand mit ihren goldleuchtenden Strahlen trifft.
Das Schleuderthermometer zeigt — es ist bald
6^/2 Uhr — im Zelte -0,5", etwas später draußen
fast -2 ". Die morgendliche Toilette, deren wenige
Ausrüstungsgegensiände auf einer Trägerkiste neben
dem Lager zur Hand liegen, wird nicht zeitraubend,
die Bekleidung braucht nur durch Stiefel und Khaki-
Jacke ergänzt zu werden. Reis in Maggi - „Früh-
lingssuppe" — die Maggi'schen Präparate haben
mir überhaupt vorzüglichste Dienste getan — und
der Dosenrest ,, junge große Bohnen" vom Abend
her mit etwas Butter, dazu der unvermeidliche
Tee, zu dem das Wasser erst unter der Eisdecke
hervorgegossen werden muß, bilden den schnell
bereiteten, noch flüchtiger verzehrten iVIorgenimbiß.
Es ist nahezu 7 Uhr. Die bereits merklich
höher stehende Sonne hat längst den Nachtreif
getilgt. Dennoch hocken die Leute gänzlich teil-
nahmslos an den verglommenen Feuern, unkennt-
lich verhüllt in ihren Decken, wenige nur unter
den Zelten geborgen. Mein Suaheli-Vokabelschatz
reicht nicht aus, es sind derbe deutsche Worte,
welche schließlich im Verein mit nicht miß-
zuverstehenden Drohungen des Bergstockes und
dem anfeuernden Poltern des „msimamizi" (Träger-
aufseher) einige Bewegung in die Gesellschaft
bringen. Aber unendlich zögernd, bei aller Apathie
ausgesprochen mißmutig geht es an das .Abbrechen
des Zeltes, an das Zusammenpacken und Ver-
schnüren der Lasten. Erst nach geraumer Zeit
kann der Autbruch von statten gehen.
Das Maultier scheint bessere Miene zu alledem
zu machen. Es läßt gänzlich unentschieden, ob
es auch während der Nacht unter dem alten Zelt-
plane gefroren hat und ob es etwa der verab-
folgte Mais und das bereits dürftige Gras des
Platzes für solche Unbill entschädigt haben. Es
folgt ziemlich willig den Wünschen seines Reiters
und sucht den nächsten starken Anforderungen
gerecht zu werden.
Mehr als einmal hatte ich sie schon zuvor
verwünscht, meine Zusage, gerade dieser Route
hinter dem Kirongozi zu folgen, die mir die
wenigst zu empfehlende überhaupt scheint. Und
ich war schon damals nicht zweifelhaft, daß der beste
Weg vom Bismarc k hü gel aus zunächst gerad-
linig, fast genau nordwestlich, hart heran zum
Südfuß des Mawensi über leicht hügeliges Ge-
lände führt, ihn westlich am Ursprünge zweier
Talschluchten umgeht und dann über das fast
plane Sattelplateau geradeaus ostnordostwärts zur
Biwakhöhle führt. Das ist unter nicht ungünstigen
Verhältnissen eine einzige Tagesentfernung, großen-
teils selbst im Galopp zurücklegbar, für die Träger
30 kg nicht überschreitende Lasten und Wadschagga
als solche vorausgesetzt.
Diese andere Route kann zwar auch in allem
Wesentlichen mit dem Maultiere bezwungen
werden ; die selbstverständlich zickzackwegige
Traversierung der 9 Talschluchten jedoch ist
auch im höheren, flacheren Teile immer mühe-
voll und erfordert sehr oft die ganze Aufmerksam-
keit des Reiters, die er gerne der Natur allein
widmen sollte und möchte. Einzelne kurze Ab-
fälle aber sind selbst für die Träger kaum, zu
Maultier bestimmt nicht zu bewältigen.
Schon am Abend zuvor hatte mir die Karte
gezeigt, daß mich nur der nächste höhere Schlucht-
rücken jene Stätte (etwa 3900 m) zu erkennen
hindern könne, von wo ich vor fast genau 6 Jahren
jenen Aufstieg direkt oberhalb Moschi bis nahe
an den Ratzel-Gletscher unternommen hatte. Es
wurde mir auch nicht schwer, die Gegend jenes
Lagerplatzes alsbald an sehr charakteristischen
Felskuppen wiederzufinden.
Noch 2 sicher 80 — 100 m tiefe Talschluchten
waren gequert, die Hänge mehr denn früher
blockbesät und durch anstehende, oft gerundet
blättrige Felsen ausgezeichnet, in der Tiefe
ein schmal ausgewaschenes Erosionsbett mit
reichlich kühlem, klarem Wasser im ersteren, das
über schwellendes Moospolster dahin rieselte, um-
standen von der ganzen heimatlich grüßenden
I-^lora dieser Höhen, ein ausgeprägter, fesselnder
Gegensatz zu den zahlreichen Senecien.
Die eindrucksvolle Schönheit gerade dieses Bach-
bettes empfand ich allerdings erst, nachdem ich beim
Anblicke seines Wassers mit dem Kirongozi Aus-
sprache gehalten hatte. Wasser findet sich näher der
„Höhle" nicht, so wenig wie Brennholz. Man darf
daher nicht versäumen, sich den Bedarf für mög-
lichst die ganze Zeit des Höhenlagers, wenigstens
aber für einen Tag mitzunehmen. Dies geschieht
naturgemäß aus Rücksicht auf die Beschwerung
der Leute so spät, d. h. so hoch wie möglich.
Ich hatte also den Kirongozi wiederholt vorher
angewiesen, mich rechtzeitig darauf hinzuweisen.
In Erinnerung an die von ihm verschuldete
Schwierigkeit, am Abend zuvor Wasser zu erhalten,
fragte ich aber doch, als wir kaum das Lager ver-
lassen hatten, nach, wie es weiterhin mit dem Wasser
sein würde. „Hapana maji ingine," also kein wei-
teres Wasser auf dem VVege! 4 Träger mußten
daher die nächste Steilschlucht zurück, um die 12
Wassersäcke zu füllen; fast eine Stunde beschwer-
lichen Weges und eine unliebsame, durch die
weiteren Ereignisse fast verhängnisvoll gewordene
Verzögerung, die aber, wie so manches andere
Mißgeschick, das Gute zeitigte, daß ich die Lauferei
N. F. Xni. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
755
hinter diesem „Führer" endgültig aufgab und da-
durch, durch die Wahl eines bequemeren, kürzeren
Weges zur Biwakhöhle, die Expedition vielleicht
rettete.
Diese Erfahrung glaubte ich ausführlicher
wiedergeben zu sollen, um hervorzuheben, daß
ein Neger immer unzuverlässig ist und daß als
F'ührer nur ein Europäer dienen kann ! Die fer-
neren Ereignisse bestätigten dieses Urteil gleich-
falls.
Nicht ohne Beschwerde querten wir jene zwei
letzten Schluchten, deren Kuppen ausgedehnte
Stellen anstehender, flach buckliger, blättrig ver-
witterter Lava zeigten. Hie und da hochragende,
flechten- und moosbedeckte Felsriesen. Der Kiron-
gozi wollte die letzte Schlucht seiner Gewohnheit
gemäß durchaus weit zu Tal nehmen, von dem
Sattelplateau war nichts zu sehen. Ich war aber durch
die Erkennung meines Lagerplatzes von 1906 verge-
wissert, daß aller Voraussicht nach der kaum 1 50 m
höhere Talursprung mehr oder minder eben zum
Plateau überleiten werde.
Der Tag war schon gegen i Uhr vorgeschritten
und mit ihm zogen die Nebel dichter und höher
zu Berg, verdeckten seit langem die Sonne und
ballten sich bereits zu gewitterschweren JVIassen ;
die Träger waren vor lauter Unlust bei geringster
Leistung schon ermüdet, sie schienen es bereits,
noch ehe sie am Morgen ihre Lasten zögernd auf-
luden , noch stand das weit längere Stück Weges
von unbekannter Schwierigkeit bevor: so wurden
die Minuten dieses Anstieges, den die Begleit-
mannschaft zunächst von unten aus verfolgen
durfte, voll ausgeprägtester Spannung, die viel-
leicht ein instinktives Empfinden drohender Ge-
fahr erhöhte.
Aber da lagen sie ja greifbar nahe, die 3 Hügel,
welche das Sattelplateau südwestwärts säumen :
der „Östliche Lavahügel" zunächst, nordwärts, der
,, Westliche Lavahügel" in stark westlicher Rich-
tung, in lebhaft abweichender, hellerer Braun-
tönung an ihm vorbei nordwärts wenig sicht-
bar der entferntere „Rote Mittelhügel." Noch
hatten nur leichtere Nebelstreifen sie erreicht,
die Traversierung des Geländes zum Ostfuße des
mittleren Hügels konnte nennenswerte Schwierig-
keiten nicht mehr bieten ; so löste freudigste Zu-
versicht die Sorge aus.
Ostwärts zu Füßen des „Westlichen Lavahügels"
tritt aus dem schwachen Grün eine scharf be-
grenzte Rotfärbung des Bodens hervor; sie dient
als Merkzeichen der einzuschlagenden Richtung
und ist fast schnurgeraden Weges gleicher Höhe
zu erreichen, vorbei an den Steilhängen des öst-
lichen Blockkolosses, nahe dem sich spärliche
Reste kühlen klaren Wassers finden. I5ei der
Wasserknappheit des Morgens hatte ich Tee für
den Weg nicht bekommen; so legte ich mich zum
staunenden Ergötzen der Leute lang nieder zu
trinken. Es machte keiner nach, obwohl die etwa
25 1 Wasser in den Säcken nicht gerade viel be-
deuteten.
Einige gleichartige, sanglose Vögel von Spatzen-
größe flogen bodenniedrig zwischen dem letzten
Euryops- Gestrüpp; ein paar Schrotschüsse brach-
ten sie nicht zur Strecke, glücklicherweise, denn
es wäre keine Möglichkeit geworden, sie zu präpa-
rieren. Hier und da kriechen schwarzglänzende,
rundlich feiste Käfer über den „Weg", die ihre
Nahrung in den Losungen der Elen antilope finden.
Und einen eigentümlichen Typusgenossen erhalten
sie in einem stattlichen Falter, einem halberstarrten
„Schwärmer", der bei aufsteigendem Morgenwinde
diese unwirtlichen Höhen erreicht haben wird.
Sonst nur vereinzelte andere minutiöse Insekten-
formen. Denn auch die Vegetation wird zusehends
dürftiger, nicht so schnell in Verminderung der
bisherigen Artenzahl, als an Armut der Indi-
viduen und ganz besonders dem kümmerlichen
Wüchse nach.
Das Gestein wird alleinherrschend, als sandiger
oder gröberer Schotter, als eingestreute Blöcke
und Felsgiganten das Auge hinaufführend zu den
beiden Gipfelkolossen, gleichfarben scheinend und
doch bei näherem Vergleiche mannigfach ver-
schieden in Struktur und Färbung, die lautlose Ein-
samkeit bald nur noch bewohnt von wenigen Stein-
moosen und zahlreichen buntfarbenen Krusten-
flechten, welche noch weit zu den Höhen hinauf
manche F'elsindividuen fast vollständig bedecken.
Nur da, wo Felsblöcke innerhalb des Schutter-
sandes Schutz gegen die Kälte der nächtlichen
Failwinde wie gegen die tödlich dörrende Ein-
wirkung der Sonnenbestrahlung gewähren, reicht
noch die Blütenvegetaiion in armseligen Helichrysen
weiter hinauf. Und ist es einer solchen Pflanze
einmal gelungen, auf freier Fläche anzuwurzeln,
so sieht sie sich genötigt, ihr Stengelwerk dem
Boden flach anzuschmiegen; neue Wurzeln ent-
sprossen den Stengeln am Boden ringsum, das
Wachstum schreitet strahlig fort, die zentralen
älteren Teile sterben unter dem abwechselnden
Einflüsse gegensätzlicher Temperaturen von etwa
30 " C im Wechsel von 24 Stunden ab, die Sproß-
spitzen vermögen sich, begünstigt in ihrer Lebens-
fähigkeit vielleicht auch durch Niederschläge, zu
erhalten; es bilden sich jene für diese Höhen
charakteristischen, ringförmigen, durch ungleiches
Wachstum unregelmäßigen, durch Absterben oder
F"ehlen einzelner Teile öfter offenen Pflanzenpolster,
welche auch die Grasvegetation bildet, sofern sie
nicht in Form vereinzelter armseliger Bulte ver-
treten erscheint.
Als wir jene Stelle am „Westlichen Lavahügel"
erreichten, waren die Träger schon zuvor angelangt ;
photographische Aufnahmen hatten uns zurück-
gehalten. Schon brannten einige dürftige Feuer
von dem letzten kümmerlichenEuryops-Gestrüpp,
an denen sich die Leute zu wärmen suchten. Die
Sonne war seit langen Stunden hinter schweren
Wolken verschwunden, die Nebel wagten sich
schon fetzenweise über das Plateau, das Schleuder-
thermometer zeigte (um 2'') 8''C, und ein böiger
Wind fegte über die Fläche. Wie in Vorahnung
nahenden Unheils ritt ich weiter, mit dem strengen
Auftrag an den Trägeraufseher, gleichfalls sofort
756
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
N. F. Xm. Nr. 48
mit den Leuten aufzubrechen. Mich selbst trieb es
unaufhaltsam, die Biwakhöhle {4690 m) am
Fuße des Kibo zu erreichen, um eine erträgliche
Unterkunft für die Expedition zu sichern.
Der augenfällige „Rote Mittelhügel" bliebe um
einiges zur Linken liegen; ich war sogleich auf
das Plateau herabgeritten, eine langsam zum Sockel
des Kibo ansteigende Ebene, deren eigenartig
algengrünlich schimmernder Boden mir auf dauernde
seegleiche VVasserstauung zur Regenzeit zurück-
zuführen scheint. Schon grollen dumpfe Donner
nahe zu Raupten aus den finster geballten Wolken-
massen, denen sich die düster grauen Nebelschleier
einen. Die .Stimme der Natur, der einzige Laut
in dieser wüstenglcichen weiten Ode; sie weckt das
leise Anschlagen bangender Saiten in der Seele,
bangend vor dem, was elementare Naturgewalten
über den Vermessenen vermögen, der die Ruhe
des Erhabenen störte.
Als ob diese Gedanken die Elemente gereizt
hätten, ihre furchtbaren Kräfte zu offenbaren, ver-
finsterte sich der Himmel zu Dämmerlicht, und
bei anhaltendem Winde aus Nordwest entlud sich
unter zuckenden Blitzen ur;d rollenden Donnern
ein dichter und dichter fallender Graupelschauer,
der binntn kurzem das All dieser Tropenhöhen in
das eisstarre Wintergewand der nordischen Heimat
gekleidet hatte. Was mochten die Träger, meist
Wanyamwesi, bei diesem ihnen völlig fremden Natur-
ereignis empfinden I Feuchtigkeit und Kälte gilt
diesen Kindern des sonnendurchglühten Steppen-
landes als das Schrecklichste aller Übel. Und
rückwärts spähend sah ich kaum einen von ihnen.
Die Sorge um sie ließ mich jetzt nur einen Wunsch
kennen: die Biwakhöhle aufzufinden.
Weiter vor in der eingeschlagenen Richtung
traten langsam ein wenig schärfer einzelne zer-
schluchtete Felsmauern aus dem bleichen Einerlei
der Schneedecke als dunkle Farbrisse hervor, die,
einander im Charakter ähnlich, auch der Vor-
stellung glichen, die ich von der die Höhle ein-
schließenden P'elsgruppe hatte. Und das unter
dem Zwange der Notwendigkeit geschäftige Auge
sah bald hie, bald da durch die Schleier des
prasselnden Hagels hindurch in den geheimnisvollen
Schatten von Felsrissen den Eingang zur Höhle.
Ein eigentümlich pyramidenförmiger, vereinzelter
Felsblock, den andere als Merkmal der Nähe
schildern, lag schon hinter uns. Die ferneren
Minuten des bei aller Ermattung rastlosen Mühens
wuchsen zur Ewigkeit aus, unser aller Leben viel-
leicht hing von dem Erfolge dieses Suchens ab ;
und immer wieder wendete die Sorge um den
Verbleib der Leute den Blick zurück.
Da, — da liegt der Eingang der Höhle vor
uns, sie ist erreicht. Ihr Anblick löst eine uner-
trägliche Last banger Sorgen aus, und die eigene
Erschöpfung macht sich fühlbar, die nahe Er-
starrung des eigenen Körpers. Wankend, an den
eisglatten Blöcken abgleitend, die sich zum etwa
I Vo iTi über dem Boden liegenden Eingange häufen,
gewinne ich den begehrten Schutz der Höhle.
Ich sehe mich enttäuscht; in ihrem offenen
vorderen, nicht mannshohen, mehr rechteckigen
Teile von vielleicht 6 qm Fläche, den große Blöcke
vom inneren in halber Höhe fast trennen, streicht
der Wind kalt hinein, und die Graupeldecke
deckt vorn auch ihren Boden; den hinteren mitte-
höheren muschelförmigen Teil von etwa 5 m
Durchmesser können die dürftigen Lichtstrahlen,
welche die Dämmerung draußen durch einige
Felsspalten sendet, nicht erhellen. Ich stolpere
alsbald über Geröll und Blöcke; es ist drinnen
um nichts wärmer. Fröstelnd in der kalten nassen
Kleidung, abgespannt, hungrig — den Durst hatte
ich schon während des Weges an den Graupel-
anhäufungen löschen können, die sich in den Falten
des Mantels und im Sattelzeug gefangen hatten
— hocke ich mich auf einen Felsblock vorne
nieder in Erwartung der Leute, die ich vor etwa
2 Stunden zurückgelassen hatte.
Einzelne trafen sehr bald nachher ein; ich hatte
ihnen den Kirongozi entgegengeschickt, sie fanden
unsere Spuren auch leicht im Schnee. Wortlos,
wankend, mit den Lasten überall anstoßend, mit*
dem Maultier, das auch in die Höhle aufgenommen
werden mußte, hart zusammentreffend, kamen sie
todesmatt heran. Ich ließ die anderen Lasten irgend-
wohin beiseite werfen; die Last Brennholz schien
mehr wert als alle anderen zusammen. Feuer,
Wärme 1 .^ber es bedurfte einer kräftigeren Sprache,
bevor ich diese Ansicht auf die unter dem Ein-
flüsse der heutigen Schrecknisse willenlosen Leute
übertragen und in die Tat umsetzen lassen
konnte.
Von dem feuchten Holze qualmt schließlich doch
ein schwaches Feuer zu unseren Füßen ; auch der
Anblickdieserkläglichen Wärmequelle kann Wunder
nicht wirken. Und fast ohne Bewußtseinseindruck
schweift das Auge hinaus, fast übersieht es, daß
der Graupelsturm einem feinen, leise deckenden
Schneefalle gewichen ist, unter dessen weicher
Hand die Natur zu schlummern beginnt. Und auch
unsere sorgenden Gedanken ermüden im Schweigen
ringsum.
Als mit allen Zeichen des Entsetzens der
Msimamizi am Eingang erscheint und in über-
stürzten Worten berichtet, die noch fehlenden 5
Träger und der Boy seien im Eisesgrauen nieder-
gesunken, etwa I Stunde entfernt. Das Maultier
satteln, wieder hinaus in die verschneite Öde und
zurück im Galopp zur Unglücksstättc, war das
Werk weniger Sekunden, nachdem die am wenig-
sten ermüdeten 6 Träger mit einigem wortbe-
gleiteten Nachhelfen auf die Beine und unter der
Leitung ihres Msimamizi wieder hinaus in Kälte
und Graus getrieben waren. Und für die rest-
lichen S Träger wie den Koch gab es ebenso-
wenig fernere Zeit zum Ausruhen. Bald flackerte
im inneren Teile der Höhle ein wärmendes Feuer
empor, heißes Wasser brodelte im Kessel und
stärkender Reis ging seiner Vollendung entgegen;
in die Lasten wurde inzwischen einige Ordnung
gebracht.
Die Leute waren im Laufschritt, getrieben
von dem zugesagten bakshishi, dem frischen
N. F. XIII. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
757
Schmerz einer gewissen Körperstelle und dem
anfeuernden Zureden des Msimamizi fortgeeilt.
Der Schneefall hatte inzwischen fast aufgeliört.
Nicht lange, und es kamen 2 Träger mit ihren
Lasten wie trunken angeschwankt ; offenkundig
fast besinnungslos wehrten sie sich förm-
lich gegen die hilfsbereiten Hände, die ihnen die
Last abnehmen und zur Höhle hinein helfen wollten.
Sie hockten sich lautlos zum Feuer; heißen Tee
gössen sie mechanisch nieder.
Eine Stunde Weges von dieser Stätte entfernt:
auf dem Rücken liegend, langgestreckt, die Hände
verkrallt körpcrabseits, den Kopf auf die Brust
gesenkt, ihren Körper unter den Decken verhüllt,
regungslos gereiht, verschneit auf fahlem Leichen-
tuche liegen die fehlenden Träger zwischen ihren
Lasten. Dem Erfrieren nahe bei einer Temperatur
von 4" 0)5" C, 5 Uhr naclimittags, eine Schnee
decke von kaum i cm Höhe, die bereits überall
unter dem Einflüsse des sich aufhellenden Spät-
tages zu tauen anfängt 1 Auf Zureden äußern
die Leute keinerlei Regung; sie werden
so und wollen sterben; amri ya mungu, es ist
des Herrn Wille. Ohne jede Spur einer gegen-
sätzlichen Willensbetätigung, ohne die geringste
seeliche Erregung legten sie sich zum Todesschlafe
nieder, nur weil die ungewohnte Kälte, der An-
blick des weißgefrorenen Regens bleiern, uner-
träglich auf ihnen lastete. Ein furchtbares Bild
des fatalistischen Mohammedanismus , diese
menschliche Armseligkeit, um so niederschmettern-
der wirkend innerhalb der unfaßbaren Weltenweite,
die unsere Seele hier empfindet!
So wurde dem Kiboko mit Notwendigkeit eine
beherrschende Rolle-zuerteilt, um die Halberstarrten
zum Leben zu erwecken. Alle 3 erhoben sich,
eckig, ruckweise, taumelnd, als könnten sie ihren
Bewegungen nicht gebieten, das Gesicht abweisend
verzerrt; und nun endlich stehen sie, wankend.
Halt suchend. Je einer der hinzugekommenen
Träger greift stützend diesen Unglücklichen unter
den Arm, zwei vermögen, so geführt, die Höhle
in stumpfem Brüten trunken fallenden Schrittes
zu gewinnen, der dritte entsinkt nach kurzem
völlig apathisch der Hand des Führenden. 3 Leute
nehmen ihn hoch, zwei vorn anfassend, einer die
Beine sich über die Schultern legend, tragen sie
den halb leichenstarren Körper zur rettenden
Höhle.
Noch fehlt einer, der Boy, welcher um einiges
ferner liegt. Zurück zur Höhle, das ebenfalls völlig
erschöpfte Maultier zu einem letzten Galopp ge-
peitscht, um schleunigst weitere Leute heranzu-
holen. Die Ärmsten, selbst todesmüde, vermag
keine bakshishi- Verheißung zu locken; sie hocken,
Lebewesen ungleich, am qualmenden Feuer. Er-
barmungslos, aber Wunder schaffend, redet der
Kiboko auf sie ein.
Und sie gehen hinaus in den dämmernden
Abend, zurück zu jenem letzten Unglücklichen,
den die bleiche Schneedecke noch in Todesarmen
gefesselt hält. Zwei, drei Leute; der Koch, ein
Stammesgenosse des zu Suchenden, schließt sich
ihnen auf Vorhalt dessen an. Da liegt der
Boy verschneit, über kaltem Grunde auf der
Seite, die Kniee zum Kopfe hochgezogen, die
Form eines Menschen kaum erraten lassend,
wie tot, unweit des Rucksackes, der nur noch
Trümmer eines photographischen Apparates birgt.
Auch hier bleibt nur jene deutliche Sprache übrig,
die für manches Kindergemüt bisweilen die Stimme
ersetzen muß; auch hier dieselbe Wunderwirkung 1
Der Scheintote rührt sich, erhebt sich, stückweise
zwar und wie erstarrt in den Kniegelenken, die
Augen kaum geöffnet, ohne jedes Begreifen des
Zieles unseres Mühens. „Ninataka kufa", murmelt
er schließlich: „ich mag sterben". Dieser Wunsch
wird ihm allerdings nun nicht gewährt.
Die Leute packen ihn und tragen ihn wie
jenen anderen dem Schutze entgegen. Aber was
ist das? Die Todessehnsucht scheint ihm bitter
Ernst zu sein 1 Kaum ist er der Aufsicht der
Leute, die ihn schleppen, allein überlassen, er-
wachen ihm ungeahnte Lebenskräfte; er schlägt
wie ein Verrückter, vielleicht auch im Fieberwahn,
mit Händen und Füßen um sich, so daß ihn die
Leute kaum zu halten vermögen. Arznei: Kiboko.
Und auch er konnte dann in die Höhle gerettet
werden.
Dort half ihm wie seinen Leidensgefährten ein
kräftender Kognak zur weiteren Wiedererlangung
von Lebenszeichen. Die Genossen rieben ihn
alsdann ein wenig, hielten und hockten ihn nahe
dem Feuer. Langsam, sehr langsam wich unter
dem Einflüsse äußerer und innerer Wärme die
Starrheit aus Gesicht und Körper; die Bewegungen,
welche zunächst mehr Muskelzuckungen glichen,
nahmen einen ruhigeren geordneten Verlauf. Die
beiden Schwerbedrohten wurden dann in Decken
gehüllt, der eine schlief alsbald, der Träger aber
phantasierte noch lange in die Nacht hinein, fort-
gesetzt den Namen des Boy, auf ernstes Zurufen
hin schließlich leise, wie liebevoll flüsternd. Es
war Mitternacht, bevor auch er endlich im Schlafe
Genesung fand.
Längst schon war draußen die Nacht dem
Tage gefolgt, nicht in Finsternis kommende
Schrecken bereitend: ruhig, klar, von Mondenglanz
erfüllt. Matter Silberschein lugte wie aus weiter
Ferne vom Eingange zu uns hin , stahl sich in
schwachen Strahlen durch die Felsspalten zur
Lagerstätte, deren düsteren Raum spärliches Kerzen-
licht mühsam erhellte, während das Feuer unter
der rauchschweren Luft zu ersticken schien. Mein
Begleiter und ich hatten , kaum daß die Leute
gerettet und die Lasten unter Schutz waren, einen
förmlichen Heißhunger entwickelt; zunächst war
der Kognak das Ziel unseres eifrigsten Bemühens,
zu gleicher Zeit stellte sich ein merkwürdiges
Bedürfnis nach Fleisch ein, dem eine 2 Pfund-Dose
Corned-Beef zum Opfer fiel.
Nun erst konnten wir dem weiteren Zubereiten
des Mahles seitens des Koches in Ruhe zusehen.
Durch längeres Umschauen erhöhte sich die I'reude
über diese Unterkunft keineswegs. Soweit nicht
große Blöcke den Raum beanspruchten, war der
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 48
Boden uneben mit sandigem und gröberem Schutt
bedeckt. Wir entschieden uns schließlich für den
hintersten Teil des Raumes, zwar unbequem schräge
zumFeuer hin gleitend, aberdoch auf größerer Fläche
einigermaßen plan. Ein Stück Zelttuch über dem
feuchten Boden, eine Wolldecke, der Schlafsack
und eine weitere Wolldecke, und wir darin in
voller Kleidung, in den Stiefeln, um nach Mög-
lichkeit die Eigenwärme zu bewahren. Es gelang
doch so wenig! Keine 2 Schritt entfernt, die
weißfarbene Masse am Boden, es ist eine Graupel-
anhäufung, die sich erhält und vergrößert, so lange
wir hier hausen.
Und eisig streicht der Zugwind durch die
Spalten über uns hin; das Schleuderthermometer
zeigte noch morgens 7 '/•> Uhr — 5 ° C. Dennoch
durften wir diese Spalten nicht verwünschen,
welche die einzige Möglichkeit des Rauchabzuges
boten, der zu ihnen höher über uns hinwegzog.
Nicht während des Liegens oder doch nur die
vereinzelten Male dann, wenn der Rauch zu uns
niederschlug, brachte uns der Aufenthalt in diesen
Höhen Atemnot; das Herz empfand keinerlei Be-
schwerden.
Was nützt der beste Wille zum Schlafen, wenn
man auf steinernem Lager friert. Mühsam hat
der Körper den einengenden Decken seine Tempe-
ratur mitgeteilt; jede kleinste Bewegung, die ihn
mit neuen Teilen dieser Hülle in Berührung bringt,
läßt ihn \or Kälte erzittern. Wiederum, liegt er still,
wird ihm der Druck des einzelnen Steines schließlich
zur unerträglichen Marter. So schleicht die Nacht-
ruhe zwischen Frösteln und schmerzendem Druck
unsagbar träge dahin. Aufzustehen aber verbietet
die Rücksicht auf die Leute, welche, soweit er-
kennbar, in ihre Decken vermummt, am Feuer
hockend und liegend, zwischen den Felsblöcken
verstreut, reg- und lautlos verharren. .So wird
der anbrechende neue Tag zu einer Erlösung.
4. II. 1912. Ein voller Tag als Gast der
B i w a k h ö h 1 e.
Die Glieder wie zerschlagen, die Wolldecke
umgeschlagen und doch arg frierend, möchte man
wenigstens Gesicht und Händen eine Auffrischung
zukommen lassen. Das letzte Wasser brodelt
gerade für den Tee. Etwas mißmutig über den
sorglosen Wasserverbrauch stolpere ich zum Aus-
gang in den milden Schein der Morgensonne
hinaus; auf dem feingrandigen Felde nahe vor der
Höhle halte ich Umschau. Mein Blick bleibt er-
staunt an einem schneestarrenden Höhenzuge
leichter Steigung haften, der nordwestlich hinter
den Felsgiganten, welche als zerklüftete Mauer
die Höhle säumen, herabzieht.
Mir war aus keiner Schilderung dieser Höhen
das Vorhandensein eines solchen sekundären
Grates bekannt. Ich trete zurück, um ihn zu
übersehen. Was ist es? Der Kibo selbst, vom
harmlosesten Aussehen der Welt, als ob ihn zu
besteigen ein anstrengungsloser Morgenspaziergang
wäre, zu dem er freundlichst einläd. Der Ratzel-
Gletscher nahe der linksseitigen Bergkontur,
greifbar nahe erscheinend , kenntlich bei be-
waffnetem Auge selbst in Einzelheiten der Eis-
struktur seiner Stirn, die mehr gradlinige Zone
der Abstürze der Nordostgletscher nicht weit von
der Höhenlinie des Berges, deren Gletscherband
2 Scharten bis an das Vulkangestein einschneiden:
die schmälere Johannes-Scharte mit mehr senk-
rechten Wänden und die breitmuldig ausge-
hobene Hans Meyer- Scharte rechts, nordwärts
daneben.
Es ist höchst merkwürdig, daß Hans Meyer
diese erstere Scharte i. J. 1S89 noch nicht bemerkt
hatte; ihre Ausschmelzung innerhalb kaum lojahren
bleibt unerklärlich und ließe sich wohl nur auf
eine höhere Eigenwärme des Gesteins dort zurück-
führen. Da ich igo6 diese Schatte nur stark
seitlich mehr von Süden aus gesehen habe, kann
ich selbst ein Urteil nicht geben, ob sich das
Gletschereis weiter vermindert hat; die Aus-
schmelzung erscheint jedenfalls recht groß.
Kaum hat das Auge den Gipfel mehr als
Ganzes aufgenommen, da stellt es auch schon ins
Einzelne reichende Betrachtungen über Möglich-
keit und Wege der Besteigung an. Es kann kein
Zweifel sein, die zuvor benutzte, in starkem Bogen
am Ratzel-Gletscher vorbei führende Aufstieglinie
bietet bei mäßiger Steigung auf teils gewachsenem
Felsen die einzige Möglichkeit, sicher den be-
quemsten Weg, um von hier aus die Johannes-
Scharte zu erreichen. Wie ein Band erscheint sie
zur Höhe hinauf gezeichnet, das nahe unterhalb
der Scharte nordwärts im Schneefelde endet.
Völlig aussichtslos dagegen mutet es an, den
Gipfel über das von der Scharte bis wenige hundert
Meter oberhalb der Biwakhöhle abstürzende
Schotterfeld selbst erreichen zu wollen. Wenn
ich diesen Weg in der folgenden Nacht dennoch
erfolgreich genommen habe, so hat es allein der
gefrorene Boden gestattet, eine äußerst ange-
nehme F"olge des sonst so mißgünstigen Wetters.
Denn die Untätigkeit des späteren Tages ist
nicht sowohl von einer Ermüdung nach all dem
Bösen des Vortages oder von dem Wunsche be-
stimmt gewesen, vor dem bereits für die zweite
Nacht geplanten Aufstieg auszuruhen, als durch
erneutes Schneetreiben und feinere Graupelfälle,
die schon am zeitigen Vormittag wieder ein-
setzten und uns bald in der Höhle gefangen
hielten.
Nun sich der Blick bescheidet zu einer Be-
trachtung des nächsten Bodens, sieht er sich über-
rascht von einer recht eigenartigen Struktur des-
selben. Zarte, rundliche, durchweg etwa 5 cm
hohe Eissäulchen, die unregelmäßig gedrängt
nebeneinander mehr oder minder senkrecht zur
Bodenfläche stehen, tragen eine zusammenhängende
sehr dünne Eisdecke, die über und über bedeckt
ist mit ganz feinkiesigem Schotter, von dem ein-
zelne Teilchen auch den Säulchen ein- und an-
gefroren sind. Diese zierliche Eisbildung ruht
ihrerseits auf dem gleichfalls vereisten, eigent-
N. F. XIII. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
759
Heben gröberen Bodenschotter, der sich bis auf
etwa 4 cm an jener Stelle (etwa 8 '/., Uhr morgens) ge-
froren zeigte. Unter der Wirkung der Sonnen-
strahlen schmolz bald hier, bald dort ein kleines
Stückchen der Decke aus, die Säulchen folgten
nach, und bald war dann auch der Boden eisfrei.
Das Herabrieseln des ausschmelzenden Kieses
von der Decke (und den Säulchen), das Ein-
brechen der Eisschollen wurde die Ursache eines
leise knisternden Geräusches, das ringsum vom
Boden her in die Einsamkeit flüsterte.
Diese ganze Erscheinung erhielt ein weiteres
höchst eigenartiges Merkmal dadurch, daß diese
Ausschmelzung im ganzen parallel streifig ge-
ordnet, in einem Abstände von vielleicht 10 cm
geschah; eine Abhängigkeit der Richtung dieser
Linien vom Gelände konnte ich mit Bestimmt-
heit nicht erkennen. Die leicht welligen Linien-
systeme, die sich ja deutlich auf einige Meter Länge
verfolgen ließen, konnten nahe beieinander augen-
fällige Richtungsunterschiede zeigen, ohne daß die
Bodenform einen besonderen Anlaß zu geben
schien. Das Vorkommen dieser Sandstreifen wird
auch von früheren Besuchern erwähnt. Meine
Beobachtung hat ergeben, daß diese Streifung
dem Boden an jenen Stellen primär eigentümlich
war, daß sie also nicht als Schmelzwirkung an-
zusprechen ist. Es wird sich daher voraussicht-
lich um eine Wirkung des Windes handeln.
Die Vegetation erreicht nur noch in krypto-
gamen Vertretern diese Möhen; außer ihnen nur
einzelne dürftigste trockene Grasbulte, über die
sich das inzwischen auch in den Morgensonnen-
schein geführte Maultier trotz der erhaltenen
Maisporiion gierig stürzt. Es scheint mit dem
Neger das gemein zu haben, daß es sich unter
allen Umständen bis an den Hals vollfüttern muß.
Denn von Trägern fortgeworfene, altmodrige
Kopfturnusse aus (Bananen- )Bläitern wurden auch
gefressen, und nachdem es noch einige der Land-
schaft nicht zur Zier gereichende leere Konserven-
dosen und Sektflaschen als ungenießbar festge-
stellt hatte, nahm es ein Kiesbad. Es fand einen
aufmerksamen Zuschauer in einem Geier, der den
•wappenähnlichen Aufsatz des Felsens oberhalb
der Höhle krönte. Als ob Menschenhände die
rohe Form des Wappens gehauen und Giganten-
arme den ganzen Riesenblock getürmt hätten.
Die Pflicht gebietet aber, in die Dunkelheit,
die stickige Luft und Unsauberkeit der Höhle
zurückzukehren. Um Wasser bedarf es zwar
keiner besonderen Sorge, doch fehlt es an Brenn-
holz. Die Leute brüten nach wie vor stumpf vor
, sich hin, nicht einmal ihr eigentlicher und einziger
Lebensinhalt, von der bibi, dem Weibe, abgesehen,
nicht einmal die Verheißung eines ausgezeichneten
Essens: Ziege und Reis, macht sie munter. Der
Msimanizi nennt 6 Leute, die er mit zum Brenn-
holzholen nehmen möchte; er zeigt auf die
deckenverhülltcn unkenntlichen Gestalten, die jenen
Namen entsprechen.
Und nachdem erst einmal einer mit fühlbarem
Zuspruche hochgebracht ist, folgen die anderen
schneller. Nach etwa 5 Stunden sind die Leute
mit einigem spärlichem, dürrem Brennholz zurück-
gekehrt. Es mußte daher am nächsten Morgen
wieder Brennholz herbeigeschleppt werden. Bei
dieser Gelegenheit ist dann einer der Träger, vor
Graus über Kälte und Schnee vielleicht, aus-
gerissen, und zwar „glücklich", möchte ich sagen,
denn es konnte später festgestellt werden, daß
er wohlbehalten in die Kulturzone nieder gelaufen
war.
Überall fanden sich noch Schnee- und Graupel-
verwehungen im Sonnenschatten in Felsfugen
nächst der Höhe. Nachdem die Leute zuerst mit
Befremden — soweit der Neger überhaupt Ge-
mütsbewegungen zeigt und hat — mein Beginnen,
den Schnee in den Mund zu tun, verfolgt hatten,
mußten sie, ohne scheinbar irgendein Verständnis
für den Zweck zu besitzen, in die vorhandenen
Kochtöpfe Schnee löffeln und ans Feuer setzen.
Erst da mag ihnen vielleicht die Einsicht wenigstens
insoweit gekommen sein , um zu bemerken,
daß diese Methode ihnen Arbeit und Weg erspart
hatte.
Noch bevor die Träger mit dem Brennholz
zurückgekehrt waren, begann der Schnee leise und
fein zu fallen; es wurde auch innerhalb der Höhle
empfindlich kalt. Und viel Wärme konnte das
bißchen Holz nicht bringen. Die Leute hockten
nun wieder alle schweigsam nahe den beiden
Feuern unter ihren Decken völlig verborgen, und
es fand sich kaum einer bereit, die vorletzte Ziege
zu schlachten und zu zerlegen. Schließlich war auch
das im Windschutze eines Felsens vor der Höhle
getan, der Reis verteilt und Tabak verabreicht.
Aber selbst dieser Reichtum an Genüssen ver-
mochte keinen Ausdruck der Freude auf die
apathischen Gesichter der Leute zu bringen.
Völlig stumpfsinnig sahen sie der Bereitung der
Speise zu, soweit sie nicht unter ihren Decken
nach wie vor verhüllt blieben. Und ebenso teil-
nahmslos, schweigsam tilgten sie das Essen hinein.
Kein Wort in all den vielen Stunden, aber auch
kein Wort der Klage; nicht der Ausdruck fried-
voller Zufriedenheit, allein lebensbarer Gleich-
gültigkeit vor unklar empfundenem Schrecknis und
Unheil.
So verging auch der weitere Tag in trostloser
Einförmigkeit, die gesättigten Leiber lagen form-
los eingehüllt umher, Frost und Finsternis vereinten
sich zur Nacht, kaum daß es bemerkt wurde.
Und draußen deckten immer neue Flocken die
erstarrte Erde zu, deren einzelne, durch die Fels-
risse verirrt, die Schneepatzen in der Höhle bis
fast an den Schlafsack wachsen ließen. In diese
Unwirtlichkeit schien selbst der Schlaf ungern zu
kommen.
Aber auch an dieser Stätte weltabgeschlossener
Einsamkeit nimmt die Zeit ihren Lauf; wenn auch
unerhört träge. Es wurde Mitternacht und bald
darauf waren die letzten Vorbereitungen für die
Besteigung auf den Kibogipfel beendet. Der
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Mond spendete aus klarem Himmel sein mildes schwangeren Rückweges nach der dritten Ober-
Licht über den eisesstarren Boden. nachtung in der Biwakhöhle, deren Schrecken
jene wenigen anderen Forscher vor mir bereits
Im Teile II werde ich versuchen, die folgenden unerträglich nennen , die bei sonnigem Wetter
Stunden unvergeßlicher Eindrücke zu schildern, nur i oder 2 Tage in ihr Zuflucht zu suchen ge-
zugleich jene des nächsten Tages, des gefahren- nötigt waren.
Funde fossiler Wirbeltiere
in den deutschen Schutzgebieten in Afrika.
[Nachdruck verboten.
Von Dr. Ernst Stromer in München.
Schon mehrfach habe ich mich über fossile
Wirbeltiere Afrikas in dieser Zeitschrift verbreitet
(1902, Nr. 13, 1910 Nr. 11, 191 1 Nr. 51), über
solche aus unsern Schutzgebieten war aber leider
kaum etwas zu bemerken, da man bis in die Neu-
zeit so gut wie nichts davon gefunden hatte. In
den letzten Jahren ist es jedoch erfreulicherweise
anders geworden, sodaß es sich jetzt schon lohnt,
hier einiges darüber zu veröffenthchen als Beweis,
wie auch auf diesem Gebiete deutsche Kultur-
arbeit erfolgreich zu wirken begann, bis der Krieg
hemmend einsetzte.
Über die bedeutendste Entdeckung und deren
großzügige Ausbeutung, über die Dinosaurier-
Funde in Deutsch-OstafrikaM hat erst kürz-
lich ein Mitarbeiter, Dr. E. Hennig, hier das
vorläufig Wissenswerte kurz mitgeteilt (1914,
Nr. 27, S. 418 ff.). Außer den im Süden ausge-
dehnten Dinosaurier-F"undorten sind aber neuer-
dings auch solche von Säugetieren entdeckt
worden.')^) Der Münchener Mediziner, Universi-
täts-Professor Dr. Kattwinkel, fand nämlich
auf einer Jagd- und zoologischen Sammelreise im
Innern der Massai Hochländer in vulkanischen
Tuffen Säugetier- und Krokodilreste. Davon sind
allerdings bisher nur dürftige Knochenreste eines
großen Flußpferdes von mir genauer beschrieben
und die übrigen Knochen und Zähne von Herrn
Prof. Max Schlosser in München vorläufig be-
stimmt worden. Es ergab sich daraus ein quar-
täres und wohl pliozänes Alter der verschiedenen
Fundschichten.
Auf meine Anregung hin und infolge meiner
Vermittlung hat aber dann Herr Dr. H. Reck
durch Herrn Geheimrat Branca in Berlin Ge-
legenheit erhalten, einen der Fundorte für die
Berliner und Münchener Sammlung auszubeuten.
Wenn auch sein zu vorschnell verkündeter Fund
eines fossilen Menschenskeletts den stärksten
Zweifeln unterliegt (diese Zeitschrift 1914, Nr. 16,
S. 254), so hat jener Geologe doch mit seinen
mehrwöchentlichen Grabungen so guten Erfolg
gehabt, daß man auf eine erste Aufklärung über die
so gut wie ganz unbekannte jüngste Vorgeschichte
der tropisch-afrikanischen Säugetierwelt rechnen
kann und daß sich weitere Ausbeutung der Fund-
schichten in großem Maßstabe lohnend erwiesen
hat.
Neben diesen reichen Funden ist leider nur
noch ein mitteltertiärer Haifischzahn (Carcharodon)
von Kitunda bei Lindi zu erwähnen, den E. Hennig
als ersten Wirbeltierrest der marinen Tertiär-
ablagerungen der Küste Deutsch-Ostafrikas ver-
öffentlichte. ■')
In der kleinen Musterkolonie Togo haben
Regierungsbeamte schon vor mehreren Jahren in
Kalksteinschichten bei Tokpli am Monuflusse und
des Bezirkes Anecho isolierte Wirbeltierreste ge-
funden , die mir zur Bearbeitung übergeben
wurden. ^) Sie erwiesen sich als dem ältesten
Tertiär angehörig und fast sämtlich als marin.
Am häufigsten waren Haifischzähne und un-
bestimmbare Panzerstücke stattlicher Schildkröten,
aber auch Pflastergebißreste eines großen marinen
Ganoidfisches (Pycnodus), Kauplatten von Rochen
(Myliobatidae) und Wirbel einer stattlichen Schlange
und eines Krokodiliers waren in dem Material ver-
treten. Letzterer ist aus den paleozänen Phos-
phaten von Gafsa in Tunis später in vollständigeren
Resten beschrieben worden ") und erwies sich als
altertümliche wohl meerbewohnende Form, nach
meiner Ansicht als Angehöriger der langschnauzigen,
sonst nur oberjurassischen und kretazischen
Macrorhynchidae. Von einem der Rochen, einer
bisher unbekannten Gattung, fanden sich gleichfalls
neuerdings weitere Reste in paleozänen Schichten
am Kongo-Unterlauf. ') Der Macrorhynchide und
dieser jirimitive Myliobatide war demnach wenig-
stens an den Küsten Afrikas weiter verbreitet, die
anderen Rochen und die Haifische aber gehören
anscheinend fast alle Arten an, die auch in den
europäischen Meeren lebten. Man muß deshalb
wohl einen unmittelbaren Zusammenhang dieser
Meeresteile vermuten, was mit der Annahme
einer alttertiären Landverbindung Westafrikas mit
Nordbrasilien schwer vereinbar ist.
Gebißreste von Rochen (Myliobatidae und
Torpedinidae) sind auch aus alttertiären Tuffen
von Balangi am Mungoflusse Kameruns durch
Prof O. Jäkel beschrieben worden.**) Aus dem
von Neukamerun ringsumschlossenen spanischen
Gebiete an der Mündung des Benitoflusses sandte
mir ferner kürzlich der Missionar Geo Schwab
Tonschieferplatten mit zahlreichen, vielleicht eben-
falls tertiären Fischresten. Außer wenigen dürftigen
VVelsknochen sind darunter fast nur Skelette kleiner
Knochenfische vorhanden.") Nach der Bestim-
mung Prof Eastmans handelt es sich um den
Clupeiden Diplomystus. '-) Diese Gattung ist
wegen ihrer geographischen Verbreitung be-
N. F. Xm. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
761
merkenswert. Jetzt lebt sie nämlich nur in
Flüssen von Chile und Neusüdwales und man
könnte daraus auf einen einstigen direkten Zu-
sammenhang Südamerikas und Australiens schlie-
ßen, für den ja auch die Beuteltiere sprechen.
Im Alttertiär fand sich aber Diplomystus in
Nordamerika und England und in der oberen
Kreide in Bahia, Dalmatien und Syrien. Er war
also offenbar früher viel weiter, vielleicht sogar
allgemein verbreitet, denn jetzt ist erwiesen, daß
er einst auch in Afrika vorkam.
Aus Kamerun sind übrigens schon seit längerer
Zeit auch dürftige, anscheinend unterkretazische
Fischreste aus der nordwestlichen Nachbarschaft
des Kamerunberges bekannt, ') beschrieben ist je-
doch durch Prof. Jäkel nur ein wahrscheinlicher
Chirocentride vom Mamfebach bei Ossidinge. '")
Diese marine Familie verhält sich ähnlich wie
Diplomystus. Gegenwärtig lebt nämlich nur ein
Vertreter im marinen Seichtwasser von Ostafrika
bis Japan, für die Kreidezeit jedoch ist die Familie
formenreich in Westeuropa, Nordamerika und
Bahia nachgewiesen.
Höchst bemerkenswerte Reste sind endlich
reste, die Geheimrat H. Schröder als solche
von Falaeoniscidae beschrieb, also von Vorläufern
der Knorpelganoiden, die im jüngeren Paläozoikum
sehr weit verbreitet und häufig waren. '*)
Im vorigen Jahre und heuer erhielt ich dann
durch den leider im Frühjahr verunglückten
Major Brentano-Bernarda von ihm selbst ge-
sammelte Reptilreste, von welchen einer ebenfalls
von Ganikobis stammt, die zahlreichen übrigen
aber sämtlich von Kabus bei Keetmanshoop. '°)
Nach meiner eben erst vollendeten vorläufigen
Bestimmung handelt es sich ausschließlich um
Mesosaurusreste(Fig. 2) und wohl nur um Angehörige
von Arten, die aus dem Perm Britisch- Südafrikas
schon bekannt sind. Die Gattung ist sonst in
einer Art auch aus Südbrasilien beschrieben (Fig. i),
wo ebenso wie in benachbarten Gebieten die ein-
zige nahe verwandte Gattung Stereosternum ge-
funden wurde.
Fig. I. Rekonstruktion von Mesosaurus brasiliensis Mac Gregor aus Parana,
nach Mac Gregor, stark verkleinert.
Fig. 2. Abdruck von Brust-
rippenenden und des Vorder-
fußes von Mesosaurus aus Kabus,
in natürl. Größe.
von Dr. E. Hennig beschrieben worden.*^) Es
handelt sich um einen wahrscheinlichen Sauro-
pterygier-Zahn und um einen Lepidotus Rest, die
von dem Regierungsgeologen O. Mann bei
Ssarauiel zwischen Garua und Binder in Nordost-
Adamaua gefunden wurden. Nach dem Ganoid-
fisch zu schließen, der einer oberstjurassischen
Lepidotusart am nächsten steht, könnte hier die
Anwesenheit mittleren marinen Mesozoikums an-
genommen werden. Eine damalige Meeresver-
breitung bis weit in das Innere Westafrikas läßt
sich aber schwer mit den bisher herrschenden
Vorstellungen von der geologischen Geschichte
des alten äthiopischen Festlandes vereinigen.
Vielleicht ist eben die kameruner Lepidotusart
im Gegensatz zu ihren Verwandten ein Süßwasser-
bewohner gewesen, denn auch heute leben, be-
sonders in den Tropen, häufig nahe verwandte
Fischarien teils im Meere, teils im Süßwasser.
Viel älter sind schließlich Wirbeltierreste aus
Großnamaland in Deutsch-Südwestafrika,
sie gehören nämlich der Permformation an.
Schon vor mehreren Jahren fand der Geologe
Dr. Lotz in Knollen bei Ganikobis zwischen
Keetmanshoop und Gibeon dürftige Ganoidfisch-
Die Mesosauridae bieten ganz erhebliches
Interesse; es handelt sich nämlich um die ältesten
bekannten wasserbewohnenden Reptilien. Sie
schwammen wahrscheinlich ähnlich wie die Molche
mit Hilfe eines langen Ruderschwanzes und der
in breite Paddeln umgewandelten fünfzehigen
Beine, von welchen die vorderen deutlich kürzer
als die hinteren sind. Ihre Wirbel und Rippen
sind ähnlich wie bei den Seekühen auffällig ver-
dickt. Ihr langschnauziger Schädel, dessen Bau
leider noch nicht genügend bekannt ist, erscheint
jedoch mit zahlreichen, sehr langen, schlanken
und spitzigen Zähnen wie mit einem Rechen be-
wehrt. Man muß deshalb annehmen, daß die nur
wenige Decimeter langen Tiere, welche offenbar
gesellig lebten, nicht Pflanzenfresser wie die See-
kühe waren, sondern wohl kleine tierische
Wasserbewohner fraßen, die uns leider noch
unbekannt sind, da mit jenen zusammen bisher
nur äußerst wenige Fossilreste gefunden wurden.
Die systematische Stellung der Mesosauridae
ist noch ganz unklar; mit den bekannten wasser-
bewohnenden Reptilien des Mesozoikums, den
Ichthyosauria, Sauropterygia usw., scheinen sie in
keiner näheren Beziehung zu stehen und von den
762
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xni. Nr. 48
gleichaherigen paläozoischen Reptilien weichen
sie stark ab. Tiergeographisch sind sie insofern
wichtig, als ihr alleiniges Vorkommen im post-
glazialen Perm Südafrikas und Südbrasiliens
eine Stütze für die Annahme einstigen festländi-
schen Zusammenhanges beider Gebiete bietet.
Es steht jedoch noch nicht einwandfrei fest, daß
die Mesosauridae Süßwasserbewohner waren, denn
in Südbrasilien sollen marine Muscheln mit ihnen
zusammen vorkommen und in Deutsch-Südwest-
afrika sind solche wenigstens in den ihre Fund-
schicht unterlagernden Ablagerungen unmittelbar
über dem permischen Geschiebelehm nachgewiesen.
Es handelt sich nach allem, abgesehen von
den ostafrikanischen Dinosaurier- und Säugetier-
funden nur um geringfügige und höchst lücken-
hafte Reste der einstigen Wirbeltierfaunen unserer
afrikanischen Schutzgebiete. Trotzdem ist ihre
Bedeutung nicht zu unterschätzen. Das alte Vor-
urteil, als seien jene Länder fast fossilleer, ist
durch sie zerstört und wir wissen nun auch , wo
und in welchen Schichten wir zunächst weiter
zu suchen haben. Vor allem aber besitzen all
diese Funde nicht nur dadurch Wert, daß sie uns
teilweise ganz unbekannte Formen kennen lassen,
sondern ganz besonders groß ist ihre tiergeo-
graphische Bedeutung, auf die ich deshalb hier
mehrfach hinwies. Unsere bisherigen tiergeo-
graphischen Vorstellungen bezüglich der geolo-
gischen Vergangenheit leiden nämlich in erster
Linie daran, daß aus der Südhemisphäre und aus
den Gebieten der heutigen Tropen nur allzuwenig
und aus sehr weiten Strecken sogar überhaupt
nichts von Fossilien bekannt war. Je mehr diese
gewaltigen Wissenslücken durch positive Befunde
geschlossen werden und so eine sichere Grundlage
für weitergehende Schlüsse geschaffen wird, desto
besser gelangen wir von vagen Spekulationen zu
klarer und gesicherter Erkenntnis und können
hoffen , Gesetzmäßigkeiten auch in dem höchst
schwierigen Wissenszweige der Tiergeographie
früherer Zeiten festzustellen.
Literatur.
I. Deutsch-Ostafrika.
i) E b. Fr aas. Ostafrikanische Dinosaurier. Palaeonto-
graphica Bd. 55, p. 105 ff., Stuttgart 1908.
2) E. Stromer, Mitteilungen über Wirbeltierreste aus
dem Mittelpliozän des Natrontales (Ägypten). 3. Artiodactyla :
Bunodonlia: Flußpferd. Zeitschr. Deutsch, geol. Ges. Bd. 66,
p. 27, 28. Berlin 1914.
3) H. Reck, Erste vorläufige Mitteilung über den Fund
eines fossilen Menschenskeletts aus Zentralafrika. Sitz.-Ber.
Ges. naturforsch. Freunde, 1914, Nr. 3, p. 81 ff. Berlin 1914.
4) Edw. Hennig, Über neuere Funde fossiler Fische
aus Ai|uatorial- und Südafrika und ihie paläogeographische
Bedeutung. Ebenda, 1913, p. 305 ff. Berlin 1913.
II. Togo.
5) E. Stromer, Reptilien- und Fischreste aus dem ma-
rinen Altlertiär von Südtogo, Zeitschr. Deutsch, geol. Ges.
Bd. 62, Monatsber., p. 47Sff. Berlin 1910.
6) Arm. The venin, Le Dyrosaurus des phosphates
de Tunisie. Annal. de Paleont. T. 6, p. 108. Paris 191 1.
7) M. Leriche, Les poissons paleoccnes de Landana
(Congo). Annal. Mus. Congo Beige., Ser. 3, T. i, p. 84 ff.
Bru.xelles I913.
III. Kamerun.
8) P. Düsen, Om nordvästra Kamerun omrädets geo-
logi. Geol. foren. i Stockholm förhandl. Bd. 16, H. I.
Stockholm 1894.
9) O. Jaekel, Über einen Torpediniden und andere
F'ischreste aus dem Tertiär von Kamerun. Esch, Beiträge zur
Geologie von Kamerun p. 289 ff. Stuttgart 1904.
10) O. Jaekel, Fischreste aus den Mamfe -Schiefern.
Abhandl. kgl. preuß. geol. Landesanstalt, N. F., H. 62, p. 392 ff.
Berlin 1909.
11) E. Stromer, Funde fossiler Fische in dem tropischen
Westafrika. Zentralbl. f. Mineral usw. p. 87, 88. Stuttgart 1912.
12) Ch. Eastman: Tertiary fish remains from Spanish
Guinea in Westafrica. Annais Carnegie Mus. Vol. 8, p. 870 ff.
Washington 1913. ,
13) Edw. Hennig, Mesozoische Wirbellierfunde in
Adamaua. O. Mann u. Hennig, Mesozoische Ablagerungen
in Adamaua. Beitr. z. geol. Erforsch, d. Deutsch. Schulzgeb.
H. 7, p. loff. Berlin 1913.
IV. Deutsch-Südwestafrika.
14) H. Schröder, Marine Fossilien in Verbindung mit
permischem Glazialkonglomerat in Deutsch -Südwestafrika.
Jahrb. kgl. preuß. geol. Landesanstalt 1908, Bd. 29, p. 694 ff.
Berlin 190S.
15) E. Stromer, Die ersten fossilen Reptilreste aus
Deutsch-Südwestafrika und ihre geol. Bedeutung. Zentralbl.
f. Mineral, usw. 1914, p. 530ff. Stuttgart 1914.
Einzelberichte.
Chemie. Neue hochmolekulare Kohlenwasser-
stoffe beschreiben in den Ber. d. Deutsch. Chem.
Ges. (47. 1679—90, 13. 6. 14) die Krakauer
Forscher K. Dzie woii ski undZ. Leyko. Der
schon früher bekannte Kohlenwasserstoff Ace-
naphthylen verwandelt sich bei kurzem Erhitzen auf
ca. 100" in einen polymeren Kohlenwasserstoff
(CijHj),,, der erst bei 340—350" schmilzt. Dieses
„Polyacenaphthylen", eine der kompliziertesten or-
ganischen Verbindungen, ist allem Anschein nach
der höchstinolokulare bisher erforschte Kohlen-
wasserstoff. Auf kryoskopischem und ebullio-
skopischem Wege konnte als Molekulargewicht der
Wert 3300 festgestellt werden ; dies entspricht
einer Formel (CijHg)^^ = Q^^Hi-,,. Wird Ace-
naphtylen auf höhere Temperaturen erhitzt
(280 — 300"), so bildet sich neben anderen Reak-'
tionsprodukten ein in hellgelben Prismen oder
Säulen kristallisierender Kohlenwasserstoff, für
den die empirische Zusammensetzung CjgH.,s=
(CjjH-)^ ermittelt wurde. Dieser Körper, der in
Lösung eine starke blaue Fluoreszenz zeigt, zeichnet
sich dadurch aus, daß er von allen zur Zeit be-
kannten Kohlenwasserstoffen den höchsten Schmelz-
punkt (fast 400") besitzt. Die Entdecker schlagen
für diese Substanz den Namen „F'luorocyclen" vor.
Bugge.
Physik. Über radiumähnliche X- Strahlung bringt
F.Dessauer, Frankfurt a. M. eine vorläufige Mit-
teilung in der Physik. ZeitschriftXV(i9i4)Seite739.
N. F. Xni. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
763
Während der Absorptionskoeffizient der y-Strahlen
in der Regel um die Größe 0,1 herum liegt, ist
der für gewölinliche Röntgen-Strahlen 8 bis 4 und
der für harte 4 bis 2, so daß die R-Strahlen
20 bis 80 mal stärker absorbiert werden als die
y- Strahlen. Auch in der Medizin haben sich diese
Zahlen als zutreffend erwiesen : es absorbiert eine
Schicht Körperfleisch von i cm Dicke 90 bis 30 "/o
der Röntgen-Strahlen, aber nur 8 bis 470 der
j'- Strahlen, so daß demnach die Tiefenwirkung
der letzteren bei weitem beträchtlicher ist. Dem
Verfasser ist es nun gelungen, mittels einer Rönt-
genröhre Strahlen zu erzeugen, deren Absorptions-
koeffizient unter 0,1 liegt, die im Fleisch nur zu
5 — 6% pro cm Dicke verschluckt werden, die
mithin dieselbe Härte wie y-Strahlen haben. Es
ist sehr wahrscheinlich, daß die Durchdringungs-
fähigkeit der X-Strahlen von der Geschwindigkeit
der die Antikathode treftenden Elektronen (= Ka-
thodenstrahlen abhängig) ist. Die Geschwindig-
keit der /;?-Strahlen geht bis zu ®/^q Lichtge-
schwindigkeit, beträgt also im Mittel lOOOOO km
pro Sekunde, wärend die der Kathodenstrahlen
rund 30000 km pro Sekunde ist. Es kommt
demnach darauf an, die Geschwindigkeit der
letzteren auf das 6 bis 7 fache zu steigern.
Für die Erreichung dieses Ziels kommt
neben dem geeigneten Bau von Induktor und
Entladungsrohr, neben der Verwendung' eines
Antikatliodenmaterials von hohem Atomgewicht
und der Temperaturerniedrigung der Antikathode
namentlich die Tatsache in Betracht, daß in
Stromkreisen mit Funkenstrecke, hoher Kapazität
und Selbstinduktion Überspannungen auftreten
können, deren Beträge sehr weit über die Span-
nung der Grundschwingung hinausgehen können.
Durch geeignete Variation von Kapazität und
Selbstinduktion des Entladekreises sind wir mit
voller Sicherheit in der Lage, neben weniger
harten Strahlen in relativ großen Mengen
Röntgenstrahlen von der gleichen
Härtewie die ;' -Strahlen zu erzeugen. Da-
bei ist, wie eine Messung ergab, diese harte
Strahlung des Entladungsrohres 500 bis
1 000 mal so stark als die eines Präparats
von 100 mg Mesothorium. Die Bedeutung
dieser Tatsache für die Medizin liegt auf der Hand:
Die vorzüglichen Wirkungen, die die /-Strahlen
auf Krebszellen und andere Krankheitszellen aus-
üben, sind begrenzt durch die geringen Mengen
und den hohen Preise der radioaktiven Substanzen.
Es ist zu erwarten, daß gerade die Krebs-
heilung durch die Möglichkeit, große Mengen sehr
durchdringender Strahlungen zu erhalten, einen
Schritt weiter geführt wird.
K. Schutt, Hamburg.
Astronomie. Die oft behandelte FVage nach
dem Vorhandensein eines oder mehrerer Planeten
jenseits des Neptuns bearbeitet Lau unteflieuen
fBull de la Soc. astron. de
Aus gewissen Kometen-
bahnen hat man angenommen, daß ein solcher
etwa 48 mal so weit von der Sonne entfernt sein
müsse, wie die Erde: Dem würde dann eine
Umlaufszeit von etwa 330 Jahren entsprechen,
woraus eine Wiederholung der Konjunktionen mit
Neptun zu 320 Jahren folgt. Seit so lange kennen
wir nun die Bewegung des Neptun noch nicht,
so daß also etwaige Störungen hier nicht nach-
zuweisen sind. Dagegen ist vom Uranus mehr
als ein Umlauf bekannt, so daß hier eine Unter-
suchung mehr Gewinn verspricht. Nun zeigen
die Untersuchungen von Newcomb, Gaillot
und Lau übereinstimmend, daß hier zwischen
Beobachtung und Rechnung Unterschiede bestehen,
die einen periodischen Gang aufweisen. Dieser
ist aber unvereinbar mit der etwa 57 jährigen Pe-
riode, die ein transneptunischer Planet autweisen
müßte, so daß die Betrachtung der F'ehlerkurve
dazu drängt, nicht einen, sondern zwei Planeten
jenseits des Neptun anzunehmen. Auch dafür
lassen die Kometenbahnen günstige Schlüsse ziehen,
so daß S c h u 1 h o f schon früher in die Entfer-
nung 75 noch einen Planeten versetzt hat. Nach
Lau sind mindestens noch zwei Planeten vorhan-
den, mit den Entfernungen 46,5 und 71,8, und
den Massen im Verhältnis zur Sonne von i : 36000
und 1:7000, also etwa halb so groß wie Neptun
der innere, und der äußere halb so groß wie
Saturn. Riem.
Zu den zahlreichen Hypothesen über den
Ursprung des Zodiakallichtes fügt Fessenkoff
eine neue. [Astronom. Nachr. Nr. 4752]. Er
sucht zu zeigen, daß die Kometenmaterie, die den
Kometen durch den Strahlungsdruck, durch die
Schweitbildung, durch die Anziehungskraft der
Planeten verloren geht, sich in einem Ring um
die Sonne anordnen müsse, der uns als jene Er-
scheinung sichtbar wird. Die verschieden große
einfangende Kraft der Planeten, vor allem des Ju-
piter läßt diesen kosmischen Staub sich in ver-
schiedenen Abständen von der Sonne verschieden
dicht ansammeln, und daraus folgt dann auch eine
wechselnde Lichtstärke des Tierkreislichtes. Es
gelingt dem Verfasser zu zeigen, daß die aus
seinen Entwicklungen folgende Intensitätsvertei-
lung auch der beobachteten auffallend gut ent-
spricht. Riem.
Völkerpsychologie. Baldwin Spencer,
Professor der Biologie an der Universität Melbourne,
der bereits durch die in Gemeinschaft mit F. J.
G i 1 1 e n verfaßten Werke über die Eingeborenen
Zentralaustraliens rühmlich bekannt geworden
ist, veröffentlichte jüngst ein neues Buch über
die Stämme des Nord-Territoriums von Australien,')
das bemerkenswerte Einblicke in die Kultur und
Lebensweise des rasch dahinschwindenden austra-
lischen Zweiges des Menschengeschlechtes gewährt.
Gesichtspunkten.
France, 1914 Juniheft].
') Native Tribes of the Northern Territory of Australia.
Mit vielen schwarzen und farbigen Tafeln. London 19 14.
Macraillan. — 21 Schill.
764
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 48
Im nördlichen Küstengebiet Australiens sind
die Lebensbedingungen von den in Zentralaustralien
herrschenden bedeutend verschieden , und zwar
sind sie viel günstiger. Es ist jedoch unbestimmt,
ob und wie weit hierdurch die soziale Organisa-
tion und die Gebräuche beeinflußt wurden, die
bei welchen Gebieten in wesentlichen Punkten ab-
weichen. Bei den Stämmen der Kakadu, Umoriu,
Geimbio, wie bei anderen, mangelt z. B. die schon
oft beschriebene Einteilung in Heiratsklassen; sie
ist durch eine lokale Organisation zur Regelung
der ehelichen Verbindungen ersetzt. Totemismus
besteht auch an der Nordküste, wie augenscheinlich
überall in Australien. Aber neben den Stämmen,
bei welchen die Zugehörigkeit zu einer Totemgruppe
durch die Abstammung entschieden wird, gibt es
Stämme, bei denen es ganz zufällig ist , welcher
Totemgruppe jemand zugeteilt wird. Diese Stämme
haben den Glauben an die Wiedergeburt der
Verstorbenen, und die Leute meinen, daß der
Geist, der sich der Wiedergeburt unterzieht, dem
Vater des noch ungeborenen Kindes sagt, welchem
Totem dieses zugehört. Das gilt von den Kakadu,
Geimbio, Kulunglutschi und verwandten Stämmen.
In Zentralaustralien hat die Arunta-Nation gleich-
falls den Glauben an die Wiedergeburt, doch wird
hier die Totemzugehörigkeit durch die Ortlichkeit
bestimmt, an der die Empfängnis des Kindes erfolgt
sein soll.
Bei allen Stämmen Nordaustraliens , wie bei
vielen .Stämmen in Zentralaustralien, Queensland
und Westaustralien , besteht Unkenntnis des
Zeugungsvorganges; man kennt den Zusammen-
hang zwischen Geschlechtsverkehr und Fort-
pflanzung nicht, sondern nimmt vielmehr an, daß
die Empfängnis beim Passieren von Orten erfolgt,
wo sich Geister von Verstorbenen aufhalten , die
in die Frauen eindringen. Dieser Glaube ist so
weit verbreitet, daß die Annahme wohl berechtigt
ist, er sei ehedem in Australien allgemein ge-
wesen. Bei den Kakadu in Nordaustralien z. B.
wird gesagt, daß Imberombera, die Urmutter des
Stammes, ursprünglich die Geisterkinder aussandte.
Seitdem kehren die Geisler der Verstorbenen
immer an gewisse Örtlichkeiten zurück, um dort
der Wiedergeburt zu harren. Bei manchen Stämmen,
wie bei den Dieri und Warramunga, wird geglaubt,
daß das Geschlecht bei jeder Wiedergeburt wechselt,
so daß der Vorfahrengeist einmal die Gestalt einer
männlichen und das nächstemal die einer weib-
lichen Person annimmt. Die Verhältnisse der
Australier sind so beschaffen, daß die Unkenntnis
des Zusammenhangs von Geschlechtsverkehr und
Fortpflanzung gar nicht wunderzunehmen braucht.
Prof. Spencer weist darauf hin, daß es vor allem
unter den Australiern keine .Jungfrauen" gibt,
denn sobald ein Mädchen ge^chlechtsreif ist, wird
es dem ihm bestimmten Mann übergeben, mit
dem der Geschlechtsverkehr während des ganzen
Lebens gepflegt wird. In dieser Beziehung gibt
es keinen Unterschied zwischen den eingeborenen
Frauen, und doch sehen die Leute, daß manche
Frauen Kinder bekommen und andere nicht und
daß die, die Kinder haben, sie in ungleichen
Zwischenräumen bekommen, die in keiner Be-
ziehung zu den Zeiten des Geschlechtsverkehrs
stehen; überdies wissen die Frauen erst, wenn sie
die Kindsbewegungen spüren, daß sie schwanger
sind, und das ist manchmal zu einer Zeit, zu der
sie mit keinem Manne zu tun haben. Daher
sucht man sich die Herkunft der Kinder auf eine
andere Weise zu erklären, die mit dem ganzen
primitiven Denken dieser wenig entwicklungs-
fähigen Menschen übereinstimmt. In diesem Zu-
sammenhang ist zu erwähnen, daß die australischen
Mütter die Geburt von Mischlingskindern allgemein
daiauf zurückführen, daß sie zu viel von des
weißen Mannes Mehl aßen. Daher kommt es
auch, daß alte Australier Halbblutkinder ihrer
F"rauen ohne Frage als die ihrigen anerkennen
und sie auch so behandeln.
Die materielle Kultur der Australier ist äußerst
arm. Ihre Steinwerkzeuge sind so wenig kunst-
voll bearbeitet, daß man manche kaum als solche
überhaupt erkennen würde. Die einzelnen Grup-
pen haben iiire X^orzugslagerplätze, aber sie wer-
den nicht ständig bewohnt und es wirrl kein Ver-
such unternommen, Nahrungspflanzen zu kultivieren
oder Nahrung für kommende Zeit aufzubewahren
(ausgenommen für bestimmte Zeremonien). Die
Leute leiden arg unter der Kälte, aber es kommt
ihnen nicht in den Siim, sich mit den Fellen der
Tiere zu bekleiden, die ihre tägliche Nahrung
bilden. Die P'rauen halten ihre Rindenschürzen
mit den Ellbogen am Leibe fest; sie haben noch
nicht die Erfindung gemacht, diese Schürzen mit
einem Band zu befestigen und damit ihre Arme
frei zu bekommen. Der einzige Schutz gegen
den langdauernden Regen besteht in Rinden-
schirmen, die das nasse Element nur wenig ab-
halten.
Jeder der zahlreichen Stämme hat zwar sein
bestimmtes Landgebiet, dessen Grenzen wohl be-
kannt sind, aber von Privateigentum der Person
haben die Australier kaum einen Begriff. Die
Beute oder der Verdienst des einen wird als
Gemeingut der ganzen Gruppe betrachtet.
Die Leute wissen nicht, daß Krankheit oder
Schmerz bestimmte Ursachen haben, außer wenn
es sich um einen Unfall handelt, den sie sehen
konnten; sonst führen sie alle körperlichen Leiden
auf Zauberei zurück. Auch sonst wird alles, was
man nicht begreift, mit Zauberei in Verbindung
gebracht. Prof. Spencer erzählt z.B., daß Ein-
geborene , die zum erstenmal eine Wagenspur
sahen, sie als den Weg betrachteten, auf dem der
böse Zauber sich bewegt. Um darüber hinweg
und nicht mit dem Zauber in Berührung zu
kommen, sprangen sie über die Wagenspur so
hoch als sie konnten.
So eng begrenzt der Tätigkeitsbereich der
Australier auch ist, so zeigen die einzelnen Personen
doch Unterschiede in der geistigen Befähigung,
die nach Prof. Spencer's Ansicht ebenso groß
N. F. Xm. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
765
sind wie die, welche bei den Weißen zu beobachten
sind. Wer besonders befähigt ist, zieht jedoch
daraus keinerlei Vorteil, abgesehen von dem
guten Ruf, den er unter den Mitgliedern seiner
Gemeinschaft erwirbt.
Zum Schluß seien noch zwei Bräuche erwähnt,
die an die prähistorische Bevölkerung Europas
erinnern. Beim Stamm der Larakia wird die linke
Hand der weiblichen Personen durch Entfernung
des Endgliedes des Zeigefingers verstümmelt. Die
Mütter beißen zum Teil ihren kleinen Kindern das
Fingerglied ab, zum Teil wird es in späterem Alter
abgebunden und damit zum Abfallen gebracht.
Bekanntlich wurden Abdrucke in ähnlicher Weise
verstümmelter Hände in den Grotten von Alta-
mira gefunden. Ob jene paläolithischen Men-
schen, gleich den Australierinnen, die Verstüm-
melung aus Modetorheit betrieben, wird freilich
kaum jemals herauszufinden sein.
Die Toten werden teils in der Erde und teils
auf Bäumen bestattet; bei den Mara und ihnen
verwandten Stämmen aber werden die Toten auf-
gezehrt und die Knochen darauf in Rindensärgen
begraben. Die Pflicht, die verstorbenen Mitglieder
einer Stammesabteilung zu essen, fällt den Angehöri-
gen zweier bestimmter anderen Stammesabteilungen
zu. Die Sache ist durch totemische Vorschriften
geregelt. Dabei erinnert man sich, daß an neo-
lithischen Grabfunden Europas Spuren von Kanni-
balismus beobachtet wurden und es ist die Mög-
lichkeit gegeben, daß es sich auch dabei nicht
um Zeichen von gewöhnlichem Kannibalismus,
sondern ebenfalls um Erinnerungen an einen
Totenbrauch handelt. Hans Fehlinger.
Bücherbesprechungen.
Hönigswald, Prof. Dr. Richard, Die Skepsis
in Philosophie und Wissenschaft.
Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht, 1914.
(Wege zur Philosophie Nr 7.) — Preis 2,50 Mk.
Man braucht nur wenige Seiten in dem Buche
gelesen zu haben, um nicht nur den ersten Satz
des Verf.: „Der Begriff des Zweifels ist einer der
schwierigsten Gegenstände wissenschaftlich philo-
sophischer Untersuchungen" von Herzen zu be-
stätigen, sondern auch die Untersuchung selbst
als „schwierig" geschrieben zu bezeichnen. Wie-
weit dies etwa der Gegenstand durchaus erforder-
lich gemacht hat, möchte Referent sich nicht zu
entscheiden anmaßen. Wie die Sache aber liegt,
läßt sich mit Bestimmtheit vermuten, daß wenig-
stens aus dem naturwissenschaftlichen Kreise sehr
wenige Leser den Mut und auch nur die Fähig-
keit besitzen werden, die Schrift durchzuarbeiten.
Dies soll kein Urteil über ihren Wert sein, sondern
nur einen Tatbestand feststellen, der schon des-
halb bedauerlich ist, weil das Problem des Zweifels
in hohem Maße ein Problem der Naturwissenschaft
selber ist, und deshalb eine verständlich gehaltene
Belehrung darüber auch und gerade dem Natur-
wissenschaftler willkommen sein müßte. Aber
wer nicht die Fähigkeit ausgebildet hat, ver-
wickelten Darlegungen abstrakten Charakters un-
bedingt zu folgen, wird das Buch bald wieder hin-
legen.
Von diesem Gesichtspunkte aus dürfte aber
die Abhandlung — vielleicht schon durch die
Wahl des schwierigen Themas — in einer Samm-
lung, die ausdrücklich Wege zur Philosophie be-
titelt ist, ganz im allgemeinen Bedenken erregen.
Für Leser, deren Bestreben dahin geht, an aus-
gewählten Problemen der Philosophie die Eigen-
art philosophischen Denkens erst einmal kennen
zu lernen und so einen Weg zur Philosophie zu
finden, ist die Tonart in vorliegender Veröffent-
lichung ganz entschieden zu hoch gegriffen. Sie
wendet sich vielmehr sn Leser, die, wie schon
gesagt, speziell in der Verfolgung komplizierter
und abstrakter, vorwiegend mit rein begrifflichen
Konstruktionen arbeitender Gedankengänge eine
nicht geringe Gewandtheit besitzen; Leser also,
die sich jedenfalls schon vorher eingehend mit
schwierigeren philosophischen Fragen befaßt haben.
So muß denn auch ein näheres Eingehen auf
den Inhalt des Buches den philosophischen Fach-
blättern überlassen bleiben. Wasielewski.
C. Lei§ und Dr. H. Schneiderhöhn, Apparate
und Arbeitsmethoden zur mikrosko-
pischen Untersuchung kristallisier-
ter Körper. Mit 115 Abbildungen. (X.Teil
vom „Handbuch der mikroskopischen Technik",
unter Mitwirkung zahlreicher Fachmänner her-
ausgegeben von der Redaktion des „Mikrokos-
mos".) 94 S. gr. 8". Stuttgart 1914, Geschäfts-
stelle des „Mikrokosmos" (Franckh'sche Verlags-
handlung). — Preis geh. 2,25 Mk. , geb. 3 Mk.
Die vorliegende Schrift liegt als I. Buchbeilage
dem 8. Jahrgang des „Mikrokosmos" bei. Sie ist
vor allem für den ernst arbeitenden Liebhaber-
Mikroskopiker bestimmt, wird aber auch im Unter-
richt der höheren Lehranstalten und Universitäten
nicht ohne Nutzen Verwendung finden können.
C. Leiß behandelt in den drei ersten Teilen
Bau und Behandlung der mineralogischen Mikro-
skope und deren Nebenapparate, die Herstellung
von Gesteinspräparaten und Dünnschliffen, sowie
die Apparate zur Bestimmung optischer Konstanten
kristallisierter Körper.
In einem vierten, die ganze zweite Hälfte des
Buches umfassenden Teile berichtet H. Schneider-
höhn über die ,, Bestimmung physikalischer Kon-
stanten kristallisierter Körper mit Hilfe des Polari-
sationsmikroskops." K. Andree.
7G6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 48
Stern, Lina, Dr. med., Priv.^Doz. der Physiologie
an der Universität Genf, Über den Mecha-
nismus der Oxydationsvorgänge im
Tierorganismus. Mit 12 Abb. im Text.
Jena 1914, G. Fischer. 2,20 Mk.
Verf. berichtet darin über die Untersuchungen,
die sie gemeinsam mit Prof. Battelli über den
Mechanismus der Oxydationsvorgänge im Tier-
organismus ausgeführt hat. Dieselben bildeten
den Inhalt eines Vortrags, der auf Einladung der
Berliner Physiologischen Gesellschaft am 19. De-
zember 191 3 in Berlin gehalten wurde.
Kathariner.
Bates, Oric, The Eastern Libyans. XXII
und 298 .S., mit Tafeln. London 1914, Mac-
millan.
Bates war früher Inspektor der archäologischen
Aufnahme Nubicns. Er ist in Ägypten, der Cyre-
naika, der libyschen Wüste usw. viel gereist und
hat den gröüeren Teil des Materials selbst ge-
sammelt, das die Grundlage des vorliegenden
Werkes bildet. Der Autor schildert eingehend
Bodengestalt, Klima und Fauna Libyens, die Sprache
der Libyer, ihre Religion, ihre gesellschaftlichen
und politischen Einrichtungen, Kleidung, Bewaff-
nung, Kunst und Architektur, sowie ihre Geschichte,
wie sie in den Überlieferungen ihrer Feinde er-
zählt wird; denn von den alten Libyern wäre
wenig bekannt ohne die ägyptischen Wand-
malereien, von denen zahlreiche in dem Werke
reproduziert sind. Über die Herkunft der alten
Libyer vermag auch Bates nichts Bestimmtes zu
sagen. Sicher scheint nur zu sein, daß sie von
Norden her, vermutlich über die iberische Halbinsel,
nach Afrika eindrangen. Als Nachkommen der Van-
dalen können sie nicht gelten, da griechische
Autoren die blonden Libyer schon vor der Zeit
der Vandaleninvasion erwähnen. Im ganzen befaßt
sich Bates nicht viel mit Hypothesen; er legt
das Hauptgewicht auf die Wiedergabe der Tat-
sachen, die er festzustellen vermochte.
H. FehHnger.
Ludowici, August, Das ge net ische Prin zip.
Versuch einer Lebenslehre. Mit 2 farbigen
Tafeln. München 191 3. F. Bruckmann A-G.
Darstellungen, in denen der Versuch gemacht
wird , größeste Komplexe, wie Leben, Welt,
Menschheit, unter dem Gesichtspunkte und im
Lichte eines einzelnen durchgehenden Prinzips zu
betrachten, weisen im allgemeinen einen ins
Auge fallenden Vorzug verknüpft mit einem
ebenso leicht erkennbaren Nachteil auf Jener
besteht darin, daß das gewählte Prinzip, ge-
nügende Weite und Allgemeinheit vorausgesetzt,
gleich einem kräftigen Reagens sozusagen auf
alles angewendet werden kann, wodurch bei kon-
sequentem Verfahren beinahe notwendig eine
Reihe von Aufschlüssen (im eigentlichen Sinne
des Wortes) erzielt werden muß. Es sind also
interessante Anwendungen auf Einzelfälle und
Beleuchtungen solcher von unerwarteten Seiten
her zu erwarten. Der Nachteil andererseits liegt
in der Einseitigkeit, die aus der durchgehenden
Anwendung eines einzigen Prinzips notwendig
entspringen muß, indem ein solches doch immer
nur eine gedankliche Konstruktion, ein Schema
darstellt, das die gesamte Fülle der Welt nie
restlos aufnehmen kann. Man erhält vielmehr
naturgemäß immer nur eine Ansicht, ein Bild,
dessen Aussehen, wie das einer Landschaft, nicht
nur von dieser selbst, sondern auch von dem
willkürlich gewählten Standpunkte des Beschauers
und zwar in wesentlicher Weise, bestimmt
wird.
Das „genetische Prinzip" Ludowici 's ist
nun insofern glücklich gewählt, als es eine Grund-
tatsache unseres inneren Erlebens darstellt und
somit einer natürlichen, sehr allgemeinen Anwen-
dung zwanglos fähig ist. Es ist das Prinzip des
polaren, organischen Gegensatzes oder Wider-
spruchs, organisch insofern, als erst aus dem Zu-
sammenwirken von je zwei einander zugeordneten
Widersprüchen, oder vielmehr aus ihrer faktisch
sich vollziehenden Synthese das jeweilige Ganze
entspringt.
Ludowici legt dies Verhältnis zunächst an
einer Analyse des lebendigen pflanzlichen oder
tierischen Individuums dar, dessen Beschaffenheit
ihm die Synthese zweier solcher widersprechenden
Faktoien oder vielmehr Faktorengruppen ist. Die
erste derselben, die ökologischen Faktoren, be-
stimmen die Veränderlichkeit des Individuums
im Sinne von Anpassung; sie sind äußerer Natur,
Licht, Wärme, Wasser, Luft, Nahrung. Die zweite
Gruppe, die genetischen Faktoren, bestimmen die
in der Erblichkeit zutage tretende Konstanz des
Individuums, sie sind innerer Natur, nämlich die
unveränderlichen und unzerstörbaren, nur in ihren
Kombinationen mannigfachst wechselnden Keim-
anlagen. Beide Faktorengruppen verhalten sich
wie außen und innen, bedingen einander sfegen-
seitig und aus ihrer Synthese erst geht das leben-
dige Individuum hervor. Ahnlich wie hier Typ
und Varietät, stehen sich, um noch ein Beispiel
zu geben, für das individuelle Leben Geburt und
Tod als polare, organisch einander fordernde Gegen-
sätze gegenüber.
Dasselbe Prinzip sucht nun Ludowici in den
folgenden Kapiteln, die Vernunft, die Welt, die
Moral anzuwenden, wobei er sich nahe mit Kant
berührt, dessen Kritik der reinen Vernunft ja
ebenfalls die Verflechtung eines solchen orga-
nischen Gegensatzes als den Inhalt der Welt auf-
weist: Sinnlichkeit und Verstand. Hier dem Ver-
fasser ins Einzelne zu folgen, kann nicht der
Zweck einer kurzen Anzeige sein. Was sich da-
bei an Erfreulichem wie Bedenklichem ergeben
dürfte, haben wir bereits oben angedeutet. Um
aber doch ein Bedenken zu nennen, so steigt z. B.
bei der Lektüre des ersten Kapitels die große
N. F. Xin. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
767
F"rage nach der Deszendenztheorie des öfteren in
dem Leser auf, ohne daß sie eine Erledigung
fände. Wir stehen, sobald unveränderliche Typen
als zeitlich durchgehend proklamiert werden, so-
fort wieder vor der Frage, ob bzw. welcherart
nun eine Entwicklung der Arten auseinander
denkbar sein soll, ohne daß zu selbständigen,
immer erneuten Schöpfungsakten gegriffen werden
muß. Das ganze Problem als „aus dem Bereiche
der Erfahrung herausfallend" einfach auf sich be-
ruhen zu lassen, geht nicht wohl an. Denn es
sind doch gleichfalls Erfahrungen, aus denen wir
schließen, was im Ernst heute kaum jemand be-
zweifeln dürfte, das beispielsweise der Mensch
erst in einer vergleichsweise sehr jungen Epoche
der Erdentwicklung aufgetreten ist. Wohl-
verstanden, es handelt sich nicht um die Ent-
scheidung zwischen Lamark's,Darwin's,Weis-
mann's, de Vries' oder Anderer Anschauungen
über die Beschaft'enheit der bestimmenden F'ak-
toren der Artentwicklung, sondern um die letztere
selbst. Wenn wirklich in der modernen For-
schung Strömungen im Wachsen begriffen sind,
die den Typen der einzelnen Gattungen oder gar
der .Arten wesentliche, nur um einen festgehaltenen
Schwerpunkt innerhalb gewisser Grenzen oszil-
lierende Konstanz zuerkennen, so tritt damit
das ganze alte Rätsel, woher die Mannigfaltigkeit
und der ersichtliche Wechsel der Lebensformen
auf unserm Planeten stamme, ungelöst wieder auf
den Plan.
Jedenfalls kann gesagt werden, daß L u d o w i c i
mit dem Prinzip der polaren, in ihrer Synthese die
Gegenstände unserer Betrachtung und Forschung
schaffenden Gegensätze und seiner konsequenten
Durchführung durch die verschiedensten Gebiete
einen glücklichen Griff getan hat; obwohl er einer
Anschauung, die schließlich auf die allgemeine
logische P'orderung zurückgeht, daß ein jedes
Setzen ein Gegensetzen bedingt, offenbar zuviel
zutraut und zumutet, wenn er schreibt, daß dies
Prinzip die Berechtigung aller Systeme und aller
„Ismen" nachweise und Jahrtausend alte Zwiste
unter den Gelehrten zu schlichten imstande sei.
Vielleicht kann man in einer solchen Übertreibung
sein eigenes Prinzip ebenfalls wiederfinden und
zur Anwendung bringen: es scheint ein organisch
sich bedingender Gegensatz zu sein, daß, wer
einen Schlüssel gefunden hat, der Überzeugung
zuneigt, dieser Schlüssel müsse nun auch alle Türen
der Welt aufschließen.
Es erscheint übrigens von nicht geringer Be-
deutung, worauf auch Ludowici mehr als ein-
mal hinweist, daß einer der erlauchtesten Geister,
die je über die Natur gedacht, nämlich Goethe,
auf das Prinzip der Polarität ein sehr großes Ge-
wicht legte und dies des öfteren nachdrücklich
und unmißverständlich, in einer ganzen Fülle tief-
sinniger Aussprüche sowohl als auch im Autbau
seiner eignen Arbeiten, z. B. der Farbenlehre,
dargetan hat. In einer Zeit, die sich in stetig
wachsendem Maße in Goethes Art, die Natur zu
behandeln und zu betrachten, zu vertiefen be-
ginnt, darf wohl auf ein solches Symptom auf-
merksam gemacht werden. Wasielewski.
Wetter-Monatsülbersicht.
Während des vergangenen Oktober war das
Wetter in Deutschland größtenteils trübe, nebelig
und spätherbstlich kühl. An verhältnismäßig
wenigen Tagen, hauptsächlich zu Beginn und
gegen Mitte des Monats, wurden in den Mittags-
SilirtlorcTeiiipcrafurciicitiicjcr 0rfc iinöRlo&crlSl'l
Berliner Wettefbitr«ati.
stunden noch 1 5 " C. überschritten ; am 14. stieg
das Thermometer z. B. zu Cleve, Hannover, Cassel
bis auf 19, zu Fulda sogar bis 20 " C. Während
der Nächte kühlte sich jedoch die Luft im allge-
meinen auch nur wenig und allein, wenn sich
der Himmel vorübergehend aufklärte, stärker ab.
Nachtfröste blieben in der ersten Hälfte des
Monats im wesentlichen auf einzelne Teile Süd-
deutschlands und Schlesiens beschränkt, wo es
z. B. in der Nacht zum 8. Kaiserslautern, zum
9. Beuihen, zum 13. Habelschwerdt auf 2 Grad
Kälte brachten. Erst nachdem sich in der letzten
Oktoberwoche in ganz Norddeutschland sehr
scharfe, an der Küste stellenweise stürmische Ost-
winde erhoben hatten, traten im östlichen Ostsee-
gebiete zahlreichere Nachtfröste auf und blieben
dort zuletzt auch die Tagestemperaturen in der
Nähe des Gefrierpunktes.
Im Monatsmittel lagen die Temperaturen an
der Nordseeküste wenige Zehntelgrade, in den
meisten anderen Gegenden i bis 1 '/a Grad unter
ihren normalen Werten. Viel bedeutender war
der Mangel an Sonnenschein, da, besonders in der
zweiten Hälfte des Monats, der Himmel in einem
großen Teile des Landes fast ununterbrochen mit
Nebelgewölk bedeckt blieb. Beispielsweise hatte
Berlin im ganzen nicht mehr als 40 Sonnenschein-
768
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 48
stunden, während hier im Durchschnitte der da die Niederschläge in anderen Landesteilen bei
früheren Oktobermonate gerade 100 Stunden mit weitem geringer waren, die Regenmenge des
Sonnenschein verzeichnet worden sind. ganzen Monats, die sich für den Durchschnitt
Mit Ausnahme weniger Tage um Mitte des aller berichtenden Stationen auf 54,6 mm belief,
Monats fanden im ganzen Oktober außerordentlich hinter ihrem Durchschnittswerte aus den früheren
zahlreiche Niederschläge statt, deren Mengen jedoch Oktobermonaten seit 1891 noch um 4,2 mm
in den einzelnen Gegenden sehr verschieden groß zurück,
waren. In der ersten Zeit gingen die stärksten * * *
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60
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1. bis IS.OKt.
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D
Regengüsse nordöstlich der Oder hernieder, wo
sie an verschiedenen Orten, beispielsweise am 6.
zu Graudenz und Ostrowo, am 8. zu Oppeln von
Hagelschauern begleitet waren. In Bromberg,
Rügenwaldermünde, ebenso in Friedrichshafen
kamen am 2. Oktober Gewitter vor, in Memel
fiel in der Nacht zum 3. auch etwas Schnee.
Seit dem 8. ließen die Niederschläge überall,
außer an der östlichen Ostseeküste, an Stärke
allmählich nach, wiederholten sich aber bis zum
13. noch täglich.
Zwischen dem iS. und 19. Oktober traten im
oberen Rheingebiete neue Regenfälle ein, die sich
langsam nach Norden und Osten weiterverbrei-
teten und bis gegen Ende des Monats fortsetzten.
Besonders ergiebig waren sie vom 20. bis 22. in
Nordwest- und Mitteldeutschland, wo am 21. früh
z. B. in Kyritz 29 mm Niederschlag gemessen
wurden. Noch größere Regenmengen gingen
einige Tage später abermals in den Provinzen
West- und Ostpreußen hernieder, die z. B. vom
26. bis 27. morgens in Konitz 31, in Berent 36,
in Marienburg 46, vom 26. bis 28. morgens in
Königsberg 51 mm ergaben. Gleichwohl blieb.
Im Gegensatze zum vorangegangenen September
vollzogen sich im diesjährigen Oktober die Ände-
rungen in der allgemeinen Anordnung des Luft-
druckes meist außerordentlich langsam. In seinen
ersten Tagen zog eine tiefe und weit nach Süden
ausgedehnte Barometerdepression mit lebhaften
westlichen Winden durch Nordeuropa nach Nord-
rußland hin, während in südlicheren Breiten ein
Hochdruckgebiet in östlicher Richtung nachfolgte.
Zwischen dem 8. ifnd 9. Oktober dehnte das
Maximum seinen Bereich auch auf die skandina-
vischen Länder aus, nahm daselbst an Umfang
und Höhe allmählich zu und wanderte sehr langsam
ostwärts weiter.
Während der ganzen zweiten Hälfte des Monats
hielt sich das hohe ßarometermaximum beständig
in Nord- oder Nordosteuropa auf, während vom
mittelländischen Meere, später vom atlantischen
Ozean mehrere, anfangs flache, dann etwas tiefere
Minima langsam gegen Mitteleuropa vordrangen.
Hier herrschten daher seit Mitte Oktober sehr
kühle östliche oder nordöstliche Winde vor, die
besonders in der Nähe der Küsten oft sehr heftig
waren. Dr. E. Leß.
Anregungen und Antworten.
Die Roßhaare in den Vogeleiern kommen weder nach
Durchbohrung der Darmwand in den Eierstock, noch auf
irgendeine andere Art in den Eileiter, sondern sind einfach
ein schlechter Witz, den sich die Kinder auf dem Lande
machen, indem sie mit einer Nadel die Eischale durch-
bohren und das Pferdehaar vorsichtig einschieben. Ich
bekenne mich selbst dieses Frevels schuldig, noch dazu als
ich junger Arzt war, gelegentlich einer Diskussion über die
Behauptung, die ein Herr bei einem fidelen Sooleierfrühstück
aufstellte, daß man in Eier wenigstens nichts ungehöriges
hineinbringen könne. Ich bewies ihm bei nächster Gelegen-
heit das Gegenteil. Damit erledigt sich wohl die wissen-
schafUiche Streitfrage. Dr. Weber.
Literatur.
Nalepa, Prof. Dr. Alfred, Schwaighofer, Direktor
Dr. Anton, Tertsch , Prof. Dr. Hermann und Burgerstein,
Heg. -Rat Dr. Leo: Methodik des Unterrichts in der Natur-
geschichte. Wien '14, A. Pichler's Witwe & Sohn. — Preis
geb. 6,20 Mk.
Inhalt; Schröder: .\uf den Höhen des Kilimandscharo. S tro m e r : Funde fossiler Wirbeltiere in den deutschen Schutzgebieten
in .Afrika. — Einzelberichte; Dziewonski und Leyko: Neue hochmolekulare Kohlenwasserstoffe. Dessauer:
Radiumähnliche X-Strahlung. Lau: Planeten jenseits des Neptuns. Fessenkoff: Ursprung des Zodiakallichtes.
Spencer: Die Stämme des Nord-Territoriums von Australien. — Bücherbesprechurgen : Hönigswald: Die Skepsis
in Philosophie und Wissenschaft. Leiß und Schneiderhöhn: Apparate und .Arbeitsmethoden zur mikroskopischen
Untersuchung kristallisierter Körper. Stern: Über den Mechanismus der Oxydationsvorgänge im Tierorganismus.
Bates: The Eastern Libyans. Ludowici: Das genetische Prinzip. — Wetter-Monatsübersicht. — Anregungen und
Antworten. — Literatur : Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Schrifüciter Professor Dr. H. Mi ehe in Leipzig, Marienstrafle IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band ;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 6. Dezember 1914.
Nummer 49.
Vom Prinzip der Relativität.
Von S. Valentiner, Clausthal.
Mit 3 Textfiguren.
[Nachdruck verboten.] Incidis in Scyllam, cupiens vitare Charybdin.
Wenn man einem Nichtfachmann gegenüber andersetzen wollte. Anstatt eines harmlosen
behaupten würde, es sei möglich, die absolute Lächelns ist durch die Mitteilung dieser Folge-
Geschwindigkeit eines Körpers — sagen wir der rungen sogar manche Schmähschrift ausgelöst
Erde — im Räume anzugeben, so würde ganz ge- worden, in welcher die angesehensten Physiker,
wiß in den meisten Fällen ein überlegenes Lächeln Männer wie Loren tz, Einstein, Minkowski,
die Antwort sein; man glaubt es nicht, weil man Planck u. a. als nicht ernst zu nehmende Irr-
gewohnt ist, die Bewegung eines Körpers nur relativ lehrer hingestellt und mit sehr unparlamentarischen
zu der eines anderen anzugeben. Sollte es wirklich Ausdrucksweisen abgetan wurden. ') Die Folge-
so ganz unmöglich sein ? Von vornherein ganz rungen sind in der Tat sehr absonderlich und um
gewiß nicht, wenn auch die Philosophie von einer ihnen zu entgehen, möchte man schon lieber auf
absoluten Bewegung nichts wissen will. Haben die Annahme des Relativitätsprinzips verzichten.
wir doch manches Beispiel dafür, daß gewisse Indessen, wir sind gar nicht in der Lage, ohne
Arten von Ortsveränderungen wirklich absolut weiteres uns für oder gegen das Relativitätsprinzip
angegeben werden können, so z. B. die Rotations- zu erklären. Denn es gibt eine Reihe von Er-
bewegung der Erde um ihre Achse, oder die scheinungen, die gerade die F"olgerungen ganz
Änderung der Geschwindigkeit eines Eisenbahn- direkt zu bestätigen scheinen, und andere, die
zuges. Wir sind bisher wenigstens gewohnt, in sehr schwer ohne die Annahme des Relativitäts-
diesen Fällen den Nachweis der absoluten Orts- prinzipes erklärt werden könnten. Wir wollen
Veränderung für erbracht zu halten. Wie leicht uns im folgenden ein wenig mit diesen Erschei-
können wir doch die Rotationsbewegung der nungen beschäftigen.
Erde durch den Fo ucau It 'sehen Pendelversuch Da müssen wir zuerst von einer wichtigen
nachweisen, wie leicht uns durch die auftretenden Erkenntnis über die Größe der Lichtgeschwindig-
Trägheitsdrucke von der Veränderung der Ge- keit reden. Alle Versuche scheinen mit Sicher-
schvvindigkeit überzeugen. Daß wir nicht die heit zu ergeben, daß die Lichtgeschwindigkeit,
Kenntnis der absoluten Geschwindigkeit zulassen wo und wie wir sie auch messen , immer den
mögen, liegt offenbar daran, daß wir bisher keinen gleichen Wert besitzt. Nehmen wir einmal an,
rein mechanischen Versuch oder keine rein me- wir könnten die Lichtgeschwindigkeit in der
chanische Erscheinung kennen, der uns auf die Weise sehr genau messen, daß wir beobachten,
Geschwindigkeit des Raumes, in welchem wir wie lange Zeit ein von uns gegebenes Lichtsignal
unsere Messungen und Beobachtungen anstellen, gebraucht, um nach Spiegelung an einem in
einen Schluß zu ziehen erlaubte. Wäre uns ein großer Entfernung 1 von uns aufgestellten Spiegel
Experiment bekannt, dessen Verlauf von der Ge- wieder zu uns zurück zu gelangen. Aus Weg-
schwindigkeit des Raumes abhängen würde (vor- strecke und Zeit können wir die Lichtgeschwin-
ausgesetzt natürlich , daß wir nicht Gegenstände digkeit finden. Es ist dies gewiß die primitivste
außerhalb des betreffenden Raumes mit zur Be- Messungsart und wir wollen uns denken, daß wir
obachtung heranziehen müssen), so könnten wir
zweifellos aus dem Verlauf die wirkliche Ge- ') So hat der Verfasser einer solchen Schrift — seinen
schwindigkeit des Raumes feststellen. ^^"'^^ ^^^^ '';*''„'^'!" l" °''">'' ^"g"^f r °''^'f f "'"g""'
,-v ,? . . j y-, , . . .. . ,. , verlangt, als daß der Staat für diese Lehrer und deren An-
Das Innzip der Relativität sagt nun eigentlich hSnger ein Narrenhaus bauen müßte, in das sie alle hinein-
nichts anderes aus als das: Es soll überhaupt kein gesperrt werden sollten, bis sie ihre Theorie abgeschworen
Experiment geben, sei es nun mechanischer oder hätten. — Vielversprechend ist auch der Titel „das Relativitäts-
thermodynamischer, oder elektromagnetischer oder P"!"''?' '^l" i""g'"= Modenarrheit der Wissenschaft", den ein
j KT . , , . ,. ^, anderer Verfasser semer inhaltlich geradeso minderwertigen
anderer Natur, welches uns in die Lage versetzt, ^Is unverständlichen Arbeit gegeben Lt. - Solchen Leuten
über die absolute Geschwindigkeit des Raumes, geht man am besten aus dem Wege, denn sie sind zuweilen
in dem es vorgenommen wird, eine Aussage zu recht gefährlich, indem sie mit beleidigenden Redensarten
machen nicht sparsam sind. Und die Aussicht, sie zum eingehenden,
\ „ !• T> ■ ■ ^ ■ t I T- 1 wahren Studium der mißverstandenen Theorien anzuregen,
Aus diesem 1 rmzip lassen sich nun aber Folge- i,t ^ehr gering. Sonst dürfte vielleicht schon der Rat genügen,
rungen ziehen, die ebenfalls den gewohnten An- zunächst einige Jahre reine Mathematik, dazu einige Jahre
schauungen widersprechen, so daß wiederum ein E.Nperimentalphysik und dazu noch eine Reihe von Jahren
mitleidiges, ungläubiges Lächeln der Lohn wäre theoretische Physik eingehend zu treiben ; manchen wird schon
nronn r« -, « ^,„ 17 1 I ■• ji- 1 IT ' uach kÜTzcrcr Zeit ein Licht aufgehen und andere erkennen
wenn man die Folgerungen ohne gründliche Vor- ,i,„eieht bald, daß das Sleineklopfen für sie eine geeignetere
bereitung und Beweisführung dem Laien ausein- Tätigkeit ist.
770
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr.
49
sie mit äußerster Genauigkeit ausführen könnten.
Die Messung sei einmal vorgenommen, wenn der
Lichtweg (.Ausgangspunkt — Spiegel — zurück zum
Ausgangspunkt) mit der Ost- Westrichtung zusam-
menlälh, ein zweites Mal, wenn er in der Nord-
Südrichtung liegt. Bei Berechnung der vom Licht
zurückgelegten Wegstrecke müssen wir die Erd-
bewegung berücksichtigen, die in der Ost-West-
richtung erfolgt; v sei die Geschwindigkeit unseres
Standortes auf der Erdoberfläche, und des damit
verbundenen Spiegeis.
Im ersten Fall ist die Zeit, die das Licht ge-
braucht, um von uns zum Spiegel zu gelangen,
l/lc-j-v) und um vom Spiegel zu uns zurückzu-
kommen, l/(c — v). Die Summe dieser Zeiten
nennen wir Tj. Im 2. Fall ist die Summe der
hm und her zurückgelegten Wege, wie eine
leichte Rechnung zeigt
yc'^ — v''' }c''' — v^
Die Differenz der beiden Zeiten ist somit
2\lv-
i\
■T, = -
C \2C
..+ •
(die Ge-
Null ist,
die Erde
Das bedeutet, daß, wenn wir die Erdbewegung
nicht berücksichtigen würden, in den beiden
Fällen ein wenig voneinander verschiedene Licht-
geschwindigkeiten, nämlich :
2l , 2l
c, = ^ und C2 = ^-
sich ergeben müßten. Nur wenn v
schwindigkeit unseres Standpunktes)
dürten wir Cj = Cj finden, wenn also
in relativer Ruhe gegen das Medium, das für die
Lichtfortpflanzung in Frage kommt, den leeren
Raum, sich befindet.
M i c h e 1 s o n und M o r 1 e y haben die Differenz
mit größter Sorgfalt durch eine äußerst empfind-
liche Methode zu bestimmen gesucht, durch eine
Methode, die noch den 20. Teil jener Zeildifferenz
halte erkennen lassen müssen. Das Resultat war
überraschend: eine Differenz von dem berechneten
Betrag konnte nicht gefunden werden; ja, nicht
einmal eine Differenz, die über die Fehlergrenze
der Messung hinausginge. Somit dürften wir eine
relative Bewegung zwischen Erde und lichtfort-
pflanzendem Medium nicht annehmen.
Die Anschauung der relativen Ruhe der Erde
und dieses Mediums läßt sich aber nicht mit einer
anderen Erfahrung in Einklang bringrn, nämlich
der bekannten Erscheinung der Aberration des
Lichtes. Die berühmte Methode von Bradley,
die Lichtgeschwindigkeit zu bestimmen (aus dem
Jahre 1,27), beruht auf dieser Erscheinung. Die
Achse des auf einen Stern eingestellten F"ernrohrs
ist infolge der Erdbewegung gegen die Richtung
auf den Stern um einen kleinen Winkel, den
Winkel der Aberration, gedreht; seine Tangente
ist gleich dem Verhältnis der Erdgeschwindigkeit
zur Lichtgeschwindigkeit. Könnte man auch in
diesem Fall von der relativen Bewegung der Erde
gegen das lichtfortptlanzende Medium absehen,
so wäre eine derartige Neigung des Fernrohrs
nicht zu verstehen.
Bevor wir aus diesen Versuchen Schlüsse
ziehen, wollen wir noch überlegen, welche Folge-
rung wir aus den ersten Messungen hätten ab-
leiten können, wenn sich tat^-ächlich eine Differenz
der Zeiten Tj und T., ergeben hätte. Wir hätten
aus der Messung der Differenz die Geschwindig-
keit v des Beobachtungspunktes berechnen können
und das wäre, da das lichtforipflanzende Medium
der leere Raum ist, die relative Geschwindigkeit
des Standortes gegen den leeren Raum, oder das,
was wir als absolute Geschwindigkeit bezeichnen
müssen. Das bedeutete einen Verstoß gegen das
Prinzip der Relativität. Das negative Ergebnis
des IVI ichelson'schen Versuches war also zu
erwarten, wenn wir das Prinzip der Relativität
als allgemein gültig anerkennen wollen.
Außerordentlich schwer ist es nun aber die
beiden Erkenntnisse, dies Resultat des Michel-
son'schen Versuchs und die Aberration in Ein-
klang miteinander zu bringen. Man kann den
Knoten, der hier entstanden ist, nicht dadurch
lösen, daß man mit Erfahrungen aus der Mechanik
daran geht. Die einfachen Vorstellungen, denen
zufolge das lichtfortpflanzende Medium sich
wie ein materielles oder materieähnliches Etwas
verhielte, und einen besonderen Namen wie das
Wort Äther verdiente, helfen aus diesem Dilemma
auf keine Weise heraus. Was bleibt also übrig,
wenn man über diese Schwierigkeit hinweg-
kommen will und muß, als den Knoten durch-
zuhauen, von der Vorstellungsmöglichkeit abzu-
sehen und einfach das zu fordern, was aus den
Experimenten folgt. Das ist: Eine absolute Be-
wegung können wir nicht nachweisen, weil infolge
irgendwelcher näher zu studierender Vorgänge
die Lichtgeschwindigkeit in allen unseren Messungen
nach allen möglichen Richtungen und an allen
Orten einen von der Bewegung des Beobachtungs-
ortes unabhängigen konstanten Wert c besitzt.
Daran müssen wir also hinfort festhalten und nun
näher zusehen, was aus dieser Forderung der kon-
stanten Lichtgeschwindigkeit folgt.
Zur Zeit t = o werde im Punkt A (Fig. i a) ein
Lichtblitz ausgesandt, der sich nach allen Seiten
hin mit gleicher Geschwindigkeit ausbreitet. Zur
selben Zeit bewege sich von A ein Beobachter
fort mit der Geschwindigkeit v in der Richtung
der eingezeichneten x- Achse. Nach der Zeit: t
Sekunden, gemessen mittels einer im Punkt A
aufgestellten Normaluhr, befinde sich der Beob-
achter an der Stelle B und das Licht mag gerade
bis zu der Kugelschale mit dem Radius R = et
gelangt sein, also in Fig. I a, die einen ebenen
Schnitt des Raumes durch den Punkt A und die
X-Achse darstellt, bis zu der Peripherie des Kreises,
z. B. zum Punkt C. Der Beobachter hat nun
trotz seiner Bewegung durchaus nicht das Gefühl,
als wenn er sich aus dem Zentrum der die Aus-
breitung des Lichtes darstellenden Kugelflächen
N. F. Xm. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
771
herausbewegte, vielmehr läßt ihm die in allen
Richtungen beobachtete Konstanz der Lichtge-
schwindigkeit vermuten, daß er dauernd im
Zentrum der Kugelwellen sich befindet. Die
Vorgänge, die sich einem Zuschauer im Punkt A
in dem Raum darbieten, der durch F'ig. i a dar-
gestellt wird, scheinen dem Beobachter B in einem
Räume vor sich zu gehen, der durch die Fig. i b
dargestellt wird; sie ist ein Abbild der Fig. i a,
aber dem Punkt B in Fig. 1 a entspricht das
Zentrum des Kreises in P^ig. i b und dem Punkte
des Kreises in Fig. i a die Punkte des Kreises
in F'ig. I b. Für den bewegten Beobachter spielen
sich alle Erscheinungen in dem Raum, wie er
durch den Schnitt in Fig. i b dargestellt ist, ab,
nämlich so daß das Licht sich für ihn nach allen
Richtungen hin gleich schnell bewegt, also von
ihm aus in gleicher Zeit die Punkte der Peri-
pherie eines Kreises erreicht, in dessen Mittel-
punkt B sich befindet. Dem Zuschauer A er-
scheint die Sache ganz anders; er beobachtet in
seiner Darstellung (Fig. i a), daß B sich aus dem
Zentrum der Kugelwellen fortbewegt. Es ist
natürlich von größter Wichtigkeit, festzustellen,
welche Punkte
des Raumes:
Figur I b denen
des Raumes :
Figur I a ent-
sprechen, es wird
dann möglich
sein , anzugeben,
wie die Erschei-
nungen, die der
Zuschauer A in
seinem Räume
erlebt, sich dem
Beobachter B dar-
stellen. Wir
brauchen zu dem
Zweck nur die
Formeln aufzu-
suchen, die uns
angeben, wie der
eine Raum durch den anderen abgebildet, wie
er in den anderen transformiert wird. Diese
Formeln sind leicht zu erkennen.
Wir wissen, daß die beiden Räume ineinander
übergehen, wenn die Geschwindigkeit von B gegen
A den Wert Null hat. Also müssen die Koordinaten
senkrecht zu der Richtung der Bewegung bei der
Transformation ihren Wert behalten. P'ür die
Transformation der x-Koordinate, deren Richtung
mit der Richtung der Bewegung zusammenfalle,
in die x'-Koordinate wollen wir die Gleichung
ansetzen :
i) x' = a(x — vt)
Die Zweckmäßigkeit derselben geht unmittel-
bar aus der Zeichnung hervor, wenn wir in Be-
tracht ziehen, daß doch nicht notwendigerweise
der Maßstab, der bei den Abmessungen im
Räume i gilt, auch noch für den Raum 2 be-
Fig. I (a und b).
nutzt werden kann. Man kann nicht wissen, ob
er nicht von der Geschwindigkeit v abhängt.
Was den Radius R' anlangt, der dem Radius
R = et in Figur i a entspricht, so wissen wir, daß
2) y-^ + x^ = c^t^
und 3) y2 + x'2 = c^t''-
sein muß. In (3) führen wir zur weiteren Be-
rechnung der Größe « und der Beziehung, die
zwischen t und t' bestehen muß, Gleichung (i)
ein und ziehen (2) davon ab. Es ergibt sich
daraus:
4) x-(a-— i) — 2«2vxt4-t-(ß-v- + c-) = c-t'-
t' ist also eine lineare Funktion von x und t und
kann geschrieben werden 1
5) t'=yt-\-ßK
Da Gleichung (4) mit der Schreibweise (5)
von t' für jedes x und t gelten muß, so müssen
die Koeffizienten der Glieder gleicher Potenzen
von X und t rechts und links vom Gleicheits-
zeichen gleich sein. Aus dieser Forderung folgt:
^_ c ^ c —V
" ~ Vc^— v^' ^ ~ yc^— V-''' ~ cyc^— v^"
Die einfache Überlegung hat uns somit die
Transformationsformeln geliefert :
x' ^ a (x — vt ), y' = y, z' = z,
6) t' = a(t
.,x
ß
c- /■ Vc^— V-
Sie liefern uns die P"ormeln für eine im
Raum la erkannte und durch die Variabein
X, y, z, t dargestellte Erscheinung in den Variabein
x', y', z', t', d. h. eine Darstellung der Erscheinung
wie sie im Raum i b beobachtet werden wird.
Diese wichtigen Transformationsformeln sagen
aus, daß der Maßstab beim Übergang von dem
einen System zu dem anderen in Richtung der
relativen Bewegung eine Veränderung erfährt und
daß auch die Zeitrechnung in beiden Systemen
verschieden ist. Befinden wir uns in einem
fahrenden Eisenbahnzug und könnten wir einen
in der Fahrtrichtung gehaltenen in Zentimeter
genau geteilten Maßstab vergleichen mit einem
solchen der auf dem ruhenden Bahnkörper
ausgestreckt liegt, so würden wir eine Differenz —
freilich eine äußerst geringe Differenz — der
Zentimeterieilungen wahrnehmen können. Infolge
der Bewegung erscheint der bewegte Stab dem
Zuschauer, der nicht mit bewegt wird (auf dem
Bahnkörper steht) etwas kleiner zu sein als den
Eichangaben entspricht. Aber auch der bewegte
Beobachter hält seinen Maßstab für etwas länger
als den, der auf dem Bahnkörper ruht. Denn für
den bewegten Beobachter gilt ja der Maßstab,
den er bei sich hat als der, der sich in relativer
Ruhe zu ihm befindet, und der auf dem Bahn-
körper liegende als der bewegte. Das sind
zweifellos umwälzende Anschauungen, zu denen
wir durch das Prinzip der Relativität und die
Konstanz der Lichtgeschwindigkeit gezwungen
werden. Eng damit zusammen hängt die nicht
minder ungewöhnliche P'olgerung, daß auch die
772
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 49
Zeiten für den bewegten und den ruhenden Be-
obachter verschieden sind; die Uhren mit denen
sie ihre Beobachtungen anstellen, zeigen ver-
schiedene Sekundenlängen, wenn die Uhren auch
vorher beim Nebeneinanderliegen (ohne gegen-
seitige Bewegung) genau gleiche Intervalle an-
gaben. Es ist ganz selbstverständlich, daß man
sich gegen diese Folgerungen so lange als mög-
lich gesträubt hat, daß man es im Anfang als
eine geradezu ungeheuerliche Zumutung emp-
finden mußte, derlei Angaben glauben zu sollen.
Bevor wir uns nach direkten Bestätigungen
dieser eigentümlichen Folgerungen umsehen,
wollen wir die Transformationsformeln noch ver-
gleichen mit denjenigen, die uns die gewohnte
analytische Mechanik für den Übergang von einem
System zu einem anderen, in relativer Bewegung
zu jenem befindlichen System liefert. Das zweite
System mag gegen das erste sich mit der Ge-
schwindigkeit V in Richtung der x-Achse be-
wegen. Die Achsen der Koordinaten in den
beiden Systemen legen wir parallel und erhalten
unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß
die Zeitiniervalle im bewegten und im ruhenden
System gleiche Größe haben, für den Übergang
die bekannten Formeln:
x' ^ X — vt
7)
y
z'
t'
y
; Z
t
Daraus ergibt sich z. B. daß 2 Punkte (mit
den Koordinaten x\, x'^, resp. Xj, Xg) im bewegten
System wie im unbewegten die gleiche Ent-
fernung zeigen ; denn wie auch die Geschwindig-
keit V sein mag, immer ist
also
X.,
vt, X.,' = Xj
- X, — x„
vt
Aus den Formeln [6] dagegen folgt:
c
X./=«(Xi — Xj):
i^.
K— Xo)
eine Veränderung der Entfernung. Wegen des
sehr hohen Wertes von c (300000 km,sek ist
freilich die Änderung sehr klein und wird in den
seltensten Fällen der reinen Mechanik in An-
betracht der verhältnismäßig immer nur sehr ge-
ringen Geschwindigkeit v überhaupt bemerkbar
sein. Die I'^ormeln 6 bilden also nur eine ganz
geringe Modifikation der der analytischen Me-
chanik zugrunde liegenden Formeln 7. Daher
kann man auch weiterhin an den Formeln 7 fest-
halten und somit auch an dem bisherigen Aufbau
der analytischen Mechanik, sobald es sich nicht
um sehr große relative Geschwindigkeiten handelt.
Für den Fall aber ist es nötig, die genaueren
Formeln den Entwicklungen der Mechanik zugrunde
zu legen, also eine von der gewohnten Mechanik
abweichende Darstellung durchzuführen. Da
Längen- und Zeitmaße durch die Bewegung ge-
ändert werden, so treten auch Änderungen anderer
Eigenschaften der materiellen Körper ein ; der
Ausdruck der kinetischen Energie, die Trägheit,
die elastischen Eigenschaften werden infolge des
Prinzips der Relativität modifiziert. Was speziell
die Trägheit der Materie anlangt, so zeigt die
Rechnung, daß sie von der Geschwindigkeit in
verschiedener Weise abhängt, je nachdem sie im
zentrifugalen Trägheitswiderstand oder im tangen-
tialen Trägheitswiderstand auftritt. Man spricht
daher von der sogenannten longitudinalen trägen
Masse (wirksam bei Änderung der Geschwindig-
keit des Körpers in Richtung der augenblick-
lichen Geschwindigkeit) und von der transversalen
trägen Masse (wirksam bei Änderung der Geschwin-
digkeitsrichtung).
Die Ableitung der Formeln, die uns die Ab-
hängigkeit der Masse von der Geschwindigkeit
angibt, hier mitzuteilen, würde zu weit führen.
Wir wollen sie aber hinschreiben, zur Beruhigung
derer, die befürchten könnten, diese als notwendig
erkannten Unterschiede möchten die ganze bis-
herige mechanische Darstellung der Naturvorgänge
umstürzen. Die Unterschiede werden nur merk-
bar, wenn v ganz beträchtliche Werte annimmt.
Wenn m^ die Trägheit (Masse) bei sehr kleinen
Geschwindigkeiten (v ^ o) bedeutet, so ist die
longiiudinale Trägheit bei der Geschwindigkeit v
8) mi = mo-li J
und die transversale Trägheit
9) mt = m„.|i
Die Formeln, sowohl diese letzten wie auch
die Transformationsformeln (6) sind zuerst von
H. A. Lorentz angegeben worden, als solche,
durch die die Maxwell'schen Gleichungen der
Elektrodynamik für ruhende Systeme transformiert
werden mü>sen, damit sie die Erscheinungen auch
in bewegten Körpern (oder Räumen) richtig
wiedergeben. Ihre Anwendung auf den Morley-
M ichelson'schen und viele ähnliche Versuche
lieferte ebenfalls richtige Darstellungen der Er-
scheinungen — wir hatten ja umgekehrt gerade
auf die Notwendigkeit der Formeln (ö) aus jenem
Versuch geschlossen. Lorentz war bei der Ab-
leitung von der Elektronentheorie ausgegangen
und hatte zur Erklärung speziell des Morley-
M ich elso n 'sehen Versuches die Hypothese auf-
genommen, daß eine Kontraktion der Materie
(auch der Elektronen) infolge der Bewegung auf-
trete (Koniraktionshypothese von Lorentz). Da
die von einem sich bewegenden Elektron aus-
gehende Kraftwirkung eine gewisse Zeit zur .Aus-
breitung gebraucht (sie erfolgt mit Lichtgeschwin-
digkeit), so wird das elektrische Feld um das
Elektron herum bei großer Geschwindigkeit des
PLIektrons eine Deformation erfahren. Die Kraft-
linien werden, wie die genaue Rechnung lehrt,
nach dem Äquator des Elektrons zusammengedrängt,
wenn die Bewegung senkrecht zur Ebene des
Äquators erfolgt. Das Kraftlinienfeld hat ungefähr
das Aussehen der nebenstehenden Figur 2, in der
N. F. XIII. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
773
die Bewegungsrichtung mit der Pfeilriciitung zu-
sammenfällt. Diese Deformation des P'eldes ver-
anlaßt weiter eine Abhängigkeit des Trägheits-
widerstandes, also der
scheinbaren Masse, von
der Geschwindigkeit und
außerdem eine Ver-
schiedenheit des Träg-
heitswiderstandes gegen
Geschwindigkeitsände-
rungen in Richtung und
senkrecht zur Richtung der
Geschwindigkeit. Nimmt
man nun an , daß die Elektronen starre Kugeln
sind, die auch während der Bewegung keine Kon-
traktion erfahren, so ergibt die Theorie für die
longitudinale träge Masse (nach Abraham):
'"• = ■"«[ ' + 5 c^j
für die transversale
"'==""(' + 3,5 c-^l
Die Benutzung der Transformationsformeln für
die Max well 'sehen Grundgleichungen mit der
darin steckenden Hypothese der Kontraktion
führte dagegen auf die Formeln (8) und (9), die
wir zum besseren Vergleich mit (10) und (11) in
erster Annäherung auch schreiben können:
8') mi ^ m,
9')
= mo I +
I v^l
Schon Lorentz wies darauf hin, daß man
infolge der Abhängigkeit (6) der Zeit von der
Bewegung des Elektrons von einer „Ortszeit" des
Elektrons sprechen müsse. In einer bedeutungs-
vollen Arbeit hat dann Einstein (1905) gezeigt,
daß den Lorentz 'sehen Transformationsforrneln
die Forderung des allgemeinen Prinzipes der Re-
lativität zugrunde liegt und daß man von diesem
Prinzig ausgehend die Erscheinungen betrachten
müsse. Man müsse fordern, daß die Beobachtun-
gen in einem abgeschlossenen System stets sich
in gleicher Weise dem Beobachter darbieten, un-
abhängig davon, ob das System in gleichförmiger
Bewegung sich befindet oder nicht. Minkowski
hat die Transformation in äußerst elegante mathe-
matische Form gebracht, indem er die Unter-
schiede der Raumkoordinaten und der Zeit unter-
drückte. „Die Anschauungen über Raum und
Zeit, die ich Ihnen entwickeln möchte, sind auf
experimentell • physikalischem Boden erwachsen.
Darin liegt ihre Stärke. Ihre Tendenz ist eine
radikale. Von Stund an sollen Raum für sich
und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken
und nur noch eine Art Union der beiden soll
Selbständigkeit bewahren." Mit diesen Worten
leitete der große Mathematiker seinen Vortrag
über Raum und Zeit auf der Naturforschcrver-
sammlung in Köln ein. ^)
Zui Veransciiaulichung des Inhaltes des Rela-
tivitätsprinzipes in seiner modernen Fassung ist
übrigens ein sehr sinnreich erdachter Apparat
von E. C o h n konstruiert worden. Es wird an
diesem Modell die Messung der Lichtgeschwindig-
keit demonstriert von einem Körper aus, der auf
der Erde ruhend gedacht wird und von einem,
der sich gegen den ersten mit großer Geschwin-
digkeit bewegt. Man erkennt an dem Modell
deutlich, daß die P'orderung der Konstanz der
Lichtgeschwindigkeit die Annahme nach sich
zieht, daß Zeit und Längenmaße von der relativen
Geschwindigkeit abhängen müssen, und daß es
auch nicht einmal mehr absolute Gleichzeitigkeit
geben kann. Ereignisse, die der ruhende Beob-
achter gleichzeitige nennt, erscheinen dem be-
wegten durchaus nicht mehr gleichzeitig. Es sei
dieses Modell allen zur Betrachtung empfohlen,
es ist ausführlich in dem allgemeinverständlich
abgefaßten Aufsatz von E. Cohn „Physikalisches
über Raum und Zeit" (24 S. Leipzig, Teubner
191 1, 0,60 M.) -) beschrieben worden. (Eine ein-
gehende Besprechung mit Abbildung findet sich
auch in Zeitschr. f. d. phys. und ehem. Unterricht.
191 1, S. 361 und in Phys. Zeitschr. 12, S. 1227,
1911.)
Infolge der Ungewohntheit der Vorstellungen,
die die unbedingte Annahme des Relativitäts-
prinzips mit sich bringt, wird man das lebhafteste
Bedürfnis empfinden , direkte Beweise für die
Richtigkeit der Folgerungen kennen zu lernen.
Nun, es gibt in der Tat eine ganze Reihe von
Erscheinungen, die zugunsten des Relativitäts-
prinzips im allgemeinen und der Folgerungen im
besonderen sprechen. Sie sind vor einiger Zeit
sehr hübsch zusammengestellt worden von Laub
in einem Aufsatz in dem Jahrbuch der Radio-
aktivität und Elektronik (7, S. 405, 1910). Alle
Versuche, die zur Prüfung der Theorie ausgeführt
werden können, bestehen in äußerst sorgfältigen und
schwierigen Messungen. Denn der Einfluß, den
die Geschwindigkeit auf Länge und Zeit und alle
mechanischen und anderen Erscheinungen ausübt,
ist sehr gering und überhaupt nur merkbar, wenn
die Geschwindigkeit etwa von der Größenordnung
der Geschwindigkeit von Punkten der Erdober-
fläche infolge der Erdbewegung oder von höherer
Größenordnung ist. Denn die Maßstabänderung
wird ja durch den Faktor
Vc^ — v2
bedingt, und c ist gegen alle irdischen aus der
Mechanik bekannten Geschwindigkeiten ganz un-
geheuer groß. Bei den meisten Experimenten zur
Prüfung wird daher die Erdgeschwindigkeit mit
benutzt, z. B. Messungen in Richtung der Erd-
') Vgl. Phys. Zeitschr. 10, S. 104. 190g.
*) Aus „Himmel und Erde" 23, S. 117, 1910.
774
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 49
bewegung mit solchen senkrecht dazu verglichen.
Bei den anderen Untersuchungen, die in der Ab-
sicht, die Relativitätstheorie zu prüfen, unter-
nommen sind, macht man Gebrauch von den sehr
schnellen Elektronen, die als Kathodenstrahlen
wahrnehmbar sind. Die Bestimmung der Elek-
tronenmasse bei verschiedenen Geschwindigkeiten
der Elektronen und der Vergleich mit der von
der Theorie geforderten Abhängigkeit von der
Geschwindigkeit dürfte wohl noch immer als die
Methode gelten, die für eine sichere Entscheidung
am geeignetsten ist, wenn freilich auch bei ihr so
manche Schwierigkeiten sich der geforderten Ge-
nauigkeit in den Weg stellen.
Wir wollen uns diese Methode und ihre Re-
sultate etwas näher ansehen. In allen zu dem
Zweck der Prüfung unternommenen Arbeiten
wurde nur das Verhältnis der Elektronenladung e
zur Elektronenmasse m gemessen. Da alle Er-
fahrungen dafür sprechen, daß man die Elektronen-
ladung als konstant ansehen darf, führt die Be-
stimmung des Verhältnisses bei verschiedenen
Geschwindigkeiten zu der Kenntnis der Abhängig-
keit der Masse selbst von der Geschwindigkeit.
Q
Zur Messung von - macht man von der
^ m
Möglichkeit Gebrauch, die Elektronen z. B. in den
Kathodenstrahlen durch elektrostatische und ma-
gnetische Felder aus ihrer ursprünglichen Bahn ab-
zulenken. Es mögen z. B. von der Kathode K
in der Figur 3 Elektronen mit der Geschwindig-
keit V durch das Loch der Anode A hindurch-
breclien. Dieselben werden sich geradlinig zwischen
den beiden Metall-
platten a, a hindurch
bis an das Ende der
Röhre bewegen und
dort an der Stelle, wo
sie die Glaswand tref-
fen, einen Fluoreszenz-
fleck verursachen. Wird
zwischen den Platten
durch Anlegen an die Enden einer elektrischen
Batterie ein elektrostatisches Feld von der Stärke E
erzeugt, so werden die Kaihodenstrahlen abgelenkt.
Aus der Größe der Ablenkung, die sich aus der
Verschiebung des Fleckes messen läßt (besser auf
photographischem Wege), und der Stärke des
Fig. 3-
Feldes läßt sich die Größe
m V-
berechnen. Lassen
wir statt dessen ein Magnetfeld von der Stärke H
auf das Kathodenstrahlbündel einwirken, so daß die
magnetischen Kraftlinien senkrecht zu dem Bündel
verlaufen, so wird das Bündel in einen Kreisbogen
abgelenkt, dessen Radius r durch die Gleichung
m v -- , . ... ,
= r-e H bestmrmt wird und gemessen werden
2 *'
kann. Die Kombination der beiden Messungen
läßt V und — getrennt berechnen.
Die Versuchsanordnung im einzelnen für diese
Bestimmungen ist mannigfach variiert worden.
Von besonderer Wichtigkeit ist eine Anordnung
geworden, die von Bestelmeyer 1907 ange-
geben wurde, die der gekreuzten Felder. Die
Kathodenstrahlen passieren ein durch einen Kon-
densator erzeugtes homogenes elektrisches Feld
von der Stärke E. Diesem Feld ist ein magne-
tisches von der Stärke H überlagert derart, daß
die ablenkende Wirkung des elektrischen Feldes
auf die Elektronen der Wirkung des magnetischen
Feldes gerade entgegengesetzt war. Elektronen,
E
die sich mit der Geschwindigkeit v = - be-
wegen, erfahren dann im Zwischenraum des Kon-
densators keine .Ablenkung. Außerhalb des Kon-
densators beschreiben diese Elektronen infolge
des auch dort noch wirksamen magnetischen
Feldes eine kreisförmige Bahn mit dem Radius
mv mE . ,, V-. , ■ ,- , -
r = >,= —,,,• Alle Elektronen mit Geschwin-
e H eH"
>E
digkeiten v --jy beschreiben, wie die Theorie er-
<. H
gibt, Bahnen, die die Kreisbahn jener hervorge-
hobenen Elektronen in einer Entfernung vom
Kondensator schneiden, die gleich der Länge des
Kondensators ist. In dieser Entfernung befand
sich eine photographische Platte, welche durch
die Kathodenstrahlen geschwärzt wurde. Außer
E und H wurde die Ablenkung der Kathoden-
sttahlen auf der photographischen Platte gemessen
und daraus r berechnet; damit war alles Not-
,. _, . , , m
wendige zur Ermittelung von v und gewonnen.
Diese Methode wurde von Bestelmeyer selbst,
dann auch von Buc herer und Wolz, zuletzt
von O. Schäfer und G. Neu mann benutzt.
Speziell die Messungen der letztgenannten
Forscher ') haben mit recht großer Sicherheit
dargetan, daß im Intervall von 0,4 bis 0,8 der
Lichtgeschwindigkeit die Änderung der Masse
des Elektrons der Lore ntz- Ein stein 'sehen
Theorie folgt. Als Grenzwert des Verhältnisses
für sehr kleine Geschwindigkeit finden sie
m
1.765
10' in vortrefflicher Übereinstimmung mit
dem Wert, den Bestelmeyer 1911 bei einer
Untersuchung fand, die er eigens zu dem Zweck,
den Grenzwert möglichst genau zu bestimmen,
unternommen hatte.
Zum Schluß müssen wir nun noch auf häufig
als ganz unannehmbar hingestellte Konsequenzen
aufmerksam machen. Die Lichtgeschwindigkeit
kann niemals erreicht oder gar übertroffen werden
und es darf niemals ein Mittel geben, die Licht-
geschwindigkeit durch Vergleich mit einer anderen
Geschwindigkeit direkt zu messen (oder was das-
selbe ist , es soll nicht möglich sein , die Zeit,
deren Intervalle durch die Größe der Lichtge-
1) Phys. ZS. 14. S. II 17. 1913.
N. F. Xni. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
775
schwindigkeit definiert wird, noch durch irgendein
von der Lichtgeschwindigkeit unabhängiges Mittel
zu kontrollieren). Bedenklich sind diese Konse-
quenzen natürlich erst dann, wenn irgendein
Anzeichen vorliegt dafür, daß sie nicht richtig
sein könnten. Da ist nun in der Tat nicht zu
leugnen, daß die ihrem Wesen nach noch un-
bekannte Gravitationskraft, die Anziehungskraft
zwischen materiellen Teilchen , vielleicht eiimial
dazu dienen könnte, die Unhaltbarkeit der Rela-
tivitätstheorie zu erweisen. Bis vor wenigen Jahr-
zehnten wenigstens nahm man noch unbekümmert
eine unendlich große Ausbreitungsgeschwindigkeit
an. Das darf man nicht mehr tun, denn wäre
die Geschwindigkeit größer als die Lichtge-
schwindigkeit, so könnte man sich einen Fall in
Gedanken leicht konstruieren, für den die Trans-
formationsgleichungen (6) völlig sinnlos würden.
Und da die Gleichungen (6) allgemeine Gültigkeit
beanspruchen, darf es nicht einmal ein Gedanken-
experiment, welches auf rein physikalische Er-
scheinungen sich gründet, geben, für das die
Gleichungen nicht anwendbar wären. Aber noch
mehr; da die durch die Lichtgeschwindigkeit
definierte Zeit in keiner Weise kontrolliert werden
kann, sondern immer wieder nur gemessen werden
kann mit Hilfe von Vorrichtungen, die streng
nach den Konsequenzen der Transformations-
formeln (6) funktionieren, so muß auch die Gravi-
tation auf die elektromagnetischen Erscheinungen
zurückführbar sein. Das Relativitätsprinzip liefert
uns also wichtige Aussagen über die Gravitations-
kraft und die experimentelle Widerlegung jener
Aussagen wäre zweifellos das Ende jener Theorie.
Einstweilen braucht man sich darüber nicht zu
beunruhigen und kann an der Theorie der Rela-
tivität festhalten. Abgesehen von der Erscheinung
der Gravitation gibt es bis jetzt nichts, was zu
einem Zweifel an den genannten Konsequenzen
berechtigte. Denn darüber zu spindisieren, was
I eintreten würde, wenn wir die Möglichkeit hätten,
auf rein mechanischem Wege eine Geschwin-
1 digkeit herzustellen , die gleich der Lichtge-
schwindigkeit wäre, ist völlig zwecklos, solange
man eben diese Möglichkeit nicht hat, an der auf
Grund der Relativitätstheorie von vornherein zu
zweifeln ist.
Was die Theorie der Gravitation betrifft, so
sind die Aussagen, die aus dem Prinzip der Rela-
tivität gewonnen wurden, von verschiedenen
Forschern weiter verfolgt worden. Gegenwärtig
gibt es im wesentlichen drei durch die Grund-
lagen (Hypothesen) \'oneinander verschiedene
Richtungen. Abraham hat eine Theorie der
Gravitation aufgestellt, durch die die hier skizzierte
Relativtheorie nicht bestätigt wird, auch nicht
bestätigt werden soll, da Abraham in seinen
Untersuchungen die Konstanz der Lichtgeschwindig-
keit nicht als berechtigte P'~orderung anerkennt.
Nordström und Mie legen das Prinzip der
Relativität mit der F'orderung der konstanten
Lichtgeschwindigkeit zugrunde und Einstein
geht in seiner Theorie, die er in einem Vortrag
auf der Naturforscherversammlung in Wien mit-
geteilt hat, noch über die von der Relativitäts-
theorie geforderten Grundlagen hinaus. Einstein
wirft die Frage auf, ob nicht auch die von uns
oben als absolut meßbar angesehenen Beschleu-
nigungen nur als relativ meßbar angesehen werden
müssen. Wie er zeigt, kann man bei einer der-
artigen Erweiterung zu dem sehr wichtigen Er-
gebnis kommen, daß Trägheit ein relativer Begriff
sei, insofern als die Trägheit der Masse durch
Anhäufung von Massen in ihrer Umt;ebung ver-
mehrt werde (das Umgekehrte, die Verminderung
der Trägheit, folgt aus der Theorie von Nord-
ström und ist zweifellos weniger befriedigend,
da dann die Trägheit der Materie nicht durch die
Anwesenheit der übrigen Materie erklärt werden
kann).
Der Bedeutung der Relativitätstheorie ent-
sprechend sind seit den ersten Arbeiten von
Einstein (1905) eine große Reihe von Unter-
suchungen und zusammenfassenden und allgemein-
verständlichen Darstellungen diesem Gegenstand
gewidmet worden. Unter den umfangreicheren
zusammenfassenden Darstellungen ist vor allem
das wertvolle Buch von Laue („Wissenschaft"
Bd. 38, 2. Aufl., 191 3, Vieweg & Sohn, Braun-
schweig) zu nennen, das indessen der eingehenden
Darlegung entsprechend natürlich einen nicht ge-
ringen Grad mathematischer und physikalischer
Kenntnisse voraussetzt. In letzter Zeit sind eine
Reihe von kleineren Bändchen erschienen, die
über das Relativitätsprinzip ausschließlich oder
über die modernen Probleme der Physik allgemein
handeln und die der Leserkreis dieser Zeitschrift,
infolge ihrer elementarer gehaltenen Form, mühe-
loser bewältigen wird. Es liegen mir gerade vier
solche Hefte vor, über die einige Bemerkungen
zur Orientierung angebracht sein dürften.
i) H. Sieveking. Moderne Probleme der
Physik. (Fr. Vieweg & Sohn, Braunschweig, 1914,
VII u. 146 St-iten mit 21 Abbildungen im Text.
Ungeb. 4,50 M., in Lwd. 5,50 M.) Das Bändchen
enthält ein Kapitel über das Relativitätsprinzip
und gibt darin eine gute Darstellung desselben.
Das Bändchen kann auch seines anderen reichen
Inhaltes wegen warm empfohlen werden; es ist
klar geschrieben und behandelt die Elektronen-
theorie, die Radioaktivität, die Röntgenstrahlen,
neuere Elektrodynamik und Relativitätsprinzip,
Fortschritte der Thermodynamik (moderne Strah-
lungstheorie). Es ist aus einem Vortragszyklus
vor Chemikern (Mannheimer Bezirksvorstand des
Vereins Deutscher Chemiker) entstanden.
2) P. Bernays. Über die Bedenklichkeiten
der neueren Relativitätstheorie (Vandenhoeck &
Ruprecht, Göttingen 1913, 24 Seiten. 0,80 M.).
In drei Abschnitten bespricht der Verf. i. die
Gründe, welche für die Relativitätstheorie sprechen,
2. den Inhalt und die Konsequenzen des Rela-
7/6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 49
tivitätsprinzipes, 3. Stellungnahme zur Relativitäts-
theorie. Er spricht sich gegen das Prinzip aus
und möchte von neuem den Versuch empfehlen,
die Elektrodynamik und Optik durch eine mit der
alten Kinematik vereinbare Theorie zu erklären
etwa in Anlehnung an eine berühmt gewordene
Theorie von Ritz, die kurz skizziert wird.
3) A. Brill. Das Relativitätsprinzip. Eine
Einführung in die Theorie. (Teubner, Leipzig u.
Berlin 1914, 34 Seiten. 1,20 M.)
4) H. A. L o r e n t z. Das Relativitätsprinzip.
Drei Vorlesungen gehalten in Teyler's Stiftung
zu Haarlem. Bearbeitet von W. H. Keesom.
(Teubner, Leipzig u. Berlin 1914, 52 Seiten. 1,40 M.)
Beide Hefte sind überaus empfehlenswert und
werden denen, die auch nur eine geringe mathe-
matische Vorbildung haben, einen hohen Genuß
bereiten. Sie beziehen sich beide vorwiegend auf
die für die Mechanik wichtigfen Folgerungen des
Relativitätsprinzips und speziell die zweite Schrift
bespricht verhältnismäßig eingehend die Einst ein-
schen Untersuchungen der Gravitation in einer
weiten Kreisen verständlichen Form.
Außer diesen 4 Schriften mathematisch-physi-
kalischer Natur liegt mir noch eine in weitem
Abstand zu jenen klaren Abhandlungen zu nennende
5. Schrift vor, die sich auf den Gegenstand be-
zieht , indessen von einem anderen Standpunkt
ausgehend, die Einstein 'sehe Relativitätstheorie
bekämpft und an ihre Stelle eine andere zu setzen
wünscht, ferner auch die Vereinigung von Raum
und Zeit in einer ganz anderen Form als Min-
kowski fordert. Es ist :
5) Melchior Palägyi. Die Relativitäts-
theorie in der modernen Physik. (Reimer, Berlin
1914, 77 Seiten.) Ich möchte dies Heft nicht
empfehlen, da es die Begriffe der auf die physi-
kalischen Erkenntnisse gegründeten Relativitäts-
theorie, wie wir sie geschildert haben, zu ver-
wirren geeignet erscheint, außerdem auch nur
einen Vorläufer eines größeren Werkes über ein
weltmechanisches System darstellen soll.
Die Bedeutung der diluvialen Menschenskelette für die Sprachwissenschaft.
[Nachdruck verboten.]
Schon Herder schrieb: „Der Schluß führt
auf einen tierischen Ursprung der Sprache. Daß
der Mensch sie ursprünglich mit den Tieren ge-
mein habe bezeugen gewisse Reste." In seine
Fußtapfen traten die Zoologen, so Jäger, der
die Ansicht aufstellte, daß „die Menschensprache
nur eine Fortentwicklung der Tiersprache"
sei, welche Behauptung We Inland weiter be-
gründete. Die wenigen Philologen, die sich Her-
der und den Zoologen anschlössen (so ich im
Kosmos 1886 I S. 98 u. f), wurden als Darwinisten
von ihren Fachgenossen verketzert, da sie einige
lediglich auf Grund der indogermanischen
Sprachenfamilie aufgestellten Dogmen zu verletzen
schienen. Wie die Chemie noch im vorigen Jahr-
hundert sich mit der Auffindung der Elemente,
deren Zahl immer mehr wuchs, begnügte, so
glaubte auch die Sprachwissenschaft ihre Aufgabe
voll und ganz gelöst zu haben, wenn sie für eine
bestimmte Sprachenfamilie einige hundert von
Wurzeln festgestellt und deren Veränderung laut-
lich erklärt hatte. Die Frage nach dem Ursprung
dieser Wurzeln lehnte sie ab. Und als die Sprach-
philosophie unter Steinthal's und Lazarus'
Führung das biogenetische Grundgesetz, nach dem
die Menschheit sich ähnlich wie der einzelne
Mensch entwickelt hat, auch auf die Sprache an-
wandte, und die wissenschaftliche Verwertung
der Kindersprache begann, entschlossen sich die
Philologen nur zögernd, diese mit in das Bereich
ihrer Sprachforschung zu ziehen.
Vor der Auffindung des diluvialen Menschen,
als man noch das Alter der Menschheit auf etwa
lOOOO Jahre schätzte, hatte es eine gewisse Be-
rechtigung, das Indogermanische, dessen Flexion
Von Prof. Dr. C. Franke.
etwa vor 5000 Jahren den Höhepunkt erreichte
und das sich dann in Tochtersprachen spaltete,
für eine sehr alte Sprache zu halten, die uns viel
Einblick in die Sprachkindheit gewähren könnte.
Nachdem aber der diluviale ^) Mensch wissen-
schaftlich erwiesen ist, und somit für das Menschen-
geschlecht mindestens ein Alter von 1 50000,
wenn nicht von 1 500000 Jahren angenommen
werden muß, ist dieser Ansicht jede Berechtigung
entzogen und die indogermanische Sprache dem
Jünglingsalter der Menschheit zuzuweisen, wozu
auch ihr ganzer Typus paßt; denn sie ist die
Sprache eines Hirtenvolkes, das schon die Zahl-
wörter bis 100 und sehr viel Zeitwörter besaß
sowie bereits auf der vorletzten Sprachstufe, der
flektierenden, stand, also sprachlich sich schon
weiterentwickelt hatte als die meisten jetzigen
Völker, und unsere Kinder erreichen diese Sprach-
stufe meist erst im 5. Jahre.
Alle Anthropologen stimmen wohl darin
überein, daß der menschliche Unterkiefer ein
sehr wichtiges Sprachwerkzeug, gewissermaßen
das Schwungrad der Sprechmaschinerie ist und
daß durch ihn der Menschenschädel von dem des
Affen sich etwa ebenso kennzeichnend unter-
scheidet, wie durch die größere Gehirnkapsel.
Zwar meint Elliot Smith, daß das Wachstum
des Unterkiefers mit der Umgestaltung der ge-
samten Gesichtsknochen Hand in Hand gegangen
sei. Das schließt aber nicht aus, daß der infolge
dieser Umgestaltung sich nach vorn schiebende
') Die noch nicht einwandfrei erwiesene Hypothese von
der Entstehung des Affenmenschen im mittleren Tertiär lasse
ich .^ußer acht: sie würde meine Ansichten nur stützen:
N. F. Xm. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
m
Unterkiefer aHmählich sprachliche F"unktion über-
nahm, die dann seine Weiterentwickking beein-
flußte. Tatsächüch bemerken wir an ihm beim
alt- und mitteldiluviaien Menschen geringe, an
dessen Gehirnkapsel dagegen schon sehr wesent-
liche Veränderungen. So beträgt schon der
Schädelraum des javanischen gibbonähnlichen
Affenmenschen, der aber wohl kein Ahne, son-
dern ein Oheim des Vernunftmenschen (homo
sapiens) ist, 850 ccm, so daß dieser genau in der
Mitte zwischen dem des jetzigrti höchsten Menschen-
affen, des Gorilla, von 500 ccm und dem des jetzigen
niedrigsten Menschen, des Austrainegers, von
1200 ccm steht, der des Sussexaffenmenschen da-
gegen schon 1000, so daß er dem des Austrainegers
näher steht als dessen Schädelraum dem des Durch-
schnittseuropäers (1500). Die während der Acheu-
leen und Mousterienkuhur etwa im 8. und 9. Zehntel
des Diluviums lebende Neandertalrasse (Acheuleen-
jäger der unteren Grotte von Le Mousiier, die
Schädel von Spy, La Naulette, Malarnaud, Arcy,
La Ferrassie, Krapina) hatte im Schädelraum
(1230 durchschnittlich nach Reinhardt) die
Australneger bereits erreicht, und zwar wohl auch
in geistiger Beziehung, wie aus der Totenbestattung
und den Grabesbeigaben zu schließen ist. Der
Schädel von La Chapelle-aux-Saints soll nach
Birkner sogar den Mittelwert des modernen
Europäerschädels erlangt haben, den die im
letzten Zehntel des Diluviums lebenden Rassen,
die Aurignac- und nach ihr die Cromagnon-Rasse,
im Durchschnitt haben (der Mensch von Mont-
ferrand mit 1400 ccm, der von Chancelade sogar
mit 17 10).
In demselben Maße wie die Gehirnkapsel
wuchs auch der Verständigungs- und Mitteilungs-
drang des diluvialen Menschen über den des
Affen hinaus; doch das älteste Hauptwerkzeug
jenes war wohl wie beim Kinde die Hand, was
die festgestellten kreuzweisen Beziehungen zwi-
1 sehen den beiden Händen und den beiden Sprach-
zentren des Gehirns bekunden. So erklärt es sich,
daß zunächst bis etwa ins 8. Zehntel des Dilu-
viums die Entwicklung des Unterkiefers der der
Gehirnkapsel nachhinkt.
Denn bis in die Acheuleenkultur hinein, also
etwa bis ins 8. Zehntel des Diluviums, fehlt den
Menschen wie den Affen das Kinn vollständig,
sondern der Unterkiefer, von dessen Ausbildung
Robinson in erster Linie die Fähigkeit der
artikulierten Laut spräche abhängig macht,
fallt in einem spitzen Winkel nach innen. Da
wo beim jetzigen Menschen die hervorragenden,
bei den Taubstummen aber fehlenden Enden der
Kieferknochen stecken, an die sich ein dem Sprach-
vermögen dienender Muskel, der einzige, der stets
beim Sprechen sich bewegt, setzt, hat der Affe
nur eine Grube, der im 3. Zehntel des Diluviums
lebende Heidelberger Affenmensch jedoch schon
eine Kinnfurche und einen Kinnausschnitt, welche
die Entwicklung zur menschlichen Kinnbildung
bereits andeuten, sowie einen kleinen Stachel am
Ansatz des Kinnzungenbeinmuskels, während am
Ansatz des Kinnzungenmuskels ein eigentlicher
innerer Kinnstachel fehlt. Beim Acheuleenjäger
von Le Moustier ist der Abfall der Unterkiefer-
spitze nach innen schon weniger jäh, der spitze
Winkel also dem rechten angenähert, anscheinend
sind Lippen und Zunge bereits etwas beweglicher
gewesen, doch fehlen noch die Muskelzugbälkchen,
so daß die dort ansetzenden Sprachmuskeln, be-
sonders die Musculi genioglossi, noch einen sehr
schwachen Zug ausübten. .Auch Gaumen und
Nase sind noch sehr flach und breit. Erst zur Zeit
der Mousterienkuhur, also etwa im 9. Zehntel des
Diluviums (Schädel von Spy, La Naulette, Malar-
naud, Arcy, La Ferrassie, Krapina, La Chapelle-
aux-Saints) wird der Unterkiefer mehr und mehr
moderner und fällt bei steiler gestellten Kronen-
und Gelenkfortsälzen rechtwinklig ab, so daß
er nun ein Kinn, aber noch keinen Kinnvorsprung
besitzt. Auch der Gaumen ist etwas weniger flach.
Menschen mit Kinnvorsprung treten uns erst
im letzten Zehntel des Diluviums entgegen; doch
bei der im 19. Zwanzigstel lebenden Aurignacrasse,
welcher der bei Combe- Capelle in der Nähe
Montferrands Begrabene angehört, ist er, wie noch
bei den Australnegern, Buschmännern, Hotten-
totten, ja vereinzelt auch bei Europäern nur erst
schwach angedeutet; denn der Winkel des Kinnes
nach den Alveolarhorizont beträgt 92 Grad, über-
trifft also den des Kinnes der Neandertaler zur
Zeit der Mousterienkuhur nur um 2 Grad. Die
Fortsätze des Kiefers sind nun vollständig steil
gestellt und auch die Zähne ganz zahm und zivi-
lisiert, der Gaumen gewölbter, dessen Dach über
2 cm vom Niveau der Kaufläche aus gemessen
vertieft ist, der Mund kleiner, die Nase weniger
breit und höher aufgerichtet, dagegen der Zahn-
bogen wie zuweilen bei Australnegern in einer
sehr ausgeprägten Weise u-förmig gestaltet. Der
Index des Gaumens beträgt 61,81.
Das ältere Skelett, das einen deutlichen Kinn-
vorsprung hat ähnlich wie der Durchschnitts-
europäer, ist das von Galley-Hill. Rutot ver-
legt es in das Strepyien ; dann wäre es sogar
etwas älter als der Acheuleenjäger, wogegen aber
nicht bloß der Kinnvorsprung, sondern sein ge-
samter Aurignactypus spricht. ')
Sehr deutlich ist der Kinnvorsprung bei dem
Menschen von Chancelade, dessen Alter gleichfalls
geologisch nicht genau zu bestimmen ist. Sein
Schädelraum (vgl. o.), ferner sein Zahnbogen, dessen
') Doch muß die Mögliclikeit zugestanden werden, dafl
schon in der Strepyienperiode nebeneinander die Neandertal-
rasse in Süd- und Mittel-, die Aurignacrasse in Nordeuropa
existierte. Diese hätte dann die an jener zu beobachtende
Schädelentwicklung schon vor dem Strepyien durchgemacht,
und während desselben hätten sich beide Rassen etwa so zu-
einander verhalten wie jetzt die schwarze und weifle, so daß
es schon damals den Gegensatz zwischen niederer und höherer
Menschenrasse gegeben hätte. Vom Standpunkte der Ent-
wicklungslehre aus bedeutet , höher' nicht bloß weiter, sondern
auch schneller entwickelt. Kür meine Darlegung dürfte Rutot's
Hypothese kaum von Belang sein.
778
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 49
hintere Enden miteinander konvergieren, und sein
Gaumenindex mit 67,92 deuten auf ein jüngeres
Alter als das der Aurignacrasse hin. Auch die
Skelette und die eigenen Abbildungen der zur Zeit
der IVlagdalenienkuitur , d. i. etwa im letzten
Vierzigstel des Diluviums, lebenden Cromagnon-
rasse haben einen sehr deutlichen Kinnvorsprung,
ja nach B i r k n e r überhaupt alle für die Sprache
wesentlichen Merkmale des ganz modernen Euro-
päers: Noch kleinere Nase, kleineren Mund, feineres
Gebiß und höher gewölbten Gaumen als der
Aurignactypus.
Nach alledem dürfte sich folgendes ergeben :
Daß der Mensch zu einer so bedeutend reicheren
und höheren Sprache als der Affe gelangte, lag
an der Entwicklung seines Gehirnes, das jetzt
das jenes 3 — 4 mal an relativer Größe überragt.
Daß aber das wesentlichste Ausdrucksmittel für
die Tätigkeit des Gehirns bei dem Menschen die
Lautsprache wurde, war in erster Linie bedingt
durch die Entwicklung des Unterkiefers. Insofern
hat Robinson recht, daß die Fähigkeit der
artikulierten Sprache hauptsächlich von der Er-
werbung des dem Affen gänzlich fehlenden Kinnes
abhängig ist, natürlich nebenbei auch von der
der Lippen, der Zunge, des Gaumens und der
Nase, weshalb im vorhergehenden auch der Um-
gestalt dieser Gesichtsteile mit gedacht worden
ist, in zweiter Linie aber von der Gestaltung des
Kehlkopfes, der ja bei der Bildung aller stimm-
haften Laute beteiligt ist, ja nach der neueren
Ansicht bei der von a, e, i, o, u mehr als die
Zunge, so daß man von einer Kehlkopfartikulation
sprechen kann. Leider liegt aber m. W. für die
Entwicklung des menschhchen Kehlkopfes während
des Diluviums gar kein Beweismaterial vor, daß
eine solche und zwar in der Richtung vom Affen
zum Menschen hin stattgefunden hat, ist jedoch
zweifellos. Daß die Lautsprachen der Affen von
der menschlichen so sehr abweichen, liegt wohl
nicht bloß am Gehirn und Unterkiefer, sondern
auch am Kehlkopf. Doch scheint die Stimme
der nacli Roman es musikalische Kadenzen her-
vorbringenden Gibbonart der menschlichen bereits
mindestens ebenso nahe zu stehen als der des
nur wie ein Raubtier brüllenden Gorillas. Allein
dieser, der übrigens uns in der Gebärdensprache
sehr nahe steht, so durch das Händeklatschen,
hat wohl erst infolge seiner einsiedlerischen
Lebensweise die Sprechtöne, die nach Garner
den in Herden lebenden Affen, wie Pavian,
Makat, für Futter, Trinken, Liebe, Alarm eigen
sind, wieder verloren. Aber auch bei unseren
Kindern tritt das Lallen, die Vorstufe des Singens
und Gefühlsausdruck, eher ein (oft schon im
ersten Monat) als das Sprechen. In der Regel
beginnt das Lallen mit undeutlichen Selbstlauten,
dann folgt deutliches ä und a. Demnach dürfte
auch beim diluvialen Menschen der Kehlkopf sich
früher und schneller dem unsrigen ähnlich ge-
staltet haben als der Unterkiefer die entsprechende
Umformung erlitt.
Smith meint, daß die allmähliche Ausbildung
der Sprachmu?keln vielleicht schon bei den
höchsten Tieren eingesetzt habe. Die Tatsache,
daß Hunde und Katzen dazu gebracht werden
können, einige menschliche Worte ziemlich deut-
lich nachzusprechen , bestätigt diese Vermutung.
Sollte bei den Sprechtöne besitzenden Affen, die
diese gegenseitig entlehnen, jenes nicht auch zu
erreichen sein? Unbedmgt notwendig zur Erwer-
bung einer artikulierten Sprache war also das
Kinn nicht, doch für'die mannigfaltige Artikulation
der alluvialen Menschensprachen scheint es dies
zu sein.
Gleichwohl besaß der Anfang des Diluviums
lebende Affenmensch wahrscheinlich noch gar
keine artikulierte Sprache, sondern nur neben der
vorherrschenden Handgebärde wie die meisten
Affen Sprechtöne, die aber wenigstens seit dem
3. Zehntel des Diluviums zahlreicher und unseren
jetzigen stimmhaften Lauten ähnlicher wurden,
als deren Keime oder Vorstufen sie anzusehen
sind. Erst im 8. Zehntel des Diluviums ent-
wickelten sich daraus die Anfänge einer arti-
kulierten Sprache, die aber noch sehr einfach und
leicht war und wohl nur aus stimmhaften Lauten
sowie stimmlosen Lippenlauten bestand ähnlich
wie sie die Lallsilben mancher Kinder im 2. Monat
zeigen: anne, ange (einfaches Gaumen-n), arrr,
brrr, ba, bu, appa. Im 9. Zehntel des Diluviums
kamen wohl bei dem Mousterienmenschen die
mit der Zungenspitze an oder über den Zähnen
gebildeten einfachen Laute hinzu , wie in den
Lallsilben : dada, tahu. Doch schloß der niedere
platte Gaumen jedenfalls die Artikulation des
Zungenrückens mit ihm noch aus. Diese ist erst
für den Aurignacmenschen des 19. Zwanzigstels
des Diluviums wahrscheinlich. Aber bei ihm
war infolge des u förmigen Zahnbogens für die
Zunge ein viel engerer Raum als jetzt vorhanden,
so daß diese immer noch sehr einfach artikulierte
und höchstens nur einige Doppelmitlaute mit
gleicher Artikulationsstelle bildete, wie: mb, nk,
Id, pf, nd, nt, die bei den Kindern vom 3. bis
13. Monat sich beim Lallen einstellen und auch
die Negersprachen aufweisen. Jedenfalls war aber
bis zu dieser Zeit die menschliche Sprache von
allen jetzigen Sprachen verschiedener als diese
es voneinander sind. Ja hier liegt wohl die
eigentliche Sprachgrenze zwischen Diluvium und
Alluvium.
Denn für das letzte Zwanzigstel ist kein Grund
vorhanden , weshalb der Mensch damals anders
als jetzt artikuliert hätte, ja es ist sogar wahr-
scheinlich, daß die Sprachen der damaligen Euro-
päer den der jetzigen näher gestanden haben als
die der jetzigen schwarzen Rasse und teilweise
auch der gelben. Freilich waren wohl selbst die
Träger der Magdalenienkultur noch nicht imstande,
die Mitlaute derartig zu häufen wie der Germane
und Slave, aber den Romanen mögen sie es
darin gleich getan haben. Das Ausgeführte möge
folgende Übersicht veranschaulichen :
N. F. Xm. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
779
I. Eine wachsende Anzahl von Sprech tönen,
die sich von den der Affen immer mehr ent-
fernen und der Artikulation nähern bis über die
IVlitte des Diluviums.
II. Diluviale, d. h. von der jetzigen abweichende
Artikulation:
1. Sehr einfache und sehr beschränkte Arti-
kulation seit dem 8. Zehntel des Diluviums,
2. Einfach beschränkte Artikulation seit dem
9. Zehntel des Diluviums,
3. Einfache und beschränkte komplizierte .Arti-
kulation seit dem 19. Zwanzigstel des Diluviums.
III. Alluviale, d. h. mit der jetzigen im wesent-
lichen übereinstimmende .Artikulation seit dem
letzten Zwanzigstel des Diluviums.
Es ist wohl klar, daß aus dem Indogerma-
nischen abgeleitete Sprachgesetze nur für die
letzte Periode (III) Geltung haben können, doch
sind die aus dem Altägyptischen, Chinesischen
und den jetzigen Sprachen der schwarzen Rasse
erschlossenen höher zu bewerten. Für die II.
kommt in erster Linie die Kindersprache in Be-
tracht, für die I. außer dieser die der höheren
Säugetiere. ')
') C. Franke, Die mutmaßliche Sprache der Eiszeit-
menschen, 2. Auf!., Halle a. S., Waisenh. 1913.
Einzelberichte.
Geographie. Beiträge zur Kenntnis der Eis-
zeit im Kaukasus. Nachdem H. Abich im
Jahre 185S die Existenz einer Eiszeit im Kaukasus
zuerst in Abrede gestellt hatte, mußte er sich
später doch auf Grund des erdrückenden Beweis-
materials zu einer Änderung seiner Ansicht ent-
schließen, und auch andere Forscher, von denen
hier nur E. Favre (1869 und 1876), J. Musch-
ketow (1881), N. Dinnik (1890), A. Krasnow
(1891), W. Michailowski (1894), Fournier
(1896) und M. v. Dechy (1905 — 1907) genannt
seien, haben durch eigene Beobachtungen eine
weitergehende diluviale Vergletscherung im Kau-
kasus festgestellt. Selbst in den am besten er-
forschten Teilen des Gebirges herrscht jedoch
eine große Unsicherheit über den Verlauf der
Grenzen der ehemaligen Gletscher. Diese Un-
klarheit bewog A. V. Reinhard in den Jahren
1910 bis 1913 zunächst im zentralen Teil des
Gebirges die Richtigkeit der Beobachtungen
früherer Forscher nachzuprüfen, dann aber diesen
Teil, in dem ein ziemlich kontinentales Klima
herrscht, zu verlassen und seine Untersuchungen
auf den, maritimen Einflüssen ausgesetzten Süd-
abhang des westlichen Kaukasus auszudehnen.
Das untersuchte Gebiet im zentralen Teil des
nördlichen Kaukasus fällt seinen Grenzen nach
mit Digorien und Ossetien fast zusammen. Es
umfaßt zwei scharf geschiedene Teile, das Berg-
land im Süden und die Ebene im Norden, auf
welcher fast sämtliche Flüsse in den Terek fließen.
Das Bergland zerfällt seinerseits in drei morpho-
logisch und geologisch selbständige Abschnitte,
die parallel der Streichrichtung WNW-ESE ver-
laufen. In der Mitte liegt die stark vergletscherte
Hauptkette, aus Gneisen und Graniten bestehend,
die beiderseits von metamorphosierten Schiefern
begleitet werden. Typisch ist die asymmetrische
Entwicklung ihrer beiden Abdachungen, indem
der nach Süden gekehrte Abhang in seinem
oberen Abschnitte viel steiler als der Nordabhang
und dabei nur in geringem IVIaße gegliedert ist.
Weniger ausgesprochen ist diese Asymmetrie
im Bau der südlich vom Hauptkamm liegenden
ebenfalls Gletscher tragenden paläozoischen
Schieferkette, während die nördlich liegende
gletscherfreie jurassische Kalkkette die Form des
Hauptkammes wiederholt. Entsprechend dem
asymmetrischen Bau der Hauptkette liegen die
großen Gletscher hier hauptsächlich auf der Nord-
seite. Eine Ausmessung des mit Gletschern be-
deckten Areals ergab für den Nordabhang 18 5,91 qkm,
für den entsprechenden Teil des Südabhanges da-
gegen nur 61,96 qkm.
Die dem Gebirge vorgelagerte Wladikawkas-
Ebene liegt in einer von allen Seiten durch Höhen
scharf umgrenzten Mulde. Abich hielt sie für
ein eiszeitliches Seebecken, während v. Rein-
hard gegen diese Deutung das gänzliche Fehlen
typischer Seeablagerungen geltend macht, sowie
das steile Gefälle, das deutlich den fluviatilen
Ursprung verrät. Die Wladikawkas-Ebene erscheint
ihm nicht nur morphologisch, sondern auch gene-
tisch als ein Gegenstück zu der schiefen Ebene
von München.
Im Einzugsgebiete des Ardön ergab eine Re-
konstruktion des eiszeitlichen Gletschers, daß zur
Zeit der größten Entwicklung der Eisdecke die
Gletscher des Nordabhanges der paläozoischen
Schieferkette sich mit den Gletschern des Haupt-
kammes vereinigten und die zwischen beiden
gelegenen Längstäler des Mamissön und des Nar-
don gänzlich ausfüllten und nach Norden durch die
Kassard zum Ardon abströmten, wo der Haupt-
gletscher bei Bis in 900 Höhe sein Ende erreichte.
Weitere eingehende Detailuntersuchungen in den
Flußgebieten des Urüch, des Ardön und des
Terek lieferten dem Verfasser das Material zu
einer Bestimmung der eiszeitlichen Schneegrenze.
In dem zweiten Untersuchungsgebiet, der
Südseite des westlichen Kaukasus, war von vorn-
herein ein anderer Charakter der Eiszeit zu er-
warten, denn die unmittelbare Nachbarschaft des
Schwarzen Meeres und die vorherrschenden feucht-
warmen Westwinde schaffen hier ein ozeanisches
Klima. Die Erforschung des Msymta-Tales und
7 So
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 49
des Quellengebietes des Uruschten ergaben Spuren
einer einzigen Hiszeit mit deren Rückzugsstadien.
Seine eigenen Beobachtungen ergänzte A. v. Rein-
hard durch ein sorgfältiges und umfangreiches
Studium der einschlägigen Literatur und gelangte
so zu folgendem einheitlichen Bilde der eiszeit-
lichen Vergletscherung des Kaukasus:
Das Schwergewicht der eiszeitlichen Ver-
eisung lag, gleich dem heutigen, im westlichen
Teil des Gebirges, wobei die Intensität gegen
Osten zu abnahm. Die Gletscher der Nordab-
dachung reichten im westlichen und zentralen
Kaukasus fast bis zum Fuß des Gebirges herab,
im östlichen blieben sie hoch im Gebirge und
waren dabei viel kürzer: die großen Gletscher
des Westens erreichten über 30 — 50 km Länge
und endeten 900 — iioo m hoch (Teberdä, Urüch,
Ardön, Terek), die des Ostens, bei einer Länge
von höchstens 15- — 25 km, endeten in über
1500 m Höhe (Schach - nabat). Die Gletscher
waren im großen und ganzen proportional ihrer
der darauffolgenden Stadien 700 bis 800 m, 500 m
und 300 m.
Nach dem stattgefundenen Rückzuge der
Gletscher setzte eine gesteigerte fluviatile Erosion
ein, deren Betrag im Mittel lOO bis 150 m, in
einigen Seitentälern 200 m und darüber erreicht.
Als diese Erosion schon stark fortgescliritten war,
folgte das zweite Vergletscherungsstadium. Die
Gletscher erreichten diesmal nicht dieselben
Dimensionen und vereinigten sich nicht miteinander.
Sie reichten meist nicht aus den Seitentälern in
das Haupttal hinaus. Infolge der großen Vertiefung
der Täler seit dem ersten Vergletscherungsstadium
reichten sie aber fast ebenso tief herab wie früher,
etwa bis iioo bis 1200 m.
Viele wichtige Tatsachen sprechen gegen die
Annahme von zwei selbständigen Vergletscherungen.
Vergleichen wir die Größe der Depression der
Schneegrenze zu verschiedenen Momenten der
Eiszeit in beiden Gebieten, so erhalten wir
folgendes Bild:
Zentraler Kaukasus
Westlicher Kaukasus
Vergletscherungsstadien
Höhenlage der eiszeitlichen
Depression unter
Höhenlage der eiszeitlichen 1 Depression unter
Schneegrenze
der heuligen
Schneegrenze der heutigen
I = HauptvergletscheruDg
2300 m am Rande
2500 — 2700 m im Innern
1 100 m
800 — IIOO m
1400 m
1300 m
II = I. Rückzugsstadium
700 — 800 m
1900 — 2000 m
700 — 900 m
III = 2.
500 m
500 — 600 m
IV = 3-
300 m
300 — 400 m
heutigen Entwicklung angewachsen. Auch damals
war der westliche Kaukasus, trotz der bedeutend
kleineren Höhe des Gebirges viel stärker ver-
gletschert als der östliche. Somit erscheint die
eiszeitliche Vergletscherung des Kaukasus als eine
Steigerung der heutigen.
Im westlichen Kaukasus lag die eiszeitliche
Schneegrenze während der maximalen Eisaus-
dehiiung 14OO m hoch, d. h. um 1300 m tiefer
als heutzutage. Der Hauptvergletscherung folgten
drei Rückzugsstadien mit der Depression der
Schneegrenze von 700 bis 900 m, 500 bis 600 m
und 300 bis 400 m. Alle drei Stadien gehören
einer und derselben Eiszeit an. Die Gletscher
des Südabhanges reichten hier mindestens bis
500 m herab, blieben jedoch dabei tief im Ge-
birge.
Im zentralen Kaukasus, nämlich in den Tälern
des Urüch, Ardön und Terek, können wir meist
zwei, an einigen Stellen drei verschiedene Stadien
der Vergletscherung unterscheiden. Es scheint
sogar, ebenso wie im Msymtatale noch ein viertes
Stadium unterschieden werden zu können. Die
Schneegrenze lag in diesem Teile des Kaukasus
während des ersten Stadiums bei 2300 m am
Rande des Gebirges und etwas höher im Innern
des Gebirgslandes. Die Depression erreichte am
Rande iloo bis 1200 m und etwas weniger im
Inneren (Grenzwerte iioo m und 800 m), solche
Im allgemeinen stieg die eiszeitliche Schnee-
grenze in östlicher Richtung empor, wobei sie
im westlichen Kaukasus rund 1200 bis 1300 m
tiefer lag wie im östlichen. Das stimmt im großen
und ganzen mit dem überein, was wir heute be-
obachten. Auch während der Eiszeit herrschte
derselbe Gegensatz im Charakter des Klimas des
westlichen und östlichen Kaukasus, wie heute;
auch damals befand sich das Gebirge unter dem
vorherrschenden Einfluß der feuchten Westwinde.
Mit der zunehmenden Kontinentalität des
Klimas in östlicher Richtung stieg die eiszeitliche
Schneegrenze des Kaukasus in derselben Richtung
hinauf. Mit diesem Ergebnis steht in vollem Ein-
klang die Beobachtung von F. Machatschek
in Zentralasien, der dort für die Depression der
eiszeitlichen Schneegrenze im westlichen Tienschan
einen Betrag von nur 550 bis 600 m während der
maximalen Vergletscherung und von 200 m
während des Rückzugsstadiums erhalten hat. Dabei
war erstens die eiszeitliche Schneegrenze im west-
lichen Kaukasus stärker herabgedrückt als im öst-
lichen, wobei die Differenz in der Größe der
Depression im Westen und im Osten rund 300 m
betrug; zweitens war sie am Gebirgsrande stärker
herabgedrückt, als in dessen Innerem. Aus allen
diesen Befunden folgert A. v. Reinhard, daß
die eiszeitliche Vergletscherung des Kaukasus die
Folge einer Temperaturerniedrigung war.
N. F. Xm. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
781
Außer mehreren Abbildungen und Profilen ist
der Arbeit als besonders dankenswerte Beilage
eine Karte der eiszeitlichen Vergletscherung des
zentralen Kaukasus beigefügt , auf welcher der
Verfasser in strenger Kriük die von ihm nach
eigenen Beobachtungen rekonstruierten eiszeitlichen
Gletscher durch die Farbentönung unterschieden
hat von denen, die er auf Grund der Karte und
der Literatur annehmen zu können glaubte, ein
Verfahren, das entschieden Nachahmung verdient.
Ein Literaturverzeichnis von 122 Nummern, in dem
auch die zahlreichen russischen Arbeiten über
dieses Gebiet angeführt sind, beschließt die wert-
volle Abhandlung. ^) O. Baschin.
Chemie. Die Pigmente der Braunalgen hat
Richard WiUstätter zusammen mit H a r o 1 d
J. Page näher untersucht.-) Es gelang diesen
Forschern nachzuweisen, daß in den Braunalgen
das Chlorophyll als solclies enthalten ist, und
nicht in Form eines braun gefärbten Derivates,
wie es verschiedene Forscher bisher angenommen
haben. Die grüne Farbe ist in den Braunalgen
nur verdeckt, und zwar deshalb, weil neben dem
Chlorophyll noch gelbe Pigmente in größerer
Menge vorhanden sind; das molekulare Verhältnis
der grünen Farbstoffe zu den gelben beträgt etwa
1:1. Gegen das Vorkommen eines braunen
Farbstoffs in den Braunalgen spricht auch die
Tatsache, daß sich ihr Spektrum von dem der
gewöhnlichen grünen Blätter nicht wesentlich
unterscheidet.
Das Chlorophyll der Phäophyceen besteht, ab-
weichend von dem der Landpflanzen und der grünen
Algen, fast ganz aus der a- Komponente ") ; vom Chlo-
rophyll b sind höchstens bis zu 5 "/„ anwesend. Von
den in den Braunalgen außer dem Chlorophyll an-
wesenden P'arbstoffen Carotin, Xanthophyll und
Fucoxanthin überwiegt der letztgenannte. Es kann
mit Hilfe eines Verteilungsverfahrens zwischen
einem Gemisch von Äiher und Petroläther und
einem 30 "/u Wasser enthaltenden Methylalkohol von
den anderen abgetrennt werden. Fucoxanthin bildet,
wenn es aus Methylalkohol auskristallisiert, bläu-
lich glänzende, braunrote, prismatische Kristalle
von der Zusammensetzung C^iiH^^Og, die beim
Zerreiben ein ziegelrotes Pulver geben; sie ent-
halten im Molekül drei Moleküle Methylalkohol,
') Beiträge zur Kenntnis der Eiszeit im Kaukasus. Von
Anatol V. Reinhard. Geographische Abhandlungen, Neue
Folge: Veröffentlichungen des Geographischen Instituts an
der Universität Berlin, Heft 2. 114 Seiten. 3 Tafeln, i Karte.
Leipzig, B. G. Teubner. 1914. 6 Mk.
^) Liebig's Annalen 404, 237 — 71.
') Vgl. diese Zeitschrift 1914, S. 278.
die im Vakuum abgegeben werden. Dabei wird
die Substanz sehr hygroskopisch. An der Luft
vertauscht das aus Methylalkohol auskristallisierte
F'ucoxanthin allmählich den Alkohol unter Bildung
von Hydraten mit 2 oder 3 Molekülen Wasser.
In Wasser- bzw. alkoholfreier Form wird das F'uco-
xanthin durch tropfenweisen Zusatz von niedrig
siedendem Petroläther zu der Lösung in absolutem
Äther erhalten. Alle Lösungen des Fucoxanthins
sind sehr empfindlich gegen den Sauerstoff der
Luft; sie zersetzen sich ferner leicht unter dem
Einfluß des Lichtes. Bugge.
Zoologie. Über die Zahl der Eier einiger
Süßwasserfische enthält ein Bericht von Dr. G.
Surbeck über den im Kanton Bern (Schweiz)
im Wmter 191 3/14 vorgenommenen Fang von
Laichfischen einige Angaben. ')
Demnach lieferten reife Laichfische im Durch-
schnitt folgende Zahl Eier:
Bachforelle, Trutta fario L., 337 Eier,
Äsche, Thymallus vulgaris Nils., 2300 Eier,
Felchen , Coregonus balleus helveticus Fatio
4200 Eier,
Felchen, Coregonus balleus palae Fatio 1 1 000 E.
Nach Bade'-J beträgt die Zahl der Eier bei
der Bachforelle 500 — 2000, bei der Äsche 2000
bis 5000.
Die Zahl der Eier war mit 337 bei der Bach-
forelle auffallend klein. Hier mag die Größe bzw.
das Alter der Rogner (Weibchen) eine ausschlag-
gebende Rolle gespielt haben. Nämlich im Gebiet
der Aare allein, wo die Laichfische größer, d. h.
älter, waren, traf es durchschnittlich 736 Eier auf
einen Rogner.
Bei der Äsche war die Zahl eine normale.
Der große Unterschied zwischen der Eizahl
der Coregonen des Thunersees (C. balleus helve-
ticus Fatio) und denjenigen des Bielersees (C.
balleus palea Fatio) ist sehr auffallend. Die Arten
sind einander nahe verwandt, ja nur Lokalvarie-
täten. Die Zahlen von 4200 und 11 000 stehen
zu weit auseinander. Es dürfte hier ein Fehler
vorliegen , der durch weitere Prüfungen zu be-
seitigen ist.
In der Literatur fehlen im großen und ganzen
genaue und bestimmte Angaben über die Zahl
der Eier der Angehörigen der Gattung Coregonus,
welche man auch in anderer Beziehung den
Ichthyologen noch manche Aufgabe zur Lösung
aufgibt. Alb. Heß.
') Schweizerische Fischereizeitung Nr. 9, September 1914.
*) Bade: Die mitteleuropäischen Süßwasserfische.
Bücherbesprechungen.
Church, G. E., Aborigines of South Arne- Der bereits im Jahre 1910 verstorbene Ver-
rica. Herausgegeben von C. R. Markham. fasser dieses Buches, der amerikanischer Oberst
XXIV u. 314 S. m. I Karte u. i Bild. London, war, ist viel in Südamerika gereist und er hat in
Chapman & Hall. Zeitschriften verschiedene Aufsätze zur Geographie
782
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 49
Südamerikas veröffentlicht. Seit längerer Zeit sclion
arbeitete er an einer Ethnologie Südamerikas,
doch blieb das Werk bei seinem Tode unvollendet.
Der fertiggestellte Teil, der nun von C. R.Mark -
h a m herausgegeben wurde, behandelt alle Stämme
des Amazonenstromgebieies, jene des Gran Cliaco,
sowie die Araukanier,Pampasindianer und Patagonier.
— Church sagt, über die Anfänge der menschlichen
Besiedelung Südamerikas läßt sich nicht Sicheres
feststellen. Wahrscheinlich ist, daß die bewohn-
baren Gebiete bereits in jener Periode des Pliozän
relativ gut bevölkert waren, aus welcher die in
Südost-Bolivien, Argentinien und Brasilien in großen
Mengen gefundenen Überreste von Landsäugetieren
stammen. Die Veränderungen der Landoberfläche
und des Klimas Südamerikas hatten zweifellos
ausgedehnte Wanderungen der Menschen zur
Folge, von denen sich allerdings nur mehr recht
spärliche Spuren finden. Man trifft z. B. in Peru
und Bolivien künstliche Terrassen in Höhenlagen,
die gegenwärtig für Kulturzwecke vollkommen
wertlos sind. Ob die Terrassen durch eine Land-
erhebung in jene Höhe kamen, oder ob in diesen
Hochgebieten einstmals wesentlich andere klima-
tische Zustände herrschten, ist ungewiß. Church
neigt der letzteren Ansicht zu. Der einstmals
vorhandene große Titicacasee, sowie andere
Andenseen und die südamerikanischen Inlandseen
sind durch den Eintritt eines mehr trockenen
Klimas langsam verschwunden, womit die Anden-
hochländer und die Landschaften am Stillen Ozean
ihre Fruchtbarkeit verloren, so daß die dort
wohnenden Indianer einen schweren Kampf ums
Dasein zu bestehen hatten. Die, welche die Klima-
änderung überlebten, zogen sich in die Täler und
Schluchten zurück, welche der Austrocknung ent-
gangen waren. Nach der Klimaänderung wurde
auch das jetzige Amazonentiefland bevölkert, das
bis dahin von der Inlandsee bedeckt war. Die
Fischerei an den vielen Flüssen, die dieses Land
durchziehen, lohnte sich nur in der kühlen Jahres-
zeit, bei klarem Wetter; sonst waren die Indianer
auf die pflanzlichen und tierischen Produkte des
Urwaldes angewiesen, wo sie ein düsteres und
von Feinden stets bedrängtes Leben führten. Die
zahlreichen breiten Flüsse des Amazonengebietes
machten und machen noch jetzt den Verkehr
zwischen den einzelnen Stämmen schwer; Stämme,
die an Kopfzahl zunahmen, mußten sich der
Nahrungsgewinnung wegen teilen, so daß die
Zersplitterung immer größer wurde. In den Tief-
ländern des Amazonenstroms ist der Mensch
durch die Widerwärtigkeit der umgebenden Natur
nie über das Stadium der Wildheit hinausgekom-
men; selbst die Europäer vermochten dieses Ge-
biet, das sie nun schon jahrhundertelang kennen
— wenn auch sehr oberflächlich — nicht für die
Kultur zu gewinnen. An den Hängen der Anden
machten die Indianer dagegen einen wesentlich
größeren F'ortschritt, sie haben hier die Oberstufe
der Barbarei erreicht. Das kühle Klima der Berges-
höhen zwang die Menschen zur Anfertigung von
Kleidung wie zur Anpflanzung und Aufspeicherung
von Feldfrüchten, wodurch die geistige Tätigkeit
und der soziale F'ortschritt mächtig angespornt
wurden. In tropischen Ländern haben die Men-
schen die Neigung nach den kühleren hochge-
legenen Landesteilen zu wandern. Wenn sie sich
dort einmal angepaßt haben, gehen sie freiwillig
nicht mehr in die heiße Tiefebene zurück, in die
nur die schwächeren Stämme zurückgedrängt
werden können. Südamerika bietet dafür eine
Reihe von Beispielen. Church nimmt auch an,
daß die Bevölkerung der Amazonentiefebene nicht
aus der Bergregion herabkam, sondern anders-
woher. Viel ausführlicher sind die Gesc'hicke der
südamerikanischen Indianer während der nach-
kolumbischen Zeit und besonders in moderner
Zeit beschrieben. Church hat da eine Menge
interessanten Materials angehäuft, das gewiß für
weitere P'orschungen recht nützlich sein wird.
Über die somatische Anthropologie der südameri-
kanischen Indianer enthält das Buch nichts.
H. Fehlinger.
Kochalsky, Dr. phil. Arthur, Das Leben und
die Lehre Epikurs, Diogenes Laertios
Buch X. Übersetzt und mit kritischen Be-
merkungen versehen, Leipzig und Berlin, 1914.
Druck und Verlag von B. G. Teubner. — Preis
geheftet 1,80 Mk., geb. in Leinw. 2,40 Mk.
Das nach Angabe des Verf. hier zum ersten-
mal deutsch vorliegende zehnte Buch des Diogenes
Laertios enthält einen Lebensabriß Epikurs und
die von ihm selbst herrührende, in Form von
Briefen abgefaßte Zusammenstellung der Grund-
züge seiner philosophischen Lehren. Auf die
philologische Seite der Arbeit kann hier nicht
eingegangen werden, und auch von Epikurs Philo-
sophie, deren haupsächliche und nachwirkende
Bedeutung bekanntlich auf dem Gebiete der Ethik
und nicht auf dem der Naturerkenntnis liegt, ist
für den Naturwissenschaftler nur ein Teil von
Interesse.
Vor allem gehört dahin seine Atomistik, wenn-
gleich nicht Epikur selber der Schöpfer dieser
Vorstellung ist, sondern sie von Demokrit über-
nommen hat. Dessenungeachtet wird man seine
gedankenreichen, natürlich nicht im modernen Sinne
streng naturwissenschaftlich gehaltenen, sondern
mit allgemein philosophischen Einschlägen durch-
webten Ausfuhrungen über den atomistischen
Aufbau der Welt mit Vergnügen lesen. Hier
findet sich so mancher frappante und in die Tiefe
führende Gedanke; so, um ein Beispiel zu geben,
die Art, wie aus der angenommenen Unveränder-
lichkeit der Atome ihre Oualitätslosigkeit abge-
leitet wird. Epikur argumentiert: „Sodann muß
man sich zu der Überzeugung bekennen, daß die
Atome keine Eigenschaft der Erscheinungen an-
nehmen außer Gestalt, Schwere, Größe und was
naturnotwendig mit der Gestalt verknüpft ist.
(Also keine Farbe, Geruch und dergl.) Denn jede
Qualität ändert sich, die Atome aber ändern sich
N. F. XIII. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
783
nicht im mindesten; denn bei den Auflösungen
der Verbindungen, die wir Dinge nennen, muß
etwas Festes und Unauflösbares bestehen bleiben,
das die Veränderungen nicht ins Nichtseiende er-
folgen läßt, und ebensowenig aus Nichtseiendem,
sondern nur infolge von Lageverschiebungen.
Deshalb sind notwendig die Elemente, deren Lage
sich geändert hat, unvergänglich und das Wesen
des sich Ändernden ist ihnen fremd; ebenso not-
wendig ist es aber auch, daß sie als kleine Kör-
perchen und spezielle Formationen zugrunde liegen
bleiben."
Übrigens tut man gut sich gegenwärtig zu
halten, was ein Blick in die „Kritischen Bemer-
kungen" am Schlüsse lehrt, daß der Text an sehr
vielen Stellen verstümmelt vorliegt und daß
man infolgedessen an diesen nicht Epikur un-
mittelbar, sondern das liest, was der Übersetzer
resp. Herausgeber für die wahrscheinlichste Meinung
des Philosophen hielt. Daß dabei gelegentlich
verschiedene Autoren zu direkt entgegengesetzten
Auffassungen kommen, kann man etwa der aus-
führlichen Anmerkung 53 entnehmen. Dort pole-
misiert Kochalsky gegen Useners Ansicht,
Epikur habe an der und der Stelle (§ 62 der
Übers.) sagen wollen, daß Atome und Atomen-
komplexe gleich schnell sich bewegen, und hält
gerade das Gegenteil für Epikurs wirkliche Meinung.
Wer also auf Einzelheiten eingeht, wird nicht um-
hin können, mit dieser, dem Naturforscher unge-
wohnten Erschwerung zu rechnen. Auch die oben
zitierte Stelle gibt zu einer solchen Überlegung
Anlaß.
Sehr eigenartig und mit der Rolle und Be-
deutung, die Epikur der Naturwissenschaft
überhaupt zuweist, eng zusammenhängend,
sind seine Ausführungen über spezielle natür-
liche Phänomene, etwa über die Himmelser-
scheinungen, unter die er sowohl astronomische als
meteorologische Vorkommnisse zusammenfaßt.
Die Erscheinungen, sagt er etwa, sind im allge-
meinen mehrdeutig, sie können auf eine Weise A
zustande kommen, aber auch auf eine Weise B,
vielleicht gar eine dritte oder vierte. Wenn man
sich nun, ohne den Erscheinungen Gewalt anzu-
tun, sämtliche in Betracht kommende Möglich-
keiten klar gemacht hat, ist es gut, und weiter
soll man nicht gehen, vor allem sich nicht einer
dieser Möglichkeiten unbedingt in die Arme werfen
und sie als „wirkliche" oder „richtige" Erklärung
den andern gegenüberstellen. Denn es genügt,
sich klar gemacht zu haben, daß die Dinge, so
oder so, jedenfalls aber natürlich und gesetzmäßig
zusammenhängen, um der abergläubischen Furcht
und der Beunruhigung des Gemüts enthoben zu
sein. Mehr ist nicht nötig und durch eine ein-
seitige Entscheidung kommt man höchstens dazu,
den Erscheinungen Gewalt anzutun. — Man sieht,
daß diese eigenartige geistige Freiheit, obschon
nicht in ihrer Begründung, aber wohl in ihren Er-
gebnissen, eine nicht allzu ferne Verwandtschaft
mit recht modernen Vorstellungen aufweist. Wenn
wir jetzt von allen Seiten betonen hören, nicht
auf die Richtigkeit einer Hypotiiese, sondern auf
ihre Brauchbarkeit komme es an, erscheint der
geistige Abstand zwischen uns und Epikurs obigen
Ausführungen gar nicht so groß und jedenlalls
überbrückbar. Wasielewski.
Kryptogamenflora für Anfänger. Band IV, i.
Die Algen. i. Abteil, von Prof. Dr. Gustav
Lindau. Mit 489 Fig. im Text. Berlin 19 14,
J. Springer. — Preis geb. 7,80 Mk.
Bei der großen Weitschichtigkeit und Unzu-
gänglichkeit der Algenliteratur ist es verdienstlich,
wenn dem Anfänger und Liebhaber hier in der
bekannten Sammlung „Kryptogamenflora für An-
fänger" ein Buch an die Hand gegeben wird, das
ihm zu einem gewissen Teil das schwerere Rüst-
zeug ersetzen kann und ihm die Möglichkeit gibt,
die Objekte seiner Sammeltätigkeit zu bestimmen.
Wie der Verf. in der Vorrede selbst auseinander-
setzt, ist es bei dem Stande der Algologie gegen-
wärtig kaum möghch, mehr als eine zuverlässige
Kompilation zu geben.
In dem vorliegenden Bande ist nur ein Teil
der Algen behandelt, und zwar die Cyanophyceen,
Flagellaten, Dinuflagellaten und Bacillariales. Die
übrigen Abteilungen sollen dem zweiten Teile
vorbehalten bleiben. In einem allgemeinen Ab-
schnitt werden kurz und knapp nach einer Charak-
teristik der Algen ihre Fundstätten, das Sammeln,
Untersuchen und Präparieren behandelt, worauf
eine Schilderung der allerwichtigsten morphologi-
schen und physiologischen Eigenschaften der
Algengruppen folgt. Den Hauptteil des Bandes
bilden dann die Bestimmungstabellen. Auf 16 in
den Text verteilten Seiten sind 489 einfache, aber
recht instruktive Federzeichnungen beigegeben, die
die Hauptformen veranschaulichen. Das Buch
kann mit Vorteil verwandt werden. Miehe.
Anregungen und Antworten.
Herrn O. B. in Lokstedt bei Hamburg.
Gibt es eine
Möglichkeit, das Wachstum der Zelle unmittelbar unter dem
Mikroskop zu beobachten? „Die Zelle" gibt es natürlich
nicht, sondern es kann sich immer nur um bestimmte Zellen
handeln. Am einfachsten wäre es, niedere , nur aus einer
einzigen Zelle bestehende Organismen unter dem Mikroskop
längere Zeit zu betrachten und ihre Teilung zu verfolgen,
was man z. B. bei einer Spirogyra ganz gut kann. Noch
besser und lehrreicher würde das Siudium des Wachstums von
Pilzzellen sein, wenn auch vielleicht für den Anfänger oder
Laien, der nur einen etwas schematischen Begriff von ,,der Zelle"
besitzt, die Pilzzellen nicht so geeignet sind, den Begriff der
Zelle zu beleben, wie manche anderen Zellen, die nun allerdings
nicht in ähnlicher Weise gut zu beobachten sind als gerade jene.
Da eine derartige Beobachtung sehr lehrreich und unterhaltend
zugleich ist, zudem dem mikroskopierenden Laien meist nicht
so nah gebracht wird als viele andere Objekte, die ihm die
große Zahl der Anleitungen empfiehlt, will ich Ihnen ganz
kurz schildern, wie Sie es anstellen, das Wachstum von Pilz-
zellen zu studieren. Sie müssen sich zunächst ein Material
für Ihre Sporenaussaaten beschaffen, d. h. irgendeinen Schim-
melpilz einfangen. Sie tränken zu dem Zweck eine Scheibe
Brot mit einer 5 proz. Zuckerlösung, legen es auf einen Teller
und nachdem Sie es eine Weile offen haben liegen lassen,
oder aber gleich mit etwas Staub infiziert haben, bedecken
784
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 49
Sie es mit einer Käseglocke , die Sie auf der Innenseite mit
fest anliegendem angefeuchtetem Fließpapier bekleiden. Nach
einiger Zeit — um so rascher je wärmer es ist — werden
Sie auf diesem Brote die charakteristischen Flecke der Schim-
melpilzkolonien auftauchen sehen in Gestalt grün , gelb oder
schwarz gefärbter staubiger Massen. Nunmehr stellen Sie
sich ein flüssiges Nährsubstrat her, in welchem die Sporen
auskeimen können. Sie benutzen dazu am einfachsten eine
Abkochung von trockenen Zwetschen, die Sie filtrieren und
abermals aufkochen. Da eine so hergestellte Lösung natür-
lich auf die Dauer nicht steril zu halten ist, empfiehlt es sich,
entweder jedesmal bei Bedarf einen neuen Absud Iierzustellen
oder aber den Vorrat öfter wieder aufzukochen. Jetzt handelt
es sich darum, eine Vorrichtung zusammenzustellen, die es
Ihnen erlaubt, lebende Objekte längere Zeit unter dem Mikro-
skop zu beobachten. Dazu dient die Methode des sog. ,, Hängen-
den Tropfens". Sie schneiden aus einer recht dicken Pappe
ein Stück heraus, das etwa die Breite Ihres Objektträgers hat
und dessen Länge zweckmäßig diese Breite übertrifft. Sie
stanzen dann in der Mitte ein kreisrundes Loch heraus, dessen
Durchmesser etwas kleiner sein muß als die Seite Ihres Deck-
gläschens. Nun haben Sie alles beisammen. Sie fassen jetzt
mit einer Pinzette ein Deckgläschen , ziehen es einige Male
durch eine Spiritusflamme, um es zu sterilisieren, bringen als-
dann mit der Öse eines in einen Glasstab eingeschmolzenen
Platindrahtes , wie ihn z. B. der Chemiker benutzt und der
ebenfalls vorher in der Flamme ausgeglüht sein muß, um ihn
zu sterilisieren, einen Tropfen Ihres Pflaumendekoktes auf das
Deckgläschen. Er soll sich flach ausbreiten, aber keinen
größeren Durchmesser haben als 4 mm. Sie nehmen nun
einen Ihrer Papprahmen, die Sie vorher in einem Gefäß mit
Wasser abgekocht haben, und legen ihn, feucht wie er ist, auf
den Objektträger. Sie berühren dann mit dem ausgeglühten
(aber wieder erkalteten) Platindraht einen der staubigen Flecke
auf dem Brote und lieben so eine Menge der Sporen ab, die
aber nur klein sein soll, und berühren nun den Tropfen. Die
Sporen verteilen sich in ihm, aber es sollen nicht zu viele
sein, da dadurch später die Übersiclitlichkeit leiden würde.
Ohne Zeitverlust (wie Sie überhaupt vermeiden müssen, den
Tropfen eintrocknen zu lassen), kippen Sie nun das wieder
mit der Pinzette erfaßte Deckgläschen mit einer geschickten
Wendung so auf den Papprahmen, daß der Tropfen frei in
den durch das Loch gescliaffenen Raum hineinragt. Nachdem
Sie die Ränder des Deckgläschens fest auf den Papprahmen
gedrückt haben, damit ein vollkommener Abschluß erzielt
wird , legen Sie das Präparat zunächst zweckmäßigerweise
unter die feuchte Glocke auf eine Unterlage und geben auf
den Teller etwas Wasser, damit die Luft genügend feucht
bleibt. Sie sehen nun von Zeit zu Zeit unter dem Mikroskop
nach, ob die Sporen beginnen auszukeimen. Wenn die ersten
hellen Keimschläuche aus ihnen heraustreten, lassen Sie das
Präparat unter der stärkeren Vergrößerung des Mikroskopes
liegen und verfolgen dauernd das Wachstum und die Ver-
zweigung. Sie müssen aber jetzt dafür sorgen, daß der Rah-
men dauernd mit Wasser gesättigt bleibt, was Sie leicht da-
durch bewirken , daß Sie den Rahmen anfeuchten. Arbeiten
Sie umsichtig, so brauchen Sie selbst bei lange dauernder
Beobachtung nicht zu befürchten, daß Ihnen der Tropfen
eintrocknet. Sie können so stundenlang das Wachstum, die
Verzweigung verfolgen, auch die Geschwindigkeit messen, in-
dem Sie mit Hilfe eines Okularmikrometers den Zuwachs in
bestimmter Zeit feststellen, den Wert aber durch den Ver-
größerungswert Ihrer Linse dividieren müssen.
In ganz derselben Weise können Sie auch z. B. die
Keimung von Pollenkörnern und das Wachstum der Pollen-
scbläuche verfolgen. Sie bringen Pollenkörner verschiedener
Pflanzen (z. B. von Kürbis, Monokotylen, Irapatiensarten usw.)
in eine 5 — 10 proz. Zuckerlösung und beobachten sofort. Bei
manchen Pflanzen beginnt bereits nach 15 Minuten die Keimung,
und das Wachstum schreitet so rasch fort, daß man das
Weiterschieben direkt sehen kann.
Sehr viel schwieriger ist es, das Wachstum von Zellen
zu studieren, die man aus dem Gewebeverbande durch Schnitte
usw. herausgelöst hat. Denn wie das schon aus dem obigen
hervorgeht, ist das Problem der fortlaufenden Beobachtung
einzelner Zellen oder wenigzelliger Gewebestücke gleichzeitig
das ihrer Kultur außerhalb des Gewebeverbandes. Dies Pro-
blem ist aber weder bei Tieren noch bei Pflanzen bisher ge-
löst worden, wenn es auch namentlich bei tierischen Geweben
geglückt ist, sie eine Weile zu kultivieren. Für den Laien
kommt natürlich dies nicht in Betracht. Wollen Sie aber
z. B. Zell- und Kernteilung direkt verfolgen, so präparieren
Sie aus ungeöffneten Blüten von Tradescantia virginica die
Staubgefäße heraus und bringen eins in einen hängenden
Troplen Wassers oder einer etwa 2 proz. Zuckerlösung. Wenn
Sie jetzt die bekannten Haare an der Basis der Staubfäden
bei stärkerer Vergrößerung einstellen, so können Sie sowohl
in den verschiedenen Zellen der Haare die einzelnen Phasen
der Teilung aufsuchen, als auch in einer in vorbereitender
Teilungstätigkeit begriffenen Zelle den gesamten Verlauf der
Teilung verfolgen. Sie wählen am besten die Spitzenzellen,
da sie sich erfahrungsgemäß am häufigsten im Zustande der
Teilung befinden. Auch die Alge Spirogyra eignet sich gut
zum Studium der Zell- und Kernteilung, doch haben viele
Arten die lästige Eigenschaft, sich bei nachtschlafender Zeit
zu teilen. Als Hilfsmittel für botanisch-mikroskopisches Ar-
beilen sei z. B. ,,Das kleine Botanische Praktikum für An-
fänger" von Strasburger (in der 7. Auflage von M. Koernicke
bearbeitet, Jena 1913) genannt, wo Sie z. B. auf S. 219 die
Teilungsstadien der Staubfadenhaarzellen abgebildet finden.
Miehe.
Literatur.
Verworn, Ma.x, Ideoplastische Kunst. Ein Vortrag.
Mit 71 Abb. im Text. Jena '14, G. Fischer. 1,50 Mk.
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Sammlung Göschen. Kleb ahn, Prof. Dr. H. , Die
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Migula, Prof. Dr. W., Pflanzenbiologie. II. Blüienbiologie.
Mit 28 Fig. Jedes Bändchen geb. 90 Pf.
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einem Porträt, 14 Tafeln und 13 Abb. im Text. 24. Band
der , .Bücher der Naturwissenschaften". Leipzig. Philipp
Reclam jun. Geb. I Mk.
Sammlung Vieweg. Tagesfragen aus den Gebieten der
Naturwissenschaften und der Technik. Heft 9/10: Prof. Dr.
O. Lumraer. Verflüssigung der Kohle und Herstellung der
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Oppel, Gewebekulturen und Gewebepflege im Explantat.
Mit 32 Textabb. 3 Mk. Prof. Dr. W ilhelm Foerster ,
Kalenderwesen und Kalenderreform. 1,60 Mk. Braunschweig
'14. Fr. Vieweg und Sohn.
Ude, Prof. D. Joh. , Kann der Mensch vom Tier ab-
stammen? Graz und Wien '14. „Styria".
Planck, Max, Dynamische und statische Gesetzmäßigkeit.
Rede, gehalten bei der Feier zum Gedächtnis des Stifters der
Berliner Friedrich Wilhelmsuniversität am 3. August 1914.
Leipzig '14. J. A. Barth. I. Mk.
Inhalt; Valcntiner: Vom Prinzip der Relativität. Franke: Die Bedeutung der diluvialen Menschcnskelette für die
Sprachwissenschaft. — Einzelberichte: Ab ich: Beiträge zur Kenntnis der Eiszeit im Kaukasus. Willstätter und
Page: Pigmente der Braunalgen. Surbeck: Zahl der Eier einiger Süßwasserfische. — Bücherbesprechungen:
Church: .•\borigines of South .America. Kochalsky: Das Leben und die Lehre Epikurs. Kryptogamenflora für
Anfänger. — Anregungen und Antworten. — Literatur: Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Schriftleiter Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstrafle 1 1 a, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H , Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. band;
der ganzen Reihe 29. Band.
Sonntag, den 13. Dezember 1914.
Nummer 50.
Das Leuchten und der Farbensinn der Fische.
[Nachdruck verboten.] Von Privatdozent Dr
In den letzten Jahren ist ein Kapitel der
Sinnespliysiologie der Tiere, nämlich der Farben-
sinn bei Wirbellosen und Fischen besonders in
den Vordergrund gedrängt worden. Das Thema
ist von größter Bedeutung — man denke nur
z. B. an das noch immer nicht aufgeklärte Ver-
hältnis der Insektenwelt zu den Farben — und
kein Wunder daher, wenn ihm vonseiten der
Biologen das regste Interesse entgegengebracht
wird. Daß dem so ist, beweisen die zahlreichen
Publikationen der letzten vier Jahre, die jene
Frage zum Gegenstande haben, es bezeugten dies
die im September 1913 zu Wien versammelten
deutschen Naturforscher und Arzte, indem sie
sich zum Vortrage des Münchener Physiologen
v. Heß ,,Uber Entwicklung von Lichtsinn und
Farbensinn in der Tierreihe" in überaus stattlicher
Zahl einfanden ; ein anderer, diesem verwandter
Vortrag „Zur Frage nach dem F"arbensinn der
Tiere", gehalten vom Dozenten v. Frisch, zog
ebenfalls ein zahlreiches Auditorium an.
v. Heß und v. Frisch stechen aus der Reihe
derer, die der obigen PVage näher getreten sind,
am meisten hervor, ihre Ansichten stehen bekannt-
lich schroff einander gegenüber. Der erstere Autor
bestreitet einen Farbensinn bei Wirbellosen und bei
Fischen, der letztere tritt für einen solchen ein.
Nachdem nunmehr zahlreiche andere F'orscher mit
eigenen Beobachtungen auf diesem Gebiete vor die
Öffentlichkeit getreten sind, sollte man meinen,
daß eine Musterung der Befunde zugunsten der
einen oder anderen der beiden obigen Ansichten
entscheiden müßte.
Eine Zusammenstellung der einschlägigen Lite-
ratur verdanken wir Kafka (1914) in einem der
letzten Hefte dieser Zeitschrift. Von allen den-
jenigen Angaben, die gegen von Heß sprechen
sollen, hat besonders eine meine Aufmerksamkeit
erregt und sie verdient wohl auf ihre Stichhaltig-
keit hier näher geprüft zu werden. Kafka
schreibt nämlich S. 472 : „Für das Vorhandensein
eines Farbensinnes sprechen auch die bei ge-
wissen Teleostiern in regelmäßiger Zahl und An-
ordnung über den Rumpf verteilten Leuchtorgane,
die nach Brauer (4) verschiedenfarbiges Licht
laterad und ventrad oder kaudad und dorsad ent-
senden und daher nicht, wie die am Kopf, an den
Tentakeln oder an der Rückenflosse angebrachten
Leuchtorgane als Scheinwerfer zur Erhellung des
Gesichtsfeldes funktionieren können, sondern ver-
mutlich zum Anlocken der Artgenossen dienen
und das Aufsuchen der Geschlechter vermitteln."
Ich beschäftige mich seit einer Reihe von Jahren
mit Untersuchungen leuchtender Tiere und hätte
, E. Trojan (Prag).
stets gerne aus diesem Spezialgebiete etwas zur
Klärung der PVage des Farbensinnes bei Fischen
beigetragen; ich sah aber ein, daß dies nicht recht
tunlich sei. Wenn man schon Brauer gegen
v. Heß zitieren will, so muß man eine gründ-
lichere Betrachtung anstellen. Brauer (1904)
hat zum erstenmal in seiner vorläufigen Mit-
teilimg zum großen Valdivia-Werke der Ver-
mutung Ausdruck gegeben, daß die Leuchtorgane
mancher Tiefseefische verschiedenfarbiges Licht
ausstrahlen dürften. In der ausführlichen Be-
arbeitung des Tiefseefischmaterials der Valdivia
lesen wir bei ihm (1908, S. 151) folgendes
hierüber: ,,In der vorläufigen Mitteilung (1904)
hatte ich die Vermutung ausgesprochen, daß auch
die Qualität des Lichtes verschieden sei und zwar
daß es verschiedenfarbig sei, daß also im Dunkel
derselbe Effekt durch Drüsen erzielt werde wie
im Sonnenlicht durch die verschiedenfarbigen
Pigmente. Ich hatte diese Ansicht gestützt auf
den verschiedenen Bau der Organe bei ein und
demselben Tier und auf die häufiger beobachtete
verschiedene Färbung des Reflektors. Er erglänzt
selbst bei Spiritusexemplaren silbern, grün, rot,
violett. Auch von Cephalopoden beschreibt
C h u n ähnliche verschiedenfarbig erglänzende
Reflektoren. Indessen ist mir bei weiterer Über-
legung und besonders bei weiterem Studium der
Augen der Tiefseefische ein Bedenken gekommen.
Eine solche verschiedene Färbung des Lichtes
oder solche buntfarbige Zeichnungen würden ein
sehr feines Unterscheidungsvermögen der Fische
für Farben voraussetzen. Nach unseren jetzigen
Anschauungen kommen als farbenempfindliche
Elemente nur die Zapfen in Betracht. Diese
fehlen nun aber den im Dunkeln lebenden Leucht-
fischen ganz. Dieser Einwand scheint mir ge-
nügend, um die ausgesprochene Vermutung hin-
fällig oder wenigstens sehr wenig wahrscheinlich
zu machen. Freilich für unmöglich halte ich ein
verschieden farbiges Licht der Leuchtorgane auch
jetzt noch nicht. Denn es ist noch sehr die
Frage, ob für das Fischauge alle die physiolo-
gischen Anschauungen Gültigkeit haben, welche
wir uns für das Auge [auf Grund des Studiums
des menschlichen Auges und der Augen anderer
Landwirbeltiere gebildet haben. Wie man im
zweiten Abschnitt sehen wird, zeigt das Auge der
Dunkelfische viele sonderbare neue Verhältnisse,
die vorläufig uns rätselhaft erscheinen müssen,
denen aber schwerlich jemand eine große Be-
deutung wird absprechen können, und so wäre
es auch nicht unmöglich, daß auch die für die
Stäbchen und Zapfen gebildeten Anschauungen
786
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 50
auf das Auge der Leuchtfische nicht ohne weiteres
übertragbar sind." Ich glaube, aus diesem Zitat
gewinnt man kaum den Eindruck, wie aus der
oben erwähnten Stelle in Kafka's Sammel-
referat, als hätte Brauer mit apodiktischer Ge-
wißheit verschiedenfarbiges Licht den Tiefsee-
fischen zuerkannt. Brauer selbst hatte die
Fahrt der Valdivia nicht mitgemacht und war
bei seinen Arbeiten an wertvolle, von Chun an
Bord gemachte Notizen angewiesen. Von allen
diesen kann aber nur eine einzige für unseren
Zweck in Betracht kommen, da sie sich auf das
Licht eines lebenden Tiefseefisches bezieht. Sie
lautet nach Brauer (1908, S. 130) zitiert; ,,Da
der Usch in kaltem Wasser vergnügt weiter lebte,
wurde rasch eine Skizze des Kopfes gemacht und
dann tötete ich ihn in der Dunkelkammer in An-
wesenheit von Dr. Schmidt mit Formol. Das
dreieckige Organ leuchtete zuerst grünlich-blau,
dann in sanftem blauen Licht, welches dem Blau
im Sonnenspektrum bei Linie F entspricht. Hier-
mit ist, ich glaube das erste Mal, positiv der Nach-
weis erbracht, daß es sich um Leuchtorgane
handelt 1 Ausdrücklich sei bemerkt, daß beide
Organe leuchteten." Die anderen Angaben
Chun 's, die sich auf F'arben von Leuchtorganen
beziehen, gelten nicht mehr lebenden Leucht-
fischen , sondern dem Glanz der Leuchtorgane,
hervorgerufen durch die Beschaffenheit ihres Re-
flektors ; so glänzte eines rot wie Rubin, andere
besaßen Perlmutterglanz, noch andere schimmerten
grün, blau oder violett. Von anderen Personen,
die bisher Fische mit funktionierenden Leucht-
organen gesehen haben , lege ich folgende von
Brauer sorgfältigst zusammengetragenen Daten
vor. Günther (1887, S. 32) beobachtete ein
grünes oder blaßrotes Licht, Thomson & Murray
(1885, P. II, S. 521) berichten von einem rosa,
rötlichen und violetten; Benett (zit. n. Johann,
1899, S. 152) spricht von einem grünlich phos-
phoreszierenden. Beer (Johann 1899, S. 159)
von einem grünlichen Schein; Chun machte
Brauer auch eine mündliche Mitteilung über
grünliches Licht. Die Angaben Ma ngol d's (1907)
lauten auf Nuancen von weiß, gelb, grüngelb, grün-
lich, blau mit überwiegendem gelb und grüngelb;
Van hoffen (1902, S. 70) war Zeuge von einem
grünlichen, Grass i (zit. n. Chiarini 1900, S. 19)
von einem bläulichen, Chun nach einer anderen
Mitteilung an Brauer von einem perlmutter-
glänzend bläulichen, grünlichblauen oder blauen,
Green (1899) von weißem. Steche (1907) von
grünlichweißem Leuchten. In der Tat erscheint
die Farbenskala, wenn man diese Reihe von An-
gaben überblickt, ziemlich komplett; aus dem Um-
stände aber, daß bläulich und grünlich weitaus
überwiegen, ersieht man schon, daß die Natur
mit Farben in den Tiefen offenbar nicht allzu
freigebig ist. In den Hunderten von Fällen, da
ich Licht von lebenden Seetieren ausstrahlen sah,
war es bis auf rot in allen oben bezeichneten
Farben vorhanden; doch wie dürfen diese einge-
schätzt werden ? Was mir gelb, grün, blau und
violett erschien, war niemals der reine ausge-
sprochene Farbton, sondern konnte nur als ein
Stich ins Gelbe, Grüne, Blaue und Violette be-
zeichnet werden. Und so kam ich, wie gewiß
manch anderer bei gleichen Untersuchungen, in
Verlegenheit, das wahrgenommene Licht seiner
Farbe nach richtig zu spezifizieren. Damit will
ich aber durchaus nicht den Eindruck erwecken,
als ob ich verschiedenfarbiges Licht bei Tiefsee-
fischen für ausgeschlossen hielte. Wiederholt
habe ich in Wort und Schrift hervorgehoben, daß
ich mich Brauer's trefflicher Auffassung ge-
wisser Leuchtorgane als Ersatz von Farbenzeich-
nungen bei Tiefseefischen ganz anschließe, ja ich
glaube noch weiter gegangen zu sein, als ich in
einer Monatsversammlung (Mai, 1913) des „Lotos"
in Prag jene Einrichtung das Hochzeitskleid der
Fische nannte und diese Ansicht plausibel zu
machen versuchte. Ich stützte mich auf eigene
Beobachtungen und Literaturangaben. Spinax
niger, dessen Leuchten Beer (Johann, 1899,
S. 159) mehreren Herren an der Zoologischen
Station in Neapel demonstriert hat, wurde mir,
als ich an derselben Stätte im März und April igo6
weilte, nach mühseligem Suchen durch den unver-
geßlichen Lo Bianco in 3 schönen lebensfrischen
Exemplaren, 2 alten und i jungen, verschafft.
Ich habe die Tiere 4 Tage und auch bei Nacht
im Aquarium beobachtet, alle bekannten Methoden,
die für das Hervorrufen der Luminiszenz bei
Tieren erprobt waren, angewendet, ohne das ge-
ringste Leuchten wahrzunehmen. Green (1899)
hat Porichthys notatus, einen Fisch, der mehr als
300 Leuchtorgane besitzt, lange Zeit im Aquarium
gehalten, konnte jedoch niemals ein Leuchten be-
merken. Wie soll man sich's erklären, wenn auch
andere Fische wie Dactylostomias und Maurolicus,
trotzdem mit zahlreichen Leuchtorganen ausge-
stattet und lebensfrisch stunden-, auch tagelang
in Aquarien gehalten, kein Licht von sich geben
außer bei Anwendung stärkster Reize? Ich glaube,
daß uns die Angaben Green 's am ehesten einen
Wegweiser geben. Wenn Porichihys-Exemplare,
die aus größeren Tiefen gefangen worden waren,
zum Leuchten überhaupt nicht gebracht werden
konnten, wohl aber solche zur Zeit als sie unter
Felsen die junge Brut bewachten, kann man wohl
annehmen, daß es die Paarungszeit ist, die den
Leuchtorganen der Tiefseefische Leuchtkraft ver-
leiht. Will es der Zufall, daß ein solcher Fisch
gerade um diese Zeit in die Hände eines Forschers
gelangt, genießt dieser bequem den herrlichen
Anblick, derweil ein anderer zu anderen Zeiten
bei derselben Spezies sich um das Leuchtphänomen
entweder umsonst bemüht oder mit einem kümmer-
lichen Lichtschimmer des unter schärfsten Reiz-
mitteln verendenden Tieres entlohnt wird. Er-
klärlich wäre die Erscheinung, wenn wir be-
denken, daß im Tierreiche allgemein zur Zeit des
entfesselten Geschlechtstriebes der Stoffwechsel
gesteigert ist. Ein solcher kommt dann nament-
N. F. Xni. Nr. so
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
787
lieh in der Körperbedeckung, so durch Aus-
bildung bunter Farben zum Ausdrucke. Analog
könnte, so denke ich mir, eine gesteigerte Lebens-
enern-ie bei manchen Tiefseefischen, ein Licht in
der Haut der Tiere entfachen, das Artgenossen
herbeilockt. Gewiß ist aber auch dann jene Ver-
mutung, die den prächtigen Schimmer des Hoch-
zeitskleides in Farben ausmalt, erlaubt. Indessen
liegt zurzeit noch sehr wenig Tatsachenmaterial
vor, als daß man derlei Betrachtungen mehr als
Hypothesencharakter zusprechen könnte. Und
gerade darauf hinzuweisen, daß Brauer, der
bisher gewiß das Meiste und Gediegendste über
leuchtende Tiefseefische zu sagen wußte, hinsich-
lich verschiedenfarbigen Lichtes der Leuchtorgane
nur eine Vermutung ausgesprochen hat, schien
mir derzeit wichtig, da es in einem Streite, wie
er von Heß und Frisch geführt wird, nicht
gleichgültig ist, ob die gegenteiligen Ansichten
mit Vermutungen oder positiven Tatsachen be-
kämpft oder gestützt werden.
Literaturverzeichnis.
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fische. Verh. D. Zool. Ges., Leipzig.
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1899. Johann, L. , Über eigentümliche epitheliale Gebilde
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sinn der Fische. Naturw. Wochenschr. Bd. 13, S. 465
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1907. Mangold, E., Über das Leuchten der Tiefseefische.
Arch. ges. Phys. Bd. 119.
1907. Steche, O. , Über leuchtende Oberflächenfische aus
dem malayischen Archipel. Verh. D. Zool. Ges.
1885. Thomson und Murray, Report sc. res. Voyage
,,Challengcr". Narrative.
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der Deutschen Südpolar-E.\ped. Veröff. Inst. Meeres-
kunde und des Geogr. Inst. Berlin. H. 1.
Diluviale menschliclie Skelettreste aus deu thüriiiffiscli-sächsisclien Ländern.
[Nachdruck verboten.;
Von Hugo Mötefindt in Wernigerode.
In den letzten Jahren hat die wissenschaftliche
Prüfung eines der größten Deutschen aus Weimar,
unseres Dichterfürsten Schiller, nicht nur die ge-
lehrten Forscher beschäftigt, sondern weit über
den engen Kreis, in dem anthropologische F"ragen
sonst erörtert zu werden pflegen, hinaus Aufsehen
erregt. Noch sind die Gelehrten unter einander
nicht einig, welches der echte Schillerschädel
ist ^) — da geht durch die Zeitungen die Nach-
richt, daß in der näheren Umgebung desselben
Weimar ein Schädelfund im Diluvium zu Tage
gekommen ist, der als Forschungsobjekt an wissen-
schaftlicher Bedeutung dem Schillerschädel zum
mindesten gleichkommt, vielleicht sogar über-
trifft.
Wir benutzen die Gelegenheit der Auffindung
dieses vorgeschichtlichen Menschenrestes, um ein-
mal zusammenzustellen, was an diluvialen mensch-
lichen Skelettresten in den thüringisch-sächsischen
Ländern bisher zu Tage gekommen ist.
Bereits seit den siebziger Jahren waren Spuren
von der Anwesenheit des diluvialen Menschen in den
thüringisch-sächsischen Ländern bekannt. In den
letzten zehn Jahren sind außerordentlich viel neue
Fundstellen aufgefunden worden, die nur aufs
neue die Anwesenheit des diluvialen Menschen in
den thüringisch-sächsischen Ländern bestätigten.
Die diluvialen Fundstellen sind in dieser Land-
') Die wichtigsten einschlägigen neuesten Veröffentlichungen
bilden das Werk von A. v. Froriep, der Schädel Friedrich
V. Schiller's und des Dichters Begräbnisstätte (Leipzig 19 13)
und die Abhandlungen von R. Neuhaus in der Zeitschrift
für Ethnologie 1913, S. 973 und 1914, S. 114; die ältere
Literatur findet man in diesen drei Veröffentlichungen ver-
zeichnet.
Schaft plötzlich so zahlreich geworden, wie man
es früher wohl nie erwartet hatte, und Thüringen
dürfte, wenn hier ein Spezialforscher, mit den für
derartige Forschungen nötigen Geldmitteln aus-
gestattet, sich dieses Forschungszweiges annehmen
würde, an Zahl und Bedeutung der Fundstellen
alle übrigen Landschaften Deutschlands weit über-
treffen. Da einige dieser neuen F"undstellen noch
nicht in weiteren Kreisen bekannt sein werden,
wollen wir zunächst einmal zusammenstellen, was
uns an diluvialen Fundstellen aus den thüringisch-
sächsischen Ländern und den angrenzenden Ge-
bieten überhaupt bekannt ist.
Aus der Epoche des Chelleen liegen merk-
würdigerweise aus der ganzen Landschaft keine
Funde vor; sollten die Spuren von der Anwesen-
heit der Menschen während dieser Zeit nur noch
nicht gefunden sein oder ist der Mensch in
dieser Zeit — vielleicht aus klimatischen Grün-
den — noch nicht bis hierher vorgedrungen ge-
wesen ?
Die zweite Stufe des Altpaläolithikums, das
Acheuleen, ist dagegen sehr reich vertreten;
drei reiche Stationen sind bisher bekannt.
I. Markkleeberg, Kreishauptmannschaft Leip-
zig. Literatur: R. R. Schmidt, die diluviale
Vorzeit Deutschlands. Stuttgart 1912 (wo auch
die ältere Literatur sich verzeichnet findet). M —
K. H. Jacob, Das Alter der altpaläolithischen
Fundstelle Markkleeberg. Prähistorische Zeit-
schrift V, 1913. S. 331 ff.
') Die ältere Literatur wird im folgenden, soweit sie in
diesem grundlegenden Werke verzeichnet ist, nicht besonders
angegeben,
788
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 50
2. Lindenthaler Hyänenhöhle bei Gera (Reuß).
Literatur: R. R. Schmidt a. a. O. S. lOi.
3. Hundisburg, Kr. Neuhaldensleben. Literatur:
R. R. Schmidt a. a. O. S. 99.
Dieaufdas Acheuleen folgende Periode, das M o u -
s t e r i e n , ist in fünf Stationen vertreten, unter ihnen
die bedeutendste Station der Landschaft überhaupt,
die unerschöpflichen unteren Schichten der
Travertine des Ilmtales zwischen Taubach und
Weimar.
4. Taubach-Weimar-Ehringsdorf (Sachsen-
Weimar-Eisenach). Literatur: Götze, Höfer,
Zschiesche, Die vor- und frühgeschichtlichen
Altertümer Thüringens. (Würzburg 1909). S. XI.
263. 281. 287. — R. R. Schmidt a. a. O. S. 97.
219. 238. 260. — Außer der in diesem letzten
Werke auf S. 97 zusammengestellten Literatur
sind im Laufe der Zeit noch erschienen: E. Eich-
horn, Die paläolithischen Funde von Taubach in
den Museen zu Jena und Weimar (Jena 1909). —
L. Pfeiffer, Das Zerlegen der Jagdtiere in der
Steinzeit. Eine vergleichende Untersuchung der
diluvialen Knochenlager aus der Lindenthaler
Hyänenhöhle bei Gera, der Hyänenhöhle auf dem
Roten Berge bei Saalfeld und aus Taubach-Ehrings-
dorf. Korrespondenzblätter des allgemeinen ärzt-
lichen Vereins von Thüringen. 1910. — R. R.
Schmidt, Das Altpaläolithikum Deutschlands
und seine Parallelen mit dem altpaläolithischen
Kulturkreise Westeuropas. Mannus-Ergänzungs-
band II, 191 1. S. 43. — R. R. Schmidt, Das
Alter der paläolithischen Stationen des Ilmtales.
Korrespondenzblatt der deutschen Gesellschaft für
Anthropologie 191 2. S. 57. — E. Wüst, Die
Chronologie des Paläolithikums der Gegend von
Weimar. Ebendort S. 51. — E. Wüst, Die
pleistozänen Ablagerungen des Travertingebietes
der Gegend von Weimar und ihre Fossilienbe-
stände in ihrer Bedeutung für die Beurteilung
der Klimaschwankungen des Eiszeitalters. Zeit-
schrift für Naturwissenschaften. Band 82. S. 161 —
252. —
4 a. Markkleeberg siehe oben Nr. i.
5. Schkeuditz, Kr. Merseburg. Literatur: F.
M. Nabe, Vor- und frühgeschichtliche Alter-
'tumsfunde in Leipzig und Umgebung. Leipziger
Kalender 191 3.
6. Hermannshöhle bei Rübeland, Kr. Blanken-
burg. Literatur: R. R. Schm idt a. a. O. S. 102.
Außerdem H. Mötefindt, Die altsteinzeitlichen
Funde aus der Baumanns- und Hermannshöhle.
Braunschweiger Magazin 191 3 S. 57.
7. Baumannshöhle bei Rübeland, Kr. Blanken-
burg. Literatur : wie Nr. 6.
Das auf das Mousterien folgende Aurig-
n a c i e n ist sehr schwach, nur in zwei Stationen
vertreten :
8. Thiede, Kr. Wolfenbüttel. Literatur: R. R.
Schmidt a. a. O. S. 102.
9. Westeregeln, Kr. Halberstadt. Literatur:
wie Nr. 8.
Aus dem Solutreen liegen keinerlei Funde
vor. Das Magdalenien endlich ist nur ein
einziges Mal vertreten.
10. Pennikental bei Oberwöllnitz, Verwaltungs-
bezirk Apolda (Sachs.- Weimar). Literatur: Götze,
Höfer, Zschiesche a. a. O. S. XIII und 317.
— R. R. Schmidt a. a. O. S. 104.
Zu diesen 10 chronologisch festlegbaren Sta-
tionen kommt noch eine Reihe anderer, die
überhaupt noch nicht untersucht sind und die
deshalb bisher nur einige wenige Fundstücke ge-
liefert haben, die kaum Anhaltspunkte für eine
chronologische Festlegung geben; von derartigen
Fundstellen nenne ich hier folgende:
1 1 . Großer Fallstein bei Osterode a/H., Kr.
Osterode. Literatur: R. R. Seh m id t a. a. O.
S. 104.
12. Rabutz, Kr. Halle a/S. Literatur: R. R.
Schmidt a. a. O. S. 104. — Zeitschr. f Ethno-
logie 1907. S. 721.
13. Krölpa, Kr. Ziegenrück. Literatur: Götze,
Höfer, Zschiesche a. a. O. S. 385. — Götze,
Eine paläolithische Fundstelle bei Pößneck in
Thür. Zeitschr. f. Ethnologie 1903, S. 490 ff.
14. Saalfeld, Kr. Ziegenrück. Literatur:
Götze, Höfer, Zschiesche a. a. O. S. XIII
und 382. — R. R. Schmidt a. a. O. S. 104.
15. Mühlhausen, Kr. Mühlhausen. Literatur:
Götze, Höfer, Zschiesche a. a. O. S. XIII
und 265.
16. Jena (Galgenberg und Böhmesche Ziegelei).
Literatur: Götze, Höfer, Zschiesche a. a.
O. S. XIII und 305. — R. R. Schmidt a.a.O.
S. 104.
17. Wüste Scheuer bei Döbritz, Verwaltungs-
bezirk Neustadt, Sachs. Meiningen. Literatur:
Götze, Höfer, Zschiesche a. a. O. S. XIII
und 390. — R. R. Schmidt a. a. O. S. 103.
18. Köstritz und Pahren bei Gera, Reuß.
Literatur: R. R. Schmidt a. a. O. S. 104.
Außerdem müssen schließlich noch die Fund-
stellen angeführt werden, an denen vielleicht der
diluviale Mensch gewohnt hat, wenn es auch
bisher noch nicht gelungen ist, einen sicheren
Nachweis dafür zu erbringen. Zu nennen ist in
diesem Zusammenhange zunächst die berühmte
19. Einhornhöhle bei Scharzfeld, Kr. Osterode.
Literatur: Götze, Höfer, Zschiesche a. a. O.
S. 192 u. 397. — R. R. Schmidt a. a. O. S. 226.
20. Bilzingsleben, Kr. Eckartsberga. Literatur:
Götze, Höfer, Zschiesche a. a. O. S. XIV
u. 98.
21. Clingen, \^erwaltungsbezirk Sondershausen
(Schwarzburg-Sondershausen). Literatur: Götze,
Höfer, Zschiesche a. a. O. S. XIV u. 179.
22. Greußen, Verwaltungsbezirk Sondershausen
(Schwarzburg-Sondershausen). Literatur: Götze,
Höfer, Zschiesche a. a. O. S. XIV u. 180.
Einwandfreie Spuren des diluvialen Menschen
sind uns also aus den thüringisch-sächsischen
Ländern und ihrem Nachbargebiete in genügender
Zahl erhalten. Leider ist nur der diluviale Mensch
bis jetzt noch nicht persönlich in ganz erhaltener
N. F. XIII. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
789
Gestalt erschienen, um sich den wissensdurstigen
Epigonen zur Untersucluing zu stellen. In den
oben angeführten 22 Stationen sind nämlicli ein-
wandfreie Skelettreste des diluvialen
Menschen bisher nur an einer Stelle zutage
gekommen.
In den Gipsbrüchen von Kost ritz und
Fahren sind in den zwanziger Jahren von einem
Dr. Schottin einige Menschenknochen gefunden,
die seinerzeit viel Aufsehen erregten. Die
Knochen sind zum Teil im britischen Museum,
zum Teil in Berlin. Im Berliner geologischen
Landesmuseum befinden sich folgende vier Stucke;
zwei Oberschenkel, ein Oberarm, ein Rippenstück.
Der eine Oberschenkel ist merkwürdig flach ge-
drückt und erinnert in seiner Form an den ent-
sprechenden Knochen des Neandertalmenschen.
Diese Skelettreste sollen mit Flefantenknochen
zusammengefunden sein. Um eine ungestörte
Lagerstätte hat es sich jedoch allem Anschein
nach hier nicht gehandelt. Beim Nachsuchen
sind von Dr. Liebe, Gera an einigen Stellen
der Köstritzer Gipsbrüche auch alluviale Knochen
von rezenten Tieren und auch Menschenknochen
gefunden worden, welche in die Gesteinsspalten
von der Oberfläche hineingespült sein können.
Ein Menschenschädel, der zusammen mit Renn-
tierknochen aufgefunden sein soll, soll in der
Berliner Universitätssammlung aufbewahrt werden ;
näheres ist mir jedoch über ihn nicht bekannt.
Der ganze Fund hat demnach als unsicher aus-
zuscheiden.')
Gleich vom Beginn der Ausbeutung der Tau-
bacher Gruben an wurde auch hier eifrig
von den gelehrten Besuchern Taubachs nach
Menschenknochen gesucht und gefragt. Das Re-
sultat war, daß ein menschlicher Schädel präsen-
tiert wurde, welcher angeblich im diluvialen
Sande gefunden worden war. Später stellte sich
heraus, daß er „in der Nähe dieser Fundstelle"
gefunden war-); vermutlich stammt er aus einer
gerade über der paläolithischen Ansiedlung im
Humus befindlichen neolithischen Station.
Einem raffiniert angelegten Versuch, in Tau-
bach drei rechte Oberarmknochen aus neolithi-
scher Zeit in die Sandschichten des Tuffes ein-
zuschmuggeln, wäre Pfeiffer, wie er in seiner
oben angeführten Abhandlung schreibt^), im Jahre
1873 beinahe zum Opfer gefallen; glücklicher-
weise vermochte er den Schwindel noch recht-
zeitig zu entlarven. Es war das in der Zeit, als
die Mammutzähne von Süßenborn korbweise nach
Taubach kamen und dort willige Käufer fanden.
') Vgl. hierzu: L. Pfeiffer, Über die Sltelettreste des
Menschen und die bearbeiteten Tierlinochen aus der Diluvial-
zeit Thüringens. Korrespondenzblätter des allgem. ärztlichen
Vereins von Thüringen. 1909. — Das dort angeführte Werk
von Löscher, der diluviale Mensch (1907) war mir selbst
durch Vermittlung der königl. Bibliothek in Berlin nicht zu-
gänglich.
'■') Vgl. Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthro-
pologie usw. 1S72 S. 260 u. 270, 1S77 S. 27, 1S92 S. 371.
") Über die Skelettreste des Menschen usw. S. 5.
Außer diesen nicht einwandfreien und zum
Teil gefälschten Funden sind zwei mensch-
liche Zähne in den Kalktuffen von
Taubach gefunden. Dr. Weiß aus Hildburg-
hausen fand im Jahre 1892') beim Sammeln von
Conchylien in der Taubacher Kulturschicht einen
Kinderzahn, der in der Qualität der Substanz mit
den übrigen Fossilien übereinstimmte. Der Zahn
befindet sich noch heute in dem Besitz dieses
Arztes. Nach den Untersuchungen von \eh ring
u. a.") handelt es sich um einen stark abgenutzten
vorderen Milchbackenzahn aus der linken Unter-
kieferhälfte eines menschlichen Kindes. Der Zahn
muß aus verschiedenen Gründen kurz vor dem
Wechsel ausgefallen sein und dürfte demnach
einem Kinde von 8 — 9 Jahren angehört haben.
An dem Zahne ist die Krone stark abgenutzt;
diese Abnutzung ist weit stärker als sie es sonst
bei Kinderzähnen der modernen Kulturvölker
Europas zu sein pflegt, und man wird deshalb
mit großer Wahrscheinlichkeit vermuten dürfen,
daß die starke Abnutzung der Milchbackenzähne
durch die primitiven Nahrungsverhältnisse der
Vorzeit zu erklären ist. Die Abnutzung geht
schräg von vorn nach hinten, so daß der vordere
linguale Randhöcker noch als Erhebung besteht.
Die Abnutzung der Krone überhaupt ist durch
die Ernährungsweise bedingt; die hier vorliegende
schräge L'orm der Abnutzung erklärte A. N e h r i n g
für pithekoid.
Der zweite Zahn ist seiner Zeit von einem
Steinbruchsarbeiter an Professor Kl op fleisch
abgegeben worden; er ist von dem Besitzer einer
der Gruben, der sonst als zuverlässiger und in-
telligenter Mann bekannt ist, gefunden, und zwar
in derjenigen Schicht, welche einerseits durch
paläolithische Spuren menschlicher Existenz,
änderet seits durch zahlreiche Fossilreste einer alt-
diluvialen I'auna bemerkenswert erscheint. Die
Herkunft dieses Zahnes aus der paläolithischen
Kulturschicht kann demnach auch als sicher
gelten. Seh Hz ist der Ansicht, daß die Zuge-
hörigkeit zu der paläolithischen Fundschicht auch
noch durch einen Vergleich mit den Zähnen von
Krapina sichergestellt wird. Dieser zweite Zahn
befindet sich heute im Germanischen Museum in
Jena. Nach A. Nehring ist es der erste Molar
aus der linken Unterkieferhälfte eines Erwachsenen
mit langer und breiter Zahnkrone, mit fünfhock-
riger , auch sonst stark gefalteter Kaufläche,-
schwacher Kreuzfurche und besonderer Entwick-
lung des vorderen labialen Höckers. Nehring
findet diesen komplizierten Bau pithekoid.^)
') Nicht 1S78, wie L. Pfeiffer a.a.O. angibt.
^) Zuletzt hat A. Schliz in dem großzügig angelegten
Werke von R. R. Schmidt, die diluviale Vorzeit Deutsch-
lands, igi2 S. 238, darüber gehandelt; dort findet sich auch
die ältere Literatur zusammengestellt.
^) Pfeiffer irrt sich, wenn er in seinem Aufsatz ,,Das
Zerlegen der Jagdtiere usw." S. g schreibt, pithekoide Merk-
male wären an diesem Zahn nach Nehring's Untersuchung
nicht vorhanden. Vgl. A. Nehring, Über einen mensch-
lichen Molar aus dem Diluvium von Taubach bei Weimar
790
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. SO
Die beiden Zähne bilden unter den l'undcn
von Taubach nicht nur höchst interessante, son-
dern auch höchst bedeutsame Objekte. Beide
Zähne gehören zu den ältesten Menschenresten,
welche bisher aus Europa bekannt geworden
sind. Sie beweisen nicht nur die Existenz des
Menschen für die betreffende P'undschicht, sondern
der erste Zahn läßt auch einige Kigentümlich-
keiten des Milchgebisses des betreffenden In-
dividuums erkennen, aus denen Vermutungen über
die Lebensweise bzw. Nahrung der diluvialen Be-
wohner Deutschlands sich ergeben.
Im Sommer 1908') wurden inEhringsdorf
ca. 15m tief im Tuffsteinfelsen Reste vom Seiten-
wandbein des diluvialen Menschen aufgefunden;
diese Reste sind aber so dürftig, daß eine nähere
Beschreibung unmöglich ist.
L. Pfeiffer hat für diese letzteren Stücke
die Frage des Kannibalismus aufgeworfen.'-) Die
Vorkommnisse an anderen gleichaltrigen Wohn-
plätzen (z. B. Krapina in Kroatien, h^urfooz in
Belgien) sprechen ja dafür, daß in bestimmten
Fällen der Nebenmensch vom Jäger ebenso be-
handelt worden ist, wie die Jagdtiere. Die bis-
her vorliegenden Thüringer Fundstücke
sagen jedoch in dieser Beziehung gar
nichts aus. Das Zusammenvorkommen von
zerschlagenen Tierknochen und ähnlich beschaffenen
Knochenresten des Menschen besagt nichts, und
einen Analogieschluß aus den mährischen und
belgischen, einwandfrei festgestellten Ergebnissen
halte ich nicht für berechtigt. Ich halte
die Frage, ob der Diluvialjäger in Thüringen,
ebenso wie der Diluvialjäger in I-Vankreich, Belgien
und Mähren ein Kannibale war, aus Mangel
an Funden überhaupt noch nicht diskutierbar.
Die Hoffnung, in den ausgedehnten Brand-
schichten von Ehringsdorf, inmitten des
harten Tufffelsens weitere menschliche .Skelett-
reste oder etwa gar ein gut erhaltenes Skelett zu
finden, war sehr gering. Die Ciiara-Tuffsande, in
welchen in Taubach die vielen Tierknochen sich
gut konserviert haben, sind dort abgebaut und
fehlen in Ehringsdorf fast gänzlich. Nun erfuhren
wir plötzlich durch Zeitungsnachrichten, daß am
8. Mai 1914 ein Sprengschuß in dem Steinbruch
der Herren Haubold und Kämpe die leisen
Hoffnungen, die vielleicht der eine oder der
andere noch gehabt hatte, in ungeahnter Weise
doch noch erfüllt hat. Durch den Sprengschuß
wurden die Teile eines Unterkiefers bloßgelegt I
Von dem Funde gibt jetzt der Straßburger
Verhandlungen der Berliner anthropologischen Gesellschaft
'895. S. 573 ff.
') Nicht wie Schliz a. a. O. S. 239 angibt, igog.
') L. Pfeiffer, Das Zerlegen der Jagdtiere. Korre-
spondenzblätter des allgemeinen ärztlichen Vereins von Thü-
ringen. Weimar igio. S. g.
Anatom, Prof. Schwalbe, in den ,, Korrespon-
denzblättern des allgemeinen ärztlichen Vereins
von Thüringen" eine vorläufige Beschreibung.
Gefunden wurde der Unterkiefer in einer Tiefe
von 11,90 m unterhalb der natürlichen Ober-
fläche, innerhalb einer Schicht von pulvrigem
Travertin, die 2,go m unterhalb der sogenannten
,, Pariser" Schicht der Steinbruchwand gelegen ist.
2,6 m unterhalb der h'undschicht ruhen die Kalk-
werksteinbänke auf Kies. Zusammen mit dem
Unterkiefer fand man zahlreiche tierische Knochen-
reste, die als dem Hirsch, Pferd und Rhinozeros
Merckii zugehörig erkannt wurden. Besonders
ein Rhinozerosfuß war gut erhalten. Auch ein
Hinterhauptsbein von diesem und Knochen von
Höhlenbären kamen zum Vorschein, ferner leicht
angekohlte Knochen, Holzkohlenreste und zahl-
reiche .Artefakte aus P'euerstein, darunter eine
schöne, auf beiden Längskanten retuschierte
Spitze und mehrere Schaber mit bearbeiteter
Kante. Der Sprengschuß hatte den Unterkiefer
zum Teil verletzt; es sind aber beide Hälften im
Zusammenhang geblieben, der sich durch die im
umschließenden Tuff gefundenen Bruchstücke
weiter ergänzen ließ. Alle Merkmale deuten
darauf hin, daß es sich um den Rest einer aller-
früliesten Menschenart handelt, des Homo primi-
genius oder Neanderthalensis, innerhalb dessen
V'ariationsgebiet unser Rest eine der tiefsten
Stellen einnimmt.
Dieser neueste Weimarer P'und, der wie die
Hauptmasse der bisherigen Pfunde dem Mousterien
angehören dürfte, — d. h. dem eiszeitlichen
Zeitalter, das nach Boule im engeren Sinne
als das des Neandertalmenschen zu bezeichnen ist
— gestattet uns festzustellen , zu welcher Rasse
die diluvialen Bewohner Thüringens gehörten.
Wir können aus diesem neuen P'unde ersehen,
daß die Neandertalrasse wenigstens in Taubach
vertreten war. Ob die anderen diluvialen Rassen
auch irgendwie in Thüringen vertreten waren,
darüber können wir z. Z. noch kein Urteil ab-
geben. Jedenfalls bedeutet die Auffindung dieses
neuen Fundstückes eine wesentliche Bereicherung
unserer Kenntnisse der anthropologischen und
vorgeschichtlichen Verhältnisse Thüringens. Unsere
gesamte Wissenschaft vom vorgeschichtlichen
Menschen, vor allem aber die thüringische Vor-
geschichtsforschung, ist zu diesem hochinteressanten
und wissenschaftlich die größte Bedeutung be-
sitzenden neuen Pfunde herzlichst zu beglück-
wünschen; vergessen dürfen wir dabei vor allem
nicht das emsig in die Höhe strebende Städtische
Museum in Weimar, dem, wie wir hören, es ge-
lungen sein soll, diesen kostbaren Schatz zu er-
werben. Hoffentlich wird der Fund bald in einer
seiner wissenschaftlichen Bedeutung entsprechen-
den, würdigen Publikation ausführlich bekannt
gegeben.
N. F. XIII. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
791
Einzelberichte.
Physik. Das Röntgenspektrum des Platins
behandelt eine Arbeit von H. Seemann (Wiirz-
burg) in der Physikalischen Zeitschrift XV (1914)
Seite 794 — 797. Das S(iekirum ist nach dem
schon mehrfach in dieser Zeitschrift beschriebenen
und erwähnten X'erfahren M erhalten, das die
streifend auf eine ebene Kristallplatte auffallenden
und von ihr reflektierten Strahlen benutzt. Bei
weitem die besten Erfolge erhielt man bei Be-
nutzung einer Steinsalzpiattc. Neu an den Ver-
suchen ist zweierlei : Zunächst wurde eine Röntgen-
röhre-) (Antikathode aus Platin) mit Lithium-
glasfenster verwendet. Die Atomgewichte
der Komponenten des Lithiumglases sind: Lithium
= 7, Bor =11, Beryllium = 9, die des gewöhn-
lichen Glases: Kalzium = 40, Kalium = 39,
Natrium = 23, Silizium = 28. Sauerstoft' ist
beiden gemeinsam. Infolge der niedrigen Atom-
gewichte gehen die Röntgenstrahlen unter sehr
geringen Verlusten durch das Lithiumglas hin-
durch. Zweitens war der Spalt sehr eng, so
daß die Aufnahme sich durch außerordentliche
Schärfe der Linien und beträchtliches Auflösungs-
vermögen vor allen bisher gemachten auszeichnet.
Der 0,1 bis 0,03 mm wehe Spalt stand dicht
vor dem p-enster, 6 cm von ihm entfernt auf dem
Spektrometertisch der Kristall. 10 cm von diesem
war an einem mit dem Tisch festverbundenen
Arm die photographische Platte angebracht. Aus
dem Spalt trat ein i V, " breites divergentes
Strahlenbündel heraus und entwarf einen ent-
sprechend breiten Teil des Gitterspektrums auf
der Platte. Jetzt wurde der Einfallswinkel etwas
vergrößert und der benachbarte Teil des Spektrum
(wieder i '/j " breit) auf einer zweiten Platte fest-
gehalten usf. Auf diese Weise setzte sich das
ganze Spektrum aus einer Reihe von Teilauf-
nahmen zusammen, die kopiert, nebeneinander
geklebt und dann von neuem vergrößert photo-
graphiert wurden. Auf dieser so erhaltenen Auf-
nahme sind zwischen 4,5" und 17" eine ganze
Reihe von scharfen Linien von verschiedener
Helligkeit enthalten, von denen die hellsten bei
10", 11,5 ** und 13,9" liegen. Die Versuche zeigen,
daß die von verschiedenen Autoren gemessenen
breiten kontinuierlichen Banden des
P 1 a t i n r ö n t ge n s p e k t r u m s aus einer
großen Anzahl Linien bestehen.
K. Schutt, Hamburg.
Zoologie. Einen neuen Beitrag über die Ge-
schlechtsverteilung beladen Fischen liefert die von
Dr. G. Surbeck über den Laichfischfang im
Kanton Bern pro 1913 14 gegebene Statistik.-')
Die Fische wurden gefangen, ohne daß dabei
eine Auswahl nach den Geschlechtern hätte statt-
finden können.
') N. W. 1914 Seite 437—440 u. 490.
'} Von der Firma C. H. F. Müller, Hamburg.
') Schweizerische Fischerzeitung Nr. 9, September 1914.
In der Aare, ohne ihre Zuflüsse, wurden 3440
Bachforellen (Trutta fario L.) gefangen. Da-
von waren 3033 Stück, oder 88,17 »/g Männchen
und nur 407, oder 11,83",,, VVeibchen.
In den Zuflüssen der Aare allein war das
Verhältnis 68,67 ",„ Männchen und 31,33";',, Weib-
chen. Im ganzen Aaregebiet (Fluß und Zuflüsse)
wurden gefangen 19,526 Männchen = 70,91 "/,,
und 8,008 Weibchen = 29,0970-
Der Verfasser glaubt, daß in der Aare dieses
Mißverhältnis zum Teil auf den umstand zurück-
zuführen sei, daß sich bei der künstlichen Fisch-
zucht die Übung eingebürgert habe die kleinsten
Milcher (Männchen) zur Gewinnung des Spermas
auszulesen, weil angeblich letzteres dann für die
Befruchtung besser sei, als dasjenige von alten
Fischen und dieses Verfahren geradezu eine fisch-
züchterische Regel geworden sei. Ob die Ur-
sache der Erscheinung allein dort zu suchen ist,
scheint zweifelhaft, denn mit dieser künstlichen
Auslese durch die Züchter hat das Durchschnitts-
gewicht der gefangenen Forellen nichts zu
tun und doch nimmt der Verfasser an , daß in
der Aare das gefangene Weibchen durchschnittlich
rund 500 Gramm und das Männchen nur rund
200 g gewogen haben. Es würde demnach in
der Aare geradezu an alten Männchen fehlen.
Dagegen scheint es aber damit doch seine
Richtigkeit zu haben , daß das Mißverhältnis
zwischen dem Gewicht bzw. dem Alter der
Männchen und Weibchen auch ein solches in der
Verteilung der Geschlechter bei der Nachkommen-
schaft begünstigt. Das Durchschnittsgewicht aller
(Männchen und Weibchen) im Aaregebiet ge-
fangenen Forellen betrug:
Aare allein 240 g,
Zuflüsse allein 132 g,
^ Gesamtes .^aregebiet 1 50 g.
In den Zuflü'^sen, wo der Unterschied zwischen
dem Gewicht der Männchen und Weibchen kein
so großer war, war auch die Sexualitätsziffer
(Zahl der Männchen auf 100 Weibchen) eine
günstigere, als in der Aare selbst.
Aeschen (Thymulus vulgaris Nils.) wurden
1686 Stück gefangen. Davon waren:
Männchen : 1059 Stück, od. 62,8 1 "/o d. Gesamtfanges,
Weibchen: 627 „ „ 37,19 „ „
Felchen (Coregonus dispersus alpinus Fatio
und Coregonus balleus helveticus Fatio) wurden im
Brienzersee 720 Stück gefangen. Es waren
dies:
Männchen: 5 54 Stück, oder 76,94 ",„ der Gesamtzahl,
Weibchen: 166 „ ,, 23,06 „ ,, „
Im Thunersee wurden 10524 Stück ge-
fangen. Hiervon waren:
Männchen : 7295 Stück, od. 69,32 " ^ d. Gesamtfanges,
Weibchen : 3229 „ „ 30,68 „ ,.
Im Bielersee wurden ebenfalls P^elchen
(Baichen) gefangen. Es handelt sich um den
792
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 50
Coregonus balleus palea Fatio. Die er-
beuteten 1592 Stück verteihen sich auf:
Männchen : 86 1 Stück, oder 54,oS " /„ der Gesamtzahl,
Weibchen: 731 ,, ,, 45,92 ,, ,, ,,
Dieses günstige Verliältnis entspricht annähernd
dem schon früher für den Bielersee festgestellten.
Von dem Fang der Blau fe lohen (Coregonus
wartmanni Bloch) im Bodensee während der
Laichzeit 1913 ('25. November — 21. Dezember 1913)
zum Zwecke der Gewinnung von Brutmaterial
berichtet an gleicher Stelle derselbe Verfasser.
Nach seinen Angaben wurden gefangen:
Baden: 23925 Stück und zwar Männchen 18780 St.
= 78,49"/,,, Weibchen 5145 St. = 21,51%,.
Bayern: 1190 Stück und zwar Männchen 854 St.
= 71,80"/,,, Weibchen 33(1 St. = 28,20 "'„.
Schweiz: 42 392 Stück und zwar Männchen 3 ^410 St.
=^ 78,81 ",„, Weibchen S982 St. = 21,19 "^,.
Württemberg: 2021 5 St. u. zwar Männchen i623oSt.
= 80,29»/,,, Weibchen 3985 St. = 19,71"/,,.
Total : 87 722 Stück und zwar Männchen 69274 St.
= 78.97%. Weibchen 18448 St. =^ 21,03 "'„.
Die Sexualziffer betrug demnach im Jahre 1913
375,4, während sie im Jahre 1911 weit ungünstiger
war, indem sie 528,9 betrug.
Nach diesen Feststellungen überwiegt im all-
gemeinen bei den Süßwasserfischen die Zahl der
Männchen diejenige der Weibchen ganz erheblich.
Alb. Heß.
Geologie. I'ber Militärgeologie hat der
Hauptmann z. D. W. Kranz nicht lange vor dem
Kriege eine Abhandlung veröffentlicht, deren
Inhalt jetzt viele interessieren wird.') Kranz
betont in seiner Arbeit, daß man in militärischen
Kreisen der Geologie bisher nicht genügendes
Interesse gezeigt habe. Er sucht ausfüiirlich zu
beweisen, wie großer Nutzen dem Soldaten aus
geologischen Kenntnissen erwachsen könnte.
Daß Kranz nicht unrecht hat, ist uns durch
den gegenwärtigen Krieg schon mehrmals klar
geworden. Es seien nur zwei Beispiele heraus-
gegriffen. Einmal erfuhren wir zu unserem Leid-
wesen, wie unsere Soldaten es aufgeben mußten,
einen Schützengraben anzulegen, weil sie un-
vermutet in Kalkstein geraten waren. Ein
andermal wurde es uns zum Glück, daß sich die
russische Heeresleitung über das von Mooren
durchsetzte, unwegsame Gelände der Masurischen
Seen erst zu spät klar wurde. So konnten denn
92000 Gefangene gemacht werden.
Kranz weist daraufhin, daß die furchtbare
Wirkung der modernen Waffen mehr denn je
zur Anpassung an das Gelände zivinge. Dies be-
wirkt, daß der Boden einen immer bedeutender
werdenden Einfluß auf den .Ausgang der Schlacht
gewinnt. Wer den Boden am besten auszunutzen
versteht, hat bedeutende Vorteile. So kann denn
der Soldat der Lehre vom Erdboden, der Geologie
nicht mehr gleichgültig gegenüberstehen.
') W. Kranz, Hauptmann z. L>. , M i 1 i t ä r g e ol o gi e,
,, Kriegstechnische Zeitschrift" 1913.
Zunächst kommt die Feldbefestigung in
Frage. Jemand, der die geologische Karte zu
lesen versteht, wird leicht voraussagen können,
in welchem Maßstabe und in welcher Art sich
solche Befestigungen an einer bestimmten Stelle
anbringen lassen. Wie wichtig dürfte es z. B.
sein, im voraus zu wissen, ob man eine Stellung
im harten Korallenkalk oder im weichen Grave-
lottemergel einnehmen wird. Es wird rechtzeitig
dafür gesorgt werden können, daß im schwierigeren
Falle geeignetes Schanzzeug vorhanden ist wie
schwere Kreuzhacken, mehr Spaten, Sandsäcke
u. dgl. F'erner kann man von vornherein damit
rechnen, daß die Herstellung der Deckung in
dem einen Fall 5 — 10 mal so lange dauert als
in dem anderen. — Weiter kann die Notwendigkeit
eintreten, da wo verschiedene Stellungen mög-
lich sind, die nicht nur taktisch sondern auch
geologisch vorteilhaftere herauszusuchen. Die
geologische Karte wird zeigen, wo die leichteste
Bodenart vorhanden ist. Dort ist aber vielleicht
gerade eine taktisch sehr ungünstige Stelle, und
so ist es denn angebracht, taktisch bessere Ge-
lände zu beaugenscheinigen, die zunächst geolo-
gisch nicht so günstig scheinen. Finden sich
doch gelegentlich selbst auf felsigem Untergrund
Lehmdecken, in denen sich Annäherungsgräben
leicht und schnell vortreiben lassen. Ist dies nicht
der F"all, dann weiß man eben, daß unbedingt
künstliche Deckungen mitgenommen werden
müssen, wenn man nicht — z. B. vor einer befestig-
ten Stellung — über Nacht aus dem harten Fels
eine hinreichende Deckung herausarbeiten kann.
Kranz betont immer wieder, daß es gar nicht
so leicht sei, die militärgeologisch wichtigen Eigen-
schaften eines Untergrundes in allen Fällen zu
ermitteln und möglichst gut auszunutzen. Selbst
der Geologe bedürfe dazu eingehender Vorberei-
tungen. Allerdings, wenn man sich \ergegen-
wärtigt , daß die Erläuterungen der geologischen
Karten nicht so ohne weiteres von jedermann
verstanden werden können, dann erscheint einem
die Forderung von Kranz, in Zukimft besondere
Militärgeologen ausbilden zu lassen , durchaus be-
gründet.
Eine ganz besonders große Rolle spielen die
Erdarbeiten beim Festungskrieg. Wird doch
eine Festung heutzutage durch mühevolles Heran-
arbeiten mittels tiefer Schützengräben gewonnen.
Je hartnäckiger also der Widerstand, desto größer
der Einfluß der .Arbeiten unter der Erde. Geo-
logische Kenntnisse aber sind imstande, diese
.Arbeiten „unter der Erde" ganz bedeutend abzu-
kürzen. Kranz sagt aus diesem Grunde, daß
man eigentlich jedem Angriffsentwurf, den man
einer F"estung widme, umfangreiches Material an
geologischen Karten und Notizen beifügen müsse
und zwar schon in Friedenszeiten.
Auch dem Nutzen, den geologische Ermitt-
lungen dem Festungsbau gewähren, widmet
Kranz ein kleines Kapitel , auf das aber hier
nicht näher eingegangen sei. Weiter spricht er
N. F. XIII. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
793
über das z.ukünftige Geologenpersonal des Militärs
sowie über dessen Ausbildung, Organisierung usw.
Nichtsoldaten, so meint er, seien als Militärgeo-
logen nur ein Notbehelf, solange es an geeigneten
Kräften im Heere selbst fehle. Niemals werden
sie genau wissen, worauf es dem Soldaten eigent-
lich ankommt.
Anders steht es allerdings im Kriege. Da
können die erforderlichen Militärgeologenstellen
von vielen Reserve- und Landwehroffizieren besetzt
werden, die in ihrem Beruf Geologen und Berg-
leute sind. Daher werden also in dem gegen-
wärtigen Kriege die notwendigsten Militärgeologen
sicherlich bei der Arbeit sein.
R. Potonie (Lichterfelde).
Experimentelle Physiologie. Die Abhängig-
keit der Hautfarbe von der Färbung der Um-
gebung, besonders des Untergrunds bei Fischen,
ergibt sich aus Versuchen vonO. Haempel und
B. Kolmer mit Pfrillen (Phoxinus laevis Ag.)
und Koppen (Cottus gobio L.). (Ein Beitrag zur
Helligkeits- und Farbenanpassung bei Fischen.
Biologisches Centralblatt XXXIV. Bd. 1914.)
Bei der Pfrille trat ebenso wie bei den Ver-
suchen von V. Frisch nach Zerstörung beider
Augen Dunkelfärbung des ganzen Körpers nach
kurzer Zeit (45 Min.) ein. Einseitige Blendung
dagegen hatte diese E"olge nicht. BeiderKopiie
zeigte sich dieselbe Erscheinung, sie war nur auf-
fallender. Die aus dem Dunkeln in diffuses Tages-
licht gebrachten Fische waren zunächst fast kohl-
schwarz; nach einer halben Minute, im Sonnen-
licht noch rascher, kam infolge des Zusammen-
ballens des Pigments die marmorierte Zeichnung
deutlich zum Ausdruck. Wurden die Tiere wieder
ins Dunkle gebracht, trat, nur etwas langsamer,
wieder die Verdunklung ein. Beiderseitige Zer-
störung des Bulbus hat eine mäßige Dunkler-
färbung nach einer Stunde zur Folge; einseitige
Blendung dagegen nur eine rasch vorübergehende.
In beiden Fällen aber fand nach längerer oder
kürzerer Zeit eine Aufhellung im Licht statt.
Interessante Ergebnisse hatten Versuche, bei
denen die Tiere sich in einfarbiger roter oder
gelber L^mgebung befanden. Die Beleuchtung
rührte von einer Projektionslampe her, deren
Licht durch einen Spektralapparat zerlegt wurde
und außerdem Farbfilter passiert hatte. Hering-
sche PVbpapiere umkleideten die Wände der
Wanne, so daß die ganze Umgebung des Tieres
rein rot bzw. gelb war.
Die bei den Versuchen verwendeten Pfrillen
stammten aus der Donau, Isar und Wurm. Wäh-
rend nun bei den beiden ersteren auf gelbem
Untergrund nur eine Aufhellung und deutliche
Gelbfärbung eintrat, stellte sich bei letzteren eine
auffallende Rotfärbung an Mund-, Bauch- und
Flossenregion ein. Vielleicht erklären sich daraus
Widersprüche in den Befunden von v. Heß und
v. Frisch. Die Rotfärbung hängt wahrschein-
lich mit dem roten L'ntergrund der Gewässer im
Würmgebiet zusammen.
Bei den Koppen trat nur ein Unterschied
insofern ein, als die Farbe infolge wechselnder
Ausbreitung oder Konzentration des schwarzen
Pigments dunkler oder heller erschien.
Katharincr.
Chemie. Über die Absorption des Stickstofifs
durch Calcium bringt Richard Brandt in der
Zeilschrift für angewandte Chemie (27. 54) eine
vorläufige Mitteilung.
Entgegen Literaturangaben fand Verf., daß
metallisches Calcium nicht nur in fein zerteiltem
Zustand, sondern auch in kompakter Form (3 — 5 g)
quantitativ verhältnismäßig schnell in Nitrid über-
zuführen ist, wenn man es bei 4C0 — 500" in einer
Stickstoffatmosphäre erhitzt. Dabei dringt der
Stickstoff auch durch eine dicke Nitridschicht bis
ins Innere des Metalls hinein. Ein Calciumstück
von 2,187 § absorbierte z. B. 406,7 ccm Stick-
^^°^ 760 mm = 23,1 Gew. "/y. Die Formel CaaN.,
verlangt 23,3 Gew.- "/„. Die gewonnenen Produkte
enthielten 99,8 bzw. 98,9 ",„ Calciumnitrid.
Die äußere Form des Metalls bleibt bei der
Überführung in Nitrid vollkommen erhalten. Das
Nitrid selbst läßt sich mit Meißel und Hammer
spalten und zu einem kastanienbraunen Pulver
zerreiben. Die Geschwindigkeit der Stickstoff-
absorption ist unter 300° praktisch gleich Null,
besitzt von 300—650" beträchtliche Werte, ist
von 650 - 800" wieder Null und steigt dann ober-
halb des Calciumschmelzpunktes (790 — 810") wie-
der beträchtlich. Das Maximum liegt bei etwa
440". Otto Bürger.
Ein neues organisches Radikal mit vier-
wertigem Stickstoff beschreiben in den Be-
richten d. Deutschen Chem. Ges. (47, 21 1 1) Hein-
rich Wieland und Moritz Offenbacher.
Dieser interessante Körper, das Diphenyl-
stickstoffoxyd, wurde aus Diphenylhydroxylamin
in ätherischer Lösung durch P^inwirkung von
trockenem Silberoxyd in der Kälte erhalten:
(CßH.OoNOH —> (C,,HJ.,NO. Es handelt sich
also hier um ein Derivat des vierwertigen Stick-
stoffs; tatsächlich erinnert die neue Substanz auch
in ihren Eigenschaften sehr an ihr organisches
Vorbild, das Stickstoffdioxyd, NO,,. Diphenyl-
stickoxyd bildet glänzende tiefrote Nadeln, die bei
60 — 62" schmelzen und in Lösung ein charakte-
ristisches Bandenspektrum ähnlich dem des Stick-
stoffdioxyds geben. Seine Radikalnatur äußert
sich in einer ausgesprochenen Reaktionsfähigkeit
gegenüber allen möglichen Reagentien sowie in
der Leichtigkeit, mit der es sich mit anderen
Radikalen vereinigt. Seine labile Konstitution
kommt darin zum Ausdruck, daß es sich beim
Aufbewahren leicht zersetzt und nur einen Tag
haltbar ist. Mit konzentrierten Säuren reagiert es
äußerst heftig unter explosionsartigen Erschei-
794
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 50
nungen. Daß es innerhalb weiter Temperatur-
grenzen seinen Radikalzustand aufrecht erhält,
geht daraus hervor, daß man es bei — 60" aus
Äther auskristallisieren lassen kann, und daß seine
Lösungen auch bei starkem Abkühlen keine .Auf-
hellung der Farbe zeigen, wie es beim Stickstoff-
dioxyd der Fall ist. Bugge.
Anthropologie. Zur Anthropologie Groß-
britanniens. Die ersten Menschen, deren Spuren
in Britannien festzustellen sind, kamen in der
paläolithischen Zeit, über die damals noch be-
standene Landbrücke, als Jäger im Gefolge des
Renntieres und des Moschusochsen. Über die
köriierlichen Eigenarten dieser paläolithischen
Jäger weiß man nichts, denn sie haben nichts
hinterlassen als roh bearbeitete Werkzeuge und
Geräte aus Stein und Knochen. Auf den Knochen-
utensilien hatten sie Tierdarstellungen angebracht,
oft Jagdszenen , aus deren Ausführung man auf
Verwandtschaft mit den grönländischen Eskimo
geschlossen hat. Die nach der Eiszeit in der
Neolithperiode aufgetretenen Bewoiiner Britanniens
hatten feinpolierte Geräte und Waffen aus Stein.
Sie waren Hirten, und mit ihnen kam wahrschein-
lich nicht nur das Rind, sondern auch das Schaf,
die Ziege, das Schwein und der Haushund. Über-
reste des neolithischen Menschen sind besonders
häufig in den versunkenen Wäldern längs der
englischen Küsten sowie an den gehobenen
Strandterrassen von Schottland und Nord-Irland.
Doch auch sonst haben die neolithischen iMen-
schen Spuren ihrer Anwesenheit im Lande hinter-
lassen in Gestalt von Schnnzgräben, unterirdischen
Wohnräumen , und langen , mehr oder weniger
eiförmigen Grabhöhlen. Man weiß nun , daß
Stonehenge ein neolithischer Bau war, der wahr-
scheinlich dem Sternenkult diente. Die Kultur
dieser Neolithiker, sowie die vorgefundenen
Knochenreste weisen darauf hin, daß sie zu dem
mittelländischen Zweig der Menschheit gehört
haben, den man häufig auch den iberischen Zweig
nennt. Diese brünetten Langköpfe wurden erst
nach verhältnismäßig langer Zeit von blonden Lang-
köpfen, die von Osten und Südosten her ein-
drangen , nach den entlegenen , vom Kontinent
abgekehrten Landesteilen gedrängt, hauptsächlich
nach Irland, dem zentralen West-Schottland, Wales
und Cornwall. In den Ebenen Englands und Süd-
Schottlands finden sich überdies Reste einer alten
breitkopfigen Rasse, welche die Verwendung von
Bronze kannte und deren ganze Kultur auf einer
entschieden höheren Stufe stand als die der vor-
hin erwähnten „iberischen" Neolithiker. Diese
Menschen kamen vermutlich aus dem von Breit-
köpfen bewohnten Mitteleuropa über die heutigen
Niederlande nach Britannien; doch waren sie ge-
wiß nicht zahlreich, vielleicht bildeten sie nur
eine herrschende Bevöikerungsschicht.
In historischer Zeit kamen Angehörige ver-
schiedener fremder Völkerschaften nach den briti-
schen Inseln, manche nur als Kolonisten. Die
Herrschaft der Römer in Britannien , die vom
I. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis zu
Anfang des 5. Jahrhunderts u. Z. währte, übte auf
die Bevölkerungszusammensetzung des Landes
keinen dauernden Einfluß aus. Bald nach dem
Abzug der Römer, noch im 5. Jahrhundert, begann
das Eindringen germanischer Stämme, das von
großer Bedeutung für das fernere Schicksal
Britanniens war.
Von den germanischen Einwanderern kam ein
Teil (Normanen) aus dem südlichen Norwegen
nach NordschoUland und den vorgelagerten Inseln.
Aus Jütland kamen Einwanderer (Dänen und
Angeln) nach Ost-England und Süd- Schottland,
während vom linken Eibufer Sachsen nach Süd-
ost-England zogen. In allen diesen Gebieten
scheint aber die ansässig gewesene Bevölkerung
nicht ganz verdrängt oder vernichtet worden zu
sein, sondern es ist anzunehmen, daß sie sich zu
einem großen Teil erhielt und mit den einge-
drungenen Eroberern vermischte. Blondheit
herrscht heute am meisten vor in dem Gebiet
Ost Englands, das zwischen Themse und Tees ge-
legen ist. Brünettheit ist hingegen in West-
England am häufigsten, und zwar in den Graf-
schaften Wiltshire, Gloucestershire, Somersetshire
und Devon, wo die Unterwerfung der dunklen
britischen (oder keltischen) Einwohnerschaft durch
blonde Germanen wahrscheinlich mehr in fried-
licher Form erfolgte als im Osten, wo der heftigste
Zusammenstoß zwischen den alteingesessenen
Brünetten und den blonden Eroberern stattfand.
Inmitten des vorwiegend blonden Gebiets liegen
jedoch zwei dunkle Inseln: eine im westlichen
Bezirk von \'orkshire und die andere nordwest-
lich von London (bei Hertford und in den Chil-
tern-Hügeln).
Im Gebiete der langköpfigen brünetten
Bevölkerung hat sich zu einem guten Teile die
keltische Sprache erhalten. In Irland ist sie aller-
dings auf die westliclie Zentralregion zurückge-
drängt worden und in Cornwall ist sie bereits
ganz ausgestorben. Das Erse in Irland, das Manx
auf der Insel Man und das Gälisch der schotti-
schen Hochlande bilden eine keltische Dialekt-
gruppe, die stark abweicht von dem Kymrischen
in Wales, dem Bretonischen der Bretagne und
dem alten C'ornischen in Cornwall, die als Brytho-
nische Dialektgruppe zusammengefaßt werden.
Die Dialekte, welche die blonden germanischen
Einwanderer mit sich brachten, haben sich nicht
weiter differenziert, wie es bei den keltischen
Dialekten wohl der Fall war, sondern sie haben
sich einander mehr und mehr genähert und die
einheitliche englische Sprache gebildet. Die Na-
men der Flüsse und die meisten anderen auf die
Bodengestaltung bezüglichen Namen sind in ganz
Britannien keltisch. Die Dorfnamen sind keltisch
in ganz Irland, in Wales, in der an Wales gren-
zenden Zone Englands, in den schottischen Hoch-
landen und der Landschaft Buchan (nördlich von
.Aberdeen).
N. F. XIII. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
795
In der Gegenwart vollzielit sich eine Mischung
des blonden Typus des ( Ostens mit dem brünetten
Typus des Westens, da die industrielle Entwick-
lung des Landes Menschen aus allen Gebieten
durcheinanderbringt. Deshalb kann man erwarten,
daß in kürzester Zeit auch die jetzt bestehenden
geringen Unterschiede in der körperlichen Er-
scheinung der Bevölkerung Britanniens verschwun-
den sein werden. H- Fehlinger.
Einseitige Schädigung von
Rauchgase. Im Anschluß an das Referat von
F. W. Neger über „Neuere Ergebnisse und
Streitfragen der Rauchschadenforschung" möchte
ich hier die Aufmerksamkeit auf einen eigenartigen
Fall der Sciiädigung von Bäumen durch Rauch-
gase und Dämpfe lenken, auf die einseitige
Schädigung der Bäume.
Kleinere Mitteilungen
Bäumen durch
stehen. Schwieriger zu beantworten ist die Frage,
wodurch dieser Schutz bedingt ist. L'm eine
rein mechanische Schirmwirkung, an die man zu-
nächst denken könnte, dürfte es sich vielleicht
nicht einmal in erster Linie handeln. Vielmehr
werden hier wohl auch die Benetzungsverhältnisse
eine gewisse Rolle spielen; sei es, daß der Regen
schon die schädigenden Gase (besonders SO.,) ge-
löst enthält oder, was wahrscheinlicher ist, daß
diese Gase an den stark benetzten Blättern ab-
sorbiert werden und so ihre schädigende Wirkung
entfalten können. Auch im vorliegenden Fall ist
es gerade die Regenseite, die den Fabriken zuge-
wandt ist. W. Wenz (Frankfurt a. M.).
Die Landstraße, die längs des Maines von
Schwanheim nach Niederrad — Frankfurt a. M.
führt, wird in der Nähe des ersteren Ortes beider-
seits von Obstbäumen eingefaßt. Gegenüber, auf
dem anderen Ufer des Flusses befinden sich die
chemischen Fabriken von Griesheim a. M. Die
Obstbäume bieten nun ein ganz eigenartiges Bild.
Während die den Fabriken zugewandte Seite fast
völlig entblättert ist und nur die kahlen Aste
zeigt, ist die andere noch dicht belaubt (vgl. Fig.).
Jüngere und ältere Bäume zeigen genau dieselbe
Erscheinung.
Offenbar übt die eine Seite des Baumes, die
am meisten zu leiden hat, eine Art Schirmwirkung
gegen die andringenden Dämpfe zugunsten der
anderen Seite aus; beobachtet man doch diese
schirmende Wirkung in noch höherem Maße bei
Bäumen, die dicht hinter Häusern oder Mauern
Etwas von der Zelluloidindustrie. Das Geburts-
jahr der Zelluloidindustrie ist das Jahr 1868. Ihr
Umsatz, allein in Deutschland, betrug im Jahre
1906 80 Millionen Mark, eine Zahl, die es wohl
rechtfertigt, dieser Körperklasse einige Zeilen zu
widmen.
Die Zelluloidkörper gehören in das Gebiet der
Kunststoffe. Unter Zelluloidindustrie verstehen
wir die Fabrikation von Massen, die als Hörn-,
Elfenbein-, Bernstein-, Schildpattersatz u. dgl.
mehr Verwendung finden. Da die ganze Körper-
klasse von dem Zelluloid ihren Namen erhalten
hat, wollen wir von diesem Stoffe ausgehen. ')
Zelluloid ist chemisch eine innige Mischung
von Nitrozellulose mit Kampfer. VVährend die
Nitrozellulose allein sehr spröde ist, verliert sie in
dem Gemisch ihren Charakter; das Zelluloid ist
bei gewöhnlicher Temperatur hornartig fest, aber
dennoch sehr elastisch, bei erhöhter Temperatur
plastisch und formbar und nimmt dann bei ge-
wöhnlicher Temperatur wieder die alte Härte an.
Diesen Prozeß können wir mit dem Zelluloid be-
liebig oft wiederholen.
Zelluloid ist nicht das erste Produkt, welches
durch Versuche erhalten wurde, um aus Nitro-
zellulose eine Masse herzustellen, die in obiger
Richtung verwendet werden konnte. Spill und
Parkes versuchten schon das Kollodium durch
Rizinusölzusätze zu einer geschmeidigeren Masse
zu machen. Später verwendete man Zusätze, die
sich im Laufe des Verfahrens nur zum Teil ver-
flüchtigten, wie Amylalkohol. Bei der \'erwen-
dung des Zelluloids stellten sich allmählich Un-
annehmlichkeiten heraus, die dazu führten, sich
nach Ersatzstoffen umzusehen; der Kampfer war
') Zeitschrift f. angew. Chemie 79, 26.
796
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 50
nämUch früher sehr teuer und außerdem war das
Zelhiloid sehr feuergcfährhch.
Wenn wir in dem Zelluloid einen oder beide
Bestandteile ersetzen, so erhalten wir verschiedene
Wege zur Darstellung neuer Produkte. Als Ersatz
für Nitrozellulose kommen nur andere Zellulose-
ester in hVage, besonders die Azetylzellulosen.
Für diese Stoffe ist jedoch der Kampfer kein
Lösungsmittel und man hat überhaupt keinen
anderen Stoft' gefunden, der auf diese Ester so
wirkt, wie Kampfer auf Nitrozellulose. Erst die
durch Hydrolyse entstehenden hydrolysiertcn Ester
geben nach M il es mit Kampfer plastische Massen.
Wir bezeichnen auf diese Weise entstehende
Körper, welche die Eigenschaften der Zellulose
besitzen, als „zelluloidartige Körper".
Auch den Kampfer hat man durch weich-
machende Zusätze bzw. durch hochsiedende
Lösungsmittel zu ersetzen gesucht. Diese Stoffe
hatten aber nicht die Wirkung auf Nitrozellulose,
wie sie Kampfer auf diesen Ester ausübt. Wir
können solche weichmachenden Stoffe lediglich
als .,Weichmachungsmittel" ansehen; man erhält
jedoch so kein Zelluloid bzw. keine zelluloidartige
Masse, weil ihr die Plastizität in der Wärme fehlt,
es resultiert vielmehr eine „kollodiumartige Masse".
Nur diejenigen Körper, welche Kampfer bei Nitro-
zellulose oder bei einem anderen Zelluloseester
gleichartig zu ersetzen vermögen, d. h. sie zu
plastischen Massen überfüliren , dürfen wir als
Kampferersatzmittel und die Produkte selbst als
,, zelluloidartige Massen" bezeichnen.
Andererseits hat man aber auch Massen her-
gestellt, die keinen Zelluloseester mehr enthalten,
die aber dennoch Zelluloid mehr oder weniger
ersetzen können. Hierher gehören Galalith — ein
durch Formaldehyd gehärtetes Kasempräi^arat —
und Bakelite — ein Kondensationsprodukt des
Formaldehyds mit Phenolen; außerdem kommen
hier noch die aus Gelatine hergestellten Massen,
sowie diejenigen aus Zellulosehydrat (Monit, Vis-
coid) in Frage. Da diese Körper keinen Zellulose-
ester enthalten, müssen wir sie als ,,Ersatz-
produkte des Zelluloids" oder als ,,zellu-
loidähnl iche Massen" bezeichnen.
Wir können somit das Gebiet der Zelluloid-
körper folgendermaßen einteilen :
zelluloidartig
Zelluloid'
^ zelluloidähnlich
(Zelluloidersatz)
Kollodium — koUodiuniartig.
Wir sind somit gezwungen, mehr als bisher
eine Unterscheidung zwischen den Körpern, die
wir seither als zelluloidartig bezeichnet haben,
eintreten zu lassen. Wir müssen den größten
Teil derselben als kollodiumartig ansehen.
Otto Bürger.
Hansen, Prof. Dr. Adolf, Repetitorium der
Botanik für Mediziner, Pharmazeuten,
Lehramtskanditalen und Studierende
der Forst- und Landwirtschaft. Mit
8 Tafeln und 41 Textabbild. 0- umgearbeitete
und erweiterte .Auflage. Gießen 1914, Alfr.
Töpelmann. — Preis geb. 4 Mk.
Es erübrigt sich fast, einem so allgemein be-
nutzten Buche, wie es das nunmehr in der 9. Auf-
lage vorliegende Hansen 'sehe Repetitorium ist,
noch ein Wort der Empfehlung mit auf den VVeg
zu geben. Wer eine zuverlässige Unterlage für
seine botanischen Repetitionen haben will, wird
in diesem Büchlein ein gutes Hilfsmittel kennen
lernen. Auf 88 Seiten wird die allgemeine Botanik
(.Anatomie, Morphologie, Phj'siologie) behandelt,
auf 112 ein Überblick über das System gegeben.
Der Verf hält sich aus didaktischen Gründen an
das einfachere Ei chl er'sche, fügt aber eine Ta-
belle der Familien nach dem Engler'schen
System bei. Den Schluß macht eine Aufzählung
der offizineilen Pflanzen. Miehe.
Bücherbesprechungen.
Das Gebiet
Soddy, Frederick., DieChemie derRadio-
e 1 e ni e n t e. Deutsch von Max I k 1 e, zweiter Teil :
Die Radioelemente und das Periodische Gesetz.
Leipzig, Verlag von Joh. Ambrosius Barth.
1914. — Preis 2 Mk., geb. 2,80 Mk.
der Radioaktivität ist, wie kaum
ein anderer Teil der naturwissenschaftlichen
Forschung, in stetem Fluß begriffen. Anschau-
ungen, die heute von Forschern in Form von
mehr oder weniger kühnen Hypothesen geäußert
werden, können morgen schon durch neues ex-
perimentelles Beweismaterial sichergestellt sein.
Der Forscher, der das Gebiet der radioaktiven
Erscheinungen in einem Buch zusammenfassend
darstellt, sieht sich daher schon oft nach kurzer
Zeit genötigt, den Fortschritten unserer Erkennt-
nis durch Ergänzungen, Erweiterungen und Um-
deutungen Rechnung zu tragen. Man könnte es daher
fast für wünschenswert halten, daß die schon sehr
angeschwollene Radiumliteratur, soweit sie die Zu-
sammenfassung unserer jeweiligen P>kenntnisse in
Buchform anbetrifft, in etwas weniger kurzen Zwi-
schenräumen bereichert würde. .Allerdings könnte
diesem Einwand entgegen gehalten werden, daß
bei der Wichtigkeit der F"ortschritte, die uns jedes
Jahr auf dem Gebiet der Radioaktivität bringt,
auch ein öfterer Überblick über das Erreichte Be-
dürfnis ist. Eine derartige Zusammenfassung ist
um so mehr willkommen, wenn sie, wie im vor-
liegenden F"alle, tatsächlich ein Stadium darstellt,
das durch einen gewissen Abschluß gekennzeichnet
zu sein scheint.
Das unübersehbare Gewirr neuer Radioelemente
N. F. XIII. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
797
und ihrer Beziehungen zueinander ist allmählich
übersichtlicher geworden. Durch die Forschungen
von Fleck, Russell, Fajans, Soddy und
anderen sind Regelmäßigkeiten erkannt worden,
die sich auf die Verschiebung der Plätze der Radio-
elemente im periodischen System bei der Aus-
stoßung eines a- oder /^-Teilchens beziehen.
Die Frage der Verzweigung radioaktiver Um-
wandlungsreihen ist wenigstens in großen Um-
rissen einer Klärung entgegen geführt worden.
Durch die Einführung des Begriffs der Isotopen
ist endlich eine Reduzierung der mehr als 30
radioaktiven Elemente auf etwa zehn Grundtypen
ermöglicht worden. Und den Beweis dafür, daß
die Forschung jetzt nicht mehr in dem Maße wie
früher in einer terra incognita arbeitet, liefert
die Tatsache, daß es nunmehr gelungen ist, die
bekannten radioaktiven Elemente in dem altbe-
währten periodischen System unterzubringen. Hier-
bei hat zwar die Mendelej eff'sche Anordnung
der Elemente eine etwas abgeänderte Form er-
halten, aber diese neue Änderung hat sich als
eine bedeutsame Fortentwicklung des primitiven
ursprünglichen Schemas erwiesen, die ein weit
größeres Tatsachengebiet umfaßt, neue Zusammen-
hänge befriedigend erklärt und gleichzeitig der
künftigen Forschung wichtige Leitlinien vorzeichnet.
Wer sich für diese bedeutsamen Fragen inter-
essiert, wird aus dem Buch von Soddy wertvolle
Anregungen empfangen. Es braucht nicht besonders
betont zu werden, daß der Verfasser, der selbst
als Pionier bei der Erschließung des neuen Gebiets
mitgeholfen hat, auch in diesem Buch sich als
Meister einer klaren, anziehenden Darstellungsweise
bewährt. Dr. Günther Bugge-Leipzig.
Ostwald, Wilhelm, Moderne Naturphilo-
sophie. I. Die Ordnungswissenschaften.
Leipzig 1914, Akademische Verlagsgesellschaft.
Der vorliegende stattliche Band gibt sich als
der erste Teil eines umfassenden, auf drei Teile
berechneten Gesamtwerkes, das der berühmte Verf
uns zwar nicht bestimmt verspricht, wohl aber
als eigenen Wunsch und Hoffnung in Aussicht stellt.
Wir können unsererseits nur der Hoffnung Aus-
druck verleihen, daß es Ostwald vergönnt sein
möge, das gesamte Werk in dem geplanten Um-
fange zur Ausführung zu bringen. Denn es
handelt sich um eine erweiterte, dem augenblick-
lichen Stande der Sache und Ostwald's aus-
gereiften Ideen darüber entsprechende Darstellung
des gesamten, von dem Verf. bereits früher, in den
„Vorlesungen über Naturphilosophie", behandelten
Gebietes. Der zweite Teil würde die energetischen,
der dritte die biologischen Wissenschaften zu
behandeln haben. Es ist keine Frage, daß ein
solches abgeschlossen vorliegendes Werk aus der
Feder des Mannes, dessen Namen unzertrennlich
mit der neueren naturphilosophischen Strömung
verknüpft ist, ein Knoten- und Durchgangspunkt
dieser ganzen Bewegung werden muß. Besonders
ein Problem wird dabei in den Vordergrund der
Betrachtung und Diskussion rücken, nämlich ob
resp. wieweit die „Naturphilosophie" von der
Naturwissenschaft einerseits, der Philosophie
andererseit als ein selbständiger Komplex abzu-
grenzen ist. Natürlich handelt es sich dabei um
etwas anderes als die bloße Aufstellung eines
gleichgültigen Schemas.
Der vorliegende Band ist echt ostwaldisch
und wird gleichermaßen Zustimmung und Be-
kämpfung erfahren, erstere von naturwissenschaft-
licher, letztere von eigentlich philosophischer
Seite. Denn es ist einmal so, daß das, was der
Verf hier bietet, doch eigentlich nur raffinierte,
d. h. gereinigte, möglichst auf ihre Elemente ge-
brachte Naturwissenschaft ist. Dabei wird ja
philosophisches Gebiet, z. B. das der Logik, be-
treten, und gewiß sind Ostwald's, ersichtlich
und auch nach seiner eigenen Angabe stark von
Mach beeinflußte Ausführungen in den betr.
Kapiteln scharfsinnig und lesenswert. Aber, wie
es wenigstens Referent scheint, hat die haupt-
sächliche und entscheidende Probe einer modernen
Naturphilosophie, die auf die Dauer lebenskräftig
sein will, an anderer Stelle zu erfolgen. Es wird
sich zuletzt immer um eine Auseinandersetzung
mit dem Kritizismus, mit Kant 's theoretischer
Philosophie handeln müssen, denn hier erst kommt
zur wirklichen Entscheidung, was das Denken einer-
seits, die Natur andererseits miteinander zu schaffen
haben. Hiervon findet sich nun in dem Werke,
soweit es vorliegt, gar nichts. In den wenigen
Stellen, an denen beiläufig von Kant und Kanti-
schen Anschauungen die Rede ist, liegen die Miß-
verständnisse — um kein stärkeres Wort zu ge-
brauchen — so offen zutage, daß man das Vorbei-
gehen gerade Ostwald's an dieser Aufgabe nur
begrüßen kann. Deshalb muß aber die Aufgabe
selbst doch in Angriff genommen werden. Referent
möchte bei dieser Gelegenheit auf das vortreff-
liche Buch Edmund König's: „Kant und
die Naturwissenschaft" (Braunschweig bei Vieweg
und Sohn, 1907) nachdrücklich hingewiesen haben.
Aus diesem inhaltreichen und nicht umfänglichen
Werk kann jeder Naturforscher lernen, worauf es
in dieser Materie ankommt.
Sieht man von der gekennzeichneten Unterlassung
ab, die ja aus Ostwald's Persönlichkeit, wie sie
einmal ist und genommen werden muß, wohlver-
ständlich ist, so kann man sich der klaren und
scharfsinnigen, nur bisweilen etwas breit gegebenen
Ausführungen des inhaltreichen Werkes desto un-
befangener erfreuen und den Wert vieler derselben
betonen. Findet der Philosoph nicht alles, was
er suchte, so dürfte umgekehrt der reine Natur-
wissenschaftler, der auch heute noch meist einem
kritiklosen Empirismus ergeben ist, in den Kapiteln
über Begriffsbilduiig, Gruppenbildung, der mög-
lichen Beziehungen zwischen solchen Gruppen,
ferner in den Zusammenstellungen und Be-
sprechungen der Axiome, die der Algebra und
der Geometrie zugrunde liegen, vieles finden, das
er bisher nicht ahnte oder doch in seiner Be-
798
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 50
deutung, auch für spezielle wissenschaftliche
Fragen und Untersuchungen, nicht gewürdigt hat.
In diesem Sinne ist das Studium des Werkes vor
allem den etwas älteren Semestern unsererStudieren-
den, die in den Lehrbüchern ihrer Disziplinen bereits
einigermaßen Bescheid wissen und also über ein
gewisses Maß positiver Kenntnisse verfügen, dringend
zu empfehlen.
Ein beiOstwald immer wieder, und so auch
in diesem Werke stark hervortretender Zug, der
offenbar für seine gesamte geistige Struktur sehr
maßgebend ist, ist seine Unduldsamkeit gegen
alles, was sich einer rein verstandesgemäßen,
nüchternen Aufteilung und Behandlung der Welt
widersetzt. Hier scheiden sich oftenbar die Geister,
und wenn Referent bekennen muß, in einer Welt,
die Ostwald's Ideale ohne Überschuß verkör-
perte, schlechtweg nicht leben zu mögen, so
werden sich andererseits Menschen finden, die
jene Ideale auch als die ihren anerkennen. Zu
jener Unduldsamkeit gehört, um ein hervor-
stechendes Beispiel zu geben, seine Mißachtung
der Sprache. VVo das Wort Sprache nur erwähnt
wird, kann man sicher sein, daß das unglückliche
Wesen einen Fußtritt bekommt. Wenn Ostwald
auch gelegentlich versichert, sein Zorn gelte nur
gewissen Schwächen der Sprache, soweit sie
wissenschaftlichen Zwecken diene, so scheint doch
immer wieder zwischen den Zeilen zu lesen, daß
Ostwald das ganze menschliche Dasein, ja das
Universum selber im Grunde lediglich als Material
für wissenschaftliche Untersuchungen und Klassifi-
kationen betrachtet. Oder doch mindestens, daß
diese alles andere an Wichtigkeit und Bedeutung
derart überwiegen, daß man wohl daran täte, alles,
was sich an und in der Welt überhaupt bestimmen
und einrichten läßt, nach naturwissenschaftlichen Be-
dürfnissen zu bestimmen und einzurichten. Solcher
geistiger Veranlagung gegenüber müssen alle aus
anderen menschlichen Bedürfnissen motivierten
Argumente notwendigerweise wirkungslos bleiben.
Wer sich nur in einem aufgeräumten Bureau wirklich
wohl fühlt, der wird die trauliche Unordnung
eines Wohnzimmers im Zustande seiner Benutzung
stets widerwärtig empfinden, und dem, der nur
den altfranzösischen Garten mit symmetrischen
Hecken, kugelförmig geschnittenen Bäumen und
dergleichen schätzt, wird ein Stück freigewachsene
Natur ein Gräuel sein, dem gegenüber er nur die
Hoffnung zu Hilfe rufen kann, alles dies wilde
Wesen werde von einer späteren und vernünftiger
gewordenen Menschheit ebenfalls hübsch ordentlich
beschnitten und in saubere Reihen und Gruppen
gestellt werden. Wir anderen aber wollen hoffen,
daß die strenge Wissenschaft und die unerschöpf-
liche Fülle des Lebens und der Welt noch anders
miteinander auszukommen wissen werden, als in-
dem die eine der anderen die Kehle abschneidet.
Was die Sprache angeht, so liegt das Korrektiv
Ostwald's Auffassung gegenüber darin, daß sie
außer den naturwissenschaftlichen noch einer
ziemlichen Anzahl anderer menschlicher Zwecke
zu dienen hat, von denen einige von wenigstens
gleicher Wichtigkeit sein dürften. Wenn nun
Ostwald anführen würde, es handele sich nur
darum, die Sprache nach streng logischen Grund-
sätzen zu reformieren und dergestalt aus einem zucht-
los aufgewachsenen Organismus einen sauberen
Mechanismus zu machen, was nicht nur der Natur-
wissenschaft, sondern allen anderen Disziplinen
gleichmäßig zugute kommen müßte, so liegt auch
hier wieder die Nichtberücksichtigung des Umstands
zugrunde, daß es Werte jenseits aller Wissenschaft
überhaupt gibt, Werte des täglichen Lebens, Werte
der Kunst, die ebenfalls die Sprache brauchen. Eine
konkrete Sprache, etwa die deutsche, kann aber
doch nur eine sein. — Wie nun der Dichter,
um Besonderes auszudrücken, in individueller Be-
handlung und Fortbildung diesem allgemeinen
Element den Stempel dichterischer, ja sogar per-
sönlicher Besonderheit aufzudrücken versteht —
durch Rhythmus, Reim, Wahl der Worte und so
fort, so ist es auf der anderen Seite der Natur-
wissenschaft unbenommen, durch Definitionen, For-
meln und andere Hilfsmittel die Sprache ihren
speziellen Zwecken gefügig zu machen, wie es
ja auch im weitesten Umfange wirklich und mit
Vorteil geschieht. Gerade die wundervolle
Schmiegsamkeit und Bildsamkeit des in der
Sprache verkörperten Materials, die soweit geht,
daß ein jeder eigene Mensch seine eigene Sprache
herausformen und reden kann — man denke an
unsere großen Schriftsteller — sowie der L'm-
stand, daß die Sprache dem Leben, der Kunst
und der Wissenschaft gleichzeitig zu dienen hat,
läßt jeden willkürlichen Eingriff in ihr Gefüge
schon aus rein verstandesgemäßen Gesichtspunkten
als untunlich erscheinen. Die Sprache ist ein
allgemeines Gut und dürfte schon deshalb, selbst
wenn es möglich wäre, nie speziellen Zwecken
zuliebe umgestaltet werden.
Etwas anderes ist es natürlich, wenn Ost-
wald sich für Schaffung einer künstlichen, durch-
aus logisch-regelmäßig konstruierten Sprache für
Geschäfts-, Verkehrs- und wissenschaftliche Zwecke
erklärt. Das wäre dann, was die natürlich er-
wachsenenSprachen weder sein können noch sollen,
ein rein praktisches Hilfsmittel, dem wir nicht
mehr Respekt schuldig sind als etwa einem Pfropfen-
zieher.
Und damit kommen wir zum eigentlichen
Kern der Angelegenheit. Ostwald ist mit Be-
wußtsein und Nachdruck unhistorisch, ja anti-
historisch, traditionslos, absichtlich pietätlos. Der
Zusammenhang mit früheren Zeiten und Ge-
schlechtern ist ihm nichts, oder vielmehr, ist ihm
unnützes und schädliches Überbleibsel, nur wert,
möglichst gründlich ausgerottet zu werden. So
ist sein Urteil über die Sprache nur ein einzelnes
Symptom einer allgemeinen radikalen Denkungs-
weise.
Wieder wird man zunächst sagen können, daß
solche Denkungsweise an ihrem Orte und in
ihrem gewiesenen Umfange durchaus berechtigt
N. F. Xm. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
799
ist. Einen Ausspruch, wie: „Das Neue ist im
allgemeinen das Bessere," wird man einem be-
deutenden Naturforscher gewiß nachfühlen können;
denn wo der Fortschritt, wie in der Chemie und
mancher anderen Disziplin, wesentlich in der Ent-
deckung, Sichtung und In-Beziehung-Setzung von
immer neuem und umfassenderem Erfahrungs-
material liegt, ist er zweifellos richtig. Nur daß
aus Ost wald 's weiteren .Ausführungen die ofien-
sichtlichc Neigung spricht, diesen Grundsatz von
den Naturwissenschaften im engeren Sinne auf
alle Wissenschaft, dann aber auch auf die Kunst
und den ganzen Umkreis des menschlichen Lebens
zu übertragen. Hier beginnt sofort wieder die
schädliche und unberechtigte Verallgemeinerung,
das Bestreben, die ganze Welt über den natur-
wissenschaftlichen Leisten zu schlagen. Gewiß ist
kritiklose Überschätzung des Alten, nur weil es
alt ist, hemmend und schädlich ; ob aber prin-
zipielle Minderbewertung, die sich auf die gleiche
Begründung stützt, irgendwie vorzuziehen ist?
Wenn jene' neben Wertvollem gelegentlich Gering-
wertiges erhält oder anpreist, so ist das ein Zu-
viel, das leicht korrigiert werden kann. Wenn
aber diese mit dem Minderwertigen auch Wert-
volles beseitigt, so ist der Schaden unvergleichlich
größer. Außerdem gibt es aber eine große An-
zahl gewichtiger menschlicher Interessen, bei denen
Ostwald's, unbesehen von einem Spezial-
gebiet aufs Ganze übertragene Anschauungsweise
gar nicht anwendbar ist, Interessen und Probleme,
bei deren Behandlung die im Laufe der Zeiten
anwachsende empirische Erfahrung der Mensch-
heit keine oder doch keine entscheidende Rolle
spielt. Dazu gehören nicht nur die rein künst-
lerischen Probleme, bei denen es ja gewissermaßen
auf der Hand liegt, sondern auch nicht wenige
Fragen der Wissenschaft, speziell der Philosophie,
und vor allem des praktischen Lebens.
Ostwald gehört — und mit Recht — zu
den Männern, deren Worte gehört und beachtet
werden, auch wo sie sich über Dinge verbreiten,
die nicht dem ursprünglichen Fach des .Tutors
angehören. Um so verwirrender aber kann es
auf junge ungefestigte Köpfe wirken, wenn ein
Solcher Mann zu Kompetenz- und Grenzüber-
schreitungen neigt, was natürlich nicht persönlich,
sondern sachlich zu verstehen ist. Jegliches Ding
und Gebiet muß in seinem eignen Umkreise und
aus seiner inneren Natur heraus verstanden, be-
urteilt und gefördert werden. Und so kann die
Kritik nicht schweigen, wenn ein Naturforscher
Ansprüche, die in seiner Wissenschaft zu Recht
bestehen, auf Gebiete zu übertragen versucht, wo
sie gar nicht oder doch nicht in gleicher Art und
Weise geltend gemacht werden können.
Wasielewski.
Anregungen und Antworten.
Der Grüne Strahl. Des Rätsels Lösung. In der Notiz
(Nr. 40) des Herrn Professor Dr. Riem wird nach Mitteilung
einer Beobachtung des Grünen Strahls es für „sehr wünschens-
wert" erklärt, daß ,,auch von anderen Seilen versucht würde,
Material herbeizuschaffen , um die Bedingungen festzustellen,
unter denen der ,, Grüne Strahl" auftritt."
Man nehme es dem Schreiber dieser Zeilen nicht übel,
wenn er aus zwei Gründen davon abraten möchte. Zunächst
ist das Phänomen inzwischen bereits vollständig erklärt und
dann sind solche Versuche recht gefährlich , solange der
Beobachter die Fertigkeit nicht besitzt, mit sehr starken Licht-
quellen richtig umzugehen. Herr Riem hat einen Feldstecher
mit 5 mm Austrittspupille benutzt, der für diese Zwecke, weil
,, ungewöhnlich lichtstark", besonders ungeeignet ist. Man
weiß, daß Galilei durch unzweckmäßige Sonnenbeobachtungen
erblindete, und wer nach Sonnenfinsternissen Gelegenheit
hatte, in den Augenkliniken Patienten mit Scotoma helieclipticura
zu untersuchen, der wird sich über die Gefahr völlig klar
sein. Wer nun überhaupt das Auge dazu bewaffnen will,
der kann zur Beobachtung des Grünen Strahles höchstens
ein dunkles Neutralglas benutzen.
Vielleicht mißlingt aber dann gerade die Verfolgung der
an sich sehr interessanten Erscheinung, weil diese nämlich
rein subjektiv ist. Es handelt sich dabei, wie Dr. A. Kühl
von der Münchener Sternwarte experimentell nachgewiesen
hat (Näheres im Septemberheft des ,, Sirius" S. zog, Lpz.,
Mayer), um ein farbiges (blaugrünes) Nachbild des orange-
farbenen letzten Sonnensegmentes. Nur wenn dieses eine ge-
wisse Zitterbewegung ausführt , tritt die Komplementärfarbe
deutlich hervor. Die unregelmäßige Verteilung verschieden
erwärmter Luftschichten ist für die Hervorrufung der Zitter-
bewegung der Sonne wichtig , hat aber mit der „anormalen
Refraktion" nichts zu tun. Diese anscheinend besonders auf
Arrhenius zurückgreifende Theorie des Grünen Strahles ist
ganz unzutreffend, denn wenn man die betreffende atmosphä-
rische Dispersion ausrechnet, ergibt sich, daß das grüne
Segment viel zu schmal wird, um für das Auge erkennbar zu
sein. Daß sich der ,, Grüne Strahl" in eine Augentäuschung
auflöst, ist sehr erfreulich, denn mancher Forscher wird jetzt
vor Blendungs-Netzhaut-Entzündung bewahrt werden.
Dr. Kritzinger.
Herrn MV. M. in E.
Welches sind die besten , auch
für Laien verständlichen Schriften über ,, Chemie der Küche
und des Haushaltes" ?
Da die praktische Eignung populär - wissenschaftlicher
Schriften für bestimmte Personen nicht nur von dem wissen-
schaftlichen Wert der fraglichen Schriften, sondern in hohem
Maße auch von Eigenschaften der betrefienden Personen ab-
hängt, müssen wir uns hier darauf beschränken, Ihnen im
folgenden einige sachgemäß geschriebene Werke zu nennen
und zu empfehlen, sie sich von ihrem Buchhändler zur An-
sicht vorlegen zu lassen.
1. Otto Ule's Warum und Weil. Fragen und Ant-
worten aus den wichtigsten Gebieten der gesamten Naturlehre.
Chemischer Teil. Berlin, Klemann's Verlag.
2. Dr. G. Abel, Chemie in Küche und Haus. 2. Aufl.
Leipzig, B. G. Teubner. Preis geh. i Mk., geb. 1,25 Mk.
3. Dr. H. Bauer, Die Chemie der menschlichen Nah-
rungsmittel. Leipzig, Verlag von Theod. Thomas. Preis geh.
60 Pf., geb. 85 Pf.
4. Dr. H.Bauer, Chemie der menschlichen Genußmittel.
Leipzig, Verlag von Theod. Thomas. Preis geh. 60 Pf., geb.
85 Pf.
Verwiesen sei ferner auch auf die folgenden beiden
Schriften :
5. Prof. Dr. Lassar-Cohn, Die Chemie im täglichen
Leben. Leipzig, Verlag von Leopold Voß. Preis geb. 4 Mk.
6. L. Wunder, Physikalische Beobachtungen und Er-
klärungen in Küche und Haus. Leipzig, Verlag von Theod.
Thomas. Preis geh. 40 Pf, geb. 65 Pf. Mg.
7. Prof. Dr. P. Meilmann, Chemie des täglichen und
wirtschaftlichen Lebens. Leipzig, Verlag der modernen kauf-
männischen Bibliothek, G. m. b. H. Preis geb. 2,75 Mk.
E., Königsberg. — Das Molekulargewicht von Eiweiß-
stoffen. Zur Ermittlung des Molekulargewichts der Eiweiß-
stoffe stehen verschiedene Wege offen. Aus den Ergebnissen
8oo
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. so
der Analyse, welche die prozentuale Zusammensetzung liefert,
läßt sich ein Bild von der Molekulargröl3e des Eiweifistoffs
gewinnen, wenn man durch Synthese über die Art seiner
Bildung aus einfachen Spaltungsstücken von bekannter Mole-
kulargröiJe unterrichtet ist. So hat man z. B. ein aus iS Glie-
dern bestehendes Oktadekapeptid aus 3 Molekülen 1-Leucin
und 15 Molekülen Glykokoll hergestellt; für dieses Polypeptid
läßt sich ein Molekulargewicht von 1213 berechnen. In vielen
Fällen kann man aut indirekte Weise zum Ziel kommen.
Beim Serumalbumin z. B. weiß man , daß es bei der Pepsin-
verdauung in mindestens 2 schwefelhaltige Körper zerfällt ;
da das Spaltungsprodukt, Cystin, 2 Atome Schwefel enthält,
muß die aus der prozentualen Zusammensetzung zu erwartende
Molekularformel mindestens vervierfacht werden. Aus den
Erfahrungen bei der Jodierung muß sogar der Schluß ge-
zogen werden, daß die Formel zu versechsfachen ist: CijoH-j,,
NiioS|)Oi joi was einem Molekulargewicht von 10 166 entsprechen
würde. In ähnlicher Weise wird von Hofmeister für das
Eieralbumin der Wert 5378 berechnet. Beim Hämoglobin,
einer wegen seiner Kristallisierfähigkeit leicht rein zu erhalten-
den Substanz, ließ sich aus dem prozentualen Verhältnis des
Eisens und Schwefels eine Mindestmolekulargröße von 16669
berechnen, entsprechend einer Formel CjssHijoaNi^^OjisFeSj.
Auch aus dem Bindungsvermögen des Hämoglobins für Kohlen-
oxyd (l Molekül Hämoglobin bindet I Molekül Kohlcno.xyd)
ergeben sich für das Molekulargewicht dieses Eiweißkörpers
ähnliche Werte wie aus den Prozentzahlen des Eisens.
Da die Eiweißkörper beim Erhitzen in Lösung meist aus-
fallen, ist von den direkten Bestimmungsmethoden diejenige,
welche sich auf die Ermittlung der Siedepunktserhöhung grün-
det, nicht anwendbar. Nach der Methode der Gefrierpunkts-
erniedrigung ist von Pabanaj e w und Alexan d ro w für das
Molekulargewicht des Eicralbumins der Wert 14270 gefunden
worden.
Eine dritte direkte Methode für die Bestimmung des
Molekulargewichtes von Eiweißkörpern beruht auf der Ermitt-
lung des osmotischen Drucks der kolloidalen Lösungen. Dies
Verfahren ist z. B. von Starling versucht worden (Journal
of Physiology 24, 257) und neuerdings von W. Biltz expe-
rimentell ausgearbeitet worden (über die mit Glutin (Gelatine)
auf Grund von Versuchen von Bugge und Mein er t erhal-
tenen Resultate wird in einer demnächst in der Zeitschr. für
physikalische Chemie erscheinenden Arbeit berichtet werden).
— Literatur; O. Cohnheim, Chemie der Eiweißkörper,
Braunschweig 1911 r Handwörterbuch der Naturwissenschaften
Bd. 3, Gustav Fischer, Jena; ferner zahlreiche Einzelarbeiten
von Hofmeister, Kurajeff, Zinnowsky, E. Fischer
und anderen Forschern in der Zeitschrift für physiologische
Chemie, in den Berichten der deutschen Chem. Gesellsch., in
Pflüger's Archiv für Anatomie und Physiologie usw.
Dr. G. B.
Zufällige Harnfarbstoffe. Nach Genuß eines Gerichtes
von ca. 200 g Reizker (Lactarius deliciosus) beobachtete ich
sowohl bei mir als bei einer anderen Person, etwa 2 Stunden
nach Genuß des Gerichtes sichtbar werdend und etwa 10 Stunden
anhaltend eine orangefarbene, besser gesagt gelbbraun-rötliche
Harnfärbung. Der orangerote Milchsaft des Reizkers — der
Pilz wird im englischen redmilk, im französischen sanguin ge-
nannt — beruht auf einer Emulsion mikroskopisch kleiner,
unregelmäßig runder, gelbrot gefärbter Körperchen. Die Harn-
färbung scheint durch ein Abbauprodukt des Farbstoffs dieser
Körperchen bedingt zu sein. Einige Tropfen Liquor ferri
sesquichlorati lassen die Farbe der Emulsion ziemlich un-
verändert , färben aber den Reizkerharn dunkelbraunrot, so
daß also der Farbstoff des Reizkerharns und der der Emul-
sion nicht direkt identisch sein können. Bei einer dritten
Person rief der Genuß einer gleichen Menge des Pilzes nur
Dunkelfärbung des Harns hervor, ohne die erwähnte Reaktion
zu geben. — Auch die bietbraune Harnfärbung nach Ge-
brauch von Naphthalin und die Grünfärbung nach Santonin,
das übrigens auch in den sog. Wurmplätzchen enthalten, habe
ich an mir beobachtet. Aus der Literatur sind mir bekannt;
Rotfärbung des Harns nach Genuß von mit Eosin gefärbten
Leckereien, desgl. nach Genuß von Folia Scnnae und Radix
Rhei. Nach Bärentraubenblättertee; Harn dunkelbraun bis
olivengrün. Nach Antipyrin und Pyramiden gelbrot. Nach
Methylenblau (gefärbtem Konfekt); Blauharnen. (Jrünharnen
nach Genuß von Schokolade, der ein Teerfarbstoff zugesetzt
war. Grün- und Blauharnen bei sog. Indigurie, die zwar bei
kranken aber auch bei sonst gesunden Kindern beobachtet
wurde. Bei Karbol- und Lysolvergifteten nimmt der Harn
beim Stehen an der Luft eine dunkelgrüne Färbung an. Viel-
leicht hat dieser oder jener Leser vorstehender Zeilen die
Freundlichkeit mir sein etwaiges Wissen über die sog. zu-
fälligen HarnfarbstofTe mitzuteilen.
F'riederich KanngieUer (Braunfels ob der Lahn).
Literatur.
Die Rheinlande in naturwissenschaftlichen und geogra-
phischen Einzeldarstellungen. Herausgegeben von Dr. C.
Mordziol. Nr. 7; Jurassus und Vosegus, Eine ethno-
graphische Wanderung im Oberrheintale. Von Dr. C. Mehlis.
Mit 5 Abb. und 1 Karte. Nr. 8: Die diluviale Geologie der
Bodenseegegend. Von Prof. Dr. W. Schmidle. Mit 42 Abb.
und 7 Tafeln. 3,60 Mk. Nr. 9: Bau und Bild des Taunus.
(Ein Beitrag zu seiner Landeskunde.) Von Dr. Friedrich
Knieriem. Mit 16 Abb. 2 Mk. Nr. 10; Die Entstehung
des Siebengebirges. Von Dr. J o h ann e s Uh lig. Mit 27 Abb.
und I geologischen Übersichtskarte (1 : 25000). 2,50 Mk.
Braunschweig und Berlin '14. George Westermann.
Ira Remsens Anorganische Chemie, selbständig be-
arbeitet von Prof. Dr. Karl Seubert. 5. Aufl. der autori-
sierten deutschen Ausgabe. Mit 2 Tafeln und 22 Textabb.
Tübingen '14. H. Lauppschc Buchhandlung. Geb. 10 Mk.
Karny, Dr. Heinrich, Wiederholungstabellen der Mine-
ralogie. Mit 30 Kristallnetzen. Wien '14. A. Pichlers Witwe.
2,20 Mk.
Hofmann, Prof. 'Dr. F. B., Ludimar Hermann. Nach
einer am 24. Juni 1914 in der Aula der Albertusuniversität
zu Königsberg i. Pr. gehaltenen Gedächtnisrede. Jena '14.
G. Fischer. I Mk.
Chemie der Erde. Beiträge zur chemischen Mineralogie,
Petrographie und Geologie. Herausgegeben von Prof. Dr.
G. Linck. I. Band. I. Heft. Mit II Abb. im Text.
Jaenichen, Dr.-Ing. Willy, Lichtmessungen mit Selen.
Berlin -Nikolassee '14. Administration der ,, Zeitschrift für
Feinmechanik". 3 Mk.
Lenk, Dr. Emil, Die Unabhängigkeit von der Natur.
Mit 8 Abbildungen. Deutsche Naturwissenschaftliche Gesell-
schaft. Geschäftsstelle Th. Thomas Verlag. Leipzig. I Mk.
Hegi, Prof. Dr. Gustav, Illustrierte Flora von Mittel-
europa. Mit besonderer Berücksichtigung von Deutschland,
Österreich und der Schweiz. Zum Gebrauch in den Schulen
und zum Selbstunterricht. VI. Band. Bearbeitet von Dr. med.
et phil. A. von Hayek. b. Lieferung. München. J. F.
Lehmann's Verlag. 1,50 Mk.
Himmel und Erde. Volksausgabe. Lieferung 26. Berlin-
München- Wien. Allgemeine Verlagsgesellschaft m. b. H.
Lieferung 26. 60 Pfennig. (Vollständig in 40 Lieferungen.)
\
Inhalt: Trojan: Das Leuchten und der Farbensinn der Fische. Mötefindt; Diluviale menschliche Skelettrestc aus den
thüringisch-sächsischen Ländern. — Einzelberichte; Seemann; Das Röntgenspektrum des Platins. Surbeck: Ein
neuer Beitrag über die Geschlechtsverteilung bei den Fischen. Kranz: Über Militärgeologie. Haempel und Kol-
mer; Die Abhängigkeit der Hautfarbe von der Färbung der Umgebung, besonders des Untergrunds bei Fischen. Brandt:
Über die Absorption des Stickstoffs durch Calcium. Wieland und Offenbacher: Ein neues organisches Radik
UUCl UIC /\US>UipiiUU UCS OLlClvälOUä UUJ^ll »^1111.111111. ** l C 1 .1 U U UUU »^^ l 1 C 11 U tt l, 11 C 1 . l-.iU ll^ut.3 vji ^.iLii3s.iii.
mit vierwertigem Stickstoff. Fehlinger: Zur .\nthropologie Großbritanniens. — Kleinere Mitteilungen;
Einseilige Schädigung von Bäumen durch Rauchgase. Bürger: Etwas von der Zelluloidindustrie. —
■ganisches Radikal
:n : W e n z :
cinseiiige öcnaaigung von rsaumcn aurcn Kauengase. eurger: etwas von aer z,eiiuioiuinuusirie. — Bücher-
besprechungen: Hansen: Repetitorium der Botanik für Mediziner, Pharmazeuten, Lehramtskandidaten und Studierende
der Forst- und Landwirtschaft. Soddy: Die Chemie der Radioelemente. Ostwald: Moderne Naturphilosophie. —
Anregungen und Antworten. — Literatur: Liste.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Schriftleiter Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstrafle IIa, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d, S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. Band;
der ganzen Reihe 29. Band
Sonntag, den 20. Dezember 1914.
Nummer 51.
Physikalisches von unseren Feuerwaffen.
[Nachdruck verboten.]
Durch die Entwicklung der Technik
sondere der Metallurgie und der Explosivstoff-
chemie, haben unsere Feuerwaffen, die Gewehre
und Geschütze, einen hohen Grad der Voll-
kommenheit erreicht. Durch das mächtiger
werdende Feuer haben die blanken Waffen im
heutigen Kampfe an Bedeutung Einbuße erlitten.
Zwar ist damit der Wert der offensiven Energie
mit dem Säbel, der Lanze, dem Bajonett in der
Hand keineswegs verloren gegangen, wie uns die
Schlachten der letzten Zeit vor Augen geführt
haben, aber die Feuerkraft des Feindes muß stets
erst durch eigenes Feuer geschwächt werden,
ehe der Gegner mit Erfolg unter nicht allzu
großen eigenen Verlusten überrannt werden kann.
Die Feuergeschwindigkeit kann heule auf ein
früher nicht für möglich gehaltenes Maß gesteigert
werden, die Reichweite der Waffen hat gegen
früher erheblich zugenommen. Die vermehrte
Wirkungsfähigkeit auf große Entfernungen hat
den Feuerwaffen im modernen Kriege eine hervor-
ragende Rolle zugewiesen. Vor allem sind es
die neuen Geschütze, die durch die überwältigenden
moralischen und physischen Wirkungen ihrer
Brisanzgranaten für die Kampfesentscheidung aus-
schlaggebende I^edeutung haben. D i e Partei wird
sogleich im Vorteil sein, die sich zuerst einge-
schossen hat und durch gute Treffer nicht allein
eine große Zahl der Feinde tötet und verwundet,
sondern durch die bombengleiche Wirkung der
Sprenggeschosse auch die Nervenkraft des Gegners
bricht und ihn demoralisiert. Daraus geht hervor,
wie ungeheuer wichtig ein rasches und sicheres
Einschießen für den Ausgang des Kampfes ist.
Durch die stetig wachsenden Entfernungen des
Gefechtsbeginnes wird das Einschießen im mo-
dernen Kriege sehr erschwert; im Seekriege bei-
spielsweise wird der Feuerkampf bereits auf 15 km
begonnen.
Um auf weite Entfernungen Ziele erfolgreich
beschießen zu können, ist genaue Kenntnis der
Waffe, des Geschosses und des Pulvers, sowie
sämtlicher physikalischer Vorgänge erforderlich,
die sich während und nach dem Abschießen voll-
ziehen. Wegen ihrer großen Wichtigkeit für die
Landesverteidigung sind alle diese h" ragen auf das
gründlichste studiert worden; in den jetzigen
Tagen bietet die Beschäftigung mit dieser Materie
auch für den Laien großes Interesse.
Die treibende Kraft in den Feuerwaffen rührt
vom explodierenden Pulver her, die Spreng-
wirkung der Granaten wird durch detonierende
Sprengstoffe verursacht. Das aUe Schwarz-
pulver hat seine Rolle längst ausgespielt, es ist
VoQ Dr. Krumbhaar.
insbe- durch die modernen rauchlosen Pulversorten ver-
drängt worden. Ihre Grundsubstanz ist die be-
kannte Schießbaumwolle, die zu den verschiedensten
Pulversorten geformt werden kann ; eine sehr
wirksame Unterstützung in ihrer Pulverwirkung
findet die Schießwolle durch beigemengtes Nitro-
glyzerin, das auch unter dem Namen Sprengöl
bekannt ist. Die zur Füllung von Granaten und
Bomben verwendeten militärischen Sprengstoffe
haben wir ebenso wie die rauchlosen Pulver der
synthetischen Chemie zu verdanken. Auch als
Sprengladung diente ursprünglich das Schwarz-
pulver; in den achtziger Jahren des vorigen Jahr-
hunderts jedoch lehrte die Chemie die I^ikrin-
säure als sehr sprengkräftigen und für Granat-
füllungen geeigneten Körper kennen, der dann
seit ca. 10 Jahren durch das Trinitrotoluol ersetzt
wurde. Das Trinitrotoluol erfüllte besser als alle
übrigen Sprengkörper die Forderungen, welche
man an Granatladungen stellen muß.
Alle Explosivkörper, die Pulversorten wie die
Sprengfüllungen, wirken dadurch, daß bei ihrer
Explosion eine große Gasmenge plötzlich ent-
wickelt wird und das gleichzeitig sehr viel Wärme
frei wird. Der hocherhitzten , in den engen
Ladungsraum eingezwängten , großen Gasmasse
wohnt ein gewaltiges Ausdehnungsbestreben inne,
sie übt auf die Umfassungswände einen starken
Druck aus. Dieser Druck nun vermag die vom
Waffentechniker verlangte Arbeit zu leisten. Die
Art dieser Arbeitsleistung ist bei den als Treib-
mittel dienenden Pulversorten und den eigent-
lichen Sprengstoffen durchaus verschieden.
Die Explosion des Pulvers im Gewehr oder
Geschütz soll das Geschoß mit allmählich ge-
steigerter Geschwindigkeit nach vorne schieben,
es soll ihm eine nach und nach zunehmende
lebendige Kraft der Fortbewegung verleihen, ohne
daß dabei durch den Gasdruck die Festigkeit von
Rohr und Geschoß gefährdet wird. Die Spreng-
stoffe sind viel heftigerer Natur, sie zerstören und
zertrümmern. Bei ihrer Detonation entsteht in
kürzester Zeit der höchste Gasdruck, dem kein
Einschlußmaterial Widerstand zu leisten vermag;
die aus gezogenem Stahl bestehenden Granat-
wände werden mit elementarer Gewalt zu ein-
zelnen Sprengstücken zerrissen und fortge-
schleudert.
In zahlreichen physikalischen Experimenten
hat man die Eigenarten der Treib- und Spreng-
mittel erforscht; besonderes Augenmerk richtete
man dabei auf die Faktoren, von denen die
Wirkung der Explosion in erster Linie abhängig
ist, auf das entstehende Gasquantum, die ent-
802
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 51
wickelte Wärmemenge, und die Geschwindigkeit
der auftretenden chemischen Reaktionen.
Durch den Druck der Pulvergase wird das
Geschoß aus dem Rohr getrieben ; der Druck
wird um so kräftiger sein , je größer der Raum
ist, den die Pulvergase einzunehmen bestrebt sind.
Das Volumen der Gase hat man experimentell
bestimmt. Daß solche Versuche mit Pulver und
Sprengstoffen auch für einen mutigen Experimen-
tator nicht gerade Verlockendes an sich haben,
wird sicherlich einleuchten. In einer widerstands-
fähigen, sehr dickwandigen Versuchsbombe aus
bestem Material wird ein kleines Quantum des
Explosivkörpers zur Detonation gebracht, die
entwickelten Gase werden aus der Bombe in ein
Gasometer geleitet. Hier kann das Volumen
direkt abgelesen werden, nur muß dabei berück-
sichtigt werden, daß bei jeder Explosion auch
Wasser entsteht, das sich in Dampfform an den
Kraftwirkungen beteiligt; sein Volumen wird
dementsprechend in Rechnung gestellt. Einige
interessante Beispiele für das Pulvergasvolumen
führe ich hier an; wie bei Angaben von Gas-
mengen allgemein üblich, sind die Daten auf einen
Luftdruck von 760 mm und eine Temperatur
von o Grad bezogen.
I kg Schwarzpulver entwickelt 290 1 Gas
I „ Nitrozellulosepulver „ 950 „ ,,
I „ Trinitrotoluol „ 970 „ „
Überraschend deutlich beweisen die Zahlen die
Überlegenheit des modernen rauchlosen Nitro-
zellulosepulver gegenüber dem alten Schwarz-
pulver, das weniger als ein Drittel der von neuen
Pulversorten entwickelten Gasmenge liefert.
Der Druck der Pulvergase kann ebenso
wie ihr Volumen in einer Versuchsbombe ge-
messen werden. Der Bombenhohlraum wird
dazu in demselben Verhältnis mit Pulver angefüllt
wie der Laderaum in der Waffe. Die Einrichtung,
die von dem bekannten Sprengstoffindustriellen
Nobel angegeben i^t, besteht in folgendem. Der
bei der Explosion auftretende Druck preßt auf
einen in die Bombe völlig gasdicht führenden
Stahlstempel, der seinerseits auf einen Kupferblock
drückt und diesen zusammenstaucht. Das Kupfer
ist ein verhältnismäßig weiches und plastisches
Metall und wird durch den Druck in gleichmäßiger,
bestimmter Weise gestaucht. Mit Hilfe einer
Hebelpresse werden einzelne Kupferkörper vorher
durch gemessenen Druck zusammengepreßt und
auf diese Weise wird gefunden , welcher Druck
einer bestimmten Stauchung entspricht. Aus der
Verkleinerung des Versuchszylinders kann man
dann die Größe des Pulvergasdruckes in der Waffe
berechnen.
Eine andere interessante Methode zur Be-
stimmung des Gasdruckes ist die Bleiblockprobe
nach Trautzl; sie liefert allerdings keine abso-
luten Werte, sondern nur Vergleichszahlen für die
verschiedenen Sprengstoffe. In einen Block aus
weichem, raffiniertem Blei wird eine axiale Bohrung
tief hineingetrieben und in dem unteren Teil eine
kleine Menge des Sprengstoffes zusammen mit
einer Zündkapsel untergebracht. Durch einen
Stahlstempel oder festgestampften Sand wird die
P'üllung gut abgedämmt. Bei der Detonation
vermögen die Gase nicht zu entweichen und ver-
ursachen durch ihre Spannkraft eine Höhlung im
Inneren des Blockes. Die Größe dieser Auf-
bauchung, die leicht zu messen ist, gibt ein Maß
für die Druckwirkung des Sprengkörpers. 10 g
Pikrinsäure beispielsweise ergeben eine Aufbauch-
ung von 380 ccm.
Die Druckkräfte der Pulvergase können auch
an der Waffe selbst gemessen werden. Der
Nobelschen Stauchvorrichtung entsprechend, führt
man in den Pulverraum der Waffe einen schwach
saugend eingeschliffenen Stahlstempel, der den
Pulverdruck auf einen festgelagerten Kupferzylinder
überträgt. Die Stauchung des Zylinders wird mit
Kupferblöcken verglichen, welche durch bekannte,
statische Drucke geeicht sind. Bei Geschützen
verursacht das Anbringen solcher Stauchvorrich-
tungen am Pulverraum Schwierigkeiten; nach dem
Vorbilde Kru])ps legt man hier zur Feststellung
des Druckes einen geeigneten Meßkörper aus
Stahl, ein sog. Meßei, in die Kartusche, d. h. die
Pulverladung hinter dem Geschoß ein.
Der in den Feuerwaffen auftretende Gasdruck
ist außerordentlich groß; bei Feldkanonen mit
7,5 cm Kaliber beträgt er z. B. 2000 Atmosphären,
bei größeren Geschützen steigt er bis auf 3000 kg
pro qcm. Das b; deutet also, daß auf jeden ein-
zelnen Quadratzentimeter, einen gewiß nur winzigen
Fleck, der inneren Oberfläche des Ladungsraumes
ein Druck von 2 — 3000 kg ausgeübt wird.
Es ist selbstverständlich, daß derartigen Kraft-
äußerungen nur das allerbeste Metallmaterial
Widerstand zu leisten vermag. Den höheren An-
sprüchen folgend sind die Werkstoffe der
Waffen dauernd verbessert worden, und wir
haben heute in den vergüteten Stahllegierungen,
insbesondere dem Nickel- und Chromstahl, Waffen-
materialien, deren Festigkeit sogar so weit geht,
daß sie nicht einmal dann bersten, wenn eine
Granate vorzeitig im Rohr detoniert. Die Fort-
schritte, die in der Erzeugung der Waffenstähle
gemacht worden sind , erhellen am besten aus
einem zahlenmäßigen Vergleich ihrer Festigkeits-
eigenschaften. Es seien hier vom Gußeisen, vom
gewöhnlichen und dem veredelten Stahl nur
folgende Werte angeführt: die Festigkeit als die
auf ein Quadratzentimeter Querschnitt bezogene
Belastung, bei welcher ein Stab zerrissen wird;
die Elastizitätsgrenze, die man als die Belastung
ansieht, oberhalb welcher bleibende Längenände-
rungen bei Zugbeanspruchung eintreten und
schließlich die Bruchdehnung, unter welcher man
die Verlängerung der Längeneinheit des Stabes
vor dem Zerreißen versteht; sie liefert uns ein
Maß für die Zähigkeit des Materials.
Festigkeit Elastiztiätsgr. Bruchdehnung
Gußeisen 2340 kg iiiokg 0,4
N. F. XIII. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
803
Festigkeit Eiastizitätsgr. Bruchdehnung
gewöhn-
licher Stahl 4200 kg 2440 kg 11,5
moderner
Nickelstahl 7500 kg 4400 kg i8,o
Man erkennt eine wesentliche Zunahme von
Festigkeit, Elastizität und Zähigkeit, den drei
mechanischen Eigenschaften, die für den Bau von
Gewehrläufen und Geschützrohren von größter
Bedeutung sind.
Um die gewaltigen Druckkräfte der modernen
Pulver auszuhalten, bedarf es nicht nur besonders
widerstandsfähiger Werkstoffe, sondern auch einer
sehr haltbaren Konstruktion der Feuer-
waffen, vor allem der Geschützrohre. Die
Waffen haben die Aufgabe, die chemische Energie
des Pulvers in Bewegungsenergie umzusetzen, das
im Pulver verborgene Arbeitsvermögen zur Fort-
bewegung des Geschosses nutzbar zu machen.
Ihr wesentlichster Teil ist daher immer ein ein-
seitig geschlossenes Rohr mit einem Raum zur
Aufnahme der Pulverladung und des Geschosses,
und einer zylindrischen Bohrung, die zur Führung
des Geschosses dient. Auf die alten Vorderlader
folgten die Geschütze, die von hinten geladen
wurden und mit geeigneten Verschlüssen versehen
waren. Die ursprünglich gebrauchten massiven
Vollrohre aus einem Stück entsprachen den An-
forderungen an die Festigkeit sehr bald nicht
mehr. Heute werden daher die Geschützrohre
ausschließlich aus mehreren Konstruktionsteilen
zusammengesetzt und zwar immer so, daß die
äußeren Teile bereits im Ruhezustand einen Druck
auf die inneren ausüben. Damit wird der Druck-
beanspruchung beim Schuß sehr erheblich ent-
gegengewirkt. In Deutschland führte die Be-
folgung dieses Prinzipes zu den Mantel- und
Mantelringrohren, in England zu den mit starken
Drahtwindungen umwickelten Drahtrohren.
Viel Kopfzerbrechen hat den Waffentechnikern
die gasdichte Abschließung des Pulverraums ver-
ursacht; trotz der gewaltigen Druckkräfte dürfen
keine Pulvergase weder nach rückwärts aus dem
Verschluß noch nach vorwärts zwischen Geschoß
und Seelenwandung hindurch entweichen, wenn
die Pulverkraft voll ausgenutzt werden soll. Bei
Patronenmunition führt die Messinghülse selbst die
rückwärtige Dichtung aus; bei größeren Kalibern
sind im Verschluß Liderungsringe aus dem
plastischen Kupfer angebracht, die den Ver-
brennungsraum gasdicht nach hinten abschließen.
Das Abdichten des Pulverraumes nach vorn wird
durch das Geschoß selbst bewirkt; es preßt sich
mit seinem Führungsteil, dem Stahlmantel bei
Gewehrgeschossen, der Kupferführung bei Artillerie-
munition, in die Züge des Laufes oder Rohres
ein. Die Züge sind Rillen, die in Form eines
steilen Schraubengewindes in die Seelenwandung
eingeschnitten sind. Sie haben neben der Auf-
gabe, durch das fest eingepreßte Geschoß den
Pulverraum während des Schusses abzudichten.
den wichtigeren Zweck, dem Geschosse eine
Drehung um seine Längsachse zu erteilen.
Während das Geschoß aus dem Lauf oder
dem Rohre herausgeschleudert wird, tritt den
physikalischen Gesetzen von Wirkung und Gegen-
wirkung entsprechend, an der Waffe selbst eine
starke Reaktion ein, sie erfährt einen heftigen
Rückstoß. Diese Stoßwirkungen können bei
Handfeuerwaffen wegen ihrer verhältnismäßig ge-
ringen Größe leicht kompensiert werden. Bei
Geschützen machen sich jedoch sehr beträcht-
liche Kräfte geltend; bei Feldkanonen entspricht
der Rückstoß einem Gewicht von ca. 90000 kg,
bei Marinekanonen und anderen großen Kalibern
wächst die Druckwirkung des Rückstoßes auf
einige looooo kg. Diese Belastungen müssen von
den Montierungsvorriciitungen, den Laffettcn der
Geschütze aufgenommen werden. Es ist klar, daß
starre Konstruktionen übermäßig massiv und stark
sein müssen, um solchen Einwirkungen gewachsen
zu sein. Durch elastische Anordnung der Rohre,
die ihnen ein gewisses Zurückgleiten gestattet, wie
man sie in den Rohrrücklaufgeschützen anwendet,
gelingt es jedoch, die Beanspruchung der Laffetten
auf ein praktisch zulässiges Maß zu verringern.
Neben der Gasspannung selbst liefert der
Verlauf des Gasdruckes während der
Pulverexplosion und des Abschießens einen zu-
verlässigen Maßstab zur Beurteilung der Be-
anspruchung von Waffe und Geschoß. Eine
direkte experimentelle Bestimmung des Druck-
verlaufes in der Waffe bietet bisher unüberwind-
liche Schwierigkeiten; man untersucht ihn daher
mittelbar, indem man den Lauf des Geschosses
innerhalb der Waffe genau registriert. Aus
der Geschwindigkeit, mit welcher das Geschoß
durch den Lauf oder das Rohr eilt, läßt sich auf
die Druckkräfte und die Gasspannungen schließen,
die erforderlich waren, um die Bewegung hervor-
zubringen. Diese indirekten Methoden schließen
allerdings einen entstellenden Fehler ein; aus der
Bewegung des Geschosses ergibt sich streng ge-
nommen nicht der Verlauf des Gasdruckes, sondern
nur die Änderungen der beschleunigenden Kräfte,
welche auf das Geschoß einwirken. Sie aber sind
geringer als die Gasspannung, da ein Teil des
Druckes für das Einpressen des Geschosses in die
Züge verbraucht wird.
Sehr einfach kann man die Geschoßbe-
wegung iin Rohr verfolgen, indem man quer
durch die Seele an verschiedenen Stellen elek-
trische Leitungsdrähte hindurchführt, welche das
Geschoß nach dem Abschießen der Reihe nach
durchreißt. Die Drähte werden von einem elek-
trischen Strome durchflössen, der beim Zerreißen
unterbrochen wird. Jede Stromunterbrechung be-
wirkt das Überspringen von Funken, welche sich
auf einer mit gleichmäßiger, bekannter Geschwin-
digkeit rotierenden Trommel markieren. Aus dem
Abstände zweier benachbarter P'unkenmarken läßt
sich dann die Zeit entnehmen, in welcher das
Geschoß den Weg zwischen den beiden zuge-
804
Naturwissenschaftliche' Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 51
hörigen Drähten zurückgelegt hat. Der Wert der
Geschwindigkeit, der nichts anderes als der in der
Sekunde zurückgelegte Weg ist, läßt weitere Rück-
schlüsse auf die Gasspannung zu.
Außer durch den eben erwähnten elektrischen
Zeitmesser kann der Druckverlauf in folgender
Weise ermittelt werden. Aus einem Rohr werden
wiederholt Schüsse mit stets derselben Ladung ab-
gegeben; vor jedem Schuß wird das Rohr vorne
durch Abschneiden um eine bestimmte Länge
verkürzt und jedesmal die Mündungsgeschwindig-
keit außerhalb der Waffe nach bekannten IVie-
thoden gemessen. So erhält man die Geschwin-
digkeitsänderungen innerhalb des unverkürzten
Rohres.
Die beim Militär gebräuchlichste Vorrichtung
zur Ermittlung der Pulvergasspannungen ist der
Rücklaufmesser. In ähnlicher Weise wie aus den
Geschoßgeschwindigkeiten ergeben sich aus den Be-
wegungen des Waffenrückstoßes die Spannungs-
verhältnisse. Die Waffe wird auf dem Rücklauf-
messer möglichst reibungsfrei in Schienen gelagert
und kann beim Abschießen ungehindert zurück-
gleiten. Diese rückläufige Bewegung wird mit
Hilfe verschiedener Registrierungsmethoden genau
nach Weglänge und Zeit aufgezeichnet. Mit der
zurückgleitenden Waffe kann z. B. eine metallene
Schreibplaite starr verbunden sein, auf die eine
feststehende, vibrierende Stimmgabel ihre Schwin-
gungen zeichnet. Je rascher die Bewegung, um
so enger rücken die einzelnen Wellen dieser
Schwingungslinie zusammen; aus ihrem Abstände
läßt sich zahlenmäßig die Rücklaufsgeschwindig-
keit berechnen. Einer anderen Anordnung gemäß
wird die Bewegung durch eine Schreibvorrichtung
auf eine sich drehende berußte Trommel aufge-
tragen. Da die so erhaltenen Rücklaufwege oft
recht klein sind und die Aufzeichnungen insbe-
sondere nur ungenaue Angaben über die ersten
Stadien der Bewegung enthalten, sind sie auf op-
tischem Wege bedeutend vergrößert worden. Die
bewegte Waffe dreht einen Spiegel, der von einer
hellen Lichtquelle beleuchtet wird. Der reflektierte
Strahl, der wie ein langer Zeiger wirkt, markiert
die Spiegel- und Waffenstellung auf einer rotie-
renden, mit lichtempfindlichem l'apier überzogenen
Trommel.
Die Untersuchungen haben klar gezeigt, wie
sich der Druck der Pulvergase in der Waffe ent-
wickelt und wie sich das Geschoß unter ihrem
Einfluß bewegt. Sobald nach der Zündung des
Pulvers der Gasdruck einen bestimmten Wert
überschritten hat, preßt er das Geschoß in die
Züge ein. Der idealste Verlauf wäre nunmehr
der, daß die Gasspannung bis zum Austritt des
Geschosses aus der Waffe dauernd konstant bliebe.
Doch kann dieses Ziel nicht erreicht werden. Der
Druck der Gase nimmt zunächst bis zu einem
Maximalwert zu, und zwar solange, wie die durch
die Verbrennung der Ladung zugeführten neuen
Treibgase noch den Spannungsabfall in dem fort-
während zunehmenden Verbrennungsraum auszu-
gleichen vermögen. Ist dieser Punkt erreicht,
sinkt der Druck wieder, bis er sich beim Austritt
des Geschosses plötzlich gänzlich entspannt. Die
Bewegung des Geschosses entspricht den treibenden
Kräften : seine Geschwindigkeit steigt mit dem
Fortgang der Explosion auf einen Höchstwert,
um gegen die Mündung zu wieder etwas abzu-
nehmen.
Neben den Druckverhältnissen in der Feuer-
waffe beanspruchen die auftretenden Wärme-
verhältnisse besonderes Interesse. Die Energie
oder das Arbeitsvermögen eines Pulvers ist be-
dingt durch seinen Wärmegehalt, der sich in der
Verbrennungswärme bei der Explosion kundtut.
So wie die Kohle die treibende Kraft für die Be-
wegung der Dampfmaschine liefert, so setzt das
Pulver durch seine Verbrennung die mannigfachen
Funktionen der Feuerwafien in Tätigkeit. Es
treibt das Geschoß nach vorn, bewirkt die Ge-
schoßrotation, überwindet die Reibungswiderstände,
stößt die Pulvergase aus, ruft den Rückstoß her-
vor usw. P^ür die eigentliche Aufgabe, die P~ort-
bewegung des Geschosses bleibt hier, den Ver-
hältnissen der Maschinen ähnlich, nur ein geringer
Peil der ursprünglichen Energie übrig. Das Ver-
hältnis der Geschoßenergie beim Verlassen der
Mündung zu dem Arbeitsvermögen der Pulver-
ladung, die sog. Pulverausnutzung, beträgt bei Ge-
wehren und Geschützen nicht mehr als 10 — ZS^Io-
Die Verbrennungswärme der Pulver-
sorten und Sprengstoffe wird in der schon
mehrfach erwähnten Versuchsbombe gemessen,
indem man diese in einem Wasserkalorimeter
unterbringt und mit einem sehr feinen Thermo-
meter die nach der Explosion auftretende Tempe-
raturerhöhung mißt. Aus der Temperatursteigerung
wird unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren
die Verbrennungswärme berechnet. Auch hier
nimmt man für den Endzustand das Wasser in
Dampfform an. Die Wärme wird nach Kalorien
gezählt; als eine Kalorie wird die Wärmemenge
angesehen, die erforderlich ist, um i kg Wasser
um I " zu erwärmen. Als Beispiele seien die
folgenden Werte angeführt :
I kg Schwarzpulver entwickelt 750 Kalorien
I „ Nitrozellulosepulver „ 940 „
I „ Nitroglyzerinpulver „ I330 „
I „ Trinitrotoluol „ 720 „
Unter den Zahlen fällt der hohe Wert des
nitroglyzerinhaltigen Pulvers gegenüber dem reinen
Nitrozellulosepulver auf Wenn man die Ver-
brennungswärmen der Explosivstoffe mit derjenigen
anderer organischer Körper vergleicht, erkennt
man, daß sie keineswegs abnorm hoch ist. Trotz-
dem werden infolge der sehr raschen Verbrennung
recht beträchthche Temperaturen erreicht. Eine
direkte Bestimmung der Explosionstemperatur
durch das Experiment ist bisher nicht gelungen.
Sie ist jedoch mit einiger Annäherung aus der
Verbrennungswärme und der spezifischen Wärme
der Verbrennungsgase errechnet worden und hat
I
N. F. XIII. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
805
sich für das Blättchenpulver, das sich in den
Patronen für das Gewehr 9S befindet, zu 2100"
herausgestellt. Durch derartig hohe Temperaturen
wird das Ausdehnungsbestreben der Pulvergase
sehr gesteigert und die dem Geschoß erteilte
Geschwindigkeit bedeutend vergrößert. Die hohen
Hitzegrade gefährden jedoch die dauernde Halt-
barkeit der Waffe; durch die glühend heißen
Pulvergase werden Seelenrohre, Verschlüsse usw.
durch Abschmelzen, Verdampfen, Ausbrennen
stark beschädigt. Solche .Ausbrennungen treten
besonders bei leicht schmelzbaren Metallen, z. B.
der Bronze, auf und ferner bei solchen Pulver-
sorten, die wie die nitroglyzerinhaltigen Pulver
sich durch hohe Verbrennungswärme auszeichnen.
Die hohe Temperatur der Pulvergase hat ihre
Ursache in der beträchtlichen Geschwindigkeit
d er Verbrennungsvorgänge. Die V e r b r e n n u n gs-
gesch windigkeit kann sehr einfach durch die
bereits erläuterte Explosionsbombe mit Nobelscher
Stauchvorrichtung gemessen werden, indem man
eine Schreibvorriclitung mit langem Hebelarm
daran anbringt. Der Verlauf der Zusammen-
stauchung wird so in vergrößertem Maße auf
einer rotierenden, berußten Trommel aufgezeichnet
und der Zeitpunkt des Druckmaximums deutlich
markiert. Als Verbrennungsdauer sieht man dann
gewöhnlich die Zeit an , welche bis zum Auf-
treten des maximalen Druckes vergeht. Auf die
Bestimmung der Verbrennungsdauer des Pulvers
in der Waffe ist diese Methode deshalb nicht an-
wendbar, weil hier bei der dauernden Veränderung
von Gasspannung und Verbrennungsraum völlig
veränderte Verhältnisse obwalten. Die bisher zur
direkten Feststellung der Verbrennungszeit des
Pulvers vorgeschlagenen Untersuchungsweisen
haben wenig zuverlässige Resultate geliefert.
Dagegen bestehen eine Reihe sehr brauchbarer
Methoden, um die Verbrennungsgeschwindigkeit
der Explosivstoffe außerhalb der Waffe messend
zu verfolgen. Sie sind für die Praxis von erhöhter
Bedeutung, weil sie die sog. Brisanz zu beurteilen
gestatten. Je rascher ein Explosivkörper ver-
brennt, um so brisanter ist er.
Die Messung durch den Funkenchronographen
hat große Ähnlichkeit mit dem beschriebenen
elektrischen Zeitmesser für die Geschoßgeschwindig-
keit innerhalb der Waffe. In einer Sprengpatrone,
die mit dem zu untersuchenden Stoff gefüllt ist,
sind an zwei Stellen in bekannter Entfernung
voneinander Drähte angebracht, durch welche
ein elektrischer Strom fließt. Bei Detonation
der Sprengladung werden die Ströme nachein-
ander unterbrochen und der zeitliche Abstand in
bekannter Weise auf einer rotierenden Trommel
markiert. .Aus den erhaltenen Daten läßt sich
leicht die Geschwindigkeit ableiten , mit welcher
die Detonation von einem zum anderen Drahte
fortschreitet.
Eine sehr sinnreiche Methode zur Messung
von hohen Verbrennungsgeschwindigkeiten besteht
in der Verwendung der sog. Detonationszünd-
schnur. Eine solche etwa 1,5 m lange Schnur
ist mit Trinitrotoluol getränkt und an beiden
Enden mit Sprengkapseln versehen; ihre Mitte
liegt auf einer weichen Bleiplatte auf. Werden
beide Enden gleichzeitig entzündet, so treffen sich
die Detonationswellen genau in der Mitte und
kennzeichnen ihren Treffpunkt durch einen Riß
in der Bleiplatte. Gelangen die Enden aber in
kurzem Abstände nacheinander zur Zündung, so
rückt der Treffpunkt von der Mitte fort in der
Richtung auf das später gezündete Ende der
Schnur und zwar im Verhältnis des zeitlichen
Abstandes der beidOTi Zündungen. Wenn also
die beiden Schnurenden an zwei Stellen einer
Patrone mit dem zu prüfenden Explosivkörper
angebracht wird , läßt sich auf diese Weise die
Detonationsgeschwindigkeit finden.
Die Brisanz sehr kräftiger Sprengstoffe mißt
man oft bei freier Lagerung auf einer Unterlage;
man erhält so zwar keine Werte für die Ver-
brennungsgeschwindigkeit selbst, aber recht gute
Vergleichszahlen. So läßt man z. B. einen Spreng-
körper frei auf einem Stahlzylinder liegend ex-
plodieren und bestimmt die Stauchung, welche
ein unter dem Stahlzylinder ruhender Kupferblock
erfährt. Oder man ermittelt die Gewichtsmenge
des Brisanzkörpers, die erforderlich ist, um bei
freier Anlage eine VValzeisenplatte von bestimmter
Dicke zu durchschlagen.
Die an Explosivstoffen gemessenen Ver-
brennungsgeschwindigkeiten sind ungeheuer groß;
so pflanzt sich z. B. die Detonation in der Pikrin-
säure mit der erstaunlichen Geschwindigkeit von
8000 m pro Sekunde fort. Lockere Schießwolle
verbrennt in weniger als ^/loooo Sekunden.
Schwarzpulver braucht zur Verbrennung in Staub-
form 0,0015, gekörnt 0,0057 "rid in stark ge-
preßter Form 0,0084 Sekunden. Aus den letzten
Zahlen geht schon hervor, daß die Verbrennungs-
geschwindigkeit stark von dem physikalischen
Zustande, von der Dichte des Pulvers abhängig
ist. Durch Zusammenpressen nimmt sie deutlich
ab; so wird auch die Brisanz der Schießwolle
durch Gelatinierung wesentlich vermindert, wobei
sie ihre Faserstruktur verliert und in einen dich-
teren Zustand übergeht. Die Verbrennungsge-
schwindigkeit hängt ferner von dem Raum ab,
der für die Explosion zur Verfügung steht, von
dem sog. Ladungsraum. Bei geringem Laderaum
und hoher Ladeschichte entwickelt sich großer
Druck, der die Verbrennung beschleunigt. Bei
modernen Pulversorten beträgt der Laderaum ca.
das Doppelte des Pulvervolumens.
Eine genaue Kenntnis der Verbrennungsge-
schwindigkeit von Explosivkörpern ist deswegen
für den Waffentechniker von Bedeutung, weil er
daraus die Ausnutzung eines Pulvers zu beurteilen
vermag. Das Pulver wird dem Ideal am nächsten
kommen, dessen Verbrennung-geschwindigkeit so
geregelt ist, daß es gerade in dem Moment völlig
verbrannt ist, in welchem das Geschoß die Mündung
verläßt. Leider ist dieser Idealzustand noch nicht
8o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 51
erreicht; an den Mündungen unserer Waffen läßt
sich immer noch eine Feuererscheinung beobachten,
die von unvollständiger Verbrennung des Pulvers
herrührt; ein solches Mündungsfeuer kann die
Vorteile der rauchlosen Pulver unter Umständen
erheblich beeinträchtigen.
Kurz sei hier auf einen eigenartigen physika-
lischen Begriff hingewiesen, der bei der Beurteilung
von Explosivkörpern eine Rolle spielt, auf die
Empfindlichkeit gegen Stoß und Schlag, auf die
sog. Sensibilität. Die verschiedenen Spreng-
körper sind sehr verschieden sensibel; die einen
explodieren durch Stoß ufld Schlag sehr leicht,
die anderen gar nicht oder schwierig. Die Sensi-
bilität wird geprüft, indem man auf eine abge-
wogene Menge des Untersuchungsobjektes einen
Fallhammer von bestimmtem Gewichte nieder-
fallen läßt und die Fallhöhe bestimmt, welche
erforderlich ist, um die Detonation hervorzurufen.
So wurde folgendes gefunden : Durch ein Gewicht
von 2 kg wurde
Knallsilber bei einer Fallhöhe von i cm
Pikrinsäure ,, „ „ „ 25 „
Trinitrotoluol ,, ,, „ „ 108 ,,
zur Explosion gebracht. Man erkennt die großen
Unterschiede, welche zwischen dem als Zündmittel
verwendeten Knallquecksilber, der recht druck-
empfindlichen Pikrinsäure und dem schuß- und
rohrsicheren Trinitrotoluol bestehen.
Während das Geschoß unter dem Druck der
hocherhitzten Pulvergase den Lauf oder das Rohr
verläßt, führt die VVaffe selbst verschiedene Be-
wegungen aus: sie erfährt, wie schon erwähnt,
einen Rückstoß in der Richtung der Seelenachse,
die Mündung wird angehoben und zugleich wird
Lauf oder Rohr durch die Erschütterung des
Schusses in schwingende Bewegungen versetzt,
die bei Geschützen so stark sein können, daß s*e
mit bloßem Auge erkennbar sind. Alle VVaffen-
bewegungen beim Schuß hat man auf
photographischem Wege durch einzelne Moment-
bilder oder durch kinematographische Serienauf-
nahmen eingehend studiert.
Um die Waffen im Moment des Schusses
photographieren zu können, ist die Einrichtung
derart getroffen, daß durch das Geschoß vor der
Mündung ein Strom unterbrochen wird und daß
durch diese Unterbrechung an einer Leidener
Flasche ein starker Funke hervorgerufen wird.
Der momentan auftretende, intensiv leuchtende
Funke wirft das Bild der Waffe auf die photo-
graphische Platte; die Zeit seines Aufleuchtens
ist so kurz, daß auch die schnellste Bewegung
stillstehend erscheint. Durch allmähliche Ent-
fernung der Funkenauslösevorrichtung von der
Mündung kann der Schußvorgang in jeder be-
liebigen Phase festgehalten werden. So hat man
sehr instruktive Bilder von dem Austreten der
Pulvergase, von dem Ausschleudern unverbrannter
Pulverkörner, von dem Funktionieren des
Schlosses usw. erhalten.
Besser als durch Einzelbilder werden die Schuß-
bewegungen durch die Serienaufnahmen der
Schußkinematographie demonstriert. Die ge-
wöhnliche kinematographische Methode, deren
Beleuchtungsprinzip auf einem rasch wechselnden
Blenden und Offnen einer konstanten Lichtquelle
beruht, ist zur Festhaltung der Schußvorgänge
wegen der ungeheueren Geschwindigkeiten nicht
anwendbar. Die Beleuchtung wird hier durch
elektrische Funken bewirkt, die in raschester Auf-
einanderfolge überspringen und die Momenibilder
der Waffe auf einen schnell rotierenden Film ent-
werfen. Mit Hilfe sinnreicher Vorrichtungen ist
es gelungen, die Beleuchtungsfunken und damit
die einzelnen Aufnahmen in derart rascher Folge
zu erzeugen, daß der zeitliche Abstand der ein-
zelnen Aufnahmen wenig mehr als Vi 00 000 Sekunde
beträgt. So kann man selbst von den rapidesten
Vorgängen, die in minimalen Bruchteilen einer
Sekunde verlaufen, eine ganze Reihe von Teil-
bildern erhalten. Die Serienaufnahmen werden
auf einen an der Seite gelochten Film kopiert,
und mit Hilfe eines kinematographischen Projek-
tionsapparates auf einem Schirm zu einem zu-
sammenhängenden Vorgange vereinigt. Die Ge-
schwindigkeit des Filmbildes kann beliebig ver-
langsamt werden und so werden noch Bewegungen
bequem sichtbar, die sich sonst wegen ihrer un-
geheueren Geschwindigkeit jeder Beobachtung ent-
ziehen. Ganz ähnlich wie man durch das Mikro-
skop instand gesetzt wird, kleinste Körperchen
in allen Einzelheiten zu erkennen, oder wie durch
das Fernrohr weit entfernte Gegenstände stark
angenähert erscheinen, wird durch die kinemato-
graphische Methode die Verfolgung sehr rascher
Vorgänge mit dem Auge möglich. Ein Bild von
eigenartigem Reiz bietet auf dem Projektionsschirm
beispielsweise das Abschießen einer Selbstladewaffe:
langsam rückt der Abzugshahn wieder vor, das
Geschoß, das in Wahrheit mit vielen Hundert
Metern Geschwindigkeit hervorjagt, tritt ruhig
und harmlos aus dem Lauf heraus, die Pulvergase
dringen wie Qualm aus einem Schornstein aus
der Mündung hervor, der Verschluß geht zurück,
die leere Patronenhülse wird ausgeworfen, eine
neue Patrone eingeführt; alles was in Wirklichkeit
sich mit äußerster Schnelligkeit vollzieht, geht in-
folge der kinematographischen Verlangsamung mit
größter Ruhe und Bequemlichkeit vor sich.
Mit noch so eingehenden Angaben über die
Bewegungsvorgänge in der Waffe ist dem Soldaten
im Felde nur wenig gedient; um seine Ziele er-
folgreich beschießen zu können , bedarf er vor
allem genauer Kenntnis des Weges, den das Ge-
schoß nach dem Abschießen einschlägt und der
Wirkungen, die es am Ziel hervorbringt.
Wenn das Geschoß die Waffe verlassen hat,
und keinerlei Kräfte es uuf seinem Wege beein-
flussen würden, so müßte es sich in gerader Linie
fortpflanzen. In Wirklichkeit wird das Geschoß
durch vielerlei Einwirkungen, unter denen die An-
ziehung der Erde und der Widerstand der Luft
N. F. Xm. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
.S07
die wichtigsten sind, aus seiner Bahn abgelenkt.
Außer durch die Richtung der Seelenachse und
die Eigengeschwindigkeit des Geschosses wird
daher die Gestalt der Flugbahn im wesent-
lichen durch Schwerkraft und Luftwiderstand be-
dingt. Sieht man der Einfachheit wegen zunächst
von der Wirkung des Luftwiderstandes ab, be-
trachtet man also den Geschoßflug im luft-
leeren Raum, so ergibt sich aus meciianischen
Prinzipien für die Flugbahngestalt eine verhältnis-
mäßig einfache Linie, die Parabel. Eine noch
einfachere Form nimmt die Flugbahn an, wenn
man nur nahezu horizontale Schüsse mit geringer
Erhebung der Seelenachse gegen die Wagerechte
in Betracht zieht, wie sie für das Gewehr die
Regel sind. Die Bahn nimmt dann die Gestalt
eines flaciien Kreisbogens an. Obgleich sich jede
Geschoßbewegung im lufterfüllten Raum vollzieht,
gestatten die für den leeren Raum auf mathe-
mathischem Wege abgeleiteten Formeln doch
wesentliche Rückschlüsse auf die wirkliche Flug-
bahn und teilweise direkt praktische Verwertung.
Es zeigte sich nämlich, daß der wirkliche Geschoß-
flug sich in vielen P'älien, besonders bei schweren
Geschossen und geringen Geschwindigkeiten, der
Parabelgestalt sehr annähert.
Aus der parabolischen Gestalt folgt ohne
weiteres, daß die größte Schußweite bei einem
.Abgangswinkel von 45 Grad erreicht wird, das
heißt, wenn die Geschoßbahn mit einer in der
Mitte zwischen der Horizontalen und der Senk-
rechten liegenden Richtung ansteigt. Zugleich
folgt, daß dieselbe Schußweite mit zwei ver-
schiedenen Erhöhungswinkeln erreicht werden
kann, die beide von dem Winkel der maximalen
Schußweite gleich weit entfernt sind. So wnrd
z. B. mit einem Winkel von 30 Grad dasselbe
Ziel getroffen, wie mit einem solchen von 60 Grad.
Die militärische Praxis macht sich diese Möglich-
keiten in dem Steil- und Flachschuß zunutze.
Infolge des verzögernden Luftwiderstandes ist
die Flugbahn stets mehr oder weniger von der
Gestalt der Parabel verschieden. Die Schußweite
und Endgeschwindigkeit wird verkleinen, die Ge-
samtflugzeit vergrößert und der Scheitel der Bahn
mehr nach dem Auftreffpunkt hin verlegt. Der
absteigende Flugbahnast ist stärker gekrümmt als
der auf^teigende; er fällt steiler ab, und daher ist
der Auffallwinkel, d. h. der Winkel, unter dem
das Geschoß am Ziele auftrifift, größer als der Ab-
gangswinkel. Für artilleristische Zwecke ist ein-
gehende Kenntnis der wirklichen Flugbahngestalt,
der sog. ballistischen Linie durchaus
notwendig, um Ziele erfolgreich bekämpfen zu
können. Insbesondere müssen die Zusammen-
hänge zwischen den einzelnen Elementen der
Bahn, den ballistischen Elementen gut bekannt
sein; der Artillerist muß wissen, welche Be-
ziehungen zwischen Anfangsgeschwindigkeit und
Abgangswinkel einerseits, und der Schußweite,
der Flugzeit, der Endgeschwindigkeit und dem
Auffallwinkel andererseits bestehen. Durch mannig-
faltige Schießversuche zusammen mit den theo-
retischen Berechnungen der Mathematiker und
Physiker hat man die Zusammenhänge dieser
Elemente für die verschiedensten Verhältnisse
tabellarisch aufgezeichnet und sie für den prak-
tischen Gebrauch in den Schußtafeln niedergelegt.
Der Ei nfl u ß des L u ft w ide rstand es auf
die Gestaltung der Geschoßbahn macht sich um
so deutlicher bemerkbar, je leichter das Geschoß-
gewicht und je größer die Geschwindigkeit ist.
Eine 120 kg schwere Mörsergranate, die mit ca.
200 m Anfangsgeschwindigkeit fortgeschleudert
wird, erreicht etwas mehr als die Hälfte der be-
rechneten Schußweite. Dagegen verliert das sehr
rasch mit einer Geschwindigkeit von über 600 m
fliegende Infanteriegeschoß des Gewehres 8Ö in-
folge des Luftwiderstandes über 70 "/„ seiner
Schußweite. Für kleine Geschosse großer Ge-
schwindigkeit ist hohes spezifisches Gewicht von
Vorteil. Das moderne Gewehrgeschoß mit Stahl-
mantel und Bleikern hat eine Dichte von 10,5.
Versuche, die man mit schwereren Metallen an-
stellte, sind an praktischen Schwierigkeiten ge-
scheitert.
Neben der Geschwindigkeit und dem Gewicht
des Geschosses kommt für die Größe des Luft-
widerstandes das Gewicht der Luft während des
Schießens in Frage. Das Luftgewicht wechselt
stark mit dem Luftdruck, der Temperatur und
dem Feuchtigkeitsgehalt. Hoher Barometerstand,
kalte und feuchte Luft setzen dem Geschoß mehr
Widerstand entgegen, als eine leichte, warme und
trockene Atmosphäre.
Durch die Geschoßbewegung wird die Luft
zur Seite gedrängt, so wie das fahrende Schiff
das Wasser durchschneidet. Ebenso wie der
Widerstand, welchen das Schiff im Walser findet,
von Querschnitt und äußerer Gestalt des Schiffs-
körpers abhängig ist, ist der dem fliegenden Ge-
schoß entgegentretende Luftwiderstand durch die
Querschnittsfläche des Geschoßkörpers und
durch seine Form bedingt. Bei den im Mittel-
alter verwendeten Kugeln ist das Verhältnis
zwischen Geschoßgewicht und dem zum Luft-
widerstande senkrechten Querschnitte außer-
ordentlich ungünstig. Viel vorteilhafter gestaltet
sich das Verhältnis bei den modernen Lang-
geschossen, mit walzenförmigem Führungsteil und
nach vorne zulaufender Spitze. Zu weiterer Ver-
ringerung des Luftwiderstandes durch Querschnitts-
verkleinerungen hat man Geschosse vorgeschlagen,
durch deren Kern eine zylindrische Bohrung hin-
durchführt. Derartige Hohlgescho-se bewährten
sich in der Praxis jedoch nicht. Die äußere Form
der deutschen Infanteriegeschosse Modell 9S ist
heute so ausgebildet, daß sie der Luftdurch-
schneidung einen möglichst geringen Widerstand
entgegensetzen. An einen zylindrischen Führungs-
teii, der etwa die Hälfte der ganzen Geschoßlänge
einnimmt, schließt sich eine lange, schlanke Spitze.
Das französische Gewehrgeschoß hat ebenfalls eine
schlanke Spitze, im Gegensatz zum deutschen
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 51
Spitzengeschoß jedoch einen nach dem Boden zu
eiförmig verjüngten Führungsteil, in der Form an
das Heck eines Schiffes erinnernd. Wie experi-
mentell erwiesen, wird durch die heckförmige Ver-
jüngung der Luftwiderstand herabgemindert.
Die Gestaltung der Sprenggranaten und
Schrapnells kann den Forderungen nach einem
möglichst geringen Widerstand nur soweit ent-
gegenkommen, als es die Rücksichten auf den
inneren Ausbau und die Füllung zulassen. Man
wendet hier schwach abgerundete Spitzenformen
an und sucht die Spitze im Verhältnis zum Ge-
schoßdurchmesser soweit als praktisch möglich zu
verlängern. Die massiven Fanzergeschosse, die
nicht durch Sprengladungen, sondern lediglich
durch die lebendige Kraft ihres Aufpralles wirken
sollen, werden mit scharfer, gehärteter Spitze ver-
sehen. Um ein Eindringen in die Ziele zu er-
leichtern und das Abbrechen der Spitze zu ver-
hindern, umgibt man sie mit einer Kappe aus
weichem StahlblecJi.j
Über das eigentliche Wesen des Luftwider-
standes gibt in sehr interessanter Weise die oben
schon erwähnte Schußkinematographie Aufschluß.
Es ist gelungen, das Geschoß trotz seiner un-
geheueren Geschwindigkeit, auf die photographische
Platte zu bannen. Auf den erhaltenen Bildern sind
außer der dunklen Silhouette des Geschosses deut-
lich alle die vor, neben und hinter dem Geschoß
auftretenden Luftbewegungen zu erkennen.
Es ist so erwiesen, daß das Geschoß der Luft
selbst Beschleunigung erteilt, sie in Wellen fort-
stößt und in ihr durch Reibung Wirbel erzeugt.
Die Energie, welche das Geschoß infolge des
Luftwiderstandes verliert, setzt sich in diese
Wellen- und Wirbelbewegungen um.
Charakteristische Luftbewegungen treten am
fliegenden Geschoß erst bei Geschwindigkeiten
auf, welche die Schallgeschwindigkeiten über-
steigen. Die Erscheinungen sind denen sehr
ähnlich, die ein fahrendes Schiff im Wasser her-
vorruft. An der Geschoßspitze entsteht eine
Welle verdichteter Luft, die sog. Kopfwelle, die
unter bestimmtem, von der Geschwindigkeit ab-
hängigem Winkel seitlich ausläuft. Bei den spitzen
Infanteriegeschossen beginnt diese Bugwelle etwas
hinter dem Geschoßkopf. Vom Geschol3boden
geht eine zweite Verdichtungswelle, die Schwanz-
welle aus. In dem Schußkanal erblickt man noch
mehrere Meter hinter dem Geschoß zahlreiche
Wölkchen, die von Luftwirbeln herrühren.
Der Luftdruck, der am fliegenden Geschoß
durch Verdichtung der Luft auftritt, ist nicht
sonderlich hoch ; wie gründliche Messungen er-
geben haben, beläuft er sich auf nur wenige Atmo-
sphären. Wenn im Gefechte einzelne Leute durch
den Luftdruck der Granaten getötet sein sollen,
so ist das lediglich eine Wirkung der platzenden
Granaten, deren Sprengfüllung bei der Detonation
allerdings gewaltige Spannungen entwickeln. Der
durch den Vorbeiflug selbst großer Geschosse
hervorgerufene Luftdruck kann einen Mann höch-
stens zu Boden werfen.
Im menschlichen Ohre rufen die Verdichtungs-
wellen eine Knall em pfind ung hervor. Wenig
bekannt dürfte es sein, daß wir an den Feuer-
waffen zwei verschiedene Arten des Knalles, den
Geschoß- und den Waftenknall zu unterscheiden
haben. Im Gefecht ist bei dem allgemeinen
Schlachtenlärm davon zwar nichts zu merken, da-
gegen wird man diese Angabe bestätigt finden,
wenn man auf dem Schießstande in der Anzeiger-
deckung am Ziele aufmerksam beobachtet. Zu-
gleich mit dem Geschoß kommt ein kurzer,
ssharfer Knall am Ziele an ; er rührt von der
Kopfwelle des Geschosses her. Kurz darauf folgt
ein zweiter, dumpferer Knall, der an der Waffe
hervorgebracht wird, wenn die hochgespannten
Pulvergase nach Austritt des Geschosses plötzlich
auf die umgebende Luft stoßen. Er pflanzt sich
nur mit Schallgeschwindigkeit fort und langt daher
später als der Geschoßknall am Ziele an.
Der Luftwiderstand aber wirkt nicht nur ver-
zögernd auf die Geschoßgeschwindigkeit ein, er
hat auch das Bestreben, die Geschosse aus ihrer
Lage in der Richtung der Flugbahn zu drängen,
sie zum Überschlagen zu bringen. Man kann sich
davon sehr anschaulich überzeugen, wenn man
ein Infanteriegeschoß lose drehbar auf eine Platte
legt und jetzt in der Richtung der Längsachse
einen Luftstrom dagegen bläst. Es beginnt so-
gleich heftig zu schwanken und stellt sich schließ-
lich quer zum Luftstrom. Das Überschlagen der
Langgeschosse würde eine völlig unregelmäßige
Flugbahn im Gefolge haben und damit die Treff-
sicherheit illusorisch machen. Man sichert daher
den Geschossen eine feste und dauernde Richtung
in der Mugbahn, indem man ihnen eine scharfe
Drehbewegung um ihre Längsachse er-
teilt. Alle schnell rotierenden Körper setzen
Kräften, die ihre Drehachse aus ihrer Richtung
zu bringen suchen, beträchtlichen Widerstand ent-
gegen ; der sich drehende Kreisel, ja unsere Erde
selbst liefert ein Beispiel für diese Erscheinung.
Die Rotation der Langgeschosse wird durch die
schraubenförmige Steigung der Züge, dem Drall,
im Lauf und Rohr hervorgebracht, in welche sich
das Geschoß hineinschraubt. Die Geschwindigkeit
beträgt bei neuen Gewehren 3 — 4000 Touren pro
Sekunde. Da die Rotation durch den Luftwider-
stand fast gar nicht, sondern nur durch die gering-
fügige Luftreibung beeinflußt wird , erfährt ihre
Geschwindigkeit während der Dauer des Geschoß-
fluges keine nennenswerte Einbuße.
Ein völlig ruhiger Flug wird durch die Ge-
schoßrotatien noch nicht gewährleistet. Aus der
Wechselwirkung zwischen der Geschoßdrehung
um die Längsachse und dem Luft widerstände
entsteht eine pendelnde Drehbewegung, indem
die Geschoßachse eine Kegelform beschreibt. An
tanzenden Kreiseln kann man ähnliche Pendelungen
beobachten. Solche regelmäßigen Bewegungen
sind nicht mit dem Flattern gewisser Artillerie-
N. F. Xm. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
809
geschosse zu verwechseln, das man hier und da
mit bloßem Auge wahrnehmen kann und dessen
Ursache in unregelmäßigen Stößen der Pulvergase
auf dem Geschoßboden zu suchen ist.
Zahlreich sind die Methoden und interessant
die Ergebnisse der experimentellen Untersuchun-
gen, welche man über die einzelnen ballistischen
Elemente der Geschoßbahn anstellte. Anfangs-
geschwindigkeit, Abgangswinkel, Flugzeit und
Schußweite wurden genau gemessen, ebenso Auf-
fallwinkel und Endgeschwindigkeit bestimmt. Die
üblichen Methoden der praktischen Physik ver-
sagen der ungeheuren Geschwindigkeiten und der
riesigen Kräfte wegen meistens, neue Unter-
suchungsverfahren sind daher vielfach herange-
zogen worden.
Die Mündungs- oder Anfangsgeschwin-
digkeit, d. h. die Geschwindigkeit, welche das
Geschoß beim Austritt aus der Mündung besitzt,
ist oft gemessen worden. Wegen ihres bestim-
menden Einflusses auf die Rasanz der Flugbahn,
die Schußweite und die Treffsicherheit hat sie
wichtige Bedeutung für die Praxis des Schießens.
Die älteste Bestimmungsmethode beruht auf der
Verwendung des ballistischen Pendels ; in einen
als Pendel lose aufgehängten, mit Sand gefüllten
Kasten schießt man das Gewehrgeschoß aus ziem-
lich naher Entfernung hinein und beobachtet den
Ausschlag, welchen der hängende Kasten erfährt.
Die Größe des Ausschlagwinkels steht dabei in
direkter Beziehung zu der Energie des fliegenden
Geschosses und gibt ein Mittel an die Hand, die
Geschoßgeschwindigkeit zu berechnen. Der Ge-
brauch des Sandkastens ist veraltet; als ballisti-
sches Pendel benutzt man heute eine hängende
Stahlplatte; an der gut gehärteten Oberfläche
prallt das Geschoß ab und überträgt sein Arbeits-
vermögen auf die Platte, aus deren Bewegungs-
größe sich seine Geschwindigkeit auf Grund der
Stoßgesetze ergibt. Diese Einrichtung ist ein
sehr bequemes und genaues Meßinstrument; es
hat vor allem den Vorteil, daß es die wirkliche
Geschwindigkeit im Moment des Auftreffens er-
gibt. Alle anderen Bessimmungsmethoden sind
im eigentlichen Sinne nur Zeitmesser; sie ermög-
lichen die Bestimmung der Zeitdauer, welche das
Geschoß zum Durchfliegen einer längeren Strecke
benötigt, und liefern daher stets nur mittlere Ge-
schwindigkeitswerte.
Geschwindigkeitsmessungen an Pistolenge-
schossen führt man mit Hilfe einer schnell rotie-
renden, hohlen Kartontrommel aus. Schießt man
durch eine solche Vorrichtung hindurch, wenn
sie in Ruhe ist, so liegen Ein- und .Ausschußloch
auf einem Durchmesser; bei rotierender Trommel
verschiebt sich das Ausschußloch jedoch um einen
bestimmten Betrag. Aus Durchmesser und Rota-
tionsgeschwindigkeit der Trommel, sowie der Ver-
schiebung der Ausschußöffnung kann die Geschoß-
geschwindigkeit abgeleitet werden.
Sehr zuverlässige Werte liefern die Verfahren,
die sich zur Registrierung elektrischer Erschei-
nungen bedienen. Das Prinzip dieser Methoden
ist stets das gleiche : kurz vor der Mündung der
Feuerwaffe sind in bestimmtem Abstände zwei
Stromkreise angebracht; durch das fliegende Ge-
schoß werden diese Ströme unterbrochen und die
Zeit zwischen den Unterbrechungen registriert.
Bei Versuchen über die Anfangsgeschwindig-
keit von Artilleriegeschossen stellt man vor dem
Geschütz am Anfang und Ende der Meßstrecke
meist in gegenseitiger Entfernung von 50 oder
100 Metern zwei gitterförmige Raiimen, die
Durchschießungsgitter auf Die Drähte sind so
dicht gespannt, daß beim Hindurchfliegen des
Geschosses wenigstens ein Draht zerrissen werden
muß, und damit Stromunterbrechung eintritt. Bei
Untersuchungen an Gewehren spannt man kurz
vor der Mündung einen dünnen versilberten
Kupfeidraht, der beim Schuß zerrissen wird, und
hängt 50 m weiter eine Stahlplatte auf, die
an elektrischen Kontakten anliegt, durch das auf-
prallende Geschoß jedoch abgehoben wird. Beide
Methoden haben den Nachteil , daß die Energie
des Geschosses durch die Zerreißungsarbeit ver-
mindert wird und daher fehlerhafte Werte erhalten
werden. Um diesen Übelstand zu beheben, hat
man neuerdings Luftstoßanzeiger verwendet, bei
denen die Stromunterbrechung durch den Stoß
der das Geschoß begleitenden verdichteten Luft
erfolgt. Die idealste Methode zur messenden
Verfolgung des frei fliegenden Geschosses ist die
Schußkinematographie, die bereits mit Erfolg für
derartige Messungen herangezogen wurde.
Die Aufzeichnung der zwischen zwei Strom-
unterbrechungen verstreichenden Zeit kann in
verschiedener Weise erfolgen. Für den Gebrauch
auf den Schießplätzen dient gewöhnlich der Fall-
chronograph. Infolge der ersten Stromunter-
brechung läßt ein Elektromagnet ein Gewicht
fallen, durch die zweite wird ein Messer betätigt,
welches in das fallende Gewicht eine Kerbe
schlägt. Die Kerbe rückt um so weiter von
einem Nullpunkt fort, je mehr Zeit zwischen den
Unterbrechungen vergeht. Aus dem Abstand
kann die Flugzeit und damit die Geschwindigkeit
leicht berechnet werden. Auch die Markierung
durch elektrische Funken auf einer berußten rotie-
renden Trommel ist für Geschwindigkeitsmessun-
gen geeignet; infolge des Durchschießens wird
der primäre Stromkreis eines Induktionsapparates
unterbrochen und dadurch sekundär der über-
springende Funken hervorgebracht.
Die heutigen Methoden zur Bestimmung von
Geschoßgeschwindigkeiten gestatten sehr feine
Messungen ; bei 800 m Geschwindigkeit kann
noch auf eine Genauigkeit von 20 cm pro Sekunde
gerechnet werden. Es hat sich herausgestellt,
daß die Geschosse durchaus nicht immer direkt
an der Mündung die höchste Geschwindigkeit be-
sitzen, daß sie vielmehr zunächst durch die nach-
strömenden Pulvergase noch eine Beschleunigung
erfahren und erst etwas vor der Mündung ihre
größte Geschwindigkeit erlangen. Die gefundenen
!lO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 51
Anfangsgeschwindigkeiten wechseln bei den ver-
schiedenen Feuerwaffen, sind aber durchweg sehr
hoch. Bei Gewehren beträgt sie bis zu 900 m,
bei Feldkanonen etwa 500 m, bei der schweren
Artillerie 600 — 700 m. Man erkennt, daß sich
das Geschoß stets viel schneller als der Schall in
der Luft fortpflanzt. Daher rührt auch die Be-
obachtung der Feldsoldaten, daß sie sich beim
Knallen der feindlichen Gewehre immer erst dann
in Deckung werfen, wenn die Geschosse längst
vorüber geflogen sind. Infolge der hohen Ge-
schwindigkeit verfügen die Geschosse über ein
sehr hohes Arbeitsvermögen, das mit ihrem Ge-
wichte noch anwächst. Man drückt das Arbeits-
vermögen oder die Mündungsenergie meist in
Meterkilogrammen aus, indem man die Energie
als Kinheit annimmt, welche i kg um I m zu
heben vermag. Die Mündungsenergie der Gewehre
beläuft sich auf 300 — 400 mkg, der Feldgeschütze
auf 75000 — 100 000 mkg, der Kanonen der schwe-
ren Artillerie je nach der Größe des Kalibers bis
auf mehrere Millionen mkg. Welche gewaltigen
lebendigen Kräfte den großen Geschossen inne-
wohnen, geht aus folgendem Vergleich hervor.
Die 620 kg schwere Granate einer Marinekanone
von 35,5 cm Kaliber besitzt an der Mündung eine
Energie, welche nahezu das Dreifache eines mit
90 km Geschwindigkeit fahrenden D-Zuges mit
Lokomotive, vier Wagen und Tender beträgt.
Der Winkel, unter welchem sich die Geschoß-
bahn gegen die Horizontale erhebt , der A b -
gangswinkel, kann durch Winkelmeßvorrich-
tungen bestimmt werden. Er ist stets etwas
größer als der sog. Erhebungswinkel, den die
Seelenachse der eingerichteten Waffe mit der
Wagerechten bildet, da die Mündung beim Schuß
stets etwas gehoben wird. Mit zunehmender Ver-
größerung des Abgangswinkels wächst die Schuß-
weite zunächst bis zu einem Winkel von etwa
40 Grad und nimmt bei weiterer Erhöhung stufen-
weise wieder ab. Die Schußweite ist durch Beob-
achtung und genaues Abmessen der Treffpunkts-
lage sehr präzise bestimmbar. Die größte Schuß-
weite beträgt bei Gewehren 3,5 — 4,5 km, bei
modernen Feldkanonen etwa 7 km und bei
größeren Geschützen über 20 km; ja es sind
bereits Küstengeschütze konstruiert, deren Reich-
weite sich auf 35 km erstreckt. Im Felde wird
übrigens die größte Schußweite nur selten voll
ausgenutzt.
Die Bestimmung der Gesamtflugzeit von
Artilleriegeschossen begegnet keinen sonderlichen
Schwierigkeiten; mit einem Handchronometer, der
den für sportliche Zwecke verwendeten Stoppuhren
gleicht, und einem Telephon, welches Beginn oder
Ende des GeschoßflLiges anzeigt, kann die Flug-
zeit gemessen werden. Bei Infanteriegeschossen
schlägt man gewöhnlich ein anderes Verfahren
ein; man stellt am Anfang und Ende der Geschoß-
bahn die schon erwähnten, vom Strom durch-
flossenen Durchschießungsgitter auf und trifft die
elektrische Einrichtung so, daß bei der ersten
Unterbrechung eine Meßuhr in Gang gesetzt wird
und bei der zweiten wieder gestoppt wird. Die
Zeit kann so bis auf '/looo Sekunde genau abge-
lesen werden. Allerdings ist es bei großen Ent-
fernungen nicht immer leicht, das zweite Gitter
zu treffen. Die totale Flugzeit wird bei Flach-
bahnschüsscn selten wenige Sekunden übersteigen;
bei hohen Bogenschüssen, deren Ziel 10 — 20 km
weit entfernt liegt, können zwischen Abschießen
und Auftreffen Zeiten von einer halben bis zu
einer ganzen Minute und darüber vergehen.
Maßgebend für die Wirkungsfähigkeit der Ge-
schosse ist A u ffall wi nkel und Endge-
schwindigkeit. Die Geschwindigkeit am Ende
der Bahn kann ähnlich wie die Mündungsgeschwin-
digkeit ermittelt werden; den Auffallvvinkel von
Infanteriegeschossen hat man gemessen , indem
man am Ende der Bahn einige vertikale Papp-
scheiben aufstellte und aus der Höhe der Geschoß-
löcher und der Entfernung der Scheiben auf Grund
ballistischer Gleichungen den Auffallwinkel be-
rechnete. Für die messende Verfolgung der
letzten Stadien des Artilleriegeschoßfluges steht
heute eine interessante photogrammetrische Me-
thode zur Verfügung. In der Spitzenhöhlung des
Geschosses ist ein Magnesiumleuchtsatz unter-
gebracht, der aus einer seitlichen Öffnung seine
hellen Strahlen hervorsenden kann. Durch einen
Zünder wird er kurz vor dem Ziele angebrannt.
Hier sind in sinnreicher Anordnung verschiedene
photographische Kameras so aufgestellt, daß sie
den leuchtenden Punkt am fliegenden Geschoß
mehrfach auf festen und bewegten Platten ab-
bilden. Durch Ausführung des Schießens bei
Nacht werden störende Lichteinflüsse vermieden
und sehr deutliche Abbildungen erzeugt. Die er-
haltenen Geschoßbilder ermöglichen es, die End-
geschwindigkeit, den Auffallwinkel und außerdem
die Rotationsgeschwindigkeit des Geschosses zu
errechnen. Der Auffallwinkel ist stets größer als
der Abgangswinkel ; bei Steilfeuer kann er sich
dem rechten Winkel sehr weit annähern. Zur
Bekämpfung von Zielen hinter Deckungen ist die
Erreichung eines möglichst steilen Auffallwinkels
für die Artillerie oft sehr wertvoll. Die am Ende
der Bahn gemessenen Geschoßgeschwindigkeiten
sind stets wesentlich geringer als die kurz nach
der Mündung gefundenen, da der Luftwiderstand
stark verzögernd einwirkt. Bei Feldkanonen z. B.,
deren Geschosse sich anfänglich mit 500 m in der
Sekunde fortbewegen, sinkt die Geschwindigkeit
schließlich in 6 km Schußweite auf etwa 200 m
pro Sekunde.
Die Geschoßbahn ist durchaus nicht immer
so regelmäßig gestaltet, wie sich aus den balli-
stischen Berechnungen ergeben müßte. Allerlei
ablenkende Einflüsse machen sich in Wirk-
lichkeit geltend und rufen allseitige oder nur in
einer Richtung liegende Abweichungen von der
normalen Flugbahn hervor. Unvermeidlich sind
alle die kleinen Unterschiede zwischen den ein-
zelnen Schüssen derselben Waffe; sie sind be-
N. F. Xm. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
811
gründet in geringfügigen Differenzen in Herstellung,
Menge und Eigenschaften der Munition, in Ziel-
felilern, in den wechselnden Schwingungen des
Laufes oder Rohres usw. Die durch solche Zu-
fälligkeiten bedingten Abweichungen sind nur
gering. Die einzelnen Geschoßbahnen bilden zu-
sammen am Ziele ein garbenförmiges Bündel; die
Einschläge gruppieren sich auf der Fläche einer
Ellipse um den Treffermittelpunkt.
Sehr deutliche Ablenkungen aus der normalen
Bahn vermögen die sog. Tageseinfiüsse zu be-
wirken. Änderungen des Luftgewichtes, veranlaßt
durch Schwankungen des Barometerstandes, der
Temperatur und des Feuchtigkeitsgehalts ver-
größern oder verringern die Schußweite. In ähn-
licher Weise wirken verschiedene Temperatur,
wechselnder h'euchtigkeitsgehalt des Pulvers. Der
Wind bringt oft starke einseitige Abweichungen
hervor; sein Einfluß ist in der Schießpraxis
schwierig zu berücksichtigen, da er stoßweise
weht und das Geschoß zudem hohe Luftschichten
mit Winden unbekannter Richtung und Stärke
passiert. Seitenwind bewirkt seitliche Ablenkungen,
Wind gegen die Schußrichtung bedingt Kurzschuß,
Wind in der Schußrichtung Hochschuß.
Beträchtliche einseitige Abweichungen sind auf
die Geschoßrotation zurückzuführen; ein rechts
sich drehendes Geschoß ist bestrebt, nach rechts
abzuweichen, ein links rotierendes lenkt nach links
ab. Am einfachsten macht man sich die Ursache
für dieses Abweichungsbestreben mit der Vor-
stellung klar, daß das Geschoß auf der verdichteten
Luft wie auf einem Polster in der Richtung der
Drehung fortrollt.
Ein in den jetzigen Zeiten besonders inter-
essantes Kapitel ist die Betrachtung der Geschoß-
wirkungen vom physikalischen Standpunkte. Die
Wirkungsfähigkeit ist von verschiedenen Umständen
abhängig. Zunächst ist die Energie maßgebend,
welche dem auftreffenden Geschosse innewohnt.
Die Auftrefferenergie nimmt dem Gewichte pro-
portional zu und wächst mit dem Quadrate der
Geschoßgeschwindigkeit. Die Wirkungsfähigkeit
wird also durch die Geschwindigkeit in viel
höherem Maße gesteigert als durch das Gewicht.
Von Wichtigkeit sind ferner die physikalischen
Eigenschaften des Geschoßmetalles, seine Härte
und Festigkeit. Wo die Widerstandsfähigkeit der
modernen Werkstoffe noch nicht ausreicht wie
z. B. bei den Panzergeschossen, umgibt man die
glasharte Spitze mit einer Kappe aus weichem
Stahl. Sie wirkt beim Eindringen des Geschosses
in das materielle Ziel als Schmiermittel, umfaßt
zu gleicher Zeit den hindurchdringenden Spitzen-
teil fest und hindert ihn am Abbrechen. Wenn
es auf Durchschlagsleistung ankommt, ist die
äußere Gestalt des Geschosses von besonderer
Bedeutung; es soll eine schlanke Spitze, die nicht
abbricht und bei schrägem Auftreffen nicht ab-
gleitet, und glatte Außenfläche besitzen.
Die Wirkungen der modernen, rasch fliegenden
Geschosse sind sehr eigenartiger Natur; die ein-
tretenden merkwürdigen Vorgänge scheinen allen
Regeln der Mechanik zuwiderzulaufen. So wird
z. B. eine freihängende Glasplatte vom Infanterie-
geschoß glatt durchschlagen, ohne daß sie außer
der Durchlöcherung beschädigt wird oder sich
auch nur bewegt. Ebenso stößt das Mantel-
geschoß durch eine Stahlplatte hindurch, ohne
daß diese trotz ihrer P21astizität auch nur federnd
nachgibt. Ein Kupferdraht zerreißt beim Auf-
treffen des Geschosses so momentan, daß eine
Bewegung des Drahtes erst viel später sichtbar
wird. Ein dünnes Brett kann mit einem kleinen
Holzstab oder einer Kerze glatt durchschossen
werden ; Stab und Kerze erleiden keinerlei Be-
schädigungen. Die sonderbaren Erscheinungen
haben ihre Ursache in der gewaltigen Stoßenergie
der Geschosse infolge ihrer ungewöhnlichen Ge-
schwindigkeit und in dem hohen Trägheitswider-
stand der materiellen Körper, die sich solchen
Geschwindigkeiten gegenüber geltend machen.
Mit Hilfe der elektrischen Kinematographie hat
man viele Durchschießungs- und Eindringungs-
vorgänge verfolgt und hat festgestellt, daß das
Geschoß im Moment des Auftreffens den ge-
troffenen Körperstellen ganz gewaltige Beschleu-
nigungen erteilt, so daß diese gewissermaßen selbst
zu Projektilen werden.
Nicht der getroffene Gegenstand allein, sondern
auch das Geschoß erfährt beim Auftreffen allerlei
Deformationen. Bei niedrigen Geschwindigkeiten
leidet es wenig, bei hoher Auftreßerenergie da-
gegen wird es meist völlig zertrümmert. Wird
z. B. das Infanteriegeschoß aus naher Entfernung
in Wasser abgefeuert, so zerstäubt es förmlich,
wird es in Sand dicht vor der Mündung abge-
schossen, so zersplittert es nahezu vollständig.
Die Energie setzt sich dabei in Wärme um ; der
Sand wird deutlich heiß. Hierin liegt auch der
Grund für die merkwürdige Erscheinung, daß Ge-
schosse mit hoher Geschwindigkeit weniger tief
in Erde, Sand, Holz usw. eindringen als langsamer
fliegende Projektile.
Solange die Geschwindigkeit nicht wesentlich
vermindert ist, üben die Infanteriegeschosse beim
Eindringen in den menschlichen Körper, besonders
in die mit Flüssigkeiten gefüllten Hohlorgane, die
Weichteile, eine Art Sprengwirkung aus und rufen
sehr gefährliche Gewebezerreißungen hervor. Eine
noch höhere Verwundungsfähigkeit, zugleich auf
weitere Entfernungen haben die berüchtigten Dum-
Dumgeschosse. Sie sind entweder als Bleispitzen-
geschosse, bei denen der Mantel an der Spitze
entfernt ist, oder als Hohlspitzengeschosse ausge-
bildet, in deren Spitze eine zylinderförmige
Höhlung eingestanzt ist. Ihre Erfindung rührt
von den Engländern her, die in Kolonialkämpfen
die Beobachtung gemacht zu haben glaubten, daß
die gewöhnlichen Vollmantclgeschosse dem An-
sturm der Wilden gegenüber keine genügend auf-
haltende Kraft besäßen. Für die Explosions-
wirkung der mit hoher Geschwindigkeit in den
menschlichen Körper eindringenden Geschosse
;i2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 51
sind vielerlei Erklärungen versucht worden; man
suchte sie auf starke Stauchung der Geschosse,
auf die Dampfentwicklung infolge der hohen
Reibungstemperatur, auf das Ausdehnungsbestreben
der mitgerissenen Luft und andere Ursachen zurück-
zuführen. Kinematographische Aufnahmen haben
jedoch klar erwiesen, daß sich die Geschoßge-
schwindigkeit momentan auf die getroffenen Teile
überträgt und daß diese selbst alsdann geschoß-
artig nach allen Seiten auseinander streben. Statt
der Tiefenwirkung langsam fliegender Geschosse,
tritt so eine explosionsartige Seitenwirkung ein.
Infolgedessen sind die modernen, kleinkalibrigen
Infanteriegeschosse den früheren großkalibrigeren,
aber langsam fliegenden Geschossen in bezug auf
Verwundungsfähigkeit keineswegs unterlegen.
Man hat auf theoretischem Wege die Auf-
trefferenergie zu berechnen gesucht, die erforder-
lich ist, um einen Mann oder ein Pferd außer Ge-
fecht zu setzen. Da es auf den Sitz des Schusses
vor allem ankommt, sind die erhaltenen Werte
recht unbestimmt. Man nimmt heute im all-
gemeinen an, daß 8 mkg genügen, um einen Mann
kampfunfähig, und 20 mkg, um ein Pferd gefechts-
unfähig zu machen.
Die Durchschlagsleistung der modernen Ge-
wehre gegenüber den als Deckung verwendeten
Materialien ist recht beträchtlich. Als Beispiel
seien hier einige Leistungen des Gewehres 98 an-
geführt: Trocknes Tannenholz von 45 cm Dicke
wird auf 400 m, 0,7 cm starke Platten aus Schweiß-
eisen werden auf 300 m durchschlagen ; 50 cm
dicke Sand- und Erdschichten werden auf 400 m
durchdrungen, eine Ziegelmauer von ',2 Stein =
12,5 cm Stärke wird auf 50 m durchschossen.
Die Wirkungen der Artilleriegeschosse
sind ungleich heftiger als die der Gewehrgeschosse.
Schrapnels und Granaten wirken vornehmlich
durch ihre Sprengladung. Bei Treffern führen
80 % der Verletzungen durch Schrapnels bei
Menschen und Pferden zur Kampfunfähigkeit;
ebenso starke Wirkungen üben die Granaten aus;
schon Sprengstücke von nur wenigen Gramm
vermögen Gefechtsunfahigkeit hervorzurufen. Von
den massiven Panzergranaten verlangt man ähn-
lich wie von Infanteriegeschossen Durchschlags-
leistungen; sie sollen vermöge der ihnen inne-
wohnenden lebendigen Kraft Panzerplatten durch-
schießen, Mauern zerbrechen, durch dicke Erd-
schichten dringen. Die Durchschlagsfähigkeit der
modernen Vollgranaten ist außerordentlich hoch;
sie sind z. B. imstande, mehr als i m dicke
Krupp'sche Panzer aus dem festesten Material zu
durchdringen. Diese Leistungsfähigkeit beruht im
wesentlichen auf ihrer ungeheuren Auftrefitenergie.
Einen Begriff von den wirksam werdenden Kräften
liefert folgendes anschauliches Beispiel : die Ge-
schosse der 35,5 cm Marinekanone entwickeln
beim Auftreffen dieselbe Energie, die sich ent-
faltet, wenn zwei mit 90 km stündlicher Geschwin-
digkeit gegeneinander fahrende D-Züge mit Loko-
motive, Tender und 4 Wagen aufeinander prallen.
Noch gewaltiger in der zerstörenden Wirkung sind
die Geschosse der Steilfeuergesciiütze, der Mörser-
granaten ; sie wirken gleichzeitig durch ihre leben-
dige Kraft beim Auftreffen und die Explosion
ihrer Sprengladung. Die Zerstörungen dieser
Geschosse sind dementsprechend sehr schwerer
Art. Dicke Decken und Wände, schwere Panzer-
kuppeln werden durchschlagen, Mauern werden
eingedrückt und umgeworfen, in Erdschüttungen
werden tiefe Löcher und weite Trichter gerissen,
Fundamente werden herausgehoben, das ganze
Bauwerk in seinen Grundfesten erschüttert.
Das ist auch das Tätigkeitsgebiet des jüngsten
Kindes unserer schweren Artillerie, der 42 cm
Mörser. Man hat sie im stillen konstruiert auf
Grund der früheren Erfahrungen und der P^geb-
nisse, welche die physikalischen Methoden und
Berechnungen der Ballistiker geliefert haben.
Zwar sind noch keine Einzelheiten bekannt ge-
worden und wir können uns ihm noch nicht
physikalisch und mathemalisch sondierend nähern.
Aber dafür, daß die grundlegenden Rechnungen
richtig gewesen sind, brauchen wir keine Belege
von Zahlen und Formeln, das beweist uns die
eigene, eindrucksvolle Sprache der Mörser viel
besser, die dem Feinde so verhängnisvoll wird.
Lunimer: Verflüssigung der Kohle iiiid Hevstelliiug der Sonneiiteniperatur,
[Nachdruck verboten.] Referat von K.
In der Sammlung Vieweg, die es sich zur
Aufgabe stellt, Wissens- und E'orschungsgebiete,
die im Stadium der Entwicklung stehen, in ihrem
augenblicklichen Entwicklungsstand zu beleuchten,
ist vor kurzem ein obigen Titel führendes Doppel-
heft von Prof Dr. O. Lummer in Breslau
erschienen. Er berichtet darin über neue von
ihm angestellte Versuche über das Verhalten des
Kohlelichtbogens. Als Veranlassung, diese Re-
sultate seiner noch nicht abgeschlossenen ."arbeiten
einem größeren Leserkreise in einer Broschüre
vorzulegen, führt der Verfasser in der Einleitung
Schutt, Hamburg.
folgendes an: „Die etwas voreilige Berichterstattung
von nichtfachmännischer Seite über zwei von
mir (in der Schlesischen Gesellschaft für vater-
ländische Kultur, naturwissenschaftliche Abteilung)
gehaltene Vorträge und vor allem die in den
Tageszeitungen daran geknüpften übertriebenen
und zum Teil direkt phantastischen Kommentare
waren geeignet, mich in den Augen der wissen-
schaftlichen Welt in ein ganz schiefes Licht zu
setzen. Außerdem wurde die Aufmerksamkeit
der Öffentlichkeit sehr gegen meinen Wunsch in
reklamehafter Weise auf Untersuchungen ge-
N. F. Xm. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
813
richtet, die sich noch im Versuchsstadiuin be-
fanden. Ich fühle mich deshalb verpflichtet, so
schnell wie möglich ausführlich über meine \^er-
suche zu berichten , obwohl sie zum Teil auch
heute noch nicht abgeschlossen sind. Auch bin
ich gezwungen , für meinen Bericht die Form
einer Broschüre zu wählen, um ihn den weitesten
Kreisen zugänglich zu machen , die nun doch
einmal mit dieser Angelegenheit befaßt worden
sind."
Die bekanntesten Versuche über das Ver-
halten der Kohle bei hohen Temperaturen sind
in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
von Moissan mit dem elektrischen Ofen aus-
geführt worden. Moissan kommt zu dem Re-
sultat , daß die Kohle vom festen in den gas-
förmigen Zustand übergeht, ohne den flüssigen
Zustand anzunehmen. Er hielt es indessen für
wahrscheinlich, daß bei Anwendung sehr starker
Drucke ein Schmelzen eintritt. Andere Forscher,
wie Despretz, Braun und La Rosa wollen
geschmolzenen Kohlenstoff bei ihren Versuchen
erhalten haben, doch weist Lummer nach, daß
diese Behauptung außerordentlich unsicher ist.
Lummer stellt sich zunächst die Aufgabe,
die Temperaturverhältnisse -der positiven und
negativen Kohle der Bogenlampe zu unter-
suchen und zu bestimmen. Er benutzt dazu sein
schon 1901 in den Verh. d. Deutsch. Physikal.
Gesellschaft beschriebenes Interferenzphoto-
meter. Dieses besteht im wesentlichen aus
zwei rechtwinkligen Glasprismen, die so einander
gegenübergestellt sind, daß zwischen den Hypo-
tenusenflächen eine sehr dünne planparallele Luft-
schicht bestehen bleibt. Beide Prismen zusammen
bilden also einen Glaswürfel. Die Dicke der
Luftschicht ist so gewählt, daß man, durch den
Würfel auf eine diftus leuchtende Fläche blickend,
nahe an der Grenze der totalen Reflexion deutlich
eine Reihe von Inlerfcrenzstreifen erblickt , die
parallel der Grenze der Totalreflexion verlaufen.
Die Interferenzstreifen entstehen ähnlich wie beim
Newton'schen Farbenglas dadurch, daß ein
direkt hindurchgehender Strahl mit einem zweimal
— nämlich an der Vorder- und der Rückseite
der Luftschicht — reflektierten interferiert und je
nach dem Gangunterschied verstärkte oder ge-
schwächte Helligkeit ergibt. Ein weiteres Strahl-
bündel , das unter einem etwas anderen Winkel
einfällt, zeigt einen anderen Gangunterschied und
gibt bei der Interferenz ein anderes Ergebnis, so
daß auf diese Weise je nach der Neigung, unter
dem die Strahlenbündel einfallen, helle und dunkle
Linien entstehen. Dasselbe Resultat erzielt man,
wenn man nicht das hindurchfallende Licht,
sondern reflektiertes benutzt, indem man jetzt die
Lichtquelle seitlich von dem Würfel aufstellt , so
daß das Licht etwa unter 45 " auf die Hypotenusen-
flächen auffällt und rechtwinklig zur Einfallsrichtung
ins beobachtende Auge reflektiert wird. Doch
sind die jetzt auftretenden Linien komplementär
zu denen im durchgehenden Licht; wo es vorher
hell war, ist es jetzt dunkel und umgekehrt. Um
mit diesem Würfel zwei Lichtquellen miteinander
zu vergleichen, beleuchtet man mit ihnen je eine
Mattscheibe. Von hier fällt das Licht der
einen auf eine Würfelfläche und geht durch die
Luftschicht und den Würfel hindurch in ein Fern-
rohr. Das Licht der Vergleichslichtquelle, einer
Nernstlampe, fällt auf die zur ersten senkrechten
Würfelfläche, dringt nach der Reflexion an der
Luftschicht ebenfalls ins Fernrohr und erzeugt zu
den ersten komplementäre Interferenzlinien.
Werden beide Mattscheiben von ihren
zu gehörigen Lichtquellen gleich hell be-
schienen, so verschwinden dieStreifen
im Fernrohr. Durch Veränderung des Ab-
standes Nernstlampe — Mattscheibe läßt sich dies
erreichen. Die Bogenlampe, deren Kraterhelligkeit
gemessen wurde, konnte für kurze Zeit eine
Belastung bis zu 150 Amp. aushalten; ihre posi-
tive Kohle stand horizontal, die negative vertikal.
Statt durch eine Mattscheibe wurde ihr Licht
durch viermalige Reflexion an ebener Glasfläche
geschwächt; das Licht fiel zunächst durch eine
Linse, in deren Brennpunkt sich der Krater be-
fand. Nachdem man die Streifen durch Ver-
schieben der Vergleichslichtquelle zum Ver-
schwinden gebracht hatte, wurde der die Lampe
speisende Strom durch einen vorgeschalteten
Widerstand allmählich bis zu 10 Amp. vermindert
und bei jeder Stromstärke der Lichtbogen bis
zum Abreißen verlängert. Die Streifen blieben
dann dauernd verschwunden, wenn man
die jeweils hellste Stelle der Krateroberfläche ins
Auge faßte. Daraus geht hervor, daß die
Helligkeit und damit die Temperatur
des positiven Kraters von Belastung und
Länge des Bogens in weiten Grenzen
unabhängig ist (siehe unten). Diese konstante
(Messungsfehler i % ^ 40 ") Temperatur ist die-
jenige, bei der die Kohle aus dem festen in den
gasförmigen übergeht. Weitere Messungen er-
gaben, daß die Temperatur der negativen
Kohle rund 600" niedriger ist.
Lummer untersucht dann weiter die Strah-
lung des Kohlefadens einer Glühlampe.
Unter der Voraussetzung, daß die ganze dem
Faden durch den Strom zugeführte Energie (Wärme)
ausgestrahlt wird, gilt das Stefan-Boltzmann-
sche Gesetz: o,24-i-e = a-F-T''(i); die linke
Seite stellt die zugeführte Wärme dar, i in Ampere
und e in Volt gemessen: F ist die Gesamtober-
fläche des Kohlefadens und T seine absolute Tem-
peratur. Für einen schwarzen Körper ist die
Konstante ff = 1,38- lo^^'^ — ^-^ . Lummer
cm- sec
untersucht zunächst, ob die Kohle wie ein
schwarzer Körper strahlt. Zu dem Zweck
bringt er ein dickes Kohlerohr durch einen regu-
lierbaren elektrischen Strom zum Glühen ; in dieses
ist ein Le Chat elier'sches Thermoelement ein-
geführt und gestattet, die Temperatur der Kohle zu
messen. Vor das glühende Rohr wird die Kohle-
8i4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr. 51
fadenlampe aufgestellt, so daß man durch ein
Fernrohr sehend den Kohlefaden auf dem Rohr
als Hintergrund sieht. Ist die Temperatur beider
gleich, dann verschwindet der Kohlefaden auf dem
glühenden Kohlerohr. Man reguliert nun den
Strom im Rohr, bis dies erreicht ist; dann gibt
das Thermoelement die Temperatur des Fadens
an. Lummer beobachtet nun bei verschiedenen
Belastungen (22 bis 34 \^olt und 0,35 bis 0,60 Amp.)
die Temperatur des P"adens und berechnet sie
gleichzeitig nach dem S t ef an -Bo 1 1 z m an n -
sehen Gesetz. Die beobachtete Temperatur liegt
stets höher als die errechnete und zwar im Mittel
um 15%. Der Kohlefaden muß also, um so wie
ein schwarzer Körper zu strahlen, heißer sein als
dieser. Er strahlt mithin nicht wie ein
schwarzer Körper, sondern wie ein
grauer, d. i. ein Körper, der für alle Wellen-
längen (verschiedene Belastung) im gleichen Ver-
hältnis weniger strahlt als der schwarze Körper
von gleicher Temperatur. Man darf mithin für
die Kohle in dem Stefan-Boltzmann' sehen
Gesetz nicht die Konstante er des schwarzen Körpers
setzen, sondern eine andere, die sich aus den Lum-
mer'sehen Versuchen zu 0,73-10 '- berechnet.
Zur Beantwortung der Frage, ob auch die
Bogenlampen kohle wie ein grauer
Körper strahlt, mißt Lummer mit dem
Lummer-Brodhun-Spektralphotometer, wie sich
mit steigender Temperatur die Strahlung einer
bestimmten Farbe (VVellcnlänge) ändert; er stellt
die sog. isochromatische Kurve fest. Trägt man
die Logarithmen der so ermittelten Helligkeiten
als Ordinalen und die reziproken Werte der zu-
gehörigen Temperaturen als Abszissen auf, so er-
hält man eine gerade Linie, die logarithmische
Isochromate. Benutzt man als Vergleichslicht-
quelle beim Photomelrieren einen Körper, der
grau oder schwarz strahlt, so schneiden sich alle
logarithmischen Isochromaten verschiedener
Wellenlängen in einem Punkte; die Ab-
szisse dieses Punktes ist der reziproke
Wert der Temperatur der Vergleichs-
lichtquelle, die sich also auf diese
Weise bestimmen läßt. Strahlt die Ver-
gleichslichtquelle dagegen selektiv (wie z. B.
Platin), so ist ein solcher Schnittpunkt nicht vor-
handen. Lummer stellt nun die logarithmischen
Isochromaten für 5 Wellenlängen (zwischen 645
und 500 /((() einer Kohlefadenlampe, deren
Temperatur nach Gleichung (i) berechnet wird,
fest und benutzt als Vergleichslichtquelle den
positiven Krater seiner Bogenlampe. Die er-
haltenen 5 Geraden schneiden sich in einem
Punkte: die Bogenlampenkohle strahlt
also auch wie ein grauer Körper. Aus
der Abszisse des Schnittpunktes berechnet sich
die Temperatur des positiven Kraters zu
4200" abs. , so daß seine schwarzer Tempe-
ratur, die (siehe oben) 15% niedriger ist,
3750" abs. ist.
Zu den weiteren Versuchen, die das Ver-
halten des Lichtbogens bei verschie-
denen Drucken untersuchen, benutzte
Lummer ein luftdichtes kupfernes Gefäß, das
Überdrucke bis zu 30 Atm. aushielt. In sein
Inneres wurde die automatisch regulierende Bogen-
lampe gebracht, durch ein Glasfenster konnte sie
beobachtet werden. Zunächst wurde bei ab-
nehmendem Druck (Gaede- Pumpe) der positive
Krater durch ein Fernrohr beobachtet. Da wurde
die überraschende Entdeckung gemacht, daß bei
etwa V2 Atm. der positive Krater
flüssig wird. Weitere Versuche zeigten, daß
es stets bei Drucken zwischen ^j.-, und 2 Atm.
gelang, den positiven Krater zu verflüssigen, wenn
man die Bogenlampe mit ungewöhnlich
niedrigen Stromstärken speiste. So liegt bei
Atmosphärendruck die zum Schmelzen notwendige
Stromstärke unterhalb derjenigen, welche man
laut Vorschrift verwendet, um bei gegebener
Dicke der positiven Kohle eine möglichst große
Oberfläche des Kraters im festen Zustand zum
hellen und gleichmäßigen Leuchten zu bringen.
Beim „kritischen" Druck von V2 Atm. ist bei An-
wendung der „kritischen" (niedrigen) Stromstärke
die ganze Kraterfläche leichtflüssig. Ihr Aussehen
beschreibt Lummer wie folgt: „Der Eindruck
der Kraterfläche ist so vollkommen der einer
Flüssigkeit, daß in keinem Beobachter auch nur
eine Andeutung der Frage aufsteigt, ob er es mit
einer vorgetäuschten oder wirklichen Plüssigkeit
zu tun hat. Solange der Krater fest ist, erscheint
er wie eine diff'use beleuchtete Pläche, auf der
sich die Risse und Sprünge als dunkle, fest-
stehende Stellen markieren, vergleichbar dem Voll-
mond mit seinen Kratern und Rissen. Im flüssigen
Zustand macht der Krater dagegen den Eindruck,
als ob er mit einem brodelnden und kochenden
Teich bedeckt ist, und in ihm tummeln sich als
helle Perlen erscheinende „Fische", schnell von
Ort zu Ort eilend. Sobald man den Krater aus
dem flüssigen in den festen Zustand zurückkehren
läßt, nimmt die Kraterfläche wieder das starre und
tote Aussehen an." Um weitere Einzelheiten zu
erkennen, wurde ein etwa 30 fach vergrößertes
Bild mittels eines guten Objektivs auf einen eben-
geschliffenen Gipsschirm entworfen (in dem Buch
sind eine große Reihe Momentaufnahmen des
flüssigen Kraters enthalten). Man sieht eine große
Zahl von hellen „Fischen", die meistens sechs-
eckig sind und die sich mit großer Lebendigkeit
bewegen. Sie sind nicht zu verwechseln mit den
Blasen und Schmelzperlen, die an unreinen Kohlen
häufig auftreten. Wesentlich dunkler sind die
übrigen Teile des Kraters; auf seinem Grunde
bemerkt man schwach hell umränderte, meist
seckseckige Stellen, die „Waben", die ein zu-
sammenhängendes, fest auf dem Boden des Teiches
sitzendes Netzwerk bilden. Aus einer solchen
Wabe kommt ein „Fisch" heraus, bewegt sich
hastig nach einer anderen hin und verschwindet
(schmilzt) in dieser. Es spricht manches dafür,
daß die Fische Graphitkristalle sind. Das Er-
N. F. Xin. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
815
starrungsprodukt der Schmelze erwies die che-
mische Änal)-se als Graphit. Retortenkohle,
Planiakohle, Holzkohle, reinster Ruß, glasklare
Diamanten zeigen dieselben Erscheinungen wie
Bogenlampenkohle. Eine Füllung des Kupfer-
gefäßes mit Stickstoff, Kohlensäure oder Sauer-
stoff ändert nichts an den Schmelzerscheinungen.
Temperaturmessungen (siehe unten) ergaben, daß
beim Normaldruck die Schmelztemperatur höher
ist als die Temperatur des festen Kraters. Seine
Temperatur ist demnach nur so lange
konstant, als die Stromstärke nicht
unter die kritische herabsinkt. Bei dieser
steigt die Temperatur des Kraters und er schmilzt.
Man findet also die überraschende Tatsache, daß
hier eine kleinere Stromstärke eine größere Heiz-
wirkung ausübt als eine übertrieben große.
AmSchlusse seiner Arbeit untersucht Lummer,
wie sich die Temperatur des positiven
Kraters mit wachsendem Druck ändert.
Mittels seines am Anfang dieses Referates be-
schriebenen Interferenzphotometers ver-
gleicht er die Helligkeit des auf das 30 fache ver-
größerten Ivraterbildes mit einer Nernstlampe bei
verschiedenen Drucken ; eine Schwächung des
Bogenlichtes durch Reflexion war wegen der
Starken Vergrößerung unnötig. Die Beobachtung
der Interferenzstreifen geschah mit bloßem Auge.
Die Helligkeit der unter Normaldruck brennenden
Lampe mit festem Krater wurde gleich i ge-
setzt. Verringert man den Druck unter eine
Atmosphäre, so nimmt die Flächenhelligkeit regel-
mäßig ab, solange der Krater fest ist. Geht in-
dessen durch geeignete Verminderung der Strom-
stärke der Krater in den flüssigen Zustand über,
so steigt plötzlich die Flächenhelligkeit:
Temperatur abs.
4200 "
■ flÜSsi:
Druck h'lächenhclligkeit
I Atm. I I
0,59 „ 0,08 /fest 4145
0,32 „ 8,75! —
0,60 „ 0,96 »
0,33 .. 0,83 /
Die Temperatur ist durch Extrapolieren aus
der für den Kohlefaden einer Glühlampe bis zu
3000" nachgewiesenen, zwischen h'lächenhelligkeit
und Temperatur bestehenden Beziehung gefunden.
In gleicher Weise wurde bei Drucken bis zu
24 Atm. die Flächenhelligkeit und die Tempe-
ratur bestimmt. Die verschiedenen Versuchs-
reihen zeigen erhebliche Abweichungen vonein-
ander, so daß sie nur provisorischen Charakter
tragen. Doch geht aus allen sicher hervor, daß
die Temperatur des positiven festen
Kraters mit steigendem Druck kon-
tinuierlich steigt. Folgende Tabelle gibt
im Auszug eine Versuchsreihe wieder:
)ruck
Helligkeit
Abs. Temp.
I
I
4200
6
6
5190
10
9,5
5470
16
14.2
5740
22
18,0
5890
Bei 22 Atm. ist also die Helligkeit 1 8 mal so
groß als bei Normaldruck. Eine Extrapolation
dieser Temperaturkurve würde bei 250 Atm. eine
Temperatur von rund 7000" abs. ergeben. Diese
Temperatur würde die der Sonne, welche sich
nach verschiedenen Methoden zu rund 5900" abs.
ergibt, ganz erheblich übertreffen. Bei einem
Druck von 22 Atm. ist der positive Krater ebenso
heiß wie die Sonne. Ob sein Licht auch die
gleiche Zusammensetzung eigt wie das Sonnenlicht,
müssen weitere spektrale Untersuchungen zeigen.
Bücherbesprechungen.
Palladin, W. J., Pflanzenanatomie. Aus
dem Russischen übersetzt von Dr. S. T s c h u 1 o k.
Mit 174 Abbildungen. Leipzig und Berlin 1914.
Verlag von B. G. Teubner.
Unserer deutschen Nation sind ihre Fehler
nicht unbekannt. Leider glauben wir noch immer,
es schade uns nicht, wenn wir sie nicht ablegen.
Eine dieser großen und hartnäckigen Schwächen
ist die Bewunderung und Verhimmelung alles
Ausländischen. Auf dieser Schwäche fußend,
daß auch in unserer wissenschaftlichen Literatur
ausländische Autoren gleich die .Aufmerksamkeit
auf sich ziehen und ihre Bücher oft besser
„gehen", als die deutscher Verfasser, beglücken
uns einige mehr industriell als literarisch emp-
findende Verleger, trotz heimischer Überproduktion,
mit einer Fülle von Übersetzungen ausländischer
Lehrbücher. Nun klingt es ja sehr schön, wenn
man ausruft: „Die Wissenschaft ist international"
und es ist ganz gleich, woher das Gute kommt!
Aber mit dieser Internationalität steht es doch
recht häufig so, daß die Ausländer ihre Wissen-
schaft unseren gastlichen Hochschulen und unserer
Literatur verdanken und uns unser Eigentum,
sachlich und sprachlich nicht verbessert, wieder
zuführen. So ist auch die Herausgabe dieser
„Fflanzenanatomie" keine wissenschaftliche Leistung
sondern nur ein Geschäftsunternehmen, dessen
Hoffnung auf der eingangs angedeuteten bedauer-
lichen Hinneigung zum fremden baut. Vor einigen
Jahren erschien bei Julius Springer in Berlin
die Übersetzung einer „Pflanzenphysiologie" des-
selben russischen Verfassers, ein Buch, welches,
wesentlich wegen seines kürzeren Umfanges, als Lehr-
buch „ging". Das hat nun vermutlich den anderen
Verlag angeregt, es mit diesem Buch des gleichen
Autors ebenfalls zu versuchen.
Welche Verbesserung bringt nun dies Buch
unserer deutschen Literatur.^ Die 174 ausge-
zeichneten Abbildungen sind bis auf ein paar,
aus französischen Büchern stammende, alle den
besten deutschen Lehr- und Handbüchern
8i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 51
entnommen und dazu ein trocl<ener Lehrbucli-
text gewölinlichen Stils geschrieben worden, der
keine neuen Gesichtspunkte oder Ideen, sondern
bloß das bringt, was in andern Lehrbüchern
längst besser dargestellt ist. Durch seine unver-
frorene Entlehnung der Abbildungen deutscher
Verfasser hat sich der russische Autor jede selb-
ständige Arbeit erspart, eine geistige und phy-
sische Ökonomie, die uns doch nicht ganz gleich-
gültig zu sein scheint. Was wir besonders be-
dauern, ist, daß ein deutscher Verlag seine Hand
zu einem solchen Unternehmen der Ausbeutung
deutscher Arbeit durch einen Fremdling bietet.
Zur Erläuterung dieser Ausschlachtung deutscher
Literatur diene folgendes : Gute botanische Ab-
bildungen, zumal anatomische, bilden die Haupt-
arbeit des Verfassers eines solchen Lehrbuches
und in jenen drückt sich seine Originalität be-
sonders aus.
Wir schätzen daher mit Recht die Abbildungen
eines Sachs, Haberlandt, Goebel u. a. Bo-
taniker und können nicht zugeben, daß diese ein-
fach nach ihrer Veröffentlichung als Allgemeingnt
anderer industrieller Schriftsteller angesehen
werden. Die Arbeit der Abbildungen erfördert
bei einem Lehrbuch wie dem vorliegenden die
zehnfache Arbeit wie der Text und die Her-
stellung solcher Abbildungen ist überdies eine
opfervolle, da die Verleger dem Verfasser seine Ab-
bildungen nicht besonders vergüten, sondern einem
Text gleichachten. Grund genug, dagegen zu
stimmen, daß man diese Abbildungen dem Aus-
lande ausliefert. Es ist allgemein üblich und
auch erlaubt, mit Zustimmung eines Verfassers
einzelne Abbildungen aus anderen Lehrbüchern
einem neuen Buche einzuverleiben. Es wird schon
lange beklagt, daß kein Schutz gegen den Nach-
druck unserer Bücher und Abbildungen im fremd-
ländischen Buchhandel vorhanden ist. Wenn
aber ein Ausländer sein gesamtes Abbildungs-
material aus deutschen Lehrbüchern zusammen-
holt und uns unser Eigentum in russischer Bearbei-
tung, als etwas neues in Deutschland wieder vor-
gesetzt wird, so ist das ein bedenkliches Symptom
des IVIangels an Kritik einzelner Kreise, der mit
dem Geist unseres Volkes in krassem Widerspruch
steht.
Ein deutscher Verfasser würde sich übrigens so
etwas dem Auslande gegenüber niemals erlauben.
Gottlob haben wir es auch nicht nötig. Man
vergleiche die deutschen botanischen Lehrbücher
von Strasburger oder Giesenhagen, von
Goebel und Haberlandt, das Taschenbuch der
Botanik von IVIiehe, die Pharmakognosie von
Karsten und Oltmanns und viele andere. In
allen findet man den Fleiß und die eigene Arbeit
der Verfassers durch eigene Abbildungen aus-
geprägt. Wenn wir wirklich einmal genötigt
sind, wie hier geschieht, unsere IMitarbeit an der
Wissenschaft hervorzuheben , dann hat das Aus-
land auch da sogleich das schöne Wort „Chauvi-
nismus" zur Hand. Es wird Zeit, daß wir auf
dies Wort nicht länger achten und bei aller Be-
scheidenheit unsereEigenart vor Übergriffen wahren.
Was den Text des vorliegenden Lehrbuches
anbetrifft, so enthält er, wie gesagt, nichts be-
merkenswertes. Einem Anfänger möchten wir
dieses kurze Lehrbuch deshalb nicht in die Hand
geben, weil der Grundlage der Anatomie, der
Zellenlehre, eine kurze Zeit aufgetauchte
Theorie, die „Energidenlehre" zugrunde gelegt
ist, die sclion von Anfang an auf schwachen
Füßen stand und von mehreren Autoren abge-
lehnt wurde. Die Einteilung aller Pflanzen in
,,monergide" und „polyergide Pflanzen", steht wie
manche anderen Rubizierungen auf der Höhe
veralteter Linnescher Einteilungskunst. Wir
sehen, daß Pflanzen die aus einer „Energide" be-
stehen, die gleichen Lebensaufgaben, Ernährung
und P'ortpflanzung, erfüllen können und zwar in
gleicher Form, wie „polyergide Pflanzen", daß
,,monergide Pflanzen" schon morphologische
Gegensätze zeigen können, wie ,, polyergide", daß
sie durch Koloniebildung ähnliches erreichen, wie
,, polyergide"' durch Gewebebildung und daß Reiz-
barkeiten in beiden Fällen gleich sind, wie auch
der Chemismus ihres Lebens.
Besonders muß hervorgehoben werden, daß
auch „polyergide Pflanzen" im Anfang ihrer Ent-
wicklung, d. h. als Keimzelle ,,monergid" sind, so
daß die Einteilung doch wesentlich nur zu einer
Rubrizierung aber nicht zum tieferen physiologischen
Verständnis führt. Der Anfänger wird aber leicht
verführt, letzteres anzunehmen, weshalb wir die
Energidenlehre nur in einem kritischen Handbuche
billigen können, nicht in einem Buch für Anfänger.
A. Hansen.
Hann, Prof. Dr. Julius, Lehrbuch derlVIeteo-
rologie. 3. Aufl. Lieferung 4 — "]. Leipzig
1914, Chr. Herrn. Tauchnitz. — Jede Lieferung
3,60 Mk.
Von diesem Lehrbuche, auf dessen Bedeutung
wir bereits früher bei Besprechung der ersten
Lieferungen hingewiesen hatten, sind inzwischen
in glatter Folge vier weitere Lieferungen erschienen.
Sie behandeln die Wolken, die Niederschläge, die
Winde und zum Teil die atmosphärischen Stö-
rungen. Hoffentlich folgen die noch ausstehenden
4 Hefie bald nach. Wir werden dann nochmals
auf das unentbehrliche Werk zurückkommen.
Miehe.
Inhalt; Krumbhaar: Physikalisches von unseren Feuerwaffen. Schutt: Lummer: Verflüssigung der Kohle und Her-
stellung der Sonnentemperatur. — Bücherbesprechungen: Pal lad in; Pflanzenanatomie. Hann; Lehrbuch der
Meteorologie.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Schriftleiter Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstraße na, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 13. band;
der ganzen Reihe 29. Hand.
Sonntag, den 27. Dezember 1914.
Nummer 53.
Die Grenzen des Individuums und das Problem des Absterbens.
[Nachdruck verboten.]
Das ,,Individuiim" wie das
beide beim heutigen Stande der Wissenschaft
einen anderen Namen erhalten: weder dieses
noch jenes sind in Wahrheit ein „Unteilbares".
Hinsichtlich des Individuums ist das freilich seit
langem nichts Neues mehr: nicht allein mechanisch
ist selbstverständlich jedes organische „Einzel-
wesen" zerlegbar, sondern in Wahrheit ist das,
was wir tierisches oder pflanzliches Einzelwesen
zu nennen pflegen , nicht selten mit gleichem
Rechte als ein Stock oder eine Kolonie zahl-
reicher Individuen niederer Ordnung aufzufassen.
Goethe sprach das ruhig so aus: „Jedes Leben-
dige ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit;
selbst insofern es uns als Individuum er-
scheint, bleibt es doch eine Versammlung von
lebendigen selbstständigen Wesen, die der Idee, der
Anlage nach, gleich sind, in der Erscheinung aber
gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich
werden können." ')
Wir brauchen uns nur zu erinnern, daß unsere
weißen Blutkörperchen , die kleinen Polizisten,
die in der Form des Eiters ruhestörende Elemente
aus unserem Organismus entfernen, ein nahezu
selbstständiges Leben führen, das in seinen Äuße-
rungen (Bewegung, Ernährung) durchaus an
amöbenartige Wesen erinnert. In der Botanik
ist besonders viel darüber diskutiert worden, ob
man als die Lebenseinheit die ganze Pflanze oder
die einzelnen Zweige, ja vielleicht jedes Blatt an-
zusehen habe, weil diese ja — wiederum nach
Goethe — „eben so auf dem Mutterkörper
stehen, wie dieser an der Erde befestigt ist".
Einen besonders lehrreichen Fall aus der Tierwelt
stellen gewisse Polypenstöcke dar: an gemein-
samer Basis sind Polypen verschiedenster Art auf-
gewachsen, zwischen denen gleiche Arbeitsteilung
herrscht wie zwischen den einzelnen Organen
höherer Tiere. Ein jeder ist mit schmaler
Basis aufgewachsen und somit äußerlich scharf
umgrenzt, jedoch fällt einem die Ernährung zu,
die dem ganzen Stock zugute kommt, einem an-
deren mit Nesselkapseln versehenen die Verteidi-
gung, wieder einem anderen die Produktion von
Geschlechtszellen, daneben findet sich ein mit
Farbstoff versehenes selbstständiges Tastorgan und
an dem oberen Ende des Ganzen eine allen
zugute kommende Luftkammer. Wollte man
die Frage aufwerfen, ob es sich um bloße
Organe eines Individuums oder um Glieder eines
Von Dr. Edw. Hennig.
„Atom" müßten Staates handelt, so spricht für letztere Auffassung
scheinbar die Abknospung gewisser Einzelpolypen,
die sich loslösen und als Medusen ein völlig, auch
äußerlich selbstständiges Leben führen. Indessen
gerade diese Wesen enthalten männliche und
weibliche Geschlechtsorgane, und ihre Nachkommen
bilden wiederum ganze Polypenstöcke der erst-
genannten Art. Also Bürger und Staat oder
Organ und Gesamtwesen in Generationswechsel,
eins dem anderen ebenbürtig und doch nicht
ebenbürtig!
Und das führt uns schon hinüber zu dem
Gedanken, daß nicht nur jedes organische Wesen
in sich eine Vielheit ist, sondern daß auch die
Grenze des Individuums nach der anderen Seite,
nach oben hin keine scharfe ist, sondern daß sich
viele scheinbar völlig selbstständige Organismen, die
wir allgemein als ,, Individuen" zu betrachten ge-
wohnt sind, zu „Individuen höherer Ordnung" zu-
sammenschließen. Es ist m. E. das Verdienst von
Wilhelm Fließ-') in seinen großen Gedanken-
gängen über den „Ablauf des Lebens", den Rhyth-
mus, der nach seiner Auffassung in der ganzen
organischen Welt wie ein Pulsschlag lebt , auch
diese Frucht gewissermaßen fiebenbei am Wege
gepflückt oder doch ihre ganze Bedeutung aufs
klarste betont zu haben.
Weismann hatte die hochinteressante und
bestrickende Lehre aufgebracht von dem ,,Tode
als Anpassungserscheinung" : Die Mehrzahl der
Einzelligen vermehre sich durch einfache Teilung,
in vielen Fällen ginge restlos, d. h. ohne Hinter-
lassung eines absterbenden Teiles, einer Leiche
das Muttertier in die Tochterzellen über; das
Leben in seinen Anfängen sei also schlechthin
unsterblich. Erst in höheren Entwicklungsstadien
blieben die Teilzellen räumlich beisammen, aus
ihrem Kreise ginge die eigentliche Geschlechts-
zelle durch Arbeitsteilung hervor, alle anderen
träten in ihren Dienst und stürben schließlich
auch ab. Fließ erinnert wirkungsvoll an die
köstliche Erzählung von der Belohnung des Er-
finders des Schachspiels und der alle Vorstellung
schnell übersteigenden Zahl bei derartiger ein-
facher Verdopplung : ,,Wenn ein Stylonychia pustu-
lata, sagt er im Anschluß an Untersuchungen von
Maupas, sich fünfmal während 24 Stunden teilt,
so müßte die Anzahl der Individuen in der
I 50. Generation, also nach einem Monat, mit einer
Eins und 44 Nullen geschrieben werden, und ihre
') Zitiert nach Houston Stewart Chamberlain:
,,Goethe" 1912 S. 624. Dem betreffenden prachtvollen Ab-
schnitt („Unterscheiden, Verbinden" im sechsten Kapitel) sind
auch einige der hier angeführten Beispiele entnommen.
1) Wilhelm Fließ: „Der Ablauf des Lebens", Wien
1906, sowie; ,,Vom Leben und Tod", Biologische Vorträge.
Eugen Diederichs-Jena, 2. Aufl., 1914.
8i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 52
Masse würde eine Kugel umfassen, die eine Million
mal größer ist als die Sonne 1"
Eme derartige Vermehrung widerspricht natür-
lich jeder Erfahrung und in der Tat wird sie, wie
Maupas an Infusorien nachwies, durch den Tod
eingeschränkt. Ein großer Teil der durch Teilung
so erzeugten „Individuen" stirbt ab und von Zeit
zu Zeit wird die Teilung ersetzt oder ergänzt
durch Konjugation je zweier Zellen, wechselt also
mit geschlechtlicher Zeugung ab. Das ist aber
durchaus der gleiche Vorgang wie bei den höheren
Tieren und Pflanzen, deren Wachstum ja gleich-
falls durch einfache Teilung der Zellen zustande
kommt, deren gesamter Zellenkörper eines Tages
abstirbt, nicht ohne daß zuvor während des Lebens
einzelne Zellen zu geschlechtlicher Neuzeugung
abgesondert worden wären. Der einzige Unter-
schied besteht in der räumlichen Trennung
der Zellen eines Körpers bei den Protozoen.
Ist er wichtig und groß genug, um uns hier die
einzelnen, selbständigen Teile, dort die Gesamt-
heit als „Individuum" bezeichnen zu lassen ? Liegt
nicht vielmehr eine begriffliche Unscharfe darin?
Aber wie die wahren Grenzen ziehen 1 Selbst
bei hochentwickelten Metazoen oder Metaphyten
läßt sich noch streiten, ob das, was wir Individuum
nennen, in allen Fällen schon die volle einheitliche
Gesamtheit umfaßt. Einige von Fließ aus dem
Pflanzenreich hervorgegangene Beispiele lassen
mit einem Schlage den Blick viel tiefer ins Ge-
triebe des Lebens eindritigen: Im Park von Wör-
litz wurde vor 100 Jahren eine männliche Pappel
aus dem Orient eingefühlt. Lediglich durch Steck
linge hat man eine zahlreiche Nachkomtnenschaft
aus ihr gezogen, die über ganz Mitteldeutschland
verbreitet ist. Nun neigt sich die Stammpflanze
ihrem Ende zu, sie beginnt abzusterben. Und —
zur gleichen Zeit geht durch jene ganze Nach-
kommenschaft ein Kränkeln und Vtrdorren von
der Spitze her. „Man kann das auch so aus-
drücken, daß man sagt: alle mitteldeutschen
Pappeln bilden eine einzige Persönlichkeit,
wenn sie auch räumlich getrennt sind." In
der Tat, wie sollte man derartig innigen Zu-
sammenhang, ein derartig gemeinsames Leben
willkürlich durch begriffliche Zerreißung in Einzel-
individuen aus dem Gesichtskreise ausschalten 1
Glaubten wir vorhin mit Goethe die Pflanze
bereits als Individuum höherer Ordnung an-
sprechen zu müssen, gegenüber Zweigen und
Blättern , so erscheint sie in diesem Falle umge-
kehrt nur als ein Teil der Wesenseinheit.
„Noch schlimmer als mit den Pappeln giiigs
mit den vielbegehrten La France-Rosen. Sie
starben plötzlich und überall massenhaft ab und
sind jetzt gänzlich eingegangen. Und warum ?
Weil sie in der Stammpflanze nur einmal aus
Samen gezogen und seitdem nur durch Pfropf-
reiser vermehrt wurden". „Sie alle bildeten mit
dem Sämling zusammen nur einen einzigen großen
Rosenbusch".
In gleicher Weise verschwindet plötzlich der
Borsdorfer Apfel vom Markte, die „amerikanische
Wasserpest" von unseren Flüssen, die sie an-
scheinend unüberwindlich erfüllte. Auf gleiche
Ursache will Fließ das Erlöschen so mancher
Epidemie erklären und in der Tat verläuft im
einzelnen menschlichen Körper, wenn er wider-
standsfähig genug ist, auch ohne Chinin-Bekämpfung
die Entwicklung des Malariaparasiten in mehrfachen
(ungeschlechtlich entstandenen) Generationen und
sein endliches Absterben. Diese Fälle haben also
auch eine sehr hohe praktische Bedeutung für uns:
Es ist ein Malaria-„Individuum", das mit seinen
Zellen den ganzen menschlichen Körper durch-
tränkt!
Es darf vielleicht selbst noch die Frage auf-
geworfen werden, ob die Grenze nach oben hin
nicht noch weiter flüssig bleibt, ob nicht schließlich
auch geschlechtlich entstandenehochentwickelte
Wesen ihrerseits biologische Einheiten noch höherer
Ordnung zusammensetzen , denen gleichfalls ein
gemeinsamer biologischer Rhythmus und Lebens-
gehalt innewohnt. In der Paläontologie ist die
Frage nach den Gründen des in weitem Sinne
plötzlichen Absterbens ganzer Tier- und Pflanzen-
gruppen in den letzten Jahren viel und eifrig be-
sprochen worden. Das Verschwinden der Am-
moniten oder der Belemniten an der Grenze von
Kreide undTertiär hat schon früher zu dem Gedanken
geführt solchen Gruppen eine gewisse Summe an
,, Lebensenergie" zuzusprechen , nach deren Ver-
brauch der ganze mannigfaltig entwickelte und
differenzierte Zweig zugrunde gehen müsse.
Stromer von Reichenbach hat diesen Ge-
danken in seinem ,, Lehrbuch der Paläozoologie"
weit von sich gewiesen. Und gewiß kann er
nicht als eine bewiesene endgültige „Erklärung"
gelten. Aber es haftet ihm an sich nichts durch-
aus Unwahrscheinliches an und in dem hier aus-
geführten Zusammenhang läßt sich vielleicht die
Diskussion noch einmal wieder aufnehmen. Daß
das in so großem Umfange erfolgte Aussterben
beispielsweise der Reptilien um die nämliche Zeit-
wende nicht bedingt war durch das Auftreten
bevorzugterer Nebenbuhler, in diesem Falle der
Säugetiere, ergibt sich daraus, daß diese Säuge-
tiere bekanntlich während des ganzen Reptilien-
zeitalters ohne wesentliche Veränderung auf
niederer Stufe verharrten. Erst in dem Augen-
blicke, wo der Reptilienstamm dahinsank, wurde
ein Platz frei, der durch ungewohnt beschleunigte
Entfaltung des Säugetierreichs sofort ausgefüllt
wurde. Es darf da nicht L'rsache und Wirkung
vertauscht werden I Gewiß mögen äußere vielleicht
die ganze Erde betreffende Veränderungen mit-
gespielt haben. Aber sie ließen viele andere
Tierstämme völlig unberührt. Die Ammoniten der
jüngeren Kreide dagegen sind durch ihre auffälligen
senilen Rückfälle in allererste paläozoische Ent-
wicklungsstadien bekannt : dem Absterben ging
ein allzu deutliches Altern voraus. Die Parallele mit
den Pappeln ist mindestens verführerisch. Aber
es bleibt zu beachten, daß wir hier schon wieder einen
N. F. Xiri. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
819
großen Schritt weiter tun würden, indem wir über verblüffenden Fließ 'sehen Ausführungen über den
die geschlechtliche Einheit hinausgriffen durch Generationen gleichen Lebensrhythmus
und somit ganz entschieden die Grenzen des In di- vertraut sind, wird auch diesen Schritt nicht von
viduums nunmehr hinter uns ließen. Wem die vornherein zu kühn finden.
Über Tariatiou.
[Nachdruck verboten.] Von H.
Die Individuen derselben Art oder Rasse sind
einander nicht vollständig gleich, sondern von-
einander verschieden. Wer etwa eine Schar
Spatzen sieht, wird auf den ersten Blick keinen
Unterschied als die auffallenden sekundären Ge-
schlechtsmerkmale wahrnehmen; bekommt er
aber dieselbe Schar Spatzen häufig zu Gesicht,
so wird er bald die einzelnen Individuen zu er-
kennen vermögen, sowohl an ihrem äußeren Aus-
sehen, wie an ihrem Gebahren. Je weiter hinab
wir in der Tierreihe gehen, desto schwerer sind
in der Regel die Unterschiede zu erfassen, und
je weiter hinauf wir steigen, desto deutlicher
werden sie. Beim Menschen sieht jeder ganz
klar die Unterschiede zwischen Eltern und Kindern
oder zwischen Geschwistern untereinander. Das
Vermögen , eine Vielförmigkeit von Individuen
hervorzubringen, ist die Variabilität, über deren
Ursachen und biologische Bedeutung noch viel
Ungewißheit besteht.
In der vordarwinischen Zeit wurde gewöhnlich
angenommen, daß jede Art einem Normaltypus
entspreche, wie er ursprünglich geschaffen wurde,
und daß Abweichungen von diesem Normaltypus
als UnvoUkommenheiten zu gelten hätten, die
jedoch von geringer praktischer Bedeutung seien.
Gegenwärtig stimmen die meisten Autoren über-
ein, daß die Ursache der Variation in letzter
Linie in Einflüssen der Umwelt gelegen sein muß,
und daß diese Einflüsse sowohl direkt wie indi-
rekt wirken können. Bei der Variation der Größe
z. B. ist es klar, daß die Nahrungszufuhr während
des Wachstums von erheblichem Einfluß auf die
Größe des ausgewachsenen Individuums ist. In
solchen Fällen ist der Einfluß direkt. Wenn aber
August Weismann's Theorie vom Keimplasma
und Körperplasma richtig ist, so betreffen der-
artige Einflüsse bloß den Körper des Individuums,
nicht auch dessen Fortpflanzungssubstanz, also
auch nicht die Nachkommen. ') Es ist jedoch
möglich, daß äußere Einflüsse indirekt die Keim-
zellen betreffen und so Variationen verursachen.
In solchen Fällen muß aber die bei den Nach-
kommen zum Vorschein tretende Wirkung durch-
aus nicht dieselbe sein, wie die direkte Wirkung
auf den elterlichen Körper. Über die Art der
möglichen Einflüsse der Umwelt auf die Keim-
zellen weiß man noch nichts. Der Einfluß mag
sofort zur Geltung kommen und in der nächsten
') Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie ; 17 — 19,
Die Keimplasmatheorie, 3. Aufl., Jena 1913.
Fehlinger.
Generation Variation zur F'olge haben; es kann
aber auch sein, daß die Wirkung kumulativ ist,
und daß sichtbare Veränderungen erst entstehen,
wenn mehrere Generationen demselben Einfluß
ausgesetzt waren.
Die Einwirkung der Umwelt auf den Körper
ist durch viele Tatsachen erwiesen, aber es ist
noch fraglich, ob durch diese Einwirkungen neue
Eigenschaften entstehen können; denn die Ver-
erbung erworbener Eigenschaften auf die Nach-
kommen konnte bisher in keinem Fall zweifelsfrei
nachgewiesen werden.
Es ist nicht zu bestreiten, daß Variation ein-
tritt, oder eintreten kann, wenn ein Organismus
veränderten Lebensbedingungen unterworfen wird.
Dabei vollzieht sich jedoch keine Neuerwerbung,
sondern es werden lediglich latente Anlagen zum
Vorschein gebracht, die unter den früheren Lebens-
bedingungen verborgen waren, und die wieder
verschwinden, wenn Verhältnisse eintreten, unter
welchen sie nicht zweckmäßig sind. Ein sehr
einfaches Beispiel hierfür bieten manche Pflanzen-
arten, die verschiedene Blattformen hervorbringen,
je nachdem sie in einem feuchten oder trockenen
Standort gezogen werden. Ähnlich verhält es
sich bei vielen Schmetterlingen, die im Jahr zwei
Generationen aufweisen. Die eine davon lebt
ganz im Sommer, wogegen die andere den Winter
im Puppenstadium durchmacht. Manchmal sind
die beiden Generationen auffallend verschieden
und es wurde gezeigt, daß bei rechtzeitiger Ein-
wirkung von Kälte auf die Puppen der Sommer-
brut der Frühlingsbrut gleichende Exemplare
hervorgebracht werden können.
Die Ergebnisse von Paul Kammerer's
anerkennenswerten Versuchen gehören ebenfalls
hierher. Seine interessantesten Experimente sind
wohl die über „Vererbung erzwungener Fort-
pflanzungsanpassungen".') Beim E"euersalamander,
der unter normalen Verhältnissen Larven absetzt,
gelang es Kammerer durch viel Feuchtigkeit
und hohe Temperaturen die den Amphibien ur-
sprünglich eigene Fortpflanzungsweise wieder her-
beizuführen, nämlich sie zum Absetzen von Eiern
zu veranlassen, aus denen nach 9-16 Tagen
kleine Larven schlüpften, die nur Vorderbeine be-
saßen. Durch Wassermangel und Kälte wurden
die Tiere in entgegengesetzter Richtung beein-
') Die Nachkommen der spätgeborenen Salamandra ma-
culosa und der frühgeborenen Sal. alra. Arch. f. Rntw.-Mech.,
25. Bd., S. 7 — 51. — Die Nachkommen der nichlbrutpflegen-
den Alytes obsletricans. Ebenda, 28. Bd., .S. 448 — 545.
820
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 52
flußt, so daß sie die Jungen bis nach Beendigung
der Verwandlung im Uterus behielten, wobei die
Jungen der>elben Mutter von Wurf zu Wurf an
Zahl bis auf zwei abnahmen, was dem Verhältnis
beim Alpensalamander entspricht. Der Alpen-
salamander, der zwei gut ausgebildete Junge auf
dem Lande wirft, konnte wieder durch viel
Feuchtigkeit und hohe Temperatur larvengebärend
gemacht werden. Beide Arten gewöhnen sich
mit der Zeit an die durch veränderte Lebens-
weise aufgezwungene Art der Forlpflanzung, so
daß späterhin die äußeren Einflüsse gar nicht
mehr in derselben Intensität wirksam sein müssen
wie anfänglich. Gänzliches Auflösen dieser
Einflüsse hat die Rückkehr zur früheren
Fortpflanzungs weise zur Folge.
Mit Recht bemerkt Ludwig Plate, daß
diese Versuche keineswegs die Vererbung erwor-
bener Eigenschaften beweisen, sondern nur daß
durch äußere Umstände latente Eigenschaften ge-
weckt werden können. Kammerer hat den
Molchen keine neuen Eigenschaften aufge-
zwungen , sondern schon vorhandene, aber in der
Regel verborgen bleibende Eigenschaften zur Aus-
lösung gebracht , und es hat sich gezeigt, daß
solche reaktivierte Anlagen die Tendenz haben,
bei den Nachkommen wieder aktiv zu werden.
Wenn der Feuersalamander sogar zum Absetzen
von Eiern gebracht werden konnte, so handelt es
sich zweifellos um eine atavistische Reaktion des
Eileiters. ')
Beim Menschen können ebenfalls durch Ände-
rung der Lebensbedingungen Variationen ver-
anlaßt werden. Wenn z. B. eine Bevölkerung in
Hochlande versetzt wird, wo die Luft erheblich
verdünnt ist und die Lungen entsprechend größere
Luftmengen verarbeiten müssen als in der Ebene,
so wird sich eine Neigung zur Ausweitung des
Brustkorbes während des Wachstums ergeben
und überdies wird die Auslese auf Häufung breit-
brüstiger Menschen gerichtet sein. So erklärt es
sich, daß in den erhabensten Hochländern der
Erde, in Tibet, Mexiko und Hochperu, Menschen
mit ungewöhnlich großem Brustumfang leben, die
in ihren gewaltigen Lungen viel mehr Luft zu
verarbeiten vermögen als wir, weil ihre Lungen-
bläschen zahlreicher und geräumiger sind als die
unsrigen. -)
In allen diesen Fällen aber scheint es sich
lediglich um Variation somatogener Eigenschaften
zu handeln. Die Annahme der Beeinflussung des
Keimplasmas ist in keinem Fall erbracht worden
und sie ist auch nicht erforderlich um die ange-
führten Erscheinungen erklären zu können.
Aber wir sehen, daß unter augenscheinlich
gleichartigen Lebensbedingungen die Organismen
variieren, wenn gleich das Maß der Variation in
der Regel sehr gering ist. Von allen Erklärungen
') Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, 5. Bd.'
S. 120.
') Vgl. Kirch hoff, Darwinismus, angewandt auf Völker
und Staaten, S. 40.
dieser individuellen oder fluktuierenden Variation
halte ich diejenige Weis mann 's') für die am
besten ausgedachte. Weismann meint, daß die
Determinanten (die aus den kleinsten Lebens-
trägern zusammengesetzten Erbeinheiten des Keim-
plasmas) Wachstumsvariationen unterworfen sind,
und daß aus ihren Veränderungen entsprechende
Änderungen des Organs hervorgehen, das sie be-
stimmen. Daß die Determinanten unausgesetzt
in sehr kleinen Ausschlägen nach Größe und
Qualität hin und her schwanken, scheint Weis-
mann eine unausbleibliche Folge ihrer wechseln-
den Ernährung zu sein; denn wenn auch die
Keimzelle als Ganzes meist genügend Nahrung
erhält, so kann es doch an kleinen Schwankungen
im Zufluß derselben nach den einzelnen Teilen
des Keimplasmas nicht fehlen. Wenn nun bei-
spielsweise der Determinante einer Sinneszelle
einige Zeit hindurch reichlicher Nahrung zuströmt
als vorher, so wird sie stärker und größer werden,
sich rascher teilen und später wird die Sinnes- ■
Zelle, welche die betreflende Determinante zu be- '
stimmen hat, stärker ausfallen als bei dem Elter.
Das ist eine vom Keim ausgehende erbliche indi-
viduelle Variation. Ist diese Variation vorteilhaft,
so wird ihre Fortpflanzung durch die Personal-
selektion begünstigt, im gegenteiligen Falle wird
sie beseitigt. Weismann schließt, daß sich
also das Hin- und Herschwanken der Deter-
minanten in eine dauernde nach auf- oder abwärts
gerichtete Bewegung verwandeln kann, in welcher
er den Schwerpunkt dieser Vorgänge innerhalb
des Keimplasmas erblickt.
Das Zustandekommen einer bestimmt ge-
richteten Entwicklungsbewegung hängt aber da-
von ab, daß bereits die geringsten Variationen
selektorischen Wert besitzen, daß sie für die
Existenz des Individuums nützlich oder schädlich
sind. Zur Erhärtung der Annahme vom Selektions-
wert geringster Variationen (oder Anfangsstufen)
führt Weismann-) eine Reihe von Beispielen
an, die zeigen, daß dabei ganz kleine Abweichungen
für Erhaltung oder Untergang ihrer Träger ent-
scheidend sein können.
* *
*
Wenn man genau meßbare Eigenschaften wählt
und sie an einer hinreichend großen Zahl von Indi-
viduen bestimmt, so wird man finden, daß die
Variationsbreite der einzelnen Eigenschaften er-
heblichen Schwankungen unterworfen ist, daß
aber eine große Variationsbreite häufiger vor-
kommt als eine auffällig geringe, sowie daß alle
Abstufungen zwischen den Extremen vertreten
sind; das ist dann kontinuierliche Variation, wo-
gegen man eine Variation als diskontinuierlich
bezeichnet, wenn zweierlei Individuen vorkommen
die durch keine Zwischen- oder Intermediärform
verbunden sind. In Fällen von kontinuierlicher
Variation wird sich ferner herausstellen, daß eine
') Die Sclelitionstheorie, S. 26. Jena igog.
2) Selektionstheorie, S. II — ig und 38 — 46.
N. F. Xm. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
821
F"orm oder ein Maß häufiger ist als alle anderen
und, in den einfachsten l'"ällen, daß die Individuen-
zahl fortwährend kleiner wird, je mehr sich die
Form von der am häufigsten auftretenden entfernt.
Die häufigste Form wird als Modahvert bezeichnet.
Wird die Häufigkeit der einzelnen Formen in
Zahlen angegeben, so haben wir eine Reihe vor
uns, die vom Anfang nach der Mitte zu langsam
ansteigt und von der Mitte dem Ende zu ebenso
nach und nach wieder abfällt. Zu Häufigkeits-
verhältnissen dieser Art führt jedes nicht durch
bestimmt geleitete Kraft gerichtete Geschehen ;
wo der Zufall über den Ausgang entscheidet,
kommt man zu einem solchen Ergebnis ').
Die Variation entspricht aber nicht immer
dem nach dem Zufall zu erwartenden Häufigkeits-
verhältnis, sondern bei den meisten pflanzhchen
und tierischen Organen ist die Häufigkeit be-
stimmter h^ormen umer dem Modalwert eine an-
dere als über dem Modalwert. Nehmen wir an,
daß die Zahl der Kinder in menschlichen Familien
zwischen O und 20 variiert, so wird sich ein
rasches Ansteigen der Zahl der Familien mit einer
Kinderzahl bis etwa 4 oder 5 und dann ein an-
fänglich auch ziemlich rasches, später aber ganz
allmähliches Abfallen ergeben. In gewissen Fällen
kann sich die Variationshäufigkeit sogar so ein-
seitig gestalten, daß der Modalwert an das eine
Ende der Häufigkeitsreihe zu stehen kommt; das
ist z. B. bei der Zahl der Kronblätter des knolligen
Hahnenfußes der Fall, bei dem sich 'j das folgende
Verhältnis ergibt :
Zahl der Kronblätter
bei Individuen
56789
312 17 4^2.
Für die Unmöglichkeit, über eine gewisse
Grenze nach oben oder unten zu variieren gibt es
eine Reihe von Erklärungen.
Noch häufiger kommt das Auftreten zwei- oder
mehrgipfeliger Variationskurven vor, nämlich zweier
oder mehrerer hoher Frequenzwerte, die durch
Zwischenwerte von geringer Häufigkeit getrennt
sind. Eine derartige Verteilung der Häufigkeit
von Variationen ergibt sich besonders bei gleich-
zeitiger Beobachtung von Angehörigen verschiedener
Unterarten oder von Individuen verschiedenen Ge-
schlechts.
') Lehmann, Exp. Abst.- u. Vererbungslehre S. iSff.
Leipzig 1913.
Nach Lehmann, a. a. O., S. 26.
Einzelberichte.
Geologie. Einen sehr interessanten Beitrag
zur Frage der Lebensbedingungen der Dinosaurier ^)
bietet Dr. Franz Baron Nopcsa in einem Auf-
satze im Zentralblatt für Mineral., Geol. und Palä-
ontol. (1914, Nr. 18, S. 564—574), der die ober-
kretazischen Dinosaurier - Fundstätten Sieben-
bürgens zum Gegenstande hat. Es ist recht be-
merkenswert, wie die Paläontologie zurzeit einer-
seits das Bestreben hat mit aller Macht die Hüllen
des früheren Zustantles einer bloßen Leitfossihen-
kunde im Gefolge der Geologie abzustreifen und
ihr immer gewaltiger anschwellenderes Studien-
material in rein zoologischem Sinne, und zwar
nicht nur anatomisch, sondern nach Möglichkeit
auch biologisch auszuwerten; und wie andererseits
gerade dieses letztere Bestreben , das Tierleben
aus seiner Umgebung heraus zu verstehen (in
Vergangenheit nicht weniger als heutzutage) den
Paläontologen zwingt beim eifrigsten Studium der
Geologie zu bleiben: denn die Landschaft, das
Klima, die Faunengemeinschaft, die am Tierkörper
arbeiten oder ihn verständlich machen , können
wir auch bei den Fossilien nicht aus dem bloßen
Knochenmaterial am Schreibtische studieren, son-
dern einzig draußen in der Natur an der Fund-
stelle. Im Gestein, im Schichtenwechsel und im
gesamten Fossiliengehalt sind die Spuren jener
') Vgl, Lull ,,Dinosaurian Distribution". Amer. Journ.
of Science 1910, S. I — 39 und meinen Vortrag über ,, Lebens-
verhältnisse der Dinosaurier" in Abhandl. d. naturw. Ges.
Isis in Dresden 19 12, H. 2, S. 96 — 100.
geographischen Faktoren mit dem gleichen Grade
von Gewißheit wahrzunehmen, mit denen wir aus
den fossilen Tierresten auf den ganzen Körperbau
schließen können.
Siebenbürgen hat nach Nopcsa's mehrfachen
Berichten an hriupt>ächlich drei Stellen Reste von
Dinosauriern geliefert, die sämtlich der jüngeren
Kreidezeit (Danien) angehören, nämlich bei
Szentpeterfalva, 13 km weiter bei Valiora
und drittens bei Alvincz. Die beiden letzten
Fundstätten hat Nopcsa selbst entdeckt und
zuerst bekannt gegeben. Der Reichtum ist stellen-
weise recht bedeutend.
Allein Szentpeterfalva hat Reste von je
etwa 15 Individuen der Ornithopoden Mochlodon,
Telmatosaurus und des Sauropoden Titanosaurus
geliefert und diese drei Gattungen stellen erst
etwa 70 "/g der Gesamtausbeutc dar, unter der
sich auch andere wichtige Vertreter der damaligen
Fauna, so ein abweichender Dinosauriertyp .Struthio-
saurus in 2 Exemplaren, insbesondere aber Schild-
kröten (20 "0), Krokodile, I-lugsaurier- und Vogel-
reste, Lacertilier, Süßwassermuscheln undSchnecken
fanden. Im Gegensatze zu dem Befunde von
Bernissart in Belgien, wo sämtliche 23 Ignanodon-
skelette von alten Tieren herrührten und dadurch
auf besoniiere Verhältnisse bei ihrem Tode hin-
weisen, sind bei Szentpeterfalva alte und jugend-
liche Individuen gleicherweise vertreten. Wir
dürfen also annehmen , daß wir uns dort im
eigentlichen Lebensbereiche und Aufenthaltsorte
822
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 52
der Tiere befinden. Die faunistischen und petro-
graphischen Verhältnisse weisen nun unzweifelhaft
auf ein Sumpfgebiet mit vornehmlich stagnierendem
Wasser hin, auch kohlige Substanzen sind auf
derartige Verhältnisse leicht zurückzuführen. Unter
der Tierwelt sind gewisse amphibisch lebende
Typen, wie der Sauropode, die Sumpfschildkröten
und -vögel stärker vertreten, während der mit
schwerem Panzer versehene -Struthiosaurus oder
die Eidechsen nur gelegentlich die Stelle auf-
suchten oder aber derartige Reste mehr landbe-
wohnender Tiere von Krokodilen an Freßplätzen
zusammengeschleppt wurden. Zuzeiten wurden
durch kräftige Niedersciiläge größere Wasser-
mengen zusammengeführt und von ihnen auch
Gerolle mitgerissen, die sich streifenweise als
Schölten eingelagert finden.
In Valiora ist die Zusammensetzung der
Tierwelt nicht erheblich verschieden, wohl aber
weicht das Gestein in einigen charakteristischen
Zügen ab. Aus der Ausbeute sind hier erwähnens-
wert je drei bis vier Individuen von Telmatosaurus
und Mochlodon, je zwei oder drei von Titano-
saurus und von Krokodilen , einige Schildkröten-
reste und nicht selten Süßwassersclinecken ; Hölzer
sind ebenfalls hier in größerer Zahl vertreten,
während man sie in Szentpeterfalva vermißt.
Das Gewässer, in dem sich hier die Tonschichten
abgelagert haben, mag hier ein wenig tiefer ge-
wesen sein, andererseits sind die Konglomerate
hier sehr stark vertreten und von grobem (bis
faustgroßem) Korn, so daß hier mit fast dauernder
kräftiger Zuführung fluviatilen Wassers gerechnet
werden kann. Wo sich, wie in wenig älteren
Schichten von Naga Baroth (Senon) oder Gosau
(dgl.) reichere Kohlenbildung einstellt, also ge-
ringere Tiefe des Wassers geherrscht haben muß
bzw. reine Landablagerung vorliegt, treten jene
Sumpfbewohner alsbald stark zurück und unter
den Dinosauriern finden sich die rein landbe-
wohnenden Struthiosaurier sowie der Theropode
Megalosaurus häufiger ein.
Sehr wichtig erscheint die dritte Lokalität
Alvincz nebst dem 14 km entfernten Rech-
berge bei Lamkerek in stratigraphischer Hinsicht.
Die Dinosaurierknochen sind hier z. T. 1 Rechberg)
abgerollt, dennoch zeigte sich das Markrohr eines
Sacrums von Alvincz mit dem gleichen Gestein
ausgefüllt, das die ganze Schicht bildete. Danach
ist zwar ein gewisser Transport bei der Einbettung
der Reste anzunehmen, aber eine spätere sekun-
däre Verlagerung wird unwahrscheinlich. N o p c s a
hatte dem Fundorte ursprünglich das gleiche
jüngstkretazische Alter zugesprochen wie den
beiden andern. Loczy konnte aber unter den
Gerollen des Rechbergs solche feststellen , die
Nummuliten und Alveoünen enthalten. Es sind
zweifellos tertiäre Formen, um so gesicherter ist
also das nachkretazische Alter der sie als Gerolle
enthaltenden Konglomerate. Nopcsa zweifelt
nun auch nicht an dem tertiären .Alter der Schicht,
aber er zieht den Schluß, die Dinosaurier des Rech-
bergs könnten danach nur sekundär cingeschwemmt
sein und diejenigen von Alvincz, deren Erhaltung
einer solchen Annahme Schwierigkeiten entgegen-
stelle, müßten demnach in einer älteren Schicht
liegen. Die zweite Möglichkeit wird aber nicht
einmal diskutiert: daß nämlich, wenn die Schichten
von Alvincz und dem Rechenberge einander ident
seien, wie die Geologen annehmen, damit für die
Dinosaurier an dieser Stelle ein ter-
tiäres Alter bewiesen wäre. Ein völliges
Novum wäre das keineswegs. Denn wenn auch für
südamerikanische F"unde ') endgültige Sicherheit
nach dieser RiclUung noch nicht besteht, so hat doch
neuerdings Lee-) in Colorado über der höchsten
Kreide mit Säugetieren von tertiärem .Alter zu-
sammen zweifellose Dinosaurier nachweisen können.
Es wäre in höchstem Maße bedeutsam, nun auch
in Europa einem solchen Funde auf die Spur
zu kommen und es muß verlangt werden , daß
der stratigraphische Befund zum alleinigen Maßstab
genommen, nicht aber zugunsten eines Vorurteils
vergewaltigt werde.
Im Gegensatz zu den paludisclien Ablagerungs-
bedingungen von Szentpeterfalva und den mehr
fluviatilen Verhältnissen von Valiora, haben wir
es bei Alvincz anscheinend mit ,,torrentiellen
Sedimenten" zu tun, d. h. mit einer Ablagerung
in größerer Höhe bei entsprechend stärkerem
Gefälle und stärkerer Zerstörung der Skelette.
Um so wichtiger ist es zu hören, daß die wichtigsten
Funde zu Mochlodon zu stellen sind und sogar
voraussichtlich von ein und demselben Individuum
herrühren. E. Hennig.
Experimentelle Physiologie. Die Stato-
cysten, ein bei allen Mollusken — mit einziger
Ausnahme der Amphineuren — vorkommendes
Sinnesorgan, sind meist allseitig geschlossene
Bläschen, welche von einer Flüssigkeit erfüllt und
mit Wimper- und Sinneszellen ausgekleidet sind.
In der Flüssigkeit sind in verschiedener Zahl
(i bis über 100) in Größe, Form und chemischer
Beschaffenheit bei den einzelnen Mollusken ver-
schiedene Steinchen suspendiert; die größeren
heißen Statolithen (Oto-), viele kleine Statoconien
(Oto-). Die Statocysten liegen gewöhnlich in
der Nähe des Pedalganglions in der Muskulatur
des Fußes, werden aber von den Hirnganglien
innerviert.
Wie bei allen tierischen Sinnesorganen, zumal
bei solchen, die dem Menschen fehlen, und des-
halb keine Analogieschlüsse zulassen, ist man
hinsichtlich ihrer biologischen Bedeutung einzig
auf den Versuch angewiesen.
Früher wurden die Statocysten vielfach für
Organe des Gehörsinns gehalten, und ihre Teile
dementsprechend bezeichnet, Otocyste, Otolith usw.
'1 Vgl. Wind hausen ,, Einige Ergebnisse zweier Reisen
in den Territorien Rio Negro und Nenqucn". Neues Jahrb.
f. Min. usw. Beil. Bd. X.WVIII, 1914, S. 302.
'') Lee: ,,Reccnt discovery of dinosaurs in the Tertiary"
(Amer. Journ. of Science 4 ser. Bd. 35, S. 531 — 534. 1913-)
N. F. XIII. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
823
Fig I. Statocyste von
Pterotrachea. (Nach
Claus 1875.) 1 Sinnesnerv;
2 strukturlose Membran ;
3 u. 4 Wimperzellen ; 5 Sta-
tolitli ; 6 Sinneszellen ; 7 Stütz-
oder IsolationszcUen : S große
Zentralsinneszelle.
Der Wirklichkeit näher kam schon ihre Deutung
als statische Organe. Baunacke (Studien zur
Frage nach der Statocysteiifunktion. Biol. Zentralbl.
33. Band 1913) führt indes aus, daß solche nur
notwendig sind „bei Formen, die sich vorüber-
gehend oder dauernd in
labilem tileichgewicht be-
wegen, d. h. also bei
Schwimmern, Fliegern
und Läufern, soweit diese
eben nicht durch ent-
sprechende Verteilung
spezifisch verschieden
schwerer Massen ihres
Körpers passiv orientiert
sind". Sie dienten viel-
mehr den im Wasser
lebenden Tieren, welche
keine Kiemen besitzen,
wie z B. den Wasser-
wanzen, dazu, sie den Weg
nach oben, zum Wasser-
spiegel finden zu lassen,
hätten also eine negativ
geotaktische Funktion.
Außerdem ermöglichten
sie es den Nacktschnecken der Gattungen Limax
und Arion sich in die normale Kriechlage zurück-
zudrehen, wenn sie auf den Rücken geraten sind;
sie lösen dann einen Umdrehreflex aus (Fig. 3).
Diese seine Auffassung hat nun Baunacke
unter Verwendung eines großen Materials neuer-
dings geprüft und bestätigt gefunden (Studien zur
Frage nach der Statocysteiifunktion. IL Noch
einmal die Geotaxis unserer Mollusken. Biol.
Zentralblatt 34. Band. Nr. 6 1914). Fxperi-
mentiert wurde mit einer großen Zahl von Indi-
viduen von Helix pomatia (L.), Arion hortensis
(Fer.), Limax agrestis (L.), Arion empiricorum (Fer.),
Helix hortensis (Müll.) und Helix arbustorum (L.).
B. kam es vor allem darauf an nachzuweisen,
daß die Statocysten und nur sie die Träger
des Orientierungsvermögens sind. Die anderen
Sinnesreize konnten , als hier nicht in Betracht
kommend, ausgeschlossen werden.
Zunächst bildet das Licht keinen orientierenden
Faktor, insofern der Lichteinfall für die Bewegungs-
richtung gleichgültig ist.
Auch Tastempfindungen, ausgelöst durch
die Berührung der Fühler am Kopf mit der senk-
recht aufsteigenden Wand des Aquariums, in dem
die Tiere gehalten wurden, spielen keine Rolle.
Der Kopf samt seinen Sinnesorganen konnte
bis nahe an den Schlundring hin amputiert werden;
ein Tier von Arion empiricorum lebte noch
8 Tage weiter, bis es schließlich von Limaeiden
aufgefressen wurde. Zunächst zeigte es keine
Beeinträchtigung seines Lokomotionsvermögens.
Auf dem Schaukelbrett — ein um eine horizontale
Achse drehbares Brettchen — reagierten derartige
Tiere prompt auf die jedesmalige .Änderung ihrer
Wegrichtung.
Es wäre ferner an Tastempfindungen zu denken,
welche ihren Sitz in der Kriechsohle haben.
Je nachdem das Tier seine Rückenseite nach
oben oder nach unten kehrt , aufwärts oder ab-
wärts kriecht, verhalten sich ja Druck und Zug
verschieden. Krsterer kann nicht in Betracht
kommen, denn das Tier findet den Weg nach
oben, auch wenn es mit dem Rücken nach unten
hängt. Auch der Zug fällt weg. Zunächst ist
häufig zu beobachten , daß die Schnecken den
Vorderteil des Körpers im Wasser -frei erheben
und tastende Bewegungen ausführen, wobei also
jeder Sohlenkontakt fehlt. Die Zugempfindungen
müssen aber um so größer sein, je größer die
Last des Körpers ist. Proportional mit der Er-
höhung resp. Verminderung des Körpergewichts
wird die Adhäsion der Kriechsohle verschieden
stark beansprucht. Das Gewicht des Körpers
wirkt aber verschieden je nach dem spezifischen
Gewicht des Mediums, in dem er sich befindet.
Es wurden Versuche angestellt mit Erdöl, Faraffinum
liquidum, Magnesiumsulfat, Dextrin und Zucker-
lösungen. Die Tiere schlugen stets die Richtung
nach oben hin ein , einerlei ob das Medium
leichter oder schwerer als ihr Körper, der Zug
also größer oder geringer war. Mit dem Tast-
sinn der Sohle fällt zugleich auch der innere
Tastsinn oder Muskelsinn weg (Fig. 2).
Fig. 2. Wegschnecken (.^rion empiricorum Fer.),
frisch gefangen und in ein Aquarium geworfen, kriechend an
der dunkeln Seite des Gefäßes nach oben. (Nach Baunacke.)
Ai-is allem folgt, daß weder hydrostatische
Kräfte noch Druck- und Tastreize überhaupt zu
der negativ - geotaktischen Tendenz der Tiere
irgendwie in engerer Beziehung stehen.
Andere für die Orientierung unter Wasser
eventuell in Betracht kommende Sinne wurden
durch zweckentsprechende Versuche ausgeschlossen.
Zunächst der chemische Sinn. Das Wasser wird
nach der Oberfläche hin an in ihm gelösten
824
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 52
Sauerstoff reicher. Wurden aber sowohl heile als
auch unvollkommen geköpfte Individuen der
Ackerschnecke (Limax agrestis L.) in ausge-
kochtes luftfreies Wasser gebracht, über dem eine
Stickstoffatmosphäre lagerte, also größerer Sauer-
stoffgehalt des Wassers den Weg nach oben nicht
zeigen konnte, krochen die Tiere dennoch nach
oben. Auch bei Anwendung anderer, nicht atem-
barer Gase, z. B. Wasserstoff, zeigten die Schnecken
dasselbe Verhalten. Sonstige Reize für den che-
mischen Sinn, Geruch und Geschmack, kamen
aber nicht in Frage. Es kann also weder der
Lichtsinn, noch der Tastsinn, noch ein chemischer
Sinn sein , welcher den Tieren den Weg nach
oben zeigt.
Es blieben sonach nur zwei Möglichkeiten
übrig. Einmal die Orientierung wäre antityp,
ginge ohne Vermittlung von Nerven und Sinnes-
organen vor sich oder zweitens sie wäre der
Reflex auf Reize , die von den Statocysten auf-
genommen wurden. Um diese Frage zu ent-
scheiden, wurde bei einer Anzahl von Exemplaren
der Kopf bis dicht zum Ganglienring amputiert.
Ein so behandeltes Tier kroch aus dem Wasser-
gefäß heraus und noch ein Stück über den Tisch
hinweg; kurz, wenn die Statocj'sten am Körper
gelassen worden waren, blieb das Orientierungs-
vermögen erhalten; wurde dagegen durch den
Schnitt der Kopf mit dem Schlundring und den
Statocysten abgetrennt , so blieb zwar das Loko-
motionsvermögen erhalten, wie die über die Sohle
hinlaufenden lokomotorischeii Wellen zeigten, aber
das Orientierungsvermögen tehlte und damit die
negativ-geotaktischen Reaktionen.
Fig. 3. Zwei Wegschnecken (.Arion empiricorum For.) in
Selbstwcndung. (Nach Baunacke.)
Auch der Umdrehreflex, die Wendung des auf
den Rücken geworfenen Tieres, stellt den Reflex
eines auf die Statocysten wirkenden Reizes dar
(Fig. 3). Er findet statt unabhängig vom Licht
bei völligem Abschluß desselben, in diffusem Licht
und bei einseitigem Lichteinfall. Ebensowenig
spielen äußere und innere Berührungsreize (Muskel-
sinn) dabei eine Rolle. In spezifisch gleichschwerer
Zuckerlösung usw. freischwebend drehen sich die
Tiere rasch in ihre Normallage zurück.
Wird aber das Tier in ein vorderes und hin-
teres Stück zerschnitten, so dreht sich nur jenes
in die normale Lage zurück, welchem die Stato-
cysten verblieben sind; das andere dagegen ver-
hält sich bezüglich der Lage gänzlich indifferent.
Aus allen Versuchen ergibt sich , daß die
Statocysten zur riclitigen Orientierung des Körpers
dienen. Der Reiz auf die die bläschenförmigen
Statocysten auskleidenden Sinneszellen wird durch
auf die der Schwerkraft folgenden, in der leichteren
Statolymphe sich bewegenden, spezifisch schwereren
Statoconien ausgelöst. Der einwandfreiere Weg,
die Statocysten zu exstirpieren , ist wegen ihrer
verborgenen Lage tief im Innern des Körpers
nicht gangbar.
Der negativ-geotaktische Bewegungsreflex wird
ausgelöst durch eintretende Atemnot und gehemmt
durch Befriedigung der respiratorischen Bedürf-
nisse. Daß die Atemnot der auslösende Faktor
ist, geht daraus hervor, daß die Lungenschnecken
nicht nur im Wasser, sondern auch in nicht
atembaren Gasen (z. B. Wasserstoff) negativ-
geotaktische Bewegungen ausführen. Dies trifft
gleichmäßig zu für die Nackt- und für die Ge-
häuseschnecken. Ein Zugreiz nach oben, wie er
im Wasser infolge der Lufifüllung der Atemhöhle
zustande kommt, kann gleichfalls nicht als aus-
lösender Reiz herangezogen werden , da er sich
gerade dann einstellt, wenn das Emporsteigen zur
Oberfläche nicht nötig ist, während umgekehrt
die Entleerung der .'Xtemhöhle das Sinken nach
unten zur Folge hat. Passives Aufsteigen nach
oben würde auch im Freien häufig nicht zum
Ziele führen. In freien Gewässern ist ja der
Wasserspiegel oft von einer Pflanzendecke über-
zogen, und die Tiere müssen noch eine Zeitlang
an der unteren Seite der Pflanzen entlang kriechen,
bis sie zur Luft kommen.
Die Statocyste ist das einzige Sinnesorgan,
das sich gleichmäßig bei allen Lungenschnecken
vorfindet. Es kommt indes auch bei ständig im
Wasser lebenden, kiemenatmenden Mollusken vor.
Interessant wäre es zu wissen , wie sich d i e
Lungenschnecken verhalten, welche am Grunde
tiefer Seen leben und Wasser in ihre Atemhöhle
aufnehmen, um dasselbe mittels des reichen Ge-
fäßnetzes in deren Wandung auf Sauerstoft' aus-
zubeuten. Sie sind so nicht mehr genötigt zum
Zwecke der Aufnahme von Atemluft zur Ober-
fläche aufzusteigen.
Die lebendiggebärende Sumpfschnecke (Palu-
dina vivipara Drap.) besitzt zwei Kiemen, die ihr
das .Aufsteigen ersparen; dennoch bewegt sie sich
in sauerstoffarmem Wasser schwerfällig kriechend
nach oben. Auch ermöglichen ihr die Statocysten
von Zeit zu Zeit aus den an giftigen Gasen reichen
Wasserschichten herauszukommen , welche über
dem F'aulschlamm ihres Wohngewässers lagern.
Besonders ausgesprochen zeigt Paludina den
Umdrehreflex. Die Muscheln Pisidium und Sphae-
rium vermögen gleichfalls negativ geotaktische
Bewegungen auszuführen. Sie sind genötigt, ihren
Wohnplatz zu verlegen, wenn sie nach starken
Regengüssen z. B. verschlämmt oder wegge-
schwemmt werden.
Die Najaden sind dem Leben auf und in dem
Grund angepaßt. Dementsprechend reagiert ihr
Fuß positiv geotaktisch. Anodonta piscinalis Nilss.
wurde in den verschiedensten Lagen an P'äden
befestigt frei im Aquarium aufgehängt. Der Fuß
zeigte stets die Tendenz, sich in die Richtung der
N. F. XIII. Nr. 5;
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
825
Schwerl{raftwirkung einzustellen , hing also nach
unten (I'ig. 4I Diese .'\rt der Orientierung kommt
zur Geltung beim Eingraben und dann beim Auf-
suchen tieferen Wassers. Man sieht häufig den
Grund der von Najaden bewohnten Gewässer
beim Sinken des Wasserstands von Furchen
durchzogen, den Kriechspuren der Muscheln,
welche sich nach tiefer gelegenen Stellen zurück-
Fig. 4. Anüdonta piscinalis Nilss. , frei unter
Wasser im Dunkeln an Fäden aufgehängt, richtet den hervor-
gestreckten Fuß sofort dem Boden zu. (Nach Baunacke.)
B. hing einen ca. i m langen, schlammgefüllten
Kasten so unter Wasser auf, daß bei einer Kippung
um ca. 30" das gehobene Ende den Wasserspiegel
berührte, während das untere etwa 40 cm tief
unter ihm lag. Die am oberen Ende auf den
Schlamm gelegten, ja in ihn fest eingesteckten
Muscheln wurden am nächsten Morgen in dem
tiefer gelegenem Ende eingegraben gefunden.
Bei den nur in der Jugend freibeweglichen,
später festgewachsenen Tieren (Auster, Wurm-
schnecke) oder parasitierenden Formen (Enteroxe-
nus) gehen die Statocysten im Laufe der Meta-
morphose verloren, während sie bei freilebenden
Formen wohl entwickelt sind. Besonders aus-
gebildet sind die Statocysten bei den freischwim-
menden Mollusken, den Heteropoden, und vor
allem bei den Cephalopoden. Daß sie bei ver-
schiedenen niederen Formen (Amphineuren) fehlen,
beweist nichts gegen ihren biologischen Wert,
weil andere Sinne bei jenen die Orientierung des
Körpers gewährleisten.
In den Statocysten mancher Formen, z. B. der
labil orientierten Heteropoden der Gattung Ptero-
trachea sind die reizrezipierenden Elemente auf
der dem Erdzentrum zugewandten Seite der
Cystenwand zur Macula statica zusammengedrängt.
Es deutet das auf eine Steigerung der Lage-
empfindungen bei der geringsten Abweichung
von der Normallage. Bei der zum freien Schwimmen
befähigten Pilgermuschel entspricht die Entwick-
lung der Statocysten ganz der Lage des Körpers.
Sie sind nämlich asymmetrisch entwickelt, ent-
sprechend der Gleichgewichtslage (Seitenlage) beim
Schwimmen.
Nach Untersuchungen Tschachotin's (i 908)
an Pterotrachea sind die Statocysten nicht
allein sensibel, sondern auch motorisch innerviert.
Apathy (1885) beschrieb im P^pithel der Najaden-
statocyste zwei verschiedene Zellformen , welche
Cilien resp. feine Plasmafäden tragen. In den
Lücken zwischen den Wandzellen liegen kleine
Ganglienzellen. Auch in den Statocysten der
Pulnionaten und Prosobranchier fand Schmidt
(191J) drei Arten von Zellformen, die nach dem
Innern der Statocysten hin mit Cilien besetzt
sind, was darauf hinweist, daß der Mechanismus
der Statoc_\'sten keineswegs einfacher Natur ist.
Über ihre feinere Innervation und den Verlauf
der reizleitenden Elemente im Körper ist dagegen
noch nichts bekannt.
B. schließt aus seinen biologischen und phy-
siologischen Versuchen, daß die Statocysten der
Schnecken und Muscheln keineswegs als rudi-
mentäre Bildungen, etwa als ein Erbteil frei-
schwimmender Vorfahren, anzusprechen oder gar
als zwecklos zu bezeichnen sind. Die bisherige
Bezeichnung derselben als Gleichgewichtsorgane
muß fallen gelassen werden. Es sind vielmehr
Richtungssinnesorgane, aus deren Einfluß auf den
Tonus der Körpermuskulatur, das eine Mal eine
negativ-geotaktische, das andere Mal eine positiv-
geotaktische Bewegung oder endlich die Torsion
des Körpers in Kriechlage resultiert.
Kathariner.
Physik. „Dynamische und statistische Gesetz-
mäßigkeit" war der Titel der Rede, den der Rektor
der Berliner Universität Max Planck am 3. August
bei der alljährlichen Universitätsfeier nach altem
Brauch gehalten hat. Dem inhaltreichen Vortrage
ist das Folgende entnommen.
„Eine jede Wissenschaft, so heißt es in den
einleitenden Abschnitten des Vortrages, selbst die
Mathematik nicht ausgenommen, ist bis zu einem
gewissen Grade Erfahrungswissenschaft, mag sie
nun die Natur oder die geistige Kultur zum Gegen-
stande haben, und in jeder Wissenschaft gilt als
vornehmste Losung die Aufgabe, in der L'ülle der
vorliegenden Einzelerfahrungen und Einzeltatsachen
nach Ordnung und Zusammenliang zu suchen, um
dieselben durch Ergänzung der Lücken zu einem
einheitlichen Bilde zusammenzuschließen. Aber
auch die Art der Gesetzlichkeit ist, auf so ver-
schiedenen Gebieten die in den einzelnen Wissen-
schaften behandelten Materien auch liegen mögen,
keineswegs so verschieden, als es beim Anblick
der gewaltigen Gegensätze, wie sie z. B. ein
historisches und ein physikahsches Problem bietet,
zunächst erscheinen möchte. Zum mindesten
wäre es ganz verkehrt, einen grundsätzlichen L'nter-
schied etwa darin zu suchen, daß auf dem Ge-
biete der Naturwissenschaft die Gesetzlichkeit
allenthalben eine absolute, der Ablauf der Er-
scheinungen ein notwendiger sei, der keinerlei
Ausnahmen gestattet, während auf geistigem Ge-
biete die Verfolgung des kausalen Zusammen-
hanges streckenweise immer auch durch etwas
Willkür und Zufall hindurchführe. Denn einer-
826
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xin. Nr. 52
seits ist für jegliches wissenschaftliche Denken,
auch auf den höchsten Höhen des menschlichen
Geistes, die Annahme einer im tiefsten Grunde
ruhenden absoluten, über Willkür und Zufall er-
habenen Gesetzlichkeit unentbehrliche Voraus-
setzung, und auf der anderen Seite findet sich
auch die exakteste der Naturwissenschaften, die
Physik, sehr häufig veranlaßt, mit Vorgängen zu
operieren, deren gesetzlicher Zusammenhang einst-
weilen noch völlig im Dunkeln bleibt und die daher
im wohlverstandenen Sinne des Wortes unbedenk-
lich als zufällige bezeichnet werden können."
So wissen wir z. B. bis jetzt noch nichts über
die inneren Ursachen, welche ein radioaktives
Atom zum explosiven Zerfall zwingen, während
ein Nachbaratom nach Millionen von Jahren in
voller Passivität verharrt. Trotzdem ist die Hypo-
these vom Zerfall der Atome für die Physik von
allergrößter Bedeutung, denn sie hat in eine fast
unübersehbare Fülle von Kinzeltatsachen Ordnung
und System gebracht und Veranlassung zu neuen
Entdeckungen von größter Tragweite gegeben.
Die Möglichkeit zum wissenschaftlichen P>-
fassen von Vorgängen, deren Kausalitätsverhält-
nisse uns verborgen sind, liegt in der, etwa seit
der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ausge-
bildeten, für die Physik wichtiger und wichtiger
werdenden statistischen Methode. „Statt den
zurzeit noch völlig im Dunkeln liegenden dyna-
mischen Gesetzen eines Einzelvorganges ohne eine
Aussicht auf greifbaren Erfolg nachzuforschen,
werden zunächst einmal nur die an einer großen
Zahl von Einzelvorgängen einer bestimmten Art
gemachten Beobachtungen zusammengestellt und
aus ihnen Durchschnitts- oder Mittelwerte gebildet.
P"ür diese Mittelwerte ergaben sich dann je nach
den besonderen Umständen des Falles gewisse
erfahrungsmäßige Regeln, und die so gewonnenen
Regeln gestatten, allerdings niemals mit absoluter
Sicherheit, aber doch mit einer Wahrscheinlich-
keit, die sehr häufig der (lewißheit praktisch
gleichkommt, den Ablauf auch zukünftiger Vor-
gänge im voraus anzugeben, zwar nicht in allen
Einzelheiten, wohl aber - und darauf kommt es
bei den Anwendungen oft gerade am meisten
an — in ihrem durchschnittlichen Verlauf"
Diese statistische Gesetzmäßigkeit ist von ganz
anderer Art als die soeben erwähnte kausale oder
dynamische Gesetzmäßigkeit, wenn auch beide
Gesetzmäßigkeiten häufig eine ausgesprochene
formale Analogie aufweisen. So wird z. B. oft
das Gesetz der kommunizierenden Röhren mit
dem Gesetz vom Temperaturausgleich verschieden
temperierter Körper verglichen, indem der Niveau-
differenz im ersten die rcmperaturdifTerenz im
zweiten F"alle als innerlich gleichartig gegenüber-
gestellt wird, eine Auffassung, die in der P^nergetik
bekanntlich zur grundsätzlichen Zerlegung aller
Energieformen in zwei Faktoren, deti die Menge des
Energieaustausches bestimmenden Kapazitätsfaktor
und den als Grundursache alles Geschehens anzu-
gehenden Intensitätsfaktor geführt hat.') Tatsäch-
lich sind aber beide Vorgänge keineswegs so gleich-
artig, wie man nach ihrer formalen Analogie
vermuten möchte, ihre Ähnlichkeit ist vielmehr nur
ganz oberflächlich. So ist der Xiveauausgleich in
kommunizierenden Röhren eine notwendige Folge
des Gesetzes von der PJrhaltung der Energie, wäh-
rend etwa der Übergang von Wärme von einem
kalten zu einem heißen Körper diesem Gesetze
keineswegs widersprechen würde. Auch tritt der
Niveauausgleich in komumnizierenden Röhren in
der Weise ein, daß die Flüssigkeit von dem hö-
heren Niveau zunächst unter das Gleichgewichts-
niveau sinkt und sich ihm dann hin- und her-
schwingend allmählich nähert; würde bei diesem
Vorgange kein Verlust an Bewegungsenergie ins-
besondere durch Reibung eintreten, so würde das
Hin- und Herschwingen um die Gleichgewichts-
lage andauern, ohne daß sie selbst je dauernd er-
reicht würde. Beim Ausgleich von Temperatur-
differenzen tritt ein derartiges Pendeln um das
Temperaturgleichgewicht nicht ein, die Temperatur
der beiden verschieden warmen Körper nähern
sich vielmehr ganz allmählich, und zwar nimmt
die Geschwindigkeit des Ausgleiches ab, je näher
die beiden Temperaturen einander kommen.
Zu den Vorgängen der ersten Art, also solchen
Vorgängen, bei denen das Gleichgewicht durch
Schwingungen um die Gleichgewichtslage erreicht
oder — bei Abwesenheit jeglicher Bremswirkung —
nicht erreicht wird, gehören die Gravitationser-
scheinungen, die mechanischen und die elektrischen
Schwingungen und die akustischen und elektro-
magnetischen Wellen, und sie alle lassen sich einem
einzigen Prinzip unterordnen, dem Prinzip der
kleinsten Wirkung, in dem auch das Gesetz von
der Erhaltung der Energie mitenthalten ist. Zu
den Vorgängen der anderen Art gehören die Lei-
tung von Wärme und Elektrizität, die Reibung,
die Diffusion und sämtliche chemische Reaktionen.
Auch für sie gilt ein sehr allgemeiner Satz, der
von Clausius entdeckte zweite Hauptsatz der
mechanischen Wärmetheorie, dessen Wesen und
Wurzel aber erst von L. Boltzmann mit Hilfe
atomistischer Betrachtungen erkannt worden ist.
Nach der durch neuere Untersuchungen -) in
so überraschender Weise bestätigten Atomtheorie
„ist die Wärmeenergie eines Körpers nichts ande-
res als die Gesamtheit der äußerst feinen schnellen
unregelmäßigen Bewegungen seiner einzelnen
Moleküle, die Hölie seiner Temperatur entspricht
') Der Ausgleich von Energien bestellt immer im Aus-
gleich des Intensitiitsfaktors. Ein Ausgleich zwischen ver-
schiedenen Wärmemengen findet nur statt, wenn eine Tempe-
raturdifferenz vorhanden ist, und alle elektrischen Vorgänge
setzen, unabhängig von der Menge der Elektrizität, das Vor-
handensein einer Spannungsdifferenz voraus. Ganz verschie-
dene Mengen von Wärme oder Elektrizität sind im Gleich-
gewicht, wenn die Intensitätsfaktoren gleich Null sind, d. h.
keine Temperatur- oder Potentialdifferenz besteht. Die Inten-
sitätsfaktoren sind also — so behauptet die Energetik — die
treibende Kraft für alle Vorgänge.
') Vgl. Werner Mecklenburg, „Die experimentellen
Grundlagen der Atomtheorie". Naturw. Wochenschr. .N. F.
Bd. VIII, S. 769 (1909) und Bd. IX, S. 35 u. S. 385 (1910).
N. F. XIII. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
827
der mittleren lebendigen Kraft seiner Moleküle,
und der Wärmeübergang von einem heißeren zu
einem kälteren Körper beruht darauf, daß die
lebendigen Kräfte der beiderseitigen Moleküle bei
den durch die Berührung der Körper bedingten
häufigen Zusammenstößen sich gegenseitig im
Mittel ausgleichen. Das ist aber nicht so zu ver-
stehen, als ob bei jedem einzelnen Zusammen-
stoß zweier Moleküle dasjenige mit größerer
lebendiger Kraft an Geschwindigkeit einbüßt, das-
jenige mit geringerer lebendiger Kraft dagegen
beschleunigt wird; denn wenn z. B. ein schnell
bewegtes Molekül von der Seite her, quer gegen
seine Bewegungsrichtung, von einem langsamer
bewegten Molekül getroffen wird, muß seine Ge-
schwindigkeit noch weiter wachsen, wälirend die
des langsameren Moleküls sich noch weiter ver-
mindert. Aber im großen und ganzen wird doch
nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, falls
nicht ganz exzeptionelle V'erhältnisse vorliegen,
eine gewisse Vermischung der lebendigen Kräfte
eintreten, und dies entspricht einem Ausgleich
der Temperaturen der beiden Körper", ein Vor-
gang, wie er ähnlich bei der Brown'schen Be-
wegung -') ja tatsächlich beobachtet werden kann.
Die Wärmeleitung gehorcht also statistischen, d. h.
Wahrscheinlichkeitsgesetzen und unterscheidet sich
dadurch grundsätzlich von jenen Erscheinungen,
die die Wissenschaft als notwendige Folgen anderer
Erscheinungen anzusehen hat. Theorie und Praxis
nötigen uns, ,,in allen Gesetzmäßigkeiten der
Physik einen fundamentalen Unterschied zu machen
zwischen Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit,
und bei jeder beobachteten Gesetzmäßigkeit zu
allererst zu fragen, ob sie dynamischer oder ob
sie statistischer Art ist".
Dieser Dualismus erscheint unbefriedigend,
und es ist daher versucht worden, ihn durch die
Annahme zu überbrücken, daß es in der Natur
überhaupt keine dynamischen Gesetze gäbe, daß
diese vielmehr in letzter Linie auch nur den
Charakter von statistischen Gesetzen hätten. Zu
dieser Annahme, durch die der Begrift' der abso-
luten Notwendigkeit für die Physik überhaupt aufge-
hoben würde, liegt kein Grund vor, bildet doch
die absolute Gesetzmäßigkeit nicht nur für die
dynamischen , sondern auch für die statistischen
Gesetze die wesentliche Grundlage. „In der Physik
ist die exakte Berechnuns von Wahrscheinlich-
keiten nur dann möglich, wenn für die elejnentar-
sten Wirkungen, also im allerfeinsten Mikrokosmos,
lediglich dynamische Gesetze als gültig angenom-
men werden dürfen. Entziehen sich diese auch
einzeln der Beobachtung durch unsere groben
Sinne, so liefert doch die Voraussetzung ihrer
absoluten Unabänderlichkeit die unumgänglich
notwendige feste Grundlage für den Aufbau der
Statistik."
Nach dem Gesagten stehen dynamische und
statistische Gesetzmäßigkeiten nicht im gleichen
Range. Ein dynamisches Gesetz befriedigt unser
Kausalbedürfnis, ein statistisches Gesetz nicht, und
die fortschreitende Wissenschaft wird daher stets
danach streben , die statistischen Gesetze durch
dynamische Gesetze zu ersetzen.
Erscheint so der zweite Hauptsatz der mecha-
nischen Wärmetheorie, der ja unter den statisti-
schen Gesetzen der Physik wohl an erster Stelle
steht, nur als Wahrscheinlichkeitssatz, so ist er
doch einer exakten, allgemeingültigen Fassung
fähig. „Eine solche läßt sich etwa folgender-
maßen aussprechen: Alle physikalischen und
chemischen Zustandsänderungen verlaufen im
Mittel so, daß sie die Wahrscheinlichkeit des Zu-
stands vergrößern. Nun ist unter allen Zuständen,
die ein System von Körpern annehmen kann, der
wahrscheinlichste Zustand dadurch ausgezeichnet,
daß alle Körper die nämliche Temperatur be-
sitzen; aus diesem und keinem anderen Grunde
erfolgt die Wärmeleitung im Mittel stets im
Sinne eines Ausgleichs der Temperaturen, also
in der Richtung von höherer zu tieferer Tempe-
ratur. Über einen einzelnen Vorgang vermag
aber der zweite Hauptsatz stets nur dann etwas
mit Bestimmtheit auszusagen, wenn man von
vornherein sicher ist, daß der Verlauf des spe-
ziellen Vorgangs nicht merklich abweicht von
dem mittleren Verlauf einer großen Anzahl von
Vorgängen, die alle von dem nämlichen Anfangs-
zustand ihren Ausgang nehmen." Hingegen hat
— das muß betont werden — der zweite Haupt-
satz mit der Energie direkt überhaupt nichts zu
tun , wie z. B. die bisweilen überhaupt ohne
Energieumwandlungen sich abspielenden Diffusions-
vorgänge nur deshalb vor sich gehen, weil die
gleichmäßige Mischung zweier verschiedener .Sub-
stanzen wahrscheinlicher als eine ungleichmäßige
ist.
Mg.
Kleinere Mitteilungen.
Technische Neuerungen der feinkeramischen lieber Bedeutung, da sie diejenigen Industrien,
Industrie. Was die Rohmaterialien anbetrifft, so
haben zwei Naturprodukte mehr und mehr Ein-
gang gefunden. Es sind dies der Geyserit und
der Ouarzspat, zwei wertvolle Materialien, welche
vor einigen Jahren in Deutschland aufgefunden
worden sind. Diese Steine kommen in mächtigen
Lagern vor, die heute systematisch ausgebeutet
werden, und sind von gewaltiger volkswirtschaft-
welche auf ausländische Geyserite und Ouarzite,
wie sie in Island, Neuseeland und im Jellow Stone
Park vorkommen, angewiesen sind, bzw. diejenigen,
welche Feldspate und Feuersteine aus Norwegen
und Dänemark verarbeiten, vom Ausland unabhängig
machen können 'j.
') Zeitschr. für angewandte Chemie 27. 64/65.
828
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. Xm. Nr. 52
Der Taunusgeyserit von Usingen besteht aus
99,25"/,, Kiesel.-äure, welche aber im Gegensatz zu
Kristallquarz und Quarzsand ganz eigenartige
schätzenswerte Eigenschaften besitzt. Diesen Be-
sonderheiten hat der Geyserit seinen Eingang in
manche Industrie zu verdanken : in den chemisclien
Fabriken wird er an Stelle reiner Kieselsäure, in
Glasfabriken zur Herstellung von Kristallglas und
optischen Gläsern verwendet, außerdem schätzt
man ihn in der Quarzglasindustrie als ausgezeichnetes
Material. Große Verwendung findet er auch in
der Emailleindustrie für Glasuren und in der kera-
mischen Industrie für Ma>se und Glasur, besonders
zur Herstellung von feinen dünnen Porzellanen.
Besonders günstige Erfolge wurden bei den Ver-
suchen erzielt, den Geyserit für bleifreie Glasuren von
Steingut zu benutzen.
Der sog. Quarzspat vom Zobten (Quarzspat
Ströbel in Ströbel am Zobten) ist ein in der
Kaolinisierung begriffenes Urgestein, welches dem
Zobtcnberg Biutiigranit aufgelagert ist und in einer
Fläche von 300000 qm zutage tritt und daher
leicht abgebaut werden kann. Er besteht nach
einer Analyse von Dr. Si nger- Bunzlau aus
66,96''/n Feldspat, 25,28% Quarz und 7,76"/,, Ton-
substanz; er kann daher mit gutem Erfolg in der
keramischen Industrie zu gesinterten Platten,
technischen Porzellanen und Isolatoren benutzt
werden. Für die Steinguiindusirie wirkt, sobald
mit oxydierendem Feuer gearbeitet wird, der
schwache Eisengehalt störend. Die Mächtigkeit
des Quarzspatlagers gestaltet, den Bedarf von viel-
leicht ganz Mittel- und (Ostdeutschland auf Jahre
hinaus zu decken. Die meist gleichmäßige Zu-
sammensetzung und die leichte und schnelle Auf-
arbeitung auf trocknen! Wege bietet den anderen
harten Steinen gegenüber große Vorteile, und es
wird sich daher für manchen Fabrikanten sicher-
lich lohnen , mit dem neuen Material Versuche
zu machen, um dieses für die deutsche Volks-
wirtschaft so bedeutende Naturprodukt zu einer
immer größeren Verwendung zu führen.
Neben diesen beiden natürlichen Mineralien
scheint sich in der keramischen Industrie mehr
und mehr ein künstliches Produkt, das Kieselfluor-
natrium, als Flußmittel für Glasuren einzuführen
und anstelle von Blei verwenden zu lassen, umso-
mehr als der Preis, zu dem es angeboten wird,
gleich dem der Mennige ist.
Die Aufbereitung der Rohmaterialien geschieht
immer mehr trocken, nachdem es den Maschinen-
fabriken durch Verbesserungen der maschinellen
Einrichtungen zum Zerkleinern und Mahlen der
trocknen Rohmaterialien, sowie der vollkommenen
Sichtung des Feinmehles durch Windseparatoren
gelungen ist, die großen Ansprüche der kerami-
schen Werke an F'einheit, Gleiclimäßigkeit und
inniger Mischung der Masse zu befriedigen. Solche,
wenig Arbeitskräfte verlangenden Anlagen werden
in vorzüglicher Güte von Gebr. Pfeiffer, Kaisers-
lautern, Jakobiwerk Meißen und Gebr. Seck,
Dresden geliefert.
Die P^nteisenung der Tone wird neuerdings
mit hydroschwefliger Säure bewirkt, wovon schon
geringe Mengen in der Kälte genügen, im Gegen-
satz zu den früheren Methoden, wo größere Mengen
von Salzsäure und schwefliger Säure unter Er-
wärmen angewandt werden mußten. Bietet dieses
Verfahren auch einerseits große Vorteile, so wer-
den dennoch hierbei manche Schwierigkeiten erst
noch zu überwinden sein. Es wird nämlich für
solche Betriebe nur schwer zu verwenden sein,
welche größere Anforderungen an ihre Erzeug-
nisse stellen, wie reine P'arbe, tadellose Glasur,
da die in der Masse verbleibenden Salzreste beim
Glasieren und Brennen störend wirken und auch
kein reines Weiß erhalten wird.
Das Sc h werin 'sehe P^lektroosmoseverfahren
wird jetzt auch praktisch zur Reinigung der
Kaoline angewandt, denn in Karlsbad hat sich
eine Kaolin Elektroosmose-A.G. gebildet, welche
in Chodau bei Karlsbad über 100000 Klafter
Kaolingründe außerhalb des Quellenschutzgehietes
erworben hat, um hier das genannte Verfahren
nunmehr im Großbetriebe auszuüben. Hierbei
kommt der Rohkaolin zunächst in einen Quirl,
in dem er zerteilt wird. Die groben Bestandteile,
Sand , Schwefelkiesstücke usw. werden hierbei
durch ein unter dem Quirl angeordnetes Schüttel-
sieb au.sgeschieden, während der feine Schlamm
in Absatzbehälter fließt, von wo er in Verteilungs-
behälter gepumpt wird , von denen er in ganz
bestimmter Dicke und bestimmter Geschwindig-
keit ununterbrochen in die Osmosemaschinen
fließt. In diesen wandert das reine Kaolin nach
der walzenförmigen Anode, von der er abgenom-
men werden kann; hierbei sind Miterpressen ent-
behrlich, weil der Wassergehalt des so abgeschie-
denen Kaolins ca. 20 "/(, beträgt. Der Strom be-
fördert nur den Ton als Kolloid nach der Anode,
Glimmer und Schwefelkies werden also ausge-
schieden, wodurch eine weitgehende Reinigung
erzielt und ein Material von besonders gleich-
mäßiger Qualität und rein weißer Brennfarbe er-
halten wird.
Bezüglich des Arbeitsverfahrens kann man
wohl sagen, daß ein sehr großer Teil der P'orm-
gebung keramischer Waren Automaten- bzw.
Maschinenarbeit ist. Von neueren Bestrebungen
seien hier die Versuche zur mechanischen Her-
stellung von Tassen und Tellern erwähnt, welche
die Maschinenbauanstalt von Schröder in Schwep-
nitz i. S. unternommen hat. Von älteren Ein-
richtungen haben sich vor allem das Gießverfahren,
die maschinelle Stanzerei, die Plattenpresserei und
die Glasurmaschine immer mehr und mehr ein-
geführt. Das Gießen , das früher nur auf eine
beschränkte Gattung und Form von Tonwaren
angewandt wurde, ist fast durch die ganze Industrie
und auf eine große Zahl von verschiedensten
Formen ausgedehnt worden; erwähnt sei hier nur
das Gießen der sehr dünnen Porzellane, sowie das
sehr großer Stücke, z. B. zweiteiliger Wasch-
becken usw. Das Formen der sog. trocknen
N. F. XIII. Nr. 5:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
829
Masse durch Stanzen, welches ursprünglich nur
zur Herstellung der allereinfachsten Gegenstände
angewandt werden konnte, ist heute zu einer
großen Vollkommenheit gebracht worden. Die
meisten elektrotechnischen Artikel, wie Schalter,
Isolatoren usw. für Schwachstrom, in ihrer oft
außerordentlich verwickelten Ausführung, werden
heute in einer einzigen Maschine fertig geformt.
Auch die maschinelle Plattenpresserei ist
außerordentlich ausgebaut worden ; die Leistungen
sind wesentlich erhöht, und die Arten der Pressen
so ausgebildet, daß außer den gewöhnlichen Fuß-
boden- und Wandplatten die verschiedensten
Formen hergestellt werden können, wie dünne,
kleine Plättchen, Einlagen, Gesims- und Sockel-
leisten. An Stelle der alten Pressen , die eine
große Anzahl von Arbeitskräften erforderten, sind
neue halb- und ganzautomatisch wirkende Ma-
schinen gebaut worden (Laeis & Co , Trier), bei
denen alle Vorgänge der Pressung, wie Füllen
der Form, Vorpressen der Platten durch Nieder-
druck, Entlüften, F"ertigpressen durch Hochdruck,
Ausstoßen aus der Form und Abschieben der
Platten vollständig selbständig ohne Zutun der
die Presse bedienenden Arbeiter geschieht. Die
Maschine muß nur rechtzeitig mit genügendem
Material beschickt werden, außerdem müssen die
fertig gepreßten Platten abgenommen werden,
wozu höchstens 4 jugendliche Arbeitskräfte (Mäd-
chen) erforderlich sind. Die Stundenleistung einer
solchen Maschine beträgt 1200 Stück.
Bei der Glasierung durch Berieselung von
oben hat man noch keine guten Erfolge erzielt,
während die Glasurmaschine vom Jakobiwerk-
Meißen mehr verwendet wird. Dadurch, daß die
Platten von oben gegen eine mit Glasurbrei ge-'
tränkte rotierende Walze gedrückt werden, erzielt
man offenbar ein weit gleichmäßigeres und fehler-
freieres Aufbringen des Glasurbreies.
Auf dem Gebiete der Brennerei findet man
im allgemeinen das Bestreben, die Gasfeuerung
in den Vordergrund ?u stellen. Diese Art des
Erhitzens ist jedoch nicht für alle Zweige der
keramischen Industrie von gleichem Nutzen, wenn
man bedenkt, daß der Einsatz eines großen Stein-
gutofens, dessen Wert ca. 8000 Mk. beträgt, mit
einem Braunkohlenaufwand von 150 — 200 Mk.
fertig gebrannt werden kann, während bei Ein-
führung der Gasfeuerung öfter Brandfehler ent-
stehen, und dadurch mehr Ausschuß erhalten
wird.
Günstiger gestaltet sich die Einführung der
Tunnelöfen, die von Faugeron zuerst nur für
den Brand von Steingut vorgesehen, von Faist
aber auch für den Porzellanbrand eingerichtet
worden sind. Die keramische Tunnelofenbau-
gesellschaft Saarau baut sie nun auch für die
Schamotte- und Mosaikplattenindustrie, sowie für
die Fabriken von elektrotechnischen Gebrauchs-
artikeln. In der Porzellanindustrie sind die An-
sprüche derart gesteigert, daß man mit Erfolg
Kobaltunterglasur im Tunnelofen zu brennen ver-
steht. 19 solcher Öfen befinden sich augenblick-
lich in den verschiedenen Zweigen der Industrie
im Gebrauch.
Eine neue, wesentlich andere Gestalt hat der
Tunnelofen von Dreßler- London. Hierbei werden
die Feuergase durch besonders eingebaute Heiz-
rohre mittels eines Ventilators durch den Ofen
gesaugt. Die Bauart des Ofens, besonders die
Lagerung der Heizrohre, gewährleistet eine große
Haltbarkeit. Der neue Ofen wird jetzt auch in
Deutschland benutzt, wo er sich in einer Ofen-
kachelfabrik gut bewährt hat.
Die Dekoration der Tonwaren ist natürlich
dem jeweiligen Geschmack und der Mode unter-
worfen. Die Dekoration mittels Abziehbildern ist
schon lange, besonders zur Herstellung billiger
Waren, im Gebrauch, wobei jedoch jetzt die alten
einfachen Bilder durch immer färben- und form-
reichere ersetzt werden. Außer diesem älteren
Verfahren ist aber auch eine wirkliche Neuerung
in der Verzierung von Steingut oder ähnlichen
Massen mittels der Unterglasurmalerei in höchst
vollendeter P'orm gelungen. Die Firma Wahliß in
Wien bringt mittels dieser Technik verzierte Ton-
waren unter dem Namen Serapisfayence in den
Handel. Diese neuzeitlichen keramischen Luxus-
gegenstände passen so gut für die Räume in neu-
zeitlichem Stil, wie z. B. die alten italienischen
F"ayencen in die Räume der Renaissancezeit. Über
die chemische Zusammensetzung von Scherben und
Glasur ist ebensowenig bekannt wie über die Art
der verwandten Farbkörper. Die Scherben scheinen
aus ziemlich dicht gebrannter Steingutmasse von
hoher Schmelzbarkeit zu bestehen. Bei den F"ar-
ben fällt vor allem deren Glanz und Reichhaltig-
keit auf. Alle Schattierungen bis zum dunkelsten
Lila, Grün und Braun, besonders aber ein wunder-
volles Rot und ein kernig wirkendes Schwarz
zeichnen die neue Fayence in hervorragender
Weise aus; eine auf der Glasur angebrachte zier-
liche und gefällige Metallgold- bzw. Platinverzierung
trägt wesentlich zur Erhöhung der Farbenwirkungen
bei. Neu geschaffene Formen endlich bringen
diesen neuen künstlerichen Stil noch zu besonderer
Wirkung.
Zum Schluß sei noch einer hygienischen kera-
mischen Neuerung gedacht. Dr. Eckstein in
Teplitz halte die Idee, zur Verbesserung der Luft der
mit Zentralheizung erwärmten Räume, die eisernen
Radiatoren der Niederdruckdampfheizung mit ihren
vielen Mängeln durch keramische Radiatoren zu
ersetzen, auf deren glatter Oberfläche eine Staubab-
lagerung weniger möglich ist, und die die ange-
nehme Wärmeabgabe der Kachelöfen besitzen
mußten. Im Anfang hatte er jedoch wenig Er-
folg mit seiner Idee, die er sich durch ein D. R. P.
202 846 schützen ließ. Eine der größten Schwierig-
keiten, die überwunden werden mußte, war außer
der Schaffung eines dichten, den Dampfdruck aus-
haltenden Materiales, den Ausdehnungskoeftizienten
der Masse demjenigen des Eisenmaterials, womit
dieselbe montiert werden mußte, richtig anzupassen.
830
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 52
wobei auch die verschiedene Geschwindigkeit der
Ausdehnung der beiden Materiahen berücksichtigt
werden mußte. Nun ist es der Firma V 11 1 e r o y
u. Boch, die sich das alleinige Ausführungs-
recht des Patentes sicherte, gelungen, einen in
jeder Beziehung den Anforderungen entsprechenden
keramischen Radiator herzustellen. Die Festig-
keit des Materials beträgt ca. 0,45 für ein qmm,
sein spezifisches Gewicht 2,15. Die Wärmeabgabe
ist etwa die gleiche der eisernen Heizkörper, aber
das Erwärmen und Erkalten erfolgt ruhig wie
beim Kachelofen und nicht stoßweise, wie bei
den Eisenradiatoren. Die Staubablagerung auf
den glatten Flächen ist minimal und kann leicht
und bequem entfernt werden, während dies bei
den rauhen eisernen Radiatoren nicht der P'all
ist, und das Verbrennen des Staubes nicht ver-
mieden werden kann. Otto Bürger.
Bücherbesprechimgen.
Goeldi, E. A. Die Tierwelt der Schweiz.
I. Band, Wirbeltiere. XVI, 654 Seiten 8" mit
2 Karten und 5 farbigen Tafeln. Verlag von
A. Francke, Bern 1914. — Preis brosch. 12,80,
geb. 14,40 Mk.
Das vorliegende Werk ist aus Vorlesungen
hervorgegangen, die der Verf nach Rückkehr von
seinem langjährigen und fruchtbaren Aufenthalt
im tropischen Brasilien seit 1907 an der Berner
Hochschule über die Fauna der Schweiz regel-
mäßig gehalten hat. Im Gegensatz zu sonstigen
faunistischen Darstellungen hält es sich fern von
trockener Aufzählung und Beschreibung der ein-
zelnen Arten, stellt dagegen das genetische und
geographische Moment zusammen mit dem bio-
logischen in den Vordergrund. Dank der Arbeit
zahlreicher, weit über die Schweiz hinaus bekannt
gewordener Forscher erschien der Boden für die
Absicht des Verf, die heutige Tierwelt der Schweiz
in ihrem Werden, in ihrem Zusammenhang mit
Boden, Klima und Pflanzenwelt, in der Beein-
flussung durch Nachbargebiete und geologische
Vorgänge darzustellen, wohl vorbereitet, so daß
der Verwirklichung des Gedankens mit voller Aus-
sicht auf Erfolg von dem Verf näher getreten
werden konnte, der frühzeitig den Blick für die
Natur der Heimat geschärft bekommen und dann
durch vieljährige Studien in den Tropen an einem
anderes beschaffenen Material den für seine Ab-
sicht notwendigen „erweiterten Horizont" ge-
wonnen hat. In etwa siebenjähriger Arbeit ist
aus den erwähnten Vorlesungen das Buch ent-
standen, das, wenngleich in erster Linie für die
Schweiz und die Schweizer bestimmt, zweifellos
auch in den Nachbargebieten und über diese hinaus
die Beachtung und Wertschätzung finden wird, die
es verdient.
Es zerfällt in zwei verschieden umfangreiche
Hauptabschnitte. Der erste behandelt die Tier-
welt der Schweiz in der Vergangenheit, hierbei
auch den Menschen berücksichtigend, der zweite
die heute dort vorkommenden Wirbeltiere in ab-
steigender Folge der Klassen (66 Säuger-, 360 Vogel-,
14 Reptilien-, 18 bzw. 19 Amphibien- und 50 Fisch-
arten). Sehr instruktiv und durchaus originell sind
die den einzelnen Klassen beigegebenen farbigen
Tafeln , da sie es schon einem flüchtigen
Blick erlauben, den Bestand an Arten jeder Klasse
in der Schweiz der Zahl wie auch den Ordnungen
nach mit dem des Erdballes zu vergleichen, gleich-
zeitig auch — und zwar ebenfalls statistisch die Ver-
breitung der schweizerischen Arten über die bio-
geographischen Regionen und ihr Vorkommen in
Nachbargebieten zu erkennen. Die hierfür ange-
wandte Darstellungsart ist so einfach und so über-
zeugend, daß sie gewiß allgemeinere Anwendung
finden wird. Von den beiden Karten bringt die
eine die wichtigsten schweizerischen Fundstellen der
Diluvial- und Pfahlbau-Fauna und die Ausdehnung der
Vergletscherung zur letzten Eiszeit nördlich der
Alpen, die andere die Zugstraßen der Vögel in
der Schweiz (nach St u der) und die Verbreitung
der Coregoniden in den Schweizer Seen. Von
Abbildungen einzelner Tierarten wurde abgesehen;
der Verf. setzt die Kenntnis zoologischer Grund-
begriffe sowie der augenfälligeren Arten voraus,
charakterisiert aber die seltneren bzw. kleineren
und versteckt lebenden soweit, daß sich jeder
leicht zurechtfinden wird. Ein faunistisches
Besiimmungsbuch soll sein Werk nicht sein.
In einem Schlußkapitel stellt die „eidgenössische
Oberinspektion für Forstwesen, Jagd und Fischerei"
Jagd und Wildstand , Fischerei und Fischzucht
im Gebiet übersichtlich dar.
M. Braun, Königsberg Pr.
Brehm's Tierleben, all gemein e Kunde des
Tierreichs. Vierte vollständig neu bearbeitete
Auflage. Herausgegeben von Prof Dr. C.
zur Strassen. Säugetiere. II. Bd., neu-
bearbeitet von LudwigHeck und M a x H i 1 z -
heimer. XVIII, 654 Seiten, gr. 8", mit 84 Ab-
bildungen nach Photographien auf 20 Doppel-
tafeln, 30 Textabbildungen, 15 farbigen und 4
schwarzen Tafeln. Leipzig, Wien, Biblio-
graphisches Institut, 1914.
Die großen \'orzüge, welche bei Besprechung
des ersten Bandes der Säugetiere in der H eck-
schen Neubearbeitung hervorgehoben und gerühmt
werden konnten (Nat. Wochenschr. 191 2), weist
in vollem Maße auch der vorliegende zweite
Band auf Gegenüber sieben Ordnungen im ersten
Band umfaßt er freilich nur zwei, die Nagetiere
(bearbeitet von L. Heck) und die Robben (be-
arbeitet von M. Hilzheimer); aber die Nager
sind, wie jedermann wohl weiß, die artenreichste
Ordnung aller Säuger, die an der Zusammen-
setzung der Säugetierfauna der Erde mit erheblich
N. F. Xra. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
83 1
mehr als einem Drittel der Arten teilnehmen,
denen gegenüber die Artenzahl der Robben ganz
zurücktritt. Dies drückt sich natürlich auch in
der Seitenzahl au.s, die den beiden Ordnungen in
dem vorliegenden Bande zufallen (576 bei Nagern,
65 bei Robben).
Bei der großen Mannigfaltigkeit, in der die
Nagetiere heute entwickelt sind und uns ent-
gegentreten, bei dem vielfachen Schwanken der
äußeren Merkmale und dem Mangel hervor-
stechender Unterschiede im inneren Bau ist es
nicht leicht, ein System zu geben; doch hat Heck
die Schwierigkeiten mit großem Geschick über-
wunden und eine Anordnung getroffen, die dem
Nicht-Fachmann, an den sich Br ehm' s Tierleben
in erster Linie wendet, das Zurechtfinden wesentlich
erleichtern wird.
Selbstverständlich ist, daß in dieser arten-
reichsten aller Säugetierordnungen für die Dar-
stellung eine Auswahl getroffen werden und Arten,
auch Gattungen unberücksichtigt bleiben mußten,
denen ein aligemeines Interesse nicht zukommt.
Aber selbst in dieser notwendigen und durchaus
zu billigenden Beschränkung ist das Dargebotene
doch so reichhaltig und so trefflich durchgearbeitet,
daß ihm etwas auch nur annähernd Gleiches weder
in der deutschen noch in der fremdländischen
Literatur nicht an die Seite gesetzt werden kann.
Handelt es sich doch um rund 400 Formen, die
hier geschildert und großenteils auch bildlich dar-
gestellt sind, während in der vorausgehenden Auf-
lage trotz der 232 Seiten, die auf die Nager fallen,
nur 90 Arten behandelt sind.
Das illustrative „Beiwerk", wie man zu sagen
pffegt, das aber sehr wesentlich und unentbehrlich
ist, hat ebenfalls eine bedeutende Vermehrung er-
fahren, weniger in den Textabbildungen und den
schönen farbigen Tafeln, als durch die Photo-
graphien vom lebenden Tier, die vorzüglich ge-
lungen und wiedergegeben sind. Von den im
ganzen 20 Doppeltafeln mit 94 Photographien ent-
fallen 18 mit 88 Bildern auf die Nager; viele von
ihnen werden hier zum erstenmale einem weiteren
Leserkreise vorgeführt.
Somit ist die dankenswerte Absicht Heck 's,
den in den früheren Auflagen stiefmütterlich be-
handelten niederen Säugetierordnungen mehr zu
ihren Recht zu verhelfen, auch in diesem Bande,
der selbst dem Zoologen vom Fach wertvolle
Dienste leisten wird, glänzend durchgeführt.
Der Bearbeitung der Robben durch Hilz-
heimer ist ebenfalls volles Lob zu spenden.
Der Verf. hat sich so sehr in den Geist des neuen
Buches hineingefunden, daß man kaum die andere
Feder merkt, die diesen Abschnitt geschrieben hat.
M. Braun, Königsberg Pr.
Die Orchideen, ihre Beschreibung, Kultur und
Züchtung. Handbuch für Orchideenliebhaber,
Kultivateure und Botaniker, herausgegeben von
Dr. Rudolf.Schlechter, Assistent am Kgl.
Botanischen Museum in Dahlem bei Berlin unter
Mitwirkung von Ükononiierat O. B e y r o d t -
Marienfelde, Oberhofgärtner H. J an ke - Berlin,
Professor Dr. G. Lindau- Berlin und Obergärtner
A. Malmquist- Herrenhausen in Hannover. Mit
12 in Vierfarbendruck nach farbigen Naturauf-
nahmen hergestellten Tafeln und über 200 Text-
abbildungen. Berlin 1914, Paul Parey. Voll-
ständig in 10 Lieferungen ä 2,50 M.
Die Orchideen, wenigstens die tropischen,
machen eine eigenartige, für den Botaniker weniger
als für den Händler und Gärtner erfreuliche Wan-
derung durch. Aus den Urwäldern der Tropen
siedeln sie allmählich in die Glashäuser der ge-
mäßigten Zone über. Diese merkwürdige pflanzen-
geographische Erscheinung geht seit langer Zeit
in einem ganz bedeutendem Ausmaß vor sich,
so daß der Pflanzenfreund, wenn er von den oft
riesigen Transporten von Orchideen hört, wohl
von einiger Unruhe ergriffen wird und den Zeit-
punkt für gekommen hält, wo man auch hier von
Staatswegen in naturschützendem Smne einschreiten
sollte. Wie weit dies schon jetzt notwendig ist,
wollen wir hier nicht erörtern. Freuen wir uns
einstweilen der wunderbaren Pracht der Farben
und der eigenartigen Formen, die dank jener Er-
scheinung die öffentlichen und privaten Gewächs-
häuser, die Blumenhandlungen jedem in Muße zu
genießen erlauben.
Eine zusainmenfassende Bearbeitung der Fa-
milie der Orchideen, die die Beschreibung der
Formen, ihre Kultur und ihre Züchtung umgreift, war
zweifellos sowohl ein Bedürfnis der Praktiker auf
diesem wichtigen Handelsgebiete als auch der
zahlreichen Liebhaber und nicht zum wenigsten
der Botaniker. Als Herausgeber eines solchen
Werkes konnte kein geeigneterer als Dr. Schlechter
gefunden werden, der mit praktischen Erfahrungen
eine ausgedehnte, auf weiten erfolgreichen Reisen
erworbene Kenntnis der Orchideenfamilie verbindet.
Dem ganzen auf 10 Lieferungen a 6 Bogen be-
rechneten Werke liegt folgender Plan zugrunde.
Im ersten Kapitel wird die allgemeine Morpho-
logie der Orchideen, im zweiten ihre geographische
Verbreitung, im dritten die Systematik und im
vierten das Klima der hauptsächlichsten Heimat-
länder der Orchideen behandelt. Während diese
Kapitel vom Herausgeber, Dr. Schlechter selbst,
verfaßt sind, hat er für die folgenden namhafte
andere Spezialisten herangezogen. Im fünften
Kapitel schildert A. Malmquist die Kultur der
Orchideen, im sechsten O. Beyrodt die Orchi-
deen als Schnittblumen, im siebenten H. Janke
die Befruchtung und die Anzucht aus Samen und
derselbe, im achten die empfehlenswertesten Hy-
briden. Im neunten bespricht dann G. Lindau
die tierischen und pflanzlichen Schädlinge und
ihre Bekämpfung und den Schluß macht ein
wiederum von O. Beyrodt geschriebenes Kapitel
über die für die Orchideenzucht besonders ge-
eigneten Kulturräume, Häuser, Kästen.
Bisher liegen die ersten vier Lieferungen vor,
die einen Eindruck von dem Unternehmen zu ge-
832
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XIII. Nr. 52
winnen gestatten. Dieser Eindruck ist günstig,
so daß wir dieses Werk den Kreisen, welche für
die Orchideen Interesse haben, empfehlen können.
Miehe.
Wetter-Moiiatsül)ersielit.
Innerhalb des vergangenen November wechselte das
Wetter in Deutschland mehrmals seinen Charakter. Anfangs
war es allgemein trübe oder nebelig und dabei im größten
Teile des Landes ziemlich mild. Besonders im Rheingebiet
und in Mitteldeutschland wurden noch verschiedentlich 15" C.
S?linTcrcIeiiijjerafiiren eitiicjer (9rfe im ]Roi»emBcrl31^.
1. November. 6.
ülAmrV^tlWr'l,«,,,^
überschritten, am i. stieg das Thermometer in Dresden bis
auf 17, am 2. in Aachen bis 18" C. Nur im östlichen Ostsee-
gebiete herrschte in den ersten Nächten sowie am 6. und 7.
vielfach Frost, wobei es Königsberg i. Pr. und Memel auf
5 bis 6" C. Kälte brachten.
Nachdem um den lo. November die mittleren Tempera-
turen an vielen Orten lo" C. erreicht oder sogar ein wenig
überschritten hatten, trat überall eine merkliche Abkühlung
ein, die sich bis etwa zum 22. langsam fortsetzte. Die Nacht-
fröste wurden in dieser Zeit immer zahlreicher und zuletzt
blieb das Thermometer an verschiedenen Stellen des Binnen-
landes sogar in den Mittagsstunden unter dem Gefrierpunkt.
Am kältesten war es in Thüringen und Schlesien, woselbst
bei groi3enteils klarem Himmel und ziemlich scharfen östlichen
Winden das Thermometer am 22. in Ilmenau, Greiz und
Pless auf — 12, in Friedland und Habelschwerdt auf — 16,
in Schreiberhau sogar auf — 17 " C. herabging. Erst gegen
Ende des Monats stellten sich in Nordwestdeulschland wieder
mildere Südwestwinde ein und führten neue Erwärmung herbei,
die sich allmählich weiter nach Osten fortpflanzte.
Die mittleren Monatstemperaturen stimmten in Nordost-
deutschland mit ihren normalen Werten fast genau überein,
■während sie im Nordwesten und Süden meist um einige
Zehntelgrade zu hoch waren. Die Dauer der Sonnenstrahlung
war aber im allgemeinen zu gering; beispielsweise hatte Berlin
im letzten November nur 35 Stunden mit Sonnenschein zu
verzeichnen, während hier in den früheren Novembermonaten
durchschnittlich 52 Sonnenscheinstunden vorgekommen sind.
Obwohl in den ersten Tagen des Monats der Himmel
fast ununterbrochen mit Nebelgewölk bedeckt war, blieben
meßbare Niedcrscliläge doch in den meisten Landesteilen bis
zum 7. völlig aus. Bei heftigen südwestlichen Winden, die
zwischen dem 10. und 11. besonders an der Küste großen-
teils zu Stürmen anwuchsen, gingen aber dann lange an-
haltende, zum Teil sehr ergiebige Regengüsse hernieder, die
stellenweise von Gewittern und Hagel- oder Graupel-
schauern begleitet waren; vom II. zum 12. lielen z. B. in
Mittlerer Wert für
Dculsclil.inci.
^onatssuinnieimNü
läftli 12. 11. 10. 0'
11 18.bislO.No»emb3r.
Hamburg 31, in Cuxhaven 28, in Neumunster und Memel
je 23, vom 13. zum 14. in Keitum auf Sylt 33 mm Regen.
Seit dem 16. kamen in verschiedenen Gegenden Schnee-
fälle vor, die namentlich nordöstlich der Oder den Boden
vorübergehend mit einer leichten Schneedecke überzogen.
Gleichzeitig nahmen jedoch die Niederschläge in Nordwest-
deutschland, bald darauf auch im Osten und Süden wieder ab.
Zwar fanden später ziemlich häutige neue Regenfälle statt,
indessen klärte sich dazwischen der Himmel auch nicht selten
auf und die Regenmengen waren dann bis zum Ende des
Monats im allgemeinen gering. Auch in der Monatssumme,
die sich für den Durchschnitt aller berichtenden Stationen auf
46,5 mm belief, blieben sie hinler ihrem mittleren Wert aus
den früheren Novembermonaten um 3,7 mm zurück.
Die allgemeine Anordnung des Luftdruckes in Europa
war im diesjährigen November verhältnismäßig einfach ge-
staltet. Bis zum 7. wurde der Nordosten von einem hohen
barometrischen Maximum eingenommen, während vom Ozean
mäßig tiefe Depressionen nach den britischen Inseln und
zum Teil nach Frankreich gelangten. Durch ein auf dem
Nordmeer erschienenes tieferes Minimum wurde sodann das
Hochdruckgebiet nach Südosten zurückgedrängt, gleichzeitig
trat ein neues Maximum in Südwesteuropa auf, während andere
tiefe Minima dem ersten auf dem Nordmeer und von da nach
Skandinavien und Nordrußland nachfolgten.
Bald nach Mitte des Monats rückte das südwestliche
Hochdruckgebiet nordostwärts nach der skandinavischen Halb-
insel vor, von wo es ganz allmählich durch weitere, zunächst
nur flache und erst gegen Ende des Monats wiederum recht
tiefe atlantische Depressionen ins Innere Rußlands verschoben
wurde. Diese verschiedenen Änderungen in der allgemeinen
Druckverteilung hatten einen mehrmaligen Wechsel zwischen
kalten nordöstlichen und milden südwestlichen Winden zur
Folge, der sich bei allen Witterungsverhältnissen Deutschlands
wie von ganz Mitteleuropa geltend machte. Dr. E. Leß.
Inhalt; Hennig: Die Grenzen des Individuums und das Problem des .-Xbsterbens. Fehlinger: Über Variation. — Einzel-
berichte; Nopcsa; Lebensbedingungen der Dinosaurier. Baunacke: Die Statocy-ten. Planck: Dynamische und
statistische Gesetzmäßigkeit. — Kleinere Mitteilungen : Bürger: Technische Neuerungen der feinkeramischen Industrie.
— Bücherbesprechurgen: Goeldi: Die Tierwelt der Schweiz. Brehm's Tierleben, allgemeine Kunde des Tierreichs.
Schlechter: Die Orchideen. — Wetter-Monatsübersicht.
Manuskripte und Zuschriften werden an den Schriftleiter Professor Dr. H. Miehe in Leipzig, Marienstraße na, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
MBL/WHOI UBRARY
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